C.H. Guenter
DAS MÄDCHEN
AUS NOWGOROD
VERLAGSUNION ERICH PABEL-ARTHUR MOEWIG KG, 7550 RASTATT
1.
Leningrad Dezem...
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C.H. Guenter
DAS MÄDCHEN
AUS NOWGOROD
VERLAGSUNION ERICH PABEL-ARTHUR MOEWIG KG, 7550 RASTATT
1.
Leningrad Dezember 1969 Der Schnee kam spät, aber dann fiel er drei Tage lang ohne Unterbrechungin diesem Winter herrschte frohes Leben in der Stadt. Es war beinah wie in der Zarenzeit, nur daß das alles siebzig Jahre zurücklag. Die Teiche in den Parks froren zu. Die Jugend lief zu westlicher Rockmusik Schlittschuh. Für Leute, die ihre Limousinen lieber in der Garage stehen ließen, wurden nächtliche Schlittenfahrten veran staltet. Es gab Partys, Einladungen, Feste. Während Politiker und Offiziere sowie die Genos sen von Wirtschaft und Forschung sich amüsierten, saß Professor Kopekian in seinem Labor auf dem Gelände der Medizinischen Universität. Seit Mona ten schon arbeitete er bis spät in die Nacht, selbst an den Wochenenden, denn er fühlte, wie der Erfolgsdruck zunahm. Im Herbst hatte man ihm einen letzten Termin gesetzt. Bis zum Jahresende sollte er den For schungsauftrag erfolgreich beendet haben. — Und nun, um 23.00 Uhr dieser Anruf. Der Leiter der Finanzabteilung des Ministeriums, ein ekelhafter Typ, ein Prolet aus dem Lehrbuch für Politfunktionäre, kam sofort zur Sache.
„Sie haben in den letzten Jahren sieben Millionen Rubel verbraten, Genosse Professor", rechnete er vor, „davon zwanzig Prozent in Devisen. Und wo bleibt das Ergebnis?" „Ich bin nahe dran", antwortete Kopekian mit jener Arroganz in der Stimme, die deutlich die Verachtung des Gebildeten dem Dorfschüler gegen über ausdrückte. „Je näher man der Lösung ist, desto schwieriger wird alles. Doch davon verstehen Sie wohl nicht allzuviel." Der Finanzkommissar war nicht klug, aber schlau. Und er hatte ein gutes Gehör. Sofort drehte er die Schraube fester. „Nahe dran ist so gut wie nicht am Ziel. Das Ziel ist also noch sehr weit entfernt." „Forschung braucht Zeit." „Arbeiten Sie schneller, Genosse Professor." „Sagen Sie doch einer Gewebekultur, sie soll schneller wachsen. Oder einer Zelle, sie möge sich gefälligst schneller teilen. - Sie verstehen nicht nur nichts, Sie haben nicht den Dunst einer Ahnung, Genosse." „Ich weiß nur, daß Sie schon vor einem Jahr mit Ihrer Arbeit fertig sein wollten. Sie gaben es sogar schriftlich zu Protokoll", erwiderte der Kommissar. „Als ob Sie nicht wüßten", entgegnete der For scher, „daß einer Ihrer idiotischen Aufpasser auf meinem Computer herumspielte und das gesamte DNS-Suchprogramm löschte." Der Anrufer wurde unfreundlich. „Ausreden, alles Ausreden. So geht es nicht weiter, Genosse Kopekian. Der Jahreswechsel ist der äußerste Termin." Der Professor legte auf.
Weil er allein im Labor war, sagte er laut: „Leckt mich doch alle, bis rauf zum Minister und wieder zurück." Er ging zu seinem Safe, öffnete ihn, nahm eine ovale Plastikdose heraus, etwa so groß wie die, die man zum Aufbewahren von Kontaktlinsen benutzte, dann löschte er das Licht, zog seinen Pelzmantel an und verließ das Labor. Draußen im Hof stand seine Wolga-Limousine. Sie war zugeschneit. Der Faulpelz von Hausmeister hatte sie wieder nicht freigeschaufelt, als wäre schon allgemein bekannt, daß Kopekian in Ungnade gefallen war. Der Professor machte sich selbst an die Arbeit. Mühsam bekam er den frostkalten Motor in Gang und fuhr bis zu dem Restaurant am KalininProspekt, wo er manchmal zu speisen pflegte. Sie wollten schon schließen. Aber er kannte den Ge schäftsführer. „Will nur kurz telefonieren", sagte er. Sie ließen ihn im Büro allein. Im Gegensatz zu seinem eigenen, wurde dieses Telefon nicht abgehört. Er rief in Nowgorod an. Nicht zu Hause in seiner Wohnung, sondern bei Freunden. „Hier Kopekian", sagte er. „Hör zu, Anatol. Geh zu meiner Frau. Sag ihr nur, es ist jetzt soweit." „Es ist soweit", wiederholte Anatol. „Und was noch?" Der Professor schaute auf die Uhr. Wenn die Straße über Puschkin geräumt war, dann schaffte er die zweihundertdreißig Kilometer bis Nowgorod in vier Stunden. „Bevor es Tag wird."
„Bevor es Tag wird", wiederholte Anatol. „Wann sehen wir uns?" „ Keine Ahnung", wich der Professor der Frage aus.
Es war nicht geräumt, aber die schweren Lastwa gen hatten den Schnee plattgewalzt und die Straße einigermaßen befahrbar gemacht. In Nowgorod, das der Mikrobiologe Dr. Kopekian gegen fünf Uhr früh erreichte, wurde Salz gestreut. Trotzdem herrschte Glatteis. Es war so kalt, daß auch Salz wenig nützte. Seine Tankstelle hatte noch geschlossen. Also fuhr Kopekian erst zur St. Sergius Basilika. Meist wurde sie eine Stunde vor der Frühmesse geöffnet. Sie war leer. Nur der alte Küster steckte die hundert Kerzen an. Kopekian ging bis zum linken Seitenaltar durch und kniete vor der Silbernen Madonna nieder. Er betete nicht nur, sondern bejammerte auch sein Schicksal. Russen bemitleiden sich gerne. Daraus schöpften sie Kraft, Energie und Mut, um das dunkle Tal zu durchschreiten. Kopekian küßte der Madonna im silbernen Mantel Hände und Füße und verließ die Kirche. Beim Postamt meldete er ein Auslandsgespräch an. Es dauerte knapp eine halbe Stunde. In dem Haus in der Stadt in Schweden wurde abgehoben. Die Stimme klang verschlafen. „Bist du es, Bergussen?" „Wer sonst. Sitzt du noch im Labor? Hast du schon keine Ruhe mehr?" „Aber Angst", gestand der Russe. „Plan Zet." 10
Zet hatten sie für das Wort Zuflucht gewählt. Der Kollege Bergussen war sein Vertrauter und seine einzige Rettung. Bergussen hatte alle Dollars, die Kopekian von den Forschungsdevisen heimlich abzweigte, für ihn auf Nummernkonten angelegt. Der andere war sofort hellwach. „Wann?" „Freitag, wenn wir heute abend noch die Fähre kriegen." „Ich buche für dich vor." „Drei Personen." „Und dein Kind?" Kopekian kannte das Problem. Seine Tochter war äußerst lebhaft, und jede Veränderung, jede Gefahr spürte sie wie ein Tier. „Ich werde sie ruhigstellen." „Injektion?" „Das würde Lara niemals dulden. Nein, es geht auch anders." „Hypnose?" fragte der Kollege, der die Fähigkeit des Russen kannte. „Ich mache es schon richtig, Bergussen." Dann kamen sie zum Ende. Meistens pflegten sich die Abhörstellen des KGB nach zwei Minuten auf Fernverbindungen aufzuschalten. Professor Kopekian fand seine Tankstelle geöff net. Er füllte soviel Benzin auf, wie in den Wolga und den Kanister ging. Dann fuhr er nach Hause. Lara Kopekian wartete schon, auf den Fluchtkof fern sitzend, die fünfjährige Tochter Katharina, genannt Katja, im Arm. „Kommt!" sagte der Professor. „Bevor es hell wird."
11
In Nowgorod ließ Kopekian wertvolle Bücher, Antiquitäten, Teppiche und Gemälde zurück. Außerdem seine Datscha draußen am See, Gesamt wert etwa fünfhunderttausend Rubel. Nach seiner Flucht würde der Staat alles be schlagnahmen. Andere Privilegierte würden sich sein Vermögen still und lautlos aneignen. - So, wie Kopekian sich eine Million Dollar Forschungsgelder als Ausgleich angeeignet hatte. Abgesehen von dem, was er in seinem Kopf an Wissen mit in den Westen nahm, Er hielt das für moralisch und für angemessen. Die Erkenntnisse des menschlichen Forschergeistes gehörten nicht allein der Oberschicht einer Dik tatur, sondern der ganzen Welt. Wenn der Kopekian-Faktor ausgewertet würde, wenn es eines Tages das Kopekian-Präparativ gab, dann kam es doch auch der Sowjetunion zugute. Sie erreichten Leningrad am frühen Nachmittag. Es schneite. Kopekian parkte den Wolga in einer geheizten Garage. Seine Frau Lara blieb noch im Wagen. Seine Tochter, die fünfjährige Katja, schlief hinten. Mit dem Bus fuhr Kopekian zur Universität. Aus seiner Schreibtischschublade holte er den Paß mit Dauerausreisevisum und die nötigen Blanko-Per mits. Während er sie ausfüllte, sagte er zu seinem ersten Assistenten: „Unser Testobjekt in Finnland ist gestern kolla biert. Exitus. Es lag wohl an der Dosierung. Ich nehme mit den Kollegen in Helsinki die Obduktion 12
vor. Machen Sie mir den kleinen Tiefkühlbehälter für Gewebeproben fertig." Wenig später fuhr Kopekian mit dem Bus in die Stadt zurück. Gegen 17.00 Uhr, eine Stunde vor Abgang der Stockholmer Fähre, reihte er sich in die Autoschlange vor der Zoll- und Paßkontrolle ein. Wie immer ging es langsam vorwärts. Die Beam ten prüften peinlich genau die Papiere. Da nützte auch ein Hundert-Rubel-Schein im Paß nicht viel. Eher weniger. Bestechung erzeugte Mißtrauen. Als Kopekian an der Reihe war, begann der Offizier das übliche Kurzverhör: „Warum reisen Sie mit dem Wagen bei dem Wetter?" „Ich hole medizinische Gewebeproben. Es muß schnell gehen." „Und warum fährt Ihre Frau mit?" „Meine Frau ist Pathologin. Sie hilft mir bei der Gewebeentnahme." Der Offizier grinste. „Ist Ihre Tochter auch Pathologin?" bemerkte er ironisch. „Wir haben kein Kindermädchen." Kopekian bekam Pässe und Papiere zurück. Der Offizier telefonierte. Offenbar wurden Kopekians Angaben bestätigt. Kopekians Wolga wurde durchgewinkt. Er war schon an der Auffahrtsrampe zur Fähre, nur noch wenige Meter von neutralem Boden entfernt, als er eine Trillerpfeife hörte und den schmerzhaften Ton heulender Sirenen. Scheinwer fer flammten auf. Vor seinem Kühler wurde die Rampe gesperrt. Soldaten zogen ein Scherengitter vor. Und dann trabten sie aus der Baracke. Zehn 13
Mann mit Maschinenpistolen. Sie umringen Kope kians Wagen. Der Offizier riß die Tür auf. „Sie sind festgenommen, Professor." Kopekian stieg aus, gab sich verblüfft und verärgert. „Und was, bitte, wirft man mir vor?" „Verlassen der Union der Sozialistischen Sowjet republiken zum Zwecke der Flucht", las der Offi zier von einem Telex, „sowie Devisenvergehen und Veruntreuung von Staatsgeldern. — Fürs erste."
Moskau Januar 1970 Der leicht herzkranke Professor Wladimir Kope kian überstand die Verhöre im alten GRU-Gefäng nis zunächst nur mit Hilfe von Medikamenten. Da er jedoch seine Unschuld beschwor und nicht aussagte, was sie erwarteten, griffen sie zu schärfe ren Methoden. Sie spritzten ihm ein neues Kombi präparat, das sich in Chile bewährt hatte. Es handelte sich um eine Mischung aus Drogen, die in panikartige Zustände versetzten, die jedem die Zunge lösten. Die beste Wirkung dieser höllischen Mixtur setzte zwei Stunden nach der Verbreitung im Kreislauf ein. — Als sie Kopekian aus der Zelle holen wollten, war er tot. Nun hielten sie sich an seine Ehefrau, die Kopekianowa. Dies aber nur halbherzig. Sie ver sprachen sich wenig von ihr. 14
Ihre Annahme wurde bald bestätigt. Die Kope kianowa wußte nichts. Im Februar schob man sie in ein Straflager nach Sibirien ab. Die fünfjährige Katharina kam, nachdem bei ihr ein extrem hoher Intelligenzquotient ermittelt wor den war, in ein staatliches Erziehungsheim. Lara Kopekianowa mußte im Lager schwer arbei ten. Dabei vergaß sie mit den Jahren ihre Bildung und ihre Herkunft und wurde zu einem stupiden Objekt des sozialistischen Strafvollzugs. Ihre Spur verlor sich und war, wenn überhaupt, nur in den Akten der Strafvollzugsbehörden auffindbar.
Moskau Sommer 1989 Zwanzig Jahre später als ursprünglich geplant, genehmigte das Ministerium für Wissenschaft und Forschung endlich den Neubau der Leningrader Universität. Zuerst sollten die alten Labors und die Ställe der Versuchstiere im Bio-Medizinischen Trakt abgeris sen werden. Bevor die Bulldozer kamen, wurde das noch brauchbare Mobiliar, die Laborgeräte, Bücher sowie Akten in eine Turnhalle verlagert. Beim Gang durch die leeren Ställe entdeckte die Abbruchkommission noch ein einzelnes Versuchs tier. Eine Sibirische Feldmaus hockte verschreckt in einem der Drahtgitterkästen. „Was ist damit?" wollte der Projektleiter wissen. 15
„Nur eine graue Sibirische Feldmaus", lautete die Antwort. „Sie kann wichtig sein oder unwichtig", bemerkte der pingelige Funktionär. „Warum ließ man sie zurück? Ruft den Tierwärter." Der alte Mann wurde gesucht und kam endlich aus seiner Wohnbaracke angeschlurft. — Nach der Maus befragt, wußte er nur zu antworten, daß man ihn beauftragt hatte, auf sie zu achten, sie zu hegen und mit großer Sorgfalt zu füttern. Sie sei ein wertvolles Tier. Wertvoller als Gold." „Wer gab diesen Auftrag?" „Professor Kopekian", sagte der Alte. „Wer ist Professor Kopekian?" Keiner der Anwesenden kannte einen Forscher dieses Namens. Doch dann erinnerte sich einer. Er flüsterte dem Projektleiter etwas zu. Der nickte und fragte den alten Tierwärter: „Wann war das?" Der Alte kratzte sich am Schädel und rechnete unter Zuhilfenahme seiner Finger. „Ich habe damals meine Frau verloren. War einen Tag nach meinem fünfzigsten Geburtstag." „Und wie alt sind Sie heute, Mann?" Der Projekt leiter verlor ein wenig die Geduld. „Siebzig, Genosse Direktor", kam als Antwort. Wieder besprachen die Funktionäre sich. Ungläu biges Kopfschütteln war die Folge. „Und seitdem sitzt die Maus hier?" „Tag für Tag und Nacht für Nacht." „Immer dieselbe Maus?" „Ich kann es beschwören, Genosse Direktor." Der Alte mußte die Kladden holen. Sie prüften sie. Darin war alles aufgezeichnet. Der Tag der 16
Einlieferung, Futtermenge, Futterart, Futterkosten, Alles säuberlich eingetragen seit 1968. Der Zoologe, der zur Kommission gehörte, winkte ungläubig ab. „Dann", äußerte er, „müßte diese Maus ja zwei undzwanzig Jahre alt sein. Und das ist unmöglich. Mäuse werden maximal fünf Jahre alt und keinen Tag mehr. Ich denke, Genossen, der Alte spinnt schon ein bißchen." Der Tierwärter bekam Order, die Maus wegzu schaffen, sie freizulassen oder zu erschlagen. Doch als der Alte mit dem Käfig über den Hof wankte, rief einer hinter ihm her: „Halt! Kommen Sie zurück, Mann!"
Sogleich angestellte Recherchen erhärteten den Verdacht, daß es Professor Wladimir Kopekian schon im Jahre 1969 gelungen war, sein For schungsprojekt zu beenden. „Ich muß davon ausgehen", sagte der Leiter der Sonderkommission, „daß der Kollege den termina torischen Faktor entdeckt hat und daß es ihm gelang, das Finalstadium zumindest bei dieser Feldmaus um ein Vielfaches hinauszuzögern." Was das bedeutete, begriffen nicht einmal die anwesenden Wissenschaftler. Nur soviel stand fest: Sie waren im Besitz der ältesten lebenden Maus der Welt. Diese Maus würde nach den modernsten Metho den untersucht, getestet sowie physisch und psy chisch vermessen werden, ehe man sie tötete und sezierte. Vielleicht entdeckte man in ihrem Gehirn 17
eine Veränderung, hervorgerufen durch einen Ein griff Kopekians. Ein Mitglied der Kommission, er gehörte der geheimen Staatspolizei an, sagte: „Kopekian wollte im Dezember vor zwanzig Jahren mit seiner Familie das Land verlassen. Nachprüfungen ergaben, daß er von den Devisen, die ihm für seine Forschungen zur Verfügung gestellt wurden, mehr als eine Million Dollar auf Schweizer Banken verstreute. Erst vor kurzem fanden wir Zugang zu diesen Konten. Aber das war noch nicht alles. Er hatte das Ergebnis seiner Forschung und wollte es im Westen finanziell nutzen." „Ein Multimilliardengeschäft", schätzte der Fi nanzfachmann. „Aber wir haben ihn Sekunden vor der Ausreise festgenommen." „Ergriff er nicht die Flucht, weil er unter Druck gesetzt wurde?" „Mit Sicherheit war das einer der Gründe", erklärte der Direktor der Finanzabteilung im Ministerium. „Ich führte das letzte Gespräch mit ihm. Aber es war nicht möglich, ihn an die Kandare zu nehmen. Ein Mann mit gutem Gewissen versucht auch nicht bei Nacht und Nebel abzuhauen." „Genossen!" rief der Vorstand der Kommission. „Bitte keine Mutmaßungen, das Warum und Wes halb betreffend. Versuchen wir herauszufinden, ob nicht doch irgendwelche Aufzeichnungen exi stieren." Noch einmal erging Order, alle Akten der Fakul 18
tat zu überprüfen, ob es Hinweise, Notizen, Proto kolle unter dem Code KTF gab. KTF war die Abkürzung für Kopekian-Terminator-Faktor.
Sie fanden nicht eine verwertbare Zeile oder Formel. Nun vermutete man, daß Kopekians Ehefrau, die Kopekianowa, vielleicht doch Mitarbeiterin des Professors gewesen sein könnte. Man suchte und fand unter unendlichen Schwie rigkeiten im Arbeitslager XIX nahe Workuta in Nordsibirien, eine Spur. Aber die Gefangene Nr. 141 269 (Die Nummer setzte sich aus dem Datum der Anklageerhebung zusammen) lebte nicht mehr. Beim Bau einer Fernheizleitung im Permafrost hatte es einen Unfall gegeben. Der Preßluftmeißel eines anderen Häft lings war von einer Eisplatte abgeglitten und hatte sich in den Fuß von Nr. 141 269 gebohrt. Mangel hafte ärztliche Betreuung hatte zu Blutvergiftung und schließlich zu Gasbrand geführt. Zwar hatte man ihr das Bein abgenommen, aber zu spät. Sie war vor sechzehn Monaten gestorben. Man hatte sie verbrannt. In diesen nördlichen Breiten eine Notwendigkeit. Es war unmöglich, im tiefgefrorenen Boden Gräber auszuheben. Obwohl man sich wenig davon versprach, wurde die Suche fortgesetzt. Sie konzentrierte sich auf die damals fünf- heute fünfundzwanzigjährige Tochter Katharina, genannt Katja. Aktenvermerke ergaben, daß man sie nach dem Tode ihres Vaters und der Verurteilung ihrer Mutter 19
gemäß dem Unschuldsprinzip für Minderjährige behandelt hatte. Sie war der Familie weggenommen worden und mit einem anderen Namen der Obhut eines Fürsorgeheimes der Kommunistischen Partei überlassen worden. Sie galt als freundliches, hoch intelligentes Kind. — Sie kam auf eine Höhere Schule, wo man sie dann aus den Augen verlor. Eine Freundin von damals, auch Heiminsassin, sagte aus, daß die Partei Katja habe studieren lassen. Welche Fachrichtung und an welcher Uni versität, das war nicht mehr zu ermitteln. Da die Spur mit Abnahme der zurückliegenden Jahre eher deutlicher hätte werden müssen, nahm die Kommission an, daß sie absichtlich gelöscht wurde. Aber von wem und auf wessen Befehl? Es war wie eine hohe nicht übersteigbare Mauer. Es stand fest, daß die Mauer des Schweigens um Katharina Kopekian nur von zwei Institutionen der UdSSR errichtet worden sein konnte. Von der gehei men Staatspolizei oder vom Geheimdienst KGB. 2. Nordatlantik Spätsommer 1989 Es war ein Gewitterflug. Eine propellergetriebene Fokker Friendship brachte den BND-Agenten Robert Urban und seinen Kollegen Björn vom dänischen Geheimdienst von den Faröer Inseln nach Kopenhagen. Gemeinsam hatten sie den Dieb eines neuartigen Raketensuchkopfes gejagt und ihn schließlich 20
gestellt, als er im Begriffe war, das heiße Paket an Bord eines sowjetischen Trawlers zu schaffen. Die streng geheime Elektronik war in der Nord see versunken, der Mann saß auf der Insel in Gewahrsam, und jetzt öffneten sie zur Feier des Sieges die zweite Flasche Bollinger. Der Champagner löste dem Dänen die Zunge. „Haben wir nicht einen Wahnsinnsjob", sagte er. „Man kommt nur über die Runden, wenn man alles, was war, schnell vergißt und an das, was sein wird, erst gar nicht denkt." „Immer erst antraben lassen, die dicken Hunde", pflichtete Urban ihm bei. „Wenn ich an das denke, was auf uns zukommt, wird mir schlecht." „Zum Beispiel?" Der Däne winkelte den Kopf ab und brachte seinen Mund dicht an Urbans Ohr. Erfahrungsge mäß waren Stewardessen so neugierig wie sinnlich. „Noch nichts von den russischen Turbulenzen gehört?" „Die gibt es doch immer." „Keine gewöhnlichen. Da läuft irgendwas. Geschäftsleute, Industrielle, die in Sibirien inve stieren wollen und vor kurzem zurückkamen, erzählten sonderbare Dinge." „Björn", erklärte Urban. „Was auf unserer Welt ist nicht sonderbar? In Haiti wurde ein Junge mit zwei Schwänzen geboren." „Hektik, Trubel, Chaos. Sie wühlen die sibiri schen Schweigelager um und um." „Wer? Das Entlausungskommando?" lästerte Urban. „Irgendeine geheime Kommission." 21
Urbans Neugier war nur mäßig geweckt. Vorerst interessierten ihn mehr der Champagner, die Ha vanna und die Beine der blonden Stewardeß mit dem Apfelhintern und dem dicken Zopf. Er verspürte das Bedürfnis, ihr, wenn sie vorbei ging, unter den Rock zwischen die strammen Schenkel zu fassen, bis dahin, wo es nicht mehr weiterging. Aber er wußte nicht, wie es bei ihr ankommen würde. Es konnte mit einer Ohrfeige enden oder im Waschraum. Ganz sicher war er nicht. Also ließ er es. — Er nickte und sagte beiläufig: „Was sucht die Kommission?" „Eine Familie." „Nur eine? Die haben doch ganze Völkerstämme in den Lagern sitzen." Unbeeindruckt von Urbans Spötteleien machte der Däne weiter. Offenbar wirkte der Alkohol bei ihm anders als bei dem BND-Agenten. „Genaugenommen suchen sie eine Frau und ihre Tochter." „Und der Papi?" „Ja, und wo ist der Papi?" „Den hat wohl noch der böse Chruschtschow oder Breschnew gefressen." Urban fand das Gespräch allmählich unpassend. Sie hatten einen Sieg errungen, wenn auch nur einen kleinen. Warum also von Dingen reden, die anderer Leute Probleme waren. „Hör zu, in Rußland werden immer nur solche Leute verfolgt, die gegen den Staat sind. Wie bei uns auch. Das ist meine Erfahrung. Die Maßstäbe sind vielleicht etwas anders. Bei uns gilt eine Terroristenbombe weniger als bei denen eine 22
Bemerkung darüber, daß das Regime Mist ist. Die revolutionären Verse eines Dichters können drüben mehr bewirken als bei uns ein Kaufhausbrand. Also, warum hat man der Tochter und der Mutter den Papi weggenommen? Bitte in einem Satz, noch besser mit zwei Worten. Und dann reden wir über Thema eins. Okay?" Der Däne nickte, meinte dabei aber nicht okay. „Die Mutter ist tot und die Tochter ver schwunden." „Sippenhaft kannte man im Dritten Reich auch bei uns. Und die sind ebenfalls im Dritten Reich. Erstes Reich, Zarenzeit. Zweites Reich, Stalinzeit." „Der Vater soll ein berühmter Mikrobiologe gewesen sein." Urban seufzte. „Ich kenne überhaupt keinen unberühmten russi schen Mikrobiologen. Sie alle sind dabei, den Virus des Bösen zu isolieren." „Er verschwand Ende der Sechziger." „Einer unter Hunderttausenden Verschwun dener." „Er soll angeblich an einem Institut der Universi tät von Leningrad gearbeitet haben. An einem Geheimprojekt." „Mikrobiologen, merk dir das, Björn, die in Rußland verschwanden, arbeiteten immer an Geheimprojekten. Wenn es keine Geheimprojekte gewesen wären, würden sie nicht verschwunden worden sein." Der Däne schien Urbans deutlich gezeigtes Desinteresse gar nicht wahrzunehmen. „Er hieß... verdammt, jetzt hab ich es vergessen." „Im Zweifelsfalle heißen sie drüben alle Iwan." 23
„Nein, sein Vorname war Wladimir, der Nach name etwas mit Geld." „Rubelkow?" „Nein." „Dollarowitsch." „Kopekian", sagte der Däne. „Und du bist heute ganz schön bescheuert, Dynamit." Urban nahm die Sektflasche. Sie war leer. Er war guter Laune. Die wollte er sich nicht verderben lassen. Andererseits galt es, Grundfor men der Höflichkeit einzuhalten. „Wladimir Kopekian", zählte Urban zusammen, „Mikrobiologe, Universität Leningrad. Von der Geheimpolizei verfolgt, die im Innern der UdSSR für so gut wie jeden Hundedreck zuständig ist. Gestorben neunzehnhundertsiebzig. Tochter und Mutter in ein Schweigelager abgeschoben. Jetzt wird hektisch nach ihnen gesucht. Ursache unbe kannt." „Kreisen wir das mal logisch ein", schlug der Däne vor. Er hatte wohl mehr als nur den Wunsch, darüber zu sprechen. Vielleicht hatte er die Anweisung, es zu tun. Denn im Vergleich zum BND war der dänische Geheimdienst mehr als minimal. Und im Osten lag seine Stärke schon überhaupt nicht. Zunächst ließ Urban die leere Bollingerflasche in Richtung Pantry kreisen. Die dritte kam. „Warum", fuhr der Däne fort, „sucht man heute, zwanzig Jahre danach, Mutter und Tochter?" „Die Tochter war damals vielleicht zu winzig." „Dann kann sie auch heute keine Hinweise liefern." 24
„Und die Mutter dürfte auch längst verhört worden sein." „Sicher liegen neue Fakten, neue Erkenntnisse vor." „Die suchten sie doch damals schon wie die Geier." Der Däne hatte offenbar alles übermittelt, was er in der Sache wußte. Er ergänzte noch: „Um eine offizielle Information auch an die anderen Dienste loszulassen, ist die Sache zu dünn. Wir dachten aber, vielleicht geht es auf der kolle gialen Schiene. Macht damit etwas oder nichts, oder was ihr wollt." „Das letztere", versprach Urban. Er beschloß, die Sache zu vergessen. Vermutlich steckte nur eine russische Klatschgeschichte dahin ter, der man aufgesessen war wie einer deutschen Illustrierten, wenn es hieß: Der Schauspielerin Mia Pia della Casa (50) sei der neue Freund (24) entlaufen. Die Fokker, keine Maschine von den schnellen, landete mit dem letzten Licht in Kopenhagen. Aber wie bei einem Riesenjumbo stand die blonde Ste wardeß an der Rumpftür und verabschiedete die Fluggäste. Urban verließ als letzter die Kabine. Sie lächelte mit unendlich vielen Perlenzähnen unter wunderschönen Kußlippen. Keusch senkte sie dann ihr blondes Königinnenhaupt und flü sterte: „Ich hätte mir gewünscht, Sie hätten mich im Waschraum vernascht." Da war er fix und fertig. 25
„Ich auch", gestand Urban verblüfft.
Nie im Leben würde er über diese ungenutzte
Chance hinwegkommen.
Absolut nur nebenbei leitete der BND-Agent Code 18, Robert Urban, eine Notiz an das Archiv weiter. Rein der Ordnung halber. Dann gab es Ärger, weil sie den gestohlenen Raketenkopf im Nordatlantik versenkt hatten, anstatt ihn mitzubringen. Aber die Leute, die das forderten, saßen an Schreibtischen, wo es in der Regel weder so windig noch so naßkalt war wie in der Nordsee. Aber sie waren dafür verantwortlich, daß moderne Raketentechnik nicht in die Hände von Ostspionen gelangen konnte, und nun ging ihnen die Muffe eins zu tausend. Der Raketenkopf lag längst auf dreitausend Metern Tiefe, das konnte Urban beschwören. Und alles andere war nicht sein Bier. Kaum war der Ärger vorbei, kam die Freude. Klammheimlich schlich sie sich heran. Aus dem Hausarchiv, das gab es noch, telefo nierte ein Typ herauf. Ganz hinten im ältesten Gebäude in einem Kellerzimmer hauste ein uralter Knabe und wartete auf seine Pensionierung. Er verwaltete jene Reste des Archivs, die so unwichtig waren, daß man sie weder mikroverfilmt noch in die Computer eingespeichert hatte. Die wenigsten wuß ten, daß es den Mann mit der zerfledderten Kartei in dem Kellerzimmer überhaupt noch gab. Er hieß Theodor und rief bei Urban an. „Mann, Theo, du lebst noch?" staunte Urban. 26
„Was", fragte der Alte, lispelnd wie viele Prothe senträger, „bedeutet Termin?" „Frist." „Und Termination?" „Die Beendigung." „Und Terminator?" „Der Beendiger", übersetzte Urban ins Grobe. Der alte Theodor holte Luft. „Es gab da in der Sowjetunion ein Projekt Determinator, mit De wie Demut. Determinator." Wenn Terminator Beendiger bedeutete, dann war Determinator schwer zu übersetzen. Es konnte so etwas wie Nichtbeendiger bedeuten. Präzise drückte es wohl den Entschluß aus, etwas zu entscheiden. Der Determinismus war die Lehre von der Unfreiheit des menschlichen Willens. „In welchem Zusammenhang?" fragte Urban. „Professor Wladimir Kopekian arbeitete an einem Projekt Determinator. Es war super-streng geheim." „Und woher hat das unser Archiv, wenn es so superstreng geheim war?" Theodor schien zu grinsen. Man konnte es nicht sehen, aber vermuten, als das Grinsen in ein hechelndes Lachen überging. „Ende der sechziger Jahre war Kopekian mit seinem Forschungsauftrag angeblich fertig. Er zog die Veröffentlichung hin, weil es damals ein Pro gramm gab, ihn aus der UdSSR herauszuholen." „Und warum holte man ihn nicht heraus?" „Er wollte die ganze Familie mitnehmen. Seine Frau Lara und seine fünfjährige Tochter Katharina. Als er dann abhaute, war es der falsche Moment, und es ging schief." 27
„Wer betrieb damals seine Flucht?" Nun ließ Theodor die Überraschung platzen. „Wir", sagte er. „Der BND." „Fabelhaft", kommentierte Urban. „Und es miß lang. Mann, wenn man nicht alles selber macht." „Im Auftrag des damaligen Kanzlers, der es wohl im Auftrag der NATO an uns delegierte. Es gab auch einen Sonderetat in Höhe von zwei Millionen Mark dafür. Ein Teil davon floß nach Schweden." Es hatte wenig Sinn, sich das brockenweise über das Haustelefon heraufzuholen. „Ich will alles, was du hast", forderte Urban, „Komma, Punkt und Ausrufezeichen." „Ich schieße es per Rohrpost zu dir hinüber." Urban schaute auf die Uhr. Den nächsten Termin hatte er in zwei Stunden. „Ich komme runter, Theodor." „Wenn du mich noch findest. Mich findet schon lange keiner mehr. Falls du dich verirrst, gib Klopfzeichen. Dreimal kurz, dreimal lang, dreimal kurz. SOS." Urban glaubte, sich in dem Laden zurechtzu finden. „Bis gleich", sagte er.
3.
Beverly Hills/Kalifornien September 1989 Marjorie Kennwood galt als eine der schönsten Frauen Hollywoods, obwohl noch keine Kamera je einen Meter Film mit ihr belichtet hatte. Was ihr 28
auch fern lag, denn sie war mit Cash Kennwood verheiratet. Im amerikanischen Gesellschaftsführer Who is Who, übersetzt Wer ist wer, stand er halbseitig. In drei Worten ausgedrückt, konnte man sagen: Er war Milliardär. - Was unter den vielen kaliforni schen Millionären schon etwas Besonderes dar stellte. Seine ersten Dollars hatte er mit Erfindungen auf dem Gebiet der Elektronik gemacht und allmählich einen Rüstungskonzern aufgebaut. Marjorie Kennwood war sechsundzwanzig. Cash Kennwoods Alter setzte sich aus den glei chen Ziffern zusammen - nur umgekehrt. Er war zweiundsechzig. Aber wie allgemein behaup tet wurde, noch in tadellosem Zustand und voll da. An diesem leicht eingetrübten Nachmittag lag er am Pool seiner prachtvollen Villa in den Hügeln. Allerdings im Schatten einer Schirm pinie. Er hatte ein Longdrinkglas neben sich stehen, halb voll mit Eis, Whisky und Zitrone, und ein Telefon. Normalerweise telefonierte der hundert Kilo schwere 190-cm-Mann pausenlos. Doch an Nach mittagen wie diesem telefonierte er nur mit Leu ten, die seine Geheimnummer hatten, und selbst das waren noch zuviel. Soeben hatte er ein Gespräch mit dem Pentagon beendet, da meldete sich sein Forschungsleiter, nach ihm der Produk tionschef vom Werk Pasadena, dann der Vizeprä sident, der die Finanzen seiner Konzerne ma nagte. 29
Kaum hatte er aufgelegt, vernahm er ein feines Zirpen im Apparat. Wohl ein verirrtes Signal in der Hausleitung. Vermutlich wurde oben in der Villa gesprochen. Der Chefbutler gab eine Bestellung auf, oder seine Frau tratschte mit einer Freundin.. Es interessierte ihn wenig. Er hatte andere Probleme. Keine Sorgen, nur Probleme. Alles, was aktuell war, nannte Cash Kennwood Probleme. Nur das Aktuelle konnte sich zu Sorgen entwickeln. Ein wenig akut allerdings wurde sein Verhältnis zu Marjorie. Er hatte sie in New York gesehen und war von ihr so fasziniert gewesen wie nie im Leben zuvor von einer Frau. Er hatte sie unbedingt haben wollen. Obwohl sie Ungarin war, hatte sie eines von den amerikanischen Frauen schnell gelernt. Man ging nur mit den richtigen Männern ins Bett, und wenn der richtige kam, dann nur mit Trauschein. Der erstrebenswerte Trauschein mit Cash Kennwood bedeutete im schlechtesten Falle einige Millionen Dollar Abfindung. — Sie hatte ihn bekommen. Marjorie, die Schöne, telefonierte also gerade. Kennwood dachte zunächst nicht daran, sie zu bespitzeln. Dafür gab es Leute, die das für ihn besorgten. Ärger über Marjorie pflegte er anders abzureagieren. Vorwiegend im Bett, und zwar auf eine Weise, die sie nicht schätzte. Weil das Gespräch außergewöhnlich lange dau erte, schaltete er jedoch ein. Still und heimlich. Angenommen, er ertappte sie beim Liebesgeflü ster mit einem Lover, was dann? Empörte es ihn, oder regte es ihn an? In solchen Momenten aufkeimenden Mißtrauens fragte er sich, warum er diese in Ungarn geborene 30
Marika Esterdony überhaupt geheiratet hatte. - Er hatte sie geheiratet, weil sie eine makellose Schön heit war, weil sie aus adeligem Geschlecht stammte, weil sie klug war und gebildet, weil sie Geschmack hatte, weil sie fähig war, mit jedem Nobelpreisträ ger über so gut wie jedes Thema zu diskutieren, weil sie als perfekte Hausfrau seinen Wohnsitzen vor stand, kurzum, weil sie ihn zierte. - Äußergewöhn liche Männer brauchten außergewöhnliche Verzie rungen, Cash Kennwood hörte sie mit ihrem Operettenak zent sprechen. „Danke, Charly . . . das ist lieb von dir. . . Es bleibt dabei. . . Ich komme so schnell ich kann .. . Nein, heute, fürchte ich, geht es nicht mehr . . . Mein Mann ist heute da, du weißt schon. . . Also bis dann . . . ja, Küßchen." „Bis dann", sagte Charly. Es knackte. Sie legte auf. Mit welchem Charly hatte sie sich verabredet? Es gab so viele Charlys in ihrem Bekanntenkreis. Kennwood winkte seinem Diener, der im Schat ten der Pergola den Tisch für den Lunch deckte. „Ich möchte Madam sprechen!" schrie er. „Jetzt, hier, auf der Stelle!"
Sie war dunkelhaarig und zartbraun. Sie war gebaut wie eine Rennyacht, aber nicht wie irgend eine, sondern wie die, die den Admiral's Cup gewonnen hatte. Sie ging nicht, sie schritt. Graziös und doch sportlich. Das Band in ihrem Haar hatte 31
die Farbe ihres Bikinis. Ein Rosa wie im Inneren von Elefantenrüsseln. Im Haus war es kühl gewesen. Also trug sie eine Jacke darüber, die knapp bis zum Ansatz der Oberschenkel reichte. Nun streifte sie die Jacke ab und legte sich neben Cash Kennwood an den Poolrand. „Zur Stelle, Sir", meldete sie. „Wer ist Charly?" fragte er geradeheraus. „Werde ich belauscht?" „Ein Zufall. Ich kam durch Zufall in die Lei tung." Sie schloß die wunderschönen hellen Augen und feuchtete die Lippen mit der Zunge an. „Sagtest du nicht, die Elektronik mache so etwas unmöglich, unsere Telefone seien nicht abhörbar?" „Nobody is perfect, auch die Elektronik nicht", reagierte er verärgert darüber, daß sie seine Frage mit einer Behauptung gekontert hatte. „Wer ist Charly?" „Der Mann bei Charly." „Und bei Charly, wo ist das, verdammt?" „In einem verdammten Drugstore drunten im verdammten Hollywood. Bei uns und in allen kultivierten Ländern nennt man das Apotheke." „Was hast du dort zu suchen? Wir haben Ange stellte und den Hausarzt." Er merkte, wie sie die Schenkel zusammenkniff, als wollte sie etwas vor seinen geilen Blicken schützen. „Ich brauche ein Stethoskop." „Ein was?" Es-te-e-te-ha-o-es-ka-o-pe", buchstabierte sie. „So einen Doktor-Hörapparat?" 32
„So kann man es auch nennen." „Und wozu, zum Teufel?" herrschte er sie an. „Zum Teufel, um meinen Blutdruck zu messen, Sir." „Der ist in Ordnung. Eher zu weit unten." „Zu weit unten oder zu weit oben", reizte sie ihn. „Kommt darauf an." „Dann laß den Arzt kommen." „Ich möchte, wenn es erlaubt ist, meinen Blut druck zweimal täglich kontrollieren." „Dazu ist Dr. Smithian da." Smithian war der Werksarzt einer seiner Fabri ken. Der einzige, dem er vertraute. „Zweimal täglich den Weg von LA bis hierher?" „Er wird dafür bezahlt." „Morgens um sechs und abends um zweiund zwanzig Uhr." Sie machte ihn wütend. Er kam einfach gegen dieses Weib nicht an. Weshalb er sie einst bis zur Weißglut begehrt hatte, das machte sie jetzt für ihn abstoßend. Nun gut, er würde sie wieder kleinkriegen, sie demütigen, auf seine Weise. Er hob das Telefon ab. Wo immer in den USA er sich auch gerade aufhielt, eine Standleitung ver band ihn stets mit dem Sekretariat. „Doktor Smithian soll kommen", befahl er. „Ja, in die Villa. Sofort."
Dr. Smithian - er hieß zufällig auch Charly mit Vornamen — maß den Blutdruck von Marjorie Kennwood in Anwesenheit ihres Ehemannes. 33
Der Blutdruck konnte nicht besser sein, der untere sowohl wie der obere Wert. Aber der Doc nahm etwas Bestimmtes in den Augen der Lady wahr. Als er die Manschette zusammenrollte und die Stethoskopschläuche aus den Ohren zog, sagte er: „Na ja." Dann nahm er ihr Handgelenk, zählte den Puls, schaute dabei auf die Uhr und wieder in Marjories Augen. Es war noch da, dieses Helfen-Sie-mir-Doc. „Nicht schlecht", sagte Smithian, „aber auch nicht ganz gut. Neunzig zu hundertzehn." „Ist doch prächtig", bemerkte Kennwood. „Es ist mein Körper, oder?" entgegnete Marjorie. Der Arzt schloß seinen Koffer und wollte gehen. Da hielt der Großindustrielle ihn zurück. „Was kann man mit einem Stethoskop sonst noch machen, Doktor?" „Abhorchen", zählte der blonde athletische Arzt auf. „Puls, Herz, die Atmung." Cash Kennwood öffnete den Arztkoffer wieder und förderte die Manschette zutage. „Und damit?" „Bindet man den Oberam ab. Man ruft einen Blutstau hervor." „Damit kann man auch einen Hals abbinden, um einen Atemstau hervorzurufen. Erwürgen nenne ich das." „Unter Umständen, Sir." „Man kann auch einen Indianer damit fesseln", ergänzte Marjorie abfällig. „Aber er muß schon sehr alt sein. Nur, warum sollte man einen alten Indianer damit fesseln wollen, das ist die Frage." Der Arzt ging. Das Ehepaar war allein. 34
„Willst du mich damit töten?" fragte Cash Kenn wood eisig. „Dazu würde ich eine Nylonschnur nehmen", antwortete Marjorie. „Aber wahrscheinlich würde ich dich erschießen." „Oder erstechen." „Oder auch das", gestand sie. „Doch keine Angst. Du bist mir zu kostbar, Darling." Er wußte ungefähr, wie viele Millionen Dollar kostbar er für sie war.
Marjorie Kennwood kaufte bei Charly das Blut druckmeßgerät. Sie verzichtete auf das letzte Modell, wo man nur den Arm in die Öffnung eines Kastens steckte, und alles andere ging elektronisch. Sie wählte das alte Modell mit Manschette und Stethoskop. Nach drei Tagen fand Cash Kennwood es. Es lag in einem der Schränke in ihrem Ankleidezimmer unter der Wäsche. Dann mußte er für zwei Tage nach Washington zu Gesprächen im Pentagon. In der Nacht, als es im Haus still war, holte Marjorie Kennwood das Stethoskop aus dem Schrank, schlich ins Erdgeschoß und machte sich in der Wohnhalle über den Safe ihres Ehemannes her. Er befand sich neben dem Kamin hinter einem Bild von Abraham Lincoln. Das Bild lief über eine Schiene und Rollen und ließ sich mühelos nach oben schieben. Der Safe, ein Mackham-II, sehr stabil, jedoch nicht der neueste Schrei, hatte drei Buchstaben
Schlösser. Sie stöpselte die Hörschläuche in die Ohren und legte die Membrane dicht an das erste Schloßfutter. Indem sie die Rändelmutter langsam drehte, lauschte sie auf den Fall der Schließkeile. Immer dann, wenn das feine metallische Zirpen der Raster ausblieb, hatte sie einen der Buchstaben gefunden. Das Ganze war fünfzehn Mal zu wiederholen. An jedem Schloß waren fünf Buchstaben herauszufin den und danach die Reihenfolge. Aber sie hatte das irgendwann einmal gelernt, Man konnte sogar behaupten, sie hatte es studiert. Manchmal, wenn die Air-condition oder die Kühlschränke abschalteten, entstand im Haus ein Geräusch. Sie ließ sich dadurch nicht stören. Ihre Nerven waren mindestens so gut wie ihre SafeTechnik. Die Tür Öffnete sich luftsaugend. Im Safe lagen ungefähr siebzigtausend Dollar. Die beachtete sie nicht. Auch auf die Besitzurkunden, die Verträge, die übrigen Papiere kam es ihr nicht an. Sie suchte ein kleines schwarzes Buch, in das Cash Kennwood zuweilen Einträge vornahm und das er immer wegschloß, wenn er sie kommen hörte. - Sie fand es. Das Buch enthielt die Aufstellung seiner privaten Auslandskonten, die Banken und die dazugehörigen Kennworte und Nummern. Sie las sie konzentriert, dann hatte sie sich alles eingeprägt. An das eine oder andere Konto war leicht heranzukommen. An das in Nassau-Bahama und das in der Schweiz. Konstruktionspläne seiner Forschungsabteilun gen befanden sich nicht in diesem Safe. Die lagen in 36
den Labors, oder er hatte sie in seinen PC eingespei chert. Und um da heranzukommen, brauchte man das Paßwort. Sie wischte alle Fingerabdrücke weg, schloß den Safe und lag wenig später wieder in ihrem kreisrun den Himmelbett.
Cash Kennwood landete mit seiner Privat-Düse um 13.00 Uhr in LA. Der Rolls-Royce holte ihn ab. Als er zu Hause ankam, war er auf hundertfünf zig. Irgend etwas mußte also schiefgelaufen sein. Vielleicht hatte man das neue Raketenprogramm gestoppt. Kennwood stürzte einen Drink hinunter. Sprang in den Pool und schwamm ein paar Runden. Danach suchte er Marjorie. Er fand sie ober im Schlaf zimmer. Sie lag auf dem Bett, nur mit einem hauchdünnen BH und Slip bekleidet. - Sie wußte, wie ihn das anmachte. „Wie war es mit Charly?" fragte er provozierend. „Super", antwortete sie. „Wie habt ihr es getrieben?" „Oft." „Auch unsere Erfindungen?" „Alles von vorn bis hinten." „Ist er besser als ich?" „Nur halb so alt eben." „Du bist eine Hure." „Und du ein Arschloch", sagte sie mit ihrem reizenden ungarischen Operettenakzent und lä chelte. 37
Er bemerkte, daß sie den üblichen Dialog geän dert hatte. Wütend ging er zum Schrank, suchte und entdeckte den Blutdruckmesser, „Also doch!" zischte er. „Mieser Schauspieler", rief sie. „Du hast ihn schon vor Tagen entdeckt." Er schwenkte die Bandage mit der Luftpumpe wie eine Fahne. „Los, aufstehen!" Sie wollte sich eine Zigarette anstecken. Er riß ihr Zigarette und Feuerzeug aus der Hand und schlug sie ins Gesicht. - Das alles entsprach nicht mehr dem Ritual. „Hände vor!" Sie überkreuzte sie, als würde sie gleich von einem Officer in Handschellen abgeführt. Kennwood legte ihr die schwarze Manschette um die Handgelenke und machte den Klettverschluß zu. Dann pumpte er Druck darauf. Es war eine perfekte Fessel. Sie mußte sich in den Sessel setzen. Dann rief er das schwarze Dienstmädchen. Wie bei derartigem Personal üblich, ließ die hübsche Negerin die Tür offen. Er sagte, sie solle sie schließen und absperren. Dann warf er ihr ein Bündel Banknoten vor die Füße. „Für dich." Sie bückte sich danach. „Danke, Sir." „Los, ausziehen!" Die Schwarze erschrak. „Hörst du schlecht? Ausziehen!" Zögernd, aber folgsam, legte sie erst das Kleid, dann die Unterwäsche ab. Sie stand nackt da, ein 38
wenig zu mager, mit einem knallharten Hintern und winzigen Titten. „Los hinlegen! Beine breit!" Er öffnete Hemd und Hose. Die Schwarze spielte mit, wenn auch genierlich. „Ja, aber Madam, Sir?" keuchte sie, als er sie nahm. „Sie schaut uns zu. Sie hat das gerne", sagte er. Um die Strafmaßnahme zu vervollständigen, machte Kennwood es beim zweiten Mal umgekehrt. Er trieb es mit seiner gefesselten Frau, und die Hausangestellte mußte zusehen. Aber vorher schnupfte er eine tüchtige Prise Kokain.
An diesem Tag beschloß Marjorie Kennwood, ihren Mann zu verlassen und sich schadlos zu halten. Allein mit dem, was auf dem Nummernkonto bei der British-Kingdom-Bank lag, ließ sich flott leben. Es handelte sich um Schwarzgeld, an der Steuer vorbei dorthin verschoben, das aus Raketenliefe rungen irgendeines seiner Werke in den Nahen Osten, Iran oder Irak stammte. Selbst wenn er sie anzeigte, würden ihr im Scheidungsverfahren mindestens zehn Millionen Dollar als Schadenersatz zugesprochen werden. Sie bereitete ihren Ausstieg gut vor. Mit dem Wagen würde sie nach Frisko fahren, von dort nach Mexiko fliegen, weiter mit JapanAirlines nach Caracas, von dort per Charter nach Nassau und zu den Cayman-Inseln. Zwar hatte Cash Kennwood ihren Paß im Safe 39
unter Verschluß, aber den zu beschaffen, war jetzt ein Kinderspiel. Sie ging noch einmal durch das elegante Haus, über den weiträumigen Besitz in den Hügeln von Beverly. Sie verabschiedete sich von ihren hundert Kleidern, Mänteln und den zweihundert Paar Schu hen. Den Schmuck würde sie mitnehmen, bis auf die Erbstücke von Kennwoods Mutter. Am Nachmittag kam Cash mit Geschäftsfreunden auf einen Drink und einen Imbiß vorbei. Wie stets sorgte sie für einen reibungslosen Ablauf, war charmant, hielt Smalltalk. Jeder mußte sie und Cash für ein glückliches Paar halten. Als es Abend wurde, fuhr die Vierergruppe weg. Marjorie Kennwood schwamm noch einmal. In einer halben Stunde würde sie nach San Franzisko fahren. Auf dem Weg vom Pool hinauf zum Haus trat ihr plötzlich ein Mann in den Weg. Er hatte versteckt im Hibiskus gestanden. Gegen die sinkende Sonne sah man nur seine Konturen. „Wie geht es dir?" „Bist du es, Mark?" flüsterte sie. „Du riechst gut." „Ich rieche wie immer", entgegnete sie flüsternd. „Keine Angst. Niemand hat mich gesehen. Bin sofort wieder weg." „Es geht mir schlecht", gestand sie. „Er ist nicht mehr zu ertragen. Ich haue ab, Mark." „Das kannst du nicht machen, Darling." „Alles hat seine Grenzen", erklärte sie. „Die Grenze ist überschritten." Er nahm ihre Hand und übte einen sanften, aber 40
spürbaren Druck aus. Mit fast hypnotischer Stimme sagte er: „Nur noch ein paar Wochen, Darling." „Das macht mich fertig, Mark." „Nicht dich", entgegnete er. „Wie stellt man sich das vor?" „Du weißt, auf was es ankommt." „Das klappt nicht. Gibt zu viele Hindernisse." „Du wirst es schaffen", beschwor sie der Mann aus dem Hibiskusstrauch. „Ich bin am Ende", jammerte sie. „Ich drehe noch durch." „Du?" tat Mark fast amüsiert. „Niemals." Sie wußte, daß man gewissen Dingen nicht entgehen konnte. Trotzdem versuchte sie es noch einmal. „Wem nützt es, wenn er mich umbringt?" Mark winkte ab. „Cash Kennwood ist ein perverses Schwein", gab er unumwunden zu, „aber kein Mörder." „Es gibt Schlimmeres als Mord." „Ja, nämlich kurz vor dem Ziel aufzugeben." „Ihr kennt mich. Ich bin hart im Nehmen. Aber das hier ist zuviel." Nun erklärte Mark einige Zusammenhänge, die mehr als streng geheim waren. „Ist das ein Befehl?" fragte sie. „Wer wird Marjorie Kennwood je etwas befeh len?" erwiderte Mark. „Nennen wir es einen drin genden Wunsch." Sie hatte es oft erlebt. Alles konnte zum Tode führen. Egal ob man einem Befehl nicht nachkam oder einem dringenden Wunsch oder den Strafmaß nahmen eines Scheusals wie Cash Kennwood. 41
„Also", fragte Mark, „wie lautet deine Entschei dung?" „Okay", sagte sie schließlich. Mark tauchte im Hibiskus unter, so wie er gekommen war. Er verschwand lautlos. Nur ein paar Zweige bewegten sich. Marks Hintermännern war noch schwerer zu entfliehen als Cash Kenn wood. Aber im Vergleich zu Kennwood hielten sie einem die Treue, wenn man ihnen die Treue hielt. Doch im Grunde ihres Herzens vertraute sie ihnen so wenig wie allen anderen. Oben im Haus nahm sie einen Drink. Nachdem sie alles abgewogen hatte, das Für und Wider, beschloß sie, noch für eine Weile Mrs. Mar jorie Kennwood zu bleiben.
4.
Washington 29. September 1989 Bei seinem Vortrag vor dem CIA-Direktor in Langley Headquarters kam der Referent zu Punkt vier. Hier hielt er sich länger auf. „Es ging damals um das sogenannte KTF-Projekt. KTF bedeutet Kopekian-Terminator-Faktor." „Und was ist der Terminator-Faktor?" fragte der CIA-Direktor in seiner wortkargen Art. „Irgend etwas in der menschlichen GenStruktur." „Irgendwas ist verflucht wenig." 42
„Es gibt Abermilliarden von verschiedenen Genen, Sir." „Aber man wirft nicht Millionen Rubel zum Fenster raus, um jedes einzelne davon zu testen. Oder?" „Um ein bestimmes Gen zu finden, Sir, vielmehr eine Methode zur Bestimmung von Gen-Positionen, die für diese und jene Erbanlage wichtig sind." „Ich muß das genau wissen", forderte der bullige CIA-Direktor, „denn auch der Präsident wird sich mit Geschwafel nicht zufriedengeben." „Die Verbündeten, von denen dieses Info-Mate rial kommt, arbeiten noch daran, Sir." „Aber wir arbeiten schneller. Wir haben den größeren und den effektiveren Apparat. Weiter! Wer war dieser Kopekian?" Der CIA-Chef erfuhr es. Er konnte gut zuhören. Im Grunde war er einer von den schweigsamen Männern. Er hörte also schweigsam zu, dann sagte er nichts und dachte nach. Seine Fragen kamen so rasch wie am Ende seine Entscheidung. „Womöglich hat Kopekian aus politischen Grün den das Land verlassen." „Für Wissenschaftler ist das selten der Anlaß. Eher bei Dichtern." „Und wie ist es bei Sacharow? War er nicht Wissenschaftler? " Der Referent gab seinem Gesicht einen süß-sauren Ausdruck. „Sacharow hat Rußland erst die Wasserstoff bombe gebaut, Sir. Und jetzt bedauert er es weinerlich. Sacharow ist ein Sonderfall. Bei Kope 43
kian ging es um Geld. Man behauptete damals, er hätte sich an Forschungsdevisen bereichert." „Und jetzt, zwanzig Jahre später, sucht man seine Tochter, die seinerzeit fünf war. Welchen Sinn ergibt das?" „Man erhofft sich wohl Hinweise." „Heute, von einer jungen Frau, die damals fast noch ein Säugling war? Nun ja, in unserer Zeit ist alles möglich. - Weiter! Gibt es Spuren?" „Nur die Spuren der Jäger, Sir." „Ist das Wild zu schlau?" „Oder weitergezogen, längst krepiert, verhungert. Was ist ein Mensch unter zweihundert Millionen in einem riesigen Land wie der Sowjetunion?" „Sie sind ein Polizeistaat mit ganz anderen Möglichkeiten als bei uns, wo es nicht einmal Meldepflicht gibt." „Nun", spottete der Referent, „so eine russische Handkartei ist wohl nicht viel besser als gar nichts." Der CIA-Direktor hatte sich ein Bild gemacht, es abgerundet und seine Entscheidung lautete: „Wir streichen den Fall Kopekian vom Tagesbe richt. Damit kann ich dem Präsidenten nicht kommen. Aber dranbleiben, Freunde. Dranbleiben. Da entwickelt sich was. Meine Nase, meine Nase." Keiner in der CIA verließ sich auf die Nasen der jeweiligen Direktoren, dafür änderten sich die Nasen viel zu oft. Aber der amerikanische Geheim dienst verfolgte das Projekt KTF weiter, weil seine Stammannschaft aus stahlharten Profis bestand, ohne die ein Dienst nichts anderes war als ein Reißwolf für Steuergelder. Oder ein Ofen, den man 44
mit Dollarscheinen heizte — wie Edgar Hoover, der Gründer des FBI, es schon einmal formuliert hatte. * Der Unbekannte rief zwei Tage lang an, bis er endlich einen Mann am Telefon hatte, der behauptete, zuständig zu sein. „Leichter", sagte der Unbekannte, „erwischt man den seligen Kaiser von Abessinien." „Es liegt daran", antwortete der CIA-Angestellte, „daß Sie Ihren Namen nicht nennen wollen." „Was ist ein Name. Er wäre in jedem Fall falsch." „Und Ihre Telefonnummer. Für den Rückruf. Wie lautet die?" Der Unbekannte kicherte. „Über die Nummer kriegen Sie die Adresse, und schon haben Sie einen im Computer." „Was ist dabei, wenn Sie nichts zu verbergen haben." „Ein guter Geheimdienst ist so gefährlich wie der Aids-Virus. Die Infektion merkt man erst lange hin terher. Und ihr seid doch ein guter Dienst. Oder?" „Was können wir für Sie tun, Mister?" Der Mann in Langley Headquarters verlor die Geduld. Er wollte zur Sache kommen. Es gab zu viele Spinner, die sich wer weiß wie großtaten, nur weil sie mit einem echten Agenten telefoniert hatten. „Sind Sie von der Rußlandabteilung, Sir?" „Bei uns heißt das anders." „Egal wie. Aber kennen Sie sich bei den Russen aus?" „Ungefähr." „Und Ihr Name war Jonnhy?" 45
„Ich heiße ebensowenig Jonnhy, wie Sie Graham heißen." „Na schön, machen wir weiter auf anonym", erklärte der Anrufer. „Sie werden Ihre Tarnung schon noch ablegen, Mann. Ich nenne Ihnen jetzt ein Stichwort, Jonnhy, das Sie bearbeiten sollen. Las sen Sie es tüchtig abchecken. Dann melde ich mich wieder. Okay, Jonnhy?" „Wie lautet das Stichwort?" „Kopekian." Der Unbekannte buchstabierte: „K o-p-e-k-i-a-n." „Das sagt mir leider wenig." „Warten Sie es ab, Jonnhy." Damit legte er auf. Zwei Tage später meldete der anonyme Anrufer sich wieder. „Hallo, Jonnhy!" „Hallo, Graham!"
„Von Nobody zu Nobody", scherzte der Anrufer. „Ist Kopekian abgeklopft?" „Er ist tot." „Aber der KGB ist scharf auf ihn wie Wespen auf Leberpastete." „Nicht auf ihn." Jetzt glaubte der Anrufer den CIA-Mann dort zu haben, wo er ihn haben wollte, „Auf seine Tochter. Auf Katharina, genannt Katja." „Mag schon sein", gab der Agent sich desinteres siert. „Was ist sie euch wert?" „Null Dollar", bedauerte der Mann der CIA. „Schade. Wir haben da eine Spur." 46
Der CIA-Mann bekam Witterung, atmete aber unhörbar weiter. „Eine Spur oder das ganze Girl?" „Eine halbe Million Dollar", forderte der unbe kannte Anrufer. Verflucht, dachte der CIA-Mann, er muß etwas wissen. Wie kommt er sonst auf die Idee, uns zu kontaktieren. Aber es gab unsichtbare Kanäle von Langley in die Unterwelt. Da wuschen sich einige Leute, Insider und Nachrichtenhändler, zweimal die Hände in Greenbacks. „Ruf mich wieder mal an, Graham", sagte der Mann am CIA-Telefon. Das Angebot wurde auf mittlerer Ebene durch diskutiert. Man kam zu der Überzeugung, daß es im Westen niemandem gelungen sein konnte, was dem KGB mißlang. Sie wußten nichts, und sie hatten Katja auch nicht. Vermutlich handelte es sich um Trittbrettfahrer, die aus Halbinformationen Kapi tal zu schlagen versuchten. Als der Unbekannte wieder anrief, sagte der CIAKontaktmann: „Kein Interesse, Graham." „Hunderttausend Dollar", senkte der Anrufer seine Forderung. „Kein Interesse." „Das ist ein Fehler, Jonnhy", warnte der Anrufer. „Okay, es ist unser Fehler, und für den stehen wir auch ein." „Das werdet ihr bedauern, Jonnhy." „Das war es dann, Graham." Damit war das Geschäft insofern gelaufen, als kein Geschäft daraus wurde. Immerhin hatte die 47
CIA mit FBI-Hilfe die Leitung zurückverfolgt und wußte nun, von woher der Informant angerufen hatte. Dies für den Fall, daß man den Burschen noch einmal brauchte.
5.
Südschweden 2. Oktober 1989 Es regnete so stark, daß die Krähen noch tiefer flogen als die Lufthansa. Von Stockholm aus hatte Urban eine halbe Stunde mit dem Taxi zu fahren und eine halbe Stunde mit dem Schiff. Er mochte den Norden, aber diese Stadt hatte ihn nie sonderlich gereizt, und diese Reise schon gar nicht. Aber nur über Dr. Bergussen, der draußen in den Schären ein Haus hatte, ging es weiter. - Deshalb war Urban da. Das Taxi kam so spät an, daß sie die Stelling der Fähre schon eingezogen hatten. Samt seiner Reise tasche nahm Urban Anlauf und sprang hinüber. Er ging gleich unter Deck. Mit Alkoholausschank hielten sie sich hier sehr zurück. Immerhin bekam er einen Kaffee mit Cognac. Der Fährdampfer, der die tausend kleinen Fel senbuckel bediente, tastete sich durch das Wetter. Es goß und wehte und war kalt. Erst weit draußen 48
klarte es ein wenig auf. Ungefähr beim zehnten Halt, an Bergussens Insel, wehte es nur noch. Der alte Mann stand am Landungssteg und wollte Urban die Tasche abnehmen. „Doktor Eric Bergussen?" „Sagen Sie ruhig Berg zu mir." Hinter üppigem Grün ragte der Giebel eines Hauses hervor. „Einverstanden, Doktor Berg." „Sie wissen ohnehin alles über mich, sonst wären Sie nicht hier." Richtig, sie wußten vieles. Sie hatten sogar ein Foto aufgetrieben. Allerdings war der Abgelichtete mindestens zwanzig Jahre jünger als das siebzig jährige Original. Der mittelgroße Bergussen ging ein wenig vor wärtsgebückt. Daß er hager war, erkannte man an seinen eckigen Schultern. Das Haar wirkte grau braun, schütter, und sein Gesicht sah aus, als habe er seit einer Ewigkeit nicht mehr gelacht. Bis zum Haus war es nicht weit. Alles stand hier offen, als gebe es keine Diebe. Im Haus duftete es stark nach Wurst und Kraut. „Habe gerade zu Mittag gegessen", sagte Bergus sen. „War eben fertig, als die Fähre kam." Er wohnte offenbar alleine. Wenn er das weiträu mige Anwesen in Schuß halten wollte, mußte er sich ranhalten. Vermutlich beschäftigte er eine Putz frau. Jedenfalls blitzte alles picobello. Die Fliesen vor dem Kamin glänzten wie roter Spiegel, und die Felle auf den Sesseln schienen frisch gestriegelt zu sein. Der Alte kam und brachte etwas Klares in einer 49
Flasche. Es war Gordon's Gin, eine der besten inneren Medizinen der Welt. Ansatzlos begann er: „Nur zur Ergänzung: Ich bin Deutscher. Als Chemiker war ich nie ein Licht. Deshalb verlegte ich mich auf Headhunting, auf Kopfjägerei, wie man das Vermitteln von Wissenschaftlern für die Industrie nennt. Das Geschäft lief. Ich bereiste Kongresse und stellte viele Kontakte her. ~ Eines Tages sagte ich mir, du kommst international als Schwede besser an und zog von Düsseldorf nach Stockholm. - In den Jahren von sechzig bis heute vermittelte ich mehr als dreihundert Spitzenfor scher, darunter einige Nobelpreisträger." „Und Kopekian gehörte ebenfalls zu Ihren Klien ten", bemerkte Urban. „Mit Wladimir verband mich mehr", erzählte Bergussen, „wir lernten uns auf einem Kongreß der Mikrobiologen in Lugano kennen und wurden Freunde. Später trat nicht ich an ihn heran, sondern er sagte eines Tages: Ich möchte weg, Eric, raus aus diesem Gefängnis." „Wie kam es zur Unterstützung durch die Bun desregierung in Bonn?" Bergussen versuchte sich zu erinnern. „Kopekian war eine Weltklassekapazität. Er konnte im Westen schnell Millionär werden. Die deutsche Pharmaindustrie interessierte sich sehr für ihn. Ich leierte Kontakte via UniversitätenIndustrie-Ministerium an. Sie kamen für die Kosten auf, und der Geheimdienst sollte die Flucht in die Hand nehmen. — Inzwischen hatte Kopekian genug Forschungsrubel abgezweigt, damit er nicht völlig mittellos im Westen ankam. — Doch dann spitzte 50
sich alles zu. Er wollte erst im Frühjahr ausstei gen. Sie setzten ihn aber so unter Druck, daß es Hals über Kopf gehen mußte." „Und schiefging", ergänzte Urban. Dr. Bergussen hob bedauernd die Schultern. „Den Rest kennen wir. Was für ein Drama. Aber seine revolutionären Erkenntnisse nahm er mit ins Grab, Aufzeichnungen fand man nie." „Die Suche hat wieder begonnen." Bergussen winkte ab. „Wo wollen sie fündig werden, wenn es vor zwanzig Jahren mißlang?" Urban fragte nun sehr direkt: „Glauben Sie, daß Kopekian mit seiner Arbeit fertig geworden ist?" „Zumindest hatte er Ergebnisse. Und dann gab es da ja noch diese rätselhafte Maus. Das Produkt aus seinen ersten Gen-Eingriffen. Als Kopekian starb, war sie, was niemand wußte, schon älter als Mäuse gemeinhin werden." Urban erinnerte sich, etwas davon gehört zu haben. „Die neue Welle der Nachforschungen könnte durch diese Maus ausgelöst worden sein." „Wann?" „Vor Wochen oder Monaten." „Heißt das, diese Maus — er nannte sie übrigens Wladimir — lebt immer noch?" „Man fand sie offenbar in einem Käfig in den Stallungen des Instituts." Dr. Bergussen rechnete ungläubig. „Dann wäre sie ja über zwanzig Jahre alt geworden. - Unmöglich! Ein Gerücht. Das ist 51
Science-fiction, das ist Jules Verne plus Edgar Allan Poe." „Woran arbeitete Kopekian?" fragte Urban. Aber erst einmal gab es Tee.
„Es war ein Staatsauftrag", berichtete Bergussen. „Jeder Fortschritt in Diktaturen ist auf Staatsauf träge zurückzuführen. Wladimir Kopekian war vor her in der Psychiatrie tätig. Ein begabter Therapeut, ein Genie in der Heilung durch Hypnose. — Aber er war nicht mit Haut und Haaren dabei. Also hängte er ein Biologiestudium daran. Spezialrichtung Mikro biologie. Allein die Erlaubnis dafür brachte ihn schon in Abhängigkeit von Partei und Bürokratie. Aber dann entwickelte er Theorien, die ganz oben fabel haft ankamen, ja sie schienen geheime Hoffnungen zu erwecken. Denn alle, erst recht die Mächtigen, haben Angst vor dem Alter und vor dem Sterben." Urban erfuhr, daß der Russe einen neuen Weg beschritten hatte, um die DNS-Ketten, die Träger menschlicher Erbinformationen, zu analysieren. Bergussen versuchte es dem Laien zu erkären: „Im Kern jeder Zelle sind Gen-Moleküle. Sie enthalten die Kopie des menschlichen Bauplanes. Angeordnet sind sie in der sogenannten DNS, in spiralförmig gewundenen Doppelsträngen. Man kann sie in Form eines Bandenmusters sichtbar machen. Diese, nennen wir sie einmal Perlenschnur, enthält ungefähr sieben Milliarden Positionen. Das kriegt man knapp in zehntausend Büchern mit je fünfhundert Seiten unter. - Versteckt darin sind unsere Gene, die Erbträger. Man schätzt sie auf 52
l ungefähr hunderttausend. Aber sie herauszufinden ist mehr als ein Glücksspiel. Hat man sie, muß man sie auf komplizierte Weise herausschneiden, — man macht das mit Enzymen —, muß sie isolieren, und, und, und. Selbst Optimisten fürchten, daß jenes Gen, das das Alter des Menschen programmiert, nie gefunden wird. Und wenn, dann nur durch Zufall oder durch einen Fingerzeig des Teufels. - Offen bar gelang es Kopekian, ihm nahezukommen." Fasziniert fragte Urban:
„Und wenn man es eines Tages hat?"
„Kann man es manipulieren wie man andere
Gene so manipulieren kann, daß Frösche, Schweine, Pflanzen zehnmal so groß werden - oder zehnmal so lange leben. Hat man es erst, ist der Rest nur noch Fleißarbeit." • „Und Kopekian hat.. ." Urban schwieg nun.
„Denken Sie an die Maus."
„Und es gab keine Aufzeichnungen darüber?"
„Natürlich gibt es die", antwortete Bergussen.
„Wissenschaftler sind karrieregeil wie Filmdiven. Wenn man etwas hat, dann nichts wie raus in die Veröffentlichung, damit einem kein anderer zuvor kommt und das Ding nicht den Namen Huber, Meier oder Berger bekommt." „Oder Kopekian", sagte Urban. „Doch er hielt es zurück, bis er im Westen zu sein hoffte." „Was der KGB verhinderte." „Man fand die Notizen nie?" Dr. Bergussen verstand es heute noch nicht. Wie ein alter Jesuit, der keinen Gedanken aus sprach, der nicht die Erkenntnisse von tausend Jahren in sich trug, sagte er: „Wenn es um ihn selbst ging, machte Kopekian 53
Fehler, war er unpraktisch, mitunter tölpelhaft. Wie also sollte es ihm gelungen sein, die Laborun terlagen so zu verstecken, daß der KGB und die Staatspolizei sie nicht fanden. Das ist mir rätsel haft." „Sie werden, wie meist in solchen Fällen, an einem Ort liegen, der so einfach ist, daß keiner daran denkt." „Sie haben auf der Suche danach halb Leningrad und Nowgorod umgekrempelt." „Und einer von den Fahndern, der müde war, betrunken, faul oder sich über einen Vorgesetzten geärgert hat, der muß es übersehen haben." „Sicher, jedes Netz ist so dicht wie seine größte Masche." Der Alte schlurfte hinaus, holte eine neue Fla sche. Beim Gehen stellte er die Füße auswärts, ganz platt, und die Arme hingen ihm fast bis zu den Knien. „Die Russen", bemerkte Urban, „machen immer einen Fehler. Sie zahlen für eine Sache, die eine Mark wert ist, nur fünfzig Pfennig. Am Ende kriegen sie gar nichts oder müssen zwei Mark dafür ausgeben. Wir Deutschen sind da anders. Wir bieten von Anfang an das Doppelte und bekommen es meist für ein Viertel." „Verstehe", sagte Bergussen. „Der BND hat noch gar nichts im Ofen, und schon setzt er seinen besten Mann an." Sie redeten, diskutierten und analysierten bis tief in die Nacht. Dann gingen sie schlafen. Schon beim ersten Telefonkontakt war verabredet worden, daß Urban der Gast von Dr. Bergussen sein würde.
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Am Morgen brachte Dr. Bergussen Urban zum Landesteg. Der Himmel war nordisch blau und hoch. Das Licht so, als käme es aus dem Inneren der Erde. „Konnte ich Ihnen behilflich sein?" fragte der wohlhabende Rentner. „Einige Punkte sind jetzt klar", sagte Urban. „Es geht um den Stein der Weisen, um das ewige Leben." „Wenn man diesen Trick findet, junger Mann, glauben Sie mir, dann hat das dieser morbiden Saubande von Menschheit gerade noch gefehlt." „Ich könnte mir durchaus ein Szenarium vorstel len", gestand Urban, „daß dies das Ende wäre." „Mord, Totschlag, Kriege um diese Pille. Dann Übervölkerung, Hungersnöte. Am Ende bleiben ein paar unsterbliche Eierköpfe übrig." In der Ferne, bei einer walfischbuckelflachen Insel, kam der Fährdampfer um die Ecke. „Warum", stellte Urban seine oft wiederholte Frage, „glauben Sie, sucht man Katharina Kope kian?" „Fragen Sie den KGB-Chef." Der Dampfer näherte sich schnell. Als er schon Fahrt wegnahm, mit dem Heck herandrehte und dann mit den Maschinen rück wärts ging, um sanft anzulegen, sagte Dr. Bergussen noch: „Schuster, bleib bei deinen Leisten. Als Psychia ter wäre Kopekian eine Kapazität geworden. Er war ein begabter Hypnotiseur. Auf dem Gebiet der Hypnose konnte er mit den Menschen wirklich machen, was er wollte. Wenn Lara, seine Frau, krank war, versetzte er sie in Heilschlaf. Wenn die 55
kleine Katja Zähne bekam, nahm er ihr durch Hypnose die Schmerzen. Er konnte zu dir in Hypnose sagen: Du hast keine Schmerzen, und du hattest keine mehr. — Auf diesem Gebiet wäre er einer der Größten geworden und würde heute noch leben. In hohen Ehren und gewiß nicht als armer Genosse. Aber er wollte es anders. Ihm stand der Sinn nach Höherem. Psychiater, sagte er einmal, was ist das gegen einen Mikrobiologen. Wie Dreck, auf den es geregnet hat." Mit dumpfem Bums schlug das Heck des Damp fers gegen den Fender. Urban bedankte sich, sprang hinüber, und die Fähre legte ab. Bald tauchte Stockholm auf. Die ersten Konturen erinnerten Urban an Fluß pferde, wenn sie sich im Wasser aalten und man nur ihren Höcker zu sehen bekam. Und genauso war auch dieser merkwürdige Fall.
6. Moskau 2. Oktober 1989 Nahezu jedes Problem der Sowjetunion landete irgendwann einmal auf einem bestimmten Schreib tisch in dem alten großen Gebäude in der Dzer zhinsky-Straße in der Nähe des Roten Platzes. Der Schreibtisch stand im Büro des Chefs der I. Hauptverwaltung des KGB. Vorgegangen wurde beim größten Geheimdienst der Welt nach dem Drei-Affen-Symbol, lediglich 56
auf russische Art abgewandelt. Die Affen hören alles, sehen alles und schweigen über alles. Wenn geredet wurde, dann nur intern. So wie an diesem frühen Morgen. Der General, kahl bis zum Nacken, hörte zu. Sein Adjutant lehnte am Bücherschrank und schwieg. Nur der Referent, ein ehrgeiziger Frunse-Akademi ker in Zivil, trug vor. „. . . und somit gibt es in der Sache Katharina Kopekian nichts Neues. Keine Spur von ihr. Bis zur Stunde." „Das höre ich jetzt schon seit einem Monat", konterte der General, blickte seinen Adjutanten an und der nickte servil. „Allerdings ist aufgrund weiterer Recherchen die Figur dieses Professors Kopekian jetzt klar wie Kristall." „Liegen neue Erkenntnisse vor?" „Kopekian hatte ein Hobby." „Natürlich. Den Staat um eine Million Rubel zu betrügen, die bis vor kurzem unauffindbar blieb." „Möglicherweise hat Dr. Bergussen ihm dabei geholfen." „Dieser Kopfgeldjäger in Schweden?" „Beweisbar ist es natürlich nicht." General Tomkin hatte im Geiste einen Punkt notiert und noch nicht gelöscht. „Hobby", sprach er ihn an. „Was für ein Hobby hatte diese Kanaille Kopekian?" „Tiefenpsychologie, Eindringen in die Probleme seelisch Kranker durch das Mittel Hypnose." „Das steht im Dossier", tat der General es ab. Aber der Referent hatte es nicht angedeutet, um 57
sich diesen Hinweis einzuhandeln. Offenbar lagen hier neue Überlegungen vor. „Man fand", fuhr der Offizier fort, „kaum eine Zeile über Kopekians DNS-Forschung, abgesehen von dieser uralten Maus. Akzeptiert man sie aber als Beweis seines Erfolgs, wo ist dann die Nieder schrift? Könnte Kopekian irgendeinem Menschen seine Forschungsergebnisse unter Hypnose hinter lassen haben?" Tomkin blickte ratlos zum Fenster hinaus, wo man ein Stück der Kremlmauer sehen konnte. „Ist so etwas denn möglich?" „Sämtliche Abschnitte der DNS werden durch Codes markiert. Meist durch eine Kombination der Buchstaben A, T, G und C. Sie bezeichnen die vier "Grundbausteine. Durch verschiedene Anordnungen der Bausteine Adenin, Thymin, Guanin und Cytosin werden die Life-Codes gebildet. Es gibt Billionen von Kombinationsmöglichkeiten. Eine davon kann mei netwegen C-T-A-T-T-G-G-G-T-C-A-T-T-G-A-A und so fort lauten. So etwas läßt sich durch DigitalHypnose selbst auf einen Analphabeten über tragen." „Und wie kommt man da heran?" fragte der praktisch denkende Chef der I. Hauptverwaltung. „Durch ein Paßwort, ein Zugangswort." „Vorausgesetzt, man hat den Träger." Jetzt lächelte der Referent. „Deshalb brauchen wir Kopekians Tochter. Viel leicht liegt etwas in ihrem Unterbewußtsein, wovon sie keine Ahnung hat." Es wurde entschieden, die Suche fortzusetzen. Ein anderer Referent kam und brachte schlechte Nachrichten. 58
Das Dringendste wurde immer sofort erledigt. Das andere schob man vor sich her, bis es sich zu einem Berg türmte. Dann kam es auf den Müll. Aber diese Sache mußte unter Kontrolle gehalten werden. „Die westlichen Geheimdienste sind scharf an dem Fall", hieß es. „Wer von ihnen?" „CIA und BND."
Der BND lag näher und war gefährlicher. Der General lehnte sich zurück und massierte seinen bis zum Nacken kahlen Kopf. „Und beim BND zweifelsohne dieser Hundesohn Mister Dynamit. Stimmt's?" Die Antwort war betretenes Schweigen. „Wie weit ist er?" „Er besucht derzeit Dr. Bergussen in Stockholm." „Riegel vorschieben", lautete der Befehl des Generals, „dreifachen Riegel. Wenn Urban, dieser Halunke, sich erst mal reinhängt, dann gute Nacht, Marjuschka." Die Unterabteilung 3/Abwehr/Operationen/Aus land wurde damit beauftragt. Der General hatte schlecht gespeist. Er spürte aufkommendes Sodbrennen. Der Wetterwechsel verursachte Kopfschmerzen und nun noch dieser haufenweise Ärger. „Ich fahre nach Hause", entschied er. „Meinen Wagen." Tomkin dachte an ein Wochenende in seiner Datscha, um wieder klar denken zu können. Jeder ertrug eine bestimmte Menge Frust und Niederlagen, aber allmählich wurden es zu viele. 59
General Tomkin hatte die Schnauze voll. Nichts wie hinaus in die Datscha, schlafen, eine Flasche Wodka, danach seine Haushälterin, eine rassige Georgierin. - Vielleicht. Sein flaches, immer fettglänzendes Gesicht drückte aus, daß er alles zum Kotzen fand. Und am meisten die Typen im Politbüro. Er reichte seinem Adjutanten die Aktentasche und machte ein paar unsichere Schritte. Das Rheuma plagte ihn. Überbleibsel aus dem Krieg, den er als junger Leutnant an der Nordfront erlebt hatte. Tausend heiße Tage und tausend eiskalte Nächte. Auf dem Korridor kam ihm ein Unterreferent mit einem Zettel in der Hand entgegen. Er suchte dringend den General. Tomkin drückte ihn mit seiner massigen Figur beiseite. - Geh mir aus dem Weg. Schluß für heute. - Aber der Offizier blieb hartnäckig. Er hielt mit dem General Schritt und deutete immer wieder auf das rosa Geheimpapier. Fluchend blieb Tomkin endlich stehen. „Soll ich Ihnen in den Hintern treten, Haupt mann?" zischte er. „Bitte lesen Sie zuerst", sagte der junge Offizier. Soviel Sturheit beeindruckte den KGB-General. Er nahm den Zettel, hielt ihn erst weit weg, setzte dann die Brille auf, las und bemerkte angewidert: „Das ist doch der grandioseste Fall von Inkompe tenz, der mir in meinem Leben im Dienst des Vaterlandes jemals . . . " Er sprach nicht weiter. Sein Adjutant las ebenfalls.
„Unglaublich."
„Und Sie haben dieses Weib wirklich gefunden?"
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„So ist es, Genosse General." „Und wie, bitte?" „Ihre Akte liegt in Abteilung Hauptverwaltung II. Daran dachte keiner." „Wie man sie fand, möchte ich wissen." „Der Archivar las die Suchmeldung, zog eine Karteikarte und hatte sie." „Katharina Kopekian?" „Das war das Hauptproblem, Genosse General. Sie heißt heute anders. Aber der Archivar, der seine Akten kennt, erinnerte sich an die Affäre Kopekian und wo und unter welchem Namen dessen Tochter Katharina, genannt Katja, sich heute aufhält." Der General machte auf dem Absatz kehrt. Er hastete geradezu in sein Büro. Keine Müdigkeit mehr, keine Kopfschmerzen, kein Rheuma, kein Verdruß. Es war unglaublich. Alles wie weggeblasen. „An Formen derartiger Schlamperei", rüffelte er seine angetretenen Abteilungsleiter an, „wird unser Staat eines Tages noch zu Grunde gehen. Nichts klappt, nichts funktioniert. Die Rechte weiß nicht, was die Linke tut. Nebenan bricht das Chaos aus. Keiner merkt es. Genossen, fangt bloß keinen Krieg an. Ihr werdet ihn nie gewinnen. — Zur Sache!" Sie hatten Kopekians Tochter. Die neue Lage wurde analysiert. Nun galt es, den Erfolg nicht zu verschleudern wie einen raschen Roulettegewinn, sondern damit zu wuchern wie der Bankier mit seinem Pfund.
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7.
Washington 3. Oktober, frühmorgens Die CIA wurde vom Nachrichtendienst der Bundes republik Deutschland auf dem laufenden gehalten. So kam es, daß ihnen die Bedeutung jenes Mädchens, das der KGB weltweit suchte, allmäh lich aufging. Der Sachbearbeiter, der nicht Jonnhy hieß, erin nerte sich an das Gespräch mit dem Mann, der nicht Graham hieß und für Informationen erst eine halbe Million Dollar gefordert hatte. Selbst bei Hundert tausend hatte der CIA-Mann noch gelacht. Jetzt lachte er schon weniger laut. „Verflucht! Diese Entwicklung war nicht abzuse hen gewesen." „Welche Entwicklung?" fragte sein Kollege im Office. „Daß dieses Weib so wichtig werden könnte." „Habt ihr nicht seine Telefonnummer?" „Das Büro von Bell, Telegraphe & Telephone, hat sie ermittelt." „Ich würde mal hinfahren." „Ein Nest im hintersten Virginia." „Ist das Frauenzimmer nun wichtig oder nicht?" „Sieht so aus." „Dann würde ich meinen Arsch aber glatt bewe gen", riet der Kollege. Er hatte leicht reden. Er war sportlich und wog dreißig Pfund weniger als sein Kollege. Das war eben der Jammer bei großen Organisationen. Man bekam nie den maßgeschneiderten Auftrag. 62
„Ein Gangster auf der Durchreise", tat der Dicke es ab. „Eine windige Ratte. Einer, der etwas von einem gehört haben will, der wieder von einem anderen etwas erfuhr. Man kennt doch dieses Ganovengeschmeiß." „Trotzdem", sagte der andere. „Laß mich in Ruhe." „Du mußt etwas unternehmen." „Du bist ein Hetzer und machst dich unbeliebt bei mir", seufzte sein Kollege. „Dann überlaß mir die Sache." Das wollte der Agent, der den Fall hatte, nun auch wieder nicht. Er orderte seinen Dienstwagen, um die Adresse, von der aus telefoniert worden war, anzufahren. Und da passierte einer jener merkwürdigen Zufälle, die nur Glückspilzen zustießen. Der Mann, der nicht Graham hieß, rief an. „Haben Sie es sich überlegt, Jonnhy?" fragte er wohlgelaunt. „Ich bin nicht die CIA", antwortete der Mann, der nicht Jonnhy hieß. „Aber für mich sind Sie der Ansprechpartner. Also, was ist?" „Was haben Sie, Graham?" „Ich weiß, wo das Mädchen steckt." „Welches Mädchen?" „Mann, sind Sie doof?" fragte der Anrufer. „Worüber reden wir eigentlich seit Tagen. Über die Kleine, die Sie suchen. War doch sonnenklar, oder? Entweder geben Sie jetzt Ihre bescheuerte Haltung auf und kommen zur Sache, oder es war wirklich mein letzter Versuch." „Wieviel?" fragte der CIA-Agent. 63
„Hunderttausend und keinen Cent weniger." „Okay. Wo treffen wir uns?" „Hier Ware, dort Geld. Keinen persönlichen Kontakt." „Sorry, bei Hunderttausend geht das nicht im Wald unter einem Laubhaufen." Der Unbekannte überlegte. „Ich melde mich wieder." „Morgen kann alles anderes sein. Was heute wichtig ist. . . " „Du hörst von mir, Jonnhyboy." Von da ab entfernte sich der Mann, der den Fall hatte, nicht einen Schritt weiter als zehn Meter von seinem Telefon. Er dachte schon daran, sich eine Armeeliege ins Büro stellen zu lassen.
„Kennst du den Potomac River?" fragte der Unbe kannte, nachdem abgehoben worden war. „Ich habe ein Segelboot am Fluß, Graham." „Dann kennst du Leslie Town, die Kreuzung mit der Vierundsiebzigsten. Du fährst in Richtung der Hügel, die wie die Rocky Mountains aussehen, aber nur zweihundert Meter hoch sind. Zwischen dem südlichen und dem ersten durch kommst du in einen Mischwald. Im Tal hinter der alten Papiermühle siehst du die Flußbiegung. Dort stehe ich. Und jetzt wiederhole!" „Ich kann es mir merken." „Los, wiederholen!" drängte der Anrufer. „Ich kenne doch euren miesen Verein. Die CIA unter scheidet sich von einem Geheimdienst wie Berufs 64
baseballer von der Schülermannschaft. Und ebenso mies sind seine Leute. Also wiederhole, Jonnhy." Der CIA-Mann wiederholte, beging prompt einen Fehler und wurde korrigiert. „Bring die Kohlen mit, Jonnhy." „Ich zahle aber nur gegen Hardware." „Es ist Gold, was ich weiß", versprach der andere. „Verlaß dich drauf. - Also in einer Stunde. Und der Blitz soll euch beim Pissen treffen, wenn ihr mich bescheißt." Inzwischen waren alle Genehmigungen durch. Das Geld lag abgezählt bereit. Da Graham keine Bedingungen gestellt hatte, daß Jonnhy allein käme, fuhren sie zu zweit. Sie verließen Langley in einem unauffälligen hellgrünen Plymouth-Kombi. Der Fahrer sagte immer die Richtung an: „Leslie Town." Der Dicke, mit dem Geldkoffer zwischen den Beinen, bestätigte. „Kreuzung Vierundsiebzigste." „ Vierundsiebzigste." „Dieser Bursche spinnt für mich." „Ja, er ist nicht ganz dicht. Angenommen, wir kämen mit Polizeiaufgebot." „Dann holen wir in einer Nacht aus ihm heraus, was er weiß." „Er geht ein Risiko ein." „Also steht er unter Druck." „Ich bin auch unter Druck. Geldmäßig. Dort sind die Hügel." Eine Minute später kam der Mischwald. „Die Papiermühle", rief der am Lenkrad. 65
Im Tal sah man die Silos für den Zellulosebrei und den Schornstein. Sie fuhren nicht schneller, als sie durften, aber auch nicht langsamer. Die Straße führte jetzt abwärts. Der Fluß wälzte sich schwer wie Blei — aber wie Blei, das mit Lehm vermischt war - in seinem Bett meerwärts. Erst führte die Straße ein gerades Stück auf den Fluß zu, dann kam die Biegung. „Und du wirst zahlen?" fragte der Fahrer. „Ich habe Vollmacht, es zu tun. Aber er muß uns das Weib auf dem Teller servieren." „Und wenn er blufft?" Kopfschüttelnd saß der Dicke da. „Wie soll einer beim Pokern bluffen, wenn er gar nicht pokert, sondern Domino spielt. Er rief uns an. Er kannte unser Problem und machte ein Angebot. — Aber woher kennt er unser Problem?" „Eine undichte Stelle in der Firma." „Wenn einer aus unserem Laden Geld machen will, gibt es leichtere Wege. — Dort ist er." Ungefähr eine halbe Meile entfernt sahen sie den Wagen stehen. Er parkte links in einem Stichweg zum Flußufer. Aber bei ihm stand noch ein zweiter Wagen. Beim Näherkommen entpuppte er sich als der Streifen wagen des County-Sheriffs. Sie fuhren heran, hielten und stiegen aus. Drüben an dem Ford Custom stand die Tür vorne links offen. Der Fahrer saß am Lenkrad, aber nach hinten gelehnt. Er hatte rotes Haar, eine Zahnlücke — und er war tot. „Kopfschuß", sagte der Sheriff, „von hinten. Ich 66
war schon dran vorbei, da fiel mir auf, daß mir was mißfiel. Ich machte kehrt. Und jetzt dieses." Der Sheriff sagte, er müsse die Homicide Squad verständigen. Sie zeigten ihre CIA-Ausweise und erklärten, bei dem Toten zu bleiben, bis die Mordkommission kam.
Die zwei CIA-Agenten hatten ungefähr eine halbe Stunde Zeit. Sie durchsuchten den Toten und den Wagen. Sie fanden eine Versicherungskarte auf den Namen Simon Sullivan. ,,Ire. " „Ausgestellt in Los Angeles." Sie suchten weiter, fanden ein Rückflugticket nach Kalifornien und das Programmheft eines Theaters in L.A. Sie führten dort ein neues Musical nach der Operette Gräfin Mariza von Emmerich Kálmán auf. Der Titel war mehrmals unterstrichen. „Musikliebhaber", sagte der nicht zuständige CIA-Mann, „mit Kopfschuß." Sie berührten so wenig wie möglich, arbeiteten 'nur mit Handschuhen und spitzen Fingern und brachten alles wieder an Ort und Stelle, um der Spurensicherung die Arbeit nicht zu erschweren. Der Tote hatte noch sein Geld, die Uhr und den goldenen Parker. „Kein Raubmord." Der zweite CIA-Mann hatte den Kopf des Toten 67
nach vorne gedrückt, um sich die Schußwunde anzusehen. Dann pfiff er. „Mann, das ist der perfekteste aller Genick schüsse." „Keine Gangsterarbeit." „Nein, was ein amerikanischer Killer ist, der macht sich kaum die Mühe, die Kanone so säuber lich im Nacken aufzusetzen." Sie schauten sich an. Jeder dachte ungefähr das gleiche. „Und wer unterzieht sich dieser Mühe?" „Ein russischer Killer." „Vom KGB?" „Gibt es außer vom KGB noch andere russische Killer in Amerika?" „Es sei denn, es ist eine absichtlich gelegte falsche Spur." Sie waren fertig, aber ratlos. Sie steckten sich Zigaretten an und warteten, im Wagen sitzend, auf die H. Sq. „Die Gesuchte ist Russin. Aber wie kam Graham an die Informationen, wo sie steckt? Woher hatte er sie?" „Von einer Organisation, die dieser Frau dicht auf den Fersen ist, oder vom KGB. Arbeitete er vielleicht auch für ihn?" „Sie merkten, daß er die private Absahne vor hatte, und päng!" „Ja, so könnte es gewesen sein", pflichtete der Kollege ihm bei. Der Verdacht, der Tote, Simon Sullivan, sei für den sowjetischen Geheimdienst tätig gewesen, erhärtete sich. 68
Das FBI, zuständig für Spionageabwehr, hatte ihn in der Kartei. Er war als kommunistischer Sympathisant und Mitglied subversiver Zirkel auf gefallen. Nur für den Umstand, daß der Tote das Pro grammheft von Gräfin Mariza bei sich gehabt hatte, fanden sie keine Erklärung.
8.
Stockholm 3. Oktober 1989 Der BND-Agent Robert Urban trug wie stets zu dunkelblauer Gabardinehose ein graues Glen checksakko, zweireihig, mit Seitenfalten. Das Hemd war zartgetönt im gleichen Blau wie die Hose und aus Seide, die Slipper von Gucci. Bis zum Abflug der Lufthansa hatte er noch vierzig Minuten Zeit. Er rief in München an, gab ein Kurzinfo in Reportertempo, ergatterte an der Bar einen Doppel ten aus der Brennerei des Herrn Bourbon und hörte mit einemmal seinen Namen. „Mister Robert Urban! Telephone, please!" Er ging zum Schalter und bekam eine Zelle zugewiesen. Der Schwedenemigrant Dr. Bergussen war am Apparat. „Gut, daß ich Sie noch erwische", sagte er ein wenig hektisch. „Es geschehen noch Zeichen und Wunder. Manchmal fast derer zuviel für einen alten Burschen wie mich. Ob Sie es glauben oder nicht." 69
„Ich glaube es", versicherte Urban. „Sie hat sich gemeldet." „Wer?" Urban war es, als nähme er einen tiefen, langen Zug von mindestens Sechzigprozentigem. „Wer wohl?" „Die Kopekianowa?" „Katja", bestätigte Bergussen. „Sind Sie ganz sicher." „Junge", sagte der Alte. „Sie sitzt hier. Ich, Onkel Bergussen in Stockholm, war ihre einzige Zuflucht. Sie wußte nicht mehr ein noch aus. Sie steht bis zu den Haarspitzen unter Panik. Wenn überhaupt eine Frau die Tochter von Wladimir und Lara Kopekian sein kann, dann sie. Sie ist ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten." „Ja dann", bemerkte Urban reserviert. „ Ein Gespräch könnte wichtig für Sie sein, dachte ich mir." Damit hatte er Urban so gut wie gekauft. „Danke, Doktor." Urban schaute auf die Uhr und rechnete. Zwei Stunden bis zur Insel, falls er den Fährdampfer erwischte, wenn nicht, charterte er ein Motorboot. Eine Stunde reden, zwei Stunden zurück. Dann bekam er noch die Abendmaschine. „Ich komme", entschied er, legte auf und buchte um. Wenige Minuten später war er schon wieder unterwegs zu Bergussen. Der Himmel war verwaschen blau, die Luft klar und frisch. Trotzdem liebte er diese Stadt, das Land und das Meer darum herum nicht von Herzen,
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Urban betrat das weiträumige Holzhaus auf der Insel und wußte sofort, daß die Organisation seiner Rückfahrt wohl durcheinanderkommen würde. Dr. Bergussen kauerte in seinem Sessel, als wäre er reif für die Intensivstation, und das Mädchen wirkte auf ihn wie eine Puppe. Schön, aber roboter haft. „Sie sind Katja Kopekian?" fragte er an satzlos. Sie antwortete englisch. „Heute heiße ich anders." „Woher wissen Sie, daß Sie mit fünf Jahren Katja Kopekian waren? Es ist lange her?" „Nur zwanzig Jahre", antwortete sie wie ein Automat. Sie trug das Haar, das so braun war wie eine Haselnußschale an ihrer dunkelsten Stelle, glatt nach hinten, und dort zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sie war schlank, hatte lange Beine, und wenn sie sich aufrichtete, um zu antworten, kam ihr beachtlichter Busen zur Geltung. Aber die Apathie, wie manche Drogen sie erzeugten, ging von ihr aus. „Gutes Gedächtnis", fühlte Urban ihr auf den Zahn. „Weniger das", erklärte sie. „Ich hatte zufällig Einblick in die Personalakte, die mich auf meinem Weg begleitete. Darin fand ich Hinweise auf meine Herkunft." Eine plausible Erklärung. „Und wie verlief Ihr Weg von damals bis heute?" forschte Urban. „Erst Waisenhaus der Partei. Eine harte Zeit. Immer fanden Selektionen und Prüfungen statt. Ich 71
kam in eine Eliteschule, zum Komsomol, zur Universität. Erst studierte ich Mathematik, und weil ich gut war, Kernphysik. Dann .. ." „. . . fing die Sucherei nach Ihnen an." „So ist es." „Einvernahmen, Verhöre." „Man wollte Sachen von mir wissen, die ich nicht liefern konnte. Ich bekam Angst, dachte an Flucht und konnte sie am Ende ausführen. - Aber das ist eine andere Geschichte." Urban steckte sich eine Goldmundstück-MC an, genoß den ersten Zug und sagte: „Eine Geschichte, die uns mächtig interessiert, Katja." Er suchte Blickwechsel mit Bergussen, der aber starrte nur vor sich hin. „Einen Gin, Doktor?" „Danke. Es geht schon wieder, denke ich." Urban fragte, und die Russin antwortete. - Und dann war sie es, die fragte: „Sind Sie Mister Dynamit?" Es rutschte ihr spontan heraus. Das war ein Fehler. Woher konnte sie wissen, wer er war. Nicht einmal von Bergussen. Der hatte ihr höchstens von seiner Zusammenarbeit mit dem BND erzählt. Mehr nicht. Sie erschrak und bemerkte ihren Fehler. Hilfesu chend blickte sie sich um. Die Hilfe kam. Ein Mann trat aus der Tür zur Küche. Er hatte eine Pistole in der Hand, eine 7,65er Makarow. „Genug!" entschied er. Dort, wo es von der Wohnhalle in die Diele ging, stand auch einer, massiv wie eine Planierraupe. „Danke, das wär's." 72
Jetzt wußte Urban, warum Stockholm ihn an diesem Nachmittag nicht gefesselt hatte. Jetzt dämmerte ihm, daß das eine Vorahnung gewesen war. Zu spät, er saß in der Falle. Das Mädchen war nicht Katja Kopekian, sondern ein Lockvogel, und Bergussen hatte man unter Druck gesetzt. Was half es, er saß in der Tinte. Seine Lage zu erkennen, dauerte nur wenige Zehntelsekunden. — Aber er gab nicht auf. Blitzartig warf er sich in die Kaminecke in Deckung und lauerte auf eine Chance. „Nicht schießen!" rief einer der Männer auf russisch. „Sie wollen ihn lebend." Die beiden kamen näher. „Gib auf, Dynamit! Nimm die Hände hoch!" Eine Agentenregel lautete: Angreifen, bevor du angegriffen wirst. Und wenn geschossen wird, dann schieß zuerst. Verteidige dich sofort, brutal mit Klauen und Zähnen. Das Dumme war, daß diese KGB-Agenten, und von keiner anderen Organisation kamen sie, sich absolut schulmäßig verhielten. Einer stand vorne, der andere weiter hinten. Er gab die Rückendek kung. Urban sah an der Kaminecke eine Bronzefigur stehen. Ein kniendes Mädchen. Bronze war besser als Porzellan. Es war schwerer, flog weit genug und zerbrach nicht. Urban hatte aber nur den linken Arm frei. Der rechte klemmte in der Ecke. Er angelte sich die Figur. „Aufpassen!" schrie einer der Agenten. Urban warf mit links. Wenn man mit links auf das linke Auge zielte, traf man meist das rechte. — 73
Die Statuette flog haarscharf am Kopf des Agenten vorbei. Der vollführte eine Ausweichbewegung, war mit einemmal wütend und griff an. Urban, kein exzellenter Fighter, konterte. Wenn er einen Unterkiefer traf, dann meist aus Zufall. Aber er traf, und es hörte sich an, als breche bei dem Russen etwas. — Der Russe war ein Steher. Der zweite Mann wollte schießen, aber der Steher versuchte, es mit den Fäusten zu regeln. Urban dachte an den Agentengrundsatz und schonte den Gegner nicht. Er wandte Karate an. Jedesmal, wenn er traf, ging an dem Russen etwas kaputt. Man hörte es krachen und knirschen. Doch als klar wurde, daß es um seinen Kollegen verdammt schlecht stand, griff der zweite Mann ein. Er schrie „Halt!" - dann schoß er. Seine Kanone hatte ein Mündungsfeuer wie ein Flammenwerfer. Es stach weit über das Rohr hinaus. Die Kugel sirrte hautnah an Urbans Hals vorbei — die nächste würde ihn kampfunfähig schießen. Jemals hier herauszukommen, das schaffte er nur unverletzt. Er mußte also den Makarowschützen ausschalten. Diesmal erwischte Urban nur einen Bilderrah men. Er wirbelte durch den Raum wie ein Diskus mit Ecken. - Aber er traf. Der Russe taumelte und stürzte fluchend. Aber dann war der andere wieder auf den Beinen. Er hämmerte Urban das Bronzemädchen ins Genick. Urban brauchte eine Sekunde zu lang, um wieder klar zu sein. Der Treffer hatte ihn böse erwischt. Er schüttelte den Kopf, schüttelte ihn mehrmal. 74
Der Kopf wurde ihm schwer. Ein Zeichen, wie viele Nervenstränge der Treffer paralysiert hatte. Als er aufblickte, befand er sich im Kreuzungs punkt von zwei Schußbahnen. Ihn schwindelte. In seinen Ohren tönte ein Geräusch, als käme die UBahn vorbei. „Gib auf, Mann! " hörte er sie von ferne. Er sah das Mädchen, er sah Bergussen. Alles wie hinter Milchglas. Es war ihnen tatsächlich gelungen, ihn in dieser Falle zu fangen. Sie grinsten. „Was eine Armee nicht konnte, wir haben es geschafft", sagte der eine. „Landsknechte", murmelte Urban. „Wie Killer, für die es keine schönere Jagd gibt als die auf Menschen." Sie fesselten ihn und warfen ihn in den dritten Sessel. Dann steckten sie sich Zigaretten an, tran ken von Bergussens Gin, und der eine von ihnen telefonierte. Er sprach Russisch, das Urban nicht perfekt beherrschte. Aber soviel hörte er, daß der Agent die Order erhielt, was mit Bergussen und Urban zu geschehen habe. Dann sagte er mehrmals: „Da! . . . Da!", was soviel bedeutete wie, daß er verstanden hatte. Der andere ging hinaus, suchte herum und kam nach einer Weile wieder. „Das Haus", meldete er, „steht auf Felsengrund, hat aber einen Keller, den sie aus dem Stein sprengten." Sie bugsierten Urban, Bergussen und, was Urban 75
nicht verstand, auch das Mädchen die Treppe hinunter und weiter durch eine geöffnete Falltür. Bevor derjenige, der telefoniert hatte, hinaufging, sagte er: „Was hast du verbrochen, Dynamit, daß du noch immer Oberst bist? - Ich weiß es. Du bist nicht gut genug. Du taugst nicht zum General." Sie schlössen die Falltür, verriegelten sie und löschten das Licht. Die Gefangenen hockten im Dunkel. Es war kalt und feucht. — Und es war still. Urban hörte Bergussen und das Mädchen atmen. Aber da war noch etwas. Ein Rauschen, das klang wie eine WC-Spülung im zweiten Stock, wenn man im vierten wohnte. Einmal laut, dann leiser. „Was ist das?" fragte das Mädchen. „Das Meer", vermutete Urban, „Ebbe und Flut." „Sind wir unter Wasser?" „Mindestens knapp über der Wasserlinie." „Ist es so?" fragte sie Bergussen. Der aber reagierte nicht. „Sie gehören gar nicht zu denen", bemerkte Urban, „Ich bin Fotomodell", gestand sie, „und nehme Aufträge von Agenturen an. Vielleicht habe ich auch für diese Leute schon gearbeitet. Ich weiß es nicht genau. Sie haben immer bezahlt, und ich zog immer meine Show ab," „Und heute diese." „Sie sagten, du mußt so oder so aussehen, dies und jenes sagen, dies und jenes tun. Ich bin gewohnt, die Wünsche meiner Kunden professionell zu erfüllen. Aber warum behandelt man mich als Gefangene?" 76
„Sie wissen zuviel", befürchtete Urban. „Und Sie?" „Ich wußte schon immer zuviel." „Und er, der alte Herr?" „Der wußte von Anfang an zuviel." Sie fragte nicht über was. Wieder verstärkte sich das Rauschen. Es klang ziemlich nahe, und es gurgelte, als drücke Wasser Luft aus Rohrleitungen. „Doktor", fragte Urban, „gibt es hier eine Kana lisation oder läuft alles ins Meer?" Bergussen antwortete nicht. „Machen Sie meine Fesseln auf", sagte Urban zu dem Mädchen. Sie tastete sich heran und hatte Mühe. Als er frei war, riß Urban ein Streichholz an. Sie hatten das schmale Heftchen in der Sakkotasche nicht ent deckt. Er leuchtete in Bergussens Gesicht und sah, daß er ohne Bewußtsein war.
9. Beverly Hills/Kalifornien 4. Oktober 1989 Immer wenn Cash Kennwood zu Hause an seinem Personal-Computer saß, schloß er die Vorhänge seines Arbeitszimmers und die Tür. Dann durfte niemand zu ihm. Die Unterhaltung mit seinem PC hatte höchste Geheimstufe. Was er nicht wußte war, daß Marjorie, die Schöne, ihn längst angezapft hatte. 77
Es gab da ein kabelloses Verfahren, das die Abstrahlung von Bildschirmen ausnutzte. Als Antenne dienten die Stromleitungen im Haus, die man mit einer Art Dipol abtastete. Was der Bild schirm des PC zeigte, zeigte auch der in einem anderen Geschoß installierte Fernsehapparat. Allerdings in etwas verminderter Qualität. Auf diese Weise hatte Marjorie Kennwood auch die Paßwörter, die den Speicher öffneten, erhalten. An diesem Abend jedoch war alles einfacher. Cash Kennwood rief reihenweise Konstruktions zeichnungen aus dem Zentralarchiv seiner Rake tenfirma ab. Pläne elektronischer Steuerungen für Zielsuch- und Findsysteme. Kennwood, selbst ein hochbegabter Ingenieur, fahndete stets nach winzigen Fehlern oder nach Verbesserungsmöglichkeiten. In ihrem Schlafzimmer ließ Marjorie den Video recorder mitlaufen und hatte bis Mitternacht eine Menge auf Band. Mark, dachte sie, ihr werdet zufrieden sein. So zufrieden, daß ihr mich künftig in Ruhe laßt. Am nächsten Tag forderte Cash seine Ehefrau auf, zu einer Party mitzukommen, wo es gewöhnlich sehr frei zuging. Sie waren im Haus eines Film schauspielers eingeladen, der als der größte Per versling Hollywoods galt und süchtig war nach allem, was ihn hochbrachte. Bei ihm gab es jede Menge williger Frauen, Alkohol und Drogen. Schon einmal hatte Cash seine Ehefrau zwingen wollen, sich wie eine Hure zu benehmen und es mit einem Kerl zu treiben, den sie verabscheute. Sie hatte sich gewehrt. 78
„Zu dieser Schweinebande kriegst du mich nie wieder lebend", hatte sie erklärt und es büßen müssen. Er hatte sie gefesselt und es ihr mit seiner Nilpferdpeitsche gegeben. Daß sie seine Wünsche bei dieser Party nicht noch einmal ausschlagen konnte, war ihr klar. Sie tat also so, als willige sie ein. Am Morgen rief sie Marks Geheimnummer an. „Ich habe alles", berichtete sie. „Neue Befehle", erklärte er. „Im Park wie immer heute nacht." „Zu spät. Um sechzehn Uhr am Strand." Rasch legte sie auf. Sie wußte, Mark würde zur Stelle sein. Gegen 15.00 Uhr verließ sie die Villa, fuhr den Sunset hinunter bis zum Pazifik, dann an der Küstenstraße nach Norden zu der Marina, wo ihre Motoryacht lag. Sie parkte den Mercedes, nahm das Beiboot und fuhr die zwei Meilen bis zu dem Sandstück unterhalb des felsigen Hochufers. Sie entkleidete sich bis auf den Bikini und watete in die Dünung, als Mark aus dem Schatten des Felsens trat. „Bist du verrückt geworden!" herrschte er sie an. „Die Kassette liegt im Boot." „Was für eine Kassette?" „Mit allem, was ihr wolltet. Die Konstruktions zeichnungen der SX-Matador." Mark machte eine wegwerfende Handbewegung. „Das ist zweitrangig." Erst hatten sie nichts dringender gefordert, als dieses Material, plötzlich war es zweitrangig. Das versetzte sie in Staunen. „Nicht ich bin verrückt geworden. Mir scheint, ihr seid es." 79
„Wir haben ein völlig neues Problem", sagte Mark, ihr Führungsoffizier. „Es ist gegen die SX-Matador soviel bedeutender als echter Tod gegen Scheintod. Du muß Kennwood sofort ver lassen." „Warum auf einmal?"
„Befehl von oben."
Als sie es wollte, hatte man es nicht gestattet, und
jetzt hatte sie andere Pläne. „Ich fordere eine Erklärung", beharrte sie. „Du kriegst sie in der Zentrale." „Heißt das etwa?" fragte sie entsetzt. Mark nickte. „Du fliegst morgen nach Vancouver. Dort erfolgt Tarnung gemäß Rolle vier. Dann Direktflug über den Pol nach Moskau." „Was ist los?" wollte sie wissen. „Was hat man mit mir vor?" „Keine Ahnung." „Du verschweigst mir etwas." „Ich weiß nur soviel", Mark war im Grunde eine ehrliche Haut, „daß du zur Persona maxima grata geworden bist. Extrem wichtig. - Also, wir verlas sen uns auf dich." Dagegen war wenig auszurichten. Zumindest nicht in einer Diskussion. „Okay", sagte sie zum Schein. Er winkte ihr zu und verschwand wieder im Schatten zwischen den roten Felsen. Sie schwamm durch die Brandung hinaus. Später fuhr sie mit dem Boot zum Jachthafen und dann mit dem Cabrio landeinwärts nach Beverly Hills. Zwei Dinge waren für Marjorie Kennwood klar: 80
An folgende Orte dieser Erde würde sie nie wieder gehen, koste es, was es wolle. Ins Haus dieses Filmstars und zurück nach Moskau.
Marjorie Kennwood, angebliche Gräfin Marika Esterdony, tauchte weg. - Aber nicht nach Rolle vier. Sie verließ Los Angeles zwar mit dem Flugzeug, aber nicht in Richtung Kanada. Sie nahm die International Airways nach Mexico City, blieb bis Linie namens Trinidad-Airlines. Ihr Ziel war Nassau auf den Bahamas. In Venezuela wagte sie sich auf eine exotische Linie namens Trinidad-Air-Lines. Ihr Ziel war Nassau auf den Bahamas. Die Nummern der Geheimkonten verschafften ihr Zutritt zu Kennwoods Schwarzgeld. Sie hob alles bis auf einen Dollar ab. Mit zwei Millionen im Koffer flog sie weiter zu den Cayman-Inseln. Dort kassierte sie über Kenn wort weitere drei Millionen Dollar und ließ alles auf ein Konto in Zürich transferieren. Ihr Auftreten war perfekt. Niemand stellte Fragen. Nachdem sie mit einem Makler in Martinique telefoniert und einen Termin vereinbart hatte, jettete sie über den Atlantik. In Zürich lagen bereits die fünf Millionen Dollar. Diese Summe und weitere Beträge aus der Schweiz zahlte sie auf Nummernkonten ein. Sie behielt einen Betrag von vierhunderttausend Dollar, den sie zum Erwerb des Hauses auf dem Felsen über der schönsten Bucht von Martinique benötigte. Schon einen Tag später war sie wieder auf der 81
französischen Antilleninsel, sie schloß den Kauf aber nicht ab, sondern mietete die Villa nur und heuerte eine Mannschaft von eingeborenen Franzo sen als Body-guards an. - Alles kräftige Burschen, die sich für guten Lohn auch in die Bresche schlugen. Auf ihrem Zickzackkurs von Los Angeles über Mexico-City - Caracas - Nassau - den CaymanInseln - Zürich bis Martinique hatte sie sich mehrerer Namen bedient. Für eine ausgebildete KGB-Agentin ein relativ untergeordnetes Problem. Endlich in der festungsartigen Villa auf Marti nique angekommen, fühlte sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben frei, sicher und von dem fürchterli chen Dauerdruck befreit. Daß es nicht immer so bleiben würde, darüber machte sie sich keine Illusionen. Aber sie hatte gelernt, die kurzen Verschnaufpausen zu genießen. Kommt Zeit, kommt Tod, lautete ein altrussisches Sprichwort. Der Tod kam für jeden. Aber die Zeit bis dahin war ein dehnbarer Begriff. Und eine Frage intelligenten Verhaltens. Marjorie Kennwood, angebliche Marika Ester dony, geborene Katja Kopekian wußte, daß sie eine außergewöhnlich kluge Frau war.
10. Moskau, KGB-Zentrale 5. Oktober 1989 „Wir haben in Schweden drei Mann zuviel an Bord", resümierte der Adjutant des Chefs der ersten 82
Hauptverwaltung des sowjetischen Geheimdien stes. „Erst einmal verhören", verlangte dann der General. „Dazu sind diese Operativ-Agenten doch nicht fähig." „Jeder Agent wird für Verhöre geschult." „Hier haben wir bessere Experten und Möglich keiten, General." „Dieser Bergussen ist unwichtig, das Mädchen nur Schrott. Auf Mister Dynamit kommt es uns an. Er weiß mehr als das Lexikon für Geheimdienste und deren Operationen." Der Adjutant brauchte, um handeln zu können, klare Anweisungen. „Sie sitzen seit zwei Tagen in einem Kellerloch." Der General mit der Stirn bis zum Nacken überlegte. „Gibt es eine Chance, sie herzubringen?" „Das muß vorbereitet werden." „Welche Möglichkeiten haben wir?" „Wir dirigieren ein U-Boot in die Schären, holen sie heraus, bringen sie an Bord, und ab geht's via Leningrad oder Tallinn." „Wie hoch sind die Erfolgsaussichten?" „Fünfzig - fünfzig." „Wie lange dauert das?" „Eine Woche." „Bis dahin sind die krepiert." Der General schien zu kalkulieren, ob die Wah rung der Geheimhaltung eine so gefährliche und komplizierte Operation wert sei. „Ich muß in den Kreml", sagte er. „Entscheidung um siebzehn Uhr." 83
„Vier verlorene Stunden, Genosse General." „Kein Leerlauf. Bereiten Sie alles vor. Abtrans port oder Liquidation." „Transport oder Liquidation", wiederholte der Adjutant. „Machen Sie es von der Entwicklung in Kalifor nien abhängig." Aber dort sah es nach letzten Meldungen nicht gut aus. „Dann bis siebzehn Uhr, General", sagte der Adjutant.
Stockholm 5. Oktober, 19.00 Uhr Mitunter grenzte es ans Wunderbare, auf welch herkömmlichen Wegen Geheimbefehle von Land zu Land weitergeleitet werden konnten. Die Entscheidung der KGB-Führung, die Gefan genen im Hause des Dr. Bergussen in den Schären vor Stockholm betreffend, wurde einfach per Draht nach Schweden durchtelefoniert. Der KGB-Agent, der gerade Radio hörte, nahm den Anruf entgegen. Zunächst hatte der Führungsoffizier noch Fragen: „Habt ihr den Alten verhört?" „So gut es ging, Genosse Major." „Was habt ihr über die Hypnosegeschichte er fahren?" „Daß Professor Kopekian auf diesem Gebiet ein As war." 84
„ Was noch? Die beiden müssen, kurz bevor Kopekian die Flucht versuchte, telefoniert haben. Die Kabine auf der Schwedenfähre ist von Stock hohn aus gebucht worden. Das kann nur Bergussen organisiert haben." „Ja, er erinnert sich an ein Gespräch in der Nacht. Es war Mitte Dezember gewesen, meint er," „Inhalt des Gespräches?" „Daß Kopekian sich verfolgt fühle und Schluß machen wolle. Schluß machen im Sinne von Emi gration in den Westen." „Was er einen Tag später auch realisierte." „Er wollte seine Familie, seine Frau und seine Tochter Katja mitnehmen. Es gab nur ein Problem. Die kleine Katja war ein zartes Wesen. Sie hatte immer Angstzustände, war nervös und weinerlich. Kopekian hatte wohl Bedenken, seine Tochter könnte während der Flucht gesundheitlichen Scha den nehmen oder sie irgendwie in Schwierigkeiten bringen." „Äußerte Kopekian, wie er das verhindern wollte?" „Angeblich wollte Kopekian nur eines vermeiden, nämlich die Kleine mit Tabletten ruhigstellen." „Wie dann?" „Möglicherweise durch andere Formen der Beru higung." „War von Hypnose die Rede?" drängte der Füh rungsoffizier in Moskau. „Dr. Bergussen schließt es nicht aus." „Was heißt das?" „Er hält es für möglich." „Holt alles aus ihm heraus. Macht ihn fertig." „Er ist fertig, Genosse Major", erklärte der Agent. 85
„Er hat verdächtige Aussetzer und fiel mehrmals in Ohnmacht." „Nur Frauen fallen in Ohnmacht." „Dann wird er eben besinnungslos. Der Alte hat gesagt, was er weiß. Und mehr weiß er nicht." Im Draht wurde es still. Dann kam der Befehl: „Bringt sie um." „Alle?" „Alle drei." Es folgten präzise Anweisungen, wie es zu geschehen hatte. Der Agent sagte immer nur: „Zu Befehl, Genosse Major. - Verstanden, Genosse Major. Wird erledigt, Genosse Major." Nachdem er aufgelegt hatte, rief sein Kollege aus der Küche: „Was ist los?" Der andere zog seine Makarow aus der Halfter an der Stuhllehne und kam in die Küche. „Moskau war dran." „Wer sonst wohl." „Die Zentrale." „Das Puschkin-Theater gewiß nicht." „Erste Hauptverwaltung." „Abteilung drei, Skandinavien", bemerkte der Kollege am Herd kopfschüttelnd. „Willst du mich verarschen?" Der andere schraubte den Schalldämpfer auf die Laufmündung und lud durch. Klickend wurde die Patrone von der Magazinfeder in den Lauf ge drückt. „Der Vorsitzende im Komitee für die Staatssi cherheit hat eine Entscheidung getroffen." „Und die lautet?" Während der Mann in der Küche mit einem 86
hölzernen Löffel im Topf rötlichen Brei umrührte, hob der andere die Waffe bis in Schulterhöhe. „Na ja, was wohl." „Liquidation?" „Wir sollen sie uns vom Halse schaffen." Der mit der Schürze schmeckte ab, zog den Topf von der Kochplatte und sagte: „Erst mal etwas essen." „Ich möchte es vorher erledigen." „Mit leerem Magen?" „Man verträgt es leichter." „Dann wird das Essen kalt", sagte der Koch.
„Was gibt es?" „Kannst du es nicht riechen, Gospodin?" „Es riecht wie Fußlappen in Kernseife." Der andere fluchte. „Corned beef, verdammt, mit Kartoffeln, du Arsch." „Keinen Borschtsch?" „Kraut war nicht im Haus. Nur Konserven. Corned beef mit Kartoffeln. Du schneidest Brot, ich decke den Tisch." „Wie ich solche Aufträge hasse. Anschließend Geschirr spülen, he?" „Nein, wir lassen es schmutzig, wie es ist. . . Im Kühlschrank ist noch Dosenbier." „Von mir aus", sagte der mit der Pistole, „sollen sie noch eine Stunde leben."
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11.
Stockholm 5. Oktober, 19.00 Uhr Am Nachmittag schien es, als wäre Dr. Bergussen aus seiner Bewußtlosigkeit erwacht. Doch er war noch nicht ansprechbar. Urban wartete, bis er einigermaßen zügig zu atmen begann. „Wie geht es, Doktor?" „So mies wie noch nie in meinem Leben", antwortete Bergussen sehr langsam und leise. „Ich habe wahnsinnige Kopfschmerzen." Er fragte nicht, wo sie waren. Er schien es zu wissen. Es gab wohl nur einen Raum in seinem Haus, der so feucht und kalt war. „Kriegen Sie eine Pille trocken runter, Doktor?" fragte Urban. „Wie groß?" „Eine Thomapyrin." „Wenn sie hilft." Urban tastete ihn ab, richtete ihn auf, so daß er an der Mauer lehnte. „Ich tue alles, wenn ich bloß nicht auf diese jämmerliche Weise krepieren muß." Urban hatte oben in der Reverstasche den Pla stikstreifen mit den Tabletten. Von den fünfen waren noch drei vorhanden. Eine Thomapyrin hatte er am Morgen geschluckt, wegen des vielen Gin vom Vorabend. Eine hatte er dem Mädchen gegeben. Nun drückte er die dritte heraus und fummelte sie Dr. Bergussen in die Finger. „Kommen Sie klar damit?" 88
Bergussen schob sie in den Mund. Er hatte sie noch auf der Zunge - man hörte es ~, als er fragte: „Was ist das?" „Kein Zaubermittel. Es hilft nicht gegen Haar ausfall und nicht gegen Fußpilz, aber sonst prak tisch gegen alles." „Schmeckt bitter, Ihr Thomas Pyrin." „Mir half es prächtig", behauptete das Mädchen. „Oberst Urban", sagte Dr. Bergussen. „Was haben die mit uns vor? Wie lange sitzen wir schon da herum? Wie lange habe ich geschlafen?" „Zu lange", beantwortete Urban gleich zwei Fragen auf einmal, „was rauscht da immer so?" „Ich höre nichts." „Alle paar Stunden wird es besonders laut." „Der Gezeitenwechsel", sagte Bergussen." Urban erinnerte sich, daß der Tidenhub in der Ostsee nur wenige Zentimeter betrug und daß es immer weniger wurden, je weiter im Nordosten man sich befand. „Schären", sagte Urban, „sind kleine felsige Inseln. Ihr Haus steht mitten auf der Insel. Warum kann man Ebbe und Flut hören?" „Was Sie hören, ist das auf- und ablaufende Wasser." „Der Strand ist ein ganzes Stück entfernt." „Aber der Kanal führt bis zum Haus." Urban, der so etwas vermutete, hatte schon den Boden nach einem Deckel abgesucht, aber nichts gefunden. „Ein Abwasserkanal?" „Als das Haus gebaut wurde", berichtete Bergus sen einigermaßen mühsam, „vor mehr als hundert Jahren, gab es weder Wasserklosett noch Kühl 89
schränke. Der Raum hier wurde in den Fels gesprengt. Man benutzte ihn im Sommer zur Aufbewahrung von leicht verderblichen Lebens mitteln. Im Winter wurde er immer mit Eis gefüllt, das bis weit in den Sommer hinein die Kühlfunk tion erhöhte. Weiter draußen führte man das Abwasser aus Sauna und Toilette in den Kanal. Später baute man Sickergruben." Im Grunde hatte das Urbans Frage beantwortet, aber nicht seine Neugier gestillt. „Dieser Raum ist also ein Kühlkeller. Er wurde im Winter mit Eis aus dem Weiher gefüllt. Und wohin lief das Tauwasser?" „Durch das Gitter," „Es gibt kein Gitter", erwiderte Urban. „Richtig", bestätigte der alte Bergussen. „Das Gitter war von Rost zerfressen. Ich ließ es nicht mehr erneuern. Wir haben die Öffnung durch eine Betonplatte gesichert." „Und wo liegt die Öffnung?" „Ich lehne an ihr." Bergussen stieß mit dem Kopf nach hinten. Urban tastete die Wand ab. Etwa in Hüfthöhe fand er einen schmalen Sims. Das war offenbar die Oberkante der Betonplatte. Sie war fugenlos einge paßt. Urban rüttelte daran. Sie bewegte sich nicht. Dann trat er dagegen. Der Ton klang anders, als wenn man gegen den Felsen trat. Im übrigen hatte die Betonplatte die gleiche graugrüne Farbe getrockneter Algen angenommen wie der sonstige Raum. „Wie ist sie befestigt?" erkundigte Urban sich. „Mit Eisenbolzen." 90
„Schlechte Aussichten." „Vor dreißig Jahren", ergänzte Bergussen. „So lange hält kein Eisennagel Salzwasser stand." Bergussen beugte sich zur Seite und gab die Wand frei. Urban versuchte es anders. Mit der Spitze des Nagelreinigers kratzte er die Fugen frei. Dann tastete er sie ab. Sie waren nicht tiefer als zwei Millimeter. Und die Platte saß fest wie eine Bunkerwand. Urban wußte, daß es ihre einzige Chance war. Vielleicht die letzte. Er riß eines der wenigen Streichhölzer an und leuchtete die Platte ringsum ab. Irgend etwas mit dem Nagelreiniger zu versuchen war sinnlos. Der würde sich biegen oder abbrechen. Aber dann ertastete er eine Erhebung. Es war einer der eisernen Bolzen. Durch Rost hatte er gut ein Drittel seiner Dicke eingebüßt, ließ sich lockern, drehen und herausziehen. Er war ungefähr doppelt so lang wie die Platte dick, also handlang. Urban wog ihn, prüfte Spitze, Durchmesser und Härte. „Wenn Schwedenstahl das ist, was man von ihm behauptet", bemerkte er, „dann müßte es gehen." „Kann ich helfen?" fragte das Mädchen. „Eine Menge", sagte Urban, „indem Sie still sind, den Schnabel und die Hand von Doktor Bergussen halten." Dann begann er mit der Arbeit. Erst holte er die anderen Bolzen heraus, bohrte, kratzte, stemmte ein Loch zwischen Plattenkante und Felsen. Zunächst drang die Spitze kaum ein. 91
Als sie sich ein Stück vorgegraben halte, sprangen erst Brocken weg, dann ganze Betonstücke. Urban hebelte links, rechts, in der Mitte. Die Betonplatte bekam Luft. Er konnte mit den Fingern in die Spalte fassen. Unten stemmte er sich gegen die Platte, und oben zog er schnaubend wie ein Pferd im Geschirr. Immer wieder mußte er schwer atmend innehalten. Endlich bewegte sich die Platte millimeterweise, dann mehr. „Wir schaffen es", keuchte er. „Wann war die letzte Flut?" fragte Dr. Bergussen. „Ist schon Stunden her." „Dann müssen Sie sich beeilen. Gegen die Flut kommen Sie nicht an. Der Kanal ist zum Schwim men zu schmal und zum Durchtauchen zu lang. Entweder es gelingt bald oder erst wieder morgen früh." Mit letzter Kraft zog und rüttelte Urban an der Platte. Knirschend scheuerte sie aus ihrer Lage. Unter ihnen gurgelte Wasser. Urban riß ein Streichholz an und ließ sich ein Stück Kopf voran in die Tiefe. Schwarz glänzte der Kanaleingang. Er war rund. Durchmesser vielleicht achtzig Zentimeter. „Sie zuerst", sagte er zu dem Mädchen. „Dann der Doktor." „Ich bleibe hier", jammerte Bergussen. „Ich schaffe das nicht. Retten Sie Ihre Haut." „Wir nehmen Sie mit", entschied Urban, „und wenn wir Sie in zwei Teilen abtransportieren müssen, mein Herr."
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Als sie naß, verdreckt und stinkend den Auslauf des Kanals erreichten, den giftigen Schlamm von Gesicht und Händen wischten und am Strand tief Luft holten, da wußte Robert Urban, daß er sich an diese Kriecherei durch schleimigen Moder und Scheiße sein Leben lang nur ungern erinnern würde. Am besten überhaupt nie. Wie er war, mit Kleidern und Schuhen, sprang er ins Wasser. Es war salzig, aber besser als gar keine Reinigung. Trotz Wind und Kälte sprang das Mädchen hinter ihm her. Einigermaßen sauber, halfen sie Dr. Bergussen auf die Beine, brachten ihn zum Anleger, wo sein Segelboot lag. Es hatte einen 3-PS-Flautenschieber und Benzin im Tank. Damit kamen sie halb nach Stockholm. Für den Rest des Weges sorgte die Südostbrise. „Wir rufen ein Taxi", sagte das Mädchen, „und fahren zu mir." „Dort sucht man uns zuerst", fürchtete Urban. „Ich besorge ein Hotelzimmer." Er hatte noch die Brieftasche und genügend Geld. Irgendwie bekam er ein Zimmer. Ein größerer Dollarschein sorgte dafür, daß der Nachtportier keine Fragen stellte. Sie badeten der Reihe nach, trockneten die Sachen auf den Heizkörpern, und Urban überredete den Portier dazu, daß er ihnen etwas zu essen besorgte. - Es waren nur Kalorien vom Fließband, aber schließlich sättigten auch Hamburger, Pom mes und Bier in Dosen. „Wann kann ich nach Hause?" fragte das Mäd chen. „Wenn es Tag ist." 93
„Ich habe keine Angst vor diesen Killern." „Warum machten Sie dann mit?" „Erst dachte ich, es sei ein Job wie jeder andere." „Sie sind ein Modell?" „Ich habe mal Kunstgeschichte studiert, aber die Kunst ist verhunzt." Sie saß im Fakirsitz auf dem Bett und war wieder ein hübscher Anblick. Nur die dunkle Farbe ihres Haares hatte sich zu Grünblond aufgehellt. „Und warum ausgerechnet Kunstgeschichte?" fragte Urban. „Weil ich ein schlechtes Abitur hatte. Für etwas anderes als für Kunst reichte es nicht. Soziales oder Politologie wären auch in Frage gekommen. Aber bin ich beknackt? Ich will doch keinen Korinthen kackerjob." „Nun sind Sie Modell." „Nicht Modell", entgegnete sie, „für Aktmaler oder so, ich bin Model für Klamotten, Kaufhauska taloge, Magazine. Nicht nur für Badeanzüge und Unterwäsche, auch mal für was Besseres. Abend kleider, Schmuck und so." „Das wird doch recht ordentlich bezahlt." „Könnte besser sein." „Und über Agenturen vergeben." „Wie auch dieser Job mit den Iwans." „Was verlangten sie von Ihnen." Sie erzählte munter drauflos. „Hab schon hie und da mal für solche Typen gearbeitet. Etwa, um einem Industriellen aus Eng land Gesellschaft zu leisten und ihn dabei auszu horchen. Oder einen Wissenschaftler bei einem Kongreß. Dachte mir, es würde auch diesmal wieder so was. Sie gaben mir ein Foto. Wie die Frau darauf, 94
so müsse ich aussehen, forderten sie. Haargenau wie sie." „Wie sah sie aus?" wollte Urban wissen. „Wie ich gestern abend." „Also, schwarzes Haar, dunkelbrauner Teint, südlicher Typ." „So ist es." Urban kombinierte. „Sie spielten Katja Kopekian, Man verlangte, daß Sie wie Katja Kopekian aussahen. Also weiß man, wie Katja Kopekian heute aussieht. Demnach weiß man auch, wo sie ist." „Ich hatte nur ein Foto." Das Mädchen nahm noch einen von den pappigen Hamburgern. „Ein Foto", wiederholte Urban. „War hinten vielleicht der Stempel einer Agentur und der Name des Ateliers?" „Nein", sagte sie. „Es war kein echtes Foto. Bei Fotos kenne ich mich aus. Es war aus einem Magazin herausgeschnitten." „Farbig?" „Schwarzweiß. Das alte Black-and-White kommt wieder in Mode." Katja Kopekian, überlegte Urban, in einem Magazin. - Wie kommt sie in ein Magazin, „Aus welchem Magazin?" „Der Text auf der Rückseite war in Englisch." „Der Name des Magazins wäre ungeheuer wich tig", gestand Urban. „Vielleicht erinneren Sie sich?" Nach einiger Zeit meinte sie: „Könnte aus Vogue gewesen sein." „Ein Mannequin-Foto?" „Sie hatten daran herumgeschnippelt. Neben der 95
Frau stand wohl ein Mann. Den hatten sie aber weggeschnitten, Man sah nur noch seinen Ell bogen." Urban beschloß, wenn es hell wurde, alle erreich baren Nummern von Vogue aufzukaufen.
Am Morgen ging es Dr. Bergussen eher schlechter. Sein Gesicht war immer noch glasig grün vor Erschöpfung. In seinem wollenen langen Unterzeug lag er auf dem Bett. Jetzt, wo keine Gefahr mehr bestand, fing er an zu flennen. „Was habe ich verbrochen, daß mir das passieren muß. Das war doch wie bei der Jagd auf Rehe, die nicht zurückschießen können." „Der Doktor schaut gleich vorbei", vertröstete Urban ihn. „Sie sollten die Polizei verständigen." „Sie wird nichts tun", befürchtete Urban. „Sie gehen jeder Anzeige nach. Sie sind dazu verpflichtet." Sie werden eine Menge Fragen stellen, dachte Urban. — Und genau das wollte er vermeiden. „Die Polizei ist meine letzte Rettung." „Sie sind schon gerettet, Doktor", versicherte Urban. „Die Polizei würde etwas unternehmen." „Na, was schon." „Die Moral ist hoch in diesem Land." „Mag sein, aber nicht in Gebrauch." „Die Polizei wird diese Leute aus meinem Haus jagen und festnehmen." 96
„Die sind längst über alle Berge, Doktor." „Dann wird man sie jenseits der Berge ergreifen." Urban versuchte, es ihm zu erklären. „Doktor", sagte er. „Die Spionageabwehr dieses Landes hat genug damit zu tun, die Küsten zu überwachen, sie von russischen U-Booten freizu halten, die sich ranschleichen, weil sie scharf auf Marinedepots, Küstenbefestigungen und nackte blonde Schwedinnen sind." „In diesem Land ist die Prostitution verboten", erwiderte Bergussen. „Aber nachts laufen tausend Huren in der Stadt herum", sagte Urban. Immerhin schienen die Lebensgeister bei Bergus sen soweit erwacht zu sein, daß er aggressiv wurde. Wenig später kam der Arzt. Er gab Bergussen eine Spritze. Danach fühlte er sich angeblich wie neu. Urban brachte ihn auf seine Insel zurück. Das Haus war leer, unaufgeräumt, aber die Russen waren abgezogen. Nach der Flucht der Gefangenen hatten sie Besseres zu tun, als ihnen noch einmal aufzulauern. Zurück in der Stadt, kaufte Urban alle Nummern von Vogue, die er kriegen konnte. Mit sieben Magazinen unter dem Arm kehrte er ins Hotel zurück. Das Mädchen blätterte sie durch. — Es dauerte nicht lange, dann hatte sie das Foto entdeckt. Urban betrachtete es und las den Begleittext, der darunter stand. „Aha", sagte er nur. „War es das dann?" fragte die Schwedin. 97
„Danke, das war es. Sie können nach Hause gehen." Sie trat ans Fenster. Treibender Dunst ging in Regen über. „Ich rufe Ihnen ein Taxi", sagte Urban. „Nein, ich liebe den Regen und den Wind."
„Wasserdicht verpackte Jungfrau, he?" Sie lächelte und antwortete ein wenig sphinxhaft.
„Nicht wasserdicht und auch nicht Jungfrau." Darm gab sie ihm einen Kuß und verließ das Zimmer. Er schaute ihr nach, als sie das Hotel verließ. Er wußte nicht einmal ihren Namen. Sie schlenderte über den kleinen Platz, als habe sie um diese Zeit nichts Besonderes vor. Urban hingegen hatte ein volles Programm. Mit der nächsten Maschine flog er nach München zurück.
12. Los Angeles/Kalifornien 7. Oktober 1989 „Ich bezahle so viele Steuern", schrie Cash Kenn wood ins Telefon, „daß ich mir einen eigenen FBI leisten kann. Ich empfange keine Agenten in mei nem Hause. Heute nicht, morgen nicht und im nächsten Jahr auch nicht." Aber da waren sie schon in seinem Vorzimmer und verschafften sich Einlaß, indem sie die Sekretä rin und den Assistenten des Konzernchefs unsanft beiseite schoben. 98
Drinnen erklärten sie dem Rüstungs-Tycoon noch einigermaßen höflich, um was es ging. „Um Ihre Frau, Sir." „Dann handelt es sich um den Bereich Intimle ben. Und der geht Sie wenig, um nicht zu sagen überhaupt nichts an." Kennwood wirkte ungeheuer arrogant. Er behan delte sie wie den letzten Kehricht. Deshalb wurden sie auch rotzig und spielten ihre Macht aus. „In Ordnung, Sir", sagte der Boß des Dreier teams. „Das hier ist die richterliche Vorladung. Sie wurde hiermit übergeben. Vor Zeugen. Sie haben sich binnen zwei Stunden beim Bezirksgericht von Los Angeles einzufinden." Cash Kennwood machte nicht den Eindruck, daß er nun fürchte, sein Ende sei gekommen. Aber es war eine Wand, die sich vor ihm aufbaute. Solche Hindernisse umging man. Er warf die Vollmacht in den Papierkorb, bat die Besucher zu dem Ledersofa und gab seinem Assi stenten einen Wink, die Polstertür hinter sich zu schließen. Die Wände waren schalldicht, die Fenster auch. Nicht einmal die Klimaanlage hörte man. Man fühlte nur, wie Kühle von der Decke langsam zu Boden sickerte. Cash Kennwood fläzte sich in seinen 5000 Dollar-Sessel, die Innenseite von Mittel- und Zeige finger vor den Mund gepreßt. „Gentlemen?" Sie legten ihm eine Magazin-Reproduktion vor. Sie stammte aus Vogue und zeigte Mr. und Mrs. Kennwood anläßlich einer Filmgala in Holly wood. Er war im Smoking, sie in einem Traum von 99
Abendkleid, mit so viel Schmuck behaftet, um damit halb Arizona kaufen zu können. „Sind Sie das?" Kennwood nickte. „Die Dame an Ihrer Seite ist Mrs. Kennwood?" „Es steht sogar gedruckt da." „Wo ist Mrs. Kennwood jetzt?" Cash Kennwood zögerte. „Verreist, glaube ich." Es sah aus, als würden sie später noch einmal auf diesen Punkt zurückkommen. Man zeigte ihm ein Foto des toten CIA-Informan ten, genannt Graham. „Kennen Sie diesen Mann?" „Nein, nie gesehen." „Sie werden das beeiden müssen, Sir." „Kann ich jederzeit." Ein anderer FBI-Agent zog das Theaterprogramm des Musicals nach der Operette Gräfin Mariza aus seiner Sakkotasche. „Kennen Sie dieses Stück, Sir?" Ein scharfer Blick Kennwoods auf das Heft. „Ich hab keine Zeit für diese Art seichter Unter haltung." „Aber Ihre Ehefrau ist doch ungarische Gräfin." „Ungarin", bestätigte er, „Gräfin?" „Eher nur Baronesse oder so etwas." Die Unterhaltung verlief einseitig und zäh. Der älteste der drei FBI-Leute versuchte sie aufzulok kern. „Wissen Sie übrigens, Sir, daß Ihre Ehefrau weder Ungarin noch Baronesse ist?" „Sondern?" 100
„KGB-Agentin." Kennwoods Finger krampften sich um die Sessel lehne. Er begann zu schwitzen. Aber er beherrschte sich.
„Was, bitte?" „Agentin des sowjetischen Geheimdienstes." „Schierer Unsinn." „Man hat sie auf Sie und auf Ihre Firma angesetzt." Kennwood behielt mit Mühe die Fassung. „Sie sind wohl nicht bei Trost." Daraufhin erzählten sie, was sich ereignet hatte und welch kompliziertes Puzzlespiel sie in dieser Stunde zu ihm in sein Büro führte. „Daß Sie, Sir", sagten sie, „mit Ihrer Ehefrau gemeinsame Sache zum Schaden der USA und gegen die Sicherheit unseres Staates machen, wol len wir gar nicht unterstellen. Das muß die Unter suchungskommission klären. Aber Sie können Ihre Loyalität, Ihre Unschuld beweisen, indem Sie uns helfen, Ihre Frau zu finden. — Also, wohin ist sie verreist und seit wann?" „Seit einer Woche", äußerte Cash Kennwood völlig fassungslos. „Und wohin .. . verdammt, ich weiß es nicht." „Gab es Streit zwischen Ihnen und Ihrer Frau?" „Wo gibt es den nicht." „Hatten Sie je einen Verdacht. . . oder merkten Sie etwas von ihrer Spionagetätigkeit?" „Wenn Sie mich jetzt so darauf hinweisen . .." „Ja oder nein?" „Vielleicht." „Besitzt Ihre Ehefrau Vermögen?" „Ein paar hunderttausend Dollar." 101
Der ältere der drei schlug sein Notizbuch auf. „Man hat Ihre Frau möglicherweise in Nassau gesehen. Haben Sie Freunde dort?" „Auf den Bahamas - natürlich." „Auch Ihre Frau, Sir?" „Das ist mir nicht bekannt." „Unterhalten Sie Bankverbindungen dort?" „Wir arbeiten nur mit großen, seriösen interna tionalen Instituten", versicherte der Rüstungsmil liardär. „Das fordert schon das Pentagon von uns." Der dritte Agent schoß jetzt seinen Pfeil ab. „Haben Sie auf privaten Konten bei Banken in Nassau gewisse . . . hm . . . Summen liegen, derer sich Ihre Ehefrau bemächtigt haben könnte?" „Nicht einen Cent", sagte Kennwood." Sie wußten sofort, daß er log. Aber darum ging es jetzt nicht, das war nicht der Kern der Dinge. Es ging um Marjorie Kennwood, alias Marika Esterdony alias Katja Kopekian und einer Vielzahl weiterer Agentendecknamen. „Wir finden sie", sagte der FBI-Mann, „wenn Sie uns helfen." „Verfügen Sie über mich, Gentlemen", erklärte Kennwood tonlos. „Dann kriegen wir sie, Sir." „Das wünsche ich mir auch", gestand Kennwood. „So eine Kanaille . . . "
Die Amerikaner waren weitgehend vom Bundes nachrichtendienst unterrichtet worden. Ohne Ein zelheiten aus München hätte es keinen Zugriff des 102
FBI in Los Angeles gegeben. Aber der Rückfluß an Informationen wurde mit voller Absicht gedrosselt. „Dieser verdammte Dynamit-Urban", fluchte einer der Männer, „ist mir einfach zu naseweis. — Okay, er sagte uns, um was es geht und wer etwas wissen könnte. Wir fingen die Ringeltaube ein, aber wir überlassen sie nicht den anderen. America first. Sucht mir diese Frau. Die Spur wird breiter und tiefer, Daß sie bei den Schwarzkonten ihres Ehe mannes in Nassau tüchtig abgesahnt hat, darüber besteht für mich kein Zweifel. Irgendwo muß sie das Geld vergraben, und irgendwo muß auch sie sich versteckt haben. Die Devise lautet also: Sucht die Lady, findet sie, und dann auf sie mit Gebrüll. Wir müssen die ersten sein." Was selten vorkam, in diesem Fall wurde es Wirklichkeit. FBI, CIA und die anderen Geheim dienste der USA arbeiteten eng zusammen. Sie verfolgten jede Spur, auch wenn sie noch so dürftig war wie der Fußabdruck eines Kanarienvo gels im Streusand. Sie hatten den Fluchtweg der Lady über Mexiko und Caracas bis Nassau rekonstruiert, schnupper ten weiter, zogen den roten Faden bis zu den Cayman-Inseln, von dort nach Zürich und von Zürich bis Paris. Dort hatte die Lady eine Air-France-Verbindung in die Karibik gebucht. „Was", kombinierte der leitende Mann der Son derkommission, „sucht sie in der Karibik, so dicht vor unserer Haustür, in unserem unmittelbaren Einflußbereich? Diese Frau ist doch ein Profi. Sie blufft also." 103
„Sie stieg in Martinique aus", trug einer der Fahnder bei. „Da haben wir es. Martinique ist französisch. Die Franzosen reagieren empfindlich, wenn man bei ihnen aktiv wird. Die werden dann gleich böse. Und das weiß dieser Satansbraten. Aber Martinique ist gewiß nur die Drehscheibe für sie." „Offenbar blieb sie dort, Sir." „Okay, dann fassen wir zu. Die Kleinen Antillen sind schnell durchgesiebt. Wäre doch gelacht." Wie üblich schlug die CIA mit der Wucht eines Hammers auf die Mücke. Sie kurbelten ein Wahn sinnsprogramm an, um die KGB-Agentin, hinter der sie Katja Kopekian vermuteten, zu finden. Da sie alle Geheimoperationen mit Namen versa hen, gaben sie ihr den Code Prometheus, nach diesem griechischen Titanentypen. Der Sage nach war er an einen Felsen im Kaukasus gefesselt. Jeden Tag wurde ihm von einem Adler ein Stück seiner Leber ausgehackt. Trotzdem konnte er nicht ster ben.
13. München 8. Oktober „Für gewöhnlich", äußerte Robert Urban, Agent Nr. 18, „verhält die CIA sich anders. Man überläßt den Amerikanern eine Sache, mit dem Ergebnis, daß sie den Fall sofort wieder uns überlassen." „Sofern sie das Material nicht selbst brauchen 104
können", schränkte der Operationschef Oberst i.G.a.D. Sebastian ein. „Diesmal halten sie es offenbar für brauchbar und trocknen uns infomäßig aus. Aber wir sind auch nicht von schlechten Eltern." Der alte Schmerbauch Sebastian bekam trotz der Tränensäcke große Augen. „So prahlen Sie nur, wenn sie etwas haben, Nummer achtzehn." Urban nickte versonnen. „Die Lady hat eine dicke Spur in die Karibik gelegt. So dick, daß sie nicht echt sein kann. Sie mietete ein Haus und ist gar nicht da." Der Alte zupfte an den buschigen Brauen herum. „Wo dann?" „Vielleicht in Europa. Italien." „Woher haben Sie das?" Sebastians Stimme nahm an Tiefe ab und an Lautstärke zu. „Man hat so seine Verbindungen." „Mafia-Verbindungen. Stimmt's?" „Danebengetippt", erwiderte Urban, „diesmal." „Geben Sie sich nicht mit diesen Leuten ab", warnte Sebastian. Immer warnte er Urban vor seinen Mafia-Kon takten, aber die Ergebnisse nahm er gerne zur Kenntnis. Der alte Fuchs. „Ich benutze meine Amici di Amici mitunter. Va bene." „Und die Amici benutzen Sie. Ich kenne doch Ihre Affinitäten zueinander." Insgeheim mußte Urban zugeben, daß es ihn stets in Staunen versetzte, wie die Mafia weltweit an Bedeutung gewann, während Staat und Polizei immer weniger gegen sie ausrichteten. Urban ver 105
abscheute ihre Verwicklung im Drogengeschäft. Aber wenn es für ihn persönlich um Sein oder Nichtsein ging, dann rief er schon mal bei dem großen Paten an. „Die Information stammt nicht von der Mafia", erklärte er. „Sie ist blitzsauber, falls man in unserem Geheimdienst von einer gewissen Basis verschmutzung einmal absieht." „Wann wissen Sie mehr?" drängte der Alte. „Ich erwarte Anrufe." „Und einmal angenommen, Sie wissen wo diese Lady steckt?" „Dann", sagte Urban, „werde ich versuchen, den Russen und den Amerikanern zuvorzukommen." „Das ist doch Traumtänzerei. Bei uns arbeitet praktisch nur ein Mann, nur Sie, an der Sache, bei der CIA hundert und beim KGB tausend." „Mindestens." „Und da rechnen Sie ernsthaft mit einem Erfolg?" „Ernsthaft nicht", gestand Urban. „Und wenn Sie zu mir sagen, der Bundesnachrichtendienst, die Bundesregierung, die deutsche Pharma-Industrie, die Medizinische Wissenschaft sind an den For schungsergebnissen des Professor Kopekian nicht im mindesten interessiert, dann schließe ich die Akte, fahre nach Hause und bin glücklich." „Sie wissen, daß ich das nicht kann", erwiderte der Alte.
Der erste Anruf kam. Urbans Geheimdienstkollege in Paris, Gil Qua tembre, bestätigte die Ermittlungen des SDECE. 106
„Wir haben den Air-France-Buchungscomputer angezapft. Die Dame flog von Paris nach Marti nique. Dort hat sie ein Haus gekauft oder gemietet, eine Art Felsennest. Sicher und leicht zu schützen. Ein paar stämmige Burschen, bis an die Zähne bewaffnet, bewachen es. - Aber nur zum Schein. Diese Frau ist nämlich ein As. Einen Tag später schon flog sie unter anderem Namen mit der Air France wieder nach Paris." „Ist das sicher?" „Wir haben das Kabinenpersonal der DC-zehn befragt und das Foto herumgezeigt. Sie ist inner halb von vierundzwanzig Stunden erblondet und trägt eine Brille. Aber Frauen haben nun mal ein Gedächtnis für andere Frauen, besonders dann, wenn sie gut und teuer gekleidet sind. Die Kopekian flog wieder nach Paris." „Ist sie noch dort?" „Nein, sie flog sofort nach Rom weiter. Von Paris aus gab sie zwei Orders. Nach einem Mietwagen und nach einem verschwiegenen Refugio irgendwo an der ligurischen Küste. Italienische Levante. Zwischen Genua und La Spezia also." „Damit ist meine Vermutung bestätigt", erklärte Urban. „Ich habe auch schon Mencini von SISMI alarmiert. Jetzt kann er losmarschieren." „Noch etwas", fiel Quatembre ein. „Die Amis bereiten ein Kommandounternehmen vor. Deck name Prometheus. Ich würde es aber eher Stich in ein leeres Wespennest nennen." „Du meinst, sie wollen die Dame gewaltsam aus ihrer Festung auf Martinique holen?" „Erstens", antwortete Quatembre, „gehen sie, wenn es sich um Wahrung ihrer Interessen handelt, 107
über Leichen. Zweitens mißachten sie jedes Gesetz. Unser Geheimdienst in Martinique besteht nur aus einer kleinen Truppe, aber sie hält die Augen offen. In den letzten achtundvierzig Stunden sind mit amerikanischen Touristen auffällige Gestalten angekommen. Du kennst den Typ der OperativAgenten. Sie hinken nicht, sind nicht krumm und bucklig. Der Fachmann erkennt sie auf eine Meile." „Sie angeln sich die Lady, bevor die Russen es tun." „Die Russen haben die CIA doch unter Kon trolle." „Nun kommt es darauf an, wer schneller ist." „Um was geht es eigentlich", wollte Gil wissen, obwohl Urban es bereits angedeutet hatte. „Vor zwanzig Jahren wurde Katja Kopekian möglicherweise unter Hypnose ein Geheimnis anvertraut. Es betrifft den Lageort von Forschungs unterlagen ihres Vaters. Er war Gen-Experte, Mikrobiologe. Wer davon zuerst weiß, ist feiner heraus als der, der es zuletzt weiß." „Die Amis haben zwei Möglichkeiten des Abtransportes vorgesehen", fuhr Quatembre fort. „Am Airport in Martinque steht ein Lear-Jet, angeblich die Geschäftsreisemaschine eines Ban kiers. Und vor der Küste kreuzt eine Hoch seeyacht." „Sie gehen immer auf Nummer Sicher", bemerkte Urban, „aber ich würde gern dabeisein, wenn sie sich Einlaß verschaffen und merken, daß die Lady verduftet ist." „Dann kriegen sie große Kuhaugen, unsere Cow boys, schätze ich." „Und sie werden", sagte Urban, „alle Flüche 108
loslassen, die je zwischen dem Michigansee und New Orleans erfunden wurden. Ja, da möchte ich gerne dabei sein." „Ich höre von dir, Bob." „Undank", sagte Urban, „war nie eine meiner besonderen Eigenschaften. Merci und au revoir."
Jetzt, wo alles fabelhaft lief und Urban einen guten Vorsprung hatte, mußte er diesen auch wahren. Er rief Capitano Mencini beim Geheimdienst in Rom an und informierte ihn. Mencini hatte auch einiges für ihn. „Ich bestätige hiermit deine Bestätigung", sagte der Italiener, „Die Signora landete in Rom, über nahm den bestellten Miet-Lancia und fuhr auf der Via Aurelia nach Norden." „Sie nahm also nicht die Autostrada, sondern die Via Aurelia", vergewisserte Urban sich. „Die alte Römerstraße an der Küste entlang." „Orbetello — Piombino — Livorno — La Spezia."
„Dann versteckt sie sich an der Küste."
„Offenbar konnte sie sich bei den angebotenen
Häusern nur schwer entscheiden." „Sie hat einen hohen Standard", befürchtete Urban, „was ihre Forderungen an Luxus und Sicherheit betrifft." „Wir sind auf ihrer Spur, Roberto." Urban war überzeugt, daß sie schnell herausfin den würden, wo Katja Kopekian sich einquartiert hatte. Vielleicht verloren sie einmal kurz ihre Spur, aber eine Touristin in einem Lancia Gamma, schön und außerdem blond, die ließen sie nicht vom 109
Haken. Erst recht nicht, wenn ein befreundeter Geheimdienst die Sache als Top-Fall bezeichnete. „Bis wann ist Näheres zu erfahren?" erkundigte Urban sich vorsichtig. „Du stehst unter Druck, wie?" „Die CIA und der KGB sind hinter ihr her. Die Amerikaner dürften entweder schon bemerkt haben, daß sie ihr auf den Leim gingen, oder sie merken es spätestens heute nacht. Und was die Russen betrifft, die beobachten die Ameri kaner . . . " „Und dich", ergänzte Capitano Mencini. „Das ist nicht völlig auszuschließen", erwiderte Urban. „Außerdem haben sie bestimmt noch einige Eisen im Feuer." „Apropos einige Eisen", erwähnte der Italiener. „Vor der Ligurischen Küste, speziell im Gebiet des Golfes von Genua, stellten unsere Luftaufklärer erhöhtes Aufkommen sowjetischer Schiffe fest. Frachter, Fisch-Trawler, Tanker." „Alle ihre Schiffe sind mit kompletter FunkSpionage-Ausrüstung versehen", erklärte Urban. „Das muß nicht zwangsläufig mit unserem Fall zu tun haben. Sie wissen weniger als wir. Ich vermute, daß es sich um eine andere Geheimoperation handelt." „Sie sind in der Lage, ebenso wie wir, von See aus selbst den Taxifunk abzuhorchen und was sich die Leuchtturmwärter so alles zu erzählen haben." „Man muß es im Auge behalten", riet Urban. „Wir bleiben in linea", versprach der Italiener. „Wenn wir sie haben, kriegst du sie franco und kostenlos. Doch wenn die Zeit knapp ist, würde ich an deiner Stelle schon mal losbrausen." 110
„Melde mich stündlich", sagte Urban. Selbstverständlich war es klüger, die Operation von Genua als von München aus zu starten. Urban schaufelte das Nötigste in die Reisetasche und rief, bevor er losfuhr, noch im Hauptquartier an.
14. Chiavari 9. Oktober Zwischen Chiavari und Rapallo fiel die Küste Liguriens mitunter senkrecht zum Meer ab. An den Bergflanken hingen die Hotels und Villen wie Falkennester. Die Zufahrten, meist steil, schmal und kurvig, führten oft durch Tunells. Handelte es sich um Zufahrten zu privaten Grundstücken, waren die Tunells meist durch Gitter und Tore gesichert. Wer drinnen wohnte, fühlte sich wie der König der Levante und konnte davon ausgehen, nicht gestört zu werden. Marjorie Kennwood lag nackt am Rande des Schwimmbeckens, das ein Stück unter die Arkaden der ockerfarbenen Villa reichte. In Griffweite hatte sie ein Glas Limonadensaft mit Bacardi. Im Haus war die Stereoanlage an. Sie hatte nur Bänder mit italienischen Songs vorgefunden. All mählich gewöhnte sie sich an das ewige amore und cantare und appassionare. Gegen 11.00 Uhr kam die Sonne hinter den Bergen hervor. 111
Am frühen Nachmittag stand sie weit draußen über dem Meer. Aber es war Oktober, die Sonne sengte nicht mehr. Trotzdem verwendete Marjorie Kennwood Sonnenöl. Sie genoß den Frieden ringsum. Sie rauchte eine Zigarette, ließ die Asche in den Pool fallen und schlief ein. Im Schlaf nahm sie eine Veränderung im Licht wahr. Selbst durch die geschlossenen Lider regi strierte sie es, denn es war anders, als wenn eine Wolke die Sonne verfinsterte. Der Schatten war dunkler und er fühlte sich an, als berührte er ihre Brüste. Sie öffnete die Augen. Verdammt, wo hatte sie ihre Waffe? — Aber wer rechnete schon damit. Der Gärtner war es nicht. Auch der Hausdiener sah nicht aus wie dieser Bursche, schlank und trotzdem athletisch, mit Feudalschädel, einem Lächeln um den Mund und so was von grauen Augen, die gab es nicht zweimal. An Abwehr in irgendeiner Form war nicht zu denken. Also blieb sie liegen und wartete zunächst einmal ab. Sie spürte, wie er seinen Fuß auf ihre Hand stellte. Sie versuchte, sie unter der Sohle wegzuzie hen. Vergebens. Und ihr rechter Arm reichte nicht bis zum Telefon. „Marjorie Kennwood!" Der Mann sprach Eng lisch nahezu akzentfrei. „Marjorie Kennwood!" Er hatte eine angenehme Stimme. „Marika Esterdony geborene Katharina Kopekian. Dazwischen mögen noch Dutzende von anderen Agentennamen benutzt worden sein." Da er nicht weitersprach, fragte sie. 112
„Aber . . .?"
„Auch wenn Sie sich in Tibet verstecken oder in der Südsee, es nützt wenig." „Was?" Sie blinzelte nach oben. Sie sah ihn deutlicher, aber sie fühlte sich nicht in Gefahr. Nicht bei diesem Mann. „Wenn Sie hierbleiben", fuhr der Fremde fort, „sind Sie binnen achtundvierzig Stunden umzin gelt, verschleppt, gefangen, in der Gewalt von . . . " „Ich nicht", antwortete sie, sehr überzeugt von sich. „Oder tot", fügte der Unbekannte hinzu. Er löste den Schuh von ihrer Hand, unterbrach also den Kontakt und zog sich einen Ratansessel heran. Sie lachte. Doch mit einemmal lachte sie nicht mehr. „Sind Sie der Todesbote?" „Zumindest", sagte Urban, „verkünde ich Ihnen nicht das Paradies, Katja." Dann erklärte er schlicht und einfach, wer er war, woher er kam und wie er sie gefunden hatte. „Geben Sie mir das Handtuch", bat sie, als würde sie erst jetzt merken, daß sie nackt war und vor ihr ein Mann stand. Er warf es ihr hin. „Wir müssen darüber reden", schlug sie vor. „Jederzeit." „Einen Drink?" „Gern." „Im Haus." Er stand auf, um sich den Drink zu holen. 113
Er war keine drei Schritte weit gegangen, da rief sie: „Und Sie fürchten nicht, daß ich Sie von hinten erwürge?" „Madam", er drehte sich um, „ich bin der einzige, der Sie retten kann. So einen erwürgt man nicht." Ein Windstoß ließ die Platanen rauschen. Das Geräusch schien sie zu erschrecken. Sie wickelte sich fröstelnd in das Frotteetuch und folgte ihm ins Haus. Urban schenkte sich einen Bourbon ein. „Der Bundesnachrichtendienst ist kerne Organi sation zur Rettung gefallener Mädchen", sagte sie. „Und ich bin nicht der barmherzige Samariter", betonte Urban. „Wie sieht dann unser Handel aus?" wollte sie wissen. „Um einen Handel geht es doch. Was ich als KGB-Agentin weiß, kann Sie nicht reizen. Schätze, Mister Dynamit weiß darüber mehr als ich. Sie sind doch dieser..." „Ganz bürgerlich Robert Urban", sagte er. „Nun, bei uns laufen Sie unter Ihrem Kampfna men. Aber wie auch immer, welches Interesse sollten Sie an mir haben." „Das gleiche wie die CIA und der KGB." „Für die CIA würde ich gerne arbeiten", gestand sie. „Aber in den USA stehe ich wohl auf irgendei ner Fahndungsliste. Cash Kennwood wird nicht ruhen, bis er mich unter dem Daumen hat. Und allem, ohne Hilfe, fürchte ich, komme ich nicht gegen alle Feinde an." „Wir könnten einiges für Ihre Sicherheit tun", deutete Urban an. 114
Sie leerte das Glas, setzte es hart hin und fragte lauter als nötig: „Aber wofür, zum Teufel? Wozu dieses Theater um eine unbedeutende Person? Zwanzig Jahre war relative Ruhe. Nur Erziehung, Ausbildung, Kar riere. Und mit einemmal ruft mich die Zentrale unter fadenscheinigen Erklärungen von meiner aussichtsreichen Operation ab. Stellen Sie sich vor, ich heiratete Cash Kennwood, den Mann, der mehr über die amerikanische Rüstung und die Weltraum programme weiß als jeder andere in den USA. Nur deshalb habe ich seine Perversitäten ertragen. — Und dann, kurz vor dem Ziel, ruft man mich ab. Warum?" „Ich werde es Ihnen sagen", versprach Urban. „Aber vorher trinken Sie besser noch ein Glas."
Ihr alles zu erklären nahm mehrere Stunden in Anspruch. Es dauerte bis zum Abend. Am Ende war sie erschüttert. Eine Frau wie sie, zu Härte geschult, brach in Tränen aus, als sie zum ersten Mal ihr Leben von einem Außenstehenden geschildert bekam. Es glich einem kinokassenfüllenden Melodram. Urban gab es wider, wie er es bruchstückhaft erfahren, rekonstruiert und ergänzt hatte. Er beschrieb ihren Vater, seine Arbeit, seine Verfeh lungen, den Druck, dem man ihn aussetzte, seinen Fluchtversuch und seinen Tod in der Lubjanka, weil er nichts von seinen Erkenntnissen preisgab. Zwanzig Jahre später, als man die Wundermaus fand, setzten erneut Nachforschungen ein. Sie 115
ergaben den Tod ihrer Mutter und endlich eine Spur zu ihr, die der Staat als Waise vereinnahmt hatte. Was sie dem Staat zu verdanken hatte, war Schule, Ausbildung und Universitätsstudium, aber nicht ihre Intelligenz. Die war ein Erbteil ihrer Eltern. Daß man sie jetzt nach Moskau holen wollte, war der Beginn einer anderen Phase. - Urban ver suchte, sie vorsichtig hinzuführen. „Ihr Vater war der größte Mikrobiologe seiner Zeit", sagte Urban. „Er suchte in der menschlichen DNS unter Milliarden von Möglichkeiten die Posi tion jener Steuerzellen, die das Altern des Men schen beeinflussen. Und es sieht so aus, als habe er sie gefunden." „Dann muß es Unterlagen geben. Mein Vater war äußerst präzise." „Man fand sie nicht." „Man wird die Buchstabenkombination, die zu der gesuchten Erbträgerposition führt, ohnehin einmal entdecken." „Gewiß", sagte Urban. „Morgen, in zehn Jahren oder in hundert Jahren. Dereinst ganz bestimmt. Aber die Menschen sind ungeduldig. Wo kann Ihr Vater das alles gelassen haben?" Sie verstand es nicht. Deshalb begann er von der Hypnosetheorie zu sprechen. „Ist es richtig, daß Ihr Vater Sie manchmal hypnotisierte?" „Wenn es so gewesen ist", antwortete sie, „dann habe ich es nicht bewußt wahrgenommen. Was versteht eine Fünfjährige von diesen Dingen. Ich weiß nur, wenn ich Schmerzen hatte oder Angst, dann kam mein Vater. Er redete leise auf mich ein, 116
er blickte mir in die Augen, und mit einmal wurde es in meinem Inneren warm und weich, behaglich, unendlich schön, und alles Schlimme war vorbei." „Er galt als begabter Hypnotiseur", erklärte Urban, „und man nimmt folgendes an: Da er befürchtete, die Flucht könne schiefgehen, nannte er Ihnen unter Hypnose den Lageort der For schungspapiere. Seinem Freund, Dr. Bergussen in Stockholm, gegenüber machte er gewisse Andeu tungen. Ihr Vater glaubte wohl, man würde ihn freilassen, wenn er behauptete, seine Arbeit sei noch nicht beendet und es gebe auch keine Unterla gen. Dann würde er sie wieder aus dem Versteck holen und weitermachen. Brachte man ihn aber um, dann käme vielleicht Dr. Bergussen auf die Idee, das Material bei Ihnen, Katja, durch Hypnose abzurufen." Das war eine weithergeholte Erklärung. Es gab keine andere. — Urban sah sich jedoch nicht in der Lage nachzuvollziehen, was damals in Kopekian vorgegangen war.
Und auch Kopekians Tochter glaubte nicht an diese Theorie. „Soviel weiß ich von Hypnosebotschaften", sagte sie, „daß sie nur mit dem richtigen Paßwort zugänglich sind." Urban bestätigte diese Ansicht. „Richtig, das Paßwort ist das Problem." „Haben Sie es?" „Keiner hat es." „Was wollen Sie dann von mir? Die Amerikaner, die Genossen vom KGB, sie alle." „Paßworte kann man finden." 117
„Vorausgesetzt, ich lasse mich als Testobjekt benutzen." Er stand auf, steckte sich eine MC an, ging auf und ab und blieb vor ihr stehen. „Würden Sie sich hypnotisieren lassen, Katja?" „Nein, niemals." „Warum? Haben Sie Angst vor Mißbrauch, vor psychischer Vergewaltigung?" Sie blickte an ihm hoch, nickte erst, dann verneinte sie kopfschüttelnd. „Merkwürdig", gestand sie. „Das passiert mir selten. Nein, es ist mir noch nie passiert. Ich glaube, ich habe Vertrauen zu Ihnen."
Katja Kopekian war einverstanden, daß Urban es versuchte. Jetzt sofort. Urban war kein Hypnotiseur. Er hatte einmal studienhalber mit einem Medium gearbeitet, aber wenig bis nichts zustande gebracht. Doch wie stets war er professionell vorbereitet. Seine Reisetasche enthielt zwei Hilfsmittel. Eine Tonbandkassette und eine Maske aus schwarzem Papier mit mehreren Löchern, wie man sie Theater scheinwerfern vorblendete, um bestimmte Lichtef fekte zu erzielen. Er brachte eine Lampe in Position und schob die Kassette in den Recorder der Stereoanlage. „Die Lichter in der Maske", erklärte er, „sind jeweils mit farbiger Klarsichtfolie bespannt. Das Licht richtet sich auf Ihre Augen. Gleichzeitig läuft das Tonband ab. Sie vernehmen eine Stimme, die Sie mittels monotoner Wortfolgen in einem mir 118
verstandesmäßig nicht zugänglichen rhythmischen Singsang angeblich in Hypnose versetzt." „Und daran glauben Sie?" „Man hat es mir versichert. Mich interessiert dabei nicht wie, warum und weshalb, sondern nur das Ergebnis." „Ich fürchte, ich bin schwer zu hypnotisieren", gestand sie. „Man garantierte mir, sogar ein Gorilla-Monster würde einschlafen." „Und wie kriegen Sie mich wieder wach?" „Am Ende des Bandes ertont ein Signal, um Sie aufzuwecken." „Und wenn es nicht ertönt?" „Ich habe es überprüft." „Wissen Sie, Mister Urban, daß ich mich damit mehr in Ihre Hand begebe, als eine Jungfrau einem Wüstling." „Ich hätte auch Bedenken", scherzte er, „aber es muß sein. Wir haben nur wenige Stunden." „Ja, morgen ist es vielleicht zu spät." „Morgen", versprach Urban, „sind wir schon meilenweit." „Aber als Preis für meine Sicherheit verlangen Sie das." „Kann ich beginnen", fragte er, um der Antwort zu entgehen. „Fangen Sie an", sagte Katja Kopekian. Er richtete die Lichteffekte auf ihre Augen und startete das Tonband. Der Hypnoseexperte der Medizinischen Fakultät in München hatte ihn gewarnt: Zählen Sie rück wärts von hundert bis eins, und dies immer wieder, 119
damit Sie nicht selbst in Narkose verfallen. Die Lichteffekte und das Band wirken äußerst stark. Binnen weniger Minuten befand sich die KGBAgentin in Trance. Urban fragte, und sie antwortete. Aber was in der Nacht vor ihrer Flucht in Nowgorod geschehen war, das erfuhr Urban nicht. Er fand keinen Zusammenhang. Das Paßwort fehlte ihm. Also ließ er das Band bis zu dem Code, der sie aus der Hypnose weckte, vorlaufen. Dann öffnete er die Glasschiebetür, denn es war heiß zwischen den Mauern des Hauses. „Und?" fragte das Mädchen, noch ein wenig benommen. „Fehlanzeige." „Liegt es am Paßwort?" „Ohne das Paßwort geht die Tür nicht auf", befürchtete Urban. „Es ist der Schlüssel. Aber wie finden wir diesen Schlüssel?"
Urban preßte Katja Kopekian aus wie die Bauern der Toskana ihre Oliven, um ein Extra-Virgine zu gewinnen. Die Schwierigkeit bestand darin, daß es um Dinge ging, die für sie als Fünfjährige Bedeutung gehabt hatten. Das lag zwanzig Jahre zurück, und sie erinnerte sich kaum. Urban war ferner klar, daß das Paßwort aus einem Begriff bestand, der zwischen Vater und Tochter wichtig gewesen war. Das konnte eine Puppe sein, ein Haustier, die Figur eines Märchens, 120
eine Leibspeise, eine Süßigkeit, ein Kosewort, die Verballhornung von irgend etwas, ein Mensch in ihrer näheren Umgebung, ein Baum, eine Blume, ein alter Schuh, ein hübsches Kleid, irgend etwas. Es gab tausend Möglichkeiten. Er fragte sie nach allem aus, woran sie sich erinnerte. Er weckte Bilder in ihr, Vorstellungen an diese Zeit. Es war wenig genug. Sie sprach von ihrem Vater. Dabei trat ihre Mutter weit in den Hintergrund. Ihr Vater war es gewesen, der ihre kindlichen Phantasien geweckt hatte, der mit ihr an den sonnigen Tagen durch Nowgorod spaziert war, durch die Parks, die Straßen, die Gassen, am Fluß entlang, in die Kirchen, ins Museum. Urban fragte und fragte. Sie wurde müde. Er kochte Kaffee, fragte weiter. Was war geblieben, was kehrte immer wieder? Waren es Musik, Lieder, Gedichte . . . " „Gebete", sagte sie unvermittelt. „Zu Hause bei Tisch? Vor dem Schlafengehen?" „Auch in der Kirche." „Die kommunistische Ideologie läßt wenig Platz für derartiges", bemerkte er. „Eine Kirche in Nowgorod war für die Orthodo xen offen. Aus den anderen hatten sie Versamm lungsräume, Sporthallen und Kinos gemacht." „Welche Kirche?"
„Die Basilika."
„Welche Basilika?"
„Die des Sankt Sergius."
„Ihr seid oft dort gewesen?"
„Immer wieder. Wir gingen hinein, wir beteten
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und sangen. Es duftete nach Weihrauch und dem Wachs der Kerzen. Und wir beteten." „Was wurde gebetet?" „Wir baten die Madonna, uns beizustehen", sagte sie. „Ist doch sehr merkwürdig bei einem Wissen schaftler wie meinem Vater, diese starke Gläubig keit. Oder nicht?" „Jede Kirche hat einen Schutzpatron", fuhr Urban fort. „Wer war der Schutzpatron in St. Sergius?" „Die Madonna im Silbermantel." Urban hatte Stichworte notiert. Die Namen ihrer Lieblingspuppen, ihrer Katze, ihrer Lieblingsbon bons, des Invaliden, der im Sommer auf der Straße geschabtes Eis mit Pfefferminzöl verkaufte, den Namen ihrer Lieblingsfee im Märchen. Namen von Liedern, von einer Patentante, einer Blume, die innen gelb war und viele weiße Blätter hatte. Alles hatte Urban auf seiner Liste. „Machen wir noch einen Versuch", schlug er vor. Sie war erschöpft. Aber sie lächelte. „Das ist mir noch nie passiert. Aber ich habe Vertrauen zu Ihnen . . . und ich mag Sie. Machen Sie mit mir, was Sie wollen. Ich weiß, Sie würden nie etwas tun, dessen Sie sich am Ende schämen müßten." Urban war alles andere, nur kein Moralist. Und Bourbon mochte er auch. Aber er ließ das Glas leer und begann hoffnungsvoll die zweite Sitzung.
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Die Prozedur lief erneut mit Lichteffekten und Tonbandstimme an. Urban fühlte sich bei der Sache wie ein Schrift steller, der nicht lesen und nicht schreiben konnte und der dabei war, einen Roman zu verfassen. — Aber er hatte ein besonderes Talent. Er lernte rasch. Ihre Augen schlössen sich, als wären sie von der Sonne geblendet. Ein Zeichen, daß sie in Hypnose versank. Urban begann mit der vorgegebenen Prozedur. Als sie erklärte, bereit zu sein, las er langsam die Liste der Paßwörter herunter. Sie reagierte auf keines davon. Erst gegen Ende — er war schon der Verzweiflung nahe - bemerkte er eine Reaktion an seinem Medium. Er hatte das Stichwort St. Sergius genannt. „Sergius", wiederholte sie, „Sergius." Sofort stand Urban unter Hochvoltspannung. „Ein Gebet zu dem Heiligen. Hilf mir", fuhr er fort. Keine Reaktion. Nun hatte er noch vier Worte auf dem Spick zettel. „Die Madonna." „Die Madonna, ja, die Madonna." „Heilige Madonna im Silbermantel." Es schien, als quäle sie etwas. Es verursachte ihr Schmerzen, wie die Wehen einer Hochschwangeren kurz vor der Geburt. „Die Madonna im Silbermantel", wiederholte er. „Ja, die Madonna im Silbermantel", stieß sie schreiend hervor, als müsse sie etwas loswerden. „Die Madonna", half er ihr. 123
„Die Madonna . . . im Auge der Madonna. Im linken Auge der Madonna . . . der Madonna im Silbermantel." Ihr Leib hatte sich hoch aufgebäumt. Jetzt entspannte sie sich, schien zu erschlaffen. Aller Schmerz war verflogen. Urban notierte: Im linken Auge der Madonna im Silbermantel. St Sergius Basilika. Nowgorod. UdSSR. Erst jetzt ließ er das Band vorlaufen. Der Code kam. Sie erwachte. Es dauerte doch noch ein paar Minuten, ehe sie klar war. „Und?" fragte sie. Er war nicht in der Nähe. Sie schaute sich um. Sie sah ihn nicht, aber sie hörte ihn. Er telefonierte. Dann kam er zu ihr. „War ich gut?" fragte sie. „Mal sehen", sagte er, „was daraus wird. Aber wir müssen weg." Noch benommen, richtete sie sich auf. Kopfschüt telnd äußerte sie: „Ich verstehe das nicht." „Das mit der Madonna?" „Etwas völlig anderes. Ich bin normalerweise nicht so." Sie stand etwas unsicher. „Du bist in Ordnung." „Das meine ich nicht. Ich fühle mich wohl. Mehr als das. Und verzeih, daß ich es offen sage. . . aber . . . " Sie sprach nicht weiter. Sie hielt sich an ihm fest und sagte dann doch: „. . . ich würde jetzt gerne mit dir schlafen." „Ich auch", gestand er. 124
„Und warum tun wir es nicht?"
Sie umarmte ihn, drängte ihren Körper an den seinen. Sie wartete auf sein Entgegenkommen, fühlte aber seine Zurückhaltung. „Ein andermal vielleicht, gewiß." „Es ist das einzige, was man nie aufschieben soll", flüsterte sie. Er packte sie fest bei den Schultern und drückte sie von sich. „Nur, wenn es um Leben und Tod geht, Katja." Sie stand so dicht bei ihm, daß er ihr Parfüm und sie jede Regung in seinem Gesicht wahrnahm. „Deine Augen glänzen ja", stellte sie fest. „Das tun sie immer." „Nein, sie glänzen. Das sind Tränen. Weinst du? Warum weinst du, Bob? Aus Freude?" „Ein Mann", sagte Urban, „darf weinen, aber nie über sich selbst. — Außerdem weine ich gar nicht."
15. Washington 10. Oktober, vormittags Die NSA (National Security Agency) war schon immer der technisch perfekteste Geheimdienst der Vereinigten Staaten. Ihre Lauschstationen waren über die ganze Welt verstreut, vom Nord- bis zum Südpol. Aber die meisten Stationen standen an der Grenze zur Sowjetunion. In den frühen Morgenstunden fing eine dieser Stationen - sie befand sich in einer auf 12 000 125
Meter Höhe fliegenden Boeing 747 des AWACGeschwaders - einen Funkspruch auf. Der Sender wurde angepeilt. „Position vierzig Meilen südlich Genua", meldete der Techniker am Ortungsgerät. „Stärke?" „Stärke und Frequenz deuten auf einen schwim menden Sender hin." „Also ein Funk-Trawler." Als feststand, daß irgendein Spionageschiff vor der Ligurischen Küste Italiens den Funkspruch in Richtung Moskau absetzte, machten sie sich sofort an die Entschlüsselung. Es war schwierig, weil die Russen den Code häufig wechselten, aber auch leicht, weil der Funkspruch nur aus dreizehn Silben-Gruppen bestand, die sie ständig wiederholten. Es dauerte ungefähr eine Stunde, bis der mit allen bekannten Codesystemen gefütterte IBM-Ent schlüsselungscomputer so etwas wie Klartext aus warf. Leider war der Text immer noch russisch. Und an Bord der Boeing, die ständig an der DDR-Grenze entlangflog, war kein Mann, der Russisch sprach. Der Boeing-Kommandant hielt, aufgrund eines Geheimbefehls, die Sache für wichtig. Außerdem paßte sie in ein vorgegebenes Raster. Also ließ er die dreizehn Silben per Flinkfernschreiber zur näch sten NSA-Bodenstation im Bayerischen Wald über tragen. Dort hatte man keine Mühe. Ein Dolmetscher stand zur Verfügung. Der Interpreter, ein Rußlandexperte, überflog den Ausdruck und schüttelte den Kopf. 126
„Das gibt keinen Sinn." Der Stationsleiter, ein Major, bemerkte: „Ob es Sinn gibt oder nicht, überlassen wir der Entscheidung Washingtons. Was bedeuten die Silben?" Der Experte las sie noch einmal, um nichts Falsches zu übersetzen, und sagte dann: „Im linken Auge der silbernen Madonna von Nowgorod." Der Major steckte sich eine Zigarette an. „Scheiße ist das." „In der Tat sehr merkwürdig, Sir." „Und Sie irren sich auch nicht?" „Es klingt reichlich unverständlich, Sir", pflich tete der Rußlandkenner ihm bei, „wenn Geheim dienstleute über Madonnen kommunizieren." „Unverständlich wohl nur für uns." Der Major ordnete an, daß der entschlüsselte Funkspruch mit einem erklärenden Zusatz nach Washington getickert wurde. Für besonders wichtige Nachrichten waren stets zwei Übermittlungswege vorgeschrieben. Also ging der Major in sein kleines Büro und drückte am Selbstwähltelefon jenen Knopf, der ihn automa tisch mit seiner Zentrale jenseits des Atlantik verband.
Zur gleichen Stunde etwa landete auf Edward-Base ein weißer Lear-Jet. Er trug zwar zivile Kennzei chen, gehörte aber zur Lufttransportgesellschaft der CIA, der American Airlines. Das Geschäftsreise-Flugzeug kam von Port de 127
France, der Hauptstadt des französischen Ubersee departements Martinique, einer Antilleninsel. Der dreistrahlige Lear-Jet rollte zu einem der Außenhangars. Erst als die Tore sich hinter ihm geschlossen hatten und die Turbinen abgeschaltet waren, öffnete sich der Rumpfeinstieg. Sechs Männer in Zivil, alles durchtrainierte, athletische Einzelkämpfer, stiegen aus. Ihr Kom mandeur, ein Colonel, erstattete dem Zivilisten im Trenchcoat Meldung. „Danke, Colonel", sagte der Zivilist. „Sie haben Ihre Pflicht erfüllt." „Prometheus war wohl ein Schlag ins Wasser, Sir." „Sie taten, was Sie konnten, Colonel." „Mehr konnten wir nicht tun, Sir." „Das Nest war leer, hörte ich." „Ich würde es so beschreiben, Sir", sagte der Colonel: „Im Nest lag ein Ei. Der Adler beschützte es zwar, als würde die Brut jeden Augenblick schlüpfen. Aber das Ei war hohl." „Man wollte uns nur bluffen." „Als wir es merkten, war es zu spät, Sir." „Gab es Verwundete?" „Ein paar Streifschüsse, Kratzer und Blutflecke. Bei uns, Sir." „Und bei den anderen?" „Wahrscheinlich einen Toten, Sir, und mehrere Schwerverletzte." Der Zivilist fluchte leise. „Man kann also nicht behaupten, daß es lautlos ging." „Die Leibwächter kämpften wie eine Armee." „Für so gut wie nichts." 128
„Wie viele Armeen es tun, Sir." „Nun, die französischen Behörden werden Wind davon kriegen und sich zusammenreimen, was dahintersteckt." „Dann gibt es Ärger, Sir." „Den sollen die Diplomaten ausbügeln. Ist nicht unser Problem. Die Operation Prometheus wurde von höchster Stelle gefordert. Wir sind abgesichert. Schätze, man wird behaupten, internationale Dro gengangs seien aneinandergeraten." Die Männer des Einsatzkommandos Prometheus fanden in zwei Limousinen Platz. Die Wagen fuhren los und hinein in die Nacht. Der Colonel und der Zivilist, die im ersten Wagen saßen, sprachen ein gutes Stück der Wegstrecke kein Wort. Endlich sagte der Zivilist: „Wenn nicht in Martinique, wo ist sie dann?" „Schon ein echtes Satansweib, Sir." „KGB-Schulung." „Sie hat uns ausgetrickst, Sir." „Nicht nur uns. Auch andere waren hinter ihr her." „Heutzutage ist jeder hinter jedem her, wie mir scheint. Aber nur einer ist hinter dem richtigen her", philosophierte der Colonel und bediente sich aus der Bordbar. „Aber wie geht es weiter?" „Ich bin nur der Kommandeur einer Spezialein heit der Delta Force", bemerkte der Colonel. „Ich führe aus, was man mir aufträgt, und das dort, wo man mich hinschickt." Er kannte die Zusammenhänge nur wenig. Und er erfuhr sie auch nicht in dieser Nacht. Dem Verhal 129
ten des CIA-Managers entnahm er jedoch, daß eine Menge schiefgelaufen war. Das änderte sich schlagartig nach einem Funkte lefongespräch auf halbem Wege nach Washington. Der Mann in Zivil nahm ab, horchte, fragte nach, offenbar um sich das Gehörte bestätigen zu lassen, und sagte dann: „Da haken wir sofort ein. Blitzartig. Damit sie uns nicht zuvorkommen. Arbeitet das aus. Bin in zwei Stunden da." Der Colonel nahm noch einen Bourbon aus der Flasche im edelholzfurnierten Autokühlschrank und wartete. Auf irgendeine Weise wirkte der CIAManager entspannt. Schließlich konnte der Colonel die Neugier nicht mehr unterdrücken. „Gute Nachrichten, Sir?" Der Mann mit dem Indianerprofil blickte ihn an und lächelte. „Sehr gute. Aber wir wollen uns nicht zu früh freuen." Der Colonel klopfte auf Holz. „Unberufen", sagte er.
Noch vor Sonnenaufgang tagte die Strategiekom mission der CIA. Der von der NSA sofort an die CIA weitergelei tete Funkspruch wurde analysiert. Hinzu kamen noch Informationen, die das Bild vervollständigten. Der Funkspruch war von einem sowjetischen Spionageschiff, das unter der Ligurischen Küste liegend offenbar ein bestimmtes Gebäude belauscht hatte, abgefangen worden. Mit professionellem 130
Gerät war es möglich, auf Meilendistanz und durch Mauern hindurch, die Unterhaltung von Personen mitzuhören. Ergänzend dazu lieferte das italienische Netz der CIA, daß der BND-Agent Nummer 18, Robert Urban, genannt Mister Dynamit, am Vortag in Genua angekommen und sofort Richtung Rapallo weitergereist sei. „Nicht, daß ich mich auf das Gebiet von Spekula tionen begeben will", sagte der verantwortliche CIA-Manager, „aber wir können davon ausgehen, daß der BND etwas schneller und etwas schlauer war als wir. Die europäischen Geheimdienste ko operieren lieber miteinander als mit uns. Ergebnis: Urban fand diese Frau und sprach mit ihr. Die Russen folgten ihm und landeten einen perfekten Lauschangriff. Hut ab. Alle Achtung." „Aber wie fand Urban Marjorie Kennwood?" „Vielleicht hat sie einen Peilsender im Hintern." „Keine Witze, bitte."
„Ist kein Witz, Sir. Das gab es alles schon." „Im linken Auge der silbernen Madonna von Nowgorod", bemerkte einer der Anwesenden. „Schätze, diese Dame ist in Nowgorod ein Begriff. Der KGB wird seine Leute ausschwirren lassen." „Wen haben wir in Nowgorod?" Der Agentenführer/Ost blätterte in einem Ord ner, der die Farbmarkierung für höchste Geheim haltungsstufe trug. „In Nowgorod niemanden, Sir." „Wo ist der nächste?" „In Leningrad. Zwei Mann. Gute Leute. Deckna men Leo und Theo." Der Abteilungsmanager schaute auf die Uhr. In 131
Washington war es jetzt früher Vormittag. Er schien zu rechnen. „Zeitdifferenz?" fragte er. „Acht Stunden." „Dann ist es drüben später Nachmittag. Vor der Dunkelheit können sie nicht ohne Risiko die Kirche oder das Museum aufsuchen." Einer der Rußlandexperten hatte im Baedeker geblättert. „Die silberne Madonna steht in der Basilika St. Sergius. Seit zweihundertfünfzig Jahren. Sie hat alle Revolutionen, Aufstände und Kriege heil über standen. Weshalb man ihr überirdische Kräfte zu mißt." „Uns bleiben rund fünf Stunden. In dieser Zeit ist der Funkspruch drüben. Theo und Leo können Nowgorod bis 23.00 Uhr erreicht haben. Setzt folgendes hinzu: Dringlichkeitsstufe eins. Gefah renstufe eins." Der Funkspruch wurde formuliert. Der für Nachrichtenübermittlung in den Osten zuständige Mann ging zur Chiffrierabteilung, dann zur Funkstation. Er kontrollierte die sorgfältige Behandlung des Funkspruches, bis er die Antennen via Satellit verlassen hatte. 16. Nowgorod 11. Oktober Die Mitarbeiter eines Spionagerings der CIA in der Sowjetunion, Leo und Theo, setzten sich befehlsge mäß Richtung Nowgorod in Marsch. 132
Da ihnen die Benutzung der Eisenbahn sicherer schien, nahmen sie den Schnellzug nach Moskau. Er verließ Leningrad um 19.00 Uhr und erreichte Nowgorod zwei Stunden und vierzig Minuten spä ter. - In Zügen wurde im Gegensatz zu Überland straßen selten kontrolliert. Als der Schnellzug in Nowgorod einlief, schlief die Stadt schon. Theo löste sofort zwei Fahrkarten, Leo studierte den aktuellen Fahrplan. Dann bestiegen sie ein Taxi. „Rückfahrt?" fragte Theo. „Mitternacht", sagte Leo. „Das muß doch rei chen."
„Wer macht es?" Sie knobelten es mit Stein — Schere — Papier aus. Leos Hand war flach und zeigte Papier. Er dachte, Theo würde die Finger zur Schere spreizen, dann hätte Theo gewonnen. Aber der ballte die Faust zum Stein. Und Papier wickelte Stein ein. Also hatte Leo gewonnen. - Er mußte es tun, während der andere draußen Wache schob. „Wohin?" fragte der Fahrer. „Zum Armeemuseum." „Das hat jetzt geschlossen." „Macht nichts. Wir wollen nur am Museum aussteigen." Theo und Leo flüsterten, denn erfahrungsgemäß hatten Taxifahrer lange Ohren. Theo übergab Leo das Werkzeug. Es bestand aus Lampe, Lupe, einem Taschenmesser mit scharfer Klinge, Pinzette und einem Stück Kle beband. Sie besprachen, wie der Gegenstand, der Punkt 133
auf der linken Pupille der Madonna im Silber mantel am besten zu beschaffen sei und wie man ihn sicherte, daß er nicht verlorenging. Ein Mikro filmpunkt war nicht größer als ein Streichholz kopf. „Erst mit Lampe und Lupe genau ausmachen, mit der Klinge leicht lösen, mit der Pinzette abziehen und am Klebeband befestigen. Dann die beiden beschichteten Seiten des Bandes zusammendrük ken. Und fertig." „Kriegen sie das Foto unbeschädigt wieder raus?" „Hast du eine Ahnung, was die alles können. Wenn wir es haben, ist der Rest nicht unser Problem." „Die Madonna steht in der Seitenkapelle, leicht erhöht."
„Wie auf dem Bild." „Und wenn Leute da sind, die beten?" „Es werden Leute da sein und beten", sagte Theo, „aber du wirst reingehen, als hättest du einen Auftrag. Du bist Handwerker, verstehst du. Du leuchtest der Madonna ins linke Auge, dann ruck zuck und ab." Sie fuhren durch die Stadt. Am Museum hielt der Fahrer. Sie zahlten drei Rubel, stiegen aus und warteten, bis das Taxi weggefahren war. Nun brauchten sie nur noch den Platz zu über queren und standen vor der Basilika mit den drei vergoldeten Zwiebeltürmen. Schon am Taxi hatten sie sich getrennt. Ange nommen, die Basilika wurde beobachtet, dann sah man sie besser nicht zusammen.
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In der Kirche roch es nach Weihrauch. Es war ziemlich dunkel. Man hörte die Stimme des Prie sters, der vorn am Hauptaltar die Spätmesse las. Von den Betenden sah man nur die Rücken. Aus ihrer Kleidung dampfte die Nässe, denn es hatte geregnet. Leo hatte in einem Kunstführer die Kirche studiert. Wie meist bei alten Bauten stimmte der Plan. Er eilte durch den Mittelgang nach vorn, bei der Kanzel nach links. An dem kleinen Seitenaltar brannten Kerzen. Im Altar, vor dem Hintergrund eines goldenen Bogens, stand die Madonna. Niemand kniete in den Bänken. Leo hätte es nicht besser antreffen können. Doch als er wenige Meter vor der Madonna stand, stellte er erschrocken fest, daß er zu spät gekommen war. In der Rundbogennische mit dem goldenen Hin tergrund stand nicht die Madonna, sondern hing nur ein Poster, ein Bild von ihr. Die Figur selbst war nicht mehr da. Alle Glocken in Leo schlugen Alarm. Er drehte sich um. - Nichts wie weg, dachte er. Doch es war zu spät. Vor ihm standen zwei Männer in Regenmänteln und mit Pistolen in der Hand. Von hinten legte ihm einer die Hand auf die Schulter. Sie nahmen eine Leibesvisitation vor und fanden sein Werkzeug. „Lampe, Lupe, Messer, Pinzette, Klebestreifen", zählten sie auf. „Und eine Fahrkarte nach Lenin grad." Dagegen war nicht anzukommen. Mit keiner 135
Lüge, mit keiner Erklärung, mit keiner noch so gut erfundenen Geschichte. „Für wen solltest du das tun?" fragten sie. Leo schwieg. „Bis Mitternacht", drohten sie, „wirst du es uns erzählt haben." Sie führten ihn über eine Treppe hinab in eine Art Sakristei. Auf dem schweren Tisch unter dem niederen Gewölbe lag auf weißem Papier die Madonna. Diese Kulturbarbaren schreckten vor nichts zurück. Es war nicht zu fassen. Sie hatten die Madonna in Scheiben zersägt. Sie stießen ihn nach vorn, schalteten eine Lampe ein und richteten sie auf den Kopf der zersägten" Madonna im Silbermantel. „Schau dir das Auge an, du Agentenschwein."
Leo tat es voller Entsetzen.
„Siehst du etwas?"
Er schüttelte den Kopf.
„Dann schau dir die einzelnen Teile an. Siehst du
da etwas?" Er nickte. Soviel verstand er, daß es sich bei dem Madon nenkörper, den sie behandelt hatten wie eine Salami, nicht um gewachsenes Holz handelte. „Wofür hältst du das?" „Kunststoff oder Preßholz." „Was ist Preßholz?" Sägemehl mit Leim vermischt und in eine bestimmte Form gebracht." „Und was macht man mit Preßholz?" „Fälschungen." 136
„Richtig. Imitationen von Kunstwerken. Wie alt ist die echte Madonna?" „Dreihundert Jahre." „Und seit wann gibt es Preßholz?" „Vielleicht zwanzig Jahre." „Was ist dann mit dieser Madonna?" „Es ist nicht die echte Madonna, Genosse Haupt mann." „Und wo ist die echte Madonna? Was glaubst du?" „Geraubt." Was sie sagten, klang wie eine Anklage. „Geraubt von euch. Für wen auch immer, du arbeitest für diese Kunsträubermafia, für den Trust oder für irgendeine Bande. Wir werden dich zer schneiden wie diese Madonna, aber zu dünneren Scheiben. Bis du redest, Mann." Sie fesselten ihn und führten ihn durch eine Seitenpforte aus der Basilika. Draußen stand ihre schwarze NKWD-Limousine. Leo schaute sich flüchtig um. Es war ihm, als sehe er seinen Kollegen Theo in einer Mauernische stehen. — Aber sicher war er nicht.
Sechzehn Stunden später lief über die Antennen einer CIA-Relaisstation in Holland ein verstümmel ter Funkspruch ein. Er wurde nach Washington weitergeleitet, dort rekonstruiert und entschlüsselt. Es handelte sich um die Meldung des Agenten Theo aus Leningrad. Er übermittelte alles, was er über die Ereignisse in Nowgorod wußte, präzise und ohne ein unnötiges Wort. 137
Die Stimmung bei der CIA war daraufhin gemischt. Etwa so, als habe man gleichzeitig einen Sieg errungen und eine Niederlage erlitten. „Damit dürfte wieder eine Masche unseres Netzes gerissen sein", kommentierte der Chef der Ostabtei lung. „Aber eine Genugtuung bleibt uns. Die Russen haben den Mikropunkt auch nicht. Sie haben das Auge der Madonna im Silbermantel, aber es ist eine Imitation." Der CIA-Direktor betrachtete die Sache anders. „Und wer, bitte, besitzt das Original?" „Nun, die Madonna von Nowgorod ist eine weltberühmte Antiquität." „Wer kann sie haben?" „Zunächst einmal dürften organisierte Banden, die auf den Raub von Madonnen spezialisiert sind, sie an sich gebracht haben." „Gibt es solche Organisationen in der Sowjet union?" „Mafiaähnliche", erklärte der Experte. „Sie nen nen sich Trust." „Aber gegen die Absicht, die Madonna in Ruß land zu verkaufen, sprechen zwei Argumente: Man erzielt einen viel zu niedrigen Rubelpreis, und außerdem ist die Madonna verdammt heiß." „Kein Zweifel. Man hat sie exportiert, Sir."
„In die westliche Welt."
„Und die Welt ist weit. Kunstliebhaber verbergen
ihre besten Stücke meist vor den Augen der Öffentlichkeit." „Mein Gott", stöhnte der CIA-Direktor. „Jetzt fängt alles wieder von vorne an." „Man kommt nie zur Ruhe, Sir."
Eine neue Kommission wurde gebildet, eine
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Gruppe von Fachleuten auf dem Gebiet des interna tionalen Kunsthandels sollte Pläne entwickeln. Ein hoher Preis für Informationen über die Madonna im Silbermantel wurde ausgesetzt. - Es war aber zu befürchten, daß der Finderlohn wenig bewirken würde. Seine Auslobung konnte nur unter der Hand verbreitet werden, um den KGB nicht erneut zu alarmieren. „Und eines bitte ich mir aus", forderte der CIADirektor. „Kein Wort über unsere Absichten an andere Dienste. Ich hoffe, Sie alle wissen, wen im besonderen ich damit meine." Jeder verpflichtete sich zu absolutem Stillschwei gen. Wenn jemand nicht informiert werden durfte, dann war es der Nachrichtendienst der Bundesre publik Deutschland und deren Agent Code 18, Robert Urban, genannt Mister Dynamit.
17.
Stresa am Lago Maggiore 13. Oktober Was im diplomatischen Corps der Doyen ist, der nach Rangklasse erste Mann aller ausländischen Vertretungen in einem Staate, das war Don Cata nese bei der italienischen Mafia. Der schlaue Alte, der Pate, anerkannt als höchste Instanz, war so mächtig wie der Papst in der Katholischen Kirche. Er residierte in einem Palazzo über dem See, für den das Wort Luxus eine Beleidigung war. Seit gestern war dieser Padre Padrone, der Amico 139
aller Amici in Sorge. Er hatte aus allen Teilen des Imperiums, von den verschiedenen Fürstentümern, aus den USA, der Bundesrepublik, aus Norditalien, dem Raum Kalabrien und Sizilien, Informationen erhalten, die ihn beunruhigten. Seine Strategen waren nicht in der Lage, die Vorgänge zu analysieren. Deshalb beschloß Cata nese, einen Mann, der gewöhnlich den Durchblick hatte — falls es hier überhaupt so etwas gab —, anzurufen. Außerdem war ihm dieser Mann einen Dienst schuldig. Don Catanese hatte ihm geholfen, einen drohenden Krieg in Nahost zu verhindern. Was er für wichtiger hielt, als den Handel mit Rauschgift — denn der Krieg schränkte den Rauschgifthandel erheblich ein. Nach einigen Überlegungen, wie er am besten in das Gespräch einstieg, ließ sich der Padre Padrone eine Verbindung mit Monaco herstellen. — Mün chen war damit gemeint. Er erreichte Robert Urban in seiner Privatwoh nung. „Nipote mio", rief er. „Mein geliebter Neffe! Hier spricht dein Onkel Catanese." Urban gehörte nicht zur Familie und versank deshalb nicht in Grund und Boden wegen der Ehre des Anrufs. Er wurde nur neugierig. Und irgend etwas in der Stimme des Alten — ein Vibrato, wie es nur begabte Saxophonspieler zustande brachten -, alarmierte ihn. Trotzdem bewahrte Don Catanese Sitte und Anstand. Er fragte nach Urbans Wohlbefinden, nach seinem beruflichen Fortkommen und ob bei Frauen und Finanzen alles stimme. 140
Urban erlaubte sich ebenfalls die Frage nach Befinden des Onkels, der Donna, der Kinder, der Enkel. Erst danach, in angemessener Eile, kam der alte Mafiaboß zur Sache. Dann aber knallhart. „Was ist los?" fragte er. „Sie stellen halb Italien auf den Kopf." „Wer?" erkundigte Urban sich in geheuchelter Neugier. Wenn der Alte Italien sagte, dann meinte er die Mafia und ihre weitverzweigten Familien. „Polizei, Geheimdienste, private Schnüfflerorga nisationen. Sie suchen etwas. Die staatlichen Organe unternehmen schlecht getarnte Razzien. Die anderen nehmen in der Unterwelt, bei Kleingano ven und Gangstern, mit denen wir nichts zu tun haben, Kontakte auf." „Sie suchen etwas", bestätigte Urban. „Suchen fängt mit winzigen Hinweisen an, die sich bündeln und dann zu einer Spur, einer Fährte werden, die zu dem Versteck führt, in dem die Person oder die Sache sich aufhält." „Person oder Sache?" wiederholte der Mafioso. Er war für das Wohlbefinden seiner Organisation verantwortlich. Nur aus diesem Grunde hatte er diesen Schritt getan. Nach den Regeln revanchierte Urban sich mit einer Auskunft für den Dienst, den er Catanese schuldete, und brachte den Mafioso in die Pflicht. „Person oder Sache?" fragte Urban noch einmal. „Sache", äußerte der Padrone seine Vermutung. „Irgendeine dumme Antiquität. Warum, al diavolo, weiß ich nicht mehr davon?" Urban sah sich nicht in der Lage, ihm zu antworten. Er brauchte noch mehr Fakten. „Seit wann sucht man?" 141
„Seit gestern." Seit gestern war er aus Italien zurück. Auch der BND hatte auf Seiten der Amerikaner und Russen erhöhte Aktivitäten festgesellt. Gewiß hing es damit zusammen. Urban stellte eine gezielte Frage: „Sucht man etwa eine Madonna?" Der Mafioso wirkte deutlich entzückt. Wer ihn kannte, hörte es an der Art, wie er erst Luft holte und dann hüstelte. „Ich wußte, daß du ein Genie bist, Roberto", sagte er. „Das mit der Madonna ist also nicht nur ein Gerücht. Wenn deine Organisation in der Sache tätig ist, muß etwas dran sein. Gehen wir also von der Annahme aus, daß es sich um eine Madonna handelt." „Was hast du gehört, Onkel?" erlaubte Urban sich zu fragen. Der Alte erzählte. In diesem Punkt war er wie sein Neffe Roberto. Er nahm den Klang einer Glocke erst wahr, wenn der Klöppel gegen die Bronze schlug, und nicht schon vorher. „Die Madonna soll aus Rußland stammen. Nun bedrängt man unsere Freunde beim Kunst- und Antiquitätenhandel mit üblen Brutalitäten, ver sucht, sie zu erpressen. Das können wir nicht hinnehmen. Wir haben eine Schutzpflicht ihnen gegenüber. Wenn das nicht aufhört, dann gibt es Krieg." Urban fügte die Einzelheiten zusammen. Russen und Amerikaner suchten eine Madonna. Es mußte sich um die Madonna im Silbermantel aus Nowgorod handeln. Wegen einer anderen würden sie nicht solch ein Aufheben machen. 142
Da sie die Madonna suchten, war anzunehmen, daß sie sich nicht mehr an ihrem angestammten Platz in der Basilika des Heiligen Sergius befand. Es ging um das linke Auge der Madonna im Silbermantel. Wie sie von dem Versteck des Mikrofilms erfah ren hatten, diese Frage stellte Urban jetzt nicht. Es gab raffinierte Lauschtechniken, die jedes Wort, das gesprochen wurde, registrierten. Selbst wenn man es direkt in den Gehörgang flüsterte - dann konnte der Lauscher im Kopfkissen sitzen. Sie hatten also sein Gespräch mit Katja Kopekian mitgehört. Okay, eins zu null für sie. - Dann waren sie losgerast, um die Madonna zu holen. Aber sie war nicht da. — Oder eine andere Madonna, eine Fälschung, stand an ihrer Stelle. Spielstand: Eins zu eins. Nun suchten sie das Original. Sie suchten überall auf der Welt, wo mit solchen Dingen gehandelt wurde, und das speziell in Italien, dem Traditions markt für kostbare Skulpturen. Urban versuchte zu kombinieren. „Wie kommen sie auf Italien?" „Das wissen wir nicht, das analysieren wir noch." „Ich will es dir sagen, Onkel", erklärte Urban. „Dir und mir und einigen Leuten in der UdSSR ist seit langem, der Weltöffentlichkeit hingegen erst seit kurzem, bekannt, daß es auch in Kußland so etwas wie eine Mafia gibt. Fast schon ein Licht blick, eine Spur von Freiheit in so einem totalitär regierten Polizeistaat. Offenbar hat die Russenma fia den Raub und Export von Kunstwerken in der Hand. Und man vermutet Verflechtungen zwischen ihnen und euch." 143
„Eine nicht unbedingt von der Hand zu weisende Annahme", räumte Don Catanese ein. „Jetzt aber zur Sache. Wie steht es mit der Wahrheit?" Urban zögerte. „Stammt nicht das Wort: Wer die Wahrheit sagt, braucht ein schnelles Auto, von dir?" „Wir sind unter uns? Keiner hört mit? - Befindet sich in der Madonna so etwas wie eine Atom bombe?" „Ungefähr." „Läßt es sich im Krieg verwenden?" „Eher im Frieden." „Kann man Geschäfte damit machen?" „Nicht die Mafia." „Kann es unsere Geschäfte gefährden?" „Nicht deine Organisation", versicherte Urban. „Und wenn ich es behaupte, dann ist es auch so. Falls du mich aber fragst, Onkel, was es ist, dann werde ich dir nicht antworten, weil ich nicht kann. Ich werde nicht antworten, auch wenn du mich mit dem Familienbann belegst." „Du bist schon dabei mir zu helfen, Ragazzo", sagte der Alte. „Ich werde dich nicht unter Druck setzen. Deine Garantie, daß unsere Familien und unsere Geschäfte nicht berührt werden, genügt mir." „Ich kann es beinah garantieren." „Aber warum benehmen sie sich wie die Ver rückten?" „Sie werden nicht ruhen, bis sie die Madonna gefunden haben." Der alte Catanese stieß Luft über die Zähne. Es drückte mehr aus als nur ein pfeifendes Zischen. 144
„Man könnte ihnen bei der Suche helfen und ihnen die Madonna verkaufen." „Helft nicht ihnen, sondern mir bei der Suche", äußerte Urban, „und mein Wohlwollen ist euch gewiß." Catanese schien nachzudenken. „Das", bemerkte er in seiner bedächtig gefährli chen Sprechweise, „ist ein Wechsel, gezogen auf die Zukunft. Solange es mich gibt und dich und unsere Freundschaft, taten wir nie etwas zum Schaden des anderen. Aber eines Tages werde ich nicht mehr sein, dann gibt es nur dich und meine Erben. Und sie werden vielleicht auf dein Wohlwollen angewie sen sein. Va bene, schließen wir ein Abkommen. Der Preis ist zahlbar in der Zukunft. Ich tue alles, um die Madonna zu finden. Und wenn sie je einer kriegt, dann du." „Als erster", schränkte Urban ein. „Ich muß sie als erster bekommen. Sagen wir, für eine halbe Stunde. Dann steht sie euch weiterhin zur Verfü gung." „Dann muß ich jetzt", der alte Mafioso reagierte so rasch wie ein Degenfechter, „sofort ein Fernge spräch nach Moskau anmelden. Dort sitzt der Sohn der Tochter des Bruders eines Onkels von mir, der vor langer Zeit auswanderte. Aber er ist Blut von unserem Blut." „Ich höre von dir, Don Catanese", sagte Urban. In den alten Mafioso schien die Energie seiner Jugendjahre zu schießen.
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Norditalien 14. und 15. Oktober Nach dem Gespräch mit Catanese, noch vor seiner Abfahrt, hatte Urban seine Dienststelle in Pullach informiert. Der Operationschef tat erst entsetzt. „Das kann ich nicht verantworten", sagte er. „Das verantwortet bereits der Präsident", entla stete Urban ihn. „Nur soviel: Die Amerikaner benutzen wieder einmal unsere Partitur, aber sie spielen in einem anderen Theater." „Wie mir scheint, hat dieses Theater ein falsches Echo." „Sie werden es niemals lernen." „Weil sie eben unmusikalisch sind", pflichtete Sebastian seinem Agenten bei. „Omnipotente, alles wissende Weltenlenker, stöh nend unter der Last von Moral und Verantwor tung." „Lastkamele", nannte der Alte sie. „Und Kamele", ergänzte Urban, „haben keinen Rückwärtsgang."
In Verona übernachtete Urban. Einmal rief er zu Don Catanese zum Lago Maggiore hinüber. Der alte Herr war nicht anwe send, aber sein Secretario hatte eine Nachricht für ihn. „Fahren Sie weiter nach Ferrara." „Gibt es eine Spur?" „Möglicherweise, Dottore. Ich habe nur den Auf 146
trag, Sie zu bitten, sich nach Ferrara zu begeben, und sich von dort erneut zu melden." Am Morgen fuhr Urban auf der Autostrada nach Ferrara hinunter. Ehe er sich dort einmietete, meldete er sich bei Don Catanese. „Es geht weiter Richtung Ancona, Dottore", hieß es. „Sie sollen bitte auf Verfolger achten." Urban achtete immer auf Verfolger, hauptsächlich auf Verfolgerinnen. Es gab da eine Frau, die verfolgte ihn schon bis in die Träume. Nicht, weil er sie wahn sinnig begehrte, sondern weil er sein Wort gegeben hatte. Sie hatte geliefert, nun mußte er zahlen. Er rief Katja, das Mädchen aus Nowgorod an. „Zufrieden mit der Unterkunft?" fragte er. „Wie es mir geht, interessiert dich nicht?" Offenbar war sie schlecht untergebracht, sonst hätte sie anders reagiert. Er fragte also nicht weiter nach ihrem Befinden. „Hauptsache, du bist sicher." „Nun, Festungen und Bunker haben es an sich, ein gewisses Maß an Schutz zu bieten." Es war kein Bunker und keine Festung, nur das einsame Gehöft eines Freundes. „Wir finden etwas Besseres." „Für ewig und immerdar ist das nicht." Andere Leute wären glücklich gewesen, wenn sie an einem Berghang zwischen Zypressen und Pinien mit weitem Blick über einen der schönsten Seen der Welt wohnten. „Hab Geduld." „Wir müssen ein Arrangement finden, daß diese Jagd ein Ende findet. Irgendwann." „Das ist meine große Sorge", sagte er. „Und wie es aussieht, zeichnet sich eine Lösung ab." 147
„Wann sehen wir uns?" wollte sie wissen. Zweifellos überfiel eine Frau voller Energie und Dynamik nach Tagen des Nichtstuns eine gewisse Langeweile. „Ich komme", versprach er, „bald. Paß auf dich auf, verriegle stets das Tor, behalte die Straße im Auge." „Ich bin bewaffnet", sagte sie, „und Angst kenne ich nicht. — Jetzt nicht mehr", fügte sie hinzu.
Urban fuhr weiter. Das alles gefiel ihm wenig. Besonders die Art und Weise, wie Don Catanese ihn hinhielt und von einem Ort zum ändern lockte. Bei einem Mafioso gab es keine echte Freund schaft, nur Interessen. Ihnen wurden notfalls auch Freunde geopfert. Schön, er würde nach Ancona fahren und dort ein ernstes Wort mit dem Secretario reden. Er würde keine Ruhe geben, bis der Padrone an den Apparat kam. Denn daß er nicht zu Hause sein sollte, hielt Urban für unwahrscheinlich. Don Catanese verließ seinen Palazzo schon seit Jahren nur noch, wenn er zum Arzt in die Klinik fuhr. Urban nahm die Nebenstraßen über RavennaRimini nach Ancona. Oberhalb der alten Hafen stadt in der sichelförmigen Bucht rief er wieder an. Und dann nahm er alles zurück. Don Catanese hatte auf ihn gewartet. „Begib dich nach San Marino. An der ersten Tankstelle, wenn du hinauffährst rechts nach der ehemaligen Grenzstation, wartet ein Mann. Sein Name ist Titino. Er bringt dich hin." 148
„Habt ihr die Madonna?" erkundigte Urban sich. „Wir haben eine Madonna", sagte der Mafioso, „genannt die Madonna im Silbermantel aus der Basilika St. Sergius in Nowgorod. Dreihundert fünfzig Jahre alt. Russischer Barock. Du bist mir einen Dienst schuldig."
Der Italiener Titino brachte Urban zu einem der hundert Antiquitätenhändler in der Republik San Marino. Der flinke kleine Mann mit dem Spitzbart stellte keine Fragen. Er eilte voraus durch einen mit Gemälden, Möbeln, Fayencen, Silberzeug, Waffen, Spiegeln und Kleinkram überfüllten Laden. Sie stiegen eine Treppe hinunter, folgten einem langen Gang, dessen Ende eine eisenbeschlagene Kellertür bildete. Aber sie hatte moderne Schlösser und sogar eine Alarmanlage. Das Gewölbe, das sich hinter dieser Tür auftat, war in den Felsen geschlagen, auf dem San Marino stand. Es enthielt Kostbarkeiten, wertvoller als der Nibelungenschatz, und gab einen Eindruck davon, wie reich diese Kunsthändler in Wirklichkeit waren. Das Gewölbe bestand aus einem Haupt- und mehreren Nebenräumen. Ganz hinten, wo nur noch Gerumpel war, unter Spinnweben und Staub schichten, riß der Händler einen Rupfensack von einer Skulptur und richtete den Strahl seiner Lampe auf sie. Das Gesicht, umgeben von den Falten des silbernen Pelerinenmantels, zeigte ein Lächeln, womit es das der Gioconda zu einem ernsten Gesichtsausdruck deklassierte. 149
„Ist sie das?" fragte der Händler. „Vielleicht ist auch sie nur eine Kopie", antwor tete Urban. „Sie ist echt. Ich bin Sachverständiger für Holz skulpturen der russisch-orthodoxen Periode des siebzehnten Jahrhunderts." „Kauften Sie sie deshalb?" erkundigte Urban sich. „Sachverständiger und Liebhaber", ergänzte der Händler. „Ich griff zu, als man mir die Madonna anbot. Der Preis war günstig. Andere Kollegen erkannten ihren Wert nicht. Sie hielten sie für eine Fälschung. Also holte ich sie mir ins Haus." „Und warum steht sie in dieser hintersten Ecke?" Der Italiener sprach jetzt englisch, damit Titino ihn nicht verstand. „Ich fürchtete, die Madonna sei heiß. Wenn so etwas ohne Permit von der Sowjetunion in den Westen gebracht wird, ist es in der Regel kein offizieller Export. Aber einer mußte sich um dieses Kunstwerk ja kümmern. Es war ein lächerlich geringer Kapitaleinsatz. Ich erstand sie für zehn lumpige Millionen Lire. Dafür kriegen Sie heute gerade einen Kleinwagen. Ich dachte mir, nimm sie ins Haus, versteck sie gut und warte ab. — Einmal im Jahr steige ich herunter und betrachte sie mir. Ich rauche dabei eine Zigarette, sehe sie an und bin glücklich." Urban begann, die Madonna zu untersuchen, hütete sich aber zu zeigen, worauf es ihm ankam. Er nahm die Lupe, prüfte jeden Zentimeter der Madonna von den Zehen bis zum Strahlenkranz. Dabei musterte er besonders auch die Wurmlöcher in ihrem Gesicht. — Und das linke Auge. 150
Die Pupille war blaß und matt. Kein Mikrofilm. Nicht im linken Auge, auch nicht im rechten. Er suchte weiter. Alle von Natur aus dunklen Stellen suchte er ab. Die Hände, die Zehen des Fußes unter dem Mantel. Nahe daran aufzugeben, sah er etwas am Nagel des Daumens glänzen. Das mußte es sein. Der Mikrofilm war noch gut erhalten. Das Mate rial hatte sich nicht zersetzt. Urban wandte sich an den Händler. „Signore, würden Sie mich eine Minute mit der Madonna allein lassen?" „Aber warum?" „Ich rauche eine Zigarette, schaue die Madonna an und bin glücklich." Der Händler glaubte ihm kein Wort, aber er hatte ein Herz für Verrückte. — Außerdem war er Don Catanese einen Dienst schuldig. „Brauchen Sie meine Lampe?" „Danke, ich habe meine eigene." Urban wartete, bis die Schritte verklungen und von der Lampe des Italieners nur noch ein vager Schimmer zu erkennen war. Dann handelte er rasch. Mit dem Messer lockerte er den Kleber unter dem Mikrofilmpunkt. Mit der Pinzette faßte er ihn und brachte ihn sofort, wie es sich gehörte, auf die beschichtete Seite eines Tesafilmstreifens. Nun öffnete er sein Hemd und klebte den Film an eine haarlose Stelle seiner Brusthaut. Dann folgte er dem Italiener. „Fertig", sagte er. „Schon erledigt?" „Ich werde Don Catanese von Ihrer Freundlich keit berichten", versprach Urban. 151
18.
Riva del Garda 16. Oktober Robert Urban, Code eins-acht, war es nicht mög lich, nach München zurückzufahren. Deshalb waren ihm zwei Experten mit dem nötigen Werk zeug im Aktenkoffer entgegengereist. Sie trafen sich in einem Hotel am Seeufer, entwickelten jedoch wenig Sinn für die Schönhei ten des Lago di Garda. Sie schlossen die Jalousien, zogen die Vorhänge zu und machten sich bei künstlichem, aber reflexfreiem Licht an die Arbeit. Der Labortechniker löste den Mikrofilm vom Kleber, reinigte ihn in einem fingerhutkleinen Bad und gab ihn noch in eine andere Flüssigkeit. „Im Laufe der Jahre vergilbt jeder Film", sagte er. „Es ist eine den Kontrast verstärkende Chemi kalie. Allerdings greift sie auch das Trägermaterial an." Der Mikropunkt kam zwischen zwei halbierte Glasscheiben. „Hier ist er sicher wie ein Insekt in einem Tropfen Harz, genannt Bernstein." Der Labortechniker baute den Projektor auf, schob die Gläser mit dem Mikrofilm hinein und stellte scharf. Bei zehnfacher Vergrößerung sah man, daß der Mikropunkt mehrere abfotografierte Seiten ent hielt. Bei zwanzigfacher Vergrößerung konnte man den Text ungefähr entziffern. Der Experte für Mikrobiologie sagte: „Nur Buchstaben. Nur die vier Buchstaben des 152
DNS-Codes. A, T, G und C. Mit ihnen wird Zusammensetzung, Lage und Anordnung dieser Bausteine beschrieben." „Macht bei zehn Seiten dreißigtausend", errech nete der Labortechniker. Der Experte nickte. „Verdammt wenig für eine Lokalisierung. Wenn man bedenkt, daß es Billionen Möglichkeiten gibt." „Er hatte es eben gefunden", meinte Urban. „Ich muß die Sache unters Mikroskop nehmen", erklärte der Experte, „vorher läßt sich nichts aussagen." Zunächst machte der Techniker mit Hilfe des transportablen Mikrofilmgerätes mehrere Aufnah men des Materials. Auf diese Weise konnte die Buchstabenkette in München oder an einer dafür ausgestatteten Medizinischen Universität in den Computer gefüttert werden. Nun klemmte der Genbiologe den Film unter sein Mikroskop, das bis zu zweihundertfache Vergröße rungen erlaubte. „Er war schon ein riesiger Biobastler, dieser Kopekian", kommentierte er. „Er soll den Durchbruch erzielt haben." „Keinesfalls ist es die für Wachstum zuständige Erbanlage. Die sieht anders aus. Damit erzeugte man bereits Nagetiere, die doppelt so groß sind. Man ist auf dem Wege zum Vier-Meter-Menschen." „Kopekian war kein Genmanipulator", bemerkte Urban. „Noch nicht." „Er kam nicht mehr dazu. Er mußte vorher sterben." „Lebte er noch, wäre er es geworden. Das ist der 153
logisch vorgezeichnete Weg. Forscherhirne lassen sich nicht einfach abschalten wie das Licht." Der Experte hatte ständig die Augen am Mikro skop. „Hat man das gesuchte Gen lokalisiert, schneidet man es chemisch heraus, versieht es mit biomecha nischer Kupplung, und setzt es dort ein, wo man es haben möchte. Das Wachstumshormon von Elefan ten bei Ratten, das von Ratten bei . . . Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt. Bei Schweinen soll es bereits funktioniert haben." Dr. Ebener blickte auf und rieb sich die überan strengten Augen. „Trifft es zu, daß Professor Kopekian jene Riesen moleküle in der Doppelhelix suchte, die das Men schenleben verlängern?" „Es war ein Staatsauftrag." „Die Suche nach der Unsterblichkeit also?" Der Experte beugte sich wieder über die Okulare seines Mikroskops. „Eine ziemlich genaue Lokalisierung. Aber ob es wirklich das Gesuchte ist?" „Es gibt eine Maus, die wurde ein Vierteljahrhun dert alt." Dr. Ebner lachte gequält. „Und es gibt Zufälle. Eine Maus beweist noch gar nichts. Die Maus kann aus mehreren Gründen so alt werden. Sei es Hege und Pflege, besondere Nah rung, besondere Gifte, wie sie unseren Nahrungs mitteln heute anhaften." Er schaltete die Mikroskoplampe ab und nahm die Glasscheibe aus dem Objektträger. „Gehört wieder Ihnen, Oberst." 154
„Nein, mir nicht", erklärte Urban. „Aber wir haben ja die Kopie." Der Labortechniker baute die Geräte ab. „Sie verstehen", sagte Dr. Ebner, „daß ich das Material so schnell wie möglich nach München bringen möchte, um mit der Arbeit zu beginnen." „Wie beurteilen Sie das Material?" fragte Urban. Der Genbiologe stopfte seine Pfeife, steckte sie an, ging zum Fenster und Öffnete erst den Vorhang, dann die Jalousie. Er genoß den Ausblick und atmete die frische Luft, die von den Bergen her über den See strich. Dann musterte er Urban ein wenig vorwurfsvoll. Du hast da eine heiße Suppe gekocht, schien er zu denken, und wir müssen sie auslöffeln. „Ich hoffe", sagte er, „daß Kopekian zumindest auf dem richtigen Wege war. Daß er es so genau fand, daß wir an der von ihm bezeichneten ATGCKombination fündig werden, das wage ich nicht zu glauben. Es wurde bedeuten, im Lotto zwölfdut zendmal hintereinander einen Sechser zu tippen. Solche Zufälle gibt es nicht." „Ein Gottesgeschenk vielleicht", wandte Urban ein. „Gott verschenkt nichts", spottete Dr. Ebner. „Er hat keinen Grund, diesem mißratenen Geschöpf Mensch auch noch das Geheimnis des ewigen Lebens zu verraten. Das Gegenteil, eine Verhinde rung der Fortpflanzung, wäre eher denkbar. Aber Gott ist auch nicht mehr das, was er einmal war. Gehen wir davon aus, daß Kopekian die Stelle fand, die das Erbgut Lebenszeit enthält. Das erspart uns mindestens fünfzig Jahre Arbeit. Aber um etwas 155
damit anzufangen, das kostet noch einmal zehn bis zwanzig Jahre . . . oder auch hundert." „Ich höre von Ihnen", sagte Urban. „Falls wir solange leben." Die Experten hatten alles zusammengepackt. Mit handlichen Koffern verließen der Techniker und der Biologe das Hotelzimmer. Urban wartete, bis sie unten aus dem Haus traten, ihren Mercedes-Kombi bestiegen und wegfuhren. Es war ihm, als sei hinter ihnen ein Wagen aus der Reihe der parkenden Fahrzeuge ausgeschert, um ihnen zu folgen. Vielleicht hatte er sich geirrt. Er hatte sich geirrt, denn der weiße Fiat Croma schlug oben am Kreisel, beim Rocca, eine andere Richtung ein. Urban bezahlte das Zimmer für einen Tag. In der Bar nahm er einen Bourbon. Dann rief er Katja an. Sie meldete sich mit dem vereinbarten .Pronto!' „Ich bin unterwegs", sagte er. „Zu mir?" „Zu wem sonst. Der Fall ist abgeschlossen." „Wann bist du da?" Er schaute auf die Uhr und rechnete. Er würde in Ruhe abwarten, bis sie ihm mitteilten, daß Dr. Eb ner in München angekommen war. Vier Stunden, rechnete er. Dann eine Stunde Fahrt zu Katja. „Bis zum frühen Abend." „Ich freue mich." „Was kann ich mitbringen?" „Alles da. Wirklich alles." „Auch Champagner?" „Okay, bring Champagner und Zigaretten mit", sagte sie. „Und ein wenig von Robert Urban." 156
Pullach bestätigte die Ankunft von Dr. Ebner. Urban ging hinaus zu seinem BMW-Coupe und fuhr nach Westen aus der Stadt. Er nahm die berühmte Gardesana, die Uferstraße, die hoch über dem blauen See in den Fels geschla gen war. Sie führte durch Tunells in Viadukten über Schluchten und um Buchten herum. Weiter ging es an Ortschaften vorbei, von denen man nur Dächer und Campanili sah, unter Galerien hindurch, von Felsarkaden gestützt. In Limone besorgte er die bestellten Zigaretten und in Gargano trockenen Spumante. Es ging auf 17.00 Uhr. Die Sonne stand schon tief über den Bergen. Eine Brise wehte über den See. Vor Maderno bog Urban ab. Es wurde gleich steil, l. Gang. — Er fuhr die Serpentinen zu dem weißen Gebäude hinauf, das aussah wie eine Festung, aber doch nur ein Bauernhaus war. Die Schatten der Zypressen standen auf der Straße wie Speerspitzen. Oben zweigte ein schmaler Weg zu dem Haus ab. Urban rollte durch den Bogen und das offene Tor hinein. Ein Hund lag da, den Kopf auf den Pfoten. Irgendwie verängstigt stellte er die Ohren auf. Urban stieg aus und schaute sich um. Dann ging er zum Haus hinüber. Er sah das Mädchen aus Nowgorod hinter einem der Fenster stehen. Katja blickte ihn mit dem starren Ausdruck einer Statue an, die nie im Leben gelächelt hatte. Aber sie war so schön, daß allein das mehr als ein Lächeln war. Nur ihre Augen folgten ihm, als er ins Haus und durch den Flur in die Wohnhalle trat. Da sah er sie stehen. Diesmal hatten sie Kanonen 157
von einem Kaliber, das Löcher groß wie Kürbisse riß. Der eine preßte seine Waffe ins Genick des Mädchens, und der andere stand breitbeinig da, die Waffe auf Urban gerichtet. Urban kannte die zwei KGB-Killer. „Diesmal", sagte der, der ihm die Laufmündung zeigte, „sind wir nicht in Stockholm." „Aber diesmal habt ihr einen bestimmten Preis", entgegnete Urban. Er würde den Preis entrichten, denn das, womit er bezahlte, gehörte rechtmäßig ihnen. „Er kotzt mich schon wieder an", rief der am Fenster, „dieser Klugscheißer." „Ihr mich schon lange", erklärte Urban. „Los, mach ihn kalt." Der Breitbeinige stand nahezu unbewegt da, die Waffe weiter auf Urban gerichtet. „Töten ist nicht euer Auftrag", schätzte Urban. „Angenommen, ihr legt uns um, anstatt den Film nach Moskau zu bringen. Man wird euch jagen, wie ihr uns jagtet." „Wo", fragte der Vernünftigere, „wo ist der Film?" „So verhandelt man nicht. Werft erst die Kano nen weg." Sie zögerten. Dann sprachen sie in einem unver ständlichen Dialekt miteinander. Das Mädchen aus Nowgorod mischte sich ein. Sie hatte offenbar überzeugende Argumente. Der am Fenster suchte Urban ab, fand keine Waffe und auch sonst nichts. Sie senkten die Waffen. Und weil Urban darauf bestand, warfen sie sie aus dem Fenster. Die 158
Makarows lagen draußen im Dreck und waren vor einer Generalreinigung nicht mehr funktionsfähig. Jetzt wären die Russen leicht Urbans Beute geworden. Aber er spielte fair. Er öffnete das Sakko und das Hemd, riß die dort befestigten Glasplätt chen ab und warf ihnen den Mikrofilm hin. Sie hoben ihn auf. „Das Original." „Wehe, wenn du nur bluffst." „Warum sollte ich." Sie hatten große Mühe damit. Sie entdeckten den pupillengroßen Mikrofilm im Glas, brachten ihn auf einen Bogen weißes Papier und prüften ihn mit einer Art Fadenzähler, den sie bei sich hatten. Erst der eine, dann der andere. „Kyrillisch", sagte der eine. „Buchstabengruppen. Nichts als immer nur vier Buchstaben." „Das muß es sein." Sie verfuhren mit dem Stück Film so sorgsam, als enthielte es die Rätsel der Schöpfung. Bevor sie gingen, sagte der eine: „Wenn es nicht das ist, was wir wollen, dann sehen wir uns wieder." „Das ist das letzte, was ich mir wünsche", rief Urban hinter ihnen her. Sie marschierten hinaus, durch den Torbogen und den Weg hinunter ins Tal. Das Mädchen aus Nowgorod hatte nicht nur Bedauern, sondern kalte Wut in den Augen. „Du hast es ihnen gegeben." „Warum nicht." „Das bringt ihnen einen Vorsprung." „Etwa den, den der Bau der ersten Wasserstoff 159
bombe den Amerikanern brachte. Praktisch so gut wie keinen. Eher weniger."
Er erklärte ihr, daß es noch lange dauern würde, bis die Erkenntnisse ihres Vaters wirklich anwend bar sein würden. „Wir sind also weiterhin sterblich, Kopekia nowa." „Dann sollten wir uns beeilen", kommentierte sie. „Es gibt noch keinerlei Aussichten, das Leben zu verlängern", sagte er. „Nicht für uns. In fünfzig Jahren vielleicht oder in hundert, aber nicht heute." Das Mädchen aus Nowgorod lag in seinen Armen. Er fühlte ihren wunderschönen Körper und wie er sich hart an ihn drängte. „Wir leben also nicht ewig." „Zum Glück." „Dann sollten wir uns beeilen", wiederholte sie, „und endlich etwas tun." „Und woran dachtest du?" „Ich möchte, daß du mich jetzt auf der Stelle sofort liebst." Sein schiefes Mißgeburtslächeln verschwand nahezu vollständig. „Dazu kam ich her." „Hast du Zeit mitgebracht?" „Genug." „Dann tu's", flüsterte sie. „Auf irgendeine Weise", sagte Bob Urban, „haben Frauen Glück bei mir." ENDE
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