Eliot Pattison
Das Auge von Tibet
scanned by ut corrected by ab
Shan, ein ehemaliger Polizist, lebt ohne Papiere in e...
91 downloads
1473 Views
3MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Eliot Pattison
Das Auge von Tibet
scanned by ut corrected by ab
Shan, ein ehemaliger Polizist, lebt ohne Papiere in einem versteckten Kloster in Tibet. Eigentlich wartet er darauf, das Land auf geheimen Wegen verlassen zu können, doch dann erhält das Kloster eine rätselhafte Botschaft: „Eine Lehrerin ist getötet worden und ein Lama verschwunden." Zusammen mit einem alten Mönch wagt Shan sich in den Norden Tibets. Dort warten weitere Rätsel auf ihn. ISBN 3-352-00584-2 Originalausgabe Water touching stone Aus dem Amerikanischen von Thomas Haufschild 1.Auflage 2002 © Rütten & Loening Berlin GmbH 2002 Einbandgestaltung Gundula Hißmann, Hamburg
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Für Barbara
Danksagung Im Laufe der letzten beiden Jahrzehnte haben zahlreiche Tibeter, Kasachen, Uiguren und Chinesen mich vertrauensvoll in ihre Geschichten eingeweiht und mir dadurch tiefe Einblicke in das Dasein der verschiedenen Völker gewährt, die auf dem Staatsgebiet des heutigen China leben. Ihnen allen bin ic h für die vielen Informationen und Anregungen zu aufrichtigem Dank verpflichtet, doch aus naheliegenden Gründen müssen ihre Namen ungenannt bleiben. Ferner bedanke ich mich bei Natasha Kern, Michael Denneny und Kate Parkin für die verläßliche Unterstützung und die weisen Ratschläge, mit denen sie mich sicher durch die Untiefen des Verlagswesens gelotst haben. Besonderer Dank gebührt auch Christina Prestia, Dr. Scott Pattison und Ed Stackler.
Am Ende dieses Buches findet sich ein Glossar der häufiger benutzten fremdsprachigen Begriffe.
Kapitel Eins Alles in Tibet hängt mit dem Wind zusammen. Nur der Wind läßt die Gebetsfahnen und ihre Fürbitten gen Himmel flattern, nur der Wind bringt Kälte, Wärme und lebenspendendes Wasser über das Land, und nur der Wind versetzt sogar die Berge in Bewegung, indem er Wolken über die steilen Hänge treibt. Shan Tao Yun stand auf einem hohen Felsvorsprung, ließ den Blick in die Ferne schweifen und mußte an einen Lama denken, der einst zu ihm gesagt hatte, erst in Tibet werde die menschliche Seele sich ihrer selbst bewußt, denn hier wehe der Wind unaufhörlich über die Menschen hinweg und veranlasse sie, sich ihm und der Welt entgegenzustemmen, wodurch ihre Seelen definiert würden und an Konturen gewännen. Nach fast vier Jahren in Tibet glaubte Shan dem Lama. Es war, als würde hier, im höchstgelegenen aller Länder, der Planet unter Ächzen und Stöhnen seine Rotation beginnen, seine Bewegung erlernen und das Dasein der Menschen so schwierig wie nirgendwo sonst gestalten. Die Lamas hatten Shan eine Übung gelehrt, die Windsuche hieß und der Erleuchtung diente. Erweitere dein Bewußtsein auf die Luft um dich herum, und lasse dich darin treiben. Vergegenwärtige dir die Welt, die sie mit sich trägt, und nimm ihre Botschaften in dich auf. Um die Reise sicher fortsetzen zu können, würden Shan und seine Begleiter noch mehrere Stunden bis zum Einbruch der Dunkelheit abwarten müssen, und so ließ er sich mit übergeschlagenen Beinen auf seinem Platz hoch über dem Tal nieder und begann mit der Meditation. Trocknendes Heidekraut, spürte Shan. Ein Falke, der weit über das Tal aufstieg. Der liebliche und zugleich scharfe Duft des Wacholders, verbunden mit einem Anflug von Schneekälte. Das ferne Geschnatter der Erdhörnchen auf den mit Felsen übersäten Hängen. Und plötzlich, im Norden, ein einzelner verzweifelter -4-
Reiter, der eine wallende Staubwolke hinter sich herzog. Als Shan eine Hand an die Stirn hob, um das Licht abzuschirmen und die sich nähernde Gestalt besser beobachten zu können, ertönte hinter ihm ein kurzer Warnruf. Er drehte sich um und sah, daß Jowa, sein tibetischer Führer, auf einen alten Mann wies, der auf die Kante des Vorsprungs zuging und dabei unter der breiten Krempe seines braunen Huts hinaus ins Tal starrte. »Lokesh!« rief Shan und sprang auf, um seinen alten Freund zu packen, der nicht einmal zu bemerken schien, daß Shan seinen Arm nahm. Der alte Tibeter blinzelte kopfschüttelnd und behielt den Blick unverwandt auf den Reiter gerichtet, der vom anderen Ende des Tals herannahte. »Geschieht das wirklich?« fragte Lokesh zögernd, als würde er seinen Augen nicht trauen. Am Vortag hatten sie auf dem Kamm eines Hügels eine große Schildkröte erspäht, was als gutes Omen galt. Lokesh wollte ihr unbedingt ein Opfer darbringen und mußte sich später entschuldigen, denn als sie das vermeintliche Tier endlich erreichten, hatte es sich bereits wieder in einen Felsen verwandelt. »Die Gestalt ist von dieser Welt«, bestätigte Shan und sah ebenfalls zum Horizont. »Der Reiter hat Angst«, sagte Jowa hinter ihnen. »Er schaut immer wieder über die Schulter zurück.« Shan wandte den Kopf und sah, daß er ihr abgewetztes Fernglas hervorgeholt und auf den Fremden gerichtet hatte. »Wenn er so weitermacht, ist das Pferd bald tot.« Der Tibeter sah wieder seine Gefährten an und schüttelte den Kopf. »Jemand ist hinter ihm her«, sagte er beunruhigt und reichte das Fernglas an Shan weiter. Shan erkannte, daß der Reiter eine dunkle chuba, trug, den schweren Schaffellmantel der dropkas, der Nomaden, die das ausgedehnte Hochland im Nordwesten Tibets durchstreiften. Die -5-
Staubwolke hinter dem Pferd des Nomaden war so undurchdringlich, daß Shan keinen Hinweis auf einen Verfolger ausmachen konnte. Er suchte die Landschaft ab. In drei Richtungen ragten meilenweit nur schneebedeckte Gipfel in den klaren blauen Himmel empor und beschatteten die zerklüfteten grasbedeckten Hügel am gegenüberliegenden Ende des Tals. Weder auf der langgezogenen, vom trockenen Herbstgras braunen Ebene, die sich unterhalb von ihnen erstreckte, noch auf dem schmalen, ungepflasterten Pfad, den sie in der Morgendämmerung verlassen hatten, war außer dem einzelnen Reiter irgendein Lebenszeichen zu entdecken. Shan blickte nach unten auf ihren verbeulten alten Lastwagen der Marke Jiefang, der etwa dreißig Meter abseits des Weges hinter einem großen Felsen versteckt stand, gab dann das Fernglas zurück und trat in den Schatten des Überhangs, unter dem sie nach ihrer nächtlichen Fahrt Zuflucht gesucht hatten. Nach drei Metern, an der dunkelsten Stelle des Lagers, ließ Shan sich auf die Knie nieder. Neben der Asche des kleinen Feuers, in dem sie sich als einzige warme Mahlzeit des Tages Gerstenmehl geröstet hatten, steckte in einem winzigen Steinhaufen ein einsames Weihrauchstäbchen, und auf einer gefalteten Decke aus Yakfilz verharrte schweigend im Lotussitz ein Mann in einer kastanienbraunen Robe. Sein graues Haar war kurz geschoren, und sein schmales Gesicht wäre vielen Betrachtern vermutlich alt vorgekommen. Shan hingegen fiel beim Gedanken an Gendun niemals das Wort »alt« ein, so wie er auch nie auf die Idee gekommen wäre, die Berge als »alt« zu bezeichnen. Der Lama hatte die Augen fast vollständig geschlossen und befand sich in einem Zustand, der für ihn dem Schlaf am nächsten kam. Während der Nacht, wenn sie in dem alten Lastwagen unterwegs waren, lehnte Gendun es rundheraus ab, sich zur Ruhe zu begeben, und auch bei Tag, wenn seine drei Begleiter rasteten, legte er sich nicht zum Schlafen nieder, -6-
sondern versank lediglich in tiefer Meditation. »Rinpoche«, flüsterte Shan und sprach ihn damit als ehrwürdigen Lehrer an. »Wir müssen vielleicht vorzeitig aufbrechen. Es gibt Schwierigkeiten.« Gendun ließ durch nichts erkennen, ob er ihn gehört hatte. Shan schaute zu Jowa, der mit dem Fernglas abermals die Gegend hinter dem Reiter absuchte, und wandte sich dann wieder Gendun zu. Erst da bemerkte er, daß der Lama mit seinen Fingern ein mudra gebildet hatte, eines der Symbole zur Konzentration der inneren Kraft und gleichzeitig ein Ausdruck der Verehrung Buddhas. Die Handgelenke lagen über Kreuz, die Handteller wiesen nach außen, und die kleinen Finger waren verschränkt, um die Form einer Kette anzudeuten. Es war ein ungewöhnliches mudra, das Shan bei Gendun noch nie zuvor gesehen hatte. Der Name des Symbols lautete Seelenbezwinger. Shan erschauderte kurz und erhob sich dann, um wieder an Jowas Seite zu treten. Der junge Tibeter blickte den Abhang hinauf, der hinter ihnen lag, als suche er nach einer Möglichkeit, den Berg hinaufzuklettern. Sie wußten beide, daß es für die Angst des Reiters wahrscheinlich eine ganz bestimmte Erklärung gab. Shan sah erneut zu ihrem Lastwagen. Sie konnten bloß hoffen, daß niemand das Fahrzeug bemerken würde. Es wäre wirklich mehr als ärgerlich, hier oben auf diesem abgelegenen Plateau erwischt zu werden, so kurz vor ihrem Ziel. Nicht nur wegen der Qualen, die ihnen beim Büro für Öffentliche Sicherheit drohten, sondern vor allem, weil sie damit Gendun und die anderen Lamas enttäuschen würden, von denen sie ausgesandt worden waren. Lokesh seufzte. »Ich dachte, es würde länger dauern«, sagte er und berührte die Perlen, die an seinem Gürtel hingen. »Diese Frau«, fügte er geistesabwesend hinzu, »sie muß noch immer zur Ruhe gebracht werden.« -7-
Zur Ruhe gebracht werden. Diese Worte führten Shan ein weiteres Mal vor Augen, wie verschieden sie alle waren und wie unterschiedlich sie die seltsame Aufgabe zu betrachten schienen, die man ihnen zugewiesen hatte. Shan war in ihrem gemeinsamen Bergrefugium von Gendun und einigen anderen Lamas aus seiner Meditationszelle gerufen worden. Die Männer hatten auf Kissen rund um ein knapp zweieinhalb Meter durchmessendes Mandala gesessen, das erst an jenem Nachmittag fertiggestellt worden war. Vier Mönche hatten sechs Monate an diesem detaillierten Lebenskreis gearbeitet, dessen Hunderte von komplizierten Figuren allesamt aus buntem Sand bestanden. In einer großen Kohlenpfanne hatte wohlriechender Wacholder gebrannt, und Dutzende von Butterlampen hatten die Kammer erhellt. Aus einem Raum unter ihnen war wie ferner Donner ein leises Grollen zu vernehmen gewesen. Es hatte von einer riesigen Gebetsmühle gestammt, die sich nur durch die vereinten Kräfte zweier starker Mönche in Drehung versetzen ließ. Eine Viertelstunde lang hatten sie sich in stummer Ehrerbietung auf das Mandala konzentriert, dann hatte Gendun, der dienstälteste Lama, das Wort ergriffen. »Du wirst im Norden gebraucht«, hatte er Shan mitgeteilt. »Eine Frau namens Lau ist getötet worden. Eine Lehrerin. Und ein Lama wird vermißt.« Sonst nichts. Die Lamas interessierten sich kaum für den Rest der Welt und waren sehr zögerlich, etwas als Tatsache anzuerkennen. Gendun hatte ihm die grundlegende Wahrheit des Ereignisses verkündet; alles Weitere wäre den Lamas ohnehin nur als reines Gerücht erschienen. Gemeint hatten sie folgendes: Dieser Lama und die Tote mit dem chinesischen Namen waren für sie von entscheidender Bedeutung, und Shan sollte nun alle anderen Wahrheiten rund um diesen Mord herausfinden. Shan hatte nicht gewußt, wie lange die Reise dauern würde. Als er weisungsgemäß an dem geheimen Durchgang erschienen war, der zurück in die Außenwelt führte, hatte er angenommen, -8-
er solle das der Einsiedelei am nächsten gelegene Dorf am nördlichen Ende des Tals von Lhadrung aufsuchen. Auch war ihm keinesfalls klar gewesen, daß Gendun beabsichtigte, ihn zu begleiten. Selbst als der Lama persönlich am Ausgang aufgetaucht war, hatte Shan zunächst geglaubt, sein Lehrer wolle ihn verabschieden. Dann jedoch hatte er Genduns Füße gesehen. Der Lama hatte unter seinem Gewand nicht etwa die üblichen Sandalen getragen, sondern schwere Schnürstiefel. Sie waren bis zum Anbruch der Dämmerung gegangen und hatten Lokesh an der alten Hängebrücke getroffen, die das geheime Kloster mit dem Rest der Welt verband. Der alte Tibeter und Shan hatten sich herzlich umarmt. Während der gemeinsamen Haft im Arbeitslager von Lhadrung waren sie gute Freunde geworden. Dann waren sie zu dritt eine weitere Stunde gewandert, bis ein Lastwagen neben ihnen gehalten hatte. Shan hatte anfangs an einen reinen Zufall gedacht, an den Gefallen eines freundlichen Fahrers. Doch der Fahrer war Jowa gewesen. Gendun hatte sich zum erstenmal in der Nähe einer modernen Maschine befunden und das Fahrzeug mit großen Augen gemustert. Er hatte erst den Lastwagen gesegnet, danach Jowa und war eingestiegen. Jowa hatte Shan mit einem mißmutigen Blick bedacht, dann den Motor angelassen und war zwölf Stunden ohne Pause gefahren. Seitdem waren sechs Tage vergangen. Shans Verwirrung hatte immer mehr zugenommen. Vergeblich rechnete er jeden Tag aufs neue mit ein paar klärenden Worten von Gendun. Lokesh dagegen schien nie am Zweck ihrer Reise zu zweifeln. Seiner Ansicht nach würden sie die tote Lehrerin zur Ruhe bringen, sich also an die Seele der Frau wenden und sicherstellen, daß sie ein Gleichgewicht erlangt hatte und zur Wiedergeburt bereit war. In seinen Augen mußte die Frau sich an ihren Tod gewöhnen, so wie auch die Lebenden sich nach einer folgenschweren Veränderung auf die neuen Umstände einstellen mußten. Genaugenommen war das -9-
eigentliche Problem nicht der Tod an sich, denn für Lokesh und Gendun stellten Tod und Geburt zwei Seiten ein und derselben Münze dar. Aber ein Tod, auf den man nicht angemessen vorbereitet war, konnte eine Wiedergeburt schwierig werden lassen. Als damals im Arbeitslager einer der Mönche durch einen Steinschlag ums Leben gekommen war, war Lokesh zehn Nächte hintereinander wach geblieben, um der unvorbereiteten Seele so lange beizustehen, bis sie erkannt hatte, daß sie sich um eine Wiedergeburt bemühen mußte. Shan blickte ein weiteres Mal ins Tal hinunter. Der Reiter kam nach wie vor mit halsbrecherischer Geschwindigkeit auf sie zu und beugte sich nun weit nach vorn, als würde er den Boden absuchen. »Womöglich ist es einer deiner Freunde«, sagte Shan zu Jowa, der früher selbst ein Mönch gewesen war, bis das Büro für Religiöse Angelegenheiten ihm die Lizenz zur weiteren Ausübung dieser Tätigkeit verweigert hatte. Jowa glaubte nicht, daß ihre Aufgabe darin bestand, eine Seele zur Ruhe zu bringen. Man hatte eine Lehrerin ermordet, und ein Lama war verschwunden; genau das wurde den Tibetern von den Chinesen ständig angetan. Nach Jowas Verständnis hatte man ihn und die anderen gegen einen Feind ausgesandt. Shan beobachtete, wie ihr Fahrer sich unbewußt über die tiefe Narbe strich, die von seinem linken Auge bis zum Unterkiefer verlief. Während der Jahre in Tibet hatte Shan zahlreiche solcher Männer kennengelernt. Er kannte ihre unerbittlich harten Blicke und die Art, wie sie sich umwandten, wenn ihnen auf der Straße ein Chinese begegnete. Er wußte, welche Narben die Truppen der Öffentlichen Sicherheit hinterließen, die verächtlich Kriecher genannt wurden und gerne mit Peitschen aus Stacheldraht auf unliebsame Demonstranten einprügelten. Zu den Häftlingen der Zwangsarbeitsbrigade, aus der Shan vier Monate zuvor entlassen worden war, hatten viele Männer wie Jowa gehört. Allerdings war Shan bereits während des ersten Tages ihrer -10-
Reise klargeworden, daß sich mit Jowa noch eine weitere grundlegende Wahrheit verband. Als sie auf eine Gruppe von Reitern getroffen waren, denen der ehemalige Mönch verstohlen eine Parole zuraunte, woraufhin die Männer sie auf einen Pfad abseits der Straße nach Lhasa führten, hatte Shan begriffen, daß Jowa ein purba war, ein Angehöriger der geheimen tibetischen Widerstandsbewegung, die sich nach dem rituellen Dolch der buddhistischen Zeremonien benannt hatte. Statt dem Mönchsgelübde folgte Jowa inzwischen einem anderen Schwur, dem heiligen Versprechen, die verbleibende Zeit seiner gegenwärtigen Inkarnatio n dem Kampf zur Erhaltung Tibets zu widmen. »Nein, das ist keiner von uns«, stellte Jowa fest. »So nicht«, fügte er rätselhaft hinzu. »Falls es Soldaten sind, gehe ich zu dem Lastwagen«, sagte er mit leiser, nachdrücklicher Stimme. »Ich werde die Flucht na ch Süden ergreifen und die Verfolger auf mich ziehen. Gendun und Lokesh kommen nicht schnell genug voran. Ihr müßt weiter nach oben klettern und euch verstecken.« »Nein«, sagte Shan und ließ dabei den Reiter nicht aus den Augen. »Wir bleiben zusammen.« Lokesh setzte sich an den Rand des Vorsprungs und streckte die Beine aus, als würde die nahende Bedrohung entspannend auf ihn wirken. Er nahm seine mala, die Gebetskette, vom Gürtel und ließ die Perlen wie unbewußt durch die Finger gleiten. »Ihr zwei seid stark«, sagte der alte Mann. »Gendun braucht euch. Ich bleibe beim Lastwagen. Wenn die Soldaten kommen, ergebe ich mich und behaupte, ich sei ein Schmuggler.« »Nein«, wiederholte Shan. »Wir bleiben zusammen.« Jowa war für ihn unverzichtbar, denn der Fahrer kannte sich in der realen Welt aus, der Welt der Kriecher, der Kontrollpunkte und Armeepatrouillen. Lokesh hingegen besaß unersetzliche -11-
Kenntnisse der anderen Welt, in der die Lamas lebten. Um an den Ort des Todes zu gelangen, mußten sie Jowas Welt durchqueren, doch dann, dessen war Shan sich sicher, würde er die Antworten in der Welt der Lamas suchen müssen. Lokesh wäre selbst ein Lama geworden, hätte sein Weg als Novize ihn nicht vor langer Zeit, noch vor der Invasion der Chinesen, aus seinem Kloster in den Dienst der Regierung des Dalai Lama geführt. Shan sah, daß Jowa die Leinentasche abnahm, die über seiner Schulter und der dicken Wollweste hing, und dann die Hand um den Griff der kurzen Klinge an seiner Taille legte. Über den Priester in seinem Innern verlor Jowa kein Wort, doch am Lagerfeuer erzählte er bisweilen stolz von seiner Abstammung, die sich bis zu den khampas zurückverfolgen ließ, den nomadischen Hirtenstämmen des östlichen Tibet, die seit Jahrhunderten als furchtlose Krieger bekannt waren. Mittlerweile beobachtete Jowa nicht länger den Reiter, sondern die Staubwolke hinter dem Mann. Soldaten verfügten über Maschinengewehre, doch wie Tausende Tibeter vor ihm würde auch Jowa ihnen nur mit seinem Messer entgegenstürmen, falls das nötig war, um wahrhaftig zu bleiben. »Aber der Weg«, sagte Shan auf einmal. »Wieso reitet er mitten auf dem Weg?« Jowa trat an seine Seite und nickte langsam. »Du hast recht«, entgegnete er und klang dabei verwirrt. »Ein Nomade auf der Flucht würde als erstes die Straße verlassen.« Er vollführte eine ausholende Geste in Richtung der Wildnis, die jenseits des holprigen Pfades lag. Sie befanden sich auf der kargen, windumtosten Changtang, der riesigen leeren Hochebene, die sich über viele hundert Meilen quer durch Zentral- und Westtibet erstreckte und den Nomaden seit jeher als Versteck gedient hatte. Lokesh neigte den Kopf und schaute nach Süden zum anderen Ende des Tals. »Er läuft nicht vor jemandem weg. Er läuft zu -12-
jemandem hin.« Sie sahen den Reiter an dem Felsen vorbeigaloppieren, hinter dem ihr Lastwagen versteckt war. Der Mann kam wieder in Sicht und zügelte dann plötzlich sein Pferd. Während das Tier gemächlich einen Kreis abschritt, konzentrierte der Nomade seine Aufmerksamkeit auf den Weg. »Ich dachte, du hättest die Reifenspuren verwischt«, sagte Shan zu Jowa. »Das habe ich auch, zumindest für chinesische Augen.« Der Fremde stieg ab und führte sein Pferd zu dem Felsen. Kurz darauf stand er neben dem leeren Fahrzeug. Nachdem er sein Reittier an der Stoßstange angebunden hatte, umkreiste er argwöhnisch den Wagen und stieg auf die hintere Kante der offenen Ladefläche, wobei er sich an einer der metallenen Streben festhielt, an denen bei Bedarf eine Plane verschnürt werden konnte. Er ging zu den Fässern, die dort standen, und hob die Deckel an. Dann sprang er wieder hinunter und musterte den oberhalb gelegenen Hang, der überwiegend mit losem Geröll bedeckt war. Zwischen den Felsen wand sich der einsame Ziegenpfad empor, den Shan und die anderen im Morgengrauen zu Fuß erklommen hatten. »Manchmal haben die Soldaten tibetische Scouts«, sagte Jowa und berührte Shan an der Schulter, um ihn aufzufordern, sich in den Schatten des Felsüberhangs zu begeben. Der dropka eilte nun mit schnellen Schritten den Pfad hinauf. Shan widerstand dem Impuls, Gendun auf die Füße zu zerren, um mit ihm den Bergkamm zu erklettern und zu verschwinden. Die beiden anderen konnten sich wenigstens irgendeine Rechtfertigung ausdenken, denn sie verfügten über gültige Papiere. Bei Shan und Gendun war die Ange legenheit komplizierter. Der Lama hatte sein ganzes Leben in völliger Abgeschiedenheit vom Rest der Welt verbracht und vor Shan noch nie einen Chinesen zu Gesicht bekommen. Für die -13-
Behörden existierte er überhaupt nicht. Shan dagegen wußte genau, was es bedeutete, ins Fadenkreuz der Funktionäre zu geraten. Er war ein ehemaliger Untersuchungsbeamter der Regierung, den man in ein tibetisches Arbeitslager verbannt hatte, und seine Freilassung war lediglich inoffiziell erfolgt. Falls man ihn außerhalb Lhadrungs ergriff, würde er als entwichener Strafgefangener gelten. Jowa stieß Shan zu Gendun in den dunkelsten Winkel des Verstecks und baute sich dann schützend vor ihnen auf. Seine Hand lag erneut auf dem Griff der Waffe. Der Nomade erreichte den Vorsprung, auf dem sie sich verbargen, machte ein paar Schritte in die entgegengesetzte Richtung, drehte sich dann um und kam genau auf sie zu. Er gelangte zu dem Überhang, näherte sich dem Schatten und schirmte seine Augen vor dem Tageslicht ab, um einen Blick in die Höhle zu werfen. »Seid ihr da?« rief er laut und mit vor Angst bebender Stimme. Er war von schmächtiger Statur und trug auf seinem dichten schwarzen Schopf eine dreckige Fellmütze. Unter der chuba war ein verblichenes rotes Hemd zu sehen. Er legte den Kopf auf die Seite und kniff die Augen zusammen, als sei er sich noch immer unschlüssig, was dort vor ihm lauern mochte. Orte wie dieser dienten oft Raubtieren oder gar Bergdämonen als Behausung. Er blickte auf den nördlichen Teil des Weges zurück, als würde er dort nach etwas suchen. Dann legte er in einer demütigen Geste die Handflächen aneinander und tastete sich in die Dunkelheit voran. »Wir beten für euch«, rief er laut und verängstigt und blieb dann mit erleichtertem Seufzen stehen, als Lokesh einen Schritt vortrat. Der Mund des Fremden verzog sich zu einem schiefen Lächeln, wie Shan zunächst meinte, bis er erkannte, daß der Mann ein Schluchzen unterdrückte. »Für eure sichere Reise.« Lokesh war der bei weitem empfindsamste Tibeter, den Shan je kennengelernt hatte. Er trug seine Gefühle so mit sich herum wie andere Leute ihre Kleidung, völlig offen, ohne auch nur den -14-
Versuch zu unternehmen, etwas davon zu verbergen. Im Arbeitslager hatte einer der Mönche aus ihrer Baracke gesagt, Lokesh habe glühende Kohlen in sich, die immer wieder unvermutet aufloderten, sobald eine plötzliche Gemütsregung oder Erkenntnis sie anfachte. Wenn das geschah, stieß Lokesh unwillkürlich kleine Stöhnlaute aus oder kreischte sogar auf. Das Geräusch, das er nun von sich gab, glich einem langgezogenen hohen Wimmern, als habe er an dem Nomaden irgend etwas Furchterregendes erblickt. Gleichzeitig vollführte er mit der Hand eine abwehrende Bewegung vor der Brust, als wolle er etwas von sich weisen. Jowa trat neben Lokesh. »Was willst du?« herrschte er den Fremden mit lauter Stimme an und versuchte gar nicht erst, sein Mißtrauen zu verbergen. Niemand hätte von ihrer Reise wissen dürfen. Der Nomade sah den purba verunsichert an und machte dann einen weiteren Schritt auf sie zu. Im selben Moment wich Lokesh zur Seite, so daß der dropka sich auf einmal Auge in Auge mit Shan befand, hinter dem wiederum Gendun der Sicht des Fremden entzogen war. »Ein Chinese!« stieß er erschrocken hervor. »Was willst du?« wiederholte Jowa. Er trat hinaus in die Sonne und ließ den Blick über das ganze Tal schweifen. Der dropka folgte Shan und Lokesh aus dem Schatten, lief einmal um Shan herum und wandte sich dann wieder an Jowa. »Du bringst einen Chinesen mit, um unserem Volk zu helfen?« fragte er in vorwurfsvollem Tonfall. Lokesh legte Shan eine Hand auf die Schulter. »Shan Tao Yun war im Gefängnis«, sagte er strahlend, als wäre dies eine besondere Glanzleistung gewesen. Die Wut in den Augen des Nomaden verwandelte sich in Verzweiflung. »Jemand würde kommen, hieß es.« Er flüsterte fast. »Jemand, der uns rettet.« -15-
»Aber genau das macht unser Shan«, rief Lokesh aus. »Er rettet Menschen.« Der Nomade zuckte enttäuscht die Achseln. Er schaute das Tal hinauf und schloß die rechte Hand um die Kette mit Plastikperlen, die an seiner roten Schärpe hing. »Früher, wenn Unheil drohte«, sagte er mit abwesender Stimme, als würde er nicht länger zu den drei Männern sprechen, »wußten wir, wie man einen Priester finden kann. Wir hatten sogar einmal einen echten Priester, aber die Chinesen haben ihn uns weggenommen.« Der Ausdruck auf dem Gesicht des Nomaden war Shan in Tibet schon häufig begegnet. Es lag Trauer und Verwirrung darin. Außenseiter hatten der Welt dieser Menschen Schreckliches angetan, und der stolze, unabhängige tibetische Charakter konnte die daraus resultierende Hilflosigkeit nicht bewältigen. Shan folgte dem Blick des Fremden zurück zum oberen Ende des Tals. Jemand tauchte zwischen den Staubschwaden auf, ein Reiter, dessen Pferd sich kurz vor dem Zusammenbruch zu befinden schien. Das Tier bewegte sich wankend und ungleichmäßig voran, als sei ihm vor Erschöpfung schwindlig. »Als ich jung war«, wandte der Nomade sich nun in neuem, drängendem Tonfall an Lokesh, »gab es einen Schamanen, der die Lebenskraft eines Menschen zur Heilung eines anderen benutzen konnte. Manchmal opferten sich die Alten, um ein krankes Kind zu retten.« Er sah sich verzweifelt nach dem anderen Reiter um. »Ich würde meines mit Freuden geben, um ihn zu retten. Kannst du das tun?« fragte er und kam näher, um Lokesh ins Gesicht zu blicken. »Du hast die Augen eines Priesters.« »Warum bist du hergekommen?« fragte Jowa erneut, allerdings nun weitaus freundlicher. Der Mann griff unter sein Hemd und zog eine Schnur aus -16-
Yakhaar hervor, an der ein silbernes gau hing, eines jener kleinen Medaillons, in denen man ein Gebet nah am Herzen tragen konnte. Er legte beide Hände darum und sah wieder das Tal hinauf, nun jedoch nicht zu dem Reiter, sondern in Richtung der fernen schneebedeckten Gipfel. »Sie haben meinen Vater ins Gefängnis geworfen, und er ist gestorben. Sie haben meine Mutter in eine Stadt gesteckt, ohne ihr Lebensmittelmarken zu geben, und sie ist verhungert.« Er sprach ganz langsam, und sein Blick wanderte von den Bergen zu dem Boden unter seinen Füßen. »Sie haben gesagt, es würde für unsere Kinder nur in der Klinik ärztliche Versorgung geben. Also habe ich meine Tochter dorthin gebracht, als sie Fieber bekam, aber man sagte mir, die Medizin sei in erster Linie für die kranken chinesischen Kinder bestimmt, und so ist sie gestorben. Dann haben wir einen Jungen gefunden, und er hatte niemanden, und wir hatten niemanden, und so haben wir ihn als unseren Sohn aufgenommen.« Eine Träne glitt über seine Wange. »Wir wollten mit unserem Sohn doch nur in Frieden leben«, sagte er, und seine Stimme erhob sich kaum über das Geräusch des Windes. »Aber unser alter Priester hat immer gesagt, es sei eine Sünde, etwas zu sehr zu wollen.« Er schaute mit leerer und trostloser Miene zu dem anderen Reiter. »Es hieß, ihr würdet kommen, um die Kinder zu retten.« Bei diesen Worten lief ein Schauder über Shans Rücken. Er sah Lokesh an, der sogar noch tiefer ergriffen zu sein schien. »Wir sind wegen einer Frau namens Lau hier«, erwiderte Shan sanft. »Nein«, sagte der Nomade mit beunruhigend er Gewißheit. »Es ist wegen der Kinder, damit sie nicht mehr alle sterben müssen.« Auf dem Weg unter ihnen, etwa hundert Meter vor dem großen Felsen, stolperte das zweite Pferd heran und blieb dann stehen. Sein Reiter, der in eine dicke Filzdecke gewickelt war, -17-
sackte im Sattel zusammen und fiel wie in Zeitlupe zu Boden. Der Reiter stieß ein Geräusch aus, das mehr als ein Stöhnen oder ein Angstschrei war. Es klang wie der Ausdruck tiefsten animalischen Leidens. Shan lief los. Springend und strauchelnd eilte er den Hang hinab. Zweimal stürzte er dabei zwischen den Felsen schmerzhaft auf die Knie und landete schließlich auf allen vieren im dürren Gras. Als er aufstand, blickte er sich um. Keiner der anderen war ihm gefolgt. Das erschöpfte Pferd stand zitternd da, seine mit blutigem Schaum verschmierte Nase berührte fast den Boden. Dicht neben ihm lag der in schwarzen Yakfilz gehüllte Reiter. Vorsichtig hob Shan einen Zipfel der Decke an und erblickte Dutzende von Zöpfen, in deren Enden jeweils eine Holzperle geflochten war. Bei gläubigen Frauen war dies eine althergebrachte Sitte: hundertacht Zöpfe und hundertacht Perlen, die gleiche Anzahl wie in einer mala. Die Frau atmete flach. Ihr Gesicht war mit Staub und Tränen befleckt. Ihr Blick zeugte von dermaßen großer Erschöpfung, daß sie Shan gar nicht wahrzunehmen schien. Unter der Decke, die sie wie einen Umhang trug, befand sich eine weitere Decke, in der ein längliches Bündel quer über ihren Beinen lag. Shan drehte sich um. Jowa und Lokesh arbeiteten sich langsam den Pfad hinunter. Der Fahrer führte den Nomaden an einer Hand und Lokesh dreißig Schritte hinter ihm Gendun, als wären die beiden Männer blind. Shan hob die zweite Decke und erstarrte. Darin lag ein Junge mit übel zugerichtetem Gesicht. Eines der Augen war komplett zugeschwollen. Langsam schlug Shan die Decke vollständig zurück. Ihm stockte der Atem. Überall war Blut, durchtränkte das Hemd und die Hose des Kindes. Er wollte den Jungen samt Decke anheben, um die Frau von seinem Gewicht zu befreien, aber die Decke hatte sich in den -18-
Zügeln verfangen. Als Shan versuchte, das Durcheinander zu entwirren, stellte er fest, daß die Frau sich die Zügel um den Unterarm gewickelt hatte. Ihr Handgelenk war purpurrot angelaufen, und die Hand hing in unnatürlichem Winkel schlaff herab. Also hob Shan den Jungen aus der Decke und legte ihn auf das trockene Gras. Der Mund des Kindes verzog sich, aber es blieb absolut stumm. Der Kleine war höchstens zehn Jahre alt und brutal mißhandelt worden. Quer über seinen Schultern hatte etwas das Hemd aufgeschlitzt. Er war bei Bewußtsein, und obwohl er starke Schmerzen verspüren mußte, lag er still und leise da und verfolgte mit seinem unverletzten Auge, wie Shan ihn untersuchte. Sein Blick verriet weder Angst noch Wut oder Schmerz. Er war bloß traurig und verwirrt. Der Junge hatte sich gewehrt. Seine Handflächen waren von tiefen Schnitten durchzogen, also hatte er vermutlich die Waffe des Angreifers gepackt. Sein Hemd war am Hals aufgerissen, und einige Knöpfe fehlten. Auch die Brust des Jungen wies eine tiefe Wunde auf, die durch die Rippen gedrungen war und aus deren klaffender Öffnung dunkles Blut sickerte. Sein linkes Hosenbein war unterhalb des Knies zerrissen, und ihm fehlte ein Schuh. Shan blickte erneut in das eine Auge, das ihn, ohne zu blinzeln, aus dem zerschmetterten Gesicht des Kindes anstarrte. Dann sah er auf seine Hände. Sie waren über und über mit dem Blut des Jungen bedeckt. Einen Moment lang wurde er von der eigenen Hilflosigkeit übermannt und beobachtete einfach nur, wie das Blut von seinen Fingerspitzen auf die braunen Grashalme tropfte. Schließlich tauchte Lokesh neben ihm auf. Der alte Tibeter hatte einen der Schnürbeutel mitgebracht, in denen ihre Vorräte verstaut waren. Er holte daraus eine Plastikflasche mit Wasser hervor, hielt sie dem Jungen an den Mund und stimmte einen leisen, eintönigen Singsang an, dessen Silben Shan nicht -19-
vertraut waren. Bevor man ihn aus seinem gompa, seinem Kloster, in den Dienst des Dalai Lama nach Lhasa berufen hatte, war Lokesh bei einem Lama-Heiler in die Lehre gegangen. Während der Jahrzehnte im Straflager hatte er seine Ausbildung fortgesetzt, indem er andere Häftlinge behandelt und immer neue Kenntnisse von den alten Heilern erworben hatte, die gelegentlich hinter Gittern landeten, wenn sie andere Tibeter ermutigten, ihre Traditionen zu ehren. Lokesh nickte der Frau zu, ohne die Litanei zu unterbrechen. Allmählich schienen seine Worte sie wieder ins Bewußtsein zurückzurufen. Als ihr Blick sich belebte und sie dem alten Tibeter ein gequältes Lächeln zuwarf, beugte Lokesh sich zu Shan herüber. »Ihr Handgelenk ist gebrochen«, sagte er leise. »Sie braucht Tee.« Unterdessen hatte Jowa dafür gesorgt, daß Gendun neben dem Lastwagen im Gras Platz genommen hatte. Nun eilte er mit einem rußbeschmutzten Topf und einem in Leinen gewickelten Dungfladen herbei und entzündete daraus ein Feuer. Als der Topf auf den kleinen blauen Flammen stand, blickte Lokesh erwartungsvoll auf, und Jowa bedeutete Shan, ihm bei der größeren Decke zur Hand zu gehen. Vorsichtig befreiten sie die Frau aus ihrer mißlichen Lage. Dann folgte Shan dem Beispiel des Fahrers, stellte seinen Fuß auf eine der Kanten des langen Filzrechtecks und hob die gegenüberliegende Ecke an, so daß aus der Decke ein Windschutz entstand, wie Lokesh ihn benötigte, um das Kind genauer untersuchen zu können. Der alte Tibeter brach das heilende Mantra ab, nahm den linken Arm des Jungen, legte ihm die mittleren drei Finger seiner langen knochigen Hand auf das Handgelenk und schloß die Augen. So lauschte er mehr als eine Minute, ließ dann den Arm des Kindes sinken und wiederholte die Prozedur auf der rechten Seite. Sein Ziel war, die zwölf Pulse zu finden, auf denen in der tibetischen Medizin jede Diagnose basierte. Zum Abschluß betastete er zwischen Daumen und Zeigefinger das Ohrläppchen des -20-
Kleinen, schloß abermals die Augen und nickte langsam. Der Junge sah ihm lediglich dabei zu, ohne zu blinzeln, ohne zu sprechen oder in irgendeiner Form den Schmerz auszudrücken, der ihn peinigte. Der Nomade kniete schweigend neben ihm; über sein dunkles, ledriges Gesicht rannen Tränen. Lokesh beendete die Untersuchung und warf dem Jungen einen bekümmerten Blick zu. Als würde ihm nachträglich noch etwas einfallen, hob er langsam das zerrissene Hosenbein des Kindes an und betrachtete die Haut darunter. Der Hieb mit der Klinge hatte anscheinend nur den Stoff zerfetzt, aber das Bein nicht berührt. »Wir dürfen nicht hier draußen bleiben«, warnte Jowa und sah sich nervös auf dem Pfad um. »Es hätte uns alle das Leben kosten können«, sagte der Nomade mit hohler Stimme. »Es war der wandelnde Tod.« »Du hast es gesehen?« fragte Shan. »Ich habe die Schafe von der Weide geholt, und meine Frau hat das Lager aufgeschlagen. Als ich dort ankam, hörte ich auf einem unterhalb gelegenen Sims die Hunde bellen. Ich nahm eine Fackel und folgte dem Geräusch. Einer der Hunde war tot. Dann habe ich die beiden gefunden. Im ersten Moment dachte ich, sie wären ebenfalls tot.« Jowa brachte der Frau einen Becher Tee. Sie schlug die Augen auf, hob die rechte Hand und verzog vor Schmerz das Gesicht. Jowa hielt ihr das Gefäß an den Mund und ließ sie trinken. »Tujaychay«, sagte sie mit heiserer Stimme. Danke. Dann nahm sie den Becher mit ihrer unverletzten Hand und leerte ihn. »Der Junge sollte von einer Quelle unten am Weg Wasser holen«, sagte sie, und ihre Stimme klang nun kräftiger. »Er hätte schon längst wieder da sein müssen. Ich konnte bereits die Schafe vom Berg kommen hören, und ich mußte doch unbedingt -21-
mit dem Kochen beginnen. Dann bellten plötzlich unsere Hunde, als würden sie einen Wolf verscheuchen wollen.« Jowa fing an, aus dem Leinenstoff eine Schlinge für ihren Arm zu fertigen. »Ich rannte los. Als ich auf einem Felsvorsprung ankam, sah ich zum erstenmal, wie das Ungeheuer Alta angriff. Es hatte sich auf seinen beiden Hinterbeinen aufgerichtet. Sein Fell sah aus wie das eines Leoparden. Ich lief schneller. Dann bin ich gestolpert und habe mir den Kopf gestoßen. Ich stand auf und rannte weiter. Als ich kam, drehte es sich um. Seine Vorderbeine hatten Klauen, die wie die Hände eines Menschen aussahen, und eine davon hielt ein Messer. Doch es ließ das Messer fallen und nahm einen glänzenden Stock, so lang wie der Arm eines Mannes. Es packte den Stock mit beiden Klauen und schlug mich, als ich die Hand hob. Ich stürzte, und meine Hand brannte wie Feuer. Dann kroch ich zu dem Jungen und warf mich über ihn. Das Ungeheuer kam auf uns zu und schwang den Stock, aber der Blitz hielt es zurück.« »Der Blitz?« »Im Norden. Ein einzelner Blitz. Eine Botschaft. Auf diese Weise sprechen die Dämonen miteinander«, sagte die Frau mit angsterfüllter Stimme. »Das Ungeheuer wich zurück. Dann wurde alles schwarz. Als ich wieder aufwachte, dachte ich zuerst, wir seien beide gestorben und in einer der dunklen Höllen gela ndet, doch mein Mann war da und sagte, es sei inzwischen Nacht.« »Haben Sie das Gesicht dieses Wesens gesehen?« fragte Shan. Der Blick der Frau war unverwandt auf den Jungen gerichtet, der offenbar Alta hieß. Sie schüttelte den Kopf. »Das Ungeheuer hatte kein Gesicht.« Diese Worte ließen Lokesh leise aufstöhnen. Shan drehte sich um. Der alte Tibeter hielt das Handgelenk des Jungen, starrte jedoch besorgt den Weg hinauf, als rechne er jeden Moment mit -22-
dem Auftauchen des gesichtslosen Dämons. Shan beugte sich über das Kind. »Alta, hat es etwas zu dir gesagt? Wußtest du, wer das war? Es war ein Mensch. Es muß ein Mensch gewesen sein.« Der Junge blickte ihn reglos an, und sein Auge wirkte wie ein harter schwarzer Kiesel. Er ließ durch nichts erkennen, ob er Shan gehört hatte. »Es hatte die Gestalt eines Leoparden angenommen«, sagte die Frau. »Falls es wie ein Mensch aussehen will«, fügte sie unheilvoll hinzu, »verwandelt es sich eben in einen Menschen.« »Es gibt eine alte Dämonin«, warf der Nomade beinahe geistesabwesend ein. »Hariti die Kinderfresserin. Manchmal wird sie sehr hungrig. Sobald sie erst mal getötet hat, kann sie nicht mehr aufhören.« Hariti war eine Dämonin des alten Tibet, wußte Shan. Früher hatten die Mönche ihr jeden Tag einen kleinen Anteil der Nahrung geopfert, um so ihre Gier auf Kinder zu besänftigen. Shan betrachtete Lokesh, der wiederum den Jungen ansah. Der alte Mann legte dem Kind kurz eine Hand auf den Kopf, griff dann in seinen Beutel und holte einen Ledersack daraus hervor, in dem mehrere kleinere Behälter verstaut waren. Er öffnete drei dieser Säckchen, entnahm jedem eine Prise Pulver und gab dieses dann in den dampfenden Topf. »Gegen die Schmerzen«, sagte Lokesh. »Er hat sehr starke Schmerzen.« »Was können wir tun?« fragte die Frau. Lokesh warf Shan einen traurigen Blick zu und wandte sich dann zögernd wieder an die Frau. »Es gibt Worte, die gesprochen werden müssen.« Der Satz schien die beiden dropkas wie ein Hieb zu treffen. Die Frau stöhnte auf und krümmte sich. Der Mann vergrub das Gesicht in den Händen. Es gibt Worte, die gesprochen werden müssen. Lokesh meinte die Riten zum Übergang einer Seele. Der verwirrte matte Blick des Jungen lag immer noch auf Shan. -23-
Plötzlich keuchte die Frau erschrocken auf. Shan hob den Kopf und sah, daß sie über seine Schulter starrte. Dort stand Gendun und stellte in seinem Lächeln Buddhas umfassende Gleichmut zur Schau. Der Nomade stieß einen überraschten Schrei aus und verneigte sich, so daß seine Stirn das Gras zu Genduns Füßen berührte. Shan begriff, daß weder der dropka noch seine Frau Gendun bislang bemerkt hatten. Vielleicht hielten sie ihn für eine Erscheinung oder glaubten, Lokesh habe ihn herbeigezaubert. Der Lama legte dem Nomaden eine Hand auf den Kopf und richtete ein kurzes Gebet an den Mitfü hlenden Buddha. Dann wiederholte er das Ganze bei der Frau, die daraufhin etwas ruhiger wurde. Wir hatten sogar einmal einen echten Priester, hatte der Mann gesagt. Aber die Chinesen haben ihn uns weggenommen. Gendun kniete sich neben den Jungen und nahm seine Hand. Dann kam Lokesh an seine Seite, und Gendun legte ihm die andere Hand auf den Kopf und segnete den Heiler. Schweigend musterte der Lama das Kind eine geraume Weile, derweil Shan begann, die Wunden zu waschen. »Ich habe keine Gebete für den Gott dieses Jungen«, sagte Gendun schließlich mild und entschuldigend zu der Frau. Sie warf ihrem Mann einen ängstlichen Blick zu. »Wir lehren ihn unsere Überzeugungen. Er hat eine mala.« Mit großer Anstrengung und unter offensichtlichen Schmerzen beugte sie sich vor und schob den Ärmel des Jungen nach oben. Verwirrt starrte sie auf sein nacktes Handgelenk. »Sie ist weg. Das Ungeheuer hat seine Gebetskette genommen.« Beschämt wich sie den Augen des Lama aus. »Es war sein Wunsch, nach den Lehren Buddhas zu leben.« »Aber betet er noch in Richtung Sonnenuntergang?« fragte Gendun. Die Frau sah zu Boden, als erfülle das Gespräch sie mit -24-
Furcht. Dann schüttelte sie langsam den Kopf. »Er hat gesagt, jener Gott habe den Tod seines Clans zugelassen.« Shan war verblüfft. Der Junge war ein Moslem. Aber woran hatte Gendun das erkannt? Anstatt den Kopf des Kindes zu berühren, hob Gendun nun sanft dessen Handrücken an seine eigene Wange. »Welcher Gott auch immer im Herzen dieses Jungen wohnt, ich werde dafür beten, er möge ihm Kraft geben, um den Schmerz der Gegenwart und Vergangenheit zu bewältigen, und Weisheit, um den vor ihm liegenden Pfad zu erkennen.« Die folgende Stille wurde durch das Krächzen eines Raben unterbrochen. Als sie sich umwandten, sahen sie ihn oben auf dem Felsen sitzen. Der Vogel ließ die Menschen nicht aus den Augen. Der Nomade trat einen Schritt vor, als wolle er etwas zu dem Tier sagen, schaute dann jedoch zurück zu Gendun und blieb stumm, als könne der Lama damit nicht einverstanden sein. »Wir müssen aufbrechen«, sagte Jowa stockend und mit einem unschlüssigen Blick auf den Nomaden. »Nach Norden. Ins Kunlun-Gebirge.« »Diese Leute brauchen Hilfe«, protestierte Shan. »Ja, geht nach Norden«, sagte der dropka und nickte energisch. »Wir haben von den Morden gehört. Deshalb sind wir ja über die Berge geflohen. Es hieß, ihr würdet dorthin reisen, um die Kinder zu retten.« Jowa war die Ungeduld deutlich anzumerken. Shan begriff, was in ihm vorging. Der Fahrer wußte, daß die dropkas in diesem entlegenen Winkel Tibets in einer Welt des Aberglaubens lebten, die sich nur wenig von der Zeit vor dem Buddhismus unterschied, als noch Schamanen das Land regiert hatten. Dem Jungen war etwas Schreckliches zugestoßen, aber solche Leute würden sogar hinter einem Steinschlag einen wütenden Dämon vermuten, und eine menschenähnliche Gestalt -25-
mit Fell konnte sich leicht als Wolf oder Leopard herausstellen. »Wir müssen uns um die getötete Lehrerin kümmern«, sagte Jowa. Der Nomade nickte erneut. »Um Lau«, sagte er. »Unser Alta ist einer ihrer Schüler.« Lokesh zuckte zusammen und sah Gendun an. »Lau war die Lehrerin dieses Jungen?« fragte der Lama. »Er gehörte zur zheli.« Der Mann nickte. »Lau hat uns mit ihm bekannt gemacht, als wir sagten, wir wollten den Kindern helfen.« Bei diesen Worten sah der Nomade den Jungen an. »Die zheli?« fragte Shan. Es war kein tibetisches Wort, obwohl der Nomade ansonsten tibetisch sprach. Doch der Mann schien ihn nicht gehört zu haben. Lokesh seufzte und flößte dem Jungen mehr Tee ein. Dann trug er das Kind an einen windgeschützten Fleck bei den Felsen, der von der Sonne beschienen wurde. Dort lauschte der alte Tibeter abermals dem Herzen, der Schulter und dem Hals des Kleinen und schüttelte zuletzt den Kopf. In seinen Augen standen Tränen. Wortlos und hilflos saßen sie da, während das Licht im Auge des Jungen immer schwächer wurde. Einen schrecklichen Moment lang lag furchtbare Angst in seinem Blick, als sei ihm plötzlich sein Schicksal doch noch bewußt geworden. Er stieß ein Geräusch aus, eine einzige Silbe und dann nichts mehr. Es war womöglich der Anfang einer Frage oder eines Gebets. Vielleicht war es auch nur ein Ausdruck seiner Schmerzen. Aber es kam nichts hinterher, als habe die Anstrengung den letzten Rest seiner Kräfte aufgezehrt. Weinend drückte die Frau die Hand des Kleinen an ihre Wange. Shan kniete neben Alta nieder und beugte sich vor, um irgendwie Trost zu spenden. Doch kurz darauf wich er wieder zurück. Er bekam kein Wort über die Lippen und war wie betäubt angesichts der eigenen Hilflosigkeit und der grausamen -26-
Mißhandlung, die der Junge erlitten hatte. Auch über den Nomaden senkte sich ein hartes düsteres Schweigen. Immer wieder öffnete und schloß er den Mund, als wolle er etwas sagen, doch der überwältigende Schmerz hatte sich seiner Zunge bemächtigt. Endlich, als der Blick des Jungen sich auf den dropka. richtete, fand dieser seine Stimme wieder und begann zärtlich von Frühlingsweiden zu erzählen, von bunten Blumen und jungen Vögeln auf den Südhängen. Es war eigentlich nichts Konkretes, nur schöne Erinnerungen aus ihrem gemeinsamen Leben. Das Antlitz des Kindes wurde ganz friedlich. Jowa, dessen Gesicht ebenfalls von Kummer gezeichnet war, verließ sie und stieg auf die Felsen, um Wache zu halten. Gendun und Lokesh beteten. Der Nomade saß, über den Kleinen gebeugt, da und redete immer weiter, nahezu flüsternd. Und nach einer Stunde gab der Junge namens Alta ein langgezogenes leises Stöhnen von sich und starb. Lange Zeit sprach niemand ein Wort. Schließlich wischte die Frau das Gesicht des Jungen ab und verbarg es unter der Decke. »Nach dem Brauch seines Volkes«, sagte Shan langsam, weil er nicht sicher war, wie die Eltern reagieren würden, »sollte er vor Einbruch der Dunkelheit beerdigt werden.« Der Nomade nickte, und Shan holte eine Schaufel aus dem Lastwagen. Während er das Grab aushob, sammelte die Frau Steine, um die Stelle durch einen kleinen Felshaufen zu markieren. Als der Junge dann in seiner Decke beigesetzt wurde, sprach Gendun mit sanfter Stimme ein buddhistisches Totengebet. Der dropka harrte lediglich fünf Minuten an der Grabstätte aus, seufzte tief und ging dann, um die Pferde zu holen. Shan half der Frau, die Steine am oberen Ende des kleinen Hügels aufzuschichten. »Es ist ein kasachisches Wort«, sagte sie und bezog sich dabei auf die Sprache eines der moslemischen -27-
Völker, die nördlich des Kunlun- Gebirges lebten. »Eine zheli ist ein Seil, das man zwischen zwei Bäume oder Pflöcke spannt, um daran die Stricke der Jungtiere anzubinden. So lernen die Kleinen einander kennen und gewinnen erste Eindrücke ihrer Welt. Lau hat mit diesem Wort ihren Unterricht für die Waisen bezeichnet, ihre ganz besonderen Kinder, denen sie Halt zu geben versuchte.« »Ihr Mann sagte, wir seien gekommen, um die Kinder zu retten. Hat er damit die zheli gemeint?« Die Frau nickte. »Als dieser andere Junge starb, wurde uns klar, daß wir fliehen mußten. Aber wir waren nicht schnell genug.« Neben Shan stöhnte Lokesh auf und beugte sich vor. »Noch ein toter Junge?« fragte er bestürzt. »Noch einer von Laus Schülern?« »Zuerst Lau«, sagte sie. »Dann ein kasachischer Junge in der Nähe von Yutian.« »Kannst du dich an seinen Namen erinnern?« fragte Lokesh drängend. Shan sah seinen Freund verwirrt an. Es klang, als würde Lokesh an einen ganz bestimmten Jungen denken. Die Frau schüttelte den Kopf. »Zur zheli gehören zwanzig, vielleicht fünfundzwanzig Kinder. Kasachen, Tibeter. Und Uiguren«, fügte sie hinzu und benannte damit die größte von Chinas moslemischen Minderheiten. Dann drehte sie sich um und nickte ihrem Mann zu, der die beiden Pferde brachte. Er hatte den Tieren die Sättel abgenommen und schaute nach Norden auf die schneebedeckten Gipfel des Kunlun. »Unser Alta war ein Kasache«, sagte sie leise. »Ein Lama«, richtete Shan sich an den Mann. »Haben Sie von einem vermißten La ma gehört?« Der Nomade schüttelte den Kopf. »Es gibt hier schon seit vielen Jahren keine Lamas mehr. Alle vermissen sie«, sagte er. Anscheinend hatte er die Frage falsch verstanden. Sein Blick -28-
blieb auf die Berge gerichtet. »Ihr müßt euch beeilen«, fügte er auf einmal schroff, beinahe unfreundlich hinzu. »Der Tod geht weiter um. Eine Dämonin hat die zheli gefunden und wird nicht mit dem Morden aufhören.« Shan starrte ihn schweigend an. »Alias Seele ist in Gefahr«, fuhr der dropka fort und klang wieder so elend und verzweifelt wie zuvor. »Ein kleiner Junge wie er und dann so unvorbereitet.« Ein Windstoß fegte über sie hinweg und schien dem Mann die Worte von den Lippen zu reißen. Er hielt inne und sah Gendun an. Der Nomade befürchtete, die Seele des Kindes würde hilflos umherstreifen, da ihr jeglicher Halt durch Glaube oder Familie fehlte. Auf diese Weise wäre sie leichte Beute für alle Wesenheiten, die ihr hier draußen auflauern mochten. Gendun erwiderte den Blick des Mannes einen Moment lang und sprach dann mit Jowa, der ihm ein Stück Leinwand und einen Bleistiftstummel brachte, dessen Ende er zuvor im Feuer geschwärzt hatte. Der Lama zog sich hinter einen abseits gelegenen Felsvorsprung zurück und begann unter Rezitation eines Mantras mit der Arbeit. Jowa hö rte zu und beobachtete ihn eine Weile, holte dann einen alten Besen von der Ladefläche des Lastwagens, klemmte ein Ende unter eines der Räder und brach den Stiel ab. Als Gendun zurückkehrte, legte er das Stück Stoff vor den Nomaden auf den Boden. Der Mann stieß einen Laut der Überraschung aus und hob den Kopf seiner Frau an, damit auch sie sah, was der Lama ihnen dort gebracht hatte. Unterdessen band Jowa die Leinwand an den Besenstiel. Es handelte sich um einen sehr alten und selten angewandten Zauber. Er bestand aus der Zeichnung eines Skorpions, in dessen Maul Flammen loderten. Aus den Schultern des Tiers ragten Dämonenköpfe hervor, zu deren beiden Seiten etwas geschrieben stand. Eine Bannformel gegen Dämonen, der durch die Worte eines Lamas Macht verliehen worden war. -29-
Der Mann erhob sich und nickte feierlich. »Wir werden eine Ziege freikaufen, Rinpoche«, sagte er. »Unser alter Priester hätte uns bestimmt dazu geraten.« Durch den Freikauf eines zur Schlachtung vorgesehenen Tiers, das daraufhin zumeist mit einem Band am Ohr gekennzeichnet wurde, beschwichtigte man die Gottheiten, die vor den Buddhisten in Tibet geherrscht hatten. »Dann solltet ihr das auch tun«, entgegnete Gendun ernst. Jowa ließ den altersschwachen Motor des Lastwagens an und bog auf den Pfad ein. Shan beobachtete indessen, daß Gendun sich wieder hinter den Felsvorsprung zurückzog. Er folgte ihm und fand den Lama im Gras sitzend vor, die Augen nach Süden, in Richtung der Einsiedelei gewandt, in der er fast sein gesamtes Leben verbracht hatte. »Ich fürchte, es hat bereits angefangen«, sagte der Lama und bedeutete Shan, neben ihm Platz zu nehmen. »Wir haben es betreten, aber wir kommen zu spät.« »Was haben wir betreten, Rinpoche?« fragte Shan. Gendun ließ den Blick über die Berge schweifen und seufzte. »Es hat keinen Namen«, sagte er. »Es ist die Heimat der Dämonen, die Kindern nach dem Leben trachten.« Shan wußte, daß Gendun mit dieser Beschreibung keinen konkreten Ort meinte, sondern vielmehr von einer Geisteshaltung sprach, vom Bestandteil einer haßerfüllten Seele, der sich seinem Verständnis auf ewig entziehen würde. »Es ist ein einsames Land.« Gendun betrachtete das windumtoste Plateau. »Hier wurde ich geboren.« »Hier?« fragte Shan und folgte dem Blick des Lama. »Auf der Changtang?« Unter allen verlassenen und abgeschiedenen Regionen Tibets war die Changtang-Hochebene die verlassenste und abgeschiedenste. -30-
Gendun nickte. »Im Schatten des Kunlun-Gebirges. Aber als ich jung war, Xiao Shan, gaben meine Eltern mich zu den Mönchen, denn der Krieg brach über das Land herein, und die Mönche nahmen mich mit nach Lhadrung.« Xiao Shan. Gendun benutzte die alte chinesische Anrede für eine jüngere Person, wie es sonst vielleicht sein Vater oder Onkel getan haben würde. Kleiner Shan. Der Lama sah zu einer schwarzen Wolke, die über die Berghänge glitt und vermutlich einen Schneesturm mit sich brachte. »In meiner Erinnerung war dies eine glücklichere Gegend. Jetzt jedoch…« Der Lama wies auf den Pfad und seufzte. »Jetzt jedoch glaube ich, daß diese Straße uns an einen Ort führen wird, an dem du nicht sein solltest, Xiao Shan.« Es klang wie eine Entschuldigung. Gendun wollte damit andeuten, daß dermaßen viele Morde zwangsläufig das Interesse der Behörden wecken mußten. »Ich weiß, wie es um die Sache zwischen dir und den anderen Chinesen steht.« Drei Tage zuvor hatte Shan Brennmaterial für ihr Lagerfeuer gesammelt und bei seiner Rückkehr gerade noch mitbekommen, daß Jowa dafür plädierte, ihn zurückzuschicken. »Er wurde nie offiziell entlassen, sondern hat lediglich die Erlaubnis erhalten, sich frei im Bezirk Lhadrung zu bewegen«, hatte der purba dem Lama erklärt. »Außerhalb von Lhadrung gilt er nach wie vor als Krimineller, als entflohener Strafgefangener. Die Soldaten können das überprüfen.« Als Gendun nichts darauf erwiderte, hatte Jowa die Stimme erhoben. »Man wird ihn hinter das Gefängnis führen und ihm dort eine Kugel in den Kopf schießen. Und wir anderen werden uns wegen der Beherbergung eines flüchtigen Verbrechers verantworten müssen.« »Sollten wir alle uns demnach lieber von der Furcht gefangennehmen lassen?« hatte Gendun ihn ruhig gefragt und dann Shan zugenickt, der sich mit einem Arm voller Dungfladen genähert hatte. »Das ist bloß die Art der Regierung, mir ihre Wertschätzung zu bezeugen«, hatte Shan mit gezwungenem Lächeln festgestellt -31-
und dabei an die Mönche und Lamas im Arbeitslager gedacht, die sich bisweilen bei ihren Aufsehern dafür bedankten, daß man sie einem so unerbittlichen Test ihres Glaubens unterzog. Damit hatte das Gespräch geendet, und Shan hatte den Gedanken verworfen, seinerseits Jowa darum zu bitten, Gendun nach Hause zu bringen. Ihm war bewußt, welches Schicksal ihm selbst drohte, falls er in die Fänge der Behörden geriet. Aber er wußte auch, was in einem solchen Fall mit Gendun geschehen würde, der nicht nur keine offizielle Identität besaß, sondern zudem gesetzeswidrig ein Priester war. Es gab spezielle Orte für Leute wie Gendun, Orte ohne Licht und Wärme, Orte, an denen manchmal medizinische Experimente vorgenommen wurden oder Psychiater im Auftrag der Partei bestimmte Techniken ausprobierten, um reaktionäre Priester in dankbare neue Proletarier zu verwandeln. Ich weiß, wie es um die Sache zwischen dir und den anderen Chinesen steht. Gendun bezog sich nicht nur auf die physische Gefahr. Shan erinnerte sich an ihre letzte gemeinsame Lehrstunde, während der sie auf einem Felsen außerhalb der Einsiedelei gesessen hatten. Vier Monate lang hatte Gendun ihm erzählt, daß die Entlassung aus einem Gefängnis nicht automatisch die Freiheit bedeutete, denn schließlich hätten drei Jahre Sklavenarbeit seelische Narben hinterlassen, die nie mehr ganz heilen würden. Die größte Gefahr für Shan bestünde darin, sich wie ein Flüchtling zu verhalten, denn ein Flüchtling war nur ein Häftling ohne Zelle. Als der Lama dann vorsichtig durchblicken ließ, Shans größte Chance auf Heilung läge vermutlich außerhalb Chinas in irgendeinem anderen Land, hatte Shan ihm den zwei Monate alten Brief eines Beauftragten der Vereinten Nationen gezeigt, in dem man ihm politisches Asyl im Westen in Aussicht stellte, sofern er bereit sein würde, öffentlich über die Arbeitslager und Pekings systematische Vernichtung der Kulturgüter auszusagen. Vorausgesetzt, ihm gelang die Flucht aus China. Aber da ließe sich bestimmt etwas -32-
machen, ha tte der purba gesagt, der den Brief zu ihm geschmuggelt hatte. Nun streckte Shan die Hand aus, an der noch immer Alias Blut klebte. So sprachen sie oft miteinander, nicht mit Worten, sondern durch Gebärden und Symbole. Es sterben hier Kinder, sagte diese Geste, und Gendun nickte bekümmert. Falls Shan nun floh, würde es ihm niemals gelingen, den furchtbaren Anblick des sterbenden Jungen zu vergessen, der ihn stumm, verängstigt und verwirrt angestarrt hatte. »Das einzig Konstante ist die Veränderung«, sagte Gendun. Dieser Satz war eine Art persönliches Mantra zwischen ihnen geworden, seit sie ganz am Anfang ihrer gemeinsamen Tage festgestellt hatten, daß diese Lehre nicht nur in Genduns buddhistisch geprägtem Leben eine Rolle spielte, sondern auch in den taois tischen Lektionen aus Shans Jugend auftauchte. Zusammen hatten sie erkannt, daß Shans Weg alles andere als gleichbleibend verlief und daß der verdorrte Geist, mit dem er aus China eingetroffen war, vorerst neue Wurzeln in Tibet geschlagen hatte, obwohl unter dem toten Holz noch so manche der alten Schößlinge verborgen lagen und sich mit den neuen Trieben verbanden. Jowa drückte auf die Hupe des Lasters, doch Gendun schien es nicht zu hören. Shan sah, daß er die Hände fest verschränkt hatte, als würde er etwas in ihnen bergen. Der Lama streckte die Arme aus, und als Shan ihm die eigene Hand entgegenhielt, ließ Gendun etwas hineinfallen. Eine Feder. Eine fünf Zentimeter lange Feder, die am unteren Ende ein zartes schwarzbraunes Muster aufwies, dann schneeweiß wurde und an der Spitze mit winzigen schwarzen Punkten übersät war, als hätte jemand sie flüchtig mit Tinte bestäubt. Fasziniert beobachtete Gendun, wie sie auf Shans Handfläche sank. Dann stand er auf und ging zum Wagen. Jowa gab schonungslos Gas, als wäre ihnen jemand dicht auf -33-
den Fersen. Der uralte Lastwagen polterte durch Schlaglöcher, rutschte immer wieder in die tief ausgefahrenen Furchen des Weges oder mußte unter heftigem Rütteln plötzlich zum Stehen gebracht werden, wenn im Schein des Standlichts die Überreste eines Steinschlags vor ihnen auftauchten. Jowa weigerte sich, die Scheinwerfer einzuschalten, denn die Gebirgspatrouillen der Soldaten waren gelegentlich auch nachts unterwegs. Shan hatte die Feder in dem gau verstaut, das er um den Hals trug. Während der Wagen sich weiter durch die Finsternis vorantastete, schloß Shan die Hand um das Medaillon und begann nachzudenken. Stellte die Feder einen Hinweis dar? Oder gar ein gutes Omen? Dann jedoch sah er wieder den sterbenden Jungen vor sich und verneinte die Frage. Wahrscheinlich sollte dieses Zeichen der Schönheit ihm lediglich etwas Halt geben, je näher er sich mit der Scheußlichkeit der Morde auseinandersetzen mußte. Stunden später, nachdem Shan und Lokesh abermals einen Felsbrocken von der Straße gerollt hatten und wieder auf die Ladefläche des Lastwagens kletterten, gesellte Jowa sich zu ihnen und überprüfte die Fässer, die mit Seilen an dem metallenen Fahrzeugrahmen festgezurrt waren. Die meisten der Behälter enthielten Salz, das in den Lagerstätten des Zentralplateaus gewonnen wurde und in dieser Region schon seit Jahrhunderten zu den wichtigsten Handelsgütern zählte. Direkt hinter dem Führerhaus standen jedoch unter einer ölbefleckten Plane zwei leere Fässer verborgen, die Shan und Gendun als Versteck dienen sollten, falls sie auf eine Patrouille stießen. Dies war bereits ihr dritter Wagen, denn schon zweimal hatten sie ihren Weg durch das Gebirge nur auf dem Pferderücken fortsetzen können, jeweils geführt von Männern, die allein mit Jowa sprachen. Jeder der Wagen hatte ähnliche Salzfässer geladen, einschließlich zweier Attrappen mit sorgfältig präparierten, knapp zehn Zentimeter hohen und mit Salz gefüllten Einsätzen, die den Hohlraum vollständig tarnten. -34-
Lokesh und Jowa würden mit ihren Papieren vermutlich als Salzhändler durchgehen können, aber Shan und Gendun blieb nur die Möglichkeit, sich zu verstecken. Jowa half, Lokesh in eine Decke zu wickeln. Obwohl auf den vorderen Sitzen genug Platz war, hatte der alte Tibeter sich im Verlauf der Reise fast jedesmal dafür entschieden, lieber hinten bei Shan zu bleiben. Während er sich mit dem Rücken an das Führerhaus lehnte, kehrte Jowa zum hinteren Ende des Fahrzeugs zurück. Dort hielt er einen Moment inne und stützte sich gegen eine der metallenen Streben. »Kurz vor Sonnenaufgang werden wir jemanden treffen«, verkündete er durch die Dunkelheit. »Wen?« fragte Shan. »Jemanden, der uns dorthin bringen wird«, erwiderte Jowa in dem distanzierten, beinahe ablehnenden Tonfall, den er Shan gegenüber stets an den Tag legte. »Wohin?« »An den Ort, an den wir uns begeben müssen.« Shan seufzte. »Du glaubst noch immer, ich würde nicht hierhergehören.« »Man hat mir gesagt, ich solle dich herbringen, also bringe ich dich her.« »Warum?« Jowa stieß ein hohles, bitteres Lachen aus. »Für die alten Lamas gibt es kein Warum. Der Frau war bestimmt, ermordet zu werden. Dir war bestimmt, an diesen Ort zu kommen.« »Nein, ich meine, warum du? Du hättest dich weigern können.« »Ich kenne diese Gegend. Vor einigen Jahren habe ich hier oben dabei geholfen, die Armee zu beobachten.« »Du hättest dich weigern können«, wiederholte Shan. -35-
Diesmal dauerte es etwas länger, bis Jowa antwortete. Als er dann das Wort ergriff, klang seine Stimme sanfter. Nicht unbedingt freundlich, aber auch nicht abweisend. »Die Lamas werden alt. Ich weiß nicht, was ohne sie aus Tibet werden soll. In zwanzig, dreißig Jahren - wer wird dann in die Einsiedlerklausen steigen? Wer wird dann im Innern eines Berges leben, weil die Seele des Landes Hilfe braucht?« »Du womöglich.« »Nein. Ich nicht. Niemand wie ich. Die Chinesen haben mich auf einen anderen Weg geführt. Ich bin vom Haß vergiftet«, stellte er sachlich fest, als spräche er von einer körperlichen Beeinträchtigung. »Ich habe eine Waffe abgefeuert.« Er blickte zum Mond empor, und zum erstenmal glaubte Shan Traurigkeit auf dem Gesicht des purba zu entdecken. »Wie könnte ich je hergehen und mich in einen Berg setzen, wo ich doch eine Waffe abgefeuert habe?« Jowa hatte sich diese Frage offenbar schon viele Male gestellt. »Und wer bleibt sonst noch übrig?« Er sprang von der Ladefläche und verharrte im Mondschein. »Als man mir die Mönchslizenz entzogen hat und ich in den Untergrund ging«, sagte er, an den Mond gewandt, »war ich noch fest davon überzeugt, Tibets größtes Problem sei der mangelnde Widerstand. Es kam mir so vor, als würden wir uns jedem Konflikt dermaßen wortreich entziehen, daß wir am Ende für gar nichts mehr eintraten.« Er schüttelte den Kopf und schaute weg, in Richtung der dunklen Gipfel. »Heute…« Er zuckte die Achseln. »Im Gefängnis beschloß ich, wir seien wohl zu wenige, um offenen Widerstand zu leisten, und müßten uns daher auf den Schutz der Lamas beschränken und so unsere Traditionen dem Zugriff Pekings entziehen. Aber die Sache ließ mir keine Ruhe. Unsere Traditionen sind die Lamas, und die Lamas sind genauso sterblich wie wir anderen auch. Wir können versuchen, Peking aufzuhalten, aber die Zeit werden wir nicht besiegen. Falls die Lamas nicht überleben, falls das, wofür sie stehen, nicht weitergegeben wird, was für einen Sinn hat dann -36-
alles noch?« Shan erkannte, daß Jowa ihm tatsächlich in gewisser Weise erklärte, weshalb er das ungleiche Trio auf dieser rätselhaften Mission begleitete. Im Mondlicht sah Shan ihn erneut die Achseln zucken. »Sie bitten uns so gut wie nie um etwas. Es ist unmöglich, einfach nein zu sagen.« Doch Shan wußte, daß Jowa auch die tieferen Zusammenhänge durchaus begriff. Die Lamas taten nichts aus reinem Zufall. Sie hatten sich nicht an Jowa gewandt, weil er einen Lastwagen fahren konnte oder als Widerstandskämpfer mit dieser Region vertraut war. Sie hatten sich an ihn gewandt, weil er Jowa war. »Dieser Nomade und seine Frau«, sagte Shan, als Jowa sich anschickte zu gehen. »Wie konnten sie über uns Bescheid wissen? Das alles hätte doch geheim bleiben müssen. Ich dachte, die Nachricht wäre durch die purbas nach Lhadrung gelangt, und niemand sonst hätte von unserer Reise erfahren.« »So ist es auch gewesen. Die purbas wissen, wie man ein Geheimnis bewahrt.« »Die beiden sagten, wir seien gekommen, um die Kinder zu retten. Zwei Jungen sind bereits tot.« »Eine Lehrerin ist gestorben und ein Lama verschwunden. Mehr hat man mir nicht gesagt.« Jowa ging um die Ecke des Wagens. Kurz darauf erwachte dröhnend der schwere Motor zum Leben. Shan nahm eine Mütze vom Boden, eine zerlumpte wattierte Armeemütze mit dicken Ohrenklappen. Er setzte sie auf und lehnte sich gegen eines der seitlichen Fässer, so daß er den Mond im Auge behalten konnte. Die purbas hatten ihnen die geheime Botschaft vom Tod der Frau gebracht. Inzwischen reiste mit den Nomaden allerdings ein weiteres Geheimnis Richtung Süden, das von Kindern und Tod handelte und von den Fremden aus Lhadrung, die zu Hilfe eilten. -37-
Sie kamen an einem Wasserfall vorbei, der wie ein Strom aus glitzernden Diamanten wirkte. Neben Shan ertönte ein leises kehliges Brummen. Lokesh war eingeschlafen. Shan vergrub die Hände tief in den Jackentaschen, um sich zu wärmen, und umfaßte dabei das kleine Tongefäß, das Gendun ihm am Abend ihrer Abreise gegeben hatte. Es enthielt heiligen Sand aus dem Mandala. Shan schloß den Griff fest darum und starrte zum Himmel. Der Mond, den er dort sah, war nicht mehr derselbe Mond wie im Tiefland, im China seines ersten Lebens. Wie so vieles andere in seinem zweiten Dasein, seinem tibetischen Leben, war der Mond hier wesentlich absoluter als damals in Peking. In Tibet leuchtete er dermaßen strahlend und rein, wirkte so unglaublich nahe, daß man geneigt war, den alten Geschichten zu glauben, nach denen umherstreifende Seelen sich manchmal im Mondgebirge verirrten. Es gab Nächte, in denen Shan sich in solch einem Mond verlor und stundenlang von der Schönheit des Anblicks gefangengenommen wurde. Heute nacht jedoch ließ der tote Junge ihm keine Ruhe und lenkte ihn von der Schönheit ab. Ihr müßt euch beeilen, hatte der Mann gesagt. Der Tod geht weiter um. Jeder andere hätte das als Aufforderung zur Flucht verstanden, um selbst dem drohenden Verhängnis zu entgehen. Shan hingegen begriff es als Aufforderung, sich dem Tod zu stellen. Eine Woge der Hilflosigkeit schlug über ihm zusammen, und er wußte, daß sein Antlitz in diesem Moment genauso traurig und verwirrt wirkte wie bisweilen die Mienen der Tibeter. Bei ihrem Aufbruch sieben Nächte zuvor hatten sogar einige der Lamas auf diese Weise dreingeschaut. Nach allem, was sie ihm erzählt hatten und was Gendun ihm immer noch fortwährend erzählte, hätten sie genausogut die Worte des Nomaden wählen können. Ihr müßt euch beeilen. Der Tod geht weiter um. Mehr konnten die Lamas nicht begreifen. Mord war ein unbekanntes Land für sie, und Shan fungierte als ihr -38-
Abgesandter.
-39-
Kapitel Zwei Nach Mitternacht, als sie wieder einmal halten mußten, um Felsen aus dem Weg zu räumen, glaubte Shan weit vor ihnen ein Geräusch zu vernehmen. Es war ein metallisches Rattern, wie von einer Maschine. Er hörte es auch nur ganz kurz. Dann war alles wieder still, und Shan war sich nicht sicher, ob er seinen Ohren trauen durfte. Hier in der dünnen Hochgebirgsluft war auf den Schall nicht immer Verlaß. Es konnte ein Wage n auf der einsamen Straße vor ihnen sein. Oder ein Flugzeug irgendwo in der Ferne. Niemand kam auf das Geräusch zu sprechen, aber als sie ihre Arbeit beendet hatten, überprüfte Jowa mit einer kleinen Laterne die beiden leeren Fässer und bestand dann darauf, daß Gendun und Lokesh die Plätze tauschten. Falls er dreimal hintereinander hart bremste, sollten Gendun und Shan sich sofort verstecken. Doch als es soweit war, blieb nicht genug Zeit für ein Warnsignal. Der plötzliche Halt des Wagens riß Shan aus tiefem Schlummer. Dann hörte er Jowa ärgerlich etwas rufen, anscheinend an jemanden auf der Straße gewandt. Schnell half er Gendun in eines der Fässer, schloß den Deckel und spähte vorsichtig über das Dach des Führerhauses. Jowa schaltete die Scheinwerfer ein. Neben einem schweren roten Lastwagen befand sich ein halbes Dutzend Männer. Das Fahrzeug war ungefähr so groß wie Jowas Lastwagen, allerdings längst nicht so alt. Die Motorhaube stand offen, und auf dem Weg verstreut lagen ein Ersatzrad sowie mehrere metallische Gegenstände, bei denen es sich um Teile des Motors handeln konnte. Die Fremden gehörten weder zur Öffentlichen Sicherheit noch zur Armee, stellte Shan erleichtert fest. Er sah, daß Jowa mit einem von ihnen sprach, einem großen, breitschultrigen -40-
Chinesen, der ein weißes Hemd trug. Jowa deutete auf den roten Wagen und die Straße, die durch das Rad und die Metallteile blockiert wurde. Zwei der Männer, beide mit hellbraunen Hemden und Hosen bekleidet, beugten sich über das Rad und schauten immer wieder zu dem Mann mit dem weißen Hemd. Ein weiterer Mann hatte einen Fuß auf die vordere Stoßstange des roten Lasters gestellt und schaute zum Himmel. Die letzten beiden Fremden standen direkt hinter dem Mann, der mit Jowa sprach. Sie alle waren Han-Chinesen, und obwohl ihre Körperhaltung nicht militärisch steif wirkte, ließen ihre forschenden Blicke Shan sofort an Soldaten denken. Er nahm den Lastwagen genauer in Augenschein. Auf der Fahrertür war ein Emblem zu sehen, das in dem trüben Licht aus zwei nach oben ausgestreckten Armen zu bestehen schien, deren Hände sich trafen. Leise stieg Shan von der Ladefläche und schlich sich im Dunkeln und außerhalb des Sichtfelds der Fremden an der abgewandten Seite ihres eigenen Wagens bis zur Beifahrertür nach vorn, um dort einen weiteren Blick über die Haube zu werfen. Was kam ihm an diesen Männern nur so eigentümlich vor? Sie waren gut gekleidet, trugen alle die gleichen ordentlichen braunen Sachen, außer der Mann in dem weißen Hemd, der mit Jowa sprach. Sie schienen nicht bewaffnet zu sein; drei von ihnen hatten lediglich große Schraubenschlüssel in den Taschen stecken, und einer hielt einen Hammer. Zwei der Männer trugen dicke Holzstäbe am Gürtel, die wie Schlagstöcke aussahen. Im Führerhaus des anderen Lastwagens entdeckte Shan eine Gestalt auf dem Beifahrersitz, deren Gesicht nicht zu erkennen war. Hin und wieder leuchtete dort ein orangeroter Punkt auf, und aus dem Fenster stieg eine Rauchwolke empor. Shan sah zu dem Mann, der in den Himmel blickte. Das Ungeheuer sei von einem Blitz weggerufen worden, hatte die Frau gesagt. Auf diese Weise sprachen die Dämonen miteinander. -41-
Die Reparatur würde nur noch wenige Minuten dauern, hörte Shan den Mann mit dem weißen Hemd zu Jowa sagen. Aber niemand schien am Motor zu arbeiten. Der Mann fragte, wohin Jowa unterwegs sei. Nach Norden, lautete die Antwort, um dort Salz zu verkaufen. Die beiden Männer hinter dem Sprecher zogen sich ein Stück zurück, als wollten sie sich außerhalb von Jowas Reichweite halten, und gingen dann im Bogen auf den Lastwagen der Tibeter zu. »Können wir Ihnen behilflich sein?« fragte Jowa laut und behielt die beiden Männer im Blick, die sich nun seiner offenen Fahrertür näherten. »Im Norden ist nichts«, stellte der Fremde mit dem weißen Hemd in skeptischem Tonfall fest. Keiner seiner Begleiter hatte bislang ein Wort gesagt. »Nur Banditen.« Lokesh stieg aus dem Wagen und trat an Jowas Seite. Der Mann mit dem weißen Hemd starrte ihn durchdringend an. Shan wurde klar, daß er sich womöglich geirrt hatte. Die Öffentliche Sicherheit trat nicht zwangsläufig uniformiert auf. Aber sie trug Maschinenpistolen, nicht Schraubenschlüssel. »Bist du ein Bandit, alter Mann?« fragte der breitschultrige Chinese mit humorlosem Grinsen. Seine tiefe Stimme hallte von der Felswand wider. »Wo wollt ihr hin, daß ihr mitten in der Nacht hier herumschleicht?« »Salz«, erwiderte Lokesh krächzend und tat dann etwas, das Shan während ihrer Zeit im Gefängnis oft an ihm beobachtet hatte. Sein Kopf begann zu zittern, gefolgt von seinem Arm, als hätte er sich nicht mehr unter Kontrolle und würde unter einer Alterskrankheit leiden. »Gutes tibetisches Salz. Wir reisen so weit, wie es nötig ist, um unser Salz zu verkaufen.« Noch immer zitternd, trat der alte Tibeter auf den Mann zu, der einen Schritt zurückwich und irgendwie erschrocken wirkte. »Wollen Sie es nicht vielleicht kaufen, damit wir umdrehen und heimfahren können? Dieser alte Lastwagen tut meinen Knochen weh. Ich -42-
will nach Hause.« Der Chinese umkreiste Lokesh einmal vollständig, ohne ihn aus den Augen zu lassen, und stieß dann ein leises Lachen aus. »Man braucht Papiere, um etwas verkaufen zu dürfen, alter Mann. Ich wette, ihr habt keine Papiere. Deshalb fahrt ihr auch nur nachts.« Shan überlegte angestrengt. Falls diese Fremden Straßenräuber waren - was konnten die Tibeter ihnen anbieten, um sie zu beschwichtigen? Ein altes Fernglas. Eine Wochenration Vorräte. Eventuell sogar den Wagen und die Salzfässer. Einen beklemmenden Moment lang sah er vor seinem inneren Auge, wie die Chinesen mit dem Wagen wegfuhren, während Gendun weiterhin in seinem Faß steckte. Die beiden Männer gingen zum hinteren Ende des Fahrzeugs und leuchteten mit ihren Laternen die Ladefläche aus. Der Mann in Weiß schaute zum Führerhaus seines eigenen Wagens und zu der glimmenden Zigarette, die dort in der Dunkelheit hing. Plötzlich stand Shan im hellen Schein zweier Laternen, die von hinten auf ihn gerichtet wurden. Er erstarrte wie ein verschrecktes Tier. Die Männer packten ihn an den Ellbogen und zogen ihn zu dem Mann mit dem weißen Hemd. Der Anführer umkreiste Shan wie zuvor Lokesh und stellte sich dann dicht vor ihn. Die Enttäuschung war ihm deutlich anzusehen. Er beugte sich nah an Shans Ohr. »Dreh diesen verdammten Heuschrecken niemals den Rücken zu«, flüsterte er. »Sonst ha uen sie dir einen Felsen auf den Schädel und behaupten, es sei ein Steinschlag gewesen.« Heuschrecken. So wurden die Tibeter oftmals von den Chinesen bezeichnet. Es war eine Anspielung auf das Geräusch ihrer eintönig summenden Mantras. Der Mann sah sich mit breitem Grinsen um. Offenbar hatte ihn sein eigener Ratschlag auf eine Idee gebracht. Dann baute er sich vor den drei Männern auf. »Ich glaube nicht, daß wir euch heute nacht nach Norden -43-
durchlassen können«, verkündete er. Die Männer, die vorgeblich an dem Reifen gearbeitet hatten, standen auf, als hätten sie lediglich auf dieses Stichwort gewartet. Shan sah zu Jowa, der sehr angespannt wirkte. Dann steckte er die Hände in die Taschen und schlurfte gemächlich ein Stück nach vorn, bis er vor Jowa stand. »Das solltet ihr aber«, sagte er leutselig. Der Mann mit dem weißen Hemd schien amüsiert zu sein. Er zog eine Schachtel Zigaretten aus der Tasche und zündete sich eine an. »Warum denn, Genosse?« Er stellte sich seitlich hin, als wolle er sichergehen, daß Shan die Männer hinter ihm bemerkte. »Weil die Volksbefreiungsarmee hinter uns her ist«, teilte Shan ihm lakonisch mit. Das Grinsen des Mannes wurde noch breiter. »Hinter euch drei und einem uralten Lastwagen?« fragte er zweifelnd. »Du kennst doch die Armee.« Shan ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Manchmal wollen sie einfach bloß in Übung bleiben.« Er erwiderte den Blick des Mannes unbeirrt, und dessen Grinsen verschwand. Der Fremde nickte einem seiner Leute zu, woraufhin dieser zum Lastwagen rannte und mit dem Schatten neben der Beifahrertür verschmolz. Dann starrte er Shan, Lokesh und Jowa ein weiteres Mal durchdringend an, als wolle er sich ihre Gesichter einprägen. Nach einem kurzen Blick zum Führerhaus des roten Lasters schnippte er mit den Fingern. Seine Männer brachen sofort in hektische Aktivität aus. Nach weniger als einer Minute war die Straße frei. »Seid vorsichtig, Genossen«, warnte der Mann mit frostiger Stimme. »Hier lauern überall Banditen.« Jowa wich zum Wagen zurück und ließ dabei die Fremden nicht aus den Augen. Shan zog Lokesh zur Beifahrertür. Wenige Sekunden später saßen sie auf ihren Plätzen und fuhren davon. -44-
Eine Viertelstunde lang folgten sie den Serpentinen über einen hohen Gebirgskamm und hielten unmittelbar hinter der Gratlinie, um Gendun aus seinem Faß zu helfen. Als Lokesh ausstieg, berührte Jowa Shans Arm. »Ich weiß nicht, wer das war«, sagte er. »Zuerst dachte ich, es seien Soldaten.« Shan begriff, daß Jowa ihn um eine Erklärung bat. »Wir sind hier nicht weit von der indischen Grenze und der Straße nach Pakistan entfernt. Das waren Schmuggler. Vielleicht haben sie auf eine Lieferung gewartet.« Jowa zog die Landkarte hervor und stieg ebenfalls aus, um sie im Schein des Standlichts zu konsultieren. Shan wandte den Kopf und warf einen Blick durch die Heckscheibe. Auf der Ladefläche war niemand zu sehen. Er schaute in den Außenspiegel. Dort entdeckte er Lokesh, der mitten im Mondlicht allein auf dem Boden saß. Shan sprang heraus und lief zum hinteren Ende des Fahrzeugs. Lokesh hielt seine Gebetskette an die Brust gepreßt und zählte hastig die Perlen ab. Shan stieg auf die Ladefläche. Die beiden Fässer waren leer. Gendun war verschwunden. Mit geballten Fäusten verharrte Shan neben dem Faß, in dem sie Gendun versteckt hatten. An einem Brett über dem Faß hing ein kleines weißes Stück Stoff. Eine khata, ein Gebetsschal. Shan band ihn los und betrachtete ihn verwirrt. »Wo ist Gendun?« rief er voll Sorge, lief zu Lokesh und packte dessen Schulter. Lokesh blickte zum Himmel empor und musterte die Sterne, als könnten sie ihm Genduns Aufenthaltsort verraten. »Er ist nicht mehr da«, stellte er mit verzagter Stimme fest. Shan rannte ein Stück den Weg entlang und rief dabei Genduns Namen. Seine Hand verkrampfte sich um die khata. Der Lärm scheuchte einen Vogel von seinem Schlafplatz auf und ließ ihn quer über das Antlitz des Mondes fliegen. Shan drehte sich um und sah, daß inzwischen Jowa auf der Ladefläche stand und die leeren Fässer anstarrte. Er lief zurück und ging -45-
neben Lokesh in die Hocke. »Wo ist Rinpoche?« wiederholte er verzweifelt. »Haben diese Männer ihn gefangengenommen?« »Lokesh, versteh doch…«, rief Jowa hinter Shan. »Er ist unser…« Seine Stimme erstarb, und sein Blick richtete sich auf den dunklen Horizont. Der Wind schien zuzunehmen. Es war ein kalter Wind, und er roch nach Schnee. »Vielleicht haben wir ihn verloren«, sagte Shan mit brüchiger Stimme. »Er könnte auf der steilen Straße vom Wagen gefallen sein.« »Man hat ihn bestimmt entführt«, erklärte Jowa. »Das waren diese Mistkerle in dem roten Lastwagen. Und wir sind einfach weggefahren.« »Manchmal«, sagte Lokesh mit einem langgezogenen Seufzen, »wird ein Lama einfach nur fortgerufen.« Seine Stimme klang ruhig, aber sein Blick war freudlos. Er sah den Gebetsschal in Shans Hand, dessen Ende im Wind flatterte, und griff danach. Shan ließ los. Der alte Tibeter legte sich die khata auf den Oberschenkel und strich zaghaft darüber, während er zugleich dankbar lächelte. Er schien sich vergewissern zu wollen, daß ihr Reisegefährte tatsächlich der Gendun aus Fleisch und Blut gewesen war. Shan ließ sich neben ihm zu Boden sinken, doch das Herz wurde ihm so schwer, daß er kein Gebet über die Lippen bekam. Gendun war vermutlich bei den Fremden in dem roten Lastwagen, die wie Angehörige der Öffentlichen Sicherheit gewirkt hatten und einen Mann wie den Lama innerhalb weniger Stunden mit Haut und Haaren verschlingen konnten, falls ihnen der Sinn danach stand. Bestenfalls irrte Gendun nun allein durch die Bergwildnis. Ausgerechnet Gendun, der bis vor einer Woche kaum etwas von der Außenwelt mitbekommen hatte. Mit plötzlichem Schmerz erinnerte Shan sich an ihr erstes Treffen in der versteckten Einsiedelei. Gendun hatte sich über die Uhr an Shans Handgelenk gewundert. Als Shan sie ihm reichte, hatte -46-
Gendun daran gelauscht und den Kopf geschüttelt, nicht nur wegen des technischen Wunderwerks, sondern auch als Reaktion auf die Vorstellung, daß jemand glauben konnte, Bedarf für einen solchen Gegenstand zu haben. »Ach, ihr Chinesen«, hatte er lächelnd gesagt. Jowa wendete den Wagen und fuhr langsam wieder zurück, während Shan auf dem Trittbrett stand, sich am Außenspiegel festhielt und immer wieder Genduns Namen rief. Jowa schaltete die Scheinwerfer ein. Nach ungefähr einer Meile hielt er an und stellte den Motor aus. Schweigend saß er am Lenkrad, umklammerte es fest und verzog gequält das Gesicht. Shan sah ihn kurz an. Was war der Grund für diesen Schmerz? Litt Jowa darunter, daß er als Krieger keinen Feind fand, oder mußte er an seine eigenen Worte denken, daß nämlich alles keinen Sinn mehr hatte, wenn die Lamas nicht überlebten? »Was ist, wenn es auf diese Weise endet?« fragte Jowa. Seine Stimme war kaum lauter als ein Flüstern. »Der letzte der Alten verschwindet einfach. Und die Welt taumelt weiter voran, ein Körper ohne Seele.« Er sah zu einer hohen Klippe, die sich vor dem Himmel abzeichnete, ein riesiger schwarzer Umriß in einer Landschaft voller Schatten. »Was ist, wenn er der Letzte war?« fragte er die Berge, so leise, daß Shan ihn fast nicht hören konnte. »Es hieß, ein Lama würde vermißt«, erinnerte Shan ihn. »Lau sei getötet worden, und ein Lama würde vermißt.« Jowa nickte. »Demnach wird der Hunger deiner Dämonin immer größer«, sagte er mit hohler Stimme. »Bislang drei Morde und zwei verschwundene Lamas.« Langsam fuhren sie zu Lokesh zurück, der noch immer am Wegrand saß und betete. Jowa stieg aus, nahm im Mondschein neben ihm Platz und entzündete ein Weihrauchstäbchen, während Shan auf die Ladefläche stieg. »Was hast du vor?« rief der purba, als Shan mit der alten -47-
Leinentasche wieder zum Vorschein kam, die seine wenigen Habseligkeiten enthielt. »Ich kehre um«, sagte Shan. »Ich werde erst dann weiterreisen, wenn ich weiß, daß Gendun sich in Sicherheit befindet.« »Das kannst du nicht«, wandte Jowa ein. »Ich muß.« Shan hockte sich neben Lokesh, der ihn mit einem bekümmerten Blick bedachte. »Das kannst du nicht«, wiederholte Jowa. »Du wurdest geschickt. Gendun hat gesagt, du wirst im Norden gebraucht.« »Diese Frau und die Jungen sind tot«, sagte Shan. »Sie sind tot und Gendun nicht. Noch nicht.« Lokesh, dessen Augen nun unverwandt auf die glühende Spitze des Weihrauchstäbchens gerichtet waren, schüttelte langsam den Kopf. »Es war diesen bösen Männern bestimmt, heute nacht auf der Straße zu sein. Und es war Gendun bestimmt, heute nacht zu verschwinden.« »Vielleicht ist das ja auch meine Bestimmung«, gab Shan zu bedenken. »Nein«, sagte Lokesh. »Deine Bestimmung ist es, die Reise fortzusetzen.« Die Gewißheit in seiner Stimme ließ nicht den leisesten Zweifel. »Lokesh, mein Freund«, sagte Shan. Er kniete sich hin und legte dem Alten eine Hand auf die Schulter. »Ich bin dermaßen oft zerrissen und wieder zusammengenäht worden, daß ich mir wie ein zerlumpter alter Flickenteppich vorkomme. In mir paßt so vieles noch immer nicht zusammen, daß ich mich bisweilen regelrecht wundere, wie meine Seele dies jemals heil überstehen soll.« Er registrierte die Qual in seiner Stimme, doch er konnte nichts dagegen tun. »Und du glaubst, Gendun wird die Teile zusammenfügen, Xiao Shan?« fragte Lokesh. -48-
»Das weiß ich nicht. Aber ich weiß, daß unter allen Dingen, die ich auf dieser Welt kennengelernt habe, die Lamas das Beste darstellen.« Shan stand auf, nahm die Riemen der Leinentasche, die noch zu seinen Füßen stand, und ließ den Blick über die Berge schweifen, deren Schneekappen im Mondlicht schimmerten. Der Wind blies stetig und kalt und erinnerte ihn daran, daß Gendun zum Schutz vor den Elementen nur sein Gewand und ein dünnes Stück Leinen besaß. In der Ferne heulte ein Tier. »Wir werden hier auf Xiao Shan warten«, sagte Lokesh zu Jowa, als wäre Shan schon aufgebrochen, und reckte das Weihrauchstäbchen wie eine Fackel in die Höhe. »Xiao Shan wird zurückkehren. Irgendwo auf einem hohen Berg wird er begreifen, daß nicht wir für Gendun verantwortlich sind, sondern Gendun für uns.« Shan bemerkte, daß er die Hand um das gau geschlossen hatte, das kleine Kästchen, das sein Gebet und seine Feder enthielt. Gendun hatte etwas gespürt, als er Shan am letzten Nachmittag die Feder gab und betonte, daß ihre Reise unerwartete Wendungen nehmen könnte. Langsam, beinahe unbewußt, ließ Shan sich neben seinen beiden Gefährten nieder. Sie beteten, bis das Weihrauchstäbchen abgebrannt war. Dann stiegen sie wieder in den Wagen. Shan stellte sich auf die Ladefläche, packte eine der Metallstreben und starrte dem schwarzen Gebirge entgegen, während sie weiter in die Nacht vordrangen. Er schlief unruhig und schreckte oft aus Alpträumen hoch, in denen er Gendun in Gefahr wähnte, zerschmettert am Fuß einer Steilwand liege n sah oder in den Händen der Öffentlichen Sicherheit erblickte, deren Schergen ihn mit elektrischen Viehtreibern mißhandelten. Auch als der Lastwagen unvermittelt eine weite Kurve beschrieb und auf einen holprigen Schotterweg einbog, wachte Shan kurz auf, döste dann aber -49-
wieder ein, während am östlichen Himmel bereits die ersten grauen Vorboten der Dämmerung zu sehen waren. Schließlich fiel er doch noch in einen tiefen Schlummer, aus dem ihn weder das Morgenlicht noch der Halt des Lastwagens erwachen ließen. Erst als direkt neben dem Fahrzeug plötzlich der gellende Schrei eines großen Tiers erklang, zuckte Shan zusammen und stieß sich den Kopf an einem der Fässer. »Ende der Straße«, rief Jowa hinter dem Lastwagen, wo er mit Shans Leinentasche stand. Shan wankte zu der offenen Heckklappe, hielt sich den schmerzenden Kopf und stieß beim Hinunterklettern beinahe mit Lokesh zusammen. Der alte Tibeter stand dicht an die Rückwand des Fahrzeugs gepreßt und spähte vorsichtig um die Ecke. Er grüßte Shan mit einem furchtsamen Nicken und wandte seine Aufmerksamkeit dann wieder der Beobachtung zu. Shan betastete seine Stirn und stellte beiläufig fest, daß an seinen Fingern ein wenig Blut klebte. Im trüben Licht der Dämmerung konnte er erkennen, daß sie sich anscheinend in einem Gewirr aus riesigen Felsblöcken und Gesteinsformationen befanden. Zwischen den Felsen lag stellenweise Schnee. Nein, kein Schnee, verbesserte er sich, nachdem er einen der hellen Flecken etwas länger betrachtet hatte. Das war Sand. Er ging um den Wagen herum und erstarrte. Keine drei Meter vor ihm stand ein großes braunes Geschöpf mit zwei großen Höckern auf dem Rücken und einem Ledergeschirr am Kopf. Ein Kamel. Lokesh wagte sich ein Stück vor, hielt sich jedoch weiterhin hinter Shan und sah ihm über die Schulter. Das Kamel schnaubte verächtlich, stieß noch einen lauten Schrei aus und schüttelte sich, was ein unerwartetes Klingeln hervorrief. An den Enden des Geschirrs waren kleine Glocken befestigt. Lokesh brach in lautes, keuchendes Gelächter aus. Shan drehte sich um und sah seinen Freund erstaunt an. Das Lachen konnte bedeuten, daß Lokesh verängstigt, verwirrt oder gar -50-
was selten vorkam - hoch erfreut war. Aus dem Schatten hinter ihnen ertönte ein knapper herrischer Ruf. Das Kamel schien die Stimme oder das Wort zu erkennen und trat mit erwartungsvollem Blick zwei Schritte vor. Shan sah sich nach dem Urheber der Stimme um. Er konnte hinter den Felsblöcken nun deutlicher eine mit Schotter gefüllte Rinne ausmachen, die sich leicht abschüssig zwische n den Gesteinsformationen und hin zu einer Reihe kleinerer Grate und langgezogener niedriger Berge erstreckte, die mit Geröll und Flecken graugrüner Vegetation bedeckt waren. »Ai yi!« rief Lokesh in lautem Flüsterton und näherte sich Shan, als wolle er bei ihm Schutz suchen. Die kleineren Felsen erwachten zum Leben. Im Licht der aufgehenden Sonne hatten mehrere der dunklen Umrisse an Konturen gewonnen. Sie waren aus Fleisch, nicht aus Stein. Stille Gestalten, die sich unter graubraunen Umhängen zusammengekauert hatten. Langsam standen sie nun auf, als würde die Wärme der Sonne sie aus dem Winterschlaf erwecken. Doch als Shan ihre Gesichter sah, wurde ihm klar, daß die Fremden nicht träge, sondern nur vorsichtig waren. »Jowa!« rief einer von ihnen, richtete sich vollends auf und ließ den Umhang fallen. Er war Tibeter, schien einige Jahre jünger als Jowa zu sein und trug am Ärmel seines Gewands einen kastanienbraunen Stoffstreifen. Dieses Symbol des Widerstands wurde zumeist von Mönchen getragen, deren Lizenz der Behördenwillkür zum Opfer gefallen war. Es diente als Hinweis auf die Farbe jener Robe, deren Träger von Rechts wegen mit einer Genehmigung des Büros für Religiöse Angelegenheiten ausgestattet sein mußten. Der Tibeter schaute von Jowa zurück zu einem hochgewachsenen Mann mit Schaffellweste, dessen dichtes schwarzes Haar grau gesprenkelt war und teilweise von einer randlosen braunen Kappe bedeckt wurde. Im Schatten neben ihm stand eine dritte Gestalt, ein -51-
hagerer, finster blickender Mann, der blaue Jeans und Schuhe aus Leinen trug. Seine Nase war schief, als sei sie ihm einst gebrochen worden. Der junge Tibeter sprang vor und umarmte Jowa, der sich sogleich umdrehte und in Richtung der Berggipfel wies, die sie letzte Nacht hinter sich gelassen hatten. Daraufhin zog der junge Mann eine primitive Landkarte aus der Tasche, auf der Jowa mit einem Bleistiftstummel einige Eintragungen vornahm. Als Jowa fertig war, nickte der junge Mann und kletterte auf den Fahrersitz des Lastwagens. Unmittelbar darauf erwachte stotternd der Motor zum Leben, und der alte Jiefang setzte sich ächzend und widerwillig in Bewegung. Mit zunehmender Geschwindigkeit bog er auf den gewundenen Pfad ein, der zurück über die Berge führte. »Er wird nach Gendun Ausschau halten«, sagte Jowa zu Shan. Seine Stimme klang hohl und leer. »Falls er unterwegs Tibeter trifft, wird er sie ebenfalls um Hilfe bitten.« Als er den Lastwagen verschwinden sah, mußte Shan gegen eine Woge von Gefühlen ankämpfen. Das Fahrzeug war seine letzte Verbindung zu Gendun, das letzte Bindeglied zu seinem neuen Leben im Hochgebirge Zentraltibets und zu den Mönchen, die ihm zu einer zweiten Familie geworden waren, wie er sie seit mehr als dreißig Jahren, seit der Ermordung seines Vaters durch die Roten Garden, nicht mehr gekannt hatte. Für Shan sei der Zeitpunkt gekommen, die Berge zu verlassen, hatte einer der Mönche an jenem Abend beim Mandala zu ihm gesagt. Vielleicht nicht für immer, aber zumindest für eine Weile. Um zu erkennen, wer er war, hatte der Mann gemeint. Shan war kein Mönch, obwohl er bei ihnen lebte. Doch er war auch kein Chinese mehr. Betrachte es als Pilgerreise, hatte ein anderer Mönch vorgeschlagen. Aber Buddhisten wurden normalerweise zum Gipfel des Bergs Kailas oder zu anderen heiligen Stätten geschickt, an denen die Geister der Gottheiten residierten. Am Ende von Shans Wallfahrt standen Tod und -52-
Verwirrung, und womöglich warteten nur Leid und Argwohn auf ihn. Er wußte, daß das Vertrauen der Mönche ihn ehren sollte. Aber in jenem Augenblick fühlte er sich alles andere als geehrt. Er verspürte nur Müdigkeit und Angst. Angst um Gendun. Angst wegen der Morde an den Jungen, die aus völlig unbekannten Motiven erfolgt waren. Angst, daß man ihn aufhalten würde, bevor er sich des Vertrauens würdig erweisen könnte. Stell dir vor, du wärest in einem Geisterpalast und würdest hundert Türen vor dir sehen, hatte einer seiner buddhistischen Lehrmeister einst zu ihm gesagt. Nur eine dieser Türen ist für dich bestimmt, aber wie lange wird es dauern, bis du sie erkennst? Heute sah er sich diesen hundert Türen gegenüber, und neunundneunzig davon führten in den Untergang. Shan widerstand dem Impuls, dem Lastwagen hinterherzulaufen, sich auf die Ladefläche zu schwingen und wieder in sein Faß zu kriechen. Die beiden Fremden kamen näher, hielten jedoch sofort wieder inne, als plötzlich schnelles Hufgetrappel ertönte. Ein Reiter galoppierte heran. Er trug einen zerlumpten Fellmantel und eine rote Wollmütze und schwang sich vom Rücken seines braunweißen Pferdes, noch bevor das Tier ganz zum Stehen gekommen war. Schweigend verharrte der Neuankömmling vor dem älteren Mann, neigte respektvoll den Kopf und nahm dann die Mütze ab. Darunter kam eine Frau zum Vorschein, die ihr schwarzes Haar hinter den Ohren zu zwei kurzen Zöpfen geflochten hatte. Das Kamel brüllte laut, rannte blindlings auf sie zu und stieß Lokesh dabei zu Boden. Die Frau strich dem Tier einmal kurz, aber liebevoll über den Kopf, lief dann zu Lokesh und reichte ihm die Hand, um ihm wieder auf die Beine zu helfen. »Großvater«, sagte sie sanft auf tibetisch und benutzte die traditionelle respektvolle Anrede für eine ältere Person. »Bitte verzeiht ihr, sie ist nur eine bata, eine Einjährige, und muß noch -53-
viel lernen.« Der Klang ihrer Stimme zeugte von Ruhe und Kraft. Lokesh brach abermals in sein keuchendes Gelächter aus. »Ich hab so ein Tier schon mal auf einem Bild gesehen«, sagte er vom Boden aus und schüttelte die hilfreich ausgestreckte Hand der Frau, als habe sie ihn auf diese Weise begrüßen wollen. »Ich dachte damals, es sei ein mythisches Geschöpf, eine jener Gestalten, wie sie die Götter in den Visionen der Sterblichen annehmen. Aber meine Frau sagte, es sei lediglich ein Pferd mit gebrochenem Rücken.« »Nein, Großvater«, entgegnete die Frau und zwinkerte. Sie war jung, nicht älter als fünfundzwanzig, und im Schein der aufgehenden Sonne schimmerte ihr Haar rötlich. »Sie ist bloß ein Esel, der zwei Schildkröten verschluckt hat.« Vorsichtig stützte sie Lokesh beim Aufstehen und bürstete dann den Staub von seinem Rücken. Die zwei anderen Männer beeilten sich nun und holten ein weiteres Kamel sowie mehrere kleine, stämmige Pferde hinter den Felsen hervor. Der ältere der beiden überprüfte die Sättel der Tiere und führte dann zwei Pferde zu Shan und Lokesh. Auf halbem Weg blieb er neben der Frau stehen. »Du solltest nicht hier sein, Jakli«, sagte er streng. »Es ist zu gefährlich für dich.« Die junge Frau ging einen Schritt auf ihn zu. »Sie war meine Freundin, Akzu«, erwiderte sie. »Und meine Lehrerin.« Die Worte ließen den Mann das Gesicht verziehen. »Du schuldest dieser Frau überhaupt nichts. Sieh nur, was sie dir angetan hat.« »Und doch verdanke ich ihr viel«, erwiderte die Frau namens Jakli und klang dabei auf merkwürdige Weise zugleich eigensinnig und betrübt. Der Mann mit Namen Akzu sah sie wortlos an. Dann erschien ein trauriges Lächeln auf seinem Gesicht. »Komm her, Mädchen.« Er breitete die Arme aus. »Sie sollen alle verdammt -54-
sein, daß sie dich von uns ferngehalten haben. Es ist zu lange her.« Als die Frau ihn umarmte, schien eine Wolke sich auf Akzus noch immer lächelndes Antlitz zu legen, als würde er sich unfreiwillig an etwas erinnern, das er lieber vergessen hätte. Schließlich begann Akzu, das junge Kamel mit Gepäck zu beladen. Shan beobachtete ihre neuen Führer. Der Anblick des Tiers hatte ihm einen regelrechten Schock versetzt. Zwar wußte er durchaus, wie Kamele aussahen, aber ihm war bis zu diesem Moment nicht wirklich klar gewesen, welch große Strecke mittlerweile hinter ihm und seinen Gefährten lag. Dieses Land hier war anders. Die Leute waren anders. Keiner der beiden Männer hatte tibetische Gesichtszüge. Sie waren nach Norden gereist, rief Shan sich ins Gedächtnis, und zwar so tief ins Kunlun-Gebirge, daß sie den Lebensraum eines anderen Volkes erreicht hatten. Wie zur Bekräftigung dieser Erkenntnis rief der Mann neben dem Kamel seinem Begleiter mit der krummen Nase etwas zu. Shan verstand kein Wort. Es schien sich um den Dialekt einer Turksprache zu handeln, wie sie unter den Moslems in Chinas äußerstem Westen üblich war. Diese Leute waren Uiguren, überlegte Shan, oder vielleicht auch Kasachen, genau wie die ermordeten Jungen. Der Mann mit der krummen Nase kam näher und legte dem Kamel eine Hand auf den Hals. »Du bist derjenige, der über die Öffentliche Sicherheit Bescheid weiß, nicht wahr?« sagte er auf Mandarin zu Jowa. Der purba warf Shan einen kurzen und eindeutig unbehaglichen Blick zu. »Es heißt, du würdest die Geheimnisse des Büros für Öffentliche Sicherheit kennen.« Der Mann ließ nicht locker. Jowa runzelte die Stirn. »Bei meinem letzten Gefängnisaufenthalt war in meiner Zelle ein Häftling, der früher für die Öffentliche Sicherheit gearbeitet hat«, räumte er zögernd -55-
ein. »In Lhasa… als Teil eines Experiments zur Rekrutierung von Tibetern. Aber das Experiment schlug fehl, und so mußte man ihn irgendwo verschwinden lassen. Er wußte, daß er erst in vielen Jahren wieder freikommen würde, also beschloß er, seine Kenntnisse weiterzugeben, damit seine Zeit bei den Kriechern nicht völlig wertlos gewesen wäre.« Der Mann lachte, als sei dies ein besonders guter Witz. »Angeblich hast du eine Lastwagenkolonne der Öffentlichen Sicherheit zerstört.« »Die Fahrzeuge wurden leider sehr ungünstig geparkt. Es gab eine Lawine.« »Aber das warst du.« »Die Felsen und der Schnee haben den Schaden angerichtet«, behauptete Jowa ungerührt. »Manchmal werden die Berggeister wütend.« Der Mann lachte erneut. Jowa warf Shan einen zweiten verlegenen Blick zu. Die tibetischen Widerstandskämpfer hatten schmerzlich lernen müssen, daß es sich nicht auszahlte, die Chinesen offen anzugreifen oder eindeutige Sabotage zu betreiben. Solche Aktionen zogen stets schwerwiegende Vergeltungsmaßnahmen nach sich, unter denen fast immer nur Unschuldige zu leiden hatten. »Man sagt, du könntest ungesehen die Kontrollpunkte der Öffentlichen Sicherheit passieren«, fuhr der Mann fort, trat an Jowas Seite und half ihm, die Tasche auf den Rücken des Kamels zu heben. »Sogar bei elektronischer Überwachung.« Die Worte schienen Jowa und Shan gleichermaßen zu überraschen. Der Mann reiste nach Art des siebzehnten Jahrhunderts und sprach zur selben Zeit von computerisierten Sicherheitssystemen, die aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert stammten. »Unsichtbare Kontrollpunkte unterscheiden sich nicht sonderlich von allen anderen«, erklärte Jowa noch immer recht widerstrebend. »Man muß bloß wissen, wie man sie aufspürt.« -56-
Shan war verblüfft. Nur Jowa und der Tibeter, der mit dem Lastwagen weggefahren war, gehörten zu den purbas, doch die anderen Leute kannten die Geheimnisse der Widerstandsbewegung. Das Kamel schüttelte den Kopf, so daß die Zügel herabfielen. »Gut für dich«, sagte der Mann und klopfte Jowa auf die Schulter. »Gut für uns.« Als er sich vorbeugte, um die Zügel wieder aufzuheben, rutschte ein Stück Papier aus seiner Tasche. Eine Landkarte. Der Wind riß die Karte hoch empor und ließ sie ein kurzes Stück vor Shan auf den von der Sonne beschienenen Fleck in der Mitte der freien Fläche fallen. Shan trat ins Licht und hob die Karte auf. Im selben Moment schienen die beiden Moslems zum erstenmal sein Gesicht zu bemerken. Shan streckte die Karte dem Mann mit der krummen Nase entgegen, der ihn lediglich wütend anstarrte. Akzu stieß einen leisen Fluch aus. Shan steckte die Karte unter einen der Geschirriemen des Kamels und ging zurück zu seiner Tasche. Er kam nur zwei Schritte weit, dann stellte sich ihm der Mann mit der krummen Nase in den Weg. »Wer ist das?« rief er, an Jowa gewandt, jedoch ohne Shan aus den Augen zu lassen. Sein ausgestreckter Zeigefinger war wie eine Waffe auf Shan gerichtet. Dann hob er die Hand, riß Shan die Mütze vom Kopf und warf sie zu Boden. »Ich heiße Shan.« Er nahm die Mütze und setzte sie wieder auf. Der Mann schlug sie abermals herunter. »Du bist ein Chinese«, stellte der Mann anklagend fest. »Gewissermaßen«, erwiderte Shan ruhig und hob die Mütze zum zweitenmal auf. Sobald er sie sich über die Ohren gezogen hatte, schlug der Mann sie ihm zum drittenmal vom Kopf. -57-
»Ihn sollten wir herbringen«, sagte Jowa, ohne sich allerdings von der Stelle zu rühren. »Wegen dieser Frau namens Lau.« »Niemand hat etwas von einem Chinesen gesagt.« »Und ich habe nicht mit einem Uiguren gerechnet«, gab Jowa zurück. »Es hieß, wir würden von Kasachen erwartet.« Der Mann deutete auf seinen älteren Begleiter. »Die Kasachen und Uiguren haben viele gemeinsame Interessen. Das meiste davon gilt auch für die purbas.« Akzu baute sich wachsam vor ihnen auf. Sein Blick huschte zwischen Shan und dem Uiguren hin und her. »Es gibt jetzt Wichtigeres zu tun«, sagte er dann und bedeutete seinem Kameraden, sich von Shan zu entfernen. Shan starrte die beiden Fremden an. Sie wollten Jowa, begriff er. Jowa, der wußte, wie man die Patrouillen der Öffentlichen Sicherheit überlistete. »Wir werden uns auch allein zurechtfinden«, sagte eine ruhige Stimme hinter ihm. Es war Lokesh. Er hob Shans Mütze auf und gab sie ihm. »Bestens«, sagte der Uigure und wies auf die Gebirgsausläufer unter ihnen. »Nach Nordwesten. Ruft einfach immer schön laut, dann wird Laus Geist euch schon finden.« Schweigend beobachteten sie, wie Shan und Lokesh ihre Taschen schulterten und zu Fuß in die angewiesene Richtung aufbrachen. Jowa murmelte etwas und folgte ihnen. Die junge Frau packte die Zügel ihres Pferdes und schloß im Laufschritt zu Shan auf. »Mein Name ist Jakli«, sagte sie und nahm Shans Tasche. »Ich bringe euch zu Tante Lau.« Shan lächelte dankbar. »Ich muß wissen, wie sie ums Leben gekommen ist.« »Sie ist im Fluß ertrunken, glaubt zumindest die Anklägerin.« Jakli warf dem älteren Mann einen verunsicherten Blick zu. »Aber das stimmt nicht«, fügte sie eilig hinzu. »Lau wurde durch einen Kopfschuß getötet, wie bei einer Hinrichtung. Falls -58-
die Anklägerin die Leiche zu Gesicht bekäme, würde sie die Sache doch nur vertuschen. Also haben wir Lau versteckt. An diesem Punkt solltet ihr ansetzen.« Bevor Shan etwas darauf erwidern konnte, galoppierte ein Pferd an ihnen vorbei. Darauf saß Akzu und verstellte ihnen den Weg. »Du hast schon genug Schwierigkeiten, Jakli«, sagte er. »Plaudere bloß keine Geheimnisse aus. Du kennst diesen Chinesen doch gar nicht.« »Wenn die alten Priester diesen Mann geschickt haben, dann brauchen wir ihn auch«, sagte Jakli. Ihr Tonfall ließ keinen Widerspruch zu. »Die alten Priester werden weich«, murmelte der Uigure. Jaklis Augen funkelten wütend. »Nachdem sie jahrzehntelang ihren Glauben sogar noch im Gefängnis bewahrt haben, werden sie weich? Nachdem sie mit ansehen mußten, wie ihre Klöster in Schutt und Asche gelegt wurden, werden sie weich? Nachdem man ihnen die Daumen abgeschnitten hat, damit sie keine Rosenkränze mehr beten können, werden sie weich?« Sie berührte Lokesh am Arm und sah ihm ins Gesicht. »Großvater«, sagte sie. »Ihr seid früher Priester gewesen.« »Eine Zeitlang«, sagte Lokesh und schenkte ihr ein breites Lächeln. »Erzählt es ihm. Wie viele Jahre habt Ihr im Gefängnis verbracht?« »Fünfunddreißig«, sagte der alte Tibeter weiterhin lächelnd. Jakli umschloß seine Hand und sah ihn an. Lokesh erwiderte den Blick erstaunt. Dann wandte sie sich wieder dem Uiguren zu. »Sie werden nicht weich«, sagte sie mit unverminderter Entschlossenheit. »Sie werden weise. Ihr Blick wird geschärft. Und da unsere Priester alle verschwunden sind, müssen wir uns eben anderweitig der Weisheit versichern.« »Ich weiß genau, was vor sich geht«, lautete die mürrische -59-
Antwort. »Nein. Du bist blind.« Sie drehte sich zu Shan um. »Dieser Mann wird Fat Mao genannt«, sagte sie und wies auf den dürren Uiguren. »Er glaubt, jeder Chinese sei sein Feind. Doch in Wirklichkeit sind Mörder, Tyrannen und Lügner unsere Feinde, wie auch immer sie aussehen mögen.« Die kalte Wut in ihrer Stimme überraschte Shan. Nicht so Fat Mao. Er zuckte zusammen, als fürchte er den Sturm, den er heraufbeschworen hatte. Ein kurzer Ruck am Zügel ließ sein Pferd ein Stück zurückweichen. »Shan hat ganz besondere Fähigkeiten«, verkündete Lokesh. »Er sieht die Wahrheit, wo andere nichts erkennen.« »Na großartig«, warf der Uigure ein, hielt sich jedoch sorgfältig von Jakli fern. »Es sterben Menschen. Die Clans werden zerschlagen, und ihr bringt uns einen Hellseher.« »Er hat sich der Wahrheit bedient, um diesen Mann aus dem Gefängnis zu befreien«, sagte Jowa und deutete auf Lokesh. »Und als letzten Frühling ein Mönch wegen Mordes hingerichtet werden sollte, hat Shan die Wahrheit herausgefunden. Durch seine Ermittlungen wurden der Mönch freigelassen und die wirklichen Mörder bestraft.« »Du meinst, es wurden statt dessen andere Tibeter hingerichtet.« »Nein. Die Schuldigen waren chinesische Beamten und Soldaten.« Fat Mao starrte erst Jowa und dann Shan an, als sei er nicht sicher, ob diesen Worten zu trauen war. »Und dennoch«, ertönte eine Stimme hinter ihnen. Sie gehörte dem alten Kasachen namens Akzu. Er trat an die Seite des berittenen Uiguren. »In deiner Stimme schwingt keinerlei Freundlichkeit für diesen Mann mit«, sagte er zu Jowa. Der Widerstandskämpfer sah zu Boden. »Die Chinesen haben -60-
meine Familie ausgelöscht und meinen Lama getötet«, sagte er schroff. Shan hörte ihn zum erstenmal von seinem Leid berichten. »Aber ich kenne die Lamas, die darum gebeten haben, er möge herkommen. Für sie würde ich sogar den Vorsitzenden der Kommunistischen Partei begleiten.« Der alte Kasache seufzte vernehmlich. »Aber wir können euch nicht zu Lau bringen. Das ist jetzt unwichtig. Lau wird uns vergeben.« »Ich werde sie hinbringen, Akzu«, sagte Jakli. »Das habe ich versprochen.« »Ich weiß, was du versprochen hast, Nichte, aber in der Zwischenzeit hat sich manches geändert. Wir brauchen diesen Mann«, sagte Akzu und deutete in Richtung Jowa. »Ich will damit sagen, ich habe es Tante Lau versprochen«, erklärte Jakli. »Ich habe es nach ihrem Tod geschworen.« Akzu verzog das Gesicht. Er strich dem Pferd über die Nüstern und sah Jakli bekümmert an. Noch bevor er etwas sagen konnte, stieß der Uigure einen lauten Schrei aus. »Soldaten! « Im nächsten Moment hörte auch Shan, weshalb der Mann aufgeschreckt war. In einiger Entfernung war ein tiefes schnelles Rattern zu vernehmen, das rasch lauter wurde. Akzu rannte zu den Kamelen, packte ihre Zügel und drängte sie zurück in den Schatten bei den Felsen. Jowa und der Uigure taten das gleiche mit den Pferden. Jakli nahm Lokeshs Hand und zog ihn hastig zwischen zwei große Felsblöcke. Als Shan sich zu ihnen gesellte, erhaschte er einen flüchtigen Blick auf die Maschine, die sich näherte, einen der grauen Helikopter der Volksbefreiungsarmee. Der Hubschrauber folgte dem Verlauf der Bergflanken und überflog die Senke in weniger als zweihundert Metern Höhe. Shan und die anderen preßten sich dicht an die Felsen. Nachdem die Maschine verschwunden war, sprach eine Weile -61-
niemand ein Wort. »Diese Mistkerle«, sagte Fat Mao schließlich und schaute zu Akzu. »Wir müssen auf dem schnellsten Weg zurück.« Shan sah, daß Jakli regungslos stehenblieb und in Richtung des Horizonts starrte. Der Blick ihrer grünen Augen verriet Furcht, doch Shan spürte, daß sie nicht etwa Angst um sich selbst hatte, sondern sich vielmehr um andere sorgte, die ohne Deckung im Gebirge überrascht werden könnten. »Es tut mir leid, Nichte«, sagte Akzu und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Ich weiß, daß wir bei Laus Bestattung gesagt haben, wir würden ihr helfen, aber seither ist vieles anders geworden. Der Clan des Roten Steins wurde hintergangen.« Die Worte rissen Jakli aus ihrer Erstarrung. »Hintergangen?« fragte sie, und die Sorge auf ihrem Antlitz nahm noch zu. »Es war dieses Schwein namens Bajys. Er hat unsere Gastfreundschaft ausgenutzt und uns belogen. Den Jungen in seiner Begleitung hat er ermordet, und dann ist er zu den Chinesen gerannt.« Akzu warf Fat Mao einen bedeutungsvollen Blick zu. »Bestimmt wird er plaudern wie ein Wasserfall, um sich ihren Schutz zu erkaufen.« »Ein Junge ist tot?« fragte Shan. Niemand schien ihn zu hören. Jakli ließ sich auf einen nahen Felsen sinken. Ihr Gesicht verlor sämtliche Farbe. »Das Opfer war keiner von uns«, sagte Akzu zu ihr, »sondern eines von Laus Kindern. Ein guter Junge. Er hieß Khitai, und er war erst neun Jahre alt. Die Pferde mochten ihn. Bajys hat ihn in den Kopf geschossen.« Neben Shan schnappte jemand wie unter großen Schmerzen nach Luft. Lokesh hielt sich den Bauch, als hätte man ihm einen Tritt verpaßt. »Khitai?« fragte er. Er hielt sich an Shans Schulter fest, als würde ihm schwindlig. »Khitai war bei euch?« -62-
Jakli und Akzu sahen erst Jowa, dann Shan fragend an. Das erste Opfer hatte bei Akzus Clan gelebt. Schon als der Nomade von diesem Mord berichtete, hatte Lokesh nach dem Namen des Jungen gefragt, und als er ihn nun durch Akzu erfuhr, schien er ihn wiederzuerkennen. Als sei Lokesh in erster Linie wegen Khitai mitgekommen. »Er war ein kasachischer Junge«, sagte Akzu und musterte Lokesh verwirrt. Der alte Tibeter schien ihn gar nicht zu hören. Er gab ein leises Stöhnen von sich und versank in Gedanken. Jakli wandte sich an Shan. »Ich werde euch zu Lau bringen«, bekräftigte sie. »Akzu wird euren Freund Jowa ins Lager des Roten Steins mitnehmen.« Shan drehte sich zu Lokesh um. Der Alte kniete inzwischen auf einem Felsen, sah in Richtung der schneebedeckten Gipfel und ließ den Blick über den Horizont wandern. Aus irgendeinem Grund wußte Shan, daß Lokesh nach Gendun suchte, daß er den Lama plötzlich dringend brauchte. Es hat bereits angefangen, hatte Gendun gesagt. Er mußte die Morde an den Kindern gemeint haben, als habe er damit gerechnet. Vielleicht hatte er auch darauf gehofft, Shan könne durch die Aufklärung von Tante Laus Tod Schlimmeres verhindern. Während er sich seinem alten Freund näherte, sah Shan, daß Lokesh die Finger aneinandergelegt hatte, und glaubte im ersten Moment, es handle sich um ein mudra. Doch als er neben Lokesh niederkniete, erkannte er seinen Irrtum. Der Tibeter rang in stummem Schmerz die Hände. Shan konnte den Grund dafür nicht verstehen. Er legte dem Alten einen Arm um die Schultern und sprach ein paar tröstende Worte. Lokesh schien ihn gar nicht zu bemerken. »Dieser Junge«, sagte Shan und wandte sich wieder an Jakli. »Hat er zur zheli gehört?« Erstaunt erwiderte sie seinen Blick. »Ja. Er war eines der -63-
Waisenkinder aus der Schule in Yutian und hat an Laus Unterricht teilgenommen. Diese Kinder sind keine gewöhnlichen Waisen. Sie stehen nicht nur ohne Familie da, auch ihr Clan existiert nicht mehr. Aber die zheli ist kein offizieller Teil der Schule. Eher so eine Art Ersatzclan anstelle der verlorenen Bindungen.« »Hast du diesen Jungen gekannt?« fragte Shan seinen alten Freund. »Hat Gendun diesen Jungen gekannt?« Langsam schüttelte Lokesh den Kopf, ohne seine Augen von den Bergen abzuwenden. Seine Miene zeugte von großer Verzweiflung. Jakli betrachtete sie beide und wirkte immer verwirrter. »Khitai«, rief Lokesh plötzlich mit mutloser Stimme, aber diesmal war es nicht nur ein Ausdruck der Qual. Es schien, als würde er den toten Jungen rufen wollen, so wie ein besorgter Vater nach seinem vermißten Kind rief. »Warum ein Kind?« fragte Shan beinahe flehentlich. »Kinder sind doch nur…« Seine Stimme versagte ihm den Dienst. Als er Jakli ansah, wurde ihm ihre zunehmende Wut bewußt. »Die Kinder sind alles, was noch übrig ist«, sagte sie, und Shan begriff, was gemeint war: Pein und Verfolgung hatten die Clans vernichtet, bis auf diese letzten überlebenden Kinder. »Ich habe nie an Dämonen geglaubt«, meldete sich hinter ihm zaghaft Akzu zu Wort. Sein Blick war auf Lokesh gerichtet, und sein trauriger, wissender Gesichtsausdruck schien zu besagen, daß er den alten Tibeter nur zu gut verstand. »Mein Großvater hat immer erzählt, die Dämonen schliefen in der Erde und würden manchmal mit hemmungslosem Blutdurst erwachen. Dann bräche ihre Zeit an, eine Zeit der Zerstörung, wie es andererseits Zeiten der Blüte oder Schöpfung gibt. Niemand könne sie aufha lten, so wie auch niemand der aufgehenden Sonne Einhalt gebieten kann. Man müsse diese Phase in stillem Leid ertragen und warten, bis die Dämonen ihren Appetit gestillt -64-
hätten. Ich sagte ihm, ich würde nicht an so etwas glauben. Für mich seien Dämonen lediglich Mythen aus alten Tagen. Aber als mein Großvater sich dann weigerte, seine Tiere von den Weiden zu treiben, die unser Clan seit fünfhundert Jahren nutzte, und chinesische Bauern auf sein Land zu lassen, damit diese den Boden mit ihren Maschinen umpflü gen konnten, wurde ich eines Besseren belehrt. Ein Dämon kam und warf Granaten in sein Zelt, während er und meine Großmutter schliefen. Dann hat der Dämon mit einem Maschinengewehr die gesamte Herde niedergemäht, sogar die Lämmer.« Shan wandte den Kopf und sah, daß Jowa und Fat Mao mittlerweile dicht neben ihnen standen und mit zornigen Mienen der Erzählung lauschten. »Ich habe die Leichen gefunden, als ich ins Tal ritt, um gemeinsam mit meinem Großvater Lieder zu singen. Der Boden war mit Blut getränkt. Und seit jenem Tag glaube ich an Dämonen«, sagte Akzu dermaßen ruhig und sachlich, daß Shan ein kalter Schauder über den Rücken lief. »Der Dämon ist entfesselt und hat es auf die Waisen abgesehen. Ich glaube, er will zu Ende bringen, was er mit den Eltern der Kinder begonnen hat. Dreiundzwanzig Waisen hatte Lau«, verkündete Akzu unheilschwanger und blickte zum nördlichen Horizont. »Wer weiß, wie viele es am Ende noch sein werden?« Der alte Kasache meinte nicht nur den Verräter Bajys, denn ein Mann wie Akzu wußte, daß es nie bloß um eine einzelne Person ging. Die Dämonen des modernen China waren die irrationalen, unberechenbaren politischen Fieberanfälle, die bei ihrem plötzlichen Auftreten manche mit Haß infizierten und anderen eine solche Furcht einflößten, daß ihnen Verrat und Mord als einzige Auswege erschienen. Vielleicht war Shan ursprünglich geschickt worden, um den Dämon aufzuspüren, der Lau getötet hatte, doch derselbe Dämon machte sich inzwischen womöglich über die Kinder her. Shan legte Lokesh eine Hand auf die Schulter und sah erst Jowa, dann Akzu an. »Wir müssen euch in dieses Lager begleiten«, teilte er dem alten Kasachen -65-
mit. »Wir müssen uns an den Ort begeben, an dem Khitai gestorben ist.« Akzu starrte Shan durchdringend an und wandte sich dann an Jakli. »Es kann durchaus sein, daß der Dämon alle diese Kinder töten will. Ich werde nicht zulassen, daß unser Clan sich deswegen in Gefahr begibt«, sagte er mit entschlossenem Blick und drehte sich wieder zu Shan um. »Und falls du ihm in die Quere kommst, wird er dich ebenfalls töten.«
-66-
Kapitel Drei Es tröstete Shan, daß auf der Erde noch Gegenden wie jene existierten, die sie soeben durchritten, Orte, die man niemals würde urbar machen können. Manche behaupteten, solche Regionen seien gut für den Planeten, andere waren eher von der vorteilhaften Wirkung auf das Seelenheil der Menschen überzeugt. Shan hingegen hatte einst einen alten Priester einer winzigen, nahezu ausgestorbenen tibetischen Sekte getroffen, für den solche Unterscheidungen irreführend waren. Nachdrücklich betonte der Priester, eine Seele könne nur in freier, uneingeschränkter Umgebung gedeihen. Wenn man die Gottheiten des Landes in Ketten lege, würden die Seelen der Menschen grau und leer. Der Lama hatte zwar sein ganzes Leben im Hochgebirge zugebracht, kannte jedoch trotzdem die chinesischen Asphaltstraßen, die für ihn, so beteuerte er selbstsicher, nichts anderes als unwissentlich angelegte Fesseln auf der Oberfläche des gesamten Planeten waren. Sobald sich mit dem letzten Stück Asphalt die letzte Straßenverbindung quer über die Kontinente schloß, sei das Ende der Welt gekommen. Sie ritten drei Stunden im Schatten der Felswände voran, galoppierten über einige niedrige Pässe, die ungeschützt im hellen Sonnenlicht lagen, und hielten sich am Ra nd einer breiten Senke, auf deren offenen Weideflächen ein Reiter keinerlei Deckung gehabt hätte. Unterwegs erkundigte Shan sich bei Jakli nach Tante Lau. Sie war ihre Lehrerin, erfuhr er, und bis vor kurzem auch Angehörige des örtlichen Landwirtschaftsrats, eines Gremiums, das von den einheimischen Anbaubetrieben gewählt wurde und die Gemeindeverwaltung in Fragen von Ackerbau und Viehzucht unterstützte. Lau war ungefähr fünfundfünfzig Jahre alt und selbst eine Waise gewesen. Ohne eigene Familie wurde -67-
sie dennoch »allen eine Mutter«, wie Jakli es ausdrückte und dann ihrem Pferd die Sporen gab, als Akzu sich mit tadelndem Stirnrunzeln zu ihr umwandte. Hier, zwischen den Felsen, hallte jedes Geräusch bis weit in die Ferne wider, und Shan war nicht entgangen, wie besorgt der alte Kasache den Blick über das Gelände schweifen ließ. Über Akzu und Fat Mao hatte sich grimmiges Schweigen gesenkt. Zuerst dachte Shan, sie seien noch immer wütend über seine Anwesenheit, aber dann erreichten sie eine Weggabelung, an der Akzu auf den weniger benutzten der beiden Pfade einbog, und Shan erkannte, daß die Männer nervös, ja sogar ängstlich waren. Selbst die Pferde schienen nur widerwillig diese Richtung einschlagen zu wollen und mußten mit fester Zügelhand zwischen die beiden Felsen am Anfang des Wegs dirigiert werden. Zuvor hatte Akzu eine kurze Pause eingelegt, um die Glocken vom Geschirr des Kamels abzuschneiden. Jakli ritt vor Shan. »Eine Abkürzung«, sagte sie, über die Schulter gewandt. Doch auch sie war nervös, wie er ihren Augen deutlich ansah. Vom Schatten einer weiteren Felswand aus betrachtete Shan den ungefähr acht Kilometer langen Talkessel. Die Gegend war nicht so fruchtbar wie die Täler Zentraltibets, aber es gab gleichwohl genug Vegetation und Wasser, um die kleinen Herden der Nomaden zu ernähren. Wenigstens in der Theorie, dachte Shan, denn eigentlich hätte er Schafe, Ziegen oder Yaks und vielleicht sogar die flachen Filzzelte eines Hirtenlagers vor sich sehen müssen. Aber das Gelände war leer, ohne jedes Lebenszeichen. Der Pfad stieg in Richtung des Bergrückens an, der das südliche Ende des Tals begrenzte, und auf dem Kamm tauchte zwischen den Felsen eine schmale Spalte auf. Akzu hob den Arm und ließ die Kolonne anhalten. Dann stieg er ab und führte sein Pferd zu der Öffnung. Dicht daneben drückte er sich an die Wand und spähte vorsichtig hindurch. Einen Moment später -68-
huschte er, sichtlich erleichtert, an der Spalte vorbei und bedeutete den anderen, ebenfalls abzusteigen und ihm zu folgen. Shan schwang sich unbeholfen aus dem Sattel und schloß sich den Gefährten an, doch auf Höhe der Öffnung blieb er stehen. Das Objekt der Angst dominierte die Landschaft jenseits des Bergrückens. Es handelte sich um eine Anlage, die auch aus mehr als drei Kilometern Entfernung noch riesig wirkte. Hinter einem langen hohen Drahtzaun, der in gleichmäßigen Abständen mit Wachtürmen versehen war, erstreckte sich ein Komplex aus niedrigen, leuchtendweißen Gebäuden und Zementbunkern. »Als ich noch klein war«, sagte eine leise Stimme hinter Shan, »gab es auf dem Nachbarhügel unseres Sommerlagers ein Skorpionnest. Meine Brüder wollten die Tiere ausräuchern.« Shan warf Jakli einen verwirrten Blick zu und schaute dann zurück zu dem Komplex. Er wußte, wie ein chinesisches Gefängnis aussah, doch das hier war kein Gefängnis. Es verfügte zwar über viele Wachtürme, war ansonsten aber zu neu und sauber. In dieser Einrichtung steckte so viel von Pekings Geld, daß es sich keinesfalls um einen gewöhnlichen Bestandteil des Gulags handeln konnte. Andererseits glich es auch keinem der Armeestützpunkte, die er kannte. Alles hier schien aus Zement zu bestehen. Im Innern des Areals ragten in regelmäßiger Folge kleine Gebäude von der Größe eines Geräteschuppens aus dem Boden. »Nein, sagte mein Vater«, fuhr Jakli fort. »Laßt sie am Leben. Ich möchte nicht, daß ihr unachtsam das Land durchstreift.« Shan hob eine Hand an die Stirn, um seine Augen vor dem hellen Schein der mittlerweile hoch am Himmel stehenden Sonne zu schützen. In der Mitte des Geländes entdeckte er eine große Radarantenne. Dahinter waren grellweiße Kuppeln aufgereiht. Eine Kommunikationsanlage mit Satellitentechnik. Die kleinen Gebäude waren nicht etwa Schuppen, sondern die Eingänge zu einem unterirdischen Komplex. -69-
»Bei uns heißt dieser Ort die Pilzschüssel. Eines Nachts habe ich einen der Tests beobachtet«, sagte Jakli. »Das Ding stieg hoch in den Himmel empor, wie eine Sternschnuppe, die nach Hause zurückkehren will.« Shan fröstelte auf einmal und konnte den Anblick nicht länger ertragen. »Es tut mir leid«, sagte er unwillkürlich. Jakli erwiderte seinen Blick mit einem kleinen weisen Lächeln. »Das ist unser Skorpionnest.« Tibet und der westliche Teil Chinas sollten als Puffer fungieren, als Schutzzone gegen zukünftige Bedrohungen, hatte ein hoher General einst im Beisein von Shan anläßlich eines Banketts in Peking geäußert. Das hieß vor allem, daß die ausgedehnte Wildnis als Versteck für die wichtigsten Waffen des Landes diente. Viele Politiker in der Hauptstadt prahlten damit, daß Tibet aus Peking regelmäßig Milliardensummen erhielt. Nur ein Bruchteil dieses Betrags wurde nicht für die Aushöhlung von Bergen ausgegeben, in denen man dann Truppen stationierte und geheime Abschußanlagen für Nuklearraketen errichtete, wie jene, die Shan soeben gesehen hatte. Die Pilzschüssel. Benannt nach den weißen Kuppeln, die im Anschluß an Pekings Überfall aus dem Boden zu sprießen begannen, und vielleicht auch nach dem Erscheinungsbild der bösen Geister, die in den Sprengköpfen der Raketen wohnten. Also hatten sie die Wildnis doch gezähmt, dachte Shan. Womöglich hatte der alte Priester ja recht. Wenn ein heiliges Land auf solche Weise in Ketten gelegt wird, könnte dies das Ende von allem bedeuten. Aus irgendeinem Grund mußte Shan an das leise Grollen denken, das in ihrer Einsiedelei in Lhadrung allgegenwärtig war, das Geräusch der riesigen Gebetsmühle, für deren Betrieb rund um die Uhr zwei Mönche sorgten, in einer kleinen Kammer in der Wand eines namenlosen Berges im fernen Tibet. Die geheime unterirdische Maßnahme der Lamas zum Schutz der Welt. -70-
Nun verstand er, weshalb die Weiden komplett entvölkert waren. Stützpunkte wie dieser lagen stets inmitten militärischer Sperrgebiete, in denen man ständig mit Patrouillen der Armee rechnen mußte. Zu Zeiten der chinesischen Kaiser hatte man viele Orte allein für die Herrscherfamilie und einige hohe Beamte reserviert. Normalen Bürgern war das Betreten und manchmal sogar das simple Betrachten bei Todesstrafe untersagt. China hatte noch immer seine Verbotenen Städte. Wer als Zivilist in einer solchen Zone ertappt wurde, konnte nicht auf Gnade hoffen. Als Shan sich zum Gehen wandte, entdeckte er auf dem Hang neben der Spalte einen großen, rot bemalten Felsen. Ein weiterer dieser Felsen lag auf dem Abhang am Ende der Senke. Auf diese traditionelle Weise wurden die Heimstätten der jeweiligen Schutzgötter des Landes markiert, die in den Bergen wohnten. Einige Tibeter hatten das große Wagnis auf sich genommen, diese Felsen anzumalen, als würden sie den Stützpunkt mit wachsamen Gottheiten eingrenzen wollen. »Eine solche Gefahr«, sagte Shan zu Jakli, »nur um Zeit zu gewinnen.« Er sprach kaum lauter als ein Flüstern, als reiche der bedrohliche Schatten der Pilzschüssel weit über das Tal hinaus. »Sie haben Akzu doch gehört«, stellte Jakli sachlich fest. »Wir werden so viele Abkürzungen wie nötig nehmen, bis der Verrat aufhört.« Sie blickte zurück in die Senke. »Die Patrouillen sind faul. Zu dieser Jahreszeit interessieren sie sich in erster Linie für Tiere.« »Tiere?« »Ohne die Hirten ist die Gege nd hier wie ein riesiges Wildgehege. Generäle reisen aus Peking an, um Steinböcke und Antilopen zu schießen. Hin und wieder sogar Schneeleoparden.« »Trotzdem, falls man euch entdeckt…« »… werden wir das Jagdwild«, beendete sie den Satz mit gekünsteltem Lächeln und umfaßte mit ausgestreckten Fingern -71-
ihren Hals, um eine Jagdtrophäe an der Wand nachzuahmen. »Und hängen dann im Teezimmer irgendeines Generals in Peking. Seltene Konterrevolutionäre, in freier Wildbahn zur Strecke gebracht.« Shan sah sie an und ve rsuchte zu ergründen, wie sie in das komplizierte Gefüge der von Akzu geleiteten Gruppe paßte. »Akzu ist Ihr Onkel«, sagte er. »Aber Sie leben nicht bei Ihrem Clan.« »Zur Zeit wohne ich in der Stadt. In Yutian. Man hat mir eine Stelle in der Fabrik gegeben. Ich mache Hüte.« Er fragte sie nach dem Clan und nach Akzu. Die Frage schien Jakli zu bekümmern. Nach kurzem Zögern erklärte sie ihm, daß der zähe alte Kasache ihr Oberhaupt war, der Älteste unter den letzten Mitgliedern des Clans des Roten Steins. Früher hatte der Rote Stein viel Einfluß und ausgedehnte Weidegründe im Norden besessen. Doch die Regierung hatte den Clan kurzerhand enteignet und die Menschen aus ihrer angestammten Heimat vertrieben. Vor dreißig Jahren waren Akzu und Jaklis Vater mit rund hundert Überlebenden in die Grenzregion entlang des Kunlun-Gebirges gezogen. Das karge Land war aufgrund des rauhen Klimas nur dünn besiedelt und damals nahezu in Vergessenheit geraten. An einem solchen Ort hofften sie ungestört leben zu können und dem Zugriff der Behörden zu entkommen. Heute waren von dem Clan nur noch drei Familien übrig, die gemeinsam in einem Lager am Rand der Wüste lebten und dem Boden mit Mühe und Not ein bescheidenes Dasein abrangen. Tante Lau, erklärte Jakli, sei keine wirkliche Verwandte und auch keine Angehörige des Clans gewesen, sondern eine Kasachin, eine weise, herzensgute Frau, die beschlossen hatte, die zheli unter ihre Fittiche zu nehmen, und die von allen geliebt wurde. Von fast allen, hätte Shan beinahe hinzugefügt. »Zuerst dachte ich, Sie würden aus Tibet stammen«, sagte er. -72-
»Die Gegend hier ist schon seit vielen tausend Jahren ein Grenzgebiet, und das Blut der Völker hat sich vermischt. Mein Vater war Kasache. Akzu ist sein Bruder. Meine Mutter war Tibeterin. Sie starb, als ich noch ganz klein war. Mein Vater ist vor zehn Jahren spurlos verschwunden.« Jakli zuckte die Achseln. »Wenn ich kann, reite ich mit den Leuten meines Vaters. Im Frühling begleite ich sie gern in die Wüstenoase, um dort mit ihnen Kamele abzurichten.« »Sie sprechen sehr gut tibetisch.« »Mein Vater hat meine Mutter über alles geliebt und mich stets ermutigt, ihre Traditionen am Leben zu erhalten. Tante Lau war mir dabei behilflich, als sie von meiner Mutter erfuhr.« »Lau hat Sie in den buddhistischen Lehren unterwiesen?« fragte Shan. »Nicht wirklich. Die Entdeckung meines persönlichen Gottes könne ich nur für mich allein bewerkstelligen, hat sie gesagt. Aber sie kannte sich mit der tibetischen Lebensweise aus, so wie sie auch über kasachische und uigurische Bräuche Bescheid wußte. Sie sagte, es sei zwar wichtig, die von der Regierung propagierte neue Lebensweise zu verstehen, aber darüber dürfe man nicht die alten Traditionen vergessen.« Shan musterte die junge Frau und fragte sich, ob der Wortlaut dieses le tzten Satzes von Lau oder von Jakli selbst stammte. Die von der Regierung propagierte neue Lebensweise zu verstehen bedeutete nicht, diese Lebensweise für sich selbst anzunehmen. »Ich wußte gar nicht, daß in Tibet auch Kasachen leben.« Jakli lächelte und sah ihn mit funkelnden grünen Augen an. »Nun, offenbar ist es aber doch so.« Sie drehte sich im Sattel um und deutete auf die Bergkette, die sie soeben hinter sich ließen und in deren Schutz der Raketenstützpunkt verborgen lag. »Allerdings ist dieser letzte Gebirgskamm dort die Grenze. Wir befinden uns in der autonomen Region Xinjiang.« Shan hielt an und ließ den Blick über die trockene, zerklüftete -73-
Landschaft schweifen. Der klare Himmel leuchtete kobaltblau. In seinem Rücken erstreckten sich vom östlichen bis zum westlichen Horizont die majestätischen schneebedeckten Zentralgipfel des Kunlun. In einer Lücke zwischen zwei Bergspitzen hatte er zuvor das gewaltige Karakorum-Gebirge erspäht, das am oberen Ende des Himalaja die fast unüberwindliche Grenze zu Indien und Pakistan darstellte. Nördlich von seinem gegenwärtigen Standort entdeckte Shan einen bräunlich flimmernden Schleier, den er nun als Ausläufer der Takla Makan erkannte, jener riesigen Wüste, von der das südliche Xinjiang dominiert wurde. Vor knapp vier Jahren hatte man ihn in diese Wüste verschleppt, und der Anblick der flirrenden Luft rief bei ihm verworrene Erinnerungen an Sand, Stacheldraht und Injektionsnadeln wach. Mochten die Kasachen in dieser Wüste auch ihre Kamele abrichten, das Büro für Öffentliche Sicherheit widmete sich dort völlig anderen Dingen. Man hatte Shan geschlagen und verhört und unter Drogen gesetzt und wieder verhört, bis von ihm nur noch eine leere, zitternde Hülle übrig gewesen war, mehr tot als lebendig. Dann hatte man sich seiner entledigt und ihn als menschliches Wrack in ein lao gai Zwangsarbeitslager nach Tibet verfrachtet. »Sind Sie schon mal in Xinjiang gewesen?« fragte Jakli, als würde sie ihm seine schreckliche Erfahrung ansehen. »Ich kenne Xinjiang nicht«, gab Shan schnell zurück und trieb sein Pferd an. Ihn überfiel die irrationale Angst, seine Folterer aus dem Wüstengefängnis könnten jeden Moment um die nächste Ecke biegen. Während seiner Haft bei den Kriechern hatte Shan einige Tage lang einen Zellengenossen gehabt, dem es gelungen war, aus einem der berüchtigten lao gai Straflager bei den Kohlengruben Xinjiangs auszubrechen, bevor man ihn in der Wüste wieder erwischte. Der Mann besaß keine Papiere, und niemand machte sich die Mühe, seine Abstammung zu überprüfen, was im Jargon der Kriecher bedeutete, die -74-
eintätowierte Registrierungsnummer des Häftlings zu ihrer Quelle zurückzuverfolgen und so die Geschichte seiner politischen Vergehen und das für ihn zuständige Arbeitslager herauszufinden. Einer der Offiziere bezeichnete ihn als »vogelfrei« und somit für die neuen Rekruten geeignet. Als Shan ihn zum letztenmal sah, kauerte der Mann nackt und mit den eigenen Exkrementen besudelt in der Ecke seiner Zelle und schlug mit dem Kopf gegen die Wand. Nachdem die Pilzschüssel bereits zwei Wegstunden hinter ihnen lag, erreichten sie ein kleines grünes Tal, an dessen Rändern Kiefern und Pappeln wuchsen. Die Tiere schienen plötzlich neue Kraft zu schöpfen und beschleunigten den Schritt. In einiger Entfernung bellte ein Hund. Die Pferde und Kamele begannen zu traben. Hinter einer Wegbiegung kam schließlich das Lager des Roten Steins in Sicht. Auf dem Grund des fruchtbaren Tals standen auf einer Lichtung drei runde Zelte aus dickem Filz. Hinter ihnen, vor einem steilen Hang, hatte man die Ruinen zweier Steingebäude mit provisorischen Dächern aus Segeltuch versehen und nutzte sie nun als Viehställe. Die Ruinen sahen anders aus als die Trümmerfelder, die Shan aus Zentraltibet gewohnt war. Hier wiesen die Steine und Ziegel weder Brandspuren auf, noch hatten die Bomben und Granaten der Volksbefreiungsarmee sie mit zahllosen Splittern verwüstet. An diesen uralten Häusern hatten lediglich der Zahn der Zeit und die Kräfte der Natur genagt. Die kleine Karawane der Neuankömmlinge wurde zunächst nur von einem Lamm bemerkt, das auf dem Pfad herumtollte, dann von einem jungen Mädchen, das ihm nachjagte. Sowohl das Lamm als auch das Mädchen stießen einen überraschten Schrei aus, drehten sich um und rannten zu den Zelten zurück. Vier große Hunde, darunter ein riesiger schwarzer tibetischer Mastiff, bellten erst warnend, liefen den Reitern dann aber freudig entgegen. -75-
Als Shan und Lokesh abstiegen, waren Akzu und Jowa bereits in dem mittleren Zelt verschwunden. Das junge Mädchen tauchte wieder auf und warf ihnen aus großen Augen neugierige Blicke zu. Drei Frauen, von denen eine das graue Haar mit einem rotkarierten Kopftuch zusammengebunden hatte, sahen von ihrer Beschäftigung auf. Sie saßen auf Decken am Boden und zerbrachen weichen Käse in kleine Bröckchen, damit diese in der Sonne trocknen würden. Die ältere Frau rief Jakli aufgeregt etwas zu, und eine ihrer jüngeren Gefährtinnen sprang auf, packte ein weißes Kleid, das an einem Ast hing, und lief in die mittlere Jurte. Am Eingang des Zeltes erschienen zwei Männer mit markanten wettergegerbten Gesichtern und buschigen schwarzen Schnurrbärten. Sie lächelten Jakli zu und bedachten Shan mit mißtrauischen Blicken. Das seien Akzus Söhne, erklärte Jakli, nachdem sie die beiden begrüßt hatte. »Jakli!« rief ein Junge von vielleicht zwölf oder dreizehn Jahren aus dem näheren der beiden Ställe, als die Frau ihr Pferd am Zügel auf die Lichtung führte. Quer über seinen Schultern lag ein Zicklein. Vorsichtig stellte er das Tier neben einer älteren Ziege ab, rannte dann zu Jakli und umarmte sie. »Mein jüngster Cousin Malik«, sagte sie zu Shan. »Er verbringt dermaßen viel Zeit mit den Tieren, daß wir ihn manchmal Seksek Ata nennen. So heißt der Schutzgeist der Ziegen.« Das Lächeln des Jungen wich einem angespannten Gesichtsausdruck. Als er Jakli dann zum zweitenmal in die Arme schloß, wollte er nicht seine Freude zum Ausdruck bringen, sondern getröstet werden, erkannte Shan. Jakli drückte ihn fest an ihre Schulter und küßte ihn sanft auf den Kopf. »Khitai war sein Freund«, sagte sie traurig. Aus dem linken Zelt ertönte ein wütender Aufschrei. Im Eingang stand eine Frau mit wirrem Haar und wildem Blick, wies auf Shan und rief zornig etwas in ihrer turksprachigen -76-
Mundart. Jakli stellte sich vor ihn, als wolle sie ihn vor der kreischenden Frau beschützen, und drängte ihn dann weg in Richtung der Ställe. Die Frau trat einen Schritt ins Sonnenlicht hinaus und schrie weiter hinter Shan her. »Sie ist verrückt«, sagte Jakli leise, als Shan sich erkundigte, was die Frau rief. »Sie sagt, Sie seien hinter den Kindern her. Sie sagt, Sie hätten die Kinder getötet.« Jakli zog an seinem Arm, aber Shan rührte sich nicht von der Stelle. »Vor vielen Jahren war sie schwanger. Man erklärte ihr, sie müsse das Kind in einer Klinik der Regierung zur Welt bringen. Dort gab man ihr eine Spritze, und sie schlief ein. Als sie aufwachte, trug sie das Baby nicht mehr in ihrem Bauch. Es war tot. Später stellte sie fest, daß man sie außerdem sterilisiert hatte.« Die wütende Frau sammelte einige Kiesel auf und warf damit nach Shan. »Danach hat sie sich verändert«, fuhr Jakli fort. »Im Winter sitzt sie einfach da, hält eine zusammengerollte Decke im Arm und singt ihr ein besik zhyry vor.« »Besik zhyry?« fragte Lokesh und ließ die Frau nicht aus den Augen. »Die Kasachen haben für alles Lieder. Hochzeiten, Geburten, Pferderennen, den Tod eines Freundes, den Tod eines Pferdes«, erwiderte Jakli. »Sie singt Wiegenlieder, wie man sie sonst einem Baby vorsingen würde.« Schweigend standen sie da. Einige der Kiesel trafen Shan am Bein. »Jedesmal wenn ein Kind stirbt, glaubt sie, es sei ihr Kind gewesen«, fügte Jakli leise hinzu. Im Licht bemerkte Shan, daß die Kleidung der Frau verdreckt war. An ihren schulterlangen Zöpfen hingen Reste getrockneter Blätter. Als ihn ein größerer Stein am Knie traf, ließ Shan sich von Jakli wegführen. Doch gleich darauf blieb sie stehen. An einem Pfad, der auf den Hang oberhalb der Ställe führte, wartete -77-
Malik. Jakli wandte sich zu der Wahnsinnigen um, als würde sie sich lieber mit dieser Frau auseinandersetzen, als Malik zu folgen, stieß dann einen leisen Seufzer aus und bedeutete Shan, auf den Pfad einzubiegen. Während sie sich dem Jungen näherten, sah Shan, daß er einen kleinen Heidekrautzweig in der Hand hielt. Jakli bückte sich und hob ebenfalls einen solchen Zweig auf. Shan tat es ihr nach. Unterwegs huschte plötzlich eine dunkle Gestalt an ihnen vorbei. Die Wut der Frau schien sich verflüchtigt zu haben und tiefen Schluchzern gewichen zu sein, die fast wie das Blöken eines der Tiere klangen. In stummer Prozession folgten sie dem Verlauf des Pfades: erst die dunkle, gehetzt blickende Frau, dann Malik, Shan und Jakli. Nach ungefähr hundert Schritten betraten sie eine kleine Einfriedung dicht unter dem Kamm der Erhebung, einen geschützten Ort, der im Norden durch eine große Felsplatte abgeschirmt wurde und nach Süden in Richtung Tibet einen kilometerweiten Ausblick auf das Kunlun- Gebirge bot. Weiter hinten, im Schatten der Felsplatte, wölbte sich ein anderthalb Meter langer Erdhügel auf. Links neben dem Grab waren die Pflanzen niedergedrückt. Die Frau hatte hier geschlafen, begriff Shan. Am Kopfende des kleinen Hügels lagen einige Rindenstreifen, auf denen jemand Speisenopfer dargebracht hatte, und am Fußende steckten zwei große Federn und mehrere Heidekrautzweige in der Erde. Shan und Jakli folgten Maliks Beispiel und fügten ihre Zweige in gleicher Weise hinzu. Die Frau saß am oberen Teil des Grabes, wiegte sich vor und zurück und sang mit schmerzverzerrter Miene ein zärtliches Lied, ohne auf Shan zu achten. Shan kniete hilflos am Fuß des Grabes nieder und wußte nicht, was er tun sollte. Kurz darauf kniete Jakli sich leise neben ihn und stimmte flüsternd ein kasachisches Gebet an. Malik -78-
stand hinter ihr und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Shan hörte ein Geräusch. Er drehte sich um und sah, daß Lokesh, Jowa und Akzu den Pfad heraufkamen. Lokesh setzte sich neben das Grab und legte eine ausgestreckte Hand darauf. »Khitai«, sagte er leise und traurig und starrte mit offenem Mund auf die frisch umgegrabene Erde. Während die anderen ihm schweigend zusahen, griff der alte Tibeter mit der zweiten Hand nach seiner Gebetskette, lehnte sich zurück und begann mit einem leisen Mantra. Jowa nahm neben ihm Platz, holte zögernd seine eigene mala hervor und stimmte in die Litanei ein. Die Frau am oberen Ende des Grabes blinzelte mehrere Male und rieb sich die Augen, als würde sie aus einer Trance erwachen. Verunsichert betrachtete sie die Anwesenden, als sei ihr nicht ganz klar, warum sich so viele Personen zu ihr gesellt hatten. Vielleicht fragte sie sich auch, wer aus Fleisch und Blut bestand und wer aus einer anderen Welt zu Besuch gekommen sein mochte. Ihr Blick legte sich erst auf Jowas, dann auf Lokeshs Gebetskette, woraufhin ihr Antlitz regelrecht erstrahlte. In ihrer Muttersprache richtete sie einige Worte an Akzu. Der Führer der Kasachen musterte die beiden Tibeter, antwortete ihr und wandte sich dann an die Besucher. »Sie hat gesagt, es sei gut, endlich einen Mullah bei uns zu haben. Ich sagte, ihr seid zwar keine Mullahs, sondern Buddhisten, aber gleichwohl heilige Männer.« Die Frau nickte energisch und tätschelte dann sanft die Erde, als würde sie ein schlafendes Kind streicheln. »Zu wem hat dieser Junge gehört?« fragte Shan. »Ich weiß, er war ein Waisenkind, aber wo ist der Rest seines Clans geblieben?« »Vermutlich gab es niemanden mehr. Wir wissen nichts über den Ort und Zeitpunkt seiner Geburt. Er selbst hat es auch nicht gewußt. Er gehörte zur zheli«, sagte Akzu, als würde dadurch -79-
bereits viel erklärt. Nachdenklich musterte Shan die verhärmte Frau und stand dann auf. »Das heißt, er hat hier gelebt, aber Lau war seine Lehrerin.« Akzu nickte. »Er war nur kurze Zeit hier. Manche Kinder muß man ständig im Auge behalten. Er jedoch hat überhaupt keinen Ärger verursacht. Wir haben öfter ein Kind aus der zheli für einen oder zwei Monate bei uns. Lau wollte nicht, daß sie die ganze Zeit in der Stadt bleiben. In der warmen Jahreszeit hat sie Aufenthalte bei den Clans organisiert.« »Und Khitai war neu?« »Für uns schon. Er war noch nie zuvor beim Roten Stein gewesen. Aber bei früheren Gelegenheiten, wenn wir einen der Waisen zu Laus Treffpunkt brachten, hatten wir ihn hin und wieder gesehen. Er lächelte immer. Er war fröhlicher als die meisten anderen, denn er hatte wenigstens einen Begleiter, diesen Mann namens Bajys.« Bei diesen Worten zuckte er zusammen, als würde ihm im gleichen Moment die traurige Ironie seiner Worte bewußt werden. »Bajys war demnach auch eine Waise?« fragte Shan. »Ja, aber er ist schon älter, deshalb ist er nicht mehr zur Schule gegangen. Die beiden sagten, sie hätten vor einigen Jahren festgestellt, daß sie aus demselben im Norden beheimateten Clan stammten, und sich daraufhin gegenseitig versprochen, aufeinander aufzupassen. Bajys hat Khitai so manches beigebracht.« »Was genau ist mit dem besagten Clan geschehen?« fragte Shan und mußte an Akzus Worte zu Beginn des Ritts denken. Vielleicht brachte der Dämon etwas zu Ende, das bereits Jahre vorher begonnen hatte. Akzu zuckte die Achseln und trat einige Schritte zurück, als wolle er ins Lager aufbrechen. Dann blieb er in der Mitte der Einfriedung stehen und starrte über die Hügel weit nach Süden, -80-
in Richtung der tibetischen Hochebene. Shan folgte ihm. »Seit es angefangen hat, sind alle Clans beunruhigt«, sagte der alte Kasache. »Sie meinen die Morde.« Akzu wandte den Blick nicht von den Hügeln ab und verzog den Mund zu einem bitteren Lächeln, als hätte Shan einen Witz gemacht. »Natürlich die Morde. Alle Morde. All die Verhaftungen. Seit ich ein Junge war und die Grünhemden hergekommen sind.« Akzu sprach von der Volksbefreiungsarmee und der fünfzig Jahre zurückliegenden Invasion dieser Region, die zur westlichsten Provinz der Volksrepublik China geworden war. Manche von Shans früheren Zellenge nossen, zumeist inhaftierte Krieger, hatten diese Geschichte dermaßen oft erzählt, daß im Laufe der Jahre ein Lied daraus entstanden war, dessen Melodie sie bisweilen im Beisein der Wärter pfiffen. Die Volksbefreiungsarmee hatte zunächst Xinjiang eingenommen und sich an den Moslems erprobt; dann war Tibet an die Reihe gekommen. Die Unterjochung Xinjiangs hatte ein Jahr gedauert, die Versklavung Tibets beinahe ein Jahrzehnt. »Viele der alten Clans sind vollständig verschwunden«, sagte Akzu. »Sie wurden für immer ausgelöscht. Andere hat man durch Linien auf den chinesischen Landkarten in Teile aufgespalten.« Er sah nun wieder Shan an. »Früher sind die Kaiser aus China häufig nach Xinjiang gekommen. Sie wollten unsere Pferde kaufen. Sie wollten ihre Grenzen durch vorgeschobene Garnisonen schützen. Ihre Armeen blieben ein paar Jahre und kehrten dann nach Hause zurück. Die Kasachen und Uiguren, die hier lebten, waren davon nicht betroffen. Aber Kaiser Mao war anders.« Er schüttelte den Kopf. »Wir sind immer Nomaden gewesen. Die von Mao entsandten Grünhemden zeichneten Kästchen auf ihren Karten ein und gaben uns Papiere, die uns den Aufenthalt nur in diesen Kästchen gestatteten. Zuerst haben wir darüber gelacht. Die -81-
Wanderungen der Herden und das Leben unseres Volkes waren den Chinesen ganz offensichtlich völlig fremd. Aber als wir die Grenzen ihrer Kästchen überschritten, warfen sie uns ins Gefängnis. Oder taten uns noch Schlimmeres an.« »Sie haben gesagt, der Junge sei aus irgendeinem Grund deportiert worden.« »Deportiert«, stieß Akzu verächtlich hervor. »Du klingst wie Peking.« Er seufzte und schaute zu Jakli, als würde er sich ins Gedächtnis rufen, daß er mit Shan irgendwie auskommen mußte. »Heutzutage nimmt man es mit den Einschränkungen nicht mehr ganz so genau«, räumte er ein. »Inzwischen kommen manchmal sogar Besucher zu uns. Die Leute suchen nach ihren Familien, die sie seit zwanzig oder dreißig Jahren nicht mehr gesehen haben, weil sie auf den chinesischen Karten in verschiedene Kästchen eingewiesen wurden. Lau war anfangs auch so, aber dann beschloß sie, im Bezirk Yutian zu bleiben und all den anderen zu helfen, die auf ihrer Suche durch dieses Gebiet kamen.« »Sind auch Khitai und Bajys auf der Suche nach ihren Familien hierhergekommen?« »Mittlerweile wollen die meisten Waisen einfach nur einen Ort finden, an dem sie sich eingliedern und ein neues Leben beginnen können. Tante Lau schlug vor, wir sollten uns vielleicht mal etwas näher mit Khitai befassen. Sie sagte, er sei eher für einen der kleineren Clans geeignet, die in einiger Entfernung von der Stadt auf den höheren Weiden bleiben. Wir waren sofort damit einverstanden, ihn und Bajys bei uns aufzunehmen. Häufig finden Leute wie diese beiden nämlich niemals wieder eine neue Heimat. Es hat sich so viel verändert. Den Kindern wird nicht mehr gestattet, die alten Bräuche zu lernen.« Er schüttelte langsam den Kopf. »Eine meiner Kusinen hat in einen der nördlichen Clans eingeheiratet. Letztes Jahr habe ich einen Brief von ihr bekommen. Darin stand, bei ihnen hätte sich vieles zum Besseren gewendet. Es kämen jetzt häufig -82-
Chinesen in ihr Lager und würden für einen Schlafplatz in den Jurten und Mahlzeiten vom offenen Holzfeuer bezahlen. Touristen. Ich schrieb zurück, das sei für mich durchaus keine Verbesserung. Wenn man sich darüber freut, daß sie herkommen und uns wie ihre Haustiere oder wie irgendeine Zirkusattraktion behandeln, dann hat man meines Erachtens seine Wurzeln verloren und vergessen, wie das Leben als Kasache sich eigentlich anfühlen sollte.« Akzu zuckte die Achseln. »Letzten Endes habe ich den Brief dann doch nicht abgeschickt. Die Öffentliche Sicherheit kontrolliert noch immer manchmal die Post. Aber wenn Reisende wie Khitai kommen, müssen wir ihnen Unterschlupf bieten. Unser Clan hat während der Jahre der Entbehrungen viele Angehörige verloren. Einige davon sind womöglich noch am Leben, vielleicht im Norden oder gar in Kasachstan«, sagte er und bezog sich damit auf den unabhängigen kasachischen Staat westlich von China. »Manche der versprengten Clanmitglieder lassen sich in einer Stadt nieder und beginnen ein neues Leben, wie Lau. Andere jedoch wandern ziellos durch das Land. Vielleicht sind auch einige unserer Verwandten irgendwo unterwegs. Ich hoffe nur, sie finden auf ihrer Suche freundliche Aufnahme.« Shan sah zu Jakli. Ihr Vater sei verschwunden, hatte sie gesagt. Akzus Bruder. Der alte Kasache seufzte laut. »Wir werden noch früh genug am eigenen Leib erfahren, wie es ist, eine Waise zu sein.« Shan wollte fragen, was genau er damit meinte, als Jakli sich zu ihnen gesellte. »Onkel, wie lange war dieser Junge hier?« »Knapp drei Wochen. Bis kurz vor dem letzten Vollmond. Khitai war ruhig. Ein guter Junge. Mitunter ein richtiger Witzbold. Einmal ist er in der Nähe des Lagers auf einen Baum geklettert und hat jeden, der vorbeikam, mit Nüssen beworfen und dazu Geräusche wie ein Eichhörnchen gemacht. Und er hat immer eine rote Kappe, seine dopa, getragen, ganz wie ein guter Moslem. Wenn er nicht mit Malik zusammen war, hat er mit -83-
Bajys auf den Hügeln gearbeitet. Wir waren froh, die beiden während der anstrengenden Herbstzeit bei uns zu haben, denn schließlich mußte ja ein Heuvorrat für den Winter angelegt werden.« Bei diesem letzten Satz warf er Jakli einen bitteren Blick zu, als verberge sich dahinter irgendein grausamer Scherz. »Wie ist der Junge gestorben?« fragte Shan ohne Umschweife. Akzu seufzte erneut. »An jenem Tag kam eine der alten Familien zu Besuch, kein ganzer Clan, lediglich die letzten Überlebenden. Bei uns heißen sie Schattenclans. Sie trauen niemandem und sind stets argwöhnisch wie schreckhaftes Wild. Nach Möglichkeit halten sie sich von den Straßen fern und haben gerade genug Schafe in ihrem Besitz, um sich selbst zu ernähren. Für gewöhnlich bleiben sie auf den fernen Hochweiden in der Nähe der Eisfelder, wo niemand sonst je hinkommt. Wenn sie Vorräte brauchen, ziehen sie zum Handeln in eines der kleinen Lager, so auch zu uns. Manche haben ebenfalls einige von Laus Kindern bei sich aufgenommen. Sie hat gesagt, auf diese Weise würden die Schattenclans mit dem Rest der Welt in Verbindung bleiben.« Er schaute zu der Frau am oberen Ende des Grabs. »Wir haben zusammen gegessen, und bei Einbruch der Dunkelheit sind sie weitergezogen. Malik war nicht da, also hat Khitai mit dem Jungen der anderen Familie gespielt, einem seiner Freunde aus der zheli. Den Großteil des Tages waren sie auf den Hügeln unterwegs. Beim Essen hat mir der andere Junge erzählt, wieviel Spaß sie zusammen hatten. Seine Schattenfamilie beherrscht nämlich weder seinen Heimatdialekt noch Mandarin besonders gut.« »Das waren keine Kasachen?« Akzu schüttelte den Kopf. »Dropkas, Tibeter. Eine der Grenzfamilien. Viele der dropkas auf dieser Seite der Grenze haben mit Lau zusammengearbeitet.« Der neuerliche Ansturm des Kummers ließ Shan die Augen -84-
schließen. So kurz hintereinander an den Gräbern zweier Kinder zu stehen war für ihn mindestens genauso schlimm wie die Leiden seiner Haft. »Die Leute sind uns begegnet«, sagte er dann und bekam die Worte nur mühsam über die Lippen. »Wir haben den Jungen begraben«, fügte er hinzu und erklärte, was auf der Changtang geschehen war. Jakli stöhnte leise auf. Akzu senkte den Blick und sagte einige Worte in seiner Muttersprache. Es klang wie ein Gebet. »Wo war Bajys an jenem Tag?« Shan hatte schon vor langer Zeit gelernt, nicht an Zufälle zu glauben. Der Mörder hatte es auf die beiden Jungen abgesehen und sie im Abstand von nur zwei Tagen getötet. »Warum sollte er Khitai umbringen wollen? Und wieso dann auch noch Alta?« Akzu warf Jakli einen ernsten Blick zu. »Am Tag vor dem Mord an Khitai war Fat Mao hier und fragte, ob wir ihm mit den Leuten aus Tibet helfen würden, die wegen Lau kommen sollten.« Bei diesen Worten musterte Akzu erst Lokesh, der alt und gebrechlich am Rand des Grabes saß, dann Shan und schließlich Jowa. Ein betagter Tibeter, ein verbannter Chinese und ein mürrischer, unglücklicher Krieger. Nicht unbedingt die Hilfe, mit der Akzu gerechnet hatte. »War Bajys auch da? Und wußte er von Laus Tod?« »Nein, Laus Tod wurde vor der zheli geheimgehalten. Die Kinder hatten aus der Stadt allenfalls Gerüchte über Laus Verschwinden gehört. Doch Bajys kam ins Zelt und starrte Fat Mao an. Wir fragten ihn, was er wollte, aber er starrte einfach nur Fat Mao an, drehte sich dann um und rannte weg. Er muß Bescheid gewußt haben. Vielleicht hat er das Gespräch belauscht, vielleicht kannte er Fat Mao auch aus der Stadt. Eine solche Neuigkeit kann das Leben eines Mannes verändern. Für manch einen wäre das wie ein unerwarteter Goldfund mitten auf der Straße. Geh zur Anklägerin, erzähl ihr von der geheimen Widerstandsbewegung, und liefere ihr ein paar Namen. Dann bekommst du eine Belohnung, irgendwo eine Anstellung und -85-
damit ein neues Leben. Ich glaube, Bajys hat dem Jungen an jenem Tag sein Vorhaben gebeichtet, und Khitai war damit nicht einverstanden und hat gedroht, Fat Mao zu warnen und Bajys aufzuhalten. Aber Bajys hatte nichts zu verlieren. Das war vielleicht die größte Chance, die sich ihm je bieten würde. Dieser andere Junge muß das alles mitbekommen haben.« »Hatte Bajys eine Schußwaffe?« »Anscheinend. Viele Kasachen haben Waffen für die Jagd.« »Wo ist es geschehen?« »Hier, genau an diesem Ort. Der Junge saß an den Felsen gelehnt, nicht weit von der Stelle, an der wir ihn beerdigt haben.« »Wer hat ihn gefunden?« »Als er am nächsten Morgen nicht zum Frühstück erschien, hat Malik ihn gesucht. Khitai hat viel Zeit hier verbracht. Dieser Ort ist ruhig. Bajys hat ihm hier Unterricht erteilt. Bei Tagesanbruch kam Malik den Pfad hinauf und rannte dann schreiend wieder zu uns zurück. Ich dachte zuerst, es sei irgendein schrecklicher Unfall geschehen. Daß Khitai vielleicht eine Waffe gefunden und damit herumgespielt hatte.« »Aber da war keine Waffe«, warf Shan ein. Akzu schüttelte langsam den Kopf. »Hat jemand die Leiche des Kindes untersucht?« »Es gibt hier in der Nähe keinen heiligen Mann. Keinen Mullah. Unsere Toten müssen schnell bestattet werden, noch bevor die Sonne untergeht. Meine Frau ist hergekommen, hat ihn gewaschen und ihn in ein Leichentuch gehüllt. Sie kannte Khitai nicht besonders gut.« Akzu seufzte. »Aber sie weiß, wie man Kinder beerdigt. Wir haben Lieder gesungen. An und für sich sollte es darin um das Leben des Toten gehen, aber niemand wußte genug von Khitai.« Er sah Jakli an, als wolle er sie beruhigen. »Also haben wir darüber gesungen, wie es ist, auf -86-
dem Pferderücken über die Hochweiden zu ziehen und den Flug des Adlers zu beobachten.« Der nächste bedeutungsvolle Blick galt Shan. »Es war eine einzige Kugel mitten in die Stirn«, erklärte er leise. »Ein kleines Kaliber. Nicht laut. Niemand hat etwas gehört.« Er hielt inne, als wolle er Shan auffordern, ihn nach dem Grund für solche genauen Waffenkenntnisse zu fragen. »Keine Austrittswunde am Hinterkopf. Es war ein Steckschuß.« »Sonst nichts? Irgendwelche Anzeichen für einen Kampf?« »Seine Kleidung war zerrissen, vor allem das Hemd und eines der Hosenbeine. Ein Schuh fehlte.« Akzus Augen richteten sich auf die Hügel und dann besorgt wieder auf Shan. Ihn bedrückte noch etwas anderes. Eigentlich hatte er nur Jowa ins Lager mitnehmen wollen, erinnerte Shan sich. Weil Jowa sich mit der Öffentlichen Sicherheit auskannte. »Aber Sie sagten doch, Bajys und Khitai seien Verwandte gewesen oder hätten zumindest aus demselben Clan gestammt. Immerhin waren die beiden schon la nge zusammen.« Akzu schüttelte langsam den Kopf. »Bajys war ein unsteter Charakter. Manche Leute sind im Umgang mit Kindern ziemlich nervös. Bisweilen hat er sich dem Jungen gegenüber wie ein Onkel verhalten. Beim Essen ermahnte er Khitai, gute Manieren an den Tag zu legen. Manchmal war er mehr wie ein Lehrer. Aber mitunter schien es fast so, als habe er Angst vor dem Jungen.« »Angst?« »Nein, das trifft es nicht genau.« Der Clanälteste runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll. Hin und wieder schien Khitai wie eine Art älterer Bruder zu sein, und Bajys bemühte sich, ihm alles recht zu machen.« Akzu blickte kurz himmelwärts und zuckte dann die Achseln. »Wenn ein Fohlen ohne Herde aufwächst, bleibt es scheu und nervös.« »Waisenkinder haben allen Grund, scheu und nervös zu sein«, -87-
wandte Shan ein. Akzu nickte. »Aber die Hunde mochten Bajys«, fügte er hinzu und klang dabei verwirrt, als sei ihm dies unbegreiflicher als alles andere. »Falls er je die chinesische Stadt verläßt, werden wir ihn finden. Die Clans regeln so etwas ohne die Behörden. Wir üben unsere eigene Gerechtigkeit. Doch er weiß, daß wir ihn in der Stadt nicht erwischen können. Dort sind zu viele Kriecher.« »Eure eigene Gerechtigkeit?« »Wir kennen den Mörder«, sagte Akzu mit eisiger Stimme. »Irgendwann bekommen wir ihn zu fassen, und dann wird er den Preis bezahlen, den alle Mörder bezahlen müssen.« Die Worte überraschten Shan. Buddhisten waren üblicherweise nicht auf Rache aus. Mittlerweile aber befanden sie sich in einem moslemischen Land, und Moslems glaubten an den Wert der Vergeltung. »Was ist mit Laus anderen Kindern, dem Rest der zheli?« fragte Shan. »Hat man sie gewarnt? Solange der Täter nicht gefunden ist und wir den Grund für die Morde nicht kennen, sind sie alle in Gefa hr.« Akzus Worte zu Beginn des Ritts gingen ihm noch immer nicht aus dem Kopf. Vielleicht will der Dämon alle diese Kinder töten, hatte der Clanälteste gesagt. Dreiundzwanzig Waisen, und jetzt waren nur noch einundzwanzig davon am Leben. Akzu und Jakli tauschten einen besorgten Blick aus. »Eine entsprechende Aufforderung ist ergangen«, sagte Akzu mit gequälter Stimme. »Wir tun, was in unserer Macht steht.« »Das ist nicht so einfach«, erklärte Jakli. »Deshalb hat Lau sie ja auch als ihre zheli bezeichnet. Diese Kinder sind wie Wildpferde, überall in den Bergen verstreut, immer unterwegs, immer argwöhnisch.« »Aber man weiß doch, wo sie untergebracht sind. Bei -88-
welchen Pflegefamilien.« Akzu schüttelte den Kopf. »Untergebracht? Sie sind bei Nomaden und begleiten bis zum Winter die Herden. Nur für Laus Unterricht wurden die Kinder zusammengeholt. Die Briefe für sie werden auf Höfen oder in der Stadt hinterlegt. Manche Leute kennen die Namen der Clans und vielleicht auch deren traditionelle Weidegründe. Wir zum Beispiel wissen von zwei Mädchen aus der zheli, in einem Tal nicht weit von hier. Die beiden bleiben inzwischen in ihren Zelten und sind nie ohne Aufpasser.« Sein Blick schweifte über die Berge. »Seit ihrem Ausscheiden aus dem Landwirtschaftsrat ist Lau oft allein im Gebirge unterwegs gewesen und hat die Kinder medizinisch versorgt, den ärmsten Familien Nahrung gebracht oder manchmal auch Sonderunterricht erteilt. Ich schätze, nur Lau kannte den Aufenthaltsort jedes einzelnen Kindes. Vielleicht wird diese Geheimhaltung den Waisen letztlich das Leben retten.« »Demnach wußte Lau auch, daß der Clan des Roten Steins hier in diesem Lager war?« Akzu nickte. »Sie wußte, daß wir diesen Platz im Herbst dazu nutzen, unsere Herden zu sammeln und auf den Winter vorzubereiten. Aber es ist nicht wichtig, was Lau wußte. Bajys war hier.« Akzu wandte sich erneut zu dem frischen Erdhügel um. »Die ermordeten Kinder haben im Lager des Roten Steins gelebt beziehungsweise dem Lager des Roten Steins einen Besuch abgestattet«, stellte er mit finsterer Miene fest und machte sich auf den Rückweg nach unten. Als sie wieder im Lager eintrafen, stand die Zeltklappe der mittleren Jurte weit offen. Eine grauhaarige Frau erschien im Eingang, betrachtete die sich nähernden Fremden mit starkem, stolzem Blick und bat sie dann mit einer Geste hinein. Shan folgte Jaklis und Akzus Beispiel, trat zu einer Schüssel mit Wasser und wusch sich die Hände. Der Boden des Zeltes war mit einem dicken Teppich ausgelegt. Nahe der Mitte ließ Shan -89-
sich auf einem Kis sen nieder und nahm aus den Händen der Frau eine kleine angeschlagene Porzellantasse entgegen, in der eine heiße Flüssigkeit dampfte. »Meine Frau backt heute«, verkündete Akzu, während die grauhaarige Frau in einem brodelnden Kessel rührte, der über einer großen Kohlenpfanne hing. Neben ihr standen ein Tontopf voller Joghurt und ein großer flacher Stein, auf dem ein Stapel nan lag, das von den chinesischen Moslems bevorzugte Fladenbrot. »Ihr schlaft bei unserem Clan, in dem Zelt bei den Ställen.« Shan nickte der Frau grüßend zu. Sie lächelte schüchtern. Dann trank er einen Schluck. Er hatte mit Tee gerechnet, doch das hier war etwas anderes. »Warme Ziegenmilch«, erklärte Jakli. Hinter einem Vorhang an der Rückwand des Zeltes hörte Shan Stimmen. Dann spähten die beiden anderen Frauen, die er zuvor schon gesehen hatte, vorsichtig um die Ecke, sahen Jakli mit erwartungsvollem Lächeln an und verschwanden wieder. Die Milch war überraschend bitter, erfüllte seinen Magen jedoch mit angenehmer Wärme. »Ist dieser Bajys je fort gewesen?« fragte Shan. »Fort?« wiederholte Akzu. Er leerte seine Tasse, griff dann hinter sich und zog einen kleinen Trinkschlauch hervor. Mit beiden Händen streckte er ihn Shan entgegen und neigte leicht den Kopf. Shan nahm den Schlauch, wandte den Blick aber nicht von Akzu ab. »Der Tod von Tante Lau hat sich mehr als eine Woche zuvor ereignet. Könnte Bajys sie ebenfalls ermordet haben?« Jaklis Kopf ruckte mit plötzlichem Interesse hoch, als sei ihr dieser Gedanke bislang noch gar nicht gekommen. »Nein«, erwiderte Akzu nach kurzem Überlegen. »Er war den ganzen letzten Monat hier beim Clan. Dieser Ort in der Wüste, an dem Tante Lau gestorben ist, Karatschuk… der Hin- und -90-
Rückweg würde mehr als einen Tag dauern. Wenn Bajys mit Khitai auf die Hochweiden gezogen ist, war er nie mehr als vier oder fünf Stunden weg.« Der Clanälteste nickte in Richtung des Trinkschlauchs. »Kumys«, sagte er. »Trink.« Also gab es zwei Mörder, dachte Shan. Und Bajys stellte nur einen Teil der Antwort dar. »Karatschuk?« fragte er. »Was wollte Tante Lau dort?« Jakli und ihr Onkel runzelten beide die Stirn und sahen sich an. »Da gibt es eine Oase, das ist alles«, entgegnete Akzu rätselhaft und lenkte das Gespräch weg von Lau und dem toten Jungen. Statt dessen widmete er sich als guter Hausherr nun seinem Besuch und folgte damit den Regeln der Gastfreundschaft, die Shan auch schon in einigen tibetischen Nomadenzelten kennengelernt hatte. Er zeigte Shan, wie man den hölzernen Pfropfen aus dem Trinkschlauch drehte und sich dann eine n Strahl der Flüssigkeit direkt in den Mund spritzte. Shan tat es ihm unsicher nach, denn aus Tibet waren ihm solche Trinkschläuche nicht vertraut. Als der scharfe Alkohol auf seinen Gaumen traf, wäre ihm beinahe die Luft weggeblieben. Akzu lächelte. »Gego rene Stutenmilch«, erklärte er, nahm den Schlauch von Shan wieder entgegen und trank einen großen Schluck des fahlweißen Gebräus. Nach einem zufriedenen Seufzer erzählte er, daß den Pferden gegenwärtig ein sehr dichtes Fell wuchs, was auf einen harten bevorstehenden Winter schließen ließ. Nach einer Viertelstunde stand Jakli auf und trat hinter den rückwärtig aufgehängten Teppich, der als Vorhang diente. Die Frauen dort begannen in gedämpfter Lautstärke aufgeregt mit ihr zu plaudern. Einige Minuten später kehrte Jakli zurück. Ihr Gesicht war gerötet, als hätte sie einen peinlichen Moment erlebt. Dann nahm sie Shans Tasche, die am Zelteingang lag. Shan bedankte sich bei Akzus Frau und folgte Jakli zu dem Zelt bei den Tieren. Am Eingang der Jurte erschien Malik und hielt die Zeltklappe auf, als habe er bereits auf sie gewartet. Doch Jakli blieb stehen -91-
und sah zu dem Zelt auf der anderen Seite des Lagers. Dann reichte sie Shans Tasche an den Jungen weiter und trat schweigend in die dritte Jurte. Shan zögerte und fragte sich, ob Malik ihm vielleicht eine Erklärung liefern würde. Doch der Junge zuckte nur die Achseln und verschwand wieder hinter der Zeltklappe. Shan folgte Jakli. Als er sich dem dritten Zelt näherte, hörte er ein merkwürdiges, ungleichmäßiges Klickgeräusch. Beim Eintreten blickten fünf Gesichter zu ihm auf. Jowa, Jakli, Fat Mao und Akzus Söhne. Jakli saß mit Jowa neben einer kleinen glimmenden Kohlenpfanne. Der Uigure und die beiden Kasachen knieten hinter ihm und betrachteten aufgeregt den Laptop-Computer auf Jowas Schoß. Jakli schien erschrocken zu sein. »Beim Stall. In dem Zelt dort ist für Sie und Lokesh eine Schlafstelle vorbereitet.« Doch Shan trat näher. Einer der Kasachen murmelte einen Fluch. Jowa blieb gelassen. Er warf Shan nur einen kurze n Blick zu und machte weiter, betätigte hin und wieder eine Taste und verfolgte neugierig die Bildschirmanzeige. Jakli stand auf. Sie wirkte unschlüssig. »Das sind bloß ein paar Unterlagen über die landwirtschaftlichen Produktionseinheiten. Jowa hilft uns mit dem Computer.« Shan stellte sich neben den Tibeter und konzentrierte sich auf den Monitor. Der purba scrollte soeben durch eine Datei. Der Text war auf chinesisch verfaßt, und jede Seite trug die gleiche Überschrift: »Verzeichnis der Landwirtschaftsproduktion, Bezirk Yutian.« Es gab einzelne Abschnitte für Baumwolle, Wolle, Gerste und Weizen, die jeweils mit Mengenangaben versehen waren. Mehr als siebzig Prozent der Produktion entstammten der Volkseigenen Bauund Entwicklungsgesellschaft. Andere, kleinere Mengen wurden einer Vielzahl von Kollektiven und Familienunternehmen zugeordnet, die den Rest der hiesigen Industrie ausmachten. -92-
Bei der Aufstellung der Wollproduktion hielt der Tibeter inne. Einer der Kasachen deutete über Jowas Schulter auf einen Eintrag am unteren Rand des Monitors. »Roter Stein« stand dort. »Das sind wir«, sagte der Mann. »Viehzuchtbetrieb Roter Stein.« Jowa markierte den Namen mit dem Cursor und betätigte eine Taste. Auf dem Schirm erschienen die Produktionszahlen des Roten Steins für die letzten fünf Jahre, verbunden mit einem entsprechenden Diagramm. Die Menge hatte stetig abgenommen. Jowa betätigte eine andere Taste und rief damit eine vergleichende Fünfjahresübersicht aller Clans im Bezirk Yutian auf. Der Rote Stein hatte jedes Jahr am wenigsten produziert und kam somit auch auf die niedrigste Gesamtmenge. Jakli beugte sich über Jowas Schulter und erläuterte den anderen die Statistik. Obwohl offenbar die meisten der Anwesenden Chinesisch verstanden, schienen längst nicht alle auch die chinesische Schrift zu beherrschen. Als Jakli geendet hatte, stieß einer der Kasachen einen Fluch aus. »Die Brigade«, sagte er. »Jahrelang drücken sie die Preise, behandeln uns in unserem eigenen Land wie Sklaven, und dann sind sie immer noch nicht zufrieden.« »Sie nennen sich Volksbrigade«, erklärte Jakli für Shan. »Das Konzept gehörte zu Pekings erster Besiedlungsphase. Viele der Soldaten, die ursprünglich als Besatzungstruppen hergeschickt wurden, bekamen finanzielle Vergünstigungen, damit sie hierbleiben und das Land erschließen würden. Man gründete eine Gesellschaft für sie, die über ausgedehnten Grundbesitz verfügen durfte. Sie haben das gute Weideland genommen, es umgepflügt und darauf Baumwolle und Getreide angepflanzt. Die Gesellschaft wurde größer und größer. Mittlerweile ist die Brigade praktisch so einflußreich wie die Regierung. Sie betreibt Schulen und einige der hiesigen Krankenhäuser. Im Auftrag des Ministeriums für Justiz und Öffentliche Sicherheit werden sogar manche der Gefängnisse von ihr verwaltet. Tausende von -93-
Arbeitern. Hunderte von Unternehmen. Gegen diese Konkurrenz können wir einfach nicht bestehen.« »Die Brigade und die Armee sind letzten Endes dasselbe?« fragte Shan. Chinas Militär besaß traditionell enge Bindungen an gewisse Wirtschaftsbetriebe. »Vor fünf Jahren hat man die Brigade privatisiert«, erwiderte Jakli. »Aber sie wird auch heute noch wie die Armee geführt. An der Spitze stehen frühere Generäle, natürlich ausnahmslos Han-Chinesen.« »Wie ein Königreich«, sagte hinter ihnen jemand mit bitterer Stimme. Akzu hatte das Zelt betreten. »Ein eigenständiges Königreich innerhalb des Landes, gefördert von Peking.« »Und wieso sollen Sie…«, setzte Shan an. »Es heißt, die Produktion müsse effizienter werden«, unterbrach Akzu ihn sarkastisch. »Man sagt uns, die kleinen Clans würden zu kostenintensiv arbeiten.« »Kostenintensiv?« »Das ist Teil des Programms zur Beseitigung der Armut«, sagte Jakli. »Eine von der Regierung erlassene Leitlinie, deren Durchführung in den Händen der Brigade liegt.« »Aber was hat das alles mit Ihrem Clan zu tun?« Jowa klappte lautstark den Deckel des Laptops herunter. »Die kleinsten Erzeuger werden aufgekauft«, erläuterte er. »Die Brigade ermittelt die leistungsschwächsten Unternehmen und teilt deren Arbeitskräfte effizienteren Betrieben zu. So etwas wird dann Wertzuwachs genannt.« »Das heißt, man wird dem Clan ein anderes Stück Land zuweisen?« »Nein«, sagte Akzu. »Die Regierung hat vor einigen Jahren verfügt, daß Clans wie wir unsere Geschäfte in Form einer Kapitalgesellschaft tätigen müssen. Und jetzt kauft die Brigade alle Anteile auf.« -94-
»Was ist, wenn ihr damit nicht einverstanden seid?« fragte Jowa. »Ich habe in der Stadt einen Begriff dafür gehört«, warf Jakli ein. »Feindliche Übernahme. Er war in aller Munde, als handle es sich um eine Art Witz, als habe jemand in einer amerikanischen Zeitschrift darüber gelesen.« »Aber der bloße Aufkauf der Anteile dürfte sich doch nicht auf den eigentlichen Clan auswirken, oder?« fragte Shan. Jakli verzog das Gesicht. »Für die sind wir kein Clan, sondern nur neue Angestellte. Die Brigade hat bereits über die Zukunft des Roten Steins entschieden. Wir werden alle auf verschiedene Städte aufgeteilt, damit der Clan zerfällt. Eltern mit Kind bekommen ein eigenes Quartier zugewiesen. Die anderen werden in Arbeiterwohnheimen untergebracht.« Bei diesen Worten schien sie zu erschaudern. Sie legte sich eine Hand auf die Brust, als leide sie an Atemnot. Der Clanälteste nahm neben seinen Söhnen Platz und zog einen zusammengefalteten Umschlag aus der Manteltasche. »Letzte Woche haben wir diesen Brief bekommen. Bis zum Ende des Monats sollen wir unsere Herden, die Pferde, die Hunde und sogar unsere Zelte bei der Brigade abliefern. In wenigen Tagen, direkt nach unserem herbstlichen Reiterfest, dem nadam. Alle Angehörigen des Clans müssen sich melden und erhalten neue Aufgaben zugeteilt.« Er wies auf einen Stapel Papier neben dem Computer. »Ein abschließendes Inventar der Vermögensmasse muß ebenfalls vorgelegt werden. Jedes Schaf, jedes La mm, jeder verdammte Löffel und Topf.« »Programm zur Beseitigung der Armut«, sagte Jowa mit hohler Stimme. »Diese Schweine beseitigen den Clan.« Tiefes Schweigen senkte sich über das Zelt. Eine Weile war nur noch das Schnauben der draußen angebundenen Pferde zu hören. »So klar hat es bis jetzt noch niemand formuliert«, sagte Akzu -95-
dann. Fat Mao stand auf. »Aber es stimmt. Dieser Tibeter spricht die Wahrheit. Genauso haben sie es mit den Höfen der Uiguren gemacht und auch mit den Kasachen im Norden.« Seine Augen verengten sich und richteten sich auf Shan. »Programm zur Beseitigung der Armut.« Er stieß die Worte verächtlich hervor. »Das alles hat keine wirtschaftlichen Gründe. Es geht um Politik. Der Plan stammt von den Leuten aus Peking. Sie wollen verhindern, daß Uiguren und Kasachen je wieder das traditionelle Leben ihrer Völker führen können.« Er sah nun Jowa an. »Die Chinesen sind sehr schlau. Sie studieren ein Volk und finden heraus, was diesem Volk am wichtigsten ist. Dann ersinnen sie Mittel und Wege, um genau diesen Punkt auszuhöhlen, ihn erst jeglicher Macht zu berauben und dann gänzlich verschwinden zu lassen. In Tibet nehmen sie euch eure heiligen Männer. Sag mir, mein Freund, könnt ihr euch ohne eure heiligen Männer noch als echte Tibeter fühlen?« Jowa wandte das Gesicht ab und schaute dann zu Shan. Sie hatten ihren heiligen Mann bereits verloren. Seine Hände schlossen sich fest um das Gehäuse des Computers. »Ich bin auch auf den Weiden und mit den Tieren aufgewachsen«, sagte Jowa unvermittelt. Alle anderen hielten inne und sahen ihn an. Der plötzliche Schmerz in seiner Stimme überraschte sie. »Meine Familie hat in einem Tal gelebt. Eines Tages kamen sie mit mehreren großen Lastwagen. Wir waren ungefähr fünfzig Leute und mußten hinten auf die Ladefläche n von zwei der Wagen steigen. Sie sagten, da wir Land besäßen, seien wir Reaktionäre. Jetzt brauche unser Land die chinesische Technik. Sie würden mit Traktoren herkommen und chinesischen Weizen anpflanzen. Dann haben sie vor unseren Augen unsere gesamte Habe durchwühlt. Alles, was mit der Aufzucht der Herden oder unserem Leben als Nomaden zu tun hatte, wurde in das Hauptzelt geworfen. Sogar die Teppiche, die sich seit acht Generationen im Besitz meiner Familie befunden haben. Die -96-
anderen Zelte wurden abgerissen und ebenfalls dort verstaut. Danach haben sie das große Zelt einfach angezündet. Meine Mutter schrie. Ein Soldat schlug ihr mit dem Kolben seines Gewehrs vier Zähne aus. Meine Schwester rannte los, um ihr Pony zu umarmen, also haben sie das Tier erschossen. Mein Vater stimmte ein Mantra zur Anrufung des Mitfühlenden Buddhas an, und sie packten seine Gebetskette, die aus Koralle bestand und aus der Zeit des siebten Dalai Lama stammte, und schnitten sie durch, so daß alle Perlen ins Gras fielen. Meine Tante sprang einem der Soldaten auf den Rücken, schrie und zerkratzte ihm das Gesicht.« Jowas Stimme erstarb. »Falls dein Feind dir nur die Hände läßt, kratzt du nach seinen Augen«, stellte Akzu mit eisiger Stimme fest. »Falls man dir auch die Hände nimmt, kannst du immerhin noch zubeißen.« Er sprach die Worte in einem eigentümlichen Singsang. Es klang wie ein altes Kampflied. Jowa nickte langsam. »Ein paar der Soldaten haben meine Tante auf eine der Weiden geschleift. Dort haben sie ihr etwas angetan, und daran ist sie gestorben. Ihre Leiche wurde einfach ins Feuer geworfen, und dann hat man uns fortgebracht. Unterwegs stimmten die Soldaten Lobgesänge auf den Großen Vorsitzenden an und schlugen uns mit ihren Gewehren, bis wir in die Lieder einstimmten.« »So schlimm ist es heute nicht mehr«, sagte einer der Kasachen, klang dabei jedoch nicht allzu selbstsicher. »Nicht mehr so gewalttätig.« Jowa schnaubte wütend. »Heutzutage benutzen sie dazu Computer und Bürokraten. Und Gesellschaften.« Er wandte sich an Akzu. »Du glaubst, Mütter, Väter und Kinder würden jeweils zusammen an einen Ort geschickt? In Tibet war das anders. Die Familien treffen in ihrer neuen Wohnung ein, und am nächsten Tag steht ein Chinese vor der Tür, um das Kind abzuholen, weil es auf eine besondere Schule gehen soll. Ein Internat, weit weg. -97-
Dort läßt man die Kinder ein kleines rotes Buch auswendig lernen. Und wenn sie zurückkommen, tragen sie einen chinesischen Namen und machen sich über eure Traditionen nur noch lustig.« Akzu sah aus, als hätte man ihm einen Tritt in den Bauch verpaßt. Er preßte eine Hand auf den Leib und stand langsam und wie unter großer Anstrengung auf. Dann verließ er das Zelt, ohne sich noch einmal umzublicken. »Bis gestern nacht war ein heiliger Mann bei uns«, sagte Shan in die folgende Stille hinein. »Dann ist er verschwunden.« Jakli seufzte laut auf. Fat Mao schien regelrecht zu erstarren. »Wer hat ihn entführt?« fragte er barsch. Doch Shan konnte nicht antworten. Schon die ersten Worte hatten ihn wieder mit Angst erfüllt. Er verspürte den verzweifelten Drang, einfach loszurennen, in die Berge zurückzukehren und nach Gendun zu suchen. Die Lamas hatten sich geirrt, hatten zuviel von ihm erwartet. Er wußte nichts über die Moslems. Er kannte sich in Xinjiang nicht aus. Er konnte wegen der Morde an diesen Kasachen nichts unternehmen. Jowa faßte die Ereignisse des Vorabends für die anderen zusammen. »Uniformen?« fragte Fat Mao. »Keine.« »Welche Farbe hatte der Lastwagen?« Jowa sah Shan an. »Hang«, entgegnete der purba. Rot. Der Uigure und Jakli tauschten einen beunruhigten Blick aus. Dann begann Fat Mao laut zu fluchen. Jakli wandte sich an Shan. »Die Brigade«, sagte sie langsam. »Sie fahren rote Lastwagen.« Fragend schaute sie sich zu dem Uiguren um. »Aber sie können nicht auf tibetisches Gebiet vordringen. Dazu sind sie gar nicht ermächtigt.« Im selben Moment verzog sie das Gesicht, als würde ihr klar werden, wie -98-
wenig die Brigade auf eine formelle Erlaubnis angewiesen war. »Ich meine, das haben sie doch noch nie getan.« Shan fand seine Stimme wieder. »Falls diese Leute den Lama haben«, drängte er, »falls der rote Lastwagen mit Gendun Rinpoche zurück nach Xinjiang gefahren ist, wo würde man ihn gefangenhalten? Wohin würden sie sich wenden?« Der Uigure griff langsam in die Jackentasche und zog daraus einen Umschlag hervor, dem er eine Computer-Diskette entnahm. »In eine ruhmreiche Zukunft«, sagte er und lächelte humorlos. Verwirrt beobachtete Shan, daß Jowa die Diskette nahm und ins Laufwerk des Computers steckte. Als der Monitor wieder hell wurde, standen dort große chinesische Schriftzeichen zu lesen, die früher zu Shans täglichem Leben als Ermittler in Peking gehört hatten. Nei lou. Vertraulich. Nur für den internen Dienstgebrauch. Bei diesem Anblick schien in Jowas Augen eine Flamme aufzulodern. Der Uigure beugte sich vor und betätigte mehrere Tasten. »Umerziehungseinrichtung Ruhm des Volkes«, las Jowa laut vor, als die Bildschirmanzeige sich veränderte. »Lao jiao Lager 947.« Lao jiao Anstalten dienten in erster Linie der Indoktrination und waren für die Bestrafung von Tätern gedacht, deren politische Vergehen als gering erachtet wurden und nicht für die Einweisung ins Gulag ausreichten. Die Beimessung der einzelnen lao jiao Strafen wurde administrativ geregelt, was bedeutete, daß bereits ein einzelner Beamter die Inhaftierung eines Bürgers veranlassen konnte, ohne Richter, ohne Prozeß. »Die Jadehure«, sagte Fat Mao leise. Shan sah ihn fragend an. »Die Anklägerin von Yutian. Xu Li«, erklärte der Uigure. »So kalt und hart wie Jade. Das Lager Volksruhm ist ihr persönliches Verlies. Laß einen Furz in ihrer Nähe, und schon darfst du im Lager Volksruhm ein paar Monate lang Reis fressen.« -99-
»Kürzlich erfolgte Einweisungen«, las Jowa vom Monitor ab. »Aber es ist noch zu früh«, sagte er. »Die Diskette…« »… ist auf dem Stand von sechs Uhr gestern nachmittag«, fuhr Fat Mao ihm mit verschwörerischer Stimme ins Wort. »Gendun wurde erst letzte Nacht gefangengenommen.« »Sieh genau hin«, sagte der Uigure und nickte in Richtung Bildschirm. »Nummern ohne Zuteilung«, las Jowa verwirrt. »Richtig. Sie läßt immer ein paar Nummern für die anderen Einweisungsberechtigten reservieren. Die Kriecher. Die Armee. Die Sicherheitsteams der Brigade. Die Frau ist geradezu besessen von ihrer eigenen Tüchtigkeit. Offene Häftlingsakten ohne Namen, nur aufgrund der voraussichtlichen Verhaftungen. Basierend auf diesen Zahlen wird von den Wärtern das Essen bestellt, die Unterbringung vorbereitet und die Personalstärke eingeteilt. Die Brigade kann einfach irgendeinen Gefange nen mitbringen und den Namen am Tor eintragen. Manchmal läßt Xu Li schon im voraus den Grund der Festnahme vermerken. Mittäterschaft in einer Jugendbande. Kultureller Revisionismus.« »Ein paar Nummern?« fragte Jowa nach. »Das hier sind mindestens dreißig oder vierzig.« Beunruhigt beugte der Uigure sich über den Computer. »Ta ma de!« rief er. »Verflucht! Was hat sie vor?« Sie scrollten zwischen den tatsächlichen Einweisungen und den reservierten Nummern hin und her. Einige Minuten später richtete Fat Mao sich wieder auf. Er war wütend. »Normalerweise werden pro Woche ungefähr fünf oder sechs neue Häftlinge ins Lager Volksruhm eingewiesen. Vor einer Woche hat sie vierzig offene Nummern angelegt. Zehn wurden für die Brigade reserviert, zehn für die Kriecher, und zwanzig hat sie selbst behalten. Drei Tage später war die Hälfte schon belegt. Zwanzig neue Insassen. Gestern sechs weitere und -100-
dann…« Er hielt mitten im Satz inne und deutete auf den Monitor. »Da ist noch etwas«, sagte er. »Gestern hat man sechs zusätzliche offene Akten angelegt. Für das Büro für Öffentliche Sicherheit.« »Aber die Kriecher haben doch bereits…«, wollte Jakli einwenden. »Nein. Damit habe ich die hiesigen Kriecher gemeint«, sagte Fat Mao mit tiefer Stimme, die fast wie ein Knurren klang. »Das hier ist anders. Hier steht Hauptquartier der Öffentlichen Sicherheit. Einsatzkommandos. Im direkten Auftrag der Oberhäupter dieser verdammten Regierung.« Die Worte legten sich wie ein Leichentuch über die Anwesenden. Schweigend starrten sie alle den Bildschirm an. »Nichts über Mönche«, flüsterte Jowa schließlich Shan zu. »Kein Wort von Gendun oder irgendwelchen Tibetern.« »Das Hauptquartier - damit könnte die Provinzzentrale in Urumchi gemeint sein«, sagte Jakli und bezog sich damit auf die tausend Kilometer nordöstlich gelegene Hauptstadt Xinjiangs. »Oder auch Peking.« Sie sah sich mit großen Augen um, als wäre ihr ein Gespenst erschienen. In beiden Fällen bedeutete dies, daß jemand von ganz oben sich für den Bezirk Yutian interessierte. Jakli wollte anscheinend aufstehen, schien dann aber alle Kraft zu verlieren. Sie ließ sich zurücksinken und fixierte den Computer. Shan sprang plötzlich auf. Etwas schnürte seine Brust ein. Er ging nach draußen und atmete in der kühlen Luft tief durch. Die Öffentliche Sicherheit aus Peking hatte ihn ins Gulag geschickt. Bislang war er davon ausgegangen, daß Gendun schlimmstenfalls in die Hände der örtlichen Kriecher geraten würde. Die Kriecher aus dem Hauptquartier verfügten hingegen über Universitätsabschlüsse und hohe Parteiränge. Ihre Einsatzkommandos bestanden aus Elitesoldaten und wurden stets von einem Politoffizier geleitet. Diese Leute würden -101-
Gendun mit anderen Augen betrachten. Er wäre eine Art Experiment. Vielleicht beschloß man, sich seiner zu bedienen, nachdem man seinen Willen durch Techniken gebrochen hatte, denen nicht einmal der ausgeglichenste Verstand zu widerstehen vermochte. Sie hatten dergleichen zuvor schon häufiger getan. Sogar der Pantschen Lama, der höchste aller wiedergeborenen Lamas nach dem Dalai Lama, war von ihnen für zehn Jahre in ein Hochsicherheitsgefängnis in der Nähe von Peking gesperrt worden, nachdem er sich für die tibetische Unabhängigkeit ausgesprochen hatte. Als er wieder zum Vorschein kam, war er ein völlig anderer Mann und mit eine r Han-Chinesin verheiratet. Shan ging zu dem Zelt bei den Ställen. Dort sah er neben seiner Tasche Malik knien und soeben die Schlafstelle glattstreichen, die aus drei aufeinanderliegenden Teppichen bestand. Lokesh saß mit übergeschlagenen Beinen auf einem ähnlichen Ruhelager. Vor ihm lag ein kleiner roter Läufer, ein moslemischer Gebetsteppich, auf dem einige Gegenstände angeordnet waren. Der alte Tibeter hatte eine Hand vor die Brust gehoben und hielt einen Bleistiftstummel. Seine Augen waren geschlossen. Mit dem Fuß stieß Shan versehentlich gegen eine Blechdose, die am Rand des roten Teppichs stand und kleine Glasstücke enthielt. Sie kippte um und ließ dabei ein helles Klingeln ertönen, wodurch Lokesh aus seiner Trance gerissen wurde. »Er hatte nicht viel«, stellte der alte Tibeter seufzend fest und wies auf die Gegenstände vor ihm. »Sind das die Besitztümer des Jungen?« fragte Shan. Lokesh nickte und starrte die Sachen neugierig an. Die Blechdose mit dem Glasspielzeug. Drei Bleistiftstummel. Ein kleines, lautenähnliches Instrument mit nur zwei Saiten. Geflochtene Lederriemen, die aussahen, als habe man sie mehrfach auseinandergewickelt und neu geflochten, womöglich zu Übungszwecken. Eine einzelne Jadekugel vom Durchmesser -102-
einer großen Murmel. Fünf trockene, morsche Holzstücke mit schwarzen Markierungen, die wie Schriftzeichen aussahen. Die Schätze eines kleinen Jungen. Malik nahm die Laute und zupfte selbstvergessen eine Saite. »Eine dombra«, sagte er traurig. »Zur Begleitung der alten Clanlieder.« Shan kniete sich hin und nahm eines der Holzstücke. »Die haben wir an jenem Tag gefunden«, sagte Malik und blickte verwirrt zu den Hölzern. »Es war zerbrochen, und die Teile lagen um seine Leiche verstreut.« Was war zerbrochen, hätte Shan beinahe gefragt, aber dann setzte er die Stücke zusammen und entdeckte kurz darauf, daß das Objekt aus zwei Teilen bestand, einem flachen, offenen Rahmen und einem keilförmigen Einschub. Auf der Oberseite des Einschubs standen zwei Zeilen kleiner fließender Buchstaben, die wie Sanskrit aussahen, eine inzwischen fast ausgestorbene Sprache der südlich von Tibet gelegenen Länder. Zog man den Einschub heraus, erschien darunter auf der flachen Oberfläche des Rahmens, in deren Mitte allerdings ein großer Splitter fehlte, ein Text in derselben Schrift. Wie ein Brief, auf dem außen die Adresse vermerkt war, dachte Shan. Als er aufblickte, sah er Lokesh noch immer eindringlich den Rest der Sammlung mustern. Wie ein Ermittler, dachte Shan. Nein, nicht ganz, verbesserte er sich, als Lokesh langsam die Hand ausstreckte und mit den Fingerspitzen über jeden der Gegenstände strich. Der alte Buddhist würde in diesen Dingen niemals die klägliche materielle Hinterlassenschaft eines viel zu jung beendeten Lebens sehen, sondern stets die Überreste einer jungen Seele, die Symbole für den Geist des Kindes und die Anzeichen für Khitais inneren Gott. Lokesh schien Shan nicht länger wahrzunehmen. Der alte Tibeter starrte auf die Jadekugel und beugte sich langsam vor, als würde sie ihm ein Zeichen geben. Shan hob sie auf und streckte sie Lokesh entgegen. Sie -103-
befanden sich im Land der Jade. Chinas Vorräte an diesem Schmuckstein stammten seit jeher aus den Turkkönigreichen nördlich des Kunlun. Und vorhin hatte der Uigure die Anklägerin als Jadehure bezeichnet. Plötzlich bemerkte Shan, daß die Kugel mit feinen Schnitzereien in Form winziger Lotusblumen verziert war und in der Mitte ein Loch aufwies. Eine Perle von einer Gebetskette. Er ließ sie in die offene Hand des Tibeters fallen. »Was ist los, alter Freund?« fragte Shan. »Wer war der Junge? Hast du Khitai gekannt?« Lokesh seufzte. »Nicht diesen Jungen«, sagte er, als gäbe es mehrere Khitais, und sah dann die Perle an, während eine einzelne Träne über seine Wange rollte. Erst kurz vor Einbruch der Dämmerung gelang es Shan, noch einmal das Grab des Jungen aufzusuchen. Lokesh blieb in Jaklis Obhut zurück. Der alte Mann schien in eine seltsame Trance gefallen zu sein und hatte mehr als eine Stunde lang die Jadeperle angestarrt. In der Zwischenzeit war die wild blickende Frau wieder aufgetaucht und hatte sich schweigend und mit verdrießlicher Miene neben Lokesh gesetzt. Als Shan das Zelt verließ, tätschelte die Frau dem Tibeter wie einem kranken Kind den Rücken und summte eines ihrer Wiegenlieder, während Jakli versuc hte, ihn mit ein wenig Buchweizengrütze zu füttern. Soeben streiften die letzten Sonnenstrahlen den hinteren Teil der Einfriedung und tauchten das Grab in ein unheimliches rosafarbenes Licht. Hier, im Schutz der Felsen, war es vollkommen windstill. Eine einsame Grille zirpte. Shan ließ sich neben dem kleinen Grab auf die Knie fallen. Er legte beide Handflächen auf die lockere Erde und strich dann darüber, bis ihm plötzlich bewußt wurde, daß er das Verhalten der umnachteten Frau nachahmte und sich wie ein Vater verhielt, der die Bettdecke seines schlafenden Kindes glättete. -104-
Seinen eigenen Sohn hatte er schon seit vielen Jahren nicht mehr gesehen. Mit jähem Schmerz erkannte er, daß er nicht einmal wußte, ob der Junge noch am Leben war. Bislang hatte er noch nie daran gedacht, sein Sohn könnte eventuell gestorben sein. Doch die irrsinnige Gewalt, von der sein Land seit Jahren heimgesucht wurde, machte keinen Unterschied zwischen alt und jung. Kinder starben für die Sünden ihrer Eltern, manchmal schnell, manchmal den quälend langwierigen Seelentod der Alleingelassenen. Nein, das war inzwischen Geschichte, wandte eine Stimme in seinem Kopf ein. Sein Sohn stand unter dem Schutz der Mutter, einer hohen Parteifunktionärin. Dann blickte Shan wieder auf das Grab unter seinen Händen. Khitai hatte bestimmt auch geglaubt, beim Clan des Roten Steins in Sicherheit zu sein. Auch heute noch starben Kinder. War er vielleicht genau deswegen hier? fragte Shan sich. Hatten die alten Lamas an Laus Tod eine historische Komponente wahrgenommen, die auf eine neuerliche Woge der Zerstörung hindeutete? War abermals ein Dämon der Unterdrückung entfesselt worden? Geistesabwesend nahm er etwas lose Erde von dem Grab, ließ sie langsam wieder herabrieseln und klopfte sie fest. Wodurch war dieser entwurzelte Kasachenjunge für Bajys auf einmal so gefährlich geworden? Hatte er tatsächlich gedroht, Bajys' Verrat an den Clans und damit die Enttarnung Fat Maos zu verhindern? Hatte er etwas gestohlen? War dies eine Bestrafung? Ein aufgeweckter Junge würde während der Aufenthalte in den verschiedenen Clanlagern bestimmt so manches mitbekommen. Womöglich geriet er durch irgend etwas in Versuchung, das wiederum auch für Bajys von Interesse war. Was konnte das sein? Die kargen Habseligkeiten der verarmten Nomaden? Und was konnte er haben, das nicht auch Bajys zur Verfügung gestanden hätte? Beide Jungen, rief Shan sich ins Gedächtnis. Alta und Khitai hatten zusammen gespielt und waren dann im Abstand von zwei Tagen getötet worden. Der eine verprügelt -105-
und erschossen, der andere verprügelt und von einer Klinge durchbohrt. Vielleicht hatten die Jungen etwas gewußt, hatten eine für ihren Mörder dermaßen gefährliche Entdeckung gemacht, daß dieser sie nicht am Leben lassen konnte. Immerhin lebten sie in einem Land voller Geheimnisse. Geheime Familien. Geheime Dissidenten. Geheime Militärstützpunkte. Als Shan beiläufig ein weiteres Mal mit den Fingern durch die Erde fuhr, stieß er unvermittelt auf einen harten Gegenstand. Er grub tiefer und barg den Gegenstand, der sich als ein gebogenes Holzstück von der Größe seiner Handfläche erwies. Die einfache Schnitzerei ließ das Abbild eines fliegenden Vogels erahnen. Es konnte sich um eines von Khitais Spielzeugen handeln oder auch um ein religiöses Symbol. Shan steckte die ausgestreckten Finger in den Hügel und zog sie der Länge nach durch die obere Schicht des Grabes. In der Nähe des Kopfendes fand er noch etwas anderes, nämlich einen etwa zwölf Zentimeter langen Splitter. Das war das fehlende Teil des seltsamen Briefes aus Holz; es enthielt eine einzelne Zeile der dem Sanskrit ähnelnden Schrift. Was stand dort? War es eine Grabschrift? Konnte der Mörder den fremdartigen Text lesen? Hatte diese Botschaft den Tod des Jungen verursacht? Shan legte den Splitter und den primitiven Vogel vor sich hin. Hatte ein und dieselbe Person die beiden Gegenstände vergraben? Vielleicht waren sie lediglich als Opfergaben oder Mahnzeichen gedacht. Hingen sie miteinander zusammen? Gedankenverloren nahm Shan die Funde eine Weile in Augenschein, hob dann zwei kleine Löcher aus und legte Vogel und Splitter ehrfürchtig zurück in das Grab. Erneut zirpte die Grille. Grillen waren eigentlich als Glücksbringer bekannt. Khitai jedoch hatten sie kein Glück gebracht. Und dem Clan des Roten Steins auch nicht. Shan stand auf und fing an, die sich verdunkelnde Einfriedung abzuschreiten. Diesmal bemühte er sich, sie nicht als Grabstätte, sondern als Schauplatz eines Mordes zu betrachten. Bajys -106-
könnte sich dem Ort auf dem Pfad vom Lager genähert haben. Vielleicht war er aber auch dem Verlauf des Hügelkamms gefolgt und dann über die Felsen geklettert. Er war gegen Ende des Tages gekommen, jenes Tages, an dem Khitai mit Alta gespielt hatte, dem Jungen in Begleitung der dropkas. Es war ein Schuß gefallen, aber niemand hatte eine Waffe gehört. Shan erkannte, daß die Böen, die über die Felsen brausten, ein entsprechendes Geräusch durchaus verschlucken könnten. Er blieb stehen, um dem leisen Stöhnen des Windes zu lauschen, als plötzlich etwas Schwarzes und Eisiges in ihm aufstieg. Manchmal kam sie einfach über ihn, eine dunkle Kälte tief in seinem Innern, und immer wenn es soweit war, mußte Shan sich ihr entgegenstemmen und sie aufhalten. Mitunter ließ ihn dieses Gefühl regelrecht erzittern. Bei anderen Gelegenheiten manifestierte es sich in einem glühendheißen Punkt auf seinem Arm, genau an der Stelle, an der seine lao gai Nummer eintätowiert war, oder auch entlang seiner Wirbelsäule, wo die Kriecher ihn mit Viehtreibern malträtiert hatten. Es war schwarz und formlos, und er hatte keinen Namen dafür. Es war weder Angst noch Haß, sondern einfach nur das Ding, das aufgrund der Jahre im Gulag in ihm fortlebte, vor allem als Folge der ersten paar Wochen, die in seiner Erinnerung zu einem amorphen Gemenge aus Schmerzen und ihn anschreienden Männern verschwammen. Er schloß die Augen und dachte an sein erstes Zusammentreffen mit einem der Lamas zurück. Ein Wachposten hatte Shan umgestoßen und prügelte auf ihn ein. Der alte Tibeter hob Shans Gesicht aus dem Schlamm und rettete ihn so vor dem Erstickungstod. Dann beugte der Lama sich über Shans Körper und fing die Stockschläge des tobenden Soldaten mit dem eigenen Rücken ab, ohne dabei sein heiteres Lächeln zu verlieren. Bei diesem Gedanken verblaßte das Gefühl der Schwäche. Shan stützte sich kurz an den Felsen ab, um seine Kräfte zu sammeln, und setzte dann die Untersuchung des Tatorts fort. -107-
An der hinteren Wand lehnte eine dicke Steinplatte, die irgendwann von oben herabgestürzt war und nun einen kleinen geschützten Alkoven bildete. Shan trat in den Schatten des Felsens und riß ein Streichholz an. Auf dem Boden lag, teilweise von Sand bedeckt, ein weißer zylindrischer Gegenstand. Shan hob ihn auf und stellte fest, daß es sich um eine Kerze handelte. Kurz bevor das Streichholz verlosch, entzündete er den Docht. Da in der Nische absolute Windstille herrschte, konnte man den flachen Vertiefungen des sandigen Bodens noch immer entnehmen, daß dort zwei Leute gesessen hatten. Vor ihnen, auf der flachen Rückwand, war mit Kreide ein Kreis von knapp fünfzig Zentimetern Durchmesser aufgemalt worden. Nur ein Kreis. Vielleicht ein simples Zeichenspiel für Kinder. Shan mußte an einige andere Kreise denken, die er auf so manchen Wänden gesehen hatte, zumeist in den Gefängnisbaracken. Dort sollten sie ein Mandala symbolisieren, an dessen Anfang immer ein Kreis stand, damit der Geist des Betrachters sich der inneren Ausdehnung und Leere bewußt wurde. Bisweilen diente ein solcher Kreis auch als Fokus für Meditationsübungen. Doch das galt für Tibet, nicht für ein kasachisches Nomadenlager. Shan hielt die Kerze höher und entdeckte auf der benachbarten Wand eine weitere Zeichnung. Zwei horizontale Linien, die im rechten Winkel von zwei vertikalen Linien durchschnitten wurden, mit zwei Kreuzen und zwei kleinen Kreisen in vier der so entstandenen Felder. Ein aus dem Westen stammendes Zeichenspiel, das auch Shan als Kind mit seinem Vater gespielt hatte. Er schaute zurück zu dem Kreis. Bestimmt handelte es sich ebenfalls um den Bestandteil eines Spiels. Vielleicht hatten die Jungen einfach nur mit Steinchen nach diesem Ziel geworfen. Shan konzentrierte sich wieder auf die Linien. Das Spiel war unterbrochen worden. Er erschauderte, denn plötzlich sah er vor seinem inneren Auge Khitai bei diesem unschuldigen Zeitvertreib sitzen, bis jemand den Jungen packte, -108-
um ihn zu ermorden. War Alta Zeuge des Vorfalls geworden und allein in dem Alkoven zurückgeblieben? Oder hatte der Täter womöglich selbst hier mit Khitai gespielt? Einem herzlosen Kindesmörder war alles mögliche zuzutrauen, auch ein dermaßen hinterhältiges Täuschungsmanöver. Welcher ist es bloß gewesen? hätte Lokesh gefragt. Welchem Dämon war Bajys erlegen? Hariti, hatte die Antwort des dropka gelautet. Die Kinderfresserin. Als Shan in der grauen Abenddämmerung vom Hügel herabkam, saß Malik an einem kleinen Feuer in der Nähe der Ställe. An seiner Seite lag der große Mastiff. Der Junge blickte zum Himmel empor und schien gar nicht zu bemerken, daß Shan neben ihm Platz nahm. Das Firmament war klar und weit und wurde von einem leuchtendhellen Halbmond dominiert. In der Ferne heulte ein Tier. Auf der anderen Seite des Feuers sah Shan einen großen Pflock im Boden stecken, von dem aus ein straff gespanntes Seil in die Dunkelheit verlief. Man hatte mehrere junge Pferde daran angebunden. Nach seiner Freilassung aus dem Gefängnis hatten die alten Lamas ihm geheime Orte der Meditation gezeigt, an denen Shan sodann viele Nächte unter dem Sternenzelt verbrachte. Manchmal hatte einer der Mönche, für gewöhnlich Gendun, ihm dabei Gesellschaft geleistet und versucht, wie Shan später begriff, den Schmerz aus seiner Seele zu ziehen. Gemeinsam waren sie Jahr für Jahr, Monat für Monat seines Lebens durchgegangen, und während er erzählte, hatte vor ihm eine alte Urne aus gebranntem Ton gestanden, die mit einer einfachen Strichzeichnung des Mitfühlenden Buddhas versehen war. »Jetzt ist der Topf voll«, hatte Gendun gesagt, nachdem sie geendet hatten, und hatte das Gefäß mit einem Deckel versehen. Dann hatte er Shan einen großen Stein sowie eine der kleinen melodischen Tempelglocken gegeben und ihn ohne weitere Erklärung allein unter den Sternen zurückgelassen. -109-
Shan hatte zu jenem Zeitpunkt auf einem offenen Felsvorsprung gesessen, der so hoch oben im Gebirge lag, daß der Himmel sich beinahe genauso weit unter wie über ihm erstreckte. Als er versucht hatte, die Urne anzuheben, war sie ihm unbeschreiblich schwer erschienen. Nach mehreren Stunden, inmitten finsterster Nacht, hatte Shan die Urne schließlich mit dem Stein zerschmettert, die Glocke genommen und sie bis zum Sonnenaufgang geläutet. Ihr Klang war hell wie ein strahlend schöner, vibrierender Kristall. Nun tastete Shan nach der kleinen Scherbe der Urne, die er noch immer bei sich trug. Einige Tage nach dem Vorfall war er zurückgekehrt, um sie zu holen, denn es gab ein bestimmtes Stück seines bisherigen Daseins, das er einfach nicht zurücklassen konnte: seinen Sohn. Malik streckte den Arm aus und stieß sanft Shans Bein an. Die Berührung kam dermaßen unerwartet, daß Shan zusammenzuckte. »Glauben Sie, er ist jetzt dort?« fragte der Junge leise. »Als letztes Jahr ein Baby starb, hat mein Onkel gesagt, es würde nun in einem wunderschönen Tal auf dem Mond wohnen.« Shan blickte ebenfalls zum Mond empor. Es tat ihm in der Seele weh, daß der Junge bereits so sehr mit dem Tod vertraut war. »Ich weiß es nicht«, sagte er. »Vielleicht. Der Anblick ist herrlich.« »Der Mond ist so weiß«, flüsterte Malik. »Das muß die Farbe des Sandes dort sein.« Er schwieg für einen Moment und stellte dann noch eine Frage. »Woher sollen sie denn da wohl Wasser bekommen?« »Möglicherweise braucht man dort kein Wasser«, schlug Shan vor. Die Bemerkung schien den Jungen zu verwirren. Er sah ins Feuer. »Wasser ist Leben«, sagte er und klang dabei sehr weise. »Ob man so wohl beme rkt, daß man tot ist? Weil man keinen -110-
Durst mehr hat?« Als Shan nichts darauf erwiderte, beugte Malik sich langsam vor und nahm etwas, das zu seinen Füßen lag. Ein Messer. Und ein schmales Stück Holz, das sich am Ende zu einem Oval verbreiterte. Langsam schälte er einige Splitter herunter und warf sie in die Glut, wo sie sich in der Hitze zunächst zusammenrollten, um dann in einer schnellen heißen Flamme aufzulodern. »Ein Löffel«, erklärte Malik. »Als Geschenk für Jakli und…« Er hielt inne. »Ein Geschenk, wegen des Reiterfests.« Shan verfolgte, wie er das Holz mit geübter Hand bearbeitete. »Ich habe den Vogel gesehen, den du ihm geschenkt hast«, sagte er leise. Der Junge schien nicht überrascht zu sein. »Letztes Jahr, nach dem Tod des Babys, hat meine Mutter mich gebeten, einen Vogel zu schnitzen. Um das Kind auf dem rechten Weg durch den Himmel zu geleiten, hat sie gesagt. Diesmal hat mich zwar niemand darum gebeten, aber…« Malik zuckte die Achseln. »Die Kinder der zheli sind jünger als ich. Ich fand es traurig, daß sie ihr ganzes Leben lang nur laufen mußten. Khitai hatte weder einen ashamai-Sattel noch ein sundet-Pferd.« »Das verstehe ich nicht.« »Diese Waisen haben niemals ein richtiges Zuhause. Khitai hat erzählt, als er noch klein war, hätten die Leute ihn zu seinem Schutz immerzu weitergereicht. Manchmal war er in den Bergen, manchmal in einer Stadt. Ein ganzes Jahr lang hat er in einer Höhle gelebt. Bei Bajys und Lau hat es ihm dann besser gefallen, aber da er auf diese Weise aufgewachsen ist, konnte er nie die alten Traditionen der Kasachen kennenlernen. Es tat mir leid, daß er keinen Sattel besaß.« Malik verstummte und warf Shan einen kurzen Blick zu. »Sobald ein Junge fünf Jahre alt ist, darf er allein reiten«, erklärte er dann, »und bekommt einen besonderen weichen Sattel, einen ashamai-Sattel, der mit Federn und roter Farbe verziert ist. Später, wenn ein Mullah verkündet, -111-
er sei nun bereit, den Weg ins Mannesalter einzuschlagen, werden Zeremonien und ein Fest abgehalten, und er erhält ein sundet-Pferd, sein erstes Pferd. Aber Khitai hatte nichts dergleichen. Weder einen Sattel noch ein Pferd. Er hat gesagt, das sei schon in Ordnung, denn er würde alle Tiere lieben und viel von ihnen lernen. Einmal ist er auf einen Baum geklettert, um Nestlinge zu beobachten. Und er ist Schmetterlingen hinterhergelaufen.« »Seid ihr gute Freunde gewesen?« »Wir kannten uns noch nicht lange und haben nur zwei- oder dreimal pro Woche Zeit miteinander verbracht. Manchmal hat er mir abends dabei geholfen, die zheli zu spannen«, sagte der Junge und deutete in Richtung der angeleinten Pferde. »Meistens war er mit Bajys zusammen, um auf den Hochweiden unsere Schafe zu hüten. Oder die beiden sind zu ihrem gemeinsamen Fleckchen oberhalb des Lagers gegangen.« »Was haben sie dort gemacht?« »Hauptsächlich geredet. Ich glaube, Bajys wollte Khitai soviel wie möglich von ihrem alten Clan erzählen, damit wenigstens die Erinnerungen überleben würden.« »Weshalb sollten die beiden sich deswegen von allen anderen im Lager zurückziehen?« »Clans haben Geheimnisse. Manche Erinnerungen dürfen im Beisein von Fremden nicht zur Sprache kommen.« Shan beugte sich vor und schob einen Zweig ins Feuer. »Du und Khitai, was habt ihr zusammen gemacht?« »Manchmal sind wir in den Pferch der Lämmer gestiegen und haben gelacht, weil die kleinen Tiere immer an unseren Fingern nuckeln wollten. Manchmal sind wir auch durch die Gegend gelaufen und haben uns vorgestellt, wir würden Abenteuer erleben.« »Was denn zum Beispiel?« -112-
»Auf Soldaten schießen und so.« Diese Worte ließen Shan zurück zu der Jurte blicken, in der Jowa und Fat Mao noch immer zusammen an dem Computer saßen. »Kommt Fat Mao häufig her?« »Nein, nicht so oft. Er ist auch ein Soldat«, sagte Malik, als würde er den Grund für Shans Frage kennen. »Ein ganz besonderer. Lung ma«, flüsterte er ehrfürchtig. »Lung ma?« Es war ein alter Begriff aus der Zeit der frühen Rechtsprechung des Landes. Übersetzt hieß es Pferdedrache und bezeichnete eine mythische Kreatur, halb Pferd, halb Drache, die das einfache Volk vor Unrecht beschützte. »Ja, genau. So wie Ihr tibetischer Soldat.« Wie Jowa. Die lung ma, erkannte Shan, war das Gegenstück zu den purbas. »Die Männer der lung ma nennen sich alle Mao. Wie zum Scherz. Sie wissen schon, dieser Mao, jener Mao. Es sei zu gefährlich, den richtigen Namen zu benutzen, hat er mal zu mir gesagt. Hin und wieder sorgen sie dafür, daß bei den Behörden etwas passiert«, verkündete Malik und nickte wissend. »Hat Khitai über diese Leute Bescheid gewußt?« »Nein. Das alles ist geheim. Ich mußte es Fat Mao versprechen. Er sagt, wenn ich das Geheimnis bewahren kann, darf ich vielleicht eines Tages zu ihnen gehören.« Die Worte des Jungen machten Shan irgendwie traurig. Wußte Lau von der lung ma, hätte er beinahe gefragt, kam jedoch im gleichen Moment von selbst auf die Antwort. Fat Mao hatte den purbas die Botschaft von ihrem Tod übersandt. Falls Lau zur lung ma gehört hatte, war das eventuell der Grund für ihre Ermordung gewesen. Die Hauptaufgabe der Einsatzkommandos bestand in der Niederschlagung jeglichen Widerstands, und nirgendwo in China wurde so erbittert Widerstand geleistet wie in Xinjiang. -113-
»Hast du Lau gekannt?« fragte er. »Na klar. Sie hat uns ab und zu Medizin für die Tiere gebracht.« »Weißt du, daß sie tot ist?« »Erst seit gestern. Bis dahin wurde es geheimgehalten.« »Glaubst du, man hat sie wegen ihres Engagements für die Waisenkinder ermordet?« Malik dachte lange nach. Als er schließlich antwortete, war sein Blick auf die jungen Pferde gerichtet. »Sie hat für die Kinder auch nichts anderes gemacht als ich für unsere zheli«, sagte er und klang dabei verängstigt. Beruhigend und im Rhythmus eines Liedes redete er in seiner Muttersprache auf die Pferde ein. Dann wandte er sich mit qualvoller Miene plötzlich wieder zu Shan um. »Falls man uns in die Stadt bringt, werden wir vergessen, wer wir sind. Wir werden keine Pferde mehr haben, keine Zelte und vielleicht nicht einmal mehr Hunde.« Er hielt für geraume Zeit inne. »Und was ist, wenn ich alt bin? Es wird keinen Clan mehr geben. Für mich wird nach meinem Tod niemand einen Vogel schnitzen.« Shan nahm tröstend die Hand des Jungen. »Du bist stark. Ein starker Geist wird immer seinen Weg finden.« Schweigend saßen sie da. Wie lange war es her, daß er zum letztenmal mit seinem eigenen Sohn so geredet hatte? Viele Jahre. Nein, so hatten sie eigentlich nie miteinander geredet. Shans Frau, die pflichtbewußte Parteifunktionärin, hatte ihren gemeinsamen Sohn viele hundert Kilometer entfernt von Shan aufgezogen und den Jungen stets mißtrauisch im Auge behalten, wenn der Vater zu Besuch kam. Shan hatte sich immer wieder eingeredet, das Verhältnis zu seinem Sohn würde eines Tages besser und enger sein, aber auch das war nur eine der vielen Lügen gewesen, mit denen er sich während seiner Pekinger Inkarnation am Leben erhalten hatte. Am Himmel blitzte eine Sternschnuppe auf und sauste in -114-
Richtung des Mondes. Womöglich ein weiteres Kind auf dem Weg in das wunderschöne weiße Tal. »Hast du mit Khitai dieses Zeichenspiel am Felsen gespielt?« »Ja, einige Male sogar. Er kannte Spiele, von denen ich noch nie etwas gehört hatte. Aber nicht an jenem letzten Tag. In einem Gehölz, etwa drei Kilometer von hier, war ein Herbstlamm geboren worden. Es ist meine Aufgabe, die Jungen im Auge zu behalten, damit sie nicht sterben. Ich mußte den ganzen Tag bei dem Lamm bleiben. Erst dann konnte ich sicher sein, daß es den Geruch seiner Mutter erkannt hatte und stark genug war, um bei den anderen Lämmern untergebracht zu werden.« »Du bist erst abends zurückgekommen?« »Ja, bei Einbruch der Dunkelheit. Ich wollte zu Khitais Lieblingsplatz, um nach ihm zu sehen, aber einer der jungen Widder hatte sich in einer Ranke verfangen und am Bein verletzt, also mußte ich mich zuerst um das Tier kümmern. Es schrie ganz jämmerlich. Ich habe zu ihm gesprochen. Khoshakhan, koshakhan, so wie man mit den Lämmern sprechen muß. Es ist ein altes Wort, fast wie eine Zauberformel. Auf diese Weise wissen die Tiere, daß man sie liebt«, sagte der Junge mit der Stimme eines alten Mannes. Er seufzte. »Es war dunkel. Ich blieb lange auf, um den Tieren zu erklären, warum wir sie bald verlassen müssen. Die Brigade wird sich gut um die Schafe kümmern, habe ich gesagt. Was sollte ich sonst sagen? All die Lämmer und kleinen Ziegen wären gemeinsam mit mir in den Bergen aufge wachsen. Und jetzt darf keiner von uns hierbleiben. Ich muß ihnen doch wenigstens ein bißchen Hoffnung einflößen.« Er musterte Shan mit leerer Miene und schüttelte den Kopf. »Am nächsten Morgen habe ich meine Tante nach Khitai gefragt, und sie sagte, er sei wahrscheinlich oben an seinem Platz zwischen den Felsen.« »Wie genau hast du ihn vorgefunden?« -115-
Malik blickte zum Mond empor. »Es war noch nicht ganz hell. Er saß im Schatten an den Felsen gelehnt, ganz in der Nähe seines jetzigen Grabes. Er schien überrascht zu sein.« »Überrascht?« »Ich konnte den Anblick nicht lange ertragen. Aber im ersten Moment dachte ich, er würde überrascht an mir vorbeisehen, als hätte er hinter mir jemanden entdeckt. Ich sagte, du siehst aber komisch aus. Und du hast drei Augen.« Malik schaute in die Glut. »Aber seine Augen regten sich nicht. Ich rief nach Khitai und rannte weg.« Shan stutzte und ließ die Worte des Jungen noch einmal Revue passieren. Da hob der Hund auf einmal ruckartig den Kopf. Shan folgte dem Blick des Tiers und bemerkte, daß Lokesh dort im Dunkeln stand und dabei so zerbrechlich wie eine kleine Holzpuppe wirkte. Als der Tibeter sich neben den Hund setzte, legte der ihm sofort den Kopf auf das Bein. »Das verstehe ich nicht«, sagte Shan zu dem Jungen. »Warum hast du nach Khitai gerufen?« Malik runzelte die Stirn und schaute wieder zum Mond. Lokesh meldete sich mit zitternder Stimme zu Wort. »Weil dieser Junge dort in dem Grab nicht Khitai ist.« Malik seufzte, als sei er zutiefst erleichtert, und nickte. Shans Blick wanderte von dem Jungen zu dem alten Mann und wieder zurück. Einen Moment lang kam er sich fast so vor, als würde er nicht etwa eine Morduntersuchung durchführen, sondern vielmehr einer Unterweisung beiwohnen; als säße er zwischen zwei Lamas, die ihn aufforderten, unmögliche Widersprüche zu erklären. »Ich habe Akzu gesagt, daß es sich nicht um Khitai handelt«, platzte es aus Malik heraus. »Diese Sachen in dem Zelt, die dombra und die Jadeperle, die haben gar nicht Khitai gehört. Es war der andere Junge aus der zheli. Er hieß Suwan und war an -116-
jenem Tag zu Besuch gekommen. Nur die rote Kappe auf seinem Kopf hat ursprünglich Khitai gehört. Akzu war sich nicht sicher. Das Gesicht des Jungen war grün und blau und ziemlich geschwollen. Akzu kannte Khitai nicht besonders gut und hat in den letzten Wochen kaum Zeit hier im Lager verbracht. Er sagte, Khitai sei der Name des Jungen, den Lau hergeschickt habe, und um wen es sich auch handeln möge, Bajys habe ihn ermordet. Falls Khitai mit dem anderen Clan gegangen sei, um Bajys zu entfliehen, möge Gott ihn beschützen. Er sagte, ich dürfe niemandem davon erzählen, um den Kummer meiner Tanten nicht noch zu vergrößern. Immerhin sei eines der Waisenkinder ums Leben gekommen und ein guter kasachischer Junge beerdigt worden, und das sei schließlich schlimm genug. Alles andere müsse ein Geheimnis bleiben.« Jetzt hingegen hatte Lokesh die Wahrheit erfaßt und als erster zur Sprache gebracht, so daß Malik sich dazu äußern konnte, ohne sein Wort zu brechen, erkannte Shan. Der Kopf des Hundes ruckte abermals hoch, und dann fing das Tier an, mit dem Schwanz zu wedeln. Shan drehte sich um und sah, daß Jakli bei den angeleinten Pferden stand und das Gespräch mit anhörte. »Kennt Ihr Khitai?« fragte Malik den alten Tibeter. Lokesh schüttelte langsam den Kopf. Malik sah ihn aus großen Augen an. Shan wußte aus eigener Erfahrung, was der Junge gegenwärtig empfand, eine Mischung aus Verwirrung und Ehrfurcht angesichts der seltsamen Magie, die in dem Tibeter zu wirken schien. Shan hatte sich ge irrt. Nicht Alta war hier im Lager zu Besuch gewesen, sondern eine andere Familie mit einem Jungen namens Suwan, der seine Habseligkeiten ins Zelt des Roten Steins mitgenommen hatte, als würde er dort einziehen. Der Junge hatte geklagt, seine Pflegeeltern könnten sich nicht in seiner Muttersprache mit ihm -117-
verständigen, also hatte Khitai den Platz mit ihm getauscht, war an der zheli gewissermaßen auf die Position des anderen gerutscht. »Konnte Khitai tibetisch sprechen?« fragte Shan. »Nein. Er war Kasache«, sagte Malik verunsichert. »Aber er wollte weiter nach oben.« »Weiter nach oben?« »Tiefer ins Gebirge, als der Rote Stein für gewöhnlich geht. Die Zeit des Herdentriebs ist beinahe vorbei, und den Winter verbringen die Familien zumeist in der Nähe der Stadt. Aber es hieß, die Brigade wolle alle Clans auseinanderreißen. Damit würden vermutlich auch die Kinder der zheli getrennt und in verschiedene chinesische Städte gebracht werden. Khitai hatte große Angst vor den Chinesen. Ich glaube, als er noch klein war, haben sie seinen Leuten schlimme Dinge angetan. Khitai sprach davon, er wolle fliehen, zur Not bis auf den letzten Berggrat, wie wir es nennen. Damit ist der höchste Teil des Kunlun gemeint, das Gletschergebiet.« Schweigend musterten sie alle das Feuer. »Hast du das Stück Holz in sein Grab gesteckt?« fragte Shan schließlich. Die Worte schienen Malik zu erschrecken. Er drückte Shans Hand fester, als wolle er ihn daran erinnern, daß er schließlich kein alter Mann war, sondern lediglich ein Junge, der immer wieder andere Kinder beerdigen mußte. »Ich habe es am nächsten Tag gefunden«, sagte Malik. »Meine Tante hatte die anderen Stücke eingesammelt und zu seinen Sachen gelegt. Zuerst wollte ich es ins Zelt mitnehmen, aber dann habe ich mich nicht getraut, es anzufassen, also habe ich es mit einem Stock in den Grabhügel geschoben.« »Wieso?« »Vielleicht hatte das den Dämon herbeigerufen. Der Mörder -118-
hat die geheime Inschrift zerbrochen. Vielleicht ist er durch diese Worte überhaupt erst so in Wut geraten.« »Meinst du Bajys?« Shan sah Malik im Dunkeln nicken. »Das Wesen, zu dem Bajys wurde, hat mein Onkel gesagt.« Der Junge verstummte und starrte lange in die ersterbenden Flammen. »Ich weiß, daß es Schutzgeister gibt, die sich zum Beispiel um das Wohlergehen der Tiere kümmern. Immerhin habe ich mit eigenen Augen gesehen, wie verlorengegangene Jungtiere zu ihren Müttern zurückgefunden haben, obwohl die auf der anderen Seite des Berges waren. Und wenn es Schutzgeister gibt, dann muß auch das Gegenteil davon existieren«, sagte der Junge in wissendem Tonfall, als habe er schon oft über diese Möglichkeit nachgedacht. Eine zerstörerische Gottheit, dachte Shan. Ein Dämon. »Und es ist noch immer da draußen«, fügte Malik erschaudernd hinzu. »Das Wesen, das Kinder tötet.« »Wir sollten so schnell wie möglich aufbrechen«, warf Lokesh plötzlich mit schwacher Stimme ein. »Wir müssen mit Tante Lau sprechen.« Shan sorgte sich um seinen Freund. Seit Khitais Name zum erstenmal gefallen war, schien irgend etwas in Lokeshs Innerem immer mehr zu zerbrechen. »Weißt du, ob es hier irgendwo Lamas gibt?« fragte Shan den Jungen. »Gab es vielleicht einen Priester, der mit Lau befreundet gewesen ist und inzwischen womöglich vermißt wird?« »Heilige Männer?« fragte Malik zurück. »Nein. Diese Anklägerin Xu in Yutian würde das niemals zulassen. Manchmal hält sie öffentliche Reden. Sie haßt die Tibeter. Sie sagt, das seien alles nur Verräter.« Malik hielt inne und überlegte kurz. »Allerdings würde diese Frau sie nicht sofort umbringen«, stellte er mit einer Gewißheit fest, die Shan frösteln ließ. »Sie würde sie jedoch an einen Ort schaffen lassen, an dem -119-
ein heiliger Mann kaum zu überleben vermag.«
-120-
Kapitel Vier Sie ritten einen der zerklüfteten Nordhänge des KunlunGebirges hinunter, während die aufgehende Sonne die Gipfel in Rosa und Gold erstrahlen ließ. Das Licht schien Lokesh neue Kraft einzuflößen, denn er stimmte eines seiner Wanderlieder an und pries darin die Schutzgötter der Berge. Akzu und Jowa ritten außer Hörweite voraus und unterhielten sich dabei auf die gleiche drängende Weise wie am Vortag mit Fat Mao in der Jurte. Alle paar Minuten stellte Jowa sich in den Steigbügeln auf und blickte angestrengt nach vorn, als würde er nach jemandem Ausschau halten. Vielleicht nach Fat Mao. Als sie erwachten, hatte der Uigure das Lager bereits verlassen. Plötzlich hob Akzu warnend die Hand. Sie hielten an und hörten, daß über ihnen, auf einem Pfad entlang der Kammlinie, Hufgetrappel ertönte. Ein kleiner Reiter und sein graues Pferd kamen in Sicht. Akzu fluchte und stieß einen lauten Ruf aus, woraufhin der Reiter fünfzehn Meter über ihnen sein Pferd aus vollem Galopp abrupt zum Stehen brachte. Es war Malik. »Die zheli muß gewarnt werden!« rief der Junge seinem Onkel zu. »Khitai ist noch am Leben. Das Wesen, das nun Bajys ist, wird hinter ihm und vielleicht auch hinter den anderen her sein!« Akzu warf Jakli einen beunruhigten Blick zu. »Wir brauchen dich, Junge«, erwiderte er. »Du weißt doch gar nicht, wo du suchen sollst. Dies ist nicht der rechte Zeitpunkt.« Er schien immer wütender zu werden. »Ich bin das Oberhaupt des Clans des Roten Steins. Ich verbiete es dir.« Der junge Kasache ließ den Blick einen Moment lang über die Berge schweifen. Als er sich wieder zu seinem Onkel umwandte, sah Shan den Schmerz auf seinem Gesicht. »Und ich antworte darauf, daß ich es leid bin, Gräber auszuheben«, sagte -121-
er und gab seinem Pferd einen kräftigen Fersenstoß in die Seite. Shan beobachtete Akzu, der dem Jungen hinterherschaute. Der Zorn auf seinem Gesicht verwandelte sich erst in Besorgnis, dann in Stolz. »Geh mit Gott, mein Junge«, sagte der alte Mann leise, murmelte dann seinem Pferd etwas zu und folgte in schnellem Trab dem weiteren Verlauf des Weges. Eine halbe Stunde später erreichten sie einen Felsgrat, der sich vor ihnen in einer Reihe steiler Serpentinen nach unten wand. Jakli wies auf ein graues Band am nördlichen Horizont. »Die Fernstraße«, sagte sie. »Sie führt bis nach Kashi, sechshundertfünfzig Kilometer westlich von hier.« Shan beugte sich im Sattel vor und deutete nach Westen auf eine mächtige Felsformation in etwa vierhundert Metern Entfernung, die sich wie ein riesiger Wächter nahezu hundert Meter über den Kamm erhob. Auf ihrer Spitze steckte in einem Steinhaufen ein langer Pfosten, an dem eine knapp zwei mal zwei Meter messende Flagge aus zerfranstem rotem Stoff im Wind flatterte. Es war eine große lungta, eine tibetische Gebetsfahne. Lokesh, der vor ihm ritt, hörte schlagartig auf zu singen, schirmte seine Augen vor der Sonne ab und starrte den Pfahl an. Als er die Fahne erkannte, winkte er erst Shan zu und schwenkte den Arm dann in Richtung des Signals. Shan musterte den hoch aufragenden Felsen. Es schien unmöglich zu sein, die steilen Wände zu erklimmen. Und dennoch hatte jemand es geschafft, als wolle er die Chinesen kühn herausfordern, ebenfalls ihr Leben zu riskieren, um die Flagge wieder zu entfernen. Kein beliebiger Jemand. Ein Buddhist. Das hier war ein Grenzgebiet mit vielen verschiedenen Völkern. Doch Tibeter, hatte Malik ihn gewarnt, wurden von der Ank lägerin häufig einer Sonderbehandlung unterzogen. In Grenzregionen vermischte sich das Blut der Völker. Wie bei Jakli, die halb Kasachin, halb Tibeterin war. Vermischtes Blut führte bisweilen zu gemischten Allianzen. -122-
So wie vermutlich im Fall von Lau - jener geheimnisvollen Frau mit dem Han-Namen, deren Tod die Lamas so sehr beunruhigt hatte und deren Grab sie nun besuchen würden. »Lha gyal lo!« brüllte Lokesh aus vollem Hals, so daß Jowa mit wütendem Blick im Sattel herumfuhr. Der alte Tibeter ignorierte den purba. »Lha gyal lo!« wiederholte er. »Mögen die Götter siegreich sein!« »Dein Freund«, sagte Jakli mit Blick auf Lokesh, der erneut der Fahne zuwinkte. »Ist er verrückt? Verzeihung - ich meine, macht sich bei ihm vielleicht das hohe Alter bemerkbar?« »Ob er senil ist?« Lächelnd betrachtete Shan seinen alten Freund. »Falls das bedeuten soll, er sei unaufmerksam, verwirrt und unfähig, Zusammenhänge zu erkennen, dann ist er das genaue Gegenteil von senil. Er hat zuviel erlebt. Er wollte bloß ein Mönch sein, ein Mönchsheiler. Aber weil er alle seine Lektionen mit Bravour bewältigte, beorderte sein Kloster ihn in den Dienst der Regierung. Dann kam Peking und sagte, er dürfe kein Mönch mehr sein. Nach ein paar Monaten hat er eine frühere Nonne geheiratet, die ebenfalls aus ihrem Amt vertrieben worden war. Zwei Wochen später wurde er als ehemaliger Regierungsbeamter ins Gefängnis geworfen.« »Für fünfunddreißig Jahre«, erinnerte Jakli sich. Shan nickte. »Seine Frau kam an jedem Besuchstag. Meistens durfte sie sic h ihm nicht nähern, so daß die beiden nicht miteinander sprechen konnten. Also haben sie sich zugewinkt, stundenlang einfach nur gewinkt. Und zwei Tage nach seiner Heimkehr ist seine Frau gestorben.« Jakli waren Tränen in die Augen gestiegen. Sie sah Lokesh an und wandte sich ab, drehte ihr Gesicht in den Wind und trieb ihr Pferd voran. Sie ritten eine weitere Stunde fortwährend bergab, bis sie eine Stelle erreichten, an der sich mehrere Trampelpfade kreuzten. Vor ihnen, am oberen Ende einer Schotterstraße, ragte ein -123-
schmales Gebäude auf, dessen Grundriß einem langgestreckten Dreieck glich. Man hatte es aus groben Steinen errichtet, an denen jedoch schon seit langem der Zahn der Zeit nagte, so daß eine der Wände bereits teilweise in sich zusammengefallen und das Wellblechdach an jener Stelle entsprechend eingesackt war. Um das Schlimmste zu verhindern, hatte man an den Außenwänden große Sperrholzplatten befestigt und mit dicken Balken abgestützt. Die Neuankömmlinge stiegen ab und umrundeten die hintere Ecke des Hauses. Im Schatten der Mauer bemerkte Shan ein halbes Dutzend Lastwagen, die einer rostiger als der andere aussahen. Die Werkstatt und der dazugehörige Fuhrpark wurden aus den Mitteln des Landwirtschaftsministeriums gefördert und standen den kleinen Anbau- und Viehzuchtbetrieben der Region zur Verfügung, erklärte Akzu. In der hinteren Ecke des Gebäudes hatte man vor dem intakten Teil der Wand eine kleine Sperrholzkabine zusammengezimmert, an deren primitiver Tür aus Holz und Pappe ein verblichenes Poster hing, auf dem ein Dutzend junger Männer und Frauen abgebildet war. Sie repräsentierten ein paar der unzähligen ethnischen Gruppierungen, die Peking im Lauf der Jahre befreit hatte, und reckten in ihren blauen Uniformen des Proletariats voller Freude Schr aubenschlüssel und Hämmer gen Himmel. Fördert den Wohlstand der Minderheiten, stand darunter zu lesen. Hinter der Tür saßen ein ausgemergelter kurzhaariger Hund und ein kleiner dunkelhäutiger Mann, der sich schon seit einigen Tagen nicht mehr rasiert hatte und dessen Hände und Arme mit Motoröl verschmiert waren. Er saß an einem rostigen Metalltisch, las in einer Zeitung und blickte auf, als Akzu eintrat. Dann stieß er zum Gruß ein undefinierbares Grunzen aus und deutete auf ein Brett, in dem fünf Nägel steckten, an denen jeweils ein Schlüsselbund hing. »Kehr schnell wieder um, Onkel«, sagte Jakli leise von der -124-
Tür aus. »Der Clan braucht dich.« Beim Klang ihrer Stimme ruckte der Kopf des Mannes hoch. Stirnrunzelnd musterte er Jakli und wandte sich wieder an Akzu. »Kontrollpunkte«, murmelte er. »Sechseinhalb Kilometer von hier auf der Strecke nach Yutian und auf der Fernstraße in Richtung Westen.« »Jakli bringt diese Leute…«, setzte Akzu an. Der Mann gebot ihm mit erhobener Hand Einhalt. »Sag's mir nicht, alter Freund. Heutzutage stellen eine Menge Leute zu viele Fragen. Ich bin bloß ein Mechaniker, und mehr will ich gar nicht sein.« Er legte die Zeitung beiseite, unter der ein aufgeschlagenes Hauptbuch zum Vorschein kam. Dann klappte er das Buch lautstark zu und sah zu dem Schlüsselbrett. »Nehmt die Schildkröte«, sagte er und wies auf den letzten Schlüsselbund der Reihe. »Wir haben den Wagen nie offiziell erworben, also taucht er auch nicht in den Büchern auf. Und ich muß keinerlei Eintragung vornehmen.« Akzu warf Jakli die Schlüssel zu und deutete auf den hintersten Stellplatz, auf dem sich ein kleiner robuster Laster befand, der anscheinend aus den Teilen mehrerer anderer Fahrzeuge zusammengesetzt worden war. Der Wagen verfügte über breite Reifen, eine kurze Ladefläche aus grob behauenen Holzplanken, einen überdimensionalen Benzintank, der seitlich am Rahmen verlief, sowie ein längliches Führerhaus, das sogar für eine schmale Rückbank Platz bot. Die ansteigende Rundung der Kabine erinnerte tatsächlich an den Panzer einer Schildkröte. »Wer?« fragte Akzu den Mann. Der Mechaniker runzelte erneut die Stirn. Zu viele Fragen, hatte er gesagt. »Grau«, lautete seine resigniert klingende Antwort, und Shan begriff, daß Akzu sich nach den Urhebern der Kontrollpunkte erkundigt hatte. Grau war die Farbe der Öffentlichen Sicherheit, der Kriecher. Die Armee trug Grün, die Verkehrspolizei Blau. »Aber die Anklägerin ist nicht da. Hat -125-
anderweitig zu tun. Gestern hat sie vier geschnappt. Vorgestern drei, wie man sich in der Stadt erzählt. Ein paar Lehrer von der Schule. Und aus dem Fuhrpark. So habe ich davon erfahren. Die haben sich einen der Fahrer gegriffen.« Jakli, die Shan soeben durch eine Geste zu verstehen gegeben hatte, er möge sie zu dem Wagen begleiten, blieb bei diesen Worten abrupt stehen. Dann kehrte sie zu dem Mann zurück. »Mit welcher Begründung?« fragte sie mit empörtem Unterton. Shan verstand die temperamentvolle Kasachin inzwischen ein wenig besser. So wie Lokesh mitunter vor plötzlichem Kummer überquoll, neigte Jakli zu unberechenbarem Trotz. »Mit der Begründung, daß sie die Anklägerin ist«, entgegnete der Mann, sah dabei allerdings weiterhin Akzu an, als sei er nicht geneigt, ein direktes Gespräch mit Jakli zu beginnen. »Angeblich hängt alles mit dieser Frau namens Lau zusammen. Die Leute sollen zu ihrem Verschwinden verhört werden. Ihr habt Lau gekannt. Vielleicht werdet ihr auch verhaftet.« »Aber Lau ist doch ertrunken«, sagte Akzu und tauschte einen besorgten Blick mit Jakli aus. »Zumindest heißt es, sie sei ertrunken.« »Das habe ich auch gehört. Aber man hat keine Leiche gefunden. In der Stadt ist jedenfalls offenbar schon lange nichts mehr los gewesen.« »Was meinen Sie damit?« fragte Shan. Der Mechaniker schien ihn nur widerstrebend zur Kenntnis nehmen zu wollen, genau wie zuvor Jakli. »Wenn die Armee jemanden erschießt, gilt das als Verteidigung des Vaterlands. Wenn die Kriecher der Öffentlichen Sicherheit jemanden erschießen, geht es erklärtermaßen um den Schutz der öffentlichen Sicherheit. Wenn wir einen von denen erschießen, nennt man das heimtückischen Mord. So einfach ist das. Als würde man Nägel in ein Brett schlagen. In den Formularen der Chinesen ist ein Teil der Angaben von vornherein eingedruckt. -126-
Aber das hier? Eine alte Frau, die verschwindet? Normalerweise interessiert die Anklägerin sich herzlich wenig für das Wohlergehen der Kasachen oder Uiguren.« »Diesmal hingegen läßt sie Kontrollpunkte errichten und Zeugen ergreifen«, stellte Shan fest. »Das sind keine Zeugen«, erwiderte der Mann, »sondern die Akteure für ihre neueste Inszenierung. Das politische Aufgebot.« Shan nahm den Mann eingehend in Augenschein. Vermutlich hatte der Fremde nicht sein ganzes Leben als Mechaniker zugebracht. »Die Anklägerin führt etwas Bestimmtes im Schilde«, sagte er und nickte zustimmend. Der Mann hob abermals die Hand, als wolle er zum Ausdruck bringen, daß solch gefährliches Gerede nun wirklich ein Ende haben müsse. Akzu drängte Jakli sanft zur Tür hinaus, während der Mechaniker sich wieder seiner Zeitung widmete. Kurz darauf standen die beiden neben der Fahrertür. Akzu zog hinter der Sonnenblende des Wagens eine Landkarte hervor und zeigte Jakli einige gepunktete Linien, die kreuz und quer neben dem dunklen Strich der Fernstraße nach Kashi verliefen. »Beeil dich, Nichte«, sagte der Clanälteste. »Und dann kehre so schnell wie möglich in die Stadt zurück. Man wird dich in der Fabrik vermissen. Du gehst ein viel zu großes Risiko ein. Denk an Nikki. Denk an deine Tanten.« Nikki. Shan erinnerte sich an Malik und den Löffel, an dem er schnitzte. Als der Junge von dem Geschenk erzählte, hätte er beinahe noch einen weiteren Namen genannt. »Immer«, sagte Jakli mit zurückhaltendem Lächeln, das sowohl Akzu als auch Shan galt. »Paß auf Malik auf, Onkel. Und auf die Kinder.« Sie umarmte ihn und erstarrte plötzlich. Auf dem Schotter vor der Werkstatt kam rutschend ein leuchtendroter Geländewagen zum Stehen. Shan wußte, daß die allradgetriebenen Fahrzeuge dieses Typs in einer -127-
amerikanischen Jointventure-Fabrik in Peking hergestellt wurden. In seinem früheren Leben hatte er den Betrieb einst persönlich überprüft. Auf der Vordertür des brandneuen Gefährts prangte ein großes goldenes Emblem, das Kopf und Schultern eines Mannes und einer Frau zeigte, deren Arme sich vor einer aufgehenden Sonne kreuzten. Eine der Hände hielt einen Hammer, die andere einen Schraubenschlüssel. Unter der Sonne sah man einen Ölbohrturm, einen Traktor und ein Tier, bei dem es sich um ein Schaf handeln konnte. Auf einmal wurde Shan klar, daß er das Symbol bereits gesehen hatte, zwei Nächte zuvor, auf dem Lastwagen, der ihnen im Kunlun-Gebirge begegnet war. Die Brigade war eingetroffen. Hastig verließ Akzu die Garage, trat ins Sonnenlicht und stellte sich direkt vor den roten Geländewagen, als wolle er die Neuankömmlinge ablenken. Unterdessen stieg ein Han-Chinese aus dem Fond, ein Mann von vielleicht dreißig Jahren, mit Sonnenbrille, einer amerikanisch anmutenden Baseballmütze und einem roten Nylonparka, auf dessen Brust eine kleine Ausgabe des goldenen Emblems abgebildet war. Er klopfte mit einem Knöchel an das Fenster des Beifahrers und wies auf den Sperrholzverschlag im Schutz des Gebäudes. Die beiden Männer auf den Vordersitzen stiegen ebenfalls aus. Der Fahrer hielt ein Klemmbrett in der Hand, der andere einen Taschenrechner. Mit schnellen Schritten eilten sie auf die kleine Kammer zu. Shan merkte, daß jemand ihn am Ärmel zupfte. Jakli zog ihn hinter den Schildkrötenlaster. Er ließ sich in den Schatten führen und beobachtete währenddessen, daß eine zweite Gestalt aus der hinteren Tür des roten Wagens stieg, ein großer schlanker Mann mit schmalem Gesicht und hohen Wangenknochen, dessen brauner Mantel ihm mindestens zwei Größen zu klein war. Darunter ragten die blauen Hosenbeine einer Fabrikarbeiterkluft hervor. Shan schaute zu Lokesh und erkannte an dessen jähem Interesse, daß auch sein alter Freund die Gesichtszüge des -128-
Mannes in gleicher Weise deutete. Der hochgewachsene Fremde war unverkennbar tibetischer Abstammung. »Akzu«, rief der Chinese mit der Mütze dem Clanältesten entgegen. »Was für eine freudige Überraschung!« Seine Stimme war so aalglatt wie sein Gesicht. Eine östliche Stimme, der man die Universitätsausbildung anhören konnte. »Ko Yonghong«, flüsterte Jakli. »Der Bezirksverwalter der Brigade.« Akzu begrüßte den jüngeren Mann leutselig, umrundete dann jedoch langsam den roten Wagen, obwohl Ko ihm eine Hand auf die Schulter legte. Der alte Kasache wollte den Chinesen von der Werkstatt und damit von Jakli und ihren Begleitern fernhalten. Ein Windstoß schlug die Schöße von Kos Parka zurück und gab den Blick auf ein weißes Hemd frei. Erst da bemerkte Shan, daß der Fahrer und Beifahrer hellbraune Hemden trugen, saubere Hemden mit Kragen und Manschetten wie diejenigen, die er auf der Gebirgsstraße im Kunlun gesehen hatte. Angestrengt spähte er durch die Fenster des Geländewagens, als hoffe er, dort Gendun zu entdecken. Dann nahm er sorgfältig den Bezirksverwalter in Augenschein. Ko Yonghong. Ko, der ewig rot bleibt. Ein solcher Name ließ auf Eltern schließen, die ehrgeizige Parteimitglieder waren. Dieser Mann hatte vor, den Clan des Roten Steins zu vernichten. Plötzlich und bevor Shan oder Jakli ihn zurückhalten konnten, trat Lokesh aus dem Schatten und hob grüßend eine Hand in Richtung des tibetisch aussehenden Fremden, der auch aus dem Wagen gestiegen war. »Tashi delek«, sagte er freundlich. Hallo, auf tibetisch. Obwohl er leise gesprochen hatte, als sei der Gruß nicht für zufällige Lauscher bestimmt, ließen die Worte den sechs Meter entfernten Ko Yonghong abrupt innehalten. Der Chinese fuhr herum, starrte Lokesh eindringlich an, holte ein goldenes -129-
Feuerzeug hervor und entzündete eine Zigarette. Dann bedachte er Akzu mit einem breiten Grinsen, als habe der Kasache ihm ein unverhofftes Geschenk bereitet. »Ni zao. Ni hao ma?« entgegnete der Tibeter mit verlegenem Lächeln und einem kurzen Seitenblick auf Ko. Guten Morgen. Wie geht es Ihnen? auf mandarin. »Ich heiße Kaju. Kaju Drogme.« Diese Worte ließen auch Jakli unverzüglich aus der Dunkelheit treten. Im selben Moment kam Ko an Kajus Seite, ohne den Blick von Lokesh abzuwenden. Er nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette und musterte gemächlich die Reihe der Lastwagen in der Garage, als wolle er sich vergewissern, ob dort im Dunkeln noch weitere Überraschungen lauerten. Nicht er hatte zwei Nächte zuvor den Trupp auf der Straße im Kunlun befehligt. Aber hatte er womöglich rauchend in dem dunklen Führerhaus des Lastwagens gesessen? überlegte Shan. Was wollte die Brigade in Tibet? Worauf warteten diese Leute auf einer verlassenen Straße mitten in der Nacht? Was habt ihr Gendun angetan? hätte er am liebsten gebrüllt. Doch dann kam ihm eine andere Frage in den Sinn. Wenn die Brigade sich tatsächlich so sehr für Tibeter interessierte, warum hatte man in jener Nacht nicht auch gleic h Jowa und Lokesh verhaftet? Shan glitt um die Vorderseite des Lastwagens herum ins Licht. Er verspürte den plötzlichen Drang, Lokesh zu beschützen. »Der Rote Stein hat keine Fahrzeuge«, sagte Akzu auf einmal, und Shan begriff, was die Männer dort in der Garage taten. Sie nahmen eine Bestandsaufnahme vor. Ko stieß den Rauch seiner Zigarette durch die Nasenlöcher aus und ging an Kaju vorbei zur Motorhaube des roten Geländewagens, von wo aus er alle Anwesenden im Blick behalten konnte. »Ich darf Ihnen die erfreuliche Mitteilung machen, daß man eine Erweiterung des Wohlstandsprogramms beschlossen hat. Auch der Fuhrpark wird privatisiert.« -130-
»Wohlstand?« fragte Akzu lakonisch. Shan sah ihm an, daß er sich mit aller Macht zurückhielt, um den Brigadeverwalter möglichst nicht gegen sich aufzubringen. »Beseitigung der Armut hört sich irgendwie so erniedrigend an«, sagte Ko und klang dabei eher wie ein Politoffizier als wie ein Geschäftsmann. »Denken Sie doch nur an all Ihre zukünftigen Unternehmensanteile, Genosse. Jetzt wird Ihnen auch diese Werkstatt gehören. Schon bald haben wir hier einen richtigen Börsenhandel. Einige Sonderberater aus Peking arbeiten bereits daran. Sogar Experten aus Amerika wurden hinzugezogen.« Einer der Männer, Kos Fahrer, kam plötzlich aus dem hinteren Bereich der Halle nach vorn gelaufen. Ein Schraubenschlüssel flog an seinem Kopf vorbei. Ko tat so, als hätte er nichts davon bemerkt. Der Mann blieb stehen, starrte wütend in die Dunkelheit zurück, ging dann zur Rückseite des Geländewagens und öffnete die Heckklappe. Er wühlte in einem großen Pappkarton, zog eine Stange Zigaretten daraus hervor und wagte sich wieder in die Garage. »Ich bin wirklich froh, daß Sie sich ebenfalls fachkundiger Beratung versichert haben, Genosse«, verkündete Ko mit schmalem Lächeln und einer weit ausholenden Geste in Richtung der anderen Anwesenden. Shan konzentrierte sich auf die Augen des Mannes, während dieser sie alle mit beunruhigend zufriedener Miene betrachtete. Ko Yonghong war ein Mann, der stets den eigenen Nutzen suchte und aus jeder neuen Bekanntschaft sogleich einen Vorteil oder ein Druckmittel ziehen wollte, folgerte Shan. Gelangweilt breitete der Direktor die Arme aus und nickte langsam, als wolle er betonen, wie gleichgültig ihm die wahre Identität von Ak zus Begleitern sei. Als habe er bereits erkannt, um wen es sich handelte, und halte es für einträglicher, keine weiteren Fragen zu stellen. »Sie sind der neue Lehrer«, sagte Jakli unvermittelt zu Kaju. -131-
»Als Ersatz für Tante Lau.« Die Feststellung schien den Tibeter zu erleichtern. »Ja, wir führen ihre gute Arbeit fort«, sagte er mit schwacher Stimme und nervösem Blick auf Ko. »Die Brigade hat einen Beitrag zu der Finanzierung geleistet. Genosse Direktor Ko möchte für die Waisenkinder einen etwas geregelteren Rahmen bereitstellen. Ein offizielles Programm zur kulturellen Integration in der Schule der Stadt. Mit einem eigenen Klassenzimmer.« »Was Lau für die Kinder getan hat, konnte keine Schule ihnen bieten«, erwiderte Jakli. Ko kam näher und hob die Hände, als würde er sich ergeben. »Es geht nicht um Schulunterricht im traditionellen Sinn«, behauptete er ernst. »Wir wollen lediglich die Mittel der Brigade zur Verfügung stellen.« »Die Mittel der Brigade sind nicht unbedingt das, was die Kinder benötigen«, sagte Jakli mit funkelnden Augen. Ko neigte den Kopf, sah Jakli durchdringend an und beugte sich vor. »Sie sind sehr hübsch«, sagte er, noch immer in dem gleichen ernsten Tonfall. »Ich könnte Ihnen eine Anstellung verschaffen.« Jakli ignorierte ihn. »Die Kasachen und Uiguren können sich selbst um ihre Waisen kümmern.« Ko hob abermals beschwichtigend die Hände. »Ich bin ein Freund Ihres Volkes«, sagte er lächelnd. »Wir könnten mit den Kindern eine Sportmannschaft auf die Beine stellen und sichergehen, daß sie alle notwendigen Tests durchlaufen, um am Ende gar auf der Auswahlliste unserer Sonderprogramme für die Jugend zu landen.« Ko klopfte Kaju auf die Schulter. »Aber das alles liegt in den Händen unseres neuen Lehrers. Wir wollen die Kinder keinesfalls verschrecken und gegen ihren Willen zu etwas zwingen. In erster Linie soll allgemeine Zustimmung herrschen. Bestimmt wird es zunächst eine traumatische Erfahrung für sie sein, wenn sie von unserem Verlust erfahren.« -132-
»Unserem Verlust?« »Bitte glauben Sie mir, daß Lau von allen Seiten hochgeschätzt wurde. Sie war ein wahres Juwel. Falls Bedarf besteht, können wir den Kindern psychologische Betreuung anbieten.« »Wir führen den Unterricht fort. Ich möchte nicht, daß die Kinder auch nur eine Stunde versäumen«, sagte Kaju sanft. »Sie müssen weiter vorankommen und mehr über die neue Gesellschaft erfahren. Das wäre bestimmt auch in Laus Sinn gewesen.« Der Mann schien Jakli zu überraschen. Shan spürte, daß sie eigentlich lieber wütend sein und Laus Nachfolger Ablehnung entge genbringen wollte. Doch der junge nervöse Tibeter schien sich aufrichtig um die Kinder zu sorgen. »Sie sind schnell hergekommen«, stellte Jakli fest. »Ich war schon hier.« Der Mechaniker trat ins Sonnenlicht hinaus. In einer Hand hielt er die Stange Zigaretten und mit der anderen hob er seinen Schraubenschlüssel von dem staubigen Boden auf. Dann nahm er am Ende des Gebäudes im Schatten eines Baumes Platz, öffnete die Packung mit sichtlichem Behagen und zündete sich eine Zigarette an. »Wie meinen Sie das?« fragte Jakli. »Kaju hat an der Universität von Chengdu eine besondere Ausbildung erhalten. Er ist Beauftragter für interkulturelle Beziehungen«, erklärte Ko. »Wir sind sehr stolz auf seine Arbeit. Darin liegt die Zukunft. Privatisierung und Integration, das ist der Weg einer starken Nation.« So langsam erkannte Shan in Ko den Vertreter einer ganz neuen Spezies. Shan war in einer Welt aufgewachsen, in der sich alles um den Parteirang drehte. Es kam dort dermaßen auf den politischen Stellenwert einer Person an, daß die Funktionäre -133-
manchmal ihre eigenen Stühle in die Sitzungssäle mitbrachten, um die anderen Teilnehmer einzuschüchtern, weil sogar die Qualität der Büromöbel Aufschluß darüber gab, welchem der vierundzwanzig Parteiränge ein Beamter angehörte. Aber Ko war kein Regierungsvertreter. Zwar schien seine Miene unterschwellig das kalte Hohnlächeln eines Parteifunktionärs zur Schau zu stellen, doch er war ein Geschäftsmann. Akzu starrte zu Boden. Er wußte, was der von Ko erwähnte Weg mit sich brachte. Das Ende des Clans des Roten Steins. Shan erinnerte sich an Akzus gepeinigtes Gesicht, als der Clanälteste erfahren hatte, daß man den Kindern die Schriften der Partei einbleuen würde. »Sie werden schon noch sehen, Genosse. Wir wollen nur helfen. Falls der Armutsplan nicht funktioniert, geben Sie mir sofort Bescheid«, sagte Ko, legte Akzu erneut eine Hand auf die Schulter und ging dann zu dem Lastwagen, mit dem Jakli und die anderen hatten aufbrechen wollen. Er öffnete die Tür und bedeutete Shan, er möge einsteigen. »In der Zwischenzeit«, sagte er und sah dabei nur Jakli an, »haben Sie und Ihre geschätzten Freunde bestimmt noch wichtige Dinge zu erledigen. Lassen Sie sich durch uns nicht aufhalten.« Ko lächelte ununterbrochen. Er schien sehr zufrieden darüber zu sein, Shan, Jowa und Lokesh entdeckt zu haben. Zufrieden und nicht im mindesten geneigt, sie aufzuhalten oder unter Druck zu setzen. Und das erschreckte Shan mehr als alles andere. Als Jakli und Jowa zur Fahrerseite des Lastwagens gingen, folgte der tibetische Lehrer ihnen. Er wirkte verunsichert und nervös. »Weshalb bist du hier?« knurrte Jowa auf tibetisch. »Das habe ich doch schon gesagt. Ich bin Lehrer«, entgegnete Kaju auf mandarin. »Ich meine hier, heute, in dieser Werkstatt.« -134-
Kaju schaute sich kurz zu Ko um. »Ich habe darum gebeten, mitkommen zu dürfen«, sagte er wiederum auf mandarin und weigerte sich somit hartnäckig, Jowa in der gemeinsamen Muttersprache zu antworten. »Hier im Schatten des Kunlun gibt es viele Verstecke. Ich möchte erklären, daß es niemandem nutzt, sich zu verstecken.« Jowas Augen verengten sich. Er war mißtrauischer als je zuvor. »Wer versteckt sich?« fragte Jakli und behielt Ko im Auge, der mittlerweile außer Hörweite an seinem eigenen Wagen lehnte und noch immer zufrieden lächelte. »Vielleicht ist verstecken nicht das richtige Wort. Weglaufen trifft es vermutlich besser. Eventuell könnten Sie ja behilflich sein.« »Wer?« Jakli ließ nicht locker. »Natürlich die Kinder. Die Waisen«, sagte Kaju. »Laus Kinder. Wir müssen ihnen die Hand reichen und ihnen vorsichtig beibringen, weshalb sie nun einen neuen Lehrer haben und unbeirrt weitermachen müssen. Die Auseinandersetzung mit dem Tod hat durchaus lehrreiche Aspekte.« Das wütende Funkeln in Jaklis Blick war unverkennbar. »Ich möchte den Kindern helfen«, versicherte Kaju. »Wir dürfen die Klasse nicht schließen, oder wir werden sie verlieren, und Laus ganze Mühe wird umsonst gewesen sein. Aber nach Laus Verschwinden ist nur die Hälfte der Kinder zu der letzten Sitzung erschienen. Wir alle müssen uns vor dem Argwohn hüten.« Eine besondere Universitätsausbildung, hatte Ko gesagt, erinnerte Shan sich, während er den Tibeter betrachtete. Zumindest das Vokabular war Kaju in Fleisch und Blut übergegangen. Jowa drängte Jakli auf den Fahrersitz und schloß hinter ihr die -135-
Tür. Dann drehte er sich zu Kaju um. »Jemand ermordet die Kinder, du Vollidiot«, flüsterte er dermaßen leise auf tibetisch, daß Shan kaum ein Wort verstand. Kaju hingegen hatte ihn genau gehört. Sein Unterkiefer klappte herunter. Sein Gesicht verlor sämtliche Farbe. Völlig verwirrt stand er da und sah zu, wie Jowa und Lokesh auf die Rückbank des Lastwagens stiegen. Jakli fuhr los und hatte den Garagenhof bereits zur Hälfte durchquert, als sie plötzlich hart auf die Bremse trat. Hinter den Pappeln entlang der Straße kam soeben ein weiteres Fahrzeug in Sicht, ein kantiger schwarzer Personenwagen. Shan erschrak. Es war ein etwa fünfzehn Jahre alter Hong Qi, eine Limousine mit roter Standarte, wie man sie häufig den leitenden Funktionären in Chinas entlegenen Provinzen überließ, nachdem man in den östlichen Städten keine Verwendung mehr für die Fahrzeuge hatte. Jakli stieß ein ersticktes Keuchen aus und packte den Türgriff, als wolle sie am liebsten wegrennen. Die Limousine hielt unmittelbar vor dem Geländewagen der Brigade und blockierte ihm den Weg. Vom Fahrersitz stieg ein muskulöser junger Han-Chinese und öffnete die hintere Tür. Eine Frau in einem dunkelblauen Kostüm kam zum Vorschein. Sie war Mitte Vierzig und hatte die hohen Wangenknochen und das breite Gesicht einer Nordchinesin. Ihr Blick war streng, um ihren Mund spielte ein anscheinend oft praktizierter Ausdruck der Verachtung, und ihr Haar hatte sie im Nacken zu einem festen Knoten zusammengefaßt, was ihre ernste Miene nur noch unterstrich. Shan sah, daß Ko Yonghong den Neuankömmlingen mürrisch entgegenblickte und etwas in Richtung Kaju rief, das den Tibeter im Schatten der Garage verschwinden ließ. Dann wandte er sich mit kaltem Lächeln der Frau zu und begrüßte sie mit einem angedeuteten Nicken. Shan schaute wieder zu Jakli, die nervös die Frau im Auge behielt. Er brauchte gar nicht erst zu fragen, um wen es sich -136-
handelte. Die Jadehure. Anklägerin Xu Li. »Sie haben gesagt, sie würde mit Laus Tod etwas Bestimmtes im Schilde führen«, flüsterte Jakli. »Was haben Sie damit gemeint?« »Sie läßt Laus Bekanntenkreis verhaften. Errichtet Kontrollpunkte. Das ist eine Kampagne, keine Untersuchung. Ein leitendes Parteimitglied in Peking hat einmal zu mir gesagt, man solle ein Verbrechen nie als soziales Problem, sondern vielmehr als politische Chance begreifen, und für einen Angehörigen der Strafverfolgungsorgane gäbe es keine bessere Gelegenheit als einen Mordfall.« »Gelegenheit?« Unterdessen wandte keiner der beiden den Blick von Anklägerin Xu ab. Sie stand neben dem Wagen, schaute Ko Yonghong auffordernd entgegen und wartete darauf, daß er zu ihr kommen würde. Eine dritte Person stieg aus der Limousine. Ein schlanker Mann mit pockennarbigem Gesicht und einer adretten grauen Uniform, deren Jacke vier Taschen aufwies. Ein Offizier des Büros für Öffentliche Sicherheit. »Sui«, zischte Jakli. »Leutnant Sui. Aus der Kaserne in Yutian.« »Vor ein paar Jahren hat sich in Peking ein Mord ereignet«, fuhr Shan fort und konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf den Offizier der Kriecher. »Ein arbeitsloser Jugendlicher hat einen Straßenhändler erstochen, einen alten Mann, der Nudeln verkaufte. Der Mörder wurde noch am Tatort verhaftet. Er saß mit blutbeflecktem Hemd neben der Leiche und aß eine Schale Nudeln. Nach einer Woche gründlicher Untersuchungen gab die Öffentliche Sicherheit jedoch bekannt, der Händler habe zu einer Familie von Landbesitzern gehört und diese Tatsache bei der Angabe des persönlichen Hintergrunds unterschlagen, als er sich für eine Verkaufslizenz bewarb. Nach Durchführung einer -137-
politischen Überprüfung sei man zu dem Schluß gekommen, der Händler habe durch diese Lüge fortwährenden Verrat am Volk begangen, so daß sein gesellschaftsfeindlicher Betrug unweigerlich Gewalt nach sich ziehen mußte. Die Bürger wurden aufgefordert, eventuell unvollständige Daten ihrer Meldeformulare zu ergänzen oder, besser noch, die Behörden auf andere ehemalige Grundbesitzer aufmerksam zu machen, die womöglich ebenfalls versuchten, ihre Klassenzugehörigkeit zu verheimlichen. Die Parteizeitungen druckten lange Artikel, und im Fernsehen wurden Reden gehalten. Am Ende hat man dreißig oder vierzig Leute verhaftet und ins Gefängnis geworfen.« Shan sah wieder zu Ko. Der mürrische Gesichtsausdruck war verschwunden. Statt dessen starrte der Direktor nun wütend und mit deutlicher Abneigung den Offizier an. Anscheinend mochte Ko die Öffentliche Sicherheit nicht; zumindest hatte er wenig für Leutnant Sui übrig. Der Kriecher verharrte kurz neben Xu, ließ den Blick wie ein Raubtier über die Umgebung schweifen und trat in den Schatten der Werkstatt. »Aber der Mörder wurde doch sicher auch bestraft«, sagte Jakli. »Mit einem Jahr Arbeitslager, weil er keine Aufenthaltserlaubnis hatte.« »Das hier ist anders. Laus Tod hatte keine politischen Gründe.« »Ihr Tod?« fragte Shan. »Sie haben gesagt, die Anklägerin könne sich dessen nicht einmal absolut sicher sein. Ihr liegt lediglich ein Bericht über Laus Verschwinden vor.« Eine Bewegung am Ende der Grundstücks erregte seine Aufmerksamkeit. Hinter Xus Rücken führte Akzu leise sein Pferd um das Gebäude. »Über welches politisch bedingte Problem klagt Xu am lautesten?« »Über die Clans der Grenzregion. Sie sagt, die Leute seien -138-
verantwortungslos und reaktionär und würden nur Unruhe stiften.« Shan nickte erbittert. »Lau war Lehrerin. Ein mäßigender Einfluß. Sie hat versucht, die Waisen der Clans in den Schoß der Gemeinschaft zu holen. Also haben die Grenzclans sie als Feindin betrachtet.« »Unsinn! Sie war eine von uns. Niemals hätten wir…« »Indem sie sich der sozialistischen Dialektik verweigern«, fuhr Shan unbeirrt fort, um die mutmaßliche Geisteshaltung der Anklägerin zu erklären, »haben die Grenzclans sich eigenhändig von dem wohltuenden moralischen Einfluß des Staates abgeschnitten. Sie hegen feindselige Gefühle und verspüren keinerlei Verantwortung gegenüber der Gesellschaft.« Er wies auf Xu. »Die Anklägerin muß hoffen, daß Lau tot ist. Das wäre nämlich der Beweis für die gesellschaftsfeindliche Haltung und Grund genug für die Vernichtung der Clans.« Jakli sagte nichts. Sie biß sich auf die Lippen und starrte mit Tränen in den Augen unverwandt Xu an. Ko wollte auch, daß die Clans verschwanden. Das Programm zur Beseitigung der Armut würde diesen Zweck erfüllen. Dennoch schienen die Anklägerin und Ko wenig gemeinsam zu haben, als würden sie die Clans aus gänzlich verschiedenen Gründen beseitigen wollen oder vielleicht auch auf gänzlich verschiedene Weisen. Dabei saß Xu vermutlich am längeren Hebel, überlegte Shan. Ko war wahrscheinlich bloß ein guter Soldat der früheren Armeebrigade. Die Anklägerin hingegen verfügte über weitaus mehr Einfluß. Kos Vorgesetzte saßen in einem Firmenbüro in Urumchi. Xu Lis Vorgesetzte saßen in Peking. Auf einmal klopfte jemand an die Fahrertür. Jakli wandte den Kopf und zuckte zusammen. Leutnant Sui starrte durch die Scheibe, sein Gesicht war so schmal und hart wie eine Axt. Jakli wollte das Schloß verriegeln, doch Shan hielt sie zurück. Einen -139-
Moment lang sträubte sie sich, gab dann aber nach und öffnete die Tür, als Sui mit ausgestrecktem Arm auf eine Stelle vor dem Lastwagen deutete. Kurz darauf standen Lokesh, Shan, Jowa und Jakli in einer Reihe vor dem Leutnant der Kriecher. Er fragte sie nicht nach ihren Papieren, sondern machte sich mit siegreicher Miene auf einem kleinen Schreibblock Notizen, wobei er jeden der vier nacheinander in Augenschein nahm, als würde er peinlich genau ihre Personenbeschreibungen festhalten wollen. Shan wandte sich um und sah, daß Akzu mit bleichem Gesicht und samt seinem Pferd an der Ecke der Garage stand. Ganz in der Nähe saß der Mechaniker und schüttelte zornig den Kopf. »Die Öffentliche Sicherheit hat das Armutsprogramm um einige Punkte ergänzt«, verkündete Sui plötzlich. Seine Stimme hatte einen hohlen, metallischen Klang. »Die Pferde müssen zusammengetrieben werden, denn sie stellen ein Sicherheitsrisiko dar.« Langsam und kühl sah er einen nach dem anderen an, mit genau der Art von Blick, die nach Shans Erfahrung absolut typisch für die Angehörigen der Öffentlichen Sicherheit war. »Sie sind gemeinsam mit den restlichen Viehbeständen in Yutian abzuliefern.« Bei Shan hielt er inne und musterte ihn von Kopf bis Fuß, von dem kurzgeschorenen schwarzgrauen Haar über das lose Ende des verschlissenen und viel zu langen Gürtels, der um seine schmale Taille lag, bis hin zu den billigen Vinylschuhen, die inzwischen längst rissig und von einer Staubschicht überzogen waren. »Die Pferde gehören euch nicht«, sagte Jakli gereizt und starrte dabei Suis Brust an, als würde sie dort nach einem Herz suchen. »Scho n seit der Zeit der großen Khane sind die Pferde stets Eigentum der kasachischen Stämme gewesen.« »Genau«, erwiderte Sui mit humorlosem Lächeln, als hätte Jakli in seinem Sinne argumentiert. »Wir wissen, was die Khane China angetan haben.« -140-
Shan sah ihn ungläubig an. Es war mittlerweile fast achthundert Jahre her, daß die Khane, die Vorfahren der heutigen Mongolen und Kasachen, China überfallen und die Sung durch die eigene Yuan-Dynastie abgelöst hatten. Aus dem Augenwinkel bemerkte Shan eine Bewegung. Er wandte den Kopf und sah, daß Akzu sich langsam vortastete und sein Pferd mit wildem Blick in Richtung des Kriechers führte, als wolle der zähe alte Kasache Sui angreifen. »Es wird Ihnen niemals gelingen, all unsere Pferde zu finden«, sagte Akzu gehässig aus etwa drei Metern Entfernung. »Mit Hilfe der Helikopter dürfte es sich nicht ganz so schwierig gestalten«, entgegnete Sui. Sein höhnisches Grinsen gab den Blick auf zwei Reihen gelber Zähne frei. »Chinesen haben keine Ahnung von Pferden«, protestierte Akzu. Die Zügel glitten ihm aus der Hand und fielen zu Boden. Mit geballten Fäusten kam er näher. »Die Verwertung brachliegender landwirtschaftlicher Ressourcen gehört seit jeher zu den politischen Leitlinien der Volksregierung«, ertönte eine eisige Stimme hinter Akzu. Die Anklägerin kam auf sie zu, unmittelbar gefolgt von ihrem drohend aufragenden Fahrer. Akzus Schultern sackten herab, und seine Brust sank ein, als hätte ihm jemand einen Dolch in den Rücken gestoßen. Er drehte sich nicht zu der Frau um, sondern blieb einfach stehen und starrte zu Boden. Mit klopfendem Herzen spürte Shan, daß Jowas Körper sich anspannte, als würde der Tibeter sich im nächsten Augenblick auf den Kriecher stürzen wollen. Dann kam auf einmal Ko Yonghong an Xu Li vorbei und stellte sich wie zum Schutz neben Akzu. »Diese Leute wurden bereits in das Armutsprogramm aufgenommen, Genossin Anklägerin«, erklärte er entrüstet. Xu schien ihn nicht zu hören. Sie hob eine Hand an die Stirn, -141-
woraufhin Sui vortrat, Lokesh und Shan mit zwei schnellen Bewegungen die Mützen vom Kopf schlug und dann wieder zurückwich, damit Xu die beiden besser erkennen konnte. »Damit können aber nur die Kasachen gemeint sein, Genosse Direktor«, sagte sie zu Ko und stolzierte langsam näher. Der Fahrer folgte ihr direkt auf dem Fuß. Ihre kleinen schwarzen Augen richteten sich auf Jakli, die es nicht fertigzubringen schien, der Anklägerin ins Gesicht zu sehen. Dann betrachtete sie mürrisch Jowa und Lokesh. Xu haßte die Tibeter und hielt sie durchweg für Verräter, hatte Malik gesagt. Zuletzt fiel Xus Blick auf Shan. Ko zog sich zurück, rief den Männern, die die Bestandsaufnahme durchführten, einige Anweisungen zu, und trat schwungvoll gegen einen Kiesel. Der Stein landete in der Nähe des Mechanikers, der mit desinteressierter Miene dasaß und eine weitere Zigarette rauchte. Akzu verharrte reglos an Ort und Stelle und beobachtete stumm die Anklägerin. Xu schritt vor den anderen auf und ab, behielt dabei vorerst Shan im Auge und bedeutete dann ihrem Fahrer, ihr zurück zu der Limousine zu folgen. Dort wechselten die beiden leise einige Worte. Danach eilte der Mann zu Sui und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Der Kriecher runzelte die Stirn und wich langsam und mißtrauisch zurück, ohne die kleine Gruppe aus den Augen zu lassen, als rechne er mit einem Hinterhalt. »Die Volksregierung weiß Ihre Mitarbeit zu schätzen«, sagte Xus Fahrer mit öliger Stimme und wies einladend auf den Schildkrötenlaster. Jakli hob die Mützen vom Boden auf und schob Lokesh in Richtung des Wagens, während Jowa und Shan bereits auf die Rückbank stiegen. Als der Motor dröhnend zum Leben erwachte, ging Ko zu Akzu, legte ihm einen Arm um die Schultern und führte ihn zurück zu seinem Pferd. Jakli wartete, bis ihr Onkel hinter dem Haus verschwunden war. Dann legte sie den Gang ein und beschleunigte vorbei an den Pappeln, die beiderseits der Zufahrt -142-
standen. Shan verfolgte im Außenspiegel, wie das Gebäude außer Sicht verschwand. Dann merkte er, daß Jakli ihn ansah. Sie wurden nicht verfolgt. Die Anklägerin und die Öffentliche Sicherheit waren eifrig darauf bedacht, das Lager Volksruhm mit Insassen zu füllen, und dennoch hatte man sie ziehen lassen. Sie fuhren mehr als eine Stunde und nahmen unterwegs zweimal Umwege durch ausgetrocknete Flußbetten in Kauf, um Kontrollpunkten auszuweichen. Als ein Schild verkündete, bis Yutian seien es noch acht Kilometer, verringerte Jakli das Tempo und konzentrierte sich auf die Weidenbäume entlang der Straße. Sie blieb beinahe stehen, vergewisserte sich, daß kein anderes Fahrzeug in der Nähe war, und bog plötzlich in eine Öffnung zwischen den Bäumen ein. Die folgende Strecke glich eher einem breiten Trampelpfad als einer Straße, so daß der robuste kleine Lastwagen sich schaukelnd und ächzend durch eine Reihe von Furchen und Schlaglöchern kämpfen mußte, denen ein leistungsschwächeres Gefährt nicht gewachsen gewesen wäre. Nach einigen Minuten stieß der Pfad auf einen von Süden heranfließenden schmalen Bach und folgte dessen Verlauf in Richtung der Berge. Das Kunlun-Gebirge lag nun in voller Pracht vor ihnen. Shan konnte die hohen Gipfel sehen, hinter denen sich Tibet erstreckte. Jakli bremste abrupt. »Es geht um den Lama, nicht wahr?« fragte sie und folgte seinem Blick. Dann hielt sie kurz inne. »Falls Sie möchten, kann ich eine andere Route wählen und Sie so dicht wie möglich an die tibetische Grenze bringen. Der Lama ist Ihr Freund. Lau kann warten.« Shan lächelte sie dankbar an und schüttelte den Kopf. »Ich werde zu Lau reisen. Deshalb hat er mich schließlich hergebeten.« Jaklis Blick war auf die schneebedeckten Gipfel gerichtet. »Als ich noch klein war, haben die Leute das Hochgebirge gemieden. Sie nannten es die Grenze zum Jenseits, als läge auf der anderen Seite eine völlig fremde Welt oder vielleicht auch -143-
einfach gar nichts mehr. Dann erfuhr ich, daß auf der anderen Seite die Welt meiner Mutter lag. Und jetzt…« Sie schüttelte langsam den Kopf. »Die Hochebene dort, wo die dropkas leben, ist eines der letzten freien Gebiete, jenseits der Reichweite des Bösen. Als würde jenseits das gleiche wie sicher bedeuten. Häufig ist es der einzige Ort, an dem ich sein möchte.« Sie schwieg für einen Moment, legte dann wieder einen Gang ein und fuhr weiter. »Die Grenze zum Jenseits.« Shan wiederholte die Worte wie ein Gebet. Es stimmte. Gendun befand sich, wie so oft, an der Grenze zum Jenseits. Eine Viertelstunde später deutete Jakli auf eine Baumgruppe an einer Biegung des Wasserlaufs, beugte sich gespannt vor und hielt dann den Lastwagen im Schatten einiger Pappeln an. In der Nähe des Ufers stand ein kleines Blockhaus, eine winzige fensterlose Hütte mit schmaler Veranda und einer einzelnen Brettertür. »Das hier war ursprünglich eine Unterkunft für die Hirten, wenn im Sommer die Hochweiden grün sind«, erklärte Jakli, während sie ausstiegen. »Einer von Tante Laus Lieblingsplätzen.« »Hat sie hier gewohnt?« »Manchmal. Ihre eigentliche Unterkunft war seit vielen Jahren ein Zimmer in Yutian, im Wohnheim für alleinstehende Lehrkräfte. Offiziell hat sie dort gewohnt. Aber wenn es warm war, kam sie her. Die Herden sind mittlerweile so klein, daß die Weiden in dieser Gegend gar nicht mehr benutzt werden. Das hier war für sie… ein Zufluchtsort. Ihr erster Besuch liegt schon einige Jahre zurück. Damals hat sie Medikamente für eine kranke Schafherde gebracht. Sie kam immer wieder. Die Stelle kann von der Straße aus per Auto oder Lastwagen erreicht werden. Andererseits ist es hier so ruhig, daß man trotzdem glaubt, sich in einer ganz anderen Welt zu befinden.« -144-
Shan bemerkte, wie warmherzig Jakli die Hütte und die dahinter gelegene Wiese ansah, die von Heidekraut und Astern in strahlende Herbstfarben getaucht wurde, während am Rand purpurrote Rhododendren blühten. Der Ort glich einer Oase mitten im Hochgebirge, und da der langgestreckte schützende Hang in seinem Rücken nach Süden wies, sammelten sich hier mehr Wärme und Wasser als in der umliegenden Landschaft. »Auch für Sie besitzt dieser Platz eine besondere Bedeutung«, stellte Shan fest. Jakli nickte. »Tante Lau hat mir hier ziemlich viel beigebracht.« »Über Tiere?« »Über Tiere. Über die Natur. Über Medizin. Über Menschen. Über die Sterne. Sie war auf allen Gebieten bewandert, floß praktisch über vor Wissen. Jemanden wie sie hatte ich noch nie getroffen. Jeder, alle Kasachen und Uiguren haben sie geliebt. Sie war mit niemandem verwandt und dennoch jedermanns Tante. Deshalb wurde sie ja in den Landwirtschaftsrat gewählt.« »Hat sie gelegentlich die zheli hierhin mitgenommen?« Die junge Frau nickte erneut. »Mehrmals im Jahr. Darunter auch zu einigen Verehrungstagen. So hat sie diese Anlässe genannt.« »Verehrungstage?« »Eine Art ganztägige Meditation. Jedes der Kinder durfte sich einer eigenen stillen Beschäftigung widmen. Manche haben Bilder gemalt, andere Briefe geschrieben und wiederum andere einfach nur die Blumen betrachtet.« »Was hat Khitai gemacht?« Jakli mußte kurz überlegen. »Beim letztenmal bin ich am Ende des Tages hergekommen. Ich glaube, er ist den Pfad fast bis nach oben hinaufgestiegen. Ja, jetzt weiß ich wieder. Er hat sich auf einen Vorsprung gesetzt.« Sie deutete auf eine -145-
Felsplatte, die waagerecht aus der Flanke des Hügels ragte. »Wie ein alter Ziegenbock, der den Blick über die Berge schweifen läßt. Nicht überheblich, sondern einfach nur in die Schönheit versunken.« Shan sah zu dem leeren Vorsprung. Saß Khitai heute auf irgendeinem anderen Felsen und hielt Ausschau? Wußte er überhaupt, daß ein Mörder umging? Hatte Malik ihn gefunden? Schaudernd wurde Shan klar, daß Malik durch seine Suche nach der zheli leicht selbst in Lebensgefahr geraten konnte. Jakli trat auf die schmale Veranda der Hütte. »Wenn Tante Lau hier war, wurde dieser Ort fast so etwas wie ein Schrein.« »Ein Schrein?« »Eine Moschee. Ein Tempel. Ein religiöser Ort, mehr will ich damit gar nicht sagen. Man fühlte sich irgendwie zu großen Gedanken veranlaßt, nur Tante Lau zuliebe.« Jakli öffnete den hölzernen Schnappriegel der Tür und führte Shan hinein. Im Innern sah es tatsächlich so karg wie in einem Tempel aus. Das Mobiliar bestand aus einem kleinen Tisch, einem Stuhl, zwei Bänken und einem Bettgestell aus grob gezimmertem Holz. Die Wände hatte man aus unbearbeiteten Baumstämmen errichtet, von denen viele noch ihre Rinde besaßen. Auf dem Stuhl stand eine Blechschüssel mit zwei Tassen, und auf dem Bett lag eine zusammengefaltete Filzdecke. Mitten auf dem Tisch entdeckte Shan einen einzelnen Kiefernzapfen. An einer der Wände hing ein dickes Stück Papier. Shan trat näher. Auf das Blatt hatte jemand mit Pinsel und Tusche zwei fließende chinesische Ideogramme aufgemalt. Das obere Symbol stellte mit schwungvollen Linien einen Vogel dar, der sich in den Himmel erhob. Das untere Bild zeigte zwei Hände, die um ein einzelnes Objekt rangen. Die gemeinsame Bedeutung war Streite nicht und ging auf das achte Kapitel des Taoteking zurück, jenes bedeutendsten aller Lehrbücher des Tao, das Shan schon seit seiner Kindheit kannte. Der Anblick der -146-
Schriftzeichen weckte bei ihm wehmütige Erinnerungen, denn dies war der Lieblingsvers seines Vaters gewesen. Shan wußte noch genau, wie die Passage lautete: Höchste Güte ist wie Wasser, das allen Dingen nützt und mit keinem streitet. Es füllt das Niedrige, das andere verachten, und ist daher dem Weg zur Wahrhaftigkeit nahe. Der Vers diente zur Verdeutlichung der Lektion, daß ein erleuchteter Mensch Zufriedenheit nicht etwa durch Widerstand und Streit erlangte, sondern durch den Aufenthalt an einsamen, stillen Orten. Nicht nur Wasser, auch die Wahrheit ließ sich dort nämlich mit weitaus größerer Wahrscheinlichkeit finden. Manchmal wurden die letzten Worte des Textes auch als »Weg zum Leben« übersetzt. Wahrhaftigkeit oder Leben. Shan schaute erneut auf die Ideogramme. Womöglich hatte für Lau kaum ein Unterschied zwischen diesen beiden Auslegungen bestanden. Er berührte das Papier mit den Fingerspitzen und zog die Hand dann schnell wieder weg, als würde er Lau zu nahe treten. »So war sie«, erklärte Jakli hinter ihm. Er drehte sich um und nickte. »Etwas ist mir noch nicht ganz klar«, sagte Shan, während Jakli den kleinen Raum abschritt und die Einrichtungsgegenstände betrachtete. »Gestern, bei unserem ersten Zusammentreffen, hat Akzu zu Ihnen gesagt, Sie würden Lau nichts schuldig sein, nach allem, was sie Ihnen angetan habe.« Jakli stand auf der anderen Seite des Tisches. »Das habe ich nie begriffen. Vermutlich irgendein Mißverständnis. Ich war damals in einem Umerziehungslager. Lau hat der Anklägerin einen Brief geschrieben und darum gebeten, mich nicht zum -147-
vorgesehenen Zeitpunkt freizulassen. Statt dessen sollte ich eine Bewährungsstrafe in der Fabrik in Yutian verbüßen, die speziell für ehemalige Häftlinge vorgesehen ist. Die Hutfabrik. Als man mir sagte, weshalb ich nicht zum Clan zurückkehren durfte, konnte ich es erst nicht glauben. Aber dann habe ich Laus Brief mit eigenen Augen gesehen.« Jakli setzte sich und schloß die Hände um den Kiefernzapfen. »Ist schon in Ordnung«, sagte sie mit verwirrtem Unterton, als wäre der Zapfen eine Art Fokus, um Lau zu erreichen. »Es war bestimmt keine Absicht, da bin ich sicher. Sie ist in der letzten Zeit ziemlich nervös gewesen.« Shan hörte, daß hinter ihm jemand die Hütte betrat. »Es gibt keine Spur von ihr. Nichts deutet auf sie hin«, sagte Jowa über Shans Schulter hinweg. »Vielleicht ist gerade das ihr Kennzeichen«, schlug Shan vor und blickte zu dem Papier an der Wand. »Die Einfachheit.« Jakli führte sie zu einem Pfad am hinteren Ende der Wiese. Als sie im Gebüsch verschwand, blieb Lokesh unmittelbar vor Shan stehen. Am Rand der Waldung war ein kleiner Wasserfall zu sehen. Vögel zwitscherten. »Das ist genau der Ort, an dem die Seele eines Jungen verweilen würde«, sagte Lokesh seufzend, um Shan im nächsten Moment auf einen großen Käfer hinzuweisen, der ihren Weg kreuzte. Der Trampelpfad oberhalb der Wiese verlief parallel zu einem Bach. Sie folgten seinem Verlauf mehr als einen Kilometer und kamen dabei an weiteren Rhododendronsträuchern und hohen immergrünen Gehölzen vorbei. Shan konzentrierte sich auf den Pfad. Es war eigentlich kaum mehr als ein Wildwechsel, doch nach den vielen geknickten Zweigen und Sämlingen zu schließen, hatte hier in letzter Zeit anscheinend reger Verkehr geherrscht. Dann erreichten sie eine kleine Lichtung, die am hinteren Ende durch eine senkrechte, fast fünfzehn Meter hohe Felswand begrenzt wurde. An einem der unteren Äste einer uralten Kiefer, -148-
die sich bis weit über die Wand erhob, baumelte etwas von Menschenhand Geschaffenes im Wind. Es handelte sich um einen diamantförmigen Rahmen aus Zweigen, der von einem Bindfaden zusammengehalten wurde und über den zahlreiche bunte Schnüre gespannt waren. Eine Geisterfalle, ein Talisman, wie ihn viele der nomadischen Kulturen benutzten, um die Teufel zu fangen, die durch die Luft flogen. Jakli blieb am Fuß der Wand stehen und bedeutete ihren drei Begleitern, ihr zu der Rückseite des Baums zu folgen. Shan trat vor. Im Schatten der Kie fer befand sich ein noch dunklerer Fleck. Es war ein Loch im Felsen, eine schmale Spalte, kaum zwei Meter hoch und gerade breit genug, um sich seitwärts hindurchzuschieben. Shan bemerkte, daß Lokesh einen kleinen Strauch neben der Öffnung ansah. Nein, erkannte er, das war gar kein Strauch, sondern Blumen, die jemand am Rand der Spalte abgelegt hatte, größtenteils Astern, jene herbstlichen Wildblumen, die zur Zeit auf den Hängen blühten. Einige sahen dermaßen frisch aus, als würden sie erst seit einer Stunde dort liegen; andere waren schon vertrocknet. Neben dem Haufen lag mehr als ein Dutzend primitiver Tierfiguren aus Zweigen, die man mit braunen Fäden und Ranken zusammengebunden hatte. Manche der Gestalten hatten lange Beine und sollten wohl Pferde darstellen, während andere, kurzbeinige Gebilde vermutlich für Schafe oder Ziegen standen. Außerdem lagen dort mehrere kleine Gegenstände aus Ton, die wie Töpfe und Glocken geformt waren. Als Shan sich herabbeugte, um die Sachen genauer in Augenschein zu nehmen, streifte ihn plötzlich ein eisiger Hauch. Er fröstelte, und die Härchen auf seinen Armen richteten sich auf. Der Luftzug stammte aus der Höhle. Jakli kam zu ihm. Sie stand mit geschlossenen Augen in der kalten Strömung und wirkte dabei sehr ehrfürchtig, als würde sie beten. Shan hatte von solchen Höhlen gehört. Manche Leute glaubten, an diesen Orten wohne der Tod, und der Hauch sei -149-
sein Atem. Einige der alten Tibeter behaupteten, die Plätze stellten Durchgänge in die acht kalten Höllen dar, von denen bereits die frühesten tibetischen Sekten berichtet hatten. Aus ihrer Jacke zog Jakli eine kleine batteriebetriebene Taschenlampe hervor und gab sie Shan. Dann griff sie hinter den Haufen Blumen, holte von dort zwei Äste, deren Enden mit Harz getränkt waren, und reichte sie Jowa. Nachdem sie die Fackeln mit einem Streichholz entzündet hatte, nahm sie eine davon für sich selbst und betrat die Höhle. Shan folgte ihr. Sein Mund war auf einmal ganz trocken. Sie würden nun Tante Lau besuchen. Nach ein paar Schritten verbreiterte sich der Durchgang auf etwa drei Meter, wurde gleichzeitig jedoch deutlich niedriger, so daß sie sich vorbeugen und die Lichter seitlich von sich strecken mußten. Der kalte Luftzug schien stärker zu werden und ließ die Flammen der Fackeln beinahe erlöschen. Kurz darauf erreichten sie eine größere Kammer von ungefähr fünfzehn Metern Breite, mehr als vierzig Metern Länge und rund sechs Metern Höhe. Die Luft hier war wesentlich ruhiger, allerdings noch kälter. Jowa reckte die Fackel empor und keuchte überrascht auf. Die Decke reflektierte das Licht und schien zu glühen. Lange kristallklare Stalaktiten hingen herab. Sie bestanden aus Eis. Die gesamte Decke war von Eis überzogen. »Es ist noch gar nicht allzu lange her, daß diese Hügel unter einem Gletscher lagen«, erklärte Jakli leise. Sie ging durch die Kammer voran zu einer anderthalb Meter breiten Öffnung, hinter der sich ein kleinerer, nur etwa sechs Meter langer Raum befand. Dort in der kalten Finsternis wartete Tante Lau. Sie lag auf einem kniehohen Felssockel am hinteren Ende der Kammer. Ihre Hände waren über dem Bauch verschränkt, und ihr Gesicht wirkte so friedlich, als würde sie schlafen. Jakli kniete an der Seite der Toten nieder, zog einen Zweig -150-
Heidekraut aus der Tasche und legte ihn neben die Leiche. »Ich habe sie in ihrem ersten Sommer hier kennengelernt. Damals war ich noch ein kleines Mädchen von acht oder neun Jahren. Mein Pferd hatte Leibschmerzen. Ich hörte, in einem der Hirtenlager sei eine Heilerin aufgetaucht, also wollte ich mein Pferd zu ihr bringen. Aber nach drei oder vier Stunden konnte der Hengst nicht mehr weiter. Er stöhnte laut und blieb stehen, schwach und voller Schmerzen. Ich setzte mich und machte ein Feuer, und auf einmal war Tante Lau da. Sie sagte, sie hätte den Ruf eines kranken Tieres vernommen. Aber sie wollte ihm keine Medizin geben, wenigstens nicht sofort. Statt dessen hat sie mir Fragen über mein Pferd gestellt. Wie lange wir uns denn schon kennen würden, wo er geboren worden sei und wie er sich verhalte, wenn es regnete. Dann berührte sie den Hengst an mehreren Stellen und sprach mit ihm. Schließlich mischte sie einige Kräuter und wies mich an, über Nacht dort zu bleiben und ihm Lieder vorzusingen. Am Morgen ging es ihm schon viel besser. Er fühlte sich sogar so stark, daß er den ganzen Weg nach Hause laufen wollte.« Lokesh setzte sich neben die Felsplatte und nickte Jakli zu, als wolle er sie ermuntern, mit ihrem Bericht fortzufahren. »Als ich einem meiner Cousins davon erzählte, behauptete er, sie sei bestimmt eine Art Zauberin«, erinnerte Jakli sich. »Aber ich sagte, sie würde viel zuviel lachen, um eine Zauberin zu sein. Danach habe ich sie noch oft wiedergesehen, häufig völlig unerwartet, in den Bergen, in der Wüste, wo auch immer. Einmal verarztete sie ein kleines Eichhörnchen, das aus den Fängen einer Eule gefallen war. Sie sagte, es sei zwar ihre Pflicht, jedem zu helfen, der verletzt oder krank war, aber vor allem müsse ein Heiler sich um die Kleinsten und Schwächsten kümmern.« »Sie sagen, Lau sei plötzlich in dieser Gegend aufgetaucht. Wie meinen Sie das?« fragte Shan. -151-
»Tante Lau gehörte zu den Heimatlosen. Auch ihre Familie war verlorengegangen. Sie sah sich als eine Art Wanderheilerin. Wir waren alle sehr froh, als sie beschloß, im Bezirk Yutian zu bleiben.« Laus schwarzes, von einigen grauen Strähnen durchzogenes Haar war mit dunkelrotem Band zu zwei kurzen Zöpfen geflochten. Eine Blumenstickerei schmückte die Säume ihres langen grauen Gewands, und ihre Beine steckten in roten Wollgamaschen, die bis über den Rand der kleinen, abgetragenen Lederstiefel reichten. Der Kopf der Lehrerin wurde zum größten Teil von einem roten, mit Blumen und springenden Rehen bestickten Tuch umhüllt, so daß nur das Gesicht frei blieb. »Wie weit entfernt liegt der Ort, an dem sie ermordet wurde?« fragte Shan. »Karatschuk? In der Wüste, viele Meilen von hier. Man hat ihre Leiche erst per Pferd und dann auf einem Lastwagen hergebracht. Die Reise hat einen halben Tag gedauert.« »Waren Sie selbst dabei?« Jakli nickte. »Zumindest am Schluß. Die Maos sind in die Fabrik gekommen und haben es mir erzählt. Später haben wir uns unten an der Straße getroffen.« »Demnach waren die Maos in Karatschuk, als Lau ums Leben kam?« »Nein. Das waren andere Leute, und die haben es dann den Maos berichtet.« Jakli hielt seinem fragenden Blick kühl und entschlossen stand. Es gab Geheimnisse, die sie nicht preisgeben wollte. »Und sie hat Ihnen erzählt, sie wolle hier bestattet werden? Ist diese Art von Begräbnis typisch für die Kasachen?« »Nein. Aber Lau ha tte gewisse Vorstellungen. Ich meine, sie hat ein selbstbestimmtes Leben geführt und dabei auch an ihren -152-
Tod gedacht. Sie wollte in diese Höhle oberhalb der Hütte gebracht werden.« »Wen hat sie darum gebeten?« fragte Shan. »Ihre Freunde. Vor etwa drei Mona ten hat sie ihren Freunden erzählt, man möge sie herbringen.« Die Kälte hatte den Körper erstaunlich gut erhalten. Das konnte durchaus noch monatelang so bleiben, dachte Shan. »Das ist nicht wenig verlangt.« Jakli sah Lau an und lächelte traurig. »Es war überhaupt nicht der Rede wert.« »Aber nach ihrer Schilderung zu schließen, war Lau nicht die Art von Person, die ihren Freunden etwas aufbürden würde.« Jakli runzelte die Stirn, als versuche sie, Shans Argumentation nachzuvollziehen. »Lau würde nur einmal sterben«, erwiderte sie zögernd. Aber warum diese Höhle? fragte Shan sich. Es war, als habe die Höhle selbst etwas zu bedeuten. Hausten hier Dämonen? Oder fürchteten die Dämonen sich gar vor diesem Ort? Langsam umrundete er den Felssockel und musterte die tote Frau. »Wenn sie eine Außenseiterin war und keine Papiere besaß, um hier arbeiten zu dürfen, wie konnte sie dann in den Rat gewählt werden?« Jakli zuckte die Achseln. »Bestimmt wurde sie überprüft. Sie war Kasachin, und die Hirten haben sie geliebt. Wie ich schon sagte, sie war jedermanns Tante. Und es ging ja nur um den Landwirtschaftsrat, der eigentlich gar keinen wirklichen Einfluß hat.« »Aber was war mit den Behörden? Man würde doch auf jeden Fall auch die Vorgeschichte einer solch unbedeutenden Amtsträgerin gründlich durchleuchten.« Shan sah Jakli an, daß sie ihn verstand. Laus Familie konnte auf die verschiedensten Arten und aus den unterschiedlichsten -153-
Gründen verlorengegangen sein. Falls man sie inhaftiert, offiziell aufgelöst oder hingerichtet hatte, galten alle Mitglieder in den Augen des Staates automatisch als schädliche Elemente, denen das Privileg eines öffentlichen Amts verweigert bleiben würde, auch wenn es sich lediglich um einen Posten in einem bescheidenen Landwirtschaftsrat handelte. Er erinnerte sich an die Vermutung, die Akzu zu Beginn ihrer Bekanntschaft geäußert hatte. Der Dämon wolle zu Ende bringen, was er mit den Eltern der zheli begonnen habe. Lau hatte ebenfalls einem verlorenen Clan angehört. Womöglich verband die Opfer ein Geheimnis aus der Vergangenheit. Die Unterwerfung der Kasachen und Uiguren durch die Volksbefreiungsarmee lag einige Jahrzehnte zurück. »Sie wurde rehabilitiert. Die Leute wollten sie. Heutzutage sind die Behörden etwas nachsichtiger.« Bei diesem letzten Satz klang Jakli wenig überzeugend. Sie starrte die Eisschicht an, die den größten Teil der Wand hinter Tante Lau bedeckte. Shan kniete sich neben Lokesh vor den Kopf der Frau. Der Schein der Fackel ließ ihr bleiches Gesicht orangerot erglühen, wodurch sie nur noch mehr wie eine Schlafende aussah. Es schien, als könne sie jeden Moment aufschrecken und sich über die Ruhestörung beklagen. »Wir mußten die Leute in dem Glauben lassen, es habe sich ein Unfall ereignet«, sagte Jakli. »Es war schließlich irgendeine Erklärung nötig. Wir konnten nicht einfach ihre Ermordung melden und so die Aufmerksamkeit der Behörden wecken.« Shan blickte auf. Es war, als habe Jakli nur auf die Gelegenheit für eine Erklärung gewartet, um Laus Geheimnis zu lüften. »Ein Reitunfall«, fuhr Jakli fort und sah nun die Tote an. »Wir haben dafür gesorgt, daß man dein…« Sie hielt inne und atmete tief durch. »… daß man ihr Pferd an der Straße entlang des Yutian-Flusses finden würde. Am nächsten Tag hat jemand von -154-
der Schule sie als vermißt gemeldet. Als ehemalige Angehörige des Rats besaß sie eine Jacke, auf der ihr Name stand. Fat Mao hat diese Jacke in den Fluß geworfen, und eine Frau hat das Kleidungsstück dann in der Nähe der Stadt aus dem Wasser gefischt.« Langsam und so ehrfurchtsvoll wie möglich hob Shan das Tuch auf Laus Stirn an. Direkt unterhalb des Haaransatzes gähnte ein Loch von fast einem Zentimeter Durchmesser. Mit Hilfe der Taschenlampe entdeckte er die dunklen Schmauchspuren rund um die Wunde. Die Frau war aus unmittelbarer Nähe erschossen worden, wie bei einer Exekution. »Meinen Sie, es wird weiter wachsen?« fragte Jakli. Sie starrte wieder das Eis an. »Vielleicht bedeckt es Lau und schließt sie ein. Auf diese Weise könnte sie eine lange Zeit überdauern. Tausende von Jahren.« Shan stand auf, neigte demütig den Kopf und sah Jowa am Eingang stehen. Der Widerstandskämpfer hatte sich nicht in die Kammer vorgewagt, als wolle er lieber Wache halten. Oder als habe er Angst. An der Wand, die in leichtem Bogen nach links in Richtung des Zugangs verlief, bemerkte Shan dunkle Konturen im Eis. Er richtete seine Taschenlampe darauf und sah, daß es sich um Abdrücke handelte. Mehr als ein Dutzend Menschen hatten hier ihre Hände in das Eis gedrückt und dabei wie zum Abschied ihre Spuren hinterlassen. Ein Grab aus Eis, dachte Shan. Das Tor zu den kalten Höllen. Wie hatte Tante Laus letzte Hölle wohl ausgesehen? Sie war nicht zufällig ermordet worden. Hinter ihrem Tod steckte eine Absicht. Aber welche? Er überlegte laut. »Wurde Lau vielleicht etwas abgenommen?« »Sie hat fast nichts besessen«, sagte Jakli. »Die Brigadeschule hat ihr eine Unterkunft und ein Büro zur Verfügung gestellt.« -155-
Shan trat an das Ende des Felssockels und kniete sich hin. »Bei den Vorbereitungen zu der Beisetzung, hat da jemand…« Als er langsam und mit äußerster Vorsicht die Gamaschen abwickelte, erhielt er die Antwort auf seine Frage. »Ai yi!« entfuhr es ihm leise. Die Schienbeine waren mit unverheilten Blutergüssen und Striemen übersät. Man hatte die Lehrerin geschlagen, und zwar lange genug vor ihrem Tod, daß sich noch Blutergüsse hatten bilden können. »Wir haben es gesehen«, sagte Jakli unter Tränen. »Sie muß furchtbare Schmerzen erlitten haben.« Sie schlug die Hand vor den Mund und wandte sich ab. »Aber sie hat bestimmt nicht geredet. Sie war stark.« Shan nickte. Zwar hatte er Lau nicht gekannt, aber er wußte, wie solche Verhöre abliefen. Es fing mit einem Bein an, und wenn das Opfer dann noch nicht redete, ertrug es zumeist auch die Folter an dem zweiten Bein. Eilig bedeckte er die Wunden wieder, trat an Laus Seite und schob langsam den rechten Ärmel ihres Gewands hoch. In der Beuge ihres leblosen Arms befand sich ein weiterer Striemen und darunter ein winziger roter Punkt. »Das habe ich auch entdeckt«, sagte Jakli über seine Schulter hinweg. »Bloß ein blauer Fleck, sonst nichts.« Ihre Stimme zitterte. Sie wußte, was diese Verletzung zu bedeuten hatte. Jowa kam näher und warf einen Blick auf den Arm. »Eine Injektion«, stellte er lakonisch fest. »Als die Schläge nicht das gewünschte Resultat brachten, hat man ihr etwas gespritzt.« Der purba und Shan sahen sich wissend an. Der Mörder kannte sich mit Verhörtechniken aus und hatte Zugang zu Drogen, wie sie sonst nur von der Regierung eingesetzt wurden. Also war Lau in gewisser Weise doch wegen ihres Besitzes ermordet worden. Man hatte sie gefoltert, um von ihr bestimmte Informationen zu erpressen. Nun stellte Lau für Shan ein noch größeres Rätsel dar als vor -156-
seinem Besuch. Er wandte sich zum Ausgang, zögerte dann und ging zu der linken Wand. Einer plötzlichen Regung folgend, drückte er dicht neben den anderen Spuren seine Handfläche in das Eis. »Weshalb hat sie ihren Sitz im Rat aufgegeben?« fragte er, während sich in seinen Fingern ein taubes Gefühl ausbreitete. Er zog die Hand zurück und betrachtete die Wand. Sein Abdruck war tiefer als die anderen. »Als wir das getan haben«, sagte Jakli und nickte in Richtung der Handabdrücke, »meinte Akzu, die Spuren könnten vielleicht mehrere Jahrhunderte zu sehen bleiben, falls das Eis nicht in Bewegung gerät. Das wäre dann der einzige Hinweis darauf, daß wir überhaupt je existiert haben.« Sie sah die Abdrücke an und legte ihre Hand nahe der Mitte in eine der Vertiefungen, als wolle sie sich vergewissern, daß diese auch wirklich von ihr stammte. »Nur eine kleine leere Einbuchtung im Eis einer dunklen Höhle auf einem vergessenen Berg.« Shan war überrascht. Er drehte sich zu Jakli um, doch sie starrte beharrlich auf die Wand. »Ich habe Tante Lau am Bach gewaschen«, flüsterte sie. »Ich muß immer noch daran denken, unter welch schrecklichen Schmerzen sie gestorben ist.« Sie preßte ihre Hand fester ins Eis, als wolle sie die leere Einbuchtung noch vergrößern. »Lau ist aus irgendeinem Grund in Ungnade gefallen.« Sie flüsterte auch weiterhin, als wolle sie nicht, daß die Tote sie hörte. »Vor vier Monaten sagte jemand, sie käme nicht länger für dieses Amt in Frage.« »Jemand?« Sie zuckte die Achseln. »Die Regeln ändern sich andauernd. Mittlerweile hat die Brigade viele Funktionen der früheren Räte übernommen.« »Aber hier ging es nicht um das Amt, sondern um Lau als Person, die angeblich nicht mehr befähigt war.« »Das ist lediglich eine Vermutung. Ich weiß es nicht mit -157-
Sicherheit. Sie war einfach fort. Plötzlich kam jemand anders an ihrer Stelle zu den Sitzungen.« »Wer?« Jakli antwortete erst, nachdem sie den Eingang der größeren Kammer erreicht hatte. »Ko Yonghong«, seufzte sie. »Der Genosse Generaldirektor.« »Wurde Lau der genaue Grund mitgeteilt?« »Falls ja, hat sie niemandem etwas davon erzählt.« »Ist Ihnen der Zeitpunkt denn nicht merkwürdig vorgekommen?« Jakli schüttelte verwirrt den Kopf. »Nur wenig später hat Lau darum gebeten, hier oben bestattet zu werden«, rief Shan ihr ins Gedächtnis. »Als hätte sie erst dann angefangen, sich Sorgen zu machen. Was könnte die Ursache gewesen sein?« Jakli schaute zu der Toten zurück und biß sich auf die Unterlippe. Sie sah aus, als wolle sie Lau persönlich fragen. Dann drehte sie sich wieder zu Shan um. »Sie hat sich mit unerwünschten Elementen abgegeben.« Shan wußte, daß Jakli damit sich selbst, Akzu und die Nomaden meinte. Vielleicht auch die Maos. »Aber wer stand ihr am nächsten? Hatte sie einen Gehilfen? Womöglich wurde jemand von ihr ausgebildet. Ich muß wissen, wie ihre Reaktion ausgesehen hat, als sie vom Verlust ihres Ratssitzes erfuhr. War sie wütend? Verängstigt? Erleichtert?« »Niemand stand ihr nahe.« »Niemand? Oder jemand, den ich nicht kennenlernen soll?« Jakli schien über diese Frage nachzudenken, während sie sich mit einem Nicken von Lau verabschiedete und dann zurück in die größere Kammer trat. »Es ist kompliziert. Ich möchte, daß Sie den Mörder finden. Aber dies ist ein Land voller Geheimnisse. Die Chinesen sind dafür verantwortlich. Es könnte -158-
sich als gefährlich erweisen, Sie über bestimmte Dinge zu informieren.« »Gefährlich für wen?« »Für mich. Für Sie. Für andere.« »Meinen Sie den Widerstand? Die lung ma?« »Widerstand? Es gibt keinen wirklichen Widerstand. Man sammelt bloß Informationen. Was sollten wir auch gegen die Volksbefreiungsarmee oder die Öffentliche Sicherheit ausrichten können? Die Tibeter haben es versucht und sind mit Vorderladern und Schwertern gegen Maschinengewehre angetreten. Eine Million Menschen sind gestorben. Nein, kein Widerstand. Eine Erhaltungsbewegung, auf mehr kann niemand zu hoffen wagen. Lau hat es der zheli hundertmal eingeschärft. Bewahrt das Gute, lernt aus dem Schlechten.« Eine Minute später befanden sie sich kurz vor dem Ende des Tunnels. Jowa und Lokesh knieten bereits draußen neben der alten Kiefer und ordneten die dargebrachten Zweigfiguren sorgfältig wieder an. Shan blieb im Eingang stehen und hielt seine Taschenlampe dicht vor die Wand. Er hatte etwas bemerkt, das ihm zuvor nicht aufgefallen war, eine Kreidezeichnung, einige Striche innerhalb eines fünfzehn Zentimeter durchmessenden Kreises. Auf den ersten Blick schien es sich um ein Ei unter einem kleinen Teller zu handeln, auf dem aus einem knopfähnlichen Gebilde eine Blume wuchs. Unter dem Ei waren zu beiden Seiten Wellenlinien zu sehen, als würde ein Banner im Wind flattern. Das alles kam Shan sehr bekannt vor. Er leuchtete jeden Winkel genau aus. Die weiße Kreide war erst vor kurzem auf den Felsen aufgetragen worden. »Wissen Sie, was das ist?« fragte Jakli hinter ihm. »In Tibet nennt man es bumpa. Eine geweihte Schatzvase. Eines der acht heiligen buddhistischen Symbole.« -159-
»Eine Vase?« »Eine Urne. Ein heiliges Gefäß«, sagte Shan und runzelte verwirrt die Stirn. »Es bedeutet verborgener Schatz.« Jakli starrte die Kreidezeichnung einen Moment an, ging dann langsam nach draußen und ließ Shan allein zurück. Während er dort stand, traf ein besonders starker und eisiger Luftzug seinen Rücken. Laus Atem. Lokesh war noch immer in die Arbeit vertieft. Er nahm die umgefallenen Zweigtiere und stellte sie mit dem Rücken zur Höhle in einem Halbkreis vor dem Eingang auf. Dabei sang der Tibeter eines seiner alten Lieder und hielt manchmal inne, um die kunstvolle Ausfertigung einer der Figuren zu bewundern. Als Jakli sich vorbeugte, um ihm zu helfen, berührte Shan sie an der Schulter und wies auf Jowa, der ganz in der Nähe stand und das Dickicht am anderen Ende der Lichtung beobachtete. Er hatte eine Hand nach hinten ausgestreckt und bedeutete Shan mit erhobenem Finger, sich nicht zu bewegen. Die andere Hand schwebte über seinem Messer. Der Luftzug erstarb, und Shan erkannte, weshalb Jowa beunruhigt war. Aus dem Dickicht drang ein Geräusch, ein leises Knurren, wie von einem Tier. Shan trat an Jowas Seite. Nein, das war kein Knurren; es glich eher einem Stöhnen. Dann bewegte sich etwas dort vor ihnen. Jowa rannte los. Das Wesen war zwischen den Felsen für einen Augenblick zu sehen, eine geduckte schwarze Gestalt, die nun versuchte, ins Unterholz zu flüchten. Jowa verschwand zwischen den dichten Rhododendren, und Shan folgte ihm. Schon nach wenigen Schritten wurde er von Jakli überholt, die sich schnell und leise wie eine geübte Jägerin vorpirschte. Die Gestalt lief immer schneller. Shan sah sie erneut, als sie vierzig oder fünfzig Meter vor ihm über einen von der Sonne beschienenen Felsen kletterte. Sie war schwarz, nur die beiden Hinterbeine leuchteten hellrot. Dann gab sie wieder ein -160-
Geräusch von sich, ein gequältes Heulen, das ihre Angst verriet. Shan beschleunigte den Schritt und ignorierte die Zweige, die ihm ins Gesicht schlugen. Zweimal stolperte er auf losem Geröll, sprang über Moosflächen, blieb einmal kurz stehen, um sich neu zu orientieren, erblickte Jakli und rannte in ihre Richtung weiter, derweil sie im dichten Gestrüpp verschwand. Wenig später hallte ein neues Geräusch durch die Stille des Waldes. Jowa hatte die Gestalt gefangen und rief nun nach ihnen. Keuchend erreichte Shan eine kleine Lichtung, auf der Jowa und Jakli über einer zusammengekauerten dunklen Gestalt standen. Er fragte sich, wo sie wohl die große schwarze chuba gefunden haben mochten, unter der das Wesen lag. Dann begriff er, daß ihre Jagdbeute in Wirklichkeit mit der chuba bekleidet war. Jakli hob eine Ecke des Schaffellmantels an und enthüllte darunter zwei menschliche Füße, die in hellroten knöchelhohen Schuhen steckten. Sie stieß einen erschrockenen Laut aus, als würde sie die Schuhe wiedererkennen. In ihren Augen blitzte plötzliche Wut auf, und sie fing an, an der chuba zu zerren. Nach einem Moment hatte sie den Mantel seinem Träger entwunden, der sich als kleiner, ängstlich zitternder Mann entpuppte. Mit flammendem Blick hielt Jakli kurz inne, stürzte sich dann auf den Fremden und hieb mit geballten Fäusten auf seinen Rücken ein. Jowa und Shan sahen sich überrascht an und versuchten, Jakli zu beruhigen. »Verräter!« schrie sie und schlug den Mann immer wieder. »Mörder!» Shan und der purba mußten sanfte Gewalt anwenden. Sie packten Jakli unter beiden Achseln und zogen sie zurück, woraufhin sie nach dem Mann zu treten begann und ihn an Armen und Beinen traf. Der Fremde wehrte sich nicht. Er schien die Schläge gar nicht -161-
zu registrieren, sondern lag verkrümmt am Boden und gab das gleiche leise Stöhnen von sich, das bereits aus dem Dickicht bei der Höhle an ihre Ohren gedrungen war. »Aber versteht ihr denn nicht?« schrie Jakli wütend. »Das ist Bajys! Der Kindermörder!» Shan drehte den Mann auf den Rücken. Das Gesicht, das zu ihm aufblickte, war angstverzerrt. Bajys hatte beide Hände fest verschränkt, als würde er verzweifelt nach Halt suchen, obwohl er doch am Boden lag. Er blinzelte hektisch. Tränen rannen über seine Wangen. Jakli brüllte ihn auf kasachisch an. Shan verstand kein Wort, aber der scharfe, vorwurfsvolle Tonfall war eindeutig. Der Mann sah sie verwirrt an, blickte dann zu Jowa und meldete sich zu Wort. »Hilf mir. Hilf mir, Bruder«, sagte er, begleitet von tiefen Schluchzern. »Das Ungeheuer ist entfesselt. Es gibt nur noch Tod. Das Ende der Welt ist gekommen. Ich kann keinen Ausweg finden.« Irgend etwas stimmte hier nicht. Shan, Jakli und Jowa sahen sich verblüfft an. Bajys sprach tibetisch. Jakli wandte sich abermals in der Sprache ihres Clans an ihn, nach wie vor wütend, aber nicht mehr ganz so laut. Bajys' Augen blieben flehentlich auf Jowa gerichtet. Jaklis Zorn verwandelte sich in Erstaunen. »Das kann nicht sein«, sagte sie auf mandarin zu Shan. »Er ist Kasache. Er hat noch nie tibetisch gesprochen.« Sie startete einen dritten Versuch in ihrer Muttersprache, doch Bajys warf ihr nur einen kurzen verständnislosen Blick zu und konzentrierte sich dann wieder auf Jowa. »Sag dieser Frau, daß ich sie nicht verstehe«, bat er mit zitternder Stimme. »Sie verwechselt mich mit jemand anderem. Sag ihr, sie soll ihre Zeit nicht mit Wutausbrüchen verschwenden. Jetzt ist nur noch Zeit für Gebete. Uns bleibt -162-
keine andere Möglichkeit mehr.« Jakli sank in sich zusammen. Ihr Blick schien Shan um eine Erklärung zu bitten, doch er schüttelte nur den Kopf und half dem kleinen Mann auf die Beine. Langsam kehrten sie zu der Höhle zurück. Jowa und Shan stützten Bajys, und Jakli folgte ihnen wie betäubt. Lokesh wirkte nicht im mindesten überrascht, als sie den kleinen Mann auf die Lichtung führten. Er nahm die Hand des Fremden, führte ihn zu einem Baumstamm, der mitten auf der Freifläche im hellen warmen Sonnenschein lag, und nahm dort mit ihm Platz. »Bist du etwa ein Priester?« fragte Bajys wimmernd den alten Tibeter. Lokesh winkte Jowa heran und legte dann seine mala in Bajys' Hände. »Wir wurden beide in gompas ausgebildet«, sagte er und nickte in Richtung Jowa. Doch der purba blieb stehen, als sei er nicht fähig oder gewillt, den Mann zu trösten. »Ich habe sie gesehen«, sagte der alte Tibeter seufzend. »Auch ich habe im Laufe meines Lebens Dämonen gesehen.« Er klang ruhig und friedlich, als würde er beten. »Das ist unmöglich«, sagte Jakli zu Shan. »Manchmal singe ich tibetische Lieder, um nicht aus der Übung zu geraten. Bajys hat nie ein Wort verstanden. Er ist Kasache, ein Moslem.« Ihre Stimme erstarb, und ihr Blick ruhte auf dem kleinen Mann. Er hatte die Gebetskette fest um die Finger seiner linken Hand gewickelt, die rechte Hand darüber gelegt, wiegte sich vor und zurück und murmelte ein tibetisches Mantra. Aber Jakli ließ nicht locker. »Wo bist du gewesen?« fragte sie, diesmal auf tibetisch. »Wieso bist du weggerannt? Alle glauben, du hättest den Jungen ermordet…« Die Verwirrung schien ihre Zunge zu lä hmen. »Tante Lau ist immer zu dem alten Ort im Sand gegangen«, sagte der kleine Mann plötzlich auf tibetisch. »Als ich sah, daß -163-
Khitai tot war, mußte ich zu ihr.« Seine Stimme war kaum lauter als ein Flüstern. »In der Hütte ist sie nicht gewesen, also bin ich hinaus in den Sand gelaufen. Den ganzen Tag und einen Teil der Nacht habe ich gebraucht. Ich bin zur lhakang gegangen, der heiligen Stätte.« Er streckte die Arme aus, als wolle er eine unsichtbare Bedrohung abwehren, und drückte die Perlen dann fest gegen seine Stirn. »Khitai ist nicht tot«, sagte Jakli. »Es war der andere Junge.« Doch Bajys schien sie nicht zu hören. »Ich habe in die Hütten in der Nähe der lhakang gesehen«, fuhr er fort. »Aber da lagen nur Tote. Alle waren tot. Wie auf den alten thangkas, wo die Dämonen menschliche Gliedmaßen fressen«, sagte er mit seiner zitternden Stimme und meinte die religiösen Gemälde, die in vielen tibetischen Tempeln hingen. »Die Leute waren in Teile zerrissen. Ein Bein. Eine Hand. Tote Hände.« Die anderen musterten ihn voller Entsetzen. Der kleine Tibeter schien sie gar nicht wahrzunehmen, als sei er völlig in seiner Todesvision gefangen. Denn genau darum mußte es sich handeln, dachte Shan. Um eine Vision, nicht um eine tatsächliche Erinnerung. »Wir gehen nach unten«, sagte Shan leise zu Jowa und Lokesh. »Wir machen ein Feuer. Kommt nach, sobald er dazu in der Lage ist.« Doch Bajys war noch nicht fertig. »Dann ist mir ihr besonderer Platz im Innern des Berges eingefallen«, sagte er mit schwachem hohlem Klang. »Also bin ich hierher zurückgekommen. Ich habe gespürt, daß sie hier ist, und voller Hoffnung nach ihr gerufen. Aber sie war gar nicht an jenem Ort, sondern bloß hinten in der Eiskammer, und als ich sie endlich fand, konnte sie mir keinen Rat mehr geben.« Shan sprang auf, nahm sich die Taschenlampe und lief zurück in die Höhle. Kurz darauf stand er am Eingang der großen Kammer, direkt gegenüber von Laus Grabstätte. Lau hatte einen -164-
Platz im Berg, und zwar nicht die Eiskammer, in der Bajys sie vorfand. Einen besonderen Platz. Shan leuchtete in Bodenhöhe die Wände ab. Rechts war in dem Übergang zwischen Fels und steinigem Lehmboden keine Lücke zu entdecken. Langsam folgte er dem Verlauf der linken Wand, die teilweise hinter herabgestürzten Platten verborgen lag. Sorgfältig untersuchte Shan jeden einzelnen der so entstandenen Hohlräume. Nach fünfzehn Metern blieb er stehen. Es lag ein schwacher Geruch in der Luft, ein kaum merklicher Anflug von Weihrauc h und verbrannter Butter, wie in einem Tempel. In der nächsten Einbuchtung zwischen den Felsen deutete nichts auf eine Öffnung hin, aber der Geruch wurde stärker. Wiederum eine Platte weiter entdeckte Shan schließlich einen schmalen Spalt in der Wand, breit genug, um hindurchkriechen zu können. Der Boden davor war durch häufige Abnutzung geglättet. Shan kniete sich hin und kroch voran. Nach drei Metern erreichte er einen Raum, der etwas größer als Laus Grabkammer war. Shan hatte sich zuvor schon in Schreinhöhlen aufgehalten, die mitunter seit Jahrhunderten als Verstecke für buddhistische Artefakte dienten, und als der Lichtstrahl seiner Taschenlampe nun auf einen kleinen goldenen Buddha fiel, glaubte er im ersten Moment, erneut eine solche Höhle entdeckt zu haben. Doch das hier war keine religiöse Schatzkammer. Der Buddha stand vor der gegenüberliegenden Wand auf einem kleinen hölzernen Altar, der von Nägeln zusammengehalten wurde. Vor der Statue befanden sich sieben Gefäße, die den sieben Opferschalen der buddhistischen Rituale glichen. Aber die Gefäße paßten nicht zusammen. Einige waren nicht einmal Schalen. Shan sah eine gesprungene Teetasse und einen Blechnapf, wie er ihn aus dem Gefängnis kannte. Und doch enthielten sie die traditionellen buddhistischen Opfergaben. Das erste, zweite und sechste Gefäß war mit Wasser gefüllt, das dritte mit Blumen, das vierte mit Weihrauch, das fünfte mit Butter und das letzte mit duftenden Holzspänen. Um die Schultern des Buddhas lag ein Gebetsschal. -165-
Neben der etwa dreißig Zentimeter hohen Figur stand ein kleiner, teils mit Asche bedeckter Keramikständer, in dem normalerweise Weihrauchstäbchen verbrannt wurden. Zwei Meter vor dem Altar lag ein großes zerlumptes Kissen, anderthalb Meter dahinter ein zweites, kleineres Exemplar. Damit ein Lehrmeister dort mit seinem Schüler Platz nehmen konnte. Neben dem kleineren Kissen stand eine Metallpfanne mit zwei verkohlten Holzscheiten, den Überresten eines Feuers. In einem Spalt in der Wand steckte ein Balken, an dem ein Stoffgemälde hing, ein tibetisches thangka. Der Stoff war an einigen Stellen bereits durchgescheuert. Shan ging mit der Lampe näher heran und nahm das Bild genauer in Augenschein. Das zentrale Motiv war eine grimmige Frau auf einem Pferderücken, deren Gewand sich im Wind aufzublähen schien. In den Tempeln fanden sich nur selten Abbildungen dieser düsteren Gestalt. Doch während der Winterstürme, wenn die Sträflinge nicht arbeiten konnten und in ihren Baracken bleiben mußten, hatten die alten Lamas von Figuren wie dieser berichtet - und auch von den untergegangenen Klöstern, in denen sie einst verehrt wurden. Es handelte sich um eine Schutzgöttin, die in dieser Form als Magisch Bewaffnete Armee bekannt war. Hinter Shan flackerte ein weiteres Licht auf. Jakli erschien mit ihrer Fackel und verharrte zunächst schweigend. Die Überraschung war ihr deutlich anzusehen. Dann näherte sie sich staunend und vorsichtig dem kleinen Buddha. Sie ließ den Blick lange durch den ganzen Raum schweifen, bevor sie endlich das Wort ergriff. »Ich kann gar nicht zählen, wie oft ich Lau in ihrer Hütte besucht habe. Einmal sind wir sogar hier in die große Höhle gestiegen, um uns das Eis anzuschauen. Aber ich hätte nie…« Ihre Stimme erstarb. Sie setzte sich auf das Kissen des Schülers, nahm ein Stück Kreide, das daneben lag, und drehte es zwischen den Fingern, während sie weiterhin die gesamte Kammer betrachtete. Shan leuchtete in Richtung der Rückwand. Auf einem -166-
Strohsack lagen einige gefaltete Decken. Daneben sah er mehrere Keramiktöpfe und einen kleinen Stapel Holzscheite für die Kohlenpfanne. Die Wand selbst war glatt und ebenmäßig. Auf ihr standen mehrere Worte in den anmutig geschwungenen Buchstaben des tibetischen Alphabets. Wenngleich Shan bislang nur wenig über die tibetische Schrift gelernt hatte, so erkannte er doch eine der Reihen simpler Begriffe wieder. Chi, nhi, soom, shi, nga, trook, doon, gyay, gu, ju, las er. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun, zehn. »Als ich noch klein war«, sagte er zu Jakli und stellte überrascht fest, wie tief die geheime Kammer ihn berührte, »hat mein Vater mich während der Reden des Vorsitzenden immer in den Wandschrank unserer Wohnung mitgenommen. Meine Mutter sollte das Radio so laut wie möglich drehen, und er holte geheime Bücher hervor, alte Lehrbücher, mit deren Hilfe er mich dann unterrichtet hat. In Englisch. In amerikanischer und europäischer Geschichte. Und dann die Unabhängigkeitserklärung. Er ließ mich die amerikanische Unabhängigkeitserklärung auswendig lernen.« »Dafür hätte er im Gefängnis landen können.« »Das lag bereits hinter ihm. Früher war er Professor für westliche Geschichte gewesen. Ein Stinkender Neunter«, sagte Shan und benannte damit die niederste Kreatur auf der Liste der Neun Schädlichen Elemente, die der Vorsitzende Mao als Feinde des Volkes identifiziert hatte. »Er rangierte sogar noch weiter unten, denn er hatte amerikanische Freunde. Dennoch hat er mich unterrichtet, auch nach seiner Freilassung aus der Haft. Sogar nachdem man unsere Familie zur Umerziehung in ein Landwirtschaftskollektiv geschickt hatte.« Shan seufzte und sah sich ein weiteres Mal in der Kammer um. Lau hatte hier Unterricht erteilt. Bajys wußte davon. Was bedeutete, daß Khitai ebenfalls davon wußte. Vielleicht auch noch andere der Waisen. Es war ein illegaler Ort. Ein buddhistischer Ort. »Wie viele Tibeter gehören zur zheli?« fragte er. Er mußte an -167-
die Kissen denken. Eines für einen Lehrer, eines für einen Schüler. Immer nur ein Schüler gleichzeitig. »Einige der Schattenclans sind tibetische dropka-Familien. Aber unter den Kindern? Höchstens zwei oder drei. Die zheli besteht aus Kasachen und Uiguren. Vielleicht noch ein oder zwei Tadschiken.« »Kasachen wie Bajys?« Jakli runzelte lediglich verwirrt die Stirn. Sie ging im Raum umher und berührte mehrere der Gegenstände mit den Fingerspitzen. »Eine geheime Kammer«, sagte sie. »Für heimliche Buddhisten.« »Für Kinder«, erwiderte Shan und schaute wieder zu den einfachen Zahlwörtern an der Wand. Oder ein bestimmtes Kind. »Tante Lau hat mich die buddhistischen Bräuche gelehrt«, sagte Jakli. »Unauffällig und in Abgeschiedenheit. Aber nicht hier.« Sie wurde fast von ihren Gefühlen übermannt. »Ich glaube, das hier war etwas anderes. Wahrscheinlich ist eine weitere Person hergekommen«, sagte Shan. »Nicht Bajys. Womöglich auch nicht nur Lau. Vielleicht ein anderer Lehrer. Ein Buddhist. Ich schätze, deshalb wollte Lau hergebracht werden. Für ein letztes Zusammentreffen.« »Aber sie war tot«, wandte Jakli verwirrt ein. Shan durchquerte den Raum. Vor dem Buddha blieb er stehen, legte die Handflächen auf den provisorischen Altar und kehrte dann zu der Wand mit der Kreideinschrift zurück. Ihm kamen noch einige andere Worte bekannt vor. Er sah das sechssilbige Mantra Om mani padme hum, die Anrufung des Mitfühlenden Buddhas, und darunter das zwölfsilbige Mantra Om ah hum vajra guru pheme siddhi hum, mit dem der Segen des heiligen Lehrers Guru Rinpoche erbeten wurde. Die ersten Zeilen standen hoch oben an der Wand, einige Zentimeter außerhalb von Shans Reichweite. Er streckte den Arm aus, um sich dessen zu vergewissern, und suchte dann ein weiteres Mal -168-
die Kammer ab. »Kein Hocker, keine Bank«, sagte er. »Was meinen Sie?« fragte Jakli. »Lau war nicht größer als ich. Ich glaube nicht, daß sie dies hier geschrieben hat.« Jakli musterte die Zeilen erneut. »Stimmt. Ich kenne ihre Handschrift. Sie bringt mir… sie hat mir das tibetische Alphabet beigebracht.« Mit großen Augen drehte sie sich wieder zu Shan um, als würde ihr soeben die Bedeutung dieser Erkenntnis bewußt. »Jemand anders war hier«, flüsterte sie. »Jemand anders hat hier gelehrt.« Shan nickte. Er hatte zwar nicht den vermißten Lama, doch immerhin dessen Heimstatt gefunden. An der gegenüberliegenden Wand bemerkte er einige einfache, vertraut wirkende Zeichnungen. Jakli wies über seine Schulter auf das erste Bild links, eine senkrechte Linie, auf der eine Art aufgeblähte Ziffer Acht ruhte. »Ein Mönchsstock«, sagte sie. »Ein Stab.« Shan nickte. »Der Stab eines Bettelmönchs«, fügte er hinzu und erklärte dann, daß hier die vorgeschriebenen Besitztümer eines geweihten Priesters verzeichnet waren. Er deutete auf ein Bild nach dem anderen. Der Wanderstab, der auf bestimmte Art geschüttelt werden mußte, wenn man um Almosen bat. Eine Wasserkanne mit Sieb, um nicht versehentlich unschuldige Insekten zu ertränken. Eine Almosenschale, eine Decke, drei Roben, zwei Untergewänder, eine Sitzmatte und Sandalen. Er starrte auf die Zeichnungen und dann zurück auf die Zahlen an der Wand und das thangka. Die Kammer war einerseits auf die Unterweisung eines Kindes ausgerichtet, andererseits auch wieder nicht. Und sie war zwar tibetisch, aber auf eine sehr altertümliche Weise, als gehöre der Lehrmeister einer der frühesten buddhistischen Sekten an. Shan ging zu dem Strohlager und fand dort eine ordentlich zusammengelegte kastanienbraune Robe. Vorsichtig hob er sie an. Es war die -169-
Robe eines Mönchs. Sie war sauber. Er drehte sich zu dem niedrigen Eingangstunnel des Raumes um. Die Robe wies keinerlei Lehmspuren auf. Sie war ausschließlich zur Benutzung im Innern der Kammer gedacht. Neben ihr lag ein Paar großer Sandalen, viel zu groß für Shan, viel zu groß für Lau. Jakli wich zurück und setzte sich abermals auf das Kissen des Schülers. Shan kniete sich neben sie. Erst dann wurde ihm klar, daß sie beide das leere Kissen vor dem Altar anstarrten. Der vermißte Lehrer. Sie warteten auf eine Unterweisung, aber da war niemand, der den Platz einnehmen würde. »Botschaften«, sagte Shan schließlich und brachte damit seine Überlegungen zum Ausdruck. »Die Spur liegt in all den Botschaften verborgen.« Er spürte Jaklis Blick, wandte seine Augen jedoch nicht von dem Kissen ab. »Laus Wunsch, nach ihrem Tod hergebracht zu werden, war eine Botschaft. Sie wollte dadurch jemanden warnen, von dem niemand sonst wußte. Falls man sie ermordete, sollte der Lehrer aus diesem Raum von der Bedrohung erfahren. Aber sie konnte es nicht riskieren, den Namen der betreffenden Person preiszugeben, nicht einmal Ihnen gegenüber. Und selbst falls sie bereit gewesen wäre, das Risiko einzugehen, wen sollte sie einweihen? Es war zu unvorhersehbar, wo und wann sie eventuell sterben würde.« »Aber sie wußte es«, sagte Jakli langsam und vertiefte sich in den Anblick des Kreidestücks, als hoffe sie, es würde von selbst beginnen, Antworten zu schreiben. »Sie wußte, daß sie sich in Gefahr befand, nicht wahr? Sie wußte es schon seit Monaten. Ich habe nie darüber nachgedacht.« »Und sie wußte, daß gewisse Freunde ihrem letzten Wunsch Folge leisten würden, gleichgültig, wann, wie oder wo sie auch sterben mochte«, sagte Shan. Jakli lächelte bekümmert. »Es gab noch andere Botschaften«, fügte er hinzu. »Die -170-
purbas haben den Lamas von Lau berichtet. Die Maos wußten auch von ihr, oder zumindest jemand aus Laus Umfeld kannte die Maos. Vielleicht der Buddhist, der hier unterrichtet hat. Aber warum?« Plötzlich kam ihm ein Gedanke. »Oder sind Sie das gewesen? Sie kennen die purbas und auch die lung ma.« »Nein. Ich war in der Stadt und habe Hüte angefertigt. Fat Mao hat nach mir geschickt.« Shan nickte. Fat Mao wußte Bescheid. Denn die lung ma hatte die purbas informiert. »Aber warum?« wiederholte Shan. »Der tibetische Ursprung oder auch der geheime Charakter der Vorgänge in diesem Raum reicht noch nicht dafür aus. Da war noch etwas, etwas dermaßen Wichtiges, so daß die Kunde bis nach Lhadrung gelangt ist.« Weshalb Lhadrung? Warum Gendun und Lokesh? Gendun war nicht bloß in der Region geboren worden, er hatte direkt mit diesem Rätsel zu tun. »Lau«, sagte Jakli. »Lau war der Grund.« »Ja, zum Teil schon. Aber das Töten hat nicht mit ihr aufgehört. Da ist noch etwas, ein immer stärker aufziehendes Übel, dem wir Einhalt gebieten müssen. Etwas, das mit den Kindern zu tun hat.« Jakli beugte sich vor, nahm etwas vom Rand des Kissens und hielt es hoch. Ein kleines Knäuel brauner Fasern. »Wolle«, sagte sie und rieb es zwischen den Fingern. »Voller Lanolin. Ungewaschen. Wie aus der Weste eines Hirten. Oder einer Schaffelldecke.« Sie waren dadurch zwar kaum schlauer geworden, aber sie hatten nun beide das Bild eines Schülers vor Augen, der auf dem Kissen hockte, sich zum Schutz vor der kalten Luft in ein Schaffell wickelte und den Lehrer ansah, der in der braunen Robe vor ihm saß. »Der Lehrer«, sagte Jakli. »Vielleicht ist der Mörder hinter dem Lehrer her. Von Lau hat er die Aufenthaltsorte der Kinder erfahren. Also nimmt er sich die Schüler vor, um den tibetischen Lehrer zu finden, der diesen Raum benutzt.« -171-
Shan nickte langsam. Suwan, der kleine Moslem, war das erste Opfer geworden. Dann hatte der Mörder Alta getötet, den kasachischen Jungen, der bei Tibetern aufwuchs und die buddhistischen Bräuche lernte. Der Täter hatte Altas Gebetskette gestohlen. Außerdem war da noch Khitai, dessen Namen Lokesh einerseits zu kennen schien und andererseits doch nicht kannte. Shan stand auf und ging wieder an der Wand entlang. Dann blieb er vor dem langen Mantra stehen, das der mysteriöse Lehrer an die Wand geschrieben hatte. »Es gab noch eine Botschaft«, sagte er. »Allerdings keine besonders geheime. Nach dem Mord im Lager des Roten Steins machten Warnungen die Runde. Und unser Kommen wurde angekündigt. Die Nomaden wußten bereits davon.« »Von diesem Mord haben ziemlich viele Leute erfahren«, bestätigte Jakli. »Die Clans haben ihre eigenen Mittel und Wege, um Neuigkeiten zu verbreiten. Hirten treffen sich an abgelegenen Orten. Nachrichten werden an Bäumen hinterlassen. Manche der alten Clans schicken Hunde, an deren Halsbändern Briefe hängen. Alle wurden aufgerufen, sich vor dem Mörder in acht zu nehmen.« »Aber es war mehr als eine allgemeine Warnung.« Shan erzählte ihr, was der Nomade auf der Straße ins Kunlun-Gebirge gesagt hatte. Es hieß, ihr würdet dorthin reisen, um die Kinder zu retten. »Erst ist Lau gestorben, dann Suwan, und jemand kam zu dem Schluß, die Kinder seien gefährdet. Der Lehrer, der diese Kammer benutzt hat. Vielleicht hat er einen der Hirten gewarnt. Das hätte ausgereicht, um die Nachrichtenkette in Gang zu setzen und die dropkas zur Flucht zu verleiten.« »Viele Leute wußten von Lau und der zheli«, sagte Jakli. »Wenn ein Mutterschaf stirbt, sind die Lämmer stets in Gefahr. Und so mancher hat die zheli schon immer für gefährlich gehalten, weil deswegen in der Regierung kritische Stimmen laut wurden.« -172-
»Hat Lau ihren Sitz im Rat wegen der zheli verloren?« »Das weiß ich nicht, aber ich kann es mir kaum vorstellen. Sie haben Ko heute selbst gehört. Die Leute gewöhnten sich immer mehr daran. Inzwischen wird das zheli-Programm von ihnen sogar unterstützt.« Die Leute, dachte Shan. Damit waren die Han-Chinesen gemeint, die sich hier im Bezirk Yutian in aller Stille ein kleines Königreich errichteten. Jakli stand auf und trat zu dem Durchgang. »Hat man Ihren Vater je erwischt?« fragte sie und kniete sich vor den Tunnel. »In seinem geheimen Klassenzimmer.« Shan hielt inne und betrachtete die Schriftzeichen an der Wand. Was für eine Welt war dies, daß man sich zum Zwecke der Erleuchtung verkriechen mußte? »Nein«, antwortete er ausdruckslos, ohne den Blick von der Wand abzuwenden. »Letzten Endes wäre es vermutlich dazu gekommen, aber die Rotgardisten sind einfach so eines Tages bei uns aufgetaucht, bloß weil er früher ein Professor gewesen war. Sie haben ihn zusammengeschlagen und ihm dabei innere Verletzungen zugefügt. Meine Mutter und ich wurden gepackt und mußten alles mit ansehen. Er starb nicht sofort, aber bei jedem Atemzug bildeten sich auf seinen Lippen kleine Blutblasen. Am nächsten Tag sind die Rotgardisten zurückgekommen und haben alle seine Bücher mitten auf der Straße verbrannt. Er mußte vom Fenster aus zusehen, denn er konnte sich vor Schmerzen kaum bewegen. Voller Entsetzen beobachtete er die Soldaten, und ich beobachtete ihn, und dann hat er einfach langsam aufgehört zu atmen.« Schweigend stand er da und musterte die geheime Schrift an der Wand. »Aber die Bücher aus dem Wandschrank«, sagte Jakli sanft. »Hat man die auch gefunden?« Shan wandte sich mit traurigem Lächeln zu ihr um und -173-
schüttelte langsam den Kopf. »Später bin ich einfach allein hineingegangen, nur mit einer Kerze.« Als Jakli durch den Tunnel nach draußen verschwand, überlegte Shan kurz, nahm dann das Stück Kreide, das sie auf dem Kissen zurückgelassen hatte, und hinterließ in kleinen chinesischen Ideogrammen eine Botschaft neben dem Eingang. Das einzig Konstante ist die Veränderung. Die Nachricht war für Gendun bestimmt, der ein gutes Gespür für geheime Schätze besaß. Beim Anblick der Worte wurde Shan plötzlich etwas klar. Womöglich kannte Gendun diesen Raum bereits. Die Einsiedelei in Lhadrung wurde von heimlichen Lehrern bewohnt. Die Kammer hier diente einem heimlichen Lehrer als Unterkunft, dessen Identität niemandem bekannt war. Aber Gendun hatte Shan gesagt, Lau sei getötet worden und ein Lama würde vermißt. Die purbas hatten lediglich von Laus Tod gewußt. Schon allein der Weg, den die Kunde genommen hatte, stellte eine eigene Botschaft dar, nämlich daß der Lama, der diesen Raum benutzte, verschwunden war und nicht mehr direkt mit Lhadrung kommunizieren konnte. Aus dieser Tatsache hatte Gendun selbständig den zweiten Teil des Geheimnisses abgeleitet: Der Lama befand sich in fremder Gewalt. Jowa und Lokesh saßen weiterhin bei Bajys, der sich vor und zurück wiegte und mit den beiden Tibetern Mantras rezitierte. Wortlos gingen Shan und Jakli an den anderen vorbei über die Lichtung. Unten an der Hütte entzündeten sie in einem Steinkreis ein Feuer. Jakli holte unter der Veranda einen verbeulten Topf hervor und setzte Tee auf. »Das mit Bajys wird niemand glauben«, sagte sie. »Ich weiß nicht einmal, ob ich es selbst glaube. Es ergibt keinen Sinn.« »Sie meinen, man wird ihn trotzdem noch als Mörder jagen?« Sie nickte. »Vielleicht ist er das ja auch. Ich kenne Leute, die -174-
eine Art Besessenheit durchaus für möglich halten«, sagte sie im Hinblick auf Maliks Worte. »Eventuell hat er den Jungen unter dem Einfluß einer fremden Macht ermordet, die danach wieder von ihm gewichen ist.« »Und diese Macht hat ihn auch Tibetisch gelehrt?« fragte Shan. »Ihn dazu veranlaßt, buddhistische Gebete aufzusagen?« »Er könnte dennoch der Mörder sein.« »Der Mann, den wir hier oben angetroffen haben, ist kein Mörder.« »Aber er hat uns belogen. Er ist kein Kasache.« »Hat er das wirklich? Oder hat er einfach nur nicht alles von sich preisgegeben? Sie haben es vorhin selbst gesagt. Manche Geheimnisse sind zu gefährlich, um gelüftet zu werden«, rief Shan ihr ins Gedächtnis. Sie schwieg. »Nein, ich bin mir sicher, er hat weder den Jungen noch Tante Lau ermordet«, fügte Shan hinzu. »Glauben Sie, es handelt sich in beiden Fällen um denselben Täter?« fragte Jakli. »Bajys muß unbedingt den Mund aufmachen und uns erzählen, was geschehen ist.« »Vielleicht weiß er das gar nicht«, entgegnete Shan. »Unter Umständen hat der Anblick des toten Jungen diese Veränderung bei ihm bewirkt. Er hatte eine Schale um sein tibetisches Ich errichtet. Eine kasachische Schale. Und als er den toten Jungen sah, zerbrach die Schale in tausend Stücke und ging für immer verloren.« »Ein alter Schamane hat mir einst erzählt, die Nähe des Todes könne Seelen verwirren«, sagte Jakli. »Sie geraten durcheinander, werden herausgerissen und kehren dann in den falsche n Körper zurück.« »Und welche Seele hat er jetzt? Die Seele des Mörders?« »Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß er nicht Bajys ist, aber -175-
gleichwohl im Körper von Bajys steckt.« Sie seufzte und sah Shan in die Augen. »Und man wird ihn trotzdem töten. Sie kennen die alten Clans und deren eigene Form der Gerechtigkeit nicht. Die Behörden werden nicht eingreifen, auch wenn jemand sie darum bitten sollte. Wenn die Clans von Bajys' Schuld überzeugt sind, werden sie ihn bestrafen. Als ich noch klein war, hat man in der Nähe unseres Lagers zwei Pferdediebe ergriffen und an einem Baum aufgeknüpft. Ich wollte nach den Lämmern auf der Weide sehen und bin zufällig dort vorbeigekommen. Die Gesichter der beiden waren dunkelrot und aufgequollen.« »Hat Lau tibetische Freunde gehabt?« fragte Shan. »Nein«, erwiderte Jakli. »Unter all ihren Bekannten könnte ich selbst noch am ehesten als Tibeterin gelten. Ansonsten habe ich in all den Jahren nie einen Tibeter bei ihr gesehen, außer natürlich die dropkas, die sich um die Waisen kümmern. Allerdings haben sie sich meistens im Hintergrund gehalten, nur schnell die Kinder gebracht und sich dann wieder versteckt, bis Laus Unterricht beendet war.« »Sie war demnach eine Kasachin mit chinesischen und uigurischen Freunden«, faßte Shan skeptisch zusammen. »Aber tibetische Freunde hatte sie nicht. Obwohl im Vorgebirge des Kunlun tibetische Nomaden unterwegs sind.« »Tibeter erhalten meistens keine Papiere für Xinjiang. Nur sehr wenige wurden als Einheimische eingestuft. Im allgemeinen behandelt man sie…« Sie zuckte die Achseln, als sei ihr die Feststellung peinlich, und widmete sich dem Tee. »Schlecht«, beendete Shan den Satz für sie. Jakli nickte. »Wenn die Anklägerin oder ein Offizier der Öffentlichen Sicherheit eine Rede hält, werden die Tibeter stets als Angehörige jener halsstarrigen Minderheit bezeichnet, die angeblich für den mangelnden Fortschritt des Landes verantwortlich ist. In Yutian hat mir ein Freund etwas in seinem Computer gezeigt, das er zuvor über die Telefonleitung -176-
bekommen hatte. Es war ein kurzer Film von irgendwo außerhalb Chinas, in dem die Verbrennung einer chinesischen Flagge gezeigt wurde. Ein tibetisches Kind erschien und zündete die Fahne an. Sobald sie sich in Asche verwandelte hatte, ging der Film von vorn los. Immer wieder.« »Das heißt also, tibetische Freunde hätten Lau politisch in Verruf gebracht.« Jakli nickte erneut. »Warum hat sie dann Tibetisch gelernt?« »Keine Ahnung. Sie kannte viele Sprachen. Tadschikisch. Das Mandarin des Volkes. Das Mandarin der Partei. Englisch.« »Englisch? Wieso Englisch?« Jakli blickte auf, als würde die Frage sie überraschen. »Das hier ist China«, sagte sie und lächelte ein wenig tadelnd. »Hier sitzen Leute in Wandschränken und bringen sich Dinge bei. Lau hat die Menschen alles Notwendige gelehrt. Dabei hat sie manchmal über Buddha gesprochen, manchmal aber auch über Mohammed. Falls unter den Kindern der zheli Han-Chinesen gewesen wären, hätte sie ihnen von Konfuzius und Laotse erzählt. Genau das war ihre Art.« »Nein. In der Höhle war es anders.« »Das glaube ich nicht. Wie kommen Sie auf die Idee…?« »Weil Lau Sie nie dorthin mitgenommen hat«, fiel Shan ihr ins Wort. Jakli stöhnte kaum hörbar auf. Als sie die geheime Kammer betreten und sich verblüfft auf das Kissen des Schülers gesetzt hatte, waren Shan in ihrem Gesicht viele Empfindungen gleichzeitig aufgefallen. Erstaunen. Verwirrung. Ehrfurcht. Traurigkeit. Aber auch Schmerz. »Sie waren Laus Freundin und Schülerin und haben von ihr viel über Tibet und den Buddhismus gelernt. Doch sogar vor Ihnen hat sie diesen Ort geheimgehalten.« »Aber Sie haben doch gesagt, da sei noch jemand gewesen. -177-
Ein weiterer Lehrer.« Shan nickte. »Ein tibetischer Freund, der sich nicht öffentlich zu seiner Herkunft bekennt. Wer ist sonst noch an diesen Ort gekommen?« In der Kammer waren nicht nur Gespräche über den Buddhismus geführt worden. Man hatte dort die tibetische Sprache und andere tibetische Traditionen gelehrt, wie sie in den zwei Generationen seit der chinesischen Invasion immer mehr verlorengegangen waren. Jakli starrte lange ins Feuer. »Manchmal zogen Hirten vorbei. Außerdem gibt es einen verrückten Sibo, der auf das Wasser aufpaßt. Ungefähr Mitte Fünfzig. Es heißt, er sei übergeschnappt.« Die Sibo waren ein mandschurisches Volk, das vor fast dreihundert Jahren aus seiner Heimat vertrieben und nach Westen geschickt worden war, um dort im Auftrag des Kaisers gegen die Moslems zu kämpfen. »Das Wasser?« »Der Landwirtschaftsrat stellt etwas Geld zur Verfügung, damit die wichtigsten Wasserläufe frei gehalten und nicht verunreinigt werden. Die meisten unserer Bäche führen bloß im Frühling Wasser. Nur wenige fließen das ganze Jahr. Also heuert man Leute an, die auf das Wasser aufpassen, tote Tiere herausfischen oder umgestürzte Bäume beseitigen.« »Wer noch?« »Ihre Fahrer. Auch die Leute von der Schule in Yutian dürften sie hin und wieder besucht haben. Vielleicht auch andere Mitglieder des Landwirtschaftsrats.« »Lau hatte einen Fahrer?« »Manchmal. Sie selbst hat nie Autofahren gelernt. Wenn sie für den Landwirtschaftsrat unterwegs war, hat sie die Fuhrparks genutzt.« »Nach dem Ende ihrer Amtszeit aber nicht mehr, oder?« »Gelegentlich hat ihr einer der Fahrer auch dann noch -178-
geholfen. Ein Kasache.« »Könnte er darüber Bescheid wissen, wo sie am Tag ihres Todes gewesen ist oder wer sich in ihrer Begleitung befunden hat?« »Ich weiß es nicht. Vielleicht.« »Wissen Sie, wo er wohnt?« »Vermutlich in der Stadt. Aber zur Zeit ist er im Lager Volksruhm.« »Ja?« »Sie haben den Mechaniker doch gehört. Anklägerin Xu hat Leute aus dem Fuhrpark von Yutian verhaften lassen.« Shan sah sie nachdenklich an. »Aber Sie hat Xu nicht verhaftet. Obwohl Sie Laus Freundin sind. Und zwar weil die Anklägerin genau wußte, wo Sie sich zum Zeitpunkt von Laus Tod aufgehalten haben.« Er hielt inne und fragte sich, warum Jakli kaum einen Gedanken daran zu verschwenden schien, daß sie sich unerlaubt von ihrem zugewiesenen Arbeitsplatz entfernt hatte. »Waren Sie dort, in Ihrer Fabrik?« Jakli verzog das Gesicht und nickte, ohne den Blick von den Flammen abzuwenden. »Ich war einen Tag nicht da, als wir Lau in die Höhle gebracht haben. Dann bin ich wieder abgehauen, als ich hörte, daß Sie und Ihre Freunde kommen würden. Es arbeiten fast nur Kasachen und Uiguren dort, und einige sind meine Freunde. Sie decken mich. Es gibt da keine besonders strenge Überwachung, solange immer genügend Hüte produziert werden.« »Anklägerin Xu hat Sie vorhin gesehen. Kennt sie Ihr Gesicht?« Stirnrunzelnd blickte Jakli zu ihm auf, aber noch bevor sie antworten konnte, hörten sie oben an der Wiese Jowa rufen. Die drei Männer kamen in Sicht. Bajys mußte von Lokesh und Jowa gestützt werden. Allein schien er sich kaum auf den Beinen -179-
halten zu können. »Bajys muß beschützt werden«, sagte Shan. »Es gibt einen Ort tief im Kunlun«, erwiderte Jakli prompt, als habe sie auch schon darüber nachgedacht. »Einen tibetischen Ort. Jowa kennt ihn bestimmt.« Shan sah sie an. »Meinen Sie ein Versteck der purbas?« »Es ist ein geheimer Ort.« »Gehören Sie auch dazu?« fragte Shan unvermittelt, bevor die drei Männer in Hörweite kamen. »Zu den purbas? Die kämpfen für Tibet.« »Und Sie nicht?« »Ich kämpfe für mein Volk. Für die Kasachen. Für die Tibeter, wenn es mir möglich ist.« Jakli sprang auf, um Bajys auf die Veranda zu helfen. Dann übernahm sie fürsorglich das Kommando, schickte Shan zum Wasserholen, Jowa auf Brennholzsuche und Lokesh nach etwas trockenem Gras, um daraus für den erschöpften kleinen Mann ein Ruhelager zu bereiten. Bajys saß teilnahmslos da und starrte ins Leere, während sie ihm das Hemd auszog und seinen Körper mit dem kalten Flußwasser wusch. Er schien keinen der anderen zu bemerken. Sie teilten sich die zwei Tassen aus der Hütte, tranken Tee und warteten, bis Bajys sich umzuschauen begann, als würde ihm endlich klar, wo er sich befand. »Bajys, ich bin's«, sagte Jakli auf tibetisch. »Aus Akzus Lager.« Er sah sie ausdruckslos an. »Was ist in jener Nacht zwischen den Felsen passiert?« Sie sprach langsam und vorsichtig, als empfinde sie inzwischen keinen Zorn mehr, sondern Angst. »Bist du bei den Jungen gewesen? Du mußt es uns erzählen. Wußtest du, daß es nicht Khitai war?« -180-
»Wo würde er hingehen?« warf Lokesh ein. »Wohin würde Khitai flüchten?« Bajys schaute von links nach rechts, blickte erst Jakli und dann Lokesh an. »Ich habe den Schuß gehö rt. Dann sah ich ihn mit seiner roten Mütze dort liegen und bin weggerannt. Er ist tot.« Der kleine Tibeter blickte zur Tür der Hütte, als sähe er dort jemanden, den die anderen nicht wahrnehmen konnten. »Das war derjenige, den ich geliebt habe«, sagte er mit hohler Stimme. »Das war derjenige, den ich beschützen sollte. Jetzt wird er wieder tot sein. Aber das war derjenige, den ich gekannt habe.« Shan ließ ihn nicht aus den Augen und versuchte, den Sinn dieser merkwürdigen Worte zu begreifen. »Warum sind Sie hergekommen?« fragte er. »Als der Junge starb, wollten Sie sich zu Lau flüchten. Wieso?« Bajys sah sich sorgfältig um. Erst dann sprach er weiter. »Manchmal ist es plötzlich da, wie eine dunkle Wolke. Und die Menschen sterben einfach. Man kann es nicht aufhalten.« Aus seinem Schoß ertönte ein leises Klappern. Seine Hand mit der Gebetskette zitterte. »Wangtu weiß es«, sagte er auf einmal zaghaft. »Wangtu hat es mir erzählt. Jemand ist hinter Lau her, hat er gesagt.« Jakli runzelte die Stirn. »Wangtu weiß gar nichts«, entgegnete sie verärgert. »Er redet bloß.« Bajys sah sie an und schüttelte den Kopf. »Wangtu weiß es«, wiederholte er düster. »Das Ende der Welt ist gekommen.« Er schien vor ihren Augen zu schrumpfen, wurde immer kleiner, fiel in sich zusammen. Shan hatte so etwas zuvor schon gesehen, auch bei tapferen Männern, und er erschauderte bei dem Gedanken an die schrecklichen Ereignisse, die dafür verantwortlich waren. Bajys hatte den toten Jungen gefunden und nach dieser entsetzlichen Erfahrung Trost bei der weisen und sanften Lau suchen wollen. Statt dessen war er an einen grauenvollen Ort des Todes gelangt, an dem menschliche -181-
Gliedmaßen verstreut lagen. »Kennen Sie diesen Wangtu?« fragte Shan Jakli. Sie runzelte abermals die Stirn. »Ich habe Ihnen von ihm erzählt. Laus Fahrer. Ich habe ihn früher gekannt.« »Der Mann, der nun im Lager Volksruhm sitzt?« »Aber nicht lange. Die Anklägerin wird ihn verhören, er wird ihr irgendeine unwichtige Information anbieten, und dann kommt er wieder frei.« »Wie meinen Sie das?« »Aber verstehen Sie denn nicht? Das ist Xus Masche. Sie läßt so viele wie möglich verhaften und dann eine Zeitlang schwitzen. Bei Bedarf läßt sich für jeden irgendein Vergehen finden.« »Aber wie lange wird es dauern?« fragte Shan. »Wann ist er wieder frei, so daß ich mit ihm sprechen kann?« Er begriff, daß die Anklägerin ihn womöglich aller Zeugen beraubt hatte, die etwas Licht auf das Geheimnis von Laus Tod werfen konnten. »Ein oder zwei Wochen.« »Das ist zu lange.« Sie sah ihn an und seufzte. »Wollen Sie ins Lager Volksruhm? Dann gehen Sie am besten in die Stadt und verbrennen dort auf dem Marktplatz ein Exemplar der Reden des Vorsitzenden.« »Das wäre eine Reise ohne Wiederkehr.« »Wenn Sie ihn sprechen wollen, gibt es keine andere Möglichkeit, als ins Gefängnis zu gehen.« Shan begann unwillkürlich zu zittern. Seine rechte Hand legte sich auf seinen linken Unterarm und umschloß die Nummer, die er dort trug, jene Nummer, die seine Wärter ihm in Tibet auf die Haut tätowiert hatten. Das Thema Gefängnis, auch wenn es sich nur um ein schwächer gesichertes lao jiao Lager handelte, schien allen Anwesenden ein Frösteln zu verursachen. Shan -182-
rückte näher ans Feuer. Über ihnen ertönte der gellende Schrei eines Falken. Der Wind des späten Nachmittags ließ rote und goldene Blätter über den Boden tanzen. »Ich wäre eigentlich gar nicht an der Reihe gewesen«, sagte Bajys auf einmal leise. »Der älteste Sohn geht, so war es von jeher üblich.« Shan und Lokesh sahen sich an. Über viele Jahrhunderte hatte in Tibet die Tradition geherrscht, daß der älteste Sohn einer jeden Familie ins Kloster geschickt und zum Mönch ausgebildet wurde. Wie so vielem anderem, hatte Peking auch diesem überlieferten Brauch ein rücksichtsloses Ende bereitet. »Ich war bloß ein dropka. Ich wollte nur bei den Herden sein. Aber nach einem Monat im Kloster kam mein Bruder zu Besuch«, erzählte Bajys, dessen schwache Stimme etwas mehr an Sicherheit zu gewinnen schien. »Er bereitete sich darauf vor, seine sechsjährigen Studien anzutreten. Wir feierten Losar, das Neujahrsfest, und wollten zum Abschied ein letztes Mal im Schnee spielen. An einem der Berghänge gab es einen Bach, der sich im Winter in eine lange Eisbahn verwandelte. Wir setzten uns dann immer auf Schaffelle und rutschten hundert oder zweihundert Meter nach unten, bis auf das flache Eis, wo der Bach in den Fluß mündete. Mein Bruder schlitterte als erster herunter, während ich ihm lachend dabei zusah. Aber als er unten ankam, tat sich im Eis plötzlich ein dunkles Loch auf. Er rutschte hinein und war verschwunden. Wir haben ihn nie wiedergesehen. Es gab keinen verzweifelten Kampf. Keine Leiche. Kaum einen Spritzer Wasser. Zuerst dachte ich, es sei ein gelungener Scherz, und lachte. Doch es war kein Scherz. Er war weg, hatte eben noch mit mir zusammen gelacht und wurde im nächsten Moment vom Erdboden verschluckt. Als hätte er nie existiert. Noch bevor die Todesriten der Bardo-Zeremonie beendet waren, rasierte man mir den Kopf und schickte mich an seiner Stelle ins gompa.« -183-
Mit schmerzverzerrter Miene sah Bajys jedem der Anwesenden ins Gesicht, als hoffe er inständig, von irgendwem endlich eine Erklärung zu erhalten. Doch niemand sagte etwas. Sie saßen alle schweigend da und starrten in die Flammen. Shan musterte seine Begleiter. Er erkannte, auch ohne zu fragen, daß sie alle zu dem gleichen Schluß gelangt waren. Es galt, einen Mörder aufzuhalten, Khitai und den Rest der zheli zu retten und den vermißten Lama zu finden. Doch zuvor mußten sie Bajys in Sicherheit bringen. Lokesh würde auf die Seele des Tibeters achtgeben können, und Jowa vermochte den Leib des Mannes zu schützen. Die drei würden sich tief in die Berge zurückziehen. Shan hingegen würde bleiben, denn er mußte zurück ins Gefängnis.
-184-
Kapitel Fünf Vor ihm war ein Berg und auf dem Berg ein Eichhörnchen und auf dem Eichhörnchen ein Floh und an dem Floh ein Auge, das gen Himmel starrte, weil der Floh sich Flügel wünschte. Shans Blick richtete sich auf den fernen, hohen Horizont. Der Berg war tatsächlich da, doch der Rest existierte nur in Shans Vorstellung. Auf diese Weise lenkte er sich ab, während der Lastwagen das Ende eines langen flachen Tals in den Nordhängen des Kunlun ansteuerte. Shan senkte den Kopf und konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf den Boden des Führerhauses, weil er es nicht wagt e, einen Blick auf das riesige, mit Stacheldraht umzäunte Lager zu werfen, dem sie sich näherten. Er mußte unbedingt mit Laus Fahrer Wangtu und möglichst vielen jener Leute sprechen, die kürzlich auf Xus Anweisung verhaftet worden waren. Doch als sie in das öde Tal einbogen, in dem man das Lager Volksruhm errichtet hatte, war in Shans Eingeweiden wieder das schwarze formlose Ding zum Leben erwacht, das er der Zeit im Gulag verdankte. Er widerstand dem plötzlichen Impuls, einfach aus dem Wagen zu springen. Nein, es ist bloß eine Umerziehungseinrichtung, rief er sich ins Gedächtnis, und keines dieser Straflager, in denen Außenseiter wie Shan durch Elektroschocks gefügig gemacht und an Leib und Seele vernichtet wurden. Doch als Shan nach unten sah, bemerkte er, daß seine Hände zitterten. Er legte die rechte Hand auf den linken Unterarm und drückte fest zu, um sich wieder unter Kontrolle zu bekommen. Dann erst registrierte er, welche Stelle seines Körpers er umklammert hielt, und drückte daraufhin nur um so fester zu. »Haben Sie Schmerzen?« fragte Jakli und bedeutete Fat Mao mit einer Handbewegung, das Tempo des Wagens zu verringern. -185-
Nein, war Shan versucht zu antworten, ich habe keine Schmerzen, sondern Angst. Falls man ihn erwischte und die eintätowierte Nummer überprüfte, würde ihn das als geflohenen Strafgefangenen enttarnen. Was hatte Jowa zu Gendun gesagt? Man würde Shan einfach hinter die nächstbeste Ecke zerren und ihn erschießen. Er fühlte sich, als könnte sein Körper jeden Moment ein Eigenleben entwickeln und sich aus dem Lastwagen werfen. Doch Shan starrte nur zu Boden. Dort lag ein Kiesel, und auf dem Kiesel wuchs eine Flechte, und auf der Flechte lebte eine Milbe. Von Laus Hütte war Jakli zu einer kleinen Ansammlung windschiefer Bauten am Rand der Fernstraße nach Kashi gefahren. Vor einem der Schuppen ragten einige Zapfsäulen auf, und daneben hatte sich ein etwas größeres Werkstattgebäude erhoben, das von Fahrzeugen in unterschiedlichen Stadien des Verfalls umgeben war. Auf der anderen Straßenseite hatte Shan ein quadratisches Häuschen aus gelb gestrichenen, groben Steinen gesehen, das ein einzelnes großes Fenster sowie ein handgeschriebenes Schild besaß, auf dem lediglich Tee stand. Jakli war zu einer Telefonzelle neben den Zapfsäulen gegangen und hatte einige Anrufe erledigt. Eine Stunde später war ein Lieferwagen eingetroffen, der zum Lager Volksruhm unterwegs war. Am Steuer hatte Fat Mao gesessen und neben ihm zwei Männer mit buschigen Schnurrbärten, die Shan als Akzus Söhne wiedererkannt hatte. Um Pla tz für Jakli und Shan zu schaffen, waren die Kasachen ausgestiegen und auf die offene Ladefläche des großen Lastwagens geklettert, auf der sich zahlreiche Leinensäcke auftürmten. Ein vierter Mann war dann von dort abgestiegen. Der mürrisch wirkende, breitschultrige Fremde hatte einen eiskalten Blick und eine vernarbte Furche im Nacken gehabt, die nur von einer Schußverletzung stammen konnte. Jakli hatte ihn als Mao den Ochsen vorgestellt. Wortlos hatte er sich ans Steuer des Schildkrötenlasters gesetzt und war mit Jowa, Lokesh und Bajys davongefahren. -186-
Nun legte Jakli schweigend eine Hand auf Shans weiß hervortretende Knöchel und zog sie mit sanfter Gewalt von seinem Unterarm weg. Dann schob sie den Ärmel seines Hemds hoch und strich mit den Fingerspitzen über die eintätowierten Ziffern. »Andere Freunde von mir haben ebenfalls das Gulag überlebt«, sagte sie seufzend. »Aber denen sieht man das auch an. In Ihrer Miene habe ich bis jetzt nichts davon bemerkt. Sie haben sich gut erholt.« »Niemand kann sich je davo n erholen«, flüsterte Shan und starrte die Nummer an. Vier Wachen hatten sich damals auf ihn gestürzt, weil er gegen die Tätowiernadel aufbegehrte. Am Ende hatten sie die Geduld verloren und ihm so lange Mund und Nase zugehalten, bis er ohnmächtig geworden war. Als er aufwachte, war die Prozedur bereits vorbei gewesen. Ein Politoffizier hatte über ihm gestanden und hämisch gegrinst. »Trage sie mit Stolz«, hatte der Mann ihn angeherrscht. »Sie beweist, daß der Staat sich noch immer um dich sorgt.« Jakli sagte etwas in ihrem Heimatdialekt, und Fat Mao griff unter den Sitz, um ihr einen kleinen Verbandkasten zu reichen. Sie holte daraus ein großes Heftpflaster hervor, zog die Folie ab und klebte es über die Tätowierung. »So«, sagte sie und zog den Ärmel wieder herunter. »Nun sind Sie wie einer von uns.« Das kalte Gefühl wurde seltsamerweise etwas schwächer. Shan ließ sich Jaklis Worte noch einmal durch den Kopf gehen. Andere Freunde, hatte sie gesagt. Als ob Shan auch einer ihrer Freunde wäre. Der einsame Wachposten in der kleinen Hütte neben der Zufahrt erkannte den Lastwagen und öffnete das Tor, bevor sie den äußeren Drahtverhau erreicht hatten. Sie fuhren ohne Halt hindurch, verlangsamten jedoch die Geschwindigkeit, so daß Fat Mao dem Soldaten einen Apfel zuwerfen konnte. Zwischen zwei Pfosten hing ein verblichenes und ausgefranstes Banner. Befreit euch vom Feudalismus. -187-
Einen Moment lang nahm Shan die Einzelheiten mit dem geschulten Blick eines Häftlings in sich auf. Das Tor befand sich in keinem guten Zustand; die Scharniere hatten sich gelockert und außerdem Rost angesetzt. Ein Großteil des Drahtgeflechts sowohl des Tors als auch des Zauns schien ebenfalls verrostet zu sein. Der Wachposten war übergewichtig und nicht mehr der Jüngste, keinesfalls einer der trainierten Soldaten der Volksbefreiungsarmee oder der Öffentlichen Sicherheit, denen die Kontrolle der Zwangsarbeitslager oblag. Sein Karabiner wirkte noch älter als er selbst. Da Wangtu nur verhört werden sollte, würde man ihm Kalfaktordienste zuweisen, erklärte Fat Mao. Im einzelnen bedeutete dies, daß er vorübergehend von der üblichen Routine freigestellt wurde, um beim Ausladen der wöchentlichen Lebensmittellieferung behilflich zu sein. Jakli wies auf das Lagerhaus, ein großes rechteckiges Gebäude zwischen dem äußeren Zaun und der inneren Einfriedung, hinter welcher die Häftlingsbaracken standen. Langsam fuhren sie darauf zu, vorbei an dem L- förmigen Haus, in dem die Verwaltungsbüros der Umerziehungseinrichtung Ruhm des Volkes untergebracht waren. Auf den Stufen des Bürogebäudes standen einige Männer in braunen Hemden und Hosen und blickten dem Lastwagen entgegen. Shan kannte die Männer nicht, aber die braune Kleidung hatte er zuvor schon gesehen, in den Bergen, kurz vor Genduns Verschwinden. »Sicherheitsleute der Brigade«, erklärte Jakli. »Hier sind nach wie vor ein paar Soldaten stationiert, aber die Brigade hat letztes Jahr die organisatorische Leitung des Lagers übernommen.« Hinter dem Lagerhaus erblickte Shan einen riesigen Haufen Kohlen und daneben ein kleineres Heizungsgebäude, an dem vor allem der fünfzehn Meter hohe Schornstein auffiel. Er wußte, daß manche der Arbeitslager in Xinjiang riesige Bergwerke darstellten, in denen die Männer und Frauen mit Hammer und Meißel unter unmenschlichen Bedingungen Kohle abbauten, die -188-
dann an andere Hafteinrichtungen geliefert oder in die östlichen Städte gebracht wurde. Jenseits des Heizungsgebäudes lag ein Friedhof. Nachdem er ausgestiegen war, betrachtete Shan die langen Reihen sonnengebleichter Bretter, die als Markierungen der einzelnen Gräber dienten, und wurde sich auf einmal der kuriosen Tatsache bewußt, daß er schon seit Jahren keinen Friedhof mehr gesehen hatte. In Peking war Land zu knapp, um es an Tote zu verschwenden. Nur die wichtigsten Parteifunktionäre oder überaus wohlhabende Bürger erhielten eine dauerhafte Grabstätte. Alle anderen konnten sich das Recht erkaufen, ein paar Jahre unter der Erde zu bleiben, damit die Familie Gelegenheit hatte, sie hin und wieder zu besuchen. Sobald der Vertrag auslief, wurden die Leichen wieder ausgegraben und verbrannt. Die tibetischen Buddhisten führten noch immer Himmelbegräbnisse durch und überließen die Toten den Geiern, was den schnellsten Weg darstellte, einen Körper erneut in den Lebenskreislauf einzugliedern. Überall auf dem Gelände ragten Pfosten auf, an denen Lautsprecher hingen. Plötzlich erschallte daraus eine barsche Stimme und verkündete auf mandarin, daß in zehn Minuten die Sitzungen zu Ehren der Parteihelden beginnen würden. Shan beobachtete, wie der innerste Bereich des Lagers zum Leben erwachte. Manche der Unterkünfte dort bestanden aus Zementblöcken mit Blechdächern, andere aus Sperrholz, dessen Schichten abbröckelten. Die Baracken nahmen drei der jeweils etwa fünfhundert Meter messenden Seiten eines Quadrats ein. Die offene Seite dieser riesigen U-Form zeigte in Richtung des Verwaltungsgebäudes, vor dem der Lastwagen stand. An einem zweiten, inneren Tor, das zu den Unterkünften führte, konnte man zwei weitere Wachposten sehen, von denen einer wie schlafend an einem Pfahl lehnte. Die Fenster eines der Gebäude, das dem inneren Tor am nächsten lag, wurden durch ein stabiles Drahtgeflecht geschützt. Auf der Bank neben der Tür saßen vier -189-
Wachen. Shan prägte sich alles genau ein. Er mußte schlagartig daran denken, daß womöglich auch Gendun dort gefangengehalten wurde. Hinter den Baracken, am Ende des inneren Bereichs, konnte Shan Äcker erkennen, die mit Ausnahme eines großen Kohlfelds allesamt bereits abgeerntet waren. Im Süden und Osten erhoben sich jenseits des Zauns braune grasbedeckte Hügel, auf denen vereinzelte Schafe weideten. Voll schmerzlicher Erinnerung verfolgte Shan, wie Hunderte von graugekleideten Häftlingen zum befohlenen politischen Unterricht eilten. Man durfte sich auf keinen Fall verspäten. Zwar wurde ein lao jiao Insasse nicht so streng behandelt wie ein Sträfling des Gulags, aber es herrschte dennoch strikte Disziplin. Shan wandte sich wieder zu dem Friedhof um und musterte die langen Reihen der Grabstätten. Lao jiao Gefangene verbüßten zume ist nur eine kurze Strafe von ein paar Monaten oder höchstens einem Jahr. Eigentlich dürfte es während dieser Zeit nur wenige Todesfälle geben. »Manchmal brechen ansteckende Krankheiten aus«, sagte Jakli, die seinen Blick bemerkt hatte. »Und vor zwei Jahren gab es eine Dürre. Die Menschen in den Städten wurden bevorzugt mit Lebensmitteln versorgt. Danach kamen die Landwirtschaftsbetriebe und die Viehbestände. Dann erst die Häftlinge. Die älteren Gefangenen sind an Unterernährung gestorben. Zuerst haben sie ihre Gürtel und Schuhe gegessen, dann Käfer und Würmer. Aber gestorben sind sie trotzdem.« Sie seufzte. »Außerdem schickt die Brigade lao gai Sträflinge her, die zu krank zum Arbeiten sind, damit sie hier sterben. Es wird nicht gern gesehen, daß unproduktive Arbeiter einfach so in den Kohlengruben herumliegen. Und bisweilen bringen auch die Einsatzkommandos ganz besondere Gefangene her, weil dieser Ort so abgelegen und geheim ist.« Der Lastwagen setzte zurück und hielt vor der Laderampe eines großen Holzgebäudes. Aus dem Verwaltungskomplex -190-
tauchte eine Gestalt in einem weißen Hemd und Krawatte auf und winkte mit einem Klemmbrett. Jakli bedeutete Shan, er solle auf die Ladefläche steigen. Sie hatten sich zuvor darauf geeinigt, daß Shan die Säcke von ganz oben an die anderen weiterreichen würde, weil diese Position von den Wachen am schlechtesten eingesehen werden konnte. Jakli wollte unterdessen versuchen, Wangtu beiseite zu nehmen. EIN PRODUKT DER PROVINZ GUANGDONG, las Shan auf den Leinensäcken, als er hinaufkletterte. Das war ein weiterer von Pekings grausamen Scherzen. Genau wie die vielen anderen Minderheiten der westlichen Regionen bevorzugten auch die Tibeter und Kasachen traditionell Gerste und Weizen. Doch auf Pekings Anweisung wurde ein Großteil der einheimischen Getreideproduktion nach Osten verfrachtet und dort an das Vieh verfüttert, während man statt dessen Reis importierte, das Hauptnahrungsmittel der Han-Chinesen. Zudem ließ die Zentralregierung unter der Bevölkerung erläuternde Broschüren verteilen, in denen die gesundheitsfördernde Wirkung von Reis gepriesen wurde. In manchen davon stand sogar zu lesen, daß vor allem der Reis ausschlaggebend für die überlegene Intelligenz der Han-Chinesen sei. Von seinem Platz oben auf den Reissäcken ließ Shan erneut den Blick über das Lager schweifen. Er konnte den Friedhof nun deutlich erkennen, einschließlich einiger frischer Erdhügel im hinteren Bereich, und überschlug eilig, daß es sich um mindestens zweihundert markierte Grabstellen handeln mußte. Zwischen dem Heizungsgebäude und dem Friedhof kam ein neues Bauwerk in Sicht, vielleicht ein Geräteschuppen. An der Seite des Schuppens fiel Shan eine Bewegung auf. Als er genauer hinsah, kam eine Gestalt um die Ecke des Gebäudes und ließ ihn erstarren. Es war ein Soldat, aber keiner der trägen, schlecht ausgerüsteten Wachposten, wie sie am Zaun standen. Sogar aus mehr als fünfzig Metern Entfernung erkannte Shan die Uniform und den typisch stolzierenden Gang wieder. Dieser -191-
Mann war Angehöriger der Öffentlichen Sicherheit, ein Kriecher, und die Waffe in seiner Armbeuge war kein veraltetes Gewehr, sondern eine kompakte Maschinenpistole. »Haben Sie Schmerzen?« fragte Jakli zum zweitenmal an jenem Tag, und erst da wurde Shan klar, daß er sich flach auf die Säcke geworfen hatte. Die Reflexe eines Häftlings ließen sich nur schwer wieder ablegen. Er stand auf und schüttelte den Kopf. »Wir müssen weiter«, erklärte sie und streckte ihm den Arm entgegen, um ihm beim Absteigen behilflich zu sein. Als er wieder im Führerhaus des Lastwagens saß, verschränkte Shan die Hände zu einem mudra, bei dem die Mittelfinger nach oben wiesen. Diamant des Verstands. Klarheit der Entschlußkraft. Denk an dein Ziel. Bleibe achtsam. Als Shan wieder aufblickte, rollte der Wagen durch das innere Tor. »Ich dachte, wir würden wieder wegfahren!« rief er erschrocken. »Die Rampe ist heute geschlossen«, sagte Jakli und schaute sich mit verwirrter Miene zu dem Lagerhaus um. »Wir sollen die eine Hälfte direkt bei der Küche abladen und den Rest morgen früh zur Rampe bringen. Aber wir werden Wangtu schon noch finden. Wenn nicht jetzt, dann später.« Um die Suche nach Laus Fahrer machte Shan sich in diesem Moment allerdings kaum noch Gedanken. Seine Zunge war dermaßen trocken, daß er kein Wort über die Lippen bekam, sonst hätte er lautstark protestiert. Letzten Endes wurde er also doch wieder ins Gefängnis gebracht. War dies alles bloß eine schaurige List seiner früheren Kerkermeister gewesen, um ihn für ein paar weitere Jahre hinter Stacheldraht einzusperren? Jakli legte ihm abermals eine Hand auf den Arm. »Was sollten wir machen? Eine Weigerung hätte nur zusätzlichen Verdacht, erregt. Es wird Ihnen nichts geschehen, das verspreche ich.« Er merkte, wie er immer tiefer von seinem Sitz herabrutschte, -192-
als würde sein Körper sich unbedingt verstecken wollen. Man brachte ihn zurück ins Gefängnis, und diesmal würden sich keine buddhistischen Mönche um seine Heilung kümmern, wenn die Wärter mit ihm fertig waren. Jakli drückte seinen Arm und holte Shan dadurch in die Realität zurück. »Man wird nur dann zum Gefangenen, wenn man sich wie ein Gefangener verhält«, stellte sie ruhig und sachlich fest. Die Weisheit dieser Bemerkung traf Shan wie eine frische kühle Brise und beschämte ihn. Langsam richtete er sich wieder auf und sprach kein weiteres Wort, bis sie sich dem langgestreckten Gebäude im hinteren Bereich des Geländes näherten, das als Küche und Speisesaal diente. »Es tut mir leid«, sagte er und mußte gegen den Drang ankämpfen, erneut seine Tätowierung zu umklammern. Diese Worte laut auszusprechen verlieh ihm zwar in gewisser Weise Kraft, verstärkte jedoch auch sein Schamgefühl. Es gibt hinter dem Stacheldraht nichts, wovor man sich fürchten müßte, hatte vor einigen Jahren heiter und gelassen ein alter Mönch zu ihm gesagt, der damals bereits das fünfunddreißigste Jahr seiner Haft verbüßte. Auf einmal konnte Shan sich wieder genau daran erinnern. Denn keinem Wärter wird es jemals gelingen, der Wahrhaftigkeit Ketten anzulegen. Er stieg aus und blickte zu der ersten der Unterkünfte in etwa zweihundert Metern Entfernung, die offenbar besonders gesichert war. »Werden die Häftlinge aus dieser Baracke dort auch zum Unterricht befohlen?« fragte er Jakli. »Nein. Hier im Lager nennt man sie die Unsichtbaren«, erklärte sie seufzend. »Sonderfälle, die meistens gar nichts mit Yutian zu tun haben.« Shan starrte das Gebäude eindringlich an, als wolle er versuchen, mit seinem Blick die Wände zu durchdringen. »Ihr Lama«, sagte Jakli, die sein Verhalten plötzlich begriff. -193-
»Sie glauben, er sei dort drinnen.« Sie sah ihn einen Moment lang an und zupfte ihn dann am Ärmel. »Es ist gefährlich, zu neugierig zu wirken.« Shan kämpfte gegen ein neues Verlangen an. Am liebsten wäre er zu der verschlossenen Baracke gerannt, hätte an die Tür gehämmert und la ut nach Gendun gerufen. Im Augenblick schien es nichts Wichtigeres für ihn zu geben, als die Stimme des Lama zu hören. An der Seite des Speisesaals öffnete sich eine Tür, und einige Männer in weiten grauen Gewändern traten heraus. Jakli lief ihnen entgegen und verschwand in dem Gebäude. Shan ließ den Blick über das Gelände schweifen, das inzwischen wieder ziemlich leer wirkte, nachdem der Unterricht der Häftlinge begonnen hatte. Dann reihte er sich in die Schlange der Männer ein, die begannen, Reissäcke in die Küche zu tragen. Er schaute zu der Baracke mit den vergitterten Fenstern und suchte vergeblich nach irgendeinem Hinweis auf die darin befindlichen Personen. Dann nahm er einen der schweren Säcke, folgte den anderen durch die Tür und lud die Last auf einem großen Haufen ab, neben dem eine Frau in einem braunen Kleid Aufsicht führte, keifend Anweisungen erteilte und dabei herrisch mit einem Holzlöffel gestikulierte. Am Spülbecken stand ein hochgewachsener Mann mit einer Narbe auf der Wange und wusch Kochtöpfe ab. Allerdings benutzte er dazu nur eine Hand. Shan trat ein Stück näher und erkannte den Grund. Der Mann hatte einen leisen Singsang angestimmt. Seine andere Hand lag am Gürtel und ließ die gelben Plastikperlen einer Gebetskette durch die Finger gleiten. Daneben stand ein zweiter, älterer Mann und trocknete das Geschirr ab, wenngleich ihm dies einige Probleme zu bereiten schien. Er balancierte die Töpfe jeweils auf einer Handfläche, wischte sie mit der anderen Hand trocken, hob sie dann mit beiden Mittelfingern an und verstaute sie in einem Wandregal. Er hatte keine Daumen mehr. Noch ein Tibeter. Shan sah so etwas nicht zum erstenmal. -194-
Während seiner Haft war keine Woche vergangen, in der die Wachposten sich nicht grausame Scherze über die »Zurechtstutzung« der Tibeter erlaubt hätten. Einige Jahre lang war dies eine bevorzugte Art der Bestrafung gewesen, die gewisse Offiziere der Kriecher ihren Gefangenen angedeihen ließen: Mit Baumscheren wurden den Mönchen die Daumen amputiert, um die Männer so am Beten ihrer Rosenkränze zu hindern. Shan schaute durch eine zweiflügelige Tür auf die langen Reihen leerer Holztische. Am anderen Ende des Speisesaals hatte sich eine der Gruppen zum politischen Unterricht versammelt. Eine große, ebenfalls braungekleidete HanChinesin schritt mit auf dem Rücken verschränkten Händen im Kreis der sitzenden Häftlinge auf und ab. Sie blickte kurz zur Tür und meldete sich dann plötzlich zu Wort, und zwar so laut, daß Shan im ersten Moment erschrocken glaubte, sie würde sich an ihn wenden. »Wer ist der großartige Ernährer des Volkes?« rief sie mit schriller Stimme. »Die Partei ist der großartige Ernährer des Volkes«, antworteten die Gefangenen im Chor. Es klang wie eine vertraute Litanei. Ein Mantra für den Vorsitzenden. Shan drehte sich wieder zu dem Tibeter am Spülbecken um, der nichts von der allgemeinen Hektik wahrzunehmen schien und statt dessen sein eigenes leises Gebet sprach. Ein Mantra für den Mitfühlenden Buddha. Als Shan draußen den nächsten Sack vom Lastwagen entgegennahm und zurück zu dem Gebäude aufbrach, wiederholte eine Stimme hinter ihm den Slogan der Einpeitscherin. Aber dann bemerkte Shan, daß der Mann den Wortlaut jedesmal ein wenig veränderte. »Wer ist der großartige Schuhmacher des Volkes?« sang der Mann. »Die Partei ist der großartige Schuhmacher des Volkes.« -195-
Seine Stimme war leise, aber dennoch laut genug, daß die anderen Träger seine Vorstellung belustigt verfolgen konnten. »Wer ist der großartige Friseur des Volkes? Die Partei ist der großartige Friseur des Volkes.« Einige der Männer lachten. Andere sahen sich nervös um, ob sie nicht zufällig jemand belauschte. Bei den Stufen vor der Tür mußte Shan kurz warten, bis der ältere Gefangene vor ihm den Sack mit Mühe nach oben geschleppt hatte. Er drehte sich zu dem unbekannten Spötter um. Es war ein hochgewachsener, grobknochiger Mann mit einem dichten gepflegten Schnurrbart, und er erwiderte Shans Blick mit säuerlichem Grinsen. »Wer ist der großartige Tierpfleger des Volkes?« fragte er und nickte Shan aufmunternd zu. Shan erwiderte nichts. Der Mann wiederholte die Frage. Shan nickte zurück, ohne dem höhnischen Blick des Mannes auszuweichen. »Die Partei ist der großartige Tierpfleger des Volkes«, sagte Shan leise. Das Grinsen des Mannes wurde breiter, und Shan erkannte, daß er an ihm vorbei zu Jakli schaute, die am oberen Ende der kurzen Treppe aufgetaucht war. »Allah sei gepriesen«, flüsterte er. Jakli nickte und bedeutete ihnen beiden, ihr in den Schatten auf der anderen Seite des Lastwagens zu folgen. »Demnach habt ihr euch schon kennengelernt«, stellte sie fest. »Nicht unbedingt«, entgegnete Shan. »Wangtu«, sagte Jakli und berührte den Mann dabei am Arm. »Das hier ist Shan. Er ist wegen Lau und der Kinder gekommen.« Aber Wangtu schien Shan bereits vergessen zu haben. Er sah Jaklis Finger an, die noch immer auf seinem Arm lagen. »Ich dachte, du wärst weg«, sagte er, auf einmal gar nicht mehr selbstsicher. »Es hieß, die Jadehure habe dich ins Visier genommen.« Er warf einen Blick auf den Lastwagen. »Du bist frei? Du bist draußen?« -196-
»Meistens jedenfalls«, sagte sie und erklärte den Grund für Shans Anwesenheit. Wangtu zuckte die Achseln. »Von Kindern weiß ich nichts«, sagte er ernst, als kämen Kinder in seiner Welt nicht vor. Während er Shan nachdenklich betrachtete, fuhr er mit der Zunge innen an der Wange entlang, als würde er in seinem Mund nach etwas suchen. »Wenn Jungen sterben, dann wegen ihrer Eltern.« »Diese Kinder hatten keine Eltern«, gab Jakli ungehalten zurück. »Laus Waisen. Einer war immer mit Bajys zusammen. Du kennst doch Bajys.« »Ich könnte dir Sachen besorgen«, sagte Wangtu zu Jakli. »Ich könnte dich besuchen kommen. Ich wohne in der Stadt.« »Momentan wohnst du im Lager Volksruhm.« »Das hier?« sagte Wangtu mit einer abfälligen Geste in Richtung der Baracken. »Das hier ist wie Urlaub. Ich singe ein paar Lieder und treffe alte Freunde.« Bei diesen Worten wurde er wieder ernst und warf Jakli einen bedeutungsvollen Blick zu. »Woher kennen Sie Bajys?« fragte Shan. Wangtu seufzte. »Er und dieser Junge helfen manchmal, Wolle in die Stadt zu bringen. Mal für den einen, mal für den anderen Clan. Sie wechseln nämlich immer wieder die Clans. Ein paar Wochen hier, ein paar Wochen dort. Das war Laus System. Ich treffe die Leute an verschiedenen Orten. Wenn die Brigade mich nicht für die Schule einsetzt, fahre ich Lastwagen für die Wollfabrik. Die Wolle wird dort gereinigt und zu Ballen verarbeitet, und dann bringe ich die Ware zu den Teppichfabriken nach Hotan«, erklärte er und bezog sich dabei auf die große Stadt fast zweihundert Kilometer westlich von Yutian, die früher ein wichtiger Handelsplatz an der Seidenstraße gewesen war. Shan sah zu Jakli. »Die Schule wird von der Brigade geleitet?« -197-
»Die Schule, dieses Lager und bald die ganze Welt«, sagte Wangtu leise. »Aber du hast etwas zu Bajys gesagt«, ließ Jakli nicht locker. »Du hast Bajys gesagt, Lau stecke in Schwierigkeiten.« »Dein Vater«, sagte Wangtu. »Ist er je zurückgekehrt?« Die Frage schien Jakli völlig unvorbereitet zu treffen. Sie wich Wangtus Blick aus und sah Shan an. »Wangtu und ich sind zusammen zur Schule gegangen«, erklärte sie. Wangtu grinste, als sei er für dieses Eingeständnis dankbar. Jakli schaute zum Lastwagen, der unterdessen zügig entladen wurde. »Schnell, Wangtu. Wieso hast du Bajys gewarnt?« Der Kasache sah in die Ferne, als versuche er, sich zu erinnern. »Genaugenommen habe ich das gar nicht. Ich habe nur gesagt, Lau sei mit dem blauen Wolf unterwegs.« Bei diesen Worten richtete sein Blick sich wieder auf Jakli. Ihre Züge verhärteten sich. »Ein jinni«, erklärte sie für Shan, ohne Wangtu aus den Augen zu lassen. »Ein blauer Wolf ist ein sehr übler jinni. Ein böser Geist.« »Für Kasachen«, fügte Wangtu hinzu. »Jedenfalls für alte Kasachen.« »Nun sag schon«, forderte Jakli ihn ungeduldig auf. »Warum warst du der Ansicht, ein blauer Wolf sei hinter ihr her?« Wangtu schien ihr gar nicht zuzuhören. Er blickte über ihre Schulter. »Ich könnte dir das da besorgen«, sagte er und nickte versonnen in Richtung des Stacheldrahts. Jakli drehte sich um und erstarrte. Ein freudiger Ausdruck huschte über ihr Gesicht. In einem Seilpferch zwischen innerem und äußerem Zaun tänzelte ein prächtiges weißes Pferd. »Unser Weg war einst derselbe, Jakli«, sagte Wangtu und klang dabei seltsam melancholisch. »Ich habe in eurem Lager Lieder gesungen.« Sie schien ihn nicht gehört zu haben, sondern trat einen -198-
Schritt vor, als würde das anmutige Tier in dem provisorischen Gehege sie magisch anziehen. »Ich könnte eurem ganzen Clan weiße Pferde verschaffen«, schlug Wangtu vor. »Warum haben Sie das zu Bajys gesagt?« fragte Shan nach. Jakli erwachte aus ihrer Verzückung und trat hinter ihn, als würde Wangtus Angebot ihr irgendwie Angst einflößen. Wangtu seufzte. »Mir kommt so manches zu Ohren. Zuerst habe ich gehört, es würde bald einen neuen Le hrer geben. Dann saß eines Tages Leutnant Sui hinten bei mir im Wagen und erzählte dem Schulleiter, Lau sei von einem anderen Lehrer gemeldet worden. Angeblich habe sie während des Unterrichts Namen vom Neunundzwanzig-Fünfer und später eine Liste von 1997 verlesen.« »Dissidenten«, warf Jakli schnell als Erklärung für Shan ein und schaute zum Lastwagen. »Aber sie wurde nicht verhaftet, sondern ermordet.« Wangtu schnaubte verächtlich und öffnete den Mund, als wolle er lachen. »Ermordet? Nein. Verschwunden, ir gendwo am Fluß. Sie könnte immer noch zurückkommen.« »Mit einer Kugel im Kopf«, sagte Shan. »Wir haben ihre Leiche gesehen.« Wangtu sah Jakli an, die Shans Worte mit einem Nicken bestätigte. Er verzog das Gesicht und nahm dann Shan mißtrauisch in Augensche in. »Wer hat Sie hergeschickt?« »Priester.« Jakli kam Shan zuvor, als fürchte sie, er könne etwas Falsches sagen. »Priester wollten, daß er kommt.« »Priester?« Nun war Wangtu sichtlich verwirrt. »Meinst du damit einen Mullah?« »Das ist gleichgültig«, erwiderte Jakli mit neuerlicher Ungeduld. »Es gibt keine schlechten Priester.« »Aber natürlich gibt es schlechte Priester. Zum Beispiel -199-
diejenigen, die dieses Lager leiten.« Wangtus Stimme klang dumpf, und seine Augen funkelten. »Wie hat es der Vorsitzende doch gleich ausgedrückt? Religion vergiftet das Volk. Also hat er alle anderen Religionen beseitigt und statt dessen seine eigenen Priester ausgesandt.« Er wandte sich wieder Shan zu. »Die Anklägerin behauptet lediglich, Lau sei verschwunden. Sie hat zu uns ge sprochen, zu allen Inhaftierten. Sie sagte, vielleicht hätten irgendwelche Reaktionäre Lau etwas angetan oder sie womöglich entführt. Das sei gar nicht so unüblich, hat sie uns erzählt, denn man wolle im Austausch eigene Komplizen aus dem Gefängnis freipressen. Eventuell könnte ja einer von uns einen hilfreichen Hinweis geben, hieß es.« »Ich habe Lau gesehen«, sagte Jakli kühl. »Sie ist tot, aber die Anklägerin darf es nicht erfahren. Damit wäre keinem geholfen.« Wangtu stieß einen leisen Pfiff aus und schü ttelte langsam den Kopf. »Ich habe Lau gemocht.« Der Blick des Kasachen richtete sich auf den alten Mann, der sich nur mühsam die Stufen hinaufgeschleppt hatte. Er lehnte neben der Tür an der Wand und rang keuchend nach Luft. Shan sah den Alten ebenfalls. »Er ist ziemlich alt für ein Reislager«, stellte er fest. Die Umerziehungsbemühungen des Volkes wurden nur selten an jene verschwendet, die kaum noch etwas zur Leistung des Proletariats beitragen konnten. Wangtu runzelte mißbilligend die Stirn, als wäre Shan als Han-Chinese dafür verantwortlich, daß der Mann hier gefangengehalten wurde. »Er ist Lehrer. Vierzig Jahre lang hat er in einem Dorf in der Nähe von Kashi unterrichtet, und dann hieß es auf einmal, er solle nicht mehr arbeiten, sondern in irgendein Altenheim für pensionierte Lehrer umziehen. Statt dessen hat er angefangen, bei den Clans inoffizielle Veranstaltungen abzuhalten, ist von Lager zu Lager geritten und wollte als Bezahlung nur Verpflegung und ein Bett für die Nacht. Schließlich hat ihn jemand gemeldet, weil er alte -200-
Geschichte lehrte.« »Alte Geschichte?« fragte Shan. »Sie wissen schon, vor 1949. Die Republik Ost-Turkistan, die Königreiche der Seidenstraße. Als dieses Land unabhängig war. Ich habe ihm gesagt, er solle aufhören. Er ist zu alt. Das hier ist schon seine dritte Schüssel.« »Dritte Schüssel?« fragte Shan. Wangtu warf Jakli einen überraschten Blick zu. »Seine dritte lao jiao Haftstrafe. Wer in dieses Lager kommt, erhält jedesmal einen Blechnapf, um sich daraus zu waschen, zu essen, zu trinken, alles.« Er sah zurück zu dem alten Mann auf der Treppe. »Falls man nach der dritten Schüssel erneut erwischt wird, landet man automatisch in einem Zwangsarbeitslager.« Shan musterte den alten Lehrer. »Er würde keinen Monat im Gulag überstehen.« Wangtu verlagerte unbehaglich sein Gewicht und ließ den Blick langsam über den seitlichen Zaun des Geländes schweifen. Dort patrouillierte in gemächlichem Tempo ein kleines Gefährt, das wie einer jener uralten Panzerwagen der Achten Armee des Langen Marsches aussah. »Er wird auch keinen Monat mehr im Lager Volksruhm überstehen, nicht dieses Mal. Seit die Brigade hier alles übernommen hat, ist ein Leben kaum noch etwas wert.« Er schien nicht länger mit Shan und Jakli zu sprechen, sondern sich in Richtung des Verwaltungsgebäudes zu wenden. Shan folgte seinem Blick. Er sah zum Friedhof. »Ein junger Mongole hatte eine Zeitschrift mit Farbfotos von Pferden«, sagte Wangtu. »Das verstößt zwar gegen die Vorschriften, aber was soll's? Es waren ja bloß Pferde. Immer wieder schaute er sich die Bilder an und sagte, irgendwann würde auch er eine Pferdeherde besitzen. Tagsüber versteckte er das Heft hinten im Hosenbund, und da hat es die Einpeitscherin seiner Baracke während des Unterrichts zufällig entdeckt und ihm abgenommen. Sie sagte, das Magazin würde anderweitig -201-
benötigt, denn die Latrine habe kein Papier mehr. Als der Mongole ihr das Heft wieder entreißen wollte, schlug sie ihm mit einer Schaufel auf den Kopf. Es gab ein komisches Geräusch, als würde jemand auf einen morschen Ast treten. Der Junge sank zu Boden und hielt sich den Kopf, während die Einpeitscherin ihn fortwährend umkreiste und lautstark deklamierte, wie verwerflich es sei, persönlichen Besitz anzuhäufen. Als sie fertig war, brüllte sie den Mongolen an, er solle sich gefälligst bei allen anderen entschuldigen. Als er nicht reagierte, verpaßte sie ihm einen Tritt. Er kippte einfach um. Er war gelähmt. Seitdem liegt er reglos auf seiner Pritsche. Die Einpeitscherin hat sein Magazin zur Latrine gebracht.« Jakli hob eine Hand vor den Mund, als müsse sie ein Schluchzen unterdrücken. Wangtu zuckte zusammen. Er schien sich Vorwürfe zu machen, Jakli aus der Fassung gebracht zu haben. »Aber warum die Warnung an Bajys?« fragte Shan. »Welche Schwierigkeiten für Lau haben Sie befürchtet? Wer war der böse Geist in Laus Nähe?« »Lau und ich waren befreundet. Niemand außer ihr hat sich im Wagen je zu mir nach vorn gesetzt. Sie hat mir Medizin gebracht und außerdem besondere Kräutertees geschenkt, die sie in den Bergen gesammelt hatte.« Wangtu bedeutete Jakli, sie solle wieder das weiße Pferd betrachten, als könne sie auf diese Weise Trost erlangen. »Über Lau braute sich etwas zusammen. Sie wurde aus dem Landwirtschaftsrat gefeuert. Und dann der Bericht an die Öffentliche Sicherheit.« Jakli wandte sich zu den anderen Gefangenen um. »Dieser Tibeter«, fuhr Wangtu fort und sah dabei ihren Rücken an. »Ich habe ihr von diesem Tibeter erzählt.« Jakli fuhr herum. »Kaju. Damals kannte ich seinen Namen noch nicht, aber vor ungefähr drei Monaten habe ich ihr erzählt, daß Direktor Ko -202-
einen Tibeter für die zheli herbringen würde. Sie wußte noch nichts davon. Ich sagte, ich hätte Ko eines Tages im Wagen darüber reden hören. Anscheinend glauben die, Sie wollen von hier weggehen, habe ich zu Lau gesagt.« Vor etwa drei Monaten hatte Lau zum erstenmal erwähnt, wo sie bestattet werden wollte, erinnerte Shan sich. »Was hat Lau darauf erwidert?« fragte er. »Zuerst hat sie nur gelächelt und meinen Arm getätschelt. Dann sagte sie, ja, vermutlich tun sie das. Und dann seufzte sie und sagte, sie hätte nie nach Urumchi gehen sollen. Sonst hat sie sich immer mit mir unterhalten, aber an jenem Tag ist sie bis zum Ende der Fahrt ganz still geblieben.« »Nach Urumchi?« fragte Shan. »Was hat sie damit gemeint?« »Keine Ahnung.« Wangtu zuckte die Achseln. »Irgendeine Reise in die Provinzhauptstadt.« »Was hat sie außerdem noch gesagt?« fragte Jakli. »Bevor sie ausstieg, sagte sie, vielleicht solle sie mir lieber keinen Tee mehr mitbringen, damit die Leute deswegen später nicht behaupten würden, wir seien befreundet. Wir könnten ja trotzdem im Herzen weiterhin Freunde bleiben, aber sie wolle nicht, daß mir deswegen irgendein Leid geschehe. Ich sagte, mir sei das Gerede der Leute egal, und sie antwortete, es dürfe mir aber nicht egal sein, denn das hier sei China.« Wangtu blickte mit gequälter Miene zu dem weißen Pferd. »Von da an schien sie immer in großer Eile zu sein und hatte keine Zeit mehr, sich zu unterhalten. Ich habe sie auch nur noch selten gefahren. Und seit einem Monat habe ich sie gar nicht mehr zu Gesicht bekommen.« Er sah nachdenklich zum Horizont. »Wo ist sie gestorben? Und wer war noch da?« »Genau das wollen wir herausfinden«, sagte Jakli. »Nein. Ich meine, wen wollte sie aufsuchen? Das ist wichtig. Lau hat nur ganz bestimmten Leuten vertraut und sich stets in deren Nähe aufgehalten. Sie ist von einem zum anderen -203-
gezogen, wie von einer Oase zur nächsten. Ihr solltet euch am Ort ihres Todes umhören.« Shan und Jakli sahen sich an. Lau war an einem Ort in der Wüste gestorben, über den Jakli nur ungern zu sprechen schien und an dem Bajys in einer Alptraumvision zerstückelte Menschen gesehen hatte. »Die Anklägerin«, sagte Jakli. »Sie weiß nichts davon«, schärfte sie dem Fahrer ein. »Und ich weiß bloß, daß Lau nicht schwimmen konnte«, entgegnete Wangtu mit gekünsteltem Lächeln und sah Jakli hoffnungsvoll an. »Ich würde niemandem davon erzählen. Nur dir, Jakli.« Ihr war eindeutig unbehaglich zumute. »Ich werde heiraten, Wangtu«, sagte sie schnell, beugte sich vor und gab ihm einen Kuß auf die Wange. Dann ging sie zu einem anderen Häftling, den sie anscheinend wiedererkannt hatte. Heiraten. Shan sah ihr hinterher und kam sich töricht vor, weil er es nicht von selbst erkannt hatte. Das aufgeregte Getuschel der Fraue n im Lager des Roten Steins. Das hastig versteckte Kleid. Maliks heimliches Geschenk für Jakli und jemand anderen, dessen Namen der Junge nicht preisgeben wollte. Nikki, der Name, den Akzu bei ihrem Abschied in der Werkstatt erwähnt hatte. Andere Frauen hä tten die Neuigkeit freudig herumerzählt. Aber Jaklis Heirat wurde geheimgehalten. Shan konnte das gut verstehen, denn auch er war in einer Welt aufgewachsen, in der man möglichst wenig darüber sprach, was einem wirklich am Herzen lag, aus Angst, es könnte weggenommen werden. Wangtu stand niedergeschlagen da und beobachtete, wie Jakli einen kleinen dicken Han-Chinesen ansprach. »Sie müssen Jakli fernhalten«, sagte er. »Wovon fernhalten?« fragte Shan und warf Jakli einen weiteren Blick zu. Was für ein seltsamer Zeitpunkt, um zu -204-
heiraten. Die Clans wurden zerschlagen, und jemand ermordete Kinder. Doch Shan hatte schon vor vielen Jahren gelernt, wie schwierig es war, die Sprache des Herzens zu deuten. »Vom Lager Volksruhm. Vom Gefängnis. Manche der Wachen hassen Jakli, weil sie ihnen Widerworte gibt und sich nicht alles gefallen läßt. Sie ist nicht für einen Käfig geschaffen. Genau wie der Mongolenjunge.« Seine Enttäuschung schien sich in Sorge verwandelt zu haben. Er öffnete den Mund, sagte jedoch nichts. Dann sah er Shan an und blickte schließlich zu Boden. »Ich wäre bereitwillig für sie ins Gefängnis gegangen«, sagte er leise. »Sie gehört in die Berge, auf einen Pferderücken.« Dann verlor er sich in Gedanken, als hätte er Shan völlig vergessen. »Das ist Genosse Hu«, sagte Jakli und kam mit dem kleinen Chinesen auf Shan zu. »Der Vorsitzende des Bildungskomitees der Schule in Yutian.« Hu griff sich an die dicke Brille und deutete ein Lächeln an. »Inzwischen der ehemalige Vorsitzende, vermute ich«, sagte er. »Nicht unbedingt«, wandte Jakli beruhigend ein. »Das ist bloß Anklägerin Xus typische Art, Zeugen einzuschüchtern.« »Das habe ich ihr bereits erzählt«, sagte Hu. »Ich bin kein Zeuge. Lau gehörte nicht zu unserem Kollegium. Wir waren nicht offiziell verantwortlich für sie. Ursprünglich hat sie mal ein kleines Gehalt bekommen, aber das liegt schon einige Jahre zurück. Wir haben ihr lediglich ein Büro zur Verfügung gestellt und ihr unsere Stundenpläne mitgeteilt, damit sie sich danach richten konnte. Außerdem durfte sie gelegentlich unsere Fahrer in Anspruch nehmen.« »Demnach haben Sie bereits mit Xu gesprochen?« »Heute morgen. Sie sagte, ich solle noch mal darüber nachdenken, ob ich auch wirklich nichts wüßte. Immerhin sei es nicht einfach, in Yutian eine gute Stelle zu finden. Sie hat in meine Akte gesehen und mich daran erinnert, daß ich -205-
Familienvater bin. Ich sagte, es gäbe keine Geheimnisse um Lau. Die Frau war ein offenes Buch. Womöglich zu offen. Das ist wahrscheinlich die ganze Erklärung: Sie ist irgendwem zu sehr auf die Füße getreten. Manche der Nomaden geraten leicht in Wut, und einige leben im Geiste noch immer im Zeitalter der Khane, als es noch Blutfehden gab.« Er sah sich auf dem Gelände um. »Ich habe angeboten, während meines Aufenthalts hier selbst Unterricht zu erteilen«, verkündete er, als hege er den Verdacht, Shan könne ein Politoffizier sein. Shans Interesse schwand. Ihm war schnell klargeworden, daß ein Mann wie Genosse Hu bestimmt nicht zu Laus engeren Freunden gehört hatte. Er spürte, daß Wangtu richtig lag. Lau hatte große Menschenkenntnis besessen und sich möglichst in vertrauenswürdiger Gesellschaft aufgehalten. Aber was von ihr war bei diesen Leuten zurückgeblieben? Geheimnisse. Wenn man jemandem vertraut, gibt man Geheimnisse preis. Sie war nicht etwa zum Sterben an diesen Ort in der Wüste gereist, diesen Ort namens Karatschuk, sondern weil sie ein Geheimnis weitergeben wollte. Er bemerkte einen anderen Mann, der im Schatten an der Wand des Speisesaals saß, hinaus auf den offenen Platz schaute und Shan und Jakli immer wieder verstohlene Blicke zuwarf. Der Fremde war fast kahl und hatte so wenig Fleisch auf den Knochen, daß seine Schädelform überdeutlich zutage trat. Für einen Moment sah er Shan direkt in die Augen. Dann schienen seine Lider herabzusinken, und seine Finger berührten den Boden, als sei er plötzlich sehr müde geworden. »Reine Zeitverschwendung«, sagte Jakli, als sie Shans Blick bemerkte. »Versuchen Sie ruhig Ihr Glück, aber er wird nur sinnloses Zeug von sich geben.« Shan sah sie fragend an. »Der Sibo«, erklärte sie beiläufig. »Der Wasserhüter.« -206-
»Wie heißt er?« »Ich weiß es nicht. Alle nennen ihn immer nur den Wasserhüter. Meistens sabbert er und murmelt Blödsinn vor sich hin. Er beherrscht bloß die Sprache der Clans und den alten Sibo-Dialekt.« Shan vergewisserte sich, daß Jakli weiterhin Hu in Beschlag nehmen würde. Dann näherte er sich dem Kahlköpfigen und ging vor dem Mann in die Hocke. Der Wasserhüter ignorierte ihn weitgehend und rückte lediglich ein kleines Stück zur Seite, als würde Shan ihm die Sicht versperren. Shan trat erneut unmittelbar vor ihn und setzte sich. Keiner der beiden sagte etwas. Shan starrte den Wasserhüter an. Der Mann starrte über seine Schulter, als wäre Shan überhaupt nicht vorhanden. Er lutschte etwas, vielleicht eine Nußschale oder einen Kiesel. Aus seinem Mundwinkel rann ein dünner Speichelfaden. Shan hatte seine Kindheit in der Mandschurei verbracht und dort einige Sibos kennengelernt. Der Mann vor ihm war kein Sibo. Und er war auch nicht Mitte Fünfzig, wie Jakli behauptet hatte, sondern älter, wahrscheinlich sogar bedeutend älter, wenngleich nur die triefenden Augen und die groben gelben Furchen seiner Fingernägel darauf hindeuteten. Der Mann sah in den Staub zu seinen Füßen und stieß ein Ächzen aus, ganz wie man es von einem alten Mann erwarten würde. Doch Shan glaubte nichts davon. Weder den geistesabwesenden matten Blick noch das scheinbar sinnlose Gemurmel. Als er noch bei Jakli gestanden hatte, waren ihm zuerst die Finger des Mannes aufgefallen. Sie hingen nicht einfach herab, sondern waren sorgfältig plaziert. Die linke Hand ruhte im Schoß, während die Rechte auf dem rechten Knie lag. Die Handflächen zeigten nach innen, die Finger wiesen nach unten, und die Daumen waren leicht abgespreizt. Es war ein mudra., das mudra der Erdberührung, mit dem die Landgottheit -207-
beschworen und als Zeuge angerufen wurde. Und zwischen den Fingern der rechten Hand steckte eine kleine getrocknete Blume. Es gab eine Verbindung, die Jakli offenbar entgangen war. Der Wasserhüter wurde vom Landwirtschaftsrat eingestellt. Und genau diesem Rat hatte Lau jahrelang angehört. Shan wölbte vorsichtig die Hände, so daß Fingerspitzen und Daumen sich berührten, genau wie er es in Lhadrung gelernt hatte. Der Blick des Wasserhüters glitt abermals über ihn hinweg, als wäre Shan gar nicht da. Inzwischen waren die für die Küche bestimmten Reissäcke abgeladen. Die Männer versammelten sich am Fuß der Treppe und sahen die Lautsprecher an, als rechneten sie mit neuen Anweisungen. Shan rührte sich nicht. Er sah dem Wasserhüter genau in die Augen. Schließlich bemerkte der Mann Shans Hände. Sein Kopf erzitterte kurz, als würde sein Verstand erstaunt blinzeln. Shan begriff sofort, was in ihm vorging. Der Mann sah, was Shan geformt hatte, das mudra des Schatzkästchens, das Zeichen des heiligen Gefäßes. Er erkannte es und wußte, daß Shan seine Reaktion im selben Moment richtig deutete. Die Lider des Mannes zuckten hoch. Seine Augen blieben reglos, aber er hob gemächlich den Kopf, bis er Shan ins Gesicht sah. »Ich bin in deiner Höhle gewesen, Rinpoche«, flüsterte Shan auf tibetisch. »Ich werde dir helfen. Ich werde den Kindern helfen.« Der Wasserhüter erwiderte zunächst nichts, sondern nahm nach kurzem Zögern Shans Hände und drückte sie langsam, aber fest. »Auch wenn du denjenigen findest, kannst du es nicht zurücknehmen.« Die tibetischen Worte kamen dermaßen unvermutet und in einem solch leisen Flüsterton, daß Shan beinahe an eine Einbildung geglaubt hätte. Aber die leuchten -208-
Augen des Mannes weiteten sich, und sein Mund bewegte sich erneut. »Du kannst es nur weiterführen«, sagte er heiser und wandte dabei den Kopf in Richtung der Berge und damit in Richtung Tibet. Shan mußte plötzlich an Bajys' Worte denken. Das war derjenige, den ich geliebt habe, hatte er über Khitai gesagt, als gäbe es viele Khitais. Das war derjenige, den ich beschützen sollte. Bajys hatte nicht begriffen oder nicht begreifen wollen, daß Khitai noch am Leben war. Sein Vertrauen war enttäuscht worden, so daß er zerbrach und wimmernd, ja regelrecht fiebernd zu Lau fliehen wollte. Jemand hatte ein bedeutsames Geheimnis enthüllt, Bajys' Geheimnis, und dadurch das Ende von Bajys' Welt heraufbeschworen. Und nun sprach der Lehrer, der alte Lama, den alle nur als Wasserhüter kannten, in ebensolchen Rätseln. Vielleicht hatte Bajys ja gar nicht einen Jungen, sondern einen Gegenstand gemeint. Du kannst es nicht zurücknehmen. Du kannst es nur weiterführen. Auf einmal erwachte dröhnend der Motor des Lastwagens zum Leben. Der alte Mann stand auf, und sein Blick wirkte nun wieder genauso schläfrig und stumpfsinnig wie zuvor. Als er zum Speisesaal ging, stolperte er fast über die eigenen Füße. Die Häftlinge an der Tür lachten ihn aus. Im selben Moment ertönte die blecherne Stimme aus den Lautsprechern. Die Männer vor dem Speisesaal zogen ihre Gewänder zurecht und reihten sich dann in die Schar der Gefangenen ein, die auf den Platz strömte. Nun würden auch sie die Segnung der politischen Priester empfangen. Kurz darauf lenkte Fat Mao den Lastwagen durch das innere Tor. Aber als sie das Lager Volksruhm verlassen wollten, mußten sie feststellen, daß man das Haupttor inzwischen mit Kette und Vorhängeschloß versperrt hatte. Ein Wachposten war nirgendwo zu entdecken. Nervös warteten sie zehn Minuten ab. Dann fuhr Fat Mao im Schrittempo zum Verwaltungsgebäude zurück. Jemand kam nach draußen, kein Wachposten, sondern -209-
einer der chinesischen Büroangestellten. Der Mann trug ein weißes Hemd mit abgenutzten Manschetten. »Man hat Ihnen eindeutige Anweisungen erteilt«, rief er mit schriller Stimme. »Der Rest der Fracht wird erst morgen abgeladen.« »Dann kommen wir morgen eben noch einmal«, sagte Fat Mao. »Schon bei Tagesanbruch, wenn Sie möchten.« Der Mann grinste spöttisch und holte ein Stück Papier aus der Hemdtasche. »Uns steht eine Lieferung pro Woche zu«, kreischte er. »Und Sie werden auch nur für eine Lieferung pro Woche bezahlt. Bei der Küche hat man Ihnen durch Unterschrift den Erhalt der gesamten Ware bestätigt.« Er fuchtelte mit dem Zettel vor Fat Maos Gesicht herum. »Glauben Sie etwa, Sie könnten morgen wiederkommen, um auf diese Weise für zwei Lieferungen bezahlt zu werden? Vergessen Sie's.« »Machen Sie sich nicht lächerlich. Wir werden nur für die tatsächlich gelieferte Ware bezahlt.« »Genau«, sagte der Mann und vollführte eine überhebliche Geste. »Und Sie wollen vorschlagen, morgen mit nur einer halben Lieferung hier aufzutauchen.« Er legte den Kopf in den Nacken, so daß seine Nase genau auf Fat Mao zu zeigen schien. »Es gibt Kampagnen gegen die Korruption.« Shan beobachtete, daß der Uigure die Zähne zusammenbiß, um seine Wut zu unterdrücken. »Dann laden wir die Säcke draußen auf der Rampe ab. Sie können sie dann morgen reinbringen.« »Sie werden dafür bezahlt, die Ware bis ins Lagerhaus zu transportieren. Betrug bei der geleisteten Arbeit ist auch eine Form der Korruption«, stellte der Mann kategorisch fest. »Dann öffnen Sie doch das Lagerhaus.« »Das Lagerhaus bleibt geschlossen, und zwar auf Befehl von Major Bao von der Öffentlichen Sicherheit. Sie haben die -210-
Erlaubnis, in der Werkstatt zu übernachten.« Er deutete auf ein Gebilde hinter dem Büro, bei dem es sich lediglich um ein hohes Dach auf vier Pfeilern handelte, an dessen einem Ende eine Werkbank stand. »Aber ich warne Sie«, fügte er hinzu, »wir verfügen über eine komplette Aufstellung sämtlicher Werkzeuge.« »Wir müssen heute abend noch zu unseren Familien zurückkehren«, protestierte Fat Mao. »Man erwartet uns in Yutian.« »Wir alle müssen Opfer bringen. Das ist der Grundgedanke des Lagers Volksruhm«, verkündete der Mann fröhlich, als nutze er dankbar die Gelegenheit, einen politischen Ratschlag zu erteilen. Dann machte er kehrt und verschwand wieder in dem Bürogebäude. Fat Mao sah ihm wütend hinterher, warf dann Jakli einen kurzen Blick zu, legte den Gang ein und fuhr zu der Werkstatt. »Kampagnen gegen die Korruption«, murmelte er. »Wie war's mit einer Kampagne gegen Dummheit?« Shan erinnerte sich an den Wachposten mit der Maschinenpistole. »Der Mann hat einen Major Bao erwähnt«, sagte er zu dem Uiguren. Die Brigade leitete das Lager, die Anklägerin sorgte für einen gleichbleibenden Nachschub an Häftlingen, aber die Kriecher konnten offenbar nach Belieben walten. Fat Mao verzog das Gesicht. »Er ist der Leiter der Öffentlichen Sicherheit von Yutian. Der Vorgesetzte von Leutnant Sui. Wenn es in diesem Bezirk zwei Leute gibt, denen man möglichst nicht in die Quere kommen möchte, dann sind das Major Bao und Anklägerin Xu.« Der Uigure und die Kasachen richteten sich aus den Reissäcken auf der Ladefläche des Lasters provisorische Lager her und legten sich sogleich zum Schlafen nieder. Shan ging zu Jakli, die neben einem der Dachpfeiler stand und auf den -211-
Antreteplatz der Gefangenen starrte. »Damit hätte ich nie gerechnet. Es tut mir leid«, sagte sie. »Jowa hat mir bei Laus Hütte einiges erzählt. Er sagte, man würde daran arbeiten, Sie außer Landes zu bringen, und daß jenseits der Grenze bereits Leute von den Vereinten Nationen auf Sie warten würden. Ich habe nicht nachgedacht. Eine solche Gelegenheit bietet sich praktisch keinem von uns. Wir hätten Sie nicht bitten dürfen, ein solches Risiko einzugehen.« »Diese angebliche Flucht ist nur ein nett gemeinter Trost«, sagte Shan. »Bloß ein Versuch, mir mehr Hoffung zu geben. Es wird Jahre dauern. Höchstwahrscheinlich wird es sogar nie dazu kommen.« Er sah in Richtung des Speisesaals, wo er den Wasserhüter getroffen hatte, und dann zu der Baracke mit den vergitterten Fenstern, die für besondere Häftlinge reserviert war. Er hatte vergessen, dem Wasserhüter eine bestimmte Frage zu stellen. Kannte er Gendun? Jakli schaute wieder zu dem Antreteplatz. Nein, nicht zu dem Platz, erkannte Shan gleich darauf, sondern zum Zaun oder eher zu dem Seilpferch kurz vor dem Zaun. »Früher gab es viel mehr Pferde«, sagte sie bekümmert. »Heutzutage werden die Tiere in Züge verladen und von Kashi aus nach Osten verfrachtet. Dort gibt es Fabriken, in denen den ganzen Tag nur Pferde getötet werden. Dann füllt man das Fleisch in Dosen ab. Damit die Regierung prahlen kann, wie gut das Volk ernährt wird. Jetzt will man alle Herden, sogar die wildlebenden.« Jowa hatte recht gehabt, dachte Shan. Das Armutsprogramm war in Wahrheit ein Vernichtungsplan. Unter dem Vorwand, unwirtschaftliche Aktivposten neu zu strukturieren, löschte die Regierung die gesamte Nomadenk ultur aus. Ein diskretes, politisch abgesegnetes Projekt, das schließlich zu Ende führte, was Peking bereits vor vielen Jahrzehnten begonnen hatte. »Wieso ein weißes Pferd?« fragte Shan. »Weiße Pferde sind beliebte Geschenke.« -212-
»Meinen Sie anläßlich einer Hochzeit?« fragte Shan und sah ihr in die Augen. »Nicht nur bei Hochzeiten. Auch am Tag der Namensverleihung oder bei besonderen Festen«, antwortete sie und wandte sich wieder dem Pferd zu. »Aber vor allem bei Hochzeiten«, sagte sie dann. Ihr schüchternes und zugleich entschlossenes Lächeln ließ erkennen, daß sie sich nicht näher zu dem Thema äußern wollte. »Dann hat Wangtu noch gesagt, Lau habe Namen verlesen. Vom Neunundzwanzig-Fünfer und…» »Und von 1997«, beendete Jakli den Satz. »Politische Demonstrationen. Neunundzwanzig-Fünfer steht für den Aufstand vom neunundzwanzigsten Mai 1962. Damals haben sich in Yining Kasachen und Uiguren gemeinsam gegen die Regierung erhoben. Viele sind ums Leben gekommen. Die Behörden haben es nie öffentlich zugegeben, aber wir kennen die Namen der Toten und ehren sie, indem wir sie bei den Treffen unserer Clans laut verlesen. 1997 sind erneut Kämpfe ausgebrochen. Die Armee wurde gerufen und hat Maschinengewehre eingesetzt. In Urumchi sind Bomben explodiert.« »War Lau eine Dissidentin?« »Wenn jemand Kindern die Namen von Helden vorliest, ist er dann ein Dissident?« »Sie wissen, wie ich das meine. Galt sie allgemein als eine Person, die der Regierung kritisch gegenüberstand?« »Nein.« Es schien Jakli nur unter großer Anstrengung möglich zu sein, ihren Blick von dem Pferd abzuwenden. Sie zog ein Stück Papier aus der Tasche. »Andernfalls wären wir jetzt nicht hier, und es gäbe keinen Mord aufzuklären. Man hätte vielleicht die Notwendigkeit einer politischen Zurechtweisung bekanntgegeben oder sich eine Lüge über ihre angebliche Versetzung ausgedacht. Lau wäre jedenfalls spurlos von der -213-
Bildfläche verschwunden.« Das Stück Papier war ein zerknitterter, gefalteter Umschlag. Jakli ging zum Führerhaus des Lastwagens und stieg ein, als wolle sie den Inhalt des Umschlags lesen. Shan erkannte, daß die verbleibenden Reissäcke auf der Ladefläche des Lasters im tiefen Schatten des Werkstattdaches lagen. Von dort oben hatte man den gesamten Verwaltungskomplex im Blick, ohne von draußen gesehen werden zu können. Er kletterte hinauf und machte es sich bequem. Dann tat er, was er am besten konnte. Er beobachtete. Das sonst anscheinend stets geöffnete Lagerhaus war heute aus irgendeinem Grund geschlossen. Die drei Seiten, die Shan bislang gesehen hatte, wiesen keine Fenster auf, und das zweiflügelige Tor an der Laderampe schien den einzigen Zugang darzustellen. Es war überall ruhig. Die Nachmittagsgruppen hielten ihren Unterricht ab. Beim Heizungsgebäude transportierten einige Männer Kohlen von dem Haufe n weg. Darüber hinaus war nur noch der einzelne Wachposten der Kriecher zu sehen, der vor dem kleinen Schuppen stand. Hin und wieder drehte er eine Runde um das Gebäude, hob manchmal die Waffe und zielte in Richtung Horizont. Beim Bürogebäude regte sich nichts, wenngleich aus einem offenen Fenster Musik zu hören war. Es handelte sich um einen Militärmarsch. Nach der Qualität der zerkratzten Aufnahme zu schließen, hatte man ihn schon unzählige Male abgespielt. Shan döste ein. Als er wieder aufwachte, stand ein weiterer Wagen vor dem Verwaltungsgebäude geparkt - eine Limousine mit roter Standarte. Die Musik hatte aufgehört, doch ansonsten deutete nichts auf die Neuankömmlinge hin. Hinter dem inneren Zaun sah Shan einige Häftlinge in der Nähe des Speisesaals. Auch eine der Unterrichtsgruppen saß mittlerweile draußen und hatte sich im Zentrum des Antreteplatzes rund um den Mast versammelt, an dem die rote Flagge der Volksrepublik wehte. -214-
Die Tür des Lagerhauses war nach wie vor geschlossen. Die Arbeiter bei dem Kohlenhaufen verfrachteten immer noch Brennmaterial für die Heizung ins Gebäude. Aber der Wachposten vor dem Schuppen hatte sich von irgendwoher einen Stuhl besorgt. Er saß zusammengesunken da, als sei er eingeschlafen. Seine Waffe hing an der Lehne des Stuhls. Shan kletterte langsam nach unten und ließ den Blick dabei fortwährend zwischen dem Verwaltungsgebäude und dem Posten hin- und herpendeln. Jakli hatte sich zu Fat Mao und ihren Cousins gesellt und schlief. Der ramponierte Umschlag lag zwischen ihren Handflächen, als hätte sie ein Gebet über ihn ausgesprochen. Shan ging zum Lagerhaus und mußte sich zwingen, nicht plötzlich loszulaufen. Er achtete auch weiterhin auf den Eingang neben der leeren Limousine und den einzelnen schlafenden Wachposten in der genau entgegengesetzten Richtung. Die Tür des Lagerhauses war erwartungsgemäß abgeschlossen, aber als er die Klinke herunterdrückte, glaubte er eine Stimme zu hören. »Wer ist da?« flüsterte Shan, erst auf tibetisch, dann auf mandarin. Als vermeintliche Reaktion ertönte ein dumpfes Geräusch, aber ob es sich um ein Wort oder einfach nur um ein Stöhnen handelte, konnte Shan nicht erkennen. Er durfte es nicht riskieren, Aufmerksamkeit zu erregen, also entfernte er sich schnell wieder von der Tür und ging um die Ecke des Lagerhauses, weil er hoffte, dort vielleicht ein Fenster vorzufinden. Es gab aber keines. Er wandte sich dem Heizungsgebäude und dem dahinter gelegenen Friedhof zu. Beim Schuppen und beim Verwaltungsgebäude blieb alles ruhig, und am Tor war kein Wachposten zu sehen. Vorsichtig näherte Shan sich der Hütte mit dem schlafenden Kriecher. Als er noch etwa zehn Meter entfernt war und bereits das tiefe Schnarchen des Mannes auf dem Stuhl hören konnte, bog er in -215-
Richtung Heizungsgebäude ab. Aus dem Schornstein stieg eine dünne schwarze Rauchsäule empor und trieb auf die Berge zu. Bei dem angrenzenden Kohlenhaufen beluden sechs Männer überdimensionale Schubkarren, schoben sie dann durch die offene Vordertür des Gebäudes und kippten sie neben dem Heizkessel aus, wo ein weiterer Mann die Kohlen ins Feuer schaufelte. Die Männer unterschieden sich von den anderen Gefangenen. Sie trugen nicht die einfache graue Tracht der Männer jenseits des inneren Zauns, und obgleich ihre Kleidung von Kohlenstaub überzogen war, traten die Farben ihrer Hemden und Westen noch immer deutlich genug hervor, um sie als Neuankömmlinge zu kennzeichnen. Womöglich gehörten sie ebenfalls zu Xus besonderen Häftlingen, überlegte Shan. Trotzdem wurden sie aus irgendeinem Grund anders behandelt. Wangtu und seinesgleichen hatte man leichte Tätigkeiten zugewiesen. Diese Leute hier mußten die schwerste Arbeit im Lager verrichten, als stünde ihnen ein schlimmes Schicksal bevor. Doch die Mienen der Männer schienen das genaue Gegenteil zu besagen. Sie wirkten nicht resigniert und ließen keine Spur der Verbitterung erkennen, die normalerweise auf dem Gesicht eines Menschen erschien, der einen Teil seines Lebens den Politoffizieren ausliefern mußte. Es waren rauhbeinige, muskulöse Männer, und keiner von ihnen war Han-Chinese. Anscheinend nahmen sie ihre Arbeit nicht allzu ernst, als könnte man sie jeden Moment davon entbinden oder sie gar wieder auf freien Fuß setzen. Falls sie sich dergleichen tatsächlich erhofften, dann zumindest nicht von Shan. Drei der Männer warfen ihm wütende Blicke zu und sahen wieder weg. Die anderen arbeiteten schweigend weiter und musterten ihn stirnrunzelnd. Shan dachte an die Computerdaten, die Fat Mao ihnen gezeigt hatte. Im Lager Volksruhm waren noch weitere Häftlingsnummern reserviert worden, und zwar für die Brigade und die Einsatzkommandos der Kriecher, deren Aufgabe darin -216-
bestand, Reaktionäre und Aufständische zu bekämpfen. Shan trat in den Schatten des Vordachs und drehte sich um. Alles war unverändert. Die Limousine stand nach wie vor an ihrem Platz. Der Kriecher schlief immer noch. Shan sah sich im Gebäude um. Es enthielt lediglich den Heizkessel und einen damit betriebenen kleinen alten Generator, neben dem eine Werkbank mit diversen Werkzeugen stand. Außer dem Mann an der offenen Luke des Kessels befand sich niemand hier. Als der Arbeiter Shan bemerkte, hielt er inne und stützte sich auf seine Schaufel. Seine Silhouette hob sich vor den Flammen ab. Shan nickte ihm unbeholfen zu und kam einen Schritt näher. Der Mann wischt e sich den Ruß von der Stirn. Shan blieb verblüfft stehen. Die Haut des Fremden war weiß. Dann schob der Gefangene sich die dreckige Mütze in den Nacken, so daß eine lange blonde Haarsträhne sichtbar wurde. Auf seinem Gesicht flackerte so etwas wie Interesse auf, und er stieß mit dem Fuß die Kesselluke zu, um das Tosen der Feuerung zu dämpfen. Er trug schwere Wanderstiefel, wie sie in westlichen Ländern üblich waren. »Hallo, Euer Exzellenz«, sagte er spöttisch. Er sprach Englisch mit amerikanischem Akzent. »Haben Sie mir Tee und Gebäck gebracht?« Als Shan einen weiteren Schritt vortrat, schloß sich mit schmerzvollem Griff eine Hand um seinen Oberarm und riß ihn grob zurück, so daß er beinahe stürzte. Shan fuhr herum und blickte genau in das Gesicht des kräftigen Wachpostens der Öffentlichen Sicherheit, der eindeutig nicht mit guter Laune aufgewacht war. Die Maschinenpistole hing von seiner Schulter, und der Zeigefinger seiner anderen Hand lag neben dem Abzug. »Verdammt, der Zutritt ist verboten!« herrschte der Kriecher ihn an. »Ständig! Ohne Ausnahme!» Dann zerrte er Shan nach draußen in die Sonne. »Yo!« rief der hochgewachsene Westler zum Abschied und -217-
salutierte höhnisch. »Lassen Sie uns mal zusammen Mittag essen! « Während Shan in die Mitte des Vorplatzes ge führt wurde, wandte er sich noch einmal zu dem Amerikaner um. Der Mann tat mit übertriebenem Achselzucken seine Enttäuschung kund, woraufhin die Männer beim Kohlenhaufen in lautes Gelächter ausbrachen. Dann zog er sich seine Mütze wieder ins Gesicht und schaufelte weiter. Shan sah wieder nach vorn und kämpfte gegen seine Angst an. Er war bei der Untersuchung des Heizungsgebäudes nicht nur gestört worden - man hatte ihn entdeckt. Und nun wurde er von einem Kriecher begleitet. Kriechern war es gleichgültig, was man wollte. Für sie zählte nur der Wille der Öffentlichen Sicherheit. Doch als sie den leeren Platz überquerten, schien der Vorsatz des Postens sich zu verflüchtigen. Seine Schritte wurden kürzer. Er ließ Shans Arm los und schaute erst zu dem Schuppen, den er eigentlich bewachen sollte, und dann zu dem Verwaltungsgebäude. Unschlüssig betrachtete er Shan. Plötzlich ruckte sein Kopf wieder in Richtung des Bürogebäudes. Dort stand jemand auf der Treppe, eine Frau in einem dunkelblauen Kostüm. Anklägerin Xu Li. Der Kriecher warf erneut einen kurzen Blick auf Shan und meldete sich nervös zu Wort. »Niemand darf sich den Männern beim Heizungsgebäude nähern, das ist alles«, sagte er und strich mit einfältiger, ehrerbietiger Miene die Schultern von Shans schäbiger Jacke glatt. Dann kehrte er im Laufschritt zu seinem Schuppen zurück. Die Frau sah Shan auffordernd entgegen. Sie wartete, daß er zu ihr kommen würde. Auf einen Soldaten mit Maschinenpistole konnte sie verzichten. Ihr strenger Blick war Waffe genug. Bei der Werkstatt schien sich niemand zu rühren. Würde man ihm wenigstens Gelegenheit geben, sich von Jakli zu -218-
verabschieden oder Lokesh eine Nachricht zukommen zu lassen? Nein, begriff er, Jakli und die anderen durften auf keinen Fall in die Sache verwickelt werden. Er überlegte fieberhaft. Seine Ausrede würde lauten, daß er Jakli und Fat Mao angelogen hatte und die beiden nichts über ihn wußten. Shan legte eine Hand auf die Brust und fühlte das gau, das er um den Hals trug. Dann atmete er tief durch und setzte sich mit kleinen, gleichmäßigen Schritten in Bewegung, um sich dem unvermeidlichen Schicksal zu stellen. Sein Magen zog sich vor Angst zusammen, aber er kämpfte dagegen an, indem er sich auf seine Erfahrungen als Sträfling besann. Würde man ihn zurück nach Tibet bringen? Würde man ihn zum Verhör an den geheimen Ort in der Wüste verfrachten, den er bereits von früher kannte? Oder würde man zu dem Schluß kommen, daß er die ganze Mühe nicht wert sei, und ihn an Ort und Stelle beseitigen? Als er sich der Frau näherte, versuchte er, aus ihrem reglosen und finsteren Antlitz schlau zu werden. Überraschenderweise las er darin nichts von der üblichen Verachtung, die ein Wärter einem Gefangenen entgegenbrachte. Auch von Mißtrauen war keine Spur zu entdecken. Die Anklägerin wirkte lediglich ungeduldig. Als er die Treppe fast erreicht hatte, machte Xu auf dem Absatz kehrt, ging hinein und ließ die Tür für ihn offen. Er folgte ihr. Im Innern sah es genauso aus wie in den tausend anderen Regierungsgebäuden, die Shan kannte. Den Hauptteil der Etage nahm ein großer offener Saal mit zwei Reihen von Metalltischen ein, die überwiegend nicht besetzt waren. An einem der Computer saß eine junge Frau kasachischer oder uigurischer Abstammung, die ihr Haar zu zwei kurzen Zöpfen geflochten hatte. Sie warf Shan einen kurzen Blick zu und wandte die Augen sogleich nervös wieder ab. Jemand flüsterte eine Warnung. Shan registrierte, daß zwei andere Büroangestellte fluchtartig ihre Plätze verließen und von einer weiteren Frau in -219-
ein Hinterzimmer gewinkt wurden. Offenbar hatte man bei Xu Anzeichen vulkanischer Aktivität festgestellt und rechnete mit einem Ausbruch. Die Anklägerin erwartete ihn an der Tür eines Konferenzraums und wies auf einen der Stühle, die rund um einen großen Metalltisch standen. Shan setzte sich. Sie ging zu einer Thermoskanne, goß zwei Becher Tee ein, stellte einen davon auf den Tisch, so daß Shan ihn gerade noch erreichen konnte, und nahm dann gegenüber von ihm Platz. »Ich weiß, was Sie hier tun«, sagte sie schroff. Es war vorbei, bevor es richtig begonnen hatte. Die Kinder starben auch weiterhin. Gendun war verloren. Der WasserhüterLama saß hinter Gittern. Und Shan würde nie die Gelegenheit erhalten, ihnen zu helfen, und auch nie eine Chance haben, China zu verlassen. Er legte die Hände um den dampfenden Becher. Jeder Sträfling kannte gewisse Tricks, um irgendwie durchzuhalten. Oft ging es nur darum, den jeweils nächsten Moment zu überstehen und nicht an die zukünftigen Qualen zu denken, sondern nur an das gegenwärtige Leid. Hatten seine Hände schon instinktiv angefangen, das alte Spiel zu spielen? überlegte er. Konzentrierte er sich auf die sengende Hitze des Bechers, blendete alles außer dieser einen Empfindung aus, um so gut wie möglich gegen die bevorstehenden Schmerzen gewappnet zu sein? Die Mönche in seiner Gulag-Baracke hatten ihn gelehrt, daß dies nicht die beste Methode darstellte und er statt nach krampfhafter Ablenkung vielmehr nach bewußter Klarheit streben sollte, um seinen Geist an einen Ort zu lenken, auf den kein Folterknecht jemals würde zugreifen können. Doch ihm blieb keine Zeit zur Vorbereitung, und wenn eine solche Form der Konzentration alles war, was er aufbieten konnte, mußte er sich eben dieser Krücke bedienen. Er starrte den Becher an und fragte sich, für wie viele Jahre dies wohl der letzte echte Tee sein würde, falls man ihn wieder ins -220-
Arbeitslager steckte. »Ich heiße Xu Li«, verkündete die Frau. »Ich arbeite für das Justizministerium und bin die Anklägerin dieses Bezirks.« Jadehure. Shan hätte das Wort beinahe laut ausgesprochen. Es gab noch einen Trick, den er sich für Verhöre angeeignet hatte, diesmal nicht von den Mönchen, sondern von den khampa-Kriegern aus seiner Baracke. Komm der Angst zuvor. Nimm das Leid vorweg. Falls man dir etwas Grauenhaftes androht, stell dir etwas noch Schrecklicheres vor. Falls man dich foltern will, dann versuche selbst, dir noch größere Qualen zu bereiten. Er hob den Tee an den Mund und trank die Hälfte der kochendheißen Flüssigkeit auf einen Zug, so daß sich von seiner Zunge bis in den Magen ein stechender Schmerz ausbreitete. Dann stellte er den Becher ab und starrte der Anklägerin ausdruckslos entgegen. Sein Verhalten schien die Frau zu irritieren. Sie nahm ihre eigene Tasse und ließ sie sofort wieder sinken, als der Tee ihre Zungenspitze verbrühte. »Ich weiß, daß Sie aus Peking kommen. Ihren Namen kenne ich nicht.« Ihre Stimme klang ruhig und absolut selbstsicher. Sie war es offenbar schon seit langem gewohnt, stets am längeren Hebel zu sitzen. »Und ich will ihn auch gar nicht wissen.« Das war unglaublich. Wie konnte sie bereits über ihn Bescheid wissen? Hatte er sich dermaßen sorglos verhalten? Gehörten die Ereignisse seit seiner Ankunft in Xinjiang allesamt zu einer wohldurchdachten Falle? »Niemand hat mich nach meiner Zustimmung gefragt. Und das wird vermutlich auch nicht mehr passieren. Peking steckt dahinter. Die Sache stinkt drei Meilen gegen den Wind«, sagte sie, als sei dadurch viel erklärt. Shan sah sich im Raum um. An einer der Wände hing eine Tafel, auf die jemand oben eine Zahl geschrieben hatte. Neunhundertachtundvierzig, zweifellos die Anzahl der Bürger, -221-
die im Lager Volksruhm derzeit einer Umerziehung unterzogen wurden. Ein verblichenes Poster zeigte die strahlenden Gesichter mehrerer junger Chinesen. Vernichtet die Vier Alten, stand am unteren Rand geschrieben. So hatten die Roten Garden vor vielen Jahren eine ihrer durchgreifenderen Kampagnen bezeichnet, einen Teil jenes Wahnsinns, dem auch sein Vater zum Opfer gefallen war. Vernichtet die alte Kultur, die alten Denkmuster, die alten Gewohnheiten und alten Bräuche. Man hatte damals den Tibetern, Moslems und anderen Minderheiten auf besonders grausame Art klargemacht, wer ihre Herren waren. Alte Bücher, traditionelle Gewänder und religiöse Artefakte wurden ein Raub der Flammen. Manche der Scheiterhaufen bestanden ausschließlich aus traditionell geflochtenen Zöpfen. Shan betrachtete einen Abfalleimer, der vor lauter Papier überquoll. Falls es ihm gelang, Feuer zu legen, würden Jakli und die Kasachen in dem entstehenden Durcheinander das Lager vielleicht ohne weiteres Verhör verlassen können. »Trotzdem bin ich immer noch die Anklägerin«, sagte Xu Li lapidar. Shan wandte sich wieder ihr zu. Wieso redete sie um den heißen Brei herum? »Ich habe mir Ihr Lager angesehen«, sagte er vorsichtig. »Mein Siegel ist hier ordnungsgemäß registriert. Das Lager Volksruhm wird von vielen Bezirken Xinjiangs und Tibets genutzt.« Was hatte sie vor? Wollte sie ihn vor dem tödlichen Stoß noch ein wenig zappeln lassen? »Ich habe keinen Zweifel daran, daß Sie eine überaus fähige Hüterin des Volkes sind, Genossin Anklägerin.« Er hielt ihrem ruhigen Blick stand. Sie hob den Becher, als wolle sie einen Toast auf Shan ausbringen, und nippte dann an dem Tee, ohne ihren Gast aus den Augen zu lassen. »Mein Dienst am Volk dieses Bezirks -222-
dauert nun schon viele Jahre, und es gibt nichts, wofür ich mich schämen müßte. Nach Ablauf des ersten Turnus hätte ich nach Peking zurückkehren können, aber ich wollte bleiben. Die Partei und das Ministerium haben mir für die hier erzielten Fortschritte zahlreiche Auszeichnungen zuteil werden lassen.« Shan hob ebenfalls anerkennend den Becher. Woran genau messen Sie diese Fortschritte? hätte er am liebsten gefragt. An der Zahl der Bürger, die Sie ins Gefängnis gesteckt haben? An der Größe des Lagerfriedhofs? »Ich glaube an Recht und Gesetz«, fuhr Xu fort. »Mir ist bewußt, daß Sie einen bestimmten Auftrag haben. Aber lassen Sie sich versichern, Genosse, ich fürchte mich nicht davor, ebenfalls meine Arbeit zu tun. Ich werde jeden Gesetzesbrecher nachdrücklich verfolgen.« Xu starrte ihn feindselig an, stand plötzlich auf und ging aus dem Raum, ohne die Tür hinter sich zu schließen. Shan starrte ihr völlig verblüfft hinterher. Nach der buddhistischen Mythologie konnte man auf Reisen gewissen Geistern begegnen, die in Rätseln sprachen und vielleicht sogar Drohungen ausstießen. Falls diese Geister jedoch weiterzogen, ohne den Reisenden zu fressen, galt die Begegnung als glückverheißend. Die Angestellten an den Schreib tischen blickten nicht einmal auf, als Shan das Büro durchquerte. Keine Wachen stürzten sich auf ihn. Keine Ärzte mit einsatzbereiten Injektionsnadeln. Shan blieb stehen. Er war noch immer ganz aufgewühlt. Erst als die ersten Gesichter sich ihm zuwandten, eilte er zur Ausgangstür. Die Limousine draußen war verschwunden. Jakli und ihre Cousins schliefen noch. Shan sah im Handschuhfach des Lastwagens nach und vergewisserte sich, daß dort eine Taschenlampe lag. Dann kletterte er auf die Ladefläche, streckte sich auf den Reissäcken aus und sank schließlich in einen unruhigen Schlaf. Er träumte von toten Kindern. -223-
Als er aufwachte, war es dunkel. Der gesamte Verwaltungskomplex wurde lediglich von ein paar trüben Glühlampen unterhalb der diversen Lautsprecher erhellt. Jakli und die anderen hockten neben einem kümmerlichen Feuer aus Holzresten. Sie hatten einige kleine Äpfel auf Schraubenzieher gespießt und rösteten sie über den Flammen. Jakli schob einen der Äpfel auf einen öligen Lappen und hielt ihn Shan hin. Er nahm die Frucht dankbar entgegen und warf sie von einer Hand in die andere, um sie ein wenig abzukühlen. »Hat man Ihnen einen Grund für die Schließung des Lagerhauses genannt?« fragte er. »Sie ist auf Befehl der Öffentlichen Sicherheit erfolgt, mehr wissen wir nicht. Der Bau wird hin und wieder ausgeräuchert, vielleicht mit giftigem Schädlingsbekämpfungsmittel.« »Ich glaube, daß man dort drinnen jemanden gefangenhält.« Jakli zuckte Achseln. »Immerhin ist das hier ein Gefängnis.« Shan nickte in Richtung des Schornsteins. »Wohin sind diese Männer verschwunden? Sie haben Kohlen transportiert.« Inzwischen schien sich bei dem Heizungsgebäude niemand mehr aufzuhalten. »Keine Ahnung«, sagte Fat Mao. »Wir haben geschlafen.« »Warum gibt es hier Wachposten der Öffentlichen Sicherheit?« Jaklis Kopf ruckte hoch. »Kriecher? Hier sind Kriecher?« Sie wich ein Stück zurück, bis ihr Gesicht im Schatten lag. Die anderen sahen sich mißtrauisch um. Ihr Verhalten bedurfte keiner Erklärung. »Ich habe nur einen gesehen.« Shan schaute zu dem Schuppen, der nun völlig verlassen wirkte. »In der Nähe des Heizkessels.« Aus dem Schornstein stieg etwas Rauch empor. Offenbar hatte man das Feuer mit Asche belegt, damit es nur langsam weiterbrannte. Nachts würde hier im Lager weniger -224-
Elektrizität und Wärme vonnöten sein. Jakli ging zu einem der Stützpfeiler, lehnte sich dagegen und ließ den Blick über das Gelände schweifen. Shan trat neben sie. »Und die Anklägerin habe ich auch gesehen«, sagte er. »Sie hat oft hier zu tun«, erwiderte Jakli und machte keinen Hehl aus ihrer Verbitterung. »Ich meine, sie hat mit mir gesprochen.« Dann beschrieb er das seltsame Zusammentreffen mit Xu. Fat Mao kam ganz nahe heran und bat ihn, Xus Worte zu wiederholen. »Sie hat dich mit jemandem verwechselt«, stellte der Uigure überrascht und zugleich verwirrt fest. »Nicht nur das«, wandte Shan erschaudernd ein. »Es hat sie kein bißchen gestört, daß ich mit Kasachen und Uiguren unterwegs bin. Ein Han-Chinese, der gemeinsame Sache mit den Nomaden macht?« Er sah Fat Mao direkt ins Gesicht. »Ein Chinese, vor dem sogar die Anklägerin auf der Hut ist?« »Aus Peking«, fügte Jakli leise hinzu. Fat Mao stieß eine Verwünschung aus. »Man hat sechs Nummern vorgemerkt«, rief er ihr ins Gedächtnis. »Für Festnahmen der Einsatzkommandos. Das Hauptquartier der Kriecher setzt mitunter Spione ein. Verdeckte Ermittler.« »Was hat das zu bedeuten?« fragte Jakli. »Ich weiß es nicht«, sagte Shan. »Aber die Clans der Grenzregion könnten sich in sogar noch größerer Gefahr befinden, als wir bislang vermutet haben. Nur wegen des Armutsprogramms würden die Kriecher keinen Spion entsenden. Wo sonst noch versammeln sich die Clans? Wo könnte ein Fremder sich bei ihnen einschleichen?« Jakli dachte kurz nach. »In Karatschuk. Wo Lau ermordet wurde.« Shan nickte. Lau war mit ihren Geheimnissen in die Wüste -225-
gegangen, und irgend jemand hatte den Ort ihres Vertrauens unterwandert. »Beschreiben Sie mir den Weg.« »Ich bringe Sie hin.« »Nein. Sie müssen in die Stadt zurückkehren. Denken Sie an Ihre Bewährungsauflage n!» »Ich habe Lau ein Versprechen gegeben.« »Lau würde bestimmt nicht wollen, daß Sie zurück ins Gefängnis müssen.« »Na sicher, ich setze mich einfach hin und mache Hüte«, sagte Jakli mit angespannter Stimme. »Leuchtendrote Mützen mit aufgestickten Perlen. Oder purpurne Hüte mit Pailletten. Und unterdessen sterben Kinder, und der Clan wird in alle Winde verstreut.« Sie wandte sich wütend um, ging auf die andere Seite der Werkstatt, lehnte sich dort gegen den Pfeiler und starrte in die Finsternis. Shan erkannte, daß sie nicht ziellos ins Leere blickte, sondern einen dunklen Fleck in der Ferne anvisierte. Ungefähr dort lag der Pferch mit dem weißen Pferd. Das Tier tänzelte nervös umher. Shan konnte das leise Hufgetrappel hören. Als er neben Jakli trat, stimmte sie ein leises Lied in der Sprache ihres Clans an. Eines der Worte erkannte Shan. Es wurde häufig wiederholt. Khoshakhan. So sagte man den Tieren, daß man sie liebt. »Für das Pferd, nicht wahr?« fragte Shan, nachdem Jakli geendet hatte. Sie zuckte zusammen, als hätte sie ihn zuvor nicht bemerkt. »Ja. Der Text…« Sie mußte einen Moment lang überlegen. »Im Text heißt es: Du bist aus dem brausenden Wind geschaffen. Ich werde dir Eulenfedern in die Mähne binden, und dann reiten wir geschwind wie ein Pfeil in die Wolken über den Bergen. Mein Großonkel hat es mir beigebracht. Er war ein synshy - ein Pferdekenner. Er konnte mit den Pferden sprechen.« »Sagten Sie gerade Eulenfedern?« -226-
»Eulenfedern bringen Glück. Und Weisheit.« Shan stellte fest, daß er die Hand auf sein gau gelegt hatte. »Am Tag meiner Namensverleihung wurde ein wunderhübsches schwarzweißes Fohlen geboren, und mein Vater versprach, es würde mir gehören. Wir sind zusammen aufgewachsen. Sein Name war Zharya. Wir haben viele Rennen gewonnen. Oft sind wir auf die Hochweiden geritten, und dann habe ich ihm mit meiner dombra etwas vorgespielt.« Hinter ihnen flüsterte jemand, und als Shan sich umdrehte, sah er, daß auch die anderen Jaklis Geschichte mit anhörten. »Ist er noch immer im Lager des Roten Steins?« fragte Shan. Sie stimmte erneut das Lied an, summte diesmal aber nur die Melodie. »Nein«, antwortete sie schließlich betrübt, als Shan schon zu glauben begonnen hatte, sie habe ihn nicht gehört. »Eines Tages haben Zharya und ich einen schweren Baumstamm quer über die Straße gezogen, weil ich wußte, daß ein Armeelaster kommen würde.« Sie trat einen Schritt in die Dunkelheit vor. »Wir sind den Berg hinaufgeritten und haben oben auf einer Klippe gewartet, wo die Soldaten uns niemals erwischen würden. Lachend haben Zharya und ich beobachtet, wie die Männer versuchten, den Baumstamm von der Fahrbahn zu rollen. Dann stöhnte Zharya auf und fiel um, und im selben Moment ertönte von unten ein Knall. Sie hatten mit einem Gewehr auf ihn geschossen.« Jaklis Blick war noch immer in die Finsternis gerichtet. »Es hat den ganzen Nachmittag gedauert, bis er tot war. Er lag einfach da, mit dem Kopf in meinem Schoß, und sah mich an, als sei das alles nur ein schlechter Scherz.« Eine plötzliche Windbö durchbrach die Stille, ein trockener, kühler Luftzug, der nach Kohlenstaub roch. »Aber jetzt haben Sie doch ein neues Pferd, oder?« wagte Shan sich schließlich vor. »Das Pferd von gestern? Nein, das war bloß irgendein Tier -227-
aus der Herde des Clans. Ich habe kein Pferdeleben mehr«, stellte sie mit großem Kummer fest und kletterte wieder auf die Reissäcke, um sich schlafen zu legen. Shan lehnte sich gegen den Pfeiler, wartete noch eine Viertelstunde ab und stieg dann zu den anderen auf die Ladefläche. Aber er schlief nicht. Er beobachtete. Das Gelände war menschenleer, doch auf den Wachtürmen brannte Licht, und in unregelmäßigen Abständen schaltete jemand dort Scheinwerfer ein, mit denen dann der Zaun ausgeleuchtet wurde. Shan würde es nicht schaffen, sich unbemerkt durch den Drahtverha u zu schleichen, um mit dem Wasserhüter zu sprechen oder in der Sonderbaracke nach Gendun zu suchen. Shan blickte wieder zu dem Heizungsgebäude. Es wurde weiterhin Strom verbraucht. Irgendwann würde jemand das Feuer schüren oder Kohlen nachlegen müssen. Er sah den Mond aufgehen und hörte, wie zum Zeichen des Zapfenstreichs die Nationalhymne aus den Lautsprechern ertönte. Wie streng wurde wohl in einem lao jiao Lager auf die Einhaltung dieser Vorschrift geachtet? Bestimmt nicht so unbarmherzig wie damals im Gulag, wo man gar nicht erst Fragen stellte. Wenn dort ein Häftling nach dem Zapfenstreich außerhalb der Baracken erwischt wurde, drohte ihm die sofortige Erschießung. Shan mußte eingenickt sein, denn als er das nächste Mal aufblickte, stiegen wesentlich dichtere Rauchschwaden aus dem Schornstein. Jemand hatte für Nachschub an Brennmaterial gesorgt. Von den Arbeitern war keine Spur zu entdecken. Er wartete einige Minuten ab, kletterte dann leise vorbei an seinen Gefährten nach unten und holte die Taschenlampe aus dem Handschuhfach. Die Batterien waren nahezu erschöpft, und das Licht reichte kaum einen Meter weit. Perfekt für seine Zwecke. Langsam überquerte er die freie Fläche und umrundete den -228-
Schuppen in der Nähe des Heizungsgebäudes. Auf der Rückseite befand sich ein verriegeltes Fenster. Shan drückte sein Gesicht an die Scheibe, konnte aber nichts erkennen. Von der vorderen Ecke aus suchte er das Gelände ab. Am äußeren Zaun bewegten sich die hellen Scheinwerfer eines einzelnen Fahrzeugs. Eine Patrouille. Shan wartete, bis der Wagen die Vorderseite des Areals hinter sich gelassen hatte und abgebogen war, um dem Verlauf des Zauns in den rückwärtigen Bereich des Lagers zu folgen. Dann lief Shan zur Tür des Schuppens. Sie war offen. Die Hütte bestand aus zwei kleinen Räumen. Der erste enthielt eine Reihe von Schaufeln, Harken und Besen. Auf dem Boden lag ein langes, in Leinen gewickeltes Bündel. Shan hatte derartige Bündel zuvor schon auf Teppichmärkten gesehen. Die Webstühle Xinjiangs, vor allem in dieser entlegenen Südwestecke der Region, hatten China und den Rest der Welt bereits zur Zeit der Seidenstraße mit Teppichen versorgt. Vorsichtig ging Shan in den hinteren, etwas größeren Raum. Hier hatte man in fünf oder sechs Schichten Kartons gestapelt. Die meisten waren zugeklebt und schienen direkt aus der Fabrik zu stammen, doch im trüben Licht der Taschenlampe konnte Shan die englisch und japanisch beschrifteten Etiketten entziffern. Radios, Kassettenrekorder und Videokameras. Mehr als dreißig kleine Schachteln enthielten ein Gerät, das Discman hieß. In zwei luftdicht schließenden metallenen Munitionskisten fanden sich Arzneimittelfläschchen in der Originalverpackung des Herstellers. Einige erkannte Shan als Antibiotika, andere trugen englische Markennamen, die er noch nie gehört hatte. Er zog einen kleinen Notizblock aus der Tasche, listete den Inhalt dieses Warenlagers auf und fügte dann noch eine hastig gekritzelte Überschrift hinzu: Lager Volksruhm, Schwarzmarktgüter. Wieso hatten ausgerechnet die Kriecher diesen Schuppen bewacht? Wollten sie Beweise sichern - oder wollten sie ihre -229-
eigene Investition schützen? Gedankenverloren kehrte Shan in den vorderen Raum zurück und kniete neben dem Teppich nieder, der zweifellos ebenfalls zu den Wertgegenständen gehörte. Als er sich vorbeugte, fiel die Taschenlampe zu Boden und rollte ein Stück weg. Shan holte sie sich vorerst nicht zurück, sondern steckte die Finger in das Bündel, um die Webqualität des Teppichs zu ertasten, weil er den Wert abschätzen wollte. Entsetzt zuckte er zusammen. Er stieß unwillkürlich einen leisen Schrei aus und taumelte nach hinten. Keuchend schleppte er sich zum Eingang, riß die Tür ein Stück auf und sog hektisch die kühle Nachtluft in seine Lunge, um sich wieder etwas zu beruhigen. Es dauerte mehrere Minuten, bis er sich so weit gefaßt hatte, daß er zu dem Bündel zurückkehren konnte. Das war kein Teppich. Shan nahm die Taschenlampe, schlug die Leinenhülle zurück und betrachtete seine grausige Entdeckung. Ein junger Mann starrte ihn an, überrascht und leblos. Die Haut des Toten war mit Ruß bedeckt und sein Haar tiefschwarz. Der Körper war noch nicht kalt. Shan spürte etwas Feuchtes an den Fingern und neigte sich tiefer herab. Man hatte dem Mann das linke Ohr abgetrennt. Es war eine alte Form der Folter, die während der Kulturrevolution große Beliebtheit erlangt hatte. Falls ein Häftling sich weigerte, Informationen preiszugeben oder Namen zu nennen, schnitt man ihm das Ohr ab. Wenn du uns nicht mitteilen willst, was du gehört hast, welchen Nutzen haben deine Ohren dann noch? pflegten die Schergen der Roten Garden zu schreien. Auf dem Gesicht des Toten lag ein leichtes Grinsen. Als Shan die schwache Lampe dichter an die Augen des Mannes hielt, verwandelte seine tiefe Traurigkeit sich abermals in bla nkes Entsetzen. Die Augen waren blau. Er rieb mit einer Ecke der Leinenhülle über das Haar des Toten. An dem Stoff blieb eine fettige schwarze Schmiere haften. Shan roch daran. Schuhcreme. Er reinigte die Haare -230-
etwas gründlicher, bis er erkennen konnte, daß ihre Farbe eigentlich der eines Strohbesens ähnelte. Dann fuhr er mit dem Fingernagel durch die dicke Rußschicht im Gesicht des Mannes und hinterließ eine weiße Spur. Es war der Fremde aus dem kleinen Kraftwerk, der spöttische Amerikaner, den er am Heizkessel getroffen hatte. Shan ließ sich im Lotussitz nieder und löschte das Licht, so daß der Raum nur noch durch die Strahlen des Halbmondes erhellt wurde, die durch die offene Tür hereinfielen. Nicht der Tod an sich lastete so schwer auf ihm, sondern die Tatsache, daß der Tod ihm so vertraut war. Seit er sein früheres Leben in Peking zurückgelassen hatte, war der Tod ihm ein ständiger Begleiter geworden. Wahrscheinlich stimmte es, was einer seiner Lehrer gesagt hatte, daß nämlich einer Seele durch die Begegnung mit dem Tod ihre letzten Grenzen aufgezeigt wurden. Vielleicht war das die Ursache für seine tiefe Betroffenheit. Die Konfrontation mit dem Tod schien die Unvollkommenheit der meisten Menschen überdeutlich werden zu lassen, und je näher Shan dem Tod kam, desto unvollkommener fühlte er sich. Er hatte keine Ahnung, wie lange er dort neben dem Toten im Mondschein sitzen blieb. Als er sich seiner Umgebung wieder bewußt wurde, erkannte er, daß er das buddhistische Gebet für den Übergang der Seele aufsagte. Seufzend schaltete er die Taschenlampe wieder ein und fing an, die Leiche des Westlers auszuwickeln. An der linken Hand des Mannes fiel ihm ein Streifen sauberer weißer Haut auf. Man hatte dem Toten einen Ring abgenommen. Der Ring an seiner rechten Hand war hingegen noch vorhanden. Shan zog ihn ab, einen einfachen Ring aus Stahl mit einem simplen Muster, den man wohl für wertlos erachtet hatte. Die Hemdtaschen des Mannes waren leer. Shan knöpfte das Hemd auf. An der rechten Schulter hatte der Fremde eine Narbe, und über der rechten Hüfte sah Shan ein großes ovales Muttermal. -231-
Die Jeans des Mannes trug ein amerikanisches Etikett. Levi's. Die Taschen schienen leer zu sein. Seine teuren amerikanischen Wanderstiefel waren ebenfalls nicht mehr da. Shan nahm sich die Hosentaschen noch einmal gründlicher vor. Ganz unten in der rechten Gesäßtasche fand er ein zusammengerolltes Stück Papier, das man bei der ursprünglichen Durchsuchung offenbar übersehen hatte. Darauf standen in lateinischen Buchstaben fünf Abkürzungen: FBP, SBRF, SSCF, TBLF und in der letzten Zeile ein einzelnes C. Shan kniete neben dem Kopf des Amerikaners nieder und starrte ihm eindringlich in die Augen, als könnte er den Toten auf diese Weise ins Leben zurückrufen. Er wußte nichts über den Mann, außer daß er jung, stark und freundlich gewesen war. Und weit weg von allem, was sein Zuhause hätte sein können. Die Kriecher waren dafür verantwortlich. Die Kriecher hatten einen Amerikaner getötet, begriff Shan auf einmal. Wodurch war dieser Mann ihnen gefährlich geworden? Der Mord an einem Ausländer stellte eine zutiefst heikle Angelegenheit dar, sogar für die Kriecher. Und was war so wichtig gewesen, daß der Fremde dafür in einer dermaßen abgelegenen und einsamen Gegend sein Leben riskiert hatte? Manchmal brachten die Einsatzkommandos besondere Gefangene her, hatte Jakli gesagt. Geheime Gefangene. Langsam wickelte Shan den Toten wieder ein, stand dann auf, ging zwei Schritte und umklammerte das gau vor seiner Brust, als ihn plötzlich wieder eine Woge der Hilflosigkeit übermannte. Er rannte nach draußen, flüchtete auf die Rückseite des kleinen Gebäudes und lehnte sich dort ermattet gegen die Wand, um tief die frische Nachtluft einzuatmen und zu versuchen, sich vom Geruch des Todes zu befreien. Als er auf die Knie sank, hörte er wieder deutlich diese qualvolle Stimme, als würde der verzweifelte Nomade unmittelbar hinter ihm stehen. Ihr müßt euch beeilen. Der Tod geht weiter um. -232-
Kapitel Sechs Der Schildkrötenlaster schlingerte durch die Wüste wie ein kleines Boot in rauher See und kämpfte sich schaukelnd und stampfend quer durch die Sandwogen. Jakli hatte am Steuer jede Menge zu tun, mußte beim Weg über die Dünen immer wieder den Anfahrtwinkel korrigieren oder auffällig hellen Sandflächen ausweichen und durfte dabei nie den nordöstlichen Kurs aus den Augen verlieren, der sie direkt ins Herz der Wüste führte. Als sie von der Straße abgebogen waren, hatte Jakli den Wagen angehalten und Shan einen ernsten Blick zugeworfen. »Die Takla Makan«, hatte sie gesagt und auf die endlose Sandfläche gedeutet. »Es ist ein alter Begriff aus der Zeit, als es noch keine Schrift gab. Weil hier draußen so viele Menschen gestorben sind. Übersetzt bedeutet er Ort ohne Wiederkehr.« Doch Shan hatte ohnehin das Gefühl, sich in einer ausweglosen Situation zu befinden. Mit dem Amerikaner hatte er nichts zu tun, hielt er sich immer wieder vor Augen und musterte die unwirtliche Landschaft. Dieses Geheimnis sollte ein anderer lösen. Er hatte Lau, Gendun, die toten Jungen und nun den Wasserhüter, da blieb kein Platz mehr, sich auch noch um einen toten Amerikaner zu kümmern. Es war lediglich einem schrecklichen Zufall zu verdanken, daß er die Leiche überhaupt entdeckt hatte. Der Amerikaner stand in keinerlei Beziehung zu Lau und Khitai. Vielleicht war sein Tod ein Teil des seltsamen Spiels zwischen den Kriechern und der Anklägerin, oder es gab womöglich eine Verbindung zu Ko Yonghong, der laut mit irgendwelchen amerikanischen Beratern geprahlt hatte. Höchstwahrscheinlich zeichneten jedoch die Einsatzkommandos dafür verantwortlich, die mitunter verdächtige Elemente durch ganz China transportierten, um sie an Orten wie dem Lager Volksruhm verschwinden zu lassen. Dennoch schwebte der Tod des Amerikaners wie ein dunkler Schatten über ihm. Shan -233-
begann langsam zu glauben, was die Einheimischen der Gegend ihm immer wieder versicherten: Dies war ein Schattenland, ein vergessener Winkel, eine Region zwischen den Welten, wo die Menschen wie Gespenster im Dunkeln vegetierten und ein Leben kaum etwas galt. »Ansche inend sehen Sie Dinge, die mir verborgen bleiben«, stellte Shan fest. Er war sich nicht sicher, ob der Ausdruck auf Jaklis Gesicht von Ärger oder bloß von einer angespannten Aufmerksamkeit zeugte. Obwohl es ihre erklärte Absicht war, Shan an den Schauplatz von Laus Ermordung zu bringen, hatte Fat Mao sie vom Gegenteil überzeugen wollen und eingewandt, daß sie in die Hutfabrik zurückkehren müsse und der Ort namens Karatschuk viel zu gefährlich für Shan sei. Zu jenem Zeitpunkt waren sie gerade wieder bei der Werkstatt in den Bergen eingetroffen. Akzu hatte sie bereits erwartet und mit dem mürrischen Mechaniker einen Schlauch kumys geleert. Dann hatte er wütend auf die majestätischen Gebirgskämme gewiesen und seine Stimme erhoben. Aber als seine Nichte ihm versprochen hatte, nach der Reise sogleich wieder in die Fabrik zurückzukehren, hatte er sie schließlich umarmt, war zum Gebet niedergekniet und hatte sich nach Westen verneigt, in Richtung der heiligen Stadt des Islam. »Eigentlich sollten wir uns lieber nicht mit einem Laster in die Wüste wagen«, sagte Jakli nun nach kurzem Zögern. »Nur mit Kamelen ist es halbwegs sicher, und selbst dann verliert ein unerfahrener Reisender häufig noch sein Leben. Aber es ist nicht mehr weit, und so nah bei den Bergen können wir einen Großteil der Strecke in dem alten Flußbett zurücklegen.« Sie fuhr ein flache staubige Böschung hinab und gelangte in eine breite ebene Rinne aus festem Sand. »Man darf nur nicht auf die weichen Stellen fahren.« »Und falls doch?« »Die Wüste verschluckt einen Lastwagen genauso schnell wie einen Mann oder ein Kamel.« Wie aufs Stichwort kam am Ufer -234-
des früheren Flusses ein Haufen gebleichter weißer Knochen in Sicht. »So ist es immer gewesen, schon seit der Anfangszeit der Seidenstraße. Manche Leute haben an der Durchquerung der Wüste ein Vermögen verdient. Andere sind einfach nur gestorben.« Nach knapp einer Stunde erkannte Shan am Horizont eine Reihe großer dunkler Flecke. Sie waren ungleichmäßig geformt und wirkten im einen Moment wie mißgestaltete Gebäude, dann wieder wie erodierte Felsformationen. Für einen kurzen Augenblick hatte Shan den Eindruck, das dort in der Ferne seien riesige Geschöpfe, die sich unter schweren Lasten krümmten. An einer Biegung des Flußbetts gab Jakli Gas, fuhr geradewegs die Böschung empor und direkt auf die seltsamen Gebilde zu. Einige hundert Meter davor bog sie im rechten Winkel ab und fuhr parallel in Richtung Süden weiter. »Die Seidenstraße«, sagte sie plötzlich. »Wissen Sie viel darüber?« »Nur was in den Schulbüchern steht«, erwiderte Shan und zuckte die Achseln. Jakli verzog das Gesicht. »Da werden Sie vermutlich erfahren, es habe sich um eine Epoche furchtbarer Klassenkämpfe und großer Unterdrückung gehandelt, während der man auf dem Rücken von Sklaven Tempel zur Anbetung des Reichtums errichtete.« Sie verlangsamte die Geschwindigkeit, um einen kurzen Blick auf die geheimnisvollen Formen zu werfen. »Wenn Sie hingegen unsere Geschichtsbücher lesen, dann ist das so, als würden Sie wundervolle Gemälde von der Rückseite der Leinwand betrachten.« Sie deutete auf die Formationen. »Das prächtige Karatschuk. Unsere Lehrer ignorieren es, weil es nicht chinesischen Ursprungs ist. Aber es sind Orte wie diese, die mich gelehrt haben, die Takla Makan nicht zu verdammen. Die Wüste mag trügerisch sein, doch genau dieser Umstand hat auch viele ihrer Schätze bewahrt.« Sie hielten auf eine Kette niedriger, flacher Hügel zu, und als -235-
eine uralte Mauer in Sicht kam, hellte Jaklis Miene sich auf. »Karatschuk war eine Oase an der südlichen Route der Seidenstraße«, erklärte sie. »Damals floß aus den Eisfeldern des Gebirges noch genug Wasser zu Tal, um den Fluß ganzjährig zu speisen, und so entstand dieser einst wichtige Handelsposten, der in den alten Texten für seine Fruchtbarkeit und Gastfreundschaft gerühmt wird. Hier wohnten Uiguren, Kasachen und Tibeter, und ihr Leben war so angenehm, daß viele Reisende Monate oder Jahre in Karatschuk verweilten, manche sogar für den Rest ihres Lebens. Bis vor kurzem wußten wir nur aufgrund der alten Schriften davon, denn vor vielen Jahrhunderten ließ ein karaburan, ein mächtiger Sandsturm, den Ort von der Erdoberfläche verschwinden. Doch vor zehn Jahren wurde durch einen weiteren Sturm die oberste Schicht wieder freigelegt.« Inzwischen konnte Shan deutlich erkennen, daß es sich bei den Gebilden um die Überreste von künstlich errichteten Bauwerken handelte. Die sandfarbene, oben abgeflachte Mauer bestand aus gepreßter Erde. Sie war stellenweise eingestürzt, und durch die Lücken sah man zahlreiche kleine Sandhügel, deren gleichmäßige Anordnung auf Gebäude schließen ließ. Als der Laster den Kamm der Düne erklomm, die südlich der Mauer wie eine gewaltige Schneeverwehung aufragte, erblickten sie eine große, eindeutig menschlich geformte Gestalt. Es war die Statue eines liegenden Buddhas, der, auf einen Ellbogen gestützt, in Richtung der südlichen Berge und damit nach Tibet schaute. Die Schulterhöhe der Figur betrug rund sechs Meter, und der Großteil des Kopfes existierte nicht mehr. Oberhalb des Halses war nur noch der heiter lächelnde Mund übriggeblieben. »Ich hatte ganz vergessen, daß es hier zu jener Zeit Buddhisten gab«, sagte Shan langsam. Buddhisten. Vielleicht war er letztlich doch noch auf eine Spur gestoßen, eine Spur verborgener Buddhisten. Der moslemische Junge, der eine Gebetskette trug. Der geheime tibetische Unterrichtsraum in -236-
Laus Höhle. Der Wasserhüter im Reislager. Ein kopfloser Buddha in der Wüste. »Ursprünglich war dies eine vollständig buddhistisch geprägte Region, auch noch viele hundert Kilometer nördlich und östlich von hier. Dann kamen die Moslems aus dem Westen und die Chinesen aus dem Osten«, erläuterte Jakli. »Ich habe die Aufzeichnungen eines Reisenden aus dem Osten gelesen«, fuhr sie nach kurzer Pause fort. »Er hieß Xuanzang und trat als Gesandter des chinesischen Kaisers eine Pilgerfahrt nach Indien an, die ihn auch durch das Königreich Karatschuk führte. Das ist jetzt mehr als tausenddreihundert Jahre her. Eine Volkszählung hatte ergeben, daß fünftausend Menschen hier lebten, und zwar in Frieden und Wohlstand, wie es ihn im damaligen China nicht gab. Über allen Türen hingen Weinreben. Die Bürger hatten am Straßenrand Pfirsich- und Granatapfelbäume gepflanzt, und auf Geheiß des Königs durfte jeder Passant sich zur Erfrischung eine der reifen Früchte pflücken, aber nur eine.« Jakli lächelte gequält. »Das nenne ich einen aufgeklärten Kommunismus.« Sie wies nach Süden, wo am Horizont die Gipfel des Hochgebirges zu sehen waren. »Aber das alles war nur dem Eis in den Bergen zu verdanken, dessen Wasser die Flüsse und Bewässerungskanäle speiste. Dann begannen die Eisfelder zu schrumpfen. Je weiter das Wasser versiegte, desto näher zogen die Menschen an die Berge heran. Als die Sandstürme kamen, lebte hier bereits kaum jemand mehr. Ich weiß noch, wie der Sturm die Stadt freigelegt hat. Die Leute sagten, es sei ein Fingerzeig Gottes, um uns an unsere Identität zu erinnern. Andere behaupteten, es sei ein Werk der Wüstengeister, damit wir hierher zurückkehren würden.« Diagonal über dem südlichen Rand des Ruinenfelds, vor einer Mauerbresche in der Nähe des Buddhas, verlief eine letzte, kleinere Düne. Jakli trat aufs Gas. Die Vorderräder des Lasters verließen den Sand, und schlingernd erreichten sie die Geisterstadt Karatschuk. -237-
Als Shan ausstieg, war er sofort von der Umgebung fasziniert. Sie standen auf einem kleinen Platz. Ringsum erhoben sich die schemenhaften Umrisse einstiger Gebäude, deren Wände aus gebrannten Lehmziegeln in Farbe und Beschaffenheit so sehr dem Sand glichen, daß die gesamte Landschaft wie ein Flickwerk aus unterschiedlichen Braun- und Grautönen aussah. Vereinzelt reckten sich die grotesk verzerrten und komplett verdorrten Überreste früherer Bäume aus dem Boden. In etwa zehn Metern Entfernung war das obere Ende eines Mauerbogens freigelegt worden. Jakli ging auf eine Lücke zwischen äußerer Mauer und dem größten und besterhaltenen Gebäude zu, einem dachlosen rechteckigen Haus aus Steinblöcken mit schmalen Fensteröffnungen, die sich beinahe über die gesamte Höhe der Wand erstreckten. Vielleicht eine Soldatenunterkunft, dachte Shan. Er sah niedrigere Mauern, bei denen es sich ehedem um Wohnhäuser gehandelt haben konnte. Daneben ragten in gleichmäßigen Abständen kurze armdicke Stümpfe aus dem Sand, die durch die Jahrhunderte trockener Hitze steinhart gebacken waren. Durstige Reisende hatten sich hier seinerzeit an kostenlosen Pfirsichen laben dürfen. Als sie das große Gebäude hinter sich ließen, sah Shan, daß aus der äußeren Mauer die Überreste von Holzbalken nach innen ragten. Sie waren in einer Reihe angeordnet und hatten ursprünglich Dächer gestützt. Die Wände einer der Ruinen waren noch hoch genug, um die Balken in ihrer eigentlichen Position zu halten, so daß man einen Eindruck davon erhielt, wie die Straße vor acht oder neun Jahrhunderten aus gesehen haben mochte. Shan trat vorsichtig in den Eingang des Hauses, zuckte zusammen und wich erschrocken zurück, als ihn plötzlich zwei große Augen anstarrten. Jakli lachte, und er wagte sich wieder ein Stück vor, um das lebensgroße Wandgemälde genauer zu betrachten. Obwohl der Putz rissig und großflächig abgebröckelt war, konnte Shan mit einiger Mühe die Gestalt -238-
eines Leoparden ausmachen, der offenbar soeben ein kleines braunes Tier gerissen hatte. Die Farben waren fast vollständig verblaßt, und nur die wild blickenden Augen der Raubkatze wirkten noch so lebensecht wie zu dem Zeitpunkt, als jemand sie vor vielen Jahrhunderten an die Mauer gemalt hatte. Als Shan sich zum Gehen wandte, ertönte irgendwo in der Nähe ein Geräusch. Es hätte der Schrei eines Tiers sein können. Vielleicht war es auch nur der Wind, der sich zwischen den Ruinen fing. Nach weiteren hundert Schritten gelangten sie auf eine freie Fläche, die einen Kreis seltsam unförmiger Steinsäulen beherbergte. Jakli blieb stehen und zeigte darauf. Shan ging etwas näher heran und erkannte Konturen auf der verwitterten Oberfläche, hier eine Hand, dort ein anmutiges Bein. Das hier war ein ehemaliger Skulpturengarten. Über ein halbes Dutzend steinerner Stufen gelangten sie auf eine kleine Kuppe, die den höchstgelegenen Punkt innerhalb der Mauern darstellte. Der liegende Buddha dominierte die Szenerie hinter ihnen. Die Gestalt wirkte dermaßen entspannt und fügte sich so harmonisch in die hügelige Landschaft ein, daß man glauben konnte, sie würde sich jeden Moment erheben und den Weg ins Kunlun-Gebirge antreten. Im Norden, am anderen Ende des Ruinenfelds und somit mehr als zweihundertfünfzig Meter von ihnen entfernt, stand eine Reihe weiterer Statuen im Sand. Jakli streckte den Arm in Richtung der Figuren aus. »Die Wächter der Nordseite«, erklärte sie. »Sie stehen oben auf der Stadtmauer.« Dann drehte sie sich ein Stück zur Seite und deutete auf einen Umriß in der Nähe, eine niedrige, langgezogene Düne, die sich über der westlichen Stadtmauer wölbte. Dort schauten der behelmte Kopf eines Kriegers und neben ihm die obere Hälfte einer wie zur Warnung erhobenen Hand aus dem Sand. Shan mußte unwillkürlich lächeln, denn die Schönheit der alten und geheimnisvollen Stadt flößte ihm eine seltsame Art von Seelenfrieden ein. Er kannte ähnliche Statuen von anderen -239-
Ruinen in China und Tibet, doch bislang hatten sie stets die Spuren von Einschüssen oder Sprengladungen getragen, weil sie als Ziele für das Übungsschießen der Armee dienen mußten. Die meisten alten Festungswälle hatte man eingerissen, da sie als Symbole des Imperialismus oder mögliche Rebellenverstecke galten. Die riesigen Nationalbibliotheken, deren Manuskripte zum Teil mehr als zweitausend Jahre in die Vergangenheit reichten, waren im Zuge der Kulturrevolution zerstört worden. Tempel, nicht nur in Tibet, hatte das gleiche Schicksal ereilt. Als Schüler war Shan mit seinen Klassenkameraden per Bus zu einem der alten Kaisergräber verfrachtet worden, um dort dem Prozeß gegen einen Herrscher der Mine-Dynastie beizuwohnen, den die Roten Garden exhumiert hatten. Man verurteilte den Kaiser wegen einer langen Liste von Verbrechen gegen das Volk und verbrannte dann die Leiche samt ihrer Grabbeigaben. Doch Karatschuk hatte unter dem Sand geschlafen und war dadurch Pekings Zugriff entgangen. Shan hätte sich stundenlang in den Anblick vertiefen können, und er sah Jaklis leuchtenden Augen an, daß sie ebenso empfand. Ihm wurde klar, daß er seine Lebensfreude anscheinend vor allem aus jenen Dingen zog, die von der modernen chinesischen Gesellschaft entweder vergessen oder übersehen worden waren. Die verborgenen Mönche in Tibet. Die alten taoistischen Texte, die sein Vater ihn gelehrt hatte. Die Hand einer antiken Kriegerstatue, die aus dem Sand ragte. Sie folgten dem weiteren Verlauf des Weges, entfernten sich von der Mauer und stiegen allmählich in Richtung einer großen Senke ab, über der sich ein langer, hoher Felsvorsprung erstreckte, der die Stadt am östlichen Rand begrenzte. Shan blieb stehen, weil ihm unterhalb der Mitte des Vorsprungs ein paar kleine Gebäude auffielen, die sich in einem deutlich besseren Zustand als der Rest der Ruinen befanden. Sie bestanden zwar ebenfalls aus gepreßter Erde und Backsteinen, aber ihre rissigen Wände waren weitgehend noch intakt, und sie -240-
verfügten über Dächer aus grauen, in der Sonne getrockneten Ziegeln, auf denen Sand und morsches Holz lagen. Jenseits der Hütten erhob sich ein größeres Bauwerk, das aus einem quadratischen Teil und einem runden Kuppelbau zusammengesetzt war und die Jahrhunderte ebenfalls ohne ernstliche Schäden überstanden zu haben schien. Bei genauerer Betrachtung kam Shan auf einen anderen Gedanken. Vielleicht hatte man das alles listig so wieder aufgebaut, daß es dem flüchtigen oder weit entfernten Beobachter wie ein Teil des Ruinenfelds erscheinen mußte. Hinter dem Kuppelgebäude standen in einem Gehege aus drei an die Felswand grenzenden Steinmauern mehrere langhaarige Pferde von genau jener kurzbeinigen, robusten Art, die einst die Soldaten der Khane quer durch zwei Kontinente getragen hatte. Vor dem großen Bauwerk erkannte Shan einen kleinen Steinring, über dem ein Dreibein aus Holzbalken aufragte. Ein Brunnen. Er bemerkte, daß Jakli ein Stück abseits stand und ihn unschlüssig musterte. »Ich weiß nicht, was diese Leute tun werden. Akzu hatte recht. Es ist gefährlich.« »Aber Laus Tod hat sich ereignet, während sie hier zu Besuch war, oder?« Jakli nickte. »Was bedeutet, daß sie hier Freunde hatte. Leute, denen sie vertraut hat.« Jakli nickte ein weiteres Mal. »Wenn Lau hier Freunde hatte, habe ich keine Angst«, behauptete Shan und hoffte, man würde seiner Stimme die Unsicherheit nicht anhören. Jakli schien etwas erwidern zu wollen, doch unversehens erregte ein anderes Ereignis ihre Aufmerksamkeit. Aus dem großen Gebäude trat ein Mann und ging zu dem Gehege. Er bewegte sich unsicher und schwankend, als sei er betrunken. Sie verfolgten aus dem Schatten, wie er hastig eines -241-
der Pferde sattelte, aufstieg und dann im Trab auf einen Pfad einbog, der Richtung Norden führte. Jakli schaute noch immer dem Reiter hinterher, während Shan bereits den Weg nach unten antrat und vorbei an den Hütten auf die Brettertür des großen Gebäudes zuging. Die Pferde blickten ihm stumm entgegen. Es roch ein wenig nach Rauch. An der Tür hielt Shan inne und drehte sich zu Jakli um, die nach wie vor auf dem Hügel stand und nervös die kleine Ansiedlung inspizierte, als sei sie letztendlich zu dem Schluß gekommen, daß es tatsächlich ein Fehler gewesen war, ihn herzubringen. Auf einmal barst die Tür nach außen auf, ein Mann stolperte ins Tageslicht und stieß mit Shan zusammen. Sie landeten beide im Sand, woraufhin der Fremde seine Hände um Shans Kehle legte und zudrückte. Shan keuchte kläglich auf und versuchte, den Mann abzuwerfen, was zur Folge hatte, daß der Angreifer von seinem Hals abließ, aber mit kleinen harten Fäusten auf Shans Brust einhämmerte. »Du Dieb!« brüllte der Mann mit schriller Stimme. Dann tauchten plötzlich zwei weitere Hände auf und packten den Mann an den Schultern, so daß Shan die Flucht ergreifen konnte. Jakli vermochte den Mann nur kurz aufzuhalten, dann entwand er sich ihrem Griff und kroch mit wildem und mordlüsternem Blick auf Shan zu. »Huf!« schrie Jakli. »Hör auf!« Sie verpaßte dem Mann einen Tritt in den Hintern, der jedoch zu keiner Reaktion führte. Dann trat sie noch einmal fester zu, so daß er bäuchlings auf dem Boden landete. Endlich kam der Mann zur Besinnung. Er hob den Kopf, sah sich verdutzt um, drehte sich dann langsam auf den Rücken, richtete den Oberkörper auf und starrte Shan und Jakli verwirrt an. »Ach, du bist das«, sagte der Mann namens Huf schwerfällig zu Jakli. Dann wandte er den Kopf in Richtung Tür. »Ich hab -242-
dich gar nicht gesehen«, murmelte er. Seine Verwirrung wich anscheinend einem anderen Gefühl. Er wirkt irgendwie enttäuscht, dachte Shan und spürte im selben Moment etwas Feuchtes an den Fingern. »Sie bluten ja«, rief er erschrocken und befürchtete, den Mann bei seinem Befreiungsversuch verletzt zu haben. Der Mann schaute auf seine verwundete rechte Schulter und sah dabei weniger beunruhigt als vielmehr entrüstet aus. »Erst beklaut und dann auch noch abgestochen!« nörgelte er lautstark. »Heute ist wirklich nicht mein Tag.« Er hatte eine große Nase und bleiche Haut, und die kleinen Flecke auf seinen Wangen schienen Sommersprossen zu sein. Sein kleines Gesicht belebte sich. »Niemand will dich hier«, sagte er mit einem merkwürdig hoffnungsvollen Unterton zu Shan. »Sie sollten diese Wunde säubern«, sagte Shan und suchte in seinen Taschen nach etwas, womit er dem Mann behilflich sein konnte. »Du mußt abhauen, bevor…« Der Mann hielt abrupt inne, als eine Gestalt im Eingang erschien, ein hochgewachsener Mann mit einer bestickten Kappe und einem leuchtendgrünen Hemd, dessen Ärmel abgerissen worden waren. Er hielt ein Glas in der Hand und wischte es soeben mit einem Stoffetzen ab. »Dich soll der Teufel holen, Osman!« kreischte Huf. »Irgendein Hundesohn hat meinen Beutel geklaut.« Als würde ihm nachträglich noch etwas einfallen, hob er eine Hand. Sie war rot von seinem Blut. »Und auf mich eingestochen. Man kann sich wirklich nirgendwo mehr sicher fühlen!» Der Mann, den er Osman genannt hatte, stieß ein nichtssagendes Grunzen aus. Dann sah er Jakli, und seine Augen begannen zu leuchten. Er hob lächelnd den Kopf und bemerkte Shan. Das Lächeln verschwand. Er warf Huf den Lappen zu und verschwand wieder im Gebäude. »Mistkerle!« fluchte Huf und schleuderte den Fetzen zurück -243-
in Richtung Tür. Shan riß einen Streifen von seinem Unterhemd ab und verband damit die Wunde des Mannes, was dessen Wut merklich zu beschwichtigen schien. »Du mußt von hier verschwinden. Ich könnte dir helfen«, sagte Huf in neuem, vertraulichem Tonfall. »Ich heiße Huf. Ich bin ein guter Tadschike. Ich kenne die Wüste. Ich habe chinesische Freunde. Ich bringe dich in die Stadt. In einer Stadt wirst du in Sicherheit sein.« »Er ist auch hier in Sicherheit«, sagte Jakli und trat vor, so daß sie drohend über Huf aufragte, der immer noch auf dem Boden saß. »Na klar, natürlich, wenn du das sagst.« Huf hastete wie eine Krabbe auf allen vieren zurück, bis er nicht mehr in Jaklis Reichweite war, sprang dann auf und lief ins Gebäude. Shan sah ihm hinterher. »Er heißt Huf?« fragte er Jakli. Sie seufzte und schaute besorgt zur Tür. »Bei manchen der alten Nomadenstämme ist das so Brauch. Ein Baby wird nach dem ersten Ding benannt, das die Mutter am Morgen nach der Geburt zu Gesicht bekommt.« Sie winkte ihn zu sich heran, als wolle sie ihn von dem Gebäude weglotsen. Aber Shan folgte Huf ins Innere. Im ersten Moment kam es ihm so vor, als würde er eine Höhle betreten. Er gelangte in einen unbeleuchteten Korridor von etwa fünf Schritten Länge, zu dessen beiden Seiten sich dunkle Nischen zu befinden schienen. Während Shan den Gang durchquerte und dabei den Blick auf den Sandboden gericht et hielt, versuchte er sich zu erklären, was dem Tadschiken soeben zugestoßen sein mochte. Der Korridor endete vor einer steinernen Wand. Einer Geisterwand. Die Errichtung dieses Gebäudes war unter der Anleitung eines Geomanten erfolgt, eines jener Schamanen, die in den traditionellen Königreichen Nordasiens beim Bau auch noch des einfachsten Stalls eine -244-
weitaus größere Rolle spielten als Architekten oder Zimmerleute. Durch Anwendung der Kunst des Feng Shui hatte der Geomant vor vielen Jahren angeordnet, daß direkt gegenüber dem Eingang eine Wand aufgestellt werden sollte, da böse Geister sich stets auf geraden Bahnen fortbewegten. Zudem zeigte die Eingangstür nach Süden, wie Shan in diesem Moment erkannte, weil die besagten Geister im Norden hausten. Es roch nach Lampenöl und Zimt. Shan hörte Gelächter. Eine laute Stimme erzählte gerade einen obszönen Witz auf mandarin. Vor der Wand bog er links ab und gelangte durch einen weiteren kurzen Gang zu einer kleinen gewölbten Türöffnung. Shan blieb unter dem Mauerbogen stehen und starrte durch dichten Tabakrauch in einen großen Raum, der offenbar als Gaststube fungierte. Die Kammer wurde durch ein Dutzend großer Kerzen und vier Kerosinlampen erhellt, von denen zwei über einem großen Tisch hingen. Anscheinend hatte man sie mit Telefonkabel an den hölzernen Deckenbalken befestigt. Der Tisch befand sich etwa drei Meter vom Eingang entfernt und stand auf einigen aufgeschichteten flachen Steinplatten, so daß er dem großen Mann namens Osman, der kurz an der Tür aufgetaucht war, bis zur Taille reichte. Osman lehnte auf der provisorischen Theke, auf der Shan außerdem einen Korb getrockneter Feigen, einen Stapel flacher nan-Brote und eine Ansammlung von Flaschen entdeckte, deren Inhalt überwiegend in den verschiedensten Brauntönen schillerte. Gefährlich nah an der Tischkante standen zahlreiche Trinkgläser, die zumeist Sprünge hatten und schmutzig waren. Hinter Osman lag ein großer zottiger grauer Hund und schlief. Im Raum verteilt saß ein Dutzend Männer an mehreren großen Holzkisten, die man umgedreht hatte und auf diese Weise als behelfsmäßige Tische nutzte. Am hintersten dieser Tische teilte der verwundete Huf sich mit einem anderen Mann eine Flasche, hielt sich dabei den Arm, warf Osman finstere -245-
Blicke zu und murmelte etwas, das seinen Begleiter lachen ließ. In der Mitte des Raumes befand sich ein kleiner, mit edlen Schnitzereien versehener Tisch, an dem niemand saß. Darauf stand ein reich verziertes Schachspiel und daneben ein großer, schmutziger und dick gepolsterter Sessel, der wie ein überdimensionales Nadelkissen wirkte, weil aus den vielen Löchern der Polsterung das hineingestopfte Stroh wieder hervorquoll. Als Shan den Raum betrat, erstarben schlagartig alle Gespräche. Er war der einzige Han-Chinese. Unter den forschenden Blicken der meisten Anwesenden ging Shan zögernd zu einer der umgedrehten Kisten neben dem Tresen. Als er sich setzte und nach einer Feige griff, erlosch das allgemeine Interesse, und der Geräuschpegel stieg wieder an. Zwei der Männer standen auf, um ihre Gläser nachzufüllen, und machten dabei einen großen Bogen um den Sessel. Shan sah, daß der leuchtendrote Hemdsärmel des einen Mannes leer zu sein schien. Bei genauerem Hinsehen entdeckte er, daß dem Fremden einer seiner Unterarme fehlte. Durch die Rauchschwaden musterte Shan ein Wandgemälde hinter Osman. Es zeigte Gestalten, deren lange Gesichter und Bärte auf eine europäische oder vielleicht auch persische Abstammung hinzudeuten schienen. Sie ritten auf schwerbepackten Eseln auf einen Mann zu, der sie unter einer hängenden Weinrebe erwartete. Jemand hatte einer der Figuren die Augen ausgekratzt, was in moslemischen Ländern keine Seltenheit darstellte, weil hier die religiösen Vorschriften die Abbildung von Menschen untersagten. Über dem Wandgemälde hing an einem Nagel das kleine gerahmte Schwarzweißfoto eines Pferdes. Am anderen Ende der Theke stand in einer Nische neben einem Vorhang ein stark beschädigter steinerner Buddha, dem man einen Zigarettenstummel zwischen die geschürzten Lippen gesteckt hatte. Darüber hing ein handgeschriebenes -246-
Schild an der Wand und verkündete: Diese Bar ist nei lou. An der Wand jenseits des Vorhangs prangte eine weiße Flagge mit Halbmond und einem einzelnen Stern. »Haben Sie Tee?« fragte Shan. »Sie sehen doch, was wir haben.« Der Mann namens Osman hielt einen ledernen Trinkschlauch hoch. »Kumys«, sagte er und wies dann damit auf die Flaschen. »Baijin. Maotai. Bier. Wodka.« Seine rauhe Stimme klang ungeduldig. »Zwei Yuan.« »Zwei Yuan?« wiederholte Shan ungläubig. Mit dieser Summe würde man in vielen Teilen Chinas eine ganze Familie verköstigen können. »Unser Sonderpreis für Besucher aus dem Osten.« »Dann möchte ich lediglich ein Glas Wasser.« »Drei Yuan.« Jemand legte Shan eine Hand auf die Schulter. »Zweimal Tee, Osman«, sagte Jakli. Der Wirt runzelte die Stirn. »Ist er mit dir hier?« »Ja. Er ist ein Freund von Tante Lau.« »Verbürgst du dich für ihn?« Jakli erwiderte nichts. Sie sah Osman nur an, ging dann zur Wand, zog den Zigarettenstummel aus dem Mund der Buddhastatue und warf ihn zu Boden. »Zweimal Tee.« Osman musterte sie schweigend, beugte sich dann nach unten, hob eine große schwarze Thermoskanne vom Boden und füllte daraus zwei seiner Gläser mit heißem dunklem Tee. »Nikki?« hörte Shan sie hastig und beunruhigt fragen, während sie sich im Raum umschaute. »Ich sehe keinen von seinen Leuten.« Die Frage schien Osman zu beschwichtigen. »Noch nicht. Vielleicht morgen. Eine letzte Karawane. Bald, da kannst du dir sicher sein.« Der große Kasache sah, daß Jaklis Gesicht sich -247-
plötzlich vor Sorge umwölkte. »Es geht ihm gut, Mädchen. Ich gebe dir mein Wort. Niemand fängt Nikki.« Er lächelte und enthüllte einen Silberzahn. »Niemand außer dir.« Dann goß er ein weiteres Glas Tee ein, hob es empor und brachte grinsend einen Toast aus. »Auf dunkle Nächte und schlafende Wachposten.« Shan sah dem Einarmigen hinterher, der mit vollem Glas zu seinem Platz zurückkehrte. Im Gefängnis hatte er Geschichten über Männer gehört, die dem Gulag entflohen und sich dann oberhalb der Tätowierung den eigenen Arm abhackten, um diesen Verweis auf ihre persönliche Vorgeschichte wieder loszuwerden. Jakli rückte mit ihrem Hocker näher an Shan heran, als wolle sie ihn beschützen. Dann tranken sie beide stumm ihren Tee, während Osman am anderen Ende der Theke Gläser putzte. Als Shan die Anwesenden genauer in Augenschein nahm, erklärte Jakli ihm leise die Regeln dieser Gemeinschaft. Niemand durfte dem Sand Artefakte entreißen, außer sie wurden hier vor Ort benötigt. Niemand baute etwas, das aus der Luft wie ein modernes Gebäude aussehen könnte. Genaugenommen wurde überhaupt nichts gebaut, bevor Osman nicht seine Zustimmung erteilt hatte. Niemand verbrannte das Holz aus den Ruinen, um einerseits keinen verräterischen Rauch entstehen zu lassen und andererseits die Überreste soweit wie möglich zu erhalten. Shan erkundigte sich nach der Fahne. Das sei die Flagge der Republik Ost-Turkistan, in der Osmans Großvater früher als Vizegouverneur von Yutian gedient habe, erklärte Jakli. »Demnach ist das hier Osmans Stadt?« fragte Shan leise und behielt dabei den Mann hinter der Bar im Blick. »Meine Vorfahren haben hier gelebt«, warf Osman lautstark ein und kam näher. »Es ist mein Recht.« Er sah Shan in die Augen, als rechne er mit Widerspruch. Erst nach geraumer Zeit wandte er sich an Jakli. »Wo ist Akzu?« fragte er. -248-
»Beim Roten Stein. Das Programm zur Beseitigung der Armut. Es bleiben nur noch weniger als zwei Wochen.« Osman verzog das Gesicht. »Diese Mistkerle. Ich habe es ihm gesagt. Bring den Clan her.« Er schloß die Hand fest um eine Flasche und starrte sie einen Moment lang an. »So endet es immer«, sagte er wütend. »Mit Firmen und mit Chinesen, die Reden halten.« Er hob den Kopf und schaute wieder Jakli an. »Ich habe gesagt, besser noch, bring mir Direktor Ko. Er wird sich bei uns wie zu Hause fühlen.« Die Männer am nächstgelegenen Tisch lachten. Osman nickte ihnen lächelnd zu und drehte sich zu Shan. »Haben Sie geschäftlich mit Nikki zu tun?« Sein Argwohn war ihm deutlich anzuhören. »Wollen Sie etwas Bestimmtes kaufen?« »Ich bin wegen Tante Lau hergekommen«, sagte Shan. »Sie war…« Aber er merkte, daß Osman ihm nicht zuhörte. Der Wirt hatte etwas gespürt, eine Bewegung, einen nahenden Schatten. Er wandte sich langsam zu dem Vorhang jenseits des Tresens um, und seine Hand verschwand unter dem Tisch, als würde sie nach etwas greifen. Der graue Hund sprang unvermittelt auf und knurrte. Es wurde wieder still im Raum, jemand flüsterte eine Warnung, und alle Blicke richteten sich besorgt auf den Vorhang. Plötzlich erschien dort an der Oberkante ein Finger, ein sehr großer Finger, und schob den Vorhang allmählich beiseite. Osmans Anspannung verflog sofort. Seine Hand kam wieder unter dem Tisch hervor, und einige der Anwesenden brachen in leisen Jubel aus. Ein kahlköpfiger Mann mit Schaffellweste stand auf und verneigte sich übertrieben tief in Richtung des Vorhangs. Andere erhoben ihre Gläser. Der Hund lief schwanzwedelnd vor. »Marco!« rief Jakli voll jäher Freude, rannte dem Fremden entgegen und fiel ihm um den Hals. -249-
Hätte Shan den Mann beschreiben sollen, der nun den Raum betrat, hätte er lange nach den passenden Worten suchen müssen. Manch anderer hätte womöglich einfach von einem »großen Westler« gesprochen, aber genausogut hätte man auch einen Bären schlicht als »groß« bezeichnen können. Und gewiß hatte der bärtige Fremde das Gesicht, die körperlichen Eigenheiten und die Statur eines Westlers, wenngleich sein Verhalten dem teilweise zu widersprechen schien. Seine Augen waren blau, aber sie musterten die Umgebung mit derselben kühlen und wachen Intelligenz, die Shan bei Akzu und einigen anderen Clanmitgliedern wahrgenommen hatte. Auch seine Haut war von den gleichen ledrigen Fältchen überzogen wie die Gesichter der Nomaden. Es gab allerdings einen deutlichen Unterschied. Das Antlitz des Fremden wies zahlreiche Linien rund um die Augen auf, was bewies, daß er oft lächelte. »Genossen!« rief der Mann spöttisch, während er Jakli aus seiner Umarmung entließ und sie zur Theke zog. »Euer Volkskommissar ist da! Ich bringe euch die gute sozialistische Lehre! Zuerst werde ich euch Keuschheitsgürtel anlegen, damit ihr keine Kinder zeugen könnt! Dann schreibe ich euch vor, wie oft ihr rülpsen, saufen oder atmen dürft! All eure Läuse werden registriert, und die Pisse eurer Pferde wird ab sofort besteuert! Und ihr werdet jede Minute davon genießen, denn es geschieht ja alles nur zum Wohl der geliebten Volksrepublik.« Er sprach perfektes Mandarin und stieß die letzten Worte wie Kanonenschüsse hervor. Sein Publikum lachte schallend. Der Mann, den Jakli Marco gerufen hatte, grinste breit, griff in die tiefen Taschen seines schweren Mantels und zog daraus zwei Flaschen Wodka mit kyrillisch beschrifteten Etiketten hervor. »Aber vorher trinken wir noch einen!« Die Flaschen waren verkorkt. Er brachte ein teures Schweizer Armeemesser zum Vorschein und klappte dessen Korkenzieher aus. Osman warf ihm ein Glas zu. »Was gibt's denn diesmal zu -250-
feiern, alter Bär?« »Was es zu feiern gibt? Daß ich am Leben bin und du am Leben bist! Daß Jakli so schön und Nikki so mutig ist. Daß wir trotz schlechter Chancen ein weiteres Mal die Ernte eingefahren haben. Und daß ich genug Wodka zum Reiterfest mitgebracht habe, um eine ganze Woche lang betrunken zu bleiben! « Jeder Mann, sogar der eingeschnappte Huf und sein Begleiter, sprang auf und eilte zur Bar, um sich von Marco einschenken zu lassen. »Auf die Schmuggler!« rief er, sobald alle zwei Fingerbreit Wodka im Glas hatten. »Wan sui!« Sein Ruf ließ die Lampen erbeben. »Zehntausend Jahre! Wan sui für alle Schmuggler, die ehrbarsten aller Werktätigen.« Er betrachtete sein Glas für einen Moment. »Wir täuschen nicht vor, Regeln zu befolgen, an die wir nicht glauben«, verkündete er übertrieben feierlich. »Und wir geben den Leuten stets, was sie wollen.« Die Männer an der Bar klopften dem großen Mann auf die Schultern und prusteten vor Lachen, als er ihnen spöttisch zwei abgenutzte Elfenbeinwürfel entgegenstreckte. Zuletzt fiel sein Blick auf Shan. »Wer ist denn dieses jämmerlich kleine Geschöpf, liebste Jakli?« fragte er, und sein Lächeln wirkte nicht mehr fröhlich. »Er ist uns zu Hilfe gekommen. Wegen der Morde.« »Mein Gott, Kind!« brummte Marco mit tiefer Stimme. »Du hast doch nicht etwa…» »Er gehört nicht zu den Behörden«, unterbrach Jakli ihn hastig. »Er kommt aus Tibet.« Marco musterte Shan mit kaltem Blick. »Eine rauhe Gegend, dieses Tibet«, sagte er dann. Shan nickte. »Vor allem für die Tibeter.« Marco lächelte zynisch und nickte zustimmend. »Wo in Tibet?« »Hauptsächlich bei der 404. Baubrigade des Volkes. In -251-
Lhadrung.« »Lao gai.« Marco stieß die Worte wie einen Fluch hervor. Er trank sein Glas aus, trat an Shans Seite, packte dessen Unterarm mit seiner riesigen Hand, schob den Ärmel hoch und begutachtete die Tätowierung. Er drückte darauf und dehnte die Haut. Dann nickte er billigend, als kenne er sich mit diesem Thema besonders gut aus. »Und davor?« »Peking.« Jedermann in Hörweite verstummte schlagartig. Der kräftige Fremde goß sich einen weiteren Wodka ein, ließ das Glas jedoch auf der Bar stehen und nahm Shan genauer in Augenschein. »Eine Seidenrobe!« rief er mit geheuchelter Herzlichkeit und spielte dabei auf die Mandarine an, die hohen Staatsbeamten der chinesischen Kaiserreiche. Sein Blick blieb weiterhin alles andere als herzlich. Er zog die Augenbrauen hoch. »Oder gar ein Palast-Eunuch?« Die Männer brüllten vor Lachen. »Ich heiße Shan Tao Yun«, sagte Shan leise. Marco erhob sein Glas. »Willkommen im Nationalitätenpalast von Karatschuk, Genosse Shan«, sagte er in Anspielung auf die gewaltigen Hallen, die in den Provinzhauptstädten zum Ruhme der mannigfaltigen Kulturen des Landes errichtet wurden. An den Tischen kam leises Gekicher auf. »Sie… Sie sind ebenfalls ein Besucher, wie ich sehe«, sagte Shan unbeholfen. Das westliche Erscheinungsbild des Mannes verwirrte ihn noch immer. Einige der Männer lachten abermals. »Beim Geist des Großen Vorsitzenden, wollen Sie mich beleidigen?« dröhnte Marco. »Ich bin der beste verdammte Sozialist des ganzen Landes! Falls man mir je einen Paß ausstellen würde, was allerdings nie geschehen wird, dann wäre -252-
er rot. Mit einem großen und vier kleinen gelben Sternen«, sagte er in Anspielung auf die chinesische Nationalflagge. »Einen linientreueren Bürger als mich werden Sie in Xinjiang nicht finden.« »Das hat nicht viel zu besagen«, entgegnete Shan. Er spielte ein gefährliches Spiel, vor allem, weil er die Verbindung zwischen Marco und Jakli nicht einschätzen konnte und daher nicht wußte, was Jaklis Schutz letztlich wert war. Marco grinste wieder. »Eine Seidenrobe mit Sinn für Humor.« Er beugte sich zu dem Mann hinter der Bar herüber. »Anscheinend stimmt es, was man sich so erzählt, Osman«, sagte er in sachlichem Ton, zwinkerte dabei aber verschmitzt. »Das Paradies der Arbeiterklasse wird jeden Tag prächtiger.« Er verlagerte auf dem Hocker sein Gewicht, so daß der Aufschlag seines dicken Wollmantels verrutschte und Shan freie Sicht auf zwei Gegenstände erhielt. Das eine war eine massive Silberkette, an der eine große Taschenuhr hing. Das andere war die größte Pistole, die Shan je gesehen hatte. Der Revolver schien noch aus dem neunzehnten Jahrhundert zu stammen. »Ich habe den Rest Ihres Namens leider nicht mitbekommen«, sagte Shan zu Marco. Der große Mann sah ihn durchdringend an. Er war es eindeutig nicht gewohnt, bedrängt zu werden. »Man hat mir schon viele Namen verpaßt. Aber ich wurde getauft, Genosse«, sagte er spöttisch. Es schien ihm zu gefallen, daß Shan ziemlich verwirrt war. »Jawohl, getauft. Von einem alten Priester, von dem sogar einst der Zar die Kommunion empfangen hatte. Meine Mutter hat sich für einen Namen entschieden, der die vielen seltsamen Länder widerspiegeln sollte, die ich ihrer Meinung nach zu Gesicht bekommen würde. Marco Polo Alexei Myagov, Angehöriger einer der ehrwürdigen Minderheiten unserer Heimat. Der loyalste weiße Chinese des ganze n Landes.« -253-
Ein eluosi. Shan hätte fast vergessen, daß es sie gab. Die meisten der Russen, die vor mehr als achtzig Jahren nach Osten über den Pamir oder den Tian geflogen waren, um den Bolschewiki zu entgehen, hatten sich bis nach Shanghai durchgeschlagen, um von dort aus nach Europa oder Amerika zu emigrieren. Zwanzig- oder dreißigtausend von ihnen waren jedoch in Turkistan geblieben, auch als eine weitere Generation von Kommunisten das Land annektierte und in Xinjiang umbenannte. Shan hatte früher einmal gehört, daß manche Dörfer im äußersten Norden Xinjiangs wie Siedlungen aus dem zaristischen Rußland wirkten. Heute lebten noch einige tausend eluosi überall in Xinjiang verstreut und genossen sogar besondere Jagd- und Fischfangrechte, weil ihre Vorfahren das Land ursprünglich von hiesigen Kriegsherren gekauft hatten. Im übrigen hatte die Welt sie vergessen. »Ich wette, es ist schon viele Jahre her, daß Karatschuk zuletzt Besuch aus Tschambaluk erhalten hat«, sagte Marco und benutzte dabei einen Namen für Peking, den Shan seit seiner Kindheit nicht mehr gehört hatte. Der Begriff stammte aus der Zeit der Yuan-Dynastie, als ganz China von den Khanen regiert wurde, die mit den Turkvölkern Xinjiangs blutsverwandt waren. Vermutlich hätten auch viele der früheren Bewohner Karatschuks diesen Namen benutzt, erkannte Shan. Marcos Stimme klang nun etwas freundlicher, aber in seinem Blick lag weiterhin Mißtrauen. »Was war Ihre Aufgabe, bevor Sie sich Ihre Tätowierung verdient haben?« »Ich habe für das Wirtschaftsministerium gearbeitet«, sagte Shan zögernd. »Als Ermittler.« »Und dann haben Sie gegen die falschen Leute ermittelt.« »Sieht so aus.« Marcos Lachen schien die Wände des Raumes zum Einsturz bringen zu wollen. Die Gläserstapel auf der Theke klirrten. Er schenkte sich den nächsten Wodka ein und deutete auf Shans -254-
noch unberührtes Glas. »Tja, Genosse Inspektor, hier sind wir alle bloß anonyme Mitglieder des glorreichen Proletariats. Gan bei«, sprach er einen Toast aus und trank. Shan starrte auf sein Glas und roch schließlich daran. Mehr würde er sich nicht gestatten. Er hatte kein Mönchsgelübde abgelegt, gegen das er durch den Genuß von hochprozentigem Alkohol verstoßen könnte, aber es kam ihm so vor, als würde er dadurch das Andenken an seine Lehrer entweihen, die noch immer im Arbeitslager von Lhadrung gefangengehalten wurden. Marco hob erneut sein Glas an die Lippen und sah sich unterdessen im Raum um. Plötzlich hielt er in der Bewegung inne, stieß einen Fluch aus und eilte mit zwei langen Schritten zu dem Tisch mit dem Schachspiel. Dann gab er ein weiteres Geräusch von sich, einen unartikulierten Schrei. »Sie ist weg!« brüllte er. Osman eilte herbei. »Unmöglich. Gestern abend war deine Kaiserin noch da. Ich habe hier gesessen und über meinen nächsten Zug nachgedacht.« Marcos Kopf senkte sich. Er wirkte wie ein wütender Stier. »Osman und ich spielen an dieser Partie seit sechs Monaten«, verkündete er, an niemand besonderen gewandt. »Im Winter bringe ich manchmal genug Essen und Getränke mit, um eine Woche nur an diesem Tisch zu sitzen.« Shan trat an seine Seite. Die Spielfiguren bestanden aus uralter Bronze. Eine Armee war rot, die andere grün, was man anhand der kleinen Rubine und Smaragde erkennen konnte, die in die jeweiligen Köpfe eingelassen waren. Die Figuren waren stark zerkratzt. Niemand mußte Shan erst erklären, daß dieses Spiel lange unter dem Wüstensand gelegen hatte. »Meine Kaiserin!« rief Marco. Shan sah, daß das rubinverzierte Gegenstück zu der grünen Königin auf Osmans Seite fehlte. Osman flüsterte Marco etwas ins Ohr und nickte in Hufs -255-
Richtung. »Heilige Mutter Gottes!« brach es aus Marco hervor. Shan zog sich zu Jakli zurück. »Zwei Diebstähle! Ihr Schweine!« Damit waren offenbar gleich alle Anwesenden gemeint. »Laus Leiche ist kaum kalt und jetzt das! Das lasse ich mir nicht bieten. Ich sollte euch alle in den Hintern treten, daß euch Hören und Sehen vergeht. Bei uns herrscht so etwas wie Ehre. Hirten. Männer der Karawanen. Schmuggler. Wir behandeln euch wie Brüder und Söhne. Was glaubt ihr, wo ihr hier seid, zum Teufel? In Urumchi? In Yutian?« »Dieser Sibo aus Kashi war hier«, wandte Osman vorsichtig ein. »Er ist gerade erst aus dem Gefängnis gekommen. Wahrscheinlich war er es. Nach Huf ist niemand mehr rausgegangen. Aber der Sibo ist fünf Minuten vor Huf von hier verschwunden. Vermutlich hat er die Königin eingesteckt und dann Hufs Beutel gestohlen. Inzwischen ist er meilenweit weg.« »Der Dieb ist noch immer hier«, sagte Shan leise. Marco schien ihn nicht zu hören. Er ging zur Bar, trank einen großen Schluck direkt aus der Flasche, drehte sich dann zu Shan um und wischte sich mit dem Ärmel die Wodkatropfen aus dem Bart. »Was war das?« »Ich glaube, der Dieb ist noch immer hier«, wiederholte Shan genauso leise und vorsichtig. Marco starrte ihn nachdenklich an. »Ein Ermittler, haben Sie gesagt. Ein Ermittler weiß, wer der Kriminelle ist.« Er ließ den Blick über die Männer im Raum schweifen. »Wissen Sie, wir sind hier nicht in Peking. Hier werden die Leute nicht so einfach für schuldig befunden.« »Es geht nur darum, die Fakten zu begreifen«, sagte Shan. »Wenn man die Fakten richtig deutet, kann vielleicht Gerechtigkeit walten.« »Gerechtigkeit?« fragte Marco ungläubig und zog die buschigen Augenbrauen hoch. »Haben Sie gerade Gerechtigkeit -256-
gesagt?« Shan sah Jakli hilfesuchend an, doch ihr nervöser Blick war allein auf Marco gerichtet. »Hier haben wir ja wirklich ein merkwürdiges Geschöpf vor uns, Osman«, sagte Marco mit schneidender Stimme. »Eine Seidenrobe, die sich Gedanken um die Gerechtigkeit macht.« Er nahm die fast leere Flasche und wandte sich an die anderen Männer. »Hohes Gericht! Wir haben hier jemanden zu unserer Unterhaltung. Der berühmte Ermittler Shan Tao Yun vom Hof in Tschambaluk erweist uns die Ehre einer Darbietung seiner Kunst der Beweisführung und Schlußfolgerung! Zweifellos ist er ein Nachfahre des großen Meisters Dee, Richter am Hof der Tang-Dynastie«, rief er und spielte damit auf einen legendären Untersuchungsbeamten an, dessen Heldentaten viele Jahrhunderte lang als Stoff für Volksmärchen gedient hatten. Marco flüsterte Osman etwas zu, der daraufhin einen großen schwarzen Holzknüppel hinter der Bar hervorholte und sich neben dem Ausgang zur Vordertür plazierte. »Aber ich kann doch nicht…«, protestierte Shan und überlegte, ob er nicht selbst eine n Fluchtversuch unternehmen sollte. »In unseren Reihen hat sich schon wieder ein Verbrechen ereignet«, fuhr Marco fort. Sein Tonfall verriet allen, daß er keine Witze mehr machte. »Als wäre noch nicht genug, was unserer Lau zugestoßen ist. Damit ist es nun vorbei«, versprach er. Shan wurde klar, daß ihm gar keine andere Wahl blieb. Er ging zurück zur Theke und warf einen Blick auf den kleinen Buddha. »Ich hätte gern noch ein Glas Tee«, bat er zögernd. Osman lächelte, als freue er sich über Shans Unbehagen. Dann verließ er seinen Posten neben der Tür gerade lange genug, um den Tee einzuschenken. »Ich möchte nicht, daß jemand verletzt wird«, sagte Shan, -257-
nachdem er einen Schluck getrunken hatte. Das hier war schließlich Turkistan, wo man zumeist eher an Vergeltung als an Vergebung zu denken pflegte, hielt er sich vor Augen. Marco starrte ihn lediglich schweigend an. Shan seufzte. »Einige Minuten vor meiner Ankunft hat sich hier drinnen etwas ereignet. Es herrschte Unruhe. Jemand hörte etwas. Oder vielleicht kam ein Neuankömmling zur Tür herein.« »Da war nichts«, sagte Osman ungeduldig. »Sophie«, rief der kahlköpfige Mann mit der Schaffellweste. »Ich habe gesagt, ich würde Sophie kommen hören.« Marco sah zu Osman und hob die Augenbrauen. »Stimmt«, bestätigte Osman. »Aber sonst hat jemand etwas gehört. Wir haben nicht mit dir gerechnet.« Shan sah Marco an. Da war jemand in Begleitung des eluosi, der den unwahrscheinlichen Namen Sophie trug. »Die Aussicht, daß Sie kommen würden, hat Huf einen Schreck eingejagt«, sagte er. »Warum?« fragte Marco. Shan ließ die Vorfälle noch einmal Revue passieren. Huf hatte nicht bloß fliehen wollen. Er war verwundet worden und hatte dann zunächst versucht, Shan des Diebstahls zu bezichtigen, bis er Jakli sah und dieses Vorhaben aufgab. Shan hatte nicht verstanden, wieso der Tadschike enttäuscht wirkte. »Weil er vielleicht etwas eingesteckt hatte, das er jetzt so schnell wie möglich wieder loswerden oder verstecken mußte. Es blieb ihm nur sehr wenig Zeit.« Huf war aufgestanden und kam nun langsam näher. Sein Begleiter blieb dicht hinter ihm. »Ich bin mit Nikki geritten«, rief der kleine Tadschike. »Ich habe eure Tiere gepflegt. Dieser Chinese beleidigt mich. Er haßt uns alle.« Marco hob die Hand, so daß Huf verstummte. Dann wandte er sich wieder an Shan. -258-
»Machen Sie weiter, tai tai«, sagte er. Tai tai hieß Ehrwürdiger und war einst als Anrede für die höchsten Mandarine reserviert gewesen. »Wo trägt Huf seinen Beutel normalerweise?« fragte Shan. Huf wich zurück, bis er an die Wand stieß, und sah seinen Gefährten an, der sich ebenfalls langsam wieder in Richtung ihres Tisches zu bewegen schien. »Das Ding war ziemlich groß«, antwortete Osman. »Es hing an seinem Gürtel. Auf der linken Seite.« Shan nickte. »Vielleicht ist folgendes geschehen. Huf hatte die Kaiserin in seinem Beutel. Als Marco kam, mußte er sich ihrer entledigen, denn ausgerechnet Marco würde den Verlust ziemlich schnell bemerken. Allerdings wollte er die Figur nicht dauerhaft loswerden, sondern sie nur verstecken, um sie sich später zurückzuholen. Er hat den Beutel abgeschnitten und im Korridor versteckt. Durch eine Lücke in der Tür sah er mich kommen, einen Han. Er hoffte, die Schuld auf mich abwälzen zu können, verletzte sich mit dem eigenen Messer und stürzte sich dann auf mich, als ich die Tür öffnen wollte.« »Jemand könnte ihm mit einem Messer im Gang aufgelauert haben«, schlug Marco vor. »Der Sibo.« »Genau«, bestätigte Huf mit eifrigem Nicken. »Er stand plötzlich vor mir und ging auf mich los.« Sein Blick war unverwandt auf Marco gerichtet. Shan schüttelte den Kopf. »Auf dem Boden im Korridor liegt mindestens ein Zentimeter Sand. Ein Kampf hätte dort Spuren hinterlassen. Aber schauen Sie ruhig selbst nach, Sie werden keine finden. Und auf dem Weg nach draußen hat er die Öllampen ausgeblasen, damit alles nach einem Hinterhalt aussehen würde. Als ich eintrat, konnte ich das Öl noch riechen. Jemand hatte die Flammen erst kurz davor gelöscht.« »Das stimmt«, sagte Osman. »Als ich wegen der Schreie zur Tür gegangen bin, brannte kein Licht.« -259-
»Aber er würde sich doch nicht selbst mit dem Messer verletzen«, wandte Marco ein. »Es ist keine tiefe Wunde. Gerade tief genug, um zu bluten«, sagte Shan und sah, daß Marco nicht überzeugt war. »Der Schnitt war auf seinem rechten Oberarm. Das Messer eines Diebes wäre von unten und auf Hufs linker Seite gekommen, um den Riemen des Beutels zu durchtrennen, nicht oben und rechts. Huf hat das Messer mit der linken Hand genommen und sich selbst in den rechten Arm geschnitten. Ich habe die Männer beim Trinken beobachtet. Huf ist hier der einzige Linkshänder.« Osman nickte. »Das liegt an seiner schlechten Erziehung. Ein guter Moslem lernt schon als Kind, immer die rechte Hand zu benutzen.« »Also was?« fragte Marco. Shan streckte Zeige- und Mittelfinger der linken Hand aus, um eine Klinge nachzuahmen, und klopfte damit auf seinen rechten Oberarm. »So hat er sich die Verletzung zugefügt. Ein Dieb hätte von unten angegriffen, um ihm den Beutel abzuschneiden und womöglich im gleichen Zug den Bauch aufzuschlitze n. Aber er hätte ihn niemals am Oberarm verwundet.« Shan zuckte die Achseln und schaute in Richtung des Gangs. »Da sind doch bestimmt Regale oder Nischen für die Öllampen.« Osman nickte, nahm eine der Lampen und ging voran in den Korridor. Die einstigen Erbauer hatten insgesamt vier tiefe Aushöhlungen für Lichtquellen vorgesehen. In den ersten beiden Nischen klebten hinter den Lampen dichte Spinnweben, so daß man die Rückwand kaum erkennen konnte. In der dritten Nische klaffte in den Spinnweben ein frisches Loch. Marco griff hinein und holte einen Beutel daraus hervor. Er stieß ein leises wütendes Knurren aus, marschierte zurück in die Gaststube und rief Hufs Namen. Der Tadschike stand allein vor der Wand. Sein Freund hatte -260-
ihn verlassen. Marco hielt ihm für einen Moment das Fundstück vor die Nase, öffnete dann den Beutel und zog die Rubinkönigin heraus. Hufs Hände begannen zu zittern. Marco leerte den Beutel auf der Theke aus. Es kamen zwei gleich große, runde Gegenstände zum Vorschein, die beide in weißes Papier gewickelt waren. Marco öffnete eine der Verpackungen. Ein Apfel. »Du hast mich bestohlen«, knurrte Marco und streckte dem Tadschiken die Königin entgegen. »Du hast in Karatschuk einen Diebstahl begangen, während wir alle noch immer um unsere arme Tante trauern.« Huf schaute sich zu seinem Begleiter um, der ihn ausdruckslos musterte. »Gib's zu«, brüllte Marco. »Gib zu, daß du gestohlen hast.« »Ich ha… habe gestohlen«, stammelte der Tadschike. »Warum?« »Du hast mich letztes Jahr verprügelt. Ich war eine Stunde bewußtlos und hatte einen ganzen Monat lang Kopfschmerzen.« »Du hattest mein Kamel beleidigt«, erwiderte Marco. Niemand lachte. Shan nahm den anderen runden Gegenstand. Er zupfte an dem Papier, und ein Ball rollte daraus hervor, ein weißer Lederball von etwas mehr als sieben Zentimetern Durchmesser und mit dicken rötlichen Nähten. Obwohl Shan noch nie einen solchen Ball gesehen hatte, kam er ihm irgendwie bekannt vor. Er sah zu, wie Osman den Ball nahm, Huf mit einem Kopfschütteln bedachte, die kleine Lederkugel auf eines der Gläser legte und das zerknitterte Papier dann in einen Korb warf, der fast vollständig mit leeren Flaschen gefüllt war. Die Männer im Raum schoben sich unterdessen langsam zur Tür hinaus und versuchten, dabei möglichst unauffällig zu -261-
wirken. Sie wandten ihre Gesichter ab, als hätten sie Marcos Miene etwas entnommen, das ihnen Angst einflößte. Als Marco es bemerkte, waren nur noch sechs Männer da. »Nein!« rief er. »Ihr bleibt, damit ihr es bezeugen könnt!» Der große eluosi wies auf den Boden vor der Theke, und Huf trat vor. Er duckte sich und hob die Arme ein Stück, als rechne er damit, geschlagen zu werden. »Huf, du Dieb, du wirst folgendes tun«, verkündete Marco und umkreiste den Tadschiken dabei mit großen Schritten. »Osmans Onkel hat ein Lager in der Nähe des Wildbärenbergs, an der Furt des Zartwasserflusses. Dorthin wirst du gehen und den Leuten meine Worte ausrichten. Einer ihrer Söhne ist in diesem Frühjahr an einem Fieber gestorben. Sie befinden sich außerhalb des Bezirks und fallen damit nicht unter das Armutsprogramm. Was bedeutet, daß sie bald ihr Winterlager aufschlagen müssen. Sie werden Hilfe benötigen, um Futter für die Tiere zu sammeln und die Ziegen zu melken. Falls du von dort verschwindest, bevor sie die Herden wieder auf die Frühlingsweiden treiben, werde ich es erfahren. Wir alle werden es erfahren und wissen, daß du tatsächlich ein Mann ohne jedes Ehrgefühl bist. Und dann wirst du nirgendwo mehr sicher sein. Hast du mich verstanden?« Huf ließ die Arme sinken und nickte erst zögernd, dann mit mehr Nachdruck, als sei er dankbar für Marcos Barmherzigkeit. Shan war verblüfft. Marco hatte den Mann soeben genauso selbstverständlich verurteilt, als würden sie sich alle in einem Gerichtssaal mit bewaffneten Wachposten aufhalten. Osman sprach am Ausgang mit Hufs Gefährten, der grimmig nickte und seinen Freund dann nach draußen begleitete. Shan starrte auf die leere Türöffnung. Der Tadschike hatte eine dumme, eine nahezu unglaublich törichte Tat begangen. Lag all dem vielleicht ein Motiv zugrunde, von dem sie nichts wußten? Shan nahm den Ball und warf ihn von einer Hand in die andere, bis ihm plötzlich auffiel, daß eine englische Inschrift in das -262-
Leder geprägt war: »Made in America». Er übersetzte es für Jakli in mandarin und benutzte dabei den traditionellen chinesischen Ausdruck für Amerika: Mei Guo, schönes Land. »Ein schöner Ball für ein schönes Land«, sagte hinter ihm eine tiefe Stimme auf englisch. Shan fuhr erschrocken herum und sah dort einen hochgewachsenen Mann von etwa fünfundvierzig Jahren stehen, dessen rotblondes Haar teilweise ergraut war. Hinter einer Brille mit goldfarbenem Metallgestell funkelten Shan zwei hellblaue Augen an. An der linken Hand trug der Mann einen überdimensionalen Lederhandschuh, in den er jetzt mit der rechten Faust schlug und ihn dann Shan entgegenhielt. »Der gehört wohl mir«, sagte er mit herausforderndem Blick. Shan wog den Ball noch einmal in der Hand und warf ihn dann in den Handschuh. Er wußte nun, worum es sich dabei handelte. »Baseball«, sagte er auf englisch und mit unbeholfener Betonung. Zum letztenmal hatte er dieses Wort vor mehr als dreißig Jahren laut ausgesprochen, zusammen mit seinem Vater. Er erwiderte den ruhigen Blick des Fremden. »Sie sind Amerikaner«, fügte er dann hinzu, als Feststellung, nicht als Frage. »Verdammt, Deacon«, murmelte Marco. »Du kennst ihn nicht.« »Er ist mit Jakli hier«, sagte der Mann. »Das reicht mir.« Was hatte das zu bedeuten? überlegte Shan. Durfte normalerweise kein Fremder den Amerikaner zu Gesicht bekommen? Offenbar stand Jakli diesen beiden seltsamen Männern bedeutend näher, als zunächst vermutet. Nachdenklich musterte er Deacon. Er hatte erst kürzlich einen anderen versteckten Amerikaner gefunden, eingewickelt in ein Leichentuch aus Leinen. »Jacob Deacon«, sagte der Mann und streckte Shan die Hand entgegen. »Einfach nur Deacon reicht aus. Sind Sie ein Freund -263-
von Nikki?« Shan erwiderte den Händedruck zögernd und sah Jakli an. »Er ist der Freund einiger tibetischer Priester«, sagte sie. »Auch gut«, sagte Deacon und lächelte. »Von tibetischen Priestern halte ich ebenfalls eine ganze Menge.« Er wandte sich an Marco. »Und du?« Der eluosi runzelte die Stirn. »Ich kenne Priester und Mullahs. Und ich kenne Volkskommissare. Mit den Kommissaren komme ich besser zurecht.« Deacon lachte, griff hinter den Tresen und zog aus einem Karton eine Flasche Wasser hervor. Er schenkte ein Glas für Shan und dann eines für sich selbst ein. »Das einzig Wahre. Und es ist kostenlos.« Shan sah ihn an. Hatte er die ganze Zeit vo m hinteren Korridor aus zugehört? »Wann kommt Nikki?« Jakli platzte mit dieser Frage dermaßen plötzlich und kraftvoll heraus, daß Shan sich zu ihr umdrehte. »Die Karawanen lassen sich nur schwer voraussagen.« Marco zuckte die Achseln. »Womöglich hat er beschlossen, sich wegen der Patrouillen einige Tage in Ladakh zu verkriechen.« Er legte Jakli eine seiner riesigen Pranken auf den Kopf, so wie ein Vater seine Tochter berühren würde. »Er wird dir etwas Glänzendes mitbringen. Oder vielleicht auch etwas Feines und Durchsichtiges.« Jakli errötete und schob Marcos Hand spielerisch beiseite. Doch sie wurde schnell wieder ernst. »Shan muß soviel wie möglich über Tante Lau erfahren. Mittlerweile sind auch zwei der Kinder tot.« Osman stieß eine Verwünschung aus. Marco hob knurrend den Kopf und wirkte auf einmal wieder völlig nüchtern, als Jakli von Suwan und Alta berichtete. »Shan glaubt, das alles hängt mit Lau zusammen. Er muß wissen, wer sie vielleicht ermorden wollte. Und was vor ihrem Tod geschehen ist.« -264-
»Eine gute Frau«, sagte Marco ernst. »Ein schlimmer Tod.« »Warum sollte jemand einer unschuldigen Frau so etwas antun?« fragte Shan. »Unschuldig?« entgegnete Marco. »Das wäre mir neu.« »Sie halten sie nicht für unschuldig?« »Natürlich nicht. Sie etwa? Ich selbst bin ganz bestimmt nicht unschuldig. Osman auch nicht. Mein Kamel ebenfalls nicht. Und daß Jakli nicht unschuldig ist, hat man ihr dreimal hintereinander nachgewiesen.« Die Worte ließen Jakli bitter lächeln. Marco sah zu Osman. »Hast du jemals einen unschuldigen Menschen kennengelernt, alter Freund? Ich nicht. Zum Teufel, Osman hat eine sechs Monate alte Nichte, die noch von ihrer Mutter gestillt wird. Nicht mal sie ist unschuldig. Sie ist Kasachin.« »Wollen Sie damit sagen, Lau sei ermordet worden, weil sie eine Kasachin war?« fragte Shan. »Nein. Aber vielleicht war es letzten Endes doch der Grund. Weil das Leben als Kasachin sie zu dem gemacht hat, was sie war. Diese Schweine.« »Welche Schweine?« Marco goß den letzten Rest Wodka in ein Glas. »Einfach nur Schweine im allgemeinen«, murmelte er. Shan drehte sich zu dem hinteren Korridor um. Der Amerikaner war fort. Er spürte Marcos Blick. »Sie sollten besser auch von hier verschwinden«, sagte der eluosi drohend und wischte sich den Mund am Ärmel ab. »Dies ist ein schlechter Ort, um Fragen zu stellen.« »Wenn du mit ihm reden würdest, müßte er vielleicht gar nicht so viele Fragen stellen«, warf Jakli ein. Marco seufzte. Er trat hinter die Theke, holte drei der flachen nan-Brote, warf Shan und Jakli je eines davon zu, nahm dann auf einem Hocker Platz und kaute nachdenklich auf dem dritten -265-
Brot herum, während Osman die Gläser von den Tischen einsammelte. »Es war kurz bevor Nikki mit der letzten Karawane aufgebrochen ist«, sagte Marco. »Wir mußten noch einige Leute zusammenbekommen. An jenem Abend kam Lau angeritten. Sie war sehr aufgeregt.« »Ist sie allein hergekommen?« fragte Shan. »Ja. Ihr Pferd war so erschöpft, daß wir befürchten mußten, es würde sterben. Osman ist bei ihm geblieben, hat es abgerieben und am Zügel herumgeführt, damit es sich abkühlen konnte, bevor es etwas zu trinken bekam.« »Mit wem hat sie gesprochen?« »Mit niemandem und jedem.« Marco starrte sein Brot an und hob den Kopf. Sein Blick verriet tiefe Trauer. »Nach Ansicht der Leute war sie eine Heilerin, aber kaum jemand hat begriffen, was ihr wichtigstes Verdienst gewesen ist, die wichtigste Art von Heilung.« Er biß ein Stück Brot ab und kaute darauf herum. »In der Wüste lebt eine kleine braune Maus«, sagte er gedankenverloren. »Sie sammelt alles mögliche, wie eine Packratte. Aber ihr Lebensraum ist so unwirtlich, daß sie meistens nur Dornen, scharfe Kristallsplitter und kleine, vertrocknete tote Dinge findet. Lau war auch so, und gesammelt hat sie die Sorgen der anderen. Die Leute kamen zu ihr und berichteten ihr von ihren Alpträumen, Ängsten und schmerzlichen Erinnerungen. Danach fühlten sie sich besser, als habe Lau ihnen eine Bürde abgenommen und sich selbst aufgeladen, um ihnen die Heilung zu ermöglichen.« »Sie sagen, die Leute haben sich ihr anvertraut?« Jakli nickte. »Ja, das stimmt. Ich habe mich auch schon gefragt, ob ihr jemand womöglich ein Geheimnis verraten hat, von dem sie eigentlich nichts erfahren durfte. Was ist, wenn der Betreffende sich später anders entschieden und beschlossen hat, sie zum Schweigen zu bringen? Die Leute trinken viel und werden geschwätzig. Lau hatte so eine Art an sich, andere zum -266-
Sprechen zu bringen.« »Nein«, widersprach Marco. »Du hast sie an jenem Abend nicht gesehen. Ihre geschundenen Beine. Wenn du verhindern willst, daß sie dein Geheimnis ausplaudert, erschießt du sie einfach. Wenn du aber willst, daß sie dir das Geheimnis eines anderen verrät, schlägst du sie erst.« Shan biß ein Stück Brot ab und blickte auf. »Soll das heißen, Sie haben Lau gesehen?« Marco starrte ins Leere. »Das soll heißen, ich habe sie gefunden. Zusammen mit Nikki. Genaugenommen zuerst er, an dem ruhigen Ort, den sie so gern aufgesucht hat. Sonst sind meistens nur sie und Jakli dorthin gegangen.« Er schaute Jakli an. »Du hast Nikki gefehlt. Ich glaube, er ist hingegangen, weil er sich dort an dich erinnert gefühlt hat. Aber als er eintrat, war Lau an die alte Statue gefesselt. Da hat er mich geholt, mit Tränen in den Augen.« Der große eluosi sah auf seine Hände herab. »Seine Mutter hat ihm beigebracht, daß es manchmal nicht schlimm ist, wenn man weinen muß.« Marcos Blick fiel auf Jakli, die ebenfalls mit den Tränen zu ringen schien. »Als früher die Roten Garden durch das Land zogen, habe ich so etwas häufig gesehen«, sagte Marco verbittert. »Sie haben ihren Opfern mit einem Hammer einzelne Fußknochen zertrümmert. Wenn man es richtig anstellt, wird die Haut dadurch sehr schmerzempfindlich. Dann haben sie mit einem Stock auf Füße und Schienbeine eingeschlagen. So konnten sie ohne große Kraftanstrengung ungeheure Schmerzen verursachen. Manchmal haben sie einfach nur Eßstäbchen genommen und damit die Haut malträtiert. Erst ein Fuß, dann der andere, falls das Opfer noch immer nicht reden wollte. Später sah man die Leute über die Straße humpeln. Die Kriecher haben laut gelacht und sie als torkelnde Säufer verhöhnt, weil es ihnen nicht mehr möglich war, in gerader Linie zu gehen. Wenn jemand durchhielt, verstümmelten sie ihm beide Füße. Niemand konnte danach noch nennenswerte Strecken zurücklegen. Ich -267-
glaube nicht, daß Laus Mörder je vorhatte, sie am Leben zu lassen, ganz egal, was sie ihm erzählt hat.« Jakli wandte sich schluchzend ab und lief in den hinteren Korridor. Osman folgte ihr fast auf dem Fuß. »Vielleicht hat sie ihm auch gar nichts erzählt«, fügte Marco hinzu. »Lau war ziemlich zäh.« Er goß für sie beide Tee ein. »Doch, sie hat geredet«, sagte Shan und berichtete Marco von dem Striemen und der Einstichstelle an ihrem Arm. Marco seufzte tief. »Weshalb dann überhaupt die Schläge?« fragte er in sein Glas. Shan sah ihm in die Augen und begriff, daß es keiner Antwort bedurfte. Die Injektion bedeutete, daß der Mörder sich mit Verhörtechniken auskannte. Wenn so jemand erst einmal abgehärtet war, fand er oftmals Geschmack daran, andere leiden zu sehen. Lange Zeit sprach niemand ein Wort. »Einen Kriecher oder Soldaten hätten wir bemerkt«, sagte Marco dann leise und wütend. »Nicht, wenn es ein Mann mit entsprechender Ausbildung gewesen ist. Oder wenn er über eine gute Tarnung verfügt hat.« Dann berichtete Shan von dem Zusammentreffen mit Anklägerin Xu im Lager Volksruhm und wie sie ihn irrtümlich für einen Agenten der Kriecher gehalten hatte. »Mein Gott«, sagte Marco und wandte den Kopf, um die leeren Tische zu mustern, als wolle er sich jeden einzelnen der Männer ins Gedächtnis rufen, die vor kurzem noch dort gesessen hatten. »Es ist eine schlimme Zeit.« Shan betrachtete den grübelnden eluosi. Eine schlimme Zeit nur wegen des Verrats? überlegte er. Oder ein schlechter Zeitpunkt für einen solchen Verrat, weil noch etwas anderes vor sich ging? »Warum hier?« fragte Shan. »Sie waren hier. Ein paar andere -268-
auch. Diese Ansiedlung ist nicht besonders groß, und es gibt hier nicht allzu viele Verstecke. Meiner Meinung nach ist der Mörder mit seiner Tat ein großes Risiko eingegangen. Aber es blieb ihm nichts anderes übrig, denn auf einmal mußte alles ganz schnell gehen. Er konnte nicht länger warten.« »Seitdem hat sich aber nichts verändert.« »Noch nicht«, sagte Shan und sah, daß Marco die Zähne zusammenbiß. »Was ist, wenn es sich bei dem Geheimnis, für das Lau gestorben ist, um Ihr Geheimnis gehandelt hat?« Marco stürzte den Rest seines Tees mit einem großen Schluck herunter und starrte Shan durchdringend an. »Sie sollten nach Hause gehen, Genosse Inspektor. Ich werde mir die Mistkerle schnappen.« »Das klingt, als wüßten Sie, wer es getan hat.« »Noch nicht. Aber ich bin auf diesem Gebiet nicht ganz unbewandert. Ich jage Mistkerle.« Seine Stimme klang düster und schwer, als wolle er der ganzen Welt drohen, auch Shan. »Es ist so eine Art Hobby«, fügte er lächelnd hinzu. »Ich vergesse nichts. Ich beobachte. Und ich sorge dafür, daß auch andere sich erinnern.« Shan musterte ihn stumm. Ein vergessener Mann aus einem vergessenen Volk, ohne legale Reisepapiere, ohne die Hoffnung, je legale Papiere zu erhalten. Ähnlich wie Shan. Vielleicht war dies auch Shans eigentlicher Beweggrund. Er wollte die Mistkerle erwischen, wer auch immer sie sein mochten. Er mußte an den Vorfall mit Huf denken. Marco hatte sich den Mistkerl geschnappt. Der eluosi wirkte plötzlich sehr müde. Er streckte sich, stand mühsam auf, ging in die Mitte des Raumes und ließ sich auf den Polstersessel fallen. Dann schloß er die Augen und war kurz darauf eingeschlafen, wie seine tiefen, langsamen Atemzüge verrieten. Shan blieb sitzen und versuchte, den Mord an Lau zu -269-
begreifen. Gleichzeitig kämpfte er gegen eine Sorge an, die ihm beständig zusetzte, die Sorge um Gendun und dessen Sicherheit. Aus dem Korb holte er sich das Stück Papier, in das der Ball eingewickelt gewesen war, strich es glatt und entwarf auf der sauberen Rückseite einen ungefähren Lageplan von Karatschuk, um den Ort von Laus Ermordung kennzeichnen und besser einordnen zu können, sobald Jakli ihn schließlich dorthin gebracht hatte. Lau war weder in diesem Raum noch in einer der nahen Hütten gestorben. Er dachte an Bajys' Worte zurück. Auf der Suche nach ihr war der Kasache zu dem Ort im Sand gelaufen und dort zur lhakang, der heiligen Stätte, geeilt. Dabei mußte es sich um den ruhigen Ort handeln, von dem Marco erzählt hatte, den Ort, an dem Laus Leiche entdeckt worden war. Bajys war jedoch zu spät gekommen. Er hatte nicht etwa Lau in Karatschuk angetroffen, sondern nur Leichenteile vorgefunden. Lau war an dem ruhigen Ort gestorben, gefesselt an eine Statue, hatte Marco gesagt. Shan ließ sich neben der Bar auf dem Boden nieder und nahm dabei mit übergeschlagenen Beinen den Lotussitz ein, um über seine Karte nachzusinnen. Dann stand er auf und ging in den hinteren Korridor. Der gewundene Gang führte zu einer kleinen Brettertür. Sie lag am hinteren Rand des provisorischen Gemeinwesens und öffnete sich auf eine Sandfläche, an deren anderem Ende die Felsformation aufragte, die zugleich die Ostgrenze der uralten Stadt darstellte. Die Sonne stand tief am Himmel. Es wehte ein kühler Wind. Ansonsten regte sich nichts, abgesehen von dem Gehege, wo sich inzwischen ein halbes Dutzend Kamele zu den Pferden gesellt hatte, darunter ein besonders großes silberweißes Exemplar, das Shan interessiert entgegenzublicken schien. Er kletterte den Felsvorsprung empor und hielt inne, als er sich auf halber Höhe und damit unmittelbar oberhalb des Kuppelgebäudes befand. Dort nahm er Platz und lehnte sich gegen den warmen Felsen. Er war geistig und körperlich erschöpft. Jemand hatte hier eine Frau gefoltert, eine Heilerin -270-
und Lehrerin. Sie war wegen eines Geheimnisses ermordet worden, doch um ihrer habhaft zu werden, hatte auch der Mörder in ein Geheimnis eindringen müssen, in das Geheimnis von Karatschuk. Weil sie eben nicht nur eine Heilerin und Lehrerin gewesen war. Lau hatte anscheinend in vielen Welten gelebt, so wie Shan viele Welten durchqueren mußte, um an diesen Ort zu gelangen, diese Geisterstadt in der Wüste, in der die sanftmütige Lau von einem grausamen Ende ereilt worden war. Er holte den Zettel hervor, den er bei dem toten Amerikaner gefunden hatte, und betrachtete die seltsamen Buchstabenfolgen. In der ersten Zeile stand FBE War das vielleicht eine Art Zahlencode, in dem man F mit sechs gleichsetzen mußte, weil es sich um den sechsten Buchstaben des englischen Alphabets handelte? Shan zählte im Geiste kurz nach. FBP würde dann sechs, zwei und sechzehn bedeuten. Was also? Eine Adresse? Eine Telefonnummer? Oder standen die Buchstaben als Abkürzungen für irgendwelche Orte? FBP konnte Frankfurt, Bangkok und Paris heißen oder irgendeine andere von tausend möglichen Kombinationen. Shan seufzte und tröstete sich mit dem Gedanken, daß dieses Stück Papier ohnehin keine Rolle bei dem Geheimnis spielte, das er hier zu lösen hatte. Er war müde. Die Lider wurden ihm schwer. Einen Moment lang sah er das Karatschuk von früher vor sich, roch die Gewürze aus der Fracht der Karawanen, hörte das Knarren der Brunnenseile und das Lachen der Kinder, die schon seit vielen Jahrhunderten tot waren. Auch nach so langer Zeit war dies hier immer noch eine Oase, ein Refugium für Flüchtlinge der rauhen Außenwelt. Vielleicht bedeutete die Tatsache, daß die gegenwärtigen Bewohner von aller Politik und Technik abgeschnitten waren, nur eine um so größere Ähnlichkeit mit den ursprünglichen Bürgern der Stadt. Irgendwo bellte ein Hund, ob im Traum oder in der Wirklichkeit, vermochte Shan nicht zu sagen. Auf der fernen Mauer hüllte der Wind einen der -271-
steinernen Wächter in Sandschwaden, so daß die Statue plötzlich einen in der Brise wehenden Umhang zu tragen schien. Shan ließ den Blick über die Ruinen schweifen und dachte unvermittelt nicht mehr an das Geheimnis um Laus Tod, sondern an das Geheimnis des Lebens. Auf seinem Gesicht erschien ein kleines trauriges Läche ln. Er schloß die Augen und versank in der Zeitlosigkeit seiner Umgebung. Über der Karawanenstadt seiner Phantasie lag der Wohlgeruch von Gewürzen, so wie der Ingwer, den er in jenen seltenen, vollkommenen Momenten wahrnahm, wenn es ihm gelang, eine Vision seines Vaters heraufzubeschwören. Doch als er die Augen öffnete und in den rot glühenden Abendhimmel blickte, wurde der Geruch dermaßen intensiv, daß Shan aufstand, um die Ursache zu ergründen. Das waren keine Gewürze, erkannte er kurz darauf, sondern Weihrauch. Er folgte dem Duft weiter nach oben. Die Formation war breiter, als Shan vermutet hatte. Nahe der Mitte des mindestens dreißig Meter messenden Plateaus erblickte er im Schatten eine Treppe, die in einer Felsspalte verschwand. Die von Menschenhand bearbeiteten Stufen waren durch Jahrhunderte des Gebrauchs glatt und ausgehöhlt. Shan machte sich auf den Weg in die Tiefe, und schon nach wenigen Schritten hörte er eine weinende Frau.
-272-
Kapitel Sieben Die Lücke zwischen den Felsen schloß sich schnell zu einem Gang, der allerdings nicht vollständig natürlichen Ursprungs war, denn man hatte über der Kluft vor langer Zeit ein Dach errichtet und die Wände mit Mörtel begradigt. Die ersten zehn Meter lagen in völliger Dunkelheit. Shan befürchtete, er könnte in eine verborgene Spalte stürzen, und wollte schon umkehren, als der Korridor eine Biegung beschrieb, hinter der eine flackernde Öllampe ein wenig Licht spendete. Die Flamme beleuchtete ein verblaßtes Bild an der Wand, den Kopf eines wütenden Stiers, der ein Halsband aus Schädeln trug. Es war eine Gestalt aus der buddhistischen Mythologie: Yamantaka, der König der Toten. Im Abstand von jeweils etwa drei Metern brannten zwei weitere Lampen. Shan folgte dem Gang und betrachtete dabei voller Ehrfurcht die Wandgemälde, die nun wilde Tiere und Landschaften zeigten. Hinter der vierten Lampe war der Putz abgebröckelt, so daß der nackte Fels zutage trat. Danach veränderten sich die Bilder. Shan sah ein sanft blickendes Reh, das ihm durch seine Besuche in den gompas bereits vertraut war. Es stand als Symbol für Buddhas Heim in Indien und leitete einige Szenen aus dem Leben Buddhas ein. Der gewundene Tunnel endete in einer breiten Kammer, die ursprünglich eine Senke in der Oberfläche des Felsvorsprungs gewesen und später überdacht worden war, wie Shan bemerkte. Ein Dutzend Lampen in Nischen erhellten ein ehemals prächtiges Wandgemälde, die lange zusammenhängende Bildfolge einer Reise durch ein uraltes Land. Zu seiner Linken sah Shan Schafe unter Weidenbäumen, die entlang einer Straße wuchsen, welche als verbindendes Element des Gemäldes diente. Die Straße verlief durch niedrige bewaldete Berge, und berittene Bogenschützen tauchten auf. Im Hintergrund der Kammer verschwand das Bild im Schatten und war dann rechts -273-
von Shan wieder zu sehen, wo Kamelkarawanen durch den Sand auf ein schneebedecktes Gebirge zuwanderten. Hinter einem wuchtigen Tisch in der Mitte des Raumes standen mehrere primitive Bänke, und auf einem alten Teppich lagen einige Sitzkissen. Dort saß Jakli und starrte auf eine Lampe in ihrer Hand. Sie schien gar nicht zu bemerken, daß Shan an den Tisch trat, auf dem sich sechs lange rechteckige Sandelholzschachteln befanden, die zwar schlicht, aber meisterhaft und millimetergenau gearbeitet waren. Pechas nannte man sie, diese tibetischen Bücher aus losen Seidenblättern oder Pergamentseiten, die in einem hölzernen Kästchen aufbewahrt wurden. Eines der Bücher war geöffnet, und mehrere seiner Seiten lagen in einer Reihe auf dem Tisch, als habe jemand darin gelesen. Hinter den Büchern stand eine bronzene Buddhastatue von ungefähr dreißig Zentimetern Höhe und daneben einige kleinere Buddhas aus Gold, die jeweils nicht mehr als sieben oder acht Zentimeter maßen. Unter dem Tisch sah Shan eine Holzkiste, die von einem verstaubten Stück Stoff bedeckt wurde. Er hob eine Ecke des Tuches an. Im Innern der Kiste lagen zahlreiche Spindeln und Zylinder, Einzelteile von Gebetsmühlen, wie sie tibetische Buddhisten benutzten. Shan nahm neben Jakli Platz. »Das hier war der Ort, nicht wahr?« Sie weinte. Nicht länger laut und schluchzend, wie er es noch von draußen gehört hatte, eigentlich sogar ohne wahrnehmbare Regung, aber während sie stumm in die Lampe blickte, sah er zwei Tränen über ihre Wangen rinnen. Dann hob sie ohne jede Spur von Verlegenheit den Kopf und nickte in Richtung eines Strohlagers vor der Wand, in der dunkelsten Ecke der Kammer. Er nahm eine Lampe und ging dorthin. Das Lager war zu Füßen eines großen Gegenstands errichtet, der von einer Decke verhüllt wurde. Shan zog daran, bis die Decke herunterrutschte und den Blick auf eine steinerne, knapp einen Meter hohe Buddhastatue freigab. Im Mörtel direkt oberhalb der linken Schulter des -274-
Buddhas gähnte ein einzelnes kleines Loch, von dem mehrere Risse ausgingen. Entlang der linken Seite der Statue verlief eine rostfarbene Spur bis zum Boden. »Zum erstenmal hat sie mich vor einigen Jahren hierhin mitgenommen, und dann immer wieder, wenn wir zusammen in Karatschuk waren.« »Hat sie mit Ihnen in den buddhistischen Büchern gelesen?« »Gelegentlich. Aber meistens haben wir einfach nur hier gesessen und geredet. Hier hat uns niemand gestört.« Jakli sah sich mit wehmütigem Lächeln im Raum um. »Ich kann mir vorstellen, daß dieser Ort auf manche Leute eine große Anziehungskraft ausüben würde, sobald sie erst einmal davon wüßten.« Shan verstand, was sie sagen wollte, denn er spürte die ehrfürchtige Ausstrahlung der Kammer. Auch er würde immer wieder an einen solchen Ort zurückkehren wollen. Die junge Frau schaute erneut in die Flamme. »Manchmal hat Lau mich etwas Heilkunde gelehrt. Und im Anschluß an die Ratssitzungen hat sie bisweilen davon erzählt, was für alberne Dinge die Leute in den Städten veranstalten. Seit sie wußte, daß meine Mutter Tibeterin war, hat sie mir geholfen, ihr Andenken zu bewahren.« »Wollten Sie eine Buddhistin werden?« Jaklis Blick hatte sich auf die befleckte Statue gerichtet. »So deutlich hat Lau es niemals formuliert. Ich solle meinen inneren Gott ehren, das waren ihre Worte.« Sie hob die Lampe, als wolle sie Shans Gesicht besser erkennen können. »Der buddhistische Glaube ist keine schlechte Sache.« »Nein, das ist er nicht«, sagte Shan mit traurigem Lächeln. Er bemerkte, daß Jakli seine Hand ansah. Er hatte die Finger um das gau geschlossen, das er um den Hals trug. »Sind Sie denn ein Buddhist?« fragte sie verwirrt. »Als ich noch klein war, hat mein Vater mich in die alten taoistischen Tempel mitgenommen. Dann wurden sie zerstört. Später haben mich buddhistische Lamas unterrichtet«, sagte -275-
Shan seufzend und erinnerte sich an die geheimen Altäre aus Zweigen, die sie in den Gefängnisbaracken errichtet hatten, die malas aus Obstkernen oder Fingernägeln und die Gebetsmühlen aus Blechdosen. »Aber die taoistischen Verse habe ich trotzdem nie vergessen, wegen ihrer Weisheit und als Erinnerung an meinen Vater.« Er betrachtete das Wandgemälde. Und die buddhistischen Verse bewahre ich in meinem Herzen, weil sie mich nach meinem Tod ins Leben zurückgeholt haben, hätte er beinahe hinzugefügt. »Ich schätze, wir beide sind uns ähnlich«, sagte er. »In uns vereinen sich viele verschiedene Einflüsse.« Er sah den kleinen Buddha an. In einer der Lagerunterkünfte hatte er einst einen Altar gesehen, der lediglich aus ein paar geschwungenen Linien bestand, die jemand in die Wand geritzt hatte, um den Umriß eines sitzenden Buddhas anzudeuten. »Ich war mir nie sicher. Ich hatte Angst, einen von beiden zu enttäuschen, entweder meine Mutter oder meinen Vater«, sagte Jakli versonnen. »Doch hier… Es war Marco, der mir Karatschuk gezeigt hat, als Nikki und ich noch Kinder waren. Wir saßen auf den Felsen und haben nach Gespenstern Ausschau gehalten. Wir hatten keine Angst. Jahrhundertelang hatte es hier nur Gespenster gegeben. Aber im alten Karatschuk war das anders. Schauen Sie nur…« Sie stand auf und ging mit ihrer Lampe zu dem Fresko auf der anderen Seite des Tisches, in der Nähe der Karawanenszene. Es zeigte ein Kuppelgebäude, bei dem es sich um eine Moschee zu handeln schien und vor dem Männer in den roten Gewändern der buddhistischen Geistlichkeit standen und offenbar mit den Mullahs sprachen. »Hier haben die Buddhisten und Moslems gelernt, in Frieden zusammenzuleben und ihre Weisheit zu teilen.« Sie starrte das Strohlager an, auf dem Lau gestorben war. »Ich habe ihr so viel erzählt«, sagte sie, und eine weitere Träne stahl sich auf ihre Wange. »Was ist, wenn Lau wegen meiner Geheimnisse ermordet wurde?« »Sind Ihre Geheimnisse denn so gefährlich?« fragte Shan -276-
überrascht. »Vielleicht.« Ihm fielen Marcos Worte in der Gaststube ein. Und daß Jakli nicht unschuldig ist, hat man ihr dreimal hintereinander nachgewiesen. »Geht es um dieselbe Sache, wegen der man Sie ins Reislager gesteckt hat?« fragte er leise und musterte das Loch über der Statue. Laus Kopf hatte keine Austrittswunde aufgewiesen. Demnach hatte der Mörder mit Absicht einen Schuß in die Wand abgegeben. Vielleicht um Lau gefügig zu machen, damit sie stillhielt, während er sie an den Buddha fesselte. Jakli zuckte die Achseln. »Sie wissen, wie das ist. Chinesische Überwachung. Ein paar zu laute Äußerungen, und schon sitzt man hinter lao jiao Stacheldraht.« »Dreimal«, sagte er. Drei Schüsseln, dachte er und erinnerte sich an Wangtus Worte. »Beim erstenmal habe ich einer chinesischen Lehrerin widersprochen, als sie behauptete, die Kasachen und Uiguren würden von den Chinesen abstammen. Sie hat mich zum Schulleiter gebracht. Der hat mich mit einem Rohrstock verprügelt, und ich habe mich für meine Äußerung entschuldigt. Aber nach Schulschluß gab es draußen eine Kundgebung der moslemischen Schüler. Der Schulleiter sagte, das sei meine Schuld, denn ich hätte einen politischen Protest organisiert. Daraufhin mußte ich im Lager Volksruhm elf Monate lang die Weisheiten des Vorsitzenden auswendig lernen. Danach durfte ich nicht mehr zurück in die Schule.« »Aber das war nur das erste Mal.« Jaklis Blick richtete sich wieder auf die Ölflamme. »Bei einem Treffen des Kollektivs verkündeten die chinesischen Geburtenkontrolleure eine neue Vollzugskampagne. Ich stand auf und fragte, welches Recht sie dazu hätten. Immerhin würden wir ausreichend Nahrungsmittel produzieren, um unsere -277-
Familien zu ernähren, und außerdem gäbe es genug Land für alle. Ich sagte, sie würden uns die Zahl der Babys vorschreiben und gleichzeitig alle guten Ärzte nur für die Han-Chinesen reservieren, so daß viele unserer Kinder sterben müßten. Das sei ein geplanter langsamer Völkermord.« »Das haben Sie gesagt?« fragte Shan ungläubig. »Völkermord?« »Es hat mir zwölf weitere Monate eingebracht, diesmal in einem Lager in der Wüste. Dort war alles voller Sand. Aber ich habe nur die Wahrheit gesagt.« »Ich weiß«, räumte Shan bekümmert ein. »Ich habe allerdings noch nie gehört, daß jemand es gewagt hat, so etwas öffentlich zu äußern.« »Dann gab es eine Kampagne gegen Schmuggler. Im Lager unseres Clans wurden in einem der Zelte westliche Arzneimittel und tragbare Kassettengeräte gefunden. Sie wissen schon, kleine Geräte mit Kopfhörern. Die Chinesen hatten keine Beweise und wußten nicht, wessen Zelt das war. Also habe ich behauptet, es wäre meines.« »Aber Sie haben gar nicht geschmuggelt.« »Nein. Es war das Zelt meines Onkels, und die Sachen stammten von Nikki. Ich konnte nicht zulassen, daß einer der beiden verhaftet wird. Mein Onkel muß auf den Clan aufpassen. Und Nikki würden sie richtig in die Mangel nehmen. Er würde hinter Stacheldraht wie ein Tiger im Käfig dahinvegetieren. Mir hingegen konnte man lediglich vorwerfen, illegale Waren versteckt zu haben. Also bekam ich zehn weitere Monate Umerziehung aufgebrummt.« »Aber nach der dritten Strafe kommt man automatisch in Arbeitslager«, sagte Shan ernst. »Ins Gulag.« Er erinnerte sich an Akzus Warnung. Es ist zu gefährlich für dich, hatte der Kasache zu seiner Nichte gesagt, als Jakli im Gebirge zu ihnen stieß. -278-
Die junge Frau nickte und schob sich eine Haarsträhne aus der Stirn. »Doch so weit wird es nicht kommen. Nikki wird mich beschützen.« »Nikki. Er ist Marcos Sohn.« Jakli nickte abermals und sah Shan an. Auf einmal lag ein Lächeln auf ihrem Gesicht, obwohl ihre Augen weiterhin feucht schimmerten. Die Strähne rutschte wieder zurück. Jakli wickelte sie sich um den Finger und sah dabei schüchtern wie ein kleines Mädchen aus. »Wir werden heiraten beim nadam, dem Reiterfest.« Shan wandte verlegen den Blick ab. Er wußte nicht, was er sagen sollte, denn für ihn selbst lag der Begriff der Ehe und alles, was damit zusammenhing, inzwischen längst in weiter Ferne. Schweigend richtete er seine Augen wieder auf Jakli. »Aber Nikki ist weg«, sagte er schließlich. »Auf der anderen Seite der Grenze. Ein letztes Mal.« Shan nickte. Der Sohn des Schmugglers Marco war selbst ein Schmuggler. »Und Lau wußte von eurer Heirat.« Jakli nickte und spielte noch immer an ihrem Haar herum. »Sie hat sich sehr gefreut, als ich ihr davon erzählt habe. Nikki war stets einer ihrer Lieblinge.« Sie sah wieder in die Flamme. Jakli würde einen jungen eluosi heiraten, einen Tiger, für den sie ins Gefängnis gegangen war. Shan betrachtete sie. Je länger sie dort saß und auf die Lampe starrte, desto verängstigter wirkte sie. Shan sah sich ein weiteres Mal in der Kammer um. Lau hatte allein dort im flackernden Licht gelegen, als Nikki ihre Leiche fand. »Wer hat sich an jenem Abend in Karatschuk aufgehalten?« fragte er und musterte den befleckten Buddha. Langsam ging er an der Wand entlang und fühlte sich im einen Moment von der schlichten Schönheit des alten Gemäldes erwärmt, um dann wieder zu frösteln, als er an Laus -279-
gewaltsames Ende dachte. Sie ist von einer vertrauenswürdigen Person zur anderen gezogen, wie von einer Oase zur nächsten, hatte Wangtu gesagt. Jakli seufzte. »Marco war hier, außerdem Nikki und Osman. Dann noch einige andere, die im Wirtshaus getrunken haben. Auf dem Weg in die Eishöhle haben wir uns all diese naheliegenden Fragen auch schon gestellt. Stundenlang haben wir darüber geredet. Es waren keine Fremden hier. Es wurde nicht mal ein fremdes Pferd oder Kamel gesichtet. Ein Fahrzeug hätte man gehört. Osman sagte, es seien die Gespenster gewesen. Alle haben gelacht, aber er hat es nicht als Scherz gemeint.« »Trotzdem könnte ein Pferd hergekommen sein«, wandte Shan ein. »Vielleicht wurde es jenseits der Mauer zurückgelassen und blieb deshalb unbemerkt. Oder der Mörder hat sein Tier auf der anderen Seite dieses Felsvorsprungs angebunden und ist hier hinaufgeklettert, ohne die alte Stadt überhaupt zu betreten.« Sie nickte langsam. »Lau ist selbst hergeritten. Sie haben Marco ja gehört. Ihr Pferd war völlig erschöpft, weil sie es sehr eilig hatte, die Wüste zu durchqueren.« »Wollte sie hier unbedingt jemanden erreichen?« Er blieb neben dem Tisch stehen und schaute ein weiteres Mal in die Kiste mit den religiösen Artefakten. Irgend etwas glitzerte dort im Licht. Er griff am Rand der Kiste hinein und zog einen langen zylindrischen Gegenstand daraus hervor, an dem sich eine Nadel befand. Eine Einwegspritze. »Nein«, erwiderte Jakli leise. Sie sah ihn durchdringend und ängstlich an. Die Spritze war ihr nicht entgangen. »Niemand wußte, daß sie hier war.« »Der Mörder wußte es.« Lau war vor jemandem geflohen, dachte Shan. Sie hoffte, in Karatschuk sicher zu sein. Er drehte sich zu der Statue um. Im trüben Licht sah es so aus, als wäre -280-
der Buddha angeschossen worden und hätte sein Herzblut auf den Boden vergossen. Shan starrte die Spritze an und ließ sie dann plötzlich los, als könnte sie ihn aus eigenem Antrieb verletzen. Sie fiel hinab ins Dunkel, und er verharrte und musterte seine leere Hand. Dann schritt er erneut in der Kammer auf und ab, betrachtete abermals das alte Gemälde und spürte Laus Aura nach. Ein alter Mönch hatte ihm einst erzählt, daß beim schmerzhaften Tod eines Menschen mitunter kleine Stücke von seiner Seele abbrachen und dann ziellos umherwanderten. »Wissen Sie mittlerweile, warum Lau diesen Brief an die Anklägerin geschrieben hat?« fragte er. »Sie hat es nicht so gemeint«, sagte Jakli. »Doch. Sie hat es so gemeint. Ich glaube, ich verstehe es jetzt. Es war als Zuwendung gedacht, so wie sie Wangtu schützen wollte, indem sie ihm keinen Tee mehr mitbrachte. Sie hat sich um Sie gesorgt. Drei Schüsseln im lao jiao. Kurz vor der Hochzeit. Sie wollte sicherstellen, daß Sie behütet waren, und zwar durch die Bewährungsstrafe, damit man Sie nicht ein weiteres Mal verhaften würde. Es ist ihr bestimmt schwergefallen, aber sie hat es Ihnen zuliebe getan. Für Ihre Sicherheit hätte sie sehr viel geopfert, notfalls auch Ihre Zuneigung.« Und dennoch verstieß Jakli leichtfertig gegen alle Auflagen, als sei es ihr gleichgültig oder als könne die Anklägerin ihr nichts anhaben. Shan sah sie an. Sie biß sich auf die Unterlippe, hatte wieder Tränen auf den Wangen und starrte in die Lampe. Er seufzte und ging. Als Shan die Höhle verließ, waren die letzten Sonnenstrahlen verschwunden, doch der Himmel leuchtete vor funkelnden Sternen und einem aufgehenden Zweidrittelmond. Es wehte ein eisiger Wind jener Sorte, die manche Mönche als seelenerweckend bezeichneten, weil der Geist dadurch umgehend wach und aufmerksam wurde. Weit draußen in der -281-
Wüste heulte ein Tier, und irgendwo in der Nähe zirpte eine Grille. Shan kehrte an seinen Platz auf halber Höhe der Felsformation zurück und stellte den Kragen seiner Jacke auf, um sich vor der Kälte zu schützen. Unten regte sich nichts, kein Lebenszeichen war zu entdecken, abgesehen von schwachen Lichtflecken in einem halben Dutzend Fenstern, die mit dünnem Stoff verhängt waren. Geistesabwesend fuhr Shan mit den Fingern durch den weißen Sand neben seinem Bein. Gern wäre er wieder wie beim erstenmal in einen traumähnlichen Zustand gesunken, aber das Bild der toten Lau in den Armen des Buddhas hatte sich ihm zu tief eingebrannt. Seine Hand hinterließ zufällige Muster in dem kühlen, vom Mond beschienenen Sand. Dann hielt er inne, strich die Oberfläche glatt und zeichnete ein zweiteiliges Ideogramm. Die obere Hälfte bestand aus einem kleinen Kreuz, dessen Enden sich nach rechts bogen und dann mit langem Strich nach links ausliefen. Es sollte ein hohes ödes Plateau symbolisieren und bedeutete große Leere. Der untere Teil zeigte zwei Y-Formen auf einer gewölbten Linie, zwei Menschen, die Rücken an Rücken auf einem Hügel standen. Das Ideogramm bedeutete Offenheit und war das Zeichen, das sein Vater stets für Kapitel elf des Taoteking benutzt hatte. Nutze, was nicht da ist, wurde es genannt: Dreißig Speichen laufen in einer Nabe zusammen; was nicht da ist, macht das Rad nutzbar. Ton wird zu einem Topf geformt; was nicht da ist, macht den Topf nutzbar. Türen und Fenster werden in Wände geschnitten; was nicht da ist, macht den Raum nutzbar.
-282-
Er formte die Worte stumm mit den Lippen und hörte dann die letzten beiden Zeilen dermaßen deutlich in seinem Kopf, als würde einer der taoistischen Priester seiner Kindheit neben ihm sitzen und sie ihm vorlesen: Mach dir zu eigen, was da ist, indem du nutzt, was nicht da ist. Nicht da, so wußte Shan, war bislang das Motiv, das Lau zum Ritt nach Karatschuk veranlaßt hatte, wo die Schmuggler sich versteckten und der Amerikaner wartete. Dasselbe Motiv hatte den Mörder von Lau zu dem Jungen Suwan beim Clan des Roten Steins und dann zu Alta ins Hochgebirge geführt. Wohin dann? Zurück nach Karatschuk? Falls es lediglich darum ging, heimliche Buddhisten ausfindig zu machen, suchte der Mörder unterdessen vielleicht nach dem Wasserhüter. Falls es darum ging, bestimmte Kinder aufzuspüren und zu ermorden, war die zheli die wichtigste Verbindung, entlang derer der Mörder sich bewegte und sie im gleichen Zug zerstörte. Akzu hatte die Möglichkeit einer offenen Rechnung angedeutet. Die Clans eines oder mehrerer Kinder der zheli waren eventuell schon vor vielen Jahren attackiert worden, und womöglich war der Mörder wiederaufgetaucht, wie aus einem langen Winterschlaf, um sich die letzten Überlebenden vorzunehmen. Manche kasachischen und uigurischen Clans hatten früher gegen die Soldaten gekämpft und waren vernichtet oder zur Strafe aufgelöst worden. Doch zuvor hatten sie der Armee empfindliche Verluste zugefügt und vielleicht irgendwo einen schwelenden Wunsch nach Rache entfacht, der jetzt erst offen ausbrach. Lau hatte während jener schrecklichen Jahre unter Umständen schon gelebt, aber nicht die zheli. Konnte der Durst nach Vergeltung so stark werden, daß jemand sogar die Nachkommen seiner ehemaligen Feinde ermorden würde? -283-
Eine Bewegung riß Shan aus seinen Gedanken. Unten hinter dem Kuppelgebäude stahl sich eine dunkle massige Gestalt an der Wand entlang. Sie war kaum heller als die Schatten, durch die sie huschte, verursachte kein Geräusch und wurde von den Tieren im Gehege ignoriert, fast als würden sie sie nicht wahrnehmen. In der Takla Makan gab es Gespenster. Viele Jahrhunderte lang war auch Karatschuk eine Stadt der Gespenster gewesen, hatte Jakli gesagt. Das Phantom glitt nun auf die Felsen zu und hielt alle paar Sekunden inne, als würde es horchen oder Ausschau halten. Laus Mörder hatte sich ebenfalls unsichtbar durch die Nacht bewegt. Und Lau war nicht durch ein Gespenst zu Tode gekommen. Vielleicht war das wieder der Täter, dachte Shan. Oder ein Dieb. Aber wer würde es riskieren, Marcos Zorn auf sich herabzubeschwören? Mittlerweile befand die Gestalt sich nahe genug an dem Felsen, daß Shan eigentlich ihre Schritte auf dem Schotter hätte hören müssen, aber da war kein Geräusch außer dem Zirpen, der Grillen. Plötzlich ließ der Unbekannte sich auf alle viere nieder, kam noch näher an den Vorsprung heran und verkürzte damit den Abstand zu Shan auf ungefähr fünfzehn Meter. Dann flammte dort unten ein helles Licht auf, gefolgt von einem freudigen Schrei. Das Licht ging sofort wieder aus, und die graue Gestalt huschte zurück zu den Gebäuden. Shan stand auf, rannte den Pfad hinunter, sprang auf den Sand und lief in den Schatten hinter Osmans Gaststube. Er sah gerade noch, wie das Phantom hinter einer Hütte auf der anderen Seite des Geheges verschwand. Als Shan sich näherte, trabten die Pferde von ihm weg. Die erste Gestalt hatte ihnen keine Angst eingejagt. Das große Kamel, das im Mondlicht so silbrig glänzte, als wäre es selbst ein Gespenst, stieß ein Geräusch aus, das als Schnauben begann und in einem tiefen, kehligen Knurren endete, als hätte es sich zunächst erschrocken, um dann lediglich verärgert über die -284-
Störung zu sein. Die Hütte hatte kein Fenster. Als Shan näher kam, sah er, daß die Brettertür einige Zentimeter offen stand. Vorsichtig öffnete er sie ein weiteres Stück. Innen am Türrahmen hing ein dicker Teppich herab, hinter dem anscheinend ein trübes Licht brannte. Shan schlich hinein und entdeckte zu seiner Überraschung, daß man nur einen Meter hinter dem Eingang eine geschickt eingepaßte Holzwand errichtet hatte. Eine schmale Tür in dieser Wand, an der sich außen die Öse für ein Vorhängeschloß befand, stand gerade weit genug offen, um an ihrer Kante den hellen weißen Lichtstrahl einer Glühbirne entweichen zu lassen. Reglos wartete Shan einige Minuten ab und drückte dann mit einem Finger gegen die Tür. Sie schwang ein paar Zentimeter nach innen, so daß Shan einen einfachen Brettertisch erkennen konnte, auf dem sich Bücher stapelten. »Es ist offen«, sagte jemand auf mandarin. Shan schob die Tür endgültig auf und trat ein. An einer Werkbank stand im Licht einer nackten Glühbirne der Amerikaner Deacon und betrachtete etwas unter einer großen Lupe, deren Schwenkarm mit einer Klemmschraube an der Tischplatte befestigt war. Ohne sich umzudrehen, deutete er auf eine Flasche, die auf dem Tisch stand. »Da ist der Wodka. Bedien dich ruhig.« Shan sah sich schweigend um. Das Kabel an der Fassung der Glühbirne verlief in die Zimmerecke, wo in einer Holzkiste eine Reihe leistungsstarker Batterien stand. Die Umschläge der Bücher trugen englische, deutsche und chinesische Titel. Es schien sich um anthropologische und archäologische Fachtexte zu handeln. Ein besonders dicker Band lag aufgeschlagen am hinteren Ende des Tisches und entstammte offenbar einem anderen Themengebiet, denn auf den von einer dicken Metallfeder gespreizten Seiten war das Schaubild eines menschlichen Skeletts zu erkennen. Neben dem Amerikaner -285-
stand ein aufgeklappter Laptop. »Falls du wählerisch geworden bist, findest du in dem Regal über der Tür ein sauberes Glas«, sagte Deacon und warf einen Blick über die Schulter. Er hielt kurz inne, zog eine Augenbraue hoch und widmete sich dann wieder seiner Arbeit. »Ach, Sie sind das«, sagte er gelassen. »Ich hab mit einem Russen gerechnet.« Shan erwiderte zunächst nichts darauf, denn unmittelbar nachdem Deacon sich umgedreht hatte, war ihm ein Regal über der Werkbank des Amerikaners aufgefallen. Darauf stand ein halbes Dutzend kleiner Käfige, die alle unterschiedlich geformt, doch stets aus kunstvoll bearbeitetem Holz gefertigt waren. Sie schimmerten mit einer gewissen Patina, die ihr großes Alter verriet. Das größte Exemplar war ungefähr fünfzehn Zentimeter tief und jeweils zehn Zentimeter hoch und breit. Es bestand aus dünnen Sandelholzstäben. Für den kleinsten Käfig schien man das Holz eines Obstbaums verwendet zu haben, und zwar ein einzelnes, massives Stück, das man ausgehöhlt und zu einem kleinen Tempel geschnitzt hatte. Vor allem eine bestimmte Folge des Gulags war Shan immer besonders grausam vorgekommen: der Verlust seiner Erinnerungen. Die Schmerzen der vielen Verhöre, der Stockschläge, Drogen und elektrischen Viehtreiber hatten sein Gedächtnis getrübt, als wären gewisse Teile seines Gehirns unerreichbar geworden. Das gehörte zum Gesamtplan der Partei, hatte einer seiner Zellengenossen gesagt. Man peinigte das Gehirn so lange, bis es sich nicht mehr an bessere Zeiten erinnern konnte. Doch beim Anblick der Käfige hatte sich irgendwo in Shans Hinterkopf etwas geregt. Mindestens drei der kleinen Behälter schienen Bewohner zu haben. Deacon hatte Shans Interesse bemerkt. »Marco lacht mich aus, aber ich behaupte, jede anständige Stadt braucht ein eigenes -286-
Orchester.« »Sie sind draußen gewesen, um Sänger zu sammeln«, sagte Shan, dem auf einmal alles klar wurde. Deacon schaute zu den Käfigen und lächelte zufrieden. »Endlich habe ich ihn erwischt. Wir nennen ihn Altes Eisenbein, weil sein Lied irgendwie kratzend klingt, als wären seine Beine aus Metall.« Er drehte sich wieder zu Shan. »Kennen Sie sich mit Grillen aus?« fragte er auf englisch. Shan sah den Amerikaner wortlos an, und allmählich erschien ein Lächeln auf seinem Gesicht. Was für eine wunderbare Frage. »Als ich noch klein war, ist mein Vater mit mir gelegentlich zu einem alten taoistischen Priester gegangen, der sich in die Berge zurückgezogen hatte, um den schlimmen Zuständen in den großen Städten zu entfliehen.« Shan war ganz ergriffen, daß diese Erinnerung nach so vielen Jahren wieder ans Licht gekommen war und er sie in Worte fassen konnte. »Er lebte allein und brachte den größten Teil seiner Zeit damit zu, Körbe zu flechten und über den taoistischen Schriften zu meditieren. Ansonsten weiß ich nur noch, daß er sich Grillen gehalten hat. Er hat mir viel darüber erzählt.« Wie erstaunlich, dachte Shan, daß er sich hier in der Wüste bei einem seltsamen Amerikaner befand, eigentlich nach einem Mörder suchte und auf einmal erlebte, wie sich eine der dunkelsten Türen seiner Erinnerung öffnete. Deacon lächelte. »Bei meiner ersten Reise nach China bin ich auf einem Markt gewesen und habe dort einen Mann gesehen, der Insektensänger verkauft hat. Er hatte ungefähr fünfzehn verschiedene Arten. Eine Pferdeglocke. Einen Springhahn, mit den langen Fühlern. Ein paar schwarze, die Tintenglocken heißen. Und eine Weberdame.« Beim Klang dieser Namen, die er zum erstenmal vor Jahrzehnten gemeinsam mit seinem Vater gehört hatte, breitete sich irgendwo tief in Shans Innern ein warmes Gefühl aus. »Ich -287-
weiß noch, daß eine Sorte cao zhong hieß«, sagte er. Die Worte kamen ihm völlig unvermutet in den Sinn, wurden wie von einer Woge an die Oberfläche seines Bewußtseins gespült. »Wunderschöne Exemplare mit lautem, aber völlig reinem Ton. Den englischen Namen dafür kenne ich leider nicht.« »Grashüpfer«, sagte Deacon. »O Mann, wie gern hätte ich einen Grashüpfer. Aber dafür ist es hier zu trocken.« Voller Freude betrachtete der Amerikaner seine Sammlung. »Damals bin ich zwei Stunden bei diesem Straßenhändler sitzen geblieben und habe mir erklären lassen, daß jede Art ihren ganz eigentümlichen Gesang hat, der sich zudem durch die Wahl des Futters beeinflussen läßt, und daß die Kaiser für ihre Lieblings grillen sogar winzige Möbelstücke anfertigen ließen. Bei meiner nächsten Reise habe ich meinen Sohn Micah auf diesen Markt mitgenommen. Micah hat lediglich gelächelt, und zwar das breiteste, hübscheste Lächeln, das ich je bei ihm gesehen habe. Wir waren beide fasziniert.« Stolz wies Deacon auf die Käfige. »Der Verkäufer hat uns erzählt, die Tiere seien Glücksbringer.« Shan nickte. »Weil ihr Gesang so lebendig und fröhlich ist. Der alte Priester hat es lebende Musik genannt. Man kann nämlich keinen Einfluß darauf nehmen. Wenn eine Grille beschließt, dein Heim mit ihrer lebenden Musik zu erfüllen, hat die Natur dich wahrhaftig gesegnet. Eine der Arten hat er Blauglocke genannt, eine andere Buntspiegel.« Die Worte sprudelten Shan über die Lippen, als habe er Angst, sie wieder zu vergessen. »Und dann war da noch eine Bambusglocke.« »Mit Eisenbein ist mein Chor komplett. Er ist ein Nachtwächter. Pang t'ou nennen sie es. Zirpen des Wächters. Bald ist wieder Vollmond. Um Mitternacht werden mein Sohn und ich die Tiere hinaus in die Dunkelheit tragen und ihrem Chor zuhören. Und wir werden nach Sternschnuppen Ausschau halten. Einer der alten Kasachen hat meinem Sohn nämlich erzählt, daß manche Grillen Sternschnuppen herbeirufen können.« -288-
»Ihr Sohn ist hier?« fragte Shan. »Nicht hier, aber in Xinjiang.« Einen qualvollen Moment lang überkam Shan eine schreckliche Befürchtung. Nein. Deacon war nicht alt genug, um der Vater des toten Amerikaners im Lager Volksruhm zu sein. »Wie alt ist er?« »Zehn.« Der Amerikaner schob die Lupe beiseite und sah wieder die Käfige an. »Wenn man sie nicht getrennt hält, gehen sie aufeinander los«, sagte er, als wolle er sich lieber nicht weiter über seinen Jungen unterhalten. »Der alte Priester hatte eine ganze Menge solcher Käfige«, erinnerte Shan sich. »Einige andere waren aus Kürbissen gefertigt, und wiederum andere hat er aus Bambusspänen und Schilfrohr hergestellt.« »Diese alten Käfige sind ziemlich selten. Was ist aus seinen geworden?« Shan lächelte traurig, als auch dieser Teil der Erinnerung an die Oberfläche kam. Eines Tages hatte sein Vater ihn über Nacht bei dem alten Priester gelassen, und sie waren aufgeblieben, um bis in die frühen Morgenstunden dem Gesang der Grillen zu lauschen. »Zu den wenigen Leuten, die von ihm wußten, gehörte auch ein Hirtenjunge, der ihm an Festtagen häufig Reiskuchen brachte. Aber der Junge trat den Roten Garden bei und mußte eine gewisse Anzahl von verhafteten Reaktionären vorweisen können.« »O mein Gott«, murmelte Deacon, als käme ihm die Geschichte bekannt vor. »Irgendwann kam der Junge zu dem alten Mann und teilte ihm mit, daß er seinem Zugführer über ihn Bericht erstatten und man ihn daraufhin am nächsten Tag abholen würde.« »Herrje. Wie hat der alte Mann darauf reagiert?« »Er hat dem Jungen für den erwiesenen Respekt gedankt«, -289-
sagte Shan seufzend. »An jenem Abend hat er all seine Sänger freigelassen. Die Käfige stammten aus dem China der Kaiserzeit, und er wußte, daß die Garden sie ohnehin zerstören würden, also hat er bis zum Mondaufgang gewartet und die Käfige selbst verbrannt. Ich weiß es, weil meine Schulklasse dem Prozeß beiwohnen mußte. Die Garden waren wütend, weil er sich weigerte, dem Taoismus abzuschwören, und statt dessen mit heiterer Stimme nur über diesen einen perfekten Moment sprach, als die Grillen bei ihm blieben, das Feuer beobachteten und derweil ihr allerschönstes Lied sangen, während die Käfige verbrannten. Dann mußten wir den Gerichtssaal verlassen, weil der alte Mann sich nicht an den vorgeschriebenen Ablauf hielt.« Shan erinnerte sich auch an ein späteres Verfahren, als den Roten Garden schö n langsam die geeigneten Opfer ausgingen. Man hatte einen Grillenhändler verhaftet und die Insekten angeklagt, an der reaktionären Tradition mitgewirkt zu haben. Am Ende wurde die Tiere auf kleine Spieße gesteckt und geröstet, und der Mann mußte sie aufessen. Aus dem Computer erklang ein Piepton, und der Bildschirm schaltete sich aus. Deacon trat an die Werkbank und klappte das Gerät zu. »Ich wußte gar nicht, daß es in Karatschuk Strom gibt«, sagte Shan. »In Osmans Wirtshaus habe ich nichts dergleichen bemerkt.« »Den gibt's auch nur hier. Eine tragbare Solarzellenanlage. Damit lassen sich die Batterien für ungefähr vier oder fünf Stunden Nutzung aufladen.« Solarzellen und Grillen. Ein Computer in einer alten Hütte an der Seidenstraße. Ein Amerikaner, der sich in einer chinesischen Wüste verbarg und Wodka mit einem Nachfahren russischer Emigranten trank. Jakli hatte ihn in eine andere Welt gebracht oder gleich in mehrere andere Welten, von denen keine mit Lau, Gendun oder den toten Jungen in Verbindung zu stehen schien. -290-
Shan konnte nun mehr von der Werkbank erkennen, an der Deacon gearbeitet hatte. Unter der Lupe lag ein Stück Stoff, ein altes verblichenes Gewebe mit einem gekreuzten Schraffurmuster aus braunen, gelben und roten Fäden. Deacon trat vor und versperrte Shan die Sicht auf den Tisch. »Weshalb sind Sie hier, Mr. Deacon?« fragte Shan. »Deacon. Einfach Deacon. Das habe ich Ihnen doch gesagt. Ich sammle Grillen.« »Ich meine, hier in Karatschuk. In der Takla Makan. In Xinjiang.« Deacon lächelte matt und schaute zu seinen Grillen. »Vielleicht weil mein Junge sich auf dem Markt so gefreut hat. Bei uns zu Hause ist es schwer, auf einen grünen Zweig zu kommen.« Er sah Shan an. »Oder vielleicht aus demselben Grund wie Marco, Osman, Jakli und Nikki.« »Um sich zu verstecken?« Der Amerikaner schüttelte ernst den Kopf. »Ganz im Gegenteil. Wir sind hergekommen, um uns nicht mehr zu verstecken. Hier kann niemand sich verstecken.« »Wir?« fragte Shan. »Sie und Ihr Sohn?« Deacon runzelte die Stirn. »Meine Frau und ich.« »Ich dachte, Karatschuk sei als Versteck gedacht. Schmuggler. Ausgestoßene. Sie kommen her, um sich zu verbergen.« »Dann haben Sie es nicht verstanden. Ich bin überall schon gewesen, auf jedem Kontinent, sogar in der Antarktis. Doch nirgendwo habe ich einen Ort wie diesen gefunden, wo man absolut verantwortlich für sich selbst ist. Keine Polizei. Keine Soldaten. Keine gottverdammte Regierung, die dir vorschreibt, was du zu denken hast, oder die es den Leuten leichtmacht, überhaupt nicht zu denken. Hier mußt du jemand sein. Du mußt vertrauen, und dir muß vertraut werden.« -291-
Shan trat näher an Deacons Arbeitstisch. Deacon stellte sich ihm abermals in den Weg. »Du mußt vertrauen«, wiederholte Shan die Worte des Amerikaners. Deacon legte die Stirn in Falten. »Sie haben noch nicht erzählt, was aus diesem alten Priester mit den Grillen geworden ist.« Shan blickte erneut zu den Käfigen. »Am Ende des Prozesses haben sie ihn verprügelt. Dann haben sie andere Priester gezwungen, auf ihn einzuschlagen. Er ist daran gestorben, und seine Leiche wurde verbrannt, alles noch an demselben Tag, an dem man ihn von dem Berg geholt hatte.« Shan seufzte und sah wieder zu den Grillenkäfigen. »Hinterher hat mein Vater etwas von der Asche des Feuers geborgen, und dann sind wir beide zu der Behausung des Priesters zurückgekehrt. Dort haben wir für die Asche einen geheimen Schrein errichtet. Als wir bei Einbruch der Dunkelheit wieder gegangen sind, haben die Grillen für ihn gesungen.« Der Amerikaner hielt Shan nicht länger zurück. Deacon hatte tatsächlich ein altes, dicht gewebtes und rötlichbraun gefärbtes Stück Stoff untersucht. Es war um einen länglichen Gegenstand gewickelt und an einem Ende mit Segeltuch abgedeckt. Rechts davon stand ein kleines Mikroskop. »In den Lehrbüchern steht, man könne nur weiße Wolle färben, die kein natürliches Pigment enthält«, sagte Deacon über Shans Schulter hinweg. »Aber in der Takla Makan hat man diese Bücher offenbar nie gelesen. Das hier ist Wolle von einem braunen Schaf, deren überwiegender Anteil mit einem purpurroten Farbstoff behandelt wurde, und zwar mit Hilfe eines Verfahrens, das wir noch nicht kennen.« Deacon zeigte auf das gekreuzte Schraffurmuster. »Hier hat man unbehandelte und rot gefärbte weiße Wolle eingewoben.« Shan sah ihn verwirrt an. Der Amerikaner hatte doch wohl kaum die halbe Welt durchquert, um hier im verborgenen die -292-
Geheimnisse der Textilproduktion zu ergründen. Draußen wurden auf einmal Stimmen laut. Viele Stimmen, ein aufgeregtes Durcheinander aus schnellen Schritten und hektischen Rufen. Jemand schrie nach Marco. Deacon sah zur Tür, schien Shan aber nur ungern allein zurücklassen zu wollen. Dann rief jemand den Namen des Amerikaners. Die Tür schwang auf, aber niemand trat ein. Deacon machte ein paar Schritte in Richtung Ausgang, und Shan zog schnell das Segeltuch von dem Stoff herunter. Ungläubig starrte er auf seine Entdeckung und mußte gegen eine plötzliche Übelkeit ankämpfen. Der Stoff war einst ein Hosenbein gewesen. Ein menschlicher Fuß ragte daraus hervor, klein und eingeschrumpft, aber unverkennbar ein Fuß. »Verdammt«, murmelte der Amerikaner und schaute von Shan wieder zur Tür. Jemand rief erneut, und dann erschien Marcos riesige Gestalt in dem Durchgang. Er bedeutete ihnen, nach draußen zu kommen, und als er zurückwich, erkannte Shan hinter ihm Akzu, der sich vor Erschöpfung kaum auf den Beinen halten konnte. Jakli kam angerannt. Sie hatte sich eine Decke um die Schultern gelegt. »Ein Offizier der Öffentlichen Sicherheit wurde ermordet«, keuchte Akzu. »Leutnant Sui. In ein paar Stunden wird der ganze Bezirk voller Kriecher sein. Sie werden das Kriegsrecht verhängen.« Aus dem Mund des Kasachen klang dieser Satz wie ein Todesurteil. Dann wandte Akzu sich an Shan und den Amerikaner, als brauchten sie eine genauere Erklärung. »Es wird Verhaftungen geben, jede Menge Verhaftungen. Die Soldaten werden jeden Winkel durchsuchen. Alle müssen fliehen. Man wird uns unsere Familien nehmen.«
-293-
Kapitel Acht Im Licht des frühen Morgens sah es so aus, als hätten die steinernen Wächter von Karatschuk sich kampfbereit geduckt, um einem nahenden Feind zu begegnen. Und tatsächlich schienen Akzus Neuigkeiten bei den meisten der Stadtbewohner zu einer Veränderung geführt zu haben. Statt bunter Kleidung, wie sie Shan noch am Vortag aufgefallen war, trugen die Männer jetzt Braun- und Grautöne, die mit der Wüste verschmolzen. An vielen Gürteln hingen lange Messer, und zu Shans großem Unbehagen trugen manche der Kasachen Gewehre auf dem Rücken. Er fand Akzu und Osman bei dem Gehege. Die beiden waren in ein leises, hektisches Gespräch vertieft. »Wo wurde Sui getötet?« fragte Shan. »So etwas passiert doch üblicherweise in den Städten, und dann würden die Hirten wohl kaum zu den Verdächtigen zählen.« »An der Fernstraße nach Kashi, dreißig Kilometer hinter Yutian.« Akzu seufzte. »Dort leben nur kasachische und uigurische Nomaden. Du weißt, was die Kriecher tun werden. Sie werden die Lager nach politisch unerwünschten Elementen durchsuchen. Man wird Ausgangssperren befehlen. Als vor vier Jahren ein Sergeant der Armee ums Leben kam, bedeutete das sechs Monate Kriegsrecht. Verdächtige wurden direkt in die Kohlengruben geschickt und ihre Familien ins Lager Volksruhm. Die Dummköpfe, die diese Tat begangen haben, ahnen ja nicht, wieviel Leid das nach sich ziehen wird.« »Welche Dummköpfe?« fragte Shan. »Kennen Sie die Täter?« Akzu sah in Richtung der Berge. »Malik ist noch immer dort draußen. Er hat einen der Jungen zu uns gebracht und ist wieder aufgebrochen. Jetzt sind auch meine Söhne unterwegs, um so -294-
viele Kinder der zheli einzusammeln, wie sich noch finden lassen.« Er drehte sich zu Shan, als hätte er erst jetzt dessen Frage registriert, und zuckte die Achseln. »Die Maos. Das ist ihre Handschrift. Auch vor vier Jahren waren sie dafür verantwortlich. Die Hitzköpfe unter ihnen. Manche der Männer denken, Veränderungen ließen sich von einem Tag auf den anderen bewirken.« »Denken?« rief eine laute Stimme hinter Shan. »Sie denken nicht. Sie sind bloß arrogante Schmarotzer und bisweilen genauso schlimm wie die Kriecher. Sie treffen auf ein leichtes Opfer und peng! Sie handeln völlig impulsiv und ziehen dann weiter.« Im Gegensatz zu den anderen schien Marco keine Angst zu haben. Er wirkte lediglich wütend. »Diese Schwachköpfe! Wie können sie es nur wagen, uns so etwas anzutun?« Natürlich würde der Mord einen erhöhten Druck seitens der Öffentlichen Sicherheit bewirken. Doch Marcos Zorn war irgendwie konkreter, als störe der Zwischenfall bei der Durchführung eines bestimmten Vorhabens. Dann schaute der eluosi in Richtung des Felsvorsprungs und beruhigte sich wieder. Nur noch sein keuchender Atem durchdrang die Stille. Shan folgte seinem Blick bis zum Gipfelplateau. Dort saß Jakli, hatte die Arme um die Knie geschlungen und beobachtete den westlichen Horizont. »Oje!« sagte Marco. Er klang plötzlich ganz sanft und schmerzlich berührt. »Hat sie Angst um… um Ihren Sohn?« fragte Shan. »Nein, nein«, brummte Marco. »Nikki geht es gut. Nikki ist unbesiegbar.« Er trat gegen die Mauer des Geheges. Ein Stück des alten Mörtels bröckelte ab. »Es geht um etwas anderes«, erklärte Osman. »Falls die Kriecher mobilmachen, werden sie alle politisch auffälligen Personen überprüfen. Jakli müßte eigentlich bei ihrer -295-
Fabrikarbeit in der Stadt sein. Ihre Abwesenheit stellt einen Verstoß gegen die Bewährungsauflagen dar. Ihre Freunde decken sie, weil sie wissen, daß es um Tante Lau geht. Alle haben Tante Lau gemocht. Normalerweise würden die Kriecher sich nicht um diese Fabrik kümmern. Aber nach Suis Tod werden sie zwangsläufig überall herumschnüffeln. Und wenn die Kriecher nach Jakli suchen, kann niemand sie mehr decken. Falls man sie verhaftet«, sagte er und wandte sich in Richtung der fernen Berge, »wird sie nicht beim Reiterfest sein. Sie wird auch nicht heiraten. Statt dessen wird man sie in eine der Kohlengruben bringen. Ich war einmal dort und habe mit einigen Maos Nahrungsmittel angeliefert. Hammer und Meißel, mehr bekommen sie nicht. Keine Handschuhe. Keinerlei Geräte. Nie genug zu essen. Ich habe Häftlinge gesehe n, deren Hände nur noch Haut und Knochen waren, wie bei Skeletten.« Er sah wieder zu Jakli. »So jung«, flüsterte er, »so voller Leben. Nach ein paar Monaten in einer Kohlengrube wird sie alt und leer sein.« Das silberweiße Kamel in dem Pferch stieß ein wie herndes Geräusch aus. Shan ging zur Ecke des Geheges und sah, daß Osman zwei Pferde hinter die nächste Hütte führte, eines gesattelt, das andere unter einer Segeltuchplane schwer mit mehreren Kisten beladen. Wo wollte er hin? Seine Familie warnen? Einen selbstmörderischen Vorstoß über die Grenze wagen? Shan musterte die anderen, die inzwischen fast alle auf ihren Reittieren saßen. Sie sahen eher wie ein Stoßtrupp als wie eine Flüchtlingsgruppe aus. Eine Bö aus dem Osten trug ein Geräusch an seine Ohren. Er drehte sich um und sah, daß Jakli nun stand und jemandem zuwinkte. Es war ein Reiter, der in flottem Trab auf den Norden der Stadt zuhielt, hinter dem das Herz der endlosen Wüste lag. Aus den Augenwinkeln nahm Shan eine Bewegung wahr. Osman erschien und nickte Marco zu. Shan blickte wieder dem Reiter hinterher. Es war Deacon. Der Amerikaner trabte allein in -296-
die Wüste, begleitet nur von dem Packpferd. Eilig ging Shan zu der Hütte des Amerikaners. Zwei Männer standen davor und schaufelten soeben Sand auf eine Barriere aus sonnengebleichten Brettern, die an der vorderen Wand lehnte und den Eingang verdeckte, der mittlerweile durch einen schweren, wie zufällig vom Dach gestürzten Balken blockiert wurde. Man machte aus der Hütte wieder eine Ruine. Shan umrundete das Gebäude. Es gab keine weitere Öffnung in der Mauer, abgesehen von einem kleinen Spalt in Bodenhöhe, wo vermutlich die Zuleitung der Solarzellen zu den Batterien verlaufen war. Noch während Shan die Ritze beäugte, schaufelte einer der Männer Sand darauf und ließ sie verschwinden. Nein, hätte Shan fast protestiert, da drinnen sind Sänger. Das Alte Eisenbein muß gefüttert werden. Aber im selben Moment wußte er instinktiv, daß Deacon die Grillen mitgenommen hatte. Obwohl Shan nur wenige Minuten bei ihm gewesen war, hatte er deutlich gespürt, daß der Amerikaner kaum etwas so wichtig nahm wie die Verabredung mit seinem Sohn Micah, gemeinsam bei Vollmond ihren Sängern zu lauschen. Doch war der andere Gegenstand noch da? Das Anhängsel, das menschliche Bein. Was hatte Deacon damit gemacht? Es seziert? Sich an dem Anblick geweidet? Von wem stammte das Bein? Shan begriff, daß es womöglich gar nicht so alt war, wie es anfangs zu sein schien. Sie befanden sich in der Wüste, wo alles beinahe über Nacht austrocknete. Vielleicht war der Betreffende erst kürzlich verstorben. Vielleicht stellte auch Deacon Nachforschungen an. Dann erst fielen ihm Bajys' Worte wieder ein, die Beschreibung der verzweifelten Suche in Karatschuk. Er hatte Leichenteile gefunden, wie auf den Gemälden, die Dämonen zeigten. Shan sah, daß auch die anderen Hütten der Senke unter Einsatz von Sand und alten Balken wieder in vermeintliche Ruinen verwandelt worden waren und sich nun überhaupt nicht mehr vom restlichen Karatschuk abhoben. Während er die -297-
Evakuierung verfolgte, überkam ihn wieder tiefe Traurigkeit. Der Gedanke, in einer anderen Welt gelandet zu sein, war natürlich ein Irrtum gewesen. Das hier war nach wie vor dieselbe Welt, die Welt der Kriecher und blutbefleckten Buddhas. Er verspürte ein Gefühl des Verlusts und der Niederlage. Suis Ermordung bedeutete, daß Shan auch den letzten Rest seiner Bewegungsfreiheit einbüßte. Jedermann, einschließlich des Mörders, würde sich irgendwo verkriechen und möglichst wochen- oder gar monatelang von der Bildfläche verschwinden. Als Shan um die Ecke des Kuppelgebäudes kam, stand Marco mit dem silberweißen Kamel vor Osmans Tür. Bis jetzt hatte Shan die Stute noch nicht genauer in Augenschein genommen, doch als er sie nun ansah, erkannte er, daß sie keinem der Tiere glich, die ihm bislang in Xinjiang begegnet waren. Ihre Augen funkelten intelligent, und ihr Fell glänzte. Sie hatte ihm den Kopf zugewandt und erwiderte seinen Blick mit einer gewissen Neugier. Zu seiner Überraschung bemerkte er, daß sie einen kleinen eleganten Silberring im linken Ohr trug. Marcos Sattel bestand aus einem einfachen bespannten Holzrahmen. Er wuchtete ihn zwischen die Höcker des Tiers, und Shan kam näher. Die Stute neigte den Kopf noch weiter herab, stieß ihre Nase dann in Shans ausgestreckte Hände und leckte sie ab. Marco sah sie unschlüssig an. »Sophie! Du treulose Seele!« rief er und kraulte das Kamel zwischen den Ohren. »Normalerweise macht sie so etwas nicht«, fügte er verwirrt hinzu. »Nur bei engen Freunden. Bei mir und Nikki. Und bei Jakli.« »Sie ist hübsch.« Marco legte dem Kamel einen Arm um den Hals. »Sie ist wunderschön. Wie eine schöne Frau. Der Emir von Buchara«, sagte er und benannte damit den früheren Herrscher einer der -298-
uralten befestigten Städte Zentralasiens, »hatte einen Bestand von zweihundert Rennkamelen, bis die Russen seine Stadt belagert haben. Drei Jahre lang konnten er und seine Leute standhalten und mußten hilflos mit ansehen, wie die Feinde eine verdammte Eisenbahnstrecke bis direkt an die Stadtmauer bauten. Die meisten der Kamele wurden unterdessen geschlachtet, um die Truppen des Emirs zu ernähren. Als per Bahn immer mehr russische Soldatentransporte eintrafen, ließ der Emir sich von den Mistkerlen freies Geleit für die letzten zwanzig Kamele und deren Pfleger zusichern. Erst als die Tiere in Sicherheit waren, hat er den Invasoren die Stadttore geöffnet. Sophie stammt von einem dieser Überlebenden ab.« Vorsichtig legte Shan dem Kamel eine Hand auf den Hals. Sophie erwiderte den Druck, als fordere sie ihn auf, sie zu streicheln. Shan tat ihr den Gefallen. »Ich dachte, Karatschuk sei sicher.« Osman schleppte zwei große Packkörbe heraus, die mit kleineren, in Stoff gewickelten Kästen und Bündeln gefüllt waren. »So sicher ist es sonst nirgendwo«, bestätigte Marco. »Außer bei mir zu Hause. Und deshalb wollen wir auch kein Risiko eingehen. Normalerweise wagen die Kriecher sich nie so weit in die Wüste. Aber wenn ein dermaßen schwerwiegender Zwischenfall eintritt, rufen sie Helikopter zur Unterstützung. Falls die uns hier unten entdecken würden…« Er zuckte die Achseln und sah Osman an. »Dann gäbe es keine wochenlangen Schachpartien mehr, nicht wahr, alter Freund?« Er trat zu einem kleineren Kamel, das hinter Sophie stand, und half Osman, die Körbe am Packgeschirr des Tiers zu verzurren. Jakli kam um die Ecke. Sie sah erschöpft und gereizt aus und hatte Shans Leinentasche in der Hand. »Sie müssen nach Hause zurückkehren, Chinese«, sagte Marco. »Ich habe kein Zuhause.« -299-
»Na gut, dann eben zurück nach Tibet.« »Ich bin noch nicht fertig.« »Doch, das sind Sie. Die Kriecher werden den Rest übernehmen.« Marco schien die Entschlossenheit in Shans Blick richtig zu deuten. »Das Hornissennest hat sich geöffnet. Es wäre nicht ratsam, einen weiteren Stock hineinzustoßen.« »Ich kann nur dann aufhören, wenn ich von denen, die mich geschickt haben, darum gebeten werde«, sagte Shan leise. Marco schüttelte den Kopf. »Die kennen dieses Land nicht. Und Sie kennen es auch nicht.« Er schaute an Sophies Hals vorbei hinaus in die Wüste. »So ist es schon immer gewesen. Das Raubtier kommt so sicher wie die Gezeiten des Meeres. Die Menschen bauen sich ein Leben auf, rund um eine Herde, in einer Oase oder in einem kleinen Gebirgstal. Und alle paar Jahre wird ihnen alles wieder genommen. Sie wissen es. Sie haben gelernt, damit zu rechnen. Vor langer Zeit, als Karatschuk noch fruchtbar war, brach manchmal eine Heuschreckenplage aus und vernichtete in weitem Umkreis alles Grüne. Oder ein gewaltiger Sandsturm zog auf, auch als die Wüste noch nicht alles auf ewig verschluckt hatte, ein karaburan, der tagelang wüten und alles zerstören konnte, was weicher als Stein war. Mitunter ist es auch eine Armee. Die Mongolen sind hier eingefallen. Die Chinesen. Die Perser. Angeblich sogar einmal die Römer. Wenn man jede Geschichte für bare Münze nimmt, ist sogar eine Affenarmee auf dem Rücken von Tigern hier durchgezogen.« Marco warf noch einen Blick auf die Verschnürung der Ladung, zog die Knoten ein letztes Mal fest und wickelte Sophies Zügel vom Hals des Tiers. »Ob nun Affen auf Tigern oder Kriecher auf Panzern, das bleibt sich gleich. Um zu überleben und Menschen, die dir etwas bedeuten, zu schützen, verschwindest du. Du wirst unsichtbar. Ziehst dich unter die Erde zurück. Oder ins Hochgebirge. Solange du nur nicht dem Raubtier in die Quere kommst.« -300-
Shan kannte dieses Raubtier nur zu gut. Er hatte mehr als drei Jahre im Magen der Bestie zubringen müssen. »Das Raubtier muß nicht immer gewinnen«, sagte er eigensinnig. Jakli stand inzwischen neben ihm. Sie schien so schnell wie möglich aufbrechen zu wollen. Marco sah Shan ernst an. »Das hängt davon ab, wie man Gewinnen definiert«, sagte er schließlich, drehte sich um und vergrub sein Gesicht in dem dichten Fell auf Sophies Stirn, als würde er mit dem Tier Zwiesprache halten. Dann hob er den Kopf. »Hören Sie, Genosse Inspektor«, sagte er. »Ich weiß von Jakli, daß Sie keinerlei Papiere besitzen. Lassen Sie sich von ihr in ein Versteck bringen. Warten Sie mindestens ein oder zwei Wochen ab. Gehen Sie zum Clan des Roten Steins. Zählen Sie die Schafe.« Shan rührte sich nicht und ließ Marco nicht aus den Augen. »Der Rote Stein hat auch ohne mich genügend Sorgen.« Der eluosi runzelte die Stirn und sah Jakli an. Dann strich er sich mit den Fingern über den Bart und blickte zu Osman, als würde er an dessen Warnung vor den Kohlengruben denken. »Du mußt dich verstecken, Mädchen. Komm mit mir. Laß dich jetzt nicht erwischen, nicht so kurz vor dem Fest.« Jakli lächelte, stellte sich auf die Zehenspitzen und gab Marco einen Kuß auf die Wange. »Ich bleibe bei Shan«, verkündete sie munter. »Ich habe Lau ein Versprechen gegeben.« Aber Sie haben auch Nikki etwas versprochen, hätte Shan beinahe gesagt, doch dann sah er Jakli in die Augen und erkannte, daß sie nicht bloß trotzig war. Sie hatte nicht nur Lau ein Versprechen gegeben, sondern sich selbst etwas geschworen. Bevor Lau keine Gerechtigkeit widerfahren war, würde Jakli nicht heiraten. Marco wich einen Schritt zurück und fuhr mit der Hand über die Stelle auf seiner Wange, die Jakli geküßt hatte. Dem rauhen eluosi schienen die Worte zu fehlen. »Verdammt, dann bring ihn -301-
eben nach Senge Drak«, sagte er zu Jakli. »Shan ist deren Problem, nicht unseres.« »Senge Drak?« fragte Shan. »Im Kunlun«, sagte Marco und warf Jakli einen bedeutungsvollen Blick zu. »Wer auch immer Sui ermordet haben mag, könnte dort sein.« Er klang irgendwie seltsam, als sei ihm der Gedanke eben erst gekommen. Dann wandte er sich wieder an Shan. »Sie wollen das Raubtier aufhalten? Dann bringen Sie den Kriechern Suis Mörder.« Das Wiehern eines Pferdes unterbrach ihn. Sie drehten sich um und sahen, daß die verbleibenden Bewohner der Ansiedlung in einer Reihe den Pfad hinauf ritten, den Shan und Jakli am Vortag eingeschlagen hatten. Die vordersten Reiter hatten angehalten und winkten. Sophie kniete sich in den Sand, um Marco aufsteigen zu lassen, als würde sie die ferne Geste begreifen. Sobald er im Sattel saß, sprang sie auf und trabte davon. Der eluosi lachte laut auf. »Möge der Herrscher über alles Lebende Sie beschützen, Chinese«, rief er. »Ich kann es nicht.« Wenige Sekunden später hatte er die Spitze der Kolonne erreicht. Während Shan den Reitern und ihren Packtieren hinterherschaute, überkam ihn ein merkwürdiges Gefühl. Der Anblick glich einem Bild aus der Vergangenheit, aus der Epoche der Seidenstraße und der Zeit eines Karatschuks, das längst nicht mehr existierte. Eine Karawane von Abenteurern zog Wagnissen und unbekannten Gefahren entgegen. Als sie wieder im Lastwagen saßen und die Ruinenstadt verließen, schlug Jakli einen südlichen Kurs ein und hielt direkt auf die hohen Gipfel zu, hinter denen Tibet lag. Die Grenze zum Jenseits. Shan musterte die öde Landschaft und schlief immer wieder kurz ein, während der Lastwagen dem Verlauf eines anderen ausgetrockneten Flusses folgte. Nach einer Stunde hielt Jakli in einem Weiden- und Pappelgehölz an der Fernstraße -302-
nach Kashi und bat Shan, auszusteigen und sich davon zu überzeugen, daß kein anderes Fahrzeug in Sichtweite war. Er winkte Jakli auf die andere Seite. Dann fuhren sie knappe zwei Kilometer durch ein weiteres Flußbett, bis Jakli plötzlich Gas gab und, über die Böschung schlingernd, auf einen Pfad einbog, der gerade breit genug für den Lastwagen war. Shan studierte die Landkarte. »Das Lager Volksruhm liegt ganz in der Nähe«, stellte er fest. »Ein zweiter Besuch wäre zu riskant«, sagte Jakli. Sie schaute ihn an und schüttelte den Kopf. »Nicht, wenn dort Kriecher sind. Und nicht nach dem Gespräch zwischen Xu und Ihnen.« »Oberhalb des Lagers waren Schafe auf den Hügeln«, sagte er und erklärte ihr seine Absicht. Jakli seufzte und hielt an, um selbst einen Blick auf die Karte zu werfen. Eine halbe Stunde später hatten sie den Wagen im Schutz einiger Bäume abgestellt und kletterten einen niedrigen Bergkamm hinauf, der sich entlang der Ostflanke des Reislagers erstreckte. Auf halbem Weg nach oben legte Jakli ihm eine Hand auf die Schulter, damit er stehenbliebe, und stieß einen lauten Pfiff aus. Dreißig Sekunden später tauchte über ihnen ein riesiger Hund auf, gefolgt von einem Mann, dessen Gesicht keine freundliche Regung erkennen ließ. Sie näherten sich dem Fremden, der ihnen mit auffälligem Stirnrunzeln zunickte, sich dann über den Hund beugte und das Tier mit einem leisen Befehl wegschickte. Der Hirte trug ein Fernglas um den Hals, das er nun abnahm und Jakli reichte. Dann drehte er sich um und führte sie den Pfad hinauf. Als sie kurz vor der Kammlinie unter einer großen Pappel entlanggingen, murmelte der Mann ein Wort in seiner Muttersprache, das von oben mit dem gleichen Wort erwidert wurde. Shan sah hoch und entdeckte dort einen zweiten Mann, der ebenfalls ein Fernglas in der Hand hatte. Das waren keine Hirten, sondern Maos. -303-
Als das Lager Volksruhm in Sicht kam, gab Jakli das Fernglas an Shan weiter und zog ihn in die Deckung eines großen Strauches. Bislang hätten sich keine außergewöhnlichen Vorfälle ereignet, hörte Shan den Mann zu Jakli sagen, während er das Lager absuchte. Keine weiteren Lastwagenladungen voller Häftlinge. Die Gefangenen erhielten derzeit Unterricht. Das Außengelä nde war leer. Bei dem Gebäude mit den besonderen Zellen schien alles ruhig zu sein. »Da ist nichts«, wiederholte der Mann ungeduldig hinter Shans Rücken. Aber da war doch etwas. Ein grauer Umriß, den man leicht für einen Felsen hätte halten können, bei dem Fahnenmast in der Mitte des Antreteplatzes. Shan wies darauf hin. »Der Mann?« fragte der Mao. »Der ist schon den ganzen Tag da. Glaubst du etwa, er leidet? Der leidet nicht.« Shan gab Jakli das Fernglas zurück. Wurde der Mann bestraft? überlegte er. Oder wollte er stundenlang in Sonne und Wind sitzen? »Das ist niemand«, sagte der Mao. »Von hier aus kann man sowieso keine Gesichter erkennen«, fügte er hinzu und machte sich auf den Rückweg. Aber Shan erkannte den Mann trotzdem. Nach einigen Metern drehte der Mao sich um. »Ihr könnt sie da nicht rausholen«, rief er mürrisch. »Ausbruchsversuche sind lebensgefährlich.« Dann ging er weiter. »Das verstehe ich nicht«, sagte Jakli. »Kennen Sie ihn?« »Sie wußten nicht, daß er tibetisch spricht, oder? Und Sie wußten auch nicht, daß er die Höhle genutzt hat«, sagte Shan. Jakli beugte sich mit dem Fernglas vor, um den Mann besser erkennen zu können. »Als er neulich aufgestanden ist, haben Sie da seine Körpergröße bemerkt?« -304-
Sie ließ das Fernglas sinken, sah Shan an und atmete tief ein. »Der Wasserhüter«, rief sie erschrocken. Dann biß sie sich auf die Unterlippe und hob erneut das Fernglas. »All diese vielen Male hätte ich um einen Segen bitten können«, flüsterte sie. Shan warf ihr einen besorgten Blick zu. Schweigend kehr ten sie zum Wagen zurück und fuhren weiter. Über langgezogene, mit Schotter bedeckte Hänge gelangten sie immer höher in die Berge. Jaklis Stimmung wurde besser, und sie erzählte Shan von vertrauten Orten, deutete auf eine Stelle, an der ihr Clan einst sein Lager aufgeschlagen hatte, wo ihr die Rettung eines verirrten Lamms geglückt war oder wo Lau ihr eine Kolonie Pfeifhasen gezeigt hatte. Einmal hielt sie an und wies nahezu atemlos auf einen fernen Hügel, auf dem sich etwas bewegte. Eine kleine Herde Wildpferde. Sie stieg aus und rief etwas im Dialekt ihres Clans. Der Wind riß ihr die Worte von den Lippen. Ein Pferdegebet, um die Tiere vor der Brigade zu schützen, erklärte sie mit einem verlegenen Lächeln, als sie wieder einstieg. Sie stießen auf eine weitere Straße und bogen vorsichtig darauf ein, während Jakli unaufhörlich nach anderen Fahrzeugen Ausschau hielt. Dann setzten sie ihren Aufstieg in Richtung der schneebedeckten Gipfel fort. Shan schlief immer wieder ein. Einmal wachte er auf und bemerkte, daß der Wagen am Fuß einer großen grauen Klippe stand, gegenüber einer Wiese voller Astern. Jakli kniete mit einem Strauß Blumen am Straßenrand und schaute zu den baumbestandenen Hängen empor. Dann neigte sie den Kopf und legte die Blumen an der Klippe nieder. Als sie zurückkehrte, tat Shan so, als würde er weiterhin schlafen. Er schlief tatsächlich wieder ein und erwachte am späten Nachmittag. Sie fuhren unter einem tiefroten Himmel durch eine fremde Gebirgslandschaft. Shan betrachtete die hohen -305-
geheimnisvollen Täler in den Bergflanken und die Felsspitzen, die wie Riesenhände gen Himmel aufragten. Er kurbelte das Fenster herunter und roch die kalte dünne Luft, die frisch von den Eisfeldern herabwehte. Seine Augen hatten dieses Gebiet noch nie erblickt, doch sein Herz erkannte es wieder. »Wie lange sind wir schon in Tibet?« fragte er Jakli. »Der Grenzverlauf ist hier nicht eindeutig festgelegt. Seit vielleicht zehn oder fünfzehn Kilometern.« »Sie sind bestimmt erschöpft. Lassen Sie mich fahren.« »Sie kennen den Weg nicht. Es ist nicht mehr weit.« Sie erreichten einen hohen Grat und verringerten das Tempo, um den achtzig Kilometer weiten Blick auf die ChangtangHochebene zu genießen. In der Ferne bewegte sich ein großer brauner Schatten und floß über das Weideland - eine Herde wilder Tiere. Vielleicht Antilopen oder sogar Kiangs, die flinken Halbesel, die noch immer das Plateau durchstreiften. Einige Minuten später hielt Jakli den Wagen an und trat hinaus in den Wind. »Ich bin jetzt seit vier Jahren nicht mehr hier gewesen«, sagte sie. »Auf den Karten ist es nirgendwo verzeichnet. Können Sie es erkennen?« »Ich war noch nie dort«, entgegnete Shan und blickte über die Schulter nach Norden. Ein plötzliches Schuldgefühl überkam ihn. Er hatte den Wasserhüter, die Kinder der zheli und Gendun zurückgelassen. »Senge Drak heißt Löwenfelsen«, erläuterte Jakli. »Geformt wie ein Löwe.« Sie musterten die umliegenden Gipfel und stiegen wieder ein. Jakli bog auf einen schmalen Pfad ab, der in flachem Winkel allmählich auf den nächsten Kamm hinaufführte. Oben hielt sie abermals an und deutete nach vorn. Der Berg, auf dem sie sich befanden, erstreckte sich als langgezogenes U nach Süden. Ihr gegenwärtiger Aufenthaltsort lag ziemlich genau in der Mitte des Grats, und gegenüber verlief einer der Ausläufer, ein langer, -306-
kahler Felsen, der in einer riesigen, einem Gesicht ähnelnden Klippe endete. Über dem Gesicht ragten zwei Vorsprünge empor, die man als Ohren ansehen konnte, und tief unter ihnen wuchs aus der Flanke des Berges ein schmaler Wulst, der wie ein liegendes Bein wirkte. Nach weiteren hundert Metern endete der Weg, und Jakli parkte den Lastwagen unter einem großen überhängenden Felsen. Dann bedeckten sie den Wagen mit einer schmutziggrauen Plane von der Ladefläche und gingen zu Fuß auf dem schmalen Ziegenpfad weiter, der den steilen Hang kreuzte. Nach wenigen Schritten blieb Jakli stehen und warf einen Kiesel in den Schatten eines zweiten Überhangs. Der Stein prallte mit einem metallischen Geräusch ab. Am Anfang des Pfads hatte jemand einen zweiten Lastwagen versteckt. Je näher sie der Wand kamen, desto deutlicher stellte Shan darauf ein subtiles Schattenmuster fest. Nicht alle Schatten rührten von Felsspalten her. Manche stellten Öffnungen dar, künstlich eingemeißelte Durchlässe. Der Löwenfelsen war eine alte Festung, einer der dzong, die früher Tibet beschützt hatten. Man hatte sich die Linien der natürlich gewachsenen Formation zunutze gemacht, um den dzong mit dem Berg verschmelzen zu lassen, der sich hoch über der Changtang erhob und den Gebirgspaß beherrschte. »Dieser Ort liegt so weit vom Herzen Tibets entfernt, daß die Regierung ihn übersehen hat«, erklärte Jakli. »Vielleicht hat die Armee auch beschlossen, daß er die ganze Mühe nicht wert sein würde. Man kann ihn nicht aus der Luft bombardieren, wie die meisten anderen dzong. Außerdem stand er jahrhundertelang leer. Aus dieser Richtung drohte keine Invasionsgefahr. Ein nennenswerter bewaffneter Widerstand war von hier aus auch nicht zu befürchten. Eigentlich besitzt der Ort nicht die geringste Bedeutung.« Sie gingen auf das Ende des Pfads zu, während das Tageslicht immer schneller schwand. Jakli blieb stehen, um im Westen den -307-
letzten tiefroten Schimmer zu bewundern, als würde sie ein stummes Gebet in diese Richtung senden. Dann führte sie Shan in einen besonders dunklen Schatten, in dem sich der Eingang des dzong befand. Sie folgten einem Gang, der in großen Abständen von einigen trüben Butterlampen erhellt wurde, und gelangten schließlich an eine schmale Tür aus behauenen dicken Bohlen. Als Jakli die Pforte aufstieß, quietschten lautstark die eisernen Angeln. »Die Alarmanlage«, sagte sie, neigte den Kopf und geleitete Shan hindurch. Mehr als nur eine Alarmanlage, dachte er. Die Tür war dermaßen niedrig, daß fast jeder Eintretende sich vorbeugen und so seinen Hals dem Schlag eines Verteidigers preisgeben mußte. Außerdem paßte immer nur eine Person gleichzeitig hindurch. Im Zeitalter der Schwerter und Pfeile hatten ein oder zwei Soldaten an so einem Eingang eine kleine Armee aufhalten können. Nach zwei Schritten gebot Jakli ihm Einhalt. Sie würden in diesem Raum abwarten. Die leere Kammer war ungefähr zwölf Meter breit. Am anderen Ende stand ein langer, schmuckloser Holztisch, auf dem ein Dutzend Butterlampen brannte. Rechts von ihnen wölbte sich der nackte Fels, als wäre der Raum ursprünglich eine natürliche Höhle gewesen, die man erweitert hatte. An der Wand hinter dem Tisch hingen alte Teppiche und bewegten sich sacht. Da ein Luftzug die Lampen flackern ließ, vermutete Shan, daß die Teppiche Öffnungen in der Außenwand verdeckten, wie er sie vom Pfad aus gesehen hatte. Langsam ging er an den hängenden Teppichen entlang. Einige waren sogar mehr als das, bemerkte er. Es waren thangkas mit Szenen aus dem Leben eines Klosters. Die Vorhä nge vor den Öffnungen hatten durch den Wind sehr gelitten und sahen mittlerweile ziemlich schäbig aus. An einer Stelle hing eine schlichte schwarze Filzdecke. Plötzlich richteten sich Shans Nackenhaare auf. Jemand beobachtete ihn von der gegenüberliegenden Seite des Raumes. Die Ecke war in tiefe -308-
Dunkelheit getaucht, und so nahm Shan eine der Lampen und tastete sich vor. Nach fünf Schritten erstarrte er, denn auf Höhe seines Kopfes blickten ihm zwei große reglose Augen entgegen. Das heitere Gesicht war wie fragend ein Stück zur Seite geneigt, und eine der Hände hielt eine Glocke. Es handelte sich um einen sitzenden Buddha, den man aus dem Felsen gemeißelt hatte und der daher mitten aus der Wand emporzuwachsen schien. Während der Kopf der ungewöhnlichen Statue beinahe vollständig frei lag, stellte der untere Teil des Körpers, wo die übergeschlagenen Beine unter dem Gewand verborgen waren, kaum mehr als ein Basrelief dar. Als Shan näher kam, sah er, daß die unbekannten Bildhauer den Felsen unterhalb des Buddhas zu einem Altar umgestaltet hatten, auf dem die Figur nun zu ruhen schien. Zu beiden Seiten befanden sich große Nischen, um Gaben aufzunehmen. Die Wand war dort schwarz vom Ruß der tormas, der Butterbildnisse, die an Festtagen als Opfer verbrannt wurden. Jakli ging an Shan vorbei und stellte eine Lampe in eine der Nischen. »Dieser Ort wurde zur Zeit des tibetischen Königreichs erbaut«, erklärte sie. »Die Soldaten waren Kriegermönche und kämpften manchmal unter dem Befehl derselben Lamas, die auch die religiöse Leitung innehatten. Wir haben eine alte Schrift gefunden, in der das Leben in Senge Drak beschrieben wird.« Während sie sprach, hob sie eine Hand zum Kopf des Buddhas und folgte mit ihren Fingern den sanften Konturen des Gesichts, ohne die Statue zu berühren. »Die Mönche waren legendäre Bogenschützen, aber da sie an die Heiligkeit des Lebens glaubten, übten sie ihre Fähigkeiten nicht wie gewöhnliche Kämpfer, die auf Vögel, Hirsche oder andere Lebewesen geschossen hätten. Statt dessen bezogen die Männer an den offenen Durchlässen Stellung, und ihre Lehrer warfen Papiervögel in den Wind, die ihnen dann als Ziele dienten.« »Falls alle Armeen so wären, gäbe es keine Kriege mehr«, -309-
fügte eine vertraute Stimme hinzu. Shan drehte sich um. Es war Lokesh, der ihn mit charakteristisch schiefem Lächeln ansah. Er zwinkerte verschmitzt, und dann trat er vor, um Shan zu umarmen. »Aber leider schießt nicht jede Armee nur auf Papiervögel«, sagte eine andere Gestalt und kam aus dem Schatten hervor. Jowa schien nicht ganz so erfreut darüber zu sein, Shan zu sehen. Lokesh runzelte die Stirn, als ärgere er sich über Jowas Einmischung. »Sind sie hier?« fragte Jakli barsch. »Sind sie etwa zum Feiern hergekommen, während alle anderen dort unten den Kopf hinhalten müssen?« Jowa sah sie verwirrt an und schien eine Frage stellen zu wollen, als noch jemand aus der Dunkelheit auftauchte. Es war Fat Mao. Jakli eilte quer durch den Raum, ließ eine Schimpfkanonade in ihrer Muttersprache auf ihn herabprasseln, hob die Hände und fuchtelte aufgeregt vor dem Gesicht des erschrockenen Uiguren herum. »Sui war ein Hundesohn, der für einen noch größeren Hundesohn gearbeitet hat«, sagte Fat Mao auf mandarin und näherte sich Shan und Jowa, als wolle er dort Schutz suchen. Shan musterte den Uiguren. Er wirkte erschöpft, und seine Kleidung war schmutzig und an mehreren Stellen eingerissen. Er hatte vor kurzem einen längeren Weg zurückgelegt. Vielleicht auf der Flucht. »Sui hat den Tod verdient. Aber ich habe ihn nicht getötet.« »Womöglich nicht du selbst«, rief Jakli empört, »aber die anderen Maos. Ausgerechnet jetzt, zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt. Ihr seid keine Krieger, sondern bloß feige Aasgeier. Ihr schlagt aus dem Hinterhalt zu und lauft dann weg. Sollen doch andere für eure Taten bezahlen…« Ihre Stimme erstickte vor lauter Empörung. -310-
»Es war keiner von uns«, versicherte Fat Mao. »Das kannst du gar nicht wissen«, wandte Jakli ein. »Doch, ich weiß es«, sagte der Uigure. »Wenn es im Bezirk Yutian passiert, weiß ich darüber Bescheid. Sui wurde so oft wie möglich beschattet. Aber niemand von uns hat ihn ermordet. Ich weiß, was du denkst. Die Kriecher werden das gleiche vermuten.« »Die Rettung des Roten Steins, die Suche nach Laus Mörder und dem Mörder der Kinder…« Jakli hielt inne, als hätte sie sich abrupt entschieden, der Liste keinen weiteren Punkt hinzuzufügen. »Das alles ist nun unmöglich.« War das der Grund? überlegte Shan. Hatte jemand Sui ermordet, um die Öffentliche Sicherheit von etwas anderem abzulenken? Oder wollte jemand, der die Reaktion der Kriecher von vornherein kannte, Shan und seine Gefährten davon abhalten, die Ermittlungen im Fall Lau fortzusetzen? Jemand anders betrat den Raum, ein kleiner schmächtiger Mann, der auf einem Brett einige Trinkschalen trug. »Jah«, sagte er auf tibetisch. Tee. Es war Bajys. Nicht der verängstigt stammelnde Bajys, sondern ein anderer oder wenigstens teilweise veränderter Bajys, denn sein Gesicht wirkte immer noch so hohl und leer wie bei Laus Höhle. Als Shan eine der Schalen von ihm entgegennahm, bemerkte er, daß die Hand des Mannes ruhig war. Aber sein Blick flackerte. Jowa nahm ebenfalls eine Schale, setzte sich abseits von den anderen auf die Tischkante und zog ein Stück Papier aus der Tasche, um darin zu lesen, als sei er nicht an weiteren Gesprächen interessiert. Shan spürte, daß jemand ihn am Ärmel zupfte. »Wenn Sui beobachtet wurde, müssen die Maos irgend etwas wissen«, sagte er zu Fat Mao. Er wandte den Kopf und sah, daß Lokesh neben ihm stand und ihn in den Schatten ziehen wollte. »Die Leiche wurde von einem uigurischen Fernfahrer -311-
entdeckt, der mit einer Ladung Wolle allein nach Kashi unterwegs war«, erläuterte Fat Mao. »Sui lehnte am Straßenrand an einem Felsen.« »Der Mörder hat sein Opfer nicht versteckt?« »Ganz im Gegenteil. Der Fahrer hat Sui deutlich im Scheinwerferlicht gesehen und angehalten, weil er den Mann für krank oder verletzt gehalten hat. Aber der Leutnant lebte nicht mehr. Man hat ihm zwei Schüsse durchs Herz verpaßt. Ein schneller Tod.« »Das heißt, der Körper wurde anschließend absichtlich dort plaziert.« »Genau. In den Sand neben der Leiche hatte jemand lung ma geschrieben. Das kann unmöglich Sui gewesen sein. Er wäre wie ein Stein zu Boden gestürzt.« »Haben die Kriecher ihn so gefunden?« »Nicht ganz«, sagte Mao. »Der Fahrer war sich nicht sicher, was er tun sollte. Er wußte auch nicht, wer Sui war.« »Sui war ein Kriecher. Alle kennen die Uniform.« Fat Mao schüttelte den Kopf. »Sui trug keine Uniform.« Er schaute von Shan zu Jakli und ließ die Worte einen Moment wirken. »Aber in seinem Gürtel steckte eine Pistole. Und dann kam noch jemand die Straße entlang und hat dem Fahrer geholfen.« »Und der kannte Sui?« fragte Shan. Er drehte sich noch einmal um. Lokesh war verschwunden. »Er war sogar auf der Suche nach Sui. Und er hat die Worte im Sand verwischt. Ein Mao. Er wollte die Leiche wegbringen, aber ihm blieb keine Zeit, weil weitere Fahrzeuge sich näherten. Er hat es lediglich geschafft, Sui hinter ein paar Felsen zu ziehen.« »Ein Mao ist Sui gefolgt?« fragte Shan. Der Uigure nickte. »Einer von uns hat Sui beschattet, aber in -312-
Yutian verloren. Sui war mit Anklägerin Xu im Lager Volksruhm verabredet, also ist der Verfolger in diese Richtung gefahren.« Fat Mao warf Jakli einen ernsten Blick zu. Vielleicht hatte Xu beschlossen, den Treffpunkt an die Straße zu verlegen, um Sui aus irgendeinem Grund zu beseitigen. »Was für eine Waffe hatte Sui bei sich?« fragte Shan. Der Kriecher war mit der Pistole im Gürtel gestorben, als habe der Mörder ihn überrascht. »Keine offizielle Dienstwaffe. Ein kleines Kaliber, wie bei der Übungspistole eines Sportschützen.« »Lau und Suwan sind mit so einer Waffe ermordet worden.« Shan seufzte. Jakli ließ sich ermattet auf eine Bank neben dem Tisch sinken. »Was war los? Warum wurde Sui verfolgt?« »Als der Fahrer erfuhr, um wen es sich dort handelte, wollte er nicht länger bleiben. Er ist weitergefahren. Aber zuvor hat er noch die Leiche angespuckt.« »Danke für dieses wichtige Detail«, murmelte Shan. Fat Mao zuckte die Achseln. »Wir haben ihn beobachtet, weil wir generell so viele Informationen wie möglich sammeln. Um die Leute warnen zu können. Um mehr zu erfahren.« Er rieb sich mit dem Handballen die Schläfe. Der Uigure hatte Kopfschmerzen, erkannte Shan. Er war nicht an die dünne Höhenluft gewöhnt. »Das Programm zur Beseitigung der Armut«, sagte Jakli. Die Worte brachten ihr einen vorwurfsvollen Blick von Fat Mao ein, doch sie ließ sich nicht beirren. »Die Öffentliche Sicherheit ist irgendwie darin verwickelt. Sui ist neulich zu der Werkstatt gekommen, als Ko die Bestandsaufnahme durchführen ließ.« »Sie glauben, Sui habe mit der Brigade zusammengearbeitet?« fragte Shan. Der Uigure setzte sich an den Tisch, stützte die Ellbogen -313-
darauf und barg das Gesicht in den Händen. »Ja, vermutlich«, sagte Jakli. »Vielleicht bloß, um eventuelle Differenzen zu unterbinden. Damit die Clans tun, was ihnen gesagt wird, und niemand sich dem Programm entzieht.« »Sui war derjenige, der verkündet hat, die Brigade würde auch alle Pferde einsammeln«, rief Shan ihr ins Gedächtnis. Fat Mao hob den Kopf. »Sui ist Direktor Ko gefolgt«, sagte er. »Zum Lager Volksruhm?« fragte Shan. »Nein, zu allen möglichen Orten. Zumindest während der letzten drei Wochen. Als hätte die Öffentliche Sicherheit in bezug auf Ko einen bestimmten Verdacht gehegt.« Er rieb sich abermals die Schläfen und streckte sich auf der Bank aus. Shan sah sich um. Lokesh war nicht zurückgekehrt. Bajys war ebenfalls verschwunden. Als Shan in den Schatten trat, entdeckte er den Umriß eines Durchgangs. Dahinter gelangte er in einen weiteren Tunnel, der von kleinen Lampen erhellt wurde. Nach etwa zehn Metern blieb er verwirrt stehen. Er spürte etwas. Nein, eigentlich war es eher eine Vorahnung, der Vorbote einer Erkenntnis. Er stützte sich mit einer Hand an der Felswand ab und schloß für einen Moment die Augen. Dann riß er sie plötzlich wieder auf und lief los. Nach dreißig Metern teilte der Korridor sich in zwei Gänge. An der Gabelung stand auf einem großen Holzpodest eine ungefähr neunzig Zentimeter hohe Gebetsmühle. Ohne zu zögern, bog Shan in den linken Gang ein und gelangte an eine hölzerne Tür. Sie stand weit genug offen, daß er dahinter eine quadratische Kammer von etwa zehn Metern Seitenlänge erkennen konnte, in deren Mitte ein Kreis aus Butterlampen sanftes Licht verbreitete. Es war ein angenehmer, stiller Raum, den man an Boden, Wänden und Decke vollständig mit duftendem Holz ausgekleidet hatte. Man richtete solche Kammern in Tempeln ein, um darin etwas Wertvolles zu -314-
verwahren. Shan trat ein. In der Nähe der Lampen saß Lokesh, und neben ihm verharrte im Lotussitz ein Mann in einem Mönchsgewand. Seine Ellbogen ruhten auf den Knien, und seine gespreizten Finger stützten den gebeugten Kopf. Shan hatte Mühe, sein wild klopfendes Herz zu beruhigen. Es war Gendun. Shan gesellte sich zu den beiden Tibetern dort bei dem Lichtkreis, saß schweigend da und atmete den Wohlgeruch des alten Holzes ein. Er nahm eine der Lampen und starrte in die Flamme, um sich zu konzentrieren und seinen Verstand für Gendun zu reinigen. Wenn der ausgewählte Fokus rein und absolut war, konnte man darin eintauchen, so daß man vor jeglicher Ablenkung geschützt wurde. Man konnte zu diesem Zweck alles mögliche verwenden - einen Schlammklumpen, einen Blutstropfen, eine winzige Heideblüte -, solange der Gegenstand rein war. »Ich habe einst einen Einsiedler getroffen«, sagte eine Stimme, die langsam in sein Bewußtsein drang. »Er hat behauptet, die Reinkarnation eines Wacholderbaums zu sein. Er sagte, er könne das Holz sprechen hören.« Die Stimme hallte in seinem Herzen wider und erfüllte Shan mit Wärme. »Er sagte, wir alle seien früher einmal Bäume gewesen. Ich erwiderte, das könne ich mir nicht vorstellen, denn ich würde immer noch danach streben, eine Zeder zu werden.« Blinzelnd wandte Shan die Augen von der Flamme ab, hob den Kopf und sah in Genduns lächelndes Gesicht. Der Lama preßte zum Gruß die Hände vor dem Herzen aneinander und streckte dann die Unterarme aus, ohne die Ellbogen von den Knien zu heben. Es war seine Art, Shan zu umarmen. »Rinpoche«, sagte Shan langsam. »Wir sind sehr weit von deinem Berg in Lhadrung entfernt.« »Solange ich einen Berg habe, in dem ich sitzen kann, bin ich -315-
zu Hause«, erwiderte Gendun. Seine Stimme klang wie Sand, der auf einen glatten Felsen rieselte. Shan lächelte. Gendun hatte schon so viele Jahre in seiner steinernen Einsiedelei meditiert, daß alle, die ihn kannten, davon überzeugt waren, er könne die lebenspendende Kraft der Berge spüren. »Ist es dir gut ergangen?« fragte er Shan. »Ich habe Verwirrendes erlebt.« Gendun lächelte. »Ich auch, mein Freund.« Dann verstummte er und schaute weiterhin lächelnd von Shan zu Lokesh. »Wir dachten, die fremden Männer hätten dich in jener Nacht ergriffen«, sagte Shan. »Die Berge hier«, sagte Gendun und klang dabei verwundert. »Sie haben eine andere Stimme. Ist dir das auch aufgefallen? Meinen Blicken sind sie fremd, aber mein Herz kennt sie, obwohl es schon so viele Jahre her ist.« Shan konnte zur Antwort wiederum nur lächeln. »Bist du die ganze Zeit hier gewesen, Rinpoche?« fragte er dann. »Er ist vom Wagen gestiegen, als die Brigade uns angehalten hat«, sagte jemand hinter ihm. Shan drehte sich um und sah Jowa im Eingang stehen. »Ich bin zwei Tage später hier eingetroffen«, sagte eine andere Stimme. Sie gehörte dem jungen purba, der ihren Lastwagen nach dem Zusammentreffen mit den Kasachen übernommen hatte. Der Tibeter schob sich an Jowa vorbei in den Raum und blickte mit großen Augen auf Gendun. »Er saß ganz allein einfach hier und rührte sich nicht vom Fleck.« Jowa blieb an der Tür, als wolle er sich dem Lama nur ungern nähern. »Wie weit ist es von hier bis zu der Stelle, an der wir angehalten haben?« fragte Shan. »Fünfundzwanzig oder dreißig Kilometer.« Der junge Tibeter -316-
schüttelte den Kopf. »Aber Senge Drak ist ein Geheimnis.« Sein Tonfall klang irgendwie fragend, als würde er Shan um eine Erklärung bitten. »Er ist zuvor noch nie hier gewesen. Und von der Stelle aus, an der er die Straße verlassen hat, führt kein Pfad hierher.« Gendun ließ durch nichts erkennen, ob er dem Gespräch gefolgt war. Er hatte es Shan bereits erklärt. Die Berge hatten eigene Stimmen. Shan sah Jowa an, nicht den jungen Tibeter. Jowa wirkte nicht nur müde, sondern unangenehm berührt, als würde Gendun, einer der heiligen Männer, für die er kämpfte, den purba in gewisser Weise einschüchtern. »Wir haben ihm von dem zweiten Jungen erzählt«, sagte Lokesh mit plötzlich ernster Stimme. Was habt ihr ihm erzählt? wollte Shan am liebsten fragen. Wie würde Lokesh den Mord an Suwan wohl beschrieben haben? Eine weitere junge Seele hat alles Leid hinter sich gelassen. Vielleicht so. Aber dann meldete Gendun sich zu Wort. »Bist du weit herumgekommen?« fragte er Shan. So fühlt es sich zumindest an, hätte Shan beinahe gesagt und mußte an das Grab beim Roten Stein denken, an Laus Höhle, das Reis lager und Karatschuk. Es fühlt sich so an, als hätte ich in den letzten vier Tagen eine Jahresreise zurückgelegt. »Ich habe Tante Lau getroffen«, sagte er statt dessen. »Magst du sie bislang?« fragte Gendun mit funkelndem Blick. »Ich glaube, sie hat jede Welt geehrt, in der sie gelebt hat.« Gendun nickte, schloß dabei langsam die Lider und öffnete sie wieder. »Und ich habe einen alten Wasserhüter kennengelernt.« Gendun nickte erneut. Seine Augenbraue zuckte kaum merklich. Shan begriff die unausgesprochene Frage. »Er ist noch -317-
in diesem Leben«, sagte er. »Zwar im Gefängnis, aber er leidet nicht.« Sein Blick wanderte von Gendun zu der nächstgelegenen Lampe. »Ich werde für seine Freilassung sorgen.« Manche Dinge sind nicht wirklich, bevor sie nicht laut ausgesprochen werden. Gendun sah ihn an, aber nicht so durchdringend, wie Shan sich selbst betrachtete. Die Worte, wenngleich unvermutet und unbeabsichtigt, hallten wie eine Glocke in ihm wider. Shan benötigte nur einen kurzen Moment, um zu erkennen, was er unbewußt schon längst realisiert hatte. Aus all den vielen Begegnungen und Ereignissen, die ihm seit seiner Ankunft in Xinjiang widerfahren waren, hatte sich nur eine einzige Gewißheit herauskristallisiert: Der Wasserhüter, der alte Lama, mit dem er kaum mehr als zwei Minuten zugebracht hatte, mußte aus der Haft befreit werden. Und Shan war der einzige, der dies bewerkstelligen konnte. Die Glocke in seinem Innern ertönte ein weiteres Mal und wurde immer lauter. Nein, das war keine Glocke, bemerkte er, sondern der zarte Klang der tsingha, jener kleinen runden Messingzimbeln, die in tibetischen Tempeln benutzt wurden. Bajys erschien an der Tür und lächelte schüchtern, während er noch zweimal die tsingha erklingen ließ, als bereite ihm dies besondere Freude. »Es gibt Essen«, verkündete er und ging dann wieder durch den Tunnel zurück. Sie folgten dem Klang der Zimbeln durch den Gang zu einer weiteren großen Kammer, die ebenfalls in den Felsen geschlagen war und fast die Ausmaße der Eingangshalle besaß. Auch hier öffneten sich mehrere Durchlässe dem freien Himmel. Sie befanden sich nun auf der gegenüberliegenden Seite der Felswand und damit auf der anderen Seite des Löwenkopfes, erkannte Shan. Der Raum wurde durch mehrere Kerosin- und Butterlampen hell erleuchtet, und neben einem massiven Holztisch brannten große Fladen Yakdung in einer Kohlenpfanne. Fat Mao und Jakli saßen bereits dort, außerdem ein weiterer Tibeter, ein großer Mann mit auffällig vernarbtem -318-
Gesicht, der Jowa und den purba mit einem vertrauten Nicken grüßte. Shan nahm erneut Fat Mao in Augenschein. Der Uigure hatte an jenem Tag eine große Strecke zurückgelegt, vermutlich seit der Nachricht von Suis Tod. Doch zweifellos gab es andere, leichter erreichbare Verstecke. Er war so schnell wie möglich nach Senge Drak geeilt, um die purbas aufzusuchen. Bajys wartete, bis Gendun an der Mitte des Tisches Platz genommen hatte, und holte dann einen Topf Gerstenbrei vom Feuer. Niemand stellte die Anwesenden einander vor. Während sie aßen, sprachen die drei purbas und Fat Mao leise über Suis Tod, und Shan erklärte Gendun, was geschehen war. »Es tut mir leid, daß ein Mann der Regierung sterben mußte. Laßt uns das Beste für seine Seele hoffen«, sagte der Lama ruhig. Fat Mao zuckte bei diesen Worten übertrieben deutlich zusammen. Er schüttelte den Kopf und sah dabei die purbas an, als wolle er seine Enttäuschung über Genduns Anwesenheit zum Ausdruck bringen. »Vor allem sollten wir das Beste für all jene hoffen, die nun leiden müssen. Die Unschuldigen. Die Familien. Die alten Leute. Hoffentlich verstecken sie sich gut. Hoffentlich stillt das Ungeheuer schnell seine Gier und zieht dann weiter.« »Der Schmerz wird kommen«, stimmte Jowa ihm zu. »Und deshalb werden wir nach Hause zurückkehren. Wenn der Schakal kommt, um die Schildkröte zu fressen, muß die Schildkröte sich in ihrem Panzer verkriechen. Wir müssen uns schützen. Wir müssen Rinpoche schützen.« Der Lama neigte den Kopf in seine Richtung. »Ich verstehe nicht, was du sagen willst. Schützen?« »Wir können mehr Gutes bewirken, wenn wir am Leben und in Freiheit bleiben, also in Lhadrung«, sagte Jowa. »Die Gefahr wird vorübergehen. Falls du zurückkehren möchtest, sobald es hier wieder sicher ist, werde ich dich herbringen, das verspreche ich. In ein oder zwei Monaten.« -319-
Jakli schob ihre Schüssel in die Mitte der Tischplatte. »Jemand aus den Reihen der purbas oder Maos weiß, was diesem Kriecher Sui zugestoßen ist«, behauptete sie mit schneidender Stimme. »Nur wenige würden es wagen, einen solchen Mann anzutasten. Die Leute wechseln die Straßenseite, wenn sie jemanden wie ihn kommen sehen. Männer wie Sui sind wie die Drachen, die das Land in früherer Zeit heimgesucht und wahllos Schrecken verbreitet haben. Niemand nähert sich freiwillig einem Drachen. Damals waren es nur besondere, von Priestern geweihte Soldaten, die sich gegen die Bestien behauptet haben.« Sie schaute kurz zu Shan. »Kriegermönche. Nur sie haben gegen die Drachen gekämpft. Und wenn durch den Tod eines Ungeheuers ein ganzes Nest anderer Drachen aufgescheucht wurde, stellten sie sich trotzdem schützend vor das Volk.« Fat Mao grinste höhnisch. »Und wer ist dumm genug, sich diesen Drachen in den Weg zu stellen? Sie kommen aus Peking. Schlag einen Kopf ab, und zwei neue wachsen nach.« »Es gibt keine magische Waffe«, sagte Shan in die folgende Stille hinein. »Es gibt nur die Wahrheit. Wer auch immer Sui ermordet hat, muß die Verantwortung dafür übernehmen.« »Auch wenn das bedeuten würde, von den Drachen gefressen zu werden?« wandte Fat Mao ein. »Ja, falls dies notwendig wäre, um die Unschuldigen zu beschützen.« Jowa verzog mürrisch das Gesicht, stand auf und bedeutete den anderen beiden purbas, sich ihm anzuschließen. »Wir gehen. Es ist meine Aufgabe, für unsere Sicherheit zu sorgen. Und das bedeutet, daß wir auch alle nach Lhadrung zurückkehren. Wir werden unser Leben nicht für den Kampf eines anderen riskieren. Ich kämpfe für Tibet und die Tibeter.« Gendun sah Jowa an. »Du bist nur durch den Zufall der Geburt in diesem Leben als Tibeter auf die Welt gekommen«, -320-
sagte er unschlü ssig, als hätten die Worte des purba, ihn verwirrt. »In deinem nächsten Leben wirst du vielleicht Chinese sein. In deinem letzten warst du vielleicht Kasache.« »Vorerst genügt es, sich nur um das jetzige Leben zu kümmern«, erwiderte Jowa scharf, doch noch während ihm die Worte über die Lippen kamen, war ihm die Reue deutlich anzusehen, als hätte er nur für einen Moment vergessen, mit wem er sprach. »Rinpoche«, fügte er leise und unbeholfen hinzu. Seine Hand legte sich auf den Dolch an seinem Gürtel, nicht etwa bedrohlich, sondern verschämt, als wolle er die Waffe verstecken. Gendun runzelte die Stirn. Abermals senkte sich Schweigen über den Raum. Der Lama stand auf und schenkte allen Anwesenden Tee ein. Dann ging er zu Jowa, der noch immer regungslos verharrte, hob langsam die Hand des purba und legte sie sich auf das eigene Herz. Shan hatte so etwas zuvor schon bei strenggläubigen Buddhisten beobachtet. Auf diese Weise vermittelten manche Lamas ihren Schülern die Wahrheit. »Wir ringen weder um Tibet noch um Xinjiang oder irgendwelche anderen Linien auf einer Landkarte. Wir ringen auch nicht um Tibeter oder Kasachen. Wir ringen um diejenigen, die den inneren Gott lieben oder immerhin lernen können, dies zu tun.« Gendun ließ die Hand los und sah in Jowas entschlossen blickende Augen, dann in Shans und Jaklis Gesicht. Er ging quer durch den Raum, stellte sich neben eine der Öffnungen, deren Vorhang man zur Seite gebunden hatte, und sah in den weiten Himmel hinaus, während der Wind mit seiner Robe spielte. »Falls ich einen Mann wie Sui getötet hätte«, sagte Jowa mit flehentlichem Unterton zu Genduns Rücken, »würde ich mich nicht verstecken, sondern ihnen voller Stolz meinen Kopf ausliefern. Aber ich war es nicht, also werde ich auch nicht meinen Kopf riskieren.« Er sah zu Boden. Ein Ausdruck der Verzweiflung huschte über sein Gesicht, doch dann verhärtete -321-
sein Blick sich wieder. »Wir müssen nach Lhadrung zurückkehren. Es gilt, andere Kämpfe zu wagen. Kämpfe, bei denen für uns wenigstens die Aussicht auf Erfolg besteht.« Er schaute zu Shan, dann wieder zu Gendun und zog schließlich zögernd den Zettel aus der Tasche, den er vorhin gelesen hatte. »Und du«, sagte er zu Shan mit einer Miene, in der sich Unmut und Stolz zu mischen schienen, »du bist gerettet. Du hast eine Verabredung an der nepalesischen Grenze.« Er seufzte laut und hob das Blatt. »Ein Inspektionsteam der UN hat die Erlaubnis zum Besuch einiger gompas südlich von Lhasa erhalten. Wir haben eine Möglichkeit, dich bei der Abreise der Leute mit nach draußen zu schmuggeln, und von da an werden sie sich um dich kümmern.« Er entfaltete das Stück Papier und streckte es Shan entgegen. »Du hast gewonnen«, fuhr Jowa fort, und seine Stimme war nicht frei von Verbitterung. »Eine Chance von eins zu einer Million. Aber uns bleiben nur acht Tage, um dich hinzubringen. Die Zeit reicht kaum aus.« Er ließ den Blick durch den Raum schweifen, von den Gesichtern der Maos zu Jakli und dann wieder zurück zu Shan. »Es besteht für dich also kein Grund mehr, sich Gedanken um die Angele genheiten anderer Leute zu machen.« Shan musterte seine Gefährten. Jakli strahlte ihn freudig an. Lokesh nickte. »Das ist alles, was du brauchst«, sagte der alte Tibeter. Gendun lächelte wortlos. »Unser Lastwagen steht unten am Pfad«, erklärte Jowa. »Auf der Ladefläche sind Fässer und Decken, genau wie zuvor. Alle kommen mit, einschließlich Bajys. Bei Mondaufgang gehen wir zum Laster und schlafen heute nacht dort, um vor Tagesanbruch abfahren zu können.« Er trank seinen Tee aus und sah Shan an, während er den Zettel auf den Tisch legte. »Falls wir unterwegs irgendwelche Drachen sehen, werden wir dich auch ganz bestimmt aufwecken«, fügte er spöttisch hinzu. Seine Freunde fielen in sein Gelächter ein und verließen mit ihm den Raum. -322-
Gendun ging langsam in den dunklen Korridor hinaus, kurz darauf gefolgt von Bajys. Shan goß Jakli und Lokesh Tee nach. »Ich hatte einmal einen Lehrer«, sagte Lokesh nach einer Weile. »Er glaubte nicht, daß die Inkarnation als Mensch in der Kette der Existenz eine sonderlich große Bedeutung besitzen würde. Er sagte, daß Menschen kommen und gehen, ständig ihre Gesichter wechseln und ihr ganzer Daseinszweck dann besteht, die Tugend am Leben zu erhalten und ihr als Gefäß zu dienen. Er sagte, wenn man genug Leben auf diese Weise hinter sic h gebracht hätte, würde man selbst zur Tugend werden, und erst dann erhielte man die Gelegenheit zur wahren Erleuchtung.« Jakli, Shan und Fat Mao verharrten stumm und überdachten diese Worte. In einem Punkt hatte Lokesh mit Sicherheit recht, dachte Shan. Die Menschen wechselten ständig ihre Gesichter. In gewisser Weise schien im Bezirk Yutian ein Leben sogar noch weniger wert zu sein als im Gulag. Jakli nahm das Papier und las es. Dann schob sie es mit großen, aufgeregt blickenden Augen zu Shan herüber. Er überflog es hastig. Es stimmte. Jemand hatte ein neues Leben für ihn in die Wege geleitet. Er sollte abermals eine Reinkarnation erfahren. In England gab es eine Gemeinschaft chinesischer Exulanten, die ihn gern bei sich aufnehmen würde. Bis er sich auf die neuen Umstände eingerichtet hatte, sollte er bei einem Professor für chinesische Geschichte in Cambridge wohnen. Acht Tage. Um den vereinbarten Treffpunkt an der nepalesischen Grenze zu erreichen, würde er selbst unter größten Anstrengungen mindestens sechs Tage benötigen. Aus dem Korridor drang ein leises rumpelndes Geräusch an seine Ohren. Shan erkannte es sofort. Die Gebetsmühle. »Bajys«, erklärte Lokesh. »Am Abend unserer Ankunft war er noch immer sehr durcheinander und konnte sich vor Erschöpfung kaum auf den Beinen halten. Aber dann sah er die Mühle und fing an, sie zu drehen. Zuerst hat er geweint, dann -323-
gelacht und danach die ganze Nacht nicht mehr von der Mühle abgelassen.« Der alte Tibeter erzählte davon mit großen, leuchtenden Augen, als würde er ein Wunder beschreiben. Wortlos lauschten sie dem Geräusch noch einige Minuten lang. Vielleicht würde alles doch noch gut werden, wenn Bajys nur immer weiter die Gebetsmühle drehte. Manche der alten Lamas hätten vielleicht gesagt, Shan habe seine Aufgabe erfolgreich bewältigt, denn immerhin sei es ihm gelungen, jemanden zu finden, der die Mühle nach Jahrhunderten der Stille wieder zum Leben erweckte. Schließlich stand Lokesh auf. »Ich muß Rinpoches Decken für den Lastwagen bereitlegen«, sagte er und verschwand durch den hinteren Ausgang. Shan fand Gendun in der Kammer aus duftendem Holz. »Es ist richtig, daß du mit uns gehst«, sagte der Lama. »Dies alles war ein Fehler. Wir haben es falsch verstanden. Gemeinsam kehren wir nach Lhadrung zurück. Wir können vom Wagen aus den Mond betrachten, genau wie zuvor, und dann wirst du in dein neues Leben aufbrechen.« »Ich habe hier doch gerade erst begonnen«, sagte Shan ausdruckslos. Es geschah alles viel zu schnell. Der Lama schüttelte den Kopf. »Auch ohne den Brief, den Jowa dir gegeben hat, hättest du wieder nach Süden gehen sollen. Das Ding, das unter der Oberfläche lauert, ist wie eine Wolke, die sich vor einen wunderschönen Mond schiebt. Ich habe nur ein Wort dafür, nämlich Tod. Aber dieses Wort ist zu einfach. Falls du verlorengingest, Shan, ohne daß deine Seele sich im Gleichgewicht befindet…« Er sah kurz auf seine verschränkten Hände und blickte dann mit großen Augen auf. »Es wäre schlimmer als der Verlust von Lau.« »Weil sie darauf vorbereitet war?« fragte Shan. Gendun nickte. -324-
»Nicht nur vorbereitet«, fügte Shan hinzu. »Lau hat damit gerechnet, für ihre Geheimnisse zu sterben.« Gendun wandte ihm das Gesicht zu, als wolle er ihn berichtigen. Shan tauschte einen langen stummen Blick mit dem Lama aus. »Genaugenommen nicht für ihre Geheimnisse«, sagte Shan, »sondern für ihren Glauben. Sie war Tibeterin und zugleich mehr als das. Ich glaube, sie hatte eine religiöse Ausbildung. Ich muß es wissen, Rinpoche.« »Anscheinend weißt du es bereits, mein Sohn.« Shan nickte langsam. »Sie war eine ani, eine tibetische Nonne.« Hinter sich hörte er ein leises Geräusch, eine Art zustimmendes Murmeln. Lokesh war dort und trat nun vor, um sich zu ihnen zu setzen. Gendun lächelte traurig. »Sie war früher eine Nonne, doch ihr Kloster wurde zerstört.« »Ich habe viele Mönche kennengelernt, deren gompas den chinesischen Bombardierungen zum Opfer gefallen sind«, sagte Shan. »Einige sagten, ohne mein Kloster bin ich kein Mönch mehr. Andere sagten, ein Mönch zu sein habe nichts mit einem Gebäude zu tun. Ein alter Mönch in meinem Gefängnis hat es am treffendsten formuliert. Ich trage mein gompa auf dem Rücken. Es ginge nur darum, dem inneren Gott zu dienen, hat er gesagt, und der innere Gott könne nicht durch Bomben zerstört werden. Ich glaube, Lau hat eine Möglichkeit gefunden, ihrem inneren Gott in Yutian zu dienen.« Gendun sah ihn nicht nur an. Er schien Shan vielmehr genau zu beobachten, als geschähe mit ihm in diesem Moment etwas Bedeutendes. »Sie hat während der letzten Jahre das Leben einer Kasachin geführt und wurde in kasachischer Kleidung bestattet«, fuhr Shan langsam fort. »Aber sie hat darum gebeten, neben dem Unterrichtsraum des alten Lama beigesetzt zu werden, der als -325-
Wasserhüter auftritt. Sie hat Jakli in den alten tibetischen Bräuchen unterwiesen. Und sie hat dem Lama bei seiner geheimen Lehrtätigkeit geholfen.« Von der Tür drang wieder ein Geräusch, gefolgt von einer Bewegung hinter ihm. Er sah nicht hin, als jemand neben ihm Platz nahm. Er wußte auch so, daß es Jakli war. »Wir haben uns immer an den Festtagen gesehen«, sagte Lokesh versonnen. »Die Mönche aus unserem gompa und diese Nonnen. Lau gehörte zu einer kleinen Sekte aus einem winzigen Kloster, das in der Nähe eines Gletschers nördlich von Shigatse stand. Auf einem Berghang haben wir dann ein riesiges thangka entrollt - es war bestimmt dreißig Meter lang. Es gab Wettbewerbe im Bogenschießen, und Akrobaten sind auf hohe Pfähle geklettert, um Gebete zu holen, die dort oben befestigt waren. Die Nonnen sangen für uns, und wir servierten ihnen besonderen tsampa, den wir mit Kardamom gewürzt hatten.« Er streckte seine lange, knochige und mit Altersflecken übersäte Hand nach den Lichtern aus. Jakli nahm sie und umschloß sie fest, als wolle sie Lokesh danken. Oder ihn vielleicht trösten. »Später«, sagte er seufzend, »sind Leute gekommen und haben ihr Kloster verbrannt.« Er fing an, die Melodie eines der alten Lieder zu summen, während sie alle in die Flammen der Lampen starrten. Dann hielt er inne. »Sie hatte einen langen Weg hinter sich und mußte am Ende einen solchen Tod in der Wüste sterben«, fügte er hinzu. »Inzwischen hat man einen anderen Tibeter als Lehrer für die Kinder geschickt«, sagte Shan. »Befindet dieser Lehrer sich dann nicht auch in Gefahr?« fragte Gendun. Nein, wollte Shan sagen, denn Kaju arbeitet für die Brigade. »Nein«, sagte er statt dessen, »denn der Mörder hat die Waisen bereits gefunden.« »Du meinst im Lager des kasachischen Clans.« -326-
»Und danach den Jungen, den wir am Straßenrand beerdigt haben. Zuerst Lau, denn sie mußte dem Mörder die Aufenthaltsorte der Kinder verraten. Womöglich ist der Täter hinter allen Waisen her«, sagte Shan wütend. »Akzu, der alte Kasache, vermutet, es könne sich um jemanden aus der Vergangenheit handeln, der zurückgekehrt ist, um die Kinder seiner Feinde zu vernichten.« Lokesh schüttelte unmerklich den Kopf. Die Bewegung war kaum wahrnehmbar, aber sie entging Shan nicht. »Vielleicht hat er Lau auch nur nach einem bestimmten Jungen gefragt und dann festgestellt, daß es sich um das falsche Kind handelte«, sagte Shan. »Der Mörder hat beiden Jungen die Hemden und ein Hosenbein zerrissen. Erst Suwan, dann Alta.« Er sah Lokesh an und versuchte aus ihm schlau zu werden. »Er hatte sich einen Jungen beim Lager des Roten Steins gegriffen, doch dieser Junge besaß nicht, was er wollte. Unter Umständen hat der Mörder nach etwas gesucht. Eventuell nach etwas aus Laus Besitz, das sie einem der Waisenkinder anvertraut hatte. Falls er es gefunden hätte, wieso sollte er auch noch das zweite Kind angreifen?« »Vielleicht haben die Kinder etwas getan, mit dem Lau oder ihr Mörder nie gerechnet hätten«, wandte Lokesh bedächtig ein. Shan sah seinen alten Freund an und nickte. »Falls das zutrifft, ist der Dämon vielleicht gar nicht hinter den Kindern her«, sagte Jakli. »Er nimmt sich lediglich eines nach dem anderen vor, bis er findet, was er braucht. Oder was sie braucht«, sagte sie mit einem kurzen Seitenblick auf Shan. Sie starrten in die Flammen. Von irgendwo schien ein tiefes Stöhnen zu erklingen. Es konnte der Wind sein. Vielleicht auch der Berg, der sich zu äußern versuchte. »Du hast Laus Geheimnis herausgefunden«, sagte Gendun mit langsamem Nicken und sah dabei Jakli an. »Vielleicht ist das genug. Die Enthüllung von Laus heimlichem Unterricht.« -327-
Jakli sprach Laus Namen aus. Es klang wie ein Seufzen. Dann blickte sie auf und nickte. »Ihr Weg wurde erkannt«, stimmte sie zu. »Um den Kreis ihres Lebens zu schließen, können alle, die ihr nahestanden, nun Laus Wahrheit erfahren. Sie war eine heimliche Buddhistin. Diese Erkenntnis sollte genügen.« Jakli sah Shan an und zuckte die Achseln. »Wir wissen, wer der Feind der heimlichen Buddhisten ist. Ich glaube, dies wird ausreichen, um noch weitere Nomaden davon zu überzeugen, daß sie die zheli beschützen und ihnen wenigstens bis zum Ende des Winters ein Versteck bieten.« Der Dämon war die Regierung, meinte sie. Und niemand konnte die Regierung aufhalten. »Mehr kann keiner von uns tun«, sagte sie zu Shan und biß sich wie unter Schmerzen auf die Lippe. »Jetzt können Sie in Ihr neues Leben aufbrechen.« Gendun neigte den Kopf, und sein Blick schien sich ins Leere zu richten, was bedeutete, daß er in tiefer Meditation versank. Lokesh begann, die Perlen seiner mala durch die Finger gleiten zu lassen, und stimmte ein Gebet an den Mitfühlenden Buddha an. Die beiden Tibeter würden Shan nun nicht mehr hören, auch wenn er sie mit den Fragen überhäuft hätte, die ihm auf der Zunge brannten. Jakli schien ebenfalls in einer Art Trance zu versinken. Ihr Blick war starr auf Gendun und Lokesh gerichtet, und sie reagierte nicht, als Shan aufstand. Er nahm seine Lampe und trat hinaus in die dunklen stillen Korridore von Senge Drak. Es drängte ihn, jeden Winkel dieses bemerkenswerten dzong zu erforschen, und er bedauerte, daß ihm dafür nur noch wenige Stunden bleiben würden. Schon bald stieß er auf eine lange Reihe winziger Räume, die man allesamt in den Felsen gehauen hatte. Vor einigen hingen Stoffetzen. Meditationszellen. Nach mehr als fünfzig Metern war noch immer kein Ende der Unterkünfte abzusehen, und Shan blieb stehen, weil schon die reine Anzahl der Räume ihn mit Ehrfurcht erfüllte. Manche Festungen besaßen Trainingseinrichtungen für die dort -328-
stationierten Truppen. Senge Drak verfügte über Kammern zur Meditation. Er betrat eine Klause, deren Vorhang noch größtenteils intakt war, und ließ sich im Lotussitz nieder. Die Lampe stellte er auf den Boden. Dann schloß er die Augen. Wenn er auch nicht in der Lage sein würde, mit dem Berg zu sprechen, so vermochte er doch dessen friedliche Ausstrahlung zu verspüren. Die Verdächtigungen und Ängste, die verschiedenen Möglichkeiten wirbelten in seinem Kopf umher. Er war verwirrter als je zuvor. Alles war zu unscharf. Es gab zu viele losgelöste Personen, zu viele verschiedene Kräfte, die an ihm zerrten. Jemand würde ihn retten und ihm ein neues Leben verleihen. Alles, was er brauchte, hatte Lokesh gesagt. Aber auf diese Weise würde Lau und ihren Kindern keine Gerechtigkeit widerfahren. Wer sollte den Mörder finden? Wer würde den Wasserhüter retten? Seine Hände formten ein mudra, den Diamanten des Verstands. Er mußte Jakli und den Maos etwas erklären, das er selbst nicht begriff. Es würde helfen, sich vorerst auf die einfachen Schlußfolgerungen zu besinnen, denn die trafen meistens zu. Anklägerin Xu haßte Tibeter. Wahrscheinlich hatte, sie herausgefunden, daß Lau eine tibetische Nonne war, und daraufhin allen Kindern der zheli nachgespürt, die ebenfalls über tibetische Wurzeln verfügten. Sie oder einer ihrer Handlanger war ins Lager des Roten Steins gekommen und hatte den ersten Jungen ermordet, in der Annahme, es handle sich um Khitai. Vermutlich hatte man Lau den Namen gewaltsam entrungen. Es hieß zwar, Khitai habe keine tibetischen Wurzeln, doch das gleiche hatte man auch von Bajys behauptet. Vielleicht war Khitai auch nur ein kasachischer Junge, in dessen Besitz sich das tibetische Ding befunden hatte, das Gendun und Lokesh solche Sorgen bereitete - Laus Schatz, der mittlerweile von einem Waisen zum nächsten weitergereicht wurde, dem Mörder stets einen Schritt voraus. Als Shan die Augen öffnete, bemerkte er etwas in der Ecke -329-
des Raums, ein langes Stück grob gewebten Wollstoffs, das einst vielleicht ein Meditationskissen bedeckt hatte. Er hob es an und erschrak, denn darunter kam eines der Artefakte von Senge Drak zum Vorschein, ein anmutig geschwungener Bogen ohne Sehne. Shan zog den Stoff vollständig beiseite und entdeckte eine kleine Schachtel aus Kampferholz, die mit komplizierten geometrischen Mustern verziert war. Er nahm den Deckel ab und fand darin eine ordentlich aufgerollte Bogensehne vor, so wie sie ihr einstiger Besitzer zurückgelassen hatte. Wann? Vor hundert Jahren? Nein. Jakli hatte gesagt, der dzong habe jahrhundertelang leer gestanden. Also war es mindestens zweioder dreihundert Jahre her. Er nahm den Bogen und legte ihn sich in den Schoß. Dann wandte er sich wieder der Schachtel zu. Es gab darauf vier Reihen sich wiederholender Muster, zwei oben und zwei unten. Er hatte mit seinem Vater viele Stunden damit verbracht, mittels einiger hingeworfener Holzstäbe oder Würfel zufällig Verse des Taoteking zu bestimmen und diese dann zu erforschen. Am liebsten jedoch hatten sie nach Mustern in ihrer Umgebung Ausschau gehalten und daraus dann Tetragramme abgeleitet, jene vierzeiligen Kombinationen, die auf eines der einundachtzig Kapitel des Buches verwiesen und von allen TaoSchülern auswendig gelernt wurden. Shan zählte immer sechs der winzigen Dreiecke in der oberen Reihe ab. Nach der letzten Sechsergruppe blieben drei übrig, was in dem Deutungssystem einer durchbrochenen Linie aus zwei Segmenten entsprach, der Basis des Tetragramms. Er zeichnete die Linie mit dem Finger auf den staubigen Boden. Nachdem er die zweite Reihe abgezählt hatte, die aus winzigen Blumen bestand, blieben zwei übrig, so daß der nächste Teil des Tetragramms von einer durchgehenden Linie gebildet wurde. Die dritte Musterreihe der Schachtel setzte sich aus siebenundneunzig kleinen Kreisen zusammen, was eine Eins und somit eine weitere durchgezogene Linie bedeutete. Die -330-
Quadrate der letzten Reihe endeten mit einem Rest von fünf, was eine doppelt geteilte Linie ergab. Das Tetragramm dort vor ihm im Staub war eine dreiteilige über einer durchgehenden, dann noch einer durchgehenden und schließlich einer zweigeteilten Linie. In der Tabelle des Taoteking kennzeichnete dieses Tetragramm das Kapitel sechsundfünfzig. Shan lächelte traurig. Zu der Zeit, als alle offiziellen Tempel auf Geheiß der Regierung geschlossen bleiben mußten, hatte Shan in Peking zu den regelmäßigen Besuchern eines geheimen Tempels gezählt. Die Inschrift auf der Tür dieses Tempels war ebenjener Vers aus dem Taoteking gewesen. Er rezitierte die Zeilen im Flüsterton, so wie früher ein Kriegermönch in dieser Zelle vielleicht flüsternd die Perlen seiner mala gebetet hatte. Wer weiß, spricht nicht. Wer spricht, weiß nicht. Versperre den Zugang. Schließe die Tür Glätte die Kanten. Entwirre die Unordnung. Erkenne die Klarheit. Mach dir den Lauf der Welt bewußt. Nachdem er geendet hatte, betrachtete Shan eine Weile den alten Bogen. Dann entrollte er langsam und mit zitternden Fingern die Sehne und spannte sie in die Waffe ein. Weshalb eigentlich wurde zur Meditation nicht grundsätzlich ein Bogen verwendet? überlegte Shan. So vollendet flexibel, so makellos straff, so perfekt fokussiert. Er erinnerte sich an einen der Schneesturmtage im Straflager, als ein Lama an alle Gefangenen imaginäre Bögen ausgehändigt hatte, damit sie stundenlang imaginäre Pfeile verschießen würden, bis niemand mehr sagen -331-
konnte, ob er den Bogen oder der Bogen ihn spannte. Nun zog Shan die Sehne zurück und hielt sie fest, während er immer wieder das Tao-Kapitel aufsagte. Er hielt sie so lange, bis es weh tat, bis ihm klar wurde, was er tun mußte, und dann noch länger, bis die Gefahr seines Vorhabens aus seinem Geist verschwand und statt dessen der Bogen ihn spannte. Dann schloß er die Augen und zielte in seiner Vorstellung auf einen Papiervogel.
-332-
Kapitel Neun Der Lastwagen nach Zentraltibet fuhr ab, als vom Tagesanbruch lediglich ein grauer Schimmer am Horizont kündete. Um nicht die verräterisch hellen Scheinwerfer einschalten zu müssen, setzte einer der purbas sich mit einer kleinen Taschenlampe auf die Motorhaube. Shan stand oben zwischen den Felsen und sah dem Fahrzeug hinterher, wie es im Leerlauf den langgezoge nen Hang hinunterrollte, langsam den nächsten Grat erklomm und in der endlosen Weite der Changtang verschwand. Dann schulterte er seine Tasche und machte sich auf den Weg. Alle Anzeichen deuteten darauf hin, daß ihm ein klarer und frischer Tag bevorstand, und so schritt er munter aus und ließ seine Füße wie von selbst den geeigneten Pfad wählen, während seine Augen auf die funkelnden Sterne gerichtet waren. Die Luft schien zu wispern, wenngleich er keinen Wind spürte. Ein Ziegenmelker schrie, und irgendwo zwischen den Felsen vor ihm erschrak ein Tier und floh unter dem schnellen Getrappel kleiner Hufe. In seinem Kopf hörte er den Tao-Vers genauso laut und deutlich wie den Ruf des Vogels. Wer weiß, spricht nicht. Wer spricht, weiß nicht. Tante Lau wußte es, aber sie konnte nicht mehr sprechen. Vielleicht hatte auch der tote Amerikaner etwas gewußt, etwas über eine umfassende Verschwörung, die sich bis nach Yutian erstreckte. Die toten Jungen konnten ebenfalls nicht mehr sprechen, und wie er leider vermuten muß te, hatten sie nicht das geringste über den Grund ihrer Ermordung gewußt. Die purbas und Maos waren hingegen gern bereit zu sprechen, aber ihre Worte wurden viel zu oft durch Verbitterung und Haß getrübt. Er setzte seinen Weg fort, während über seiner rechten -333-
Schulter die Sonne aufging, und vollzog im Geiste die mentale Skizze nach, die er von Jaklis Fahrtroute durchs Gebirge angelegt hatte. Sie war enttäuschend unpräzise. Er hatte am Vortag einen zu großen Teil der Strecke verschlafen. Wenn er sich nicht mehr erinnern konnte, würde er einfach weiter nach Norden auf den flirrenden Dunst der Wüste zusteuern. Er benötigte zwei Stunden bis zur Hauptstraße und dann noch eine Stunde, bis das erste Fahrzeug auftauchte. Schnell sprang er hinter einen Felsen und beobachtete, daß ein Kleinbus vorbeifuhr, dessen Seiten stark verbeult und verschrammt waren, als sei er nur knapp einer Lawine entronnen. Durch die Fenster sah Shan, daß auf allen Passagierplätzen Schafe standen. Eine halbe Stunde später befand er sich mitten in einer steilen Kurve, die um eine hohe Felswand führte, als erneut ein sich näherndes Geräusch zu hören war. Shan zwängte sich in eine Spalte der Wand und sah einen kleinen Wagen vorbeirollen, dessen laut stotternder Motor ölige Rauchschwaden ausstieß. Sobald der Wagen verschwunden war, stieg Shan aus dem Versteck und lief beinahe einem Laster vor die Räder, dessen Ankunft von dem anderen Fahrzeug übertönt worden war. Der Lastwagen kam zum Stehen, und Shan erkannte die eigentümliche Form der Karosserie. Er seufzte, setzte sich auf einen Felsen und stellte die Tasche auf seinen Schoß. Jakli schaltete den Motor ab, stieg aus und nahm wortlos neben ihm Platz. Wind kam auf. Ein paar kleine baumwollweiße Wolken trieben über die Gipfel. »An besonderen Tagen wie heute, wenn der Himmel so klar und tief ist, daß er wie ein riesiger See aussieht, hört man manchmal Geräusche«, sagte Jakli schließlich. »Ächzen und Grollen, die Klänge der Erde. Als ich noch klein war, sagte mein tibetischer Großvater immer, das seien die Laute der Berge, wenn sie wachsen.« Sie beobachteten die Wolken. -334-
»Ich sagte, wenn sie nur hoch genug wachsen könnten, würde man uns vielleicht einfach in Ruhe lassen.« Ein kleiner grauer Vogel landete und sah sie an. »Warum läßt man uns nicht in Ruhe?« fragte Jakli den Vogel und klang auf einmal so müde wie eine alte Frau. Sie reichte Shan ihre Wasserflasche. Er trank und gab sie ihr zurück, wobei er weiterhin verfolgte, wie der Vogel sie beide musterte. »Diese Straße«, sagte sie und deutete beiläufig auf die Kurve, »führt nach Norden, aus Tibet heraus. Nicht nach Nepal, sondern bloß zurück nach Xinjiang.« Shan nickte. »Mir bleiben acht Tage, um zur nepalesischen Grenze zu kommen. Und vorher gehe ich noch einmal nach Xinjiang«, sagte er leise, um den Vogel nicht zu erschrecken. »Ihnen bleiben zwei Tage«, berichtigte Jakli ihn. »Danach könnte kein Fahrzeug Sie noch rechtzeitig dorthin bringen.« »Ich gehe nicht weit, nur nach Yutian. Ins Büro von Anklägerin Xu.« Jakli dachte über diese Neuigkeit eine ganze Weile nach und seufzte dann. »Falls Sie den Mord an Sui gestehen, um die Kriecher abzulenken«, sagte sie nüchtern, »werde ich mich mitten auf den Marktplatz stellen und behaupten, daß Sie lügen. Ich werde sagen, ich sei die Täterin.« Er lächelte sie dankbar an. »Ich würde zwar eine ganze Menge dafür geben, die Kriecher von ihrem Vorhaben abzuhalten«, sagte er, »aber ich bin nicht bereit, die Wahrheit zu opfern.« Ihm war einfach nur klar geworden, wer von all denen, die wußten, aber nicht sprachen, vermutlich die umfassendsten Kenntnisse besaß: die Anklägerin und ihre Akten. »Falls Xu herausgefunden hat, daß Lau eine tibetische Nonne war, würde dadurch viel erklärt«, sagte er. »Zum Beispiel weshalb sie dermaßen strikt reagiert und so viele Verhaftungen vorgenommen hat. Das würde nämlich eine Kampagne gegen die Tibeter bedeuten, nicht gegen Xus traditionelle Zielgruppe. -335-
Und es würde bedeuten, daß Kaju, der neue Lehrer, zu den verdeckten Agenten gehört.« »Selbst wenn es so wäre, was könnten Sie dagegen tun?« »Beweise gegen Kaju sammeln und ihn bloßstellen. Dann würden die Kinder sich von ihm fernhalten, auch wenn es uns nicht gelingen sollte, sie alle zu finden. Er müßte seinen Posten verlassen.« Sie schauten wieder zu den Wolken. Die Sonne kam hervor und ließ die nächstgelegenen schneebedeckten Gipfel so hell erstrahlen, daß es in den Augen weh tat. Dann stieß Jakli einen lauten Seufzer aus. »Wo Sie hingehen, gehe ich auch hin«, sagte sie und schob sich das vom Wind zerzauste Haar aus der Stirn. »Wir werden eine Möglichkeit finden, daß Sie in zwei Tagen abreisen können.« »Nein. Sie haben eine Aufgabe; Sie müssen Hüte anfertigen. Falls es Ihnen gelingt, die Fabrik zu erreichen, sind Sie dort zweifellos am sichersten aufgehoben.« »Die Arbeit gefällt mir nicht. Man hat mich überhaupt nicht gefragt, ob ich in der Stadt arbeiten möchte. Meine Zeit hinter dem Stacheldraht habe ich abgesessen. Jetzt kann man mich nicht auch noch in der Stadt einsperren.« Sie streckte sich und reckte die Hände gen Himmel. »Außerdem werde ich tatsächlich mal kurz in meiner Fabrik vorbeischauen, falls die Patrouillen uns nicht aufhalten. Ich sage hallo und mache ein paar Hüte, nur so zum Spaß.« Sie nahm ihre Tasche und stand auf. »Das ist zu gefährlich für Sie«, widersprach Shan und erkannte, daß er genau das gleiche zu ihr sagte wie Akzu. »Ich möchte nicht, daß Sie noch tiefer in die Sache verwickelt werden. Sie haben doch schon Pläne für Ihr neues Leben gemacht.« Jakli schien amüsiert zu sein. »Das könnte ich von Ihnen auch behaupten«, sagte sie mit einem Lächeln und ging zum -336-
Lastwagen. Shan folgte ihr zögernd und stieg auf den Beifahrersitz. »Wenn ich einen Brief schreibe, könnten Sie dann dafür sorgen, daß Lokesh ihn erhält?« fragte er, als Jakli losfuhr. »Ich habe meine Decke mit Säcken ausgestopft, um die purbas zu täuschen. Da hat er bereits geschlafen.« »Na klar«, sagte Jakli bereitwillig. »Schreiben Sie ihn einfach, und geben Sie ihn mir.« Shan holte seinen Notizblock hervor und schlug ein leeres Blatt auf. »Er hat keine Adresse, aber die purbas werden wissen, wo er ist«, sagte er. »Nein, werden sie nicht. Aber ich weiß, wo er ist. Seine Anschrift lautet Kerriya Shankou«, sagte sie. »Kerriya Shankou?« Jakli wies auf die zerklüftete, vom Wind gepeitschte Landschaft. »So heißt dieser Paß. Zugang nach Xinjiang. Die Postleitzahl ist unsere Rückbank.« Shan drehte sich verwirrt um. Die Rückbank war mit einer Plane abgedeckt. Er hob eine Ecke an. Darunter lag Lokesh und schlief. »Er hat gesagt, es tue ihm leid, und er hoffe, Sie würden es ihm nicht verübeln, daß er Sie mit seiner Decke an der Nase herumgeführt hat. Wie es aussieht, haben Sie alle den purbas einen Streich gespielt.« »Wie meinen Sie das?« fragte Shan und sah seinen alten Freund mit resigniertem Lächeln an. »Die purbas sind noch vor Tagesanbruch abgefahren und dachten, Sie alle würden, wie befohlen, unter den Decken auf der Ladefläche liegen. Aber als ich im Morgengrauen aufgestanden bin, habe ich gehört, wie jemand die schwere Tür auf dem Gipfel der Klippe schloß. Da oben zwischen den Löwenohren gibt es einen flachen Felsen, der Wächterstein -337-
genannt wird. Auf ihm saß Gendun. Eine Stunde später kam Bajys und erzählte, er sei vom Lastwagen gesprungen, weil er entdeckt hatte, daß Gendun fehlte.« »Aber Lokesh sollte doch bei Gendun bleib en«, wandte Shan ein. »Er hat gesagt, er müsse zu der Schule in Yutian. Falls nötig, würde er sogar den ganzen Weg zu Fuß gehen.« Jakli behielt den Blick auf die Straße gerichtet, aber Shan sah, daß sie lächelte. »Er hat gesagt, er möchte nicht, daß Sie noch tiefer in die Sache verwickelt werden. Es sei ihm wichtig, daß Sie sich in Sicherheit befänden und Ihr neues Leben beginnen könnten.« »Wieso will er zu der Schule?« Jakli zuckte die Achseln. »Wegen Lau. Wegen meiner Freundin, der tibetischen Nonne.« Die letzten Worte sprach sie ganz langsam, als müsse sie sich erst an ihren Klang gewöhnen. Die für den Bezirk Yutian zuständige Dienststelle des Justizministeriums besaß palastartige Ausmaße. Vermutlich war das zweigeschossige Gebäude mit seinem Ziegeldach und den diversen Baikonen tatsächlich einst als Palast errichtet worden, wenngleich schon Anfang des letzten Jahrhunderts, erkannte Shan, der auf einer Bank am Marktplatz saß und den Anblick auf sich wirken ließ. Er erinnerte sich an die Halbmondflagge in Osmans Gasthaus. Yutian war früher eine Provinzhauptstadt der Republik Ost-Turkistan gewesen. Während er dort saß und wartete, beobachtete er einige Stadtbediensteten dabei, wie sie sich langsam die mit Stuck verzierte Mauer entlangarbeiteten, die das Ministerialgebäude umgab und an der mehrere große Anschlagbretter befestigt waren. Die drei in blaue Overalls gekleideten Männer machten sich an einer Reihe von Plakaten zu schaffen, die anscheinend erst seit kurzem dort klebten. Es handelte sich um mindestens zwanzig Exemplare, die alle das gleiche Motiv zeigten: eine -338-
rothaarige Frau mit heller Haut und großen runden Augen. Auf einer Seite des Plakats stand jeweils eine Zeile chinesischer Ideogramme, auf der anderen Seite die entsprechenden Worte in den Schriftzeichen der Turksprache. Niya Gazuli, las Shan. Und darunter: Niya ist unsere Mutter. Die Männer rissen die Poster ab. Manche davon saßen offenbar besonders fest und wurden daraufhin mit einem anderen Plakat überklebt. Ein Herz, viele Körper stand dort in fettgedruckten chinesischen Ideogrammen und ohne turksprachige Übersetzung, gefolgt von: Seid erfolgreich - strebt nach dem Sozialismus chinesischer Prägung. Einer der Männer, der soeben ein solches Poster angebracht hatte, schaute sich nervös nach der Menschenmenge auf dem Platz um, als würde er sich vor etwas oder jemandem fürchten. Shan ließ ebenfalls den Blick über den Platz schweifen. Erschrocken entdeckte er zwei graue Uniformen, zwei Kriecher mit automatischen Waffen, die auf der anderen Seite des Platzes standen und die Plakatkleber beobachteten. Oder vielleicht beschützten. Bislang hatte er hier noch keine Kriecher gesehen. Nirgendwo wurden Verhaftungen vorgenommen. Sie hatten keine einzige Straßensperre umgehen müssen. Man richtete keine Auffanglager für politisch mißliebige Elemente ein. Die vermeintlich unausweichliche Reaktion auf Suis Ermordung war nicht eingetreten. Zweifellos hatte man die Leiche inzwischen entdeckt. Geier und andere Aasfresser würden schnell entsprechende Aufmerksamkeit erregen. Außerdem war Sui auf dem Weg zu einer Verabredung mit Anklägerin Xu gewesen. Sie hätte ihn als erste vermißt und voraussichtlich seine Leiche gefunden. Aber sie hatte nicht Alarm geschlagen. Jemand anders nahm auf der Bank Platz, das Gesicht in die entgegengesetzte Richtung gewandt, und stellte eine Plastiktüte zwischen ihnen ab. »Schuhe«, sagte der Mann in lautem Flüsterton. Shan sah ihn unschlüssig an. Der Fremde trug eine purpurrote dopa auf dem dichten schwarzen Schopf, und in -339-
seinem Mund blitzten zwei Goldzähne. »Ich heiße Mao«, sagte der Mann wie zur Erklärung. »Der Vogel ist ausgeflogen«, fügte er eilig hinzu. Jakli hatte versprochen, Shan eine Mitteilung zukommen zu lassen, ob der Wagen der Anklägerin irgendwo in der Nähe des Ministerialgebäudes geparkt stand. Zuerst hatte Jakli den Stadtrand angesteuert und dort bei einem Gelände mit mehreren windschiefen Wellblechschuppen gehalten, vor dem ein ausgefranstes Banner verkündete: Hüte für das Proletariat, Hüte für die Welt. Jakli war hineingelaufen und kurz darauf mit einem weißen Hemd und einer grauen Hose wieder zum Vorschein gekommen. Shan hatte sich schnell im Wagen umgezogen, aber als sie beim Ministerialgebäude eintrafen, bemerkte Jakli seine zerlumpten Schuhe und monierte, er würde sich dadurch verraten. Sie hatte ihn angewiesen, bei der Bank zu warten, und war weggefahren. Jetzt, zwanzig Minuten später, waren neue schwarze Schuhe aufgetaucht. Shan nahm sie aus der Tüte, zog sie statt seiner alten Schuhe an und ging dann, ohne sich noch einmal umzublicken, über die Straße. Er trug einen dicken Umschlag bei sich, wie man ihn auch für eine Akte benutzen würde. Jakli hatte den Umschlag beim Postamt gekauft und eine Zeitung hineingesteckt. Er betrat eine große zweigeschossige Eingangshalle, aus deren hoher Kuppeldecke zahlreiche Stücke Putz abgebröckelt waren. An einer Seite schwang sich eine elegante Holztreppe zu einer zweiflügeligen Tür nach oben, die von einem verzierten Stuckbogen überwölbt wurde. Im unteren Bereich der Halle waren die Wände vo llständig mit den Abbildern strahlender Proletarier bemalt. Die Farbe war rissig und blätterte ab, so daß viele der Gestalten ihre Gesichter und manche sogar ihre Köpfe verloren hatten. Alle ihre Fäuste waren jedoch noch intakt und reckten sich grüßend der roten Flagge der Volksrepublik entgegen. Auf dem nächstgelegenen Gemälde krabbelte ein brauner Käfer. Der Boden des Raumes war von der revolutionären Inbrunst -340-
verschont geblieben. Er bestand aus einem alten prächtigen Mosaik, das Szenen mit Pferden, Berge n und Bogenschützen zeigte. Die vereinzelten Risse konnten seiner Schönheit nichts anhaben. Am Fuß der Treppe stand ein Schreibtisch, und hinter dem Schreibtisch ragten zwei Beine hervor. Sie gehörten zu einem schnarchenden Mann mittleren Alters, der sich auf dem Boden ausgestreckt und seinen kahlen Kopf auf eine zusammengefaltete Jacke gebettet hatte. Shans Vermutung bestätigte sich. Es gab zwar Regierungserlässe gegen die traditionellen Mittagsschläfchen, aber so weit von Peking entfernt kümmerte man sich wenig darum. Zu dieser Zeit des Tages kam die Arbeitsleistung teilweise völlig zum Erliegen. Bedächtig und geschäftsmäßig stieg Shan die Stufen empor und erforschte zunächst den leeren Korridor. Zwei Toiletten. Ein Abstellraum. Zwei kleine Tagungszimmer, beide leer. Eine Tür zu einer Hintertreppe. Dann trat er durch die Tür unter dem Mauerbogen und gelangte in einen großen quadratischen Raum. Zu beiden Seiten eines Mittelgangs, der zu einer verzierten Holztür führte, standen je zwei Schreibtische, hinter denen sich jeweils eine kleinere Tür befand. Es war nur eine Person zu sehen, eine schlanke junge Frau an einem der beiden hinteren Tische, die sich soeben in einem Handspiegel betrachtete und ihren Lippenstift nachzog. Shan entdeckte schnell, wonach er suc hte, ein kleines Schild neben der ersten Tür links. Akten. Zwischen den ersten beiden Tischen blieb er breitbeinig stehen, stemmte die Arme in die Seiten und wartete darauf, daß die Frau sich umdrehen würde. Sie entdeckte ihn zunächst im Spiegel und fuhr errötend herum. Dann lief sie zu ihm und neigte zum Gruß ehrerbietig den Kopf. Sie war Han-Chinesin und hatte ihr Haar zu einem langen kunstvollen Zopf geflochten. Ihre rote Bluse schien aus Seide zu sein, und um den Hals trug sie eine Goldkette. Drei ihrer Finger waren mit goldenen Ringen geschmückt. Für eine Büroangestellte der Regierung besaß sie -341-
einen ziemlich teuren Geschmack. »Angeblich sollte hier jemand zu meiner Unterstützung bereitstehen«, sagte Shan und bemühte sich, den typisch blasierten und ungeduldigen Tonfall eines Pekinger Bürokraten nachzuahmen. »Sind Sie das?« Gendun hatte ihm erzählt, daß niemand sich je vollständig von seinen früheren Inkarnationen freimachen konnte, so daß ein Rest davon stets unsichtbar im Hintergrund verblieb. Es beunr uhigte Shan, wie mühelos er in seine Rolle schlüpfte und wie nah ihm sein einstiges Dasein auf einmal zu sein schien. Die Frau schaute zu einer der seitlichen Türen, hinter der ihre Kollegen vermutlich gerade ein Nickerchen hielten. »Die Anklägerin ist nicht da«, sagte sie unterwürfig. »Und das heißt? Daß ein Inspekteur aus Peking einfach abzuwarten hat, wie es ihr beliebt?« Als der Name der Hauptstadt fiel, riß die Frau die Augen auf. »Nein… nein! Natürlich nicht, Genosse. Es tut mir leid. Ich bin nur die Sekretärin der Anklägerin. Bestimmt würde sie wollen, daß jemand Ihnen… aber ich darf das Büro nicht unbeaufsichtigt zurücklassen.« Gereizt pochte Shan auf den Umschlag, den er bei sich trug. »Ich habe keine Zeit, hier lange herumzusitzen. Bringen Sie mir Tee in den Aktenraum.« Die Frau zuckte zusammen, neigte den Kopf und eilte zu einer Bank in einer der hinteren Ecken, auf der zwei große Thermoskannen standen. Shan beschloß, daß er nicht mehr als eine Viertelstunde riskieren konnte. Die ersten paar Minuten benötigte er, um das Ablagesystem der Karteischränke zu durchschauen, die drei Wände des Zimmers einnahmen. Einer davon war mit »Berichte an die Zentrale« beschriftet und enthielt in chronologischer Anordnung anscheinend monatliche Bulletins für Urumchi und Peking, die mehrere Jahre zurückreichten. Die meisten der -342-
restlichen Schränke waren zwei anderen Kategorien zugeordnet: »Bürger-Gutachten« und »Prozeßakten«. Keine Akte über Khitai. Keine über Bajys, Alta oder Suwan. Keine Akte über Kaju Drogme. Über Lau existierte eine etwa einen Zentimeter dicke Mappe bei den Bürger-Gutachten; sie umfaßte genau die Art von Hintergrundinformationen, die man über jeden politischen Amtsträger einholen würde, auch wenn es nur um ein so unbedeutendes Gremium wie den Landwirtschaftsrat ging. Shan überflog die Seiten und fing dabei hinten bei den am weitesten zurückliegenden Einträgen an. Es handelte sich überwiegend um Standardformulare, die man aufgrund von Gesprächen mit Lau und einem Dutzend ihrer Bekannten ausgefüllt hatte. Die Unterschrift stammte von einem Sachbearbeiter der Öffentlichen Sicherheit, und Anklägerin Xu hatte Kopien der Seiten erhalten. Shan notierte sich den Namen des Mannes auf seinem Block und las dann die Details. Lau hatte angegeben, ihre Eltern zu einer Zeit verloren zu haben, die der Sachbearbeiter als »die der Assimilation vorangegangene Periode gewaltsamer Anarchie« bezeichnete, was Shan als Umschreibung für die Ankunft der chinesischen Armee deutete. Danach hatte man Lau einem Landwirtschaftskollektiv in der kasachischen Nord-Präfektur Ili zugewiesen. Ihre Geburtsurkunde war 1968 während der »Periode der Angleichung« verbrannt, als zahlreiche öffentliche Gebäude in Flammen aufgingen. Als Shan den Begriff las, hielt er inne. Er hatte schon viele Bezeichnungen für die blutigen Jahre der Kulturrevolution gehört, der auch sein Vater und dessen Brüder zum Opfer gefallen waren, aber dieser hier war ihm neu. Periode der Angleichung. Einen Moment lang hatte er ein merkwürdiges Bild vor Augen. Er sah Scharen von brutalen Technikern das Land überschwemmen, die den Menschen die Hinterköpfe öffneten und dort einige Zahnräder auswechselten. An unteren Rand von Laus Formular standen einige Fragen aufgelistet, hinter denen jeweils Ja oder Nein angekreuzt werden -343-
mußte. Hat die Person eine patriotische Dienstzeit in der Volksbefreiungsarmee abgeleistet? Nein. Liest die Person regelmäßig die Publikationen der Kommunistischen Partei, um über den Fortschritt des sozialistischen Gedankens informiert zu bleiben? Ja. Wurde die Person bei der Ausübung von Bräuchen der religiösen Minderheiten beobachtet? Nein. Hat die Person Verwandte, die außerhalb der Volksrepublik leben? Nein. Ermitteln Sie den cheng fen, den Klassenhintergrund der Person. Nicht verifizierbar, obwohl kein Grund zum Zweifel an der Aussage der Befragten besteht, ihre Eltern seien als Landarbeiter tätig gewesen, stand dort. Landarbeiter gehörten der am höchsten geschätzten Klasse an. Lau hatte gewußt, was ihr Publikum hören wollte. Weiter oben in der Akte fand sich ein kurzes, erst drei Monate altes Memo. Es stammte von Anklägerin Xu und war an Leutnant Sui vom Büro für Öffentliche Sicherheit gerichtet: Ich messe der Tatsache, daß über Genossin Lau keine umfassenden Meldeunterlagen existieren, keine besondere Bedeutung bei. Dieser Umstand ist lediglich der allgemeinen Unordnung zu verdanken, die bis vor einigen Jahren bei den Verwaltungsbehörden Xinjiangs vorgeherrscht hat und unter deren Folgen viele von uns zu leiden haben. Genossin Laus Unterlagen für das letzte Jahrzehnt sind vollständig und wurden auf ihre Richtigkeit kontrolliert. In unzureichend dokumentierten Fällen wie diesem führen wir zumeist eine spezielle Überprüfung der politischen Verläßlichkeit durch, so auch bei Genossin Lau. Weitere Nachforschungen werden gemäß der üblichen Verfahrensweise dieser Behörde erfolgen. Der Vorschlag, Genossin Lau als kulturelle Agitatorin einzustufen, entbehrt jeder Grundlage. Shan las das Memo zweimal. Die Worte waren eindeutig formuliert, aber viel wichtiger war, was zwischen den Zeilen stand. Sui hatte offenbar Laus Verläßlichkeit angezweifelt, und zwar kurz nachdem Lau von ihrem Posten im Landwirtschaftsrat -344-
entbunden worden war. Jemand hatte der Öffentlichen Sicherheit belastende Informationen zugespielt, die zu einer politischen Neueinschätzung Laus und vermutlich einer Einstufung als unerwünschte Person führen sollten, womit sie zwar nicht als Kriminelle, aber als ausreichend verdächtig gegolten hätte, um von jeglicher Vertrauensposition ausgeschlossen zu werden. Und Xu hatte sich entschieden, dieses Vorhaben zu verhindern und Lau zu verteidigen. Die Anklägerin schien keinerlei Verdacht gegen Lau zu hegen. Shan las das Memo ein drittes Mal. Sui schlug vor, Laus politische Gesinnung zu durchleuchten, und Xu sagte nein, als hätte sie mit der heimlichen Nonne bereits etwas anderes vor, bei dem ihr Sui in die Quere kam. Außer für die zehn Jahre, die Lau im Bezirk Yutian gelebt hatte, gab es keine Unterlagen. Die ermordeten Jungen waren ungefähr zehn Jahre alt gewesen. Konnte Laus kompletter Aufenthalt in Yutian von vornherein nur einem Ziel gedient haben, nämlich der Erziehung der Waisen? Oder zumindest gewisser Waisen? Das Memo war in Kopie an jemanden namens Bao Kangmei gegangen. Shan hatte den Namen zuvor schon gehört. Das Lagerhaus im Lager Volksruhm war auf Anweisung von Major Bao geschlossen worden, dem Vorgesetzten Suis. Shan las die letzten beiden Sätze erneut. Sie wirkten vorwurfsvoll, als wolle Xu den Offizier der Kriecher tadeln. Das letzte Blatt der Akte war ein Formular, dessen Überschrift »Vermißtenbericht« lautete. Anklägerin Xu Li hatte es unterschrieben, und ein Durchschlag war wiederum zu Händen Bao Kangmeis geschickt worden. Shan las es oberflächlich. Die Schule hatte Laus Abwesenheit gemeldet, und bald darauf war am Fluß ihr Pferd aufgetaucht, und jemand hatte ihre Jacke aus dem Wasser gezogen. Nur der letzte Absatz enthielt neue Informationen. Ein Bürger hatte Leutnant Sui den Personalausweis der Vermißten überbracht und behauptet, ihn am Flußufer in der Nähe der Stadt gefunden zu haben. Sui hatte -345-
sich persönlich von der Richtigkeit dieser Angaben überzeugt. Er hatte also erst Zweifel an Laus politischer Verläßlichkeit geäußert und war später an der Untersuchung von Laus Verschwinden beteiligt gewesen. Shan überlegte und suchte dann noch einmal nach einer Akte über Kaju. Nichts. Er zog die Mappe mit Wangtus Namen heraus. Zehn Seiten mit Routinevermerken. Er sah sich noch gründlicher bei den Bürger-Gutachten um. Es gab eine Akte über Akzu, die umfangreicher als die von Lau war. Auf den Umschlag hatte man in roter Schrift Kultureller Agitator gestempelt. Shan sichtete den Inhalt. Darin wurde die Geschichte eines bäuerlichen Landbesitzers erzählt, den man, wie Tausende andere, zunächst enteignet und dann schrittweise rehabilitiert hatte. Ein sechs Monate altes Memo gab zu Protokoll, daß Akzu während einer Beurteilungssitzung öffentlich dafür gerügt worden war, daß sein Clan die vorgeschriebene Quote der Wollproduktion nicht erfüllte. Ein Landwirtschaftsexperte hatte sogar ausgesagt, Akzus hartnäckiges Festhalten an überholten Produktionsmethoden beraube die Gesellschaft wertvoller Fleischund Wollieferungen. Der jüngste Vorgang war einen Monat alt und bestand aus einem Schriftsatz des Hauptbüros der Brigade in Urumchi. Aufgelistet wurden die Namen von mehr als fünfzig Kasachen, die im Anschluß an die Durchführung des Programms zur Beseitigung der Armut für die Teilnahme an einer besonderen einjährigen politischen Erziehungsmaßnahme vorgesehen waren. Shan fand Ak zus Namen ungefähr in der Mitte der Liste. Er legte die Akte zurück und trank einen Schluck von dem Tee, den die nervöse Sekretärin ihm gebracht hatte. Er war nicht zufrieden, aber worauf hatte er gehofft? Auf die Akte eines anonymen Amerikaners, der im La ger Volksruhm hingerichtet worden war? Er wandte sich wieder den Bürger-Gutachten zu und stieß zu seiner Überraschung auf eine Mappe, die man -346-
einfach nur mit Mei guo ren beschriftet hatte. Amerikaner. Darin fanden sich ein halbes Dutzend Memos der Anklägerin, allesamt kurze formelle Genehmigungen der Reisepläne diverser amerikanischer Touristengruppen. Nein, stellte Shan fest, in einem Fall hatte es sich nicht um eine Touristengruppe, sondern um eine wissenschaftliche Delegation gehandelt. Vor zwei Jahren war unter dem Schutz des Museums für Altertümer in Urumchi eine Gruppe amerikanischer Archäologen und Anthropologen in die Region gekommen. Neben dem Memo umfaßte der Vorgang eine Namenliste, mehrere Beglaubigungsschreiben und eine Handvoll Fotografien. Nic hts davon ließ sich mit dem jungen blonden Amerikaner aus dem Lager Volksruhm in Verbindung bringen. Einen der Namen kannte Shan. Deacon. Aber hier ging es um eine Frau aus Oklahoma, Abigail Deacon, die Verfasserin eines Buchs über alte Textilien. Der letzte Eintrag dieser Akte war ein Jahr alt. An den Umschlag hatte man eine harsche Anweisung des Büros für Öffentliche Sicherheit geheftet, laut derer alle Berichte über Amerikaner von nun an ohne Einbehaltung einer Kopie an Bao Kangmei weiterzuleiten seien. Aus den Prozeßakten suchte Shan das Dossier über Jakli heraus. Es war an der Kante mit einem gelben Klebestreifen markiert, so daß man es schnell finden konnte. Noch einige andere Akten waren auf diese Weise gekennzeichnet, aber nicht viele. Hastig überprüfte Shan mehrere davon. Eine gehörte zu einem Mann, den man wegen des tätlichen Angriffs auf einen Geburtenkontrolleur zu lebenslanger Haft verurteilt hatte und dem vor einem Jahr die Flucht gelungen war. Eine andere galt einem Mann, der zehn Jahre lao gai verbüßen mußte, weil er eine Si-Lui- Gedächtniszeremonie abgehalten hatte. Si Lui, Vier Sechs, stand für die gewaltsame Niederschlagung des Protests auf dem Tiananmen-Platz am 4. Juni 1989. Das gelbe Klebeband war für politisch besonders gefährliche Kriminelle reserviert. -347-
Shan nahm wieder Jaklis Akte zur Hand. Sie enthielt Kopien aus den Schulunterlagen, in denen disziplinarische Unterrichtsvergehen gemeldet wurden. Der lange Bericht eines Politoffiziers besagte, daß Jakli einst eine Musterschülerin gewesen und für die Ausbildung in einem kommunistischen Jugendlager vorgesehen worden war. Aber im Alter von zwölf Jahren hatte sich alles verändert, weil sie, wie der Offizier schrieb, unter den Einfluß kultureller Reaktionäre geriet. Damit waren die kasachische n Schafhirten gemeint. Als Jakli zwölf war, hatte die Armee ihr Pferd erschossen, erinnerte Shan sich. Die Akte endete vor zwei Jahren. Keine Kopie von Laus Brief an die Anklägerin. Er sah noch einmal auf den Aktendeckel. Teil eins von zwei hatte jemand ha ndschriftlich dort vermerkt. Aber Teil zwei befand sich nicht in der Schublade. Shan schaute auf dem Tisch nach, wo einige Akten zur neuerlichen Einsortierung bereitlagen, dann bei den Bürger-Gutachten, um eine versehentliche Falschablage auszuschließen. Nichts. Jemand anders interessierte sich ebenfalls für Jaklis gegenwärtige Akte. Schnell durchsuchte er noch einmal die Bürger-Gutachten. Marco Myagov. Nichts. Dann stieß er am Ende der Schublade auf eine rot markierte Akte mit der schlichten Aufschrift Eluosi. Sechs Seiten beschäftigten sich mit anderen Personen. Sie umfaßten je ein Formular pro Mann oder Frau und enthielten abgelehnte Anträge zur Ausstellung von internationalen Reisepässen. Der Rest der mehr als einen Zentimeter dicken Akte war Marco gewid met. Mehrere Gesuche auf die Erteilung einer innerstaatlichen Reise- oder Arbeitserlaubnis. Shan las das erste, das inzwischen fast sechzehn Jahre alt war. Marco hatte darum gebeten, mit seinem kleinen Sohn ins nördlich gelegene Yining reisen zu dürfen, um einen im Sterben liegenden Onkel zu besuchen. Ein großer roter Stempel prangte darauf. Abgelehnt. Das nächste sechs Monate später, um der Beerdigung beizuwohnen. Abgelehnt. Und noch eines, um eine besondere Schule für seinen Sohn zu finden. Abgelehnt. Antrag -348-
auf eine Arbeitserlaubnis. Abgelehnt. Ein Dutzend weiterer Gesuche aus einer Vielzahl von Gründen, allesamt abgelehnt. Der letzte Antrag lag mehr als zehn Jahre zurück. Ansonsten nur noch Berichte der Öffentlichen Sicherheit, die auf Marcos politische Unzuverlässigkeit abzielten oder sogar auf eine vermutete Schmuggeltätigkeit hinwiesen. Aber nirgendwo wurde eine Haftstrafe für Marco erwähnt, nicht mal in einem Reislager. Auch schien es keine wirklichen Beweise gegen den Mann zu geben. Shan blätterte zum jüngsten Eintrag vor, einem Memo von Leutnant Sui mit Kopie zur Kenntnisnahme an Anklägerin Xu. Kürzlich erfolgte Befragungen deuteten darauf hin, daß Marco eine der Karawanen organisiert hatte, die nach wie vor zur Versorgung der Hochgebirgsdörfer im Kunlun und in Aksai Chin eingesetzt wurden. Aksai Chin. Shan starrte die Worte an. Sie bezeichneten eine umstrittene Grenzregion, ein ödes, vom Wind gepeitschtes Gebiet, das sowohl von Indien als auch von China beansprucht wurde, wenngleich es unter der Kontrolle des chinesischen Militärs stand. Marcos Karawane, so der Bericht eines Informanten, sei mit acht Reitern aufgebrochen und nur mit vier Reitern zurückgekehrt. Eilig beendete Shan seine Notizen und öffnete die Tür. Die nervöse Sekretärin saß mittlerweile an dem nächstgelegenen Tisch und arbeitete an einem Computer. An einem der anderen Tische saß ein junger Mann, der wie ein Soldat aussah, obwohl er einen Anzug trug, und las in einer Zeitschrift. An der Wand stand ein kahlköpfiger Mann mit einer Tasse Tee, der Mann, den Shan schlafend in der Eingangshalle gesehen hatte. Shan zögerte kurz, zog dann seinen Notizblock hervor und schrieb auf ein leeres Blatt den Namen von Kaju Drogme. Er ging zu der Sekretärin, beugte sich über ihre Schulter und zeigte ihr den Zettel. »Ich muß wissen, für wen dieser Mann arbeitet«, sagte er. Die Frau wurde rot und schaute kurz zu dem Mann am Nebentisch. »Der gehört zur Brigade«, flüsterte sie -349-
verschüchtert. »Urumchi, glaube ich. Aber hier ist Ko sein Vorgesetzter. Ko Yonghong.« Der Gedanke schien ihr neuen Mut einzuflößen, denn sie hob kokett den Kopf. »Jeder kennt Ko. Er nimmt mich oft in seinem neuen roten Auto mit, einem Wagen ohne Dach. Sie wissen schon, wie im amerikanischen Fernsehen.« Plötzlich schwang die zweiflügelige Tür auf, und Anklägerin Xu betrat den Raum. Shan beugte sich tiefer herab und versuchte, sein Gesicht hinter dem Computermonitor zu verstecken. »Loshi«, rief Xu und ging auf die Sekretärin zu. »Ich brauche…« Sie verstummte mitten im Satz. Sie hatte Shan gesehen. Langsam richtete er sich auf. Sie bedachte ihn mit einem eisigen Blick und sah dann zu dem jungen Mann am Schreibtisch, der seine Zeitschrift fallengelassen hatte, aufgestanden war und Shan nun wachsam mit den Augen eines Raubtiers beobachtete. Jetzt erkannte Shan ihn wieder. Bei dem Zusammentreffen an der Werkstatt hatte er den Wagen der Anklägerin gefahren. »Danke, Fräulein Loshi«, sagte Shan. Er erwiderte den Blick des Mannes, den er für den Leibwächter der Anklägerin hielt, ohne mit der Wimper zu zucken. Unterdessen trat Xu zu der schweren Holztür am anderen Ende des Raumes und hielt sie auf. Shan wandte den Kopf und ging in das Büro der Anklägerin. Xu blieb stehen, um ihn vorbeizulassen, eilte dann zu Loshis Tisch und stellte eine Frage, die Sha n nicht hören konnte. Loshi hielt sich ein Blatt Papier wie einen Schild vor das Kinn und antwortete nervös. Dann kehrte Xu in ihr Büro zurück und schloß die Tür hinter sich. Der Raum war ursprünglich als Schlafzimmer gedacht. Anklägerin Xus Schreibtisch stand auf einem niedrigen rechteckigen Podest, das sich vor der Mitte der getäfelten Rückwand aus dem hinteren Bereich des Mosaikbodens erhob und genau einem großen Bett Platz geboten hätte. Vor dem -350-
Schreibtisch standen auf der Plattform einige Stühle im Halbkreis. Genaugenommen handelte es sich nicht um einen Schreibtisch, sah Shan, sondern um einen schweren Tisch aus dunklem Holz, dessen Rand mit Schnitzereien verziert war, die den Vogel- und Blumenmotiven des Bodens entsprachen. Ein weiteres Artefakt aus der Vergangenheit dieses Gebäudes, wie man es in den östlichen Städten vor einigen Jahren noch auf einem Scheiterhaufen verbrannt hätte. Shan setzte sich auf den mittleren Stuhl. Xu nahm hinter dem Tisch Platz und verschränkte die Hände. »Nicht einmal ein Inspekteur aus Peking hat das Recht, mein Büro ohne meine Erlaubnis zu benutzen«, knurrte sie. »Ihr Büro, Genossin Anklägerin, gehört dem Justizministerium«, sagte Shan und war abermals überrascht, wie leicht ihm die Worte über die Lippen kamen. Nicht überrascht, dachte er kurz darauf, sondern erschrocken, daß der alte Shan, der einstige Generalinspekteur des Wirtschaftsministeriums, so dicht unter der Oberfläche lauerte. Er biß die Zähne zusammen und klopfte auf den Umschlag. »Beauftragte des Ministeriums sind jederzeit zugangsbefugt, falls sie beispielsweise Fälle von Korruption oder Amtsmißbrauch untersuchen.« Die Worte zeitigten den gewünschten Effekt und ließen Xu für einen Moment verstummen. Shan hatte wenig Hoffnung, ihren Zorn besänftigen zu können, aber vielleicht würde es ihm gelingen, ihn so lange von sich abzulenken oder wenigstens hinauszuzögern, bis sich ihm eine Fluchtmöglichkeit bieten würde. Und falls kein Entkommen möglich war, könnte er eventuell Xus Überheblichkeit ausnutzen, um ihr zu entlocken, was sie über die Morde wußte. Xus Oberlippe hob sich, als würde sie die Zähne fletschen, aber ihr Blick war auf ihre Hände und nicht auf Shan gerichtet. »Ich habe nichts zu verbergen. Und ich habe auch nichts zu befürchten von…« Sie wurde unterbrochen, denn die Tür zu ihrem Büro ging auf, und ein massiger Bulle von einem Mann -351-
kam hereingestürmt. »Ziehen Sie sie ab!« brüllte er Xu an. »Ziehen Sie Ihre verdammten Hosenscheißer ab, oder ich verständige Peking! Sie gefährden meine Untersuchung!« Seine feisten Wangen waren gerötet. Während er schrie, sprühten Speicheltröpfchen aus seinem Mund. Shan brauchte nicht erst die graue Uniform zu sehen, um zu erkennen, um wen es sich handelte. Das Büro für Öffentliche Sicherheit war eingetroffen, und wenn er bis vor einem Moment noch eine winzige Fluchtchance besessen hatte, durfte das Thema hiermit als erledigt gelten. Er stand langsam auf und kämpfte gegen den Knoten an, der sich in seinem Leib zu bilden schien. Dann zog er sich schweigend einen Stuhl von der Seite des Tisches heran und nahm wieder Platz, so daß er dem Offizier der Kriecher entgegenblickte, als gehöre er zu Xu. Die Anklägerin schien keine Notiz davon zu nehmen. Auf diese Weise befand Shan sich nicht länger in der Schußlinie der beiden und konnte den wütenden Fremden genau in Augenschein nehmen. Sein Haar war kurz geschoren und grau meliert, genau wie Shans. Sein breites flaches Gesicht verriet die Abstammung aus der südöstlichen Küstenregion, einer Gegend, die für ihre Fischer und Piraten bekannt war und auch für die Schwierigkeit, zwischen den beiden Gruppen zu unterscheiden. Da die muskulöse Brust des Mannes sich aufgeregt hob und senkte, konnte Shan auf der linken Seite der Uniform eine Beule unterhalb der Achselhöhle erkennen. Eine Pistole in einem Schulterholster. »Sie müssen schon etwas genauer werden, Major Bao«, sagte Xu frostig. Major Bao. Das war also der Offizier der Kriecher, der sich alle Berichte über Amerikaner zuschicken ließ und dessen Name im Lager Volksruhm gefallen war. Der Vorgesetzte von -352-
Leutnant Sui. Shan mußte daran denken, was Fat Mao gesagt hatte. Wenn es in diesem Bezirk zwei Leute gab, von denen man sich fernhalten sollte, so waren dies Anklägerin Xu und Major Bao. »Genauer? Zum Teufel noch mal!« »Major, Sie sind überreizt.« Xu schien seine Wutausbrüche gewohnt zu sein. »Setzen Sie sich.« Shan musterte die beiden verwirrt. Sie hätten sich inzwischen längst auf ihn stürzen müssen, um ihn auseinanderzunehmen und häppchenweise zu verschlingen. Aber Xu und Bao schienen an einer Zusammenarbeit wenig interessiert zu sein. Andererseits hatte Leutnant Sui, der Bao unterstellt gewesen war, Xu zu der Werkstatt begleitet. Und Bao Kangmei hatte Xus Memo über Lau in Kopie erhalten. Shan sah erneut zu dem Kriecher. Seine Hände waren wie Kohlköpfe, seine Augen wie schmutziges Eis. Bao Kangmei. Bekämpfe Amerika Bao. Zur Zeit der Auseinandersetzung mit den Amerikanern in Korea war dies ein beliebter Name gewesen. Bao stieß ein Knurren aus und ließ sich auf den Stuhl in der Mitte fallen, auf dem soeben noch Shan gesessen hatte. »Ihre verfluchten Ermittler verursachen zuviel Wirbel«, sagte er unterkühlt. »Jedermann geht in Deckung. Die Karawanen werden aufhören. Falls Sie meine Operation zunichte machen, werde ich Sie zunichte machen.« Shan sah den Kriecher an. Bao wollte die Karawanen nicht unterbinden, sondern beibehalten. Shan dachte an die Schwarzmarktgüter im Lager Volksruhm, in dem Schuppen mit dem Wachposten der Kriecher. In dem Schuppen mit dem toten Amerikaner. War das schon alles? War Bao bloß irgendein Schieber? Vielleicht hatte der Amerikaner lediglich Pech gehabt, als er auf dem Schwarzmarkt von Xinjiang Teppiche kaufen oder sogar gegen Unterhaltungselektronik eintauschen wollte. -353-
Xu seufzte, als könne sie Bao gut verstehen, aber ihre Miene verriet keinerlei Wärme. »Mein Team hat noch nie so kurz vor einem Durchbruch gestanden. Wir mußten jahrelang auf eine Gelegenheit wie das Armutsprogramm warten. Ich werde meine Leute nicht von einem konkreten Fall abziehen, damit Sie weiter Ihren Phantomen nachjagen können.« »Es geht nicht um Phantome, Genossin Anklägerin, sondern um Feinde des Staates. Feinde von Peking.« »Das ist Ihr rettender Strohhalm, nicht wahr, Major?« Bei diesen Worten von Xu blickte Shan überrascht auf. Er hatte noch nie gehört, daß jemand in so einem Tonfall mit einem Kriecher sprach. »Sie sind der einzige, der ständig Peking erwähnt. Aber ich bin diejenige, die Verbrecher fängt. Peking weiß das.« Bao starrte sie wütend an. Nachdem sie ihm auf diese Weise einen Tiefschlag versetzt hatte, schien Xus Laune sich etwas zu bessern. »Ein paar unbedeutende Befragungen in den Bergen werden doch wohl kaum eine wichtige Operation der Öffentlichen Sicherheit gefährden können, Genosse Major.« Aber Bao schien sie nicht gehört zu haben. Sein stiernackiger Kopf drehte sich zur Seite und sah zu einem großen Tisch, größer noch als jener, der als Xus Schreibtisch fungierte. Der Tisch stand direkt vor der Wand und war auffallend überdimensioniert, als wolle man jederzeit die Möglichkeit haben, ein Bankett abzuhalten oder eine Leiche zu sezieren, ganz nach Xus Belieben. Mitten auf diesem Tisch stand ein einzelner Karton, auf den in großen schwarzen Buchstaben ein Name geschrieben war. Lau. Bao warf Xu einen stummen bedeutungsvollen Blick zu, stand auf und ging zu dem Tisch. Xu schaute ihm ungerührt hinterher. Dann gesellte sie sich zu Bao, während dieser den Inhalt des Kartons auf den Tisch ausschüttete. Shan erhob sich, um mehr -354-
erkennen zu können, und sah kurz zur Tür. Falls er sich jetzt leise hinausschlich, ohne den Verdacht der Leute im vorderen Büro zu erregen, würde ihm vielleicht die Flucht gelingen. Doch er drehte sich wieder um, weil er wissen wollte, welche Habseligkeiten Laus sich in Xus Besitz befanden. Drei Bücher. Ein kurzes, schmales Messer, fast wie ein Dolch. Eine Holzschachtel von der Größe eines Schuhkartons, wenngleich nur halb so hoch. Mehrere Notizbücher. Eine kleine Jadestatue eines Pferdes. Ein schlichtes Weißmetallkästchen, das durch häufigen Gebrauch zahlreiche Beulen aufwies und dessen Deckel mit einer Reihe rosafarbener rechteckiger Einlegearbeiten aus Koralle verziert war - ein Etui für Schreibgeräte, wie man es häufig in tibetischen Unterrichtsräumen antraf. Der Anblick der Gegenstände schien Bao seltsamerweise zu besänftigen. Er starrte darauf und wandte sich dann an Xu. »Zweifellos haben Sie mein Büro über die Ergebnisse Ihrer Ermittlungen unterrichtet.« »Es gibt noch keine offiziellen Ermittlungsergebnisse, Genosse. Immerhin handelt es sich lediglich um eine vermißte Person. Das hier ist bloß ihre persönliche Habe, falls es uns gelingen sollte, irgendwelche Angehörigen ausfindig zu machen. Die Sachen stammen aus ihrem Schlafraum im Wohnheim für Lehrkräfte. Da Platzmangel herrscht, wurde ihr Zimmer für jemand anderen geräumt.« »Und doch steht der Karton hier auf Ihrem Tisch für Beweismittel«, sagte Bao spöttisch. Shan tastete sich langsam vorwärts. Er blieb im Hintergrund und damit außerhalb von Baos Reichweite, aber er kam nahe genug, um die Gegenstände genau in Augenschein nehmen zu können. Die Bücher waren Gedichtbände, und das oberste erkannte Shan sogleich. Es enthielt die Werke Su Dongpos, eines seelisch gebrochenen Staatsbeamten aus der SungDynastie, der wundervolle Gedichte über das Leben im Exil verfaßt hatte. -355-
»Sogar noch im Tode sind Sie viel zu nett zu ihr«, sagte Bao, nahm das Messer und hielt es hoch, als wäre dadurch irgend etwas bewiesen. »Ein Brieföffner«, gab Xu zurück und bemühte sich nicht, ihren Unwillen zu verbergen. Als der Major seine riesige Hand auf die Schachtel legte, bemerkte Shan, daß der vorzüglich verarbeitete Behälter aus Rosenholz gefertigt und am Rand mit zarten Blumenschnitzereien versehen war. Bao nahm die Schachtel und schüttelte sie. Etwas darin klapperte. Er drehte den Kasten um und suchte nach einem Verschluß. »Eine Vexierschachtel«, merkte Xu lakonisch an. »Aus der Ch'ing-Dynastie.« Shan sah, daß sie recht hatte, und erkannte erfreut, daß es sich um ein sehr altes Stück handelte, eine jener hölzernen Vexierschachteln, wie sie in China vor zwei Jahrhunderten beliebt gewesen waren. Es gab keine zwei identischen Exemplare, und man konnte sie nur öffnen, indem man auf einen bestimmten Punkt drückte oder mehrere Teile in der richtigen Reihenfolge herausschob. Überrascht kam Shan auf den Gedanken, daß Xu die Schachtel vielleicht nur deswegen intakt belassen hatte, um selbst die korrekte Kombination aus Druck und Schub herauszufinden, mit der sich die Geheimnisse des Inhalts enthüllen ließen. Er selbst hätte es genauso gemacht. »Sie begreifen es wirklich nicht, oder?« stellte Bao mit hämischem Grinsen fest. Er warf der Anklägerin einen merkwürdig vergnügten Blick zu, legte die Schachtel auf den Tisch und ließ mit einer abrupten Bewegung seine Faust wie einen Hammer darauf herabsausen, so daß der Kasten zerbarst. Er ignorierte Xus wütende Miene und schob die Holzsplitter auseinander. Im Innern des Behälters hatten sich zwei metallene Gegenstände befunden, eines davon war ein fünf Zentimeter messendes Bronzetrapez mit der eingravierten Abbildung eines -356-
fliegenden Vogels. Das andere war eine funkelnde Goldmünze. Bao nahm die Münze und reckte sie wie eine Trophäe empor. Es war ein Panda, ein von Peking für den internationalen Sammlermarkt geprägtes Goldstück von einer Unze Gewicht. Der Major warf Xu einen triumphierenden Blick zu und kehrte zu seinem Stuhl zurück, wobei er die Münze weiterhin von sich gestreckt hielt. Als Xu sich umdrehte und ihm folgte, steckte Shan schnell das Bronzemedaillon ein. Bao ließ die Anklägerin warten und zusehen, während er die Münze vor sich auf den Tisch legte und dann ganz langsam und mit eindeutiger Freude über Xus Unbehagen ein Päckchen Zigaretten hervorzog und sich eine davon anzündete. »Vielleicht«, sagte Bao und stieß dabei eine Rauchwolke aus, »fangen Sie doch nicht alle Kriminellen, Genossin Anklägerin.« »Lau hat viele Jahre hier gearbeitet, und zwar mustergültig«, erwiderte Xu mit mühsam unterdrücktem Zorn. »Es ist kein Verbrechen, seinen Lohn anzusparen.« Shan stand neben dem Tisch und betrachtete die Münze, die vor Bao lag. Sie war mehr wert, als manche der Hirten in einem Jahr verdienten. »Ihre mustergültige Genossin hatte Geheimnisse. Gute Bürger haben keine Geheimnisse. Wer aufrichtig an die sozialistischen Gebote glaubt, hat so etwas nicht nötig.« Bao lächelte humorlos und enthüllte eine Reihe gelb verfärbter Zähne. »Es gibt in Yutian Leute, die den Zusammenhalt der Gesellschaft bedrohen. Mit ein paar losen Enden fängt alles an.« »Was wollen Sie damit andeuten?« gab Xu barsch zurück. »Sie war eine derjenigen, die diesen Zusammenhalt gefördert haben. Wir haben sie gebraucht.« Bao schüttelte den Kopf und atmete aus, wodurch er sich in Rauchschwaden hüllte. Dann fiel sein Blick auf einen Gegenstand, der auf Xus Schreibtisch unter einem Stück Papier verborgen lag. Er beugte sich vor und griff hastig danach. Shan -357-
erkannte es sofort. Es war eine keilförmige Tafel wie die aus Suwans Besitz. Nicht genau die gleiche, denn diese hier hatte am Rand ein gekreuztes Schraffurmuster, aber mit der gleichen, dem Sanskrit ähne lnden Schrift. Bao schob den oberen Teil heraus, dann mit Wucht wieder zurück und stand auf. »Wo haben Sie das hier gefunden?« herrschte er Xu an. »Bei Laus Sachen.« Die Anklägerin zündete sich ebenfalls eine Zigarette an, inhalierte tief und schoß dann einen Rauchstrahl genau auf Bao ab. Wie das Duell zweier Drachen, dachte Shan. Er rückte näher, um einen besseren Blick auf das Holztäfelchen werfen zu können. Bao hob die Augenbrauen und schaute zurück zu den Gegenständen, die er auf dem Tisch verstreut hatte. Dann murmelte er gehässig etwas vor sich hin, so leise, daß Shan sich nicht sicher war, die Worte richtig verstanden zu haben. Es klang wie »Schlampe, diese verräterische Schlampe«. Bao wandte sich wieder der Anklägerin zu, die ihn verwirrt ansah. »Haben Sie jemanden hiervon verständigt?« fragte Bao. »Das Ministerium? Das Institut für Altertümer?« Xu warf Shan einen verunsicherten Blick zu und schüttelte dann langsam den Kopf. »Das ist doch bloß ein Holzspielzeug, das irgendwelche Kinder gebastelt haben.« Baos Augen verengten sich zu zwei schmalen Schlitzen. »Prima. Machen Sie nur so weiter, Genossin«, zischte er. »Überall Verrat, und Sie sehen nur Spielzeuge.« Er sprach jetzt zu der Holztafel. »Bedenken Sie all die Arbeit, die erforderlich war, und all die Opfer, die wir bringen mußten, um die großartigste Gesellschaft dieses Planeten zu erschaffen. Die Regierung gibt uns alles. Wir verdanken ihr alles. Die Vorstellung, daß sich irgendwo in diesem Bezirk Leute befinden könnten, die unserem Staat schaden wollen, macht mich ganz krank«, knurrte der Kriecher. »Sie irren sich bezüglich dieser Frau, Genossin Anklägerin. Sie war jemand anders, als sie -358-
vorgab. Es gibt keine wertlosere Lebensform als diese subversiven Elemente, die unseren Staat untergraben wollen. Insekten. Maden, allesamt, besonders die Westler, die das alles noch schüren. Wir werden sie zertreten. Und das gleiche wird mit denen geschehen, die sich uns in den Weg stellen.« Er steckte die Holztafel in eine der großen Außentaschen seiner Uniformjacke. Shan ertappte sich dabei, daß er immer noch neben dem Tisch stand. Eilig nahm er wieder auf dem Stuhl bei Xu Platz. Mit starrem Blick musterte Xu die Tasche, in der Bao die Tafel verstaut hatte. »Ich dachte, wir würden über Karawanen reden.« Merkte sie, auf welch gefährliches Terrain Bao sie locken wollte? überlegte Shan. Oder reagierte sie einfach nur auf das wilde Funkeln in seinem Blick? Aus einer seiner Brusttaschen zog Bao ein gefaltetes Stück Reispapier. »Gehe ich recht in der Annahme, daß Sie dies hier noch nie gesehen haben?« Er entfaltete den Zettel, hielt ihn für einen Moment und drehte ihn dann um. Der Papierstreifen war ungefähr vierzig Zentimeter lang und enthielt ein mit Kinderhand geschriebenes Gedicht, und zwar auf Mandarin und in tibetischer Übersetzung. Der Meister sammelt Blumen, lautete die erste Zeile. Und hat Pollen an seinem lustigen Gewand. »Es wurde in einem Versteck in Laus Unterkunft gefunden«, behauptete Bao. »Zum Glück ist es der Öffentlichen Sicherheit gelungen, vor allen anderen Behörden Zugriff darauf zu erlangen«, fügte er anzüglich hinzu, faltete das Papier zusammen und steckte es wieder ein. »Die Erfindungen eines Kindes«, wandte Xu ausdruckslos ein, obwohl die Zeilen ihr deutlich zuzusetzen schienen. Shan starrte zu Boden, um keinem der beiden in die Augen sehen zu müssen. Das Gedicht handelte von dem Wasserhüter. Bao vermutete, daß es irgendwo einen Lama gab, einen illegalen Lama, mit dem Lau irgendwie in Verbindung gestanden hatte. -359-
»Außerdem bin ich in Turpan gewesen«, sagte Bao und ließ nicht erkennen, ob er die Anklägerin überhaupt verstanden hatte. »Ich habe die Reden gehört. Manch einer hat seine grundlegenden Pflichten aus den Augen verloren. Wenn man seine grundlegenden Pflichten vernachlässigt, begeht man ein Versäumnis gegenüber dem Staat, ganz gleich, wie hart man arbeitet.« Die Worte waren Shan vertraut. Bao zog sich auf politische Parolen zurück. Dann richtete der Blick des Majors sich zum erstenmal auf Shan. »Kennen Sie Ihre grundlegenden Pflichten, Genosse?« fragte Bao mit einem schmalen, freudlosen Lächeln. »Erkennen Sie einen Verrat, wenn er Ihnen begegnet?« »Ich vergesse nie, was ich dem Staat zu verdanken habe«, erwiderte Shan vorsichtig. Er mußte gegen den beinahe überwältigenden Drang ankämpfen, einfach loszurennen. Vor der Tür warteten Xus Leibwächter und der Mann an der Treppe sowie vielleicht noch andere, die inzwischen ihre Mittagspause beendet hatten. Mit etwas Glück würde Shan es an ihnen vorbei schaffen. Aber Major Bao war nicht der Typ Mann, der ohne Eskorte reiste. Draußen hielten sich bestimmt noch weitere Kriecher auf. Bao ließ den Rauch aus dem Mund treiben, so daß er sich um seine Wangen ringelte. »Das sagen Sie am besten auch Ihrer Anklägerin.« Shan biß so fest die Zähne zusammen, daß es weh tat. »Ich bin nicht seine…«, setzte Xu an. Schicksalsergeben drehte Shan sich mit leerer Miene zu ihr um. Xu sah ihm für einen Moment in die Augen und wandte sich dann wieder Bao zu, ohne den Satz zu beenden. »Ich halte Anklägerin Xu durchaus nicht für pflichtvergessen«, sagte Shan. Bao bedachte ihn erneut mit einem schmalen Lächeln und beugte sich vor. »Ich dachte, ich würde alle hiesigen Schnüffler -360-
kennen. Sind Sie neu?« Sein unglaubliches Glück hatte ihn im Stich gelassen. Eine Weile hatte die Hoffnung bestanden, daß die beiden ihr Treffen beenden würden, ohne daß Shans Status zur Sprache kam. Jetzt gab es jedoch nur noch zwei Möglichkeiten, diesen Raum zu verlassen. Mit Xu oder mit Bao. Er konnte nicht behaupten, für die Kriecher zu arbeiten, wie Xu vermutet hatte. Er konnte auch nicht sagen, er handle in Xus Auftrag, weil jedes Dementi von ihr eine sofortige Verhaftung durch Bao bedeuten würde. Shans einzige Chance bestand darin, Xu etwas anzubieten und ihr eine Vorstellung zu liefern, die ihre Neugier so weit weckte, daß die Anklägerin ihm Rückendeckung geben würde. Bao starrte ihn durchdringend an. Er war auf einmal sehr an Shan interessiert. »Ja, ich bin neu«, sagte Shan. »Ich komme aus Peking.« »Wer sind Sie?« fragte Bao. »Wie lautet Ihr Name?« »Ich bin jemand, der sich fragt, warum Sie sich anscheinend größere Sorgen um irgendwelche Schmuggler als um die Ermordung eines Ihrer Offiziere machen.« Baos Augen blitzten auf, und seine Oberlippe hob sich auf einer Seite und entblößte einen großen gelben Zahn, der wie ein Fangzahn wirkte. Dann stand Bao auf und warf seine noch immer brennende Zigarette auf Xus Schreibtisch. »Sie reden Blödsinn.« »An der Fernstraße. Vor zwei Tagen.« Bao ließ ihn nicht aus den Augen. »Auf der Straße kommen häufiger Unfälle vor«, murmelte er. »Sein Name war Leutnant Sui.« Shan hörte, daß hinter ihm Xu geräuschvoll einatmete. »Zwei Kugeln durchs Herz. Bestimmt haben Sie es schon gemeldet. Peking ist sehr daran interessiert, von Angriffen auf Offiziere der Öffentlichen -361-
Sicherheit zu erfahren.« Konnte es sein, daß Xu noch nichts von Suis Tod gewußt hatte? Bao wurde blaß. Seine Lippe hob sich ein weiteres Stück, fast bis zu seiner Nase. Es war kein Hohnlächeln - es glich eher dem Zähnefletschen mancher Raubtiere, die sich gleich auf ihre Beute stürzen wollten. Shan spürte, daß Xus Körper sich anspannte, aber er wagte es nicht, den Blick von Bao abzuwenden. Mit zwei schnellen Schritten stand der Major an seiner Seite, hob die Hand und verpaßte ihm eine schallende Ohrfeige. »Es wurde kein Offizier ermordet«, knurrte er und bewies im nächsten Atemzug eindrucksvoll, wie sehr ihm die sonderbare Logik der Politoffiziere zu eigen war. »Woher wissen Sie darüber Bescheid? Das ist eine Angelegenheit der Öffentlichen Sicherheit.« Seine wütende Frage war an Shan gerichtet, aber Baos Blick lag dabei auf Xu. Und als würde die Bemerkung etwas mehr Nachdruck erfordern, hob er seine große Pranke und ohrfeigte Shan ein weiteres Mal. Shan schmeckte Blut an der Innenseite seiner Wange. Er würde hier sitzen bleiben und sich von Bao für den Rest des Tages verprügeln lassen, aber er würde kein Wort mehr sagen. Shan trug in seinem Innern einen Ort mit sich herum, einen seltsam heiteren Ort, einen kleinen Raum, den er im Gefängnis errichtet und seitdem nicht mehr aufgesucht hatte. Manche der Gefangenen hatten ihn den Chinesischen Stein genannt, weil sein Widerstand sich nicht durch physische Schmerzen brechen ließ. Nach Ansicht einiger der Tibeter war der Grund dafür in der ausreichend vollzogenen Entwicklung seiner Seele zu suchen, so daß er stets bereit gewesen sei, seinen Körper zu verlassen. Er hatte diese Überzeugung nie geteilt. Er wußte nur, daß er sich ausreichend entwickelt hatte, um sich keinesfalls, nicht einmal unter Androhung des Todes, vor Männern wie Bao zu ducken. Dem Rest der Welt konnte diese Einstellung ziemlich gleichgültig sein, denn wenn solche Männer ihr -362-
Vorhaben nicht durch körperliche Folter erreichten, gelangten sie normalerweise mit Hilfe von chemischen Präparaten ans Ziel. Nur Shan war es nicht gleichgültig. Während er sich auf den nächsten Schlag gefaßt machte, dachte Shan an die tibetischen Sträflinge, die nach all der Folter, dem Hunger, der Kälte und sogar den Amputationen sich trotzdem noch bei Buddha dafür bedankten, daß er ihnen die Gelegenheit gegeben hatte, ihren Glauben zu beweisen. Benebelt vor Schmerz hörte er, daß Xu ihren Stuhl zurückschob und vom Tisch wegging. Er hatte verloren. Sie wird Bao bei seinem spaßigen Zeitvertreib zur Hand gehen, dachte er benommen. »Ich bin Xu Li, die Anklägerin des Bezirks Yutian«, hörte er sie laut und in professionellem Tonfall sagen, als würde sie sich an ein Tribunal wenden. »Im Namen des Justizministeriums fordere ich Major Bao auf, seine Übergriffe sofort einzustellen.« Bao hatte sich ebenfalls an einen Ort in seinem Innern zurückgezogen, der allerdings kein Ort der Heiterkeit war. Vielleicht sogar das genaue Gegenteil. Der Major schaute zu Xu und stieß ein Geräusch aus, das wie ein wütendes und zugleich angewidertes Knurren klang. Shan folgte seinem Blick. Er mußte einmal blinzeln, um Xu deutlich erkennen zu können, und dann noch mehrmals, bis er vollends begriff, was sie gerade tat. Die Anklägerin stand dort mit einer Videokamera und zeichnete den Vorfall auf. Bao nahm eine Teetasse und schleuderte sie an Xu vorbei, die ungerührt weiterfilmte, während die Tasse an der Wand hinter ihr zerschellte. Dann griff der Major sich die Goldmünze, machte auf dem Absatz kehrt, marschierte aus dem Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu. Im Büro machte sich eine angespannte Stille breit. Von Baos Zigarette auf Xus Tisch stieg eine dünne Rauchsäule empor. Xu trat vor, sah erst zur Tür und dann zu Shan. Schließlich hob sie -363-
das Stück Papier an, auf dem die glimmende Zigarette gelandet war, und schüttete den Stummel in einen Aschenbecher, der nahe der Tischkante stand. Dann nahm sie den Telefonhörer ab und bat Loshi, zwei Tassen Tee zu bringen. Mit verschränkten Armen umrundete die Anklägerin zweimal ihren Schreibtisch und sprach kein einziges Wort, bis der Tee gebracht wurde. »Ich könnte Sie noch vor Einbruch der Dunkelheit ins Lager Volksruhm einweisen lassen«, sagte sie. »Ich bin schon in Lagern gewesen«, sagte Shan ruhig und erwiderte ihren Blick über die dampfende Teetasse hinweg. »Man lernt viel, aber das Essen ist schlecht.« »Bei unserem ersten Treffen dachte ich, Sie würden für die Öffentliche Sicherheit arbeiten. Ich hielt Sie für einen der neuen Agenten, die dem Projekt zugewiesen wurden.« »Dem Programm zur Beseitigung der Armut?« Xu reagierte nicht darauf. »Nehmen wir also an, daß Sie nicht zur Öffentlichen Sicherheit gehören. Und nehmen wir auch an, daß Sie nicht für das Justizministerium arbeiten und keinen Korruptionsfall untersuchen. Aber Sie wissen, daß Sui ermordet wurde, was man sogar vor mir geheimgehalten hat.« Xu stellte seine Behauptung nicht in Frage. Dann begriff er, daß Baos Reaktion Bestätigung genug gewesen war. Und Shan hatte sich geirrt. Xu hatte nichts von Suis Tod gewußt, davon war er nun überzeugt. Bao hingegen schon. Die Kriecher wußten, daß einer ihrer Leute ermordet worden war, und kümmerten sich überhaupt nicht darum. »Gehen Sie einfach auf einen der Märkte, und halten Sie zwanzig Minuten lang die Ohren offen, dann werden Sie schon merken, wie geheim die Sache ist.« Die Anklägerin ignorierte ihn weiterhin. »Also gehen wir davon aus, daß Sie sich in Gesellschaft fragwürdiger Elemente befunden haben. Zum Beispiel aufsässiger Nomaden. Oder -364-
vielleicht subversiver Hutmacher.« Die Worte trafen Shan härter, als Baos Hand dies je vermocht hätte. Xu hatte Shan bei der Werkstatt mit Jakli gesehen und eventuell auch die Wachen im Lager Volksruhm befragt, welche ihnen bekannten Personen mit dem Reislastwagen auf das Gelände gekommen waren. Shan sah zum Schreibtisch und hielt nach dem zweiten, aktuellen Teil von Jaklis Akte Ausschau. »Ich trage keine Hüte«, sagte er schwach. »Dann gehören Sie vielleicht zu den Schmugglern. Wir werden sehr viel Zeit haben, das herauszufinden.« »Ich gehöre zu niemandem.« »Aber Sie stammen aus Peking. Da bin ich mir sicher. Vielleicht wegen Ihres Akzents. Oder wegen des arroganten Auftretens, mit dem Sie sich hier eingeschlichen haben.« »Wie ich schon sagte, ich bin ein Ermittler. Ich heiße Shan. Und ich komme aus Peking.« »Aber Sie ermitteln nicht für Peking. Wollen Sie mir weismachen, Sie seien ein Privatdetektiv? Bitte, Genosse.« »Ich bin im Ruhestand.« Xu musterte ihn über den Rand ihrer Teetasse hinweg. »Und Sie sagen, Sie seien schon mal in einem Lager gewesen? Womöglich wurden Sie ja zwangsweise in den Ruhestand versetzt.« Shan hob seine Tasse. »Ich bewundere Ihre deduktiven Fähigkeiten.« »Und nun? Ermitteln Sie einfach so zum Zeitvertreib?« »Einige Freunde haben mich darum gebeten. Nichts, was für Sie von Interesse wäre«, behauptete er, ohne selbst daran zu glauben. »Abgesehen davon, daß Sie die Sicherheitsauflagen im Lager Volksruhm verletzen und dann meine Akten durchforsten.« -365-
Shan sah in seine Tasse. »Ich habe interessante Freunde.« Einen Moment lang wirkte Xu amüsiert, dann verhärteten ihre Züge sich wieder. »Falls ich nicht so viel zu tun hätte, könnte ich mehrere Stunden nur damit zubringen, mir all die Anklagepunkte gegen Sie auszudenken. Unbefugtes Eindringen ins Lager Volksruhm, dann der widerrechtliche Zugriff auf meine Akten, das allein würde schon einige Jahre Haft bedeuten. Doch ich glaube, wir sollten uns die Mühe ersparen.« Sie brauchte ihn lediglich nach seinen Papieren zu fragen, nach irgendeinem ordnungsgemäßen Identitätsnachweis, den er nicht besaß, oder nach einer vorgeschriebenen Reiseerlaub nis. Schließlich würde sie ihm befehlen, den Ärmel hochzuschieben, und die Tätowierung auf seinem Arm entdecken. Shan richtete seinen Blick auf einen geschnitzten Vogel nahe der Tischkante. »Ich bin wegen der Kinder hier«, sagte er leise. »Der Kinder, die ermordet werden. Laus Kinder.« Xu starrte ihn schweigend an. Mehr als einmal schien sie etwas sagen zu wollen, besann sich aber stets eines anderen. Dann stand sie langsam auf und ging zu dem Regal hinter ihrem Schreibtisch. Erschrocken stellte Shan fest, daß das kleine rote Licht an der Videokamera, die mittlerweile in dem Regal lag, noch immer brannte. Xu hatte ihr Gespräch aufgezeichnet. Jetzt allerdings nahm sie die Kamera, schaltete sie ab und legte sie wieder zurück, so daß die Linse zur Wand wies. Xu nahm wieder Platz, jedoch nicht hinter ihrem Schreibtisch, sondern auf dem Holzstuhl neben Shan. »Welche Kinder?« fragte sie. Ihre Stimme klang noch immer hart und argwöhnisch. »Ein neunjähriger Junge namens Suwan wurde durch einen Kopfschuß hingerichtet. Und im Kunlun-Gebirge hat jemand einen ungefähr gleichaltrigen Jungen namens Alta verprügelt und aufgeschlitzt. Beide Kinder haben Laus Waisenklasse angehört.« -366-
Xu runzelte die Stirn. »Sie sind verzweifelt, Genosse.« Offenbar hatte sie beschlossen, ihm nicht zu glauben. »Es gibt keine entsprechenden Berichte.« »Die Jungen waren bei Nomadenfamilien untergebracht.« Xus Augen schienen sich in seinen Schädel zu bohren. Shan brach den Blickkontakt ab und konzentrierte sich wieder auf den Vogel. »Unmöglich. Sie sollten schon etwas genauere Nachforschungen anstellen, bevor Sie sich irgendwelche Geschichten ausdenken. Die Waisen haben einen neuen Lehrer. Alles geht weiter wie gewohnt. Aber natürlich wissen Sie das bereits. Immerhin haben Sie meine Sekretärin nach dem Mann gefragt.« »Und doch, Genossin Anklägerin«, sagte Shan sehr langsam, »machen Sie sich Sorgen um Lau. Und darum, wie sie gestorben ist.« Er schaute zurück zu dem Beweismitteltisch. »Sie wurde ermordet. Und jetzt nimmt ihr Mörder sich die Kinder vor.« Xu legte erneut die Stirn in Falten und seufzte. »Märchen. Erdichtet von den Reaktionären, um den Leuten Angst vor den Angleichungsprogrammen einzujagen. Lau ist durch einen bedauerlichen Unfall ums Leben gekommen. Sobald im Winter der Wasserspiegel des Flusses sinkt, werden wir ihre Leiche finden.« Sie ging zum Tisch, zog eine Schublade auf und nahm einen Schreibblock heraus. »Geben Sie Ihre Aussage zu Protokoll, Genosse«, sagte sie. »Ich glaube, Sie wissen bereits, wie das geht. Wir werden die Angaben bei der Bemessung Ihrer Strafe berücksichtigen.« Sie hielt kurz inne. »Vielleicht haben Sie ja tatsächlich geglaubt, die Kinder seien in Gefahr. Schreiben Sie das. Es könnte nützlich sein. Schlechte Elemente gefährden die Kinder. Sie lassen sich auf feudalistische Verhaltensmuster ein. Mißtrauen gegen die Obrigkeit. Blutfehden. Besessenes Festhalten an den überkommenen Bräuchen sterbender Kulturen«, empfahl sie und streckte ihm -367-
den Block entgegen. »Es sind durchweg Reaktionäre. All jene, die sich gegen unsere Bemühungen stellen, die Volksgruppen zu integrieren.« Shan rührte den Block nicht an. »Kann es sein, daß Sie mit ihr befreundet waren?« fragte er vorsichtig. Xu hatte ein Memo geschrieben, um Lau zu schützen. Die Anklägerin reagierte nicht. »Ich habe ihre Leiche gesehen. Sie wurde auf die Schienbeine geschlagen. Man hat sie erst gefoltert, dann unter Drogen gesetzt und schließlich erschossen.« Shan ließ die Worte einen Moment wirken. »Was werden Sie bezüglich der Kinder unternehmen?« Als Xu ihn diesmal ansah, blinzelte sie. Dann blickte sie zu Boden. Für den Bruchteil einer Sekunde lag ein Hauch von Unsicherheit auf ihrem Gesicht. »Lau wurde alt«, sagte die Anklägerin. »Sie hatte Probleme mit ihrem Herzen.« »Wer hat Ihnen das erzählt?« Ihm wurde bewußt, daß sie noch keine seiner Fragen beantwortet hatte. »Als wir davon ausgehen mußten, daß sie nicht mehr am Leben war, gab es eine Sitzung des Landwirtschaftsrats. Jemand hielt eine Rede zu ihrem Gedenken, und dabei wurde es erwähnt.« Sie sah ihn an. Shan schüttelte langsam den Kopf. »Vielleicht sollten Sie Ihren Freund Bao nach den Kindern fragen.« »Was wollen Sie damit sagen?« »In Peking hatte ich einen alten Freund, der seit vierzig Jahren dem Justizministerium angehörte. Er sagte, ich solle immer davon ausge hen, daß die Öffentliche Sicherheit zehnmal mehr weiß, als sie der Öffentlichkeit verrät, fünfmal mehr, als sie ihren Kollegen bei den anderen Regierungsbehörden erzählt, und doppelt soviel, wie in ihren Berichten an den Vorsitzenden steht.« -368-
Xu pflichtete ihm mit säuerlichem Lächeln bei, zog dann ein Formular aus einem der Papierstapel auf ihrem Tisch und fing an, mit einem Bleistiftstummel einige Eintragungen vorzunehmen. »Vielleicht werde ich die Zeit finden, mich noch etwas näher mit Ihren Vorstellungen auseinanderzusetzen, Genosse. Nicht heute. Im Lager Volksruhm. Man wird Sie dort an einem besonderen Ort unterbringen, ganz für sich allein, so daß Sie in aller Ruhe überdenken können, wessen Sie sich schuldig bekennen sollten.« »Ich habe eine bessere Idee. Lassen Sie mich gehen.« Xu bedachte ihn mit einem kühlen Lächeln und füllte weitere Felder des Einweisungsformulars aus. »Shan«, murmelte sie, ohne den Kopf zu heben. »Ein verbreiteter Name. Er sagt mir nichts.« »Sie wissen, daß Bao Sie belügt«, erwiderte Shan. »Sie wissen nur nicht, wie sehr. Außerdem sind Sie der Ansicht, Sie sollten etwas wegen Lau unternehmen. Was ist, wenn Laus Tod und der Mord an Sui miteinander zu tun haben? Lassen Sie mich gehen, und ich werde es herausfinden. Ich verspreche, daß ich mich bald wieder bei Ihnen melden werde. Hier, in Ihrem Büro. Sie glauben, weil Bao zur Öffentlichen Sicherheit gehört, könnten Sie nichts gegen ihn ausrichten. Aber das stimmt nicht. Sie können mich weitermachen lassen.« Xu hörte auf zu schreiben. »Unter Umständen habe ich mich in Ihnen getäuscht. Die Brigade leitet tief in der Wüste ein lao gai Lager. Vielleicht sollte ich Sie dorthin…« Sie wurde durch den Schrei einer Frau unterbrochen. Vor der Tür ihres Büros kam Unruhe auf, und man hörte mehrere Le ute weglaufen. Es folgte ein zweiter schriller Schrei. Xu stand auf, eilte zur Tür und öffnete sie. Das vordere Büro war menschenleer. Als ein weiterer Schrei ertönte, lief sie zum Gang und die Treppe hinunter, wo sich die Ursache des Lärms zu befinden schien. Shan folgte ihr, blieb auf dem Korridor kurz stehen und überlegte, um dann zum Ende des Gangs zu rennen, wo sich die -369-
Hintertreppe befand. Weniger als eine Minute später lief er durch eine schmale Gasse und erreichte etwa dreißig Meter hinter dem Ministerialgebäude die Straße. Der Verkehr dort war zum Erliegen gekommen, und die meisten Fahrer verließen ihre Wagen. An der Vorderseite des Gebäudes strömte eine Menschenmenge zusammen. Shan tastete sich voran und stieg auf das Trittbrett eines Lastwagens, um über die Köpfe der Leute blicken zu können. »Ein Mord!« rief jemand. Shan sah, wie die Anklägerin aus der Tür des Gebäudes trat, gefolgt von Fräulein Loshi und dem schlanken Mann aus dem vorderen Büro. Auf der Treppe vor Xu standen ein Mann und eine Frau, die wie Hirten gekleidet waren. Der Mann hielt ein Bündel auf dem Arm, eine blutige Decke, die man um einen kleinen Jungen gewickelt hatte. Der Junge war tot.
-370-
Kapitel Zehn Jemand packte ihn am Arm und zog. Er gab nicht nach, sondern blieb stehen und starrte das tote Kind an. Die Frau neben dem Mann, der den Jungen hielt, schrie etwas in Richtung der Anklägerin. Dann drehte sie sich um und rief einige Worte in die schnell anwachsende Menge. Shan sah, daß manche der Leute die Flucht ergriffen, sich durch die Scharen der anderen drängten und versuchten, von dem Platz zu verschwinden. Die Han-Chinesen machten sich aus dem Staub. »Niya!« rief jemand, und die Menge begann, den Namen laut im Chor zu wiederholen. »Niya! Niya! Niya!« Es war der Name von den Plakaten, der Name der rothaarigen Frau, die Shan auf den Postern gesehen hatte. Plötzlich fielen ihm die Kriecher wieder ein. Es gab hier Kriecher mit Schnellfeuergewehren. Er wandte den Kopf und entdeckte die beiden grauen Uniformen auf einem Balkon an der gegenüberliegenden Seite des Platzes. Einer der Männer schien in ein Handfunkgerät zu sprechen, während der andere seine Waffe bereithielt. Auf den Stufen stand nach wie vor der Hirte mit dem Jungen und hielt das Kind schweigend empor, als würde er der Ankläge rin die Leiche präsentieren. Er weinte. Die Augen des Jungen waren zusammengekniffen, als würde er versuchen, etwas in größerer Entfernung zu erkennen. Sein Hemd war zerrissen und blutbefleckt. Mitten in seiner Stirn gähnte ein Loch. Dann griff jemand mit beiden Händen nach Shans Arm und ließ nicht mehr locker. Es war Jakli. Shan warf einen letzten Blick auf das tote Kind, ließ sich vom Trittbrett zerren und wegführen. Sie beeilten sich, achteten aber darauf, keine Aufmerksamkeit -371-
zu erregen, und kamen auf diese Weise an vier Häuserblocks in verschiedenen Stadien der Baufälligkeit vorbei. Die Lehmgebäude beherbergten Läden, Werkstätten, Restaurants sowie triste Büros mit grauen Metalljalousien und lieferten damit einen Querschnitt durch das Leben in Yutian. Shan erkundigte sich nach dem Jungen, aber Jakli sagte nichts. Er fragte nach Niya, und dann erst sah er, wie aufgewühlt Jakli war. Ihre Augen schimmerten feucht, und sie schien sich mit aller Macht zu bemühen, ein Schluchzen zu unterdrücken. Schließlich erreichten sie ein Grundstück, auf dem hinter einem hüfthohen Drahtzaun insgesamt vier identische eingeschossige Lehmgebäude standen. Ein betonierter Weg, der so löchrig war, daß Jakli lieber parallel dazu auf dem blanken Erdboden ging, führte zu dem Haus im Zentrum des Geländes, das auf drei Seiten von den anderen Gebäuden flankiert wurde. Am Eingang blieb Shan stehen und betrachtete das Holzschild über der Tür. Darauf hatte einst ein Slogan gestanden, dessen vordere Hälfte inzwischen fehlte, so daß nur noch die Worte Stärkt Kinder übriggeblieben waren. Erst als Jakli bereits sechs Meter in dem dunklen Flur zurückgelegt hatte, bemerkte sie, daß Shan ihr nicht gefolgt war. Sie drehte sich um, stemmte die Arme in die Seiten und wartete. »Hat der Junge zur zheli gehört?« rief Shan. Sie schaute sich mit besorgtem Blick auf dem Flur um und kam dann näher. »Ja, er war eines der Waisenkinder«, entgegnete sie angespannt und traurig. »Sein Name war Kublai. Er hat bei einem Clan rund dreißig Kilometer tief im Gebirge gelebt und ist nicht von einer der Schafweiden heimgekommen. Man hat seinen Körper am Fuß einer Klippe gefunden, mit einem toten Lamm auf dem Arm. Zuerst dachte man, er sei abgestürzt, vermutlich, weil er das Lamm retten wollte. Aber als die Leiche geborgen war, hat man die Schußwunde entdeckt. Auch das Lamm war durch einen Schuß getötet worden.« Jakli klang auf einmal zutiefst verzweifelt. -372-
»Wer ist Niya?« fragte Shan erneut. »Was hat sie mit dem Jungen zu tun?« »Meine Cousins haben vier der Familien der zheli erreicht und sie gewarnt«, sagte Jakli und sah zu Boden. »Malik hat einen zweiten Jungen zum Roten Stein gebracht. Der Kleine hatte zwei Mastiffs dabei, als ob die Hunde den Mörder aufhalten könnten. Mittlerweile sind einige Maos in Akzus Lager und bewachen die Jungen. Andere Maos sind in den Bergen unterwegs und helfen bei der Suche. Die Kinder sind so unglaublich schwer zu finden.« »Stehen die Jungen in irgendeiner Verbindung zu dieser Niya?« Jakli schien ihn abermals nicht zu hören. Sie drehte sich um und ging, wenngleich etwas langsamer, bis zu einer Tür kurz vor dem Ende des Gangs. Daneben saß jemand auf dem Boden. Der Mao mit den Goldzähnen, der die Schuhe gebracht hatte. Jakli bückte sich, um mit ihm zu sprechen, und Shan stieß die Tür auf. Drinnen saß Lokesh an einem schlichten Holztisch und nickte Shan grüßend zu. Es war ein kleiner Raum, dessen Fenster nach Süden wies und den Blick auf den Schulhof und die schneebedeckten Gipfel des Kunlun freigab. An den Wänden hingen mindestens zwei Dutzend Fotos, unter deren Motiven zunächst die zahlreichen Pferde auffielen. Aber es gab auch das Bild einer großen Buddhastatue, Fotos von Moscheen und sogar die Reproduktion eines alten Gemäldes, das Laotse, den großen Weisen des Tao, rittlings auf einem Ochsen zeigte. Oben an einem hohen Bücherregal hatte man einige Gebetsfahnen befestigt, die nun an den Seiten des Gestells herabhingen. Lokesh hielt eine Glocke in den Händen, ein altes, aus Bronze gegossenes Stück, dessen Griff einem Zepter glich und Shan vertraut vorkam. Es war eine dorje-Glocke, wie sie bei tibetischen Ritualen benutzt wurde. -373-
»Sie hat ihre Glocke vergessen«, sagte Lokesh grimmig und warf Shan einen bedeutungsvollen Blick zu. Durch das Läuten einer dorje-Glocke ließ sich angeblich das Böse vertreiben. Neben der Glocke lag ein sieben oder acht Zentimeter durchmessendes Zwirnknäuel, das aus roten, grünen und gelben Fäden bestand. Shan wußte, daß es sich dabei nicht um gewöhnliches Garn, sondern um ein heiliges Kennzeichen handelte, das manche Buddhisten um rituelle Gegenstände wickelten, um dadurch Weisheit zu erbitten. Eine von Lokeshs Händen ließ von der Glocke ab und strich über das Knäuel. Am anderen Ende des Tisches lagen ein großes Buch, ein Koran, und eine schwarze dopa, die traditionelle Kappe der Moslems. »Wonach suchst du, mein Freund?« fragte Shan den alten Tibeter. Die Worte kamen ihm beinahe als Seufzen über die Lippen, so sehr machte der Anblick des dritten Jungen ihm noch zu schaffen. Er wußte, daß Lokesh nicht ins sichere Lhadrung zurückgekehrt und statt dessen aus Senge Drak hergekommen war, weil er etwas suchte, das er hier in der Schule zu finden gehofft hatte. »Es läßt sich nur schwer in Worte fassen«, sagte Lokesh heiser und schüttelte den Kopf, als riete eine innere Stimme ihm, nicht darüber zu sprechen. Er umschloß die Glocke mit beiden Händen. »In seiner eigentlichen Form ist es ein Jadekorb. Aber man sagt, es könne notfalls seine Gestalt verändern, um sich zu schützen.« »Wovor?« fragte Shan. »Als es zum letztenmal jemand zu Gesicht bekommen hat«, sagte Lokesh mühsam, als bereiteten die Worte ihm Schmerzen, »sah es äußerlich wie ein silbernes gau aus. Öffne es, und du wirst einen fein gearbeiteten Korb aus Jade entdecken, in dem wiederum Platz für ein Gebet ist.« Das Hemd des letzten Jungen, Kublais Hemd, war zerrissen worden, erinnerte Shan sich, als er die Bilder der Ereignisse vor -374-
dem Ministerialgebäude noch einmal Revue passieren ließ. Genau wie die Hemden von Alta und Suwan. »Bist du aus diesem Grund hergekommen?« fragte Shan. »Wegen dieses Jadekorbs? Ist es das, was du zurückholen mußt?« Ist Lau deswegen gestorben? hätte er beinahe gefragt. Für ein Artefakt? Er wußte, daß es bestimmte Symbole gab, machtvolle und hochverehrte Gegenstände, für deren Schutz fromme Buddhisten mit Freuden das eigene Leben hergeben würden. Ein solcher Tod galt sogar als großes Verdienst für die nächste Inkarnation. »Es ist riskant, darüber zu sprechen«, sagte Lokesh, der nach wie vor den Kopf schüttelte. »Falls du nicht weißt, wie du dich ihm nähern sollst, wird es sich immer weiter entfernen, je dichter du ihm kommst.« Er blickte zu Shan auf, und es war ihm deutlich anzusehen, wie sehr er mit sich rang. »Keinesfalls…« Seine Stimme erstarb, und er starrte trübselig und bestürzt die Glocke an. »Hatte Lau es in ihrem Besitz? Bist du deswegen hier?« fragte Shan. Aber Lokesh konzentrierte sich eindringlich auf die Glocke in seinen Händen. Er schien Shan nicht mehr zu hören. Shan sah sich in dem Arbeitszimmer um, stellte sich dann in die Tür und ließ den Blick ein weiteres Mal durch den Raum schweifen. Xu war hiergewesen. Die Öffentliche Sicherheit vermutlich auch. Und Bezirksverwalter Ko natürlich ebenfalls. Xu hatte vermeintlich Laus persönliche Habe mitgenommen. Aber Lokesh glaubte, trotzdem noch zwei weitere Gegenstände entdeckt zu haben, nämlich das Zwirnknäuel und die Glocke. Die Sachen hatten offen dagelegen, mitten zwischen Laus Materialien zum Kulturunterricht. Hinter sich auf dem Gang hörte Shan den Mao mit Jakli sprechen. Der Mann deutete auf die gegenüberliegende Bürotür. Shan trat näher, um die Sache genauer in Augenschein zu nehmen. An der Glastür klebte ein -375-
handgeschriebenes Schild, auf dem jemand in fünf Zentimeter großen Buchstaben einen der berühmtesten Slogans des Großen Steuermanns festgehalten hatte. Religion ist Opium für das Volk. Auf der Tür stand ein Name: Komiteevorsitzender Hu. Shan erinnerte sich an den dicken verängstigten Han-Lehrer, den er im Lager Volksruhm kennengelernt hatte. Er ging zurück in Laus Büro. Auf dem Tisch lag ein Zettel. Eine ausgedruckte Namenliste. »Die zheli«, erklärte Jakli beim Blick über seine Schulter. »Eine Computerliste aller Waisen, mit denen Lau gearbeitet hat, und der Unterrichtsplan der zheli.« Sie wies auf drei Namen. Suwan, Alta und Kublai. »Hat Lau oft am Computer gearbeitet?« fragte Shan. Jakli überlegte und musterte die Liste genauer. »Nein. Sie hatte nicht viel für Computer übrig.« »Oder hat ihnen zumindest nicht vertraut«, sagte Shan. Jakli nickte, ohne den Blick von der Liste abzuwenden. »Jemand anders hat das hier angefertigt.« »Das macht es einfacher«, sagte Shan leise und bemerkte Jaklis fragende Miene. »Für den Mörder.« Der Mörder hatte die Liste, die sich womöglich aus jedem beliebigen Computer der Brigade ausdrucken ließ, und brauchte jetzt nur noch die Aufenthaltsorte der Kinder herauszufinden. Aus diesem Grund hatte er Lau gefoltert. Shan überflog den Unterrichtsplan. In diesem Jahr waren für die zheli noch zwei Treffen angesetzt, das erste davon in einer Woche, das zweite fünf Tage später, beide an einem Ort namens Steinsee. Shan zeigte auf die Einträge. »Das ist ein Platz am Rand der Wüste«, erklärte Jakli. »Für Lau war es eine Art Tradition, das Schuljahr mit zwei Treffen dort ausklingen zu lassen. Um die Wüste besser verstehen zu lernen, sagte sie. Im Sommer ist es dort zu heiß.« »Die Jungen«, sagte Shan. »Welche der Kinder sind Jungen? -376-
Ich war mir zunächst nicht sicher, aber nun scheint es klar zu sein. Der Mörder hat es nur auf Jungen abgesehen.« Jakli zeigte auf neun weitere Namen. Dann verschränkte sie die Hände vor der Brust und starrte den Zettel an, als hätte sie ein Gespenst gesehen. Das war kein Schülerverzeichnis, sondern eine Todesliste. An der Wand hingen herausgerissene Seiten aus Schulheften, auf denen kurze Briefchen geschrieben standen. Danke, Tante, weil du mir gezeigt hast, daß die Wüste noch lebt, lautete eines davon. Mein Vogelküken hat heute ein Lied gesungen, stand in einem anderen. Zwei schienen Gedichte zu sein. Während mein Pferd trank, habe ich einen alten Bauern gesehen. Sein Schlaf war so tief, daß eine Maus an seinem Backenbart knabberte, las Shan. Das andere Gedicht wirkte erwachsener, die Schrift kunstvoll und schön. In den Bergen warten alte Männer, deren Weisheit dem Schnee gleicht. Shan sah aus dem Fenster. Vor den Wänden des Gebäudes auf der anderen Seite des Schulhofs hatte sich Flugsand gesammelt. Dahinter lag im Süden das Kunlun-Gebirge und mitten darin Senge Drak. Jakli hatte heute morgen Gendun dort zurückgelassen, hoch oben auf dem Wächterstein. Er spürte, daß jemand hinter ihn trat. Schweigend streckte Jakli die Hand aus und nahm das zweite Gedicht ab, das Shan aufgefallen war, das Gedicht über die weisen alten Männer. Sie faltete es zusammen und verstaute es unter ihrem Hemd. Er sah zu, wie sie einen Stuhl vom Tisch holte und die Fotos an der Wand betrachtete. Kurz darauf schob sie den Stuhl an eine bestimmte Stelle, stieg hinauf und nahm ein Foto der Großen Halle des Volkes ab. Mit traurigem Lächeln reichte sie es Shan und stieg wieder herunter. Das Foto war dick und schwer. Er drehte es um. Auf der Rückseite war das Bild eines heiter lächelnden, bebrillten Mannes befestigt, der bereits fast kahlköpfig war und ein rotes Gewand trug. Der Dalai Lama. Mit den Fingernägeln durchtrennte Jakli das Klebeband am Rand -377-
des heimlichen Fotos und steckte das Bild ein. Plötzlich schaltete jemand das Licht in dem Büro aus. Der Mao mit den Goldzähnen stand an der Tür und deutete stumm zum Fenster hinaus. Aus den Gebäuden strömten zahlreiche Personen auf den Schulhof und reihten sich vor der Wand des gegenüberliegenden Hauses auf. Jakli erstarrte, lief dann zur Wand und preßte sich dagegen, als wolle sie sich verstecken. Es waren Kriecher. Sie trieben die Kinder aus den Klassenzimmern. Offenbar hatte man dreißig oder vierzig von ihnen ausgewählt und gemeinsam mit ihren Lehrern vortreten lassen. Während die Lehrer sich in der Tür zum Schulhof duckten, mußten die Schüler sich in einer Reihe vor der Wand aufstellen. Ein Offizier der Kriecher schrie sie an, sie sollten Ruhe geben, während ein anderer mit einer Videokamera dastand und einen Schwenk über die Gesichter der Kinder vollführte. Dann durften die jüngsten, höchstens sieben Jahre alten Schüler zurück zu ihren Lehrern laufen. Einen Augenblick später wurden auch die Älteren wieder entlassen. Danach wandten die Kriecher sich den fünfzehn oder zwanzig Kindern zu, die noch übrig waren. Einer der Männer sprach, und der andere zeichnete alles mit der Kamera auf. »Keine Angst«, sagte der Mao. »Verhaltet euch einfach nur ruhig.« »Die wissen doch, daß die zheli nicht hier ist«, sagte Jakli. »Na klar«, sagte der Mao. »Aber einige der anderen Kinder haben vielleicht eine Ahnung, wie man sie aufspüren kann. Wegen des Armutsprogramms, werden die Kriecher wahrscheinlich behaupten. Die Waisen müssen zu ihrem eigenen Besten zusammengeholt werden. Genau wie die Wildpferde«, schloß er verbittert. Shan drehte sich zum Tisch um. Lokesh beobachtete die Kinder erwartungsvoll, als würde er erwägen, selbst zu ihnen zu gehen. Hatte der Mao ihm von dem dritten toten Kind erzählt? -378-
fragte Shan sich. Als hätte sie seine Gedanken gelesen, ging Jakli zum Tisch und nahm gegenüber von Lokesh Platz. Dann legte sie ihm eine Hand auf den Arm und rüttelte behutsam, bis Lokesh sie ansah. »Noch ein Junge«, sagte sie sanft. »In den Bergen ist noch ein Junge ermordet worden.« Nachdem sie ihm erklärt hatte, was sie darüber wußte, starrte Lokesh die dorje-Glocke an und verlor sich wieder in seinen Gedanken. Er wirkte unglücklicher als je zuvor. Shan beugte sich zu Jakli. »Der Junge - hat einer seiner Schuhe gefehlt?« »Ich weiß es nicht. Ist das wichtig?« »Bei den anderen beiden hat jeweils ein Schuh gefehlt.« »Was für ein Schuh?« Er zuckte die Achseln. »Keine Ahnung, irgendein Schuh.« Shan überlegte kurz und erzählte ihr dann von der Holztafel, die Bao gefunden hatte. »Suwan hatte auch so eine. Der Mörder hat sie zerbrochen.« Jakli blickte mit neuer Besorgnis auf. Dann erhob sie sich, ging zu dem Bücherregal und nahm das gerahmte Foto eines Pferdes vom obersten Brett. Nein, das war gar kein Rahmen, erkannte Shan, als sie es ihm entgegenstreckte, sondern ein flaches Stück Holz, auf das man vorsichtig das Bild geklebt hatte, um den Eindruck eines Rahmens zu erwecken. Jakli drehte es um, so daß Shan den keilförmigen Einschub auf der Rückseite sehen konnte. Es war eine weitere dieser Tafeln mit der altertümlichen Schrift. »Man nennt diese Schrift Kharoshthi. Sie wurde hier vor zweitausend Jahren benutzt. Manchmal gibt der Wüstensand einige dieser Tafeln frei.« Shan schilderte Baos Reaktion auf die Tafel. Dann erwähnte er, daß Xu noch andere Habseligkeiten Laus in ihrem Besitz hatte. -379-
Lokesh blickte auf. »Was genau hatte sie?« fragte er angespannt. »Kein gau«, sagte Shan. »Bücher. Ein kleines Jadepferd. Und ein Etui für Schreibgeräte.« »Ein Etui?« wiederholte Lokesh drängend und beugte sich vor. »Aus Kupfer? Mit türkisfarbenen Kreisen?« Shan schüttelte den Kopf und musterte seinen Freund verwirrt. »Aus Weißmetall. Mit einer Koralle.« Lokesh verzog wie unter Schmerzen das Gesicht und wandte sich wieder der Glocke zu. Shans Blick richtete sich erneut auf die Tafel in Jaklis Hand. Er fragte, was für ein Institut für Altertümer Bao gemeint haben könnte. »Das Volksinstitut für Altertümer«, erklärte Jakli. »Es ist eine Gruppe von Regierungswissenschaftlern, Archäologen mit Parteibüchern.« »Das verstehe ich nicht«, sagte Shan. »Wieso sollte Bao dann eine Verbindung zu irgendwelchen Westlern vermuten?« Jakli sah ihn mit neuerlicher Beunruhigung an. »Westler? Das hat er gesagt?« Sie schüttelte langsam den Kopf. »Lau hat diese Tafeln von den Amerikanern erhalten, und zwar eine größere Anzahl, die sie an die zheli verteilen sollte. Es sollte dazu beitragen, den Kindern zu vermitteln, wer wir sind.« »Aber Major Bao sieht darin einen Verrat«, sagte Shan, dessen Verstand plötzlich auf Hochtouren arbeitete. Er hatte sich im Hinblick auf Xu getäuscht. Sie hatte weder von Sui noch von den beiden toten Jungen gewußt. Womöglich ging es von Anfang an nur um Bao. Um Bao und die Einsatzkommandos, die nach angeblichen Landesverrätern suchten. Der Major mußte auf eine Verbindung zwischen Lau und den Amerikanern gestoßen sein und folgte jetzt vielleicht der zheli zu den Westlern. Shan mußte an das Gedicht über den Lama und Baos -380-
Reaktion auf die hölzerne Tafel denken. Beweise für einen Verrat. Für Bao würde die Suche nach Verrätern wichtiger sein als die Suche nach Suis Mörder, wenigstens vorübergehend, sofern er kurz davorstand, die Verräter zu ergreifen. Shan und Jakli tauschten einen erschrockenen Blick aus. »Wir müssen die Amerikaner warnen«, rief Jakli aufgeregt. »Sie kommen manchmal zu den Treffen der zheli.« »Zu den Treffen der zheli?« wiederholte Shan ungläubig. »Aber das wäre doch viel zu gefährlich.« »Ich war mit Fat Mao dabei, als Lau versucht hat, es ihnen auszureden. Die Amerikaner sagten, sie wollten den Kindern von ihrer Arbeit erzählen, um die nachfolgende Generation wissen zu lassen, daß es auch noch andere Leute auf dieser Welt gibt, die sich um sie sorgen.« Ihre Arbeit. Was taten die Amerikaner, daß Bao dermaßen in Wut geriet? Gruben sie antike Holztafeln aus? Sahen sie sich alte Stoffe an? »Sie sagten, die Aufmerksamkeit der Kinder sei das Risiko wert«, fügte Jakli hinzu. Shan erinnerte sich an Deacons seltsame Behauptung, er und seine Frau seien nach Xinjiang gekommen, um sich nicht mehr zu verstecken. »Vielleicht sollten Sie lieber die Amerikaner aufsuchen«, sagte er. »Ich muß den Kindern helfen.« Jakli starrte ihn an, und ihr Blick weitete sich in plötzlicher Erkenntnis. »Was Sie da gerade vo n Bao erzählt haben, bedeutet ja, daß es eigentlich um die Amerikaner geht. Er will über Laus Schüler an die Amerikaner herankommen. Die Kinder verstecken sich. Es wird Ihnen nie gelingen, sie aufzuspüren. Und da wir die Kinder nicht finden können, müssen wir uns vom anderen Ende der Kette zurückarbeiten. Wir müssen die Amerikaner finden und ihre Verbindung zu den Kindern untersuchen. Um die Fährte zu verwischen, der Bao folgt. Genau das müssen wir tun. Und dann werden wir dafür sorgen, -381-
daß Sie rechtzeitig an der nepalesischen Grenze eintreffen.« Ihre Augen funkelten entschlossen. Auf einmal tauchte eine Gestalt im Eingang auf, eine zierliche junge Frau in der grauen Uniform der Kriecher. Sie erstarrten vor Schreck, alle außer Lokesh, der aufstand und die dorjeGlocke läutete, jene Glocke, mit der man Dämonen vertreiben konnte. Er ließ sie mehrmals laut erklingen, trat dabei vor und streckte der Frau das Instrument entgegen. Bei jedem seiner Schritte wich sie ein Stück zurück, bis sie sich schließlich umdrehte und den Gang hinunterrannte. Lokesh lachte. Jakli packte ihn am Arm, und dann liefen sie alle gemeinsam zum anderen Ende des Korridors. Das Gefühl war diesmal anders, dachte Shan. Der Anblick Karatschuks erfüllte ihn nach wie vor mit Ergriffenheit, und auch jetzt hatte er den Eindruck, eine Reise in die Vergangenheit zu unternehmen, doch da war noch etwas anderes. Nicht unbedingt Angst, aber etwas Ähnliches. Als läge ein böses Vorzeichen in der Luft. Jakli schien es ebenfalls zu spüren. Fast während der gesamten Fahrt in die verlorene Stadt hatte sie nachdenklich geschwiegen, und nun blieb sie argwöhnisch stehen, als sie alle zwischen den Ruinen hervorkamen und das Kuppelgebäude vor sich sahen, in dem Shan zum erstenmal mit Marco zusammengetroffen war. Sie blickte zum Himmel, der für die nachmittägliche Stunde grau und unnatürlich dunkel wirkte, und runzelte die Stirn. Dann nickte sie in Richtung einer kleinen Staubfahne, einer winzigen Windhose, die auf die hinter ihnen liegende Mauer zutrieb. »Wenn einem nachts und beim richtigen Stand des Mondes ein solcher Winddämon begegnet, könnte man glauben, tatsächlich ein Gespenst gesehen zu haben«, sagte sie und versuchte, bei diesen Worten zu lächeln, doch die Anspannung ließ ihre Miene eher gequält erscheinen. -382-
Lokesh, der vor ihnen stand, blickte dem wirbelnden Sand hinterher. »Als ich noch ein Junge war, hat ein alter Mann mir erzählt, daß Wirbelwinde eine der zehntausend Formen seien, die eine Seele anzunehmen vermag«, sagte er feierlich. »Auf diese Weise würden sie sich von Ort zu Ort bewegen und im Innern eine leuchtende Saat der Erkenntnis tragen.« Er musterte den Windteufel eindringlich, als bemühe er sich, etwas darin wiederzuerkennen. »Sie können ganz plötzlich auftauchen, wie ein Gedanke, und dann einfach…« Lokesh zuckte die Achseln, während der Wirbel über die Mauer glitt und außer Sicht verschwand. »Und dann einfach an uns vorüberziehen.« Shan betrachtete den Pfad, den der Windteufel genommen hatte. In gewisser Weise kam ihm dies wie ein Sinnbild für alle Ereignisse vor, deren Zeuge er seit dem Aufbruch aus seinem Berg in Zentraltibet geworden war. Die Erkenntnisse zogen an ihm vorüber. Trotz seiner merkwürdig verworrenen Gefühle hatte Lokesh begriffen, daß Eile geboten war. Inzwischen bestand kein Zweifel mehr, daß der Mörder seine Untaten fortsetzte, und die verbleibenden Jungen der zheli mußten gefunden und beschützt werden. Der Mao mit den Goldzähnen hatte es ebenfalls verstanden und war gleich nach der Flucht aus der Schule in Richtung Innenstadt verschwunden. Aber Jakli hatte recht. Da Shan weniger als zwei Tage blieben, mußte er sich auf die Amerikaner konzentrieren. Falls Bao der Mörder war, stellten die zheli und der Jadekorb für ihn lediglich Hilfsmittel auf der Suche nach subversiven Elementen dar. Sein eigentliches Ziel würden die illegalen Amerikaner und ihre Helfer sein. Und daher mußten dort auch die Antworten liegen. Die Ruinen waren verlassen. Shan und die anderen schlichen sich wie Diebe vorsichtig voran, achteten auf jedes Geräusch und die leiseste Bewegung. Mitunter zuckten sie vor Schreck zusammen, wenn Lokesh beim Anblick der verfallenen Gebäude einen Laut des Erstaunens von sich gab. Mit kurzen, unsicheren -383-
Schritten betraten Jakli und Shan die Gaststube. Der Polstersessel und die Tische waren noch dort, ebenso das Schachspiel, aber man hatte alle Spuren der jüngsten Benutzung beseitigt. Auf den Tischen lag Sand. Ein Suchtrupp würde zwar merken, daß dieser Ort längst nicht so alt wie der Rest der Stadt war, aber niemand vermochte zu erkennen, ob die letzten Bewohner vor einer Woche oder vor einem Jahrzehnt von hier verschwunden waren. Der hastige Aufbruch lag erst sechsunddreißig Stunden zurück. Seitdem hatte offenbar niemand mehr sich in Karatschuk blicken lassen. »Umsonst. Wir haben die Reise umsonst unternommen«, sagte Jakli enttäuscht, als sie wieder nach draußen kamen. »Niemand wird…« Sie hielt inne, weil Shan ihren Arm nahm und auf das Gehege wies, neben dessen Mauer Lokesh stand. Der alte Tibeter hielt einen dunkelbraunen Klumpen in der Hand und lächelte triumphierend. »Er ist frisch«, rief er und hielt sich den Klumpen unter die Nase. »Von heute!« Es war Kameldung. Sie liefen zu Lokesh, der unterdessen den Kopf in den Nacken legte und zu den Felsen hinter dem Gehege aufblickte. »Die ser Ort ist herrlich voll von Geistern!« schwärmte er. Shan benötigte einen Moment, bis er erkannte, was die Aufmerksamkeit seines Freundes erregt hatte. Im Schatten unterhalb des Gipfelplateaus der Formation stand ein großes graues Geschöpf und beobachtete sie wachsam. »Das ist kein Geist, sondern Osmans Hund«, sagte Jakli, die wieder etwas Mut zu schöpfen schien. Gespannt suchte sie die Felsen ab. »Osman ist nicht weggegangen. Er ist der Beschützer von Karatschuk.« Sie fanden den Herrn des Hundes im Tempel. Er lag auf einem Strohsack vor dem provisorischen Altar. Nur zwei Kerzen erhellten den großen Raum. Der Hund hatte zur Begrüßung seine Schnauze in Jaklis Händen vergraben und war ihnen dann in die Kammer gefolgt. Nun lief er vor und stieß Osman mit der -384-
Nase an. »Schon gut«, murmelte Osman und setzte sich auf. Als sein Blick sich klärte, zuckte seine Hand plötzlich zu einem Gegenstand, der neben ihm lag. Dann jedoch erkannte er seine Besucher und entspannte sich wieder. »Es tut uns leid, daß wir Sie aus Ihren Träumen reißen müssen«, sagte Shan. »Eigentlich habe ich gar nicht geschlafen, sondern gelauscht«, entgegnete Osman schroff. Dann flüsterte er dem Hund etwas ins Ohr, woraufhin das Tier davonlief und im Tunnel verschwand, um auf seinen Posten zurückzukehren. »Gelauscht?« fragte Shan. Osman nickte und blickte in Richtung des schwach beleuchteten Korridors. »Auf den Wind. Auf Helikopter. Auf Geister.« Er war in finsterer Stimmung. »Irgendein Zeichen von Nikki?« fragte Jakli leise. »Natürlich nicht, Mädchen«, brummte Osman und rieb sich das Gesicht. »Er ist viel zu schlau, um sich jetzt aus den Bergen zu wagen. Vermutlich wird er direkt zum Reiterfest kommen.« Bei diesen Worten warf der Kasache ihr ein kleines erwartungsvolles Lächeln zu. Lokesh trat an den Altar, entzündete mit einer Kerze eine der Butterlampen und bedeutete Shan, es ihm gleichzutun und Buddha somit seine Reverenz zu erweisen. Als Shan über Osmans Strohlager stieg, fiel ihm am Boden etwas Funkelndes auf. Dort neben dem Kasachen lag ein langes Messer, fast so groß wie ein Schwert. »Ihr seid zu früh zurückgekommen.« Osman sprach zu Jakli, aber seine Augen waren argwöhnisch auf Shan gerichtet. »Die Kriecher könnten immer noch hier auftauchen.« »Wir bleiben nicht«, erwiderte Jakli. »Du mußt uns den Weg zu dem Amerikaner verraten. Deacon. Er ist in die Wüste -385-
geritten. Zu welcher Oase?« »Zu keiner Oase.« »Er muß in einer Oase sein«, sagte sie ungeduldig. »Wir müssen ihn finden, Osman.« Shan schaute sich in dem Raum um, der immer mehr in Licht getaucht wurde, weil Lokesh weitere Lampen entzündete. Die Buddhastatue lag wieder unter der Decke verborgen. Er sah Holzkisten voller Alkoholflaschen, einen Korb mit Gläsern und irgend etwas Undefinierbares in den hinteren Schatten. Kartons. Shan ging drei Schritte darauf zu, dann hob Osman warnend die Hand. »Zuviel Neugier kann gefährlich werden«, sagte der grauhaarige Kasache. Aber Shan hatte genug gesehen. Kartons wie diese waren ihm kürzlich erst begegnet, im Lager Volksruhm, in der Hütte mit dem toten Ame rikaner. Sie enthielten elektrische Geräte. Auf den Kartons stand ein kleines leistungsstarkes Funkgerät. »Kehrt um«, sagte Osman. »Wartet ein paar Tage. Deacon wird hierher zurückkommen.« »Dann ist es vielleicht schon zu spät«, sagte Jakli. »Die Amerikaner könnten sich in Gefahr befinden.« »Du wirst nicht willkommen sein, selbst wenn du den Ort findest. Und wenn du ihn nicht findest, wird die Wüste dich verschlingen. Nikki würde mich tausend Tode sterben lassen, falls ich dich dorthin schicke und dir etwas zustößt.« »Und deshalb mußt du uns den Weg auch sehr genau beschreiben«, sagte Jakli und verschränkte entschlossen die Arme vor der Brust. Osman zog eine Flasche Wodka unter seinem Lager hervor. Als er nach den Gläsern griff, warf er seinen Besuchern einen zweiten Blick zu, legte den Wodka zurück und brachte statt dessen eine Flasche Wasser zum Vorschein. Er goß jedem ein Glas ein und bedeutete den Neuankömmlingen, sich auf den -386-
Boden zu setzen. »Zuerst fä hrt ihr sechzehn Kilometer genau nach Osten, so daß ihr stets euren Schatten vor euch habt, dann nach Nordosten durch den Tränenbrunnen, zwischen den beiden Felswänden hindurch. Dann fünf Kilometer genau nach Norden. Der Ort heißt Sandberg.« Er zeichnete derweil eine Skizze der Strecke auf den staubigen Boden und beschrieb markante Geländepunkte, die sie sehen würden. Es war die alte Methode, erkannte Shan, die Methode der Hirten. Informationen wurden mündlich und im Beisein aller weitergegeben, so daß man sich gemeinsam an die Einzelheiten erinnern würde. »Falls ihr mit Pferden unterwegs wärt, würde ich euch abraten, heute aufzubrechen. Es ist ein schlechter Tag in der Wüste. Er riecht irgendwie falsch. Mit einem Lastwagen geht es vielleicht. Es ist nicht der beste Sand für ein Fahrzeug.« Er schüttelte den Kopf. »Nein. Wartet heute nacht ab. Morgen wird es besser sein.« Jakli und Shan sahen sich an. Vor der Abfahrt aus Yutian hatte sie veranlaßt, daß am Abend des nächsten Tages ein Wagen der Maos ihn an der Straße vor der Stadt erwarten würde, um ihn nach Nepal zu bringen. Mehr konnten sie nicht erhoffen, hatte Jakli auf der Fahrt nach Karatschuk gesagt. Sie würden versuchen, die Jungen zu schützen und die gefährdeten Amerikaner zu warnen. Danach konnte Shan in sein neues Leben aufbrechen. Osman sah das Funkeln in Jaklis Augen und seufzte. Dann holte er aus einem seiner Körbe einen alten Kompaß und reichte ihn Shan. »Ihr dürft nicht länger als zwei Stunden brauchen«, sagte der Kasache. »Fahrt wie der Teufel. Unterwegs gibt es keinen sicheren Zufluchtsort.« Anfangs schienen Osmans düstere Befürchtungen nur schwer nachvollziehbar zu sein. Vierzig Minuten später, während der robuste kleine Lastwagen sich immer weiter durch den Sand vorankämpfte, ging Jakli vom Gas und zog erst den Kompaß und dann ihren Rückspiegel zu Rate, um sicherzustellen, daß sie sich weiterhin auf geradem Kurs befanden. Plötzlich stieß sie einen leisen erschrockenen Schrei aus. Shan folgte ihrem Blick -387-
nach Nordwesten. Ein winziges Stück des Himmels fehlte. Am Horizont schien über der Wüste ein grünschwarzes Loch zu schweben, das auf beiden Seiten von dunklen Wolken flankiert wurde. Jakli trat das Gaspedal durch. »Ein Sturm«, sagte sie beunruhigt. »Das ist der Keim eines Todessturms. Eines karaburan.« »Aber er ist zu weit weg«, sagte Shan. »Er könnte in jede mögliche Richtung weiterziehen. Es besteht kein Anlaß zur…« Er hielt inne, als er Jaklis verbissene Miene sah. Wortlos nahm er den Kompaß entgegen, während sie beide Hände um das Lenkrad schloß. Wenige Minuten später stimmte Lokesh eine Litane i an, doch es war kein Gebet, wie Shan kurz darauf erkannte. Lokesh sang die Wegbeschreibung zum Sandberg. Sie mußten dem Verlauf einer langgezogenen tückischen Rinne folgen, dem Tränenbrunnen, und dann standen ihnen noch fünf Kilometer in nördlicher Richt ung bevor, bis sie das Ziel erreichen würden. »Woran werden wir den Brunnen erkennen?« hatte Shan gefragt, und Osman hatte lediglich gelacht, als sei dies eine törichte Frage. »Es ist bloß ein Sturm«, sagte Shan wenig überzeugend. Einen Himmel, wie er sich jetzt im Norden auftat, hatte er noch nie gesehen. Mittlerweile schien es sich nicht mehr nur um ein Loch im Horizont zu handeln. Es wirkte wie ein riesiges Maul, das nun unverkennbar näher kam, als wäre es ein gewaltiges Raubtier, das irgendwie ihre Anwesenheit spürte. »Deshalb sollten wir uns beeilen«, sagte Jakli. »Osman hat den Instinkt der alten Wüstenleute. Er hat gerochen, daß etwas in der Luft liegt.« Sie gab Vollgas. Immer wenn eines der Hinterräder des Wagens auf lockeren Sand traf, geriet das Fahrzeug ins Schlingern. Sie rasten über den Kamm einer kleinen Düne, so daß die Vorderräder den Bodenkontakt -388-
verloren und haltlos die Luft durchpflügten, bis sie wieder herabstürzten und sich mit einem beunruhigend dumpfen Geräusch in den Sand gruben. Der kleine Lastwagen schien kurz zu verharren und nahm dann wieder Fahrt auf. Bei dieser Geschwindigkeit konnte ihnen leicht eine falsche Landung unterlaufen, die den Wagen umkippen lassen würde. Und ein unbewegliches Fahrzeug im Sandsturm wäre wie ein Boot an einem Strand, dem sich ein Taifun näherte. Es würde innerhalb kürzester Zeit von den Naturgewalten verschlungen werden. »Der Brunnen!« rief Lokesh von der Rückbank. Sein Arm schoß zwischen Jakli und Shan nach vorn und wies auf eine lange niedrige Gratlinie vor ihnen, die exakt in der Mitte geteilt zu sein schien. »Genau nach Nordosten durch den Tränenbrunnen«, rezitierte er in gleichförmigem Tonfall. »Und hinter dem Brunnen wie ein Pfeil fünf Kilometer nach Norden«, wiederholte er die Worte genau so, wie Osman sie ihnen zuletzt noch einmal eingeschärft hatte. Der Brunnen war eine Rinne zwischen zwei mit Schotter und Geröll übersäten Felswänden, und je näher sie ihm kamen, desto fester wurde der Untergrund, so daß die Räder des Wagens besseren Halt fanden. Aber die Wände schienen sich endlos weit zu erstrecken, bis hinter den Horizont. Hatte Osman gesagt, daß sie vorher abbiegen sollten? Nein, sie mußten ganz hindurch. »Vielleicht wird der Sturm im Westen an uns vorüberziehen«, sagte Shan. »Vielleicht«, sagte Jakli, aber sie klang nicht so, als würde sie wirklich damit rechnen. Sie war während der letzten Minuten allmählich immer blasser geworden. »Diese Schlucht wird uns bestimmt etwas Schutz bieten«, versicherte Shan bei der Einfahrt in die Rinne. »Der Sturm kommt aus Nordwesten«, sagte Jakli hörbar nervös. »Er baut sich am Fuß des westlichen Gebirges auf und -389-
gewinnt dann immer mehr an Stärke, je weiter die Wüstenhitze ihn anfacht. Er wird größer und schneller. Bei den richtigen Windverhältnissen könnte eine Karawane an einem Ort wie diesem davonkommen. Falls der Wind aber aus der falschen Richtung weht, bricht die Sandwoge über sie herein. Die Schlucht könnte außerdem wie ein Trichter wirken, wie eine schmale Bucht, die während einer Sturmflut schlagartig von einer Wasserwand überspült wird. Innerhalb weniger Minuten könnten sich hier sechs Meter Sand auftürmen.« Zwischen den Wänden konnten sie den Sturm nicht länger sehen. Aber da war noch etwas anderes. Shan kurbelte sein Fenster ein kleines Stück herunter. Er hörte ein leises, gleichmäßiges Stöhnen, über dem eine Vielzahl schreiender und kreischender Stimmen zu vernehmen war. »Ai yi!« rief Lokesh. »Was für ein Elend!» Das mußte der zunehmende Wind sein, der über die seltsam geformten Vorsprünge und Risse der Sandsteinwände strich, aber die Geräusche klangen dermaßen menschlich, daß Shan ein eiskalter Schauder über den Rücken lief. Der Tränenbrunnen. »Sie kommen her«, sagte Jakli und beugte sich auf ihrem Sitz vor, als könnte sie den Lastwagen durch reine Willensanstrengung schneller fahren lassen. »Die Seelen, die sich im Lauf der Zeitalter in der Wüste verirrt haben. Die Schwachen und Jungen, die sich nicht orientieren können und zu wenig Kraft haben, um von selbst den Weg ins nächste Leben zu finden. Hier versammeln sie sich, getrieben vom Wind, auf ewig gefangen.« Shan sah Jakli an und wurde von einer merkwürdigen Beklemmung übermannt. »So heißt es in den alten Legenden, meinen Sie«, sagte er. Oder hatte er es nur gedacht? Seine Zunge kam ihm eigenartig dick vor, und sein Mund war so trocken, daß er kaum seine Lippen bewegen konnte. Jakli war sich keinesfalls sicher, daß es sich nur um Legenden handelte. -390-
Und Lokesh, der auf seinem Platz weit nach vorn gerückt war und beinahe das Gesicht gegen die Scheibe drückte, schien überhaupt keine Zweifel zu haben. Er wußte, daß es keine Legenden waren. »Spürst du es?« stöhnte der alte Tibeter mit einer Stimme, die Shan noch nie an ihm vernommen hatte, einer Stimme voller Qual. Lokesh fing an, die Perlen seiner Gebetskette durch die Finger gleiten zu lassen, während seine andere Hand flach auf dem Fenster lag, als wolle er sie den verlorenen Seelen entgegenstrecken. Seine Litanei veränderte sich, und das Mantra gewann merklich an Lautstärke. Er wollte, daß der Mitfühlende Buddha ihn bei all dem Lärm auch hörte, damit er kommen und die gestrandeten Seelen retten würde, sowohl die vergangenen als auch die gegenwärtig bedrohten. Jakli schaffte es nicht mehr, ihre Angst zu verbergen. Ihre Hände begannen zu zittern. Eine dünne Staubfahne blies über die Rinne hinweg und erweckte drei Meter über dem Lastwagen den schaurigen Eindruck einer sich ständig verändernden Decke. Jakli fuhr unvermindert schnell. »Macht euch bereit!« rief sie über das ansteigende Tosen des Windes hinweg. Shan sah sie verwirrt an und merkte dann, daß seine Hände anscheinend von allein begriffen hatten, was Jakli meinte. Sie hielten den Kompaß dicht vor das Armaturenbrett. Den verzweifelten Reisenden würde nur eine einzige Chance bleiben, eine Wettfahrt quer durch die Wüste zum Sandberg, einem Ort, den sie noch nie gesehen hatten und womöglich nicht einmal erkennen würden, zumal der Sturm ihn bei ihrem Eintreffen vielleicht bereits unter sich begraben hatte. Würde der Kompaß während des Sturms überhaupt funktionieren? grübelte Shan. Könnten die Felswände seine Zuverlässigkeit beeinträchtigen? Würden die verlorenen Seelen auf neue Gesellschaft hoffen und die Nadel umlenken? Die Nadel schwang heftig hin und her, bis Shan klar wurde, -391-
daß seine zitternden Hände dafür verantwortlich waren. Er umklammerte das Instrument fester, und die Nadel richtete sich aus. Plötzlich sackte die Sanddecke über ihnen fast bis auf das Dach des Lastwagens herab. Dann verschwanden die Felswände. Ein mächtiger Windstoß ließ das Fahrzeug erzittern, und Jakli bemühte sich angestrengt, in die Richtung der Kompaßnadel zu steuern, die Shan ihr mit ausgestrecktem Arm anzeigte. Er warf einen Blick auf den Kilometerzähler. Sie mußten lediglich fünf Kilometer zurücklegen. Fünf Kilometer, um den Sturm zu besiegen und dem Tod zu entgehen. Jaklis Kopf wandte sich der Unwetterfront zu. »Nein!« rief Shan. »Sehen Sie nicht hin!« Er wollte ihr den Anblick des Mahlstroms ersparen, dem er selbst nun ausgesetzt war und der ihn mit Schrecken erfüllte. Der Sturm erstreckte sich über den gesamten westlichen Himmel, und das riesige schwarzgrüne Maul stand offen und kam genau auf sie zu. Nein, sah er, eigentlich war es noch viel schlimmer, denn alles über und unter ihnen schien dieselbe beängstigende Farbe angenommen zu haben. Es gab keinen Himmel und keinen Boden mehr. Die ganze Welt verschwand in einem Chaos aus wirbelndem Sand. So mußte es sich anfühlen, wenn man mitten im Ozean auf einer winzigen Insel stand und eine gewaltige Flutwelle auf sich zurollen sah. Lokesh betete sein Mantra noch lauter als zuvor, als wolle er den Sturm zurücktreiben. »Noch drei Kilometer!« sagte Shan nach einem kurzen Blick auf die Anzeige. Sein Arm begann zu schmerzen, doch er hielt ihn weiterhin ausgestreckt und zeigte beständig die Kompaßrichtung an. Eine Träne rollte über Jaklis Wange. Zweieinhalb Kilometer. Vielleicht würden sie es schaffen, vielleicht konnten sie das Ungeheuer besiegen. Zwei Kilometer. Dann brach Jakli in Schluchzen aus, und Shan begriff, daß der -392-
Wagen sich nicht me hr vom Fleck bewegte. Der Wind erweckte zwar diesen Eindruck, aber die großen Reifen des Fahrzeugs hatten sich im frisch aufgetürmten Sand festgefahren und drehten sich nutzlos auf der Stelle, so daß der Kilometerzähler weiterlief. Dann begann der Motor zu stottern und erstarb. Sie hörten nur noch das Heulen des Windes. Der Lastwagen wankte wie ein kleines Boot in stürmischer See. Jakli starrte kurz nach draußen und wandte sich dann seltsam ruhig an Shan. »Dieser kleine Schreibblock«, sagte sie verschüchtert. »Dürfte ich ihn mir mal ausleihen?« Shan reichte ihr Block und Bleistift. Sie schrieb ein paar hastige Zeilen, riß das Blatt heraus, faltete es zusammen und steckte es in den zerknitterten Umschlag, der Shan bereits im Lager Volksruhm aufgefallen war. Dann verstaute sie alles unter ihrem Hemd, direkt auf ihrer Haut. Shan wußte nicht, was sie geschrieben hatte, und er wollte es auch nicht wissen, aber als sie ihm den Block mit traurigem Lächeln zurückgab, war der Abdruck des Bleistifts auch auf dem nächsten Blatt noch deutlich zu erkennen. »Bleib nicht, Nikki. Ich werde in dem schönen Land immer bei dir sein. Ich liebe dich auf ewig.« Die Nachricht war auf englisch verfaßt, und Shan schämte sich, daß er sie gesehen hatte. »Wir könnten rennen«, sagte er. Aus irgendeinem Grund fiel ihm Jaklis ursprüngliche Warnung ein. Takla Makan bedeutete Ort ohne Wiederkehr. Lokeshs Mantra war inzwischen leiser geworden. »Hier draußen sind viele gute Menschen geblieben«, sagte Jakli mit hohler Stimme und noch immer zaghaft lächelnd. »Kriegermönche. Kaufleute der Seidenstraße. Pilger. Ich hätte nie gedacht…« Sie verstummte, lehnte sich auf ihrem Platz zurück und betrachtete das kleine Sandrinnsal, das durch einen Riß in der Dichtung der Frontscheibe hereinrieselte. Dann stimmte sie ein tibetisches Lied an. Shan hatte es zuvor schon -393-
gehört. Es war sehr alt und wurde als ein Lied der Seelenhochzeit bezeichnet. Es erzählte von Liebenden, die durch den Tod getrennt wurden. Als Shan in den Rachen des Sturms blickte, überkam ihn ein befremdliches Gefühl, als wäre er jemand anders, der dies alles nur als Zuschauer verfolgte. Er schlug ein leeres Blatt am Ende des Blocks auf. Jemand hat im Himmel Tinte verschüttet, sah er sich schreiben. Jetzt kommt sie und ertränkt mich. Er beobachtete, wie seine Hand den Zettel nahm und in seine Tasche steckte. Dann kam er wieder zur Besinnung. »Nein!« brüllte er dem Sturm entgegen. Er würde die Ewigkeit nicht im Tränenbrunnen verbringen. Er schlang sich den Riemen seiner Tasche um den Arm, öffnete die Tür und stieg aus. Der Sand hatte fast die Höhe der Radkästen erreicht. Shan versuchte, den Kompaß abzulesen, aber er konnte ihn nicht ruhig halten, also beschloß er, die Richtung einzuschlagen, in die der Wagen wies. Nach zwei Schritten brach der Wind über ihn herein. Der Sand stach wie Hornissen. Shan hatte gehört, daß es Stürme gab, in denen der Sand dermaßen heftig wehte, daß er Haut und Fleisch von den Gesichtern lebendiger Menschen zu schälen vermochte. Er dachte an die Statuen in Karatschuk. Vielleicht würde auch er so enden, von Wind und Sand bis zum Verderben abgenagt, der bloße Schatten eines Mannes. Etwas bahnte sich einen Weg in seinen Mund und seine Nase. Es war körnig und schmeckte nach Salz. Er bemerkte - abermals aus sonderbarer Entfernung, als würde er einen anderen beobachten -, daß er gestürzt war. Er hob eine Hand an den Kopf, der an der Stoßstange des Lasters lehnte und höllisch weh tat. Als er die Hand wieder wegnahm, schimmerte sie feucht und rot. Dann registrierte er gelinde überrascht, daß seine Beine verschwunden waren. Nein, nicht verschwunden, beschloß er, sondern lediglich unter der Sandwoge begraben, die sich immer höher an dem Wagen auftürmte. Eine halbe Beerdigung. Gab es überhaupt so etwas wie eine halbe Beerdigung? überlegte er -394-
benommen. Seiner Kehle entrang sich ein Geräusch, das wie das Quaken eines sterbenden Frosches klang. Dann schüttelte er heftig den Kopf. »Nein!« rief er. »Gendun!» Er zog sich an der Karosserie entlang, bis er die Tür gefunden hatte. Unter großer Anstrengung öffnete er sie gerade so weit, daß er hineinschlüpfen konnte. Lokesh und Jakli sangen mittlerweile gemeinsam, kein Mantra, sondern das Lied der Seelenhochzeit, und Shan lag auf seinem Sitz, rang keuchend nach Luft und hörte ihnen zu. Auf einmal verstummten die beiden. »Die Alten«, sagte Lokesh mit ehrfürchtigem und nicht etwa ängstlichem Flüstern. »Sie kommen, um uns in den Brunnen zu holen.« Dann sang er mit ruhiger Stimme weiter. Unter dem Ansturm des Windes löste die Gummidichtung sich immer weiter auf, und Sand wirbelte durch den Innenraum. Doch Shan hörte den Sturm nicht mehr. Er vernahm einen Chor leiser Stimmen und konnte jede einzelne erkennen. Sie gehörten den Lamas, die seine Seele gerettet hatten. Ihm stand kein neues Leben bevor. Er durchlebte frühere Existenzen. Ein Bild zuckte wie ein Traum durch seinen Verstand. Er war auf der Seidenstraße und verlor die Schätze des Kaisers. Er konnte Ingwer riechen. Sein Vater war ganz in der Nähe. Dann hörte er von hinten ein eigentümliches Geräusch, das wie ein Lachen klang. Blinzelnd vertrieb er den Sand aus seinen Augen und sah Lokesh fröhlich lächeln. »Ich habe immer gehofft, es würde so sein«, sagte sein alter Freund. »Sie kommen mich holen, und ich kann sie sehen.« Und tatsächlich tauchten aus dem Maul des Sturms zwei schwarzgekleidete, gesichtslose Phantome auf und reckten ihnen auffordernd die Arme entgegen. Die Alten waren gekommen, um ihre Seelen zu holen. Die weisen Tibeter lehrten, daß es zwar viele unterschiedliche -395-
Höllen gab, sie jedoch alle eines gemeinsam hatten: eine Atmosphäre tiefster Finsternis. Der winzige und schwache letzte Rest von Bewußtsein, alles, was von Shan noch übrig war, klammerte sich an diesen Gedanken. Es gab so viele verschiedene Höllen, wie es viele verschiedene Sünden gab, aber am schlimmsten waren die kalten Höllen, und diejenige, in der Shan sich befand, war mit Sicherheit die kälteste und dunkelste. Es gab nichts, nur eisige Schwärze und absolute Stille, damit er unter Qualen all seine Versäumnisse bedenken konnte. Er hatte die Kinder im Stich gelassen, die nunmehr sterben würden. Er hatte Gendun im Stich gelassen, den die Kriecher nun fangen und verschlingen würden. Er hatte auch den Wasserhüter im Stich gelassen. Shans Tortur wuchs und schwand mit dem Ausmaß seines Bewußtseins. Wenn er etwas spürte, spürte er Schmerz. Und wenn er versuchte, sich an Gesichter zu erinnern, sah er stets die Gesichter der toten Kinder. Einmal berührte etwas sanft seinen Kopf. Seine Augen öffneten sich zitternd, und er sah eine verschwommene Flamme. Einen Moment lang hatte er den Eindruck, zudem eine Frau mit weisen grünen Augen zu sehen, die sich über ihn beugte. Ihr Antlitz wurde durch die Flamme erhellt und wirkte wie aus edlem Porzellan gefertigt. Dann ging das Licht aus, und er war wieder in seiner kalten Hölle. Nach einiger Zeit - Stunden, Tagen, Jahren, er konnte es nicht sagen - kamen mitunter auch schöne Visionen hinzu, zum Beispiel die Gesichter heiliger Figuren. Manchmal sah er einen der vielen Buddhas, die er aus Tibet kannt e, manchmal auch Laotse, den Weisen des Tao, der vor vielen Jahrhunderten ebenfalls in der westlichen Wüste verschwunden war. Bisweilen schien er sich in einem der großen Lagerhäuser der Seidenstraße zu befinden und hörte die Schreie der Kamele oder aufgeregte Stimmen, die in vielen Sprachen durcheinanderredeten. Dann -396-
wieder verurteilte man ihn, weil er die Karawane des Kaisers verloren hatte, und band ihn an einen Pfahl, um ihn in tausend Scheiben zu schneiden. In einer seiner Visionen saß vor ihm ein Mann mit heller Haut im grellen Licht einer Laterne und las mit klangvoller tiefer Stimme aus einem großen Buch vor, und die Worte, die er las, waren in englischer Sprache. »Das Zelt«, sagte die Stimme, »in dem der Große Khan hofhält, ist groß genug, um tausend Prinzen Platz zu bieten. Jede Halle dieses Zeltes wird durch Säulen aus kunstvoll geschnitztem Duftholz getragen, und die Außenwände sind mit Löwenfellen behängt. Im Innern hängen nur Hermelin und Zobel…« Die Worte klangen fremd und doch vertraut - als hätte er sie zuvor schon gehört, aber in einer anderen Sprache und einem anderen Leben. Was waren die Stufen des Bardo, während derer die Seele umhertrieb, bis sie den Pfad zur Wiedergeburt erkannte? versuchte er sich zu erinnern. Zunächst die Ignoranz, das Festhalten an der Illusion, daß der Körper noch am Leben sei. Dann die Erkenntnis vom Eintritt des Todes - das Stadium der flüchtigen Realität, wie es von den Lamas genannt wurde, weil die Ungewißheit sowie Sinnestäuschungen aus den früheren Leben den Toten zurückhalten und somit die letztliche Einsicht hinauszögern konnten, daß es keinen möglichen Weg außer der Wiedergeburt gab. Er fiel zurück in die dunkle, stille Hölle und glaubte dann Ingwer zu riechen. Sein Vater ging dort vor ihm in den Schatten und war ganz aufgeregt, weil sie von einem alten taoistischen Tempel aus den Sonnenaufgang beobachten würden. Sie trafen einen liebenswürdigen alten Engländer, den sein Vater ihm als Professor für chinesische Geschichte vorstellte und der sich ihnen anschloß. Später blieb sein Vater stehen und fragte, ob sie müde seien. Er strich Shan mit der Hand über die Wange. Seine Hand war feucht. Sie war rauh. Sie stank. -397-
Shan öffnete die Augen und schrie. Die Zunge eines silbernen Kamels leckte sein Gesicht ab. Dann setzte er sich auf, erwachte in seinem alten Körper, und das Tier neigte den Kopf und sah ihn ungläubig an. Mit einem Gefühl unverhoffter Freude begriff Shan, daß er aus irgendeinem Grund den Namen des Kamels kannte: Sophie. Eine Gestalt erschien im Eingang seines Raums, blieb stehen und lief wieder weg, wobei sie aufgeregt etwas rief. Einen Augenblick später rannte Jakli herbei, dicht gefolgt von Lokesh. Sein alter Freund kniete nieder, umschloß mit zerbrechlichen Fingern Shans Hand und lächelte über das ganze Gesicht. Jakli hielt Shan eine große Schöpfkelle an die Lippen und bestand darauf, daß er immer wieder daraus trank. »Wie?« fragte er und stellte fest, daß seine Kehle rauh und trocken war, so daß er kaum sprechen konnte. Seine beiden Freunde setzten gleic hzeitig zu einer Erklärung an, und allmählich verstand er, daß ihnen dort draußen in der Wüste nicht etwa die Alten, sondern Marco und Deacon erschienen waren. Die beiden hatten sich in schwere Filzdecken gehüllt und mit Seilen an Sophie festgebunden, die wie ein Anker auf der nächstgelegenen Düne ausharren mußte. Es war ein alter Trick der Wüstenclans. Der Anker mußte oben bleiben, wo der Wind am schmerzhaftesten war, denn unten, an den etwas geschützteren Stellen, lagerte sich der Sand ab und begrub alles unter sich. Marco und der Amerikaner hatten sie in den Schutz der Decken gezogen und waren den Seilen dann zurück zu Sophie gefolgt. Dort hatten sie drei Stunden lang abgewartet, das Kamel als Windschutz genutzt und aus den Decken einen großen Kokon geformt. Als das Heulen des Windes nachgelassen hatte, hatten sie sich auf einer ausgedehnten Sandebene wiedergefunden, mehrere hundert Meter von der nächsten Düne entfernt. Der Lastwagen war verschwunden gewesen. -398-
»Danken Sie Ihrem Gott, daß es nur so ein Winzling gewesen ist und kein ausgewachsener Sturm«, sagte Marco. Jakli befeuchtete einen Lappen und wischte Shan das Gesicht ab. »Sie haben sich den Kopf am Wagen gestoßen«, erklärte sie. »Bei Ihrem Sturz gegen die Stoßstange.« »Wie lange?« fragte er verwirrt. Sie seufzte und schüttelte den Kopf. »Fast zwei Tage. Es tut mir so leid«, sagte sie mit teilnahmsvollem Blick. Er wunderte sich kurz über ihre Entschuldigung, bis ihm einfiel, daß er nun einen Tag hinter der Zeit lag. Stumm starrte er sie mit offenem Mund an. Er würde nicht nach Nepal und in ein neues Leben aufbrechen, und auch den alten Professor würde er nun doch nicht kennenlernen. »Und dieser Ort?« fragte er schließlich. »Sandberg. Marco war bereits hier. Osman hat ihn über Funk verständigt und ihn gebeten, wegen des Sturms nach uns Ausschau zu halten.« »Funk?« krächzte Shan. Trotz des vielen Wassers fühlte seine Kehle sich noch immer wie ausgedörrt an. Aber niemand schien ihn zu hören. Die anderen schauten zum Eingang des Raums, wo Marco mit einem schlanken, rotblonden Mann stand. Jacob Deacon. »Ist der große Ermittler bereit für ein Gespräch?« rief der eluosi aus zehn Metern Entfernung. »Er ist zu erschöpft«, protestierte Jakli. »Nein, es geht schon«, sagte Shan und reichte Lokesh hilfesuchend die Hand. Doch als er sich aufrichtete, wurde ihm schwindlig, und er sank auf die Knie. Marco trat an Shans Lager, blieb vor ihm stehen und streichelte Sophies Hals. »Noch ein paar Stunden Ruhe«, sagte Jakli. »Nur noch diesen Nachmittag.« -399-
Marco nickte zögernd. »Wenn Sophie und Jakli sagen, ich soll warten, dann warte ich. Aber wirklich nur noch ein paar Stunden.« Er ging wieder hinaus. »Nachmittag?« fragte Shan. »Aber es ist doch Nacht.« »Wir sind hier in einer Höhle«, erklärte Jakli. »In einer Wasserstation. Vor langer Zeit war dies sogar ein Kloster.« »Eine Wasserstation?« »Die Aquädukte unter dem Sand. Die karez - in ihnen floß das Wasser aus den Bergen, als es dort noch große Eisfelder gab. In den Lehrbüchern aus Peking steht, Ingenieure aus Nanjing und Xian hätten sie gebaut, aber die alten Überlieferungen und die Mauern selbst besagen etwas anderes. Zur Zeit Ihrer TangDynastie sind Männer aus Persien gekommen, um sie zu bauen, und haben im Austausch wertvolle Edelsteine und Früchte unseres Landes erhalten. Auf den Wänden sind Gemälde von ihnen.« Neben Shans Lager lag ein dickes, abgenutztes Buch. »Jemand hat mir etwas vorgelesen«, sagte er und nahm den Band. Die Reisen des Marco Polo, in englischer Sprache. »Das war ich«, sagte Deacon, »aber die Idee stammt vo n Warp. Sie sagt, es hilft dabei, ein verletztes Hirn wieder zum Bewußtsein zu erwecken.« »Warp?« Jakli legte ihm einen Finger auf die Lippen. »Uns bleibt noch genug Zeit für Erklärungen.« Dann reichte sie ihm wieder die Schöpfkelle. Shan trank. Sein Durst schien unstillbar zu sein. »Das Wasser aus den Bergen fließt immer noch?« »Nur noch ein Rinnsal, aber genug, um Sandberg am Leben zu erhalten.« »Aber das ist doch mindestens tausend Jahre her.« Jakli nickte und schob ihn sanft zurück auf sein Ruhelager. -400-
»Schlafen Sie jetzt wieder. Wir bleiben in Ihrer Nähe.« Doch als Shan aufwachte, war die Kammer leer. Vorsichtig, um nicht wieder durch eine plötzliche Bewegung einen Schwindelanfall zu erleiden, nahm er die Tonlampe neben seinem Lager und sah sich ein wenig um. Der Raum maß ungefähr zwölf mal zwölf Meter. Zwei der Wände waren verputzt und mit Gemälden verziert. Sie zeigten die lebensgroßen Abbilder ernster Männer mit blauen Augen, langem rötlichem Haar und rechtwinklig gestutzten Bärten. Ihre Gesichter erinnerten ihn irgendwie an Niya, die Frau auf dem Plakat. Sie hielten Gaben in den Händen und streckten sie anderen Gestalten entgegen, hinter denen eine Vielzahl winziger, nicht maßstabsgetreu gemalter Pferde zu sehen war. Entlang des Tunnels, der aus dem Raum führte, entdeckte Shan ein halbes Dutzend Meditationszellen. Er warf in eine der kleinen Kammern einen Blick und wich sofort wieder zurück. Unter Decken aus grobem Sackleinen lagen dort zwei Schlafende. Der Tunnel teilte sich. Rechts sah Shan Licht und hörte mehrere Stimmen. Er ging nach links und gelangte schon bald in einen weiteren großen Raum. Dort stand Sophie neben zwei anderen Kamelen. Auf dem Sandboden hinter ihr war ein heller Lichtfleck zu sehen, der aus einem Gang am Ende der Kammer hereinschien. Sophie begrüßte ihn mit einem leisen Schnauben, und er kraulte ihr kurz den Hals. Dann folgte er dem gewundenen Gang sechs oder sieben Meter weit und trat in den gleißenden Sonnenschein hinaus. Er schirmte seine Augen ab und ging einige Schritte. Der wolkenlose Himmel leuchtete kobaltblau. Shan fand schnell heraus, daß dieser Ort namens Sandberg aus einer langgestreckten Sandsteinformation bestand, die mit einer Höhe von etwa sechzig Metern und einer Länge von nahezu einem Kilometer die Ausmaße des Temp elfelsens von Karatschuk bei weitem übertraf. Oben schien es eine Ruine zu geben, einen -401-
alten Wachturm aus behauenen Felsblöcken. Shan stieg den Pfad zum Turm ungefähr bis auf halbe Höhe hinauf, setzte sich auf einen Felsen, streckte sich und atmete tief durch. Die Luft war rein und klar, ohne auch nur einen Anflug des Todeshauchs, den sie nur zwei Tage zuvor mit sich gebracht hatte. Weit im Süden schwebte eine lange weiße Linie über dem Horizont. Shan wußte, daß es sich nicht um Wolken, sondern um die Gipfel des Kunlun handelte, wo Gendun in einem Berg saß und wartete. Zwei Tage, dachte er. Womöglich hatte der Mörder inzwischen längst ein weiteres Opfer gefunden. Als er durch den schmalen, im Schatten versteckten Spalt wieder eintrat, saß Jakli dort über eine Holzschale gebeugt und schrubbte etwas mit einer Messingdrahtbürste. Sie bemerkte Shan erst, als er sich neben sie kniete. »Es tut mir leid«, sagte sie und ließ die Bürste sinken. »Ich hätte Sie zurück nach Senge Drak bringen sollen. Ein neues Leben wartete auf sie. Es ist meine Schuld.« »Während des Sturms«, sagte Shan nach einem Moment und sah durch die Öffnung hinaus in die Wüste, »als es am Ende schwarz um uns wurde… ich glaube, da habe ich jenes Leben aufgegeben.« Sie hob den Kopf und nickte ernst, als würde sie genau verstehen, was er meinte. Als wäre dies der Handel gewesen, den Shan mit den Göttern der Wüste abgeschlossen hatte, der Preis, den er zu zahlen bereit war, um ihrer aller Leben zu retten. Er deutete auf die Schale, und Jakli seufzte laut, rieb dann den Gegenstand in ihrer Hand mit einem öligen Lappen ab und hielt ihn Shan entgegen. »Tugendmedaillons«, sagte sie. »Deacon hat sie bei einem der Altäre gefunden.« Shan sah, daß ungefähr ein Dutzend Teile in der Schale lagen, manche schmutzverkrustet, andere bereits gesäubert und hell im Licht funkelnd. Das Exemplar auf Jaklis ausgestreckter -402-
Handfläche war ein fünf Zentimeter messendes Bronzetrapez mit eingravierten komplizierten Ideogrammen und leicht gerundeten Ecken, die jeweils ein kleines Loch aufwiesen. »Für die Kriegermönche«, erklärte sie. »Wir haben in manchen der alten Schriften darüber gelesen. Heutzutage werden Soldaten für ihre Tapferkeit ausgezeichnet. Aber unter den Mönchen der alten Armeen war Tapferkeit selbstverständlich. Dort galt Tugend als höchste Errungenschaft. Vielleicht brachte ein Soldat ein besonderes Opfer für seine Eltern. Vielleicht widmete er sein Leben der Vervollkommnung seiner Kenntnisse im Umgang mit Pfeil und Bogen. Vielleicht verwandte er seine gesamte freie Zeit darauf, die neun Millionen Namen Buddhas niederzuschreiben, oder vollbrachte Großtaten im Namen der Wahrhaftigkeit. Dann verlieh sein General ihm ein solches Medaillon.« »Die Stücke müssen viele Jahrhunderte alt sein«, sagte Shan ehrfürchtig. »Sie stammen von den tibetischen Truppen, die hier stationiert waren. Vor elfhundert oder zwölfhundert Jahren.« »Sie gehören in ein Museum.« Dieser Vorschlag rief bei Jakli eine seltsame Reaktion hervor. Entschlossen ballte sie die Faust um das Medaillon. »Nicht unter den Kommunisten«, rief sie wütend, beruhigte sich dann jedoch wieder. »Tugend sollte nicht in einem Museum eingesperrt werden.« »Nein«, sagte Shan, ohne recht zu wissen, was Jakli meinte. Er griff in die Schale und nahm zwei der gesäuberten Medaillons heraus. Die Hälfte der Exemplare, darunter alle bereits gereinigten Stücke, war mit Wachsschnur zu Paaren zusammengebunden. Shan hatte zwei Rechtecke in der Hand, deren Oberfläche mit eingravierten Lotusblumen verziert war. Außerdem gab es ein rundes Paar mit Adlerköpfen und ein weiteres mit je einem galoppierenden Pferd. -403-
»Tante Lau«, sagte Jakli. »Sie hat einmal zu mir gesagt, daß solche Schätze niemandem gehören, sondern wenigen Auserwählten eine Weile anvertraut werden, bis es wie durch ein Naturgesetz an der Zeit ist, sie wieder weiterzugeben.« Shan erinnerte sich, daß auch Lokesh in ähnlichen Worten über die Tugend gesprochen hatte. »Aber welchen Weg nehmen sie letztendlich?« fragte er und griff nach Laus Medaillon in seiner Tasche, das ebenfalls zu diesen antiken Auszeichnungen gehörte, wie ihm nun klar war. Er wollte es Jakli zeigen. »Die Wüstenleute entscheiden darüber, mit wem sie die Geheimnisse der Wüste teilen wollen«, sagte eine Frauenstimme auf englisch aus dem dunklen Hintergrund der Höhle. Shan ließ das Medaillon zurückgleiten und zog seine Hand aus der Tasche. »Warp!« rief Jakli, als eine Frau ins Licht trat, die ihr langes schwarzes Haar zu einem einzelnen Zopf geflochten hatte. Sie trug eine dicke, schwarzumrandete Brille und war älter und kleiner als Jakli, so daß sie in ihrem viel zu großen grünen Kittel irgendwie verloren wirkte. Es war die Art von Kittel, die ein Arzt oder ein Labortechniker tragen würde. »Und die Toten werden sich erheben«, sagte die Frau lächelnd zu Shan. Er stand auf, und sie streckte ihm die Hand entgegen. »Wir haben uns große Sorgen um Sie gemacht«, sagte sie jetzt in fließendem Mandarin. »Abigail Deacon.« »Professorin für Kulturanthropologie«, sagte er auf englisch. Sie hatte einen festen Händedruck, und während sie ihn begrüßte, nahm sie ihn genau in Augenschein. Ihre Haut besaß einen olivenfarbenen Einschlag, und ihre leuchtendblauen Augen waren mandelförmig, was auf eine asiatische Abstammung schließen ließ. »Shan Tao Yun«, gab die Amerikanerin zurück. »Ehemals in Diensten der chinesischen Regierung.« Shan nickte langsam und warf Jakli einen kurzen Seitenblick -404-
zu. »Gut«, sagte er. »Wir haben zu wenig Zeit, um uns mit etwas anderem als der Wahrheit abzugeben.« »Ist er immer so ernst?« fragte Abigail Deacon und zog die Augenbrauen hoch. Jakli lächelte Shan an, der etwas unbehaglich genau zwischen den beiden Frauen stand. »Sophie leckt sein Gesicht ab«, erwiderte sie. Die Amerikanerin nickte nachdenklich, als würde sie dies tatsächlich als Argument gelten lassen. Dann putzte sie ihre Brille mit einem Zipfel des Kittels und musterte Shan eindringlich. »Jakli hat erzählt, Sie haben die Chance auf ein neues Leben verspielt, weil Sie hergekommen sind, um uns zu warnen.« Shan zuckte die Achseln. »Ich weiß nur eines mit Sicherheit; mir bleibt jetzt eine anstrengende Woche auf der Ladefläche eines Lastwagens erspart.« Die Amerikanerin lächelte. »Dann dürfen wir Sie wenigstens herzlich zum Abendessen einladen«, sagte sie, drehte sich um und verschwand wieder in dem dunklen Gang. »In seiner Hütte in Karatschuk hat Deacon ein Stück alten Stoff untersucht«, sagte Shan kurz darauf zu Jakli. »Ist seine Frau hier ebenfalls damit beschäftigt?« Den anderen Teil der Frage stellte er nicht. Was hatte Deacon mit einem menschlichen Bein vorgehabt? Jakli nickte und putzte ein weiteres Medaillon. »Abigail ist Expertin auf diesem Gebiet. Sie sieht dem Stoff Dinge an, die niemand sonst erkennen würde.« »Wieso hier? Warum diese ganze Geheimhaltung?« »Der Stoff stammt von hier. Aus der Wüste. Aus den Ruinen. Er läßt sich nicht leicht transportieren. Also ist es besser, ihn vor Ort zu untersuchen.« »Aber es gibt doch Museen für Altertümer. In Lhasa. In -405-
Urumchi.« »Abigails Arbeit ist etwas ganz Besonderes«, sagte Jakli rätselhaft. »Sie meinen, die Arbeit ist politisch brisant«, sagte Shan verwirrt. Die Amerikaner hielten sich eindeutig ohne Erlaubnis in China auf. Und nur für ein paar Stücke Stoff würden sie wohl kaum das Risiko eingehen, einem Mann wie Bao in die Hände zu fallen. Jakli putzte weiter, ohne zu antworten. »Was kann denn an Stoff schon großartig politisch sein?« fragte Shan. Jakli legte die Stirn in Falten, blickte jedoch nicht auf. »Ich bin hier, um eine Spur zu den Morden zurückzuverfolgen. Und das wird mir nur möglich sein, wenn ich alles verstehe, was mir unterwegs begegnet.« Sie bedachte ihn mit einem mürrischen Stirnrunzeln, bedeckte die Schale mit einem alten Handtuch und stand auf, die Schüssel auf ihre Hüfte gestützt. Dann führte sie ihn in den Tunnel, vorbei an dem Gang zu dem Raum, in dem er geschlafen hatte. Sie schob einen dicken Filzvorhang beiseite, gefolgt von einem zweiten, dünneren Stück Stoff, das sich als ziemlich klebrig erwies, als wolle man damit Staub und Insekten abhalten. Schließlich betraten sie einen hell erleuchteten Raum, der halb als Labor, halb als Bibliothek zu fungieren schien. In zwei Reihen standen hier acht provisorische, aus Sägeböcken und Brettern gefertigte Tische. Auf einem davon hatte man kleinere Gestelle und Bretter vor der Wand zu einem Regal aufgeschichtet, in dem mehrere Dutzend Bücher Platz fanden. Außerdem sah Shan zwei Mikroskope wie dasjenige, das Jacob Deacon in Karatschuk benutzt hatte, und eine hochentwickelte Kamera. Überall lagen große durchsichtige Kunststoffumschläge mit Stoffproben darin, vor allem rund um einen Computer, an dem Abigail Deacon saß. Über eines der -406-
Mikroskope stand ein Mann mit schütterem Haar und Dreitagebart gebeugt und arbeitete mit zwei Metallsonden an einem Stück Stoff. Mehrere Glühbirnen hingen an Kabeln von der Decke. Shan erkannte, daß die Kabel zu einer Batteriebank verliefen, die zwar größer, aber ansonsten genauso konstruiert war wie die Solarzellenanlage in Karatschuk. Der Kopf des älteren Mannes ruckte hoch. Er stieß einen leisen Ruf aus, und Abigail Deacon blickte sich um. Sie wirkte nicht wütend, sondern lediglich verstimmt über die Störung. Dann betätigte sie schnell noch einige Tasten an dem Computer, entnahm dem Gerät eine Diskette und verstaute diese in einer Plastikhülle. Shan sah noch ein Dutzend weitere Hüllen auf dem Tisch, allesamt mit Disketten darin. Abigail Deacon sagte zu dem älteren Mann einige Worte in der Landessprache und wandte sich dann an Shan. »Mein Mann hat mir schon angekündigt, daß Sie vermutlich Fragen stellen würden. Jede Menge Fragen.« Die Amerikanerin rieb sich kurz die Augen, ging zu einer großen Thermoskanne und goß drei Becher Tee ein, von denen sie zwei auf den Tisch neben das zweite Mikroskop stellte. »Tut mir leid«, sagte sie. »Stühle sind hier leider Mangelware. Wir bringen nur wenig den weiten Weg her, das nicht unbedingt notwendig ist. Nehmen sie meinen.« Sie deutete auf den Hocker vor dem Computer. Shan schüttelte den Kopf. »Sie beherrschen sowohl Mandarin als auch die Sprache der Clans«, stellte er mit fragendem Unterton fe st. Die Amerikanerin nickte. »Meine Großmutter war Kasachin. Sie hat einen amerikanischen Archäologen geheiratet, der hier Anfang des letzten Jahrhunderts die Seidenstraße erforschen wollte. Unsere Familie hat die verschiedenen Sprachen stets gepflegt.« Shans Blick fiel auf eine der Proben, einen Streifen aus gezackten roten, gelben, blauen und braunen Linien, die wie -407-
kraftvoll leuchtende Blitze aussahen. Der Stoff war ausgefranst und wies mehrere kleine Löcher auf, schien jedoch ziemlich dick zu sein. »Sie suchen nach Stoff, Mrs. Deacon«, sagte er verunsichert. »Und dann legen Sie ein Verzeichnis der verschiedenen Arten an.« »Warp«, entgegnete die Frau und lächelte über Shans Verwirrung. »Mein Mann ist Deacon. Ich bin weder Mrs. Deacon noch Dr. Deacon. Und auch nicht Abigail. Einfach nur Warp. Es ist ein Spitzname aus dem College.« »Warp«, sagte Shan langsam, und die Amerikanerin lächelte erneut. »Bevor wir unser Augenmerk auf die Takla Makan gerichtet haben, gab es eigentlich nur einen einzigen Ort auf dieser Welt, an dem sich nennenswerte antike Textilien finden ließen, nämlich Ägypten«, erklärte sie. »Für Archäologen stellt dies seit jeher ein Problem dar, denn es bedeutet eine große Lücke auf dem Weg zum Verständnis alter Kulturen. Im täglichen Leben spielt Kleidung eine ungemein wichtige Rolle, und schon immer hat es sich dabei um eine der bedeutendsten Industrien gehandelt. Früher hat die Produktion von Textilien zumeist mehr Arbeitskräfte gebunden als die Produktion von Nahrungsmitteln, und stets haben sich darin sowohl die Religion als auch der Grad der Kultiviertheit gespiegelt. In Ägypten können wir anhand der Kleidung den gesellschaftlichen Status einer Person und ihren Beruf bestimmen, manchmal sogar ihre Einstellung zur Körperhygiene.« »Aber die Stoffe in Ägypten dürften zwei- oder dreitausend Jahre alt sein«, sagte Shan und schaute wieder zu der Probe. »Diese hier sehen deutlich jünger aus.« Während er den Blick durch das Labor schweifen ließ, fiel ihm das oberste der Bücherregale auf. Man hatte dort Platz für ein halbes Dutzend Grillenkäfige geschaffen. Shan erkannte sie sofort wieder - es waren Deacons wertvolle Schätze aus Karatschuk. Auf einem anderen Regal lagen mehrere Stapel der keilförmigen -408-
Holztafeln. »Wir datieren sie nach der Radiokarbonmethode und benutzen dazu hölzerne Artefakte, die bei den Stoffen gefunden wurden. Haarnadeln, Gebrauchsgegenstände. Holzschmuck. Bisweilen Briefe aus Holz.« Sie nickte in Richtung der Tafeln und wies dann auf die Probe in dem Umschlag neben Shan. »Die dort stammt aus dem Zeitraum zwischen tausend und zwölfhundert.« »Aus der Sung-Dynastie«, sagte Shan staunend. Die Amerikanerin schüttelte den Kopf. »Tausend vor Christus. Aus der Zeit Ihrer Shang-Dynastie.« Shan sah sie ungläubig an. »Der Sand. Die Trockenhe it. Genau wie in Ägypten«, betonte sie, nahm eine andere Probe und zeigte Shan die raffiniert gewebten Abbilder verschiedenfarbiger Schafe. »Vom Saum eines Gewandes«, erklärte sie. »Aber das sollte gefeiert werden«, sagte Shan. »Ich habe noch nie gehört, daß…«Er hielt irritiert inne, weil Jakli und die Amerikanerin einen traurigen Blick austauschten. »Diese Textilien und die anderen Proben, die uns vorliegen, decken eine Zeitspanne von mehr als zweitausend Jahren ab«, fuhr Abigail Deacon fort. »Sie haben nichts mit den Gebieten östlich von hier gemeinsam. Viele der Muster kommen aus Persien und sogar Mazedonien. Und das hier…« Warp deutete auf einen blau, gelb und braun karierten Stoff. »Dieses Gewebe paßt genau zu den Resten, die in Salzgruben des heutigen Österreichs gefunden wurden und von Vorfahren der Kelten stammen.« »Dr. Najan«, sagte sie und nickte dem Mann am Mikroskop zu, »ist früher für das Museum in Urumchi tätig gewesen. Er hat das Webmuster einiger Stücke analysiert und kann Ihnen genau sagen, wie die entsprechenden Webstühle ausgesehen haben. Es waren primitive Geräte, wie man sie heute noch in der Türkei und Afghanistan benutzt.« Ihre Augen funkelten herausfordernd. -409-
»Die Beweise sind unwiderlegbar. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung wird uns ge nug Material für fünf Bände zur Verfügung stehen.« In gewisser Weise glich die gesamte Volksrepublik China einem bunt zusammengewürfelten Stück Stoff, einem Flickwerk aus ineinander verwobenen Menschen, Kulturen und Historien, die durch Zwang und Doktrin notgedrungen ein Ganzes bildeten, wußte Shan. In den Werkstätten der Partei entstanden Geschichtsbücher, die dieses Flickwerk für rechtens erklärten und behaupteten, die Annexion der gewaltigen Landstriche Xinjiangs und Tibets habe aus politischer Notwendigkeit erfolgen müssen, weil die einheimische Bevölkerung schon immer ein Teil des chinesischen Volkes gewesen sei. Alle paar Monate wurden in den Zeitungen neue, von der Partei finanzierte Forschungsergebnisse publiziert, nach denen die Chinesen und Tibeter oder auch die Chinesen und die Nomaden Xinjiangs gemeinsame Wurzeln besaßen. Ein Lieblingsprojekt der Parteibonzen war die Langzeituntersuchung des chinesischen Genoms, die den wissenschaftlichen Beweis liefern sollte, daß die Tibeter und auch alle anderen Minderheiten sämtlich von den Han-Chinesen abstammten. Shan wußte von der Existenz derartiger Studien und hatte sogar einige der in Peking damit betrauten Wissenschaftler gekannt, weil manche dieser Leute auch für die Gerichtsmedizin tätig waren. An erster Stelle stand die Doktrin, und jede Form von Wissenschaft mußte sich ihr anpassen. Seine eigene Tätigkeit in Peking hatte ähnlichen Beschränkungen unterlegen, und bei jedem Fall war ihm ein politischer Mentor zugewiesen worden. Falls ein Ermittler sich über die Doktrin hinwegsetzte, konnte es ihm passieren, daß er genau jener Verbrechen angeklagt wurde, die er eigentlich untersuchen sollte. Abigail Deacon schien Shans Gedanken zu lesen. »Die Parteiwissenschaftler haben mit großem Tamtam verkündet, daß Tibeter und Han-Chinesen genetisch zu 99,9 Prozent -410-
übereinstimmen«, sagte sie mit säuerlichem Lächeln. »Die Kasachen und Uiguren im Vergleich zu den Han übrigens ebenfalls. Was sie leider verschwiegen haben, ist die Tatsache, daß auch Han-Chinesen und Nigeria ner, Amazonas-Indios oder schottische Highlander genetisch zu 99,9 Prozent übereinstimmen, weil wir nämlich zufällig alle derselben Spezies angehören.« Shan sah schweigend von Abigail Deacon zu Jakli und dann zu Dr. Najan, der ihn inzwischen trotzig musterte. Dann hob er anerkennend seine Teetasse. »Diese Frau«, sagte er und dachte an den Marktplatz von Yutian zurück, »diese Frau auf den Plakaten. Niya.« »Niya Gazuli?« fragte Jakli. »Übersetzt heißt es die Schönheit aus Niya, denn in den Ruinen des antiken Niya wurde sie entdeckt. In der Wüste, ungefähr dreihundert Kilometer von hier entfernt. Nachdem ein Sturm eine Grabstätte freigelegt hatte, fand man dort ihre mumifizierten Überreste. Dr. Najan hat zu dem Bergungsteam gehört. Sie ist mindestens zweieinhalbtausend Jahre alt. Rotes Haar. Ein Gewand, das mit den Abbildungen von Pferden und Vögeln verziert ist. Und ohne einen Tropfen chinesisches Blut in den Adern. Sie ist zu einem Symbol geworden. Mutter Niya, die uns gelehrt hat, daß die Regierung lügt. Als etwas davon bekannt wurde, haben die Behörden sofort die Untersuchung an sich gerissen.« Sie warf Dr. Najan einen bedeutungsvollen Blick zu. »Seitdem…« Jakli zuckte die Achseln. »Wir wissen von zumindest einem Fall«, setzte Najan die Erzählung fort, »in dem die Behörden Mumien beschlagnahmt und verbrannt haben. Mittlerweile wird sämtliche Forschung sehr viel strenger überwacht. Ausländische Teilnehmer sind von vornherein verdächtig. Einige Wissenschaftler aus Kasachstan und Europa haben bei uns Vorträge gehalten und wurden daraufhin von Peking als subversive Elemente verurteilt, die sich angeblich in die inneren Angelegenheiten Chinas -411-
einmischen würden.« Bao hatte eine Bezeichnung für derartige Wissenschaftler, erinnerte Shan sich. Sie waren Insekten, die er zu zertreten beabsichtigte. »Aber Peking hat kein Recht auf diese Schätze«, warf die Amerikanerin ein. »Wissen ist kein Eigentum. Es gehört weder den Amerikanern noch den Europäern oder Chinesen. Wir nehmen kleine Proben und bringen die Stücke dann in die Wüste zurück, an Orte, die nur den Kasachen und Uiguren bekannt sind.« »Sind noch andere in Xinjiang?« fragte Shan und dachte dabei an den Stahlring, den er seit der Nacht im Lager Volksruhm bei sich trug. »Andere amerikanische Wissenschaftler?« Warp runzelte die Stirn, als wisse sie nicht genau, was sie darauf antworten sollte. »Wahrscheinlich. Uns sind Gerüchte zu Ohren gekommen. Vor ein paar Jahren wurde ein deutscher Akademiker bei einer unbefugten Ausgrabung mit uigurischen Studenten entdeckt. Er ist verschwunden, und man hat nie wieder etwas von ihm gehört, weder hier noch in Deutschland. Heutzutage ist alles geheim und wird aus Sicherheitsgründen nur noch stückweise weitergegeben. Wir wissen lediglich über unser eigenes Projekt Bescheid«, sagte sie. Shan sah sich in dem Labor um und blickte dann zu den beiden Wissenschaftlern. Sowohl der Umfang der Bemühungen als auch das Ausmaß des Risikos flößten ihm Respekt ein. Bao hatte bereits Wind von der Sache bekommen, und falls man die Amerikaner fand, würden sie nicht einfach abgeschoben werden. Sie waren illegal hier, und für die Behörden existierten sie nicht. Bao würde zu dem Schluß gelangen, daß es am besten war, sie verschwinden zu lassen. Wie diesen anderen Amerikaner, den die Kriecher gefangengenommen und ins Lager Volksruhm gebracht hatten. Waren sie sich der Gefahr wirklich bewußt? überlegte er. Schaudernd fiel ihm ein, daß sich Einsatzkommandos des -412-
Hauptquartiers im Bezirk aufhielten. Wegen einiger toter Jungen oder einer vermißten Lehrerin waren sie bestimmt nicht hergekommen. Sie suchten nach ausländischen Umstürzlern. Sie konnten jederzeit per Hubschrauber hier einschweben jede Stunde, jede Minute. Er betrachtete die resoluten Wissenschaftler, die sich nun wieder an ihre Arbeit begaben. Jakli wuß te es. Und Najan wußte es bestimmt auch. Falls die Kriecher aus der Luft angriffen, würden sie Brandbomben einsetzen, speziell gefertigte Sprengsätze, die einem Ort wie diesem sämtlichen Sauerstoff entziehen konnten. Vielleicht machten sie sich auch die Mühe, den ganzen Komplex abzusuchen und jedem einen Kopfschuß zu verpassen. Oder sie versiegelten einfach alle Eingänge und ließen die Menschen hier wesentlich langsamer sterben. Die Kriecher würden sich unter zahlreichen Alternativen entscheiden können, falls sie Sandberg entdeckten, aber keine davon sah vor, daß Gefangene gemacht wurden. »Ihr Sohn«, erinnerte Shan sich plötzlich und bedauerte im selben Augenblick, wie deutlich man ihm die Beunruhigung anhören konnte. Abigail Deacon sah ihm einen Moment lang schweigend ins Gesicht. »Was ist mit ihm?« fragte sie dann. »Ist er hier, im Sandberg?« Die Amerikanerin schaute zu Jakli. »Micah ist in Sicherheit. Nicht hier, sondern im Kunlun.« »Wie meinen Sie das?« fragte Shan. »Er ist bei einigen Hirten untergebracht. Lau hat es in die Wege geleitet, als wäre er eines ihrer Waisenkinder. Bei einer der Grenzfamilien. Lau hat sie Schattenclans genannt. Sie sagte, er würde nirgendwo sicherer sein.« »Die zheli?« stieß Jakli erschrocken hervor. »Euer Sohn ist bei der zheli?« Abigail Deacon wußte noch nichts von den Vorfällen, -413-
erkannte Shan bestürzt, als er den fragenden Blick der Frau bemerkte. Sie hatte ihren Sohn in die Sicherheit der Berge geschickt. Doch nun stand der amerikanische Junge auf der Todesliste der zheli.
-414-
Kapitel Elf Shan hob die Hand an die linke Schläfe, wo erneut ein langsam pochender Schmerz eingesetzt hatte. Noch bevor er etwas sagen konnte, nahm Jakli seinen Arm und zog ihn nach draußen, zurück zu seinem Ruhelager. »Sie müssen es erfahren. Ihr Sohn is t in großer Gefahr«, sagte er leicht benommen, während Jakli ihn durch den Tunnel führte. »Die Leute, bei denen er untergebracht ist, sind wachsam wie Leoparden. Niemand sieht sie, es sei denn, sie wollen gesehen werden«, sagte sie, schien jedoch selbst nicht davon überzeugt zu sein. Sie gab ihm mehr Wasser, entzündete die kleine Lampe neben seinem Lager und ließ ihn allein, damit er zu schlafen versuchte. Er schlief tatsächlich, wenngleich nicht lange. Geräusche im Tunnel ließen ihn endgültig aufwachen. Der Kopfschmerz war nicht verschwunden, hatte aber merklich nachgelassen. Er nahm die Tonlampe und stand auf, lauschte dann eine Weile den Geräuschen und stellte die Lampe wieder ab. Einige Stimmen unterhielten sich in der Sprache der Clans. Shan konnte die Worte nicht verstehen, aber sie klangen nervös und hektisch, als gäbe es etwas Dringendes zu erledigen. Vorsichtig tastete Shan sich einige Schritte vor und spähte um die Kante des Zugangs in den Tunnel. Er sah einen Mann mit der für die Hirten typischen Wollweste und Mütze, der eine helle Kerosinlampe hielt. Zwei andere, ebenso gekleidete Männer trugen ein langes schmales Bündel in eine der Meditationszellen und gingen dabei sehr sachte damit um, als könnte es zerbrechen. Gleich darauf kamen sie ohne ihr Bündel wieder zum Vorschein und liefen den Gang hinunter. Shan wollte schon nachsehen, worum es sich handelte, als ein weiteres Licht -415-
erschien. Es waren Jacob Deacon, der eine Arzttasche bei sich hatte, und Dr. Najan, der noch immer seinen Laborkittel trug und mit einer leistungsstarken Taschenlampe ihren Weg beleuchtete. Die beiden sprachen leise miteinander und betraten die Zelle. Shan schlich sich dicht an der Wand voran, um besser erkennen zu können, was vor sich ging. Deacon kniete mit einer großen Spritze neben dem in eine Decke gehüllten Bündel, das die Hirten dort zurückgelassen hatten. Durch eine Öffnung in der Decke stach er die Nadel ein und ließ sich von Najan eine zweite Spritze reichen, mit der er ebenso verfuhr. Dann standen die beiden Männer auf und kehrten eilig wieder in den dunklen Tunnel zurück. Shan begriff, daß dort vor ihm eine Person lag, die offenbar krank und von dem Amerikaner behandelt worden war. Er wartete fünf Minuten, holte dann seine Lampe und kehrte zum Eingang der Zelle zurück. Es war derselbe Raum, in dem er zuvor schon zwei schlafende Gestalten gesehen hatte. Waren sie alle krank oder vielleicht wie Shan während des karaburan verletzt worden? Er betrat den Raum und sah die drei Bündel am Boden. Ein jedes war in eine Decke gewickelt und besaß als Kissen eine kleine Filzrolle. Außerdem hatte man über jede der Decken einen bestickten Schal gebreitet und sorgfältig glattgestrichen, so daß die Bilder der springenden Pferde und großen Bäume deutlich zur Geltung kamen. Shan wollte die Schläfer nicht wecken, und so näherte er sich der ersten Gestalt besonders leise. Dann erstarrte er. Das Gesicht war auf furchtbare Weise verstümmelt. Der Mann hatte keine Nase. Mit zitternder Hand hielt Shan die Lampe direkt neben den Kopf. Und auch keine Augen. Dann erkannte Shan, daß der Fremde schon seit vielen Jahrhunderten nichts mehr gesehen hatte. Er war zu einer Mumie vertrocknet. Der Sand und die Dürre sorgten für eine gute Konservierung, hatte Abigail Deacon gesagt. Shan hatte geglaubt, sie würde sich lediglich auf Textilien beziehen. -416-
Behutsam zog er die Decke beiseite, erblickte darunter einen braunen Stoff und verstand, wie Warp an die Kleidungsproben kam. Es waren die Bestattungsgewänder der Mumien der Takla Makan. Nach dem ersten Schreck verspürte Shan weder Angst noch Abscheu, sondern betrachtete auch die anderen beiden Gestalten, eine Frau mit zwei langen braunen Zöpfen, deren Frisur der von Niya Gazuli ähnelte, und einen Mann, der so vollständig und gut erhalten war, daß er im trüben Lic ht wirklich nur zu schlafen schien. Der Fremde war außergewöhnlich, ein Besucher aus einer längst vergangenen Welt. Sein Gesicht, obwohl von ledriger Beschaffenheit, war auffallend hell, und das dichte, lange dunkle Haar besaß einen ausgeprägt rötlichen Farbton, genau wie sein dünner Bart. Seine Handgelenke wurden durch ein geflochtenes Band aus vielfarbigem Garn zusammengehalten, so daß die langen, zarten Finger in einer demütigen Geste verharrten. Er trug ein dickes Wollhemd, dessen Ärmelaufschläge Shan an den Stoffstreifen erinnerten, den er in dem Labor gesehen hatte. An den Füßen des Toten steckten Stiefel aus dünnem Leder, eventuell Hirschleder, gefolgt von kniehohen Filzgamaschen. Shan wollte eigentlich wieder gehen, um nicht entdeckt zu werden und die Mumien nicht länger zu stören, doch irgend etwas hielt ihn zurück. Er sank neben dem bärtigen Mann auf die Knie und berührte langsam und zögernd den Ärmel des Toten. Womöglich gehörte der Fremde zu den Erbauern von Karatschuk, dachte Shan, seltsam aufgewühlt. Vielleicht hatte er einst eine Aprikose gepflückt und sie dann im Schatten des liegenden Buddhas verzehrt. Die heitere Miene des Mannes schien große Weisheit in sich zu bergen, und aus irgendeinem Grund fühlte Shan sich aufgefordert, diese Weisheit zu erforschen. Er wußte nicht, wie lange er dort kniete und versonnen die Toten musterte. Irgendwann roch er Zigarettenrauch. Er hob den -417-
Kopf und sah Dr. Najan. »Sie haben unsere stillen Partner kennengelernt«, stellte Najan ruhig fest. »Wie ist das möglich? Wo…« »Der Verlauf der früheren Flüsse ist auch heute noch weithin bekannt, und da alle alten Siedlungen an Flußufern lagen, suchen wir vornehmlich dort. Die ältesten Grabstätten sind leicht zu identifizieren, weil sie sich stets im Innern einer runden Palisade befinden, die einer kleinen Festung gleicht. Durch einen großen Sturm kommt manchmal ein solcher Kreis aus Pfählen zum Vorschein. Es gibt ein paar alte wüstenerfahrene Kasachen und Uiguren, die keine Angst haben, in der Wüste ein Nachtlager aufzuschlagen.« »Und anhand dieser drei Mumien haben Sie so viele Erkenntnisse gewonnen?« »Drei? Das hier sind nur die Neuzugänge, die durch den karaburan freigelegt wurden. Mehr als fünfzig haben wir bereits untersucht. Und weitere dreißig liegen vorerst noch an ihren Fundorten.« »Hier sind fünfzig Mumien?« »Wir nehmen unsere Proben, machen Fotos und fertigen Videoaufzeichnungen an, und dann werden die Toten wieder zur Ruhe gebettet. Falls wir den Eindruck haben, die ursprüngliche Stätte könnte durch Plünderer bedroht sein, bestatten wir die Leichen an neuen, geheimen Orten.« Der Wissenschaftler schaute auf die drei Mumien herab, und Shan sah, daß in seinem Blick ein merkwürdig trauriger Stolz lag. »Wir verlesen dann jedesmal einige Worte, um uns bei ihnen für die Störung ihres Friedens zu entschuldigen und sie wissen zu lassen, daß sie nicht in Vergessenheit geraten werden.« Shan erinnerte sich an Deacons Spritzen. »Sie untersuchen nicht nur die Kleidung. Sie nehmen auch Gewebeproben.« -418-
»Wann immer es geht. Nur ein winziges Stück Zellgewebe, das wir dann an Laboratorien in den Vereinigten Staaten und der Schweiz schicken, die uns insgeheim helfen. Wir benötigen eine statistisch aussagekräftige Anzahl DNS-Daten.« Dr. Najan ging in die Hocke und lehnte sich gegen die Wand. Sein Blick fiel auf den männlichen Leichnam, den Shan ausgewickelt hatte. Auch Najan verspürte die sonderbare Anziehungskraft. »Wir glauben nicht, daß es sie stören würde. Beim erstenmal war ein Kasache hier, einer der Nachfahren der Leute aus Karatschuk. Er ging allein hinein, während sein grauer Hund draußen Wache hielt. Dann hat er mit den Toten gesprochen und ihnen alles erklärt. Hinterher sagte er, die Alten seien stolz, uns behilflich sein zu können.« Shan lächelte. Er wußte, wer mit den Toten gesprochen hatte. Osman. »Was Sie tun, ist so gefährlich«, sagte Shan nach einer Weile. »Man würde Sie einen Verräter nennen und behaupten, Sie hätten sich mit Ausländern verschworen, um den Staat zu unterwandern. Haben Sie denn keine Familie?« Der Wissenschaftler lächelte traurig. »Ich stamme aus einem uigurischen Clan. Als ich noch klein war, hatte ich Onkel, viele Onkel. Ich habe sie und all meine Tanten und deren Kinder sehr geliebt. Meine Onkel setzten sich oft ans Feuer, tranken kumys und erzählten Geschichten des Clans, die bis in die Zeit der großen Khane zurückreichten. An Festtagen ritten wir schnelle Pferde und hielten Zeremonien ab, wie es sie schon seit tausend Jahren gab. Sie haben mir beigebracht, wie die Schutzgeister der Tiere heißen und wie man ihre Adler halten muß.« »Adler?« »Jagdadler. Mein Clan war berühmt für seine abgerichteten Adler. Sie wurden vom Nestlingsalter an großgezogen und gehörten zur Familie.« Der Uigure nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette. »Aber jetzt gibt es keine Onkel und Tanten -419-
mehr. Ich habe nur ein Kind, weil die Regierung es nicht anders erlaubt. Auch meiner Tochter wird man nur ein einziges Kind gestatten. Ohne Brüder und Schwestern kann es aber weder Onkel noch Tanten geben und auch keine Cousins oder Cousinen. Die Festtage sind nicht mehr wie früher, und einige hat man schon völlig vergessen. Meine Onkel sind tot. Es gibt keine Jagdadler mehr. Niemand erinnert sich noch an all die Geschichten. Vielleicht tue ich das alles ihretwegen.« Er zog an seiner Zigarette und nickte dann in Richtung der bärtigen Mumie. »Dieser Mann war bestimmt der Onkel von jemandem.« Gemeinsam gingen sie durch den Tunnel zurück. Najan zeigte Shan eine zweite Reihe Zellen, in denen ein weiteres Dutzend Mumien lag. Man hatte sie nach ihrem Alter angeordnet. Einige stammten von einer zweitausend Jahre alten Begräbnisstätte, andere aus einer noch früheren Epoche. Oftmals handelte es sich nicht mehr um vollständige Körper, sondern nur noch um Teile der Toten, weil die Stürme und der Lauf der Zeit ihren Tribut gefordert hatten. Die Zelle, in der Shan und Najan anfangs gesessen hatten, enthielt die Leichen einer bekannten tibetischen Garnisonsstadt aus der Zeit der ersten nachchristlichen Jahrtausendwende. »Zuerst hatte ich Angst«, gestand der Uigure. »Jetzt gehe ich manchmal dorthin und setze mich einfach zu ihnen. Ich weiß, daß die Menschen, die dort liegen, nichts dagegen hätten.« »Wissen Sie etwas über die alten Tafeln?« fragte Shan nach einem Moment. Dr. Najan legte die Handflächen horizontal zusammen und zog sie dann auseinander, als würde er eine der Holztafeln öffnen. »Die Kharoshthi-Texte? Sie wurden zum erstenmal vor etwa hundert Jahren durch einen europäischen Archäologen entdeckt, der in den Ruinen von Niya gearbeitet hat. Wir haben Hunderte hier gefunden, in einer der Zellen.« »Die Öffentliche Sicherheit hat von den Tafeln erfahren«, -420-
sagte Shan. Der uigurische Wissenschaftler zuckte die Achseln. »Das war nur eine Frage der Zeit.« »Die Kriecher suchen nach einer Spur zu der Quelle, um die vermeintlichen Rebellen zu erwischen, die mit den Ausländern gemeinsame Sache machen. Major Bao glaubt, daß Lau dabei eines der Bindeglieder dargestellt hat.« »Aber Lau hat ihre Geheimnisse mit ins Grab genommen.« Außer während der letzten Minuten ihres Lebens, als sie benebelt durch Drogen und Schmerzen - zweifellos etwas preisgegeben hat, dachte Shan verbittert. Er war sich nun sicherer als je zuvor, das Geheimnis zu kennen, das der Mörder ihr entlocken wollte. Bao befand sich offenbar auf einer unbarmherzigen und blutigen Treibjagd, um die Dissidenten und ihre ausländischen Kollaborateure zu stellen. Und falls das zutraf, hatte Bao es nicht auf die gesamte zheli, sondern nur auf die Jungen abgesehen, die er einen nach dem anderen aufspürte und tötete, bis er den Jungen namens Micah fand, durch den er an die Amerikaner heranzukommen gedachte. »Bao hat das Institut für Altertümer erwähnt.« Najan lächelte freudlos und trat die Zigarette aus. »Die haben einmal versucht, mich anzuwerben. Ich sollte der Welt beweisen, daß die Kharoshthi-Schrift in Wahrheit auf einer alten chinesischen Form basiert. Das sind keine Wissenschaftler, sondern Propagandisten, deren einziges Ziel darin besteht, die Mythen zu nähren. Sie behaupten den Zeitungen gegenüber, Niya Gazuli sei eine Fälschung ausländischer Staatsfeinde. Falls sie sich eine Chance auf Erfolg ausrechnen könnten, würden sie sogar zu beweisen versuchen, daß die Höhlenmenschen in Afrika mit Stäbchen gegessen haben.« Er schüttelte betrübt den Kopf und ging in Ric htung des Labors davon. Als Shan zurückkehrte, hatten die tausendjährigen Buddhisten einen neuen Besucher. Lokesh saß dort, hatte mehrere Lampen -421-
mitgebracht und alle drei Gesichter freigelegt. Er sagte ein Mantra auf, ein Gebet für die Seelen, wie Shan zunächst glaubte, bis er den freudigen Blick seines Freundes bemerkte. Es war eine Feier, keine Klage. Shan nahm dem alten Tibeter gegenüber Platz, so daß die Mumie des Mannes mit dem dunkelroten Bart zwischen ihnen lag. Der Tote trug an einer Kette ein gau um den Hals, das nun auf seiner Brust ruhte. Zudem war er mit einer dicken Weste bekleidet, aus deren kleiner Tasche ein Kelch ragte, den man aus einem Kuhhorn gefertigt hatte. Lokesh blickte mit breitem Grinsen auf. »Er hat tausend Jahre darauf gewartet, uns zu treffen.« Shan wollte darauf hinweisen, daß die Seele des Mannes längst entschwunden war, aber dann wurde ihm klar, daß sein Freund dies natürlich wußte. Es ging nicht darum, drei Seelen Hochachtung zu bezeigen, die nach dem Verlassen dieser zerbrechlichen Körper vielleicht schon zwanzig weitere Reinkarnationen durchlaufen hatten. Aber diese Leute wirkten so real. Falls der Mann sich in diesem Moment auf seiner Decke aufgesetzt hätte, wäre Shan nicht davongerannt, sondern hätte dem Fremden die Hand reichen wollen. »Sieh nur, Xiao Shan«, sagte Lokesh aufgeregt und hob die Decke vom Bauch der Mumie. »Ich kenne ihn.« Shan sah seinen Freund unsicher an und schaute dann wieder zu der Mumie. »Wie meinst du das?« »Ich meine, ich weiß, daß er gute Taten vollbracht hat. Er hat gelitten und störte sich nicht daran. Er war ein Mann, der verstanden hat, was auch wir verstehen. Sieh nur.« Da erkannte Shan, daß um eines der mumifizierten Handgelenke eine Gebetskette lag. Eine buddhistische mala. Lokesh zog die Decke weiter herunter und deutete auf zwei dicke rechteckige Gegenstände mit rissigen Lederriemen, die neben den Hüften des Mannes lagen, so daß er sie mit -422-
ausgestreckten Armen erreichen konnte. Es waren Handblöcke, wie sie von Pilgern benutzt wurden, glatte Holzklötze mit Lederriemen, in die ein Pilger seine Hände steckte, um sie vor Verletzungen zu schützen, während er sich zehntausendmal am Tag bäuchlings zu Boden warf. Shan hatte identische Blöcke schon häufig bei Pilgern auf Tibets Straßen und auch entlang der heiligen Lingkhor-Strecke in Lhasa gesehen. Aus stehender Position sanken diese Menschen zunächst in die Knie, legten dann die Hände auf den Boden und streckten sich der Länge nach aus, um gleichzeitig ein Mantra zu rezitieren. Dann standen sie auf, traten einen Schritt vor und wiederholten die Prozedur. »Auf den Klötzen steht etwas geschrieben, und zwar in alten tibetischen Buchstaben. Ich habe es gelesen. Es erzählt seine Geschichte. Dieser Mann…« Lokesh hielt kurz inne und schien beinahe von seinen Gefühlen überwältigt zu werden. »Dieser Mann war unterwegs zum Berg Kailas«, fuhr er fort und bezog sich damit auf den heiligsten Ort in Tibet, den Vater Berg am Rand des Himalaja. Erster aller Berge nannten die Tibeter ihn. »Er wollte den Berg als demütiger Pilger einmal ganz umrunden und dann die Blöcke dort zurücklassen, und zwar als Opfer an die Geister seiner Tochter, die bei einem Sturz vom Pferd gestorben war, und seiner Frau, die bei der Geburt dieser Tochter das Leben verloren hatte.« Der alte Tibeter sah Shan an und seufzte. Irgend etwas war geschehen und hatte den Mann viele hundert Kilometer vor seinem Ziel aufgehalten. »Er war schon weit gekommen«, sagte Lokesh bewundernd. »Dort steht, er stammte aus Loulan, aus einer der alten untergegangenen Städte am östlichen Rand der Wüste. Er hat fast die Hälfte des Weges geschafft.« Vielleicht ist er durch einen Sandsturm oder die bittere Kälte der winterlichen Wüste umgekommen, dachte Shan. Vielleicht aber auch durch den Pfeil eines Banditen. Oder durch einen chinesischen Soldaten. Schweigend und ehrfürchtig saßen sie einige Minuten da, -423-
während derer Lokesh bisweilen tief seufzte. »Spürst du es, mein Freund?« fragte der Tibeter. »Ein Teil von mir fühlt sich dadurch so lebendig wie noch nie zuvor.« Der alte Mann schien nach den richtigen Worten zu suchen. »Es ist, als hätten sie sich bei ihrer Beerdigung gefragt, ob die Welt überleben und es auch weiterhin Leute wie sie geben würde. Trotz all der Kriege, Hungersnöte, Sandstürme und Verfolgungen. Und jetzt sind sie herausgekommen, um sich davon zu überzeugen.« Sie schwiegen wieder, seltsam vereint mit dem tausend Jahre alten Buddhisten, und dann schien Lokesh ein bestimmter Gedanke zu kommen. Er wurde ganz ernst und blickte auf. »Falls ich es wüßte…«, sagte er feierlich. »Falls ich wüßte, daß mich in tausend Jahren ein anderer Mensch auf diese Weise erreichen und berühren könnte, als wäre ich ein Glied in der Kette der Seelengüte, würde ich mich in diesem Augenblick niederlegen und sterben.« Shan erinnerte sich an Lokeshs Worte in Senge Drak. Vielleicht existierten Menschen nur deshalb, um die Tugend am Leben zu erhalten und an jemand anderen weiterzugeben. Sie aßen bei Sonnenuntergang im Freien, neben einer kleinen Kohlenpfanne, die Deacon mit Hilfe eines Gasbrenners in einen Herd umfunktionierte. Seine Frau backte Fladen aus Buchweizenmehl und schmorte dann ein Pfannengericht aus diversen Konserven, die Deacon mit fröhlichem Grinsen aus seinem Rucksack zum Vorschein brachte. Bambussprossen, kleine Bohnen und sogar Ananas landeten alle in derselben Pfanne und wurden auf den Buchweizenfladen serviert. Shan war völlig ausgehungert. »Sie hatten also eine Audienz bei der Jadehure«, stellte Marco fest, während er neben Shan auf einem flachen Felsen Platz nahm. Es gab weder Teller noch Stühle oder Tische nichts, das -424-
sich nicht schnell ins Innere tragen lassen würde, falls ein Hubschrauber auftauchte, erkannte Shan. Zwischen den einzelnen Bissen erklärte er, was Xu in ihrem Büro gesagt und getan hatte. »Wieso sollte die Anklägerin Sie für jemanden aus Peking halten?« fragte Abigail Deacon. »Achte doch nur auf seine Stimme«, warf Marco ein. »Er spricht mit Pekinger Akzent.« »Das ist das eine«, pflichtete Shan ihm bei. »Hauptsächlich aber deswegen, weil sie mit jemandem aus Peking gerechnet hat. Aus dem Hauptquartier der Öffentlichen Sicherheit.« »Die Reservierungen der Einsatzkommandos im Lager Volksruhm«, murmelte Dr. Najan. Shan sah ihn an und überlegte, welche Folgerung sich aus diesen Worten ergab. »Ihre Freunde passen auf Sie auf«, sagte Shan. »Freunde mit Laptop-Computern.« Der Uigure nickte ernst. »Tapfere Freunde. Und sie heißen alle Mao.« »Xu hatte Beweismaterial in ihrem Büro«, sagte Shan. »Laus Sachen aus der Schule.« »Aber Lau ist ertrunken«, sagte Marco. »Zumindest glaubt Xu das.« »Die Anklägerin hat sich die einzelnen Indizien genau angesehen«, sagte Shan. »Die Meldung der Schule, daß Lau dort nicht wie vereinbart erschienen sei. Laus Pferd auf dem Weg am Fluß. Die Jacke. Und ihr Ausweis.« »Ihr Ausweis?« schaltete Jakli sich beunruhigt ein. »Wir haben keinen…« »Er ist an dem Tag bei der Öffentlichen Sicherheit abgegeben worden, an dem man auch die Jacke gefunden hat. Angeblich wurde er in der Nähe von Yutian am Flußufer gefunden.« -425-
»Wer hat den Ausweis eingereicht?« »Leutnant Sui.« »Der Mörder!« rief Jakli erschrocken. »Laus Mörder hat Sui die Papiere zugespielt, um die letzten Zweifel auszuräumen.« »Oder Sui war der Mörder«, sagte Marco wütend. »Ich hab ihn schon einmal auf einem Pferd gesehen. Er konnte gut reiten.« »Unmöglich«, wandte Jakli ein. »Falls er Karatschuk entdeckt hätte, wären inzwischen längst die Kriecher dort eingefallen.« »Nicht, wenn es sich um einen einzelnen Kriecher mit Sonderauftrag gehandelt hat, ob nun Sui oder ein anderer«, gab Shan zu bedenken. »Xu glaubt, es seien verdeckte Agenten im Bezirk Yutian unterwegs.« »Mit dem Auftrag, eine Lehrerin zu ermorden?« fragte Deacon. »Mit dem Auftrag, eine tibetische Nonne auszuschalten«, entgegnete Shan. »Eine Lehrerin, die früher Nonne war, ist hier im Grenzland nicht unbedingt etwas Außergewöhnliches«, sagte Jakli, klang dabei aber eher zögernd, als wolle sie sich selbst in dieser Ansicht bestärken. »Es gibt hier mehr Tibeter, als manch einer vermuten mag. Sie wechseln ihre Identität, um sicher zu sein.« »Einige können ihre Vergangenheit abstreifen«, sagte Shan. »Andere nicht. Und es ging nicht nur um Laus Vergangenheit, obwohl etwas von früher die Verbindung dargestellt haben mag. Aus irgendeinem Grund haben die Kriecher sich plötzlich für die zheli interessiert, als könnten sie dadurch etwas bewirken, was sie schon längst erreichen wollten. Und wonach auch die Einsatzkommandos suchen«, fügte er beinahe flüsternd hinzu. Einen Moment lang sprach niemand ein Wort. Allen war klar, auf wen die Einsatzkommandos es abgesehen hatten. Sie verfolgten, wie der leuchtendrote Abendhimmel sich erst rosa, -426-
dann golden und schließlich grau verfärbte. Die Amerikanerin stand auf und setzte sich vor ihrem Mann in den Sand. Deacon legte ihr die Hände auf die Schultern. »Drei tote Jungen«, sagte Marco ernst. »Micah ist da draußen«, sagte Abigail Deacon hörbar besorgt. »Es geht ihm gut, Warp«, versicherte ihr Mann. »Er ist hoch oben im Gebirge. Nicht mehr lange bis zum Vollmond, und wir werden wieder Zusammensein. Es gibt ein neues Konzert.« Warp schlang einen Arm um sein Bein. »Du und deine verdammten Grillen«, sagte sie. »Wenn wir wieder zu Hause sind, wird Micah wahrscheinlich ein ganzes Zimmer voller Insekten haben.« »Nicht die schlechteste Gesellschaft. Sie sind klüger als Fische«, spöttelte Deacon. »Und sie bringen Glück.« Seine Frau lachte leise. »Mein Vater hat einen Sommer lang ebenfalls Grillen gehalten, um sie als Angelköder zu benutzen«, erzählte sie. Deacon schien die Geschichte bereits zu kennen und legte Warp sanft die Hände vor den Mund, doch sie schob sie spielerisch beiseite. »Meine Mutter hat die Tiere gehaßt, aber er durfte sie trotzdem behalten, solange er sie nicht ins Haus mitbrachte. Eines Tages hat er eine Dose Grillen im Schlafzimmer abgestellt, um schnell unter die Dusche zu hüpfen, und die Tiere dann vergessen. Ein paar Tage später zieht er morgens seine Unterwäsche an, und sie fällt praktisch auseinander. Die Grillen hatten jede einzelne Hose durchlöchert. Er hat nie darüber gesprochen. Aber er hat noch am selben Tag alle Grillen wieder freigelassen.« »Siehst du?« sagte Marco. »Die Tiere haben tatsächlich Glück gebracht. Vor allem deiner Mutter.« Sie alle lachten, sogar Shan. Marco berichtete, daß ein zahmes Eichhörnchen sich ein Nest im letzten noch aus Rußland stammenden Kleid seiner Mutter gebaut hatte, und sie lachten wieder. Dann schilderte Jakli, daß Nikki einst eine Albinomaus -427-
für sie gefangen hatte. Als er in ihr Lager kam, waren in seiner Tasche unterdessen fünf winzige rosafarbene Mausbabys zur Welt gekommen. Dr. Najan erzählte von einem Pfeifhasen, der immer die Knöpfe von den Kleidern seiner Mutter abgenagt und als Schätze in seinen Käfig mitgenommen hatte. Während Shan zuhörte, bildete sich ein kleiner Kloß in seinem Hals, und das Herz wurde ihm schwer. Woran lag es? Die anderen waren fröhlich, und er freute sich für sie. Aber da war noch etwas. Etwas von dem, was sie taten, hatte eine Stelle in seinem Innern berührt, einen leeren Platz, eine weitere jener Kammern, die schon so lange nicht mehr bewohnt waren, daß er vergessen hatte, wie man sie öffnete. Doch einst war dieser Ort nicht leer gewesen, sondern sogar übervoll. Schließlich wurde ihm mit jähem Schmerz klar, worum es sich handelte. Es ging um Familie, um die Art, wie die anderen freimütig erzählten und bereitwillig lachten, die Art, auf die Marco, die Amerikaner und sogar Jakli miteinander umgingen und sich ihre kleinen persönlichen Geschichten anvertrauten. Vor langer Zeit war es zwischen Shan und seinen Eltern genauso gewesen, doch zu seiner Frau oder gar zu seinem Sohn hatte nie ein derart inniges Verhältnis bestanden. »Wie steht's mit Ihnen, Inspektor?« fragte Marco vergnügt. »Haben Sie je ein Haustier gehabt?« Shan brauchte einen Moment, bis er begriff, daß der eluosi mit ihm sprach. Er schaute hinaus auf die Dünen, die im Abendschatten wie die Wogen eines Ozeans aussahen. »Nein, kein Haustier«, hörte er sich leise antworten. »Im China meiner Kindheit gab es schon für uns selbst nie genug zu essen, und ein Tier hätte das nicht überlebt. Aber als ich noch klein war, sind mein Vater und ich oft zum Fluß gegangen und haben beobachtet, wie die Welt an uns vorüberzog. Im Herbst kamen die Bauern von tief aus dem Landesinnern und brachten Enten zum Markt. Sie stutzten den Tieren die Flügel und trieben sie wie riesige Schafherden den Fluß hinab, und die Hirten auf -428-
den Sampans trugen schwarze Hemden und Strohhüte. Einmal fing ich an zu weinen, weil ich erkannte, daß man all die Enten töten und aufessen würde.« Er seufzte und blickte zu den Sternen empor. »Mein Vater sagte, ich solle nicht traurig sein, denn für eine Ente sei es ein großes Abenteuer, Hunderte von Kilometern in die Welt hinauszuschwimmen, so daß die Tiere sich freiwillig für den Fluß entschieden hätten, auch wenn ihnen ihr Schicksal bewußt gewesen wäre. Dann sah er sich aufmerksam um, als wolle er sichergehen, daß uns niemand belauschte, und verriet mir völlig ernst ein großes Geheimnis. Manchmal, so sagte er, würde einigen Enten die Flucht bis ans Meer gelingen, und dort könnten sie dann ein Leben als berüchtigte Piratenenten führen.« Niemand sprach. Niemand lachte. Er sah zu Marco, der stumm in Richtung Horizont nickte, als wisse er genau über die Piratenenten Bescheid. »Danach nahmen wir zu unseren Besuchen am Fluß stets Papier, Tintensteine und Pinsel mit«, fuhr Shan fort. »Manchmal schrieben wir Gedichte über die Herrlichkeit des Flusses und die Schönheit des Mondes, wenn er über dem silbernen Wasser aufstieg. Manchmal beschrieb ich auch einfach nur den Weg zum Meer. Dann falteten wir aus dem Papier kleine Boote und ließen sie mitten zwischen die Entenschwärme treiben.« Sie betrachteten die Sterne. Nach ein paar Minuten deutete Marco mit ausgestrecktem Finger auf einige Sternbilder und forderte die Amerikaner heraus, ihm die englischen Namen zu verraten. Den Nördlichen Scheffel erkannten sie sofort als Großen Bären und den Weißen Tiger als Sternbild des Orion. Heiter setzten sie ihr Spiel fort. Die Arkaden erwiesen sich als Cassiopeia und der Azurdrache als Sagittarius. Lokesh verließ die Gruppe, setzte sich sechs oder sieben Meter entfernt in den Sand und sah hinaus in die Dunkelheit. Er schien nach etwas Ausschau zu halten. Shan überlegte kurz und bedachte die Position des kleinen Berges, an dessen Fuß sie -429-
saßen. Sein Freund starrte in Richtung des Tränenbrunnens. Lokesh hatte die verlorenen Seelen dort gehört. »Xu hat eine Akte über Amerikaner«, sagte Shan plötzlich. Er wollte den anderen nicht die Stimmung verderben, aber er mußte darüber sprechen. Alle schienen zu erstarren und wandten sich dann aufmerksam ihm zu. »Eine Liste diverser Besuchergruppen.« Er sah Abigail Deacon an. »Sie hat Ihren Namen.« Sie zuckte die Achseln. »Ich habe einer Delegation angehört. Einer Gruppe von Professoren, die sich die Ruinen einiger Marktflecken entlang der alten Seidenstraße anschauen wollte. Sie haben es als Marco-Polo-Tour bezeichnet.« »Aber nur ein einziger Name auf der Liste war eingekreist. Ihrer.« Die Amerikanerin sah ihn unsicher und beinahe verärgert an, als würde Shan sie eines Vergehens beschuldigen. »Dafür könnte es ein Dutzend Gründe geben, Warp«, sagte ihr Mann. »Dein Flug hatte Verspätung.« »Stimmt«, bestätigte Dr. Najan. »Man mußte extra einen Wagen organisieren, um Sie der Gruppe hinterherzufahren. Der Tag, an dem Sie uns einge holt haben, war unser erstes Zusammentreffen. Warp wollte immerzu Dinge tun, die nicht auf dem Reiseplan standen. Sie hat um einen Führer gebeten, der sie zu einigen der alten Wachtürme auf den Bergen bringen sollte. Und auch beim Essen hatte sie Sonderwünsche.« Er bedachte Shan mit einem tadelnden Blick. »Also hat man den Namen eingekreist. Es gab jede Menge Gründe dafür.« »Jede Menge Gründe«, wiederholte Shan ausdruckslos. Gute Gründe. Und schlechte Gründe. Er musterte die Gruppe, die hier in diesem kleinen Außenposten lebte. So weitab vom Rest der Welt, so versunken in die großartigen Erkenntnisse ihrer Wissenschaft, würde es leicht sein, die schlechten Gründe zu vergessen. Die Gründe der Öffentlichen Sicherheit. Die Gründe -430-
des Justizministeriums. »Der Täter hat sich längst irgendwo versteckt«, sagte Marco. »Er weiß, daß die Kriecher durch den Mord an Sui wie wütende Hornissen aufgescheucht werden.« »Nein«, widersprach Shan und holte aus seiner Tasche die Namenliste hervor, die Jakli in Laus Büro gefunden hatte. »Er hat einen dritten Jungen getötet«, rief er den anderen ins Gedächtnis. »Er geht nach einem Plan vor.« Shan reichte das Blatt an Deacon weiter, der eine winzige Taschenlampe zum Vorschein brachte. Seine Frau hielt den Zettel, während Deacon für Licht sorgte und die anderen sich rund um ihn versammelten. »Dreiundzwanzig Namen«, erklärte Shan. »Die zheli. Das hier ist die offizielle Teilnehmerliste aus den Schulunterlagen. Jeder hat Zugriff darauf. Falls man wollte, könnte man sie sich aus einem Regierungscomputer in Urumchi, Lhasa oder Peking ausdrucken. Elf Mädchen. Zwölf Jungen, von denen neun noch am Leben sind. Erst Suwan…« Shan deutete auf die Mitte der Liste, dann auf zwei andere Einträge. »Alta und Kublai.« »Aber dahinter liegt keine Logik, aus der man Rückschlüsse auf das Verhalten des Mörders ziehen könnte«, sagte Marco. »Irrtum.« Shan zog einen Bleistift aus der Tasche, griff nach dem Zettel und reichte beides an Jakli weiter. »Bitte streichen Sie die Mädchen aus«, sagte er. Sie überflog die Liste und strich zügig elf der Namen durch. »Dann Suwan«, sagte Shan, und sie kreuzte den Namen des Jungen an. »Und der Junge, der bei der dropka-Familie gelebt hat…« Jakli nahm eine weitere Markierung vor. »Und schließlich Kublai.« Sie machte das dritte Kreuz und gab den Zettel der Amerikanerin zurück. Das erste Kreuz stand in der Mitte der Seite. Die nächsten beiden befanden sich neben den obersten zwei Jungennamen. »Das ist seine ganze Logik?« fragte Marco skeptisch, als halte -431-
er nicht viel von Shans Entdeckung. »Er hakt einfach die Liste ab?« »Er hat es bei Suwan versucht, und als der nicht hatte, was der Mörder wollte, fing er oben auf der Liste an.« Abigail Deacon keuchte erschrocken auf und umschlang das Bein ihres Mannes mit festem Griff. »Micah!« rief sie besorgt und deutete auf einen Namen in der Mitte der Liste. Der vierte Junge von oben. Nach Kublai kam ein Junge namens Batu, dann Micah Karatschuk. »Ihr könnt jetzt nicht zu ihm«, warnte Marco die Amerikaner. »Vielleicht warten die Kriecher nur darauf. Sie beobachten jeden Winkel. Wahrscheinlich haben sie deshalb nicht auf den Mord an Sui reagiert - sie hoffen, daß ihr aus eurem Versteck kommt. Ihr fallt zu sehr auf. Man würde euch in den Bergen sehen und melden. Und dann wäre Micah…« Marco zuckte die Achseln. »Ihr müßt um seinetwillen bleiben, wo ihr seid.« Deacon nickte. »Wir haben uns den Namen ausgedacht«, flüsterte er, ohne den Blick von der Liste abzuwenden, und fing dann an zu erklären, weshalb sie beschlossen hatten, ihren Sohn in Laus Obhut zu geben. Kurz nach ihrer Ankunft in der Wüste war klargeworden, daß die Höhle im Sandberg sich nicht für einen zehnjährigen Jungen eignete. Bei einem Reiterfest im Frühling hatte Micah einige Angehörige der zheli kennengelernt, darunter auch Khitai. Wie die meisten der Kinder beherrschte Micah Mandarin und schnappte schon bald genug von der Turksprache auf, um sich auch damit verständlich zu machen. Er liebte Tiere. Die zheli schien wie für ihn geschaffen zu sein. Lau und die Nomaden würden sich gut um ihn kümmern. »Und außerdem ist er ein so durchtriebener kleiner Bengel, daß die Disziplin der Hirtenlager ihm bestimmt nicht schaden dürfte«, sagte Deacon, um seine Frau ein wenig aufzuheitern. »Er ist ganz begeistert. Bislang ist er schon bei vier Familien gewesen.« »Lau wußte davon?« fragte Shan. -432-
»Es war sogar ihre Idee. Aber den anderen hat sie nichts davon erzählt. Für die war Micah bloß ein kasachischer Junge aus einer entlegenen Ecke Xinjiangs. Mehrere der Kinder sprachen zunächst nur Mandarin, weil sie in Schulen der Regierung groß geworden waren, also fiel es nicht weiter auf, daß auch er den Dialekt der Clans nicht beherrschte.« »Demnach wußte kein anderes der Kinder Bescheid?« fragte Shan. »Anfangs schon. Aber Sie wissen ja, wie Zehnjährige sind. Lau hat uns letzten Monat erzählt, daß Micah mit seinen Eltern geprahlt und dann während einer Schulstunde ein Glas amerikanische Erdnußbutter herumgereicht hat. Wir wußten nicht, daß er eines eingesteckt hatte. Und als ich ihn dann besuchen kam, hat er mich mit drei von seinen Freunden überrascht. Ich mußte ihm versprechen, daß wir vor unserer Abreise aus Xinjiang noch ein paarmal in den Unterricht kommen würden, um von unseren Entdeckungen zu berichten.« Shan starrte Deacon einen Moment lang an. Die Amerikaner wollten bald abreisen. Hatte der Mörder der Jungen davon erfahren und sich zu einem hastigen Eingreifen genötigt gesehen? »Er hat ein paar wirklich gute Freunde gefunden, bessere Freunde als in Amerika«, fügte die Mutter des Jungen hinzu. »Vor allem Khitai. Micah hat gefragt, ob Khitai zu unserem Mondfest mitkommen dürfe, um den Sängern zu lauschen.« Erleichtert stellte Shan fest, daß sie nicht länger besorgt klang. Sie war zu dem Schluß gekommen, daß ihr Sohn sich in Sicherheit befand. »Steinsee«, sagte Deacon. »Die nächsten beiden Klassentreffen finden beim Steinsee statt. Im Herbst hat Lau die Kinder immer dorthin mitgenommen.« »Falls Micah überhaupt kommt«, sagte Jakli. »Die Clans wurden gewarnt. Manche der Kinder bleiben vielleicht in ihren -433-
Gebirgsverstecken.« »Die Leute, bei denen Micah jetzt ist, leben so versteckt, wie man es sich nur vorstellen kann«, sagte Deacon und sah seine Frau an. »Es ist kein Clan, sondern bloß zwei Männer, eine Frau und zwei Kinder. Ihnen wurde weder ein bestimmtes Stück Land zugewiesen, noch stehen sie sonstwie in Kontakt mit der Brigade. Die anderen Kinder wissen nicht, wo sie sind. Nicht einmal Lau hat all ihre Verstecke gekannt. Bis zum Einbruch des Winters bleiben sie hoch oben, dicht unterhalb der Eisfelder. Lau sagte, wir könnten davon ausgehen, daß Micah weder uns noch sonst jemanden zu Gesicht bekommen wird, außer bei den Treffen der Klasse.« »Aber die anderen«, sagte Jakli verzweifelt. »Sie sind in Gefahr. Der Mörder ist vielleicht hinter ihnen her. Genau in diesem Moment.« Mittlerweile war der Himmel tiefschwarz. Über ihnen zirpte eine Grille zwischen den Felsen. Lokesh holte sich eine weitere Tasse Tee und setzte sich wieder in die Dunkelheit, als würde er auf etwas lauschen. Dann meldete er sich vom Rand des kle inen Kreises unerwartet zu Wort, ohne den Blick vom Wüstenhimmel abzuwenden. »Es heißt, der Jadekorb könne verschwinden, wenn etwas Böses sich nähert.« »Was meinst du damit, Lokesh?« fragte Jakli. Doch selbst wenn die Äußerung des alten Tibeters für die Ohren der anderen bestimmt gewesen war, wovon niemand mit Sicherheit ausgehen konnte, befand er sich nun wieder im stillen Zwiegespräch mit den Sternen. Shan bemerkte, daß Marco weggegangen war. Er drehte sich um und sah den eluosi auf einem hohen Felsen oberhalb des Eingangs stehen, von wo aus er weit in die Wüste hinausblicken konnte. Der eluosi hielt tatsächlich angestrengt Ausschau. Es ging um seinen Sohn Nikki, der mit einer Karawane Güter über die Grenze schmuggelte, begriff Shan. Nikki, der Jaklis Leben -434-
auf ewig verändern würde. Shan sah, daß auch Jakli von Marco Notiz genommen hatte. Einen Moment lang folgte sie seinem Blick in die Finsternis und wandte sich dann schnell wieder zu den anderen um. »Meine Cousins und die Maos werden nicht alle finden. Wir müssen dort sein, um sie zu warnen«, verkündete Jakli drängend. »Das Treffen am Steinsee soll in fünf Tagen stattfinden. Kaju wird an Laus Stelle dort erscheinen.« Sie schaute zu Shan. Sie hatten kein Fahrzeug mehr, erkannte er. Sie waren in der Wüste gestrandet. »Dieser Tibeter?« fragte Najan. »Er ist einer von denen. Er arbeitet für Ko. Für das Armutsprogramm. Wer würde die zheli besser in eine Falle locken können als ihr eigener Lehrer?« Diese Worte schienen ein drückendes Schweigen nach sich zu ziehen, nicht unähnlich der Windstille, die Shan vor dem schrecklichen Sandsturm verspürt hatte. »Nein«, sagte Jakli zögernd. »Die Brigade ist nur an Geschäften interessiert. Hinter all dem müssen die Kriecher stecken. Oder Xu.« »Die anderen Jungen müssen jedenfalls beschützt werden«, sagte Deacon mit schwerer Stimme. »Sie sind in größerer Gefahr als Micah.« »Ein Junge namens Batu«, sagte Shan in Richtung des Nachthimmels. »Er steht als nächster auf der Liste.« Marco kehrte zurück, den Blick weiterhin auf die Wüste gerichtet. Er goß sich einen Becher Tee ein, trank das meiste davon auf einen Zug aus und schüttete den Rest in den Sand. »Es ist eine klare Nacht. Wir können uns anhand der Sterne orientieren. Ich breche in drei Stunden ins Gebirge auf. Sophie und ich begleiten euch bis zur Stadt. Dort sind die Maos. Sie können euch einen Lastwagen besorgen.« »Ich würde vorschlagen, wir schlafen vorher ein wenig«, sagte Jakli. Sie ging zu Lokesh und legte ihm eine Hand auf die -435-
Schulter. Der alte Tibeter wandte den Kopf. Seine Miene verriet, daß er noch immer tief in Gedanken versunken war. Trotzdem stand er auf und ließ sich schweigend von Jakli ins Innere führen. Shan war nicht nach Schlaf zumute. Er hatte bereits zwei volle Tage verschlafen. Also half er den anderen, die Kochutensilien in einer der Zellen zu verstauen, die als behelfsmäßige Küche diente, und ging dann zu den Wandgemälden. Lokesh hatte recht, Shan spürte es auch. Noch nie hatte er sich an einem Ort befunden, der in ihm eine dermaßen starke Verbundenheit mit der Vergangenheit erweckte. Es war mehr als ein bloßes Geschichtsbewußtsein und ließ sich nicht annähernd mit dem distanzierten Gefühl vergleichen, das beispielsweise durch die Schaukästen eines Museums vermittelt wurde. Es entsprach eher der direkten und tiefen Empfindung von Kontinuität, dem Fortbestand des großen Zyklus des Lebens. Nein, vielleicht war es eher der Zyklus der Wahrhaftigkeit, den er empfand. Oder womöglich war es noch einfacher. Er erkannte, daß Menschen schon immer Gutes getan hatten und daß allein diese guten Taten überdauerten, nicht die Menschen. Aber Shan war sich nicht mehr sicher, was als gute Tat gelten konnte. Er hing in der Schwebe und wußte nicht, wie er die sterbenden Jungen retten sollte. Seine Freunde schienen Geheimnisse zu haben, die sie nicht teilen konnten. Seine Feinde waren überall und doch unmöglich zu identifizieren. Und die Regierung seines Landes würde ihn am liebsten wieder hinter Gefängnismauern sehen. Er nahm eine Öllampe, ging nach draußen und stieg den schmalen Pfad bis zum Gipfel des Berges hinauf. Dort legte er sich auf einen flachen Felsen und verschmolz für einige Minuten mit den Sternen, bevor er die kleine Lampe entzündete und seinen Notizblock und den Bleistift hervorholte. Lieber Vater, schrieb er, ich habe einen Ort aus einer anderen -436-
Welt gefunden und dort Freundschaft mit einem tausend Jahre alten Mann geschlossen. Er hätte hierfür eigentlich Tintenstein und Pinsel benutzen sollen und schämte sich, daß ihm nur sein Block und ein Bleistiftstummel zur Verfügung standen. Nun erwartet jedermann Antworten von mir, doch statt dessen scheinen die persönlichen Tragödien und Sorgen der anderen, ob gegenwärtig oder zukünftig, ihre Schatten vorauszuwerfen. Ich ziehe immer mehr Kummer auf mich, bis ich im Zentrum all dieser Schatten und damit am dunkelsten aller Orte stehe. Ich reise, jedoch ohne Ziel. Ich habe keine Familie. Ich habe kein Zuhause, nach dem ich mich sehnen könnte. Ich kann mich nur nach der Sehnsucht sehnen. So hätte ich mir mein Leben nie vorgestellt, Vater, als wir beide den Enten Gedichte geschrieben haben. Komm näher, Vater. Betrachte die Sterne mit mir. Er las es zweimal und unterzeichnete dann. Xiao Shan. Kleiner Shan. So hatte sein Vater ihn genannt. Shan hätte gern Bambussplitter und Wacholderzweige gehabt, um genau die Art von Duftfeuer zu entzünden, mit dem sich Geister anlocken ließen. Doch er mußte ohne diese Dinge auskommen. Also sammelte er ein paar vertrocknete Äste der kahlen Büsche ein, die zwischen den Felsen wuchsen, und schichtete sie zu einem kleinen dichten Stoß auf. Dann nahm er ein leeres Blatt Papier, faltete daraus einen Umschlag, schrieb den Namen seines Vaters darauf und legte den Brief auf die Zweige. Es war eine bescheidene Opfergabe. Er hätte Reispapier nehmen und zunächst eine Stunde lang den Rhythmus der Ideogramme üben müssen, bevor er sie mit kühnem und kraftvollem Schwung niederschrieb, wie sein Vater es ihn gelehrt hatte. Vergib mir diesen Makel, Vater, sagte er in seinem Herzen und entzündete das Feuer mit der kleinen Lampe. Die Asche stieg zum Himmel empor. Einen flüchtigen Moment lang schwebte sie quer über den Nördlichen Scheffel, -437-
dann war sie verschwunden. Erst sehr viel später kehrte Shan in die Höhle zurück. Die Gänge waren still. Sogar die Kamele schliefen. Mit seiner kleinen Lampe in der Hand begab er sich in die Zelle des alten Pilgers und nahm neben ihm Platz. Vorsichtig schlug er die Decke beiseite, so daß er die Hände des Fremden und auch den abgewetzten Stoff über den Knien sehen konnte, der so typisch für einen Pilger war. Mehr als je zuvor schien der Mann lediglich zu schlummern. Bisweilen erweckte das flackernde Licht den Eindruck, sein Mund würde sich bewegen. Derselbe karaburan, der Shan beinahe getötet und ihm die Reise in ein neues Leben unmöglich gemacht hatte, war für die Entdeckung des Toten verantwortlich. Jetzt würden die Wissenschaftler ihre Proben entnehmen und den Mann danach wieder in der Wüste bestatten, so daß er in tausend Jahren vielleicht durch einen neuerlichen Sturm wieder zum Vorschein kam. Als Botschafter. Oder immer noch als Pilger, der wichtigen Orten der Tugend seinen Besuch abstattete, um andere quer durch die Jahrhunderte zur Achtsamkeit zu mahnen, hätte Gendun gesagt. »Mein Name ist Shan Tao Yun«, flüsterte Shan nun der stummen Gestalt zu. »Ich wurde vor mehr als vier Jahrzehnten in der Provinz Liaoning in der Nähe der Küste geboren.« Die Worte kamen einfach so über seine Lippen, ganz plötzlich, ohne bewußte Anstrengung. »Als ich noch sehr klein war, haben wir an Festtagen immer süße Reiskuchen angefertigt und zum Tempel gebracht. Aber manchmal habe ich einen davon gegessen, wenn meine Eltern gerade nicht hinschauten. Sie haben es nie bemerkt.« Er redete weiter und erzählte von Ereignissen, die ihm erst in jenem Moment wieder einfielen, von seinen vergessenen Cousins und der Art, wie seine Mutter den Ziegen Opernlieder vorsang, nachdem man sie beide in ein Arbeitslager geschickt hatte. Die Hände des Fremden waren wie zum Gebet gefaltet. Shan sah, daß etwas zwischen den Handfläche n lag und nur ein -438-
kleines Stück herausragte. Vielleicht ein Grashalm. Shan beugte sich mit der Lampe vor. Dabei stieß er gegen den Arm, so daß die obere Hand sich ein winziges Stück hob. Als Shan den Gegenstand sah, stockte ihm der Atem. Eine Feder. Man hatte dem Mann vor tausend Jahren eine Feder zwischen die Hände gelegt. Er lehnte sich zurück. Sein Herz klopfte wie wild. Dann streckte er langsam und ehrfürchtig den Arm aus und zog die Feder weit genug heraus, um sie genauer betrachten zu können. Es handelte sich um eine vertrocknete Eulenfeder, deren Schaft zu einem Viertel völlig blank war und die dennoch fast genauso aussah wie die Feder in Shans gau, die Gendun ihm vor ihrer Trennung gegeben hatte. Er starrte sie an, von Staunen erfüllt. Zeit verging, und er starrte immer noch. Nicht auf die Feder. Auf das Gesicht des Mannes. Auf seine langen zierlichen Finger. Dieser Mann war kein Hirte gewesen, sondern ein Künstler oder vielleicht auch ein Lehrer. Schließlich nahm Shan die Feder aus seinem gau, zog vorsichtig die Feder zwischen den Händen des Pilgers heraus und legte seine eigene an ihre Stelle. Er war absolut von der Rechtmäßigkeit seines Tuns überzeugt. Dann verstaute er die Feder des Pilgers, die tausendjährige Feder, in seinem gau und schloß sanft die Hände des Mannes, ohne auf die Gefühlswoge gefaßt zu sein, die über ihm zusammenschlug. Seine Hände zitterten. Als er sich beruhigt hatte, stellte er fest, daß sie auf den Händen des Pilgers lagen. Er schob die Gebetskette des Mannes über das Handgelenk und damit so dicht wie möglich an dessen Finger heran. Dann brach er in Tränen aus, ohne zu wissen, warum.
-439-
Kapitel Zwölf Sie ritten eilig durch die Nacht, drei Kamele auf dem Weg nach Yutian, mit Sophie und Marco an der Spitze. Marco forderte Shan auf, hinter ihm Platz zu nehmen, und obwohl der eluosi während der ersten beiden Stunden schwieg, fing er danach an, Shan von Kamelen und der Schönheit der hochgelegenen einsamen Orte zu erzählen, die er seine Heimat nannte. Kurz vor Einbruch der Dämmerung, als sie die Fernstraße nach Kashi überquerten und Sophie für die letzten Meilen in einen leichten Trab verfiel, stimmte Marco lauthals einige Lieder an: alte Lieder, russische Lieder, die man, wie er behauptete, normalerweise bei Trinkgelagen in langen Winternächten sang. Die Sonne stand seit einer Stunde über dem Horizont, als sie bei einigen niedrigen Schuppen am Fluß eintrafen, hinter denen sich eine Vielzahl von Viehgehegen erstreckte, beschattet von einer Reihe hoher Pappeln in den goldenen Farben des Herbstes. Die nächstgelegenen Gatter waren alle leer, aber in fünf oder sechs Gehegen am anderen Ende, in ungefähr hundert Metern Entfernung, tummelte sich eine Vielzahl von Pferden. Die Herden der Kasachen wurden zusammengetrieben. Marco band die Kamele im Schatten des ersten Gebäudes an und führte Shan auf eine flache Kuppe. Sie befanden sich am Stadtrand, weniger als sechzig Meter von der Hauptstraße entfernt, die bis zum Marktplatz verlief. Eine halbe Stunde später näherten Shan, Jakli und Lokesh sich den Wellblechschuppen der Hutfabrik. In der Nähe des Eingangstors standen und saßen zahlreiche Arbeiter, und als sie das Gelände betraten, rief jemand Jaklis Namen. Auf einer nahen Bank saß Akzu mit einem seiner Söhne und rauchte. Ihre Finger waren purpurrot ve rfärbt. -440-
»Du machst Hüte?« rief Jakli erstaunt aus. »Aber natürlich. Wundervolle Hüte«, erwiderte er und nickte Shan und Lokesh zu. »Ich wollte das schon immer mal versuchen, liebe Nichte«, sagte er und schaute auf seine befleckten Hände. »Vielen Dank für die Gelegenheit.« »Aber wieso…«, setzte Jakli an und verstummte sogleich wieder. Sie hatte erkannt, daß die beiden ihre Abwesenheit deckten. »Es hat keinen Sinn, ein unnötiges Risiko einzugehen, nicht so kurz vor dem nadam. Der Leiter hier ist Kasache. Er sagt, er wird bei Nachfrage niemanden schützen können, aber solange die Produktion über dem Soll liegt, werden nicht allzu viele Fragen gestellt«, erklärte Akzu, stand auf und streckte sich. »Zumindest solange die Einsatzkommandos nicht herkommen.« Er blickte zu einer Frau, die am Eingang des Hauptgebäudes erschien und ein Klemmbrett in der Hand hielt. »Da drinnen gibt es Anwesenheitszettel für die Arbeiter, Nichte. Geh hin und unterschreib ein paar.« »Aber die zheli…«, wandte Jakli ein. Akzu gebot ihr mit erhobener Hand Einhalt und schaute sich argwöhnisch um, bevor er leise antwortete. »Der Clan sucht auch weiterhin nach ihnen. Und nach Malik. Wir können ihn nicht finden. Zuletzt hat man ihn gestern eine Straße entlanggaloppieren gesehen, als würde er jemanden verfolgen.« Sein Blick richtete sich auf den südlichen Horizont. »Ich kehre heute abend in die Berge zurück. Einer deiner Cousins wird bis zum nadam hierbleiben.« Von einer nahen Bank ertönte ein leises Stöhnen. Dort saß ein alter Mann mit einem langen herunterhängenden Schnurrbart und starrte auf ein Stück Papier in seiner Hand. »Das geht schon seit gestern so«, sagte Akzu. »Er kam her und hat den Leiter um eine Erklärung gebeten, wo seine Schafe geblieben sind. Er dachte wohl, das Blatt wäre eine Art -441-
Landkarte oder Wegbeschreibung zu einer Weide.« »Seine Schafe?« fragte Shan. »Das da ist ein Anteilsschein der Brigade«, erläuterte Akzu verbittert. »Er hat seine Schafe bei der Brigade abgeliefert und dafür lediglich dieses Stück Papier erhalten. Sechzig Jahre mit seiner Herde und jetzt bloß noch ein Zettel.« Als Jakli einen Schritt auf den Mann zuging, als wolle sie ihn trösten, nahm Akzu sie beim Arm und führte sie zum Tor der Fabrik. Ihr Blick blieb auf den traurigen alten Hirten gerichtet. Zehn Minuten später hatten Shan und Jakli das Schulgelände erreicht. An dem bröckelnden Betonpfosten der Zufahrt lehnte ein struppiger Besen. Lokesh nahm ihn. »Sauberkeit ist eine vernachlässigte Tugend«, sagte er zwinkernd. Shan nickte lächelnd. Lokesh würde am Tor warten und aufpassen. Im Schatten des Eingangs blieben Shan und Jakli stehen und hielten nach Anzeichen der Kriecher Ausschau. Da sie nichts Verdächtiges bemerkten, eilten sie durch den leeren Korridor zu Laus Büro. Dort suchten sie erneut nach weiteren Informationen über die zheli. In ihrem Schreibtisch. Im Computer. An der Unterseite der Schubladen. Nichts. Seit ihrem letzten Besuch hatte man einige der Fotos entfernt und manche davon einfach abgerissen, so daß noch ein paar Reste an der Wand hingen. Jemand anders war ebenfalls hierher zurückgekehrt, um etwas zu suchen. Aber was? Das Foto des Dalai Lama, das Jakli beim letztenmal mitgenommen hatte? Sie machte sich auf den Weg in die anderen Gebäude, weil sie die Schüler in den Klassenzimmern nach etwaigen Hinweisen auf die vermißten Kinder der zheli befragen wollte. Nachdem sie gegangen war, stellte Shan fest, daß im gegenüberliegenden Büro Licht brannte. Er ging zu der Tür, die einige Zentimeter offenstand, und warf abermals einen Blick auf das kleine handgeschriebene Schild. -442-
Religion ist Opium für das Volk. Er schaute zurück. Immer wenn Lau ihr Büro verlassen hatte, mußte das Schild sich genau vor ihr befunden haben. Von drinnen waren Stimmen zu hören. Als Shan die Tür aufstieß, sah er zunächst den kleinen dicken Mann, den er bereits im Reislager kennengelernt hatte. Komiteevorsitzender Hu trug heute einen ausgebeulten braunen Strickpullover und saß, zur Rückwand des Büros gewandt, auf der Kante seines Schreibtisches, während er in begeistertem Tonfall auf einen hochgewachsenen schlanken Mann einredete, der dort an der Fensterbank lehnte. Kaju Drogme. Die beiden hielten inne und sahen Shan an, als dieser das Büro betrat. Der Han-Chinese hielt etwas in der Hand, das er Kaju soeben zu erklären schien - ein flaches, glänzendes graues Kästchen mit gerundeten Ecken, an dessen Rückseite ein Kopfhörer eingesteckt war. Der Mann hob fragend die Augenbrauen, aber sein strahlender Gesichtsausdruck veränderte sich nicht. Shan nickte Hu zu. »Ich sehe mir nur noch mal Laus Büro an«, sagte er. Hu schien nicht nur keineswegs überrascht zu sein, sondern wirkte geradezu dankbar, als sei die Bemerkung eine Aufforderung gewesen. »Ein Selbstmord, das habe ich doch gleich gesagt«, rief er seltsam fröhlich. »Ganz eindeutig ein Selbstmord. Sie war in Ungnade gefallen und hatte ihren Sitz im Rat verloren. Ihr Ruhestand lag nicht mehr fern, und sie hatte weder eine Perspektive noch eine Familie.« Shan trat näher. Das Kästchen war irgendein Abspielgerät für Musik. Auf dem Deckel sah er das Markenzeichen einer japanischen Firma, und auf dem Schreibtisch lagen ein Plastikbeutel und eine Bedienungsanleitung. »Genau einen Tag vorher kam Genosse Ko zu ihr und sagte, sie sei jederzeit in Urumchi willkommen. Dort gäbe es ein großes Gebäude, ein richtiges Hochhaus nur für Bürger im -443-
Ruhestand. Eine ganze Reihe unserer Revolutionshelden leben dort und halten jede Woche Reden über die Befreiungskämpfe. Ko sagte, er würde nach Urumchi fahren, und sie solle ihn begleiten, um sich das Haus einmal anzusehen. Auf Kosten der Brigade.« Hu schüttelte den Kopf und schaute von Shan zu Kaju und wieder zurück. »Aber Lau wollte nicht. Sie hat sich aufgeführt, als hätte Direktor Ko ihr einen Tritt verpaßt. Dann mußte sie sich hinsetzen, so sehr war sie außer Atem. Ach, sie war viel zu altmodisch.« Er senkte seine Stimme und beugte sich zu Shan. »Sie hat sich zu sehr isoliert und sich dadurch von der sozialistischen Gemeinschaft entfernt. Eine unterschwellige Reaktionärin.« Er nickte wissend. »Gehen Sie, habe ich gesagt. Erkennen Sie denn nicht, was dieses Angebot bedeutet? Man bietet Ihnen eine Rehabilitierung an. Das habe ich denen im Lager auch gesagt und alles für sie aufgeschrieben.« Jetzt, da sein Aufenthalt im Reislager hinter ihm lag, war Hu weitaus geschwätziger als zuvor. Er hatte eine Geschichte zu erzählen und außerdem seine Stelle zurückbekommen. Bei dem Zusammentreffen im Lager Volksruhm hatte er Shan gegenüber noch behauptet, es gäbe über Lau nichts Besonderes zu berichten. Doch Anklägerin Xu hatte ihn eine Weile schmoren lassen, um ihm Zeit zum Nachdenken zu geben. »Es ist Ihnen also gelungen, das Lager Volksruhm zu verlassen«, stellte Shan fest. »Das ist wirklich kein geeigneter Ort für einen Mann wie Sie.« Hu nickte energisch. »Es wurde langsam unerträglich. Wie in einem Irrenhaus, das von den Patienten übernommen wird.« »Wie meinen Sie das?« »Das lag nur an diesen Männern, diesen Verrückten, die für Unruhe gesorgt haben.« »Unruhe?« fragte Shan. »Einer dieser verdammten Spinner ohne Daumen. Na ja, eigent lich nicht er - er hat bloß übersetzt.« -444-
Shan sah die beiden Männer verwirrt an. »Dieser senile alte Sibo konnte sich irgendwie mit dem Daumenlosen verständigen. Eines Morgens um drei hat man sie alle im Kreis auf dem Boden hockend vorgefunden, die gesamte Baracke. Der Daumenlose und der Sibo saßen vor den anderen und leierten im Singsang die politischen Parolen herunter, die man ihnen am Vortag beigebracht hatte. Als der zuständige Offizier hereinstürmte und nach einer Erklärung verlangte, hat der alte Sibo sich mit Hilfe des anderen Mannes dazu geäußert. Er sagte, dieser besondere Pfad zur Erleuchtung, der hier im Lager gelehrt werde, sei ihm leider nicht vertraut, und daher sei es wichtig, durch dauernde Übung Perfektion zu erlangen, da die Erleuchtung stets oberstes Ziel bleiben müsse. Danach waren alle aus dieser Baracke wie verwandelt. Sie blieben gehorsam und höflich und haben ständig wie Idioten gegrinst. Der Offizier war wütend, aber die Gefangenen verstießen damit gegen keine Vorschrift. Der Sibo wurde ab diesem Zeitpunkt von den anderen getrennt und durfte nur allein umherwandern. Meistens saß er am Bett irgendeines Mongolenjungen, der nicht laufen konnte.« Shan seufzte. Er erinnerte sich daran, den Wasserhüter neben dem Fahnenmast gesehen zu haben. Vielleicht erhöhte es wenigstens seine Chance auf Rettung, wenn der alte Mann sich frei auf dem Gelände bewegen durfte. Shan hatte sich geschworen, zum Lager Volksruhm zurückzukehren und eine Flucht des alten Tibeters zu ermöglichen, sobald alle Jungen in Sicherheit waren. Er bemerkte, daß Kaju den chinesischen Lehrer verblüfft anstarrte. »Soll das heißen, ein Lama befindet sich im Lager?« fragte Kaju. Hu lachte. »Nein, kein verdammter Lama. Bloß ein verrückter Sibo.« Kaju beugte sich vor und schien den Mann eines Besseren -445-
belehren zu wollen, doch dann zuckte er die Achseln und sah auf seine Hände hinab. »Was haben Sie damit gemeint, daß Ko anbieten würde, Lau zu rehabilitieren?« fragte Shan. »Ko wird so oft mißverstanden. Er hat wirklich nur die besten Absichten. Genosse Direktor Ko hat Lau auf seine Weise mitgeteilt, daß man ihr all die unerlaubten Lehrstunden und Veruntreuungen verzeihen würde. Nehmen Sie diese Ruhestandswohnung an, habe ich gesagt. Es gibt dort Aufzüge. Und Fernsehen.« »Was für Veruntreuungen?« fragte Shan. Kaju lehnte noch immer am Fenster und bedachte den chinesischen Lehrer mit einem unschlüssigen Blick. »Die unbefugte Nutzung von Fahrzeugen des Bildungsministeriums. Dann hat sie Papier und Bleistifte des Ministeriums aus der Schule mitgenommen. Nahrungsmittel aus der Schulküche. Ganz zu schweigen von dem nicht genehmigten Lehrplan oder der Förderung religiöser Praktiken.« »Der Vorsitzende Mao hat uns gelehrt, wachsam zu sein«, verkündete Shan formelhaft. »Er hat uns vor der Religion gewarnt.« »Genau!« pflichtete Hu ihm bei und drehte sich mit triumphierendem Lächeln zu Kaju um. »Ein guter Bürger wie Sie würde doch bestimmt alles in seiner Macht Stehende tun, um dem ein Ende zu bereiten«, vermutete Shan. Hu nickte feierlich. »Zuerst habe ich versucht, sie zu warnen. Ich bin jetzt seit fünfunddreißig Jahren Lehrer. Ich war auf der Universität von Urumchi. So wird das nicht gemacht, habe ich zu ihr gesagt. Sie war ohne jede pädagogische Ausbildung. Was sie tat, hat nie irgendwelchen Richtlinien entsprochen.« Shan sah auf das Gerät in der Hand des Mannes. »Inzwischen -446-
hat sich manches verändert«, sagte er. Im Lager Volksruhm gab es Kartons mit dem gleichen Logo. Direkt daneben hatte Shan einen toten Amerikaner gefunden. Und dann waren ihm ebensolche Kisten bei Osman in Karatschuk aufgefallen. Hatte Osman die Kriecher bestohlen? Nein. Nicht die Kriecher verteilten diese Geräte, sondern die Brigade, und sie bediente sich dabei aus den Vorräten der Kriecher, obwohl jedermann beharrlich versicherte, Ko und Bao würden niemals zusammenarbeiten. Hu folgte Shans Blick. »Von Direktor Ko! Es gehört zu dem neuen Prämienplan. Schlechtes Verhalten wird auch weiterhin bestraft, aber zusätzlich gibt es jetzt Belohnungen für die aufrichtigen Bürger.« Kaju besaß ebenfalls eines dieser Geräte. Es lag in der verschlossenen Plastiktüte auf dem Fensterbrett. Er nahm es. »Die Waisen«, sagte der Tibeter. »Alle Waisen, die wieder am Unterricht teilnehmen und sich unserem neuen Programm anschließen, werden einen CD-Player erhalten. Sie…« Er wurde durch ein lautes Summen unterbrochen, das aus den Lautsprechern im Gang ertönte. Hu stand abrupt auf. »Mein Unterricht fängt an«, verkündete er und holte aus einer Schublade eine Baseballmütze hervor. »Politische Geschichte.« Er setzte die Mütze auf, zog sich den Schirm tief ins Gesicht und musterte Shan und Kaju, als wolle er sie zum Gehen auffordern. »Wir brauchen nur noch ein paar Minuten«, versicherte Shan. »Wegen der Ermittlungen.« Der Mann nickte ernst und eilte aus dem Zimmer. Kaju Drogme sah erst Shan und dann den CD-Player in seiner Hand an. Er zuckte die Achseln. »Diese Kinder«, sagte der Tibeter und klang dabei ein wenig verlegen. »Sie wissen ja kaum, was Radios sind. Allenfalls haben sie in der Stadt schon mal einen Kassettenrekorder gesehen. Aber falls sie später in -447-
einer größeren Stadt leben sollten, könnten sie sich eines Tages womöglich sogar eine CD kaufen, um sie mit diesem Gerät abzuspielen.« »Sofern sie Geld hätten«, fügte Shan hinzu. Kaju lächelte matt, als wolle er sich bei Shan bedanken, daß dieser seinen schlechten Scherz verstanden hatte. »Ich habe Freunde in Chengdu«, sagte er, ohne den Blick von dem CDPlayer abzuwenden. »Vielleicht könnten sie mir ein paar alte CDs schicken.« Er zuckte abermals die Achseln und sah Shan an. »Sie waren neulich bei der Werkstatt. Als der Tibeter mich gewarnt hat, daß jemand die Kinder ermordet.« »Was hat Ko mit den Waisen vor? Wieso diese Eile?« »Nicht Waisen«, sage Kaju. »Es gab einen Rundbrief. Wir sollen sie als Aufstrebende Mitglieder bezeichnen.« »Mitglieder wovon?« Kaju zögerte. »Das stand nicht in dem Brief. Mitglieder der Schule, der Gesellschaft, des Sozialismus.« Er zuckte zum drittenmal die Achseln. Die Geste schien typisch für ihn zu sein. »Gemäß den neuen Richtlinien der Brigade verteilt Ko an jedermann Belohnungen. Das war nicht allein seine Idee, sondern kam aus Urumchi, aber Ko möchte, daß dieser Bezirk die Führungsrolle der Initiative übernimmt. Falls ich es schaffe, alle Kinder innerhalb der nächsten beiden Wochen zurückzuholen, bekomme ich dafür eine besondere Wohnung zugewiesen, wie sie sonst den Brigadeleitern vorbehalten bleibt. Außerdem Nutzungsrecht für den Fuhrpark. Und einen Titel: Direktor für Wirtschaftsangleichung.« »Wirtschaft?« Kaju nickte. »Er sagt, die Integrationsprogramme seien bislang vor allem deshalb fehlgeschlagen, weil sie stets auf politische Aspekte beschränkt blieben. Kaum jemand würde begreifen, daß man auf wirtschaftlicher Ebene viel eher eine Annäherung der Menschen bewirken könne. Nutze die -448-
gemeinsamen kulturellen Anliegen, um daraus gemeinsame Wirtschaftsinteressen zu formulieren und die Leute dadurch zu vereinen. So definiert Direktor Ko meine Aufgabe. Er sagt, die Brigade sei das beste Beispiel dafür. Ein Unternehmen, zu dessen Anteilseignern Han-Chinesen, Kasachen, Uiguren, Kirgisen, Tadschiken, Sibo, Hui und vermutlich noch zehn weitere Kulturgruppen gehören, die alle erfolgreich zusammenarbeiten. Niemand unterscheidet zwischen chinesischen und kasachischen Eignern. Es zählt nur, daß sie beteiligt sind.« Der tibetische Lehrer schaute wieder auf den CD-Player. »Das hier ist lediglich keine geeignete Belohnung, mehr nicht. Ko möchte den Kindern wirklich aufrichtig helfen, ihren Weg in die neue Gesellschaft zu finden. Seine Begeisterung wird manchmal mißverstanden. Ich werde mit ihm sprechen. Vielleicht neue Sättel. Vielleicht sogar Fohlen aus dem Brigadebestand. Fohlen wären perfekt.« »Nicht unbedingt«, gab Shan zu bedenken. »Ich dachte, Pferde seien als reaktionär verschrien. Die Kriecher sollen alle Tiere in Gewahrsam nehmen.« Das Gesicht des Tibeters umwölkte sich, und er zuckte erneut die Achseln. »Sie verstehen Ko einfach nicht. Er will Gutes tun. Vor ein paar Tagen hat er ganz aus eigenem Antrieb ein neues Kinder-Gesundheitsprogramm ins Leben gerufen.« »Gesundheitsprogramm?« Kaju nickte energisch. »Eine zusätzliche Unterstützung aus den Mitteln der hiesigen Brigade für die Säuglingsstation der Klinik. Ko sagt, auf diese Weise ließe sich Vertrauen schaffen.« Shan betrachtete ihn verwirrt. Konnte es sein, daß er sich tatsächlich in Ko getäuscht hatte? Immerhin war dieser Mann ein Geschöpf der neuen Wirtschaftslehre, ein Gebiet, auf dem Shan sich überhaupt nicht auskannte. »Sie sagen, es habe ein Rundschreiben aus Urumchi gegeben?« fragte er. »Ja, wegen der Geschenke. Ko hat heute jedem Lehrer eine -449-
Kopie auf den Tisch legen lassen.« Er sah Shan an, und seine Fröhlichkeit verschwand. Dann blickte er kurz zur Tür, als wolle er sichergehen, daß ihn niemand belauschte. »Wie konnten Sie neulich bei der Werkstatt wissen, daß die Kinder gefährdet sind? Dieser Tibeter, der bei Ihnen war, hat gesagt, jemand würde sie ermorden. Und zwei Tage später wird dann wirklich einer der Jungen umgebracht.« »Er war bereits das dritte Opfer. Wir kamen an jenem Tag von den Gräbern der anderen beiden.« Kaju runzelte tadelnd die Stirn. »Nein«, beharrte er. »Das verstehen Sie falsch. Die Fälle, die Sie meinen, gehen auf eine Blutfehde zurück. Ko hat das bei einem Treffen der Brigade erklärt. Die Öffentliche Sicherheit war auch anwesend. Manchmal werden Dritte unfreiwillig in die Kämpfe der rivalisierenden Clans verwickelt. Ein Überbleibsel der alten Bräuche und zugleich der beste Beleg dafür, daß die Clans integriert und in das Programm zur Beseitigung der Armut aufgenommen werden müssen. Falls das nämlich nicht geschieht, wird die Öffentliche Sicherheit am Ende gar keine andere Wahl haben, als ihnen gewaltsam das Handwerk zu legen.« Shan sah hinaus in den Gang, wo alles ruhig blieb, und dann wieder zu dem Tibeter. »Kaju«, sagte er sehr leise, so daß der Lehrer sich zu ihm vorbeugte. »Lau wurde ermordet. Gefoltert und dann ermordet.« Der Tibeter sah ihm forschend in die Augen und schien dort nach etwas zu suchen. Dann legte er die Stirn in Falten und schüttelte den Kopf, als sei er enttäuscht. »Diese Art von Gerede hilft wirklich niemandem weiter«, sagte er. »Weder den Kindern noch den Clans. Und auch nicht den Integrationsbemühungen.« Er ging an Shan vorbei auf den Flur, drehte sich um und senkte die Stimme. »Sie klingen wie einer dieser Radikalen von der lang ma. Lassen Sie das bloß niemand anderen…« Er wurde durch ein weiteres Signal aus den Lautsprechern unterbrochen, -450-
ein zweistimmiges Läuten. Dankbar blickte er auf. »Ich habe jetzt eine Sitzung«, verkündete er mit einem letzten Achselzucken, klemmte sich den CD-Player unter den Arm und eilte mit großen Schritten auf die Hintertür des Gebäudes zu. Shan wartete ein paar Sekunden und beobachtete, wie Kaju den Schulhof überquerte und eines der anderen Gebäude betrat. Dann schlug er leise den Weg zum Vordereingang ein. Auf halber Strecke vergewisserte er sich, daß niemand sonst sich im Korridor befand, und betrat ein leeres Büro. Dort auf dem Schreibtisch lagen zwei Blätter. Ein Memo von Direktor Ko und das Rundschreiben aus Urumchi bezüglich der Wirtschaftsangleichung. Als Absender fungierte die Zentrale der Volksentwicklungs- und Aufbaugesellschaft. Shan faltete das Papier zusammen und steckte es ein. Jakli erwartete ihn an der Tür, und Lokesh fegte noch immer den Boden am Tor und sang dabei vor sich hin. Als der Tibeter die beiden anderen herankommen sah, nahm er einen Leinenbeutel, der am Torpfosten lehnte, und streckte ihn Jakli entgegen. »Ein Mann war hier und hat dies für dich abgeliefert«, sagte er. »Ein Uigure, glaube ich. Er sagte, sein Name sei Mao.« Jakli nahm den Beutel nur zögernd, aber als sie ihn öffnete, verwandelte die Vorsicht sich schlagartig in Freude. Sie zog ein Pferdezaumzeug hervor, dessen prächtige schwarze Lederriemen mit Silber verziert waren. »Nikki!« rief sie und rannte dann die Straße hinunter. »Ich habe mit dem Mao gesprochen«, sagte Lokesh, stützte sich auf den Besen und blickte Jakli hinterher, die in Richtung der Viehställe verschwand. »Kublai wurde außerhalb der Stadt begraben. Es kamen vie le Leute, und sie riefen immerzu den Namen dieser Frau. Niya.« Er nickte zur gegenüberliegenden Straßenseite, wo jemand erst kürzlich eines der Plakate von Niya Gazuli angeklebt hatte, die Shan bereits vom Marktplatz kannte. »Außerdem soll ich dir ausrichten, daß einer der Schuhe des Jungen gefehlt hat. Der Mao sagte, du würdest schon -451-
verstehen.« Aber Shan verstand überhaupt nichts. Es war, als sei der Mörder hinter Schuhen her. Lokesh schaute wieder zu dem Plakat, als würde er sich mit der rothaarigen Frau verständigen. »Auch die Kriecher haben an der Bestattung teilgenommen. Das muß man sich mal vorstellen… Die Kriecher kommen, um einen Jungen zu beerdigen.« Als sie Jakli bei den Gehegen wieder einholten, vollführte sie mit Marco soeben einen Freudentanz. Der eluosi schwenkte das Zaumzeug über dem Kopf. Dann fielen die beiden sich in die Arme. »Ist Nikki zurück?« fragte Shan. Marco nickte lebhaft. »Noch nicht ganz. Aber er hat die Grenze überschritten und befindet sich in der Nähe. Die Packtiere sind langsam. Er hat jemanden vorausgeschickt.« Dann hielt er plötzlich inne und sah Jakli an. »Es gibt viel zu tun. Nur noch eine Woche.« Er zurrte das Geschirr der Kamele fest und summte dabei eine Melodie. »Jetzt wird alles gut«, sagte Jakli und streichelte Sophie. »Nikki wird Rat wissen. Nikki kann…« Die Worte erstarben ihr auf den Lippen. An der Vorderseite des Schuppens war eine Gestalt aufgetaucht, ein verdreckter Junge mit zerzaustem schwarzem Haar. Sein schmutziges rotes Hemd war an mehreren Stellen zerrissen, und sein ausgemergeltes Gesicht zeugte von großer Erschöpfung und Angst. »Batu!« rief Jakli und sah ihn erschrocken an. »Ich bin einfach nur gerannt«, sagte der Junge keuchend. »Ohne Ziel. Einfach nur gerannt. Ich habe angehalten und etwas getrunken, und dann bin ich weitergelaufen.« Seine Stimme zitterte, und er schaute sich fortwährend um. »Dann habe ich euch auf der Straße gesehen und bin euch gefolgt.« -452-
Jakli sprang vor und umarmte das Kind. »Der Clan«, sagte sie und drückte den Kopf des Jungen an ihre Brust. »Wo ist dein Clan?« »Ich habe von den toten Jungen gehört. Letztes Mal wurde auch ein Lamm ermordet«, erwiderte der Junge mit einem langgezogenen Schluchzen. »Falls das Ding auch hinter mir her ist, will ich nicht, daß es zu dem Clan kommt. Die Leute sind gut zu mir gewesen. Und auch sie haben Lämmer.« Er blickte zu Jakli auf. Batu. Shan brauchte die Liste der zheli nicht aus der Tasche zu ziehen, denn er hatte sich die Namen eingeprägt. Batu War der dritte Junge von oben. Der nächste. »Ich habe nichts getan«, sagte Batu und mußte wieder schluchzen. »Warum will denn jemand…« Jakli hielt den Jungen auf Armeslänge von sich, um ihn anzuhören. Dann legte sie ihm einen Finger auf den Mund und brachte ihn zum Verstummen. Sie drückte ihn und streichelte seinen Kopf. »Khoshakhan, khoshakhan«, flüsterte sie. Das Wort, um die Lämmer zu trösten. Dann sah sie erst Marco und Shan und schließlich Lokesh an. Ihr Antlitz war ernst und entschlossen. »Ich muß gehen«, sagte sie. »Ich muß den Maos bei der Suche nach den anderen helfen. Sie kennen sich dort nicht so gut aus wie ich.« Sie wandte sich an Shan. »Ich weiß vielleicht, wo die Schattenclans sind.« »Ich komme mit«, rief Lokesh aufgeregt, ohne den Jungen aus den Augen zu lassen. »Ich muß ihn finden.« Jakli musterte den alten Tibeter mit feuchten Augen. Einen Moment lang glaubte Shan, sie würde auch Lokesh umarmen und das Trostwort murmeln. »Nein«, sagte sie entschieden wie zu einem Kind. Dann legte sie Lokesh eine Hand auf die Schulter und schob ihn sanft auf Shan zu. »Ich gebe euch für den Jungen etwas zu essen mit«, bot -453-
Marco an und griff in eine seiner Satteltaschen. »Aber ich bleibe in der Stadt«, sagte Shan mit einem besorgten Blick auf Lokesh. »Ich werde hier übernachten. Ich muß die Anklägerin aufsuchen, das habe ich versprochen.« »Unmöglich!« rief Jakli, dann jedoch schien sie die Entschlossenheit in Shans Miene zu registrieren und runzelte die Stirn. Marco reichte dem Jungen einen Apfel, über den Batu sich sofort gierig hermachte. »Nein«, sagte Jakli in neuem, beharrlichem Tonfall und schaute in Richtung Stadt. »Nicht dort, nicht in einer von Xus Fallen. Morgen nachmittag. Um drei Uhr an der Tankstelle, wo uns der Reislaster abgeholt hat. Auf unserem Gebiet.« »Ich brauche etwas zu essen für die anderen«, sagte Batu zögernd. »Die anderen?« wiederholte Jakli. Dann schien sie es zu begreifen, kniete sich neben den Jungen und legte ihm eine Hand auf den Arm. »Du weißt, wo die anderen Jungen der zheli sind?« Der Junge sah sich argwöhnisch um. »An einem Ort, der das Feld der alten Lamas heißt. Dort ist es sicher, ganz hoch im Gebirge. Ich wollte dorthin. Khitai hat gesagt, die Berggötter würden uns beschützen.« Lokesh hob wachsam den Kopf. »Soll das heißen, er hat dich dorthin mitgenommen?« fragte Shan. »Ja. Zum erstenmal vor ein paar Jahren, als er erst sieben war. Er kannte den Ort selbst nicht, aber er hat irgendwie gespürt, wohin er sich wenden mußte. Als er dort ankam, hat er immerzu gelacht, als hätte er einen alten Freund gefunden. Es sind bloß ein paar eingestürzte alte Mauern. Aber mit einem wunderschönen Gemälde. Ich glaube, daß Khitai jetzt dort ist. Vielleicht will er Blumen pflücken, wegen der Aufgabe.« -454-
»Welche Aufgabe?« fragte Shan. »Laus letzte Aufgabe. Wir sollten Herbstblumen sammeln. Beim Feld der Lamas sind sie immer besonders schön, hat sie gesagt.« Shan sah Jakli an und mußte an die Blumen vor Laus Höhle denken. Einige der anderen Kinder hatten ihre Hausaufgabe bereits erfüllt. »Khitai weiß, daß einer der Schattenclans in den Bergen oberhalb des Feldes Schafe weiden läßt«, fuhr Batu fort. »Dorthin wird er vielleicht gehen, sobald er die Blumen hat. Es ist der Clan, bei dem Suwan war.« Lokesh richtete sich kerzengerade auf, fast wie ein einsatzbereiter Soldat. Suwan hatte das Lager des Roten Steins besucht und war gestorben. Aber sein Clan war womöglich mit einem anderen Jungen der zheli, nämlich mit Khitai, von dort aufgebrochen, ohne von Suwans Schicksal zu erfahren. Immerhin wußten alle, daß Laus Kinder manchmal die Familien wechselten. Jakli ging einige Schritte und ließ den Blick in die Ferne schweifen, als würde sie ihre Gedanken sammeln. Dann drehte sie sich um. »Ich kenne den Ort. Er liegt bei einem alten russischen Jagdhaus«, sagte sie und sah dabei Marco an. »Kommt gar nicht in Frage…«, protestierte der eluosi. »Sie können nirgendwohin«, drängte Jakli. »Und du kannst nicht hierbleiben. Die Brigade bringt ständig Pferde her.« »Das wollen wir doch erst mal sehen…«, rief Marco, aber dann sah er Jakli an und atmete hörbar aus, so daß ein Laut über seine Lippen kam, der halb wie ein Pfeifen und halb wie ein verächtliches Schnauben klang. Wütend drehte er sich zu Shan um. »Da könnte man genausogut gegen die Wand spucken«, nörgelte er. Sophie wandte den Kopf, stieß ein kicherndes Geräusch aus und zeigte Marco dabei die ausgestreckte Zunge. »O mein Gott«, murmelte er, »nicht du auch noch.« -455-
Dann nahm Jakli die Hand des Jungen und legte sie auf einmal in Shans Hand. Shan war dermaßen überrascht, daß er seinen Arm beinahe zurückgerissen hätte. Er stand schweigend da und war im ersten Moment weder in der Lage, dem Jungen auch nur in die Augen zu schauen, noch den plötzlichen beißenden Geschmack der Angst auf seiner Zunge oder den Gefühlsaufruhr in seinem Innern zu begreifen. Langsam hob er den Blick und sah, daß Batu ihn zögernd und unsicher anlächelte. Eigentlich konnte Shan mit Kindern umgehen und auch gut mit ihnen reden, so wie er sich zum Beispiel vertraulich mit Malik unterhalten hatte. Aber das hier war Laus Junge. Einst hatte auch Shan einen solchen Jungen gehabt, einen Sohn, und er hatte ihn verloren, als der Kleine in Batus Alter gewesen war. »Das ist Shan«, hörte er Jakli sagen. »Er ist ein Freund von Tante Lau.« Shan fand sich auf den Knien vor Batu wieder und sah, daß er die offenen Schnürsenkel des Jungen zuband. Seine Hände drückten aus, was sein Herz längst empfand. Während Jakli den Beutel mit dem Zaumzeug an Sophies Sattel hängte, holte Marco ein braunes Hemd aus der Packtasche und wies Batu an, es über sein rotes Hemd zu streifen. Dann beugte der eluosi sich dicht neben das Ohr des Kamels. Sophie gab ein leises wieherndes Geräusch von sich, und Marco richtete sich wieder auf. »Okay, steigt auf«, sagte er mit hochgezogenen Brauen, als wolle er seine Überraschung zum Ausdruck bringen. »Sie sagt, es ist in Ordnung. Aber…«, er deutete auf Shan, »Sie übernehmen die Stiefel, und…«, fügte er hinzu und wies auf Lokesh, »… du die Taschen.« Er ignorierte ihre fragenden Blicke, führte Sophie aus dem Schuppen und trat ins Tageslicht hinaus. Dann drehte er sich um. »Eines noch. Sie sagt, falls einer von euch jemals auch nur ein Sterbenswörtchen darüber verliert, wohin wir unterwegs sind und auf welchem Weg wir dorthin gelangen, wird der blaue Wolf euch aufspüren und -456-
verschlingen.« Batu nickte ernst und starrte Sophie mit großen Augen an. Jakli nahm den Jungen ein weiteres Mal in den Arm. »Du bist jetzt in Sicherheit«, sagte sie, ließ ihn los und warf Marco und Shan einen kurzen Blick zu. »Drei Uhr morgen nachmittag«, erinnerte sie die beiden und lief dann in Richtung der Stadt davon. Die anderen brachen ebenfalls auf und sahen schon bald einen Friedhof am anderen Flußufer. In der Nähe der Böschung entdeckten sie ein frisches Grab, neben dem ein kleines braunweißes Pferd stand und den Kopf hängen ließ. Sie hielten an und nahmen die Szene genauer in Augenschein. »Die meisten der zheli haben gar kein eigenes Pferd«, erklärte Batu. »Kublai hat letztes Jahr einen ganzen Monat lang gesungen, nachdem sie es ihm geschenkt hatten.« Der Kasachenjunge seufzte wie ein alter Mann, ohne das Tier aus den Augen zu lassen. »Jetzt seht nur, wie sehr es leidet.« Die drei Kamele trabten das Tal hinauf und folgten dabei einem Pfad, der parallel zum Fluß verlief. Dann gelangten sie über eine lange Kammlinie in eine Gegend, die Shan bekannt vorkam; es war das kleine Tal, in dem Laus Hütte stand. Als sie das Gebäude passierten, schaute Shan den bewaldeten Hang hinauf zu der Höhle, in der Lau lag und darauf wartete, daß ihr Gerechtigkeit widerfuhr. Das Tal lag bald wieder hinter ihnen. Die Sonne hatte bereits den Zenit überschritten, als Marco das Tempo verringerte und an einem Teich unterhalb eines kleinen Wasserfalls hielt. Sie befanden sich tief im Kunlun, und der Wind wehte kühl und frisch von den Eisfeldern zu ihnen herab. Marcos Blick wanderte ruhelos über den Horizont. »Falls etwas passiert, tut ihr genau das, was ich tue«, sagte er wie unter einer dunklen Vorahnung. »Reagiert schnell. Redet -457-
nicht. Hört mir zu. Hört auf die Kamele.« Batu ritt mit Shan auf dem Kamel hinter Sophie. Sie folgten dem silberweißen Tier nach Südwesten und konnten stellenweise weit in die ferne Wüste hinausblicken. Dann fiel der Pfad plötzlich steil in ein langgezogenes Tal ab, dessen Hänge mit Geröll und braunem Gras bedeckt waren und auf dessen Grund ein schneller Bach strömte. Der Weg, auf dem sie sich befanden, war auffallend breit, als hätte man ihn einst als regelmäßige Reisestrecke angelegt. Batu wies auf Einzelheiten hin, die Shan gar nicht wahrgenommen hatte. Ein Pfeifhase, der sich die Wangen mit Gras vollstopfte, das ihm als Wintervorrat dienen würde. Ein Adler, der hoch über dem benachbarten Berggrat schwebte. Auf einmal blieb Sophie stehen. Shan erschrak, entspannte sich jedoch wieder, als er sah, daß Marco sich nicht nach irgendeiner Bedrohung ums chaute. Dann wurde ihm klar, daß der eluosi Sophies Kopf beobachtete. Das silberne Kamel reckte die Nase in Richtung Westen und stieß einen gellenden Schrei aus. Marco sprang aus dem Sattel. »Ein Hubschrauber!« brüllte er und rief dann mehrere Worte auf russisch. Die Kamele liefen in verschiedene Richtungen auseinander, während ihre Reiter abstiegen und zu Boden fielen. Auch die Tiere ließen sich nieder, falteten die Beine unter den Leibern und legten ihre Köpfe eng an die Schultern. Shan hörte Lokesh irgendwo in der Nähe lachen. Er warf einen Blick über die Flanke des Kamels und sah, daß Marco sich dicht an Sophie drängte und im Schatten ihres Körpers verschwand. Lokesh tat es ihm unter lautstarkem Gelächter nach. Die Tiere und ihre Reiter würden auf diese Weise einfach wie drei weitere Felsblöcke in der graubraunen Landschaft wirken. Deshalb hatte Marco auch dafür gesorgt, daß Batu sein rotes Hemd bedeckte. Aus einem schnell fliegenden Überwachungshelikopter würde man sie leicht übersehen. Ein tiefes heulendes Knattern hallte durch das Tal, so daß -458-
Shan fast in Panik geriet, weil er fürchtete, Lokesh und der Junge könnten festgenommen werden. Dies war die typische Vorgehensweise der Armee und der Kriecher. Um die Nomaden einzuschüchtern, stießen sie buchstäblich aus heiterem Himmel auf die Hirten herab und führten Ausweiskontrollen durch oder suchten nach illegalen Waffen. Man kann sich vor den Chinesen nicht verstecken, hatte ein alter dropka einst zu Shan gesagt. Sie haben Maschinen mit Gewehren, die in den Wolken leben. Shan sah den Hubschrauber über dem Felsgrat auftauchen. Dann zog jemand seinen Kopf nach unten und drückte ihn gegen das Kamel. Batu. Nachdem das Heulen des Motors verklungen war, wartete Marco noch zehn Minuten ab und rief den Kamelen dann ein einziges kurzes Wort zu, woraufhin die Tiere ihre Köpfe hoben. Kurz darauf folgten sie in schnellem Trab dem weiteren Verlauf des Pfades. Eine Viertelstunde später richtete Lokesh sich im Sattel auf. »Lha gyal lo!« schrie er und winkte, um Shans Aufmerksamkeit zu erregen. »Das Feld!« rief Batu. Als Shan mit den Augen Lokeshs ausgestrecktem Arm folgte, erkannte er, daß sie das Lamafeld zuvor bereits besucht hatten. Dort vor ihnen auf der Spitze der steil aufragenden Felsformation flatterte die große rote Gebetsfahne im Wind. Batu führte sie zu einem kleinen Vorsprung, der knapp dreihundert Meter von dem Flaggenfelsen entfernt lag. Einige niedrige Steinhaufen ließen hier die Umrisse eines früheren Gebäudes mit vier Zimmern erkennen. Es war direkt an der Wand und mit Blick auf die steile Felsformation errichtet worden. Ein Ort für Einsiedler. »Auf der anderen Seite stehen noch ein paar Wände«, erklärte Batu aufgeregt, als sie abstiegen. »Man kann dort die Gesichter tibetischer Götter sehen.« Er rannte zu den Ruinen und blieb alle paar Sekunden stehen, um -459-
mit lauter Stimme zu versichern, daß keine Gefahr drohe, sondern lediglich Batu und einige gemeinsame Freunde eingetroffen seien. Sie holten den Jungen auf der Rückseite des Felsens ein, wo sich ein großer einzelner Raum befunden hatte. Batu starrte hilflos die Wand an. Als Shan näher kam, roch er frische Farbe. Es hatte dort tatsächlich ein Wandgemälde gegeben, zweifellos sogar ein wunderschönes, das auch nach dem Einsturz der Außenwände durch eine überhängende Felsplatte geschützt worden war. Doch es existierte nicht mehr. Man hatte die Wand erst kürzlich mit schwarzer Sprühfarbe überzogen und darauf dann zwei Plakate geklebt. Zerreißt die Ketten des Feudalismus, stand auf dem ersten. Das andere war der säuberlich gedruckte chinesische Text eines staatlichen Erlasses, der die Ausübung religiöser Praktiken untersagte, sofern dafür keine Genehmigung des Büros für Religiöse Angelegenheiten vorlag. »Die Felsen«, murmelte Marco plötzlich und deutete auf Sophie. Das Kamel war einen Schritt vorgetreten und reckte nun den Hals in Richtung einer großen Felsnase auf dem oberhalb gelegenen Hang. Der eluosi lief sofort mit leisen Schritten auf den Vorsprung zu und bedeutete Shan mit einer Geste, ihm zu folgen. Dann verschwand er in einer schmalen Öffnung zwischen zwei riesigen Felsblöcken. Auf der anderen Seite der Felsen holte Shan ihn wieder ein. Marco stand am Rand einer großen Freifläche, die von mehreren Steinhaufen und den Resten einer Mauer umgeben wurde, welche aus Hunderten von langen dünnen Felsplatten bestand. Shan erkannte sie sofort. Es war eine heilige mani-Mauer, deren einzelne Steine man jeweils mit der Inschrift eines buddhistischen Gebets versehen hatte. Das hier war das eigentliche Lamafeld, und in seinem Zentrum kniete ein Junge neben einem frischen Erdhügel. Es handelte sich um Malik aus dem Lager des Roten Steins. Er strich mit der Hand über die Oberfläche des Hügels und -460-
sprach dabei leise Worte. Dann hörte er die anderen nahen, fuhr erschrocken herum und rannte los. Er hielt auf einen weiteren Vorsprung zu, der ein Stück höher am Hang lag. Shan sah, daß dort ein graues Pferd angebunden stand. Malik hatte das Pferd fast erreicht, als jemand in Shans Rücken etwas rief, das den Kasachen verharren ließ. »Seksek Ata!« erklang eine junge Stimme. Shan drehte sich zu Batu um, der drei Meter hinter ihm stand. Er hatte die Worte zuvor schon gehört. Es war der Name des Schutzgeistes der Ziegen und zugleich Maliks Spitzname. Malik drehte sich um, starrte ihnen entgege n und wich nicht von der Stelle, bis Shan ihn erreicht hatte. Die Augen des Jungen wirkten glasig vor Kummer, und er sah nicht Shan an, sondern den Erdhügel. »Ich bin so schnell wie möglich hergeritten, weil die anderen Jungen gesagt haben, Khitai könnte hier sein. Aber als ich eintraf, ließen sie ihn bereits in das Grab hinab«, sagte Malik voller Schmerz. »Nur ein paar Stunden früher, und ich hätte ihn in Sicherheit bringen können.« Der Junge schwankte. Seine Hände zitterten. Im Vergleich zu dem kräftigen Jugendlichen, den Shan im Lager des Roten Steins getroffen hatte, wirkte er nur noch wie ein Schatten seiner selbst. Seitdem war fast eine Woche vergangen. Mit der Gewißheit, daß hinter jeder Ecke der Tod lauern konnte, hatte Malik auf der Suche nach der zheli die Berghänge abgeritten und sich verzweifelt bemüht, dem Grauen irgendwie Einhalt zu gebieten. Laut Jakli war es ihm gelungen, zwei der Jungen ins Lager des Roten Steins zurückzubringen. Doch als er endlich das dritte Kind fand, hatte man bereits dessen Grab ausgehoben. Lokesh tauchte auf und ging zu dem Erdhügel. Drei Meter davon entfernt lag auf einem der Felsen ein Leinenbeutel. Ängstlich starrte Lokesh ihn mit großen Augen an und näherte sich ihm dann mit winzigen zögernden Schritten. Als Shan an seine Seite trat, beugte Lokesh sich vor und leerte den Beutel -461-
auf dem Felsen aus. Das Gesicht des alten Tibeters schien in sich zusammenzufallen. Dort vor ihnen lagen eine kurze, feingliedrige Eisenkette und ein schmaler, mit türkisfarbenen Kreisen versehener Behälter aus angelaufenem Kupfer - ein Etui für Schreibgeräte. Daneben stand eine verbeulte Blechtasse mit mehreren kurzen Strängen, auf denen verschiedenfarbige Holz- und Plastikperlen aufgereiht waren. Auch eine einzelne grüne Jadeperle befand sich darunter. Shan warf einen zweiten Blick auf das Etui. In Laus Büro hatte Lokesh ihn nach genau diesem Behälter gefragt. Etwas war in der Öffnung des Beutels hängengeblieben. Shan zog es heraus. Ein flaches Stück Holz mit einem keilförmigen Einschub. Einer der Kharoshthi- Briefe. Ein Geräusch entrang sich der Brust des alten Tibeters - es hatte den Rhythmus eines Mantras, bestand aber nur aus einem langen fortwährenden Stöhnen, als seien ihm die Worte entfallen. Mit beiden Händen umklammerte Lokesh die Blechtasse und schaute mit feucht schimmerndem, verzweifeltem Blick zu Shan auf. Zum erstenmal seit er ihn kannte, entdeckte Shan noch etwas anderes in der Miene seines Freundes, einen Ausdruck, wie er ihn zuletzt bei Bajys gesehen hatte, als dieser vor Laus Höhle verkündete, das Ende der Welt sei gekommen. »Die Hirten dachten zunächst, er sei gestürzt, weil er vielleicht versucht hatte, auf den Felsen mit der Götterflagge zu klettern«, sagte Malik hinter ihnen. Shan drehte sich um. Der junge Kasache starrte reglos ins Leere, wie ein Soldat, der gehorsam Meldung erstattete. Wenn er sprach, bebten seine Lippen. »Aber seine Hose war voller Blut. Der Grund dafür war eine Klinge, die ihm durch den Bauch bis ins Herz gedrungen ist. Seine Hose war zerrissen, und ein Schuh fehlte. Sie sagten, sein Gesicht sei übel zugerichtet worden, als habe ihn jemand gegen den Kopf getreten. Ich glaube, Khitai hat sich gewehrt.« -462-
Batu ging zu Lokesh und fing an, dem alten Mann sanft auf die Schulter zu klopfen. »Was war in seinen Tasche n?« fragte Shan. »Hat er etwas um den Hals getragen?« Malik blickte noch immer ausdruckslos auf das Grab. »Nichts. Seine Sachen waren in dem Beutel. Sie wollten nämlich gerade aufbrechen.« »Die Hirten, Junge«, sagte Marco grimmig. »Wohin sind sie gegangen? Was haben sie gesehen?« »Sie sind fort, zurück in die Schatten. Diese dropkas hatten ihre Schafe allein mit den Hunden zurückgelassen und waren nur für heute hergekommen, weil Khitai es so wollte. Ihnen blieb nichts anderes übrig, als einige Worte zur Beerdigung zu sprechen und dann so schnell wie möglich zu ihrer Herde zurückzureiten. Sie kommen niemals für lange herunter.« Malik sah Lokesh an. Der gebrechliche alte Tibeter wiegte sich vor und zurück, als hätte Batus Berührung ihn in Bewegung versetzt. »Ich habe sie gefragt. Sie haben nichts gesehen. Als sie Khitai hier zurückließen, um auf den Hochweiden nach verirrten Tieren zu suchen, saß er vor dem Gemälde. Aber es war diese Frau, die alle nur die Jadehure nennen. Ich habe sie gesehen, nachdem die Hirten gegangen waren. Ich hatte ihnen erzählt, ich wolle noch eine Weile bleiben, weil Khitai doch mein Freund gewesen ist. Ich wollte mit ihm reden und einige Worte sagen, die bei kasachischen Beerdigungen üblich sind und die ein dropka vielleicht gar nicht kennt. Genau damit war ich beschäftigt, als ich sie zurückkommen sah, um die Götter zu blenden.« Die Götter blenden. Er meinte die Sprühfarbe auf dem Wandgemälde, begriff Shan. Marco reichte dem Jungen eine Wasserflasche und ein Stück nan. Malik verschlang es mit Heißhunger. »Mein Gott«, murmelte der eluosi. »Sie sind praktisch noch Babys. Die -463-
Anklägerin stürzt sich wie ein Aasgeier auf sie.« Er legte Malik eine Hand auf die Schulter. »Wir müssen gehen«, sagte er und suchte den Himmel ab. »Xu kennt diesen Ort.« Schweigend verstaute Shan die Habseligkeiten Khitais wieder in dem Beutel und entwand auch die Tasse Lokeshs Griff, als Malik und Batu dem alten Tibeter auf die Beine halfen. Dann blieb er bei dem Grab zurück, während die kleine traurige Prozession zwischen den Felsen verschwand. Vier Jungen waren tot. Ein Drittel der männlichen Angehörigen der zheli. Shan spürte, wie eine Woge der Hilflosigkeit über ihm zusammenschlug. Sie war schmerzhaft wie ein Hieb in den Magen. Er sank auf die Knie und legte die Hände auf das Grab. »Es tut mir so leid«, hörte er sich selbst sagen. Er wußte, daß es keine geeigneten Worte für den toten Jungen gab. Wie hatte Marco es ausgedrückt? Niemand war unschuldig. »Ich hätte mein eigenes Leben gegeben, um zu verhindern, daß noch mehr von euch sterben müssen«, fuhr er mit etwas gefaßterer Stimme fort. Dann wurde ihm klar, daß Khitai nicht als nächster auf der Liste gestanden hatte. Womöglich hatte der Junge einfach nur Pech gehabt und war dem Mörder beim Lamafeld zufällig in die Arme gelaufen. Shan mußte an Lokeshs Reaktion denken. Vielleicht hatte er sich geirrt, und die Morde standen in keinerlei Verbindung zu den Amerikanern. War von vornherein Khitai das Ziel gewesen? Es schien, als seien hier zwei Motive, zwei Mörder, zwei Geheimnisse am Werk. Shan verharrte stumm, bis er Marco von unten rufen hörte. Dann fuhr er hastig mit den Fingern durch die lose Erde. Am Kopfende des Grabes fand er einen vertrauten Gegenstand, ein geschwungenes Stück Holz, das einem Vogel ähnelte. Malik fertigte diese Schnitzereien für die toten Kinder an. Einige Zentimeter davon entfernt stieß seine Hand an etwas so Hartes und Kaltes, daß er zusammenzuckte. Es entpuppte sich als ein kleines schwarzes Metallgehäuse mit einem Scharnier. Shan klappte den Deckel auf. Es war ein Kompaß, ein erstklassiges -464-
Instrument mit Ölfüllung und dem Abbild eines roten Kreuzes, unter dem Made in Switzerland stand. Verwirrt starrte Shan darauf. So ein Kompaß kostete mehr, als das Monatseinkommen der meisten Hirten betrug. Marco rief erneut. Shan vergrub den Vogel wieder, steckte den Kompaß ein, stand auf und überlegte. Dann lief er zu der mani-Mauer, nahm einen der Steine mit einem tibetischen Gebet darauf und legte ihn an das Kopfende des Grabes. Schließlich eilte er zurück zu seinen Gefährten. Als er die anderen erreichte, zerrte Malik soeben Marco von einem kleinen Felsen neben den Ruinen weg. An der Unterkante des Steins gähnte ein Loch. »Bleib von diesem Bau fern«, warnte Malik. »Der Hase trägt jetzt einen Dämon im Leib.« Shan und Marco tauschten einen überraschten Blick aus und traten bis an das Loch heran, zu dessen Seiten trockenes Gras und Zweige lagen. Marco kniete sich hin, spähte in den Schatten und stieß einen Fluch aus. Shan beugte sich vor und sah es auch: Gleich einem wütenden Auge leuchtete dort in dem Loch ein hellroter Punkt. Der eluosi griff hinein, holte zunächst den blutigen leblosen Körper eines Erdhörnchens daraus hervor und dann eine kleine Videokamera. »Mit Bewegungssensor«, knurrte Marco, zog das Band he raus und warf es hoch empor, wo es auf einem Sims liegenblieb. Dann zerschmetterte er die Kamera an dem Felsen. »Als sie wieder abgeflogen sind, wollten sie mit dem Hubschrauber neben der Flagge landen«, erklärte Malik, während sie in die Sättel stiegen. »Aber die Windgötter haben die Fahne beschützt. Also haben sie mit einem Gewehr darauf geschossen.« Die Flagge kam Shan tatsächlich etwas ramponierter vor als beim erstenmal. »Das macht nichts«, versicherte Batu. »Bajys, dieser Freund von Khitai, hat uns erzählt, daß manchmal alte Männer kommen -465-
und die Flagge reparieren, und zwar schon seit vielen hundert Jahren. Alte Männer«, wiederholte der Junge mit weisem Nicken. »Oder vielleicht sind es auch Berggötter.« Diesmal ritt Batu hinter Lokesh. Nachdem sie einen kurzen Kamm überquert hatten, erreichten sie schon bald den Eingang eines tiefen Tals. Marco stieg ab. »Die Strecke ist gefährlich. Geht zu Fuß, und seid vorsichtig.« Er überprüfte das Geschirr der Kamele und band die Zügel an den Sätteln fest. »Die Tiere kennen den Weg.« Nach einem Klaps auf die Hinterhand lief Sophie auf einen seitlichen Weg, der anscheinend zum Fuß einer Klippe führte. Nein, es war keine Klippe, erkannte Shan, als das Kamel wenig später auf einen schmalen Serpentinenpfad einbog. Es war ein steiler Abhang, auf dessen hohem Gipfel Shan eine schornsteinähnliche Felsformation ausmachen konnte. Der mühsame Aufstieg dauerte fast eine Stunde. Als sie den Kamm erreichten, blieb Shan staunend stehen. Hier oben erstreckte sich ein kleines Plateau, das von unten nicht zu erkennen war. Rund um die Felsformation, die, wie Shan schnell bewußt wurde, von Menschenhand errichtet worden war, standen dichte Koniferensträucher. Es handelte sich um einen uralten Wachturm. Zwei Seiten des Plateaus wurden von steilen Felswänden begrenzt, die sich mehr als dreihundert Meter über ihnen zur Kuppe eines Berges erhoben. In etwa sechzig Metern Höhe entsprang aus der Wand eine Quelle und verlief in einem langen kristallenen Band bis zu einem kleinen Teich. Zwei Drittel der Ebene wurden von einer Wiese bedeckt, auf der verstreut ein halbes Dutzend Kamele stand. »Das waren die Armeen des tibetischen Königreichs«, erläuterte Marco, der sich zu Shan gesellte. »Zuerst haben sie Straßen entlang der Flußtäler des Kunlun gebaut und dann Truppen an geeigneten Verteidigungsstellungen stationiert.« Er deutete auf den alten Turm. »Die Hirten haben ihn wiederaufgebaut. Als mein Vater versucht hat, unsere Familie von China nach Indien zu bringen, wurden wir von einer -466-
Armeepatrouille verfolgt. Hier oben haben wir uns versteckt. Nach einer Woche wurde meine Mutter krank. Nach einem Monat liefen uns die Kamele weg. Irgendwann hat mein Vater einfach angefangen zu bauen. ›Wir bleiben über den Winter‹, sagte er, ›denn hier ist es sicher.‹ Später sagte er dann: ›Wir können genausogut auch noch den Sommer hierbleiben. Es gibt genug Wild.‹« Marco zuckte die Achseln. »Das ist jetzt fast vierzig Jahre her. Wir haben einfach immer weitergemacht.« Als sie die Kamele um den Turm herumführten, kam ein großes Holzgebäude in Sicht, das eindeutig als kleiner Anbau begonnen hatte und dann etappenweise zu drei unterschiedlich hohen Abschnitten ausgebaut worden war. Zu beiden Seiten einer überdimensionalen Holztür mit schmiedeeisernen Beschlägen erstreckten sich vernachlässigte Blumenbeete. Am anderen Ende des Gebäudes ragte unter der höchsten Kiefer des Plateaus ein großes Kreuz mit zwei Querbalken auf. Davor waren drei Gräber angelegt. Shan und Marco nahmen den Kamelen die Sättel ab, während Malik und Batu den alten Tibeter zu einem Baumstumpf führten, wo Lokesh Platz nahm und das Gesicht in den Händen barg. Seit dem Aufbruch von Khitais Grab hatte er kein Wort mehr gesprochen. Marco warf dem alten Mann einen bekümmerten Blick zu, legte dann einen Arm um jeden der Jungen und führte sie zu der Tür. Dort stellte er sich vor die beiden, deutete eine kleine Verbeugung an und bat sie mit weit ausholender Geste hinein. »Willkommen im Sommerpalast des Zaren«, sagte er. Der eluosi geleitete sie in einen warmen, behaglichen Raum, dessen Dielenboden mit dicken Teppichen ausgelegt war. An der vorderen Wand hingen zu beiden Seiten der Tür die Felle mehrerer großer Tiere. Durch den offenen Eingang fielen die Strahlen der Nachmittagssonne herein und brachen sich in einem großen Messingsamowar, der auf einem Tisch am anderen Ende des Zimmers stand. Shan ging bewundernd darauf -467-
zu, wurde jedoch durch einige kleine verblaßte Schwarzweißfotografien abgelenkt, die über dem Tisch hingen. Auf ihnen waren Gestalten aus einer anderen Welt zu sehen. Von einem der vergilbten Bilder starrte ihm ein alter Mann mit Brille und einem langen weißen Bart entgegen; seine Augen schienen vor Aufsässigkeit oder vielleicht auch vor Wut zu funkeln. Auf der nächsten Aufnahme stand ein Mann mit einem sorgfältig gestutzten Bart neben einer schönen blonden Frau in einem Pelzmantel. Hinter ihnen wartete ein offener Pferdewagen samt Kutscher. Die Frau lächelte und sagte soeben etwas, bei dem es sich offenbar um eine gute Neuigkeit handelte. Auf einem der anderen Fotos war dasselbe Paar in einer zerklüfteten Gebirgslandschaft zu sehen, allerdings in einfache Wollgewänder gekleidet. Der Bart des Mannes wirkte nicht mehr so gepflegt, und die Frau hatte ihr Haar zu Zöpfen geflochten, wie es Feldarbeiterinnen zu tun pflegen. Der Mann hielt ein Kind auf dem Arm, einen Jungen, dessen Blick eine trotzige Stärke verriet, die seinen Eltern abhanden gekommen zu sein schien. In der unteren Ecke des Rahmens steckte ein weiteres Bild, ebenfalls verblichen, aber jüngeren Datums. Es zeigte eine andere Frau mit markanter, wettergegerbter Miene, die ihr helles Haar mit einem Kopftuch zusammengebunden hatte. Batu ging hinaus und kam kurz darauf mit Lokesh an der Hand wieder zurück. »Meine Familie«, sagte Marco hinter Shan und klang dabei ganz sanft. »In besseren Tagen. Im Norden, in der Nähe von Yining.« Er ging quer durch das Zimmer zu einer großen, nur angelehnten Tür, hinter der sich ein Raum mit steinernen Wänden befand. Das Erdgeschoß des alten Wachturms. »Früher war das der beste Aufenthaltsort für uns Russen, denn Moskau hatte uns vergessen. Aber dann hat jemand im Jahre 1950 in irgendeinem gottverdammten Parteibüro in Peking eine Landkarte aufgeschlagen und einen großen leeren Fleck gefunden, auf dem noch nicht genug rote Fahnen zu sehen -468-
waren. Also haben sie Truppen nach Turkistan geschickt und beschlossen, daß die Grenze fortan entlang der westlichen Berge verlaufen sollte. Yining lag auf der chinesischen Seite, also wurden ein paar tausend ehemalige Soldaten dort angesiedelt.« Er schnippte mit den Fingern. »Von einem Moment zum anderen war Yining keine freie weißrussische Ansiedlung mehr, sondern eine chinesische Stadt. Und die ursprünglichen Einwohner hatten nur noch ein Recht, nämlich das Recht, von dort zu verschwinden. Leider hat man ihnen nicht gesagt, wohin sie gehen sollten.« »Dieser Ort hier ist doch gar nicht so schlecht«, sagte Shan. »Sicher, es war unsere eigene kleine Welt. Manchmal kamen die Hirten hier vorbei, und mein Vater tauschte bei ihnen Felle gegen die Dinge ein, die meine Mutter brauchte. Es lief ganz gut für uns. Dann brach ein Fieber aus. Ich war damals vierzehn, und für Leute wie uns gab es keine Ärzte. Nachdem ich das Schlimmste überstanden hatte, wachte ich allein in meinem Bett auf. Mein Vater lag tot über einem frischen Erdhügel. Ich dachte, er hätte unseren Familienschatz vergraben und schaufelte die Erde beiseite. Es war tatsächlich so - dort lag unser Schatz. Mein Vater war gestorben, während er meine Mutter begrub.« Marco drehte sich um und verschwand in dem Turm. Shan sah, daß Lokesh in der anderen Ecke des Zimmers einen Wandteppich gelüftet hatte und in einen dunklen Gang schaute. Als er den Korridor betrat, folgte Shan ihm und ließ Batu und Malik allein bei dem Samowar zurück, wo die beiden Jungen ihre Spiegelbilder bewunderten. Von dem Flur zweigten drei Türrahmen aus behauenen Balken ab. Der erste führte in einen großen Raum mit einem kleinen Eisenofen und einem Brettertisch, um den herum einige ungleiche Stühle standen. Manche davon waren aus dicken Ästen gefertigt worden, andere aus elegant geschnitztem Holz, mit dreckigen, wenngleich einst eleganten seidenen Sitzkissen. -469-
Von der Decke hingen ein großes Stück Trockenfleisch und einige kleine Netze mit Zwiebeln. Lokesh stand in dem zweiten Durchgang und betrachtete neugierig die Einrichtung des nächsten Zimmers. Über seine Schulter hinweg sah Shan, daß überall an den Wänden Fotos hingen, die man aus Zeitschriften ausgerissen hatte, darunter Bilder von Pferden und Vögeln, aber auch einige westliche Schauspieler beiderlei Geschlechts. Die meisten der Aufnahmen trugen englische Bildunterschriften. An zwei massiven Deckenbalken hingen einige Pelze. Über einem Regal voller Bücher klebte das Poster eines Rockstars aus Hongkong. In der Nähe der Tür stand ein grob gezimmertes Bettgestell, über dem an einigen Nägeln eine Reihe Militärmützen chinesischer, aber auch ausländischer Herkunft aufgehängt waren. Shan sah genauer hin. Indisch. Dann pakistanisch und eine weitere, deren Nationalität er nicht identifizieren konnte. Unter den Mützen hing das Foto eines lachenden Mädchens auf einem Pferderücken. Jakli. Auf der dicken Baumscheibe, die als Nachttisch diente, stand ein Radiorecorder, auf dem eine Kassettenhülle lag. Englisch für Fortgeschrittene. Lokesh nahm einen dicken Gehstock, der in der Ecke neben der Tür lehnte, und streckte ihn Shan entgegen. In lateinischen Buchstaben war dort der Name Niccolo eingeritzt. »Das ist kein russischer Name«, sagte Shan. »Niccolo. Weder russisch noch kasachisch.« »Italienisch«, ertönte eine Baßstimme hinter ihnen. »Marco Polo hat ferne Länder besucht, aber vor ihm war bereits sein Vater Niccolo auf der Seidenstraße gereist. Er ist noch vor Marco in die Fremde aufgebrochen. Niccolo Polo Myagov«, sagte Marco voller Stolz. »Und so wiederholt sich die Geschichte«, stellte Shan fest und drehte sich um. Jakli würde demnächst nicht nur heiraten, und Lau hatte nicht allein wegen der Hochzeit dafür sorgen wollen, daß die junge Frau im Schutz der Bewährungsauflagen verblieb. -470-
Nikki war zum letztenmal mit einer Karawane unterwegs, hatte Osman gesagt. Shan hatte zunächst nicht begriffen, was Jakli im Angesicht des karaburan mit ihrem auf englisch verfaßten Brief ausdrücken wollte. Ich werde in dem schönen Land immer bei dir sein. Sie hatte damit das chinesische Mei Guo gemeint, das in direkter Übersetzung schönes Land bedeutete. Amerika. Marco musterte Shan schweigend, und seine Augen schienen sich zu weiten. Dann zuckte der eluosi die Achseln, nahm einen der anderen beiden Holzstäbe, die neben dem Gehstock in der Ecke standen, und betrachtete ihn geistesabwesend. Der Stab war glattgeschliffen und verjüngte sich zu einem kleinen Knauf. Ein Baseballschläger, erkannte Shan plötzlich. »Anfangs war er sich nicht sicher. Und dann mußte er auch noch Jakli überzeugen. Sie dachte, in Amerika gäbe es keine Pferde, weil jeder dort zwei Autos hat und gar nicht reiten will. Aber Deacon hat ihr erzählt, daß die Leute sich Pferde zum Vergnügen halten und auch er selbst eine Ranch besitzt. Er sagte, er würde ihnen Pferde kaufen. Also werden sie jetzt hier herauskommen, dem Himmel sei Dank.« Herauskommen. Eine Weile hatte auch Shan diese Absicht gehegt oder sich zumindest einreden können, es wäre so. Mittlerweile war der Wagen nach Nepal längst abgefahren. Er wußte schon gar nicht mehr, was wann passieren sollte. Unter Umständen war heute der Tag, an dem irgend jemand an der Grenze auf ihn warten würde, vielleicht ein oder zwei Stunden, vielleicht sogar den ganzen Tag. Irgendwann jedoch mußte derjenige zu dem Schluß gelangen, daß die Flucht vereitelt worden war. In gewisser Weise ließ Shans Scheitern in dieser Angelegenheit es nur um so wichtiger erscheinen, daß Nikki und Jakli die Außenwelt erreichten. Marco seufzte, ließ den Blick stumm durch das Zimmer seines Sohnes schweifen und bedeutete seinen Gästen dann, ihm zu folgen. »Es wird Zeit, daß Sie sich Ihren Lebensunterhalt verdienen.« -471-
Er führte sie nach draußen zu Sophie, die ihren Kopf Lokesh entgegenneigte, bis ihre großen feuchten Augen nur noch rund einen halben Meter vom Gesicht des Tibeters entfernt waren und den alten Mann durchdringend ansahen. Marco zog einen kleinen Metallhaken aus einem nahen Baumstumpf und reichte ihn Shan. »Stiefel«, sagte er zu ihm und hielt Lokesh dann eine Bürste entgege n. »Taschen.« Bei diesen Worten schien der Tibeter zu neuem Leben zu erwachen und nahm die Bürste lächelnd entgegen. Marco zeigte Shan, wie man mit dem Haken die Hufe des Kamels von Steinen und Zweigen befreite, die sich zwischen den Zehen festgesetzt hatten. Dann demonstrierte er Lokesh, wie er das dichte Fell auf Sophies Höckern bürsten mußte. Schließlich holte er eine Handvoll Zuckerwürfel aus der Tasche und gab sie den Jungen, die begeistert anfingen, die Leckerbissen an die Tiere zu verfüttern. Als Malik sich von den anderen entfernte, um das letzte Stück Zucker seinem Pferd zu geben, folgte Shan ihm. »Ich habe gesehen, was in seinem Grab lag«, sagte er zu dem Rücken des Jungen. Malik nickte nur und strich seinem Tier über die Mähne. »Hat der Kompaß Khitai gehört?« fragte Shan. »Nein«, flüsterte Malik, als fürchte er sich, darüber zu reden. »Seine zheli-Eltern sagten, das Ding habe in der Nähe seiner Leiche neben einem Felsen gelegen. Khitai muß es dem Mörder aus der Hand geschlagen haben.« Malik drehte sich zu Shan um. »Früher war es üblich, einem im Kampf gefallenen Krieger die Trophäen seiner Feinde mit ins Grab zu geben.« Dann zuckte der Junge die Achseln und wandte sich wieder seinem Pferd zu. Sie aßen einen Gemüseeintopf, den Lokesh auf dem kleinen Herd zubereitet hatte. Danach ging Shan hinaus auf die Weide, beobachtete den abendlichen Sternenhimmel, lauschte dem beruhigenden Rauschen des Wasserfalls und vertiefte sich ganz -472-
in die Friedlichkeit des Ortes. Hinter dem Haus sah er einen Lichtschimmer und entdeckte, daß dort Marco mit einer Laterne stand, leise mit Sophie sprach und ihren Rücken streichelte. Shan setzte sich auf einen Baumstamm und schaute ihm dabei zu. Er dachte nicht, daß der eluosi ihn bemerkt hätte, bis Marco ihn nach einigen Minuten zu sich heranwinkte. »Sie können ihr die Ohren kraulen«, sagte er. »Das gefällt ihr nach so einem anstrengenden Tag.« Schweigend konzentrierten die beiden Männer sich eine Zeitlang nur auf das Tier. »Sie ist ein prächtiges Geschöpf«, lobte Shan. Marco nickte beifällig. »Und so schlau wie zwei Chinesen.« Kurz darauf hob er den Kopf und öffnete den Mund, als wolle er sich entschuldigen. Doch er überlegte es sich anders. »Ihr Sohn«, sagte Shan. »Hat er eigene Kamele?« »Er bevorzugt Pferde. Schon als Kind ist er mit dem Clan des Roten Steins geritten. Zur Zeit reitet er ein robustes schwarzes Bergpferd. Unter den Vorfahren seiner Mutter waren Kosaken.« »Ist sie denn auch auf Reisen?« fragte Shan. Marco senkte den Kopf. »Nicht hier«, sagte er dann, und sein Tonfall verriet, daß Shan zu weit gegangen war. Marcos Vater und Mutter waren hier gestorben, erinnerte Shan sich, aber es gab insgesamt drei Gräber. »Ich habe einen Jungen«, vertraute Shan ihm leise an. »Er müßte jetzt sechzehn sein.« »Müßte?« »Ich weiß nicht, wie es ihm geht«, erklärte er. »Ich habe schon seit vielen Jahren nichts mehr von ihm gehört.« Marco sah ihn an und schien zu erkennen, daß auch in Shans Vergangenheit gewisse Punkte existierten, deren weitere Erforschung zu schmerzlich gewesen wäre. »Sechzehn. Demnach ist er kein Kind mehr, sondern fast -473-
schon ein Mann«, sagte Marco. »Kaum jünger als mein Nikki. Hat er als Kind ein Pferd gehabt?« »Nein. Kein Pferd.« »Dann vielleicht ein Kamel?« Sophie hatte die Augen geschlossen, aber ihre Ohren bewegten sich, als würde sie das Gespräch verfolgen. »Nein.« »Nun ja, nicht jedermann ist in diesem Leben ein Dasein als Reiter vergönnt«, räumte Marco mitfühlend ein. Er holte einen hölzernen Kamm hervor und fuhr damit durch das Fell an Sophies Hals. Nach einer Minute reichte er den Kamm an Shan weiter und zeigte ihm, wie man ihn benutzen mußte, wobei er Shans Hand in seine mächtige Pranke nahm und durch das dichte Haar zog. »Meine Sophie hat eine tiefere Seele als die meisten Menschen«, seufzte Marco. »Ich spreche mit ihr, und sie spricht mit mir. Einen Fremden wittert sie aus zwei Bergen Entfernung. Es gibt kaum jemanden, mit dem ich lieber zusammen wäre.« Er umrundete das Kamel, als würde er eine abschließende Überprüfung vornehmen, und sah dann Shan erwartungsvo ll an. »Kommen Sie mit, Mr. Shan. Ich möchte Ihnen etwas zeigen.« Shan blickte überrascht auf. Marco sprach englisch. »Shaann«, zog Marco das Wort in die Länge, während er mit Shan zur Vordertür ging. »Kein englischer Name. Auf englisch sollten Sie John he ißen. Oder Johnny, wie man manchmal sagt.« Shan lächelte. »Wie in einem amerikanischen Film«, erwiderte er in derselben Sprache. »Genau. John Wayne!« rief Marco und wechselte dann wieder zu Mandarin. »Sie sprechen besser englisch als ich.« »Mein Vater«, sagte Shan, und Marco nickte, als sei dies für ihn Erklärung genug. -474-
Sie betraten das Zimmer am Ende des Korridors, eine große Kammer mit rauhen Holzwänden und einem riesigen Bettgestell aus halben Baumstämmen, auf dem sich Filzdecken und Felle türmten. An me hreren Balken baumelten Pelze, an der Wand hing ein Schwert und an Haken neben der Tür zwei alte Trommelrevolver. Auf einem Tisch neben dem Bett war ein Stapel englischsprachiger Zeitschriften umgestürzt. Seltsamerweise schienen sie sich alle mit Hochseefischerei zu beschäftigen. Shan nahm das oberste Heft. »Kennen Sie das Meer?« fragte der eluosi zaghaft. Offenbar bemühte er sich, nicht allzu neugierig zu wirken, aber seine Augen verrieten ihn. Einen Moment lang sah er wie ein wißbegieriger Schuljunge aus. An der Wand hinter Marco hingen einige alte Kalender, die allesamt Farbaufnahmen von Meeresstränden oder Inseln zeigten. Die Region, in der Marco lebte, lag wahrscheinlich weiter von einem Ozean entfernt als jeder andere Ort auf diesem Planeten, überlegte Shan. »Als Kind habe ich in der Provinz Liaoning in der Nähe der Küste gewohnt«, antwortete Shan. »Die Familie meiner Mutter stammte aus einem Fischerdorf.« »Strände!« rief Marco auf englisch. »Aus weißem Sand, wie warmer Schnee. Wasser, so weit man nur sehen kann. Und dann der Thunfisch.« Er blickte auf eines seiner Kalenderbilder, das Foto eines felsigen, mit Kiefern bewachsenen Küstenstrichs, an dem ein einsames Blockhaus mit leuchtendgelben Fensterläden stand. »Er kann ein Gewicht von mehr als tausend amerikanischen Pfund erreichen«, sagte er ernst. »Ein Raubfisch, für dessen Fang man mutig und stark sein muß.« Er schaute wieder zu seinen Magazinen. Shan konnte sich lebhaft vorstellen, wie Marco hier während tagelanger Schneefälle auf seinen Decken lag und ganze Abschnitte der Zeitschriftenartikel auswendig lernte. Auf einem der Kalender sah man einen Mann in einem -475-
blütenweißen Hemd, der soeben einen langen silbernen Fisch an Bord eines blütenweißen Bootes zog. »Seit fünf Generationen hat niemand aus meiner Familie je einen Ozean zu Gesicht bekommen«, verkündete Marco voller Sehnsucht. »Salzwasser. Es gibt dort Fisch, herrlichen Fisch, so schwer wie ein Hammel und so köstlich wie süßer Kuchen.« Er sah Shan ernst an und beugte sich dann vor, als wolle er ihm ein bedeutendes Geheimnis anvertrauen. »Es existiert ein Ort namens Alaska«, sagte er leise. »Da gibt es Berge wie hier. Und ein Meer gibt es dort auch. Ich habe Bilder davon gesehen. Nikki hat Bücher, in denen darüber geschrieben wird. Riesige Fische. Man brät sie in Butter. Und wissen Sie, was es außerdem dort gibt, Johnny?« Shan zuckte die Achseln. »Ich bin noch nie dort gewesen.« »Es gibt dort Russen. Emigranten aus der Zarenzeit. Russen, die englisch sprechen. Und die freie Männer sind.« Shan lächelte. Ihm wurde bewußt, daß er Marco nicht so sehr wegen seiner kühnen Taten mochte, sondern vor allem wegen seiner kühnen Träume. Marco nahm ein dickes Buch von einer Holzkiste, ein altes Fotoalbum. Dann bedeutete er Shan, neben ihm auf dem Bett Platz zu ne hmen, während er schnell durch die Seiten blätterte, bis er gefunden hatte, wonach er suchte: die brüchige, verblaßte Aufnahme eines Kamels, das eine Art Seidenbanner auf dem Rücken trug und dessen Zügel in der Hand eines kahlköpfigen Mannes mit dichtem Schnurrbart lagen. Auf der anderen Seite des Tiers stand ein weiterer Mann, ein Europäer mit einer großen Uschanka, der für Rußland typischen Pelzmütze. Am Mantel des Europäers hing ein glänzender sternförmiger Orden. Flankiert wurden die beiden lächelnden Männer von zwei ernsten Wachen, die Turbane auf den Köpfen trugen und lange Gewehre hielten. »Sophies Urgroßmutter«, sagte Marco stolz. »Ich entdecke eine gewisse Ähnlichkeit«, sagte Shan, um -476-
höflich zu sein. Seine Worte erfreuten Marco, der daraufhin das Album mit breitem Grinsen wieder schloß. Er wies auf einen Gegenstand, der an einem Lederriemen von einem der Bettpfosten hing, nahm ihn ab und zeigte ihn Shan. Es handelte sich um den Orden, der auch auf dem Foto zu sehen war. »Den hat der Zar höchstpersönlich meinem Urgroßvater verliehen«, erklärte Marco stolz. Es war ein goldener Stern mit rot glasiertem Rand und dem Abbild eines Kavalleristen in der Mitte. Marco musterte das Abzeichen mit stiller Genugtuung und schaute dann zur Wand, als würde er einen Blick auf eine unsichtbare Uhr werfen. »Es wird langsam Zeit, nach oben zu gehen. Da gehen wir nämlich immer hin«, verkündete er, stand auf und verließ den Raum mit langen, gemächlichen Schritten. Shan sah kurz nach den Jungen, die in Nikkis Zimmer schliefen, und gesellte sich dann zu Marco auf den Turm. Der eluosi ließ den Blick in die Ferne schweifen, als würde er nach jemandem Ausschau halten. »Ihr geplantes Treffen mit der Jadehure ist nicht ganz ungefährlich«, sagte Marco nachdenklich, ohne den Kopf zu wenden. »Sie haben den Jungen gehört. Die Frau hat Khitai ermordet.« »Das wissen wir nicht. Malik hat sie lediglich am folgenden Tag gesehen. Und Sie haben nicht miterlebt, wie Xu reagiert hat, als Kublai zu ihr gebracht wurde. Sie war aufrichtig entsetzt.« »Sie dürfen die Anklägerin auf keinen Fall unterschätzen.« »Aber ich darf sie auch nicht vorverurteilen«, hielt Shan ihm entgegen. Marco schnaubte verächtlich. »Warum sollte sie zweimal dort auftauchen?« fragte Shan. »Weshalb hat sie das Gemälde nicht gleich nach dem Mord an Khitai mit Farbe besprüht?« -477-
Marco hob resigniert die Hände. »Vielleicht hatte sie beim erstenmal keine Farbe dabei. Oder sie wollte unbedingt noch diese Kamera dort verstecken.« »Ich weiß nicht. Eventuell gibt es mehr als einen Täter«, sagte Shan. »Kublai und Suwan wurden erschossen. Alta und Khitai wurden verprügelt und erstochen.« »Vielleicht waren es sogar vier Mörder«, sagte Marco düster. »Jemand hat die Jagd auf kleine Jungen freigegeben.« »Aber bei jedem der Kinder hat ein Schuh gefehlt«, sagte Shan gedankenverloren. Er wußte keine Antwort. Sie beobachteten den Mond. Er ertappte sich dabei, wie er auf das Zirpen der Grillen lauschte. »Als wir heute hier eingetroffen sind, haben Sie darauf gehofft, bereits erwartet zu werden«, sagte Shan nach einigen Minuten. »Wegen des silbernen Zaumzeugs.« Er konnte Marco im Mondschein nicken sehen. »Osman. Mit weiteren Pferden.« »Das Zaumzeug war ein Signal«, spekulierte Shan. »Es bedeutete einen neuen Plan, einen schnelleren Aufbruch für die nächste Karawane.« Marco nickte. »Das Zaumzeug war ein Hochzeitsgeschenk für Jakli. Es bedeutet einfach nur, daß sie sich auf das Reiterfest, das nadam, vorbereiten soll.« Aber Jakli war nicht mit Hochzeitsvorbereitungen beschäftigt, sondern schlich sich im Gebirge an den Kriechern vorbei, um möglichst das Leben der Waisenkinder zu retten. Eventuell würde sie dort oben auf Nikki treffen, und vielleicht würde der sie davon überzeugen können, kein weiteres Risiko einzugehen. »Etwas verstehe ich nicht, Marco«, sagte Shan nach langem Schweigen. »Sie sind ein Schmuggler, aber Sie wohnen mehr als hundertfünfzig Kilometer von der Grenze entfernt.« »Alles andere wäre zu gefährlich. Als würde man sich dem -478-
Odem eines Drachen aussetzen.« Der eluosi blickte zum Mond und gähnte. »Sie sind zu konventionell. Sie denken zu sehr wie ein Polizist. Es gibt verschiedene Arten von Grenzen. Hinter der nächsten Bergkette liegt Aksai Chin. Eine umstrittene Region, die auch von Indien beansprucht wird. Ursprünglich war sie ein Teil von Ladakh«, erklärte er und bezog sich damit auf das Grenzgebiet zwischen Pakistan und Indien, durch das der Oberlauf des Indus führte. »Aber die Volksbefreiungsarmee hält Aksai Chin besetzt«, erinnerte Shan ihn. »Da sind überall Soldaten. Und Dörfer. Moslemische genauso wie alte tibetische Dörfer.« Die Kriecher hatten ihn einst in einem gepanzerten Wagen, wie er besonderen Gefangenen vorbehalten war, durch die Region transportiert. Während einer Pause hatte er sich zehn Minuten lang die Beine vertreten dürfen und dabei zum erstenmal in seinem Leben einige Gebetsfahnen zu Gesicht bekommen, die auf einem fernen Felshaufen befestigt gewesen waren. Er wußte noch, daß er damals von den verabreichten Drogen ganz benommen war und geglaubt hatte, es müsse sich wohl um eine Art Festtag handeln. »Ich habe etwas festgestellt, Johnny«, raunte Marco verschwörerisch. »Manchmal sieht man immer weniger, je länger man hinschaut.« Der Mond strahlte so hell und klar, daß er wie ein glänzendes Stück Porzellan wirkte. In einiger Entfernung leuchteten die hochgelegenen Schneefelder. »Die Armee hat riesige Kavernen«, sagte Marco. »Tausende von Strafarbeitern mußten ganze Berge aushöhlen. Manche Leute behaupten, die gesamte tibetische Grenze bestehe lediglich aus einer Reihe hohler Berge voller Soldaten. Sie haben ihre verfluchten Raketen und Radarschüsseln. Falls ein indisches oder pakistanisches Flugzeug in den Luftraum eindringt, können sie es innerhalb weniger Sekunden abschießen. Aber einen Adler registrieren sie niemals, weil sie -479-
zur Überwachung Maschinen einsetzen, und die reagieren auf Metall, nicht auf Lebewesen. Sie und ich, wir würden den Himmel beobachten. Aber die Soldaten hocken einfach nur in den Bergen und starren auf Monitore. Falls Armeelaster oder Panzer über einen der Pässe kommen, sehen sie die Fahrzeuge auf ihren Detektoren. Aber ein oder zwei Kamele werden vielleicht nicht bemerkt. Anderswo gibt es Patrouillen, aber einige Stellen sind so wichtig, daß sie nur elektronisch überwacht werden. Eine kleine, vorsichtige Gruppe kann sich vorbeischleichen. Niemand darf Metall mit sich führen. Niemand darf ein lautes Geräusch verursachen. Außerdem sollte man es nicht zu oft riskieren, muß verschiedene Routen nutzen und ständig die Vorgehensweise ändern.« Er seufzte und deutete auf eine Sternschnuppe. »Das alles läßt sich aus hundertfünfzig Kilometern Entfernung durchaus arrangieren. Bisweilen findet ein weiser Mann sogar Mittel und Wege, um ohne Schmuggler zu schmuggeln.« »Das verstehe ich nicht.« »Zum Beispiel Lastwagen. Schwere Transportfahrzeuge sind in Xinjiang sehr gefragt. Also bin ich letztes Jahr mit fünf großen Lastern voller indischer Farbstoffe für die Teppichfabriken über die Grenze gekommen. Die Soldaten haben die Ladung gründlich durchsucht, aber die war völlig legal. Keiner ist auf die Idee gekommen, daß ich in Wahrheit die Lastwagen eingeschmuggelt habe. Mit den gleichen Papieren habe ich dann fünf Fahrzeuge zurück über die Grenze geschickt. Aber die waren zwanzig Jahre älter und fielen schon fast auseinander.« Marco lachte in sich hinein. »Eines davon war sogar ein Bus. Und ich habe noch etwas festgestellt. Wann ist Schmuggelware keine Schmuggelware?« Er sah Shan an und lehnte sich auf die alte steinerne Brustwehr. »Wenn die Regierung sie ins Land bringt.« Shan nickte. Während er in Peking lebte, hatte er vornehmlich in Korruptionsfällen ermittelt. Einmal war er auf eine ganze -480-
Schiffsladung von Gütern gestoßen, die problemlos die Zollabfertigung passiert hatte, weil die gefälschten Papiere der Schmuggler sie als Eigentum des Ministeriums für Ölförderung auswiesen. »Wenn jemand in der Regierung eine Wunschliste hat, will er häufig gar nicht genau wissen, woher die Waren stammen. Mitunter sorgt er sogar dafür, daß bei den Grenzkontrollen ein Auge zugedrückt wird.« »Heißt das, daß Sie manchmal für die Behörden arbeiten?« Marco stieß einen Fluch aus. »Niemals. Lassen Sie es mich anders formulieren: Wenn ein gieriger Offizier ganz wild auf irgendwelche westlichen Güter ist, gibt er womöglich eine Bestellung auf und ändert dann die Route der Patrouille, damit seine Lieferung nicht abgefangen wird.« »Und bei solchen Gelegenheiten lassen sich auch Leute nach draußen schmuggeln«, sagte Shan. »Manche bleiben draußen. Andere, wie Nikki, reisen hin und her.« »Genau. Es gibt Schleichwege vorbei an den Raketensilos. Und zwischen den Schneefällen kann man hochgelegene Pässe nutzen, die für Fahrzeuge nicht geeignet und bei chinesischen Soldaten ziemlich unbeliebt sind. Nur ein paar alte Jäger wissen darüber Bescheid. Da oben können Kälte oder Wind genauso tödlich wie eine Kugel sein. Nikki kennt sich dort gut aus. Er ist wegen der Pferde drüben gewesen. Er kennt einen Pferdehändler in Ladakh, auf der anderen Seite der Grenze.« »Weiße Pferde?« mutmaßte Shan. »Richtig. Für Jakli.« »Wegen der Hochzeit. Beim Reiterfest.« Marco nickte. »Alle Kasachen werden dort sein, die wenigen alten Clans, die hier noch übrig sind. In vier Tagen geht es los. Das letzte nadam der Clans des Bezirks Yutian«, schloß er melancholisch. -481-
Shan überlegte kurz. »La u hätte daran teilgenommen, nicht wahr?« »Jakli hat Lau gebeten, ihre Trauzeugin zu sein. Die alte Tibeterin war fast so etwas wie eine Mutter für sie.« »Aber warum die Pferde, wenn Jakli und Nikki doch von hier weggehen werden?« Marco gab ein Brummen von sich. »Sie können nicht damit aufhören, was? Sie müssen immerzu Fragen stellen.« »Ja, solange es hier irgendwo einen Mörder gibt, der es auf Kinder abgesehen hat.« Marco knurrte, was Shan als schicksalsergebene Kapitulation wertete. »Nikki bleibt gar nichts anderes übrig, als diese Pferde zu besorgen. Dazu muß man verstehen, welche Beziehung zwischen den Kasachen und ihren Reittieren herrscht. Für einen Chinesen ist das völlig ungewohnt. Für einen Russen übrigens auch. Pferde können hier so wichtig wie Familienangehörige sein.« »Kamele manchmal auch.« »Nein, bei mir und Sophie ist das anders. Die alten Kasachen erzählen, daß ihre eigenen Seelen mit denen der Pferde verflochten seien. Sie benennen Pferde nach ihren Kindern und Kinder nach ihren Pferden. Einer der wichtigsten Tage im Leben eines Kasachen ist der Tag, an dem er seinen ersten Sattel erhält, weil er dann alt genug ist, um allein reiten zu dürfen. Sie verfügen über ein umfangreiches Begriffsrepertoire für verschiedene Pferdetypen und die diversen Bewegungsarten von Pferden. Sie erzählen sich Geschichten über Pferde, die vor fünfhundert Jahren gelebt haben. Ihre Schamanen können mit Pferden sprechen. Wenn es um die eigene Gesundheit geht, dürfte kein alter Kasache freiwillig einen Fuß in eine chinesische Klinik setzen, aber wenn sein Pferd krank wird, ist er zu allem bereit und würde sogar einen chinesischen Arzt um Hilfe bitten. Nikki wußte, wie wichtig es für Jakli war, die -482-
Tradition zu befolgen und der Familie der Braut wenigstens ein weißes Pferd zu schenken. Um Jakli und Akzu zu ehren. Und auch Jaklis verschollenen Vater. Früher hätte es zahlreiche Pferdegeschenke auch von Freunden und Cousins gegeben. Einmal habe ich bei einem nadam zweihundert weiße Pferde gesehen.« »Demnach bekommt also Akzu die Pferde«, sagte Shan. Akzu, dessen Clan aufgelöst und dessen Herden an die Regierung ausgeliefert wurden. »Aber Jakli und Nikki gehen weg. Verlassen China. Fliehen nach Amerika. Deshalb macht sie sich keine Sorgen mehr wegen Anklägerin Xu, sondern ist nur noch wütend auf sie. Aber wie? Von Aksai Chin aus?« Marco gab wieder einen seiner Knurrlaute von sich. »Stellen Sie keine Fragen, die ich nicht beantworten kann.« »Es geht nicht mehr um Lau, sondern um Jaklis und Nikkis Sicherheit«, sagte Shan. »Und um die Jungen und den Clan des Roten Steins.« Marco legte beide Hände auf die Brustwehr und schaute hinaus auf die mondbeschienenen Berge. »Na gut«, seufzte er. »Eine besondere Route. Narrensicher. Sie kann nur einmal benutzt werden. Per Boot.« »Aber die Flüsse sind nicht schiffbar«, wandte Shan irritiert ein. »In der Raketengegend werden immer noch Arbeiter mit dem Aushöhlen von Bergen betraut. Strafgefangene - zumeist Kasachen, Tibeter und Uiguren. Zweimal im Monat werden sie mit Bussen an ihre Arbeitsstellen verlegt. Es existiert ein großes Bauprojekt am Ende der Straße, jenseits des Hauptstützpunkts im tibetischen Rutog.« Shan hatte von Rutog gehört. Es lag etwa zweihundert Kilometer von Xinjiang entfernt, nahe der indischen Grenze. Eine Nuklearzone, eines der Raketenzentren. »Dort gibt es ein Dorf namens Ramchang, am Ufer eines rund -483-
dreißig Kilometer langen Sees. Die Grenze zu Indien, die wirkliche Grenze, verläuft genau durch diesen See.« »Dann muß die Armee dort Überwachungsmaßnahmen getroffen haben.« »Gewiß. Jede Menge Elektronik, weil die Region so wichtig ist. Sie wissen schon, falls die Inder plötzlich auf die Idee kommen sollten, mit einem Schlachtschiff anzugreifen. Aber wir kennen dort einen Mann, einen tibetischen Jäger, der sich weiterhin in dem Grenzbezirk aufhalten darf, weil seine Tochter auf eine besondere Parteischule in Lhasa gegangen ist.« »Eine Geisel.« »Genau. Leider hat niemand in Lhasa daran gedacht, der Armee mitzuteilen, daß seine Tochter vor einigen Monaten bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen ist. Jetzt hält ihn nichts mehr dort, und er braucht etwas Geld.« »Selbst wenn er Sie über den See bringt, könnte die Armee Sie aufspüren.« »Er hat Tarnboote«, sagte Marco und klang dabei leicht belustigt. »Runde Fellboote aus geflochtenen Weidentrieben und Yakhaut. Für das Radar sind sie unsichtbar. Es funktioniert tatsächlich.« »Das heißt also, daß die purbas sie benutzen«, sagte Shan. »Ein Junge namens Mao ist auch schon auf diese Weise gereist, mit einigen wissenschaftlichen Proben. Die purbas haben eigene Transportmittel. Wir nehmen die Panda-Boote.« »Panda-Boote?« »Das ist sein Preis. Ein Gold-Panda pro Boot mit maximal vier Leuten darin.« Shans Hand krallte sich in die Steinmauer vor ihm. »Tante Lau«, flüsterte er. »Lau wollte ebenfalls fliehen.« »Es war wegen Nikki und Jakli. Ich habe es arrangiert. Als Teil meines Geschenks für ihr neues Leben.« -484-
»Aber Nikki und Jakli reisen nach Amerika.« Marco seufzte. »Zunächst war das gar nicht klar. Aber dann haben sie die Amerikaner getroffen. Diese Warp ist für Jakli ebenfalls zu einer Art Tante geworden. Warp wollte mit ihrem Sohn abreisen, um mit der Arbeit an ihrem Buch zu beginnen und den Jungen wieder auf eine amerikanische Schule zu schicken. Die Maos waren bereits mit der Vorbereitung beschäftigt. Dann hat Jakli mit Warp gesprochen, Warp hat sich an die Maos gewandt, und die Maos kamen zu mir. Kurz darauf war auch für Nikki und Jakli ein Panda-Boot reserviert. Dann haben Warp und Deacon angeboten, daß Nikki und Jakli bei ihnen wohnen sollten. Nikki wollte eigentlich nach Alaska, um dort ein Blockhaus zu bauen, damit ich irgendwann nachkommen kann. Aber Warp sagte, zuerst sollten sie an ihre Universität kommen. Dort würde sie ihnen Geld verschaffen, damit sie bei der Übersetzung und Deutung der Forschungsergebnisse behilflich sind. Die Maos wollen es inzwischen auch - sie sagen, Jakli könne in Amerika Reden halten und berichten, was Peking hier in Xinjiang macht.« Shan erzählte Marco von dem Gold-Panda, den Lau in ihrer Vexierschachtel versteckt hatte. »Geld für ein Boot«, sagte er. »Für Laus Abreise. Lau und noch jemand. Vielleicht Bajys und Khitai.« Er sah Marco an, der stirnrunzelnd den Mond betrachtete. »Was haben Sie vorhin gesagt? Ich kann nicht aufhören? So wie Sie nie aufhören, manche Dinge so lange wie möglich geheimzuhalten? Sie ist zu Ihnen nach Karatschuk gekommen, nicht wahr? Sie hatte Angst. Sie wußte von Jaklis bevorstehender Abreise. Und in jener Nacht hat sie darum gebeten, zur gleichen Zeit fliehen zu dürfen, weil ihr auf einmal bewußt wurde, in welcher Gefahr sie sich befand. Aber der Mörder war ihr dorthin gefolgt.« Marco erwiderte nichts darauf. Er schien stumm den Mond nach einer Antwort zu befragen. -485-
Shan zog das Bronzemedaillon aus der Tasche. »Das hier lag bei dem Goldstück. Die Hälfte eines Paars. Ich bin Bao zuvorgekommen und habe es eingesteckt.« Das Licht war zu schwach, um Einzelheiten erkennen zu können, also drückte er Marco das Medaillon in die Hand. »O Gott«, murmelte der eluosi und seufzte laut. »Es ist nicht gut, wenn so viele Leute über Geheimnisse reden. Das ist die Fahrkarte. Dieser alte Tibeter mit den Booten kennt außer mir niemanden persönlich. Und ich bleibe hier. Er hat die jeweils andere Hälfte des Paars. Sie sind einzigartig und kommen ansonsten nur in Museen vor. Bis Deacon diese Exemplare im Sandberg entdeckt hat. Also haben wir dem Tibeter durch die Maos die fehlenden Hälften aushändigen lassen. Die Reisenden müssen die passenden Gegenstücke vorzeigen und den Panda bezahlen. Auf diese Weise kann er nicht hintergangen werden.« Die Fahrkarte. Lau hatte einen Fahrschein in die Freiheit und in ein neues Leben besessen. Aufbewahrt hatte sie das alles in ihrem Büro, bis sie nach Karatschuk ritt und dort ermordet wurde. »Wohin wollte Lau? Nach Amerika?« »Das weiß ich nicht. Sie war eine tibetische Nonne, haben Sie gesagt. Vielleicht nach Dharamsala. Vom anderen Ende des Sees sind es nur rund dreihundert Kilometer bis dorthin.« Das am Südrand des Himalaja gelegene Dharamsala war die Heimat des Dalai Lama, die Hauptstadt des freien Tibet. Shan fand Lokesh im Eingangsraum vor. Der alte Tibeter saß vor dem Samowar am Boden und hatte bereits ihre Decken auf dem Teppich entrollt. Er ließ seine Gebetskette durch die Finger gleiten und starrte auf einen undefinierbaren Gegenstand, der unter der Filzdecke vor ihm lag. Shan sah ihm eine Weile verwirrt zu und nahm dann neben seinem Freund Platz. Schnell wurde ihm klar, daß Lokesh kein gewöhnliches Mantra rezitierte, sondern das Gebet eines Pilgers, in dem dieser die Schutzgötter um Beistand anrief. Shan hob die Decke an, ganz langsam, damit Lokesh ausreichend Zeit haben würde, ihn -486-
gegebenenfalls davon abzuhalten. Darunter lagen zwei Holzklötze, zwei Blöcke aus geschnitztem Holz mit rissigen, vertrockneten Lederriemen, die in lockeren Schlaufen daran befestigt waren. Shan erkannte sie sofort. »Du hast sie mitgenommen«, flüsterte er überrascht. »Es sind seine.« »Ja«, sagte Lokesh fröhlich. »Ich werde sie zum Kailas bringen, mit ihnen die Pilgerreise rund um den heiligen Berg vollenden und sie dann dort zurücklassen, wie er es versprochen hat.« Shan lächelte über Lokeshs Scherz und bemerkte dann die seltsame Erregung in den Augen des Tibeters. »Unmöglich!« protestierte er, als ihm aufging, daß es sich keineswegs um einen Scherz ha ndelte. »Sogar für einen jungen Mann wäre es sehr schwierig. Der Winter steht bevor. Den Berg auf Händen und Knien zu umrunden könnte viele Tage in Schnee und Wind dauern.« Vielleicht Wochen, dachte er. Die Pilger benötigten manchmal schon mehrere Tage, um die fast fünfzig Kilometer lange Runde normal zu Fuß zurückzulegen. »Ich habe es ihm versprochen«, entgegnete Lokesh heiter und gelassen. Shan wollte etwas einwenden, aber der Protest erstarb auf seinen Lippen. Lokesh hatte dem toten Pilger, einer tausend Jahre alten Mumie, ein Versprechen gegeben. Doch als Shans Hand sich um sein gau mit der Feder legte, begriff er, daß auch er selbst durch eine Art Versprechen an den Toten gebunden war, nämlich das Gelöbnis, die Tugend weiterzutragen. Er verstummte und lauschte Lokesh, der das Gebet fortsetzte. Nach einigen Minuten ging er zum Küchentisch und breitete im Schein zweier Kerzen Khitais ärmliche Habseligkeiten vor sich aus. Die Perlenstränge. Die kurze Kette. Das Etui. Die verbeulte Blechtasse. Er wog jeden der Gegenstände in der Hand. Vielleicht standen weder Lau noch der amerikanische -487-
Junge am Anfang. Vielleicht hatte alles mit Khitai begonnen. Lokesh und Gendun waren hergekommen, um den Jadekorb zu finden, den man in Khitais Obhut gegeben hatte. Warum? Weil er ein schlaues, einfallsreiches kasachisches Waisenkind war, bei dem jeder eventuelle Feind zuletzt das Nachsehen hätte? Oder stellte der Junge aus einem anderen Grund etwas Besonderes dar? Beiläufig nahm Shan die Kette und sah, daß in jedes der kleinen Glieder eine winzige Lotusblüte graviert war. Womöglich nur irgendein zufällig gefundener Schatz eines wißbegierigen Jungen. Oder auch ein Artefakt, erkannte er, gleich den zwölf miteinander verbundenen dorje-Ketten, die auf den Wandbildern hin und wieder in den Händen der tibetischen Schutzgottheiten lagen. Er zählte die Kettenglieder. Zwölf. Er nahm die Perlen. Holz, Plastik und eine Jadeperle. Wieso bestanden die Enden der Stränge aus einem so langen Stück Schnur? Was hatten die gelben Perlen inmitten der braunen zu bedeuten? Warum waren auf einem der Stränge zehn kleinere Perlen so eng nacheinander angeordnet? Shan band zwei der Stränge zusammen, sah sie an und versuchte, in der Abfolge der unterschiedlichen Farben und Formen eine Logik zu erkennen. Dann fügte er, deutlich schneller, die restlichen Stränge hinzu, so daß sich ein Kreis ergab, und band dann den Strang mit den zehn kleineren Perlen daran fest, so daß dieser nach unten hing. Aufgeregt zählte er die Perlen nach. Die farbigen Exemplare unterteilten die Schlinge in vier gleiche Abschnitte. Die kleineren Perlen, die gesondert herunterhingen, waren zum Abzählen der Zehner- und Hunderterstellen gedacht. Der eigentliche Kreis bestand aus hundert acht Perlen. Es war eine mala. Der tote Kasachenjunge Khitai hatte eine tibetische dorjeKette und den getarnten Rosenkranz eines Buddhisten besessen. Shan hatte den heimlichen Schüler des Wasserhüters gefunden.
-488-
Kapitel Dreizehn Als Shan bei Anklägerin Xu anrief, würdigte sie ihn keiner Begrüßung. »Ich rede no rmalerweise nicht mit flüchtigen Rechtsbrechern«, sagte sie mit mühsam unterdrückter Wut. »Solche Leute sind Sache der Öffentlichen Sicherheit.« Shan befand sich bei der Tankstelle am Rand der Fernstraße. Er hatte die Dienststelle des Justizministeriums vo n einer Telefonzelle aus angerufen und Fräulein Loshi gesagt, der Pekinger Freund der Anklägerin müsse unbedingt mit Madame Xu sprechen. »Ich habe Ihnen doch versprochen, daß ich mich bald wieder melden und weitere Beweise vorlegen würde«, sagte er. »Damit war ich nie einverstanden«, gab Xu zurück. »Sie haben lediglich einen entsprechenden Vorschlag geäußert, und ich habe daraufhin beschlossen, Sie ins Gefängnis einweisen zu lassen. Dann sind Sie aus meinem Gewahrsam entflohen.« »Heute nachmittag um drei«, sagte Shan und beschrieb ihr den Standort der Werkstatt. »Ich lasse mich auf keine Verhandlungen ein, Genosse. Sie können sich in meinem Büro freiwillig stellen. Oder ich schicke eine Wagenladung Soldaten, die Sie vor meinen Schreibtisch zerren wird.« »Verehrte Genossin Anklägerin«, sagte Shan geduldig. »Ich habe Ihnen von den Morden an den Kindern berichtet, und Sie haben mir zunächst nicht geglaubt. Ich dachte, Sie hätten in der Zwischenzeit vielleicht Ihre Meinung geändert.« Xu überlegte kurz und antwortete dann mit angespannter Stimme. »In diesem Punkt muß ich Ihnen nachträglich recht geben.« »Gut. Demnach arbeiten Sie und ich womöglich an einem -489-
gemeinsamen Ziel.« »Wir beide haben nicht das geringste gemeinsam. Was den Tod des Jungen anbelangt, liegt bereits ein konkreter Verdacht vor.« »Und was heißt das?« fragte Shan. In drei Metern Entfernung wanderte Marco wie ein Wachposten am Straßenrand auf und ab. Jakli hatte sie hier an der Tankstelle bereits erwartet und dann eine Orangenlimonade für Batu gekauft, der immer wieder in Richtung der Berge schaute. Malik hatte sich geweigert, das Gebirge zu verlassen, und setzte die Suche nach weiteren Angehörigen der zheli fort. »Daß Sie und Major Bao eine Übereinkunft getroffen haben? Sieht so die Justiz in Yutian aus?« Am anderen Ende der Leitung herrschte eine Weile Schweigen. Shan hörte Stimmen im Hintergrund. Vielleicht befahl die Anklägerin, ihren Wagen vorfahren zu lassen. Vielleicht rief sie auch Verstärkung herbei. »Na gut«, sagte sie schließlich. »An der Fernstraße. Aber nicht um drei. Halb vier. Eventuell vier. Sie werden warten.« Jakli runzelte die Stirn, als Shan ihr von dem Gespräch berichtete. »Es sähe Xu ähnlich, einen Hinterhalt zu arrangieren. Vielleicht nutzt sie die zusätzliche Zeit, um einige ihrer Handlanger vorauszuschicken, getarnt als ganz normale Fernfahrer.« Sie war offensichtlich erschöpft, nachdem sie den Großteil der Nacht auf dem Pferderücken verbracht und mit den Maos nach den Kindern gesucht hatte. Im Morgengrauen war es ihnen gelungen, einen der Jungen aufzuspüren, der allein in einer Höhle kauerte. Die Maos hatten ihn ins Lager des Roten Steins mitgenommen. Shan zuckte die Achseln. »So weit entfernt von der Stadt wäre das gar nicht so einfach.« Jakli bedachte ihn mit einem ungehaltenen Blick, der jedoch zugleich ein gehöriges Maß an Zuneigung erkennen ließ, als -490-
würde eine Mutter ihr Kind betrachten. »Manchmal glaube ich fast, daß es stimmt, was viele Leute über Tibet behaupten.« »Und das wäre?« »Daß es die Menschen erneuert und alle früheren Erfahrungen von ihnen abstreift. Sie wirken bisweilen so unglaublich naiv.« Shan hätte beinahe laut aufgelacht. Falls jemand nach einem Synonym für das genaue Gegenteil von Naivität suchte, konnte der Betreffende statt dessen Shans Namen einsetzen. Jakli trat in den Schatten zwischen der Werkstatt und einem kleineren Gebäude, in dem zwei alte Lastwagen untergebracht waren. Dort stand mittlerweile Marco neben Sophie, in deren Sattel Batu saß. Jakli wechselte einige hastige Worte mit dem eluosi und deutete auf einen großen Laster hinter den Schuppen, an dessen Ladefläche ein Mann soeben lange Planken zu einer provisorischen Rampe anlegte. Marco salutierte spöttisch in Shans Richtung und wandte sich dann dem Fahrzeug zu. Fünf Minuten späten waren Sophie und die beiden anderen Kamele, auf deren Rücken sie aus den Bergen hergeritten waren, auf dem Laster untergebracht. Dann fuhr der Wagen los. Batu winkte ihnen vom Fenster aus zu. Während Shan den Blick über die altersschwachen Lastwagen, die Stapel verschlissener Reifen, die baufällige gelbe Teestube und die rissigen Wände der Werkstatt schweifen ließ, kam ihm der Gedanke, daß ganz Xinjiang einer riesigen Ansammlung von Ruinen zu gleichen schien, die sich nur in ihrem Alter unterschieden. Er ging auf die Wand der Werkstatt zu, die hier das größte Gebäude darstellte, und fühlte sich plötzlich sehr müde. Bis tief in die Nacht hatte er über seinen Notizen gebrütet und Khitais dürftige Habseligkeiten angestarrt. Kurz vor Sonnenaufgang waren sie aufgebrochen und auf einem anderen Pfad aus dem Tal geritten. Jetzt mußte er noch mindestens eine Stunde auf Xu warten. Er sah nach Lokesh, der hinter der Werkstatt schlafend auf einer Decke lag, und setzte -491-
sich dann auf einen der Reifenstapel vor der Wand. Der Platz erwies sich als überraschend bequem. Shan lehnte sich zurück und schloß die Augen. Bilder der heutigen Reise zogen vor seinem inneren Auge vorbei. Er und Batu waren stundenlang neben Marco geritten und hatten langen Erzählungen aus dessen Jugend gelauscht, die von riesigen Zusammenkünften der Nomadenclans berichteten, wo unzählige Kamele Wettrennen veranstalteten und junge Mädchen sich im Bogenschießen maßen, um weiße Pferde zu gewinnen. Im Licht der frühen Dämmerung hatte Marco von den Sternen gesprochen, die er sehr gut kannte, nachdem er seit nunmehr fast dreißig Jahren nächtliche Karawanen anführte. Überrascht hatte Shan erfahren, daß der eluosi im gleichen Alter wie er selbst war, und Marco hatte laut darüber nachgesonnen, wie unterschiedlich ihrer beider Leben an den gegenüberliegenden Enden der Volksrepublik doch verlaufen war. Schläfrig erinnerte Shan sich an das Lied, das Marco ihnen beigebracht hatte, einen albernen Kinderreim über Kamele, die wie Vögel flogen. Sie hatten es gesungen, bis sie die Fernstraße erreichten. Als er die Augen wieder öffnete, war es bereits nach drei Uhr. Jemand hatte unterdessen die Freifläche zwischen den Gebäuden umgestaltet. Drei Tische, zwei davon große umgestülpte Kisten, standen jetzt draußen, und an jedem saßen zwei Gestalten und spielten Schach oder Mah-Jongg. Einige weitere Fahrzeuge parkten auf dem Gelände. Sie kamen Shan irgendwie bekannt vor. Er betrachtete sie eine Weile und erkannte dann, daß es sich um die Lastwagen aus dem Fuhrpark handelte, und zwar alle, außer dem Schildkrötenlaster, der unter dem Wüstensand begraben lag. Einer der Mah-Jongg-Spieler grinste und ließ einen Goldzahn aufblitzen. Es war der Mao aus der Stadt, der ihm die Schuhe gebracht hatte. Neben Shan saß eine Frau in dem langen grauen Kapuzengewand der strenggläubigen Mohammedaner und las anscheinend in einem Gebetbuch. Als -492-
Shan sich erhob und reckte, stand die Frau ebenfalls auf, streckte die Hand aus und zupfte an seinem Ärmel. Es war Jakli. »Der Wagen der Anklägerin ist vor fünfzehn Minuten hier vorbeigekommen. Sie hat angehalten und jemanden aussteigen lassen«, berichtete Jakli und nickte in Richtung der Teestube auf der anderen Straßenseite. Shan ging hinten um die Werkstatt herum, überquerte die Straße am Rand des Geländes und eilte zu einem kleinen Fenster in der Seitenwand des Gebäudes. Am Tisch neben dem Vorderfenster saß eine gutgekleidete Frau. Ansonsten hielt sich in der Teestube nur noch ein alter Mann mit einem langen dünnen Bart und einer schwarzen dopa auf. Er saß in einer der Ecken neben einem kleinen Gasofen und lehnte schlafend an der Wand. Shan trat ein und nahm auf dem freien Stuhl gegenüber der Frau Platz. »Fräulein Loshi, wenn ich mich recht entsinne«, sagte er. »Ich heiße Shan. Wir haben im Büro der Anklägerin miteinander gesprochen.« Die Frau war völlig vertieft darin gewesen, aus dem Fenster zu schauen, und hatte ihn nicht bemerkt. Dann zuckte sie erschrocken zusammen. Statt etwas zu erwidern, nahm sie einen Gegenstand vom Schoß, ein kleines, längliches Objekt. Ein Mobiltelefon. Sie umklammerte es mit beiden Händen und legte die Handgelenke auf die Tischkante, als würde sie einen Schild von sich strecken. »In zehn oder zwanzig Jahren wird man vielleicht soweit sein, daß auch in dieser Region Mobilfunknetze eingerichtet werden«, stellte Shan in gutmütigem Tonfall fest. »Eventuell dauert es auch ein wenig länger. Die Öffentliche Sicherheit möchte bestimmt nicht, daß solche Geräte an Orten wie diesem allzusehr in Mode kommen.« Loshi sah ihn an und schaute dann unsicher nach draußen. Shan musterte die nervöse junge Frau. Sie hatte ihre Augen -493-
stark geschminkt, und um ihren Hals hing eine teure Goldkette bis auf die hellrote Seidenbluse hinab. Anklägerin Xus Vorsichtsmaßnahme. Loshi rutschte zur Kante ihres Stuhls vor. »Ich weiß. In der Stadt funktioniert es auch nicht. Aber die meisten Leute haben keine Ahnung. Ich habe mit einem der Hirten gesprochen. Das Telefon hat ihn eingeschüchtert. Er sagte, er hielte es für irgendein Mittel, mit dem Han-Chinesen andere Chinesen herbeirufen können, denn er habe noch nie jemand anderen mit einem solchen Ding gesehen, außer Amerikaner im Fernsehen«, erklärte sie zufrieden. »Wie Sie sehen, funktioniert es also in gewisser Weise doch.« »Sie sind die Sekretärin der Anklägerin«, sagte Shan. »Hat Xu Ihnen auf dem Weg hierher irgendwelche Schreibarbeiten diktiert?« Aber Loshi wandte den Blick nicht von dem Telefon ab. »Sie funktionieren in Shanghai. Und in Hongkong. In Hongkong hat jeder so eins. In Hongkong kann man damit sogar Faxe verschicken.« »Oder hat Xu nur zu Ihnen Vertrauen?« überlegte Shan laut. »Sie sollten nicht mit mir reden. Sprechen Sie mit der Anklägerin.« »Sie sind hier. Die Anklägerin ist nicht hier.« »Ich besitze Menschenkenntnis. Genau wie die Anklägerin. Schließlich arbeite ich ebenfalls für das Justizministerium.« »Eine große Verantwortung.« »Manchmal erhalte ich besondere Auszeichnungen«, sagte sie, als wolle sie ihn dadurch einschüchtern. »Geheime Auszeichnungen.« Shan erinnerte sich an noch etwas anderes. Ko Yonghong von der Brigade nahm Loshi manchmal in seinem Auto ohne Dach mit, wie in amerikanischen Filmen. -494-
»Wissen Sie über die toten Jungen Bescheid, Fräulein Loshi?« Das Mädchen schien mit sich zu ringen. Sie legte das Telefon auf den Tisch, drückte einige Tasten und hob es dann mit einer seltsamen Gebärde ans Ohr, als wolle sie für ihre Ankunft in der großen weiten Welt üben. »Ich habe Tante Lau gemocht«, sagte sie in den Hörer, als würde sie mit jemandem telefonieren. »Einmal war ich krank, bin aber trotzdem mit der Anklägerin zu einer Ratssitzung gegangen. Tante Lau hat mir einige Kräuter gegeben und mich geheilt.« »Haben Sie Lau nur bei dieser einen Gelegenheit gesehen?« »Sie kam manchmal in die Stadt. Sie hat immer gelächelt. Sie hat mir ein Buch mit Gedichten gegeben, die von ehemaligen Soldaten verfaßt wurden.« Loshi ließ das Telefon sinken. »Ich glaube, ich kenne sonst niemanden, der so viel gelächelt hat. Wie eine alte Bettlerin hat sie gelächelt.« Shan sah die Sekretärin mit gemischten Gefühlen an. Wie eine alte Bettlerin. Loshi meinte die vielen ehemaligen Nonnen und Mönche, die auf den Straßen Chinas um Almosen baten. Teilte ihre ganze Generation diese Ansicht und betrachtete die Mönche nur noch als Bettler? Er sah auf die Straße. Jakli sprach mit den Männern an einem der Tische. Vor der Werkstatt stand jetzt ein Pferdewagen, der offenbar Heu geladen hatte. Ein Mann pumpte Luft in einen der Gummireifen. »Sind Sie hier geboren, Fräulein Loshi?« fragte Shan. »In Xinjiang?« Sie schüttelte geistesabwesend den Kopf. »Wir stammen von der Küste. Vom Ozean. Nördlich von Shanghai. Genaugenommen wurde ich zwar hier geboren, aber wir kommen aus der Provinz Shandong. Mein Vater wurde vor vielen Jahren nach Kashi geschickt, um dort eine Fabrik zu leiten. Eines Tages kehre ich nach Shandong zurück. Anklägerin Xu sagt, sie könne meine Versetzung bewirken, falls wir bei unseren Fällen gleichbleibend hohe Aufklärungsquoten -495-
erzielen.« »Sie wären lieber im Osten?« »Wieder zu Hause? Aber natürlich.« Zu Hause. Loshi war noch nie dort gewesen, aber Shandong war ihr Zuhause. Er sollte einen Brief an den Vorsitzenden schreiben. Hochverehrter Genosse. Nach fünfzig Jahren liegt uns nun ein schlüssiger Beweis dafür vor, daß unser Eingliederungsversuch der westlichen Gebiete leider gescheitert ist. Loshi will nämlich zurück nach Hause. »Was ist mit der Anklägerin? Möchte sie sich ebenfalls versetzen lassen?« Loshi lächelte spöttisch und öffnete ein Nylonfutteral, das vor ihr auf dem Tisch lag. Dann zog sie eine Schachtel Zigaretten daraus hervor und zündete sich eine an. Nach kurzem Zögern streckte sie auch Shan die Schachtel entgegen. Er schüttelte den Kopf. »Sie geht nirgendwohin. Ich bin bald weg von hier. Aber Genossin Xu…« Sie zuckte die Achseln und stieß zwei kräftige Rauchstrahlen durch die Nasenlöcher aus. »Sie ist die dienstälteste Anklägerin Xinjiangs auf ein und demselben Posten. Zwölf Jahre. Und das ausgerechnet in Yutian.« Shan fragte sich, ob die junge Frau wirklich begriff, was sie da sagte, oder ob lediglich Yutian in ihren Augen kein hohes Ansehen genoß. Zwölf Jahre auf diesem Posten bedeuteten für Xu einen deutlichen Karriereknick. Man hatte sie hergeschickt oder hier belassen, weil sie in Ungnade gefallen war. Er erinnerte sich daran, in welchem Tonfall Bao der Anklägerin von seinem Besuc h einer Konferenz in Turpan erzählt hatte. Wenn man seine grundlegenden Pflichten vernachlässigt, hatte Bao gesagt, begeht man ein Versäumnis gegenüber dem Staat, ganz gleich, wie hart man arbeitet. Aber Xu war eine Fanatikerin. Sie war die Jadehure. Sie sorgte für Gefangenennachschub in den Reislagern. Sie schoß von -496-
Hubschraubern aus auf Gebetsfahnen. Welche grundlegenden Pflichten hatte Bao gemeint? Shan warf einen Blick auf die Zigarettenschachtel. »Ganz schön teuer«, stellte er fest. Es war eine amerikanische Marke. Loto gai. Camels. Loshi schien zu gefallen, daß er es bemerkt hatte. »Ich habe sie gestern von Ko bekommen. Als Entschuldigung wegen des Sportwagens. Er mußte ihn diesem Major Bao geben.« Shan hätte sie fast gebeten, die Worte zu wiederholen. »Major Bao? Er hat seinen Sportwagen Bao gegeben?« fragte er ungläubig. »Sie wissen doch, wie das ist.« Loshi zuckte die Achseln. »Die Öffentliche Sicherheit. Ko hat gesagt, er würde sich schon bald einen neuen besorgen.« Sie sog vernehmlich die Luft ein und beugte sich zum Fenster vor. Ein schwarzer Wagen, Xus Limousine mit der roten Standarte, bog soeben vor die Werkstatt ein. Shan verharrte noch einen Moment, weil er einfach nicht begreifen konnte, wieso Ko seinen teuren Wagen einem Mann überlassen sollte, der nicht einmal sein Freund, sondern in vielerlei Hinsicht sogar sein Rivale war. »Ich gehe hinten herum«, sagte er in verschwörerischem Tonfall und stand auf. »Ich werde ihr nichts von unserem Gespräch verraten.« Loshi warf ihm ein schüchternes, nervöses Lächeln zu, legte die Hände um das Mobiltelefon und sah wieder aus dem Fenster. Von der Seite der Teestube aus beobachtete Shan, daß die Schachspieler sich sofort von ihren Plätzen erhoben und im Hintergrund verschwanden, als die Anklägerin vom Fahrersitz ausstieg. Sie blieb stehen, stemmte die Arme in die Seiten und ließ den Blick über das Gelände schweifen. Dann setzte sie sich an den freien Tisch und legte eine kleine Leinentasche vor sich hin. Kurz darauf kam Shan um die Ecke der Werkstatt und gesellte sich zu ihr. -497-
»Major Bao ist noch am selben Tag zurückgekommen und hat mich nach Ihnen gefragt«, sagte Xu verärgert. »Er war immer noch wütend. Er hat getobt und behauptet, ich hätte Sie verhaften sollen. Ich habe ihn nach dem Grund gefragt. Er sagte, Sie könnten eine vertrauliche Untersuchung gefährden, und hat nach mehr Informationen über Sie verlangt.« »Wie haben Sie reagiert?« fragte Shan. »Ich habe behauptet, Sie seien einer meiner Informanten«, sagte Xu und hielt inne, als wolle sie die Worte wirken lassen. »Aber er wollte Ihren Namen und Ihre Arbeitseinheit.« Die Anklägerin zündete sich eine Zigarette an, eine starke Sorte ohne Filter, wie sie sonst zumeist von Fabrikarbeitern geraucht wurde. »Ich habe gesagt, durch die Preisgabe dieser Daten könnte eine vertrauliche Untersuchung gefährdet werden.« Sie lächelte mißmutig und bedachte Shan mit einem selbstgefälligen Blick, während sie den Rauch aus ihrem Mund treiben ließ. »Aber eine Freundin von mir arbeitet im Pekinger Ministerium. Sie wird bald in Pension gehen. Ich habe sie angerufen. Es gab mal einen Inspektor Shan, hat sie gesagt. Er war Generalinspekteur des Wirtschaftsministeriums. Ein hartnäckiger Ermittler, wie er bei jedermann unbeliebt ist.« Sie nahm einen weiteren Zug von ihrer Zigarette und betrachtete Shan. »Sie wissen schon. Dickköpfig. Nicht in der Lage, die Prioritäten der sozialistischen Gesellschaftsordnung zu erkennen.« Die Formulierung war ihm vertraut. Sie entstammte dem Sprachgebrauch der tamzings, der Agitationssitzungen, in denen dem einzelnen jede staatsbürgerliche Unzulänglichkeit vor Augen geführt und ein entsprechendes Heilmittel eingebleut wurde, nicht nur im übertragenen Sinne. Shan bemerkte, daß seine Hände abermals wie von selbst ein mudra gebildet hatten, als wollten sie ihm etwas mitteilen. Die Finger waren verschränkt, nur die Mittelfinger wiesen nach oben. Der Diamant des Verstands. »Die Prioritäten der Partei, -498-
die Prioritäten des Staates, die Prioritäten des Arbeitsplatzes«, rezitierte er den ebenso vertrauten Refrain der politischen Katechismen, den man ihm mehr als einmal ins Gesicht gebrüllt hatte. »Ich habe in einer westlichen Zeitschrift mal eine Werbeanzeige für ein Buch gesehen. In zehn leichten Schritten zum gut organisierten Büro.« Er sah Xu mit ungerührter Miene an. »Das ist so ungefähr dasselbe.« Die Anklägerin lächelte frostig. »Dieser Inspektor Shan hat sich angeblich mit einigen Parteibonzen angelegt und vielleicht sogar gegen sie ermittelt. Es heißt, man habe ihn verschwinden lassen.« Sie öffnete den Mund, so daß der Rauch sich um ihre Lippen kringelte. »Der Vorteil des Verschwindens besteht darin, daß man danach nur noch wesentlich niedrigeren Erwartungen genügen muß«, sagte Shan und starrte auf seine Hände. »Alle Jungen der zheli sind in Gefahr. Es könnten noch weitere Morde geschehen.« »Meine Freundin hat im Wirtschaftsministerium angerufen. Die meisten Leute dort sind froh, diesen Shan los zu sein. Er hat allen das Leben schwergemacht. So stur wie ein ranghohes Parteimitglied. Aber als man ihm die Parteimitgliedschaft anbot, hat er abgelehnt.« »Der Mörder ist hinter den Jungen her. Nur hinter den Jungen.« Shan schaute zurück zu der Teestube, wo Loshi hinter dem Fenster saß und sie beobachtete. Ko hatte seinen teuren Wagen Major Bao überlassen. Es ergab keinen Sinn. »Ein Ermittler sollte Antworten liefern, sollte den Leuten das Leben erleichtern«, fuhr sie fort, als hätte sie keines seiner Worte gehört. Shan konzentrierte sich auf das Ende von Xus Zigarette. »Manchmal kann ein Ermittler nicht mehr tun, als die Menschen an ihr Gewissen zu erinnern.« Xu schürzte die Lippen, als fände sie die Bemerkung amüsant. -499-
»Ihr Mörder«, stellte sie fest. »Er hat vielleicht nur nach diesem einen bestimmten Jungen gesucht. Kublai. Vielleicht ist jetzt alles vorbei.« »Vielleicht will er aber auch alle umbringen«, sagte Shan. Xu zuckte zusammen. »Machen Sie sich nicht lächerlich. Niemand könnte ungestraft eine ganze…« Ihre Stimme erstarb, und ihr Blick richtete sich auf den Horizont. Sie schüttelte den Kopf. »Was wollen Sie damit sagen, Genossin Anklägerin? Ein oder zwei Jungen sind egal? Aber zehn oder fünfzehn wären eine unannehmbare Verlustrate? Ein politisch peinlicher Umstand? Wie wär's mit fünf oder sechs? Vielleicht maximal zehn, ohne daß jemand wirklich Notiz davon nimmt?« Er ließ sie bei diesen Worten nicht aus den Augen. »Es sind ja schließlich bloß Waisenkinder und obendrein nur Kasachen und Uiguren.« »Manche Leute wittern überall Verschwörungen.« »Das hier ist die Volksrepublik, Anklägerin. Verschwörungen sind ihr Herzblut.« Ihr Blick loderte auf, und sie schaute kurz zu den anderen Tischen. Niemand schien ihnen zuzuhören. »Vorsichtig, Genosse. Ich weiß, was ich dem Staat schuldig bin.« »Wie schön«, erwiderte Shan, »daß Sie Ihren Job ernst nehmen. Was war es doch gleich? Die strafrechtliche Verfolgung von Verbrechen, nicht wahr?« Xu runzelte die Stirn und zog an ihrer Zigarette. »Vielleicht hat dieser Ermittler aus Peking vor allem eine wichtige Erkenntnis gewonnen«, sagte Shan. »Daß eine Arbeit im Dienst der Regierung nicht immer dasselbe ist wie eine Arbeit im Dienst des Volkes.« Die Anklägerin ließ den Blick über das Gelände schweifen. Shan tat es ihr nach und erkannte bei den Mah-Jongg-Spielern ein weiteres vertrautes Gesicht, trotz der überdimensionalen -500-
chinesischen Armeemütze, die der Mann sich tief in die Stirn gezogen hatte. Fat Mao. Der Pferdewagen fuhr in gemächlichem Tempo los. »Ich habe mich bei allen Dienststellen von hier bis Kashi und zweihundert Kilometer in östlicher Richtung erkundigt. Es ist kein weiterer Mord an einem Kind gemeldet worden.« Er starrte sie an. Sie hielt seinem Blick stand, ohne mit der Wimper zu zucken. »Nach Kublai wurde noch ein weiterer Junge ermordet«, verkündete Shan. »Der vierte insgesamt.« »Nein. Das glaube ich nicht.« »Das haben Sie schon einmal gesagt, Genossin Anklägerin, als ich Ihnen mitteilte, daß Kinder sterben.« Xu legte die Stirn in Falten und erwiderte nichts. »Ein Junge namens Khitai wurde in der Nähe der großen Gebetsfahne in den Bergen ermordet. Sie kennen die Fahne, die ich meine.« »Ich kenne sie«, gab sie starr zurück. Shan nickte. »Man hat Sie dort gesehen.« Ein Gedanke kam ihm in den Sinn. Batu hatte geglaubt, Xu wolle die Jungen aufspüren und töten. Doch vielleicht verfolgte sie jemanden. Die Kamera sollte Überwachungszwecken dienen. Shan hatte gedacht, es ginge Xu dabei um Buddhisten und Dissidenten. Aber eventuell ging es ihr um den Mörder. Ihre Augen funkelten. »Womöglich bedeutet dies, daß Sie kurz vor einer Verhaftung stehen«, sagte Shan und erwiderte den wütenden Blick. »Man hatte dort vor drei Tagen eine kleine Gruppe Hirten beobachtet. Wir haben Ermittlungen angestellt. Ein Mitglied von Laus zheli hätte sich bei ihnen befinden können. Oder vielleicht mußten die Leute auch noch für das Armutsprogramm registriert werden.« »Zwei Tage«, sagte Shan. »Die Hirten waren vor zwei Tagen -501-
dort. An dem Tag, an dem der Junge gestorben ist.« Xu schüttelte den Kopf. »Drei.« Falls das stimmte, hatte Batu richtig vermutet, dachte Shan. Mehr als einer der Jungen der zheli waren zum Lamafeld gekommen, um die letzte Hausaufgabe der toten Lehrerin zu erfüllen. »Zeigen Sie mir die Leiche«, verlangte Xu barsch. Er schüttelte den Kopf. »Man hat Khitai beerdigt. Es wurde ihm genug Gewalt angetan.« »Dann ist auch nur ein Junge gestorben«, sagte Xu. »Mehr wissen wir nicht. Der Tod eines einzelnen Jungen könnte auf alles mögliche zurückzuführen sein. Wir führen eine offizielle Untersuchung durch. Bei der Autopsie wurde als Todesursache eine kleinkalibrige Schußwunde festgestellt. Es könnte sich um einen Jagdunfall handeln. Den Clans wurden kleinkalibrige Jagdwaffen gestattet.« »Ein Jagdunfall?« Anklägerin Xu war eine sehr komplizierte Frau, beschloß Shan. »Ich dachte, Sie hätten gesagt, der Feudalismus sei daran schuld.« »Auch gut. Fraglos wird dadurch der zersetzende Einfluß der alten Clan-Strukturen verdeutlicht. Unverantwortlichkeit. Gesetzlosigkeit in den Bergen. Wir befinden uns im einundzwanzigsten Jahrhundert, Genosse. Das muß aufhören. Ich bin stets dazu bereit, den Opfern eines Verbrechens mit aller Macht meines Amtes beizustehen. Aber zuerst müssen diese Opfer mich darum bitten und ihre Aussagen über den Tod der anderen zu Protokoll geben. Ich bin nicht bereit, mich auf Gerüchte einzulassen, weder im Hinblick auf Lau noch hinsichtlich der Jungen. Die Mittel einer ganzen großen Nation stehen zu ihrer Verfügung, wenn diese Leute es nur wollen.« »Mal statistisch betrachtet, Genossin Anklägerin, wie viele Schwerverbrechen werden Ihnen denn durchschnittlich von den Nomaden gemeldet?« -502-
»Ein paar jedes Jahr.« »Und wie viele von den Han-Chinesen hier im Bezirk?« »Mehr als neunzig Prozent aller Anzeigen werden von HanChinesen erstattet.« »Und wie hoch ist der Anteil der Han-Chinesen an der Gesamtbevölkerung?« »Hier draußen geht die Umsiedlung nur langsam vonstatten.« Sie zuckte die Achseln. »Die offizielle Zahl lautet zweiunddreißig Prozent.« »Und Sie nehmen es den Tibetern, Kasachen und Uiguren übel, daß diese die meisten Verbrechen nicht melden.« »Es ist schwierig genug, ein solch riesiges Land zusammenzuhalten. Wir alle müssen kooperieren. Ein Bürger, der seine Mitwirkung versagt, ist kein vollständiger Bürger. Man muß die Leute dazu erziehen, daß sie sich an uns wenden.« »Wie wär's mit einem riesigen tamzing? Lassen Sie alle Hirten zusammenholen. Und ihre Schafe. Die Schafe darf man keinesfalls vergessen, denn die Herden sind schrecklich desorganisiert. Die Prioritäten der Partei.« Xu musterte die Glut ihrer Zigarette, und ein Anflug von Verbitterung schien über ihr Gesicht zu wandern. Konnte es sein, daß sie ihre Aufgabe tatsächlich ernst nahm? »Manchmal gibt es Ermittlungen, an deren Ende man sich wünscht, es hätte niemals jemand eine Anzeige erstattet«, sagte Shan. »Denn man muß einen Abschlußbericht erstellen.« »Erklären Sie mir nicht meinen Beruf. Ich bin schon sehr lange Anklägerin, Genosse Shan.« »Ich weiß«, gab Shan zurück. »Hier in Yutian seit zwölf Jahren.« Sie fixierte ihn mit eisigem Blick. »Ich wollte sagen, daß ich weiß, wie man Berichte schreibt.« Er sah sie an und erkannte das Eingeständnis in ihrem Blick. -503-
Sie wußten beide, daß es zu den höchsten Kunstformen der Volksrepublik gehörte, den Abschlußbericht einer strafrechtlichen Untersuchung zu verfassen. »Meistens muß man nur darüber schreiben, wer die Verbrecher sind«, sagte er sehr langsam. »Aber manchmal gibt es Fälle, bei denen man darüber schreiben muß, wer man selbst ist.« Xu entgegnete nichts. Sie zündete sich eine zweite Zigarette am Stummel der ersten an und starrte auf die primitive Tischplatte aus schlichtem Sperrholz, als würde sie sich plötzlich für das Muster der Holzkörnung interessieren. »Wir haben eine Akte über den toten Jungen angelegt. Direktor Ko hat mehrere Verdächtige vorgeschlagen. Ich habe versucht, weitere Leute ausfindig zu machen, die über Informatione n verfügen könnten. Anscheinend wurde rund um die Kinder der zheli das meiste geheimgehalten. Lau hat ihre Aufenthaltsorte nirgendwo notiert. Niemand scheint viel zu wissen.« »Direktor Ko?« »Die Brigade weiß besser als jede andere Organisation über die Clans Bescheid. In gesellschaftspolitischen Fragen ist sie oft maßgeblich an der Durchführung beteiligt.« Xu fuhr sich mit der Zunge über die Innenseite der Wange, als würde sie auf etwas kauen. »Dadurch wird sie mitunter zum Ziel. Für Widerstandskämpfer.« »Widerstandskämpfer?« »Zum Beispiel Clan-Mitglieder, die das Armutsprogramm bekämpfen. Jemand hat gestern einen Lastwagen der Brigade sabotiert.« »Einen Lastwagen?« »Ein Viehtransporter wurde gestohlen. Ein Fahrer der Brigade hat mit seinem Wagen die Verfolgung ins Gebirge aufgenommen. In einer Kurve hat der Lastwagen sich überschlagen und ist ausgebrannt. Kasachen oder Uiguren waren dafür verantwortlich. Wir untersuchen die Angelegenheit.« -504-
Shan sah sich erneut auf dem Gelände um. Hatten die Maos den Transporter gestohlen, um damit irgendeine Art Hinterhalt zu legen? »Die Brigade stellt hier in Xinjiang unseren Antriebsmotor für gesellschaftliche Veränderungen dar. Wir alle müssen dafür sorgen, daß dieser Motor nicht ins Stocken gerät«, behauptete Xu. Es klang wie ein politisches Mantra, abgesegnet durch die Zentrale der Partei. Shan dachte an seine letzte Unterredung mit Kaju zurück. »Was will die Brigade mit den Säuglingen der hiesigen Klinik anstellen?« fragte er. Xu runzelte wieder die Stirn. »Jetzt kommt es Ihnen schon verdächtig vor, daß jemand Babys hilft? Sie sind paranoid. Völlig verblendet. Vielleicht fühlen Sie sich dermaßen schuldig, ein Han-Chinese zu sein, daß Sie alle Han-Chinesen hassen. Ich kann Ihnen einen…« Sie suchte nach einem Wort. »…einen Therapeuten besorgen, der Ihnen diesbezüglich helfen könnte. Jedermann weiß, wie hoch die Säuglingssterblichkeit bei den Minderheiten ist. Ko will nur helfen.« Shan beobachtete, daß der Pferdewagen direkt vor der Limousine der Anklägerin hielt. Der Fahrer spannte das Pferd aus und führte es weg. Shan sah genauer hin. Vorn war kein Platz. Der Heuwagen blockierte das andere Fahrzeug. Er schaute sich auf dem Gelände um. Jakli hatte gesagt, Xu könnte andere Leute mitbringen, die als Fernfahrer verkleidet waren. »Das ist doch irgendwas Buddhistisches«, sagte sie auf einmal und deutete auf sein mudra. Wortlos und verlegen nahm Shan die Hände auseinander. »Leutnant Sui«, sagte er dann. »Wird auch der Mord an ihm untersucht?« »Baos Büro hat mir mitgeteilt, Sui sei auf einen neuen Posten in die Mandschurei versetzt worden.« »Aber Sie haben es ihm nicht geglaubt.« -505-
Xu nahm einen tiefen Zug von ihrer Zigarette. »So einfach ist das nicht.« »Sui ist entweder tot oder wurde versetzt. Haben Sie versucht, seine Versetzung zu überprüfen?« Sie runzelte die Stirn, als sei das Thema ihr zuwider. »Es gibt zwei Möglichkeiten«, sagte Shan. »Die Öffentliche Sicherheit will etwas vertuschen, ohne das Justizministerium einzuweihen. Oder Bao will etwas vertuschen, ohne auch nur die Öffentliche Sicherheit einzuweihen.« Es gab noch eine dritte Möglichkeit, die er jedoch nicht zur Sprache brachte. Vielleicht wußten alle - Bao, Xu und Peking - über den Mord Bescheid und hatten sich nur noch nicht auf eine politische Marschrichtung geeinigt. »An jenem Tag bei der Werkstatt in den Bergen wurden Sie von Sui begleitet, und Kaju traf im Wagen von Ko dort ein«, fügte Shan hinzu. »Kaju sagte, er sei auf der Suche nach den Jungen, Laus Jungen. Womöglich hatte Sui die gleiche Absicht.« Als sie diesmal ausatmete, blies sie ihm den Rauch direkt ins Gesicht. »Im Zuge der Suche nach Lau hatten wir Straßensperren eingerichtet. Die Öffentliche Sicherheit war dabei sehr kooperativ. Das Ministerium und die Öffentliche Sicherheit arbeiten Hand in Hand.« »Als ich neulich bei Ihnen war, hat die Öffentliche Sicherheit eine Teetasse nach Ihnen geworfen«, entgegnete Shan lakonisch. Für eine Sekunde glaubte er in den Augen der Anklägerin so etwas wie Belustigung aufblitzen zu sehen. »Ich habe noch eine andere Theorie im Hinblick auf Sui«, sagte Xu. »Falls er tatsächlich tot ist, wurde er vielleicht von Tibetern ermordet.« Shan spürte, wie seine Kehle schlagartig auszutrocknen schien. Er erwiderte Xus Blick und zuckte die Achseln. »Wir sind hier in Xinjiang.« -506-
»Dies ist eine Grenzregion. Wir sind hier überall und nirgends. Als Sie an jenem Tag von der Werkstatt losgefahren sind, hat Sui die Kontrollpunkte per Funk angewiesen, Sie in Gewahrsam zu nehmen. Genaugenommen nicht Sie persönlich. Er gab den Befehl, den Lastwagen anzuhalten und den alten Tibeter zu verhaften, der bei Ihnen war.« Shan starrte auf seine Hände. Sui hatte nach Tibetern gesucht. War Sui derjenige gewesen, der Lau gefunden hatte? Aus dem Augenwinkel sah er eine graue Gestalt aufstehen und langsam um die hintere Ecke der Werkstatt verschwinden. Jakli, die zu dem schlafenden Lokesh ging. »Ein harmloser alter Mann«, sagte Shan. Xu schaute mit gequälter Miene in Richtung des Gebirges. »Ich würde im Zusammenhang mit Tibetern niemals das Wort ›harmlos‹ benutzen«, sagte sie in seltsam entrücktem Tonfall und ließ den Blick dann über das Gelände schweifen. »Mit allen anderen können wir reden und verhandeln, können Wissen vermitteln und Überzeugungsarbeit zur Veränderung leisten. Aber die Tibeter bleiben einfach Tibeter.« »Und deshalb lassen Sie Ihre Wut an Gebetsfahnen aus?« fragte Shan ruhig. Schweigend musterte sie ihn eine Weile und senkte dann den Blick auf die Tischplatte. »Ich weiß, daß zumindest ein Junge gestorben ist«, sagte sie genauso ruhig. »Sui hat angedeutet, daß von seit en der Tibeter irgendeine neue Verschwörung ausgehen könnte. Ich habe meinen leitenden Untersuchungs beamten gebeten, Augen und Ohren offenzuhalten und herauszufinden, wo in den Bergen die Kinder der zheli vielleicht auf Tibeter treffen könnten. Wir hörten, daß sich an jenem Ort eine kleine Familie aufhalten sollte, also sind wir hingeflogen. Und jetzt sagen Sie, daß dort ein Junge gestorben ist«, schloß sie, als sei damit etwas bewiesen. Sie sind hingeflogen, um die Götter zu blenden, hätte Shan -507-
beinahe gesagt. »Waren Sie in Begleitung der Öffentlichen Sicherheit?« »Nein.« »Und das heißt? Daß die Öffentliche Sicherheit sich im Gegensatz zu Ihnen nicht um die Jungen schert?« Xu antwortete nicht, sondern bedachte ihn lediglich mit einem kühlen Blick. Er zog den schwarzen Kompaß aus der Tasche, klappte ihn auf und legte ihn auf den Tisch. »Erkennen Sie dieses Instrument? Hat es Ihrem Ermittler gehört? Oder Bao?« »Mir jedenfalls nicht«, gab sie gereizt zurück, als hätte er sie eines Vergehens beschuldigt. Dann starrte sie den Kompaß an. »Haben Sie das Ding dort gefunden? Mein Untersuchungsbeamter war zuvor nicht allein da, sondern ist erst gemeinsam mit mir hingeflogen. Er hatte bloß Fragen gestellt und mit einigen Hubschrauberpiloten gesprochen. Ihm gehört der Kompaß also nicht. Und was Bao anbelangt, müßten Sie ihn schon selbst fragen. Ich könnte ein Treffen arrangieren«, bot sie mit einem kalten, schmalen Lächeln an. Shan klappte den Kompaß zu, ließ ihn aber zwischen ihnen auf dem Tisch liegen. »Was hätten Sie getan, falls Ihnen dort oben einer der Jungen begegnet wäre?« »Ich hätte ihn für einige Tage in Schutzhaft genommen. Dann hätte ich ihn wieder in die Obhut des Schulprogramms entlassen.« Shan schwieg für einen Moment und bedachte ihre Worte. »Verraten Sie mir eines, Genossin Anklägerin«, sagte er und steckte den Kompaß wieder ein. »Halten Sie die Tibeter für schuldig, nur weil Sui hinter den Leuten her war?« »Sui. Und jetzt Bao. Er läßt überall im Bezirk Kontrollpunkte einrichten. Wer mit tibetischen Papieren angetroffen wird oder -508-
auch nur in Tibet geboren ist, soll zum Verhör festgehalten werden. Er hat bereits ein paar alte Männer einkassiert, die ihre Abstammung nicht zu seiner Zufriedenheit erklären konnten.« Der Wasserhüter. Sie hatte den Wasserhüter mit keiner Silbe erwähnt. Weil man die Identität des Lama nicht enthüllt hatte, hoffte Shan. Vielleicht war der Mann im Lager Volksruhm sogar besser aufgehoben, weil er dort nicht Baos Aufmerksamkeit erregen würde. Dazu durfte er allerdings keine weiteren Schwierigkeiten mit den Politoffizieren bekommen. »Wegen eines Gedichts?« fragte Shan. »Hat Bao denn so große Angst vor Gedichten?« Sie legte abermals die Stirn in Falten. »Er ist Major der Öffentlichen Sicherheit«, sagte sie und meinte damit, daß Bao tun und lassen konnte, was immer er wollte. Er war niemandem eine Erklärung schuldig, auch nicht der Anklägerin. Sie sah ihn an und schien den Schmerz in seinem Blick zu bemerken. »Ihr Freund«, sagte sie und genoß dabei sichtlich sein Unbehagen, »dieser alte Tibeter, er reist in Begleitung eines gesuchten Rechtsbrechers. Überlegen Sie doch nur, was er wohl alles zu erzählen haben wird, sobald Bao ihn in die Finger bekommt.« Er ist nur ein alter Mann, wollte Shan erwidern, aber statt dessen kam ihm wie von selbst eine Frage über die Lippen. »Wieso hat er die anderen per Funk verständigt? Warum hat Sui ihn nicht einfach dort bei der Werkstatt verhaftet?« Xu öffnete den Mund zu einer Antwort, blieb jedoch stumm. Ihr Blick wanderte wieder in Richtung der Berge. »Weil er nicht wollte, daß Ko etwas davon mitbekam«, mutmaßte Shan. »Sui war wütend, als es den Patrouillen nicht gelang, Ihren Freund zu ergreifen. Er ließ extra eine Personenbeschreibung verteilen, um eine spätere Verhaftung zu gewährleisten.« -509-
»Es gibt noch einen Tibeter«, sagte Shan. »Was wissen Sie über Kaju Drogme?« »Ich habe ihn vor Beginn seiner Tätigkeit befragt. Er ist anders. Ein Musterbeispiel für alle Minderheiten. Einer der wenigen Tibeter, die begriffen haben, wie wichtig es is t, die Bedürfnisse unserer Gesellschaft ins Gleichgewicht zu bringen. Als erwogen wurde, ihn herzuholen, fand eigens ein Treffen deswegen statt. Daran teilgenommen haben Vertreter des Bildungsministeriums, des Büros für Religiöse Angelegenheiten, der Öffentlichen Sicherheit und der Brigade.« »Wieso der Brigade?« »Weil sie hier unverzichtbar ist. Sie stellt in unserem Bezirk das ausführende Organ der Behörden dar. Zur Überwachung dieses Programms gibt es in Urumchi ein eigenes Büro, das die Tätigkeit von fünfzig oder sechzig Lehrern überall in Xinjiang koordiniert, die allesamt selbst den Minderheiten angehören und für die kulturelle Angleichung ausgebildet worden sind. Sowohl Peking als auch die Führungsspitze der Brigade halten sehr viel von dem Projekt. Vergessen Sie nicht, daß die Brigade einen der größten Wirtschaftsbetriebe Chinas darstellt.« Sie überlegte kurz und zuckte die Achseln. »Dennoch ist das Programm lediglich ein Experiment.« »Sie sind nicht davon überzeugt?« »Manchmal geht er zu weit. Lau war ausgeglichen. Aber dieser Kaju… Ich habe eine seiner Unterrichtsstunden besucht. Er erklärte den Kindern, wie man buddhistische Gebetsketten handhabt, und fragte, ob sie selbst einmal derartige Ketten besessen hätten. Ich habe mich bei der Brigade über ihn beschwert. Man sagte mir, es sei Teil des Programms. Bestätige die ethnischen Wurzeln. Laß die tibetischen Kinder wissen, daß Gebetsketten nichts Schlimmes sind, und erlaube den Moslems, sich hin und wieder in Richtung Mekka zu verneigen. Dann führe ihnen allmählich vor Augen, wie altmodisch dies alles ist -510-
und welche subtile Form von Gedankenkontrolle sich dahinter verbirgt.« Shan sah sie wortlos an. Die Bestätigung der ethnischen Wurzeln war außerdem eine Möglichkeit, unerkannte Tibeter zu identifizieren. Vor mehr als vierzig Jahren hatte Mao Tse-tung eine Kampagne ins Leben gerufen, die als Hundert-BlumenBewegung bekannt wurde. Laßt hundert Blumen blühen, hatte der Vorsitzende gesagt, um auf diese Weise die Menschen zu ermutigen, ihre verschiedenen Ansichten zu äußern und die Regierung öffentlich zu kritisieren. Letzten Endes sollten dadurch nur die Dissidenten enttarnt werden. Nach einigen Wochen wurde die Kampagne abgebrochen, und wer Kritik am Vorsitzenden geübt hatte, mußte ins Gefängnis. Shan sah, daß soeben ein weiteres Fahrzeug, ein schwerer Diesellaster, unmittelbar hinter der Limousine parkte, so daß der Wagen nun vollends eingeklemmt war. Mit zischenden Luftdruckbremsen und laufendem Motor blieb der Laster stehen. Der Fahrer verharrte hinter dem Lenkrad und konzentrierte sich auf den Mah-Jongg-Spieler, der der Anklägerin am nächsten saß. Fat Mao. Wie hatte Marco die Maos genannt? Schmarotzer, stets auf der Suche nach leichten Opfern. Shan entfaltete den Zettel, den er aus der Schule mitgenommen hatte, und schob ihn zu Xu herüber. »Sind diese Leute so wild darauf, die Kinder zu religiösen Geständnissen zu verleiten, daß sie Bestechungsgeschenke anbieten müssen?« Xu las das Rundschreiben, ohne es zu berühren. Ihre Oberlippe hob sich verächtlich, und Shan gelangte langsam zu der Überzeugung, daß diese Miene wohl typisch für sie war. Vielleicht war sie schon seit so langer Zeit verbittert, daß ihr Gesicht automatisch diesen Ausdruck annahm, wenn es sich entspannte. Er sah, daß sie die Empfängerliste des Memos überflog, in dem Ko die CD-Player als künftige Geschenke ankündigte. Zwei der Männer kannte er - Bao Kangmei und Kaju Drogme. Der dritte Name sagte ihm nichts. Rongqi, -511-
Urumchi, stand dort. Xu seufzte und verstaute den Zettel in ihrer Leinentasche. Dabei faßte sie ihn nur vorsichtig am Rand an, als sei er zerbrechlich. »Vielen Dank«, sagte sie. »In meinem Büro konnte ich eine Videoaufnahme von Ihnen anfertigen. Jetzt habe ich auch Ihre Fingerabdrücke.« Sie wirkte auf einmal sehr zufrieden. »Agitatoren von außerhalb geben stets erstklassige Kandidaten ab.« »Kandidaten wofür?« »Für alles mögliche. Mord. Sogar Verrat. Auf diese Weise lassen sich offene Fälle leicht abschließen. Vielleicht hänge ich Ihnen auch nur eine Verletzung von Dienstgeheimnissen an. Dieses Memo war lediglich für die Augen von Regierungsangestellten bestimmt. Sie arbeiten nicht für die Regierung.« »Es ging um Mitarbeiter der Brigade, nicht der Regierung«, wandte Shan ein. Xu zuckte die Achseln, als bedeute dies keinen Unterschied. Shan starrte sie an. »Also gut. Verhaften Sie mich. Das einzige, was ich wirklich gut kann, Genossin Anklägerin, ist überleben. Ich werde ins Gefängnis gehen. Ich werde es überleben. Aber dann hätten die anderen gewonnen.« »Welche anderen?« »Das weiß ich noch nicht. Womöglich Bao. Kaju. Vielleicht auch dieser Rongqi in Urumchi.« Xu zündete sich eine weitere Zigarette an, bevor sie antwortete. »Ich brauche Sie gar nicht konkret mit irgend etwas in Verbindung zu bringen. Sie sind eine unerwünschte Person. Sie gehören nicht hierher. Unerwünschte Personen sind automatisch schuldig. Gegen Leute wie Sie gibt es ein wirksames Heilmittel. Ein Anruf, und Sie wandern für ein Jahr ins Lager Volksruhm.« -512-
Shan ignorierte sie. »Rongqi«, wiederholte er. Versuchte sie, dem Namen auszuweichen? »Hat er Lau gekannt?« Xu zögerte. »Er ist General. Ehemaliger General. Inzwischen gehört er zu den Führungsspitzen der Brigade. Er steht an zweiter Stelle. Lau und ich haben ihn in Urumchi aufgesucht.« »Lau ist mit Ihnen in die Hauptstadt gefahren?« »Rongqi war derjenige, der über das neue Angleichungsprogramm zu entscheiden hatte. Ich dachte, Lau sei eine geeignete Vertreterin genau jener Art von Leuten, die wir brauchen. Das Justizministerium hatte beschlossen, das Programm zu unterstützen und seine Datenbanken zur Verfügung zu stellen. Ich habe Lau gebeten, mich zu begleiten und als Fürsprecherin zu fungieren.« Es schwang etwas Neues in ihrer Stimme mit, eine gewisse Unsicherheit. »Aber dann ist etwas geschehen.« »Ich weiß es nicht. Rongqi war sehr freundlich. Die beiden haben sich unterhalten, und dann kühlte Lau auf einmal merklich ab. Sie sagte, sie sei krank und müsse sich leider entschuldigen. Auf der ganzen Rückfahrt hat sie kaum ein Wort gesprochen.« »War das, bevor sie ihren Sitz im Rat verloren hat?« In der Schule hatte Hu erzählt, daß Ko die alte Lehrerin am Tag vor ihrem Tod überzeugen wollte, ihn nach Urumchi zu begleiten. »Ungefähr zwei oder drei Wochen vorher.« Ihre Züge verhärteten sich. »Da besteht kein Zusammenhang. Ich weiß, was für eine Sorte Mensch Sie sind, Shan. Je höher jemand steht, desto schuldiger ist er für Sie.« Sie drückte ihre Zigarette auf der primitiven Tischplatte aus. »Ich habe ein Rätsel für Sie. Wenn man Sie einmal verschwinden läßt, nennt man das Gulag. Aber wenn Sie zum zweitenmal verschwinden, wie nennt man das dann?« Shan seufzte und richtete den Blick himmelwärts. »Ich komme übermorgen in Ihr Büro. Dann können Sie mich -513-
verhaften, falls Sie das immer noch wollen.« Xu runzelte die Stirn, äußerte jedoch keinen Einwand. »Ich glaube nicht, daß Sui Sie an jenem Tag nur wegen des Vermißtenfalls begleitet hat«, sagte Shan. »Dafür war er zu eindeutig an Tibetern interessiert.« »Er war meine Verbindungsperson zu den Straßensperren. Gleichzeitig hat er an einem Fall der Öffentlichen Sicherheit gearbeitet. Es ging um Jadediebe.« »Jade?« »Er hat mich an dem Tag gefragt, ob ich kürzlich irgendwelche hübschen Jadestücke gesehen hätte. Ich wußte, was er damit andeuten wollte. Die gesamte chinesische Jade stammt aus dieser Region. Die Förderung und Weiterverarbeitung ist nur mit speziellen Lizenzen gestattet. Die Qualität wird kontrolliert und amtlich beglaubigt. Außerdem wird eine Sondersteuer erhoben. Manchmal versucht jemand, all diese Prozeduren zu umgehen und die Jade billig auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen. Solche Fälle werden meistens den unteren Offiziersrängen übertragen. Sui hatte gehört, daß ich Kontrollpunkte errichten würde, und da wollte er die Gelegenheit nutzen, zugleich nach illegaler Jade zu fahnden. Offenbar hat er tibetische Täter vermutet.« Nein, wollte Shan erwidern. Sui hatte es auf die Jungen abgesehen. Er schaute zum hinteren Bereich der Werkstatt, wo Lokesh schlief. Sui hatte nach dem Jadekorb gesucht und war getötet worden. Dann hatte Ko seinen teuren Wagen an Major Bao weitergegeben. Nicht aus Freundschaft, sondern weil er Bao irgendwie verpflichtet war. Oder weil die beiden gemeinsame Interessen hatten. Xu sah sich auf dem Gelände um und bemerkte den Pferdewagen und den Laster, die ihre Limous ine blockierten. Es schien sie zu beunruhigen. Mit nervöser Bewegung wischte sie den noch glimmenden Zigarettenstummel vom Tisch und erhob -514-
sich. Alle um sie herum wichen ihrem wütenden Blick aus. Shan sah, daß Fat Mao eine kleine Geste vollführte, woraufhin der Diesellaster langsam zurücksetzte und die Limousine freigab. »Eines noch«, sagte Shan. »War es Ihre Idee, Fräulein Loshi mitzunehmen?« »Wie meinen Sie das?« »Sie ist mit Direktor Ko befreundet. Hat sie darum gebeten, mitkommen zu dürfen?« Xu überlegte einen Moment. »Mein leitender Untersuchungsbeamter ist in den Bergen unterwegs. Sie wußte das und hat angeboten, mich zu begleiten.« »Und unser Treffen zu beobachten.« »Ganz recht«, bestätigte Xu mit spöttischem Grinsen und winkte in Richtung der Teestube. Kurz darauf kam Loshi zum Vorschein, das Mobiltelefon deutlich sichtbar vor sich ausgestreckt. Xus Beschützerin. Nervös verfolgte Shan, wie Xu ihre Leinentasche auf der Motorhaube der Limousine abstellte. Aus dem Augenwinkel nahm er eine Bewegung wahr. Fat Mao rannte in die Werkstatt und kehrte gleich wieder mit einem zusammengefalteten weißen Zettel zurück. Plötzlich schrie jemand etwas von der anderen Seite des Geländes. Zwischen zwei Lastwagen lief ein Tier hervor, ein großer blökender Widder, der wild umhersprang und alle paar Schritte den Kopf hochwarf, als würde er gegen einen unsichtbaren Rivalen kämpfen. Einige der Männer riefen laut durcheinander und eilten auf das Tier zu. Andere wichen in den Schutz der Gebäude zurück. Loshi blieb mitten auf der Straße stehen und stieß ein Geräusch aus, keinen Schrei, sondern eher ein schrilles Jaulen. Sie versuchte gar nicht erst, dem sich nähernden Tier auszuweichen, sondern verharrte an Ort und Stelle und hielt sich die Augen zu. -515-
Der Widder schien die Handbewegung als ein Signal zu werten. Er rannte direkt auf Loshi zu und wich erst im letzten Moment zur Seite aus, so daß er mit seiner kräftigen Schulter ihre Knie traf und ihr die Beine unter dem Körper wegriß. Sie stürzte zu Boden und setzte sich mit erschrockener Miene auf, während die Männer das Tier wieder einfingen. Anklägerin Xu lief um den Wagen herum, um Loshi aufzuhelfen. Im selben Moment eilte Fat Mao zu der Limousine. Shan beobachtete Xu, die Loshi zum Wagen führte. Sobald die Limousine der Anklägerin außer Sicht war, brach auf dem Gelände hektische Aktivität aus. Die Männer an den Tischen standen auf. Der Fahrer des großen Sattelschleppers drosselte den Motor und stieg aus. Der Mann mit dem Pferd brachte das Tier zurück zu dem Heuwagen. Auch Jakli tauchte wieder auf, schlug die Kapuze zurück und schüttelte ihr Haar. Direkt hinter ihr folgte Lokesh und lächelte breit. »Es ergibt keinen Sinn«, sagte Jakli und blickte die Fernstraße hinunter, auf die der Wagen eingebogen war. »Was sollte das? Sie hat nur ihre Sekretärin mitgebracht.« »Sie hatte nie vor, ihn zu verhaften«, sagte Fat Mao und setzte sich neben Shan an den Tisch. »Sie will ihn benutzen und erst später festnehmen.« Der Mao musterte Shan unschlüssig und hielt ihm dann ein Stück Papier entgegen. Das Memo, das Xu eingesteckt hatte. »Ich habe es gegen einen leeren Zettel ausgetauscht«, sagte er und lächelte matt. »Sie haben sie mit Absicht verärgert«, fügte er hinzu und schüttelte den Kopf. »Sie ahnen ja nicht einmal, wie gefährlich das ist.« Shan nahm das Blatt, faltete es und steckte es ein. »Ich habe nur eine Absicht, nämlich die Wahrheit herauszufinden«, sagte er. Fat Mao starrte ihn mißmutig an. »Und was ist, falls Ihre Wahrheit für uns bloß eine zusätzliche Gefahr bedeutet?« -516-
»Die einzigen, die sich hier wirklich in Gefahr befinden«, sagte Shan und warf Lokesh einen beunruhigten Blick zu, »sind Kinder und Tibeter.«
-517-
Kapitel Vierzehn Fat Mao fuhr schnell und immer nach Süden, weitaus schneller, als es auf den holprigen Straßen angebracht schien. Es hatte keinen Streit und keine Diskussion gegeben. Shan würde nichts mehr unternehmen, bevor Lokesh nicht sicher nach Tibet zurückgekehrt und damit dem Zugriff der Kriecher entzogen war. Fat Mao hatte das Gesicht verzogen, aber keinen Ton gesagt, sondern lediglich auf den kleinsten der Lastwagen gedeutet. Lokesh hatte enttäuscht die Achseln gezuckt und sich von Jakli beim Einsteigen helfen lassen. Danach kletterte Jakli auf den Heuwagen. Der Fahrer ließ das Pferd antraben und steuerte in zügigem Tempo einen Pfad an, der in die Berge führte. Während der Laster auf die Fernstraße einbog, schaute Shan ihnen hinterher. Vergeblich hatte er ein weiteres Mal versucht, Jakli zur Rückkehr in die Fabrik zu bewegen, weil ansonsten die Kriecher wahrscheinlich bald ihre Abwesenheit bemerken würden. Das Treffen der zheli sollte in vier Tagen am Steinsee stattfinden. Major Bao wußte davon. Direktor Ko wußte davon. Anklägerin Xu wußte davon. Der Termin war im Computer der Brigade vermerkt. Die ganz Welt wußte, wo die überlebenden Jungen in vier Tagen anzutreffen sein würden. Der alte Tibeter lehnte sich auf seinem Sitz zurück und stimmte ein leises Lied an. Lokesh schien immer schwächer zu werden, und das nicht erst, seit man ihm mitgeteilt hatte, er müsse Xinjiang verlassen. Schon seit der Entdeckung von Khitais Grab hatte Shan immer öfter den Eindruck gehabt, sein Freund würde irgendwie in sich zusammenschrumpfen, als wiche eine lebenswichtige Substanz mehr und mehr aus seinem Körper. Das alles schien in Schüben zu verlaufe n, zwischen denen der alte Mann immer noch lebendig und stark wirkte, -518-
wenngleich die Erschöpfung ihm nun wesentlich heftiger zusetzte, so daß Shan zu befürchten begann, Lokeshs hohes Alter und die Anstrengungen der Suche würden einen immer höheren Tribut fordern. Er machte sich große Sorgen um seinen alten Freund und fragte sich, was wohl geschehen mochte, wenn ihre Suche nicht bald zu einem Ende gelangte. Den zweiten Grund für die Rückkehr nach Senge Drak hatte Shan nicht laut geäußert. Es ging ihm nicht nur darum, Lokeshs Sicherheit zu gewährleisten. Er mußte außerdem das Geheimnis des Jadekorbs lösen. Und die Antwort lag nicht in Xinjiang. Die Sonne stand bereits tief über dem westlichen Horizont, als der Lastwagen den unebenen Pfad erreichte, der den letzten Anstieg nach Senge Drak bedeutete. Weiter konnte Fat Mao sie nicht bringen, denn er mußte so schnell wie möglich nach Xinjiang zurückkehren. Also schärfte er ihnen ein, im trüben Dämmerlicht keinen Fehltritt zu tun, gab ihnen Decken mit auf den Weg und beschrieb ihnen den Standort einer kleinen Höhle, in der sie geschützt bis zum nächsten Morgen ausharren sollten. Doch weder Shan noch Lokesh wollten warten. Fat Mao hatte keine Lampe für sie dabei, und so verließ er sie mit einer letzten Warnung. »Wir sind bei Dunkelheit nie zu Fuß unterwegs«, sagte der Uigure. »Ihr könntet abstürzen, und kein Mensch würde je davon erfahren. Falls ihr euch verletzt, wird niemand euch zu Hilfe kommen.« Aus Richtung der Changtang wehte ihnen ein stürmischer Wind entgegen und ließ die Enden der zusammengerollten Decken, die sie sich auf die Schultern gelegt hatten, wild umherflattern. Shans Augen begannen zu tränen, er mußte an Maos Warnung denken. Der uigurische Krieger hatte außergewöhnlich furchtsam geklungen, als sei Senge Drak eine Art Trugbild, das im Dunkeln nicht gefunden werden konnte und bei Nacht vielleicht nicht einmal existierte. Für die meisten Leute mochte das sogar zutreffen, überlegte Shan, während er -519-
Lokesh um eine weitere steile Wegbiegung führte. In der Welt der Kommunisten und der einfachen Landbewohner kam Senge Drak nicht vor. Es existierte nur in der Welt von Gendun und Lokesh, dessen Schwäche, so mutmaßte Shan, auch etwas damit zu tun hatte, daß er schon länger von dieser vertrauten Umgebung getrennt gewesen war. Shan wandte den Kopf und sah seinen Freund an, der sich lächelnd gegen den Wind stemmte, einer jener harmlosen Tibeter, die Xu aus irgendeinem Grund mehr als alle anderen fürchtete. Er erinnerte sich, welch seltsamen Blick sie auf das Gebirge geworfen hatte, als sei ihr etwas eingefallen oder zu Gesicht gekommen, das sie nicht begreifen konnte. Wie hatte sie sich wohl gefühlt, als sie Farbe über die Bilder der tibetischen Gottheiten sprühte? Hatte sie sich hämisch gefreut? Oder hatte sie gezittert? Shan selbst war nach wie vor zwischen den zwei Welten gefangen. Und mehr als je zuvor wußte er, daß die Priester ihn auserwählt hatten, weil er zu keiner von beiden gehörte. Etwas hatte die empfindliche Balance gestört, und nun starben Menschen deswege n. Der Schlüssel zu allem lag im Verständnis der Tatsache begründet, was aus der Welt der Priester sie in dieses fremde, entlegene Land zog. Er wußte, daß Teile der Lösung draußen in der Wüste lagen, bei den längst verstorbenen Pilgern. Andere Teile befanden sich in Senge Drak und Karatschuk sowie bei Jakli und dem alten Wasserhüter. Der Jadekorb war ebenfalls ein solches Teil; obwohl die Tibeter für gewöhnlich nicht nach bestimmten Gegenständen trachteten, schien dieses geheimnisvolle gau ihnen überaus wic htig zu sein. Auch der Junge, Khitai, stellte ein Teil dar. Der Junge, der sorgfältig seine mala und die dorje-Kette verborgen hatte und der - dessen war Shan sich irgendwie sicher - in dem Unterrichtsraum des Wasserhüters gewesen war. Shan hatte nur Teile, Teile des Geheimnisses der Tibeter. Und Teile des anderen, des Geheimnisses der Amerikaner. Aber die -520-
Teile paßten nicht zusammen. Vielleicht weil er sie falsch zugeordnet hatte, so daß manche der Teile des Geheimnisses der Amerikaner in Wirklichkeit zu jenem der Tibeter gehörten? In Lokeshs Augen erwachte ein neues Funkeln zum Leben, er schien sich auf einmal schwungvoller zu bewegen. Ihr Weg führte sie nicht nur in einen dzong, der in einer riesigen Felsformation verborgen lag, sondern auch in ein Refugium. Shan wußte, daß Senge Drak mehr als eine einfache Zufluchtsstätte war; es bedeutete Zeitlosigkeit und Besinnung, und er selbst bedurfte dessen vielleicht genausosehr wie Lokesh. Er ging wie im Traum voran, setzte wie in blindem Vertrauen einen Fuß vor den anderen und drang in die tiefen Schatten des schmalen Pfades vor. Zeitlosigkeit. Gendun hatte einst zu ihm gesagt, daß es auf dem Weg zur Erkenntnis vor allem zwei große Hindernisse zu überwinden galt: materiellen Besitz, der nur das Verlangen nach weiteren Gütern schürte, und die Zeit, die so viele Menschen zu einem hastigen Leben verführte und ihnen die Furcht einflößte, sie könnten bei gemächlicherem Tempo etwas verpassen, als ließe sich bei entsprechender Geschwindigkeit das eigene Schicksal ändern. Wenn man in einer Mönchszelle saß oder den Nachthimmel beobachtete, verlor die Zeit an Bedeutung. Auch Shan konnte sich, wenn er es zuließ, einfach dahintreiben lassen, so daß die tausendjährige Mumie und Lokesh und Buddhas Reh auf dem Wandgemälde und die winzigen Herbstblumen, deren Blüte stets nur wenige Tage währte, alle an ein und demselben Ort verschmolzen, der, mangels eines besseren Begriffs, seine Lebenskraft darstellte. Aber nein, er durfte sich nicht treiben lassen, dachte Shan. Dort draußen war jemand unterwegs, für den Zeit durchaus eine Rolle spielte. Jemand, der es eilig hatte, Kinder zu töten. In der Ferne erspähte er die große glatte Klippe mit den zwei Vorsprüngen. Auf den darunterliegenden Hängen verlief ein dünnes dunkles Band - der Pfad zu den Tunneln, der sich über die Flanke des Löwen schlängelte. Vor ihnen gähnte der -521-
gewaltige Abgrund, in dessen Tiefen sich Geröll aus abgesplitterten Felsen auftürmte. Einen Moment lang verharrten Shan und Lokesh im letzten trüben Licht der Dämmerung auf dem Grat, während der Wind in ihre Gesichter peitschte. Ein großer Vogel flog vorbei. Lokesh legte den Kopf in den Nacken und schaute ihm hinterher, wie er über den löwenförmigen Berg schwebte und sich auf einem der Vorsprünge niederzulassen schien, ein kleiner Schatten auf einem der Ohren des Löwen. Dann ging der alte Mann in Richtung des Vogels weiter, ohne sich auch nur nach Shan umzusehen. Auf ihrem Weg den Hang hinauf legte Lokesh ein zunehmend forsches Tempo vor, so daß Shan ihm fast schon im Laufschritt hinterhereilen mußte. Es sah tatsächlich so aus, als habe für den alten Tibeter die Zeit eine andere Bedeutung gewonnen, wenngleich nicht vorhersehbar war, nach welchen Regeln der jeweilige Wechsel zwischen der Zeit des alten, schwachen und der des stärkeren, jüngeren Lokesh erfolgte. Nein, vielleicht war es doch vorhersehbar, grübelte Shan und dachte daran zurück, wie kraftvoll Lokesh in dem alten dzong gewirkt hatte. Lokesh der Jüngere lief nun auf Gendun Rinpoche und Senge Drak zu. Shan mußte eine Möglichkeit finden, ihn dort zu belassen - tief im Innern des dzong oder in irgendeinem anderen Versteck in Tibet -, denn das war das Land von Lokesh dem Starken. Falls er nach Xinjiang zurückkehrte, wo offenbar der gebrechliche, schwache Lokesh zu Hause war, würde der alte Mann dies womöglich nicht überleben. Der dzong war leer, als sie eintraten. Die Kohlenpfanne im Speiseraum war kalt. Auf dem Tisch stand ein halbleerer Teller tsampa. Sie standen in einer der Fensteröffnungen und ließen die Blicke über die riesige leere Ebene schweifen, bis Shan spürte, daß sich von hinten jemand näherte. Es war Jowa, allerdings nicht mehr der stolze purba, den Shan kennengelernt hatte, sondern ein bedrückter, sorgenvoller Jowa, der halbtot vor Müdigkeit zu sein schien. -522-
»Du bist zurückgekommen«, stellte Shan fest. »Du bist nicht mit den anderen gegangen.« Er wußte noch, wie vorlaut Jowa der Krieger sich an ihrem letzten gemeinsamen Abend gebärdet und sogar Gendun widersprochen hatte. Und er erinnerte sich an den besorgten Jowa einige Nächte zuvor, der nach Genduns Verschwinden gesagt hatte, jeder Kampf sei sinnlos, falls die Lamas nicht überlebten. Jowa schien ihn nicht zu hören. »Ich habe so etwas zuvor schon gesehen«, sagte er mit gequälter Stimme. »Es sind jetzt drei Tage und zwei Nächte. Wenn sie sich in so einem Zustand befinden, muß jemand bei ihnen bleiben. Er könnte versuchen, zum Fenster hinauszufliegen. Sein Geist würde nicht erkennen, was sein Körper getan hat, bis es zu spät wäre.« Auf dem Tisch stand eine Schöpfkelle mit Wasser. Shan reichte sie Jowa, der sie gierig packte und die Flüssigkeit mit großen Schlucken trank. Dann führte Shan ihn zu einem Ruhelager in einer der Zellen. Der purba bettete sein Haupt auf den Boden und schlief dermaßen schnell ein, daß man glauben konnte, er habe schlichtweg das Bewußtsein verloren. Als Shan zurückkehrte, befand Lokesh sich nicht mehr in dem Speiseraum. Shan wußte, wo er ihn finden würde. Er stieg über den schlafenden Bajys, der quer vor der Schwelle der duftenden Kammer lag, und sah den alten Tibeter neben einer einzelnen Öllampe sitzen. Mit Gendun. Der Lama hatte sich mit einem gomthag-Band gesichert, einem Stoffstreifen, den Einsiedler sich um Knie und Rücken knoteten, damit der Körper nicht umkippte, solange der Geist sich anderswo aufhielt. Denn Gendun war tatsächlich nicht anwesend. Shan hatte schon häufig Leute in tiefer Meditation erlebt und auch selbst bereits viele Stunden in Folge meditiert, aber das hier war neu für ihn. Die Augen des Mannes standen offen, aber er sah nichts. Auch sein Atem schien aufgehört zu haben. Shan beugte sich mit einer Lampe tief hinab und beobachtete -523-
Genduns Handgelenk. Es war kaum ein Puls zu erkennen, abgesehen von einem winzigen Zucken alle paar Sekunden. Die größte Gefahr beim Zwiegespräch mit Bergen bestand darin, daß man selbst zu einem Berg werden konnte, dachte Shan. Sie warteten eine Stunde ab. Lokesh entzündete mehr Weihrauch und stimmte ein Mantra an. »Om gate gate paragate parasamgate bodhih svaha.« Shan hatte den uralten Sprechgesang im Gefängnis gelernt, aber kaum je gehört, daß er benutzt wurde. »Entschwunden, vollständig entschwunden, absolut übergegangen in einen Zustand der Erleuchtung«, lautete die Übersetzung dieser Worte. Genau wie Shan suchte auch Gendun nach der Wahrhe it. Shan entzündete weitere Lampen. Der alte Lama regte sich noch immer nicht. Drei Tage, hatte Jowa gesagt. So stark Genduns Geist auch sein mochte, sein Körper war nicht mehr jung, und Shan machte sich große Sorgen deswegen. Er stand auf und holte eine Kelle mit Wasser von der steinernen Zisterne am hinteren Ende des Zellenkorridors. Aber Genduns Kopf war keinen Millimeter zur Seite geneigt und sein Mund geschlossen, so daß Shan kein Wasser hineinträufeln konnte. Er wagte es nicht, Gendun zu berühren, geschweige denn, den Kopf des Lama in den Nacken zu beugen, weil ein Körper in diesem Zustand mit einer ganz eigenen Art von Angst reagierte. Selbst die leiseste Berührung konnte zu einem Krampf oder einer derart heftigen Zuckung führen, daß Verletzungsgefahr bestand. Stell ihn dir als ein dünnwandiges Tongefäß vor und deinen Finger als die Spitze eines Nagels, hatte ein Mönch einst zu Shan gesagt, um die Situation eines in tiefer Meditation versunkenen Eremiten zu verdeutlichen. Shan ließ ein paar Wassertropfen auf Genduns Hände fallen. Zunächst erfolgte gar keine Reaktion. Dann lösten sich ganz langsam, den suchenden Ranken einer Pflanze gleich, die Finger voneinander und betasteten wie aus eigenem Antrieb die Handrücken. Shan fügte einige weitere Tropfen hinzu. Die -524-
Finger fanden die Flüssigkeit und führten sie an die Lippen, die daraufhin zu zittern begannen. Dann senkten sich die Hände, und Shan wiederholte die Prozedur. Genduns Augen rührten sich nicht. Shan ließ das Wasser ein viertes Mal tröpfeln, und endlich erfolgte ein Blinzeln. Er hörte Lokesh erleichtert seufzen und hob den Schöpflöffel an Genduns Mund, der sich bereitwillig öffnete. Shan ließ ihn ein Viertel des Inhalts trinken und lehnte sich dann mit ebenfalls großer Erleichterung zurück. Es mochte noch immer eine Stunde bis zu Genduns Rückkehr dauern, aber das Wasser sendete ein eindeutiges Signal und brachte dem Lama zu Bewußtsein, daß wenigstens ein Teil von ihm nach wie vor erdgebunden war. Sie blieben in der Duftkammer sitzen, bis Gendun tief und vernehmlich ausatmete. Dieses Geräusch beim Erwachen aus einem tiefen Schlaf war typisch für viele der Mönche, die eine Ausbildung in den alten gompas genossen hatten. Seine Atemfrequenz stieg an, und sein Blick gewann blinzelnd an Schärfe. Einen Moment lang sah er Lokesh und Shan an, als würde er sie nicht erkennen, aber dann legte sich ein heiteres Lächeln auf seine Miene. »Wißt ihr«, sagte er heiser, jedoch in völlig beiläufigem Tonfall, als hätten sie sich die ganze Zeit unterhalten, »ich verspüre einen gewaltigen Hunger.« Sie fanden einen Sack Gerstenkörner, entfachten das Feuer in der Kohlenpfanne und rösteten das Getreide, um tsampa zuzubereiten. Lokesh holte von der Zisterne einen Tontopf voll Wasser, und Bajys, der wieder aufwachte, aber genauso schwach und erschöpft wie Jowa wirkte, brachte ein Behältnis mit eingelegten Rüben zum Vorschein. Dann verspeisten sie das frugale Mahl mit großem Behagen, während vor der Fensteröffnung allmählich ein nahezu runder, strahlend heller Mond aufging. Am freie n Ende des Tisches hatte Lokesh die Gegenstände aus Khitais Beutel ausgebreitet. Die verbeulte Tasse. Das Etui, die eiserne Kette, die Perlenstränge. -525-
Nach dem Essen säuberte Shan den Topf und setzte Teewasser auf. Lokesh entdeckte ein Bündel Weihrauch und entzündete drei Stäbchen, während Shan dem Lama von Khitais Tod berichtete. Gendun seufzte. »Für ein Kind ist es sehr schwierig, den eigenen Weg zu finden«, erklärte er. Seine Schultern sackten herab, und er sah wie ein gebrechlicher alter Mann aus. »Ich werde morgen mit Jowa reden, Rinpoche«, sagte Shan zu dem Lama, während Bajys den Raum verließ. Der kleine Tibeter war atemlos erstarrt, als er von dem Mord an Khitai hörte. Doch er hatte den Blick nicht vom Boden abgewandt und keinerlei Kummer, ja nicht einmal Überraschung erkennen lassen. Für ihn war Khitai bereits im Lager des Roten Steins gestorben, als Bajys einen toten Jungen fand und zu dem Schluß gelangte, das Ende seiner Welt sei gekommen. »Die Soldaten halten nach Tibetern Ausschau«, fuhr Shan fort. »Jowa kennt sich mit Soldaten aus. Ihr müßt euch von ihm in Sicherheit bringen lassen.« Aus dem Gang erklang wieder das leise Rumpeln. Bajys drehte die alte Gebetsmühle. »Ihr beide, du und Lokesh, müßt euch tiefer nach Tibet hinein und weg von der Grenze begeben.« Für ein Kind ist es sehr schwierig. Die Worte hallten in Shans Kopf wider. Gendun meinte, ein totes Kind würde große Probleme haben, den Übergang in die nächste Inkarnation zu bewältigen. Der Lama sah durch die Öffnung auf den Ausschnitt des Nachthimmels. »Ich habe einmal mit einem Mönch gesprochen, der viele Jahre dort unten verbracht hat«, sagte er und bezog sich damit auf die Welt außerhalb der tibetischen Hochlande. »Aufgebrochen war er frohen Mutes, doch zurückgekehrt ist er mit vielen traur igen Neuigkeiten. Er hat mir erzählt, daß viele Menschen vom Weg abgekommen seien und die Stimmen ihrer Herzen ignorierten, weil es ihnen sicherer erschien. So unglaublich das klingen mag, er war der Meinung, es gäbe dort unten Millionen von Leuten, die in erster Linie alt werden -526-
wollten, als wären sie Sklaven ihrer Körper.« Gendun nahm eines der Weihrauchstäbchen und schwenkte es langsam über dem Tisch hin und her. »Anstatt sich als Menschen gegen das Böse zu wenden, sagte er, würden sie einfach behaupten, das sei Sache der Regierungen. Und die Regierungen sagten dann, zum Erhalt der Sicherheit müsse es Armeen geben, also würden Armeen ausgehoben. Die Armeen wiederum bestünden auf Kriegen, um Sicherheit zu garantieren, also würden Kriege geführt. Und Kriege töten Kinder und verschlingen Seelen, die keine Gelegenheit hatten, Reife zu erlangen. Und das alles nur, weil die Menschen lieber alt werden wollen, anstatt wahrhaftig zu sein.« »Das ist der Lauf der Welt«, seufzte Lokesh. Shan goß Tee in drei angeschlagene Becher ein, und sie tranken in vollkommener Stille. »Ich habe nie damit gerechnet, alt zu werden, Rinpoche«, sagte Shan schließlich. Gendun lachte leise auf. Er musterte Shan über den dampfenden Becher hinweg und schaute dann zu der Fensteröffnung. »Manchmal frage ich mich, ob ich wohl all diese Jahre mit Scheuklappen gelebt habe. Habe ich den einfachen Weg gewählt, während so viele andere leiden mußten?« »Es gibt in Tibet keinen einfachen Weg, Rinpoche«, sagte Shan. Mit einem Stich im Herzen wurde ihm bewußt, daß er zum erstenmal seit ihrem Zusammentreffen so etwas wie Bedauern in Genduns Stimme mitschwingen hörte. »Und du hast auch nicht mit Scheuklappen gelebt. Du bist wahrhaftig geblieben.« Der alte Lama starrte noch immer zum Fenster hinaus. »Manche Menschen sind wie unersetzliche Schätze. Du bist für uns alle so lebenswichtig, daß ich und Jowa und viele andere dich unbedingt beschützen müssen.« »Ich habe viele Jahrzehnte in Höhlen gelebt«, sagte Gendun. -527-
»Es hat sich für mich nie so angefühlt, als würde ich mich verstecken. Bis jetzt.« Shan legte die Hände um seinen Becher und sah Gendun an. »Tante Lau hat sich ebenfalls versteckt, und das war richtig von ihr.« Gendun wandte sich ihm zu. »Aber sie ist nicht geflohen.« »Nein«, räumte Shan ein. »Sie hat jemanden geschützt. Den Jungen. Sie hat ihn geschützt und unterrichtet.« Gendun und Lokesh erwiderten zunächst nichts darauf. Lokesh stand auf und schenkte neuen Tee ein. Shan ging zu dem Durchlaß und sah hinaus in den Nachthimmel. Lokesh stimmte mit heis erem Flüstern das alte Lied der Seelenhochzeit an. »Khitai war sich dessen nicht bewußt. Er wußte nichts von ihrem Tod«, sagte Gendun auf einmal. »Er sucht noch immer nach ihr.« Er war. Er ist. Shan kümmerte sich um den toten Jungen. Gendun und Lokesh kümmerten sich um den lebendigen Geist, der von Khitai übrig blieb. Die Seele eines kleinen Jungen. »Der Junge«, sagte Shan zögernd. »Der Junge, der kein Junge war.« Er dachte an Bajys' merkwürdige Äußerung zurück. Das war derjenige, den ich geliebt habe. Das war derjenige, den ich beschützen sollte. Jetzt wird er wieder tot sein. Aber das war derjenige, den ich gekannt habe, hatte Bajys gesagt. Gendun kam langsam näher. Er hielt ein Weihrauchstäbchen in der Hand. »Das ist eine Möglichkeit, es auszudrücken«, stimmte der Lama ihm zu. »Aber die Sprache der Zunge ist für solche Dinge nicht gut geeignet. Ich habe überlegt, aber ich finde keine Worte, um es zu erklären. Wir wußten lediglich, daß Laus Tod -528-
von dieser Welt gewesen ist. Wir wollten nur den Jungen schütze n. Wir dachten, falls du die Wahrheit über den Mörder der Lehrerin herausfinden könntest, würde diese Wahrheit den Jungen behüten.« Gendun trat gefährlich nah an den Rand des Durchlasses. »Und der Rest war…« Shan rang nach den geeigneten Worten. Sie hatten nicht beabsichtigt, ihn in die Irre zu führen. Sie waren nur nicht in der Lage gewesen, die Begriffe der einen Welt in die andere zu übersetzen. »Kein Geheimnis«, sagte Gendun, »bloß…« Er seufzte und sah einen Stern an. »Bloß kein Ding aus der Welt dort unten.« Der Wind zupfte an seinem Gewand und ließ es wie eine große, sich kräuselnde Gebetsfahne aussehen. Shan trat an Genduns Seite und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Rinpoche, ich versuche, die andere Welt zu begreifen, ich muß es sogar. Denn die Antwort liegt in dem Bereich, wo die beiden Welten sich kreuzen.« Gendun schaute hinaus in die Nacht. Unter ihnen am Horizont blitzte eine Sternschnuppe auf. »Er war ein Freund von mir«, sagte Lokesh mit hohler Stimme. »Einmal, als ich noch klein war, hat er mich vor einer Lawine gerettet. Er packte mich und zog mich hinter einen Felsen, als der Schnee über eine Klippe hinabstürzte.« Er lächelte. »Danach sind wir zusammen weitergegangen und haben hoch in den Bergen Sutras rezitiert.« Er streckte die Hand aus und nahm die verbeulte Blechtasse des Jungen. »Er hatte diese Tasse bei sich, und wir haben damit Wasser aus den Gebirgsquellen geschöpft. Wir haben mit Hunden gespielt und nach Höhlen gesucht. Manchmal sind wir auf Gegenstände gestoßen, die Einsiedler dort zurückgelassen hatten.« »Khitai?« fragte Shan hilflos. Der alte Tibeter nickte seufzend und mit seltsam verträumter Miene. »Einmal sind wir am Geburtstag des Dalai Lama auf -529-
einen Berg geklettert und haben Papierpferde in den Himmel geworfen«, sagte er und beschrieb damit einen uralten Brauch. Wenn Reisende in Not diese Pferde fanden, so hieß es, verwandelten die Papierwesen sich in Reittiere aus Fleisch und Blut. Langsam ging Lokesh zurück zu der Kohlenpfanne und warf einige Wacholderzweige ins Feuer. Dann bemerkte er Shans verwirrten Gesichtsausdruck. »Damals hieß er nicht Khitai, sondern Tsering.« Lokesh lächelte zufrieden, als würde dies alles erklären. »Tsering Raluk.« »Und davor?« fragte Gendun. Lokesh zuckte die Achseln. »Davor wurde er unter dem Namen Dorjing in Kham geboren.« Er sah Gendun an, der ihn nickend zum Fortfahren ermunterte. »Davor lautete der Name seiner Inkarnation Ragta, geboren in Amdo. Und davor kann ich mich an kaum etwas erinnern. Ich weiß nur noch, daß es ganz früher einen Jungen in Nepal gab.« Shan ging zum Tisch und ließ sich auf die Bank sinken. »Das verstehe ich nicht. Inkarnationen können sich nicht an frühere Leben erinnern. Und sie können auch nicht beeinflussen, wo sie wieder auftauchen.« Er sah seine beiden Freunde an, die ihn lächelnd betrachteten, als wären sie zwei Kinder, die ein wundervolles Geheimnis miteinander teilten. »Ai yi«, flüsterte Shan in plötzlicher Erkenntnis. »Er ist ein tulku.« Die Wahrheit brach schlagartig über ihn herein, und noch nie hatte er sich so unwissend gefühlt. Endlich konnte er sehen, und dennoch kam er sich blind vor. Sie befanden sich nicht auf der Suche nach einem Jungen. Sie waren es zu keinem Zeitpunkt gewesen. Er ging zurück zu der Fensteröffnung und stellte sich so, daß der inzwische n eisige Wind ihn mit voller Wucht traf. Er schloß die Augen, während sein Verstand fieberhaft arbeitete. Ein tulku war ein wiedergeborener Lama, eine dermaßen weit entwickelte Seele, daß sie ihre -530-
Reinkarnation steuern und sich sogar an frühere Inkarnationen erinnern konnte. »Auf halbem Weg zwischen dem Kailas und Shigatse gab es in den Bergen einst ein gompa, das viele Jahrhunderte lang zu den größten in Tibet gehörte«, erklärte Gendun. »Der erste Abt war ein tulku, der Yakde Lama, das Oberhaupt einer der alten, untergegangenen Sekten.« Obwohl Tibets Führung traditionell der Gelukpa oblag, der Schule der Gelbmützen, hatten dort im Laufe der Zeit noch viele andere Sekten existiert, die meisten klein und mittlerweile nahezu ausgestorben, andere zwar winzig, aber nach all den Jahrhunderten weiterhin lebendig und aktiv. »Zumindest fast untergegangen. Der letzte Yakde Lama stand einem Dutzend kleiner gompas vor, die zumeist während der Zeit des alten Königreiches erbaut worden waren. Als Junge hatte er eine Ausbildung in Shigatse genossen«, sagte Gendun und spielte damit auf das riesige Kloster Tashilhunpo an, das früher Tibets zweitgrößte Stadt dominiert hatte. Nur noch wenige der wiedergeborenen Lamas lebten in Tibet, aber sie stellten die Essenz der Geistlichkeit dar. Viele Tibeter betrachteten sie als wichtigste Anführer und scharten sich um sie. »Wir können nicht zulassen, daß ihm dasselbe wie dem Pantschen Lama widerfährt«, ertönte eine Stimme hinter ihnen. Jowa stand dort und wirkte noch immer erschöpft, aber in seinen Augen schwelte ein Feuer. Shan nickte bekümmert. Der zehnte Pantschen Lama, höchster wiedergeborener Lama neben dem Dalai Lama und traditioneller Vorstand des Klosters Tashilhunpo, hatte anfangs beschlossen, mit Peking zu kooperieren, um auf diese Weise Blutvergießen zu vermeiden. Er glaubte der Zusicherung, daß Peking sein gompa und die buddhistischen Traditionen Tibets erhalten würde, aber sobald man ihn in sein neues Zuhause nach Peking verfrachtet hatte, sperrte die Armee die viertausend Mönche seines Klosters ins Gefängnis. Nach einigen Jahren der -531-
Indoktrination wurde der Pantschen Lama als ausreichend unterworfen erachtet, um nach Tibet zurückkehren zu dürfen, doch anläßlich eines Festakts im Jahre 1964 verwarf er die Rede, die das Büro für Religiöse Angelegenheiten in seinem Namen vorbereitet hatte, und bekundete statt dessen vor Tausenden von Zuschauern lautstark seine Unterstützung der tibetischen Unabhängigkeitsbewegung. Für diesen einen Akt des Widerstands wurde er in Ketten nach Peking zurückgeschickt. Nach seinem unter höchst verdächtigen Umständen erfolgten Tod ließ das Büro für Religiöse Angelegenheiten mitteilen, er sei als Sohn zweier Parteimitglieder wiedergeboren worden, und nahm den Jungen zwecks einer besonderen Ausbildung in Gewahrsam. Unabhängig davon identifizierten unterdessen die Buddhisten mit Hilfe des in Indien befindlichen Dalai Lama und unter Anwendung uralter Weissagungsmethoden einen tibetischen Jungen als rechtmäßigen Pantschen Lama, doch das Kind wurde von der Regierung entführt und galt seit vielen Jahren als verschollen. »Ich habe von einer Rede in Lhasa gehört«, sagte Lokesh mit vernehmlichem Schmerz. »Die Regierung behauptet, sie sei zu tolerant gewesen und würde daher nicht gestatten, daß nach weiteren Inkarnationen der höheren Lamas gesucht wird. Nach dem Tod des vierzehnten Dalai Lama soll es keinen weiteren mehr geben.« Gendun seufzte. »Als Khitai von den Ältesten seiner Sekte gefunden wurde, war er drei Jahre alt«, erläuterte er. Shan wußte, daß es zur Auffindung wiedergeborener Lamas spezielle Praktiken gab, die sich gemäß den Traditionen der jeweiligen Sekten voneinander unterschieden. »Der Junge erkannte Gegenstände aus den früheren Inkarnationen des Lama. Der Orakelsee ließ einen Hinweis in Form seiner Initialen erscheinen. Und er trug das Muttermal auf seiner linken Wade. Man kam sofort zu dem Schluß, daß seine Existenz geheimgehalten werden mußte, bis er die Aufgaben des Yakde -532-
Lama in vollem Umfang übernehmen konnte.« Ein Muttermal. Man hatte jedem der toten Jungen das Hosenbein aufgeschlitzt. »Lau wurde als Nonne seines Ordens bereits zum Zeitpunkt der Identifizierung in die nördliche Grenzregion geschickt, um dort alles für die Unterbringung seiner Reinkarnation vorzubereiten. Als dann die Zeit gekommen war, begleitete Bajys ihn, denn Bajys hatte eine Ausbildung als Novize erhalten und stammte aus einer dropka-Familie, so daß ihm die Gebräuche der Hirten vertraut waren.« Shan erinnerte sich, daß Laus Akte lediglich Unterlagen aus den letzten zehn Jahren aufwies. Das alles war wegen des kindlichen Lama geschehen: ihre Reise nach Yutian, ihre Wahl in den Landwirtschaftsrat und ihre Adoption der zheli, die jedoch weitaus mehr als nur eine strategische Maßnahme darstellte. Lau hatte die Kinder aufrichtig geliebt, und so war es ihr auf geschickte Weise gelungen, einerseits ein Versteck zu erschaffen und andererseits dennoch wahrhaftig zu bleiben. »Aber Lokesh hat gesagt, sie hätten zusammen gespielt…« Gendun wandte sich lächelnd zu dem alten Mann um. »Ja, das stimmt. Khitai war damals noch ein kleiner Junge in seiner früheren Inkarnation, und Lokesh hat ihn zu jener Zeit gut gekannt. Khitai würde ihn wiedererkennen und wissen, daß ein Freund eingetroffen ist.« Gendun schaute zum Fenster hinaus. »Und im schlimmsten Fall würden wir seine Artefakte, seine besonderen Besitztümer an uns nehmen.« Shan mußte daran denken, wie Lokesh an Khitais Grab gestanden und die Habseligkeiten des Jungen angestarrt hatte, als würden sie zu ihm sprechen. »Falls Peking davon erfahren hätte, würde es versuchen, all diese Dinge in seinen Besitz zu bringen, um das Auswahlverfahren zu verhindern«, sagte Lokesh mit gequälter Stimme. -533-
Shan erschauderte. »Aber du hast nicht alles gefunden«, sagte er zu Lokesh. »Der Jadekorb fehlt.« Lokesh seufzte. »Ja. Wir haben die silberne Tasse, mit der mein Freund, der Neunte, das Wasser aus dem Orakelsee bei ihrem ältesten gompa geschöpft hat. Wir haben das Etui. Aber wir haben nicht das Wichtigste von allem, sein gau. Wir brauchen das gau. Es ist sehr alt. Es hat schon immer dem Yakde Lama gehört.« »Jetzt hat es der Mörder«, stellte Shan niedergeschlagen fest. »Er hat Khitai gefunden.« Er starrte auf seine Hände herab. »Daher werde ich den Mörder finden und das gau zurückholen.« »Gegen die Regierung hast du keine Chance«, sagte Jowa. Shan hob den Kopf und sah ihn an. »Glaubst du wirklich, daß sie sich alle gemeinsam verschworen haben?« »Natürlich. So gehen sie immer vor. Und alles wird aus Peking gesteuert.« »Ich weiß nicht«, sagte Shan. »Es hat sich so manches verändert.« Jowa schüttelte langsam den Kopf. Lokesh stand auf, streckte seine Hände über die Kohlenpfanne aus und atmete den duftenden Wacholderrauch ein. »Also müssen wir aufbrechen«, verkündete er mit seltsamer Entschlossenheit. »Ja«, seufzte Gendun und erhob sich vom Tisch. Er schwankte ein wenig und stand auf wackligen Beinen. »Vielleicht sollte ich zuerst noch einige Stunden ausruhen.« Shan sah seine beiden Freunde mit neuerlicher Hoffnung an. »Ihr könnt in wenigen Tagen zurück in Lhadrung sein.« Jowa nickte energisch. »Ich werde uns einen Lastwagen besorgen.« Die beiden Tibeter sahen ihn offenkundig verwirrt an. »Nicht nach Lhadrung«, sagte Gendun. »Nach dort unten, in die Welt. -534-
Dort werden wir gebraucht.« »Nein, Rinpoche«, wandte Shan erschrocken ein. »Bitte.« »Khitai ist tot«, sagte Gendun ruhig, »und jetzt gibt es dort den Geist eines Jungen, unentwickelt, unvorbereitet und immer noch darum bemüht, das Geschehene zu begreifen. Er benötigt unsere Unterstützung. Sogar für einen tulku kann es schwierig werden, falls er im Verlauf seiner letzten Inkarnation nicht zu vollständiger Erkenntnis gereift ist. Wir werden ihm helfen. Ein unsicherer Geist hält vielleicht nach vertrauten Gesichtern Ausschau. Wir müssen versuchen, ihn ins nächste Leben überzuleiten. Und du mußt den Jadekorb finden.« »Bitte«, wiederholte Shan verzweifelt und ging einige Schritte auf Gendun zu. »Was könntet ihr tun? Nichts. Dort unten sind die Kriecher, die Brigade und die Anklägerin. Ich kann das gau nur finden, wenn ihr euch in Sicherheit begebt.« »In Sicherheit?« sagte Gendun langsam, als sei das Wort ihm nicht geläufig. »Wir können zum Grab des Jungen gehen. Wir können beten und meditieren. Dann werden wir den Zeichen folgen.« Du ermittelst in deiner Welt, und wir werden in unserer ermitteln, wollte Gendun damit sagen. »Nein«, flehte Shan voller Furcht. »Seine Grabstätte wird von der Anklägerin beobachtet. Ihr beide seid ohne Schutz. Ohne Papiere. Ihr würdet das niemals überleben.« Gendun lächelte nachsichtig. »Wir haben unseren Glauben. Und wir haben den Mitfühlenden Buddha.« Shan sah Gendun an, den Einsiedler, der ein karges Dasein in einem Höhlenkloster Lhadrungs gefristet und bis vor zwei Wochen noch nie in einem Lastwagen gesessen hatte, der weder Gewehre noch Helikopter oder die elektrischen Viehtreiber kannte, die bei den Verhörspezialisten der Kriecher überaus beliebt waren. Er trat neben die Kohlenpfanne zu Lokesh. »Ich verspreche dir, falls du ins sichere Lhadrung zurückkehrst, -535-
werde ich den Mörder finden. Und ich werde den Jadekorb zurückbringen, auch wenn ich dafür bis nach Peking reisen muß. Ruht euch heute nacht aus und geht dann wieder in die Duftkammer, bis Jowa einen Lastwagen gefunden hat. Ihr könnt nach Hause zurückkehren.« »Heute nacht ruhen wir aus«, erklärte Lokesh sich einverstanden. »Und nach Hause zu gehen wäre nicht schlecht«, fügte er nachdenklich hinzu. Gendun nahm Shans Hand und drückte sie fest. Dann ließen die beiden Tibeter sich von Shan zu den Ruhelagern der nächstgelegenen Meditationszelle führen. Doch am nächsten Morgen saß Jowa mit trostloser Miene am Tisch. Bajys lief die Gänge entlang und rief dabei immer wieder verzweifelt ihre Namen, so daß seine kummervolle Stimme bis in den Speiseraum hallte. Aber sie waren nirgends zu finden. Gendun und Lokesh hatten sich mitten in der Nacht auf den Weg begeben. Sie waren unterwegs in die Welt dort unten.
-536-
Kapitel Fünfzehn Shan saß auf dem Wächterstein und ließ sich vom Wind durchschütteln, der stark nach Schnee roch. Diesmal war nicht nur Gendun, sondern auc h Lokesh verschwunden, mitten hinein in eine aus den Fugen geratene Welt. Shan hatte Jowa mit leerem Gesichtsausdruck an einer der Fensteröffnungen zurückgelassen, während Bajys beständig auf und ab lief und dabei keuchte, als müßte er fortwährend schluchzen. Kehr in die Zelle zurück, hatte Shan sich ermahnt. Setz dich mit dem Bogen hin, bis du wieder ein Ziel vor Augen siehst. Aber sein Verstand war zu sehr getrübt, und so stieg er zu dem alten Wachposten hinauf, während sich gleichzeitig das Sonnenlicht über die große freie Ebene ergoß. Mehrmals hielt er nach zwei Gestalten in der Ferne Ausschau, und manchmal sah er fragend zu den schnell dahinziehenden Wolken empor. Plötzlich stieß eine Sturmbö auf ihn herab und hüllte ihn unvermittelt in wirbelnde Schneeflocken. Er rührte sich nicht, ignorierte die Kälte und reagierte nicht auf die vielen kleinen Nadelstiche, die sein Gesicht trafen. Vielleicht war dies gar kein Sturm, überlegte er, sondern ein Einblick in seinen eigenen Verstand. Gegenwärtig konnte er nichts anderes fühlen. Verwirrung. Ein Durcheinander aus widersprüchlichen Gedanken. Umhertreibend zwischen den Welten. Die Kälte des Todes. Selbst wenn Khitai der zehnte Yakde war, wieso mußte er unbedingt getötet werden? Weshalb reagierten die Kriecher auf den Mord an einem ihrer Offiziere nicht mit Vergeltungsmaßnahmen? Was hatte der namenlose Amerikaner im Lager Volksruhm verloren? Warum hatte Sui versucht, Lokesh verhaften zu lassen, und zugleich nicht gewollt, daß Direktor Ko davon erfuhr? Hatte man den alten Wasserhüter enttarnt? Wurde der ehrwürdige Lehrer des kindlichen Lama in diesem Moment gefoltert? -537-
Durch das Schneetreiben war ein Stück Himmel zu erkennen, und dann hörte der Sturm genauso abrupt auf, wie er begonnen hatte. Im nächsten Moment begriff Shan, daß er mindestens noch ein weiteres Stück des Puzzles kannte und entsprechend handeln mußte. Er hatte in der Welt von Lau und den Jungen der zheli nach Hinweisen gesucht. Nun mußte er die Welt des Yakde Lama ergründen. Als er nach unten zurückkehrte, hatte Bajys Jowas Jacke auf dem Tisch ausgebreitet und bürstete sie mit einer Quaste aus Pferdehaar. Seine Hände zitterten. Jowa saß daneben und starrte auf eine Landkarte. »Es gibt gompas«, sagte Shan zu Bajys. »Gendun hat gesagt, es gäbe noch immer gompas der Yakde-Sekte. Er sagte, sie stammten aus der Zeit des Königreiches. Damals sind viele Armeen durch dieses Gebiet gezogen. Vielleicht bedeutet das, daß man die Klöster entlang der alten Reichsstraßen errichtet hat. Wie weit ist es von hier bis zur nächsten dieser Routen?« Bajys schüttelte nur den Kopf. »Wenn Khitai am Leben wäre«, Shan ließ nicht locker, »und du wüßtest von Laus Tod und müßtest den Jungen an einen anderen Ort bringen, wohin hättest du dich gewandt?« Bajys bürstete weiter. »An geheime Orte«, sagte er und blickte über die Schulter zu den Fenstern, als könnte dort draußen jemand schweben und sie belauschen. »Lau kannte diese Orte«, flüsterte er und warf Shan einen entschuldigenden Blick zu. »Sie hätte niemals sterben dürfen.« Jowa musterte Bajys mit merkwürdig erwartungsvoller Miene, als würde er sich jeden Moment an ihn wenden wollen, um die Seele des gepeinigten Mannes endlich ins Gleichgewicht zu bringen. Oder vielleicht auch nur, um ihn zu umarmen, zu trösten und ihm zu versichern, daß er nichts Falsches getan hatte. »Meinst du damit Orte, die nicht registriert wurden?« fragte -538-
Shan. Kein Kloster durfte den Betrieb aufnehmen, solange keine entsprechende Genehmigung des Büros für Religiöse Angelegenheiten vorlag. »Ich weiß über die Yakde-gompas Bescheid. Ich habe davon gelesen«, sagte Jowa und warf Shan einen bedeutungsvollen Blick zu. Die purbas führten über die Greueltaten der Chinesen beständig Buch. »Sie lagen stets sehr abgeschieden. Fern von allen anderen Einflüssen und mitunter jahrelang ohne Kontakt zur Außenwelt. An Orten, wo niemand sonst leben wollte, weil kaum jemand sich vorstellen konnte, daß dort ein Überleben möglich sei. Sie starben aus, auch bevor das Büro für Religiöse Angelegenheiten mit der Suche nach ihnen begann. Manche wurden geschlossen und die Mönche inhaftiert. Aber einige lagen zu weit weg von allem und waren so winzig, daß die Regierung sich deswegen keine großen Sorgen machte. Die Luftwaffe flog drei oder vier Bombenangriffe und kümmerte sich nicht um den Rest. Es hieß, daß in einigen der Klöster Krankheiten ausgebrochen seien und alle Mönche getötet hätten.« »Aber Bajys«, sagte Shan und legte dem nervösen Mann eine Hand auf die Schulter. Dann führte er ihn sanft zu der Bank und ließ ihn Platz nehmen. »Man hat dir doch bestimmt irgendeine Anweisung erteilt. Einen Ort genannt, an den Khitai notfalls gebracht werden sollte, falls es Schwierigkeiten gab. Ein dropka wie du würde sich doch bestimmt in den Bergen zurechtfinden.« Bajys hob eine Hand an die Stirn, als habe er Kopfschmerzen. »Lau. Ich sollte zu Lau gehen.« »Hat sie je einen anderen Ort erwähnt? Womöglich ist sie bisweilen selbst dort gewesen. Oder der Wasserhüter ist hingegangen.« »Ein Diamantsee«, sagte Bajys. »Ich weiß bloß, daß sie einmal zur Stärkung an einen Ort mit einem Diamantsee gereist ist.« -539-
Jowas Kopf ruckte hoch. »Ein paar Meilen von hier gibt es einen See, einen heiligen See, einen Orakelsee. Ich habe ihn einmal aus der Entfernung gesehen, zusammen mit einem alten Jäger. Er sagte, das Wasser dort friere erst viel später als anderswo. Und angeblich leben Gottheiten darin, weil es immer so funkelt wie ein Diamant.« Seit einigen Stunden marschierten sie schweigend durch das öde Hochland, lauschten auf jedes Geräusch und rannten sogar in Deckung, wenn der Wind plötzlich lauter toste, weil sie befürchteten, es könne sich ein Flugzeug oder Hubschrauber nähern. Sie folgten den Pfaden der Wildziegen und orientierten sich anhand der fernen Gipfel, die Jowa immer wieder prüfend betrachtete, als würde er in Gedanken die Position der Gruppe berechnen. Der purba, führte sie um ein Tal herum, in dem eine kleine Antilopenherde flüchtete, überquerte dann einen Felssattel und begann mit dem Anstieg auf einen langgezogenen Grat. Es ging steil bergauf. Zweimal hielten sie an hochgelegenen Stellen an, um den dort errichteten Felshaufen eigene Steine hinzuzufügen, die als Opfer für die Berggötter dienen sollten. Eine Stunde lang flog immer wieder ein Rabe über sie hinweg, beobachtete sie genau, umkreiste sie und setzte sich einige Male auf einem Felsen nieder, als würde er sie erwarten. Bajys, den Shan grundsätzlich vor sich gehen ließ, blieb häufig stehen, um das Tier anzustarren, als würde er es irgendwie erkennen. Sie kletterten immer höher, überquerten einen weiteren Paß und folgten dann einem steilen Serpentinenpfad. Shan war bereits seit einigen Jahren an die Höhenluft Tibets gewöhnt, doch nun rang er zum erstenmal wieder keuchend nach Sauerstoff. Sie stießen auf einen Bach aus blauem Schmelzwasser vom Gletscher und stillten ausgiebig ihren Durst. Jowa blieb am Ufer kauern. »Hast du Lokesh eigentlich verraten, wo der Wässerhüter ist?« fragte er Shan. -540-
Shan stand auf und sah den purba an. »Er war zumindest anwesend, als ich davon erzählt habe«, antwortete er langsam, bemerkte dann die Sorge in Jowas Blick und verstand. Gendun und Lokesh versuchten vielleicht, den Wasserhüter zu finden, weil dieser eine Verbindung zu dem toten Jungen darstellte. Shan schloß die Augen und kämpfte gegen das Bild an, das in ihm aufstieg. Falls der Lama zu dem Schluß gelangte, er müsse das Lager Volksruhm aufsuchen, würde er geradewegs zum Zaun und damit den Kriechern und Anklägerin Xu direkt in die Arme laufen. Vor ihrem Aufbruch sammelte Bajys ein Dutzend Steine und errichtete daraus eine n kleinen Felshaufen, um der Gottheit, deren Berg sie bestiegen, angemessenen Tribut zu zollen. Es war für ihn eine Art Buße, die wenigstens teilweise auch Khitais Tod sühnen sollte, erkannte Shan. Sobald Bajys seine Arbeit verrichtet hatte, wollte er sich wieder auf den Weg machen, doch Jowa und Shan verweilten noch einen Moment und fügten dem Haufen ebenfalls einige Steine hinzu. Shan wußte, daß sie beide die stille Befürchtung teilten, Lokesh und Gendun könnten beim Lager Volksruhm gefangengenommen werden. Je höher sie stiegen, desto mehr hatte Shan den Eindruck, eine andere Welt zu betreten. Bajys schien es ebenso zu ergehen. Er wurde langsamer und wollte Shan vorbeilassen, um ein Stück zurückzubleiben, aber Shan drängte ihn voran. Ein Schneegestöber hüllte sie ein und entzog Jowa ihren Blicken, doch seine Fußabdrücke waren im Weiß noch deutlich zu erkennen, und so folgten sie ihm. »Falls Jowa sich irrt, werden wir hier oben in der Kälte sterben«, sagte Bajys, als Shan zu ihm aufschloß, und klang dabei auf einmal sehr überzeugt. Sie hatten nur eine einzige Decke dabei und dazu als Verpflegung einen kleinen Beutel mit kaltem tsampa. Von Brennmaterial für ein Feuer fehlte weit und breit jede Spur. -541-
Der Himmel wurde schlagartig klar und leuchtete in einem tiefen Kobaltblau. Als Shan sich umwandte, sah er, daß der Schnee keinesfalls aufgehört hatte. Sie hatten den Sturm unter sich zurückgelassen. Sie gingen noch eine Stunde weiter, überquerten den nächsten Kamm und stießen schließlich auf Jowa. Er erwartete sie auf einem kleinen Felsvorsprung, der sich über einem außergewöhnlichen Tal erhob. Sie standen am nördlichen Ende einer kilometerlangen Ebene aus Schotter und vertrocknetem Gras, die sich zwischen zwei langen massiven Felswänden erstreckte. Die Wände waren dermaßen symmetrisch, daß es so schien, als hätten am Nordende der Fläche einst zwei gewaltige Monolithen aufgeragt, die jemand dann umgestoßen hatte, so daß zwischen ihnen ein geschütztes Tal entstand. Vor dem anderen Ende befand sich ein stiller und klarer See, der wie ein herabgestürztes Stück des Himmels aussah. Die Wände fielen zum Wasser hin in beinahe identischen Winkeln ab und waren an der Oberkante jeweils mit einer so geraden Schneeschicht bedeckt, als hätte ein Bäcker sie mit Zuckerguß überzogen. Überraschenderweise wuchsen am Seeufer trotz der Kälte und Höhe ein paar knorrige Wacholdersträucher. In weiter Ferne ragten einige Berggipfel aus dem Dunst, doch zwischen ihnen und dem Tal lag nur freier Himmel. Shan dachte daran, wie sie den Schneesturm hinter sich gelassen hatten. Es war, als hätten sie ein Land erreicht, das in den Wolken schwebte. »Das hier müßte es sein«, sagte Jowa mit besorgtem Blick. Sie würden es nicht schaffen, vor Einbruch der Dunkelheit nach Senge Drak zurückzukehren. Shan trat an seine Seite und blickte über die Kante des Vorsprungs, auf dem sie standen. Hundert Meter unter ihnen, als Abschluß einer Folge von Vorsprüngen, die wie gewaltige Stufen aus der Klippe ragten, stand eine Felsreihe. Nein, sah er, keine Reihe, sondern eine Mauer. -542-
Die Stille wurde plötzlich ganz in der Nähe durch ein dumpfes, lautes Klopfen unterbrochen, so daß Shan erschrocken zusammenzuckte. Wie zur Antwort ertönte der Schrei eines Raben, und als Shan den Kopf hob, sah er den großen schwarzen Vogel in zehn Metern Entfernung auf einem Felsen landen. Aus irgendeinem Grund wußte er, daß es derselbe Vogel war, der sie zuvor bereits verfolgt hatte. Jowa packte seinen Arm, und Shan folgte dem Blick des purba zu Bajys, der neben einem flachen, im Schatten gelegenen Felsen auf die Knie gefallen war. Bajys' Gesicht trug den gleichen Ausdruck des Erstaunens, der auch Lokesh manchmal zu eigen war, wenn ihm ein Einblick zwischen die Welten gelang. Zögernd trat Shan einen Schritt vor. Es war ein Felsen, nur ein Felsen, eine flache Steinscheibe mit einem großen rundlichen Geröllblock darauf. Aber der Geröllblock lächelte. Dann hörten sie wieder das dumpfe Klopfen, und Bajys kauerte sich nieder, als verspüre er Angst. Shan kam näher, und das Lächeln des Felsblocks wurde breiter. Bajys kauerte sich nicht zusammen, erkannte Shan. Der dropka verneigte sich. Aus dem Geröllblock streckte sich nun ein grauer Arm, der das Ende eines kurzen Holzstabs hielt, und als dieser auf den Felsen schlug, erklang abermals das Klopfgeräusch. Der Rabe krächzte und hüpfte näher heran. Shan kniete nieder, und Jowa tat es ihm gleich. Sie sahen, wie der Felsblock ein Stück nach vorn zu rücken schien und immer noch lächelte. »Ai yi!« stieß Bajys keuchend hervor. In der Dunkelheit über dem Lächeln regte sich etwas, und zwei Augen tauchten auf. Es handelte sich um einen alten Mann in einem grauen Schaffellmantel und einer kegelförmigen Mütze aus dem gleichen Material, die bis weit in seinen Nacken reichte und tief -543-
ins Gesicht gezogen war, so daß seine Augen verdeckt wurden, sobald er den Kopf neigte. Nun richtete sich der vor Kraft funkelnde Blick des Mannes nacheinander auf jeden der drei Neuankömmlinge. Er klopfte erneut mit seinem Stab auf den Felsen. »Nach dem Schnee klingt mein Stab immer besonders laut«, sagte er verwundert und klopfte aus reinem Vergnügen ein weiteres Mal. Seine Stimme klang heiser, und er sprach ziemlich langsam, als sei er aus der Übung gekommen. Seine Haut glich grauem Pergament, und seine Finger waren lang und knorrig, als hätte man sie aus Kieselsteinen zusammengefügt. Shan sah Bajys und Jowa an. Die beiden Tibeter wirkten völlig überwältigt. Der Kopf des Mannes hob sich, und seine Augen schlossen sich für einen Moment. »Wenn der Wind aufhört, müßt ihr dem Wasser lauschen«, flüsterte er. »Ihr könnt es schimmern hören.« »Wir suchen nach dem gompa«, sagte Shan mit zitternder Stimme. Der Mann neigte den Kopf zur Seite und brach in schallendes Gelächter aus, das in einer Reihe schnaufender Geräusche endete. Dann stand er abrupt auf, als hätte ihn eine unsichtbare Kraft emporgezogen. Er trat zwischen Shan und Jowa und blieb stehen, um dem Raben einen Blick zuzuwerfen. Der Vogel nickte dem Mann zu, wandte sich in Richtung des Sees und verschwand, indem er einfach über die Kante des Vorsprungs hüpfte. Der Mann lachte wiederum, trat in einen der Schatten und schien wider jede Logik im Boden zu versinken. Bajys keuchte entsetzt, sprang auf und trat vor, als wolle er dem Fremden zu Hilfe eilen. Aber der Mann war im Felsen verschwunden. »Ein Zauberer«, rief Bajys. -544-
»Nein«, sagte Shan, der langsam zu begreifen begann. »Eine Treppe.« Sie wagten sich in den Schatten vor und entdeckten eine schmale Stiege, die man mitten in den gewachsenen Fels gehauen hatte. Die einzelnen Stufen waren durch Jahrhunderte des Gebrauchs in der Mitte ausgehöhlt. Bajys lief, ohne zu zögern, voran und verschwand nach unten in die Dunkelheit. Jowa und Shan tauschten einen nervösen Blick aus und folgten ihm. Sie gelangten nicht etwa in eine Höhle, wie Shan vermutet hatte, sondern in einen halbdunklen Raum aus gemauerten Steinwänden, der direkt an der Klippe errichtet worden war. Das wenige Licht stammte von einer einzelnen Butterlampe. Sie stand vor einem langen thangka, auf dem ein leuchtendblauer Buddha abgebildet war. Der Ursprüngliche Buddha wurde er genannt - der Buddha der Reinen Erkenntnis. Am Fuß der Felsentreppe stand eine von Spinnweben überzogene Kohlenpfanne. Die vordere und die gegenüberliegende Seitenwand wiesen jeweils eine schwere Holztür auf. Shan versuchte sein Glück an der Vorderwand. Die Tür öffnete sich langsam in eine Kammer, von deren Fenster aus man das Tal überblicken konnte. Über der steinernen Fensternische lag auf zwei in den Mörtel getriebenen Holzpflöcken eine Stange, an der die Überreste eines alten Jutesacks hingen und einen Teil der Öffnung verdeckten. Entlang der Wand lagen Kissen und auf einem davon ein kleiner Bogen, wie Shan ihn in Senge Drak benutzt hatte. Trotz der dicken Staubschicht konnte Shan erkennen, daß manche der Kissen aus Seide bestanden und mit den Abbildern von Seemuscheln, Fischen, Lotusblumen und anderen heiligen Symbolen bestickt waren. Das alles hier wirkte wie eine kleine dukhang, die Versammlungshalle eines Klosters, in der Unterrichtsstunden abgehalten wurden. Shan blieb schweigend stehen, während Jowa die Wände -545-
abschritt und die ehrfürchtige Ausstrahlung der Kammer auf sich wirken ließ. »Ich glaube, du hast es gefunden«, sagte Shan. »Eines der Yakde-gompas.« Auf einen Hocker neben dem Fenster hatte man einen kleinen bronzenen Buddha von nicht mehr als zwanzig Zentimetern Höhe gestellt. Sein Gesicht wies in Richtung des Tals, als wolle man ihn das Wasser betrachten lassen, das wie ein Stück Himmel aussah. Oder vielleicht auch, damit er Wache halten würde. Die kleine Figur war ebenfalls mit Staub bedeckt. Jowa blieb neben ihr stehen, zog einen Zipfel seines Hemdes heraus und wischte nicht etwa den Buddha, sondern die umliegende Sitzfläche des Hockers sauber, so wie ein Mönch einen Altar reinigen würde, ohne die heiligen Gegenstände zu berühren. Als er damit fertig war, schaute er erst zur Tür und dann wieder zu Shan. Erst da wurde den beiden Männern bewußt, daß Bajys sich nicht zu ihnen gesellt hatte. Sie kehrten in die erste Kammer zurück und öffneten die andere Tür. Sie schwang geräuschlos auf und gab den Blick auf einen halbdunklen Gang frei. Shan und Jowa folgten seinem Verlauf vorbei an einem halben Dutzend Meditationszellen und stiegen dann eine weitere uralte Steintreppe hinab. Während Shan die Treppe und die umliege nden Felswände musterte, wurde ihm klar, daß der Berg tatsächlich in einer Folge von großen, stufenähnlichen Vorsprüngen zum Tal hin abfiel. Was er von oben gesehen hatte, waren die Felsplatten gewesen, die als Dächer der auf den Vorsprüngen errichteten Gebäude fungierten. Die Tür am Fuß der zweiten Stiege öffnete sich in einen langen Korridor. Es war hier deutlich wärmer, und in der Luft lag neben einem Hauch Weihrauch und Butter auch der leicht beißende Geruch von getrocknetem Tierdung, der in den Kohlenp fannen verbrannt wurde. Sie kamen an weiteren Zellen -546-
vorbei und stießen eine schwere, mit eisernen Schmiedearbeiten verzierte Holztür auf. Dahinter lag ein großer Raum, der dank zweier Fenster in helles Tageslicht getaucht wurde. Eine der Öffnungen war durch eine einfache gerahmte Scheibe verschlossen, deren Glas uneben und von vielen Luftblasen durchsetzt war. Vor der anderen hing ein Stück durchsichtige Plastikfolie und wölbte sich geräuschvoll im Wind. Rund um eine große schwelende Kohlenpfanne saßen sechs Männer, die alle verblichene kastanienbraune Roben trugen. Einige von ihnen hielten lange rechteckige pecha-Blätter in den Händen und waren offenbar damit beschäftigt gewesen, den anderen die Texte vorzulesen. Auch der alte Mann mit der pergamentenen Haut saß hier und hatte mittlerweile seinen Mantel und die Mütze abgelegt. Zu Shans Überraschung war Bajys soeben dabei, den Mönchen Tee zu servieren, als wäre er der Gastgeber oder ein Novize des Klosters, der mit den hiesigen Gepflogenheiten vertraut war. Der Boden war vollständig mit einander überlappenden und stellenweise fast durchgescheuerten Teppichen ausgelegt. Die Wände hatte man mit duftendem Holz verkleidet. Als Shan vortrat, schauten ihm die Mönche mit weit aufgerissenen Augen und neugierigen Mie nen entgegen. Ein kahlköpfiger Mann, der merklich älter als Shan, aber eindeutig der Jüngste der Gruppe war, warf einen kurzen Blick auf die rückwärtige Wand, wo an einigen Haken Kleidungsstücke hingen, und bestätigte damit Shans Verdacht, daß dieses Kloster keine Lizenz besaß. Wenn Chinesen kamen, zogen die Mönche Bauernkleidung an. Jowa und Shan sahen sich an. Dem purba war es ebenfalls aufgefallen. Über dem Eingang des letzten Klosters, das Shan besucht hatte, hatte ein Banner gehangen: Buddhismus und chinesischer Sozialismus gehen Hand in Hand. Urheber dieses Slogans war das Demokratische Verwaltungskomitee des gompa gewesen, das vom Büro für Religiöse Angelegenheiten -547-
eingesetzte Gremium zur Beaufsichtigung aller Belange des Klosters. Bevor die Komiteemitglieder durch die Regierung in ihr Amt berufen wurden, mußten sie eine sorgfältige Überprüfung durch Politoffiziere über sich ergehen lassen. Das Komitee war unter anderem dafür verantwortlich, daß alle Mönche eine Verpflichtung unterschrieben, sich jeglicher politischer Betätigung zu enthalten. Bajys entschärfte die Anspannung im Raum, indem er vortrat und auch Shan und Jowa Tee anbot. Schweigend nahmen sie im Kreis der Mönche Platz. Dieses Kloster hatte weder ein Verwaltungskomitee noch Politoffiziere oder Lizenzen für die Mönche. Falls die Behörden es entdeckten, würde man alle Bewohner verhaften und zu Zwangsarbeit verurteilen. Manche Mönche verließen lieber ihre Klöster, als irgendwelche Verpflichtungen zu unterzeichnen und eine Genehmigung aus Peking zu beantragen. Shan kannte viele, die diese Unterschrift geleistet hatten, starke, hingebungsvolle Lehrmeister, die einwandten, daß ein Stück chinesisches Papier keinen Unterschied bedeute. Andere hingegen behaupteten, daß niemand nach einer Unterschrift je wieder derselbe sein könne, weil diese Handlung einem dunklen Stein gleiche, der ins Gewässer ihrer Seele geworfen wurde, fortwährend kleine Wellen schlug und das Antlitz des inneren Gottes für immer veränderte. Als Shan den Blick über die anwesenden Mönche schweifen ließ, wärmte ihm eine plötzliche Erkenntnis das Herz. Obwohl man diese Männer vor den Chinesen gewarnt und ihnen eingeschärft hatte, ihre Gewänder zu verbergen, verrieten ihre Gesichter, daß sie noch keine persönlichen Erfahrungen mit Lizenzen gesammelt hatten und auch noch nie mit Regierungsbürokraten zusammengetroffen waren, die sie drängten, ihre eigenen Brüder zu bespitzeln. Nur der Jüngste hatte gezögert und zu der Bauernkleidung geblickt. Die Mönche in diesem Kreis waren wie die ungezähmten Wildtiere der Changtang, -548-
unbeeinflußt und rein. Eine fast ausgestorbene Art. Die Mönche saßen wortlos da und lächelten ihre Besucher strahlend an. »Willkommen im Kloster Rabennest«, sagte schließlich der Kahlköpfige. Zu Shans Überraschung ergriff Jowa als erster das Wort. »Bitte verzeiht unser Eindringen«, sagte er. »Wir sind wegen des Yakde Lama hier.« Alle Mönche nickten und lächelten dabei unverändert weiter. »Er hat hier gelebt«, sagte der Kahlköpfige. »Er wird zurückkehren.« Jowa warf Shan einen triumphierenden Blick zu und wandte sich dann wieder an den Mönch. »Der Junge Khitai? Er hat hier gelebt?« Die Mönche sahen einander verwirrt an. »Der Yakde«, sagte der Kahlköpfige und zuckte die Achseln, als würde er Jowas Fragen nicht verstehen. »Er saß oft mitten in einer Herde wilder Antilopen und meditierte«, erklärte der Mann fröhlich. »Er hat sogar einen Lehrtext darüber verfaßt. Wir haben ihn hier, in seiner eigenen Handschrift. Das war der Zweite. Der Vierte hat sich daran erinnert und kam her, um sich den Text auszulernen. Dann ist er damit nach Lhasa gereist und hat ihn dem Dalai Lama gezeigt.« Shan rechnete in Gedanken zurück. Der zweite Yakde mußte vor ungefähr dreihundert Jahren gelebt haben. Jowa drängte den Mann nicht, sondern tat etwas wahrha ft Bemerkenswertes. Er sah den Kahlköpfigen an und lächelte ein heiteres und gelassenes Lächeln, das Lächeln eines Mönchs. »Der Neunte«, sagte Shan kurz darauf. »Ist der Neunte hergekommen?« »Einmal«, erwiderte der Mönch. »Er hat einige Monate hier verbracht und einen Text über unsere Tätigkeit verfaßt. Die Seelen der Changtang-Berge, hat er ihn genannt.« -549-
Shan überlegte fieberhaft. Er sollte sich eigentlich nach Lau und nach dem Wasserhüter erkundigen. Doch sein Herz wollte eine andere Frage stellen. »Ist der Yakde nach Süden gereist, noch über Lhasa hinaus?« hörte er sich fragen. »An einen Ort namens Lhadrung?« Der Kahlköpfige nickte bereitwillig. Es mußte sich bei ihm um den kenpo, den Abt von Rabennest, handeln. »Sowohl der Dritte als auch der Fünfte. Zu einer Einsiedelei, tief im Gebirge. Und als das letzte Mal eine Armee kam, trafen Männer aus Lhasa hier ein. Weise Männer. Sie sagten, schickt eure jungen Mönche weg, damit sie sich verstecken. Einige von ihnen sind zu diesem Ort in den Bergen gegangen. Die dropkas haben Pferde und einige ihrer Kinder hergebracht. Sie wollten gegen diese neue Armee kämpfen, sagten sie, und ihre Kinder brauchten einen sicheren Ort, bis der Krieg vorbei sein würde.« Der Abt seufzte und trank einen Schluck Tee. »Im Jahr darauf bekamen wir einen Brief von einem unserer Mönche. Sie waren wochenlang geritten, immer nur nachts. In der Nähe einer Stadt tobte eine große Schlacht, ein schreckliches Blutvergießen, und die Invasoren schossen mit Kanonen in die Berge, wo unsere Leute waren. Am Ende trafen drei unserer Mönche und zwei der Kinder in dem Versteck in Lhadrung ein. Ein Junge und ein Mädchen.« Was hatte Gendun gesagt? Er sah das Kunlun-Gebirge mit den Augen eines Fremden, doch im Herzen war es ihm vertraut. Als er jung war, gaben seine Eltern ihn zu den Mönchen, und die brachten ihn weg. Aus einem anderen Gang ertönte eine Glocke. Die Mönche übergaben ihre Textseiten dem Abt und standen auf. Jowa ging neugierig zu den Regalen und betrachtete die zahlreichen pechas, die Reihen vo ller Sutras und Lehrtexte. Während der Abt die Seiten zu einem Stapel aufschichtete und diesen dann in einer Seidenhülle verstaute, begann er damit, Jowa einige Einzelheiten der Sammlung zu erläutern. -550-
Shan trat hinaus auf den Gang. Eine Tür am anderen Ende war nur angelehnt. Dahinter saß Bajys vor einem langen thangka, das an der Rückwand des Raumes hing. Es zeigte das kunstvolle Abbild eines Mannes, der weder eine Verkörperung Buddhas noch einen der vielen berühmten Lehrmeister darstellte, die Shan normale rweise auf so einem Gemälde erwartet hätte. Der Teppich in diesem Zimmer war wesentlich wertvoller als alle anderen, die er bislang in dem gompa gesehen hatte. Genaugenommen schien der ganze Raum in einem deutlich eleganteren Stil gehalten zu sein als der Rest des Klosters. An der Wand hing eine reich bestickte Robe. Auf einem Tisch neben der Tür stand unübersehbar die Bronzefigur eines Lamas, bei dem es sich vermutlich um den antiken Lehrer Guru Rinpoche handelte. »Was ist mit dir?« fragte Shan, der nichts von dem verstand, was Bajys seit ihrer Ankunft getan hatte. Zum erstenmal seit Shan ihn kannte, lächelte Bajys. Vor der gegenüberliegenden Wand stand eine niedrige Holzpritsche. Bajys beugte sich hinab und strich das Bettzeug glatt. Vom Tisch neben dem Bett nahm er eine kleine bronzene dorje, den einem Zepter ähnelnden Stab der buddhistischen Rituale, und wischte sorgfältig den Staub von ihr ab. Dann warf er Shan einen überraschten Blick zu, als sei diesem etwas Wichtiges entgangen, das für Bajys ganz offensichtlich war. Er nahm Shans Ellbogen, führte ihn zu der Stelle, an der er gesessen hatte, und nickte in Richtung des thangka. Shan wußte, daß Bajys noch nie zuvor hier gewesen war und nichts von der Existenz dieses Klosters gewußt hatte. Dennoch hatte er die Gestalt auf dem alten Gemälde erkannt. »Seine Augen«, sagte Bajys ehrfürchtig. Plötzlich begriff Shan, und es verschlug ihm den Atem. Das dort war der Yakde. Bajys hatte den kindlichen Lama in einem anderen Körper erblickt und wiedererkannt. -551-
»Dies ist sein Zimmer«, sagte jemand hinter ihnen. Es war der kahlköpfige Mönch, der Abt. »Das Zimmer für die Besuche des Yakde.« Bajys schenkte den beiden Männern ein kleines verwirrtes Lächeln und schaute dann auf die dorje in seiner Hand, als könnte er sich nicht erklären, wie sie dorthin gelangt war. »Woher wußtest du, wo dieser Raum sich befindet?« fragte Shan. Bajys hatte nicht genügend Zeit gehabt, um die gesamte Anlage zu erforschen. Irgend etwas hatte ihn zum Ziel geführt. »Du bist zum erstenmal hier. Trotzdem hast du gewußt, daß dies sein Zimmer ist.« »Es war einfach der Ort, an den ich gegangen bin«, sagte Bajys und rang nach den geeigneten Worten. »Ich konnte es nicht wissen«, fuhr er fort und betrachtete dabei die dorje, während er sie unaufhörlich zwischen den Fingern drehte. Viele Buddhisten bezeichneten die dorje als diamantenes Medium, als Symbol für das Zentrum der Erleuchtung und die unzerstörbare Kraft der Buddhaschaft. »Meine Augen wußten es nicht«, sagte Bajys respektvoll, als hätte womöglich die dorje ihn hergeführt. »Aber meine Füße wußten es.« Er blickte auf. Man sah ihm an, wie sehr es ihn quälte, das Geschehene nicht begreifen zu können, und doch lächelte er in einem fort. Der Abt führte Shan eine weitere Treppe hinunter, vorbei an einem Lagerraum mit Körben voller Getreide und getrocknetem Dung. Shan blieb kurz an der Tür stehen und sah, daß nur ein Zehntel des Platzes genutzt wurde. An einer der Wände hingen große Seilrollen. Shan erinnerte sich, daß Batu ihnen beim Lamafeld erzählt hatte, Bajys habe behauptet, es kämen manchmal alte Männer, um die Flagge auf der mächtigen Felsformation zu reparieren. Dann folgte er dem kahlköpfigen Mönch auf eine langgestreckte Terrasse, die durch den oben liegenden Vorsprung überdacht, aber nach drei Seiten offen war. Das Dach -552-
wurde nur von einigen gemauerten Säulen gestützt. Vor der Rückwand stand eine lange Reihe halbhoher Zylinder aus Bronze und Holz - Gebetsmühlen. Am anderen Ende befand sich eine große vierbeinige Kohlenpfanne, in der Duftopfer verbrannt wurden. Unterhalb, im Tal, sah Shan die Steinmauer, die ihm schon von oben aufgefallen war, und erkannte, daß es sich um ein altes Tiergehege handelte. Rabennest hing über diesem Pferch an der Felswand und war vom Tal durch einen mehr als fünfzig Meter hohen Steilhang getrennt. »Es ist bestimmt nicht einfach, der Abt eines solchen Klosters zu sein«, sagte Shan. »Ich verstehe nicht ganz.« »Ich meine Ihre Aufgabe. Die Verantwortung…« Der Mann lächelte schüchtern. »Aber ich bin nicht der Abt. Ich bin lediglich sein Gehilfe. Wenn der Abt nicht da ist, vertrete ich ihn.« »Er ist nicht da?« »Er ist auf der anderen Seite der Berge.« Shan starrte den schimmernden See an. Vielleicht stimmte es. Man erlangte hier Einsichten in die Wahrheit. »Wie lange schon?« »Nicht lange. Fünf oder sechs Jahre. Aber es geht ihm gut. Vor einiger Zeit ist eine Nonne hergekommen und hat uns von ihm berichtet.« »Was genau hat die Nonne getan?« »Sie hat uns die Botschaft überbracht. Keinen Brief. Sie sagte, ein Brief wäre zu gefährlich. Sie brachte uns eine getrocknete Blume, und da wußten wir Bescheid. Rinpoche meditiert gern, indem er sich auf eine Blume konzentriert. Die Nonne hat viel gelächelt und uns Weihrauch und Blöcke aus gepreßtem Tee gegeben. Außerdem hat sie darum gebeten, den Raum des Yakde aufsuchen zu dürfen. Dort hat sie lange gebetet, und dann -553-
ist sie nach unten gestiegen und hat sich an das Ufer des Orakelsees gesetzt. Sie sagte, ihre Lehrer hätten ihr früher oft von diesem Ort erzählt und sie freue sich, ihn vor ihrem Tod einmal persönlich besuchen zu können. Dann fragte sie, ob wir dem Abt eine Nachricht senden wollten, und hat sich Namen und Botschaft eines jeden von uns eingeprägt. Sie sagte, sie sei vor allem deshalb gekommen, weil der Abt sich um uns Sorgen machte.« Lau war hiergewesen. Lau hatte vor dem thangka gesessen und zweifellos genau wie Bajys die Augen wiedererkannt. Dann war sie zum Orakelsee gegangen, nachdem sie die Nachricht des Abtes von Rabennest überbracht hatte, die Nachricht des Wasserhüters, der im Lager Volksruhm saß. Shan konnte sich noch deutlich an das heitere Gesicht des Lama erinnern - und auch an die getrocknete Blume, die zwischen seinen Fingern gesteckt hatte. »Kommen gelegentlich auch andere Besucher?« fragte Shan. »Die Hirten kommen«, antwortete der Mönch. »Manchmal bringen sie Getreide und neue Decken mit. Sie haben das gompa schon immer unterstützt, auch wenn sie sagen, sie könnten heutzutage nicht mehr ihre Kinder zur Unterweisung herbringen. Aber sie versorgen uns mit Nahrung.« Er schaute zu einem schmalen Felssims in etwa fünfzehn Metern Entfernung. Darauf befand sich ein Nest, in dem drei Raben saßen und die beiden Männer aufmerksam beobachteten. »Einmal jedoch hatten die Raben große Angst, und dann kam einer der Wolkenreiter. Laut wie Donnerhall.« Shan schloß die Augen. »Was wollten die Leute?« »Rinpoche, unser Ältester, saß oben auf seinem Felsen und freute sich. Er sagte, manche Buddhas würden genauso fliegen. Aber wir andern sahen, daß es bloß Chinesen waren.« »Haben die Männer nach euch gesucht?« »Nicht wirklich. Zuerst haben sie uns überhaupt keine -554-
Beachtung geschenkt. Wir konnten von hier aus verfolgen, daß sie sich lange Zeit am See beschäftigt haben. Dann bin ich in der Kleidung eines Hirten ins Tal hinabgestiegen. Da haben sie mich angesprochen. Der Anführer sagte, er wüßte, daß wir illegale Mönche seien. Er sagte, schlechte Chinesen würden uns verhaften, aber sie dort seien gute Chinesen und unsere Freunde. Dann kamen er und seine Leute mit zurück zum gompa, und wir haben ihnen Tee angeboten. Sie schenkten uns einige Schachteln mit süßen Keksen und fragten, wer wir seien, wie unsere Oberhäupter hießen und welcher Sekte wir angehörten.« »Soll das heißen, es waren Wissenschaftler?« fragte Shan. Der Mönch blickte einigen anderen Raben hinterher, die über dem See kreisten, als wollten sie eine Art Lufttanz aufführen. »Nein, keine Wissenschaftler«, sagte er dann, ohne die Augen von den Vögeln abzuwenden. »Baumeister.« »Das verstehe ich nicht.« Der Mönch drehte sich zu Shan um. Er sah verwirrt aus, als würden ihm nicht die richtigen Worte einfallen. »Warte hier«, sagte er dann, lief zur Tür und ließ Shan allein zurück. Shan schaute hinaus ins Tal und verspürte ein unerwartetes Wohlbehagen. Rabennest lag so hoch und der Horizont jenseits der Mündung des Tals war dermaßen weit, daß die Wolken unter ihnen hindurchzuschweben schienen, als wäre der Ort nicht mit dem Rest des Planeten verbunden. Diese Abgeschiedenheit besaß eine ganz eigene Qualität, als wäre tatsächlich ein Stück der Welt abgebrochen und vom Wind fortgetragen worden, unbeeinflußt von der Zeit oder dem Geschehen an anderen Orten. Aber dann kehrte der stellvertretende Abt mit zufriedenem Lächeln zurück. In der Hand hielt er eine rote Nylonjacke und deutete nun auf ein Emblem auf deren Vorderseite. Dort waren ein Mann und eine Frau zu sehen, deren ausgestreckte Arme sich über einem Ölbohrturm, einem Schaf und einem Traktor -555-
auf einem Feld kreuzten. Shan fühlte sich, als hätte man ihm einen Tritt in den Magen verpaßt. Er wandte sich kurz ab und kämpfte gegen die plötzlich aufbrandende Bestürzung und Furcht an. Die Welt hatte Rabennest letztlich also doch entdeckt. »Es ist eine warme Jacke. Wir haben jeder eine bekommen«, sagte der Mönch in tröstendem Tonfall, als wolle er Shan gut zureden, sich keine Sorgen zu machen. »Wenn Rinpoche diesen Winter nach oben auf seinen Felsen steigt, kann er sie anziehen.« »Haben diese Leute ihre Namen genannt?« fragte Shan. Der stellvertretende Abt zuckte die Achseln. »Wir sprechen nicht besonders gut Mandarin, fürchte ich. Der Anführer hat viele Zigaretten geraucht, und wir konnten seine Augen nicht sehen, weil er eine sehr dunkle Brille trug. Er hat uns Fragen über den See gestellt.« Shan sah hinaus auf das schimmernde Wasser. »Was für Fragen waren das?« »Wann er gefriert, wie tief er ist, ob wir das Wasser trinken und durch welche Bäche er gespeist wird.« »Sie haben gesagt, die Männer hätten sich zunächst am See beschäftigt. Was genau haben sie dort getan?« »Ich weiß es nicht. Vielleicht haben sie gebetet. Vielleicht haben sie auch etwas davon getrunken. Es ist ein heiliger See, und zwar sogar schon seit der Zeit, als die Lehren Buddhas hier noch nicht bekannt waren.« »Und wie haben Sie die Fragen des Mannes beantwortet?« »Der See kann gar nicht versiegen, denn er hat keinen Boden. Und natürlich trinken wir das Wasser, auch im Winter, wenn wir sein Eis schmelzen. Aber er gefriert erst viel später als andere Seen.« »Weil er so geschützt liegt«, sagte Shan. »Weil er nach Süden -556-
weist und die hohen Wände die Wärme einfangen.« »Nein«, widersprach der Mönch mit nachsichtigem Lächeln. »Weil die Berggötter darin baden.« Shan nickte. »Und mehr hat er nicht gefragt?« Der Mönch starrte zum Himmel empor. »Er hat sich erkundigt, was für Tiere hier oben leben. Ich habe ihm erzählt, daß es in den tieferen Regionen viele Antilopen und wilde Yaks gibt und daß man in den Bergen auf Wildziegen, Luchse und Schneeleoparden trifft. Er wollte wissen, wie viele Leute man im gompa unterbringen könnte. Er sagte, uns würden vielleicht einige Arbeiter zu Hilfe kommen und später würden hier eventuell wichtige Leute übernachten wollen.« »Zu Hilfe?« »Um irgendwas zu bauen, glaube ich.« »Sind die Leute danach noch mal wiedergekommen?« »Zweimal. Beim erstenmal haben sie viele Eimer Wasser aus dem See geschöpft und mitgenommen. Beim zweitenmal haben sie zahlreiche Fotos gemacht. Und sie haben uns noch mehr von den süßen Keksen gebracht, die unsere Alten so gern mögen.« »Habt ihr bei diesen beiden Gelegenheiten eure Gewänder getragen?« »Nein. Er hatte uns darum gebeten, es nicht zu tun. Er sagte, das sei vorerst zu riskant, weil man nicht jedem Chinesen vertrauen könne. Aber er hat mir große Zuversicht eingeflößt.« »Sie meinen, weil diese Leute herkommen, um zu…« Ja, wozu eigentlich? überlegte Shan. Zweifellos um Tiere zu schießen, aber das war noch nicht alles. Nicht, wenn zuvor noch Arbeiter herkommen sollten. »Um zu bauen?« »Natürlich nicht, denn das konnten wir nicht gestatten. Aber ich habe mit den Alten gesprochen«, sagte der Mönch mit strahlendem Lächeln. »Ich habe ihnen erklärt, daß eine neue Zeit angebrochen ist und wir uns nicht mehr vor allen Chinesen zu -557-
fürchten brauchen.« »Wieso konnten Sie den Leuten keine Baugenehmigung erteilen?« »Wir sind nicht die Eigentümer, sondern nur die Verwalter des Tals und des Klosters. Wir warten auf die Rückkehr des Yakde Lama. Vielleicht in zehn oder zwanzig Jahren, habe ich zu dem Mann gesagt.« »Das verstehe ich nicht.« »Nur der Yakde Lama könnte eine solche Erlaubnis geben.« Auf einmal stiegen die Raben steil von dem Sims empor und flogen geradewegs zu ihren Artgenossen, die über dem See kreisten. Sie begannen so laut zu krächzen, daß das Echo ihrer Rufe durch das gesamte Tal hallte. Der Mönch musterte die Vögel schweigend für einen Moment, nickte dann und drehte sich zu Shan. Er wirkte plötzlich ganz aufgeregt. »Du hast Glück«, sagte er fröhlich. »Die Wolkenreiter kehren zurück.«
-558-
Kapitel Sechzehn Shan und Jowa liefen über den Talgrund auf den Pfad zu, der nach Auskunft des Mönchs von den Hirten benutzt wurde. Den Gästen blieb noch genug Zeit zur Flucht, hatte der stellvertretende Abt bestätigt, denn die Raben spürten die Wolkenreiter stets schon aus großer Entfernung, so daß die Mönche zu Fuß bis zum See gelangen konnten, um dort am Ufer die Ankunft der Leute zu erwarten. Aber sie hätten von den Männern in der Maschine wirklich nichts zu befürchten, hatte er versichert. Außerdem gäbe es hier im Umkreis keinen anderen Zufluchtsort. Bis zum Sonnenuntergang blieben lediglich noch zwei Stunden, und dann wären sie der Herbstnacht im hohen Kunlun schutzlos ausgeliefert, würden kaum mehr die Hand vor Augen sehen und womöglich erfrieren. Manchmal ließ der kalte, trockene Wind arme Reisende einfach nur zusammenschrumpfen und wehte sie dann fort. Aber Jowa und Shan wußten, daß Gefahr drohte. Die Brigade kannte ihre Gesichter, und falls man sie beide in Rabennest erwischte, stünde auch die Sicherheit der Mönche auf dem Spiel. Widerstrebend zeigte der stellvertretende Abt seinen drei Gästen die alte Treppe im Felsen, die den einzigen Zugang zum Tal darstellte. In letzter Minute gab er Jowa eine verbeulte alte Laterne mit auf den Weg, eine kleine Blechdose mit einem Griff aus Draht und einem schmalen Glasfenster. Am Fuß der Treppe ließ Bajys sich mit unglücklicher Miene auf die letzte Stufe sinken. Jowa drängte ihn, sofort wieder aufzustehen, aber Shan bedeutete dem purba, er möge schon vorgehen. Dann wandte er sich zu Bajys um. »Es ist ein ziemlich langer Aufstieg«, sagte Shan nach einem Moment und betrachtete die steile, schmale Treppe, die hinauf nach Rabennest führte. Die Leute von der Brigade kannten Shan -559-
und Jowa, aber Bajys hatten sie noch nie gesehen. Ein weiterer Tibeter ohne Lizenz in diesem Kloster würde für Direktor Ko kaum einen Unterschied bedeuten. Als Bajys aufschaute, war der Schmerz auf seinem Gesicht einem Ausdruck der Dankbarkeit gewichen. »Als wir aus diesem Schneesturm kamen, fühlte es sich so an, als habe meine Welt sich verändert«, sagte er. Shan seufzte und blickte zu den Mönchen empor. Sie hatten sich auf der unteren Terrasse versammelt, trugen alle ihre roten Nylonjacken über den Gewändern und winkten. Shan streckte Bajys die Hand entgegen. »Ich würde gern eines Tages zurückkommen und dir bei der Reparatur dieses Fensters helfen«, sagte er. Bajys nahm seine Hand und lächelte erneut. Dann machte er sich an den Aufstieg zu den alten Mönchen. Shan holte Jowa am See wieder ein. Auch aus diesem Winkel wirkte das Wasser so leuchtendblau wie vom gompa aus, das hoch oben in den Felsen hing. Shan hielt kurz inne. Dann ging er zum Ufer, kniete nieder, trank einen Schluck und schöpfte mit beiden Händen Wasser, um sich das Gesicht zu waschen. Es schmeckte merkwürdig süß und prickelte auf der Zunge. Das heilige Wasser des Yakde. Eine Viertelstunde lang liefen sie den gewaltigen Hang hinab, an dessen oberem Ende das Kloster thronte. Plötzlich ertönte ein lautes Rotorengeräusch. Sie kauerten sich auf den Pfad, breiteten die Decke über sich aus und sahen den Hubschrauber vorbeifliegen und im oberhalb gelegenen Tal verschwinden. Dann sprangen sie auf und rannten den schmalen Ziegenpfad entlang, auf dem ihnen bei jedem Fehltritt ein hundertfünfzig Meter tiefer Sturz drohte, bis sie eine Gabelung erreichten. Ohne zu zögern, entschied Jowa sich für die südliche Abzweigung. Wenige Minuten später überquerten sie einen schmalen Paß. Der purba verharrte kurz, um sich an den Bergen zu orientieren, und -560-
hielt dann querfeldein auf einen langgestreckten, flachen Grat zu, der nach Westen hin abfiel. Sie hatten die untergehende Sonne genau vor sich. Jowa lief wortlos weiter und vergewisserte sich kein einziges Mal, ob Shan mit ihm Schritt halten konnte. Nach einer Stunde blieb er stehen und starrte auf das vorausliegende Terrain, um es sich im letzten rosafarbenen Tageslicht einzuprägen. Nach einer weiteren Viertelstunde hielt er inne und entzündete die Laterne. In dem trüben Licht, das sie spendete, war ihnen allenfalls noch ein schnelles Schrittempo möglich. Schließlich blieb Jowa wiederum stehen und verkündete, sie würden den Mondaufgang abwarten. Schweigend setzten sie sich an einem Felsen nieder, kauerten sich vor der Kälte zusammen und aßen jeder eine Handvoll tsampa, bis nach fast einer Stunde über den östlichen Gipfeln der Mond aufblinkte. Jowa stand auf, betrachtete die umliegenden Kammlinien und machte sich sogleich mit schnellen Schritten auf den Weg. Als sie den Abstieg in ein schmales Tal begannen, löschte Jowa das Licht. Er führte Shan nun mit größerer Sicherheit durch das zerklüftete Gelände. Im Schatten eines großen Geröllblocks reichte er Shan die Decke und wies ihn mit ernster Stimme an, sich nicht von der Stelle zu rühren. Dann verschwand er in der Dunkelheit. Shan setzte sich, schlang sich die Decke um den Leib und beobachtete die Sterne im Norden, wo irgendwo Gend un und Lokesh unterwegs sein mußten. Ob sie wohl Schutz vor dem Wind gesucht hatten? War auch ihnen jemand begegnet, der ihnen ein Licht in die Schwärze der Nacht mitgeben konnte? Er hatte den Helikopter nicht wieder von Rabennest wegfliegen gehört, obwohl die Maschine genausogut unbemerkt in entgegengesetzter Richtung abgeflogen sein konnte, zurück zu Kos Zentrale in Yutian. Was wollte Ko dort bei dem Kloster? Diese Frage ging ihm ständig durch den Kopf, ließ ihn nicht mehr los und erfüllte ihn mit einer beinahe genauso dunklen -561-
Vorahnung wie seine Sorge um Genduns und Lokeshs Wohlergehen. Ko verfügte in Tibet über keinerlei Amtsgewalt und keine Unterstützung. Sein Aufenthalt dort würde als ebenso illegal gewertet werden wie die Anwesenheit der Mönche in Rabennest. Aber Ko war nicht wie die anderen Behördenvertreter, die Shan kennengelernt hatte. Er war ein Teil des neuen China. Er strebte nicht nach einem höheren Regierungsamt, das in der Volksrepublik bislang den einzigen Zugang zur Macht dargestellt hatte. Er war nicht daran interessiert, kleine Jungen zu ermorden. Er interessierte sich nur für Geschäfte und hatte in jener Nacht im Kunlun vermutlich in dem Lastwagen gesessen, um im Namen der Brigade irgendeine Angelegenheit zu erledigen, die Shan noch immer nicht begriff. Ko witterte anderweitigen Profit, und zwar bei einer Handvoll alter illegaler Mönche, die mitten in der Wildnis ein vergessenes gompa bewohnten. Shan hörte ein Geräusch und sah eine Bewegung in der Dunkelheit. Dann erklang Jowas Stimme. »Hier entlang.« Zwei schwarze Schatten, Jowa und eine Gestalt in einem Kapuzenmantel, kamen aus der Finsternis zum Vorschein und führten ihn durch ein Felsgewirr, wobei sie sorgfältig die vom Mond beschienenen Flächen mieden, als befürchteten sie sogar in dieser abgeschiedenen Wildnis, daß jemand sie sehen könnte. Sie betraten eine Höhle, in der Jowas Begleiter eine Butterlampe entzündete. Dann gingen sie im trüben Dämmerlicht zehn Meter weiter, bis die Lampe plötzlich wieder gelöscht wurde. Jemand klopfte an eine Tür, gefolgt von quietschenden Scharnieren und einer hastig geflüsterten Silbe, die Shan nicht verstand und bei der es sich vermutlich um ein Kennwort handelte. Dann legte ihm jemand eine Hand auf den Rücken und schob ihn voran. Die Tür schloß sich mit metallischem Ächzen, und Shan spürte, daß sie einen anderen Ort betreten hatten. Es roch unvermutet nach Metall und Weihrauch, nach feuchtem Schaffell und Zwiebeln. Die Lampe wurde wieder entfacht, und -562-
zu seiner großen Überraschung sah Shan Betonwände. Jowa und ihr Führer gingen schnell voran, und als Shan ihnen hinterher eilte, bemerkte er, daß auch der Boden betoniert war. Sie kamen an schlafenden Personen vorbei, die auf Lagern aus getrocknetem Gras ruhten, dann an einigen einzelnen Männern und Frauen, die jeweils schweigend und kerzengerade an den Kreuzungen mit anderen Tunneln saßen, als seien sie Wächter in einem ausgedehnten Labyrinth. Mehrere der stummen Gestalten nickten Jowa zu und musterten dann unsicher Shan. Das hier war ein unmöglicher Ort. Er war zwar von purbas besetzt, aber keinesfalls von ihnen errichtet worden. Als sie eine zentrale Kammer durchquerten, in der Kabel von der Decke hingen und an deren Wänden kalte und leblose Neonröhren befestigt waren, sah Shan Hunde und Kinder und mehrere Tische, auf denen kleine Statuen von Buddha und anderen Lehrmeistern standen. Sie stiegen eine lange Treppe hinab, die nicht in den Fels geschlagen, sondern aus metallenen Gitterstufen gefertigt war und als Geländer rostige Rohre aufwies, und folgten dann einem Korridor, der anscheinend in entgegengesetzter Richtung verlief. Jowas Gesicht war zu einer grimmigen Maske der Entschlossenheit erstarrt. Dann, als Shan stehenbleiben und eine Erklärung verlangen wollte, traten sie durch eine schwere, mit Rost übersäte Metalltür. Am Rahmen hingen alte, längst ausgetrocknete und rissige Gummidichtungen. Sie gelangten in einen runden, sechs Meter durchmessenden Raum, den Jowa zügig durchquerte, als wolle er ihn so schnell wie möglich wieder verlassen. Im Innern der Kammer umgab ein rundes Eisengeländer ein drei Meter breites tiefschwarzes Loch. Shan trat zögernd einen Schritt vor und legte eine Hand auf das Metall. Sein Magen zog sich zusammen, und er erkannte, an was für einem Ort er sich befand. Das hier war nicht bloß ein Loch. Es war ein mit Beton ausgekleidetes Silo. -563-
»Wie ist das nur möglich?« stieß er keuchend hervor, umklammerte mit beiden Händen das rostige Rohr und starrte in die Dunkelheit hinab. »Dies war die erste Generation der Raketenbasen«, sagte Jowa leise. »Heutzutage sind die Raketen viel größer und haben mehrere Sprengköpfe. Die Basen sind riesig, so wie in der Pilzschüssel. Aber vor dreißig Jahren hat man noch kleinere Anlagen gebaut, so nah wie möglich an der indischen Grenze, mit jeweils einem halben Dutzend Silos und wenig Personal. Die Silos in den größeren Tälern wurden für die neuen Systeme ausgebaut. Andere, zum Beispiel diese hier, wurden aufgegeben. Man hat die Schächte versiegelt und die Eingänge gesprengt, um sie durch Schutt zu verschließen. Einer der Hirten hat alles beobachtet. Er hat in einem der Tunnel die Zündschnur der Sprengladung durchgeschnitten, um hier im Winter seine Schafe unterbringen zu können. Aber einige Zeit später haben die Chinesen ihn gezwungen, seine Herde einem Kollektiv zu übergeben.« »Also hat er alles den purbas erzählt.« »Er wurde selbst ein purba. Nicht wegen der Schafe, sondern weil man seinen Bruder wegen eines Mehlvergehens angeklagt und ins Gefängnis gesteckt hatte. An irgendeinem sechsten Juli vor vielen Jahren.« Shan verzog das Gesicht. Jahrhundertelang hatte es zu den traditionellen tibetischen Bräuchen gehört, als Ausdruck der Freude geröstetes Gerstenmehl in die Luft zu werfen. Doch der sechste Juli, der Geburtstag des Dalai Lama, war als Festtag verboten worden. Wer dennoch beim Feiern mit Mehl erwischt wurde, mußte mit einer Anklage rechnen. Manchmal genügte es schon, wenn man an jenem Tag einen Sack Mehl durch die Gegend geschleppt hatte. »Aber all die Leute«, sagte Shan. »Dieser Ort wird nicht nur von den purbas genutzt.« -564-
Jowa öffnete eine weitere schwere Tür und winkte Shan hindurch. »Ich war einer derjenigen, die ihn vor einigen Jahren freigegeben haben. Er gehört zu den wenigen sicheren Orten, die uns in dieser Region bleiben. Er wurde zu einer Art Zufluchtsstätte für Menschen auf der Durchreise. Sie kommen normalerweise bei Nacht und in Begleitung eines purbaFührers. Nur wenige wissen genau, wo sie sich befinden. Die meisten bleiben bloß ein paar Tage und ziehen dann weiter.« »Auf der Durchreise?« fragte Shan, während sie dem Verlauf eines weiteren Korridors folgten. »Manchmal müssen Leute schnell verschwinden und die Berge überqueren, bevor man sie verhaftet«, erklärte Jowa. »Und mitunter können sie ihre Familien nicht mitnehmen. Aber die Öffentliche Sicherheit kennt die Familien, also müssen sie geschützt werden.« Die Öffentliche Sicherheit würde die Familien benutzen, meinte Jowa. Man würde sie entweder als Geiseln nehmen, um den Flüchtling zur Umkehr zu zwingen, oder sie schlichtweg stellvertretend bestrafen. »Demnach warten all diese Leute darauf, die Grenze zu überqueren?« »Manche ja. Andere kommen einfach her, um zu helfen. Wieder andere wollen sich hier ausruhen oder Verletzungen auskurieren, mit denen sie nicht in einem chinesischen Krankenhaus aufkreuzen dürfen. Und einige schätzen die Ruhe hier, weil man so besser Pläne schmieden kann.« Als sie an einer weiteren Gruppe liegender Gestalten vorbeikamen, setzte eine Frau sich auf und sprach Jowa an. »Danke, nochmals danke«, sagte sie leise und schüchtern und warf dann Shan einen zögernden Blick zu, als würde sie ihn erkennen. Er bemerkte ihr bandagiertes Handgelenk und begriff, wer sie war. »Sie waren noch immer sehr verängstigt, als unsere Leute sie fanden«, erklärte Jowa. »Sie saßen einfach am Grab des Jungen -565-
und schwenkten den Zauber. Ich sagte, wenigstens die Frau sollte herkommen, um in Sicherheit abzuwarten, daß ihr Handgelenk heilt. Einige von uns passen derweil auf ihre Schafe auf.« Es war die dropka, die Pflegemutter des toten Alta. Shan stieg über einige schlafende Menschen hinweg und hockte sich neben die Frau. »Ich hoffe, Ihrer Hand geht es besser«, sagte er. »Der Heiler hier sagt, ich kann sie schon bald wieder benutzen«, erwiderte sie. Das gebrochene Handgelenk ruhte auf ihrem Knie. Mit dem anderen Arm stützte sie sich auf irgendeinen Gegenstand, als verliehe der ihr besonderen Halt. Shan sah genauer hin. Es handelte sich um den Zauber, die heilige Bannformel, die Gendun an Altas Todestag angefertigt hatte. »Ich möchte Sie etwas Wichtiges fragen«, sagte Shan. »Es tut mir leid, wenn ich dabei an schmerzliche Erinnerungen rühre. Aber wir versuchen noch immer, die Sache zu begreifen. Als Sie den Mörder gesehen haben, hat er da etwas zu dem Jungen gesagt? Hat er irgendwelche Fragen gestellt?« Die Frau runzelte die Stirn und dachte angestrengt nach. Dann schüttelte sie allmählich den Kopf. »Nein. Keine Worte. Nur Geräusche.« »Sie haben gesagt, er wurde von einem Blitz weggerufen. Sind Sie sicher? Zu dieser Jahreszeit sind Blitze in den Bergen selten.« »Doch, ganz bestimmt. Er sah den Blitz und ist mit dem Schuh des Jungen weggelaufen.« »Ist dir irgendwas an den Geräuschen bekannt vorgekommen?« fragte Jowa über Shans Schulter hinweg. Er sprach Mandarin. Die Frau sah ihn fragend an. -566-
Shan schaute kurz zu Jowa und nickte. Sie verstand kein Mandarin. »Er hat nichts gesagt«, versicherte sie abermals. »Nicht in irgendeiner Sprache. Er hat nur Geräusche von sich gegeben, wie ein Tier, und zwar als er den Blitz sah.« »Können Sie sich noch an diese Geräusche erinnern?« fragte Shan. Die Frau verzog das Gesicht und senkte den Kopf. »Das werde ich nie vergessen. Ich höre es in meinen Alpträumen. Ein bellendes Geräusch, wie es Dämonen von sich geben. Kau ni«, sagte sie und starrte in die Dunkelheit. »Kau ni ma swi. So ungefähr.« »Cao ni ma«, flüsterte Jowa. Es war ein Fluch in Mandarin. Fick deine Mutter, Sui. Sie nickten der Frau dankbar zu und wollten sich wieder auf den Weg machen. »Wir hätten ihn an den anderen Ort bringen sollen«, sagte die dropka hinter ihnen mit hohler Stimme. »Alta wollte dorthin. Vielleicht wäre er da in Sicherheit gewesen.« Shan drehte sich um. »An welchen anderen Ort?« »Wo sich die Schattenclans manchmal treffen. Die Kinder nennen es das Lamafeld, aber dort leben nur noch die Geister der Lamas.« Khitai hatte der zheli den Platz gezeigt, erinnerte Shan sich. Deshalb hatte auch Batu unbedingt dorthin gewollt. »Was wollte Alta da?« Die Frau schüttelte mit traurigem Lächeln den Kopf. »Lau hatte ihnen aufgegeben, einen Strauß Herbstblumen zu pflücken. Einige der anderen Jungen hatten ihm erzählt, daß auf dem Lamafeld besonders viele Blumen wachsen und Lau sich über einen Strauß von dort besonders freuen würde. Er sagte, auch Khitai ginge gern dorthin und würde seine Pflegeeltern häufig -567-
überreden, ihn für einen Tag zum Lamafeld zu bringen. Dort traf Khitai sich dann immer mit dem neuen Jungen, der so einen komischen Akzent hat, und spielte mit ihm zwischen den Felsen.« Sie meinte Micah, begriff Shan. Khitai und der amerikanische Junge trafen sich gern beim Lamafeld. Als die dropka Shan ansah, glaubte er, sie würde jeden Augenblick in Tränen ausbrechen. »Es war für Lau. Sie dachten, sie müßten ihre letzte Hausaufgabe erledigen, damit Lau in Frieden ruhen konnte.« Sie wandte sich ab, und ihr Kopf senkte sich auf die Brust, als würde sie einschlafen. Jowa zog ihn weg. »Die Geister der Lamas«, wiederholte der purba mit gehetzter Stimme. Shan benötigte einen Moment, bis er verstand. Das Lamafeld hatte Zuwachs bekommen. Den Yakde Lama. »In der Nacht, als Alta angegriffen wurde, gab es keinen Sturm«, seufzte Shan. »Wir waren nur ein paar Meilen von dort entfernt.« »Nein«, sagte Jowa langsam, als würde er zugleich die einzelnen Puzzleteile zusammensetzen. »Aber der Mörder hat so etwas wie einen Blitz gesehen, einen Fluch auf Sui ausgestoßen und ist dann weggerannt. Was bedeutet, daß nicht Sui den Jungen überfallen hat.« »Die Frau könnte die Worte falsch verstanden haben«, wandte Shan ein. »Das glaube ich nicht«, sagte Jowa. Und Shan glaubte es auch nicht. Der purba führte ihn durch eine weitere der schweren Sicherheitstüren in einen kleinen Raum, in dem vier Männer an einem Holztisch saßen und Landkarten studierten. Sie planten etwas. Shan erkannte den jungen purba, der sie am Ende der Fahrt erwartet und ihren Lastwagen übernommen hatte. Der Jugendliche blickte auf und nickte Shan ohne Groll verschwörerisch zu. Die anderen sahen Jowa an, nicht Shan, und wirkten dabei mürrisch und ungeduldig. An einem Tisch mit -568-
Thermoskannen stand ein fünfter Mann und drehte sich bei ihrem Eintreten um, ein dünner Uigure mit krummer Nase. Fat Mao. Er erklärte, er sei soeben aus Yutian eingetroffen, und reichte jedem der beiden Neunankömmlinge einen Becher Tee. Shan ließ den Blick durch den Raum schweifen. Aus Leitungen unter der Decke hingen einige lose Kabelenden. Auch ein Geflecht aus mehreren Rohren verlief dort, manche davon rot angestrichen. Auf der Innenseite der Tür warnte ein gelbschwarzes Symbol vor radioaktiver Strahlung. Die Wände waren nahezu vollständig mit weiteren Landkarten bedeckt, auf deren Rand häufig die Worte Nei lou geschrieben standen. Überall in den Karten steckten bunte Nadeln, und auf ihnen klebten viele kleine Zettel. Auf dem Tisch stand außerdem ein Laptop-Computer. »Ich habe ihnen von den Jungen erzä hlt«, sagte Jowa. »Auch von Gendun und Lokesh. Sie wollen, daß wir ihnen auf den Karten die einzelnen Tatorte der Morde zeigen.« Bei diesen Worten schob einer der Tibeter seinen Stuhl zurück und winkte Shan zu sich heran. Gemeinsam beugten Jowa und Shan sich über eine Karte der Region und einigten sich auf den Standort des Lagers des Roten Steins, die Straße, an der die Attacke auf Alta verübt worden war, die Schlucht, in der man Kublai gefunden hatte, und das Lamafeld, auf dem Khitai begraben lag. Der junge purba markierte die Stellen durch Stecknadeln und numerierte sie mit einem Bleistift. Eins für Suwan, zwei für Alta, drei für Kublai und vier für Khitai. Dann fuhr er mit der Spitze des Bleistifts ein Stück über der Karte von einer Nadel zur nächsten, als wolle er die Route des Mörders nachzeichnen, um daraus vielleicht ein Muster abzuleiten. Noch während er damit beschäftigt war, streckte jemand eine Hand über den Tisch aus. »Fünf«, sagte Fat Mao und steckte eine weitere Nadel am Kopfende eines Tals ein, das rund fünfzehn Kilometer von Yutian entfernt lag. »Kein Mord«, fügte er schnell hinzu, als Shan erschrocken aufblickte. »Jakli und -569-
ihre…«, setzte er an. »Jakli und die anderen sind gestern abend zu diesem Tal geritten, weil sich dort angeblich ein Scha ttenclan mit einem Jungen der zheli aufhalten sollte. Es wurde schon dunkel, da hörten sie ein Schaf schreien, das offenbar große Schmerzen litt.« Sie. Fat Mao meinte Jakli und ihre Cousins. Sie hatte sich den Reitern ihres Clans angeschlossen, die nach den Kindern suchten. »Sie schauten einen Engpaß hinunter zu einem Wildpfad und entdeckten dort ein Schaf, das sich unter einem Baum an einer Ranke verfangen hatte. So sollte es zumindest aussehen. Ein Stück weiter unten haben sie dann ihre Ferngläser benutzt und erkannt, daß das Tier mit Draht an den Baum gebunden war und blutend am Boden lag.« Fat Mao berührte unterdessen erst eine der Nadeln, dann eine weitere. »Plötzlich kam ein Junge in Sicht, der dem Schaf zu Hilfe eilte. Doch als er das Tier erreichte, sprang ihn ein schwarzgekleideter Mann an. Der Junge wehrte sich. Einer von Jaklis Begleitern hatte ein Gewehr dabei und schoß auf den Angreifer, als der sich für einen Moment aufrichtete. Der Mann wurde getroffen und floh in die Schatten. Einen Augenblick später raste ein schwarzer Geländewagen unter den Bäumen hervor. Der Junge hatte einige Schläge abbekommen, und sein Hemd war am Kragen zerrissen, aber er wurde nicht ernstlich verletzt. Dem Schaf hatte man die Sehnen an den Hinterbeinen durchgeschnitten. Sie mußten es erschießen.« »Wer war es?« drängte Jowa. Anstatt zu antworten, steckte Fat Mao eine Diskette in das Laufwerk des Computers und betätigte eine Taste. Auf dem Bildschirm erschienen in großen Buchstaben die Worte Volksklinik Yutian. Fat Mao wanderte mit dem Cursor ein Stück nach unten, und eine Liste kürzlich aufgenommener Patienten wurde sichtbar. »Gestern nacht, drei Stunden nach dem Angriff, wurde jemand wegen einer leichten Schußverletzung am -570-
Unterarm behandelt.« Shan und Jowa beugten sich über den Monitor. Major Bao Kangmei. »Ich dachte, sobald wir erst einmal Gewißheit hätten, würde ich mich besser fühlen«, sagte Jowa mit schwerer Stimme. Shan nickte schweigend. Die Kriecher waren unantastbar. Unter keinen Umständen würde das Justizministerium sie strafrechtlich verfolgen, und für die purbas oder Maos wäre es reiner Selbstmord, etwas gegen Bao zu unternehmen. Das alles fühlte sich nicht im mindesten wie ein Abschluß an. Sie hatten eher den Eindruck, es sei ihnen gelungen, in die Höhle des Ungeheuers zu schleichen und einen kurzen Blick darauf zu werfen, nur um feststellen zu müssen, wie riesig es war. Zudem war Shan mehr als je zuvor davon überzeugt, daß Bao nur einen Teil der Antwort darstellte. Er deutete auf die Karte. »Da ist noch jemand«, sagte er bedrückt und wies auf den Rand der Wüste, wo nach seiner Einschätzung Karatschuk liegen mußte. »Lau. Sie wurde als erste ermordet.« Der Junge zögerte und versah die Stelle dann mit einer Nummer. Einer Null. »Es ist ganz einfach für Bao. Die meisten der Jungen wurden bei ausgewiesenen wirtschaftlichen Produktionseinheiten untergebracht«, sagte Jowa. »Die Viehzuchtbetriebe. Jeder davon verfügt über eine registrierte Anzahl von Weidegründen und Lagern.« »Und die sind den Kriechern bekannt«, sagte Fat Mao. »Und der Brigade, der Anklägerin sowie jedem anderen, der Zugriff auf die Datensätze nehmen kann«, fügte Shan mit einem Blick auf den Uiguren hinzu. »Deiner Ansicht nach ist es also nicht nur Bao«, stellte Fat Mao fest. »Natürlich nicht«, warf Jowa ein. »Es gibt jede Menge -571-
Kriecher. Allein in Yutian hat er bereits eine ganze Kaserne voller Hilfskräfte.« Shan zuckte die Achseln. »Dennoch verrät der gestrige Angriff auf den Jungen uns nichts über Baos Ziele. Immerhin wissen wir, daß er nicht mit Khitai aufgehört hat. Und das bedeutet«, sagte er leise und brachte damit die Gedanken zum Ausdruck, die ihm eben erst in den Sinn kamen, »daß er den Jadekorb noch nicht gefunden hat. Khitai hat den Gegenstand an einen anderen weitergegeben. Er befindet sich nach wie vor irgendwo dort draußen bei den Jungen. Und der Schlüssel zu allem ist weiterhin Laus Tod. Erst nach Laus Enttarnung konnten die Kinder gefunden werden. Sobald der Mörder wußte, daß Lau Tibeterin und zudem eine ani war, wußte er auch, daß der von ihm gesuchte Junge sich in den Reihen der zheli aufhalten mußte. Danach war es relativ einfach, die Kinder aufzuspüren.« »Aber Lau hielt sich schon viele Jahre hier auf«, sagte Jowa. »Weshalb sollte jemand sie ausgerechnet jetzt verdächtigen?« »Weil es ein Treffen mit einem General in Urumchi gab«, erwiderte Shan. »Alles ist nach diesem Treffen geschehen. Kaju wurde nach Yutian versetzt, und Laus politische Verläßlichkeit geriet in Verruf. Ko fing an, eine Kampagne zum Aufkauf der einzelnen Clans zu starten.« Fat Mao blickte auf. »Das Programm zur Beseitigung der Armut?« Er stieß die Worte wie eine Verwünschung hervor. »Das hat bestimmt nichts damit zu tun.« »Doch, meiner Ansicht nach hat es das. Dieses Memo, das Sie Xu wieder abgenommen haben. Haben Sie es gelesen?« Der Uigure nickte. Der älteste der anwesenden Tibeter, ein Mann mit den verkniffenen Gesichtszügen eines khampa, stand auf und goß sich einen Tee ein. »Kennst du seinen Namen?« fragte er. »Den Namen dieses Generals aus Urumchi?« -572-
»Rongqi«, sagte Shan. »Das ist alles, was ich weiß. Ein früherer Armeeoffizier und inzwischen stellvertretender Vorsitzender der Brigade. Aber sie nennen ihn immer noch General.« Der Mann sah den Jugendlichen an, der sich daraufhin eilends von seinem Platz erhob und den Raum verließ. Kurz darauf kehrte er mit einem dicken Buch zurück. Er legte es auf den Tisch und fing an, die Seiten zu überfliegen. Jowa schaute ihm dabei über die Schulter. Shan hatte Bücher wie dieses zuvor schon gesehen. Die purbas nannten es das Lotusbuch, ein inoffizielles Verzeichnis der Verbrechen gegen das tibetische Volk, die ständig erweiterte Chronik der Menschen, Orte und Schätze, die seit der chinesischen Invasion verlorengegangen waren. Die Einträge und Abschriften entstammten zumeist Gesprächen mit Überlebenden, und da die Informationen sofort bei Bekanntwerden verzeichnet wurden, befanden sie sich in keiner besonderen Reihenfolge. Während der junge purba und Jowa die Seiten durchblätterten, sprach Shan mit den anderen über Gendun und Lokesh. Es war derzeit zu riskant, weitere Tibeter nach Xinjiang zu schicken, aber Fat Mao versprach, nach seiner für den Morgen geplanten Abreise entsprechende Anordnungen zu erteilen. Manche Orte standen unter ständiger Beobachtung der lung ma. Das Lager Volksruhm. Die Kasernen der Kriecher. Und die Krankenhäuser. »Auf welche Weise werden Sie von hier zurückreisen?« fragte Shan. Der khampa beantwortete die Frage. In der Nähe dieses Refugiums durfte nirgendwo ein Fahrzeug abgestellt werden. Nach zwei Stunden Fußmarsch gelangte man jedoch an eine Straße, wenigstens nach landläufigen Begriffen, die letztlich zu der Straße über den Kerriya-Paß führte. Irgendwann zwischen -573-
sechs und sieben Uhr morgens würde ein Lastwagen vorbeikommen, auf dessen Ladefläche sechs Holzfässer und drei Schafe standen. Das Fahrzeug würde anhalten, falls an einer bestimmten Stelle am Wegesrand drei Felsen in einer Reihe lagen. »Ich werde auch mitkommen«, sagte Shan. Der khampa nickte stumm. Dann klopfte es an der Tür, und ein Mann und eine Frau in den Schaffellwesten der Nomaden brachten auf einem provisorischen Tablett Essen herbei. Eine große Schale tsampa und eingelegtes Gemüse. Shan aß hastig und legte sich auf eine der Pritschen, die an der Wand standen. Irgendwann setzte er sich auf und hielt nach Fat Mao Ausschau, aber der Uigure war verschwunden. Eine Tür in der Rückwand des Raumes stand ein kleines Stück offen. Shan ging hin und wollte das Nachbarzimmer betreten. »Nein!« rief Fat Mao, als er Shan sah, und hob die Hände, als wolle er ihn zurückstoßen. Shan machte sofort wieder kehrt. Der Uigure folgte ihm und schloß die Tür hinter sich. »Eines noch«, sagte Shan. »Das silberne Zaumzeug von Nikki. Jemand hat es einem Mao gegeben, damit dieser es Jakli und Marco bringen würde. Können Sie herausfinden, wer dieser Jemand war?« Fat Mao zuckte die Achseln, als sei ihm die Bedeutung des Ganzen rätselhaft. Dann nickte er und wandte sich wieder den Landkarten zu. Shan legte sich zurück auf die Pritsche und schloß die Augen, aber er schlief zunächst nicht ein, weil er noch einmal durchging, welcher Anblick sich ihm in dem Nachbarraum geboten hatte. Vier Gestalten auf einer langen Bank. Vor ihnen eine große Kreidetafel mit übersetzten Begriffen und Schriftzeichen. Zwei der Leute, ein Mann und eine Frau, brachten Holzplatten mit einem Schnitzmesser in Keilform. Die anderen beiden beschrifteten die Stücke dann mit schwarzer -574-
Tinte. Shan hatte unabsichtlich zumindest eine der Möglichkeiten entdeckt, wie die purbas und Maos mit ihren Netzwerken in Kontakt traten, nämlich mittels der alten Kharoshthi-Schrift auf nachgeahmten Holztafeln. Genial, dachte er. Die Kriecher waren nicht in der Lage, die ausgestorbene Sprache zu übersetzen, und da sie die Holztafeln inbrünstig haßten, würden sie eventuell aufgefundene Exemplare einfach zerstören. Schließlich schlief er doch noch ein, aber dann stieß der junge purba einen Schrei aus. Shan schreckte hoch und eilte sofort zu dem Tibeter, während dieser laut vorzulesen begann. »Im ersten Eintrag steht noch Oberst Rongqi, aber das war vor fünfundzwanzig Jahren.« Der purba las erst zügig, dann etwas langsamer vor und legte immer häufiger Pausen ein, um die Worte wirken zu lassen. Rongqi hatte drei Dienstzeiten in Tibet abgeleistet, die letzten beiden auf ausdrücklichen eigenen Wunsch, der - so eine in Tibet flüchtig gesichtete Akte - in seinem außerordentlichen Patriotismus begründet lag und vielleicht auch in der Tatsache, daß sein Vater im Jahre 1961 von khampa-Guerillas getötet worden war. In der Volksbefreiungsarmee genossen vor allem seine effizienten Unterwerfungstechniken einen ausgezeichneten Ruf, so daß er zu diesem Thema sogar als Sonderdozent an eine der Schulungsakademien der Armee berufen worden war. Während seiner ersten Dienstzeit war er dafür berüchtigt gewesen, Mönche und Nonnen zum öffentlichen Geschlechtsverkehr zu zwingen, meistens in den Höfen ihrer eigenen Klöster, bevor diese von seinen Sprengstoffexperten dem Erdboden gleichgemacht wurden. Indem er die Menschen zum Bruch des Zölibats nötigte, vertrieb er sie gleichzeitig aus den Reihen der Geistlichkeit. Auf seinen Befehl hatte man in Zentraltibet, nördlich von Lhasa, sechsunddreißig Klöster geplündert und zerstört, für gewöhnlich unter seiner persönlichen Aufsicht. Zeugen hatten Teile zweier riesiger Bronzebuddhas aus einem -575-
der Klöster in einer Gießerei in Tientsin bei Peking wiederentdeckt. Während der Säuberungsaktionen waren sechshundertsechsundneunzig Mönche und Nonnen verschwunden. Shan fragte, ob Laus Nonnenkloster, das bei Shigatse neben dem kleinen gompa, des Yakde Lama gestanden hatte, auf der Liste der von Rongqi zerstörten Stätten verzeichnet war. Der purba las stumm ein Stück weiter, hob dann den Kopf und nickte langsam. »Sie hat ihn an jenem Tag in Urumchi erkannt«, sagte Shan. »Der Schlächter aus ihrer Vergangenheit war auf einmal wieder da.« Er erschauderte und dachte daran, wie sehr diese grausige Erkenntnis die standhafte Lau erschüttert haben mußte. Vermutlich hatte ihre unwillkürliche Reaktion alles verraten. Der purba las weiter. Während seiner zweiten Dienstzeit wurde Rongqi vom Vorsitzenden höchstselbst für eine Initiative empfohlen, die dieser als Sterilisierung der Saat bezeichnete. Sie basierte auf der Annahme, daß die religiöse Führungsschicht Tibets durch ihre wiedergeborenen Lamas zusammengehalten wurde und daß der Tod eines jeden dieser Lamas eine politisch günstige Gelegenheit für die Volksregierung bedeutete. Idealerweise sollten die Behörden die Auslöschung einer solchen Reinkarnationsfolge gewährleisten, indem sie die Identifizierung der neuen Inkarnation verhinderten. Rongqi erreichte dies in mehr als dreißig dokumentierten Fällen, indem er die Merkmale vernichtete, anhand derer man die neue Inkarnation erkannte, und die Lamas inhaftierte, die traditionell mit dem Verfahren zur Auffindung der neuen Lamas betraut wurden. In einem Fall ließ er durch gezielte Sprengungen einen Orakelsee dauerhaft trockenlegen, der bislang stets nach dem neuen Lama befragt worden war. Im Verlauf seiner dritten Dienstzeit institutionalisierte der frisch zum General beförderte Rongqi seine Kampagne, indem er ein Verzeichnis aller noch verbliebenen wiedergeborenen Lamas seiner Militärzone anlegte. Auch die zur Identifikation -576-
genutzten Artefakte und Anzeichen wurden vermerkt - die charakteristischen gaus, die besonderen Gewänder, die uralten Gebetsketten -, so daß die Saat nicht nur in seinem unmittelbaren Zuständigkeitsbezirk, sondern in einer Hunderte von Quadratkilometern großen Region Zentraltibets sterilisiert werden konnte. Falls dennoch eine Identifizierung erfolgte, ließ Rongqi das wiedergeborene Kind ergreifen und in eine der besonderen Parteischulen im Osten Chinas befördern. Im Zuge dieser Maßnahmen verwandelte der General das Büro für Religiöse Angelegenheiten seines Bezirks in eine paramilitärische Organisation, die mit seinen eigenen Soldaten besetzt war. Die wenigen ortsansässigen Lamas, die seinem Zugriff entkamen, wurden durch materielle Güter neutralisiert: Er bot den Bauern medizinische Versorgung durch Armeeärzte an, stellte ihnen militäris ches Gerät zur Bestellung ihrer Felder zur Verfügung und sorgte für die Zulassung einer wachsenden Anzahl von Mönchen, solange der Lama einwilligte, die Gegend zu verlassen und für vier oder fünf Jahre eine spezielle chinesische Schule zu besuchen. Die Parteibonzen waren von dem System begeistert. Nur zu diesem Zweck wurde in Peking sogar ein eigenes Institut für tibetische Studien eingerichtet. Schließlich überzeugte der General Peking von einer neuen Taktik für Sonderfälle, vor allem wenn Lamas eine potentiell wichtige Rolle für die Einflußnahme auf Wirtschaftsaktivitäten spielten: Man kam der Entdeckung zuvor, indem man selbst einen neuen, dem Staat genehmen Lama proklamierte. Am Ende seiner Dienstzeit, das mittlerweile zwölf Jahre zurücklag, hatten nur vier Lamas sich ihre Unabhängigkeit bewahren können und von diesen war nur ein einziger Lama, das Oberhaupt eines sehr alten Ordens mit nur einer Handvoll gompas in ganz Tibet, verstorben und wiedergeboren worden. Der Yakde Lama. Der neunte Yakde war unmittelbar vor Rongqis Rückversetzung nach Xinjiang gestorben. Rongqis Antrag, die Arbeit beenden und sich den Tod des Yakde vor Ort zunutze machen zu dürfen, -577-
war abgelehnt worden, weil man sein besonderes wirtschaftliches Entwicklungstalent in Xinjiang benötigt hatte. Aber er hatte nicht aufgegeben. Vor fünf Jahren hatte man aus einem Büro der Kriecher in Lhasa die Kopie eines Memos aus Xinjiang entwendet, in dem Rongqi die Öffentliche Sicherheit bat, nach Anzeichen eines neuen Yakde Lama Ausschau zu halten, weil frühere Informanten ihm berichtet hätten, eine tibetische Nonne sei insgeheim mit der Erziehung einer neuen Inkarnation beschäftigt. Shan legte sich wieder auf die Pritsche. Er fühlte sich wie betäubt. Es mußte für Lau eine ungeheure Qual bedeutet haben, sich urplötzlich und unvorbereitet Rongqi gegenüberzusehen und im selben Augenblick zu erkennen, daß dies den Anfang vom Ende bedeutete. Wer wäre fähig gewesen, in so einem Moment seine Reaktion zu verbergen? Bestimmt war der General sofort mißtrauisch geworden. Vielleicht hatte er nicht einmal mit Sicherheit von Laus Beziehung zu Khitai gewußt, sondern in ihr lediglich eine verkappte Tibeterin vermutet. Doch eine getarnte tibetische Frau konnte ebensogut eine heimliche Nonne sein, und eine Nonne wäre genau die Verbindung zum neuen Yakde Lama, nach der er suchte. Es hatte Lau nicht überrascht, als Wangtu ihr von ihrer bevorstehenden Abberufung erzählte. Sie hatte lediglich stillschweigende Vorkehrungen zum Schutz des Yakde Lama getroffen. Aber Rongqis Re aktion erfolgte viel schneller, als erwartet; und der Grund dafür, so erkannte Shan, war die Tatsache, daß die Brigade Rongqi wesentlich leistungsfähigere Mittel zur Verfügung stellte als die Armee. Laus Geheimnis flog auf, der Yakde Lama wurde schließlich ermordet, und das alles nur wenige Wochen nachdem sie den einzigen Mann auf der Welt getroffen hatte, der den Yakde unbedingt vernichten wollte. Es ging Rongqi nicht nur um Bestrafung, sondern auch um die Anwendung seiner Prinzipien. Er löschte die gesamte Linie aus, indem er alle Merkmale der neuen Inkarnation vernichtete, was -578-
bedeutete, daß die Jungen sich weiterhin in Gefahr befanden, denn Khitai hatte einem von ihnen den Jadekorb gegeben. Ein weiteres Puzzlestück war an die richtige Stelle gerückt. Nun mußte Shan herausfinden, wer in Yutian als Rongqis Handlanger fungierte. Ko war ein Geschäftsmann und zu jung, um einen solchen Haß auf die Tibeter zu verspüren, wie der Mörder ihn empfinden mußte. War es Xu, oder verachtete sie die Tibeter einfach nur aus den üblichen Gründen? Oder hatte Bao die ganze Zeit auf eigene Faust gehandelt? Nein. Bao war ein Kriecher, wurde von Kriecher-Ambitionen getrieben und durch Kriecher-Arroganz bestimmt. Er würde vermutlich keine Befehle der Brigade entgegennehmen, auch wenn sie von zweithöchster Stelle stammten. Bao folgte der Spur der Jungen, um die Amerikaner zu finden, eine Spur, auf die er bereits vor Laus Tod gestoßen war. Rongqis Handlanger suchte die Jungen, um den Yakde Lama aufzuspüren. Das nächste Teil von Shans Puzzle fügte sich ein. Die anderen hingegen blieben allesamt genauso unklar wie zuvor. Mit Sicherheit wußte Shan nur, daß die Mörder nach wie vor die Jungen verfolgten. Und falls Gendun und Lokesh ihnen dabei in die Quere kamen, würden die beiden alten Tibeter nicht überleben. Plötzlich blickte Shan auf und sah sich nach den Gesichtern von Jowa und Fat Mao um. »Micah«, stieß er in jäher Erkenntnis hervor. »Der Amerikaner.« Die Jungen wurden immer noch verfolgt, und die dropka hatte gesagt, Micah könne sich beim Lamafeld mit Khitai getroffen haben. Xu persönlich hatte die Anwesenheit eines zweiten Clans bestätigt. Der Jadekorb war an Micah weitergegeben worden. Bao und die Einsatzkommandos suchten nach den Amerikanern. Ein anderer Mörder, den Rongqi nach dem Jadekorb ausgesandt hatte, durchstreifte ebenfalls die Berge. Die Pfade der Täter näherten sich immer mehr an. Und der amerikanische Junge war ihr Ziel.
-579-
Kapitel Siebzehn Fat Mao und Shan hatten im trüben Halbdunkel der sich ankündigenden Dämmerung bereits eine Stunde zu Fuß zurückgelegt, als der Uigure warnend die Hand hob. Er stieß Shan in Richtung eines Geröllblocks und kauerte sich hinter einem anderen Felsen zusammen. Sie wurden von einer einzelnen Gestalt verfolgt. Es war Jowa, der im Laufschritt den Pfad hinaufkam und dabei offenbar nach etwas oder jemandem in der Ferne Ausschau hielt. Er lief an ihnen vorbei, und Fat Mao stand auf. Einen Augenblick später verringerte Jowa das Tempo. Seine Hand zuckte zum Gürtel, aber sein Dolch war weg. »Ich dachte, du wolltest in Tibet bleiben«, rief der Uigure ihm hinterher. »Es ist doch angeblich zu gefährlich für purbas.« Jowa blieb stehen und fuhr herum. »Dieser Fall ist anders, habe ich ihnen erklärt«, sagte er keuchend und sah dabei Shan an. »Ich muß die Lamas finden.« Shan fragte ihn nicht, weshalb er kein Messer mehr trug. Dieser Fall ist anders, hatte er gesagt. Wollte er damit irgendwie zum Ausdruck bringen, daß sie nun auch einen anderen Jowa vor sich hatten? Fat Mao nickte, sah auf die Uhr und schritt an Jowa vorbei, um sie weiter den Pfad entlangzuführen. Er ging schneller und schneller. Als dann die Sonne ihre ersten Strahlen über die Berge schickte, verfiel er in einen gemäßigten Trab. Die Männer eilten nun über eine freie, von kaltem Wind gepeitschte Ebene zurück auf das Kunlun- Gebirge zu. Bis zum Treffen mit dem Lastwagen blieb noch genug Zeit. Aber es wurden Kinder ermordet, der Geist des jungen zehnten Yakde wanderte verloren umher, und Gendun und Lokesh waren verschwunden. Wenngleich ihnen im Augenblick nichts anderes zu tun blieb, so -580-
konnten sie sich immerhin beeilen. Sie zogen voran, drei kleine Männer auf der unermeßlich weiten Changtang. Um sie herum ließ der Wind das Gras wogen, und die schneebedeckten Gipfel schimmerten hell im Licht des Tagesanbruchs. Als sie die Kuppe eines flachen Hügels erklommen, überraschten sie eine Herde Antilopen, die sofort über die langgestreckte Ebene floh. Nur ein Tier blieb zurück, ein kleines Exemplar mit einem abgebrochenen Horn. Es starrte sie an, als wurde es sie wiedererkennen, und dann lief es ganz allein neben ihnen her, bis sie die Straße erreichten. Jowa und Shan ließen sich an der Straße nach Yutian absetzen. Nach einer weiteren Stunde Fußmarsch kam Laus Hütte in Sicht. Bereits letzte Nacht hatte Shan beschlossen, noch einmal die Kammer des Wasserhüters aufzusuchen. Aber als sie sich der Lichtung näherten, hielt Jowa ihn zurück. Irgend etwas war anders. Sie hörten Stimmen. Ein Hund bellte, und sie sahen, daß ein großer tibetischer Mastiff auf sie zulief. Shan spürte, wie Jowa sich für einen Angriff wappnete, aber dann gebot er dem purba mit ausgestrecktem Arm Einhalt und deutete auf eine Gestalt, die mit einem Topf Wasser vom Bach heraufkam. Jakli. Sie betraten die Lichtung. Jemand rief etwas, und der Hund blieb stehen. Shan wandte sich um und erblickte Akzu und hinter ihm zwei Jurten. Der Clan des Roten Steins hatte einen neuen Lagerplatz aufgesucht. Zwischen den Zelten stand Malik neben einigen angeleinten Pferden. Bei ihm waren zwei Jungen, die Shan noch nicht von seinem ersten Besuch her kannte. Er sah sich etwas genauer um. Über dem Feuer hing ein Kessel mit Hammeleintopf, um den sich Akzus Frau sowie ein weiterer Junge kümmerten, der Shan mit einem fröhlichen Ruf begrüßte. Es war Batu. »Sie sind wieder nach unten gekommen«, erklärte der Junge, -581-
noch während er auf sie zurannte. »Zuerst sind sie geflohen, aber dann sind sie wieder nach unten gekommen.« »Ich verstehe nicht ganz«, sagte Shan und ließ den Blick über die Lichtung schweifen. Einschließlich Batu zählte er sechs Jungen im nahezu gleichen Alter. »Sie hatten alle den Gedanken, daß nur einer uns jetzt wirklich beschützen kann, und zwar Tante Lau. Wir mußten herkommen.« Die zheli war zu Lau zurückgekehrt. Sechs der acht überlebenden Jungen befanden sich hier im Lager. Shan registrierte eine Bewegung auf dem Baum neben der Hütte. Er hob den Kopf und erkannte einen von Akzus Söhnen, der mit einem Fernglas auf einem der Äste saß und Wache hielt. Eine der Hände des Mannes war dick bandagiert. »Wir gehen nicht von hier weg«, verkündete Batu. »Nicht bevor ihr Mörder gefaßt wurde und wir wissen, daß Tante Lau ihren Frieden gefunden hat.« Jakli trat an Shans Seite. »Es ist zu gefährlich, ich weiß«, sagte sie mit besorgtem Stirnrunzeln. »Ich habe zwei von ihnen getroffen, die bereits hierhin unterwegs waren. Ich sagte ihnen, sie sollten sich aus den Tälern fernhalten. Aber dann traf Akzu mit den anderen Jungen ein. Er sagte, der Rote Stein habe eine Verpflichtung, weil er Khitais Tod nicht verhindern konnte. Und Marco willigte ein, ebenfalls hierzubleiben.« Sie zog Shan ein Stück beiseite. »Die Jungen haben mir noch etwas erzählt«, flüsterte sie. »Lau war am Tag ihres Todes hier. Mit zwei Jungen und einem der Mädchen. Sie sind geritten. Dann hat sie die Kinder angewiesen, sich allein zu beschäftigen, wie an einem der Verehrungstage.« »Jemand könnte kommen«, drängte Jowa. »Sie haben Hubschrauber.« Shan folgte seinem Blick zu dem Mann auf dem Baum. Er sah erneut die bandagierte Hand und mußte auf einmal an Xus -582-
Geschichte über den gestohlenen und ausgebrannten Lastwagen der Brigade denken. Fast hätte er die erste Begegnung mit Akzu und Fat Mao vergessen, als die beiden nur daran interessiert gewesen waren, von Jowa zu erfahren, wie man die Patrouillen der Öffentlichen Sicherheit überlisten konnte. Vielleicht wollte der Clan des Roten Steins den Transporter der Brigade nicht zu Sabotagezwecken stehlen, sondern um das Armutsprogramm auszutricksen. »Niemand wird kommen«, sagte Batu trotzig. Er griff unter sein Hemd. »Nicht solange wir das hier haben.« Er zog ein Stück Papier hervor und faltete es auseinander. »Eine Bannformel gegen Dämonen und Mörder.« Shan wurde plötzlich ganz aufgeregt. Der größte Teil des Zettels war mit mehr als zwanzig Zeilen einer anmutigen tibetischen Handschrift gefüllt, wie sie für religiöse Texte benutzt wurde. An den Rändern hatte man die acht heiligen Symbole aufgezeichnet. Genaugenommen handelte es sich nicht um einen Zauber, sondern um eine Art erweiterte Gebetsfahne. Wenn eine tugendhafte Seele ein solches Banner im Wind flattern ließ, wurde sie besonders gesegnet. »Wer hat euch das gegeben?« fragte Shan und hielt auf einmal über die Schulter des Jungen Ausschau. Besorgt suchte er die hinter der Hütte gelegene Wiese ab. »Die heiligen Männer«, sagte Batu. »Sie sind gestern gekommen, zur Wiese gegangen und haben mit den Gottheiten gesprochen. Dann haben sie diese magischen Worte für uns aufgeschrieben. Sie sagten, das würde uns beschützen, sofern wir Laus Andenken im Herzen bewahren.« Lokesh und Gendun waren hier gewesen. Er erinnerte sich an Lokeshs Worte beim Anblick der wunderschönen Wiese, die hinter der Hütte lag. Das war genau der Ort, an dem die Seele eines Jungen verweilen würde. Sie hatten nach Spuren der wandernden Seele des Yakde gesucht. -583-
Der Mann auf dem Baum stieß einen Pfiff aus, und kurz darauf begann der Mastiff wieder zu bellen. Jemand näherte sich dem Lager, ein hochgewachsener Mann mit einer roten Brigadejacke und einem kleinen Rucksack über der Schulter. Kaju Drogme, der tibetische Lehrer, kam. Er wirkte nervös und unsicher, als würde er sich jeden Moment umdrehen und auf dem Pfad zurücklaufen. Als er den Tibeter sah, knurrte Jowa fast so laut wie der Hund, rannte an Kajus Seite und riß ihm den Rucksack von der Schulter. Kaju hob die Hände und ließ sich die Tasche ohne Protest abnehmen. Dann sah er sich mit erleichtertem Lächeln auf dem Gelände um. »Einer der Lehrer hat erzählt, sie sei mit der zheli im Sommer oft hergekommen«, erklärte Kaju unbeholfen und offenbar an Jakli gewandt. »Ich dachte, die Kinder würden sich vielleicht daran erinnern.« Er zog einen Zettel hervor und musterte die Jungen. Die Liste der zheli. »Ich muß sie beruhigen und dafür sorgen, daß sie von unserem morgigen Treffen am Steinsee erfahren.« Jakli fragte Jowa, wonach er suchte. »Nach einem Funkgerät«, sagte der purba und bedachte Kaju mit einem mürrischen Blick. »Einer Waffe. Einem Peilsender. Er arbeitet für Ko.« Kaju ging einen Schritt auf Jakli zu. »Ich arbeite für die Brigade und für die Menschen des Bezirks Yutian«, sagte er mit schmerzvoller Miene. »Für alle Menschen.« Der Rucksack enthielt lediglich Proviant - eine Flasche Wasser, Obst und eine Tüte mit Schokoriegeln. Batu sah die Schokolade und stieß einen aufgeregten Ruf aus. Sofort versammelten die Jungen der zheli sich um den knienden Jowa und streckten die Hände aus. Kaju lächelte. »Machen Sie ruhig weiter«, bot er Jowa an. Aber der purba verzog das Gesicht und warf ihm den Rucksack zu. -584-
Nachdem er die Süßigkeiten verteilt hatte, nahm Kaju abermals die Liste zur Hand und sah dann Jakli an. »Ich kenne noch immer nicht alle ihre Namen«, sagte er verlegen. Sie starrte die Liste an und schüttelte den Kopf. Die Geste schien Kaju zu verletzen, und er entfernte sich von ihnen. »Sie haben den Wasserhüter aus dem Lager geholt.« Jakli schaute Shan an. »Die Instrukteure sagen, er habe einen zersetzenden Einfluß ausgeübt, aber da man sie deswegen kritisieren könnte, wollten sie ihn nicht melden. Also haben sie behauptet, er sei krank, und so wurde er in das Krankenhaus am Stadtrand gebracht.« »Hat jemand ihn gesehen?« fragte Shan besorgt. »Eine kasachische Krankenschwester, die uns kennt. Die Ärzte verabreichen ihm irgendwelche Mittel, damit er schläft. Er befindet sich auf einer gesicherten Station, die gelegentlich zur Unterbringung verletzter Gefangener genutzt wird. Es sind nicht ständig Wachen da, aber die Tür ist stets verschlossen.« Immerhin war er nicht mehr im Lager, dachte Shan. Was bedeutete, daß eine Chance auf Rettung bestand und somit die Aussicht, daß er endlich ein Gespräch mit dem Lama führen konnte. »Hat er von Khitai erfahren?« Jakli seufzte. »Keiner weiß, wie, aber es muß wohl so sein. Die kasachische Schwester spricht ein wenig tibetisch. Er scheint ihr zu vertrauen, denn er hat sie gefragt, in welcher Richtung das Lamafeld liegt, weil er sich jetzt im Gebet dorthin wenden müsse.« »Sagt ihr, sie soll nicht mehr tibetisch sprechen. Andere könnten deswegen…« Er hielt inne, weil er bemerkte, daß Jakli ihm nicht zuhörte. Sie schaute zu Kaju. »Es gibt etwas, das Sie für Kaju tun müssen«, sagte Shan nach einem Moment. »Nur Sie sind dazu in der Lage.« Jakli sah ihn unsicher an und seufzte. -585-
»Es könnte sich dabei um das Wichtigste handeln, das überhaupt einer von uns auszurichten vermag«, fuhr er zögernd fort und beobachtete, wie Kaju mit weiterhin schüchterner Miene zwischen den Jungen umherwanderte. »Aber ich werde es nicht tun. Sie war Ihre Lehrerin.« »Nein«, sagte Jakli langsam. Es klang fast wie ein Stöhnen. Als sie ihn diesmal ansah, lag keinerlei Unsicherheit in ihrem Blick. Nur Kummer. »Das kann ich nicht.« »Er wird nicht akzeptieren, daß Lau ermordet wurde. Und alles, was er bislang getan hat, basiert auf dieser irrigen Annahme.« Shan blickte den Hang hinauf. »Vielleicht wird er feststellen, daß er ihr etwas zu sagen hat.« »Und wenn er nach Yutian rennt und die anderen herholt? Wo sich doch zur Zeit alle Jungen hier befinden? Das wäre genau nach Xus Geschmack.« »Ich bin mir nicht mehr sicher, was Xu will«, entgegnete Shan. Jakli ignorierte ihn. »Sie wü rde es als einen eindeutigen Beweis für die Verschwörung der Kasachen werten und behaupten, wir hätten Lau ermordet und dann die Tat vertuscht. Sie würde alle Jungen mitnehmen, vielleicht sogar die ganze zheli. Dann würde sie die Kinder in eine Sonderschule stecken und Chinesen aus ihnen machen.« »Sie können sich zwischen Vertrauen und Mißtrauen entscheiden. Lau würde das Vertrauen wählen. Es liegt bei Ihnen. Ich werde Kaju nicht dorthin mitnehmen, denn ohne Ihre Einwilligung würde ich Sie dadurch entehren.« Sie sah ihn mit gequältem Blick an und ging dann langsam und wortlos weg. Auch Shan entfernte sich unauffällig von den anderen. Als er den Schatten der Hütte erreicht hatte, bog er eilig auf den Pfad ein. Zwanzig Minuten später stand er vor der Höhle. Er entzündete eine der Fackeln und trat ein. Die Kammer des Wasserhüters wirkte unberührt. Er ging im -586-
Raum umher. Neben dem Eingang sah er die Worte, die er für Gendun zurückgelassen hatte. Das einzig Konstante ist die Veränderung. Freudig bemerkte er, daß darunter eine weitere Nachricht stand. Es war ganz unverkennbar Genduns Handschrift. Doch auch Veränderungen unterliegen Gesetzmäßigkeiten, hatte der Lama geschrieben. Shan drehte sich um und durchsuchte erneut den Raum. Unter dem Strohsack vor der Wand fand er einen großen fleckigen Umschlag voller Unterlagen. Es waren behördliche Schreiben, wie sie routinemäßig wohl jeder erhalten würde, der sich gegen Bezahlung um den Zustand der Bäche kümmerte. Shan überflog sie hastig. Die Blätter waren mit Büroklammern zu mehreren Gruppen zusammengefaßt und in regelmäßigen Abständen datiert. Anscheinend reiste der Wasserhüter jede zweite Woche in die Stadt und erhielt dort seine Papiere. Nichts davon wirkte außergewöhnlich, abgesehen von dem allerletzten Blatt. Es stammte von Ko Yonghong und trug einen besonderen Briefkopf: Programm zur Beseitigung der Armut, Bezirk Yutian. Die Wasserhüter des Bezirks würden allesamt privatisiert und von der Brigade übernommen, stand dort. Zur Feier dieses Ereignisses würde die Brigade jedem ein Geschenk überreichen. Und zwecks Erleichterung des großen Projekts sollten alle Hüter von nun an genau festhalten, wann und wie sich Hirten oder andere Personen durch die ihnen zugewiesenen Aufsichtsgebiete bewegten. Da die Brigade sich ihnen besonders zugetan fühlte, sollten alle Waisenkinder einzeln notiert und gebeten werden, sich bei Direktor Ko zu melden, damit man sie in ein besonderes Unterstützungs programm aufnehmen konnte. Baut durch strikte Pflichterfüllung auch weiterhin den Sozialismus auf, hieß es abschließend. Wie Jakli herausgefunden hatte, war Lau am Tag ihres Todes bei der Hütte gewesen. Die Kinder der zheli erhielten die Anweisung, sich allein zu beschäftigen, und Lau suchte den Wasserhüter auf. Der alte Lama zeigte ihr das Schreiben von -587-
Ko, und sie begriff, daß dies nun tatsächlich den Anfang vom Ende bedeutete. An jenem Abend ritt sie in verzweifeltem Tempo nach Karatschuk, um Marco zu sagen, daß der Yakde und seine Beschützer gemeinsam mit Jakli und Nikki die Flucht ergreifen mußten. Als Shan die Höhle verlassen wollte, tauchten zwei Gestalten am Eingang auf. Jakli, in der Hand eine Fackel, und Kaju. Sie lächelte Shan traurig an. »Also gut. Ich habe zu ihm gesagt, ein wirklicher Lehrer würde die Wahrheit erfahren wollen.« Shan nickte stumm und trat beiseite, damit sie Kaju durch die Eishöhle zu Tante Lau führen konnte. Dann folgte er in einigem Abstand. Als er den Eingang der Grabkammer erreichte, hörte er Kaju aufstöhnen und sah ihn auf die Knie fallen. Shan blieb im Hintergrund vor den Handabdrücken im Eis stehen, während Jakli dem Tibeter das Einschußloch in Laus Stirn zeigte. Kaju hielt sich den Bauch, als sei ihm schlecht. Dann fing er an zu schluchzen. »Sie hat mir Akten hinterlassen«, sagte Kaju schließlich sehr leise. »Drei Tage vor ihrem Verschwinden hat sie die Akten aller Kinder auf den neuesten Stand gebracht. Dieses Mädchen hatte schon mal eine Lungenentzündung, also achte darauf, daß sie stets ihre Mütze trägt. Jenes beobachtet gern Vögel. Dieser Junge muß in drei Monaten zum Zahnarzt. Es war, als würde sie weggehen.« Er schaute auf seine Hände hinab. »Keine Orte. Sie hat mir nicht verraten, wo ich die Kinder finden kann.« »Wieso sagen Sie das?« fragte Jakli argwöhnisch. »Major Bao hat mich danach gefragt. Zweimal, höchstpersönlich. Und vor drei Tagen in der Schule hat auch Genosse Hu diese Frage gestellt. Er sagte, die Eintragungen müßten ergänzt werden.« Die Worte hingen wie eine dunkle Wolke über ihnen. Dann trat Shan an die Seite des Tibeters. »Sie sollten sich sorgfältig überlegen, wer Sie bislang angelogen hat«, sagte er. -588-
Kaju schaute verwirrt zu ihm auf. »Niemand«, erwiderte er zögernd. »Das alles ist eine schreckliche Tragödie.« Er blickte zu Jakli, dann wieder zu Shan. »Außer Ihnen. Die anderen sagten, Lau würde vermißt. Aber Sie haben die Leiche versteckt.« »Das alles war von vornherein geplant, und Sie sollten hergebracht werden, um Lau zu ersetzen.« »Ja, denn Lau würde doch in Pension gehen«, sagte der Tibeter. »Nach Urumchi.« Er kippte nach hinten in eine sitzende Position, als habe er das Gleichgewicht verloren. »Ko hat Ihnen erzählt, Lau würde auf jeden Fall nach Urumchi umziehen?« Kaju nickte. »Ko sagte, er würde an der Schule eine Gedenktafel für sie anbringen. Lau wird für die Brigade immer eine Heldin sein.« Er starrte Laus Gesicht an. »Ich werde nicht zulassen, daß sie mich aufhalten«, sagte er. Es klang, als würde er der Toten ein Versprechen geben. »Wer?« fragte Shan und setzte sich neben den Tibeter. »Diejenigen, die das hier getan haben. Die Reaktionäre.« Jakli stöhnte auf. »Das waren keine Reaktionäre«, sagte Shan ruhig. »Das war jemand, der einen Jungen gesucht hat. Einen ganz besonderen Jungen.« Und dann erzählte er ihnen von dem Yakde Lama, doch vermied er es im Beisein von Kaju, das Kloster Rabennest oder den Wasserhüter zu erwähnen. Er sprach allerdings von General Rongqi und daß ein Junge der zheli die Reinkarnation des Yakde gewesen war. Auch den Jadekorb verschwieg er nicht. Jakli seufzte tief, hob dann langsam die Hand und legte sie auf Tante Laus Schulter. Der Tibeter saß stumm da und starrte mit ratlosem Blick die Leiche an. »Falls Sie recht hätten, ergäbe sich daraus, daß alle anderen gelogen und unter einer Decke -589-
gesteckt haben. Ko. General Rongqi und Major Bao. Aber das ist nicht der Fall. Die Regierung verhält sich heutzutage anders. Bao und die Öffentliche Sicherheit begreifen es manchmal nicht. Eine unserer Aufgaben besteht darin, ihnen beim Verständnis der neuen Techniken behilflich zu sein…« Seine Stimme erstarb, als habe er den Faden verloren. »Aber die Brigade ist anders. Ich habe einen Brief des stellvertretenden Vorsitzenden Rongqi erhalten, in dem er mich zu meiner Ernennung beglückwünscht. Diese Leute haben mich auf die Universität geschickt«, schloß Kaju, als sei dadurch viel erklärt. »Um die Integration der Kulturen zu studieren«, stellte Shan fest. »Nicht ihre Zerstörung.« »Aber meine Ausbildung«, wandte Kaju wie aus Protest ein. »Ausbildung wozu?« unterbrach Jakli ihn. »Um Lehrerinnen zu ermorden? Um kleine Jungen umzubringen?« Sie hielt inne, als sei sie vor dem gehässigen Klang ihrer Stimme selbst erschrocken. »Natürlich nicht.« Diesmal schwiegen sie sehr lange. Jakli sah unverwandt Lau an, und ihr Kopf hob und senkte sich dabei ein wenig, als würde sie mit der Toten ein Zwiegespräch führen. Shan seufzte. »Vielleicht können wir uns ja auf einen gemeinsamen Ausgangspunkt einigen. Jemand hat vier Jungen ermordet und ist weiterhin hinter den Überlebenden her. Er wird nicht aufhören, bis er das gau hat. Stimmen Sie mir zu, daß der Mörder aufgehalten werden muß? Um wen auch immer es sich handeln mag?« Kaju sah Shan in die Augen und nickte ernst. »Und noch eines müssen Sie begreifen«, fügte Jakli hinzu. »Bei der Brigade sind die Jungen vorerst nicht in Sicherheit. Auch nicht bei den Kriechern. Nicht bevor die Angelegenheit ausgestanden ist.« -590-
»Ich werde…«, setzte Kaju mit verwirrtem Blick an. »Ich werde Direktor Ko nicht verraten, daß die Jungen hier sind. Er würde es vielleicht nicht verstehen und gegenüber der Öffentlichen Sicherheit versehentlich etwas ausplaudern. Auch Major Bao werde ich nichts erzählen. Sie können mir vertrauen. Die Amerikaner habe ich schließlich auch nicht erwähnt.« Shan sah ihn überrascht an. »Meinen Sie Micah?« »Micah und seine Eltern. Kurz nach Laus Verschwinden fand eine Unterrichtsstunde statt. Niemand wußte von ihrem Tod. Die meisten der zheli sind gekommen. Micah war auch dort. Sie haben ein paar amerikanische Spiele gespielt und sogar versucht, einige englische Worte auszusprechen. Einer von ihnen hat erzä hlt, daß Micahs Eltern manchmal den Unterricht besuchen und bei der Ausbildung helfen.« »Wieso haben Sie diese Tatsache allen anderen verschwiegen?« fragte Shan. Er überschlug den Zeitablauf. Kaju wußte seit fast drei Wochen von den Amerikanern. Wann hatte Bao mit seiner Suche begonnen? Kaju sah ihn an. »Ich weiß es nicht«, sagte er, und Shan spürte, daß er offenbar mit der Entscheidung gerungen hatte. »Es geht mich nichts an. Micah ist ein Teil der Klasse, und meine Aufgabe lautet, die Klasse zu unterrichten. Er ist…« Kaju zuckte mit den Achseln. »Er ist wie die anderen, bloß ein Junge, der sich bemüht, die Welt zu begreifen.« Der Tibeter wandte sich an Jakli. »Aber es sind Treffen am Steinsee angesetzt. Noch sind nicht alle Jungen wiederaufgetaucht. Ich komme auf jeden Fall hin.« Er stand auf und wollte gehen, aber nach drei Schritten blieb er stehen und schaute die Wand an, die Handabdrücke im Eis. »Um unsere Hochachtung zu bezeigen«, erklärte Jakli. »Die Eiswand wird die Höhle versiegeln. Und dann werden diejenigen, die Lau ihre Anerkennung gezollt haben, bei ihr sein.« -591-
Kaju zögerte und sah Jakli flehentlich an. »Für manche eine Reverenz zu Lebzeiten, für andere eine Reverenz nach Laus Tod«, fügte Shan hinzu. Kaju warf ihm einen dankbaren Blick zu und preßte dann seine Hand in das Eis. »Damit geben Sie ein feierliches Versprechen«, sagte Jakli hinter ihnen mit schaurig geisterhafter Stimme. »Ein Gelübde zur Rettung der zheli.« »Dann soll es so sein.« Kaju drückte seine Hand noch fester gegen das Eis. Dann wich er zurück und starrte die Vertiefung an, die er hinterlassen hatte. Schließlich drehte er sich zu Shan. »Da war etwas, das ich der Öffentlichen Sicherheit gegeben habe. Ich meine, sie haben es sich einfach genommen. Man hat mir Laus altes Zimmer im Wohnheim für alleinstehende Lehrkräfte zugewiesen. Ich war gerade dabei, ihre Habseligkeiten zusammenzusuchen, da kreuzte die Öffentliche Sicherheit auf. Ich zog etwas unter der Matratze hervor, und sie haben es sich sofort geschnappt.« Shan seufzte. »Ein Gedicht.« Kaju nickte. »Bloß ein Gedicht über einen Lehrer, der Blumen sammelt. Ich wollte nicht… ich hätte es ihnen nicht gegeben, aber sie waren da und haben es sich einfach genommen. Man darf doch niemanden nur wegen eines Gedichts verdächtigen.« Bloß ein Gedicht, dachte Shan. Nach Baos Ansicht jedoch ein eindeutiger Beweis für Verrat. Er und Kaju sahen sich an. Deshalb hatte der Tibeter nichts von den Amerikanern erzählt er fühlte sich schuldig, Laus Vertrauen verletzt zu haben. Womöglich hatte ihn auch die Schönheit des Kindergedichts tief berührt. Jakli steuerte auf den Ausgang zu, und auch Kaju schickte sich an zu gehen, verharrte jedoch gleich wieder. »Ich habe noch gar nicht darüber nachgedacht, aber vielleicht…« Er rang die Hände. »Laus Lehrplan und alle Einzelheiten, die ich über die -592-
zheli weiß. Ich wollte niemandem schaden. Man hat mir gesagt, Laus größter Fehler sei ihre Heimlichtuerei wegen der Kinder gewesen.« Shan überdachte Kajus Worte und den gequälten Gesichtsausdruck des Tibeters. »Also haben Sie alles in den Computer eingegeben.« Kaju nickte langsam. Shan sah ihn prüfend an. Er konnte nicht sagen, das alles habe keine Rolle gespielt. Kaju seufzte laut, drehte sich zu Lau um und ging rückwärts aus dem Raum. Shan blieb in der kalten Gruft zurück, während Jakli den Tibeter wieder nach draußen führte. Bei seinem ersten Besuch hatte er die Lehrerin Lau vor sich gesehen. Diesmal wollte er die ani Lau, die tibetische Nonne, aufsuchen. Er kniete erneut an ihrer Seite nieder. Sprich zu mir, wollte er sagen. Wer von ihnen ist nach Karatschuk gekommen? Wer von denen in Yutian versah nur pflichtgetreu seinen Dienst, und wer arbeitete mit Bao zusammen und war ein Mörder? Er seufzte und zog das kleine Tongefäß aus der Jacke, das man in Lhadrung mit heiligem Sand gefüllt und versiegelt hatte. Er barg es einen Moment in den Händen und kratzte dann mit dem Daumennagel das Siegel ab. Danach schlug er Laus Gewand zurück, schüttete den heiligen Sand genau über dem Herzen in einem kleinen Kreis auf ihr Hemd und plazierte das leere Gefäß neben ihrem Kopf. Sorgfältig stellte er den ursprünglichen Zustand der Kleidung her, trat zurück und musterte das umliegende Eis mit den Vertiefungen darin. Neben einigen anderen hatten dort Jakli, Akzu, Kaju und er selbst eine Spur hinterlassen. Die Abdrücke konnten tausend Jahre und mehr überdauern, als fortwährendes Mahnmal ihrer Schande, weil sie zugelassen hatten, daß eine fromme Frau durch einen Kopfschuß sterben mußte. Als Shan wieder im Lager des Roten Steins eintraf, wurde -593-
ihm bewußt, daß die Jungen nicht alles über Genduns und Lokeshs Aufenthalt erzählt hatten. Er fand Batu bei Sophie vor. Marco war soeben dabei, dem Jungen stolz die Abstammung des Tiers zu erläutern. »Wann und wohin sind die Tibeter aufgebrochen?« fragte Shan, nachdem Marco geendet hatte. »Sie sind gestern abend weitergeritten. Jemand hat ihnen Esel geschenkt«, sagte Batu mit großen Augen. »Das macht man so bei heiligen Männern, hat Lau uns erzählt. Man schenkt ihnen Dinge, damit ihre Götter auf dich herablächeln. Wir haben sie gebeten, noch zu bleiben, aber sie sagten, sie müßten an einen anderen Ort weiterziehen. Sie hatten es eilig.« »An was für einen anderen Ort?« Batu schüttelte den Kopf und rief zwei andere Jungen herbei, aber die wußten es auch nicht genau. »In der Wüste«, sagte einer der beiden. »Der alte Mann, der so viel gelacht hat, sagte, er würde einen Ort im Sand kennen, wo die Seelen sich versammeln.« Shan warf Marco einen besorgten Blick zu. »Der Tränenbrunnen«, stieß er atemlos hervor. »Der Wind treibt die verirrten Seelen dorthin.« Jakli schlug die Hand vor den Mund. »Sie sind zu alt. Sie könnten ganz leicht vom Weg abkommen und im Wind sterben.« »Sie sind zur Schule gekommen und haben sich umgesehen«, warf Kaju ein. »Lokesh?« fragte Jakli. »Der Lama?« »Nein, die Kriecher. Die Öffentliche Sicherheit ist heute morgen bei uns aufgetaucht. Sie sagten, sie würden nach zwei alten Tibetern suchen, die aus dem Gefängnis entflohen seien.« Shan starrte Kaju an. Sein Magen verkrampfte sich vor Angst. Die Pfade der Mörder hatten sich tatsächlich angenähert. Bao -594-
war eigentlich auf der Suche nach subversiven Ausländern, doch inzwischen erkundigte er sich nach Tibetern. Jemand mußte Gendun und Lokesh gesehen und gemeldet haben. »Heilige Mutter Gottes!« murmelte Marco und fing sofort an, Sophie das Zaumzeug anzulegen. Jakli sah Shan an. Sie schien jeden Moment in Tränen ausbrechen zu wollen. »Aber wir müssen die Jungen finden.« »Genau«, sagte der große eluosi. »Und deshalb werden Sophie und ich nach den alten Tibetern suchen.« Sein ernster Blick richtete sich auf Shan. »Falls die Kriecher sie erwischen, werden die beiden keine vierundzwanzig Stunden überleben. Die alten Männer sind der Öffentlichen Sicherheit völlig gleichgültig. Man will sie lediglich aus dem Weg räumen.« Yutian schien sich im Belagerungszustand zu befinden. Der Marktplatz war still und leer, abgesehen von vier an den Ecken stationierten Trupps der Kriecher. Die wenigen Einwohner, die draußen etwas zu erledigen hatten, eilten mit gesenkten Köpfen durch die Straßen und mieden jeglichen Blickkontakt. Von fern hörte man Pferdegewieher. Auf dem Weg in die Stadt waren Shan und die anderen an den Gehegen vorbeigekommen. Hinter den schweren Gattern tummelten sich mittlerweile unzählige Tiere, trampelten ruhelos umher und schauten gehetzt und verwirrt zu den Kasachen und Uiguren, die sie wehmütig aus einiger Entfernung betrachteten und sich nicht zu nähern wagten, weil an jedem Tor Wachposten der Kriecher standen. Shan, Jowa und Jakli folgten Fat Mao durch eine Seitenstraße, die parallel zum Platz verlief. Mit grimmiger Miene wies der Uigure auf zwei schwarze Geländewagen, die in der Nähe geparkt standen. »Eines der Einsatzkommandos«, sagte er zu Shan. »Es sind kürzlich zwei weitere eingetroffen. Eines aus Kashi und eines von einem Stützpunkt in Tibet.« Er sah Jakli an und verzog das Gesicht. »Sie werden bald damit anfangen, die -595-
Firmen zu überprüfen.« Die junge Frau seufzte, rang dem Uiguren dann das Versprechen ab, weiterhin nach den Tibetern zu suchen, und machte sich zu ihrer Fabrik auf. Nach ein paar Schritten hielt sie inne und drehte sich um. »Es könnte sein, daß Nikki herkommt. Richtet ihm aus, er soll in die Berge zurückkehren und sich erst wieder beim Reiterfest blicken lassen.« Dann eilte sie davo n, um Hüte anzufertigen. Fat Mao führte Shan und Jowa zu einem kleinen Restaurant in einem alten Lehmziegelgebäude. An der Tür hing ein Schild, auf dem in chinesisch, englisch und der einheimischen Turksprache Geschlossen stand. Der Uigure sah sich hastig nach etwaigen Patrouillen um und brachte sie zur Rückseite des Hauses. Durch die Küche gelangten sie in den vorderen Gastraum. Neben einem der hinteren Tische kniete auf einem kleinen Gebetsteppich eine stämmige Frau mit weißer Schürze und rotem Kopftuch. Sie warf ihnen einen kurzen Blick zu, stieß ein undeutliches Geräusch aus, das wohl einen Gruß bedeuten sollte, hob dann den Arm und legte einen Schalter an der Wand um. Sie tat es zweimal, ohne daß die Beleuchtung des Raums darauf reagiert hätte. Danach ging Fat Mao durch eine Tür voran und stieg eine klapprige Treppe in einen verstaubten Keller hinunter, dessen Boden aus festgestampfter Erde bestand. In einem Wandregal lagen Decken, Kleidungsstücke und viele verschiedene Mützen und Schuhe. Verkleidungen. Unter einer einzelnen nackten Glühbirne saßen an einem Tisch ein Mann und eine schmächtige Frau, die ihr Haar zu zwei kurzen Zöpfen geflochten hatte, und konzentrierten sich auf den Bildschirm eines Laptop-Computers. Den Mann erkannte Shan wieder. Er wurde Mao der Ochse genannt, ein mürrischer, breitschultriger Kasache, der auf dem Reistransporter zum Lager Volksruhm gesessen und an der Fernstraße den Schildkrötenlaster übernommen hatte, um Lokesh und Bajys nach Senge Drak zu fahren. Fat Mao stellte die Frau als Mao die Schwalbe vor. Mao -596-
der Ochse hatte neben sich etwas liegen, das er angestrengt betrachtete. Als er Shan bemerkte, legte er ein Stück Papier darüber, aber eine kleine Ecke war trotzdem noch zu erkennen. Es handelte sich um eine der Holztafeln. Die Hälfte von Xus Häftlingen sei entlassen worden, nachdem die Anklägerin weitere Befragungen durchgeführt hatte, berichtete Mao die Schwalbe und streckte ihnen einen Zettel entgegen. Sorgfältig studierte Shan die Liste. Der Wasserhüter stand nicht darauf. Vor der Frau lag ein Umschlag mit Disketten auf dem Tisch. Shan sah dabei zu, wie die anderen ein halbes Dutzend der Datenträger überprüften, aber an der Namenliste änderte sich nichts mehr. Nach einer Weile wurde ihm klar, daß er auch Mao die Schwalbe zuvor schon gesehen hatte, und zwar an einem der Computer im Lager Volksruhm. »Sie haben gesagt, daß Sie manchmal Leute verfolgen«, wandte Shan sich an Fat Mao. »Was ist mit Bao?« »Zum Krankenhaus, wo er seine Wunde behandeln ließ«, antwortete Mao die Schwalbe mit kalter Wut. »Dann zum Lager Volksruhm. Dort hat er Verhöre durchgeführt. Die Kriecher haben alte Männer zur Befragung festgenommen. Manche davon sahen wie Tibeter aus und wurden auf den Hügeln erwischt.« Sie hob den Kopf und schien den Schmerz in Shans Blick zu erkennen. »Habe ich etwas Falsches gesagt?« Shan seufzte und schüttelte langsam den Kopf. Bao suchte nach einem Lama. »Und Ko?« »Der war gestern in der Klinik und hat die Eltern von Neugeborenen besucht«, ertönte die tiefe Stimme Maos des Ochsen. »Er wollte die neue statistische Erhebung der Brigade erläutern und den Eltern verdeutlichen, warum sie gewisse Fragen beantworten müssen. Angeblich will man sich einen besseren Überblick über die verschiedenen Gesundheitsprobleme verschaffen.« Fat Mao und Shan sahen sich an. »Seit wann?« fragte der -597-
Uigure. »Wann haben diese Befragungen angefangen?« »Vorgestern.« Vorgestern. Der Mord an Khitai lag drei Tage zurück. »Was für Fragen?« drängte Fat Mao. »Was genau will man über die Neugeborenen wissen?« Verwirrt schaute Mao der Ochse von dem Uiguren zu Shan. »Ich war nicht dabei. Die Informationen stammen von der kasachischen Krankenschwester. Ko sagte, der wichtigste Anhaltspunkt sei die Vorgeschichte der Eltern.« »Ich muß diese Klinik aufsuchen«, erklärte Shan. Aber die Maos ignorierten ihn. »Die Vorgeschichte frischgebackener Eltern«, murmelte Fat Mao wütend. Mit eiskaltem Schauder erinnerte Shan sich, auf welche Weise der Streit um die Reinkarnation des Pantschen Lama verlaufen war. Die Regierung hatte sorgfältig abgewartet, bis ein Baby zur Welt kam, dessen beide Eltern Parteimitglieder waren. Vielleicht hatten Kos Fragen nichts zu bedeuten. Vielleicht besagten sie aber auch, daß General Rongqi tatsächlich in die Sache verwickelt war und bereits nach dem neuen Yakde Lama suchte, einem der Brigade ergebenen Lama, den man präsentieren konnte, sobald man den Jadekorb in die Finger bekam. »Namen«, sagte Fat Mao mit plötzlicher Eindringlichkeit und begann zu erklären, wie die Maos sich Zugriff auf die Daten verschaffen sollten, die Ko derzeit sammelte. Shan hörte ihm einige Minuten zu und behauptete dann, er würde nach oben gehen, um draußen frische Luft zu schnappen. Er ging gemächlich, um keine Aufmerksamkeit zu erregen, und blieb vor einigen Schaufenstern stehen, um abzuwarten, ob ein eventueller Verfolger sich darin spiegeln würde. Dann benötigte er eine weitere Viertelstunde, bis er die gewünschte -598-
Tür gefunden hatte. Er wartete im Schatten einer Gasse ab und schaute sich abermals um, bevor er hinüberhuschte - zum Hinterausgang des alten Palastes, der nun die Dienststelle des Justizministeriums beherbergte. Er betrat einen dunklen Flur und kam an der schmalen, halboffenen Tür eines Abstellraums vorbei, aus dem es nach Putzmitteln roch. Dann folgte eine zweite, breitere Tür mit Doppelriegelschloß. Shan atmete tief durch, stieß die dritte Tür am Ende des Gangs auf und betrat die Eingangshalle. Der kahlköpfige Mann saß auf der Kante seines Schreibtisches und las in einer Zeitung. Als er Shan sah, riß er verblüfft die Augen auf. Dann eilte er unverhofft flink auf Shan zu, packte ihn am Handgelenk und schob ihn zurück in den Schatten des hinteren Korridors. Doch weder schlug er nach Shan, noch rief er um Hilfe. »Warten Sie hier«, flüsterte der Mann statt dessen und warf einen Blick über die Schulter. Shan nickte. Der Mann ließ ihn los und rannte hinaus in die Halle. Fünf Minuten später kehrte er mit der Anklägerin Xu zurück, öffnete die verriegelte Tür und betätigte einen Lichtschalter. Xu bedeutete Shan, er möge eintreten. Die Luft roch schal. Es war ein fensterloser Raum, in dem ein Metalltisch und vier metallene Stühle standen. Eine einzelne Glühbirne wurde durch einen Drahtkorb geschützt. Auf einem Regal an der Rückwand sah Shan eine Blechschüssel, eine Fliegenklatsche, eine Rolle dickes Isolierband und mehrere lange Holzleisten von der Größe eines Lineals. Ein Verhörzimmer. Xu nickte, und der kahlköpfige Mann schloß die Tür, so daß Shan und die Anklägerin allein im Raum zurückblieben. Die Tür erbebte leicht, und Shan erkannte, daß der Mann sie nicht abgeschlossen, sondern sich dagegen gelehnt hatte. Xu setzte sich auf den Stuhl, der dem Ausgang am nächsten stand. Shan nahm auf der anderen Seite des Tisches Platz. »Laut den Computern der Öffentlichen Sicherheit ist Sui auf Heimaturlaub«, verkündete Xu lakonisch. -599-
»Haben Sie Bao gefragt, wieso er behauptet hat, Sui sei versetzt worden?« Statt einer Antwort warf Xu ihm einen verärgerten Blick zu. Natürlich nicht, las Shan ihrem Gesicht ab. Weil sie Bao nicht um Erlaubnis gebeten hatte, seine Dateien einsehen zu dürfen. Er sah sich noch einmal im Zimmer um. Xu versteckte sich; sie wollte nicht, daß Shan gesehen wurde. Jeder in Yutian hatte Geheimnisse. Und jeder bespitzelte den anderen. »Bao hat Laus Akte erweitert«, sagte Xu. »Er hat zwei weitere Zeugenaussagen hinzugefügt.« »Soll das heißen, es ist jetzt Baos Untersuchung? Ein simpler Vermißtenfall?« »Die Öffentliche Sicherheit ist befugt, die Ermittlungen nach eigenem Ermessen zu übernehmen. Vorgestern hat Bao sich dazu entschlossen, mit der Begründung, Lau habe einst ein öffentliches Amt bekleidet. Wir haben ihm unsere Akte geschickt, und er ließ die beiden Zeugenaussagen einheften. Und jetzt gibt es keinen Fall mehr, denn Bao hat ihn für abgeschlossen erklärt. Es wurde ein Unfalltod festgestellt.« »Dann können alle zur Befragung Festgenommenen ja nun auf freien Fuß gesetzt werden.« Xu ging nicht darauf ein. »Bao hat seinen Presseoffizier eingeschaltet. In der Zeitung wird ein ausführlicher Nachruf auf Lau erscheinen.« »Wer waren diese beiden Zeugen?« »Zunächst Genosse Hu aus der Schule. Er ließ uns wissen, er habe Lau bereits einmal gemeldet, weil sie in ihrem Unterricht Lobreden auf Dissidenten hielt. Und am Tag nach ihrem Verschwinden hat er auf dem Weg zur Arbeit gesehen, daß eine Frauenleiche im Fluß trieb.« »Und jetzt hat er sich ganz plötzlich wieder daran erinnert.« Was hatte Hu im Lager Volksruhm gesagt? Er mußte an seine -600-
Familie denken. »Die andere Aussage stammt von einem Experten für Spurensicherung aus Kashi. Er behauptet, die Mineralspuren an der Brieftasche mit den Ausweispapieren passen genau zu dem vermeintlichen Fundort am Flußufer.« »Ich bin grenzenlos erstaunt, zu welchen Leistungen die Mitarbeiter der Volksregierung fähig sind, wenn man sie nur richtig motiviert«, stellte Shan seufzend fest. Er sah auf seine Hände. »Haben Sie überprüft, wie Sui in den Besitz von Laus Papieren gelangt ist?« »Durch einen verantwortungsbewußten Bürger.« In den Behördenakten war dies der gängige Schlüsselbegriff für eine anonyme Quelle. »Das glaube ich nicht. Ich vermute, Sui selbst hatte die Papiere in seinem Besitz.« Xu stand auf, ging langsam um den Tisch herum und verschwand hinter Shan. Er wappnete sich, wandte jedoch nicht den Kopf. Die Anklägerin kam mit einer der Holzleisten wieder zum Vorschein und setzte sich. »Ich dachte, Bao würde eventuell die andere Theorie verfolgen«, sagte Shan gelassen. Xu hob fragend die Augenbrauen. »Daß Lau und Sui zusammen durchgebrannt sind. Womöglich als geheimes Liebespaar. Oder daß sie vielleicht beide ertrunken sind, als sie heldenhaft versuchten, ein Buch mit den Reden des Großen Vorsitzenden zu retten, das versehentlich in den Fluß gefallen war.« Xus Augen funkelten vor Wut. Sie schlug sich mit dem Stab beiläufig auf die Handfläche, als wolle sie dessen Biegsamkeit prüfen. »Mein leitender Untersuchungsbeamter und Leutnant Sui waren befreundet. Sui ist manchmal nach Feierabend hergekommen und hat unten an der Treppe auf ihn gewartet.« Shan sah zur Tür. Der kahlköpfige Mann dürfte sich bei diesen Gelegenheiten ebenfalls in der Eingangshalle aufgehalten haben. -601-
Bestimmt hatte er alles mit angehört, was Sui sagte. Vielleicht war dieser unauffällige Glatzkopf Xus eigentlicher Ermittler, dachte Shan. »Sui hat viel geprahlt. Er hatte sich einen Fernseher, ein Radio und einen japanischen Staubsauger zugelegt. Und schon bald wollte er sich ein neues Auto kaufen.« Shan sah sie mit ungerührter Miene an. »In Yutian sind die Straßen mit Gold gepflastert. Man muß nicht einmal der Brigade angehören, um reich zu werden, aber dort fällt es natürlich besonders leicht. Genosse Ko ist dermaßen wohlhabend, daß er Bao seinen Sportwagen überlassen hat.« »Bao? Unmöglich. Die beiden sind grundverschieden. Sie wechseln kaum ein Wort miteinander. Ich habe bei Sitzungen häufiger mitbekommen, wie sie in Streit geraten sind. Ko sagt, Bao sei zu tief in der alten Wirtschaftslehre verwurzelt. Bao behauptet, Ko wisse nicht genügend zu schätzen, was der Staat für ihn getan habe.« »Und dennoch hat er ihm den Wagen gegeben«, sagte Shan. »Das müßte sich doch leicht nachprüfen lassen. Ein leuchtendrotes Auto in einer tristen grauen Stadt.« Xu starrte eindringlich die Holzleiste an, als könnte dort die Erklärung dafür liegen, weshalb Ko etwas so Unwahrscheinliches tun sollte. »Fünf von Kos Jahresgehältern würden nicht ausreichen, um einen solchen Wagen zu kaufen«, sagte sie langsam, ohne den Kopf zu heben. »Doch mittlerweile hat er angekündigt, er würde sich noch einen zulegen, um Loshi durch die Gegend zu fahren.« »Loshi?« Xu blickte ungehalten auf und nickte dann, als ihr einzufallen schien, daß Shan bei seinem ersten Besuch mit der Sekretärin gesprochen hatte. Ihre Finger spielten unruhig mit der Leiste herum, ließen sie ständig von einer Hand in die andere fallen. Dann legte sie das Stück Holz plötzlich auf den Tisch und verschränkte die Hände darüber. »Das liegt an den -602-
Gratifikationen«, sagte sie leise. »Gratifikationen?« »Sie haben Kos Memo gesehen. Leistungsprämien. Das ist die neue Welt, Genosse.« Sie klang wenig überzeugt. »Die Marktwirtschaft kommt nach Yutian und vereint in sich das Beste des Kapitalismus mit den Lehren des Sozialismus.« »Dann ist es wohl die chinesische Prägung, die mich verwirrt«, erwiderte Shan. Man hatte diesen Wahlspruch seit Jahren überall in China aufgemalt, auf Transparente gedruckt und in Wände gemeißelt. Strebt nach einem Sozialismus chinesischer Prägung. »Aber bei Ko war lediglich von CDPlayern für Schüler und Lehrer die Rede.« »Das ist längst noch nicht alles. Die ganze Brigade ist nach diesem System organisiert. Man hat sich dort völlig vom Kapitalismus anstecken lassen«, sagte die Anklägerin verbittert. »Jeder Mitarbeiter wird für das Erreichen gewisser Ziele mit Prämien belohnt.« »Was für gewisse Ziele?« »Wenn jemand nicht registrierte Schafe bringt, fünfzig Renminbi. Für nicht registrierte Hirten, die man in Brigademitglieder umwandeln kann, gibt es fünfhundert Renminbi. Und wer illegal praktizierende Religionsanhänger dazu bewegt, sich überprüfen und lizenzieren zu lassen, bekommt dreitausend Renminbi, zur Hälfte in bar, zur Hälfte in Brigadeanteilen.« »Ein Kopfgeld.« Shan stieß das Wort wie einen Fluch hervor. Für die meisten Bewohner dieser Region bedeuteten dreitausend Renminbi mehr als ein Jahreseinkommen. »Eine Leistungsprämie. Damit das Unternehmen beständig wächst«, sagte die Anklägerin mit hohler Stimme. Shan stützte die Ellbogen auf den Tisch und barg das Gesicht in den Händen. Was hatte Marco an jenem ersten Tag in -603-
Karatschuk gesagt? Das Paradies der Arbeiterklasse wird jeden Tag prächtiger. Shan blickte wieder auf. »Wer kommt für eine solche Ehrung in Betracht?« »Anfangs nur die Angehörigen der Brigade. Es ist eine Privatfirma; sie können mit ihrem Geld nach Belieben verfahren.« »Wieso anfangs?« »Weil die Bedingungen sich vor eine m Monat geändert haben. General Rongqi ist sehr einflußreich und wird in einem Jahr vermutlich an der Spitze der Brigade stehen. Er hat eine Telefonkonferenz mit Ko, mir und der Öffentlichen Sicherheit arrangiert. Bao konnte nicht kommen, also hat er Sui geschickt. Der General bat darum, die Schlüsselpersonen der Vollstreckungsorgane Yutians an dem Programm teilhaben zu lassen. Ich habe abgelehnt. Ich sagte ihm, die Angestellten des Justizministeriums seien nicht bestechlich. Zum Glück war Bao nicht dabei. Der Major wäre aus der Haut gefahren.« Aber Sui hatte das Angebot heimlich angenommen, erkannte Shan. Und sogar Bao war dem Programm letztendlich beigetreten, wie sehr Rongqis Vorschlag ihn zunächst auch verärgert haben mochte. Jeder hatte seinen Preis. Bao war nicht als Suis Vorgesetzter, sondern als Suis Konkurrent an der Sache beteiligt gewesen. Und falls er selbst den Leutnant ermordet hatte, würde das sein mangelndes Interesse an entsprechenden Ermittlungen erklären, wenngleich immer noch nicht klar war, weshalb Ko ihm den Wagen überlassen hatte. Xu seufzte. »Rongqi behauptete, unsere Teilnahme würde das Programm zur Beseitigung der Armut beschleunigen helfen. Die Behörden würden auf diese Weise die Brigade unterstützen, und die finanziellen Mittel entstammten sowieso dem Vermögen der Brigade.« »Mancherorts, Genossin Anklägerin, sieht es so aus, als besäße die Brigade bereits behördliche Amtsgewalt, nur ohne all -604-
die Vorschriften.« Die Bemerkung schien Xu zu kränken. Sie stützte das Kinn auf die Hände. »Sie wissen, wie Kampagnen funktionieren, Genosse Shan«, sagte sie mürrisch. »Zwei Schritte vor, einen Schritt zurück.« Sie hatte ihn beim Namen genannt. Es verwirrte ihn. »Sie haben gar keine Theorie«, sagte sie. »Sie sind der Meinung, alle Behördenvertreter seien schuldig, nicht wahr?« Ihre Stimme klang nicht etwa vorwurfsvoll, sondern gereizt. »Wegen allem, was die Regierung Ihnen angetan hat.« Lange Zeit herrschte Schweigen. Draußen auf dem Platz ertönte eine barsche Stimme aus den Lautsprechern und verkündete eine Ausgangssperre. »Warum sind Sie schon so lange hier, Genossin Anklägerin?« fragte Shan schließlich. »Zwölf Jahre in Yutian sind eine Ewigkeit.« »Ich kann hier etwas bewirken«, entgegnete sie floskelhaft. »Wir haben historische Fortschritte erzie lt.« Sobald erst einmal die fast immer lodernde Flamme ihres Zorns erloschen war, wurde Xu zu einer anderen Frau, erkannte Shan. Die Jadehure bestand nicht aus Stein. Sie war aus Knorpel gemacht, zähem, unverdaulichem Knorpel, auf dem man allen Anzeichen zufolge schon viele Jahre herumgekaut hatte. »Ich möchte nach oben gehen«, sagte er, um ihre Reaktion zu testen. »In den Aktenraum.« »Nein!« herrschte sie ihn an und stand auf. Die Audienz war beendet. Xu ging einen Schritt auf die Tür zu und wandte sich dann mit einem unerwarteten Ausdruck des Bedauerns zu ihm um. »Die Videoaufnahme, die ich neulich von Ihnen angefertigt habe, ist verschwunden. Jemand hat sie weggenommen.« »Fräulein Loshi? Soll das heißen, die Brigade hat das Band?« »Ich weiß es nicht. Ko hat mich nach Ihnen gefragt. Ich habe -605-
behauptet, Sie seien ein Staatsgeheimnis.« »Welche Belohnung wird heutzutage für ein geheimes Video gezahlt?« Xus Stirnrunzeln schien sich noch zu verstärken. Sie verließ den Raum, und der kahlköpfige Mann lief voraus, um die Halle zu überprüfen. Bevor Xu um die Ecke bog, drehte sie sich noch einmal zu Shan um, der in der Tür des Verhörzimmers stand. »Der General hat das Programm erweitert«, sagte sie hastig. »Fünftausend Renminbi Belohnung für jeden, der eines der Waisenkinder herbringt. Aber nur, wenn sie bis zum Ende dieser Woche hier eintreffen.« »Bis zum Ende der Woche?« fragte Shan beunruhigt. Es klang makaber. Ein Schlußverkauf der Waisenjungen. »Dann kommt General Rongqi selbst nach Yutian. Zu einem Festbankett, um die letzte Stufe des Programms zur Beseitigung der Armut zu feiern.« Sie fuhr herum und hatte bereits mit einem Fuß die Halle betreten, als Shan sie zurückrief. »Es gibt eine Möglichkeit«, sagte er mit Mühe und konnte kaum glauben, was er gleich tun würde. »Eine Möglichkeit, etwas Licht in die Angelegenheit zu bringen.« Sie machte kehrt und ließ die Tür zufallen. »Fragen Sie den General. Rufen Sie in seinem Büro an, um zu verhandeln. Fragen Sie, was er Ihnen bieten würde.« »Bieten?« »Fragen Sie ihn, wie hoch die Belohnung für einen Jadekorb wäre.« Dann erklärte Shan ihr Rongqis Jagd auf den Yakde Lama. Draußen auf den Straßen waren Lastwagen der Kriecher unterwegs. Aus den Fenstern der Häuser schauten ängstliche Gesichter. Ein Hund sah einem der Laster entgegen, zog den Schwanz ein und lief weg. Hastig kehrte Shan zu dem -606-
Restaurant zurück, achtete aber darauf, nicht zu schnell zu gehen. Die Kriecher interessierten sich stets für Leute, die es eilig hatten. Aber als er das Gebäude erreichte, war die Hintertür verriegelt. Nervös umrundete Shan das Haus und versuchte es am Vordereingang. Abgeschlossen. In zwei Blocks Entfernung bog ein schwarzer Wagen, womöglich eine Streife, um die Ecke und näherte sich. Shan wich in die Gasse zurück. Hinter dem Restaurant lag ein kleiner Hof aus festgetretener Erde, der von einer knapp zwei Meter hohen Lehmziegelmauer umgeben wurde. An der rückwärtigen Wand standen ein Hühnerstall und ein kleiner Schuppen, dessen Tür nur angelehnt war. Shan näherte sich vorsichtig. Er mußte an den Keller denken und daran, daß die Maos Verstecke mit geheimen Fluchtwegen bevorzugen würden. Als er die Tür aufstieß, hörte er jemanden von hinten heranlaufen. Noch bevor Shan sich umdrehen konnte, traf etwas Schweres seinen Kopf. Er sank auf die Knie, und der Hof verschwamm vor seinen Augen. Dann wurde alles schwarz. Als Shan wieder zu Bewußtsein kam, war es immer noch schwarz um ihn herum. Er befand sich in einem kleinen dunklen Raum, der nach Exkrementen stank. Sein Kopf pochte vor Schmerz. Mit den Händen ertastete er einen rutschigen Zementboden, der sich zur Mitte hin nach unten wölbte und genau im Zentrum ein Loch von etwa zehn Zentimetern Durchmesser besaß. Eine Toilette. Aus dem Loch drang ein wenig Helligkeit herauf, was bedeutete, daß der Abfluß nach draußen mündete. Shan wußte, daß man die Exkremente dort in einem kleinen Faß auffing und sie später als Dünger auf die Felder verteilte. Er versuchte aufzustehen, aber ihm wurde schwindlig, und er schaffte es nur bis auf die Knie. Sein Kopf schmerzte nun an zwei Stellen: nach dem jüngsten Schlag am Hinterkopf und seit dem Sturz im Sandsturm an der Schläfe. Er preßte beide Hände seitlich ans -607-
Gesicht, beugte sich vor und rang in dem scheußlichen Gestank nach Luft. Allmählich ließ das Schwindelgefühl nach. Immer noch auf Knien, erforschte er seine Zelle und entdeckte in der Mitte der nächstgelegenen Wand einen einzelnen Wasserhahn, unter dem ein Metalleimer stand. Gegenüber, in nur anderthalb Metern Entfernung, war eine Tür eingelassen, neben der ein modrig riechender Haufen Handtücher lag. Shan drückte sich eines davon vor die Nase, denn er empfand diesen Geruch als längst nicht so schlimm wie den beinahe überwältigenden Kotgestank. Dies war keine Zelle der Kriecher. Shan war nachlässig gewesen, er hatte sich zu sehr auf die bevorstehenden Probleme konzentriert und nicht mehr an seine Rückendeckung gedacht. Es konnte sich um gewisse Kriecher in inoffiziellem Auftrag gehandelt haben. Vielleicht war es auch Bao gewesen oder sogar Xu, die angesichts der seltsamen Beziehung zwischen ihnen ihre Meinung geändert hatte. Shan saß in der Dunkelheit und verspürte nicht Angst, sondern Wut, weil er so weit gekommen war und seinen wirklichen Gegner immer noch nicht kannte. Doch als die Tür sich öffnete, standen dort die Maos. Fat Mao und die beiden anderen aus dem Keller sowie ein Stück dahinter Jowa, mitten in einer Küche. Die Küche! Shan befand sich in dem Restaurant. Sie hatten ihn in die Toilette des Restaurants gesperrt. Jemand schaltete eine Glühbirne ein, und Shan hob die Hände vor das Gesicht, um das Licht abzuschirmen, weil der Schmerz in seinem Kopf wieder aufflackerte. Etwas Hartes schlug seine Hände beiseite, und er fiel zurück in die Toilette. Er blickte auf und sah den großen Mao, Mao den Ochsen, mit einem kurzen dicken Brett über sich stehen. »Du bist zur Anklägerin gegangen«, knurrte Mao der Ochse. »Du hast dich wie ein Dieb davongeschlichen, zurück zu deiner chinesischen Freundin.« Er stieß mit dem Brett leicht gegen Shans Arm, als wolle er sicherstellen, daß Shan die Waffe -608-
bemerkt hatte. Shan biß sich auf die Lippe, als der Schmerz erneut durch seinen Schädel raste. Bereits nach dem Sandsturm hatte es geheißen, er habe unter Umständen eine Gehirnerschütterung davongetragen. Im Gulag hatte er Männer sterben gesehen, nachdem sie mehrfach geschlagen worden waren. In ihren Köpfen staute sich etwas auf und explodierte irgendwann. Dann wanden sie sich auf dem Boden, stießen tierähnliche Laute aus, hielten sich die Köpfe und starben schließlich. Mao der Ochse holte mit dem Brett aus, schlug aber nicht zu. Er wechselte es von einer Hand in die andere, holte wieder aus und kam näher. Als er zum drittenmal einen Schlag antäuschte, bekam Shan das Brett zu fassen, riß es ihm aus der Hand, bevor er reagieren konnte, und stopfte es in das Toilettenloch. »Mein Kopf tut schon weh genug«, sagte er und hörte den wütenden Klang seiner Stimme. Sein Sichtfeld verschwamm an den Rändern. Er sah, daß Fat Mao eine Hand auf Maos des Ochsen Arm legte. Er sah, daß die stämmige Frau vortrat. Sie trug eine Pfanne mit dreckigem Spülwasser vor sich her, quetschte sich an Mao dem Ochsen vorbei und schüttete es Shan ins Gesicht. »Ihr Chinesen habt meine beiden Söhne ermordet«, sagte sie haßerfüllt. Shan leckte das Wasser auf, das über seine Lippen rann. Seine Kehle war so ausgetrocknet, daß er nicht schlucken konnte. Mao der Ochse durchsuchte unterdessen in der Küche diverse Schubladen. Die Maos, sagte eine Stimme in Shans Hinterkopf, haben sich ihre Verhörtechniken bei den Besten abschauen können. Bei den Kriechern. »Entweder du arbeitest mit Xu zusammen«, sagte Mao der Ochse und kehrte mit einem schweren Holzinstrument zurück, das aussah, als würde man damit normalerweise Gemüse stampfen, »oder du bist unglaublich dumm. In beiden Fällen -609-
stellst du eine Gefahr für uns dar.« »Ich bin aus Tibet hergekommen«, hörte Shan einen Teil von sich erwidern. Seine Augen schienen wie von selbst in seinem Schädel umherzurollen. Er wollte Jowa ansehen, aber der Tibeter wich seinem Blick aus. »Die Lamas.« Mao der Ochse ignorierte ihn. »Xu hat Sui ermordet«, zischte er. »Vielleicht auch die anderen. Es geht ihr nur um Macht. Mehr Verbrechen, mehr Verhaftungen. Mehr Verhaftungen, mehr Ruhm. Mehr Ruhm, mehr Macht.« »Ich dachte, man würde Sie Mao den Ochsen nennen, weil Sie so groß sind«, sagte ein anderer Teil von Shan. »Aber wie ich sehe, ist der eigentliche Grund, daß Sie den Verstand eines Ochsen besitzen.« Der große Kasache stieß einen Fluch aus und riß seine neue Waffe hoch. Shan hob die Arme wie in Zeitlupe über den Kopf. Dann kam von der Seite eine andere Hand ins Bild und hielt Mao den Ochsen zurück. »Er hat gesagt, daß sein Kopf weh tut«, sagte Jowa. »Warum bist du zu Xu gegangen?« fragte er Shan stockend. Mao der Ochse gab ein wütendes Knurren von sich, ließ jedoch die Hand sinken. »Xu und Sui«, sagte Fat Mao, schaute von dem Kasachen zu Jowa und dann zu Shan. »In den Tagen vor Suis Tod sind sie gemeinsam unterwegs gewesen. Sie waren zusammen im Lager Volksruhm. Sui hatte keinen Wagen, als er starb. Er is t mit jemandem mitgefahren. Es muß Xu gewesen sein. Sie hat ihn umgebracht, um einen Vorwand zu erschaffen, uns alle auszulöschen.« Shan setzte sich auf, lehnte sich gegen den Türrahmen der Toilette und zog die Knie vor die Brust. »Xu ermordet die Menschen nicht«, sagte er mit schwacher Stimme. »Sie erniedrigt sie. Sie sperrt sie ein. Sie zerbricht sie. Aber töten…« Er mußte gegen eine plötzliche Woge der Übelkeit ankämpfen. -610-
»Das hat sie gar nicht nötig.« »Ich dachte, der Friedhof im Lager Volksruhm wäre dir aufgefallen«, erklärte Fat Mao in eisigem Tonfall. Shan wollte nicken, aber bereits der Versuch ließ den Schmerz in seinem Kopf explodieren. »Sie tötet die Leute nicht mit Schußwaffen«, räumte er ein. »Sui hingegen wurde von einem Rivalen aus dem Weg geräumt.« Obwohl er diesen Gedanken bis jetzt noch nicht einmal im stillen formuliert hatte, wußte er, daß die Vermutung zutraf. Anscheinend hatte ihn niemand gehört. Mao der Ochse starrte wütend Jowa an, und Fat Maos Blick wanderte zwischen den beiden Männern hin und her. Jowa taxierte die zwei Maos und wich ein Stück zurück. Mao der Ochse drehte sich mit zufriedenem Grinsen um. »Du wirst es uns verraten, du wirst uns alles über dich und Xu verraten.« Doch als er einen Schritt vortrat, grub sich eine Stiefelspitze in seine Leistengegend, und ein Arm lag plötzlich um seine Kehle. Der große Kasache brach stöhnend zusammen, und eine Gestalt huschte an ihm vorbei. Fat Mao stand mit offenem Mund da und schien sich zu fragen, was soeben geschehen war. Dann stellte die Gestalt sich schützend vor Shan und brüllte die Maos und Jowa an. »Das ist alles, was ihr könnt, nicht wahr? Gewalt. Kämpfe. Aber ihr wißt nie, gegen wen ihr eigentlich kämpfen sollt!« Jakli war aus der Hutfabrik zurückgekehrt. Ihr Zorn wirkte nahezu greifbar, und ihre Hände öffneten und schlossen sich fortwährend, als würde ein Tiger seine Krallen ausfahren. Die stämmige Frau tauchte auf und half Mao dem Ochsen kopfschüttelnd zurück in die Küche. Jakli beugte sich über Shan, nahm dann eines der Handtücher, befeuchtete es unter dem Wasserhahn und wischte ihm die Stirn ab. »Ich hätte nicht weggehen sollen«, sagte sie reumütig und half ihm auf die Beine. »Die Fabrik war ohnehin geschlossen.« -611-
Dann übernahm sie das Kommando. Sie ließ die Maos auf einer Seite des Küchentisches Platz nehmen, fand einen Mantel für Shan, wies ihn an, seine verschmutzte Kleidung auszuziehen, und schickte die stämmige Frau dann damit weg, um die Sachen zu reinigen. Jowa brachte Shan erst eine Tasse Wasser und besorgte ihm dann einen Becher heißen Tee. »Ich wollte…«, setzte der purba. Jakli gegenüber zu einer Erklärung an, ließ den Satz jedoch unvollendet. Jakli starrte ihn wütend an, und er senkte den Kopf. »Wie können wir uns sicher sein?« fragte er gequält. »Sicher?« gab sie lapidar zurück. »Du bist wegen Shan den ganzen Weg hergekommen und dir dennoch nicht sicher, was du tun sollst?« »Nein«, sagte Shan. Er sah nun immer klarer. »Jowa ist wegen der Lamas hergekommen, nicht wegen mir. Was wir tun müssen, ist nirgendwo festgelegt. Er hat allen Grund, verwirrt zu sein. Ich bin selbst verwirrt.« Er zog den Stuhl neben sich unter dem Tisch hervor und forderte den Tibeter auf, Platz zu nehmen. »Aber nicht mehr so verwirrt wie zuvor.« »Wie meinen Sie das?« fragte Jakli. »Ich mußte mit der Anklägerin sprechen, und ich muß herausfinden, wo sie bei all dem steht. Sie hat mir etwas erzählt, das mich vermuten läßt, daß Sui wegen Geld ermordet wurde, und zwar von einem Rivalen.« »Bao ist nur ein einziger Leutnant zugeteilt«, sagte Fat Mao stirnrunzelnd. »Sui hatte keinen Rivalen.« »Es ging nicht um eine Beförderung, sondern um eine Prämie.« Shan trank noch einen Schluck Tee und erklärte dann, was er von Xu erfahren hatte. »Diese Schweinehunde«, murmelte Fat Mao, nachdem Shan geendet hatte. »Sie sind niemandem Rechenschaft schuldig. Es geht ihnen nicht einmal mehr um ihren Sozialismus. Nur noch um Geld.« -612-
»Wir können sie zur Rechenschaft ziehen«, brummte Mao der Ochse. Jakli schien das Funkeln im Blick des großen Kasachen bereits zu kennen und hob die Hand, als wolle sie ihn zurückhalten. »Ihr unternehmt gar nichts. Nicht, bis alle Jungen in Sicherheit sind.« »Aber du hast ihn doch gehört«, sagte Mao der Ochse mit einem verschwörerischen Nicken in Shans Richtung. Offenbar hatte er beschlossen, die Episode in der Toilette zu vergessen. »Der General kommt in ein paar Tagen.« Shan sah Jakli an. Der General würde herkommen. Die Jungen wurden verfolgt. Aber die Clans versammelten sich. Ein letztes Mal versammelten sie sich. Und für Jakli würde ein neuer Lebensabschnitt beginnen. Die stämmige Frau kehrte mit Shans noch immer feuchter Kleidung zurück und fing an, für alle Anwesenden ein Mahl zuzubereiten. Nachdem Shan sich umgezogen hatte, inspizierte sie ihn mit mütterlichem Blick, entdeckte etwas Schmutz auf seinem Schuh und rieb den Fleck mit ihrem Putzlappen weg. Es war ihre Art, sich zu entschuldigen, begriff er, und so bedankte er sich mit stummem Nicken für die Gastfreundschaft. Als sie das Essen auftrug, servierte die Frau ihm zuerst. Nach dem Mahl stand Fat Mao auf und holte einige gefaltete Zettel aus einer Jacke, die an der Wand hing. »Dieser Fernfahrer, der Sui gefunden hat«, sagte er und schob die Blätter quer über den Tisch zu Shan. »Uns ist klargeworden, daß Suis Leiche gar kein Geld bei sich hatte. Wir kannten das Nummernschild des Mannes, also haben wir ihn in Kashi aufgespürt. Nach ein paar Stunden Überzeugungsarbeit hat er eingeräumt, das Geld gestohlen und dann angeblich in einer Bar in Hotan vollständig ausgegeben zu haben. Für ungefähr ein Dutzend Drinks und eine besonders aufmerksame mal chun nu.« In direkter Übersetzung bedeutete der Begriff Mädchen, das den -613-
Frühling verkauft. Eine Prostituierte. »Zusammen mit dem Geld hat er diese Papiere gestohlen. Er war froh, sie wieder loszuwerden, denn nachdem er sie letztlich gelesen hatte, jagten sie ihm Angst ein.« Es waren nur zwei Blätter. Das erste enthielt eine Liste der zheli, die offizielle Liste aus dem Schulcomputer. Khitais Name war unterstrichen und mit einer handschriftlichen Notiz versehen: Lager des Roten Steins. Oben auf der Seite stand Laus Name samt einiger persönlicher Daten. Die Raumnummer ihres Büros in der Schule. Eine Beschreibung ihres Pferdes. Braunes Pferd, weißes Gesicht. Und dann stand dort ein Name, den Shan nicht kannte. Betrieb Polarstern. Er wies darauf. »Eine Werkstatt«, erklärte Fat Mao. »Ein Hufschmied und Stall. Lau hatte ihr Pferd dort untergestellt. Mao der Ochse hat es heute überprüft. Am Nachmittag vor ihrem Tod hat sie ihr Pferd abgeholt. Zehn Minuten nachdem sie weggeritten war, tauchte ein Mann in Zivilkleidung dort auf, dessen Beschreibung auf Sui paßt, und mietete ein Pferd. Am nächsten Morgen hat er es zurückgebracht, völlig schweißgebadet und erschöpft. Der Eigentümer hat ihn wütend angeschrien, aber Sui hat nur gelächelt und ihm etwas zugeworfen, das den Mann verstummen ließ. Etwas aus Gold.« »Ein Panda?« fragte Shan. Fat Mao schüttelte den Kopf. »Gold in Form eines fünf Zentimeter hohen Buddha.« Jakli stöhnte auf und sah Shan an. Sie hatten diese kleinen, aus massivem Gold gefertigten Buddhas zuvor schon gesehen, und zwar in dem Tempelraum in Karatschuk, dem Raum, in dem Lau gestorben war. Das zweite Blatt enthielt handschriftliche Notizen. In einer Ecke standen Ziffernfolgen, anscheinend Geldbeträge, die mehrfach unterstrichen waren. Veranschlagte Kopfgelder, jeweils fünftausend. Der Preis für ein Waisenkind. Und in der -614-
Mitte eine skizzierte Landkarte, die mit einem Datum versehen war. Jakli, die über Shans Schulter blickte, keuchte auf. »Das ist morgen. Und die Karte zeigt den Steinsee. Sui wollte sich die Jungen beim Steinsee holen.« »Aber er hat den Wettbewerb gegen einen besseren Mörder verloren«, sagte Fat Mao grimmig. »Und nun wird an Suis Stelle dieser Mörder dort auftauchen.«
-615-
Kapitel Achtzehn Der Steinsee war der ehemalige Standort einer Ölförderstelle, ein Ort am Rand der Wüste, wo sich in den vorgelagerten Ausläufern des Gebirges zahlreiche Fossilien finden ließen. Während der Fahrt erklärte Jakli, daß Lau die zheli häufig im Herbst dorthin mitgenommen hatte, um zwischen den extremen Sommer- und Wintertemperaturen Fossilien zu sammeln und sich vorzustellen, wie die Welt wohl zu Lebzeiten der versteinerten Pflanzen und Tiere ausgesehen hatte. Sie folgten dem Verlauf einer holprigen Straße, die vor mehr als dreißig Jahren für die Fördermannschaften angelegt worden war. Der Weg führte sie quer durch eine unwirtliche Geröllebene, auf der an einigen Stellen zähe, gedrungene Sträucher wuchsen. Im Windschatten der Felsen hatte sich Sand aufgetürmt. Von den Kuppen der niedrigen Hügel aus konnte Shan in der Ferne bisweilen die endlos weite Fläche der weißen Takla Makan sehen. Als die Sträucher immer seltener wurden und der öden Wüstenlandschaft wichen, hielt Jakli den Lastwagen an, den Fat Mao ihnen zur Verfügung gestellt hatte, und ließ ein wenig Luft aus den Reifen, um die Griffigkeit der Räder im Sand zu verbessern. Dann stieg sie wieder ein, bog von der Straße ab, fuhr den Kamm der parallel verlaufenden Düne hinauf und hielt sich für weitere anderthalb Kilometer in einer Rinne zwischen den Sandhügeln, bevor sie eine zweite Düne überquerte und in ihrem Schatten stehenblieb. Sie stiegen aus, und Jakli führte Shan etwa fünfzig Meter die Düne entlang und dann auf eine flache Anhöhe. Dort hielten sie inne und ließen den Blick über eine langgestreckte Senke inmitten der hohen Sandberge schweifen. Am Rand der Mulde ragten vereinzelte Felsformationen auf, und im Süden konnte -616-
man eine Ansammlung von Zement fundamenten erkennen, zwischen denen mehrere sonnengebleichte Balken im Sand steckten. Es mußte sich um die Ruinen des Öllagers handeln. Dahinter, ganz am südlichen Ende der Senke, schwankte das Holzskelett eines Hauses im Wind, und wiederum fünfzig Meter weiter deutete eine Lücke zwischen den umliegenden Dünen auf die Einmündung der Straße hin. Überall auf dem Gelände standen kleinere Gebäude, die wie Geräte- oder Maschinenschuppen aussahen. Das größte davon, das problemlos einen Kipplaster aufnehmen konnte, bestand aus groben Steinen und besaß ein zweiflügeliges Tor aus verrostetem Metall. Es hatte dem rauhen Wüstenklima besser standgehalten als die anderen Gebäude. Am Fuß der gegenüberliegenden Düne befand sich eine weitaus ältere Ruine, ein Steinfundament mit einer teilweise erhaltenen Lehmziegelmauer, dessen Holzbalken man zweifellos schon vor langer Zeit als Brennmaterial verfeuert hatte. Im Norden, etwa dreihundert Meter entfernt, lag die Wüste, nur unterbrochen durch einen einzigen kleinen Flecken Gestrüpp. Shan blickte nach Süden auf die fernen Gipfel des Kunlun, wo Jowa und ein Führer der Maos sich derzeit aufhalten mußten. Der Tibeter wollte zu Khitais Grab beim Lamafeld, falls Gendun und Lokesh dort auftauchen würden. Eine kleine Windhose zog durch die Senke. Über ihnen schwebte ein großer Vogel, ein Aasfresser. »Niemand da«, sagte Jakli, doch noch während sie sprach, drückte Shan sie zu Boden und deutete stumm auf die Straße am Ende der Mulde, wo auf dem Kamm der Düne soeben ein Mann und ein Hund aufgetaucht waren. Shan und Jakli preßten sich flach auf den Sand und beobachteten, wie der Mann sich umdrehte und jemanden heranwinkte. Kurz darauf konnten sie drei weitere Gestalten ausmachen: einen weiteren Mann sowie zwei Jungen in der dunklen, dick gefütterten Kleidung der Hirten. -617-
Sie sahen zu, wie die Kinder die Düne herunterliefen und die Garage ansteuerten, das intakte Gebäude im Zentrum. Einer der Männer folgte ihnen. »Das ist Kaju«, stellte Shan fest. »Aber wer ist der andere?« »Akzu!« rief Jakli und rannte los. Shan folgte ihr zögernd und ließ dabei Akzu und den Hund nicht aus den Augen. Der Kasache konnte sie warnen, falls jemand anders sich näherte. Doch selbst wenn er das tat, wohin sollten sie gehen? Es gab hier keine Verstecke. Sie erreichten das Gebäude gleichzeitig mit den Kindern. Einen Moment später traf Akzu ein, umarmte Jakli zur Begrüßung und wandte sich dann den Jungen zu. Einer der beiden war Batu, der Jakli schüchtern musterte und dann ziemlich sachlich erklärte, im Traum habe ein wunderschönes Pferd zu ihm gesprochen und ihm gesagt, daß er als ältester Angehöriger der zheli nun die Verpflichtung hätte, die anderen Kinder zu beschützen. Akzu nickte wortlos, als sei ihm die Macht derartiger Träume vertraut. Der zweite Junge wurde als Jengzi vorgestellt, was auf eine tibetische Abstammung hindeutete. Der Kleine lächelte scheu und warf einen Stein gegen das Metalltor. Er stand dicht neben Kaju, als seien Shan und Jakli ihm nicht ganz geheuer. Kaju behielt mit besorgter Miene die Straße im Auge. »Kommt sonst noch jemand?« fragte Shan. »Ich weiß es nicht. Nachdem nun auch Jengzi eingetroffen ist, fehlt nur noch ein einziger der Jungen. Er ist hoch in den Bergen, weitab von allem anderen.« Er warf Shan einen wissenden Blick zu. Micah, der Amerikaner, war nicht aufgetaucht. »Aus der Stadt, meine ich«, sagte Shan. »Nein«, gab der Tibeter unentschlossen zurück. »Direktor Ko hat mir aufgetragen, die Kinder im Anschluß an den Unterricht -618-
alle mitzubringen, damit er ihnen die Geschenke überreichen kann. Ich habe ihm gesagt, daß angesichts der jüngsten Ereignisse kaum mit dem Erscheinen der zheli zu rechnen sei.« Shan nickte und sah dabei Jengzi an. Der Junge hatte bei einem der Schattenclans gelebt. Vielleicht wußte er, wo Micah sich aufhielt. Kaju folgte Shans Blick. »Er spricht tibetisch«, sagte der Lehrer leise. »Er hat eine alte Gebetskette, die ihm geschenkt wurde, als er noch ein Baby war.« »Wo haben Sie ihn gefunden?« fragte Shan. »Auf der Straße, acht Kilometer südlich von hier. Zu Fuß. So ist das bei seiner zheli-Familie üblich. Sein Pflegevater will nicht gesehen werden und meidet daher Straßen wie die Pest. Er mißtraut jedem. Letzte Nacht sind sie mit Jengzi aus dem Hochgebirge heruntergekommen und haben sich dann in den Ausläufern versteckt. Bei Einbruch der Dunkelheit werden sie zurückkehren, um den Jungen wieder abzuholen.« Als Shan einen Schritt vortrat, berührte Kaju ihn am Arm. »Als ich aufgebrochen bin, hat Ko noch etwas gesagt. Ich soll fragen, ob die Jungen gern in einem Hubschrauber mitfliegen würden. Er sagte, er könne mit dem Helikopter der Brigade herkommen. Ko möchte nur behilflich sein«, schloß der Tibeter verunsichert. Einer der Jungen stieß einen überraschten Ruf aus. Shan drehte sich um und sah, daß Jengzi aufgeregt in den dunklen Innenraum des Gebäudes deutete. Neben einem zerbrochenen Fenster in der Rückwand konnte man dort im Schatten den Umriß einer Gestalt erkennen, die auf einer stählernen Tonne saß. Kaju riß Jengzi zurück. »Hat zufällig jemand Hunger?« rief eine tiefe Stimme. »Ich habe uns ein wenig multikulturelle Küche mitgebracht. Erdnußbutter.« Jacob Deacon trat ins Tageslicht. Aufmerksam verfolgte Shan, daß die Jungen den Amerikaner -619-
herzlich begrüßten, als würden sie ihn bereits kennen. Gierig rissen sie ihm das Glas aus den Händen und schraubten den Deckel ab. Deacon umarmte Jakli, nickte Shan zu und streckte dann Kaju die Hand entgegen. »Eine kleine Klasse für den neuen Lehrer«, sagte er. Kaju nahm seine Hand und schaute nervös zur Straße. »Ich hätte nicht damit gerechnet, Micahs Vater heute hier anzutreffen. Nicht nach all dem Ärger.« »Ärger? Was für Ärger? Lau wollte, daß ich den Schülern etwas von archäologischen Ausgrabungen und Fossilien erzähle. Sie hat mich schon vor Wochen darum gebeten, und ich habe zugesagt zu kommen.« »Aber wie bist du hergekommen? Hast du den ganzen weiten Weg zurückgelegt?« fragte Jakli. »Was ist, wenn dich jemand gesehen hat?« Deacon hob die Hand, um Jaklis Protest zu bremsen. »Es ist gar nicht so weit, wenn man in gerader Linie durch die Wüste reitet. Mit einem guten Kompaß und einem guten Pferd nur vier Stunden. Ich bin um Mitternacht aufgebrochen. Und ich werde vor Sonnenuntergang zurück sein.« »Du hast die ganze Zeit hier gewartet?« Deacon wies auf einen kleinen Rucksack, der an der Tonne lehnte. »Es gibt stets ein paar Forschungsergebnisse aufzuschreiben.« Er klang geistesabwesend und ließ den Blick fortwährend über die Dünen schweifen. Nicht wegen der Gefahr, wußte Shan, sondern wegen seines Sohns. Deacon war wegen Micah hier. Die beiden Jungen hockten sich zu Füßen des Amerikaners hin. Sie waren noch immer ganz aufgeregt wegen der Erdnußbutter, die sie aus dem Glas geleckt hatten. Batu grinste. »Micah vermischt die Erdnußbutter mit Reis und -620-
formt dann kleine Klöße daraus.« Er sah zu Deacon hoch. »Bitte lassen Sie mich etwas davon mitnehmen. Ich werde ihn diese Woche in den Bergen treffen. Mahk und ich…« Der Junge warf Jakli und Shan einen schuldbewußten Blick zu. »Wir wollen oben bei den Gletschern nach ihm suchen«, sagte er leise. Er zupfte an Deacons Ärmel, bis der Amerikaner die Augen von den Dünen abwandte. Deacon kniete neben ihm nieder und klopfte sich die Taschen ab, als würde er nach einem geeigneten Behälter suchen, um darin etwas Erdnußbutter für Micah abzufüllen. Kaju schaute zu Akzu, der mit dem Hund auf dem Dünenkamm oberhalb der Straße Position bezogen hatte. »Die Leute haben Angst«, sagte er zu Deacon. »Seine Pflegeeltern sind überaus scheu. Der nächste Unterricht ist für den Vollmondtag angesetzt. Nur noch ein paar Tage. Ich werde hier sein«, versicherte der Tibeter. »Ich werde allein kommen.« »Sicher«, sagte Deacon mit unüberhörbarer Enttäuschung. »Der nächste Unterricht.« Er sah Shan an und zwinkerte ihm zu. »Ich habe an dem Tag bereits eine Verabredung.« Shan lächelte. Wenigstens gab es inmitten all der Tragödien auch zwei Lichtblicke zu verzeichnen. Jakli würde ein neues Leben mit Marcos Sohn beginnen. Und Deacon würde mit Micah unter dem Vollmond sitzen und dem Orchester der Insekten lauschen. Plötzlich fing der Hund an zu bellen. Sie sahen, daß Akzu aufstand. Er reckte die Hand empor und ließ sie dann zum Hinterkopf sinken, als wolle er sich dort kratzen. Kaju keuchte erschrocken auf. »Das ist das Zeichen. Jemand kommt. Jemand, vor dem er uns warnen muß.« »Verdammt!« rief der Amerikaner. Er begann, in den Taschen seiner weiten Hose herumzusuchen, während Kaju die Kinder in den dunklen Innenraum des Gebäudes drängte, so daß sie aus Akzus Sichtfeld verschwanden. Der alte Kasache verharrte an -621-
Ort und Stelle und schien jemandem aus Richtung der Straße entgegenzublicken. Er blieb absichtlich dort oben auf der Düne, damit die Neuankömmlinge zu ihm kommen würden und man sie vom Gebäude aus sehen konnte, begriff Shan. Jakli und Kaju zogen hastig die Torflügel zu, abgesehen von einem wenige Zentimeter breiten Spalt, durch den sie die Düne im Blick behalten konnten. Kurz darauf tauchte an Akzus Seite ein Mann auf, der kleiner und stämmiger als der Kasache war. Als er das Clanoberhaupt ansprach, drehte er sich ein Stück zur Seite, so daß man seine Uniform deutlich erkennen konnte. »Bao!« rief Jakli. »Keine Angst«, sagte Kaju, ohne dabei überzeugend zu klingen. »Akzu hat einen Plan. Er wird behaupten, er suche nach geeigneten Pfaden, um die Herden der Brigade auf die Winterweiden zu treiben. Manchmal gäbe es hier in der Nähe Wasser. Wenn er welches fände, könne er mit einer Abkürzung quer durch die Wüste einen ganzen Tag sparen. Er wird sagen, er wolle nur der Brigade helfen, denn schließlich würde er selbst bald ein Anteilseigner sein. Da es hier kein Wasser gibt, wird er Bao fragen, ob der Major ihm nicht eine bessere Route empfehlen könnte. Falls Bao hilfsbereit ist, wird Akzu ihn begleiten. Falls nicht, wird Akzu so lange auf ihn einreden, bis sie zusammen wegfahren. Dann kommt er in vier Stunden wieder her. So haben wir es vereinbart.« Diese Ausführungen schienen weder Deacon noch die Jungen besonders zu trösten, denn sie alle standen mit grimmigen Mienen im Halbdunkel. Der Amerikaner hielt einen Gegenstand in der Hand, den er nach einigem Suchen gefunden hatte - eine bleistiftgroße Taschenlampe. Auch der Rucksack hing bereits wieder über seinen Schultern. Deacon trat ans Fenster. Shan beobachtete Bao mit kaltem, durchdringendem Blick. Der Mann wirkte wie ein dunkler Planet, in dessen Umlaufbahn -622-
Shan gefangen war. Wer befand sich sonst noch dort? Wie viele andere warteten hinter der Düne in einem Streifenwagen der Kriecher? Shan drehte sich um. Jakli stand nun im Schatten bei den Jungen, hatte jedem von ihnen einen Arm um die Schultern gelegt und tröstete sie. In was für einem Land leben wir, dachte er, daß zehnjährige Kinder nicht nur wissen, was die Öffentliche Sicherheit ist, sondern sich zudem noch davor fürchten müssen? Er schaute von Jakli zu Deacon und wußte aus irgendeinem Grund, daß sie alle das gleiche dachten. Bao konnte sie allesamt festnehmen und damit so viel Ruhm ernten, daß sogar Peking auf ihn aufmerksam werden würde. Shan, der Flüchtling. Deacon, der illegale Amerikaner. Die Waisenjungen, für die es ein privat ausgeschriebenes Kopfgeld gab. Und Jakli, die gegen ihre Bewährungsauflagen verstieß. Auf einmal zeigte Bao auf das Gebäude. »Wir müssen gehen«, sagte Deacon und hob Batu zum Fenster. »Gehen?« krächzte Kaju verzweifelt. »Es gibt keinen Ort, an den wir gehen könnten.« »Aber natürlich gibt es einen Ort«, erwiderte Deacon. »Wir werden uns unsichtbar machen.« Der Amerikaner setzte Batu draußen ab und stieg selbst hinaus. Bao kam langsam die Düne hinunter. Akzu zögerte und folgte ihm dann, wobei er eine entfaltete Landkarte umherschwenkte, als würde er Bao eine Frage stellen. Es dauerte keine zehn Sekunden, da hatten auch Jakli, Jengzi, Shan und Kaju das Gebäude verlassen. Deacon stand einige Meter entfernt bei den Überresten eines der kleinen Schuppen und riß die Bodenbretter weg. Bao konnte diese Stelle nicht einsehen, denn die Sicht darauf wurde ihm durch die Garage versperrt, wenngleich niemand wußte, für wie lange noch. Als Shan den Amerikaner erreichte, hatte Deacon -623-
bereits drei Bretter entfernt und ließ soeben die Kinder in einen darunter gelegenen Schacht hinab. Jakli und Kaju stiegen hinterher, dann folgte Shan und schließlich Deacon selbst. »Was ist…«, setzte Shan an, aber der Amerikaner stieß ihn auf einen dunklen Fleck in der Rückwand des knapp zwei Meter tiefen Schachts zu. »So weit es geht nach hinten!« befahl Deacon in drängendem Flüsterton und streckte dann die Arme aus, um die Bretter zurück an ihren Platz zu ziehen. Erst als er das erledigt hatte und sich mit seiner Taschenlampe den anderen näherte, erkannte Shan, daß sie vor einem mit Steinen ausgekleideten Tunnel standen. Der Gang war mehr als einen Meter hoch und ungefähr anderthalb Meter breit. Jengzi weinte. Er stand mit Jakli ganz vorn. Dann folgte Kaju mit Batu. »Okay«, sagte Deacon hinter Shan. »Damit kann unsere kleine Archäologiestunde beginnen.« »Archäologie?« keuchte Kaju. Shan konnte den Tibeter geräuschvoll atmen hören, als wäre die Luft knapp. »Noch zehn Meter, dann ist es sicher genug, um zu reden«, flüsterte Deacon. Auf dem Boden des Tunnels lag eine Sandschicht, unter der sich die gleichen quadratische n Steine befanden wie an der Decke und den Seitenwänden. Alle zweieinhalb Meter erstreckten sich Holzbalken über die volle Breite des Gangs und wurden von kleinen seitlichen Stützpfosten getragen. Während die Gruppe sich vorsichtig im trüben Schein von Deacons Bleistiftlampe vorantastete, rieselte aus den Fugen über ihren Köpfen Sand auf sie herab. »Die karez«, erklärte Deacon, als sie anhielten. »Die alten Bewässerungskanäle aus den Bergen, in denen das Schmelzwasser transportiert wurde, so wie im Sandberg.« »Die Kanäle sind immer noch intakt?« fragte Shan. »Sehen Sie doch selbst. Mitunter geht das noch kilometerlang -624-
so weiter. In der Gegend von Turpan werden sie auch heute noch zur Bewässerung benutzt, wie manche der alten römischen Aquädukte in Italien. Wir haben im Sandberg eine Landkarte entdeckt, auf der ein solcher Tunnel hier angedeutet wurde. Ich habe ihn heute morgen gefunden.« »Aber das ist unmöglich«, sagte Kaju, nach wie vor keuchend. »Die können auf keinen Fall stabil sein. Wir werden…« Er hielt inne, und Shan schaute zu ihm. Die Augen des Lehrers waren auf seine Schüler gerichtet. »Es gab überall Zugänge«, erläuterte Deacon. »Für die Wartungsarbeiten und um Wasser entnehmen zu können. Genau wie der Eingang, durch den wir hergelangt sind. Wir müssen bloß den nächsten finden, und dann klettern wir wieder hinaus. Wie Hasen aus ihrem Bau.« Die Erbauer des Aquädukts hatten ganze Arbeit geleistet. Über weite Strecken lagen die Steine noch so dicht aneinander, daß kein Körnchen Sand auf dem Boden zu sehen war. An einigen Stellen gab es sogar kleine, abgestandene Pfützen, was bedeutete, wie Deacon aufgeregt hervorhob, daß zu Zeiten des Hochwassers, während des Frühlingstauwetters, manche der Bäche noch immer den Weg in die alten Tunnel fanden. Je weiter sie vorankamen, desto deutlicher erkannte Shan ein Muster in der Abfolge der Stützpfeiler. Jeder fünfte Balken war dicker und mit eingeritzten Schriftzeichen sowie den Abbildern von Pflanzen versehen, vermutlich genau den Pflanzen, die durch die karez einst am Leben erhalten wurden. In der Mitte jedes dieser Balken befand sich ein kleiner, nach Norden weisender Drachenkopf, der abwehrbereit den bösen Geistern entgegenblickte, die womöglich versuchen könnten, durch die unterirdischen Kanäle vorzustoßen. Von vorn hörte Shan den tibetischen Jungen ein wimmerndes Geräusch ausstoßen, gefolgt von dem Ruf, es gebe hier Spinnweben. Shan hätte am liebsten selbst gewimmert. Zwar bestand keine akute Gefahr mehr, daß Bao sie entdeckte, doch drohte jederzeit ein Einsturz der -625-
brüchigen Wände. Falls die Decke über ihnen zusammenbrach, würde es keine Rettung für sie geben. Er hörte Jakli beruhigend auf die Kinder einreden. Khoshakhan, sagte sie mehrmals, das Trostwort für die Lämmer. Jengzi hörte auf zu schluchzen. Doch während alle anderen innehielten, kroch Batu langsam voran, um neben Kaju zu gelangen. Shan wollte ihn warnen, daß für zwei Leute nebeneinander nicht genug Platz vorhanden sei, als der Fuß des Jungen gegen einen der uralten Stützpfosten stieß. Es ertönte weder ein knackendes noch ein splitterndes Geräusch, sondern einfach nur ein trockenes Knirschen, und der untere Teil des Pfeilers brach zur Seite weg. Statt weniger Körner floß schlagartig ein stetiger Sandstrom in den Tunnel hinab, erfüllte den Gang mit feinem Staub und sammelte sich alsbald auf dem Boden. »Schnell!« rief Deacon. Jakli und Jengzi schoben sich hastig voran, gefolgt von Kaju, Batu und Shan. Als Shan durch den Sandschleier kroch, fiel ihm zunächst ein Stein auf den Rücken, dann ein zweiter auf die Beine. Er wandte den Kopf, um nachzuschauen, ob Deacon Hilfe benötigte. »Schnell!« rief der Amerikaner ein weiteres Mal. Eilig robbte Shan drei Meter nach vorn und drehte sich um, als im selben Moment rund um den geschwächten Stützpfeiler die gesamte Decke einstürzte. Deacon hatte erst die Hälfte der Strecke zurückgelegt, als plötzlich Steine und Sand ihn einhüllten. Shan streckte beide Arme aus, packte mit einer Hand die Taschenlampe, mit der anderen Deacons Handgelenk und zog. Mit einiger Anstrengung kam der Amerikaner frei. Für einen Moment blieb er bäuchlings liegen und rang nach Luft. Dann nahm er die Lampe und leuchtete jeden der vor ihm Wartenden einmal kurz an. »Okay«, sagte er mit gezwungenem Grinsen. »Ich schätze, jetzt kann Bao uns wirklich nicht mehr hören.« -626-
»Wo genau ist dieser Ausgang, den du uns versprochen hast?« fragte Jakli langsam, als koste es sie bei jedem Wort große Anstrengung, nicht die Selbstbeherrschung zu verlieren. Vor ihr konnte man noch ein kurzes Stück des Tunnels erahnen, dann folgte Finsternis. »Es muß einen Zugang geben. Früher befand sich hier eine Ansiedlung. Ihr habt die steinerne Ruine selbst gesehen«, erklärte Deacon. »Und Zisternen. Zwar sind fast alle Zisternen oben abgedeckt, aber es dürfte sich höchstens ein halber Meter Sand auf ihnen abgelagert haben.« »Aber wie lange noch?« fragte Kaju und schaffte es nicht, die Angst in seiner Stimme zu verbergen. »Wo ist eine Zisterne? Ich bekomme kaum Luft.« »Ich glaube, Mr. Deacon will sagen, wir sollten einfach weiterkriechen«, warf Shan ein. »Genau«, bestätigte der Amerikaner in gedämpfter Lautstärke. »Noch ein paar Tage, dann kommen wir vielleicht im nördlichen Gebirge wieder heraus und haben Frösche in den Taschen.« Er leuchtete in die Gesichter der Jungen. »Es heißt, in manchen der alten karez lägen Schätze verborgen«, fügte er mit gespielter Begeisterung hinzu. Batu lächelte. Jengzi wirkte eher skeptisch, aber dann krochen sie alle mit neuer Energie weiter und folgten Jakli, die sich vorsichtig in die Dunkelheit vorantastete. Mehrere Minuten lang sprach niemand ein Wort, als könnte jedes zusätzliche Geräusch einen anderen der altersschwachen Pfosten zum Einsturz bringen. Dann hielt Kaju auf einmal inne. »Hier!« sagte er und deutete auf den Querbalken über seinem Kopf. »Wir haben Schutz.« Deacon richtete den Lichtstrahl der Taschenlampe auf die bezeichnete Stelle, und sie sahen eine in leuchtendroter Farbe aufgemalte tibetische Inschrift. »Das sechssilbige Mantra«, sagte Kaju und schien neue Hoffnung zu schöpfen. »Dieser -627-
Tunne l wurde gesegnet.« »Da, schon wieder!« rief Jakli und zeigte auf den Balken vor ihr. Die gleiche Inschrift in derselben Farbe. Jakli kroch in höherem Tempo weiter, als würde die Markierung auf einen nahen Ausgang hinweisen. Shan sah die junge Frau im Dunkeln verschwinden, aber das Geräusch ihrer Bewegungen dauerte fort. Dann hörte man unvermutet einige Steine herabpoltern, gefolgt von einem Platschen. Jengzi rief erschrocken Jaklis Namen. Er erhielt keine Antwort. »Niemand rührt sich!« warnte Deacon. »Niemand zuckt auch nur mit der Wimper! Ich werde nachsehen.« »Nein«, sagte Shan. »Sie sind ganz hinten. Reichen Sie die Lampe zu Jengzi durch.« Die Augen des Jungen waren vor Angst geweitet, aber er nahm wortlos die Lampe entgegen und kroch voran. Fünf Meter. Zehn Meter. Schließlich hörte man aus einiger Entfernung Jaklis Stimme widerhallen, als befände sie sich in einem größeren Hohlraum. Die gedämpften Worte einer kurzen Unterredung drangen in den Tunnel und dann, kaum glaublich, Gelächter. Kaju und Batu eilten weiter, dicht gefolgt von Shan und Deacon. Als Shan und der Amerikaner die anderen einholten, fanden sie Kaju und die Jungen nebeneinander auf einem gemauerten, konkav gewölbten Sims vor, das in weitem Bogen die Hauptströmung der karez um ein gewaltiges, mit Steinen ausgekleidetes Loch herumführte. Die Zisterne, die angelegt worden war, um das überfließende Wasser des Hauptkanals aufzufangen, besaß einen Durchmesser von mindestens zwölf Metern, wurde von einer Kuppel aus paßgenau zurechtgeschnittenen Deckensteinen überdacht und bestand aus vier aufeinanderfolgenden Stufen. Jakli stand auf der obersten dieser Stufen bis zur Taille im Wasser. Das Sims verlief einen knappen Meter über ihrem Kopf. Deacon leuchtete die Decke und die gegenüberliegende Wand -628-
ab und stieß einen anerkennenden Pfiff aus. Im Scheitelpunkt der Zisterne hatten Wurzeln den Stein durchdrungen. Shan erinnerte sich an die überraschend zähen Sträucher, die sie mitten im Sandboden der Senke gesehen hatten. »Mit Jaklis Erlaubnis werde ich Batu und Jengzi als Entdecker vermerken«, sagte der Amerikaner. »Sie haben das große Geheimnis gelüftet.« »Ein Geheimnis?« fragte Kaju. »Wir haben soeben herausgefunden, warum dieser Ort schon immer Steinsee geheißen hat.« Das Grinsen der beiden Jungen reichte beinahe von Ohr zu Ohr. Von unten spritzte Jakli Wasser zu ihnen herauf. »Wenn es eine Zisterne gab, muß es auch einen Zugang gegeben haben«, sagte Shan. Deacon war auf dem Sims bereits zur gegenüberliegenden Wand unterwegs. »Vermutlich eine steinerne Treppe, die von einer Art Badehaus nach unten geführt hat.« Er hielt inne und leuchtete auf eine Stelle direkt unterhalb des Kuppelansatzes. »Ungefähr da«, sagte er. Man konnte dort einen großen Stein sehen, der von zwei gemauerten Säulen gestützt wurde, aber der Bereich unter diesem Türsturz war mit Felsen, Sand und Holzresten gefüllt. Der Durchgang war eingestürzt. Während Shan und Kaju die Arme ausstreckten und Jakli zurück auf das Sims zogen, suchte Deacon die Seite der Zisterne ab. »Es ist zu gefährlich«, schloß er. »Wenn wir die Felsen bewegen, bringen wir womöglich alles hier zum Einsturz. Aber die Zisterne muß sich ungefähr in der Mitte der Ansiedlung befunden haben. Es wird noch weitere Zugänge geben.« Unmittelbar nachdem er diese hoffnungsvollen Worte ausgesprochen hatte, flackerte die Lampe und ging fast aus. Deacon schüttelte sie, und das Licht wurde wieder heller, wenngleich nicht annähernd so hell wie noch kurz zuvor. »Weiter!« befahl er. -629-
Ungefähr fünfzig Meter hinter der Zisterne bat Jakli, die vorankroch, um die Lampe. Kurz darauf setzte sie mit zitternder Stimme zu einer Beschreibung dessen an, was vor ihnen lag. Aber dazu bestand keine Veranlassung. Der Lichtstrahl verriet ihnen alles. Mehrere Stützpfeiler hatten sich gelockert, und drei davon neigten sich gefährlich weit in den Gang hinein. Einer der Querbalken war zu Boden gefallen. Um ihn herum türmte sich ein Haufen aus Sand und Steinen auf. Ein weiterer der Pfosten war nahezu verrottet und schien auf kaum mehr als ein paar Spänen zu ruhen. Der Tunnel sah so aus, als würde er jeden Moment einstürzen. Hier in der gruftähnlichen Stille schien die Zeit irgendwie anders zu vergehen. Sie alle starrten das drohende Verhängnis an, und Shan wußte beim besten Willen nicht, wie lange es dauerte, bis Deacon das Wort ergriff. »Okay«, sagte der Amerikaner. Shan hörte ihn tief durchatmen, als versuche er, sich selbst zu beruhigen. »Jakli behält die Lampe. Sie geht zuerst, dann die Jungen. Dahinter brauchen wir eine kräftige Person, falls schnell gegraben werden muß, also geht erst Kaju, dann Shan. Ruft mich, sobald ihr einen stabilen Abschnitt erreicht, und ich komme hinterher. Ich bin am größten, also stelle ich auch das größte Risiko dar.« Niemand widersprach. Jakli schob sich langsam voran. »Sie werden dann aber kein Licht haben«, rief Kaju dem Amerikaner zu. »Ich habe Streichhölzer dabei«, entgegnete Deacon mit dumpfer Stimme. »Kein Problem.« Shan forderte den Tibeter zum Aufbruch auf, indem er kurz Kajus Bein anstieß. Die vier Gestalten drangen allmählich immer weiter voran. Erst drei Meter, quälend langsam, dann sechs Meter, und danach wurde der Lichtschein schnell schwächer, als führe der Tunnel um eine Biegung. »Ich weiß, daß Sie noch hier sind, Sie armer Irrer«, sagte -630-
Deacon in die Dunkelheit. »Sie sind kleiner als Kaju. Sie können es schaffen.« »Ich dachte, es gibt hier vielleicht Grillen«, sagte Shan. »Wieso sollten nur Sie den ganzen Spaß haben?« Lange Zeit herrschte Schweigen. Wenn Shan angestrengt lauschte, glaubte er das Geräusch der rieselnden Sandkörner hören zu können. »Wie viele Streichhölzer haben Sie?« fragte Shan. »Ich habe gerade nachgezählt. Zehn.« »Ich habe ungefähr ein halbes Dutzend.« »Großartig. Holen Sie uns schnell ein paar Marshmallows, damit wir die Dinger rösten können.« Dann herrschte wieder Schweigen. »Ich habe das Alte Eisenbein zum Singen gebracht«, verkündete Deacon in der Finsternis. »Tolle Baßstimme. Ich habe ihn mit etwas Erdnußbutter gefüttert.« Sie unterhielten sich erneut über Grillen, sowohl die des alten Mönchs aus Shans Kindheit als auch jene, die Deacon bislang für seinen Sohn gesammelt hatte. »Mehr können wir nicht tun?« fragte Shan schließlich und hörte, wie traurig seine Stimme klang. Der Mörder konnte abermals zuschlagen, während Shan hier unten in diesem sandigen Grab lag, in das die Kriecher ihn gehetzt hatten. »Im Dunkeln weiterzukriechen…«, sagte der Amerikaner hastig, als wolle er die Angelegenheit so schnell wie möglich hinter sich bringen, »… wäre Selbstmord. Eine Handvoll Streichhölzer macht da keinen Unterschied. Also warten wir. Jakli wird uns eine ganze Horde Pfeifhasen mit Helmleuchten schicken.« »Wir könnten umkehren«, schlug Shan vor. »Dahinten ist es auch nicht besser. Sie rechnet hier an dieser Stelle mit uns.« -631-
Wollte er damit zum Ausdruck bringen, daß man hier an dieser Stelle nach ihren Leichen graben würde? fragte Shan sich. Ein Streichholz flammte auf und blendete Shan. Deacon sah ihn an, den Kopf auf einen Arm gestützt, und wirkte dabei seltsam friedlich. »Bleiben wir einfach hier liegen, bis wir verhungert sind?« fragte Shan. »Nein«, sagte Deacon merkwürdig ruhig. »Die Luft hier drinnen zirkuliert nicht. Bis dahin sind wir längst erstickt.« Das Streichholz verlosch. Shan legte sich hin und verschränkte die Hände im Nacken. Hinter sich konnte er den leisen Atem des Amerikaners hören. Er streckte einen Arm aus, fuhr mit den Fingerspitzen über die Steine und fühlte sich auf eigenartige Weise den Erbauern der karez verbunden. Vor Shan waren andere Männer hier gewesen, ehrwürdige Männer, die im trüben Schein der Öllampen arbeiteten, Steine und Stützbalken mit leichten Hammerschlägen an die gewünschte Position beförderten und durch genaue Vermessungen sicherstellten, daß das Wasser dem Zug der Schwerkraft folgen würde. Manche hielten inne, um Inschriften im Tunnel anzubringen, die niemand je lesen würde. Niemand außer einer kleinen verzweifelten Gruppe Ausgestoßener, viele Jahrhunderte später. Was würde wohl geschehen, falls jemand in tausend Jahren seine Leiche barg? Bestimmt würde man seine Kleidung betrachten und sagen: Seltsam, dieser vertrocknete Han-Chinese mit dem alten tibetischen gau trägt Textilien aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert, hat aber gleichzeitig ein Medaillon aus dem zehnten Jahrhundert in der Tasche. »Stimmt es, daß es Lamas gibt, die mit Bergen sprechen können?« ertönte Deacons Stimme in der Schwärze. Shan lächelte. »Ich schätze, Berge haben bestimmt eine Menge zu sagen.« -632-
»Ein Berg ist uralt«, sagte der Amerikaner sehr langsam und inzwischen auf englisch. »Und voller Wasser, Kristalle und Wurzeln. Ich könnte viel von einem Berg lernen.« Schweigend atmete er mehrmals ein und aus. Der Sauerstoffmangel machte sich allmählich bemerkbar. »Früher bin ich oft in den Bergen gewandert, habe mich unter riesige Bäume gesetzt und einfach alles auf mich wirken lassen. Ich habe dabei nicht mehr gedacht, nur noch gefühlt. Stundenlang.« »Eine Meditation«, sagte Shan. »Ja, so ähnlich. Ich habe gehört, daß es in Tibet Leute gibt, die so etwas jahrelang machen. Falls ich mehrere Jahre damit zubringen würde, wäre ich… keine Ahnung. Ich wäre nicht mehr ich selbst. Ich wäre etwas Besseres. Etwas, das mehr ist als nur ein Mensch.« »Ich habe solche Leute getroffen«, sagte Shan. »Dann sind Sie ein Glückspilz. Ich hingegen… na ja, wahrscheinlich hoffe ich lediglich darauf, etwas wirklich Gutes zu tun, damit ich mein nächstes Leben vielleicht als Einsiedler in Tibet verbringen kann.« Dann schwiegen sie wieder. Deacon entzündete ein weiteres Streichholz und hielt es dicht an die Wand, weil er offenbar einen näheren Blick auf die Konstruktion werfen wollte. Von den anderen war nicht das geringste zu hören. Vielleicht lagen sie unter einem Einsturz verschüttet und waren bereits tot, und womöglich wäre das immer noch besser, als langsam und qualvoll in der Finsternis zu ersticken. Shan spürte etwas an der Hand. Feuchtigkeit. Er wischte den Sand von einem der Bodensteine und hielt einen Finger auf die Stelle. Kurz darauf war sein Finger feucht. Er schob den Sand beiseite und legte die Wange auf den feuchten Stein. Es hatte etwas von einem Wunder an sich, dachte Shan. Als würde diese Feuchtigkeit auf etwas sehr Machtvolles hindeuten, als wäre sie tausend Jahre alt, ganz ähnlich dem Gefühl, das Shan empfunden hatte, als er die -633-
Mumie des Pilgers berührte. Er drückte seine Wange fest auf den Stein. Einst hatte er ein altes gompa besucht, vor dem sich ein Brunnen befand, an dem die Pilger ihren Durst löschten. Zur Zeit der chinesischen Invasion war ein khampa-Mädchen dorthin gegangen, nachdem die Soldaten es gezwungen hatten, die eigenen Eltern zu erschießen. Sie hatte eine ganze Woche am Rand des Brunnens geweint, und die Mönche hatten später die Öffnung abgedeckt, damit die Invasoren den Schacht nicht finden und zuschütten konnten. Nur für Besuche der Gläubigen wurde der Brunnen geöffnet. Die Tränen des Mädchens seien noch immer im Wasser enthalten, sagten die Mönche ernst, denn sobald sie erst einmal in den Schacht gefallen waren, würde auf ewig ein Rest von ihnen im Brunnen verweilen, ganz gleich, wie viele Eimer man herausschöpfte. Shan spürte die Feuchtigkeit auf seiner Wange und überlegte, wie viele Tränen sich wohl mit ihr vermischt haben mochten. All die Menschen, die während vieler Jahrhunderte in den nahen Bergen geweint hatten, würden Reste ihrer Tränen in diesen Wassern wiederfinden. Er erkannte, daß sein kürzlich noch so großer Durst verflogen war. Etwas aus dem Gespräch mit Malik fiel ihm wieder ein. Ob man so wohl bemerkt, daß man tot ist? Weil man keinen Durst mehr hat? hatte Malik gefragt. »Wenn Berge sprechen können, was haben Wüsten dann wohl zu sagen?« fragte Deacon in der Dunkelheit. »Das gleiche«, erwiderte Shan, »nur voller Trauer.« »Wie meinen Sie das?« »In die Wüste gehen Berge, wenn sie sterben müssen.« Dann herrschte wieder Stille. Shans Bewußtsein schien zu schwinden, als würde er einschlafen. Er hielt sich einen Finger vor die Augen und konnte nicht erkennen, ob sie offen oder geschlossen waren. Er hörte etwas. Musik und eine Falsettstimme. Falls Wassertropfen Jahrhunderte überdauern -634-
konnten, traf das eventuell auch auf Geräuschfetzen zu, die irgendein uralter Wind in die karez getrieben hatte. Vielleicht taten Winddämonen genau das: Sie sammelten Stücke menschlichen Lebens und deponierten sie an stillen dunklen Orten. Shan roch Ingwer und vernahm eine Stimme, die unverkennbar seinem Vater gehörte. Anfangs waren es keine Worte, sondern Geräusche, als würde sein Vater eine Melodie summen, um ihn zu trösten. Dann hörte er seinen Vater etwas sagen, in einer Sprache, die dieser gar nicht beherrscht hatte. Khoshakhan, sagte er zu Shan. Khoshakhan. Etwas Sand rieselte ihm in den Mund. Shan mußte würgen und husten und wachte wieder auf. »Damals, als der Steinsee noch eine Oase war, hat es hier bestimmt sehr viele Grillen gegeben«, sagte er matt. Deacon lachte leise auf. »Wir haben letzte Woche eine Schriftrolle gefunden. Eine Abhandlung über geeignetes Futter für singende Grillen. Aus der Zeit der Ming- Dynastie. Ich will den Text Micah zeigen. Wir werden ein paar der Rezepte zusammenmischen und ausprobieren, ob es funktioniert.« »Am Vollmondtag.« »Ja.« Der Amerikaner hielt kurz inne, bevor er weitersprach. »Es wird bestimmt schlimm für ihn.« »Schlimm?« »Wenn er von Khitai erfährt. Die Maos haben uns erzählt, was geschehen ist.« »Die beiden waren befreundet.« »Sogar sehr eng. Sie haben zusammen jede Menge Unfug angestellt. Es hat uns wirklich gefreut, als wir hörten, Micah habe einen Bruder gefunden. Warp hat in Gedanken schon unser Haus umgebaut. Und Fahrräder gekauft.« »Ich verstehe nicht ganz…«, setzte Shan an und begriff dann, -635-
daß Deacon die Zukunft gemeint hatte. Er rollte herum, so daß sein Rücken auf der feuchten Stelle zu liegen kam, und streckte eine Hand in die Finsternis aus. Er war blind und sah doch klarer als je zuvor. Marco wußte nicht, wohin Lau den Yakde Lama hatte bringen wollen. Deacon hingegen schon. »Khitai«, sagte Shan. »Jetzt verstehe ich. Sie wollten ihn nach dem nächsten Vollmond mit nach Amerika nehmen.« Es war eine sonderbare Situation. Sie sprachen über die Zukunft, als wäre sie nicht länger ein Teil von ihnen, als ginge es um das Leben anderer Leute. Deacon antwortete nicht. »Ich weiß darüber Bescheid. Der Panda. Die Medaillons. Ich wußte nur nicht, wie weit er reisen würde.« »Jemand hat einmal zu mir gesagt, man solle keine Geheimnisse mit ins Grab nehmen. Also schätze ich, wir können uns ruhig gegenseitig alles mitteilen.« Deacon atmete mehrfach tief durch. »Schon lange bevor der ganze Ärger anfing, haben Micah und Khitai zusammen Zukunftspläne geschmiedet. Dann kam Lau vor einem Monat ganz aufgeregt zu uns und erklärte, wer der Junge war. Sie sagte, es habe sich manches verändert und sie müsse vielleicht von hier weggehen. Auch Khitai benötige dringend ein neues Zuhause. Ob wir nicht behaupten könnten, er sei unser chinesischer Adoptivsohn? Warp war sofort Feuer und Flamme, als sei uns das alles vorherbestimmt gewesen. Marco kann uns rausbringen, sagte sie. Er kennt viele Leute und hat jede Menge Geld auf ausländischen Konten. Er hat uns aus Pakistan Papiere verschafft. Amerikanische Pässe.« Deacon seufzte. Die Grabesstille. Sie macht dem Amerikaner ebenfalls zu schaffen, dachte Shan. Die Stille schien zu schreien. Sie wirkte beinahe greifbar, als würde sie physisch auf ihnen lasten, als würden um sie herum die Tunnel zusammenschrumpfen. Er hob langsam die Hand, bis er die Decke berührte. -636-
»Ich begreife es nicht«, sagte Shan. »Was?« fragte der Amerikaner. Sogar die Geräusche schienen sich verlangsamt zu haben. Shan kam es so vor, als wäre zwischen seiner Frage und Deacons Antwort eine Ewigkeit vergangen. »Weshalb Sie und Ihre Frau nach Xinjiang gekommen sind. Warum Sie Ihren Sohn in die Obhut von Clanmitgliedern gegeben haben, die Sie nicht besonders gut kennen.« Deacon blieb so lange stumm, daß Shan sich fragte, ob er womöglich zu atmen aufgehört hatte. »Ein Splitter«, sagte er. »Der Auslöser für all das war ein Splitter. Wir waren im Dschungel des Amazonas. Der Splitter hatte sich schlimm entzündet. Ich war mit Warp und unseren Führern unterwegs, zwei Indios. Wir wollten einen Artikel über die Webkunst eines der aussterbenden Stämme schreiben. Ich bekam Wahnvorstellungen. Ich war mir sicher, ich würde sterben. Dann kam das Fieber. Immer wieder Ohnmachtsanfälle. Warp saß bei mir, wischte mir die Stirn ab und sprach mit mir, während die Indios im Dschungel nach Medizin suchten. Ich schwor mir, falls ich überlebte, würde ich alles verändern. Wir würden alles verändern.« Mühsam und in der verbrauchten Luft immer wieder unterbrochen durch tiefe Atemzüge, erklärte Deacon ihm, daß er den Großteil seiner Jugend als Weltenbummler auf Abenteuersuche verbracht hatte. Das von seinem Vater, einem Autohändler, geerbte Vermögen war dabei überwiegend auf der Strecke geblieben. »Ein Monat per Kajak durch Tansania. Vier Bergbesteigungen in Alaska und Nepal. Bungee-Jumping in Neuseeland. Die Anden. Ein Monat in Peru. Ein Monat in Patagonien.« »Auf Forschungsreisen?« »Nein. Nach unserer Heirat hat Warp mich auf manchen meiner Reisen begleitet und die Gelegenheiten genutzt, danach -637-
etwas Geld mit einem entsprechenden Artikel zu verdienen. Mir ging es bloß um den Nervenkitzel. Sie hat dafür gesorgt, daß wir uns vorübergehend niederließen, damit ich endlich erwachsen würde, wie sie sagte. Wir haben Jobs an der Universität bekommen. Micah wurde geboren. Dann waren wir eines Tages in einem Einkaufszentrum, so einem Betonlabyrinth, in dem alle möglichen Geschäfte untergebracht sind. Wir hatten einen großen Korb voller Spielwaren und warteten in der Kassenschlange. Auf einmal sah ich, daß Warp weinte, daß richtig große Tränen über ihre Wangen liefen. Sie sagte, hier stehen wir also und machen einfach so weiter, wie alle anderen auch, und unterdessen geht unser Leben vorbei. Solange man kleine Kinder hat, geht man in diese riesigen Spielzeugläden und kauft teure Sachen aus Plastik. Die Kinder werden größer, und man geht in einen anderen Laden und kauft ihnen teure elektrische Sachen. Später ist es dann teure Kleidung. Falls man richtig viel Geld hat, teure Schuhe und teure Autos. Man definiert die eigene Existenz und den persönlichen Stellenwert in der Herde durch die Geschäfte, in denen man einkauft. Ich sagte, es ist bloß irgendwelches Spielzeug, Warp. Aber als wir dann an der Kasse waren und Warp in ihre Handtasche griff, zitterten ihre Hände so sehr, daß sie die Geldbörse gar nicht festhalten konnte. Sie konnte sich nicht mehr vom Fleck rühren. Sie hat einfach nur geweint und geweint. Die Polizei kam und dann ein Krankenwagen. Die Ärzte haben sie für eine Woche in irgendeine Pflegeanstalt gesteckt. Irgendein Idiot bekam Wind davon und hat Micah erzählt, seine Mutter sei im Spielwarenladen zusammengebrochen. Er war damals fünf und kam zu mir - mit all seinem Spielzeug in einer großen Kiste und sagte, er würde das alles weggeben und nie wieder Spielzeug haben wollen, wenn er dafür doch nur seine Mama zurückbekommen könnte. Ich bin zum Krankenhaus gefahren und habe Warp herausgeholt. Ich habe ihnen gesagt, sie seien die gottverdammten Verrückten, nicht meine Frau. Wir einigten -638-
uns darauf, daß wir jedes Forschungsprojekt annehmen würden, um dem Rest der Welt zu entfliehen. Monate später lag ich sterbend am Amazonas. Ich sagte zu ihr, ich habe die weiseste Frau der Welt geheiratet. Du hattest recht, damals in diesem Spielwarengeschäft. Niemand ist verantwortlich. Die Leute lehnen sich einfach zurück und lassen das Übel geschehen. Wälder werden abgeholzt. Kulturen werden zerstört, Traditionen verworfen, weil sie nicht Internetkompatibel sind. Kinder wachsen in dem Glauben auf, das Fernsehen sei überlebensnotwendig. All ihre Wertbegriffe entstammen der Werbung. Wir haben einander versprochen, falls wir dort wegkämen, würden wir für uns und Micah alles ändern. Wir würden Verantwortung übernehmen, und wir würden uns einen Ort suchen, an dem wir noch etwas bewirken konnten.« »Und hier sind Sie nun«, sagte Shan versonnen. »In einem uralten Tunnel unter einer uralten Stadt, um hilflos darauf zu warten, daß…« »Nur kein Bedauern«, fiel der Amerikaner ihm ins Wort, als wolle er nicht, daß Shan weiterredete. »Weder unsere noch die chinesische Regierung will uns hier haben. Zum Teufel damit! Genau hier können wir etwas bewirken.« Etwas bewirken. Seltsam, dachte Shan. Anklägerin Xu hatte am Vortag genau die gleichen Worte benutzt, um den Grund für ihre Anwesenheit in Yutian zu erläutern. »Peking glaubt, diese Menschen seien gebrochen. Aber das sind sie nicht. Sie warten bloß. Wir machen das gleiche wie Sie, Shan. Wir helfen ihnen, Wahrheiten zu finden.« »Aber Ihr Sohn.« Shan versuchte sich vorzustellen, er läge einfach nur nachts unter freiem Himmel auf einem Felsen und würde sich über Gott und die Welt unterhalten. »Vor zweihundert Jahren in Amerika mußten zehnjährige Jungen bereits allein auf die Jagd gehen, um ihre Familie mit -639-
Fleisch zu versorgen. Sie lernten, wie man überlebt, wie man Ställe und Hütten baut, wie man reitet, wie man ein krankes Pferd heilt, wie man ein Schaf schert. Genau das lernt unser Junge auch, die wesentlichen Dinge. Die ersten Dinge, wie Warp sie nennt. Mann, einen Teil davon könnte nicht einmal ich ihm beibringen. Aber die alten Kasachen und Tibeter, die können es. Wir vertrauen ihnen, als gehörten sie zur Familie. Nach den ersten beiden Wochen sagte Micah, er würde gern die Pflegeeltern wechseln, denn sein Schattenclan habe keine Pferde und er wolle gern mit Pferden zu tun haben wie die Kasachen, wie die Vorfahren seiner Mutter. Aber wir erklärten, er solle dort bleiben und vorerst den Umgang mit Schafen lernen. Lau sagte, sie würde dafür sorgen, daß er nicht eigenmächtig zu einer anderen zheli-Familie wechselt. Er ist bei seinem jetzigen Clan sicherer als sonst irgendwo.« Deacons Stimme erstarb, aber Shan wußte, was der Amerikaner dachte. Gott sei Dank war der Junge nicht zum Steinsee gekommen, sonst hätte er hier mit seinem Vater sterben müssen. Shan lag unter einem der Stützbalken. Mit den Fingerspitzen ertastete er im Dunkeln die Konturen der Schnitzereien. Ein Drachenkopf. Eine Blume. Erst einige Minuten später durchbrach er die Stille. »Dieses neuseeländische Bungee - was für ein Tier ist das überhaupt?« fragte er nachdenklich und grübelte gleichzeitig, ob ihm nach einem Leben voller ungelöster Rätsel jetzt nur noch eine Handvoll Fragen blieb. »Und wieso sollten Sie darüber hinwegspringen?« Der Amerikaner stieß ein krächzendes, schnaufendes Geräusch aus, das eigentlich ein Lachen war. »Okay«, sagte Deacon, nachdem er es Shan erklärt hatte. »Wie steht's mit Ihnen? Ein Geheimnis.« Shan überlegte einen Moment. »Ich war ein schlechter Vater.« -640-
»Welcher Mann ist das nicht? Jeder, der ein Kind hat, ist mal guter, mal schlechter Vater.« »Ich war kein regierungstreuer Arbeiter.« »Das will ich auch hoffen. Meine Güte, Sie haben immerhin für die Volksrepublik gearbeitet.« »In meinem Herzen verspüre ich dauerhaften Schmerz«, sagte Shan schließlich. »Weil ich Chinese bin und China mich im Stich gelassen hat.« Seine Gedanken wurden immer verworrener, und er fragte sich, ob er zeitweise das Bewußtsein verloren hatte. Er rief Deacons Namen, und der Mann gab ein leises Stöhnen von sich. Dann schob Shan sich langsam vorwärts und berührte den ersten der verrotteten Pfeiler. »Falls es uns gelingen würde, den heruntergefallenen Balken anzuzünden, könnten wir ihn als Fackel benutzen und uns durch den Gang vorarbeiten«, rief er dem Amerikaner zu. »Die Flamme würde den letzten Rest Sauerstoff aufbrauchen«, wandte Deacon mit heiserer Stimme ein. »Und auch mit Licht könnte bei der geringsten falschen Bewegung alles einstürzen.« »Vielleicht wäre das besser als ein langsamer Tod innerhalb der nächsten paar Stunden«, sagte Shan. Er hörte Deacon näher krieche n. Als der Amerikaner ihn erreicht hatte, ertastete Shan im Dunkeln seine Hand und legte sie auf den Balken. Dann holte er eines seiner Streichhölzer hervor, riß es an und hielt es ans Ende des Pfeilers. Das Holz schwelte, aber entzündete sich nicht. »Nicht heiß genug«, stellte Deacon nüchtern fest. »Vielleicht sollten wir zunächst ein paar vertrocknete Späne aufhäufen.« Auch dieser Versuch schlug fehl. Deacon hatte noch drei Streichhölzer übrig, Shan vier. Sie legten den Vorrat des Amerikaners in den kleinen Holzstoß und entzündeten das -641-
Ganze mit einem von Shans Streichhölzern. Der Haufen flammte zischend auf, doch gleich darauf sank die Flamme in sich zusammen und erlosch. Schweigend holte Shan die Zettel aus seinen Taschen, die Notizen und Beweisstücke, knüllte sie zusammen, schichtete sie auf und zündete sie an. Sie brannten mit kleiner, aber stetiger orangefarbener Flamme. Er legte einige Holzspäne nach, während Deacon den Pfosten über das Feuer hielt. Zwei Minuten später verfügten sie über eine Fackel und krochen durch den baufälligen Tunnel. Einer der Balken senkte sich, als Deacon vorbeikam, und brach dann hinter ihm durch. Anschließend schlängelten sie sich über einen Schutthaufen, der die Hälfte des Ganges einnahm. Shan bewegte sich im Schneckentempo vorwärts, wohl wissend, daß jede Bewegung die letzte sein konnte. Sie kamen nur quälend langsam voran. Einmal stürzte ein Teil der Seitenwand ein und begrub Deacons Arm unter sich. Vorsichtig machte der Amerikaner sich wieder frei und bedeutete Shan, den Weg fortzusetzen. Zweimal schien die Fackel beinahe erlöschen zu wollen, aber Shan streckte sie so weit wie möglich vor, bis sie neuen Sauerstoff bekam und wieder aufloderte. »Die Wand!« rief Deacon plötzlich in lautem Flüsterton. Zu beiden Seiten befanden sich solide, große Steine; die Decke war aus langen Felsplatten gefertigt. »Das Fundament eines Gebäudes!« krächzte der Amerikaner aufgeregt. »Es muß einen Zugang geben.« Sie beeilten sich. Dann, nach sechs oder sieben Metern, erstarrte Shan. Fünf Meter vor ihm schwebte ein Geist in der Dunkelheit, ein glühender, schimmernder Umriß. Deacon sah es ebenfalls und stieß einen Fluch aus. Shan kroch näher heran, und auf einmal machte sein Herz einen Freudensprung. Es war Licht, ein kleiner Strahl Tageslicht. Aber er drang nur durch einen winzigen, wenige Millimeter breiten Riß im Stein. Der Tunnel führte um eine Biegung, und dann sah Shan -642-
unvermittelt eine Flamme mit einem Gesicht darin vor sich. Der Anblick erschreckte ihn so sehr, daß er die Fackel fallen ließ. Das Gesicht fing an zu sprechen und hatte die Stimme einer Frau. »Shan!« rief das Gesicht, und da erkannten sie Jakli, die eine Fackel vor sich ausgestreckt hielt. Fünf Minuten später erreichten sie den Ausgang und sogen gierig die frische Luft in ihre Lungen, noch während Akzu und Kaju sie durch eine sechzig Zentimeter breite Öffnung in der Tunneldecke zogen, mitten hinein ins blendend helle Sonnenlicht. Sie befanden sich in einer Ruine in der Dünenflanke am nördlichen Ende der Senke. »Die Taschenlampe hat kaum noch funktioniert«, erklärte Kaju und streckte ihnen eine Wasserflasche entgegen. »Wir konnten damit nicht zu Ihnen zurückkehren. Und dann haben wir ziemlich lange gebraucht, um Holz für eine Fackel auf zutreiben.« Sie tranken mit großen Schlucken. Jakli und die Jungen erzählten unterdessen Akzu von der Tortur in der Dunkelheit und der wundersamen Rettung Deacons und Shans. Aber Shan war nicht nach Feiern zumute. Er suchte nach den Zetteln, die nicht verbrannt waren, weil er sie im Tunnel zufällig nicht als erstes in die Finger bekommen hatte. Das kleine Stück Papier mit den Abkürzungen, das er bei dem toten Amerikaner gefunden hatte, war noch da. Er faltete es wieder zusammen und steckte es sich in die Hemdtasche. Das einzige andere Blatt war die Kartenskizze, die er von Karatschuk angefertigt hatte. Er drehte das Papier um. Es stammte aus dem Abfalleimer der Gaststube. Zuvor hatte der Tadschike darin den gestohlenen Baseball eingewickelt. Damals war Shan nichts Verdächtiges daran aufgefallen. Er hatte die kleinen, unterschiedlich schattierten Striche zwar gesehen, aber für zufällige Tintenflecke gehalten. Deacon kam zu ihm und reichte ihm die Flasche. »Ich habe -643-
mir etwas überlegt, Shan«, sagte er und hockte sich neben ihn. »Sie sollten nächste Woche auch kommen. Um mit meinem Sohn und mir unter dem Vollmond zu sitzen. Ich möchte es gern. Ich hatte mich da unten schon völlig aufgegeben. Sie haben mir das Leben gerettet.« Aber Shan hörte ihm nur mit einem Ohr zu. Er sah Jakli an, die ihn plötzlich mit qualvoller Miene anstarrte. Sie löste sich von Akzu und kam zu ihm. »Bao hat sich nicht etwa von Akzu abwimmeln lassen«, sagte sie. »Er ist von hier verschwunden, weil über Funk die Meldung hereinkam, man habe an der Fernstraße zwei alte Tibeter gesehen.« Shans Kopf sank herab. Geistesabwesend betrachtete er das Stück Papier in seiner Hand und kämpfte gegen eine Woge der Verzweiflung an. Da packte auf einmal der Amerikaner eine Ecke des Zettels und zog daran. »Wo, zum Teufel…«, rief Deacon und beugte sich vor, um die gestrichelte Linie am oberen Ende der Seite genauer in Augenschein zu nehmen. »Dieser Tadschike hatte es bei sich, neulich in Karatschuk«, sagte Shan. »Wissen Sie, was das ist?« »Aber natürlich. Eine genetische Sequenz. Die Kopie eines unserer Laborergebnisse. Was hat das zu bedeuten?« Shan überlegte kurz und blickte dann beunruhigt auf. »Dieser Tadschike war weitaus schlauer, als ich vermutet habe. Er hat nicht versucht, Ihren weißen Ball zu entwenden. Der Ball war nur als Tarnung gedacht, um die Aufmerksamkeit abzulenken, falls man ihn erwischte. In Wirklichkeit wollte er das hier stehlen, um es jemand anderem zu bringen.« »Mein Gott.« Deacon ließ sich auf den Sand sinken und deutete auf einige Ziffern am Rand des Blattes. »Die Registriernummer unseres Labors in den Vereinigten Staaten. Das alles muß bis zur Veröffentlichung geheim bleiben. Falls dieser Code vorher bekannt wird, schließt man uns den Laden. -644-
Die Kriecher werden wissen, wer wir sind. Washington und Peking werden sich auf uns stürzen.« Deacon trank den letzten Schluck Wasser und zurrte die Riemen seines Rucksacks fest. Shan hatte noch ein Streichholz übrig. Er benutzte es, um den Zettel zu verbrennen, und blickte dem Amerikaner schuldbewußt hinterher, als der im Laufschritt zu seinem Pferd eilte. Die schlimmste Neuigkeit hatte er Deacon gar nicht mitgeteilt: Sein Sohn, der letzte versteckte Junge der zheli, war nun zweifellos das nächste Ziel der Mörder. Vielleicht wäre es gar nicht so schlecht gewesen, in der Wüste begraben zu werden, dachte Shan zerstreut. Er mußte nun eine schwerwiegende Entscheidung treffen. Mehrere Leute befanden sich in Gefahr, würden verhaftet oder ermordet werden. Er konnte nicht alles auf einmal verhindern. Entweder versuchte er, Gendun und Lokesh zu retten, oder er bemühte sich, den nächsten zheli-Mord zu vereiteln.
-645-
Kapitel Neunzehn Es kam Shan so vor, als seien während des Aufenthalts in den karez mehrere Tage vergangen, doch als sie die Fernstraße erreichten, war es erst früher Nachmittag. Zum Abschied umarmte Akzu seine Nichte mehrfach und ließ sie dabei jedesmal versprechen, rechtzeitig zum nadam zu erscheinen. Zuerst lächelte sie, dann lachte sie leise. Ihre Tanten hätten insgeheim ein Hochzeitskleid für sie angefertigt, erzählte Akzu, also müßte sie früh genug auftauchen, aber überrascht tun. Bevor der Kasache aufbrach, erkundigte Shan sich bei Jakli, ob sie den Weg zu dem Lager kannte, in das Marco den tadschikischen Dieb geschickt hatte. Sie fragte ihren Onkel um Rat. Am Wildbärenberg, bei der Furt des Zartwasserflusses, hatte Marco gesagt. Akzu kannte das Lager auch nicht, aber er wußte, wo sie einen Führer auftreiben konnten. »Ich dachte schon, ein Staubdämon hätte dich geholt«, sagte Akzu nachdenklich. Er hatte der Schilderung ihrer Passage durch die Tunnel vermeintlich ungläubig gelauscht. Nun musterte er den Sand auf ihrer Kleidung, ihrer Haut und ihren Haaren und nickte ernst, als würde es seinen Verdacht bestätigen. »Und manchmal bringen solche Dämonen dich auch genauso schnell wieder zurück«, stellte der alte Kasache fest. »Du würdest dich nicht daran erinnern.« Kaju ließ unentschlossen den Blick über die Landschaft schweifen, als hielte er nach weiteren Fluchtwegen Ausschau. Er würde in fünf Tagen zum nächsten Unterricht wiederkommen müssen. Das hatte er dem Amerikaner versprochen, denn es war verabredet worden, daß Deacons Sohn sich an jenem Tag wieder in die Obhut seiner Eltern begeben würde. Jakli schien Shans Gedanken zu lesen, während sie nach Westen fuhren und sich dabei von der Wüste entfernten. -646-
»Marco ist mit Sophie irgendwo da draußen«, versicherte sie. »Er wird Ihre Freunde finden. Es gibt keinen Besseren für diese Aufgabe. Er wird sie in Sicherheit bringen. Vermutlich sind sie jetzt schon gemeinsam zu seinem Haus unterwegs und singen russische Liebeslieder.« Eine halbe Stunde später hielt Jakli an einer Kreuzung, auf der sich zahlreiche Menschen drängten. Ganz in der Nähe standen eine Hütte und ein Drahtgehege mit einer Schafherde darin. Shan und Jakli stiegen aus und gesellten sich zu den and eren. Mehr als zwei Dutzend Leute bevölkerten die Kreuzung. Manche hielten Steine in der Hand, andere saßen ehrfürchtig vor einem anwachsenden Felshaufen. Einige lauschten einem Mann, der auf einem der breiten Zaunpfosten des Geheges saß und eine lebhafte Rede hielt. Ein Reiter näherte sich und fragte nach dem heiligen Ort. Der Mann auf dem Pfahl wies auf den Felshaufen, woraufhin der Reiter von seinem Pferd stieg und die Schwinge eines großen Vogels von seinem Sattel losband, um sie sogleich an den Steinen zu befestigen. Die Leute knieten nieder. Es handelte sich um einen Schrein zu Ehren eines dort geschehenen Wunders. Man hatte die Steine in Form einer steilen Pyramide von fast zweieinhalb Metern Höhe aufgeschichtet, in deren Spitze ein Pfahl steckte. An diesem Pfahl war ein Seil befestigt, dessen anderes Ende man in knapp fünf Metern Entfernung an einen Pflock im Boden gebunden hatte. An dem Seil hing ein tibetisch beschriftetes Stück Stoff. Eine Gebetsfahne. Shan war verwirrt. Buddhisten, die aus den Bergen herabgekommen waren, fügten weitere Gebetsflaggen hinzu. Die Kasachen und Uiguren opferten hingegen Federn, Pelzstücke und diese eine Vogelschwinge. Shan ging durch die andächtigen Reihen und stellte Fragen. Gestern, am späten Nachmittag, waren zwei tibetische heilige Männer hier vorbeigekommen und hatten mit ihren Eseln an der Kreuzung gerastet. Andere Menschen hatten sich zu ihnen gesellt, insgesamt neun oder zehn: alte Frauen, kleine Kinder, -647-
ein Hirte mit einem schlimmen Bein. Manche waren auf Pferden oder Eseln gekommen, andere zu Fuß. Wie bei einer Pilgerfahrt in der guten alten Zeit, sagte eine grauhaarige Frau. Einer der heiligen Männer, gekleidet in eine buddhistische Robe, hatte mit jedem der Leute gesprochen, sogar mit den Kindern. Der andere Mann, der beim Reden immer zwinkerte, hatte ihnen zwar ebenfalls gelauscht, aber nicht ihren Worten, sondern ihren Körpern. Er verstand, was Arme, Beine und Mägen zu sagen hatten und was niemand sonst hören konnte. Manchen der Leute hatte er Kräuter gegeben, anderen Ratschläge, welche Übungen sie mit ihren Gliedern vollführen sollten. Eine Nomadenfrau war mit ihrem Baby angeritten gekommen und hatte den Dünnen in dem roten Gewand gebeten, dem Kind einen Namen zu geben. Früher, erinnerte Shan sich, hatten die Tibeter stets ihre Lamas gefragt, welche Namen ihre Kinder tragen sollten. Dann hatte der Mann in der Robe bestimmte Bußgänge angeordnet. Eine Frau sollte ihren Bruder aufsuchen, mit dem sie seit zehn Jahren kein Wort mehr gewechselt hatte, weil er ihr ein lahmendes Pferd andrehen wollte. Eine andere Frau würde zu einem Bergsee reisen und von dessen Wasser trinken, um danach ein Obdach zu errichten, das den wilden Tieren im Winter Schutz bieten sollte. Der Mann mit dem kranken Bein war an den Schlafplatz der jungen Fohlen geschickt worden, um dort zu meditieren. »Ein synshy«, sagte der soeben eingetroffene Reiter wissend. »Der Mann in der Robe war ein Pferdesprecher.« Mehrere der Anwesenden nickten beipflichtend. Aber das sei nicht das Wunder gewesen, erklärte der Mann auf dem Zaunpfosten. Das eigentliche Wunder sei später geschehen, als die Kriecher eintrafen. Shans Kopf ruckte hoch. Sein Magen zog sich zusammen. Nur drei junge Kriecher in einem kleinen Lastwagen waren gekommen. Anscheinend hatten sie nach den heiligen Männern gesucht, denn zwei hatten -648-
bewaffnet Wache gestanden, während die dritte, eine Frau, aufgeregt ins Mikrofon ihres Funkgeräts gesprochen hatte. Die Leute waren wütend geworden und hatten den Kriechern gesagt, sie sollten gefälligst nach den Mördern der Kinder suchen und nicht nach alten Männern. Die Kriecher hatten daraufhin Handschellen hervorgeholt, und dann hatte jemand einen Stein nach ihnen geworfen. Sie hatten ihre Waffen gezogen, und einer hatte mehrere Schüsse in die Luft abgegeben. Der Mann mit der Robe - Gendun - hatte sich die Ohren zugehalten, und als das Schießen aufhörte, hatte er die Hände sinken lassen und den Mann gefragt, ob er fertig sei. Man könne so nämlich kaum ein Wort miteinander wechseln. Der Chinese hatte ihn verwirrt angesehen und sich entschuldigt. Dann war Gendun vor den Kriecher getreten, den der Steinwurf getroffen hatte. Er hatte den Menschen erklärt, sie sollten den jungen Soldaten kein Leid zufügen. Dann hatte er mit Lokesh gesprochen, und Lokesh hatte die Handschellen genommen und sie Gendun angelegt, während Gendun seinerseits Lokesh ein anderes Paar Handschellen umgelegt hatte. Dann hatte der Lama die Kriecher eingeladen, sich kurz zu ihnen zu setzen und gemeinsam etwas zu essen. Zwei der Kriecher waren der Einladung gefolgt, und Gendun hatte ein Gebet gesprochen, während ein Hirte nan-Brot verteilte. Gendun hatte die Kriecher nach ihren Namen gefragt und erklärt, die Soldatin habe ein starkes Gesicht und würde sich bestimmt gut als Ehefrau eines Hirten eignen. Die Leute hatten gelacht. Doch selbst das sei noch immer nicht das Wunder gewesen, sagte der Mann auf dem Pfosten mit theatralischer Geste. Das Wunder war geschehen, als eine Limousine eintraf und die Jadehure ausstieg. Die Menschen waren erschaudert und einige weggelaufen. Die Anklägerin hatte schweigend dagestanden und die Tibeter und die Kriecher betrachtet. Lächelnd und in Handschellen war Gendun zu ihr gegangen. Lange Zeit hatte sie wortlos seinen Blick erwidert, fast wie in Trance. Dann hatte sie -649-
in ihr Funkgerät gesprochen und den Kriechern befohlen, die beiden Männer freizulassen und wegzufahren. Die Kriecherin hatte protestiert, woraufhin die Anklägerin sie angeschrien hatte. Bevor die Kriecher aufbrachen, hatte die Anklägerin sich die Handschellen der zwei Tibeter geben lassen. Die Leute hatten geglaubt, sie würde die beiden jetzt selbst in Gewahrsam nehmen und in das Straflager am Fuß der Berge bringen. Aber die Jadehure war zu ihnen gegangen, hatte die Handschellen vor ihnen zu Boden fallen lassen und war weggefahren. Das war das Wunder gewesen. Die Handschellen lagen noch immer an derselben Stelle. Man hatte den Felshaufen genau darüber errichtet. Shan warf einen stummen Blick darauf und sah dann Jakli an. »Xu will die beiden bloß nicht mit den Kriechern teilen«, sagte Jakli. »Sie will sie ganz für sich allein, ohne daß die Kriecher davon Wind bekommen.« »Ich weiß es nicht«, sagte Shan und starrte erneut den Felshaufen an. »Manchmal geschieht tatsächlich ein Wunder.« Er suchte sich ebenfalls einen Stein für die Gedenkstätte und fragte dann den Mann auf dem Zaunpfosten, was danach passiert war. Die Nacht sei hereingebrochen, sagte er, und sie hätten ein Feuer entzündet und unter dem Sternenzelt noch lange geredet. Als die Sonne aufging, seien die heiligen Männer nicht mehr dagewesen. Shan schaute in Richtung der Wüste. In einigen Stunden würde es abermals dunkel sein - und kalt. »Sie haben nicht mal einen Kompaß dabei«, sagte Jakli mit gequälter Stimme. »Doch, das haben sie«, versicherte Shan. »Allerdings keinen, den Sie oder ich lesen könnten.« »Marco und Sophie sind inzwischen beim Tränenbrunnen. Sophie kann sie finden. Sophie kann sie riechen. Wahrscheinlich ist Marco zuvor in Karatschuk gewesen. Vielleicht hilft Osman -650-
ihm. Und Nikki«, fügte Jakli leise hinzu. Aber als sie eine halbe Stunde später das nächste Dorf erreichten, sahen sie Marco und Sophie mitten auf der Straße stehen, umgeben von Soldaten der Öffentlichen Sicherheit. Jakli hielt hinter einem Gebäude. Sie stiegen aus und spähten vorsichtig um die Ecke. Das Dorf befand sich in der Gewalt der Kriecher. Sie hatten mitten auf dem Marktplatz einen Kontrollpunkt errichtet und überprüften die Papiere sämtlicher Einwohner sowie aller Durchreisenden, die auf der Fernstraße eintrafen. Eine Schlange von mehr als hundert Menschen wartete vor einem Tisch, an dem drei Offiziere sich die Ausweise vorlegen ließen und jedem für unverdächtig befundenen Bürger einen Stempel auf die Hand drückten. An der Tür eines grauen Busses mit vergitterten Fenstern standen zwei Soldaten mit automatischen Gewehren. Durch die Scheiben des Fahrzeugs starrte ein halbes Dutzend unglücklicher Mienen hinaus. Neben dem Bus stand ein grauer Mannschaftstransporter, und sechzig Meter dahinter saßen zwei Männer auf den Vordersitzen eines roten Geländewagens. Die Brigade beobachtete. Beobachtete nicht etwa die Menge, sondern die Kriecher. Hektisch suchte Jakli die Gesichter der Wartenden ab. Beunruhigt schaute sie über die Schulter zu Shan, suchte ein weiteres Mal und seufzte erleichtert auf, als eine junge Frau vorbeikam. Sie zog die Frau um die Ecke und redete leise und eindringlich auf sie ein. Dann nahm sie die Hand des Mädchens und musterte den Stempelabdruck der Kriecher. Ein Kreis aus fünf Sternen in roter Tinte. Sie ließ die Hand wieder los und fügte noch einige Worte hinzu. Die junge Frau ging eilig weg, und Jakli zerrte Shan ans Ende der Warteschlange. Sie fragte den Mann vor ihnen, was denn der eluosi mit dem schönen Kamel angestellt habe. Das seien Marco Myagov und sein silbernes Rennkamel, erwiderte der Mann bewundernd. Marco habe überhaupt nichts angestellt, sondern sich lediglich -651-
geweigert, in der Warteschlange aus dem Sattel zu steigen. Deshalb habe ein Offizier befohlen, er müsse warten, bis alle anderen fertig seie n. Noch während der Mann sprach, schnaubte Sophie leise. Sie sah Jakli und Shan an und neigte den Kopf, als wolle sie etwas zu ihnen sagen. Marco folgte ihrem Blick, runzelte kurz die Stirn, als er die beiden erkannte, und schaute sofort wieder weg. Shan beobachtete die Offiziere am Tisch bei der Arbeit. Sie schauten erst in die Gesichter, dann auf die Papiere. Frauen und Kinder wurden nach einem kurzen Blick nickend durchgewinkt. Shan sah, daß auch ein Han-Chinese ebensoschnell passieren durfte. Ein alter Mann kam durch, ohne eines zweiten Blicks gewürdigt zu werden, dann noch einer. Die Kriecher suchten nach einer bestimmten Person. Nicht nach einem Han. Nach einem Mann, aber nach keinem alten Mann. Shans einzige Hoffnung bestand darin, daß sie den Gesucht en bald fanden, sonst würde auch er in dem Bus landen und sich zu den anderen Illegalen gesellen dürfen, die bei der Kontrolle ins Netz gegangen waren. Plötzlich kam vorn in der Reihe Unruhe auf. Einer der Offiziere erhob sich und brüllte einen Mann an, er solle die Mütze abnehmen. Er zerrte den Verdächtigen beiseite und befragte ihn, während die anderen beiden Offiziere sorgfältig die Papiere des Fremden prüften. »Wer ist das?« fragte Shan leise. Jakli sprach wieder den Mann vor ihr an. »Er weiß es nicht. Irgendein Tadschike. Das ist gut. Wir brauchen die Zeit.« Wofür? überlegte Shan. Für ein weiteres Wunder? Sie standen nun auf gleicher Höhe mit Marco. Er sang eines seiner turksprachigen Lieder und brachte damit viele der Umstehenden zum Lachen. Shan bat Jakli um eine Erklärung. Sie hörte kurz zu und errötete. »Es geht um Kamele. Um -652-
Kamele, die Liebe machen und dabei Probleme mit ihren Höckern haben.« Dann seufzte sie noch einmal erleichtert auf. Shan sah, daß ihr Blick auf einen Mann im Schatten einer Gasse gerichtet war, die drei Meter von Marco entfernt auf die Straße mündete. Marco hatte ihn ebenfalls bemerkt. Er zwinkerte Jakli zu, flüsterte Sophie dann etwas ins Ohr und ließ die Zügel los. Das silberne Kamel stieß schlagartig einen ohrenbetäubenden Schrei aus und schoß quer durch die Menge davon, so daß viele der Wartenden hastig zur Seite sprangen. Marco brüllte Sophie hinterher und rief dann, jemand möge sie wieder einfangen. Mehr als zwanzig Leute nahmen die Verfolgung auf, darunter auch der Mann aus der Gasse, der blindlings auf Shan und Jakli zurannte und sie dabei zu Boden stieß, während er lauthals nach dem Kamel schrie. Mehrere Hände packten Shan. Etwas Feuchtes berührte seine Hand, und jemand zog ihm eine Mütze tief ins Gesicht. Kaum hatte er sich aufgerappelt, zerrte Jakli ihn auch schon in die Menschenmenge, die dem Kamel hinterherlief. Kurz darauf beruhigte Sophie sich im festen Griff eines alten Kasachen, der sie daraufhin zurück zu Marco führte. Jakli schob Shan in den Schatten eines Durchga ngs. Er sah auf seine Hand und entdeckte einen aufgestempelten Kreis aus fünf roten Sternen. Nun konnten Jakli und er sich frei auf dem Marktplatz bewegen. Sobald sie an Kriechern vorbeikamen, zeigten sie beiläufig ihre Stempel vor. Am Tisch der Offiziere wurde soeben ein weiterer Mann genauer in Augenschein genommen. »Fragen Sie jemanden, ob das da auch ein Tadschike ist«, flüsterte Shan. Ja, es war ein Tadschike, bestätigte eine beinahe zahnlose alte Frau. Shan erschauderte. Obwohl Bao es so sehr auf subversive Ausländer abgesehen hatte, suchte die Öffentliche Sicherheit auf einmal nach einem Tadschiken. »Diese Narren haben keine Ahnung«, fügte die Alte hinzu. -653-
»Die Tadschiken sind nach Yutian gereist. Direktor Ko hat ihnen allen neue Kleidung versprochen, amerikanische Bluejeans. Als besondere Anerkennung des gesellschaftlichen Beitrags der Tadschiken.« Shan sah die alte Frau verwirrt an, während Jakli ihn bereits in die Schatten am Straßenrand zog. Die Brigade beobachtete nicht nur, auf welche Tadschiken die Kriecher es abgesehen hatten, sie versuchte auch auf eigene Faust, Tadschiken in die Stadt zu locken. Um die Leute dann an die Kriecher auszuliefern oder um die Öffentliche Sicherheit bei der Suche zu behindern? überlegte Shan. Zumindest bei der Suche nach einem ganz bestimmten Tadschiken. Jakli ging zu einem Verkäufer, der seine Waren auf einem Teppich in einer Ecke des Marktplatzes feilbot, und kaufte zwei Flaschen Orangenlimonade. Dann ließen sie und Shan sich mit ihren Getränken vor einer Hauswand nieder und beobachteten die Kriecher, genau wie fast jeder andere im Dorf. Nach einer weiteren halben Stunde hatte man alle Wartenden abgefertigt, und Marco und Sophie wurden zu dem Tisch geführt. Die Dorfbewohner kamen langsam näher, als rechneten sie mit einem besonderen Schauspiel. Aber Marco blickte stur geradeaus und sprach leise und respektvoll. Er besaß einen gültigen Ausweis. Nach der Überprüfung der Papiere stellte der Offizier sich jedoch vor Sophie hin, so daß sein Gesicht kaum einen halben Meter von ihrer Nase entfernt war, und hielt ihr eine laute Strafpredigt darüber, wie ungehorsam sie war, daß Tiere im Dienste des Volkes dem Volk auch entsprechenden Respekt bezeugen sollten und daß sie die wertvolle Zeit des Büros für Öffentliche Sicherheit verschwendet hatte. Shan hatte einmal erlebt, daß ein wütender Angehöriger der Roten Garden eine tamzing-Sitzung mit einem Pferd abhielt, weil das langsame Zugtier und sein Karren ihn bei der Überquerung einer Brücke behindert hatten. Nachdem der Offizier seine Ansprache beendet hatte, legte -654-
Sophie den Kopf auf die Seite, als würde sie den Kriecher prüfend mustern, reckte ihre Nase noch ein Stück vor und stieß jählings ein Geräusch aus, das halb einem Wiehern, halb einem Schrei glich, wobei sie den Mann reichlich mit Speichel bespritzte. Alle lachten, nur Marco und der Offizier nicht. Der eluosi wollte Sophie wegführen, aber der Kriecher zog seine Pistole und richtete sie auf ihren Kopf. Erschrocken sah Shan, daß Marco seine Hand langsam unter den Mantel schob. Die Menschen verstummten sofort. Als der Schuß dann aufpeitschte, zuckte Shan vor Entsetzen zusammen; schon viel zu oft war er Zeuge geworden, wie die Kriecher auf jemanden geschossen hatten - bei den öffentlichen Hinrichtungen in Peking und auch im Gulag, wo er dreimal mit angesehen hatte, daß Wachposten der Kriecher Mönche erschossen, die ruhig dasaßen und eigensinnig ihre Mantras aufsagten. Aber der Schuß kam von weiter hinten. Dort neben dem Bus stand einer der anderen Offiziere und reckte seine Waffe in die Luft. Der Kriecher bei Sophie verzog finster das Gesicht, ließ aber die Pistole sinken, und der Mann, der den Warnschuß abgegeben hatte, kam zu ihm. Seine Augen wirkten genauso leblos wie die seines Kameraden, nur sein Haar war grauer. Er sah Marco lange und durchdringend an, nahm dann mit feierlicher Geste den Stempel vom Tisch und drückte Sophie einen Kreis aus roten Sternen auf die Nase. Die Soldaten bestiegen ihre Transporter und verschwanden. Auch der Bus bog auf die Fernstraße nach Kashi ein. Unmittelbar darauf setzte der Geländewagen der Brigade sich in Bewegung und folgte den Kriechern. Shan und Jakli holten Marco am Dorfbrunnen wieder ein, wo Sophie ausdauernd trank, während er ihr die rote Tinte abwusch. »Ich habe vier verfluchte Stunden hie r vergeudet«, polterte er. -655-
Sehnsüchtig sah Shan dem eluosi hinterher, als er Sophie in schnellem Trab die Takla Makan ansteuern ließ. Dann wandte er sich an Jakli. »Huf, dieser Tadschike, ist der Schlüssel. Wir müssen ihn vor Ko oder den Kriechern finden.« Ihre robusten Pferde kletterten schon seit Stunden bergauf und folgten dem jungen Mädchen, in dessen Lager sie den Lastwagen zurückgelassen hatten. Sie ritten so schnell wie möglich, immer im Trab, so daß die Tiere sich quälten. Der Blick des Mädchens blieb zumeist auf den Pfad gerichtet, wo plötzlich vereiste Stellen auftauchen und die Pferde straucheln lassen konnten, und hob sich immer wieder kurz in den Himmel, weil ein unverhofft erscheinender Hubschrauber noch weitaus schlimmere Folgen zeitigen würde. Zweimal hielten sie in kleinen Hirtenlagern. Dort erhielten Shan und Jakli sogleich frische Pferde. Niemand stellte viele Fragen. Beim ersten Halt sagte das Mädchen, es ginge um die ermordeten Jungen der zheli, und sie bekamen nicht nur neue Tiere, sondern auch eine Tasse Tee. Im zweiten Lager erzählte ein Mann ihnen von den heiligen Männern, und als Jakli sagte, Shan gehöre zu den beiden Tibetern, bot man ihnen die Pferde an, ohne daß sie darum bitten mußten. Schließlich erreichten sie in großer Höhe einen Lagerplatz, auf dem eine einzelne Jurte stand. Nur ein kurzes Stück oberhalb begann ein ausgedehntes Eisfeld, aus dem ein schmales Rinnsal entsprang und offenbar den Wasserbedarf der Hirten deckte. Vor dem Zelt saß eine Frau mittleren Alters an einem Feuer. Sie trug eine schmutzige rote Schürze und war damit beschäftigt, kleine Stücke sonnengetrockneten Käse auf eine Schnur aufzufädeln. Dicht neben der Filzwand der Jurte stand windgeschützt ein Junge von höchstens sechs Jahren und bearbeitete in gleichmäßigem Rhythmus ein Butterfaß. Die Frau nickte zum Gruß, brach dann ein Stück aus einem Block schwarzen Tees und ließ es in einen Kessel am Rand des Feuers fallen. Ihr -656-
Antlitz war freundlich, aber traurig. Shan erinnerte sich. Sie waren im Lager von Osmans Onkel, dessen einer Sohn kürzlich an einem Fieber gestorben war. Die Frau goß ihnen Tee ein und sagte, die Hirten würden bei Sonnenuntergang zurückkehren. Dann deutete sie auf die Kissen und Decken, die sich im hinteren Teil der Jurte auftürmten. Shan war todmüde. Ein Chor blökender Schafe weckte ihn. Der letzte Rest Tageslicht zeigte sich als dunkelroter Schimmer über den westlichen Gipfeln. Das Feuer loderte hell, und daneben hockte ein grauhaariger Mann mit einer Blechtasse Tee in der Hand. Überall waren Schafe, so daß die Jurte wie eine Insel in einem Meer aus Tieren wirkte. Inmitten der Herde sah Shan noch zwei weitere Gestalten in schweren dunklen chubas. Die eine, eine ältere Frau, kam auf das Feuer zu. Die andere, die zudem eine schwarze Filzmütze trug, blieb zurück und setzte sich auf einen Felsen dicht neben einen großen Mastiff, der anscheinend Wache hielt. Zwei weitere Mastiffs lagen nahe beim Feuer, einer mit dem Kopf auf dem Rücken des anderen, und schauten Shan mißtrauisch entgegen, während er sich näherte. Ein kleinerer, weißer Hund rannte zwischen den Schafen hervor und ins Zelt. Als Jakli und ihre Führerin aufwachten, bekam jeder eine Schüssel Joghurt vorgesetzt, dazu nan und getrocknetes Fleisch. Ihre Gastgeber nickten höflich, sprachen aber mehr mit den Hunden als mit den Gästen. Jakli holte eine Tüte runder Bonbons hervor, die begeisterten Anklang fand und herumgereicht wurde. Schließlich trat auch der Mann mit der schwarzen Mütze näher, weil sein Hunger offenbar stärker wurde als seine Angst. Anfangs war Shan sich nicht sicher gewesen, ob er ihn wiedererkennen würde, aber sobald der Mann in den Feuerschein trat, erinnerte Shan sich daran, wie der Tadschike ihn angesprungen und mit wildem Blick auf seine Brust -657-
eingeschlagen hatte. »Wir sind hergekommen, um mit dir zu reden, Huf«, sagte Jakli. Der Tadschike stieß lediglich ein Grunzen aus und nahm aus den Händen der Frau eine Schüssel Joghurt entgegen. »Er kennt sich mit Schafen aus«, sagte sie, als müsse Huf verteidigt werden. »Die meisten der Hunde mögen ihn.« Zu Beginn der Mahlzeit waren noch mehr Hunde aufgetaucht. Shan zählte insgesamt sieben und fragte sich, wie viele wohl noch dort im Dunkeln verborgen sein mochten. Falls es den Hirten nicht vergönnt war, eine Familie mit Kindern zu gründen, gründeten sie eine Familie mit Hunden. Während Huf sein Essen hinunterschlang, bemerkte Shan die nervösen Blicke, die der Tadschike in Richtung Jakli warf. Die Frau verteilte den Rest des Tees, und als Shan sich fünf Minuten später vom aufgehenden Mond wieder den anderen zuwandte, stellte er fest, daß nur noch Jakli und Huf mit ihm am Feuer saßen. »Dieser Ort hier ist ganz schön abgelegen«, stellte Shan fest. »Sie haben ein Radio, um Musik zu hören«, sagte Huf. Er zuckte die Achseln. »Meistens funktioniert es nicht.« Jakli stand auf und legte Feuerholz nach. Shan sah, daß Huf in diesem Moment alle Muskeln anspannte, als fürchte er, sie würde ihn mit dem Ast schlagen. »Scheint lange her zu sein, daß wir in Karatschuk gewesen sind«, sagte Shan. »Ja, sche int so«, stimmte Huf ihm seufzend zu und blickte dann auf. »Ich bin sofort hergekommen, genau wie Marco angeordnet hat«, versicherte er eilends. »Wir sind nicht wegen Marco hier.« Diese Bemerkung schien Huf zu verwirren. Stirnrunzelnd starrte er in die Flammen. Dann murmelte er eine einzelne Silbe, -658-
die Shan nicht verstand, und einer der Mastiffs kam und setzte sich neben ihn, ohne Shan und Jakli aus den Augen zu lassen. »Das Leben in Xinjiang ist ziemlich schwer«, sagte Shan. »Viele Leute müssen gegen ihren eigenen Willen handeln. Falls wir es uns aussuchen könnten, würden wir niemals etwas tun, das anderen schadet.« »Als ich noch jung war, hatte mein Vater eine Schafherde«, erzählte Huf mit nervöser hoher Stimme. »Aber die Behörden haben sie ihm weggenommen, weil angeblich niemand Privateigentum besitzen durfte. Heutzutage darf man Privateigentum besitzen, aber ich habe meine Schafe nicht. Jemand anders hat sie. Ich habe auf dem Markt nach ihnen gesucht, konnte sie jedoch nirgendwo finden.« Er sprach sehr langsam. Das war nicht mehr der unverschämte Mann, den Shan in Karatschuk kennengelernt hatte. »In der Stadt habe ich einen Chinesen danach gefragt. Er hat gelacht und gesagt, vermutlich habe man die Tiere nach Peking verfrachtet und sie dem Großen Vorsitzenden serviert.« Sie hörten den Ruf einer Eule. »Letztes Jahr ist meine Mutter gestorben, aber sie hat in Tadschikistan gelebt«, sagte Huf mürrisch. »Man wollte mir keine Papiere geben, damit ich sie beerdigen konnte.« Papiere. Huf meinte Reisepapiere, um die Grenze passieren zu können. »Also sind Sie mit Marco geritten.« »Mein Bruder ist geritten. Aber nicht mit Marco«, erwiderte Huf und warf Jakli einen kurzen Blick zu. »Mit Klein Marco. Ich habe angeboten, für seine Reise zu bezahlen, aber statt dessen hat Klein Marco ihm Geld gegeben, weil er so gut mit den Tieren umgehen konnte.« »Nikki«, sagte Jakli leise und voller Gefühl. Sie lächelte Shan an. »Richtig«, bestätigte Huf. »Nikki.« Er sah Jakli an und neigte den Kopf, als sei ihm etwas eingefallen. »Er hat meinen Bruder -659-
dafür bezahlt, an weiteren Karawanen teilzunehmen. Ich mag Nikki. Er lacht sehr viel.« Jakli lächelte erneut und streichelte Hufs Hund den Kopf. »Aber später hat Ihnen jemand deswegen Fragen gestellt«, sagte Shan. »Jemand in Uniform.« Falls Huf in Karatschuk Informationen über die Amerikaner gesammelt hatte, mußte Bao dahinterstecken. »Nein, kein Uniformierter«, gab Huf hastig zurück, als sei dieser Unterschied wichtig für ihn. »Ich meine, zunächst nicht. Ich wäre nicht einverstanden gewesen, wenn ich schon an jenem ersten Tag gewußt hätte, um wen es sich handelte. Ich habe ihn für einen Kaufmann gehalten, der nach westlichen Gütern suchte. Ich war in Yutian auf dem Markt. Er wollte nur wissen, wie man rauskommt, wie ein paar seiner Freunde sicher über die Grenze gelangen könnten. Er hat mir Drinks spendiert. Wir sind zusammen über den Markt geschlendert. Als ich ein Paar neue Schuhe sah, die mir gefielen, hat er sie mir geschenkt. Er sagte, falls wir gute Freunde würden, könnte er mir vielleicht ein paar Schafe besorgen. Oder sogar eine Anstellung. Ich hatte noch nie einen chinesischen Freund. Ich dachte, es wäre vielleicht gar nicht so schlecht. Ich schätze, man sollte einen haben, wenn man in dieser Welt erfolgreich sein möchte«, sagte er und sah Shan an, als erwarte er eine Bestätigung. Shan erinnerte sich an ihr erstes Zusammentreffen. Um ihn zu beeindrucken, hatte Huf mit chinesischen Freunden geprahlt. »Und dann haben Sie festgestellt, daß er in Wirklichkeit ein Kriecher war«, wagte Shan eine Vermutung. Huf nickte mit gehetztem Blick. »Ein Offizier. Aber das habe ich erst später erfahren, als er in Uniform zu einem Treffen an der Fernstraße erschien.« »Bao Kangmei?« fragte Shan. Huf hob überrascht den Kopf. »Nein, nicht dieser Mistkerl. Der andere. Der Dünne mit der schlechten Haut.« -660-
Sui. Huf war von Sui angeworben worden. Der Tadschike starrte wieder ins Feuer. »Ich hatte früher schon mal einen Kriecher getroffen. Nachdem Privateigentum gestattet war, besaß er eine Tankstelle. Er hat befohlen, daß alle Autos der Kriecher nur noch bei ihm tanken.« »Dann aber wollte dieser Offizier etwas anderes von Ihnen«, sagte Shan. »Er wollte mehr über Lau erfahren. Und über Ausländer.« Huf zuckte die Achseln. »Er sagte, er würde bald den Dienst quittieren und Geschäftsmann werden. Internationaler Geschäftsmann. Und dazu müßte er natürlich Ausländer kennenlernen. Vor allem Amerikaner. Er wollte tatsächlich Amerikaner treffen und sehen, was sie so machten. Einmal habe ich ihm aus Karatschuk eine leere amerikanische Limonadendose mitgebracht, und er hat mir dafür mehr Geld bezahlt, als ich als Schafhirte in einem Monat verdienen würde. Für eine leere Dose«, wiederholte der Tadschike ungläubig. Die Schafe schliefen inzwischen alle rund um das Lager, ein weiche r grauer Teppich im Mondschein. Dahinter saß einer der Mastiffs aufrecht auf einem Felsen und schaute in die Finsternis. »Also haben Sie ihm noch mehr Dinge aus dem Besitz der Amerikaner gebracht.« »Nicht viele. Weil Sie mich gestört haben, kam ich nicht mehr dazu.« »Aber dann haben Sie Karatschuk am selben Abend verlassen. Sie wollten ohnehin aufbrechen, als Marco Sie hergeschickt hat. Sie wollten sich mit Ihren Freunden von den Kriechern treffen«, mutmaßte Shan. Huf nickte. »Es waren zwei von ihnen dort. Der Kriecher und noch einer, der eine dunkle Brille getragen hat, obwohl längst keine Sonne mehr schien. Sie saßen in einem roten Auto, haben Bier getrunken und auf mich gewartet. Der mit der Brille hat mich ein wenig mit dem Auto herumgefahren, während der -661-
Kriecher auf einem Felsen sitzen blieb und weitertrank. Unterwegs sagte der Mann, er könne mir helfen. Er sagte, er wäre ab jetzt mein Freund, und dann hat er mir Geld gegeben. Er fragte, was ich mir am meisten wünschen würde. Ich sagte, Schafe, und er sagte, kein Problem.« Huf sah Shan an. »Falls er mir ein paar Schafe besorgt, können mein Bruder und ich im Frühjahr ein eigenes Lager aufschlagen. Mein Bruder muß meinen neuen Freund unbedingt noch kennenlernen. Arbeite nicht für die Kriecher, habe ich zu ihm gesagt. Die zahlen nicht so gut.« Es schien plötzlich sehr viel kälter geworden zu sein. Huf arbeitete für die Brigade. Shan rückte dichter ans Feuer. »An dem Tag, an dem Sie aufgebrochen sind, haben Sie demnach alle beide gesehen. Ihr Freund saß am Steuer des roten Wagens. In der Nähe der Fernstraße. Spät am Abend.« »Mein neuer Freund sagte, er habe nicht mehr viel Zeit. Aber ich solle mir vorher noch etwas anschauen. Er sagte, das geschähe mit Leuten, die versuchen, sich in seine Geschäfte einzumische n. Der Kriecher mit der schlechten Haut stand einfach nur lächelnd da, als der andere die Waffe auf ihn richtete. So als würde er das alles für einen Scherz halten. Aber mein Freund hat einfach den Abzug betätigt. Mitten ins Herz, zweimal. Ich bin weggerannt und hierhergekommen, so wie Marco es mir aufgetragen hat.« Shan sah in die Glut. Huf war Augenzeuge gewesen, er hatte mit angesehen, wie Ko Yonghong den Mann mit dem pockennarbigen Gesicht erschoß, Leutnant Sui. Dann war Huf verschwunden und hatte Ko ne rvös gemacht. Nun suchte Ko nach Huf. Aber Bao ebenfalls. Mit dem Tadschiken auf seiner Seite konnte Bao den Direktor vernichten. Aber wie hatte Bao das alles herausgefunden? Plötzlich sprang der Hund auf und bellte in die Dunkelheit nördlich des Lagers. Jakli seufzte und streckte den Arm aus. Am fernen Himmel erhellten zwei leuchtendweiße Lichtstreifen den -662-
Horizont. »Leuchtkugeln«, murmelte Huf. »Die sehen wir in letzter Zeit ziemlich oft.« »Leuchtkugeln?« fragte Shan. »Von wem?« »Von den Kriechern. Sie ge hen manchmal gern nachts auf die Suche, um die Leute zu überrumpeln.« Während Shan die verblassenden Lichtstreifen betrachtete, fielen ihm die Worte der dropka wieder ein. Der Dämon hatte den Angriff auf Alta eingestellt, weil ein Blitz ihn fortrief. Auf diese Weise sprechen die Dämonen miteinander, hatte sie gesagt. Sie hatte recht, dachte Shan bekümmert. Die Dämonen sprachen tatsächlich auf diese Weise miteinander. Aber wenn Altas Mörder von Sui zurückgerufen worden war, wenn er für Sui gearbeitet hatte, warum sollte er ihn dann verfluchen, als er die Leuchtkugel sah? Vielleicht weil er sein Werk noch nicht beendet hatte und der Junge noch lebte? Sie schwiegen eine Weile und starrten auf die Stelle, an der die Leuchtkugeln aufgeflammt waren. »Bevor Sie hergekommen sind, haben Sie noch einmal Ihren Bruder getroffen, nicht wahr?« vermutete Shan schließlich. »Auf dem Weg hierher. Ich sagte ihm, ich würde lange weg sein, an einem geheimen Ort. Aber ich wollte ihm von meinem neuen Geschäft erzählen und daß wir an Schafe kommen könnten«, sagte Huf. »Versuch keine Tricks, habe ich zu ihm gesagt, sonst endest du noch wie dieser tote Chinese.« Doch Bao arbeitete längst mit Hufs Bruder zusammen, begriff Shan beklommen. Arbeite nicht für die Kriecher, hatte Huf ihm eingeschärft. Die zahlen nicht so gut. Auf diese Weise hatte Bao erfahren, daß Sui von Ko ermordet worden war. Und als er Ko zu erkennen gab, was er wußte, mußte der dem Major sein schönes neues Auto überlassen. Bao lernte schnell, wie das neue Wirtschaftssys tem funktionierte. Den Leutnant hatte Ko aus dem Weg geräumt, doch nun besaß er einen neuen Rivalen. Und -663-
falls es Bao gelang, Huf zu finden, der den Mord bezeugen konnte, würde er Ko vollends in der Hand haben und dessen gesamte lukrative Prämienjagd übernehmen können. »Das Geschäftsleben ist ganz schön hart«, sagte Huf und sah Jakli an, als wolle er ihr etwas mitteilen. Aber dann wandte er sich ab und richtete den nächsten Satz an das Feuer. »Dabei wollte ich doch nur meine Mutter beerdigen.« Am nächsten Morgen war Jakli verschwunden. Sie hatte keine Nachricht hinterlassen, sondern ließ Shan durch die Führerin lediglich ausrichten, man würde sich beim nadam sehen. Jedermann wüßte von Jaklis Teilnahme am nadam, erzählte das kasachische Mädchen aufgeregt, denn ihre Hochzeit sollte das Hauptereignis des Fests werden. Nur wenige wußten hingegen, daß sie danach aus Xinjiang weggehen und ein neues Leben beginnen würde. Shan beschrieb einen Ort mit einer steilen Klippe und einer Wiese auf der anderen Straßenseite und fragte, ob das Mädchen ihn dorthin bringen könnte. »Das ist nicht weit von hier, vielleicht zwei Stunden«, sagte sie. Sie ritten eilig bis zur Straße und führten die Pferde dann eine Weile am Zügel, bis sie die Stelle erreichten, an der Jakli auf der Fahrt nach Senge Drak die Blumen niedergelegt hatte. Shan dankte dem Mädchen und entdeckte dann einen Pfad, der auf die hohe Kammlinie führte. Eine halbe Stunde später erreichte er einen schmalen Vorsprung, von dem aus man die Straße überblicken konnte. Er stieg ab und band sein Pferd an einen Baum. Jakli war dort. Sie kniete neben einem flachen breiten Erdhügel, auf dem Herbstastern blühten. Shan pflückte einen Zweig rötliches Heidekraut und ließ ihn neben ihr auf das Grab fallen. Die junge Frau lächelte unter Tränen. »Der große Detektiv«, begrüßte sie ihn. -664-
»Ich habe mir Sorgen um Sie gemacht.« »Mit Ihnen und Marco zu meinem Schutz, wie könnte da noch etwas schiefgehen?« fragte sie und fing an, vertrocknete Blätter aufzusammeln, die zwischen die Blumen gefallen waren. »Mein Großonkel, der synshy, der Pferdesprecher, hat immer gesagt, daß auch Pferde über Seelen verfügen, die nach dem Tod umherziehen und vielleicht irgendwo in der Fremde in einem anderen Pferd wiedergeboren werden.« Shan verstand. »Womöglich sogar im fernen Amerika.« Jakli nickte und fuhr fort, das Grab ihres Pferdes zu säubern, jenes Tiers, das vor vielen Jahren von den Soldaten erschossen worden war. Ansonsten gab es niemanden, von dem sie sich verabschieden konnte. Ihr Vater war verschwunden, ihr Clan löste sich auf. »Mein Onkel, der synshy, hat einen Hengst geritten, bis er selbst fast neunzig und das Pferd fast fünfunddreißig Jahre alt war. Als es starb, bestand er darauf, es eigenhändig und ganz allein zu beerdigen. Er benötigte zwei Tage, um direkt neben dem Leichnam ein riesiges Loch auszuheben, so wie ich es hier auch gemacht habe, um das Tier dann hineinrutschen zu lassen. Aber im letzten Moment gab die Erde nach, und das Pferd fiel auf ihn. Es hat ihn getötet. Meine Tante sagte, man solle ihn dort lassen, denn es sei richtig, die beiden im selben Grab zu bestatten. Bei der Trauerfeier sagte mein Vater, daß Zhylkhyshy Ata, der Pferdegott, meinen Onkel abberufen habe, damit er sich um die Herde im Himmel kümmern würde.« Als Shan sie ansah, bemerkte er, daß Jaklis Blick eher zweifelnd als traurig wirkte. »Es kommt mir so vor, als würde ich einfach alle im Stich lassen«, sagte sie. »Als würde ich nur an mich selbst denken.« »Der Clan des Roten Steins geht auch von hier weg.« »Ich meine alle Kasachen. Ich meine die Maos und die purbas. Sehen Sie doch nur, welche Opfer die Amerikaner -665-
gebracht haben, um herzukommen und zu helfen. Ich fühle mich, als würde ich genau das Gegenteil tun.« »Sie laufen nicht davon«, sagte Shan, aber Jakli reagierte nicht darauf. Er kniete nieder und half ihr, das Grab zu säubern. Als sie fertig waren, bedankte sie sich und bat ihn, sie allein zu lassen. Er ging erst, nachdem sie ihm versprochen hatte, rechtzeitig für ihr neues Hochzeitskleid aufzubrechen. »Aber nur, wenn Sie auch kommen«, sagte sie und schien für einen Moment wieder ganz ausgelassen zu sein. »Reiten Sie in die Stadt. Gehen Sie zu Mao dem Ochsen. Er wird Sie zum nadam bringen. Er ist ein guter Kasache.« »Das kann ich nicht. Ich muß mit den Jungen über Micah sprechen. Wir müssen ihn finden und sicherstellen, daß er außer Gefahr ist.« »Solange seine dropka-Familie sich versteckt, wird kein Kriecher ihn jemals finden. Und Marco…«, fügte sie etwas ernster hinzu, »Marco wird mit Lokesh und Ihrem Lama beim nadam auftauchen. Oder er wird wissen, wohin wir mit den Maos aufbrechen müssen, um sie zu retten.« Shan traf den kräftigen Kasachen in dem Restaurant in der Stadt an, bat jedoch nicht sofort darum, zum Reiterfest gebracht zu werden. Statt dessen ließ er den Mao eine Wegskizze anfertigen und brach dann zu Fuß in Richtung Stadtrand auf, wobei er sich stets im Schatten hielt und sorgfältig die Einsatzkommandos mied. Manchmal suchte er kurz in Hauseingängen Zuflucht, wenn der Wind ihm den Sand so fest ins Gesicht peitschte, daß ihm die Wangen weh taten. Die Volksklinik Yutian war ein heruntergekommenes, eingeschossiges Lehmziegelgebäude mit Wellblechdach, vor dessen Eingang ein Lastwagen mit der verblichenen Kennzeichnung eines Krankenwagens stand. Das Fahrzeug schien schon lange nicht mehr benutzt worden zu sein. Seine Reifen waren platt, die Karosserie verrostet. Auf dem Fahrersitz -666-
saß ein kleines Mädchen und spielte am Lenkrad herum. Als Shan vorbeikam, duckte es sich. Im Innern sah es auf den ersten Blick so aus, als wäre auch das Krankenhaus längst außer Dienst gestellt worden. Als Shan die Eingangshalle betrat, ließ der Luftzug Sand aufwirbeln. Mitten auf dem Boden lag ein magerer Hund, der kurz den Kopf hob und gleich wieder einschlief. Zu beiden Seiten zweigten Gänge ab, wovon der linke durch eine zweiflügelige Schwingtür mit Gummidichtung geschützt wurde. Als Shan durch die Tür trat, stieg ihm beißender Ammoniakgeruch in die Nase. Außer ihm befand sich nur noch eine grauhaarige Frau auf dem Flur, die damit beschäftigt war, den Boden zu wischen. Sie schaute auf und packte ihren Schrubber fest mit beiden Händen, als würde Shan versuchen wollen, ihn ihr zu entreißen. Vorsichtig ging er den Korridor entlang, hielt nach einer verriegelten Tür Ausschau und warf einen kurzen Blick in jedes der Zimmer. Von den zehn Räumen dieses Flügels waren sechs belegt, davon einer durch eine schlafende Krankenschwester, aber keine der Türen besaß ein Schloß. In dem anderen Gang fand Shan, wonach er suchte. Eine Tür mit einem Schloß, hinter der man eine kleine Station mit sechs Betten eingerichtet hatte. Nur eines der Betten, ganz hinten, war belegt. Man hatte den alten Wasserhüter daran festgebunden. Ein Ende einer langen elastischen Bandage, wie man sie bei Verstauchungen benutzte, war am Bettgestell befestigt. Mit dem anderen Ende hatte man die Hände des Lama gefesselt. Der Wasserhüter hatte die Bandage weit genug gedehnt, um sich im Lotussitz am Boden niederlassen zu können. Aber er meditierte nicht, sondern starrte neugierig ein zwei Meter entferntes Fenster an. Es war durch ein Vorhängeschloß gesichert. Als Shan neben ihm Platz nahm, nickte der Mann einfach nur, als habe er den Besuch erwartet. Dann deutete er mit den gefesselten Händen auf das Fenster. »Wenn der Wind aus der -667-
richtigen Richtung weht, drückt er an der oberen Ecke ein kleines Rinnsal Sand herein«, sagte der Wasserhüter mit krächzender Stimme. »Falls niemand etwas dagegen unternimmt, wird in ein paar Monaten mitten über mein Bett eine Düne verlaufen.« Er klang sehr ehrfürchtig, als sei der Sand etwas besonders Schönes und sein Bett dazu ausersehen, darunter begraben zu werden. »Rinpoche«, drängte Shan, »gibt es hier einen Wachposten?« Die Fingerspitzen des Mannes waren blau angelaufen. Shan fing an, die Fesseln zu lösen. »Ich kann dich zurück nach Rabennest bringen«, erklärte er hastig. »Es muß einen Spalt geben, sonst kann nichts eindringen«, sagte der alte Lama heiter und gelassen. Shan hielt inne und starrte ihn an. Plötzlich hörte er jemanden über den Korridor laufe n, und dann stürzte Fat Mao keuchend herein, dicht gefolgt von Mao dem Ochsen, der die Tür sofort schloß und sich dagegen stemmte, als wolle er jemanden aufhalten. Fat Mao eilte wortlos zum Fenster und bog mit einem mitgebrachten Schraubenzieher eilig die Öse auf, an der das Vorhängeschloß hing. Dann riß er das Fenster auf und winkte Shan heran. Noch bevor Shan reagieren konnte, packte Mao der Ochse ihn am Kragen, zog ihn hoch und zerrte ihn zum Fenster. Die beiden Männer hoben ihn nach draußen, ließen ihn auf den Sand fallen und sprangen selbst hinaus. Fat Mao schloß das Fenster und führte Shan um die hintere Ecke des Gebäudes, wo an einer offenen Tür eine Krankenschwester stand und sie bereits erwartete. Kurz darauf beobachteten sie aus einem leeren Zimmer, wie der Wasserhüter von zwei Soldaten der Kriecher nach draußen geführt wurde. Die elastische Bandage hatte man durch eiserne Handschellen ersetzt. Hinter dem Lama erschien eine untersetzte, zufrieden grinsende Gestalt: Bao Kangmei. Er rief den Soldaten etwas zu, -668-
worauf sie stehenblieben, so daß der Major den Wasserhüter umkreisen konnte. Im Blick des Lama lag keinerlei Furcht. Er musterte Bao interessiert und neugierig. »Bao weiß nichts Genaues«, erklärte Fat Mao. »Er wird ihn ins Lager Volksruhm mitnehmen und in eine der Zellen stecken, die den Kriechern dort zur Verfügung stehen.« Shan empfand diese Mitteilung jedoch als wenig tröstlich. Der Wasserhüter war kein Gefangener der Anklägerin oder der Brigade mehr. Major Bao würde bald herausfinden, welcher der von ihm verhafteten alten Männer der Lama war, auf den sich das subversive tibetische Gedicht bezog. Bao stemmte die Arme in die Seiten und schaute zum Eingang der Klinik, als wünsche er sich ein größeres Publikum. Dann schickte er die Männer mit einer schroffen Geste weg. Sie schoben den Lama in ihren Wagen und fuhren mit hoher Geschwindigkeit davon. Shan sah dem Fahrzeug trübsinnig hinterher und mußte an die Worte des Wasserhüters denken. Es muß einen Spalt geben, sonst kann nichts eindringen. Er kannte diesen Satz aus einer Lehrstunde, die ein anderer Lama in der Baracke des Straflagers abgehalten hatte. Der Wasserhüter hatte nicht den Sand gemeint, sondern die Erleuchtung. Nur die Erleuchtung kann uns retten, sagte er. Die Erleuchtung, die durch einen bislang nicht existenten Spalt in die dunklen Tiefen vordringt. Als der Geländewagen der Kriecher wegfuhr, wurde die Sicht auf einen kleinen roten Sportwagen freigegeben. Bao zündete sich eine Zigarette an, ließ mit zufriedenem Lächeln den Blick über die Landschaft schweifen und schaute dann zur Klinik. Schließlich schritt er zur Fahrertür des roten Sportwagens. Nicht weit entfernt überquerte ein Käfer die Straße. Bao ging zu ihm, beugte sich vor, um ihn in Augenschein zu nehmen, richtete sich wieder auf und zerquetschte ihn mit einem kurzen, heftigen Stiefeltritt. -669-
Am späten Vormittag des nächsten Tages stiegen Shan und Mao der Ochse auf dem flachen Kamm eines hochgelegenen Berggrats von ihren Pferden. Die Aufwinde ließen hier vertrocknete Herbstblätter in der Luft schweben, so daß sie wie kleine Farbflecke auf der Himmelspalette wirkten. Der Kasache hatte auf einen Reiter gedeutet, der ihnen auf dem Bergrücken entgegenkam. Es handelte sich um Akzu, gekleidet in eine rote Weste, die mit den Abbildern von Pferden und Vögeln bestickt war, wie Shan wenig später erkannte. Der Clanälteste lächelte, als er ebenfalls vom Pferd stieg. »Alle Jungen der zheli sind in Sicherheit. Der besagte letzte Schattenclan hat uns eine Botschaft geschickt, eine Nachricht am Halsband eines Hundes. Ihr zheli-Junge werde beschützt, stand dort. Er wird in drei Tagen zum Steinsee kommen. Außerdem waren einige Maos im Hochgebirge unterwegs«, erklärte Akzu. »Sie haben ein paar Bäume gefällt und kleine Lawinen ausgelöst, um die Straßen zu blockieren, so daß die Patrouillen der Kriecher nicht mehr passieren können. Die Maos sind weiterhin dort oben und halten Ausschau. Dieser letzte Junge ist bis zu unserem Treffen außer Gefahr. Wir können feiern.« Der alte Kasache schien aufrichtig glücklich zu sein, nicht nur, weil die Jungen sich in Sicherheit befanden. Shan vermutete, daß der Clan des Roten Steins zudem eine Möglichkeit ersonnen hatte, die Brigade und ihr Programm zur Beseitigung der Armut zu überlisten. Akzu umrundete Shan mehrere Male und reichte ihm dann eine zerlumpte Mütze aus Fuchspelz sowie eine zerkratzte Sonnenbrille. »Ein nadam ist für uns Kasachen ein besonderes Ereignis. Einmal sind Chinesen aus Urumchi zu Besuch gekommen, ein Parteisekretär und sein Gefolge. Es hat fast einen Aufstand gegeben.« Er inspizierte die Verkleidung und zog Shan die Mütze tiefer in die Stirn. »Deine Haut müßte dunkler sein.« -670-
Noch bevor Shan begriff, was Akzu vorhatte, nahm der Kasache eine Handvoll Schlamm und fing an, ihm damit die Wangen einzureiben. Mao der Ochse lachte. »Jetzt riechst du wenigstens wie ein Nomade«, stellte Akzu grinsend fest. Shan starrte ihn einen Moment lang an, seufzte dann resigniert und führte die Aufgabe zu Ende. Dann folgte er Akzus Beispiel und wischte sich die Hände am Schweif seines Pferdes ab. Der Clanälteste führte sie den Bergrücken entlang zu einem Vorsprung, von dem aus man ein langgestrecktes Hochtal überblicken konnte. Im Süden und Westen wurde es durch riesige schwarze Felswände begrenzt, die sich mehr als hundert Meter über den Talgrund erhoben. Im Norden lag ein türkisfarbener See, der an drei Seiten von Immergrün und Pappeln eingerahmt wurde. Das alles wirkte wie eine gewaltige Kammer, die jemand in den Berg gegraben hatte. Ausgelegt war diese Kammer mit einem Teppich aus grünbraunem vertrocknetem Gras, und ihr Mobiliar bestand aus ungefähr fünfzig runden Kissen aus schwarzem, beigefarbenem, braunem und weißem Stoff. Shan nahm die Sonnenbrille ab, um den Anblick besser auf sich wirken lassen zu können. Die Kissen waren Jurten, die in Gruppen zu jeweils drei oder vier beisammenstanden und in ihrer Mitte Seilpferche für die Kamele und Pferde beherbergten. Mao der Ochse stieß einen lauten Freudenschrei aus, ließ die anderen einfach auf dem Vorsprung stehen, sprang auf sein Pferd und galoppierte ins Tal hinab. Zwanzig Minuten später überquerten Akzu und Shan das Gelände und steuerten ein Lager aus drei Jurten an. Ein Junge rief etwas, und Shan sah Malik und Batu zu seiner Begrüßung herbeilaufen. Sie halfen ihm, das Pferd abzusatteln und anzubinden. Dann hob Malik einen Finger an die Lippen und führte ihn leise um die angeleinten Pferde herum zu einer Stelle, von der aus sie den Platz zwischen den ersten beiden Zelten -671-
beobachten konnten. Dort standen sechs Frauen, plauderten vergnügt und lachten; eine von ihnen sang sogar ein Lied. Auf einer Leine zwischen den Zelten hing ein Kleid. Zwei der Frauen arbeiteten an den Ärmeln, während gleichzeitig eine dritte vor dem Saum kniete. Es war ein wunderschönes weißes Kleid, das man mit zahllosen Blumenund Pferdestickereien verziert hatte. Von der dazugehörigen Braut war jedoch keine Spur zu entdecken. Die anderen Jungen der zheli standen dicht gedrängt um eine sitzende Gestalt. Shan hörte eine vertraute Stimme, die den Kindern erklärte, wie man aus einem Weidenzweig eine Pfeife anfertigte. Es war Jowa, der aufstand, als er Shan sah, und langsam den Kopf schüttelte. Er hatte Gendun und Lokesh nicht gefunden. Auch Marco war nirgendwo zu sehen. Zu seiner Pelzmütze und der Sonnenbrille trug Shan mittlerweile eine Filzweste. Mit Batu und Malik als seine Führer schlenderte er umher. In der Mitte der Lager hatte man einen Marktplatz errichtet. Alte Frauen verkauften süße, in Öl fritierte Teigringe, die vor ihnen an Ranken aufgehängt waren. Für einen zusätzlichen Fen wurden die Ringe vorher noch in Zucker getaucht. Neben einem alten einäugigen Mann türmte sich ein Berg aus grünen Melonen auf. Anscheinend verkaufte er nicht besonders viel, weil er jedem Vorbeikommenden fröhlich eine kostenlose dicke Melonenscheibe in die Hand drückte. Die Hälfte der Händler bot Zaumzeug, Reitgerten oder Stiefel feil, die sie während langer einsamer Nächte in ihren trüb erleuchteten Zelten gefertigt hatten, mutmaßte Shan. Er setzte sich und beobachtete die Kasachen, die nahezu durchgängig ein kleines melancholisches Lächeln auf den Gesichtern trugen. Es war ein Festtag, aber sie alle kannten die eine traurige Gewißheit: Dies war das letzte Mal, daß sich die Clans der Region versammeln konnten. Nahe dem Zentrum der Ansiedlung hatte jemand ein großes Brett an einen Baum genagelt. Daran hingen Zettel mit handschriftlichen Nachrichten -672-
sowie gedruckte Formblätter, auf denen die neue Arbeitszuteilung der Brigade für viele der Kasachen bekanntgegeben wurde. Immer wieder suchten die Leute zu zweit oder dritt dieses Brett auf. Manche seufzten dann erleichtert und schüttelten ihren Freunden oder Clanangehörigen die Hände. Andere lasen mit düsterer Miene und gingen dann traurig weg, um sich allein irgendwo zwischen die Felsen zu setzen. Shan bemerkte, daß Batu besorgt in Richtung Horizont blickte. Auch dem Jungen war klar, daß die Mörder noch nicht aufgegeben hatten. Jenseits der Zelte erstreckte sich eine ausgedehnte Ebene. Bei anderen nadams habe es immer ein Gehege mit zwei- oder dreihundert Pferden gegeben, erzählte Malik bekümmert. Aber die Brigade hatte ihnen nur ihre persönlichen Reittiere gelassen und alle anderen eingesammelt, die nun zu Hunderten für den Abtransport aus Yutian vorbereitet wurden. Über das Feld galoppierten unterdessen zehn oder zwölf jugendliche Reiter auf das nördliche Ende des Tals zu. Das sei ein khez khuwar, erklärten die Jungen, ein traditionelles Spiel der Clans. Bei diesem Wettrennen erhielten die Mädchen einige Meter Vorsprung und wurden dann von den Jungen bis zu der gegenüberliegenden Markierung verfolgt. Falls ein Junge ein Mädchen einholte, mußte sie sich von ihm beim Reiten küssen lassen, aber sobald die Mädchen das andere Ende der Ebene erreichten, durften sie die Jungen zurück zum Start hetzen und beim Überholen mit ihren Reitpeitschen traktieren. Hinter ihnen brandeten unversehens lautes Johlen und Pfiffe auf. Das alles galt einem Reiter, der auf einem holprigen, unbefestigten Weg das Tal hinaufkam. Malik kletterte auf einen Baumstumpf, um gleich darauf begeistert zu strahlen. »Jakli!« rief er. Shan stellte sich neben ihn und sah, wie die junge Frau mit ihrem erschöpften, schweißgebadeten Pferd die ersten Jurten erreichte. Als sie sich hinsetzten, um wieder den Reitern auf dem Feld -673-
zuzusehen, ließ jemand einen der süßen Teigringe vor ihren Nasen baumeln. Die Jungen lachten und griffen gierig nach dem Leckerbissen, noch bevor ihr Gönner überhaupt etwas sagen konnte. Es war Jacob Deacon. Er wolle die Ereignisse des nadam festhalten, erklärte der Amerikaner. Außerdem habe er den Hirten weitere Holztafeln mitgebracht, die sie bei sich behalten sollten, wenn die Brigade sie in alle vier Winde verstreute. Shan wußte, daß Deacon obendrein gehofft hatte, Micah wäre vielleicht aus seinem Versteck gekommen. »Man hat ihnen eine Nachricht geschickt«, sagte der Amerikaner fröhlich, als hätte er Shans Gedanken gelesen. »Nur noch drei Tage.« Er wollte sich setzen, als überall auf dem Gelände plötzlich abermals Jubelschreie ertönten. Deacon wies nach Norden. Auf dem Pfad neben dem See kam Marco herangeritten. Er war bereits nahe genug, daß sie die fremdartige Filzmütze auf seinem Kopf erkennen konnten, in der langstielige Blumen und Federn steckten. Sein Kamel war schwer beladen. »Geschenke von der Familie des Bräutigams«, erklärte Deacon. »Ein alter kasachischer Brauch.« Je näher Marco kam, desto lauter jubelten die Leute. Eine Minute später brach im Lager aufgeregtes Gemurmel aus, denn im Gefolge des eluosi ritten zwei weitere Männer zwischen den Bäumen hervor. Diesmal gab es keine Hurrarufe. Es klang eher danach, als würde eine wichtige Neuigkeit schnell und in ehrfürchtigem Tonfall die Runde machen. Die beiden Männer waren alt, und einer von ihnen trug ein kastanienbraunes Gewand. Kaum jemand sprach ein Wort. Shan ging den Tibetern entgegen und nahm schweigend die Zügel von Genduns Esel, um ihn zum Lager des Roten Steins zu führen. Er habe die beiden beim Tränenbrunnen angetroffen, bestätigte Marco, wo sie damit beschäftigt gewesen seien, winzige rote Gebetsfahnen an den Felsen zu befestigen. Shan sah auf Genduns Robe. Der -674-
Saum war aufgetrennt und ein großes Stück Stoff abgerissen worden. Auch der Lama selbst wirkte, als habe man ihm etwas entrissen. Seine müden Augen richteten sich kurz auf Shan und starrten dann wieder ins Leere. »Man hat angefangen, die Wüste mit Hubschraubern abzusuchen«, berichtete Lokesh mit erschöpfter Stimme. »Marco sagte, die wandernden Seelen würden vor dem Geräusch der Helikopter fliehen, weil es so klingt wie Dämonen.« Der alte Tibeter seufzte. »Und sein Kamel hat uns immer wieder mit der Nase angestoßen. Gendun sagte, dieser Russe und sein Tier würden sich gut mit Geistern auskennen, also haben wir uns einverstanden erklärt, sie zu begleiten.« Er ließ den Blick über die Berge und in Richtung der Wüste schweifen. »Eine Zeitlang hat es sich so angefühlt, als seien wir dem Yakde Lama nahe. Wir werden bald dorthin zurückkehren. Da draußen sind so viele Verlorene unterwegs«, schloß er betrübt und ließ sich von Shan in eines der Zelte fü hren, wo Jowa bereits einen Schlafplatz für Gendun herrichtete. Shan blieb bei den beiden alten Männern sitzen, bis sie eingeschlafen waren. Als er aufblickte, sah er Marco im Eingang stehen und die Tibeter stumm betrachten. Er schien etwas sagen zu wollen, aber nicht die richtigen Worte zu finden, und so kniete der eluosi nieder und zog Gendun die Decke über die Schultern. »Als ich die beiden zum erstenmal zu Gesicht bekam, habe ich sie bloß für zwei harmlose alte Spinner gehalten«, gestand Marco. »Jetzt jedoch…« Er schüttelte den Kopf und sah Shan in die Augen. »Nachdem wir sie gefunden hatten, hat Sophie sie immer wieder umkreist, als würde sie sich fragen, um was für seltsame Geschöpfe es sich wohl handeln mochte. Zuerst wollten sie nicht mitkommen, und ich wußte nicht, was ich machen sollte. Ich tat so, als würde ich weggehen, aber Sophie setzte sich neben die beiden und rührte sich nicht vom Fleck. Sie hätte mich gehen lassen und wäre bei ihnen geblieben.« Marco kratzte sich am Kopf und zog fragend die -675-
buschigen Augenbrauen hoch, als sei ihm das Verhalten seines Kamels immer noch rätselhaft. »Dann hörte sie in weiter Ferne einen Hubschrauber und fing an, die beiden in meine Richtung zu schieben.« Er musterte die zwei alten Männer. »Es ist wichtig, daß sie hier sind, nicht wahr?« fragte er schüchtern. »Ich meine nicht hier am Ort, sondern… ach, ich weiß auch nicht.« »Es ist wichtig, daß es sie gibt«, schlug Shan vor. Bei diesen Worten bemerkte er eine Bewegung im hinteren Teil der Jurte. Dort saß die wild blickende Frau, die mit Steinen nach ihm geworfen hatte. Sie wiegte sich vor und zurück, hielt dabei eine zusammengerollte Decke im Arm und gab durch nichts zu erkennen, ob sie die anderen überhaupt registriert hatte. Als Marco aufstand, sah Shan, daß Jowa vor dem Zelt wartete. Was hatte der purba vor vielen Nächten zu ihm gesagt? Falls die Lamas nicht überlebten, welchen Sinn hatte dann alles noch? Der Gedanke rief eine schmerzliche Erinnerung wach. Es gab noch immer einen weiteren Lama dort draußen, der sich nun bei den Kriechern im Lager Volksruhm befand. Es war ein Festtag, ein Tag der Freude. Die anderen Clans kamen in Scharen zum Lager des Roten Steins, um die Gaben an die Brautfamilie zu bewundern und ihre eigenen Geschenke zu überreichen. Sie brachten Toasts auf Nikki aus, den Witzbold, der sich stets verspätete, um einen um so wirkungsvolleren Auftritt zu haben. Man veranstaltete Pferderennen mit zwei, vier oder sogar zwanzig Teilnehmern, und das jubelnde Publikum ließ Schläuche mit kumys herumgehen. Nach den Rennen zog Batu den Amerikaner hinaus auf die Freifläche. Ein anderer der zheli warf Deacon einen Ball zu, einen Baseball. Marco kam mit einem Schläger zum Vorschein, den er aus Nikkis Zimmer mitgebracht hatte, und die Kinder des Lagers fingen an, dieses amerikanische Spiel zu spielen. Jakli tauchte auf, verneigte sich zum Gruß theatralisch vor Shan und gesellte sich zu den anderen Spielern, wobei sie ständig damit -676-
prahlte, daß Nikki die Bälle bis ins Gebirge schlagen würde, sobald er erst einmal eingetroffen war. Deacon und Marco hatten sich selbst zu den Trainern der beiden Mannschaften ernannt, und so war die Luft schon bald von fröhlichem Gelächter und lauten Rufen erfüllt, während Shan sich auf seinem sonnigen Sitzplatz zurücklehnte und schläfrig das Spiel verfolgte. Viele der Anwesenden versammelten sich als Zuschauer am Feldrand, bis jemand etwas aus dem Hintergrund rief und alle schlagartig verstummten. Die Menge teilte sich, und ein prächtiges weißes Pferd tänzelte heran, geführt von Wangtu, dem kasachischen Fahrer, den Shan im Lager Volksruhm kennengelernt hatte. Marco schob Jakli nach vorn, und mit scheuem Lächeln überreichte Wangtu ihr die Zügel des Pferdes. »Ich weiß, wenn Nikki kommt, wird er noch fünf Tiere wie dieses mitbringen«, sagte er laut, so daß die Umstehenden ihn hören konnten. »Aber wenigstens bin ich der erste.« Es handelte sich um das Pferd, das sie beim Reislager gesehen hatten, davon war Shan überzeugt. Das feurige Geschöpf sah Jakli an, und sein Blick wurde sanft. Dann trat es vor, und sie streckte eine Hand aus. Als das Pferd seine Schnauze in Jaklis Handfläche barg, jubelten die Kasachen. Malik rannte weg und kehrte gleich darauf mit dem silbernen Zaumzeug zurück. Im Verlauf der nächsten Stunde schauten viele im Lager Jakli dabei zu, wie sie mit ihrem weißen Pferd immer wieder quer über die Freifläche galoppierte, während andere aufsattelten und sich zu ihr gesellten. Endlich ließ sie sich zu einer Runde khez khuwar überreden, und obwohl viele junge Männer gern einen Kuß von ihr gewonnen hätten, konnte niemand sie einholen. Shan fand Malik unter einem Baum am nördlichen Ende des Feldes. Er saß dort schweigend mit einem der Hunde, der ihm den Kopf auf die Beine gelegt hatte. Shan nahm neben ihm -677-
Platz, und gemeinsam beobachteten sie die Reiter. »Ich muß immerzu an den Tag denken, an dem du ihn gefunden hast«, sagte Shan schließlich. »Ich frage mich, was ist, wenn da noch etwas war? Etwas, das Malik behalten und nicht auf das Grab gelegt hat. Das wäre bedauerlich, denn Malik würde Schuldgefühle bekommen, obwohl er doch nur ein Andenken an Khitai wollte, und dann würde die Erinnerung an seinen Freund eventuell von einer Wolke überschattet.« »Es ist so viel geschehen«, sagte Malik und sah dabei den Hund an. »Ich begreife kaum etwas davon.« Er seufzte, und der Schmerz war ihm deutlich anzumerken. »Ich wollte doch nur etwas zurückbehalten, weil wir Freunde gewesen sind. Ich hatte fast nie Freunde. Ich meine, einen ganz gewöhnlichen anderen Jungen. Er war so sanft mit den Lämmern.« Malik knöpfte sich das Hemd auf und nahm den Gegenstand ab, der um seinen Hals hing. Ein großes silbernes gau, dessen Oberfläche mit einem filigranen Webmuster verziert war. »Ich habe Sie nicht angelogen«, sagte der Junge. »Sie haben mich gefragt, ob er etwas bei sich trug. Aber das hier lag zwischen den Felsen am Boden. Ich habe nie hineingeschaut.« Dann reichte er es Shan, stand lächelnd auf, als sei er erleichtert, das Medaillon losgeworden zu sein, und ging mit dem Hund zum See. Shan brachte es zu Lokesh, der mittlerweile aufrecht auf seinem Bett saß und den schlafenden Gendun betrachtete. Der alte Tibeter musterte das gau ehrfürchtig, ohne es zu öffnen, schüttelte dann aber den Kopf und gab es Shan zurück. Das war nicht der Jadekorb. »Es kann sein, daß Khitai den Korb bisweilen an ganz besonderen Orten aufbewahrt hat, um ihn zu schützen«, sagte Lokesh, verzog das Gesicht und sah Shan an. »Deshalb hat er ihn an den amerikanischen Jungen ausgehändigt, nicht wahr? Um ihn zu schützen.« -678-
Shan nickte. Es gab keine andere Möglichkeit mehr. Und die Bestätigung stammte aus dem Mund von Anklägerin Xu. Zwei Clans waren zum Lamafeld gekommen, und zwei zheli-Freunde hatten sich dort getroffen, um nach Blumen zu suchen. Khitai, der die Gefahr spürte und um die Bedeutung des gau wußte, hatte den Jadekorb in sichere Verwahrung gegeben. Nur für ein paar Tage, hatte er vermutlich zu Micah gesagt, denn immerhin würden sie bald gemeinsam nach Amerika reisen. Lokesh reckte den Kopf in mehrere Richtungen und ließ dabei das gau in Shans Hand nicht aus den Augen, als müsse er das Geheimnis aus dem richtigen Blickwinkel ergründen. »Dieser letzte Junge, dieser Amerikaner, hat den heiligen Korb«, sagte er wie zur Bekräftigung. Inzwischen weiß das auch der Mörder, hätte Shan fast hinzugefügt. Er mußte an die nächtlichen Leuchtkugeln denken. Baos Patrouillen waren weiterhin dort draußen auf der Suche. In einem Punkt hatte Akzu sich geirrt. Micah befand sich nicht in Sicherheit, nicht sobald er die Berge verließ, um zum Steinsee zu kommen. Lokesh blickte bekümmert auf. »Wie konnte so etwas nur geschehen?« fragte er. Draußen wurde es langsam dunkel. Die ersten Feuer loderten auf, während immer noch Angehörige der anderen Clans zum Lager des Roten Steins kamen, um hier gemeinsam kumys zu trinken. Sie aßen Hammeleintopf und Hartkäse, stimmten Gesänge an, und manche der alten Frauen führten rituelle Tänze auf, die keiner der Jüngeren mehr kannte. Marco und Deacon sprachen der vergorenen Milch ausgiebig zu und brachten einander neue Lieder bei. In einem der Zelte stieß Shan auf Mao den Ochsen und die schmächtige Frau, Mao die Schwalbe, die einen der kleinen Computer auf dem Schoß hatte. Sie begrüßte Shan mit einem Nicken und betätigte eifrig ein paar Tasten, während er sich neben sie setzte. -679-
»Dieses Neugeborenenprogramm«, sagte sie. »Ich habe uns einige Dateien der Brigade besorgt. Es ist keine lokale Angelegenheit, sondern findet überall im südlichen Xinjiang statt. Die Leitung liegt nicht bei Ko, sondern höher. Bislang hat man zweihundert Babys registriert und detailliert alle Muttermale vermerkt. Manche der Eltern wurden gebeten, sich gewissen Prüfungen zu unterziehen.« »Prüfungen?« fragte Shan. Mao der Ochse knurrte wütend. »Unter der Aufsicht von Politoffizieren«, flüsterte er, als würde es anläßlich des Fests einen Frevel darstellen, diese Worte laut auszusprechen. Der Mond stand schon hoch am Himmel, als einige Männer sich auf den Weg machten, um die Wachen auf den Hügeln abzulösen. »Erschießt niemanden, der weiße Pferde mitbringt«, rief Marco ihnen hinterher, und alle lachten. Jakli sagte, sie wolle zu Bett gehen, aber vom Feuer aus sah Shan, daß sie am Schlafzelt vorbeischlich und sich im Mondschein neben ihr neues Pferd setzte, das seine Nase an ihr rieb und ein leises zufriedenes Wiehern ausstieß. Jakli hatte einen Zettel in der Hand, und aus irgendeinem Grund wußte Shan, daß es sich dabei um den Brief handelte, den sie stets bei sich trug und der mittlerweile fast auseinanderfiel, weil er schon so häufig entfaltet und wieder zusammengelegt worden war. Ein Brief von ihrem Nikki. Bei Tagesanbruch weckte sie ein Donnern, gefolgt von aufgeregten Rufen und schließlich lautem Jubel. Jeder Kasache im Zelt schien das grollende Geräusch zu erkennen und rannte hinaus, während Deacon, Shan und die Tibeter allein zurückblieben, sich in ihren Decken aufsetzten und sich die Augen rieben. Pferde, unzählige Pferde galoppierten quer durch das Lager, mehr Pferde, als Shan je zu Gesicht bekommen hatte. Oder nein, wurde ihm klar, als er den Rufen der Hirten lauschte. Er hatte -680-
die Tiere in Yutian gesehen. Jemand hatte die kasachischen Herden befreit. Die Tore in Yutian hatten sich trotz der Wachen geöffnet, und die Pferde waren heimgekehrt. Kinder hüpften umher. Hunde jaulten. Gewehre wurden abgefeuert. Überall fielen Menschen sich in die Arme. Die Brigade habe letztlich doch nicht gewonnen, hieß es. Das sei Zhylkhysha Ata gewesen, rief jemand. Der Pferdegott habe die Kasachen des Südens nicht vergessen. Die Feier dauerte den ganzen Vormittag. Shan beobachtete die Jungen der zheli, die freudestrahlend durch die Herde liefen, als Gendun seinen Arm berührte und auf einen Hang oberhalb des Lagers deutete. Dort saß Lokesh vor einem großen Felsen und winkte sie zu sich heran. Als sie ihn erreichten, wies er aufgeregt auf einen wunderschönen runden Flechtenbewuchs direkt über ihm. Es war ein Mandala, ein Mandala der Gottheit, die in diesem Berg wohnte. Die beiden Tibeter nahmen zur Meditation davor Platz, während Shan sich auf einem Geröllblock am Fuß des Bergkamms niederließ. Er schaute Jakli auf ihrem weißen Pferd zu und mußte unwillkürlich lachen, als sie im Tal immer wieder an ihm vorbeiritt. Dann zog er das Stück Papier aus der Tasche, das er dem Toten im Lager Volksruhm abgenommen hatte. Ein weiteres Mal musterte er die merkwürdigen Abkürzungen und versuchte, den sonderbaren Code zu ergründen. Als er sich in der Sonne auf dem Felsen zurücklehnte, rief jemand seinen Namen. »Es gibt heute abend ein Festmahl«, sagte Jakli und klang dabei eigenartig schüchtern. Shan blickte auf und sah das weiße Pferd. Sie hatte es an einen Baum gebunden. »Ich möchte gern, daß Sie bei meiner Familie sitzen.« Shan nickte. »Ich fühle mich sehr geehrt.« »Es ist noch nicht vorbei, oder?« fragte sie nach kurzem Zögern und hockte sich neben ihn. -681-
»Der General kommt«, sagte Shan. »Der Mörder befindet sich weiterhin auf freiem Fuß. Der letzte Junge ist noch nicht in Sicherheit. Die Amerikaner…« Er hielt inne, als er ihren besorgten Blick bemerkte. Sie fühlte sich schon schuldig genug, daß sie ihr Volk in so einer Situation verlassen würde. »Wir können Sie durch Marco auf dem laufenden halten. Er wird wissen, was passiert. Alles kommt in Ordnung«, versicherte er und bemühte sich, möglichst zuversichtlich zu klingen. Er deutete auf die grasende Herde jenseits der Zelte. »Die Pferde sind wieder frei.« »Ich habe in letzter Zeit viel über Marco nachgedacht«, sagte Jakli. »Er wird einsam sein. Alle anderen werden weggehen. Er mag Sie. Er würde es nie zugeben, aber ich weiß es. Vielleicht können Sie ihm ja ma nchmal schreiben, wo auch immer Sie sein mögen.« Shan lächelte. »Aber natürlich«, sagte er und wußte, daß es unmöglich war. Ausgestoßene und Flüchtlinge pflegten nicht miteinander in Briefwechsel zu stehen. »Ich wünschte…« Jakli verstummte schlagartig und hob die Hand. Man konnte Gewehrfeuer hören, nicht die wahllosen Salven der Feiernden, sondern gleichmäßig aufeinanderfolgende Schüsse im Abstand von mehreren Sekunden, die immer lauter wurden. Der letzte wurde vom Felsgrat über dem Lager abgegeben. »Die Wachen!« rief Jakli erschrocken und stand auf. »Das sind Warnschüsse.« Überall brach hektische Aktivität aus. Shan sah Kinder, die zu den Bäumen hinter der Weide gescheucht wurden. Vom Lager des Roten Steins löste sich eine dichtgedrängte Gruppe Jungen in Begleitung zweier Kasachen mit Jagdgewehren. Die zheli floh. Männer sammelten sich in kleinen Gruppen an den Zugängen der jeweiligen Clanlager. Shan schaute den Hang hinauf und entdeckte Lokesh, der -682-
neben Gendun stand und ihnen zuwinkte. Shan bedeutete ihm, sie sollten in Deckung gehen, woraufhin die Tibeter hinter dem Felsen verschwanden. Dann stöhnte Jakli auf. Ein schwarzer Geländewagen kam in Sicht, gefolgt von einem Mannschaftstransporter. Als die Fahrzeuge vor dem ersten Zelt anhielten und die Besatzungen heraussprangen, zog Shans Magen sich schmerzhaft zusammen. Kriecher. Eines der Einsatzkommandos. Er stieß Jakli in den Schutz eines Geröllblocks. »Vielleicht ist es nur eine Routinekontrolle«, sagte er wenig überzeugend. Jakli schüttelte wortlos den Kopf. Die Soldaten waren mit Maschinenpistolen ausgestattet. Sie formierten sich zu beiden Seiten der Offiziere, als rechneten sie mit Widerstand, und rückten dann vor, wobei sie den Bewohnern der ersten Jurten zuriefen, die Papiere bereitzuhalten. Die Leute stellten sich in einer Reihe auf, aber niemand sammelte ihre Ausweise ein. Statt dessen löste einer der Offiziere sich von den anderen, schritt allein die Warteschlange ab und musterte die Gesichter der Leute. Nein, er schritt nicht - er stolzierte. Es war Bao. Mit einer beiläufigen Geste ließ er die erste Kasachengruppe wegtreten und umgehend in den Zelten verschwinden. Die Kriecher wiederholten die Prozedur bei zwei weiteren Gruppen. Shan überlegte fieberhaft. Es konnte ein oder zwei Stunden dauern. Er und Jakli mußten unterdessen hier auf dem Hügel in ihrem Versteck bleiben. Er sah den Abhang hinauf und fragte sich, ob es ihm wohl gelingen könnte, zu Gendun und Lokesh zu schleichen. »Marco ist entwischt«, flüsterte Jakli. »Ich konnte sehen, wie Sophie zwischen den Bäumen verschwand.« Nun hatten die Kriecher das sechste Lager erreicht, das La ger des Roten Steins. Sie fragten gar nicht erst nach den Papieren, -683-
sondern brachten Akzu, seine Frau und Malik sofort ein Stück weg, etwa dreißig Meter von ihren Fahrzeugen entfernt. Bao umrundete die drei und brüllte sie an. Shan warf einen kurzen Blick auf Jakli. Sie hatte die Faust geballt und biß sich dermaßen fest auf den Knöchel, daß sie wahrscheinlich gleich bluten würde. Bao rief einem der Soldaten einen Befehl zu. Der Mann stieg in den Lastwagen und kehrte mit Handschellen zurück. Jakli schaute zu den Bergen im Westen. In ihren Augen standen Tränen. Die Kriecher trieben ihre Verwandten zu den Fahrzeugen. Jakli stand langsam auf, ohne den Blick von den Bergen abzuwenden, als könnte Nikki jeden Moment über einen der Kämme reiten. »Heute ist ein guter Tag für die geplanten Wettrennen«, sagte sie so beiläufig, als wäre dies eine belanglose Plauderei. Die Tränen waren einem kühlen, entschlossenen Funkeln gewichen. Shan erhob sich ebenfalls, unsicher und verängstigt. Jakli ging den Pfad hinunter auf die Zelte zu. Shan verharrte einen Augenblick allein und eilte dann hinter ihr her. »Sie sind wie ein älterer Bruder für mich gewesen«, sagte sie. »Ich habe viel von Ihnen gelernt.« »Wir sollten zurückbleiben«, warnte Shan. Die großen Geröllblöcke, die sie der Sicht der anderen entzogen, wurden spärlicher. Noch fünfzehn Meter und sie würden auf offenem Gelände stehen. Jakli deutete auf einen Felsen. »Da ist eine gute Deckung. Die Kriecher werden bald verschwunden sein.« Sie nahm Shans Hand und legte etwas hinein. Dann stieß sie ihn in Richtung des Felsens. »Benutzen Sie es«, drängte sie. »Fliehen Sie von hier. Beginnen Sie Ihr neues Leben.« Sie zog ein Stück Papier aus der Tasche und ließ es zu Boden fallen. -684-
»Nikki und ich, das war wie ein Traum. Es hätte nie ein Teil dieser Welt sein können. Es wird bis irgendwann in der Zukunft warten müssen.« Jakli machte einen Schritt, blieb wieder stehen und blickte über ihre Schulter den Hang hinauf zu den Tibetern. »Lha gyal lo«, flüsterte sie. Mögen die Götter siegreich sein. Shan lief zu dem Felsen, aber als er sich umwandte, war Jakli nicht da. Sie ging zu ihrem weißen Pferd. Wenn sie sich beeilte und den Kamm hinaufritt, könnten die Wagen ihr nicht folgen, und die Flucht würde gelingen, erkannte Shan. Doch kurz darauf löste Jakli den Sattelgurt, dann das Zaumzeug und verpaßte dem Tier einen kräftigen Klaps. Es lief davon, den steilen Grat hinauf. Jakli ging weiter auf die Kriecher zu. Neben Shan tauchte plötzlich Fat Mao auf, völlig außer Atem und zitternd vor Erschöpfung. »Ich habe ihr gesagt, sie soll es nicht tun«, keuchte er. »Überall in Yutian waren Kriecher. Ein paar hatten sich als Lehrer getarnt und warteten in der Schule auf die zheli. Andere behielten insgeheim die Pferde im Blick, weil sie hofften, die Kinder würden sich ihre Preise abholen. Aber Jakli hat es dennoch gemacht. Sie sagte, sie hätte keine Kriecher bemerkt, und außerdem würde es wie ein Zufall aussehen, als hätte jemand das Tor nicht richtig verschlossen. Ich sagte ihr, das dort seien die Einsatzkommandos mit elektronischen Überwachungsgeräten. Und du hast doch schon drei Schüsseln. Falls sie dich erwischen, sagte ich, dann schaffen sie dich weg, erst nach Kashi und einen Tag später in irgendeine Kohlengrube. Und da bleibst du die nächsten Jahre.« Die Herde. Shan erinnerte sich, wie spät Jakli eingetroffen und wie schweißgebadet ihr Pferd gewesen war. Dann fielen ihm ihre Worte an Zharyas Grab wieder ein. Sie hatte sich angemessen verabschieden wollen, als Geste für die Kasachen und im Gedenken an ihren Onkel, den Pferdesprecher. Sie war diejenige, die das Gatter geöffnet und die Herde freigelassen hatte. -685-
Shan stand auf, aber zwei der Soldaten hatten Jakli bereits entdeckt und eilten auf sie zu. Die Kriecher waren wegen Jakli hergekommen, die ihnen in Yutian offen die Stirn geboten hatte. Falls Jakli nicht auftauchte, würde man ihre Angehörigen ins Gefängnis sperren. Die Männer packten sie bei den Armen und zerrten sie grob zu Major Bao. »Jakli!« rief jemand. Wangtu trat aus der Menge und wollte zu ihr eilen. Ein Kriecher rammte ihm den Kolben seiner Waffe in den Bauch, worauf der Kasache stöhnend zusammenbrach. Die Nachricht schien sich wie ein Lauffeuer im ganzen Lager zu verbreiten. Männer, Frauen und Kinder, manche davon auf Pferden, näherten sich den beiden Fahrzeugen. Erst hundert, dann zweihundert Kasachen umringten die Kriecher, die mit schußbereiten Waffen abwarteten, während Bao großspurig vor Jakli auf und ab lief und die wütenden Schreie ignorierte. Die Soldaten ließen Jaklis Angehörigen los. Daraufhin sprang Malik einen der Männer an und schlug mit den Fäusten auf ihn ein. Der Kriecher schleuderte ihn zu Boden und hielt ihn mit dem Stiefel unten, bis zwei der Hirten den Jungen wegzogen. Dann deutete Akzu nach oben. Das weiße Pferd hatte den Kamm erreicht und stand stolz auf einem Felsvorsprung über dem Lager, als würde es die Vorgänge beobachten. »Niya!« schrie jemand. »Niya Gazuli!« Die Kriecher legten Jaklis Hände und Füße in Ketten. Wangtu kniete keuchend auf der Erde und hielt sich den Bauch. Die Soldaten wollten sie an den Ketten wegziehen, aber Jakli wehrte sich und rief ihnen trotzig etwas zu. Dann ließen die Männer die Ketten los. Jakli hob sie auf und ging allein und erhobenen Hauptes zu dem wartenden Lastwagen. Immer mehr Clanangehörige griffen Niyas Namen auf und formierten sich in einer langen Reihe am Rand des Weges, der aus dem Tal führte. Andere Reiter kamen auf den Hängen aus -686-
ihren Verstecken. Am nördlichen Ende des Tals, unterhalb des Sees, erspähte Shan einen einzelnen Beobachter, der auf einem silbernen Kamel saß. »Niya! Niya! Niya Gazuli!« rief die Menge, bis alle Kasachen in den Chor einfielen und der Sprechgesang durch das ganze Tal hallte. Bao betrachtete wütend die Menge und warf einen haßerfüllten Blick auf das weiße Pferd. Der Transporter mit Jakli fuhr los. Dann stieg Bao in den schwarzen Geländewagen, der sofort dem Lastwagen folgte. »Niya! Niya!« Die Reiter stellten sich in den Steigbügeln auf und reckten die Fäuste empor. Ihre herausfordernden Schreie begleiteten die Kriecher auf dem Weg durch das gesamte Tal. Dann, etwa hundert Meter nach den letzten Kasachen, hielt der Geländewagen an. Der Major stieg eilig aus, erklomm mit einem Jagdgewehr die Motorhaube des Fahrzeugs, stützte sich ab und visierte den hohen Felsvorsprung an. Er gab zwei Schüsse ab, und die Menge verstummte. Das majestätische weiße Pferd strauchelte. Dann brach es zusammen, stürzte über die Kante und rollte den Hang hinunter. Major Bao rief etwas, und Jaklis Gesicht erschien auf der Ladefläche des Lastwagens. Einer der Kriecher hatte sie grob an den Haaren gepackt und zwang sie nun, mit anzusehen, wie das tote Pferd zwischen die Felsen rutschte. Dann stieg Bao wieder ein, und die Kriecher fuhren davon. Shan sank auf die Knie und krümmte sich, während die kluge, fröhliche Jakli ins Gulag verschwand.
-687-
Kapitel Zwanzig Marco kehrte nicht ins Lager zurück, sondern verließ mit Sophie das Tal. Wenig später rief jemand etwas und zeigte auf einen kleinen Punkt, der sich oben auf dem hohen Felsgrat nach Westen bewegte. Marco ritt nach Hause. Gendun und Lokesh folgten Jowa wortlos zum Lager des Roten Steins, während Shan zunächst noch der Staubwolke der beiden Fahrzeuge hinterherstarrte. Zehn Minuten darauf kamen die drei Tibeter mit Pferden wieder zum Vorschein. Shan sah, aber hörte nicht, wie Malik dem purba den Weg beschrieb und dabei auf den Kamm zeigte, den Marco überquert hatte. In letzter Minute, während Shan und seine Freunde sich bereits dem See näherten, galoppierte ein fünfter Reiter heran und gesellte sich zu ihnen. Fat Mao. Als sie das letzte Tal erreichten, übernahm Shan die Führung. Sie bogen auf den steilen Serpentinenpfad ein, konnten Marco jedoch nirgendwo entdecken. Auch nachdem sie das Plateau erreicht hatten, stand dort nur Sophie und begrüßte sie mit einem leisen Schnauben. Während Shan seinem Pferd den Sattel abnahm, wies Jowa auf den Wasserfall. Dort saß Marco jenseits der Weide am Ufer des kleinen Teichs. Lokesh nahm Genduns Arm. »Wir kümmern uns um das Essen«, verkündete er, und die beiden Männer verschwanden in dem Gebäude. Marco bemerkte die Neuankömmlinge schließlich und machte sich mit schweren Schritten zu ihnen auf den Weg. Er wirkte wie ein alter müder Affe. »Heute sollten eigentlich Pferderennen stattfinden«, sagte der eluosi zu Shan. »Das hätte Ihnen bestimmt gefallen.« »Wir mußten herkommen«, sagte Shan. »Der Plan darf nicht ins Stocken geraten.« Marco schaute matt von ihm zu Fat Mao, -688-
als hoffe er auf eine Erklärung. »Die Amerikaner müssen von hier verschwinden«, sagte Fat Mao. »Nikki kann immer noch fortgehen. Jakli braucht etwas, das ihr Hoffnung gibt. Wir werden feststellen, in welches Gefängnis man sie bringt. Dann können wir sie mit Nachrichten versorgen. Das wird sie am Leben erhalten.« Marco blieb lange stumm. »Also gut«, sagte er dann. »Am Tag nach Vollmond geht es los. Es bleibt noch genug Zeit.« Shan folgte Marco ins Haus und sah ihn durch den hinteren Flur in Nikkis Zimmer gehen. Er nahm einen Umschlag aus der Tasche und legte ihn neben den Samowar. Jakli hatte ihn weggeworfen, als die Kriecher kamen. Es mußte sich um den Brief von Nikki handeln, den sie immer dann las, wenn sie sich einsam fühlte, und der auf keinen Fall den Kriechern in die Hände fallen sollte. Er hörte, daß Gendun den purba bat, er möge ihn begleiten, und dann gingen die beiden Tibeter nach draußen. Von der Tür aus beobachtete Shan, daß sie über die Wiese schlenderten, mehrmals innehielten und etwas vom Boden aufhoben. Dann begriff er, was Gendun vorhatte. Er ging zum Teich und füllte einen Tontopf mit Wasser. Im Schein der letzten Sonnenstrahlen setzte Shan sich mit den drei Tibetern vor dem Haus nieder. Jowa und der Lama hatten Steine gesammelt und zu einem Haufen aufgeschichtet, und nun nahm Gendun den ersten davon, sah ihn an und ließ ihn in ihrem Kreis herumgehen. Es war ein kleines, häßliches Ding, an dem Erde und etwas anderes klebten, das durchaus Kameldung sein konnte. Jowa warf einen unschlüssigen Blick darauf, nahm den Stein jedoch von Shan entgegen, betrachtete ihn kurz und gab ihn Gendun zurück. Der Lama hielt den Stein in einer Hand, schöpfte mit der anderen etwas Wasser und wusch den Schmutz ab. Der Stein begann zu schimmern; man erkannte seine verwaschene orangebraune Färbung und einige winzige grüne Einsprengsel. Dann reichte Gendun ihn ein weiteres Mal herum, und Lokesh und Shan musterten eindringlich seine komplexe -689-
Schönheit. Jowa hingegen gab ihn schnell an Gendun weiter, doch der Lama reichte ihn sogleich wieder an den purba zurück. Jowa begutachtete den Stein einige Sekunden, drehte ihn um und wollte ihn abermals weitergeben, doch Gendun weigerte sich erneut, so daß Jowa erst verunsichert wirkte, dann aber den Stein konzentrierter in Augenschein nahm. Im Straflager hatte Shan diese Übung oftmals verfolgt. Die Kruste des Lebens, hatte einer der inhaftierten Mönche es genannt. In ihren kurzen Mittagspausen saßen sie manchmal einfach nur da und wuschen Steine ab, wozu sie mitunter ihre einzige tägliche Wasserration benutzten. Sie entfernten die Schicht, die das Dasein zwangsläufig mit sich brachte, um zur wahren Natur des Steins vorzudringen. Beim Abendessen wurde kaum ein Wort gesprochen. Nachdem sie ihren Gemüseeintopf verzehrt hatten, gingen Jowa und Fat Mao zur Vordertür hinaus, um ein leises, dringlich wirkendes Gespräch zu führen. Die kalte, klare Nacht brach schnell herein. Lokesh und Gendun blieben in der Küche am Boden sitzen und widmeten sich ihren Gebetsketten. Shan lehnte sich draußen an einen Baum und beobachtete eine Weile die Sterne. Er hielt das Blatt mit den Abkürzungen in der Hand und starrte es an, obwohl er im Dunkeln nichts darauf erkennen konnte. Als er wieder hineinging, war es still im Haus. Er stieg auf den Turm. Dort fand er Marco, versunken in düstere Gedanken. Shan fing ein belangloses Gespräch an, erwähnte den Nachthimmel und den Ruf eines Tiers irgendwo in der Ferne. Marco antwortete ihm leise und wortkarg. »Sie sind hohl und leer«, sagte der eluosi plötzlich, »diese Mistkerle, die Jakli ins Gefängnis werfen wollen. Die Welt dieser Leute ist eine grausamere Wüste als die Takla Makan. Und Sie…«, wandte er sich in vorwurfsvollem Tonfall an Shan, »Sie glauben, Sie seien wie die alten Mönche, die früher im -690-
Sandberg gelebt haben und Wasser in die Wüste bringen wollten. Aber was auch immer in den Boden einer Welt gepflanzt wird, in der solche Männer leben, verdorrt einfach und stirbt.« »Also erhalten wir die Saat am Leben«, sagte Shan nach einem Moment. »Manchmal, wenn eine Dürre jahrelang andauert, kann man sich nur noch um den Schutz des Saatguts kümmern. Und genau das tut Jakli. Sie behütet die Saat. Sie wird überleben. Und die Dürre geht irgendwann vorbei.« »Soll das heißen, es wird nicht ewig diese Regierung geben?« Shan erwiderte nichts. »Mein Sohn liest sehr viel. In einem seiner Bücher stand, daß eine vom Geist der Revolution beseelte Gruppe westlicher Schriftsteller behauptet hat, die beste Regierungsform sei die Abwesenheit jeglicher Regierung. Er mußte lachen, als er mir davon erzählt hat. Dann sagte er, wir hätten hier oben auf unserem Berg gewissermaßen das höchste Staatsideal verwirklicht.« Marco verstummte und fuhr erst nach einer geraumen Weile fort. »Warum versuchen Sie es nicht selbst, Johnny? Wir können beide hier abwarten, während Nikki in Amerika die Universität besucht. Er wird gehen müssen. Jakli wird wollen, daß er geht und alles für sie beide vorbereitet, wenn der Zeitpunkt gekommen ist. Er wird uns ein Teleskop schicken. Wir werden hier oben stehen und die Sterne betrachten.« »Nein«, sagte Shan. Seine Stimme erstarb fast vor Schmerz. »Es liegt ganz bei Ihnen.« »Nein. Ich will sagen, er wird kein Teleskop schicken.« Shan konnte im Mondlicht erkennen, wie sich Furcht in die Augen des großen Mannes schlich. Marco ging mit einem verächtlichen Schnauben darüber hinweg. »Sie werden schon sehen. Ich werde einen Stern nach -691-
ihm benennen. Er spricht englisch wie der Präsident höchstpersönlich.« Aber Shan sah es bereits. Er sah mit qualvoller Klarheit, welch ungeheure Angst Marco empfa nd. Es ging nicht um die riskanten Karawanen und die Hetzjagd der Patrouillen. Mit diesen Gegebenheiten lebte der eluosi schon seit vielen Jahren. Es war etwas, das dieser große, überschwengliche Geist noch nie verspürt hatte. Wie ein Wurm mit unersättlichem Appetit hatte es an ihm genagt und sich fast bis zu seiner Seele vorgearbeitet. Während Shan noch um Worte rang, floh Marco die Treppe hinunter. Shan fand ihn in Nikkis Zimmer. »Was für eine Unordnung«, sagte Marco und rückte fahrig einige Bücher in dem Regal zurecht. »Er mag es aufgeräumt. Von mir hat er das nicht. Muß wohl seine Mutter gewesen sein.« Seine Stimme klang hohl und mutlos. In diesem Moment hätte Shan lieber als Lebenslänglicher in der finstersten Zelle eines Zuchthauses gesteckt, als hier zu stehen und auszusprechen, was sich nicht länger verschweigen ließ. »Ich weiß, wo Nikki ist.« Marco hielt kurz inne. Er sah Shan nicht an. »Er ist mit einer Karawane unterwegs und bald wieder hier. Sie haben das silberne Zaumzeug doch selbst gesehen.« »Er wurde von den Kriechern gefangengenommen.« »Nein!« Marco hob einen Stapel Bücher vom Boden auf. Sie fielen ihm aus der Hand. Er kniete sich hin, um sie wieder aufzusammeln. »Ich habe Nikki gesehen.« Marco schien sich wie in Zeitlupe zu bewegen und ließ das Buch in seiner Hand sinken, als wäre es plötzlich viel zu schwer geworden. »Das haben Sie bisher mit keinem Wort erwähnt.« -692-
»Es war mir bis gestern nicht bewußt. Dann fand beim nadam dieses Baseballspiel statt, und seitdem wurde mir langsam alles klar. Ich bin Nikki begegnet. Ich habe ihn im Lager Volksruhm Kohlen schaufeln gesehen.« »Das glaube ich nicht…«, sagte Marco und zitterte dabei fast vor Angst. Shan begriff, daß der eluosi es tief in seinem Innern längst geahnt hatte. »Sie haben ihn gefangengeno mmen und ins Lager Volksruhm gesteckt. Dort im Lager war ein weißes Pferd. Nikki hatte es für Jakli aus Ladakh mitgebracht. Es war dasselbe Tier, das Wangtu ihr gestern geschenkt hat.« Marcos Gesicht verzog sich vor Höllenqualen. »Später habe ich ihn noch einmal gesehen«, sagte Shan sehr leise. »An seiner rechten Schulter war eine Narbe.« »Von der Gewehrkugel eines Grenzsoldaten, während seiner ersten Karawane«, flüsterte Marco. »Ich habe ihm gesagt, so nah an der Grenze dürfe man nicht bei Tag unterwegs sein.« »Als ich ihn dieses zweite Mal sah…« Shan biß so fest die Zähne zusammen, daß es weh tat. »Er hatte einen Zettel mit lateinischen Buchstaben in der Tasche. Ich dachte, es sei ein Code. Ich habe ihn für einen Amerikaner gehalten, weil er mich in englisch angesprochen hat. Aber auf dem Stück Papier ging es lediglich um Baseball. First Base, second Base, third Base, alles abgekürzt, damit er sich die Positionen merken konnte.« Das Spiel beim nadam hatte letztlich den Ausschlag gegeben. Shan war die ganze Zeit einem Irrtum aufgesessen - es handelte sich nicht um fünf Zeilen, sondern um zwei nebeneinanderstehende Spalten mit Abkürzungen aus einem beziehungsweise zwei Buchstaben. Shan holte das Blatt aus der Tasche und faltete es auseinander. Die erste Spalte enthielt die Spielpositionen FB, SB, SS und TB: First Baseman, Second Baseman, Shortstop und Third Baseman. In der zweiten Spalte standen P, RF, CF, LF und C: Pitcher, Rightfielder, -693-
Centerfielder, Leftfielder und Catcher. »Er hat geglaubt, man wird ihn beim Einbürgerungstest in Amerika über Baseball befragen«, flüsterte Marco. »Er hat versucht, es so oft wie möglich zu spielen, damit er später genau Bescheid weiß.« »Das zweite Mal war in jener Nacht im Lager Volksruhm«, fuhr Shan fort. »Ich habe sein Haar abgewischt. Es war schwarze Schuhcreme darauf. Es war blond. An seiner Hüfte habe ich ein Muttermal gesehen. Er war tot, Marco.« Er ließ den Zettel neben den eluosi fallen. »Nein«, widersprach Marco mit plötzlicher Wut. »Das kann nicht sein. Er kommt zurück. Er wird nach Amerika gehen und mit Jakli eine Familie gründen…« Jakli hatte es ebenfalls gewußt, davon war Shan überzeugt. Ihre Abschiedsworte hatten ihn während des langen Ritts zu Marcos Haus nicht mehr losgelassen. Nikki und ich, das war wie ein Traum, hatte sie gesagt und dann hinzugefügt: Es wird bis irgendwann in der Zukunft warten müssen. Das klang, als würde sie ein anderes Leben, eine andere Inkarnation meinen. Und schließlich ihr Blick, als sie losgegangen war, um sich Bao zu ergeben. Es hatte keine Angst darin gelegen - und auch kein Haß, sondern nur noch eine große Leere, denn im Herzen spürte sie bereits, was Shan sich erst danach zusammenreimte. In gewisser Weise hatte sogar er selbst ihr die schreckliche Wahrheit vor Augen geführt, und zwar durch den Besuch im Lager des Tadschiken. Sie hatte nichts dazu gesagt, sondern war im Anschluß nur an ihren ganz persönlichen Ort der Trauer geflohen, aber Huf hatte Shan gegenüber eingeräumt, daß sein Bruder, der mit Nikki geritten war, gleichzeitig für die Kriecher arbeitete. »Bao hat ihn ermordet. Ich war mir völlig sicher, Nikki sei Amerikaner. Blondes Haar und blaue Augen. Ich habe nichts begriffen.« Shan schwieg einen Moment. »Die Kriecher hatten -694-
das Netz immer enger gezogen. Bao war den Amerikanern auf der Spur. Er wollte sie unbedingt erwischen, denn das würde eine sichere Beförderung bedeuten. Sein Plan sah vor, der Karawane eine Falle zu stellen. Er hat Nikki gefangengenommen, als der mit dem weißen Pferd und dem silbernen Zaumzeug zurückkam. Bao mußte dafür sorgen, daß nur eine Karawane unterwegs sein würde, nämlich Ihre, die mit den subversiven Elementen, damit er sich an die Verfolgung machen und seine Helikopter auf sie ansetzen konnte. Er hat einen von Nikkis Männern, den Tadschiken, bestoche n, das Zaumzeug in die Stadt zu bringen, damit Sie wegen Nikkis Abwesenheit keinen Verdacht schöpfen würden.« »Nein! Verflucht noch mal, nein!« rief Marco. Von seiner Wut war nichts mehr übrig. »Nikki wird bald hier sein.« Nun klang er wieder ganz klein und schwach. »Ich liebe meinen Jungen.« »Viel zu viele Eltern haben in letzter Zeit ihre Jungen verloren«, sagte Shan stockend. Er holte den Stahlring aus der Tasche, den er seit jener Nacht im Lager Volksruhm bei sich trug, und legte ihn neben Marco auf den Tisch. Dann verließ er den Raum. Er stieg den Turm hinauf in die Nacht. Fünf Minuten später drang ein Laut unglaublicher Qual an seine Ohren. Es war Verwirrung und Verzweiflung, alles in einem langgezogenen unmenschlichen Schrei Es war ein Laut völliger Einsamkeit. Shan versuchte, durch den feuchten Schleier vor seinen Augen die Sterne zu erkennen. Das furchtbare Geräusch schien in seinem Kopf widerzuhallen und ließ ihn erschaudern. Einen Moment lang sehnte er sich danach, ebenso schreien zu können, um dem Leid in seinem eigenen Herzen Luft zu verschaffen. Er blieb bis nach Mitternacht oben auf dem Turm und bemühte sich, weder etwas zu denken noch zu fühlen. In den frühen Morgenstunden fand er Marco dann in Nikkis Zimmer -695-
wieder. Der große Mann saß in einer Ecke und sah aus, als hätte er die ganze Nacht gekämpft, als hätte man ihn zum erstenmal in seinem Leben verprügelt und bezwungen. Er ließ sich von Shan zu Bett helfen und wirkte dabei so schwach wie eine alte Frau. Die anderen waren wach und saßen neben dem Ofen auf dem Küchenboden. In ihrer Mitte lag ein Haufen schmutziger Steine, und neben Gendun stand ein Topf Wasser, aber sie schienen ihre Übung schon vor langer Zeit abgebrochen zu haben. Sie hatten alles mit angehört und verstanden. Gendun und Lokesh beteten. Jowa saß mit bestürzter Miene da und starrte auf seine leeren Hände. Fat Mao war wütend. »Diese widerliche Wolke wird von Tag zu Tag größer«, sagte der Uigure unvermittelt zu Shan. »Man kann sie nicht aufhalten. Und was unternimmst du deswegen? Du machst es nur noch schlimmer.« »Wir sind hergekommen, um dem Yakde Lama zu helfen«, sagte Shan ruhig und sah dabei die Steine an. »Zum Teufel mit dem Yakde Lama!« schrie Fat Mao. »Ein kleiner Junge, ist das alles, worum du dich sorgst? Nikki war mein Freund. Was ist mit Jakli und den Clans, die aufgelöst werden? Du großer Ermittler, du tust überhaupt nichts! Du hast den Yakde Lama nicht gerettet, er ist tot. Der Zauberer aus Lhadrung, der herkommt und alles aufklärt. Vier tote Kinder. Du hast es nicht verhindert. Du steckst bloß deine Nase überall hinein. Und anzubieten hast du nur schlechte Neuigkeiten.« Der Uigure klang, als würde er kurz vor einem Tobsuchtsanfall stehen. »Du kennst keine Logik! Du folgst keinen Grundsätzen!« Fat Mao starrte ihn wütend an und beugte sich vor, als wolle er sich auf den gegenüber sitzenden Shan stürzen. Dann fielen ihm offenbar die anderen wieder ein, und er hielt inne. Shan erwiderte Fat Maos wütenden Blick für einen Moment und sah dann ebenfalls auf seine Hände, als die große Woge der -696-
Traurigkeit wieder über ihm zusammenschlug. Schweigend saßen sie dort in dem Haus auf dem abgelegenen Berg, während der Wind um die Felswände des Turms heulte und das Feuer leise knisterte. Nach langer Zeit regte sich der Lama. Er nahm eine Schöpfkelle und goß damit langsam Wasser über dem Steinhaufen aus. »Das sind Shans Grundsätze«, sagte Gendun ernst, als der Schmutz weggespült wurde. »Die Eigenschaften des Wassers.« Als es hell genug war, um den Pfad erkennen zu können, brachen sie auf, ohne sich von Marco zu verabschieden. Knapp eine Stunde später sah Shan den Rauch. Er machte die anderen darauf aufmerksam und wollte sein Pferd wenden, aber Lokesh hob die Hand. Marco hatte sein Haus angezündet. Sie würden nicht rechtzeitig eintreffen, um es zu retten oder um ihn zu retten, falls er ins Feuer gegangen war. Shan stieg ab und beobachtete hilflos, wie die Flammen sich über die Gratlinie erhoben und die Umrisse des steinernen Turms hervortreten ließen. Sogar aus dieser Entfernung konnte er das Prasseln der großen Balken hören, die dem Inferno Nahrung gaben, und er hatte den Eindruck, an der obersten Brustwehr würde eine Gestalt stehen. Dann drehte der Wind, hüllte den alten Turm vollends in Feuer und Rauch, und Marco war verschwunden. Die stämmige Frau in dem Restaurant in Yutian kochte einen Schafskopf, während Fat Mao am Küchentisch saß, die Tasten seines Computers bearbeitete und Mao die Schwalbe anbrüllte, weil es ihr nicht gelungen war, das aktuelle Verzeichnis der Neuzugänge des Lagers Volksruhm zu besorgen. Das sei gleichgültig, erwiderte sie, denn man habe Jakli zweimal auf der Straße nach Kashi gesehen. Die Einsatzkommandos brachten sie anscheinend in das dortige Sonderbüro der Öffentlichen Sicherheit. Danach wurde Jakli ins lao gai wandern. Dagegen dürfte das Lager Volksruhm wie ein Hotel wirken, fügte die junge Kasachin hinzu. -697-
Fat Mao bedachte sie mit einem unheilvollen Blick, bis ein lautes Klopfen an der Tür die Maos hastig in das Kellerversteck stürzen ließ. Die stämmige Frau öffnete den Riegel, woraufhin Mao der Ochse und ein weiterer Mann eintraten. Sie zerrten eine dritte Gestalt mit sich, der man einen Jutesack über den Kopf gebunden hatte. Wortlos führten sie den Gefangenen die Kellertreppe hinunter, vorbei an Gendun und Lokesh, die meditierend in einem Lichtfleck am vorderen Fenster saßen. Jowa stand auf und verschwand ebenfalls nach unten, leise gefolgt von Shan. Die Maos setzten den Mann auf einen Stuhl am Tisch und nahmen den Sack ab. Das Gesicht ihres Opfers war auf einer Seite übel zugerichtet, und aus der Nase lief etwas Blut in den Schnurrbart und über das Kinn. Es war Wangtu. Fat Mao umrundete schweigend den Tisch. »Ich wurde auf freien Fuß gesetzt«, versicherte Wangtu eilig mit ängstlicher Stimme und sah den Anwesenden nacheinander in die Gesichter. »Die Anklägerin hat mich zu Lau befragt, und dann wurde ich aus dem Lager Volksruhm entlassen. Ich wußte nicht, wie ich in die Stadt kommen sollte, also habe ich vorgeschlagen, ich könnte doch auf dem weißen Pferd bis zur Sammelstelle reiten und es dort abliefern.« »Nein«, knurrte Fat Mao. »Man hat es dir als Bezahlung für eine Gegenleistung gegeben. Du hast ihnen irgend etwas verraten.« Wangtu senkte den Kopf. »Ich hasse sie«, sagte er mit hohlem Klang. »Sie sind meine Feinde. Ich kann euch helfen. Mir kommt so manches zu Ohren, wenn ich am Steuer dieser Wagen sitze.« Shan fühlte den Blick des Uiguren auf sich ruhen und erwartete, daß Fat Mao ihn nach oben schicken oder von den anderen wegbringen lassen würde. Aber der Mann drehte sich wieder zu Wangtu um. -698-
»Was davon ist gelogen?« herrschte er ihn an. »Daß du nicht mit ihnen zusammengearbeitet hast oder daß du uns helfen willst?« Shan stand auf, nahm ein Handtuch von einem Stapel in der Ecke und wischte Wangtu das Blut aus dem Gesicht. Niemand, nicht einmal Wangtu, schien Notiz davon zu nehmen. Der Fahrer starrte sie weiterhin ausdruckslos an. »Gelegentlich bekomme ich mit, wann Leute auf der Fernstraße herkommen. Wichtige Leute«, sagte er zaghaft. »Ich könnte eventuell dafür sorgen, daß gewisse Wagen unterwegs mit einer Panne liegenbleiben.« Er sah Fat Mao an. »Dieses Pferd war prächtig. Jakli hat sich sofort in das Tier verliebt. Ich wollte nur, daß sie es bekommt. Früher, als ich noch ein Junge war, gehörte es zum Brauch, daß Freunde anläßlich einer Hochzeit Pferde schenken. Versteht ihr denn nicht? Es war das letzte nadam.« Er musterte die grimmige Miene des Uiguren und wandte sich dann an Shan. »Haben Sie ihr Gesicht gesehen, als ich damit ankam? Es war wie früher…« Sein Mund verzog sich, als wolle er lächeln, aber letztendlich wurde daraus eine schmerzverzerrte Grimasse. »Erst gibt er es mir, dann erschießt er es«, sagte er bekümmert und schaute zu Boden. »Ich glaube nicht, daß Sie den Kriechern etwas verraten haben«, sagte Shan. »Weil Sie nämlich überhaupt nichts wußten. Ich vermute, Sie haben sich einverstanden erklärt, etwas Bestimmtes für Bao zu tun.« »Eine Kleinigkeit. Ich sollte die Anklägerin belügen. Bao tat so, als wäre es eine Art Scherz.« Erneut versuchte Wangtu zu lächeln. »Was genau solltest du ihr erzählen?« fragte Fat Mao nach. Wangtus Blick blieb auf Shan gerichtet. »Es ging um die Jungen. Ich sollte dafür sorgen, daß Xu heute abend die Nachricht erhält, es sei hoch in den Bergen ein weiterer Junge ermordet worden.« -699-
»Welcher Junge?« warf Jowa erschrocken ein. »Irgendeiner. Kein wirklicher Mord. Ich sollte es bloß behaupten, damit sie ins Gebirge aufbricht.« »Will man Xu in einen Hinterhalt locken?« fragte Fat Mao. »Sollen Sie Xu einen bestimmten Ort nennen?« fügte Shan hinzu. »Nein. Irgendeine Stelle im Kunlun, an einer der schlechten Straßen, wo man Schrittempo fahren muß. Mindestens zwei oder drei Stunden von hier entfernt. Alles weitere war Bao egal.« »Demnach ist es kein Hinterhalt, sondern ein Ablenkungsmanöver«, folgerte Jowa. »Und zwar, weil Bao nicht will, daß sie plötzlich irgendwo in der Nähe des Steinsees auftaucht«, sagte Shan erschaudernd. Im Vergleich zu den anderen Gebäuden Yutians wirkte das im Südteil der Stadt gelegene Anwesen der Brigade wie ein Privatklub. Seine weißen, mit Stuck verzierten Mauern waren frisch gestrichen, und im vorderen Innenhof fand sich eine eigentlich nur in westlichen Ländern übliche Besonderheit: ein Rasen. Überall standen rote Fahrzeuge geparkt - Limousinen, Geländewagen und schwere Laster, allesamt versehen mit dem goldenen Emblem des Wohlstands. Fat Mao hatte sich geweigert, sie zu begleiten oder einen der anderen Maos für ein dermaßen gewagtes Unternehmen abzustellen. »Geh nach Hause«, hatte er mit angespannter Stimme zu Shan gesagt. »Du hast deine alten Männer gefunden. Ihr seid alle noch am Leben. Damit ist es euch weitaus besser ergangen als uns. Haut ab, bevor die Kriecher aufs neue zuschlagen.« Fat Maos Wut hing nicht nur mit Jaklis Verhaftung zusammen, erkannte Shan, während Jowa und Lokesh sich ihm anschlossen. Der Uigure fühlte sich gedemütigt. -700-
Das Gelände war wie entvölkert. Shan ging an dem leeren Pförtnerhaus vorbei. Das alles roch nach einer Falle, aber er konnte nicht anders. Er wandte sich schnell zu Lokesh um und wies ihn an, mit Jowa auf der anderen Straßenseite zu warten. Der alte Tibeter nickte zustimmend, aber als Shan die Hand auf einen der beiden Türflügel des Bürogebäudes legte, griff jemand an ihm vorbei und stieß die Tür für ihn auf. Lokesh stand neben ihm. Irgendwo in der Nähe ertönten unvermittelt Geräusche. Jubel. Beifall. Es klang nach einer ganzen Menschenmenge, aber immer noch war niemand zu sehen. Sie wagten sich in die Eingangshalle vor und entdeckten eine ältere Chinesin, die kerzengerade hinter einem Empfangstisch saß. Als sie an ihr vorbeigingen, lächelte sie und nickte mehrfach. Shan fiel auf, daß sie blaue Arbeitskleidung trug. Hinter ihr standen ein Schrubber und ein Eimer Wasser. Kos Büro war nicht zu verfehlen, angefangen beim Eingang, der grellen Imitation einer westlichen Terrassentür, mit einem roten Plastikgitter und darin eingesetzten Scheiben aus durchsichtigem Kunststoff. Kurz dahinter lag auf einem der Stühle ein Stapel amerikanischer Zeitschriften, über dem das Poster einer nächtlichen Skyline hing, versehen mit der Überschrift New York, New York in lateinischen Buchstaben. An der gegenüberliegenden Wand hing ein Banner, dessen Aufschrift Shan im ersten Moment für einen politischen Slogan hielt, bis er genauer hinsah und es zur Sicherheit zweimal las. Werdet reich mit der Brigade. Das Büro war leer. Shan eilte vorbei an dem Arbeitsplatz einer Sekretärin in einen großen Raum, in dem sich ein schimmernder Schreibtisch aus verchromtem Metall und Glas befand. Auf der Tischplatte standen lediglich ein rotes Telefon und das Foto eines roten Sportwagens. Lokesh trat mitten vor das große Fenster hinter dem Schreibtisch und lachte leise. Shan zog ihn sofort zur Seite und -701-
spähte dann vorsichtig nach draußen. Das Fenster öffnete sich auf den zentralen Bereich des Anwesens, einen Hof, der auf drei Seiten von Gebäuden eingerahmt wurde. Es fand gerade ein Baseballspiel statt. Man hatte die Fahrzeuge zur Seite gefahren, und auf ihren Motorhauben und Dächern saßen mindestens zwei Dutzend Zuschauer, die das Spektakel verfolgten. Ko war ebenfalls dort und rannte aufgeregt umher. Er wies die Spieler an, wie sie sich aufstellen oder den hölzernen Schläger halten sollten. Als Shan sich umwandte, um seine Suche fortzusetzen, traf der Batter den Ball, und das Publikum jubelte erneut. Der unternehmungslustige Ko schien sich nicht sonderlich um die Einzelheiten seiner Unternehmungen zu kümmern. Die zwei Schubladen des schmalen Tisches unterhalb des Fensters enthielten Büroklammern und Bleistifte. Auf einigen Regalen standen diverse Erinnerungsstücke sowie Bücher zum Thema Management, darunter einige in englischer Sprache. Erfolg trotz Chaos lautete einer der Titel. Bei den Andenken handelte es sich überwiegend um vertraute Politdevotionalien. Eine Büste Mao Tsetungs. Ein Stück Holz, in das man die Worte Fahre unbeirrt fort eingraviert hatte, die Kurzform des beliebten Sinnspruchs eines früheren Jahrzehnts. Zwei Tischfeuerzeuge in Haltern aus poliertem Stein, deren Messingplaketten an Parteikonferenzen gemahnten. Mehrere Etuis mit Schreibgeräten. Und eine Schnur mit schmutzigen Plastikperlen. Shan nahm sie in die Hand. Eine mala. Ihm fiel ein, daß der Dämon nach dem Mord an Alta dessen Gebetskette mitgenommen hatte. Shan ließ die Perlen in seine Tasche gleiten. Es fanden sich weder Listen mit Jungennamen und dahinter verzeichneten Kopfgeldern noch Aufzeichnungen über Lau. An der Wand hing ein Foto, auf dem Ko unter einem Banner des Programms zur Beseitigung der Armut stand und einem nahezu kahlköpfigen Mann die Hand schüttelte. Shan nahm den Mann genauer in Augenschein. An seinem Anzugjackett steckte ein -702-
großes Abzeichen in Form der chinesischen Flagge mit einem Kampfpanzer darunter. Ein Souvenir für ehemalige Soldaten. Shan ging zurück zum Tisch der Sekretärin. Darauf lag ein großer, handschriftlich an Ko adressierter Umschlag. Absender war die Brigadezentrale in Urumchi. Unter Kos Namen stand eine Notiz: Ich wünschte, alle meine Manager würden das neue chinesische Wirtschaftssystem so gut verstehen wie Sie, Genosse, Dies hier wird unser Modellprojekt sein, um allgemein zu verdeutlichen, was eine Marktwirtschaft chinesischer Prägung wirklich ist. Unterschrieben war das Schreiben mit Rongqi. Im Innern des Umschlags fand Shan ein Hochglanzetikett, auf dem einige Berge und der Potala in Lhasa abgebildet waren, der traditionelle Palast des Dalai Lama, den China in einen Wallfahrtsort für Touristen verwandelt hatte. Über das Bild zog sich der Schriftzug Orakel, versehen mit dem Symbol eines eingetragenen Warenzeichens. Frisch aus der heiligen Quelle, stand darunter, und dann, ganz am unteren Rand, 300ml. An den Seiten des Etiketts waren weitere Werbeversprechen aufgedruckt. Heilend. Belebend. Für wohltuenden Schlaf. Genießen Sie den Zauber Tibets. Shan war zunächst völlig verwirrt, aber dann las er den Aufdruck ein weiteres Mal. Der Orakelsee beim Kloster Rabennest. Das Programm zur Beseitigung der Armut. Rongqis Haß auf Tibeter. Die Eingliederung der gequälten Minderheiten in den Wirtschaftsprozeß. Die Suche nach einem eigene n Yakde Lama. Ko und sein General hatten das perfekte Projekt gefunden. Ein Musterbeispiel für ihr neues System. Das heilige Wasser von Rabennest sollte an die neureichen Chinesen der östlichen Städte verkauft werden. Rongqi stand dem wirtschaftlichen Fortschritt mehr als aufgeschlossen gegenüber, aber er verlor seine früheren Absichten nicht aus dem Blick. Er würde sich auf seine Weise an dem Yakde Lama rächen, indem er hohe Belohnungen für den Tod des Jungen und für den -703-
Jadekorb zahlte, um dann einen eige nen Yakde Lama zu proklamieren. Und zum Abschluß würde er den überlebenden Anhängern des Lama seinen Sieg unter die Nase reiben. Mit zitternder Hand nahm Shan den Etikettenentwurf und widmete sich den Karteikarten, die darunter lagen. Vorschläge für die Werbekampagne lautete die ehrgeizige Überschrift. Abbildung: Hübsche Frau in aufreizendem Nachthemd, stand dort. Bildunterschrift: »Psst! Ich habe hier ein tibetisches Sexgeheimnis für Sie!« Die nächste Karte besagte: Abbildung: Breit grinsender Mönch, der eine Flasche hochhält. Bildunterschrift: »Bei uns in Tibet sagen wir Iha gyal lo! Mögen die Götter siegreich sein. Lassen auch Sie sich diesen Sieg schmecken!« Es folgten noch weitere Karten, aber Shan konnte es nicht ertragen, sie zu lesen. Plötzlich ließen die Fahrzeuge neben dem Baseballfeld lautstark ihre Hupen ertönen. Shan legte den Umschlag zurück und schob Lokesh in Richtung Tür. »Nicht zu hastig«, warnte er ihn. Und sieh nicht so tibetisch aus, hätte er beinahe hinzugefügt. Er nahm einen Baseballschläger, der in der Ecke lehnte, sowie eine dicke Jacke, die neben der Tür hing, und reichte letztere an Lokesh weiter. Der alte Tibeter streifte sie eilig über und zog sich die Kapuze tief in die Stirn. Sie durchquerten die Eingangshalle und kamen wiederum an der lächelnden Putzfrau vorbei, die den Empfangstisch hütete. Shan ging voran und hatte sich den Schläger auf die Schulter gelegt. Die Frau winkte ihnen zum Abschied hinterher. Als sie die Tür erreichten, kamen einige Männer von draußen herein, darunter auch ein großer, breitschultriger Chinese, der ausgelassen über das soeben stattgefundene Spiel sprach. Shan warf ihm einen Blick zu und schaute sofort wieder weg. Dann hielt er kurz inne, um noch einmal der tiefen Stimme des Fremden zu lauschen. Als die Gruppe an ihnen vorbeiging und er mit Lokesh das Gebäude verließ, erkannte Shan, daß er den Mann zuvor schon -704-
gesehen hatte, und zwar gekleidet in ein leuchtendweißes Hemd, mitten auf einer nächtlichen Straße im Kunlun- Gebirge. Zwanzig Minuten später trafen sie wieder im Keller des Restaurants ein. Lokesh lächelte und bot den Maos die Jacke als neues Stück für ihren Kleiderfundus an. Er wies auf eine Art Mütze und die Handschuhe hin, die in den Taschen steckten, und hob dann besonders das prächtige Futter hervor, ein synthetisches Fell mit Leopardenmuster. Shan lächelte seinen Freund an und bedankte sich innerlich bei den Schutzgeistern des alten Tibeters. Dann erläuterte er den Maos, was er herausgefunden hatte. Wangtu, der zusammengesunken auf einem Stuhl in der Ecke hockte, richtete sich auf und hörte aufmerksam zu. Kurz darauf unterbrach Lokesh ihn durch einen ernsten Zwischenruf. Shan drehte sich zu ihm um und sah ihn verwirrt an. Lokesh hatte die Jacke wieder angezogen, diesmal mit dem Leopardenfell nach außen, dazu die braunen Handschuhe und die ebenfalls braune Sturmhaube, die nur Öffnungen für Augen und Mund besaß. Er hielt den Baseballschläger, nicht wie ein Batter, sondern mit einer Hand hoch über die Schulter erhoben. In seiner anderen Hand lag ein länglicher schmaler Gegenstand, den Fat Mao sogleich genauer inspizierte. Der Uigure betätigte einen kleinen Knopf an der Seite des Objekts, und mit einem lauten Klicken schnellte eine Klinge daraus hervor. Ein Schnappmesser. Shan keuchte erschrocken auf und erhob sich von seinem Stuhl, als ihm klar wurde, was Lokesh da entdeckt hatte. Der Junge bei den dropkas war von einem Dämon in Leopardengestalt angegriffen worden. Einem Dämon ohne Gesicht. Seine Klauen glichen den Händen eines Menschen, und er besaß einen glänzenden Stock, so lang wie der Arm eines Mannes, hatte die Frau erzählt. Shan musterte den Baseballschläger mit der breiten Spitze und dem sich verjüngenden Griffende. Jowa stöhnte laut auf und wandte sich -705-
zu Shan um. Seine entsetzte Miene verriet, daß er alles begriff. Der Junge war einem Dämon in der Gestalt eines Leoparden zum Opfer gefallen. Shan hingegen mußte sich nun mit einem Dämon in der Gestalt von Ko befassen. Shan drehte sich zu Wangtu und betrachtete den mürrischen Kasachen. »Sie müssen dafür sorgen, daß es nach Plan verläuft«, sagte er mit einem kurzen Blick auf Fat Mao. »Sie müssen Xu die Lüge übermitteln.« Er erklärte schnell, was er nun tun werde, ging dann zum drei Blocks entfernt gelegenen Postamt und rief im Büro der Anklägerin an, während Mao der Ochse neben ihm stand und das Gespräch verfolgte. Er ließ sich mit Fräulein Loshi verbinden und hinterließ bei ihr die Nachricht, er werde jetzt zum Marktplatz kommen und wolle sich dort mit Anklägerin Xu treffen, um ihr wichtige Informationen über Direktor Ko mitzuteilen. Eine Minute später machte Mao der Ochse sich auf, um dem kahlköpfigen Mann in der Eingangshalle eine schriftliche Nachricht zu überbringen, während Fat Mao den anderen hastige Anweisungen erteilte. Fünf Minuten darauf bogen mehrere Fahrzeuge der Kriecher mit heulenden Sirenen auf den Marktplatz ein. Hatte Loshi sich die Mühe gemacht, zunächst Ko zu verständigen, oder hatte sie gleich bei Bao angerufen? überlegte Shan. Mao der Ochse befand sich inzwischen hinter dem Amtsgebäude und behielt die Limousine der Anklägerin im Blick. Mao die Schwalbe, die schüchterne Uigurin, stand einen Block entfernt in einer Gasse, von wo aus sie Mao den Ochsen beobachten konnte. Jowa saß auf einer Bank am Straßenrand, genau gegenüber von Shan, und ließ wiederum Mao die Schwalbe nicht aus den Augen. Das Signal kam schnell. Jowa ließ die Zeitung sinken, in der er gelesen hatte, und hob beide Arme, als würde er sich strecken. Shan stand auf, ging langsam davon, bis er den großen Wagen aus der Seitenstraße herannahen sah, und stellte sich der Limousine in den Weg. Keiner sprach ein Wort, als er einstieg. Der kahlköpfige Mann -706-
am Steuer fuhr in hohem Tempo aus der Stadt, während Xu aus dem Fenster sah und unruhig die Straßen absuchte. Einige Minuten später bogen sie auf eine Schotterpiste ein und folgten ihr bis auf die Kuppe eines kleinen Hügels. Sie befanden sich am Rand der Wüste. Die Sonne stand bereits tief im Westen. Xu ging schweigend bis zur Kante der Erhebung und stieg dann die Flanke des Hügels hinab. Shan folgte ihr und entdeckte dort eine kurze, halb verfallene Holztreppe. Unten setzte Anklägerin Xu sich auf eine klapprige Bank, neben der ein Schild an einem Holzpfosten lehnte, von dem es offenbar abgefallen war. Die Worte darauf waren lediglich in den fließenden Schriftzeichen der Turksprache verfaßt, nicht in chinesisch. »Ein alter moslemischer Friedhof«, sagte die Anklägerin und ließ den Blick über viele Reihen identischer, in der Sonne ausgehärteter Gräber schweifen, jedes davon ein langer, zylindrischer Hügel aus Erde und Zement, dessen gewölbte Seiten zu einer schmalen Kante zusammenliefen. Der Anblick ließ an zahllose Säulen eines Tempels denken, die man in symmetrischer Anordnung allesamt umgestürzt hatte. Vereinzelt waren auch kleine, an einen Bienenkorb erinnernde Wölbungen zu sehen, unter denen Shan die eingeäscherten Überreste des jeweiligen Verstorbenen vermutete, und schließlich einige große Exemplare von gleicher Form, in denen man die Leichen aufrecht sitzend und mit vor die Brust gezogenen Knien bestattet hatte. Eilig schilderte er der Anklägerin die Beweise, durch die Ko mit dem Angriff auf den dropka-Jungen in Verbindung gebracht wurde. »Reine Indizien«, sagte sie. »Ko muß sich an jenem Tag mit einem Brigadelaster in Tibet aufgehalten haben, genau wie in der folgenden Nacht, als wir den Männern begegnet sind. Es dürfte nicht schwierig sein, einige seiner Begleiter zu ermitteln. Sie könnten die Leute vernehmen und sich entsprechende Zeugenaussagen sichern. -707-
Wie ich gehört habe, ist das eines Ihrer Spezialgebiete.« Xu ging nicht weiter darauf ein. »Bao hat Laus Leiche gefunden«, sagte sie statt dessen. »Zumindest hat er das behauptet. Also haben wir ihn angerufen und um eine Autopsie gebeten. Er sagte, das Büro habe bereits eine durchgeführt und den Tod durch Ertrinken bestätigt. Die Leiche sei unterdessen in Hotan eingeäschert worden.« »Die Leiche?« »Er hatte tatsächlich eine Leiche. Aber er wußte nicht, daß auch meine Dienststelle das Krematorium in Hotan nutzt. Also haben wir dort angerufen, und der Techniker sagte, die Einäscherung habe sich verzögert, solle aber in den nächsten Minuten durchgeführt werden. Ich sagte, wir brauchten eine letzte Bestätigung der Identität der Toten. Fünf Minuten später rief er völlig aufgeregt zurück. Es handelte sich überhaupt nicht um eine Frau, sondern um einen jungen Mann. Er war auch nicht ertrunken, sondern durch zwei Schüsse in die Brust gestorben. Solche Fehler kommen vor, habe ich zu ihm gesagt. Er solle den Toten vorerst zurück ins Leichenschauhaus bringen. Wir würden uns melden.« »Leutnant Sui.« Shan sprach in Richtung der Gräber, als verdienten die Toten es, davon zu erfahren. Die Anklägerin nickte. »Dieser Vertuschungsversuch ist irgendwie seltsam. Falls Bao den Leutnant erschossen hätte, wäre er vorsichtiger gewesen, und es hätte gar keine Leiche gegeben. Er will einen anderen decken. Jemanden, den er dafür nicht strafrechtlich zu verfolgen gedenkt.« »Ko hat Sui erschossen. Ich habe mit einem Augenzeugen gesprochen. Der Major hat es herausgefunden, und Ko mußte ihm seinen Sportwagen überlassen und so sein Schweigen erkaufen. Jetzt sind sie dank General Rongqi Geschäftspartner. Bao beschützt Ko, wenigstens vorerst.« »Lächerlich! Bao und Ko sind völlig verschieden und nie gut -708-
miteinander ausgekommen. Ich kenne die beiden, seit sie hier in Yutian eingetroffen sind.« »Ich habe eines der Banner des Programms zur Beseitigung der Armut gesehen«, sagte Shan. »Vereinigt euch zugunsten des wirtschaftlichen Erfolgs. Ich glaube, daß Rongqi ein Band zwischen den beiden geknüpft hat, ein gemeinsames Interesse.« »Etwa die Suche nach Ihrem Kinder-Lama?« fragte Xu skeptisch. »Sie reden hier von der Brigade, einem der größten Unternehmen Chinas, und vom Büro für Öffentliche Sicherheit.« »Nein. Nicht vom Büro, nur von zwei abtrünnigen Offizieren. Sui hat seine Machenschaften vor Bao geheimgehalten. Er hat erst Lau ermordet und dann versucht, den Jungen möglichst noch vor Ko zu finden. Dabei kam er dem Hauptgewinn ein wenig zu nahe und wurde deshalb von Ko ermordet. Als Bao später herausbekam, was geschehen war, trat er an Suis Stelle. Vereinigt euch, um die Kopfgelder zu maximieren. Wenn sie zusammenarbeiten, können sie wesentlich mehr Geld einstreichen. Rongqi hat zudem die Prämien so deutlich erhöht, daß jemand wie Bao, der mit dem Gehalt eines Kriechers in Yutian festsitzt, sie nicht länger ignorieren konnte. Und für jemanden, der Kinder für Geld tötet, wäre die Fälschung der Ermittlungsakte im Fall Lau eine Kleinigkeit.« Shan seufzte matt. »Verhaften Sie alle beide. Man wird Sie dafür als Heldin verehren.« Xu verzog das Gesicht. »Es gibt noch immer keine stichhaltigen Beweise.« »Ein Toter im Leichenschauhaus ist ein guter Anfang. Und es existiert ein Zeuge für den Mord an Sui; er versteckt sich derzeit in den Bergen.« Shan sah die Anklägerin durchdringend an. »Sie meinen doch nur, es gäbe bislang keine politische Erklärung.« Xu blieb stumm und schaute hinaus auf das Gräberfeld. Der Wind ließ Sandschwaden über den Friedhof wehen. -709-
»Korruption ist ein politisches Delikt«, gab Shan zu bedenken. »Bringen Sie Rongqi zu Fall, und Sie werden Xinjiang verlassen können.« Sie verzog wieder das Gesicht. »Ich brauche Unterlagen. Ich brauche Dokumente. Ich brauche Beweise. Es ist kein Verbrechen, aus privater Tasche Leistungsprämien anzubieten.« »Aber ein Kopfgeld für den Mord an einem Jungen ist keinesfalls legal.« Xu schüttelte den Kopf. »Es genügt ein Wort von Rongqi an eines der Einsatzkommandos, und wir alle landen womöglich im lao gai. Sie glauben doch nicht ernsthaft, ich könnte dem General etwas anhaben.« Shan starrte sie an. Ihre Augen blieben so hart wie Kristalle, aber sie wich seinem Blick aus. »Doch, das glaube ich. Ich schätze, Sie haben bloß Angst.« »Als nächstes wird er ein Kopfgeld auf widerspenstige Anklägerinnen aussetzen.« »Nein, es ist nicht Rongqi, den Sie fürchten. Ich glaube, in Wahrheit fürchten Sie sich nur vor einer einzigen Sache.« Sie sah ihn an. »Sie haben Angst, so wie ich zu enden.« Xu stieß ein Geräusch aus, das als Lachen anzufangen schien, dann aber eher einem Wimmern glich. »Es ist möglich, diesen Leuten die Stirn zu bieten«, fuhr er fort. »Aber falls Sie das tun, besteht gleichzeitig die Chance, mein Schicksal zu erleiden.« Er sprach in sachlichem Tonfall, als ginge es um irgendeine merkwürdige niedere Lebensform und nicht um ihn selbst. Die Anklägerin erhob sich abrupt und ging entlang einer der Gräberreihen davon. Die Sonne würde bald hinter den Bergen versinken. Der Wind frischte auf, änderte die Richtung und brachte den beißenden Geruch der Sträucher mit sich, die im Randgebiet der Wüste wuchsen. Es war kühl, beinahe kalt, was -710-
auf den bevorstehenden Wechsel der Jahreszeiten hindeutete. Shan folgte der Anklägerin, blieb jedoch zwei Meter hinter ihr stehen und beugte sich zu einem Grab hinab, um die vertrockneten Blätter wegzuräumen, die sich dort im Winkel angesammelt hatten. Die meisten Chinesen wußten schon längst nicht mehr, was Chen Ming bedeutete, jener traditionelle Festtag, an dem man die Gräber der Vorfahren pflegte und einen Weidenzw eig über die Haustür hängte, um böse Geister zu vertreiben. Als die Regierung verfügte, es solle keine dauerhaften Grabstätten mehr geben, wurde der Festtag dadurch de facto abgeschafft. Einmal hatte Shan seinen Vater dabei überrascht, wie dieser einen winzigen Weidenzweig am Türrahmen ihrer Wohnung befestigen wollte. Sein Vater hatte einen unbeholfenen Scherz darüber gemacht und war weggegangen. Doch am nächsten Morgen hing der Zweig über der Tür. »Man wird Ihnen in den nächsten paar Stunden ein Verbrechen melden«, sagte er laut und arbeitete dabei weiter. »Bao hat dafür gesorgt. Jemand wird behaupten, in den Bergen sei wieder ein Junge angegriffen oder sogar ermordet worden. Genau die Art von Meldung, auf die das Büro der Anklägerin reagieren muß. Sie werden entweder sofort oder spätestens im Morgengrauen aufbrechen müssen.« Xu ließ nicht erkennen, ob sie ihn gehört hatte, sondern ging weg. Einige Minuten später tauchte sie auf der anderen Seite des Grabes auf, vor dem Shan stand. »Glauben Sie, es ist eine Falle?« »Nein, ein Ablenkungsmanöver. Bao und Ko haben nämlich geplant, sich morgen vormittag den letzten der Jungen zu schnappen. Den Jungen, der den Jadekorb hat. Es paßt hervorragend zum Besuch des Generals. Endlich der Volltreffer, genau rechtzeitig zu seiner Ankunft.« »Der General ist bereits seit heute nachmittag hier«, sagte Xu. -711-
»Man hat ihn in einem besonderen Gästehaus der Brigade untergebracht. Seine Leibwache besteht aus Angehörigen der Einsatzkommandos.« Shan seufzte. »Perfekt. Verhaften Sie alle auf einmal.« »Das ist doch Irrsinn«, rief sie. »Sie haben jegliches Verständnis für die Bande zwischen Regierung und Volk verloren.« Die Worte klangen gezwungen und leer. Shan sah sie schweigend an. »Sie sind schon viel zu lange in Tibet gewesen«, hielt die Anklägerin ihm vor. »Ich habe kürzlich etwas über die Bande zwischen Regierung und Volk gelesen«, erwiderte er. »Man nennt es das Lotusbuch.« Die Worte riefen eine erstaunliche Reaktion hervor. Xu schien für einen Moment den Atem anzuhalten. »So ist es aber nicht«, widersprach sie schließlich mit angespannter Stimme. »Wer im Gefängnis sitzt, wacht immer völlig lautlos auf«, sagte Shan in Richtung Horizont. »Die Leute lernen dort, sogar in ihren Alpträumen nur stumme Schreie auszustoßen, weil sie wissen, was die Wachen ihnen antun, sobald es ein Geräusch gibt.« Die Frau, die ihn nun ansah, war nicht die Anklägerin, sondern jemand, den er bislang noch nicht kannte. Ihre versteinerte Miene schien in Stücke gebrochen zu sein. »Doch eines Tages wurde ich vom Klang einer wunderschönen Glocke geweckt. Nicht laut, aber rein und wohltönend - ein perfektes Geräusch, das in meinem ganzen Körper widerhallte. Später fragte ich einen Lama, wer denn die Glocke geläutet habe. Er sagte, es gäbe überhaupt keine Glocke. Er habe im Morgengrauen lediglich beobachtet, wie ein einzelner Tropfen Wasser vom Dach in meinen Blechnapf fiel. Es sei einfach nur die Art von Klang gewesen, die meine Seele in jenem Moment habe wahrnehmen wollen.« »Das verstehe ich nicht«, flüsterte Xu, ohne ihren Blick von -712-
den Gräbern abzuwenden. »Ich will damit nur zum Ausdruck bringen, wie sehr Tibet einen Menschen verändert. Es läßt ihn die Dinge anders betrachten oder hören. Es prägt ihn, es brennt sich in seine Seele ein. Und manchmal brennt es sich auch hindurch.« Xu drehte ihr Gesicht in den Abendwind. »In diesem Buch…«, sagte sie, als wolle sie zu einer Erklärung ansetzen. »Eines sollten Sie wissen«, fiel Shan ihr ins Wort. »Ich habe in dem Buch nichts über Sie gelesen.« Aber er erinnerte sich daran, mit welch sonderbarem Gesichtsausdruck Xu das Kunlun-Gebirge angesehen hatte und wie sehr Tibeter sie zu verunsichern schienen. Sie wirkte einen Moment lang erleichtert und wandte sich in Richtung der Treppe. Aber als sie dort ankam, setzte sie sich wieder auf die Bank. Shan widmete sich noch einige Minuten dem Grab, bis er es vollständig gesäubert hatte. Xu saß einfach da und starrte auf die von Unkraut überwucherten Ruhestätten. Dann verließ Shan den Friedhof und ging an der Anklägerin vorbei. Er hatte die erste Stufe betreten, als sie das Wort , ergriff. »Es gibt hier dreihundertsiebenundvierzig Gräber«, sagte sie, abermals flüsternd. »Ich habe sie bei einer früheren Gelegenheit gezählt.« Er setzte sich auf die Treppe. Ein großer Vogel schwebte, über sie hinweg und ließ sich auf einem fernen Grab nieder. Eine Eule. Die Hüterin der Toten. »Ich war erst sechzehn«, brach es aus Xu heraus. »Wir sind mit einer Lastwagenkolonne in Shanghai aufgebrochen und haben unterwegs immer neue Kader aufgenommen. Ich wurde zur Offizierin bestimmt. Ich hatte nicht darum gebeten, aber die anderen behaupteten, ich könne mehr Sprüche des Großen Vorsitzenden auswendig hersagen als alle anderen in meiner Einheit. Unsere Reise dauerte mehrere Wochen. Wir rissen Zäune nieder, um das Vieh zu befreien. Wir verbrannten -713-
Schulen, um die Kinder zu befreien. Und wir ließen Bibliotheken in Flammen aufgehen, um das Wissen zu befreien.« Die Roten Garden, erkannte Shan. Sie sprach von den Roten Garden und der Kulturrevolution. »Als wir nach Tibet kamen, hat man mir einen Bezirk und eine Quote zugewiesen. Zehn Prozent aller Einwohner wurden zu schlechten Elementen erklärt, und es war meine Aufgabe, diese zehn Prozent zu identifizieren, sie Agitationssitzungen zu unterziehen und sie zum Ziel der öffentlichen Kritik zu machen. Der gewaltsamen Kritik. Manchmal der tödlichen Kritik. Gompas mußten niedergerissen werden. Die Reaktionäre waren angemessen zu bestrafen. Vierzehnmal wurden Kinder durch unsere Einheit gezwungen, ihre eigenen Eltern zu erschießen.« Sie hielt inne und ließ den Blick ein weiteres Mal über den Friedhof schweifen, als würde sie in Erwägung ziehen, die Gräber erneut zu zählen. »Wir waren doch selbst noch Kinder. Manchmal rissen sie den Lamas die Kleider vom Leib und ließen die Männer dann nackt auf dem Marktplatz tanzen.« »Sie?« Xu schwieg. Die Anklägerin fuhr sich mit der Hand über die Lippen. Ihre Finger zitterten. »Wir«, sagte sie schließlich und biß sich auf einen Knöchel. Nach einem Moment zog sie den Finger wieder weg und starrte ihn an, als hätte er ein unerklärliches Eigenleben entwickelt. »Ich wollte aufhören. Ich wollte nach Hause. Ich hatte genug von der Brutalität. Ich machte mir Sorgen um meine Familie. Aber sobald man seine Familie erwähnte, wurde man kritisiert. Das Anzeichen eines Reaktionärs, hieß es. Ein Beleg für die Hingabe an die Tradition der Unterdrückung. Ich konnte nur weitermachen. Man hat mich mehrmals befördert. Hoch in den Bergen gab es ein Kloster, ein großes gompa in der Nähe von Shigatse. Das Revolutionskomitee kam mit Fotografen aus Lhasa, um uns bei der Erfüllung unserer Aufgabe zu beobachten. Wir haben das -714-
Kloster umzingelt und Revolutionslieder gesungen. Ich gab den Befehl, es in Brand zu setzen. Es blieb noch genug Zeit. Ich dachte, die Mönche würden herauskommen. Aber das taten sie nicht. Einige von ihnen standen in den Türöffnungen und sahen uns an, während sie verbrannten. Aber die meisten blieben einfach drinnen und sagten ihre Mantras auf. Wir konnten sie lange hören; sie waren lauter als das Tosen der Flammen. Danach fanden wir die Leichen in Reihen vor, weil sie sich in ihrem Heiligtum ordentlich hingesetzt hatten, jeweils im Angesicht ihrer Lamas. Reihen um Reihen, wie auf einem Friedhof. Wir feierten und sangen wieder unsere Lieder. Dreihundertneunundvierzig. Der Vorsitzende hat mir einen Lobesbrief geschickt. So habe ich meine erste Anstellung beim Ministerium erhalten. Weil ich diesen Brief des Vorsitzenden hatte. Darin stand lediglich, ich hätte meine Sache gut gemacht und sei eine vorbildliche Arbeiterin. Daß ich für den Mord an dreihundertneunundvierzig Mönchen belobigt wurde, stand nicht darin.« Shan fand keine Worte. Ein Geschichtslehrer hatte einmal zu ihm gesagt, das einzige Problem des modernen China sei die zu hohe Lebenserwartung der Bevölkerung. Zu viele Millionen Menschen würden alt und fingen an, ein Gewissen zu entwickeln. Bei Xu waren die Alpträume schon früh gekommen, und ihr Gewissen hielt sie seitdem gefangen. So ist es aber nicht, hatte sie über das Lotusbuch gesagt. Das sollte heißen: So war es zwar, aber mittlerweile bin ich eine andere Person. Zweifellos war sie ebenso eine Gefangene wie die Leute, die sie in ihr Lager schickte. Im selbstgewählten Exil einer Grenzregion, wo sie glaubte, eventuell etwas bewirken zu können. Xu schien gar nicht zu registrieren, daß Shan aufstand und die Treppe hinaufstieg. Er ging an der Limousine vorbei, ohne dem kahlköpfigen Fahrer auch nur einen Blick zuzuwerfen. Dann trat er zu Fuß den Rückweg in die Stadt an, während der Wind den Sand quer über die Straße wehen ließ. Shans Seele war so -715-
schwer, daß er befürchtete, vielleicht nie wieder eine Glocke hören zu können.
-716-
Kapitel Einundzwanzig Der Sand fegte durch die Straßen von Yutian und verhüllte geborstene Rinnsteine, rissige Mauern und andere kleinere Makel. Es war, als wäre die ganze Stadt mit einem feinen Farbnebel besprüht worden, um einen saubereren, vorteilhafteren Eindruck zu erwecken. Vielleicht auf Anweisung des Generals. Aber Shan ließ sich nicht täuschen. Es gab auch weiterhin Schlaglöcher in den Wegen, in denen man sich den Knöchel brechen konnte, und Ritzen in den Wänden, in denen Ratten lauerten. Als Shan das Restaurant erreichte, stand dahinter ein großer Lastwagen. Gendun und Lokesh lagen schlafend im vorderen Gastraum unter zwei zusammengeschobenen Tischen, als rechneten die Maos mit einem Erdbeben. Jowa verharrte im Lotussitz neben ihnen und beobachtete sie. Als die stämmige Frau Shan einen Becher Tee und eine Schale Nudeln reichte, sprang der Motor des Lastwagens an. »Reislager«, sagte sie als Antwort auf seinen fragenden Blick. Er rannte zur Tür hinaus und kletterte so hastig auf die Ladefläche, daß er erst dort beim Hinsetzen bemerkte, daß er noch immer den Becher Tee in der Hand hielt. Fat Mao, der im Schatten hinter dem Führerhaus saß, war nicht erfreut, ihn zu sehen. Nur ein kurzer Abstecher, um die Bestellung für die Nahrungsmittellieferung der nächsten Woche aufzunehmen, erklärte der Uigure, aber Shan wußte es besser. Sie fuhren wegen des Roten Steins, den man am Nachmittag des nächsten Tages auflösen würde. Akzu und Fat Mao hatten einen Plan ersonnen, über den sie striktes Stillschweigen bewahrten. Doch Shan war das gleichgültig. Er kam wegen des Wasserhüters mit. Ansonsten blieb nichts weiter zu tun, als den Tagesanbruc h und damit das Treffen am Steinsee abzuwarten. -717-
Es drohte die abschließende Konfrontation, denn die Mörder würden kommen, um sich ihre letzte Prämie zu verdienen. Und Shan mußte vor den Kriechern dasein, um Micah möglichst schnell in Sicherheit zu bringen, falls seine Hirtenfamilie unterwegs den Maos auswich, die versuchen würden, den Jungen bereits auf den Pfaden zum Steinsee abzufangen. Das Verwaltungsgebäude im Lager Volksruhm wirkte menschenleer. Auch das Wachhäuschen war verlassen und das Haupttor mit Kette und Vorhängeschloß versperrt, aber Mao der Ochse stieg vom Fahrersitz und öffnete es flink mit einem Schlüssel. Sie hielten vor dem Lagerhaus, und eine Frau folgte dem großen Kasachen von der vorderen Bank nach draußen Mao die Schwalbe, gekleidet in ein förmlich wirkendes Kostüm. Sie trug einen großen Umschlag in der Hand und schritt in selbstbewußter Haltung direkt auf das Bürogebäude zu. Shan ging zum inneren Zaun und betrachtete den besonderen Zellenblock der Kriecher auf dem Häftlingsgelände. Er hatte weder einen Plan noch eine Idee - oder auch nur die Gewißheit, ob der Lama sich überhaupt in jenem Gebäude befand. Selbst wenn es Mao der Schwalbe gelingen sollte, das dem Wasserhüter zugewiesene Quartier festzustellen, konnten die Maos nicht riskieren, den inneren Bereich zu betreten, denn dort herrschten verschärfte Sicherheitsmaßnahmen. Shan beugte sich zu ein paar trockenen Astern hinab, denen es gelungen war, im Sandboden am Fuß des Zauns zu überleben. Er pflückte eine der Blumen und band sie an der den Zellen nächstgelegenen Stelle am Draht fest. Womöglich war er nur hergekommen, um sich zu verabschieden, dachte er traurig. Sobald Bao oder Rongqi herausfanden, daß der alte Tibeter ein Lama war, hatte der Wasserhüter nicht mehr lange zu leben. Shan schaute zurück zu dem Verwaltungskomplex, wandte sich dann langsam und widerstrebend dem kleinen Schuppen zu, in dem er Nikki gefunden hatte, und sah schließlich zu dem Heizungsgebäude. Ohne weiter darüber nachzudenken, machte er sich auf den -718-
Weg und fand sich wenig später unter dem Vordach wieder. Aus etwa sieben Metern Entfernung konnte er die Hitze des Kessels bereits deutlich spüren. Er stand einfach da, und das Abbild des temperamentvollen jungen Blondschopfs neben der Luke stieg vor seinem inneren Auge auf. Nicht viel älter als sein eigener Sohn. Er ließ das Gebäude hinter sich und blieb am Rand des Friedhofs stehen. Im trüben Schein des wolkenverhangenen Mondes wirkten die Gräberreihen endlos. Mit kleinen, unsicheren Schritten brach er in Richtung des anderen Endes auf, wo sich die frischesten Erdhügel befunden hatten. Dann sah er das Tier. Ein langer, dunkler Koloß, der zwischen den Gräbern umherschlich, als folge er einer Witterung. Shan hielt nach einem Spaten oder einem Stock Ausschau, nach irgend etwas, das er als Waffe benutzen könnte. Neben einem der frisch ausgehobenen Gräber hielt die Kreatur inne. Voll jäher Angst überlegte Shan, was er wohl tun sollte, falls dieses Wesen anfangen würde, die Leichen freizuscharren. Aasfresser bevorzugten totes Fleisch. Zögernd trat er näher. Das Tier schenkte ihm keine Beachtung. Es grub mit ausholenden Bewegungen und nahezu beiläufig seine Klauen in die Erde und strahlte dabei eine gewaltige, unbekümmerte Kraft aus. Kurz darauf lehnte es sich auf seine Hinterläufe zurück. Als der Mond hinter einer Wolke hervorkam, stieß Shan unwillkürlich einen halberstickten Schrei aus. Das Tier war Marco Myagov. Lautlos wartete Shan lange Zeit ab, bis er sich wieder einen Schritt vorwagte. Marco erstarrte und schien sich auf ihn stürzen zu wollen, aber dann erkannte er ihn. Shan sprach kein einziges Wort, sondern fing statt dessen an, selbst die Reihen abzuschreiten und die einzelnen Hügel zu mustern, während er sich ins Gedächtnis rief, wie der Friedhof bei seinem ersten Besuch ausgesehen hatte. Nach einigen Minuten blieb er vor drei frischen Gräbern stehen. »Hier«, sagte er. »Hier müßte es sein.« -719-
Marco schien sich nur mühsam erheben zu können. Er klopfte sich die Friedhofserde von den Händen und kam zu Shan. »Er ist…« Shan suchte nach den richtigen Worten. »Er ist in der Gesellschaft vieler guter Männer.« Ungeachtet ihres jämmerlichen Endes in einer vergessenen Einöde handelte es sich bei vielen der hier Bestatteten um Männer, die den Diktatoren getrotzt hatten und ihren Überzeugungen treu geblieben waren. Es war Marco nicht anzumerken, ob er Shan gehört hatte. »Ich dachte…«, setzte Shan vorsichtig an. »Ich habe das Feuer gesehen. Ich dachte, Sie wären ums Leben gekommen.« Was ist, wenn dies nicht Marco ist, dachte er auf einmal erschrocken, sondern nur ein schwaches Abbild des eluosi, ein Gespenst, das nach dem Verlust seiner Seele zurückgeblieben war? Aber dann antwortete der Mann ihm. »Sie hat gebrannt«, sagte Marco mit heiserer Stimme. »Mein Gott, wie sie gebrannt hat.« »Aber warum sind Sie…« »Ich muß noch etwas mit meinem Nikki besprechen.« »Und dann?« fragte Shan nach einem Moment. »Das habe ich Ihnen schon einmal erzählt. Ich jage Mistkerle. Das kommt häufiger vor.« Die Worte machten Shan irgendwie traurig. »Man braucht Sie. Die Amerikaner müssen es immer noch nach draußen schaffen. Sie befinden sich in großer Gefahr.« Marco sah ihn mit verwirrter Miene an, als habe er noch gar nicht daran gedacht. »Man wird Sie hier töten. Gegen die Soldaten haben Sie keine Chance.« Marco entgegnete nichts. Er setzte sich mitten zwischen zwei Gräber und klopfte dann neben sich auf den Boden, als wolle er -720-
Shan auffordern, sich zu ihm zu gesellen. Shan nahm am Ende des Hügels Platz. »Ich hätte keine Angst davor, hier bei Nikki zu bleiben«, sagte der eluosi beinahe fröhlich. »Ich habe nichts mehr, kein Heimatland, keine Familie, kein Zuhause.« »Aber was sollte Sophie ohne Sie anfangen?« Marco schaute hinaus zu einem Fleck in der Dunkelheit, im Schatten des Hügels neben dem Lager. Dann seufzte er tief und holte etwas aus der Tasche. Im Mondlicht konnte Shan es erkennen. Es war der russische Orden, den er in Marcos Zimmer gesehen hatte. Der Orden aus der Hand des Zaren. Der eluosi hob in der lockeren Erde am Kopfende des Grabes ein kleines Loch aus und verbarg den Orden darin. Anschließend sprach er lange auf russisch und blickte dabei erst auf das Grab, dann in den Himmel. Nachdem er geendet hatte, ließ er den Blick über das Gelände schweifen. Sein Gesicht nahm einen neuen, harten Ausdruck an, und seine Augen funkelten kriegerisch. Mit einemmal stand er auf und hielt im Laufschritt auf das Heizungsgebäude zu. Als Shan ihn einholte, stand er bereits neben dem offenen Heizkessel und schaufelte hastig Kohlen hinein. Er deutete auf die volle Schubkarre vor dem Gebäude, und Shan schob sie zu ihm. Wenig später war der Heizkessel mit Brennstoff gefüllt, so daß er fast überlief. Die Hitze wurde nahezu unerträglich, bis Marco die Luke schloß. Dann lief der eluosi zu der Werkbank und kehrte mit einem lange n Nagel sowie einer Zange zurück. Er steckte den Nagel durch die Ösen, an denen die Luke des Heizkessels sich bei Nichtgebrauch durch ein Vorhängeschloß sichern ließ, und bog beide Enden des Splints um, so daß die Luke nicht mehr geöffnet werden konnte. Danach betrachtete er kurz die einfachen Bedienelemente der Anlage, schloß das Überdruckventil, stellte die Luftzufuhr auf den Maximalwert und zertrümmerte die Temperaturanzeige. Er wandte sich ab, -721-
hielt kurz inne, zog etwas aus der Tasche und legte es auf die Oberkante der Luke. Shan wußte, was es war. Der schlichte Stahlring, den Nikki getragen hatte. Es hatte keinen Sinn, Einwände zu erheben, und es gab keine Möglichkeit, den von Marco in Gang gesetzten Prozeß aufzuhalten. Auch würde Shan es nicht schaffen, die Maos zum Bleiben zu überreden, damit sie in dem sich anbahnenden Chaos nach dem Wasserhüter suchen konnten. Falls man sie in der Nähe des Lagers erwischte, würde man sie als Saboteure verhaften oder sogar kurzerhand erschießen. Die Maos warteten beim Lastwagen. Shan seufzte. »Es tut mir Leid, Johnny«, sagte Marco. »So bin ich nun einmal. Gehen Sie. Gehen Sie schnell.« Als er zurückkam, waren die Maos zur Abfahrt bereit. Erst nachdem das Haupttor einige Minuten hinter ihnen lag, erzählte Shan von dem Heizkessel. Fat Mao hörte ihm aufmerksam zu, klopfte dann an die Scheibe in der Rückwand des Führerhauses, und Mao der Ochse verringerte das Tempo. Gerade als er das Fenster herunterkurbelte, um etwas zu fragen, erschütterte eine Explosion das Tal. Der Lastwagen erzitterte. Oberhalb löste sich ein Felsblock, stürzte den Hang hinunter und rollte an ihnen vorbei. Mao der Ochse beschleunigte, bis sie die Hügelkuppe am Ende des Tals erreicht hatten, und hielt dann an. Sie befanden sich knapp fünf Kilometer vom Lager entfernt und konnten alles deutlich erkennen. Gewaltige Flammen loderten in den Nachthimmel. Das Heizungsgebäude und das Lagerhaus waren zerstört. Überall auf dem Gelände lagen glühende Trümmer. Unmittelbar darauf fing auch das Verwaltungsgebäude Feue r. Eine halbe Stunde später liefen die Maos aufgeregt in ihrem Keller umher, redeten sich die Köpfe heiß, schmiedeten Pläne und verwarfen sie wieder, mutmaßten, was die Kriecher und die Brigade wohl als nächstes tun würden, und schienen dabei mit -722-
jedem neuen Vorschlag immer nervöser zu werden. Fat Mao rief ihnen mehrmals ins Gedächtnis, daß man den Clan des Roten Steins bereits in wenigen Stunden auflösen würde und daß ihr Plan nun unmöglich geworden sei. Mao der Ochse schlug vor, sie sollten feiern. Mao die Schwalbe saß am Tisch und starrte auf den leeren Computermonitor. Shan sah dem Ganzen von der Treppe aus eine Viertelstunde zu, stand dann auf und setzte sich an den Tisch. » Falls Ihr Plan sich nicht mehr verwirklichen läßt, können Sie ihn mir ja ruhig verraten. Ich weiß, daß er etwas mit Lastwagen zu tun hatte, denn der Rote Stein wollte eines der Fahrzeuge stehlen.« Fat Mao runzelte die Stirn, zuckte dann aber die Achseln und erklärte ihm alles. Die Herden sollten auf vier großen Viehtransportern nach Norden verfrachtet werden. Die Verteilung der Clanmitglieder stand ebenfalls fest - man würde die Kasachen in verschiedene Städte schicken, zumeist in Fabriken der Brigade. Die Schwalbe hatte alle Einzelheiten aus den Brigadecomputern heruntergeladen. »Es sollte folgendermaßen funktionieren«, sagte der Uigure. »Die Brigade verkauft häufig Viehladungen nach Kasachstan. Allein in dieser Woche sollen zwölf Transporter im Westen die kasachische Grenze überqueren und dann die Fernstraße nach Alma-Ata nehmen. Die Schwalbe hat sich die Frachtnummern und die Codes der Ausfuhrgenehmigungen besorgt, die bereits alle überprüft und abgesegnet wurden. Die Grenzposten haben diese Nummern zur Kontrolle vorliegen. Jowa hat uns bei der Planung geholfen. Heute abend hat die Schwalbe einige neue Daten in das System eingespeist, damit morgen bei Arbeitsbeginn ihr Name nirgendwo mehr auftaucht. Irgendein anderer Büroangestellter wird den Vorgang bearbeiten und die Ausfuhrbestätigungen an die Brigadezentrale weiterleiten. Die vier Lastwagen mit den Herden des Roten Steins werden in den Computern die Freigabe zur Ausreise nach Kasachstan erhalten. Sie werden auch rechtzeitig beim Verladedepot der Tiere -723-
eintreffen, denn am Steuer werden unsere eigenen Fahrer sitzen.« »Und wenn die Lastwagen mit den Schafen abfahren, wird der Clan sich auf den Ladeflächen verstecken.« Fat Mao zuckte die Achseln. »Es ist ein kleiner Clan. Kasachstan stellt Flüchtlingen aus China Land zur Verfügung. Unsere Freunde werden neue Weidegründe erhalten und unter anderen Kasachen sein.« »Aber die Lastwagen werden kontrolliert. Zuerst überprüft man die Papiere, und dann wird die Ladung inspiziert.« »Deshalb war der Zeitpunkt ja auch so wichtig. Die Posten werden andauernd bestochen. Zu einer festgelegten Zeit wird übermorgen ein ganz bestimmter Leutnant der Grenzpolizei darauf warten, daß vier Viehtransporter bei ihm eintreffen. Er wird sich höchstpersönlich um die Abfertigung kümmern. Die Papiere werden stimmen, und er wird darauf verzichten, einen Blick auf die Ladeflächen zu werfen. Er hat eine Vorliebe für Schwarzmarktgüter. Marco hat ihn uns empfohlen.« »Nur daß morgen die Daten nicht übermittelt werden, weil alles verbrannt ist«, sagte Shan. »Jetzt bleibt den Angehörigen des Roten Steins nur noch übrig, ihre neuen Arbeitsstellen anzutreten und zu hoffen, daß uns irgendwann später eine neue Möglichkeit einfällt.« Shan musterte die Gesichter der Maos. Die fröhliche Erregung beim Anblick des Feuers im Lager Volksruhm war niedergeschlagenen Mienen gewichen. »Befindet sich unter Ihren Dateien aus dem Reislager auch das Verzeichnis des Friedhofs?« fragte Shan die Kasachin. Mao die Schwalbe nickte langsam. Er wandte sich an Fat Mao. »Können Sie Geld besorgen? Womöglich vier Panda-Münzen?« Der Uigure nickte. »Wir bezahlen damit die Leute jenseits der -724-
Grenze. Sie alle bevorzugen Gold.« Shan erläuterte ihnen seinen Plan. »Das einzige Problem besteht darin, daß Akzu und die anderen allesamt sterben müssen«, schloß er ernst. Marco würde die Kasachen zusammen mit den Amerikanern herausbringen und benötigte dazu vier weitere Gold-Pandas für vier zusätzliche Boote. Allerdings durfte die Brigade keinen Wind davon bekommen, denn Rongqi konnte nicht zulassen, daß irgend jemand auch nur auf den Gedanken kam, die Kasachen würden sic h dem Programm zur Beseitigung der Armut widersetzen. Also würde man die Namen und Kennziffern der Clanmitglieder gegen die Namen und Kennziffern von längst verstorbenen Häftlingen austauschen. Mao die Schwalbe bestätigte, daß nach diesem Feuer für eine Weile chaotische Verhältnisse herrschen dürften. Man würde eine provisorische Einsatzzentrale errichten und die Kasachin dorthin beordern, so daß sie Gelegenheit hätte, das ursprüngliche Friedhofsverzeichnis durch eine neue Datei zu ersetzen. Dann wären die Kasachen offiziell verschwunden. Gleichzeitig würde man andere Unterlagen dahin gehend ändern, daß die Gesamtzahl der von Rongqis Programm betroffenen und an die Brigadefabriken verteilten Personen unverändert blieb. Während seiner Zeit in Peking hatte Sha n mehr als einen Regierungsbetrieb untersucht, in dem nicht vorhandene Angestellte auf den Lohnlisten standen. Es war eine verbreitete Gunstbezeugung an die Manager, die auf diese Weise die zusätzlichen Gehälter einstreichen konnten, ohne daß jemand sich beklagte. Man benötigte nicht allzuviel Phantasie, um zu der Überzeugung zu gelangen, daß auch Rongqi sich eines solchen Systems profitabler Phantome bediente, um seine Gönnerschaft zum Ausdruck zu bringen. Die Maos besprachen fast eine Stunde lang die Risiken, bis die Schwalbe die Diskussion kurz entschlossen beendete. »Das größte Risiko bei dieser Sache trage immer noch ich«, -725-
sagte sie und setzte sich mit frischen Disketten an den Computer. Wenig später erschien das Friedhofsverzeichnis des Lagers Volksruhm auf dem Bildschirm, gefolgt von einer Liste der dem Armutsprogramm zugewiesenen Angehörigen des Roten Steins. Sie alle sahen zu, wie die Schwalbe eifrig die Tastatur betätigte und dadurch nacheinander alle Clanmitglieder im Lager Volksruhm begrub. Als sie kurz nach Tagesanbruch am Steinsee eintrafen, stand ein silbernes Kamel im Schatten der langgestreckten Düne, die den westlichen Rand der Senke begrenzte. Daneben lag eine große Gestalt unter einer Decke. Sie ließen Marco schlafen und bezogen zehn Meter weiter Position, kurz unter dem Kamm der Düne und ungefähr dreihundert Meter von der Stelle entfernt, an der die Straße in das Lager mündete. Fat Mao hatte sie hergebracht und bot an, bei ihnen zu bleiben, wobei er kurz eine Werkzeugkiste ansah, die auf der Ladefläche des Lasters stand. Shan war die kalte Wut des Uiguren nicht entgangen, und er befürchtete, daß die Kiste Waffen enthielt. Er bat Fat Mao, wieder aufzubrechen. »Ihr braucht einen Plan für den Fall, daß der Junge es bis hierher schafft und dann die Kriecher auftauchen«, protestierte der Uigure. Shan sah ihn für einen Moment durchdringend an. »Der Junge wird nicht herkommen, weil die Maos ihn vorher finden.« »Bislang gibt es keine Spur von ihm. Diese dropkas, bei denen er sich aufhält, sind wie wilde Tiere. Sie können sich praktisch unsichtbar machen. Vielleicht bekommen wir sie überhaupt nicht zu Gesicht.« Shan seufzte. »In dem Fall werden die anderen mit dem Jungen und dem Jadekorb die Flucht ergreifen, und ich lenke die Kriecher ab«, sagte er leise, so daß nur Fat Mao ihn hören konnte. -726-
»Wie willst du sie denn ablenken?« »Bao hat es nicht nur auf das gau oder die Amerikaner abgesehen. Da gibt es noch etwas.« Fat Mao musterte ihn. »Dich.« Shan zuckte die Achseln. »Nicht jeder muß ein Opfer werden«, sagte der Uigure stirnrunzelnd. Es schwang Enttäuschung in seiner Stimme mit, und seltsamerweise klang es wie eine Entschuldigung. »Halten Sie noch eine Stunde nach dem Jungen Ausschau«, sagte Shan. »Dann fahren Sie zum Lager des Roten Steins. Dort werden Sie heute ebenfalls gebraucht.« Fat Mao runzelte abermals die Stirn, drehte sich dann um und fuhr los. Der letzte Tag war gekommen, der Tag, von dem Rongqi und Ko geträumt hatten und der die letzte Stufe des Programms zur Beseitigung der Armut bedeutete. Akzu mußte von dem neuen Plan erfahren. Die Herden des Roten Steins mußten an die Brigade übergeben werden, zusammen mit den Zelten und allem anderen. Für die Clanmitglieder gab es nur eine Möglichkeit, gemeinsam in die Freiheit zu entfliehen, und die bestand darin, alles aufzugeben, was ihnen im Leben etwas bedeutet hatte, außer das Leben selbst. Gendun legte sich in den Sand und wies fröhlich auf die Formen der Wolken hin. Lokesh breitete, wie so viele Male zuvor, die Habseligkeiten des Yakde Lama vor sich aus und nahm sie eine nach der anderen genau in Augenschein. Sie alle hatten ihre Taschen dabei und waren bereit, den Rückweg nach Tibet anzutreten. Shan brachte ihr altes Fernglas zum Vorschein, säuberte mit einem Hemdzipfel die Linsen und reichte es an Jowa weiter, der auf den Kamm der Düne kroch und Wache hielt. -727-
Eine Stunde später stieß der purba einen leisen Pfiff aus. Auf der Straße war Kaju aufgetaucht, allein und zu Fuß. Sie legten sich auf die Dünenkuppe und beobachteten, wie der Lehrer zu dem Gebäudeskelett ging, das im Wind schwankte, und dort etwas zwischen zwei Pfosten aufspannte. Eine Schnur mit buddhistischen Gebetsfahnen, die, so vermutete Shan, aus Laus Büro stammte. Der Tibeter stellte sich vor der Schnur auf und betrachtete sie, als hätte er noch nie im Leben eine Gebetsfahne gesehen. Dann drehte er sich um und ging langsam auf die Garage zu. Shan stand auf und winkte, und kurz darauf gesellte Kaju sich zu ihnen. Er begrüßte sie auf tibetisch, nicht mandarin, und zum erstenmal seit Shan ihn kannte, setzte er das Gespräch auch in seiner Muttersprache fort. Micah habe sich nicht gemeldet, so daß sich keine Gelegenheit ergeben hätte, den Jungen zu warnen, berichtete er. Aber letzte Nacht seien laute Sirenen ertönt, und viele Kriecher hätten eilig die Stadt verlassen. Vielleicht seien sie abgezogen worden oder wenigstens mit etwas anderem beschäftigt. Und womöglich würde Major Bao den einen kleinen Jungen völlig vergessen, wo doch jetzt irgendein Notfall bei der Öffentlichen Sicherheit eingetreten sei. Sie saßen im Kreis und hörten den Lehrer erzählen, daß er vorhatte, eines Tages mit der gesamten zheli herzukommen und dann wirklich nach Fossilien zu suchen, als jemand eine Plastiktüte Rosinen in ihre Mitte warf. Sie blickten auf und sahen Marcos breites Gesicht, das grimmig, aber entschlossen wirkte. Er hockte sich neben Shan und nahm eine Handvoll Rosinen. »Sie konnten sich erst nach einer Stunde dazu durchringen, die Häftlinge rauszulassen, um bei der Brandbekämpfung zu helfen«, sagte er emotionslos. »Idioten. Zu dem Zeitpunkt konnte man nur noch Sand auf die Glut schaufeln. Wo das Lagerhaus stand, sind nur noch schwelende Reissäcke übrig. -728-
Das Verwaltungsgebäude ist auch weg. Und sogar das kleine Wachhaus am Tor.« Er klang nicht triumphierend, aber als er Shan ansah, stieg ihm ein seltsames Funkeln in die Augen. »Nikki fand es gut«, fügte er leise hinzu. Als Kaju aufstand und dem Verlauf des Dünenkamms folgte, um nach Micah Ausschau zu halten, nahm Lokesh den Rosinenbeutel und reichte ihn herum. »Sie werden schon sehen«, rief der Lehrer Shan zu. »Es ist nur Bao allein. Falls er herkommt und versucht, den Jungen in seine Gewalt zu bringen, wird das genau der Beweis sein, den ich brauche, um mich an Ko zu wenden. Ko wird wissen, was zu tun ist.« Shan und Jowa sahen sich an. Kaju weigerte sich noch immer, die Wahrheit zu akzeptieren. Während Marco seine Rosinen aß, erklärte Shan ihm den neuen Plan zur Rettung des Roten Steins. Der eluosi hatte nichts dagegen einzuwenden. »Dieser alte tibetische Jäger an der Grenze, der mit den Fellbooten… er wird sich jetzt nur dazu bereit erklären, wenn ich die Leute persönlich begleite«, sagte er und sah Shan an. »Ich werde Hilfe benötigen.« Im ersten Moment verstand Shan es nicht. Die Worte klangen nicht spontan. Marco hatte sie sich gut überlegt, und er meinte sie ernst. »Kommen Sie mit mir, Johnny«, sagte der eluosi auf englisch. »Ich verlasse dieses einsame Land. Ich habe jede Menge Geld auf ausländischen Konten. Wir gehen nach Alaska, fangen riesige Fische und bauen uns ein Blockhaus am Meer.« Shan öffnete den Mund und schloß ihn wieder. Dann sah er Gendun und Lokesh an und erklärte ihnen alles auf tibetisch, aber die beiden lächelten nur heiter und nickten. »Es ist noch nicht vorbei«, sagte Shan. »Es bleibt keine Zeit…« Als wäre dies das Stichwort, stieß Kaju einen Ruf aus. Aus der Wüste waren zwei Reiter aufgetaucht und kamen mit einem -729-
schwer beladenen Packtier sowie einem zusätzlichen gesattelten Pferd die Düne zu ihnen herauf. »Die Amerikaner«, verkündete Kaju fröhlich, als garantiere die Ankunft von Deacon und seiner Frau auf irgendeine Weise den Erfolg ihres Vorhabens. Aber Shan sah lediglich auf den Sand zu seinen Füßen. Er erkannte, daß er irgendwie gehofft hatte, das Ehepaar würde nicht hier erscheinen. Deacons Frau schien vor Energie und Aufregung überzuquellen. Sie hatte ein großes Glas Erdnußbutter mitgebracht. Kaju erklärte Gendun und Lokesh, worum es sich handelte, und ließ sie davon kosten. Die beiden wirkten dabei so neugierig wie Schuljungen. Warp sprach mit Marco, um sicherzustellen, daß die Taschen auf dem Rücken des Packtiers nicht zu groß waren. Dann strich sie eine kleine Sandfläche glatt, breitete ein Handtuch darauf aus und legte mehrere Dinge bereit. Einen ledernen Baseballhandschuh. Einen kleinen grünen Spielzeuglaster. Eine Packung Kaugummi. Und eine rote Dose, die nach dem langen Transport zerkratzt und verbeult war: eine ungeöffnete Dose mit amerikanischer Limonade. Schließlich band sie eine schmale Holzkiste vom Rücken des Packpferds los, was ihr einen irritierten Blick von ihrem Mann einbrachte, der ansonsten nur dastand und in die Senke hinabstarrte. Warp hob eine kleine Grube dafür aus, so daß die Kiste geschützt war, und nahm dann das Stück Stoff vom Deckel ab. Shan sah, daß man das Holz mit mehreren Luftlöchern versehen hatte. Deacons Insektensänger. Marco übernahm wie ein Armeeoffizier das Kommando und ließ sie sich alle in den Schatten am unteren Rand der äußeren Dünenflanke zurückziehen. Niemand außer Kaju sollte sich offen auf dem Kamm aufhalten. Jowa wurde mit Gendun und Lokesh sogar noch weiter weggeschickt, bis zu einem kleinen, zweihundert Meter entfernten Felsvorsprung im Norden, der zusätzliche Deckung bot. Falls jemand auf den Jungen losging, würden er und Sophie sich Micah schnappen, kündigte der -730-
eluosi an, und dann mit ihm in den lockeren Wüstensand reiten, wohin die Fahrzeuge nicht folgen konnten. Zwanzig Minuten später tauchten am jenseitigen Ende der Senke, dort, wo die Hügel sich in weniger als anderthalb Kilometern Entfernung abflachten und in die Wüste übergingen, drei berittene Gestalten auf. Shan lag bäuchlings mit dem Fernglas auf dem Dünenkamm und konnte erkennen, daß es sich um zwei Männer in der Tracht der Hirten sowie um einen Jungen handelte, der auf einem Pony zwischen ihnen ritt. Flankiert wurden die Pferde von zwei großen Mastiffs. »Micah!« rief die Amerikanerin und stand auf, als wolle sie den fernen Reitern entgegenlaufen. »Warp - nein!« brüllte ihr Mann und zog die Frau zurück hinter die Düne. Im selben Moment kam auf der gegenüberliegenden Seite der breiten, sandigen Mulde ein Fahrzeug in Sicht. Kein roter Brigadelaster, wie Shan erwartet hatte, sondern einer der schwarzen Geländewagen der Einsatzkommandos. Er fuhr langsam bis auf den Scheitelpunkt der Düne hinauf und hielt an. Vom Fahrersitz stieg jemand mit einer roten Nylonjacke. Auch ohne Fernglas wußte Shan, daß es Ko Yonghong war. »Diese Mistkerle«, fluchte Marco neben ihm, als die restlichen Türen sich öffneten. Zwei mit Maschinenpistolen bewaffnete Männer in grauen Uniformen rannten zu beiden Seiten jeweils ein halbes Dutzend Schritte weit, ließen sich dann auf ein Knie nieder und hoben die Waffen, als rechneten sie mit einem Angriff. Ein dritter, überaus massiger Mann stolzierte an Kos Seite. Major Bao. Kaju, der auf halber Höhe der Düne unterhalb von Shan stand, keuchte erschrocken auf und starrte ungläubig auf die andere Seite der Senke. Er warf Shan einen gequälten Blick zu und schaute dann wieder zurück, als eine weitere Person ausstieg, ein hochgewachsener, schlanker älterer Mann von gebieterischer -731-
Haltung. Ko reichte ihm diensteifrig ein Fernglas, woraufhin der Mann erst die nahenden Reiter in Augenschein nahm und dann Ko auf die Schulter klopfte. Shan wiederum betrachtete den Fremden durch sein eigenes Fernglas. Er hatte ihn zuvor schon auf dem Foto in Kos Büro gesehen. »Rongqi«, hörte er Kaju hervorstoßen. Es war der General höchstpersönlich, der sich den endgültigen Sieg über die Tibeter nicht entgehen lassen wollte. »Verdammt, nein!« ertönte hinter ihm Deacons entsetzter Aufschrei. Shan wandte sich um und sah Lokesh und Gendun auf das Ende der Düne zugehen, als wollten sie die Reiter abfangen. Sie winkten die dropkas zu sich heran, als könnte der Felsvorsprung sie noch vor den Männern verberge n. Shan spürte eine Hand auf seinem Arm. Marco wies stumm auf die Zufahrt zum Öllager, wo ein weiteres Fahrzeug aufgetaucht war, eine Limousine. Der Wagen hielt an, fuhr ein Stück rückwärts außer Sicht, und dann trat Anklägerin Xu allein um die Ecke und richtete ein Fernglas auf den schwarzen Geländewagen. Bao war völlig auf die Reiter fixiert. Er hob die Hand und schien einen Befehl zu erteilen. Die beiden Soldaten der Kriecher liefen zurück zum Wagen. »Nein!« stöhnte Kaju und torkelte mit schmerzverzerrter Miene vorwärts. Sein Blick wanderte von den Reitern zu dem Geländewagen. Dann schaute er einen Moment auf einen Fleck in der Senke, wo ein paar karge Pflanzen wuchsen, und fing dann an, am Kragen seines Hemds herumzunesteln. Er nahm die Kette ab, die er um den Hals trug, eine Kette, an der ein großes silbernes gau hing. Er reckte das Medaillon über den Kopf, rannte die Düne hinab, rief erst Kos, dann Major Baos Namen und hielt dabei auf die Mitte der Senke zu, als wolle er sich dort mit dem Geländewagen treffen. Die Männer bei dem schwarzen Fahrzeug starrten kurz in seine Richtung und stiegen schnell wieder ein. Die beiden Soldaten sprangen mit weiterhin schußbereiten Waffen auf die Trittbretter, und Ko fuhr über die -732-
Dünenflanke nach unten. Während Kaju lief, gestikulierte er die ganze Zeit aufgeregt, als müßte er unbedingt mit den Männern sprechen, und schwenkte das gau, als sollte es ihnen bekannt vorkommen. Als wäre es der Jadekorb. Je näher er den Sträuchern kam, desto langsamer wurde er. In zehn Metern Entfernung blieb er kurz stehen und ging dann sehr viel gemächlicher weiter, während er immer noch den Geländewagen zu sich heranwinkte. Plötzlich wurde Shan alles klar. »Nein!« keuchte er und wollte aufstehen. Doch eine kräftige Hand legte sich auf seine Schulter. Marco drückte ihn nach unten. »Sie verstehen nicht…«, protestierte Shan. »Er erinnert sich an das Gebüsch. Er hat die Wurzeln zuvor schon gesehen! Deacon!« rief er verzweifelt. Der Amerikaner würde es begreifen. Kaju hatte die Sträucher erreicht und blieb mitten in der Senke stehen. Er winkte immer noch, und der Wagen beschleunigte. Einen Moment lang drehte der Lehrer sich um und blickte zurück, als würde er nach Shan Ausschau halten. Dann ließ er sich im Lotussitz nieder, umklammerte das gau vor seiner Brust und sah nicht mehr dem Fahrzeug entgegen, sondern gen Himmel. Deacon erreichte Shan. »Mein Gott!« brüllte er. »Die Zisterne!« Der Geländewagen hielt neben dem Tibeter, und die Soldaten sprangen ab. Als die Türen sich öffneten, sanken plötzlich die Räder des Fahrzeugs ein, und die Soldaten riefen den anderen hektisch etwas zu. Einer von ihnen schien die Tür des Generals erreichen zu wollen. Dann sanken auch die beiden Männer ein, als würde der Sand sie verschlingen. Das alles geschah nicht etwa in Zeitlupe, sondern wie beim schnellen Vorspulen eines Films, so daß die Szene vor den Augen der Betrachter zu verschwimmen schien. Die Wüste tat -733-
sich auf und zog den Wagen in die Tiefen der uralten Zisterne. Der Sand der Mulde und ein Teil der angrenzenden Dünen wurden scheinbar heftig nach unten gesogen. Für einen Augenblick konnte man einen tiefen Krater erkennen, und Shan glaubte, mehrere Arme und Beine in Sand und Geröll schwimmen zu sehen. Dann rutschten unter schrecklichem Zischen große Stücke der Dünen nach unten und füllten den Hohlraum mit Tonnen von Sand. Und dann herrschte plötzlich eine absolute Stille. Deacon stand neben ihm. Shan hatte es nicht einmal geschafft, sich vom Boden zu erheben. Xu blieb an der Straße, starrte ohne Fernglas in die Senke und verschwand dann langsam außer Sicht. Sie wich rückwärts zurück, ohne den Blick von der leeren Mulde abzuwenden. Kurz darauf hörte Shan den Motor ihres Wagens anspringen. Die Anklägerin fuhr weg. Schweigend und schockiert näherten sie sich der flachen Einbuchtung, die auf die Position der ehemaligen Zisterne hindeutete. »Wir müssen graben!« rief Abigail Deacon mehrmals, lief voran und fing an, mit bloßen Händen im Sand zu wühlen. »Es sind mindestens zwölf Meter, Warp«, sagte ihr Mann leise, als er und Shan sie erreichten. »Unzählige Tonnen Sand. Es hätte keinen Sinn.« Sie verharrten wie gelähmt, während die Amerikanerin knien blieb und hilflos mit den Fäusten auf den Sand trommelte. Die Wüste hatte neue Opfer gefordert. Die karez waren letztlich doch noch zum Grab geworden. Ko, der nur Geld wollte. Rongqi, den es nach Einfluß dürstete. Bao, der sich an der Gewalt berauschte. Und ein Tibeter, der im Leben nur wenig erreicht hatte, aber im Tod unerschütterlich geblieben war. Ein Pferd wieherte. Sie sahen, daß die Reiter inzwischen mit Gendun und Lokesh neben den Tieren standen. Die Neuankömmlinge kamen nicht näher, sondern warteten in etwa -734-
zweihundert Metern Entfernung ab. »Micah!« schrie die Amerikanerin, sprang auf und lief den Gestalten entgegen. Deacon wollte ihr folgen, hielt dann aber inne und schaute sich fragend um, weil Shan seinen Namen rief. Beschämt über die eigene Mutlosigkeit, überreichte Shan dem Amerikaner das gau, das Malik ihm gegeben hatte, das gau aus der Nähe des Grabes beim Lamafeld. Deacons Miene erstarrte, und sein ausgestreckter Arm sank wieder herab, als hätte er sämtliche Kraft verloren. Shan drückte ihm das Medaillon in die Hand und trat beiseite. Er erinnerte sich an den Stich in seinem Herzen, als er es zum ersten und einzigen Mal geöffnet hatte, am Tag nach dem nadam. Denn im Innern befanden sich weder der Jadekorb noch ein geheimes Gebet, sondern lediglich die vertrockneten Überreste einer kleinen braunen Grille. Die Amerikanerin stolperte weiter durch den lockeren Sand voran und rief sogar dann noch den Namen ihres Sohnes, wenn sie hinfiel. Deacons Blick richtete sich kurz auf Shan und dann auf die kleine schlanke Gestalt neben den beiden Hirten. Seine Miene verfinsterte sich, als senke ein Schleier sich auf sie herab. Dann stieß er ein Keuchen aus, als befände er sich wieder in den stickigen karez, und ging los. Er rief seine Frau, zuerst ganz leise, dann immer lauter, bis er sie schließlich einholte, als sie ein weiteres Mal strauchelte und auf die Knie fiel. Es bestand kein Bedarf für Erklärungen, erkannte Shan, denn Jacob Deacon hatte alles begriffen. Dem Amerikaner war ein kurzer Einblick in die Alpträume zuteil geworden, die Shan seit dem nadam heimsuchten. Zwei übermütige Jungen hatten ihren Pflegeeltern, ihren Beschützern aus den Schattenclans einen Streich gespielt, denn einer von ihnen wollte auf die tieferen Weiden ziehen, um bei den Pferden sein zu können, während der andere das Hochgebirge erreichen wollte, das Land des Lamafelds. Schon im Lager des Roten Steins ha tte Khitai einen solchen harmlosen Platztausch mit Suwan vollzogen. Nur für ein paar Tage, hatten Khitai und Micah bestimmt vereinbart; -735-
schließlich würden sie sich ja ohnehin alle bei Vollmond am Steinsee treffen. Malik war überzeugt gewesen, Khitai sei am Lamafeld ermordet worden, doch Malik hatte bloß einen übel zugerichteten Jungen mit dunklem Haar gesehen, der bereits in ein Leichentuch gewickelt war, Khitais Habseligkeiten besaß und sich zudem am erwarteten Ort befand. »Micah!« rief die Amerikanerin erneut, während ihr Mann sie auf die Beine zog. »Unser Junge!« fügte sie hinzu, als würde Deacon es nicht verstehen. Aber er nahm sie in die Arme, hielt sie fest von hinten umschlossen und ließ sie nicht gehen, derweil sie weiterhin zu den Reitern schaute. Shan und Marco gingen an den beiden vorbei und wurden immer langsamer. Die zwei Hirten, die dort die Zügel ihrer Pferde in den Händen hielten, starrten den Amerikanern verstört und erschrocken entgegen. Als Shan die Männer erreichte, saß Lokesh neben einem schmalen tibetischen Jungen am Boden, betete gemeinsam mit ihm ein Mantra und zeigte auf die Besitztümer, die er für ihn vom Lamafeld mitgebracht hatte. Über die Wangen des alten Tibeters liefen Tränen. Gendun stand mit großen, traurigen Augen daneben und schaute von Shan zu Khitai und zurück zu den Amerikanern. »Danke, Freund Shan«, sagte er mit zitternder Stimme. »Danke, daß du unseren Yakde Lama von den Toten erweckt hast.«
-736-
Kapitel Zweiundzwanzig Niemand hatte ursprünglich vorgehabt, beim Steinsee zu verweilen, und doch blieben sie alle noch mehrere Stunden. Shan starrte stumm auf die flache Mulde, die das Grab kennzeichnete. Deacon und seine Frau wollten mit ihrem Schmerz allein sein. Marco machte den jungen Lama mit Sophie bekannt und lud ihn zu einem Ausritt ein. Fat Mao kam, um sich mit dem eluosi zu beraten, sprach jedoch nur kurz mit Jowa und fuhr wieder weg, um die Amerikaner zu dem Grab beim Lamafeld zu bringen. Gegen Mittag tauchten immer mehr Menschen auf, zumeist Kasachen und Uiguren, manche auf Pferden, andere zu Fuß auf dem Weg, der von der Fernstraße abzweigte. Mit fragenden Mienen versammelten sie sich rund um die Einbuchtung im Sand. Shan hörte, daß jemand die anderen auf den heiligen Mann in der Robe hinwies, und viele nickten, als würde Genduns Anwesenheit alles erklären. Aus den Trümmerstücken der Gebäude des Öllagers und der alten Ruinen schichteten sie neben der eingestürzten Zisterne einen kleinen Steinhaufen auf. Shan und Jowa holten die von Kaju aufgespannte Schnur mit den Gebetsfahne n und befestigten sie an der Gedenkstätte. Der junge Lama schien Shan zunächst auszuweichen, aber schließlich kam er und setzte sich neben ihn, während Shan den Blick nicht von der Stelle abwenden konnte, die Kajus Grab geworden war. Der Junge schien etwas sagen zu wollen, und Shan beugte sich vor, als wolle auch er sich äußern, aber keiner von ihnen bekam ein Wort über die Lippen. Sie saßen schweigend eine Stunde da, und dann stellte der Junge sich vor Shan, nahm langsam dessen Hand und legte sie sich auf das eigene Herz. Als der Junge ihn wieder losließ, griff Shan unter sein Hemd -737-
und zog sein gau hervor. »Ich habe im Sandberg einen der Alten getroffen«, sagte er und öffnete das Medaillon. »Bevor er in die Wüste zurückgekehrt ist, hat er mir dies hier gegeben.« Shan nahm die Feder heraus, legte sie sich vorsichtig auf die gewölbte Handfläche und sah sie an. »Ich habe ihm dafür eine neue anvertraut.« Er hob den Kopf und bemerkte, daß der Blick des Jungen ehrfürchtig auf die Feder gerichtet war. »Ich möchte, daß du sie nimmst«, sagte Shan und streckte die Hand aus. Der Junge nahm die Feder nicht unmittelbar entgegen, sondern brachte sein eigenes gau zum Vorschein und öffnete den filigran gearbeiteten Silberverschluß, unter dem sich eine ebenso kostbare Jadearbeit befand. Er hob den Deckel des Jadekorbs an, und Shan ließ die Feder hineinfallen. Tief bewegt musterte der Yakde das Geschenk. »Micah hat Eulen sehr gemocht«, sagte er leise. »Wenn wir zusammen waren, ist er oft aufgeblieben, um ihnen zu lauschen. Er hatte bei seinem Schattenclan gelernt, wie man sie herbeiruft. Eines Nachts wurde er ganz ruhig und sagte, er habe eine alte Eule gehört, die nun wiederum ihn herbeirufen würde, und daß er das Gefühl hätte, er müßte sich an einen ganz bestimmten Ort begeben.« Der Junge schüttelte langsam den Kopf, hob dann vorsichtig das Medaillon dicht vor die Augen und betrachtete die Feder. »Sie wird einer der Schätze werden.« Erst nach einem Moment begriff Shan, was Khitai meinte. Die Feder würde zum dauerhaften Besitz des Yakde werden, einer jener Schätze, anhand derer man die zukünftigen Inkarnationen des Lama erkennen könnte. Am Nachmittag kehrten die Maos mit zwei Lastwagen zurück und unterhielten sich abermals leise mit Jowa. Sie halfen Shan und den Tibetern in einen der Wagen und führten Sophie auf die Ladefläche des anderen. Im letzten Moment sprang Shan wieder hinaus und stieg bei dem eluosi ein. Sie sahen einander wortlos an und streichelten Sophie, während der Lastwagen sich langsam in Bewegung setzte. -738-
»Wo werden Sie Sophie zurücklassen, wenn Sie den Ozean überqueren?« fragte Shan. Marcos Gesicht wirkte noch immer traurig, aber er schien in gewisser Weise Frieden gefunden zu haben. »Sophie zurücklassen?« knurrte der eluosi. »Sophie und ich gehören zusammen. Sie kommt natürlich mit.« »Nach Alaska? Es gibt in Alaska keine Kamele.« »Demnächst schon«, verkündete Marco entschlossen. »Wir gehen mit ihr an Bord eines großen Schiffes, wo wir sie auf Deck herumführen können. Wir beide, Sie und ich, Shan.« Das war ein so verrückter Gedanke, daß Shan am liebsten lauthals gelacht hätte. Aber es war auch ein unglaublich wunderbarer Gedanke. Er war noch jung genug, um ein neues Leben zu beginnen. Jakli hatte ihm das Medaillon gegeben, weil auch sie wollte, daß er ins Ausland floh. Und die Lamas hatten ihm immer wieder versichert, daß Tibet zwar den Ausgangspunkt seiner neuen Inkarnation darstellte, aber niemand wissen konnte, wohin ihn sein Weg noch führen würde. Shan bemerkte, daß sie sich bereits in der Nähe von Yutian befanden. Plötzlich sah er eine vertraute Hügelkette am Stadtrand. Auf einem der Hügel stand ein kantiger schwarzer Wagen. Shan klopfte gegen die Scheibe, um den Fahrer des Lastwagens zum Halten zu veranlassen, und lief dann den Hügel hinauf, vorbei an der leeren Limousine. Er entdeckte die Anklägerin mitten auf dem Friedhof, wo sie mit einem Besen bedächtig eines der Gräber säuberte. Ihr Kostüm war ganz staubig. Man hätte sie für eine Bedienstete oder eine trauernde Angehörige halten können. Xu schien nicht überrascht zu sein, ihn zu sehen, und fegte noch eine Weile um das Grab herum, bis sie das Wort ergriff. »Das Lager Volksruhm existiert vorerst nicht mehr«, sagte sie und stützte sich auf den Besen. »Nach dem Unfall ist es nicht mehr nutzbar, mindestens für ein paar Wochen, wahrscheinlich -739-
aber bis zum nächsten Frühling.« Häftlinge mit Strafen von sechs oder mehr Monaten würden in andere Einrichtungen verlegt, und den Rest der Leute würde man freilassen. »Was ist mit denen, die Bao verhaftet hat?« fragte Shan. Diese Gefangenen kämen ebenfalls frei, bestätigte die Anklägerin, ohne aufzublicken. Dann ging sie zu einer Tasche, die in drei Metern Entfernung neben einem anderen Grab stand. Sie holte eine Videokassette daraus hervor und warf sie Shan vor die Füße. »Ich habe Loshi befohlen, sie solle die Kassette gefälligst zurückholen oder sich zurückgeben lassen. Andernfalls würde ich sie feuern, weil sie sich unbefugt in offizielle Ermittlungen eingemischt habe, und dann könne sie sich nie wieder zurück nach Osten versetzen lassen. Dafür würde ich schon sorgen.« Sie schob die Kassette mit dem Fuß näher zu ihm heran, schien dann die Geduld mit ihm zu verlieren und zertrat das Plastikgehäuse. Ein Ende des Bands löste sich aus den Bruchstücken, wurde vom Wind gepackt und mit solcher Wucht herausgezogen, daß es auch von der zweiten Spule abriß. Es glitt wie eine Schlange über die Gräber hinweg und wurde dann hinaus in die Wüste geweht. »Man hat die anderen alle als vermißt gemeldet«, sagte Xu angespannt. »Jemand behauptet, er habe mitbekommen, daß Bao in einem der Geländewagen der Einsatzkommandos zum Anwesen der Brigade gekommen sei, um Ko und den General abzuholen. Seitdem hat niemand sie mehr gesehen. Heute nachmittag haben Kriecher aus Kashi einen genaueren Blick in die Brigadebüros geworfen und dabei einen Lagerraum mit Schmuggelware gefunden. Jemand sagte, womöglich hätten sie selbst für das Unglück im Lager Volksruhm gesorgt, um Beweise zu vernichten.« Nikkis Ware, dachte Shan. Die Güter, die sie Nikki gestohlen hatten, als sie seine gesamte Karawane beschlagnahmten, -740-
würden ihnen das Genick brechen. »Man könnte die Leute leicht davon überzeugen, daß sie geflohen sind«, schlug er vor. »Daß sie korrupt waren und sich aus Angst vor einer Entdeckung abgesetzt haben.« Xu seufzte. »Auch dafür gibt es entsprechende Kampagnen«, sagte sie und hielt den Besen so fest umklammert, als würde der Wind sie ansonsten forttragen. »Sie müssen nach Amerika geflohen sein. Alle wissen, daß Ko eine Vorliebe für amerikanische Wagen hat.« Sie wirkte deutlich älter, als sie tatsächlich war, und hatte dunkle Ringe unter den Augen, als hätte sie lange nicht mehr geschlafen. »Das Armutsprogramm läuft wie geplant weiter«, sagte sie entschuldigend. »Ich weiß.« »Aber diese Pferde machen zuviel Arbeit. Wir werden sie nicht alle wieder einfangen.« Sie beugte sich vor und fegte weiter. »Es gab eine Hutmacherin, die diese Pferde sehr geliebt hat«, sagte Shan zu Xus Rücken und stellte fest, daß er einen Kloß im Hals hatte. Die Anklägerin hielt inne und drehte sich langsam um. »Ich habe den Bericht gelesen. Sie ist nach Norden in eine der Kohlengruben verlegt worden.« »Vielleicht ist ja irgendein Fehler passiert. Vielleicht hat sie Ihnen ja bei Ihrer Korruptionsuntersuchung geholfen, um zu beweisen, daß Bao den Leutnant wegen Geld ermordet hat. Suis Körper ist noch nicht verbrannt worden, und im Leichenschauhaus kann man bestätigen, daß Bao die Unterlagen gefälscht hat.« Das wäre eine Lösung. Keine perfekte Lösung, aber man konnte nie allen gerecht werden. Eventuell würde Sui letzten Endes sogar als Held gelten, der im Zuge seiner Ermittlungen von den korrupten Verdächtigen umgebracht worden war. »Nur eine Hutmacherin«, flüsterte Xu und starrte ins Leere. -741-
»Was weiß eine Hutmacherin schon davon, wie man Kohle abbaut?« Sie runzelte erneut die Stirn und seufzte, dann. »Ich könnte sie nicht einfach freilassen. Jedermann weiß, daß sie gegen ihre Bewährungsauflagen verstoßen hat. Es wäre höchstens die Verlegung in ein lao jiao Lager denkbar. Für ein paar Monate.« Shan nickte. Die Anklägerin verzog das Gesicht und nickte dann ebenfalls, als wolle sie eine Abmachung besiegeln. Schweigend fegte sie weiter. Sie schien kleiner geworden zu sein. »Falls ich ein Schreiben des Großen Vorsitzenden hätte, einen Brief, in dem er mich für den Mord an Mönchen lobt…«, sagte Shan nach einem Moment. »Ich glaube, ich weiß, was ich damit tun würde.« Sie blieb stehen und sah ihn wieder an. »Ich würde eine Antwort auf die Rückseite schreiben«, erklärte er. »Vielleicht würde ich schreiben, daß es falsch war, was ich getan habe, und daß auch du, Genosse Vorsitzender, kein Recht hattest, den Mord an Mönchen gutzuheißen. Und vielleicht würde ich eines Nachts allein zu dem Ort gehen, wo heute der Tibeter gestorben ist, und dort ein Feuer aus duftendem Holz entzünden. Dann würde ich den Brief verbrennen, um ihn dem Vorsitzenden zu schicken, und ich würde zuschauen, wie die Asche sich in den Himmel erhebt.« Xu blickte auf den Boden zu Shans Füßen. »Es war nicht Kajus Schuld«, sagte sie mit hohler Stimme. Dann nahm sie den Besen und fegte weiter. »Da ist ein kleiner Koffer«, fügte sie kurz darauf hinzu. »Wir haben ihn fertig gepackt in Rongqis Zimmer gefunden, als hätte der General ihn nach Urumchi mitnehmen wollen.« Sie deutete auf die Bank, die auf dem Hügel oberhalb des Friedhofs stand. Dann sagte sie nichts mehr. Als Shan sich verabschiedete, nickte sie nur, ohne den Kopf zu heben. Oben auf dem Hügel blieb er stehen und schaute auf -742-
ihre kleine, gebeugte Gestalt zwischen den verwahrlosten Gräbern hinunter, wie sie sich vor dem Hintergrund der leeren Wüste langsam durch die öde, endlose Landschaft bewegte. Er fand den ledernen Koffer neben der Bank und öffnete ihn. Es handelte sich um das elegante schwarze Modell eines italienischen Herstellers. Darin entdeckte Shan die Trophäen des Generals, die Beweise, die Rongqi für die Auszahlung der Kopfgelder verlangt hatte. Vier kleine, staubige, zerlumpte Schuhe. Die Maos fuhren nach Süden, durch Yutian und auf die Hauptstraße, die ins Gebirge führte. Marco erzählte Sophie von der langen Reise, die sie unternehmen würden, und schwärmte Shan vor, auf welche Weise sie all den von ihnen gefangenen Fisch wohl zubereiten könnten. Dann hielten sie unvermittelt hinter dem ersten Lastwagen an, der am Straßenrand stand. Jowa und Fat Mao sprachen mit einer Gruppe berittener Uiguren. Die Reiter berichteten, daß ihnen unterwegs einige freigelassene Häftlinge des Lagers Volksruhm begegnet seien. Am Abend würden die uigurischen Familien in den Hügellagern die Heimkehr ihrer Ange hörigen feiern. Die kasachischen Gefangenen wollten unterdessen so schnell wie möglich ihre Clans erreichen, bevor diese durch das Armutsprogramm in alle Himmelsrichtungen verstreut wären, erklärte Fat Mao. Die Maos würden dafür sorgen, daß die Leute ihre Familien fanden. Ein alter Mann aus dem Reislager sei zu Fuß auf der Straße ins Gebirge unterwegs gewesen, fügte einer der Reiter hinzu. Jemand habe angeboten, ihn im Wagen mitzunehmen, aber der Alte habe abgelehnt, weil er angeblich lieber einen Schmetterling beobachten wollte. Jowa lief an seine Seite. »Wo genau war das?« drängte der purba. Der Uigure schüttelte grinsend den Kopf, stellte sich dann in -743-
den Steigbügeln auf und streckte den Arm aus. Auf einem Bergrücken konnte man in etwa einem Kilometer Ent fernung eine winzige Gestalt erkennen, die eilig durch das hohe braune Gras marschierte. »Verrückter alter…«, setzte der Uigure an, verstummte dann aber mit offenem Mund, weil Jowa blitzartig losrannte und mit weiten Sprüngen auf die ferne Gestalt zueilte. Hinten auf der Ladefläche brach Lokesh in lautes Gelächter aus. Fat Mao rief Jowa hinterher, daß er ihm rechtzeitig vor Einbruch der Dämmerung einen der Lastwagen schicken würde. Am späten Nachmittag trafen sie bei einer kleinen Blockhütte ein, die in einem Pappelgehölz knapp hundert Meter abseits der Straße stand. Es herrschte überraschend viel Betrieb, und man hörte einige Kinder fröhlich lachen. Die Hälfte der Mitglieder des Roten Steins sei bereits weitergezogen und werde noch am selben Abend in dem früheren Raketensilo Unterschlupf finden, erläuterte Fat Mao. Marco und der Rest des Clans sollten ihnen am nächsten Tag dorthin folgen. Der Tibeter Jengzi sowie die sechs kasachischen zheli-Jungen waren mit Akzu und den anderen bei der Hütte geblieben. Im Augenblick hörten die Kinder aufmerksam Malik zu, der anscheinend eine Baseballpartie organisieren wollte. Fat Mao schaute zu Jengzi. »Ich kenne zwei dropkas dort im Silo«, sagte er zu Shan. »Sie haben einen Jungen namens Alta beerdigt.« Shan lächelte und mußte an die verzweifelten Worte des Nomaden denken, als dieser sie in ihrem Felsversteck entdeckt hatte. Er und seine Frau wollten mit ihrem Sohn doch nur in Frieden leben. Sie brauchten einen Sohn, und Jengzi brauchte Eltern. Shan ließ den Blick über die Lichtung neben der Hütte und die heiteren Menschen schweifen. Die stämmige Frau aus der Stadt war ebenfalls dort, kochte einen riesigen Kessel Eintopf -744-
und backte mit Unterstützung durch Akzus Frau stapelweise nan-Brote. Der Yakde Lama stand bei den Bäumen und starrte mit umwölktem Gesicht auf die andere Seite der Freifläche, wo ein Pfad zwischen den Pappeln verschwand. Leise machte Shan sich auf den Weg und gelangte vorbei an dem kleinen Bach, der neben der Hütte verlief, bis zu einem langgestreckten Felsvorsprung, von dem aus man weit in die Wüste hinausblicken konnte. Er wollte soeben weitergehen, als er die beiden Amerikaner eng umschlungen dort sitzen sah. Micahs Mutter weinte noch immer. Shan kehrte wortlos um. Bevor das Abendessen serviert wurde, hatten die beiden Köchinnen den anderen Anwesenden etwas mitzuteilen. Sie hätten beschlossen, daß die überlebenden zheli-Jungen den Roten Stein begleiten würden, ebenso wie die stämmige Frau, die den Maos geholfen hatte. Bei diesen Worten schaute sie zu Shan und nickte, als wolle sie sich abermals für ihr Verhalten in der Stadt entschuldigen. Er erwiderte ihr Lächeln. Die Chinesen hatten ihre beiden Söhne ermordet. Akzu trat ans Feuer. Seine Miene sah angespannt aus, als verspüre er großen Kummer. Shan vermutete, daß Jaklis Verhaftung der Grund dafür war. Aber der Clanälteste wirkte auch überrascht. Offenbar hatte seine Frau sich vorher nicht mit ihm beraten. Der wettergegerbte alte Kasache musterte die Kinder und schüttelte den Kopf. »Es ist zu gefährlich, mit uns zu kommen«, sagte Akzu, an seine Frau gewandt. »Und auch danach droht eine Zeit voller Entbehrungen. Ich habe genug Kinder begraben. Sie können auf die chinesische Schule gehen. Wenigstens werden sie überleben.« »Mit so vielen neuen Söhnen kann der Rote Stein wieder ein richtiger Clan werden«, entgegnete seine Frau kraftvoll und stolz. Akzu bedachte sie mit einem grimmigen Blick und schüttelte -745-
wieder den Kopf. »Weib!« sagte er und hielt dann inne, als zwei Gestalten vom Bach heraufkamen, eine Frau und ein Junge. Shan sah dem Kasachen an, daß Akzu genauso verwirrt war wie er selbst. Die beiden waren Fremde und wirkten doch irgendwie vertraut. Der Junge strahlte über das ganze Gesicht und führte die Frau an der Hand, bis sie Akzu fast erreicht hatten. Dann trat die Frau hinter das Kind und fing an, ihm zärtlich und mit der liebevollen Fürsorge einer Mutter den Kopf zu streicheln. Akzu stockte der Atem. Er blickte zu seiner Frau und wandte sich kurz ab, um sich die Tränen aus den Augen zu wischen. Dann erkannte auch Shan die zwei Neuankömmlinge. Es waren Batu, ein sauberer, glücklicher Batu in frischer, farbenfroher Kleidung, und die verrückte Frau, die mit Steinen nach Shan geworfen hatte. Aber sie war nicht mehr verrückt. Sie hatte sich die Haare gewaschen und zu ordentlichen Zöpfen geflochten, und an ihrer Kleidung klebte kein Schmutz. Vor allem aber war ihr Blick nicht länger verstört, sondern voller Hoffnung und Liebe für ihren neuen Sohn. Malik starrte sie ungläubig an und ließ den Baseball fallen. Die Frau trat vor, nahm den Ball und warf ihn Batu zu, der ihn auffing und lachte. Es war eine ganz schlichte Sache, ein kleines Geräusch der Freude, aber es schien auf irgendeine Weise über die gesamte Lichtung zu hallen und die Aufmerksamkeit jedes einzelnen zu erregen. Weil, so begriff Shan, es sich um den Laut eines Kindes handelte, nicht um den Schrei einer gequälten Seele, die vor Mördern geflohen war. Über die Lichtung senkte sich Schweigen. Alle Augen richteten sich auf den Clanältesten, der nun ernst jedem der Waisenjungen ins Gesicht sah. »Das wird uns eine Menge neuer Sättel kosten«, verkündete Akzu schließlich, und seine Frau lief zu ihm und schloß ihn in die Arme. Zwei Stunden nach Sonnenuntergang, als fast alle im Lager nach dem Essen in einen tiefen Schlummer sanken, kehrte Shan zu dem Felsvorsprung zurück. Deacon saß allein dort im Schein des Vollmonds. Nicht ganz allein, denn er hatte seine Sänger im -746-
Halbkreis vor sich aufgestellt. Shan ging nicht sofort zu ihm, sondern machte zunächst kehrt, sprach bei der Hütte mit dem Yakde Lama und trat dann erst auf den Vorsprung hinaus. Der Amerikaner sagte nichts, sondern wich nur ein Stück zur Seite, damit Shan sich neben ihn setzen konnte. Der Mond leuchtete dermaßen hell, daß die meilenweit entfernte Wüste regelrecht zu erglühen schien. Ein oder zwei der Grillen gaben vereinzelte Laute von sich, als wären sie eingeschüchtert. »Da war auch ein Kompaß«, sagte Shan leise. »Ein schwarzer Metallkompaß.« Er griff in seine Tasche und gab ihn dem Amerikaner. Deacon blieb so lange stumm, daß Shan sich zu fragen begann, ob der Amerikaner ihn überhaupt gehört hatte. »Es war mein Geschenk an Micah«, sagte Deacon dann. »Er war mutig und selbstbewußt, aber als er zum erstenmal mit der zheli aufbrechen sollte, fragte er mich, wo wir sein würden. Ich erklärte es ihm und sagte, wir würden dort immer auf ihn warten.« Deacons Stimme erstarb, und es dauerte lange, bis er fortfuhr. »Nimm meinen Kompaß, sagte ich, und dann habe ich ihm auf einer Karte gezeigt, wo der Sandberg liegt. Damit er wüßte, in welche Richtung er sich wenden mußte, falls er je mit uns reden oder uns eine gute Nacht wünschen wollte.« Shan schloß die Augen und kämpfte gegen das Bild eines verängstigten Jungen an, der Ko mit Baseballschläger und Messer auf sich zukommen sah und den Kompaß hervorholte, um herauszufinden, wo seine Eltern waren und wie es ihm gelingen könnte, sich zu retten. Dann schwiegen sie wieder lange. Das Zirpen der Grillen nahm ein wenig zu. »Eisenbein will nicht«, sagte Deacon geistesabwesend. »Seit ich ihn gefangen habe, ist er ziemlich schweigsam.« Der Mond stieg höher und leuchtete noch heller. Von irgendwo ertönte der Ruf einer Eule. Und dann brach hinter -747-
ihnen ein Zweig. Der Yakde Lama trat auf den Felsvorsprung und schaute mit traurige m, schüchternem Lächeln zu ihnen hinab. »Ich möchte, daß Sie jemanden kennenlernen«, sagte Shan. »Ich weiß, wer Khitai ist«, erwiderte Deacon mit heiserer Stimme. Der Junge kam einen Schritt näher. »Ich möchte, daß Sie jemanden kennenlernen«, wiederholte Shan. Der Junge kam noch einen Schritt näher. »Sie haben gesagt, Sie würden ihm ein Fahrrad kaufen«, sagte Shan. Der Amerikaner gab einen erstickten Laut von sich, und dann ließ ein Schluchzen seine breiten Schultern erzittern. Er streckte die Arme aus, der Junge fiel ihm um den Hals, und Deacon konnte endlich weinen. Er weinte mit tiefen, stöhnenden Schluchzern, und Khitai klammerte sich an ihn und weinte ebenfalls. Bis sie sich am Ende wieder beruhigten. Denn alle Grillen sangen. Jemand berührte Shan sanft an der Schulter und weckte ihn. Die Sonne ging gerade auf. »Stimmt es«, fragte Gendun beinahe flüsternd, »daß der Yakde immer noch nach Amerika gehen möchte?« Shan nickte nur, und Gendun erhob sich und kehrte zu einer kleinen Gruppe zurück, die bei den Bäumen saß. Shan schob seine Decke beiseite und stand auf. Im Lager war noch alles ruhig, abgesehen von zwei Maos am Feuer, wo sie die ganze Nacht Wache gehalten hatten. Shan ging zu den Bäumen. Gendun, Lokesh und ein alter, fast kahlköpfiger Tibeter lauschten Jowa, der mit dem Finger eine Wegskizze auf den Boden malte und erklärte, wie man von Senge Drak nach Rabennest gelangen konnte. Shan warf einen zweiten Blick auf -748-
den Fremden und erstarrte. Es war der Wasserhüter. Der alte Lama schien Shans Blick zu spüren, denn er hob den Kopf und nickte freundlich. Dann klopfte er zwischen sich und Lokesh auf den Boden und bedeutete Shan, dort Platz zu nehmen. Als Shan das Lächeln des Wasserhüters erwiderte, fielen ihm die Worte wieder ein, die der Lama im Krankenhaus zuletzt an ihn gerichtet hatte. Es muß einen Spalt geben, sonst kann nichts eindringen. Letztendlich hatte Shan nicht mehr als das bewirken können. Er hatte geholfen, einen Spalt zu öffnen - erst bei Kaju und dann in der harten, spröden Schale von Anklägerin Xu. Lokesh beugte sich zu Shan und erklärte, daß Gendun den Wasserhüter nach Senge Drak begleiten würde, um dann von ihm in das versteckte gompa mitgenommen zu werden. Gendun lächelte fröhlich, als Shan ihn ansah. »In Rabennest gibt es einen alten Lehr meister, der meinen Vater gekannt hat«, verkündete er und klang dabei überaus zufrieden. »Aber Rinpoche«, sagte Jowa. »Wer wird mit dem Jungen gehen? Der Yakde benötigt einen Lehrer, bis er bereit ist, hierher zurückzukehren.« Gendun legte dem Wasserhüter eine Hand auf die Schulter. »Das gompa hat schon zu lange auf seinen Abt verzichten müssen.« »Wir brauchen einen jüngeren und stärkeren Mann«, sagte der Abt von Rabennest mit seiner rauhen Stimme. »Einen Mann, der als Mönch ausgebildet ist, sich aber auch in der Außenwelt zurechtfindet.« »Die Amerikaner haben mit mir gesprochen, bevor sie schlafen gegangen sind«, sagte Jowa. »Sie wollen zunächst den eluosi begleiten und ihm beim Landkauf und dem Bau seines Blockhauses am Meer helfen. Der Junge wird mitkommen. Sie sagen, sie könnten von dort aus arbeiten, zumindest ein oder zwei Jahre lang. Es soll sich um eine sehr ruhige Gegend -749-
handeln, und sobald neue Proben aus der Wüste benötigt werden, könnte einer der Maos sie dort durchaus besuchen.« »Es ist bestimmt nicht einfach, aus einem gompa in die Welt hinauszuziehen, aber der umgekehrte Weg wird sich womöglich als noch schwieriger erweisen«, stellte Gendun rätselhaft fest. Lokesh stieß ein leises Lachen aus, und Jowa sah ihn verwirrt an. »Morgens ist der Junge immer ziemlich unkonzentriert, bis er etwas zu essen bekommt«, sagte der Wasserhüter und seufzte zufrieden. »Nur eine Schale Brei, dann widmet er sich seinen Sutras.« Jowa ließ den Blick über die Lichtung schweifen, als rechne er damit, jeden Moment einen weiteren Mönch eintreffen zu sehen. »Aber wenn er fleißig ist, sollte man mit ihm zur Belohnung Schmetterlinge beobachten. Einmal sind wir drei Stunden lang einem Schmetterling hinterhergelaufen. Ein junger Mensch, der kräftigere Beine hat als ich, könnte bestimmt sechs Stunden durchhalten.« Lokesh lachte schon wieder. Jowa sah erst ihn, dann Shan an. Der Wasserhüter berührte Jowas Bein. »Er haßt es, seine Socken zu waschen«, sagte der alte Abt. »Sorg dafür, daß er regelmäßig seine Socken wäscht.« Jowa erstarrte und musterte die Hand des Wasserhüters. »Rinpoche«, flüsterte er. »Ich bin kein…« Er schaffte es nicht, den Satz zu beenden, sondern starrte nur auf die Finger des Lama. Der Wasserhüter beugte sich vor und nahm Jowas Hände, die auf den Oberschenkeln des purba lagen. »Ich habe gehört, dieses Alaska soll eine feuchte Gegend sein.« Er schüttelte die Hände fest, als wolle er sicherstellen, daß Jowa sich seine Anweisungen einprägte. »Achte darauf, daß er es trocken hat.« Der alte Lama und Jowa sahen einander lange in die Augen. »Wenn er soweit ist, mußt du ihn zu uns zurückbringen«, sagte der Abt von Rabennest schließlich. »Es wird für ihn im neuen -750-
Tibet viel zu tun geben.« Er drückte erneut Jowas Hände. »Wir werden beim Orakelsee nach Anzeichen Ausschau ha lten.« Jowa sah Shan an, und der Mund des Tibeters verzog sich langsam zu einem Lächeln. Shan erinnerte sich an eine Nacht, die lange zurückzuliegen schien. Sie hatten beide unter dem Mond im Kunlun gestanden, und Jowa hatte verzweifelt davon gesprochen, daß die Lamas letztlich verschwinden würden, daß dann alles keinen Sinn mehr hätte und daß er selbst nie ein Lama werden könnte, weil die Chinesen ihn auf einen anderen Weg geführt hätten. Aber es würde eine neue Generation Lamas geben, zwar von etwas anderer Prägung, aber gleichwohl Lamas, und Jowa würde dabei helfen, sie großzuziehen. Der Yakde war aufgewacht und zum Feuer gekommen. Fat Mao nickte Gendun zu. »Wir gehen jetzt«, sagte Gendun zu Shan, und die Tibeter standen auf. Der Wasserhüter und Khitai umarmten sich, und dann winkte der Abt Jowa heran und umarmte den neuen Lehrer des Yakde ebenfalls. Die Lamas folgten Fat Mao den Pfad entlang, und Shan begleitete sie noch ein Stück. Es gab nichts mehr zu sagen. Fat Mao trat mit ernster Miene an Shans Seite, drückte ihm linkisch etwas in die Hand und ging eilig weg. Erst Gendun und dann der Wasserhüter stellten sich fröhlich lächelnd vor ihn hin und legten ihm jeder die Hand auf das Herz. Shan nickte dankbar und schaute ihnen hinterher, bis sie außer Sicht verschwanden. Erst dann sah er in seine Hand. Fat Mao hatte ihm einen kleinen, bunt leuchtenden und frisch mit Wasser gesäuberten Stein gegeben. Eine Stunde später standen die verbleibenden Gefährten an der Straße und warteten auf den Lastwagen, der Lokesh nach Tibet bringen würde. Lokesh lachte die ganze Zeit und hielt seine Tasche fest an die Brust gepreßt. Mehr als alle anderen wußte er genau, wohin er gehen und was er tun würde. Er würde -751-
zum Berg Kailas reisen und dort eine vor tausend Jahren begonnene Pilgerfahrt beenden, um eine tote Mutter und ihre verstorbene Tochter zu ehren. »Es wird ziemlich kalt sein«, sagte Shan unbeholfen, und Lokesh lächelte. »Ich habe gehört, es soll auch riskante Stellen geben, wo du das Gleichgewicht verlieren könntest«, warnte Shan. Lokesh lächelte einfach weiter sein schiefes Lächeln, umarmte Shan und trat dann hinaus auf die Straße, weil die Maos ihn riefen. Sophie graste am Straßenrand, und Marco lag neben ihr in der Sonne. Als Shan sich setzte, nahm der eluosi ihn abschä tzend in Augenschein. »In Alaska kaufe ich Ihnen einen Mantel. Einen dieser dicken Pelzmäntel, damit Sie mir nicht erfrieren, wenn der russische Winter herüberzieht. Und eine Pelzmütze. Eine Uschanka. Sie werden wie ein kleiner Bär aussehen. Johnny Bär.« Er lächelte, zum erstenmal seit jener schrecklichen Nacht auf dem Turm, und ein neuer Gedanke schien in seinem Blick zu funkeln. »Wir bauen uns eine Sauna für den Winter. Ziehen uns die Klamotten aus und lassen uns höllisch einheizen. Und dann rennen wir hinaus und wälzen uns im Schnee. Splitternackt.« Marco kicherte und hielt mit überraschtem Gesichtsausdruck inne, als hätte er nicht damit gerechnet, je wieder fröhlich sein zu können. Dann brach er plötzlich in schallendes Gelächter aus, und auch Shan lachte und wunderte sich darüber, denn er hatte schon seit Jahren nicht mehr so gelacht. Schließlich wurde ihm der Grund dafür klar. Marco war für ihn weder ein Lehrmeister noch ein Häftling, weder ein Schüler noch ein Krieger. Marco war einfach nur ein Freund. Jowa, Deacon und der junge Lama spielten mit einem Ball. Die Augen des purba strahlten, wie Shan es noch nie zuvor an ihm beobachtet hatte. Sophie knabberte an Marcos Ohr, und der eluosi sprach ein weiteres Mal von dem Blockhaus, das er bauen würde. Ein Schmetterling flog vorbei, und Shan bemerkte, daß Jowa den jungen Lama mit ausgestrecktem Arm darauf hinwies. Dann drang der Lärm eines sich angestrengt mühenden -752-
Motors an Shans Ohren, und kurz darauf kam ein klappriges Gefährt in Sicht, ein uralter Lastwagen. Auf der von einer dreckigen, zerrissenen Plane überdeckten Ladefläche stapelten sich zahlreiche Lattenkisten voller Hühner. Lokesh lachte, als die Maos ihm in eine Lücke zwischen den Kisten hinaufhalfen. Shan konnte den Blick nicht von dem alten Mann abwenden, der allein in den unwirtlichen Himalaja reisen wollte. Ihm wurde auf einmal bewußt, daß er aufgestanden war und daß seine Hände zitterten. Er klappte den Mund auf und zu, aber es drang kein Wort über seine Lippen. Neben sich hörte er Marco tief seufzen, und dann machte der eluosi sich an Sophies Sattel zu schaffen, an dem ihr Gepäck hing. »Andererseits kann es in Alaska auch wochenlang regnen«, polterte Marco theatralisch. »Das schlägt aufs Gemüt, wenn man es gewohnt ist, den Himmel zu betrachten.« Etwas landete vor Shans Füßen. Seine Tasche. Lokesh machte es sich auf dem Laster bequem. Die Hühner gackerten verstört und flatterten in ihren Kisten umher. Die Maos winkten dem alten Tibeter herzlich lächelnd zu. Dann erwachte der Motor stotternd und mit einer Qualmwolke wieder zum Leben, und der Wagen setzte sich ächzend in Bewegung, um den Aufstieg fortzusetzen. Shan sah dem eluosi in die Augen. »Das sind ganz schön viele Hühner für nur einen einzigen Mann«, sagte Marco feierlich. Er nahm Shans Hand, drückte sie fest und reichte ihm seine Tasche. Shan nickte nur, machte einen kleinen Schritt, dann noch einen und fing schließlich an zu rennen. Als er auf die Stoßstange des anfahrenden Lastwagens sprang, hätte die baumelnde Tasche ihn beinahe straucheln lassen. Dann, gerade als Shan sein Gleichgewicht zu verlieren drohte, streckte sich ihm eine schmale, mit Altersflecken übersäte Hand entgegen und zog ihn hinein.
-753-
Anmerkung des Verfassers Die Figuren und die meisten Schauplätze dieses Romans sind erfunden. Der Kampf des tibetischen, kasachischen und uigurischen Volkes um die Bewahrung der eigenen Kultur und Identität ist hingegen sehr real. Viele Elemente dieser Erzählung leiten sich aus konkreten Ereignissen jenes fünfzigjährigen Ringens ab - und aus dem reichen und faszinierenden Erbe der Seidenstraße. Der Sand der Wüste Takla Makan gibt bisweilen tatsächlich Überreste der untergegangenen Städte und Gräber der Seidenstraße frei. Auch in Wirklichkeit arbeiten engagierte Archäologen vieler Nationen in diesen Ruinen und finden uralte Mumien und Kleidungsstücke, trotz der politischen Stürme, die über ihre Arbeit hinwegfegen. Genetische Forschungen in dieser Region und sogar die fachkundige Beurteilung schlichter Stoffetzen haben zu dermaßen erbitterten politischen Kontroversen geführt, daß in jenen entlegenen Gegenden auch die einfachste Suche nach Wissen mitunter heroische Anstrengungen voraussetzt. Und in Tibet hat die Regierung des heutigen China sich leider schon mehrfach in den Prozeß zur Auffindung wiedergeborener Lamas eingemischt. Falls der geneigte Leser mehr über die Hintergründe erfahren möchte, stehen ihm die folgenden hervorragenden Quellen zur Verfügung, die an dieser Stelle ausdrücklich empfohlen werden sollen. Zu den umfassendsten Beschreibungen der jüngeren tibetischen Geschichte gehören sicherlich: John Avedon. In Exile from the Land of Snows. Harper Perennial. Tsering Shakya. The Dragon in the Land of Snows. Compass Books. Viele tibetische Überlebende berichten aus erster Hand von -754-
ihrem Schicksal. Diese Titel sind besonders eindrucksvolle Beispiele: David Patt. A Strange Liberation: Tibetan Lives in Chinese Hands. Snow Lion Publications. Adhe Tapontsang & Joy Blakeslee. Ama Adbe: The Voice that Remembers. Rudra Press. (Deutsch als: Doch mein Herz lebt in Tibet. Herder Verlag, Freiburg.) Palden Gyatso & Tsering Shakya. The Autobiography of a Tibetan Monk. Grove Press. (Deutsch als: Ich, Palden Gyatso, Mönch aus Tibet. Gustav Lübbe Verlag, Bergisch Gladbach.) Die bedeutendste Pekinger Einflußnahme auf die Auswahl einer tibetischen Reinkarnation wird detailliert in dem folgenden wichtigen Werk erläutert: Isabel Hilton. The Search for the Panchen Lama. W.W. Norton & Company. Die faszinierende, auf Pferden basierende Kultur des kasachischen Volkes wird sehr gut beschrieben in: Awelkhan Hali, Zenxiang Li & Karl W Luckert. Kazakh Traditions of China. University Press of America. Linda Benson & Ingvar Svanberg. China's Last Nomads. M.E. Sharpe, Inc. Die beiden nächsten Bände widmen sich den bemerkenswerten archäologischen Entdeckungen in der Takla Makan; der zweite Titel dringt besonders tief in die Materie ein: Elizabeth Wayland Barber. The Mummies of Urumchi. W W Norton & Company. J.P. Mallory & Victor H. Main The Tarim Mummies. Thames & Hudson. Zu guter Letzt eine Einführung für all jene Leser, die sich für die Welt der Insektensänger interessieren: Lisa Gail Ryan. Insect Musicians and Cricket Champions. China Books & Periodicals. -755-
Glossar der fremdsprachigen Begriffe Aksai Chin. Eine Grenzregion an der Nahtstelle von Kunlunund Karakorum- Gebirge im äußersten Südwesten Xinjiangs und jenseits von Tibets nordwestlichster Grenze. Sowohl Indien als auch China erheben einen Hoheitsanspruch auf Aksai Chin, wenngleich das Gebiet von den Chinesen besetzt wurde. Ani. Tibetisch. Eine buddhistische Nonne. Ashamai. Turksprachig. Ein besonderer weicher Sattel, der kasachischen Kindern traditionell zum fünften Geburtstag überreicht wird. Besik zkyry. Turksprachig. Ein Wiegenlied. Bumpa. Tibetisch. Eine Schatzvase; ein rituelles Wassergefäß, das bei buddhistischen Zeremonien benutzt wird. Changtang. Tibetisch. Die gewaltige Hochebene, die das nördliche Zentraltibet dominiert. Chuba. Tibetisch. Ein schwerer, einem Umhang ähnelnder Mantel aus Schaffell, manchmal auch aus dickem Wollstoff. Dombra. Turksprachig. Ein lautenähnliches Instrument mit zwei Saiten. Dopa. Turksprachig. Eine runde Kappe ohne Krempe, wie sie oft von frommen Moslems getragen wird. Dorje. Tibetisch. Abgeleitet aus dem sanskritischen »vajre«; ein Ritualgegenstand in der Form eines Zepters, der die Macht des Mitleids symbolisiert. Es heißt, eine dorje sei »unzerbrechlich wie Diamant« und »mächtig wie ein Donnerkeil«. Dorje-Glocke. Tibetisch. Eine Glocke mit einer dorje als Griff. Dropka. Tibetisch. Ein Nomade der Changtang; wörtlich ein »Bewohner des schwarzen Zeltes«. -756-
Eluosi. Mandarin. Ein Russe; bezeichnet auch speziell die russischen Emigranten, die in Xinjiang leben. Gau. Tibetisch. Ein »tragbarer Schrein«; zumeist ein kleines Metallmedaillon mit Klappdeckel, das an einem Riemen um den Hals getragen und in dem ein aufgeschriebenes Gebet verstaut wird. Gompa. Tibetisch. Ein Kloster; wörtlich ein »Ort der Meditation«. Jinni. Turksprachig. Ein böser Geist. Karaburan. Turksprachig. Ein Sandsturm; vor allem die »schwarzen Wirbelstürme«, von denen die Wüste Takla Makan heimgesucht wird. Karez. Turksprachig. Ein unterirdisches Bewässerungssystem aus Tunneln, Zisternen und Zugangsschächten, das durch Ausnutzung der Schwerkraft Wasser aus Gebirgsquellen zu entlegene n Farmen und Ansiedlungen transportiert. Khampa. Tibetisch. Ein einheimischer Bewohner der KhamRegion, die früher den Ostteil Tibets darstellte. Kharoshthi. Eine Sprache aramäischen Ursprungs, die ungefähr im fünften Jahrhundert vor Christus entstand und entlang der frühen Seidenstraße verbreitet war. Khata. Tibetisch. Ein Gebetsschal, traditionell aus weißer Seide oder Baumwolle, wie er oftmals am Ende eines Rituals einem Lama überreicht wird. Khez khuwar. Turksprachig. Ein kasachisches Reiterspiel, das traditionell zwischen Mädchen und Jungen ausgetragen wird. Khoshakhan. Turksprachig. Ein beruhigender Zuruf an die Lämmer. Kumys. Turksprachig. Gegorene Stutenmilch, die oft in einem ledernen Trinkschlauch transportiert wird. Kunlun. Die hohe, langgezogene Gebirgskette, die das tibetische Zentralplateau im Norden begrenzt. Sie erstreckt sich -757-
vom Pamir und dem Karakorum-Gebirge an der pakistanischen Grenze mehr als tausend Kilometer nach Osten. Lama. Tibetisch. Die Übersetzung des sanskritischen Begriffs »Guru«; traditionell ein vollständig geweihter Mönch höheren Ranges, der als leitender Lehrmeister tätig ist. Lao gai. Mandarin. Wörtlich »Besserung durch Arbeit«; ein Zwangsarbeitslager. Lao jiao. Mandarin. Wörtlich »Umerziehung durch Arbeit«; eine weniger strenge Hafteinrichtung, in der die Gefangenen einer intensiven politischen Indoktrination unterzogen werden. Lha gyal lo. Tibetisch. Ein traditioneller tibetischer Ausruf der Feststimmung oder Freude; wörtlich »den Göttern der Sieg«. Lung ma. Mandarin. Wörtlich »Pferdedrache«; eine mythische Kreatur, halb Pferd, halb Drache, die in der Überlieferung dem einfachen Volk Gerechtigkeit bescherte. Mala. Tibetisch. Eine buddhistische Gebetskette, die charakteristischerweise aus 108 Perlen besteht. Mani-Mauer. Tibetisch. Eine aus Mani-Steinen aufgeschichtete Mauer. Der Tradition folgend, fügen Pilger beim Besuch eines Schreins einer solchen Mauer einen ManiStein hinzu, um sich Verdienste zu erwerben. Mani-Stein. Tibetisch. Ein Stein mit einem aufgemalten oder eingeritzten buddhistischen Gebet; häufig das Mantra Om mani padme hum. Mei Guo. Mandarin. Amerika; wörtlich »schönes Land«. Mudra. Tibetisch. Eine symbolische Geste, bei der die Hände und Finger vorgeschriebene Haltungen einnehmen, um ein bestimmtes Gebet, eine Opfergabe oder einen Geisteszustand auszudrücken. Nadam. Turksprachig. Ein traditionelles kasachisches Reiterfest, aus dessen Anlaß die kasachischen Clans sich für mehrere Tage versammeln, um Pferderennen und andere -758-
sportliche Wettkämpfe auszutragen. Nan. Turksprachig. Ein Fladenbrot, traditionell auf einem Stein gebacken. Nei lou. Mandarin. Staatsgeheimnis; wörtlich »nur für die Regierung«. Pecha. Tibetisch. Ein traditionelles tibetisches Buch religiösen Inhalts, das für gewöhnlich aus langen, schmalen losen Seiten besteht, die in Stoff gewickelt und oft zwischen zwei mit Schnitzereien verzierten Holzdeckeln verwahrt werden. Purba. Tibetisch. Wörtlich »Nagel« oder »Dorn«; ein kleiner Dolch mit dreieckiger Klinge, der bei buddhistischen Zeremonien benutzt wird. Auch Angehöriger der tibetischen Widerstandsbewegung. Rinpoche. Tibetisch. Die respektvolle Anrede für einen verehrten Lehrmeister; wörtlich »Gesegneter« oder »Juwel«. Seksek Ata. Turksprachig. Der Schutzgeist der Ziegen. Sundet. Turksprachig. Nach kasachischem Brauch wird ein Junge zwischen seinem fünften und siebten Lebensjahr in einer Zeremonie namens sundet toi beschnitten. Oftmals erhält er von seiner Familie bei diesem Anlaß ein Pony zum Geschenk. Anschließend wird das Tier als das sundet-Pferd des Jungen bezeichnet. Synshy. Turksprachig. Ein »Kenner der Pferde« oder »Pferdesprecher«, von dem man annimmt, er besitze die besondere Gabe, mit einem Pferd kommunizieren und dessen Persönlichkeit, Eigenschaften und Krankheiten feststellen zu können. Takla Makan. Turksprachig. Eine ausgedehnte Wüste im mittleren und südlichen Xinjiang, zwischen dem Tian-Gebirge im Norden und der Kunlun-Kette im Süden. Tamzing. Mandarin. Eine »Streitsitzung«; zumeist die öffentliche Kritik an einem Individuum, in deren Verlauf -759-
Erniedrigungen, Beschimpfungen sowie physische Mißhandlungen eingesetzt werden, um eine politische Umerziehung zu bewirken. Thangka. Tibetisch. Ein Stoffgemälde, zumeist religiöser Natur, das häufig als heilig gilt. Torma. Tibetisch. Eine rituelle Opfergabe als Huldigung an die tibetischen Gottheiten. Sie besteht vornehmlich aus Butter und Gerstenmehl und kommt in vielerlei Formen, Farben und Größen vor. Tsampa. Tibetisch. Geröstetes Gerstenmehl, eine alltägliche tibetische Speise. Tsingha. Tibetisch. Kleine glockenähnliche Zimbeln, die bei buddhistischen Zeremonien benutzt werden. Urumchi. Mandarin. Die Hauptstadt von Xinjiang. Xinjiang. Mandarin. Als Autonome Region Xinjiang wird in der Volksrepublik China das riesige Gebiet bezeichnet, das im Nordosten an die Mongolei grenzt, im Osten an die chinesischen Provinzen Gansu und Qinghai, im Süden an Tibet und im Westen an Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan, Afghanistan, Pakistan und Indien. Zheli. Turksprachig. Ein Seil, das man zwischen zwei Bäume oder Pflöcke spannt, um daran die Stricke der Jungtiere anzubinden. Zhylkhyshy Ata. Turksprachig. Der Schutzgott der Pferde, auch Khambar Ata genannt.
-760-