Michael Moorcock Das blutrote Spiel Zwei Jahre war Renark allein durch die Galaxis gewandert – doch nie war er einsam g...
23 downloads
1139 Views
505KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Michael Moorcock Das blutrote Spiel Zwei Jahre war Renark allein durch die Galaxis gewandert – doch nie war er einsam gewesen. Die Galaxis war sein allgegenwärtiger Freund. Auf seiner Wanderung erhielt Renark Hinweise auf die geheimnisvolle Kraft, die die Geschicke des Universums lenkt. Jetzt will Renark auch dieses Geheimnis noch aufklären. Er macht sich auf die Suche – und findet sich in einer kosmischen Arena wieder. Er nimmt Teil am blutroten Spiel und wagt den höchsten Einsatz: Die Zukunft der Menschheit!
Michael Moorcock
Das blutrote Spiel Science Fiction-Roman
Scan by Tigerliebe K&L: tigger Freeware ebook, Oktober 2003 Kein Verkauf!
BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH Band 21 114 Science Fiction-Action
Amerikanischer Originaltitel: THE BLOOD RED GAME Deutsche Übersetzung von Rosemarie Hundertmarck
© Copyright Nova Publications 1962 All rights reserved Deutsche Lizenzausgabe 1979 Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe, Bergisch-Gladbach Titelillustration: Young Artists Umschlaggestaltung: Bastei-Graphik (W) Druck und Verarbeitung: Mohndruck Reinhard Mohn GmbH Gütersloh Printed in Western Germany ISBN 3-404-01218-6
Prolog Zwei Jahre lang war Renark allein durch die Galaxis gewandert – aber einsam war er nie gewesen. Die Galaxis selbst war sein allgegenwärtiger Freund. In seinem langen, dünnschaligen Schädel ruhte das Wissen um die Lage jedes einzelnen Atoms, und er spürte alle Veränderungen – auch wenn sie von Kräften hervorgerufen wurden, die er nicht verstand. In diesen beiden schnell vorbeifliegenden Jahren sammelte Renark bestimmte Informationen, und als er seine Forschungen beendet hatte, reiste er zum Rand.
5
I. Schließlich trafen sich alle drei in einer schrecklichen, von Wüste umgebenen Stadt, die wie der Planet Migaa hieß. Migaa war die letzte Chance für alle Flüchtlinge der Galaxis. Unter dem unangenehm hellen Licht der gleißenden Sonne ging Renark von Bord seines Kreuzers. An hundert hoch aufragenden anderen Schiffen vorbei suchte er sich seinen Weg. Sein Geist erkundete die Stadt nach seinen beiden Freunden, und dann entdeckte er sie auf der entgegengesetzten Seite, eine halbe Meile von ihm entfernt. Zollbeamte gab es hier nicht, und so wurde Renark in seinem eiligen Gang nicht aufgehalten. Seine Freunde strahlten Aufregung aus, und er ahnte, daß sie in Schwierigkeiten steckten. Die Leute starrten ihn an. Er war ein sehr großer, sehr magerer Mann mit tiefliegenden Augen und einem langen Schädel. Sein ruhiges Gesicht war das eines Denkers. Aber auf sein Gesicht achteten die Menschen gar nicht – sie hielten ihn für auffällig, weil an ihm keine Waffe zu bemerken war. Fast alle Männer und Frauen, die in Migaa eintrafen, kamen in Eile – doch bewaffnet waren sie immer. Nur Renark schritt zielstrebig über die metallgepflasterten Straßen, vorbei an den glitzernden Stahlgebäuden. Die anderen schlenderten müßig umher. Die wenigen Fahrzeuge fuhren langsam. Auf Renark machte die Stadt einen erschöpften Eindruck, und doch lag so etwas wie Erwartung in der Luft. Es war eine seltsame, eine erdrückende Stimmung. Die Gesichter aller Männer und Frauen hatten etwas gemeinsam: Sie bemühten sich vergeblich, die Hoffnung, die immer wieder in ihren Augen aufdämmerte, zu verbergen. Sie schienen Angst davor zu haben, zu hoffen, aber offensichtlich blieb ihnen sonst nichts zu tun übrig. Migaa – beziehungsweise das, was Migaa ihnen bot – war ihre letzte Chance. Das war es auch für Renark, aber aus anderen, weniger selbstsüchtigen Gründen. 6
Als er das Haus erreicht hatte, in dem er seine beiden Freunde spürte, wunderte er sich, daß es nicht die Wirtschaft war, die er erwartet hatte. Er trat ein und fand eine Schlägerei vor. Mehrere Männer, die, nach ihren weißen, metallverstärkten Overalls aus Plastikleder zu urteilen, sowohl Diebe als auch Raumarbeiter sein konnten, griffen unter Gebrüll zwei andere an, die nicht zu ihrer Sorte gehörten. Renark kannte die beiden. Es waren Paul Talfryn und der junge Asquiol von Pompeji. Sie standen mit dem Rücken an der Wand. Einen Augenblick lang war Renark – überzeugt, daß sie Sieger bleiben würden – versucht, es sie allein ausfechten zu lassen. Dann entschloß er sich, ihnen zu helfen. Für die ihnen bevorstehende Reise brauchte er sie so fit wie möglich. Einer der Raumarbeiter, seinen ganzen metallbeschwerten Körper als Waffe benutzend, warf sich auf Renark. Seine Kampftechnik mußte er an Bord eines Schiffes oder auf einem Planeten mit niedriger Schwerkraft erlernt haben. Hier funktionierte sie nicht, und Renark wischte ihn einfach beiseite. Mit der Stiefelspitze gab er ihm einen Tritt an die untere Stelle des Rückgrats, und als der Mann zusammenbrach, schlug Renark ihn k.o. Bald darauf hatte er sich zu seinen Freunden durchgedrängt. Talfryn sah aus, als gerate er gleich in Panik, aber Asquiol – auffällig grinsend und bösartig – machte die Schlägerei Vergnügen. Ein mit Dornen besetzter Schlagring glänzte auf seiner rechten Faust, und es war Blut daran. Einer von Asquiols Gegnern, die Hand auf das blutüberströmte Auge gedrückt, taumelte gegen Renark zurück. »Wir vergeuden Zeit!« rief Renark, als die anderen ihn sahen. Mit seinen großen, häßlichen Händen schob er die Raumarbeiter auseinander, und Talfryn und Asquiol schlugen sich gemeinsam zu ihm durch. Asquiol rammte dabei noch einen Riesen, der eine Keule schwang, seine bewehrte Faust in den Magen. Der Riese schrie auf, ließ die Waffe fallen und brach in 7
die Knie. Die drei Freunde stürzten aus der Kneipe und rannten eine enge Gasse hinauf, bis die Rufe der Verfolger hinter ihnen verhallten. »Wo geht es zum Salvation Inn?« fragte Renark. »Danke für die Hilfe«, grinste Asquiol. »Gut, daß ihr Hyperspürer immer herausfindet, wer wo ist. Hier entlang geht es. Nicht weit.« Renark verzichtete darauf, seine Fähigkeit zum Raumspüren einzusetzen. Vor seinem geistigen Auge stand immer noch scharf das Bild von dem, was er dem Raumarbeiter angetan hatte. Er liebte Gewalttätigkeiten nicht. Asquiol führte sie auf eine Hauptstraße zurück. Talfryn erklärte Renark mit verlegenem Gesicht: »Entschuldige die Geschichte. Diese Männer waren darauf aus, Streit anzufangen. Sie haben Asquiol wegen seiner Kleidung angepflaumt. Wir mußten uns schlagen. Bei einem Dutzend anderen konnten wir es abbiegen, aber bei denen nicht. Die ganze verdammte Stadt ist so – angespannt, nervös, ungeduldig.« »Ich fürchte, ich habe sie herausgefordert«, gestand Asquiol. »Wirklich, ich kann doch ein so ordinäres Pack keine beleidigenden Bemerkungen über meinen Anzug machen lassen!« Er streifte den Schlagring ab und steckte ihn weg. Asquiol, ungeachtet seiner Jugend einsam und verbittert, legte viel Wert auf auffällige Kleidung. Er trug eine wattierte Jacke mit hohem Kragen aus orangefarbenem Nylonpelz und purpurne enge Hosen, die am Knöchel über den spitzen Stiefeln aus gesponnenem Glas dicht anlagen. Sein Gesicht war blaß und schmal, sein schwarzes Haar in einer Pony-Frisur geschnitten. Er trug einen schlanken Antineutron-Strahler – eine gesetzlich verbotene Waffe. Asquiol war einmal ein Fürst gewesen – der unabhängige Herrscher von Pompeji –, doch dann war es der Macht der Galaktischen Lords gelungen, den Planeten der Union einzu8
verleiben. Renark dachte daran, daß Asquiol seinen Titel und seinen Besitz verloren hatte, weil er ihm damals Schutz gewährte, und er war ihm dankbar. Jetzt bemerkte er, daß der jüngere Mann in eine grüblerische Stimmung versunken war. Wegen dieser Reaktion hielten ihn viele Menschen für unausgeglichen. Renark jedoch wußte, daß auf Asquiol genau das Gegenteil zutraf. Talfryn, der wie seine beiden Freunde ein hageres Gesicht hatte, war empfindsam und trug einen Bart. Er war ein nicht lizensierter Forschungsreisender und deshalb ein Krimineller. Seine Kleidung war konservativ – ein ärmelloses Wams aus ungefärbtem Leder, blaues Hemd und schwarze Hosen. Bewaffnet war er mit einem schweren Energiegewehr. Er warf Renark neugierige Blicke zu, aber da er nichts sagte, schwieg auch Renark. Dann lächelte er. Seine dünnen, strengen Lippen zogen sich nach oben. Er straffte die Schultern, wandte seinen langen Kopf um und sah Talfryn scharf an, so daß dieser sich zu der Frage verpflichtet fühlte: »Wann starten wir? Ich kann es kaum noch erwarten.« »Ich bin mir noch nicht sicher«, erwiderte Renark nach einer Pause. Sie waren vor dem hohen Haus mit den vielen Fenstern angekommen, in dem sich der Salvation Inn befand. »Du hast vorhin gesagt, wir vergeudeten unsere Zeit«, erinnerte Talfryn. »Wieviel Zeit haben wir denn noch, grob geschätzt?« »Höchstens noch sechsunddreißig Stunden«, antwortete der Hyperspürer. Asquiol schreckte aus seinem Sinnen auf. »Mehr nicht?« »Wahrscheinlich weniger. Ich fühle ständig, wie er diesem Kontinuum näher kommt, aber es ist schwierig, ihn immer festzuhalten. Das kostet mich den Großteil meiner Energie.« Sie traten in die weite, hohe Halle des Salvation Inn ein. Asquiol blickte ringsum, suchte jemanden in der Menge, wurde 9
jedoch enttäuscht. Die großen Fenster gaben mehreren Galerien Licht und sahen auf die in grellem Schwarz und Weiß daliegende Karbonwüste des Planeten hinaus. Sie drängelten sich zwischen Männern und Frauen hindurch, unter denen alle Typen vertreten waren. Einige waren kostbar gekleidet, andere gingen in Lumpen; manche tranken schwer und manche nippten nur an ihrem Glas; es gab lärmende und stille Menschen. Ebenso wie überall in der Stadt lagen hier Müdigkeit und Erwartung in der Luft. Diese Stimmung hielt schon seit siebenunddreißig Jahren an. Alle Anwesenden blickten häufig auf die riesigen Laser-Schirme, die in der Mitte der Halle hingen. Die Schirme würden nur bei einer bestimmten Gelegenheit zum Leben erwachen – wenn das, was sie erwarteten, an dem Punkt des Raums auftauchte, auf den die Schirme ständig ausgerichtet waren. Sollte das geschehen, dann würde alles zum Raumhafen rennen, und Migaa würde wieder verlassen daliegen. Es gab Leute, die schon über dreißig Jahre in Migaa warteten. Einige waren gestorben, ehe sie ihre Chance bekommen hatten. Die drei Freunde stiegen eine enge Wendeltreppe zu einer Galerie hinauf, wo ein Tisch und drei Sessel standen. Dort setzten sie sich. »Ich habe diesen Tisch reservieren lassen«, bemerkte Asquiol und verrenkte sich den Hals bei seinen Bemühungen, in die Halle hinunterzublicken. Renark warf ihm einen eigenartigen Blick zu. »Ich lasse das Schiff noch und noch durchchecken«, erzählte er. »Es sollte in Kürze bereit sein. Die sechsunddreißig Standen, die ich erwähnt habe, sind das Maximum; der Wanderer könnte sehr viel früher materialisieren. Zwölf Stunden sollte es allerdings noch dauern, bis er hier ist, wenn ich von der Annäherungsrate ausgehe, mit der er sich auf uns zubewegt, seit ich vor zwanzig Tagen zum erstenmal Kontakt mit ihm hatte. Wie lange er in 10
diesem Kontinuum bleiben wird, kann ich nicht sagen. Es kann auch sein, daß er schneller wieder verschwindet, als wir ihn erreichen können.« »Dann wären wir für nichts und wieder nichts nach Migaa gekommen.« Talfryn zuckte die Schultern. »Nun, ich bin Herr meiner Zeit.« »Ich nicht«, sagte Renark. Er fügte nichts hinzu. Er war der einzige Mensch in der ganzen Galaxis, der über die Fähigkeit verfügte zu wissen, wann das Wandersystem materialisieren würde. Die Leute, die in Migaa zusammenströmten, hofften nur darauf, es werde noch im Laufe ihres eigenen Lebens geschehen. Migaa existierte allein ihretwegen, denn der halbwegs bewohnbare Planet lag dem Gebiet, wo der Wanderer auftauchen würde, am nächsten. Die Gesetzlosen und die Verdammten, die Suchenden und die Gejagten kamen nach Migaa, wenn es für sie keinen anderen Ort mehr gab, an den sie gehen konnten. Und sie warteten. Renark hatte es nicht nötig, zu warten, denn er war ein Hyperspürer mit einem angeborenen Instinkt, den er auf das Niveau einer Wissenschaft erhoben hatte. Nach den geringsten Hinweisen über Art und Richtung konnte er innerhalb der Galaxis alles aufspüren, sei es ein Planet oder ein verlorener Pfennig. Da er weder Karten noch Koordinaten brauchte, konnte er jedermann dahin führen, wohin er gelangen wollte. Er war ein menschliches Funkpeilungsgerät. Wenn er wußte, daß der Wanderer näher kam, so lag das jedoch daran, daß er sich darauf trainiert hatte, über seinen eigenen Raum hinaus und in jenseits liegende Dimensionen hineinzusehen, wo es nebelhafte Geisterplaneten und Sonnen – beinahe, aber nicht ganz – wie seine eigene gab. Er hatte sich darin ausgebildet, sie zu sehen, und er wollte eine Theorie über die Natur des verhexten Wandersystems beweisen. Erst fünfmal, seitdem die Menschheit den Rand 11
erreicht hatte, war dies System plötzlich im Raum aufgetaucht und spurlos wieder verschwunden. Allgemein bekannt war sonst nur sehr wenig darüber. Die wenigen Forscher und Wissenschaftler, denen es gelungen war, den Wanderer zu erreichen, bevor er wieder verschwand, waren nicht zurückgekehrt. Niemals konnte man vorhersagen, wie lange er bleiben würde. Das geheimnisvolle System schien eine Bahn von wilder Unregelmäßigkeit zu verfolgen. Renark hatte schon vor Jahren, als er noch Gouverneur der Randwelten gewesen war, eine Theorie aufgestellt, daß der Wanderer sich auf einem Kurs bewegte, der sich von dem des übrigen Universums unterschied – daß er sozusagen seitwärts dahinzog. Der Wanderer blieb ein paar Stunden bis zu ein paar Tagen da, und obwohl er seinen Namen von Renarks Theorie erhalten hatte, gab es noch verschiedene andere Bezeichnungen für ihn. »Geister-System« wurde er häufig genannt. Gewisse religiös orientierte Leute behaupteten auch, das System sei der Sünden seiner Bewohner wegen aus dem Universum hinausgeschleudert worden, und sie nannten es »die verbannten Welten«. Im Laufe der Zeit hatten sich Mythen um das System gerankt. Nur wenige wagten eine Forschungsreise dorthin, denn die Angst, nicht wieder zurückkommen zu können, war groß. Hauptsächlich Kriminelle waren bereit, das Risiko auf sich zu nehmen. Renark blickte auf die überfüllte Halle hinab. Die Regierung der Galaktischen Union verfügte über eine nahezu perfekte Maschinerie. Das bedeutete größere persönliche Freiheiten für die Bürger, aber den Kriminellen war es fast unmöglich, dem Arm des Gesetzes zu entkommen. Migaa war ihre einzige Hoffnung. Migaa bot ihnen die Chance, gleich ganz aus dem Universum zu fliehen, falls nicht die Galaktische Polizei – die G.P. – eine ihrer plötzlichen Razzien in der Stadt durchführte. Meistens ließ die G.P. Migaa getrost im eigenen Saft schmo12
ren, aber es konnte sein, daß ein Verbrecher, der im Besitz einer wichtigen Information war, ihnen so lange entschlüpfte, bis sie ihm nach Migaa folgten. Renark wußte, daß die G.P. ihn suchte, daß Lord Mordan, Chef der Galaktischen Polizei, die Galaxis nach ihm durchkämmen ließ. Er fragte sich, wie lange es noch dauern würde, bis Morgan an Migaa dachte. Asquiol stützte den Kopf in die Hände und sah Renark an. »Wird es nicht langsam Zeit, daß du uns deine Gründe für diese Reise nennst, Renark?« Er wandte sein Gesicht wieder ab und durchforschte mit seinen Blicken von neuem die Menge unten. »Warum hast du dein Amt als Gouverneur der Randwelten aufgegeben? Warum wolltest du der G.P. nicht mitteilen, welche Erkenntnisse dir das seltsame Raumschiff vermittelt hat, das vor drei Jahren auf Golund landete? Und warum wünschst du mit solcher Leidenschaft, den Wanderer zu besuchen?« »Darauf möchte ich jetzt noch nicht antworten«, meinte Renark. »Du hast recht, ich sollte es tun, aber wenn ich es täte, würden sich daraus weitere Fragen ergeben, und diese zu klären, ist mir im Augenblick unmöglich. Alles, was ich euch sagen kann, werdet ihr schon erraten haben: Ich habe drei Jahre darauf gewartet, den Wanderer besuchen zu können, von dem Zeitpunkt an, als ich von der Besatzung dieses Raumschiffes auf Golund etwas von großer Wichtigkeit erfuhr. Was diese Leute mir indirekt mitteilten, veranlaßte mich, mein Amt niederzulegen. Ich hoffe, daß der Wanderer mir die Antwort liefern wird, die ich euch nicht geben kann.« »Wir sind deine Freunde, Renark«, erklärte Talfryn, »und aus diesem Grund allein sind wir bereit, mit dir zu gehen. Aber es ist möglich, daß du die Antworten, die du suchst, da draußen nicht findest, und deshalb solltest du uns Antworten auf die ersten Fragen geben.« »Es ist wohl nichts zu verlieren, wenn ich es tue«, stimmte 13
Renark zu. »Aber wenn ihr euch entscheidet, daß ihr nicht mitkommen wollt, sagt es gleich. Es ist gefährlich, soviel wissen wir.« Beide Männer schwiegen. Renark fuhr fort: »Ich stehe tief in eurer Schuld. Du, Paul, hast mir bei der Erforschung variabler Zeitströme geholfen und hattest entscheidenden Anteil an der Entwicklung meiner Theorie. Asquiol hat mich vor jeder Polizei-Patrouille auf Pompeji gerettet, hat mich sechs Monate lang beherbergt und war nach den Bedingungen des von ihm unterschriebenen Vertrages schließlich, als die G.P. es herausfand, gezwungen, sein Geburtsrecht aufzugeben. Ihr habt beide meinetwegen große Opfer gebracht.« »Ich möchte das Geister-System jedenfalls schon aus bloßer Neugier erforschen«, lächelte Talfryn, »und Asquiol hat nichts, was ihn hier festhält, es sei denn seine kürzlich entdeckte Neigung für Willow Kovacs.« Willow war Besitzerin des Salvation Inn. Sie hatte den Ruf, eine Schönheit zu sein. Asquiol schien über diese Bemerkung wenig erfreut, aber er zuckte nur mit den Schultern und lächelte schwach. »Du bist zwar taktlos, Thalfryn, aber du hast recht. Doch mach dir keine Sorgen. Wenn die Zeit da ist, werde ich trotzdem mitgehen.« »Gut«, sagte Renark. Eine Frau stieg die enge Treppe zur Galerie herauf. Sie bewegte sich im vollen Bewußtsein ihrer schlanken Schönheit. Ein sanftes Lächeln lag auf ihren Lippen. Sie trug die Siegesbeute aus ihren Eroberungen – ihr smaragdfarbenes Kleid war mit Juwelen bedeckt, die von Tausenden von Planeten stammten. In den schwerberingten Händen hielt sie ein Tablett mit warmen Speisen. Asquiol nahm ihr das Tablett ab und sorgte dafür, daß ihre Hände sich berührten. »Danke«, sagte sie. »Hallo – Sie müssen der berühmte Gou14
verneur Renark sein.« »Ex-Gouverneur«, berichtigte er. »Und Sie sind die junge Dame, die unsern stolzen Freund hier so in Verwirrung gestürzt hat.« Sie antwortete nicht darauf. »Wünsche wohl zu speisen, meine Herren.« Sie stieg wieder die Treppe hinab. »Wir sehen uns später, Asquiol«, rief sie noch über die Schulter zurück. Renark war ein wenig beunruhigt über diese neue Komplikation. Er schätzte beide Freunde sehr, aber Asquiol brauchte er auf der Reise viel notwendiger als Talfryn. Asquiol war jung, tollkühn, manchmal zu grausamen Racheakten fähig, er war arrogant und selbstsüchtig, und doch hatte er eine innere Stärke, die mit seiner Erscheinung schlecht in Einklang zu bringen war. Und jetzt tauchte eine Frau auf. Sie konnte diese Stärke entweder stützen oder vernichten. Renark war sich nicht sicher, was Willow Kovacs betraf. Philosophisch wandte er sich wieder dem nächstliegenden Problem zu. »Sollen wir uns das Schiff ansehen?« schlug er vor. Talfryn stimmte zu, aber Asquiol wollte lieber im Salvation Inn bleiben. Renark verzichtete darauf, dem Fürsten von Pompeji einen Rat zu geben. Draußen auf den metallgepflasterten Straßen wurden erregte Gespräche geführt. »Anscheinend gibt es Gerüchte, daß die G.P. auf dem Weg hierher ist«, bemerkte Talfryn besorgt. »Hoffen wir, daß sie nicht vor dem Wanderer eintreffen«, gab Renark mit ernstem Gesicht zurück. »Seit drei Jahren sind sie hinter mir her. Nicht, daß ich ein Verbrechen begangen hätte. Aber sie meinen, ich wüßte etwas, was ihnen von Nutzen sein könnte.« »Und weißt du etwas, das ihnen von Nutzen sein kann?« 15
»Ich weiß etwas«, nickte Renark, »aber es liegt in ihrem wie in meinem Interesse, daß sie nichts darüber erfahren.« »Gehört das zu deinem Geheimnis?« »Ja. Du sollst alles wissen, wenn wir den Wanderer erreichen.« Renark ließ seinen Geist hinausreichen in den leeren Raum jenseits des Randes. Da draußen war er und er kam näher. Renark konnte es spüren. Sein Geist zitterte. Er fühlte sich körperlich krank. Es war so verkehrt – ganz außerhalb der gewohnten Ordnung. Unerbittlich rückte das unmögliche System heran. Würde es lange genug bleiben? Würden sie es erreichen können? Wenn er nur ein bißchen mehr darüber wüßte! Er ging ein großes Risiko ein, und die Chance, daß es sich auszahlte, war gering. Das Wissen, warum er es wagen mußte, war eine Last, die er kaum tragen konnte. Die meisten Menschen hätten es überhaupt nicht gekonnt. Unter den Leuten, die die Straßen Migaas bevölkerten, war keiner, den man als Extraterrestrier hätte bezeichnen können. Eine der Entdeckungen, die der Mensch bei der Besiedlung der Galaxis gemacht hatte, bestand darin, daß er die einzige hochentwickelte intelligente Lebensform darstellte. Es gab andere Typen tierischen Lebens, aber in der ganzen Galaxis hatte nur die Erde ein Tier hervorgebracht, das denken und erfinden konnte. Die Philosophen hatten sich immer noch nicht darüber beruhigt, und es gab Theorien, die die Tatsache erklären sollten. Das Amt des Gouverneurs der Randwelten war eine bedeutende Stellung gewesen, und als Renark sie vor zwei Jahren plötzlich aufgab, hatte das Spekulationen und Gerüchte hervorgerufen. Die Galaktischen Lords hatten dafür gesorgt, daß über den Besuch eines fremden Raumschiffes, das vermutlich auf einer intergalaktischen Reise begriffen war, so gut wie nichts bekannt wurde. Nur Renark hatte die Fremden gesehen und viel Zeit mit ihnen verbracht. Er hatte der Polizei gegenüber keine Erklärung abgegeben, 16
und man suchte ihn immer noch, um ihn zu überreden, sein Amt, das er mit so viel Verantwortungsbewußtsein und Einfühlungsvermögen ausgeübt hatte, wieder anzunehmen. Raumspürer waren rar. Noch rarer als andere Psi-Talente, und ein Hyperspürer mit Renarks Fähigkeiten war einmalig. In der ganzen Galaxis gab es nur einige wenige Hyperspürer. Sie arbeiteten meistens als Piloten und Führer auf schwierigen Routen durch den Hyperraum. Außerdem war es ihre Aufgabe, die Galaxis und alle Änderungen, die darin geschahen, auf Karten zu verzeichnen. Für eine komplizierte, die Galaxis bereisende Zivilisation waren sie von unschätzbarem Wert. Zwei Jahre lang hatte Renark alles Wissen über den Wanderer gesammelt, so wenig es auch sein mochte. Der G.P. war er mit Hilfe von Talfryn und Asquiol bisher entkommen. Er betete darum, daß sie nicht gerade jetzt nach Migaa kam, bevor der Wanderer materialisierte. Renark hatte sein Schiff mit den besten Instrumenten und Ausrüstungen versehen, die sich auftreiben ließen. In seinen Augen umfaßte die Ausrüstung auch den dynamischen, obwohl zügellosen Asquiol und den ruhigen Paul Talfryn. Mit diesen beiden Männern konnte er am besten arbeiten. Im Raumhafen drängten sich mehrere hundert Schiffe zusammen. Viele lagen schon seit Jahren hier, aber alle wurden ständig für den Augenblick in Bereitschaft gehalten, wenn der Wanderer gesichtet werden würde. Renarks Schiff war ein großer Polizei-Kreuzer, den er billig – und illegal – gekauft, umgebaut und neu ausgerüstet hatte. Er konnte in einer halben Minute startklar gemacht werden. Auch war er schwer bewaffnet. Es war gegen das Gesetz, ein Polizeischiff zu besitzen, ebenso, ein bewaffnetes Privatschiff zu besitzen. Die Union besaß und vermietete alle Handelsfahrzeuge. Renarks Schiff benötigte keine Mannschaft. Es war vollautomatisch und hatte Platz für dreißig Passagiere. Seit der Landung war Renark von Leuten bedrängt worden, die ihm für 17
einen Flug zum Wanderer riesige Summen anboten, aber er hatte abgelehnt. Er hatte für das Gesindel auf Migaa nichts übrig. Obwohl Migaa selbst mit Verbrechern aller Art gestopft voll war, waren das im Verhältnis zur gesamten menschlichen Bevölkerung der Galaxis doch sehr wenige. Beinahe zwei Jahrhunderte lang hatte vollkommener Friede geherrscht. Der Preis dafür war allerdings zu Beginn dieser Zeit eine strenge, autoritäre Herrschaft gewesen, die sich im letzten Jahrhundert zu der liberalen Regierung entwickelt hatte, die gewählt worden war, um der Galaxis zu dienen. Renark empfand keinen Haß gegen die Union, deren Polizei ihn jagte. Er hatte ihr loyal gedient, bis er das Wissen erwarb, das er vor den Galaktischen Lords geheimhielt. Jetzt blickte er hoch in den blendendweißen Himmel, als erwarte er, ein G.-P.Schiff zur Landung ansetzen zu sehen. Langsam schritten die beiden Männer über das Startgelände auf den Kreuzer zu. Mechaniker waren dort an der Arbeit. Sie hatten das Schiff längst für raumtüchtig erklärt, aber Renark hatte einen nochmaligen Check verlangt. Renark und Talfryn bestiegen den Aufzug und fuhren ins Zentrum des Schiffes in die Kontrollkabine. Bewundernd sah sich Talfryn um. Er hatte das Auge des Wissenschaftlers, das Genialität zu würdigen verstand. Vor einem Jahr hatte Renark ihm einmal in gesprächiger Stimmung anvertraut: »Sieh dir diese Instrumente an, Talfryn. Sie bedeuten die Rettung der Menschheit. Sie repräsentieren die Macht des Geistes, die Beschränkungen, die ihm seine Umgebung auferlegt, zu überwinden, die Macht jedes einzelnen Individuums, zum erstenmal sein eigenes Geschick bestimmen zu können.« Talfryn wußte, daß Renark damit nicht speziell auf seine Instrumente angespielt hatte. Das Geheimnis, das die Wissenschaft umgibt, dachte er jetzt, hat aus ihr gleichzeitig ein Un18
geheuer und ein Heil gemacht. Da die Menschen der Entwicklung nicht mehr zu folgen vermögen, trauen sie der Wissenschaft alles zu. Vor allem das Schlimmste. Es waren mehr Menschen wie Renark vonnöten – Menschen, die sich zwar nicht blindlings auf das Funktionieren einer Turbine verließen, aber doch gleichzeitig ihr Vertrauen auf das große Reich der Wissenschaft setzten. Ein anderer Gedanke schoß Talfryn durch den Kopf – ein Gedanke, der mehr mit ihrer augenblicklichen Situation zu tun hatte. Er fragte: »Wie können wir wissen, ob unser Antrieb und alle unsere Instrumente in der Nähe des Wanderers funktionieren werden, Renark?« Er machte eine Pause und blickte auf die komplizierten Geräte. »Du hältst es ja für möglich, daß dort andere Raumund Zeitgesetze herrschen, und da könnte es uns passieren, daß wir die Kontrolle über das Schiff verlieren und hoffnungslos im Raum des Wanderers stranden.« »Wissen können wir es nicht«, räumte Renark ein. »Aber ich verlasse mich darauf, daß bestimmte Gesetze hier wie dort gelten. Vielleicht erfahre ich mehr, wenn wir ein bißchen näher am Wanderer sind, wenn auch mein Urteil nicht unfehlbar sein wird.« Renark als Raumspürer brauchte für den Einsatz seiner Fähigkeiten keine Ausrüstung, doch zur Stärkung seiner Konzentration benutzte er eine Maschine, die verbrauchte Nervenenergie ersetzte. Gewöhnlich fand sie in Krankenhäusern Verwendung. Während Talfryn sich in die Aufzeichnungen über den Wanderer vertiefte und immer verwirrter wurde, setzte Renark sich in einen bequemen Sessel, befestigte Elektroden an seiner Stirn, seiner Brust und anderen Körperteilen. Auf der schmalen Leiste vor ihm hielt er einen Schreibstift und einen Plastiknotizblock. Ruhig schaltete er die Maschine an.
19
II. Renark konzentrierte sich. Er spürte, wie sich die Galaxis von dem Punkt, den er selbst im Raum einnahm, ausbreitete; Schicht lag auf Schicht, Zeit auf Zeit. Er war sich der Galaxis als Ganzheit bewußt, und gleichzeitig erkannte er ihre einzelnen Bausteine – jedes Atom, jeden Planeten, jeden Stern, jede Nova und jeden Nebel. Durch den Raum der geringsten Materiedichte bewegten sich Pünktchen von höherer Dichte. Raumschiffe. Jenseits der Grenzen seiner eigenen Galaxis empfand er schwach den intergalaktischen Raum, und noch weiter weg lagen andere Galaxien. Etwas Fremdes war da draußen, etwas, das nicht dorthin gehörte. Es war, als habe sich durch jenes kleine Gebiet ein Körper bewegt und das Gewebe des Universums zerrissen. Wieder zitterte Renark an Geist und Körper, als er versuchte, sich diesem neuen, unnatürlichen Faktor anzupassen. Es war ein Doppelstern mit elf Planeten, die ihn in genau gleichem Abstand umkreisten. Das System existierte nicht. Nicht in dem Universum, das Renark kannte. Bisher war es ihm nicht gelungen, Einzelheiten festzustellen. Es war verkehrt! Renark mußte sich anstrengen, diesen Gedanken zu verdrängen, um ungestört den Vormarsch des Systems abschätzen zu können. Es zog genauso durch den Raum wie andere Sterne und Planeten. Aber es bewegte sich gleichzeitig durch eine Reihe von Dimensionen, über die Renark nichts wußte. Und die Bahn durch die Dimensionen brachte das System näher an Renarks eigenes Kontinuum heran. Keuchend öffnete er die Augen. Er warf schnell eine Gleichung auf den Notizblock, schloß die Augen wieder und reichte mit seinem Geist erneut hinaus. 20
Der Wanderer mußte bald da sein. Aber wie lange würde er bleiben? Das konnte Renark nicht sagen, ehe er nicht ein bißchen mehr über die Universen wußte, die sich jenseits seines eigenen befanden. Über sie mußte er noch viel lernen. Seine zukünftigen Pläne hingen davon ab. In weniger als zwanzig Minuten war Renark fertig. Er sah über Talfryns Schulter auf die Aufzeichnungen. »Wenn meine Berechnungen richtig sind, wird der Wanderer in zwölf bis fünfzehn Stunden hier sein«, erklärte er. »Und ich glaube, daß es stimmt, denn die Annäherungsrate ist konstant. Allerdings kann ich nicht verstehen, warum die Zeitspanne, die er in unserem Kontinuum verbringt, so variiert.« »Du bist jedoch sicher, daß er an unserem Raum-ZeitKontinuum nicht vorüberziehen wird?« fragte Talfryn. »Es ist möglich – aber unwahrscheinlich.« Renark betrachtete eine Reihe von Meßgeräten und ging dann weiter zu einem Sessel aus Chrom und Samt, der vor sich eine ganze Bank von Hebeln und Schaltern und über sich einen Laser-Schirm hatte. Das war die Gefechtskontrolle. Wieder wanderte er unruhig in der großen Kabine hin und her. »Wir kennen nicht alle Richtungen, in die sich unser eigenes Universum bewegt«, überlegte er laut. »Es könnte ebenfalls ›seitwärts‹ durch die Dimensionen ziehen, nur in einem anderen Winkel als der Wanderer. Das würde die unterschiedliche Dauer seines Aufenthalts in unserem Raum-Zeit-Kontinuum einigermaßen erklären.« Talfryn schüttelte den Kopf. »Derartige Theorien über das System sind schon immer zu hoch für mich gewesen. Ich verstehe nicht einmal, wie es dir möglich ist, seine Annäherung zu spüren. Ich weiß zwar, daß Raumspürer mit einiger Übung Planeten und sogar kleinere Körper im normalen Raum-ZeitKontinuum lokalisieren können, aber es war mir nicht klar, daß sie auch jenseits, in anderen Dimensionen – wo die auch sein 21
mögen – etwas sehen.« »Normalerweise können sie es nicht«, erwiderte Renark. »Doch schon viele, die mit ihrem Geist den intergalaktischen Raum durchforscht haben, berichteten, daß sich dort etwas befindet, das nicht mit den bekannten Naturgesetzen übereinstimmt. Andere haben einen Eindruck von Sonnen und Planeten an Stellen der Galaxis gehabt, wo es einfach keine Sonnen und Planeten geben kann. Hieraus ist die Theorie des ›Multiversums‹ entstanden, des multidimensionalen Universums, das viele verschiedene Universen enthält, die voneinander durch unbekannte Dimensionen getrennt sind …« Er hielt inne. Wie konnte er in nüchternen, logischen Worten den Eindruck von etwas ganz und gar Fremdem, den er empfangen hatte, erklären? Wie konnte er den Schock beschreiben, daß dies Phänomen allen mit seinen sämtlichen Sinnen bisher aufgenommenen Erfahrungen widersprach, daß es das ganze Sein des Menschen mit allen seinen Gedanken und Empfindungen erschütterte? Er öffnete den Mund, versuchte, Worte zu finden. Aber es gab keine Worte dafür. Am deutlichsten hätte er es durch einen unartikulierten Schrei des Entsetzens, der Todesqual – und des Triumphes ausdrücken können. Er war nicht geneigt, es zu versuchen. Also schloß er den Mund wieder und schritt weiter in der Kabine auf und ab. Er ließ seine häßlichen Hände über den Lauf der großen Antineutron-Kanone gleiten. Sie war noch nie benutzt worden. Es war eine grauenhafte Waffe, und er hoffte, er würde auch nie in die Verlegenheit kommen, sie zu benutzen. Atomwaffen jeder Art schafften ihm Unbehagen. Sein seltsamer sechster Sinn nahm die Zerstörung von Atomen ebenso auf, wie er ihre Anwesenheit in natürlichem Zustand erfaßte. Es war eine Pein, die Wirkung eines nuklearen Geschosses zu verfolgen. Die Antineutron-Kanone, die Antimaterie-Partikel abschoß, war für ihn ein noch qualvolleres Erlebnis. 22
Als Kind hatte er sich einmal nahe dem Gebiet befunden, wo eine Multimegatonnen-Bombe explodierte, und das hatte seinen Verstand völlig blockiert. Die Ärzte hatten ein Jahr gebraucht, um ihn in einen normalen Geisteszustand zurückzuführen. Jetzt war er stärker, besser koordiniert – aber angenehm war ihm so etwas immer noch nicht. Gewalttätigkeit haßte er ebenso. Er hielt sie für einen scheinbar leichten Ausweg, der in Wirklichkeit kein Ausweg war, sondern zu einer endlosen Kette von bösen Taten führte. Deshalb vermied er diesen Schritt, wo er nur konnte. In diesem Fall war er jedoch darauf vorbereitet, die Antineutron-Kanone einzusetzen, wenn er von dem Wanderer aus in seinem Vordringen behindert werden sollte. Renark hatte sein ganzes Sein auf ein einziges Ziel ausgerichtet. Er trieb bereits darauf zu. Nichts und niemand würde ihn aufhalten. Man mochte ihn einen Fanatiker nennen, aber wenn es überhaupt möglich war, würde er Erfolg haben. Und sollte es nicht möglich sein, dann würde er bei dem Versuch, es möglich zu machen, sterben. Bald mußte der Wanderer in diesem Raumsektor materialisieren. Er würde ihn aufsuchen. Der Wanderer bot ihm im ganzen Universum die einzige Möglichkeit, die Informationen zu erlangen, die er brauchte. Renark warf einen Blick auf Talfryn, der immer noch die Aufzeichnungen studierte. »Wird es dir klar?« erkundigte er sich. Talfryn schüttelte den Kopf und grinste. »Ich kann gerade noch verstehen, wie der Wanderer eine Bahn durch uns bisher unbekannte Dimensionen verfolgt, ebenso wie wir durch Raum und Zeit reisen, aber die Folgerungen daraus gehen über meinen Horizont. Ich bin kein Physiker.« »Ich auch nicht«, betonte Renark. »Wenn ich es wäre, würde mich das Phänomen sicher nicht so angreifen. Zum Beispiel ist es schon etwas Eigentümliches um ein System, das aus einem 23
Doppelstern vom G-Typ und elf Planeten besteht, die alle den gleichen Abstand von ihren Sonnen halten. Es wirkt beinahe künstlich. Und wenn es künstlich ist – wie ist es zustande gekommen?« »Vielleicht ist es anders herum«, rätselte Talfryn. »Vielleicht hat die Tatsache, daß die Planeten alle gleich weit entfernt von den Zentralgestirnen sind, etwas mit den seltsamen Eigenschaften des Systems zu tun. Wenn sie nun eine Laune der Natur sind, könnte das die Wanderung durch die Dimensionen veranlaßt haben?« Renark nickte. Nach kurzem Nachdenken meinte er: »Wenn man davon ausgeht, daß die Zeit in zyklischer Übereinstimmung mit den anderen bekannten Gesetzen des Universums steht – obwohl meine eigenen Experimente, wie du weißt, zu beweisen scheinen, daß es in unserem eigenen Universum mehr als einen Zeitstrom gibt, dann können wir aufgrund dieser einen Annahme auch alles übrige in der Form von Kreisen beschreiben.« Er trat an des Sessel, wo er seinen Schreibstift gelassen hatte, nahm ihn und ging an den Kartentisch. »Die Umlaufbahn des Wanderers liegt so« – er zeichnete einen Kreis –, »während wir diesen Weg verfolgen.« Er zog einen Halbkreis, der den ersten Kreis schnitt. »Stell dir vor, wir hätten eine endliche Zahl von Raum-ZeitKontinua, für die einige Gesetze gemeinsam gelten.« Er machte eine Reihe weiterer Halbkreise über und unter der Zeichnung. »Wie wir nehmen sie alle diesen Weg. Es gibt keine Verbindung zwischen uns, aber ohne uns bewußt zu sein, daß die anderen Universen existieren, liegen wir Seite an Seite und drehen uns in verschiedenen Raum-Zeit-Gefügen.« Talfryn nickte. »Stell dir weiter vor, daß die normalen Kontinua – normal in dem Sinne, was wir darunter verstehen – sich wie wir horizontal bewegen, der Wanderer dagegen bewege sich vertikal. 24
Daher zieht er nicht seine Bahn, ohne jemals andere Universen zu berühren, sondern sein Kurs verläuft hindurch.« »Aber würde es nicht Millionen von Jahren dauern, bis ein solcher Zyklus vollendet ist?« »Nicht notwendigerweise. Wir wissen, daß es nicht der Fall ist, und wir können unsere zeitlichen und räumlichen Vorstellungen nicht auf etwas, das so fremdartig ist wie der Wanderer, übertragen. Er gehorcht seinen eigenen Gesetzen, die uns ohne jede Regel zu sein scheinen, aber wahrscheinlich in sich eine ebensolche Ordnung haben wie die unseren.« »Das sind für meinen Geschmack zu viele Annahmen«, seufzte Talfryn. »Unsere Wissenschaftler haben für die Multiversum-Theorie umfangreiche Forschungsarbeiten geleistet. Sie sind von der Richtigkeit ziemlich überzeugt.« »Das Leben und das Universum«, stellte Talfryn fest und setzte sich, »werden zu kompliziert.« Renark lachte auf. »Eins ist klar, Talfryn – es gibt eine Menge Geheimnisse, die gelöst werden müssen, und es werden noch einige hinzukommen, wenn wir den Wanderer erreichen. Von ihm ist noch niemand zurückgekehrt.« Auf dem Kontrollbrett blinkte ein Licht. Es zeigte an, daß jemand sie über die Bordsprechanlage zu sprechen wünschte. Talfryn legte einen Schalter um, aber auf dem Schirm erschien kein Bild. Kurze Zeit hörte er zu, dann drehte er sich zu Renark um. »Asquiol ist hier – und er hat das Mädchen mitgebracht.« »Was?« Für einen Augenblick geriet Renark aus der Fassung. »Warum?« »Tja, das ist die zweite Neuigkeit. Deshalb ist er so schnell hergekommen. Die G.P. ist da. Sie suchen nach dir.« Renark schürzte die Lippen. Er war so mit seinen Erklärungen beschäftigt gewesen, daß er nach der Polizei gar nicht mehr Ausschau gehalten hatte. 25
Asquiol und Willow Kovacs stiegen aus dem Aufzug. »Tut mir leid, Renark«, stieß Asquiol nervös hervor, »aber – das sind meine Bedingungen.« Renark zuckte die Schultern. »Bedingungen?« Er machte sich an dem Kontrollbrett zu schaffen. »Was geht draußen vor?« »Die G.P.s durchsuchen Migaa und fragen überall, ob du dort bist. Ich bin so schnell wie möglich hergekommen. Wahrscheinlich würden sie mich erkennen und mit dir in Verbindung bringen.« »Gut.« »Bist du bereit, Willow auf die Reise mitzunehmen?« »Du hast ihr gesagt, wie gefährlich es ist?« »Ja.« Renark seufzte. »Mit so etwas hatte ich schon gerechnet – ich kenne dich doch. Aber ich will, daß du mit uns kommst. Und wenn du ohne sie nicht mitmachst, werde ich nichts gegen ihre Anwesenheit sagen.« Renark unterdrückte seine Gereiztheit. Für kleinliche Empfindungen war kein Platz in seinen Plänen. Er allein wußte, was von dem Flug zum Wanderer und der Erforschung seiner besonderen Eigenschaften abhing. Persönliche Angelegenheiten spielten dabei keine Rolle. Er mußte jetzt handeln, und er konnte sich nicht herumstreiten. Es blieb nur zu hoffen, daß die G.P.s ihn nicht entdeckten, bevor der Wanderer materialisierte. Mit ein bißchen Glück kämmten sie die Stadt gründlich durch und kamen dann erst zum Raumhafen. Renark teilte den Technikern mit, sie sollten sich samt ihrer Ausrüstung entfernen und das Schiff startklar zurücklassen. Er setzte sich in seinen Sessel und wartete. Eine Stunde verging. Willow schien sich unbehaglich zu fühlen. Sie saß da in ihrem makellosen Hemdkleid und hörte den Männern zu, die über Renarks Gleichungen, die Aufzeichnungen bezüglich des 26
Wanderers und die daraus abgeleiteten Theorien diskutierten. Renark sagte: »Es gibt Gerüchte, dieser Planet da habe eine große menschliche Kolonie. Ich denke, wir sollten sie ansteuern. Bei mir trägt er die Nummer acht. Hier, ich habe sie eingetragen.« Er streifte Willow mit einem Blick. Sie schien in Gedanken versunken zu sein. Offenbar war sie es nicht gewöhnt, daß ihr keine Aufmerksamkeit gezollt wurde. Sonst hatte nichts ihre selbstbewußte Haltung stören können. Das war auch notwendig in einer Stadt wie Migaa. Aber hier befand sie sich zum erstenmal in der Gesellschaft von Männern, die noch selbstbewußter waren als sie. Es beunruhigte sie. Endlich bemerkte Asquiol ihr Mißbehagen und erkundigte sich in halb entschuldigendem Ton: »Bekümmert dich irgend etwas?« Sie lächelte kläglich und antwortete gekränkt: »Der Platz einer Frau ist in der Küche. Wo ist sie?« Falls sie beabsichtigt hatte, Asquiol damit aus der Ruhe zu bringen, so hatte sie keinen Erfolg. »Guter Gedanke«, meinte er. »Ich werde wohl von nun an ziemlich beschäftigt sein, und wir alle werden bald etwas zu essen brauchen.« Er wies auf eine Tür und beugte sich dann wieder über die Karten. Achselzuckend verließ sie den Kontrollturm. Willow hatte sich von dem Geister-System schon immer gefesselt gefühlt, denn sie hatte ja ihr ganzes Leben in seinem Schatten verbracht. Aber gesehen hatte sie es noch nie. Irgendwie hatte es ihr erlaubt, all die vielen Männer in ihrem Leben zu beherrschen. Sie schienen einen Hunger in sich zu fühlen, den sie nicht stillen konnte, aber trotzdem hatten sie ihn bei ihr zu stillen versucht und sich in dem Glauben, sie besitze ein Geheimnis, das sie in Wirklichkeit nicht hatte, in ihre Macht begeben. Jetzt würde sie zum Wanderer fliegen …, weil Asquiol dar27
auf bestanden hatte. Sie war froh darüber. Diese Männer, alle drei, boten ihr etwas, an das sie nicht gewöhnt war. Vielleicht war es die Charakterstärke, die sie bei denjenigen, die in Migaa zusammenströmten, nie gefunden hatte. In der Kombüse entdeckte Willow einen gut ausgestatteten Vorratsraum. Renark hatte Freude an gutem Essen. Sie machte sich an die Zubereitung der Speisen. Renark fühlte plötzlich, wie sein Gehirn in seinem Schädel anzuschwellen schien. »Er kommt!« Prüfend sandte er seinen Geist aus. Das fremde System drang in seine eigene Raumzeit ein und zerriß die Struktur des Universums. Erleichtert trat Renark vor den Laserschirm. Die beiden anderen standen dicht hinter ihm. Energielinien wurden in dem Raumgebiet sichtbar, wo seinen Berechnungen nach der Wanderer auftauchen mußte. Der Raum schien zu platzen, als sich in ihn wie aus einem geborstenen Faß aufblühende Farbströme ergossen. Sie rannen in die Dunkelheit und ließen sie aufleuchten, so daß einige Abschnitte wie Messing, andere wie Silber, Gold oder Rubinen erstrahlten, und alles änderte sich ständig, stieß vor, flackerte, verschwand, tauchte von neuem auf. Dann – zuerst schwach, wie durch wildbewegte, vielfarbige Wolken gesehen – begann sich der Wanderer selbst zu materialisieren, wurde deutlicher und bekam festere Umrisse. Und dann hing er da, so solide wie alles andere im Universum. Die Wolken, die seine Ankunft verkündet hatten, verblaßten. Ein neues System hatte sich der Galaxis angeschlossen. Wie lange, fragte sich Renark, würde der leuchtende blaue Zwillingsstern mit seinen elf ihn in gleichem Abstand umkreisenden Planeten dort hängenbleiben? Er eilte zurück an die Kontrollen, drückte einen einzelnen Knopf und aktivierte damit die automatischen Stromkreise des Schiffes. Das Schiff hob ab. Es raste weg von dem Raumhafen, weg von den Polizeifahrzeugen, und innerhalb von Minuten befand 28
es sich im tiefen Raum auf dem Flug zum Wanderer. Renarks Augen blieben fest auf das verhexte System gerichtet. Willow kam herein, stutzte, sah den Schirm und begann zu zittern. Asquiol wandte ihr sein Gesicht zu, aber sie blickte weg und lief in die Kombüse zurück. Die elf Planeten wirkten wie sorgfältig um zwei Saphire angeordnete Diamanten. Jetzt konnte Renark schon ihre Rotation erkennen. »Talfryn«, rief er, »stelle die gesamte Kommunikation auf Empfang! Asquiol, ballere bloß nicht nach eigenem Ermessen mit diesen Kanonen los! Ich werde dir den Befehl dazu geben, wenn es notwendig wird.« Er drehte sich für einen Augenblick um und sah Asquiol an. »Und die Antineutronwaffe benutzt du auf gar keinen Fall.« Asquiol grinste. Talfryn legte Schalter um. Willow trat wieder ein und verhielt sich ruhig. Die Planeten kamen näher. An einigen von ihnen war etwas Merkwürdiges, besonders an dem einen, der Nadir-Süd-Ost von den Sonnen stand. Die Empfänger begannen zu quietschen und zu stöhnen. »Jedenfalls nehmen wir seine Statik auf«, kommentierte Talfryn. »Auf Migaa muß die Hölle losgebrochen sein«, grinste Asquiol. »Je schneller wir fliegen, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, daß der Mob uns noch einholt.« »Im Augenblick werden sie sich mit der G.P. herumschlagen«, sagte Renark. »Aber auch eine Flotte von Schlachtschiffen würde sie, nachdem sie so lange auf den Wanderer gewartet haben, nicht mehr aufhalten können.« »Wenigstens halten sich beide Parteien gegenseitig auf«, ergänzte Asquiol. »Hoffentlich möglichst lange«, meinte Renark. Er starrte auf 29
seinen Schirm. »Talfryn, was ist das, Steuerbord voraus? Sieht aus wie eine kleine Flotte.« »Du hast recht – Raumschiffe einer mir unbekannten Art. Wir sollten lieber auf den nächsten Planeten zusteuern und ihnen zu entwischen suchen. Freundlich sehen sie nämlich nicht aus.« Zehn der seltsamen Schiffe näherten sich ihnen. Ihre Hüllen hatten einen eigenartigen gelblichen Glanz. Sie beschrieben eine lange Kurve und kreisten dann das Gebiet ein, das Renarks Schiff passieren mußte. Mit einem Ruck, der an ihren Nerven und Muskeln zerrte und ihre Körper von innen nach außen zu kehren schien, traten sie in fremden Raum ein. Jetzt waren sie auf dem Territorium des Wanderers, und das war der Grund, warum die anderen Schiffe nicht weitergeflogen waren, sondern sie hier erwarteten. Sie fühlten sich alle krank und benommen. Renark merkte, daß seine Sinne ihn verlassen wollten. Verzweifelt sandte er einen Faden geistiger Energie aus und verankerte sich in dem Wanderer vor ihm. Außerdem spürte er die Anwesenheit der fremden Schiffe. Das Metall, aus dem sie bestanden, war ihm nicht vertraut. Wieder schien sein Kopf zu explodieren, als die Struktur des Raums zerrissen wurde. Renark keuchte vor Schmerz. Er zwang sich, die Augen offenzuhalten, und richtete sie auf den Schirm. Ein nichtmenschliches Grollen rumpelte durch den Kontrollraum. Talfryn bemühte sich, ein Bild einzufangen, aber es gelang ihm nicht. Erneut klang das Grollen auf, aber die Sprache war nicht zu erkennen. Das anführende Schiff der gelben Flotte bewegte sich. Es sah aus, als drehe es sich um sich selbst, beschreibe ein paar Purzelbäume und feuere dann einen sich schlängelnden Energiestrahl vor dem menschlichen Schiff ab. Renark blockte seinen Verstand ab und spannte seinen Körper an. »Schirme!« brüllte er. Aber Asquiol hatte sie schon 30
eingeschaltet. Die Schirme konnten der fremden Waffe standhalten – gerade eben. Asquiol richtete die Energiekanonen auf den Anführer. »Mit der Antineutron-Kanone könnten wir sie schnell loswerden«, bemerkte er sehnsüchtig. »Und das System wahrscheinlich auch«, setzte Talfryn hinzu. Asquiols Schüsse bissen in das fremde Schiff. Es explodierte beinahe sofort. Zurück blieb nichts als eine Kugel zerfetzten Metalls. Jetzt näherten sich die anderen Schiffe in Formation. Mit grimmigem Gesicht drückte Asquiol sämtliche Knöpfe. Das Schiff konnte der Wiedervergeltung des Feindes standhalten, aber es wurde schrecklich erschüttert. Zwei Angreifer waren beschädigt und entfernten sich in Spiralen von ihren Kameraden. Dann vollführte die ganze Flotte die merkwürdigen Purzelbäume und feuerte gemeinsam. »Das halten wir nicht aus!« schrie Talfryn. Asquiol sandte gewaltige Energiestöße durch den Raum. Dann wurde der ehemalige Polizeikreuzer getroffen. Das Schiff erbebte, schüttelte sich, ächzte und blieb stehen. Träge trieb es in Spiralen durch den Raum, während weitere fremde Schiffe von dem nächstgelegenen Planeten aufstiegen. Asquiol tat, was er konnte, um sie zu stoppen, aber da der Kreuzer nicht mehr unter Kontrolle war, war es ihm kaum möglich, richtig zu zielen. Renark kämpfte mit den Kontrollen. »Unsere Stromkreise spielen verrückt!« rief er. »Talfryn, geh nach unten und sieh zu, was du mit dem Hauptkoordinator anstellen kannst.« Talfryn verschwand im Aufzug. Einen Raumanzug schleifte er hinter sich her. Fluchend, mit zusammengekniffenen Augen versuchte Asquiol zu zielen. Er zerstörte noch einige, aber diesen Schiffen schien es 31
gleichgültig zu sein, ob sie vernichtet wurden oder nicht. Asquiol fragte sich, ob sie lebende Mannschaften an Bord hatten. Mit dem leeren Raum stimmte etwas nicht. Schwache Farbströme schienen sich hindurchzuwinden, und gerade außerhalb seines Gesichtsfeldes meinte Renark, Gestalten vorbeihuschen zu sehen. Es war eine Qual, es machte ihn verrückt … Willow drückte sich an ein Schott und hielt die Augen auf den großen Laserschirm gerichtet. Sie war sehr blaß. Der Raum kochte vor Energie. Für sie sah es aus, als sei der Zwillingsstern plötzlich zu einer Nova geworden, denn ihre Augen konnten die vielfarbigen Kraftlinien, die alles außer den gelben Schiffen des Feindes verbargen, nicht durchdringen. Dann verblaßten die Farbmuster, aber die fremden Schiffe rückten weiter vor. Renark wurde es klar, daß die erschreckenden Eigenschaften des leeren Raums nicht von der in der Schlacht freigesetzten Energie herrührten. Es war etwas anderes, etwas viel Bedrohlicheres. Asquiol feuerte ständig weiter. »Talfryn«, sprach Renark in sein Mikrophon, »bist du schon unten?« »In fünf Minuten müßte ich die meisten Hauptkoordinatoren repariert haben«, klang es besorgt zurück. »Du mußt es schneller schaffen, oder du wirst bis dahin tot sein.« Warum griffen die Fremden so wild an, ehe sie noch zu entdecken versucht hatten, ob sich ihnen ein Freund oder ein Feind näherte? Asquiols mageres Gesicht war schweißüberströmt. Willow war auf den Fußboden gerutscht. Die weit aufgerissenen Augen starrten immer noch auf den Schirm. »Zieh einen Raumanzug an, Willow«, schrie Asquiol. Sie taumelte in die Höhe und auf einen Schrank zu, aus dem, wie sie gesehen hatte, Talfryns Raumanzug stammte. Als sie die 32
Tür öffnete, entfuhr ihr ein Schmerzenslaut. Das heiße Metall hatte ihre Hand verbrannt. Mühsam stieg sie in den Anzug, dessen Gewebe sich automatisch ihrer Figur anpaßte. Renark zog schwere Handschuhe an. Die Kontrollen waren so heiß geworden, daß er sie mit bloßen Händen nicht mehr berühren konnte. Wieder und wieder vollführten die fremden Schiffe ihre Purzelbäume und schossen Energie auf den Kreuzer ab. Asquiol hatte bereits Blasen an den Händen, aber zu seiner Genugtuung verwandelten sich drei weitere fremde Schiffe unter seinen Schüssen in Metallfetzen. Dann fühlte Renark, wie sein Schiff wieder auf die Kontrollen ansprach. Eilends zog er es von den Angreifern weg. Talfryn, dem die Reparatur gelungen war, stürzte aus dem Aufzug, riß seinen Helm ab und ließ sich in seinen Sitz fallen. »O Gott!« rief er. »Noch mehr davon!« Eine zweite Flotte, größer als die erste, hielt Kurs auf das Gebiet der Raumschlacht. Talfryn bemerkte bald, daß es andere Schiffe waren. In dieser zweiten Flotte ähnelte überhaupt kein Schiff dem anderen. Sie schwärmten aus – und griffen die erste Flotte an! Blasse Strahlen durchquerten den Raum und erfaßten ein feindliches Schiff. Es verschwand. »Sie sind auf unserer Seite!« rief Asquiol freudig aus. Eine klare Stimme drang aus den Lautsprechern. Sie begann, Anweisungen zu geben. Talfryn drehte an seinen Skalen. »Ich kann die Quelle nicht finden«, murmelte er. Die Stimme, die sich ihrer eigenen Sprache bediente, wenn auch in einer ziemlich veralteten Version, fuhr fort, ihnen Daten über die Geschwindigkeit, die Flugbahn und so weiter zu geben. Langsam kühlte das Schiff sich wieder ab. Die darin befindlichen Menschen atmeten erleichtert auf. »Mach dir nicht die Mühe, nach der Quelle zu suchen«, riet Renark. »Es hört sich sowieso nach einer Aufzeichnung an, die 33
Besucher automatisch einweist. Wir werden uns daran halten.« Sie schossen auf einen ockerfarbenen Planeten zu. Die bunt zusammengewürfelten Schiffe, die ihnen zu Hilfe gekommen waren, begleiteten sie jetzt. Eine neue Stimme unterbrach die vom Tonband ablaufenden Instruktionen. »Willkommen auf Entropium. Wir sahen, daß Sie in Schwierigkeiten waren, und sandten Ihnen Hilfe. Verzeihen Sie uns, daß wir es nicht früher getan haben, aber da waren Sie noch außerhalb unserer Grenzen. Sie haben einen guten Kampf geliefert.« »Danke«, antwortete Asquiol trocken. »Wir hätten Ihre Hilfe tatsächlich eher gebrauchen können.« Abgesehen von seltenen Ausnahmefällen war Asquiol kein dankbarer junger Mann. »Das war einfach nicht möglich«, stellte die Stimme leichthin fest. »Doch nun kann Ihnen nichts mehr passieren, es sei denn, daß Sie einen Unfall haben …« Sie sanken dem rotglühenden Planeten entgegen. »… es sei denn, daß Sie einen Unfall haben …« Wieder und wieder vollführten sie das gleiche Manöver, unfähig, etwas zu unternehmen, gefangen in einer Falle, als ob ein und derselbe Filmausschnitt ständig von neuem durch einen Projektor lief. Immer, wenn sie glaubten, der Oberfläche des Planeten schon ganz nahe zu sein, wurden sie durch den roten Nebel wieder nach oben geschleudert. Dann hingen sie bewegungslos in dem Dunst, und die Stimme erklärte belustigt: »Machen Sie sich keine Sorgen, wahrscheinlich wird es noch einige Zeit dauern.« Renark – erschöpft, wie er war – wollte seinen sechsten Sinn als Raumspürer benutzen, um die Situation einigermaßen wieder in den Griff zu bekommen. Aber es war nicht möglich. In dem einen Augenblick fühlte er die Gegenwart des roten Planeten, im nächsten schien er spurlos verschwunden zu sein. Noch mehrmals versuchten sie zu landen, bis sie ganz plötz34
lich durch den Nebel sanken und bei Tageslicht – rosafarbenem – herauskamen. Sie erblickten die zerklüftete Oberfläche eines dunkelfarbigen Planeten, der wie eine surrealistische Landschaft, gemalt von einem geisteskranken Künstler, wirkte. Willow lag in ihrem Raumanzug mit geschlossenen Augen auf dem Fußboden, und sogar die Männer mußten um ihre Selbstbeherrschung ringen. Der Anblick des fremden Planeten erschütterte sie. Er war anders als jeder Planet, den sie bisher gesehen hatten, anders als jeder Planet in der ihnen bekannten Galaxis. Warum? Es lag nicht einfach an der Färbung des Lichts, an der Gestaltung der Oberfläche. Es war etwas, das ihnen Unbehagen durch die Knochen und das Gehirn rieseln ließ. Der Planet sah unsicher aus, als könne er unter ihnen wie eine verfaulte Melone zusammenbrechen. »Folgen Sie dem roten Raumschiff«, erklang die Stimme aus der Bordsprechanlage. Dann waren Asquiol, Willow und Talfryn verschwunden, und Renark befand sich ganz allein in dem Schiff, das von neuem durch den roten Nebel sank. Wo waren sie? Verzweifelt forschte er mit seinem Geist in allen Richtungen, aber der Wahnsinn des zerfetzten Raum-Zeit-Gefüges war rings um ihn – ein Wirbel von Unordnung. Talfryn tauchte wieder auf. »Wo warst du – was ist geschehen?« fragte Renark. Dann war Willow wieder da. Asquiol folgte. Sie befanden sich abermals über der Oberfläche des Planeten. »Folgen Sie dem roten Raumschiff«, wies die Stimme sie an. Sie hatte einen hämischen Beiklang, und Asquiol, der zwischen sich und dem Unbekannten, der ebenso boshaft sein konnte wie er selbst, etwas Gemeinsames entdeckte, lächelte vor sich hin. Willow hatte das Phänomen sehr angegriffen, besonders als 35
sie sich vorübergehend ganz allein in dem Schiff befunden hatte. Wie viele Schiffe mochte es in diesen wenigen Sekunden gegeben haben? Das rote Raumschiff trennte sich von seinen schlanken, dikken, runden und viereckigen Kameraden und bewegte sich in südwestlicher Richtung über den Planeten. Renark folgte ihm. Nach einiger Zeit tauchten vor ihnen die Türme einer Stadt auf. Es war wie in einem konfusen Alptraum. Ob es eine Illusion war oder eine Verzerrung der Realität, konnte Renark nicht sagen. Nicht einmal die Umrisse der Stadt blieben fest. Sie waberten und änderten sich. Vielleicht, dachte Renark, sind diese Halluzinationen oder was es ist Folgeerscheinungen der Anpassung an die Gesetze des Wandersystems. Unsere Sinne müssen sich erst an die neuen Bedingungen gewöhnen. Seiner Mission wegen hoffte er, daß er sich anpassen konnte. »Entropium«, verkündete die Stimme. Das rote Raumschiff stieg steil nach oben und begann dann, auf einem unsichtbaren Repulsionsfeld nach unten zu zittern. Renark folgte seinem Beispiel. Trotz aller bösen Vorahnungen landeten sie sicher auf einem eine Quadratmeile großen Feld, auf dem außer einer Reihe kleiner Gebäude an einem Ende nichts zu sehen war. »Was nun?« fragte Willow. »Wir steigen aus. Wir sind verhältnismäßig sicher hergekommen, und es ist uns dabei geholfen worden. Man hätte sich kaum die Mühe gemacht, wenn man etwas Böses gegen uns im Schilde führte. Außerdem bin ich neugierig auf die Bewohner von ›Entropium‹.« Renark zwängte seinen langen Körper in einen Raumanzug. Die anderen taten es ihm nach. »Was war das vorhin?« wollte Talfryn mit leisem Beben in der Stimme wissen. »Ich könnte mir vorstellen, daß wir eine Art von Raumzeitriß 36
erlebt haben. Über dieses System wissen wir so gut wie nichts. Wir müssen auf alles vorbereitet sein. Es kann uns zum Beispiel passieren, daß wir vorwärts gehen und uns einen Schritt zurück wiederfinden, daß wir springen und inmitten eines Felsens landen. Vielleicht wird es nicht ganz so schlimm, denn immerhin leben menschliche Wesen hier. Aber wir müssen vorsichtig sein.«
III. Das rote Raumschiff war das einzige andere Fahrzeug auf dem Gelände, das offensichtlich ein Landefeld war. Sie fragten sich, wo der Rest der Flotte geblieben sein mochte. Als sie ausstiegen, bemerkten sie, daß die Mannschaft des roten Schiffes dasselbe tat. Einige der Gestalten waren menschlich. Andere nicht. Zum erstenmal sahen sie nichtmenschliche intelligente Lebewesen. Renark blickte auf sein Prüfgerät, das er am Handgelenk trug. »Sieht aus, als brauchten wir hier keine Raumanzüge«, stellte er fest. »Aber trotzdem behalten wir sie besser an.« Er schritt auf die Gruppe der anderen zu und sah sich die Extraterrestrier unter ihnen genau an. Unter ihnen waren zwei Zweibeiner mit vier Armen. Ihre Köpfe waren viereckig, mit einer Reihe winziger Augen und darunter einem kleinen Mund ausgestattet. Einige hüpfende Wesen sahen Känguruhs ähnlich, stammten aber offensichtlich von Reptilien ab. Ober alle anderen ragte ein Geschöpf hervor, dessen verhältnismäßig kleiner, runder Körper lange, schwingende Arm-Tentakel und einen runden Kopf trug und auf unwahrscheinlich langen Beinen ruhte. Der Anführer der sechs Menschen lächelte. Er war jung und blond und in einer Art gekleidet, die in der Galaxis vor zweihundert Jahren aus der Mode gekommen war – ein loses, blau37
es Hemd, beutelige Hosen, die in grüne Gamaschen gesteckt waren, und an den Füßen violette Halbschuhe. Über dem Hemd trug er einen weiten faltigen Mantel, der ihm bis auf die Waden fiel. Seine Waffen schlossen eine merkwürdige Pistole und ein über der Schulter hängendes Gewehr ein. Sein Gebaren war das eines Angebers. »Wie geht’s der alten Galaxis?« erkundigte er sich. »Immer noch das gleiche?« »Sie hat sich verändert«, antwortete Renark. In dem Slang des jungen Mannes erkannte er die Sprache, die vor zweihundert Jahren von den Angehörigen der Musikergilde gesprochen worden war, einer vom Gesetz verfolgten Gemeinschaft, die sich weigerte, nur noch die Musik zu spielen, die die MusikZensoren für »gesund« erklärt hatten. Aber vor zweihundert Jahren hatte noch nie jemand etwas über den Wanderer gehört, und Migaa war noch nicht besiedelt gewesen. Renark wurde neugierig. Er konnte verstehen, daß, was den jungen Mann betraf, keine zweihundert Jahre vergangen waren, weil hier ein anderer Zeitstrom floß. Trotzdem stimmte irgend etwas nicht. »Ihr seid aus einer späteren Zeit als ich, stimmt’s?« fragte der junge Mann. »Meine aktivste Periode lag um Zwei-Zwanzig nach dem Dritten Weltkrieg.« »Auf der Erde ist jetzt das Jahr Vierhundertneunundfünfzig nach dem Dritten Weltkrieg«, erklärte Renark. »Allerdings benutzen wir eine neue Zeitrechnung. Wie sind Sie hierhergekommen? Die Menschheit hatte damals gerade erst den Rand erreicht.« »Zufall, Kamerad. Wir waren auf der Flucht vor den G.P.Schiffen und landeten hier. Ich kann Ihnen sagen, Mann, wir haben eine seltsame Mischung vorgefunden, und alle aus der Zukunft. Sie sind von allen, denen ich begegnet bin, aus der spätesten Zeit. Kol Manage ist mein Name. Gehen wir.« »Wohin?« 38
»Nach Entropium.« Er wies auf die Stadt. »Es ist noch ein langer Marsch.« »Habt ihr keine Bodentransportmittel?« fragte Talfryn. »Manchmal, Kamerad – heute nicht. Wir verschrotten sie alle. Zu viereckig …« »Wie bitte?« »Wir hatten sie satt, wissen Sie. Zuweilen möchten wir mal etwas ganz anderes bauen.« Renark schäumte innerlich vor Wut. Dies Geschwätz in einem Augenblick, wo er klare, eindeutige Antworten brauchte, ging ihm auf die Nerven. »Wer regiert den Planeten?« fragte er Kol Manage. »Wir alle. Vielleicht könnte man Ragner Olesson den Boß nennen. Zu ihm gehen wir jetzt. Er möchte euch sehen. Er sieht sich immer die Neuankömmlinge an.« Weitere Fragen beantwortete Kol Manage nicht. Sie erreichten die Stadt, die jetzt wenigstens fest stand, und menschliche wie nichtmenschliche Bewohner streiften sie mit Blicken, in denen keinerlei Neugier lag. Bevölkerung wie Gebäude stellten ein unordentliches Durcheinander dar, das Renark geschmacklos fand. Sie wanderten durch schmutzige Straßen, die nirgendwo hinzuführen schienen. Bis sie an einen Wolkenkratzer mit hell erleuchteten Fenstern kamen, war es dunkel geworden. Über der ganzen Stadt lag eine Apathie, die der Migaas ähnelte. Nur war sie zehnmal schlimmer. Doch Renark hoffte, er werde wenigstens einige Antworten auf seine Fragen erhalten. Manages Gefährten zerstreuten sich. Er selbst führte Renark und die anderen in den Wolkenkratzer und zwei schmierige Treppen hoch. Dort öffnete Manage eine Tür. Die vier Menschen blieben wartend im Eingang zu dem großen Zimmer stehen, das eine unordentliche Kombination von Kontrollraum und Wohnquartier war. Manage trat ein. Zwei Männer blickten kühl auf. Beide waren mittleren Al39
ters, einer davon auf rauhe Art gut aussehend. Renark sah sich angewidert um. Computer und andere Geräte nahmen eine Wand des Raums ein. Der Fußboden war bedeckt mit Teppichen in sich beißenden Farben, Papier, Kleidungsstücken und verschiedenen anderen Dingen – zwei Gewehren, einer Blumenvase, Tassen, Aktenordnern und Büchern. Tische, Stühle und Couches standen regellos herum. Die beiden Männer saßen auf einer langen Couch neben dem größten Computer. Hinter ihnen führte eine Tür in ein zweites Zimmer. »Treten Sie ein«, forderte der gutaussehende Mann sie auf. »Wir haben ihren Anflug verfolgt. Sie haben den schnellsten Start fertigbekommen, den ich je erlebt habe. Der Rest dürfte noch einige Zeit auf sich warten lassen.« »Wahrscheinlich haben Sie Schwierigkeiten mit einer Polizei-Patrouille.« Renark tat mit einiger Vorsicht einen Schritt vorwärts. »Ich bin Ragner Olesson«, stellte der große Mann sich vor. Er sah Renark scharf an. Offenbar fiel ihm an dem strengen Gesicht des Hyperspürers etwas auf. Vielleicht nahm er irrtümlich an, das sei ein Rivale für ihn. »Renark«, antwortete der Ex-Gouverneur. »Das hier sind meine Freunde.« Er nannte ihre Namen nicht. »Nun, Mister Renark, alles, was Sie zu wissen brauchen, ist folgendes: Versuchen Sie nicht, die Dinge hier zu ändern. Uns gefällt es, wie es ist. Sie können in Entropium alles tun, was Sie wollen – nur mischen Sie sich nicht in unsere Angelegenheiten.« Renark runzelte die Stirn. Sein Ärger wuchs. »Sind Sie hier der Chef?« »Wenn Sie wollen. Aber ich schubse niemanden herum, solange er seine Einfalle, wie man hier alles besser machen könnte, für sich behält. Klar?« »Hören Sie zu«, begann Renark. »Ich suche nach Informationen. Vielleicht können Sie mir helfen.« 40
Der Mann lachte höhnisch. Er stand auf und stellte sich etwas gereizt vor Renark hin. »Was für Informationen, Mister? Wir haben viel Platz, um uns zu bewegen. Also gehen Sie und suchen Sie anderswo danach. Mir paßt es nicht, gestört zu werden. Wenn Sie Ärger machen wollen, können Sie den Planeten verlassen« – er grinste ironisch – »oder getötet werden. Sie haben die Wahl.« Renark beherrschte sich. »Was erwarten Sie jetzt von uns?« fragte er ruhig. »Sie können tun, was Sie wollen – solange Sie niemanden belästigen. Im Augenblick belästigen Sie mich.« »Interessiert es Sie überhaupt nicht, warum wir hergekommen sind? Sie haben uns gegen die Flotte, die uns angriff, beigestanden. Warum haben Sie das getan?« »Sie sind aus demselben Grund wie alle anderen auch hergekommen. Da, wo Sie waren, hat es Ihnen nicht gefallen. Richtig? Und wir haben unsere Flotte ausgeschickt, um Ihnen zu helfen, weil die Thron – die haben Sie angegriffen – um so weniger Glück bei einer Invasion haben werden, je mehr wir sind und je mehr Schiffe wir haben. So einfach ist das.« »Ich bin hier«, fiel Renark ungeduldig ein, »um die Natur dieses Systems zu entdecken. Ich bin kein Verbrecher auf der Flucht und ich bin kein zufällig vorbeikommender Forscher. Die ganze Zukunft der Menschheit kann von dem abhängen, was ich hier entdecke oder nicht entdecke. Ist das klar?« Olessons Gefährte stand auf. Er war ein intelligent aussehender Mann mit müdem Gesicht. »Ich bin Klein – ich war einmal Wissenschaftler. Sie werden über den Wanderer nichts herausfinden, mein Freund. Jede Tatsache, die Sie feststellen, wird im Widerspruch stehen zu allem, was Sie früher gelernt haben.« »Ich werde es zu erzwingen wissen, daß dies System sich mir enthüllt, Mr. Klein«, entgegnete Renark heftig. Seine Begleiter wurden unruhig, und Asquiol legte seine 41
schmale Rechte auf den Auslöser seines Antineutron-Strahlers. Doch Klein lächelte nur. »Das haben schon viele versucht – und alle haben versagt. Das Konzept ist zu fremdartig für unsern Verstand, verstehen Sie? Warum geben Sie sich nicht damit zufrieden, daß Sie jetzt sicher vor den Sorgen des Universums – des Multiversums sind? Sie können hier ganz gemütlich leben. Niemand erwartet irgend etwas von Ihnen.« »Es muß einige Fragen geben, die Sie mir beantworten können, damit ich einen Hinweis, einen Anhaltspunkt bekomme.« »Laß diese Trottel es doch mit ihren ›Forschungen‹ versuchen, Harry«, rief Olesson dazwischen. »Erreichen werden sie sowieso nichts.« Renark, an Klein gewendet, fuhr fort: »Erzählen Sie mir für den Anfang über den Wanderer, wie Sie ihn durch Ihr Leben hier kennen.« Klein zuckte die Schultern und seufzte. »Wir nehmen auf unserer Umlaufbahn alle Arten von intelligenten Lebensformen auf. Für gewöhnlich sind es Flüchtlinge, manchmal auch Forscher. Sie siedeln sich auf dem Planeten an, der ihnen am besten gefällt. Wer einmal auf einem Planeten ist, bleibt auch dort. Nur ein Dummkopf verläßt ihn wieder.« »Warum?« »Die Planeten sind wild, aber der Raum um sie ist noch wilder. Wie die Thron das machen, weiß ich nicht. Jeder andere verliert bei einem Flug außerhalb der Atmosphäre den Verstand. Wir haben Ihnen deshalb erst so spät helfen können, weil wir warten mußten, bis der Raum ruhig war. Da haben Sie Glück gehabt.« »Was stimmt nicht mit dem Raum?« »Das weiß niemand – aber die meiste Zeit herrscht Chaos. Dinge tauchen auf und verschwinden, die Zeit wird bedeutungslos, der Verstand verwirrt sich …« »Ganz so schlimm war es bei unserem Anflug nicht.« 42
»Sicher. Ich vermute, die Thron hatten etwas damit zu tun. Sie scheinen es ein bißchen besser zu verstehen, das – was es auch sein mag – zu kontrollieren.« »Dann muß es Möglichkeiten geben, die wahre Natur des Wanderers zu entdecken.« »Nein. Die Thron müssen einfach Glück gehabt haben.« Klein starrte Renark neugierig an. »Was möchten Sie eigentlich genau wissen? Und warum?« »Das ist meine Angelegenheit.« »Sie haben einen wichtigeren Grund als bloße Neugier. Das haben Sie selbst gesagt. Erzählen Sie es mir, und vielleicht entschließe ich mich dann, Ihnen mehr zu verraten.« »Sicher kannst du doch jetzt darüber sprechen, Renark«, drängte Talfryn. Der Ex-Gouverneur seufzte. »Nun gut. Vor etwa zwei Jahren kam ich in Kontakt mit der Besatzung eines intergalaktischen Raumschiffs. Obwohl es aus einer anderen Galaxis stammte, war es von unseren Schiffen nicht sonderlich verschieden – und die Crew war menschlich. Das ist an sich schon erstaunlich. Sie wußten nichts über unsere Geschichte, wie wir auch nichts von der ihren wußten. Sie landeten auf Golund, einem hinterwäldlerischen Planeten, der meiner Jurisdiktion unterstand. Ich begab mich zu ihnen. Ich lernte ihre und sie lernten meine Sprache, und wir redeten miteinander. Zu den Dingen, die sie mir erzählten, gehörte, daß menschliche Wesen in ihrer Galaxis die einzige intelligente Lebensform seien.« »Genau wie in unserer«, nickte Klein. »Und wie in jeder anderen Galaxis unseres Universums, nehme ich an. Sagen Sie mir, Klein, woher kommen die nichtmenschlichen Lebewesen, die wir gesehen haben?« »Aus verschiedenen Raum-Zeit-Kontinua. Jedes von ihnen scheint nur eine dominierende, intelligente Lebensform zu haben. Erklären kann ich es nicht.« »Das muß etwas zu bedeuten haben. Jedenfalls hatte ich es 43
mir schon gedacht. In jedem Raum-Zeit-Kontinuum muß das ein natürliches Phänomen sein. Doch ich hoffe, nicht in jedem geschieht das, was in unserm speziellen Universum vor sich geht.« »Was geht da vor?« fragte Talfryn. »Die Besucher aus der anderen Galaxis kamen, um uns zu warnen. Ihre Neuigkeiten waren so schrecklich, daß ich sie für mich behalten mußte. Hätte ich sie weitergegeben, wäre in der ganzen Galaxis eine Panik ausgebrochen.« »Zum Teufel, was ist denn los?« Sogar Olessons Interesse erwachte. »Das Ende des Universums ist nahe.« »Und die Galaktischen Lords wissen nichts davon?« fragte Asquiol. »Du hast ihnen nichts gesagt? Warum nicht?« »Weil ich darauf zählte, der Wanderer könne uns eine Erkenntnis vermitteln, die uns zu retten vermag.« »Nicht nur das Ende einer Galaxis«, flüsterte Klein, »sondern gleich das Ende eines ganzen Universums. Unseres Universums. Wie können Sie das wissen, Renark?« »Die Besucher bewiesen es mir – meine eigene Fähigkeit zum Raumspüren überzeugte mich vollends. Das Universum dehnt sich nicht mehr aus.« »Macht das was?« ließ sich Olesson hören. »O ja, denn jetzt bleibt es nicht, wie es ist, sondern es zieht sich zusammen. Die gesamte Materie fällt zurück zu ihrer Quelle. Alle Galaxien stürzen viel schneller, als sie sich voneinander entfernt haben, aufeinander zu. Und die Geschwindigkeit wird größer, je mehr Materie auf den Mittelpunkt des Universums zurückgezogen wird. Bald wird nichts weiter übrig sein als ein Punkt in der Weite des leeren Raums. Möglicherweise verschwindet dann sogar dieser Punkt und hinterläßt ein Vakuum. Bisher bewegen sich nur die Galaxien als Ganzes nach innen, aber schließlich werden sich auch die Sonnen und die Planeten vereinigen.« 44
»Das ist eine Theorie«, sagte Klein leise. »Eine Tatsache«, erwiderte Renark. »Die Experimente der Besucher sind schlüssig. Sie haben durch Laborversuche herausgefunden, daß die Materie, sobald sie sich genügend zusammengezogen hat – und sie bildet ein Kügelchen von erstaunlicher Dichte – einfach verschwindet. Sie glauben, daß dies Endprodukt als Photon in andere Dimensionen eintritt – möglicherweise in ein größeres Universum –, vielleicht in dasjenige, das das Multiversum einschließt.« »Das ganze Universum verschwindet also – wie der Wanderer?« »Das ist richtig.« »Ich verstehe immer noch nicht, warum Sie hergekommen sind«, gestand Klein. »Weil Sie hier in Sicherheit sind? Wir befinden uns doch in Sicherheit, nicht wahr?« »Ich bin hergekommen«, erklärte Renark, jetzt ruhiger geworden, »weil ich hoffe, eine Möglichkeit zu entdecken, wie man in ein anderes Universum reisen kann.« »Sie meinen, weil der Wanderer seine Bahn durch das Multiversum zieht, können Sie herausfinden, wie er das macht, und dann irgendeine Maschine bauen, die dasselbe tut – ist es das?« Kleins Interesse, ja sogar seine Begeisterung war geweckt. »Das ist es. Wenn ich das Geheimnis des Wanderers entdecke, wird es mir gelingen, in unser Universum zurückzukehren. Mir als Hyperspürer könnte es gelingen. Und dann könnte ich die Menschheit warnen und ihr ein Mittel zur Verfügung stellen, wie sie in ein Universum entfliehen kann, das dieser Veränderung nicht unterworfen ist.« Alle schwiegen. Renark wandte sich an seine Freunde. »Seid ihr immer noch bereit, mich zu unterstützen?« »Wir haben nichts zu verlieren«, murmelte Talfryn. »Nichts«, stimmte Asquiol entschieden zu. Die Sprechanlage neben Olesson quietschte. Olesson schaltete 45
Ton und Bild ein. »Ja?« Das Gesicht auf dem Schirm sagte: »Noch mehr Besucher, Ragnar – haufenweise strömen sie von Migaa herein.« »Die übliche Routine«, sagte Olesson und unterbrach die Verbindung.
IV. Auf dem Schirm verfolgten Renark und seine Freunde, wie sich die gelben Schiffe der Thron mit wahnsinniger Wut auf die Ankömmlinge von Migaa stürzten und wie die Flotte von Entropium ihnen zu Hilfe kam. Der Kampf war diesmal viel kürzer. »Sie kommen gerade noch rechtzeitig«, bemerkte Olesson. »Das System wird in Kürze die nächste Transition beginnen. Winken Sie Ihrem Universum zum Abschied zu, Renark. Sie werden es so schnell nicht wiedersehen, wenn überhaupt.« Er grinste herausfordernd. Ohne den großen Mann zu beachten, erklärte Renark seinen Freunden: »Wir werden uns aufteilen. Die Leute hier können nicht alle in den Tag hineinleben. Einige unter ihnen müssen Versuche gemacht haben, das System zu erforschen oder zu analysieren. Sie können uns helfen. Lauft in der Stadt herum – stellt Fragen.« Kleins Stimme hatte einen eigentümlichen Klang. »Suchen Sie die Irre Mary auf, Renark. Ich kann Ihnen nicht garantieren, daß Sie Ihnen helfen wird, aber sie wird Ihnen als Warnung dienen. Wie ich hörte, war sie Anthropologin. Sie hat den Wanderer erforscht, so weit es ihr möglich war. Und nun sehen Sie sich an, wohin ihre Neugier sie gebracht hat.« »Wo ist sie?« »Ich weiß es nicht genau, aber im Norden der Stadt kennt sie jeder. Sie brauchen nur nach ihr zu fragen.« 46
»Okay. Das werde ich tun.« Zu den anderen sagte Renark: »Ihr nehmt euch andere Teile der Stadt vor. Haltet keine Information für unwichtig. Alles könnte von Nutzen sein, Spekulationen und Gerüchte. Wir müssen schnell arbeiten.« »Wenn ihr nur schnell macht, daß ihr hier wegkommt«, höhnte Olesson hinter ihnen her. Renark hatte sich die schlechteste Zeit ausgesucht, um nach jemandem zu suchen. Während er im Nordteil Entropiums von Hotel zu Hotel, von Bar zu Bar ging, strömten die Männer und Frauen aus Migaa scharenweise in die Stadt. Sie waren schnell betrunken, und die gesamte Bevölkerung geriet in Aufregung und feierte die Ankunft mit – nicht nur die Menschen. Fremdartige Wesen der unterschiedlichsten Arten nahmen mit ihren eigenen Vorstellungen von einer Belustigung daran teil. Einmal wurde Renark von einem Geschöpf angesprochen, das wie eine gigantische Kreuzung zwischen einer Schnecke und einer Raupe aussah und mit hoher Stimme terranisch piepste. Renark ignorierte es. Er ging weiter, stellte seine Fragen und bekam unzusammenhängende oder witzig sein sollende Antworten. Und dann begann der Alptraum erst richtig. Ganz plötzlich wurde Renark von Übelkeit befallen. Vor seinen Augen drehte es sich. Er sandte einen geistigen Fühler aus und erkundete das ganze System sowie den Teil des Raums, der es umgab. Sein Verstand weigerte sich, die Informationen, die er erhielt, in sich aufzunehmen. Er konnte sie nicht akzeptieren. Die Galaxis schien weit entfernt zu sein, und doch nahm sie nach wie vor relativ zu dem Wanderer den gleichen Platz im Raum ein. Dann wurde der ganze Planet von einem unheimlichen gräulichen Nebel eingeschluckt. Die nächtliche Dunkelheit verschwand. 47
Einen Augenblick lang glaubte Renark, er sehe die Gebäude der Stadt verblassen. Er fühlte sich schwerelos und mußte sich an einer Hausmauer festhalten. Das Haus fühlte sich fest an, aber seine Bestandteile bewegten sich unter seinen Händen, und sein eigener Körper schien seine normale Dichte verloren zu haben. Wie Renark in Zeiten großer geistiger Belastung immer tat, wandte er sich der tröstlichen Realität der Galaxis zu. Aber die Galaxis war nicht mehr real. Sie wirkte geisterhaft. Er verlor seinen Kontakt mit ihr. Es hätte nicht viel gefehlt, und er wäre in Panik geraten. Verzweifelt kämpfte er dagegen an. Dann wurde ihm klar, was geschah. Sie verließen die Galaxis – verließen das Universum, das Renark liebte, für das er zu sterben bereit war. Er hatte das unsinnige Gefühl, betrogen zu werden – als verlasse die Galaxis ihn und nicht im Gegenteil er sie. Er atmete schwer. Er kam sich vor wie ein Ertrinkender und suchte nach etwas, woran er sich festhalten konnte, körperlich und geistig. Aber es war nichts da. Nichts Beständiges. Nichts, was sich nicht veränderte, während er es verspürte oder ansah. Die graue Stadt schien zu kippen, und er merkte, wie er von der Mauer abrutschte. Er taumelte die schiefe Straße entlang, die Hände vorgestreckt, als wolle er das wahnsinnig machende Entsetzen abwehren, das die außer Kraft gesetzten Naturgesetze hervorriefen. Das einzige, was ihm half, war, daß er sich den Grund, aus dem er hierhergekommen war, ständig vor Augen hielt. Der Wechsel in ein anderes Dimensionsgefüge hatte begonnen, das war offensichtlich. Auch die Neuankömmlinge hatten es gemerkt. In hundert Kneipen überall in der Stadt war lähmendes Schweigen entstanden. Plötzlich verblaßte das Licht, wurde wieder heller, schwand erneut dahin. Die Gebäude schimmerten wie eine Fata Morga48
na, die Achse des Planeten selbst schien zu schwanken. Renark fiel hin und versuchte, mit seinen Händen den auf und ab wogenden Boden zu packen. Er hörte verwirrendes Angstgeschrei. Durch das geisterhafte Gewoge vor sich erblickte Renark den Eingang zu einer Wirtschaft. Er erhob sich und taumelte darauf zu. Endlich war er drinnen und sah sich die Leute dort an. Die Neuankömmlinge waren außer sich vor Entsetzen, aber die alten Einwohner nahmen das natürliche Verhalten ihres Planeten mit Gemütsruhe hin. Offensichtlich waren sie daran gewöhnt. Es mußte jedesmal geschehen, wenn das System in ein neues Kontinuum des Multiversums wanderte. Heiser stieß Renark hervor: »Wo finde ich die Irre Mary?« Er wiederholte die Frage, bis ein schwärzlicher Mann von seinem Drink und seinem Mädchen aufblickte und sagte: »Rupert-Haus – zwei Blocks weiter.« Er wies mit dem Daumen die Richtung. Der Planet stellte immer noch verrückte Dinge an. In ständigem Flackern wechselten sich Tag und Nacht ab. Der Boden flutete auf und ab wie eine Flüssigkeit. Aber Renark kämpfte sich weiter, bis er ein Schild entdeckte, auf dem »RupertHaus« stand. Die Tür, die er öffnete, war so schmutzig, daß seine Hand zu jucken begann. Er trat ein. »Die Irre Mary?« fragte er den ersten Menschen, den er sah. »Wer will sie sprechen?« gab der kleine, scharfgesichtige Mann zurück. »Renark will sie sprechen. Wo ist sie?« Der Mann schwieg. Renark packte ihn. »Wo ist die Irre Mary?« »Laß mich los! Oben, wo sie immer ist. In Zimmer Rot Sieben.« Renark, dessen Kopf dröhnte und der halb blind war durch den Druck der Transition auf Geist und Körper, quälte sich 49
mehrere Treppen hoch und fand das Zimmer. Er klopfte. Dann öffnete er die Tür. Die Irre Mary bot einen grauenhaften Anblick. Schön, leer – in ihrem murmelnden Wahnsinn zu einem Zerrbild des menschlichen Ideals herabgesunken. Renark erkannte sofort, daß sie eine äußerst intelligente Frau gewesen sein mußte. Körperlich war sie immer noch schön. Sie hatte ein schmales, klares Gesicht, große braune Augen, einen vollen Mund, langes schwarzes Haar und üppige Brüste. Sie trug nichts als einen schmutzigen Rock, und ihre Finger wanderten über eine komplizierte Tastatur, wie sie in den sogenannten »fühlenden« Raumschiffen verwendet worden war, die sich vor hundert Jahren großer Beliebtheit erfreuten. Sie waren verschrottet worden, weil sie in Notfällen zu »nervösen Zusammenbrüchen« neigten. Renarks wütende Stimmung verschwand. Behutsam trat er in das kleine Zimmer. Er sah sich die nackten Wände an und den Liegesitz eines Piloten, der aus einem Raumschiff stammen mußte und nun der Wahnsinnigen als Bett diente. »Mary?« sprach er das vor sich hinmurmelnde Wrack an. »Mary?« Sie starrte ihn an, und der Ausdruck in ihren Augen ließ ihn erschaudern. »Adam? Ach nein. Komm herein, Castor, aber laß Pollux draußen. Oder besucht mich Ruben Kave, der Held des Weltraums?« Ihr Mund verzerrte sich zu einem Lächeln. Sie machte eine vage Handbewegung. »Nehmen Sie doch Platz«, sagte sie. Es gab nichts, worauf man sitzen konnte. Renark blieb verlegen stehen. »Ich bin Renark«, begann er. »Ich brauche Informationen. Es ist wichtig. Kann ich von Ihnen Hilfe bekommen?« »Hilfe?« fragte sie gedankenlos zurück. Ihre Finger bewegten sich weiter über die Tastatur. »Hilfe …?« Ihr Gesicht zuckte. 50
Dann schrie sie: »Hilfe!« Er trat einen Schritt vor. Ihre Hände fuhren aufgeregt über die Tasten. »Mary«, drängte er. Er brachte es nicht über sich, die glatten Schultern zu berühren. Er beugte sich über die kauernde Frau. »Es ist alles in Ordnung. Mir wurde gesagt, Sie hätten den Wanderer erforscht. Ist das wahr?« »Wahr? Was ist wahr, was ist falsch?« »Was ist Ihnen dabei zugestoßen, Mary?« Ein tiefes, verzweifeltes Stöhnen entrang sich der Frau. Sie stand auf, schwankte zu dem Liegesitz, ließ sich darauf fallen und hielt sich an den Seiten fest. »Was ist der Wanderer, Mary?« »Chaos«, flüsterte sie. »Wahnsinn – Superverstand – Wärme. Oh, Wärme … Aber ich konnte es nicht ertragen, kein menschliches Wesen kann das. Es gibt keinen Anker, nichts, was man wiedererkennt, nichts, an das man sich halten kann. Man ist in einem Wirbel von Möglichkeiten, und sie stoßen einen in alle Richtungen, sie zerreißen einen. Ich falle, ich fliege, ich dehne mich aus, ich ziehe mich zusammen, ich singe, ich bin taub – mein Körper ist verschwunden. Ich kann ihn nicht erreichen!« Ihre Augen starrten blicklos ins Leere. Plötzlich sah sie ihn mit einem Ausdruck der Intelligenz an. »Sie sagten, Ihr Name sei Renark?« »Ja.« Er bereitete sich innerlich darauf vor, etwas zu tun, das er nicht tun wollte. »Ich habe Sie einmal gesehen, vielleicht – dort.« Sie ließ den Kopf zurücksinken und lag murmelnd auf ihrer Liegestatt. Renark fühlte das Chaos des Wanderers in seinem Geist wirbeln. Er konnte sich vorstellen, wie es sie in den Wahnsinn getrieben hatte, und ein tiefes Mitgefühl erfaßte ihn. Dann konzentrierte er seinen Raumspürersinn ganz auf sie. Er erfaßte die Atome, aus denen sie bestand, ihre sensorischen Nerven und die Struktur ihres Gehirns, und er bemühte sich, 51
einen Hinweis auf das zu finden, was der Wanderer ihr angetan hatte. Aber körperlich fehlte ihr so gut wie nichts, obwohl er bemerkte, daß eine ungewöhnlich hohe Menge an Adrenalin in ihren Kreislauf einfloß. Vielleicht war das der Grund, daß sie sich beinahe ständig bewegte. Ihr Geist allerdings war Renark verschlossen. Er war kein Telepath, und in diesem Augenblick war er beinahe froh, daß er keinen Einblick in ihre verstörten Gedanken hatte. Ein Telekinet war er ebensowenig. Aber auch schon seine Art des Eindringens war ihm gar nicht recht. Er prüfte ihre muskulären Reaktionen und ihr Nervensystem. Wie konnte er dafür sorgen, daß sie lange genug bei Verstand blieb, um seine Fragen zu beantworten? »Asquiol!« sagte sie. »Ist das nicht ein Name, der etwas mit Ihnen zu tun hat? Sind Sie nicht tot?« Wie war es möglich, daß sie von Asquiol wußte? »Ja, ich habe einen Freund, der Asquiol heißt. Aber ich lebe …« Die Frau verfiel wieder in geistesabwesendes Starren. Renark versuchte es von neuem. »Mary – wo sind Sie gewesen? Was haben Sie entdeckt?« »Der wilde Planet – da war ich«, stammelte sie. »Das war der letzte – der Fleckenplanet. Bleiben Sie weg von ihm.« Am liebsten hätte er die Information aus ihr herausgeschüttelt, aber er mußte behutsam mit ihr umgehen. »Warum?« fragte er sanft. »Warum, Mary?« »Ist er nicht auf derselben Bahn wie der Wanderer – Teile des Planeten – sie existieren in anderen Dimensionen, sie reisen unabhängig vom System. Das Loch ist da, und darin sind sie. Sie wissen alles. Sie haben nichts Böses im Sinn, aber sie sind gefährlich. Sie kennen die Wahrheit, und die Wahrheit ist zuviel.« »Die Wahrheit über was?« 52
»Ich hab’s vergessen – es wollte nicht in meinem Kopf bleiben. Sie hatten es mir gesagt. Es war ungerecht.« Sie wandte ihm das Gesicht zu, und wieder sah er die Intelligenz in ihren Augen. »Glauben Sie nicht an die Gerechtigkeit, Renark. Nehmen Sie niemals auch nur für eine Sekunde an, so etwas gäbe es. Es gibt keine Gerechtigkeit. Was man in den Lücken lernt, hält im wirklichen Universum nicht stand. Es bricht zusammen.« »Was sind die Lücken?« Er wunderte sich, daß sie das Wort so eigentümlich betonte. »Die Lücken auf dem wilden Planeten.« Sie seufzte und zappelte auf ihrer Liege. »Da war es, wo ich alles vergaß – alle Theorien, jedes Stückchen an Information, das ich auf den anderen Planeten gesammelt hatte, wurde bedeutungslos. Und ich vergaß alles – aber das half mir nicht mehr. Ich war neugierig … Jetzt bin ich es nicht mehr, ich möchte Ruhe und Frieden, aber das bekomme ich nicht. Es geht weiter. Sie wissen es – sie wissen es, und ihr Haß erhält ihnen die geistige Gesundheit …« »Wer sind ›sie‹, Mary?« »Die Thron – die entsetzlichen Thron. Die Shaarn wissen es auch, doch sie sind schwach. Sie konnten mir nicht helfen. Die Ungeheuer. Passen Sie auf, daß sie Sie nicht in die … Unzeit stoßen. In den Unraum. Ihre Waffen sind grausam. Sie töten nicht.« »Ich danke Ihnen, Mary.« Es bekümmerte ihn, daß er ihr nicht helfen konnte. »Ich werde nach Thron fliegen.« Sie richtete sich auf und schrie: »Ich sagte nicht Spirale, Magentarot, Irri-Vogel, Nacht. Nicht Anblick des Ertrinkens – nicht – o nein …« Sie begann zu schluchzen, und Renark verließ das Zimmer. In Gedanken versunken schritt er den Gang entlang. Er war enttäuscht, daß er nur so wenig erfahren hatte, aber wenigstens hatte er jetzt einen bestimmten Plan, was zu unternehmen war. 53
Er wollte den Planeten Thron besuchen und Marys Andeutungen nachgehen. Als er auf die Straße trat, stellte er zu seiner Erleichterung fest, daß der Planet sich beruhigt hatte. Er befand sich wieder in normalem Raum, aber in einem fremden Universum. Renark sandte geistige Fühler aus und erkannte ordentliche, vernünftige Sonnen und Planeten in einer spiralförmigen Galaxis, die seiner eigenen im allgemeinen glich, nur daß er hier und da auf organische und chemische Formationen stieß, die ihm neu waren. Im Kontrollraum des Wolkenkratzers empfing ihn Klein mit den Worten: »Die Hälfte von den neuen Migaa-Leuten ist tot. Wie üblich gerieten sie in Panik und machten Ärger, während wir im Transit waren, und da haben wir mit ihnen aufgeräumt. Der Rest ist dabei, sich eine Bleibe zu suchen oder auf das Startgelände zurückzurennen … Wie sind Sie mit Mary zurechtgekommen?« »Sie sagte, die Thron wüßten über die Natur des Wanderers Bescheid. Jedenfalls habe ich das, was sie sagte, so aufgefaßt.« Asquiol und Willow, beide blaß, fanden sich ein. Renark nickte ihnen zu. »Sind die Thron die Rasse, die uns bei unserm Anflug angegriffen hat?« erkundigte er sich bei Klein. Von weit weg klang das Geräusch startender Schiffe zu ihnen herüber. Klein fluchte. »Wir haben sie gewarnt! Da laufen wieder welche in ihren Tod.« »Wie meinen Sie das?« »Jedesmal sind unter den Neuankömmlingen solche, die den Wanderer für ein Transportmittel zwischen ihrem Universum und einem anderen ansehen. Wir sagen ihnen, daß sie, wenn sie einmal hier sind, auch bleiben müssen. Aber sie versuchen trotzdem, wieder zu starten. Vielleicht schafft es der eine oder andere – das weiß ich nicht. Ich glaube es jedoch nicht. Irgend etwas hält einen auf, wenn man versucht, den Wanderer zu 54
verlassen.« »Man kann das System nicht mehr verlassen?« fragte Willow beunruhigt. Renark blickte zu ihr hin. Eigenartig, dachte er, welche verschiedenartigen Wirkungen eine Krise auf die Menschen hat. Willows Stimme klang, als sei sie kurz vor einem Zusammenbruch. Asquiol hatte es wohl noch gar nicht bemerkt. Renark war gespannt, wie Talfryn aussehen und sich verhalten würde, wenn er zurückkam. Klein gab Willow zur Antwort: »Das ist richtig, Schätzchen. Von hier wegzukommen ist schwerer, als hier zu landen. Wir existieren nicht vollständig in der Raum-Zeit-Matrix des Universums, in dem der Wanderer sich jeweils befindet. Teilweise fließen wir irgendwie in andere Dimensionen über. Wenn man also versucht, das System zu verlassen, stößt man in einem spitzen Winkel an die Dimensionen an und – peng! – bricht man auseinander. Der eine Teil geht hierhin und der andere dahin. Nein, man kann nicht weg.« »Renark, du hast andere Probleme«, stellte Asquiol fest. »Und weitere in Aussicht, nach dem, was ich erfahren habe«, erwiderte Renark müde. »Was hast du herausgefunden?« »Nichts Besonderes. Die elf Planeten tragen bei den verschiedenen Menschen und Nichtmenschen verschiedene Namen. Es gibt eine Million Theorien über die Natur des Wanderers, die in der Hauptsache auf Märchen und Aberglauben beruhen. Es heißt, die Thron seien zuerst hier gewesen und könnten wohl Eingeborene des Systems sein. Das würde erklären, warum sie fremden Schiffen, die in das System einfliegen wollen, so feindlich gesonnen sind.« »Sonst noch etwas?« »Es gibt eine Rasse, die im Volksmund ›die Stinker‹ genannt wird. Sie sollen die Geschichte des Multiversums kennen. Einer der Planeten heißt ›Flecken-Ruth‹ und stellt in diesem höllischen System so etwas wie die Hölle vor.« 55
»Das scheint das, was Mary mir erzählt hat, zu bestätigen«, nickte Renark. Talfryn tat ein. Er war völlig erschöpft und setzte sich sofort auf die Couch. Renark überlegte laut: »Warum folgt der Wanderer seiner Bahn durch die Dimensionen? Wie tut er das? Wenn wir das Prinzip entdecken, können wir es vielleicht anwenden, um Schiffe zu bauen, mit denen wir unser Universum evakuieren können. Für unsern Verstand ist die fremde Logik – wenn das das richtige Wort ist – unfaßlich, aber wir müssen sie beherrschen lernen. Ob sich wohl alle Universen zur gleichen Zeit zusammenziehen?« Die letzte Frage sprach er zögernd aus. Zum erstenmal teilte er diese Besorgnis anderen mit. »Falls ja, hat die Menschheit überhaupt keine Chance mehr. Andererseits könnte das, was wir entdecken, uns in die Lage versetzen …« Klein lachte: »… ein Universum an seinem natürlichen Tod beziehungsweise an seiner Neubildung zu hindern? Nein, Renark!« »Ja, Klein – wenn es getan werden muß!« »Zum Teufel, wovon redet ihr eigentlich?« fragte Talfryn müde von seiner Couch her. »Wir sind nur drei Männer – gegen das natürliche Universum. Ganz zu schweigen von dem unnatürlichen Universum, von diesem entsetzlichen Ort.« Er schüttelte den Kopf. »Ehrlich gesagt, das bißchen an Information, das ich sammeln konnte, gibt mir das Gefühl, dem, was geschieht, hilflos, nutzlos und unfähig gegenüberzustehen. Ich glaube beinahe, ich sollte aufgeben. Die menschliche Rasse hat ihre Zeit gehabt, und jetzt muß sie sterben. Warum kann man die Sache nicht auch so betrachten? Wenn du mir diese Frage beantworten kannst, wäre ich dir dankbar, Renark.« Plötzlich wollte Renark Talfryn nicht mehr dabeihaben. »Ich bezweifle, ob ich dir eine Antwort geben kann, die dich zufrie56
denstellt«, meinte er traurig. »Was den Menschen von allen anderen Lebensformen in unserem Universum unterscheidet, ist seine Fähigkeit, die Natur zu beherrschen. Er hat sich stets geweigert, sich von seiner Umgebung beherrschen zu lassen. Einer so großen Katastrophe wie jetzt hat der homo sapiens noch nie gegenübergestanden, aber der Kern seines Wesens ist immer noch derselbe. Wir können in diesem Fall gezwungen sein, unsere Umgebung zu verlassen und uns eine neue zu erobern. Aber wenn der Mensch das schafft, dann hat er sein Recht auf Existenz und den Grund seiner Existenz für immer nachgewiesen.« Talfryn, erschrocken über Renarks Leidenschaftlichkeit, schüttelte nur erneut den Kopf und bewahrte brütendes Schweigen. Renark spürte die Schwäche des Mannes wie ein Techniker die Schwäche eines Maschinenteils spürt. Er weiß dann, daß es bald versagen wird. Deshalb sagte er: »Du solltest besser hierbleiben.« Talfryn nickte. »Ich bin eine Enttäuschung für dich, Renark. Aber, ehrlich, die Sache ist zu groß für mich – viel zu groß. Ich kann meinen Optimismus nicht beibehalten, wenn die Tatsachen dagegensprechen.« »Tatsachen können geändert werden«, bemerkte Renark und wandte sich ab. Mit einem Lächeln verließ Talfryn den Raum. Asquiol sah ihm verständnislos nach. Dann richtete er seinen Blick auf Willow. Sie sah verstört aus, und in ihren Augen standen Tränen. »Ich kann auch nicht mehr«, stammelte sie. »Was wir eben durchgemacht haben, war zuviel für mich …« »Du hast aufgehört, mich zu lieben. Ist es das?« »O nein, Asquiol. Ich werde dich immer lieben. Du … du könntest doch hier bei mir bleiben.« Asquiol sah Renark scharf an. »Wir fliegen nach Thron«, erklärte er. »Wenn du mitkommen willst«, antwortete Renark. 57
»Paß auf dich auf, Willow«, bat Asquiol. »Vielleicht komme ich zurück – wer weiß?« Er und Renark verließen den Raum. Sie kehrten auf das Landefeld zurück, wo ihr schwarzes Schiff stand, mit dem sie dem Grauen und vielleicht dem Tod entgegenfliegen würden.
V. Chaos. Es hatte keine Existenzberechtigung. Es widersprach jedem bekannten Naturgesetz, jedem menschlichen Instinkt. Aufruhr. Es war von phantastischer Schönheit. Aber Renark wußte, er hatte es zu ignorieren, zu beherrschen oder zu vernichten, weil es falsch, schlecht – ungesetzlich war. Qual. Das Schiff flog durch Myriaden multidimensionaler Ströme, die rings um es herumwirbelten, tobten und heulten, die den Verstand der beiden mutigen Männer, die gegen sie ankämpften, zu zerfetzen drohten. Doch indem Renark und Asquiol die Kontrolle über sich selbst behielten, gelang es ihnen irgendwie, die schlimmsten Folgen zu vermeiden. Entsetzen. Sie hatten hier nichts zu suchen. Sie wußten es, aber sie weigerten sich, es einzugestehen. Sie unterwarfen die Unordnung des kleinen Universums ihrem Mut, ihrer Stärke und ihrem Willen, und sie schufen auf diese Weise inmitten der kreischenden Verkehrtheit der entfesselten Schöpfung eine Oase der Ordnung. Versuchung. Sie hatten nichts als ihr Wissen, daß sie menschliche Wesen waren, vernunftbegabte Wesen, fähig, die Grenzen, die ihnen das Universum setzte, zu überschreiten. Sie weigerten sich. Sie 58
kämpften, sie benutzten ihren Verstand, wie sie es noch nie zuvor getan hatten, und sie entdeckten in sich Reserven, wo vorher keine gewesen waren. »Ich bin ein Mensch!« war ihr Schlachtruf. So gelang es ihnen, den bösen Planeten Thron zu erreichen. * Renark war sich der anderen Dimensionen ringsherum bewußt, die auf der Lauer zu liegen schienen, um sein Schiff zu verschlingen, es daran zu hindern, sein Ziel zu erreichen. Aber er vermied sie und konzentrierte seine ganze Kraft darauf, den Kurs nach Thron beizubehalten. Vier Stunden lang kämpften die beiden Männer gegen den Wahnsinn, gegen das Chaos aus Raum und Zeit, das die Irre Mary in eine Idiotin verwandelt hatte. Dann erschien endlich Thron auf dem Laser-Schirm. Schwach und zitternd, aber triumphierend brachte Renark den Kreuzer in Throns Atmosphäre hinunter, und obwohl der drohende Planet neue und konkretere Gefahren für sie bereithielt, erfüllten ihn Erleichterung und Hoffnung. Renark und Asquiol konnten im Augenblick nicht miteinander sprechen, aber beide waren sich bewußt, daß der Flug, der hinter ihnen lag, sie für immer zusammengeschweißt hatte. Der Planet schien, von einer überkuppelten Stadt am nördlichen Pol abgesehen, verlassen zu sein. Städte gab es zwar, aber keine Bewohner. Sie fingen auch keine Signale auf. Wo waren die grimmigen Thron? Doch bestimmt nicht alle in der kleinen Siedlung am Nordpol? »Zum Teufel«, sagte Renark, »landen wir einfach und sehen, was dann geschieht. Einverstanden?« »Du hast sonst immer mir den Vorwurf der Tollkühnheit gemacht«, lächelte Asquiol. »Gut. Wir können auf dem großen Platz, den wir in der einen Stadt gesehen haben, aufsetzen.« 59
Das taten sie. Um sie war nichts als Stille. »Sollen wir von Bord gehen?« fragte Asquiol. »Ja. Mach mal den Schrank da neben dir auf.« Asquiol öffnete die Tür und hob die Augenbrauen. In dem Schrank befand sich ein kleines Arsenal an Handfeuerwaffen. Und dabei war Renark bekannt dafür, daß er niemals eine tödliche Waffe bei sich trug oder benutzte. »Gib mir bitte den Antineutron-Strahler«, sagte Renark. Er nahm den Strahler von Asquiol entgegen und betrachtete ihn mit eigentümlichem Blick. »Verzweifelte Maßnahmen«, meinte er leise. »Ich habe im Augenblick wenig Sympathien für die Thron, obgleich sie für ihre scheinbar unvernünftige Angriffslust triftige Gründe haben mögen. Aber unsere Mission ist mir wichtiger als meine Moralbegriffe, auch wenn ich das ungern zugebe. Unser Leben ist für die ganze menschliche Rasse wichtig.« »Gehen wir«, forderte Asquiol ihn auf. Renark seufzte. Sie zogen Raumanzüge an und nahmen den Aufzug zur Schleuse. Die Gebäude und Maschinen in den leeren Straßen der offensichtlich verlassenen Stadt waren fremdartig, doch Renark und Asquiol konnten sich in den meisten Fällen vorstellen, welche Funktionen sie hatten. Aber sie konnten sich nicht erklären, warum die Stadt verlassen worden war und wohin ihre Bewohner verschwunden sein mochten. Lange konnten sie noch nicht fort sein, denn nirgendwo gab es Zeichen des Verfalls oder der Wiedereroberung der Stadt durch die Natur. Renark suchte mit seinem Geist in den Gebäuden nach Leben. Er entdeckte nichts als eigentümliche Störungen in den zeitlichen und räumlichen Schichten, die sich jenseits des Wanderer-Kontinuums ausbreiteten. Dort irgendwo spukte das Leben herum, manchmal ganz nah, manchmal weiter weg. Es war verhext. Sie machten einen Rundgang durch die Stadt und kamen ge60
rade zurück auf den Platz, wo das Schiff stand, als etwas geschah. »Gott, wird mir schlecht …« Asquiol verdrehte die Augen. Renark hatte das gleiche Gefühl. Er sah auf einmal alles doppelt. Die festen Gebäude hatten flackernde, sie überlappende Schatten bekommen, die allmählich mit der Materie verschmolzen – und mit einem Schlag war die Stadt lebendig und bewohnt. Auf dem Platz wimmelte es von hundeähnlichen, sechsbeinigen Wesen. Sie benutzten vier Beine zum Laufen und zwei als Hände. Die Thron! Erschrocken zogen sie ihre Pistolen aus den Holstern und schritten rückwärts auf das Schiff zu. Gleichzeitig entdeckten die Thron die Menschen in ihrer Mitte. Thron-Soldaten richteten verrückt gekringelte Rohre auf die beiden Männer – und feuerten. Den Großteil der Energie fingen die Schutzschirme der Anzüge auf, aber Renark und Asquiol wurden zu Boden geworfen. »Schieß zurück, oder wir sind verloren!« schrie Renark. Sie richteten sich auf dem Bauch auf und schossen ihre eigenen fürchterlichen Waffen ab. Strahlen tanzender Antimaterie trafen die Thron-Truppen. Körper implodierten, verwandelten sich zu Stäubchen und verschwanden dann vollständig. Die Rückzündungen knisterten gegen die Schutzanzüge der Menschen. Und die Strahlen schossen weiter vorwärts. Ihre Energie ließ ein wenig nach, während sie in eine Gruppe nach der anderen einschlugen und alles zerstörten, was sie berührten, sei es organische oder anorganische Materie, bis sie sich erschöpft hatten. Auf dem Platz waren nur noch wenige Thron übriggeblieben. »Sie scheinen zu einem Gespräch nicht bereit zu sein«, sagte Asquiol ironisch über den Helmfunk zu Renark. »Was nun?« »Vorerst zurück zum Schiff!« 61
Innerhalb der Kontrollkabine gaben die Kommunikationsanlagen alle möglichen Geräusche von sich. Asquiol gelang es schließlich, sie auf eine regelmäßige Folge von Hochfrequenzsignalen abzustimmen, von denen er nicht recht wußte, ob sie kodierte Zeichen oder richtige Sprache waren. Er senkte die Tonhöhe und stellte zu seinem Erstaunen fest, daß er ein gespreiztes Terranisch vernahm. Renark beschäftigte sich damit, auf dem Schirm die Bewegungen der Thron zu verfolgen, die erneut auf dem Platz zusammenströmten. Aber auch er hörte zu. »Hütet euch vor den Thron … Hütet euch vor den Thron … Hütet euch vor den Thron …« Sollte das eine Warnung oder eine Drohung sein? Asquiol sendete auf der gleichen Frequenz: »Wer sind Sie? Ich empfange Sie.« »Wir sind Feinde der Thron. Wir sind die Shaarn, deren Ahnen die Thron für diese Existenz bestimmten. Sie haben Maschinen, gegen die Sie nichts ins Feld zu führen haben – Energien, die Sie ganz aus diesem System und ins Nichts stoßen werden. Starten Sie augenblicklich. Kommen Sie zum Nordpol. Wir haben Sie gesehen, als Sie über unsere Stadt flogen, aber bis jetzt waren wir nicht imstande zu entdecken, welche Kommunikationsmittel Sie benutzen. Wir bitten um Entschuldigung.« »Ob wir ihnen trauen können?« fragte Asquiol. »Es wird uns nichts anderes übrigbleiben. Sag ihnen, daß wir kommen.« Asquiol gab es durch, und der Sprecher der Shaarn antwortete: »Sie müssen sich beeilen, denn wir sind klein und haben nur wenig Verteidigungswaffen gegen die Thron. Sie müssen unsere Stadt vor ihnen erreichen, weil uns nur noch wenig Zeit bleibt, Sie einzulassen und unsere Barriere wieder zu schließen.« In weniger als einer Minute waren sie da. Die Kuppel flak62
kerte und verblaßte, und als sie auf einem kleinen Landefeld niedergegangen waren, schloß sie sich wieder über ihnen. Im Vergleich mit der Thron-Stadt war es eine kleine Siedlung. Wenige Häuser hatten mehr als drei Stockwerke. Schon rasten die Thron-Schiffe herbei. Energiestrahlen schossen ihnen entgegen. Renark und Asquiol blieben, wo sie waren, und warteten. Nach einiger Zeit klang es aus dem Lautsprecher: »Ich freue mich, daß wir Erfolg gehabt haben. Wir brauchen nicht darauf zu warten, daß die Thron ihren Angriff einstellen. Der EnergieSchild gibt uns genügend Schutz. Wir senden Ihnen einen Wagen. Bitte fahren Sie damit in die Stadt.« Ein kleines Flugboot ohne Verdeck aus dünnem goldenem Metall schwebte vor der Schleuse. Sie stiegen ein, das Flugboot wendete und brachte sie mit mäßiger Geschwindigkeit in die Stadt. Renark war recht zuversichtlich, denn aus dem, was die Irre Mary gesagt hatte, ging hervor, daß diese Leute freundlich waren. Das Flugboot landete weich vor dem Eingang zu einem kleinen, schlichten Gebäude. Zwei Gestalten kamen heraus. Sie waren hundeähnlich und hatten sechs Gliedmaßen. Asquiol zog scharf die Luft ein und faßte instinktiv nach seiner Pistole. Dann bemerkte er, daß diese Geschöpfe, die den Thron so ähnlich sahen, unbewaffnet waren, und er beruhigte sich. Die Shaarn – wie auch die Thron – boten für das menschliche Auge einen erfreulichen Anblick, vielleicht, weil sie freundlichen Hunden ähnlich sahen. Die beiden Gestalten winkten Renark und Asquiol, sie sollten das Flugboot verlassen. Sie taten es und wurden durch eine Reihe einfach möblierter Räume in einen Innenhof geführt, der eine eigene Energiekuppel besaß. Hier gab es eine Sendeempfangsanlage, die sich nicht we63
sentlich von ihrer eigenen unterschied. Einer der Shaarn sprach in den Sender. Er brauchte kurze Zeit, um die Wellenlänge der menschlichen Funkgeräte zu finden, und bevor es den beiden Freunden gelang, ihre eigenen Kontrollen zu justieren, wurden sie von dem Geräusch in hoher Tonlage überschwemmt, das sie bereits gehört hatten. Dann war der Sprecher der Shaarn zu hören: »Wir bedauern es aufrichtig, daß unsere Einladung an Sie sich nicht auf den ganzen Planeten erstrecken kann, aber wie Sie bemerkt haben werden, haben wir davon nur ein kleines Stück in unserer Gewalt. Ich bin Naro Nuis, und dies ist meine Frau Zeni Ouis. Sie sind Renark Jon und Asquiol von Pompeji, glaube ich.« »Das stimmt, doch woher wissen Sie das?« antwortete Renark. »Wir waren gezwungen – bitte, verzeihen Sie es uns –, in Ihren Geist einzudringen, um die Kommunikationsanlage bauen zu können. Ich muß gestehen, daß wir Telepathen sind …« »Wozu brauchen Sie dann die Sendeempfangsanlage?« »Wir wußten ja nicht, wie Sie einen telepathischen Kontakt aufnehmen würden, und es widerspricht unseren Moralbegriffen, sich in die Gedanken eines anderen einzuschalten, wenn nicht ein dringender Notfall vorliegt.« »Genau das liegt ja wohl vor«, warf Asquiol unhöflich ein. »Ich verstehe«, erwiderte Renark. »Nun, was mich betrifft, so ziehe ich eine telepathische Verständigung vor. Auch innerhalb unserer eigenen Rasse gibt es Telepathen.« »So sei es«, sagte Naro Nuis. »Sie haben offenbar wichtige Gründe, die Gefahr, die die Thron darstellen, zu mißachten«, erklang eine Stimme in Renarks Kopf, »aber wir haben davon Abstand genommen, sie zu erforschen. Vielleicht können wir Ihnen helfen?« »Danke«, antwortete Renark. »Zuerst würde ich gern erfahren, warum die Thron so kriegerisch sind, und als zweites, ob 64
es wahr ist, daß Ihre Rasse als erste dies System erreichte. Von Ihren Mitteilungen hängt für mich viel ab.« Darauf erzählte er dem Shaarn, daß seine eigene Rasse vor der Auslöschung stand. Das fremde Wesen schien zu überlegen. Endlich fragte es zögernd: »Hätten Sie etwas dagegen, wenn wir auf telepathische Weise noch etwas weiter in Ihren Verstand eindrängen? Die Methode wird zur gleichen Zeit Ihnen einiges über die Geschichte der Shaarn vermitteln und wie es gekommen ist, daß dies System seine ungewöhnliche Bahn durch das Multiversum einschlug.« »Ein ausgezeichneter Vorschlag!« Sie wurden in einen halbdunklen Raum geführt, wo man ihnen Speisen und Getränke brachte. Zum erstenmal seit langer Zeit konnten sie es sich gemütlich machen. Dann erfuhren sie, wie es vor Tausenden von Jahren, als die Vorfahren der Shaarn ihre eigene Raum-Zeit-Galaxis schon beinahe ganz erforscht hatten, zu dem Krieg zwischen den Shaarn und den Thron gekommen war …
VI. Sie waren die goldenen Kinder der Galaxis. Die Shaarn – die Sucher, die Wanderer, die Forscher. Wohin sie kamen, sie brachten Geschenke, Wissen und Gerechtigkeit mit. Ihre großen Sternenschiffe durchquerten die Galaxis und formten Ordnung aus dem Chaos. Sie reisten nach innen bis zum galaktischen Zentrum und nach außen bis an den Rand. Ihre Kinder, die lachenden Lieblinge einer alten Kultur, besiedelten Planeten in vielen Systemen. Die Shaarn-Schiffe stürzten sich in die unfaßlichen Regionen des Hyperraums. Sie vermieden den Krieg, sie drängten sich 65
niemandem auf, aber wer es wollte, konnte von ihrer Weisheit lernen. Alle intelligenten Rassen innerhalb der Galaxis waren von der gleichen Gestalt wie sie selbst. Kapitän Roas Rui kehrte mit seinem Sternenschiff Vondel ein halbes Lichtjahr von einem Doppelstern entfernt in den Normalraum zurück. Die Shaarn nannten die beiden Sonnen Yito. Um Yito kreisten elf Welten, jede ein Stück weiter vom Mittelpunkt entfernt. Elf Kugeln mit Gestein und Vegetation, organischem und anorganischem Leben. Würden sie Intelligenz finden? Neue Ideen, neues Wissen? Roas Rui hoffte es sehr. Seit langem schon kannten die Shaarn keine Angst mehr, wenn sie einer fremden Kultur begegneten. Eine Rasse, die größer war als ihre eigene, eine höher entwickelte Technologie als die ihre konnten sie sich nicht vorstellen. Auf einigen Randwelten hatten sie Spuren einer raumfahrenden Rasse gefunden, doch sie waren unglaublich alt und deuteten auf ein seit langem ausgestorbenes Volk hin. Daher vermutete Roas Rui nichts Böses, als er in einen Orbit um den vierten Planeten Yitos ging. Roas Rui richtete sich mühelos auf seinen vier Hinterbeinen auf, um die von purpurfarbenen Wolken umhüllte Welt, die jetzt den Sichtschirm füllte, besser betrachten zu können. Er streckte den zottigen, hundeähnlichen Kopf vor. Sein Mund verzog sich vor Vergnügen und zeigte seine langen Zähne. »Es ist ein großer Planet, Medwov Dei«, teilte er seinem Leutnant, der an den Kontrollen stand, auf telepathische Weise mit. Medwov Dei dachte: »Die Schwerkraft ist beinahe genau die gleiche wie die von Shaarn.« »Woui Nas hat wieder einmal recht gehabt«, fuhr Rui fort. »Er ist einer der besten Zauberer, die wir in der Division haben. Immer findet er Planeten, die nach Schwerkraft und Atmosphäre Shaarn am nächsten kommen.« 66
Medwov klickte mit den Zähnen, um seine Zustimmung anzudeuten. Er war sehr groß, mit einem Meter fünfzig das größte Besatzungsmitglied, und seine Begeisterung für die Erforschung des Raums war noch größer als die der anderen. Vielleicht stürzte er sich deshalb so fanatisch in die Arbeit, weil er wegen seiner Größe bei den weiblichen Shaarn wenig Erfolg hatte. Das heißt, er machte vor sich selbst immer seine Größe dafür verantwortlich, aber es war allgemein bekannt, daß er als junger Kadett einmal in einem Wutanfall ein Haustier getötet hatte. Das hätte beinahe zu seiner Verbannung geführt, und es verhinderte seine weitere Beförderung. Weiter als zum Leutnant würde er es nicht bringen. Roas Rui, sein Kapitän, lachte, glücklich wie ein Kind, das hohe Winseln der Shaarn. Seine Erregung steigerte sich, als er seinen beiden Piloten befahl, die Landung vorzubereiten. Die Vondel fiel durch die Atmosphäre und schwebte zweitausend Fuß über der Oberfläche des Planeten. Die Schirme zeigten jetzt eine weite Waldlandschaft. Sie bestand hauptsächlich aus blauen Farnbäumen, die ihre Wedel in alle Richtungen spreizten. Dazwischen gab es Flecken in verschiedenen Blauschattierungen, die von höherer Vegetation gebildet wurden. Es war ein schöner Anblick. Für die Shaarn waren alle neuen Planeten schön. »Tests«, befahl Roas Rui. Die Computer begannen mit der komplizierten Arbeit, alle Komponenten des Planeten zu klassifizieren. Gleichzeitig versenkten die Zauberer sich in Trance und versuchten, intelligentes Leben irgendeiner Form zu entdecken, sei es natürlich oder übernatürlich, und auch dessen potentielle Einstellung zu den fremden Forschern. Von den Computern und den Zauberern wurden die Ergebnisse sofort an Roas Rui weitergeleitet, der sich jetzt selbst in halber Trance befand. Beide Teile seines Gehirns setzten die empfangenen Informationen zu einem detaillierten, immer farbiger 67
werdenden Bild des neu entdeckten Planeten zusammen. Woui Nas: Ich habe einen Verstand entdeckt. Bestürzt. Unsicher. Passiv. Weitere der gleichen Art. Neu! Verstand. Hohe Intelligenz. Zorn. Kontrolliert. Vernichtungstrieb sehr stark, möglicherweise auf Herrscher oder Regierung gerichtet. Neu! Verstand. Niedriger Intelligenzquotient. Trübsal. Bestürzt. Passiv. Neu! Etwas Böses. Sehr böse. Ich stelle Widerstand gegen die Erkundung fest. Pause … Macht. Böses. Großer Widerstand gegen die Erkundung. Ich muß kämpfen oder mich zurückziehen. Bitte um Anweisungen! Pause … Ich wiederhole: Ich bitte um Anweisungen! Roas Rui strahlte eine Nachricht an die anderen Zauberer ab, sie sollten mit ihren Ermittlungen fortfahren, und konzentrierte sich ganz auf Woui Nas. »Ich bin jetzt bei dir, Woui Nas. Kannst du mich mit einschalten?« »Noch nie dagewesene Reaktion, Kapitän. Bitte, nimm sie auf.« Roas Rui spürte Woui Nas’ Bestürzung, als er sich in den Geist des anderen versetzte und dem alten Zauberer erlaubte, ihn auf die Quelle der Ausstrahlungen zuzuführen. Beinahe sofort erkannte er eine Aura abstoßender Bosheit, gepaart mit einer Intelligenz, die höher war als seine eigene. Roas Rui gehörte zu den intelligentesten Mitgliedern seiner Rasse – seine Fähigkeit, Wissen aufzunehmen war ungeheuer –, aber in dem Geist, der jetzt die Anwesenheit seines eigenen Geistes verspürte, hatte er jemanden gefunden, der ihm überlegen war. Mit Hilfe von Woui Nas drang Roas Rui weiter in diesen Verstand ein. Er tat es, obwohl er deutlich empfand, wie gefährlich es war, und er sich am liebsten zurückgezogen hätte. Plötzlich empfing er deutlich die Botschaft: »Verschwindet! 68
Wir werden euch vernichten, ihr Eindringlinge.« Es wurde keinerlei Versuch gemacht, den Forschern Fragen zu stellen. Keine Spur von Neugier war zu entdecken. Da war nur ein Befehl – und eine Feststellung. Roas Rui und Woui Nas trennten sich von dem bösartigen Wesen. »Was nun?« fragte Woui Nas aus seiner Kabine, die eine Viertelmeile von dem Kontrollraum entfernt lag, wo Roas Rui zitternd saß. »Unglaublich«, sagte der Kapitän. »Noch nie dagewesen, wie du richtig bemerkt hast. Hier ist eine Macht, die der der Shaarn gleichkommt – sie sogar übertrifft. Aber wie böse ist sie!« »Ich muß gestehen, daß ich das bereits gespürt habe, als wir uns dem Planeten näherten«, informierte Woui Nas den Kapitän. »Aber da war es noch schwierig, es zu definieren. Diese Wesen sind fähig, unsere stärksten geistigen Sonden abzublokken.« »Unsere Vorfahren hätten sich bei der Landung auf einem neuen Planeten mehr in acht genommen«, sagte Roas Rui grimmig. »Wir sind zu selbstzufrieden, Bruder Zauberer.« »Gewesen«, gab Woui Nas zurück. »Vielleicht haben wir diesen Schock gebraucht.« »Schon möglich«, stimmte Roas Rui zu. »Aber jetzt laufen wir Gefahr, aus einem Zwischenfall, der sofortiges Handeln erfordert, ein philosophisches Problem zu machen. Da die eiserne Regel besteht, daß wir uns zurückziehen, wenn eine Kultur es verlangt, schlage ich vor, daß eine Gruppe von Zauberern sofort Kontakt mit dem Hauptquartier auf Shaarn herstellt und um Anweisungen bittet.« »Und inzwischen?« wollte Woui Nas wissen. »Ich möchte nicht vernichtet werden. Und darin wird die gesamte Besatzung mit mir einer Meinung sein. »Wir kehren nach Shaarn zurück. Dies ist ein Notfall.« Er wußte, daß die Piloten keine weiteren Instruktionen brauchten. 69
Die Vondel entfernte sich von dem System und verschwand im Hyperraum. * Das war der erste Kontakt zwischen den Shaarn und den Thron gewesen. Ein Jahrtausend lang erfuhren sie weiter nichts voneinander. Aber es war unvermeidlich, daß schließlich ein anderes Forschungsschiff auf einen von den Thron beherrschten Planeten stieß. Und der Krieg zwischen Shaarn und Thron war ebenfalls unvermeidlich. Es war kein Krieg wie die meisten Kriege. Er hatte keine wirtschaftlichen und nur zum Teil ideologische Gründe. Die Thron weigerten sich einfach, in der Galaxis eine andere Rasse zu tolerieren, die ihrer eigenen so ähnlich und beinahe ebenso mächtig war. Ihre Absicht war es, die Shaarn zu vernichten, alle Spuren ihrer Zivilisation auszulöschen. Bisher hatten die Thron den Bau von Sternenschiffen nicht als vordringliches Anliegen angesehen, aber es dauerte nicht lange, und sie hatten die Shaarn auch auf diesem Gebiet eingeholt. Thron beherrschte ein Reich, das aus sechsundzwanzig Systemen bestand. Die Thron selbst waren von verhältnismäßig geringer Zahl, aber auf den von ihnen unterworfenen Planeten waren sie die absoluten Herrscher. Die Föderation von Shaarn bestand aus fünfzig Systemen und dreihundert Planeten, auf denen intelligente Rassen existierten. Einhundertzweiundsechzig dieser Planeten schlossen sich freiwillig den Shaarn in ihrem Krieg gegen die Thron an. Die übrigen erklärten sich für neutral. Es war ein grauenvoller Krieg. Einen Monat nach seinem Beginn zerstörten die Thron den ersten Planeten – einen neu70
tralen Planeten. Und alles Leben wurde mit dieser Welt vernichtet. Die Shaarn, die wußten, wie groß die Gefahr war, aber eine Alternative zur Fortsetzung des Kampfes nicht in Betracht ziehen konnten, beauftragten ihre Wissenschaftler, ein Mittel zu finden, wie dem Morden Einhalt zu gebieten sei. Die Wissenschaftler entdeckten eine Möglichkeit, die Thron aus der Galaxis, ja sogar aus dem ganzen Universum zu entfernen. Eine Maschinerie, die das Kontinuum krümmen konnte, sollte die elf Heimatwelten der Thron aus dem Universum und in ein anderes stoßen. Eine Schwadron von Schiffen, jedes mit dieser Anlage versehen, erreichte Yito, das Heimatsystem der Thron, und richtete ihre Strahlen auf die Planeten und die Zwillingssonnen. Der erste Erfolg ihrer Bemühungen bestand lediglich darin, daß die Planeten ihre Umlaufbahnen verließen und sich in gleichem Abstand von den Zentralgestirnen einordneten, wie sie es immer noch taten. Die Thron griffen an, und den Shaarn gelang es, zunächst einmal diese Schiffe in ein anderes RaumZeit-Gefüge zu werfen. Dann richteten sie ihre Raumkrümmungsstrahlen wieder auf das System, und ganz plötzlich war es verschwunden – aus der Raumzeit der Shaarn in eine andere übergewechselt. Der Krieg war zu Ende. Aber ganz nach dem Plan der Shaarn verlief die Aktion nicht. Das System fuhr fort, durch die Dimensionen zu wandern, und allmählich geriet es dabei auf eine feste Bahn, der es fortan folgte. Was noch schlimmer war, die meisten Shaarn-Schiffe wurden von dem Sog mitgerissen und von den Kräften, die sie selbst erzeugt hatten, gezwungen, dem Wanderer zu folgen. Verzweifelt bemühten sie sich, in ihre eigene Raumzeit zurückzukehren, aber aus irgendwelchen Gründen blieb sie nicht nur ihnen, sondern auch dem Wanderer selbst verschlossen. Die Umlaufbahn durch die Dimensionen führte an keinem Punkt durch das Kontinuum der Shaarn. 71
Die demoralisierten Thron stellten keine unmittelbare Bedrohung dar. Sie richteten sich auf ihrer Festungswelt ein und überließen ihre Sklaven dem Schicksal. So konnten die Shaarn ihre Schiffe landen und am Nordpol eines Planeten, den sie Glanii nannten, eine gut geschützte Stadt errichten. Generationenlang blieben sie dort, und nur halbherzig wurden Pläne verfolgt, wie sie in ihre eigene Welt zurückkehren könnten. Später kamen die Thron auch nach Glanii, wo sie näher an ihren verhaßten Feinden waren. Sie machten sich auf ihre Weise an die Lösung des Problems und erfanden eine Maschine, die sie und ihre Ausrüstungen durch die multidimensionalen Raumzeitströme in ihr Heimatkontinuum tragen sollte, wo sie an den Shaarn Rache nehmen wollten. Bisher hatten sie noch keinen Erfolg damit gehabt. Das erklärte die Tatsache, warum Renark und Asquiol den Planeten scheinbar von den Thron verlassen vorgefunden hatten. Sie waren gerade dabeigewesen, es wieder einmal mit einem Dimensionssprung zu versuchen. Der Krieg zwischen den Thron und den mit ihnen aus der angestammten Galaxis geschleuderten Shaarn war zum Stillstand gekommen, weil beide Rassen ihre Energien darauf konzentrierten, Möglichkeiten zur Rückkehr zu finden. Das ging nun schon seit Jahrtausenden so. Näherten sich jedoch fremde Schiffe dem System, stürzten sich die Thron wie Geier darauf, da sie in ihrem Gebiet keine Eindringlinge dulden wollten. Das war, kurz zusammengefaßt, die Geschichte der Verbannten Welten bis zum Tag von Renarks und Asquiols Ankunft … Als die telepathische Übertragung zu Ende war, befand sich Renark in ruhigerer Stimmung. Endlich tappte er nicht mehr im dunkeln – er hatte Tatsachen erfahren, und er vertraute darauf, daß die Shaarn ihm noch weitere nützliche Informationen liefern konnten. Naro Nuis strahlte die höfliche Bemerkung ab: »Ich hoffe, 72
die Darstellung unserer Geschichte war von einigem Nutzen für Sie, Renark Jon.« »Von großem Nutzen. Doch ich vermute, Sie können mir keine Einzelheiten über die Raumkrümmungsstrahlen mitteilen.« »Unglücklicherweise haben Sie damit recht. Unsere Forschungen haben das Ergebnis gebracht, daß die Maschinen, die nach dem Prinzip bestimmter, im Shaarn-Kontinuum entdeckter Gesetze arbeiteten, außerhalb des Kontinuums nicht in gleicher Weise funktionieren. Ich glaube, unsere Wissenschaftler richteten das absichtlich so ein, damit die Thron niemals zurückkehren könnten.« »Es überrascht mich, daß Sie sich bis heute noch nicht mit den Thron zusammengeschlossen haben, denn Sie haben doch ein gemeinsames Ziel.« »Das haben wir nicht, ganz im Gegenteil. Die Thron sind entschlossen, den Weg in unser ursprüngliches Universum zu finden, und das ist das letzte, was wir wünschen. Wir würden zufrieden sein, wenn wir den Wanderer in irgendeinem Kontinuum außer unserem eigenen anhalten könnten, denn das würde den Thron jede Möglichkeit nehmen, den Krieg fortzusetzen.« Der Shaarn seufzte – es war ein überraschend menschlicher Laut. »Mag sein, daß die Dimensionswanderung ein nicht umkehrbarer Prozeß ist. In dem Fall sind unsere Bemühungen hoffnungslos. Aber das glauben wir nicht.« Renark war bitter enttäuscht. Wenn die Abkömmlinge der Rasse, die die Raumkrümmungsstrahlen erfunden hatte, nicht wußten, wie sie einzusetzen waren, dann war er hier in einer Sackgasse gelandet. Aber deswegen gab er noch lange nicht auf. Auf dem Rückweg zum Schiff bemerkte Renark, daß in einem hangarähnlichen Gebäude eifrig gearbeitet wurde. Das schien ihm für einen jahrtausendelangen Stillstand atypisch zu sein, und er ließ Naro Nuis gegenüber eine entsprechende 73
Äußerung fallen. Dieser antwortete bereitwillig: »Das ist das Ergebnis langer Forschungsarbeit. Wir bauen jetzt Anlagen, mit denen wir das Wandersystem anzuhalten hoffen. Bald werden wir sie in den Raum und so nahe wie möglich an die Sonnen bringen.« »Und trotzdem behaupten Sie, Ihnen sei über das Prinzip des Dimensionswanderns nichts bekannt!« rief Renark aus. Ob der Shaarn ihn belogen hatte? »So ist es«, erklärte Naro Nuis. »Wir sind daran verzweifelt, das Prinzip zu entdecken, das hinter dem Phänomen steckt. Aber wir glauben, auch wenn wir es nicht verstehen, wird es uns mit ein wenig Glück gelingen, das System in irgendeinem Kontinuum festzuhalten.« Er setzte hinzu: »Und wenn wir Erfolg haben, brauchen wir das Prinzip nicht mehr zu verstehen, denn das Phänomen wird verschwunden sein.« Renarks plötzlich aufgestiegene Hoffnung schwand dahin. »Und wie stehen die Chancen für einen Erfolg?« Naro Nuis überlegte. »Die Expedition ist für uns mit vielen Gefahren verbunden. Wir sind so lange nicht mehr im Raum gewesen, daß wir unsere Fähigkeiten verloren haben.« »Was ist mit den Thron? Kennen sie Ihre Pläne?« »Natürlich haben sie eine Ahnung davon. Sie werden versuchen, uns aufzuhalten. Es wird zu einer großen Schlacht kommen.« Renark schritt weiter auf sein Schiff zu. »Wann soll der Start erfolgen?« »In einer halben Planetenumdrehung.« Abrupt blieb Renark stehen. »Dann muß ich eine Bitte an Sie richten.« »Und die wäre?« »Verschieben Sie Ihr Experiment. Geben Sie mir Zeit, damit ich das herausfinde, was ich herausfinden muß.« »Das können wir nicht tun. Wie können wir sicher sein, daß Ihre Bemühungen von Erfolg gekrönt sein werden? Und für 74
uns bedeutet jeder Augenblick der Verzögerung eine Verringerung unserer Chancen, den Wanderer anzuhalten und die Thron an einer Rückkehr in unser Heimat-Universum zu hindern.« »Aber die Zukunft meiner ganzen Rasse hängt von mir ab!« »Wirklich? Ist das nicht eine Aufgabe, die Sie sich anmaßenderweise selbst gestellt haben? Vielleicht ist der Prozeß, den Sie beschreiben, natürlich. Vielleicht werden die Mitglieder Ihrer Rasse es akzeptieren, daß sie mit ihrem Universum untergehen müssen. Jedenfalls haben wir keine Veranlassung, die Expedition zu verschieben, und wir sind gezwungen, schnell zu handeln. Wenn die Thron gerade nicht versuchen, durch die Dimensionen zu springen, patroullieren sie mit ihren Schiffen um den Planeten. Sobald wir die Ausrüstung in eine Umlaufbahn einschießen, wird die Schlacht beginnen. Wir müssen uns beeilen und gleichzeitig die Thron abwehren.« »Ich verstehe«, sagte Renark voller Bitterkeit. »Ich fürchte, Sie werden sich vergeblich in Gefahr begeben«, kam der freundliche Gedanke des Shaarn bei ihm an, »aber da Sie fest entschlossen sind, Ihre Forschungen fortzusetzen, könnten Sie auf der Welt der Ekiversh Hilfe finden.« »Wer sind die Ekiversh?« »Die Ekiversh sind intelligente Metazoen, die ein voll entwickeltes Rassengedächtnis haben. Sie haben auch uns beim Bau der Maschine, mit der wir den Wanderer anhalten wollen, geholfen. Da sie schon so lange gelebt haben, ist ihr Wissen groß. Sie sind friedlich und freundlich, und ihrer Struktur entsprechend leben sie auf dem einzigen Planeten, auf dem nicht in irgendeiner Form gekämpft wird. Die Thron könnten von den Ekiversh etwas lernen, aber in ihrer Arroganz lassen sie sich nicht dazu herab. Wir haben sie nicht oft besucht, denn immer, wenn wir unsere Stadt verlassen, richtet sich der Zorn der Thron auf uns. Aber unter günstigen Umständen können wir mit den Ekiversh für kurze Zeit in telepathischen Kontakt treten.« 75
»Können Sie mir den Planeten auf meiner Karte zeigen?« »Mit Vergnügen.« Naro Nuis begleitete sie an Bord und sah sich dort neugierig um. »Ein bizarres Fahrzeug«, stellte er fest. »Nicht nach unseren Maßstäben.« Renark holte die Karte hervor, und der Shaarn studierte sie. Schließlich zeigte er auf einen Planeten. »Da.« »Danke«, sagte Renark. »Können wir jetzt starten?« Asquiol trommelte mit den Fingern. »Die Thron werden Sie schon erwarten«, warnte Naro Nuis. »Wenn Sie wollen, können Sie gern bei uns bleiben.« »Wir müssen es riskieren.« Renark war nahe daran, in Zorn zu geraten. Der Shaarn wandte sich von ihm ab. Asquiol rief ihm zu: »Haben Sie gar keine Vorstellung davon, was Sie anrichten, wenn Sie den Wanderer anhalten? Wir wären hier gestrandet, ohne Möglichkeit, unsere Rasse retten zu können, selbst wenn wir die Information finden, die wir suchen. Sie können Ihr Experiment nicht jetzt sofort beginnen!« »Wir müssen.« Renark legte eine Hand auf Asquiols Arm. »Wir werden so schnell wie möglich nach Ekiversh fliegen und sehen, was wir dort erfahren können, bevor es den Shaarn gelingt, die Dimensionswanderung zu stoppen.« »Dann sollte ich besser gehen«, dachte Naro Nuis traurig. Mit gemischten Gefühlen verabschiedete Renark sich von dem Shaarn. Er war ihm dankbar für seine Hilfe, aber er kam nicht darüber hinweg, daß dies freundliche Volk dabei war, ein Experiment durchzuführen, saß alle seine eigenen Hoffnungen zunichte machen mußte. Die Energiekuppel öffnete sich für sie. Renark startete das Schiff, und sie rasten durch die Wolken in den Wahnsinn des Raums, der den Wanderer umgab. Die Thron-Schiffe entdeckten sie sofort und schossen auf sie 76
zu. Diesmal wartete Asquiol nicht erst auf Renarks Feuerbefehl. Der Antineutronenstrahl, den Asquiol in seiner Verzweiflung abfeuerte, fraß die Thron-Schiffe, auch wenn sie von dem tödlichen Strom nur gestreift wurden. Da die Antineutronen keine elektrische Ladung besaßen, konnten sie auch nicht von einem Energieschirm aufgehalten werden. Asquiol hatte gehofft, der erste Schußwechsel würde die Angreifer so in Angst versetzen, daß Renark und er sich unbehelligt weit genug entfernen könnten. Aber die Thron hatten den Vorteil, daß sie in dem verzerrten Raum, der den Wanderer umgab, Manöver ausführen konnten. Renark verstärkte die Energie und steuerte mit zusammengebissenen Zähnen in die Verkehrtheit, die diese Region für seinen Verstand bedeutete. Es war beinahe so, als führe man ein Boot durch eine wahnsinnige, von Stürmen aufgepeitschte See. Nur, daß diese See den Geist angriff. Die Thron kamen hinter ihnen her, und Asquiol sah sie ihre Purzelbäume schlagen, die dem Feuern vorausgingen. Er zögerte, denn es widerstrebte ihm, seine Waffe ein zweites Mal einzusetzen. Dann wurden sie von heftigen Energiestößen getroffen. Das Schiff schleuderte und bockte. »Behandle sie nicht mit Glacehandschuhen! Gib’s ihnen, Asquiol!« brüllte Renark. So kannte Asquiol ihn gar nicht. Asquiol stellte die Dichte des Antineutronenstrahls auf Maximum und ließ ihn durch den Raum fächern. Auf dem Schirm vor ihm zeigte ihm ein geisterhaftes grünes Flackern, wenn er getroffen hatte. Renark hielt die Augen geschlossen und konzentrierte sich auf die Führung des Schiffes. Für einen Raumspürer war es eine Qual, mitzuerleben, wie überall Atomstrukturen zusammenbrachen. Danach zogen sich die überlebenden Thron-Schiffe zurück. 77
Für einige Zeit herrschte Stille in der Kontrollkabine. Ein paar Stunden später führte Renark eine schnelle geistige Erkundung durch. Er fand, was er erwartet hatte. Die Shaarn begannen mit dem Experiment. In der Nähe des ThronPlaneten wurde gekämpft, und irgendwo sonnenwärts wurde eine Anlage von beträchtlichem Umfang zusammengesetzt. Er sondierte weiter. Eine Stunde Flug entfernt versammelte sich eine große Flotte. Zweifellos würde sie den Shaarn bald sehr zu schaffen machen. Trotz der Freundlichkeit, die die Shaarn ihm erwiesen hatten, begann Renark es zu bedauern, daß Asquiol so viele Schlachtschiffe der Thron zerstört hatte. Renark hatte das sichere Gefühl, bald werde das Gefüge des Multiversums klar vor seinen Augen liegen. Es gab noch einige Dinge, die er erforschen mußte, doch auch das würde ihm gelingen, wenn er nur lange genug lebte. Der Flug nach Ekiversh war schlimm, aber die emotionale Belastung war diesmal nicht so groß. Denn ihr Selbstvertrauen war stark.
VII. Sie landeten auf dem friedlichen Sauerstoff-Planeten. Zarte, höfliche Gedankenfäden berührten ihren Verstand und stellten Fragen. In gleicher Behutsamkeit antworteten Renark und Asquiol, daß sie auf Vorschlag der Shaarn Kontakt mit den Ekiversh aufzunehmen wünschten. Sie blieben in ihrem Schiff und hatten ihre Freude daran, chlorophyllgrüne Pflanzen zu erblikken, die denen der Erde nicht unähnlich waren. Dann wölbte sich vor dem Schiff ein halb durchsichtiger, geleeartiger Haufen hoch. Renark fand den Anblick abstoßend, und Asquiol bemerkte: »Es sind Metazoen – puh! Habe ich dir nicht erzählt, daß man sie in Entropium ›die Stinker‹ nennt?« 78
Eine Stimme in Asquiols Kopf erklärte demütig: »Es tut uns außerordentlich leid, daß unsere körperliche Erscheinung euch nicht gefällt. Vielleicht ist diese hier besser.« Die Masse stieg hoch und wandelte sich langsam zu der Gestalt eines riesigen Mannes – eines Mannes, der aus Hunderten von glibberigen Metazoen bestand. Renark konnte sich nicht entscheiden, welche Form weniger unerfreulich war, aber er blockierte den Gedanken und sagte statt dessen: »Wir sind hierhergekommen, um mit euch über Fragen der Philosophie und Dinge, die für uns von praktischer Bedeutung sind, zu sprechen. Dürfen wir unser Schiff verlassen? Es wäre schön, wenn wir wieder einmal richtige Luft atmen könnten.« Bedauernd erwiderte der Metazoen-Riese: »Es wäre nicht ratsam, denn obgleich wir Sauerstoff absorbieren wie ihr auch, sind die Gase, die wir von uns geben, für eure Geruchsorgane nicht angenehm.« »Das erklärt ihren Namen«, meinte Renark, zu Asquiol gewandt. Dem Riesen erklärte er: »Uns wurde gesagt, daß ihr ein Rassengedächtnis habt und praktisch unsterblich seid.« »So ist es. Weißt du, unser ganz großes Erlebnis war, daß wir in den frühen Tagen unserer Rasse Zuschauer beim Tanz einer Galaxis waren.« »Verzeih mir, aber ich verstehe die Bedeutung dieser Worte nicht. Könntest du mir vielleicht erklären, was du meinst?« fragte Renark. »Damals waren jene, die wir das Verbannte Volk nennen, in unserem Heimat-Universum zu einer weit entfernten Galaxis weggezogen. In jener Galaxis hatte es viel Kampf gegeben, aber nun herrschte wieder Ruhe, und sie bereitete sich auf den großen Wechsel vor, der der Anfang eines neuen Zyklus in ihrem langen Leben sein sollte. Wir und andere Beobachter in den ringsum gelegenen Galaxien sahen, wie sie sich gleich 79
einem aus Rauch bestehenden Ungeheuer bewegte; sie krümmte und schlängelte sich, und die Sonnen und Planeten ordneten sich um den Mittelpunkt und entlang des Randes in gleichmäßigen Mustern an. Der Tanz der Sterne war ein Anblick, der außer den Edelsten unter den Beobachtern alle vernichtete, denn die entstehenden Muster stellten ›die beiden Wahrheiten, die die dritte tragen‹, dar, so daß die Galaxis, während sie sich umformte, um in dem ihr eigenen Raum-Zeit-Gefüge einen neuen Zyklus zu beginnen, gleichzeitig ihre Schwester-Galaxien von kleinlichen Geistern und solchen, die unedle Gedanken dachten, reinigte. Es dauerte Millionen von Jahren. Der Tanz der Galaxis brachte eine wohlgeordnete Schöpfung hervor, ein erfreulicher Anblick für intelligente Wesen. Die sinnliche Erfahrung beglückte uns, und sie befähigte uns, unsere Philosophie zu entwickeln. Bitte, verlange nicht von uns, dir weitere Erklärungen zu geben, denn uns beiden fehlt es an Ausdrücken, mit denen wir den Tanz einer Galaxis beschreiben könnten. Als der Tanz schließlich zu Ende war, begann die Nabe der Galaxis sich zu drehen und erzeugte das Muster für den neuen Zyklus. Langsam, vom Mittelpunkt nach außen zum Rand, fingen die Sonnen und die Planeten wieder an, Bahnen zu beschreiben, denen sie unverändert für Äonen folgen sollten. Nach langer Zeit kamen die Bewohner jener Galaxis zu uns. Sie hatten sich ihre eigene Auslegung der glorreichen Geschichte geschaffen, und die philosophischen Schlüsse, die wir über die Natur des Multiversums gezogen hatten, gefielen ihnen nicht. Sie vernichteten unsere alte Rasse. Einige von uns konnten hierher fliehen, denn wir verabscheuen die Gewalt und auch das Wissen um Gewalt.« »Ihr seid Zeugen gewesen, wie eine Galaxis sich neu bildete, indem sie sich selbst verschlang!« Renark hatte das Gefühl, seine wichtigste Frage würde bald beantwortet werden. »Wir glauben nicht, daß sie sich selbst verschlang. Unsere 80
Logik hat uns zu dem unwiderleglichen Schluß geführt, daß da eine größere Macht am Werk war – eine, die das Multiversum für ihre eigenen Zwecke geschaffen hat. Das ist keine metaphysische Schlußfolgerung – wir sind Materialisten. Aber die Tatsachen deuten einwandfrei auf die Existenz von Wesen hin, die im wahrsten Sinne des Wortes übernatürlich sind.« »Und das Multiversum – was ist das? Besteht es aus einer unendlichen Zahl von Schichten, oder …?« »Das Multiversum ist endlich, wenn auch sehr groß. Und jenseits seiner Grenzen gibt es – vielleicht andere Realitäten.« Renark schwieg. Sein ganzes Leben lang hatte er das Konzept der Unendlichkeit akzeptiert, und selbst sein überschnell arbeitender Verstand konnte diese neue Vorstellung nicht sofort fassen. »Wir glauben«, fuhren die Metazoen sanft fort, »daß das Leben, wie wir es kennen, sich in einem unterentwickelten, rohen Zustand befindet. Ihr und wir repräsentieren vielleicht die erste Stufe in der Schöpfung von Wesenheiten, die am Ende dazu bestimmt sind, die Grenzen des Multiversums zu durchbrechen. Unser aller Bestimmung ist es gewesen, eine Art von Ordnung aus dem Chaos zu schaffen. Selbst jetzt gibt es so etwas wie Ursache und Wirkung noch nicht. Immer noch gibt es nur Ursache und zufälliges Zusammentreffen, zufälliges Zusammentreffen und Wirkung. Das ist für jedes intelligente Wesen offensichtlich. Auch einen freien Willen gibt es nicht. Es gibt nur eine begrenzte Auswahl. Uns legt nicht nur unsere Umgebung Schranken auf, sondern auch unser psychischer Zustand, unsere körperlichen Bedürfnisse – überall, wohin wir uns drehen, stoßen wir an Schranken. Die Ekiversh glauben, daß wir, obwohl dem so ist, fähig sind, uns einen Zustand vorzustellen, in dem das nicht so ist – und daß vielleicht wir mit der Zeit diesen Zustand erringen können.« »Dem stimme ich zu«, nickte Renark. »Wenn der Wille stark genug ist, können alle Hindernisse überwunden werden.« 81
»Das ist möglich. Du hast sicher mehr mitgebracht als jedes andere Wesen – und es war allein dein Geist, der Körper und Seele so lange Zeit zusammengehalten hat. Aber wenn du deine Suche in einem endlichen Universum so weit fortsetzen willst, wie du kannst, steht dir die schlimmste Erfahrung noch bevor.« »Wie meinst du das?« »Du must den Fleckenplaneten suchen. Dort wirst du jene kennenlernen, die im Abgrund der Wirklichkeit wohnen. Vielleicht hast du von dem Ort als dem Loch gehört.« Ja, das hatte er. Mary hatte ihm davon erzählt. »Kannst du mir diesen Planeten genau beschreiben?« »Er zieht nicht wie die anderen Planeten dieses Systems durch das Multiversum. In gewissem Sinn existiert er in allen Kontinua. Die Teile des Planeten bewegen sich in unterschiedlichen Dimensionen, und alle wandern unabhängig voneinander. Der Zufall mag es wollen, daß der Planet gelegentlich ziemlich vollständig aussieht. Dann wieder ist er voller … Lücken …, da wo Teile nach den Gesetzen des Kontinuums, in dem das System sich gerade befindet, aufgehört haben zu existieren. Irgendwo auf diesem Planeten soll sich ein Tor befinden, das zu einer mythischen Rasse führt, die ›Die Schöpfer‹ genannt wird. Da es sonst keinen Ort gibt, an den du gehen könntest, schlagen wir vor, du riskierst einen Besuch auf diesem Planeten und versuchst, das Tor zu finden, wenn es das wirklich gibt.« »Ja, wir werden es versuchen«, antwortete Renark leise. Etwas anderes fiel ihm ein. »Warum herrscht auf diesem Planeten hier, auf Ekiversh, nicht das gleiche Chaos wie überall sonst?« »Das liegt daran, daß wir, bevor wir aus unserem HeimatUniversum flohen, uns auf die Bedingungen, die wir anzutreffen erwarteten, vorbereiteten und einen ganz speziellen Organismus schufen.« Der glibberige Riese schien seinen schimmernden Körper zu 82
erheben. Dann traf der nächste Gedanke ein: »Wir nennen ihn einen Konservator. Der Konservator ist einfach ein Objekt, aber ein Objekt, das nur unter bestimmten Bedingungen existieren kann. Um seine eigene Existenz aufrechtzuerhalten, hält er diese Bedingungen in einem gewissen Umkreis stabil. Wenn ihr einen Konservator in eurem Schiff habt, wird es euch nicht mehr so schlimm ergehen wie bei euren früheren interplanetaren Flügen, und es wird auch weniger wahrscheinlich sein, daß ihr euren Weg auf dem Fleckenplaneten verliert, von dem ihr vielleicht als Roth oder FleckenRuth gehört habt.« »Ich bin dir sehr dankbar«, sagte Renark. »Der Konservator wird eine große Hilfe für uns sein.« Ein neuer Gedanke schoß ihm durch den Kopf. »Du weißt ja, aus welchem Grund ich hier bin – das Universum, aus dem ich stamme, zieht sich zusammen. Wäre es mit einer Anzahl dieser Konservatoren möglich, den Prozeß aufzuhalten?« »Ausgeschlossen. Das Zusammenziehen deines Universums steht nicht im Widerspruch zu den Naturgesetzen. Du mußt herausfinden, warum es geschieht – denn alles, was geschieht, hat einen Sinn –, und dann mußt du entdecken, welche Aufgaben deiner Rasse in dieser Reorganisation zufallen.« »Jawohl«, antwortete Renark bescheiden. Verschiede Metazoen lösten sich von dem Körper des Riesen und verschwanden in Richtung einer Hügelkette. »Wir werden einen Konservator holen.« Renark erkannte jetzt, daß seine ganze Reise, sein Mühen und Suchen einen bestimmten Sinn hatte, der weit über seine ursprüngliche Absicht hinausging – und doch war diese ein Teil davon. Es lag Logik in dem Multiversum. Die Ekiversh hatten ihn überzeugt. Aber ihm stand noch viel bevor. Denn jetzt kam der schlimmste Teil seiner Unternehmung, der Flug zu dem Planeten, der die Irre Mary in den Wahnsinn gestürzt hatte. Roth – 83
Flecken-Ruth – der Flecken-Planet. Die Metazoen kehrten zurück und brachten eine kleine Kugel von dunkler Ockerfarbe mit. Sie legten sie in der Nähe der Schleuse auf den Boden. »Wir verlassen euch jetzt«, kam die telepathische Botschaft. »Wir wünschen euch Erkenntnis. Ihr, Renark und Asquiol, seid die Botschafter für das Multiversum. Ihr vertretet uns alle, wenn es euch gelingt, die Schöpfer zu erreichen – vorausgesetzt, daß es sie gibt. Ihr geht weiter auf die Wirklichkeit zu, als es je einem intelligenten Wesen gelungen ist, abgesehen von denjenigen, die in dem Loch wohnen …« Asquiol zog einen Raumanzug an und holte den Konservator an Bord. Renark bedankte sich bei den Metazoen und schaltete den Antrieb ein. Sie stiegen auf und schnitten einen Pfad der Ordnung in den heulenden Wahnsinn des interplanetaren Raums. Diesmal brauchten sie nicht dagegen zu kämpfen. Der Konservator hatte genau die Wirkung, die die Ekiversh ihm zugeschrieben hatten. Endlich fanden Renark und Asquiol Zeit, miteinander zu reden. Asquiol war noch völlig verwirrt von allen Ereignissen und Informationen. »Renark, ich verstehe immer noch nicht ganz, warum wir nach Roth gehen.« Renark war in Gedanken versunken. Seine Stimme hörte sich sogar in seinen eigenen Ohren an, als komme sie von weit her. »Wir verfolgen das Ziel, die menschliche Rasse zu retten. Mir ist klargeworden, daß die Mittel dazu von subtilerer Art sind, als ich zuerst angenommen hatte. Das ist alles.« »Aber wir sind doch mittlerweile von unserem ursprünglichen Vorhaben völlig abgedrängt worden! Wir leben in einer Phantasie-Welt. Dies Gerede von Wirklichkeit ist Unsinn.« Renark wollte nicht streiten, nur erklären. »Die Zeit für die Enthüllung der Phantasien ist gekommen. Das ist ein Prozeß, der in unserem Universum bereits begonnen hat. Wir müssen diese eine Chance ergreifen, die wir zum 84
Überleben haben. Jahrhundertelang ist unsere Rasse von falschen Voraussetzungen ausgegangen. Wenn du auf einer falschen Voraussetzung eine Phantasie-Vorstellung aufbaust und auf dieser eine weitere, wird dein ganzes Leben zu einer Lüge, die du auch noch an andere, die sie aus Trägheit kritiklos übernehmen, weitergibst. Auf diese Weise bedrohst du die Existenz der Wirklichkeit, und die Gesetze, die du dich anzuerkennen geweigert hast, vernichten dich. Die menschliche Rasse hat sich viel zu lange passende Phantasien zurechtgelegt und sie Gesetze genannt. Nimm zum Beispiel die Kriege. Die Politiker nehmen an, irgend etwas sei die Wahrheit, sie nehmen an, der Kampf sei unvermeidlich, und mit diesen falschen Ausnahmen auf beiden Seiten erzeugen sie weitere Kriege, die sie scheinbar zu vermeiden gesucht haben. Uns bleibt eine letzte Chance, den wahren Grund unseres Seins zu erkennen. Ich werde diese Chance wahrnehmen.« »Ich auch«, stimmte Asquiol leise, aber voller Überzeugung zu. Mit schwachem Lächeln setzte er hinzu: »Aber verzeih, ich verstehe deine Argumente immer noch nicht ganz.« »Wenn alles gutgeht, wirst du sie bald genug verstehen.« Renark grinste breit. Roth füllte bereits den Laser-Schirm aus. Mit bewußter Respektlosigkeit bemerkte Asquiol: »Der Planet sieht aus wie ein großer, von Maden zerfressener Käse, nicht wahr?« An einigen Stellen, die wie schwärende Wunden aussahen, konnte man durch den Planeten hindurchblicken. An anderen Stellen zeigten sich Lücken, die den Augen weh taten und die der Verstand nicht fassen konnte. Obwohl die runde Form schwach zu erkennen war, wirkte der Planet, als habe ein monströser Wurm ihn – wie eine Raupe ihr Blatt – zernagt. Renark war nahe daran, von dem Anblick überwältigt zu 85
werden, aber er ließ es nicht zu. Er setzte seine Fähigkeiten als Hyperspürer ein. Vorsichtig sondierte er die Masse des unheimlichen Planeten. Wo die Lücken waren, spürte er gelegentlich die Anwesenheit von Teilen, die nach allen Gesetzen, die er kannte, in der gleichen Raumzeit sein sollten. Aber das waren sie nicht. Sie existierten anderswo auf unterschiedlichen Ebenen des Multiversums. Endlich fand er, was er suchte – bewußtes Leben. Im gleichen Augenblick wurde er von Wärme erfüllt. Waren das diejenigen, die in dem Loch wohnten? Die Wesen schienen nicht richtig fest zu sein, schienen in allen Schichten des Multiversums zu leben! War so etwas möglich? Existierten diese Wesen auf allen Ebenen und waren so in der Lage, im Gegensatz zu normalen Sterblichen, die nur einen Bruchteil, nämlich ihr eigenes Universum, erkannten, die volle Wirklichkeit des Multiversums wahrzunehmen? Sein Gehirn konnte es sich vorstellen, doch er vermochte sich nicht auszumalen, welche Art von Wesen es sein könnten oder was für Wahrnehmungen sie hatten. Ob er es herausfinden würde? Er verstand nun, warum die Irre Mary in ihrem Wahnsinn sinnlos mit ihrer Tastatur herumspielte. Renark wandte seinen Geist zurück zu dem Planeten der Thron, und er erkannte, daß es den Shaarn gelungen war, die Thron zurückzuschlagen. Er wußte es nicht sicher, aber es kam ihm vor, als habe der Wanderer seinen Kurs durch das Multiversum verlangsamt. Eilends kehrte er zu den Wesen des Planeten Roth zurück. Es waren nicht viele, und sie befanden sich an einer Stelle, die er zu finden hoffte. Es war ein Teil, der nicht vollständig in dem Gebiet existierte, das der Wanderer gerade einnahm, der aber wahrscheinlich für das menschliche Auge sichtbar sein würde. Er war ziemlich zuversichtlich, daß er das geheimnisvolle Loch 86
mit Hilfe des Konservators entdecken würde. Schnelligkeit war wichtig, aber Vorsicht ebenso. Renark hatte nicht die Absicht, so nahe am Ziel noch umzukommen. Er brachte das Schiff über einer Lücke hinunter, um die Kräfte des Konservators zu prüfen. Sie waren außerordentlich stark. Als Renark dem Planeten näher kam, schien sich vor seinen Augen das fehlende Stück wie bei einem Puzzle-Spiel von selbst an die richtige Stelle einzufügen. Der Konservator funktionierte. Jetzt zog Renark das Schiff wieder in die Höhe und sah das Stück verblassen, zurückgleiten in das Kontinuum, wo es vorher gewesen war. An einer so gefährlichen Stelle konnte er eine Landung nicht wagen. Er suchte sich eine andere, die, wie er hoffte, in diesem Kontinuum bleiben würde, bis er zur Rückkehr bereit war. Wenn er zurückkehrte, sagte er sich. Die unheildrohende Geschäftigkeit in Sonnennähe verstärkte sich. Vielleicht war der Wanderer bereits angehalten worden! Asquiol hüllte sich in Schweigen. Er hielt den Konservator an sich gedrückt, als er Renark aus der Luftschleuse des Schiffes folgte. Der Planet schien eine formlose Masse wirbelnder Gase zu sein. Die unnatürliche Oberfläche vermittelte stellenweise ein Gefühl der Schwerelosigkeit, und dann schienen ihre Füße wieder von klebrigem Schlamm festgehalten zu werden. Renark voran, arbeiteten sie sich mühsam weiter. Es war dunkel, doch der Planet besaß seine eigene leuchtende Aura, so daß sie ziemlich weit sehen konnten. Allerdings gab es Flecken, die ihre Augen nicht zu durchdringen vermochten – und doch konnten sie das erkennen, was dahinter lag! Selbst wenn sie über felsigen Boden schritten, kam ihnen der Grund unbeständig vor. Während sie sich vorwärts bewegten, veränderte sich ihre unmittelbare Umgebung zuweilen, weil der Konservator seine 87
seltsamen Kräfte auf sie ausübte. Aber – als müsse dieser Vorteil sofort wieder zunichte gemacht werden – anderswo entstanden dafür neue Lücken. Renark fühlte sich ständig mit seinem Geist voraus. Der Planet änderte sich unaufhörlich. Man konnte nicht voraussagen, welcher Teil auch nur für wenige Sekunden existent bleiben würde. Die Materie war so chaotisch wie der ungeformte Stoff des Multiversums zu Anbeginn der Schöpfung. Sie wälzte und krümmte sich wie in Todeszuckungen. Aber Renark marschierte entschlossen weiter. Inmitten dieses Infernos verloren beide Männer keinen Moment ihr Ziel aus den Augen. Das Loch, manchmal näher, manchmal weit entfernt, wurde ihr Leitstern, der ihnen mit dem Versprechen der Wahrheit zuwinkte – oder ihnen mit Vernichtung drohte.
VIII. Es dauerte länger als einen Tag voller Mühsal, bis sie vor dem Loch standen. Als Felsen sich auflösten und Gas wurden, bemerkte Renark mit hohler Stimme: »Sie sind dort drin, aber ich weiß nicht, was sie sind.« Obwohl sie beide erschöpft waren, hatte Renark noch nie ein schärferes Wahrnehmungsvermögen gehabt. Aber es war ein passives Wahrnehmungsvermögen. Er konnte nichts weiter tun als auf das sich ändernde, schimmernde, dunkle und in vielen Farben erglänzende Loch, das vor Energie pulsierte, hinabsehen. Nach mehreren Stunden des Schweigens sprach Asquiol. »Was nun?« »Hier ist das Tor, von dem wir auf Thron und Ekiversh gehört haben«, antwortete Renark. »Mir bleibt nichts übrig als hinabzusteigen und zu hoffen, daß ich unser Ziel erreiche.« Er 88
trat hart an den Rand und vertraute sich der pulsierenden Umarmung des Loches an. Asquiol folgte ihm nach kurzem Zögern. Sie brauchten nicht in die Tiefe zu klettern, denn sie schwebten jetzt. Es ging nicht abwärts und nicht aufwärts und auch sonst in keine Richtung. Sie schwebten einfach – irgendwohin. Der Konservator funktionierte nicht mehr. Sie kamen auf festen Boden, eine kleine Insel in einem Ozean. Sie schritten vorwärts und wußten, sie waren im Herzen einer flammenden Sonne. Sie traten zurück und waren inmitten einer öden Bergkette. Von oben sah ein Wesen auf sie herab und hieß sie willkommen. Sie gingen auf das Wesen zu und befanden sich mit einemmal in einer künstlichen Kammer, die ihnen anfangs so vorkam, als habe sie stumpfschwarze Wände. Dann merkten sie, daß sie ins Leere hinausblickten – ins Nichts. Zu ihrer Linken erschien ein Wesen. Es schien in ständigem Wechsel zu verblassen und wieder aufzutauchen. Gerade wie ein schlecht abgestimmter Laserschirm, dachte Renark, der verzweifelt nach etwas Ausschau hielt, an das er sich halten konnte. Er fühlte sich von allem, was ihm bekannt war, abgeschnitten. Das Wesen begann zu sprechen. Es bediente sich nicht der terranischen Sprache, sondern einer Kombination von Schallund Gedankenwellen, die Renark mit Geist und Körper auffing. Es ging ihm durch den Kopf, daß diese Wesen einmal wie er gewesen sein mochten, aber die Fähigkeit zur direkten Sprache verloren hatten, als sie die Fähigkeit erwarben, auf allen Ebenen des Multiversums gleichzeitig zu existieren. Er fand heraus, daß er sich mit dem Wesen verständigen konnte, wenn er ihm seine eigene Sprache anpaßte und so weit wie möglich in Bildern dachte. »Du wünschst (komplizierte geometrische Muster) Hilfe …?« »Ja (Bild des sich zusammenziehenden Universums) …« 89
»Du bist (Bild einer schwangeren Frau, das sich schnell zu dem eines Mutterleibs änderte, in dem ein nicht ganz menschlicher Embryo erschien) …?« »Ja«, antwortete Renark. Die Logik führte ihn bereits auf eine unausweichliche Schlußfolgerung zu. »Du mußt warten.« »Auf was?« »(Bild eines vielschichtigen Universums, das sich um einen Mittelpunkt drehte.) Bis (Bild des Wanderers, der sich durch Zeit, Raum und andere Dimensionen auf den Mittelpunkt zu bewegte).« Renark war klar, was das Bild bedeutete. Ihm war das Zentrum des Universums gezeigt worden, der Ursprung, durch den alle Radien liefen, von dem alle Dinge herstammten. Dieser Mittelpunkt war allen Universen gemeinsam. Wenn der Wanderer ihn passierte, was dann …? Aber die Shaarn wollten den Lauf des Systems ja anhalten! Wenn das geschah, erübrigten sich weitere Überlegungen. »Was wird dort geschehen (nebliges Bild des Multiversums)?« fragte er. »Wahrheit. Du mußt hier warten, bis (Mittelpunkt mit Wanderer). Dann gehst du zu (die Zwillingssterne des Wanderers) …« Er mußte im Nichts warten, bis der Wanderer das Zentrum des Multiversums erreichte, und dann mußte er zur – nein, in! – die Sonne gehen! Renark übermittelte ein entsetztes Bild, wie er und Asquiol verbrannten. Das Wesen sagte: »Nein« und verschwand wieder. Als es von neuem auftauchte, fragte Renark: Warum?« »Du wirst erwartet.« Das Wesen war weg. Da es an diesem Ort keine Zeit gab, wußten sie nicht, wie lange sie warteten. Auch ihre Körper gaben ihnen keinen Anhaltspunkt. 90
Ganz einfach, sie waren im Nichts. Gelegentlich tauchte das Wesen oder eines der gleichen Art auf und verschwand sofort wieder oder informierte sie über den langsamen Fortschritt des Wanderers. Schließlich wurde Renark ein Bild des Wanderers übermittelt, wie er in das Gebiet des Zentrums eintrat. Mit Erleichterung und in der Erwartung von etwas Überwältigendem bereitete er sich darauf vor, die Wahrheit zu erfahren. Bald würde er wissen, ob er nun lebte oder starb, bei Verstand blieb oder nicht. Er und Asquiol würden die ersten ihrer Rasse sein, die wußten. Beiden war klar, daß es allein darauf ankam. Dann gingen sie hinaus. Sie schritten auf die flackernden, tödlich heißen Sonnen zu. Sie fühlten, daß sie keine körperliche Form hatten, wie sie es gewohnt waren, und doch waren sie nicht körperlos. Sie warfen ihre massenlosen Körper in die feurige Hitze, das Herz des Sterns, und schließlich kamen sie zu den Schöpfern. Es war nicht ihr gewöhnlicher Aufenthaltsort, sondern ein Kompromiß zwischen diesem und dem der Menschen. Sie sahen, ohne ihre Augen zu benutzen, die Schöpfer. Sie konnten die Schöpfer sprechen hören, doch da war kein Geräusch. Alles war Farbe, Licht und Formlosigkeit. Aber alles machte den Eindruck von leibhaftiger Wirklichkeit. »Ihr seid hier«, stellten die Schöpfer mit einer Stimme nachdenklich fest. »Wir haben auf euch gewartet und wurden schon etwas ungeduldig. Ihr habt euch nicht so schnell entwickelt, wie wir es erhofft hatten.« Als Vertreter seiner Rasse antwortete Renark: »Es tut mir leid.« »Ihr seid immer eine Rasse gewesen, die nur Fortschritte machte, wenn sie von Gefahr bedroht war.« »Existieren wir noch?« fragte Renark. »Ja.« 91
»Für wie lange noch?« Zum erstenmal sprach auch Asquiol. Die Schöpfer gaben auf diese Frage keine direkte Antwort. Statt dessen sagten sie: »Ihr wünscht, daß wir Änderungen vornehmen. Das haben wir erwartet. Deshalb haben wir die Metamorphose eures Universums beschleunigt. Ihr müßt wissen, daß die einzelnen Galaxien, die Sonnen und Planeten, die ganze, verschiedenartig gestaltete Materie erhalten bleiben wird, obwohl sich euer Universum zusammenzieht.« »Aber was soll aus der menschlichen Rasse werden?« »Wir hätten sie sterben lassen. Intelligentes organisches Leben kann die Belastung des Wechsels nicht aushalten. Wärt ihr nicht zu uns gekommen, hätten wir sie sterben lassen – mit Bedauern. Aber wir haben euch richtig beurteilt. Wir informierten euch über die nahende Katastrophe, und ihr setztet alle Mittel des Willens und des Verstandes ein, um uns zu finden.« Eine Pause entstand. Dann fuhren die Schöpfer fort: »Wie alle anderen Rassen des Multiversums ist auch die eure fähig, auf allen Ebenen zu existieren. Aber wir haben die einzelnen Ebenen des Multiversums als Samenbeete benutzt und in jede eine bestimmte Rasse gepflanzt. Eine davon mag überleben und unsere Nachfolge antreten. Wir haben unsere Hoffnung auf euch gesetzt. Ihr seid unsere Kinder. Doch wenn es euch nicht gelingt, die besonderen Beschränkungen, die wir euch auferlegt haben, zu überwinden, werdet ihr sterben – wie wir. Der einzige Unterschied wird sein, daß ihr sterben werdet, bevor ihr richtig geboren seid.« »Was soll also aus uns werden?« »Wir haben die Änderungen in eurem Universum veranlaßt, um eure Entwicklung zu beschleunigen, damit Vertreter eurer Rasse den Weg zu uns finden würden. Ihr habt in größtem Ausmaß Erfolg gehabt, doch ihr müßt schnell zurückkehren und eure Rasse lehren, daß sie schnellere, dynamischere Fortschritte machen muß. Wir werden es euch ermöglichen, euer 92
Universum zu evakuieren. Wir werden alt, und von allen intelligenten Rassen im Multiversum könnt nur ihr unsern Platz einnehmen. Das könnt ihr nicht, solange ihr nicht bereit dazu seid. Entweder wahrt ihr euch euer Geburtsrecht, oder ihr kommt wie wir in Chaos und Todesqual um. Ihr habt bewiesen, daß wir recht hatten, als wir euch auserwählten; ihr könnt die euch auferlegten Beschränkungen überwinden. Aber beeilt euch, wir bitten euch inständig – beeilt euch …« »Was wird geschehen, wenn wir es schaffen?« »Ihr werdet eine Metamorphose durchmachen. Schon bald werdet ihr kein Universum von der Art, wie ihr es jetzt kennt, mehr brauchen. Die Dinge kommen zu einem Ende. Ihr habt die Wahl zwischen einem Leben, das alle eure bisherigen Vorstellungen übersteigt, und dem Tod.« Renark akzeptierte das. Es blieb ihm nichts anderes übrig. »Und wir – welche Aufgaben haben wir jetzt?« »Vollendet das, was ihr euch vorgenommen habt.« Ein langes, langes Schweigen entstand. Die Wärme des Mutterleibs erfüllte die beiden Männer, und die Zeit blieb für sie stehen, als die Schöpfer Mitgefühl und Verständnis ausstrahlten. Und als harte Wirklichkeit spürte Renark unter dem allen – seine eigene Auslöschung? Seinen Tod? Irgend etwas lag da in der Zukunft. Irgendein Unheil erwartete ihn. »Du hast recht, Renark«, sagten die Schöpfer. »Doch du kannst dir nur ein Ende als körperliche Einheit vorstellen. Vielleicht endest du aber als eine bewußte Einheit. Man kann es schwer vorhersagen. Dein Geist ist groß, Renark, zu groß für das Fleisch, das ihn in Ketten hält. Er muß die Möglichkeit erhalten, sich auszubreiten, das Multiversum zu durchdringen.« »So sei es«, sagte Renark langsam. Asquiol konnte das, was die Schöpfer erklärten, weder verstehen noch glauben. Seine goldene, flammendrote Gestalt 93
flackerte vor Renark. »Wirst du sterben, Renark?« »Nein! Nein!« Renarks Stimme brüllte wie ein Flammenturm. Er wandte sich seinem Freund zu. »Wenn ich gegangen bin, mußt du unsere Rasse führen. Du mußt sie zu ihrer Bestimmung leiten – oder mit ihr untergehen. Verstehst du das?« »Ich werde tun, was du sagst, aber verstehen kann ich es nicht. Diese Erfahrung treibt uns in den Wahnsinn!« Die kühle Stimme der Schöpfer flutete in ihr Inneres wie Eis. »Noch nicht, noch nicht. Ihr müßt beide etwas von euren alten Körpern und euren alten Überzeugungen behalten. Eure Rolle ist noch nicht ausgespielt. Jetzt, wo ihr die Natur des Multiversums versteht, ist es nicht schwierig, euch materielle Mittel zur Verfügung zu stellen, mit denen ihr eurem schrumpfenden Universum entfliehen könnt. Wir werden euch das Wissen über eine Maschine geben, die eine Raumkrümmung erzeugen kann. Mit ihrer Hilfe können eure Leute in ein anderes, sicheres Universum reisen, wo sie weiteren Tests unterzogen werden. Wir haben unsere Pläne noch nicht vollständig ausgeführt. Sie schließen noch andere eurer Rasse ein – und ihr müßt euch treffen und aufeinander reagieren und euch einer an dem anderen härten, bevor ihr für die Bestimmung, die wir euch zugedacht haben, reif seid. Dir, Asquiol, wird dieser Teil der Mission anvertraut.« »Renark ist der Stärkste«, sagte Asquiol ruhig. »Deshalb muß Renarks Geist als Geschenk für alle anderen eurer Rasse geopfert werden. Das ist eine Notwendigkeit.« »Wie sollen wir den Exodus in ein neues Universum durchführen?« fragte Renark erschüttert. »Wir werden euch helfen. Wir werden euren Mitgeschöpfen das Vertrauen in euer Wort einpflanzen. Das wird eine zeitlich begrenzte Maßnahme sein. Sobald ihr euer Universum verlassen habt, müssen wir mit feineren Mitteln arbeiten, und nur die 94
Bemühungen bestimmter Individuen werden euch retten.« »Wir werden ganz auf uns allein angewiesen sein?« fragte Asquiol. »Ja, im wahrsten Sinne des Wortes.« »Was werden wir in dem neuen Universum finden?« »Das wissen wir nicht, denn euer Sprung wird euch in irgendeine der möglichen Ebenen fuhren. Wir können euch keine freundliche Aufnahme garantieren. Es gibt Kräfte, die unseren Absichten entgegenwirken – geringere Intellekte, die die Entwicklung unseres Seins verhindern wollen.« »Unseres Seins?« Asquiols Gestalt flackerte und bildete sich von neuem. »Eures – unseres – jedermanns. Wir, die Schöpfer, nennen uns intelligente Optimisten, denn wir sehen einen Sinn im Leben. Jene aber sind die Pessimisten des Multiversums. Sie belauern uns, sie suchen uns zu vernichten, denn sie selbst haben jede Hoffnung verloren, die Ketten brechen zu können, die sie an ihre halb-wirkliche Existenz binden. Auch von einigen eurer Rasse werden sie unwissentlich unterstützt.« »Ich verstehe.« Mit diesen beiden Worten wurden sie ganze Menschen. Endlich sahen sie das wirkliche Universum – die Myriaden Ebenen des Multiversums mit ihren vielen, vielen Dimensionen. Nirgendwo gab es einen leeren Raum. Wo sie sich früher ahnungslos bewegt hatten, pulsierte alles vor Leben. Renark sammelte seinen titanischen Willen. Er fragte: »Noch eins. Welchen Sinn habt ihr? Was ist euer letztendlicher Daseinszweck?« »Zu leben«, lautete die einfache Antwort. »Du kannst noch nicht wissen, was das eigentlich bedeutet. Leben ist der Anfang und das Ende. Jede Bedeutung, die du hineinzulegen versuchst, ist unsinnig. Wenn wir sterben müßten, bevor ihr unseren Platz einnehmen könnt, müßte unsere ganze Schöpfung mit uns sterben. Das Multiversum würde sterben. Nichts bliebe übrig 95
als das Chaos.« »Das wollen wir nicht«, sprachen Asquiol und Renark wie aus einem Mund. »Wir auch nicht. Aus diesem Grund seid ihr hier. Und jetzt – die Information, die ihr brauchen werdet.« Es kam ihnen vor, als werde ihr Verstand von einer sanften Hand einen Weg der Logik entlanggeführt, bis sie vollkommen verstanden, wie ein Raumschiff gebaut werden mußte, mit dem man von einer Dimension zur anderen reisen konnte. In normaler Raumzeit wäre es unmöglich gewesen, alle Aspekte des Prinzips zu beschreiben. Aber da sie sich im gesamten Multiversum aufhielten, schien es ganz einfach zu sein. Sie waren überzeugt, daß sie die Kenntnisse an ihre Rasse weitergeben konnten. »Seid ihr zufrieden?« fragten die Schöpfer. »Vollkommen«, antwortete Renark. »Wir wollen uns beeilen, in unser eigenes Universum zurückzukommen. Der Exodus muß so bald wie möglich beginnen.« »Lebe wohl, Renark. Es ist unwahrscheinlich, daß du dich an uns erinnern wirst, wenn wir uns wiedersehen. Lebe wohl, Asquiol. Hoffen wir, daß du, wenn wir uns wiedersehen, Erfolg gehabt hast.« »Hoffen wir es«, erwiderte Asquiol ernst. Sie strömten zurück durch das Multiversum und fanden sich auf Roth wieder. Ihr Schiff stand da, wo sie es verlassen hatten.
IX. Es war eigenartig, daß alle menschlichen Wesen der Galaxis vor sich selbst Gründe der verschiedensten Art fanden, die sie zwangen, sich auf einigen wenigen Planeten zu versammeln. Dort warteten sie geduldig. Die Bewohner der Erde hatten das Gefühl, der Boden werde 96
unter dem Gewicht der zahlreichen Neuankömmlinge einbrechen. Normalerweise hätten sie dem Ansturm der Besucher Widerstand entgegengesetzt. Jetzt warteten sie mit ihnen. Und endlich wurden sie alle belohnt. Auf der ganzen Welt beobachtete man auf Laser-Schirmen die Ankunft eines Raumschiffes – eines Polizei-Kreuzers. Er war zerschrammt und angeschlagen, und er wirkte kaum noch raumtüchtig. Die riesige Menschenmenge auf dem Raumhafen verharrte in Schweigen, als sich die Luftschleuse öffnete und zwei Gestalten ausstiegen. Millionen von Augenpaaren wurden zusammengekniffen und konnten sie doch nicht richtig erkennen. Vergeblich strengten die Zuschauer sich an, alle die Gestalten zu sehen. Die Männer, die aus dem Schiff kamen, waren wie geisterhafte Chamäleons. Ihre nebelhaften Körper waren von Farbe und Energie und Licht umflossen. Viele Bilder überlappten die beiden, die als Menschen kenntlich waren, und sie schienen sich in Dimensionen zu erstrekken, die man weder erblicken noch sich vorstellen konnte. Die Besucher waren wie Engel. Ihre stillen Gesichter glühten vor Wissen, die Materie ihrer Körper leuchtete. Wenn sie sprachen, so war es, als richte sich die Stimme der Erde selbst oder sogar der Sonne an die Menschen. Trotz allem waren diese Boten menschlich. Doch sie waren so verändert, daß es beinahe unmöglich war, sie noch als Menschen zu betrachten. Ihren Worten wurde mit Ehrfurcht gelauscht, und wenigstens teilweise verstanden die Hörer, was sie zu tun hatten. Renark und Asquiol brachten die ungeheuerliche Botschaft. Sie berichteten von der Gefahr, die aus dem sich zusammenziehenden Universum erwuchs. Sie erklärten, wie das gekommen sei und warum. Und sie legten dar, wie die Vernichtung der Rasse vermieden werden konnte. 97
Sie sprachen deutlich, in sorgfältig gewählten Worten, und sie blickten ihre Zuhörer aus den Tiefen ihres weit entfernten Geistes an. Da sie nicht mehr vollständig in einem einzigen Raum-Zeit-Gefüge des Multiversums existierten, mußten sie sich konzentrieren, wenn sie diese bestimmte Ebene im Brennpunkt ihrer Aufmerksamkeit halten wollten. Die Myriaden Dimensionen des Multiversums breiteten sich vor ihnen in ihrer sich ständig ändernden Schönheit aus. Aber diese Erfahrung konnten sie nicht weitergeben, denn die Sprache war zu arm dazu. Und der Stoff ihrer Körper änderte sich mit dem Multiversum in funkelnder Harmonie, so daß die Zuschauer sie nicht immer als Menschen sehen konnten. Trotzdem hörten sie ihnen zu. Sie erfuhren, daß das Multiversum aus vielen Ebenen besteht, von denen ihr Universum nur eine war – ein Bruchstück des großen Ganzen. Daß es endlich war, aber für ihren Verstand unfaßlich. Geschaffen war es von Wesen, die die Schöpfer genannt wurden. Die Menschen lernten, daß die Schöpfer, als sie spürten, daß sie sterben mußten, das Multiversum als Saatboden für eine Rasse angelegt hatten, die einmal ihren Platz einnehmen sollte. Sie, die Menschen, waren die noch nicht voll entwickelten Kinder der Schöpfer, und sie bekamen jetzt die Gelegenheit, die Rolle der Schöpfer zu übernehmen. Sie hatten die Wahl: Entweder lernten sie, die pseudo-realen Schranken von Zeit und Raum, an die sie bisher geglaubt hatten, zu überwinden, oder sie mußten untergehen. Danach verließen Renark und Asquiol den Planeten Erde. Sie reisten von einem zum anderen und verbreiteten ihre Botschaft. Stets hinterließen sie ehrfürchtiges Schweigen, und jeder Mensch war mit einem Gefühl der Vollkommenheit angefüllt, wie er es sein ganzes Leben lang gesucht hatte. Dann riefen die beiden Botschafter Techniker und Wissenschaftler und Philosophen zusammen und sagten ihnen, was sie 98
zu tun hatten. Bald darauf schwärmten Raumschiffe, die für Reisen von Kontinuum zu Kontinuum ausgerüstet waren, in die Tiefen des Raums jenseits des Randes, bereit, die menschliche Rasse in ein anderes Universum zu tragen. An der Spitze der Karawane flog der kleine, verbeulte Polizei-Kreuzer. In ihm nahmen Renark und Asquiol für immer Abschied voneinander. Außerhalb des Kreuzers wurde Renark von einem kleinen Raumwagen erwartet. Die beiden Wesen – die Neuen Menschen – standen sich mit ihren flackernden Gestalten gegenüber, blickten ringsum, um den Anblick des gesamten Multiversums in sich aufzunehmen und schüttelten sich die Hände. Kein Wort wurde gesprochen. Es war Vorbestimmung, daß dies geschehen mußte. Kummervoll sah Asquiol zu, wie sein Freund den Raumwagen bestieg und mit ihm auf das Zentrum der Galaxis zuflog. Jetzt mußte Asquiol dafür sorgen, daß die gigantische Flotte bereit war. Die Galaktischen Lords hatten ihn mit ihrem Eid als Führer anerkannt bis zu dem Zeitpunkt, wo ein solcher nicht mehr gebraucht wurde. Die tüchtige Verwaltungsbehörde, die so viele Jahre lang die Galaxis in bewundernswerter Weise geleitet hatte, nahm Asquiols Befehle entgegen und setzte sie in die Tat um. »Um genau 18.00 Uhr Generalzeit wird jedes Schiff seinen I.-T.-Antrieb einschalten«, hallte Asquiols Stimme durch den leeren Raum, in dem die Flotte trieb. Irgendwo, weit weg von Asquiol und der menschlichen Rasse, hielt eine kleine Gestalt ihren Raumwagen an, stieg in einen Anzug, verließ den Wagen und blieb, während das Gefährt abgetrieben wurde, allein im Nichts hängen. Jetzt wurden sie Zeugen, wie die Galaxien aufeinander zustürzten. Sie vereinigten sich in einer flammenden Lichtsymphonie, während die menschliche Rasse durch die Dimensio99
nen sprang, um Sicherheit in einem anderen Universum zu finden. Eine andere intelligente Lebensform würde sie dort empfangen – vielleicht mit freundlichen, vielleicht mit feindlichen Gefühlen. Die Kontraktion wurde schneller. Und Renark blieb da. Warum er das tat, würde die Rasse niemals erfahren. Sogar er selbst war sich über seine Gründe nicht ganz im klaren. Er wußte nichts weiter, als daß ein Opfer gebracht werden mußte. War es der alte Glaube seiner wilden Vorfahren, übersetzt in die Sprache der Schöpfer? Oder hatte sein Tun eine größere Bedeutung? Es gab keine Antwort darauf. Es konnte keine geben. Schneller und schneller zog sich das Universum zusammen, bis die gesamte Materie in einem Gebiet versammelt war, das nicht viel größer zu sein schien als Renarks Hand. Es schrumpfte immer noch, während Renark aus einiger Entfernung zusah. Dann verlor er es aus den Augen, obwohl er es immer noch spüren konnte, sich immer noch seines rapide abnehmenden Umfangs bewußt war. Eine Sache kann nur bis zu einem gewissen Punkt verkleinert werden, und dann hört sie auf zu existieren. Schließlich war dieser Punkt erreicht. Nun war da eine Lücke, ein richtiges Loch im Gewebe des Multiversums. Sein Universum, die Galaxis, die Erde, gab es hier nicht mehr. Vielleicht hatte ein größeres Universum, das selbst von Renarks wunderbaren Sinnen nicht zu erfassen war, sie aufgenommen, vielleicht existierten sie dort als Photon. Nur Renark war übriggeblieben. Sein flackernder, schimmernder Körper bewegte sich im leeren Raum, und er begann sich zu verflüchtigen. »Gott!« sagte er, als alles verschwand. Seine Stimme hallte in dem verlassenen Strudel wider, und er lebte diesen Augenblick für ewig.
100
X. Asquiol in seiner tiefen Trauer war entschlossen, Renarks Werk fortzuführen und die Pläne der Schöpfer für die menschliche Rasse zum Abschluß zu bringen. Die Flotte fiel auf einer so gut wie unkontrollierten Fluchtbahn durch die Schichten des Multiversums. Bald mußte Asquiol den Befehl geben, auf einer der Ebenen anzuhalten. Er hatte keine Ahnung, welche er wählen sollte. Obwohl er sich des Multiversums bewußt war, war bei ihm – anders als bei Renark – das Sehvermögen immer noch den ursprünglichen Beschränkungen unterworfen. So hatte Asquiol keinen Hinweis, was sie in dem Universum, in dem sie schließlich anhielten, erwarten mochte. Der große Exodus aus dem jetzt nicht mehr bestehenden Heimat-Universum bedeutete einen neuen Abschnitt in der Geschichte der Menschheit. Aber Asquiol von Pompeji war kein Mensch mehr. Er war zu vielen Menschen geworden und hatte dadurch Vollständigkeit erlangt. Einen besseren Führer für die menschliche Flotte konnte es nicht geben, und auch keinen besseren Mentor. Denn Asquiol war der »Neue Mensch.« Wie er konnten einmal alle werden – wenn sie die Mühen auf sich nahmen. Asquiol von Pompeji, Kapitän des Schicksals, Sieger über die Grenzen von Raum und Zeit, Asquiol der Einsame, riß sich aus seinen traurigen Gedanken los und richtete die Augen auf die Flotte. Sein Schirm zeigte ihm Linien- und Schlachtschiffe, Transporter und Fabrikschiffe, Vehikel aller Art, die mit sich die Maschinerie einer komplizierten Zivilisation trugen. Etwas hatten jedoch alle gemeinsam – den I.-T.-Antrieb. Asquiol faßte den Entschluß, er dürfe sich nicht länger den Kopf zermartern, warum Renark sich verpflichtet gefühlt hatte, in dem sterbenden Universum zurückzubleiben. Trotzdem 101
wünschte er immer noch, es sei nicht geschehen. Ihm fehlte die Zuversichtlichkeit, die er aus Renarks Gegenwart, aus Renarks Geist und Willen gewonnen hatte. Doch das war Vergangenheit. Asquiol mußte die Stärke in sich selbst finden – oder untergehen. Und wenn er unterging, wuchs die Gefahr, daß die ganze menschliche Rasse unterging. Daher, so sagte er sich, war sein Oberleben für die menschliche Rasse von Wichtigkeit. Noch waren keine vierundzwanzig Stunden relativer Zeit vergangen, seit die Flotte das Heimat-Universum verlassen hatte. Im nächsten Universum, ganz gleich, welches es war, sollte angehalten werden. Schnell gab er den Befehl. »I.-T.-Antrieb um 18.00 Uhr abschalten.« Genau um 18.00 Uhr stellte die Flotte ihren Fall durch die Dimensionen ein und fand sich am Rand einer fremden Galaxis. Niemand wußte, was sie hier antreffen und welche Gefahren auf sie lauern mochten. An Bord der Verwaltungsschiffe wurden die einlaufenden Daten verarbeitet. Sie legten Karten der Galaxis an. Sie erfuhren, daß sich ihr Aufbau kaum von ihrer eigenen unterschied. Asquiol überraschte das nicht. Jede Schicht des Multiversums wich von der vorhergehenden nur unwesentlich ab. Raumspürer erforschten die näher liegenden Sonnen und Planeten. Telepathen suchten nach Zeichen intelligenten Lebens. Sollten sie welches finden, mußten sie feststellen, welche Haltung die Bewohner dieser Galaxis den Flüchtlingen gegenüber einnehmen würden. Es war eine neue Technik. Asquiol hatte sie von den Shaarn gelernt. Die großen Schlachtschiffe der Galaktischen Polizei flankierten die Flotte, deren Schutz ihnen anvertraut war. Nebliges Licht erfüllte den Raum einige Meilen weit in allen Richtungen. Dahinter lag Dunkelheit, und in ihr leuchteten als schwache Pünktchen die Sterne auf. Das Licht ging von den 102
Schiffen aus, und in dieser Wolke bewegten sie sich auf eine Bestimmung zu, die sie vielleicht niemals erreichen würden. Aber Asquiol sah mehr als das. Denn Asquiol sah das Multiversum. Für ihn bedeutete es jetzt eine gewisse Anstrengung, seine Aufmerksamkeit allein auf einer Ebene zu halten. Sobald er sich nicht mehr bewußt konzentrierte, empfand er das Entzükken, auf sämtlichen Ebenen gleichzeitig zu existieren. Es war, als lebe man an einem Ort, wo die Luft selbst wie Juwelen glitzerte und mit wirbelnden Farben angefüllt war, ein Anblick von reiner Schönheit. Asquiol konnte seine eigene Flotte und die weit entfernten Sterne sehen, aber der Zwischenraum war alles andere als leer. Das Multiversum war gedrängt voll von Leben und Materie. Es gab nicht eine Fingerbreite von Raum, die nicht irgend etwas Interessantes enthielt. Vakuum war in gewissem Sinne das, was eine Schicht von der anderen trennte. Wenn man alle Schichten als Ganzes wahrnehmen konnte, gab es kein Vakuum, kein dunkles Nichts mehr. Hier war alles auf einmal, alle Möglichkeiten, alle Erfahrungen. Plötzlich sah sich Asquiol gezwungen, sich von seiner Schau loszureißen. Der Sonderalarm, den er über seinen Laser-Schirm empfing, schrillte durchdringend. Auf dem Schirm erschien ein Gesicht. Es war ein fleischiges Gesicht mit schweren Kiefern und ähnelte dem eines Bluthundes. »Lord Mordan«, sprach Asquiol den Galaktischen Lord an, der das Amt des Polizeichefs hatte. «Asquiol.« Auch jetzt, wo Asquiol die absolute Herrschermacht hatte, konnte Mordan es nicht über sich bringen, ihn »Fürst« zu titulieren, denn der Galaktische Rat hatte keine Zeit gehabt, ihm den bedeutungslos gewordenen Titel wieder zuzuerkennen. Mordan gab seine bedeutungsvolle Nachricht durch: »Unsere Raumspürer und Geistspürer haben eine intelligente Spezies entdeckt, die unseren Eintritt in diese Raumzeit be103
merkt zu haben scheint. Offenbar handelt es sich um eine raumfahrende Rasse.« »Wie ist ihre Reaktion auf unseren Eintritt?« »Wir sind nicht sicher – es ist für die Spürer schwierig, sich ihrem Verstand anzupassen …« »Natürlich. Das Verstehen einer nichtmenschlichen Spezies braucht seine Zeit. Halten Sie mich weiter auf dem laufenden.« Mordans Augen waren immer größer geworden, während er Asquiols Bild auf seinem Schirm betrachtete. Es schienen mehrere Bilder zu sein, jedes farblich ein wenig anders Teilweise überschnitten sie sich. Das Gesicht, das Mordan für das eigentliche hielt, lag nicht ganz in der Mitte des Gesamtbildes von flackernden Umrissen, und es blieb für Mordan schärfer als die anderen. Es gelang ihm nicht, dies Gesicht in Einklang zu bringen mit dem, an das er sich erinnerte – an das eines zynischen, launischen, wilden jungen Mannes, dem er vor Jahren Titel und Stellung abgesprochen hatte. Nun erblickte er einen reifen Mann mit dem schmalen Gesicht eines gefallenen Erzengels, ernst durch die Verantwortung, die er trug, mit Augen, die in eine Ferne blickten, die Mordan verschlossen war. Wie immer war Mordan erleichtert, als er abschalten konnte. Asquiol machte selbst keinen Versuch, sich mit der entdeckten Spezies in Verbindung zu setzen. Das würde später kommen. Er wollte den Spürern Zeit lassen, soviel Daten wie möglich zu sammeln, bevor er dem Problem seine volle Aufmerksamkeit zuwandte. Er dachte stets an die Warnung der Schöpfer, daß es Intelligenzen gab, die die Menschen mit unvernünftiger Feindseligkeit empfangen mochten, aber trotzdem hoffte er, das Universum, in dem sie gelandet waren, habe Bewohner, die es ihnen erlauben würden, sich auf geeigneten Planeten anzusiedeln. Wurden sie jedoch angegriffen, so war die Flotte so ausgerüstet, daß sie kämpfen – und notfalls fliehen konnte. Das Ver104
bot, Antineutron-Kanonen einzusetzen, hatte er bereits aufgehoben. Gegen diese verheerende Waffe gab es keine Abwehr. Soviel er wußte, konnte kein Schirm die Antimaterie-Partikel aufhalten. Die Flotte war schon in Alarmbereitschaft für eine Schlacht. Für Asquiol war im Augenblick nichts weiter zu tun als abzuwarten. Seine Gedanken kehrten zu einem anderen Problem zurück. Das Besiedeln neuer Planeten war eine Kleinigkeit, verglichen mit der Aufgabe, die Stellung der Schöpfer zu übernehmen. Er stellte sich seine Rasse als ein Küken im Ei vor. Es lebte innerhalb der Schale, und von der Außenwelt wußte es nichts. Doch dann durchbrach es die Schale, die Dimensionsschranken, die ein Universum vom anderen trennten, und es bekam einen ersten Eindruck von der wahren Natur der Dinge. Ein Küken mag glauben, dachte Asquiol, mit dem Zerbrechen der Eierschale sei es jetzt ein für allemal getan, und die ganze Welt liege sichtbar vor ihm. Doch dann entdeckt es den Bauernhof und die Umgebung mit all ihren Gefahren. Es entdeckt, daß es nur ein Küken ist und noch viel lernen muß, wenn es überleben will. Und welches Schicksal erwartete die meisten Küken? fragte sich Asquiol ironisch. Wie viele andere Rassen waren wohl schon, seit das Multiversum existierte, so weit gekommen wie die menschliche Rasse jetzt? Sie allein konnte die Schöpfer ablösen, und wenn es ihr nicht gelang, würde das Multiversum zurückstürzen in das Chaos, aus dem die Schöpfer es einst gebildet hatten. Dies Wissen befähigte ihn, sein Ziel unverrückt vor Augen zu behalten. Die Rasse durfte nicht sterben, sie mußte überleben und sich weiterentwickeln, mußte die Bestimmung erreichen, die ihr als Geburtsrecht zugesprochen war. Die Rasse mußte rechtzeitig die Fähigkeit erwerben, auf den Platz der Schöpfer zu rücken. Hatte sie dazu noch genug Zeit? 105
Asquiol wußte es nicht. Er hatte keine Möglichkeit, den Zeitpunkt zu bestimmen, zu dem die Schöpfer sterben würden. Daher mußte er Jahrhunderte der Evolution in die kürzestmögliche Zeitspanne pressen. Würde er seine Mission erfüllen können, wenn sie von Gefahr bedroht wurden? Es war durchaus möglich, daß die Menschheit durch eine falsche oder von Furcht beeinflußte Entscheidung ihr Geburtsrecht beiseite warf. Sogar jetzt gab es Elemente in der Flotte, die Asquiols Führerschaft in Frage stellten, die Zweifel an seinen Motiven hatten. Der Mensch war nun einmal ein mißtrauisches Wesen. Ohne diese Eigenschaft würde er aufhören zu denken; mit dieser Eigenschaft hörte er oft auf zu handeln. Die Lösung des Problems war, diesen besonderen Charakterzug richtig zu verwerten. Aber wie ließ sich das bewerkstelligen? Ohne Vorankündigung erschien Mordans Gesicht wieder auf dem Schirm. Er starrte ins Leere, weil es ihm unangenehm war, seine Augen auf Asquiols beunruhigendes Bild zu richten. »Diese Intelligenzen bereiten sich offensichtlich darauf vor, uns anzugreifen«, stieß er hervor. Also war es zum Schlimmsten gekommen. Sie mußten sich dem Feind stellen. »Welche Maßnahmen haben Sie ergriffen?« erkundigte Asquiol sich ruhig. »Ich habe Alarm gegeben, und alle wichtigen Schiffe – die Verwaltungs-, Farm- und Fabrikschiffe – sind jetzt durch Energieschirme geschützt. Ich beabsichtige, sie im Zentrum unserer Formation zu versammeln, denn sie sind für das Überleben von entscheidender Bedeutung. Rings um sie werden die Wohnschiffe angeordnet. Einen dritten Kreis bilden die Kampfeinheiten einschließlich der Privatschiffe, die über ausreichende Bewaffnung verfügen. Die Operation verläuft reibungslos bis auf ein paar Unruhestifter, mit denen ich Schwierigkeiten habe. Ihr Schiff wird so eingeschlossen werden, daß sie vollständig geschützt sind.« Asquiol holte tief Atem. »Ich danke Ihnen, Lord Mordan. Sie 106
haben gute Arbeit geleistet.« Mordan kam es vor, als sei auch die Stimme vielfältig wie das Bild und erzeuge von weither zurückgeworfene Echos. »Wie wollen Sie mit den Leuten verfahren, die sich Ihren Anordnungen widersetzen?« »Ich habe mich mit den anderen Mitgliedern des Galaktischen Rates besprochen, und wir sind zu einem Schluß gekommen, für den ich Ihre Zustimmung erbitte.« »Welcher Schluß ist das?« »Wir müssen härter vorgehen können. Daher sollten wir den Notstand ausrufen, der nach Beendigung der Gefahr für null und nichtig erklärt werden kann.« »Die Geschichte zeigt, wie gefährlich eine solche Maßnahme ist«, wandte Asquiol ein. »Eine Diktatur pflegt bestehenzubleiben, auch wenn die Umstände, die sie erforderlich machten, sich längst geändert haben. Seit Jahrhunderten hat es unter uns keinen Zwang und keine Gewalt mehr gegeben!« »Asquiol – wir haben keine Zeit für eine Debatte!« Asquiol traf sofort seine Entscheidung. Im Augenblick war nichts anderes wichtig als das Überleben. »Gut. Erklären wir den Notstand. Zwingen Sie die Widerspenstigen, Ihren Befehlen zu gehorchen. Aber achten Sie darauf, daß es nicht zu einem Machtmißbrauch kommt. Andernfalls werden wir uns eher geschwächt als gestärkt finden.« »Das wissen wir. Ich danke Ihnen.« Asquiol beobachtete in beunruhigter und sorgenvoller Stimmung, wie die Flotte sich neu formierte. Sein eigenes altes, zerschrammtes Schiff wurde in die Mitte genommen, so daß es wie eine Nuß in einer außerordentlich dicken Schale lag.
107
XI. Adam Roffrey war ein Psychopath. Er rebellierte ohne Grund, er haßte Staat und Organisation. Adam Roffrey sah finster zu, wie die Schiffe rings um ihn auf ihre neuen Standorte zustrebten. Er blieb, wo er war, und er dachte gar nicht daran, die bei ihm eintreffenden Anrufe zu beantworten. Sein großer Kopf, der von dickem schwarzem Haar und Bart noch größer gemacht wurde, gab ihm ein stures, verbissenes Aussehen. Er weigerte sich, irgendwelchen Befehlen zu gehorchen. Das war sein gutes Recht. Er hatte das Recht der Galaxis oft gebeugt, denn dem Bürger standen umfangreiche und verschiedenartige Rechte zu. Er konnte nicht gezwungen werden, an einem Krieg teilzunehmen. Ohne seine Einwilligung konnten die Behörden sich nicht einmal mit ihm in Verbindung setzen. Daher rührte er sich nicht von der Stelle. Als Lord Mordans Bluthundgesicht ohne Erlaubnis auf seinem Bildschirm erschien, verbarg Roffrey seinen Schreck und zeigte nur ein ironisches Lächeln. Leichthin, wie es stets seine Art auch bei den schwerstwiegenden Äußerungen war, erklärte er: »Es ist ein hoffnungsloser Fall, Lord Mordan. Wir haben keine Aussicht auf einen Sieg. Der Feind muß eine ungeheuerliche Oberzahl haben. Asquiol zwingt die menschliche Rasse, Selbstmord zu begehen. Stimmen wir ab?« »Nein«, antwortete Mordan, »das tun wir nicht. Für die Dauer des Notstandes können alle Rechte des Bürgers wenn notwendig außer Kraft gesetzt werden. Sie haben keine Wahl, als den Befehlen Asquiols und des Galaktischen Rates zu gehorchen. Asquiol weiß, was am besten ist.« »Er weiß nicht, was für mich am besten ist. Ich bin gewöhnt, für mich selbst zu sorgen.« Lord Mordan betrachtete stirnrunzelnd den schwarzbärtigen 108
Riesen, der ihn aus dem Laser-Schirm angrinste. »Niemand verläßt die Flotte, Roffrey. Erstens ist es zu gefährlich und zweitens müssen wir zusammenhalten, wenn wir überleben wollen.« Die letzten Worte richtete er an einen leeren Schirm. Er wirbelte seinen Sessel herum und rief einem gerade vorbeigehenden Captain zu: »Alarm für die Perimeter-Wache! Es ist möglich, daß ein Schiff sich davonmachen will. Es muß aufgehalten werden!« »Wie, Lord Mordan?« »Mit Gewalt – wenn es keine andere Möglichkeit gibt.« Es war ein Schock für den Captain, der in seiner ganzen Dienstzeit noch keinen solchen Befehl erhalten hatte. Adam Roffrey war sein Leben lang antisozial gewesen. Seinen Lebensunterhalt hatte er in der Grauzone des Gesetzes verdient. Er war nicht bereit, sich jetzt den Forderungen der Gesellschaft zu beugen. Der Kampf war von vornherein verloren – seiner Meinung nach –, und er sah nicht ein, warum er noch lange herumhängen sollte. Die Disziplin, die bei komplizierten Raumschlachten notwendig ist, widerstrebte ihm. Er würde sich nicht herumkommandieren lassen! Deshalb brach er die Siegel an seiner Antineutron-Kanone und bereitete sich darauf vor, sie abzufeuern. Als er sich von der Flotte absonderte, schossen aus Nadir-Nord-West mehrere G.P.-Boote auf ihn zu. Er rieb sein haariges Kinn, kratzte seine hohe Stirn und streckte eine Hand nach der Antriebskontrolle aus. Mit voller Kraft zog er sich zurück, weg von den Polizeibooten, weg von der Flotte, hinein in ein unbekanntes Gebiet des unbekannten Universums. Er war bereit, jedes Risiko einzugehen, um nur seine persönliche Freiheit nicht antasten zu lassen. Aber auf lange Sicht konnte er den Polizeischiffen nicht entkommen. Schon holten sie auf. 109
Roffrey summte vor sich hin und überlegte, was er nun tun solle. Es gab eine sichere Möglichkeit, sowohl der Polizei als auch der riesigen Flotte kugelförmiger Schiffe, die aus den Tiefen des Raums zum Angriff ansetzten, zu entkommen. Aber die Gefahr dabei war, daß er vielleicht niemals wieder ein menschliches Wesen zu Gesicht bekommen würde. Natürlich war auch sein Schiff mit dem I.-T.-Antrieb ausgerüstet, und er hatte sich zudem die Mühe gemacht, alles zu lernen, was es über den multidimensionalen Raum und gewisse Dinge, die sich in ihm befanden, zu lernen gab. Ganz plötzlich wußte er, wohin er gehen würde. Der Gedanke daran hatte schon seit Jahren in ihm geschlummert. Nun zwang ihn die Notwendigkeit dazu. Die G.P.s kamen näher. Die beiden Flotten lagen weit zurück. Roffrey sah auf seinem Schirm farbiges Licht aufflakkern. Die Schlacht hatte begonnen. Halb fühlte er sich erleichtert, halb schuldbewußt, daß er nicht daran teilnahm. Er war kein Feigling, aber er hatte etwas anderes zu tun. Ein schneller Blick zu den Gleichungen auf dem Monitor, und seine Hand griff nach den roh zusammengebauten Kontrollen für den I.-T.-Antrieb. Er drückte einen Hebel, justierte die Schalter, und ganz plötzlich schienen die G.P.-Schiffe zu verblassen. An ihre Stelle trat ein Hintergrund aus flammenden Sonnen, die seine Augen blendeten. Wieder erlebte er das einzigartige Gefühl des Fallens durch die Schichten des Multiversums. Die Sonnen wurden durch kaltes Vakuum ersetzt, dies durch wirbelnde Gase in Scharlachrot und Grau. Er raste von Universum zu Universum, ohne daß ihm mehr passierte als ein leichtes Gefühl von Übelkeit im Magen. Er war fest entschlossen, sein Ziel zu erreichen. Die G.-P.-Schiffe waren ihm nicht gefolgt. Wahrscheinlich hatten sie es als vordringlich angesehen, der menschlichen 110
Flotte zu Hilfe zu eilen. Roffrey reiste durch Raum, Zeit und durch die trennenden Dimensionen. Er steuerte in die Richtung, wo sein HeimatUniversum und der Rand seiner Galaxis gewesen waren. Er hatte die Koordinaten, die er brauchte, und während er sich auf einer Ebene bewegte, sausten die anderen mit wahnsinniger Geschwindigkeit an ihm vorbei. Er wußte, wohin er wollte – aber ob er es schaffen würde, das war eine andere Frage. * Asquiol von Pompeji sah auf seinen Schirmen der Schlacht mit einem Gefühl zu, das der Hilflosigkeit nahekam. Mordan hatte den Befehl und brauchte von ihm nur die grundlegenden Anweisungen. Tue ich alles, was ich tun könnte? fragte er sich. Nehme ich das, was ich entdeckt habe, nicht zu ruhig hin? Für ihn war es leicht, die Flotte zu beherrschen, denn sein Geist war biegsam und stark, und seine körperliche Erscheinung erfüllte die Menschen mit Ehrfurcht. Aber ganz zufrieden war er nicht. Ihm war, als fehle in einem Puzzle-Spiel noch ein einziges Stück, und das liege auf quälende Weise gerade außerhalb seiner Reichweite. Er fühlte, daß das Stück irgendwo im Multiversum existierte. Vielleicht war es eine andere Intelligenz, mit der er seine Gedanken und Erfahrungen austauschen könnte. Doch er wußte nicht, was das fehlende Stück war und wie er es finden sollte. Ohne es war sein Bild von sich selbst unvollständig. Er funktionierte, aber er konnte sich nicht weiterentwickeln. Hatten die Schöpfer ihm das absichtlich angetan? Oder hatten sie einen Fehler begangen? Zuerst hatte er gedacht, das Gefühl, unvollständig zu sein, werde durch den Verlust Renarks hervorgerufen. Aber den 111
Verlust Renarks trug er in sich und spürte ihn deutlich. Nein, das war ein anderer Mangel. Ein Mangel an was? Er beugte sich näher an den Schirm und beobachtete die Schlacht. Gerade rollte eine neue Welle von Angreifern an. Der Feind war gegen die Antineutron-Kanone nicht unverletzlich, aber die technische Entwicklung war bei beiden Flotten ungefähr gleichwertig. Die Fremden hatten die größere Zahl auf ihrer Seite und außerdem den doppelten Vorteil, daß sie sich auf heimatlichem Territorium befanden und es verteidigten. Das vor allem beunruhigte Asquiol. Im Augenblick konnte er jedoch nichts Wesentliches tun. Er mußte warten. Während Mordan alle Hände voll zu tun hatte, um die neue Attacke zurückzuwerfen, ließ Asquiol seine Gedanken und sein Sein durch das Multiversum sinken und nahm Verbindung mit dem fremden Kommandeur auf. Wenn es ihm nicht gelang, Frieden zu schließen, wollte er wenigstens versuchen, einen Waffenstillstand auszuhandeln. Zu seiner großen Überraschung schien sein Vorschlag nicht auf Widerstand zu stoßen. Es gab eine Alternative zum Kampf mit den Waffen – eine, die die Fremden mit Freuden vorziehen würden. Was war das? Das Spiel, sagten sie. Spielt das Spiel mit uns. Alles gehört dem Sieger. Nachdem er in etwa eine Vorstellung von dem Spiel gewonnen hatte, überlegte Asquiol. Es gab Für und Wider … Endlich stimmte er zu, und gleich darauf zogen sich die feindlichen Schiffe in den leeren Raum zurück. Mit einigem Zagen informierte er Mordan über seinen Entschluß. Lord Mordan geriet aus der Fassung. Was Krieg war, wußte er. Das hier konnte er nicht verstehen. Alle Psychologen, Psychiater, Physiologen und Wissenschaftler verwandter Fachbereiche wurden in das große Fabrikschiff beordert, das die Ingenieure bereits umbauten. 112
Von jetzt an sollte, laut Asquiols Anweisung, die Schlacht nur von diesem einen Schiff aus geführt werden – und es war nicht einmal bewaffnet! Asquiol war nicht erreichbar, denn er konferierte in seinem eigenen Schiff auf seine Weise mit dem fremden Kommandeur. Von Zeit zu Zeit unterbrach er die Besprechung und gab merkwürdige Befehle durch. Es ging um ein Spiel. Was sollte das für ein Spiel sein, fragte sich Lord Mordan, zu dem man Psychologen als Teilnehmer brauchte? Was sollte die komplizierte elektronische Anlage, die die Techniker in dem umgebauten hinteren Teil des Laderaums installierten? »Das ist unsere einzige Chance zu siegen«, hatte Asquiol zu ihm gesagt. »Eine kleine Chance – aber wenn wir lernen, das Spiel richtig zu spielen, können wir diese Chance nutzen.« Mordan seufzte. Wenigstens gab der Waffenstillstand ihnen Gelegenheit, sich neu zu gruppieren und Reparaturen durchzuführen. Die Verluste waren hoch. Zwei Drittel der Flotte waren zerstört worden. Farm- und Fabrikschiffe arbeiteten auf Hochtouren, um die Versorgung sicherzustellen. Aber es war eine strenge Rationierung eingeführt worden. Die Menschen ernährten sich von Notrationen. Die ursprüngliche Freude, dem Untergang entronnen zu sein, hatte düsterer Verzweiflung weichen müssen. Adam Roffrey konnte sein Ziel sehen. Mit einem Ruck schaltete er den I.-T.-Antrieb ab und trieb auf das vor ihm liegende System zu. Es hing im leeren Raum. Um hell leuchtende Zwillingssonnen drehten sich elf Planeten, deren Umrisse neblig verschwommen waren. Das Epos von Renarks und Asquiols Besuch der Verbannten Welten war allgemein bekannt, aber die Geschichte – oder zumindest ein Teil davon – hatte für Roffrey eine besondere Bedeutung. 113
Renark und Asquiol hatten zwei Mitglieder ihrer Gesellschaft zurückgelassen: Willow Kovacs und Paul Talfryn. Roffrey kannte ihre Namen. Doch wichtiger für ihn war ein dritter, der Name einer Frau, der Frau, die er finden wollte. Wenn er sie diesmal nicht fand, sagte er zu sich selbst, dann würde er sich damit abfinden müssen, daß sie tot war. Dann würde er sich auch mit seinem eigenen Tod abfinden müssen. So besessen war er von seinem Vorhaben. Neugierig betrachtete er die Verbannten Welten. Sie hatten sich verändert. Die Planeten hatten normale Abstände. Sie hielten nicht mehr, wie er gedacht hatte, alle die gleiche Entfernung von den Sonnen ein. Und soweit er es erkennen konnte, wanderte das System nicht mehr durch die Dimensionen. Einzelheiten der Geschichte, die schnell zu einem Mythos wurde, fielen ihm ein. Die Shaarn, eine hundeähnliche Rasse, hatten versucht, das System auf seiner Bahn anzuhalten. Offensichtlich hatten sie damit Erfolg gehabt. Roffrey näherte sich Entropium vorsichtig, denn er wußte, daß zwei Gefahren auf ihn lauerten, die Thron und die gesetzlose Natur des Wanderers selbst. Aber weder Feind noch Chaos behinderten ihn, als er nach der einzigen Stadt suchte, die je auf diesem Planeten gebaut worden war. Auch die Stadt war nicht da. Allerdings entdeckte er die Stelle, wo sie einmal gewesen war. Dort befand sich nur noch ein Trümmerhaufen. Er landete auf verbogenen Stahlstücken und zerschmetterten Betonteilen. Schattenhafte Gestalten huschten durch die Ruinen und die dunklen Krater. Wie mochte es zu dieser Katastrophe gekommen sein? Mit wehem Herzen stieg er schließlich in einen Raumanzug, versah sich mit einer Antineutron-Pistole, stieg zur Schleuse hinab und setzte seine Stiefel auf die Oberfläche des Planeten. Ein Energiestrahl schoß aus einem Krater hervor und verteilte sich auf seinem Schutzschirm. Roffrey taumelte zurück, 114
lehnte sich gegen eine der Landefinnen des Schiffs und riß die Pistole aus dem Holster. Aber er feuerte nicht gleich, denn wie jedermann fürchtete er die verheerenden Folgen einer Antineutron-Waffe. Eine nichtmenschliche Gestalt – Roffrey erkannte schneeweiße Haut, die wie geschmolzene Plastik einen gedrungenen Rumpf, lange Beine und kurze Arme überzog, aber, soweit er sehen konnte, keinen Kopf – tauchte am Rande des Kraters auf. Sie hielt ein langes Metallrohr in den Armen und zielte auf ihn. Er feuerte. Der Todesschrei des Wesens hallte in seinem Helm wider. Es brach zusammen, schmolz und verschwand. »Hierher!« Roffrey drehte sich um und erkannte eine menschliche Gestalt in Lumpen, die ihm zuwinkte. Er rannte hin. In einem Krater, der mit Trümmern verschanzt war, fand Roffrey eine Handvoll menschlicher Wracks, die Überlebenden von Entropium. Der zum Skelett abgemagerte Mann, der ihm gewinkt hatte, sagte: »Wir verhungern! Haben Sie Vorräte dabei?« »Was ist geschehen?« Roffrey fühlte sich krank. »Wir wissen es nicht. Alles kaputt. Auch die Schiffe.« »Geben Sie mir Deckung, damit ich an mein Schiff gelangen kann«, bat Roffrey. »Ich komme zurück.« Wenig später brachte er eine Schachtel mit Notrationen an, über die die zerlumpten Menschen gierig herfielen. Etwas Furchtbares war dem Planeten zugestoßen – vielleicht dem ganzen System. Er mußte erfahren, was und warum. Jetzt trennte sich eine Frau von der Gruppe. Der Mann mit dem Totenkopf folgte ihr. Sie sprach Roffrey an: »Sie müssen aus der Heimatgalaxis kommen. Wie haben Sie es hierher geschafft? Haben sie herausgefunden, wie der Wanderer funktioniert?« »Sie meinen Renark und Asquiol?« 115
Roffrey sah sich die Frau genau an, aber er kannte sie nicht. Früher einmal mußte sie schön gewesen sein. Vielleicht war sie es unter Schmutz und Lumpen immer noch. »Sie sind durchgekommen, und sie haben mehr entdeckt, als sie gesucht haben. Unser ganzes Universum existiert nicht mehr, aber die menschliche Rasse ist entkommen. Inzwischen kann auch sie ausgelöscht worden sein, ich weiß es nicht.« Der Mann mit dem Totenkopf legte einen Arm um die Frau. »Er wollte dich damals nicht, und er wird dich heute auch nicht wollen«, sagte er. »Halt den Mund, Paul«, gab sie zurück. Sind Renark und Asquiol in Sicherheit?« Roffrey schüttelte den Kopf. »Renark ist tot. Asquiol ist okay – er führt die Flotte an. Die Galaktischen Lords haben ihm für die Dauer des Notfalls die Leitung übertragen.« Er wußte jetzt, wer der Mann und die Frau waren. Er richtete seine Blick auf den Mann. »Sind Sie Paul Talfryn?« Talfryn nickte. Er wies mit dem Kopf auf die Frau, die die Augen niederschlug. »Das ist Willow Kovacs – meine Frau … Asquiol hat uns erwähnt, wie? Ich nehme an, er hat Sie nach uns geschickt?« »Nein.« Willow Kovacs erschauerte. Roffrey hatte den Eindruck, daß sie Talfryn nicht mochte. In ihren Augen stand eine Art von apathischem Haß. Wahrscheinlich betrachtete sie Talfryn nur als Beschützer, wenn überhaupt das. Es ging ihn jedoch nichts an. »Was ist mit dem Rest der menschlichen Bevölkerung geschehen?« erkundigte Roffrey sich. »Sind alle tot?« »Haben Sie etwas gesehen, als Sie durch die Ruinen gegangen sind?« fragte Talfryn zurück. »Vielleicht kleine, forthuschende Tiere?« Roffrey hatte sie gesehen. Er hatte sie widerwärtig gefunden, wenn er auch nicht wußte, warum. 116
Talfryn fuhr fort: »Alle diese kleinen Geschöpfe waren einmal intelligente Wesen. Aus irgendeinem Grund hörte der Wanderer auf zu wandern. Es gab eine lange Zeit absoluten Wahnsinns, bevor wieder so etwas wie Ruhe einzutreten schien. Als der Ärger begann, fingen die Körper der Menschen wie auch der Nichtmenschen an, sich zu verändern, sich zurückzuentwickeln. Irgendwer sagte, das liege am Druck der Veränderung, kombiniert mit durch das Anhalten hervorgerufenen Zeitrissen, aber ich habe das nicht verstanden. Ich bin kein Wissenschaftler – ich bin Astrogeograph. Ohne Lizenz, wissen Sie …« Er schien in Gedanken zu versinken. Plötzlich blickte er wieder auf. »Die Stadt zerbröckelte einfach. Es war grauenhaft. Viele Leute wurden verrückt. Ich nehme an, Asquiol hat Ihnen erzählt …« »Ich habe Asquiol nie persönlich kennengelernt«, unterbrach Roffrey ihn. »Alle meine Informationen sind aus zweiter Hand. Ich bin hauptsächlich hergekommen, um eine bestimmte Frau zu finden. Sie hat Renark geholfen. Die Irre Mary. Kennen Sie sie?« Talfryn wies nach oben auf den gestreiften Himmel. »Tot«, fragte Roffrey. »Weg«, antwortete Talfryn. »Als die Stadt begann, zusammenzubrechen, nahm sie sich eins der wenigen Schiffe und verschwand im Raum. Wahrscheinlich hat sie sich selbst umgebracht. Sie war wie eine Besessene, und sie war ja schon vorher nicht bei Verstand. Es war, als würde sie von einer fremden Macht gezwungen, so zu handeln. Wie ich hörte, wollte sie nach Roth. Das allein war schon der helle Wahnsinn. Und dann nahm sie sich auch noch eins der besten Schiffe, verdammt! Ein schönes Schiff – Mark Seven Hauser.« »Sie ist nach Roth geflogen? Ist das nicht der besonders eigenartige Planet?« »Wie ich sagte, es war Wahnsinn, nach Roth zu gehen. Falls sie dort angekommen ist.« 117
»Danke für die Auskunft.« Roffrey wandte sich ab. »He!« In das Skelett kam auf einmal Leben. »Sie werden uns nicht hier zurücklassen! Nehmen Sie uns mit! Um Gottes willen, bringen Sie uns zur Flotte!« »Ich will nicht zurück zur Flotte«, erwiderte Roffrey. »Ich gehe nach Roth.« Willow schrie: »Dann nehmen Sie uns mit nach Roth! Überall ist es besser als hier!« Roffrey überlegte. Schließlich sagte er: »Okay.« Als sie auf das Schiff zugingen, huschte etwas Kleines, Schuppiges über den Weg. Es hatte mit keinem Tier, das Roffrey kannte, Ähnlichkeit, und er wünschte sich, es nicht noch einmal sehen zu müssen. Entropium hatte schon in seiner Blütezeit den Keim der Zerstörung in sich getragen, und nun herrschte die Zerstörung, die Manifestation einer Geisteskrankheit. Es war ein ungesunder Ort, wo intelligente Spezies wie Tiere ums Überleben kämpften. Entropium war wegen seiner verfaulten Seele zusammengebrochen. Roffrey war froh, wieder ins Schiff zu kommen. Als Willow und Talfryn in die Schleuse kletterten, warf er mit finsterem Gesicht einen letzten Blick auf die Ruinen. Dann wandte er seine Gedanken der Irren Mary zu.
XII. Roffreys Karten zeigten den Wanderer nicht so, wie er jetzt aussah, aber er konnte die einzelnen Planeten trotzdem identifizieren. Roth war neuerdings am weitesten von den Zentralgestirnen entfernt, als sei der Planet absichtlich von dem übrigen System getrennt worden. Roth, auch Flecken-Ruth genannt, verachtete stärker als die anderen Planeten die Naturgesetze, die im ganzen Kosmos galten. Immer noch gab es dort die unmöglichen Lücken. Zwei 118
Männer hatten dort einen Superverstand entwickelt. Aber Mary, die arme Mary, die ihnen geholfen hatte – sie hatte nur den Wahnsinn gefunden. War sie zurückgegangen, um den Geist zu bannen, der ihr Wahnsinn war? Oder beruhten ihre Motive auf ihrem Wahnsinn? Vielleicht würde er es herausfinden. Der Planet war nun schon groß auf den Schirmen. Roffrey sah die monströse Kugel mit ihrer gefleckten Aura, den wirbelnden, leuchtenden Nebeln, den schwarzen Stellen und, dem Schlimmsten von allem, den Lücken. Die Lücken waren eher unsichtbar als sichtbar. Es sollte etwas dort sein, aber das menschliche Auge konnte es nicht erkennen. Roffrey brachte das Schiff durch Roths mal stärker, mal schwächer anziehende Gravisphäre und schwang sich hinunter auf die abweisende Oberfläche, die Wellen warf wie eine See aus geschmolzener Lava. Willow und Talfryn – sie hatten sich gesäubert und sahen schon wieder etwas besser aus – keuchten bei dem Anblick entsetzt auf und murmelten vor sich hin. Roffrey runzelte die Stirn und fragte sich, was ihm an dieser beunruhigenden Welt so bekannt vorkomme. Dann fiel es ihm ein. Das eine Mal, als er Renark und Asquiol gesehen hatte, hatten sie eine ähnliche Eigenschaft gehabt. Es war schwer zu beschreiben, aber es hatte ausgesehen, als existierten ihre Körper auf verschiedenen Ebenen, die ein normaler Mensch nicht erfaßte. Aber dieser Planet war unheimlich. Die beiden Männer waren dagegen von Schönheit umflossen gewesen. Unheimlich! Das Wort spukte ihm im Kopf herum. Dann erfüllte ihn für eine einzige Sekunde eine Wärme, eine Freude, ein Entzücken, so berauschend und so kurzlebig, daß ihm war, als habe er in diesem Moment Leben und Tod erfahren. Er konnte nicht verstehen, und er er hatte auch keine Zeit 119
dazu, denn das Schiff schaukelte unter dem Zug von Roths wechselnder Schwerkraft. Roffrey brauchte seine ganze Geschicklichkeit. Er glitt niedrig über die kochenden Flammennebel, versuchte vergeblich, in die Lücken hineinzusehen, und hielt Ausschau nach einem Platz zur Landung. Hatte Mary vielleicht ebenso wie Renark versucht, die Schöpfer zu finden? Hatte etwas sie zurückgetrieben zu der Welt, die sie wahnsinnig gemacht hatte? Dann entdeckte er auf den Schirmen ein Schiff, ein von bedrohlich aussehenden Lichtnebeln umgebenes Schiff. Es war die Mark Seven Hauser. Marys Schiff. Sein Energraph zeigte ihm, daß der Antrieb aktiv war. Folglich war sie gerade gelandet oder eben dabei zu starten. Er mußte sich beeilen! Er setzte hart neben der Hauser auf und setzte sich mit ihr sofort durch einen enggebündelten Laserstrahl in Verbindung. »Irgendwer an Bord?« Es kam keine Antwort. Willow und Talfryn beugten sich jetzt über seine Schulter und betrachteten ebenfalls den Schirm. Roffrey suchte das umliegende Territorium so gut wie möglich ab. Seltsame Bilder flammten auf dem Schirm auf und verschwanden ebensoschnell wieder. Daß ein Mensch hier überleben konnte, war erstaunlich. Aber offenbar war es möglich. Asquiol und Mary waren lebende Beweise dafür. Es war jedoch leicht zu verstehen, daß ein Mensch wahnsinnig wurde, und kaum zu glauben, daß er es nicht wurde. Es war eine rohe, kochende, fürchterliche Welt, von der, wie es schien, nackte Bosheit und tückischer Zorn aufstiegen. Mary konnte leicht in einer der Lücken verschwunden oder auf andere Weise umgekommen sein. Roffrey preßte die Lippen zusammen und öffnete den Schrank mit den Raumanzügen. »Wenn ich Hilfe brauche, rufe ich euch über Funk«, erklärte 120
er und befestigte den Helm. Er ging auf den Aufzug zur Schleuse zu. »Ich bleibe auf Empfang. Wenn ihr etwas seht – irgendeine Spur von Mary –, laßt es mich wissen.« Sie sind ein Narr, daß Sie in diese Hölle hinausgehen«, sagte Talfryn dumpf. »Das ist nicht Ihre Angelegenheit«, gab Roffrey heftig zurück und schloß die Sichtplatte. »Wenn kein Zweifel mehr besteht, daß ich tot bin, können Sie mit dem Schiff machen, was Sie wollen. Ich werde nachsehen, was ich in der Hauser finde.« Schon war er unten und trat aus der Schleuse. Er ließ sich in eine Pfütze gelber Flüssigkeit hinab, die sich plötzlich in glänzenden Stein verwandelte. Irgend etwas schlüpfte und kratzte unter seinen Füßen. Seine Lippen waren trocken. Die Haut seines Gesichts schien rissig zu sein. Seine Augen konnten nichts klar erkennen. Aber das Schlimmste war die Stille. Seine Instinkte sagten ihm, daß das gespenstige Geschehen auf der Planetenoberfläche Lärm machen mußte. Aber dem war nicht so. Alles erschien durch das Fehlen jeden Geräusches noch unwirklicher. Einen Augenblick später konnte er sein eigenes Schiff nicht mehr sehen und stand vor der Hauser. Die Schleuse war weit offen. Gase wirbelten durch das Schiff. Er ging in die Kabine und fand Hinweise, daß die Pilotin erst kürzlich hiergewesen sein mußte. Neben dem Karten-Monitor lag ein Block mit hingekritzelten Zahlen. Die Gleichungen waren unverständlich – aber sie zeigten Marys Handschrift! Eine schnelle Durchsuchung des Schiffs brachte ihm nichts. Roffrey begab sich wieder nach draußen. Er strengte sich an, mit seinen Augen den wogenden Flammennebel zu durchdringen. Es war nervenzerfetzend. Und doch kämpfte er sich hindurch, blindlings nach einer wahnsinnigen Frau suchend, die überallhin gegangen sein konnte. Zwei Gestalten traten aus dem Nebel hervor und verschmol121
zen ebenso plötzlich wieder mit ihm. Roffrey war sicher, daß er einen der beiden Männer erkannt hatte. Er rief ihnen nach. Er wollte ihnen folgen, aber er sah sie nicht mehr. Dann erklang in seinem Funkgerät ein durchdringender Schrei auf. »Asquiol! Oh, Asquiol!« Roffrey fuhr herum. Es war Willow Kovacs’ Stimme gewesen. Suchte Asquiol nach ihm? War die Flotte geschlagen worden? Wenn ja, warum hatten die Männer seinen Ruf nicht beachtet? »Asquiol! Komm zurück! Ich bin es, Willow!« Doch Roffrey wollte die Irre Mary finden; er war an Asquiol nicht interessiert. Er begann zu rennen, stürzte durch Halluzinationen, durch Formen, die sich geräuschlos um ihn aufbauten, als wollten sie ihn verschlingen, durch türkisfarbene Tunnel, hinauf auf violette Berge. An manchen Stellen war die Schwerkraft niedrig, und er konnte große Sprünge machen, an anderen war es ihm kaum möglich, seinen Körper weiterzuschleppen. Eine Stimme drang an seine Ohren. Er wußte nicht, ob sie über den Helmfunk kam oder nicht. Er erkannte die Stimme. Sein Herz raste. »Es ist warm, warm … Wohin jetzt? Hier … aber … Laßt mich zurückgehen … Laßt mich …« Es war Marys Stimme. Einen Augenblick lang versteinerte ihn der Schock. Dann rief er: »Mary – wo bist du?« Es war wie in einem grauenhaften Traum, wenn man vor einer Gefahr nicht fliehen kann, wenn ein einziger Schritt jedes Quentchen Kraft und alle verfügbare Zeit verschlingt. Wieder krächzte er: »Mary!« Erst nach einigen Minuten vernahm er die Antwort: »Geh weiter! Nicht stehenbleiben!« 122
Er wußte nicht, ob die Worte an ihn gerichtet waren, aber er hielt es für das beste, ihnen zu gehorchen. Er schwankte und er fiel, aber er ging weiter. Dann war ihm, als sei der ganze Planet über ihm, er trage ihn wie Atlas auf seinen Schultern und breche langsam unter seinem Gewicht zusammen. Er schrie. Willows Stimme drang zu ihm durch: »Asquiol! Asquiol!« Was geschah hier? Es war alles verwirrend … Er fühlte seine Sinne schwinden. Er blickte nach oben und sah mehrere kleine Gestalten, die über den Planeten eilten, den er in den Händen hielt. Dann wuchs er und wuchs und wuchs … Erneut schrie er. Ein hohles Echo seines Schreis dröhnte in seinen Ohren. Sein Herz schlug so laut, daß sich seine Ohren mit dem Geräusch füllten. Er keuchte und stolperte, kroch über die wellige Oberfläche des Planeten, hing an ihm, als kralle er sich mit den Fingernägeln daran fest. Er war ein Gigant, größer als der winzige Planet – aber gleichzeitig war er eine Fliege, die durch Sirup und Watte kroch. Er lachte laut in seinem Wahnsinn. Er lachte und hielt plötzlich inne, griff nach den Fäden gesunden Verstandes und zog sie zusammen. Er stand an einer Stelle mit geringer Schwerkraft, und die Dinge sahen plötzlich so normal aus, wie sie es auf Roth nur konnten. Im Nebel sah er Mary stehen. Er lief auf sie zu. »Mary!« »Asquiol!« Die Frau war Willow Kovacs in einem Raumanzug – in Marys altem Raumanzug. Beinahe hätte er sie niedergeschlagen. Ihr enttäuschter Gesichtsausdruck hielt ihn auf. Er ging an ihr vorbei, änderte seine Meinung und kam zurück. »Willow, Mary ist hier, ich weiß es …« Plötzlich erkannte er 123
die mögliche Wahrheit. »Mein Gott, natürlich. Die Zeit ist hier so verdreht und verkrümmt, daß wir etwas sehen können, was irgendwann in Vergangenheit oder Zukunft geschehen ist!« Noch eine Gestalt taumelte aus dem Lichtnebel. Es war Talfryn. »Ich konnte sie vom Schiff aus nicht erreichen. Eine Frau ist da. Sie …« »Es ist eine Illusion, Mann. Gehen Sie zum Schiff zurück!« »Sie kommen mit mir. Es ist keine Illusion. Sie ist von selbst ins Schiff gekommen.« »Führen Sie mich zurück«, sagte Roffrey. Willow blieb, wo sie war. Sie weigerte sich mitzugehen. Schließlich mußten sie sie trotz ihrer Gegenwehr packen und wegtragen. Das Schiff war nur drei Meter entfernt. Die Frau trug einen Raumanzug, Sie lag auf dem Fußboden der Kabine. Roffrey beugte sich über sie und öffnete die Sichtplatte ihres Helms. »Mary«, flüsterte er. »Mary – Gott sei Dank!« Ihre Augen öffneten sich, die großen, sanften Augen, die früher einmal vor Intelligenz gesprüht hatten. Einen kurzen Moment lang war auch Intelligenz da – es war ein Blick von unglaublicher Bewußtheit. Dann verschwand er. Sie bewegte die Lippen, als wolle sie etwas sagen, doch sie verzogen sich nur zu einem idiotischen Grinsen, und sie verfiel in ein leeres Starren. Müde stand Roffrey auf. »Willow, helfen Sie ihr aus dem Anzug. Wir werden sie in eine Koje legen.« Willow funkelte ihn voller Haß an. »Asquiol ist da draußen … Sie sind schuld, daß ich ihn nicht gefunden habe!« Talfryn erklärte: »Auch wenn er da draußen sein sollte, will er dich nicht haben. Du jammerst nach ihm und wünschst, du wärst ihm damals gefolgt. Jetzt ist es zu spät. Du mußt dich damit abfinden, Willow, du hast ihn für immer verloren.« »Er braucht mich nur zu sehen, und er wird mich zurück124
nehmen. Er hat mich geliebt!« Ungeduldig sprach Roffrey Talfryn an: »Dann sollten Sie mir lieber helfen.« Talfryn nickte. Sie begannen, Mary den Raumanzug auszuziehen. Dabei versuchte Roffrey, Willow gut zuzureden: »Asquiol ist nicht da draußen, Willow – nicht jetzt. Sie haben etwas gesehen, das wahrscheinlich vor Jahren geschehen ist. Der andere Mann war Renark – und Renark ist tot! Verstehen Sie?« »Ich habe ihn gesehen. Er hat gehört, daß ich ihn gerufen habe.« »Mag sein. Ich weiß es nicht. Grämen Sie sich nicht, Willow. Wir kehren zur Flotte zurück, wenn wir können – und wenn es sie noch gibt. Dann werden Sie ihn wiedersehen.« Talfryn riß mit einem heftigen Ruck Mary ein Stück ihrer Ausrüstung vom Körper, aber er sagte nichts. Seine Zähne waren fest zusammengebissen. »Sie wollen zur Flotte zurück? Aber Sie haben doch gesagt …« Willows Gesicht zeigte einen eigentümlichen Ausdruck, eine Mischung aus Erwartung und Nachdenklichkeit. »Mary braucht ärztliche Behandlung. Sie kann sie nur bekommen, wenn ich sie zur Flotte bringe. Daher kehre ich zurück. Es wird sicher auch Ihren Wünschen entsprechen.« »Das tut es«, antwortete sie. Roffrey ging zu den Bullaugen und schloß sie, so daß sie Roths Oberfläche nicht mehr sehen konnten. Es gab ihnen die Illusion von Sicherheit. Plötzlich erklärte Talfryn: »Ich hab’s kapiert, Willow. Du hast es klar genug gemacht. Von nun an werde ich dich nicht mehr belästigen.« »Daran tust du gut.« Sie wandte sich an Roffrey: »Und das gilt auch für Sie, das gilt für jeden Mann. Ich gehöre Asquiol, das werden Sie sehen, wenn wir wieder zur Flotte kommen.« »Keine Bange«, grinste er. »Sie sind gar nicht mein Typ.« 125
Gekränkt warf sie ihr Haar zurück. »Danke.« Roffrey lächelte Mary an, die sich wimmernd auf ihrer Koje krümmte. »Du bist mein Typ, Mary«, sagte er herzlich. »Das ist grausam«, fuhr Willow scharf dazwischen. »Sie ist meine Frau«, gab Roffrey zurück, und Willow entdeckte eine Spur von dem, was sich hinter seinem Lächeln verbarg. Sie wandte sich ab. Roffrey versagte es sich, über das Ausmaß von Marys geistiger Störung nachzudenken. Das wollte er den Psychiatern der Flotte überlassen. Mary wich vor ihm zurück, als er sich über sie beugte. Sehr sanft drückte er sie auf die Koje und befestigte die Sicherheitsgurte. Es schmerzte ihn, daß sie ihn nicht erkannte, aber trotzdem lächelte er und summte vor sich hin, als er auf den Pilotensitz kletterte, einen Hebel bewegte, ein paar Skalenscheiben justierte und eine Reihe von Schaltern kippte. Gleich darauf wurde sein Summen vom Dröhnen des Antriebs übertönt. In einem Augenblick waren sie im tiefen Raum. Der Start war so leicht gegangen, daß Roffrey das Gefühl hatte, eine freundliche Hand habe sie von hinten angeschoben … Wieder rauschte er von Kontinuum zu Kontinuum auf der Suche nach der Raumzeit, in der er die Flotte der Menschheit zurückgelassen hatte. In der Zwischenzeit quälten sich menschliche Gehirne damit ab, das Spiel beherrschen zu lernen. Bei manchen zerbrach der Verstand, zerrissen die Nerven. Doch obwohl er kaum erfaßte, um was es eigentlich ging, zwang Lord Mordan sein Team weiterzumachen. Er war überzeugt davon, daß das Überleben der Menschheit von ihrem Sieg in diesem Spiel abhing … *
126
Pfeiftöne waren die ersten Eindrücke, die Roffrey empfing, als er sein Schiff aus der Raumzeit des Wanderers in das nächste Kontinuum dirigierte. Plötzlich erhellte sich der Raum rings um sie mit Sternen, eine ein wenig fremdartig anmutende, spiralenförmige Galaxis wirbelte um sie. Das Pfeifen wurde durch ein fürchterliches Stöhnen ersetzt. Es erfüllte das Schiff und machte es unmöglich, miteinander zu sprechen. Roffrey konzentrierte sich auf die neuen Instrumente. So wenig Erfahrung er auch mit Kontinuum-Reisen hatte, er wußte doch, wie leicht es passieren konnte, daß ein Schiff durch die verschiedenen Lagen zurückrutschte und für immer verlorenging. Über dem Hauptschirm hatte er eine Karte, die es ihm ermöglichte, das Universum, in das die menschliche Rasse geflohen war, sofort wiederzuerkennen. Aber die Reise war gefährlich, und vielleicht erreichte er sein Ziel nie. Aus dem eintönigen Stöhnen wurde ein nervenzerfetzendes, an- und abschwellendes Heulen. Roffrey steuerte das nächste Kontinuum an. Die Galaxis, in die er eintrat, war ein Inferno ungeformter Materie, die in archetypischen Farben – Rot, Weiß, Schwarz, Gelb – langsam durcheinanderfloß. Dies Universum befand sich entweder im Stadium der Geburt oder dem der Auflösung. Beim Übergang in das nächste Kontinuum herrschte beinahe vollkommene Stille. Roffreys fröhliches Pfeifen, das er die ganze Zeit nicht eingestellt hatte, war wieder zu vernehmen. Dann hörte er Mary wimmern und brach ab. Jetzt befanden sie sich im Zentrum einer Galaxis. In allen Richtungen waren die Sterne dicht gedrängt. Dann waren die Sterne wieder verschwunden, und sie flogen durch eine turbulente Masse dunklen Gases, die sich zu gräßlichen, halb zu erkennenden Gestalten zu formen schien. Roffrey wurde so übel davon, daß er nicht länger hinsehen konnte, 127
sondern sich ganz auf seine Instrumente konzentrierte. Was er da ablas, ließ ihn entsetzt zusammenfahren. Er war vom Kurs abgekommen. Roffrey kaute auf seinem Schnurrbart und überlegte, was er tun solle. Den anderen sagte er nichts. Die Koordinaten entsprachen denen auf der Karte über dem Laser-Schirm. Wenn die Anzeigen der Instrumente richtig waren, befanden sie sich in der Raumzeit, in der sich Asquiol und die Flotte aufhielten. Was er hier sah, unterschied sich jedoch völlig von dem Anblick, an den er sich erinnerte. Durch die wirbelnden Gasmassen war kein einziger Stern zu sehen. War die Flotte vollständig ausgelöscht worden? Eine andere Erklärung gab es nicht. Ein Fluch entfuhr ihm. Das schwarze Gas erwachte plötzlich zum Leben, wurde zu einem blauen Ungeheuer mit vielen Tentakeln, mit flammenden, bösartigen Augen. Willow und Talfryn, die es auf dem Schirm erblickten, keuchten. Mary begann, durchdringend zu schreien. Das Schiff trieb genau auf das Monstrum zu. Wie konnte so etwas im Vakuum existieren? Für Theorien hatte Roffrey keine Zeit. Ein beißender Gestank erfüllte die Kabine, und die Bestie verwandelte ihre dunkelblaue Farbe in rasender Schnelligkeit in ein giftiges Gelb. Roffrey brach das Energie-Siegel an seiner AntineutronKanone, zielte und drückte den Feuerknopf. Dann ließ er das Schiff mit voller Kraft rückwärtsschießen. Es erbebte, während ein tödlicher Strom von Antineutronen sich dem Ungeheuer näherte. Es war unglaublich, doch es schien die Strahlen zu absorbieren. Neue Köpfe wuchsen ihm aus den Schultern – ekelerregende, halb menschliche Köpfe, die sabberten und brüllten, und sie konnten das Gebrüll hören! Roffrey drehte sich der Magen um. Talfryn beugte sich über ihn. »Was ist das?« rief er, Marys 128
Schreie übertönend. »Zum Teufel, woher soll ich das wissen?« fuhr Roffrey ihn an. Er bremste die Rückwärtsbewegung des Schiffes ab und feuerte erneut. Dann schwang er den Kontrollsitz herum. »Machen Sie sich nützlich, Talfryn. Prüfen Sie nach, ob die Koordinaten auf dieser Karte genau mit denen auf dem Schirm übereinstimmen.« Das Monstrum schwamm durch den dunklen Nebel auf das kleine Schiff zu. Seine Gesichter grinsten. Sie hatten keine Zeit, darüber nachzudenken, was es war, wie es im Raum leben konnte. Roffrey zielte auf den ursprünglichen Kopf und feuerte. Das Ungeheuer war verschwunden. Nur noch ein paar Nebelschwaden wogten in der Galaxis, die Roffrey sofort wiedererkannte. Sie waren im richtigen Kontinuum! Aber schon drohte eine neue Gefahr. Anstelle des Ungeheuers tauchte eine Schwadron schneller, kugelförmiger Raumschiffe auf. Sie sahen aus wie die, auf die er einen kurzen Blick geworfen hatte, bevor er die Flotte verließ. Waren das die Sieger, die die letzten Aufräumungsarbeiten erledigen wollten? Roffrey drehte sein Schiff den Angreifern entgegen, ließ die Antineutron-Kanone spucken und zog so schnell wie möglich davon. Etwas beunruhigte ihn. Er war kaum noch imstande, sich zu konzentrieren. Offensichtlich hatte Talfryn die gleichen Schwierigkeiten. Roffrey warf einen schnellen Blick zurück auf Mary. Ihr Mund stand weit offen. Sie schrie und schrie. Talfryn, der sich instinktiv an einem Handgriff festhielt, rief: »Die Koordinaten stimmen genau überein!« »Welche Neuigkeit«, antwortete Roffrey leichthin. Willow hatte sich zu Mary begeben und versuchte, sie zu trösten. Marys Körper war stocksteif. Mit glasigen Augen starrte sie geradeaus. Es war, als könne sie etwas sehen, das den anderen verborgen blieb. Ihre Schreie hallten in der engen Kabine 129
wider. Die Beleuchtung war trübe, denn Roffrey brauchte alle verfügbare Energie für die Beschleunigung. Willow blickte aus dem Bullauge. Der Raum lag leer und farblos vor ihr. Sie richtete die Augen wieder auf die beiden Männer und wurde überwältigt von einer scheußlichen Disharmonie aus Farben und Geräuschen aller Art – obszöne, schreckliche, niedrige Instinkte ansprechende Eindrücke, die ihr Gehirn so aufwühlten, daß es ihr beinahe unmöglich wurde, ihre fünf Sinne voneinander zu unterscheiden. Dann, als sie überhaupt nicht mehr sagen konnte, ob sie eine Farbe roch oder hörte, wurde ihr Kopf mit einem einzigen Gedanken erfüllt. Die Fähigkeiten, zu riechen, zu sehen, zu fühlen, zu hören und zu schmecken waren alle noch da, aber sie schlossen sich zu einem kombinierten Sinn zusammen, und dieser vermittelte ihr den Eindruck, daß alles blutrot war. Willow glaubte, sie sei tot. Roffrey brüllte etwas, und das Geräusch blieb für einen Augenblick in der Luft hängen, bis er sah, daß es mit der blutroten Disharmonie verschmolz. Er fühlte den Wahnsinn sich nähern und zurückweichen wie eine Flut des Entsetzens, denn jedes Mal kam er ein bißchen weiter an ihn heran. Sein Körper bebte unter der Anspannung, und die Vibrationen, die als blutrote Wolken durch die Kabine zogen, konnte er sehen – nein, hören. Sie hörten sich an wie der Klang einer gestopften Trompete. Grauen erfaßte ihn, als etwas anderes in seinen Gedanken nach oben kroch, etwas, das aus seinen ältesten Erinnerungen stammte, deren er sich nicht einmal bewußt gewesen war. Ekel vor sich selbst überkam ihn. Er erkannte plötzlich, welch ein erbärmlicher Mensch er war … Aber da war auch etwas – er wußte nicht, was es war –, das ihm in seiner Verwirrung half, das es ihm ermöglichte, sich an sein persönliches Sein zu klammern, den Wirrwarr regelloser Eindrücke und scheußlicher Gedanken auszuschwitzen und 130
zurückzuschlagen. Er schlug zurück! Mary zitterte in Willows Armen. Sie schrie nicht mehr. Die Wellen ebbten ab. Auch Willow schlug zu. Schlug zurück auf die namenlose Macht, die ihnen das antat. Allmählich arbeiteten ihre Sinne wieder normal. Mary verlor das Bewußtsein. Talfryn war auf dem Fußboden zusammengesunken, und Roffrey krümmte sich knurrend auf dem Kontrollsitz. Zu seiner Befriedigung sah er, daß die Antineutron-Kanone gute Arbeit geleistet hatte, obwohl er nicht genau hatte zielen können und nicht einmal richtig gewußt hatte, ob er zielte. Einige Schiffe machten sich davon, andere waren zu Trümmern verkrümmten Metalls geworden, das sich ziellos im leeren Raum drehte. Roffrey begann wieder zu pfeifen und justierte die Kontrollen. Dann fragte er: »Seid ihr dahinten alle in Ordnung?« Willow antwortete: »Was glaubst du denn, Supermann? Mary und Paul sind bewußtlos. Mary hat es schlimmer mitgenommen als jeden von uns. Es war, als sei sie das Ziel des Angriffs. Was war das eigentlich?« »Ich weiß es nicht. Vielleicht erhalten wir die Antwort bald.« »Wieso?« »Ich habe unsere Flotte gesichtet.« »Gott sei Dank«, stieß Willow hervor und fing an zu zittern. Sie wagte es gar nicht, an ihre Wiedervereinigung mit Asquiol zu denken. So schnell wie möglich flog Roffrey auf die Flotte zu.
131
XIII. Die Flotte hatte schreckliche Verluste hinnehmen müssen. Sie war immer noch groß – eine Ansammlung von Schiffen, die sich Meile um Meile nach allen Richtungen erstreckte und mit nichts so viel Ähnlichkeit hatte wie mit einer ungeheuerlichen Müllkippe. Die G.-P.-Schlachtschiffe umkreisten sie wachsam wie Wale eine buntscheckige Schule von Fischen. Im Zentrum, nicht weit von Asquiols verschrammtem Kreuzer entfernt (er war an seinen unscharfen, flackernden Umrissen leicht zu erkennen), befand sich ein Fabrikschiff, auf dessen Hülle ein großes »S« prangte. Das gab Roffrey Rätsel auf. Die G.-P.-Patrouille nahm mit ihm Kontakt auf. Zu seinem Erstaunen wurde er beinahe herzlich empfangen. Sie lotsten ihn in eine Position ganz in der Nähe des Fabrikschiffes mit dem »S«. Während Roffrey sein Schiff einordnete, erschien auf dem Laserschirm ein Mann, der die lose, unmilitärische Kluft der Galaktischen Polizei trug, nur daß sie keine Rangabzeichen hatte. Auf dem strengen Bluthund-Gesicht zeigte sich Verwirrung. Eine breite Armbinde trug ebenfalls den Buchstaben »S«. »Hallo, Lord Mordan«, begrüßte Roffrey ihn mit herausfordernder Fröhlichkeit. Willow staunte darüber, daß Roffrey sich so gut beherrschen konnte. Er schien ganz entspannt und unbekümmert zu sein. Lord Mordan lächelte ironisch. »Guten Morgen. Sie haben sich also doch noch entschlossen, zurückzukehren und uns zu helfen. Wo sind Sie gewesen?« »Ich habe eine Aktion zur Rettung Überlebender vom Wanderer durchgeführt«, antwortete Roffrey tugendhaft. »Das glaube ich Ihnen nicht«, meinte Mordan liebenswürdig. »Aber es ist mir gleichgültig. Sie haben soeben etwas fertigbekommen, was niemand für möglich gehalten hätte. Sobald wir die Daten ausgewertet haben, werde ich mich wieder mit Ihnen 132
in Verbindung setzen. Wir brauchen alle Hilfe, die wir bekommen können – sogar die Ihre. Die Lage ist ernst, Roffrey. Wir sind verdammt nahe am Ende.« Er riß sich zusammen. »Also, wenn Sie tatsächlich Passagiere aufgenommen haben, sollten Sie sie bei den zuständigen Behörden anmelden.« Er schaltete ab. »Was hat das alles zu bedeuten?« fragte Talfryn. »Ich weiß es nicht«, erwiderte Roffrey, »aber soviel ist klar, die Flotte muß unter den Angriffen schwer gelitten haben. Doch da scheint in der Schlacht – oder wie man es nennen will – ein ganz neues Element aufgetaucht zu sein.« Willow Kovacs hielt Mary Roffreys Kopf an ihrer Brust und wischte behutsam den Speichel vom Mund der Wahnsinnigen. Ihr Herz schlug schnell, ihre Arme und Beine waren schwach. Jetzt, wo sie Asquiol schon ganz nahe war, fürchtete sie sich sehr. Roffrey kam nach achtern. »Wie geht es Mary?« »Ich weiß es nicht«, antwortete Willow. »Offensichtlich ist sie geistig gestört, aber ah ihrem Wahnsinn hat sich etwas geändert. Ich kann nicht erklären, inwiefern.« »Ein Arzt wird ihr sicher helfen können.« Roffrey klopfte Willow auf die Schulter. »Willst du das Verwaltungsschiff anrufen, Talfryn?« »Okay«, sagte Talfryn. Roffrey sah auf seine Frau hinab. Am schlimmsten, dachte er, war das alles durchdringende Rot gewesen, das Blutrot. Warum hatte es ihn so angegriffen? Was hatte es Mary angetan? Er kratzte sich an der Nase. Seit er die Flotte verlassen hatte, war er nicht mehr zum Schlafen gekommen. Er war voll von Stimulantien, aber er fühlte kein Bedürfnis nach natürlichem Schlaf. Vielleicht später. Von dem Verwaltungsschiff kam die Botschaft, sie würden in Kürze einen Beamten herüberschicken. Roffrey sagte: »Wir brauchen schnell einen Psychiater. Können Sie uns helfen?« 133
»Versuchen Sie es bei einem Hospital-Schiff. Aber wahrscheinlich werden Sie kein Glück haben.« Roffrey versuchte es. Der diensthabende Arzt war nicht sehr hilfreich. »Nein, tut mir leid, Sie können für Ihre Frau keinen Psychiater bekommen. Wenn Sie ärztliche Behandlung braucht, werden wir sie auf unsere Liste setzen. Wir sind überarbeitet. Wir können nicht einmal allen Verwundeten helfen.« »Aber Sie müssen ihr helfen!« brüllte Roffrey. Der Arzt stritt sich nicht mit ihm. Er schaltete einfach ab. Roffrey war empört. Er schwang seinen Sitz herum. Willow und Talfryn sprachen über ihren Zusammenstoß mit den fremden Schiffen. »Sie müssen schwer geschlagen worden sein«, schimpfte Roffrey. »Aber ich werde Hilfe für Mary bekommen, und wenn ich bis ganz nach oben gehen muß.« »Was mag nur die Halluzinationen hervorgerufen haben«, fragte Talfryn. »Ich vermute, das gehört zu den Waffen der Fremden«, gab Roffrey zurück. »Vielleicht hat uns das, was wir auf Roth erlebt haben, empfänglicher für Halluzinationen gemacht.« »Eine Waffe? – Ja, das könnte sein.« Der Kommunikator summte. Talfryn ging hin. »Einwohnermeldeamt«, erklang eine muntere Stimme. »Haben Sie was dagegen, wenn ich an Bord komme?« Kurze Zeit darauf machte ein Boot an Roffreys Schleuse fest und ein junger Mann mit einer Mappe voller Papiere tauchte auf. »Sie müssen Kapitän Adam Roffrey sein.« Roffrey nickte. »Gut. Und Sie waren beim Auszug der menschlichen Rasse vor etwa zwei Wochen dabei? Ich meine die relative Zeit. Wie lange es in Ihrer Zeit her ist, weiß ich nicht, denn beim Wechseln von einer Dimension zu einer anderen kann man den Zeitstrom nicht immer gleichhalten. Wollen Sie das freundlicherweise berücksichtigen?« 134
»Ich werde mir Mühe geben«, meinte Roffrey. »Und diese drei sind …?« »Miß Willow Kovacs, ursprünglich von Migaa …« Der junge Beamte kritzelte es auf seinen Notizblock. Die Erwähnung von Migaa rief bei ihm einen zimperlichen Gesichtsausdruck hervor. Der Planet war in der Heimatgalaxis einigermaßen berüchtigt gewesen. Willow gab ihre übrigen Daten an, Talfryn die seinen. »Und die zweite Dame?« »Meine Frau – Dr. Mary Roffrey geborene Ishenko, Anthropologin, Heimatplanet Erde, im Jahr 457 Generalzeit von Golund am Rand verschwunden, vor kurzer Zeit im Wandersystem wieder aufgefunden. Die G.P. wird alle Einzelheiten über die Zeit vor ihrem Verschwinden in den Akten haben. Ich habe sie damals als vermißt gemeldet. Wie üblich hat die Polizei gar nichts unternommen.« Der feine junge Beamte runzelte die Stirn. Er schoß einen Blick zu Mary hinüber. »Gesundheitszustand?« »Geistesgestört«, antwortete Roffrey ruhig. »Heilbar oder nicht?« »Heilbar!« Seine Stimme klang kalt und wild. Der junge Mann vervollständigte seine Notizen, dankte ihnen allen und wollte gerade wieder gehen, als Roffrey ihn aufhielt. »Eine Minute. Würden Sie mir erklären, was mit der Flotte während meiner Abwesenheit geschehen ist?« »Gern, wenn ich mich kurzfassen darf. Ich bin sehr beschäftigt, wissen Sie.« Er kicherte. »Kurz bevor wir die Flotte erreichten, hatten wir einen Zusammenstoß mit fremden Schiffen. Wir hatten Halluzinationen. Wissen Sie, was das war?« »Kein Wunder, daß die Dame geistesgestört ist! Erstaunlich, daß nicht ausgebildete Leute dem Druck standgehalten haben! Warten Sie, bis ich es meinen Kollegen erzähle! Sie sind Helden! 135
Sie haben eine wilde Runde überlebt!« »Das ist für uns Chinesisch. Was ist geschehen?« »Nun, ich bin nur ein kleiner Beamter – kleinere als mich gibt es kaum –, aber nach dem, was ich so aufgeschnappt habe, war das eine ›wilde Runde‹. Es ist nämlich so«, erläuterte er schnell, »daß die Fremden jeden, der sich außerhalb der Flotte herumtreibt, dazu zwingen, eine wilde Runde zu spielen, eine, die im Plan der Spieler nicht vorgesehen war. Von den regulären Spielern wird so etwas nicht erwartet.« »Aber was ist dies Spiel?« »Ich bin mir nicht sicher. Normale Sterbliche sind ja nicht beteiligt – nur die Spieler in dem Spielschiff. Das ist das Schiff mit dem großen »S«. Ich wäre nicht begeistert, da mitzumachen. Wir nennen es das Blutrote Spiel, weil die Fremden die Gewohnheit haben, unsere Sinne zu verwirren, daß alles die Farbe von rotem Blut anzunehmen scheint. Psychologen und solche Leute kämpfen, und sie werden die Spieler genannt …« »Wie oft wird gespielt?« »Immerzu. Kein Wunder, daß ich nur noch ein Nervenbündel bin. Das sind wir alle. Die Rechte der Bürger sind aufgehoben, die Lebensmittelzuteilungen beschränkt worden … Im Augenblick haben wir Pause, aber lange wird sie nicht dauern. Wahrscheinlich müssen sie sich von ihrem kleinen Sieg erholen.« »Wer weiß Einzelheiten über dies Spiel?« »Asquiol natürlich, aber es ist beinahe unmöglich, an ihn heranzukommen. Sie könnten es auch bei Lord Mordan versuchen. Nur ist seine Herrlichkeit in mancher Beziehung noch schlimmer als Asquiol selbst.« »Mordan scheint einiges Interesse an uns zu haben«, nickte Roffrey. »Aber da ich wegen einer anderen Sache sowieso mit Asquiol sprechen muß, werde ich mich zuerst an ihn wenden. Danke.« »Es war mir ein Vergnügen«, strahlte der junge Beamte. Sobald er das Schiff verlassen hatte, versuchte Roffrey, eine 136
Verbindung mit Asquiols Schiff herzustellen. Er mußte sich beinahe ein Dutzend Mal weitervermitteln lassen. »Hier ist Adam Roffrey, gerade von dem Wanderer eingetroffen. Kann ich in Ihr Schiff hinüberkommen?« Er erhielt eine kurze Bestätigung. Auf dem Schirm war kein Bild erschienen. »Kannst du mich mitnehmen?« fragte Willow. »Es wird eine Überraschung für ihn sein. Darauf habe ich so lange gewartet. Er sagte mir voraus, wir würden uns wiedersehen, und er hatte recht.« »Natürlich«, stimmte Roffrey zu. Er sah Talfryn an. »Er ist auch dein Freund gewesen. Willst du mitkommen?« Talfryn schüttelte den Kopf. »Ich bleibe hier und versuche, ein bißchen mehr über die Ereignisse herauszufinden.« Mit einem langen Blick nahm er Abschied von Willow. »Bis dann.« »Wie du willst.« Roffrey entnahm der Bordapotheke eine Spritze, füllte sie mit einem Beruhigungsmittel und injizierte es Mary in den Arm. Nur mit Hilfe des Antriebs ihrer Raumanzüge flogen er und Willow zu Asquiols Schiff hinüber. Die äußere Schleusentür stand für sie offen, und sie schloß sich hinter ihnen. Doch die innere Schleusentür blieb zu. Eine höfliche Stimme erklang. Sie rief in ihren Ohren einen merkwürdigen Widerhall hervor. »Hier spricht Asquiol. Wie kann ich Ihnen helfen?« Willow, in ihrem Raumanzug nicht zu erkennen, schwieg. »Ich bin Adam Roffrey, und ich bin gerade mit drei Passagieren vom Wanderer eingetroffen.« »Ja?« Asquiol zeigte keine Spur von Interesse. »Einer der Passagiere ist meine Frau. Sie kennen sie als die Irre Mary. Sie hat Renark im Wandersystem geholfen.« Roffrey machte eine Pause. »Sie hat ihn und Sie nach Roth gesandt.« 137
»Ich bin ihr dankbar, obwohl wir uns nicht begegnet sind.« »Ich habe versucht, in der Flotte einen Psychiater zu finden. Es ist mir nicht gelungen.« Roffrey gab sich Mühe, ruhig zu sprechen. »Ich weiß nicht, wo sie alle stecken, aber der Zustand meiner Frau ist verzweifelt. Können Sie mir helfen?« »Sie kämpfen alle bei dem Spiel mit. Es tut mir leid. Ich bin Ihrer Frau dankbar, aber das Überleben der menschlichen Rasse hat Vorrang. Wir können keinen Psychiater entbehren.« Roffrey war erschüttert. Er hatte zumindest einige Anteilnahme erwartet. »Können Sie mir nicht einmal einen Rat geben, wie meiner Frau geholfen werden kann?« »Nein. Sie müssen selbst für sie tun, was Sie können. Vielleicht wenden Sie sich an einen praktischen Arzt.« Roffrey wandte sich empört der äußeren Schleusentür zu. Da sagte Asquiol noch: »Sie sollten sich so bald wie möglich mit Lord Mordan in Verbindung setzen.« Das war alles. »Asquiol!« rief Willow. Ihr war, als sei sie gestorben, und dies Wort sei das letzte, was sie je von sich geben würde. Es blieb ihnen nichts übrig, als zu Roffreys Schiff zurückzukehren. Mary schlief friedlich unter dem Einfluß des Beruhigungsmittels. Talfryn war verschwunden. Sie dachten gar nicht erst darüber nach, wo er sein könnte. Beide setzten sich niedergeschlagen und in Gedanken versunken an Marys Koje. »Er hat sich verändert«, flüsterte Willow. Roffrey grunzte nur. »Er spricht gar nicht mehr wie ein Mensch«, fuhr sie fort. »Man kommt nicht an ihn heran. Die geheimnisvollen Wesen, bei denen er gewesen ist, scheinen ihm mehr zu bedeuten als seine Freunde – und alle übrigen Menschen.« Roffrey starrte Mary an. »Nichts bedeutet ihm mehr etwas außer seiner ›Mission‹. Alles wird diesem Ziel untergeordnet und geopfert«, antwortete 138
er. »Ich weiß nicht einmal, was er dabei im Auge hat. Wüßte ich es, könnte ich mit ihm streiten – oder ihm zustimmen.« »Vielleicht könnte Paul mit ihm reden. Ich habe es mit der Angst bekommen. Ich hatte die Absicht, ihm zu sagen, wer ich bin. In dem Augenblick konnte ich es einfach nicht.« »Versuch’s später noch mal. Ich will sehen, was Mordan von mir will.« Roffrey begab sich wieder an seine Kontrollen und stellte die Verbindung her. Das Gesicht des Galaktischen Lords erschien auf dem Schirm. »Ich wollte Sie gerade selbst anrufen. Sie und Talfryn sind auf die Liste der Spieler gesetzt worden – unter der Voraussetzung, daß Sie die Tests bestehen.« »Was, zum Teufel, soll das, Mordan? Ich habe kein Interesse daran. Sprechen Sie mit Talfryn darüber. Ich muß mich um meine kranke Frau kümmern.« »Talfryn ist bereits hier. Ihnen mag es nicht so vorkommen, aber wir stehen in einem Kampf auf Leben und Tod, und ich bin Asquiol direkt verantwortlich dafür, daß alle geeigneten Menschen eingesetzt werden. Sie haben uns bereits eine Menge Ärger gemacht. Ich habe die Vollmacht, jeden zu töten, der unsere Sicherheit gefährdet. Kommen Sie jetzt herüber zum Spielschiff – und zwar schnell! Andernfalls holen wir Sie mit Gewalt. Verstanden?« Roffrey schaltete wortlos aus. Trotzig wartete er an Marys Bett. Sie schien sich körperlich langsam zu erholen, aber er wußte nicht, wie es um ihren Geisteszustand bestellt sein mochte, wenn sie aus dem Betäubungsschlaf erwachte. Später verlangten zwei G.P.s Eintritt. Sie drohten, wenn er ihnen verweigert werde, würden sie das Schiff entern. Roffrey öffnete die Schleuse und ließ sie ein. »Was kann ein Mann mehr schon bewerkstelligen?« wollte er wissen. Einer der Polizisten antwortete: »Jeder Mann, der einen 139
feindlichen Angriff sozusagen freihändig stehend abwehren kann, wird im Spielschiff benötigt. Das ist alles, was wir wissen.« »Ich habe doch gar nichts …« »Sie haben es vielleicht nicht gemerkt, Kapitän Roffrey, aber Sie haben dem kombinierten Einsatz geistiger und materieller Waffen von zehn feindlichen Schiffen standgehalten. Die meisten Leute hätten es nicht einmal bei einem Schiff überlebt.« Der zweite G.P. fiel ein: »Betrachten Sie es einmal so: Wir sind schon beinahe geschlagen. Wir, die letzten Überlebenden der menschlichen Rasse, müssen zusammenhalten. Auf lange Sicht ist das für Sie die einzige Möglichkeit, für Ihre Frau zu sorgen. Sehen Sie das ein?« »Nun gut«, brummte Roffrey. »Ich bin jedenfalls bereit, mir anzuhören, was Lord Mordan zu sagen hat.« Er wandte sich an Willow. »Willow, wenn es Anzeichen gibt, daß es Mary schlechter geht, sag mir sofort Bescheid.« »Selbstverständlich, Adam.« Er sah die beiden Polizisten an und zuckte die Schultern. Sie führten ihn zur Luftschleuse.
XIV. Das Spielschiff war größer als ein großes Schlachtschiff und noch ungemütlicher. Aber es schien nicht auf einen Kampf vorbereitet zu sein. An Bord herrschte eine Atmosphäre von gespanntem Schweigen. Ihre Stiefel hallten laut auf dem Korridor, der zu Lord Mordans Kabine führte. Auf einem Schild an der Tür stand: »Lord Mordan, Stellvertretender Spielleiter, Privatbüro.« Der Roffrey begleitende G.P. klopfte. »Herein!« 140
Sie traten in einen mit Instrumenten vollgestopften Raum. Einige davon kannte Roffrey. Es waren ein Enzephalograph, ein Optigraph-Projektor, Maschinen zum Messen der Gehirnströme, zum Testen der Fähigkeit, bildhafte Vorstellungen zu erzeugen, zur Feststellung des Intelligenzquotienten und so weiter. Talfryn saß vor Mordans Schreibtisch. »Nehmen Sie Platz, Roffrey«, forderte Lord Mordan ihn auf. Er machte keine Anspielung auf die Befehlsverweigerung. »Okay. Was gibt’s?« fragte Roffrey. »Ich habe soeben Talfryn erklärt, wie wichtig Sie beide für das Projekt sind. Können wir mit den Tests der ersten Stufe anfangen?« »Von mir aus.« »Gut. Wir müssen genau feststellen, welche Eigenschaften Sie befähigt haben, die fremden Schiffe zurückzuschlagen. Natürlich ist es möglich, daß Sie einfach Glück hatten oder daß Sie psychisch in einer besseren Kondition waren, weil Sie nicht wußten, um was es ging. Das wird sich noch herausstellen. Lassen Sie mich zuerst rekapitulieren, was sich ereignet hat.« Mordans Entschlossenheit blieb nicht ohne Eindruck auf Roffrey. »Wie Sie wissen«, fuhr der Galaktische Lord fort, »traten wir vor zwei Wochen in dies Universum ein und lernten gleich darauf seine Bewohner kennen. Sie sind, wie man sich denken konnte, nichtmenschlich und betrachten uns als Eindringlinge. Wir würden an ihrer Stelle wohl ebenso denken. Verwunderlich ist nur, daß sie keinen Versuch machten, erst einmal unsere Kampfkraft festzustellen, zu verhandeln oder uns ein Ultimatum zu stellen. Sie griffen sofort an. Auch jetzt haben wir noch keine Ahnung, wie sie aussehen, diese Fremden. Sie haben selbst miterlebt, daß wir gar nicht die Möglichkeit bekamen, ihnen zu erläutern, warum wir hergekommen sind.« »Was ist nach der ersten Schlacht geschehen?« 141
»Es gab noch mehrere weitere Schlachten. Wir haben eine Menge Schiffe aller Art verloren. Schließlich hat Asquiol mit seinen eigenen Methoden eine Verbindung zu den Fremden hergestellt und ihnen erklärt, wir seien bereit, uns auf Planeten, die für sie ungeeignet sind, anzusiedeln und in freundschaftlicher Kooperation mit ihnen zu leben. Das wollten sie nicht akzeptieren, aber sie nannten uns eine Alternative zum Krieg.« Er seufzte und wies mit der Hand auf die vielen Instrumente. »Die Gesellschaftsordnung dieser Rasse basiert auf einem Verhaltenskode, der für uns sehr schwer zu begreifen ist. Soviel wir davon verstanden haben, hängt der Status eines Individuums oder einer Gruppe von der Geschicklichkeit in einem Kampf spiel ab, das in dieser Galaxis seit Jahrhunderten gespielt worden ist. Wir nennen es das Blutrote Spiel, weil es die wichtigste ›Waffe‹ des Feindes ist, unsere Sinneseindrücke so zu verwirren, daß wir mit allen fünf Sinnen die Farbe Rot aufnehmen. Das haben auch Sie schon kennengelernt, glaube ich.« Roffrey nickte. »Aber was wird damit bezweckt, abgesehen davon, daß es uns in Verwirrung stürzt? Und wie funktioniert es?« »Wir glauben, daß die Fremden Streitigkeiten auf diese Weise statt mit Atomkanonen oder ähnlichem austragen. Natürlich könnten wir weiter unsere gewohnten Waffen gegen sie einsetzen. Aber besiegen könnten wir sie damit kaum. Ihre Waffen bringen etwas Schlimmeres als den Tod, nämlich den Wahnsinn. Ein Toter fehlt einfach in den Reihen der Kämpfer, ein Wahnsinniger muß versorgt werden und trägt dazu bei, daß unsere Vorräte weiter verringert werden. Aber das ist nur ein Teilaspekt. Es gibt strenge, komplizierte Regeln für das Spiel, die wir, während wir es betreiben, erst lernen müssen.« »Wie hoch ist der Einsatz«, erkundigte sich Roffrey. »Wenn wir das Spiel gewinnen, ohne dabei unsere normalen Waffen einzusetzen, gewähren die Fremden uns das Recht, ihre 142
Galaxis als absolute Monarchen zu beherrschen. Ein großer Einsatz, Kapitän Roffrey. Wir verlieren unser Leben, sie verlieren ihre Macht.« »Sie müssen sehr zuversichtlich sein, daß sie gewinnen.« »Laut Asquiol sind sie es nicht. Die Tatsache, daß sie im Augenblick gewinnen, ist offensichtlich, aber sie sind auf das Spiel so versessen, daß sie jede neue Variation begrüßen.« »Und was sollen wir tun?« »Wir hoffen, daß Sie beide unsere Trumpfkarten sind. Ihr Sieg in der ›wilden Runde‹ hat gezeigt, daß Sie Eigenschaften haben müssen, die uns fehlen.« »Und Sie wissen nicht, was für Eigenschaften das sind?« »Richtig.« »Besitzen wir sie gemeinsam – oder besitzt sie einer von uns?« »Das wollen wir herausfinden, Kapitän Roffrey. Wir werden Sie testen. Zwar haben Sie an den Kontrollen Ihres Schiffs gesessen, aber Talfryn war, soviel ich weiß, neben Ihnen.« Talfryn stellte nachdenklich fest: »Meiner Meinung nach müssen wir über die Fremden moralisch die Oberhand gewinnen. Es geht nicht um die größere Anzahl oder das Prestige. Wenn wir gewinnen, haben wir in ihren Augen einen solchen Status erreicht, daß sie unsere Überlegenheit akzeptieren. Wenn wir verlieren … was dann?« »Wenn wir verlieren, sind alle Sorgen für uns vorbei. Unsere Energievorräte sind so knapp, daß wir nicht mehr in ein anderes Universum überwechseln können.« Lord Mordan wandte sich wieder Roffrey zu. »Verstehen Sie, Kapitän? Ihre Frau ist nur eines der Opfer des Wahnsinns, die wir augenblicklich in der Flotte haben. Und wir werden alle wahnsinnig sein, wenn wir das Spiel nicht gewinnen. Oder tot.« »Fangen wir mit den Tests an«, knurrte Roffrey mißmutig. Mordan rief das Test-Team in seine Kabine. Drei Männer traten ein, und Mordan erhob sich, um sie vorzustellen. 143
»Dies ist Professor Selinsky.« Der größte Mann der Gruppe streckte Roffrey und Talfryn eine fette Hand entgegen und lächelte freundlich. »Freut mich, daß Sie hier sind. Es sieht aus, als ob Sie beide uns aus unseren Schwierigkeiten helfen könnten.« Er wies auf seine Begleiter. »Meine Assistenten. Dr. Zung« – ein kleiner dunkler Mann mongolischer Abstammung – »und Dr. Mann« – ein junger Blondkopf, der wie der Held einer Abenteuergeschichte aussah. »Wir werden bei Ihnen zuerst die Grundtests mit dem Elektroenzephalographen durchführen«, fuhr Professor Selinsky fort. »Dann versetzen wir Sie in Schlaf und versuchen, in ihr Unterbewußtsein vorzudringen. Wie ich annehme, haben Sie Ihre Zustimmung dazu bereits gegeben.« Er sah Mordan an, doch dieser antwortete nicht. Roffrey sagte: »Wir stimmen allem zu, solange es keine Gehirnwäsche ist.« »Wir leben im fünften Jahrhundert«, verwies Selinsky ihn streng. »Ich glaube, Asquiol und Lord Mordan richten sich nach dem Motto: ›In der Not frißt der Teufel Fliegen‹«, brummte Roffrey vor sich hin, als er in dem Sessel Platz nahm, den Dr. Zung für ihn hergerichtet hatte. Niemand achtete darauf. Ein kleiner Glasmetallhelm wurde ihm über den Schädel gestülpt. Er haßte derartige Geräte, er haßte das ganze Geschehen. Sobald das alles vorbei ist, gelobte er sich, werde ich denen zeigen, was Unabhängigkeit ist. Solche Gedanken und Gefühle lieferten den Wissenschaftlern interessante, aber kaum verwertbare Ergebnisse. Als die Tests zu Ende waren, zuckte Selinsky die Schultern. »Was haben Sie festgestellt?« fragte Mordan. »Ehrlich gesagt, ich habe keinen Hinweis darauf, daß diese beiden Männer andere oder bessere Fähigkeiten besitzen als die Spieler, die bereits im Einsatz sind. Beide sind intelligent – Roffrey ist sogar außerordentlich intelligent. Aber die Abwei144
chung von den normalen Werten ist minimal. Roffrey ist nicht der einzige mit einem hohen I.Q. in der menschlichen Rasse, und er ist auch nicht der einzige Psychopath.« Er seufzte. »Die bildliche Vorstellungskraft ist bei beiden sehr gut«, warf Dr. Mann eifrig ein. »Sie werden unsere Mannschaft unbedingt verstärken.« »Was ist das schon im Vergleich damit, daß wir gehofft hatten, diese Männer würden das Problem lösen, wie wir die Fremden schlagen können.« Dr. Zung nahm enttäuscht die Elektroden ab und räumte sie ordentlich in ihre Behälter. »Das dachten wir doch, nicht wahr, Professor?« »Sie haben keinen Grund zu Ihrem defätistischen Ton, Zung«, rügte dieser. »Erst müssen wir die Daten analysieren. Inzwischen schlage ich vor« – er sah Lord Mordan an, dessen Bluthundgesicht eine bemühte Gleichgültigkeit zur Schau trug –, »daß wir diese Männer in die Praxis einweisen. So verschwenden wir keine Zeit.« »Sind Sie sicher, daß sie mit den anderen zusammenarbeiten können?« Mordan erhob sich. »Warum nicht?« Selinsky zeigte mit dem Daumen auf die Tür. »Sie wissen, wie die Atmosphäre da drin ist … Keiner von ihnen ist das, was Sie ›normal‹ nennen würden. Alle unsere Spieler sind Neurotiker. Normale Menschen könnten den Streß nicht aushalten – und nicht zurückschlagen. Wir zählen auf die physisch und psychisch ungewöhnlichen Typen bei dem Blutroten Spiel.« »Zu Talfryn habe ich Vertrauen«, meinte Mordan. »Aber Roffrey ist der geborene Unruhestifter. Ich habe früher mehr als einmal mit ihm zu tun gehabt.« »In dem Fall sollte er eine wichtige Aufgabe bekommen.« Selinsky schwang den Arm des Optigraphen von Roffreys Sessel weg. Roffrey bewegte sich, wachte jedoch nicht auf. »Er gehört zu den Menschen, denen man das Gefühl geben muß, alles, was sie tun, beruhe auf eigener Inspiration.« 145
»So etwas hat es noch nie gegeben.« Mordan starrte auf seinen alten Feind hinab. »Das brauchen Sie ihm ja nicht zu erzählen.« Selinsky lächelte schwach. »Egozentriker dieser Art haben die Menschheit die Leiter hinaufgeschoben. Renark und Asquiol waren auch so. Sie mögen manchmal die falschen Informationen haben, aber sie erzielen trotzdem bessere Resultate als wir.« »In gewisser Weise«, stimmte Mordan zögernd zu. »In der Weise, wie wir sie jetzt brauchen.« Selinsky und seine beiden Assistenten wandten sich zum Gehen. »Wir schicken zwei Krankenwärter her, die sich um die beiden kümmern.« »Wir werden die ganze verdammte Polizei brauchen, falls Roffrey auf stur schaltet«, stellte Mordan fatalistisch fest. Er mochte Roffrey, aber er wußte, daß das nicht auf Gegenseitigkeit beruhte. Mordan war zu dem Schluß gekommen, daß Roffrey niemanden mochte – ausgenommen seine Frau. Es war sehr schade, daß er sie gefunden hatte, überlegte der Galaktische Lord. Die drei Wissenschaftler analysierten ihre Daten. Als sie eine Kaffeepause machten, verkündete Mann: »Mir ist etwas eingefallen, Professor. Es mag bedeutungslos sein, aber wir könnten doch einmal darüber diskutieren.« Selinsky, der Manns Schwäche, während der Arbeit zu theoretisieren, mißbilligte, fragte ungeduldig: »Und?« »Nun, nach den Aufzeichnungen, die uns ausgehändigt wurden, waren sowohl Talfryn als auch Roffrey auf Roth, dem Planeten, den sie in den Verbannten Welten ›Fleckenplanet‹ nennen. Teile von ihm existieren in verschiedenen Kontinua, wie es auch bei Asquiol der Fall sein soll. Könnte dieser Planet sie irgendwie beeinflußt haben? Oder sind sie vielleicht, weil sie den Aufenthalt auf Roth bei gesundem Verstand überstanden haben – Sie wissen ja, daß Roffreys Frau dabei wahnsinnig geworden ist –, für den Kampf gegen die Fremden besser geeignet?« 146
Selinsky leerte seine Kaffeetasse. »Daran könnte schon etwas sein«, gab er zu. »Wissen Sie was? Arbeiten Sie das in Ihrer Freizeit gründlich aus und legen Sie mir diesen Bericht vor.« »Freizeit!« explodierte Mann. Trotzdem freute es ihn, daß Selinsky ihn ermutigte – es geschah nicht oft. »Sie können schließlich nicht die ganzen sechs Stunden schlafen.« Zung grinste vor sich hin, als er zurück an seine Arbeit ging. * Willow Kovacs rebellierte innerlich nicht mehr. Roffrey war schon so lange weg, daß sie es aufgegeben hatte, auf seine baldige Rückkehr zu hoffen. Ruhig füllte sie die Spritze und injizierte Mary nochmals ein Beruhigungsmittel, aber sie selbst nahm keins. Ihre Gedanken wanderten wieder zu Asquiol. Sie hatte das Gefühl, sie müsse sich mit ihm in Verbindung setzen. Ganz gleich, was geschah, sie würde sich, wenn sie ihn gesehen hatte, leichter entscheiden können, wie sie sich verhalten sollte. Es bereitete ihr einige Schwierigkeiten, mit Roffreys Kommunikationsanlage zurechtzukommen, doch schließlich erschien Mordans Gesicht auf dem Schirm. Er sah unglaublich müde aus. Willow nahm an, er halte sich nur noch mit Stimulantien wach. »Miß Kovacs, falls Sie wegen Roffrey und Talfryn beunruhigt sind, so besteht dazu kein Anlaß. Sie sind als Spieler rekrutiert worden und werden sich zweifellos in einer Ruheperiode bei Ihnen melden.« »Danke«, antwortete sie, »aber ich möchte Sie nach etwas anderem fragen.« Wie wichtig ist das, Miß Kovacs? Sie verstehen, daß ich sehr …« »Ich möchte Asquiol persönlich sprechen.« 147
»Das ist im Augenblick unmöglich. Und Sie würden diesen Wunsch auch gar nicht äußern, wenn Sie wüßten, wie er jetzt aussieht. Was wollen Sie ihm eigentlich sagen?« »Ich kann es keinem anderen mitteilen. Es ist eine rein private Angelegenheit.« »Privat? Ich erinnere mich – sie waren einmal befreundet.« »Wir haben uns auf Migaa und in dem Wandersystem sehr nahegestanden. Ich bin überzeugt, er würde mich gern wiedersehen.« Ihre Stimme klang unsicher. »Das nächste Mal, wenn ich ihm Bericht erstatte, werde ich Ihre Botschaft ausrichten. Das ist leider alles, was ich tun kann.« Mordan betrachtete sie neugierig, fügte aber nichts mehr hinzu. »Wird er sich dann mit mir in Verbindung setzen?« »Wenn er es will. Ich werde ihm erzählen, was Sie mir gesagt haben – das verspreche ich.« Der Schirm flimmerte und war wieder leer. Willow schaltete ihn ab und ging langsam zu der schlafenden Mary zurück. »Was wird wohl bei all dem aus dir werden?« fragte sie. Willow hatte sehr viel Mitgefühl für Menschen, die in Not waren. Seit sie die Flotte erreicht hatten, quälten neue Sorgen sie, und trotzdem beschäftigten sich ihre Gedanken mit Marys Schicksal. Aber das Gefühl, das zuerst nichts als der Ausdruck eines guten Herzens gewesen war, wandelte sich schnell zu einer krankhaften Empfindung. Willow entdeckte eine Verwandtschaft zwischen sich und Mary. Beide waren sie sehr einsame Frauen. Die eine hatte überhaupt keinen Kontakt mit ihren Mitmenschen. Zwischen Fast-Normalität und vollständigem Wahnsinn hin- und hergeworfen, war sie die Gefangene ihres gestörten Geistes. In der anderen wurde die Überzeugung immer stärker, daß sie im Augenblick der Not im Stich gelassen worden war – nicht nur von Asquiol, sondern auch von Talfryn und Roffrey. 148
Sie saß vor dem Schirm und wartete auf Asquiols Anruf. Es war still in der Kabine, ebenso still wie in dem Raum, durch den sich die Flotte bewegte. Mit der ganzen menschlichen Rasse teilte sie das Gefühl der Niedergeschlagenheit, des Nichtwissens, der Verwirrung. Und ebenso wie bei allen anderen erwuchs daraus die Furcht. Die Menschen machten nur noch weiter, weil sie genau wußten, daß ein Aufgeben die Zerstörung des Verstandes oder des Körpers bedeutete. * Von Drogen wachgehalten, mit Sedativen zum Schlafen geschickt, vorwärts getrieben durch den unbeugsamen Willen Asquiols und seines Werkzeugs Mordan bereiteten sich die Spieler auf eine neue Runde vor.
XV. Jede Dreiergruppe saß vor einem Schirm; ein weiterer großer Schirm hing über ihren Köpfen. Der große Raum wurde nur durch das Flackern der Instrumente erhellt. Unterhalb der kleinen Schirme befanden sich noch kleinere, in zwei Reihen von je sechs Stück angeordnet. Mordan, der Talfryn und Roffrey hereinführte, erklärte ihnen leise, welchen Zwecken sie dienten. Von den blassen, ausgemergelten Männern und Frauen, die größtenteils von Nervenenergie und Drogen lebten, blickte niemand auf. Sie trugen Glasmetallhelme ähnlich denen, die bei den Tests verwendet wurden. »Der große Schirm über uns dient der Weitwinkelerfassung des Raums rings um die Flotte«, begann Mordan. »Jeder Gruppe von Spielern ist ein Abschnitt zugeteilt, in dem sie nach 149
Anzeichen einer feindlichen Annäherung Ausschau halten. Zu den Regeln des Spiels gehört es – sofern wir sie richtig erfaßt haben –, daß sie bis in Schußweite an unsere Flotte herankommen, bevor sie die Runde beginnen. Sie wird ansonsten nicht weiter angekündigt. Das Team, das eine neue Aktivität wahrnimmt, alarmiert die übrigen, und dann konzentrieren sich alle auf das betreffende Gebiet. Die Reihen kleiner Schirme zeigen die Wirkung, die unsere Ausstrahlungen auf die Fremden haben. Halluzinatorische Impulse werden in die verschiedenen Sinnesbereiche aufgespalten – Gehirnwellen auf variierenden Frequenzen, Gefühle wie Furcht, Zorn und so weiter, die wir zu simulieren fähig sind. Natürlich haben wir Projektoren, Verstärker und Sender, die auf die Befehle der Spieler reagieren. Aber letzten Endes hängt alles von der Vorstellungskraft, der schnellen Reaktion, der Intelligenz und der Fähigkeit, Gefühle auszustrahlen, des einzelnen Spielers ab.« »Ich verstehe.« Roffrey nickte. Sein Interesse war nun doch geweckt worden. »Und was geschieht dann?« »Ebenso wie viele unserer Gedanken und Gefühle den Fremden völlig unverständlich sind, ist es auch umgekehrt. Vermutlich hat die Hälfte ihrer und unserer Ausstrahlungen nicht die gewünschte Wirkung. Diese Leute hier betreiben das Spiel lange genug, daß sie erkennen, ob sie mit ihren Sendungen Erfolg haben und welche feindlichen Angriffe ihnen gefährlich werden können. Von dieser Fähigkeit hängt der Ausgang des Spiels ab. Aber auf der Seite der Fremden ist es genau das gleiche. Nehmen wir zum Beispiel die Halluzination des Ungeheuers, das nicht nur Panik in Ihnen hervorrief, sondern auch Ihren Verstand erschütterte, weil Sie wußten, daß ein solches Tier im Vakuum nicht existieren kann.« Roffrey und Talfryn stimmten zu. »Auf eine solche Wirkung verlassen die Fremden sich. Al150
lerdings haben sie mittlerweile gelernt, viel geschickter vorzugehen und direkt das Unterbewußtsein anzusprechen. Eine Probe davon erhielten Sie, nachdem Sie der Halluzination des Monstrums widerstanden hatten. Unsere Psychologen und andere Wissenschaftler versuchen nach jeder Runde, jedes Stückchen Information dahingehend auszuwerten, wie das Unterbewußtsein der Fremden am vernichtendsten angegriffen werden kann. Also, das Wichtigste bei dem Blutroten Spiel ist, genau die Impulse zu finden, die das zerstören, was wir als Charakterstärke, als Selbstbewußtsein und Selbstvertrauen bezeichnen.« Mordan seufzte schwer. »Was unsere Verluste betrifft: In unseren Hospitalschiffen liegen allein zweihundert Männer und Frauen, die sich in fötaler Haltung zusammengekrümmt haben.« Talfryn schüttelte sich. »Das ist ja grauenhaft!« »Vergessen Sie es«, antwortete Mordan kurz. »Die Fremden helfen uns, das zu tun, was Philosophen und Mystiker jahrhundertelang gepredigt haben. Sie erinnern sich? ›Erkenne dich selbst!‹ Nur zu bald werden Sie darüber Bescheid wissen.« »Das hört sich alles richtig verlockend an«, bemerkte Roffrey. »Verdammt noch mal, Roffrey! Wir sprechen uns nach Ihrer ersten Runde wieder! Mir wird jetzt erst klar, wie gut Ihnen diese Erfahrung tun wird.« Ein Mann trat zu ihnen, der offensichtlich schon einige Zeit als Spieler arbeitete, denn er war dünn und nervös. »Fjodor O’Hara«, stellte er sich vor, ohne einem von ihnen die Hand zu reichen. »Sie sind mir unterstellt, bis Sie sich mit dem Spiel vertraut gemacht haben. Sie werden jedem Befehl gehorchen, den ich Ihnen gebe. Versuchen Sie nicht, sich mir zu widersetzen. Je eher Sie trainiert sind, desto eher können Sie selbständig spielen. Sie, Roffrey, sollen ein Individualist sein. Nun, hier werden Sie sich einordnen müssen, bis Sie das Spiel beherrschen. Dann allerdings sind Individualisten von großem 151
Wert für uns. Die meisten Leute hier sind auf einem Gebiet der Psychologie ausgebildet, doch wir haben auch ein paar Laien wie Sie dabei, die sowohl über einen hohen I.Q. als auch über die Fähigkeit verfügen, die Erfordernisse des Spiels instinktiv zu erfassen. Ich wünsche Ihnen Glück. Es wird eine große Anstrengung für Sie bedeuten, Ihr eigenes Ich zu bewahren. Das ist im Grunde alles, was Sie für den Anfang lernen müssen. Zunächst werden Sie bei defensiven Maßnahmen eingesetzt. Später können Sie Angriffe durchführen. Halten Sie sich stets vor Augen, daß körperliche Stärke und Wagemut bei diesem Krieg gar nichts zu bedeuten haben. Und Sie verlieren nicht Ihr Leben – jedenfalls nicht gleich –, sondern Ihren Verstand.« Roffrey kratzte sich am Nacken. »Um Himmels willen, fangen wir an!« O’Hara brachte sie zu einer unbesetzten Ecke mit drei Sitzen, den üblichen Schirmen und einer Reihe von Kontrollen. »Wir haben ein bestimmtes Vokabular entwickelt, mit dem wir uns während des Spiels verständigen.« O’Hara setzte sich den Helm auf. ›Ton ein‹ zum Beispiel bedeutet, daß ich mich, wenn Sie sich gerade auf Geschmacksempfindungen konzentrieren, entschieden habe, ein Geräusch habe eine stärkere Wirkung auf den Feind. Wenn ich sage ›Geschmack ein‹, senden Sie geschmackliche Eindrücke. Ganz einfach. Verstanden?« Beide nickten. Dann setzten sie sich und warteten auf ihre erste – und vielleicht letzte – Runde in dem Blutroten Spiel. Die Frage, ob sie ein Recht dazu hatten, in dies Universum einzudringen und der Rasse, die es bewohnte, die Herrschaft zu entreißen, hatte Asquiol wenig Kopfzerbrechen bereitet. »Recht?« hatte er gefragt, als Mordan ihm die Bedenken einiger Mitglieder der Flotte vortrug. »Welches Recht haben die Fremden? Welches Recht haben wir? Die Tatsache, daß sie hier leben, bedeutet nicht, daß sie ein besonderes Recht haben, 152
hier zu leben. Warten wir ab, wer sein Recht behaupten kann, indem er das Spiel gewinnt.« Für ethische Erwägungen hatte Asquiol keine Zeit. Dies war die letzte Chance der Menschheit, sich ihr Geburtsrecht zu sichern und die Nachfolge der Schöpfer anzutreten. Asquiol mußte eine Möglichkeit finden, alle Menschen das zu lehren, was er bereits erreicht hatte: die Wahrnehmung des gesamten Multiversums. Die Rasse mußte die nächste Stufe ihrer Evolution erreichen, und das in kürzester Zeit. Dazu kam das Gefühl persönlicher Unvollständigkeit, die quälende Überzeugung, daß das eine fehlende Stück ganz in seiner Nähe war. Aber was war es? Asquiol war in ernste Gedanken versunken. Auch er konnte nicht vorhersagen, was sie erwarten würde, wenn sie es schafften, das Spiel zu gewinnen, denn er existierte zwar in allen Dimensionen des Multiversums, aber an die eine Dimension der Zeit war er fast ebenso fest gebunden wie alle anderen. Die Zeit, die alles veränderte, konnte selbst nicht verändert werden. Sie konnten den Raum erobern, die Zeit nicht. Sie enthielt ein Geheimnis, das nicht einmal die Schöpfer kannten, obwohl sie es waren, die das Multiversum als Saatbeet, als Mutterleib für ihre Nachfolger geschaffen hatten. Vielleicht würde das Rätsel nach vielen Generationen, jede Generation als eine Stufe in der Entwicklung der Menschheit gerechnet, gelöst werden. Aber würde das der Rasse zum besten dienen? Im augenblicklichen Zustand sicher nicht – doch ihre fernen Nachkommen mochten einmal imstande sein, mit solchem Wissen umzugehen. Wenn die Menschen den Platz der Schöpfer eingenommen hatten, fiel ihnen die Aufgabe zu, ihre eigenen Nachfolger zu erzeugen. So würde es immer weitergehen. Und welcher höhere Sinn steckte dahinter? Asquiol riß sich aus seiner Träumerei. Derartige Spekulationen waren vorerst sinnlos. Im Spiel war eine Pause eingetreten. Die Ankunft von Roffreys 153
Schiff und sein Sieg in der wilden Runde hatte dem Feind für eine Weile zu denken gegeben. Aber Roffrey hatte noch keine Ahnung davon, wie fürchterlich der Kampf zwischen ausgebildeten Spielern war, wie er das Ich, das Ego zerfetzte, die Eigenschaft vernichtete, die den Mensch über das Tier erhob. Asquiol fragte sich, wie es Talfryn gehen mochte. Doch wie es immer öfter geschah, wurde er durch das scharfe Signal seines Kommunikators gestört. Er beugte sich in seinem Sessel vor, und die seltsamen Schatten und merkwürdigen Verdoppelungen umtanzten sein eigenes Bild. Seine Bewegung schien den Raum zwischen seinem Körper und dem Kommunikator zu zerteilen wie Wasser. Das geschah immer, wenn er sich bewegte, obwohl er selbst lediglich das Gefühl hatte, er führe seinen Arm durch viele Objekte, die einen leichten Druck ausübten. Er konnte das Multiversum nicht nur sehen, er konnte es auch fühlen, riechen und schmecken. Aber das war im Kampf mit den Fremden von nur geringem Nutzen, denn für ihn war es beinahe ebenso schwer wie für alle anderen Menschen, die Psyche der nichtmenschlichen Angreifer zu verstehen. »Ja?« fragte Asquiol. Auch diesmal hatte Mordan seinen eigenen Bildempfänger nicht eingeschaltet, so daß zwar Asquiol ihn sehen konnte, aber dem Galaktischen Lord der Anblick von Asquiols flimmerndem Körper erspart blieb. »Ein paar Nachrichten.« Mordan entledigte sich ihrer schnell. »Hospitalschiff OP 8 ist verschwunden. Das I.-T.-Feld wurde unregelmäßig. Sie reparierten es gerade, als sie … aus dem Kontinuum fielen. Irgendwelche Anweisungen?« »Ich habe gesehen, wie es geschah. Sie sind dort, wo sie sind, in Sicherheit. Keine Anweisungen. Wenn sie Glück haben, können sie ihr Feld reparieren und zur Flotte zurückkehren.« »Roffrey und Talfryn, die beiden Männer, die dem BlutrotEffekt so bemerkenswert widerstanden, wurden von Professor 154
Selinsky allen Tests unterzogen. Er prüft gerade die Ergebnisse. In der Zwischenzeit werden sie in das Spiel eingeführt.« »Sonst noch etwas?« Asquiol studierte Mordans besorgten Gesichtsausdruck. »Auf Roffreys Schiff waren zwei Frauen. Eine von ihnen war die Wahnsinnige – Mary Roffrey. Die andere nennt sich Willow Kovacs. Darüber hatte ich Sie bereits informiert, wie Sie sich erinnern werden.« »Ja. Ist das alles?« »Miß Kovacs bat mich, Ihnen eine Botschaft zu übermitteln. Sie sagt, sie sei mit Ihnen auf Migaa und später in dem Wandersystem persönlich bekannt gewesen. Sie würde es begrüßen, wenn Sie sie, falls Sie die Zeit erübrigen können, auf 050 Metern anriefen.« »Danke.« Asquiol schaltete aus und ließ sich in seinem Sessel zurücksinken. In ihm war immer noch etwas von dem starken Gefühl, das er für Willow gehabt hatte. Aber er hatte sich zweimal davon losreißen müssen: zum erstenmal, als sie ihm nicht nach Roth folgen wollte, und zum zweitenmal, nachdem er bei den Schöpfern gewesen war. Heute war seine Erinnerung an sie ein wenig undeutlich. Es war seitdem so viel geschehen. Als er die Leitung der Flotte übernahm, hatte er vieles aufgeben müssen, was seinem Herzen teuer war. Nicht Ehrgeiz oder Machtgelüste waren der Grund. Es war einfach so, daß seine Aufgabe ein Höchstmaß an geistiger Kontrolle erforderte. Er war zu einem sehr einsamen Mann geworden. Mehr als ein Ausgleich war für ihn die Fähigkeit, das Multiversum wahrzunehmen. Und doch wünschte er, dieser Abbruch aller menschlichen Beziehungen wäre nicht notwendig gewesen. Er handelte sonst niemals impulsiv, aber jetzt streckte er die Hand aus und stellte die Wellenlänge 050 L Meter ein. Er wartete – fast ein wenig nervös. Willow sah, daß ihr Schirm zum Leben erwachte. Schnell 155
stellte sie die Kontrollen nach den Angaben ein, die auf dem oberen Rand erschienen. Ihr Herz klopfte. Doch was sie dann erblickte, ließ sie erstarren. »Asquiol?« stammelte sie. »Hallo, Willow.« Der Mann trug immer noch das Gesicht jenes Asquiol, der einst, gefolgt von Chaos und Gelächter, durch die Galaxis getobt war. Sie rief sich den übermütigen Jüngling ins Gedächtnis zurück, den sie geliebt hatte. Aber der schimmernde Mann, der wie ein gefallener Erzengel in seinem Sessel saß, war jener Asquiol nicht mehr. »Asquiol?« »Es tut mir so leid«, sagte er, und sein melancholisches Lächeln hätte ebenfalls zu einem gefallenen Erzengel gepaßt. Auf ihrem Gesicht war deutlich die Wirkung zu lesen, die das Bild auf dem Schirm hervorrief. Sie trat einen Schritt zurück und blieb mit hängenden Schultern stehen. Jetzt war ihr nichts mehr geblieben als die Erinnerung an ihre Liebe. »Ich hätte damals mitkommen sollen«, flüsterte sie. »Wenn ich gewußt hätte, was geschehen würde, hätte ich versucht, dich zu überreden. Aber so, wie die Dinge liegen, dachte ich nur daran, daß ich dein Leben nicht in Gefahr bringen dürfe.« »Ich verstehe. Ich habe eben Pech gehabt.« Asquiol warf einen Blick über die Schulter zurück. »Ich muß unser Gespräch beenden. Der Feind beginnt mit der neuen Runde des Spiels. Lebwohl, Willow. Vielleicht können wir, wenn wir gewinnen, weiter miteinander reden.« Sie schwieg, und das golden leuchtende Bild verschwand vom Schirm.
156
XVI. »Jetzt müssen Sie zeigen, was Sie können«, sagte O’Hara zu seinen beiden Gefährten. Ein schwaches Summen erfüllte den umgebauten Laderaum. Die feindlichen Schiffe trieben durch den Raum auf sie zu. Ein paar Meilen von der Flotte entfernt blieben sie, relativ zu ihr, auf festen Positionen. Roffrey merkte plötzlich, daß er an seine Kindheit dachte, seine Mutter, welche Meinung er über seinen Vater gehabt und wie er seinen Bruder beneidet hatte. Warum sollte er auf einmal …? Hastig riß er sich von diesen Gedanken los. Ihm war ein wenig übel von einem zufälligen Gedanken, der in sein Bewußtsein zu kriechen begonnen hatte. »Achtung, Roffrey – es geht los«, mahnte O’Hara. Und wie es losging! Die Fremden wandten alles an, was sie über das menschliche Unterbewußtsein gelernt hatten. Wie es ihnen möglich gewesen war, eine solche Menge von Informationen zu sammeln, konnte Roffrey sich nicht vorstellen. Allerdings hatten die menschlichen Psychiater einen ähnlichen Vorrat an ›Waffen‹, die sie auf den Feind zurückschleudern konnten. Jeder dunkle Gedanke, jede ungesunde Anwandlung, jeder verabscheuungswürdige Wunsch, der je in ihnen gelebt hatte, wurde von den Maschinen der Fremden ans Tageslicht geholt und ihnen ins Bewußtsein gebracht. Der Trick war, wie O’Hara gesagt hatte, alle Vorstellungen über Gut und Böse, Recht und Unrecht zu vergessen und diese Eindrücke als das anzusehen, was sie waren – Begierden und Gedanken, die bis zu einem gewissen Grad alle Menschen hatten. Roffrey gelang es nur mit Mühe. Und das war nicht alles. Die Fremden hatten eine teuflische Geschicklichkeit darin, diese Impressionen so zu verstärken, 157
daß sie den Verstand zerschmetterten. Er konnte kaum noch unterscheiden, ob er etwas sah oder roch, schmeckte oder hörte. Und jede Empfindung war durchdrungen von der wirbelnden, schnatternden, kreischenden, stinkenden, feuchtkalten, schmerzenden Farbe – dem Blutrot. Ihm war, als sei sein Kopf explodiert, als strömten der blutige Inhalt und die nackten Gedanken daraus hervor, Gedanken, die des Anstandes und der Selbsttäuschung entkleidet waren. In dieser Welt, in die er plötzlich geschleudert worden war, gab es keinen Trost, keine Erleichterung, keine Ruhe, keine Hoffnung und keine Erlösung. Die Sensor-Projektoren der Fremden drängten ihn tiefer und tiefer hinein in sein eigenes Unterbewußtsein, warfen beiseite, was für ihre Zwecke nicht geeignet war, stöberten auf, was ihnen dienen konnte und zeigten ihm, was es in Wirklichkeit war. Alle seine bewußten Gedanken und Empfindungen wurden zerhackt und zerstampft und verändert. Alle seine unterbewußten Gefühle wurden ihm vor Augen gehalten, und er war gezwungen, sie sich anzusehen. Ganz tief in seinem Inneren war ein Fünkchen verborgen, das ihm immer wieder und wieder sagte: »Bleib bei Verstand – halte aus –, es ist doch egal – es ist alles in Ordnung.« Manchmal hörte er seine eigene Stimme, wie sie mit Dutzenden anderer heulte wie ein Hund oder schrie wie ein Kind. Aber trotz allem, was gegen ihn und die anderen abgefeuert wurde, und obwohl er Ekel vor sich selbst und vor seinen Kameraden zu empfinden begann, glühte der Funken weiter, der ihn bei Verstand hielt. Auf diesen Funken konzentrierten die Fremden ihre Angriffe, ebenso wie die erfahreneren Spieler in den menschlichen Reihen die Fünkchen geistiger Gesundheit zu zerstören suchten, die in ihren Gegnern lebten. Niemals zuvor in der Geschichte der Menschheit war eine so entsetzliche Schlacht geschlagen worden. Sie ähnelte mehr einem Kampf zwischen verderbten Dämonen als zwischen 158
sterblichen Geschöpfen. Roffrey konnte nichts anderes tun als diesen Funken bewahren, während er schwitzend gegen die Säulen aus Lärm, die heranflutenden Wogen von Gerüchen, die wimmernden Farben kämpfte. Und als könne es auf diesem Schlachtfeld gar nicht anders sein, schwamm und lief und flutete und pulsierte die blutrote Vermischung aller Sinne durch sein gefoltertes Sein, wirbelte seine Nervenbahnen entlang, hämmerte in seinem Gehirn, zerhackte sein Rückgrat und zerschlug Körper und Geist zu einem formlosen, nutzlosen Brei durcheinandergewühlter Eindrücke. Blutrot! Nichts war mehr da außer dem blutroten Schrillen von überwältigendem, eisigem, stinkendem Geschmack und ein mattes Gefühl des absolutes Abscheus vor sich selbst, das überall hineinkroch, in jede Faser seines Verstandes und seiner Person, so daß er sich nichts anderes mehr wünschte, als es abzuschütteln, ihm entrinnen zu können. Doch es hielt ihn fest in einer blutroten Falle, aus der er nur entkommen konnte, wenn er sich zurückzog, die Gänge seiner Erinnerung hinunter, zurück in die tröstliche Wärme des Mutterleibs … Der Funken loderte auf, und für einen Augenblick kehrte die Vernunft zurück. Roffrey sah die schweißüberströmten, konzentrierten Gesichter der anderen Spieler. Er sah, daß Talfryns Gesicht zuckte, er hörte ihn stöhnen, er fühlte O’Haras dünne Hand auf seiner Schulter und grunzte bestätigend. Er richtete den Blick auf den kleinen Schirm, über dem Linien und Lichter tanzten. Dann streckte er seine Hände nach dem schmalen Kontrollbrett vor sich aus. Auf seinem bärtigen Gesicht erschien ein verzerrtes Halblächeln, als er brüllte: »Katzen!« »Sie kriechen über das Rückgrat, und ihre Klauen fassen 159
nach den Nerven. Die Schlammfluten wogen heran. Ersauft, ihr Biester, ersauft!« Die Worte selbst hatten kaum eine Wirkung, und das war auch nicht die Absicht dabei. Sie sollten in seinem eigenen Geist Emotionen und Vorstellungen hervorrufen. Jetzt war er es, der angriff! Roffrey hatte etwas Wesentliches gelernt. Unter den Impressionen, die die Fremden auf ihn abgestrahlt hatten, waren einige Ideen gewesen, die nicht in menschliche Werte umgesetzt werden konnten. Diese schleuderte er auf den Feind, und über seine Schirme tanzten jetzt die schrecklichen Rhythmen seines wild arbeitenden Gehirns. Als erstes schickte er die blutroten Eindrücke zurück, denn offenbar bildeten sie die Grundlage des Spiels. Er verstand nicht, warum das so war, aber er spürte, daß er eine Wirkung erzielte. Eins wußte er bereits genau: Die Vernunft war im Verlauf des Spiels von untergeordneter Bedeutung. Der Instinkt mußte in eine Waffe umgewandelt werden. Später konnten die Experten die Ergebnisse analysieren. Doch dann verließ die Hysterie ihn, und in dem großen Raum herrschte Stille. »Stop! Roffrey – hören Sie auf! Es ist vorbei. Die Fremden haben gewonnen. Gott! Nun haben wir keine Hoffnung mehr.« »Gewonnen? Ich bin noch nicht fertig …« »Sehen Sie sich das mal an!« Mehrere Spieler krümmten und wälzten sich, wahnsinnig geworden, auf dem Fußboden. Andere hatten sich in fötale Haltung zusammengerollt. Krankenwärter eilten herbei und nahmen sich ihrer an. »Wir haben sieben verloren. Das bedeutet, die Fremden haben gewonnen. Erledigt haben wir fünf. Gar nicht schlecht. Auch Sie hatten Ihren Gegner schon beinahe überwältigt, Roffrey. Sie werden wahrscheinlich eine neue Chance bekommen. Für einen Anfänger haben Sie sich außerordentlich gut 160
gehalten. Aber die Runde ist vorbei. Die Feinde haben sich zurückgezogen.« Als sie sich nach Talfryn umsahen, stellten sie fest, daß er bewußtlos war. O’Hara schien sich keine Sorgen zu machen. »Er hat Glück gehabt – sieht aus, als wäre er einfach umgekippt. Ich nehme an, er ist zäh genug, daß er nun, wo er sich an das Spiel gewöhnt hat, eine oder zwei weitere Runden überstehen wird.« »Es war – schmutzig«, keuchte Roffrey. Sein ganzer Körper schmerzte von der Anstrengung, seine Nerven flatterten, in seinem Kopf hämmerte es, sein Herz raste. Er hatte Schwierigkeiten, seine Augen auf O’Hara zu fokussieren. O’Hara merkte, in welchem Zustand er war, zog eine Spritze aus einer Schachtel, die er in der Tasche trug, und verpaßte ihm eine Injektion, ehe er noch protestieren konnte. Allmählich fühlte Roffrey sich besser. Müde war er immer noch, aber sein Körper war nicht mehr so verkrampft, und seine Kopfschmerzen ließen nach. »Das ist also das Blutrote Spiel.« »Das ist es«, sagte O’Hara. * Selinsky studierte den Bericht, den Mann für ihn verfaßt hatte. »Schon möglich, daß Sie da auf etwas gestoßen sind«, meinte er. »Es ist denkbar, daß der Wanderer auf das menschliche Gehirn einen besonderen Einfluß ausübt, der ihm die Fähigkeit gibt, die Attacken der Fremden besser auszuhalten.« Er blickte auf und sprach Zung an, der in einer Ecke der Kabine mit verschiedenen Apparaten beschäftigt war. »Sie sagen, Roffrey habe sich in seiner ersten Runde bemerkenswert gut gehalten?« »Ja.« Der kleine Mongole nickte. »Und er ist, ohne Anweisungen erhalten zu haben, zum Angriff übergegangen. Das 161
geschieht selten.« »Auch ohne spezielle Eigenschaften wäre er ein wertvoller Spieler«, stimmte Selinsky zu. »Was halten Sie von meinem Vorschlag?« Mann fragte es beinahe ungeduldig, denn er fieberte danach, zu seinen eigenen Forschungsarbeiten zurückkehren zu können. »Interessant«, erklärte Selinsky, »aber da ist noch nichts Bestimmtes, aufgrund dessen man weitergehen könnte. Ich denke, wir bitten Roffrey und Talfryn her und lassen uns von ihnen erzählen, was sie in dem Wandersystem erlebt haben.« * Mary tauchte aus dem Chaos ihres verwirrten Verstands auf. Ein wenig ängstlich – denn sie wußte in normalem Zustand, daß der Wahnsinn sie ständig umlauerte – versuchte sie, logische Gedanken zu entwickeln. Plötzlich war kein Durcheinander mehr da. Sie lag auf ihrer Koje, und ihre Augen erblickten gar nichts – keine in Unordnung geratene Schöpfung, keine sie bedrohenden Ungeheuer, keine Gefahren. Hören tat sie nur das leise Geräusch von Schritten in ihrer Nähe. Ganz vorsichtig rief sie die Erinnerungen zurück. Es war sehr schwierig, den Zeitablauf zu rekonstruieren. Ihr war, als habe sie den größten Teil ihres Lebens in einem Wirbel von Ereignissen verbracht, im Verlauf derer sie sinnlose Handlungen vollführt hatte – ein Schiff gesteuert. Schleusen geöffnet, Gleichungen auf Notizblöcke geschrieben, die wegflatterten und sich auflösten. Zu bestimmten Zeiten war sie am Rand des Irrsinns entlangbalanciert, ohne ihm ganz zu verfallen. Da war ihre erste Ankunft im Wandersystem gewesen, als sie nach Bestätigung der auf Golund erhaltenen Informationen suchte. Der Landung auf Entropium waren Flüge durch den allen Naturgesetzen spottenden interplanetaren Raum gefolgt. Es hatte sie Mühe geko162
stet, bei gesundem Verstand zu bleiben, doch Roth hatte ihr den Rest gegeben. Sie wußte nicht mehr, wie sie von Roth zurück nach Emporium gekommen war. Ein Mann hatte ihr Fragen gestellt. Das war Jon Renark gewesen. Eine Katastrophe hatte Entropium in Schutt und Asche gelegt. Sie war mit der Hauser geflohen, sie hatten einen friedlichen Planeten gesucht – Ekiversh vielleicht? – und Ruhe … Ruhe … Weiter nach Roth … Chaos … Wärme … Chaos … Warum? Was hatte sie immer wieder nach Roth gezogen, obwohl sie bei jedem Besuch ein wenig tiefer in den Wahnsinn hineingeriet? Aber beim letzten Mal war etwas Besonderes geschehen – als habe sie einen Kreis vollendet und sei jetzt auf dem Rückweg zur geistigen Gesundheit. Sie hatte Wesenheiten aus formlosem Licht dort getroffen, die mit ihr gesprochen hatten. Nein, wahrscheinlich war das eine Halluzination … Tief aufatmend öffnete sie die Augen. Willow Kovacs beugte sich über sie. Mary erkannte die Frau, die sie getröstet hatte, und sie lächelte sie an. »Wo ist mein Mann?« fragte sie ganz vernünftig. »Er ist als Spieler rekrutiert worden.« Willow teilte ihr alles mit, was sie selbst wußte. »Er sollte sich bald melden.« Mary nickte. Sie fühlte sich ausgeruht und in Frieden. Das Entsetzen ihres Wahnsinns war eine schwache Erinnerung, die sie weiter und weiter zurückschob. Niemals wieder, dachte sie. Sie fiel in einen tiefen, natürlichen Schlaf. * Roffrey und Talfryn betraten Selinskys Laboratorium. »Noch mehr Tests, Professor?« erkundigte sich Roffrey. »Nein, Kapitän. Wir möchten Ihnen nur ein paar Fragen stellen. Um die Wahrheit zu sagen, wir können an keinem von Ihnen beiden eine Eigenschaft entdecken, die dafür verantwort163
lich zu machen wäre, daß Sie so viele Gegner zurückgeschlagen haben. Ihre Ausstrahlung muß so stark gewesen sein, daß Sie ohne Sendeanlage den Raum durchquerte. Und doch muß dabei irgendeine Art von … Verstärker tätig geworden sein. Können Sie das erklären?« Roffrey schüttelte den Kopf, doch Talfryn runzelte nachdenklich die Stirn. Schließlich fragte er: »Was ist mit Mary?« »Ja, das wäre möglich!« Zung blickte von seinen Notizen hoch. »Nein, ausgeschlossen«, behauptete Roffrey. »Doch, Roffrey, deine Frau hat das bewirkt«, widersprach Talfryn ihm. »Sie war auf Entropium völlig verrückt. Sie ist durch den wilden, chaotischen Raum zwischen den Planeten des Wanderers gereist. Sie muß in sich eine ungeheure Kraftreserve haben, wenn sie das ausgehalten hat. Sie kann alle möglichen fremdartigen Eindrücke aufgenommen haben, die Einfluß auf ihr Gehirn ausübten. Sie war’s. Sie ist unser Verstärker.« Roffrey sah die drei Wissenschaftler an. Auf ihn wirkten sie wie drei Geier, die gerade einen einsam sterbenden Reisenden entdeckt haben. Selinsky seufzte. »Ich glaube, wir sind auf der richtigen Spur.« * »Mary, wie bist du zum Wanderer gekommen?« fragte Willow. »Ich bin Adam weggelaufen. Ich konnte sein ruheloses Leben, seinen Haß gegen alles, was Zivilisation und Ordnung heißt, nicht mehr ertragen. Selbst seine Redensarten und Witze konnte ich nicht mehr ertragen. Trotzdem liebte ich ihn. Ich liebe ihn immer noch. Ich bin Anthropologin, und für meine Forschungen war es ganz vorteilhaft, daß Adam ständig Reisen zu entlegenen Planeten durchführte. 164
Einmal landeten wir auf Golund. Das ist der Planet, der von einem Raumschiff aus einer anderen Galaxis besucht worden sein soll. Ich jagte rings um den Planeten, aber ich konnte kaum etwas darüber erfahren. Als dann der Wanderer in unserer Raumzeit auftauchte, verließ ich Adam. Ich hoffte, dort weitere Hinweise zu finden. Ich habe das System erkundet, und ich habe mühsam meine geistige Gesundheit bewahrt. Aber Roth wurde mir zuviel. Roth hat mich erledigt.« Sie lächelte Willow an. »Jetzt fühle ich mich jedoch gesünder als je zuvor, und ich habe vor, Adam eine gute Frau zu werden. Was hältst du davon, Willow?« »Ich denke, du hast einen Knall«, antwortete Willow taktlos. »Du würdest deine Ideale verraten, nur um ein bequemes Leben zu haben. Tu es nicht. Sieh mich an …« »Das Leben, das hinter dir liegt, ist hart gewesen. Viel zu hart, Willow.« »Ich weiß«, sagte sie. Der Kommunikator pfiff. Mary ging hin und betätigte die Kontrollen. Es war Roffrey. »Hallo, Adam«, begrüßte sie ihn. Die Kehle war ihr eng. Sie führte die Hand an den Hals. »Gott sei Dank«, stieß er hervor. Sein Gesicht sah müde aus. »Hat sich ein Arzt um dich gekümmert?« Sie wußte, sie liebte ihn immer noch. »Nein«, lächelte sie. »Frag mich nicht, wie es geschehen ist – akzeptiere die Tatsache, daß ich wieder gesund bin. Ich weiß nicht, was mich geheilt hat – vielleicht der Kampf mit den Fremden oder etwas, das auf Roth geschehen ist, oder einfach Willows Pflege. Ich fühle mich wie eine neue Frau.« Er grinste. »Könnt ihr beide, du und Willow, sofort zum Spielschiff herüberkommen?« »Natürlich. Aber warum?« »Die Leute hier glauben, daß es uns vieren gemeinsam, als 165
eine Art Team, gelungen ist, die Sinneseindrücke, mit denen die Fremden uns angegriffen haben, abzuwehren. Sie wollen an dir und Willow ein paar Routine-Tests vornehmen. Okay?« »Gut«, antwortete Mary. »Schick uns eine Fähre, und wir werden gleich bei dir sein.« * Viel später verzog Selinsky sein erschöpftes Gesicht und bedeckte es mit der Hand. Er schüttelte den Kopf, als wolle er damit seine Gedanken klären, und starrte die beiden Frauen an, die schlafend in den Sesseln lagen. »Ganz bestimmt ist da irgend etwas. Warum haben wir nicht gleich alle vier getestet? Ein dummer Fehler von uns!« Er warf einen Blick auf das Chronometer an seinem rechten Zeigefinger. »Asquiol will in Kürze eine Ansprache an die Flotte halten. Sicher über das Spiel. Ich hoffe, er hat gute Nachrichten – wir könnten welche gebrauchen.« Roffrey hörte dem Wissenschaftler kaum zu. Er grübelte düster vor sich hin. Er starrte auf Mary herab, und plötzlich hatte er das Gefühl, er spiele in ihrem Leben keine Rolle mehr, und er habe kaum noch Kontrolle über sein eigenes … Mary erinnerte sich. Ihr Körper schlief, aber ihr Geist war wach. Sie erinnerte sich, wie sie auf Roth gelandet, wie sie über die Oberfläche gestolpert war. Dann war sie in einen Abgrund gefallen, der sie aufwärts schleuderte. Eine seltsame Wärme hatte ihr Gehirn überflutet … An all das konnte sie sich erinnern, weil sie nun etwas Ähnliches ganz in ihrer Nähe spürte. Ihr Geist suchte, Verbindung damit aufzunehmen. Es gelang ihr nicht. Nicht ganz. Sie kam sich vor wie ein stürzender Bergsteiger an einem Felsen, der die Hand nach der Hand seines Vordermannes ausstreckt und sie gerade eben berühren, aber nicht fassen kann. Da draußen war jemand – jemand wie sie –, jemand, bei dem 166
die Eigenschaften, die sie hatte, stärker entwickelt waren. War es ein Mensch oder etwas anderes? Adam? Nein, Adam war es nicht. Ihr wurde bewußt, daß sie seinen Namen laut ausgesprochen hatte. »Ich bin hier.« Seine große Hand drückte die ihre ermutigend. »Adam … da ist etwas … ich weiß nicht, was …« Selinsky trat neben ihren Mann. »Wie fühlen Sie sich?« »Körperlich gut, aber sehr verwirrt.« Sie setzte sich auf, baumelte mit den Beinen und versuchte, die Füße auf den Boden zu setzen. »Was haben Sie herausgefunden?« »Nicht wenig«, gab der Professor zu. »Wir brauchen Sie. Sind Sie bereit, ein großes Risiko auf sich zu nehmen und uns bei dem Blutroten Spiel zu helfen?« Mary fragte sich, warum ihr Mann so still war.
XVII. Asquiol war klar, daß er das Spielschiff persönlich besuchen mußte, denn der gefürchtete Augenblick war gekommen. Praktisch hatten die Fremden das Blutrote Spiel schon gewonnen. Wie mit Juwelen bestreut breitete sich das Multiversum um ihn aus, überquellend vor Leben, vor pulsierender Energie, aber das war für ihn in seiner an Verzweiflung grenzenden Stimmung kein Trost. Dazu schmerzte ihn die Leere in seinem Inneren, die sich nach dem fehlenden Stück sehnte. Es schien ganz nahe zu sein, doch er konnte es nicht finden, sosehr er sich auch bemühte, es mit seinen geistigen Fühlern im Multiversum zu entdecken. Sein Gewissen zwang ihn, diese rein persönliche Angelegenheit beiseite zu schieben und sich auf das anliegende Problem zu konzentrieren. Wie schon mehrmals hatte er sich mit den 167
fremden Anführern in Verbindung gesetzt. Diese hatten sich kaum noch Mühe gegeben, ihren Triumph zu verbergen. Sie gewannen das Spiel. Asquiol war es immer noch nicht gelungen, zu verstehen, wie sie das Spielergebnis berechneten, aber er vertraute ihnen. Ein Betrug war für sie unvorstellbar. Verständigen konnte Asquiol sich mit den Fremden auf die Art, die er und Renark von den Schöpfern gelernt hatten. Telepathie war es nicht. Er benutzte dazu Energiewellen, die nur derjenige spüren und nutzbar machen konnte, der volles Bewußtsein des Multiversums errungen hatte. Worte wurden nicht ausgestrahlt, sondern Bilder und Symbole. Die Auswertung einiger dieser Symbole hatte es den Wissenschaftlern ermöglicht, »Waffen« für das Spiel zu erfinden. Asquiol wußte nicht, wie die Fremden sich nannten und wie sie aussahen. Doch ihre Botschaften waren deutlich zu verstehen, und es war Tatsache, daß die menschliche Rasse an einem kritischen Punkt angelangt war. Die nächste Runde bestimmte den Ausgang des Spiels! Danach konnte die menschliche Rasse das Todesurteil hinnehmen oder erneut mit dem offenen Krieg beginnen. Aber auch dann hatte sie keine Chance mehr. Schon war der Betrieb auf einer Reihe von Farmschiffen zusammengebrochen, andere waren verlorengegangen oder gleich anfangs zerstört worden. Die Flotte bestand jetzt aus weniger als zweitausend Schiffen, und beinahe eine Viertelmillion Schiffe hatte das Heimat-Universum verlassen. Hoffnungslosigkeit wollte ihn überwältigen, als er einen schimmernden Arm ausstreckte und die allgemeine Wellenlänge einstellte, über die er seine Ansprache halten wollte. Er trat nur noch selten in direkten Kontakt mit anderen Mitgliedern seiner Rasse. »Hier spricht Asquiol. Bitte, hören Sie mir aufmerksam zu. Ich habe vor kurzem mit den Angreifern gesprochen, und sie teilten mir mit, sie hätten das Spiel praktisch schon gewonnen. 168
Das bedeutet, daß unsere Lage beinahe hoffnungslos ist. Unsere Vorräte reichen höchstens noch für einen Monat. Wenn wir nicht bald auf einem geeigneten Planeten landen können, werden wir alle sterben müssen. Überleben können wir nur, wenn wir in der letzten Runde des Spiels einen entscheidenden Sieg erringen. Unsere Spieler sind erschöpft, und neue Rekruten haben wir nicht mehr. Wir haben unsere Talente ebenso verbraucht wie unsere Vorräte. Unsere Wissenschaftler suchen immer noch nach einer neuen Methode, die Fremden zu schlagen, aber die Zeit wird knapp. Diejenigen unter Ihnen, die nicht direkt an dem Blutroten Spiel teilnehmen, sollten jetzt, so gut es möglich ist, eigene Pläne machen. Die Spieler und die Mitarbeiter im Spielschiff kann ich nur um verstärkten Einsatz bitten, wenn ich auch weiß, daß sie schon seit vielen Tagen ihr Äußerstes geben. Denken Sie daran, was wir gewinnen können. Alles! Denken Sie daran, was wir verlieren würden. Alles!« Asquiol, noch nicht fertig mit dem, was er zu sagen hatte, lehnte sich zurück. Wieder überkam ihn das Gefühl einer starken Verwandtschaft mit einer anderen Wesenheit. Wo war sie? In diesem Universum – oder einem anderen? Dann fuhr er fort: »Ich selbst werde vom Ausgang des Spiels nicht persönlich betroffen sein, was Sie wohl bereits erraten haben. Das hat jedoch keinen Einfluß auf meine Überzeugung, daß ich verpflichtet bin, die Rasse zuerst in Sicherheit und später zu einem weiteren Ziel zu führen. Einige unter Ihnen möchten wissen, was aus unserem ursprünglichen Führer, meinem Freund Renark, geworden ist und warum er in dem schrumpfenden Universum zurückblieb. Weder ihm noch mir wurde von den Schöpfern deutlich gesagt, warum das so sein mußte. Wahrscheinlich wurde der Stoff, aus dem sein großer Geist bestand, unter uns verteilt, um uns allen ein Stück zusätzliche Lebens169
kraft zu geben – die Lebenskraft, die wir brauchen. Renark war ein mutiger Mann und ein Visionär. Er war überzeugt, daß die Menschheit jede Gefahr vermeiden, vernichten oder überleben könne. Er glaubte an den menschlichen Willen. Aber unterschiedliche Probleme verlangen unterschiedliche Lösungen. Der Wille allein genügt nicht, um das Blutrote Spiel zu gewinnen. Wir müssen jetzt völlig skrupellos sein. Wir müssen stark und tapfer, aber ebenso listig und vorsichtig sein, und wir müssen alle Ideale opfern, die uns auf unserem Auszug aus dem Heimat-Universum begleitet haben. Es geht ums Überleben – und um das Oberleben eines größeren Ideals.« Asquiol fragte sich, ob er noch etwas hinzusetzen solle. Er entschied, für den Augenblick sei es genug. Wieder lehnte er sich zurück und gestattete sich das Einswerden mit dem Multiversum. »Wo bist du?« fragte er. »Wer bist du?« Seine Sehnsucht war so groß, daß sie ihn von der wichtigsten aller Aufgaben ablenkte. Ungeduldig wartete er auf die Ankunft des Fahrzeugs, das ihn zum Spielschiff hinüberbringen sollte. Er schritt in der Kabine auf und ab. Schatten zitterten rings um ihn her, und das Licht brach sich an seinem Körper in leuchtendem Blau, Gold und Silber. Manchmal schienen mehrere geisterhafte Asquiols dazusein. Endlich kam das Boot. Lord Mordan wartete schon in der Schleuse des Spielschiffs. »Vielleicht«, sagte er, »mit Ihrer Hilfe, Asquiol …« Asquiol schüttelte seinen schimmernden Kopf. »Mir ist wenig an besonderen Fähigkeiten gegeben. Ich kann nur hoffen, daß meine Unterstützung die Spieler ein wenig länger durchhalten läßt.« »Professor Selinsky möchte Sie sprechen. Es scheint, daß die vier Personen, die vom Wanderer kamen, eine Art von Gruppen-Energie haben …« 170
Ihre Stiefel hallten auf dem Metallboden des Korridors. »Ich werde zuerst Selinsky aufsuchen«, antwortete Asquiol. Mordan blieb vor einer Tür stehen. »Dies ist sein Laboratorium.« Er drehte einen Knopf und trat ein. Selinsky sah von seiner Arbeit hoch. Als Asquiol Mordan folgte, kniff der Professor die Augen zusammen. »Eine Ehre …« erklärte er ein wenig ironisch. »Lord Mordan hat mir berichtet, Professor, daß es bei Ihnen eine neue Entwicklung gibt.« »Ja, das ist richtig. Diese Frau – Mary Roffrey. Sie ist jetzt nicht nur geistig gesund, sie ist … Wie soll man es nennen? Sie hat einen Superverstand! Mit ihrem Geist ist auf Roth irgend etwas geschehen. Er hat sich verändert, und er ist nun völlig verschieden von allen anderen – ausgenommen vielleicht…« »Meinen Geist?« In Asquiol stieg Erregung hoch. »Sieht sie auch äußerlich so wie ich aus?« Selinsky schüttelte den Kopf. »Sie scheint völlig normal zu sein – bis man ihre Gehirnstruktur analysiert. Jedenfalls ist sie das, was wir brauchen.« War diese Frau das fehlende Stück in seiner Existenz? fragte sich Asquiol. Hatten die Schöpfer mit dem Gehirn dieser Frau etwas vorgenommen, um sie zu dem zu machen, was sie potentiell war – eine Waffe? Er konnte nur Vermutungen anstellen. Selinsky erläuterte: »Die Umwandlung beruht nicht auf dem Angriff der Fremden, sondern auf einer ganzen Reihe Wahnsinn hervorrufender Halluzinationen auf Roth. Irgend etwas oder irgend jemand hat an ihrem Gehirn gearbeitet. Es ist jetzt von der feinsten Ausgeglichenheit, die ich je gesehen habe.« »Wie meinen Sie das?« fragte Asquiol. »Auf der einen Seite – äußerster Wahnsinn; auf der anderen Seite – unvorstellbare Geistesklarheit.« Selinsky runzelte die Stirn. »Um nichts in der Welt möchte ich an ihrer Stelle sein. Im Augenblick lassen wir sie bei O’Hara einen Schnellkurs machen. Aber ihr Einsatz als Spielerin könnte ihren Verstand 171
für immer ruinieren, die Ausgeglichenheit ein für allemal zerstören.« »Sie meinen, dann würde sie unheilbar geisteskrank werden?« »Ja.« Asquiol überlegte. »Wir müssen Sie einsetzen. Es steht zuviel auf dem Spiel«, entschied er endlich. »Ihr Mann ist dagegen, aber sie scheint einverstanden zu sein.« »Der Mann ist Roffrey, dieser Unruhestifter«, warf Mordan ein. »Wird er in diesem Fall Schwierigkeiten machen?« »Es sieht aus, als habe er sich mit den Tatsachen abgefunden«, berichtete Selinsky. »Das paßt nicht zu seinem Charakter. Seine Mitwirkung beim Spiel muß eine Veränderung in ihm bewirkt haben. Überraschend ist das nicht …« »Ich muß sie sehen.« Asquiol wandte sich zur Tür und verließ das Laboratorium. Sie gingen den langen Korridor zum Spielraum hinunter. Asquiol hatte den Wunsch – den verzweifelten Wunsch –, Mary Roffrey zu sehen. Die Gedanken überstürzten sich in seinem Kopf. Indirekt war er immer wieder auf Mary Roffrey gestoßen, seit er und Renark zum Wanderer geflogen waren. Begegnet war er ihr nie. Aber sie war es gewesen, die Renark eine Menge wichtiger Informationen geliefert hatte, ohne die sie beide nie den Weg zu den Schöpfern gefunden hätten. Was war sie? Ein Werkzeug der Schöpfer, das sie benutzten, um der Rasse zu helfen? Oder war sie mehr als ein bloßes Werkzeug? Sie mußte das fehlende Stück in seiner Existenz sein. Doch offenbar hatte sie keinen unmittelbaren Kontakt mit dem Multiversum. Sie hatte die Kraft, die Fremden vernichtend zu schlagen – und er wiederum hatte nichts dergleichen. Es gab Dinge, die eine Verbindung zwischen ihnen schufen, und 172
ebenso gab es Faktoren, die sie voneinander trennten. Es war, als repräsentierten sie beide bestimmte Eigenschaften, die die Menschheit zu entwickeln vermochte. Sie hatte etwas, das er nicht hatte – er hatte etwas, das sie nicht hatte. Wie ähnlich waren sie sich? Vielleicht würde er es im nächsten Augenblick erfahren. In Gedanken ging er alle Informationen durch, die er hatte. Marys Geist war die Hauptursache gewesen, daß die Fremden in der wilden Runde zurückgeschlagen wurden. Bei dieser Gelegenheit hatte sie den Verstärker für die anderen drei Beteiligten dargestellt. Sie alle waren auf Roth gewesen, und wahrscheinlich war ihre Fähigkeit, das Blutrote Spiel zu spielen, höher entwickelt als bei jedem anderen Menschen in der Flotte. Daher würde man außer Mary auch die anderen drei einsetzen. Aber vor allem beschäftigte ihn das, was Selinsky gerade behauptet hatte. Die Anstrengung der letzten Runde konnte Marys Verstand unwiderruflich zerrütten. Asquiol wußte, was jetzt seine Pflicht war, doch er trug schwer daran. Als er darüber nachdachte, schien das Licht rings um ihn zu verblassen, kälter und in seinen Bewegungen träger zu werden. Ihn erfüllte eine Traurigkeit, wie er sie nie wieder zu erleben gehofft hatte. Erfolglos kämpfte er dagegen an. Es lief darauf hinaus, daß er eine Frau in den Tod schicken mußte – und sich dadurch selbst von der Kraft, die sie besaß, abschnitt. Von dieser Kraft, die ebenso ein Teil von ihm war wie von ihr. Für alles andere als sofortiges Handeln war es zu spät. Der Beginn der letzten Runde stand nahe bevor. Sie erreichten die Tür zum Spielraum …
173
XVIII. Mary saß neben Willow. O’Hara gab ihnen Anweisungen. Rings um sie bereiteten sich die anderen Spieler auf die letzte Runde vor. Sie sahen erschöpft und niedergeschlagen aus. Viele von ihnen blickten nicht einmal hoch, als Asquiol die Tür aufriß und mit großen Schritten den Raum durchquerte. Das Licht flutete über die vielen Facetten seines Körpers und strömte hinter ihm her. Mary drehte sich um und erkannte ihn. »Sie sind es!« sagte sie. Ein Ausdruck der Verwirrung huschte über Asquiols Gesicht. »Sind wir uns begegnet?« fragte er. »Ich erinnere mich nicht.« »Ich habe Sie mehrmals mit Renark gesehen – auf Roth.« »Aber wir haben Roth vor langer Zeit verlassen!« »Ich weiß – aber Roth ist ein seltsamer Planet. Die Zeit existiert dort nicht. Doch erkannt hätte ich Sie auch ohne das.« »Wie ist das möglich?« »Ich habe die ganze Zeit gespürt, daß Sie hier sind. Ich glaube, schon bevor wir die Flotte erreichten.« »Doch offensichtlich existieren Sie nicht, so wie ich, im ganzen Multiversum. Welches Verbindungsglied gibt es zwischen uns?« Er lächelte. »Vielleicht könnten unsere gemeinsamen Freunde, die Schöpfer, es uns sagen.« »Wahrscheinlich ist es einfacher als das«, antwortete Mary. Das Gefühl der Empathie mit Asquiol war stärker als alles, was sie bisher erlebt hatte. »Wir haben beide die Schöpfer gesehen, und der Kontakt mit ihnen hat uns einen Gewinn gebracht, den wir ineinander kennen.« »So kann es sein«, nickte er. Plötzlich kam ihm zu Bewußtsein, daß Willow ihn anstarrte. Tränen füllten ihre Augen. Er riß sich zusammen und erklärte kurz: »Nun, wir müssen beginnen. Ich übernehme die Leitung dieses Projekts. Sie, Mary, werden nach meinen Anweisungen handeln und die Kraft der drei anderen – Roffrey, Talfryn und Willow – benutzen. Es ist 174
ganz einfach, so ähnlich wie ein empathischer Zusammenschluß.« Mary richtete ihre Augen auf die anderen, die bei Selinsky und seinem Team gestanden hatten und nun zu ihr traten. »Habt ihr es gehört?« Adam sah sie mit einem Ausdruck eines stumm leidenden Tieres an, und dann senkte er den Blick. »Wir haben es gehört«, sagte er. »Wir alle.« Marys Augen suchten Rat bei Asquiol, aber er konnte ihr nicht helfen. Sie befanden sich in einer ähnlichen Lage – Mary mit Roffrey und Asquiol mit Willow. Mary spürte, daß der Zeitpunkt kommen würde, wo sie sich von ihrem Mann trennen mußte. Der Zeitpunkt war vorüber, sann Asquiol, wo es für ihn und Willow eine Chance gegeben hatte. Sie sahen sich an, und sie übermittelten sich diese Botschaft, ohne daß Worte notwendig gewesen wären. O’Hara unterbrach sie. »Alles fertigmachen! Denken Sie daran, wir brauchen in der Runde, die uns bevorsteht, einen überwältigenden Sieg. Diese Runde wird die letzte sein, die wir je zu spielen haben. Sie entscheidet über Leben und Tod!« Die fünf Personen, Asquiol und Mary voran, begaben sich an die eigens für sie installierten Kontrollen. Selinsky und sein Team beendeten ihre Arbeiten und traten zur Seite. Die fünf bereiteten sich innerlich auf das Spiel vor. Willow und Adam Roffrey mußten sich zur Konzentration zwingen, aber die Befürchtungen, unter denen sie litten, waren unterschiedlich. Willow hatte Angst, daß Mary durch die Qual, die ihr bevorstand, endgültig dem Wahnsinn verfallen würde. Roffrey haßte den Gedanken, daß ihm eine Trennung von Mary bevorstand, noch bevor sie einen neuen Anfang hatten machen können. Roffrey erkannte, daß Asquiol jetzt sein Rivale war, und 175
doch wußte Asquiol es kaum selbst. Talfryn war ganz ruhig. Er wünschte sich nichts anderes, als daß Mary ihnen helfen würde, das Blutrote Spiel zu gewinnen. Asquiol flüsterte Mary zu: »Denken Sie immer daran, daß wir in enger Verbindung miteinander stehen. Wie nahe Sie auch dem Wahnsinn kommen mögen, fürchten Sie nichts. Ich werde Sie auf dem rechten Weg halten.« Sie lächelte ihn an. »Danke.« Sie warteten, und ihre Anspannung wuchs. * Die erste Berührung war ganz sacht. O’Hara brüllte: »Wartet nicht auf sie! Angriff! Angriff! Asquiol faßte in Marys Unterbewußtsein und stöberte in dessen Tiefen, wie man es nur einem durch und durch schlechten Menschen zugetraut hätte. Aber selbst als er in den Übelkeit erregenden Strudel des Wahnsinns hineingriff, war es Mary klar, daß Asquiol nicht schlecht war. Es war keine Spur von Bosheit in ihm. Er brauchte seine ganze Selbstbeherrschung, um weiterzumachen. Doch er machte weiter. Er zerriß ihren Geist und setzte ihn neu zusammen, und dabei war er sich voll bewußt, daß er ein schreckliches Verbrechen begehen mochte. Das schwitzende Trio neben ihm leitete Mary Kraft zu, und Asquiol strahlte die von ihm gestaltete Energie auf die fremden Angreifer ab. »Dort sind sie, Mary – du siehst sie!« Mary richtete ihre glasigen Augen auf den Schirm. Ja, sie sah sie. Plötzlich überrollte sie eine grauenhafte Dunkelheit. Rotglühende Nadeln stachen in die graue Masse ihres Gehirns. Sie wurde gespannt wie eine Banjo-Saite, weiter und weiter, bis zu dem Punkt, wo sie gleich zerreißen würde. Sie konnte nicht … 176
konnte nicht … Sie lachte. Da machte sich jemand einen ungeheuerlichen Witz mit ihr. Alle lachten sie aus. Sie schluchzte und wimmerte und schlug zurück nach den Scharen von Dämonen und Trollen, die hüpfend und stampfend durch die langen Korridore ihres Verstandes tanzten. Sie schnatterten und kicherten und befingerten ihr Gehirn und ihren Körper und legten ihre Nerven bloß, und das machte ihnen Spaß, und sie liebkosten die Teile ihres Seins, die sie erobert hatten. Sie schlug zurück, als sich das blutrote Gefühl, das immer dagewesen war, über den ganzen Schauplatz ergoß. Sie kannte es gut, und sie haßte es mehr als alles andere. Verschwunden waren alle Gefühle – das Selbstmitleid, die Liebe –, verschwunden die Sehnsucht und die Eifersucht und die hilflose Traurigkeit. Das Trio verschmolz miteinander und lieh Mary seine Stärke. Was sie fühlte, fühlten sie auch. Was sie sah und tat, sahen und taten sie. Und manchmal – so eng waren die fünf verbunden – sahen sie etwas, was Asquiol sah, und es gab ihnen Kraft, die sie wieder Mary zur Verfügung stellten. Immer wieder drangen sie gegen die Fremden vor. Sie haßten sie, und sie bombardierten sie mit immer neuen Vorstellungen, die aus dem fünffachen Gehirn stammten. Für die Spieler der Fremden war es, als sei in einem bisher mit Schwertern ausgefochtenen Krieg plötzlich eine Atomkanone eingesetzt worden. Unter der Wucht des Angriffs taumelten sie zurück. Sie staunten und, ihrer seltsamen Art entsprechend, bewunderten sie. Sie verstärkten auch ihre eigenen Anstrengungen. Roffrey brach den Kontakt, als er die Stimme eines Außenstehenden vernahm. Es war O’Hara, und er brüllte: »Wir siegen! Der Professor hatte recht! Irgendwie hat sie den Schlüssel zur Beherrschung des Spiels. Sie kann aus ihrem Gehirn genau 177
das abstrahlen, was die Fremden am meisten verabscheuen. Kein normaler menschlicher Verstand wäre auf so etwas Verdrehtes gekommen. Aber sie schafft es!« Roffrey starrte O’Hara einen Augenblick erschreckt an, dann konzentrierte er seine Aufmerksamkeit wieder auf das Spiel. Auch O’Hara wandte sich erneut seinen Aufgaben zu. Langsam sammelten sie Punkte – und Marys Inspiration feuerte alle anderen Spieler an. »Das ist unsere große Stunde«, murmelte O’Hara. Marys Gesicht war qualvoll verzerrt und mit Schweiß und Speichel bedeckt, und es war genauso von flackernden Doppelbildern umgeben wie Asquiols. Ihr war bewußt, daß sie siegten. Sie sah, daß die Fremden zurückwichen. Der alles verschlingende Wahnsinn umlauerte sie, aber Asquiols Anwesenheit gab ihr Zuversicht, und sie kämpfte weiter, auch wenn Körper und Geist vor Schmerz zu zerbrechen drohten. Dann verlor sie ganz plötzlich das Bewußtsein. Von weither hörte sie eine Stimme rufen: »Mary! Mary!« Asquiol konnte den Gedanken, daß er sie zwingen sollte, weiterzumachen, kaum noch ertragen. Aber es mußte sein. Er faßte in ihr schweißnasses Haar, zog ihren Kopf zurück und sah ihr in die leeren Augen. »Mary – du kannst sie wegschicken. Du kannst es!« Er benutzte die Art der Verständigung, die er von den Schöpfern gelernt hatte. Er zwang sie, das Geschehen auf den Schirmen in sich aufzunehmen. Sie schlug um sich. Eine Sekunde lang blickte sie ihn an. Zu seiner Erleichterung sprach Vernunft aus ihren Augen. »Asquiol«, fragte sie, »was war da eben zwischen uns?« »Wir können es wiederholen, Mary – jetzt!« Und dann kreischte sie ihn an, ihr Gelächter prasselte wie Schläge auf ihn nieder, so daß er die Hände schützend hoch178
werfen, fortlaufen und fliehen, sich vor dem, was er geschaffen hatte, verstecken wollte. Aber er beherrschte sich und drehte ihr Gesicht wieder den Schirmen zu. Roffrey, halb tot vor Pein, funkelte ihn an, tat jedoch nichts. Marys Anfall ging in lautes Weinen und Schluchzen über. Asquiol konnte keinen Kontakt mit ihr herstellen. Ihr einer Arm fuhr hoch, und ihre Fingernägel zerkratzten ihm das Gesicht. Roffrey sah das Blut fließen und wunderte sich. Er hatte ganz vergessen, daß Asquiol ebenso sterblich war wie er. Sein Elend wurde dadurch irgendwie noch schlimmer. Asquiol kämpfte darum, seinen Zorn zu kontrollieren, ihn gegen die Fremden zu richten. Er strengte sich aufs äußerste an, den empathischen Kontakt mit Mary wiederherzustellen. Sie hörte ihren Namen durch die Dunkelheit wirbeln und summen. Sie faßte danach. Von den anderen Spielern waren mittlerweile schon viele der Gewalt des Angriffs erlegen. Zerstörerische Sinneseindrücke brandeten über ihre Gehirne, und selbst die stärksten unter ihnen hatten Mühe, ihnen zu wiederstehen, bei gesundem Verstand zu bleiben und zurückzuschlagen. Asquiol setzte den Kommunikationssinn ein, der es ihm erlaubte, mit den Fremden zu »sprechen«. Auf diese Weise »sprach« er mit Mary. Er übermittelte ihrem Geist Eindrücke und Bilder, die aus seiner eigenen Erinnerung stammten. Und seine Verbindung mit der Frau wurde so eng, daß er fühlte, wie ihm seine eigene Vernunft entglitt. Aber sein Geist hatte die Kontrolle über dies Team – er durfte sich nicht gehenlassen. Solange er konnte, hielt er aus. Dann richtete er sich keuchend auf. Wer ihn beobachtete, konnte erkennen, wie das Licht, das ihn umgab, unregelmäßig flackerte und plötzlich trübe wurde. Dann strahlte es wie bei einer Explosion wieder auf. Und dann berührte das Licht Marys Geist. Es berührte ihren Körper, und ihre Gestalt zersplitterte und wurde zu vielen 179
Gestalten. Asquiol! ASQUIOL! ASQUIOL! Hallo, Mary. Was ist das? Die Wiedergeburt. Du bist jetzt ganz. Ist es vorbei? Durchaus nicht! Wo sind wir, Asquiol? Auf dem Schiff. Aber es ist … Anders, ich weiß. Sieh! Sie sah durch das schimmernde Licht ihren Mann, das Mädchen und den anderen Mann. Sie starrten sie voller Erstaunen an. Jedes Fleckchen Raum, das diese Menschen nicht einnahmen, war mit durchscheinenden Bildern gefüllt. »Adam«, sagte sie, »es tut mir leid.« »Geht schon in Ordnung, Mary. Ich wünsche dir viel Glück.« Roffrey brachte tatsächlich ein Lächeln zustande. Eine neue Gestalt schwamm in den Mittelpunkt der Szene. Es war der wild gestikulierende O’Hara. »Ich weiß nicht, was mit der Frau geschehen ist, und es interessiert mich auch nicht. Kümmern Sie sich um das Spiel, oder wir sind verloren!« Sie wandte sich den Schirmen zu, und die grauenhaften Eindrücke kamen zurück. Aber es war, als befinde sich zwischen ihr und ihnen ein Filter, der die Wirkung der Strahlung auf ihren Geist zurückhielt. Vorsichtig suchte sie nach ihrem Sein. Sie spürte Asquiol neben sich, und seine Gegenwart ermutigte sie. Mit voller Kraft griff sie den Feind an, fand seine schwachen Stellen, benutzte sie, zerfetzte die Gehirne der Fremden. Asquiol führte sie – sie konnte es fühlen. Talfryn, Willow und Adam speisten sie mit Kraft und zusätzlichen Impressionen, die sie nahm, umgestaltete und ausstrahlte. 180
Weitere Spieler verloren das Bewußtsein. Die Krankenwärter hatten alle Hände voll zu tun, sie aus dem Raum zu tragen. Nur noch fünf vollständige Teams waren übrig. Aber der Sieg war ihnen sicher. Mary und Asquiol vergaßen alles außer ihrem Ziel, den Feind zu schlagen. Die bisher unerforschliche Psyche der Fremden lag so klar vor ihnen, daß sie in Gefahr gerieten, aus Mitgefühl aufzugeben. Doch sie kämpften weiter, nutzten die Vorteile, die sie errungen hatten. Und dann war es vorbei. Benommen blickten sie einander an. »Asquiol – was ist geschehen?« fragte Willow. »Das lag im Plan der Schöpfer, Willow. Offenbar haben sie die menschliche Schwachheit nicht genügend berücksichtigt, aber mit ihrem Vertrauen auf die Stärke des menschlichen Willens hatten sie recht. Bitte, quäle dich nicht, Willow. Du hast heute mehr für die ganze Menschheit getan, als du je hättest für eine einzige Person tun können.« Asquiol und Mary richteten ihre Blicke auf die anderen. »Du auch, Roffrey – und du, Talfryn. Ohne euch hätten wir die Fremden wohl nicht schlagen können. Plötzlich lag alles in einem klar überschaubaren Bild vor uns. Es muß ein tieferer Sinn darin gelegen haben, daß Willow und Talfryn damals auf Emporium blieben und daß Roffrey später den Wanderer besuchte. Um Haaresbreite hätten wir unsere Chance verschenkt.« »Wie hat sich das nun genau abgespielt?« wollte Lord Mordan wissen. »Sind Sie eine einzige Wesenheit geworden oder so etwas?« »Nein.« Asquiol wußte kaum, wie er es dem Galaktischen Lord erklären sollte. »Es ist einfach so, daß wir, die wir im ganzen Multiversum existieren, uns zu einer stärkeren Einheit zusammenschließen können. Auf diese Weise ist es uns in letzter Minute gelungen, unsere Gegner zu schlagen.« Mary meinte: »Die Schöpfer müssen mich von Anfang an 181
beobachtet haben, lange bevor ich dir begegnet bin.« Asquiol ergänzte: »Den Menschen, die die Schöpfer als … als Material für die neue, im Multiversum beheimatete Rasse betrachten, machen sie es im Leben besonders schwer, nur die tüchtigsten überleben.« Unterwürfig erkundigte Lord Mordan sich: »Aber wie kommen wir jetzt zu einem Friedensvertrag mit den Fremden? Wir müssen uns beeilen … die Farmschiffe …« »Natürlich«, nickte Asquiol. »Mary und ich werden auf mein Schiff zurückkehren und von da aus mit den Fremden Kontakt aufnehmen.« Mit einem letzten Blick auf die drei anderen verließen Mary und Asquiol den Raum. »Was, zum Teufel, hast du zu grinsen, Roffrey?« fragte Talfryn anklagend. Roffrey war erfüllt von innerem Frieden. Vielleicht kam das nur von seiner Müdigkeit, aber er glaubte es nicht. In ihm war kein Schmerz, keine Eifersucht, kein Haß mehr. In dem großen Laderaum wurde es plötzlich hell. Hilfskräfte hatten die Beleuchtung eingeschaltet und machten sich daran, die Unordnung zu beseitigen, die die Spieler hinterlassen hatten. »Ich gebe auf.« Talfryn schüttelte verständnislos den Kopf. »Das ist ja das Problem«, erklärte Willow. »Das tun so viele von uns, nicht wahr?«
182
Epilog Asquiol von Pompeji führte Mary in sein Schiff. Hier fühlten sie sich behaglicher, weil die Einrichtungen des Schiffes ihrem metabolischen Zustand angepaßt waren. Er lehrte sie, das strahlende Multiversum zu betrachten, das sich rings um sie ausbreitete. Dann sandten sie einen geistigen Fühler aus und suchten die Fremden. Sie hatten Kontakt! Als die fremden Anführer in das Schiff kamen, rief Mary in normaler Sprache aus: »Gott! Wie schön sie sind!« Sie waren schön mit ihrem zarten Knochenbau und der durchscheinenden Haut, mit ihren goldenen Augen und den anmutigen Bewegungen. Aber um sie war ein Hauch von Verderbtheit, von äußerster Dekadenz. Sie wirkten wie schlimme, altkluge Kinder. »Die Schöpfer warnten mich, ich solle mich vor Rassen hüten, die sie ›Pessimisten‹ nannten«, sagte Asquiol. »Das sind Rassen, die den Drang, die ihnen gesetzten Grenzen zu überschreiten, vollständig verloren haben. Zweifellos gehören diese dazu.« Mit ihrer einzigartigen Verständigungsmethode sprachen sie mit den Fremden. Es erstaunte sie, einem so vollständigen Gefühl der Niederlage, einer so widerspruchslosen Hinnahme der Idee, daß der Sieger alle Bedingungen diktieren könne, zu begegnen. Wir akzeptieren eure Bedingungen – alle Bedingungen – wir haben keinen Status – ihr habt allen Status – wir sind nichts als eure Werkzeuge, die ihr nach Belieben benutzen könnt. So streng hielten sich die Fremden an die Regeln des Spiels, das sie seit Jahrhunderten, vielleicht seit Jahrtausenden, gespielt hatten. Sie waren darauf konditioniert, dem Sieger zu gehorchen. Sie waren nicht fähig, das Recht des Siegers in Frage zu stellen. Ihre Schande war so groß, daß sie daran zu sterben drohten – und doch fand sich in ihnen keine Spur von Bitterkeit. 183
Asquiol und Mary empfanden ihnen gegenüber nichts anderes mehr als Mitleid, und sie beschlossen, ihnen zu helfen, wenn sie konnten. Die Fremden verließen das Schiff. Würden sie sie je wiedersehen? Asquiol und Mary schickten dem kugelförmigen Schiff eine höfliche Botschaft nach, in der sie ihnen zu ihrem Einfallsreichtum und ihrem Mut gratulierten, aber darauf reagierten die Fremden nicht. Sie waren geschlagen – kein Lob konnte daran etwas ändern. Sie gaben die Positionen von Planeten an, die für menschliche Besiedlung geeignet waren – für sie selbst waren sie sowieso völlig nutzlos – und eilten davon. Sie gingen ohne Groll, die planten keine Wiedervergeltung, denn dergleichen kannten sie nicht. Sie wollten sich verstekken, und sie würden nur dann wieder zum Vorschein kommen, wenn ihre Eroberer es verlangten. Sie waren ein seltsames Volk, dessen künstlicher Ehrenkodex offenbar alle natürlichen Instinkte ausgelöscht hatte. Asquiol und Mary brachen die Verbindung zu den Anführern der Fremden ab. »Ich muß Mordan informieren. Er wird begeistert sein.« Asquiol schaltete den Kommunikator ein. Er berichtete dem Galaktischen Lord über das Zusammentreffen. »Ich werde die Flotte sofort in Richtung einiger bewohnbarer Planeten in Bewegung setzen. Lassen Sie mir eine Stunde Zeit.« Lord Mordan lächelte müde. »Wir haben es geschafft, Fürst Asquiol. Ich muß gestehen, daß ich mich beinahe schon mit einer Niederlage abgefunden hatte.« »So war uns allen zumute«, erwiderte Asquiol. »Wie geht es den drei anderen?« »Sie sind alle in Roffreys Schiff. Ich glaube, es geht ihnen gut. Seltsamerweise wirkten Roffrey und das Mädchen richtig glücklich. Wünschen Sie, daß ich ein Dossier über sie anlege?« »Nein.« Asquiol schüttelte den Kopf, und dadurch brach sich 184
das Licht rings um ihn, und die vielen Doppelbilder vermischten sich. Einen Augenblick lang sah Asquiol scharf in Mordans erschöpftes Gesicht. Dem Galaktischen Lord wurde unbehaglich zumute. »Ich könnte ein paar Stunden natürlichen Schlaf brauchen«, stellte Mordan schließlich fest, »aber zuerst muß ich die Flotte auf den Marsch bringen. Ist sonst noch etwas?« »Nichts«, antwortete Asquiol und schaltete aus. Er und Mary beobachteten die Flotte aus den Bullaugen, und sie empfanden die gedämpfte Siegesstimmung, die die Schiffe umgab. »Es gibt noch eine Menge zu tun, Mary«, sagte Asquiol. »Das hier ist erst der Anfang. Ich habe die menschliche Rasse einmal mit einem Küken verglichen, das gerade seine Eierschale zerbricht. Das Bild trifft immer noch zu. Wir haben die Schale durchstoßen. Wir haben unsere erste Periode im Multiversum überlebt – aber werden wir auch die zweite und die dritte überleben? Gibt es irgendwo einen kosmischen Farmer mit einem Beil, der die Absicht hat, uns zu verspeisen, sobald wir fett genug geworden sind?« Sie lächelte. »Du bist völlig erschöpft, und ich auch. Laß dir Zeit, alles in Ruhe zu überdenken. Das ist die Reaktion – du bist deprimiert. Eine solche Stimmung kann der Arbeit, die noch vor uns liegt, sehr schaden.« Er sah sie überrascht an. Es war wie ein Wunder für ihn, daß er jetzt nicht mehr einsam war, daß er einen Menschen hatte, der verstehen konnte, was er sah und fühlte. »Wohin gehen wir?« fragte er. »Wir müssen sorgfältig planen. Sobald wir wieder auf Planeten ansässig sind, muß das Galaktische Recht von neuem aufgerichtet werden. Männer wie Lord Mordan, die bisher wegen ihrer pragmatischen Fähigkeiten von größtem Nutzen waren, verfügen nicht über die visionäre Schau, die wir fortan benötigen. Wir müssen die Entwicklung der Menschheit so schnell wie möglich vorantreiben. Das haben die 185
Schöpfer ganz klargemacht, als Renark und ich bei ihnen waren.« Er seufzte. »Die schwere Arbeit wird leichter werden, wenn ich dir helfe«, lächelte Mary. »Schon gibt es zwei von uns. Und hast du bemerkt, wie Adam und Willow während des Spiels auf uns zu reagieren begannen? Es muß Dutzende wie sie in der Flotte geben, Menschen, die die Fähigkeiten haben, sich uns anzuschließen. Bald, vielleicht schon in wenigen Generationen, wird eine Rasse leben, die aus Menschen wie wir besteht, und diese können den Platz der Schöpfer einnehmen.« »Ein ganzes Volk wird es nicht werden«, wandte Asquiol ein. »Die meisten Leute sind zufrieden damit, wie sie sind. Wer kann es ihnen verübeln? Es wird uns noch Mühe kosten, den Berg zu ersteigen.« »Aber wir werden es schaffen«, versicherte Mary. »Und die Fremden haben uns ein abschreckendes Beispiel gegeben, wie eine Rasse degenerieren kann. Vielleicht war es Schicksal, daß wir ihnen begegneten. Wenn wir uns ständig vor Augen halten, daß aus uns nicht dasselbe werden darf wie aus ihnen, können wir nicht versagen.« Schweigend und schauend saßen sie nebeneinander, und um sie flutete das Universum, voll Reichtum und Leben. Das konnte das Erbteil ihrer Rasse sein. Asquiols besorgte Stimmung verflog. »Wahrscheinlich sind wir die optimistischste Rasse im Universum!« rief er aus. Sie lachten zusammen. Und der Geist Renarks, der sich auf die ganze Rasse verteilt hatte, um ihr Einigkeit und Stärke zu verleihen, schien ihre Freude zu teilen. Das Multiversum in seiner Schönheit hielt alle Möglichkeiten für sie bereit. Alle Verheißungen und alle Versprechen. ENDE 186