Alice Miller
Das Drama des begabten Kindes Eine Um- und Fortschreibung
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Alice Miller
Das Drama des begabten Kindes Eine Um- und Fortschreibung
scanned by scheißdrauf Zwischen dem Erscheinen des Dramas des begabten Kindes (1979) und der Um- und Fortschreibung liegen 15 Jahre Erfahrungen. Erfahrungen der Autorin mit ihrer eigenen Selbsttherapie sowie mit anderen neueren Therapiemethoden und schließlich auch mit den Lebensgeschichten der Leserinnen und Leser, die ihr geschrieben haben und deren Zahl sie auf mehrere Tausend schätzt. Ihre in diesem Zeitraum unternommenen Forschungen über Kindheiten führten sie zu weiteren Präzisierungen ihrer früheren Erkenntnisse, die sie hier mit Hilfe zahlreicher Beispiele dokumentiert und illustriert. Die Autorin befasst sich mit den Folgen der Verdrängung im persönlichen und sozialen Bereich, mit den Ursachen kindlicher Verletzungen und deren Prophylaxe und schließlich mit den erst heute bestehenden neuen Möglichkeiten, die Folgen der frühen Traumatisierungen aufzulösen. Alice Miller studierte in Basel Philosophie, Psychologie und Soziologie. Nach der Promotion machte sie in Zürich ihre Ausbildung zur Psychoanalyse und übte 20 Jahre lang diesen Beruf aus. 1980 entschloss sie sich, ihre Praxis und Lehrtätigkeit aufzugeben, um zu schreiben. Seitdem veröffentlichte sie zehn Bücher, in denen sie die breite Öffentlichkeit mit den Ergebnissen ihrer Kindheitsforschungen, mit den Ursachen und Folgen von Kindesmisshandlungen bekannt machte. Die verborgenen Manipulationen in der Erziehung und Politik aufzudecken war lange das Ziel ihrer Bemühungen. 1986 erhielt sie in New York den Janusz-Korczak-Preis. Von Alice Miller liegen im Suhrkamp Verlag außerdem vor: Das Drama des begabten Kindes (st 950), Am Anfang war Erziehung (st 951), Du sollst nicht merken (st 952), Bilder einer Kindheit (st 1158), Das verbannte Wissen (st 1790), Der gemiedene Schlüssel (st 1812), Wege des Lebens. Sieben Geschichten (1998) und Evas Erwachen (2001).
Neufassung 1996 Umschlagbild: Aquarell von Alice Miller, entnommen dem suhrkamp taschenbuch 1158: Alice Miller, Bilder einer Kindheit. 66 Aquarelle und ein Essay (Nr. 17). suhrkamp taschenbuch 2653 Erste Auflage 1997 © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1995, 1996 Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt ISBN: 3-518-39153-4
INHALT I. Das Drama des begabten Kindes und wie wurden wir zu Psychotherapeuten Alles lieber als die Wahrheit ..............................................................................................................................................................................4 Das arme reiche Kind .........................................................................................................................................................................................5 Die verlorene Welt der Gefühle .........................................................................................................................................................................6 Auf der Suche nach dem wahren Selbst ...........................................................................................................................................................8 Die Situation des Psychotherapeuten ............................................................................................................................................................ 10 Das goldene Gehirn ......................................................................................................................................................................................... 12 II. Depression und Grandiosität Zwei Formen der Verleugnung Schicksale der kindlichen Bedürfnisse ........................................................................................................................................................... 14 Die gesunde Entwicklung ............................................................................................................................................................................ 14 Die Störung ................................................................................................................................................................................................... 14 Illusion der Liebe ............................................................................................................................................................................................. 16 Die Grandiosität als Selbsttäuschung .......................................................................................................................................................... 16 Die Depression als Kehrseite der Grandiosität ........................................................................................................................................... 16 Depression als Verleugnung des Selbst ...................................................................................................................................................... 17 Depressive Phasen während der Therapie ..................................................................................................................................................... 21 Signalfunktion ............................................................................................................................................................................................... 21 »Sich überfahren« ......................................................................................................................................................................................... 21 Mit starken Emotionen »schwanger gehen« ............................................................................................................................................... 21 Auseinandersetzung mit den Eltern ........................................................................................................................................................... 21 Das innere Gefängnis ...................................................................................................................................................................................... 22 Ein sozialer Aspekt der Depression ............................................................................................................................................................... 24 Die Sage von Narzissos ................................................................................................................................................................................... 25 III. Der Teufelskreis der Verachtung Die Demütigung des Kindes, die Verachtung der Schwäche und wie geht es damit weiter? Beispiele aus dem Alltag ......................... 27 Die Verachtung im Spiegel der Therapie ....................................................................................................................................................... 30 Die gebrochene Artikulierung des Selbst im Wiederholungszwang ........................................................................................................ 30 Verachtung in der Perversion und in der Zwangsneurose ........................................................................................................................ 30 Das » Verdorbene« in der Kinderwelt von Hermann Hesse als Beispiel des konkreten »Bösen«. ........................................................... 32 Die Mutter der ersten Lebensjahre als Medium der Gesellschaft. ............................................................................................................ 34 Die Einsamkeit des Verachtenden. ............................................................................................................................................................. 35 Befreiung von der Verachtung ..................................................................................................................................................................... 36 Nachwort 1995 ................................................................................................................................................................................................ 38 Danksagung ..................................................................................................................................................................................................... 40
I. DAS DRAMA DES BEGABTEN KINDES UND WIE WURDEN WIR ZU PSYCHOTHERAPEUTEN
ALLES LIEBER ALS DIE WAHRHEIT Die Erfahrung lehrt uns, dass wir im Kampf mit den seelischen Erkrankungen auf Dauer ein sehr wichtiges Mittel zur Verfügung haben: die Wahrheit unserer einmaligen und einzigartigen Kindheitsgeschichte emotional zu finden. Ob wir uns je ganz von Illusionen frei machen können? Jedes Leben ist voller Illusionen, wohl weil uns die Wahrheit als unerträglich erscheint. Und doch ist uns die Wahrheit so unentbehrlich, dass wir ihren Verlust mit schweren Erkrankungen bezahlen. Daher versuchen wir, in einem langen Prozess unsere persönliche Wahrheit zu entdecken, die, bevor sie uns den neuen Freiheitsraum schenkt, immer schmerzt — es sei denn, wir begnügen uns mit einer intellektuellen Erkenntnis. Aber dann verharren wir doch wieder im Bereich der Illusion. Wir können unsere Vergangenheit nicht im geringsten verändern, die Schäden, die uns in der Kindheit zugefügt wurden, nicht ungeschehen machen. Aber wir können uns verändern, uns »reparieren«, unsere verlorene Integrität wiedergewinnen. Wir können dies tun, indem wir uns entschließen, das in unserem Körper gespeicherte Wissen über das vergangene Geschehen näher anzuschauen und es unserem Bewusstsein nahe-zubringen. Dieser Weg ist gewiss unbequem, doch in vielen Fällen gibt er uns die Möglichkeit, endlich das unsichtbare und doch so grausame Gefängnis der Kindheit zu verlassen und uns vom unbewussten Opfer der Vergangenheit in einen verantwortlichen Menschen zu verwandeln, der seine Geschichte kennt und mit ihr lebt. Die meisten Menschen tun genau das Gegenteil. Sie wollen nichts von ihrer Geschichte wissen und wissen daher auch nicht, dass sie im Grunde ständig von ihr bestimmt werden, weil sie in ihrer unaufgelösten, verdrängten Kindheitssituation leben. Sie wissen nicht, dass sie Gefahren fürchten und umgehen, die einst reale Gefahren waren, aber es seit langem nicht mehr sind. Sie werden von unbewussten Erinnerungen sowie von verdrängten Gefühlen und Bedürfnissen getrieben, die oft beinahe alles, was sie tun und lassen, in pervertierter Weise bestimmen, solange sie unbewusst und ungeklärt bleiben. Die Verdrängung der einst erfahrenen brutalen Misshandlungen treibt z. B. viele Menschen dazu, das Leben anderer und das eigene zu zerstören, Häuser ausländischer Bürger anzuzünden, Rache zu üben und dies dann sogar noch als »Patriotismus« zu bezeichnen, um die Wahrheit vor sich selbst zu verbergen und die Verzweiflung des gequälten Kindes nicht zu spüren. Andere setzen die Qualen, die ihnen einst zugefügt wurden, aktiv fort z. B. in Flagellantenklubs, in Quälkulten aller Art in der S/M-Szene, und bezeichnen dies als Befreiung. Frauen lassen sich die Brustwarzen durchstechen, um Ringe daran zu hängen, lassen sich damit für Zeitungen fotografieren und erzählen stolz, dass sie keine Schmerzen dabei gefühlt hätten und dass ihnen dies eben Spaß mache. An der Ehrlichkeit solcher Aussagen ist nicht zu zweifeln, denn diese Frauen haben sehr früh lernen müssen, den Schmerz nicht zu fühlen. Und was würden sie heute nicht alles tun, um ja nicht den Schmerz des kleinen Mädchens zu spüren, das vom Vater sexuell ausgebeutet wurde und sich einbilden musste, dies hätte ihm Spaß gemacht? Eine als Kind sexuell ausgebeutete Frau, die ihre kindliche Realität verleugnet und gelernt hat, Schmerzen nicht zu fühlen, ist ständig auf der Flucht vor bereits Geschehenem — mit Hilfe von Männern, Alkohol, Drogen oder Leistung-Erbringen. Sie braucht den ständigen »Kick«, um ja nicht die »Langeweile« aufkommen zu lassen, ja nicht eine Sekunde der Ruhe zuzulassen, in der die brennende Einsamkeit ihrer kindlichen Wirklichkeit spürbar wäre, weil sie dieses Gefühl mehr als den Tod fürchtet — es sei denn, sie hatte das Glück zu lernen, dass das Aufleben und Bewusstwerden der kindlichen Gefühle nicht tötet, sondern befreit. Was hingegen nicht selten tötet, ist die Abwehr der Gefühle, deren bewusstes Erlebnis uns die Wahrheit enthüllen könnte. Die Verdrängung des Kindheitsleidens bestimmt nicht nur das Leben des einzelnen, sondern auch die Tabus der Gesellschaft. Die geläufigen Biographien illustrieren das sehr deutlich. Wenn man Biographien z. B. berühmter Künstler liest, so fängt ihr Leben irgendwo um die Pubertät herum an. Vorher hatte der Künstler eine »glückliche« oder »frohe« oder »unbelastete« Kindheit, oder eine Kindheit »voller Entbehrungen« oder »Anregungen«, aber wie die Kindheit im einzelnen gewesen ist, scheint völlig uninteressant zu sein. Als ob nicht in der Kindheit die Wurzeln des ganzen Lebens verborgen wären. Ich möchte das an einem einfachen Beispiel illustrieren: Henry Moore schreibt in seinen Erinnerungen, dass er als kleiner Junge den Rücken seiner Mutter mit Rheumaöl massieren durfte. Als ich das las, bekam ich plötzlich einen ganz persönlichen Zugang zu den Plastiken Moores. Die liegenden großen Frauen mit den kleinen Köpfen - da sah ich die Mutter mit den Augen des kleinen Jungen, der den Kopf seiner Mutter perspektivisch verkleinert und den nahen Rücken als riesengroß erlebt. Das mag vielen Kunstkritikern völlig einerlei sein. Aber für mich ist es ein Zeichen, wie stark die Erlebnisse eines Kindes im Unbewussten überdauern und welche Möglichkeiten des Ausdrucks sie finden können, wenn der Erwachsene frei ist, sie gelten zu lassen. Nun ist Moores Erinnerung eine harmlose und konnte überdauern. Aber die traumatischen Erlebnisse jeder Kindheit bleiben im Dunkel. In diesem Dunkel verborgen bleiben auch die Schlüssel zum Verständnis des ganzen späteren Lebens.
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DAS ARME REICHE KIND Früher musste ich mich oft fragen, ob es uns je möglich sein wird, das volle Ausmaß der Einsamkeit und Verlassenheit zu erfassen, dem wir als Kinder ausgesetzt waren. Inzwischen weiß ich, dass dies möglich ist. Ich denke hier nicht an Kinder, die offensichtlich verwahrlost aufgewachsen sind und die schon mit dieser Wahrheit groß geworden sind. Aber es bleibt ja noch die ganz große Zahl der Menschen, die mit dem Bild einer glücklichen und behüteten Kindheit, mit dem sie aufgewachsen sind, in die Therapie kommen. Es handelt sich um Patienten, die selber viele Möglichkeiten oder sogar Talente hatten, die sie später entwickelten, und die auch manchmal wegen ihrer Gaben und Leistungen gelobt wurden. Fast alle diese Kinder waren schon im ersten Lebensjahr trocken, und viele halfen bereits im Alter von eineinhalb bis fünf Jahren sehr geschickt bei der Pflege ihrer kleinen Geschwister. Nach der vorherrschenden Meinung müssten diese Menschen — der Stolz ihrer Eltern — ein starkes und stabiles Selbstbewusstsein haben. Aber gerade das Gegenteil ist der Fall. Alles, was sie anpacken, machen sie gut bis hervorragend, sie werden bewundert und beneidet, sie ernten Erfolg, wo es ihnen immer wichtig ist, aber alles das nützt nichts. Dahinter lauert die Depression, das Gefühl der Leere, der Selbstentfremdung, der Sinnlosigkeit ihres Daseins — sobald die Droge der Grandiosität ausfällt, sobald sie nicht »on top« sind, nicht mit Sicherheit der Superstar, oder wenn sie plötzlich das Gefühl bekommen, vor irgendeinem Idealbild ihrer selbst versagt zu haben. Dann werden sie gelegentlich von Ängsten oder schweren Schuld- und Schamgefühlen geplagt. Was sind die Gründe einer so tiefen Störung bei diesen begabten Menschen? Schon in der ersten Besprechung lassen sie den Zuhörenden bald wissen, dass sie verständnisvolle Eltern hatten, mindestens einen Elternteil, und wenn es ihnen je am Verständnis der Umwelt gefehlt hatte, so lag es, meinen sie, an ihnen, nämlich daran, dass sie sich nicht richtig ausdrücken konnten. Sie bringen ihre ersten Erinnerungen ohne jegliches Mitgefühl für das Kind, das sie einmal waren, und dies fällt um so mehr auf, als diese Patienten nicht nur eine ausgesprochene Fähigkeit zur Introspektion haben, sondern sich auch relativ leicht in andere Menschen einfühlen können. Ihre Beziehung zur Gefühlswelt ihrer Kindheit ist aber durch mangelnden Respekt, Kontrollzwang, Manipulation und Leistungsdruck charakterisiert. Nicht selten zeigen sich da Verachtung und Ironie, die bis zum Spott und Zynismus gehen können. Allgemein anzutreffen ist ferner ein völliges Ausbleiben von echtem, emotionalem Verstehen und Ernstnehmen des eigenen Kinderschicksals sowie eine völlige Ahnungslosigkeit in bezug auf die eigenen wahren Bedürfnisse, jenseits der Leistungszwänge. Die Verinnerlichung des ursprünglichen Dramas ist so vollkommen gelungen, dass die Illusion der guten Kindheit gerettet werden kann. Um das seelische Klima einer solchen Kindheit schildern zu können, möchte ich zunächst einige Voraussetzungen formulieren, von denen ich ausgehe. 1. Es ist ein ureigenes Bedürfnis des Kindes, von Anfang an als das, was es jeweils ist, beachtet und ernst genommen zu werden. 2. »Das, was es jeweils ist«, meint: Gefühle, Empfindungen und deren Ausdruck, bereits beim Säugling. 3. In einer Atmosphäre der Achtung und Toleranz für die Gefühle des Kindes kann das Kind in der Trennungsphase die Symbiose mit der Mutter aufgeben und die Schritte zur Autonomie vollziehen. 4. Damit diese Voraussetzungen der gesunden Entwicklung möglich wären, müssten die Eltern dieser Kinder ebenfalls in einem solchen Klima aufgewachsen sein. Diese Eltern würden ihrem Kind das Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit vermitteln, in dem sein Vertrauen wachsen kann. 5. Eltern, die dieses Klima als Kinder nicht bekommen haben, sind bedürftig, d. h., sie suchen ihr ganzes Leben, was ihnen ihre eigenen Eltern zur rechten Zeit nicht geben konnten: ein Wesen, das ganz auf sie eingeht, sie ganz versteht und ernst nimmt. 6. Dieses Suchen kann natürlich nicht voll gelingen, denn es bezieht sich auf eine unwiderruflich vergangene Situation, nämlich die erste Zeit nach der Geburt. 7. Aber ein Mensch mit einem ungestillten und unbewussten — weil abgewehrten — Bedürfnis ist einem Zwang unterworfen, das Bedürfnis doch noch auf Ersatzwegen befriedigen zu wollen, solange er seine verdrängte Lebensgeschichte nicht kennt. 8. Am meisten eignen sich dazu die eigenen Kinder. Ein Neugeborenes ist auf Gedeih und Verderb auf seine Eltern angewiesen. Und da seine Existenz davon abhängt, ihre Zuwendung zu bekommen, tut es auch alles, um sie nicht zu verlieren. Es wird vom ersten Tag an all seine Möglichkeiten einsetzen, wie eine kleine Pflanze, die sich nach der Sonne dreht, um zu überleben. Im Laufe der zwanzig Jahre meiner therapeutischen Tätigkeit bin ich immer wieder mit einem Kinderschicksal konfrontiert worden, das mir für Menschen mit helfenden Berufen bezeichnend erscheint. 1. Da war eine emotional tief unsichere Mutter, die für ihr gefühlsmäßiges Gleichgewicht auf ein bestimmtes Verhalten oder eine bestimmte Seinsweise des Kindes angewiesen war. Diese Unsicherheit konnte sehr wohl dem Kinde und der ganzen Umgebung hinter einer harten, autoritären, ja totalitären Fassade verborgen bleiben. 2. Dazu kam eine erstaunliche Fähigkeit des Kindes, dieses Bedürfnis der Mutter oder beider Eltern intuitiv, also auch unbewusst, zu spüren und zu beantworten, d. h., die ihm unbewusst zugeteilte Funktion zu übernehmen. 3. Damit sicherte sich das Kind die »Liebe« der Eltern. Es spürte, dass es gebraucht wurde, und das gab seinem Leben die Existenzberechtigung. Die Fähigkeit zur Anpassung wird ausgebaut und perfektioniert, und diese Kinder werden nicht nur zu Müttern (Vertrauten, Tröstern, Ratgebern, Stützen) ihrer Mutter, sondern übernehmen auch Verantwortung für ihre Geschwister und bilden schließlich ein ganz besonderes Sensorium für unbewusste Signale der Bedürfnisse des anderen aus. Kein Wunder, wenn sie später oft den Beruf des Psychotherapeuten wählen. Wer sonst, ohne diese Vorgeschichte, würde das Interesse dafür aufbringen, den ganzen Tag herausfinden zu wollen, was sich im Unbewussten des anderen abspielt? Aber in der Ausbildung und Vervollkommnung dieses differenzierten Sensoriums, das einst dem Kind zum Überleben verhalf und den Erwachsenen drängt, einen helfenden Beruf zu ergreifen, liegen auch die Wurzeln der Störung. Sie treibt den Helfer immer wieder dazu, seine in der Kindheit nicht erfüllten Bedürfnisse mit Ersatzpersonen befriedigen zu wollen.
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DIE VERLORENE WELT DER GEFÜHLE Die frühe Anpassung des Säuglings führt dazu, dass die Bedürfnisse des Kindes nach Liebe, Achtung, Echo, Verständnis, Teilnahme, Spiegelung verdrängt werden müssen. Gleiches gilt für die Gefühlsreaktionen auf die schwerwiegenden Versagungen, was dazu führt, dass bestimmte eigene Gefühle (wie z. B. Eifersucht, Neid, Zorn, Verlassenheit, Ohnmacht, Angst) in der Kindheit und dann im Erwachsenenalter nicht erlebt werden können. Dies ist um so tragischer, als es sich hier um Menschen handelt, die an sich zu differenzierten Gefühlen fähig sind. Man merkt es, wenn sie Erlebnisse aus ihrer Kindheit beschreiben, die angst- und schmerzfrei waren. Meistens handelt es sich um Naturerlebnisse. Da konnten sie empfinden, ohne die Eltern damit zu verletzen, sie unsicher zu machen, ihre Macht zu schmälern, ihr Gleichgewicht zu gefährden. Aber es fällt sehr auf, dass diese überaus aufmerksamen und sensiblen Kinder, die sich genau erinnern, wie sie z. B. im Alter von vier Jahren das Sonnenlicht im strahlenden Gras entdeckten, beim Anblick ihrer schwangeren Mutter noch mit acht Jahren überhaupt »nichts gesehen haben« und keine Neugier zeigten, dass sie bei der Geburt des Geschwisters »überhaupt nicht« eifersüchtig waren, dass sie mitzwei Jahren, während der Besatzungszeit allein gelassen, das Eindringen von Militär und einige Hausdurchsuchungen über sich ergehen ließen, ohne zu weinen, ruhig und »sehr brav«. Es ist eine ganze Kunst entwickelt worden, Gefühle von sich fernzuhalten, denn ein Kind kann diese nur erleben, wenn eine Person da ist, die es mit diesen Gefühlen annimmt, versteht und begleitet. Wenn das fehlt, wenn das Kind riskieren muss, die Liebe der Mutter oder der Ersatzperson zu verlieren, kann es die natürlichsten Gefühlsreaktionen nicht »für sich allein«, insgeheim erleben, es muss sie verdrängen. Doch sie bleiben in seinem Körper als Informationen gespeichert. Im ganzen späteren Leben dieses Menschen werden diese Gefühle als Anmahnung an die Vergangenheit aufleben können, aber ohne dass der ursprüngliche Zusammenhang verständlich wird. Ihren Sinn zu entziffern ist erst möglich, wenn die Verbindung der ursprünglichen Situation mit den in der Gegenwart erlebten intensiven Gefühlen gelingt. Die neuen aufdeckenden Therapiemethoden gehen von dieser Gesetzmäßigkeit aus und ermöglichen uns, von ihr zu profitieren. Nehmen wir als Beispiel das Gefühl des Verlassenseins. Nicht das Gefühl eines erwachsenen Menschen, der sich einsam fühlt und deshalb Tabletten schluckt, Drogen nimmt, ins Kino geht, Bekannte aufsucht, unnötige Telefonate macht, um irgendwie das »Loch« zu überbrücken. Nein, ich meine das ursprüngliche Gefühl des kleinen Kindes, das all diese Möglichkeiten der Ablenkung nicht hat und dessen Mitteilungen, verbale oder präverbale, die Eltern nicht erreichten. Nicht, weil es ausgesprochen böse Eltern hatte, sondern weil die Eltern selber bedürftig waren, auf ein bestimmtes, für sie notwendiges Echo des Kindes angewiesen, selbst im Grunde Kinder auf der Suche nach einem verfügbaren Menschen. Und so paradox das erscheinen mag — ein Kind ist verfügbar. Ein Kind kann einem nicht davonlaufen, wie die eigene Mutter dazumal. Ein Kind kann man erziehen, dass es so wird, wie man es gerne hätte. Beim Kind kann man sich Respekt verschaffen, man kann ihm seine eigenen Gefühle zumuten, man kann sich in seiner Liebe und Bewunderung spiegeln, man kann sich neben ihm stark fühlen, man kann es einem fremden Menschen überlassen, wenn es einem zuviel ist, man fühlt sich endlich im Zentrum der Beachtung, denn die Kinderaugen verfolgen die Mutter auf Schritt und Tritt. Wenn eine Frau bei ihrer Mutter all diese Bedürfnisse unterdrücken und verdrängen musste, so mag sie noch so gebildet sein, bei ihrem eigenen Kind regen sie sich aus der Tiefe ihres Unbewussten und drängen nach Befriedigung. Das Kind spürt es deutlich und gibt sehrfrüh auf, die eigene Not zum Ausdruck zu bringen. Wenn aber später beim Erwachsenen in der Therapie die damaligen Gefühle der Verlassenheit auftauchen, dann kommen sie mit einer solchen Intensität an Schmerz und Verzweiflung, dass es uns völlig klar wird: diese Menschen hätten ihre Schmerzen nicht überlebt. Dafür wäre eine empathische, begleitende Umgebung notwendig gewesen, die ihnen fehlte. Daher musste alles abgewehrt werden. Aber zu sagen, dass es nicht da war, hieße, aus den Therapien gewonnene empirische Erfahrungen in Abrede zu stellen. Bei der Abwehr z. B. des frühkindlichen Gefühls von Verlassenheit sind viele Mechanismen anzutreffen. Neben der einfachen Verleugnung finden wir meistens den ständigen, erschöpfenden Kampf, um mit Hilfe von Symbolen (Suchtmittel, Gruppen, Kulte aller Art, Perversionen) die Befriedigung der verdrängten und inzwischen pervertierten Bedürfnisse zu erreichen. Häufig sind Intellektualisierungen anzutreffen, denn sie bieten einen Schutz von großer Verlässlichkeit, der sich aber verhängnisvoll auswirken kann, wenn der Körper — wie dies bei schweren Erkrankungen der Fall ist — die volle Regie übernimmt (vgl. dazu meine Ausführungen über Nietzsches Erkrankung im Gemiedenen Schlüssel, 1988, und im Abbruch der Schweigemauer, 1990). All diese Abwehrmechanismen sind begleitet von der Verdrängung der ursprünglichen Situation und der dazugehörenden Gefühle. Die Anpassung an elterliche Bedürfnisse führt oft (aber nicht immer) zur Entwicklung der »Als-ob-Persönlichkeit« oder dessen, was man häufig als falsches Selbst bezeichnet. Der Mensch entwickelt eine Haltung, in der er nur das zeigt, was von ihm gewünscht wird, und ganz mit dem Gezeigten verschmilzt. Das wahre Selbst kann sich nicht entwickeln und differenzieren, weil es nicht gelebt werden kann. Begreiflicherweise klagen diese Patienten über Gefühle der Leere, Sinnlosigkeit, Heimatlosigkeit, denn diese Leere ist real. Es hat eine Entleerung, Verarmung, partielle Tötung der Möglichkeiten tatsächlich stattgefunden. Die Integrität des Kindes wurde verletzt, und damit wurde das Lebendige, Spontane abgeschnitten. In der Kindheit dieser Menschen treten manchmal Träume auf, in denen sie sich als partiell tot erleben. Zwei Beispiele solcher Träume möchte ich anführen. Meine kleinen Geschwister stehen auf der Brücke und werfen eine Schachtel in den Fluss. Ich weiß, dass ich tot darin liege, und doch höre ich mein Herz klopfen und erwache jedes Mal in dem Moment.
Dieser wiederkehrende Traum verdichtet die unbewussten Aggressionen (Neid und Eifersucht) den kleinen Geschwistern gegenüber, denen Lisa immer fürsorgliche »Mutter« war, mit der »Tötung« der eigenen Gefühle, Wünsche und Ansprüche mit Hilfe von Reaktionsbildung. Kurt, 27, träumt: Ich sehe eine grüne Wiese und darauf einen weißen Sarg stehen. Ich habe Angst, dass meine Mutter darin liegt, aber ich öffne den Deckel, und zum Glück ist es nicht Mutter, sondern ich.
Hätte Kurt als Kind die Möglichkeit gehabt, seinen Enttäuschungen über die Mutter Ausdruck zu geben, d. h., auch Gefühle von Zorn und Wut zu erleben, dann wäre er lebendig geblieben. Aber das hätte zum Liebesentzug der Mutter geführt, was für ein Kind gleichbedeutend mit Tod ist. Also »tötet« es seine Wut und somit auch ein Stück der eigenen Seele, um die Mutter zu erhalten. Aus der Schwierigkeit, eigene echte Gefühle zu erleben und zu entfalten, resultiert die Permanenz der Bindung, die keine Abgrenzung ermöglicht. Denn die Eltern haben im falschen Selbst des Kindes die gesuchte Bestätigung gefunden, einen Ersatz für die ihnen Seite 6 von 40
fehlende Sicherheit, und das Kind, das keine eigene Sicherheit aufbauen konnte, ist zunächst bewusst und später unbewusst von den Eltern abhängig. Es kann sich nicht auf eigene Gefühle verlassen, hat damit keine Erfahrungen gemacht, es kennt seine wahren Bedürfnisse nicht, es ist sich selber im höchsten Maße fremd. In dieser Situation kann es sich nicht von den Eltern trennen und ist auch im Erwachsenenalter dauernd auf Bestätigung der Personen, die die »Eltern« repräsentieren, wie Partner, Gruppen und vor allem die eigenen Kinder, angewiesen. Die Erben der Eltern sind die unbewussten, verdrängten Erinnerungen, die uns zwingen, das wahre Selbst tief vor uns selber zu verstecken. Und so folgt auf die Einsamkeit im elterlichen Haus die spätere Isolierung in uns selber.
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AUF DER SUCHE NACH DEM WAHREN SELBST Wie kann hier die Psychotherapie helfen? Sie kann uns nicht unsere verlorene Kindheit zurückgeben, sie kann nicht Tatsachen verändern oder rückgängig machen. Mit Hilfe von Illusionen kann man Verletzungen nicht heilen. Das Paradies der präambivalenten Harmonie, auf das so viele Verletzte hoffen, lässt sich nie erreichen. Aber das Erleben der eigenen Wahrheit und das postambivalente Wissen um sie ermöglicht, auf einer erwachsenen Stufe, die Rückkehr zur eigenen Gefühlswelt — ohne Paradies, aber mit der Fähigkeit zu trauern, die uns unsere Lebendigkeit zurückgibt. Es gehört zu den Wendepunkten der Therapie, wenn Menschen zu der emotionalen Einsicht kommen, dass all die »Liebe«, die sie sich mit soviel Anstrengungen und Selbstaufgabe erobert haben, gar nicht dem galt, der sie in Wirklichkeit waren; dass die Bewunderung für ihre Schönheit und Leistungen der Schönheit und den Leistungen galt und nicht eigentlich dem Kind, wie es war. Hinter der Leistung erwacht in der Therapie das kleine einsame Kind und fragt sich: »Wie wäre es, wenn ich böse, hässlich, zornig, eifersüchtig, verwirrt vor euch gestanden wäre? Wo wäre denn eure Liebe gewesen? Und all das war ich doch auch. Will das heißen, dass eigentlich nicht ich geliebt wurde, sondern das, was ich vorgab zu sein? Das anständige, zuverlässige, einfühlsame, verständnisvolle, das bequeme Kind, das im Grunde gar nicht Kind war? Was ist mit meiner Kindheit geschehen? Bin ich nicht um sie betrogen worden? Ich kann ja nie mehr zurück. Ich werde es nie nachholen können. Von Anfang an war ich ein kleiner Erwachsener. Meine Fähigkeiten — wurden sie einfach missbraucht?« Diese Fragen sind mit sehr viel Trauer und altem, einst verdrängtem Schmerz verbunden, haben aber immer zur Folge, dass eine neue innere Instanz sich aufrichtet (wie ein Erbe der Mutter, die es nie gegeben hat) — die aus der Trauer geborene Empathie für das eigene Schicksal. Ein Patient träumte in einer solchen Phase, er hätte vor dreißig Jahren ein Kind umgebracht und niemand hätte ihm geholfen, das Kind zu retten. (Vor dreißig Jahren fiel es der Umgebung auf, dass das Kind völlig verschlossen wurde, höflich und brav, aber keine Gefühlsregungen mehr zeigte. ) Nun stellt sich heraus, dass das wahre Selbst nach Jahrzehnten des Schweigens mit der neugewonnenen Fähigkeit zu fühlen zum Leben erwachen kann. Dessen Manifestationen werden nicht mehr bagatellisiert, nicht mehr verlacht oder verspottet, wenn auch noch lange unbewusst überfahren oder einfach nicht beachtet. Dies geschieht genau in der gleichen subtilen Art, wie es die Eltern früher mit dem Kinde taten, als das Kind für seine Bedürfnisse noch keine Sprache hatte. Es durfte ja auch als großes Kind nicht sagen, nicht einmal denken: »Ich darf traurig oder glücklich sein, wenn mich etwas traurig oder glücklich macht, aber ich bin niemandem Heiterkeit schuldig und muss nicht meinen Kummer oder meine Angst oder andere Gefühle je nach den Bedürfnissen anderer unterdrücken. Ich darf böse sein, und niemand stirbt daran, niemand bekommt Kopfweh davon, ich darf toben, wenn ihr mich verletzt, ohne euch, meine Eltern, zu verlieren.« Sobald der Erwachsene seine gegenwärtigen Gefühle ernst nehmen kann, beginnt er zu realisieren, wie er früher mit seinen Gefühlen und Bedürfnissen umgegangen ist und dass dies seine einzige Überlebenschance war. Er fühlt sich erleichtert, wenn er Dinge in sich wahrnimmt, die er bisher abzuwürgen gewohnt war. Es fällt ihm immer deutlicher auf, wie er, um sich zu schützen, immer noch manchmal über seine Gefühle spottet, sie ironisiert, versucht, sie sich auszureden, sie bagatellisiert oder gar nicht wahrnimmt oder vielleicht erst nach einigen Tagen wahrnimmt, wenn sie schon vergangen sind. Allmählich realisiert der Betreffende selber, wie er gewaltsam Zerstreuungsucht, wenn er bewegt, erschüttert oder traurig ist. (Als die Mutter des sechsjährigen Kindes starb, sagte die Tante: »Man muss tapfer sein und nicht weinen, geh jetzt in dein Zimmer und spiele schön. «) In vielen Situationen erlebt er sich zwar immer noch von anderen her, sich ständig fragend, wie er wirkt, wie er jetzt sein müsste, welche Gefühle er haben sollte. Aber im großen und ganzen fühlt sich der Patient jetzt etwas freier. Der natürliche Prozess der Therapie geht nun weiter, wenn er einmal begonnen hat. Der Leidende fängt an, sich zu artikulieren, bricht mit seiner Fügsamkeit, kann aber aufgrund seiner Kindheitserfahrungen nicht glauben, dass dies ohne Lebensgefahr möglich sein soll. Aus seiner alten Erfahrung heraus erwartet und fürchtet er Ablehnung, Zurückweisung, Bestrafung, wenn er sich wehrt und für seine Rechte einsetzt, um dann doch immer wieder die Befreiung zu erleben, dass er das Risiko aushalten und zu sich selbst stehen konnte. Das kann ganz harmlos beginnen. Man wird von Gefühlen überrascht, die man am liebsten nicht wahrgenommen hätte, aber es ist zu spät, das Sen-sorium für die eigenen Regungen ist bereits freigelegt, es gibt kein Zurück. Und nun darf das einst eingeschüchterte und zum Schweigen verdammte Kind sich so erleben, wie es dies bisher nie für möglich gehalten hat. Der Mann, der bisher nirgends Ansprüche stellte und unermüdlich die Ansprüche der anderen erfüllte, wird plötzlich wütend, weil der Therapeut »schon wieder« Ferien macht. Oder es ärgert ihn, neue Leute in der Praxis zu sehen. Wie kommt das? Es ist doch nicht Eifersucht. Das Gefühl kennt er gar nicht! Und doch... »Was haben die da zu suchen? Kommen da überhaupt noch andere Leute außer mir?« Bis jetzt hat er das gar nicht realisiert. Eifersüchtig durften nur andere sein, er aber auf keinen Fall. Und nun erweisen sich die echten Gefühle stärker als die Vorschriften der guten Erziehung. Glücklicherweise. Doch es ist nicht leicht, die wahren Gründe der Wut sofort zu entdecken, weil sie sich zunächst gegen Menschen richtet, die uns helfen wollen, z. B. gegen Therapeuten und eigene Kinder — gegen Menschen, die uns weniger angst machen und die zwar Auslöser, aber nicht Verursacher der Wut sind. Zunächst ist es eine große Kränkung, nicht nur gut, verständnisvoll, großzügig, beherrscht und vor allem bedürfnislos zu sein, wenn die Selbstachtung bisher ausschließlich darauf aufgebaut war. Aber wir müssen dieses Gebäude der Selbsttäuschung verlassen, wenn wir uns wirklich helfen wollen. Wir sind nicht immer so schuldig, wie wir uns fühlen, und auch nicht so unschuldig, wie wir es gerne glauben würden. Solange wir gefühllos und verwirrt sind, solange wir unsere Geschichte nicht genau kennen, wissen wir das jedoch noch nicht. Doch die Konfrontation mit der eigenen Realität hilft, Illusionen abzubauen, die den Blick in die Vergangenheit verstellt haben, und mehr Klarheit zu bekommen. Wenn wir unser reales Verschulden in der Gegenwart entdecken, müssen wir uns dafür bei dem Geschädigten entschuldigen. Das macht uns frei, die unbewussten und nicht berechtigten Schuldgefühle aus der Kindheit aufzulösen. Denn wir waren nicht schuld an den erfahrenen Grausamkeiten, und trotzdem fühlten wir uns dafür verantwortlich. Dieses hartnäckige, zerstörerische und irreale Schuldgefühl lässt sich nur verarbeiten, wenn wir es nicht durch neues, reales Verschulden in der Gegenwart abwehren.
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Viele Menschen geben die einst erfahrene Grausamkeit an andere weiter und erhalten dadurch das idealisierte Bild ihrer Eltern. Sie bleiben dann im Grunde wie kleine, abhängige Kinder, sogar im hohen Alter. Sie wissen nicht, dass sie echter und ehrlicher mit sich selbst und anderen werden könnten, wenn sie sich erlauben würden, alte Gefühle aus der Kindheit zuzulassen. Je mehr der früheren Gefühle wir zulassen und erleben können, desto stärker und kohärenter fühlen wir uns. Somit können wir uns Gefühlen der ganz frühen Kindheit aussetzen und die damalige Hilflosigkeit erleben, was letztlich wiederum unsere Sicherheit stärkt. Es ist etwas völlig anderes, ob man als Erwachsener einem Menschen gegenüber ambivalente Gefühle hat oder ob man - nach langer Vorgeschichte - sich plötzlich als ein zweijähriges Kind erlebt, das in der Küche vom Hausmädchen gefüttert wird und verzweifelt denkt: »Warum ist Mama jeden Abend weg? Warum hat sie keine Freude an mir? Was ist an mir, dass sie lieber zu den anderen Menschen geht? Was kann ich machen, damit sie bleibt? Ja nicht weinen! Ja nicht weinen!« Damals konnte das Kind nicht in diesen Worten denken, aber nun war dieser Mann beides: der Erwachsene und auch das zweijährige Kind, und er konnte bitterlich weinen. Es war nicht ein kathartisches Weinen, sondern die Integration seiner frühen Sehnsucht nach der Mutter, die er bisher immer verleugnet hatte. In den folgenden Wochen erlebte der Patient die quälende Wut auf seine Mutter, die eine erfolgreiche Kinderärztin gewesen war und dem Kind keine Kontinuität in der Beziehung hatte geben können. »Ich hasse diese ewig kranken Biester, die mir dich, Mutter, immer weggenommen haben. Ich hasse dich, weil du lieber bei ihnen warst als bei mir. « Hier mischten sich Gefühle von Hilflosigkeit mit der lang aufgestauten Wut auf die nicht verfügbare Mutter. Dank dem Erlebnis, der Klärung und der Berechtigung der starken Gefühle verschwanden den Patienten seit langem quälende Symptome, deren Sinn sich nun unschwer entziffern ließ. Seine Beziehungen zu Frauen verloren den ausgesprochenen Machtcharakter, und der Zwang, zu erobern und zu verlassen, ließ mit der Zeit nach. Alle Gefühle der Ohnmacht, der Wut und des Ausgeliefertseins werden in der Therapie in einer Intensität erlebt, die früher undenkbar gewesen wäre. Sie öffnen langsam das bisher verriegelte Tor zu den verdrängten Erinnerungen. Man kann nur etwas erinnern, was man bewusst erlebt hat. Aber die Gefühlswelt eines in seiner Integrität verletzten Kindes ist ja bereits das Ergebnis einer Selektion, in der das Wesentliche ausgeschieden wurde. Erst in der Therapie werden diese frühen Gefühle, die vom Schmerz des Nichtbegreifenkönnens des kleinen Kindes begleitet sind, zum erstenmal bewusst erlebt. Es ist jedes Mal wie ein Wunder, zu sehen, dass trotzdem so viel Eigenes hinter der Verstellung, Verleugnung, Selbstentfremdung überleben konnte und zutage tritt, wenn der Zugang zu Gefühlen gefunden wurde. Und doch wäre es irreführend, wollte man annehmen, dass hinter dem falschen Selbst ein entwickeltes wahres Selbstbewusst versteckt wäre. Das Kind weiß ja nicht, was es versteckt. Kurt formulierte es so: »Ich lebte in einem Glashaus, in das meine Mutter jederzeit hineinschauen konnte. In einem Glashaus kann man nichts verstecken, ohne sich zu verraten, außer unter dem Boden. Dann sieht man es aber selbst auch nicht. «
Ein erwachsener Mensch kann auch nur dann seine Gefühle erleben, wenn er als Kind zugewandte Eltern oder Ersatzeltern hatte. Den in der Kindheit misshandelten Menschen hat das gefehlt, sie können deshalb nicht von Gefühlen überrascht werden, denn nur solche Gefühle finden bei ihnen Zutritt, die die innere Zensur, die Erbin der Eltern, zulässt und gutheißt. Die Depression, die innere Leere, ist der Preis, der für diese Kontrolle bezahlt werden muss. Das wahre Selbst kann nicht kommunizieren, weil es in einem unbewussten und daher unentwickelten Zustand geblieben ist, in einem inneren Gefängnis. Der Umgang mit Gefängniswärtern begünstigt keine lebendige Entwicklung. Erst nach der Befreiung fängt das Selbst an, sich zu artikulieren, zu wachsen und seine Kreativität zu entwickeln. Und wo früher nur die gefürchtete Leere oder die gefürchteten grandiosen Phantasien zu finden waren, tut sich ein unerwarteter Reichtum an Lebendigem auf. Es ist nicht eine Heimkehr, denn das Heim hat es nie gegeben. Es ist eine Heimfindung
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DIE SITUATION DES PSYCHOTHERAPEUTEN Man hört oft die Behauptung, dass der Psychotherapeut an einer Störung seines Gefühlslebens leidet. Die bisherigen Ausführungen wollten deutlich machen, inwiefern man diese Behauptung auf durch Erfahrung bezeugte Tatsachen stützen könnte. Seine Sensibilität, seine Fähigkeit zur Einfühlung, seine übermäßige Ausstattung mit »Antennen« weisen darauf hin, dass er als Kind von Bedürftigen gebraucht — wenn nicht missbraucht — wurde. Natürlich gibt es theoretisch die Möglichkeit, dass ein Kind bei Eltern aufgewachsen ist, die diesen Missbrauch nicht nötig hatten, d. h., das Kind in seinem Wesen sahen, verstanden, seine Gefühle ertrugen und respektierten. Dieses Kind hätte dann ein gesundes Selbstwertgefühl entwickelt. Es ist aber kaum anzunehmen, 1. dass es später den Beruf des Psychotherapeuten ergreift, 2. dass es das geeignete Sensorium für den anderen in dem Maße ausbilden und entwickeln wird wie die »gebrauchten« Kinder, 3. dass es je — aufgrund eigenen Erlebens — genügend verstehen wird, was es heißt, sein Selbst »verraten zu haben«. So meine ich, dass gerade unser Schicksal uns befähigen könnte, den Beruf des Psychotherapeuten auszuüben, aber nur unter der Voraussetzung, dass wir in der eigenen Therapie die Möglichkeit bekommen, mit der Wahrheit unserer Vergangenheit zu leben und auf die gröbsten Illusionen zu verzichten. Das hieße, das Wissen auszuhalten, dass wir auf Kosten unserer Selbstverwirklichung genötigt waren, die unbewussten Bedürfnisse unserer Eltern zu befriedigen, um das wenige, das wir hatten, nicht zu verlieren. Es hieße weiter, die Auflehnung und Trauer über die Nicht-Verfügbarkeit der Eltern für unsere primären Bedürfnisse erleben zu können. Haben wir unsere Verzweiflung und die daraus entspringende hilflose Wut nie gelebt und infolgedessen nie verarbeitet, so können wir in die Gefahr kommen, die unbewusst gebliebene Situation der eigenen Kindheit auf den Patienten zu übertragen. Und niemand würde sich wundern, dass tief verdrängte unbewusste Bedürfnisse den Therapeuten dazu treiben würden, sich ein schwächeres Wesen anstelle der Eltern verfügbar zu machen. Das lässt sich am leichtesten mit eigenen Kindern, mit Untergebenen und mit Patienten machen, die zuweilen wie Kinder vom Therapeuten abhängig sind. Ein Patient mit »Antennen« für das Unbewusste des Therapeuten wird prompt darauf reagieren. Er wird sich schnell autonom »fühlen« und wird sich so verhalten, wenn er spürt, dass es dem Therapeuten wichtig ist, schnell autonome Patienten mit sicherem Auftreten zu bekommen. Das kann er, er kann alles, was von ihm erwartet wird. Aber diese »Autonomie« mündet in die Depression, weil sie keine echte ist. Der echten geht das Erlebnis der Abhängigkeit voraus. Erst jenseits des tief ambivalenten Gefühls der kindlichen Abhängigkeit liegt die echte Befreiung. Die Wünsche des Therapeuten nach Bestätigung, Echo, Verstanden- und Ernstgenommenwerden befriedigt der Patient, wenn er »Material« bringt, das zum gelernten Rüstzeug des Therapeuten, zu seinen Konzepten, folglich zu seinen Erwartungen passt. Der Therapeut übt damit die gleiche Art unbewusster Manipulation aus, der er als Kind selbst ausgesetzt war. Die bewusste Manipulation hat er vielleicht längst durchschaut und sich von ihr frei gemacht. Er lernte auch, seine Ansichten zu vertreten und durchsetzen zu können. Aber die unbewusste Manipulation ist für ein Kind niemals durchschaubar. Sie ist die Luft, die es atmet, es kennt keine andere, und sie erscheint ihm als die einzig normale. Was geschieht, wenn wir auch noch als Erwachsene, als Therapeuten, die gefährliche Qualität dieser Luft nicht erkennen? Wir werden ihr bedenkenlos andere Menschen aussetzen und behaupten, wir täten dies alles nur zu ihrem Besten. Je mehr ich Einsicht gewinne in die unbewusste Manipulation der Kinder durch die Eltern und der Patienten durch die Therapeuten, desto dringlicher erscheint mir die Auflösung der Verdrängung. Nicht nur als Eltern, sondern auch als Therapeuten müssen wir unsere Vergangenheit emotional kennenlernen. Wir müssen lernen, unsere kindlichen Gefühle erleben und klären zu können, damit wir es nicht mehr nötig haben, unsere Patienten von unseren Theorien her unbewusst zu manipulieren, und sie das werden lassen können, was sie sind. Erst das schmerzhafte Erlebnis und die Annahme der eigenen Wahrheit macht uns von der Hoffnung frei, doch noch die verstehenden empathischen Eltern — vielleicht im Patienten - zu finden und sie sich - mit klugen Deutungen — verfügbar machen zu können. Diese Versuchung ist nicht zu unterschätzen. Selten oder niemals haben uns wohl die eigenen Eltern mit der Aufmerksamkeit zugehört, wie ein Patient es meistens tut, und niemals haben sie uns so aufrichtig und für uns verständlich ihr Inneres preisgegeben, wie es zuweilen die Patienten tun. Aber die nie abgeschlossene Trauerarbeit unseres Lebens wird uns helfen, dieser Illusion nicht zu verfallen. Eltern, wie wir sie einmal dringend gebraucht hätten - empathisch und offen, verstehend und verständlich, verfügbar und verwendbar, durchsichtig, klar, ohne unbegreifliche Widersprüche, ohne beängstigende Requisitenkammer —, solche Eltern haben wir nicht gehabt. Jede Mutter kann nur da empathisch sein, wo sie von ihrer Kindheit frei geworden ist, und muss un-empathisch reagieren, sofern sie durch Verleugnungen ihres Schicksals unsichtbare Ketten trägt. Das gleiche gilt für die Väter. Was es aber gibt, sind solche Kinder: intelligent, wach, aufmerksam, hochsensibel und, weil ganz auf das Wohl der Eltern ausgerichtet, auch verfügbar, verwendbar und vor allem durchsichtig, klar, berechenbar, manipulierbar — solange ihr wahres Selbst (ihre Gefühlswelt) im Keller des durchsichtigen Hauses bleibt, in dem sie wohnen müssen... zuweilen bis zur Pubertät und nicht selten, bis sie selber Eltern geworden sind. Robert, 31, durfte als Kind nicht traurig sein und nicht weinen, ohne zu spüren, dass er seine geliebte Mutter unglücklich und zutiefst unsicher machte, denn »Heiterkeit« war die Eigenschaft, die ihr seinerzeit als Kind das Leben gerettet hatte. Tränen bei ihren Kindern drohten ihr Gleichgewicht zu erschüttern. Aber das hochsensible Kind spürte in sich den ganzen abgewehrten Abgrund dieser Mutter, die als Kind im Konzentrationslager gewesen war und nie davon gesprochen hatte. Erst als der Sohn erwachsen war und sie mit Fragen angehen konnte, erzählte sie, dass sie eines von achtzig Kindern gewesen war, die zuschauen mussten, wie ihre Eltern in die Gaskammer gingen. Keines der Kinder hätte geweint! Der Sohn hatte in seiner ganzen Kindheit versucht, heiter zu sein, und konnte sein wahres Selbst, seine Gefühle und Ahnungen nur in zwanghaften Perversionen leben, die ihm bis zur Therapie fremd, beschämend und unverständlich vorkamen. Gegen diese Art von Manipulation in der Kindheit ist man völlig wehrlos. Das Tragische ist, dass auch die Eltern diesem Geschehen solange wehrlos ausgeliefert sind, wie sie sich weigern, sich ihre eigene Geschichte anzuschauen. Unbewusst setzt sich die Tragik der elterlichen Kindheit in der Beziehung zu den eigenen Kindern fort, wenn die Verdrängung unaufgelöst bleibt. Ein anderes Beispiel mag das noch deutlicher illustrieren: Ein Vater, der als Kind öfter über die Angstanfälle seiner zeitweise schizophrenen Mutter erschrocken war, ohne dass jemand ihm eine Erklärung gegeben hätte, erzählte seiner kleinen geliebten Tochter Seite 10 von 40
gerne Schauergeschichten. Über ihre Angst machte er sich lustig, um sie anschließend immer mit dem Satz zu beruhigen: Das ist doch eine erfundene Geschichte, du brauchst dich nicht zu fürchten, du bist bei mir. So konnte er die Angst des Kindes manipulieren und sich stark dabei fühlen. Bewusst wollte er dem Kind etwas Gutes geben, etwas, das er selber entbehrt hatte, nämlich Beruhigung, Schutz, Erklärung. Was er ihm aber unbewusst auch vermittelte, war die Angst seiner Kindheit, die Erwartung eines Unglücks und die ungeklärte Frage (auch seiner Kindheit): Warum macht mir der Mensch, den ich liebe, soviel Angst? Jeder Mensch hat wohl in sich eine mehr oder weniger vor sich selbst verborgene Kammer, in der sich die Requisiten seines Kindheitsdramas befinden. Die einzigen Menschen, die mit Sicherheit Zutritt zu dieser Kammer bekommen werden, sind seine Kinder. Mit den eigenen Kindern kommt neues Leben in die Kammer, das Drama erfährt seine Fortsetzung. Allein — das Kind hatte keine Möglichkeit, mit diesen Requisiten frei zu spielen, seine Rolle verschmolz ihm mit dem Leben; es konnte auch keine Erinnerung an dieses »Spiel« in sein späteres Leben hinüberretten, es sei denn mit Hilfe der Therapie, wo ihm seine Rolle zur Frage werden konnte. Die Requisiten machten ihm zwar manchmal angst, es konnte sie mit der bewussten Erinnerung an seine Mutter oder seinen Vater nicht in Zusammenhang bringen. Es entwickelte daher Symptome. Und dann, in der Therapie, kann der Erwachsene sie auflösen, wenn die hinter den Symptomen verborgenen Gefühle in seinem Bewusstsein auftauchen: Gefühle des Entsetzens, der Verzweiflung und Auflehnung, des Misstrauens und der hilflosen Wut. Es gibt für Patienten keine Versicherungen gegen unbewusste Manipulationen durch ihre Therapeuten. Auch keiner der Therapeuten ist gegen unbewusstes Manipulieren ein für alle Male gefeit. Doch der Patient hat die Möglichkeit, es ihm aufzuzeigen, wenn er es entdeckt, oder den Therapeuten zu verlassen, wenn dieser blind bleibt und sich auf seine Unfehlbarkeit versteift. Auch meine Empfehlungen entbinden niemanden von der Aufgabe, sowohl diese Methoden als auch sämtliche Therapeuten, die sie ausüben, immer wieder in Frage zu stellen Je besser wir uns in unserer Lebensgeschichte auskennen, um so besser werden wir Manipulationen durchschauen können, wo immer sie auftreten. Es ist unsere Kindheit, die uns so oft daran hindert. Es ist unsere alte, nicht vollständig erlebte Sehnsucht nach guten, ehrlichen, klugen, bewussten und mutigen Eltern, die uns dazu verführen kann, die Unehrlichkeit oder Unbewusstheit der Therapeuten zu übersehen. Wir sind in Gefahr, Manipulationen viel zu lange zu tolerieren, wenn sich unehrliche Therapeuten als besonders redlich und abgeklärt anzubieten und zu präsentieren wissen. Wenn die Illusion so sehr unseren Bedürfnissen und unserer Not entspricht, dauert es länger, bis wir sie durchschauen. Aber solange wir im vollen Besitz unserer Gefühle sind, wird auch diese Illusion früher oder später zugunsten der heilsamen Wahrheit begraben werden müssen.
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DAS GOLDENE GEHIRN In den »Lettres de Mon Moulin« von Alphonse Daudet habe ich eine Erzählung gefunden, die etwas bizarr klingen mag, aber viel Gemeinsames mit diesen Ausführungen hat. Zum Abschluss dieses Kapitels über das ausgebeutete Kind möchte ich ihren Inhalt verkürzt wiedergeben. Es war einmal ein Kind mit einem goldenen Gehirn. Die Eltern merkten es erst zufällig, bei einer Kopfverletzung, als statt Blut etwas Gold aus seinem Kopf herausfloss. Sie fingen an, das Kind sorgsam zu behüten, und verboten ihm den Umgang mit anderen Kindern, damit es nicht bestohlen werde. Als der Junge groß war und in die Welt hinaus wollte, sagte die Mutter: »Wir haben so viel für dich getan, wir sollten doch auch an deinem Reichtum teilhaben. « Da nahm der Sohn ein großes Stück Gold aus seinem Gehirn und gab es der Mutter. Er lebte von seinem Reichtum auf großem Fuß, mit einem Freund zusammen, der ihn aber nachts einmal bestahl und sich davonmachte. Da beschloss der Mann, fortan sein Geheimnis zu hüten und zu arbeiten, weil sich die Vorräte zusehends verminderten. Eines Tages verliebte er sich in ein schönes Mädchen, das ihn auch liebte, aber nicht minder die schönen Kleider, die es von ihm in Fülle bekam. Er heiratete das Mädchen und war glücklich, aber die Frau starb nach zwei Jahren, und für ihr Begräbnis, das großartig sein musste, gab der Mann sein ganzes restliches Vermögen aus. Einmal schlich er durch die Straßen, schwach, arm und unglücklich; da sah er im Schaufenster schöne Stiefelchen, die seiner Frau genau gepasst hätten. Er vergaß, dass die Frau nicht mehr am Leben war - vielleicht, weil sein entleertes Gehirn nicht mehr arbeiten konnte —, und betrat den Laden, um die Stiefelchen zu kaufen. Aber in dem Moment stürzte er, und der Verkäufer sah einen Toten auf dem Boden liegen. Daudet, der selbst an einer Rückenmarkkrankheit sterben sollte, schreibt am Schluss: »Diese Geschichte scheint erfunden zu sein, aber sie ist wahr vom Anfang bis zum Ende. Es gibt Menschen, die für die geringsten Dinge im Leben mit ihrer Substanz und ihrem Rückenmark zu bezahlen haben. Das ist für sie ein immer wiederkehrender Schmerz. Und dann, wenn sie des Leidens müde sind... « Gehört nicht die Mutterliebe zu den »geringsten«, aber auch unentbehrlichsten Dingen im Leben, die viele Menschen — paradoxerweise — mit dem Verzicht auf ihre Lebendigkeit bezahlen müssen?
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II. DEPRESSION UND GRANDIOSITÄT — ZWEI FORMEN DER VERLEUGNUNG
SCHICKSALE DER KINDLICHEN BEDÜRFNISSE Jedes Kind hat das legitime Bedürfnis, von der Mutter gesehen, verstanden, ernstgenommen und respektiert zu werden. Es ist darauf angewiesen, in den ersten Lebenswochen und Monaten über die Mutter verfügen zu können, sie zu gebrauchen, von ihr gespiegelt zu werden. Am schönsten lässt sich das veranschaulichen mit einem Bild von Winnicott: Die Mutter schaut das Baby an, das sie im Arm hält, das Baby schaut in das Antlitz der Mutter und findet sich selbst darin... vorausgesetzt, dass die Mutter wirklich das kleine, einmalige, hilflose Wesen anblickt und nicht ihre eigenen Erwartungen, Ängste, Pläne, die sie für das Kind schmiedet, auf das Kind projiziert. Im letzteren Fall findet das Kind im Antlitz der Mutter nicht sich selbst, sondern die Not der Mutter. Es selbst bleibt ohne Spiegel und wird in seinem ganzen späteren Leben vergeblich diesen Spiegel suchen.
Die gesunde Entwicklung Damit eine Frau ihrem Kind das geben kann, was es für sein ganzes Leben unbedingt braucht, ist es unbedingt erforderlich, dass sie von ihrem Neugeborenen nicht getrennt wird. Die hormonelle Ausschüttung, die ihren mütterlichen Instinkt weckt und »nährt«, erfolgt nämlich unmittelbar nach der Geburt und setzt sich in den nächsten Tagen und Wochen, dank der immer größer werdenden Vertrautheit mit ihrem Kind, fort. Wird das Kind von der Mutter getrennt, wie das noch vor kurzem in nahezu allen Kliniken die Regel war und heute immer noch auf der ganzen Welt aus Bequemlichkeit und Ignoranz geschieht, dann wird die große Chance für Mutter und Kind verpasst. Das Bonding (Augen- und Hautkontakt) zwischen Mutter und Baby nach der Geburt gibt beiden das Gefühl zusammenzugehören, eins zu sein, das natürlicherweise, idealerweise schon bei der Zeugung vorhanden sein soll und mit dem Kind wächst. Es gibt dem Kind die Geborgenheit und Sicherheit, die notwendig sind, damit es der Mutter vertrauen kann. Und der Mutter vermittelt es eine instinktive Sicherheit, die ihr hilft, die Signale ihres Kindes zu verstehen und zu beantworten. Diese erste gegenseitige Vertrautheit lässt sich nie mehr nachholen, und sehr viel kann durch ihr Fehlen von Anfang an verunmöglicht werden. Die wissenschaftliche Erkenntnis von der entscheidenden Bedeutung des Bondings ist noch sehr jung.1 Es ist aber zu hoffen, dass nicht nur die Geburtshilfepraxis in den speziellen Entbindungskliniken von ihr Kenntnis nimmt, sondern auch die in größeren allgemeinen Krankenhäusern, so dass sie bald allen Menschen zugute kommt. Eine Frau, die mit ihrem Kind das Bonding erlebt, ist weniger in Gefahr, ihr Kind zu misshandeln, und dürfte besser in der Lage sein, es vor der Misshandlung durch den Vater zu schützen. Doch auch eine Frau, der das Bonding mit ihrem Kind aufgrund ihrer eigenen verdrängten Geschichte nicht zuteil wurde, kann dem Kind später helfen, diesen Mangel zu bewältigen, wenn sie, dank ihrer Therapie und der Auflösung ihrer Verdrängung, um die Bedeutung dieses Mangels weiß. Sie wird auch die Folgen einer schweren Geburt ausgleichen können, wenn sie sie nicht bagatellisiert und ihr bewusst ist, dass ein am Anfang des Lebens schwer traumatisiertes Kind besonders viel Zuwendung und Aufmerksamkeit braucht, um seine Angst vor dem bereits Geschehenen zu bewältigen. Hat ein Kind das Glück, bei einer spiegelnden Mutter aufzuwachsen, die verfügbar ist, d. h. sich zur Funktion der Entwicklung des Kindes nutzbar machen lässt, so kann im heranwachsenden Kind allmählich das gesunde Selbstgefühl entstehen. Im optimalen Fall ist es eine Mutter, die auch ein freundliches affektives Klima und das Verständnis für die Bedürfnisse des Kindes bietet. Aber auch nicht sehr warmherzige Mütter können diese Entwicklung ermöglichen, und zwar, indem sie sie lediglich nicht verhindern. Dann kann sich nämlich das Kind bei anderen Personen das holen, was seiner Mutter fehlt. Verschiedene Untersuchungen zeigen diese unerhörte Fähigkeit des Kindes, jede noch so geringe affektive »Nahrung«, jede Anregung in der Umgebung zu nutzen. Unter gesundem Selbstgefühl verstehe ich die unangezweifelte Sicherheit, dass empfundene Gefühle und Wünsche zum eigenen Selbst gehören. Diese Sicherheit wird nicht reflektiert, sie ist da, wie der Pulsschlag, den man nicht beachtet, solange er in Ordnung ist. In diesem unreflektierten, selbstverständlichen Zugang zu eigenen Gefühlen und Wünschen findet der Mensch seinen Halt und seine Selbstachtung. Er darf seine Gefühle leben, darf traurig, verzweifelt oder hilfsbedürftig sein, ohne Angst haben zu müssen, jemanden damit unsicher gemacht zu haben. Er darf Angst haben, wenn er bedroht wird, darf böse werden, wenn er seine Wünsche nicht befriedigen kann. Er weiß nicht nur, was er nicht will, sondern auch, was er will, und darf es zum Ausdruck bringen, unabhängig davon, ob er dafür geliebt oder gehasst wird. Die Störung Was geschieht, wenn die Mutter nicht imstande ist, ihrem Kind zu helfen? Was geschieht, wenn sie nicht nur nicht in der Lage ist, die Bedürfnisse ihres Kindes zu erraten und zu erfüllen, sondern selbst bedürftig ist, was sehr häufig vorkommt? Dann wird sie unbewusst mit Hilfe ihres Kindes ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen suchen. Das schließt eine affektive Bindung nicht aus. Aber es fehlen dieser ausbeuterischen Beziehung zum Kind lebenswichtige Komponenten wie Verlässlichkeit, Kontinuität und Konstanz, es fehlt ihr vor allem der Raum, in dem das Kind seine Gefühle, seine Empfindungen erleben könnte. Das Kind entwickelt dann etwas, das die Mutter braucht und das ihm im Moment zwar das Leben (die »Liebe« der Mutter oder des Vaters) rettet, aber es eventuell lebenslang daran hindert, es selbst zu sein. In einem solchen Fall können die zum Alter des Kindes gehörenden natürlichen Bedürfnisse nicht integriert werden, sondern werden abgespalten oder verdrängt. Dieser Mensch wird dann später, ohne es zu wissen, in seiner Vergangenheit leben. Die meisten Menschen, die meine Hilfe wegen Depressionen suchten, hatten in der Regel Mütter, die in höchstem Maß unsicher waren und selbst oft an Depressionen litten. Das Kind, das einzige oder häufig das erste, betrachteten sie als ihr Eigentum. Was die Mutter seinerzeit bei ihrer Mutter nicht bekommen hat, kann sie bei ihrem Kind finden: Es ist verfügbar, kann als Echo gebraucht werden, lässt sich kontrollieren, ist ganz auf sie zentriert, verlässt sie nie, gibt ihr Aufmerksamkeit und Bewunderung. Wenn es sie mit seinen Bedürfnissen überfordert (wie seinerzeit die Mutter), dann ist sie ja nicht mehr so wehrlos, sie lässt sich nicht tyrannisie1
Unter den vielen informativen Büchern zu diesem Thema (Janus, Leboyer, Odent, Stern) erscheint mir für Eltern, die ihr Kind erwarten, das Buch von Desmond Morris am hilfreichsten zu sein. (Desmond Morris, Babywatching. Jonathan Cape, London 1991.) Seite 14 von 40
ren, sie kann das Kind erziehen, damit es nicht schreit und nicht stört. Sie kann sich endlich Rücksicht und Respekt verschaffen oder auch die Sorge um ihr Leben und Wohlergehen einfordern, die ihr ihre Eltern schuldig geblieben sind. Ein Beispiel mag dies illustrieren. Barbara, 35, erlebte erst in ihrer Therapie ihre bis dahin verdrängten Ängste, die einen für sie schrecklichen Anlass begleiteten. Sie kam als zehnjähriges Mädchen eines Tages aus der Schule, es war gerade Mutters Geburtstag, und fand ihre Mutter am Boden des Wohnzimmers mit geschlossenen Augen liegen. Das Kind glaubte, die Mutter wäre tot und schrie verzweifelt auf. Da öffnete die Mutter die Augen und sagte beinahe verzückt: »Du hast mir das schönste Geburtstagsgeschenk gemacht, jetzt weiß ich, dass mich jemand liebt. « Das Mitleid mit dem Kindheitsschicksal ihrer Mutter hinderte die Tochter jahrzehntelang, zu fühlen, dass deren Verhalten eine schreckliche Grausamkeit bedeutete. In ihrer Therapie konnte sie dann mit Wut und Empörung adäquat darauf reagieren. Barbara, selber Mutter von vier Kindern, hatte zwar nur sehr spärliche Erinnerungen an ihre eigene Mutter, aber sie konnte sich an das ständige Mitleid mit ihr erinnern. Sie schilderte sie zu Beginn als eine gefühlvolle, warmherzige Frau, die ihr schon früh »offen ihre Sorgen erzählte«, sehr um ihre Kinder besorgt war und sich für die Familie aufopferte. Innerhalb der Sekte, in der die Familie lebte, wurde sie oft um Rat gefragt. Auf die Tochter wäre die Mutter besonders stolz gewesen, berichtete Barbara. Jetzt sei sie schon alt und gebrechlich, und Barbara sei sehr um die Gesundheit ihrer Mutter besorgt, träume oft, der Mutter sei etwas passiert, und sie erwache mit starken Ängsten. Durch die auftauchenden Gefühle veränderte sich das Bild der Mutter. Vor allem, als die Erinnerung an die Reinlichkeitserziehung auftauchte, er lebte Barbara ihre Mutter als herrschsüchtig, anspruchsvoll, kontrollierend, manipulierend, böse, kalt, dumm, kleinkariert, zwanghaft, leicht beleidigt, exaltiert, unecht und überfordert. Das Erlebnis und die Klärung der so lange aufgestauten Wut brachten der Tochter Erinnerungen aus der Kindheit, die tatsächlich auf solche Züge hinwiesen. Jetzt konnte sich Barbara leisten, Realitäten zu entdecken, und war imstande, die Berechtigung ihrer Wut zu überprüfen. Sie meinte, die Mutter sei kalt und böse zu ihr gewesen, wenn sie sich der Tochter gegenüber unsicher fühlte. Sie sei sehr ängstlich besorgt um das Kind gewesen, weil sie den Neid auf die Tochter mit dieser Besorgnis abwehren konnte. Da die Mutter als Kind selbst sehr gedemütigt worden war, musste sie sich bei der Tochter Geltung verschaffen. Allmählich vereinten sich die verschiedenen Bilder von der Mutter zum Bild eines Menschen, der aus eigener Schwäche, Unsicherheit und Kränkbarkeit sich das Kind verfügbar gemacht hat. Im Grunde war die nach außen so gut funktionierende Mutter beim eigenen Kind selbst ein Kind geblieben. Die Tochter hingegen übernahm die verständnisvolle, sorgende Rolle, bis sie bei ihren eigenen Kindern ihre bisher ignorierten Bedürfnisse in sich entdeckte, die sie mit deren Hilfe zu befriedigen suchte.
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ILLUSION DER LIEBE Ich möchte nun versuchen, einige Gedanken auszuführen, die sich mir im Laufe der Jahre aus meiner Arbeit ergeben haben. Diese Tätigkeit umfasste auch zahlreiche kürzere Begegnungen mit Menschen, die nur eine oder zwei Stunden mit mir gesprochen haben. Gerade in diesen kurzen Begegnungen tritt die Tragik des einzelnen Schicksals mit einer besonderen Deutlichkeit zutage. Was als Depression bezeichnet und als Leere, Sinnlosigkeit des Daseins, Verarmungsangst und Einsamkeit empfunden wird, erweist sich mir immer wieder als die Tragik des Selbstverlustes bzw. der Selbstentfremdung, die immer in der Kindheit ihren Anfang nimmt. Es sind in der Praxis verschiedene Mischformen und Nuancen dieser Störung vorzufinden. Der Klarheit halber versuche ich, zwei extreme Formen zu schildern, wobei ich die eine als die Kehrseite der anderen anschauen würde: die Grandiosität und die Depression. Bei manifester Grandiosität lauert ständig die Depression, und hinter der depressiven Verstimmung verbergen sich oft abgewehrte Ahnungen über unsere tragische Geschichte. Eigentlich ist die Grandiosität die Abwehr des tiefen Schmerzes über den Selbstverlust, der aus der Verleugnung der Realität resultiert.
Die Grandiosität als Selbsttäuschung Der »grandiose« Mensch wird überall bewundert, und er braucht diese Bewunderung, kann gar nicht ohne sie leben. Er muss alles, was er unternimmt, glänzend machen, und er kann es auch (etwas anderes unternimmt er eben nicht). Auch er bewundert sich - seiner Eigenschaften wegen: seiner Schönheit, Klugheit, Begabung, seiner Erfolge und Leistungen wegen. Wehe aber, wenn etwas davon aussetzt, die Katastrophe einer schweren Depression steht dann vor der Tür. Man findet es allgemein natürlich, wenn kranke oder alte Menschen, die vieles verloren haben, wenn Frauen im Klimakterium z. B. depressiv werden. Man lässt dabei außer acht, dass es auch Persönlichkeiten gibt, die den Verlust von Schönheit, Gesundheit, Jugend oder geliebten Menschen mit Trauer ertragen können, ohne depressiv zu werden. Und umgekehrt: Es gibt Menschen mit großen Gaben, die an schweren Depressionen leiden. Warum? Weil man von Depressionen frei ist, wo das Selbstwertgefühl in der Echtheit der eigenen Gefühle wurzelt und nicht im Besitz bestimmter Qualitäten. Der Zusammenbruch des Selbstwertgefühls beim »grandiosen« Menschen zeigt mit aller Schärfe, wie es eigentlich in der Luft, »an einem Luftballon« (Traum einer Patientin) gehangen hatte, bei gutem Wind zwar hoch hinaufflog, aber plötzlich ein Loch bekam und nun wie ein kleines Fetzchen am Boden liegt. Vom Eigenen durfte nichts entwickelt werden, das später einen Halt hätte bieten können. Denn neben dem Stolz auf ein Kind verbirgt sich gefährlich nahe die Scham, falls es die an es gestellten Erwartungen nicht erfüllt.2 Die tragische Illusion, dass Bewunderung Liebe bedeute, kann der Grandiose ohne Therapie nicht aufgeben. Nicht selten wird ein ganzes Leben diesem Ersatz gewidmet. Solange die wahren Bedürfnisse des ehemaligen Kindes nach Achtung, Verständnis, Ernstgenommenwerden nicht verstanden und nicht bewusst erlebt werden dürfen, wird der Kampf um das Symbol der Liebe fortgesetzt. Eine Patientin sagte einmal, es komme ihr vor, als ob sie bisher immer auf Stelzen gelaufen sei. Muss ein Mensch, der ständig auf Stelzen läuft, nicht dauernd auf diejenigen neidisch sein, die beim Laufen ihre eigenen Beine gebrauchen, auch wenn ihm diese Menschen kleiner und »mittelmäßiger« vorkommen als er selbst? Und muss er nicht eine aufgestaute Wut in sich tragen gegen die, die ihn dazu gebracht haben, dass er ohne Stelzen nicht zu gehen wagt? Im Grunde wird der Gesunde beneidet, weil er sich nicht ununterbrochen anstrengen muss, die Bewunderung zu verdienen, weil er nichts tun muss, um so oder so zu wirken, sondern in Ruhe sich erlauben kann, so zu sein, wie er ist. Der grandiose Mensch ist nie wirklich frei, weil er ständig von der Bewunderung anderer abhängig ist und weil diese Bewunderung an Eigenschaften, Funktionen und Leistungen gebunden ist, die plötzlich zusammenbrechen können. Die Depression als Kehrseite der Grandiosität Bei den mir bekannten Patienten war die Depression in vielfältiger Weise mit der Grandiosität gekoppelt. 1. Manchmal trat die Depression auf, wenn infolge schwerer Erkrankungen, Invalidität oder Alterung die Grandiosität zusammenbrach. So war z. B. die Quelle äußerer Erfolge bei einer unverheirateten und alternden Frau langsam versiegt. Die Verzweiflung über das Altern bezog sich vordergründig auf den Ausfall sexueller Kontakte, in der Tiefe aber regten sich frühe Verlassenheitsängste, denen diese Frau mit keiner neuen Eroberung mehr entgegenwirken konnte. Alle ihre Ersatzspiegel waren zerbrochen, sie stand wieder da, hilflos und verwirrt, wie dazumal das kleine Mädchen vor dem Antlitz seiner Mutter, in dem es nicht sich selber, sondern die Verwirrung der Mutter fand. Ähnlich können Männer ihr Altern erleben, auch wenn ihnen eine neue Verliebtheit die Illusion der Jugend für eine Weile zurückgeben und damit manische Phasen in die beginnende Alterungsdepression bringen kann. 2. In dieser phasenhaften Ablösung der Grandiosität durch die Depression und umgekehrt zeigt sich ihre Verwandtschaft. Es handelt sich um zwei Seiten der gleichen Medaille, die man als falsches Selbst bezeichnen könnte und die tatsächlich einmal für Leistungen verliehen worden ist. So kann sich z. B. ein Schauspieler am Abend des Erfolges in den Augen des begeisterten Publikums spiegeln und Gefühle von göttlicher Größe und Allmacht erleben. Und doch können am nächsten Morgen Gefühle von Leere, Sinnlosigkeit, ja sogar Scham und Ärger auftreten, wenn das Glück am Vorabend nicht nur in der kreativen Tätigkeit des Spielens, des Ausdrucks, sondern vorwiegend in der Ersatzbefriedigung des alten Bedürfnisses nach Echo, Spiegelung, Gesehen- und Verstandenwerden wurzelt. Ist seine Kreativität von diesen Bedürfnissen relativ frei, so wird unser Schauspieler am nächsten Morgen keine Depression haben, sondern sich lebendig fühlen und schon mit anderen Inhalten beschäftigt sein. Diente aber der Erfolg am Vortag 2
In einer Feldstudie aus Chestnut Lodge wurde 1954 die familiäre Umwelt von 12 Patienten mit manisch depressiver Psychose untersucht. Die Ergebnisse dieser Studie bestätigen in hohem Maße meine auf ganz anderen Wegen gewonnenen Erkenntnisse über die Ätiologie der Depression. »Alle Patienten stammten aus Familien, die sich sozial isoliert und in ihrer Umgebung wenig geachtet vorkamen. Sie setzten daher alles ein, um durch Konformität und besondere Leistungen ihr Prestige bei den Nachbarn zu erhöhen. In diesem Streben wurde dem später erkrankenden Kind eine besondere Rolle zugedacht. Es hatte die Familienehre zu garantieren und wurde nur insoweit geliebt, als es, kraft besonderer Fähigkeiten, Begabungen, seiner Schönheit etc. (Hervorhebungen von mir — A. M. ) in der Lage war, die familiären Idealforderungen zu erfüllen. Wenn es dabei versagte, wurde es mit totaler Kaltstellung, Verbannung aus dem Familienverband und der Gewissheit bestraft, tiefe Schande über seine Leute gebracht zu haben« (zitiert nach M. EickeSpengler, 1977, S. 1104). Die soziale Isolierung der Familien habe ich auch bei meinen Patienten gefunden, aber sie war nicht Ursache, sondern Folge der Bedürftigkeit der Eltern. Seite 16 von 40
der Verleugnung der kindlichen Frustration, so bringt er — wie jeder Ersatz — nur eine momentane Stillung. Eine wirkliche Sättigung kann es ja nicht mehr geben, denn ihre Zeit ist unwiderruflich verpasst. Das damalige Kind gibt es nicht mehr, auch die damaligen Eltern nicht. Die jetzigen — falls noch am Leben — sind inzwischen alt und abhängig geworden, üben über den Sohn keine Gewalt mehr aus, freuen sich vielleicht über seine Erfolge, über seine seltenen Besuche. In der Gegenwart gibt es Erfolg und Anerkennung, aber diese können nicht mehr sein, als sie sind, sie können das alte Loch nicht füllen. Die alte Wunde kann wiederum nicht heilen, solange sie in der Illusion, d. h. im Rausch des Erfolges verleugnet wird. Die Depression führt in die Nähe der Wunde, aber erst die Trauer über das Vermisste, das in der entscheidenden Zeit Vermisste, führt zur wirklichen Vernarbung. 3 3. Es kommt vor, dass es einem Menschen gelingt, die Illusion der ständigen Zuwendung und der Verfügbarkeit der Eltern (deren Fehlen in der frühen Kindheit er genauso wie seine Gefühlsreaktionen verleugnet), mit ununterbrochenen außergewöhnlichen Leistungen aufrechtzuerhalten. Dieser Mensch ist meistens imstande, eine drohende Depression mit verstärkter Brillanz zu verhindern und sowohl die Umgebung wie sich selbst damit zu verblüffen. Nicht selten wird aber zugleich ein Ehepartner gewählt, der stark depressive Züge bereits mitbrachte oder mindestens in der Ehe die depressive Komponente des Grandiosen unbewusst übernimmt und agiert. So ist die Depression draußen. Man kümmert sich um den »armen« Partner, beschützt ihn wie ein Kind, fühlt sich stark und unentbehrlich und gewinnt einen zusätzlichen Stützpfeiler im Gebäude der eigenen Persönlichkeit, das keine festen Fundamente hat, und auf die Pfeiler des Erfolgs, der Leistung, der »Stärke« und vor allem der Verleugnung der eigenen kindlichen Gefühlswelt angewiesen ist. Obwohl die Depression im äußeren Erscheinungsbild der Grandiosität diametral entgegengesetzt ist und durch ihre ganze Stimmung irgendwie der Tragik des Selbstverlustes mehr Rechnung trägt, weisen sie doch viele Gemeinsamkeiten auf. Folgende können wir beobachten: 1. ein falsches Selbst, das zum Verlust des wahren Selbst geführt hat; 2. die Brüchigkeit der Selbstachtung, die nicht in der Sicherheit über das eigene Fühlen und Wollen, sondern in der Möglichkeit, das falsche Selbst zu realisieren, wurzelt; 3. Perfektionismus;4. Verleugnung der verachteten Gefühle; 5. ausbeuterische Beziehungen; 6. große Angst vor Liebesverlust, deshalb große Anpassungsbereitschaft; 7. abgespaltene Aggressionen; 8. Anfälligkeit für Kränkungen; 9. Anfälligkeit für Scham- und Schuldgefühle; 10. Ruhelosigkeit.
Depression als Verleugnung des Selbst Die Depression lässt sich also verstehen als ein direktes Signal des Selbstverlustes, der in der Verleugnung der eigenen Gefühlsreaktionen und Empfindungen besteht. Diese Verleugnung begann im Dienste der lebensnotwendigen Anpassung aus Angst vor dem Liebesverlust in der Kindheit. Darum weist die Depression auf eine sehr frühe Verletzung hin. Schon am Anfang, im Säuglingsalter, erfolgte ein Ausfall bestimmter affektiver Bereiche, die zu stabilem Selbstbewusstsein geführt hätten. Es gibt Kinder, die schon die frühesten Empfindungen wie z. B. Unzufriedenheit, Ärger, Zorn, Schmerzen, Freude am eigenen Körper, ja sogar das Hungergefühl nicht frei haben erleben dürfen. Man hört manchmal Mütter mit Stolz erzählen, dass ihre Säuglinge gelernt haben, den Hunger zu unterdrücken und, liebevollabgelenkt, ruhig auf die Zeit der Fütterung zu warten. Ich kannte Erwachsene mit solchen in Briefen belegten Säuglingserfahrungen, die nie mit Sicherheit wussten, ob sie wirklich Hunger hatten oder es sich »nur einbildeten«, und an der Angst litten, vor Hunger ohnmächtig zu werden. Zu ihnen gehörte Beatrice. Unzufriedenheit oder Ärger der Kinder weckten bei ihrer Mutter Zweifel an ihrer Rolle als Mutter, körperliche Schmerzen der Kinder riefen ihre Angst hervor, und die ausgelassene Freude am eigenen Körper aktivierte bei der Mutter Neid und Schamgefühle »vor den anderen«. Die Ängste der Mutter konditionierten das Gefühlsleben des Kindes vollständig. Und Beatrice lernte schon sehr früh, wie sie nicht fühlen durfte, wollte sie die »Liebe« der Mutter nicht aufs Spiel setzen. Wenn wir die Schlüssel zum Verständnis unseres Lebens weggeworfen haben, müssen die Ursachen der Depression — wie auch des Leidens, der Krankheit und der Heilung — notwendig ein Geheimnis für uns bleiben. Ein Psychiater, dessen Buch mir von einem Leser zugesandt wurde, behauptet fest, dass Misshandlungen, Vernachlässigung und Ausbeutung in der Kindheit unmöglich ausreichende Ursachen zur Erklärung von späteren psychischen Erkrankungen sein können. Es müssen, so meint er, ganz andere, irrationale Gründe dafür verantwortlich sein, dass eine Person von den katastrophalen Folgen von Misshandlungen verschont bleibt oder schneller gesundet als eine andere. Es müsse die »Gnade« am Werk sein, meint er. Er erzählt die Geschichte eines Patienten, der das erste Lebensjahr mit seiner alleinstehenden Mutter in extremer Armut verbracht hatte und der ihr dann von den Behörden weggenommen wurde. Der Junge kam von einem Pflegeplatz zum anderen und wurde überall aufs schwerste misshandelt. Doch als er zum Psychiatriepatienten wurde, besserte sich sein Zustand viel schneller als der seiner Leidensgenossen, deren Lebensgeschichten weniger spektakuläre Misshandlungen aufwiesen. Wie konnte sich der Mann, der soviel Grausamkeit in seiner Kindheit und Jugend erlebt hatte, so schnell von seinen Symptomen befreien? War es die Gnade Gottes? Viele Menschen lieben diese Art von Erklärungen und meiden die entscheidenden Fragen. Aber müssten wir nicht fragen, warum Gott nicht gewillt war, den anderen Patienten dieses Psychiaters zu helfen, und ja auch nicht einmal diesem Mann, als er in seiner
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Eine Äußerung von Igor Strawinsky kann als Beispiel von gelungener Trauerarbeit angeführt werden: »Bei mir kam das Unglück, so bin ich überzeugt, von der Tatsache, dass mein Vater mir innerlich fern war und dass auch meine Mutter mir keine Liebe entgegenbrachte. Als mein ältester Bruder unerwartet starb, meine Mutter ihre Gefühle für ihn nicht auf mich übertrug und als auch mein Vater so reserviert blieb wie stets zuvor, da beschloss ich, eines Tages würde ich es ihnen schon zeigen. Nun, der Tag kam, der Tag verging. Niemand, als ich, erinnert sich dieses Tages, dessen einziger Augenzeuge ich noch bin.« Im krassen Gegensatz dazu steht die Äußerung Samuel Becketts: »Man kann wohl sagen, dass ich eine glückliche Kindheit erlebt habe ... obwohl ich zum Glücklichsein nicht sehr begabt war. Meine Eltern haben all das getan, wodurch man ein Kind glücklich machen kann. Aber ich habe mich oft recht allein gefühlt. « (Beide Zitate stammen aus einem Artikel von H. Müller-Braunschweig, 1974.) Hier ist das kindliche Drama völlig verdrängt worden, die Idealisierung der Eltern wurde mithilfe der Verleugnung aufrechterhalten, aber die unendliche Isolierung seiner Kindheit fand ihren Ausdruck in Becketts Dramen. Seite 17 von 40
Kindheit erbarmungslos geschlagen wurde? War es wirklich Gottes Gnade, die diesem Mann als Erwachsenem beistand, oder könnte es sein, dass die Erklärung viel einfacher lautet? Wenn dieser Mann eine Mutter hatte, die trotz Armut fähig und imstande gewesen war, ihm reale Liebe, Schutz und Sicherheit in seinem ersten, überaus entscheidenden Lebensjahr zu geben, dann war er besser ausgestattet, um die späteren Misshandlungen zu verarbeiten, als jemand, dessen Integrität vom ersten Lebenstag an verletzt wurde, der keine Rechte auf das eigene Leben hatte, der von Anfang an lernen musste, dass der einzige Sinn seiner Existenz darin besteht, die Mutter »glücklich zu machen«. Das war das Schicksal von Beatrice, meiner Patientin. Sie war in ihrer Jugend nicht brutal misshandelt worden. Aber als Säugling musste sie lernen, nicht zu weinen, nicht hungrig zu sein, keine Bedürfnisse zu haben, um ihre Mutter »glücklich zu machen«. Zuerst litt sie an Magersucht und dann, ihr ganzes erwachsenes Leben, an schwerer Depression. Das unkritische Festhalten an traditionellen Vorstellungen über Liebe und Moral ist gut dazu geeignet, die realen Fakten der eigenen Geschichte zu verschleiern oder zu verdrängen. Doch ohne den freien Zugang zu diesen Fakten bleiben die Wurzeln der Liebe abgeschnitten. Kein Wunder, dass dann Appelle an liebevolles, großzügiges und verzeihendes Umgehen miteinander fruchtlos bleiben. Wir können nicht wirklich lieben, wenn es uns verboten ist, unsere Wahrheit, die über unsere Eltern und Erzieher, aber auch die über uns selbst, zu sehen. Wir können nur so tun, als ob wir lieben würden. Doch dieses heuchlerische Verhalten ist das Gegenteil von Liebe. Es verwirrt und betrügt, und vor allem bewirkt es im anderen eine ohnmächtige Wut, die verdrängt werden muss, die nie bewusst erlebt werden kann und daher destruktiv wirkt. Besonders wenn der Betreffende davon abhängig ist, an die angebliche Liebe zu glauben. Es würde vielen Menschen helfen, ehrlicher, das heißt auch weniger destruktiv zu werden, wenn religiöse Führer diese einfachen psychischen Gesetze anerkennen würden. Anstatt sie zu ignorieren, müssten sie sich nur etwas besser unter den Menschen umschauen und sehen, wie viel Schaden Heuchelei verursacht, in Familien, im öffentlichen Leben, in der ganzen Gesellschaft. Veras Brief an mich, dessen Ausschnitt ich hier auf ihren Wunsch zitiere, liefert ein deutliches Beispiel für die durch Heuchelei verursachte Verwirrung. Majas Geschichte, die darauf folgt, zeigt wiederum, wie spontane Liebe zum eigenen Kind möglich geworden ist, nachdem es ihr gelungen ist, die Verdrängung ihrer Vergangenheit aufzulösen. Vera, 52, schrieb: »Ich war jahrzehntelang vom Alkohol abhängig und wurde in den AA-Gruppen vom Alkohol befreit. Für diese Befreiung war ich so dankbar, dass ich 11 Jahre lang bei allen Treffen mitgemacht habe und alle meine kritischen Gedanken zu überhören versuchte. Auch den Beginn einer schleichenden Krankheit, multiple Sklerose genannt, wollte ich nicht wahrnehmen, sowenig wie die Zunahme meiner depressiven Verstimmungen. Jetzt, nach 3 Jahren Therapie, weiß ich, wie es zu diesen beängstigenden Symptomen gekommen ist, vielleicht sogar kommen musste, damit ich endlich meine Wahrnehmungen und Signale ernst nehmen konnte. Ich ärgerte mich immer in den Gruppensitzungen, wenn von der ›bedingungslosen‹ Liebe geredet wurde, die uns angeblich von allen Mitgliedern der Gruppe entgegengebracht wurde. Dass mich dies ärgerte, erklärte ich mir durch den Umstand, dass ich keine Erfahrung der wahren Liebe hatte, weil ich sie als Kind nie bekommen habe und daher kein Vertrauen in mir aufbauen konnte, dass es Liebe überhaupt gäbe. So wurden wir zumindest belehrt. Ich wollte an solche Versicherungen glauben, weil ich so ausgehungert nach Liebe war. Und ich konnte es glauben, weil Heuchelei das tägliche Brot war, mit dem ich von meiner Mutter gefüttert wurde, und ich kein anderes kannte. Doch jetzt ist es mir klar: Nur das Kind braucht unbedingt die bedingungslose Liebe. Und nur dem Kind können und sollten wir sie geben. Das heißt, dass wir das Kind, das uns anvertraut ist, lieben und akzeptieren, was immer es macht, ob es schreit oder vergnügt lächelt. Aber einen Erwachsenen bedingungslos zu lieben, was auch immer er tut, würde dazu führen, dass wir auch einen kalten Massenmörder oder notorischen Lügner zu lieben versuchten, wenn er nur unserer Gruppe beitritt. Können wir das? Und sollten wir das? Warum? Wem sollte dies nützen? Wenn wir behaupten, einen Erwachsenen bedingungslos zu lieben, dann beweisen wir nur unsere Blindheit und Unehrlichkeit, nichts sonst. «
Vera hat recht. Wir brauchen als Erwachsene keine bedingungslose Liebe, auch nicht von unseren Therapeuten. Das ist ein kindliches Bedürfnis, das später nicht mehr erfüllt werden kann. Wer diesen Verlust in der Kindheit nie betrauert hat, spielt mit Illusionen. Wir brauchen von unseren Therapeuten Ehrlichkeit, Respekt, Vertrauen, Empathie, Verständnis und seine Fähigkeit, die eigenen Gefühle zu klären und nicht uns damit zu belasten. Und das können wir erhalten. Wenn uns aber jemand »bedingungslos« zu lieben verspricht, müssen wir uns vor ihm hüten. Dass Vera in drei Jahren etwas herausgefunden hat, das sie in Jahrzehnten langer Suche nicht finden konnte, verdankt sie ihrer Entschlossenheit, die Wahrheit zu finden und sich nicht länger täuschen zu lassen. Die Erfahrungen mit ihrem Körper haben sie auf diesem Weg unterstützt. Maja, 38, kommt einige Wochen nach der Geburt ihres dritten Kindes und erzählt, wie frei und lebendig sie sich mit dem Säugling fühle. Auffallend groß war der Unterschied zu den beiden früheren Malen, wo sie sich ständig überfordert, gefangen und vom Kind ausgenutzt, »ausgebeutet« vorkam, gegen seine berechtigten Ansprüche revoltierte und sich dabei als ganz böse erlebte — wie in der Depression von sich selbst getrennt. Vielleicht, meinte sie, war es die Revolte gegen die Ansprüche ihrer Mutter, die sich früher nur bei den eigenen Kindern meldete. Doch jetzt sei nichts Derartiges da. Die Liebe, um die sie sich dort bemüht hatte, sei ihr jetzt zugeflogen, ganz von alleine, und sie genieße heute ihre Einheit mit dem Kind und mit sich selbst. Dann kommt sie mit folgenden Worten auf ihre Mutter zu sprechen: »Ich war die Perle in der Krone meiner Mutter. Sie sagte immer: auf Maja kann man sich verlassen, die macht es schon. Und ich machte es tatsächlich, ich habe ihr die kleinen Kinder großgezogen, damit sie ihre berufliche Karriere machen konnte. Und sie wurde immer berühmter, aber glücklich sah ich sie nie. Wie oft sehnte ich mich nach ihr an den vielen Abenden, die Kleinen weinten, ich habe sie getröstet, aber ich weinte nie. Wer hätte schon ein verweintes Kind gebraucht? Die ›Liebe‹ meiner Mutter konnte ich nur bekommen, wenn ich tüchtig, verständnisvoll, beherrscht war, ihr Handeln nie in Frage stellte, nie zeigte, wie ich sie vermisste, das alles hätte ihre Freiheit beschränkt, die sie so brauchte. Das hätte sich gegen mich gekehrt. Niemandem wäre es damals in den Sinn gekommen, dass diese tüchtige, ruhige, bequeme Maja so einsam war und so gelitten hat. Was blieb mir übrig, als stolz auf meine Mutter zu sein und ihr zu helfen? Um so größer müssen die Perlen in der Krone der Mutter sein, je tiefer das Loch in ihrem Herzen. Meine Mutter brauchte die Perlen, weil ihre ganze Aktivität im Grunde dazu diente, etwas in sich zu unterdrücken, eine Sehnsucht vielleicht, ich weiß es nicht... Vielleicht hätte sie es entdeckt, wenn sie das Glück gehabt hätte, mehr als nur im biologischen Sinn Mutter zu werden. Sie hat sich ja angeblich so Mühe gegeben und war so pflichtbewusst. Aber die Freude der spontanen Liebe ist ihr nicht geschenkt worden. Und wie hat sich das alles mit Peter wiederholt! Wie viel stumpfsinnige Stunden saß mein Kind mit Hausangestellten, damit ich mein Diplom machen konnte, das mich noch mehr von mir selber und von ihm weggeführt hat? Wie oft habe ich ihn verlassen und nicht gemerkt, was ich ihm angetan habe, weil ich meine eigene Verlassenheit nie habe erleben dürfen? Erst jetzt fange ich an zu ahnen, was die Mutterschaft ohne Krone, ohne Perlen, ohne Heiligenschein sein kann. «
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In einer deutschen Frauenzeitschrift, die sich in den siebziger Jahren bemühte, tabuisierte Wahrheiten offen auszusprechen, findet sich die Zuschrift einer Leserin, welche die tragische Geschichte ihrer Mutterschaft unverschleiert zur Darstellung bringt. Der Bericht schließt mit folgenden Sätzen: »Und dann die Stillerei! Der Säugling wurde falsch angelegt und rasch waren meine Brustwarzen zerbissen. Mein Gott, war das unangenehm. Noch zwei Stunden, dann kommt er wieder; noch eine... gleich... Wenn er dann da war und nuckelte, habe ich oben geheult und geflucht. Das war so schlimm, dass ich nichts mehr essen konnte und 400 Fieber bekam. Da durfte ich abstillen, und schlagartig ging's mir besser. Von Muttergefühlen habe ich lange gar nichts gemerkt. Wäre das Kind gestorben, mir wär's schon recht gewesen. Und alles hat erwartet, ich sei jetzt sehr glücklich. Eine Freundin, die ich ganz verzweifelt anrief, meinte, die Zuneigung käme erst mit der Zeit, wenn man eben immer mit dem Kind beschäftigt wäre und dieses immer um einen wäre. Das stimmt so auch nicht. Eine Zuneigung habe ich erst entwickelt, als ich wieder arbeiten gehen konnte und, wenn ich nach Hause kam, den Kleinen vorfand, als Ablenkung und Spielzeug gewissermaßen. Aber ehrlich gesagt, ein kleiner Hund hätte es genauso ›getan‹. Jetzt, wo er langsam größer wird, und ich merke, dass ich ihn erziehen kann, dass er an mir hängt, mir so völlig vertraut, jetzt entwickelt sich eine zärtliche Beziehung, und ich bin froh, dass er da ist. (Hervorhebungen von mir, A. M. ) Dies alles habe ich Euch geschrieben, einfach weil ich es so gut finde, dass endlich jemand sagt, dass es keine Mutterliebe in dem Sinne - geschweige denn einen Mutterinstinkt - gibt« (vgl. »Emma«, Juli 1977).
Es liegt im Wesen des Problems, dass der Autorin dieses Briefes weder ihre eigene noch die Tragik ihres Kindes wirklich erlebbar werden konnten, weil ihre eigene, ihr emotional unzugängliche Kindheit der Anfang dieser Geschichte gewesen wäre. Ihre pessimistische Behauptung ist daher irreführend und nicht korrekt. In Wahrheit gibt es so etwas wie »Mutterliebe und Mutterinstinkt«. Wir können dies an Tieren beobachten, die nicht von Menschen misshandelt wurden. Auch Frauen sind mit dem instinktiven »Programm« geboren, das sie befähigt, ihre Kinder zu lieben, zu beschützen, zu unterstützen, zu nähren und daraus Freude zu empfangen. Aber wir werden oft sehr früh dieser instinktiven Fähigkeiten beraubt, dann nämlich, wenn wir in der Kindheit zur Befriedigung ihrer Wünsche von unseren Eltern ausgebeutet werden. Glücklicherweise, wie Johannas Geschichte beweist, können wir diese Fähigkeiten wiedergewinnen, sobald wir gewillt sind, die Wahrheit zuzulassen. Johanna, 27, begann mit ihrer aufdeckenden Therapie kurz bevor sie schwanger wurde. Sie war gut auf den Geburtsvorgang vorbereitet, war glücklich über das Bonding mit dem gesunden Neugeborenen und freute sich, dass sie so ausführlich stillen konnte. Doch plötzlich, ohne irgendwelchen ersichtlichen Grund, wurden ihre Brüste hart und schmerzten, und sie lag nun da mit hohem Fieber, während die Säuglingsschwester das Kind mit der Flasche fütterte. In den Alpträumen, im Fieber, erlebte sie immer wieder, in vielen Details, Szenen vom sexuellen Mißbrauch durch beide Eltern und deren Nachbarn zur Zeit, als sie drei Monate alt war. Dieses Alter ließ sich feststellen, weil die Familie später umgezogen war. Dank der größeren Vertrautheit mit den eigenen Gefühlen war Johanna nun imstande, die Wut über den Betrug zu erleben und das Entsetzen über die Vergewaltigung in einem so frühen Alter in vollem Umfang zu fühlen. Am meisten brachte sie jetzt die Erkenntnis in Rage, dass sie in ihrer Fähigkeit, ihrem Instinkt zu folgen, so schwer geschädigt worden war. Das empfand sie als das größte Verbrechen ihrer Eltern. Sie sagte später: »Sie raubten mir meine Mütterlichkeit, als ich drei Monate alt war. Ich konnte zuerst mein Kind nicht stillen, obwohl ich es so stark wollte. « Es verging viel Zeit, bis es Johanna möglich wurde, sich mit ihren Eltern im inneren Dialog zu konfrontieren, die in ihrem Körper gespeicherte Wut und Empörung auszudrücken, ihre Rechte zu reklamieren und die Vergewaltigungen zu verarbeiten. Aber noch bevor dieser Prozess einsetzen konnte, führte die bloße Bereitschaft, die unfassbare Wahrheit zuzulassen, zum Absinken der Temperatur und zur Heilung ihrer Brüste. Sie war imstande, ihr Baby zu stillen, das sehr schnell lernte, auf die Flasche zu verzichten, obwohl die Säuglingsschwester dies für »völlig ausgeschlossen« gehalten hatte. Johanna genoss ihre Mutterschaft und ihr Glück, lieben zu können, ein unschuldiges Wesen lieben, beschützen, nähren, beruhigen und pflegen zu dürfen und dessen Bedürfnisse erraten zu können. Doch dieses Glück war immer wieder unterbrochen von Phasen des Zweifelns, ob sie nicht alles falsch mache, ob das Glück nicht ein böses Ende nehmen würde, ob sie sich in ihrer Freude so »gehen lassen« dürfe. Da sie früher Psychologie studiert hatte, fragte sie sich nun, ob sie nicht unter einem Zwang leide, ob sie nicht aus Egoismus das Kind gefährlich verwöhne usw. Die quälende Selbstkritik wurde noch unterstützt durch Ratschläge der Freunde, die der Meinung waren, dem Kind müsse man von Anfang an Grenzen setzen, damit es lerne, allein zu sein, sonst würde es zum Tyrannen heranwachsen. Obwohl Johanna diese Meinungen längst ablehnte, bei ihrem eigenen Kind gelang es ihr nicht, der so entstandenen Verunsicherung zu entgehen. Die Therapie half ihr immer wieder, sich zu orientieren, und immer wieder entdeckte sie, wie wichtig es ihr war, lieben zu dürfen und ihre Liebe gefahrlos zeigen zu können, ohne fürchten zu müssen, dass diese Liebe ausgebeutet, betrogen, vergewaltigt werde. Das gab ihr das Gefühl, wieder ganz zu sein, wie vor den Verletzungen, die so früh stattfanden. In ihren inneren Konfrontationen mit den Eltern musste sie ihnen oft sagen: »Ich liebe Michael, und ich will ihn lieben. Meine Seele braucht diese Liebe, wie mein Körper Luft braucht. Aber ich bin so oft in Gefahr, dieses Bedürfnis zu unterdrücken, ich brauche meine ganze Energie und meinen Intellekt für diese Unterdrückung, nur um mich von dieser Liebe zu ›befreien‹, die ich als ›falsch‹ verdächtige. Warum? Wie habt ihr mich dazu gebracht? Ihr habt mir so früh beigebracht, dass ein kleines Kind keinen Respekt verdient, dass es keine Person ist, dass es im besten Fall ein Spielzeug ist, mit dem man spielen kann, aber es auch beliebig bedrohen, ausbeuten und misshandeln darf, ohne die geringste Verantwortung dafür zu tragen. Es ist diese eure Botschaft, die mich so oft verunsichert, mir Gefühle von Stress und Überforderung verursacht, aber manchmal wage ich es immer noch nicht, meine Wut auf euch zu spüren, und richte sie auf mein Kind. Es ist so leicht zu denken, Michael würde mich am Leben, an meiner Freiheit hindern, denn er braucht mich jetzt ständig. Aber es ist nicht er. Ich muss nur in seine Augen schauen, seine Unschuld und Ehrlichkeit darin sehen, und ich weiß es: schon wieder benutze ich ihn als Sündenbock für euch. Ein geliebtes Kind lernt von Anfang an, was Liebe ist. Ein vernachlässigtes, missachtetes und ausgebeutetes Kind hat es nie lernen dürfen. Ich will es aber wissen, und ich lerne es mit Michael, langsam, jeden Tag neu, trotz eurer Botschaften. Ich weiß, dass ich eines Tages mit Sicherheit wissen werde, dass ich liebesfähig bin. «
Johannas Kampf um ihre wahren Gefühle retteten nicht nur die Zukunft ihres Kindes, sondern auch ihre eigene. Annas Geschichte zeigt, was einem früh sexuell missbrauchten Kind ohne diesen Kampf (ohne Therapie) geschehen kann. Anna, eine fünfzigjährige Frau, schrieb mir einige Tage vor ihrem Tod: »Ich hatte heute den Besuch meiner erwachsenen Kinder und realisierte zum ersten Mal in meinem Leben, dass ich von ihnen geliebt wurde, immer schon, und dass ich diese Liebe nie, bis zum heutigen Tag, gefühlt habe. Ich habe meine Kinder oft verlassen, mit unter-schiedlichen Männern, und war eigentlich auf der Flucht vor meiner Liebe zu meinen Kindern, auf der Flucht vor meinen wahren Gefühlen zur sexuellen Lust mit Männern, die mir soviel Schmerz zufügten und nie das gaben, was ich wirklich brauchte: Liebe, Verständnis, Annahme. Als Säugling wurde ich durch meinen Vater dazu konditioniert, Lust in Verbindung mit Schmerz und Wut zu suchen und die Sehnsucht nach der wahren Liebe zu fürchten und verdrängen, also Menschen, die liebesfähig waren, zu meiden. War das nicht eine Perversion? Ich konnte ihr nie entfliehen, mein Leben lang. Und jetzt, da ich sie sehe, ist es zu spät. « Seite 19 von 40
Es war zu spät, weil Anna zwar Wut und Empörung jetzt erleben konnte, aber nur ihren Partnern gegenüber. Ihren Vater »liebte« und respektierte sie nach wie vor, wie sie mir schrieb.
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DEPRESSIVE PHASEN WÄHREND DER THERAPIE Ein Grandioser wird nur dann eine Therapie aufsuchen, wenn ihm depressive Verstimmungen zu Hilfe kommen. Solange die grandiose Abwehr funktioniert, zeigt diese Form von Störung keinen sichtbaren Leidensdruck, außer, dass die Angehörigen (Ehepartner und Kinder) mit Depressionen und psychosomatischen Störungen psychotherapeutische Hilfe aufsuchen müssen. In der therapeutischen Arbeit begegnen wir der Grandiosität in ihrer Mischform mit der Depression; der Depression hingegen begegnen wir fast bei jedem unserer Patienten, sei es in Form eines manifesten Krankheitsbildes, sei es in den einzelnen Phasen von depressiver Verstimmung. Diese Phasen können verschiedene Funktionen haben. Ihnen gemeinsam ist, dass sie sich auflösen, wenn die angemahnten Gefühle und alten Situationen erlebt und geklärt werden konnten.
Signalfunktion Es kommt vor, dass eine Patientin mit Klagen über Depression hereinkommt und das Sprechzimmer später in Tränen aufgelöst, aber sehr erleichtert und ohne Depression verlässt. Vielleicht hat sie gerade eine lang zurückgestaute Wut erleben können oder dem lang der Mutter gegenüber gehegten Misstrauen endlich Ausdruck gegeben oder die Traurigkeit über so viele vergangene Jahre des ungelebten Lebens zum ersten Mal empfunden oder wieder einmal die Wut über bevorstehende Ferien der Therapeutin und die Trennung von ihr. Es spielt keine Rolle, welcher Art die Gefühle waren, wichtig war, dass sie erlebt werden konnten und so den Zugang zu verdrängten Erinnerungen ermöglichten. Die Depression hat ihre Nähe, aber auch ihre Verleugnung angekündigt. Ein gegenwärtiger Anlass hat den Durchbruch dieser Gefühle ermöglicht, worauf die depressive Stimmung verschwand. Eine solche Stimmung kann signalisieren, dass verleugnete Teile des Selbst (Gefühle, Phantasien, Wünsche, Ängste) sich verstärken, ohne eine Abfuhr in der Grandiosität gefunden zu haben. »Sich überfahren« Es gibt tief verletzte Menschen, die immer dann, wenn sie ganz nah an ihr Innerstes herangekommen sind und sich wohl und verstanden gefühlt haben, eine Party oder etwas anderes, ihnen im Moment völlig Gleichgültiges, organisieren, wo sie sich wieder einsam und überfordert fühlen. Nach einigen Tagen klagen sie über Selbstentfremdung, Leere und spüren vage, dass sie den Zugang zu sich selber verloren haben. Unbewusst wurden hier Zustände herbeigeführt, die in der Wiederholung zeigen konnten, wie es dem Kind früher ergangen ist: Wenn es sich im Spiel gespürt hatte, wenn es bei sich war, wurde es aufgerufen zu leisten, etwas »Gescheiteres« zu tun, und seine im Entstehen begriffene Welt wurde überfahren. Wahrscheinlich reagierten diese Patienten schon als Kinder mit einer depressiven Verstimmung, denn die normale Reaktion, in diesem Falle vielleicht die Wut, durften sie nicht riskieren. Wenn sich der Erwachsene Zeit nimmt, solche Anmahnungen in der Gegenwart aufzunehmen, um sie zu verarbeiten, dann kann sich, dank den erwachten Gefühlen, die Revolte einstellen, und das verdrängte Bedürfnis (bei sich zu bleiben) wird klar. Dass sich dann die Depression zurückbildet, ist eine fast automatische Folge: ihre Funktion der Abwehr wird nicht mehr benötigt. Auch das Agieren verliert in dem Augenblick seine Funktion, da man wissen darf, was man eigentlich wirklich braucht. In diesem Fall vielleicht Zeit für sich und keine Ablenkung durch Parties Mit starken Emotionen »schwanger gehen« Depressive Phasen können manchmal wochenlang anhalten, bevor starke Emotionen aus der Kindheit durchbrechen. Es war, als hätte die Depression diese Emotionen zurückgehalten. Werden sie erlebt, dann fühlt man sich wieder lebendig, bis eine neue depressive Phase etwas Neues ankündigt. Diese Zustände werden etwa so beschrieben: »Ich spüre mich nicht mehr, wie ist das möglich, dass ich mir wieder abhanden gekommen bin? Ich habe keine Verbindung mit meinem Inneren. Es ist doch alles hoffnungslos... Es wird doch nie besser. Alles hat keinen Sinn. Ich sehne mich nach meiner Lebendigkeit. « Dann kann ein Ausbruch von Wut folgen, mit starken Vorwürfen und Anklagen. Wenn diese Anklagen berechtigt sind, tritt eine große Erleichterung ein. Wenn sie aber ungerecht sind, weil auf unschuldige Personen verschoben, wird die Depression anhalten, bis die Klärung möglich wird. Auseinandersetzung mit den Eltern Es gibt auch Momente depressiver Verstimmung, nachdem jemand angefangen hat, sich den bisher im Unbewussten verdrängten Anforderungen seiner Eltern, z. B. nach Leistung, zu widersetzen, aber noch nicht wirklich davon frei ist. Da gerät er wieder einmal in die Sackgasse von sinnloser Überforderung, die er sich auferlegt hat, und die aufgetretene depressive Verstimmung macht ihn erst darauf aufmerksam. Das hört sich z. B. so an: »Vorgestern war ich glücklich, die Arbeit ging mir so leicht von der Hand, ich konnte für die Prüfung mehr machen, als ich mir für die ganze Woche vorgenommen habe. Da dachte ich mir, diese gute Stimmung musst du jetzt ausnützen, mach doch gerade am Abend auch noch ein Kapitel weiter. Ich arbeitete den ganzen Abend, aber schon lustlos, am nächsten Tag ging es überhaupt nicht mehr, ich kam mir wie der letzte Idiot vor, nichts haftete mehr in meinem Kopf. Auch Leute mochte ich keine sehen, es war wie die früheren Depressionen. Da habe ich ›zurückgeblättert‹ und fand die Stelle, wo es angefangen hat. Ich habe mir die Freude kaputtgemacht, als ich mir immer noch mehr aufladen wollte. Und warum? Da kam es mir in den Sinn, wie meine Mutter sagte: ›Wie schön hast du das gemacht, da könntest du gerade auch das noch. ‹... Ich bekam Wut und ließ die Bücher sein. Ich hatte plötzlich das Vertrauen, dass ich schon merken werde, wenn ich wieder Lust zum Arbeiten habe. Und ich habe es natürlich gemerkt. Aber die Depression ist noch früher verschwunden — da, wo ich merkte, dass ich mich wieder einmal überfahren hatte. «
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DAS INNERE GEFÄNGNIS Die depressive Verstimmung, die sich natürlich auch im psychosomatischen Leiden ausdrücken bzw. verbergen kann, kennt wahrscheinlich jeder Mensch aus eigener Erfahrung. Wenn man darauf achtet, ist es nicht schwer zu beobachten, dass sie fast regelmäßig auftaucht und die spontane Lebendigkeit hemmt, wenn ein eigener Impuls oder ein unerwünschtes starkes Gefühl unterdrückt worden ist. Wenn z. B. ein Erwachsener beim Verlust eines nahen Menschen keine Trauer erleben darf, sondern mit Hilfe von Zerstreuung den Kummer zu vergessen sucht, oder wenn er aus Angst, eine Freundschaft zu verlieren, seine Empörung über das Verhalten des idealisierten Freundes vor sich selber unterdrückt, muss er wahrscheinlich mit einer depressiven Verstimmung rechnen (es sei denn, die grandiose Abwehr stünde ihm ständig zur Verfügung). Denn die gegenwärtige Situation mahnt ihn an die frühere Abhängigkeit, die er in Verdrängung hält. Wenn er auf diesen Zusammenhang zu achten anfängt, kann er von seiner Depression profitieren; er kann von ihr hilfreiche Wahrheiten über sich selbst erfahren. Ein Kind hat diese Möglichkeit noch nicht. Der Mechanismus der Selbstverleugnung ist hier noch nicht zu durchschauen, andererseits ist das Kind von der Intensität seiner Gefühle ohne eine haltende, empathische Umgebung real bedroht, im Unterschied zum Erwachsenen. Aber auch dieser kann seine Gefühle wie ein Kind fürchten, solange ihm die Gründe dieser Angst nicht bewusst sind. Diese überaus starke Intensität der Gefühle ist nur in der Pubertät nochmals anzutreffen. Doch die Erinnerung an die Schmerzen der Pubertät, das Nicht-Begreifen und Nicht-einordnen-Können der eigenen Impulse bleibt unserem Gedächtnis meistens besser erhalten als die ersten Traumen, die sich oft hinter dem Bild einer idyllischen Kindheit oder hinter einer nahezu vollständigen Kindheitsamnesie verbergen. Dies mag wohl der Grund sein, warum erwachsene Menschen seltener mit Nostalgie an die Zeiten ihrer Pubertät zurückdenken als an ihre Kinderzeit. In der Mischung von Sehnsucht, Erwartung und Angst vor Enttäuschung, die bei vielen die aus der Kindheit bekannten Feste begleitet, spiegelt sich vermutlich die Suche nach der Gefühlsintensität der eigenen Kinderzeit. Aber gerade weil die Gefühle des Kindes so stark sind, kann ihre Unterdrückung nicht ohne schwerwiegende Folgen bleiben. Je stärker der Gefangene, um so dicker müssen die Gefängnismauern sein, die das spätere emotionale Wachstum erschweren oder gar verhindern. Haben wir mehrere Male die Erfahrung gemacht, dass der Durchbruch frühkindlicher intensiver Gefühle, von der spezifischen Qualität des Nicht-Verstehens geprägt, eine längere depressive Verstimmung ablösen kann, so ändert sich mit der Zeit unser Umgang mit den unerwünschten Gefühlen, vor allem mit dem Schmerz. Wir entdecken, dass wir nicht mehr zwangsläufig dem früheren Schema (Enttäuschung — Unterdrückung des Schmerzes - Depression) folgen müssen, weil wir nun noch eine andere Möglichkeit haben, mit Versagungen umzugehen, nämlich das Erlebnis des Schmerzes. Erst auf diesem Wege öffnet sich uns der emotionale Zugang zu unseren früheren Erlebnissen, d. h. zu den bisher verborgenen Teilen unseres Selbst und unseres Schicksals. Ein Patient hat diesen Sachverhalt in der Endphase seiner Therapie so ausgedrückt: »Es waren nicht die schönen und angenehmen Gefühle, die mir neue Einsichten vermittelten, sondern die, gegen die ich mich am meisten gewehrt habe: Gefühle, in denen ich mich schäbig, klein, böse, ohnmächtig, beschämt, anspruchsvoll, nachtragend oder verwirrt erlebte. Und vor allem traurig und einsam. Aber gerade nach diesen so lange gemiedenen Erlebnissen hatte ich die Gewissheit, etwas in meinem Leben von innen heraus verstanden zu haben, etwas, das ich in keinem Buch hätte finden können. «
Dieser Patient beschrieb eigentlich den Prozess der emotionalen Erkenntnis. Deutungen von Therapeuten, die die wahre Geschichte ihrer Kindheit nie entdeckt haben, können diesen Prozess stören, hemmen, hinauszögern, ja sogar verhindern bzw. zum intellektuellen Wissen einschrumpfen lassen. Denn der Patient ist sehr schnell bereit, seine Freude am Entdecken und am eigenen Ausdruck aufzugeben, um sich den Konzepten seines Therapeuten anzupassen — aus Angst, sich dessen Zuwendung, Verständnis und Empathie, auf die er sein Leben lang gewartet hat, zu verscherzen. Dass dies nicht immer so sein müsste, kann er, aufgrund seiner Erfahrungen mit den Eltern, nicht glauben. Wenn er aber dieser Angst nachgibt und sich anpasst, rutscht diese Behandlung in den Bereich des falschen Selbst, und das wahre bleibt verborgen und unentwickelt. Es ist deshalb ungemein wichtig, dass der Therapeut nicht aus seinem eigenen Bedürfnis heraus Zusammenhänge formulieren muss, die der Patient gerade im Begriff ist, mit Hilfe seiner Gefühle zu entdecken. Sonst verhält er sich wie ein Freund, der einem Gefangenen gerade in dem Augenblick gutes Essen in dessen Zelle bringen würde, in dem dieser die Möglichkeit hätte, die Zelle zu verlassen und die erste Nacht vielleicht ohne Schutz und hungernd, aber in Freiheit zu verbringen. Da dieser Schritt ins Ungewisse ohnehin viel Mut erfordert, kann es geschehen, dass der Gefangene seine Chance verpasst und im Gefängnis bleibt, sich mit seiner Mahlzeit und »Geborgenheit« tröstend. Wird aber das Bedürfnis des Patienten nach Entdeckung respektiert, so kann eine alte, nie erinnerte Situation erstmals bewusst erlebt, in ihrer ganzen Tragik zum ersten Mal wahrgenommen und schließlich betrauert werden. Es gehört zur Dialektik der Trauerarbeit, dass solche Erlebnisse die Selbstfindung einerseits fördern und andererseits zur Voraussetzung haben. Das Gegenstück der Depression innerhalb der Störung ist die Grandiosität. Deshalb kann ein Patient von der Depression zeitweise befreit werden, wenn die Therapeutin oder die therapeutische Gruppe ihn an ihrer eigenen Grandiosität teilhaben lassen, d. h., wenn sie dem Patienten ermöglichen, sich gewissermaßen als ihr Teil auch groß und stark zu fühlen. Die Störung bekommt dann zwar für eine gewisse Zeit ein anderes Vorzeichen, aber sie bleibt bestehen. Die Befreiung von beiden Formen der Störung wird jedoch ohne tiefgehende Trauer über die damalige Kindheitssituation kaum möglich sein. Die Fähigkeit zu trauern, d. h. auf die Illusion über die eigene »glückliche« Kindheit zu verzichten und das ganze Ausmaß an erlittenen Verletzungen fühlend wahrzunehmen, gibt dem Depressiven seine Lebendigkeit und Kreativität wieder und kann den Grandiosen von den Anstrengungen und der Abhängigkeit seiner Sisyphosarbeit befreien. Kann ein Mensch, in einem langen Prozess, erleben, dass er nie als das Kind, das er war, geliebt, sondernseiner Leistungen, Erfolge und Qualitäten wegen gebraucht wurde, dass er seine Kindheit für die angebliche »Liebe« geopfert hat, so wird ihn das zu großen inneren Erschütterungen führen, aber er wird eines Tages den Wunsch verspüren, mit seiner Werbung aufzuhören. Er wird in sich das Bedürfnis entdecken, sein wahres Selbst zu leben und sich nicht länger Liebe verdienen zu müssen, eine »Liebe«, die ihn im Grunde doch mit leeren Händen zurücklässt, weil sie dem falschen Selbst gilt, das er aufzugeben begonnen hat. Die Befreiung von der Depression führt nicht zu einer dauernden Fröhlichkeit oder zum vollständigen Mangel an Leiden, sondern zur Lebendigkeit, d. h. zur Freiheit, spontan auftretende Gefühle leben zu können. Es gehört zur Vielfalt des Lebendigen, dass diese Gefühle nicht immer heiter, »schön« und »gut« sein können, sondern die ganze Skala des Menschlichen offenbaren, d. h. auch Neid, Eifersucht, Wut, Empörung, Verzweiflung, Sehnsucht und Trauer. Aber diese Offenheit und Freiheit, Gefühle zuzulassen, was auch immer sie uns offenbaren, ist nicht zu erreichen, wenn ihre Wurzeln in der Kindheit abgeschnitten wurden. So wird uns manchmal Seite 22 von 40
der Zugang zu unserem wahren Selbst erst dann möglich, wenn die Gefühlswelt unserer frühen Kindheit nicht mehr gefürchtet werden muss. Nachdem sie erlebt worden ist, ist sie uns nicht mehr fremd und bedrohlich. Sie ist uns bekannt und vertraut und muss nicht mehr hinter den Gefängnismauern der Illusion verborgen bleiben. Wir wissen, wer und was uns verrückt (gemacht) hat, und gerade dieses Wissen macht uns frei. Letztlich auch frei von alten Schmerzen. Viele Ratschläge für den »Umgang« mit depressiven Patienten tragen deutlich manipulativen Charakter. Manche Psychiater meinen, man solle dem Patienten zeigen, dass seine Hoffnungslosigkeit nicht rational ist, oder man solle ihm seine Überempfindlichkeit bewusst machen. Ein solches Vorgehen würde meines Erachtens das falsche Selbst und die emotionale Anpassung, d. h. im Grunde auch die Depression, unterstützen. Wollen wir das aber nicht, so müssen wir alle Gefühle des Patienten ernst nehmen. Gerade seine Überempfindlichkeit, seine Scham, seine Selbstvorwürfe (wie häufig weiß ein depressiver Patient, dass er überempfindlich reagiert, und wie klagt er sich deswegen an!) ergeben ja den roten Faden der alten Gefühle und der wirklichen, verborgenen Klage, auch wenn er noch nicht verstehen kann, auf was sie sich wirklich beziehen. Das Gefühl der Hoffnungslosigkeit mag nämlich sehr genau zu der realen kindlichen Situation passen. Je unrealistischer diese Gefühle sind, je weniger sie zur jetzigen Realität passen, um so deutlicher zeigen sie an, dass sie auf unbekannte Situationenreagieren, die es noch zu entdecken gilt. Wird aber das betreffende Gefühl nicht erlebt, sondern »ausgeredet«, dann bleibt auch die Entdeckung aus, und die Depression kann nun ihre Triumphe feiern. Der 40jährigen Pia, die in ihrer Kindheit schwer misshandelt worden war, wurde es nach einer langen depressiven Phase, begleitet von Suizidgedanken, endlich möglich, ihre heftige, lange unterdrückte Wut auf den Vater zu erleben und zu berechtigen. Darauf folgte zunächst keine sichtbare Erleichterung, sondern eine Zeit voller Trauer und Tränen. Am Ende dieser Periode sagte sie: »Die Welt hat sich nicht geändert, es gibt so viel Böses und Gemeines um mich herum, und ich sehe es noch schärfer als früher. Und trotzdem - zum ersten Mal finde ich das Leben wirklich lebenswert. Vielleicht, weil ich den Eindruck habe, dass ich zum ersten Mal mein eigenes Leben lebe. Und das ist ein spannendes Abenteuer. Aber ich verstehe jetzt besser meine Suizidgedanken, besonders in der Jugend. Es kam mir sinnlos vor, weiterzumachen... eigentlich weil ich irgendwie ein fremdes Leben gelebt hatte, das ich gar nicht wollte und das hinzuwerfen ich so leicht bereit war. «
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EIN SOZIALER ASPEKT DER DEPRESSION Man könnte sich die Frage stellen: Muss denn die Anpassung notwendigerweise zur Depression führen? Könnte es nicht sein und gibt es keine Beispiele dafür, dass emotional angepasste Menschen ganz zufrieden leben? Solche Fälle gab es vielleicht in der Vergangenheit. In Kulturen, die noch in einem von anderen abgeschirmten Wertsystem weiterlebten, war ein angepasster Mensch zwar nicht autonom, hatte auch nicht ein eigenes, individuelles Identitätsgefühl, das ihm Halt verliehen hätte, aber er hatte den Halt in der Gruppe. Natürlich gab es auch da Ausnahmen, denen das nicht genügte und die stark genug waren, um auszubrechen. Heute aber ist eine derartige Abkapselung einer Gruppe von anderen, mit anderen Wertmaßstäben, kaum mehr möglich. Das erfordert einen Halt des einzelnen in sich selber, wenn er nicht zum Spielball verschiedener Interessen und Ideologien werden will. Es gibt zwar heute zahlreiche Gruppen, die sich therapeutisch nennen und die diese »Stärkung« des Mitglieds als ihre therapeutische Aufgabe ansehen. Es kann sogar eine Sucht nach der Gruppe entstehen, weil diese ein Gefühl des Gehaltenwerdens vermittelt und die Illusion unterstützt, dass die verdrängten Bedürfnisse des Kindes nach Liebe, Verständnis und Sicherheit doch noch, und zwar von der Gruppe, befriedigt werden können. Doch auch diese »Droge« kann auf Dauer die Depression nicht auflösen, solange die kindlichen Gefühle hier unterdrückt werden. Der Halt im eigenen Selbst, d. h. im Zugang zu den eigenen wirklichen Bedürfnissen und Gefühlen und die Möglichkeit, sie zu artikulieren, bleibt für den einzelnen notwendig, wenn er ohne Depression und Sucht leben will. Auch im angepassten Kind schlummern Kräfte, die dieser Anpassung Widerstand leisten. In der Pubertät wählen manche Jugendliche neue Werte, die denjenigen der Eltern entgegengesetzt sind, sie bilden also neue Ideale und suchen sie zu verwirklichen. Wenn aber dieses Suchen nicht im Empfinden der eigenen echten Bedürfnisse und Gefühle verwurzelt ist, wird dieser Jugendliche sich neuen Idealen in einer ähnlichen Weise anpassen wie früher den Eltern. Er wird wieder sein wahres Selbst verleugnen, um von der Gruppe der Gleichaltrigen oder vom Partner anerkannt und geliebt zu werden. Doch all das hilft nicht wirklich gegen die Depression. Denn auch als Erwachsener ist dieser Mensch nicht er selbst, weder kennt noch liebt er sich; er tut alles, um von jemandem so geliebt zu werden, wie er es einst als Kind dringend gebraucht hätte. Und er hofft, dies mit Anpassung endlich zu bekommen. Die zwei folgenden Beispiele können eine solche Entwicklung veranschaulichen. 1. Paula, 28, möchte sich von ihrer patriarchalischen Familie lösen, in der die Mutter dem Vater hörig war. Sie heiratet einen unterwürfigen Mann, scheint alles anders als ihre Mutter gemacht zu haben. Der Mann lässt es sich gefallen, dass sie mit ihren Freunden in der Wohnung schläft. Sie selber verbietet sich Gefühle von Eifersucht und Zärtlichkeit und möchte mit vielen Männern verkehren können, ohne sich gefühlsmäßig zu binden, um sich wie ein Mann autonom zu fühlen. Paulas Bedürfnis nach »Fortschrittlichkeit« geht aber so weit, dass sie sich von ihren Freunden, wenn diese Lust danach haben, misshandeln und erniedrigen lässt, alle ihre Gefühle von Kränkung und Wut dabei unterdrückend, in der Meinung, dass sie auf diese Weise frei von Vorurteilen und modern sei. So hat sie ihren Kindergehorsam in diese Beziehungen hineingerettet, aber auch die Hörigkeit ihrer Mutter unbewusst übernommen. Da sie unter schweren Depressionen und unter Alkoholabhängigkeit litt, begann sie mit einer aufdeckenden Therapie, die ihr erlaubt hat, zu fühlen, was diese Hörigkeit der Mutter in ihr bewirkt hatte. Diese direkten inneren Konfrontationen mit der Mutter ermöglichten ihr, mit der Zeit nicht länger die Haltung ihrer Mutter unbewusst und zwanghaft in ihren Partnerbeziehungen einzunehmen und endlich Menschen lieben zu dürfen, die ihrer Liebe würdig waren. 2. Amar, 40, Kind einer afrikanischen Familie, ist allein bei der Mutter aufgewachsen; der Vater starb, als er noch sehr klein war. Die Mutter besteht auf dem Einhalten bestimmter Formen und lässt das Kind in keiner Weise seine kindlichen Bedürfnisse spüren, geschweige denn ausdrücken. Andererseits massiert sie seinen Penis regelmäßig bis zur Pubertät, angeblich auf Rat der Ärzte hin. Als Erwachsener trennt sich der Sohn von seiner Mutter und ihrer Welt und heiratet eine Europäerin, die zudem einer völlig anderen Gesellschaftsschicht angehört hat als seine Eltern. Es ist nicht einem Zufall, sondern seiner in seinem Körper gespeicherten, aber ihm unbewusst gebliebenen Kindheitsgeschichte zuzuschreiben, dass er eine Frau gewählt hat, die ihn im höchsten Maße quält, erniedrigt, verunsichert, und dass er ihr in keiner Weise standhalten noch sie verlassen kann. Diese qualvolle Ehe ist, wie das andere Beispiel, ein Versuch, aus dem sozialen System der Eltern mit Hilfe eines anderen Systems auszubrechen. Der erwachsene Mann konnte sich zwar von der Mutter seiner Adoleszenz befreien, blieb aber emotional an das unbewusst gebliebene Mutterbild seiner Kindheit gebunden, das die Ehefrau ihm ersetzte, solange er die damaligen Gefühle nicht erleben konnte. In der Therapie war es für ihn zwar entsetzlich schmerzhaft zu realisieren, in welchem Maße er als Kind die Mutter bewundert und sich zugleich in seiner Hilflosigkeit von ihr missbraucht gefühlt hatte, wie er sie geliebt und gehasst hatte und ihr ausgeliefert gewesen war. Das Erlebnis dieser Gefühle hatte jedoch zur Folge, dass er seine Frau nicht mehr fürchten musste und zum ersten Mal wagte, sie zu sehen, wie sie wirklich war. Das Kind muss sich anpassen, um sich die Illusion der Liebe, der Zuwendung, des Wohlwollens zu erhalten. Der Erwachsene braucht diese Illusion nicht mehr zum Überleben. Er kann die Blindheit aufgeben, um sehend sein Handeln zu bestimmen. Sowohl der Grandiose wie der Depressive verleugnen die Realität ihrer Kindheit vollständig, indem sie so leben, als ob die Verfügbarkeit der Eltern noch zu retten wäre: der Grandiose in der Illusion des Gelingens, der Depressive jederzeit in der Angst, die Zuwendung durch eigenes Verschulden zu verlieren. Aber beide können die Wahrheit nicht zulassen, dass keine Liebe in der Vergangenheit vorhanden war und dass keine Anstrengung der Welt diese Tatsache je wird ändern können.
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DIE SAGE VON NARZISSOS Die Sage von Narzissos schildert die Tragik des Selbstverlustes, der sogenannten narzisstischen Störung. Der sich im Wasser spiegelnde Narzissos ist in sein schönes Antlitz verliebt, auf das seine Mutter sicher stolz war. Auch Nymphe Echo beantwortet die Rufe des Jünglings, in dessen Schönheit sie verliebt ist. Echos Rufe täuschen den Narzissos. Auch sein Spiegelbild täuscht ihn, indem es nur den vollkommenen, großartigen Teil von ihm spiegelt, nicht aber die anderen Seiten. Seine Rückenseite z. B. und sein Schatten bleiben ihm verborgen, gehören nicht zum geliebten Spiegelbild, werden ausgeklammert. Dieses Stadium des Entzückens ist mit der Grandiosität vergleichbar wie das nächste — die verzehrende Sehnsucht nach sich selbst — mit der Depression. Narzissos wollte nichts anderes als der schöne Jüngling sein, verleugnete total sein wahres Selbst, wollte sich mit dem schönen Bild vereinigen. Das führt zur Selbstaufgabe, zum Tod bzw. — in der Darstellung von Ovid — zur Verwandlung in die Blume. Dieser Tod ist eine logische Konsequenz der Fixierung auf das falsche Selbst. Denn es sind nicht nur die »schönen«, »guten«, die gefälligen Gefühle, die uns lebendig sein lassen, unser Dasein vertiefen und uns entscheidende Einsichten gewähren, sondern oft gerade die unbequemen, unangepassten, die wir am liebsten fliehen möchten: Ohnmacht, Scham, Neid, Eifersucht, Verwirrung, Wut, Trauer. Im Raum der Therapie können diese Gefühle erlebt, verstanden und zugeordnet werden. Insofern ist dieser Raum ein Spiegel der inneren Welt, die viel reicher ist als das »schöne Antlitz«. Der Narzissos ist in sein idealisiertes Bild verliebt, aber weder der grandiose noch der depressive »Narzissos« kann sich wirklich lieben. Seine Begeisterung für sein falsches Selbst verunmöglicht ihm nicht nur die Liebe zum anderen, sondern auch, allem Anschein zum Trotz, die Liebe zu dem einzigen Menschen, der ihm voll und ganz anvertraut ist — zu ihm selber.
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III. DER TEUFELSKREIS DER VERACHTUNG
DIE DEMÜTIGUNG DES KINDES, DIE VERACHTUNG DER SCHWÄCHE UND WIE GEHT ES DAMIT WEITER? BEISPIELE AUS DEM ALLTAG Während eines Ferienaufenthaltes kreisten meine Gedanken um das Thema »Verachtung«, und ich las verschiedene Notizen, die ich mir früher zu diesem Thema gemacht habe. Dieser meiner Sensibilisierung ist es wahrscheinlich zuzuschreiben, dass ich eine banale Szene ohne spektakuläre Ereignisse, wie sie sich vermutlich häufig abspielt, viel stärker als sonst erlebte. Ich werde mit der Beschreibung dieser Szene meine Überlegungen einleiten, weil ich an ihr ohne Gefahr der Indiskretion Einsichten illustrieren kann, die ich in meiner Arbeit gewonnen habe. Auf einem Spaziergang ging vor mir ein junges Ehepaar, beide groß gewachsen, neben ihnen lief ein kleiner, ca. zweijähriger Junge und quengelte. (Wir sind gewohnt, solche Situationen vom Erwachsenen aus zu sehen, und ich möchte hier absichtlich versuchen, sie vom kindlichen Erlebnis her zu schildern. ) Die beiden hatten sich soeben am Kiosk ein Eis am Stiel gekauft und schleckten genüsslich daran. Der Kleine wollte auch ein solches Eis haben. Die Mutter sagte liebevoll: »Komm, du darfst von meinem einmal abbeißen, das Ganze ist zu kalt für dich. « Das Kind wollte nicht abbeißen, es streckte die Hand nach dem Stiel aus, den die Mutter ihm entzog. Es weinte verzweifelt, und nun wiederholte sich die gleiche Situation mit dem Vater: »Da, Mäuschen«, sagte der Vater liebevoll, »du darfst bei mir abbeißen. « »Nein, nein«, rief das Kind, fing wieder an zu laufen, wollte sich ablenken, kam aber immer wieder zurück und schaute neidisch und traurig hoch hinauf, wo die beiden Großen zufrieden und solidarisch ihr Eis genossen. Immer wieder bot ihm eines der Eltern einen Biss an, immer wieder streckte das Kind sein Händchen nach dem Eis aus, und dann zog sich die erwachsene Hand mit dem Reichtum zurück. Und je mehr das Kind weinte, um so mehr amüsierten sich die Eltern. Sie mussten sehr lachen und hofften, mit diesem Lachen auch das Kind erheitern zu können: »Guck mal, es ist doch gar nicht so wichtig, was machst du da für ein Theater. « Einmal setzte sich das Kind auf den Boden, mit dem Rücken zu den Eltern, und fing an, kleine Kieselsteine hinter sich in Richtung auf die Mutter zu werfen, aber stand dann plötzlich auf und schaute beunruhigt, ob die Eltern noch da waren. Als der Vater an seinem Stiel alles gründlich abgeschleckt hatte, gab er ihn dem Kind und ging weiter. Der Junge versuchte erwartungsvoll, an dem Stück Holz zu schlecken, schaute es an, warf es weg, wollte es wieder aufheben, tat es nicht, und ein tiefes, einsames Aufschluchzen voll Enttäuschung erschütterte sein Körperchen. Dann trottete er brav hinter seinen Eltern her. Es schien mir klar zu sein, dass der kleine Junge nicht in seinem »oralen Triebwunsch« frustriert wurde, denn er hätte ja mehrmals abbeißen können, aber er wurde trotzdem dauernd gekränkt und frustriert. Es wurde nicht verstanden, dass er den Stiel wie die anderen in der Hand haben wollte, ja noch mehr — es wurde darüber gelacht, man hat sich über sein Bedürfnis lustig gemacht. Er stand zwei Riesen gegenüber, die sich, stolz auf ihre Konsequenz, gegenseitig noch unterstützten, während er mit seinem Schmerz ganz allein war, außer »nein« offenbar noch nichts sagen konnte und sich mit seinen Gesten (die sehr ausdrucksstark waren) bei diesen Eltern nicht verständlich machen konnte. Er hatte keinen Anwalt. Wie ungerecht ist diese Situation, dass ein Kind zwei stärkeren Erwachsenen gegenübersteht, wie vor einer Mauer; wir nennen es »Konsequenz in der Erziehung«, wenn wir es dem Kind verweigern, sich bei einem Elternteil über den anderen zu beklagen. Man kann sich fragen, warum sich diese Eltern so unempathisch verhalten haben. Warum kam keiner von ihnen auf die Idee, entweder schneller zu essen oder sogar die Hälfte des Eises wegzuwerfen, um den noch essbaren Rest dem Kinde mit dem Stiel zu geben? Warum standen beide lachend da, aßen so langsam und zeigten sich so unberührt von der Verzweiflung ihres Kindes, die so offenkundig war? Es waren keine bösen oder kalten Eltern, der Vater sprach sehr zärtlich mit dem Kind. Und trotzdem zeigten sie einen Mangel an Empathie, mindestens in diesem Moment. Man kann sich dieses Rätsel nur erklären, wenn man die Sensibilität dafür aufbringen will, auch sie als unsichere Kinder zu sehen, die nun endlich ein schwächeres Wesen haben, bei dem sie sich stärker fühlen können. Welches Kind hat es nicht erfahren, dass man sich z. B. über seine Angst lustig gemacht hat, indem man ihm sagte: »Vor so was brauchst du dich doch nicht zu fürchten. « Das Kind fühlt sich dann beschämt und verachtet, weil es die Gefahr nicht hatte abschätzen können, und wird diese Gefühle bei der nächsten Gelegenheit einem noch kleineren Kind weitergeben. Solche Erlebnisse gibt es in allen Schattierungen und Nuancen. Ihnen allen ist gemeinsam, dass die Angst des schwachen und hilflosen Kindes dem Erwachsenen das Gefühl von Stärke gibt, auch die Möglichkeit, die Angst (im anderen) zu manipulieren, was er mit der eigenen Angst ja nicht tun kann. Es ist auch nicht daran zu zweifeln, dass unser kleiner Junge in zwanzig Jahren — oder früher schon mit Geschwistern — seine Geschichte mit dem Eis nochmals spielen wird, aber sicher wird er dann der Besitzer sein und der andere das hilflose, neidische, ohnmächtige, kleine Geschöpf, das man nun endlich nicht mehr in sich tragen muss, sondern abspalten und draußen platzieren kann. Die Verachtung für diesen Kleineren, Schwächeren ist so der beste Schutz gegen den Durchbruch der eigenen Gefühle der Ohnmacht, sie ist Ausdruck der abgespaltenen Schwäche. Der Starke, der um seine Ohnmacht weiß, weil er sie erlebt hat, braucht nicht mit Verachtung Stärke zu demonstrieren. Die Gefühle der Ohnmacht, Eifersucht und Verlassenheit werden vom Erwachsenen manchmal erst bei seinem Kind erfahren, weil er in seiner eigenen Kindheit keine Chance hatte, sie bewusst zu erleben. Ich habe früher einen Patienten geschildert, der zwanghaft Frauen erobern, verführen und verlassen musste, bis er das eigene wiederholte Verlassenwerden durch seine Mutter erleben konnte. In dieser Zeit erinnerte er sich daran, dass er häufig ausgelacht wurde, und erlebte zum ersten Mal die Gefühle der Demütigung und Erniedrigung von damals. Das alles war ihm bisher verborgen geblieben. Die nicht gelebten Schmerzen kann man »loswerden«, wenn man sie an das eigene Kind delegiert. In der Art etwa wie in der oben geschilderten Szene mit dem Eis: »Siehst du, wir sind groß, wir dürfen, für dich ist es ›zu kalt‹, erst wenn du groß genug bist, darfst du so ungestört genießen wie wir.« Es ist nicht die Triebversagung, die das Kind demütigt, sondern die Verachtung seiner Person. Das Leiden wird dadurch verstärkt, dass die Eltern durch ihr demonstratives »Großsein« am Kind für ihre eigenen Kränkungen unbewusst Rache nehmen. In seinen neugierigen Augen begegnen sie der eigenen demütigenden Vergangenheit und müssen sie mit der nun erlangten Macht abwehren. Wir können uns selbst bei bestem Willen nicht von den Mustern befreien, die wir so früh von unseren Eltern gelernt haben. Aber wir werden von ihnen frei, sobald wir uns erlaubt haben, zu fühlen und voll wahrzunehmen, wie wir unter diesen Mustern gelitten haben. Dann sind wir erst in der Lage, voll zu erkennen, wie destruktiv diese Muster waren, auch wenn man ihnen heute noch häufig begegnet. Seite 27 von 40
In vielen Gesellschaften werden die kleinen Mädchen zusätzlich noch als Mädchen diskriminiert. Da die Frauen aber die Macht über das Neugeborene und den Säugling haben, geben die ehemaligen Mädchen diese erlittene Verachtung ihrem Kind in seinem zartesten Alter weiter. Der erwachsene Mann idealisiert dann seine eigene Mutter, weil jeder Mensch an der Vorstellung hängt, wirklich geliebt worden zu sein, und verachtet die anderen Frauen, an denen er anstelle der Mutter Rache nehmen kann. Und diese wiederum, die erwachsenen, gedemütigten Frauen, haben meist keine andere Möglichkeit, ihre Last abzuladen, als sie dem eigenen Kind aufzubürden. Da darf alles im verborgenen und straflos geschehen; das Kind kann es ja nirgends erzählen, außer vielleicht später in einer Perversion oder Zwangsneurose, deren Sprache aber verschlüsselt genug ist, um die Mutter nicht zu verraten. Die Verachtung ist die Waffe des Schwachen und der Schutz gegen Gefühle, die die eigene Geschichte anmahnen. Und am Ursprung jeder Verachtung, jeder Diskriminierung ist die mehr oder weniger bewusste, unkontrollierte, verborgene und von der Gesellschaft (außer bei Totschlag oder bei schweren körperlichen Misshandlungen) tolerierte Machtausübung des Erwachsenen über das Kind. Was der Erwachsene mit der Seele seines Kindes macht, bleibt ganz ihm überlassen, er behandelt sie, als wäre sie sein Eigentum, ähnlich ergeht es Bürgern eines totalitären Staates. Aber der Erwachsene ist ihm nie in diesem Ausmaß ausgeliefert wie ein Säugling seinen Eltern, die seine Rechte missachten. Solange wir uns nicht für die Leiden des kleinen Kindes sensibilisieren, bleibt diese Machtausübung von niemandem beachtet, wird von niemandem ernst genommen und durchwegs bagatellisiert, denn es sind ja »nur Kinder«. Aber aus diesen Kindern werden in zwanzig Jahren Erwachsene, die ihren eigenen Kindern alles das zurückzahlen. Sie mögen bewusst Grausamkeit »in der Welt« bekämpfen und sie doch zugleich unbewusst in ihrem Umkreis anderen zufügen, weil sie in sich ein Wissen von der Grausamkeit tragen, zu dem sie keinen Zugang mehr haben, ein Wissen, das hinter Idealisierungen einer schönen Kindheit verborgen bleibt und sie zu destruktiven Aktionen treibt. Es ist dringend notwendig, dass diese »Vererbung« der Destruktivität von einer Generation auf die nächste durch emotionale Bewußtmachung aufgelöst wird. Ein Mensch, der ohrfeigt oder schlägt oder bewusst beleidigt, weiß, dass er dem anderen weh tut, auch wenn er nicht weiß, warum er dies tut. Aber wie oft waren unsere Eltern und wir selber völlig ahnungslos darüber, wie schmerzlich, wie tief und wie nachhaltig wir das keimende Selbst unserer Kinder verletzt haben. Es ist ein großes Glück, wenn unsere Kinder das merken, es uns sagen können, wenn sie uns die Chance geben, unsere Versäumnisse und Verfehlungen zu sehen und uns zu entschuldigen. Dann wird es unseren Kindern möglich sein, die seit Generationen überlieferten Ketten der Macht, Diskriminierung und Verachtung abzulegen. Sie werden es nicht mehr nötig haben, Ohnmacht mit Macht abzuwehren, wenn ihnen die frühe Ohnmacht und Wut zum bewussten Erlebnis geworden sind. In den meisten Fällen aber bleibt dem Menschen sein eigenes Kindheitsleiden emotional verborgen und bildet gerade deshalb die verborgene Quelle neuer, manchmal sehr subtiler Demütigungen in der nächsten Generation. Verschiedene Abwehrmechanismen stehen uns da zur Verfügung, wie Verleugnung (z. B. des eigenen Leidens), Rationalisierung (»Ich schulde meinem Kind eine Erziehung«), Verschiebung (»Nicht mein Vater, sondern mein Sohn tat mir weh«), Idealisierung (»Vaters Schläge haben mir gut getan«) usw., aber vor allem der Mechanismus der Umkehr des passiven Leidens in aktives Verhalten. Die folgenden Beispiele illustrieren, wie auffallend ähnlich Menschen ihr Kinderschicksal abwehren, obwohl sie in ihrer Persönlichkeitsstruktur und im Bildungsgrad beträchtliche Unterschiede aufweisen. Ein griechischer Bauernsohn, etwa dreißig Jahre alt, Besitzer eines kleinen Restaurants in Westeuropa, erzählt mit Stolz, dass er keinen Alkohol trinke und diese Enthaltsamkeit seinem Vater verdanke. Als er einmal im Alter von fünfzehn Jahren betrunken nach Hause kam, sei er vom Vater so fest geschlagen worden, dass er sich eine Woche nicht hätte bewegen können. Seitdem sei ihm der Alkohol so zuwider, dass er nie mehr einen Tropfen in den Mund nehmen könne, obwohl er in seinem Beruf dauernd damit umgehe. Als ich hörte, dass er bald heiraten wolle, fragte ich ihn, ob er seine Kinder auch schlagen werde. »Natürlich«, gab er zur Antwort, »nur mit Schlägen kann man ein Kind richtig erziehen; es ist die beste Methode, um sich Respekt zu verschaffen. In der Gegenwart meines alten Vaters würde ich z. B. niemals rauchen, obwohl er selber raucht — das ist ein Zeichen meines Respektes für ihn. « Dieser Mann wirkte weder dumm noch unsympathisch, aber er besaß keine große Schulbildung. Man konnte sich der Illusion hingeben, dass eine intellektuelle Aufklärung dem Prozess der seelischen Zerstörung einmal entgegenwirken würde. Doch wie steht es mit dieser Illusion im nächsten Beispiel, das von einem gebildeten Menschen handelt? Ein talentierter tschechischer Schriftsteller liest in den siebziger Jahren in einer Stadt der Bundesrepublik aus seinen Werken. Anschließend entwickelt sich eine Plauderei mit dem Publikum, während der ihm Fragen über sein Leben gestellt werden, die er unbefangen beantwortet. Obwohl er sich seinerzeit für den Prager Frühling engagiert habe, genieße er jetzt einen großen Freiheitsraum und könne auch häufig in den Westen reisen, berichtet er. Er schildert in der Folge die Entwicklung seines Landes in den letzten Jahren. Auf seine Kindheit angesprochen, erzählt er mit vor Begeisterung glänzenden Augen von seinem sehr begabten und vielseitigen Vater, der ihn geistig gefördert habe und ihm ein wahrer Freund gewesen sei. Nur dem Vater habe er seine ersten Erzählungen zeigen können. Der Vater war sehr stolz auf ihn, und auch, wenn er ihn schlug, was er oft als Strafe für die von der Mutter genannten Vergehen tat, war er stolz, wenn sein Sohn nicht weinte. Da es für Tränen zusätzliche Schläge gab, lernte das Kind, Tränen zu schlucken, und war selbst stolz darauf, dem bewunderten Vater mit seiner Tapferkeit ein so großes Geschenk machen zu können. Dieser Mann sprach über das regelmäßige Geschlagenwerden, als ob es sich hier um das Normalste der Welt handelte (was es für ihn natürlich auch war), und sagte dann: »Es hat mir nicht geschadet, es hat mich für das Leben vorbereitet, mich hart gemacht, mich gelehrt, auf die Zähne zu beißen. Und deshalb konnte ich mich beruflich so gut entwickeln. « Und deshalb, könnte man hinzufügen, hatte er sich dem kommunistischen Regime so gut anpassen können. Im Unterschied zu dem zitierten tschechischen Schriftsteller erzählt der Filmregisseur Ingmar Bergman in einer Fernseh-Sendung ganz bewusst und mit viel mehr (wenn auch nur intellektuellem)Verständnis für die Zusammenhänge über seine Kindheit, die, wie er sich ausdrückte, eine Geschichte von Demütigungen war; Demütigung war das Hauptmittel seiner Erziehung. So musste er z. B., wenn seine Hosen nass waren, den ganzen Tag ein rotes Kleid tragen, damit alle es sehen konnten und er sich schämen musste. Er war der jüngere von zwei Söhnen eines protestantischen Pastors. Im Fernseh-Interview schildert er eine Szene, die sich in seiner Kindheit öfters abgespielt habe: Sein älterer Bruder wird vom Vater auf den Rücken geschlagen. Seine Mutter tupft den blutenden Rücken des Bruders mit Watte ab. Er selber sitzt und schaut zu. Diese Szene erzählt Bergman ohne Erregung, ganz kühl. Man sieht ihn als Kind ruhig sitzen und zuschauen. Er ist sicher nicht davongelaufen, hat die Augen nicht zugemacht, hat nicht geschrieen. Man bekommt den Eindruck, dass sich diese Szene zwar auch real abgespielt hat, aber zugleich eine Deckerinnerung ist für das, was ihm selbst widerfahren ist. Denn es ist kaum anzunehmen, dass Seite 28 von 40
dieser Vater nur den Bruder geschlagen hat. Viele Menschen sind lange davon überzeugt, dass Demütigungen nur ihren Geschwistern zuteil wurden. Erst in der aufdeckenden Therapie können sie mit Gefühlen von Wut und Ohnmacht, aber auch Zorn und Empörung erinnern und erleben, wie gedemütigt und verlassen sie sich selber gefühlt hatten, als sie vom geliebten Vater geschlagen wurden. Aber Bergman hatte noch eine andere Möglichkeit des Umgangs mit seinem Leiden als die Verschiebung und Verleugnung — er hat Filme gemacht und die abgewehrten Gefühle an den Zuschauer delegiert. Man könnte sich vorstellen, dass wir als Zuschauer im Kino die Gefühle zu spüren bekommen, die er als Kind eines solchen Vaters damals nicht hat offen leben können und die er doch in sich aufbewahrt hat. Wir sitzen vor der Leinwand, wie der kleine Junge damals, werden mit der Grausamkeit konfrontiert, die »unserem Bruder« widerfährt und fühlen uns kaum imstande oder gewillt, die ganze Brutalität mit authentischen Gefühlen in uns aufzunehmen. Wir wehren sie ab. Wenn Bergman dann mit Bedauern berichtet, dass er bis 1945 den Nationalsozialismus nicht durchschauen konnte, obwohl er in der Hitlerzeit oft nach Deutschland gereist war, dann scheint mir das eine Konsequenz aus dieser Kindheit zu sein. Grausamkeit war ja die vertraute Luft, die er von Kind auf einzuatmen hatte. Wie hätte sie ihm auffallen können? Warum habe ich drei Beispiele von Männern gebracht, die geschlagen wurden? Sind es nicht Grenzsituationen? Will ich mich mit den Folgen des Schiagens befassen? Nein, keineswegs. Wir können ruhig annehmen, dass dies krasse Ausnahmen waren. Ich habe diese Beispiele gewählt, zum Teil, weil sie mir nicht als Geheimnisse anvertraut, sondern der Öffentlichkeit bereits preisgegeben worden sind, vor allem aber, um zu zeigen, dass auch die schwersten Misshandlungen dank der stark idealisierenden Tendenz des Kindes verdeckt bleiben. Es gibt kein Gericht, keinen Staatsanwalt, kein Urteil, alles bleibt im Dunkel der Vergangenheit verborgen, und wenn Tatsachen bekannt werden, dann erscheinen sie unter dem Namen von Wohltaten. Ist das aber so in den krassesten Fällen von körperlichen Misshandlungen, wie soll dann die seelische Quälerei auffindbar sein, die ja ohnehin weniger sichtbar und viel mehr umstritten bleibt? Wer wird schon die subtilen Erniedrigungen, wie sie im Beispiel des kleinen Jungen mit dem Eis in Erscheinung traten, wirklich ernst nehmen? Sie offenbaren sich aber ausnahmslos in allen Therapien der Erwachsenen, sobald diese gelernt haben, ihre Gefühle zuzulassen. Die Ausbeutung des Kindes durch die Eltern führt zu einer langen Reihe sexueller und nichtsexueller Misshandlungen und Demütigungen, die das Kind später als Erwachsener (oft selber bereits Vater oder Mutter) in der Therapie erst mühsam entdeckt. Ein Vater, der in einer puritanischen Umgebung aufgewachsen ist, wird unter Umständen in seinen ehelichen Sexualbeziehungen sehr gehemmt sein, und sich z. B. beim Baden seines kleinen Mädchens zum ersten Mal wirklich trauen, das weibliche Genitale genau anzuschauen, mit ihm zu spielen und eine Erregung dabei zu verspüren. Eine Mutter, die als kleines Mädchen sexuell missbraucht wurde, die durch den erigierten Penis erschreckt und erniedrigt wurde, entwickelte Angst vor dem männlichen Genitale. — Eine solche Mutter kann unter Umständen erst bei ihrem winzigen Sohn ihre Angst in den Griff bekommen. Sie kann z. B. das Kind nach dem Baden so »abtrocknen«, dass es eine Erektion bekommt, die für sie nicht gefährlich, nicht bedrohlich ist. Sie kann auch bis zur Pubertät den Penis ihres Jungen ohne Angst massieren, um »seine Phimose (die Hautverengung) zu beheben«. Im Schutz der unbestrittenen Liebe, die jedes Kind seiner Mutter entgegenbringt, kann sie ihre echten, zaghaften, sehr früh unterbrochenen Sexualforschungen weiterführen. Was bedeutet es aber für das Kind, wenn es von sexuell gehemmten Eltern ausgebeutet wird? Jedes Kind sucht zärtliche Berührungen und wird beglückt sein, wenn es sie bekommt. Gleichzeitig aber fühlt es sich verunsichert, wenn Gefühle in ihm geweckt werden, die auf seiner Entwicklungsstufe spontan nicht aufgetreten wären. Die Verunsicherung wird dadurch noch verstärkt, dass die eigenen autoerotischen Betätigungen durch verbietende Worte oder verachtende Blicke der Eltern gestraft werden. Es gibt neben den sexuellen auch andere Formen der Vergewaltigung des Kindes, so z. B. diejenige mit Hilfe der Indoktrinierung, die sowohl der »antiautoritären« als auch der »guten Erziehung« zugrunde liegt. In beiden Erziehungsformen können die wahren Bedürfnisse des Kindes auf seiner jeweiligen Entwicklungsstufe nicht wahrgenommen werden. Sobald das Kind als Eigentum erlebt wird, mit dem man bestimmte Ziele verfolgt, sobald man sich seiner bemächtigt, wird sein lebendiges Wachstum gewaltsam unterbrochen. Es gehört zu den Selbstverständlichkeiten unserer Erziehung, dass wir oft zunächst die lebendigen Wurzeln abschneiden und nachträglich versuchen, ihre natürliche Funktion auf künstlichem Wege zu ersetzen. So wird z. B. die Neugier des Kindes unterbunden (»bestimmte Fragen stellt man nicht«), und später, wenn der natürliche Antrieb zum Lernen bereits fehlt, werden ihm Nachhilfestunden bei Schulschwierigkeiten angeboten. Ein ähnliches Beispiel finden wir im Verhalten des Süchtigen. Menschen, die als Kinder ihre sehr intensiven Gefühle mit Erfolg unterdrücken mussten, versuchen oft, mit Hilfe der Droge oder des Alkohols die verlorene eigene Erlebnisintensität — wenigstens für kurze Zeit — zurückzuge-winnen (vgl. A. M., Am Anfang war Erziehung S. 133168). Damit wir die unbewusste Vergewaltigung und Diskriminierung des Kindes vermeiden können, muss sie uns zunächst überhaupt zum bewussten Erlebnis werden. Erst eine Sensibilisierung für die feinen und subtilen Arten der Demütigung eines Kindes könnte uns helfen, den Respekt für das Kind zu entwickeln, den es vom ersten Tag seines Lebens braucht, um seelisch wachsen zu können. Es gibt verschiedene Wege, um diese Sensibilisierung zu erreichen, z. B. Beobachtung von Situationen mit fremden Kindern, in denen man versucht, sich in das Kind einzufühlen, und vor allem die Entwicklung von Empathie für das eigene Schicksal.
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DIE VERACHTUNG IM SPIEGEL DER THERAPIE Kann man eine Geschichte darstellen, die man nicht kennt? So unmöglich dies erscheint — es geschieht ständig, oft als ein blindes Agieren, und bleibt wirkungslos. Damit diese Geschichte verstanden und aufgearbeitet werden kann, brauchen wir das geeignete Werkzeug. Unsere Geschichte finden wir dann stückweise im Erleben der eigenen Gefühle und Bedürfnisse, wenn wir diese akzeptieren, respektieren und als berechtigt erklären können. Das gilt auch für den Therapeuten. Ich wurde in Seminaren oder Einzelkontrollen manchmal gefragt, wie man mit »unerwünschten« Gefühlen, z. B. mit dem Ärger, umgehen sollte, den der Patient zuweilen im Therapeuten weckt. Ein empfindsamer Therapeut wird diesen Ärger natürlich spüren. Die Frage ist: Soll er ihn unterdrücken, um den Patienten nicht abzuweisen? Aber der Patient spürt ja den unterdrückten Ärger und ist verwirrt. Soll der Therapeut ihn aussprechen? Dann kann der Patient dadurch verängstigt werden. Die Frage nach dem Umgang mit dem Ärger und anderen unerwünschten Gefühlen stellt sich nicht mehr, wenn man von der Voraussetzung ausgeht, dass alle Gefühle, die der Patient im Helfer weckt, zu dem unbewussten Versuch gehören, ihm seine Geschichte zu erzählen und sie gleichzeitig vor ihm zu verbergen, d. h. sich zu schützen. Der Patient hat gar keine Möglichkeit, seine Geschichte anders zu erzählen, als genau in dieser unbewussten Weise, wie er es tut. Insofern gehören alle im Helfer auftauchenden Gefühle zu dieser verschlüsselten Geschichte und dürfen nicht von ihm abgewehrt werden. Er muss imstande sein, seine Gefühle zuzulassen und diese für sich abzuklären. Dann wird er erfahren können, inwiefern seine beim Hilfesuchenden auftauchenden Gefühle an seine eigene verdrängte Geschichte mahnen, und diesen Teil bei sich verarbeiten wollen. Dies gilt auch für Berater, die mit Abhängigen und anderen Opfern von sexuellen und physischen Misshandlungen in der Kindheit arbeiten. Gewöhnlich lassen sie nur einen Hauch ihrer eigenen Angst zu und verdecken sie hermetisch vor sich selber mit abstrakten Theorien, Ideologien, mit Bagatellisieren oder autoritärem Verhalten.
Die gebrochene Artikulierung des Selbst im Wiederholungszwang Die erworbene Fähigkeit, Gefühle zuzulassen, befreit im Patienten lang verdrängte alte Bedürfnisse und Wünsche, die aber ohne Selbstbestrafung noch nicht befriedigt werden können oder gar nicht mehr zu befriedigen sind, weil sie sich auf vergangene Si-
tuationen beziehen. Der letztere Fall wird deutlich am Beispiel des unaufschiebbaren, dringlichen Kinderwunsches, der u. a. den Wunsch nach einer verfügbaren Mutter ausdrückt. Es gibt aber durchaus Bedürfnisse, die in der Gegenwart befriedigt werden können und unbedingt sollen und die regelmäßig in der Therapie auftauchen. Dazu gehört z. B. das zentrale Bedürfnis jedes Menschen, sich frei zu artikulieren, d. h., als das, was er ist, nach außen treten zu können — im Wort, in der Geste, im Verhalten, in der Kunst, in jedem echten Ausdruck, der mit dem Schrei des Säuglings beginnt. Menschen, die ihr wahres Selbst als Kinder vor anderen und vor sich selber verbergen mussten, fühlen sich stark dazu gedrängt, die früheren Schranken umzuwerfen, auch wenn dieses erste Heraustreten mit großer Angst verbunden ist. Der erste Schritt führt nicht immer zur Befreiung, sondern zur Wiederholung der Ängste der Kindheitskonstellation, d. h. zum Erlebnis der Gefühle von quälender Scham und schmerzhafter Entblößung, die das »Sich-Zeigen« begleiten. Diese Ängste vor der Entblößung mahnen die früheren an. Wenn sie erlebt und im Zusammenhang mit der früheren Situation verstanden und geklärt werden, zeigt sich, wie sehr sie damals begründet waren. Doch wenn diese innere Arbeit ausbleibt, wird sich der Patient weiter mit einer schlafwandlerischen Sicherheit Menschen aussuchen, die genauso wie seine Eltern
(wenn auch aus anderen Gründen) nicht die Möglichkeit haben, ihn zu verstehen. Und gerade bei diesen wird er sich anstrengen, um endlich verstanden zu werden, das Unmögliche doch noch möglich zu machen. In einem bestimmten Stadium ihrer Therapie verliebte sich Linda, 42, in einen älteren, intelligenten und sensiblen Mann, der aber außer der Erotik alles, was er nicht intellektuell fassen konnte, abwehren und ablehnen musste. Ausgerechnet diesem Menschen schrieb sie lange Briefe und versuchte ihm zu erklären, welchen Weg sie in der Therapie bisher gegangen war. Es gelang ihr, alle Signale seines Befremdetseins zu übersehen, und sie verdoppelte ihre Anstrengungen, bis sie einsehen musste, dass sie wieder einen Vaterersatz gefunden hatte und deshalb ihre Hoffnung, doch noch verstanden zu werden, nicht aufgeben konnte. Das Erwachen brachte zunächst quälende, beißende Schamgefühle, die längere Zeit anhielten. Sie sagte einmal: »Ich komme mir so lächerlich vor, als ob ich an eine Wand gesprochen und gewartet hätte, dass sie mir antworten würde; wie ein dummes Kind. « Ich fragte: »Würden Sie lachen, wenn Sie ein Kind sähen, das seinen Kummer einer Wand anvertrauen muss, weil niemand anderer da ist?« Das verzweifelte Schluchzen, das auf diese meine Frage folgte, eröffnete der Patientin den Zugang zu einem Teil ihrer früheren Realität, die aus einer unendlichen Einsamkeit bestanden hatte. Zugleich befreite es sie schließlich von den quälenden, vernichtenden Schamgefühlen. Erst viel später konnte Linda es sich leisten, das Erlebnis der »Wand« in seinem lebensgeschichtlichen Zusammenhang zu begreifen. Diese Frau, die sich sonst sehr klar auszudrücken verstand, erzählte eine Zeitlang alles so seltsam verwickelt und überstürzt, dass ich keine Chance mehr hatte, sie im einzelnen zu verstehen, wahrscheinlich wie ihre Eltern seinerzeit. Sie erlebte Augenblicke von plötzlichem Hass und Wut und warf mir meine Gleichgültigkeit und Verständnislosigkeit vor. Sie erkannte mich fast nicht wieder, obwohl ich die gleiche geblieben war. So stieß sie jetzt im Kontakt zu mir auf die Fremdheit ihrer Mutter, die das erste Lebensjahr in einem Säuglingsheim verbracht hatte und ihrem eigenen Kind keine Nähe geben konnte. Das wusste die Tochter seit langem, aber es blieb für sie ein intellektuelles Wissen. Auch hinderte sie das Mitleid mit der Mutter, ihre eigene Not wahrzunehmen und zu spüren. Das Bild der »armen Mutter« hatte ihre eigenen Gefühle blockiert. Erst mit den Vorwürfen, zuerst an mich, dann an die Mutter, wurde die grenzenlose Verzweiflung spürbar, die die nie erfüllte Sehnsucht nach Kontakt in ihr zurückließ. Die verdrängten Erinnerungen an die ferne, kontaktscheue Mutter hatten in der Tochter das Gefühl der Wand erhalten, die sie so schmerzhaft von anderen Menschen trennte. Mit den heftigen Vorwürfen löste sich schließlich auch der Wiederholungszwang, der darin bestand, sich immer einem verständnislosen Gegenüber auszuliefern und sich als von ihm hoffnungslos abhängig zu erleben.
Verachtung in der Perversion und in der Zwangsneurose Wenn wir davon ausgehen, dass die ganze emotionale Entwicklung eines Menschen (und sein darauf aufbauendes Gleichgewicht) davon abhängt, wie seine Eltern bereits in den ersten Tagen und Wochen die Äußerungen seiner Bedürfnisse und seiner Empfindungen Seite 30 von 40
erlebt und beantwortet haben, dann müssen wir annehmen, dass hier die ersten Weichen für eine spätere Tragödie gestellt werden. Konnte eine Mutter die Spiegelfunktion nicht erfüllen, sich nicht am Sein des Kindes freuen, sondern war sie auf sein bestimmtes »Sosein« angewiesen, so fand hier die erste Selektion statt: Es wurde das »Gute« vom »Bösen«, das »Hässliche« vom »Schönen«, das »Richtige« vom »Falschen« geschieden, und diese Selektion wurde vom Kind verinnerlicht. Auf diesem Hintergrund spielten sich weitere Verinnerlichungen von Werthaltungen der Eltern ab. Ein solcher Säugling wird erfahren müssen, dass es etwas an ihm gibt, das seine Mutter nicht »brauchen« kann. Z. B. wird vom Kind oft erwartet, dass es seine Körperfunktionen so früh wie möglich beherrschen kann, angeblich um in der Gesellschaft nicht anzustoßen, aber eigentlich nur, um nicht die Verdrängung der Eltern zu erschüttern, die selber als Kinder Angst haben mussten, »anzustoßen«, diese Erfahrung aber in der Verdrängung hielten. In ihren Tagebüchern beschreibt Marie Hesse, die Mutter des Dichters Hermann Hesse, wie ihr Wille mit vier Jahren gebrochen wurde. Als ihr Sohn vier Jahre alt wird, leidet sie ganz besonders unter seinem Trotz und bekämpft ihn mit wechselndem Erfolg. Mit fünfzehn Jahren wird Hermann Hesse nach Stetten in eine Anstalt für Geistesschwache und Epileptiker gesteckt, damit »sein Trotz endlich gebrochen werde«. In einem erschütternden, zornigen Brief aus Stetten schreibt Hesse an seine Eltern u. a.: »Wenn ich Pietist und nicht ein Mensch wäre, könnte ich vielleicht auf Euer Verständnis hoffen. « Doch nur nach einer »Besserung« wurde ihm eine Entlassung aus dem Heim in Aussicht gestellt, und so hat sich der Junge »gebessert«. In einem späteren, seinen Eltern gewidmeten Gedicht ist die Verleugnung und Idealisierung wiederhergestellt: Hesse beschuldigt sich, seinen Eltern mit »seiner Art« das Leben doch so schwer gemacht zu haben. Dieses Schuldgefühl, das bedrückende Gefühl, die Erwartungen der Eltern nicht erfüllt zu haben, behalten viele Menschen ihr Leben lang. Es ist stärker als jede intellektuelle Einsicht, dass es doch nicht die Aufgabe eines Kindes sein kann, die Bedürfnisse der Eltern zu befriedigen. Mit keinem Argument ist diesen Schuldgefühlen beizukommen, weil sie in einer sehr frühen Zeit ihren Ursprung haben und von dort ihre Intensität und Hartnäckigkeit beziehen. Man kann sie nur langsam in der aufdeckenden Therapie auflösen. Die wohl größte Wunde — nicht als das, was man war, geliebt worden zu sein — kann ohne Trauerarbeit nicht heilen. Sie kann entweder mehr oder weniger erfolgreich abgewehrt (wie z. B. in der Grandiosität und der Depression) oder, im Wiederholungszwang, immer wieder aufgerissen werden. Dieser letzten Möglichkeit begegnen wir in der Zwangsneurose und in der Perversion. Die verachtenden Reaktionen der Eltern auf das Verhalten des Kindes sind als unbewusste Erinnerungen in ihm registriert, in seinem Körper gespeichert. Das Entsetzen und Befremden, der Widerwille und Ekel, die Empörung und Entrüstung, Angst und Panik wurden in der Mutter oft durch die natürlichsten Regungen des Kindes ausgelöst, z. B. durch auto-erotische Betätigungen, das Suchen und Entdecken des eigenen Körpers, das Nässen, das Defäkieren, durch Neugier oder durch Zorn bei Enttäuschung und Versagung. Später werden all diese Erlebnisse mit den entsetzten Augen der Mutter verknüpft bleiben, wenn auch auf andere Personen übertragen. Sie treiben das ehemalige Kind zu Zwangshandlungen und Perversionen, in denen sich die früheren traumatischen Situationen reproduzieren dürfen, aber für den Betreffenden unkenntlich bleiben sollen. Der Patient wird Qualen ausstehen, wenn er dem Therapeuten seine bisher geheimen sexuellen oder autoerotischen Befriedigungen mitteilt. Natürlich kann er das auch ohne Gefühle tun, eine reine Information geben, als ob er von einem fremden Menschen spräche. Aber eine solche Mitteilung hilft ihm nicht, seine Einsamkeit zu durchbrechen, und führt ihn nicht zur Realität seiner Kindheit. Erst wenn er auch die Gefühle der Scham und der Angst zuzulassen und zu erleben bereit ist, erfährt er, wie es ihm als Kind ergangen ist. Er fühlte sich wegen der harmlosesten Betätigung gemein, schmutzig oder total vernichtet. Und er ist selber überrascht, wie lange dieses verdrängte Schamgefühl überdauert hat, wie lange es Platz hatte neben seinen toleranten und fortschrittlichen Ansichten über Sexualität. Erst diese Erlebnisse zeigen dem Patienten, dass seine frühe Anpassung durch Abspaltung nicht Ausdruck von Feigheit, sondern wirklich seine einzige Überlebenschance war, seine einzige Möglichkeit, dieser Angst vor Vernichtung zu entgehen. Kann die eigene Mutter so bedrohlich sein? Ja, wenn sie schon immer stolz darauf war, das brave liebe Mädchen ihrer Mutter gewesen zu sein, mit sechs Monaten trocken, mit einem Jahr sauber, mit drei Jahren die »Mutter« des noch kleineren Geschwisters usw. In ihrem eigenen Säugling sieht sie nun den nie gelebten, abgespaltenen Teil ihres Selbst, dessen Durchbruch ins Bewusstsein sie fürchtet, und zugleich das hemmungslose Geschwisterbaby, das sie selber so früh bemuttert hatte und das sie jetzt erst im eigenen Kind beneiden und vielleicht hassen muss. Und sie dressiert ihr Kind dann regelrecht mit Blicken. Das Kind wächst heran und kann es nicht aufgeben, seine Wahrheit zu leben, sie doch noch irgendwie, vielleicht ganz im verborgenen, zum Ausdruck zu bringen. So kann sich ein Mensch den Forderungen seiner Umwelt vollständig angepasst und ein falsches Selbst entwickelt haben, aber in seiner Perversion oder in seiner Zwangsneurose ein Stück seines wahren Selbst — unter Qualen — doch noch leben lassen. Dieses »lebt« aber in den gleichen Umständen bzw. unter den gleichen Bedingungen wie damals das Kind bei der entsetzten Mutter, deren Bild inzwischen verdrängt wurde. Die Perversion und die Zwänge inszenieren immer wieder das gleiche Drama: Nur unter der Voraussetzung einer entsetzten Mutter ist die Triebbefriedigung möglich, d. h., nur im Klima der Selbstverachtung ist ein Orgasmus, z. B. mit einem Fetisch, zu erreichen, nur in scheinbar absurden, befremdenden, beängstigenden Zwangsvorstellungen darf sich eine Kritik durchsetzen. Nichts kann uns besser in die verborgene Tragik der unbewussten Kind-Mutter-Beziehung ohne Bonding einführen als das Miterleben der zerstörerischen Macht des Wiederholungszwanges und das Wahrnehmen seiner stummen, unbewussten Mitteilung in der Neubelebung des alten Dramas. Michael, 32, der an einer Perversion litt, trug in sich die unbewusste Erinnerung an die Ablehnung der Mutter und fürchtete sich ständig vor Ablehnung durch andere Menschen, ohne zu wissen, weshalb. Er tat Dinge, die in seiner Umgebung, in seiner Gesellschaft verpönt und verachtet sind, und fürchtete die Strafe. Wenn die Gesellschaft plötzlich seine Art von Perversion heiligen würde (wie es in bestimmten Kreisen geschieht), müsste er vielleicht seine Zwänge ändern, aber er wäre dadurch nicht frei. Denn was er provozierte, war nicht die Erlaubnis für diesen oder jenen Fetisch, sondern die befremdeten, entsetzten Augen. Und diese hat er auch bei seinem Therapeuten gesehen. Er hat ihn mit allen Mitteln provozieren müssen, angewidert, befremdet, angeekelt zu sein, weil er nicht in der Lage war, ihm mit Worten zu erzählen, was am Anfang seines Lebens geschehen war. Doch diese Mitteilungen mit Hilfe der Provokation nützten ihm nichts, solange die Gefühle aus der Kindheit blockiert waren und ihm die Zusammenhänge verborgen blieben. Mit dem Erlebnis der verdrängten Gefühle, mit dem Durchbruch tragischer Erinnerungen konnte das blinde, selbstdestruktive Agieren aufgegeben werden und machte einer echten, tiefen und ungeschützten Trauer Platz. Alle Verzerrungen waren plötzlich nicht mehr nötig, als die Wunde erlebt werden konnte. Es zeigt sich da mit aller Deutlichkeit, Seite 31 von 40
auf welchen Holzweg wir uns begeben können, wenn wir versuchen, einem Patienten Triebkonflikte klarzumachen, der seit der frühesten Kindheit darauf dressiert war, nicht zu fühlen. Wie können Triebwünsche und Triebkonflikte ohne Gefühle erlebt werden? Was bedeuten sie ohne Gefühle von Zorn, Verlassenheit, Eifersucht, Einsamkeit, Verliebtheit? In den letzten zehn Jahren erhielt ich viele Briefe von Lesern, die mir geschrieben haben, dass sie als Jugendliche von erwachsenen Männern offensichtlich sexuell missbraucht, verführt und emotional ausgebeutet worden waren, aber diese Tatsache nie als solche erkannt hatten. Die verdrängten Erinnerungen aus ihrer Kindheit hätten sie für diese Tatsache blind gemacht. Erst als sie Du sollst nicht merken lasen, erwachten ihre Zweifel und der »Verdacht«. Zum ersten Mal in ihrem Leben wagten sie, das Verhalten und den Charakter der Täter in Frage zu stellen. Es kam ihnen früher nie in den Sinn, dass sie betrogen, dass ihre Sehnsucht nach Liebe und Zuwendung ausgebeutet wurde, weil sie das ihnen zugefügte Unrecht nicht fühlen konnten, solches Fühlen mussten sie in der Kindheit verlernen. Der einzige Weg, der ihnen offen blieb, war die Idealisierung des Verführers, des großen Freundes, Retters, Lehrers, Meisters, und eine Abhängigkeit von einer bestimmten Form des sexuellen Verhaltens oder der Droge oder beides. Auch der Kampf um die soziale Akzeptierung einer besonderen Art von Sucht, sexueller oder nichtsexueller, ist einer der vielen Wege, die häufig begangen werden, um der Konfrontation mit der eigenen Geschichte auszuweichen. Es gibt viele Menschen, deren Bedürfnisse nach Schutz, Pflege, Zärtlichkeit, deren Sehnsucht nach Liebe sehr früh sexualisiert wurden. Sie leben mit unterschiedlichen Formen von sexueller Fixierung, ohne sich jemals ihre Geschichte angesehen zu haben. Sie schließen sich Gruppen an, akzeptieren unkritisch Theorien, die ihre Fixierung bestätigen, und sind überzeugt, dass sie mit anderen ein wissenschaftlich begründetes Wissen teilen, während sie damit unbewusst ihre verdrängte Geschichte verbrämen. Solange sie dies tun, schädigen sie andere in der gleichen Art, wie sie einst geschädigt wurden, ohne irgendwelche Skrupel haben zu müssen. Ich denke, dass die Zukunft (die Therapie) dieser Menschen und ihrer Opfer von jeder Art Ideologie bedroht wird. Sie sollten eher informiert werden, dass es möglich ist, seine eigene Geschichte zu entdecken, sie durchzuarbeiten und sich von Fixierungen zu befreien, die für andere und einen selber destruktiv sein können. Es ist sehr eindrucksvoll, wie oft das pseudo-triebhafte sexuelle Agieren zusammenbricht, wenn der Patient anfängt, seine Gefühle zu leben und seine wahren Triebwünsche wahrzunehmen. Einem Bericht über die Bordellszene von Hamburgs St. Pauli im »Stern« vom 8. 6. 1978 entnahm ich den folgenden Satz: »Du spürst den so verführerischen wie absurden Männertraum, von Frauen gehätschelt zu werden wie ein Säugling und sie dennoch zu beherrschen wie ein Pascha. « Dieser »Männertraum« ist nicht nur nicht absurd, sondern entstammt dem echtesten und legitimen Bedürfnis des Säuglings. Unsere Welt würde sicher anders aussehen, wenn die meisten Säuglinge die Chance hätten, über die Mutter wie ein Pascha verfügen zu können und von ihr gehätschelt zuwerden, ohne sich zu früh um die Bedürfnisse der Mutter kümmern zu müssen. Der Autor des Berichtes fragte die Stammgäste, was ihnen die größte Lust in diesen Lokalen verschaffe, und fasst die Antworten in folgenden Worten zusammen: »Die Verfügbarkeit, die Preisgabe der Mädchen: dass es bei ihnen keiner Liebesbeteuerung bedarf wie bei einer Freundin. Und dass keine Verpflichtungen, Seelendramen und Gewissensbisse zurückbleiben, wenn die Lust geschwunden ist: ›Du zahlst und bist frei. ‹ Sogar (und gerade) das Erniedrigende, das eine solche Begegnung auch (und gerade) für den Freier hat, kann die Erregung steigern— aber davon redet man weniger gern. « (Hervorhebungen von mir — A. M. ) Die Erniedrigung, Selbstverachtung und Selbstentfremdung mahnen die Verachtung in der primären Situation an und schaffen im Wiederholungszwang die gleichen tragischen Lustbedingungen wie einst. Insofern ist der Wiederholungszwang eine Chance. Er kann aufgelöst werden, wenn die Anmahnung aufgenommen und in der aufdeckenden Therapie verarbeitet wird. Wird diese Chance nicht genutzt, wird die Aussage des Wiederholungszwanges ignoriert, dann kann sich dieser ein Leben lang in verschiedenen Varianten erhalten, ohne verstanden zu werden. Etwas Unbewusstes kann man nicht mit Proklamationen oder Verboten abschaffen. Man kann sich nur dafür sensibilisieren, um es zu erkennen, bewusst zu erleben und es so unter Kontrolle zu bekommen. Eine Mutter kann nicht ihr Kind respektieren, solange sie nicht spürt, wie sie etwa mit einer ironischen Bemerkung, die nur ihre eigene Unsicherheit zudecken sollte, ihr Kind beschämt. Sie kann aber nicht spüren, wie sehr sich ihr Kind gedemütigt, verachtet und entwertet neben ihr fühlt, wenn sie selber diese Gefühle nie bewusst erlebte, sondern sie mit Ironie abzuwehren suchte. Ähnliches lässt sich bei den meisten Psychiatern, klinischen Psychologen und Therapeuten beobachten. Sie gebrauchen zwar nicht Worte wie schlecht, schmutzig, böse, egoistisch, verdorben, aber sprechen untereinander über »narzisstische«, »exhibitionistische«, »destruktive«, »regressive« oder Borderline-Patienten und merken nicht, dass sie diesen Worten eine entwertende Bedeutung verleihen. Es wäre möglich, dass sie in ihrem abstrakten Vokabular, in ihrer objektivierenden Haltung, sogar in der Theorienbildung und dem leidenschaftlichen Diagnostizieren etwas gemeinsam haben mit den verachtenden Blicken der Mütter, die den dreijährigen angepaßten Mädchen oder Jungen in ihnen entstammen. Es geschieht nicht selten, dass sich der Therapeut durch die verachtende Haltung des Patienten dazuverleiten lässt, seine eigene Überlegenheit mit Hilfe von Theorien zu schützen. Doch das wahre Selbst des Patienten wird ihm in diesem Schützengraben keinen Besuch abstatten. Es wird sich vor ihm in der gleichen Art verborgen halten wie vor den entsetzten Augen der Mutter. Gelingt es aber, dank unserer Sensibilisierung, hinter jeder Verachtung die Fortsetzungsgeschichte des verachteten Kindes wahrzunehmen, dann fällt es dem Therapeuten leicht, sich nicht angegriffen zu fühlen und sich nicht länger hinter den Theorien innerlich zu verschanzen. Die Kenntnis der Theorie ist wichtig. Aber die richtige Theorie hat keine defensive Funktion für den Therapeuten. Sie ist nicht Nachfolgerin der strengen, kontrollierenden Eltern.
Das »Verdorbene« in der Kinderwelt von Hermann Hesse als Beispiel des konkreten »Bösen« Es ist sehr schwer zu schildern, wie ein Mensch mit der als Kind erlittenen Verachtung, insbesondere der Verachtung seiner Sinnlichkeit und Lebensfreude, umging, ohne genaue anschauliche Beispiele dafür zu bringen. Gewiss könnte man mit Hilfe verschiedener theoretischer Modelle die »Affektabwehr« darstellen, aber damit könnten wir nicht das emotionale Klima vermitteln, welches diese Not erst einfühlbar nahe bringt, d. h. dem Leser Empathie ermöglicht. Bei rein theoretischen Darstellungen halten wir uns emotional draußen, wir können über die anderen verhandeln, sie einordnen, gruppieren, benennen, klassifizieren, diagnostizieren, und in einer Fachsprache über sie diskutieren, die sie nicht verstehen. Da ich eine solche Fachsprache ablehne, verwende ich statt dessen Beispiele. Seite 32 von 40
Denn nur am konkreten Leben lässt sich zeigen, wie ein Mensch das konkrete Böse seiner Kindheit als »das Böse an sich« erlebt hat. Es lässt sich nur an der einzelnen Lebensgeschichte spürbar machen, wie wenig man als Kind die Zwänge seiner Eltern durchschauen kann und dass diese Blindheit ohne Therapie unter Umständen ein Leben lang erhalten bleibt, auch wenn man immer und immer wieder versucht, aus diesem inneren blindmachenden Gefängnis auszubrechen. Ich entschloss mich, den komplizierten Sachverhalt am Beispiel von Hermann Hesse zu schildern. Es hat den Vorteil, bereits bekannt zu sein, noch dazu bekannt gemacht durch den Betroffenen selbst. Am Anfang seines Demians schildert Hermann Hesse die Güte und Reinheit eines Elternhauses, das für die Notlüge eines Kindes keinen Platz und keine Ohren hat. (Es ist nicht schwer, und der Autor bestätigt das indirekt, in diesem Roman sein eigenes Elternhaus zu erkennen. ) So bleibt das Kind mit seiner Sünde einsam und fühlt sich verdorben, böse und ausgestoßen, obwohl niemand mit ihm schimpft und alle (weil sie das »Schreckliche« nicht wissen) nett und freundlich zu ihm sind. Diese Situation kennen viele Menschen. Auch die idealisierende Weise, ein so »reines« Haus zu schildern, ist uns nicht fremd und spiegelt sowohl die kindliche Sicht als auch die verborgene Grausamkeit des uns bekannten Erziehungsstils. »Wie fast alle Eltern«, schreibt Hesse im Demian, »so halfen auch die meinen nicht den erwachenden Lebenstrieben, von denen nicht gesprochen ward. Sie halfen nur, mit unerschöpflicher Sorgfalt, meinen hoffnungslosen Versuchen, das Wirkliche zu leugnen und in einer Kindeswelt weiter zu hausen, die immer unwirklicher und verlogener ward. Ich weiß nicht, ob Eltern hierin viel tun können, und mache den meinen keinen Vorwurf. Es war meine eigene Sache, mit mir fertig zu werden und meinen Weg zu finden, und ich tat meine Sache schlecht, wie die meisten Wohlerzogenen. « (Hervorhebungen von mir - A. M. ) Dem Kind erscheinen die Eltern frei von triebhaften Wünschen, denn sie haben Mittel und Möglichkeiten, ihre sexuellen Aktivitäten zu verbergen, während das Kind der Kontrolle ausgesetzt ist. 1 Der erste Teil von Demian scheint mir gut einfühlbar, auch für Menschen, die in anderen Kreisen aufgewachsen sind. Was die Fortsetzung der Lektüre für mich schwierig macht, sind Hesses sehr eigenartige Wertungen. Er hatte sie vermutlich von seinen Eltern und Großeltern übernommen, die Missionare waren. In vielen seiner Erzählungen sind diese unbewussten, seltsamen Wertungen spürbar, sie können aber am Demian am einfachsten gezeigt werden. Obwohl Sinclair eine eigene Erfahrung der Grausamkeit (die Erpressung durch den größeren Jungen) bereits gemacht hat, bleibt diese Erfahrung unwirksam, sie gibt ihm nicht den Schlüssel zum besseren Verständnis der Welt. Das »Böse« ist für ihn (gemäß der Missionaransprache) »das Verdorbene«. Nicht der Hass, nicht die Grausamkeit repräsentieren für ihn das Böse, sondern merkwürdige Lappalien, wie z. B. das Trinken im Wirtshaus. Diese spezifische Vorstellung vom Bösen als dem »Verdorbenen« hat der kleine Hesse seinem Elternhaus entnommen. Deshalb mutet alles, was sich nach der Einführung des Gottes Abraxas abspielt, der »das Göttliche und das Teuflische vereinigen« soll, seltsam entfremdet an, es berührt uns nicht mehr. Das Böse soll hier mit dem Guten wie künstlich zusammengefügt werden. Man hat den Eindruck, es sei für den Jungen etwas Fremdes, Bedrohliches und vor allem Unbekanntes, von dem er aber nicht loskommt, weil das »Verdorbene«, mit Angst und Schuldgefühlen bereits gekoppelt, emotional besetzt ist. Er möchte es in sich »abtöten«: »Wieder versuchte ich mit innigstem Bemühen, aus Trümmern einer zusammengebrochenen Lebensperiode mir eine ›lichte Welt‹ zu bauen, wieder lebte ich ganz in dem einzigen Verlangen, das Dunkle und Böse in mir abzutun und völlig im Lichten zuweilen, auf Knien vor Göttern. « (Hervorhebung von mir - A. M. ) In der Hesse-Ausstellung im Zürcher Helmhaus im Jahre 1977 konnte ich ein Bild sehen, mit dem der kleine Hermann großgeworden ist, weil es über seinem Bett hing. Auf der rechten Seite sieht man den »guten« Weg in den Himmel, voll Dornen, Unannehmlichkeiten und Leiden. Auf der linken Seite liegt der angenehme, lustvolle Weg, der unweigerlich zur Hölle führt. Dort spielen die Wirtshäuser eine wichtige Rolle — von ihnen wollten wahrscheinlich die Frauen ihre Männer und Söhne mit solchen Drohungen abhalten. Diese Wirtshäuser spielen auch im Demian eine wichtige Rolle. Dies ist um so grotesker, als es gar nicht das Bedürfnis Hesses war, sich in Wirtshäusern zu betrinken, wohl aber, aus der Enge des elterlichen Wertsystems auszubrechen. Jedes Kind bildet sich Vorstellungen vom Bösen zunächst ganz konkret nach den Verboten, Tabus, Ängsten seines Elternhauses. Es wird einen langen Weg gehen müssen, bis es sich davon befreit hat, bis es das eigene »Böse« in sich entdeckt, und es nicht mehr als »verdorben« und »schlecht«, weil triebhaft, erlebt, sondern als eine begreifliche latente Reaktion auf Verletzungen, die er als Kind verdrängen musste. Als Erwachsener hat er die Möglichkeit, die Ursachen zu entdecken und sich von dieser Latenz zu befreien. Er hat auch die Möglichkeit, sich für das, was er aus dieser Latenz heraus anderen unbewusst angetan hat, bei diesen Menschen zu entschuldigen. Im Grunde ist er das nicht nur ihnen, sondern vor allem sich selber schuldig. Denn wir können unsere unbewussten Schuldgefühle, die uns seit der Kindheit quälen, nur auflösen, wenn wir nicht neue Schuld auf uns laden. Wie stark Hesses Suchen nach seinem wahren Selbst vom Verlust der »Liebe« seiner Eltern bedroht war, zeigt die folgende Stelle aus dem Demian: »Aber dort, wo wir nicht aus Gewohnheit, sondern aus eigenstem Antrieb Liebe und Ehrfurcht dargebracht haben, da, wo wir mit eigenstem Herzen Jünger und Freunde gewesen sind — dort ist es ein bitterer und furchtbarer Augenblick, wenn wir plötzlich zu erkennen meinen, dass die führende Strömung in uns von dem Geliebten wegführen will. Da richtet jeder Gedanke, der den Freund und Lehrer abweist, sich mit giftigem Stachel gegen unser eigenes Herz, da trifft jeder Hieb der Abwehr ins eigene Gesicht Da tauchen dem, der eine gültige Moral in sich selber zu tragen meinte, die Namen ›Treulosigkeit‹ und ›Undankbarkeit‹ wie schändliche Zurufe und Brandmäler auf, da flieht das erschrockene Herz angstvoll in die lieben Täler der Kindheitstugenden zurück und kann nicht daran glauben, dass auch dieser Bruch getan, dass auch dieses Band zerschnitten werden muss.« Und in der Kinderseele heißt es: »Wenn ich alle die Gefühle und ihren qualvollen Widerstreit auf ein Grundgefühl zurückführen und mit einem einzigen Namen bezeichnen sollte, so wüsste ich kein anderes Wort als: Angst. Angst war es, Angst und Unsicherheit, was ich in all jenen Stunden des gestörten Kinderglücks empfand: Angst vor Strafe, Angst vor dem eigenen Gewissen, Angst vor Regungen meiner Seele, die ich als verboten und verbrecherische empfand. « (Hervorhebungen von mir -A. M. ) 1 Hesse schreibt in seiner Erzählung Kinderseele: »Die Erwachsenen taten, als sei die Welt vollkommen und als seien sie Halbgötter, wir Knaben aber nichts als Auswurf und Abschaum. « ... »Immer wieder passierte schon nach Tagen, schon nach Stunden etwas, was nicht hätte sein dürfen, etwas Elendes, Betrübendes und Beschämendes. Immer wieder fiel man aus den trotzigsten und adligsten Entschlüssen und Gelöbnissen plötzlich unentrinnbar in Sünde und Lumperei, in Alltag und Gewöhnlichkeiten zurück! ... Warum war das so? Ging es andern anders?«
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In der Erzählung Kinderseele schildert Hesse mit viel Zartheit und Verständnis die Gefühle eines elfjährigen Knaben, der aus dem Zimmer seines geliebten Vaters einige trockene Feigen gestohlen hat, um etwas, das dem Vater gehörte, ganz nahe bei sich zu haben. Schuldgefühle, Angst und Verzweiflung quälen ihn in seiner Einsamkeit und werden schließlich von tiefster Demütigung und Scham abgelöst, sobald die »böse Tat« aufgedeckt wird. Dass es sich hier um eine reale Begebenheit aus Hesses eigener Kindheit handelt, lässt uns die Kraft dieser Darstellung vermuten. Diese Vermutung wird zur Gewissheit dank einer Aufzeichnung seiner Mutter vom 11. November 1889: »Hermanns Feigendiebstahl entdeckt!« (Hervorhebungen A. M. ) Aus den Tagebuchaufzeichnungen der Mutter und aus dem umfangreichen Briefwechsel beider Eltern mit verschiedenen Familienmitgliedern, der seit 1966 vorliegt, lässt sich der Leidensweg des kleinen Jungen ersehen. Wie so viele seinesgleichen war Hesse nicht trotz, sondern wegen seines inneren Reichtums für seine Eltern so schwer zu ertragen. Es geschieht oft, dass die Begabungen eines Kindes (Intensität der Gefühle, Erlebnistiefe, Neugier, Intelligenz und Wachheit, die natürlich Kritik einschließt) seine Eltern mit Konflikten konfrontieren, die sie seit langem mit Regeln und Vorschriften abzuwehren suchten. So müssen diese Vorschriften auf Kosten der Entwicklung des Kindes gerettet werden. Und nun kommt es zu der scheinbar paradoxen Situation, dass auch Eltern, die auf ihr talentiertes Kind stolz sind und es sogar bewundern, aus ihrer eigenen Not heraus gerade das Beste, weil das Echteste in ihm, ablehnen, unterdrücken oder sogar zerstören. Zwei Äußerungen der Mutter von Hermann Hesse mögen illustrieren, wie sich dieses Zerstörungswerk mit einer angeblich liebevollen Besorgtheit vereinen lässt: 1. (1881): »Hermann geht in die Kinderschule; sein heftiges Temperament macht uns viel Not« (1966, S. 10). Das Kind ist dreijährig. 2. (1884): »Mit Hermännle, dessen Erziehung uns so viel Not und Mühe machte, geht es nun entschieden besser. Vom 21. Januar bis 5. Juni war er ganz im Knabenhaus und brachte bloß die Sonntage bei uns zu. Er hielt sich dort brav, aber bleich und mager und gedrückt kam er heim. Die Nachwirkung war entschieden eine gute und heilsame. Er ist jetzt viel leichter zu behandeln« (Hervorhebungen A. M. ) (1966, S. 13/14). Das Kind ist jetzt siebenjährig. Noch früher (14. November 1883) schreibt der Vater, Johannes Hesse: »Hermann, der im Knabenhaus fast für ein Tugendmuster gilt, ist zuweilen kaum zu haben. So demütigend es für uns (Hervorhebungen A. M. ) wäre, ich besinne mich doch ernstlich, ob wir ihn nicht in eine Anstalt oder in ein fremdes Haus geben sollten. Wir sind zu nervös, zu schwach für ihn und das ganze Hauswesen nicht genug diszipliniert und regelmäßig. Gaben hat er scheint's zu allem: er beobachtet den Mond und die Wolken, phantasiert lang auf dem Harmonium, malt mit Bleistift und Feder ganz wunderbare Zeichnungen, singt wenn er will ganz ordentlich, und an Reimen fehlt es ihm nie. (Hervorhebungen A. M. ) (Vgl. Hermann Hesse, Kindheit und Jugend, 1966, S. 13. ) Mit dem stark idealisierten Bild seiner Kindheit und seiner Eltern, dem wir im Hermann Lauscher begegnen2, hat Hesse das originelle, rebellische, »schwierige« und für seine Eltern unbequeme Kind, das er einst gewesen war, verlassen. Er konnte diesem wichtigen Stück seines Selbst keine Heimat in sich geben und musste es vertreiben. Seine große, echte Sehnsucht nach dem wahren Selbst blieb unerfüllt. Dass es Hermann Hesse weder an Mut, Talent noch an Erlebnistiefe gefehlt hat, zeigen seine Werke und manche seiner Briefe, vor allem der zornige Brief des Fünfzehnjährigen aus Stetten. Aber die Antwort seines Vaters auf diesen Brief (vgl. 1966), die Aufzeichnungen der Mutter und die oben zitierten Stellen aus dem Demian und der Kinderseele halten uns vor Augen, wie stark das erdrückende Gewicht seines verdrängten Kinderschicksals auf ihm lastete. Trotz großem Leserecho, Erfolg und Nobelpreis litt Hesse in seinen reifen Jahren an dem tragischen Zustand des Getrenntseins von seinem wahren Selbst, das die Ärzte kurz als Depression bezeichnen.
Die Mutter der ersten Lebensjahre als Medium der Gesellschaft Würden wir einem Menschen sagen, dass seine Perversion in einer anderen Gesellschaft gar kein Problem wäre, weil unsere Gesellschaft krank sei, Einengungen bewirkt und Zwänge aufstellt, dann würde ihm das nicht viel helfen. Er würde sich auch als geschichtliches, einmaliges Wesen übergangen und missverstanden fühlen, und seine wirkliche Tragik wäre durch diese »Deutung« bagatellisiert. Denn was von ihm verstanden werden muss, ist seine persönliche Geschichte, die sich im Wiederholungszwang kundgibt. Sie ist durch gesellschaftliche Zwänge mitbestimmt worden, aber diese haften in der Psyche nicht als abstraktes Wissen, sondern sind in ihr durch die frühesten emotionalen Erlebnisse des Kindes mit seinen Eltern verankert. Deshalb lassen sie sich nicht mit Worten, sondern lediglich durch Erlebnisse auflösen, und zwar nicht durch korrigierende des Erwachsenen, sondern vor allem durch Erlebnisse der ganz frühen Angst vor der Verachtung der heißgeliebten Eltern und der darauf folgenden Gefühle von Empörung und Trauer. Bloße Worte, und seien es die geschicktesten Deutungen, belassen oder vertiefen die Spaltung zwischen intellektuellen Spekulationen und dem Wissen des Körpers. Aus diesem Grund kann man wohl kaum einen Süchtigen von seiner Sucht befreien, indem man ihm sagt, dass seine Sucht eine Reaktion auf die kranke Gesellschaft sei. Solche Erklärungen nimmt der Süchtige gerne an und will daran glauben, weil sie ihm die Wahrheit und die Schmerzen, die sie bringt, ersparen. Aber das, was wir durchschauen, macht uns nicht krank, weil es in uns Empörung, Zorn, Trauer oder Ohnmachtgefühle wecken kann und darf. Was uns krank macht, ist das Undurchschaubare, die Zwänge der Gesellschaft, die wir durch die Augen der Eltern in uns aufgenommen haben und die wir durch keine Lektüre oder Bildung loswerden können. Es sind die unbewussten Erinnerungen an die Zwänge und Perversionen der Eltern, die sich in deren Misshandlungen äußerten. Oder anders ausgedrückt: Viele Hilfesuchende sind sehr intelligent, sie lesen in Zeitungen und Büchern über den Rüstungswahnsinn, die Ausbeutung des Planeten, die Verlogenheit der Diplomatie, die Arroganz und Manipulation der Macht, die Anpassung der Schwachen, die Ohnmacht des einzelnen und machen sich darüber ihre Gedanken. Was sie aber nicht sehen, weil sie sie nicht sehen können, ist das absurde, widersprüchliche Verhalten ihrer Eltern zur Zeit, als sie noch ganz kleine Kinder waren. Diese Haltung der Eltern kann man nicht erinnern, weil man damals gezwungen war, Schmerz und Zorn zu verdrängen. Sobald diese Gefühle auftauchen und mit den früheren Situationen in Verbindung gebracht werden können, tritt eine Wendung ein. Die einstige Interaktion und damit die elterlichen Zwänge können langsam besser durchschaubar werden. 2
»Wenn jetzt noch die Kindheit zuweilen an mein Herz rührt, so ist es als ein goldgerahmtes, tieftöniges Bild, an welchem vornehmlich eine Fülle laubiger Kastanien und Erlen, ein unbeschreiblich köstliches Vormittags-Sonnenlicht und ein Hintergrund herrlicher Berge mir deutlich wird. Alle Stunden meines Lebens, in welchen ein kurzes, weltvergessenes Ruhen mir vergönnt war, alle einsamen Wanderungen, die ich über schöne Gebirge gemacht habe, alle Augenblicke, in welchen ein unvermutetes kleines Glück oder eine begierdenlose Liebe mir das Gestern und Morgen entrückte, weiß ich nicht köstlicher zu benennen, als wenn ich sie mit diesem grünen Bilde meines frühesten Lebens vergleiche. « (Ges. Werke I, 1970, S. 218). Seite 34 von 40
Die Unterdrückung der Freiheit und der Zwang zur Anpassung beginnen nicht erst im Büro, in der Fabrik oder in der Partei, sondern bereits in den ersten Lebenswochen. Dieser Zwang wird später verdrängt und bleibt deshalb, seinem Wesen nach, jeder Argumentation unzugänglich. Denn am Wesen der Anpassung oder Hörigkeit ändert sich nichts, wenn nur ihr Objekt ausgetauscht wird. Ein politisches Engagement kann aus dem unbewussten Zorn des missbrauchten, gefangenen, ausgebeuteten, eingeengten, dressierten Kindes gespeist werden. Im Kampf gegen politische Gegner z. B. kann dieser Zorn zum Teil abgeführt werden, ohne dass die Idealisierung der eigenen konkreten Bezugsperson aus der frühen Kindheit aufgegeben werden muss. Die alte Hörigkeit kann dann auf Führerfiguren oder Gruppen verschoben werden. Wird aber die Desillusionierung und die darauffolgende Trauer erlebt, so führt das gewöhnlich nicht zum Nachlassen des sozialen oder politischen Engagements, sondern lediglich zur Befreiung des Handelns vom Wiederholungszwang, d. h. zu einem klareren, zielgerichteten und bewussten Handeln ohne Selbstschädigung. Die innere Notwendigkeit, immer neue Illusionen und Verleugnungen aufzubauen, um die eigene Wahrheit nicht zu erleben, verschwindet, wenn diese Wahrheit einmal erlebt wurde. Wir sehen dann, dass wir das ganze Leben etwas gefürchtet und abgewehrt haben, was gar nicht mehr passieren kann, weil es bereits passiert ist, und zwar am Anfang unseres Lebens, als wir wehrlos waren. Es kann zwar eine therapeutische Wirkung in Form vorübergehender Besserung erreicht werden, wenn das strenge »Gewissen« des Patienten durch ein tolerantes des Therapeuten oder der Gruppe »ersetzt« werden kann. Aber der Sinn der Therapie ist ja nicht, das Schicksal des Patienten korrigieren zu wollen, sondern ihm die Begegnung mit seinem eigenen Schicksal und die Trauer darüber zu ermöglichen. Der Patient muss seine frühen verdrängten Gefühle in sich finden können, um die unbewusste Manipulation und die Missachtung der Eltern bewusst zu erleben und davon frei zu werden. Solange er mit der Toleranz des Therapeuten oder der Gruppe auskommen muss, bleiben die verachtenden Blicke seiner Eltern in ihm trotz seines besseren Wissens und Wollens unverändert, weil im Unbewussten verborgen und doch in seinen Körperzellen registriert. Sie werden sich zwar in den Beziehungen des Patienten zu anderen Menschen und zu sich selber zeigen und ihn quälen, aber jeder Verarbeitung unzugänglich sein. Die unbewussten Inhalte bleiben zeitlos und unverändert — erst im Bewusstwerden liegt der Ansatz zur Veränderung.
Die Einsamkeit des Verachtenden Die Verachtung, die der Patient äußert, mag in seiner Lebensgeschichte verschiedene Vorläufer haben, ihre gemeinsame Funktion ist die Abwehr der unerwünschten Gefühle. Diese kann wegfallen, wenn die genannten Gefühle erlebt werden können, so die Verzweiflung und die Scham über die unbeantwortete Liebe des Kindes und vor allem die Wut über die Nicht-Verfügbarkeit der Eltern. Solange man verachtet und die Leistung überbewertet (»er kann nicht, was ich kann«), muss man nicht die Trauer erleben, dass man nicht ohne Leistung geliebt worden ist. Die Grandiosität garantiert das Fortbestehen der Illusion: Ich wurde geliebt. Aber durch die Vermeidung dieser Trauer bleibt man in der Tiefe selber der Verachtete. Denn alles, was in mir nicht großartig, gut und gescheit ist, muss ich verachten. Somit bleibe ich in der Einsamkeit der Kindheit: Ich verachte die Ohnmacht, die Schwäche, die Unsicherheit, kurzum das hilflose Kind in mir und im andern. Das kleine, hilflose, ohnmächtig den anderen ausgelieferte, aber auch das unbequeme oder schwierige Kind bleibt verachtet. Eine Traumserie von Hans kann das illustrieren. Hans, 45, der wegen ihn quälender Zwänge einen zweiten Therapeuten aufsuchte, träumte sich immer wieder mal auf einem Aussichtsturm, der am Rande einer von ihm geliebten Stadt auf einem Sumpfgebiet stand. Von dort aus genoss er einen Überblick über diese Stadt, aber er fühlte sich traurig und verlassen. In dem Turm war ein Lift, und im Traum ergaben sich oft Schwierigkeiten mit der Eintrittskarte oder Hindernisse auf dem Hinweg zum Turm. In Wirklichkeit hat diese Stadt keinen solchen Turm, aber er gehörte eindeutig zu seiner Traumlandschaft und war Hans gut bekannt. Der Traum wiederholte sich häufig und war immer begleitet von Gefühlen der Verlassenheit. Während der Therapie verwandelte er sich schließlich entscheidend. Zunächst war Hans erstaunt, als er einmal träumte, er besäße zwar bereits die Eintrittskarte, aber der Turm sei abgebaut worden, er hätte also keine Übersicht mehr. Hingegen sah er eine Brücke, die dieses Sumpfgebiet mit der Stadt verband. Er konnte so zu Fuß in die Stadt gehen und sah »nicht alles«, aber »einiges aus der Nähe«. Hans, der an einer Liftphobie litt, war irgendwie erleichtert, denn die Liftfahrt im Traum hatte ihm ja auch erhebliche Angst verursacht. Er meinte zu dem Traum, er sei vielleicht nicht mehr darauf angewiesen, immer den Überblick zu behalten, alles zu übersehen, oben zu sein, klüger als die anderen usw. Er könne jetzt ganz gewöhnlich zu Fuß gehen. Um so überraschter war Hans, als es sich später ergab, dass er in einem Traum plötzlich wieder in diesem Turmlift saß und wie in einem Sessellift hochgezogen wurde, ohne irgendeine Angst dabei zu fühlen. Er genoss die Fahrt, stieg oben aus, und es war seltsam, da war ein buntes Leben um ihn herum, es war eine Hochebene, von der man zwar noch den Blick auf die Täler hatte, aber da oben war auch eine Stadt, auf der Straße ein Bazar mit bunten Waren, ein Schulhaus, wo Kinder Ballett übten und er mitmachen durfte (das wäre sein Kinderwunsch gewesen), Gruppen von diskutierenden Menschen, mit denen er zusammensaß und sprach. Er fühlte sich in diese Gemeinschaft integriert als der, der er war. Obwohl der Traum eher seine Wünsche als reale Ereignisse ausdrückte, brachte er doch seine realen Bedürfnisse zum Vorschein: Bedürfnisse zu lieben und geliebt zu werden - jenseits der Leistungen. Dieser Traum hat Hans sehr beeindruckt und beglückt, und er meinte: Meine früheren Turmträume zeigten doch immer meine Isolierung und Einsamkeit. Zu Hause war ich als Ältester meinen Geschwistern immer voraus, meine Eltern waren mir intellektuell nicht gewachsen, mit allen geistigen Belangen war ich allein. Ich musste mein Wissen einerseits demonstrieren, um endlich ernstgenommen zu werden, und es zugleich verbergen, damit die Eltern nicht sagten: ›Dein Studium ist dir in den Kopf gestiegen. Hältst du dich für besser als die anderen, weil du die Möglichkeit hattest zu studieren? Ohne Mutters Opfer und die schwere körperliche Arbeit deines Vaters wärest du nie dazu gekommen. ‹ Das machte mir Schuldgefühle, und ich wollte meine Andersheit, meine Interessen, meine Begabung verbergen. Ich wollte so sein wie die anderen. Aber damit war ich mir doch auch untreu gewesen. «
Also suchte Hans seinen Turm, kämpfte mit Hindernissen (Weg, Eintrittskarte, Angst usw. ), und wenn er oben, d. h. klüger als die anderen war, fühlte er sich allein und verlassen. Es gehört zu den üblichen Widersprüchen, dass Eltern diese Haltung der Missgunst und Rivalität dem Kinde gegenüber einnehmen, es aber zugleich zur höchsten Leistung anspornen und auf seine Erfolge stolz sind. So musste Hans seinen Turm suchen und musste auch gegen Hindernisse kämpfen. Schließlich erlebte er die Revolte gegen den Leistungsdruck und den Stress, und der Turm verSeite 35 von 40
schwand im ersten Traum. Er konnte die grandiose Phantasie aufgeben, alles von oben zu sehen, und durfte sich den Dingen in »seiner geliebten Stadt« (in seinem Selbst) nähern. Erst jetzt wurde Hans klar, wie er sich in der Verachtung von den anderen hatte isolieren müssen und wie er zugleich von seinem wahren Selbst, dem hilflosen, unsicheren Teil, isoliert und getrennt gewesen war. Sobald die Trauer über das Irreversible auftritt, verschwindet regelmäßig die Verachtung. Auch sie diente ja der Verleugnung der vergangenen Realität auf ihre Weise. Denn schließlich ist es weniger schmerzhaft zu denken, man sei selbst daran schuld, dass man nicht verstanden werde. Dann kann man sich noch anstrengen, dem Gegenüber etwas zu erklären, um die Illusion der Verständigung (»wenn ich mich nur richtig ausdrücke«) zu retten.3 Wird aber diese Anstrengung aufgegeben, so muss man erleben, dass das Verständnis an sich nicht möglich war, weil die Verdrängung des eigenen Kindheitsschicksals die Eltern für die Bedürfnisse ihrer Kinder blind machte. Auch bewusste Eltern werden ihr Kind nicht immer verstehen können. Doch sie werden dessen Gefühle respektieren, auch wenn sie sie nicht begreifen (werden) können. In so einem Fall braucht das Kind nicht in der Verachtung Zuflucht vor der schmerzhaften Wahrheit zu suchen, was leider so häufig geschieht. Nationalismus, Fremdenhass, Faschismus sind im Grunde nichts anderes als ideologische Verbrämungen dieser Flucht. Es ist die Flucht vor den quälenden, verdrängten Erinnerungen an die einstmalig erfahrene Verachtung in die gefährliche destruktive Menschenverachtung, die zum Programm erhoben wird. Die einst im verborgenen am Kind verübte Grausamkeit wird zwar in gewalttätigen Jugendgruppen manifest, aber ihr Ursprung in der Kindheit wird nicht nur von den Betroffenen, sondern von der ganzen Gesellschaft noch weitgehend geleugnet.
Befreiung von der Verachtung Die sexuelle Perversion, die Zwangsneurose und die Ideologisierung sind nicht die einzigen Möglichkeiten, die Tragik des ersten Verachtetseins zu perpetuieren. Es gibt unzählige Formen, in denen man sie in feinen Nuancen beobachten kann. Die Enttäuschung des Kindes über die Ablehnung seines Selbst durch seine Eltern findet den Ausdruck zunächst in der gleichen Form, in der sich das Kind von den Eltern abgelehnt fühlte. Das ahnungslose Weitergeben des eigenen familiären Klimas hat verschiedene Gesichter. Es gibt z. B. Menschen, die nie ein lautes oder böses Wort gebrauchen, die nur gut und edel wirken und zugleich einem anderen doch spürbar das Gefühl vermitteln, er sei lächerlich oder dumm oder zu laut, jedenfalls zu gewöhnlich im Vergleich mit ihnen. Sie wissen es nicht und wollen das vielleicht gar nicht signalisieren, aber sie strahlen so etwas aus. Ihr Verhalten schildert die Atmosphäre, die ihre Eltern ausgestrahlt haben und die ihnen nie bewusst wurde. Kinder solcher Eltern haben es ganz besonders schwer, irgendeinen Vorwurf zu formulieren, bis sie es in der Therapie lernen. Dann gibt es auch Menschen, die sehr freundlich sein können, eine Spur gönnerhaft vielleicht, und in deren Gegenwart man sich wie Luft fühlt. Sie vermitteln einem das Gefühl, dass nur sie existieren, nur sie etwas Interessantes oder Relevantes zu sagen haben. Die andern können nur dastehen und sie fasziniert bewundern oder sich enttäuscht und traurig über ihre eigene Nichtigkeit abwenden, aber sie können sich nicht neben ihnen artikulieren. So mag es Kindern von grandiosen Eltern gegangen sein, mit denen zu rivalisieren das Kind keine Chance hatte, und diese Atmosphäre vermitteln sie als Erwachsene ihrer Umwelt ganz unbewusst weiter. Anders wirken Menschen, die als Kinder ihren Eltern intellektuell weit überlegen waren und von den Eltern deswegen zwar bewundert, aber auch mit ihren Problemen allein gelassen wurden, weil die Eltern ihnen nicht gewachsen waren. Diese Menschen können einem zwar das Gefühl von Potenz vermitteln, aber auch gleichsam auffordern, jede aufsteigende Ohnmacht mit intellektuellen Mitteln abzuwehren. In ihrer Gegenwart fühlt man sich in seiner Not nicht gesehen, so wie sie selbst von ihren Eltern, für die sie immer stark sein mussten, nicht mit ihrem Kummer gesehen wurden. Von daher ist es auch zu begreifen, dass es Professoren gibt, die durchaus fähig wären, sich klar auszudrücken, und die doch ihre Gedanken in einer so komplizierten, entfremdeten Sprache bringen müssen, dass der Student sie sich nur in einer Mischung von Ärger und Fleiß aneignen kann, ohne damit etwas anfangen zu können. Möglicherweise wird der Student dabei Gefühle erleben, die seine Lehrer als Kinder bei ihren Eltern unterdrücken mussten. Falls die Studenten selber einmal Lehrer werden, bekommen sie Gelegenheit, ihren Schülern dieses unbrauchbare Wissen als große Kostbarkeit (weil es so viel gekostet hat) weiterzugeben. Es ist für den Erfolg der Therapie eine Hilfe, wenn dem Patienten die destruktiven Muster seiner Eltern zum Erlebnis werden. Aber wie ich schon sagte: Um uns von diesen Mustern ganz zu befreien, brauchen wir mehr als die intellektuelle Einsicht. Wir brauchen den Zugang zu unseren Emotionen. Hat ein Patient dank der emotionalen Verarbeitung der Kindheitsgeschichte seine Lebendigkeit wiedergewonnen, ist das eigentliche Ziel der Therapie erreicht. Es muss dem einzelnen überlassen werden, ob er einer geregelten Arbeit nachgehen will oder nicht, ob er allein oder mit Partnern leben will, ob und gegebenenfalls in welche politische Partei er eintreten will — das sind seine Entschlüsse. Seine Lebensgeschichte, seine Erlebnisse und Erfahrungen werden dabei eine Rolle spielen. Es ist nicht unsere Aufgabe, ihn zu »sozialisieren«, zu erziehen (auch politisch nicht, denn jede Erziehung ist eine Bevormundung) oder ihm »Freundschaften zu ermöglichen« - das ist alles seine Sache. Aber hat jemand wiederholt bewusst erlebt, wie er als Kind manipuliert und geschädigt wurde und welche Vergeltungswünsche das in ihm hinterlassen hat, dann wird er schneller als bisher Manipulationen durchschauen und wird selbst weniger das Bedürfnis haben zu manipulieren. Er wird sich Gruppen anschließen können, ohne ihnen hilflos ausgeliefert oder hörig zu sein, wenn er die Hilflosigkeit und das Ausgeliefertsein in seiner Kindheit erlebt hat. Er wird weniger in Gefahr kommen, Menschen und Systeme zu idealisieren, wenn er deutlich genug gespürt hat, wie er seinerzeit jedes Wort der Mutter oder des Vaters als die höchste Weisheit erlebt hatte. So kann es geschehen, dass er beim Hören eines tatsächlich schlechten Vortrags oder bei der Lektüre eines tatsächlich schlechten Buches zwar zunächst noch einmal die gleiche kindliche Faszination und Bewunderung erlebt wie damals, aber gleichzeitig auch schon die dahinter lauernde Leere oder eine menschliche Tragik erblickt und an ihr erschauert. Einem solchen Menschen 3
Erschütternde Beispiele dafür sind u. a. Werke von van Gogh oder des Schweizer Malers Max Gubler, die mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln vergeblich um das Verständnis ihrer Mütter warben. Seite 36 von 40
kann man nämlich mit faszinierenden, unverständlichen Worten nichts mehr vormachen, weil er an Erlebnissen groß geworden ist. Schließlich wird ein Mensch, der sein eigenes Schicksal in seiner ganzen Tragik bewusst durchlitten hat, auch viel deutlicher und schneller das Leiden des anderen spüren, auch wenn dieser es noch überspielen muss. Er wird über fremde Gefühle, egal welcher Art, nicht spotten können, wenn er die eigenen ernst nehmen kann. Er wird den Teufelskreis der Verachtung nicht mehr weiterdrehen. Diese Entwicklung hat nicht nur persönliche und familiäre Konsequenzen, sondern auch politische. Menschen, die ihre Vergangenheit entdeckt haben, die in ihrer Therapie gelernt haben, ihre Gefühle zu klären und deren reale Ursachen zu erforschen, stehen nicht mehr unter dem Zwang, ihren Zorn auf Unschuldige zu verschieben, um diejenigen zu schonen, die diesen Zorn wirklich verdient haben. Sie sind in der Lage, das Hassenswerte zu hassen und das Liebenswerte zu lieben. Da sie wagen zu wissen, wer ihren Hass verdient hat, können sie sich in der Realität zurechtfinden, ohne in die Blindheit des misshandelten Kindes zu verfallen, das seine Eltern schonen muss und daher Sündenböcke braucht. Die Zukunft der Demokratie hängt von diesem Schritt des einzelnen ab. An Liebe und Vernunft zu appellieren ist solange nutzlos, wie diese Schritte zum Klären der Gefühle verhindert werden. Es ist nicht möglich, den Hass mit Argumenten zu bekämpfen, man muss seinen Ursprung begreifen und ein Instrumentarium verwenden, das die Auflösung des Hasses ermöglicht. Das Erlebnis der starken Emotionen ist befreiend, nicht nur, weil sich der seit der Kindheit verspannte Körper dann »entladen« kann, sondern vor allem, weil dieses Erlebnis uns die Augen für Realitäten öffnet, uns von Illusionen befreit, uns verdrängte Erinnerungen zurückgibt und oft unsere Symptome zum Verschwinden bringt. Daher ist dieses Erlebnis auch stärkend und entwicklungsfördernd. Wenn der Zorn endlich erlebt und als berechtigt verstanden wurde, löst er sich auf. Er meldet sich nur wieder, und zwar mit Recht, wenn sich neue Ursachen zum Zorn ergeben. Doch der ungerechte, auf Unschuldige verschobene Hass ist endlos, er kann sich nie beruhigen. Er ist verwirrend, weil er die Realitäten verschleiert und es unmöglich macht, sie wahrzunehmen. Er ist zerstörerisch, weil er einer verdrängten Geschichte
der Zerstörung entstammt, deren Grausamkeit der Körper in vollem Umfang im Gedächtnis behalten hat. Er vergiftet die Seele, frisst das mentale Gedächtnis auf, tötet nicht nur die Fähigkeit zur Einsicht und zur Einfühlung, sondern im Grunde auch den Verstand. Ein Gebäude, das aus Selbstbetrug erbaut wurde, fällt früher oder später in sich zusammen und zerstört erbarmungslos menschliches Leben. Wenn nicht das des Erbauers, dann das seiner Kinder, die die Lüge der Eltern spüren, aber sie nicht erkennen dürfen und gerade daran zerbrechen. Sie zahlen den vollen Preis für das Ausweichen der Eltern. Ein Mensch, der mit seinen Gefühlen ehrlich, ohne Selbstbetrug, umgehen kann, braucht sie nicht mit Ideologien zu verbrämen und ist daher insoweit keine Gefahr für andere. Die unzähligen Formen der heute so verbreiteten nationalistischen Verwirrungen führen uns deutlich vor Augen, dass es sich hier nur um immer wieder den gleichen Irrsinn handelt, dessen Motive in den verdrängten Gefühlen und Erinnerungen der Verantwortlichen wurzeln und nichts mit rationalen Erwägungen zu tun haben. Der Hass auf das Leben und das Verliebtsein in die Zerstörung sind das, was die Nationalisten in der ganzen Welt einander so ähnlich macht, als trügen sie eine internationale Einheitsuniform. Diese Destruktivität wird aus der gleichen Quelle
gespeist, nämlich aus der gleichen Geschichte der in der Kindheit erfahrenen Qualen, an die man sich entweder gar nicht erinnert oder die man nicht wahrhaben will und die die Gesellschaft bis vor kurzem total geleugnet hat. Heute können wir uns diese Leugnung allerdings nicht länger leisten, weil ihre Risiken explosionsartig wachsen. Menschen, die bereit sind, ihre Geschichte aus dem Dunkel des Vergessens auszugraben, werden auch andere Menschen dazu ermutigen, diesen Schritt zu wagen, und durch ihr erwachtes Bewusstsein mehr Licht und Klarheit in die Dunkelheit der heutigen »Politik« bringen können, als dies bisher möglich war.
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NACHWORT Sechzehn Jahre sind seit dem Erscheinen des Buches Das Drama des begabten Kindes vergangen, Jahre, in denen sich vieles im Bereich der Therapien verändert hat. Verkrustete Strukturen sind aufgebrochen, neue, manchmal auch gefährliche Therapiemethoden hinzugekommen. Ein Buch, sei es noch so einfühlsam geschrieben, kann einen guten Therapeuten nicht ersetzen. Aber es kann uns eventuell bewusst machen, dass wir eine Therapie brauchen, weil es uns mit unseren unterdrückten oder gar verdrängten Gefühlen in Berührung bringt, womit manchmal ein heilsamer Prozess in Gang kommt. Diese letzte Funktion schien das Drama von Anfang an und bis heute zu haben. Meine mit dem Drama begonnenen Versuche, die Vertreter der Psychoanalyse von der großen Bedeutung der Emotionen für die menschliche Entwicklung zu überzeugen, sind im Laufe der Jahre auf zunehmendes Echo gestoßen. Dazu hat auch die Erweiterung unseres Wissens über Traumatisierungen in der Kindheit und die Folgen ihrer Verdrängung beigetragen. Wir verdanken diese Erweiterung teilweise den Medienberichten und zum großen Teil den aufdeckenden Therapien. Neue Perspektiven eröffnen sich heute zusätzlich angesichts der Forschungen der Neurobiologen über das menschliche Gehirn. Antonio Damasio, Autor des bekannten Buches »Descartes' Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn«, München 1995, stellt aufgrund zahlreicher Beobachtungen und Experimente fest, dass Menschen, die durch Unfälle oder chirurgische Eingriffe (z. B. wegen eines Hirntumors) das Zentrum für Emotionen im Gehirn verloren haben, nicht nur nicht fähig sind, überhaupt Gefühle zu empfinden, sondern gleichzeitig auch die Fähigkeit verlieren, Entscheidungen zu treffen und ihr Leben zu organisieren. Die übrigen Sektoren des Gehirns mögen gut funktionieren, andere mentale Funktionen können intakt bleiben, wie es psychologische Tests veranschaulichen, nur im Bereich des Fühlens und Handelns ist ein erheblicher Schaden feststellbar. Es scheint offensichtlich, dass der Zugang zu seinen Emotionen für den Menschen unerlässlich ist, damit er sein Leben organisieren kann. Diese Feststellung erscheint mir besonders relevant für unser Verständnis der Folgen von Kindheitstraumen. Was geschah nun, neurobiologisch gesehen, mit den Kindern, die keine Möglichkeit hatten, ihr emotionales Leben zu entwickeln, Kindern, deren Schicksal ich in diesem Buch beschrieben habe? Könnte es sein, dass sie das spezifische Zentrum im Gehirn, das uns ermöglicht, für uns und andere zu sorgen, gar nicht oder nur ansatzweise, ungenügend entwickeln konnten? Das klinische Material und die hier beschriebenen Beispiele würden eine solche Hypothese bestätigen. Aber umfangreiche Forschungen wären noch durchzuführen, um ihre Richtigkeit zu beweisen. Das würde helfen zu verstehen, weshalb viele missbrauchte und vernachlässigte Kinder, die ihre wahren Gefühle sehr früh unterdrücken und verdrängen mussten, sich später als Erwachsene nicht schützen bzw. nicht gut für sich sorgen können. Und warum manche von ihnen destruktiv und irrational handeln, obwohl sie auf intellektuellem Gebiet sehr leistungsfähig sein mögen. Im Unterschied aber zu Menschen, die durch Unfälle oder Operationen am Gehirn einen irreversiblen Verlust erfuhren, können Opfer von Misshandlungen in der Kindheit als Erwachsene die Fähigkeit zu fühlen nachträglich aufbauen. In einem amerikanischen Gefängnis in Lorton, Virginia, stellte man in einer Langzeitstudie an Schwerstkriminellen fest, dass die Rückfallquote bei Tätern, denen man tagsüber kleine Tiere zur Pflege anvertraute, bei 20% lag, während bei der Vergleichsgruppe, die nicht an dieser »Emotionsschulung« teilgenommen hat, 80% der Täter wieder rückfällig wurden. Dieses Ergebnis zeigt unter anderem, dass Menschen, die früher von ihren Gefühlen getrennt waren, die eigenes wie fremdes Leben dadurch zerstörten, nun endlich in sich Gefühle für ein Lebewesen entwickeln konnten. Die neue Erfahrung ermöglichte ihnen, ihr Bedürfnis nach Liebe nicht mehr abzuwehren, es wahrzunehmen, sich vom Tier geliebt zu fühlen und somit erstmals so etwas wie Selbstachtung zu gewinnen. Häufig verblassen die alten Traumen, sie verlieren an Bedeutung in einer Gegenwart, die dem Betreffenden die Möglichkeit bietet, mit seinen heutigen Gefühlen und Bedürfnissen im engen Kontakt zu bleiben. Insgesamt hat die traditionelle Psychologie bis vor kurzem die Bedeutung der Emotionen zu wenig berücksichtigt. Jetzt werden sie zum Thema zahlreicher Untersuchungen. Es wäre wünschenswert, dass Kinder in Zukunft früh lernen könnten, ihre Gefühle ernst zu nehmen, sie zu verstehen und einzuordnen. Elternhaus, Kindergarten, Schule könnten ihnen Hilfestellung dabei leisten, sobald die Berechtigung, ja Notwendigkeit für diese Form von »Erziehung« endlich anerkannt wird. In diesem Sinne könnten die neuen Untersuchungen der Neurobiologen einen positiven Beitrag zur Aufklärung der Pädagogen leisten. Als ich Ende der siebziger Jahre in meiner Kritik der einseitig intellektuellen Methode der Psychoanalyse die Bedeutung der Gefühlserlebnisse für das seelische Wachstum des Menschen in den Vordergrund stellte, wusste man in Europa noch sehr wenig von den neuen therapeutischen Methoden, die an Gefühlen arbeiteten. Inzwischen sind diese Methoden längst aus den USA auch nach Europa durchgedrungen, und deren Zahl hat sich in den letzten Jahren ums vielfache vergrößert. Körpertherapie, Bioenergetik, Gestalt-, Primärtherapie, Focusing sind nur einige wenige Namen, die die Richtung angeben. Obwohl manche Menschen durch das bloße Erlebnis der Gefühle bereits namhafte Besserungen verspüren, weil ihr Körper dadurch zunächst entlastet wird, gibt es auch zahlreiche Fälle, bei denen sie zur suchtartigen Abhängigkeit von Schmerzgefühlen führen. Das wiederum verstärkt noch die Abhängigkeit vom Helfer, von dem man sich die versprochene Erlösung erhofft. Vor einigen Jahren fragte man sich noch, wie man Menschen zu den intensiven verdrängten Gefühlen führen könne. Heute weiß man, dass es verschiedene Methoden gibt, die sehr schnell helfen, die Abwehr abzubauen. Doch nicht bei jedem ist eine solche Arbeit wünschenswert und gefahrlos. So fördert z. B. die Verdunklung des Raumes im Setting der Primärtherapie bereits sehr stark die Regression, die zur totalen Hilflosigkeit und völlig unkritischen Idealisierung des Therapeuten führen kann. Jeder therapeutische Prozess, aber ganz besonders die Konfrontation mit frühen Traumen, setzt die Fähigkeit und Bereitschaft für eine kompetente und redliche Begleitung voraus. Unter diesem Schutz kann der Klient die Chancen seines erwachsenen Lebens sowie seine Begabungen und Stärken, sein ganzes Heilungspotential nutzen, um die Trauerarbeit über seine Verluste zu leisten, ohne dass er im regredierten Zustand stecken bleibt und sich dadurch unter Umständen von Gurus abhängig macht. Bleibt eine solche Begleitung aus, kann der Klient zum Opfer schwerster Manipulationen werden, wie sie nicht nur in bekannten Sekten, sondern auch in manchen sogenannten Therapiezentren praktiziert werden, die ihrerseits bereits Sektenstrukturen herausbilden. Glücklicherweise gibt es heute auch andere, positive Entwicklungen. Die Tatsache, dass die neuen therapeutischen Möglichkeiten leicht missbraucht werden können, darf nicht den Blick dafür verstellen, dass sie bereits vielfach in redlicher Absicht (mit Vorsicht und Offenheit für kritische Relativierung) genutzt werden. Seite 38 von 40
Die Erfahrungen der Psychoanalytiker in der Arbeit mit Übertragung und Gegenübertragung könnten bei diesen Bemühungen ebenfalls fruchtbar gemacht werden, zumal deren Vertreter ihrerseits heute die neueren Methoden besser kennen als früher. Diese in verschiedenen Methoden ausgebildeten Analytiker werden vielleicht helfen, den exzessiven, unkontrollierten Missbrauch derregressiven Arbeit einzudämmen. Es zeigt sich mit zunehmender Deutlichkeit, dass die Psychoanalyse, was die Anerkennung der Kindheitsrealität betrifft, nicht mehr durchgehend den Freud'schen Standpunkt vertritt und die frühere Rigidität zunehmend aufgibt. Ich habe lange nach Wegen zur vollständigen Aufdeckung meiner Kindheitsgeschichte gesucht. Eine Zielsetzung, die ich inzwischen als nicht realisierbar erkannte. Erst seit ich die Fixierung auf eine »vollständige Auflösung« aufgegeben habe, konnten sich mir neue Wege erschließen und neue Perspektiven auftun.
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DANKSAGUNG Es ist mir ein Anliegen und ein Bedürfnis, vor allem Frau Heide Mersmann aus dem Suhrkamp Verlag für den großen Einsatz, den sie für meine Bücher geleistet hat, meinen herzlichen Dank auszusprechen. In meiner langen und ausgedehnten Aufklärungsarbeit über das Problem der Kindsmisshandlungen konnte ich immer mit ihrer vollen Unterstützung rechnen. Ich verdanke Frau Mersmann nicht nur das sorgfältige, verständnisvolle, einfühlsame und sehr wache Lektorieren dieses Buches, sondern im Grunde noch viel mehr: Seit dem Erscheinen des Dramas vor 15 Jahren wurden die unterschiedlichsten Anliegen der Leserinnen und Leser sowie aller Arten von Institutionen an den Verlag gerichtet. Es war dann immer Frau Mersmann, die diese Anrufe und Briefe mit der gleichbleibenden Freundlichkeit, Umsicht und Klarheit beantwortete. Für die umsichtige und fachkundige Behandlung meines Manuskriptes in allen Phasen, aber vor allem in der letzten, schwierigsten Phase, möchte ich den Herren aus der Herstellungsabteilung des Suhrkamp Verlages danken. Es war nicht immer leicht, die technischen Gegebenheiten mit den sachlichen Notwendigkeiten in Übereinstimmung zu bringen, aber sowohl Herr Rolf Staudtals auch Herr Manfred Wehner taten alles, was möglich war, meine Bemühungen um die Integrität des Textes zu unterstützen. Ihnen gilt hier mein verbindlichster Dank. Meine Dankbarkeit für die vielen Zuschriften der Leserinnen und Leser spricht bereits aus vielen Seiten dieses Buches, doch ich möchte sie an dieser Stelle deutlich zum Ausdruck bringen. Viele von ihnen haben eigentlich in diesem Buch »mitgeschrieben«, ohne es zu ahnen, doch sie müssen anonym bleiben, weil ihre Mitteilungen vertraulich waren. Ihre Geschichten, ihre tragischen, oft unfassbaren Schicksale und schließlich ihre enttäuschenden Erfahrungen mit ahnungslosen oder unredlichen Therapeuten aller möglichen Richtungen führten mir immer wieder vor Augen, wie leicht die Tragik der in ihrer Kindheit misshandelten Menschen missbraucht werden kann. Es tat mir immer wieder sehr leid, die zahlreichen Briefe, die mich erreichten, nicht persönlich beantworten zu können. Dafür gab es mehrere Gründe. Heute habe ich neue Möglichkeiten, auf spezifische Fragen der Leserinnen und Leser einzugehen, und mache von ihnen Gebrauch. Ich hoffe aber, dass viele der früheren Briefeschreiberlnnen in der nun vorliegenden Um- und Fortschreibung meine Antworten auf ihre Briefe (wie auch mein Gefühl der tiefen Verpflichtung) ohne weiteres erkennen werden. Zum Schluss möchte ich meinen Freunden und Kollegen danken, die mir mit ihrer Zuwendung und Offenheit immer wieder helfen, alte Fixierungen aufzugeben und neue Entwicklungen in Wissenschaft und Therapie wahrzunehmen.
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