Stephanie Seidel
Das Geheimnis des Skarabäus Version: v1.0 Eine Boeing 747 kam aus der Nacht. Die voll besetzte...
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Stephanie Seidel
Das Geheimnis des Skarabäus Version: v1.0 Eine Boeing 747 kam aus der Nacht. Die voll besetzte Maschine war noch über dem Mittelmeer, als sie an Höhe verlor und in den Landekurs schwenkte. Kairo war ihr Ziel. Es herrschte entspannte Ruhe an Bord; die meisten Passagiere dösten vor sich hin. Einen von ihnen sollte der Weg durchs Land der Pharaonen an den falschesten aller Orte führen: die Pforte zum Schattenreich. Doch das ahnte niemand auf diesem Flug und so sah auch keiner ein Vorzeichen darin, dass die Morgendämmerung von ungewöhnlich blutroter Farbe war. Donnernd jagte ihr die Boeing entgegen, fast wie im Wettlauf gegen das erste Licht. Irgendwo tief unter dem Flieger – in stiller, dunkler Abgeschiedenheit – lag ein 5000 Jahre alter Skarabäus. Menschliche Überreste umgaben ihn. Als die Boeing 747 exakt bei Sonnenaufgang den Boden berührte, ruckte ein Fingerknochen hoch …
Sein Antlitz sei Staub ohne Namen vor den Augen der Götter!
Pylon‐Graffito in Nag’el‐Balida (bei Assuan), I. Dynastie
Rebecca hatte Erhabenheit erwartet, ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht. Musik und Gold und Schätze des Orients – und über allem das majestätische Schweigen der Pyramiden. »Mach Platz, du Idiot!«, brüllte jemand in kratzigem Englisch. Rebecca Reich zuckte zusammen. Das Geschrei an ihrem Ohr hatte einem Reiseleiter gegolten, der sein Schild in die Höhe hielt und einer Karawane schwankender Gepäckwagen den Weg versperrte. Die 17‐jährige befand sich in der Eingangshalle des Kairoer Flughafens. Pass‐ und Zollkontrolle lagen hinter ihr, weiter vorn sollte es laut ihrem Onkel eine Tür zur Freiheit geben. Sehen konnte man sie nicht, aber Dr. Christian Daunhoff musste es wissen. Er war schließlich nicht zum ersten Mal hier. Es herrschte ein unglaubliches Gedränge. Lärmende, schwitzende Menschen überall, endloses Rempeln und Stoßen, kaum Luft zum Atmen. Rebecca spürte, wie sich eine Hand in ihre Jackentasche schob. Sie fuhr herum, aber natürlich war es unmöglich, den Täter ausfindig zu machen. »Widerlich!«, knurrte das Mädchen. Sie musste nicht nachsehen, ob etwas fehlte – ihr Onkel hatte sie vor Taschendieben gewarnt, deshalb waren in ihrer Jacke nur Krümel gewesen. Trotzdem griff sie hinein. »Kommst du?«, rief Dr. Daunhoff über die Schulter. Er drehte sich um, als keine Antwort kam. »Becky?« Rebecca hob den Kopf. »Ja, ja!« Sie zerrte ihren Koffer weiter. Sie konnte es nicht fassen: Der vermeintliche Dieb hatte ihr einen Skarabäus zugesteckt, aus schwarz poliertem Holz und mit Goldhieroglyphen übersät! Was mochte das bedeuten? Ein Abenteuer, klar, nur welches? Der Fluch der Pharaonen? Die Rückkehr der Mumie? Rebecca schoss ein atemberaubender Gedanke durch den Kopf: Vielleicht gab es in Al‐
Ma’abda ein Königsgrab, von dem ihr dröger Onkel nichts wusste! Vielleicht waren die Hieroglyphen eine Ortsangabe und man musste nur ein bisschen graben, um einen sagenhaften Schatz zu finden! Gut gelaunt schritt das Mädchen durch den Ausgang, vorbei an bewaffneten Sicherheitskräften und hinaus in die keineswegs frische Kairoer Luft. Auf der Straße herrschte ein ähnliches Chaos wie im Flughafengebäude. Reisebusse, Eselkarren und Taxis versuchten gleichzeitig voranzukommen, allerdings in verschiedene Richtungen. Jede Verkehrslücke wurde sofort von Einheimischen und Touristen gefüllt. Der Lärm war beachtlich. Ein älterer Ägypter zwängte sich heran. Er strahlte, als hätte er einen verlorenen Sohn entdeckt. »Doktor Daunhoff! Welch Freude!«, rief er, zog den Deutschen an sich und beschmatzte ihn. Rebecca wich zurück, als er sie nach einiger Zeit auch zur Kenntnis nahm. Doch es gab keine Küsse für sie, bloß ein Kopfnicken. Daunhoff stellte ihr den Fremden als Ahmed El‐Ashraf vor, seinen wichtigsten Mann auf der Grabung in Al‐Ma’abda. Dieser Name war kaum gefallen, da wanderten die beiden schon ins Gespräch vertieft davon. Rebecca warf einen Schmollblick auf Dr. Daunhoffs Rücken. Jeder vernünftige Archäologe suchte in Ägypten nach Königsgräbern und fantastischen Schätzen. Nur ihr Onkel nicht. Deshalb war sie hier. Scheiß‐Familie!, dachte sie, während sie zum Parkplatz trottete. Ihre Eltern mussten in irgendeine Lebenskrise geraten sein, anders ließ es sich nicht erklären, dass sie sich plötzlich so blöde benahmen! Rebecca hatte ihnen erklärt, dass sie keinen Bock mehr auf die Schule hatte – war das irgendwie schwer zu verstehen? Offenbar ja.
Die 17‐jährige war fasziniert von den Schätzen Tutanchamuns. Sie wollte auch ein solches Grab finden und zwar jetzt, nicht erst nach Abitur und Studium. Ihre Eltern waren vermögend, wo also lag das Problem? Als Rebecca sie darauf hinwies, dass Carter * auch einen Mäzen gehabt hatte, war ihr Vater regelrecht explodiert. »Schluss mit der Tagträumerei!«, hatte er gebrüllt und seinen Schwager angerufen. So war Rebecca nach Ägypten gekommen. Hier sollte sie das wahre Leben der Archäologen kennen lernen – damit sie anschließend dankbar an die Schule zurückkehrte. »Steig ein, Becky!«, sagte Dr. Daunhoff in Rebeccas Gedanken hinein. Er hielt die Tür eines klapprigen Wagens auf und er lächelte freundlich. Er lächelte immer freundlich, da konnte man machen, was man wollte. Rebecca hasste ihn dafür. »Ich nehme an, wir fahren direkt zu deiner langweiligen Ausgrabung«, vermutete sie. Ahmed El‐Ashraf verstaute gerade das Gepäck. Er warf ihr einen finsteren Blick zu. »Grabung«, verbesserte Daunhoff. »Es heißt Grabung und sie ist nicht langweilig, du wirst schon sehen! Wir haben in Al‐Ma’abda beeindruckende Funde gemacht.« »Auch so was?« Rebecca hielt ihm den Skarabäus hin. Der Forscher nahm ihn stirnrunzelnd entgegen, schob seine Brille hoch und beugte sich vor. Ahmed El‐Ashraf trat heran. Rebecca erzählte von der Hand in ihrer Tasche, doch die Männer beachteten sie nicht. Sie hatten nur Augen für den Skarabäus, deshalb vermutete Rebecca, dass er ein sensationeller Fund war. Sie tippte auf die Hieroglyphen. »Kannst du das entziffern, Onkel
*
Howard Carter entdeckte 1922 das Grab des Tutanchamun
Christian?« Daunhoff zögerte. »Hmm. Eindeutig ist das nicht! Es bedeutet entweder Du bist willkommen oder Du wirst erwartet.« Er drehte den Käfer um und las weiter: »Am Grab des Osiris.« »Da fahren wir hin!«, entschied Rebecca. Sie strahlte. Ahmed El‐Ashraf wandte sich hastig ab, stieg ins Auto und knallte die Tür zu. Man hörte ihn prusten. Auch Dr. Daunhoff war erheitert, das sah man ihm an, obwohl er sich um eine ernste Miene bemühte. »Weißt du, Becky, das Grab des Osiris ist mehr ein – Mythos«, erklärte er und gab den Skarabäus zurück. »Osiris war der Sohn des Sonnengottes Re. Er wurde von seinem Bruder Seth zerstückelt. Die frühen Ägypter glaubten, dass sein Kopf in Abydos begraben liegt. Die Stadt war ihr wichtigster Wallfahrtsort, eine Art ägyptisches Mekka.« »Und was ist daran komisch?«, fragte Rebecca spitz. Daunhoff schüttelte den Kopf. »Nichts. Aber du darfst deinem Skarabäus keine Bedeutung beimessen! Er ist ohne Zweifel gut gearbeitet – die Schrift ist authentisch. Trotzdem ist er natürlich eine Fälschung. Ein Werbegag vielleicht, der den Tourismus fördern soll.« Er wollte ins Auto steigen. Rebecca hielt ihr zurück. »Wie kannst du sicher sein, dass das eine Fälschung ist?«, rief sie aufgebracht. Der Wissenschaftler lächelte. »Die alten Ägypter konnten vieles, Becky! Sie haben Pyramiden gebaut, das Land bewässert und ein stabiles Staatssystem entwickelt. Aber Skarabäen mit goldfarbenem Filzstift beschriften – nein, tut mir Leid, das konnten sie nicht!« Rebecca war so enttäuscht. Irgendein blöder Touristenfänger hatte seine blöde Show abgezogen, ausgerechnet an ihr und ausgerechnet jetzt! Wütend warf sie den Skarabäus in den Straßenverkehr. Ein Reifen überrollte ihn …
* Am Anfang war ein mächtiger Ozean, aus dem ein Urhügel wuchs, der Re gebar, den gepriesenen Gott des Lichts und des Heils. Es gab keine Dunkelheit, denn die Macht des Erhabenen war allumfassend und es gab keine Unterwelt, denn seine Söhne waren unsterblich. Doch dann tötete Seth den Osiris und eine Gottheit erschien aus den Tiefen der Zeit. Sie schwächte den Wind im Segel der Sonnenbarke, um Re zu schwächen, denn er hatte den Brudermord nicht verhindert. So entstand die Nacht, das Reich des erweckten Osiris. Und die Unterwelt öffnete ihre Pforten … Papyrus‐Fragment T14242 aus Theben, IX. Dynastie 23 Stunden am Tag ist El QÇhira * eine lärmende Riesenmetropole wie viele andere, mit Reklameschildern, Straßenverkehr und moderner Skyline. Aber wenn man früh des Morgens über ihre Dächer blickt, dann – und nur dann – bekommt man eine Ahnung davon, wie das Lebensgefühl im Reich der Pharaonen gewesen sein muss. Rebecca fröstelte, als sie auf den Balkon des Hotelzimmers trat. Ihr Onkel hatte sich überreden lassen, die Fahrt nach Al‐Ma’abda um einen Tag zu verschieben. Sie hatten die Schätze des Tutanchamun im Ägyptischen Museum besucht, heute standen noch die Pyramiden von Gizeh auf dem Plan. Gleich nach dem Frühstück. Das Hotel lag am westlichen Nilufer, mit Blick auf die riesige Grünanlage Et‐Tahrir. Soeben ging die Sonne auf. Dir Licht war wie helles Gold, ohne jede andere Farbe. »Wow!«, sagte Rebecca.
*
›Die Siegreiche‹, urspr. Name von Kairo
Weiße Ibisse zogen vorbei, majestätisch und schweigend. Sie flogen hinunter zum Nil. Auf seinen Wellen glitt ein Boot dahin, mit hohem, dreieckigem Segel. Es sah aus, als käme es geradewegs aus der Vergangenheit. Widerstrebend riss sich das Mädchen von dem Anblick los. Sie summte vor sich hin, als sie etwas später ihr Zimmer verließ – und prallte zurück. Auf dem Teppich vor der Tür lag ein schwarzer Skarabäus. Zögernd hob sie ihn auf: Einen zu bekommen war cool gewesen, aber zwei? Nachdenklich ging Rebecca zum Lift. Ihr Onkel erwartete sie schon im Speisesaal. Er war amüsiert über den neuerlichen Fund. »Na, na!«, sagte er und drohte scherzhaft mit dem Finger. »Du hast doch nicht etwa einen heimlichen Verehrer?« »Wie spaßig.« Rebecca tippte auf die Hieroglyphen. »Sag mir lieber, was da steht!« Dr. Daunhoff tat ihr den Gefallen und sein Lächeln wurde schal. »Da steht: Hüte dich vor der Sphinx!« Rebecca nahm Platz und griff nach dem Brötchenkorb. »Wie lange fährt man bis Gizeh?« »Mit Ahmeds Auto? Eine halbe Stunde«, vermutete Dr. Daunhoff. »Aber ich will vorher noch einen Kollegen in der hiesigen Universität besuchen. Er hat eine sehr interessante Abhandlung über frühzeitliche Bewässerungssysteme verfasst.« Rebeccas Augen wurden rund. »Das ist ein Scherz.« »Aber nein, wieso denn?«, fragte der Archäologe verwirrt. »Wenn ein Unbekannter warnt, man soll auf keinen Fall zur Sphinx nach Gizeh fahren, dann muss man da hin! Da geht man doch nicht zur Uni!« Sie rang die Hände. »Warum kannst du nicht sein wie Indiana Jones, Onkel Christian? Wenigstens ein bisschen?« »Weil ich Wissenschaftler bin und kein Filmheld«, erwiderte Daunhoff frostig.
Er konnte mit den Fantasien seiner Nichte wenig anfangen – Daunhoff betrieb ernsthafte Forschung für das Ägyptische Institut der Bonner Universität. Er hatte seinem Schwager nur den Gefallen getan, Rebecca mitzunehmen, weil der als privater Sponsor das Al‐ Ma’abda‐Projekt unterstützte. Gegen Ende des Frühstücks erschien Ahmed El‐Ashraf und Rebeccas Laune sank in den Keller, als Ahmed einen Abstecher in die Innenstadt ankündigte. Er wollte noch Sachen kaufen für das Grabungsteam. »Na, toll«, stöhnte die 17‐jährige. »Und wie viel Zeit bleibt dann für Gizeh? Muss ich etwa im Dauerlauf um die Pyramiden rennen?« »Wir könnten den Ausflug auch streichen«, bemerkte Dr. Daunhoff und ging, um sein Gepäck zu holen.
* Morgens um Neun in Kairo. Schamlos übertrieben, hatte Rebecca immer gedacht, wenn ihr Onkel von ohrenbetäubendem Lärm und chaotischem Verkehrsgewühl erzählte. Jetzt stand sie mittendrin. Rebecca hatte Befehl erhalten, im Wagen zu bleiben – deshalb war sie ausgestiegen; sie war schließlich kein Baby mehr. Vom Straßenrand sah sie zu einem Basar hinüber, in dem ihr Onkel und Ahmed verschwunden waren. An der nahen Kreuzung hing eine Ampel, die kaum jemand beachtete. Weil es aber doch einige taten, quoll alle paar Augenblicke ein Schub Autos heran und ergoss sich in den kriechenden Verkehr. Ausnahmslos alle Fahrer betätigten ihre Hupe. Unentwegt. Rebecca wollte schon in Ahmeds Wagen zurückkehren, als ihr Blick an einem Laden auf der anderen Seite hängen blieb. Sein Schaufenster war voll gestellt mit antiken Büsten und Götterstatuen.
Über allem thronte eine goldene Sphinx – und er zog Rebecca magisch an. Sie hatte nie daran gedacht, dass mit der Warnung auf ihrem Skarabäus vielleicht etwas anderes gemeint sein könnte als der berühmte Kolossalbau. Nun stand sie dieser Statue gegenüber und fragte sich, ob das ein Zufall war. Alle anderen Gedanken waren plötzlich ausgeblendet; das Bild der Straße verschwand, der Lärm verwehte. Nichts zählte mehr, nur noch der Laden auf der anderen Seite und wie durch ein Wunder bildete sich eine Verkehrslücke. Genau jetzt. Rebecca rannte los. Ein furchtbares Kreischen erscholl. Fahrer hupten wie verrückt. Blockierte Reifen ruckten über den Asphalt, näher und näher und etwas Riesenhaftes schob sich heran. Jemand packte Rebecca und riss sie zur Seite. Sie stolperte, fiel. Unmittelbar neben ihr kam schwankend ein Reisebus zum Stehen. Rebecca hob den Kopf – und ihr Blut gefror. Auf der massigen Front des Busses prangte ein Bild – die Sphinx von Gizeh …
* Meines Namens Gedenken möge mir ewig verbleiben, wenn von der Unterwelt Mauern umgeben ich in der Nacht verweile, wo Monaten, Jahren das Maß wird bemessen. Ich lebe zur Seite des großen Gottes (…) Seht all die Götter hinter mir stehen in Reih und Glied! Wenn einer vorbeikommt, vermag ich den Namen zu nennen. Ägyptisches Totenbuch, Kapitel XXV
Sand war die alles beherrschende Macht in Al‐Ma’abda. Er knirschte an den Zähnen und in den Ohren; jedes Kleidungsstück gehörte ihm und jedes Essen war sein Ruhelager. Rebecca hatte Ägypten gründlich satt. Zwei Wochen in der heißen, öden Gegend bei Assiut reichten aus, um selbst ein Höllenloch wie die heimische Schule attraktiv erscheinen zu lassen. Da gab es zwar Lehrer, aber eben auch vernünftige Leute. Die fehlten hier. Das Mädchen warf einen angeätzten Blick auf Daunhoffs Grabungsteam. Wie Käfer krochen die Forscher an freigelegten Mauerresten herum und vermaßen jeden Stein, schweigend und mit ernster Miene. Ägyptische Helfer schleppten den ganzen Tag Schutt durch die Gegend. Alle schwitzten unter der sengenden Sonne – aber machte vielleicht mal jemand Pause? Nein. Total bescheuert!, dachte Rebecca. Sie hatte sich im Versorgungszelt ein kaltes Mineralwasser gegönnt. Nun kehrte sie an ihre Arbeit zurück. Rebecca sollte ein paar Bonner Studenten zur Hand gehen, die als Volontäre angereist waren. Sie hockten schon seit Stunden an derselben Stelle und pinselten hingebungsvoll eine Schale aus dem Sand, statt sie einfach raus zu ziehen. Die 17‐jährige hatte keine Lust mitzumachen, aber es gab an diesem Ort nichts, was sie sonst hätte tun können. Unterwegs kam sie an einer gestürzten Riesensäule vorbei. Wenn man sie erklomm, hatte man einen guten Ausblick auf den Gebel * et‐ Tawila mit seinen Felsengräbern, auf die Dattelpalmen am westlichen Stadtrand und die Ruinen von Al‐Ma’abda. Rebecca seufzte. Sie hatte es versucht, aber sie konnte in den kniehohen Mauerresten nichts erkennen als bröselnde Rechtecke. Auch der als Besonderheit angepriesene römische Podiumtempel war nur flacher Schutt. Unwillig schob sie ihre Haare zurück. Seit
*
Felsenhügel
dem Morgen wehte ein unangenehmer, heißer Wüstenwind. Châmazîn nannten ihn die Ägypter. Jetzt, gegen Abend, nahm er noch zu. Das Mädchen stützte sich an der Säule ab und sprang zu Boden. Etwas knirschte. »O bitte! Nicht schon wieder!«, betete sie, bevor sie in die Hocke ging. Man stieß hier überall im Sand auf angeblich kostbare Funde: Krüge und Tontafeln und dergleichen. Rebecca hatte schon zwei zertreten. Aber was sie nun ans Tageslicht beförderte, war zum Glück schon kaputt gewesen. »Auf Schatzsuche, Missy * ?«, scholl es hinter ihr und Rebecca fuhr herum. Ahmed El‐Ashraf grinste abfällig. Er machte wenig Hehl daraus, dass er für verwöhnte Töchter reicher Deutscher nichts übrig hatte. Rebecca fand ihn unheimlich: Ahmed hatte die Angewohnheit, immer dort aufzutauchen, wo man ihn nicht erwartete – und er kam und ging wie ein Spuk. »Was hast du da?«, fragte er. Rebecca stand auf. »Ich glaube, das ist von der Säule abgeplatzt.« Sie zeigte Ahmed einen flachen Stein aus rotem Granit. Er gehörte tatsächlich zur Verkleidung der Kalksteinsäule und er trug ein paar eingeritzte Zeichen. »Die sehen gar nicht aus wie Hieroglyphen«, sagte Rebecca gerade, als Dr. Daunhoff vorbei kam. Der Forscher ließ sich den Stein zeigen und stutzte. Flüchtig sah er zu seiner Nichte auf, dann beugte er sich erneut über die Schrift. Er lachte ungläubig. »Na, das nenne ich Anfängerglück! Gut gemacht, Becky!« Daunhoff nickte Ahmed zu. »Es ist ein Graffito! Wieder mal und
*
engl.: Kleines Fräulein
offenbar auch aus der ersten Dynastie! Cafferty wird begeistert sein!« Rebecca hob die Hand. »Hallo? Ich verstehe kein Wort! Weißt du, was da steht, Onkel Christian? Und was meinst du mit Graffito? So was gab es doch früher gar nicht.« Daunhoff lächelte. »Graffiti sind keine Erfindung der Neuzeit. Ägyptische Arbeiter haben schon seit der ersten Dynastie Kritzeleien an Wänden hinterlassen. Und ja: Ich kann die Schrift entziffern.« Vorsichtig legte der Archäologe den Stein auf seine Handfläche und las einen Fluch ab, den irgendein längst vergessener Mann vor 5000 Jahren eingeritzt hatte. »Sein Antlitz sei Staub ohne Namen vor den Augen der Götter!« Ahmed hob die Brauen. »Der Fluch von El‐Mohandes! So hoch in Mittelägypten? Das ist ungewöhnlich!« »Vielleicht auch nicht«, meinte Daunhoff vergnügt. Er ging los, mit Ahmed an seiner Seite. Rebecca hatten sie vergessen. »Der Fund bestärkt meine Theorie, dass Al‐Ma’abda an der alten Handelsstraße lag, die vom Sudan heraufführte! Es ist denkbar, dass jemand aus El‐Mohandes sie bereist hat.« »Du bist echt gemein, Onkel Christian, weißt du das?« Rebecca verpasste dem Sand einen Tritt. »Da entdecke ich was und du spulst nur Namen herunter, ohne jede Erklärung.« Daunhoff zögerte. Er wandte sich an Ahmed. »Becky hat Recht! Das Graffito ist ihr Fund, deshalb sollte sie eigentlich auch seine Geschichte hören. Was denken Sie?« »Nach dem Abendessen«, brummte der Ägypter und trottete davon.
* Ich kenne kein Ende, denn ich habe keinen Anfang.
Königssiegel Amenophis IV. (Echnaton), XVIII. Dynastie Die Sonne sank. Roter Widerschein flammte an den zerklüfteten Sandsteinfelsen des Gebel et‐Tawila und durch die antike Ruinenstadt in der Niederung flossen lange Schatten. Der Tag war zu Ende. Rebecca hatte sich umgezogen und den Sand aus ihrer dunklen Mähne gekämmt. Barfuss schlenderte sie über den noch warmen Boden zum Lagerfeuer, vorbei an der Feldküche und an Dr. Daunhoffs Unterkunft. Die ägyptischen Helfer standen dort in langer Reihe an, um ihre Arbeitskarten stempeln zu lassen. Es waren Fellachen * aus dem nahen Dorf Markaz Abnoub. Gleich nach dem Essen würden sie den Heimweg antreten. Rebecca setzte sich mit ihrem Teller ans Lagerfeuer. Es gab Salatah ** , Fladenbrot und Fleisch. Hungrig machte sich das Mädchen darüber her. Als ihr Onkel und Ahmed El‐Ashraf wenig später hinzukamen, blinkte bereits der Abendstern. Im Orient fallen die Nächte schnell und sie bringen erstaunliche Kälte heran. Die Bonner Studenten hatten einen Windschutz aufgestellt, denn der Châmazîn wehte ziemlich heftig durchs Feuer. Funken stoben. Krachend barst ein Scheit. Rebecca schrak zusammen und Ahmed El‐Ashraf grinste sie über die Flammen hinweg an. Ihm fehlten ein paar Zähne und das ließ den krummnasigen, dunkelhäutigen Ägypter noch Furcht erregender aussehen, als er ohnehin schon war. »Die kleine Missy da drüben«, sagte er plötzlich laut und streckte
*
Bauern
*
*
Bunter Salat mit Zitrone und Minze
den Finger aus, »will die Geschichte von Senephta hören.« Einer der Forscher nickte kauend. »Ah! Der Fluch von El‐ Mohandes!« »Sie kennen ihn?«, fragte Rebecca überrascht. Der Forscher lachte. »Den Fluch? Ja, sicher! Die Geschichte von der Stadt der Unsterblichen hört jedes Erstsemester an meiner Universität, denn sie veranschaulicht die Denkweise der alten Ägypter. Aber sie ist natürlich nur erfunden, Fräulein Reich.« Rebecca dachte nach. »Wie kann eine Geschichte erfunden sein, wenn man schon mehrere Graffiti entdeckt hat?« »Du meine Güte, da wähnt sich ein Küken schlauer als die Henne!«, rief ein anderer Forscher und fragte Rebecca aufgebracht: »Stand auf einem dieser Graffiti vielleicht der Name Senephta, junge Dame? Oder die Ortsbezeichnung El‐Mohandes?« »Bitte, Dr. Follert!« Christian Daunhoff hob beschwichtigend die Hand. »Meine Nichte hat eine harmlose Frage gestellt. Kein Grund zur Aufregung.« »Mit harmlosen Fragen hat es bei Cafferty auch angefangen! Sie wissen, was aus ihm geworden ist«, brummte der Forscher und widmete sich wieder seinem Essen. Daunhoff erklärte Rebecca: »Weißt du, Archäologen sind faktenorientiert. In unserer Welt ist kein Platz für Mythen! Aber die Senephta‐Geschichte hat Interesse erregt, weil der berühmte Echnaton‐Experte Owen Cafferty so beharrlich an ihr festhält. Er hat voneinander unabhängig entdeckte Papyrus‐Fragmente, Inschriften und eben diese Graffiti zusammengetragen. Sie ergeben ein Bild, wenn man sie verbindet.« »Ja! Was allein schon deshalb Blödsinn ist, weil Caffertys Funde aus völlig unterschiedlichen Dynastien stammen!«, raunzte Dr. Follert. »Ich darf Sie erinnern, werter Kollege: Cafferty hat damit
seinen Ruf ruiniert! Er hätte bei Amenophis IV. * bleiben sollen, statt diesen Quatsch aufzubringen von einer Gottheit aus den Tiefen der Zeit – wie hieß sie doch gleich?« »Nasiramis«, sagte Ahmed El‐Ashraf von der anderen Seite des Feuers her. Einen Moment lang verstummten alle Gespräche und es war bestimmt nur ein Zufall, dass ausgerechnet jetzt auf den fernen dunklen Gebelfelsen ein Schakal bellte. Daunhoff grinste Dr. Follert an. »Hören Sie das? Anubis meldet sich zu Wort – der Fürst der Unterwelt! Verärgern Sie den Schakalgott nicht, Herr Kollege! Es heißt, er sei ziemlich nachtragend.« »Pah!«, schnaubte Follert verächtlich. Ahmed El‐Ashraf beugte sich vor. »Soll ich die Geschichte nun erzählen oder nicht?« »Ja!« Rebecca nickte heftig, rückte ein bisschen näher an den Lichtschein des Feuers und schlang ihre Arme um die Knie. »Unbedingt sogar.« Ahmed legte ein paar Scheite nach. Es war Tamariskenholz, dazwischen steckte noch ein Zweig voller Blüten. Sie zischten in den Flammen und verbrannten mit betörendem Duft. Der Ägypter lehnte sich zurück. Er wartete, bis alle Augen auf ihn gerichtet waren, dann begann er zu erzählen – in der typischen gestenreichen Art des Orients. »Als die Erde noch jung und die Götter erst wenige waren, tötete Seth seinen Bruder Osiris. Ihr gemeinsamer Vater Re hätte den Mord verhindern können, doch er tat es nicht. Das rief eine vergessene Gottheit auf den Plan. Sie kam aus den Tiefen der Zeit und sie beschnitt die Macht des Re, indem sie die Hälfte des Flammenwindes stahl, der das Segel seiner Sonnenbarke füllte. Dadurch währte der Tag nur noch 12 Stunden statt 24 und der
*
Echnaton
wieder erweckte Osiris erhielt ein eigenes Reich.« Ahmed zeigte zum Sternenhimmel. »Die Nacht! In ihr war Amenti – die Unterwelt – und Osiris allein war ihr Herrscher. Sein Vater Re sann auf Rache an der Gottheit, die ihn bestohlen hatte. Er suchte sie überall – doch er konnte sie nicht finden, denn er kannte ihren Namen nicht.« »Nasiramis!«, flüsterte Rebecca und ihre Augen glänzten. Ahmed tat, als hätte er nichts gehört. »3000 Jahre vor eurem Christus kam Athotis an die Macht, der dritte Pharao der ersten Dynastie. Er baute die Handelswege zum Sudan aus und errichtete im Grenzgebiet die Stadt El‐Mohandes. Sie unterstand dem Re‐ Priester Senephta.« »Das behauptet Cafferty, aber hat er je Beweise vorgelegt?«, krähte Dr. Follert. Rebecca starrte ihn wütend an. Sie sah sich nach Unterstützung um, aber keiner sagte etwas. »War etwas Besonderes an dem Re‐Priester?«, forschte die 17‐ jährige. Ahmed nickte. »Er konnte mit den Göttern sprechen!« Wieder bellte von fern der Schakal. Der Mond ging auf und Rebecca glaubte, einen Schatten zwischen den Felsen zu sehen. Er kam den Hügel herunter. Auf das Lager zu. »Eines Tages begegnete Senephta einer Frau«, erzählte Ahmed weiter. »Sie war jung und wunderschön und er verliebte sich in sie.« Der Ägypter hielt inne und starrte in die Flammen. Dann hob er den Kopf. »Die Frau wurde krank und weil ihr keiner helfen konnte, wandte sich Senephta an den Sonnengott. Er schlug Re einen Handel vor: Das Leben der Geliebten gegen den Namen der Göttin, die den Flammenwind gestohlen hatte.« »Und?«, fragte Rebecca atemlos. »Re ging darauf ein. Mit dem Namen gewann er Macht über
Nasiramis; er jagte sie durch alle Welten und bannte sie zuletzt in ein Felsengrab.« Ahmed breitete die Hände aus. »Leider war Re zu großzügig mit seiner Belohnung! Er heilte nicht nur die Frau – er machte gleich die ganze Stadt unsterblich!« »Oh, cool!« Rebecca klatschte in die Hände. Ahmed musterte sie geringschätzig. »Cool ist so was nur für Töchter reicher Herren aus Deutschland«, sagte er zu dem errötenden Mädchen. »Für arme Bauern in Ägypten heißt es: Arbeiten bis zum Jüngsten Tag! Außerdem hatte die Sache einen Haken.« Ahmed schilderte, wie die anfängliche Freude der Bewohner von El‐Mohandes in Grauen umschlug, als sie merkten, dass die Macht des Re sie nur am Tage umfasst hielt: Mit Beginn ihrer Unsterblichkeit zerfielen sie jede Nacht zu Asche. Die Menschen verzweifelten an diesem Schicksal und begannen, den Mann zu verfluchen, der dafür verantwortlich war. »Sein Antlitz sei Staub ohne Namen!«, bedeutete, dass Senephtas Seele auf ewig verloren sein sollte, denn nach ägyptischen Glauben gelangte nur derjenige in die Unterwelt, dessen Name den Göttern bekannt und dessen Gesicht für sie erkennbar war. »Deshalb hat man sich diese Mühe gemacht mit den Mumien und andererseits die Namen verhasster Herrscher an deren Bildnissen zerstört«, wusste einer der Studenten. Ahmeds Geschichte endete als Drama. »Ein Fremder verführte Senephtas Geliebte, die lebensmüden Unsterblichen ließen sich vom Nachtwind verwehen und die Stadt versank im Wüstensand. Es gibt keine konkreten Hinweise mehr auf ihren Standort – oder darauf, dass sie überhaupt existiert hat!« Er blickte in die Runde. Ein dünnes Lächeln umspielte seine Lippen. »Aber vielleicht ist das alles auch nur ein arabisches Märchen.« »Cafferty behauptet, dass der Priester die Seelen der Stadtbewohner in sich trägt«, warf Dr. Daunhoff ein. »Um sie zu
hüten, bis der Fluch von El‐Mohandes aufgehoben ist.« »Wie kann man den Fluch denn aufheben?« Rebecca strich ihr Haar zurück, das der anschwellende Wind zerwühlte. »Gar nicht«, sagte Ahmed. »Senephta müsste die Göttin befreien, um den Pakt mit Re aufzulösen. Doch das wird nicht geschehen.« »Und warum nicht?«, fragte Rebecca. Sie müsste lauter sprechen, weil der Châmazîn am Windschutz rüttelte. Ahmed hielt seinen Turban fest und rief: »Es ist ein magisches Grab! Unauffindbar, denn die Macht des Re schirmt es tagsüber ab! Nachts aber ist …« Weiter kam er nicht. Ein Windstoß fegte heran, der die Menschen am Lagerfeuer in Sandschleier hüllte und ein Heer aus Funken hochtrieb. »Das wird ein bisschen ungemütlich hier!«, rief Dr. Daunhoff. Er stand auf. »Wir machen besser Schluss für heute. Gehen wir in die Unterkünfte!« Rebecca hätte Ahmed gern weiter befragt, doch der begann schon, das Feuer zu löschen. Die Flammen wurden immer kleiner und so rannte das Mädchen los. Noch konnte man die Zelte im Feuerschein sehen. Es war angenehm, dem Wind zu entkommen. Rebecca verschloss den Zelteingang, sank im Dunkeln auf ihr Lager – und fuhr mit einem Schreckensruf wieder hoch. Etwas war an ihr Gesicht gerutscht. Hektisch tastete sie unter dem Feldbett nach der Taschenlampe. Was lag auf ihrem Kissen? Kakerlaken? Schlangen? Skorpione? »Wow!«, flüsterte Rebecca, als der tanzende Lichtkegel einen Skarabäus erfasste; schwarz, mit Goldhieroglyphen beschriftet. Seit ihrem Eintreffen in Al‐Ma’abda war nie wieder einer aufgetaucht und Rebecca hatte schon den Verdacht gehegt, dass ihr Onkel das Ganze inszeniert hatte. Er wusste ja, wie wenig Lust sie
auf seine öde Stadtruine hatte. Vielleicht wollte er ein bisschen Aufregung ins Spiel bringen. Die Sache mit der Sphinx wäre dann natürlich anders geplant gewesen. »Morgen frage ich Onkel Christian!«, entschied Rebecca. Sie gähnte herzhaft und es dauerte nicht lange, bis sie eingeschlafen war. Noch im Traum hielt sie den Skarabäus fest. Es war bedauerlich, dass sie nicht lesen konnte, was auf ihm geschrieben stand. Fliehe vor der Wut des Sobaa!
* Entfalte Deine Macht, oh Sachmet, Göttin des Krieges und erhabene Mutter des Nefertem! Führe den König im Kampf und lass seine Pfeile vom Himmel regnen über den Feinden wie ein Sturm, dass ihr Antlitz verdunkle und ihre Herzen verzweifeln! Tempelschale Mentuhotep III., Amarna, XII. Dynastie Es war kurz nach Mitternacht, als Rebecca aus dem Schlaf gerüttelt wurde. »Hoch! Steh auf, Becky, schnell!«, rief Dr. Daunhoff. Die Angst in seiner Stimme war unüberhörbar und sie erschreckte Rebecca mehr als das vielstimmige Heulen und Pfeifen ringsum. »Was ist das?«, fragte sie verwirrt. Daunhoff zog eine Decke vom Bett und legte sie seiner Nichte um die Schultern. »Der Sobaa zieht auf«, sagte er, während er sie zum Ausgang schob. »Das ist ein gefährlicher Wirbelsturm. Er kommt aus der Wüste, normalerweise zwischen März und Mai. Dieser hier ist vier Wochen zu früh.« Daunhoff blieb am flappenden Zelttuch stehen und packte Rebecca mit beiden Händen. »Hör zu, Becky! Ich
möchte, dass du mit mir zum Wagen rennst. Unsere Autos sind der einziger Schutz. Sobald wir das Zelt verlassen, wird dir eine Menge Sand um die Ohren fliegen – also halte dir die Decke vors Gesicht und atme so flach wie möglich. Okay?« Rebecca nickte verunsichert. So hatte sie ihren Onkel noch nie erlebt! Daunhoff sah ihr fest in die Augen. »Und was immer geschieht – du darfst auf keinen Fall stehen bleiben! Klar?« Schluckend nickte sie erneut. »Los!«, befahl er und zog sie ins Freie. Der Wind traf die beiden wie eine Riesenfaust. Rebecca taumelte. Daunhoff hielt sie fest und gemeinsam stemmten sie sich gegen die tobende Naturgewalt. Nicht weit entfernt stachen Autoscheinwerfer durch die Dunkelheit und in ihrem Licht sah Rebecca den Sand. Er kam in Unmengen angepeitscht, nichts bot ihm Widerstand und als er an der Innenseite ihrer Decke herunter rieselte, wurde der 17‐ jährigen klar, dass Dr. Daunhoff Recht hatte: Sie musste den Wagen erreichen! Nirgendwo sonst würde sie überleben. Ein Eimer rollte vorbei, den keiner sah. Rebecca stolperte darüber und fiel der Länge nach hin. Ihre Decke stob davon wie ein flüchtender Rochen und im nächsten Moment hatte das Mädchen Sand im Gesicht – Augen, Mund und Nase, alles war verklebt. Rebecca bekam keine Luft mehr. Panik erfasste sie. Daunhoff riss sich das Hemd vom Leib und zog es ihr über den Kopf. Blind und keuchend fühlte sich Rebecca weitergezerrt. Jemand griff nach ihr. Sie wurde unsanft auf ein Polster gestoßen. Eine Schiebetür rollte ins Schloss – und plötzlich war es still. »Alles okay?«, fragte Daunhoff schwer atmend. Er nickte Ahmed El‐Ashraf dankbar zu, der Rebecca in den Wagen gehoben hatte. Sie betupfte ihre tränenden Augen. »Weiß ich noch nicht«, sagte sie.
* Der Tod kommt auf schnellen Schwingen zu dem, der den Frieden des Gottkönigs stört. Außenwandsiegel Tutanchamun, Tal der Könige, XVIII. Dynastie Der nächste Morgen enthüllte ein trostloses Bild. Das Lager war verwüstet, die Arbeit von Wochen lag unter Sand begraben. Aber wenigstens war niemand verletzt. Dr. Daunhoff seufzte, als Rebecca an seine Seite trat. »Tja, das war’s dann wohl«, sagte er. »Sieh dich um, ob du was von deinen Sachen wieder findest! Sobald wir die Wagen frei geschaufelt haben, reisen wir ab.« Rebecca nickte stumm. Gestern noch hatte sie sich gewünscht, diesen Ort verlassen zu dürfen. Aber heute war es anders. Heute spürte sie die Enttäuschung ringsum, sah die traurigen Mienen und fühlte sich seltsam betrogen. »Es ist nicht fair!«, murmelte sie. Ahmed El‐Ashraf stapfte vorbei, ein Bündel Gerätschaften auf der Schulter. Sand rieselte herunter. Wortlos tippte der Ägypter Dr. Daunhoff an und zeigte nach Osten. Ein Landrover durchquerte das Wüstengebiet. Seine Reifen wirbelten Staub auf. »Der hat uns gerade noch gefehlt!«, knurrte Ahmed. Daunhoff lächelte freudlos. »Die Grabung ist beendet! Was macht es da, wenn das NFRC * aufkreuzt?« Ahmed spuckte aus. »Ich meinte auch nicht die Behörde, sondern ihn!«
*
National Foreign Research Committee
Daunhoff erklärte Rebecca: »Man muss für jede Grabung vorab eine Genehmigung beantragen. Wenn du sie ohne Probleme erhältst, weißt du, dass du am falschen Ort suchst!« Er wies auf den nahenden Landrover. »Der Mann, der da kommt, ist Dr. Mazhar Hakim, Archäologe und Inspekteur des NFRC. Er ist bekannt dafür, dass er Forschungsprojekten gern eine Absage erteilt. Vor allem, wenn es um Königsgräber geht! Die darfst du entweder gar nicht erst anschneiden, oder er weicht dir bei der Arbeit keinen Schritt von der Seite.« »Denn du könntest ja was stehlen!«, höhnte Ahmed. Der Landrover hielt an. Ein junger Mann stieg aus, sah sich um und winkte dann herüber. Ahmed knurrte etwas auf Arabisch und fügte für Rebecca verständlich hinzu: »Er ist wie ein Geier – immer da, wenn was passiert. Und beim letzten Sonnenstrahl verzieht er sich! Die Leute behaupten, er hätte eine Nachtphobie.« »Dabei gibt es hier gar keine Vampire«, sagte Daunhoff grinsend und setzte sich in Bewegung. Er streckte die Hand aus. »Doktor Hakim! Lange nicht gesehen! Was führt Sie nach Al‐Ma’abda?« Rebeccas Herz schlug schneller. Mazhar Hakim war ein gut aussehender, schlanker Mann. Seine fein geschnittenen Züge, das fast schulterlange schwarze Haar und die weiße Gelaba * verliehen ihm eine irritierende Ähnlichkeit mit Abbildungen aus der Pharaonenzeit. »Ist jemand zu Schaden gekommen?«, fragte er statt einer Begrüßung. Daunhoff verneinte. Er schilderte die Ereignisse der letzten Nacht. Anschließend berichtete er von den Funden seiner Grabung. Rebecca war verunsichert. Der Blick des jungen Ägypters wanderte immer wieder an Daunhoff vorbei zu ihr, aus dunklen Augen voll Feuer und Leidenschaft. Hakim lächelte, als sie verlegen
*
Langes, hemdartiges Gewand
weg sah. »Meine Nichte hat ein Säulengraffito entdeckt.« Daunhoff tat, als hätte er nichts bemerkt und legte wie zufällig den Arm um Rebecca. »Sein Antlitz sei Staub ohne Namen! Erstaunlich, so hoch in Mittelägypten, nicht? Ich habe eine Fotografie gemacht, die will ich Cafferty schicken.« »Das Porto können Sie sich sparen«, sagte Hakim. »Der Professor ist hier!« »Hier?«, wiederholte Daunhoff erstaunt. Hakim nickte. »Seit drei Wochen! Er führt eine Grabung in Abydos durch.« Rebecca horchte auf. Abydos – den Namen kannte sie doch! Hatte ihr Onkel ihn nicht erwähnt, als er die Inschrift des ersten Skarabäus übersetzte? Wie lautete der Text noch? Daunhoff sah verwirrt aus. »Was, um alles in der Welt, sucht Cafferty in Abydos?«, fragte er stirnrunzelnd. »Der Mann ist Echnaton‐Experte! Wieso reist er an eine Kultstätte des Alten Reiches?« Hakim wollte antworten, doch Rebecca kam ihm zuvor. Ihr war die Botschaft des Skarabäus wieder eingefallen. »Du wirst erwartet – am Grab des Osiris!«, murmelte sie. Der junge Ägypter lachte auf. »Nein, ganz so verrückt ist Cafferty nicht!« Hakim hielt seinen Blick etwas länger als nötig auf Rebecca gerichtet. Dann wandte er sich Daunhoff zu und sagte, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt: »Er sucht nach Kleopatra.« »Aber … das ist ja völliger Irrsinn!«, stammelte der Deutsche. »Vielleicht nicht.« Mazhar Hakim lächelte Rebecca an, während er zu Daunhoff sagte: »Cafferty hat eine interessante Theorie und er könnte die Königin finden! Ich bin auf dem Weg zu ihm.« »Da fahren wir auch hin!«, entschied Rebecca. Der junge Ägypter ergriff ihre Hand und küsste sie sacht. »Dann
erwartet mich also in Abydos außer Kleopatra noch eine zweite schöne Frau!«, sagte er, verabschiedete sich und ging. Ahmed El‐Ashraf sah ihm angewidert hinterher …
* Die Schöne ist angekommen. Bedeutung des Namens ›Nefertiti‹ * , XVIII. Dynastie »Aber Kleopatra wurde von Oktavian in Alexandria bestattet! Im Sema‐Bezirk, zusammen mit Markus Antonius! Das ist doch bekannt«, rief Dr. Daunhoff erregt. »Na, da pfeif ich doch drauf!«, sagte Professor Cafferty. Er war über Sechzig; ein drahtiger Mann mit weißem Haar. Der Professor saß auf einem Klappstuhl und machte Zeichnungen von der Fundstelle. Sein Team hatte eine gemauerte Wand entdeckt, dort arbeiteten sie sich gerade heran. »Hören Sie, Kollege Oberschlau!« Cafferty zielte mit dem Bleistift auf Daunhoff. »Sie wissen so gut wie ich, was die Ägypter von Oktavian hielten! Nie im Leben hätten sie ihre Königin in einem Grab gelassen, das ein Römer ausgewählt hat! Und im Übrigen: Wenn Sie wirklich davon überzeugt sind, dass Kleopatra in Alexandria ist – was tun Sie dann hier?« Cafferty nickte zufrieden, als keine Antwort kam. Er ahnte nicht, dass Daunhoff nur Rebecca zuliebe den Abstecher nach Abydos gemacht hatte. Daunhoff war sich sicher, dass Cafferty kein Glück haben würde. Auch Dr. Follert, die Studenten und Ahmed El‐Ashraf glaubten
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Nofretete
nicht an einen Sensationsfund. Sie alle waren mitgekommen, weil das endgültige Scheitern des Briten bevorstand. Das übte eine düstere, fast magische Anziehungskraft aus. Professor Owen Cafferty war ein seltsamer Kauz aus einer Familie seltsamer Käuze und wenn es einen Fluch der Pharaonen gab, dann galt er ihnen: Caffertys Großvater war in der Roten Pyramiden verschwunden. Sein Vater Lucius hatte nach Tutanchamun geforscht und seine Vermutungen zur Lage des damals noch unentdeckten Grabes einem Kollegen erzählt. Der reiste daraufhin sofort nach Ägypten. Sein Name war Howard Carter. Cafferty selbst hatte seinen Ruf als Wissenschaftler mit der Senephta‐Geschichte ruiniert. Und jetzt grub er in Abydos nach Kleopatra! Daunhoff schüttelte den Kopf: Tiefer konnte man nicht fallen …
* Imhotep sei gepriesen (…) um seiner Bauwerke willen und der Klugheit, mit der er sie erschaffen hat. Graffito‐Fragment an der Stufenpyramide des Djoser, Sakkara, III. Dynastie Abydos – die 5000 Jahre alte, verlassene Stadt am Westufer des Nils. Rebecca kam sie vor wie eine begehbare Erinnerung an Pharaonenzeiten. Hier gab es keine dürftigen Mauerreste wie in Al‐ Ma’abda, nein! Hier hoben sich auf 7 Quadratkilometern majestätische Bauten in den Himmel: Tempel, Kolossalstatuen und riesige Säulengänge. Von der Grabanlage Tutmoses III. führte ein Pilgerpfad hinunter
in den Stadtteil Umm el‐Quaab. Dort arbeiteten Caffertys Männer. 900 Meter weiter ragten zwei Gebel aus dem Wüstensand. Zwischen ihnen gähnte ein düsterer Hohlweg. »Das ist der Eingang zur Unterwelt«, sagte Mazhar Hakim, sah Rebeccas Blick und fügte hastig hinzu: »Angeblich.« Die 17‐jährige lächelte. Mazhar war ein total cooler Typ! Er wusste über alles in Abydos Bescheid und er sprach von Göttern und Pharaonen, als hätte er sie persönlich gekannt. Außerdem mochte er Rebecca, das war offensichtlich. Blöde nur, dass er zu alt war! 19 oder 20, das wäre okay gewesen – aber 35? Großer Gott! Flüchtig wies das Mädchen auf Caffertys Grabungsteam. »Was denkst du: Werden sie Kleopatra finden?« Mazhar lachte auf. »Nein; ganz bestimmt nicht!« Er schüttelte den Kopf. »Cafferty glaubt, dass man die letzte ägyptische Königin nach Abydos gebracht hat, weil hier auch die ersten Könige liegen. So soll sich ein Kreis schließen. Das ist ein guter Gedanke, aber der Mann sucht an der falschen Stelle!« »Woher willst du das wissen?«, fragte Rebecca. Mazhar trat hinter sie und legte den Arm über ihre Schulter. Sein Atem streifte ihre Wange. Die Nähe war angenehm. Er zeigte nach Westen. »Siehst du die zertrümmerten Steine da drüben? Das ist das Osirisgrab. Cafferty gräbt auf gleicher Höhe – und das ist sein Fehler, denn der Platz an der Seite eines Gottes ist für andere Götter reserviert! Kleopatra liegt hinter Osiris.« »Oder vor ihm«, vermutete Rebecca. »Aber nein.« Mazhar strich lächelnd über ihr Haar. »Man versperrt doch einem Gott nicht den Blick! Komm mit, ich zeig dir den Totentempel des Sethos!« Der Weg zum bedeutendsten Bauwerk von Abydos führte durch einen schattigen Grüngürtel aus Tamarisken und Dattelpalmen. Rebecca glaubte hinter den Bäumen einen Schakal zu sehen, der
unruhig umherstreifte und Mazhar erschreckte sie mit dem Hinweis, dass der ursprüngliche Lokalgott von Abydos ein hundsgestaltiger Totengott namens Chontamenti gewesen war. Älter als Anubis – und mächtiger. »Was hältst du eigentlich von der Senephta‐Geschichte?«, fragte Rebecca und blieb kurz wie vom Donner gerührt stehen, als Mazhar antwortete: »Sie ist wahr! Nur ein bisschen anders, als sie erzählt wird.« Er führte das Mädchen zu einem Sandsteinblock, warm von der Sonne und mit antiken Reliefs verziert. Rebecca nahm Platz. Alles war so friedlich. Palmwedel rieben sich im Wind aneinander, Spatzen tschilpten und von fern hörte man Caffertys ägyptische Helfer. Mazhar hielt Rebeccas Hand, während er sagte: »Senephta war verrückt nach einer jungen Frau namens Tschep‐teti. Sie liebte einen anderen, deshalb wollte er Unsterblichkeit für sie. Er dachte, wenn der Nebenbuhler erst alt und zerknittert war, würde sie sich ihm zuwenden.« Mazhar senkte den Kopf. Versonnen streichelte er Rebeccas schlanke Finger. »Er ist ein arankash, musst du wissen. Ein Besonderer, der alle fünfzig Jahre eine neue Identität annimmt.« Plötzlich riefen Caffertys Leute erregt durcheinander. Mazhar lauschte einen Moment. Seine Augen weiteten sich. »Sie haben etwas gefunden!«, stieß er hervor. Rebecca glitt von ihrem Platz und lief los. Als sie die Grabungsstelle erreichte, drängten sich dort schon die Teams von Cafferty und Daunhoff zusammen. »Zurück, verdammt noch mal!«, brüllte der Professor gereizt, während er an einer Taschenlampe rüttelte, die ausgerechnet jetzt nicht funktionieren wollte. »Hier bricht der Boden ein, wenn ihr wie die Ochsen darauf herumtrampelt!«
Rebecca zwängte sich an den Männern vorbei. Ihr schlug das Herz bis zum Hals bei der Vorstellung, dass nur wenige Meter von ihr entfernt vielleicht die letzte ägyptische Königin lag. »Lasst mich durch! Lasst mich durch!«, forderte sie aufgeregt. Sie schaffte es bis zur Absperrung. Von dort führte eine Sandrampe hinunter an ein freigelegtes Mauerstück. Man hatte eine Öffnung hinein geschlagen und Rebecca sah gerade noch den Professor darin verschwinden, der das Grab natürlich als Erster betreten durfte. Es wurde totenstill ringsum. Selbst die stets präsenten Spatzen verstummten, so schien es zumindest. Alle Augen starrten auf das Loch in der Wand. Alle Ohren warteten auf den Jubelschrei. Er kam nicht. Stattdessen erschien Cafferty nach einer Weile, blass und wie um Jahre gealtert. Er stieg ins Freie und warf die Taschenlampe weg, als wäre sie ihm widerlich. »Es ist ein Kenotaph«, sagte er tonlos. »Nur ein leeres Scheingrab.« Niemand wollte ihm glauben, dafür waren die Erwartungen zu hoch gewesen. Unter den Männern, die in die Tiefe drängten, entdeckte Rebecca ihren Onkel. Hastig packte sie ihn am Ärmel und ließ sich mitziehen. Ein Blick durch das Loch und alle Hoffnung schwand dahin: Jenseits der Mauer war ein kahler Raum. Er endete an einem Felsen. »Den hat man wahrscheinlich erst nach Beginn der Bauarbeiten entdeckt«, vermutete Dr. Daunhoff. »Ein versunkener Felsen! Daran mussten die alten Baumeister ja scheitern! Das Ding ist verdammt groß.« »Und was passiert jetzt?«, fragte Rebecca. Daunhoff zog den Kopf ins Freie. »Nun, wir werden das Grab vermessen und die Mauern auf ihr Alter untersuchen. Dann schütten wir die Fundstelle wieder zu. Wie immer.«
»Nicht, bevor ich sie inspiziert habe!«, rief Mazhar Hakim herrisch. Rebecca drehte sich nach ihm um. Dabei streifte ihr Blick Ahmed El‐Ashraf. Seine Augen waren zu Schlitzen verengt …
* Was sich verbirgt in der Nacht, ist den Göttern dennoch gewahr. Kastenrelief in Alexandria, Ptolemäer‐Dynastie (um 80 v. Chr.) Die Sonne sank. Ihr Widerschein streifte die Ruinen von Abydos. Eine bedrückte Stimmung lag über der Totenstadt; Straßen und Plätze waren verlassen. Rebecca schlenderte mit Mazhar durch den Grüngürtel. Sein Landrover parkte dort. Die schwarz getönten Scheiben erlaubten keinen Blick ins Innere. »Und du willst wirklich schlafen gehen?«, schmollte Rebecca. »So früh am Abend?« Mazhar löste die Zentralverriegelung. »Es wird schnell dunkel«, sagte er nur und das Mädchen erinnerte sich, was Ahmed über den gut aussehenden Mann gesagt hatte: Beim letzten Sonnenstrahl verzieht er sich. Es heißt, er hätte eine Nachtphobie! »Ich glaube, Ahmed mag dich nicht.« Rebecca sah, wie die Seitentür aufschwang. Im Wagen lagen zerknautschte Decken und ein Schlafsack. Der Anblick verunsicherte sie, zumal sich der junge Ägypter plötzlich umdrehte und nach ihr griff. »Du musst mir einen Gefallen tun!«, hob er an. Dann zögerte er. Es war, als würde er mit sich selbst um ein Vertrauen ringen, das er gar
nicht besaß. »Rede mit mir!«, flüsterte Rebecca. Mazhar rang sich durch. »Was Cafferty gefunden hat, ist kein Kenotaph!«, platzte er heraus. »Die Lage stimmt nicht! Ein Mensch hätte nie gewagt, sein Scheingrab neben Osiris zu errichten – hinter dem Gott vielleicht, aber nicht an seiner Seite.« »Und das heißt?«, fragte Rebecca verwirrt. Mazhar senkte die Stimme. »Ich glaube, Cafferty hat das Grab der Nasiramis entdeckt!« »Quatsch! Du hast es doch selbst gesehen: Da war nichts drin!«, protestierte sie. Mazhar blickte auf die sinkende Sonne. Er wirkte gehetzt. »Als ich Caffertys Antrag las, hatte ich eine Ahnung, deshalb habe ich ihn genehmigt. Aber das Nasiramis‐Grab ist magisch verhüllt und das kann ich keinem Wissenschaftler erzählen, ohne dass er mich für verrückt erklärt! Ich kann überhaupt nichts tun – ich weiß nicht mal sicher, ob ich auf der richtigen Spur bin. Bitte, Rebecca! Wenn es dunkel ist, sieh nach, ob sich in der Fundstelle etwas verändert!« Die 17‐jährige spürte ein Kribbeln im Bauch. Hütete das leere Grab tatsächlich ein Geheimnis? Sie musste es herausfinden! »Warte!« Mazhar zog eine Halskette aus dem Hemd, legte sie in Rebeccas Hand und schloss ihre Finger um den Anhänger. »Nimm ihn mit! Er soll dich beschützen!« Rebecca lief los. Abenteuerlust brannte in ihr. Unterwegs warf sie einen Blick auf den Anhänger: Es war ein schwarzer Skarabäus mit Goldhieroglyphen. Das Mädchen lächelte. Ich wusste es!, dachte sie und hängte sich die Kette um. Rebeccas Augen blitzten vor Vergnügen, als sie auf das verlassene Osiris‐ Grab zulief. O Mann, das ist so cool! Mazhar ist offenbar Senephta – ein 5000 Jahre alter Typ! Das glaubt mir kein Mensch!
* Wohlan, meine Reise habe ich vollbracht. Deinen verborgenen Namen kenne ich fürwahr; auch kenne ich den Geist, der über dir Wache hält. Totentempel Hatschepsut, Deir el‐Bahari, XVIII. Dynastie Es war sehr still an der Grabungsstätte und Rebeccas Schritte verlangsamten sich unwillkürlich. Tief im Westen zerfloss die Sonne; Schatten krochen heran und aus dem Sand stieg merkliche Kühle auf. An der freigelegten Wand lehnten noch Schaufeln und Spitzhacken. Eine Eidechse huschte davon, als Rebecca vor dem Mauerloch niederkniete. Einladend wirkte das Ganze nicht. »Mist! Warum habe ich mir keine Taschenlampe geholt?«, schimpfte sie leise. Noch war der Himmel hell und man konnte die Innenwände des Grabes von außen erkennen, doch das würde bald vorbei sein. Klar, die Öffnung war groß genug, um hineinzuklettern – aber wollte sie das? Abgestützt auf den Mauerrand schob sich Rebecca ein Stück in die Dunkelheit. Es kostete sie Überwindung, denn das stille Grab war unheimlich. Schemenhaft ragte der Felsen aus der Tiefe. Rebecca sah sich um, suchte nach Veränderungen – doch da war nichts. Kein Goldschatz lag plötzlich am Boden, keine Mumie tauchte auf und es sprach auch niemand mit Geisterstimme einen schrecklichen Fluch. Enttäuscht sank das Mädchen zurück in den Sand.
Vielleicht warte ich noch ein bisschen!, überlegte sie, zog die Beine an und hob ihr Gesicht dem letzten Sonnenschein entgegen. Sie schloss die Augen. Die Wärme war so angenehm auf der Haut. Da erlosch das Abendrot – und etwas knackte im Grab. Rebecca fuhr herum und erschrak: An der Oberfläche des Felsens begann eine Rille zu erscheinen – erst in die Höhe, dann im scharfen Knick nach links und dann wieder herunter. Es ist der Umriss einer Tür!, erkannte sie atemlos. Rebecca hatte Angst, aber sie konnte nicht anders: Sie musste in das Grab hinein! Als sie aufstand, glitt ihre Jacke zu Boden. Sie achtete nicht darauf. Nur der Felsen zählte. Hieroglyphen meißelten sich lautlos und in rasender Geschwindigkeit an der Scheintür entlang. Kaum hatten sie sie umrandet, da erschienen auf der Türfläche kleine Wölbungen. Anfangs war ihre Bedeutung nicht zu erkennen und so streckte Rebecca ahnungslos die Hand danach aus. Da verdunkelte ein Schatten den Eingang. »Was tun Sie hier, Miss?«, rief Dr. Hughes schroff. Der Mann aus Caffertys Team hielt Rebeccas Jacke hoch. »Ich … ich wollte nur …«, stammelte das Mädchen und verstummte. Hughes runzelte die Stirn. Sein Blick wanderte an Rebecca vorbei – und seine Augen weiteten sich. »O mein Gott!« Der Forscher warf sich herum und rannte los. »Professor Cafferty! Kommen Sie schnell! Wir haben etwas übersehen!« »Shit!«, fluchte Rebecca. Mazhar hatte sie gebeten, keinem von der Nasiramis‐Theorie zu erzählen und jetzt erfuhr es gleich das ganze Camp! Stimmen wurden laut. Offenbar liefen die beiden Grabungsteams um die Wette, denn Cafferty brüllte Daunhoff an, er solle seine
Leute gefälligst zurückpfeifen. »Das ist meine Grabung! Wagen Sie sich ja nicht hinein!« Hastig trat Rebecca an die seitliche Wand. Sie traute sich nicht ins Freie. Die Stimmen draußen waren aggressiv. »Keinen Schritt weiter, Daunhoff!«, hörte sie Cafferty drohen. »Seien Sie nicht kindisch, Professor!«, rief ihr Onkel wütend. »Niemand macht Ihnen Ihre Entdeckung streitig! Wir wollen nur einen Blick darauf werfen.« »Ich sagte: Keinen Schritt weiter, Daunhoff!« Ein dumpfes Geräusch erscholl. Jemand schrie: »Mein Gott! Er hat den Doktor niedergeschlagen!« Rebecca presste entsetzt die Hand auf den Mund. Cafferty kam schon die Sandrampe herunter! Vor dem Mauerloch vertrat ihm Ahmed El‐Ashraf den Weg. »Gehen Sie nicht hinein, Professor! Es liegt ein Fluch auf diesem Grab.« »Ja, sicher!«, höhnte Cafferty gereizt. »Und jetzt mach, dass du fort kommst!« Er verpasste Ahmed einen Stoß. Dessen Hand schlug an den Rand der Öffnung und rutschte ab. Ahmed schrie vor Angst, als er rücklings ins Grab stürzte. Cafferty stieg achtlos über ihn hinweg, seine Leute drängten nach. Ein paar blieben draußen und blockierten den Eingang. Hinter ihnen hörte man die deutschen Forscher nach Hilfe rufen. Aus ihren Worten ging hervor, dass Daunhoff bewusstlos war. Taschenlampen flammten auf, als Cafferty und sein Team das Grab durchquerten. Jeder sah Rebecca, aber keiner hatte Zeit für sie – aus dem mächtigen Felsen ragte die Längshälfte einer schönen jungen Frau! Ihr makelloses Gesicht war ohne Regung; nur die erhobenen Handflächen, scheinbar gegen den unerbittlichen Stein gepresst, sprachen von Verzweiflung und Zorn.
»Hmm. Sieht fast aus wie Nofretete!«, brummte Cafferty, hob die Hand und tätschelte ihre Wange. Unvermittelt schlug sie die Augen auf. Sie waren entsetzlich lebendig. Cafferty räusperte sich unbehaglich, als der Blick an ihm hängen blieb. Im nächsten Moment kam ihm etwas entgegen. Es sah aus wie Rauch, doch es konnte keiner sein, denn als er traf, wurde Cafferty quer durch die Grabkammer geschleudert. An einem Abschnitt der vorderen Grabwand, der von außen noch nicht freigelegt war, schlug er auf. Stöhnend rieb er sich den Kopf. Die Männer flüsterten erregt und wichen zurück; einer ließ die Taschenlampe fallen. »Ruhig, ruhig!«, befahl Ahmed El‐Ashraf und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Die Göttin hätte mit Feuer getötet, wenn sie es könnte. Aber sie kann es nicht. Sie hat keine Macht mehr! Es ist alles in Ordnung.« Während er sprach, hatten die Augen beständig in seine Richtung gegiert. Aber Ahmed wurde von Rebecca verdeckt und plötzlich ruckte der Blick herum. Nasiramis zielte erneut auf Cafferty. Ein Funke glomm in ihren Pupillen auf und Rebecca beschlich ein ungutes Gefühl. Sie wollte etwas sagen, doch es war zu spät. Mit ungeheurer Wucht schoss ein Flammenstrahl auf den Professor, wirbelte ihn hoch und verschmorte ihn. Schwarz und qualmend sank Cafferty die Wand herunter. Seine Männer flohen entsetzt zum Ausgang. Sie erreichten ihn nicht. Unter Strömen von Sand wuchs eine Steinplatte aus dem Boden und verschloss das Mauerloch in wenigen Sekunden. Rumpelnd stieß sie an die Decke und bewegte sich nicht mehr. Es gab kein Entkommen, kein Licht und keine Luft. Alle waren lebendig begraben.
Panik brach aus. Die Männer schrieen und rannten durcheinander; manche hämmerten verzweifelt an die Wände, andere krochen in dunkle Ecken, auf der Suche nach einem Versteck, das es nicht gab. Nur Rebecca tat in ihrer Todesangst das einzig Richtige: Sie verbarg ihr Gesicht vor den Augen der Gottheit. Nasiramis schlug erneut zu. Grauenvolle Schreie hallten von den Wänden. Rebecca konnte spüren, dass Körper mit Gewalt hin und her geschleudert wurden. Jeden Moment erwartete sie, selbst erfasst zu werden – doch sie blieb unversehrt und die Schreie verebbten schnell. Als sich nichts mehr rührte, ließ Rebecca die zitternden Hände sinken. Entsetzen nahm ihr den Atem. Ringsum lagen Caffertys Männer, tot und teilweise in grotesker Verrenkung. Manche hielten noch die Taschenlampe hoch. Streiflicht fiel auf die Gottheit und Rebecca sah, dass sich ihre Augen geschlossen hatten. Wie in Zeitlupe sank das Gesicht in den Felsen zurück. Genauso langsam bewegte sich die Steinplatte am Ausgang herunter. Noch war das Mauerloch verdeckt – aber es gab wieder Hoffnung! Rebecca atmete auf. Plötzlich raschelte etwas …
* Rauchwerk soll entzündet werden, wenn Chontamenti naht, der Herr des dunklen Pfades. Er geleite in die Ewigkeit, was der Ewigkeit gehört und verschone die Lebenden. Grabgefäß Athotis I; Abydos, III. Dynastie
Still und ohne Leben stand Mazhars verschlossener Landrover unter Palmen im Wüstensand. An seinen Scheiben spiegelte sich das Osiris‐Grab und die Zwillings‐Gebel mit ihrem düsteren Hohlweg. Ein Schakal bewegte sich dort in der Abenddämmerung. Der Ruf einer Gottheit hatte ihn erreicht. Er war kein gewöhnliches Tier, das sah man beim Näher kommen. Er lief ohne jedes Geräusch und seine wissenden Augen waren goldumrandet. Vor dem Landrover blieb er stehen, den Kopf wie ein Jagdhund vorgereckt. Macht war sein Wegbegleiter – und er nutzte sie. Als er die Lackierung des Wagens berührte, ruckte im Inneren ein Fingerknochen hoch.
* Und so spricht Maat, die Ausgleichende und Gerechte, Hüterin der Weltordnung und der Ordnung des Universums: Ich halte die Feder der Wahrheit beim Totengericht. Es soll dieses Mannes Herz dagegen aufgewogen werden und wenn er ein Leben im Jenseits verdient, so darf ihm niemand den Zutritt verwehren. Brustamulett an der Mumie Sesostris III., Dahschur, XII. Dynastie Rebecca fuhr zusammen, als ein Mann ins Licht der Taschenlampen trat. »Ahmed! O Gott sei dank – Sie leben!«, rief sie erleichtert. Düster wies der Ägypter auf den Ausgang. »Setz dich da hin!«, befahl er. »Und erzähl mir, wieso du hier bist! Von Anfang an!« Rebecca gehorchte. Sie war so froh, dass Ahmed bei ihr war.
Widerstrebend stieg sie über die Leichen, ließ sich vor der träge sinkenden Steinwand nieder und berichtete von ihrem letzten Treffen mit Mazhar. Ahmed drehte derweil die Toten um und richtete ihre Taschenlampen nach vorn. Er wisperte in der Dunkelheit vor sich hin – auf Arabisch, das Rebecca nicht verstand. »Forscher hätten es nie bemerkt! Morgen hätten sie das Grab wieder zugeschüttet und alles wäre in Ordnung gewesen«, brummte er. »Verdammt!« Er zog ein Messer und schnitt den Männern die Kehle durch. Einigen stieß er die Klinge ins Herz. Es sollte so aussehen, als ob ein Mensch sie getötet hatte, damit Daunhoffs Team nicht auf die Idee kam, hier weiter zu forschen. Ahmed wollte das Messer später neben Cafferty legen. Der war schon draußen gewalttätig gewesen, da passte es, ihn statt Nasiramis als Mörder zu benennen. Hatte er eben durchgedreht, als er das angeblich veränderte Grab genauso vorfand wie beim ersten Betreten! Dass Cafferty verbrannt war, konnte man mit einer Verpuffung erklären. Sie kam vor in alten Gräbern, wenn auch selten. »Deshalb glaube ich, Mazhar ist Senephta«, schloss Rebecca gerade. Sie hätte den Käfer sehen können, der über den Rand der Steinwand krabbelte und zu Boden fiel, aber sie wurde abgelenkt von Ahmeds meckerndem Lachen. »Nein, Missy, das ist er nicht!« Ahmed erhob sich. Er war fertig, es fehlte nur noch die Zeugin. Ruhig ging er auf sie zu und gab dabei einen Teil seines Wissen preis. »Mazhar war Hüter des Chontamenti‐Tempels in Abydos. Er kam zur falschen Zeit nach El‐ Mohandes, so hat ihn das Geschenk des Re getroffen. Aber statt dankbar zu sein, hat er meine Geliebte verführt, der Hund! Sie ist noch immer bei ihm: Mazhar besitzt einen Seelenfänger, wie jeder Chontamenti‐Priester und durch ihn hat er alle Stadtbewohner in
sich …« Ahmed fluchte unterdrückt. Er war im Dunkeln gestolpert. Hilfsbereit drehte ihm Rebecca eine Taschenlampe zu und erstarrte, als sich das Licht an der blutverschmierten Klinge verfing. Ahmed sprang sofort los, doch sein Opfer war schneller und der Angriff ging ins Leere. Panisch floh Rebecca in die Tiefe des Grabes, mit Ahmed auf den Fersen. Hin und her ging die mörderische Hatz, über Tote und rollende Taschenlampen hinweg. Ihr Licht verteilte sich, das war der einzige Vorteil, aber Rebecca wusste, dass es am Ende kein Entrinnen gab. Unvermittelt sah sie auf. »Mazhar!«, stieß sie hervor. Ahmed lachte verächtlich. »Der kann dir nicht helfen.« »Doch, das kann er«, scholl es vom Ausgang her. Ahmed fuhr herum. Das Loch in der Mauer war erst ein kleines Stück geöffnet, trotzdem stand Mazhar in der Grabkammer. Er hielt eine Spitzhacke in den Händen. Ahmed schnellte vor, packte zu und drückte Rebecca das Messer an die Kehle. »Fallen lassen, Hund!«, befahl er kalt. Mazhar stand Höllenqualen aus, als er in weitem Bogen an Ahmed vorbei schritt. Er würde es sich nie verzeihen, wenn das ahnungslose Mädchen starb, das er nach Abydos gelotst hatte. Doch er durfte die Chance, Nasiramis zu befreien, nicht ungenutzt lassen – vielleicht gab es keine zweite! Aber war Ahmed auch wirklich Senephta? Oder stand Mazhar am Ende nur einem Verrückten gegenüber, vor dem er Rebecca hätte retten sollen? Er konnte nicht sicher sein. Er selbst war unverändert, der Re‐Priester von einst hingegen hatte seine Identität inzwischen hunderte Male gewechselt – und das war das schreckliche Problem: Der echte Senephta musste um jeden Preis am Leben bleiben, denn er war der einzige, der die Göttin erlösen konnte.
Unschlüssig blickte Mazhar auf die Spitzhacke. Dann warf er sie mitten in den Raum. Ahmed stieß Rebecca bei Seite und setzte sich in Bewegung. Als er sich nach dem schweren Werkzeug bückte, sprach Mazhar ihn an – auf Ägyptisch, dem vergessenen Vorläufer des Arabischen. »Ich trage die Seelen von El‐Mohandes in mir! Wenn du mich tötest, sind mehr als 1000 Menschen verloren«, sagte er und ging dabei mit schnellen Schritten auf Rebecca zu. Die 17‐jährige war fassungslos. Sie hatte gedacht, Mazhar würde sie retten und jetzt benahm er sich wie ein Idiot! Schlimmer noch: Wie ein Feigling! »Töten? Wie käme ich dazu? Mach es doch selbst!« Ahmed lachte gehässig. Er wusste genau, dass ein Chontamenti‐Priester niemals Hand an sich legen durfte, solange er als Seelengefäß diente. Ahmed erinnerte Mazhar daran, dass dieser auch seine Geliebte Tschepteti in sich trug und schloss: »Nein, mein Freund! Bleib du mal schön am Leben! So seid ihr für immer vereint – und auf ewig getrennt. Ich werde bis zum Jüngsten Tag zusehen, wie du leidest und es genießen.« Noch während Ahmed sprach, zog Mazhar Rebecca in die Arme, barg sein Gesicht in ihrem Haar und hauchte: »Gib mir den Skarabäus!« Rebecca riss ohne Zögern und mit heimlichem Ruck den Anhänger von der Kette. Sie ließ den Arm sinken. Die beiden sahen sich an; ihre bebenden Hände fanden sich und schlossen sich umeinander. Mazhars Lippen formten ein stummes »Danke!« Im nächsten Augenblick trat er zurück an den Felsen. »Sag ihm Lebewohl, Missy!«, höhnte Ahmed und schwang die Spitzhacke. Rebecca war bereit, um Mazhars Leben zu betteln. Doch das brauchte sie nicht, der Angriff galt gar nicht ihm. Sie wurde aschfahl, als das Eisen auf ihren Kopf zielte.
Mazhars Stimme erklang. »Weißt du, mein Freund: Wenn Tschepteti in meinen Armen lag, hat sie dich ein stinkendes brünstiges Schwein genannt«, sagte er honigsanft. »Und wir haben gelacht.« Ahmeds Gesicht wurde dunkelrot. Hass auf den Nebenbuhler überwältigte ihn und er ließ seine Tarnung fallen. Lidstrich wuchs um die funkelnden Augen, Ohrringe wurden sichtbar und auf den Schultern der gewöhnlichen Gelaba erschien ein Priesterkragen aus Lapislazuli und Gold. Blind vor Wut hackte er nach Mazhar. Der wich aus – und das Werkzeug traf den Felsen. Ein Steinchen löste sich. Man hörte es zu Boden klickern in der plötzlichen Stille. Ahmed stand da wie erstarrt. Er hatte buchstäblich mit einem Schlag den Fluch des Sonnengottes aufgehoben. Die Kerbe im Felsen begann zu wachsen, fließend wie ein Brandfleck. Das Gestein veränderte sich, wurde scheinbar weich. Eine Hand kam heraus. Dann der Arm. »Zeit zu sterben, Senephta!«, sagte Mazhar, trat bei Seite und hielt den Skarabäus hoch. Der begann zu sirren, als sein Meister uralte heilige Verse sprach, während Nasiramis sich immer weiter aus dem Felsen löste. Ahmeds Blicke flogen gehetzt hin und her. Er wusste nicht, was er tun sollte, welchen Feind angreifen – die Göttin oder Mazhar? Kurzfristig dachte er daran, Rebecca noch einmal als Geisel zu nehmen, doch es war längst zu spät. Ein Lichtbogen schoss auf ihn zu, seine Seele verhakte sich daran. Stück für Stück wurde sie herausgezogen, wie ein flimmerndes Gummiband. Der Skarabäus fing sie auf, doch bevor sie durch ihn in Mazhar gelangen konnte, ließ dieser den Seelenfänger fallen. Dann trat Nasiramis aus ihrem Gefängnis.
Sie war so schön, so zart – und so wütend! 5000 Jahre angestauter Hass auf den Verräter entlud sich in einem einzigen Moment. Nasiramis packte den kreischenden Ahmed, wirbelte ihn herum und riss ihn mitten entzwei. Als er zu Boden fiel, winkte sie Mazhar an ihre Seite. Nasiramis wollte schon gehen, da zögerte sie plötzlich und kehrte noch einmal an den Felsen zurück. Sie bückte sich nach dem Skarabäus, betrachtete ihn nachdenklich – und warf ihn in die magische Öffnung. Ein Donnerhall durchzitterte das Grab, der den Felsen schloss und die Barriere am Ausgang zerfallen ließ. Als er verklang, waren Mazhar und die Göttin verschwunden. Rebecca brach in Tränen aus, geschockt und überwältigt. Sie merkte kaum, dass Daunhoffs Team hereinkam. »Großer Gott!«, sagte der Forscher, als er die Leichen sah. Rebecca flog in seine Arme, er küsste sie erleichtert und erklärte: »Caffertys Männer hatten den Eingang blockiert. Wir konnten nicht heran! Irgendwann kam Mazhar Hakim und sagte, wir sollten alle zurücktreten.« Daunhoffs Blick wanderte ins Leere. »Es ist so seltsam! Ich bin sicher, dass er durch die Öffnung gestiegen ist, aber ich kann mich nicht daran erinnern. Die anderen auch nicht.« Rebecca hob den Kopf. Tränen glänzten in ihren Augen und sie suchte nach Worten. Daunhoff winkte ab. »Lass nur, Becky! Komm, wir gehen heim!« Es war Nacht, als die beiden das düstere Grab verließen. Die Sterne des Orients funkelten über Abydos mit seinen stillen, verborgenen Geheimnissen – und irgendwo auf den dunklen Hügeln bellte ein Schakal …
* Epilog
Tot und verlassen lehnte Professor Cafferty an der Grabwand. Er war in dem Glauben gestorben, dass er am falschen Ort gesucht hatte. Die Wahrheit sollte er nie erfahren. Direkt hinter ihm, in einem unentdeckten Hohlraum jenseits der Wand, kauerte eine große, finstere Statue – Anubis, der Wächter der Toten. Schweigend. Wartend. Nichts störte die vollkommene Stille; kein Licht fiel auf die prunkvollen Schätze, die den Vorraum zur Grabkammer füllten – und niemand las die Namenskartusche an dem kostbaren, goldenen Sarkophag: Kleopatra, Tochter der Götter. Der Schlaf der letzten ägyptischen Königin blieb ungestört … ENDE