Im Bann des Kindes von Timothy Stahl
Spitz stach die Nase aus dem gelblichen Gesicht. Die Haut war hart, trocken, lede...
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Im Bann des Kindes von Timothy Stahl
Spitz stach die Nase aus dem gelblichen Gesicht. Die Haut war hart, trocken, ledern geworden. Die Augen waren tief in die Höhlen zurückgesunken. Mariah war kaum Zwanzig und sah doch wie eine Hundertjährige aus. Die letzten Wochen hatten ihre Kräfte aufgezehrt. In Tagen hatte sie Jahre verloren. Dennoch hatte sie jedes einzelne mit Freuden hingegeben. Zu seinem Wohle … Noch jetzt, da der Tod ihr nahe war, hing der Blick ihrer glanzlosen Augen an ihm. Und wenn noch irgend etwas darin war, so war es die Liebe zu ihrem Sohn. »Gabriel …« Der Junge brachte sein kleines Gesicht dicht an ihres heran. Seine Lippen berührten die ihren, die längst kalt und blutleer waren. Und sogen ihren letzten Atemzug auf. Gabriel schloß seiner Mutter die Lider, ehe er sich abwandte und das Totenzimmer verließ. Lächelnd.
Was bisher geschah Das Geschlecht der Vampire steht vor seinem Untergang, als sich Lilith, Urmutter aller Blutsauger, mit Gott versöhnt. Er »impft« den Lilienkelch mit einer Seuche, die alle Sippenoberhäupter rund um den Globus infiziert. Landru, einer der ältesten Vampire und Kelchhüter, setzt unwissentlich die Seuche frei. Sie wird von den Oberhäuptern auf ihre Sippen übertragen. Die infizierten Vampire – bis auf die Anführer selbst – werden von einem unbändigen Durst nach Blut befallen und altern rapide. Lilith Eden, Tochter einer Vampirin und eines Menschen, erhält den Auftrag, auch die letzten überlebenden Vampire zu vernichten. Aber auch das Böse reagiert. In einem Kloster in Maine, USA, gebiert die junge Nonne Mariah einen Knaben. Als kurz darauf ein infizierter Vampir eintrifft, wird er von dem Kind geheilt! Doch die Vampire, die daraufhin zum Nonnenstift pilgern, werden getäuscht. Der Knabe entzieht ihnen alle Kraft und Erfahrung und wächst dabei um gut drei Jahre. Sowohl die Vampirseuche als auch die Geburt des Kindes haben das Weltgefüge auf einer spirituellen Ebene erschüttert. Rund um den Erdball träumen para-sensible Menschen von unerklärlichen Dingen und möglichen Zukünften. Eine geheime Organisation, die dem Anschein nach mit dem Vatikan in Verbindung steht, schickt »Gesandte« aus, um diese Menschen anzuwerben. Ausgenommen von der Seuche ist ein zweigeschlechtlicher Vampir, der kurz zuvor künstlich geschaffen wurde, aber der Kontrolle der Blutsauger entglitt. Sein genetisch verankerter Auftrag lautet, sich zu vermehren, und das will er auf einem Tanker, der Richtung Alaska ausläuft. Doch seine Brut wird bei einem Brand vernichtet; er selbst entkommt ins Eismeer. Dort findet ihn die Besatzung eines Versorgungsschiffs, das zu einer abgelegenen Forschungsstation der Amerikaner unterwegs ist,
und fischt ihn aus dem Wasser – ein Todesurteil für die Männer und die Station. Der Genvampir wütet wie ein Berserker und zieht weiter. In einem Dorf der Inuit wird er wie ein Gott aufgenommen und legt dort weitere Eier – bis ihn Landru aufspürt, der seiner Spur gefolgt ist. Der mächtigste der Alten Rasse erkennt, daß der Genvampir, der zudem immun ist gegen christliche Symbole, die Erde unkontrolliert mit Nachkommen überschwemmen würde. Er beschließt, ihn zu vernichten. Dabei kommt ihm unverhofft Lilith Eden zur Hilfe, die ebenfalls die Fährte des Genvampirs wieder aufgenommen hat, nachdem er ihr in New York knapp entkam. Der unerbittliche Kampf gegen den Homunkulus schweißt die beiden Erzfeinde zusammen. Gemeinsam gelingt es, ihn zu töten – doch eines seiner Eier wird von einem Schamanen fortgeschafft … Clarence Mirvish ließ sich auf einem Felsblock nieder. Dabei nahm er den Rucksack ab, kramte nach seinen Rauchutensilien, und schließlich saß er pfeifeschmauchend da, eingehüllt in eine würzigduftende Wolke, die wie vom Himmel gefallen aussah. Der Blick seiner eisgrauen Augen wanderte über die wildromantische Landschaft des Cape Breton Hochlandes, so gemächlich, wie er selbst sie eben noch durchstreift hatte. Mirvish genoß diese Momente, so wie er sie jedesmal genoß, bevor die Touristen zu ihm aufgeschlossen hatten. In diesen Minuten gehörte dieser Teil seiner Heimat stets ihm allein. Er mußte ihn nicht mit der Neugier all jener teilen, die in zunehmend größerwerdender Zahl aus fast aller Welt nach Nova Scotia kamen, weil die Tourismusbranche die vom Meer umspülte kanadische Provinz mehr und mehr zu erschließen begann. Clarence Mirvish hatte sich irgendwann vor der Wahl gesehen, seine Heimat entweder in die Hände der Fremden fallen zu lassen, die ihren Zauber über kurz oder lang – und vermutlich noch nicht einmal böswillig – zerstören würden, oder sich schützend zwischen
die Urlauber und Nova Scotia zu stellen, einem Wächter gleich, der den Fremden zwar erlaubte, alles anzusehen, jedoch auch dafür Sorge trug, daß sie nichts »berührten«. Und so führte Mirvish die Fremden seit nunmehr einigen Jahren dreimal wöchentlich durch die Cape Breton Highlands, wies ihnen die majestätische Anmut der Berge und Tundren und zeigte ihnen – aus der Ferne – die ursprünglichsten Bewohner dieses herrlichen Landstrichs, Adler und Elche. Daß er als Wanderführer auch mehr verdiente als in seinen vorherigen Jobs, war für Clarence Mirvish nur von allenfalls zweitrangiger Bedeutung gewesen. Aber es war in seine damalige Entscheidung sicher zu einem kleinen Teil miteingeflossen. All dies änderte jedoch nichts daran, daß er die Fremden nicht mochte. Nicht wirklich zumindest. Und er hütete sich, es sie tatsächlich spüren zu lassen. Die eine oder andere kleine Bosheit allerdings vermochte er sich dennoch nicht zu verkneifen. Wie jene beispielsweise, daß er sich gelegentlich von der Gruppe »absetzte«. Im Laufe der Zeit hatte Mirvish einen speziellen Schritt entwickelt, der es im erlaubte, schneller voranzukommen, ohne daß er den Anschein erweckte, zu rennen. So ließ er die Touristengruppen oft zusehends hinter sich – natürlich nur dort, wo die Wege sicher waren – und erwartete sie dann in einiger Entfernung, mit gespielt vorwurfsvollem Blick und ein paar allgemeinen Bemerkungen über »verweichlichte Großstädter« … So hockte er auch diesmal an einem jener Punkte, wo er auf die Touristen zu warten pflegte. Diesen Stein hier hatte er seiner besonderen Form wegen »Clarences Thron« getauft, und er hatte sich sogar eine kleine Geschichte dazu einfallen lassen. Daß schon sein Vater und Großvater und dessen Vater oft hier gesessen hätten und daß der Fels deshalb in den Familienbesitz übergegangen wäre. Er erzählte diese Mär immer dann, wenn einer unter den Fremden
war, der mit Beschwerden über seine Rücksichtslosigkeit und dergleichen drohten. Diesmal jedoch würde Mirvish sie nicht erzählen müssen. Er hörte es am schleppenden und schleifenden Geräusch der Schritte, die sich ihm näherten. Und wenig später mischten sich erste keuchende Atemzüge hinein. Keiner dieser Leute würde noch genug Luft haben, um sich zu beschweren … Clarence Mirvish sah lächelnd hinaus auf das wogende Grau des Atlantiks, wo das Licht des Tages allmählich zu sterben begann. Es wurde Zeit für den Rückweg. Er würde den Fremden keine lange Verschnaufpause gönnen dürfen. Mirvishs Lächeln vertiefte sich eine Spur, und hätte ihn jemand gesehen, hätte er gutmütige Häme in seinen wettergegerbten Zügen gesehen. Er wartete, bis er gehört hatte, daß sich auch der letzte Nachzügler hinter ihm zu Boden hatte fallen lassen, und dann noch zehn Sekunden. Dann klopfte er die glühenden Tabakreste am Stein aus dem Pfeifenkopf, die der Wind als rotglimmende Flocken über die Felsen wehte, verstaute sein Rauchzeug sorgfältig im Rucksack und erhob sich. »Ladies, Gents«, sagte er, »wir müssen weiter.« Sein Blick glitt über die zehnköpfige Truppe, die ihm wie einem Feldherrn zu Füßen lag. Durch die Bank sah er gerötete Gesichter, und hinter der Erschöpfung erkannte er zumindest in einigen Augenpaaren etwas, das ihn – hätte es ihn getroffen – tot zu Boden hätte gehen lassen. Mirvish zwang wenigstens einen Anflug von Bedauern in seine Miene. Es tut mir leid, aber …, wollte er fortfahren. »Fünf Minuten«, bettelte ein Mann im angeblich besten Alter, und es klang, als bäte ein zum Tode Verurteilter seinen Henker um einen winzigen Aufschub, weil er doch noch auf den rettenden Anruf des Gouverneurs hoffte.
»Sorry«, sagte Mirvish. »Aber es wird bald dunkel, und dann bleibt uns nichts anderes übrig, als hier draußen zu übernachten.« Und er fügte hinzu: »Leider ist der Komfort hier oben nicht halb so gut wie in Ihrem Hotel unten im Tal.« Ein junger Mann stand auf, allerdings nicht halb so mühelos, wie er es offensichtlich beabsichtigt hatte. »Kommt schon, Leute, auf die Beine!« rief er. »Ich habe keine Lust, mir heute nacht hier draußen den Arsch abzufrieren!« Ein Ächzen und Raunen lief durch die Gruppe wie eine Welle. Fast eine Minute verging, bis schließlich auch der Letzte wieder auf den Beinen war. Clarence Mirvish hob den Arm und winkte den Leuten, ihm zu folgen. Dann trat er auf den Felspfad, der sich in schmalen Kehren an der Bergflanke hinabwand. Die Lichter von Meat Cove stanzten helle Punkte in die Dämmerung, die die Nordküste fast schon verschlungen hatte. Sie schienen erlösend nahe, doch Mirvish wußte, daß der Eindruck täuschte. Sie würden noch knapp zwei Stunden brauchen, um in dem kleinen Fischerdorf anzukommen. Wenn sie sich beeilten … Mirvish grinste und schritt weiter aus. Das Stöhnen hinter ihm war Musik in seinen Ohren. Keiner von denen würde je wieder einen Fuß auf Nova Scotia setzen. »Was ist denn das?« Jemand rief die Worte, doch Clarence Mirvish hörte sie trotzdem kaum. Er ging der Gruppe inzwischen über fünfzig Meter voran. Jetzt blieb er stehen und wandte sich um. »Ein Schloß?« fragte ein anderer aus der Gruppe. Die Blicke aller gingen schräg den Berghang hoch, wo sie sich an einem Punkt trafen. Ein kantiger Schatten wuchs dort einem unförmigen Geschwür gleich aus der felsigen Flanke. »Kilchrenan Castle!« rief Mirvish, während er ein paar Schritte zurücklief. »Ein schottischer Earl hat es vor fast zweihundert Jahren
nach dem Vorbild seines Familiensitzes hier bauen lassen. Aber damit hat er das Vermögen seiner Familie vermutlich so arg geschröpft, daß die Sippschaft alsbald am Hungertuch nagte. In jedem Fall steht der Kasten seit Jahrzehnten leer.« Einen Moment lang herrschte Schweigen; nur der rauhe Wind pfiff über die Felsen. Dann sagte einer: »Da scheinen Sie aber nicht richtig informiert zu sein, Mr. Mirvish.« »Wie?« Clarence Mirvish wandte den Kopf und sah hinauf zu dem trutzigen Gebäude, in dem all das vereinigt schien, was Architekten zur damaligen Zeit an schlechten Ideen mit sich herumgetragen hatten. Mirvish hatte Kilchrenan Castle schon immer für ein ausgesprochen unansehnliches Bauwerk gehalten. Doch tief in sich wußte er, daß es mehr als nur das war. Doch seine wahren Vorbehalte erlaubte er sich nicht einmal sich selbst gegenüber in Worte zu fassen. Jedenfalls war es bisher so gewesen. Jetzt änderte sich das. Im schwarzwattigen Zwielicht schimmerten dort drüben plötzlich gelblichweiße Lichter. Und Clarence Mirvish fühlte sich von ihnen angestarrt wie von den Augen eines Dämons. »Da scheint doch jemand zu wohnen«, meinte jemand. »Scheint so«, murmelte Mirvish. Er bezweifelte, daß auch nur einer der Fremden sah, was er sah. Seine Augen konnten fast mit denen eines Adlers konkurrieren, und auch bei den herrschenden Sichtverhältnissen sah er noch sehr gut. Was er sah, war an sich harmlos. Und vielleicht erschreckte ihn gerade deshalb, was mit ihm geschah: Clarence Mirvish schauderte, als wäre die Temperatur von einer Sekunde zur anderen um mindestens vierzig Grad gefallen. Und das nur … weil dort drüben, auf dem höchsten Turm von Kilchrenan Castle – – jemand stand und ihm zuwinkte? Ein kleiner Junge?
Clarence Mirvish wandte sich ab und lief weiter. Und er hatte alle Mühe zu verhindern, daß er jetzt wirklich rannte.
* »Gabriel!« Der Junge hörte seinen Namen, aber er machte keinerlei Anstalten, sich darum zu scheren. Unverwandt blieb er zwischen den Turmzinnen stehen, die ihm fast bis zum Kinn reichten. Lächelnd schaute er hinunter zu den Menschen, von denen ihn zumindest einer gesehen hatte. Und dieser eine hatte zu laufen begonnen, als er ihm zugewinkt hatte. So eilig hatte es der weißhaarige Mann mit einemmal, als säße ihm der Leibhaftige selbst im Nacken … Gabriels blasse Lippen zogen sich ein klein wenig mehr in die Breite, während der Wind an seinen Kleidern zupfte und zerrte – und ihn schließlich regelrecht packte. Nein, es war nicht der Wind. Es waren Hände. Der Junge wußte es längst, und hätte er nicht zuvor schon die Stimme vernommen, so hätte es ihm der Geruch verraten, den der Wind zu ihm herangetragen hatte. Gabriel hob den Blick. »Du wirst dich erkälten«, sagte die alte Frau. »Nein, werd’ ich nicht«, behauptete Gabriel sicher, aber keineswegs trotzig, wie es anderen Kindern seines Alters vielleicht eigen sein mochte. »Ich möchte trotzdem nicht, daß du dich hier herumtreibst«, erwiderte sie. »Ist gut.« Gabriel sah sie folgsam an. Er hatte getan, weswegen er den Turm erstiegen hatte. Gewiß, er hätte es von jedem anderen Ort aus genauso tun können. Aber der Platz hier oben schien ihm – geeigneter dafür, richtiger. Von hier aus, wo es keine störenden Mauern gab, mochten die Gedanken viel-
leicht ein klein wenig weiter tragen, mochten die Träume ihr Ziel eher erreichen … Der Junge lächelte zufrieden. »Komm«, sagte die Frau. Brav legte Gabriel seine kleinen Finger in die dargebotene Hand. Kalt war sie. Totenkalt. Und knochenhart. Die Frau führte den Jungen zur Treppe. Seite an Seite gingen sie die Stufen hinab. Jennifer wartete. Gabriel würde ihr geben, wonach ihr verlangte. Und er würde ihr nehmen, was sein war. So wie er es Mariah genommen hatte. Er war ein guter Junge, und er wollte groß und stark werden. Ihre Schritte hallten laut von den kahlen Wänden Kilchrenan Castles wider. Und dazwischen vernahm Gabriel noch etwas. Ein trockenes Schaben wie von trockenen Hölzern, die aneinander rieben. Der Junge wandte den Kopf, und sein Blick fiel durch eines der Löcher im einstmals so prunkvollen Kleid der Frau. Die graue Haut an ihrem Knie war aufgeplatzt, und darunter bewegten sich knirschend ihre Knochen, von mürbe gewordenen Sehnen und Muskeln kaum den Blicken verborgen. Gabriel starrte darauf. Solange, bis die Wunde sich schloß. Jennifer Sebree würde am Ende noch die Lust vergehen, wenn er ihr einen solchen Anblick zumutete … Der Junge lächelte wieder. Und lachte schließlich. So laut, daß Kilchrenan Castle wie unter Donnerschlägen erbebte.
* Ich hätte ihn töten sollen! Der Gedanke war in den vergangenen Tagen zu Liliths stetem Begleiter geworden. Wieder und wieder dachte sie an ihre Begegnung mit Landru.
In Alaska hatte sie Seite an Seite mit ihm gekämpft. Mit ihm, dem Mächtigsten der Alten Rasse, dem ältesten aller noch lebenden Vampire. Ihrem Todfeind … Seit nunmehr über zwei Jahren schwebte Landru wie ein dunkler Schatten über ihr. Seit Lilith in ihrem Elternhaus an der Paddington Street im australischen Sydney erwacht war, wo sie achtundneunzig Jahre lang ihrer wahren Bestimmung entgegengeträumt hatte. Diese wahre Bestimmung hatte sie mittlerweile erfüllt: Am Anfang der Zeit hatte die Ur-Lilith, die Mutter der vampirischen Rasse, sich mittels ihrer Hilfe mit dem Schöpfer allen Seins ausgesöhnt. Und Lilith hatte eine Zeitlang geglaubt, Landru wäre in den Wirren dieser Ereignisse umgekommen oder wenigstens doch verschollen. Aber er hatte die Ereignisse, wie sie selbst, überstanden. Und er verfolgte sie noch mit demselben abgrundtiefen Haß wie zuvor. Damals hatte er, ohne Liliths Bestimmung zu kennen, verhindern wollen, daß sie ihr Ziel erreichte. Heute gab er ihr die Schuld am Untergang der Alten Rasse und wollte sie dafür zur Rechenschaft ziehen. Obwohl er selbst es war, der – unwissentlich – den Tod über sein Volk gebracht hatte, indem er den Lilienkelch, das Unheiligtum der Vampire, benutzt und damit den von Gott hineingesäten Todeskeim freigesetzt hatte. Er war über die Sippenoberhäupter in aller Welt gekommen und hatte sie zu Trägern der Seuche gemacht, mit der sie ihre Kinder infizierten und dem Tode weihten. Die Vampire gingen elend zugrunde. Blut vermochte ihren Durst nicht mehr zu stillen und sie nicht mehr zu kräftigen. Sie verfielen, verfaulten bei untotem Leibe und starben. Nur die Oberhäupter waren davon ausgenommen. Sie zu richten, war Lilith Edens Aufgabe, die Gott selbst ihr auferlegt hatte. Als Buße für all das, was sie einst, ihrer Menschlichkeit beraubt, an Leid über Menschen gebracht hatte. Erst wenn der letzte Vampir auf Erden tot war, würde sie Erlösung finden und von ihrem vampiri-
schen Erbe befreit werden, um zur Gänze Mensch zu sein. Ein Ziel, das nicht weiter entfernt liegen konnte. Lilith verbat es sich, länger darüber nachzudenken. Denn jeder einzelne Gedanke daran barg Verzweiflung in sich und zehrte an ihren Kräften, von denen sie jedes Quentchen brauchte, wollte sie ihre Pflicht überhaupt je erfüllen können. Und nun war also auch Landru wieder in ihr Leben getreten, und das bloße Wissen darum machte ihren Kampf noch schwerer. Denn er würde sich wieder an ihre Fersen heften, würde nicht eher ruhen, bis sie sich von neuem gegenüberstanden. Und Lilith war nicht sicher, ob sie ihm gewachsen sein würde. Denn ihn beseelte eine Kraft, über die sie nicht zu verfügen mochte. Sein Haß war so mächtig, daß sie ihm nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen hatte. Noch nicht wenigstens. Denn vielleicht würde die Zeit ihr helfen, sich mit der noch immer ungewohnten Situation zu arrangieren. Dennoch – sie hätte die Chance gehabt, Landru zu vernichten. Vielleicht … Es lag wohl an diesem Vielleicht, daß sie es letztlich nicht getan hatte, als er, sein Körper von Schüssen zerfetzt, dagelegen hatte. Sie wußte nicht, wieviel Kraft noch in ihm gewesen war. Vielleicht mehr als zuvor, genährt vom drohenden Tod; und vielleicht wäre es genug gewesen, um gegen Lilith zu bestehen … Zudem war alles so schnell gegangen, nachdem sie gemeinsam mit der Vampirbrut aus der Retorte aufgeräumt hatten. Dieses gemeinsame Ziel hatte sie für kurze Dauer zusammengeführt, wenn auch aus unterschiedlichen Beweggründen. Lilith hatte eine erwachsende Gefahr ausmerzen wollen, Landru hatte die neue Rasse nicht für würdig befunden, an die Stelle der Alten zu treten. Und so hatten sie die Genvampire, die ursprünglich in einem Labor in Sydney herangezüchtet worden waren, vernichtet. Ausgerottet. Restlos.
So hofften sie … Danach hatte Landru sich auf Lilith stürzen wollen, doch sie war von einem Freund, den sie zuvor gefunden hatte, gerettet worden. Und noch bevor sie ihn in Gefahr bringen konnte, war Lilith geflohen und hatte Landru unbehelligt zurückgelassen. Sie vermutete, daß es Tage dauern würde, bis sein verheerter Körper sich dank seiner dunklen Kraft regeneriert haben würde, und sie wollte diese Tage nutzen, um eine möglichst große Distanz zwischen ihn und sich selbst zu bringen. Bis Saskatoon in der kanadischen Provinz Saskatchewan war sie mittlerweile gekommen. Nachdem sie eine Weile in Calgary am Fuße der Rocky Mountains zugebracht hatte, wo die Auswirkungen des Vampirsterbens ebenfalls unübersehbar gewesen waren. Lilith hatte das dortige Sippenoberhaupt ausfindig gemacht und gerichtet, sein schwarzes Blut getrunken. Denn dies war ein weiterer Teil des Fluches, mit dem der Schöpfer sie belegt hatte – vom Blut der Vampire mußte sie sich seither nähren. Es sollte ihr Ansporn sein, nicht nachzulassen in ihrem Kampf gegen die Alte Rasse … Jetzt also befand sie sich nahe Saskatoon, auf einem Rastplatz am Rande des Highways. Das Licht der untergehenden Sonne verwandelte den Parkplatz in ein Meer kupferfarbener Blitze. Chrom und lackierter Stahl schimmerten wie mit Blut bestrichen, während Lilith zwischen den scheinbar endlosen Reihen abgestellter Trucks hindurchging. Das Brummen von Kühlaggregaten lag wie meditativer Gesang in der Luft. Aber er vermochte die Halbvampirin nicht zu beruhigen. Im Gegenteil, sie sah sich immer wieder um, fast unbewußt, als erwartete sie, eine Gestalt aus den Schatten treten zu sehen. Eine hochgewachsene, kräftige Gestalt, dunkel gekleidet, das Haar im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengefaßt und die Wange von einer kreuzförmigen Narbe verunstaltet …
Die letzten Schritte bis zum Restaurant rannte sie beinahe. Lilith hatte die Musik und die Stimmen sowie das Klappern von Geschirr und Besteck schon von draußen gehört. Doch es kam ihr jetzt, da sie das Restaurant betrat, beinahe leiser vor als eben noch. Was daran lag, daß sich nahezu alle Blicke ihr zuwandten, kauende Münder wie plötzlich gelähmt erstarrten und Gespräche mitten im Satz abgebrochen wurden. Lilith war es gewohnt, Aufsehen dieser Art zu erregen. Und an einem Ort wie diesem, der zu nahezu hundert Prozent in männlicher Hand war, mußte ihr Auftauchen in etwa die Wirkung einer Bombe haben. Einer Bombe, die männliche Phantasien explodieren ließ. Obwohl Lilith ihren Symbionten, ihr wandelbares Kleidungsstück, veranlaßt hatte, sie züchtig und hochgeschlossen zu kleiden. So trug sie Jeans, einen weiten Rollkragenpullover und darüber einen beinahe unförmigen Parka. Aber jeder der hier versammelten Trucker schien über Röntgenaugen zu verfügen, denn Lilith fühlte regelrecht ihre Blicke auf ihrer Haut. Sie versuchte alles Aufreizende aus ihrem Gang und ihren Bewegungen zu verbannen und strebte einem freien Tisch zu – an dem sie allerdings nicht lange alleine blieb. Was auch nicht ihre Absicht gewesen war, denn schließlich wollte sie fort von hier – möglichst schnell und vor allem möglichst weit! Allerdings verwunderte es Lilith, daß es ausgerechnet zwei Frauen waren, die die beiden freigebliebenen Plätze an ihrem Tisch besetzten. »Kindchen, was treibt dich denn hierher?« fragte die Rothaarige kopfschüttelnd und mit lauerndem Blick in die zwar noch immer gaffende Runde, in der der Lautstärkepegel jedoch allmählich wieder zunahm. »Bitte?« machte Lilith. Ihr Gegenüber, der Kleidung nach zu schließen zweifelsfrei eine Truckerin, grinste. »Du wirfst dich den Wölfen zum Fraß vor.« Ihre
Kopfbewegung galt den männlichen Kollegen ringsum, die ihr Interesse an Lilith einfach nicht verlieren wollten. Lilith lächelte. »Oh, ich weiß mich meiner Haut durchaus zu wehren«, sagte sie und fügte in Gedanken hinzu: Wenn du wüßtest, wie gut! »Trotzdem«, erwiderte die Truckerin mit der feuerroten Mähne, »das ist kein Ort für Mädchen wie dich.« »Wer sagt das?« »Oh, Verzeihung«, entgegnete die Truckerin, »mein Name ist Kitty Brody, und das ist meine Partnerin Judy Lorraine.« Sie wies auf die Blondine, die bislang noch nichts gesagt hatte. »Und mit wem haben wir das Vergnügen?« »Lilith. Lilith Eden.« »Ungewöhnlicher Name«, meinte Kitty. »Aber hübsch.« »Danke.« »Und was treibt dich nun hierher, Lilith Eden?« »Ich suche eine Mitfahrgelegenheit.« Kitty grinste. »Da könntest du Glück haben. Wohin möchtest du denn?« Lilith verstand den Wink mit dem Zaunpfahl. »Wohin fahrt ihr denn?« »Nach Süden«, ließ sich nun zum erstenmal Judy Lorraine vernehmen. »Bis nach Albuquerque, New Mexico.« »So ein Zufall. Das wäre genau meine Richtung«, erklärte Lilith, und sie legte mädchenhafte Begeisterung in ihre Stimme. »Fahrt ihr heute noch los?« Die beiden Truckerinnen schüttelten synchron die Köpfe. »Morgen früh geht’s los«, antwortete Kitty. Diesen Vorsatz hatten Kitty Brody und Judy Lorraine in der nächsten Minute jedoch vergessen. Lilith hatte den beiden nur einmal tief in die Augen sehen müssen, um sie »umzustimmen« und die Abfahrt auf heute abend vorziehen zu lassen.
»Dann los!« meinte Kitty. »Möchtest du vorher noch etwas essen oder trinken?« fragte Judy an Lilith gewandt. Die Halbvampirin schüttelte lächelnd den Kopf. »Es steht nichts auf der Karte, was meinen Geschmack trifft.« Unter den anzüglichen Zurufen der Trucker verließen sie den Stop. »Hey, Kitty, hat die Kleine eigentlich ‘ne gute Lebensversicherung?« hörte Lilith einen, als sie schon beinahe draußen waren. »Halt die Klappe, Lefty«, rief Kitty Brody zurück. »Was meint er?« fragte Lilith. »Ach, dummes Geschwätz«, meinte Kitty. Sie liefen auf einen langhaubigen Kenworth-Truck zu, der in den Farben der Südstaaten bemalt war. »Das ist unser General Lee«, sagte Kitty und schloß die Türen auf. »So lautet unser CB-handle«, erklärte Judy. Sie kroch durch die schmale Öffnung in den Sleeper des Trucks. »Ich lege mich erst mal aufs Ohr. Du kannst auf den Shotgun-Sitz.« »Shotgun?« »Beifahrersitz für Zivilisten«, lächelte Kitty. Sie saß hinter dem Lenkrad des Trucks, startete den Diesel und fuhr los. Und Lilith wußte, was es mit der Frage des Truckers nach ihrer Lebensversicherung auf sich hatte, noch bevor sie den Highway erreichten. Denn Kitty Brody hatte alle Hände voll zu tun, mit dem Kenworth die Ausfahrt zu »treffen« – die breit genug für vier Trucks gewesen wäre …
* Jennifer Sebree fror. Dutzende von Blicken strichen über ihren Körper, kalten Händen gleich, und jeder hinterließ eine eisige Spur, die sich schmerzhaft in
ihre samtene Haut gruben. Und doch genoß sie den Schmerz und die Blicke. Denn es waren seine Augen, die sie ansahen. Anstarrten. Aus Dutzenden von Bildern heraus, die sie gemalt hatte in all den Tagen, die sie nun schon hier zubrachte. In den Stunden, da er nicht bei ihr war. Das Malen half ihr, die Zeit ohne ihn zu überstehen. Ihre Erinnerungen an ihn und das, was er mit ihr tat, lebten in Pinselstrichen und Farben weiter, und sie fühlte sich ihm wenigstens nahe. Auch wenn das Gefühl kein Ersatz für das wirkliche Zusammensein mit ihm war. Jedes Gemälde, das an den steinernen Wänden ihres Zimmers hing, war ein Gedanke. Zeugnis dessen, wonach sie sich sehnte und was er ihr immer wieder und immer wieder auf neue, nie zuvor erfahrene Weise angedeihen ließ. Rot war die Farbe, die in jedem Bild Verwendung fand. Rot wie Blut. Denn stets floß Blut, wenn sie zusammen waren. Süßer Schmerz badete ihren Körper, mengte sich mit dem Feuer, das er in ihr entfachte. Mit seinem Feuer. Jennifer sehnte sich danach. So sehr, daß es weh tat. Denn nur sein Feuer konnte die Kälte vertreiben, die alles in ihr wie mit Frost umkrustete, ihr die Luft zum Atmen nahm. Jennifer zitterte wie in kaltem Fieber. Sie taumelte auf jenes Bild zu, das als einziges nichts zeigte außer einem Blick in einen leeren Himmel, dessen unterer Rand von schneebedeckten Berggipfeln gesäumt wurde. Das Gemälde war nicht immer so leer gewesen. Es war das erste gewesen, das ihn gezeigt hatte – ihn und sie selbst. Darin hatten sie sich gefunden, und das Bild hatte sie zueinander geführt. Hierher, an diesen Ort.
Jennifer stürzte darauf zu, streckte gerade noch die Arme aus, um sich an der Mauer links und rechts des Gemäldes abzustützen, ehe ihr Kopf – – in das Bild tauchte wie durch ein Fenster. Hinaus in frostklirrende Luft, in eine Stille, in der nichts Lebendiges war – und die noch in derselben Sekunde unter einem Schrei erzitterte. »Komm!« Jennifer rief es mit letzter Kraft. Die Kälte nahm zu, wurde lähmend und fror ihr den Schrei auf den Lippen fest. Donnergrollen ließ alles um sie her vibrieren. Donner, der wie das Gelächter eines finsteren Gottes klang … Der unsinnige, wirre Gedanke verflog, kaum daß er in Jennifers froststarrem Geist aufgetaucht war. Eine Hand faßte ihre Schulter, zog sie zurück. Und augenblicklich floß Wärme in sie. Seine Wärme … Er drehte sie zu sich um, nahm sie ohne sichtliche Anstrengung auf seine starken Arme und trug sie hinüber zum Bett. Jennifer war nackt, so wie sie es seit ihrer Ankunft hier war. Und er war es ebenfalls, als er über sie kam. Sie lächelte, als sie daran dachte, daß sie einst Ekel vor ihm empfunden hatte. Beim allerersten Mal, als seine hornigen Lippen die ihren berührt hatten. Jetzt hatte sie nicht einmal mehr Hemmungen davor, das gewundene Gehörn zu berühren, das seiner Stirn entwuchs. Sie schloß die Finger darum und zog seinen Kopf, der nicht der eines Menschen war, langsam zu sich herab. Willig gab sie dem Drängen seiner Zunge nach, ließ sie in ihren Mund eindringen. Der heiße Atem aus seinen sich blähenden Nüstern sengte über ihr Gesicht, rötete ihre Haut und schürte das Feuer, das die Berührungen seiner Hände überall zugleich entfachten, zusätzlich an.
Jennifers Hände fuhren durch das zottige Fell in seinem Nacken und tiefer, wo es borstig wurde und schließlich überging in nackte Haut. Sie hob ihm ihr Becken einladend entgegen, doch er verweigerte ihr den Beginn der Erfüllung noch. Sein Maul löste sich von ihren Lippen, sein Schädel glitt tiefer, bis sie seine rauhe Zunge an ihren Brüsten spürte, deren Warzen sich schmerzhaft verhärteten. Er sog daran, nicht nur zärtlich, sondern auch hart und fordernd. Zugleich fuhr seine Hand hinab, strich über ihre Scham, erst sanft, dann drängend, bis sein Finger wie von selbst hineinglitt. Jennifer stöhnte auf. Ihr ganzer Leib wand sich und zuckte. Und dann, endlich, kam er vollends über sie. Ihre Beine schlangen sich um seinen Unterleib, ihre Fersen berührten sein Gesäß, als müßten sie ihm helfen, in sie einzudringen. Sein mächtiger Pfahl stieß gegen ihre Pforte, die sich ihm weit geöffnet darbot und doch zu eng schien für solche Größe. Flockiger Geifer tropfte von seinem Maul auf Jennifers Brüste. Ihre Finger verrieben das schmierige Weiß, so daß ihre Haut ölig glänzte. Sie erbebte unter seiner Kraft, und was er mit ihr tat, trieb ihr Schrei um Schrei die Kehle hoch, bis sie zu einem einzigen verschmolzen. Doch es war noch nicht vorüber. Seine Kraft schien unerschöpflich. Wie auch seine Lust. Jennifer glaubte jeden Winkel ihres Körpers und Denkens von schierer, brennender Wollust erfüllt, die nicht enden wollte, während er noch immer in sie stieß. Wieder und wieder. Bis sein Brüllen zu einem monströsen Röhren wurde, das in Jennifers Ohren schmerzte und alles im Raum vibrieren ließ. Er verströmte sich in sie, und sie spürte es wie etwas Glutflüssiges in sich. Doch zugleich war ihr, als würde etwas im Austausch dafür ihren Leib verlassen. Erschöpft sank Jennifer zurück, zu keiner Regung fähig, die mehr Kraft verlangte als bloßes Atmen. Sie wollte etwas sagen, irgend et-
was, doch nicht einmal das brachte sie fertig. Der Gedanke an ewigen Schlaf, an Tod war ganz nahe. Der Blick des Widderköpfigen glitt noch einmal über ihren nackten Körper. Über Haut, die nicht mehr so frisch und samten war wie auf den Gemälden an den Wänden ringsum. An der Tür wandte er sich noch einmal um. Jennifer war eingeschlafen. Schöpfte Kräfte für seinen nächsten Besuch. Für ihn. Gabriel lächelte. Dann verließ der Junge das Zimmer.
* Lilith wußte nicht, wann und wie sie nach hinten gekrochen war, in die abgetrennte Schlafkabine des Trucks. Tatsache war, daß sie hier lag. Und Judy Lorraine neben ihr. Bereitwillig war die blonde Truckerin auf der schmalen Pritsche zur Seite gerutscht, um Lilith etwas Platz zu machen. Doch sie hatten beide kaum Schlaf gefunden. Es hatte mit zufälligen oder eben zwangsläufigen Berührungen begonnen. Doch dann hatte Lilith eine sanfte Hand gespürt, die sich vorsichtig unter ihre Kleidung geschoben hatte. Und der Symbiont hatte Judys tastenden Fingern bereitwillig »den Weg geebnet«, indem er sich kurzerhand zurückzog und Liliths Haut den Berührungen preisgab. Seither dachte sie fast unentwegt an Beth MacKinsay, ihre Freundin und Lebensgefährtin, mit der sie in Sydney einst Tisch und Bett und einiges mehr geteilt hatte. Einst … Lilith lächelte bitter. Es lag erst ein paar Monate zurück. Aber andererseits – es war in einem anderen Leben gewesen. In ihrer früheren Existenz.
Und sie selbst hatte Beth schließlich für ihre Freundschaft »belohnt«. Mit dem Tod. Eine einsame Träne rollte über Liliths Wange, doch sie ging unter in den glitzernden Schweißperlen, die ihrer beider Tun hier auf der schmalen Liege aus allen Poren trieb. Lilith wußte nicht, ob Kitty vorne mitbekam, was hinter ihrem Rücken ablief. Ein dicker Vorhang verhinderte zumindest, daß sie es sehen konnte. Aber wenn sie Judys Stöhnen und ihre leisen Schreie nicht hörte, dann mußte Kitty schon taub sein … Liliths Zunge fuhr tänzelnd weg von jenem Punkt, den sie minutenlang liebkost hatte, bis etwas in Judy fast spürbar explodiert war. Eine Spur zärtlicher Küsse hinterlassend, glitt Lilith über den flachen Bauch der Truckerin, umkreiste mit der Zungenspitze den Nabel, verharrte ein Weilchen bei ihren kleinen Brüsten und erreichte schließlich ihr hübsches Gesicht. Judy las Liliths stummes Einverständnis im Blick ihrer dunklen Augen und drängte sie sanft auf den Rücken, um nun ihrerseits die Halbvampirin zu verwöhnen. Lilith schloß die Augen, verfolgte Judys Weg über ihre Haut. Ohne es sehen zu können, wußte sie, was die Truckerin tat. Sie fühlte ihre Finger, ihre Zunge, die warm ihre Haut netzte. Das Schaukeln des Trucks und das Vibrieren des Motors wirkten zusätzlich stimulierend. Bis Lilith aufschrie. Vor Schmerz. Judy hatte – sie gebissen? Lilith fuhr auf, sah hinab, wo Judy lag. Oder gelegen hatte. Denn an ihrer Stelle war nun – er. Lilith vereiste förmlich. Der Widderköpfige starrte sie aus kalten Augen an, und auf seiner Zunge sah Lilith etwas Dunkles schimmern. Dunkel wie ihr eigenes Blut …
Sie entsann sich, wie sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Auf einem Gemälde in Salem’s Lot, das ein Mädchen namens Jennifer Sebree gemalt hatte. Beide waren sie wenig später verschwunden gewesen – das Bild wie auch Jennifer. Doch der Widderköpfige hatte Lilith verfolgt. In ihren Träumen. Und er hatte sie darin an ferne, fremde Orte entführt und ihr all das angetan, was er auch jetzt wieder getan hatte. Er hatte sie verführt, sie hatten sich geliebt – und Lilith hatte sich stets angezogen und angewidert zugleich gefühlt. Ein Gefühl, das so verwirrend gewesen war, daß sie kaum noch gewagt hatte einzuschlafen. Und jetzt war er wieder da! Ein Traum … Aufwachen! schrie Lilith sich in Gedanken zu. Du mußt aufwachen! Und sie tat es. Sie schlug die Augen auf und fand sich auf dem Shotgun-Sitz des Trucks wieder, den Kopf seitlich angelehnt, und Kitty Brody saß neben ihr am Steuer und lenkte den Kenworth über den nächtlichen Highway. Doch etwas, ein winziger Teil ihres Denkens, blieb noch für eine nicht meßbare Zeitspanne »drüben«. Und als Lilith es endlich schaffte, auch diesen letzten Rest aus dem Gespinst des Traumes zu befreien, war etwas darin. Etwas, das sie nicht sehen, wohl aber wahrnehmen konnte. Etwas, dem sie sich nicht entziehen konnte. Ein – Blick … Ein Blick aus kalten Augen, denen etwas Animalisches innewohnte … und die doch zugleich von der Unschuld eines Kindes waren … Und deren Befehl sie den Gehorsam nicht verweigern konnte. »Halt an!« Lilith berührte Kitty an der Schulter. »Was …?« Der Rest des Satzes erstarb der Truckerin noch auf der Zunge, denn da hatte sie schon den Kopf gewandt. Liliths Blick traf den ihren, nahm ihn gefangen.
»Du änderst die Fahrtrichtung«, befahl Lilith. Etwas in ihr wollte sich dagegen aufbäumen. Sie haßte es, anderen Menschen ihren Willen aufzuzwingen. Doch ein anderes Etwas in der Halbvampirin war ungleich mächtiger. »Ich ändere die Fahrtrichtung«, wiederholte Kitty Brody tonlos. »Nach Osten«, präzisierte Lilith. »Nach …«, sie hielt einen Moment inne, als müßte sie einer Stimme lauschen, die nur sie hören konnte. Dann erst fuhr sie fort: »Nach Nova Scotia.«
* Clarence Mirvish griff nach dem Glas und stürzte den bernsteinfarbenen Inhalt in seine Kehle wie ein Verdurstender. Obwohl es bereits sein fünftes Glas war, vielleicht auch schon das sechste … Leer ließ er es zum Ende des blankpolierten Tresens schlittern, wo eine kräftige Hand das Glas vor dem Absturz bewahrte. »Noch mal dasselbe?« fragte Shaun McLaughlin. Mirvish nickte. Der beinahe quadratisch gebaute Wirt schenkte nach und stellte ihm den Whisky hin. »Was ist denn mit dir heute los?« fragte er. »Was soll sein?« knurrte Mirvish. »Ich kenne dich ja als guten Kunden«, grinste McLaughlin und wies auf das Glas in Mirvishs knorriger Faust. »Aber normalerweise läßt du dir ein bißchen mehr Zeit, um meine Bestände zu vernichten.« Clarence Mirvish starrte stur an ihm vorbei, zum Fenster und hinaus, wo es nichts anderes zu sehen gab als blauschwarze Nacht und dahinter, wenn man genau hinsah, gemaserte Dunkelheit, zu der der Berghang geworden war. »Was gibt’s da zu sehen?« fragte der Wirt. »Verdammte Gespenster«, grunzte Mirvish. »Jetzt, wo du es sagst, seh’ ich sie auch.« McLaughlin grinste. Aber
das Grinsen gefror ihm auf den Lippen, als er Mirvishs Blick sich auf ihn richtete. Es lag etwas darin, was er bei Clarence Mirvish noch nie gesehen hatte. Hinter dem leicht glasigen Schimmer, den der Whisky über die eisgrauen Augen gelegt hatte, glänzte noch etwas anderes. Etwas Flackerndes – Angst …? »Meine Güte, was ist los mit dir, Clarence?« flüsterte McLaughlin. »Hab’ ich doch gesagt«, erwiderte Mirvish. »Hab’ verfluchte Gespenster gesehen.« »Wovon redest du?« »Kilchrenan Castle.« »Der verlassene Kasten da oben?« Der Wirt wies mit dem Stummeldaumen über die Schulter zum Fenster, wo jenseits der Finsternis hoch über Meat Cove das Bauwerk lag, das Mirvish gerade erwähnt hatte. »Verlassen«, sagte Mirvish, und fast sah es aus, als wollte er ausspucken. »Das war einmal. Jetzt spukt’s dort.« »Unsinn.« »Ich hab’s gesehen«, behauptete Clarence Mirvish. »Oder weißt du davon, daß dort jemand eingezogen ist?« McLaughlin schüttelte den runden Kopf. »Nope. Wer würde da schon freiwillig hinziehen? Müßte erst mal gründlich renoviert werden, der verfallene Kasten, und das kann sich doch kein Aas leisten.« Mirvish nippte von seinem Whisky. »Eben«, sagte er. »Also kann da etwas nicht mit rechten Dingen zugehen. Irgendwer hat sich dort eingenistet.« Er fröstelte, als er daran dachte, wie er reagiert hatte, als er den Jungen oben auf dem Turm gesehen hatte, und fügte nach einem weiteren Schluck hinzu: »Irgendwer – oder irgendwas.« Er erzählte McLaughlin von den Lichtern, die er am Abend in Kilchrenan Castle gesehen hatte. Den Teil mit dem Kind ließ er weg. Der Wirt des »Blue Moose« zuckte die Schultern.
»Und? Vielleicht Wanderer, die dort Unterschlupf gesucht haben«, meinte er. In seinem Gesicht war ein Anflug von Enttäuschung auszumachen. Nach Mirvishs Gebaren hatte er sich eine aufregendere Geschichte erhofft. »Vielleicht«, meinte Clarence Mirvish. »Vielleicht aber auch nicht.« »Deswegen brauchst du dir nicht ins Hemd zu machen.« »Wer sagt, daß ich mir ins Hemd mache?« begehrte Mirvish auf. »Na, schau dich mal im Spiegel an …« »Nicht nötig«, erklärte Clarence Mirvish. »Ich schau mir lieber was anderes an.« Er rutschte vom Schemel, kippte den Rest des Whiskys und legte einen Geldschein auf den Tresen. »Was hast du vor?« fragte McLaughlin mißtrauisch. »Ich gehe nachsehen, was da oben abläuft.« Mirvish wies in die ungefähre Richtung, in der Kilchrenan Castle lag. »Jetzt? Bist du verrückt? Du wirst abstürzen!« warnte der Wirt. Mirvish winkte ab. »Unsinn. Ich kenne die Gegend wie meine Westentasche. Kannst mich blind durchjagen, und ich trete nicht daneben.« Er nickte grüßend in die Runde und verließ den »Blue Moose«. Die kalte Nachtluft lichtete die Whiskynebel ein wenig, in jedem Fall aber genug, um ihn sein Vorhaben nicht vergessen zu lassen. Er blieb stehen und sah den Berghang hinauf, wo er, in wattiger Schwärze versteckt, Kilchrenan Castle wußte. »Das ist mein Zuhause hier«, murmelte Clarence Mirvish grimmig. »Und da ist kein Platz für ein verdammtes Gespenst.« Damit stapfte er los.
* An einem geheimen Ort
Wie oft war er den Weg schon gegangen? Tausendmal? Eher noch öfter … Trotzdem kam er Salvat immer wieder anders vor. Auf eine Weise, die sich Blicken nicht erschloß. Als wären die Stufen im Fels mit jedem Mal, da er sie hinabstieg oder erklomm, ein kleines bißchen höher als zuvor. Als wären die kahlen Wände ein wenig näher aufeinander zugerückt. Oder als hätte das Licht hier unten seit seinem letzten Besuch einen winzigen Teil seiner Kraft eingebüßt … Vor der ersten Kehre der Felstreppe blieb Salvat noch einmal stehen. Er wandte sich um, wie er es immer tat an dieser Stelle. Und wie immer spürte er den eisigen Dorn, der ihm in die Brust fuhr, als er dem Verwirrspiel von Licht und Schatten erlag. Im zuckenden Schein der Flammen sah es aus, als würde das Tor sich bewegen. Als würden unsichtbare, aber ungeheuer kräftige und vor allem riesige Fäuste von der anderen Seite her dagegenschlagen. Als würde das Tor unter brachialer Gewalt erbeben, sich wölben, um zu – Salvat schloß die Augen, doch der Eindruck dessen, was nie geschehen durfte, verblaßte erst hinter seinen Lidern – und erst nach ein paar Sekunden, die quälend zäh verrannen. Als er wieder hinsah, gewahrte Salvat die Schatten der Wächter, denen nur das Fackellicht Bewegung einhauchte. Stumm und starr umstanden sie das Tor, zwölf an der Zahl, und er konnte einen Hauch dessen, was sie aufrechterhielten, zu sich heranwehen spüren. Etwas, unter dem selbst ein Mann seiner Macht erschauerte. Salvat ging weiter, stieg auf seinen Stock gestützt Stufe um Stufe hinauf und war doch noch immer weit entfernt vom Tageslicht, während er Tür für Tür hinter sich schloß und versiegelte. Das Gefühl der Beklemmung blieb erst hinter der letzten zurück, und erst dann war er wieder in der Lage, einen Gedanken zu fassen, der sich nicht mit dem beschäftigte, was nur scheinbar tief im Bauch des Felsens lag, tatsächlich aber weiter entfernt war, als ein Mensch sich vorzustellen vermochte.
Und doch nicht weit genug … Salvat streifte die letzten Reste solcher Gedanken ab, die ihm wie klebriges Gespinst anhafteten. Und er tat es wohlweislich hier, an der Schwelle zur Tiefe. Denn nichts, nicht den allergeringsten Teil dessen, was hier war, wollte er mit hinaufnehmen. Niemals. Selbst das kleinste Risiko, und schien es noch so lächerlich winzig, konnte sich als gefährlich erweisen … Salvats Weg führte weiter über Treppen und durch Gänge, die aus dem rohem Fels herausgeschlagen waren. Erst nach weiteren Minuten langte er in Bereichen an, wo nicht die natürliche Beschaffenheit des Bodens die Architektur bestimmt hatte. Und schließlich schritt er über steingeflieste Flure, vorüber an gemauerten Wänden – kurzum: Eine andere Welt hatte ihn wieder. Vor einer schmucklosen Eichenbohlentür blieb Salvat stehen. Seine Hand legte sich auf die gußeiserne Klinke, doch er zögerte noch einen Moment lang, sie niederzudrücken. Vielleicht weil er ahnte, was ihn dahinter erwartete. Nichts … Er trat ein, und für einen Augenblick erstarb jede Bewegung und verstummte jedes Geräusch in dem Saal. Ein rundes Dutzend in Kutten gewandteter Männer sah zu Salvat, und so unterschiedlich sie in Alter und Herkunft auch sein mochten, eines hatten sie gemeinsam: In ihren Züge nistete ein Ausdruck, der verriet, daß sie sich alle hätten hinlegen können, um auf der Stelle einzuschlafen und erst in frühestens vierundzwanzig Stunden wieder aufzuwachen. Was Salvat in den Gesichtern sah, ging über bloße Müdigkeit hinaus. Sie hatten den Schlaf nicht einfach übergangen, sondern sich ihm verweigert, und sie taten es seit etlichen Nächten. Dennoch durfte er ihnen nicht erlauben zu ruhen. Zu wichtig war, womit sie beschäftigt waren. Und so lange sie erfolglos waren, mußten sie weitermachen.
Salvat winkte einen der Männer zu sich. Derweil nahmen die anderen ihr Tun wieder auf. Die einen senkten die Köpfe über handgeschriebene Texte, andere vertieften sich in Skizzen, und ein paar wandten sich Staffeleien zu, um mit der Arbeit an Gemälden unterschiedlichster Art fortzufahren. »Was habt ihr erreicht, Elias?« fragte Salvat, gleichwohl er die Antwort kannte. Und in dieser Hinsicht wurde er auch nicht enttäuscht. Der dunkelhäutige Kuttenträger schüttelte kaum merklich den Kopf und erwiderte: »Nichts. Noch nichts. Die Texte sind wirr, die Skizzen nicht minder. Es ist schwer, einen Sinn darin zu erkennen. Und wenn es gelingt, muß es nicht der richtige sein.« Salvat nickte. »Ich weiß. Würde es helfen, sie ein weiteres Mal zu untersuchen?« Seine vage Kopfbewegung wies zum Boden hin, doch Elias wußte, was er wirklich meinte. Die Kammer der Träumer im Fels, tief unter ihren Füßen. Aus aller Welt hatten Gesandte die Träumer hierher gebracht. Menschen, die im Schlaf Dinge sahen, die für die Zukunft von Bedeutung waren. Nun hatte es solche Menschen immer gegeben. Doch ihre Zahl hatte sich vor kurzem in einem Maße erhöht, das Anlaß zur Sorge bestand. Etwas Gravierendes mußte geschehen sein. Etwas, das Illuminati zum Handeln zwang. Damit nicht geschah, was nicht geschehen durfte. Was Illuminati verhindern mußte. Weil es ihre heilige Pflicht war … Nun schliefen all diese Menschen, deren sie habhaft geworden waren, drunten in jener Kammer. Schliefen – und träumten. Von Dingen, die in Erfahrung gebracht werden mußten. Was nicht ganz einfach war. Zwar verfügte man hier über Mittel und Kräfte, sich in diese Träume »einzuklinken«. Doch die Ergebnis-
se dieses »Traumlesens« bedurften noch der Übersetzung, des Deutens und Erkennens. Und darin lag das eigentliche Probleme. Zwar hatten die Männer gezeichnete als auch schriftliche Traumprotokolle. Was sie indes wirklich beinhalteten, wußten sie noch nicht … »Die Ergebnisse einer weiteren Befragung wären keine anderen«, erklärte der Schwarze. Salvat nickte, widerwillig zwar, aber er wußte, daß es so war, wie Elias sagte. Während ihrer kurzen Unterhaltung waren die beiden Männer ein Stück in den Saal hineingegangen. An einer der Staffeleien blieben sie stehen. Salvat sah dem Maler über die Schulter. Blau war die dominierende Farbe auf der Leinwand, das tiefe Blau eines Himmels, das nach unten hin blasser wurde und schließlich in weißes Gewölk überging, das über den Gipfeln schneebedeckter Berge lag. Und davor stand eine nackte Frau, die sich an die Schulter eines – Mannes lehnte … Salvat zögerte selbst in Gedanken, die zweite Gestalt auf dem Bild als »Mann« zu bezeichnen, denn er hatte nur den Körper mit einem solchen gemein … »Was mag das bedeuten?« murmelte er, fasziniert und angewidert in einem. Elias hob die Schultern. »Ich bin nicht sicher. Aber der Schädel scheint mir ein Zeichen zu sein, daß …« »Ich kenne das Bild!« Die Stimme klang hinter ihnen an der Tür auf. Hastige Schritte näherten sich. Und noch bevor sie sich nach dem Sprecher umwenden konnten, stand er zwischen Salvat und Elias. Salvat faßte ihn an den Schultern, hart und fordernd. »Was sagst du da?« wollte er in beinahe bestürztem Ton wissen. »Ich kenne das Bild«, wiederholte der junge Mann, dem das dunkle Haar in Wellen bis auf die Schultern seines schwarzen Man-
tels reichte. Er löste sich aus Salvats Griff und trat direkt an das noch unfertige Gemälde heran. »Ich habe es schon gesehen. Es ist die Spur, der ich zu folgen habe«, erklärte Raphael Baldacci. Er drehte sich zu Salvat um. »Ich allein.«
* Es dauerte lange, bis Clarence Mirvish sein Ziel erreichte. Zwar hing über ihm am Firmament der Mond in vollem Rund, doch verschlangen schwarze Wolkenberge sein Licht. Nur hin und wieder schufen sie eine Lücke, ließen silbrigen Schimmer hindurch, aber stets nur genug, um Clarence den Bergpfad ein paar Schritte weit erkennen zu lassen. Wenn er den Blick hob, um nach dem trutzigen Castle Ausschau zu halten, schoben die Wolken sich wieder vor den Mond und hüllten den nächtlichen Wanderer in Finsternis. Vom Weg kam Mirvish trotzdem nicht ab. Er hatte McLaughlin gegenüber nicht geprahlt, als er gesagt hatte, er fände den Weg auch blind. Die Anstrengung und der kühle Wind, der das ganze Jahr über unablässig vom Atlantik heranwehte und die Felsen der Cape Breton Highlands schliff, hatten Clarence Mirvish auch noch das letzte bißchen Taubheit aus den Gliedern gesogen, das der Whisky darin hinterlassen hatte. Ebenso hatte sich sein Geist vollends ernüchtert. Aber umgekehrt war es deswegen nicht. Im Gegenteil, klaren Verstandes wollte er erst recht wissen, was in Kilchrenan Castle vorging. Zwar war mit der Ernüchterung auch die Erinnerung an die Furcht, die er am Abend verspürt hatte, als er das Kind oben auf dem Turm gesehen hatte, wieder in wirkliche Angst umgeschlagen, doch er hielt sie mit eisernem Willen im Zaum. Etwas ging hier vor. In der Gegend, die seine Heimat war. Und es war sein Recht ebenso wie seine Pflicht, in Erfahrung zu bringen,
was es war. Schweratmend hielt Mirvish inne. »Nur eine halbe Minute Rast«, keuchte er und grinste unwillkürlich, als ihm bewußt wurde, daß er sich gerade gönnte, was er den Fremden bei den Touren durchs Hochland nicht zugestand. Der Atem stockte ihm nach drei Zügen. Als der Mond ein weiteres Mal zwischen den Wolken hervortrat. Kilchrenan Castle tauchte vor ihm auf, als hätte die Nacht das monströse Bauwerk ausgespien. So nahe, daß Mirvish fast glaubte, nur den Arm ausstrecken zu müssen, um die schwarzen Mauern zu berühren. Trotzdem brauchte er noch eine gute Viertelstunde, bis er endlich vor dem gewaltigen Tor in der Mauer stand. Auf der anderen Seite leuchtete silbernes Licht den schuttübersäten Innenhof aus, doch direkt unter dem steinernen Torbogen nistete schattige Schwärze, in die Mirvish hineinzutreten zögerte. Vielleicht lag es an den verwitterten Steinköpfen, die um das Tor herum aus der Mauer ragten und die irgendwann einmal Tieren nachempfunden gewesen sein mochten. Heute jedoch, zerfressen von Wind und Wetter, waren es die schwarzen Schädel von Dämonen, die aus leeren Augenhöhlen auf Clarence Mirvish herabstarrten. Er fühlte sich von ihren toten Blicken noch verfolgt, als er sich schließlich doch ein Herz faßte und durch das Tor in den halbrunden Hof dahinter schritt. Hier verharrte er wieder, lauschte und ließ den Blick schweifen. Doch er sah und hörte nichts. Nichts außer dem, was schon immer hier gewesen sein mußte. Der Wind klang zwar ein wenig anders als draußen, aber nur weil er sich heulend und pfeifend an Ecken und Vorsprüngen fing. Die Gebäude um ihn her sahen aus, wie sie es, seit Jahrzehnten verlassen und dem Verfall preisgegeben, tun mußten: verlassen und verfallen. Dennoch fiel es Mirvish nicht schwer, die ursprüngliche Be-
deutung eines jeden einzelnen Bauwerks zu benennen. Dort drüben mußten die Stallungen gewesen sein, dies hier das Gesindehaus, und im größten der Bauten hatte die Herrschaft selbst residiert. Und dort droben auf dem Turm … Clarence Mirvish zuckte zusammen, als hätte man ihm einen Kübel Eiswasser über den Kopf geschüttet! Der Wind, beruhigte er sich, nur der Wind, alter Narr. Zwei Sekunden lang hatten seine Versuche tatsächlich Erfolg. Dann hörte er es wieder. Das Kichern. Das leise Lachen eines Kindes. Mirvish wollte rufen, doch seine Zunge lag ihm wie ein Stück totes Fleisch im Mund. Und der Geschmack, den er plötzlich verspürte, paßte dazu … In angespannter Haltung lauschte er. Fast war er geneigt zu glauben, sich doch getäuscht zu haben, als er es wieder vernahm. So deutlich diesmal, daß er sogar die Richtung, aus der es kam, bestimmen konnte. Sein Blick glitt zum Herrschaftshaus hin, an der mit trockenem Gestrüpp bewachsenen Fassade empor, zu einer der leeren Fensteröffnungen hin – – die nicht leer war! Zumindest nicht in dem Moment, da sein Blick sie erreichte. Etwas huschte genau in diesem Augenblick zurück und wurde eins mit der Finsternis dahinter. Etwas – oder jemand. Clarence Mirvish wußte, daß es jetzt am klügsten gewesen wäre, kehrtzumachen und zu verschwinden. Er wußte es. Nur – er tat es nicht. Fast überrascht, wenn auch nur im allerersten Moment, stellte er fest, daß seine Füße ihn dorthin trugen, wo er eigentlich nicht hinwollte. Auf die breiten Stufen der Freitreppe zu, die zum Portal des Herrenhauses emporführte. Dann ließ er es einfach geschehen, betrat die Treppe, stieg sie hoch und drückte die schwere Tür auf, die
dumpf kreischend nach innen schwang. Viel schneller, als sie es unter dem zögernden Druck seiner Hand hätte tun dürfen … Doch der Gedanke verwehte. Clarence Mirvish trat über die Schwelle. Die Wolken draußen schienen ihre Verschwörung gegen ihn aufgegeben zu haben. Mond und Gestirn durften ihr Licht ungehindert herabsenden, und es fiel genug davon durch die glaslosen Fenster, daß Mirvish sich orientieren konnte. Sogar Details ließen sich ausmachen. Er stand inmitten einer Halle, die weit über ihm von einer Galerie gesäumt wurde, zu der eine Treppe hinaufführte. An den Wänden ringsum sah Mirvish Gemälde; wuchtige Ölbilder, die fast ausnahmslos Porträts zeigten. Die Ahnenreihe derer von Kilchrenan, oder zumindest jene Vertreter des Familienzweiges, der sich hier niedergelassen hatte; und es mochten auch die letzten des Geschlechts hier verewigt sein, die schon so lange tot waren, daß Clarence Mirvish sie nicht mehr gekannt hatte. Im oberen Stockwerk hatte er die Bewegung an einem der Fenster gesehen. Von dort war das Kichern gekommen. Dieses Kichern! Es schwirrte um Mirvish herum wie ein aufgeschreckter Schwarm Fledermäuse, brach sich an den Wänden und zersplitterte in tausend Echos. Hastiger als er selbst es wollte, stieg er die Treppe hinauf zur Galerie. Oben führte ein Gang zu beiden Seiten weiter. Mirvish ging nach rechts. Zum einen, weil er die Bewegung in einem der dort gelegenen Zimmer ausgemacht hatte – – zum anderen, weil dort eine Tür schlug! Schwer krachte sie ins Schloß. Das Geräusch rollte durch den Flur, und Mirvish fühlte sich davon regelrecht berührt. Er schluckte hart. Es tat weh, weil sich in seinem Mund kaum Speichel sammelte. »Ein Kind«, flüsterte er rauh. »Okay, ein Kind. Wenn ich den Ben-
gel erwische …« Der Gedanke verschaffte ihm ein wenig Erleichterung. Natürlich, so konnte es sein. Ein Junge hatte sich hier versteckt, ein Ausreißer vielleicht, und er mochte sich einen Spaß daraus machen, andere zu erschrecken … Mirvish grinste, reichlich verunglückt und nicht halb so grimmig, wie er es sich wünschte. Aber er grinste, und es gab ihm wenigstens ein gutes Gefühl. »Du wirst dich wundern, Bürschlein«, knurrte er. »Dein blaues Wunder wirst du erleben.« Er lief los, den Flur hinab. Die ersten beiden Türen ließ er aus; sie lagen zu nahe, als daß sie es gewesen sein konnten, die zugeschlagen worden waren. Das hätte anders geklungen. Die dritte öffnete Mirvish schließlich. Dahinter befand sich – nichts. Ein paar Möbelstücke, deren Form sich unter den Spinnweben kaum noch erahnen ließ, aber nichts, wo jemand sich hätte verstecken können. Hinter der vierten fand er ein ähnliches Szenario. Und hinter der fünften ein Bett. Ein Bett, in dem jemand lag! Eine Nonne, wie Clarence Mirvish im Nähertreten erkannte. Eine tote Nonne. Ihrem Aussehen nach mußte sie schon sehr lange tot und in geradezu biblischem Alter gestorben sein. Trotzdem – Mirvish hatte das seltsam sichere Gefühl, daß diese Frau allenfalls seit ein paar Stunden tot war. Er sog schnüffelnd die Luft durch die Nase. Nicht einmal Verwesungsgestank nahm er wahr. Nur den Geruch von Alter und Staub, wie er im ganzen Gebäude allgegenwärtig war. Er ging noch ein wenig näher, bis er direkt neben dem Bett stand. Das Mondlicht rahmte es in ein silbernes Viereck. Die Kleidung der Toten, die Bettwäsche … Clarence Mirvish begriff, woher jene Sicherheit über den Zeit-
punkt lag, zu dem die Nonne gestorben sein mußte. Weder ihre Tracht noch die Bezüge von Decke und Kissen wiesen irgendwelche Spuren von Verfall auf. Sie rochen zwar keineswegs wie frisch gewaschen, aber sie waren definitiv nicht alt. Ein eiskalter Schauer durchlief Clarence Mirvishs Körper. Er bebte wie unter Schüttelfrost, als er es wieder hörte. Das Kichern! Ganz nahe diesmal. Hinter ihm. Mirvish drehte sich herum. Der Junge stand unter der Zimmertür. Und obwohl Mirvish ihn am Abend auf dem Turm nicht erkannt hatte, wußte er, daß es sich um ein- und dasselbe Kind handelte. Spätestens in dem Augenblick, da es ihm freudestrahlend zuwinkte. »Was … Wer …?« setzte Clarence Mirvish an. Der Junge wandte den Kopf und sah draußen den Gang entlang. »Kommt!« rief er. »Wir haben Besuch!« Mirvish hörte Schritte. Schleppend, schlurfend kamen sie näher. Und mit ihnen – ein Geruch. Der Gestank, den er vor ein paar Sekunden erst noch vermißt hatte. Moder, Verwesung … Er quoll wie eine Wolke in den Raum, als sich vor der Tür jene einfanden, die das Kind herbeigerufen hatte. Sie folgten ihm ins Zimmer herein, so daß die Ausläufer des Mondlichtes sie streiften. Clarence Mirvish erkannte sie. Weil er sie eben noch gesehen hatte. Auf den Gemälden an den Wänden der Halle. Nur waren all diese Porträts zu den jeweiligen Lebzeiten derjenigen von Kilchrenan entstanden. Jetzt bestand nur noch vage Ähnlichkeit zwischen Bildnis und Original – nachdem die »Originale« Jahrzehnte in der Familiengruft zugebracht hatten. Aber die Übereinstimmungen waren noch immer genug, um Mirvish nicht daran zweifeln zu lassen, daß es so war …
Der Junge lächelte unverändert. Allenfalls strahlte sein kleines Gesicht noch ein bißchen mehr, als er rief: »Kommt, laßt uns spielen!« Und sie spielten. Mit Clarence Mirvish. Bis der Tod ihm wie eine Erlösung vorkam.
* Sie waren nur noch zu dritt im Saal – Salvat, Elias und Raphael Baldacci. Alle anderen Männer hatte Salvat hinausgeschickt. Noch wußte er nicht, was hinter den Worten des Jungen steckte. Und es mochte sein, daß es nicht für aller Ohren geeignet war. Denn nicht jedes Geheimnis, das in den Reihen der Illuminati gewahrt wurde, mußte von allen in diesen Reihen geteilt werden … »Nun«, begann Salvat, »was hat es mit diesem Bild auf sich?« Sie standen noch immer vor dem unfertigen Gemälde, und Raphaels Blick hing daran, als hätte er sich darin verloren. Und genau so war es auch. Er verfing sich nicht einfach auf der Leinwand, sondern reichte hinein in diese karge Landschaft, und dort sah er andere Bilder. Bilder einer Vergangenheit, die erst wenige Wochen alt war. Die zu aufwühlend gewesen war, als daß sie Baldacci hätte ruhen lassen. Sie würden es nie tun, wenn er nicht zu Ende brachte, was er damals begonnen hatte. Wie immer dieses Ende auch aussehen mochte … »Ich kenne es«, sagte der junge Gesandte zum nunmehr dritten Mal. »Ich sah ein Bild wie dieses damals, als du mich schicktest, die Träumerin zu holen …« »Als du versagt hast«, präzisierte Salvat. Baldacci senkte den Blick um keinen Deut, sondern wandte sich im Gegenteil Salvat zu und erwiderte den strengen Blick des anderen, wie er mit stählerner Klinge einen Schwerthieb pariert hätte. Aber es war auch kein Vorwurf in Salvats Ton gewesen. Seine
Worte hatten nur festgestellt, nicht mehr – aber auch nicht weniger. Raphael Baldacci hatte vor einigen Wochen zu jenen gezählt, die ausgesandt worden waren, die Träumer in aller Welt aufzuspüren und hierher zu bringen, obgleich er seine Ausbildung noch nicht abgeschlossen hatte. Aber Raphael war Salvat als der reifste aller Novizen erschienen, und so hatte er ihn mangels weiterer Gesandter nach Amerika geschickt. Doch der junge Mann war mit leeren Händen zurückgekehrt. Dafür aber mit Dingen im Kopf, die Salvat noch nicht hatte in Erfahrung bringen können, von denen er jedoch wußte, daß sie nicht dorthin gehörten. Und obwohl es zweifelsohne in seiner Macht gelegen hätte, sie Raphael zu entreißen – und dazu hätte es noch nicht einmal der Anwendung von Gewalt bedurft –, ließ er sie ihm. Weil er Salvat in mancher Hinsicht an den Jungen erinnerte, der er selbst einmal gewesen war … »Du hast mich geschickt«, hörte er Raphael, und seinem Ton war zu entnehmen, daß er die Worte mindestens schon einmal gesagt hatte. »Obwohl du wußtest, daß …« In der Stimme des Jungen schwang Vorwurf mit. Er war sogar das tragende Element darin. Aber Raphael tat es nur, weil Salvat ihm Grund dazu gegeben hat. Weil er selbst den Fehler eingestanden und die Schuld auf sich genommen hatte, nachdem der Junge »versagt« hatte. Weil er, Salvat, ihn vor der Zeit entsandte … Trotzdem – das war nichts, hinter dem der Junge sich verstecken durfte. Nur ein Vorwand. Und eine Möglichkeit, Salvat zu verletzen. Daß Raphael Gebrauch davon machte, trug ihm einen eisigen Blick Salvats ein. Ein Blick, der tiefer ging, als jede Strafe es vermocht hätte; und der demütigender war als jede Zurechtweisung. Jetzt senkte der Junge den Blick wie ein – ja, wie ein trotziger Junge eben, der ein Duell verloren hatte; aber nur aus dem Grund, weil sein Kontrahent mit Mitteln gekämpft hatte, die er zu nutzen noch nicht gelernt hatte. Und weil er erkennen mußte, daß er noch Jahre
von dem Status entfernt war, den Salvat nicht von ungefähr innehatte. »Was bedeutet es?« Salvat wies mit dem Kinn auf das Gemälde, kein Wort mehr über das eben Geschehene verlierend. Und auch darin fand Ausdruck, was er war. »Ich weiß es nicht«, antwortete Raphael. »Ich dachte …« »Ich sagte nur, daß ich das Bild gesehen habe, mehr nicht«, erinnerte der junge Mann. »Kennst du eine der dargestellten Personen?« Salvat Blick verharrte für eine Sekunde auf dem nackten Rücken des schwarzhaarigen Mädchens, während es ihn sichtlich Überwindung kostete, auch nur kurz zu dem Widderköpfigen hinzusehen. »Sie ist die Träumerin, die zu holen du mich entsandtest«, erklärte Raphael. »Den … Mann kenne ich nicht.« Auch er zögerte unwillkürlich. »Du hast mir nie erzählt, weshalb du ihrer nicht habhaft werden konntest«, sagte Salvat, das Mädchen auf dem Bild betrachtend. »Sie war verschwunden, als …«, begann Raphael und verstummte, als er merkte, daß er auf dem besten Wege war, in die Falle zu tappen, die Salvat ihm in leutseligem Ton gestellt hatte. Der Ältere lächelte dünn. »Als?« fragte er. … als ich mit der Vampirin gekämpft hatte und ihr unterlag. Danach war die Träumerin verschwunden. Das wären die Worte gewesen, die der Wahrheit entsprochen und sie doch nicht gänzlich beschrieben hätten. Denn es gab noch ein Teil dieser Wahrheit – einen, den Raphael Baldacci sich nicht einmal selbst einzugestehen bereit war. Weil ich Lilith Eden … Er verbot sich den Gedanken. Schwieg verbissen und versuchte, sich nichts von dem Zwang, den er sich selbst auferlegte, anmerken zu lassen. Und er wußte, daß es ihm nicht gelang.
»Sie verschwand.« Mehr sagte er nicht, und Salvat nahm es nickend hin. »Und weshalb hältst du dieses Bild nun für die Spur, der du zu folgen hast?« fuhr er schließlich fort. »Weil es die einzige ist, die alles Forschen zuwege gebracht hat. Und weil ich derjenige bin, der sie erkannt hat«, antwortete der junge Mann überzeugt. Dabei sah er sich im Raum um, ließ den Blick über die Aufzeichnungen und Skizzen wandern, die im Augenblick nichts anderes als nutz- und sinnlos waren. Wieder nickte Salvat, langsam und bedächtig. »Nun gut«, sagte er, »ich habe dir damals schon erlaubt, dem Weg zu folgen, den du für den deinen hältst. Und ich habe meine Meinung nicht geändert. Aber wie willst du ihn betreten?« Raphael wandte sich dem Bild zu. Abermals verlor sein Blick sich in der Weite, die es suggerierte. »Vielleicht beginnt der Weg …«, sagte er leise, überlegend. Seine Finger näherten sich der bemalten Leinwand, bis sie die noch frische Farbe darauf fast berührten. »… hier«, fuhr er fort. Er fühlte die krustige, klebrige Farbe unter seinen Fingerkuppen. Für einen flüchtigen Moment jedenfalls. Dann verspürte er – – Kälte? Die Ahnung eines kühlen Windes, der über verschneite Berge wehte … Er roch Schnee. Er schmeckte die Würze einer Luft, die nichts mehr mit der gemein hatte, die eben noch seine Lungen gefüllt hatte. Als Raphael Baldacci sich zu Salvat umwandte – – war er allein. Allein inmitten jener Landschaft, die er eben noch in Öl gemalt gesehen hatte. Und die Salvat und Elias an einem weit entfernten Ort noch immer so sahen.
Raphael war vor ihren Augen verschwunden. In das Bild gestürzt wie aus einem geöffneten Fenster, ohne jedoch darin wieder aufzutauchen. Das Motiv hatte sich nicht verändert. Keiner von beiden hatte Anstalten gemacht, den jungen Mann aufzuhalten. Sie waren nicht einmal wirklich erschrocken; allenfalls Erstaunen hatte sich für einen Moment in ihre Züge geschlichen. Sie hatten beide schon Dinge gesehen, die wirklich erschreckend gewesen waren … »Ich wünsche dir Glück …«, sagte Salvat schließlich. Elias wandte nicht den Kopf, aber Salvat konnte den erstaunten Blick, den ihm der andere aus den Augenwinkeln zuwarf, trotzdem spüren. Deshalb hütete er sich, laut auszusprechen, was er in Gedanken hinzufügte: … mein Junge.
* Gabriel erhob sich und wischte sich über die Lippen, obgleich nichts daran war, was es wegzuwischen galt. Den üblen Geschmack, der nicht nur in seinem Mund, sondern überall in ihm war, konnte er mit der Bewegung nicht beseitigen. Die Kraft des Alten hatte nicht nur fürchterlich geschmeckt, sie vermochte ihn überdies nicht einmal wirklich zu stärken. Er spürte keine Wirkung in sich, und der Blick, den er auf den nackten Toten hinabwarf, war voller Abscheu. Mochten seine Gefährten sich an dem laben, was er noch in dem Leichnam gelassen hatte, bevor es sich vollends verflüchtigte. Gabriel gelüstete nach der frischen Kraft eines jungen Körpers, doch er wußte, daß Jennifer sich noch nicht soweit erholt hatte, als daß er sie schon wieder hätte aufsuchen können. Er gab den Untoten einen Wink. Wie eine Traube scharten sie sich um den toten Alten und teilten seinen Leib, um daraus die Kraft, die
Gabriel ihnen gegeben hatte, zu regenerieren. Der Junge nahm indes am Totenbett seiner Mutter Platz. Seine kleine Hand faßte nach den kalten Klauen, die sich über der Decke wie zu einem letzten Gebet ineinander gekrallt hatten, und trennte sie. Nicht, daß der Anblick ihn irgendwie beeinträchtigt hätte, aber es war – nicht richtig … Er betrachtete Mariahs Gesicht, das im Mondlicht fahler als im Moment des Sterbens wirkte, zugleich aber wie von einer silbernen Aura umflort wurde, die ihr etwas Überirdisches verlieh. Als hielte allem, was sie getan hatte, zum Trotz noch eine Macht schützend die Hand über ihren toten Leib; eine Macht, zu der hin der Tod nur ein Schritt war – der Schritt … Gabriel lachte kurz auf, und es war ein helles Kinderlachen, das einen Herzschlag lang die Geräusche derer übertönte, die hinter ihm am Boden kauerten. Es war nichts mehr im Leib seiner Mutter, über das sich eine schützende Hand zu legen lohnte. Alles davon, jeder Tropfen, jeder Funke dessen, was Mariahs Existenz einst ausgemacht hatte, war in ihrem Sohn. Sie hatte ihn damit genährt, und er hatte gierig alles in sich aufgesogen. Er erinnerte sich an alles, von der Stunde seiner Geburt an. Daran, wie er, kaum dem Mutterleib entronnen, nach den Gedanken der Ordensschwestern gegriffen und sie in wohlgefällige Bahnen gelenkt hatte. Daran, wie er, nur wenige Tage alt, die Schatten zum Leben erweckt hatte, um einen allzu neugierigen Pfaffen zu töten, der seine Geburt bekanntgeben wollte. Daran, wie er die sterbenden Kreaturen eines Volkes, das sich selbst die »Alte Rasse« nannte, zu sich gelockt hatte, um sich zu stärken und innerhalb Minuten um Jahre heranzuwachsen.* Alte Rasse! Was wußten sie, was alt bedeutete – wirklich alt. Sie mochten existieren seit dem Anbeginn dieser Welt, über die sie seit *siehe VAMPIRA T03: »Die Auserwählte«
jeher im Geheimen geherrscht hatten. Aber wirkliches Alter wurde nach anderen Maßstäben gemessen. Nach denen der Ewigkeit. Und obwohl Gabriels Dasein erst seit einigen Wochen währte, wußte er um die Bedeutung dieses Gedanken. Natürlich … Nun, die fliehenden Kräfte der Vampire hatten ihn genährt, waren der Impuls gewesen, den er gebraucht hatte, um seine Entwicklung in Gang zu setzen. Ihre Energie war von der Art gewesen, die er umsetzen konnte. Und was Mariah ihm hatte geben können, hatte seine jungen Kräfte wachsen lassen. Sie war mit dem Neugeborenen gen Norden geflohen, hatte ihn in Sicherheit gebracht vor einer anderen Macht, der Gabriel damals noch nicht gewachsen gewesen war. Aber er erinnerte sich an die Frau, die tief in sich diese fremde Macht verkörperte. Sie hatte ihn im Arm gehalten; hatte ihn, nicht wissend, wer oder was er war, retten wollen vor einer Gefahr, die ihm keine gewesen war. Und er hatte ihre Stärke gefühlt. Eine Kraft, die er haben wollte – und die er bekommen würde. Die Spur war gelegt, und sie würde ihr folgen. Weil sie nicht anders konnte. Gabriel trat ans Fenster und sah hinaus in die Nacht. Als könnte er kaum erwarten, daß sie endlich kam – jene Frau, deren Namen er nicht kannte und von der er nur wußte, daß sie ebenso schön wie stark war. Ihre Kraft würde ihm munden. Anders als die von Clarence Mirvish. Und besser vielleicht sogar als die Jennifers. Jennifer … Sie mochte sich noch immer nicht völlig erholt haben, aber es gab keinen Grund, sie noch länger zu schonen. Er würde sie nicht mehr lange brauchen, und so konnte er ihr ruhig nehmen, was sie ihm noch zu geben imstande war.
Eine andere würde bald schon ihren Platz einnehmen. Ein Wesen, in dem das Erbe der Alten Rasse war. Und noch etwas anderes … »Ein Kind zweier Welten«, flüsterte Gabriel. Er lächelte, als er hinausging. Die Worte gefielen ihm, und er sang sie vor sich hin. Wispernde Echos begleiteten ihn auf seinem Weg zu Jennifers Zelle – – die der Widderköpfige betrat.
* Die Sonne stieg aus dem Atlantik. Und die Glut der gleißenden Scheibe schien die Fluten zu verdampfen. Nebel wogte vom Horizont heran und flutete mit machtvollem Rauschen gegen die schroffe Küste des Landstrichs, in dem Raphael Baldacci sich unversehens wiedergefunden hatte. Wenn überhaupt, so hatte Raphael nur Sekunden damit zugebracht, sich über die merkwürdige Art und Weise seiner »Reise« zu wundern. Es war Teil seiner Ausbildung gewesen, sich mit Gegebenem klaglos abzufinden und sich mit jeder Umgebung und Situation, mochte sie auch noch so ungewöhnlich sein, schnellstens vertraut zu machen. Nicht anders war der Gesandte hier vorgegangen. Er hatte die Nacht damit zugebracht, sich zu orientieren. Er war umhergewandert, hatte die Gegend erforscht, soweit es ihm dienlich sein konnte. Und so hatte er in Erfahrung gebracht, daß er nahe einem Dorf namens Meat Cove »gelandet« war. In einem Land, das Nova Scotia genannt wurde und im Westen Kanadas lag. In Teilen ähnelte es durchaus jener Landschaft, die auf dem Gemälde zu sehen gewesen war. Auf jenem Gemälde, das er sowohl schon im Original als auch als Kopie kannte. Das Original hatte er vor Wochen im US-Bundesstaat Maine erblickt, in dem Örtchen Salem’s Lot. Dorthin hatte ihn die
Spur der Träumerin Jennifer Sebree geführt, und er hatte auch die Träumerin selbst ausfindig gemacht – ohne sie jedoch wie befohlen sofort zum Orden zu bringen. Etwas anderes war ihm plötzlich wichtiger gewesen. Jemand. Eine Frau namens Lilith Eden. Er hatte mit ihr geschlafen. Und anderntags versucht, sie zu töten, als sie ihr wahres Wesen offenbart hatte. Sie war eine Vampirin. Er hatte sich auf sie gestürzt, beseelt von einem Haß und getrieben von einer Kraft, deren Quelle er sich bis heute nicht erklären konnte. Nur – gelungen war es ihm nicht, Lilith zu vernichten. Zu erlösen. Jennifer, die Träumerin, war dazwischengegangen, hatte ihn niedergeschlagen, und als er wieder erwachte, waren alle verschwunden gewesen: Lilith, Jennifer – und das Bild, das die Träumerin selbst gemalt hatte.* Als er es nun wiedererkannt hatte, gemalt nach den Vorgaben, die einer der Träumer geliefert hatte, wußte Raphael, daß es ein Zeichen war. Nur worauf es ihn hinwies, was es ihm zeigen wollte, lag noch im dunkeln. Aber vielleicht wich dieses Dunkel, so wie der neue Tag die Nacht mehr und mehr vertrieb, während der Gesandte oben an den Klippen saß und die aufgehende Sonne beobachtete. Und er hoffte insgeheim, daß das, was dieser Tag ihm bringen mochte, etwas mit jener Frau zu tun hatte, an die zu denken er sich in den vergangenen Wochen immer wieder verboten hatte – meist erfolglos. So erfolglos, wie er sich während der Nacht an andere Dinge zu erinnern versucht hatte. An sein Leben vor Illuminati beispielsweise. Er hatte es schon oft zuvor versucht. Aber immer wieder endeten seine Erinnerungen an dem Punkt, an dem er sich zum ersten Mal *siehe VAMPIRA T05: »Para-Träume«
im Kloster sah. Nur war er damals schon sechzehn Jahre alt gewesen. Ungefähr jedenfalls; denn nicht einmal das vermochte er mit Sicherheit zu sagen. Wenn es ein Vorher gegeben hatte, hatte er keinen Zugriff auf dieses Wissen. Als wäre es aus seinem Gedächtnis gelöscht worden – oder so tief darin verborgen, daß er es niemals mehr finden konnte. Drüben im Dorf, von dem Raphael Baldacci sich ungefähr eine halbe Meile entfernt hatte, erwachte das Leben. Erste Boote fuhren hinaus auf den Atlantik, Fischer warfen ihre Netze aus, und zwischen den Felsen um ihn her stiegen Möwen kreischend auf, folgten den Menschen, hungrig auf ihr Frühstück. Ein Gefühl, das der Gesandte mit ihnen teilte. Er erhob sich von dem Stein, auf dem er gesessen hatte, und machte sich auf den Weg nach Meat Cove, um dort etwas zu essen – und um sich umzuhören. Wonach, würde er in dem Moment wissen, da er es hörte.
* Judy Lorraine hatte Kitty Brody am Steuer des Kenworth-Trucks abgelöst. Gerade noch rechtzeitig, bevor ein Unglück geschehen konnte. Beinahe zu spät hatte Lilith gemerkt, daß nur noch ihr Wille es gewesen war, der der rothaarigen Truckerin die Augen offen hielt. Denn obwohl es Kitty Brody war, die den schweren Sattelzug durch die Nacht lenkte, hatte Lilith die Richtung und das Tempo bestimmt. Daß sie die Strecke in so kurzer Zeit geschafft hatten, kam der Halbvampirin wie ein Wunder vor. Und vielleicht war es das ja auch. Der Ruf, das Locken waren mit jeder Meile drängender geworden – und stärker. Der Gedanke, sich ihm zu verweigern, der anfangs noch wie ein fahler Blitz in Lilith aufgezuckt war, hatte im gleichen
Maße an Kraft verloren und war schließlich vollends erloschen. Dennoch hatte sie sich verboten, die Augen zu schließen, nicht einmal, um nur zu dösen. Sie wollte nicht noch einmal träumen, nicht von ihm. Denn sie fürchtete, aus dem Traum nicht mehr zu erwachen. Daß dieser Wunsch im Grunde dem widersprach, weswegen sie sich hierher hatte bringen lassen, wußte Lilith wohl, aber sie war machtlos dagegen. Verwirrung war alles beherrschend in ihr – und in diesem Durcheinander erstickte jeder Gedanke der Vernunft. Sie fühlte sich erschöpft, zerschlagen, als sie im Licht des noch jungen Tages aus dem Truck stieg. Woher sie die Klarheit für ihre Abschiedsworte nahm, wußte sie nicht. Aber für einen ganz kleinen Moment war sie einfach wieder sie selbst, Herr über ihr Tun und Denken, als sie zu Judy in die Kabine des Trucks hinaufsah und sagte: »Es tut mir leid.« Die blonde Truckerin nickte ihr zu, lächelnd. Und Lilith ließ ihr das Lächeln; solange jedenfalls, bis Judy vergessen hatte, was in dieser Nacht geschehen war. Sie wendete das Gespann und fuhr davon. Lilith sah dem Truck nicht nach. Sie wandte sich ab, nun wieder geführt von etwas Fremdem. Sie sah sich inmitten eines Ortes stehen, von dem sie wußte, daß er nicht ihr Ziel war. Nur, daß er ihm nahe lag. Das Ziel war – – dort oben. Ihr Blick fand das trutzige Bauwerk am Berghang wie von selbst und löste sich nicht mehr davon. Die Halbvampirin trat von der Straße, schlüpfte in die Gasse zwischen zwei Häusern, und ein paar Sekunden später stieg ein flatternder Schatten daraus empor. Eine schrillen Laut ausstoßend, flog die Fledermaus auf Kilchrenan Castle zu.
*
»Wo steckt denn Clarence? Hat er gestern zuviel getankt?« Garry Troake schenkte sich eine Tasse Kaffee ein, veredelte das schwarze Gebräu mit einem Schuß »Lebenswasser« und nahm dann am Tresen im »Blue Moose« Platz. Wie er es jeden Morgen tat, bevor die Boote wieder in den Hafen einliefen und er mithalf, sie zu entladen. Und eigentlich war Troake es gewohnt, an jedem Morgen auf dem Hocker neben Clarence Mirvish zu sitzen. Shaun McLaughlin zuckte die breiten Schultern. Doch die Gleichgültigkeit, die er damit ausdrücken wollte, erreichte sein rundes Gesicht nicht. Zu hartnäckig nistete die Sorge darin. »Was ist los?« fragte Troake mißtrauisch. Seine Hand mit der Tasse blieb auf halbem Weg zwischen Tresen und Mund hängen. McLaughlin seufzte und hörte endlich auf, blitzblanke Gläser zu polieren. »Clarence war nicht ganz bei sich gestern abend«, sagte er dann. »Und?« »Er ließ sich nicht davon abbringen, auf den Berg hinaufzusteigen.« »Warum das denn?« McLaughlin lachte trocken auf. »Suchte Gespenster, der alte Clarence.« »Gespenster?« echote Troake. Der Wirt nickte. »Ja. Glaubte Lichter gesehen zu haben in dem alten Kasten da oben, und wollte der Sache auf den Grund gehen.« »Verdammt, der ist irre, in der Nacht da raufzuklettern. Und jetzt ist er nicht da. Mann, McLaughlin, weißt du, was das bedeutet?« »Ich weiß, was es heißen könnte«, erwiderte McLaughlin. »Wir müssen ihn suchen. Vielleicht liegt Clarence da oben irgendwo, ist vielleicht verletzt …« »Wenn er Glück hat«, unkte McLaughlin. »Ich werd’ mal bei ihm zu Hause vorbeischauen. Vielleicht liegt er
ja doch in seiner Koje und ruht sich aus von seiner Nachtwanderung«, erklärte Garry Troake. Er wies auf seine Tasse. »Schreib’s an, ja?« McLaughlin nickte. Troake glitt vom Hocker, doch ehe er sich in Bewegung setzen konnte, um den »Blue Moose« zu verlassen, donnerte draußen ein glänzendes Monstrum die Straße entlang, wie man es in Meat Cove nicht alle Tage sah. »Verdammt, was wollen die Südstaatler hier bei uns?« fragte Troake, während er dem auffällig lackierten Truck nachsah, der ein Stück weiter anhielt. Jemand stieg aus, dann wurde das Gespann gewendet und fuhr zurück. »Ich frag’ mich, was solche Weiber bei uns verloren haben?« meinte Shaun McLaughlin grinsend und wies mit dem Kinn auf die schwarzhaarige Schöne, die aus dem Truck gestiegen war und sich jetzt suchend umsah. Dann verschwand sie aus dem Bereich, der durch die Fensterfront einsehbar war. »Scheiße!« McLaughlins Grinsen erlosch wie ausgeknipst. Seine Faust krachte auf den Tresen, daß das Geschirr klapperte. »Was?« fragte Troake. »Der Bursche, der Langhaarige mit dem schwarzen Mantel!« rief der Wirt wütend und zeigte dorthin, wo eine leere Tasse und ein Teller mit einem zur Hälfte gegessenen Sandwich auf dem Tresen standen. »Der Mistkerl hat nicht bezahlt!« Troake schnappte sich im Hinausgehen das halbe Sandwich und winkte McLaughlin damit zu. »Schreib’s an.«
* Mit ausgebreiteten Schwingen segelte Lilith in die Tiefe. Der Innenhof des Castles schien ihr entgegenzuspringen, doch bevor sie ihn
berührte, transformierte sie. In menschlicher Gestalt setzte sie auf, federte die Landung in den Knien ab. Der Symbiont floß wie flüssige Schwärze über ihren Körper und hüllte ihn in das, was er selbst offenbar am liebsten war – ein schwarzes, wie zerrissen aussehendes Catsuit. Der Ruf, den Lilith in ihren Gedanken hörte, gewann sprunghaft an Intensität. Aus dem bislang lautlosen Locken wurde etwas wie eine flüsternde Stimme, die trotzdem so laut war, daß sie Lilith im allerersten Moment in den Ohren schmerzte. Sie brauchte eine Sekunde, um sich daran zu gewöhnen. Dann folgte sie der Richtung, die das Flüstern ihr wies. Hinein in das größte der verfallenen Gebäude. Vorüber an riesenhaften Gesichtern, die von den Wänden zu ihr herabstarrten und deren Augen jeden ihrer Schritte zu beobachten schienen, als sie leichtfüßig die Treppe hinauflief, so zielstrebig, als wäre sie hier zu Hause. Und so fühlte sie sich seltsamerweise auch. Oben angelangt, wandte sie sich nach rechts. Vorüber an verschlossenen Türen und an einer geöffneten. Die Toten dahinter sah sie wohl, doch sie schenkte ihnen nicht mehr als einen Moment flüchtiger Beachtung. Was zählten sie oder sonst etwas, jetzt, da sie ihm so nahe war – endlich wirklich nahe! Vor einer Tür in einem anderen Flur blieb Lilith stehen. So unvermittelt, als wäre der Gang hier zu Ende, obwohl er noch endlos weiterzuführen schien, ehe er sich in grauen Schatten verlor. Sie spürte das heftige Pochen ihres Herzens, hörte das Rauschen ihres dunklen Blutes, als sich ihre Hand auf die Klinke legte und sie niederdrückte. Die Tür schwang auf, ohne daß Lilith etwas dazu tun mußte. Ihr Blick fiel auf Wände, die mit Bildern behangen waren. Auf jedem davon war er zu sehen – und ein Mädchen, das Lilith vage bekannt vorkam. So als wäre sie ihm vor langer Zeit einmal begegnet. Die beiden taten Dinge, deren bloßer Anblick genügte, um Lilith ein zitterndes Stöhnen zu entlocken.
Sie wünschte sich so sehr, jenes Mädchen auf den Bildern zu sein. Und daß sie nicht Bilder blieben – sondern wahr wurden. Daß er all jene Dinge mit ihr tat. Sie sehnte sich nach dem Schmerz, der damit einhergehen mußte, und nach der feurigen Lust, die jeden Schmerz, mochte er noch so schlimm sein, verbrennen würde … Dann erst – und obgleich es mitten im Raum stand – sah Lilith das Bett. Und das Mädchen darin. Oder vielmehr das, was aus dem Mädchen geworden war: eine mumienhafte Gestalt. Vertrocknet und ausgelaugt, als hätte etwas ihr mit einem Schlag alle Kraft genommen. Und Lilith sah ihn. Er trat aus den Schatten hinter dem Bett, streckte die rechte Hand in ihre Richtung, während er mit der linken einen Halbkreis beschrieb, der jene einschloß, die hinter ihm ins Licht traten. Wankende Kreaturen, deren Gesichter in Lilith Erinnerungen weckten, die kaum alt genug waren, um solche zu sein. Der Widderköpfige war mit einem unmöglichen Schritt bei ihr, nahm ihre Hand. Sein Maul öffnete sich, gebar Worte, die nicht dafür geschaffen schienen, gesprochen zu werden. Trotzdem verstand Lilith jedes einzelne davon. »Das alles will ich dir geben, wenn du niederfällst und mich anbetest.« Die Worte lösten etwas in ihr aus. Öffneten etwas wie ein Gefäß in ihrem Unterbewußtsein, in das alles hineingepfercht worden war, was ihr wirkliches Sein ausmachte. Verbannt und geknebelt, um einem fremdem Willen Platz zu machen. Und nun brach es aus diesem Kerker hervor mit der Gewalt eines Vulkans. Lilith ging in die Knie unter dem Ansturm ihrer eigenen Kraft, die ihren Körper zurückeroberte. »NEEEIIIN!!!« Ihr Schrei gellte durch Kilchrenan Castle. Sie wollte sich dem Griff des Widderköpfigen entwinden, doch es war zu spät. Viel zu spät.
Er schleuderte Lilith ohne Anstrengung durch den Raum, auf das Bett, geradewegs auf den verdorrten Leib Jennifer Sebrees. Und noch in der gleichen Bewegung kam er über sie. Und tat ihr an, was nur noch Schmerz in Lilith weckte. Grauenhaften Schmerz, den keine Lust vergessen machte. Und grenzenlosen Ekel.
* Lilith glaubte zu zerreißen. Glaubte, daß etwas ihr Innerstes mit roher Gewalt verheerte. Glaubte zu sterben. Wünschte es sich sogar, als der Schmerz immer schlimmer wurde. Der Widderköpfige war über ihr. Seine starken Arme hielten ihre Handgelenke fest, während sie unter ihrem Rücken den ledrig harten, trockenen Körper des Leichnams spürte, der unter ihrem Gewicht und der Gewalt der Stöße, die ihren Leib durchliefen, nachzugeben begann wie eine leere Hülle. Knirschend und staubend brach er zusammen. Lilith versuchte das Dunkle in sich zu entfesseln, die Bestie, die sie normalerweise in geheimen Kerkern ihres Geistes band und nur dann losließ, wenn Kraft und Zerstörung das Gebot der Stunde waren. Wie einen Dämon versuchte Lilith das Vampirische in ihr heraufzubeschwören. Vergebens. Es war, als hätte etwas anderes mehr Macht über Liliths dunklen Teil. Weil es ihm verwandt war, mit ihm harmonierte, sich mit ihm verbündet hatte – und an ihm teilhatte. Lilith sah hoch, in die glotzenden Augen des Widderschädels. Und darin, in diesen stieren Kugeln, die weit aus ihren Höhlen quollen, las sie etwas wie – Triumph. Und stille Belustigung. Der andere spielte mit ihr. Er genoß es, sie zum Narren zu halten,
weidete sich an ihrem Leid. Und an ihrem Schmerz, den Lilith eisern bezähmte, obschon er sie fast umbrachte. Jede Zelle ihres Körpers schien zu schmerzen unter der Gewalt, die der Widderköpfige in ihr antat. Und doch wußte sie, daß dies nur der Anfang war. Daß er Schlimmeres vorhatte. Denn auch das las sie in seinem starren Blick. Seine Nüstern blähten sich in stinkendem Atem, der als pestilenzartiger Hauch in Liliths Gesicht fuhr. Ein tiefes Grollen, wie von fernem Donner, stieg in seiner Brust auf. Gleich mußte es aus ihm hervorbrechen, zusammen mit … »Genug!« Die Stimme schnitt durch den Raum, und etwas in ihr, das mehr ausmachte als ihr Tonfall, zeigte Wirkung. Der Widderköpfige hielt inne, wandte den Schädel und zog sich mit einem Aufschrei aus Lilith zurück. »Was wagst du …?« brüllte er dem anderen zu. Dem jungen Mann, den Lilith erst jetzt sah. Den sie gleich erkannte – und von dem sie gehofft hatte, ihn nie mehr wiederzusehen. Raphael Baldacci.
* Der Gesandte stand nahe der Tür. Als brächte er es nicht fertig, auch nur einen Schritt weiterzugehen. Er konnte noch immer kaum glauben, was er sah. Ein rundes Dutzend stinkender Gestalten, gekleidet in Lumpen, denen anzusehen war, daß sie nicht dieser Zeit entstammten. Die Kreaturen glotzten ihm aus toten Augen entgegen, streckten die Klauen nach ihm aus und wagten doch nicht, näherzukommen. Doch ihnen galt nur der allererste Blick Baldaccis und nur ein kleiner Teil seiner Aufmerksamkeit. Ein anderes Bild schlug ihn in seinen Bann. Keines von denen an
den Wänden ringsum, sondern das Bett. Und was darauf geschah. Lilith Eden lag darauf, in einem zerfetzten, hautengen Catsuit. Und über ihr hockte – – ein Kind! Ein Junge von allerhöchstens sieben Jahren kniete auf dem Bauch der Vampirin! Raphael Baldacci stieß einen Laut aus, den er selbst nicht zu deuten vermochte. Er war Ausdruck von Überraschung, Entsetzen, Grauen – und mehr. Das Kind ließ von Lilith ab, und für einen flüchtigen Moment – gerade so lange, wie der Nachhall seiner eigenen Stimme und dessen, was er unbewußt hineingelegt hatte, noch im Raum schwang – sah Raphael mehr als das Kind. Eine andere Gestalt schob sich darüber wie in einer Doppelbelichtung. Sie war größer, kräftiger, nackt – und sie trug einen gehörnten Tierschädel auf den fellbewachsenen Schultern. Doch der Eindruck schwand so rasch, wie er gekommen war. Hinter dem Kind richtete sich Lilith Eden auf. Und sie wirkte auf den Gesandten, als läge etwas gänzlich anderes hinter ihr als der Schmerz, den sie empfunden haben mußte, als der Knabe ihr seine Knie in den Bauch rammte und dabei auf und nieder ruckte. Sie sah erschöpft aus, todmüde beinahe, und seltsam ausgezehrt. Als hätte etwas von ihren Kräften gezehrt. »Was geht hier vor?« verlangte Baldacci mit harter Stimme zu wissen, obgleich er noch immer Mühe hatte, das Konglomerat unterschiedlichster Gefühle, das in ihm tobte, niederzuzwingen. »Was hast du mit diesem Kind zu schaffen, Vampir, und was sind das für grauenhafte Kreaturen?« »Kind?« Lilith glitt vom Bett und machte einen Bogen um den Widderköpfigen herum, der starr verharrte und seinen Blick nicht von Baldacci wandte. Der Gesandte wies mit dem Kinn in Richtung des Jungen. »Ist es
nicht schlimm genug, daß deine Art Leid über die Welt bringt? Müßt ihr euch selbst an Kindern vergreifen?« Er spürte etwas in sich emporsteigen, eine Ahnung des Hasses und der Kraft, die ihn schon übernommen hatten, als er Lilith letztesmal gegenübergestanden hatte. Und noch immer wußte er nicht, wo sie herrührten. Sie waren einfach da, und Liliths Gegenwart schien sie zu nähren, war wie Öl in die Flammen eines fast erloschenen Feuers. Eines lange niedergebrannten Feuers … Etwas drängte sich zwischen Haß und Macht, eine Erinnerung. Doch was sie trieb, war nicht stark genug, um länger als einen Augenblick zu bestehen. Zu kurz, um zu erkennen, was sie in sich barg … »Ich verstehe nicht …«, flüsterte Lilith, und die Verwirrung in ihren Worten war zweifelsohne echt. »Ich glaube, daß tust du wirklich nicht«, erwiderte Raphael. In ihm stritten seltsam widersprüchliche Kräfte miteinander. Da war jene, die ihn dazu treiben wollte, sich auf die Vampirin zu stürzen; und eine gänzlich andere, eine Kraft, die ihn wärmte, ja, verbrennen wollte. Doch es war ein süßer Schmerz, der damit einherging, und Raphael genoß ihn, weil jedes Pochen dieses Schmerzes in an jene eine Nacht erinnerte, die er mit Lilith im Feuer der Leidenschaft verbracht hatte … Sie stand jetzt neben ihm, und wie er sah sie zu dem anderen hin, der in ihren Augen nach wie vor groß war und einen Widderschädel auf den Schultern trug. Aber Baldaccis Worte hatten etwas in ihr berührt … Was hast du mit diesem Kind zu schaffen … Lilith entsann sich ihrer Träume, in denen der Widderköpfige aufgetaucht war. Und daran, daß sie etwas im Blick seiner Augen gesehen zu haben glaubte. Etwas wie – – die Unschuld eines Kindes?
Was geschah hier? Was geschah mit ihnen? »Was siehst du?« fragte Lilith kurzerhand. Baldacci sah sie erstaunt an. »Was ich sehe? Nichts anderes als du«, sagte er. »Das glaube ich eben nicht.« Sie schaute sich kurz suchend um und wies dann auf jenes Gemälde an der Wand, das nur die Aussicht in einen leeren Himmel zeigte. »Erinnerst du dich an das Bild?« fragte sie den jungen Mann im schwarzen Mantel. Er nickte. »Ich sehe den, der darauf abgebildet gewesen war«, erklärte Lilith. »Und du?« Raphaels Blick flackerte einen Moment lang unstet, ging hin und her zwischen dem veränderten Bild, Lilith und dem – »Kind«, flüsterte er. »Ich sehe ein Kind. Nicht mehr.« Lilith lächelte schwach. Aber es war nichts Fröhliches daran. »Schade.« Es war die Stimme eines Kindes, eines kleinen Jungen, die aus dem Widdermaul kam, und sie hatte nichts mehr mit dem rauhen, animalischen Organ gemein, mit dem er zuvor zu Lilith gesprochen hatte. Und dann fuhr sie fort: »Greift sie euch, meine Freunde!« Die Untoten setzten sich in Bewegung. Und plötzlich schienen sie sehr viel gelenker. Weil eine abartige Vorfreude sie trieb.
* Die Kreaturen kamen über Lilith und Raphael wie eine Horde Tiere. Geifernd und knurrend stürzten sie sich auf die beiden, wie ihr Herr es ihnen geheißen hatte.
Ein Kampf entbrannte, den Gabriel vergnügt beobachtete. Der junge Mann stand wie ein Fels in der Brandung der heranwogenden Leiber, deren Gestank einer Welle gleich über ihm und Lilith zusammenschlug. Er rührte sich nicht; nur seine Augen bewegten sich, und das Zucken zweier Adern an seinen Schläfen verriet eine Konzentration, deren Stärke spürbar im Raum lag. Wie von unsichtbaren Händen gepackt und geschlagen wirbelten ein paar der Untoten davon. Sie brachen in die Knie, und bevor sie sich wieder erheben konnten, war das Unsichtbare bei ihnen. Doch es attackierte sie nicht länger mit Fäusten, sondern mit Klingen, die ebensowenig zu sehen – aber tödlich waren. Vertrocknete Köpfe wurden von Schultern getrennt. Der Gestank wurde schlimmer. Lilith nahm sich nur eine halbe Sekunde Zeit, sich über Raphaels »Kampfstil« zu wundern. Dann ging sie auf ihre Weise gegen die untote Brut vor. Die Bestie in ihr gehorchte der Halbvampirin wieder. Und Lilith ließ sie von der Kette. Kräfte übernahmen ihren Leib und formten ihn zu etwas um, das den Untoten in Scheußlichkeit kaum nachstand. Mit Krallen verheerte Lilith die verwesenden Leiber, riß ihnen die Schädel ab, entseelte sie. Die mörderische Schlacht gegen das Heer der Kreaturen währte nur ein paar Sekunden. Dann standen Lilith und Raphael inmitten von Staub und stinkenden Kadavern, die sich nie mehr erheben würde, gleich welche Macht auch in sie fuhr. Doch Kampflust lag noch immer über allem. Denn die Halbvampirin und der Gesandte standen nun einander gegenüber, belauerten sich, mißtrauisch und aufmerksam. »Willst du zu Ende bringen, was du vor Wochen begonnen hast?« fragte Lilith kehlig und erinnerte an den Kampf in Salem’s Lot, der sie fast das Leben gekostet hatte. »Ich wünschte, du hättest meine
Warnung damals gehört …« »Deine Warnung?« fragte Baldacci. »Daß unsere Wege sich nie mehr kreuzen mögen.« »Laßt voneinander ab!« Die Stimme fuhr mit der Macht eines Peitschenhiebs zwischen sie, und etwas darin ließ Lilith und Baldacci tatsächlich je einen halben Schritt zurückweichen. Das Kind sah zu Baldacci hin. Lilith fühlte sich von den starren Augen aus dem Widderschädel angeglotzt. »Wenn ihr eure Kräfte messen wollt, dann tut es mir zum Wohlgefallen. Ich werde sie schüren in einem Maße, das ihr euch nicht vorzustellen wagt.« Lachen wurde laut. So laut, daß es die Wirklichkeit teilte. Und den Weg hinein in andere Wirklichkeiten öffnete. Sein Wille geschah. Und sein Reich kam …
* »Ciao, Raphael!« »Ciao!« rief der schwarzhaarige Junge. »Bis morgen!« Er band die Schürze ab und warf sie über den Haken hinter der Küchentür. Dann ging er durch das Lokal, das zu dieser späten Stunde nur noch von einer Handvoll Stammgäste besetzt war, und hinaus in die Nacht. Auf den Straßen und in den Gassen Trasteveres hatte der Touristenstrom indes noch nicht nachgelassen. Man nutzte die milde Frühlingsnacht für einen Bummel durch Rom, und auch Raphael überlegte, ob er noch zur Spanischen Treppe hinüberfahren sollte, um ein paar Freunde zu treffen. Doch er entschied sich dagegen. Mama würde sich Sorgen machen, wenn er nicht nach Hause kam, und er konnte später immer noch weggehen, wenn er sich daheim wenigs-
tens einmal hatte sehen lassen. Der Junge schwang sich auf seine Vespa und ließ sie im Schritttempo zwischen den Passanten hindurchrollen, bis er die Fahrbahn erreichte. Jeder Fremde hätte sich schon nach ein paar Metern verirrt auf dem Weg, den Raphael fuhr. Die Strecke führte durch Gassen, die für Autos zu schmal waren, über Hinterhöfe, deren Zugänge kaum zu erkennen waren, und selbst durch Hausflure, von deren Wänden das Knattern des Motorrollers wie Maschinengewehrfeuer widerhallte und sich in die wütenden Rufe aus dem Schlaf geschreckter Landsleute mengte. Schließlich hatte der Junge das schmalbrüstige Haus erreicht, in dessen zweitem Stockwerk er mit seiner Mutter lebte. Während er die Vespa abstellte, wanderte Raphaels Blick an der Fassade hoch. Vor dem Balkon flatterten Wäschestücke an der Leine und – – noch etwas? Die Bewegung verschwand, bevor Raphael sie wirklich sehen konnte. Er betrat das Haus und stieg die schmalen Stiegen hoch. Die Schreie vernahm er, als er den Absatz der ersten Etage erreicht hatte. Sie wurden über ihm laut. Nun waren Schreie in diesem Haus nichts Besonderes, auch zu so später Stunde nicht. Die Nachbarn gerieten sich oft in die Haare, und ihre Versöhnungen liefen meist ebenso lautstark ab wie ihre Streitigkeiten. Aber diesmal waren es nicht die Leute von nebenan, deren Schreie Raphael hörte. Es waren die Schreie nur einer Frau. Seiner – »Mutter!« Raphael glaubte zu rufen, doch es war nicht mehr als ein keuchender Laut, aus Entsetzen geboren, der ihm von den Lippen flog. Mit langen Sätzen hetzte er nach oben. Riß die Wohnungstür auf. Stürmte hindurch.
Und erstarrte. Eine Gestalt lag am Boden, die er nicht näher betrachten mußte, um zu wissen, daß es seine Mutter war. Er konnte sie auch nicht richtig erkennen, denn drei andere beugten sich über sie. Taten etwas mit ihr. Schlürfend, schmatzend, grunzend wie Tiere. Jetzt ließen sie von ihr ab, wandten sich ihm zu. Ihre dunkel verschmierten Lippen verzerrten sich in die Breite. In der Vorfreude auf sein Blut. Und Raphael Baldacci spürte etwas in sich erwachen. Etwas, das er auf einer anderen, späteren Ebene seines Denkens erkannte, obwohl es in diesem Augenblick neu und ungewohnt war. Später würden Macht und Haß daraus werden. Wenn er Lilith Eden begegnete … Raphael fühlte sich wie herausgeschält aus seinem Geist und Körper. Er stand unsichtbar neben sich, neben dem Jungen, der er einmal gewesen war und der jetzt jene Dinge erlebte, die wenig später aus seinem Gedächtnis gestrichen worden waren. Von wem? Und warum? Zugleich wußte er, daß sie nicht wirklich gelöscht worden waren. Nur verschüttet, tief genug, um sich nicht mehr daran erinnern zu können. Es hatte eines anderen, machtvollen Auslösers bedurft, um sie zu hervorzuholen. Der Eindruck des Sehens aus zwei Perspektiven – aus der des Jungen und der des jungen Mannes – schwand. Raphael schlüpfte zurück in den Körper seines um wenige Jahre jüngeren Selbst. Und sah sich den Vampiren gegenüber, die seine Mutter getötet, ausgesaugt hatten. »Warum?« Raphael schrie den Blutsaugern das eine Wort entgegen. Und mit einem winzigen Teil seines Denkens wunderte er sich darüber, daß
er die Unmöglichkeit dessen, was er vor sich sah, hinnahm. Daß er die Existenz dieser Kreaturen akzeptierte, als wären sie schon immer Teil seiner Welt gewesen – oder als hätte etwas in ihm schon immer von ihnen gewußt … »Warum?« äffte einer der Vampire ihn nach. »Darum«, geiferte ein anderer. »Was hat sie euch getan?« schrie Raphael mit einem Zorn, von dem er nicht gewußt hatte, daß er dazu fähig war. »Sie hat dich geboren«, erwiderte einer der Blutsauger. »Sich mit ihm eingelassen«, sagte ein anderer. »Mit wem? Was hat das zu bedeuten?« fragte der Junge. »Red nicht«, zischte ein Vampir. »Stirb!« Gemeinsam stürzten die Blutsauger sich auf ihn. Raphael wußte, daß er keine Chance gegen sie hatte. Er wußte nur eines, mit einer Gewißheit, die ihn auf seltsame Weise beruhigte: Sie waren nicht gekommen, um seine Mutter zu töten. Der wahre Grund ihrer Heimsuchung war – er selbst. Unter ihrem Ansturm ging der Junge nieder wie unter einer Sturmwelle. Seine Gegenwehr bestand nur aus Reflexen. Und doch – war er plötzlich frei! Die Vampire waren von ihm gewichen, zurückgeschleudert worden wie von unsichtbaren Fäusten getroffen. Verwirrt rappelte Raphael sich auf Hände und Knie hoch. Erst dann sah er den nachtschwarzen Schatten, der über ihn fiel. Der Schatten eines Mannes, der hinter ihm im Flur stand und dem nun alle Aufmerksamkeit der Vampire galt. Raphael wurde zum Zuschauer eines Kampfes, wie er ihn noch nie zuvor gesehen hatte. Weil er mit Mitteln und Kräften ausgetragen wurde, die er sich nie hatte vorstellen können. Die Schreie der Vampirbrut waren die einzigen Geräusche, die ihn begleiteten. Ihre Körper wurden wie von gewaltigen Sturmböen herumgewirbelt, und Raphael konnte etwas wie einen Hauch dieser
Kräfte spüren. Er erschauerte selbst unter diesem winzigen Bißchen der Macht, die hier am Werke war. Darüber hinaus konnte er spüren, daß der Kampf länger tobte, als es vonnöten gewesen wäre. Der Mann, der sich ihrer bediente, schien seine Kraft zu nutzen, um die Vampire zu quälen, bevor er sie tötete. Dreimal wurde das morsche Knirschen hörbar, mit dem unsichtbare Hände die Hälse der Blutsauger brach. Dann zerfielen sie zu Asche. Nur ihre Kleidung blieb übrig. Raphael kauerte wie gelähmt am Boden, und er wich auch um keinen Zentimeter, als der Mann über ihn hinwegstieg und dorthin trat, wo der Leichnam seiner Mutter lag. Seine Mutter, die in dem Moment die Augen öffnete, als der Mann sich zu ihr niederbeugte! Doch selbst über die Distanz hinweg konnte Raphael sehen, daß dies nicht mehr die Augen seiner Mutter waren. Der Ausdruck darin war … anders, böse. Der Mann kniete neben ihr. Seine Hände hoben ihren Kopf, er erwiderte ihren fremden Blick, dessen Veränderung auch ihn frösteln ließ. Als hätte auch er sie gekannt – zu Lebzeiten … »Es tut mir leid«, sagte er rauh. »Ich habe immer befürchtet, daß so etwas geschehen könnte. Und ich wußte, daß es heute nacht passieren würde. Doch ich kam zu spät. Zu spät für dich, amore mio.« Ein Ruck durchlief seine kräftige Gestalt. Ein Ruck, der in seine Hände floß und weiter. Der Körper von Raphaels Mutter erschlaffte in seinem Griff. Doch der Mann blieb noch lange knien, bevor er sich erhob und schweren Schrittes auf den Jungen zukam. Er streckte ihm die Hand entgegen. »Komm …«, sagte er. Wieder war es Raphael, als würde sich ein Teil von ihm aus seinem Leib lösen, ein Teil, der all das schon erlebt und vergessen hatte. All das – diese fürchterlichsten Minuten seines jungen Lebens, die entscheidend für sein weiteres gewesen waren, ein Wendepunkt,
ein neuer Anfang … Und dieser Teil, der sich für einen Moment abermals verselbständigte, erkannte den Mann, der vor ihm stand. »… mein Sohn«, vollendete Salvat. Gemeinsam verließen sie das Haus. Drunten an der Straße wartete eine schwarze Limousine mit laufendem Motor. Salvat öffnete den Fondschlag und wies den Jungen stumm an, einzusteigen. Raphael setzte sich auf die lederbespannte Bank, während Salvat vorne zustieg. Der Wagen fuhr los. Und als er sein Ziel erreichte, hatte Raphael vergessen, was zuvor gewesen war.
* VERSAGT! Lilith Eden, du hast VERSAGT! Die Worte waren nicht wirklich hörbar, und doch trafen sie Lilith wie die Fausthiebe eines vor Wut rasenden Riesen. Oder wie der Zorn einer Macht, die allgewaltiger war, als ein Mensch sich vorzustellen vermochte … Lilith kannte die Stimme. Sie hatte sie schon einmal gehört, wenngleich sie nicht mit bloßem Ohr wahrzunehmen war. Was sie sprach, entstand in den eigenen Gedanken. Schon einmal hatte die Stimme zu ihr gesprochen. Am Anfang der Zeit. Als ER Lilith ihre neue Bestimmung verkündet hatte. Und nun strafte ER sie, weil sie ihre Aufgabe nicht erfüllt hatte. Trieb sie mit der Gewalt seines Zorns über eine Welt, die nicht mehr jene war, die sie gekannt und der sie Erlösung hatte bringen sollen. Denn sie hatte versagt! Die Alte Rasse war nicht vernichtet. Sie lebte. Sie gedieh.
Und sie herrschte. Nicht länger im Verborgenen, sondern offen und unbarmherzig. Die Vampire hatten ihre Zurückhaltung aufgegeben und die Welt im Handstreich genommen, die Menschheit unterjocht. Sie bedienten sich nicht mehr menschlicher Machtstrukturen, um ihre Herrschaft auszuüben. Sie hatten eigene aufgebaut, ein Netz aus Grausamkeit und Schmerz gewoben und über die Menschen geworfen. Männer, Frauen und Kinder waren nun unübersehbar zu dem degradiert worden, was sie den Vampiren seit jeher in allererster Linie gewesen waren. Nahrung. Sie hielten sie in riesigen Lagern, in Pferchen, wie Vieh. Und wie Vieh mußten sich die Menschen vermehren, auf daß der Nachschub für die wahren Herren nie versiegte. Und sie – Lilith Eden – trug die Schuld daran. Warum? Was ist geschehen? Was habe ich getan? Die Frage wehte über ein Gleis ihres Denkens, das ins Nichts führte, und die Frage verschwand im Nirgendwo, im Vergessen. Lilith rannte weiter. Nicht denken, nicht umsehen, nur rennen, hämmerte es in ihr. Ihre Füße flogen über verbrannte Erde, sie hetzte durch eine Landschaft, in der das Licht zu etwas Grauem geronnen war und alles mit totenfahlem Schein überzog. Felsen ragten um sie herum auf, schwarz, glasig, bar allen Lebens. Sie wußte nicht, wo sie war, noch, wie sie hierher gelangt war. Nur eines wußte sie: Lauf, lauf, lauf! Die Schritte, das Klatschen in ihrem Rücken wurde lauter. Bis eben hatte sie es lediglich aus der Ferne vernommen, vielleicht nur die Echos von Geräuschen, die der sengende Wind ihr nachtrug. Doch jetzt hörte sie die Laute wirklich. Sie zwängten sich durch die vorwurfsvollen Worte in ihre Gedanken und vergifteten sie zusätzlich. Sie kamen näher. Wider besseren Wissens sah Lilith im Laufen über die Schulter zu-
rück. Und strauchelte prompt. Verlor eine Sekunde, die ihr fehlen würde. Irgendwann. Eher früher denn später. Denn sie waren nahe. Und holten auf … Eine Wolke wie aus zuckender Schwärze verfinsterte den fahlen Himmel, der weder Tag noch Nacht zu kennen schien. Etwas flutete wie eine graue Woge heran, nicht rauschend, sondern hechelnd, geifernd, heulend. Lilith meinte, den heißen Atem der Wölfe schon im Nacken zu spüren, glaubte sich gestreift von einem Luftzug, den Hunderte von ledrigen Schwingen entfachten. Und sie lief. Immer weiter. Immer schneller. Doch weder weit noch schnell genug. Denn ihre Verfolger kannten keine Erschöpfung mehr, seit sie dem Blut nicht mehr nachjagen mußten, seit sie sich bedienen konnten aus nie versiegenden Quellen. Die Woge graupelziger Leiber kam über Lilith, riß sie im Lauf von den Beinen. Völlige Lichtlosigkeit senkte sich auf sie herab, als die Wolke aus flatternden Körpern sich auf sie stürzte. Sie wartete auf den Schmerz – und wußte doch, daß er nicht kommen würde. Denn ihr Stiefvolk wollte ihr etwas antun, das tausendmal schlimmer war als alles körperliche Leid und der Tod.
* Die Stadt war von archaischer Architektur. Schwarze Bauten, so weit das Auge reichte, sinnverwirrend in ihrer Anordnung und schmerzhaft im Anblick. Feuer brannten allerorten, kämpften gegen die Nacht an, die mehr als nur Finsternis war, seit sie herrschten. Ein wogendes Meer aus Leibern und Bewegung füllte die Straßen und Gassen. Grölend und schreiend teilte es sich, als die Häscher in die Stadt kamen und ihre Beute in einem Käfig hoch über ihren Köpfen zur Schau stellten.
»Hurenbalg, jetzt bist du dran!« »Dein Blut gehört uns!« »Dein Ende wird uns das Fest der Feste!« Solche Rufe und schlimmere begleiteten Lilith, als sie durch die Stadt geschleppt wurde, die von Menschen nach Plänen der Alten Rasse erbaut worden war. Sie ließ den Blick schweifen und sah ausnahmslos in verzerrte Visagen, aus denen ihr nur Haß, Abscheu und Triumph entgegenstarrten. So spürbar, daß ihr übel davon wurde. Sie hob den Kopf ein wenig, um sie nicht mehr ansehen zu müssen. Und entdeckte in einiger Entfernung etwas, das ihr Ziel sein mußte. Ein Gebäude, das die anderen weit überragte. Auf einem allein schon turmhohen Fels errichtet, wucherte es dort oben wie ein unförmiges Geschwür, schwarz wie die Nacht selbst. Und nur deshalb erkannte Lilith nicht gleich, welcher Form die Konturen des Bauwerks nachempfunden waren. Wie eine monströse Fledermaus mit ausgebreiteten Schwingen saß der bizarre Palast auf der Felsnadel, aller Statik trotzend. Doch ehe sie mit ihren Jägern dort anlangte, wo sich ihr Schicksal erfüllen sollte, mußte sie noch eine weitere Grausamkeit erdulden. Inmitten der Stadt befand sich ein freier Platz – frei zumindest von Gebäuden. Denn er war regelrecht überflutet mit Vampiren. Sie drängten sich um ein Podest, eine Bühne, das nur einigen der Häscher genug Raum bot, die sie gefangen und hergebracht hatten. Sie verfrachteten den Käfig mit ihrer Beute dort hinauf und zerrten Lilith heraus. Erst jetzt erkannte sie, was noch auf dem Podest Platz gefunden hatte. Ein hölzernes Gestell, aufklappbar, mit drei Öffnungen darin. Die Vampire stellten Lilith an den Pranger. Und jeder der versammelten Menge durfte ihr antun, was immer ihm gefiel. Endlose Stunden vergingen, in denen Lilith den Tod herbeischrie. Ewigkeiten, in denen sie lernte, was die Phantasie von Vampiren an
Widerwärtigkeiten zu ersinnen imstande war.
* Die Kammer blieb für Lilith dunkel, obwohl genug Licht hereingefallen wäre, das ihre vampirischen Sinne hätten nutzen können, um etwas zu erkennen. Doch der Schmerz und etwas, das noch darüber hinausging, betäubten ihre Sinne, schlugen sie mit einer Blind- und Taubheit, von der sie sich fast wünschte, sie möge nie mehr von ihr weichen. Damit sie nicht bewußt erdulden mußte, was noch kommen würde. Denn sie ahnte, daß die hinter ihr liegende Folter und die Demütigungen nur der Auftakt gewesen waren. Um so überraschter war sie, als es anders kam. Irgendwann hatte der Schmerz so weit nachgelassen, daß sie ihre Umgebung zumindest halbwegs wahrnehmen konnte, so wie ein Mensch in einem abgedunkelten Raum sehen mochte. Es war nicht etwa eine Zelle, in die man sie, als sie besinnungslos gewesen war, geworfen hatte. Sondern ein Gemach. Ein riesiger Raum, der an Pracht alles übertraf, was Lilith je zuvor gesehen hatte. Gold und edle Stoffe und Teppiche bestimmten das Bild, und auf ihrer nackten Haut fühlte sie feinste Seide. Wie in ein Märchen versetzt kam Lilith sich vor. Oder wie in einem Traum … Ein Traum im Traum …? fragte etwas in ihr, doch es verstummte, noch bevor sie an eine Antwort auch nur zu denken vermochte. Staunend sah Lilith sich um, entdeckte eine Kostbarkeit nach der anderen. Wundervolle Kleider, in die der Symbiont sie nie würde hüllen können, weil Liliths Vorstellungskraft nicht ausreichte, sie in Gedanken zu formen; exotische Düfte, die ihre Sinne beflügelten; Schmuck und Geschmeide, wie sie teurer in den Königshäusern der
Menschheit nicht zu finden gewesen sein konnten … Der Menschheit … Dieser Gedanke war es, der den Zauber brach. Die Menschen – es gab sie nicht mehr. Nicht mehr als jene, die die Welt zu dem gemacht hatten, was sie vor der Übernahme durch die Vampire gewesen war: zu einem Ort, der allen Widrigkeiten und aller Unvollkommenheit zum Trotz lebenswert gewesen war. »Und ich bin schuld«, flüsterte Lilith. Ihr Zorn gegen sich selbst entlud sich in einer Armbewegung, mit der sie Flakons und hundert andere Dinge von einer Kommode aus edlem Holz fegte. Klirrend gingen die Fläschchen zu Bruch, ihr Inhalt lief ineinander, und Düfte stiegen empor, die Lilith in ihrer Mischung fast den Atem nahmen. Das war kein Wohlgeruch mehr. Der Gestank erinnerte sie an Verwesung, Tod und Niedergang … Ein Geräusch ließ sie herumfahren. Die Tür wurde geöffnet. Drei Mädchen betraten das Zimmer. Jedes eine Schönheit. Und jedes tot. Dienerkreaturen. »Was wollt ihr?« fuhr Lilith sie an, mit schneidender Schärfe in der Stimme. »Folge uns«, sagten sie im Chor. »Wohin?« »Du sollst vorbereitet werden.« »Vorbereitet worauf?« fragte Lilith. »Willst du ihm denn so entgegentreten?« erwiderten sie wieder wie aus einem Mund, und selbst die Geste, mit der sie auf Lilith wiesen, war unnatürlich synchron. Lilith sah an sich herab. Und erschrak. Ihr Körper war zerschunden, schmutzig, besudelt von schwarzem Blut und anderen Dingen, über die sie lieber nicht nachdachte. Aber schon der Anflug der Erinnerung an die Stunden, die sie am Pranger zugebracht hatte, genügte, um den Schmerz von neuem heraufzubeschwören.
»Wem soll ich gegenübertreten?« fragte Lilith. »Und worauf wollt ihr mich vorbereiten?« »Du weißt es nicht?« Die Verwunderung der drei Grazien war voller kindlicher Ehrlichkeit. Lilith schüttelte stumm den Kopf. »Auf die Bluthochzeit«, sagten sie aus einem Munde.
* Lilith sperrte alles um sich her aus, indem sie die Augen geschlossen hielt. Mit den sichtbaren Dingen gelang ihr dies auch. Alles andere jedoch blieb auch hinter ihren Lidern präsent. Bluthochzeit … Was mochte sich dahinter verbergen? Lilith wußte es nicht; aber sie wußte, daß sie es nie erfahren wollte. Nur würde man ihr kaum eine Wahl lassen. Den Gedanken an Flucht hatte sie aufgegeben, kaum daß sie aus dem Gemach getreten war. Die drei Dienerkreaturen zu überwältigen, hätte sie sich zwar selbst in ihrem angeschlagenen Zustand zugetraut. Doch mit all den anderen Kreaturen und Vampiren, die allein schon in der Nähe der Tür gestanden hatten, wäre sie nie fertiggeworden. Und selbst wenn – ihre Flucht hätte damit im Grunde erst begonnen. Eine Flucht durch ein Labyrinth von Gängen und Treppen, die den Palast – denn nirgends sonst konnte sie sich befinden – wie das Gedärm eines Ungeheuers durchzogen. Lilith war sicher, daß sie nicht einmal den Weg zurück in ihr Gemach ohne Hilfe gefunden hätte, obwohl sie kaum fünf Minuten gegangen waren. Ihr Ziel war ein marmorüberladener Raum gewesen, nur wenig kleiner als ihr Zimmer. In der Mitte war eine Wanne von den Ausmaßen eines Kinderschwimmbeckens in den Boden eingelassen.
Und darin saß Lilith nun, genoß die Wärme des Wassers, die Düfte und Wirkung der Essenzen. Sie gab sich ihnen hin, ließ zu, daß sie ihren Geist umflorten, begann sich mit ihrem Schicksal abzufinden. Bluthochzeit … Der Wasserpegel stieg kaum merklich an, und Lilith spürte trotz ihrer noch immer geschlossenen Augen, daß sie nicht länger allein im Becken war. Noch in derselben Sekunde fühlte sie sich von Händen berührt, denen auch das Wasser die Kälte nicht nehmen konnte. Dennoch erwehrte Lilith sich ihrer nicht. Sie genoß das Streicheln, die sanfte Massage, die die Hände ihr angedeihen ließen. Sie begann wohlig zu schnurren und ergab sich dem anderen. Weiche Haut berührte die ihre, rieb sich an ihr, als wollte sie teilhaben an der Wärme, die in Lilith war. Kühle Lippen kosten ihre vollen Brüste, saugten an den Nippeln, während andere ihr tiefer wohlige Wonnen bereiteten. Lilith fröstelte, nicht allein der Kälte der anderen Körper wegen. Sie ließ sich ein wenig tiefer in das Wasser gleiten, bereit, ihren Leib jenen Wogen anzuvertrauen, die ihn zu den Gipfeln höchster Lust hinaufspülen würden. Vielleicht zum letzten Mal … Doch es kam nicht dazu. Ein kühler Luftzug streifte ihren Nacken, als die Tür hinter ihr geöffnet wurde. Die Dienerkreaturen hielten inne in ihrem Treiben, wandten sich dem zu, der den Badesaal betreten hatte. »Ist es schon soweit, Herr?« Wieder bewegten sich die Münder der untoten Schönen wie einer. »Schweigt!« Die Stimme traf die Dienerinnen wie ein Hieb. Sie senkten die Blick unter der Macht darin – einer Macht, die auch Lilith verspürte. Und die sie kannte! Sie mußte sich nicht umdrehen, um Gewißheit zu erlangen. Doch sie tat es trotzdem.
»Ich wollte nur sehen, ob es meiner Braut an nichts mangelt.« Die Worte erreichten Lilith in der Drehung. Kalter Atem streifte ihr Gesicht, weil der andere sich zu ihr herabgebeugt hatte. »Nun, Hurenbalg, wie gefällt dir das?« Landru grinste. Seine Zunge fuhr zwischen den Eckzähnen hervor und berührte Liliths Lippen.
* Lilith wünschte sich den Schmerz zurück, den man ihr am Pranger bereitet hatte. Die Taubheit, die er über ihre Sinne gebreitet hatte. Dann hätte sie nicht bewußt miterleben müssen, was Landru mit ihr tat … Nackt hatte er sie aus dem Badesaal mitgenommen, nachdem die Dienerkreaturen ihren Körper noch mit Düften und Salben eingerieben hatten. Er führte sie in ein Gemach, das ihres in Ausstattung und Prunk noch bei weitem übertraf, eines Königs würdig, der über ein Volk herrschte, dem die ganze Welt gehörte … Landru trat an eines der gewaltigen Fenster und wies hinaus. Tief unter ihnen breitete sich die Stadt aus, ihre Schwärze reichte bis zum Horizont und war dort noch nicht zu Ende. Der älteste und nun zweifellos mächtigste Vampir grinste abseitig. »All das will ich dir geben, wenn du niederfällst und mich anbetest.« Nicht seine Stimme, hallte es in Lilith, das war nicht seine Stimme, nicht Landrus Stimme … Doch auch dieser Gedanke zerstob unter dem Einfluß von etwas Fremdem, unglaublich Mächtigem. »Und wenn ich es nicht tue?« fragte sie. »Du wirst, meine Liebe, verlaß dich darauf.« Landru ging an ihr vorüber und zeigte auf das riesige Bett. »Hier ist fortan dein Platz«, sagte er. »An meiner Seite.«
»Wie Mann und Frau?« Lilith wußte nicht, woher sie noch den Mut zum Spötteln nahm. Die Strafe folgte auf dem Fuße. Landru packte sie, schleuderte sie in die Laken und Kissen. Lilith wehrte sich nicht. Weil sie wußte, was geschehen würde. Sie waren nicht allein. Die Vampire, die sie umstanden, hätten nicht zugelassen, daß sie auch nur die Hand gegen den Mächtigsten erhob. Als gehorchte er ihrem Willen nicht länger, zog der Symbiont sich überall dort von Liliths Haut zurück, wo Landru sie berühren wollte. Für die Umstehenden mußte es aussehen, als fließe ein schwarzes Etwas über ihren Körper, bald hierhin, bald dorthin. Lilith wollte der Schwärze befehlen, sich über ihrer Scham zu sammeln, doch wie zum Trotz wob sie etwas wie einen Slip um ihr Becken, der im Schritt offen blieb. Landru hatte längst seine Kleider abgelegt, ein prunkvolles, reich besticktes Gewand. Nackt kam er über Lilith. Sein pralle Männlichkeit rieb über ihre Schenkel, die er mit seinem Körper auseinanderdrängte. Dann stieß sein Schaft wie neckend gegen ihre Pforte. Zweimal, dreimal. Bis er sich nicht länger damit begnügte. Ein Schrei floh von Liliths Lippen. Ein Schrei, der nicht Ausdruck von Schmerz war. Nicht nur jedenfalls. Sie wollte sich weitere verbieten, zog die Lippen zwischen die Zähne und konnte doch nicht verhindern, daß ihr kleine Schreie entwichen, wieder und wieder. Bis sie nicht länger an sich hielt. Sie wollte es doch selbst! Hatte sie nicht schon davon geträumt, als sie Landru damals aus dem Schutz eines Schrankes beobachtet hatte, vor Ewigkeiten, wie es ihr schien, als er sich in den Katakomben eines Sydneyer Friedhofs mit der Wölfin Nona vereinte? Hatte sie es nicht über die Jahre vergeblich zu verdrängen versucht? Daß sie ihn im Grunde ihrer Seele begehrte? Daß sie hungrig
war nach seinen Berührungen? Ein mühsam errichteter Damm brach. Sie bäumte sich ihm entgegen, fand Halt an seinen Schultern, grub ihre Nägel in sein Fleisch. Landru brüllte, als sein Blut floß, doch er hielt nicht inne. Er forcierte die Härte seiner Stöße, als wollte er Lilith damit zertrümmern, zerstören – und doch unterlag er ihr. Mit katzenhafter Gewandtheit zwang sie ihn auf den Rücken, nahm rittlings auf ihm Platz, doch er gönnte ihr das Vergnügen nur kurz. Dann warf er sie ab, faßte sie von hinten an den Hüften und zog sie zu sich heran. Lilith erbebte, vor ihm kniend, und wollte ermattet niedersinken. Doch Landru ließ es nicht zu. Er drehte sie zu sich her, wühlte seine Finger in ihre schwarze Mähne und zwang sie, zu Ende zu bringen, was ihr schon vergönnt gewesen war. Erst dann ließ er ab von ihr. Sie sanken in die Laken, beobachtet von mehr als einem Dutzend Augenpaaren, in denen geschürte Begierde fast sichtbar brannte. Seite an Seite lagen Lilith und Landru da. Und in dem Maße, da Lilith die Glutwellen der Lust in sich verebben spürte, kam etwas anderes empor. Ekel. Weniger vor dem, was Landru mit ihr getan hatte, sondern vielmehr vor sich selbst. Nun, da sie sich ihr Begehren selbst eingestanden hatte, zerbrach auch ihr Stolz. Landru hatte sie gezähmt wie eine Katze, ihren Willen gebrochen und sie ihrer Freiheit beraubt. Konnte es eine größere Demütigung für sie geben?
* Vampire. Ihnen galt Raphael Baldaccis fürchterlichster Haß. Allein der Ge-
danke an sie erweckte schon Kräfte in ihm, die ihn allem überlegen machen mußten, was sich ihm nur in den Weg stellte. Und den Vampiren zu begegnen entfesselte diese Kraft, deren Quelle Haß war. Ein Haß, der jeden anderen Menschen an den Rand des Wahnsinns und womöglich darüber hinweg treiben mußte. Jeden anderen Menschen … Raphael lachte bitter auf. Jeden normalen Menschen – das traf es wohl eher. Vielleicht – nein, bestimmt sogar aus diesem Grund hatte Salvat dafür gesorgt, daß er sich an nichts erinnerte, was geschehen war, bevor er ihn in den Orden geholt hatte. Um zu verhindern, daß Raphael selbst Opfer dieses Hasses wurde. Daß er sich in ihm verlor, bis es kein Entrinnen mehr gab. Salvat und die anderen hatten ihn gelehrt, jene Kraft in andere Bahnen zu lenken, anders zu nutzen, sinnvoller. Sinnvoller … Wieder lächelte der junge Mann, nicht bitter diesmal, sondern traurig; und ein kleines bißchen wütend. In ihrem Sinne. Im Sinne der Illuminati. Sie, Salvat und die anderen, hatten ihm als Gegenleistung dafür nichts anderes genommen als sein Leben. Sein früheres Leben. Die Erinnerung daran und alles, was ihm wert und lieb gewesen war. Aber – wäre sein Weg ein anderer gewesen, wenn sich an jenem Punkt, in jener Nacht nicht alles geändert hätte? Wäre er nicht früher oder später darauf gestoßen, wenn auch auf andere und vielleicht nicht einmal weniger grauenvolle Weise? Wäre ihm sein Weg nicht vorbestimmt gewesen, von Geburts wegen? War es nicht seine Pflicht, in die Spuren jenes Mannes zu treten, der sich ihm in jener Nacht als sein Vater zu erkennen gegeben hatte? Fragen über Fragen, und Raphael fand nicht eine einzige Antwort. Weil sie ohnehin nicht von Interesse waren. Nicht mehr. Die Welt war eine andere geworden. Eine, in der sein Haß am
rechten Platz war. Auch wenn er mit all seiner Kraft nicht wirklich etwas unternehmen konnte gegen das, was geschehen war. Gegen die Herrschaft der Vampire. Sie regierten die Welt, hatten die Menschheit vollends unterjocht. Hätte Salvat es ihm nicht verwehrt, hätte er Raphael seinen Haß auf die Blutsauger ausleben lassen – vielleicht wäre alles anders gekommen. Vielleicht hätte er sein Leben dabei verloren, doch was zählte seines, wenn es die Menschheit gerettet hätte? Eine weitere Frage, auf die Raphael sich die Antwort schuldig blieb. Er war sich nur ziemlich sicher, daß sie nichts damit zu tun hatte, daß Salvat seinen Sohn nicht ins Verderben laufen lassen wollte. Denn die Bande der Illuminati waren gewiß stärker als jede Blutsverwandtschaft. Raphael Baldacci schritt durch Schwärze. Der Boden zu seinen Füßen war schwarz, und alles ringsum ihn her war schwarz. Vieles davon rührte von den Feuern her, mit denen die Menschen sich gegen die Vampire gewehrt hatten. Doch ein Teil der Schwärze mochte etwas anderes sein – war es sogar ganz bestimmt: das getrocknete Blut, das geflossen war im Krieg um die Welt. In einer Schlacht, die wie keine zuvor diese Bezeichnung verdient hatte … Der Gesandte wußte nicht, woher er all dieses Wissen bezog. Es war in ihm, weil es Teil der Geschichte dieser Welt war, durch die er ging. Und er wußte es mit derselben Gewißheit, die ihm verriet, daß er kein Gesandter mehr war. Er war einer der letzten freien Menschen, der letzte der Illuminati vielleicht. Und er war der einzige, in dem genug Kraft war, sich den Vampiren mit Erfolg entgegenzustellen. Es waren kleine Erfolge, die seinen Weg durch diese Welt säumten. Aber sie summierten sich. Und vielleicht krönte er sie heute Nacht durch einen großen Sieg. Baldacci blieb stehen, als er sein Ziel am Horizont gewahrte. Dunkle Buckel erhoben sich dort, flackernde Helligkeit tanzte da-
zwischen. Und über allem thronte die Silhouette einer gewaltigen Fledermaus. Der junge Mann lief weiter, der Stadt der Vampire zu. Um den Mächtigsten der Alten Rasse zu stürzen. Und zu töten.
* Raphael Baldacci wurde zu einem Schatten unter Kreaturen, die keine Schatten warfen. Ein Phänomen, das kaum auffiel, wenn man einem einzelnen Vampir begegnete. Hier jedoch, da ihre Schar nach Tausenden oder mehr zählte, war es anders. Etwas fehlte, ebenso sicht- wie spürbar. Die Echos von Bewegungen, wie sie einst die Städte der Menschen erfüllt hatten. Wie lange war es her? Wann hatte das Schreckensregime der Blutsauger begonnen? Auch das war eines der Dinge, die Raphael Baldacci nicht wußte, die ihm in flüchtigen Augenblicken zwar immer wieder durch den Kopf gingen, über die er jedoch nie lange genug nachdachte, um sich ihrer Absurdität bewußt zu werden. Weil etwas jeden Gedanken daran kappte. Mit hellem Lachen … Baldacci sah Köpfe, die sich ihm zuwandten. Wieder und wieder. Die verfluchte Brut witterte ihn, doch er blieb nie lange genug an einem Fleck, um entdeckt zu werden. Er huschte weiter und weiter, lautlos und nichts als ein dunkler Schemen in der Nacht. So glaubte er jedenfalls. Bis er die Berührung spürte. Eine Hand packte ihn an der Schulter, wirbelte ihn herum. Raphael starrte in eine häßliche Visage, die sich in diesem Moment zum Schrei verzerrte. Die Züge des Vampirs gefroren zur Grimasse, als unsichtbare Hände seinen Kopf wie stählerne Zangen packten.
Für einen Beobachter mußte es aussehen, als würde der Vampir den Blick abwenden. Immer weiter und weiter. Bis die Bewegung unnatürlich wurde. Bis Nackenwirbel knackten. Bevor sie jedoch brechen konnten, zog Raphael seine Kraft zurück. Der Schmerz, der sich sengend das Rückgrat des Vampirs entlanggebrannt haben mußte, war stark genug gewesen, sein Bewußtsein auszulöschen. Haltlos sank der Blutsauger zu Boden, und Raphael zerrte ihn tiefer in die stinkende Gasse zwischen zwei Gebäuden hinein. Er hatte ihn nicht töten dürfen. Die anderen Vampire hätten im Moment des Sterbens den Todesimpuls empfangen und somit gewußt, daß jemand hier war, der gegen sie vorzugehen trachtete. »Schwächling.« Baldacci grinste auf den reglosen Körper hinab. Er konnte sich nicht verkneifen, ihm den Fuß in die Seite zu stoßen. Das Knacken der splitternden Rippen entschädigte ihn zumindest ein klein wenig dafür, daß ihm das wundervolle Geräusch des brechenden Genicks versagt geblieben war … Im Schutz der Gebäude lief Baldacci weiter, strebte unaufhaltsam dem Zentrum der Stadt zu, wo sich auf der Spitze einer Felsnadel der Palast erhob. Er war sein Ziel. Ihn zu erreichen eine Kunst. Und ihn zu betreten eine Herausforderung. In Sichtweite des Fußes des Felsenturmes verbarg Raphael Baldacci sich. Der Umfang der steinernen Säule war gewaltig. Zweihundert Männer mochten nicht ausreichen, ihn zu umfassen. Und dennoch schien es Baldacci eine statische Unmöglichkeit, daß dort oben der Palast errichtet worden war. Er ragte in seiner Grundfläche weit über die Plattform hinaus, und er sah vielmehr so aus, als wäre er dort gewachsen anstatt gebaut worden. Und doch war er das Werk von Menschenhänden. Blut, Schweiß und Tränen waren in das Werk eingegangen, die das Leben Hun-
derter gekostet hatte. Baldacci wußte es, ohne es mitangesehen zu haben. Der Weg zum Fuße des Palastfelsens war nicht sehr weit, aber er bot keinerlei Deckung. Doch das war das kleinere von zwei Problemen, mit denen Raphael Baldacci sich konfrontiert sah. Das größere bestand in etwa fünfundzwanzig Vampiren. Sie standen vor der haushohen schwarzen Öffnung, die im Fels gähnte und hinter der ineinander verschlungene Treppen hinauf in den eigentlichen Palast führten.
* Es kostete Raphael Baldacci unendliche Überwindung, aber es war die einzige Möglichkeit, die ihm blieb. Dabei schien sie ihm so abartig, daß er einen Moment lang mit dem Gedanken spielte, umzukehren und unverrichteter Dinge abzuziehen. Aber wirklich nur einen Moment lang. Dann zog er sich ein Stückweit zurück, lief im Schutz der Gebäude den Weg entlang, den er gekommen war, bis er fand, wonach er Ausschau gehalten hatte: Eine Gestalt, die etwas abseits der Ströme von Leibern stand, die sich durch die Gassen und Straßen wälzten. Baldacci trat aus dem Schatten. Nur für einen Augenblick. Gerade lange genug, um den Vampir dort mit seiner Witterung zu irritieren. Es klappte. Der andere sah sich um und schließlich in Baldaccis Richtung, der sich mittlerweile weiter zurückgezogen hatte. Der Vampir kam näher, lauernd, mißtrauisch, vorsichtig. Bevor er in die Dunkelheit trat, die zwischen den Bauten links und rechts nistete, sah er sich noch einmal um, und Baldacci fürchtete, er könnte einen Artgenossen herbeirufen. Glücklicherweise tat er es nicht, sondern ging allein weiter.
Raphael schlug zu. Der Körper des Vampirs erstarrte erst, dann fiel er haltlos geworden in sich zusammen. Baldacci fing ihn auf und schleifte ihn weg. Mit seiner Last brauchte er fast die doppelte Zeit, um an den Rand des freien Platzes zurückzukehren, der den Palastturm umgab. Und dort tat Raphael Baldacci dann, was ihn würgen ließ, noch bevor er damit begonnen hatte. Er ließ den Reglosen sinken und beugte sich über ihn. Brachte sein Gesicht an den Hals des Vampirs heran. Öffnete den Mund. Und biß zu. Seine Zähne waren nicht geschaffen für so etwas. Er mußte ziehen und zerren, bis er die ledrige, totenkalte Haut des Vampirs über der Schlagader durchtrennt hatte, und dann dauerte es noch einmal Sekunden, bis er die Ader darunter geöffnet hatte. Kaltes schwarzes Blut floß zäh in Baldaccis Mund, und den ersten Schwall spie er im Reflex aus. Dann zwang er sich, davon zu trinken. Es schmeckte, wie es in einer Gruft roch. Wie Schleim rann es ihm die Kehle hinab, hinterließ etwas wie eine Spur aus Frost und füllte seinen Magen mit Kälte. Mit einem Aufstöhnen ließ Baldacci von seinem Opfer ab. Fast augenblicklich schloß sich die Halswunde des Vampirs, versiegte der schwarze Strom. Baldacci ließ seine Kraft wirken. In sich. Ließ sie die getrunkene Schwärze nehmen und in seine eigenen Adern pressen. Sie vermengte sich mit seinem pulsierenden Blut. Er hoffte, daß es klappte. Versucht hatte er den Trick nie zuvor. Die Wirkung ließ sich nur auf einem Wege in Erfahrung bringen. Auf dem praktischen. Raphael Baldacci lief los, überquerte den Platz und erreichte den Eingang in den Felsenturm. Hier mußte sich weisen, wie gut seine Idee war. Oder wie schlecht.
Die Wächter musterten ihn. Nicht besonders aufmerksam, und kein bißchen argwöhnisch. Baldacci zwang sich, seinen Schritt nicht zu verlangsamen. Zügig ging er weiter, trat durch das Tor – und hinein in die Höhle des Löwen.
* Lilith lag apathisch auf den Laken. Ihr fehlte sogar die Energie, ihren entblößten Körper, der ohne den Symbionten so nackt und ungeschützt war wie selten zuvor, mit dem Tuch zu bedecken. Alle Kraft schien sie verlassen zu haben. Die Mattigkeit rührte nicht allein von der Anstrengung der letzen Minuten her. Von der Explosion der Lust, die sie gleichzeitig abgestoßen und erregt hatte. Und vor der sie im nachhinein nichts als Ekel verspürte. Landru hatte längst von ihr abgelassen. Sie hörte, wie er sich hinter ihr ankleidete. Bluthochzeit … Der Begriff wehte durch Liliths wiedererwachendes Bewußtsein. Noch immer wußte sie nichts damit anzufangen. Sie wußte nur, daß es das, was hier geschehen war, nicht sein konnte. »Nun, Hurenbalg, es wird Zeit.« Landru ließ sich neben ihr auf dem Bett nieder. Seine eisigen Finger strichen über ihren Rücken und hinterließen eine Spur sichtbaren Fröstelns. Sie drehte sich um, mit einer Bewegung, die in seinen Augen lasziv wirken mußte, wie sie am Funkeln darin erkannte. »Wofür?« fragte Lilith matt. »Für unsere Hochzeit.« Bluthochzeit … »Hast du denn schon um meine Hand angehalten?« Lilith schmeckte den Galgenhumor gallebitter auf ihrer Zunge. Landru packte ihre Linke, hob sie und drehte sie so, daß ihrer bei-
der Blicke auf die Handfläche fielen. »Um diese Hand, meinst du?« Er grinste gemein. Lilith erschauerte. Ihre Hand war – schwarz. Wie verfault. So sah es zumindest auf den ersten Blick aus. Nässendes Fleisch löste sich aus einem scharf konturierten Teil. Aus den Umrissen einer stilisierten Fledermaus. Liliths Tattoo … Ein Stigma, dem Gott eine neue Bedeutung verliehen hatte. Mit jedem Vampir, den Lilith hatte vernichten sollen, wäre die Tätowierung ein kleines bißchen heller geworden, bis sie schließlich, wenn sie den letzten der Alten Rasse gerichtet hätte, verschwunden wäre. Wäre, hätte … Sie hatte versagt! Und das Zeichen in ihrer Hand war schwarz geworden und löste sich auf in Blut und stinkendem Fleisch. Landru tunkte den Finger in das Blut, das aus der Wunde trat. Er netzte seine Zungenspitze mit der dunkelroten Perle, und Lilith konnte sehen, wie sie seinem Rachen regelrecht entgegenrollte. »Ein letztes Mal kosten von deinem roten Blut …«, sagte er genießerisch. Bluthochzeit … »… bevor es schwarz wird wie das unsere«, ergänzte er dann. »Bevor du eine der unseren wirst!« Landru zog sie in die Höhe. Schwer und unfähig, etwas dagegen zu unternehmen, hing Lilith in seinem Griff. Und er lachte. Ein fremdes Lachen. Das eines Kindes. Lilith hörte es nicht. Denn sie wußte plötzlich um die Bedeutung des Wortes. Bluthochzeit …
*
Der Nachtwind fuhr eisig kalt über die Dächer des Palastes hinweg. Doch nur Lilith fror. Allen anderen um sie herum war Kälte zum steten Begleiter geworden, nachdem sie ihr Leben, ihre Seelen in den Lilienkelch gegeben hatten. Die Palastdächer bildeten beinahe eine Stadt für sich mit ihren unterschiedlichen Größen, Farben und Formen. Nur in der Mitte war eine freie Fläche ausgespart. Sie erinnerte Lilith nicht von ungefähr an eine Zeremonienstätte. Seltsame Gerätschaften und Konstruktionen standen herum, und obwohl sie ihre Funktion nicht einmal erahnen konnte, wußte sie doch, daß jedes Ding einen furchtbaren Zweck erfüllte. Das Rund des Mondes wachte wie ein gefrorenes, pupillenloses Auge über allem. Sein Licht wob die Menge der Versammelten wie in eine silbrige Aura. Die Vampire hatten einen Kreis gebildet, in dessen Mitte Landru stand, und an seiner Seite Lilith. Seite an Seite mit dem, den sie wie nichts auf der Welt gehaßt hatte. Gehaßt, gefürchtet … und begehrt. Gefühle, von denen zwei gleich Vergangenheit sein mußten. Bluthochzeit … Das Ritual, das die Vampire darum herum zelebrierten, war blanker Hohn. Einer trat aus ihrer Mitte und stellte sich dem Paar gegenüber. Seine Worte waren eine Verhöhnung all dessen, was eine wirkliche Hochzeit, eine Heirat von Liebenden, ausmachte. Aus den Falten seines blutfarbenen Gewandes zog er einen Dolch. Die Klinge war von der Form einer züngelnden Flamme, und die Symbole, die in das Metall eingraviert waren, schienen ein unheimliches Eigenleben zu führen. Der »Zeremonienmeister« streckte die Linke aus, und Landru legte seine rechte Hand hinein. Die Klinge berührte seine Handfläche,
senkte sich tief in das tote Fleisch hinein und führte einen Schnitt, der einen Mensch vor Schmerz hätte aufbrüllen lassen. Landru lächelte und sah zu, wie die Wunde sich mit glänzender Schwärze füllte. Währenddessen nahm der andere Liliths Hand, die unversehrte, und brachte ihr einen Schnitt gleicher Art bei. Liliths Gesicht zuckte, doch auch ihren Lippen entwich kein Laut. »So reicht euch die Hände …«, setzte der Vampir an. Er nahm die verletzten Hände des Paares und führte sie aufeinander zu. »Was euer Blut miteinander verbindet …«, fuhr er fort. Doch er beendete den Satz nie. Einen Moment bevor die Wunden einander berühren konnte, bevor rotes Blut sich mit tief schwarzem mengte, wandte der »Zeremonienmeister« das Gesicht ab. Bis er sich selbst über die Schulter sehen konnte. Der Glanz seiner Augen erlosch, kaum daß das Knacken seines brechenden Halses in der Nacht verklungen war. Klirrend fiel der Dolch zu Boden. »Lilith!« Die Halbvampirin tat einen Schritt zur Seite und sah sich erst dann nach dem um, der ihren Namen gerufen hatte. Im nächsten Moment fand ihn. Sein bloßer Anblick genügte, ihre versiegten Kräfte neu zu beleben. »Raphael!« Er war hinter einer Säule dicht bei der Mauer des Palastes hervorgetreten und winkte ihr, zu ihm zu kommen. »Greift ihn!« Landrus Befehl donnerte über die Dächer des Palastes hinweg. Gleichzeitig war er nach einem raschen Satz neben Lilith aufgetaucht. Seine Hände schlossen sich mit eisernem Griff um ihre Oberarme. Keiner seines Volkes verweigerte dem ungekrönten König den Be-
fehl. Ein paar von ihnen bezahlten ihren Gehorsam mit dem Leben. Das Geräusch brechender Knochen schallte Pistolenschüssen gleich durch die Nacht. Lilith konnte nichts für Raphael Baldacci tun. Landru hielt sie unerbittlich fest, und sie hütete sich, seine Aufmerksamkeit von dem Kampf abzulenken. Nicht bevor die Schnitte in ihrer beider Handflächen verheilt waren. Doch als diese Gefahr gebannt war, war es längst zu spät, um Raphael noch helfen zu können. Die Vampire rangen ihn schon dank ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit nieder, und sie prügelten so auf ihn ein, daß sein Blick sich trübte. Welcher Art die Kraft, über die er gebot, auch sein mochte, Lilith erkannte, daß er sie nicht mehr einzusetzen vermochte. Nicht in diesem erbarmungswürdigen Zustand. »Bringt ihn her!« befahl Landru. Die Vampire schleiften Baldacci heran und hielten ihn fest, so daß Landru und Lilith sein zerschundenes Gesicht im Blick behalten konnten. Lilith mußte sich zwingen, dem Anblick standzuhalten; Landru weidete sich daran. »Wer bist du?« fragte er. Raphael spuckte ihm vor die Füße. »Ich bin gekommen, um im Staub deiner Knochen zu waten.« Landru wollte die Lippen verziehen, wollte grinsen – doch es gelang ihm nicht. Etwas in der Stimme dieses Mannes verriet ihm, daß seine Antwort nicht Auswuchs einfältiger Heldenhaftigkeit war. Und Landru spürte auch, daß der andere seinen Plan in die Tat umsetzen würde, wenn er ihm nur noch ein bißchen Zeit ließ. »Kreuzigt ihn!« Er brüllte die Worte hinaus. Und die Meute antwortete ihm wie ein vielstimmiges Echo. »Kreuzigt ihn! Kreuzigt ihn! Kreuzigt ihn!«
* Sie rissen Raphael Baldacci die Kleider vom Leib und banden ihn an ein hölzernes Gatter, die Arme vom Körper gestreckt, wie einst der Verhaßte gestorben war. Lilith sah zu ihm hoch. Tränen füllten ihre Augen. Schmerz brannte in ihrer Kehle. Trotzdem brachte sie wenigstens ein Wort hervor. »Raphael …« Er hing schwer in seinen Fesseln hoch über ihnen, während die Vampire, die ihn dort angebunden hatten, von dem Gatter herabstiegen. Der junge Mann stöhnte leise. Das eigene Körpergewicht zerrte an seinen Gelenken. Lilith hatte nur geflüstert. Trotzdem erhielt sie eine Antwort. »Lilith …« »Wie nett.« Landru stieß die Bemerkung knurrend hervor. Doch der Sarkasmus darin kam nicht zum Tragen. Zu schwer wog die Furcht vor dem, was geschehen konnte, wenn der Bursche dort oben nur Gelegenheit fand, sich ein wenig zu erholen. »Auf ihn!« rief er. Er selbst war der erste, der sich verwandelte. Als flatternder Schatten stieg er hoch, gefolgt von Dutzenden weiterer Fledermäuse. Einer Wolke gleich senkten sie sich über den Gekreuzigten. Ihre Masse war so gewaltig, daß sie selbst das Licht des Vollmondes verschlang. Dennoch blieben noch Sekunden, in denen Lilith Raphaels Worte vernahm. »Lilith, ich habe dich gesucht, weil …«, sagte er, und in seiner Stimme war kein Schmerz. Stoisch ertrug er, was winzige Krallen und Zähne ihm antaten. »Weil?« flüsterte Lilith, während ihr die Stimme versagte. »Weil du vielleicht die eine gewesen wärst, die mich hätte erlösen können, und befreien von meinem Haß …« Ein Stöhnen drängte sich nun doch zwischen seine Worte, doch es
in seiner geringen Lautstärke sprach dem Schmerz Hohn, den ihm die Vampire zufügten. »… dem Haß auf Vampire!« »Ich bin keine Vampirin!« schrie Lilith. »Ich weiß«, antwortete Raphael leise. »Jetzt weiß ich es. Zu spät …« Wieder stöhnte er. Kaum lauter als zuvor, »… zu spät für uns.« Sekundenlang trat Stille ein, die nur vom Säuseln des Windes und dem Klatschen der Schwingen gestört wurde. Unaufhörlich traktierten die Vampire das Opfer mit ihren Flügeln, und wieder und wieder gruben sie Krallen und Zähne in sein Fleisch. Längst mußte ihr Keim tausendfach in seinen Adern sein, doch sie würden nicht genug von seinem Körper übriglassen, damit ihre dunkle Saat darin aufgehen konnte. »Lilith …« Sie hob den Blick, als sie abermals seine Stimme hörte. »Sieh das Tor.« »Das Tor?« »Hinter dir.« Lilith drehte sich um. Keiner der Vampire folgte ihrem Blick. Alle starrten gebannt auf die qualvolle Hinrichtung. Als hätten sie Raphaels Worte gar nicht vernommen. Und das hatten sie wohl auch nicht. Sie waren nur für Lilith bestimmt, und seine Kraft leitete sie allein ihr zu. Seine Kraft …? Lilith spürte … etwas. Wie den Hauch eines fremden Gottes. Und sie sah etwas. Ein … Tor. Es erhob sich hinter ihr in die Nacht. Aus hölzernen Bohlen gefertigt, mit Riegeln und Schlössern gesichert. Doch es gab keine Mauer, in der es verankert gewesen wäre. Es stand einfach nur da, flimmerte leicht, als wäre es nicht mehr als eine holographische Projektion. »Was …?« setzte sie an, halb zu Raphael umgewandt. Oder dorthin
eben, wo sein Körper sich inmitten einer wogenden Traube befand. »Das Tor …«, sagte er wieder, hörbar angestrengt jetzt. Als kostete es ihn schon das letzte bißchen Kraft, das die Vampire ihm noch gelassen hatte. Doch der Atem jener fremden Macht war noch immer da. Er umwehte Lilith und nahm sie mit sich. »Geh zu dem Tor«, ächzte Raphael. »Flieh!« »Wie denn?« rief sie verzweifelt. »Tu es!« schrie Raphael. »JETZT!« Eine unsichtbare Faust packte Lilith, schleuderte sie hoch und auf das Tor zu. Trotzdem bekam sie mit, was hinter ihr geschah. Dort, wo Raphael Baldacci im Pulk der Vampire am Kreuz hing. Wie ein amorpher Kokon umwucherten sie ihn. Ein Kokon, der sich in diesem Augenblick aufblähte – und explodierte! Ein blendend grelles Licht zerriß die schwarze, flatternde Masse. Im allerletzten Moment sah Lilith noch einen menschlichen Körper darin aufglühen. Dann spürte sie selbst den Druck der Entladung, wie den letzten Atemzug jenes fremden Gottes, dessen Macht sie die ganze Zeit über schon wahrgenommen hatte. Weitere Hände, auch sie unsichtbar, lenkten ihren Flug, trugen sie weiter, über die Köpfe der entsetzt brüllenden Vampirmenge hinweg und dem Tor entgegen. Gleich mußte sie gegen die steinharten Bohlen prallen. Jetzt! Lilith spürte kaum Widerstand, als sie durch das geschlossene Tor stürzte. Es nahm sie auf wie ein holzfarbenes Tuch, das unter ihrem Aufprall zerriß und sie passieren ließ. Doch ehe sie ganz hindurch war, erkannte sie noch, daß hinter ihr eine Welt unterging. Eine Wirklichkeit verlosch. Und sie hörte einen Schrei. Den Schrei eines zornigen Kindes …
* Salvat stürmte die Stufen hinunter. Nie zuvor war er in solcher Eile in den Leib des Berges hinabgerannt. Weil nie zuvor solcher Grund zur Sorge bestanden hatte! Der Wächter war förmlich in Salvats Privatgemach gestürzt. Und sein bloßer Auftritt hatte genügt, um ihn zu alarmieren. »Das Tor!« hatte der Wächter gekeucht. »Was ist damit?« fuhr Salvat ihn an, von Entsetzen gepackt. »Etwas … geschieht … damit.« »Was, im Namen aller Heiligen?« brüllte Salvat. »Öffnet es sich?« Der Wächter hatte den Kopf geschüttelt, noch immer keuchend und kaum in der Lage, einen zusammenhängenden Satz zu sprechen. »Nein … instabil.« Salvat stieß den Wächter zur Seite und rannte hinaus. Durch Flure und über Treppen, tiefer und tiefer hinab. Er riß Türen auf, zerstörte die Siegel, ohne sich darum zu scheren, welche Gefahren daraus erwachsen konnten. Es drohte eine Gefahr ganz anderen Ausmaßes! Salvat erreicht den Torraum. Elf Wächter hatten sich zu einem Kreis vereint. Salvat konnte die Macht spüren, die sie entfesselten. Und er zögerte nicht den Bruchteil einer Sekunde, sie zu stärken. Sein Zutun summierte sich nicht einfach hinzu, sondern potenzierte das bereits aufgebaute Maß. Und doch konnte es zu wenig sein, um es zu verhindern. Salvat vermochte sich kaum zu konzentrieren. Immer wieder irrte sein Blick hin zu dem Tor. Instabil … Ja, das traf den Nagel auf den Kopf. Es war nicht so, wie er es manches Mal zu sehen geglaubt hatte. Es tobten keine Kräfte dahinter, die mit mächtigen Fäusten dagegen droschen und drohten, das Tor aus den Schlössern zu sprengen.
Es … flimmerte, als wollte es sich auflösen. Und es geschah in völliger Lautlosigkeit. Und dann – war es soweit. Völlig unvermittelt. Das Flimmern hatte sich weder verstärkt, noch verschwand das Tor wirklich. Das Bild eines Tores, aus vom Alter steinhart gewordenen Bohlen gefertigt, blieb bestehen. Doch ein zweites schob sich darüber! Eines, dessen Anblick Salvat keine Sekunde lang ertrug. Er mußte es auch nicht, denn es erlosch, so rasch, wie es erschienen war. Doch der kurze Moment hatte genügt, um Salvat an einen Abgrund zu führen. Ein bodenloser Schlund, in dem Dinge lauerten, deren Präsenz genügte, den Verstand eines Menschen zu zerstören. Und etwas wie ein Echo dieser Dinge schwang in Salvat nach … Wenn ihn auch im gleichen Moment, da das Bild verschwand, zwei andere Dinge ablenkten. Da war die Frau, die plötzlich inmitten ihres Kreises auftauchte. Nur eben so lange, daß ein jeder von ihnen sie sah, und sie ihrerseits den Blick einmal in der Runde wandern lassen konnte. Dann verblaßte ihr Körper wie zuvor das Bild über dem Tor. Die zweite Wahrnehmung hörte vielleicht nur Salvat allein. Zumindest erkannte er in keinem der Gesichter der Wächter eine Regung, die verhieß, daß auch sie es vernahmen. Einen Schrei. Den Todesschrei, mit dem sein Sohn starb. Salvat wandte sich ab, bis auf den Grund seiner Seele erschüttert. Das Tor bot wieder den altgewohnten Anblick, doch selbst wenn es anders gewesen wäre, Salvat war nicht sicher, ob es ihn noch interessiert hätte. Denn er sah etwas ganz anderes: Das Gesicht jener Frau, die eben für die Dauer eines Herzschlages bei ihnen gewesen war und die offensichtlich in Zusammenhang mit dem Tod Raphael Baldaccis stand. Salvat hatte sich ihr Gesicht genau eingeprägt, und er hielt es so lange vor seinem geistigen Auge fest, bis er sicher war, es nie mehr
zu vergessen. Er würde diese Frau finden, wo auf der Welt sie sich auch verstecken mochte. Und sie würde ihm ein paar Fragen beantworten müssen. Bevor sie starb.
* Garry Troake führte den kleinen Zug an. Fünf Männer hatte er um sich geschart, unter ihnen auch Shaun McLaughlin, der Clarence Mirvishs Hütte am Ortsrand von Meat Cove verlassen vorgefunden hatte. Danach hatten sie sich gemeinsam auf die Suche nach Clarence gemacht. Kreuz und quer waren sie über die felsigen Hänge gewandert. Keine Spur von Clarence Mirvish. Auch ihre Rufe waren unbeantwortet geblieben. »Verdammt, ich hab’ kein gutes Gefühl«, knurrte McLaughlin. »Meinst du, ich?« Troake blieb stehen, ließ den Blick über die Felsen wandern. »Haben wir wirklich jeden Pfad abgesucht?« fragte er dann. Die Männer um ihn herum nickten. »Könnte aber sein, daß Clarence noch ein paar mehr kennt. Keiner treibt sich so oft und so lange hier herum wie er«, meinte einer. »Wir hätten Hunde mitnehmen sollen«, sagte ein anderer. Garry Troake winkte ab. »Das können wir später immer noch tun«, sagte er. »Aber es gibt einen Platz, an dem wir noch nicht gesucht haben.« Er mußte den Namen nicht nennen. In einer synchronen Bewegung drehten die Männer die Köpfe und sahen den Hang hinauf. Bei Tageslicht erinnerte Kilchrenan Castle noch mehr an ein wucherndes Geschwür, schwarz und unförmig wuchs es aus der Bergflanke. »Der verdammte Kasten war mir schon immer unheimlich«, mein-
te einer. Das Schaudern schwang hörbar in seinen Worten mit und ließ die Stimme zittern. »Ich war noch nie dort«, sagte McLaughlin. »Dann hast du jetzt Gelegenheit, Versäumtes nachzuholen«, erklärte Troake. »Los, Leute. Wenn Clarence dort oben ist und sich verletzt hat, können wir ihn schlecht liegenlassen, oder?« »Ja, hast recht«, meinte McLaughlin. Troake ging voran; die anderen folgten ihm. Stellenweise mußten sie fast auf Händen und Knien weiter, weil der Pfad zum Castle hinauf zu steil wurde. Als sie schließlich vor dem Tor anlangten, waren sie alle in Schweiß gebadet. Der schneidende Wind ließ ihnen die feuchte Kleidung fast auf der Haut gefrieren. »Werd’ mir ‘ne verdammte Lungenentzündung holen!« fluchte einer der Männer. »Geh ihr mit ‘ner Flasche Whisky an den Kragen«, empfahl McLaughlin. »Wenn du die Pulle spendierst, immer.« »Abgemacht. Aber erst die Arbeit, dann das Vergnügen.« McLaughlin wies auf den Torbogen. Hintereinander durchschritten sie ihn, auf dem Innenhof blieben sie stehen. »Clarence!« Clarence … rence … rence … Nur das Echo seiner eigenen Stimme beantwortete Troakes Ruf. Und das Heulen des Windes, das hier oben dem Kichern eines Kindes nicht ganz unähnlich klang … »Unheimlich hier, was?« raunte einer aus der Gruppe. Die Männer nickten. »Okay, laßt uns reingehen.« Troake wies auf die geschlossenen Türen des einstigen Herrschaftshauses. »Wenn es sein muß«, meinte McLaughlin. »Muß.«
Wieder ging Troake voran. Mit leisen Schritten traten sie in die Halle. Der Lichtkegel einer Taschenlampe stanzte staubflirrende Löcher in das graue Dämmerlicht, das spinnwebengleich über allem hing und selbst die Luft anzufüllen schien. Wieder blieben ihre Rufe nach Clarence Mirvish unbeantwortet. Wieder hörten sie nur den Wind … »Dieser verdammte Wind«, knurrte McLaughlin. »Klingt fast wie Kinderstimmen.« Troake grunzte trocken. »Liegt vielleicht daran, daß du sechs solcher Plagen zu Hause rumplärren hast. Kein Wunder, daß du überall Kinderstimmen hörst.« Er wies nach oben. »Laßt uns dort nachsehen.« Sie stiegen die Treppe hinauf. Oben teilte sich die Gruppe; drei der Männer wandten sich nach links, die restlichen drei gingen nach rechts, unter ihnen auch Garry Troake. Tür um Tür öffnete er. Bis sie Clarence Mirvish fanden. Ihn und den Leichnam einer Nonne. Nackt lag ihr alter Freund auf dem Boden. »Mein Gott«, entfuhr es Garry Troake, »was …?« Dann versagte ihm die Stimme. Mirvishs Leichnam war eine einzige Wunde. Verheert von Bissen und Krallen … Einer der Männer würgte hinter Troake und erbrach sich. Troake rief die anderen. Minutenlang standen sie um den toten Freund herum, schweigend. Niemand wollte ihn ansehen, und doch taten sie nichts anderes. »Was mag hier geschehen sein?« flüsterte McLaughlin schließlich. Troake zuckte die Schultern. »Gespenster.« Niemand lachte. »Faß mit an«, sagte Troake zum Wirt des »Blue Moose«. Sie nahmen Clarence Mirvishs toten Körper auf und trugen ihn hinaus. Draußen, jenseits der Mauern Kilchrenan Castles, blieben die Männer stehen, wandten sich um.
Wie eine Drohung ragte der steinerne Klotz hinter ihnen auf. Aber nicht mehr lange …
* Lilith erwachte – und zweifelte im gleichen Moment daran, daß sie wirklich die Besinnung verloren gehabt hatte. Der Zustand war mit keiner normalen Bewußtlosigkeit vergleichbar gewesen. Sie hob den Blick, erwartete, wieder in die Gesichter fremder Männer zu sehen, die im Kreis um sie herumstanden. Doch da war niemand. Was immer sie gepackt und durch das Tor gebracht hatte, es hatte sie nicht losgelassen. Es hatte sie weitergetragen. Dorthin, wo es begonnen hatte. Es … Lilith wußte nicht, was es war, was es zu bedeuten hatte. Und doch erinnerte sie sich an jedes Detail, hörte noch die zornige Stimme Gottes, der ihr Versagen vorgeworfen hatte; spürte, was Landru mit ihr getan hatte; erbebte unter dem Gefühl, eine von ihnen werden zu müssen … Ihre schlimmsten Ängste waren allesamt wahr geworden. In einer anderen Wirklichkeit. Einer anderen Welt. Eine Welt, die Raphael Baldacci zerstört hatte, mit aller Kraft, die er im Moment seines Todes noch freigesetzt hatte. Aber – war er wirklich tot? Lilith wußte es nicht, und sie war nicht einmal sicher, ob sie wollte, daß er noch lebte. Denn wenn die Welt um ihn herum vergangen war – mußte er dann nicht gefangen sein in ihren Trümmern? In dem, was – jenseits des Tores lag? Lilith zitterte. Nein, der Boden unter ihr zitterte, wie auch die Wände um sie herum! Im nächsten Moment stürzten sie donnernd in sich zusammen. Ein steinerner Hagel aus Trümmerstücken regnete auf sie herab.
Lilith schrie auf. Und aus dem Schrei wurde ein schrilles Kreischen.
* Shaun McLaughlin reichte Garry Troake die Whiskyflasche, während weit vor und über ihnen ein Inferno losbrach. Der ganze Berg schien unter der Gewalt der Explosionen zu erbeben, die Kilchrenan Castle zerstörten und in ein Chaos aus wirbelnden Steinen, Staub und Lärm verwandelten. »Verdammt, ist kein gutes Gefühl, auf dem Zeug zu sitzen.« McLaughlin sah unbehaglich auf die Holzkiste hinab, auf der sie beide Platz genommen haben. »Kann nichts passieren«, behauptete Troake und nahm einen Schluck, während das gewaltigste Feuerwerk, das über Meat Cove je abgebrannt worden war, seinem Höhepunkt zustrebte. »Wußte gar nicht, daß Clarence Mirvish Dynamit besaß«, sagte McLaughlin. »Ich hab’s auch erst heute morgen gefunden, als ich ihn suchte«, erwiderte Troake. »War wohl heimlicher Dynamitfischer, der alte Gauner.« »Scheint so. Paßt gar nicht zu ihm, weil er immer einen auf naturverbunden gemacht hat.« Troake zuckte die Schultern. »Was soll’s? Immerhin erfüllt das Zeug jetzt noch einen guten Zweck.« McLaughlin nickte. Dann verfielen sie beide in Schweigen. Donnernd rollten die Trümmer von Kilchrenan Castle über den Hang. Bis irgendwann Totenstille eintrat, die nur noch einmal gestört wurde. Vom schrillen Kreischen einer Fledermaus, die in die Nacht floh. ENDE
Der Vampirclub Leserstory von Harald E. Baumann »Wo wir heute Abend hingehen? In den coolsten Club der Stadt natürlich, ins ›Vampirella‹. Hast du noch nicht mitbekommen, daß Vampirshows zur Zeit der absolute Hit der Szene sind?« Bob Hanks hatte natürlich keine Ahnung. Wie denn auch? Zu Hause in Kansas waren andere Dinge wichtig. Keine verrückten Shows. Da er aber kein Spielverderber sein wollte, stimmte er zu, den heutigen Abend mit seinem New Yorker Geschäftspartner Tom Dole in eben diesem Club zu verbringen. Sie fuhren mit dem Taxi hin, und die nicht unbeachtliche Menschenmenge, die sich vor dem Gebäude drängte, hätte sie fast zur Umkehr bewegt. Aber Tom, der unbedingt hinein wollte, überzeugte Bob, daß sich die Mühe lohnte. Gemeinsam betraten sie den Club. Der große Saal wurde beherrscht von einer riesigen Bühne im Zentrum. Tische und Stühle gab es nicht. Die Gäste saßen auf Polstern und Kissen, die in kleinen Gruppen zusammengefaßt waren, was dem Ganzen ein orientalisches Ambiente verlieh. Die beiden Männer hatten Glück. Direkt vor der Bühne ergatterten sie noch zwei Plätze. Sie setzten sich und bestellten ihre Drinks. Bob blätterte interessiert im Programmheft, wofür Tom nun gar kein Verständnis aufbringen konnte. Er widmete sich lieber den wirklich wichtigen Dingen. Wie Flirten und Anmachen. Die erste Vorstellung begann. Künstlicher Nebel legte sich über die Bühne. Mit Spots wurden Blitze erzeugt. Laute Synthesizermusik tönte aus den Lautsprechern. Hinter einem Vorhang kam eine als Vampirin gestylte Nackttänzerin hervor und führte einen – angeblich originalen – Vampirtanz
auf. Das Publikum tobte und klatschte begeistert Beifall. Auch Tom ließ sich mitreißen. Dann wurde es still. Sechs kräftige Schwarze trugen einen Sarg auf die Bühne. Sie stellten ihn ab und hoben den Deckel. Eine zweite Frau entstieg dem Sarg und vollführte mit der ersten Tänzerin und den Schwarzen ein – wieder angeblich authentisches – Vampir-Ritual. Die Stimmung im Club stieg zum Siedepunkt. Einige Gäste schlossen sich den Bewegungen der Künstler an. Eine Stimme aus dem Lautsprecher forderte zwei Männer aus dem Publikum auf, auf die Bühne zu steigen und sich dem Ritual anschließen. Tom ließ sich das nicht zweimal sagen. Er sprang sofort auf und riß, ohne ihn zu fragen, Bob mit sich. Doch Bob bereute es nicht, denn die beiden Tänzerinnen verstanden ihr Handwerk. Sie wußten, wie man Männer mit Gesten, Bewegungen und Kleinen Berührungen anheizt. Am Ende der Vorstellung brachten sie Tom und Bob zu ihren Plätzen zurück, und als Lohn für ihr Mitwirken bekamen sie einen Gratis-Drink spendiert. Es hätte ein toller Abend werden können – wenn Tom nicht plötzlich die Idee gehabt hätte, zu einer der Tänzerinnen hinter die Bühne zu gehen. Bob wollte ihn davon abbringen, aber er bestand darauf. Er hatte sich in sie verschossen und wollte Sie unbedingt näher kennenlernen. Der Alkohol tat seinen Teil dazu. Tom brauchte nicht lange, um die Garderobe der Tänzerin zu finden. Er trat ein und kam auch sofort auf den Punkt. Weshalb und warum er hinter der Bühne war. Und ein »Nein« von der Schönen wollte er nicht akzeptieren. Da lenkte ein Geräusch ihn ab. Tom riß den Kopf herum – und wurde totenbleich. Wie versteinert stand er da, versuchte zu schreien, doch seine Stimme versagte ihm den Dienst. In der Tür stand ein Vampir. Ein echter Vampir.
Denn es schien ihm unmöglich, diese roten, feurigen Augen zu imitieren. Augen, in denen er seinen Tod lesen konnte … Der Club dient als Tarnung für Vampire! schoß es ihm durch den Kopf. Und er wußte im selben Augenblick, daß er in wenigen Sekunden tot sein würde … Der Vampir setzte sich in Bewegung, kam drohend auf Tom zu. Seine Hände schlossen sich zu Fäusten. Tom sah sein Leben wie einen Zeitrafferfilm an seinem inneren Auge vorbeiziehen. »Schluß jetzt!« Die Tänzerin trat vor und stellte sich zwischen Tom und den Untoten. Sollte er etwa doch noch eine Chance haben …? »Wilbur, krieg dich wieder ein!« wetterte die Schöne. »Das ist ein Fan, der zuviel getrunken hat. Es ist nichts passiert! Du und deine verdammte Eifersucht!« Wilbur? Eifersucht? Langsam dämmerte es Tom. Das war kein Vampir – es war der Ehemann der Künstlerin! Ein Stein fiel ihm von der Seele. Sein angstverzerrtes Gesicht heiterte sich auf. Er lächelte. Und mitten hinein in dieses selige Lächeln setzte der »Vampir« seine stahlharte Faust. Blut schoß aus Toms Nase, als er rücklings zu Boden ging. Eines lernte Tom Dole in dieser Nacht. Um Blut zu verlieren, braucht es keinen Vampir. Ein eifersüchtiger Ehemann kann ebenso gefährlich sein … ENDE © 1997 Harald E. Baumann, Im Rebbürgerfeld 1, 79365 Rheinhausen
Glossar Baldacci, Raphael – Angehöriger einer kirchlichen Vereinigung namens »Illuminati« (>). Der etwa 20jährige Baldacci ist ein »Gesandter«, einer jener Männer und Frauen, die ausgeschickt wurden, um das vermehrte Auftreten von Para-Träumen (>) zu untersuchen. Baldacci hatte Kontakt mit Lilith Eden und verliebte sich in sie, erkannte dann aber ihre wahre Natur und stellte sich ihr zum Kampf. Er weiß nicht, daß sie eine »gute« Vampirin ist, sondern sieht ein Wesen der Hölle in ihr. Illuminati – Kirchliche Vereinigung, die vor Hunderten von Jahren gegründet wurde, um das Gleichgewicht von Gut und Böse zu überwachen und zu wahren, und die in Form eines Geheimbundes dem Vatikan untersteht. Ihr Großmeister ist Salvat (>); ihre Mitglieder wurden aus allen Bevölkerungsschichten rekrutiert und verfügen über besondere mentale Fähigkeiten. Die »Gesandten« des Ordens suchen weltweit nach neuen Mitgliedern. Paraträumer – Die von Gott gesandte Seuche, die über die Vampire kam, und die Geburt des Kindes in einem Nonnenstift in Maine, USA, störten empfindlich das spirituelle Gleichgewicht von Gut und Böse in der Welt. Vor allem für sensible, paranormal veranlagte Menschen zeigten sich diese Schwankungen in Träumen, die Ausblicke auf deren Urheber oder in verschiedene Zukünfte boten. Salvat – Großmeister des Illuminati-Geheimbundes (>); ein geheimnisvoller Mann unbestimmbaren Alters, der sich stets in eine Kutte kleidet und am Stock geht. Seine Methoden sind alles andere als christlich; um sein Ziel zu erreichen – das Gleichgewicht von Gut und Böse in der Welt –, geht er buchstäblich über Leichen. Raphael Baldacci (>) ist sein Lieblingsschüler.
Widderköpfige, Der – Traum-Manifestation des Kindes, das von der Nonne Mariah geboren wurde, zur gleichen Zeit, als der »Zorn Gottes« über die Vampire kam. In dieser Gestalt erschien es erst der Para-Träumerin (>) Jennifer Sebree, einer mental begabten Malerin aus Salem’s Lot, dann Lilith Eden. In seiner Traumgestalt handelt das Kind als erwachsener Charakter, was vermuten läßt, daß seine menschliche Hülle nur Tarnung oder Übergang ist.
Die Macht des Feuers von Gastautor Carter Jackson Das Leben erschien ihnen so bleich und farblos wie ihre Haut, die Zukunft sahen sie so schwarz wie die Kleidung, die sie trugen. Die beiden Grufties wollten Schluß machen. Natürlich stilecht, auf einem Friedhof. Und nicht bevor sie sich ein letztes Mal geliebt hatten. Ihr Wunsch sollte sich erfüllen. Aber ganz anders, als sie es geplant hatten. Plötzlich war er da – ein Verrückter, ein Killer, ein Feuerteufel. Ein Vampir! Wie von Sinnen fiel er über die beiden Jugendlichen her, während um ihn herum alles in Flammen aufging. Als man das Mädchen am nächsten Morgen fand, lebte es noch. Jedenfalls glaubte man das …