Atlan Im Auftrag der Kosmokraten Nr. 741
Das merkwürdige Volk Ein Raumschiff wird zum Tollhaus
von Falk-Ingo Klee
A...
19 downloads
719 Views
347KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Atlan Im Auftrag der Kosmokraten Nr. 741
Das merkwürdige Volk Ein Raumschiff wird zum Tollhaus
von Falk-Ingo Klee
Auf Terra schreibt man die Jahreswende 3818/19, als der Arkonide unvermittelt in die Galaxis Manam-Turu gelangt. Das Fahrzeug, das Atlan die Möglichkeit der Fortbewegung im All bietet, ist die STERNSCHNUPPE. Und die neuen Begleiter des Arkoniden sind Chipol, der junge Daila, und Mrothyr, der Rebell von Zyrph. In den zehn Monaten, die inzwischen verstrichen sind, haben die so ungleichen Partner schon manche Gefahr bestanden – immer auf der Spur jener Kräfte, die schon an anderen Orten des Universums verheerend wirkten. In dieser Zeit hat Atlan neben schmerzlichen Niederlagen auch Erfolge für sich verbuchen können. So sind zum Beispiel die Weichen für eine Zusammenarbeit der verbannten Daila mit den Bewohnern ihrer Ursprungswelt gestellt worden – was sich auf den Freiheitskampf der Daila gegen das Neue Konzil positiv auswirken dürfte. Es bei dem bisher Erreichten zu belassen, wäre grundfalsch. Atlan weiß das – und seine Gefährten ebenfalls. Und so folgen sie verbissen selbst der kleinsten Spur des Erleuchteten und der seines mysteriösen Werkzeugs EVOLO. Die unheilvollen Aktivitäten des Gegners wirken sich auch auf den Planeten Cirgro aus, von dem es zur Massenflucht kommt. Dabei trifft Atlan auf DAS MERKWÜRDIGE VOLK…
1. Der Planet der Krelquotten hatte sich in ein Tollhaus verwandelt. Wer über ein Raumschiff verfügte, floh überstürzt von Cirgro, und nicht nur die Händler setzten sich ab, sondern auch die Hyptons und ihre Stahlmänner. Gebeutelt von Furcht und Schrecken, hysterisch vor Angst, kümmerte sich niemand mehr um Sicherheitsabstand, Startfolge und Flugvorschriften, jeder suchte sein Heil in der Flucht. Das Jaulen einer Sirene gellte durch das Schiff, aufgeregt blinkten Kontrollichter. »Kollisionsgefahr«, quäkte eine Automatenstimme. »Kollisionsgefahr! Schubrücknahme auf 4 und Kursänderung um 17.67 Punkte im Bereich L.« »Nein, nicht ausweichen«, gellte es aus der Traube der Hyptons. »Ein Zusammenstoß ist ohne das ermittelte Manöver unausweichlich«, beharrte der Rechner. »Kontakt mit dem Fremdobjekt ohne Flugkorrektur in 23,3 Kleinstzeiteinheiten.« »Abschießen, sofort abschießen«, kam es kreischend aus dem Pulk der weißhäutigen, an Fledermäuse erinnernden Wesen. Die Schreie verrieten höchste Not, von der »Weisheit der Quellen«, wie sich diese Traube nannte, deren Mitglieder sich allesamt als Angehörige des Quellenvolks verstanden, war nichts mehr zu spüren. Weggewischt war das Streben nach Macht und die fast sprichwörtliche Arroganz. Es galt, das eigene Leben zu retten, und da war ihnen alles recht – sogar Waffengewalt, ein Mittel, das sonst immer den Verbündeten überlassen blieb. Der Roboter, der den Raumer steuerte, brauchte nicht zu bestätigen. Eine stehende Verbindung im Normalfunkbereich übertrug die Anweisung in alle Raumgleiter der Stahlmänner, die das Schiff flankierten. Fünf Geschütztürme richteten sich aus, fünf Impulswerfer wurden auf das gleiche Ziel abgefeuert. Der Notautomatik des getroffenen Händlerschiffs blieb nicht einmal Zeit, die antiquierten Defensivsysteme aufzubauen. Ungeschützt verging der Flugkörper mit seiner dreiköpfigen Besatzung unter den konzentrierten Energien und verwandelte sich in eine Wolke aus Glut und Trümmern, die das Schiff der Hyptons durchstieß und durcheinanderwirbelte. Sie, die an alte Größe anknüpfen wollten und sich vorgenommen hatten, ihr Volk zu einer neuen – der beherrschenden – Macht zu machen, sie hatten nur noch einen Gedanken: Weg von hier, weg von diesem Grauen. »Fordert ligridische Kampfschiffe an!« Die Stimmen der Hyptons überschlugen sich, Verzweiflung paarte sich mit Todesangst. »Sie sollen kommen – sofort! Cirgro muß vernichtet werden. Das ist ein Befehl!« Unverschlüsselt, auf allen gängigen Frequenzen im Normal- und Hyperfunkbereich, wurde die Order abgestrahlt. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Bwanteth, der Kommandant eines ligridischen Verbandes, meldete sich. »Was geht auf Cirgro vor? Werdet ihr angegriffen?« Aufgeregt redeten die Quellenplaner durcheinander. Bwanteth verstand nur Bruchstücke. Von gespenstischen Vorgängen war die Rede, von Aufruhr und Rebellion. Die Angaben widersprachen sich teilweise, ohne daß es wirklich konkrete Hinweise darauf gab, was vorgefallen war. Der Ligride, der mehrmals nachfragte, aber nicht mehr als Gerüchte in Erfahrung brachte, gab entnervt auf. »Meine Einheiten sind unterwegs«, ließ er die Hyptons militärisch knapp wissen und beendete
damit das unerquickliche Gespräch. »Beeilt euch! Ihr müßt schnell kommen!« hörte er noch. * In einem unbegreiflichen Medium eilte die STERNSCHNUPPE ihrem Ziel entgegen. Drei Personen befanden sich an Bord: Atlan, Chipol und Mrothyr. Nach den Ereignissen in und um die ligridische Raumtankstelle BYTHA, von denen er durch Gelona Details erfahren hatte, war es dem Arkoniden nicht mehr gelungen, eine verwertbare Spur EVOLOS aufzunehmen. Auch der Psi-Spürer war nicht in der Lage, einen Hinweis über den Verbleib des unheimlichen Wesens zu geben, doch an Aufgeben dachte der Aktivatorträger nicht. Jetzt, Ende Oktober des Jahres 3819, hielt er sich bereits rund zehn Monate in der Galaxis ManamTuru auf. Was EVOLO bewirken konnte, war ihm in den letzten Wochen drastisch vor Augen geführt worden, doch offensichtlich war auch die Verwandlung der Ligriden des Stützpunkts BYTH nur ein Test - ein schrecklicher Test. Nach der Aufnahme des Psi-Potentials der Glückssteine auf Cirgro und der psi-ähnlichen Komponente der Mannannapflanzen auf Aytab, der Heimatwelt der Kaytaber, war EVOLO komplett. Das hatte Atlan auf dem Planeten der Kornesser einer Art telepathischen Botschaft entnommen, deren Herkunft unklar blieb. In Ermangelung anderer Anhaltspunkte hatte der Arkonide beschlossen, Cirgro anzufliegen. Vielleicht war durch EVOLOS Aktivität dort eine Spur auffindbar, die zum Erleuchteten führte, zumal auf dem Planeten auch noch die Kontaktzelle existierte. Und dann hielten sich auf jener Welt die Hyptons auf, die wußten, wo der Nebel Wrackbank zu suchen war. Die Aussicht, hier zu einem Erfolg zu kommen oder Fakten zu erhalten, die ihm weiterhalfen, schien ihm auf Cirgro am größten. Es war still in der Zentrale. Der Zyrpher döste vor sich hin, Chipol beschäftigte sich mit einem Imbiß aus der automatischen Küche, und der Aktivatorträger lag entspannt in einem der bequemen Sessel. Gedanklich beschäftigte er sich bereits damit, was sie auf dem Planeten der rätselhaften Krelquotten in Angriff nehmen konnten, welches Vorgehen am zweckmäßigsten war. Daran beteiligte sich auch der Logiksektor. Grundsätzlich begrüßte er die Initiative, Cirgro aufzusuchen, doch die Pläne, die Atlan entwickelte, kommentierte er mit bissigen Bemerkungen und verwarf sie als unausgegoren. Du entwickelst dich mehr und mehr zum destruktiven Denker fernab jeglicher Realität, dachte der Unsterbliche ärgerlich. Warum beteiligst du dich zur Abwechslung nicht einmal an konkreten Vorschlägen, anstatt nur den Neinsager zu spielen? Ich unterstütze dich durchaus, gab der Extrasinn blasiert zurück. Ich unterziehe deine Überlegungen einer logischen Prüfung und nenne dir Schwachstellen und Fehler. Ist das etwa destruktiv? Zumindest ist es wenig hilfreich, entgegnete Atlan. Die STERNSCHNUPPE beendete die geistige Auseinandersetzung mit einer Meldung. »Ich empfange Hilferufe der Hyptons, aber auch Notsignale anderer Intelligenzen auf verschiedenen Frequenzen. Sie sind unverschlüsselt.« Der Aktivatorträger schaltete sofort um. Auch seine beiden Begleiter zeigten Interesse und setzten sich auf. »Woher stammen die Sendungen?«
»Exakt aus dem Zielsektor. Dort muß das Chaos herrschen. Auch die Quellenplaner befinden sich auf der Flucht vor etwas, das nicht herauszufinden ist. Die Aussagen sind zu widersprüchlich, aber es muß etwas Furchtbares sein. Die Hyptons haben ligridische Kampfraumer angefordert, die Cirgro vernichten sollen.« »EVOLO!« rief der Daila spontan. »Das wäre denkbar«, murmelte Atlan. Er wandte sich an das Schiff. »Konkrete Angaben konntest du nicht herausfiltern? Ich meine, welcher Art die Bedrohung ist? Kann es der ›Weiße Unheimliche‹ sein, Nebel?« »Alles scheint denkbar und nichts unmöglich zu sein, aber detaillierte Angaben gibt es nicht, nur verwaschene Formulierungen, aus denen Hysterie und Angst sprechen. Das ist das einzige, was aus diesem Funksalat deutlich wird.« »Also müssen wir uns mit eigenen Augen ein Bild davon machen«, meinte Mrothyr. »Wann erreichen wir Cirgro?« »In zwei Minuten dreizehn ist die Überlicht-Flugphase beendet«, antwortete die STERNSCHNUPPE bereitwillig. »Du scheinst wieder einmal den richtigen Riecher gehabt zu haben, Atlan«, sagte Chipol. Auf Cirgro scheint der Teufel los zu sein. Wenn tatsächlich EVOLO die Ursache dafür ist, wird es viele Opfer geben. Warnend fügte der Logiksektor hinzu: Ihr seid dann auch sehr gefährdet. Der Aktivatorträger erschrak. Die Händler und die Hyptons flohen von der Welt der rätselhaften Krelquotten. Was geschah mit den Planetariern, was mit den dailanischen Mutanten, die dort lebten? Sie verfügten über keine eigenen Raumschiffe, um sich in Sicherheit zu bringen. Die Quellenplaner hatten Kampfeinheiten angefordert, die Cirgro atomisieren sollten. Würden sie wirklich in Kauf nehmen, daß Tausende intelligenter Wesen den Tod wegen einer mysteriösen Gefahr fanden, die von diesem Himmelskörper ausging oder sich dort etabliert hatte? »Gibt es Anzeichen für humanitäre Maßnahmen?« erkundigte sich der Arkonide mit rauher Stimme. »Ich meine, gibt es Hinweise dafür, daß die Bevölkerung gerettet werden soll? Wurden für diesen Zweck Schiffe angefordert?« »Nein. Eine Evakuierung wurde mit keinem Wort erwähnt.« Lähmendes Entsetzen erfaßte die drei so ungleichen Lebewesen in dem runden Kommandoraum der STERNSCHNUPPE. Blicklos starrte Atlan auf einen Bildschirm. Eben noch von einem wesenlosen Wallen erfüllt, zeigte er nun, was sich um Cirgro tat. Raumschiffe aller Arten strebten dem freien Raum entgegen. Auffällig waren ein paar Raumer ligridischer Fertigung – keine Kampfeinheiten – und die charakteristischen Raumgleiter der Stahlmänner. Chipol war aufgesprungen. »Wir müssen meine Artgenossen retten«, brach es aus ihm heraus. »Wer weiß, wie viele schon umgekommen sind durch das, was Cirgro bedroht, aber die verdammten Hyptons wollen den ganzen Planeten auslöschen. Das dürfen wir nicht zulassen! Warum sagst du nichts, Atlan? Willst du die Daila dort unten ihrem Schicksal überlassen?« »Nein, auch die Krelquotten nicht, nur – retten können wir sie wohl kaum alle, dazu sind unsere Möglichkeiten zu gering.« »Aber es ist unsere verdammte Pflicht und Schuldigkeit«, erregte sich der Junge. »Du vergißt, daß die STERNSCHNUPPE kein Großraumschiff ist.« Der Zyrpher versuchte, seiner Stimme einen versöhnlichen Klang zu geben. »Wieviel Personen könnten wir maximal an Bord nehmen? Zehn, zwölf? Wer will die Auswahl treffen? Du etwa? Nach welchen Kriterien richtest du dich, wenn du jemanden aufnimmst und den anderen abweist? Sympathie? Gesichtskontrolle? Nur Frauen und Kinder? Wer ist es wert, zu überleben?«
»Hör auf damit, ich halte das nicht aus«, schrie der junge Daila entnervt. »Eine solche Entscheidung kann niemand von mir verlangen.« »Mrothyr wollte dich nicht provozieren, sondern dir nur verdeutlichen, wie schwer es ist, deinen gutgemeinten Plan in die Tat umzusetzen, Chipol.« Der Aktivatorträger klopfte seinem jugendlichen Begleiter freundschaftlich auf die Schulter. »Natürlich werden wir helfen, doch was du vorhast, ist schlichtweg unmöglich. Wir müssen vor Ort Informationen sammeln, damit es uns gelingt, die Gefahr auszuschalten, die diese Welt bedroht. Wenn es uns gelingt, sind alle gerettet, die auf Cirgro leben, und die Hyptons haben keine Veranlassung mehr, den Planeten zu vernichten.« »Wir müssen schnell handeln und auf der Stelle landen«, drängte Chipol. »Genau das habe ich auch vor.« Überstürze nichts, sonst bringst du dich um Kopf und Kragen. Etwas, vor dem sogar die Hyptons Reißaus nehmen, ist mehr als gefährlich. Ich habe nicht die Absicht, mein Ableben auf den heutigen Tag festzulegen, dachte Atlan zurück. Wie er erwartet hatte, blieb eine Erwiderung aus. So konnte er sich ganz auf das Geschehen um Cirgro konzentrieren, auf den die STERNSCHNUPPE zuhielt. Fünf ligridische Einheiten zählte der Arkonide, um die zahlreiche Raumgleiter herumwimmelten. Anders als die Schiffe der Händler stießen sie nicht weiter in den Raum vor, sondern bezogen Position in einer Höhe zwischen 4.500 und 4.900 Kilometern. Ob die Quellenplaner mittlerweile ihrer Panik Herr geworden waren und beobachteten oder ob sie sich so weit weg von dem Planeten sicher fühlten und die Ankunft der Kampfraumer abwarten wollten, war nicht zu erkennen. Noch immer starteten vereinzelte Händlerschiffe, Nachzügler ritten auf Flammenbündeln durch die aufgewühlte Atmosphäre und durchstießen mit Vollast die wetterleuchtenden Luftschichten. Ionisierte Gase erzeugten grelle elektrische Entladungen, die Hüllen einiger Flugkörper wurden von der Reibung bis zur Rotglut erhitzt. Die Besatzungen nahmen weder darauf Rücksicht noch auf den Umstand, daß die Welt bewohnt war. Als wären sie von Furien gehetzt, aktivierten die Händler gleich nach dem Abheben die Triebwerke, ohne sich um die Schäden zu kümmern, die dadurch auf Cirgro angerichtet wurden. »Denen scheint es ganz schön mulmig geworden zu sein«, kommentierte Mrothyr. »Es wäre nicht schlecht, wenn wir wüßten, was sie so in Angst und Schrecken versetzt hat.« Die STERNSCHNUPPE faßte den letzten Satz so auf, daß von ihr eine Antwort erwartet wurde. »Darüber gibt es keine Informationen, meine Sensoren können nichts anmessen, was Aufschluß geben könnte.« Der Arkonide seufzte lautlos. Auch die hereinkommenden Bilder lieferten keinen Anhaltspunkt dafür, welcher Art die Bedrohung war. Zwar mochte er das alte terranische Sprichwort »Gefahr erkannt, Gefahr gebannt« so nicht akzeptieren, doch ein Körnchen Wahrheit steckte darin schon. Es widersprach der Mentalität der Hyptons, sich durch irgendeinen Spuk ins Bockshorn jagen zu lassen. Wer oder was trieb sein Unwesen auf dem Planeten? War es EVOLO, jener furchtbare vollendete EVOLO, der die Ligriden mit ihrem Stützpunkt BYTH in den Untergang getrieben hatte und den die Quellenplaner vermutlich so noch nicht kannten, aber jetzt in Aktion erlebt hatten? Atlan fuhr sich über die brennenden Augen. Er hatte so intensiv auf den Monitor gestarrt, als könnte er die Optiken dadurch zwingen, Details zu erfassen, die den Schleier des Geheimnisses lüften konnten, zugleich hatte er sich vergeblich den Kopf darüber zerbrochen, in welche Kategorie das einzuordnen war, was auf Cirgro wütete. Wie es aussah, mußten sie sich erst in die Höhle des Löwen begeben, um das zu erfahren. Der Strom der Flüchtenden war verebbt, kein Schiff startete mehr vom Planeten. Die STERNSCHNUPPE, die in den letzten Minuten langsamer geworden war, bremste weiter ab. Der
Aktivatorträger überließ es dem Diskus, sich einen Landeplatz zu suchen. Dazu kam es aber nicht. Bevor der wendige Raumer die 10.000-km-Marke erreichte, verließen die Einheiten mit den Hyptons an Bord und die Raumgleiter ihre Positionen und flogen dem Ankömmling entgegen. Die Manöver waren eindeutig: Man wollte der STERNSCHNUPPE den Weg verbauen und sie abdrängen. »Warum wollen sie uns daran hindern, zu Cirgro zu gelangen?« erboste sich Chipol. »Darauf weiß ich auch keine Antwort, aber bestimmt tun sie es nicht, um uns vor dem Verderben zu bewahren«, knurrte Atlan. »Wir werden landen.« Das Schiff hatte bereits ein Ausweichmanöver eingeleitet. Augenblicklich änderten auch die Roboter der Quellenplaner den Kurs ihrer Flugkörper und strebten auf Abfangkoordinaten zu. Das geschah ein bißchen schwerfällig und behäbig, da die achtzehn Meter langen Flugkörper es nur maximal auf 0,1 LG brachten und mit Beschleunigungswerten aufwarteten, die den Konstrukteuren wahrlich nicht zur Ehre gereichten. Die STERNSCHNUPPE die nur noch eine Fahrt von 42 km/sec machte und weiter die Geschwindigkeit drosselte, reagierte sofort. Mit einer eleganten Schleife, die auf den ersten Blick Rückzug signalisierte, narrte sie die kleine Flotte. Bevor die unschlüssig gewordenen Stahlmänner die eigentliche Absicht erkannten, erhöhte der Diskus das Tempo durch eine kurze Schubphase und tauchte nach unten weg. »Gut gemacht, STERNSCHNUPPE«, freute sich Chipol. »Denen hast du es aber…« Erschreckt brach der Daila ab. Für die Jäger war der Raumer unerreichbar geworden, nicht jedoch für deren Waffen. Daß die Roboter es ernst meinten damit, niemand zum Planeten durchzulassen, zeigte sich auf der Stelle. Fast synchron blitzte es bei den acht Verfolgern auf – sie hatten ihre mittelschweren Impulswerfer eingesetzt und lösten Salve auf Salve aus. Gedankenschnell hatte sich der Diskus in seine Schirmfelder gehüllt. Üblicherweise nicht sichtbar, verfärbten sie sich unter dem Aufprall der konzentrierten Energien in ein schimmerndes Blau. Nicht einmal der Hauch einer Erschütterung drang zu den drei Passagieren durch. »Keine Gefahr«, beruhigte die STERNSCHNUPPE. »Mit dieser Belastung werden meine Defensivsysteme mühelos fertig. Ich setze den Flug wie geplant fort.« »Keine Einwände«, bestätigte Atlan, der die Qualitäten des Raumers kannte. »Haben die Hyptons dich über Funk gewarnt, Cirgro anzufliegen?« wollte Mrothyr wissen. »Nein, es gab keinen Kontakt«, erklärte das Schiff. »Das ist auch nicht die feine Art, gleich gezielte Schüsse abzugeben«, mokierte sich der Zyrpher. »Was kann den Hyptons daran gelegen sein, uns zu vernichten?« »Vielleicht können wir das ergründen, wenn wir wissen, wovor sie geflohen sind«, gab der Arkonide einsilbig zurück. Wieder beobachtete er intensiv den Bildschirm, dabei kümmerten ihn die Raumgleiter weniger. Zwar setzten sie nach und feuerten immer noch ununterbrochen, doch ernsthaft gefährden konnten sie den Diskus nicht. Das ganze Interesse des Aktivatorträgers galt dem Planeten. Er wirkte fast greifbar nahe, und obwohl die Aufnahmen von der Oberfläche klar und deutlich hereinkamen, offenbarten sie nicht, was diese Welt in Angst und Schrecken versetzt hatte. Chipol, der ebenfalls vergeblich nach einem optischen Hinweis suchte, machte aus seiner Enttäuschung keinen Hehl. »Allmählich glaube ich, daß wir nichts entdecken werden. Vermutlich sind die Hyptons auf irgendeinen Hokuspokus hereingefallen.«
»Das denke ich nicht«, widersprach Atlan. »Dieses Volk ist zu intelligent und zu abgeklärt, um Gespenster zu sehen oder sich durch mysteriöse Vorgänge beeinflussen zu lassen. Es muß schon etwas dahinterstecken, eine ganze Menge sogar, denn daß sie in Panik geraten und sich einfach zurückziehen, ist ganz und gar nicht ihre Art. Sie wollen nämlich…« »Entschuldige, daß ich dich unterbreche«, fiel die STERNSCHNUPPE dem Arkoniden ins Wort, »aber ich halte es für sinnvoll, wenn ich mich zurückziehe. Mit dieser Streitmacht kann ich es nicht aufnehmen.« Die Optiken blendeten eine Flotte der Ligriden ein, die überraschend über Cirgro aufgetaucht war. Das Kernstück des Verbandes bildeten mehrere Großraumer vom gleichen Typ wie die ZYRP’O’SATH. Mit diesen Giganten konnte sich der Diskus wirklich nicht anlegen, ohne den kürzeren zu ziehen. Atlan, der nicht damit gerechnet hatte, daß die ligridischen Schiffe so schnell auftauchen würden, gab schweren Herzens den Befehl zum Rückzug. Während sich die STERNSCHNUPPE mit hoher Geschwindigkeit vom Planeten entfernte unbehelligt von den Stahlmännern -, hingen die Augen der drei Männer wie gebannt am Hauptbildschirm. Jeder wußte, was nun kommen würde: Die Vernichtung Cirgros – und sie konnten nichts dagegen tun. Selten zuvor hatte sich der Arkonide, so hilflos gefühlt. Das Gefühl der Ohnmacht erzeugte Verbitterung, auch bei seinen Begleitern. Atlans Gesicht war maskenhaft starr, Mrothyr bleckte das raubtierhafte Gebiß und hatte die vierfingrigen Hände ineinander verhakt, Chipol saß unnatürlich steif in seinem Sessel, sein Antlitz zeigte ein verräterisches Zucken. Die militärisch gedrillten Ligriden benötigten nur ein paar Minuten, um ihre Raumer zu formieren, dann rasten die Schiffe weiträumig gestaffelt auf den Planeten zu, während sich die Einheiten der Hyptons und ihrer Roboter absetzten, um den Angreifern das Operationsfeld zu überlassen und ihnen nicht ins Gehege zu kommen. Angesichts dieser Demonstration der Stärke wuchs auch bei zahlreichen Händlern wieder der Mut. Sie unterbrachen quasi ihre Flucht, um zu sehen, was sich tat. In ihrer Kopflosigkeit hatten viele gar nicht mitbekommen, warum die Ligriden gerufen worden waren. Sie ahnten nichts von der Tragödie, die sich anbahnte. Krämerseelen, die sie waren, warteten sie darauf, daß die Gefahr beseitigt wurde und sie anschließend wieder ihren Geschäften nachgehen konnten – auf Cirgro. Der Daila wandte sich ab. Er konnte nicht mitansehen, wie die Ligriden eine Welt voller Leben vernichteten. * Das Zerstörungsgeschwader fächerte auseinander, um den Planeten in eine tödliche Zange zu nehmen. Noch war kein Schuß abgegeben worden, als plötzlich Unordnung in die Reihen der Angreifer kam. Ohne erkennbare Ursache brachten Schiffe aus der Formation aus und vollführten sinnlose Manöver. Drei Raumer wandten sich nach rückwärts und rasten mit Vollast von Cirgro weg, ohne Rücksicht auf die anderen Flugkörper zu nehmen. Eine kleine Einheit zickzackte wie ein exotisches Insekt durch das All und wäre um ein Haar mit einem Riesenschiff kollidiert, wenn dieses nicht mit einem Gewaltmanöver ausgewichen wäre. Mehrere Raumer gerieten ins Trudeln, als ob sie steuerlos geworden wären, andere schienen außer Kontrolle geraten zu sein. Anstatt weiter Fahrt zu machen, gab es abrupte Beschleunigungsphasen und Schubumkehr. Wie betrunkene Lebewesen taumelten die Flugkörper hin und her, ohne wirklich von der Stelle zu kommen.
Zwei Großkampfschiffe brachen den Anflug ohne Notwendigkeit ab und bewegten sich aufeinander zu. Eine kleine Einheit, die sich wie ein Kreisel um die eigene Achse drehte, wurde gerammt und zerbrach durch den Aufprall. Trümmerstücke und leblose Körper wurden als stumme Zeugen des Dramas davongewirbelt, doch der Riese setzte seinen Weg fort, als wäre nichts geschehen. Ein Zusammenstoß zwischen den beiden Giganten war unausweichlich. Wie gereizte Stiere rasten sie aufeinander zu, und keiner der Piloten machte Anstalten, den Kurs zu ändern. Bevor es zum Zusammenstoß kam, der den Untergang beider Raumer bedeuten mußte, explodierte einer der Kolosse ohne erkennbaren äußeren Einfluß. Die Hülle platzte auf, eine riesige Stichflamme schoß daraus empor, und dann verging der Flugkörper in einer gewaltigen Detonation. Dort, wo er sich eben noch befunden hatte, entstand eine Miniatursonne von ungeheurer Leuchtkraft, die sich rasch ausdehnte und in gleichem Maße an Helligkeit verlor. Was nicht sofort in der Glut verging, wurde wegkatapultiert und sauste als Schrott davon. Eine nur schwach bewaffnete Beobachtungseinheit ereilte das gleiche Schicksal, dann mußte ein Kreuzer daran glauben, gleich darauf wurde ein anderes Schiff zerrissen, das mit desaktiviertem Antrieb dahindriftete. Der Äther war erfüllt von Hilferufen und unverständlichen Funksprüchen. Sinnlose Meldungen gingen über die Antennen, Panik hatte die Ligriden erfaßt, Mannschaften und Offiziere waren dem Wahnsinn nahe, sie wußten nicht mehr, wo sie sich befanden. Ihr getrübtes Wahrnehmungsvermögen gaukelte ihnen Schreckensbilder und gräßliche Visionen vor. Auch Bwanteths Schiff hatte sich in ein Tollhaus verwandelt. Spezialisten ließen ihre Bedienungspulte einfach im Stich und suchten, verfolgt von imaginären Schrecken, ihr Heil in der Flucht, andere gingen aufeinander los, um sich der vermeintlichen Bestien zu entledigen, die sie angriffen. Der Kommandant bildete da keine Ausnahme. Von Horrorvorstellungen gepeinigt, glaubte er, in den Schlund eines Ungeheuers zu sehen, das ihn zu verschlingen drohte. Unzählige glühende Augen starrten ihn gierig an, er spürte den heißen, stinkenden Atem in seinem Gesicht. Von Todesangst gepackt, zog Bwanteth seinen Strahler und feuerte ihn ab. Das Bild verschwand. Fassungslos blickte der Ligride auf das zerstörte Gerät. Was er für eine Riesenechse gehalten hatte, war in Wirklichkeit die verwaiste Orterkonsole. In diesem lichten Moment begriff er, daß er und seine Leute beeinflußt wurden – es mußte von Cirgro ausgehen. »Zurück!« brüllte er in sein Mikrophon. »Auf der Stelle zurückziehen!« Bwanteth spürte, daß sein Geist erneut in jene Regionen abzugleiten drohte, die sich dem bewußten Denken entzogen. Er hatte das Gefühl, zu fallen und in einen Abgrund zu stürzen. Sein Verstand sagte ihm, daß das nur vorgegaukelt war, aber die nicht kontrollierbaren Teile des Gehirns übermittelten die Details eines solchen Sturzes in aller Deutlichkeit. Der Kommandant bäumte sich dagegen auf und krallte sich an der Sessellehne fest. Unter Aufbietung aller Willenskraft gelang es ihm, seinen Terminal zu bedienen und eine Kurskorrektur einzugeben, dann brach der von der Logik errichtete Abwehrwall in sich zusammen, die Woge des Wahnsinns schwappte auch wieder über ihn hinweg. Irgendwo im mächtigen Bauch des Raumers grollte und rumorte es, das Schiff schüttelte sich, erzitterte, als eine außer Kontrolle geratene Anlage in die Luft flog. Bwanteths Sinnesorgane bezogen das, was sich tat, in den Wach-Alptraum mit ein. Ein Erdbeben erschütterte das kahle Plateau, auf dem er sich befand, krachend landeten Felsblöcke links und rechts neben ihm auf dem steinigen Untergrund. Seine Hoffnung, daß einer der Brocken das riesige Reptil traf, vor dem er floh, erfüllte sich nicht. Er rannte um sein Leben… Und dann verblaßten die Visionen allmählich. Ernüchtert erkannte die Besatzung, daß sie genarrt
worden war, daß die Erscheinungen, so real sie auch waren, nur vorgegaukelt waren. Jemand oder etwas hatte sie beeinflußt, und zwar so intensiv und nachhaltig, daß nicht nur der Angriff auf den Planeten gestoppt wurde, sondern daß es fast zum Untergang des gesamten Verbandes geführt hätte. Wie geprügelte Hunde kehrten die Techniker an ihre Plätze zurück. Der Kommandant, der selbst so etwas wie Scham verspürte, machte seinen Untergebenen keine Vorwürfe. Sie alle waren die Opfer eines mysteriösen Vorgangs geworden, der nicht vorauszusehen war. Fünf Einheiten, darunter ein Großkampfschiff, waren der mißglückten Aktion zum Opfer gefallen. Einen weiteren Versuch, den Planeten zu vernichten, wollte Bwanteth nicht riskieren. Es hatte sich gezeigt, daß die Erscheinungen abklangen, wenn man sich von Cirgro entfernte und das Vorhaben aufgab, diese Welt zu zerstören. Selbst wenn die Hyptons noch immer darauf bestehen sollten, nochmals würde er nicht den Befehl dazu geben, diesen Himmelskörper anzufliegen. Es würde ohnehin problematisch werden, seinen Vorgesetzten zu erklären, daß mehrere Schiffe verlorengegangen waren, ohne daß es zu einer bewaffneten Auseinandersetzung gekommen war. Nach einer ersten Überprüfung hielten sich die Schäden an und in den Schiffen in Grenzen. In den meisten Fällen konnten sie mit Bordmitteln behoben werden, nur ein Kreuzer meldete bedingte Manövrierfähigkeit. All das registrierte der Kommandant, aber er registrierte noch etwas: Die Händler, die ihre Schiffe in sicherer Entfernung gestoppt hatten, waren Zeugen der schmachvollen Niederlage geworden. Das konnte als Schwäche der Ligriden ausgelegt werden und sie der Lächerlichkeit preisgeben. Zuschauer waren auch die Hyptons, und das war eigentlich noch schlimmer, doch gegen sie konnte Bwanteth nichts unternehmen. Sie waren Verbündete. Hätte er gewußt, daß die Quellenplaner ihn und sein Volk nur als Büttel benutzten, wäre seine Entscheidung vielleicht anders ausgefallen, so konzentrierte sich seine ganze Wut über den Mißerfolg auf die arglosen Handelsleute. »Die Händlerschiffe werden angegriffen und vernichtet«, ordnete der Führer des Verbandes an. Froh, es mit einem erkennbaren Gegner zu tun zu haben, lösten die Raumfahrer ihre Schiffe aus dem Verband, in dem sie sich zusammengedrängt hatten, und machten Jagd auf die Flugkörper, die zivilen Zwecken dienten. * Kommentarlos hatte die STERNSCHNUPPE die empfangenen Hilferufe und Funksprüche der Ligriden an die kleine Besatzung übermittelt. Zusammen mit den aufgenommenen Bildern besaßen Atlan und seine Gefährten dadurch etwa den gleichen Kenntnisstand wie Bwanteth, denn es war nicht sonderlich schwer, sich zusammenzureimen, was sich da getan hatte. Chipol strahlte über das ganze Gesicht. »Sie haben es nicht geschafft, Cirgro zu vernichten«, jubelte er. »Das haben bestimmt die dailanischen Mutanten bewirkt.« Atlan und Mrothyr, die nicht weniger froh waren als der Junge, waren davon zwar nicht überzeugt, widersprachen jedoch nicht. Die Zahl der Theorien war eine Legion. Eine Erklärung war so gut oder so schlecht wie die andere, wenn es keine schlüssigen Hinweise und Fakten gab. »Wir müssen uns Informationen beschaffen«, meinte der Zyrpher. »Und das geht nur vor Ort.« Der Arkonide nickte beifällig. Nach wie vor beobachtete er den Hauptbildschirm, auf dem zu erkennen war, daß die Ligriden sich gegen die Händler wandten und versuchten, ihre Raumer zu
zerstören. Panikerfüllt flohen die Krämer vor den feuerspeienden Ungetümen und versuchten sich abzusetzen, bevor die Angreifer nahe genug heran waren, um ihre Waffen einzusetzen. »Diese Aktion findet zwar nicht meine Zustimmung, aber sie ermöglicht es uns, Cirgro anzufliegen«, sagte der Aktivatorträger. »Die Ligriden sind beschäftigt. Das ist unsere Chance.« Der Diskus nahm Fahrt auf und beschleunigte. Zufrieden beobachteten die drei so ungleichen Lebewesen, daß den Ligriden kein großer Erfolg beschieden war. Den meisten Händlern gelang es, sich abzusetzen. Die Hyptons und ihre Roboter beteiligten sich nicht an der Verfolgung. Als ginge sie das alles nichts an, begnügten sie sich mit der Rolle passiver Zuschauer. Der Planet kam schnell näher. Schon füllte er den ganzen Bildschirm aus. »Austritt aus dem Überraum in 2.19.07 Minuten«, ließ sich die STERNSCHNUPPE vernehmen. Verblüfft sahen sich die drei an. »Aber du bewegst dich doch durch das Normal-Universum«, widersprach Atlan. »Das ist korrekt. Ich habe den Kurs neu berechnet und steuere Tener an. Hyperphysikalische Störeinflüsse sind nicht anmeßbar.« »Du spinnst ja«, entfuhr es Chipol. »Das hier ist nicht das Latos-Tener-System. Der Planet vor uns ist Cirgro.« Ein heftiger Ruck ging durch das Schiff, als es abrupt abbremste und mit hohen Werten verzögerte. Jeder rechnete mit einer bedrohlichen Situation, doch die Optiken zeigten keine wie auch immer geartete Gefahr. Der Arkonide reagierte ärgerlich. »Was soll denn der Unsinn? Was faselst du da von Tener?« »Ich habe auf Schubumkehr geschaltet, um nicht auf Cirgro zu zerschellen.« »Davon kann überhaupt keine Rede sein«, mischte sich nun Mrothyr ein. »Der Planet ist noch zigtausend Kilometer entfernt. Wir haben ja noch nicht einmal die Exosphäre erreicht.« »Das ist eine visuelle Täuschung. Der Abstand beträgt nur noch dreitausendsiebenhundert Meter.« Der Aktivatorträger fuhr sich über die Augen, doch das Bild auf dem Monitor änderte sich nicht. Es zeigte Einzelheiten auf der Welt, aber nicht so deutlich wie beim Landeanflug. »Einer von uns ist verrückt«, sagte Atlan – und erschrak. Die Wände der Zentrale begannen sich zu verformen, schon glich das Schott einem Hohlspiegel. »Los, in die Raumanzüge, das Schiff ist in ein Gravitationsfeld geraten und wird zerquetscht!« schrie der Arkonide. Er wollte aufspringen, als der Diskus sich plötzlich zur Seite neigte. Der Boden riß auf, und aus dem Loch stemmte sich ein riesenhafter Haluter, der mit seinen Handlungsarmen nach Atlan griff. Der Aktivatorträger hörte einige gurgelnde Schreie. Er wollte dem Titanen ausweichen, als der sich in einen kugelköpfigen Traykon verwandelte, der einen Strahler auf ihn richtete. Und dann war die vertraute Umgebung auf einmal weg. Er befand sich auf der Talsohle einer tiefen Schlucht, in der es von Ungeheuern und Bestien nur so wimmelte. Eine gewaltige Fledermaus flatterte auf ihn zu und versuchte, ihn mit ihren Krallen zu packen und wegzutragen. Im letzten Augenblick konnte sich Atlan ducken und erhielt einen Schlag vor die Brust, der ihm für eine Sekunde die Luft nahm. Ein Wesen mit Dämonengesicht, das aussah, als wäre es aus Beton gegossen, hatte ihm diesen Hieb mit der steinernen Faust versetzt. Bevor es erneut ausholen konnte, bekam es einen Tritt von einem Zyklopen und zerbrach in tausend Stücke. Schaurig hallte das Gelächter des Einäugigen wider. Bei jedem Schritt, den er machte, erbebte der Fels.
Von Grauen gepackt, wandte sich der Arkonide zur Flucht, doch er kam zu Fall. Ekelhaftes, bleiches Gewürm hatte sich um seine Beine geschlungen und schlängelte sich am Körper hoch, borstige Fühler am augenlosen Kopf sonderten ein schleimiges Sekret ab, das die Kleidung zersetzte. Er griff nach den Würmern, um sie sich von den Gliedern zu reißen, als er von hinten gepackt und herumgerissen wurde. Zwei Krakenarme preßten seinen Brustkorb zusammen… Auch Chipol wehrte sich aus Leibeskräften. Ein hünenhafter Ligride würgte ihn und wollte ihn in die Flammen eines Schmelzofens stoßen. Er spürte die Hitze, Schweiß lief über sein Gesicht. Lange würde er nicht mehr Widerstand leisten können, denn seine Kräfte erlahmten zusehends. Und dann, mit einer ungeheuren Anstrengung, konnte er sich doch aus der Umklammerung lösen. Der Angreifer stolperte, fiel in das Feuer und verging, auch der Ofen löste sich auf, wurde zu Wasser. Ein dreiköpfiges Monstrum mit zähnestarrenden Kiefern tauchte daraus auf, schnappte nach den Füßen des Daila und zog ihn in das nasse Element… Eine Horde wilder Gestalten bedrängte Mrothyr. Die Kobolde trugen Totemmasken von abstoßender Häßlichkeit und waren die reinsten Muskelpakete. Wie besessen prügelten sie auf den Zyrpher ein, der sich durch die pausenlosen Attacken kaum verteidigen konnte. Immer weiter wurde er zurückgedrängt, auf eine Grube zu, in der geifernde Raubtiere lauerten. Verzweifelt warf er sich auf den Anführer, der die scheußlichste Maske trug, riß ihn zu Boden und umklammerte seinen Oberkörper… Der Spuk verschwand so schnell, wie er gekommen war. Die drei fanden sich miteinander ringend auf dem Boden wieder. Mrothyr hatte Atlan gepackt, der wiederum Chipol beutelte. Erschöpft und noch von dem eben erlebten Schrecken gezeichnet, ließen sie voneinander ab. In ihrem Bemühen, sich der schrecklichen Trugbilder zu erwehren, hatten sie sich gegenseitig Blessuren zugefügt. Alles war wie immer. Keine deformierten Wände, kein aufgeplatzter Boden, kein Feuer, kein Meer, keine Schlucht. Erleichtert nahmen sie wieder in ihren Sesseln Platz. Der Daila humpelte leicht. Das dreiköpfige Monstrum namens Atlan hatte offensichtlich recht fest zugebissen. »Jetzt haben wir die gleichen Erfahrungen gemacht wie die Ligriden«, keuchte der Zyrpher. »Ich sah mich schon als Beute von wilden Tieren.« »Es war grauenhaft«, bestätigte Chipol. Atlan sagte nichts. Ein Blick auf den Bildschirm zeigte ihm, daß der Diskus sich von Cirgro entfernte. Vermutlich erfolgte die Beeinflussung nur dann, wenn eine bestimmte Entfernung zum Planeten unterschritten wurde. Nun konnte er auch die Fehlreaktionen der STERNSCHNUPPE deuten. Eine wahrhaft teuflische Methode, sich ungebetenen Besuch vom Hals zu halten, weil sogar technische Systeme genarrt wurden und die Orientierung verloren. Ganz recht, kommentierte der Logiksektor. Warum hast du mich nicht gewarnt? dachte der Arkonide vorwurfsvoll. Ich hatte mit dem gleichen Problem zu kämpfen wie du, gestand der Extrasinn. Die leichte Verwirrung der STERNSCHNUPPE hielt ich für eine vorübergehende Erscheinung, die ich nicht mit der Beeinflussung in Zusammenhang brachte, da weder du noch deine Begleiter Wahnvorstellungen hatten. Offensichtlich reagieren positronische Systeme empfindlicher darauf. Zumindest für den Diskus scheint das zuzutreffen, gab der Aktivatorträger gedanklich zurück. Wie hat er es dann aber geschafft, aus dem Strahlungsbereich oder was immer das auch sein mag, zu entkommen? Warum fragst du das Schiff nicht selbst? Ich habe keine Erklärung dafür. Außerdem beschäftigt mich etwas anderes. Und was ist das? wollte Atlan wissen. Unsere Absichten waren friedlicher Natur, dennoch erlebten wir dasselbe Fiasko wie die Ligriden.
Was ist der Grund dafür? Chipol gab einen erstickten Laut von sich, gleich darauf erschütterte ein heftiger Stoß das Schiff. Alarmiert blickte der Arkonide auf den Bildschirm. Sechs Flugkörper, darunter ein Großkampfschiff, machten Jagd auf den Diskus. Wieder blitzte es bei den Verfolgern auf. Erneut erhielt der Raumer einen Treffer. Die Schutzschirme verfärbten sich rötlich, ein deutliches Zeichen für eine starke Belastung. »Ich muß mich absetzen«, erklärte die STERNSCHNUPPE. »Leider sind die Ligriden auf mich aufmerksam geworden, als ich mit mir selbst beschäftigt war, sonst wären wir längst in Sicherheit.« Der Diskus kippte ab und tauchte nach unten weg. So entging er knapp der nächsten Salve und setzte seinerseits Waffen ein. Die Schirmfelder des am weitesten aufgerückten Kreuzers glühten auf und wurden instabil, dann brachen die Defensivsysteme zusammen. Schutzlos geworden, hätte der nächste Schuß ausgereicht, um das Schiff zu vernichten, doch die STERNSCHNUPPE begnügte sich damit, Sperrfeuer zu schießen. Der Kreuzer ließ sich zurückfallen, und auch die kleineren Einheiten hatten Respekt bekommen vor der Feuerkraft des vergleichsweise winzigen Flugkörpers. Sie begaben sich in den Schutz des Riesen. Wütend darüber, daß der Diskus es wagte, einer solchen Übermacht zu trotzen, setzte dessen Befehlshaber sämtliche Werfer ein. Rings um die STERNSCHNUPPE entstanden grelle Miniatursonnen, pausenlos leuchteten die Schirme in Blau, Violett oder Rot. Obwohl der Diskus seine gesamten Qualitäten ausspielte, beobachteten die zur Untätigkeit verdammten Passagiere die ungleiche Auseinandersetzung mit gemischten Gefühlen. Schnell und wendig war sie ja, die STERNSCHNUPPE, aber was der Gegner zu bieten hatte, war auch nicht zu verachten. Mit abenteuerlichen Manövern und unorthodoxen Kurswechseln gelang es dem Schiff oft im letzten Moment, einem Volltreffer zu entgehen, die Distanz vergrößerte sich. Und dann war die Geschwindigkeit erreicht, um in den Linearraum überwechseln zu können. Schlagartig verschwanden der Planet, seine Sonne und die Ligriden von den Bildschirmen. Der letzte Eindruck war, daß die kriegerischen Helfer der Hyptons Cirgro aus sicherer Entfernung bewachten, ohne zu wissen, worum es eigentlich ging. »Puh, das war knapp.« Chipol wischte sich den Schweiß von der Stirn. »So viel Glück ist kaum zu fassen. Ich dachte schon, unser letztes Stündchen hätte geschlagen.« »Ja, es sah wirklich sehr brenzlig für uns aus«, pflichtete der Arkonide bei. »Das ist eine schamlose Untertreibung«, stöhnte Mrothyr. »Manchmal wünschte ich, ich hätte deine Nerven.« »Alles ist relativ«, ließ sich die STERNSCHNUPPE vernehmen. »Welchen Kurs soll ich nehmen?« »Einen, der uns ein paar Stunden Ruhe und Erholung verschafft«, wünschte sich der junge Daila. »Die letzten Stunden hatten es in sich.« »Auch mir täte eine Pause gut.« Der Zyrpher wirkte müde und abgespannt. »Ich bin wahrlich kein Feigling, aber die psychische Belastung muß erst einmal verarbeitet werden. Warum gönnen wir uns nicht alle ein Nickerchen und überlegen ausgeruht, wie wir weiter vorgehen wollen? Der Plan, auf Cirgro Informationen zu sammeln, hat sich ja wohl zerschlagen.« Er musterte den Aktivatorträger kritisch. »Oder hast du vor, es dort noch einmal zu versuchen?« »Nein, nur ein Verrückter käme auf den Gedanken«, sagte Atlan zu Mrothyrs Erleichterung. »Ich habe nichts dagegen, wenn ihr euch in eure Kabinen zurückzieht.« »Wie ich dich kenne, bedeutet das, daß du bereits neue Überlegungen angestellt hast«, mutmaßte Mrothyr. »Falsch«, erkannte Chipol. »Seine Überlegungen sind bereits abgeschlossen. Was also hast du vor?«
»Ihr habt mich durchschaut.« Wider Willen mußte der Unsterbliche lachen. Nicht die Situation erheiterte ihn, es war vielmehr die Tatsache, daß seine Gefährten ihn quasi ertappt hatten, ohne verbiestert zu reagieren. »Ich denke, es ist sinnvoll, eine Spur der entkommenen Schiffe zu finden und nachzufragen, was sich wirklich auf Cirgro getan hat.« Auf Terra nannte man das »eine Scharte auswetzen«, vermerkte der Extrasinn mit mildem Spott. Der Aktivatorträger ging nicht darauf ein. Er fuhr fort: »Wir konnten beobachten, daß einige Händler erst sehr spät flohen – die Hyptons jedenfalls hatten sich bereits abgesetzt. Es kann dahingestellt bleiben, ob die Mitglieder des Neuen Konzils die Gefahr als erste erkannt haben oder zuerst bedroht wurden, Tatsache ist, daß auch die Händler vor etwas flüchteten, das sie in Angst und Schrecken versetzte. Kaufleute sind im allgemeinen recht nüchterne Charaktere, die ihre Sinne beisammen haben und sich nicht einfach ins Bockshorn jagen lassen.« »Du hast selbst gesagt, daß die Hyptons keine Spinner sind, die sofort aufgeben«, mokierte sich Chipol. »Das ist richtig, aber Händler gehören ebenfalls in diese Kategorie.« »Ich beginne mit der Suche«, meldete der Diskus. Er fiel in das Normaluniversum zurück. Wie ein Nachtgreif nach Anbruch der Dunkelheit jagte die STERNSCHNUPPE durch die Schwärze des Alls, nicht mehr als ein Staubkorn im Vergleich zu den Fackeln des Universums, den Sonnen und Sternen. Und irgendwo in der Finsternis dieser Galaxis verbarg sich der Erleuchtete…
2. Schwerfällig schob sich der massige Körper über den mit spärlichen Flechten bewachsenen Untergrund. Fast drei Meter durchmessend, von grüner Farbe und dem Aussehen nach ein abgeflachter Seeigel, bewegte sich der Bikkre wie eine Schnecke über den kargen Boden. Doch es war nicht ein einziger Fuß, der »Murmelnder Bach« mobil machte, sondern zahllose Scheinfüßchen. Die weitere Aufgabe der Pseudopodien bestand darin, Nahrung aufzunehmen. Hinter dem merkwürdigen Geschöpf blieb eine vegetationslose Schneise zurück. Wie Weichtiere raspelten die Freß- und Transportzellen die Pflanzen mit ihrer Radula ab und ließen nicht einmal den Stumpf stehen. »Die Ernährung wird immer minderwertiger«, ließ Denker die anderen wissen. »Wenn ich nicht bald ergiebigere Kost bekommen, kann ich meine Aufgabe nicht mehr erfüllen und muß mich teilen.« Erregte Impulse aus allen Teilen des Körpers erreichten Denker, Entsetzen machte sich breit. Starr vor Schreck stellten die Scheinfüßchen ihre Arbeit ein, der gewichtige Leib sank zu Boden. »Das bedeutet den Verlust der Intelligenz«, war der Tenor der anderen Zellen. »Ich weiß, aber wir sind zu viele geworden. Die Pflanzen wachsen nicht schnell genug nach, um uns alle zu ernähren. Ich habe vor zu starker Vermehrung gewarnt, aber ›Flötender Vogel‹, ›Wehendes Gras‹, ›Singendes Meer‹ und all die anderen konnten es gar nicht erwarten, zu wachsen, um mir geistig ebenbürtig zu sein.« Denker übermittelte den anderen, was Auge sah. Eine trostlose Landschaft, weitgehend kahlgefressen von kleinen Bikkren. Ihr Durchmesser lag bei vierzig Zentimetern und weniger. Gierig machten sie sich über jedes grüne Hälmchen her, verschmähten auch Tiere nicht, die sie erbeuten konnten, und schreckten selbst vor Kannibalismus nicht zurück. Zwei Winzlinge waren gerade dabei, sich gegenseitig aufzufressen. Ekel und Abscheu erfüllte den Zellverbund, aber auch Empörung und Entrüstung. Daß Bikkren, die vergleichsweise klein waren blind dem Freßtrieb folgten, war bekannt, aber I niemand wollte es wahrhaben und verdrängte es. Fortpflanzung und Kindheit waren Tabuthemen. Ein Trauma ganz besonderer Art machte den erwachsenen Bikkren zu schaffen: Aus Furcht, versehentlich einen Teil ihrer selbst oder einen Artgenossen zu verspeisen, ernährten sie sich ausschließlich vegetarisch. Das ging in der Vergangenheit auch immer problemlos, doch die Bevölkerungszahl war in der letzten Zeit so stark gewachsen, daß die arg strapazierte Flora kaum noch genügend Nahrung für alle bot. Und damit befanden sich die Bikkren in einem Teufelskreis, den sie nicht durchbrechen konnten: Körper, die Masse verloren, büßten damit verbunden Intelligenz ein, sie verdummten regelrecht, wenn der Durchmesser weniger als einen halben Meter betrug. Und vor diesem Rückfall in die Phase der Primitivität und der Instinkte hatten die merkwürdigen Wesen Angst, weil sie dann wieder auf die Stufe der Allesfresser und Kannibalen zurückfielen. Denker mochte sich und den anderen den schlimmen Anblick der verrohten Artgenossen nicht mehr zumuten und gab Auge Anweisung, einen anderen Blickwinkel zu erfassen. Der tat es, doch was er übermittelte, war nicht dazu angetan, Hoffnung auf Besserung zu wecken. Sogar an bemoosten Steilhängen tummelten sich kleine Bikkren und weideten sie mit ihren Raspelzungenzellen ab. Doch dann entdeckte Auge etwas, was den Zellverbund in Entzücken versetzte: Nur zwei Körperlängen entfernt, etwas verdeckt in einer Bodenspalte, wuchs eine Yamotbajjoz-Pflanze, was etwa bedeutete »Nahrung höchster Lust«. Diese unscheinbare Staude, schmutzig-grün und ledrig, wurde von allen anderen Lebewesen verschmäht, nicht zuletzt wegen ihres hohen Gehalts an Atropin. Dieses Gift führte zum Tod durch Atem- oder Herzlähmung, bei den Bikkren bewirkte es
lediglich einen leichten Rauschzustand. Mundfuß, der sich von seinem Schrecken erholt und den Körper wieder auf die Beine gestellt hatte, brauchte keine besondere Anweisung. Hurtig trippelten die Pseudopodien los und trugen den massigen Leib zu dem begehrten Leckerbissen. Es dauerte nicht einmal eine Minute, dann war das Gewächs abgefressen. Nicht nur der Stengel mußte daran glauben, sondern auch die Wurzel, die Finger, Bohrer und Greifer gemeinsam aus dem Boden gruben. Das Alkaloid verteilte sich schnell im Zellverbund und verfehlte seine Wirkung nicht. Als wäre er angetrunken, setzte »Murmelnder Bach« leicht schaukelnd seinen Weg fort. Daß die Nahrungsausbeute nur noch gering war, wurde nicht als störend oder gar bedrohlich empfunden und tat der Hochstimmung keinen Abbruch. Wie immer, wenn er nachdachte, überließ Denker es Reflex, den Körper nach den Beobachtungen von Auge, Ohr und den anderen Informanten zu steuern. Losgelöst von der Erdenschwere und unbelastet von der Mühsal des Tages beschäftigte er sich mit den Problemen seiner Rasse, und es kam ihm ein Gedanke, der – in die Tat umgesetzt – sie schlagartig von allen Sorgen befreite. »Strahlende Sonne« in der Nachbarsiedlung war noch etwas gewichtiger als er selbst und galt aus ausgesprochen klug. Mit ihm würde er seinen Plan erörtern. Hoffnungsvoll und freudig erregt zugleich gab Denker den Befehl zur Rückkehr. * Seltsamerweise empfanden die in fruchtbaren Gebieten ansässigen Bikkren ihre vagabundierenden Artgenossen nicht als Nahrungskonkurrenten, obwohl sie das ja waren. Sie nahmen sie im Gegenteil herzlich auf, obwohl sie wußten, daß auf Dauer nicht alle versorgt werden konnten. Was sie verband, war die angestrebte Intelligenz und die tief in ihnen verankerte Furcht vor der Verdummung, die gleichbedeutend war mit dem Verzehr aller Lebensformen, selbst wenn es sich dabei um die eigene Art handelte. Diese Urangst erstickte jede Rivalität unten den großen, massigen Bikkren schon im Keim. Gleichzeitig konnten sie sich nicht dazu entschließen, gegen die kleinen Zellverbände und den Nachwuchs vorzugehen, denn jeder hatte diese Phase schließlich einmal durchgemacht. Darin lag das Dilemma, für das es keine Lösung gab. Doch »Murmelnder Bach« glaubte nun, den Stein der Weisen gefunden zu haben. Der Weg war beschwerlich. Nicht, daß das Gelände unwegsam war, aber die behäbigen Bikkren waren von Natur aus weder Sprinter noch gute Läufer. Daß der Zellverbund den anstrengenden Marsch dennoch auf sich genommen hatte ohne die zwingende Notwendigkeit, Nahrung aufzunehmen, lag daran, daß Denker die anderen von’ seiner Idee überzeugt hatte. Regelrechte Straßen gab es nicht, nicht einmal unbefestigte Pfade, trotzdem verlor »Murmelnder Bach« nicht die Orientierung. Geleitet vom Stand der Sonne, deren Schwingungsrichtung er auch bei polarisiertem Himmelslicht wahrnehmen konnte, und dem Einfluß des Magnetfelds, das er ortete, wich er nicht einen Meter von der richtigen Richtung ab. Vegetation gab es so gut wie keine mehr. Junge Bikkren irrten über das abgeweidete Land auf der Suche nach Nahrung. Jeder Wurm, jedes Insekt, das über den durch Erosion unfruchtbar gewordenen Boden kroch, wurde ihr Opfer. Gierig, wie sie waren, fielen sie auch übereinander her und verleibten sich Artgenossen ein. Angewidert von diesem Verhalten, gab Denker Auge die Anweisung, den Blick nur noch auf die unmittelbare Umgebung zu richten. Wenig später erhielt Auge die Order, nach allem Ausschau zu halten, was pflanzlich, also eßbar war. Außer ein paar halbvertrockneten Halmen hatte Mundfuß noch nichts aufnehmen können, und das war wahrlich zu wenig, um einen solchen Körper zu sättigen. Hunger im eigentlichen Sinn kannte
der Zellverbund nicht, doch er war auch außerstande, sich eine Art Fettpolster für schlechte Zeiten zuzulegen. Notwendige Nährstoffe waren nur begrenzt verfüg- und abrufbar, aber ihr Fehlen machte sich negativ bemerkbar durch zunehmende Schwäche, die im Extremfall zur Apathie führte und schließlich mit dem Tod endete. Kurz bevor das Ziel erreicht wurde, kam ein Wäldchen in Sicht. Man brauchte keine besonderen Kenntnisse zu haben, um zu erkennen, daß es sterbende Bäume waren. Kahle Äste waren eher die Regel als die Ausnahme. Zweige, die noch spärliches Grün trugen, brachten nur noch krankes Blattwerk hervor, klein und unausgebildet, Notblätter, die anfällig waren und das Opfer von Schädlingen wurden. Reflex lenkte den Körper in diesen Hain. Denker hatte keine Einwände, obwohl er wußte, daß er damit dazu beitrug, den Bikkren die Nahrungsgrundlage zu entziehen. Zellverbund verlangte nach Nahrung, und Denker als Koordinator und Lenker konnte sich dem nicht entziehen, zumal er selbst betroffen war und merkte, daß die Kräfte schwanden. Nahezu alle Stämme waren bis zu einer Höhe von fünfzig Zentimetern geschält. Das war das Werk der kleineren Bikkren. So gesehen war es kein Wunder, daß die Pflanzenriesen krank und zum Sterben verurteilt waren, denn die Nährstoffe, die die Wurzeln aufnahmen, konnten nicht mehr zur Krone transportiert werden. Ausgehungert machte sich »Murmelnder Bach« über einen mächtigen Stamm her, der angefressen war bis ins gesunde Holz. Mit einer ziemlichen Energieleistung richtete sich der Zellverbund an dem Baum auf, und sogleich begann Mundfuß damit, die Rinde abzuraspeln. Die Mahlzeit war weder sonderlich ergiebig noch sehr schmackhaft, doch immerhin sättigte sie. Nachdem er sich gestärkt hatte, zeigte »Murmelnder Bach« auch wieder mehr Interesse für seine Umgebung. Während der Mahlzeit hatte er eher beiläufig registriert, daß Bikkren von fünfzig bis einhundert Zentimeter Durchmesser damit beschäftigt waren, Bäume zu fällen und abzutransportieren. Neugierig näherte er sich dem größten Artgenossen, der das Kommando hatte. Es war »Tanzender Schmetterling«. »Was tut ihr da?« formulierte Sprecher nuschelnd die Frage auf Geheiß von Denker. »Wir legen Nahrungsvorräte an«, kam es blubbernd zurück. Denker war verblüfft. Einen ähnlichen Vorschlag hatte er »Strahlende Sonne« machen wollen, allerdings gedachte er, das Problem anders anzugehen. Auf die Idee, ganze Stämme zu verwerten, wäre er nie und nimmer gekommen. »Wie verwandelt ihr denn das Holz in Nahrung?« »Wir haben eine Anlage gebaut, die ›Strahlende Sonne‹ ersonnen hat. Ich bin nicht klug genug, um sie zu beschreiben, deshalb siehst du sie dir am besten an.« »Gut, ich werde dich begleiten, da ich ohnehin mit ›Strahlende Sonne‹ etwas zu besprechen habe.« »Murmelnder Bach« schloß sich dem kleinen Trupp an und war seinen Artgenossen behilflich, die Bäume ins Dorf zu transportieren. Dabei verrichteten die kleineren Bikkren die Hauptarbeit. Sie schufteten wie Galeerensklaven und ruhten und rasteten nicht, bis die Stämme in der Siedlung waren. Erschöpft und ausgepumpt blieben die Arbeiter liegen. Andere Bikkren übernahmen die Bäume und schafften sie fort, nachdem sie vorher die Ankömmlinge mit gelblich-braunen Fladen versorgt hatten. Gierig machten sich die Holzholer darüber her. Auge, der unablässig damit beschäftigt war, optische Informationen zu sammeln, erspähte das auffällige Gebilde an dem Flüßchen sofort und leitete die Bilder an den Zellverbund weiter. Das
mußte die Anlage sein, von der »Tanzender Schmetterling« gesprochen hatte, doch die Funktion des Gebildes begriff auch Denker nicht. Ein Schuppen war zu erkennen, aus dem ein Balken herausragte bis zum Fluß. Am hinteren Ende saß eine runde Scheibe, an der Streben befestigt waren. An diesen Flügelaufsätzen wurde die behäbige Strömung gebremst, und o Wunder – das Wasser besaß die Kraft, die Scheibe zu drehen. »Murmelnder Bach« konnte sich an diesem Schauspiel nicht satt sehen. Nur unterschwellig empfing Denker die Geräusche, die Ohr und Horcher auffingen. Lautes Krachen und das Zersplittern von Holz drang aus der einfachen Halle. Endlich gelang es ihm, sich von dem Anblick des Wasserrades loszureißen. Auch Auge war so fasziniert, daß Denker die Anweisung, das Umfeld zu beobachten, zweimal wiederholen mußte. In einem toten Seitenarm des Flüßchens lagerten aufgequollene Baumstämme, die von zahlreichen Bikkren zu dem Schuppen gezogen wurden. Andere trugen aus dem Verschlag hölzerne Tiegel und flache Schüsseln, in denen sich eine breiige Masse befand. Unzählige Behälter standen dort nebeneinander in der Sonne, und einige Bikkren hatten nichts anderes zu tun, als deren Inhalt zu untersuchen. Hin und wieder holten sie aus den Gefäßen Fladen hervor, wie sie die Holzholer verzehrt hatten. Die flachen Gebilde wurden auf schmalen Brettern gelagert, die, wenn sie voll waren, zu einem aus Steinen errichteten Haus getragen wurden. Auch hier verrichteten die kleineren Bikkren die Hauptarbeit, da es sich um Verrichtungen handelte, die keine besondere Intelligenz erforderten. »Murmelnder Bach« kam aus dem Staunen nicht heraus, auch wenn er nicht alles verstand. So sehr war Denker damit beschäftigt, herauszufinden, was sich da tat, daß er gar nicht mitbekam, daß ihn Reflex auf einen Ankömmling aufmerksam machen wollte, den Auge erspäht hatte. Erst als Ohr den Klang der Stimme des anderen übertrug, wurde er aus seinen Gedanken gerissen. »Schön, dich wieder einmal zu sehen, ›Murmelnder Bach‹«, blubberte »Strahlende Sonne«. »Was hat dich veranlaßt, den beschwerlichen Weg auf dich zu nehmen?« »Sei gegrüßt, ›Strahlende Sonne‹. Was mich herführt, ist das Problem, das alle intelligenten Bikkren beschäftigt – die starke Vermehrung und die damit verbundene Nahrungsverknappung. Ich habe da einen Einfall, den ich mit dir diskutieren möchte.« »Gern. Es geht nichts über ein Gespräch mit einem Partner von gleicher Intelligenz.« »Du bist klüger«, gestand »Murmelnder Bach« neidlos. »Was du ersonnen hast, ist genial.« »Die Anlage meinst du? Bestimmt wäre dir so etwas auch eingefallen, wenn ein Fluß in der Nähe eurer Siedlung wäre«, wehrte der Bikkre bescheiden ab. »Möchtest du dir ansehen, wie sie funktioniert?« »Natürlich. Ein solches Wunderwerk habe ich nie zuvor gesehen.« »Strahlende Sonne« führte seinen Besucher zu dem an der Rückseite offenen Schuppen. Was der Bikkre erfunden hatte, war eine Art Schredder, eine Holzmühle, in der die Bäume von einem Hammerwerk zerschlagen wurden. Die zerfaserten Stücke fielen in ein steinernes Mahlwerk, in dem sie zu feinem Pulver zerrieben wurden. Dieses Holzmehl wurde in einem großen Bottich mit Wasser vermengt, anschließend wurde der Brei in die Schüsseln gefüllt und nach draußen gebracht. Da die urtümliche Zerkleinerungsanlage unverkleidet war und recht einfach in ihrer Wirkungsweise, erkannte »Murmelnder Bach« auch ohne Erklärungen die Funktion. Unermüdlich waren kleinere Bikkren damit beschäftigt, Bäume nachzuschieben. Durch die Lagerung im Wasser waren sie aufgequollen und recht schwer, hatten dafür aber nicht mehr die ursprüngliche Festigkeit, so daß sie leichter zu zerschlagen waren. Stumm, fast andächtig, betrachtete »Murmelnder Bach« die Arbeit der Holzmühle. Daß Wasser eine solche Kraft hatte und sich so einfach einsetzen ließ, hätte er nie für möglich gehalten.
»Dir ist ein Meisterwerk gelungen«, nuschelte er. »Dank dieser Anlage werdet ihr nie Not leiden müssen.« »Auch Bäume sind nicht unendlich verfügbar«, schränkte »Strahlende Sonne« ein. »Und sie brauchen lange, um zu wachsen.« »Weiter im Norden soll es noch große Wälder geben.« »Ich habe davon gehört, doch einstweilen haben wir genügend Nahrung für alle, Komm, sei mein Gast und koste von unserem Baumbrot.« Das ließ sich der Bikkre nicht zweimal sagen, denn die Rinde war kein geeigneter Ersatz für das, was er sonst zu verzehren pflegte. Seite an Seite mit dem Artgenossen verließ »Murmelnder Bach« den Schuppen und begleitete den genialen Erfinder zu seinem Haus. »Strahlende Sonne« servierte Baumbrot, über das sich Mundfuß sofort hermachte. Es schmeckte etwas exotisch, war jedoch nicht unappetitlich. Drei Fladen konsumierte der Zellverbund, dann war er gesättigt. »Fühlst du dich nun gestärkt genug, dein Anliegen vorzubringen?« »Ja«, ließ Denker Sprecher verkünden. »Was hältst du davon, wenn wir selbst etwas pflanzen? Auf besonderen Arealen, die wir herrichten und bearbeiten?« Stolz auf Denker erfüllte den Zellverbund, dem aber Enttäuschung Platz machte, als der andere Bikkre antwortete. »Wir haben das bereits versucht, doch es brachte nichts, weil die Felder verwüstet wurden. Es waren keine Schädlinge, die die jungen Pflänzchen abfraßen, sondern unsere eigenen Nachkommen taten sich daran gütlich.« »Daran habe ich nicht gedacht«, gestand Sprecher im Auftrag Denkers. So weit waren seine Überlegungen wirklich nicht gegangen. Auf den Gedanken, den Nachwuchs zu vertreiben und von den Kulturen fernzuhalten, konnte kein Bikkre verfallen, weil es ihren Überzeugungen völlig widersprach. Pflanzen waren die einzige Nahrung, die die intelligenten Exemplare gelten ließen, und da war es unmöglich, jemandem aus der eigenen Art diese Kost zu verweigern. Dennoch war Denker als geistiger Führer des Zellverbunds von seiner Idee zu sehr angetan, um sie jetzt einfach fallenzulassen. »Nicht nur deine schlechten Erfahrungen, sondern auch deine großartige Erfindung machen eigenen Pflanzenanbau überflüssig«, sagte »Murmelnder Bach«, nachdem er nachgedacht hatte, »aber nicht für alle Zeit. Es ist abzusehen, daß eine Anlage, wie du sie erdacht hast, nachgebaut wird und überall dort, wo die Vegetation zu spärlich geworden ist, eingesetzt wird, um das Überleben zu sichern.« »Das ist richtig«, bestätigte »Strahlende Sonne«. »Und das ist es auch, was mir Sorge macht. Ein einzelner Baum liefert genügend Fladen, um unser Dorf zwanzig Tage lang zu ernähren, doch er benötigt mehr als doppelt soviel Jahre, um heranzuwachsen. Irgendwann wird es dann auch keine Stämme mehr geben, die wir essen können.« »Doch, wenn wir ihre Samen nicht sich selbst überlassen, sondern sie schützen und die Schößlinge ebenfalls.« »Wie willst du das anstellen? Unser Nachwuchs findet jeden grünen Sproß«, kam es ein wenig mutlos zurück. »Wir legen Wäldchen an und umgeben sie mit Mauern, die für unsere Nachkommen unüberwindlich sind«, triumphierte »Murmelnder Bach«. »Da niemand hungern muß, weil es Baumbrot gibt, besteht keine Notwendigkeit, irgendwelche Pflanzen zu verzehren, dennoch ernähren wir uns vegetarisch.«
»Das ist die Lösung«, jubelte »Strahlende Sonne«. »Wahrlich, du bist mir über. Mit deiner Weisheit und Klugheit kann sich keiner messen, mein Freund.« »Ohne deine Erfindung wäre mein Plan nicht durchführbar«, wiegelte Sprecher akustisch ab, was Denker formuliert hatte. »Es ist ein gemeinsamer Erfolg von zwei intelligenten Bikkren.« »So sei es«, blubberte der Holzmühlenkonstrukteur. »Dein Name wird in die Geschichte unseres Volkes eingehen als sein Retter.« »Untrennbar verbunden mit deinem Namen«, war die artige Antwort. »Deshalb sollten wir dieses Projekt gemeinsam angehen.« »Da bin ich völlig deiner Meinung. Entschuldige einen Augenblick.« »Strahlende Sonne« verschwand im Innern des Hauses und kehrte wenig später mit einer kümmerlich wirkenden, getrockneten Pflanze zurück. »Ich habe sie für besondere Gelegenheiten aufgehoben«, verkündete er. »Dies ist wahrlich ein Anlaß, der würdig genug ist, um sie zu verzehren. Genießen wir sie also zu zweit.« »Was ist das?« »Yamotbajjoz.« * Wie »Murmelnder Bach« prophezeit hatte, wurde die Erfindung von »Strahlende Sonne« begeistert aufgenommen. Niemand mußte sich mehr um die tägliche Nahrung sorgen, dem drohenden Intelligenzverlust konnte so wirksam begegnet werden, und Bäume und Wälder gab es noch genug. Wie der Bikkre vorgeschlagen hatte, wurden auch Schonungen angelegt, die tatsächlich unbehelligt blieben, doch diese Forstplantagen produzierten oft genug Kümmerlinge, weil der Humus fehlte. Die Vegetation, die nun eigentlich Gelegenheit hatte, sich zu erholen, krankte und litt unter den Fehlern der Vergangenheit. Pflanzen waren abgeraspelt worden, bevor sie Samen ansetzen konnten, Kräuter, die sich auch vegetativ vermehrten, gingen ein, weil, ihre Standorte nicht mehr die gewohnten Bedingungen boten. Das Land versteppte, und die Wüste war auf dem Vormarsch. Überall entstanden Holzmühlen. Wo sie nicht mit Wasserkraft betrieben werden konnten, wurden sie mit Wind bewegt, fehlte auch der, lieferten kleinere Bikkren die nötige Energie. Da sie kaum noch Chlorophyll aufnahmen, veränderte sich ihre Körperfarbe ins gelblichbeige. Nun, da niemand mehr hungern mußte, gab es eine fast explosionsartige Vermehrung. Die Bedingungen waren optimal, und Masse bedeutete Intelligenz. So wurden auch öde und unzugängliche Landstriche besiedelt. Die mitgeführten Fladen machten die Bikkren in gewisser Weise unabhängig vom Pflanzenwuchs, dennoch war es nicht Abenteuerlust, die sie dazu trieb, sondern Existenzangst. Und wo immer sie auf die hölzernen Riesen stießen, errichteten sie eine provisorische Anlage zur Verwertung der Stämme. Der Raubbau an der Natur blieb nicht ohne Folgen. Feste Häuser bauten die einst bodenständigen Bikkren nicht mehr, seit sie gezwungen waren, nomadisierend umherzuziehen, weil auch die fruchtbarsten Gebiete abgegrast und tot waren. Selbstangelegte Höhlen und Iglus aus Fels und Gestein bildeten fortan die Unterkünfte. Daß dieses Volk trotz der widrigen Umstände seine Fähigkeiten vervollkommnete, handwerklich geschickter wurde und seine Intelligenz steigerte, war angesichts der widrigen Umstände überraschend. Trotzdem war absehbar, daß die Bikkren dem Untergang geweiht waren, wenn keine entscheidende Veränderung eintrat. Sie trat ein, allerdings anders, als erwartet: Die Bikkren bekamen Kontakt mit dem Neuen Konzil. Vor die Wahl gestellt, intelligent zu bleiben oder zu verdummen und zu verhungern, waren sie
empfänglich für die Beeinflussung durch die Hyptons. So kam ein Geschäft ganz besonderer Art zustande: Die Bikkren verkauften die Bodenschätze ihrer Heimat und erhielten dafür garantiert bikkrenfreie Nahrung. Allerdings gab es Mahner wie »Murmelnder Bach« und »Strahlende Sonne«, die sich nicht einfach auf die Zusage der Fremden verlassen wollten. Fertigkost und Nährlösungen sah man nicht an, was sie enthielten. Die Vorbehalte der Weisen verfehlten ihre Wirkung nicht, das Mißtrauen gegen die Hyptons und ihre Stahlmänner wuchs. Schließlich einigten sich beide Seiten darauf, den Bikkren die Möglichkeit zu geben, an Ort und Stelle zu überprüfen, ob wirklich nur vegetarisches, nicht bikkrisches Leben zu Nahrung verarbeitet wurde. Einige Vertreter ihres Volkes wurden auf die Reise zu fremden Planeten geschickt, und da das nicht ohne Transportmittel ging, erhielten die Bikkren ein Raumschiff, das unter dem Kommando einer Gruppe Hyptons stand und von Stahlmännern gesteuert und betreut wurde. Bei den Bikkren und auch bei den Hyptons herrschte eitel Sonnenschein, als der Raumer startete. Es sollte ein einfacher Kontrollflug werden, eine Routineangelegenheit für die fledermausähnlichen Intelligenzen und ihre Begleiter. Niemand ahnte, daß die Reise zu einem Fiasko führen sollte.
3. Das Schiff, das die STERNSCHNUPPE auf ihrem Hauptbildschirm wiedergab, war ein plumper Walzenraumer, ein Veteran, der schon längst hätte ausgemustert werden müssen. »Sehr vertrauenerweckend sieht der alte Kasten nicht aus«, meinte Atlan. »Bist du sicher, daß dieser Schrotthaufen von Cirgro geflohen ist?« »Ein Raumer dieses Typs hat den Planeten verlassen«, bestätigte das Schiff. »Ziemlich marode«, brummte Mrothyr. »Da fehlt nicht mehr viel, um die Walze als Wrack zu bezeichnen. Die Besatzung scheint erhebliche Schwierigkeiten mit der Steuerung zu haben. Sollen wir ihnen unsere Hilfe anbieten?« »Die scheinen sie in der Tat nötig zu haben.« Der Flugkörper bewegte sich mit geringer Geschwindigkeit durch den Raum und blieb mehr schlecht als recht auf Kurs. Kurze Korrekturschübe brachten den Raumer immer wieder ins Schlingern und Trudeln, und dann sah es so aus, als hätte der Antrieb seinen Dienst ganz eingestellt. Langsam driftete die Walze auf ein unbekanntes Ziel zu, das sie ohne fremde Unterstützung wohl nie erreichen würde. »Kannst du eine Funkverbindung herstellen?« bat der Arkonide. Es dauerte einige Sekunden, dann sagte die STERNSCHNUPPE: »Du kannst jetzt sprechen.« »Ich rufe den unbekannten Walzenraumer vor uns. Können wir euch behilflich sein?« Für einen Augenblick drang nur Rauschen aus dem Empfänger, dann war eine blubbernde Stimme zu hören. »Dank sei dem, der euch geschickt hat. Kommt und helft, das Schiff gehorcht nicht mehr.« »Ist der Antrieb ausgefallen? Oder hat der Steuerrechner einen Defekt?« wollte der Aktivatorträger wissen. »Wir haben keine Ahnung. Diese Anlagen beherrschen wir nicht.« »Seid ihr denn keine Händler?« fragte Atlan erstaunt. »Nein, wir sind Bikkren.« Verwundert blickte der Unsterbliche seine Gefährten an, doch beide schüttelten den Kopf. Auch der Diskus ließ ihn wissen, daß er von einem solchen Volk noch nie etwas gehört hatte. »Wer seid ihr? Stahlmänner oder Hyptons?« Sie kennen das Neue Konzil, sind vielleicht sogar ein Hilfsvolk, folgerte der Extrasinn. Das kann gefährlich werden. Du solltest lieber von hier verschwinden, bevor du in eine Falle tappst. Sie sind in Not, entrüstete sich der Arkonide gedanklich. Ich kann sie unmöglich ihrem Schicksal überlassen. Zugegeben, sie scheinen ziemlich hilflos zu sein, aber wer garantiert dir, daß sie dir nicht nur etwas vorgaukeln? Es ist nicht auszuschließen, daß die Ligriden sie als Köder benutzen, um dich endgültig aus dem Weg zu räumen. In diesem Fall hätten sie sich wohl anders verhalten, gab Atlan zurück und beendete damit den geistigen Dialog – sehr zum Ärger des Logiksektors. Diese unbekannten Bikkren hatten den Samariter in dem Arkoniden geweckt. In einem solchen Stadium war er nicht empfänglich für Warnungen, im Gegenteil, er würde alles tun, um zu helfen.
Du wirst Schwierigkeiten bekommen, Narr, grollte der Logiksektor aus dem Schmollwinkel. »Wir sind weder Stahlmänner noch Hyptons, sondern friedliche Raumfahrer«, antwortete der Aktivatorträger ausweichend. Also traust du dem Frieden doch nicht so ganz, denn sonst hättest du dich zu erkennen gegeben! Richtig! »Steht uns bei, Raumfahrer. Uns ist alles fremd hier«, kam es flehentlich aus den Lautsprechern. »Wie seid ihr denn in diese Lage gekommen? Es ist unmöglich, ein Raumschiff zu fliegen ohne entsprechende Kenntnisse.« Ein abenteuerlicher Gedanke kam Atlan. »Oder hat man euch an Bord geschleppt und euch eurem Schicksal überlassen?« »Nein, wir sind freiwillig hier. Stahlmänner kümmerten sich um uns und lenkten das Schiff, aber jetzt ist nur noch einer da. Er läßt sich kaum noch blicken, weil er die beiden Hyptons betreut. Auch ihre Zahl war größer, nun sind es nur noch zwei, und der letzte Stahlmann ist ihr Diener.« »Wir kommen und helfen euch!« rief der Arkonide spontan und bedeutete der STERNSCHNUPPE mit einer Handbewegung, die Verbindung zu trennen. Auch seine Gefährten hatte die Erregung gepackt. »Besser hätten wir es gar nicht treffen können«, freute sich der Zyrpher. »Mit einem Roboter und zwei Hyptons werden wir im Notfall fertig, doch wir haben Gelegenheit, Informationen aus erster Hand zu bekommen.« »Zumal von den ominösen Bikkren keine Gefahr ausgehen dürfte«, ergänzte Chipol. »Sie betrachten uns als ihre Retter.« »Darum geht es mir auch in erster Linie«, betonte der Aktivatorträger. »Wir werden versuchen, eine Lösung für ihre Probleme zu finden. Wenn ausreichend Bordmittel zur Verfügung stehen, dürfte es bei dem Standard des Walzenraumers möglich sein, technische Schwierigkeiten zu beheben. Und nebenbei sammeln wir Daten. Die Bikkren scheinen mir recht offen und gesprächig zu sein. Ich glaube nicht, daß wir in einen Hinterhalt gelockt werden sollen, dennoch sollten wir vorsichtig sein.« Aha! Du bist also doch noch lernfähig, lautete der bissige Kommentar des Extrasinns. Atlan verzichtete auf eine gedankliche Erwiderung. Daß der Logiksektor von der Aktion nicht oder nicht mehr dringend abriet, bewies ihm, daß er kein unkalkulierbares Risiko einging, wenn er mit seinen Begleitern auf den Walzenraumer überwechselte. Und dann war da ja auch noch der Diskus, der sie warnen würde, wenn eine wie auch immer geartete Gefahr aus dem All auftauchte. »Nehmen wir Waffen mit?« erkundigte sich der Daila. »Helfer, die mit einem Strahler auftauchen, schaffen in der Regel Vorurteile, die nur schwer wieder abzubauen sind. Und auch die Hyptons und der Stahlmann könnten das als einen unfreundlichen Akt betrachten.« Der Arkonide lächelte. »Da wir andererseits damit rechnen müssen, uns unserer Haut zu wehren, sollten wir die Taschen unserer Kombinationen nicht leer lassen und ein paar Dinge mitnehmen, die uns im Ernstfall nützlich sein könnten.« »Das hast du aber sehr elegant umschrieben.« Chipol grinste breit. »Also Diplomatengepäck.« * Selbständig dockte die STERNSCHNUPPE an. Entweder waren die Bikkren die größten Bluffer dieser Galaxis, oder sie hatten wirklich nicht die geringste Ahnung, wie ein Raumschiff zu bedienen war. Nicht einmal die Schleuse, an der der Diskus anlegte, wurde geöffnet. Es blieb Atlan und
seinen Begleitern überlassen, das Schott mittels Notvorrichtung mühsam per Hand zu betätigen. Die dahinterliegende Kabine bot gut zehn Personen Platz. Der Arkonide hatte keine Mühe, den richtigen Schalter zu drücken, denn die Armaturen waren so simpel, daß sie auf Anhieb zu begreifen waren. Der Durchlaß in der Außenhaut schloß sich, dann erfolgte automatisch der Druckausgleich. Zischend strömte ein Sauerstoffgemisch in die Kammer, die nach innen führende Panzertür glitt auf. Große Erwartungen an die Einrichtung hatten die drei nicht. Schon die Schleuse machte einen veralteten Eindruck, aber was sich ihnen nun darbot, wirkte noch heruntergekommener als die Hülle. Nicht, daß der Gang verdreckt war oder Farbe abblätterte, nein, in dieser Hinsicht gab es nichts auszusetzen, die Mängel waren technischer Natur. Altertümliche Leuchtröhren tauchten den Flur in ein Licht, das den Augen weh tat, Versorgungsleitungen in tristem Grau und Braun waren einfach auf die Verkleidungen aufgesetzt worden und nur oberflächlich mit Kunststoffabdeckungen kaschiert. Rollbänder gab es zwar, doch sie funktionierten nicht. Desaktivierte Feuermelder und inaktive Interkomanschlüsse rundeten das Bild ebenso ab wie zahlreiche Provisorien. Aus Entsorgungsrohren tropfte Abwasser und bildete Pfützen auf dem harten Bodenbelag, nicht sehr sachgemäß miteinander verbundene Elektrokabel produzierten Serien von Funken. Alles vibrierte leicht, mangelnde Isolation machte das unterschwellige Arbeitsgeräusch der Maschinen allgegenwärtig. Auch die Lufterneuerungsanlage hatte Macken: Mal blies sie so heftig, daß es zog, dann wieder wirbelte sie das stickige Oxygen einfach durcheinander. Verlassen lag der Korridor vor ihnen. Niemand erwarteten sie, doch es gab auch niemanden, der sie aufhielt. Mehrere Türen waren zu erkennen. Als Chipol versuchte, eine zu öffnen, tat sich nichts. Staub auf der Kontaktplatte verriet, daß der dahinterliegende Raum lange nicht betreten worden war. Vermutlich war der Mechanismus abgeschaltet oder defekt. Abzweigungen gab es nicht, nicht einmal eine Nische, in der sie sich im Notfall verbergen konnten. Mit gespannten Sinnen marschierten die drei Seite an Seite auf einen Verteiler zu, den blaue Spots an ein eher düsteres Licht tauchten. Trotz der grellen Helligkeit war es eine unheimliche Umgebung, bedrückend, bedrohlich, fremd. Jederzeit konnte etwas oder jemand auftauchen – ob in lauterer Absicht oder als Angreifer, würde sich erst erweisen, wenn es möglicherweise schon zu spät war. Unablässig waren die Augen in Bewegung, suchten nach Überwachungsgeräten, Abstrahlprojektoren von Strahlenwaffen und Kontakten von Energiefeldern, beobachteten die Durchlässe, hinter denen Bewaffnete lauern konnten, spähten zurück und versuchten, auszumachen, was jenseits des Verteilers lag. Auch das Gehör wurde strapaziert. Mischte sich nicht ein anderer Ton in das Summen und Brummen? Da, stampfende Geräusche! Waren das Roboterbeine, oder wurden sie von einer Anlage verursacht? Ein Knirschen! War es Einbildung, oder schlich sich jemand an? Nicht nur Mrothyr hielt seine Hände wie zufällig in Höhe der Taschen, in der sich Sprengkapseln und andere Dinge befanden, die zur Verteidigung dienten. Die Helme ihrer Raumanzüge hatten sie zurückgeklappt. Sicherheitshalber hatten sie die druckfesten Kombinationen angezogen, weil es immerhin denkbar war, daß die Bikkren ein anderes Gasgemisch zum Leben benötigten als Sauerstoffatmer und deshalb Teile des Schiffes damit geflutet waren. Das war jedoch nicht der Fall. Jeder machte sich seine Gedanken. Warum hatten die Bikkren keinen Führer geschickt? Versteckten sie sich aus Angst vor dem Stahlmann und den Hyptons? Beobachteten sie heimlich – möglicherweise in deren Auftrag? War es doch eine Falle? Oder wußten sie tatsächlich nicht, wie sie zur Schleuse gelangen konnten? »Diese Ruhe ist mir unheimlich«, raunte Chipol. »Man hat uns hereingelegt. Nie und nimmer würden sich die Hyptons einem solchen Seelenverkäufer anvertrauen.«
»Vergiß nicht, daß sie selbst nie Raumfahrt betrieben haben«, erinnerte der Arkonide. »Ihren Transport besorgen Helfer und fremde Völker, und die können sie in der Regel beeinflussen. Außerdem haben sie immer ihre Roboter dabei, die sie im Notfall retten.« Die Gabelung war nur noch wenige Meter entfernt. Fünf Flure kreuzten sich dort. Vier davon hatten die Ausmaße des hinter ihnen liegenden Korridors, einer hatte die doppelte Breite. Dort lag etwas, etwas, das an eine riesige Schildkröte erinnerte, an einen gigantischen Seeigel. War es eine Täuschung, oder bewegte sich die kuppelförmige Masse tatsächlich? Auch die anderen schienen etwas bemerkt zu haben. Aus den Augenwinkeln heraus erkannte der Arkonide, daß seine Begleiter reflexhaft in ihre Taschen griffen und stehenblieben. Atlan verharrte im Schritt, jede Faser seines Körpers vibrierte vor innerer Anspannung. Wenn doch diese fürchterliche Beleuchtung nicht wäre! Hier das stechende Licht, dort das düstere Blau, das mehr verdeckte als erhellte. Der Aktivatorträger starrte so angestrengt auf den Berg, bis es vor seinen Augen zu flimmern begann. Er hatte sich nicht geirrt – der mächtige Klumpen bewegte sich. »Da kommt etwas auf uns zu«, raunte Chipol, und der Zyrpher zischte: »Wir stehen hier wie auf dem Präsentierteller. Das gefällt mir ganz und gar nicht.« »Mir auch nicht«, gab Atlan ebenso leise zurück. »Wir müssen es darauf ankommen lassen. Deckung gibt es ohnehin nicht. Vergeßt nicht, daß wir als Helfer kommen.« »Ihr müßt die Raumfahrer sein, die uns Hilfe versprochen haben«, ließ sich eine blubbernde Stimme vernehmen. Es war der Hügel, der sprach. »Willkommen auf der YAMOTSAJJA, der ›Nahrung für alle‹. Mein Name ist ›Kantiger Fels‹. Ich bin geeilt, um euch im Namen der hier versammelten Bikkren zu begrüßen, doch ihr seid mir zuvorgekommen.« Die Spannung löste sich. Jemand, der beabsichtigte, seine Gegenüber umzubringen, pflegte sich nicht vorzustellen und betrieb auch keine Konversation. Daß der Bikkre davon sprach, sich beeilt zu haben, erheiterte den Arkoniden. Immerhin hatte die STERNSCHNUPPE für das Rendezvousmanöver fast zehn Minuten gebraucht, und der Walzenraumer war nicht länger als einhundertdreißig Meter. Damit stand eins fest: Schnelle Läufer konnten »Kantiger Fels« und seine Artgenossen nicht sein. Atlan stellte seine Gefährten und sich vor und ging auf den Bikkren zu, immer noch vorsichtig und konzentriert, aber nicht mehr so sensibilisiert wie vor wenigen Minuten. Wie Schatten folgten der Daila und der Zyrpher. Erst jetzt hatten die drei Gelegenheit, »Kantiger Fels« richtig zu betrachten. Der Aktivatorträger hatte sich nicht geirrt: Vor ihm befand sich tatsächlich ein Geschöpf, das an einen drei Meter durchmessenden abgeflachten Seeigel erinnerte. Extremitäten waren ebensowenig zu erkennen wie Sinnesorgane. Der Körper war gelblich-beige gefärbt und hatte fast eine Farbe wie nasses Holz. »Kommt bitte mit in die Zentrale, dort warten ›Grüner Baum‹, ›Stiller See‹ und ein paar andere intelligente Mitglieder unseres Volkes, um euch als unsere Retter begrüßen zu können. Ihr glaubt nicht, wie dankbar wir euch sind.« Das mächtige Geschöpf setzte sich in Bewegung und trippelte, lief oder glitt vom Verteiler weg in die entgegengesetzte Richtung. Wie es seinen massigen Körper bewegte, ließ sich nicht einmal erahnen, aber daß es nicht einmal die Geschwindigkeit eines Spaziergängers entwickeln konnte, wurde deutlich. Im Schneckentempo ging es dahin. »Mit Vorschußlorbeeren wollen wir uns nicht schmücken«, versuchte Atlan die Euphorie ihres Führers zu dämpfen. »Erst einmal müssen wir den Fehler finden, und dann ist es immer noch nicht sicher, ob wir den Schaden auch beheben können.« »Ihr werdet es schon schaffen«, meinte der Bikkre zuversichtlich. »Wer wie ihr ein Raumschiff lenken kann, kann es auch reparieren. Da ist zu unseren Anlagen kein Unterschied, denn wir bauen
sie nicht nur, sondern beherrschen sie auch. Was nicht funktioniert, wird erneuert.« »Was sind das denn für Maschinen, die ihr herstellt?« fragte Chipol neugierig. »Holzmühlen.« »Holzmühlen?« echote der Daila. »Ja. Sie sind zur Nahrungsaufbereitung unerläßlich. ›Strahlende Sonne‹ hat sie ersonnen, der geniale Erfinder, aber erst ›Murmelnder Bach‹ hatte den richtigen Gedanken. Diesen beiden mit ihrer unfaßbaren Intelligenz verdankt es unser Volk, überlebt zu haben.« »Dank Holzmühlen also«, konstatierte der Daila ein wenig fassungslos. »Richtig. Nur so läßt sich Baumbrot gewinnen. Wenn ihr daran interessiert seid, werde ich euch unsere Geschichte bei Gelegenheit erzählen.« »Die stelle ich mir wahnsinnig aufregend vor«, sagte Chipol ironisch. Kein Zweifel, er war enttäuscht. Er hatte sich vorgestellt, daß die Artgenossen von »Kantiger Fels« hervorragende Ingenieure und Konstrukteure waren, die Industriekomplexe entwarfen und produzierten, denn der Bikkre hatte von »unseren Anlagen« gesprochen und zugleich die Technik eines Raumschiffs damit verglichen. Und nun stellte sich heraus, daß die bedeutendste Erfindung offensichtlich der Bau von primitiven Holzmühlen war. Obwohl dem massigen Geschöpf vermutlich entgangen war, wie die Bemerkung zu deuten war, warf Atlan seinem jugendlichen Begleiter einen verweisenden Blick zu. Der Daila machte eine entschuldigende Geste. Um »Kantiger Fels« keine Gelegenheit zu geben, lange über den letzten Satz nachzudenken, aber auch aus wirklichem Interesse, erkundigte sich der Arkonide: »Wo hält sich der Stahlmann eigentlich auf?« »Bei den Hyptons. Es geht ihnen nicht gut«, antwortete der Bikkre bereitwillig. »Sind sie krank?« »Wir wissen es nicht. Ich habe mich darüber beschwert, daß sich niemand mehr um uns kümmert und keiner das Schiff lenkt, doch der Stahlmann erklärte, daß es wichtiger wäre, sich um die Hyptons zu bemühen, weil sie seiner Pflege bedürften.« Einstweilen gab sich der Arkonide mit dieser Auskunft zufrieden, zumal der Logiksektor vermutete, daß sie noch mit den Nachwirkungen der Horrorvorstellungen zu kämpfen hatten, die in der Nähe Cirgros hervorgerufen worden waren und die auf dem Planeten selbst zur Massenflucht geführt hatten. Ich nehme an, daß die Hyptons noch unter Schockeinwirkung stehen. Was immer sich auch auf Cirgro ereignet hat - es muß für sie schrecklich gewesen sein. Sie brauchen Zeit, um sich davon zu erholen. Die bekommen sie, aber ich werde sie fragen, gab der Aktivatorträger gedanklich zurück. Seine Aufmerksamkeit wurde abgelenkt, weil sich ein kleiner Bikkre näherte. Er war »Kantiger Fels« zum Verwechseln ähnlich, doch er besaß nur ein Sechstel von dessen Durchmesser. »Was willst du?« herrschte ihn der Riese an. Obwohl er seine Stimme nicht emotional färben konnte, weil Sprecher Gefühle nicht in Sprache umsetzen konnte, klangen die Worte barsch und abweisend. »›Schimmernde Wolke‹ gab mir den Auftrag, dir entgegenzugehen und den anderen zu berichten, wie unsere Retter aussehen.« »Sofort kehrst du in die Unterkunft zurück, du Dummzelle. ›Schimmernde Wolke‹ ist kaum klüger
als du. Wie kannst du es wagen, ihm zu gehorchen?« »Er ist mehr als doppelt so groß wie ich.« »Du hast nur den Intelligenten zu gehorchen, den wirklich Intelligenten ›Schimmernde Wolke‹ gehört nicht dazu, und du bist noch dümmer als er. Verschwinde! Dein Anblick und deine Worte sind eine Beleidigung für die, die uns zu Hilfe geeilt sind.« Ohne zu widersprechen, machte der Gescholtene, daß er davonkam. Zwar war sein Tempo kaum höher als das von »Kantiger Fels«, doch er mühte sich redlich, Abstand zu gewinnen. »Bitte entschuldigt unseren unintelligenten Helfer. Ich schäme mich für das, was er gesagt hat. Es ist wahrlich kein Vergnügen, mit diesen dummen Kleinen umzugehen, doch sie sind für uns unersetzlich, weil sie Aufgaben erfüllen, für die nur sie geeignet sind.« »Du brauchst dich nicht zu genieren«, sagte Atlan leichthin. »Kinder sind nun einmal neugierig.« »Es sind keine Kinder. Sie sind nur klein und darum dumm.« Für »Kantiger Fels« schien damit das Thema erledigt zu sein, doch der Arkonide konnte sich nicht erklären, welcher Zusammenhang zwischen Größe und Intelligenz bestehen sollte. Und dann die Bemerkung »Es sind keine Kinder«. Gab es eine Zwergform der Bikkren wie die Pygmäen auf Terra oder die winzigen Siganesen? Oder handelte es sich um eine Erbkrankheit, bei der auch die Leistungsfähigkeit des Gehirns beeinträchtigt wurde? Aber aus welchem Grund waren sie dann unersetzlich? Lieferten oder produzierten ihre Körper einen Stoff, den die Bikkren dringend benötigten? Oder wurden sie ganz einfach als Arbeiter gebraucht? Dieses Volk wird dir noch manches Rätsel aufgeben, prophezeite der Extrasinn. Dir etwa nicht? dachte Atlan. Einstweilen nicht. Für Prognosen ist es mangels Fakten noch zu früh, und Spekulationen führen zu nichts. Ich warte ab. Mehr als abwarten konnte auch der Aktivatorträger nicht. Er wollte im Augenblick nicht weiter in ihren Führer dringen, weil ein zu offen gezeigtes Interesse häufig vom anderen als Ausfragerei empfunden wurde und ihn verschlossen machte. Wie Chipol und Mrothyr trottete er stumm hinter »Kantiger Fels« her. Abgesehen davon, daß der Gang wesentlich breiter war als derjenige, der zur Schleuse führte, hatte sich die Umgebung kaum geändert. Alles machte einen veralteten Eindruck, manches wirkte marode. Der Gedanke drängte sich auf, daß das Schiff sich bereits in einer Abwrackwerft befunden hatte und für diesen einen Flug noch einmal reaktiviert worden war, weil kein anderer Raumer zur Verfügung stand. Vielleicht hatte aber auch die Überlegung eine Rolle gespielt, daß die Bikkren technisch gesehen auf einem wesentlich niedrigerem Niveau standen und nicht beurteilen konnten, daß man sie auf einem Seelenverkäufer transportierte. »Man« sind in diesem Fall die Hyptons. Es wäre interessant, zu wissen, wie die Bikkren zu den Lenkern des Neuen Konzils stehen. Als hätte »Kantiger Fels« die lautlose Mitteilung des Logiksektors ebenfalls empfangen, fragte er mit seiner blubbernden Stimme: »Arbeiten die Hyptons und die Stahlmänner auch für euch?« Der Arkonide glaubte, nicht richtig gehört zu haben. Fassungslos starrte er das plumpe Geschöpf an. »Sie arbeiten für euch?« »Ja. Die Hyptons haben es uns angeboten. Wir erlauben ihnen, aus dem Boden unserer Welt zu holen, was sie benötigen. Für uns ist das alles wertlos. Wichtig ist, daß sie uns dafür Nahrung
liefern.« »Also ein Tauschgeschäft. Sie versorgen euch, und dafür dürfen sie die Rohstoffe eures Planeten ausbeuten.« »Versorgung schon, aber nicht irgendwelche Nahrung. Wir haben zur Bedingung gemacht, daß wirklich nur nicht-bikkrisches Leben verarbeitet wird. Um das zu überprüfen und zu kontrollieren, ist eine Abordnung meines Volkes mit der YAMOTSAJJA unterwegs.« Atlan nickte verstehend, obwohl er die übertriebene Sorge der Bikkren vor unbewußtem Kannibalismus recht merkwürdig fand. Man konnte von den Hyptons halten, was man wollte, aber daß sie intelligente Lebewesen in Konzentratwürfel verwandelten oder zu Nährlösungen verarbeiteten und sie dem gleichen Volk als Gegenleistung präsentierten, war ihnen nun wirklich nicht zuzutrauen. Daß sie diesem merkwürdigen Reiseansinnen dennoch zugestimmt hatten, konnte zwei, nein, sogar drei Ursachen haben. Die Ligriden hatte »Kantiger Fels« mit keinem Wort erwähnt. Das konnte bedeuten, daß die Führer des Neuen Konzils nicht daran interessiert waren, ihre Verbündeten an dieser Rohstoffquelle zu beteiligen, zumindest vorerst nicht. Das wäre auch eine Erklärung dafür, warum die fledermausähnlichen Intelligenzen auf den museumsreifen Walzenraumer zurückgegriffen hatten und kein modernes Schiff der ligridischen Flotte eingesetzt wurde. Ein anderer Grund konnte sein, daß die Hyptons in jenem Sektor Manam-Turus noch nicht recht Fuß gefaßt hatten, in dem die Heimatwelt der Bikkren lag. Sie fühlten sich nicht mächtig genug, dieses Volk in Kürze unter die Knute zu zwingen, und hatten deshalb ein Tauschgeschäft abgeschlossen. Auszuschließen war allerdings auch nicht als dritte Möglichkeit, daß die Bikkren einer Beeinflussung widerstanden, doch wie auch immer: Das Nachsehen bei diesem Kuhhandel hatten die langsamen Geschöpfe, die wie Riesenseeigel aussahen. In wenigen Jahren würde ihr Planet eine Welt ohne Bodenschätze sein, ausgebeutet und unergiebig wie eine taube Silbermine. Die Hyptons würden abziehen, und dann war es vorbei mit der Nahrungslieferung. »Du hast mir noch nicht gesagt, ob die Hyptons auch etwas für euch tun«, erinnerte »Kantiger Fels«. »Unsere Beziehung zu ihnen ist anderer Art«, antwortete der Aktivatorträger diplomatisch. »Wir kennen uns, sind uns ein paarmal begegnet, doch Geschäfte machen wir nicht miteinander.« Der Bikkre gab sich mit dieser Auskunft zufrieden. Sein gescholtener Artgenosse, der mittlerweile einen Vorsprung von elf, zwölf Metern hatte, verschwand hinter einer Tür, die sich automatisch öffnete und schloß. Da die Kontaktplatte für ihn unerreichbar war, mußte dort – vermutlich nachträglich installiert – eine Lichtschranke sein oder ein Sensor, der auf Belastung reagierte. »Dahinter befinden sich unsere Unterkünfte«, erklärte der Koloß. »Dort«, ein Tentakel wuchs zwischen den Stacheln hervor und deutete auf das gegenüberliegende Schott, »wohnen die Hyptons.« Drei Augenpaare musterten die geschlossene Abtrennung, drei Gehirne prägten sich die Örtlichkeit ein. Auffällige Hinweise gab es nicht – keine Markierungen, keine Piktogramme, keine besondere Farbgebung. Hinter diesem anonym gehaltenen Durchlaß konnte alles liegen – selbst ein Abstellraum für Reinigungsroboter. Endlich kamen die beiden Flügelhälften in Sicht, hinter der das Kommandozentrum liegen mußte. Als sie sich bis auf wenige Schritte genähert hatten, glitten die Schotteile lautlos zurück. Die drei folgten ihrem Führer in die Zentrale. Es war ein ovaler Raum, der nicht länger war als vierzehn, fünfzehn Meter. An der breitesten Stelle maß er etwa neun Meter. Die Anlagen waren, wie erwartet, nicht die modernsten, schienen jedoch vor dem Einsatz einer gründlichen Inspektion unterzogen worden zu sein. Alles machte einen intakten Eindruck, keine Spur von Pfusch und Provisorien.
Die Anordnung entsprach dem gängigen Standard. Wie die Bedienungselemente und die Sitze erkennen ließen, war die Einrichtung für Hominide konstruiert, die etwa die Maße der Ligriden hatten. Vermutlich stammte der Walzenraumer aus deren ausgemusterten Beständen. Die im Halbkreis angeordneten Pulte signalisierten fünf Funktionsschwerpunkte, so daß der jeweilige Benutzer alles in Reichweite hatte. Ein etwas erhöht stehendes Vielzweckelement war offensichtlich dem Kommandanten vorbehalten, der siebte Sessel verfügte lediglich über eine Eingabetastatur mit Display. Diese Hilfskonsole war wahrscheinlich für einen Beobachter oder einen Begleiter vorgesehen. Alle Plätze waren verwaist. Daß nur fünf Leute gleichzeitig Dienst tun konnten, bedeutete, daß das Schiff weitgehend automatisiert war und von einer kleinen Besatzung gesteuert werden konnte. Im Augenblick mußte es sogar ohne die auskommen. Ob hier die Ursache für den Ausfall lag, weil Positroniken überfordert oder ihre Programme so zugeschnitten waren, daß letztlich immer eine Bedienerentscheidung eingeholt werden mußte, ließ sich ohne Untersuchung nicht einmal abschätzen. Fünf Bikkren hielten sich in der Zentrale auf. Sie glichen sich wie ein Ei dem anderen. Zwei hatten exakt den Umfang von »Kantiger Fels«, drei hatten eine etwas geringere Masse. »Das sind ›Grüner Baum‹ und ›Stiller See‹«, stellte der Bikkre seine gleichgroßen Artgenossen vor. »Die anderen sind ›Holzmühle‹, ›Dunkle Wolke‹ und ›Nachthimmel‹.« Mit einer gewissen Feierlichkeit wandte er sich an die Vertreter seines Volkes. »Begrüßt unsere Retter. Sie heißen Atlan, Chipol und - äh, Rottür.« »Mrothyr«, verbesserte der Zyrpher. »Mrothyr«, wiederholte »Kantiger Fels«. »Bitte entschuldige, daß ich deinen Namen falsch verstanden habe. Es war nicht meine Absicht, dich zu kränken.« »Schon gut. Ich bin dir deswegen nicht gram.« Zustimmende Rufe und Begeisterung übertönten die Worte des Bikkren. So schnell sie konnten, kamen sie näher und umringten die Männer. Alle redeten durcheinander, jeder wollte seinen Dank zuerst abstatten. Atlan hob beschwichtigend die Arme, doch die Geste wurde falsch verstanden, die Lautstärke schwoll noch weiter an. Schicksalsergeben ließen die drei das Palaver über sich ergehen. Nach fast vier Minuten wurde der Redeschwall spärlicher, bis auch dem wortgewandtesten Sprecher kein ehrendes Attribut mehr einfiel. Chipol war nicht der einzige, der erleichtert aufatmete. Es war ja ganz nett, auch mal ein Lob zu hören, aber die Bikkren übertrieben maßlos und feierten sie, als hätten sie eine Heldentat vollbracht. »Macht nicht so viel Aufhebens von uns«, bat der Arkonide. »Noch konnten wir nichts für euch tun. Wenn ihr erlaubt, machen wir uns nun an die Arbeit.« »Dürfen wir zusehen?« fragte »Stiller See«. »Wir werden euch bestimmt nicht stören.« »Also gut«, stimmte der Aktivatorträger zu. »Es ist möglich, daß wir Werkzeug benötigen. Wißt ihr, ob es so etwas an Bord gibt?« »Ich habe eine Axt dabei, die könnt ihr gerne bekommen«, bot »Holzmühle« an. Mrothyr preßte eine Hand vor den Mund, um nicht laut loszulachen, in Chipols Gesicht zuckte es verräterisch, und auch der Arkonide hatte Mühe, seine Heiterkeit zu verbergen. »Danke, aber das scheint mir nicht das richtige Instrument zu sein«, sagte Atlan, bemüht, ernst zu bleiben. »As ist schlimm mit ›Holzmühla‹, immer hat ar as mit dar blödan Axt«, lispelte »Nachthimmel«. »Ja, das Problam will ar mit dar Axt lösan.«
»Das stimmt überhaupt nicht. Deinen Sprachfehler wollte ich noch nie mit der Axt beheben«, rechtfertigte sich der Beschuldigte. »Ein ›A‹ läßt sich auch schwerlich zu einem ›E‹ spalten, das ›Nachthimmel‹ nicht aussprechen kann«, witzelte »Dunkle Wolke«. »Natürlich kann ich ›A‹ sagen.« »Genug jetzt!« herrschte »Kantiger Fels« seine etwas kleineren Artgenossen an. »Hört auf zu streiten! Wie sollen sich unsere Retter da konzentrieren und arbeiten können, wenn ihr euch wie Dummzellen benehmt?« Augenblicklich trat Ruhe ein. Da einer Untersuchung nun nichts mehr im Wege stand, ging Atlan, Chipol im Schlepp, auf das erhöht stehende Allroundelement zu, während der Zyrpher zum Pult des Piloten marschierte. Respektvoll wichen die Bikkren zurück. Der Arkonide ließ sich im Sessel des Kommandanten nieder, der Daila nahm auf dem Sitz des Beobachters Platz, um Atlan bei Bedarf zu assistieren. Erwartungsvoll rückten die seltsamen Lebewesen nach. Da es keine exotische Technik war, mußte der Aktivatorträger sich nicht erst mühsam mit der Anordnung vertraut machen und das Funktionsschema ergründen, er konnte gleich gezielt vorgehen. Und das tat er mit gewohnter Gründlichkeit. Zuerst rief er einfache Informationen ab, die auch prompt auf dem Monitor erschienen. Eigentlich war ihr Aussagewert belanglos, dennoch dokumentierten sie, daß das System arbeitete, mit Energie versorgt wurde und in seinen Grundfunktionen nicht gestört war. Das war eine wichtige Erkenntnis, dennoch half sie nicht weiter. Ein möglicher Fehler mußte gefunden werden. Atlan fragte die unterschiedlichsten Programme ab, ohne etwas zu entdecken, dann ging er ins Detail und nahm sich die speziellen Dateien vor. »Das Triebwerk ist in Ordnung«, meldete Mrothyr, »aber der Steuerrechner hat einen Knacks. Der produziert nur noch Datensalat und verweigert jede Koordinateneingabe.« Der Arkonide zweifelte nicht einen Augenblick lang an der Diagnose seines Gefährten. Mittels der Lerngeräte an Bord der STERNSCHNUPPE hatte Mrothyr seine Kenntnisse vertieft und war durchaus kompetent. »Mal sehen, was der große Bruder in dieser Hinsicht zu bieten hat.« Sofort gab der Aktivatorsprecher die vorgesehene Kennung ein und erhielt dadurch die Zugriffsmöglichkeit zum entsprechenden Speicher der Hauptpositronik. Auch sie war darauf programmiert, Kursberechnungen durchzuführen und konnte bei Bedarf den Steuerrechner ersetzen. Das war wichtig und sogar lebensrettend, wenn die dafür vorgesehene Einheit ausfiel oder einen Defekt hatte. Ein Schiff, das den Überraum verließ und ausgerechnet dort in das Normaluniversum zurückkehrte, wo sich eine Sonne befand, war dem Untergang geweiht. Nicht unbedingt tödlich, aber alles andere als erfreulich war ein unkontrollierter Hyperraumaustritt in einem unbekannten Sektor allemal. Um dem vorzubeugen, arbeiteten beide Rechnersysteme im Verbund. Beide waren autark, doch sie kontrollierten sich gegenseitig. So war sichergestellt, daß der Raumer auch sein Ziel erreichte, wenn eine der Positroniken gestört war oder ihren Geist aufgab. Dabei war sichergestellt, daß diese Verzahnung nicht zu einer Rückkoppelung führte. Falsche Daten wurden nicht übernommen, sondern vom intakten System zurückgewiesen und als Fehlerbefehl neutralisiert. Das schützte die untergeordneten Einheiten vor Schäden und garantierte die Funktionstüchtigkeit des Raumers. Schon die ersten Zeichen, die auf dem Schirm erschienen, verrieten Atlan, daß auch die
betreffenden Speicherinhalte der Hauptpositronik unbrauchbar geworden waren. Widersprüchliche Daten, durcheinandergeratene Definitionen und verstümmelte Texte reihten sich zu einem konfusen Kauderwelsch aneinander. »Auch die Dateien des Hauptrechners sind unbrauchbar geworden. Das wieder ins Lot zu bringen, wird eine Weile dauern.« »Könnt ihr den Schaden beheben?« wollte »Grüner Baum« wissen. »Ja, aber die erforderliche Neuprogrammierung läßt sich nicht in wenigen Stunden durchführen. Vor allem die anschließende Testphase kostet Zeit.« »Bleibt so viele Tage wie ihr wollt, nur helft uns, damit das Schiff sich wieder lenken läßt und richtig arbeitet.« »Ich würde euch zur Belohnung meine Axt schenken«, nuschelte »Holzmühle«. »Du würdast dich tatsächlich von dar Axt trannan?« »Danke für das Angebot, aber ein solches Geschenk können wir nicht annehmen«, sagte der Arkonide, ohne von der Tastatur aufzusehen. Die Bikkren schwiegen wieder und sahen stumm zu, verloren jedoch bald das Interesse an dem, was Atlan und Mrothyr taten. Sie hatten eine spektakuläre Aktion erwartet, etwas, was der Reparatur einer Holzmühle ähnelte, doch die beiden beschäftigten sich nur mit der Eingabekonsole. Das war nicht interessant. »Wenn ihr erlaubt, möchten wir uns zurückziehen«, blubberte »Kantiger Fels«. »Wir sind in unseren Unterkünften, falls ihr uns brauchen solltet.« »In Ordnung. Bis später.« Gemächlich bewegten sich die Bikkren zum Ausgang. Kaum, daß sie die Zentrale verlassen hatten, platzte Chipol heraus: »Endlich sind sie weg!« »Mich haben sie nicht gestört«, meinte der Zyrpher. »Mich auch nicht, aber ich habe euch etwas mitzuteilen, was sie nicht zu hören brauchen.« Der Daila machte ein geheimnisvolles Gesicht. »Ich glaube, ich weiß, was für den Defekt der Rechner verantwortlich ist.« »Cirgro«, brummte Atlan. »Hast du es schon die ganze Zeit über gewußt?« fragte Chipol sichtlich enttäuscht. »Vermutet«, korrigierte der Aktivatorträger. »Auch die STERNSCHNUPPE reagierte beim Anflug auf den Planeten mit Desorientierung. Dieser Raumer war dem unerklärlichen Phänomen länger ausgesetzt als der Diskus. Offensichtlich haben die Positroniken eine selbständige Fehlerkorrektur versucht und mit Hilfsprogrammen gearbeitet, denn sonst wäre die Walze nicht bis hierher gekommen, aber das scheint mißlungen zu sein. Sie haben den Flug abgebrochen, als sie erkannten, daß die ursprüngliche Programmierung irreparable Schäden davongetragen hatte.« »Mit Sicherheit haben die Rechner den Defekt gemeldet. Warum hat der Stahlmann nicht eingegriffen?« »Das, Chipol, mußt du ihn schon selbst fragen.«
4. Auf dem Weg zu ihren Kabinen begegneten die Bikkren kleinen, unintelligenten Exemplaren, die auf ihren Scheinfüßchen dahintrippelten, so schnell sie konnten. »Sie fliehen voreinander«, stellte »Grüner Baum« fest. »Nein, sie verfolgen einander«, widersprach »Stiller See«. »Kantiger Fels« war wie vom Donner gerührt. Einen Moment lang beobachtete er das seltsame Treiben. »Sie machen Jagd aufeinander«, entsetzte er sich. Diese Erkenntnis war so furchtbar, daß die großen Bikkren wie gelähmt waren. Alle ihre Denker hatten nur noch einen Gedanken: Kannibalismus. Und das ausgerechnet hier auf diesem Schiff, unter den Augen der Hyptons und des Stahlmanns. Sie, die unterwegs waren, um sich davon zu überzeugen, daß ihnen auch wirklich nur Nahrung aus nicht-bikkrischem Leben geliefert wurde, mußten mitansehen, wie die Kleinen übereinander herfielen. »Holzmühle« faßte sich als erster. »Ich hole meine Axt und gehe dazwischen!« »Ja, abar mach schnall. Wir dürfan nicht zulassan, daß…« »Ach was, treibt sie auseinander und verstellt ihnen den Weg«, rief »Kantiger Fels«. Die mächtigen Körper setzten sich in Bewegung. Ihre Denker waren in höchster Aufregung, die sich jeweils dem ganzen Zellverbund mitteilte. Widersprüchliche Anweisungen ergingen. Denker befahl Auge, wegzusehen, weil der Anblick der Kleinen unerträglich war, Reflex dagegen benötigte die optischen Informationen zur Orientierung. Mundfuß, für den Transport zuständig, bildete zwar die benötigten Pseudopodien, leitete in der Hektik jedoch zugleich Impulse weiter, die seine andere Aufgabe betrafen. Freßzellen raspelten den unverdaulichen Bodenbelag ab. Nervös fuhren Finger und Greifer durch die Luft. Die Bikkrenzwerge nahmen von den Aktivitäten ihrer großen Artgenossen keine Notiz und stellten sich weiter gegenseitig nach. »Nachthimmel« schob seinen massigen Leib zwischen zwei Winzlinge, doch der Jäger dachte nicht daran, einfach aufzugeben. Wendiger als der Koloß, umrundete er das Hindernis, und bevor »Nachthimmel« ihn aufhalten konnte, war der Verfolger außer Reichweite von Greifer. »Du bist ein Tölpel«, schimpfte »Dunkle Wolke«, der das Mißgeschick beobachtet hatte. »Ich konnta ihn nicht fasthaltan. Ar ist waggarannt.« Auch »Holzmühle« entwischte ein Exemplar, »Grüner Baum« dagegen hatte mehr Glück. Vorsichtig hob er den Kleinen hoch. »Was hat das zu bedeuten? Warum macht ihr Jagd aufeinander?« »Groß werden, wachsen.« Perplex setzte der Bikkre den Winzling ab. Mittlerweile gab es kein Durchkommen mehr. »Kantiger Fels« und die anderen bildeten mit ihren Körpern eine unüberwindbare Barriere, die den Gang in seiner ganzen Breite abriegelte. »Habt ihr das gehört? Sie wollen sich gar nicht gegenseitig verzehren, sondern nur intelligent werden.« Die Erleichterung darüber war unverkennbar.
»Bei meiner Axt, das können wir ihnen nicht verwehren.« »Holzmühle« wollte seinen Platz in der lebenden Mauer verlassen, aber »Kantiger Fels« hielt ihn zurück. »Bleib, bis ich nachgedacht habe. Diese Entwicklung gefällt mir nicht.« »Abar varstah doch. Sie wollan sich nicht frassan, sondarn nur klügar wardan. Das ist doch arlaubt.« »Nein, das ist widernatürlich. Jeder Zellverbund besitzt ein harmonisches Gleichgewicht und ist als Kolonie allmählich gewachsen. Nie zuvor in der Geschichte unseres Volkes hat jemand gewaltsam seine Masse vergrößert, um intelligent zu werden. Ich weiß nicht, was in die Kleinen gefahren ist. So verhält sich kein Bikkre - selbst wenn er dumm ist. Dieses Verhalten ist eine Bedrohung für unsere Art.« Es wurde still auf dem Gang, jeder hing seinen Gedanken nach. Unter diesem Aspekt hatten sie die Sache noch gar nicht betrachtet. Was auf den ersten Blick positiv aussah, barg große Gefahren in sich. Nicht nur, daß Bikkren von Bikkren unterjocht wurden, es war auch so, daß bei derart rasanter Zunahme des Körperumfangs der Verstand trotz der Masse auf der Strecke blieb. Ein Denker wuchs mit dem Zellverbund, seine Leistungsfähigkeit steigerte sich allmählich und kam nicht über Nacht. Auch die kleinen Bikkren besaßen eine Schaltzentrale, Zellen, die sie lenkten, aber sie standen eben auf einem sehr niedrigen Niveau, denen abstraktes Denken fremd war. Instinktives Verhalten und Triebe prägten sie sehr stark. Schloß sich eine solche unintelligente Kolonie einem wesentlich größeren Zellverbund an, wurden ihre Mitglieder behutsam in das Ganze einbezogen. Unter dem Einfluß von Denker entwickelte sich das ehemalige Steuerzentrum, bis es einen Standard erreichte, der dessen Leistungsvermögen entsprach. Damit hatte Denker aber wieder Kapazitäten frei, die lernfähig waren und eine Steigerung der Intelligenz bedeuteten. Doch auch das ließ sich nicht beliebig fortsetzen. Es gab so etwas wie eine kritische Masse. Die Evolution, der es nur ums Überleben einer Art ging und nicht um die Entwicklung einer Überrasse, hatte der Erschaffung von Genies einen Riegel vorgeschoben. Bikkren, deren Durchmesser drei Meter deutlich überschritt, verdummten regelrecht und fielen geistig auf die Stufe des Nachwuchses zurück. Diese Riesen kannten nur noch eins: Fressen um jeden Preis. Und egal, was. Jeder intelligente Bikkre hütete sich aus bitterer Erfahrung daher, unkontrolliert zu wachsen und das Maximum zu überschreiten. Anders dagegen die Kleinen, die nun gewaltsam versuchten, klug zu werden. Sie setzten Größe mit Intelligenz gleich: Je gewichtiger, um so schlauer. Abgesehen davon, daß das ein Trugschluß war, vermochten es ihre Lenkzellen auch nicht, plötzlich anders zu funktionieren als bisher. Beherrscht von kreatürlicher Gier und dem Drang zur Nahrungsaufnahme entwickelten sich ihre brachliegenden Fähigkeiten nicht einfach dadurch, daß das Volumen sich verdoppelte oder verdreifachte. Das erforderte eine Schulung oder zumindest einen Lernprozeß. Beides fehlte oder fand nicht statt. Das Trauma der Bikkren schien Realität zu werden: Lebewesen wurden verspeist, die als Verwandte im weitesten Sinne galten, und der Kannibalismus gehörte zur Tagesordnung. Der Nachwuchs konnte nur kleine und kleinste Geschöpfe verzehren, Giganten von mehr als dreihundertfünfzig Zentimeter Querschnitt brachten fast alles zur Strecke, was als Nahrung geeignet war. »Du gehörst nicht umsonst zu unseren größten Geistern, ›Kantiger Fels‹. Du hast als einziger erkannt, welch verhängnisvolle Entwicklung sich da abzeichnet«, gestand »Grüner Baum«. »Allerdings verstehe ich nicht, was sich da tut. Warum streben unsere Helfer danach, schlagartig intelligent zu werden? Sollte unsere Reise zwischen den Sternen dafür verantwortlich sein?« »Ich vermag es nicht auszuschließen«, sagte »Kantiger Fels«. »Noch nie hat sich jemand von uns in die Lüfte erhoben oder gar unsere Heimatwelt verlassen.«
»Dieses Problem läßt sich wahrlich nicht mit der Axt lösen«, bedauerte »Holzmühle«. »Mir gefällt der Gedanke, die Kolonie zu Vergrößern und unter den Denkern aufzuteilen. Jede Denk-Zelle soll einen eigenen Verbund steuern und kontrollieren.« Die Worte von »Dunkle Wolke« schockierten die bestürzten Bikkren völlig. Vor Entsetzen versagten die Pseudopodien ihren Dienst, wie angestochene Ballons sanken sie in sich zusammen. Nur »Dunkle Wolke« blieb auf den Beinen. Er machte sich davon, um seine Ankündigung in die Tat umzusetzen. Seine Artgenossen hielten ihn nicht auf. Sie waren unfähig, eine Entscheidung zu treffen oder gar etwas zu tun. Für sie war eine Welt zusammengebrochen, doch es sollte noch schlimmer kommen. * Es dauerte Stunden, bis die massigen Geschöpfe die grauenhafte Vision aufgearbeitet hatten: Monströse Bikkren, die nur noch von einer einzigen Denk-Zelle geleitet wurden. Es waren wandelnde Freßmaschinen, frei von allen Hemmungen, bar jeder Intelligenz, nur noch darauf bedacht, Nahrung aufzunehmen – welcher Art auch immer. Als sie endlich ihre Kabinen erreichten, hatte das Unglück bereits seinen Lauf genommen. Mehr als ein Dutzend der kleinen Helfer waren verschwunden, auch »Dunkle Wolke«, dafür gab es zwei Exemplare von 3,70 Meter Durchmesser. Gierig machten sie sich über die Baumbrot-Vorräte her. Angeekelt wollte sich »Stiller See« zurückziehen. Auch die anderen empfanden Widerwillen und Abneigung beim Anblick der stupiden Riesen, die noch nicht einmal ihren Körper richtig unter Kontrolle hatten. »Das kann nur mit der Axt geregelt werden!« rief »Holzmühle«. »Auf sie, wir müssen sie vertreiben!« Deutlich kleiner als die Kolosse, drang er mutig auf sie ein und versuchte, sie abzudrängen. Zwar gab die Masse nach, doch die Kolonie als Ganzes wich und wankte nicht. Plötzlich empfing der Denker von »Holzmühle« bedrohliche Signale von Taster und Fühler. Beide meldeten übereinstimmend, daß an mehreren Stellen des Verbunds Zellen weggeraspelt wurden. Panikerfüllt wich der Bikkre zurück. »Sie greifen mich an«, schrie er in höchster Not. »Sie wollen mich fressen. Ich habe schon Substanz verloren.« Die erste Reaktion der entsetzten Geschöpfe war, wegzulaufen und sich zu verstecken, aber dann gewann die Vernunft die Oberhand. Egal, wo sie sich auch verbargen, die gefräßigen Monster würden sie überall finden, und ewig fliehen konnten sie auch nicht. Jetzt und hier mußte eine Entscheidung fallen, die nicht-bikkrische Nahrung mußte verteidigt werden, wollten sie, die Intelligenten, nicht alle Hungers sterben. Der friedfertige Denker »Kantiger Fels« ging als erster zum Angriff vor. Daß er, der so etwas wie der geistige Führer der kleinen Abordnung an Bord des Raumschiffs war, nicht davor zurückschreckte, seinen Körper als lebende Waffe einzusetzen, ließ auch die anderen ihre Skrupel und ihre Verzagtheit vergessen. Kämpfernaturen waren sie alle nicht, aber auch keine stillen Dulder, die sich den Kannibalen einfach opferten. Gemeinsam machten sie Front gegen die primitiven Zellverbände. Die begriffen nicht, um was es bei dieser Auseinandersetzung ging, sie registrierten nur, daß da etwas ganz nahe war, was freßbar war. Schon machten sich ihre Mundfüße über das Gewebe der intelligenten Bikkren her, mit denen sie kaum noch etwas gemein hatten.
Wut und Abscheu erfüllte die Planetarier um »Kantiger Fels«. Sie gaben ihre Zurückhaltung auf und setzten sogar ihre Greifer ein. Das war den verdummten Kolossen sichtlich unangenehm. Wie störrisches Vieh wichen sie nur langsam zurück und gaben dabei unartikulierte Laute von sich. So triebhaft war ihr Verhalten, daß sie keinen Augenblick bei ihrem schaurigen Mahl innehielten. Ununterbrochen verleibten sie sich Zellmaterial ihrer Widersacher ein, die sie gar nicht als solche erkannten. Sie waren Nahrung, alles war nur noch Nahrung. Mit vereinten Kräften gelang es endlich, die instinktgesteuerten Plasmaklumpen auf den Gang hinauszubefördern und sie auszusperren. Als sie endlich in ihre Kabinen zurückkehrten, waren fast alle bis zu einem Kilogramm leichter – so viel Zellen hatten die Monster abgeraspelt. Das war zwar beklagenswert, doch wichtiger war, daß der Gesamtverbund noch existierte und über die ursprüngliche Intelligenz verfügte. Ein Großteil des Proviants konnte gerettet werden, und fürs erste waren sie vor den entarteten Kolonien sicher. Der Verlust an Substanz und Energie forderte seinen Tribut. Mit großem Appetit machten sich die Bikkren über das Baumbrot her, doch die Stücke, die ihre verdummten Artgenossen angeknabbert hatten, verschmähten sie. Es war nicht auszuschließen, daß die Raspelzellen der Primitiven vorher schon Bikkren verzehrt hatten. Die Furcht, selbst zu Kannibalen zu werden, weil sich noch Reste oder einzelne Exemplare davon an den Fladen befanden, ließ sie davon zurückschrecken, diese zu verspeisen. Eine für ihn traurige Entdeckung machte »Holzmühle«: Die Dummzellen hatten nicht einmal vor seiner geliebten Axt haltgemacht. Der Stiel des Werkzeugs war abgefressen bis auf einen kümmerlichen Stumpf. Während »Holzmühle« den herben Verlust beklagte, sahen sich »Kantiger Fels« und »Nachthimmel« in der Unterkunft um. In einem Raum entdeckten sie »Schimmernde Wolke«, jenen Bikkren also, der einen Späher ausgeschickt hatte, um zu erfahren, wie die fremden Retter aussahen. Er lag apathisch in eines Ecke, zeitlupenhaft veränderte sich seine Körperform, ohne jedoch konturenlos zu werden. Die Pseudonadeln auf einem Teil der Oberfläche verschwanden, Buckel bildeten sich, die sich in Stachel zurückverwandelten. Es war ein unheimlicher Anblick. »Ha, ›Schimmarnda Wolka‹, was ist mit dir? Bist du krank? Fehlt dir was?« »Nachthimmel« bekam keine Antwort. »Was hat ar nur? Dar Burscha macht mir richtig Angst.« »Immerhin hat er seine ursprüngliche Größe behalten, ist also noch intelligent.« »Kantiger Fels« ging näher an seinen kleineren Artgenossen heran. »Hörst du mich, ›Schimmernde Wolke‹?« »Wer spricht da?« kam es undeutlich zurück. »Ich bin es, ›Kantiger Fels‹. Erkennst du mich denn nicht mehr?« »Ich kann dich nicht erkennen.« »Nein, weil ich Auge und Horcher unter Kontrolle habe«, blubberte es. »Aber Ohr und Mundfuß hören auf mein Kommando.« »Nicht mehr lange. Reflex ist auf meiner Seite, und bald beherrsche ich den ganzen Körper – allein.« »Ich verstehe nicht.« »Kantiger Fels« war verwirrt. »Was ist mit dir los? Du redest so konfus, Denker.« »Du sprichst mit Denker 1«, formulierte Sprecher. »Dem Befehlshaber über Auge, Horcher, Reflex und Taster.« »Jeder im Zellverbund weiß, daß ich, Denker 2, den Sieg davontragen werde. Wer sich mir nicht
unterordnet, wird von Mundfuß nicht mehr versorgt.« »Das ist ja grauenhaft.« »Kantiger Fels« stand kurz davor, die mühsam wiedergewonnene Fassung erneut zu verlieren. »Komm weg hier, ›Nachthimmel‹, ich kann das nicht länger ertragen.« »Was ist dann los? Ich varstaha überhaupt nichts mahr.« »›Schimmernde Wolke‹ ist nicht mehr er selbst. Denker ist keine Einheit mehr, sondern hat sich in zwei rivalisierende Denkzell-Verbände aufgespalten. Sie bekämpfen sich gegenseitig, weil sie alle Macht für sich und den Körper allein beherrschen wollen.« »Nahman dann diesa Schrackansmaldungan kain Anda?« fragte »Nachthimmel« bestürzt. »Vielleicht wäre es besser gewesen, diese Reise nie anzutreten. Ich weiß mir keinen Rat mehr, wie wir den Verfall aufhalten sollen.« »Abar avantuall unsara Rattar. Sie könnan sogar ain Raumschiff raparieran.« »Das ist eine gute Idee. Ich werde Atlan und die anderen bitten, uns zu helfen, bevor sich alle Bikkren in Monster verwandelt haben.«
5. Der Arkonide, Mrothyr und Chipol, der ihnen zur Hand ging, hatten ihre Arbeit unterbrochen. Die Lösung des Problems, mit dem die drei nun konfrontiert wurden, schien den Bikkren noch weit dringlicher zu sein als die Funktionstüchtigkeit des Raumers. »Kantiger Fels« wußte ebensowenig wie seine assistierenden Artgenossen, wo er eigentlich beginnen sollte. Was war wichtig, was war überflüssig? Sollte er gleich mit der Tür ins Haus fallen oder der Reihe nach erzählen? Er entschloß sich, die Raumfahrer umfassend zu informieren. Und das tat er dann auch. Sogar die Entstehung der teils poetisch klingenden Namen erwähnte er: Jede Kolonie gab sich den Namen dessen, was sie als erstes bewußt wahrnahm. Die aufmerksamen Zuhörer erfuhren quasi alles über dieses Volk, seine Geschichte und die Art, zu leben. Die erstaunlichste Tatsache war bei allen Eigentümlichkeiten dieser Rasse jedoch, daß die Körper gar keine Körper waren. Es waren Zellverbände, Kolonien aus Milliarden von Einzelwesen, dennoch’ fühlte sich »Kantiger Fels« wie die anderen auch als Individuum. Diese Einheit wurde möglich, weil die einzelnen – der Beschreibung nach etwas zu groß geratenen Pantoffeltierchen – in der Kolonie die unterschiedlichsten Aufgaben übernahmen. Die Einzeller schlossen sich dabei innerhalb des Körpers zu einem Verbund zusammen, der sich spezialisierte, ohne daß dabei das Einzelwesen zum Spezialisten wurde. Jeder Bikkre konnte bei einer Auflösung des Gemeinwesens »Körper« selbständig weiterexistieren und sich mit anderen zu neuen Kolonien zusammentun. Die waren allerdings dumm, wenn sie weniger als fünfzig Zentimeter Durchmesser hatten. Denker war zwar so etwas wie das Gehirn eines Zellverbunds von ein bis eineinhalb Metern Radius, aber eben kein richtiges Gehirn. Es war ein Zusammenschluß von Zellen innerhalb der Kolonie, dem es oblag, geistige Arbeit zu leisten. Das gleiche galt für Auge, Mund fuß, Finger und all die anderen, die in die Rolle von Organen und Extremitäten »geschlüpft« waren. Wenn Sprecher im Auftrag von Denker »Ich« sagte, so meinte sich keiner der beiden damit selbst, sondern stets den ganzen Zellverbund, der sich »Stiller See«, »Nachthimmel« oder wie auch immer nannte. Nun wurde auch die Furcht der Bikkren vor Kannibalismus erklärlich. Winzig, ja mikroskopisch klein, wie sie nun einmal waren, konnte es durchaus passieren, daß eine Kolonie versehentlich ein Einzelwesen verzehrte. Einzelwesen – Einzeller. Atlan fiel ein Vortrag ein, den Hage Nockemann und Blödel einmal gehalten hatten. Von der Besatzung der SOL hatten sich nur wenige dafür interessiert, aber er hatte zu den wenigen Zuhörern gehört… * »Liebe spärlich Versammelte, ich habe die Ehre, heute meinen Chef anzusagen mit einem Vortrag, der sich ausschließlich den Einzellern widmet. Daß so wenige erschienen sind, zeigt, wie relevant das Thema gerade heute ist.« Nockemann versetzte seinem Assistenten einen Stoß mit dem Ellbogen. »Nimm dich in acht«, zischte der Scientologe. »Noch so eine Taktlosigkeit, und du endest als Müllschlucker.« »Ich habe dich davor gewarnt, das Referat zu dieser Stunde zu halten, da im Bord-TV eine Unterhaltungssendung gezeigt wird«, raunte der Roboter. »Papperlapapp. Du siehst, wie groß das Bildungsbedürfnis ist. Gut ein Prozent der Plätze sind
besetzt. Was sich hier eingefunden hat, ist die naturwissenschaftliche Laienelite.« »Eine Elite schläft schon.« »Hör auf, mit mir zu streiten. Die Leute werden ja schon aufmerksam«, zeterte Nockemann verhalten. »Ich denke, das sollen sie auch.« »Schluß jetzt, du Schwachkopf. Fahre mit der Einführung fort.« »Wohin und mit welchem Fahrzeug?« erkundigte sich Blödel. »Du sollst weitermachen mit der Ankündigung, du Einfaltspinsel.« »Ach so. Ja, gern.« Der synthetische Scientologe wandte sich wieder an die Solaner. »Wie sagt es der Dichter Goethe doch so treffend: ›Hier sind wir versammelt zu löblichem Tun‹. Tun wir es also, doch zuvor möchte ich unseren Ehrengast Atlan begrüßen. Herzlich willkommen. Und nun bitte ich den genialen Wissenschaftler Hage Nockemann, zu mir ans Rednerpult zu kommen.« »Du Idiot, ich bin doch schon da«, flüsterte Nockemann ärgerlich. »Ich weiß, ich wollte nur die Spannung auf den Höhepunkt treiben.« »Wir sprechen uns später noch.« Der Galakto-Genetiker trat seinem Mitarbeiter wütend gegen das metallene Schienbein. »Hau endlich ab.« Gehorsam trat Blödel zur Seite und überließ seinem Vorgesetzten das Mikrophon. »Liebe Freunde.« Nockemann machte eine Kunstpause und las von einem dicken Stapel engbeschriebener Folien ab. »Und damit komme ich zum Ende meines Vortrags.« »Aber Chef, du hast noch nicht einmal damit begonnen.« »Natürlich nicht, du Spatzengehirn. Es war ein kleiner Scherz zur Auflockerung.« Hastig sortierte er seine Unterlagen neu. »Ein Späßchen muß schließlich auch mal sein.« »Niemand hat gelacht«, stellte Blödel kategorisch fest. »Meine Zuhörer haben eben Format. Wenn es um Wissenschaft geht, gibt es auch nichts zu lachen.« Der Solaner machte ein böses Gesicht. »Außerdem verbitte ich mir deine Unterbrechungen und unqualifizierten Äußerungen. In diesem Saal wird Wissen transferiert und nicht Unsinn.« Er zwirbelte seinen Bart. »Kommen wir also zur Sache. Wißt ihr, daß wir alle miteinander verwandt sind? Nicht wir persönlich, auch nicht unsere Großeltern und unsere Ururgroßeltern, und dennoch haben wir gemeinsame Ahnen. Geht weit zurück in die Vergangenheit und denkt einmal nach. Wer könnte das sein?« »Die Einzeller«, tönte Blödel respektlos. »Du hast mir die Pointe verdorben«, knurrte der Wissenschaftler. Seine Augen funkelten. »Wer dich zum Freund hat, braucht wahrlich keine Feinde mehr, du Ausbund an Dummheit.« »Chef, niemand wollte diese naive Frage beantworten, weil er fürchtete, sich lächerlich zu machen. Es liegt ja auf der Hand, daß es Einzeller sind, denn über dieses Thema sprichst du ja.« »Auch wieder wahr. Bitte entschuldigt die kurze Unterbrechung.« Der Wissenschaftler wischte ein imaginäres Stäubchen von seiner abgetragenen Jacke. »Wenn wir die Aminosäuren einmal außer acht lassen, sind die Einzeller der Ursprung des Lebens, also Leben im eigentlichen Sinn. Als was haben wir diese Einzeller nun zu verstehen? Sind es Tiere? Oder sind es Pflanzen? Hier zeigt sich ein Sowohl-als-auch-Prinzip der Evolution. Sie führte schon vor Jahrmillionen ein, was als Errungenschaft hochentwickelten Lebens gepriesen wurde – die Diplomatie. Tatsächlich ist es so, daß die Einzeller Tiere, also Protozoen sein können, es aber auch zahlreiche Vertreter pflanzlichen Lebens gibt, kurz als ›Protophyten‹ zusammengefaßt. Es soll nicht unerwähnt bleiben, daß es auch da fließende Grenzen gibt wie etwa bei den Geißelträgern, von denen sich einige auf beiderlei Art
ernähren.« »Stichwort ›Rhizochrysis‹.« »Sehr richtig, Blödel. Diese Goldmonaden vollziehen auch heute noch den Wechsel von der Pflanze zum Tier. Es sind Gemischtesser wie wir, haben sonst allerdings wenig mit uns gemeinsam, wie man sich denken kann. Zuweilen teilen sie sich so, daß der eine Nachkomme den in der Teilung gehemmten Farbkörper – er kennzeichnet pflanzliches Leben - völlig erhält, der andere geht dagegen leer aus. Er wird damit ›Tier‹ wie seine zukünftigen Nachkommen. Könnt ihr meinen Ausführungen noch folgen?« Der Eingeschlafene schreckte hoch und nickte schuldbewußt. Nockemann vermerkte es mit Wohlwollen und fuhr fort: »Man nennt die einzelligen Tiere ›Protozoa‹, aber ›Urtiere‹ ist ein falscher Name. Viele ihrer heute lebenden Vertreter sind genauso hoch organisiert wie manche Vielzeller, allerdings ging ihre Entwicklung in eine andere Richtung. Unsere Körperzellen bilden Glieder, Organe und Gewebe, sie erfüllen bestimmte Aufgaben, sind jedoch so spezialisiert, daß sie auf das Zusammenwirken mit anderen Spezialisten angewiesen sind und ohne das Gemeinwesen ›Körper‹ nicht mehr existieren können. Anders dagegen die Einzeller. Sie sind unabhängig geblieben, Einzelkämpfer, die ihren innerlichen Bau immer mehr vervollkommnet haben.« »Bravo, Chef.« Blödel klatschte Beifall. »Dieses Referat wird zu einem weiteren Höhepunkt in deinem Leben. Mittlerweile ist auch ein Fernsehteam eingetroffen, das mitschneidet und filmt. Ich war so frei, es einzuladen.« »Verzeih, ich glaube, ich habe dir Unrecht getan, mein Alter. Jetzt, da Kameras und Mikrophone meinen Vortrag aufzeichnen, bin ich sicher, daß sich viele Solaner für dieses Thema interessieren werden. Hoffentlich ist der Sendetermin nicht zu ungünstig.« »Im Gegenteil, Chef, der Spot wird zur besten Sendezeit ausgestrahlt. Das bringt wahnsinnige Einschaltquoten.« »Was für ein Spot?« Befremdet blickte der Scientologe seinen engsten Mitarbeiter an. »Ich mache ein Informations- und Schulungsprogramm auf wissenschaftlicher Basis. Welchen Inhalt hat dieser Spot?« »Er warnt vor krankmachenden Einzellern, unter anderem vor Amöben und anderen Erregern dieser Spezies. Und wer wäre dazu geeigneter als du, es einem breiten Publikum zu erklären?« »Das Wort ›Spot‹ hat einen negativen Beigeschmack. In welchem Zusammenhang wird mein Beitrag gebracht?« »Natürlich sind es nur winzige Ausschnitte aus deiner Rede, Chef, doch du wirst dadurch noch bekannter und berühmter. Fast alle Solaner werden dich auf dem Bildschirm erleben.« »In welchem Zusammenhang?« bohrte Nockemann. »Es geht um Sauberkeit«, druckste Blödel herum. »Genauer gesagt um die Reinheit der Naßzellen.« Als der Roboter erkannte, daß sein Vorgesetzter immer noch skeptisch war, entschloß er sich, die ganze Wahrheit zu sagen. »Nun gut, es geht um Toilettenhygiene, aber was macht das schon für einen Unterschied?« »Das wirst du mir büßen, du Schundnickel. Noch nie hat es jemand gewagt, meine Arbeit mit Exkrementen in Zusammenhang zu bringen«, fauchte der Solaner. »Ausgerechnet ich als Werbeträger für Toilettenhygiene. Es ist unglaublich.« »Chef, die Zuhörer werden ungeduldig. Du mußt deinen Vortrag weiterführen.« »Ja, zum Donnerwetter.« Mit saurem Lächeln wandte sich der Wissenschaftler erneut an sein Publikum. »Äh, ja, zurück zum Thema. Wie gesagt, der Einzeller ist ein Allroundtalent. Bei
entsprechender Vergrößerung erkennt man an und in den Einzellern Organellen, die dieselben Aufgaben erfüllen wie die Organe der Tiere und Menschen. Selbst die so primitiv wirkenden Wurzelfüßer, wie wir Wissenschaftler die Amöben nennen, müssen viel mehr in sich bergen, als es das Elektronenmikroskop verrät.« »Ganz recht«, schaltete sich der Roboter ein. »Bei einer…« »Schweig! Also, um es zu wiederholen, die Zelle der Einzeller führt dieselben Organellen wie die Zelle der Vielzeller, besitzt aber auch solche, die Vielzellern fehlen. So kann ein der Nahrungsaufnahme dienender sogenannter Zellmund in ihr Inneres führen. Er kann ein ständiges Gebilde sein oder bei Bedarf entstehen und wieder verschwinden. Man kann ohne weiteres sagen, daß das ›Verhalten‹ vieler Einzeller weit höher entwickelt ist als bei der Zelle eines Vielzellers. Je nach Bedingung schwimmt der Geißelträger mit Namen Euglena zum Licht hin oder weg, das Pantoffeltierchen reagiert wie viele andere Wimpertierchen auch auf mechanische und chemische Reize, auf Wärme und sogar auf Schwerkraft. Ein gewisses Lernvermögen bei Wimpertierchen ist unumstritten. Nicht nur die Einzeller selbst mit ihren über fünfzigtausend Arten sind sehr erfolgreich, sondern auch ihr Funktionsprinzip.« Er fuhr sich über das wirre Haar, das dadurch noch mehr in Unordnung geriet. »Immer wieder hat die Evolution darauf zurückgegriffen. Nehmen wir als Beispiel den Menschen. Die Wanderzellen im Blut und im Gewebe, zusammengefaßt unter dem Begriff ›Leukozyten‹, bewegen sich nicht anders als Amöben – mit Scheinfüßchen. Und sie umfließen ihre Beute, nämlich Bakterien, ebenso wie unsere Wurzelfüßer. Oder denken wir an den Samenfaden – er bewegt sich mit einer Geißel fort wie die Geißeltierchen. Verblüffend ist, daß die Geißeln im gesamten Pflanzen- und Tierreich, von sehr wenigen Ausnahmen einmal abgesehen, unter dem Elektronenmikroskop exakt den gleichen Bau zeigen.« »Zu erwähnen wäre noch, daß den Einzellern einiges abgeguckt wurde«, tönte die mobile Laborpositronik. »Das Pantoffeltierchen war das Vorbild für diese bequeme Fußbekleidung, das Trompetentierchen…« »Falsch, Quatsch, absoluter Nonsens. Da seht ihr, meine Einzellerfreaks, wohin Halbbildung führt, denn es war genau umgekehrt.« Mit stolzgeschwellter Brust und Triumph in der Stimme demonstrierte Hage Nockemann Überlegenheit. »Außer Musikinstrumenten können Einzeller so gut wie alles sein: Harmlose Mitesser, Schmarotzer, Schädlinge oder auch Symbionten. Ich möchte euch vorab nur mal ein Beispiel dafür nennen, wie nützlich diese Winzlinge sind. Termiten, so dürfte allgemein bekannt sein, ernähren sich von Holz, nur – die Termiten können diese Nahrung überhaupt nicht verwerten. Hier zeigt sich nun ein geradezu wunderbares Zusammenspiel. Familien der Gattung Trichomonas wie Hypermastigidae haben sich ganz und gar dem Leben im Enddarm der Termiten angepaßt. Dort sind sie so zahlreich, daß sie bis zu einem Drittel des Gesamtgewichts des Tierchens ausmachen. Und was bewirkt diese riesige Kolonie nun? Sie erzeugt Fermente, die die Termiten selbst nicht produzieren können und die Holz abbauen. Noch ist nicht endgültig geklärt, ob die Geißelträger diese Stoffe produzieren oder in diesen lebende Bakterien, doch letztendlich kommt es nur auf das Ergebnis an.« »Mich putzt du herunter wegen ein bißchen Toilettenhygiene«, beschwerte sich Blödel. »Und was machst du? Du referierst über kotgefüllte Termitendärme und Einzeller, die sich vergnügt darin suhlen.« »Erstens gibt es keine Fäkalien, wenn ein Wissenschaftler über Ausscheidungen spricht, und zweitens suhlen sich Einzeller nicht«, wies der Scientologe seinen Assistenten zurecht. »Kehren wir zum Pantoffeltierchen zurück – ein besonders beliebtes Studienobjekt. Ich führte bereits aus, daß auch Einzeller anderes Leben enthalten wie Bakterien, die ja noch wesentlich winziger sind. Und oft genug gibt es eine Symbiose zwischen beiden Lebensformen wie bei manchen Stämmen von Paramecium aurelia. Sie enthalten in ihrem Zelleib bakterienähnliche Wesen, die ›KappaSymbionten‹ genannt werden. Die ihn beherbergenden Pantoffeltierchen scheiden etwas aus, was Artgenossen anderer Stämme tötet. Nun sind aber nicht etwa die Kappa-Symbionten die tödliche Waffe, sondern sie sind lediglich die Überträger von Viren, die das bewirken. Es wäre logisch, daß
diese Killer-Pantoffeltierchen ein Opfer ihrer eigenen Giftattacken werden, doch das ist nicht der Fall. Durch ein spezielles Gen sind sie dagegen gefeit. Ein anderer Symbiont ist der LambdaSymbiont…« »Nicht verwandt und nicht verschwägert mit der Lambda-Sonde eines geregelten Drei-WegeKatalysators«, krähte der Roboter, was ihm einen verweisenden Blick seines Vorgesetzten eintrug. »Der Lambda-Symbiont liefert dem Pantoffeltierchen die lebenswichtige Folsäure, die es selbst nicht aufbauen kann und andernfalls darauf angewiesen wäre, sie in der Nahrung zu finden. Wir können also folgern, meine Zuhörer, daß es auch im mikroskopischen Lebensbereich Abläufe und Zusammenhänge gibt, die dem kaum nachstehen, was wir mit eigenen Augen ohne Hilfsmittel sehen.« Nockemann wühlte in seinen Unterlagen. »Irrtümlich wird oft angenommen, daß Einzeller automatisch auch Einzelgänger sein müssen, weil man sie für zu primitiv hält, zusammenzuarbeiten, aber das ist ein Trugschluß. Sie sind durchaus imstande, Botenstoffe zu produzieren, Hormone wie Acetylcholin, Adrenalin und andere. Wie jeder halbwegs gebildete Solaner weiß, stellt unser Körper beispielsweise ebenfalls Adrenalin her, also ein weiterer Hinweis darauf, wie sehr wir diesen Winzlingen in mancher Hinsicht noch verwandt sind.« Mit heftigen Handbewegungen verscheuchte der Wissenschaftler eine fliegende Kamera, die ihn aufdringlich umkreiste. Blödel erwies sich als ein dankbareres Objekt. Er hatte nichts dagegen, sich in Großaufnahme zeigen zu lassen. »Ich grüße alle Tierchen und sonstigen Lebewesen an Bord der SOL, die unter dem Pantoffel stehen.« »Auf der Stelle hinaus mit dir!« rief Hage Nockemann wutschnaubend. »Jetzt habe ich deine Clownerien satt. Ich lasse mich nicht lächerlich machen, und von dir schon gar nicht.« »Entschuldige, Chef, es…« »Hinweg mit dir! Geh mir aus den Augen!« Der Roboter kannte seinen Herrn gut genug, um zu wissen, daß es dem Solaner ernst war. Ohne noch einmal zu widersprechen, trollte er sich und verließ den Saal. Der Galakto-Genetiker vermerkte es mit Genugtuung, sein Ärger verrauchte. »Konzentrieren wir uns wieder auf das Thema. Am Beispiel der Ordnung der Phytomonadinen, also der Pflanzenmonaden, möchte ich euch aufzeigen, daß Einzeller durchaus zusammenzuleben vermögen und in der Lage sind, im Verbund zu arbeiten. Es handelt sich vorwiegend um grüne Arten mit pflanzlicher Ernährungsweise. Gerade sie zeichnen sich dadurch aus, den Weg zu den Vielzellern zu weisen. Vereint zu Kugeln, die aus zahlreichen grünen Geißelträgern bestehen, die durch Zwischenräume getrennt sind, bilden sich solche Kolonien, eingebettet in eine Gallertmasse. Die einzelnen Mitglieder haben sich nach der Teilung nicht getrennt, sondern sind zusammengeblieben. Solche Koloniebildungen sind bei Einzellern recht häufig. Es gibt Arten, bei denen die Einzelwesen durch nichtlebende Bestandteile wie Stiele, Gallerte und Hüllen miteinander verbunden sind, und jedes Geschöpf reagiert auf Reize individuell. Es gibt allerdings auch andere, bei denen die Einzelwesen bereits eine Arbeitsteilung besitzen und die Kolonie als einheitliches Ganzes handelt. Wir Wissenschaftler nennen den zuletzt erwähnten Typ ›Kolonialindividuum‹.« Nockemann beugte sich vor. »Ich hoffe, euer Interesse an den Einzellern ist nach dieser Einleitung gestiegen. Daß sie auch Erreger sind und zum Tod führen können, ergibt sich aus meinen weiteren Ausführungen. Beginnen möchte ich mit…« * Atlan kehrte gedanklich in die Gegenwart zurück. Es gab sie also, die intelligenten Einzeller, die sich zu Kolonien zusammenschlossen. Und es gab die monströsen Bikkren, die dumm und gefräßig
waren. Der Bericht Traykons ging ihm durch den Sinn. Durch ihn hatte er von den Erlebnissen Animas und ihrer Begleiter in der möglichen Zukunft Manam-Turus erfahren und von den allesfressenden Diktatoren. Gab es da einen Zusammenhang? Waren die Bikkren oder ihre entarteten Vertreter die Ahnen dieser furchtbaren Riesen, die ganze Landstriche unter sich begruben? Dieses Rätsel wirst du hier nicht lösen können, konstatierte der Extrasinn. Zwar hat die Zukunft ihre Wurzeln in der Vergangenheit, doch die Gegenwart läßt sich selten hochrechnen. Orientiere dich an der Realität, sie bietet ohnehin Schwierigkeiten genug. Als wäre damit ein Stichwort gefallen, betrat ein Stahlmann die Zentrale. Zwar hatten die Passagiere der STERNSCHNUPPE nicht vergessen, daß er und die Hyptons anwesend waren, doch sie hatten erst einmal das Schiff wieder flottmachen wollen. Danach war immer noch Zeit, sich mit den Fledermausartigen zu beschäftigen. Ob Zufall oder Absicht – wie es aussah, mußte ihnen nun Priorität eingeräumt werden, auch wenn das Problem der Monster-Bikkren für die Kolonialindividuen noch so vordringlich war. »Aufpassen«, raunte Atlan seinen Gefährten zu. Die verstanden sofort. Schnell, aber nicht zu auffällig, standen sie auf und vergruben wie der Arkonide die Hände in den Taschen der Kombination. Lauernd verharrten die drei vor ihren Sesseln, bereit, auf einen Angriff sofort zu reagieren und in Deckung zu gehen. »He, Stahlmann, wir haben Hilfe bekommen«, brabbelte »Stiller See«. »Unsere Retter machen das Schiff wieder lenkbar. Willst du sie nicht begrüßen?« Der Aktivatorträger versteifte sich innerlich. Am liebsten hätte er dem Bikkren, genauer gesagt dessen Sprecher, einen Knebel verpaßt. Vermutlich wollte das arglose Geschöpf seine Dankbarkeit zeigen und zugleich davon ablenken, welche Schwierigkeiten es mit den verdummten Artgenossen gab, doch dem Arkoniden war nicht daran gelegen, Aufmerksamkeit in dieser Form zu erwecken. Prompt blieb der Roboter stehen. Obwohl die hochgewachsene Gestalt mit dem weißen Haar sehr auffällig und kaum zu übersehen war, schien der Roboter erst jetzt von dem mehr als Zehntausendjährigen und seinen Begleitern Notiz zu nehmen. »Bikkren seid ihr nicht, weder Ligriden und erst recht keine Quellenplaner oder Stahlmänner«, stellte der Automat lakonisch fest. »Wer seid ihr?« Die Frage ließ nur einen Schluß zu: Der Roboter war ahnungslos, wen er da vor sich hatte. Atlan entschloß sich, die Initiative an sich zu reißen und gab einen Schuß ins Blaue ab. »Wir gehören Hilfsvölkern des Neuen Konzils an und wurden alarmiert, weil die Positroniken der YAMOTSAJJA streiken.« »Das Schiff ist nicht so wichtig. Kommt mit und helft mir, meine Herren zu versorgen.« Die drei waren über die Aufforderung zur Mitarbeit ziemlich verblüfft. Ungeprüft akzeptierte der Roboter die Aussage der für ihn Fremden. Ein so naives Exemplar war ihnen bisher noch nicht begegnet. Entweder hatte seine Positronik bei den mysteriösen Ereignissen auf und um Cirgro etwas abbekommen, oder er gehörte zum letzten Aufgebot wie der altersschwache Kasten, der steuerlos dahindriftete. »Wir werden dich unterstützen«, entschied der Arkonide. Er nahm die Hände aus den Taschen. Dieser Stahlmann bildete keine Gefahr, seine ganze Sorge galt dem Wohlergehen der Hyptons. »Aber was soll aus uns werden?« lamentierte »Kantiger Fels«. »Bitte geht nicht mit ihm, unsere Retter. Wir bedürfen eurer Hilfe dringender.«
»Ich verspreche, daß wir euch nicht verlassen und versuchen werden, eine Lösung zu finden«, sagte Atlan beschwichtigend. »Wir bleiben nicht lange weg.« Die Bikkren gaben sich mit dieser Erklärung zufrieden. Unterdessen hatte der Stahlmann die Notfall-Apotheke geöffnet und eine Spraydose entnommen. »Sind deine Herren krank?« »Ja. Da ihnen warm ist, werde ich sie vereisen, wie sie es wünschen.« Chipol tippte sich bezeichnend an den Kopf. Entweder war bei dem Roboter eine Schraube locker, oder die Hyptons waren so durcheinander, daß sie nicht mehr ganz zurechnungsfähig waren. »Ich weiß nicht, ob dieses Mittel zur Kühlung geeignet ist«, formulierte Atlan vorsichtig. »Gemeinhin dient es dazu, bei kleinen Eingriffen die Schmerzempfindlichkeit von Gewebe herabzusetzen.« »Dann taugt es nicht für meine Zwecke.« Der Stahlmann stellte den Behälter in die Medobox zurück. Er wirkte ein wenig ratlos. »Wo bekomme ich jetzt Eis her?« »Sollen wir uns die Quellenplaner nicht erst einmal ansehen? Vielleicht fehlt ihnen ja etwas anderes.« »Gut. Kommt mit.« Im Gänsemarsch verließen die drei hinter dem Roboter die Zentrale. Daß der Stahlmann nicht einmal einen Beweis für die Qualifikation als Arzt oder Heilkundler verlangt hatte, wunderte niemanden mehr. Er mußte wirklich einen Knacks haben und arg in der Klemme stecken, was den Gesundheitszustand der Hyptons betraf. Auf dem Weg zur Aufenthaltsstätte der beiden Quellenplaner begegneten ihnen zwei verdummte Bikkren. Zum ersten Mal sahen Atlan, Chipol und Mrothyr die Riesen mit eigenen Augen. Beide hatten mehr als vier Meter Durchmesser, eine breiige Plasmamasse, deren Oberfläche ständig in Bewegung war und nur mühsam in Form gehalten werden konnte. Mit der Hartnäckigkeit instinktgesteuerter Lebewesen raspelten sie an verschiedenen Stellen die Wandverkleidung ab, um an die darunterliegende Versorgungsleitung zu gelangen. Der Automat machte keinerlei Anstalten, sie davon abzuhalten oder zu verjagen, ihrerseits ließen sie auch den Roboter unbeachtet. Dann jedoch schienen sie Beute zu wittern. Sie stellten ihre Tätigkeit ein und bewegten ihre monströsen Körper schwerfällig auf den Arkoniden und dessen Gefährten zu. Wie sie sich orientierten, ließ sich nicht einmal erahnen. Man mußte kein furchtsames Gemüt haben, um beim Anblick dieser Ungetüme Beklommenheit zu empfinden. Tonnenschwer, bestehend aus Billiarden von Zellen, eine Kolonie, die ihre Intelligenz verloren hatte und nur noch ein Ziel kannte: Fressen. Unwillkürlich gingen die drei schneller, so daß die langsamen stupiden Bikkren zurückfielen. Dennoch gaben sie nicht auf und folgten beharrlich. Fast hatte es den Anschein, daß sie Duftmarkierungen auf dem Boden aufnahmen und sich davon leiten ließen. »Wir sind da.« Das schmucklose Schott öffnete sich, das die Männer bereits kannten. Kalte Luft schlug ihnen entgegen. Sie blickten in eine schlichte Kammer, die nur spärlich beleuchtet war und nicht mehr als sechs Personen Platz bot. Als die kleine Gruppe den Durchlaß passiert hatte, schlossen sich die Flügel, und die innere Schleusentür glitt zurück. Kühlhaustemperaturen verwandelten die Feuchtigkeit der ausgeatmeten Luft in kleine Dampfwölkchen.
Der Raum war so wohnlich wie ein Gefrierschrank und ebenso eisig. Die beiden Hyptons, die dicht zusammengedrängt an der Decke hingen, machten einen apathischen Eindruck. Schlaff wie Stoffetzen hingen die von den Mahden bis zu den Füßen reichenden Flughäute herunter. Das filigranartige Gewirr an beiden Schädelseiten, das sich dort anstelle von Ohren befand, hatte seine rosarote Farbe verloren, die milchigweiße Haut war fast durchsichtig mit einem fahlgelben Schimmer. Die großen runden Augen, nachtschwarz und hervorquellend, waren ohne Glanz und wirkten eingefallen. Atlan empfand fast so etwas wie Mitleid mit den siebzig Zentimeter großen Lebewesen. Das waren nicht mehr die Hyptons, die er kannte) die anderen ihren Willen aufoktroyierten und die Lenker des Neuen Konzils waren. Das hier waren hilflose Geschöpfe, die ein Bild des Jammers boten. »Ich habe Helfer mitgebracht«, sagte der Stahlmann. »Es ist kalt«, stieß einer der Quellenplaner hervor. »Die Sonne brennt zu heiß. Verschaffe uns Linderung.« »Ich verstehe nicht.« Der Roboter machte eine hilflose Geste. »Eine heiße Sonne Verbreitet keine Kälte. Ist euch warm?« »Das Neue Konzil strahlt Wärme aus. Sind die Ligriden schon versammelt, um unsere Befehle entgegenzunehmen?« »Wir sind auf einem Raumschiff, Herr. Ligriden sind nicht an Bord, nut Bikkren und diese drei neben mir.« »Drei ist eine Zahl, aber wir sind nur zu zweit. Wo sind die anderen?« Zusammenhanglos fuhr der Hypton fort: »Haben wir unser Ziel erreicht? Wohin geht die Reise?« »Wir sind die Elite der Macht. Niemand vermag sich uns zu widersetzen, also bringe uns Essen.« »Jawohl«, dienerte der Stahlmann. »Wollt ihr die Helfer später noch einmal sehen?« »Die Ruhe vor dem Start soll nicht gestört werden, bevor es zu spät ist.« »Wir haben bereits vor geraumer Zeit von Cirgro abgehoben«, erinnerte der Roboter. Die Erwähnung des Planeten schien die Quellenplaner an den Rand des Wahnsinns zu bringen. Sie gaben unartikulierte Laute von sich, Schreie, die niemand zu deuten wußte, ihre Körper schüttelten sich wie im Krampf, unkontrolliert zuckten die Flughäute, wurden aufgespannt zu Segeln, die durch die eisige Luft peitschten, ohne etwas tragen zu müssen. Einer der Hyptons verlor ganz und gar die Fassung, selbst der Klammerreflex versagte, er stürzte ab. Instinktiv setzte er seine fledermausähnlichen Schwingen ein, doch der Flugversuch scheiterte kläglich und führte zu einer Bruchlandung. Wie besessen bewegte sich der Quellenplaner über den reifbedeckten Boden. Versuche, ihn aufzunehmen oder ihm zu helfen, beantwortete er mit wütenden Attacken ohne Rücksicht darauf, ob er sich selbst oder einen anderen verletzte. »Ich denke, es ist besser, wenn wir uns einstweilen zurückziehen und eine Untersuchung auf später verschieben«, meinte Atlan. »Im Augenblick sind deine Herren zu erregt. Du siehst selbst, daß sie jeden Beistand verweigern. Versorge sie einstweilen, so gut du kannst und lasse uns wissen, wenn du Hilfe brauchst. Du weißt ja, wo du uns findest.« Der Stahlmann gab keine Antwort. Er konzentrierte sich völlig darauf, mit aller gebotenen Vorsicht seines außer Rand und Band geratenen Gebieters Herr zu werden, um ihm die Möglichkeit zu geben, an seinen angestammten Platz { unter der Decke zurückkehren zu können. Als sich kein Erfolg einstellen wollte, stimmte der Roboter ein Lied an, dessen Text so banal war wie ein Kinderreim. Das wäre noch zu ertragen gewesen, doch die Melodie und vor allem der Gesang war so schaurig, daß es selbst einem musikalischen Laien das Wasser in die Augen trieb. Fröstelnd und mit malträtiertem Gehör verließen die drei Gefährten fluchtartig die trostlose
Unterkunft. Sie atmeten erleichtert auf, als sie in der Schleuse standen und der Singsang von der unterschwelligen Geräuschkulisse überlagert wurde. So leer, wie sich die Kammer bei oberflächlicher Betrachtung dargestellt hatte, war sie gar nicht. Zwar gab es keine Einrichtungsgegenstände, doch getarnte Klappen und Türchen, die auf Anhieb nicht zu erkennen waren, signalisierten Fächer und Einbauschränke. Chipols Neugier war geweckt. Bevor ihn der Arkonide daran hindern konnte, hatte der Daila eine Schublade geöffnet und nahm den Inhalt in Augenschein. Sichtlich enttäuscht wollte er sie wieder schließen, aber der Zyrpher griff rasch hinein und förderte ein unverwechselbares Gerät zutage. Demonstrativ hielt er es hoch. »Die Bikkren sind Einzeller, doch sie wissen über ihre Struktur so gut wie nichts.« Beifallheischend sah Mrothyr seine Begleiter an. »Was wäre geeigneter als dieses Mikroskop, um ihnen zu verdeutlichen, was sie sind und wie sie sind?« »Wir nehmen das Instrument mit«, entschied Atlan nach kurzem Nachdenken. »Selbsterkenntnis kann durchaus dazu beitragen, eine Lösung zu finden.« Obwohl nicht einmal der Logiksektor widersprach, wußte der Aktivatorträger nicht, wie sehr er sich irrte. Ganz bewußt und aus gutem Grund hatten die Hyptons den Bikkren das Mikroskop vorenthalten. * Der Rückweg gestaltete sich zu einem Hindernislauf mit Sprinteinlagen. Letzteres war nötig, um den immer hungrigen Monstren zu entkommen. In ihrer Gier hatten sie es tatsächlich fertiggebracht, Teile der Gangverkleidung wegzuraspeln und Löcher in die Ver- und Entsorgungsleitungen zu fressen. Ein übelriechendes Gemisch aus Nährlösung und Abwässern stand zentimeterhoch auf dem Flur, und die verdummten Kolosse taten sich an der ekelhaften Mixtur gütlich. Flecken von Plasmabrei verunzierten die Wände, stinkende Brühe ergoß sich springbrunnenartig aus den angeknabberten Rohren. Hier und da war die Isolierung von Kabeln durch die Aktivitäten der Riesen beschädigt worden, so daß sich durch die Feuchtigkeit Kriechströme entwickelten, es kam zu Kurzschlüssen, Entladungen richteten Verschmorungen und andere Zerstörungen an. Verteiler fielen aus oder gerieten in Brand, Instrumente und Bordsysteme wurden in Mitleidenschaft gezogen, funktionierten nicht mehr richtig oder gaben ihren Geist völlig auf. Da niemand diesem verderblichen Tun der monströsen Bikkren Einhalt gebot, Schäden aber auch nicht behoben wurden, war abzusehen, daß auf dem Walzenraumer bald das absolute Chaos ausbrechen würde – wenn nicht sofort etwas dagegen unternommen wurde. Atlan wußte, daß ihm und seinen Begleitern diese Aufgabe zufiel. »Kantiger Fels« und seine intelligent gebliebenen Begleiter waren in ihrer derzeitigen Verfassung kaum in der Lage, hier Akzente zu setzen. Das, so die Hoffnung des Arkoniden, sollte sich ändern durch die Arbeit mit dem Mikroskop. * Die in der Zentrale zurückgebliebenen Bikkren begrüßten den Aktivatorträger so überschwenglich, als wären er und seine Mitstreiter tagelang weggewesen. Es dauerte eine Weile, bis sich Atlan Gehör verschaffen konnte.
»Wißt ihr eine Lösung für unser Problem?« bestürmte der Wortführer der Kolonialindividuen den Unsterblichen. »Vielleicht«, wiegelte Atlan ab. »Wir haben ein Instrument mitgebracht, mit dem es möglich ist, Beobachtungen zu machen, die sonst kaum denkbar sind. Mit diesem Gerät – es ist ein Mikroskop – lassen sich winzige Dinge wie Zellen so vergrößern, daß man sie genau untersuchen kann und Einblick in Abläufe gewinnt, die uns sonst verborgen bleiben.« Mit knappen Worten beschrieb der Arkonide Funktion und Wirkungsweise des Mikroskops. Die Bikkren zeigten sich als gelehrige Schüler, doch als es um einen praktischen Versuch ging, hatten sie Hemmungen, auch nur ein Einzelwesen zur Verfügung zu stellen. Notgedrungen opferte der Aktivatorträger etwas Haut von der Hand und legte den Fetzen auf den Objektträger. Jetzt wollte jeder zuerst einen Blick durch das Okular werfen, alles drängte sich um das Pult, auf dem das optische Gerät stand. »Kantiger Fels«, bestimmte die Reihenfolge und nahm für sich das Recht in Anspruch, den Anfang zu machen. Auge – ein Stachel, der sich durch nichts von den anderen unterschied – studierte minutenlang das Hautstückchen. Die anderen, von Neugier geplagt, wurden unruhig, doch der Bikkre ließ sich nicht nervös machen. Als seine Artgenossen schon glaubten, er würde endlich Platz machen, schob er lediglich die Haut etwas zur Seite und überwand sich dazu, zwei, drei Partikelchen der eigenen Körpersubstanz unter das Objektiv zu legen. Stumm betrachtete »Kantiger Fels« das Zellmaterial, aus dem die Kolonie bestand, die er selbst bildete. Chipol wußte, wie faszinierend ein Blick durchs Mikroskop sein konnte, doch er hielt das Interesse der Bikkren für übertrieben und langweilte sich, weil abzusehen war, daß die Untersuchung noch eine Weile dauerte, da jeder sehen wollte, was »Kantiger Fels« betrachtete. Er bahnte sich einen Weg durch die dicht an dicht stehenden Geschöpfe und machte es sich in einem Sessel bequem. Sein knurrender Magen erinnerte ihn daran, daß er seit Stunden nichts gegessen hatte. In weiser Voraussicht hatten er, Atlan und Mrothyr von den Vorräten der STERNSCHNUPPE Gebrauch gemacht und Proviant eingesteckt. Der Daila entschied sich für ein Stück kalten Bratens, der in eine Vakuumfolie eingeschweißt war. Mittels eines Reißfadens öffnete er die Verpackung und machte sich hungrig über die Mahlzeit her. Er hatte erst einmal abgebissen, als ihn so etwas wie ein Aufschrei aufhorchen ließ. »Wir sind nicht die einzigen, die aus Zellen bestehen.« »Kantiger Fels« schwankte regelrecht, so daß der Eindruck entstand, daß ihn die neugewonnene Erkenntnis schier erdrückte. »Auch Atlan ist ein Zellverbund, also bikkrisches Leben. Alle Lebensformen sind bikkrisches Leben, weil sie aus Zellen bestehen.« Betretenes Schweigen machte sich breit, jeder dachte über das eben Gehörte nach. Niemand zweifelte daran, daß »Kantiger Fels« die richtigen Schlüsse gezogen hatte, doch diese Einsicht kam zu plötzlich. Alles, was bisher Bedeutung hatte, wurde illusorisch, Werte, die unverrückbar waren und seit Generationen Bestand hatten, wurden in Frage gestellt – schlimmer noch, sie besaßen auf einmal keine Gültigkeit mehr. Das war ein Schock für die Bikkren, denn sie wurden an ihrer verwundbarsten Stelle getroffen. Plötzlich erblickte »Kantiger Fels« den genüßlich kauenden Daila. »Was tust du da?« »Ich esse«, antwortete Chipol verblüfft. »Was ißt du?« »Kalten Braten. Warum interessierst du dich für unsere Nahrung? Willst du etwas von dem Fleisch unters Mikroskop legen?«
Er hatte kaum ausgesprochen, da gerieten die Einzellerverbände förmlich aus dem Häuschen. Schreiend und mit einer Aggressivität, die niemand den friedliebenden Bikkren zugetraut hätte, machten sie Front gegen die verdutzten Helfer von der STERNSCHNUPPE. Mit ihren Greifern, Fingern und Bohrern bedrängten sie Atlan, Chipol und Mrothyr, attackierten sie und schlugen auf sie ein. »Es sind Kannibalen! Werft sie aus dem Schiff und die Hyptons ebenfalls mitsamt dem Stahlmann!« Dem Daila dämmerte es, daß es ein Fehler gewesen war, in Anwesenheit der Bikkren tierische Kost zu sich zu nehmen, doch nun ließ sich nichts mehr rückgängig machen. Auch an eine Verteidigung mit den Fäusten war nicht zu denken, dagegen teilten die Bikkren ordentlich aus und drängten die drei mit ihren massigen Körpern einfach weg. »Das muß mit der Axt geregelt werden«, tönte »Holzmühle« und rammte Chipol eine Extremität so derb in die Seite, daß diesem die Luft wegblieb. Der Schmerz machte ihn unbesonnen. Wütend trat er den Angreifer und verteilte Boxhiebe mit dem Ergebnis, daß der Koloß zurückdrosch und der Daila mehr und mehr in Bedrängnis geriet. Notgedrungen wandte er sich zur Flucht und lief zum Schott, verfolgt von »Holzmühle« und »Nachthimmel«. »Jagt sie wag! Wir duldan kaina Zallanassar. Kannibalan!« Der Arkonide und der Zyrpher hatten ebenfalls den Rückzug angetreten. Sie hatten eingesehen, daß Widerstand zwecklos war und die aufgebrachten Bikkren keinen logischen Argumenten mehr zugänglich waren. Im Geschwindschritt verließen sie die Zentrale, verfolgt von den zornigen Rufen der Zellverbände, die zwar nachrückten, aber keine Chance hatten, die kleine Gruppe einzuholen. Die Flügelhälften schlossen sich, der Lärm verklang. »Es ist meine Schuld«, keuchte Chipol. »Es war dumm von mir, ausgerechnet diese Verpflegung zu wählen.« Atlan legte ihm tröstend die Hand auf die Schulter. »Du brauchst dir keine Vorwürfe zu machen. Deine Mahlzeit war wohl nur der letzte Anstoß, um die Bikkren durchdrehen zu lassen. Sie werden mit der Situation nicht fertig und verkraften geistig einfach nicht die negative Veränderung ihrer Artgenossen.« »Und ich Idiot habe noch den Vorschlag mit dem Mikroskop gemacht«, ärgerte sich Mrothyr. »Ich als der Erfahrendste hätte wissen müssen, daß es ein Fehler ist«, widersprach der Arkonide. »Daß es allerdings zu einem solchen Desaster kommen würde, war nicht vorauszusehen.« Was nach einer Entschuldigung klang, war auch ein Vorwurf, der an die Adresse des Extrasinns gerichtet war, doch der Logiksektor hüllte sich in Schweigen. Offensichtlich war es ihm peinlich, sich dazu zu äußern, weil man ihm doch ankreiden konnte, hier versagt zu haben. Diesmal ließen die verdummten Riesen sie unbehelligt, doch das Chaos griff weiter um sich. Beleuchtungskörper waren ausgefallen, hier und dort glimmte es, verschmorte Isolierung und Schwelbrände setzten übelriechende Rauchwolken frei. Mittlerweile stand das Gemisch aus Nährlösung und Abwasser knöchelhoch auf dem Gang, Trinkwasser versickerte hinter der Wandverkleidung. Naserümpfend staksten die drei durch den Unrat. »Nehmen wir die Hyptons mit?« wollte der Zyrpher wissen. »Ja«, sagte Atlan bestimmt. »In ihrer derzeitigen Verfassung bringen es die Bikkren fertig, sie aus der Schleuse zu stoßen. Das können wir nicht zulassen.« Schweigend marschierten sie weiter durch den nur noch spärlich beleuchteten Flur, dann standen sie vor dem Schott, hinter dem sich die Hyptons aufhielten. Sie passierten die Schleuse und befanden
sich gleich darauf in dem gekühlten Raum. Sofort bildete sich auf der eingedrungenen Schmutzbrühe eine dünne Eisschicht. Der Stahlmann hatte es tatsächlich fertiggebracht, seinen verwirrten Herrn zu beruhigen und an seinen Platz unter der Decke zu bringen, aber die beiden Angehörigen des Volks der Konzillenker wirkten noch lethargischer als vor ihrem Ausbruch, sie sahen krank und erschöpft aus. »Komm und nimm die Quellenplaner mit. Wir müssen die YAMOTSAJJA verlassen, die Bikkren laufen Amok und wollen uns aus dem Schiff werfen.« »Sie sind zu schwach«, jammerte der Roboter. »In ihrer erbärmlichen Verfassung werden sie den Transport nicht überleben.« »Wenn sie hierbleiben, kommen sie mit Sicherheit um«, erwiderte der Arkonide ungeduldig. »Wir müssen verschwinden, bevor es zu spät dazu ist.« »Aber wo sollen wir hin?« »An Bord unseres Raumers. Er hat an der YAMOTSAJJA angedockt.« »Gut, aber vorher habe ich noch etwas zu erledigen.« Der Stahlmann verschwand in der Schleusenkammer und kehrte gleich darauf zurück. »Ich bin bereit, mit euch zu gehen und meine Herren zu retten.« »Dann los.« * Eine Kabine, deren Raumtemperatur rasch gesenkt wurde, nahm die beiden Hyptons und ihren Betreuer auf. Atlan hatte sie begleitet und befand sich auch jetzt noch bei ihnen. In ihrem Zustand hatten sie nicht erkannt, was mit ihnen geschah. Widerspruchslos hatten sie sich vom Stahlmann wegtragen lassen. Auch die ungewohnte Umgebung, in der sie sich nun aufhielten, schienen sie nicht wahrzunehmen. Teilnahmslos und völlig desorientiert hingen sie an einer provisorisch angebrachten Stange unter der Zimmerdecke. Ihre sonst glatte Haut hatte sich erschreckend verändert und war voller Falten und Runzeln, als wären die fledermausähnlichen Geschöpfe in den letzten Stunden um Jahrzehnte gealtert. Sie boten ein Bild des Jammers. Auf dem eingeschalteten Bildschirm war zu erkennen, daß die STERNSCHNUPPE sich von dem Walzenraumer löste und langsam Fahrt aufnahm. Sie schlug eine andere Richtung ein als das dahindriftende Schiff. Währenddessen kümmerte sich der Stahlmann um die Quellenplaner. Vorsichtig, beinahe zärtlich, rieb er die schlaffen Körper mit einer farblosen Lotion ab und flößte ihnen dünnen Brei ein aus Konzentraten, die er mit Wasser verrührt hatte. Der Arkonide hatte den Eindruck, daß die Hyptons wacher und lebendiger wurden, daß sogar die düsteren Schatten wichen, die ihren Geist umnebelten. Beide begannen, vor sich hin zu brabbeln. Es war verworrenes Zeug, unverständlich und ohne Zusammenhang, aber dann wurde die Sprache klarer. Laute formten sich zu Worten – und zu Koordinaten. Plötzlich war der Aktivatorträger hellwach, er spitzte die Ohren. Tatsächlich, er hatte sich nicht getäuscht: Deutlich nannten die Quellenplaner Flugzielangaben, die er sofort gedanklich notierte. Vermutlich befand sich in der Nahrung ein Medikament oder eine Droge, folgerte der Extrasinn. Das Mittel scheint ihre Lebensgeister neu geweckt zu haben. »Bring uns dorthin, auch wenn wir bis dahin gestorben sein sollten«, bat der etwas kleinere Hypton. Er wiederholte die Koordinaten. »Dieses Ziel soll das Schiff anfliegen.«
Das Sprechen bereitete dem schmächtigen Wesen sichtliche Mühe. Es artikulierte sich leise, langsam und bedächtig – gerade so, als müßte es um jede Silbe ringen und jede Vokabel aus dem Gedächtnis abrufen wie bei einem fremden Idiom. Der Arkonide war sich ziemlich sicher, daß der Hypton Schwierigkeiten hatte, sich zu konzentrieren und immer noch gegen das ankämpfte, was seinen Verstand umnachtete. Der Quellenplaner hielt die Augen geschlossen, als wenn ihm das gedämpfte Licht weh tun würde. Kein Blick, keine Geste ließ erkennen, ob er den Stahlmann gemeint hatte oder den Unsterblichen. Wußte er überhaupt, daß er sich an Bord der STERNSCHNUPPE befand? Da der Roboter schwieg und weiterhin damit beschäftigt war, seine Herren zu versorgen, nutzte Atlan die Gelegenheit, um zusätzliche Informationen zu sammeln. »Was hat es mit dem Zielort auf sich?« Eine Antwort blieb aus. Ohne erkennbare äußere Einflüsse gebärdeten sich die Quellenplaner plötzlich wie Verrückte, schlugen mit den Flughäuten um sich und hangelten sich mal vor, dann wieder zurück an der Stange entlang. Ihre Körper zuckten, als würden sie von Krämpfen geschüttelt, dann versteiften sie sich, als wären sie zu Eis erstarrt. Schon fürchtete der Arkonide, eine falsche Frage gestellt zu haben, die einen Rückfall in die Konfusion bedeutete und ähnlich fatale Folgen hatte wie die Erwähnung des Planeten Cirgro, doch übergangslos beruhigten sich die fledermausähnlichen Geschöpfe wieder. »Von dort aus wird der H-plus-Nebel Wrackbank mit allem versorgt, was der Erleuchtete verlangt«, krächzte der Hypton kaum verständlich. Diesmal’ sprach er schnell, als fürchtete er, in Kürze keine Gelegenheit mehr zu haben, sich mitzuteilen. »Es ist das vorgesehene Versteck EVOLOS.« Fast hätte der Aktivatorträger einen Freudensprung gemacht. So konkrete Hinweise hatte er seit langem nicht erhalten. Von Triumph erfüllt, rannte er aus der Kabine, um seinen Begleitern zu übermitteln, daß die Odyssee bald ein Ende hatte. Das Ziel seiner Mission war in greifbare Nähe gerückt, auch wenn die Entscheidung noch bevorstand. Der Erleuchtete und sein Produkt waren harte Brocken, Gegner, die mit allen Mitteln kämpften und nicht daran dachten, sich unterkriegen zu lassen. Die Spur zu ihnen war entdeckt, aber die Auseinandersetzung würde gnadenlos sein. Atlan gab sich keinen Illusionen hin. Nur einer konnte gewinnen, doch er war nicht sicher, ob er das war. * »Es ist unglaublich«, jubelte Chipol, nachdem der Aktivatorträger Bericht erstattet hatte. »Nun sind wir nicht mehr gezwungen, aufs Geratewohl zu suchen, sondern können gezielt vorgehen. Du kennst die Koordinaten, STERNSCHNUPPE. Schlage einen neuen Kurs ein.« »Wir sollten jetzt nichts überstürzen und einen klaren Kopf behalten«, versuchte Atlan den Elan seines jugendlichen Begleiters zu bremsen. »Ohne Zweifel ist das eine Fährte, die Erfolg verspricht, doch wir sollten mit Bedacht und Überlegung vorgehen.« »Während des Fluges haben wir noch genug Zeit, uns darüber Gedanken zu machen«, wehrte der Daila ab. »Jetzt und hier muß die Entscheidung fallen. STERNSCHNUPPE, bist du bereit?« »Ich bin bereit«, meldete der Diskus, »aber es liegt nicht an mir, eine Entscheidung zu treffen. Das muß Atlan tun.« »So ist es«, pflichtete Mrothyr bei. »Nun sage endlich auch einmal etwas. Gib dem Diskus endlich den Befehl, das neue Ziel anzusteuern«, drängte Chipol.
»Wir können die Bikkren nicht einfach ihrem Schicksal überlassen. Sie sind völlig hilflos und nicht in der Lage, das Schiff zu führen oder flott zu machen«, wandte der Arkonide ein. »Das kann uns niemand zum Vorwurfmachen«, widersprach der junge Daila. »Wir haben ihnen Hilfe zukommen lassen, und zum Dank dafür haben sie uns davongejagt. Daß sie jetzt in der Klemme stecken, ist ihre eigene Schuld.« »Das stimmt in gewisser Weise, doch vielleicht kommen sie bald wieder zur Vernunft und bitten uns erneut um Unterstützung.« »Möglich, aber das kann Tage dauern – wenn überhaupt.« Mrothyr schlug sich auf Chipols Seite. »Ich persönlich halte nichts davon, zu warten. Es ist reine Zeitverschwendung, und Zeit haben wir nicht.« Deine Gefährten haben recht, pflichtete auch der Logiksektor bei. Von zwiespältigen Gedanken erfüllt, blickte der Aktivatorträger nachdenklich auf den Hauptbildschirm. Er zeigte die YAMOTSAJJA. Mittlerweile hatte die STERNSCHNUPPE einen deutlichen Abstand dazu gewonnen. Plötzlich verformte sich die Außenhaut des Walzenraumers, die Hülle platzte an einer Stelle auf. Wie ein glühender Speer schoß eine gewaltige Stichflamme aus dem Rumpf, verpuffte und entstand sofort wieder neu. »Die YAMOTSAJJA explodiert!« rief Atlan entsetzt. Die Köpfe von Chipol und Mrothyr ruckten herum, drei Augenpaare starrten auf das Wiedergabegerät. Eine heftige Detonation erschütterte das Schiff der Bikkren. Wie von Titanenfäusten gepackt, zerbrach der Flugkörper in zwei Teile, außer Kontrolle geratene Aggregate machten ihm endgültig den Garaus. Sie explodierten und rissen die Walze regelrecht in Stücke. Trümmer wurden davongewirbelt, eingehüllt in wabernde Lohe, Metallstücke rasten wie Kometen in die Unendlichkeit des Alls. Dort, wo sich die Walze befunden hatte, entstand eine Miniatursonne von gleißender Helligkeit. Sie dehnte sich aus zu einer Wolke aus ionisierter Materie, die sich rasch ausbreitete und stetig an Leuchtkraft verlor. In Kürze würde nichts mehr an die Katastrophe erinnern, deren Zeugen der Diskus und seine Passagiere soeben geworden waren. »Das habe ich nun wirklich nicht gewollt«, beteuerte der Daila fassungslos. Auch der Zyrpher stand noch ganz unter dem Eindruck des Geschehens. »Schrecklich«, murmelte er immer wieder. »Ein solches Ende hatten sie wahrlich nicht verdient.« »Ich vermute, daß sie versucht haben, den Antrieb wieder in Gang zu bringen und daß es dabei zu Fehlschaltungen kam«, sinnierte Atlan. »Nein, die Bikkren sind für den Untergang ihres Schiffes nicht verantwortlich«, ließ sich die STERNSCHNUPPE vernehmen. »Meine Meßergebnisse lassen darauf schließen, daß Sprengstoff eingesetzt wurde. Er muß dort deponiert gewesen sein, wo die Hyptons untergebracht waren.« »Dann war es Sabotage«, entfuhr es dem Zyrpher. »Jemand wollte die Quellenplaner vernichten.« »Vielleicht waren sie selbst dieser Jemand. Aber sie wollten keinen Selbstmord begehen, sondern die Bikkren aus dem Weg schaffen«, sagte der Arkonide. »Welchen Grund sollten sie dafür haben?« »Die Beseitigung von Zeugen.« Atlan sah Chipol durchdringend an. »Man kann das Unternehmen ja nicht gerade als geglückt bezeichnen. Vielleicht erinnert ihr euch noch daran, daß der Stahlmann nicht sofort mit uns kam, sondern erst noch einmal in der Schleusenkammer verschwand. Ein paar
Sekunden reichen aus, um eine Bombe scharf zu machen, deren Zeitzünder bereits eingestellt ist.« Er erhob sich. »Ich denke, ich werde dem Roboter ein paar Fragen stellen.« * Als der Aktivatorträger die Unterkunft der Hyptons betrat, wäre er fast über den Stahlmann gestolpert. Er lag auf dem Boden in unmittelbarer Nähe der Tür und rührte sich nicht. Eine oberflächliche Untersuchung ergab, daß er äußerlich unversehrt war. »Wer oder was hat dich niedergestreckt?« »Meine… Speicher… sind leer«, kam stockend die Antwort. »Der Zündungsbefehl… hat… meine letzten… Energiereserven… verbraucht.« »Der Diskus hatte recht – also doch eine Bombe. Warum hast du das getan?« »Meine Herren… wollten… nicht, daß die… mißglückte… Aktion… auf dem… Heimatplaneten… der Bikkren… bekannt… wird. Du… mußt dich… um die… Herren… kümmern, sie…« Der Roboter gab nur noch stammelnde Laute von sich, dann verstummte er ganz. Offensichtlich waren nicht nur die Energiereserven verbraucht, sondern auch die Positronik irreparabel geschädigt. Nachdenklich betrachtete der Arkonide den reglosen Synthokörper. Wer sollte sich jetzt um die Hyptons kümmern? »Auch mit uns geht es zu Ende.« Der Quellenplaner sprach so leise, daß Atlan Mühe hatte, ihn zu verstehen. »Du mußt uns schnell an das Ziel bringen. Es heißt Zinkoyon.« »Was ist es? Ein Planet, eine Raumstation?« »Der Ort heißt Zinkoyon. Mach schnell.« Der Unsterbliche sah ein, daß er keine weiteren Details mehr in Erfahrung bringen konnte, und kehrte in die Zentrale zurück. Die fragenden Blicke beantwortete er mit einem Nicken. »Es ist so, wie ich vermutet habe.« Atlan nahm seinen Platz wieder ein. »Ein neues Problem ist akut geworden. Wir müssen die Hyptons versorgen, der Stahlmann ist nicht mehr funktionsfähig.« »Ist er übergeschnappt?« wollte der Daila wissen. »Das wohl auch. Seine Energiespeicher sind leer.« »Das hat uns gerade noch gefehlt«, knurrte Mrothyr. »Und wer soll jetzt die Amme für die beiden machen? Wir wissen doch gar nicht genau, welche speziellen Bedürfnisse die Hyptons haben.« »Die Quellenplaner können warten. Wichtig ist, daß du der STERNSCHNUPPE erst einmal die Anweisung gibst, die Koordinaten anzufliegen.« »Genau das, mein lieber Chipol, wollen die Hyptons auch. Sie haben mir sogar den Namen des Ziels verraten.« »Und wie lautet der?« »Zinkoyon.« »Sagt mir nicht viel. Handelt es sich um einen Planeten oder um eine Raumstation?« »Das konnte ich leider nicht in Erfahrung bringen.« Der Arkonide lehnte sich zurück. »STERNSCHNUPPE, du erhältst hiermit den offiziellen Auftrag, Kurs auf Zinkoyon zu nehmen.« »Order bestätigt«, meldete der Diskus. »Ich bin schon unterwegs.« »Da wir hier im Augenblick überflüssig sind, sollten wir uns anderweitig nützlich machen und nach
den Hyptons sehen. Kommt ihr mit?« Mrothyr und Chipol stemmten sich aus ihren Sesseln hoch und folgten Atlan zur eilig für die fledermausähnlichen Wesen hergerichteten Kabine. Der erste Blick galt der Haltestange – sie war leer. Ein wenig erschrocken suchten die drei mit den Augen alles ab, was sich als Platz zum Anklammern anbot, doch die Mitglieder des Konzilvolks waren nicht zu entdecken. »Da sind sie ja«, stieß der Zyrpher hervor. Die schrumpeligen Körper fast völlig unter den weiten, wallenden Gewändern verborgen, lagen in unmittelbarer Nähe des Stahlmanns, gerade so, als hätten sie bei dem inaktiven Roboter Schutz und Hilfe gesucht. Sie gaben kein Lebenszeichen mehr von sich. Atlan kniete nieder und schlug die durchsichtigen Kleider zur Seite. Behutsam tastete er die starren, faltigen Körper ab, deren Haut sich zu einem schmutzigen Gelb verfärbt hatte. Dabei fühlte er auch die mikroskopisch kleinen Kühlanlagen mit separater Energieversorgung, die die Hyptons direkt am Leib trugen. Ein Pulsschlag war nicht mehr feststellbar. »Sie sind tot.« Der Aktivatorträger stand auf. »STERNSCHNUPPE, du kannst diese Kabine in ihren ursprünglichen Zustand zurückversetzen.« Das künstliche Zwielicht wich angenehmer Helligkeit, sofort wurde es wärmer. Ein wenig ratlos betrachtete Chipol die Leichen. »Was machen wir jetzt mit ihnen? Ein Raumfahrerbegräbnis?« »Nein, wir nehmen sie mit. Ich sagte ja bereits, daß sie auf jeden Fall nach Zinkoyon gebracht werden wollten. Wir bringen ihre sterblichen Überreste in einen Kühlraum.« »Und den Stahlmann?« »Den legen wir dazu. Faßt mit an.« Während Atlan, Chipol und Mrothyr damit beschäftigt waren, die Toten und ihren ausgefallenen Roboter in die eisige Kammer zu schaffen, hatte der Diskus das Normaluniversum verlassen und raste im Linearraum einem Ziel entgegen, von dem nur die Koordinaten und der Name bekannt waren. Zinkoyon. War es eine Welt oder eine künstliche Plattform? Niemand an Bord der STERNSCHNUPPE wußte es. Nur soviel schien festzustehen: Es war eine Basis, von der aus das vorgesehene Versteck EVOLOS im H-plus-Nebel Wrackbank versorgt wurde. Was erwartete sie dort? War es eine Bastion des Erleuchteten, oder ein besonderer Stützpunkt? Warum wollten die Hyptons unbedingt an diesen Ort zurück, selbst wenn sie verstorben waren? Welches Geheimnis umgab dieses mysteriöse Ziel? Selbst der Logiksektor schwieg sich dazu aus. Eine Antwort auf die Fragen würde sich nur an Ort und Stelle finden lassen – auf oder in Zinkoyon. Was immer das auch sein mochte. ENDE
Den beiden Hyptons, die das Ende der Bikkren nicht lange überlebten, verdanken Atlan und seine Gefährten einen neuen Hinweis, den sie für sehr wichtig halten. Doch bevor sie ihr neues Ziel direkt ansteuern können, empfangen sie einen Hilferuf. Daila sind in Not, »Freunde der Sonne«. Also fliegt die STERNSCHNUPPE nach Corgyar. Dort erprobt man Psi-Waffe… DIE PSI-WAFFE – so lautet auch der Titel des nächsten Atlan-Bandes. Als Autor des Romans zeichnet Harvey Patton.