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EDGAR TARBOT
DAS MONSTER VON LONDON
Deutscher Taschenbuch-Erstdruck
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»Mann, o Mann, du bist vielleicht eine Ni...
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EDGAR TARBOT
DAS MONSTER VON LONDON
Deutscher Taschenbuch-Erstdruck
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»Mann, o Mann, du bist vielleicht eine Niete!« sagte Carol Sky und schüttelte die lange, flammendrote Mähne. »Was hast du erwartet? Ein Erdbeben?« fragte Jason Bloom bissig. »Für Wunder bin ich nicht zuständig.« Carol stemmte die Fäuste in die Taille. Sie stand splitternackt vor dem breiten französischen Bett, in dem der muskulöse Junge mit den jettschwarzen Haaren hockte. »Du hast wohl einen ausgesprochen miesen Tag«, warf sie ihm vor. Sie war beschwipst wie Jason. Die leere Flasche stand auf dem Nachttisch. In den Gläsern schmolz der letzte Rest des Eises langsam dahin. »Ich bin eben keine Maschine«, knurrte Bloom verärgert. Er griff sich die Marlboro und klemmte sich mit einer weltmännischen Geste das Stäbchen zwischen die wulstigen Lippen. Wütend schnippte er so lange am Feuerzeug herum, bis die Flamme hochsprang. Nach den ersten Zügen fand er sein angekratztes Selbstbewußtsein wieder. »Eine Niete bin ich also«, brummte er, während er den makellosen Körper des Mädchens betrachtete. Am rechten Oberschenkel hatte sie einen herzförmigen Leberfleck. Ansonsten war sie wie alle anderen, die Jason schon in dieses Bett gelegt hatte.
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Vielleicht war sie ein wenig verrückter, überspannter. Carol war kalt und berechnend. »Jawohl, eine Niete. Und was für eine«, zischte das Mädchen und begann ihre Unterwäsche zu suchen. »Und dein Mann? Ist der auch eine Niete?« »Er ist mein Mann.« »Sonst nichts?« »Ich will in deinem Schlafzimmer nicht über ihn sprechen. « Jason grinste spöttisch. »Was macht das schon aus, wenn du ihn in diesem Schlafzimmer bereits betrogen hast. « »Du bist gemein! « Sie schlüpfte in den rechten Schuh, der neben dem Bett lag, und humpelte ins Wohnzimmer, wo sie den zweiten Schuh zu finden hoffte. Als sie wiederkam, drückte Jason gerade seine Zigarette im Keramikascher aus. Sie hatte den zweiten Schuh gefunden und trug nun auch ihr trägerloses helles Kleid. Ihre Handtasche war weiß und hatte die Form einer Sofarolle. Sie hatte sie unter den rechten Arm geklemmt. Jason Bloom strich sich eine widerspenstige Locke aus der Stirn. Dann wies er auf das Bett und sagte grinsend: »Vielleicht klappt’s beim nächstenmal, Baby.« Carol kniff die Augen zornig zusammen und schob die Unterlippe trotzig vor. »Es wird kein nächstes Mal geben, kleiner Sexprotz. Möglicherweise verletzt das, was ich dir jetzt 4
sage, deine impertinente Eitelkeit. Das macht mir nichts aus. Ich sage es trotzdem: du bildest dir sicherlich einen Haufen darauf ein, mich ins Bett gekriegt zu haben, dabei war es genau umgekehrt. Nicht du hast mich flachgelegt, sondern ich dich. Und willst du wissen, warum? Nicht deiner schönen Augen wegen bin ich mit dir unter die Decke gekrochen. Auch nicht wegen deiner jugendlichen Larve oder wegen deines kleinen Hirns – und schon gar nicht wegen deiner Schweißfüße. Ich habe es aus einem einzigen Grund getan ... « »Um mich zu ärgern, eh?« fiel Jason Bloom dem Mädchen kichernd ins Wort. Carol ließ sich nicht stören. »Ich bin Schauspielerin. Du sitzt im Besetzungsbüro der ›Flint Productions‹. Ich habe kein Engagement. Du könntest mir zu einem verhelfen. Also dachte ich: mach dir den Jungen verpflichtet. Laß ihn dein Parfüm riechen, und wenn er mehr haben will, gib es ihm, schließlich hast du ja auch was davon. Nach dem Geprahle von heute nachmittag habe ich eine kleine Sensation erwartet. Aber ihr Männer seid . . . Ah, schade, es hätte für uns beide verflixt schön sein können.« Carol wandte sich um und ging mit schaukelnden Hüften auf die Schlafzimmertür zu. »Willst du denn keine Rolle mehr haben, Baby?« fragte Jason hinter ihr her. »Unter diesen Umständen werde ich wohl verzichten müssen. « 5
»Soll ich dir ein Taxi rufen?« »Ich glaube, es wird mir guttun, nach dem erlittenen Schock erst mal ein paar belebende Schritte zu machen.« »Mach’s gut, Baby.« »Mach’s besser«, erwiderte Carol spöttisch. Dann ging sie. Sie fuhr mit dem Lift vom fünften Stock ins Erdgeschoß. Augenblicke später trat sie aus dem Haus. Die Straße war menschenleer. Das Zifferblatt ihrer zierlichen Armbanduhr reflektierte das Licht einer Peitschenlampe. Sie neigte die Uhr ein wenig. Die Zeiger standen auf zwölf. »Mitternacht«, sagte Carol Sky und schüttelte wütend den Kopf. Sie schaute zu Blooms Fenstern hoch. »Eine verlorene Nacht«, murmelte sie und ging. Die frische Luft tat ihr gut. Die Wirkung der Drinks ließ nach, und sie dachte daran, daß sie sich Jason gegenüber scheußlich benommen hatte. Eigentlich war er gar nicht so übel. Sie beschloß, ihn am nächsten Morgen anzurufen und sich bei ihm zu entschuldigen. Es war nicht schwer, alles auf den Alkohol zu schieben. Sie hatten ja beide ziemlich viel getrunken. Wahrscheinlich war das der Grund für Jasons Schwäche gewesen. Egal, das war allein sein Problem. Für Carol war nur wichtig, daß er nicht böse auf sie war und ihr doch noch in naher Zukunft zu einem akzeptablen Engagement verhalf.
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Als sie in die Nähe der Themse kam, schwebten ihr unheimliche Nebelfetzen entgegen. Obwohl es nicht kalt war, fröstelte sie leicht. Die grauen Schwaden sahen wie drohende Gespenster aus, die ihr etwas anhaben wollten. Bizarr geformte Figuren nahmen sie in ihre Mitte und führten um sie herum einen geisterhaften Tanz auf. Ständig zerfließend, zerfasernd, sich wieder neu und zu anderen Schauergestalten formend. Jetzt wäre ein Taxi nicht schlecht gewesen, doch nun war keines zu kriegen. Eine seltsame Angst beschlich das Mädchen. Es wußte nicht, wovor es sich fürchtete. Vielleicht war es die unheimliche Stille. Carol fühlte sich beobachtet. Während sie mit fest unter den Arm geklemmter Handtasche die Straße entlangging, wandte sie sich immer wieder blitzschnell um. Niemand folgte ihr. Und trotzdem wurde sie diese furchterregende Gefühl nicht los, von jemandem unentwegt angestarrt zu werden. Sie spürte die unheimlichen Blicke zwischen ihren Schulterblättern. Sie waren so präsent wie der sanfte Druck von zwei Fingern. Sie ging ein wenig schneller, wollte eine Straße erreichen, auf der sie wenigstens ab und zu jemandem begegnete, um nicht gar so allein zu sein. In einer solchen Straße würde sie auch früher ein Taxi entdecken, das sie anhalten konnte. Da!
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Carols Herz setzte kurz aus. Sie hatte Schritte vernommen, ganz deutlich. Schwere Schritte. Männerschritte vermutlich. Irgendwo dort hinten in der tückischen Brühe des Nebels. Sofort verdoppelte sich Carols Angst. Sie versuchte sich einzureden, daß absolut kein Grund vorhanden war, sich zu fürchten. Dort hinten ging ein Mann seines Weges. Wahrscheinlich nach Hause, vielleicht auch zur Arbeit. Trotzdem ging sie wesentlich schneller als zuvor. Sie wagte sich nicht mehr umzusehen. Aber sie lauschte angestrengt nach den hämmernden Schritten, und sie bildete sich ein, daß ihr diese Schritte folgten. Zweimal wechselte sie die Richtung. Danach glaubte sie Gewißheit zu haben: sie wurde von jemandem verfolgt. Von diesem Moment an bildeten sich kleine Schweißtröpfchen auf ihrer Stirn. Sie strich das lange Haar mit einer schnellen Bewegung zurück, blickte gehetzt nach hinten, sah die schemenhaften Umrisse einer Gestalt, stieß einen erstickten Schrei aus und begann wie von Furien gehetzt zu laufen. Der Mann lief ebenfalls. Atemlos suchte Carol Sky nach einem Versteck. Ihr Puls raste und drohte die Handgelenke zu sprengen. Ein furchtbares Vibrieren erfaßte ihre Nerven. Die schweren Schritte kamen näher, der Mann holte auf. Carol hatte keine Ahnung, mit welcher Absicht dieser Kerl hinter ihr herrannte. Vielleicht 8
wollte er Geld von ihr. Vielleicht wollte er ihren Körper. Vielleicht aber wollte er ihr Leben. Es passieren gräßliche Dinge in einer Großstadt wie London, tagtäglich. Dinge, die man selbst nie tun würde, von denen man nur in den Zeitungen liest und meint, so etwas würde immer nur den anderen passieren. Und eines Tages passiert es einem selbst. Wie der Autounfall, an den man nie gedacht hat. Gehetzt durchquerte Carol einen kleinen Park. Die Büsche schienen zu leben. Ihr Blattwerk gab ein gespenstisches Flüstern von sich. Der helle Vollmond ließ die breit-kronigen Kastanienbäume weite, finstere Schatten werfen. Das Mädchen eilte unter ihnen durch, hörte die Männerschritte über den Kiesweg knirschen und verließ den Park in größter Hast. Die Angst saß nun in ihrem Hals. Sie war zu einem dicken, würgenden Kloß geworden. In einer Entfernung von zweihundert Yards entdeckte Carol Sky eine Shell-Tankstelle. Da das Firmenzeichen nicht beleuchtet war, nahm Carol an, die Tankstelle wäre geschlossen. Aber das mußte nicht heißen, daß der Pächter nicht anwesend war. Vielleicht schlief er in dem an die Tankstelle angebauten Gebäude. Carol klammerte sich verzweifelt an diese Hoffnung. Ehe der Verfolger den Park durchquert hatte, erreichte Carol die Shell-Station. Der Geruch von Schmieröl und Benzin legte sich auf ihre Lungen.
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Sie mußte husten, preßte die Hand auf ihren Mund, um das Geräusch zu dämpfen. Neben einer schmalen Eisentür entdeckte sie einen Klingelknopf. Ohne zu überlegen drückte sie ihren Daumen darauf, während sie mit gehetztem Blick über die Schulter zurückschaute. Nervös drückte sie erneut auf den Knopf, doch sie vernahm kein Klingelzeichen. Die Glocke war entweder nachts abgeschaltet, oder sie funktionierte auch bei Tag nicht. Entsetzt stellte Carol fest, daß sich der Verfolger der Tankstelle bereits auf hundert Yards genähert hatte. Schnell hastete sie auf zwei Lastwagen zu. Gleich am ersten turnte sie keuchend hoch. Sie kippte über die Kante der Ladeklappe und preßte sich flach auf den sandigen Boden der Ladefläche. Mit pochendem Herzen hielt sie den Atem an. Es fiel ihr nicht leicht. Der Brustkorb drohte ihr zu zerspringen. Doch die Angst war so groß und so lähmend, daß sie das Kunststück fertigbrachte, eine ganze Weile nicht zu atmen. Der Mann lief nicht mehr. Er suchte sie. Carol lauschte zitternd seinen Schritten. Als sich diese Schritte jenem Laster näherten, auf dem sie sich versteckt hatte, dachte sie, aus lauter Angst verrückt zu werden. Sie sah sich schon tot und geschändet. Sie weinte vor Furcht und versuchte irgendein Gebet, doch sie fand in ihrer namenlosen Aufregung keine Worte. 10
Da hatten die Schritte den Laster beinahe erreicht. Carol stockte der Atem. Sie preßte ihr Gesicht auf den rissigen Boden und drückte die Lider verzweifelt zusammen. Ganz flach atmete sie nur. Kalter Schweiß klebte auf ihrem ganzen Körper. Nackte Angst quälte sie langsam zu Tode. Eine Angst, wie sie sie noch nie in ihrem Leben verspürt hatte. Die Schritte entfernten sich. Durfte sie hoffen? Carol wagte den Kopf nicht zu heben. Sie hörte den Mann fortgehen, hörte seine Schritte allmählich verklingen, fand aber trotzdem nicht den Mut, sich aufzurichten. Erst als das Vibrieren ihrer Nerven an Heftigkeit etwas abnahm, setzte sie sich zögernd auf. Mißtrauisch lugte sie über den Rand der Ladeklappe. Der milchige Nebel hatte an Intensität zugenommen. Träge rollte er die Straße entlang. Aber der Mann, der sie verfolgt hatte, war nicht mehr zu sehen. Carol blickte benommen auf ihre zitternden Hände. War sie gerade dem Tod entronnen? Ausgeschlossen war es nicht. Ganze zehn Minuten brauchte sie, um sich wieder so weit unter Kontrolle zu haben, daß sie den Heimweg fortsetzen konnte. Während sie von dem Lkw kletterte, der ihr – so meinte sie – das Leben gerettet hatte, dachte sie daran, zur Polizei zu ge11
hen und den Vorfall zu melden. Doch sobald sie den Asphalt der Straße unter den Füßen hatte, verwarf sie diesen Gedanken. Man hätte ihr eine Menge Fragen gestellt, die unter Umständen sehr peinlich hätten sein können. Am Ende hätte man Carols Mann in die Sache hineingezogen. Er hätte erfahren, bei wem sie gewesen war. Vielleicht hätte er ihr eine Szene gemacht – und niemand hätte sich ernstlich um den Mann gekümmert, der sie verfolgt hatte. Es war besser, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Schließlich war ja nichts Ernstliches passiert. Carol eilte die Straße entlang. Sie erreichte einen gußeisernen Mast, an dem eine Ampelanlage befestigt war. Da hörte sie plötzlich das Knurren eines Hundes hinter sich. In panischem Schrecken wirbelte sie herum. Und dann sah sie mit schockgeweiteten Augen, wer dieses Knurren ausgestoßen hatte. Kein Hund war es gewesen, sondern ein Mensch. Kein Mensch. Nein, kein gewöhnlicher Mensch hätte ein so grauenerregendes Knurren von sich geben können. Ein scheußliches Monster war es, halb Mensch, halb Wolf. Werwolf nennt man diese mörderischen Bestien, die vom Teufel selbst gelenkt zu werden scheinen. Ein heiseres Fauchen stieg aus der Tiefe des Wolfsrachens. Das silbrige Fell des Monsters sträubte, die Schnauze öffnete sich. Gefährlich blitzte das kräftige Raubtiergebiß. Ein schreckliches Knurren 12
ließ Carol erstarren. Als das Untier mit seinen krallenbewehrten Pranken nach ihr schlug, stieß sie einen grellen Schrei aus, der erst mit ihrem blutigen Tod ein abruptes Ende fand. Uniformierte Polizeibeamte riegelten den Tatort hermetisch ab. Aus dem Kastenwagen der Mordkommission schafften emsige Männer ihre Arbeitsgeräte heran. Scheinwerfer wurden auf Stativen aufgebaut. Der Polizeifotograf schoß mit kaltblütiger Routine seine Bilder von der Leiche, die in einer riesigen Blutlache lag. Natürlich fanden sich selbst um diese späte Stunde einige nimmermüde Neugierige ein, die die Beamten bei ihrer wenig erfreulichen Arbeit beobachten wollten. Nachdem der Polizeiarzt die Tote kurz untersucht hatte, gesellte sich Detektiv-Sergeant Allan Crown zu ihm. Crown war ein Mann, der ein halbes Jahrhundert mit wachen Augen und hellem Verstand durchschritten hatte. Abgeklärt von der Zeit und ihren vielen Übeln, hatte er einen absolut zuverlässigen Riecher für das Wichtige und Wesentliche entwickelt, was ihm den Ruf eines zuverlässigen und cleveren Polizeibeamten eingebracht hatte. Sein ganzer Stolz waren seine Frau und die beiden Söhne, aus denen er ohne wesentliche Mühe zwei tüchtige Rechtsanwälte gemacht hatte, die trotz ih-
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rer Jugend bereits einen ausgezeichneten Ruf hatten. »Der Apfel fällt eben nicht weit vom Stamm«, pflegte Crown zu sagen, wenn das Gespräch auf seine Söhne kam. Trotz seiner fünfzig Jahre hatte der DetektivSergeant von Scotland Yard keinen Gramm Fett am Leib. Er wirkte drahtig, immer ausgeschlafen und bereit, gegen einen bequemen, dicklichen Zwanzigjährigen zum Hürdenlauf anzutreten. »Nun, Doc?« fragte er mit seiner unverkennbaren, glasklaren Stimme. Der Polizeiarzt, ein Mann mit militärischer Haltung und eisengrauen Haaren, schüttelte den Kopf. »Ich werde mich wohl nie daran gewöhnen können, Sergeant.« »Sieht schlimm aus, das Mädchen«, pflichtete ihm Crown bei. »Möchten Sie eine Zigarette haben?« » Vielen Dank. Ich bin gerade dabei, es mir wieder einmal abzugewöhnen. « »Das wievielte Mal?« »Ich zähle die Anläufe längst nicht mehr. Bestimmt schaffe ich es auch diesmal nicht, aber der Körper freut sich auch über zwei, drei Wochen Pause. Deshalb brauchen Sie sich jedoch nicht einzuschränken.« Crown schüttelte den Kopf. »Ich habe soeben eine weggeworfen. Zum Kettenrauchen reicht mein Gehalt nicht.« Er wies mit dem Daumen auf das Mädchen. »Carol Sky, Schau14
spielerin. Sie war sehr hübsch, bevor ihr das passierte. Ich habe ihren Ausweis gesehen.« »Sie wurde buchstäblich zerfleischt. Was muß das für ein Mensch sein, der zu so etwas fähig ist?« »Wahrscheinlich ein Verrückter«, sagte Allan Crown. »Wie ein Tier hat er sie umgebracht.« »Erinnern Sie sich noch an Anne Melton, Doc? Ich meine die Tote, die wir vor vier Wochen in der Nähe des Regent’s Park gefunden haben. Ebenfalls Schauspielerin, ebenfalls so grauenvoll verstümmelt.« Der Polizeiarzt hob erstaunt die Brauen. »Glauben Sie, daß dieses Mädchen hier demselben Mörder zum Opfer fiel, Sergeant?« »Ich sehe mir zuerst Ihren Obduktionsbericht an, dann sage ich Ihnen, was ich glaube.« Mit brüllenden Düsen setzte der Silber-Jet auf der grauen Landepiste des Heathrow Airport auf. Die mächtige Maschine rollte gemächlich aus. Die Gangway wurde herangefahren. Dann klappte die dicke Tür auf – und England hatte mich wieder. Im Flughafenrestaurant wartete Sergeant Crown auf mich. Er hörte sich bei einem kühlen Bier an, was die angenehme Mädchenstimme mir über Lautsprecher auf seinen Wunsch hin vermittelte. Als ich das gut besuchte Restaurant betrat, riß Crown den Arm hoch, um sich bemerkbar zu machen. Ich schleppte meinen Koffer zu seinem Tisch. 15
»Guten Tag, Allan.« , Er funkelte mich mit strahlenden Augen an. »Detektiv-Inspektor Tom Whittaker! Herzlich willkommen! Scotland Yard lief während deiner Abwesenheit bloß auf drei Zylindern.« Ich setzte mich zu ihm, nachdem ich die Hand fest gedrückt hatte. Auch ich entschied mich für ein gutes englisches Bier. Und wir alberten eine ganze Weile herum. »Wie waren die Mädchen in Spanien?« fragte er grinsend. »Schlimm«, gab ich mit einem schelmischen Augenzwinkern zurück. »Vielen Dank für die Ansichtskarten aus Barcelona. Meine Frau hat sich irrsinnig darüber gefreut.« »Weiß ich doch. Deshalb habe ich sie ja geschickt.« »Unsereins kommt ja nicht aus London raus.« »Wieso? Ihr wart doch im Vorjahr in Venedig.« Allan grinste breit. »Ach ja, in Venedig. Du, die Leute dort haben vielleicht ein Temperament, sage ich dir. Alle Straßen überschwemmt – aber sie singen!« Wir lachten herzlich. Man hätte uns für Vater und Sohn halten können. Daran, daß nicht er der Inspektor und ich der Sergeant war, war meine höhere Schulbildung schuld. Doch wir spielten niemals Vorgesetzter und Untergebener, sondern stets Partner. Wir bildeten gemeinsam den Kopf des Sonderdezernats III, einer Abteilung in Scotland Yard, die für außergewöhnli16
che Kriminalfälle zuständig war. Wenn wir getrennt arbeiten mußten, waren wir nur halb soviel wert wie gemeinsam. Wir ergänzten einander hervorragend, und dieser Umstand kam unserer schwierigen Arbeit zumeist sehr zugute. Wir verließen das Restaurant, nachdem wir ausgetrunken hatten. Allan brachte mich in seinem Privatwagen, einem gut erhaltenen alten Cortina, nach Hause. Ich schloß die Tür auf. Muffiger Geruch schwebte uns entgegen. Es war drei Wochen lang nicht gelüftet worden. So lange hatte ich Urlaub gehabt, und so lange war ich in Spanien gewesen. Es war neun Uhr vormittags. Ich hatte an Bord der Maschine gefrühstückt. Bis zum Mittagessen, zu dem ich Allan zur Feier des Tages einzuladen gedachte, blieben uns noch mindestens drei Stunden Zeit. Der Unterschied zwischen Allan und mir bestand nicht so sehr im Alter als in der Tatsache, daß auf mich niemand wartete, wenn ich nach Hause kam. Ich war fünfunddreißig und Junggeselle. Hin und wieder verhedderte ich mich für eine Weile in den weichen, zarten Armen eines Mädchens, ohne dabei aber zu sehr über die Schnur zu hauen oder gar den Kopf zu verlieren. Zunächst riß ich alle Fenster meiner Vierzimmerwohnung auf. Mit Schwung warf ich den Koffer aufs Bett. Und dann zauberte ich jene Sachen hervor, die ich Allan 17
aus Spanien mitgebracht hatte. Ich hatte im Augenblick keinen anderen Menschen, dem ich eine kleine Freude bereiten hätte können. Deshalb mußten Allan und seine Frau herhalten. »Für mich, Tom?« fragte Allan erstaunt, als ich ihm den Bacardi überreichte. »Mit einer Auflage«, sagte ich schmunzelnd. »Und zwar?« »Daß du ihn nicht ganz allein austrinkst.« Ich legte ein holzgeschnitztes Steuerrad auf den Tisch. In der Mitte des Rades befand sich ein verchromtes rundes Thermometer. »Und das ist für deine Frau«, sagte ich. »Tom, du bist ja verrückt!« protestierte Allan. »War spottbillig. Ich schäme mich beinahe, nicht mehr mitgebracht zu haben.« Wir köpften eine Tequillaflasche. Und dann mußte mir Allan erzählen, was sich während meiner Abwesenheit getan hatte. Wenn man mit Leib und Seele Kriminalist ist, kann man sein Interesse nicht einfach ein- und ausschalten wie eine Glühbirne. Der Sergeant hatte mir wenig Erfreuliches zu erzählen. »Die Welt hat sich inzwischen weitergedreht, Tom«, sagte er mit einem Tonfall, als würde er dies sogar bedauern. Was ich anschließend erfuhr, bewies mir, daß Allans Bedauern begründet war. Keine zehn Pferde
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hätten mich daran hindern können, die Arbeit noch am selben Tag aufzunehmen. Um zwölf aßen wir in einem netten Restaurant. Allan bestellte sich – wohl aus Sympathie – eine spanische Paella. Ich verdrückte ein saftiges Steak, das eben doch nur zu Hause so herzhaft schmeckt. Nach dem Essen suchten wir jenes Gebäude auf, das zwischen Victoria Street, Broadway und Dacre Street liegt: New Scotland Yard. Ich betrat unser gemeinsames Büro, als hätte ich keinen Tag lang Urlaub gemacht. Per Telefon meldete ich mich bei der Sekretärin des Chefs für einen kurzen Besuch an. Er war nicht im Haus. Sie versprach mir, mich anzurufen, sobald er wieder da wäre. »Und wie war der Urlaub, Inspektor Whittaker?« fragte sie abschließend. Ich lachte trocken. »Welcher Urlaub denn?« Dann legte ich auf. Zwanzig Minuten später schlug der Apparat an. Der Chef war wieder da und freute sich auf meinen Besuch. Allan kam nicht mit. Ein Anruf vom gerichtsmedizinischen Institut hielt ihn zurück. Also fuhr ich allein hoch. Der dickliche ältere Herr mit der hohen Stirnglatze und den rosigen Wangen hieß Sir John Baxter. Das Sonderdezernat III genoß den Vorrang, ausschließlich ihm unterstellt zu sein.
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Er war schon lange nicht mehr so freundlich zu mir gewesen, und ich konnte mich nicht erinnern, daß er mir jemals eine von seinen dicken Zigarren angeboten hatte. Diesmal tat er es. »Haben Sie sich gut erholt, Tom?« fragte er, als wir rauchten. »O ja, Sir. Ich kann frisch gepflanzte Bäume ausreißen.« »Sie werden viel Kraft brauchen«, sagte der Chef besorgt. »Sergeant Crown hat mich bereits eingeweiht, Sir. Mein Dienst beginnt zwar erst morgen, aber ich möchte meine Arbeit schon heute beginnen. Sie haben doch nichts dagegen?« Sir John lächelte schwach. »Ehrlich gesagt, Tom, ich wollte Sie auch darum bitten.« Ehe ich die Zigarre fertig geraucht hatte, war ich schon wieder auf dem Weg in mein Büro. Die besten Wünsche für einen baldigen Erfolg begleiteten mich. Allan hatte inzwischen alles auf unseren Schreibtischen ausgebreitet, was über den Mord an Anne Melton und jenen an Carol Sky vorhanden war: Protokolle, Aufzeichnungen der Spurensicherung, Fotos, Obduktionsbefunde, Ergebnisse von Recherchen und so weiter und so fort. All die Dinge, die mit dem Tod von Anne Melton zu tun hatten, hatte ich noch gut in Erinnerung. Ich selbst hatte die Ermittlungen vor meinem Urlaub geleitet, lei20
der nur mit spärlichem Erfolg. Und Allan hatte dem während meiner Abwesenheit nichts hinzuzufügen vermocht. Ich betrachtete die Bilder, die unser Fotograf von den beiden toten Mädchen gemacht hatte. »Als wenn ein Metzger durchgedreht hätte und über sie hergefallen wäre, um sie niederzumachen«, sagte ich kopfschüttelnd. »Irgendein Verrückter muß es schon gewesen sein«, sagte Allan. »Gibt es sonst noch einen gemeinsamen Nenner?« »Beide Mädchen waren Schauspielerinnen. Weitgehend unbekannt. Lies dir die Obduktionsbefunde durch, Tom.« Ich las sie und verglich sie miteinander. Kein Zweifel, die beiden Mädchen waren von derselben Person getötet worden. Der Polizeiarzt äußerte in seinem Bericht die Vermutung, die Mädchen könnten von einem scharfen Hund angefallen und tödlich verletzt worden sein. Das würde die furchtbaren Bißwunden erklären, die die Leichen aufwiesen und die von keinem menschlichen Gebiß herrührten. Ich hatte zwar keine plausible Erklärung für diese rätselhaften Bißwunden, aber ich weigerte mich, anzunehmen, daß ein Hund die Mädchen umgebracht hatte. Wir tranken Tee und überlegten unsere nächsten Schritte.
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Aus den Unterlagen ging hervor, daß Carol Sky verheiratet gewesen war. Ihr Mann war von dem schrecklichen Ereignis bereits informiert worden. Ich beschloß, ihn aufzusuchen. Allan Crown nahm ich mit. Christopher Sky wohnte in einem prachtvollen Backsteinhaus im Norden der Stadt. Die mannshohen Hecken, die das Grundstück umsäumten, waren von einem wahren Gartenkünstler gestutzt worden. Wir gingen an einem Teich vorüber, auf dessen schillerndem Wasser schneeweiße Seerosen schwammen, und erreichten die olivgrüne Eingangstür. Auf mein Läuten öffnete Sky persönlich, wie sich gleich danach herausstellte. Er war so alt wie Sergeant Crown, war aber ein wesentlich modernerer Typ als mein Kollege. Er hatte kein einziges graues Haar auf dem Kopf. Das bewies mir, daß er seine Locken färbte. Ein Hemd bedeckte seinen breiten Brustkorb. Darüber trug er an einem dicken Lederriemen einen emaillierten Anhänger, der irgendwelche chinesische Schriftzeichen zeigte. Die Jeans saßen knapp. Seine nackten Füße steckten in bequemen Sandalen. Nachdem ich Allan und mich kurz vorgestellt hatte, bat er uns ins Haus. Er war sicherlich immens reich, und er schien China zu lieben. Im Wohnzimmer hing ein Ölgemälde an der Wand, das die chinesische Mauer zeigte. Auf einem Tisch
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stand eine kostbare Vase mit handgemaltem Dekor. »Aus der Sung-Zeit«, bemerkte er beiläufig. »Dieser Buddhakopf stammt aus der Sui-Zeit«, erklärte er weiter und wies auf das betreffende Stück. Viele andere wertvolle Sachen bevölkerten das Wohnzimmer. Auf Skys Bitte nahmen wir in weichen Ledersesseln Platz. Er wollte uns etwas zu trinken anbieten, doch wir lehnten dankend ab. Ich wollte gleich zur Sache kommen. Das war auch in Skys Interesse, wie er uns bestätigte. Es war nicht das Alter allein, das diese dunkelgrauen Ringe unter seinen hellen Augen hervorrief. Es war vor allem der Schmerz über den plötzlichen Verlust der jungen Frau. »Wo waren Sie gestern nacht, Mr. Sky?« fragte ich. »In Hongkong. Ich bin erst heute morgen nach London zurückgekehrt. Man hat mich ins Leichenschauhaus geholt, damit ich Carol identifiziere. Es war mir kaum möglich. Sie wurde so grauenvoll entstellt . . .« Er brach ab und seufzte schwer. »Hatten Sie geschäftlich in Hongkong zu tun?« »Wenn Sie sich hier umsehen, wissen Sie, daß ich begeisterter Antiquitätensammler bin. Ich sammle speziell chinesische Kostbarkeiten. Ein Freund in Hongkong hält für mich die Augen offen. Wenn er etwas entdeckt, das meinem Geschmack entspricht, ruft er mich an, und ich setze mich in das nächste Flugzeug, das nach Hongkong fliegt... «
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»Wäre es nicht einfacher, wenn Der Freund Ihnen den Gegenstand schicken würde?« »Ich möchte den Kauf selbst abschließen. Schließlich sind diese Dinge nicht gerade billig. Es würde mich ärgern, etwas gekauft zu haben, was ich gar nicht haben möchte. Da nehme ich schon lieber den Flug auf mich und entschließe mich an Ort und Stelle selbst, zu kaufen oder nicht zu kaufen.« »Was war es diesmal, Mr. Sky?« »Diese Dschunke aus Porzellan. Sie stammt aus dem siebzehnten Jahrhundert. « Das kleine Ding hatte sicherlich ein Vermögen gekostet. »Darf man fragen, womit Sie sich das Geld für Ihr kostspieliges Hobby verdienen?« »Ich besitze eine Helikopterfabrik«, erwiderte Christopher Sky. Es war mir klar, daß er mir nicht alles auf die Nase binden würde, was er sonst noch besaß. Aus finanztechnischen Gründen ist bei Leuten seines Schlages ein beträchtlicher Teil des Vermögens so geschickt in anderen Unternehmungen verwoben, daß keiner klar hindurchsehen kann. »Ihre Frau war gestern nacht also allein«, stellte ich fest. »Vermutlich war sie bei Bekannten. Auf dem Heimweg ist es dann passiert. Sie wissen, wo man sie gefunden hat?« »Ja, Inspektor Whittaker.« »Wohnen Bekannte von Ihnen und Ihrer Frau in dieser Gegend?« 24
»Ich kenne niemanden, der da wohnt.« »Sie besaß doch sicher einen Wagen.« »Ja, natürlich. Einen weißen Alfa Romeo.« »Wieso ging sie zu dieser späten Stunde zu Fuß? Wenn sie bei Freunden war – wieso brachten diese sie nicht nach Hause?« Christopher Sky sah zuerst Allan und dann mich ratlos an. »Ich bin nicht in der Lage, Ihre Fragen zu beantworten, Inspektor.« Er holte tief Luft und schlug die Beine übereinander. Während er sein Knie mit beiden Händen festhielt, sagte er mit belegter Stimme: »Ich glaube, ich muß Ihnen einiges über Carol und mich erklären. Sie war Schauspielerin. Kein großes Talent, aber sie bekam doch ab und zu ganz gute Zensuren von den Kritikern. Sie spielte kleine Rollen in mittelmäßigen Filmen, am Theater und im Fernsehen. Sie hätte das nicht zu tun brauchen, denn wir waren niemals auf ihre Gage angewiesen. Aber sie bestand darauf, etwas tun zu wollen, sonst käme sie sich unnütz vor. Deshalb hatte ich nichts dagegen einzuwenden. Zur Zeit war sie ohne Engagement. Sie träumte immer von einer großen Rolle, mit der ihr der Durchbruch gelingen würde. Wenn ich darüber lächelte, wurde sie wütend und machte mir eine Szene, daß es nur so im Gebälk krachte. Es war gewiß dumm von mir, zu glauben, daß eine Ehe mit ihr gutgehen könnte. Bei manchen Menschen spielt der Altersunterschied keine erhebliche Rolle, doch zwischen Carol und 25
mir klaffte der Abgrund einer Generation. Sie war so quirlig, so lebenshungrig, ein Falter, den man nicht halten konnte. Ich habe sie sehr geliebt. Deshalb traf es mich schmerzhaft, als ich erfuhr, daß sie mir nicht treu war. Ich erwähnte mein Wissen mit keinem Wort und versuchte sie vor mir selbst zu entschuldigen. Sie war noch so jung, und ich dachte, sie wäre eben einmal gestolpert. Niemand kann von sich sagen, ihm könne so etwas nicht passieren. Doch Carol stolperte wieder und wieder. Schließlich mußte ich einsehen, daß sie in mir nicht ihren Mann, sondern ihren Vater sah, während sie ihren sexuellen Hunger zumeist bei den jeweiligen Partnern stillte, mit denen sie gerade zu tun hatte. Vor wenigen Wochen faßte ich den Entschluß, sie vor die Wahl zu stellen, von nun an entweder ein anständiges Leben an meiner Seite zu führen oder sich scheiden zu lassen. Doch ich fand nicht den Mut, sie vor diese Entscheidung zu stellen. Ich schob die Unterredung immer wieder hinaus, denn ich fürchtete, daß sie sich gegen mich entscheiden und unser Haus für immer verlassen würde. Nun hat ein anderer gegen uns entschieden. Ich muß gestehen, daß ich in meinem ganzen Leben noch niemals so ratlos und erschüttert war.« Es folgte ein kurzes, betretenes Schweigen. Ich hätte dem leidgeprüften Mann einige tröstende Worte sagen können, doch ich zweifelte daran, daß Chris-
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topher Sky mit irgendwelchen schönen Worten wirklich zu trösten war. Allan fragte ihn, ob seine Frau Feinde gehabt hätte. Sky behauptete, daß Carol überall beliebt gewesen war. Allan wollte wissen, ob es jemand anders gab, der uns sagen konnte, wo Carol Sky in der vergangenen Nacht gewesen war. Christopher Sky dachte eine Weile schweigend nach. Dann sagte er: »Vielleicht kann Ihnen Judy Brent weiterhelfen. « »Wer ist das?« fragte ich. »Eine Kollegin von Carol. Darüber hinaus waren die beiden sehr eng miteinander befreundet.« »War Ihre Frau vielleicht auch mit der Schauspielerin Anne Melton befreundet?« erkundigte sich Allan schnell. Sky schüttelte den Kopf. »Diesen Namen höre ich heute zum erstenmal, Sergeant Crown. « »Das macht nichts. War ja nur eine Frage, Mr. Sky.« Der Fabrikant und Antiquitätensammler nannte uns Judy Brents Adresse. Da wir im Augenblick keine weiteren Fragen mehr an ihn hatten, empfahlen wir uns. Grelle Blitze zerfetzten die unheimliche Dunkelheit. Ein schauriges Donnergrollen kam von weither. Das zitternde Mädchen preßte sich mit schweißnassem Gesicht gegen die rissige Wand ei27
nes Hauses. Angst und namenloses Entsetzen spiegelten sich in ihrem zuckenden Antlitz. Sie war blutjung, konnte nicht älter als zwanzig sein. Ihr zerzaustes Haar hatte die Farbe polierten Silbers. Sie trug ein hauchzartes Sommerkleid, in dessen tiefem Ausschnitt ein fester Busen bebte. Das Kleid war kurz und ließ erkennen, daß das Mädchen über lange, makellose Beine verfügte. Ein schweres Keuchen kam auf sie zu. Sie drückte die Hand auf den Mund, um ihrer wahnsinnigen Angst nicht mit einem schrillen Schrei Luft zu machen. Starr vor Grauen blickte sie in die Richtung, aus der das furchterregende Keuchen kam. Wieder zuckte ein Blitz auf. Und mit dem nächsten Donner war das Scheusal da. Das Mädchen stieß einen irren Schrei aus. Während es in rasender Verzweiflung den Kopf hin und her warf, schrie es sich die Seele aus dem Leib. Prustend kam das Monster auf sie zu. Der schlimmste Alptraum konnte kein grauenvolleres Wesen gebären. Die Augen des schrecklichen Mörders glühten hellrot. Gelbe Funken umtanzten die Pupillen. Aus dem silbergrauen, zotteligen Fell ragten spitze Ohren. Ein heiseres Geifern und Hecheln kam aus der kurzen, stumpfen Schnauze. Die Bestie fletschte die mörderischen Zähne. Ein hungriges Knurren vervielfachte die Todesangst des bedrohten Mädchens. Es schrie, schrie, schrie.
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Das Fell des mordlüsternen Teufels sträubte sich. Gierig leckte die rote Zunge über das Maul. Mit einem wilden Satz sprang der schreckliche Mörder sein wehrloses, kreischendes Opfer an. Seine Pranken sausten auf das Mädchen zu, rissen die helle Haut auf, Blut schoß aus den tiefen Wunden. Das Mädchen steigerte seine wahnsinnigen Schreie ins Unerträgliche. Die geifernde Schnauze des Scheusals fuhr ihr an die Kehle. Die dolchartigen Fangzähne des grausamen Werwolfs fanden den schlanken Hals. Mit kräftigen Kiefern biß die blutgierige Bestie zu. Der Schrei des Mädchens ging in ein markerschütterndes Röcheln über. Mit ekelhaften, schmatzenden Geräuschen trank das Monster das heiße Blut des jungen Opfers. Verzweifelt schlug das Mädchen nach dem muskulösen Körper des furchtbaren Mörders. Schnell ermattete sie. Schlaff fielen die Arme des Mädchens herab. Ihre Knie knickten ein. Sie sank an der Mauer langsam nach unten, starrte mit weit aufgerissenen Augen zum finsteren Nachthimmel hinauf. Der Blitz, der in diesem Moment aufzuckte, verlieh ihrem Gesicht eine teigige Farbe. Er war das letzte, was sie sah. Als sie still lag, vollendete die grausame Bestie ihr blutrünstiges Werk. Als sie sich keuchend aufrichtete, klebte dunkelrotes Blut in ihrem gesträubten Fell. 29
Die schrillen Töne von Polizeipfeifen ließen das Untier jäh herumfahren. Es nahm eine feindselige Haltung ein, so als wollte es den Leichnam verteidigen, doch dann wandte es sich hastig um und rannte mit schweren Schritten davon . . . »Gestorben!« rief jemand. Menschen atmeten erleichtert auf. Die Szene war so beklemmend echt gespielt worden, daß sie alle Umstehenden in ihren Bann geschlagen hatte. Nun witzelte man im Filmstudio, um das lästige Angstgefühl schnell wieder loszuwerden. Scheinwerfer flammten auf und ernüchterten die schaurige Szene. Der Schauspieler, der den Werwolf gespielt hatte, riß sich lachend die erschreckend echt wirkende Maske vom Kopf und fragte grinsend in die Runde: »Na, wie war ich?« Er war ausgezeichnet gewesen. Ich hatte noch keinen Horrorfilm gesehen, in dem es einem Schauspieler gelungen war, so schauderhaft überzeugend zu sein. Wir waren bei Judy Brent zu Hause gewesen und hatten von ihrem Nachbarn erfahren, daß wir sie hier, in den Aufnahmestudios der »Flint Productions«, finden würden. Morton Garner, der Regisseur, schnellte von seinem Klappstuhl hoch und applaudierte begeistert. Er war hager und hatte das Gesicht eines Raubvogels. Sein wenig gewinnendes Äußeres hielt Sybill Rivera jedoch nicht davon ab, ihm schöne Augen 30
zu machen. Das tat dem häßlichen Kerl natürlich sehr gut und nahm ihm wenigstens einen Teil seines aus der Häßlichkeit heraus geborenen Komplexes. »Bravo, Murray!« rief der Regisseur in ehrlicher Begeisterung aus. »Bravo! Das war einmalig. Das war grandios. Das war unüberbietbar!« Murray Collins grinste. »Freut mich, daß es dir gefallen hat, Norton.« »Du warst ein Elementarereignis. Die Leute wird es von den Stühlen reißen.« »Dann haben wir beide erreicht, was wir wollten«, erwiderte Collins mit einem spitzbübischen Augenzwinkern. Collins war Amerikaner, groß gewachsen, schlank, breitschultrig. Sein Gesicht war männlich, obwohl er vor einem Monat erst fünfundzwanzig Jahre alt geworden war. Zudem hatte er ein Gesicht, dessen Ausdruckskraft ungemein stark war und das man sich vom ersten Augenblick an merkte. Zur Zeit feierte dieser sympathische junge Mann auf der Filmleinwand in aller Welt wahre Triumphe. Er schockierte sein Publikum als grauenvolles Monster in einer Neuverfilmung des Frankensteinstoffes. Er war ein eiskalter Graf Dracula gewesen. Als grausamer Hexenjäger nahm er seinem Publikum den Atem. Und nun holte er zu einem neuen, zum bisher größten schauspielerischen Schlag aus, indem er so grauenerregend echt als Werwolf durch das Filmstudio geisterte, daß selbst den ab31
gebrühten Beleuchtern die Gänsehaut über den Rücken lief. In der Branche war man sich einig: Murray Collins war zur Zeit der bei weitem beste Horrordarsteller. Er ließ sogar die eindrucksvollen Leistungen eines Christopher Lee verblassen. Aus diesem Grund hatte ihn sich Norton Garner für seinen Werwolfstreifen aus den Staaten nach England geholt. Und Murray Collins gab wieder einmal mehr als sein Bestes. Nun schlüpfte er aus den handschuhähnlichen Werwolfpranken und schüttelte dem überschwenglichen Regisseur grinsend die Hand. Ein großer Junge war er privat, schelmisch, charmant, mit sprühendem Mutterwitz gesegnet. Eigentlich kein Schauspieler im herkömmlichen Sinn. Hektische Betriebsamkeit drängte uns an den Rand des Studios zurück. Man baute für eine andere Szene um. Kamera, Scheinwerfer, Kulissen wurden nach genauen Plänen an ihre vorbestimmten Plätze gebracht. »Soll ich dir verraten, was ich mir im Augenblick so alles zusammenreime, mein Sohn?« sagte Sergeant Allan Crown neben mir. »Was denn, Daddy?« fragte ich ihn grinsend. »Bitte, halte mich nicht für verrückt, Tom . . .« »Keine Sorge. Sag, was du dir denkst, Allan.« »Mir gehen die Aufnahmen unseres Polizeifotografen nicht aus dem Kopf.« 32
»Und?« »Diese beiden Mädchen . . .« »Ja?« »Verdammt, es fällt mir nicht leicht, so etwas Irrsinniges auszusprechen, Tom . . .« »Nur Mut, Allan«, sagte ich lächelnd. »Zieh endlich den Schuh aus, der dich drückt!« »Was würdest du dazu sagen, wenn ich behaupte, daß sowohl Anne Melton als auch Carol Sky Opfer eines Werwolfs geworden sind, der in unserer Stadt sein Unwesen treibt?« »Was ich dazu sagen würde?« »Hm.« »Daß es keine Werwölfe gibt. Das sind Fabelwesen, Spukgestalten, von den Menschen erfunden, um sich gegenseitig Angst zu machen, Allan.« »Ich bin da nicht so sicher, Tom.« Ich legte ihm mit einem nachsichtigen Lächeln die Hand auf die fleischige Schulter. »Ich kenne deine Einstellung zu diesen Dingen, Allan. Vielleicht bist du der bessere Engländer von uns beiden, denn du glaubst an Geister, Dämonen, Vampire und all dieses Spukgelichter.« »Ich bin zum Glück nicht der einzige, der an so etwas glaubt. « Ich zuckte die Achseln. »Meinetwegen kannst du weiter daran glauben, aber versuche bitte nicht, mich zu überzeugen. In dieser Richtung läuft nämlich bei mir überhaupt nichts.« 33
Ich stieg über armdicke Kabel hinweg. Allan folgte mir. Wir waren einigen Zimmermännern im Weg. Sie fluchten herzhaft und maßen uns mit grimmigen Blicken. »He, Sie da!« rief uns jemand nach. Ich blieb stehen und wandte mich um. Ein mickriger Kerl, dürr wie eine Bohnenstange, mit abstehenden Ohren und vorstehenden Schneidezähnen, kam auf uns zugelaufen. Er trug verwaschene Jeans und schwarze Ringe unter den Augen. Sein himmelblaues Hemd klaffte über einer Brust auf, die wie ein Waschbrett aussah. Sein verschlagener Blick hätte allein schon genügt, um ihn zu fotografieren und in die Verbrecherkartei einzureihen. Vielleicht hätte ich es getan, wenn ich nicht schon eine ganze Weile im Studio gewesen wäre und deshalb wußte, daß er der Regieassistent war. »Wer hat Sie hier reingelassen?« bellte er uns an. »Was geht das Sie an?« gab ich gallig zurück. »Sie stören hier!« »Wen?« »Diese Männer.« »Wobei?« »Bei der Arbeit, verdammt noch mal. Sie können vielleicht dämliche Fragen stellen.« »Das ist mein Job«, gab ich gleichgültig zurück. »Presse?« fragte er lauernd. Ich schüttelte den Kopf. »Schlimmer«, entgegnete ich eisig. »Viel schlimmer: Polizei!« 34
Es amüsierte mich, ihn erschrecken zu sehen. »So«, brummte ich ihn an. » Und jetzt sind Sie mal so nett und sagen mir Ihren Namen. « »Meinen Namen?« fragte er irritiert. »Wieso wollen Sie meinen Namen wissen?« »Vielleicht möchte ich mal zum Film gehen.« »Warren«, erklärte er hustend. »Dean Warren.« »Angenehm, Mr. Warren. Das ist DetektivSergeant Allan Crown, und ich bin Inspektor Tom Whittaker von Scotland Yard. Wir suchen Miß Judy Brent. Würden Sie die Liebenswürdigkeit haben, uns zu ihr zu bringen?« Er musterte uns, als hätte er uns zu fürchten. Dann wischte er sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn und sagte hastig: »Bleiben Sie hier stehen. Ich bringe Ihnen Judy.« Er lief los. Und er brachte uns jenes Mädchen, das der Werwolf so grauenvoll zugerichtet hatte. »Makaber«, bemerkte Allan und schluckte, als uns das »blutbesudelte« Mädchen die Hand reichte. Judy lächelte. »Ist halb so schlimm.« Sie blickte Warren nach. »Der Regieassistent ist der einzige Unheimliche in diesem Studio. « Zitternd wandte sich Dean Warren um. Ihm war kalt, obwohl es kaum jemanden im Studio gab, der nicht schwitzte. Schließlich erzeugten die mächtigen Scheinwerfer enorm große Hitze. Er klapperte mit den Zähnen und krümmte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht zusammen. Es war 35
wieder einmal soweit. Er brauchte schnell einen Schuß, um weitermachen zu können. Hastig wandte er sich um und eilte durch einen schmalen Gang auf die Toilette. In einem Plastiksäckchen, das er in der Wanne der Wasserspülung versteckt hatte, befand sich die vorbereitete Spritze. Gierig griff Warren danach. Seine Zunge huschte aufgeregt über die trockenen Lippen. Er wischte den Ärmel am linken Arm hoch und betrachtete mit flatterndem Blick die zahlreichen Einstiche. Die brennende Gier trieb ihn zur Eile an. Zitternd schob er die schlanke Kanüle in die Vene. Dann drückte er den Kolben mit geschlossenen Augen nieder. An der feuchten Wand lehnend, wartete er auf die Wirkung des Rauschgiftes. Als sie sich einstellte, fühlte er sich unsagbar gut. Ein zufriedenes, erlöstes Lächeln spielte um seine Mundwinkel. Er zitterte nicht mehr. Seine Nerven waren völlig ruhig. Und es war ihm auch nicht mehr kalt. Die Wegwerfspritze ließ er in die Muschel fallen. Ein kurzer Druck auf den Knopf der Spülung, gurgelnd schoß das Wasser in den Abfluß und nahm die Spritze mit. Erleichtert verließ er die Toilette. Auf seinem Rückweg kam er an einem Wandtelefon vorbei. Schnell vergewisserte er sich, daß niemand in der Nähe war, der ihn belauschen konnte. Dann nahm
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er wie ein Dieb den Hörer vom Haken und wählte mit flinken Fingern eine sechsstellige Nummer. Die Verbindung klappte sofort, als hätte der Mann mit der krächzenden Stimme am anderen Ende der Leitung auf Warrens Anruf gewartet. »Ich bin es, Warren!« »Was gibt’s denn, Nachwuchs-Hitchcock?« fragte der Krächzer. »Ich habe soeben das letzte Ding verbraucht.« »Man fühlt sich danach wie neugeboren, was?« »Kann ich wieder was haben?« fragte Warren aufgeregt. »Klar, doch. Jeder kann von mir was haben, Dean, das weißt du doch. Jeder, der bei Lieferung bezahlt.« » Natürlich.« »Wieviel darf’s denn diesmal sein?« »Die gleiche Menge wie immer«, sagte Dean Warren nervös, und er zermarterte sich den Kopf, woher er das Geld für die Lieferung nehmen sollte. Beinahe hätte er den anderen gefragt, ob er ihm diesmal einen kurzfristigen Kredit einräumen würde, doch er verwarf diesen Gedanken sofort. Kredit gibt es im Rauschgiftgeschäft nicht. Warren wußte, daß er bar bezahlen mußte, sonst nahm der Bote das Teufelszeug wieder mit. »Wann kann ich damit rechnen?« fragte Warren. »Morgen, im Laufe des Nachmittags«, erwiderte der Krächzer. Warren hängte ein. 37
Er hatte also bis dahin Zeit, sich das Geld zu beschaffen. Und er glaubte auch schon zu wissen, wie er diese Schwierigkeit meistern konnte. Judy Brent hatte sich einen Teil des künstlichen Blutes abgewischt. Wir waren mit ihr in die Kantine gegangen und saßen nun an einem kleinen, kunststoffbeschichteten Tisch. Sie trank Ginger Ale wie wir. Ich bot ihr eine von meinen Zigaretten an, hielt auch Allan die Packung hin, dann rauchten wir zu dritt. »Nein, Inspektor Whittaker«, sagte Judy schließlich kopfschüttelnd, »Carol war gestern abend nicht bei mir.« Ich schmunzelte, um Judys Zuneigung zu gewinnen. »Eigentlich hatte ich gehofft, von Ihnen mehr zu erfahren als das, wo Carol Sky nicht war.« Sie zog sofort wieder an ihrer Zigarette. Ihre Unruhe verriet mir, daß sie irgend etwas wußte, zumindest aber ahnte. »Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht helfen«, sagte sie ohne ehrliches Bedauern. »Sie haben Carol sehr gemocht, nicht wahr?« fragte ich. »Ja«, hauchte Judy, während ihr Blick starr auf den Tisch gerichtet war. »Wir waren bei Carols Mann, ehe wir hierherkamen«, erklärte ich. »Er hat uns quasi zu Ihnen geschickt, denn er ist der Meinung, daß Sie uns mehr helfen können als er.« 38
Judy blies mir den Rauch ins Gesicht, ohne es zu wollen. » Zuletzt war Carol ein wenig böse auf mich. « »Weshalb?« »Weil sie die Rolle haben wollte, die ich jetzt spiele.« »Wieso hat Garner Ihnen den Vorzug gegeben?« »Er machte Probeaufnahmen von uns beiden und noch von einigen anderen Mädchen. Carol spielte zu verkrampft und wirkte nervös. Sie wollte die Rolle unbedingt haben. Es hat sie hart getroffen, daß Norton Garner sich gegen sie und noch dazu für ihre Freundin entschieden hat. Sie hat sich von da an nicht mehr bei mir blicken lassen. Sie hat mich auch nicht angerufen. Ich dachte, sie spinnt und würde sich schon irgendwann wieder erholen.« Ich trank mein Ginger Ale. »Tja, wenn das so ist, können Sie uns wirklich nicht weiterhelfen. « Judy Brent drückte die Zigarette im Aschenbecher aus. »Vielleicht versuchen Sie Ihr Glück mal bei Jason Bloom. « »Wer ist das?« wollte Allan wissen. »Er arbeitet im Besetzungsbüro der ›Flint Productions‹. Wenn es stimmt, was mir eine Kollegin erzählt hat, dann hat Carol sich mit ihm angefreundet, um demnächst doch noch zu einer Rolle zu kommen.« 39
»Jason Bloom sagten Sie?« fragte Sergeant Crown und schrieb den Namen in sein Notizbuch. »Ganz recht.« »Wissen Sie zufällig, wo er wohnt?« »Ja. Das weiß ich zufällig«, erwiderte das hübsche Mädchen mit einem unergründlichen Lächeln. Sie nannte Blooms Adresse, Allan hielt sie in seinem Notizbuch fest, wir bedankten uns für die Auskunft, verabschiedeten uns und verließen das Gelände der »Flint Productions«. Judy Brent kehrte aus der Kantine ins Filmatelier zurück. Norton Garner hatte das Drehbuch in seinen Händen und redete stürmisch auf Timothy Atlee, den ersten Kameramann, ein. Die beiden konnten sich über irgendein technisches Problem nicht einigen. Ihre Stimmen wurden immer lauter. Schließlich wurden sie so heftig, daß sie sich beleidigende Worte an den Kopf warfen. Garner wußte, daß er dieses Kräftemessen in aller Öffentlichkeit zu seinen Gunsten entscheiden mußte. Deshalb wurde er massiv und drohte mit der Entlassung des Kameramanns,. Daraufhin schob Atlee grimmig zurück und brachte es sogar über sich, sich bei dem Regisseur in aller Form zu entschuldigen. Nun konnte es sich Garner leisten, die Angelegenheit zu bagatellisieren. Er streckte Atlee demonstrativ die Hand entgegen und sagte zu den Umstehenden: »Wir haben nur fachlich diskutiert.« Rosalind Ashley, das farblose Skriptgirl, gesellte sich zu Judy Brent. 40
»Die beiden, mit denen Sie in der Kantine waren, kamen vom Yard, nicht wahr?« Judy musterte das ältliche Mädchen. Ihrer schwachen Augen wegen war die Ashley gezwungen, dicke Brillen zu tragen. Das Glas vergrößerte die Augäpfel und verlieh ihnen einen seltsam starren Ausdruck. Wie Klammern lagen die beiden tiefen Falten um den verkniffenen Mund des beruflich sehr tüchtigen Skriptgirls. »Das waren Inspektor Whittaker und Sergeant Crown«, sagte Judy. »Was wollten sie von Ihnen?« Judy Brent sagte es der neugierigen Person. Es rief einiges Erstaunen bei ihr hervor, als sie bemerkte, daß Rosalind Ashley mit einemmal bleich wurde. »Rosalind, wenn Sie etwas wissen, was die Polizei erfahren muß, dann, haben Sie die Pflicht. . .« Das Skriptgirl spielte nervös mit der bunten Holzperlenkette, die sie um den Hals trug. »Noch kann ich nichts sagen, Judy.« »Haben Sie einen Verdacht?« fragte Judy Brent erschrocken. Rosalind Ashley kniff die riesigen Augen zu kleinen Schlitzen zusammen. »Ja, Judy, ich habe einen Verdacht.« »Dann kann ich Ihnen nur dringend raten, sich mit Inspektor Whittaker in Verbindung zu setzen.« Das ältliche Mädchen wandte sich furchtsam um. Judy folgte ihrem Blick. Sie schien einen jungen Statisten anzustarren, der in lässiger Haltung am 41
Kamerasockel lehnte. Der blonde Junge mit den veilchenblauen Augen hieß Brian Jones. Im Augenblick unterhielt er sich mit Sybill Rivera, der Hauptdarstellerin des gerade entstehenden Films. Vermutlich versprach er sich einen rascheren beruflichen Aufstieg, wenn er sich bei Sybill anbiederte. Als Jones merkte, daß er beobachtet wurde, hob er den Kopf und schaute zu Judy und Rosalind herüber. Erschrocken wandte sich das Skriptgirl um. »Ein Verdacht allein genügt nicht«, preßte sie aufgeregt hervor. »Ich muß mir erst Gewißheit verschaffen, ehe ich mich an die Beamten von Scotland Yard wende.« Gegen Abend braute sich über London ein furchtbares Unwetter zusammen. Schwere, dunkelgraue Regensäcke beschleunigten das Ersterben des Tageslichts. Die Straßenbeleuchtung mußte früher als sonst eingeschaltet werden. Kurz nach zwanzig Uhr fielen die ersten dicken Regentropfen klatschend auf den hellgrauen Asphalt und färbten ihn dunkelgrau. Ein Mann hastete ruhelos durch die finsteren Straßen. Man hielt ihn für einen Betrunkenen. Niemand ahnte, wie schlimm es in Wirklichkeit um ihn stand. Keuchend floh er in das schützende Dunkel einer Haustornische. Zitternd starrte er auf seine Hände. 42
Alles drehte sich um ihn herum. Er ächzte und preßte die Lider verzweifelt aufeinander. Dann hielt er die zitternden Hände erneut vor die Augen, in denen nun ein unheimliches Feuer flackerte. Er litt unter entsetzlichen Schmerzen. »Nein!« stöhnte er. »Nein! Nicht schon wieder! O Gott, steh mir bei! Nicht schon wieder!« Seine Finger begannen zu wachsen. Und während sie sich zu grauenerregenden Krallen verformten, bedeckten sich die Handrücken mit silbrigem Fell. Schwer atmend preßte der Mann die Arme an den zuckenden Leib. Er riß den Mund weit auf. Die Zunge hing ihm heraus. Er bot in diesem Moment einen stupiden Anblick. Schweiß rann über sein entstelltes Gesicht. Er fuhr sich mit den behaarten Händen darüber, schnaufte, keuchte und stieß ab und zu ein heiseres Knurren aus, das tief aus seiner Kehle stieg. »Nein! Nein! Nein!« ächzte der Mann. Er wehrte sich verzweifelt gegen die schmerzhafte Verwandlung. All seinen Willen bot er auf. Und er schlug mit dem Kopf immer wieder heftig gegen die Wand. »Nein! Nein! Ich will nicht!« Seine Stimme veränderte sich ständig. Mal klang sie wie die eines Menschen, dann wieder hatte sie nichts Menschenähnliches an sich, sondern klang wie ein tierhafter Laut, ausgestoßen von einer mordlüsternen Bestie. Aus dem Mund des Mannes bildete sich eine kurze Wolfsschnauze. Doch er zwang den schrecklichen 43
Wolf noch einmal zurück. Sein Gesicht wurde wieder das eines Menschen. Schreckliche Zuckungen und Krämpfe verzerrten pausenlos seine Züge. Sein Gesicht drückte aus, was für ein fürchterlicher Kampf sich in seinem Innern abspielte. Unter Aufbietung all seiner geistigen Kräfte gelang es ihm schließlich doch, zu verhindern, daß der schreckliche Wolf von seinem Körper Besitz ergriff. Die gefährlichen Krallen wurden stumpf, bildeten sich zurück, nahmen die Formen von Fingern an. Die silbrigen Haare verschwanden. Der Mann war wieder ein Mensch wie jeder andere. Doch er wußte, daß er sich über diesen Teilsieg nicht freuen durfte. Der Wolf hatte sich lediglich zurückgezogen. Er schlummerte irgendwo in seinem Körper, aus dem er nicht zu vertreiben war. Irgendwann würde das Scheusal seinen Willen durchsetzen. Dann wurde dieser harmlos scheinende Mann erneut zum grausamen, blutrünstigen Werwolf. Der Kameramann Timothy Atlee war in der Welt zu Hause. Sein Beruf machte es erforderlich, daß er mal auf den Bahamas lebte und arbeitete, dann wieder in Brasilien, in Kanada oder Australien. Und so hatte sich Atlee angewöhnt, keinen eigentlichen festen Wohnsitz zu haben. Als alleinstehender Mann ohne jegliche familiäre Bindung konnte er sich das leisten. Er wohnte da, wo er gerade arbeitete. 44
Zumeist mietete er ein schickes Haus, in dem er die Zeit zwischen den Dreharbeiten verbrachte. Atlee war gebürtiger Liverpooler, gelernter Fotograf. Er hatte so ziemlich jeden Job ausgeübt, den man sich vorstellen kann. Schließlich hatte ihn ein Mädchen zum Film gebracht, und hier dienerte er sich vom siebzehnten Boten zum ersten Kameramann hinauf. Seine Schwäche: Whisky und Frauen. Beides leistete er sich in ansehnlichen Mengen, wobei er — was die Frauen anbelangt – nicht sehr wählerisch war und sich auch nicht darum kümmerte, wessen Frau er zu verführen versuchte. Diesmal war es Sybill Rivera. Er hatte trotz seiner großen Erfahrung auf diesem Gebiet Hemmungen gehabt, als er ihr den Hof machte. Erstens war Sybill nicht irgendein Mädchen, sondern ein international anerkannter Filmstar – sie hatte schon mit John Wayne, Omar Sharif und Gregory Peck vor der Kamera gestanden -, und zweitens war Sybill im Augenblick mit dem häßlichen Norton Garner liiert. Diese Tatsache war bereits durch die Weltpresse gegangen. Aus diesen beiden Gründen war der schöne Atlee ein wenig befangen gewesen. Doch schon bald hatte er gemerkt, daß Sybill in erster Linie eine Frau war, die ihren Körper als ihr ausschließliches Eigentum betrachtete, das sie nach Wunsch verlieh, aber niemals verschenkte.
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Sie war mit Atlee schon am Abend des dritten’ Drehtages ins Bett gegangen. Der Kameramann fühlte sich durch diesen Umstand sehr geehrt. Nun liefen die Dreharbeiten bereits einen Monat, und jener erste Abend hatte in dieser Zeit zahlreiche Neuauflagen nach sich gezogen. Im verspiegelten Schlafzimmer schimmerte gedämpftes Licht, das die Konturen der beiden nackten Körper weich und leicht verschwimmend zeichnete. Wie flüssiges Gold breitete sich das blonde Haar Sybills über das Kissen. Sie hatte das Gesicht einer großen Puppe. Timothy Atlee, der Kameramann, konnte aus Erfahrung behaupten, daß es kein perfekteres, fotogeneres Gesicht gab als dieses. Er glitt an ihrem geschmeidigen Körper nach unten und küßte die knospende Spitze ihrer linken vollen Brust. » Du bist das schönste Mädchen, das ich je geliebt habe «, flüsterte er zärtlich. Sie strich ihm sanft das Haar aus der Stirn. »Das sagst du bestimmt jeder.« »Vielleicht. Aber es ist nur bei dir wahr.« »Was hast du dir an diesem Abend des dritten Drehtages gedacht, Tim?« »Was soll ich mir schon gedacht haben?« »Bitte, sag’ es mir.« »Ich glaube, ich kam gar nicht zum Denken.« »Ich habe es dir sehr leicht gemacht, mich herumzukriegen. « 46
»Dafür werde ich dir ewig dankbar sein.« »Du dachtest bestimmt: sie ist ein Luder wie alle anderen. »Das habe ich keine Sekunde gedacht!« protestierte Atlee. »Warum müßt ihr Männer immer lügen, hm?« »Ich habe es nicht gedacht, Sybill, wirklich nicht.« »Ehrenwort?« »Ehrenwort.« Sybill schlang ihre nackten Arme schwer seufzend um seinen Nacken, drängte sich ihm entgegen und seufzte: »Bitte, küß mich! Küß mich, Tim, bitte!« Ihre bebenden Lippen fanden sich in triebhafter Eile. Sie wälzten sich mit wilden, ekstatischen Bewegungen im Bett. Da schlug die Hausklingel mit einem Ton an, den Atlee noch nie so häßlich und noch nie so störend wie in diesem Augenblick empfunden hatte. Wütend zuckte er hoch. »Verdammt!« zischte er wütend. »Kümmere dich nicht darum«, riet ihm Sybill. Wieder schlug die Glocke an. »Wer kann das sein?« fragte Sybill. »Keine Ahnung.« »Wie spät ist es?« »Vielleicht zehn.« »Erwartest du jemanden?« »Nein. Natürlich nicht.« »Dann tun wir einfach so, als wäre niemand zu Hause«, schlug Sybill vor. 47
»Man kann doch von unten das Licht sehen«, sagte Timothy Atlee unschlüssig. Er glitt aus dem Bett und warf sich einen weinroten Schlafrock aus chinesischer Seide über die athletische Figur. »Dieses dauernde Klingeln kann einem den Spaß ganz schön verleiden, was?« Er kniff ein Auge zu. »Lauf nicht weg, Baby. Bin gleich wieder da.«’ Sybill fuhr sich plötzlich erschrocken an die Lippen. »Was ist, wenn es Norton ist?« Atlee schüttelte den Kopf. »Der hat doch keine Ahnung, daß wir beide ...» »Wenn er es aber doch ist?« »Dann schicke ich ihn eben wieder nach Hause.« »Und wenn er dich fragt, ob ich hier bin?« »Dann sage ich ihm eiskalt, daß ich dich heute nachmittag zum letztenmal gesehen habe. Er wird es mir glauben müssen. Oder denkst du, ich lasse es zu, daß er dieses Haus auf den Kopf stellt? Sei unbesorgt, Baby.« Timothy Atlee zog den Bindegürtel fester und klappte die Schlafzimmertür auf. Das Klingeln war nun deutlicher zu hören. Es war Atlee in höchstem Maße lästig. Mißmutig verzog er das Gesicht. »Na, das gibt einen Tritt in den Hintern«, murmelte er in seinen imaginären Bart. Dann brüllte er: »Ja, ja! Ich komme ja schon!« und lief die teppichbelegte Treppe hinunter. Atlee hatte kurz geschnittenes schwarzes Haar, rehbraune Augen und die breiten Schultern eines 48
Leistungssportlers. Tagsüber stellte er ein liebenswürdiges Standardlächeln zur Schau. Abends zeigte er dieses Lächeln hin und wieder auf Partys oder in Gesellschaft eines hübschen Mädchens, das er aus dem Kleid zu schälen beabsichtigte. Im Augenblick war nichts Liebenswürdiges in seinen Zügen. Nur Unmut und Ärger über die ganz und gar nicht willkommene nächtliche Störung. Schnaubend riß er die Tür auf. Draußen stand ein schlanker Mann, der nun ins Licht trat. Hinter dem nächtlichen Besucher klatschte der Regen auf den hell schimmernden Kiesweg. »Warren!« stieß Atlee hervor. »Was willst du denn hier? Weißt du, wie spät es ist?« »Es ist zehn, Tim.« »Eben. Sag mal, wie viele Zähne soll ich dir einschlagen? Zwei oder drei? Was fällt dir ein . . .« »Ich muß mit dir reden, Tim! Es ist dringend! « fiel Dean Warren dem Kameramann ins Wort. »Du hast sie wohl nicht alle?« »Bitte, Warren. Es steht für mich sehr viel auf dem Spiel.« »Ich bin nicht allein.« »Das weiß ich.« »Woher . . .?« »Ist doch egal, Tim. Laß mich rein!« Atlee kniff die Augen unwillig zusammen. Am liebsten hätte er dem dürren, mickrigen Kerl die Tür vor der Nase zugeschlagen. Er trug einen 49
Jeans-Anzug. Die Jacke war vollkommen naß. Er zitterte, weil ihm kalt war. Atlee glaubte zu erkennen, daß Warren auch ziemlich nervös war. »Na schön«, seufzte der Kameramann schließlich. »Komm auf einen Drink rein. Ich gebe dir zehn Minuten Zeit, um mich mit deinem Problem bekanntzumachen, dann fliegst du raus, okay?« »Okay, Tim. Ich werde keine zehn Minuten brauchen.« »Um so besser.« Sie gingen ins Wohnzimmer. Der Spannteppich war hell und dick. Er verschluckte gierig jedes Geräusch. Der Regen prasselte monoton gegen das Panoramafenster, vor dem ein hauchzarter Wolkenstore hing. Die Einrichtung des Raumes vermittelte Gediegenheit. »Behagliche Behausung«, sagte Dean Warren, nachdem er sich einmal um die dürre Achse gedreht hatte. Atlee füllte ein Glas mit Whisky für ihn. Er selbst trank nichts. Warren nahm das Glas in Empfang und setzte sich unaufgefordert auf das breite Sofa. Das Flaschengrün des Samts schlug sich mit dem Blau seines Anzugs. »Erfahre ich jetzt endlich, weshalb du mich mitten in der Nacht aus dem Bett klingelst, verdammt noch mal! « bellte Atlee bissig. »Zwei von den zehn Minuten sind bereits um.«
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Warren trank zuerst den Whisky aus, dann sagte er: »Ich brauche Geld. Tim.« »Höre ich richtig? Du willst mich anpumpen?« schrie Atlee wütend. »Ich verstehe nicht, weshalb du dich so aufregst, Tim.« »Hör mal, ich dachte, du hättest etwas Wichtiges mit mir zu besprechen.« »Es ist wichtig – für mich, Tim.« »Verdammt, ich hätte dich nicht reingelassen, wenn du mir das an der Tür gesagt hättest. An wieviel hast du denn gedacht?« »Mit fünftausend Pfund wäre mir schon geholfen.« »Fünftausend Pfund? Bißchen viel, wenn man weiß, wie schlecht du zurückzahlst. « »Du kriegst das Geld wieder, Tim, ganz bestimmt.« »Der einfachere Weg ist, es erst gar nicht herzugeben, Dean.« »Du mußt mir das Geld geben, Tim!« »Ich muß gar nichts, hörst du? Gar nichts muß ich.« Warren knetete aufgeregt das Glas. »Verdammt, Tim, es ist mir sehr peinlich, aber ich muß das Geld unbedingt haben. Wenn du die Moneten nicht freiwillig herausrückst, dann ... « »Was, dann?« fragte Atlee fuchsteufelswild. »Du willst wohl, daß ich dir das Kreuz breche, was?« Warren fuhr sich mit den knöchernen Händen zitternd über die flatternden Augen. Er schluckte die Aufregung mühsam hinunter und preßte heiser 51
hervor: »Tim, ich weiß, daß Sybill bei dir ist. Ich weiß, daß du seit Beginn der Dreharbeiten mindestens zehnmal mit ihr geschlafen hast. ..« »Du bist ja verrückt! « schrie Atlee mit schriller Stimme. Warren schüttelte den Kopf. »Es hat keinen Sinn, zu leugnen. Ich habe euch sehr genau beobachtet, Tim. Wenn du mir jetzt die fünftausend Pfund leihst, bleibt das ein Geheimnis zwischen uns dreien.« In Timothy Atlee brodelte ein unbändiger Zorn. Einen Moment lang sah es so aus, als wollte er sich auf den dürren Regieassistenten stürzen und so lange mit seinen Fäusten auf ihn eindreschen, bis kein Leben mehr in dem ausgemergelten Körper war. Mühsam beherrschte sich Atlee. Mit funkelnden Augen und trotzig vorgeschobenem Kinn zischte er: »Und wenn ich dir das Geld trotzdem nicht gebe?« »Dann gehe ich auf der Stelle zu Norton Garner und öffne ihm über euch beide die Augen. Ich brauche dir wohl nicht zu sagen, welche Folgen das für dich haben würde. Garner ist verdammt verknallt in Sybill. Er ist ein aufgeblasener, arroganter, eitler Idiot. Wenn er erfährt, daß du seine Sybill beschläfst, explodiert er wie ’ne Wasserstoffbombe. Ganz klar, daß die Druckwelle dich niederreißt und einen gesellschaftlichen und beruflichen Krüppel aus dir macht. Mit anderen Worten: Gar52
ner dürfte persönlich dafür sorgen, daß du in der ganzen Filmbranche wie ein Leprakranker behandelt würdest.« »Du Schwein!« schrie Atlee außer sich vor Wut. Er stürzte sich auf Warren, fuhr ihm an den Hals und würgte ihn. »Verfluchtes Schwein! Ich bringe dich um!« Mit großer Mühe gelang es Warren, den schmerzenden Würgegriff abzuschütteln. »Fünftausend Pfund! « stieß er japsend hervor. »Und ich sage kein Wort, Tim!« Atlee zitterte am ganzen Körper. Schweiß perlte auf seiner Stirn. Seine Lippen bebten, seine Wangen zuckten ständig. Aber er hatte sich schon wieder einigermaßen in der Gewalt. »Okay!« zischte er mit gefletschten Zähnen. »Okay, Dean. Du sollst das Geld haben.« Warren versuchte ein versöhnliches Grinsen. »Ich wußte, daß wir uns einigen würden, Tim.« »Wann kriege ich das Geld wieder?« »Bald, Tim, bald.« »Wann ist bei dir bald?« »In spätestens vier Wochen hast du es bis auf den letzten Penny wieder in der Tasche. Ist das ein Wort?« Atlee ballte die Rechte. »Wenn du dich an dieses Wort nicht hältst, schlage ich dir den weichen Schädel ein, verstanden?« »Okay, Tim. Meinetwegen. Gib die Moneten endlich her!« 53
Atlee holte das Geld aus dem Wandsafe, der sich im Nebenraum befand. Dean Warren schob die Banknotenbündel schnell in seine Taschen. Ein freudiges Glitzern erhellte seine tiefliegenden Augen. »Danke, Tim«, sagte er, als er vor der Tür stand. »Danke. Du weißt nicht, wie du mir geholfen hast.« »Ach, scher dich doch zum Teufel!« Warren kicherte und wies zu den Schlafzimmerfenstern hinauf. »Weiterhin noch viel Spaß mit Sybill.« Er wandte sich schnell um und lief in den dichten Regen hinein, der ihn schon bald wie ein dunkelgrauer Vorhang verbarg. Atlee knallte wütend die Tür zu. Der Regen störte Dean Warren nicht. Klatschnaß war sein Gesicht. Er durchlief die schwarze Dunkelheit eines kleinen Parks. Als er etwa die Mitte des Parks erreicht hatte, blieb er japsend stehen. Er hob das Gesicht zum Himmel hinauf. Unaufhörlich prasselten die großen Tropfen auf ihn herab. Er riß den Mund auf, fing keuchend einige Tropfen auf und schluckte sie. Ein greller Blitz zuckte schräg über den Himmel Leichenblaß wirkte Warrens Gesicht in seinem Schein. Der folgende Donner ließ die Erde erzittern. Das Krachen war so ohrenbetäubend laut, daß Warren erschrocken zusammenfuhr.
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Er drehte sich um, als hätte er vor irgend etwas Angst. Das monotone Prasseln des Regens legte sich wie ein Schallschleier über alle anderen Geräusche. Ein Zittern durchlief Warrens dürren Körper. Eine unsichtbare Hand griff nach seinem Nacken. Eisige Schauer schüttelten ihn. Er wollte weiterlaufen, doch seine Beine gehorchten ihm nicht. Wie angewurzelt stand er da, als wäre er einer von diesen schwarzstämmigen Bäumen, als gehörte er zu ihnen – hierher in diesen Park. Jede Faser, jeder Muskel zuckte in ihm. Schreckliche Krämpfe befielen ihn. Er krümmte sich ächzend zusammen. Blutrot lief sein Gesicht an. Die Zunge drängte sich zwischen den bebenden Lippen hervor. Er hustete bellend. Seine Finger krallten sich in die linke Brust. Der nächste Krampf nahm ihm das Gleichgewicht und warf ihn nieder. Langsam rollte er auf den Rücken. Der Regen stürzte sich förmlich auf ihn, als wollte er ihn aufweichen und vernichten. »O Gott! Diese Schmerzen!« röchelte Dean Warren. »Oh – oh – oh ... « Ein letztes furchtbares Zittern rüttelte ihn heftig durch. Dann lag er still. Er hatte das Bewußtsein verloren. Ich liebe den Regen. Sein sanftes Trommeln versetzt mich in Trance. Das leise Prasseln macht
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mich ruhig und ermöglicht es mir, völlig abzuschalten. Ich saß beim Fenster und genoß das zuckende Lichtspiel der grellen Blitze. Die Donner überhörte ich. Mit halb geschlossenen Augen saß ich da und dachte an so gut wie gar nichts. Es war ein wundervoller, träger später Abend. Die Eiswürfel in meinem Scotch waren ausreichend geschmolzen, um ihm dieses klare, kalte Aroma zu verleihen, ohne den Geschmack zu verwässern. Jemand läutete an meiner Tür. Ich überhörte es wie den Donner. Doch eine gewisse Beharrlichkeit führt bei mir selbst in einer solchen Beschaulichkeit irgendwann zum Ziel. Damit rechnete die Person vor meiner Tür, und die Rechnung ging auf, als ich mich erhob, das Glas abstellte und in die Diele ging. Ich trug meinen Kaschmirhausrock, bequeme Hosen und Pantoffel an den Füßen. Als ich öffnete sah ich zuerst einen klatschnassen Nylonmantel – gelb. Der triefende Schirm war grün. Als nächstes sah ich die dicken Gläser einer Brille. Kleine Wassertröpfchen hingen daran. Große Altmädchenaugen schauten mich an, als hätten sie mir etwas Wichtiges zu erzählen. Rosalind Ashley stand vor mir. Sie streifte das nasse Kopftuch ab und schüttelte ihre zerzausten Dauerwellen. Die beiden Klammern um ihren verkniffenen Mund formten ein verlegenes Lächeln. 56
»Guten Abend, Inspektor Whittaker«, sagte sie mit belegter Stimme. Sie räusperte sich. Die nächsten Worte kamen klar aus ihrem Mund. »Ich heiße Rosalind Ashley. Ich bin das Skriptgirl. . .« Sie war mir im Atelier zwar aufgefallen, aber ich hatte ihren Namen nicht gewußt. Nun trat ich schnell zur Seite und sagte: »Ja, natürlich. Bitte, treten Sie ein, Mrs. Ashley.« »M i ß Ashley!« korrigierte sie mich. Ich nahm diese für sie wohl kaum erfreuliche Tatsache mit einem leichten Kopfnicken zur Kenntnis. Ohne erst lange zu fragen, was sie um diese Zeit von mir wollte, half ich ihr aus dem gelben Regenmantel. Und steckte den grünen Schirm in den Ständer. Sie trug ein knielanges blaues Kleid, das ihrer wenig gerundeten Figur kaum schmeichelte. Ich bat sie ins Wohnzimmer und ließ sie einen Drink wählen, als ich merkte, daß sie fröstelte. Sie entschied sich für einen Sherry. »Scheußliches Wetter«, sagte sie, als wir uns gegenübersaßen. »Ja, scheußlich«, pflichtete ich ihr bei, obwohl ich eigentlich nicht ihrer Meinung war. Bestimmt hätte ich es aber auch gesagt, wenn ich noch aus dem Haus gemußt hätte. Der Wind wurde heftiger. Er erhob sich zu einem unüberhörbaren Sturm und peitschte den Regen gegen die Fenster, die unter dem Luftdruck laut knackten. 57
»Was führt Sie zu dieser für einen Damenbesuch recht ungewöhnlichen Zeit zu mir, Miß Ashley?« fragte ich und versuchte, nett und freundlich auszusehen. »Ich hatte gehofft, daß Sie Nachtdienst haben, Inspektor Whittaker. Ich rief New Scotland Yard an. Man wollte mich mit jemand anders verbinden. Ich habe nicht gewartet, bis sich dieser andere Inspektor meldete, sondern legte auf. Ich wollte mit Ihnen sprechen, Inspektor Whittaker. Fragen Sie mich bitte nicht, wieso. Ich wollte es eben. Im Telefonbuch fand ich Ihre Nummer. Ich rief Sie an, aber Sie gingen nicht ran.« »Ich kann mich nicht erinnern, daß das Telefon geläutet hat, Miß Ashley«, sagte ich entschuldigend, während ich vorwurfsvoll zum Apparat schielte. »Ich dachte, daß Ihr Telefon möglicherweise gestört ist«, sagte das Skriptgirl. Natürlich, dachte ich brummig. Wenn ein Inspektor von Scotland Yard nicht in seinem Büro ist, muß er zwangsläufig zu Hause sein. Ein Privatleben wird einem solchen Menschen ja nicht zugebilligt. Schließlich ist er Polizist, und als solcher hat er Tag und Nacht für seine Mitmenschen da zu sein. Wie der Arzt, den man mit dem hippokratischen Eid festnagelt. »Es scheint von größter Wichtigkeit zu sein, was Sie mir zu erzählen haben, Miß Ashley«, sagte ich trotzdem höflich. »Allerdings.« 58
»Was ist es?« »Sie sind doch hinter dem Mörder von Anne Melton und Carol Sky her, Inspektor Whittaker.« Ich setzte mich mit einem Ruck gerade. »Ja, Miß Ashley.« »Ich glaube, den Mörder zu kennen«, behauptete das Skriptgirl. Ihre Worte rissen mich buchstäblich vom Stuhl. Es fiel in jener Nacht so reichlich Regen, daß die Erde das Wasser kaum aufzunehmen vermochte. Kleine Seen bildeten sich auf flachen Rasenflächen, während in den Rinnsalen wahre Wildbäche den Gullys entgegengurgelten. Das grelle Licht der zuckenden Blitze spiegelte sich in diesen Seen. Ein Mann durchlief sie mit schmatzenden Schritten. Mit gekrümmtem Rücken huschte er auf das kleine Einfamilienhaus zu, hinter dessen Fenstern kein Licht brannte. Zwischen zwei Nordmanntannen blieb die Gestalt kurz stehen. Dem kurzen Lichtspiel der Blitze folgte jeweils ein infernalisches Donnern, das die Welt bis in die Grundfesten zu erschüttern schien. Aus der Kehle der schemenhaften Gestalt löste sich in diesem Augenblick ein erschreckendes Knurren. Häßliche Pfoten wischten schnell über eine feucht glänzende Schnauze.
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Der Werwolf bleckte die tödlichen Zähne, während seine glühenden Augen auf das schmale, weiße Haus gerichtet waren. Mit kräftigen, federnden Schritten setzte er seinen Weg fort. Er wandte sich um, ließ seinen Blick über das rasenbewachsene Grundstück schweifen und hastete weiter, als er sicher war, daß ihn niemand beobachtete. Keuchend erreichte das Monster die weiße Front des Fertigteilhauses. Vor dem Eingang war ein prächtiges Alpinum aufgebaut. In einem kleinen Kunstteich schillerten während des Blitzens die kleinen Leiber von Goldfischen. Der Werwolf trat unter ein schmales Vordach. Er schüttelte sich kurz, um das Wasser aus seinem silbrigen Fell zu schleudern. Dann näherte er sich hechelnd der Tür. Seine Krallen drückten die schwere Messingklinke nach unten. Es war abgeschlossen. Wütend wandte sich das Scheusal um. Blitze und Donner wechselten einander nun wesentlich schneller ab. Allmählich erreichte das gewaltige Gewitter seinen absoluten Höhepunkt. Mächtige Wassermassen stürzten aus den Himmelsschleusen herab. Mit triefnassen Kleidern tänzelte das Untier zornig vor der Tür herum. Geifernd leckte es sich über die Schnauze. Die spitzen, scharfen Zähne klappten hart aufeinander. Das Monstrum war hierhergekommen, um ein neues Opfer zu finden, um wieder 60
zu töten, um seine kräftigen Fangzähne wieder in das weiche, warme Fleisch eines jungen Menschen zu schlagen. Es machte ihn rasend, nicht ins Haus zu können. Knurrend warf er sich mehrmals gegen die schwere Eichentür. Sie knackte zwar, aber gab nicht nach. Zornig sprang das Scheusal wieder in den prasselnden Regen hinaus. Ein Blitz zuckte vom tintigen Himmel und schlug ganz in der Nähe mit einem ohrenbetäubenden Krachen ein. Fauchend wirbelte der Werwolf herum. Der Sturm wühlte in seinem nassen, zotteligen Fell. Wieder wischte er sich mit den Pranken hastig das Wasser von der Schnauze. Nun näherte er sich einem hohen, schmalen Fenster. Er hob die gewaltigen Krallen. Über ihm fing sich der Sturm zwischen Dach und Regenrinne. Das hatte ein unheimliches, gespenstisches Heulen zur Folge. Ungeduldig trat das mordgierige Monster an das Fenster. Ein genetzter Blick zurück, dann schnellten die Krallen auf das Glas zu. Die Scheibe zerplatzte. Klirrend flogen die großen Scherben ins Haus. Das Knurren des furchterregenden Wesens drückte Zufriedenheit aus. Die Pranke schoß durch die zerbrochene Scheibe. In fliegender Eile fand sie den Riegel und ließ ihn hochschnappen. Sofort bemächtigte sich der heulende Sturm des Fensterflügels. Er riß ihn zur Seite und knallte ihn 61
gegen die Wand. Ein Klirren, Klappern und Scheppern war zu hören. Doch das störte den Werwolf nicht im geringsten. Er bemühte sich kaum, leise zu sein. Das Opfer war ihm sicher. Es war ihm egal, ob er es nun im Schlaf überraschte oder in wachem Zustand. Mit einem kraftvollen Sprung federte das Ungeheuer hoch. Es flog über das Fensterbrett hinweg und landete auf einem dicken Perserteppich. Das Wasser lief von ihm ab und sickerte zwischen die Fasern des Teppichs. Nichts konnte den grausamen Mörder jetzt noch davon abhalten, seinen Weg fortzusetzen. Das bedauernswerte, ahnungslose Opfer war bereits in dieser Minute rettungslos verloren. Das schwere Unwetter gestattete wohl niemandem einen ruhigen, tiefen Schlaf in jener Nacht. Das Tor der Hölle schien aufgebrochen zu sein. Teufel und Dämonen fegten lärmend durch die Stadt und quälten die Menschen mit ihrem furchtbaren Gezischel und Geheule. Judy Brent schlief besonders unruhig. Selbst im Schlaf hatte sich ihr Gesicht nicht entspannt. Eine tiefe Falte stand vertikal über der Nasenwurzel, als hätte sie große Sorgen. Sie warf sich ruhelos im breiten Bett hin und her und sprach hin und wieder wirre Worte. Mehrmals rief sie auch mit ängstlicher Stimme Carols Namen, so als wollte sie die Freundin vor etwas Schrecklichem warnen. 62
Die Blitze erhellten das Schlafzimmerfenster, als läge ein strahlender Sonnentag davor. Doch gleich darauf preßte sich die rabenschwarze Nacht wieder an die Scheiben. Jeder Donner ließ das Haus vom Dach bis zum Fundament erbeben. Als irgendwo unten im Erdgeschoß Glas klirrte, schreckte das Mädchen mit einem kurzen Seufzer hoch. Mit starrem Blick saß es im Bett. Das Licht des nächsten Blitzes beleuchtete das kreideweiße Antlitz. Gespenstisch heulte der Wind um das Haus. Ein unheimliches Knistern und Knacken erfüllte die Luft. Eine unangenehme Kälte schwebte durch die Fensterritzen auf das Bett zu und ließ die ängstliche Schauspielerin frösteln. Das Nachthemdchen, das sie trug, war hauchzart und so undurchsichtig wie Libellenflügel. Die Spitzen ihrer festen Brüste drückten sich durch das feine Gewebe. Judy lauschte angestrengt, und während sie dies tat, wagte sie kaum zu atmen. Eine prickelnde Angst hatte von ihr Besitz ergriffen. Sie versuchte zu ergründen, weshalb sie hochgeschreckt war. Hatte sie nicht ein verräterisches Klirren vernommen? Das Klirren von Glas! War eine Fensterscheibe kaputtgegangen? Das würde dieses ständige Klappern erklären, das sie nun hörte. Der Sturm hatte mit seinen kräftigen Fingern ein schlecht geschlossenes Fenster gepackt und aufge63
rissen. Vermutlich hatte er es gegen die Wand geschmettert. Dadurch war die Scheibe zerbrochen. Judy legte sich auf den Rücken. Sie zog das bunt bedruckte Oberbett bis ans Kinn, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und blickte zur Zimmerdecke. Das Klappern machte sie nervös. Doch sie wollte nicht aufstehen und hinuntergehen, um den Fensterflügel festzumachen. Sie hoffte, daß sie sich an das Geräusch gewöhnen würde. Wer jemals in einer ähnlichen Lage wie dieses Mädchen gewesen ist, weiß, daß es unmöglich ist, sich an solche Geräusche zu gewöhnen. Man erschrickt, ängstigt sich und wartet mit hellwachem Geist auf das nächste Geräusch, wodurch es unmöglich wird, abzuschalten und einzuschlafen. Judy Brent mußte bald einsehen, daß es auch ihr nicht möglich war, sich an das peinigende Klappern zu gewöhnen. Zuerst versuchte sie, den ersehnten Schlaf mit allen möglichen Tricks zu überlisten. Sie rollte sich im warmen Bett zusammen, preßte die Hände auf die Ohren, und als das nichts half, legte sie sich ein Kopfkissen über den Kopf. Nun kamen die Geräusche zwar gedämpfter, aber sie waren damit nicht auszuschalten. Außerdem war es heiß und stickig unter dem Kissen. Schließlich fegte es Judy mit einem ärgerlichen Ruck vom Gesicht und atmete mehrmals erholsam durch. Klapp! Klapp! Klapp! 64
Klapp! Klapp! Klapp! Es war zum Verrücktwerden. Judy machte Licht. Nervös griff sie nach den Camels. Sie brannte sich ein Stäbchen mit zitternden Händen an. Neben der Nachttischlampe stand eine geschliffene Karaffe, in der sich Whisky befand. Es kam ab und zu vor, daß Judy schlecht einschlafen konnte. Wenn das der Fall war, kippte sie ein Glas davon. Zumeist rief der Alkohol schon nach ganz kurzer Zeit die gewünschte Wirkung hervor. Mit einer fahrigen Bewegung öffnete sie die Karaffe und goß Whisky in das danebenstehende Glas. Nach mehreren Zügen an der Zigarette, die sie kaum zu beruhigen vermochten, setzte sie das Glas an die Lippen und trank den Whisky aus, ohne ein einziges Mal abzusetzen. Sie stellte das Glas an seinen Platz zurück, hoffte, daß es ihr nun schon bald nervlich bessergehen würde. Sie rauchte die Zigarette zu Ende und legte sich wieder hin. Klapp! Klapp! Klapp! Klapp! Klapp! Klapp! Plötzlich war es ihr unerträglich, noch eine Sekunde länger im Bett zu bleiben. Blitzschnell warf sie die Decke zurück. Sie glitt an den Rand des Bettes, suchte tappend nach den flauschigen Pantoffeln und erhob sich, als sie diese gefunden hatte. Das Licht der Nachttischlampe verzauberte ihr kurzes Nachthemdchen in eine milchige Aureole. 65
Fröstelnd warf sich Judy einen cremfarbenen Schlafrock über. Weich, zart und sanft umschmeichelte er ihren makellosen Körper. Zögernd näherte sie sich der Schlafzimmertür. Sie öffnete sie, trat aber nicht sogleich hinaus. Nun war das Klappern deutlicher zu hören. Trotz des Schlafrocks hatte das ängstliche Mädchen das Gefühl, erbärmlich zu frieren. Es kostete Judy einige Mühe, zu verhindern, daß die Zähne aufeinanderschlugen. Eine hochgradige Nervosität trieb Judy schließlich aus dem Schlafzimmer. Ein greller Blitz schleuderte sein gespenstisches Licht zum Fenster herein, und Judy Brent erschrak im selben Augenblick vor ihrem eigenen Schatten, der tiefschwarz über die Wand wischte. Das nervenzerfetzende Gebrüll des Donners ließ Judys Atem ganz kurz stocken. Sie vibrierte innerlich. Äußerlich zitterten die Kniescheiben, während die Beingelenke mehrmals hintereinander einknicken wollten. Klapp! Klapp! Klapp! Klapp! Klapp! Klapp! Judy wollte diesen lästigen Geräuschen schnellstens ein Ende bereiten, ihnen im wahrsten Sinne des Wortes einen Riegel vorschieben und dann so rasch wie möglich in ihr Bett zurückkehren. Mit unsicheren Schritten lief sie die Treppe hinunter.
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In der Halle umfing sie eine undurchdringliche Dunkelheit. Fröstelnd lief sie auf die Tür zu, hinter der sie das zerbrochene Fenster vermutete. Als sie die Tür erreichte, blieb ihr beinahe das Herz stehen. Kalter Angstschweiß brach ihr aus den Poren. Hatte sie nicht einen grauenvollen Seufzer vernommen? Hinter dieser Tür, vor der sie nun wie angewurzelt stand! Das Klappern des Fensters zermürbte sie und ließ sie keinen klaren Gedanken fassen. Furchtsam, fröstelnd und unschlüssig stand sie da. Eine Sekunde dachte sie daran, umzukehren. Doch sie verwarf diesen Gedanken sogleich wieder. Sie wußte, daß sie für den Rest der Nacht kein Auge zugetan hätte, und gerade ihr Job verlangte – zumindest während der Dreharbeiten – ein Gesicht, in das nicht von einer unangenehmen Nachtwache graue Spuren gezeichnet waren. Sie tat das vernommene Seufzen als Einbildung, als Hirngespinst ab. Entschlossen griff sie nach der Klinke und warf die Tür auf. Unheimlich laut drang nun das Klappern auf sie ein. Der kalte Sturm fauchte zum Fenster herein, jagte ihr entgegen und ließ den dünnen Schlafrock hinter ihr flattern, während er das zarte Gewebe an ihre Konturen preßte. Judy Brent machte Licht und lief zu dem Fenster. Sie trat auf die Glasscherben. Knirschend brachen sie unter der Last ihres Körpers. 67
Seltsamerweise kam dem ahnungslosen Mädchen nicht in den Sinn, daß die Scherben eigentlich vor dem Haus liegen müßten, wenn der Sturm das Fenster zerschlagen hatte. Sie fing den klappernden Flügel ab und schob den Riegel hoch. Die folgende Stille tat ihr gut und entlockte ihr ein zufriedenes Seufzen. Plötzlich hatte sie das Gefühl, nicht allein im Raum zu sein. Es war die Bibliothek. An den Wänden standen gefüllte Bücherregale, die bis zur Decke hinauf reichten. Judy hatte die Bücher mit dem Haus gemietet. Nur einige wenige gehörten zu ihrem Besitz. Ein Hecheln jagte ihr dicke Hagelkörner über den Rücken. Das darauffolgende Knurren raubte ihr beinahe den Verstand. Sie kreiselte mit einem spitzen Schrei herum. Ihre schreckgeweiteten Augen erblickten das grauenerregende Monster. Sie wankte mit bleichen Wangen und flatternden Lidern, und sie fühlte, wie nahe sie einer lähmenden Ohnmacht war. Eine halbe Stunde nachdem Miß Rosalind Ashley klatschnaß vor meiner Tür gestanden hatte, verließ sie meine Wohnung wieder. Was sie mir erzählt hatte, versetzte mich in Unruhe. Allan und ich hatten versucht, Jason Bloom aufzustöbern, als wir von Judy Brent erfahren hatten, daß Carol Sky sich mit ihm angefreundet hatte. 68
Doch Bloom war weder zu Hause noch in seinem Büro anzutreffen gewesen. ›Mr. Bloom suchen Sie?‹ hatte uns seine hübsche, schwarzhaarige Sekretärin gefragt. Mir war an ihr aufgefallen, daß sie zwar so gut wie keinen Busen, dafür aber ein recht appetitliches Hinterteil hatte. >Mr. Bloom ist heute morgen nicht hier erschienen. Er hat sich telefonisch krank gemeldet ›Wer hat die Krankmeldung entgegengenommen?‹ hatte sich Allan erkundigt. ›Ich‹, hatte das Mädchen geantwortet. ›Was hatten Sie für einen Eindruck?‹ ›Ich verstehe nicht, was Sie meinen, Sergeant Crown.‹ ›Hat er tatsächlich krank gewirkt?‹ ›Ich habe ihn nicht gesehen.‹ >Seine Stimme. Hatten Sie den Eindruck, er möchte sich nur einen freien Tag verschaffen, oder klang seine Stimme irgendwie kränklich?« ›Sie verlangen ein bißchen viel, Sergeant.‹ »Warum weichen Sie meiner Frage aus?< ›Sie nehmen doch nicht im Ernst an, daß ich irgend etwas über Jason Bloom sage, das ihn in Schwierigkeiten bringen könnte, Sergeant? Das können Sie von mir nicht verlangen. Schließlich bin ich seine Sekretärin. Sie können sich nicht vorstellen, wie ekelhaft er sein kann, wenn er jemanden nicht mag.‹ Allan Crown hatte daraufhin gegrinst.
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›Vielen Dank, Miß. Hiermit haben Sie uns gesagt, daß Sie nicht den Eindruck gehabt haben, er wäre krank.‹ ›Das ist doch . . . Mit keiner Silbe habe ich so etwas gesagt!‹ »Ich kann zum Glück auch zwischen den Silben hören<, hatte Allan geantwortet. Dann hatten wir uns empfohlen. Nun stand fest, daß sich Jason Bloom krank gemeldet hatte, ohne wirklich krank zu sein. Warum? Natürlich kommt das überall mal vor. Es gibt wohl kaum jemanden, der das nicht schon selbst praktiziert hat. In Blooms Fall lag für uns die Sache aber doch ein wenig anders. Er war höchstwahrscheinlich mit Carol Sky befreundet. Und er hatte sich an dem Tag krank gemeldet, der jener Nacht folgte, in der das bedauernswerte Mädchen ermordet worden war. Zufall? Ich glaube an Zufall beim Lotto, Roulette oder Würfelpoker. Aber man hat mir in der Polizeischule immer wieder eingetrichtert, niemals an Zufälle zu glauben, wenn man einen Mord aufzuklären versucht. So etwas geht einem nach einiger Zeit in Fleisch und Blut über. Man wird skeptisch, wenn auch nur der Hauch von Zufall am Horizont auftaucht. Also mußte uns Jason Bloom schon verdächtig erscheinen, ehe wir ihn kennengelernt hatten. Nie70
mand vermochte uns zu sagen, wohin Bloom verschwunden war. Und wir fragten uns, warum das so war. Dieses Kapitel mußte zwangsläufig offen bleiben. Wir konnten nur hoffen, daß wir es bald fortsetzen und abschließen konnten. Mit dieser Hoffnung hatten wir dem Yard Adieu gesagt und waren nach Hause gefahren. Daß sich diesem Kapitel ein zweites hinzugesellen würde, war nicht vorauszusehen gewesen. Und doch hatte es sich ereignet. Seit Rosalind Ashleys nächtlichem Besuch stand fest, daß es auch ein zweites Kapitel gab. Ich blickte auf meine wasserdichte Armbanduhr. Da ich wußte, daß Allan niemals vor zwölf zu Bett ging, rief ich ihn ohne Gewissensbisse an. Er hob schon nach dem zweiten Läuten ab. Das bedeutete, daß er sich bloß aus dem Fernsehstuhl erhoben hatte. »Bitte, dreh den Ton etwas zurück, Helen«, hörte ich ihn zu seiner Frau sagen. Dann stand er mir und meiner Geschichte voll und ganz zur Verfügung. Hinter ihm quakte zwar immer noch das Fernsehgerät, doch es störte unsere wichtige Unterhaltung nicht. Ich begann mit den Worten, daß Rosalind Ashley, das Skriptgirl, bei mir gewesen sei. »Wann?« fragte Allan. »Bis vor wenigen Minuten.«
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»Sie ist trotz dieses scheußlichen Wetters zu dir gekommen?« »So ist es, Allan.« »Warum hat sie denn nicht angerufen?« »Hat sie.« » Aber? « » Ich habe nicht abgehoben. « Allan lachte. »Sag mal, Junge, wozu hast du eigentlich Telefon?« »Um anzurufen, nicht um angerufen zu werden.« »Was hat sie denn von dir gewollt? Was Ernstes? Vermutlich ja, sonst würdest du mich nicht mitten in der Nacht anrufen.« »Soll ich den letzten Teil unserer Unterhaltung wörtlich zitieren?« »Ganz nach Belieben, Tom.« »Sie sagte: ›Sie sind doch hinter dem Mörder von Anne Melton und Carol Sky her, Inspektor Whittaker‹ Darauf ich: ›Ja, Miß Ashley.‹ Und wieder sie: ›Ich glaube, den Mörder zu kennen.‹ Ihre Worte rissen mich buchstäblich vom Stuhl. »Wer ist es? « fragte ich aufgeregt. »Brian Jones«, erwiderte sie erstaunlich kühl. ›Wer ist Brian Jones?‹ wollte ich wissen. ›Ein Statist« Ich wollte wissen, was sie veranlaßte, diesen schwerwiegenden Verdacht so felsenfest zu äußern. 72
Da sagte sie: »Sehen Sie, Inspektor Whittaker, wir drehen doch diesen Horrorfilm, dessen Monster ein Werwolf ist. Ich weiß nicht, wie Sie über diese Ungeheuer denken, aber ich bin davon überzeugt, daß es sie gibt. Unser Drehbuch liefert einiges Material zum Nachdenken. Es geht daraus hervor, daß Werwölfe Menschen sind, die sich in Vollmondnächten in reißende Bestien verwandeln. Doch diese Verwandlung gelingt einigen von ihnen nicht nur in Vollmondmächten, Inspektor. Die wildesten, gefährlichsten und grausamsten von ihnen können sich in jeder Nacht verwandeln . . .‹ Ich unterbrach das Skriptgirl und fragte: »Was hat das alles mit dem Statisten Brian Jones zu tun, Miß Ashley?« Sie kam allmählich auf den Kern der Sache. ›Die meistern Werwölfe benehmen sich vor einer Vollmondnacht recht seltsam, Inspektor Whittaker. Eine merkliche Unruhe erfaßt sie. Manche von ihnen können diese Nervosität verbergen. Doch den meisten sieht man es an, daß sie den Einbruch der Nacht kaum erwarten können. Ihre Unrast läßt sie gereizt erscheinen. Sie weichen jedem aus, der ein Kreuz um den Hals trägt, und wenn sie sprechen, schleicht sich hin und wieder ein verräterisches Knurren in ihre Stimme. ‹ ›Ich sehe immer noch keinen Zusammenhang, Miß Ashley‹, versuchte ich einzuwenden. ›Hören Sie, Inspektor, ich habe die Zeitungsberichte aufmerksam gelesen. Verschiedentlich waren die Verletzungen, die die beiden Mädchenleichen auf73
wiesen, genau beschrieben. Ich sage Ihnen, diese schrecklichen Verletzungen wurden den bedauernswerten Mädchen nicht von irgendeinem Verrückten zugefügt. Ihre verwüsteten Körper wiesen die Spuren von einem Werwolf auf.‹ »Ich nehme an, Sie wollen mit all dem behaupten, Brian Jones hätte diese beiden Morde begangene ›Jones ist ein Werwolf, Inspektor Whittaker!‹ ›Woher wissen Sie das?‹ ›Er reagiert vor Vollmondnächten genau so, wie ich es vorhin beschrieben habe. Er ist ein Werwolf! Heute abend war ich bei ihm. Ich entdeckte Blut an der Küchentür.‹ ›Haben Sie ihn gefragt, wie das Blut da hinkam, Miß Ashley?‹ »Nein, Inspektor« ›Warum nicht?‹ ›Ich hatte einfach nicht den Mut dazu.‹ »Ich habe ihr natürlich versprochen, der Sache nachzugehen, obwohl es mir immer noch unmöglich ist, an die Existenz von Werwölfen zu glauben. Du kennst meine Einstellung, Allan.« »Du solltest wenigstens so tun, als ob es diese Monster gäbe, Tim«, riet mir Allan. »Ich will es versuchen«, sagte ich seufzend. »Habe ich nicht von allem Anfang an auf einen Werwolf getippt?« hielt Allan mir stolz vor. »Es ist noch nichts bewiesen!« stoppte ich seinen Höhenflug. »Wir werden uns diesen Brian Jones
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morgen mal ansehen. Vielleicht hat seine Nervosität einen anderen Grund.« »Wir werden ja sehen«, sagte Allan. »Das werden wir«, sagte ich, wünschte ihm eine gute Nacht und legte den Hörer in die Gabel. Plötzlich fiel es Judy Brent wie Schuppen von den Augen. Sie atmete benommen auf und stieß ein befreiendes Lachen aus. Während sie sich mit der rechten Hand ans pochende Herz faßte, strich sie sich mit der linken die silbernen Locken aus der schweißnassen Stirn. »Ich muß gestehen, du hast mich zu Tode erschreckt!« sagte sie lachend. »Hätte ich ein schwaches Herz, wäre aus diesem verrückten Spaß schlimmer Ernst geworden.« Wieder lachte sie. Es klang nervös und erleichtert. Der Werwolf glühte sie mit seinen mordlüsternen Augen durchdringend an. Judy fürchtete ihn jedoch nicht mehr. »Eine alte Frau wäre sicher tot umgefallen«, sagte sie amüsiert. »Ein Glück, daß ich so robust bin.« Das Monster fauchte wütend. »Ja, ja. Ist ja schon gut. « Das Untier streckte die scharfen, mörderischen Krallen nach ihr aus. Judy schüttelte schmunzelnd den Kopf. »Du kannst mir keine Angst machen. Jetzt nicht mehr.«
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Das Scheusal riß das schreckliche Maul auf und stieß ein furchtbares Knurren aus. »Du machst das ausgezeichnet«, lobte Judy die Bestie. »Aber findest du nicht, daß es allmählich genug ist? Nimm doch endlich diese ekelhafte Maske ab ! Es genügt, wenn du tagsüber im Studio damit herumläufst und den hübschen Mädchen Angst machst.« Der Werwolf duckte sich, als wollte er zum Sprung ansetzen. Seine glühenden Blicke schienen das Mädchen zu durchbohren. Judy Brent wies auf die Glasscherben. »Für den Schaden wirst du doch bestimmt aufkommen, oder?« Langsam setzte sich das gefährliche Monster in Bewegung. Mit geschmeidigen Schritten kam das Ungeheuer auf das ahnungslose Mädchen zu. Allmählich kehrte das kalte Angstgefühl wieder in Judys Körper zurück. Sie fand, daß Murray Collins den Spaß zu sehr überzog. Die Schau, die er jetzt abzog, war nicht mehr komisch. Ein beklemmendes Gefühl legte sich auf ihre Brust. Sie wich zurück, stieß gegen die fahrbare Hausbar und fragte hastig: »Einen Drink, Murray? Ja?« Das hechelnde Scheusal gab keine Antwort. Mit zitternder Hand füllte Judy schnell zwei Gläser. Sie zwang sich den Mut auf, dem häßlichen Kerl entgegenzugehen. Zögernd hielt sie ihm sein Glas hin. Sie fragte sich, warum Collins diesen schrecklichen Teufel so lange spielte. Was bez76
weckte er damit? Sie erinnerte sich an die täglichen Dreharbeiten. Obwohl sie wußte, daß all die teuflischen Dinge, die in dem Film passierten, nur gespielt waren, war sie jedesmal mit Schaudern bei der Sache. Murray Collins war ein unheimlicher Schauspieler. Ein dämonisches Ungeheuer war er, wenn er diese abstoßende Werwolfmaske aufsetzte. Er nahm den Drink nicht. Judy stellte das Glas weg. »Nun reicht es aber wirklich, Murray!« stieß sie hervor. Sie griff nach dem zotteligen, gesträubten Fell, das den Kopf des Monsters bedeckte. Sie wollte Collins die Maske herunterreißen, doch da traf sie die fürchterliche Erkenntnis hart wie ein gewaltiger Keulenschlag. Sie fühlte ein Fell zwischen den Fingern, das lebte. Das war keine Maske. Diese abscheuliche Werwolffratze war echt. Als Judy Brent diese grauenvolle Ungeheuerlichkeit in ihrem ganzen mörderischen Umfang begriff, begann sie gellend um Hilfe zu rufen. Die Todespranke des schrecklichen Monsters schoß auf sie zu. Ein gewaltiger Hieb schleuderte ihr Whiskyglas zu Boden. Sie wankte zurück. Der Werwolf setzte ihr nach. Schreiend empfing sie den nächsten Hieb. Ein häßliches Ratschen war zu hören, als die scharfen Krallen des Untiers Schlafrock und Nachthemd des kreischenden Opfers zerfetzten. 77
Tief gruben sich die rasierklingenscharfen Krallen in das Fleisch des entsetzten Mädchens. Stark blutende Wunden klafften auf. Judy starrte schreiend auf die schmerzenden Wunden. Namenlose Panik erfaßte sie, als der Werwolf ein feindseliges Fauchen ausstieß. In Windeseile wirbelte das verletzte Mädchen herum. Schreiend hetzte es auf die offenstehende Tür zu. Unaufhörlich quoll Blut aus den breit aufklaffenden Verletzungen. Das zerfetzte Nachthemd war bereits vom Blut durchtränkt. Judy erreichte die Tür. Das Monster hackte ihr seine Pranken in den Rücken. Sie spannte mit schmerzverzerrtem Gesicht das Kreuz und stieß einen irrsinnigen Klageschrei aus. Benommen taumelte sie weiter. Sie keuchte der Treppe entgegen, die nach oben führte. Das Monster stampfte mit ungestümen Schritten hinter ihr her. Furchtbare Angst peitschte das Mädchen die Stufen hoch. Knurrend und fauchend verfolgte Judy der grausame Werwolf, der seine glühende Mordgier mit dem Tod dieses Mädchens löschen wollte. Schweißüberströmt, blutend, am Ende ihrer Kräfte, erreichte Judy ihr Schlafzimmer. Sie warf sich stöhnend nach vorn, packte in fiebernder Eile die Tür und schleuderte sie hinter sich mit hastigem Schwung zu. Donnernd krachte die Tür in den
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Rahmen. Jäh griff Judy nach dem innen steckenden Schlüssel und drehte ihn blitzschnell herum. Total erschöpft, weinend und mit unsicheren Schritten wankte sie von der Tür weg, gegen die schon in der nächsten Sekunde das mordgierige Monster prallte. Der zottelige Teufel schrie, heulte und brüllte vor Wut, als er merkte, daß die Tür abgeschlossen war. Judy schleppte sich zum Bett und kippte bäuchlings darauf Ihr Blut tränkte das Laken und die Decke. Wahnsinnige Schmerzen peinigten sie. Sie wand sich zitternd und keuchend, während ihr von der schrecklichen Angst verwirrter Geist um einen klaren Gedanken rang. Knurrend rannte das Scheusal gegen die geschlossene Tür an. Es war sicher, daß die Tür diese vehementen Angriffe nicht lange verkraften konnte. Schon jetzt knackte das Holz verdächtig laut. Beängstigend oft warf sich das blutgierige Untier gegen die abgeschlossene Tür. Polizei! schoß es dem erregten Mädchen durch den Kopf Ich muß die Polizei anrufen! Jemand muß kommen und mich retten. Ich brauche dringend Hilfe! Hilfe, sonst bin ich verloren! Trotz der furchtbaren Schmerzen quälte sich Judy Brent wieder hoch. Atemlos stürmte sie zum Telefon. Zitternd riß sie den Hörer von der Gabel. Sie wollte den Polizeinotruf wählen, doch die Nummer fiel ihr nicht ein. Viermal wählte sie falsch.
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Dann wurde die Tür mit einem gewaltigen Krachen gegen die Wand geschmettert. Judy Brent zuckte herum. Den Telefonhörer in der Hand, starrte sie mit erstarrten Gliedern dem Monster entgegen. Sein flammender Blick verriet ihr, daß sie nun keine Chance mehr hatte. Der Telefonhörer entfiel ihren kraftlosen Fingern. Das Poltern vermochte sie nicht zu erschrecken. Auch das Blitzen und Donnern konnte ihre Angst nicht steigern. Die namenlose Furcht dieses entsetzten Mädchens hatte den absoluten Gipfel erreicht. Der grauenvolle Schock machte Judy in diesem Augenblick wahnsinnig. Ihr bildhübsches Gesicht verzerrte sich abstoßend. Sie riß den Mund weit auf und schrie grell. Der unheimliche Mörder hatte kein Erbarmen mit Judy. Geduckt kam er auf sie zu. Knurrend sprang er sie an. Ein fürchterlicher Schlag seiner Pranken warf das Mädchen zu Boden. Solange sie dazu in der Lage war, schrie Judy. Das grauenerregende Tier warf sich auf sie. Hechelnd näherte sich die nasse Wolfsschnauze ihrem Hals. Weit traten die Adern der Schreienden daraus hervor. Da biß der Werwolf zu. Er knurrte gierig und trank mit ekelhaft schmatzenden Geräuschen. Das Blut des Opfers wärmte ihm den Magen und stillte seinen unbändigen Hunger. Während das Mädchen unter seinen grausamen Bissen langsam starb, wurde er ruhiger. Ihr 80
Leben erlosch mit einem markerschütterndes Röcheln. Die Kippautomatik surrte leise. Das schimmernde Aluminiumtor hob sich langsam. Die Scheinwerfer stachen mit ihren milchigen Lichtfingern in die Dunkelheit der geräumigen Garage. Sobald das Tor die oberste Stellung erreicht hatte, gab Earl Barton mit Gefühl Gas. Brummend nahm der Motor den Befehl entgegen. Der weiße Mercedes setzte sich in Bewegung, sobald Barton die Kupplung kommen ließ, und rollte langsam in die Garage hinein. Gewissenhaft verrichtete Earl Barton alle jene Handgriffe, die ein Fahrzeug außer Betrieb setzen. Dann stieg er aus dem Wagen. Bevor er die Tür zuwarf, holte er eine schwarze Ledermappe aus dem Fond. Mit einem satten Geräusch fiel der Wagenschlag zu. Barton stellte den Kragen seines Jacketts auf. Blitz und Donner ließen ihn auf seine mürrische Weise Stellung nehmen. »Scheißwetter!« sagte er knurrend. Er trat aus der Garage. Ein kurzer Druck auf den linkerhand montierten Knopf bewirkte, daß sich das Aluminiumtor vor der Garage senkte und diese somit abschloß. Barton arbeitete in der Redaktion des »City Observer«. Er war fünfundzwanzig Jahre jung und hatte es mit seinem umfangreichen Wissen über Weltpo81
litik bereits zum seriösen Leitartikelverfasser gebracht. Das hinderte ihn jedoch nicht daran, privat jene Kraftausdrücke zu verwenden, die in seinem ärmlichen Elternhaus gang und gäbe gewesen waren. Der Journalist verkehrte in den feinsten Häusern Londons, war redegewandt, schlagfertig, und jedermann, der etwas auf dem Kerbholz hatte, fürchtete Bartons scharfe Zunge, die schon so manchen auf dem glatten Gesellschaftsparkett zu Fall gebracht hatte. Kricket und Tennis waren seine sportlichen Hobbys. Zu Hause sammelte er wertvolle Briefmarken, oder er dokterte an seinem ersten Hörspiel herum, das der zuständige Programmdirektor der BBC zu senden versprochen hatte. Mit schnellen Schritten eilte Earl Barton den Rinnstein entlang. Klatschend fielen ihm mehrere dicke Regentropfen ins Genick. Er fluchte so derb, daß selbst Dirnen errötet wären. Sein Aussehen kam über den Rang der Mittelmäßigkeit nicht hinaus. Obwohl er täglich Joghurt aß und seine Mahlzeiten auf ein kärgliches Mindestmaß beschränkte, neigte er zur Fettleibigkeit. Dagegen kämpften auch Kricket und Tennis auf verlorenem Posten. Um seinem Gesicht ein wenig von der Pfannkuchenrundung zu nehmen, trug er einen Oberlippenbart, der anfangs nicht so recht sprießen wollte, nun aber zu einem prächtigen Schmuck geworden war. 82
›Gebt mir eine Woche lang nichts als klares Quellwasser zu saufen, und am Ende des siebten Tages werde ich zwei Kilogramm mehr auf die Waage bringen als zu Beginn der Kur‹, pflegte Barton hin und wieder scherzhaft zu sagen, wenn man ihn auf seine stämmige Figur hin ansprach. Etwas schneller atmend erreichte er das schützende Vordach, das sich über den Hauseingang erstreckte. Er stellte die schwarze Ledermappe ab und begann in seinen Taschen nach dem Schlüssel zu wühlen. Plötzlich lähmte ihn der irrsinnig gellende Schrei eines Mädchens, das vermutlich Todesängste auszustehen hatte. Anders war dieser markerschütternde Schrei nicht zu deuten. Entsetzt starrte Earl Barton in den undurchdringlichen Regenvorhang hinein. Der schreckliche Hilferuf kam vom Nachbargrundstück. Judy Brent wohnte da, die Schauspielerin. Barton verehrte das Mädchen heimlich. An und für sich hatte er sich nicht über Schüchternheit zu beklagen, doch wenn er Judy sah, fühlte er sich ein wenig befangen. Vermutlich deshalb, weil er seine Grenzen kannte. Er war ein heller Kopf, war clever und ein nüchterner, eiskalter Rechner, aber kein Herzensbrecher. Judys markerschütternde Schreie ängstigten Barton. Dort drüben passierte etwas Furchtbares. Möglicherweise ein Verbrechen. Barton zögerte keinen Moment. 83
Schnell schüttelte er die Lähmung aus den Gliedern. Mit weiten Sätzen hetzte er durch den sintflutartigen Regen. Es gab weder eine Mauer noch einen Zaun zwischen den beiden Grundstücken. Lediglich eine niedrige Heckenreihe bildete den natürlichen Trennstrich. In vollem Lauf preschte Earl Barton über diese Hecke hinweg. Klatschend stampften seine Füße in die schimmernden Lachen. Jeder Schritt ließ die tiefen Pfützen hoch aufspritzen. Nach wenigen Metern waren Bartons Hosenbeine klatschnaß. Und der Himmel goß ihm eimerweise Regen über den Kopf. Die gellenden Schreie des Mädchens ließen alles andere als unwichtig erscheinen. Flammende Blitze und dumpfe, rollende Donner erschütterten die Welt, die Barton mit einer Geschwindigkeit durchraste, die man ihm nicht zugetraut hätte. Atemlos erreichte er Judy Brents Fertigteilhaus. Er rang nach Luft, während er sich mit siedendheißem Kopf an die Tür warf. »Verflucht!« brüllte er, als er mit der Schulter gegen die geschlossene Tür prallte. Er preßte die Zähne zusammen und rieb sich das schmerzende Körperteil. Dann trommelte er aufgeregt mit den Fäusten gegen die Tür. »Judy!« schrie er. »Judy!«
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Oben kreischte die Schauspielerin, daß ihm beinahe das Herz stehenblieb. Sie befand sich offenbar in ihrem Schlafzimmer. Was für eine Schweinerei passiert da? fragte sich Earl Barton entsetzt. Wütend trat er gegen die Tür. Doch er erreichte damit gar nichts. Das Holz war zu massiv. Judy Brent hatte sich absichtlich dafür entschieden, um ungebetenen Gästen den Zutritt zu verwehren. Nun wurde dieser Umstand zu ihrem Verhängnis. Vielleicht hätte Barton sie durch sein plötzliches Erscheinen noch retten können. Vermutlich hätte der Werwolf von ihr abgelassen, um sich dem neuen Gegner zuzuwenden. Ein markerschütterndes Röcheln raubte Barton beinahe den Verstand. War das das Ende? Er wollte diese schreckliche Tatsache nicht wahrhaben. Rastlos suchte er nach einer Möglichkeit, ins Haus zu gelangen. Er entdeckte das eingeschlagene Fenster, riß es auf und flankte in die Bibliothek hinein. Auf dem Boden lag ein blutgetränktes Fetzchen. Barton hob es nicht auf, sondern stürmte mit hastigen Schritten durch den Raum. Während er die Stufen hochkeuchte, schepperte irgendwo im Haus eine Tür. »Judy!« krächzte Barton mit zugeschnürter Kehle, als er das obere Ende der Treppe erreicht hatte.
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Beängstigend weit stand die Schlafzimmertür offen. Mit hämmernden Schläfen rannte Earl Barton darauf zu. Die schauderhafte Schrecksekunde ließ ihn für einen grauenvollen Augenblick im Türrahmen verharren. Was seine weit aus dem Kopf quellenden Augen zu sehen bekamen, war an Scheußlichkeit nicht mehr zu überbieten. Das Bett, die Wände, die Möbel, die Vorhänge waren mit Blut bespritzt. Abstoßend tiefe Fleischwunden bedeckten den größtenteils nackten, bis zur Unkenntlichkeit verstümmelten Körper des einst so begnadet schönen Mädchens. Würgender Ekel drehte Barton den Magen um. Stöhnend kämpfte er gegen den peinigenden Brechreiz an. Erschüttert wankte er der Toten entgegen. Furchtbarer Schmerz und panisches Grauen entstellten die jungen Züge, die Barton so engelhaft sanft in Erinnerung hatte. Ein tierhaftes Knurren peitschte ihn zu neuer Aktivität an. Für Judy Brent konnte er nichts mehr tun. Nichts mehr, außer einem: er konnte den grausamen Mörder stellen und ihn der Polizei übergeben. Zuvor aber würde er ihn brutal zusammendreschen. Mit diesem haßerfüllten Vorsatz eilte er zum Fenster. Ein Blitz riß das Grundstück erbarmungslos aus der Dunkelheit. Barton sah einen Mann durch die Pfützen rennen, die den Rasen vor dem Haus aufweichten. Hastig 86
wandte er sich um. Dort unten lief der Mörder. Er durfte nicht entkommen. Er mußte für das geradestehen, was er hier angerichtet hatte. Ein letzter wehmütiger Blick auf Judy, dann hetzte Earl Barton aus dem Schlafzimmer. Er rannte die Treppe hinunter, entdeckte die nunmehr offenstehende Eingangstür und lief mit geballten Händen in die unwirtliche Nacht hinaus. Der Sturm nahm ihm den Atem. Er peitschte ihm den Regen kraftvoll ins Gesicht. Die Tropfen schlugen gegen Bartons Augäpfel. Er kniff die Lider zusammen und hastete in die Richtung, in die er den Mörder zuvor laufen gesehen hatte. Atemlos erreichte er die Straße. In diesem Moment bog der Mann um die nächste Ecke, ohne sich umzudrehen. Barton sprintete hinter dem Kerl her. Als er die Ecke erreichte, stellte er fest, daß er geringfügig aufgeholt hatte. Das verlieh ihm einigen Auftrieb. Er gönnte sich keine Verschnaufpause. Im Zickzackkurs ging es durch das winkelige Stadtviertel. An triefnassen Backsteinmauern vorbei, Holzplanken entlang. Barton hatte keine Ahnung, ob der Mörder ihn schon bemerkt hatte. Vermutlich nicht, denn der Mann wandte sich kein einziges Mal um. Und er beschleunigte auch sein Tempo nicht. Er eilte im gleichbleibenden Trott durch die nächtlichen, menschenleeren Straßen. Barton bemühte sich, 87
seine Schritte so leise wie möglich zu setzen. Gleichzeitig achtete er aber darauf, daß dies seine Eile nicht dämpfte. Ein Friedhof. Uralt, verwahrlost, aufgelassen. Seit vielen Jahren kam niemand mehr hierher, um die Gräber der Toten zu schmücken, in Ordnung zu halten. Jene Leute, die das früher getan hatten, schliefen jetzt selbst schon auf anderen Friedhöfen unter der Erde Die einstmals kunstvollen schmiedeeisernen Tore hatten so gut wie alles von ihrer majestätischen Pracht eingebüßt. Sie hingen schräg und verbogen an den gemauerten Torpfosten. Unerbittlich nagte der Rost an ihnen. Earl Barton sah den Mörder durch das offenstehende Tor huschen. Ein kurzer Blitz war ihm sehr gelegen gekommen, sonst hätte er den Kerl vermutlich aus den Augen verloren. Keuchend näherte sich Barton dem Tor. Er war bis auf die Haut naß. Die Kleider klebten kalt an seinem Körper. Sie waren dreimal schwerer als sonst. Wasser quatschte bei jedem Schritt aus Bartons Schuhen. Seine Seiten begannen zu stechen. Er überforderte seinen Körper. Wäre nicht ein glühender Haß die Triebfeder seines Handelns gewesen, hätte er die Verfolgung sicherlich längst aufgegeben. So aber ätzte sich ein Wort in seine Seele. Es wirkte wie ein Aufputschmittel, verlieh ihm den Mut und 88
die Kraft, dem Unbekannten auf diesen Friedhof zu folgen. Dieses eine Wort hieß RACHE. Zwei seiner Schritte knirschten auf dem schlammigen Weg. Er federte sofort auf die nächste Grasnabe, um seine Anwesenheit geheimzuhalten. Angestrengt lauschte er. Seine Nerven waren bis zum Zerreißen angespannt. Er spürte sie vibrieren und hoffte, daß sie diese Überlastung verkraften konnten. Gleich hinter dem verbogenen Friedhofstor hielt Barton kurz an. Er wischte sich mit einer schlaffen Bewegung das Regenwasser aus dem heißen Gesicht. Mit aufgerissenem Mund führte er seinem Körper japsend Sauerstoff zu, doch nicht genug. Ein Hämmern zermarterte seinen Kopf. Er versuchte wenigstens einigermaßen zur Ruhe zu kommen, neue Kräfte zu sammeln. Der Regen rauschte durch weite Kronen uralter Eichen, deren dickarmige Äste teilweise ausgetrocknet und abgestorben waren. Ringsherum wucherte hohes Unkraut, das die Wassermassen nicht oder nur geringfügig niederzudrücken vermochten. Wie Schwämme schienen die Steinkreuze und Grabsteine aus diesem Unkraut herauszuwachsen. Von Grabhügeln war nichts mehr zu sehen. Sie waren über den Toten eingesunken und verwildert wie das ganze Gelände. Im Licht eines Blitzes glaubte Earl Barton den Mann zwischen zwei Grabsteinen gesehen zu ha89
ben. Der darauffolgende Donner schien die Toten zum Leben erwecken zu wollen. Schon beim nächsten Blick war die Stelle zwischen den beiden schräg stehenden Grabsteinen leer. Trotzdem lief Barton darauf zu. Er duckte sich tief, federte von Grabstein zu Grabstein, blieb ab und zu kurz in der Hocke, um zu lauschen. Durch das monotone Rauschen des Regens drangen verräterisch schmatzende Schritte an sein Ohr. Barton stellte fest, daß er dem Unbekannten schon ziemlich nahe gekommen war. Er fand es eigenartig, daß sich Judy Brents Mörder auf diesen unheimlichen Friedhof zurückgezogen hatte. Wollte er ihn, Barton, in eine Falle locken? Schnell holte Earl Barton sein Taschenmesser heraus. Die Klinge war zwar nicht lang, aber sie würde sein Leben schützen, davon war er überzeugt. Mit hoch im Hals klopfendem Herzen erreichte er die beiden Grabsteine. Das Unkraut war hier niedergetreten. Somit fand Barton bestätigt, daß der Unbekannte wirklich hier gestanden hatte. Wo war er jetzt? Barton blickte sich lauernd um. Nichts regte sich. Abgesehen von den Geräuschen, die die Natur hervorrief, war es totenstill auf dem Gottesacker. Und doch fühlte Barton, daß Judy Brents Mörder ganz in der Nähe war. Barton war sicher, daß der Mann inzwischen wußte, daß er verfolgt wurde. Und nun begann ein Katz-und-Maus-Spiel, bei dem noch nicht klar zu 90
erkennen war, wer nun eigentlich die Katze und wer die Maus war. Nervös nagte Barton an der Unterlippe. Mit klammen Fingern hielt er den Griff seines Taschenmessers fest. Die Frage drängte sich ihm auf, ob es klug gewesen war, dem Kerl hierher zu folgen. Möglicherweise kannte der Mann diesen verfallenen Friedhof wie seine Westentasche. Kehr um! meldete sich Bartons Gewissen. Kehr lieber um! Er schüttelte unwillig den Kopf. Umkehren kam nicht in Frage. Hier irgendwo war Judy Brents Mörder versteckt. Er sollte nicht ungeschoren davonkommen. Laß das die Polizei machen! raunte es in Barton. Er begann ein Zwiegespräch zu führen. Es ist mir unmöglich, die Polizei einzuschalten. Wieso? Weil der Kerl abhaut, wenn ich den Friedhof verlasse. Ich muß ihn finden, stellen, unschädlich machen und ihn dann der Polizei übergeben. Du hast gesehen, was er mit Judy gemacht hat. Eben deshalb darf er mir nicht entkommen. Sei vernünftig! Er ist vielleicht stärker als du. Darauf lasse ich es ankommen. Das bin ich Judy Brent schuldig. Verbissen huschte er weiter. Plötzlich war ihm, als hörte er jemanden in der Nähe atmen, ganz in der Nähe. Sein suchender Blick heftete sich auf einen schwarzen Marmorstein, der vier Meter von ihm 91
entfernt aufragte. In breiten Rinnsalen rann das Regenwasser daran herab. Barton schluckte die an seinen Nerven zerrende Aufregung hinunter. Er machte einen schnellen Schritt vorwärts. Seine Züge wurden hart wie Stein. An seiner Schläfe tickte ein Nerv. Das Messer zum Verteidigungsstoß bereit, rief er mit spröder Stimme: »Okay, Freundchen! Ich habe dich gefunden!« Das Atmen wurde deutlicher, es klang erregt. Barton deutete es falsch. Er dachte, der Mann hinter dem Grabstein hätte Angst. Das steifte sein Rückgrat. Mutig trat er noch einen Schritt vor. In der nächsten Sekunde packte ihn das Grauen mit frostklirrenden Fingern. Der Werwolf schnellte mit einem scheußlichen Knurren hinter dem Grabstein hervor. Wie zwei Lichter funkelten seine mordlüsternen Augen. Barton zuckte entsetzt zurück. Er sah das blutbesudelte Fell während des nächsten Blitzes mit erschreckender Deutlichkeit. Es war nicht verwunderlich, daß er in diesem Augenblick an seinem Verstand zweifelte. Er hatte mit einem Menschen als Gegner gerechnet, nicht mit einem so furchtbaren Monster. Ehe er diese Ungeheuerlichkeit geistig verdaut hatte, griff ihn der Werwolf an. Der Hieb des Untiers verfehlte Earl Barton nur deshalb, weil dieser sich mit einem wilden Sprung
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in Sicherheit brachte. Fauchend und knurrend setzte das Monster seinem Opfer nach. Barton warf sich herum und wollte fliehen, doch der Werwolf holte ihn mit wenigen weiten Sätzen ein, drängte ihn gegen einen hellen Grabstein und schlug ihm seine gefährliche Pranke ins Gesicht. Barton fiel in den Schlamm. Ein wahnsinniger Schmerz hämmerte in seinem Kopf. Mit dem Mut des Verzweifelten kämpfte er sich auf die Beine. Er wuchtete schreiend nach vorn und stach mit dem Taschenmesser in blinder Wut zu. Die Klinge bohrte sich in den aufgerichteten Tierleib. Sie traf die Brust des Monsters, drang in seinen Hals und sauste mehrmals in seinen haarigen Schädel. Aber das Scheusal zeigte keinerlei Wirkung. Der Umstand, daß der Werwolf nicht zu verletzen war, raubte Barton beinahe den Verstand. Mit einemmal begriff er, daß er verloren war. Unwahrscheinlich wuchtig traf ihn der nächste Schlag. Er brüllte um Hilfe, doch auf dem Friedhof gab es niemanden, der ihm diese Hilfe bringen konnte. Schwer verletzt brach er zusammen. Mit gefletschten Zähnen beugte sich der Werwolf über ihn. Barton sah noch die widerwärtige Schnauze herabstoßen — dann sah er nichts mehr. Der Werwolf verließ den stillen Friedhof ohne Eile. Er schlug instinktiv einen Weg in nördlicher Richtung ein. Immer wieder sickerte ein grauenerre-
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gendes Knurren aus seiner Kehle. Doch allmählich wurde dieses Knurren zu einem seltsamen Husten. Das Untier fletschte mit glühenden Augen die Zähne, während ein zuckender Krampf seinen Körper schüttelte. In den stillen Straßen begegnete dem grausamen Mörder kein Mensch. London schlief, und die Leute taten gut daran, sich nicht aus ihren Häusern zu wagen, denn wer diesem Werwolf auf seinem nächtlichen Streifzug in den Weg kam, dessen Leben hing an einem seidenen Faden. Der Wagen sauste durch den Regen. Hastig zog sich das Ungeheuer in den Schatten einer Kaufhauspassage zurück. Erst als das Rauschen der Pneus und das Motorengeräusch nicht mehr zu hören waren, löste sich der Wolf aus seinem Versteck, um seinen unheimlichen Weg fortzusetzen. Schnaufend hielt er vor der Scheibe einer großen Auslage an. Das Glas spiegelte seine abstoßende Erscheinung wider. Er fuhr sich mit den Pranken über die blutbesudelte Schnauze. Einen Teil des Blutes hatte der Regen bereits fortgewaschen. Die gelb glühenden Augen des Monsters richteten sich auf die haarigen Pfoten, deren gefährliche Krallen sich allmählich zurückbildeten. Mehr und mehr lichtete sich das Fell. Schließlich war es nicht mehr zu sehen. Stöhnend blieb das Ungeheuer vor dem Auslagenfenster stehen. Nun wartete es darauf, daß sich die94
se furchterregende Wolfsschnauze in ein menschliches Gesicht verwandelte. Er bleckte die Zähne. Die dolchartigen Fangzähne wurden zusehends kürzer. Aus dem Raubtiergebiß bildeten sich menschliche Schneide- und Augenzähne. Merklich stumpfer wurde die Schnauze. Auch hier löste sich das Wolfsfell auf, helle Menschenhaut kam zum Vorschein. Der Blick verlor dieses teuflische Glühen. Sekunden später war die Rückverwandlung abgeschlossen. Der Mann schaute sich benommen um, so als wäre er gerade aus einer tiefen Trance erwacht. Er blickte kopfschüttelnd auf seine klatschnassen Kleider, hob den Kopf und schimpfte: »Verfluchtes Sauwetter!« Dann stellte er fröstelnd den Kragen auf und lief nach Hause. Ihm war kalt wie einem Toten. Doch ein kleiner Funke Leben war noch in ihm. Stöhnend und röchelnd krümmte er sich unter unsäglichen Schmerzen zusammen. Mühsam versuchte er sich zu erheben. Die Gestalt, die sich zitternd aufzurichten versuchte, hatte kaum noch Ähnlichkeit mit Earl Barton. Daß er noch lebte, war ein Wunder, denn der Werwolf hatte ihn genauso schrecklich zugerichtet wie Judy Brent. Es war Barton nicht möglich, auf die Beine zu kommen. Dazu reichte seine Kraft nicht aus. Ein 95
beängstigender Blutverlust schwächte ihn sehr. Doch die Angst vor dem Tod zwang ihn zu handeln. Wenn er überleben wollte, mußte er etwas zu seiner Rettung tun. Auf allen vieren schleppte er sich durch Unkraut und Schlamm, dem Friedhofstor entgegen. Er hatte den Eindruck, es würde sich bei jeder Bewegung, die in seinem zerfleischten Körper stechende Schmerzen hervorrief, weiter von ihm entfernen. Verzweifelt kroch er weiter. Die geringste Bewegung kostete ihn ungeheure Kraft. Er dachte schon, es niemals zu schaffen. Der Regen wusch das Blut aus seinen tiefen Wunden. Neues Blut quoll aus den Verletzungen, und wieder kam das Wasser, um es fortzuspülen. Du mußt es schaffen! hämmerte er sich ein. Du mußt, mußt, mußt, sonst bist du verloren! Auf dem Bauch kroch er durch das Tor. Mit verkrampften Händen zog er sich der Straße entgegen. Glühende Schmerzen wollten ihn umbringen. Er wehrte sich verbissen gegen das schreckliche Ende. Ächzend kippte er über den Randstein. Sein zerfetztes Gesicht klatschte in die Gosse. Er dachte, daß er ertrinken würde, wenn er hier liegenbliebe. Seine Kraft reichte gerade noch aus, um einen halben Meter vorwärtszukriechen. Von diesem Moment an weigerten sich seine blutenden Muskeln, weitere Befehle des Gehirns entgegenzunehmen. Erschlafft lag er auf dem glänzenden Asphalt.
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Er fühlte, daß er nun langsam starb, und war unglücklich darüber. Die Schmerzen begannen langsam abzuflauen. Earl Barton machte sich nichts vor. Das war keine Besserung, sondern die Einleitung zu einem allmählichen Hinübergleiten in das Reich der Toten. Irgendwann kam etwas Helles auf ihn zu. Die Scheinwerfer eines Wagens. Pneus kreischten, Wagentüren wurden aufgerissen und zugeschlagen. Schritte patschten heran. Zu spät, dachte Earl Barton verzweifelt, ihr kommt zu spät! Verdammt, warum seid ihr nicht früher gekommen? Judy Brent tot! Wie es aussah, war sie demselben Mörder zum Opfer gefallen, der vor ihr Anne Melton und Carol Sky auf die gleiche bestialische Weise getötet hatte. Drei junge, bildhübsche Mädchen waren brutal aus dem Leben gerissen worden. Drei Mädchen, die alle denselben Beruf gehabt hatten. Ich fragte mich, ob das etwas zu bedeuten hatte. Und ich gab, mir ein klares Ja zur Antwort. Allan Crown fand auf meine Bitte hin heraus, daß auch Anne Melton bei den »Flint Productions« gewesen war, um eine Rolle in dem gerade entstehenden Streifen zu bekommen. Sie war eines jener vielen Mädchen gewesen, von denen zwar Probeaufnahmen gemacht worden waren, die man aber
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dann doch nicht genommen hatte, weil sich der Regisseur für Judy Brent entschieden hatte. Finanziell gesehen war Judys Tod für die Filmfirma kein Verlust, denn sie war erst nach ihrem Filmtod ermordet worden. Jene Szenen, die mit ihr zu drehen gewesen waren, befanden sich bereits im Kasten. Allmählich wurde mir die Sache unheimlich. Drei Mädchen hatten direkt oder indirekt mit dem produzierten Film zu tun gehabt. Nun waren sie alle drei tot, zerfleischt von einem Wahnsinnigen. Vielleicht auch von einem Werwolf. Ich wußte es nicht, und ich vermochte mich gegen diesen ungeheuren Verdacht nun nicht mehr wirkungsvoll genug zu verschließen. Ich hatte Judy Brent gesehen – vorher und nachher. Das eine Mal strahlend schön, nett, liebenswert. Das andere Mal . . . Diese Einzelheiten will ich mir lieber ersparen. Meiner Meinung nach mußte es irgendeinen tödlichen Zusammenhang zwischen jenen Menschen, die den Film gerade machten, und den Opfern geben. Einer von denen war ein Mörder. Ich ließ die Gesichter, die ich im Filmatelier kennengelernt hatte, vor meinem geistigen Auge Revue passieren. Wer von ihnen war die kaltblütige, grausame Bestie? Dean Warren? Er war mir irgendwie zwielichtig vorgekommen. Aber war er ein Mörder?
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Norton Garner? Ein Mann, der solche Horrorstreifen herstellte, hatte zweifellos das Talent dazu, auch im Leben grausame Morde zu inszenieren. Murray Collins? Ich hatte ihn witzig und spritzig in Erinnerung. Er war sympathisch und lachte viel. Versuchte er uns alle damit zu täuschen? War er der Werwolf im Schafpelz? Timothy Atlee? Der erste Kameramann sah mir eher wie ein recht erfolgreicher Casanova aus, nicht wie ein grausamer Mörder. Trotzdem weiß ich, daß man sich vom harmlosen Äußeren eines Menschen niemals täuschen lassen darf. Blieben noch Brian Jones, den Rosalind Ashley so schwer belastet hatte, und der immer noch unauffindbare Jason Bloom. Ich war gespannt, was uns die beiden zu erzählen hatten, wenn sie auf dem Verhörstuhl saßen. Sobald wir in Judy Brents Haus genug gesehen hatten, gingen wir. Die Männer von der Spurensicherung konnten ihre Arbeit auch ohne unser Beisein verrichten. Sogar noch besser, weil sie niemand nervös machte und auch nicht andauernd im Weg stand. Wir setzten uns in unseren Dienstwagen. Per Funk stellte ich die Verbindung mit Scotland Yard her, um Sergeant Pepper über den neuesten Stand der Dinge abzuhören. »Ich habe soeben mit Dr. Gall vom Medical Center gesprochen, Sir«, sagte Pepper knapp wie immer.
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Earl Barton lag im Medical Center. Ich hatte heute morgen bei Dienstantritt ein längeres Gespräch mit Dr. Gall, und wir waren so verblieben, daß er uns zweimal am Tag über Bartons kritischen Gesundheitszustand informierte. Es freute mich zu hören, daß er sich an unsere Abmachung hielt. »Wie geht es Barton?« fragte ich. »Sie haben ihn noch in der Nacht zusammengeflickt.« »Weiß ich.« »Sechs Liter Blut haben sie ihm in den Körper gepumpt. « »Ist nur auch nicht neu, Pepper. Gibt es sonst noch was?« »Dr. Gall sagt, daß Barton noch lange nicht über den Berg ist, Sir. Sein Zustand ist nach wie vor besorgniserregend.« Ich hatte Dr. Gall gebeten, ein Tonband neben Bartons Krankenbett zu stellen. Es sollte den ganzen Tag laufen. Wenn die Spule voll war, sollte man eine neue auflegen. »Hat Barton schon was gesagt?« fragte ich deshalb. »Er hat noch nicht einmal das Bewußtsein wiedererlangt, Sir.« Das waren wenig erfreuliche Nachrichten. »Ist Jason Bloom inzwischen aufgetaucht?« fragte ich abschließend. »Mir ist noch nichts zu Ohren gekommen, Sir.« »Tja, dann . . .« 100
»Sind Sie noch im Haus der Schauspielerin, Sir?« »Sergeant Crown und meine Wenigkeit bevölkern bereits den Dienstwagen.« »Wo kann ich Sie erreichen, falls irgend etwas sein sollte?« »Wir machen einen Sprung ins Medical Center. Hinterher melde ich mich wieder.« »Okay, Sir. Viel Erfolg!« »He, woher wissen Sie denn, daß ich den verdammt gut gebrauchen könnte, Sergeant Pepper?« rief ich ins Mikrophon. Dann klemmte ich es in die Halterung und startete den Motor. »Wir wollten doch Brian Jones aufsuchen, Tom«, sagte Allan, als ich losfuhr. »Alles hübsch der Reihe nach. So seltsam es auch klingen mag: Brian Jones läuft uns nicht davon. Aber Earl Barton kann sich jeden Moment aus dem Staub machen. « Ich hasse Krankenhäuser. Ich kann dieses sterile Weiß nicht ausstehen. Es begegnet einem überall und versucht einen bis in die Seele hinein keimfrei zu machen. Der Geruch nach Karbol und anderen Desinfektionsmitteln ruft schmerzliche Krämpfe in meinem Magen hervor. Allan und ich gingen den nüchternen Gang entlang. Zwei hübsche Krankenschwestern kamen uns entgegen. Die eine maß mich mit einem interessierten Blick. Ich schaute mich nicht einmal nach ihr um, obwohl sie mir sehr gut gefallen hatte. 101
Aber sie trug diese weiße Schwesterntracht, die ich nicht ausstehen konnte, und bestimmt roch ihr Haar nach diesen ekelhaften Desinfektionsmitteln. Dr. Raymond Gall war in seinem Büro. Abgesehen vom weißen Medikamentenschrank gab es nichts Weißes in diesem Raum. Hier drinnen löste sich der lästige Druck von meiner Brust, und ich konnte wieder normal atmen. »Vor zehn Minuten hat er das Bewußtsein wiedererlangt«, erklärte Dr. Gall. Ich war mit ihm seit vielen Jahren bekannt, deshalb hatte ich mich mit meinen Sorgen sofort an ihn gewandt, denn ich wußte, daß alle meine Bitten bei ihm Gehör finden würden, selbst wenn sie noch so ausgefallen waren. Dr. Gall wirkte klein und unscheinbar. Groß war nur die Brille auf seiner Nase. Kluge Augen lagen dahinter. Sein Teint war hell, fast bleich. Er sah aus wie einer dieser Vorzugsschüler, die in jeder Schule ganz vorne sitzen, um dem Lehrer mit ihrem Eifer zu schmeicheln. Sein Haar war spärlich und rostrot. »Es besteht trotzdem noch kein Grund, aufzuatmen«, fügte Dr. Gall seinen einleitenden Worten hinzu. Barton lag auf der Intensivstation. Ein Automat überwachte ihn aufmerksamer, als ein Mediziner dies gekonnt hätte. »Hat er irgend etwas gesagt?« wollte Allan wissen.
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»Möchten Sie ihn sehen?« kam Dr. Gall mit einer Gegenfrage. »Dürfen wir mit ihm reden?« fragte daraufhin ich. »Das kann ich Ihnen leider nicht gestatten.« »Dann hat es wohl wenig Zweck, ihn zu sehen. Ich kann mir vorstellen, wie er aussieht.« »Soll ich das Tonband bringen lassen?« »Nur, wenn es etwas aufgezeichnet hat«, erwiderte ich. »Ich glaube, es ist etwas drauf.« »Dann wollen wir es selbstverständlich hören, Dr. Gall. « Der Arzt griff zum Haustelefon. Wir saßen in weichen Sesseln aus senffarbenem Samt. Vor uns stand ein Marmortisch. Darauf stand ein Aschenbecher aus geschliffenem Glas. Eine Zigarrenkiste lud zum Zugreifen ein. Wir bedienten uns aber nicht. Vier Minuten, nachdem Dr. Raymond Gall den Hörer des Haustelefons niedergelegt hatte, klappte die Tür auf. Der Arzt hatte gerade so viel Zeit gehabt, uns einen Drink zu kredenzen und sich zu uns zu setzen. Eine Krankenschwester, die ihre mangelhafte Schönheit durch absolute Zuverlässigkeit wettmachte, brachte einen japanischen Kassettenrekorder und die Kassette, in der sich – so hofften wir – Earl Bartons Stimme befand. Sie bereitete das Gerät zum Abspielen vor und zog sich zurück, als Dr. Gall ihr einen diesbezüglichen 103
Wink gab. Ich nippte gespannt an meinem Whisky. Allan saß rechts neben mir. Er klemmte sich ungeduldig ein Stäbchen zwischen die Lippen. Dr. Gall gab ihm Feuer. »Warum haben Sie sich nicht eine von den Zigarren genommen?« fragte er vorwurfsvoll. Allan lächelte. »So starken Tobak vertrage ich nicht.« Der Arzt schaute mich an. »Soll ich?« fragte er und wies auf die Wiedergabetaste. Ich nickte. Er drückte. Wir hörten ein leises Rauschen. Darüber war ein leises, hohes Piepsen gelagert. Es wurde von regelmäßigen Summtönen unterbrochen. »Diese Geräusche werden von den Apparaten hervorgerufen, an die Barton angeschlossen ist«, bemerkte Dr. Gall. »Verstehe«, sagte ich. Allan zog kräftig an seiner Zigarette, während er das Tonbandgerät anstarrte, als wollte er es hypnotisieren. Ein schweres Seufzen mobilisierte unsere ganze Aufmerksamkeit. Wir hörten ein Rascheln. Earl Barton hatte den Kopf unruhig hin und her gedreht, sagte uns Dr. Gall. Ein Gurgeln, Hüsteln und Röcheln folgte. Dann ein Hustenanfall. Dann regelmäßige, tiefe Atemzüge. Neuerliches Rascheln. Ein Schrei, so
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plötzlich und schrill, daß Allan und ich zusammenzuckten. »Judy!« flüsterte Barton nun. »Ju-dy . . . Oh, arme Ju-dy Brent. . . Was hat er gemacht? Wie siehst du aus? Judy! Wer war das?« Wir vernahmen ein Zischeln. Dr. Gall klärte uns über dieses Geräusch auf. Er hatte mit einem Assistenten ein paar Worte gewechselt. »Ich habe angeordnet, daß er eine Spritze bekommt«, sagte Dr. Gall. Wir hörten jemanden hantieren. Dann ächzte der Patient kurz auf. Es war der Moment, wo ihm die Nadel ins Fleisch gedrungen war. Sein rasselnder Atem glättete sich in den Ansätzen. »Tot!« seufzte Barton. »Sie ist tot! O Gott, wie sie aussieht . . . Dort – dort unten . . . Dort läuft er ... Er soll büßen, soll diesen schrecklichen Mord büßen!« »Das alles spricht er im Fieberwahn«, sagte Dr. Gall. Allan schüttelte beeindruckt den Kopf. »Der arme Kerl erlebt das ganze Grauen noch einmal.« »Büßen«, ächzte Earl Barton. »Bü-ßen . . . Dort läuft er. . . In den Friedhof hinein... Er darf mir nicht entkommen . .. Er- hat Judy Brent ermordet! . . .habe Angst! Kehr um! Lauf weg! Angst. . . Wo ist er? Ich kann ihn nirgends sehen. . . Da! O . . . O Gott... Es ist – es ist so furchtbar ... Er ist – ein – ein – ein – Werwolf! . . . nicht sterben . . . Will nicht sterben . . . Geh weg! Laß mich! Hilfe! Hiiilfe! 105
So helft mir doch! Dieses – Scheusal bringt mich um . . . Hilfe . . . Ich blute . . . Schmerzen . . . Gott, habe ich Schmerzen . . . Ich verblute . . . Ich sterbe . . .« Er begann zu schluchzen. Was er sonst noch sagte, war nicht mehr zu verstehen. Dr. Gall schaltete das Tonband ab. »Möchten Sie es noch einmal hören, Inspektor Whittaker? « Ich schüttelte den Kopf. »Vielen Dank, Dr. Gall, das genügt. Darf ich die Kassette mitnehmen?« »Selbstverständlich.« Er öffnete den Deckel, nahm die Tonbandkassette heraus, gab sie mir und klappte den Deckel zu. »Können Sie damit etwas anfangen, Inspektor?« Ich zuckte die Schultern. »Weiß ich noch nicht.« »Barton war hinter einem Werwolf her«, sagte Dr. Gall. »Glauben Sie, daß es so etwas gibt?« Ich wies mit dem Daumen auf Sergeant Crown. »Er vermutet es.« »Und was ist Ihre Meinung?« »Wenn die Sache so weiterläuft, werde ich wohl bald auf Crowns Kurs einschwenken müssen.« Allan stieß die fertiggerauchte Zigarette in den Aschenbecher. Dann leerte er sein Glas auf einen Zug. Hinterher wandte er sich an uns. »Drei Mädchen sind dem Kerl bisher zum Opfer gefallen. Die ersten beiden Morde gingen für ihn reibungslos über die Bühne. Als er zum drittenmal 106
zuschlug, wurde er erstmals gesehen. Was bisher nur Vermutung war, hat sich durch Earl Barton bestätigt, Tom. Wir haben es mit einem Werwolf zu tun!« Es hatte keinen Sinn, zu widersprechen. In mir sträubte sich zwar alles gegen diese Tatsache, aber ich merkte gleichzeitig, wie ich mich allmählich damit abzufinden begann. Die Tür wurde aufgerissen. Die Krankenschwester, die das Tonbandgerät gebracht hatte, stürmte kreidebleich herein. »Dr. Gall!« stieß sie hervor. »Dr. Gall!« Raymond Gall sprang sofort auf. »Was ist?« »Barton . . .« »Ist er tot?« »Es geht ihm sehr schlecht. Ich glaube, er stirbt.« Der Arzt vergaß uns, lief mit der Krankenschwester aus dem Zimmer. »Wenn man gesehen hat, wie die drei Mädchen ausgesehen haben, ist es ein Wunder, daß er überhaupt noch lebt«, sagte Allan. Er erhob sich. Die Nervosität ließ ihn nicht länger sitzen. Auch mein Hosenboden kribbelte. Wir verließen Dr. Galls Büro. Sofort spürte ich wieder dieses beklemmende Gefühl auf der Brust, doch ich achtete nicht darauf. Meine Sorge um Earl Barton war größer und wog auch zehnmal so schwer wie mein Unbehagen. Wir wußten ungefähr, wo Earl Barton untergebracht war. Assistenten eilten an uns vorbei. Ver107
mutlich hatte sie Dr. Gall im Zimmer des Schwerverletzten angerufen und zu sich befohlen. Zehn sorgenvolle Minuten verstrichen. Jede Sekunde bohrte sich schmerzlich in unser Bewußtsein. Als die zehnte Minute um war, öffnete sich die weiße Tür. Dr. Gall trat heraus. Er nahm die große Brille ab und rieb sich mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel. Diese Geste verriet uns alles. Er hätte kein Wort mehr zu sagen brauchen. Als er uns sah, kam er mit müden Schritten auf uns zu. Sein Blick ruhte lange auf Sergeant Crown. Dann schaute er mir bedauernd in die Augen und schüttelte den Kopf. »Wir haben alles versucht, Inspektor. Aber der ärztlichen Kunst sind Schranken gesetzt.« Ich nickte und sagte: »Ich bin davon überzeugt, daß Sie Ihr Bestes gegeben haben, Dr. Gall.« Der Schuß krachte. Erheblich verletzt, blutüberströmt, wankend und mit rauchender Pistole stand Sybill Rivera in der Dekoration. Murray Collins – in der Maske des Werwolfs – stieß ein fürchterliches Knurren aus. Ein schreckliches Jaulen folgte. Den Zuschauern lief es eiskalt über den Rücken, als der Amerikaner seine Schau vom Todeskampf abzog. Sybill feuerte wieder. »Nein!« schrie Norton Garner ungehalten. »Aus! Nein! So geht das nicht.« 108
Die Schauspielerin wandte sich gereizt um. »Was habe ich denn diesmal schlecht gemacht?« »Alles!« antwortete der Regisseur und sprang in die Szene. »Wo ist Warren?« »Nicht da«, sagte jemand vom Filmstab. »Verflucht, was denkt er sich eigentlich? Wofür kriegt er denn sein Geld?« Rosalind Ashley nieste. Sie hatte sich in der vergangenen Nacht einen lästigen Schnupfen geholt. Timothy Atlee fuhr mit seiner Kamera an den Ausgangspunkt zurück und zündete sich eine Zigarette an. Nun kurbelten sie schon seit zwei Stunden immer wieder dieselbe Szene herunter. Norton Garner stellte sich neben Sybill. Murray Collins nahm die häßliche Maske ab und strich sich das Haar aus der nassen Stirn. »Ist verdammt heiß unter dem Gummizeug«, beschwerte er sich. Ein Mädchen brachte ihm zu trinken. Er lächelte es freundlich an und fragte, ob es sich für einen der nächsten Abende freimachen könnte. Das Girl wurde verlegen und rot und verschwand hastig hinter den Kulissen. »Du mußt ihn voll abgrundtiefem Haß töten, Sybill!« forderte Norton Garner mit eindringlicher Stimme. »Das Publikum muß von diesem Haß angesteckt werden. Es muß den Leuten eine ungeheure Befriedigung bereiten, das furchtbare Monster auf die qualvollste Weise krepieren zu sehen. Die Leute stehen auf der Seite des Guten, das du verkörperst. Sie identifizieren sich mit dir, Sybill. 109
Und sie versuchen genauso zu reagieren, wie du es ihnen vorspielst. Für die Person, die du darzustellen hast, gibt es eine ganz bestimmte Handlungsschablone. Du mußt so und nicht anders handeln, sonst kauft dir das Publikum deine Gefühle nicht ab. Verstehst du?« Sybill Rivera stampfte zornig mit dem Fuß auf. »Verdammt noch mal, hör doch auf, mich wie eine blutige Anfängerin zu behandeln, Norton! Ich weiß sehr gut, wie ich die Rolle anzulegen habe.« »So kann man nicht arbeiten!« brüllte Garner wütend. »Wir wollen doch ein für allemal klarstellen, daß ich hier Regie führe. Und d u hast zu tun, was ich dir sage, auch wenn es dir nicht paßt!« Sybill fuchtelte mit der Pistole vor Garners riesiger Nase herum. »Ich habe an die dreißigmal auf Murray geschossen, und immer hattest du etwas anderes daran auszusetzen.« »Wenn dir diese Arbeit zu beschwerlich ist, dann geh doch wieder in die Fabrik zurück! « schrie Garner außer sich vor Wut. Er wußte, daß er Sybill nirgendwo schmerzhafter treffen konnte als an dieser Stelle. Die Schauspielerin zuckte herum. »Whisky!« kreischte sie. Sofort war jemand zur Stelle, der ihr ein gefülltes Glas brachte. »Hör mal, wenn du dich jetzt besäufst, Sybill, schicke ich dich nach Hause!« wetterte der Regisseur.
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Die Schauspielerin leerte das randvolle Glas demonstrativ auf einen Zug. »Weißt du, was du mich kannst, Norton Garner? Soll ich euch allen sagen, was dieser häßliche kleine, widerwärtige Vogel mich kann?« »Sybill!« »Ach, halt’ doch die Klappe, du Vogelscheuche! Ich habe es nicht nötig, mir von einem drittklassigen Regisseur Vorschriften machen zu lassen. Wenn du mit meiner Arbeit nicht zufrieden bist, dann wirf mich doch aus dem Vertrag raus. Dann verklage ich die ›Flint Productions‹ auf ein paar Millionen Pfund. Mal sehen, ob sie bankrott macht.« Norton Garner fletschte die Zähne. »Irrtum, Baby! Du kriegst keinen Penny, wenn ich deine Entlassung fundiert begründen kann. Du solltest dir den Vertrag lieber noch mal ganz genau durchlesen, ehe du den Mund so voll nimmst. Auch das Kleingedruckte ist interessant.« Schweigen. Im Studio hätte man in diesem Augenblick eine Stecknadel fallen gehört. Dies hier war bei weitem nicht der erste Streit zwischen Sybill und dem Regisseur. Sie dachte wohl, sich mehr als die anderen herausnehmen zu können, weil Garner ihr privat aus der Hand fraß. Doch Norton Garner war ein Mann, der eine scharfe Grenze zwischen Arbeit und Privatleben zu ziehen wußte. Eine Grenze, die er selbst niemals verletzte, und die auch niemand anders verletzen durfte. Auch Sybill Rivera nicht. Mit erstaunlicher Härte und gehöriger Selbstdis111
ziplin hatte Garner bisher noch jeden Schauspieler in die Knie gezwungen. Daraus rekrutierte sich ein Großteil seines beruflichen Erfolgs. Er zwang die Schauspieler, die mit ihm zu arbeiten hatten, nicht sich selbst, sondern jene Menschen lebensecht zu spielen, die sie zu verkörpern hatten. Insgesamt viermal waren Sybill Rivera und Norton Garner während der laufenden Dreharbeiten hart aneinandergeraten. Jedesmal war von Aufhören und Entlassung die Rede gewesen. Und jedesmal waren die Anwesenden Zeugen eines kläglichen Rückziehers von Sybill geworden. Die Schauspielerin sah sich nervös um. Sie fand keinerlei Unterstützung. Nicht einmal Timothy Atlee ergriff offen für sie Partei. Er hantierte an seiner Kamera herum und tat so, als ginge ihn die ganze Auseinandersetzung nicht das geringste an. Rasend vor Wut über die neuerliche Schlappe stieß Sybill ein zorniges Fauchen aus. Murray Collins lehnte an der Kulisse und lächelte amüsiert. »Was ist?« biß ihn Sybill gereizt an. »Weshalb grinst du so idiotisch?« Collins schmunzelte. Er ließ sich nicht so schnell beleidigen. »Du bist tausendmal schöner, wenn du dich ärgerst, Baby«, sagte er in breitem amerikanischem Slang. »Na«, fragte Norton Garner, »geht’s wieder?«
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»Okay, okay!« zischte Sybill. »Sag’ schon, wie ich die Szene zu spielen habe, damit wir diese ekelhafte Arbeit endlich hinter uns bringen.« Garner lächelte zufrieden. Mit einem triumphierenden Blick streifte er alle Anwesenden. »Na also«, sagte versöhnlich. »Das klingt schon viel besser.« »Aber eins weiß ich, Norton . . .« »Was?« »Ich drehe nie wieder einen Film mit dir.« Garner lachte. »Dieses Versprechen wirst du leider nicht einhalten können, Baby.« »Wieso nicht?« »Weil die ›Flint Productions‹ uns vertraglich für insgesamt vier Filme zusammengespannt haben. Einer ist gerade im Werden. Bleiben noch weitere drei. « »Ich werde mich erkundigen, wie hoch die Konventionalstrafe ist, wenn ich . . .« »Können wir weitermachen, Sybill?« »Je eher, desto besser.« Der Regisseur nickte. »Gut. Also, komm her! Gib mir die Pistole – so ! Und nun sieh mir genau zu! Während du auf Murray feuerst, muß sich dein ganzer aufgestauter Haß entladen. Und diese Gefühlsregung muß sich in deinem Gesicht widerspiegeln. Du darfst Murray nicht einfach erschießen. Es ekelt dich vor ihm. Du empfindest abgrundtiefen Abscheu vor ihm. Und du haßt, haßt, haßt ihn.« Garner grinste. »Stell dir meinetwegen vor, ich wäre an seiner Stelle. « 113
Sybill lächelte eiskalt. »Danke für den Tip, Norton. Ich glaube, jetzt wirst du an meinem Mienenspiel nichts mehr auszusetzen haben. « »Na, fein«, sagte Garner und kehrte zu seinem Klappsessel zurück. Timothy Atlee traf mit gespieltem Eifer seine letzten Vorbereitungen. Sybill ärgerte sich darüber. Diese geheuchelte Geschäftigkeit hatte ihrer Meinung nach nur den Zweck, Grund für eine spätere fadenscheinige Entschuldigung zu sein, weshalb er sich nicht auf ihre Seite gestellt hatte. Dieser widerliche, verfluchte Feigling! dachte sie empört. »Mikrophon!« rief Norton Garner. »Zum Henker, wo bleibt denn das verdammte Ding?« Jemand kurbelte an der Stange, an der das Aufnahmemikro wie an einem Galgen hing. Dean Warren kehrte zurück. Er machte einen seligen, gelösten Eindruck. Mit glasigem Blick ließ er sich auf seinen Sessel fallen. Der Regisseur machte ihm eine Szene. »Immer wenn man dich braucht, bist du nicht da!« schrie er ihn an, und er fluchte so gotterbärmlich, daß die Umstehenden die Luft anhielten. »Was regst du dich so auf?« erwiderte Warren im schleppenden Tonfall. »Nun bin ich ja wieder da. Ich mußte mal. Kann in den besten Familien vorkommen.«
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»Du hättest wenigstens sagen können, daß du weggehst. « »Mache ich ganz bestimmt beim nächstenmal«, erwiderte Warren grinsend. »Seid ihr soweit?« rief Garner den Schauspielern zu. Er blickte ungeduldig auf seine Uhr. »Tempo, Tempo, Kinder! Wir wollen die Szene endlich in den Kasten kriegen. Time is money!« »Aber nicht deins«, gab Sybill schnippisch zurück. Der Regisseur überging diese Bemerkung. Zwei Maskenbildner kümmerten sich geschickt um Sybill und Collins. Der Amerikaner mußte die Gummimaske wieder aufsetzen. Der Mann, der sich um ihn bemühte, brachte hier und da einige Retuschen an. Dann verließen die beiden Männer die Dekoration. »Fertig?« fragte Norton Garner ungeduldig. »Ja«, rief Murray Collins. »Okay, Sybill. Denk an das, was ich dir gesagt habe!« »Ja, ja.« »Dann setz ihm jetzt mal deine Silberkugeln in den Pelz!« »Ton!« rief Dean Warren. »Okay!« rief der Tontechniker. Ein Mann hielt die Klappentafel vor die Kamera und leierte seinen Spruch herunter. Norton Garner winkte ihn beiseite. Er wies auf Sybill und den Werwolf und rief: »Action! « 115
Sibyll schoß auf den Werwolf. Murray Collins ließ sein fürchterliches Knurren hören. Danach folgte das schreckliche Jaulen. Seine Schau vom Todeskampf der abscheulichen Bestie war so beklemmend echt, daß es den Zuschauern erneut kalt über den Rücken lief. An seiner Darstellung hatte Garner kein einziges Mal etwas auszusetzen gehabt. Diesmal war der Regisseur auch mit Sybill Riveras Leistung zufrieden. Ihre Züge spiegelten alles das wider, was er ihr vorher eingeimpft hatte. Sie übertraf sogar Garners hochgesteckte Erwartungen bei weitem. Niemand im Studio konnte sich des Grauens erwehren, das diese starke Szene verströmte. Kein Monster war jemals so qualvoll zugrunde gegangen wie dieses. Murray Collins zog alle Register seines schauspielerischen Könnens. Er peitschte seine verblüffenden Leistungen einem dramatischen Höhepunkt entgegen und starb dann so echt, daß die Leute des Filmstabs erschauerten, obwohl sie wußten, daß hier nur gespielt wurde. »Gestorben!« rief Garner, in höchstem Maß zufrieden. Murray Collins lag auf dem Boden. Dann richtete er sich bellend auf und biß scherzhaft nach den dünnen Beinen des Skriptgirls. Rosalind Ashley stieß einen schrillen Schrei aus und sprang erschrocken zurück. Collins nahm die Maske ab und lachte sie aus.
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»Warum haben Sie das getan?« schrie sie zitternd. »Warum haben Sie mich so erschreckt?« Collins zuckte die Achseln. »Ich dachte, es würde Ihnen Spaß machen.« »Hat es mir absolut nicht gemacht.« »Ich hätte daran denken sollen, daß Girls ab einem gewissen Alter recht sonderbar werden. « Die Umstehenden stimmten ein spöttisches Gelächter an. Rosalind Ashley wurde puterrot. »Sie unverschämter Kerl!« »Schon gut, Rosalind. Schlafen wir mal zusammen?« Das war dem Skriptgirl zuviel. Miß Ashley wirbelte herum und lief wutschnaubend davon. »Zigarettenpause, Freunde!« rief Norton Garner aufgekratzt in die Runde. »Anschließend nehmen wir die Passage mit dem Konstabler dran.« Es ergab sich, daß Warren seine Zigarette neben Atlee rauchte. Sybill feuerte einen haßerfüllten Blick auf den Kameramann und begab sich dann in die Kantine. »Scheint sauer zu sein«, meinte Warren grinsend. »Das geht dich aber einen verdammten Dreck an, Dean!« zischte Timothy Atlee gereizt. »Sieh lieber zu, daß du die fünftausend Piepen wieder ranschaffst.« »Haben wir nicht vier Wochen vereinbart?« »Ich nehme das Geld auch früher. Verflucht, ich wollte, ich hätte es dir nicht gegeben.« 117
Dean Warren grinste spöttisch. »Spricht man so zu einem Freund, mit dem man ein Geheimnis teilt?« »Wenn du noch mal behauptest, du bist mein Freund, breche ich dir alle Knochen im Leib.« Warren kicherte. »Hast du keine Angst, daß der Schmerz meine Zunge lösen würde?« Atlee blickte den klapperigen Regieassistenten angewidert an. »Hör mal, wenn du denkst, daß du mich jetzt ununterbrochen unter Druck halten kannst, bist du auf dem Holzweg, Freundchen. Glaube ja nicht, daß ich mir das auf die Dauer von einer Rotznase wie dir bieten lasse. Vergiß nicht, daß ich zurückschlagen könnte.« Warren hob die Brauen. Seine Stirn legte sich dadurch in Falten. »Da bin ich aber baff. Du kannst zurückschlagen? Womit denn?« fragte er lauernd. Eine gewisse Unruhe erfaßte ihn. Er befürchtete, daß Atlee etwas von seinem Laster wußte. Wenn dies tatsächlich der Fall war, dann hatte der Kameramann das Heft eines gefährlichen Messers in der Hand. Kleine Schweißtröpfchen bildeten sich auf Warrens Stirn. Seine Mundwinkel zuckten nervös. »Was hast du denn gegen mich in der Hand?« fragte er krächzend. »Anne Melton, Carol Sky und Judy Brent sind tot«, sagte Timothy Atlee mit zusammengekniffenen 118
Augen. »Alle drei waren zu Probeaufnahmen hier. Soviel mir aufgefallen ist, haben dir diese drei Mädchen verdammt gut gefallen. « Warren wurde bleich. »Was willst du damit sagen, Tim?« Atlee lächelte hämisch. »Nichts, Dean.« »Doch, doch! Du willst auf etwas ganz Bestimmtes hinaus.« »Tatsächlich?« »Sag’ es, Tim!« Timothy Atlee holte tief Luft. Dann sagte er: »Wenn ich Inspektor Whittaker wäre, würde ich in einer ganz bestimmten Richtung graben. Drei tote Mädchen, drei Schauspielerinnen. Von allen dreien wurden hier Probeaufnahmen gemacht. Plötzlich ist es aus mit ihnen. Frage: wer hat sie umgebracht? Meiner Meinung nach ist der Mörder hier in diesem Atelier zu suchen. Und nun stell dir mal plastisch vor, was für einen Freudensprung Whittaker machen würde, wenn ich ihm ganz unverbindlich den Tip zuspielen würde, daß du der gesuchte Killer bist. Du siehst nicht gerade aus wie ein Engel mit der Posaune, Dean. Rein vom Typ her würdest du hervorragend in das Puzzlespiel des Inspektors passen. Ich bin davon überzeugt, daß er sich schwer abrackern würde, um irgendwelche belastende Indizien gegen dich ranzuschaffen. In der weiteren Folge hieße das, daß er dich für unbestimmte Zeit in den Knast schicken würde.« 119
Dean Warren zog aufgeregt an der Zigarette. Seine Hand zitterte. Seine Lider flatterten nervös. Die Augen schössen tödliche Blitze ab. »Wenn du d a s tust, Tim . . .«, fiel er dem Kameramann atemlos ins Wort. »Was ist dann?« fragte Atlee überheblich. »Dann lege ich dich um!« fauchte er. Und es bestand nicht der geringste Zweifel, daß er diese Worte absolut ehrlich meinte. Wir trafen Brian Jones, den blonden Jungen mit den veilchenblauen Augen, zu Hause an. Der Statist hatte seinen drehfreien Tag. Es war ein wenig verwunderlich, daß er einen so herrlichen, wolkenlosen, sonnendurchfluteten Tag daheim verbrachte. Er hätte den Tag für einen Ausflug nützen, eine Themsefahrt machen oder einfach durch den Hyde Park schlendern können. Nun ja. Es war wohl seine Sache, was er mit seiner Freizeit anfing. Wir waren häßliche Steinstufen bis zum dritten Stock hochgestiegen. Das Haus machte einen verwahrlosten Eindruck. Eine Renovierung wäre dringend nötig gewesen. Die Steinfliesen klapperten unter unseren Schuhen, als wir uns seiner Wohnungstür näherten. Auf mein Klopfen öffnete er. Ich brauchte Allan und mich nicht mehr vorzustellen. Er erinnerte sich noch gut an unseren Besuch im Studio. Das Judy Brent nicht mehr lebte, hatte man ihm morgens am Telefon gesagt. Er sprach sein Be120
dauern darüber aus, aber Judys Tod schien ihm nicht wirklich nahezugehen. Mir gefiel die Art nicht, wie er mich mit seinen veilchenblauen Augen ansah. Sein Blick war unstet und auf irgendeine Weise herausfordernd. Ich wurde das Gefühl nicht los, daß er durch meine Kleider hindurchschauen und meine Unterwäsche sehen konnte. Im Wohnzimmer stand ein großer antiker Tisch. Darüber hing eine breite Lampe, deren Schirm ziemlich verstaubt war. Was mich in einiges Erstaunen versetzte, waren die Poster, die mit Klebestreifen an der Wand befestigt waren. Keine nackten, reizenden Mädchen lächelten uns mit lasziven Blicken herausfordernd an. Das hätte ich ja auf jeden Fall verstehen können. Nicht verstehen konnte ich, daß sich Brian Jones ausschließlich Poster von – ich muß zugeben – ausgezeichnet gebauten Muskelmännern in die Wohnung hing. Wir nahmen um den Tisch herum Platz. Es war kurz vor elf. Allan und ich hatten Hunger, deshalb lehnten wir den Drink, den er uns anbot, dankend ab. »Was führt Sie zu mir?« fragte Jones freundlich. Ich versuchte ihn mir als Werwolf vorzustellen. Es war mir unmöglich. »Ich möchte auf keinen Fall, daß Sie unseren Besuch in die falsche Kehle kriegen, Mr. Jones«, begann ich vorsichtig. »Drei Mädchen und Judy Brents Nachbar wurden ermordet. Unsere Aufgabe ist es, den Mörder zu suchen. Deshalb ist es nötig, 121
vielen Leuten viele Fragen zu stellen. Manchmal auch recht dämliche Fragen. Ab und zu recht intime Fragen. Hin und wieder auch recht beleidigende Fragen. Ich bitte Sie trotzdem, zu bedenken, daß wir nur unsere Pflicht tun.« Jones lächelte nervös. »Gott, Inspektor, Sie verstehen es, einem Angst zu machen.« »Wer ein reines Gewissen hat, braucht keine Angst zu haben, Mr. Jones.« »Nun ja, wessen Gewissen ist schon so ganz rein.« »Keine Sorge, Sergeant Crown und ich verstehen es sehr gut, die Spreu vom Weizen zu trennen. « Ein gutes Mittel, jemandem seine Voreingenommenheit und seine Befangenheit zu nehmen, ist, ihn vorerst mal seinen Lebenslauf aufsagen zu lassen. Ich äußerte eine diesbezügliche Bitte. Allan und ich erfuhren in Fragmenten die Stationen, die der Absolvent einer privaten Schauspielschule während seines dreißigjährigen Lebens durchwandert hatte. Gesangstudium – abgebrochen. Ballettstudium – abgebrochen. Beide Male hatte das Geld nicht ausgereicht. Eltern hatte Jones zwar gehabt, aber nie gesehen. Er war in einem Waisenhaus aufgewachsen und da verdorben worden. In welcher Weise, erfuhren wir erst später. Er spielte kleine Rollen vor Kindern, tingelte auf dem Land herum, kehrte nach London zurück, war 122
zwischen den einzelnen Engagements immer wieder längere Zeit arbeitslos, wodurch der beiseite gelegte Notgroschen an chronischer Schwindsucht litt. Hin und wieder verschaffte ihm sein Agent einen Job beim Fernsehen oder beim Film. Die Gagen reichten gerade aus, um Jones über Wasser zu halten. Ich schüttelte in Gedanken den Kopf. Nein, mit Brian Jones hätte ich nicht ums Verrecken tauschen wollen. Als er mit seinem Lebenslauf in der Gegenwart angelangt war, stellte ich die ersten vorsichtigen Fragen. Er antwortete frei von der Leber weg. Auch Allan fragte ihn verschiedenes. Und Brian Jones antwortete auch ihm, als hätte er nichts zu verbergen. Wir ließen ihn über seine Kollegen sprechen. Er fand bei keinem ein böses Wort. Und wenn er irgendwelche unleidliche Eigenschaften aufzeigte, dann fand er schon mit dem nächsten Satz eine Entschuldigung dafür. Wir richteten unser Augenmerk dann auf seine Person. »Sie haben die drei Mädchen gekannt, nicht wahr?« fragte ich. Er nickte. »Ja, Inspektor.« »Sie waren alle drei sehr hübsch.« »Sie werden kaum häßliche Mädchen beim Film finden«, gab Brian Jones lächelnd zurück. »Da ist was dran«, sagte ich.
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»Wie standen S i e zu diesem Mädchen?« wollte Allan wissen. »Ich bin ihnen nicht nachgelaufen, wenn Sie das meinen, Sergeant Crown.« »Warum nicht? Fanden Sie die Girls nicht attraktiv genug? « »Aber ja . . .« »Warum haben Sie sich nicht um sie bemüht?« »Wenn man nicht schwimmen kann, hat es keinen Sinn, sich an jemanden zu klammern, der es auch nicht kann, Sergeant. Verstehen Sie, was ich damit sagen will?« »Ich glaube ja. Sagen Sie es trotzdem deutlicher.« »Ich bin nichts. Diese drei Mädchen waren nichts, nur schön. Es bringt keinen Vorteil, wenn man sich mit ihnen anfreundet. Das kann sich Murray Collins leisten, aber nicht unsereins. Wir müssen trachten, nach oben hin Beziehungen anzuknüpfen. « »Zu Sybill Rivera zum Beispiel«, sagte Allan. »Richtig, Sergeant. Sybills Freundschaft könnte einem Mann wie mir bestimmt sehr nützlich sein.« »Haben Sie in dieser Richtung etwas versucht?« »Versucht schon, aber es hat nicht geklappt.« »Woran lag es?« Jones zuckte die Achseln. »Sybill und ich haben nicht die gleiche Wellenlänge. Wenn die nicht stimmt, kann es nicht klappen.«
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»Sagen Sie mal, Mr. Jones, wo waren Sie gestern nacht?« »Gestern nacht?« »Hm«, machte Allan. Jones kratzte sich die Nase. »Tja, wo war ich denn gestern na . . . Ach ja, ich war zu Hause. « »Allein?« »Natürlich allein.« »Wieso natürlich?« »Also gut – nicht natürlich.« »Kann jemand bezeugen, daß Sie zu Hause waren?« hakte Allan nach. »Muß das denn jemand bezeugen können?« antwortete Brian Jones mit einer Gegenfrage. »Kann es jemand?« »Natürli . . . äh, nein.« Ich sagte kein Wort. Es genügte mir, stumm dazusitzen und Brian Jones genau zu beobachten. Mein Blick machte ihn nervös. Er kratzte sich immer häufiger die Nase. Jeder Psychiater würde dieses Kratzen dahingehend deuten, daß dem Statisten etwas äußerst unangenehm war, denn dann reibt, knetet und kratzt man sich ununterbrochen die Nase. Was war ihm unangenehm? Hatte er doch etwas zu verbergen? Mir fiel alles das ein, was Rosalind Ashley mir in der vergangenen Nacht erzählt hatte. Konnte sich dieser Mann in einen Werwolf verwandeln? Wenn nein – weshalb war er dann so unruhig? 125
Er streifte mich mit einem schnellen Blick. »Hören Sie, Gentlemen, ich bin ja gern bereit, Ihnen auf Ihre Fragen zu antworten, aber ich möchte Sie doch in aller Form darum bitten, mich nicht so anzustarren, als hätte ich ein Verbrechen begangen.« Ich seufzte. »Es ist schon ein mieser Job, den wir haben, Mr. Jones. Ob Sie es mir glauben oder nicht, manchmal kotzt mich das alles richtiggehend an. Andere Leute bemühen sich, von ihren Mitmenschen so wenig wie möglich zu wissen. Wir sind gezwungen, von unseren Mitmenschen alles wissen zu wollen. Haben Sie eine Freundin, Mr. Jones?« »Nein.« »Was machen Sie in Ihrer Freizeit?« »Ich verbringe sie sehr oft zu Hause.« »Langweilt Sie das nicht?« »Das ist meine Sache, Inspektor.« »Klar, Mr. Jones. Was tun Sie, wenn Sie nicht zu Hause sind? Gehen Sie ins Kino? Ins Theater? Haben Sie eine Stammkneipe, in der Sie mit Freunden Karten oder sonstwas spielen?« Jones’ Züge nahmen ein abweisendes Grau an. »Inspektor Whittaker«, begann er mit hohler Stimme. »Ich habe absolut nichts dagegen, mich mit Ihnen – meinetwegen stundenlang – zu unterhalten. Fragen Sie, was Sie wollen, und ich werde bestrebt sein, Sie mit meinen Antworten zufriedenzustellen. Aber lassen Sie meine Freunde aus die126
ser Sache raus. Ich möchte nicht, daß Sie sie belästigen. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?« Ich grinste. »Präziser hätten Sie es gar nicht formulieren können. Mr. Jones. Tut mir leid, wenn wir beide Ihnen auf den Wecker gefallen sind. Haben Sie etwas dagegen, wenn wir uns — bevor wir gehen – noch kurz in Ihrer Wohnung umsehen?« »Was versprechen Sie sich davon, Inspektor?« »Och, Routine, wissen Sie, nichts als Routine. Wir machen das bei jedem, nicht nur bei Ihnen.« »Also, meinetwegen. Kommen Sie!« Jones erhob sich. Er führte uns ins Schlafzimmer. Das Bett war zerwühlt. Er wollte sich deshalb entschuldigen, doch ich winkte desinteressiert ab. Mir fiel ein Madonnenbild auf, das über dem Bett hing. Ziemlich kitschig. Ich fragte mich, ob ein Mensch, der fähig war, sich in einen dämonischen Werwolf zu verwandeln, sich ein solches Bild über das Bett hängte. Tarnung vielleicht? Er zeigte uns das Bad, in dem sich die Schmutzwäsche zu einem häßlichen Haufen auftürmte. »Bleibt nur noch die Küche«, sagte Jones abschließend. » Aber die interessiert Sie wohl nicht. « »Wir wollen die gesamte Wohnung kennenlernen, Mr. Jones«, antwortete ich lächelnd. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als uns auch die Küche zu zeigen. Hier erlebten Allan und ich zwei Überraschungen. In einem kleinen roten Plastikeimer befand sich Seifenlauge. Ein Putzschwamm 127
lag vollgesogen darin. Eingedenk der Worte des Skriptgirls sah ich mir sofort die Küchentür an. Rosalind Ashley hatte von Blut an der Küchentür gesprochen. Ich konnte keines entdecken. Aber ich erkannte, daß die Tür erst kurz vor unserem Eintreffen gereinigt worden war. »Sie haben heute wohl Ihren Reinemachetag«, sagte ich und wies auf die Seifenlauge. Jones zuckte die Achseln. »Ab und zu muß man schon was machen. Ich bin zwar kein Pedant, wie Ihnen sicherlich aufgefallen ist, aber manchmal greife ich doch zu Lauge und Schwamm. An der Tür war Blut, wissen Sie. Ich hatte beim Tranchieren eines Kaninchens nicht gut genug aufgepaßt. Es kommt zwar selten jemand in meine Wohnung, aber Blut an der Tür- da müssen die Leute ja weiß Gott was denken.« Allan stieß mich an und wies auf den Anzug, der zum Trocknen aufgehängt war. Jones hatte knapp unter der Decke quer durch die Küche eine Leine gespannt. Daran hing der Anzug. Ich faßte ihn an. Er war immer noch feucht. »Sieht aus, als hätten Sie damit gebadet«, sagte ich grinsend. Brian Jones fand die Sache nicht so lustig. Seine Züge verhärteten sich. Er wurde käsig, räusperte sich und wandte sich schnell um. »Ich habe ihn gewaschen«, sagte er und verließ die Küche.
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Ein Blick genügte, um zu wissen, daß er log. Der Anzug war nicht gereinigt, sondern nur naß geworden. In der vorangegangenen Nacht hatte es ziemlich stark geregnet. Da ich gelernt habe, eins und eins schneller als ein Computer zusammenzuzählen, hatte ich sofort die richtige Idee: Brian Jones hatte uns bewußt angelogen. Er war letzte Nacht außer Haus gewesen. »Auf Wiedersehen, Inspektor«, sagte er in der Diele und streckte mir nervös die Hand entgegen. Ich übersah sie absichtlich. »Wo sagten Sie, waren Sie gestern nacht, Mr. Jones?« »Zu Hause.« »Warum lügen Sie?« »Hören Sie mal. . .« »Sie können uns nicht für dumm verkaufen, Jones!« »Aber. ..« »Sie haben Ihren Anzug nicht gewaschen.« »Doch das habe ich.« »Wenn ich den Anzug mit in den Yard nehme, weiß ich in spätestens einer Stunde, daß Regenwasser im Stoff ist, Jones. Also, was soll das Theater?« Jones sah mich mit seinen veilchenblauen Augen verzweifelt an. »Verflucht noch mal, was wollen Sie von mir, Inspektor? Ich habe nichts verbrochen.« »Warum haben Sie uns belogen, Jones?« »Habe ich doch nicht.« »Sie waren gestern nacht außer Haus.« »Na, wenn schon.« »Wo waren Sie?« 129
»Das ist meine Sache.« »Wo, Jones?« »Das geht Sie nichts an.« »Ich denke doch.« »Ich sage kein Wort!« schrie Brian Jones gereizt. »Gehen Sie ! Verlassen Sie meine Wohnung! Ich brauche nichts mit Ihnen zu reden, wenn ich nicht will. Ich kenne meine Rechte.« »Jones!« sagte ich eindringlich. »Bedenken Sie, in welches Licht Sie sich mit Ihrer Widerborstigkeit rücken.« »Was soll das heißen, Inspektor?« »Drei Mädchen wurden auf grausamste Art ermordet.« »Ich habe es nicht getan.« »Es fiele uns leichter, Ihnen zu glauben, wenn Sie uns ein Alibi anbieten können. « »Will ich aber nicht.« »Aber Sie könnten.« »Natürlich.« »Dann tun Sie es doch!« »Fällt mir nicht im Traum ein.« »Denken Sie, ich weiß nicht, was Sie so krampfhaft vor uns zu verbergen versuchen, Jones?« Er funkelte mich wütend an. »Was denn? Was versuche ich denn vor Ihnen zu verbergen, hm?« »Sie haben keine Freundin, Jones. Im Wohnzimmer hängen Poster von Muskelmännern. Ich treffe bestimmt ins Schwarze, wenn ich behaupte, daß 130
Sie gestern bei einem Mann waren. Sie schämen sich dessen und lügen uns deshalb den Wanst voll. Ist es nicht so?« Jetzt knickte er wie ein Halm, den ein Hagelkorn voll getroffen hat. Sein käsiges Gesicht rötete sich. Er schlug die Hände auf die Wangen, verbarg die Augen dahinter, schämte sich und seufzte benommen. »Es stimmt also«, sagte ich mit beschwichtigender Stimme. »Ja«, preßte er verzweifelt hinter den Händen hervor. »Verflucht, ich komme seit meiner Jugend nicht davon los. Es klappt nicht, wenn ich mit einem Mädchen zusammen bin. Immer weder frage ich mich, warum ausgerechnet ich so veranlagt sein muß. Warum? Ich weiß es nicht. Ich versuche es zu verheimlichen, ich schäme mich dessen. Aber es ist stärker. Zu stark. Ich kann es nicht überwinden.« »Sie waren gestern nacht bei einem – Freund?« fragte Allan. »Ja.« »Nennen Sie uns seinen Namen!« Er ließ die Hände sinken und sah mich verzweifelt an. »Muß das sein, Inspektor Whittaker?« Ich versprach ihm, die Sache mit der nötigen Diskretion zu behandeln. »Wie heißt Ihr Freund?« fragte ich dann. »Carter Davin.« 131
Allan notierte den Namen. »Es ist mir so schrecklich unangenehm«, ächzte Brian Jones. »Mr. Davin wird Ihr Alibi bestätigen, und wir versprechen Ihnen, die Angelegenheit zu vergessen, Mr. Jones. Wie lange waren Sie bei ihm?« »Von acht Uhr an bis weit nach Mitternacht. Es war zwei oder halb drei, als ich nach Hause kam. Ich hatte nicht genug Geld für das Taxi, deshalb mußte ich früher aussteigen und bei diesem Mistwetter zu Fuß nach Hause laufen. Dabei bin ich bis auf die Haut naß geworden.« Allan erkundigte sich nach Carter Davins Adresse. Jones nannte sie widerstrebend. Allan schrieb sie auf. Dann gingen wir. Es war nicht erforderlich, daß wir Brian Jones’ Alibi alle beide überprüften. Allan übernahm diese Aufgabe freiwillig. Ich hatte nichts dagegen. Auf der Rückfahrt zum Yard blieb ich vor einer Grillstation stehen und stillte meinen enormen Hunger mit einem kleinen Hähnchen und einem großen Haufen Pommes frites. Das darauffolgende Bier rundete die Sache zu einem vollen Ganzen ab. Den zweiten Teil der Fahrt setzte ich zufrieden und gesättigt fort. Im Yard steckte ich den Kopf kurz in die Teeküche, um einen diesbezüglichen Auftrag bei der zuständigen Beamtin zu deponieren. Als ich den Kopf wieder zurücknahm, stieß ich gegen die Lungenflügel von Sergeant Pepper. Er war 132
dünn wie Löschpapier und grinste in einem fort. Seine Gutmütigkeit war Yard-bekannt. Er hatte eine lobenswerte Einstellung zur Arbeit und tat seinen Job, ohne jemals zu murren. Im ganzen Haus gab es keinen, der mit Sergeant Pepper nicht gerne zusammenarbeitete. Und es gab ebenso keinen, der mit diesem sympathischen Kerlchen jemals Streit gehabt hätte. »Willkommen daheim, Sir«, sagte er so freundlich wie immer. »Gibt’s was Neues?« fragte ich ihn. »Ja, Sir.« »Raus damit!« »Ein Mann sitzt in Ihrem Büro. Er wartet da auf Sie.« Ab und zu machte sich Pepper gern ein bißchen wichtig. Natürlich wußte er den Namen des Mannes, der auf mich wartete. Der Name war sozusagen das Eintrittsgeld gewesen, das der Mann an Sergeant Pepper zu bezahlen gehabt hatte. Ohne diesen hätte Pepper ihn nicht über die Schwelle gelassen. Ich machte dem Sergeant die Freude und fragte: »Wie heißt der Mann?« »Jason Bloom, Sir«, erwiderte Pepper mit leuchtenden Augen. Mir blieb die Luft weg. Jason Bloom! Die Stecknadel, die wir im Heuhaufen London nicht finden konnten. Der Kranke, der nicht ins Büro gekommen und seltsamerweise gesund genug 133
gewesen war, um spurlos von der Bildfläche zu verschwinden. Dieser Jason Bloom machte mir die große Freude, den Spieß umzudrehen und in mein Büro zu kommen. Ich ließ Sergeant Pepper stehen und eilte davon. Bloom zuckte hoch, als ich in mein Büro trat. Pepper hätte ihn nicht eingelassen, wenn ich mich auf der Herfahrt per Funk nicht angemeldet hätte. »Inspektor Whittaker?« fragte er. Ich nickte. »Mein Name ist. . .« »Bloom. Ich weiß«, unterbrach ich. »Sie haben keine Ahnung, wie angestrengt wir Sie gesucht haben, Mr. Bloom. Bitte, nehmen Sie wieder Platz.« Er setzte sich scheu. Sein junges Gesicht zeigte eine Menge Sorgenfalten. »Ich habe erfahren, daß mich die Polizei sucht«, sagte er kleinlaut. »Wann?« »Heute. Da bin ich gleich hierhergekommen, um reinen Tisch zu machen.« »Das war sehr klug von Ihnen, Mr. Bloom«, lobte ich ihn. Auf meinem Schreibtisch lagen eine Menge Berichte von nahezu sämtlichen Abteilungen, über die New Scotland Yard verfügt. Den Obduktionsbefund kannte ich inzwischen auswendig. Ich brauchte ihn nicht durchzulesen. Judy Brent war wie Anne Melton und Carol Sky umgekommen. Der Bericht von den Kollegen der Spurensicherung war äußerst dürftig. Die tüchtigen Männer hatten mit 134
ihren Lupen nicht mehr entdeckt als ich mit bloßem Auge. Ich schob die Berichte lustlos beiseite und setzte mich an meinen Schreibtisch. Bloom biß sich die Unterlippe blutig. Ich rechnete es ihm als einen Pluspunkt an, daß er zu mir gekommen war. Aber ich ließ mich trotzdem nicht täuschen. Diese Aktion konnte ebensogut eine raffinierte Flucht nach vorn sein. Ich musterte ihn. Er strich sich die widerspenstigen jettschwarzen Locken aus der Stirn. Sein Blick vermochte dem meinen nicht standzuhalten. Da seine Erscheinung nichts zu wünschen übrigließ, brauchte er keine Komplexe zu haben. Also wich er meinem Blick entweder aus, weil er Angst vor mir – beziehungsweise dem Amt, das ich bekleidete – hatte, oder weil er von Natur aus unehrlich war. »Wir waren in Ihrem Büro, Mr. Bloom«, sagte ich, nachdem er eine Weile geschmort hatte. »Ich weiß.« »Hat es Ihnen Ihre Sekretärin gesagt?« »Ja.« »Weshalb haben Sie sich krank gemeldet, Mr. Bloom?« »Ich habe mich scheußlich gefühlt.« »Bleibt man nicht zu Hause, nötigenfalls sogar im Bett, wenn man sich scheußlich fühlt?« »Das kommt darauf an.« »Worauf?« »Auf die Umstände.« 135
»Sie können sich vorstellen, daß wir Ihren Namen nicht blind aus dem Telefonbuch gesucht haben, Mr. Bloom. Unser Besuch bei Ihnen war nur ein logischer nächster Schritt. Carol Sky war ermordet worden. Wir fragten ihren Mann, wo seine Frau gewesen sein könnte. Er konnte uns das nicht sagen, verwies uns aber auf Judy Brent. Sie konnte uns insofern weiterhelfen, als sie uns verraten konnte, daß Carol Sky sich mit Ihnen angefreundet hatte. Ich nehme an, Mrs. Sky war vorgestern nacht bei Ihnen, Mr. Bloom.« Der Junge senkte den Blick. »Ja«, sagte er kaum hörbar. »Ja, Inspektor. Sie war bei mir.« »Unterhielten Sie intime Beziehungen zu ihr?« »Ja.« »Obwohl Sie wußten, daß sie verheiratet war? Finden Sie das Mr. Sky gegenüber fair?« »Ich kenne Mr. Sky nicht. Und Gewissensbisse habe ich deshalb auch nicht, Inspektor Whittaker. Die Girls, die zum Film wollen, setzen alles ein, was sie zu bieten haben. Bei Carol war das nicht anders. Ich bin kein Mönch, Inspektor. Und wenn mir jemand etwas schenkt, dann nehme ich es dankend an. Wer eine Schauspielerin heiratet, muß von vornherein wissen, was er sich damit einhandelt. So eine Frau gehört einem niemals ganz allein. In dieser Branche gibt es zu viele schöne Männer. Zu viele Partys, auf denen zuviel gesoffen wird. Und es gibt Haschisch, Heroin und weiß der 136
Kuckuck, was sonst noch alles. Irgendwann fällt auch das standhafteste Mädchen. Machen wir uns doch nichts vor. Die Girls machen für ihre Karriere alles. Hat es da einen Sinn, mir Vorwürfe zu machen? Wenn ich die Finger von Carol gelassen hätte, wäre ein, zwei Tage später ein anderer der Glückliche gewesen. So sieht die Sache in unserer Branche aus. Man hat zuviel Geld – ich spreche jetzt natürlich nicht von mir. Man hat zuviel Zeit. Man kommt viel herum. Und der Ehemann oder die Ehefrau ist so verdammt weit weg. Aber da ist jemand anders, der einem den Hof macht. . . Ich sage Ihnen, Hollywood ist nicht aus finanziellen Gründen zu Grunde gegangen, sondern an sich selbst.« Der Tee kam. Ich fragte Bloom, ob er einen mittrinken würde. Er nahm die Einladung dankend an, um irgend etwas tun zu können und nicht bloß reglos dasitzen zu müssen. Er rührte sich langsam durch den Porzellanboden der Schale. »Was hat sich vorgestern nacht in Ihrer Wohnung abgespielt, Mr. Bloom?« fragte ich, nachdem ich kurz an meinem Tee genippt hatte. Er tat gut daran, weiterzurühren, denn ich hatte mir gerade die Lippen verbrannt. Ich fing seinen entrüsteten Blick auf und parierte diesen mit den Worten: »Ich bin lange genug auf der Welt, um zu wissen, daß Sie mit Mrs. Sky nicht Blindekuh gespielt haben, Mr. Bloom. Worauf ich mit meiner Frage hinaus wollte, ist folgendes: Ca137
rol Sky verbrachte einen Teil der Nacht bei Ihnen, Sie aber fanden es anscheinend nicht der Mühe wert, sie hinterher nach Hause zu fahren. Warum nicht?« Bloom schaute nicht mich, sondern seinen Tee an, als er antwortete: »Wir hatten eine Auseinandersetzung.« »Weswegen?« »Darüber möchte ich nicht sprechen, Inspektor.« »Schön. Es gab also Krach, und Mrs. Sky verließ ihre Wohnung. « »So war es. Ich habe ihr angeboten, ein Taxi anzurufen. Sie wollte aber lieber gehen.« Ich ließ ihm Zeit. Irgend etwas steckte noch in ihm wie das Virus einer schlimmen Krankheit. »Sie sagten vorhin, Sie hätten sich gestern morgen scheußlich gefühlt. Doch nicht wegen dieser Auseinandersetzung?« »Nein, nicht deshalb.« »Wo haben Sie die vergangenen vierundzwanzig Stunden verbracht?« Jason Bloom wetzte auf dem Stuhl hin und her. Er litt unter einem Wissen, das er mir nicht anvertrauen wollte. »Ich war nicht in London«, bekannte er kleinlaut. Ich blickte ihn durchdringend an. »Mr. Bloom, wir könnten dieses Spiel beliebig lange fortsetzen. Ich habe sehr viel Zeit, und ich wäre durchaus in der Lage, auch Ihnen diese Zeit zu verschaffen. So zum Beispiel hätte ich die Möglichkeit, 138
Sie – ohne besonders belastendes Material vorweisen zu müssen – vorerst einmal vierundzwanzig Stunden als unseren Gast zu betrachten.« Bloom zuckte zusammen. »Verhaften? Sie wollen mich verhaften?« »Man nennt es festnehmen, Mr. Bloom.« »Ich habe nichts verbrochen.« »Trotzdem kann ich Sie hier vierundzwanzig Stunden lang festnageln, wenn ich will. Vermutlich gefällt Ihnen das ebensowenig wie mir. Deshalb schlage ich vor, Sie sagen mir, was Sie bedrückt. Wenn Sie sich alles von der Seele geredet haben, werden Sie sich besser fühlen, und ich werde Sie nicht daran hindern, New Scotland Yard zu verlassen.« Er trank den Tee. Und während er trank, dachte er nach. Man konnte förmlich sehen, wie turbulent es hinter seiner gekrausten Stirn zuging. Als er den Blick hob, leuchteten mir Ruhe und Entschlossenheit aus seinen Augen entgegen. »Wir haben uns ziemlich töricht benommen«, berichtete er leise. »Wir waren beschwipst. Bei manchen Menschen ruft das eine gewisse Aggression hervor. Als Carol die Tür hinter sich zugemacht hatte, begriff ich, daß ich sie so nicht gehen lassen durfte. Ich zog mich hastig an und lief ihr nach. Ich hatte die Absicht, sie wenigstens ein Stück zu begleiten, um mein Gewissen zu beruhigen. Vielleicht finden Sie es lächerlich, daß ich von meinem Gewissen rede . . .« 139
»Ganz und gar nicht.« »Ich wußte, welche Straßen sie langgehen würde und entdeckte sie bald. Als sie mich sah, begann sie zu laufen. Ich rannte hinter ihr her. Sie durchquerte einen kleinen Park. Dann kam eine ShellStation. Da verlor ich sie aus den Augen. Wahrscheinlich hatte sie sich irgendwo auf dem Areal der Tankstelle versteckt. Ich machte mir Sorgen um Carol, ohne zu ahnen, wie richtig dieses Gefühl war. Ich lief weiter und wieder zurück. Da hörte ich sie schreien. Ich war wie erschlagen, wollte ihr zu Hilfe eilen . . . Da sah ich dieses grauenvolle Ungeheuer. Ich war wie gelähmt, war nicht in der Lage, Carol zu helfen, mußte mit ansehen, wie dieser schreckliche Teufel sie umbrachte. Als er von ihr abließ, rannte ich blind vor Angst davon. Zu Hause angekommen, wußte ich nicht, was ich tun sollte. Die Polizei anrufen? Ich dachte an Carols Mann. Er hatte keine Ahnung, was zwischen ihr und mir . . . Außerdem hatte ich Angst vor den vielen Fragen, die man mir stecken würde. Fangfragen, in die ich mich verstricken würde. Und plötzlich würde mir einer an den Kopf knallen, ich hätte Carol umgebracht. Das machte mich hysterisch. Ich pfefferte einige Kleidungsstücke in meine Reisetasche und raste noch in der Nacht nach Chelmsford. Ein Freund von mir besitzt dort einen Bungalow, den ich benutzen kann, wann immer ich will. Vorausgesetzt, daß er ihn nicht selbst braucht, versteht sich. Der Bungalow war leer. Am nächsten Morgen 140
rief ich von da im Büro an, um mich krank zu melden. Verstehen Sie jetzt, weshalb ich mich so scheußlich gefühlt habe?« Ich nickte. Wir tranken unseren Tee. Danach rauchten wir. Jason Bloom war schon der zweite, der diesen verfluchten Werwolf gesehen hatte. Earl Barton hatte sich zu nahe an das Monster herangewagt und seinen Mut mit dem Leben bezahlt. Bloom hatte besser reagiert. Deshalb war er noch am Leben. Ich bat ihn, das Monster zu beschreiben. Der Schock saß ihm noch immer tief in den Knochen. Deshalb fiel die Beschreibung eher vage aus. Groß sollte der Mörder gewesen sein, mit mächtigen Pranken und einem grauenerregenden Wolfsschädel. Erfahrungsgemäß kann man von solchen Aussagen eine Menge Abstriche machen. In ihrer Angst sehen die Leute einen Mörder oft wesentlich größer, als er tatsächlich ist. »Wie war er gekleidet?« wollte er ich wissen. »Er trug einen dunkelblauen Anzug. Dunkelblau oder dunkelgrau, jedenfalls dunkel.« »Einen Anzug?« »Naja, vielleicht war es kein richtiger Anzug. Ich weiß es nicht so genau. Bedenken Sie doch, in welch geistiger Verfassung ich war, als ich ihn sah, Inspektor Whittaker. « »Ist Ihnen sonst noch etwas an dem Mann aufgefallen? Denken Sie nach! Jedes Detail ist wichtig. Lassen Sie sich Zeit. Welche Schuhe trug er?« 141
Bloom starrte angestrengt auf meinen Schreibtisch. Er sah in diesem Augenblick noch einmal das Monster vor sich. Sein Mienenspiel verriet Angst und Ekel. »Sportschuhe«, sagte er mit dumpfer Stimme. »Er trug helle Sportschuhe mit Silberschnallen.« »Helle Sportschuhe?« fragte ich ungläubig. »Ja.« »Zu einem dunklen Anzug?« »Vielleicht sah der Anzug auch nur so dunkel aus. Sie müssen bedenken, es war Nacht.« Ich beschrieb den Anzug, den ich in Brian Jones’ Küche hängen gesehen hatte. »Ja, so hat er ausgesehen«, bestätigte daraufhin Bloom. War Brian Jones also der Werwolf? Ich bat Jason Bloom, von den Schuhen eine Skizze anzufertigen, nachdem ich ihm ein Blatt Papier und einen Bleistift über den Tisch zugeschoben hatte. Er fing zu zeichnen an. Großes Talent bewies er damit nicht. Ich forderte ihn auf, nun die Schnallen allein zu Papier zu bringen. Er machte auch das mit wenig Geschick. Als er damit fertig war, nahm ich ihm das Blatt weg und betrachtete sein Werk eine Weile nachdenklich, während er an meinem Bleistift kaute. Ich versuchte mich zu erinnern, ob ich an irgend jemandes Füßen Schuhe mit solchen Schnallen gesehen hatte. Obwohl mir das Modell irgendwie be-
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kannt vorkam, fiel mir keine dazugehörige Person ein. »Kennen Sie jemand, der solche Schuhe besitzt?« fragte ich Bloom. Er schüttelte den Kopf. Ich entließ ihn. Er war froh darüber und dankte mir meine Großzügigkeit mit einem erleichterten Blick. Bevor er die Tür von draußen zumachte, bat ich ihn, sich zu meiner Verfügung zu halten und nicht wieder unterzutauchen. Er versprach alles leichten Herzens. Vermutlich hatte er einen Inspektor von Scotland Yard mit einem modernen Menschenfresser verwechselt. Er ging. Ich beorderte per Telefon Sergeant Pepper zu mir und gab ihm den Auftrag, jeden Schritt von Jason Bloom schärfstens zu überwachen, bei Tag und bei Nacht. Natürlich würde sich Pepper mit einem Kollegen abwechseln. Der Sergeant war selbständig genug, um mir alle diesbezüglichen Schritte abzunehmen. Als er kurz nach Bloom aus meinem Büro ging, schlug das Telefon an. »Das geht ja Schlag auf Schlag!« brummte ich und griff nach dem Hörer. Ich sprach mit Sergeant Allan Crown. »Nun?« fragte ich. »Ich war soeben bei Carter Davin, dem Freund von Brian Jones.« »Und?« 143
»Junge, das ist vielleicht ’ne schwule Nudel. Dem merkt man das Anderssein um sieben Ecken an. Trägt Mädchenparfüm hinter dem Ohr und seidene Unterwäsche.« Ich lachte. »Allan! Wie kamst du so schnell an seine Unterwäsche? Du hast doch nicht. . .« »Er scheint einen Freund erwartet zu haben.« »Jones?« »Ich glaube, er hat mehrere Freunde.« »Weiß Jones das?« »Keine Ahnung.« »Was ist mit Jones’ Alibi?« »Das hat Carter Davin nach längerem Herumreden bestätigt.« »Meinst du, daß er dem Freund damit lediglich einen Gefallen erwiesen hat, oder sagte er die Wahrheit?« »Ist schwer zu beurteilen. Da er aber mächtigen Bammel vor der Polizei zu haben scheint, denke ich, daß er vor lauter Angst die Wahrheit gesagt hat.« Ich erzählte ihm von Jason Blooms Besuch. Allan war genauso erstaunt, wie ich es gewesen war. Ich erzählte ihm weiter, daß Bloom über den Anzug gesprochen hatte, der in Jones’ Küche hing, schränkte aber im gleichen Atemzug die diesbezügliche Glaubwürdigkeit des Augenzeugen stark ein. Was blieb, waren die Sportschuhe mit den Silberschnal-
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len. Auch Allan wußte nicht, ob – und wenn ja, bei wem – er solche Schuhe schon gesehen hatte. Wir beschlossen, am Ball zu bleiben. Das sah vorläufig so aus, daß Allan zu Brian Jones zurückfuhr, um sich vor dessen Haus zu postieren. Das gab bestimmt eine Menge Überstunden. Allan richtete sich darauf ein. Und er bat mich, an seiner Stelle seine Frau anzurufen, denn mit mir würde sie nicht so wettern wie mit ihm. Ich tat ihm den kleinen Gefallen im Interesse unseres Jobs. »Ich habe genug von dieser Rattenarschbacke!« zischte Dean Warren wütend. »Er gibt sich wie ein Feldherr. So führt man heutzutage nicht mehr Regie.« Murray Collins drehte das Limonadenglas zwischen den Handflächen. »Er hat Erfolg mit dieser Masche«, sagte er achselzuckend. Die beiden Männer saßen in der Kantine. Es war kurz vor 17 Uhr. Ein Ende dieses Drehtages war jedoch noch nicht abzusehen. Norton Garner hatte seinen Mitarbeitern widerstrebend eine kurze Pause zugestanden. »Erfolg! Erfolg!« knurrte Warren. »Andere haben auch Erfolg. Du solltest mal Terence Fisher oder Otto Preminger bei der Arbeit sehen, Murray. Das sind wahre Größen. An die reicht ein Norton Garner niemals heran, selbst wenn er noch so verrückt spielt.« 145
Warren rauchte seine Zigarette nervös zu Ende. Collins trank seinen Fruchtsaft aus. »Trinkst du niemals härtere Sachen?« fragte Warren mit gerümpfter Nase. »Nicht während der Arbeit«, erwiderte Collins. »Garner ist schwer begeistert von dir.« »Ich weiß.« »Und du von ihm?« »Er ist ein guter Regisseur.« »Darüber läßt sich streiten.« »Die Einspielergebnisse seiner Filme beweisen das.« »Die beweisen gar nichts. Und ich will dir auch sagen, warum nicht. Alle Welt steht auf Horrorfilme. Ob der Streifen nun gut ist oder weniger gut, spielt dabei keine besonders große Rolle. Das Publikum kommt, wenn der Maskenbildner gute Arbeit geleistet hat, wenn das Monster furchterregend genug vom Filmplakat herunterglotzt. Das ist das Geheimnis der Einspielergebnisse.« Kurz vor der Pause hatte Warren eine heftige Auseinandersetzung mit dem Regisseur gehabt. Doch Garner hatte sich nicht nur mit seinem Regieassistenten angelegt, sondern er war auch mit dem Tontechniker, mit dem zweiten Kameramann und sogar mit dem verträglichen Skriptgirl zusammengekracht. Seither brodelte es im Atelier. Garner hoffte, daß sich die Gemüter während der kurzen Pause etwas abkühlen würden. 146
Seit Judy Brents Tod schwebte ein ständiges Mißtrauen über den Filmleuten. Man ahnte, daß einer von ihnen ein Mörder war. Deshalb kam es zu Reibereien und Gehässigkeiten. Man traute dem besten Freund nicht mehr. Jeder fühlte sich von jedem beobachtet und verdächtigt. Collins und Warren saßen sich eine Weile schweigend gegenüber. Jeder hing seinen Gedanken nach. Auch hier war ein gewisses Mißtrauen zu spüren. »Einer von uns ist ein Schwein«, stellte Dean Warren plötzlich mit unstetem Blick fest. Er war sicher, daß auch Collins daran gedacht hatte. »Einer aus unserer Mitte hat die drei Girls . . .« Warren wurde mit einemmal bleich und funkelte Collins erzürnt an. »Was soll das? Was glotzt du mich so an, Murray? Ich bin es nicht.« Collins kniff die Augen zusammen. »Kannst du das beweisen, Dean?« »Na, hör mal, das ist doch . . . Kannst d u deine Unschuld beweisen?« »Klar.« »Dann kann ich es auch.« 20.05 Uhr. Ich betrat die Bar. Eine Treppe führte ziemlich steil in die Tiefe hinunter. Das dumpfe Klopfen eines Schlagzeugs ließ die Luft vibrieren. Die Stufen, auf die ich meine Füße setzte, waren aus Glas und von 147
innen violett beleuchtet. An den Wänden hingen zahlreiche Spiegel, die mich auf meinem Abstieg begleiteten. Als ich das Ende der langen Treppe erreicht hatte, schlug ich einen dicken Vorhang mit Bleibandabschluß zur Seite. Das Wummern des Schlagzeugs nahm sofort an Intensität zu. Rotes Licht ließ die anwesenden Gäste wie Teufel erscheinen. In der Mitte des großen Raumes flackerte das Höllenfeuer in einem offenen Kamin. Darum herum tanzte ein gemischtes Publikum. Ich hatte mit Norton Garner telefoniert, und er hatte mir gesagt, daß ich ihn hier finden würde. Ich fand ihn. Er war bereits blau. Ich rutschte auf den freien Hocker neben ihm. Er lümmelte angeschlagen auf der Theke. Als er bemerkte, daß sich neben ihm etwas bewegte, wandte er langsam den häßlichen Kopf. »Ah, Inspektor Whittaker«, brummte er wenig begeistert. »Auch hier, um sich zu amüsieren?« »Wir waren verabredet.« »Irrtum! Ich sagte, Sie würden mich hier finden.« »Ich habe das als Verabredung aufgefaßt.« »Ist ja egal. Ist ja alles egal, nicht wahr? Ich will Ihnen mal ein Geheimnis anvertrauen, Inspektor: die ganze Welt ist ein großes Scheißhaus. Wußten Sie das?« »Man hört so etwas öfter mal«, erwiderte ich. »Zumeist von Leuten, die Kummer haben. Gehören Sie zu denen?« 148
Er bestellte mir einen Ballantin’s, ohne zu fragen, ob ich einen haben wollte. Für sich verlangte er eine neuerliche Füllung seines Glases. Dann schielte er mich mit seinen glasigen Augen dümmlich an. »Kummer? Ich und Kummer? Norton Garner hat niemals Kummer, Inspektor. Merken Sie sich das.« »Sie brauchen mir gegenüber nicht die Schau vom harten Mann abzuziehen«, gab ich ihm zu verstehen. »In Ihrem Zustand ist das ziemlich beschwerlich.« »Ich höre immer Zustand.« »In ihrem Zustand heult man lieber.« »Jetzt machen Sie aber ’nen Punkt, Inspektor. Norton Garner heult niemals.« Und während er mir das mit zum Schwur erhobener Hand beteuerte, stiegen ihm die Tränen in die Augen. »Verdammt!« biß er mich zornig an. »Was machen Sie denn mit mir?« Er trank den Whisky hastig aus und knallte das Glas auf den Tresen. »Noch einen!« brüllte er dem Keeper ins Ohr. Er trank auch den nächsten Whisky so schnell wie Wasser. »He!« rief er dem Keeper zu. »Die Flasche her!« Er bekam die Flasche und bediente sich fortan selbst. Es störte ihn, daß ich mich nicht mit ihm besoff, und er beschimpfte mich deshalb, weil er glaubte, seine Gesellschaft wäre mir zu schlecht. Als er endlich vollgeladen hatte, schüttelte er schluchzend den Kopf.
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»Ich hätte nicht gedacht, daß es mich so schwer treffen würde«, stöhnte er mit schwerer Zunge. »Hätte nie im Leben für möglich gehalten, daß es so tief sitzen würde.« Er starrte mich an. Seine Züge gehorchten ihm nicht mehr. Sein Gesicht machte, was es wollte. Schnell wischte er sich die Tränen aus den Augen. » Sie hat mir einen Tritt gegeben, Whittaker. Mir! Diese Kanaille hat Norton Garner einen Tritt gegeben!« »Sybill Rivera?« »Wer denn sonst? Keine andere besitzt so viel Frechheit wie sie.« »Gab es Streit?« »Klar, gibt es doch immer. Sie will nichts mehr von mir wissen. « »Das sagt man so dahin.« »Nicht Sybill. Sie kennen diesen verfluchten Dickschädel nicht.« Er drosch die Faust auf den Tresen. »Soll sie sich doch zum Teufel scheren. Ich weine ihr keine Träne nach. Aber das eine sage ich Ihnen, Whittaker: diesen Schritt wird sie noch mal bitter bereuen. Ich werde ihr Knüppel zwischen die Beine werfen, wo ich kann. Die kommt nicht mehr weit, das verspreche ich Ihnen hoch und heilig. Wußten Sie, daß sie in. einer Fabrik gearbeitet hat, ehe sie zum Film kam? Ich werde dafür sorgen, daß sie nicht mal da mehr einen Job kriegt.« Ich trank meinen Whisky aus. Garner füllte das Glas sofort wieder mit unsicherer Hand. 150
»So gefallen Sie mir schon besser«, sagte er grinsend. Hinter uns tanzte ein bildhübsches Mädchen. Es hatte Paprika im Blut und eine atemberaubende Figur. Die Brüste waren zu drei Viertel außerhalb des Dekolletes. »Es gibt auch noch andere hübsche Käfer«, versuchte ich Garner zu trösten. Der Regisseur schüttelte unwillig den Kopf. »Ich will keine andere, nur Sybill.« Er musterte mich verärgert. »Sagen Sie mal, weshalb drängen Sie mir eigentlich Ihre Gesellschaft auf?« »Ich gehe bald wieder.« »Gehen Sie gleich, ich will allein sein!« »Das werden Sie noch lange genug sein.« »Mein Bier, Whittaker.« »Natürlich. Was halten Sie von Werwölfen, Garner?« Er sah mich verwirrt an und grinste dann breit. »Sind niedliche Tierchen, fressen hübsche Mädchen. In meinem Film passiert’s. Sie sollten ihn sich ansehen -wenn er jemals fertig wird.« »Können Sie zwischendurch auch mal ernst sein?«. »Aber ja. Soll ich Ihnen sagen, was im Lexikon über den Werwolf steht? Ich kann es wörtlich zitieren: Werwolf- im Volksglauben ein Mensch, der sich zeitweise in einen Wolf verwandelt und wie dieses Tier lebt.« »Wie sieht die Wirklichkeit aus, Garner? Gibt es Werwölfe?« 151
»Natürlich. Anne Melton, Carol Sky und Judy Brent sind einem solchen Unhold zum Opfer gefallen.« »Sie haben alle drei gekannt.« Er winkte ab. »Ich kenne viele Mädchen.« »Warum haben Sie sich für Judy Brent entschieden, Mr. Garner?« »Einfach deshalb, weil sie der dufteste Typ war. Ich fand sie für die Rolle am besten geeignet. Außerdem fielen die Probeaufnahmen mit ihr am besten aus.« »Wie viele Mädchen haben sich um die Rolle beworben?« bohrte ich weiter. »Siebzehn. Neun kamen in die engere Wahl, die anderen schickte ich schon nach einer kurzen Sprechprobe nach Hause. « »Von diesen neun Mädchen wurden dann Probeaufnahmen gemacht?« »Sie sagen es.« Drei von den neun Mädchen waren tot. Blieben sechs. Ich frage mich, ob ich in diese Richtung gehen sollte. Hielt sich der Werwolf an diese Mädchen? »Wo bekomme ich die Adressen der Mädchen?« fragte ich den Regisseur. »Da wenden Sie sich am besten an Jason Bloom im Besetzungsbüro. Der kann Ihnen weiterhelfen. « Jason Bloom kannte also die Adressen der Mädchen. Hatte das etwas zu bedeuten? Hatte er mir in 152
meinem Büro die Wahrheit erzählt? Die ganze Wahrheit? Ich holte Blooms Skizze aus der Tasche und legte sie vor die glasigen Augen des Regisseurs. »Iss’n das?« murmelte er desinteressiert. » Das soll ein Sportschuh mit Silberschnalle sein. Hier ist noch mal eine Skizze von der Schnalle.« »Was soll das, Whittaker? Ich dachte, Sie wären Polizist. Wollen Sie mir ein paar Schuhe andrehen?« »Ich will wissen, ob Sie jemanden kennen, der ein solches Paar besitzt. « »Ist das irgendwie von Bedeutung?« »Möglicherweise ja.« »Dann ist Ihre Enttäuschung sicherlich doppelt so groß, wenn ich Ihnen verrate, daß ich solche Schuhe noch nie im Leben gesehen habe.« »Was nicht ist, kann ja noch werden. Wenn Sie in den nächsten Tagen jemanden mit solchen Schuhen sehen, rufen Sie mich unverzüglich an, okay?« Der Regisseur kicherte albern. »Was ist?« fragte ich mürrisch. »Sie denken doch nicht im Ernst, daß ich mich morgen noch an diese Schuhe erinnern kann, Inspektor? Ich bin so blau, daß ich mir nicht mal was Wesentliches merken kann. « »Ich werde Ihnen die Skizze morgen noch mal zeigen.« »Aber nicht vor zehn, verstanden? Denn morgen habe ich einen miserablen Kater.« 153
Ich rutschte vom Hocker. »Sie wollen schon gehen?« fragte mich Garner enttäuscht. »Ich hab’s doch versprochen«, gab ich zurück, bedankte mich für den Drink und ließ Garner allein. Sergeant Crown stand sich etwa zur gleichen Zeit die Beine in den Bauch. Ein Kippenheer veranschaulichte die nervenzermürbende Eigenschaft des Wartens. Brian Jones war zu Hause. Allan Crown stand hinter einem gemauerten Kiosk und blickte hin und wieder zu den erhellten Fenstern hinauf. Eben wischte Jones’ Schatten daran vorbei. Und plötzlich ging das Licht aus. Crown straffte sein Rückgrat. Gleich würde es Abwechslung geben. Er brauchte nicht lange zu warten. Jones trat aus dem Haus. Er blickte nach rechts und nach links, ehe er die Straße überquerte. Sein Anzug war tipptopp gebügelt. Sergeant Crown ließ dem Statisten einen kleinen Vorsprung, dann folgte er ihm. Jones schien es ziemlich eilig zu haben. Ab und zu sah er sich nervös um. Allan fiel es nicht immer leicht, sich schnell zu verstecken. Trotzdem war er sicher, daß ihn Jones noch nicht bemerkt hatte. Eine Fußgängerunterführung. Brian Jones lief die grauen Stufen hinunter. Kurz darauf erreichte Crown den Abgang. Unten im Tunnel saß ein dreckiger Bettler auf dem kalten 154
Boden. Er verzog sein verwildertes Bartgesicht zu einem freundlichen Grinsen und streckte dem Sergeant die zitternde Hand entgegen. Crown übersah sie und erntete eine Flut von Flüchen. Der Sergeant eilte an den Klapptüren einer öffentlichen Bedürfnisanstalt vorbei und lief auf der anderen Straßenseite die Stufen hoch. Jones war verschwunden. Der Sergeant rannte bis zur nächsten Ecke. Die wenigen Passanten ermöglichten es ihm, schnellstens festzustellen, daß Jones nicht unter ihnen war. Wütend wandte er sich um. Da sah er Jones auf der gegenüberliegenden Straßenseite die Unterführung verlassen. Crown zerbiß einen Fluch zwischen den Zähnen. Jones hatte sich eines ganz billigen Tricks bedient. Er war die Stufen hinuntergelaufen, hatte sich in der Bedürfnisanstalt versteckt, gewartet, bis der Verfolger vorbeigelaufen war, um gleich danach umzukehren. Also hatte Jones gewußt, daß er beschattet wurde. Ehe Crown seinen Fehler ausbessern konnte, verschwand Brian Jones im Labyrinth der umliegenden Gassen. An diesem Abend schienen mehrere Personen den Wunsch zu haben, sich zu betrinken. Auch Timothy Atlee gehörte zu diesem Kreis. Sybill hatte ihn im Atelier ihre Verachtung spüren lassen. Es war ihm klar, daß er sich wie ein Feigling benommen hatte. Er hätte sich während des Streits moralisch 155
neben sie stellen müssen. Das hatte sie erwartet, aber er hatte es nicht getan, aus Angst um seine Karriere. Norton Garner hatte verdammt gute Beziehungen. Es war nicht ratsam, ihn zu verärgern, ihn sich zum Feind zu machen. Ging mich doch überhaupt nichts an, was die beiden miteinander hatten, versuchte er sich im Geist aus der Affäre zu ziehen. War doch ein rein künstlerisches Problem. Habe ich als Kameramann das Recht, zu sagen, wie Sybill nun spielen soll oder nicht? Nein. Er holte den Whisky aus dem Kühlschrank. Dann schaltete er den Farbfernseher ein. Es lief eine Sendung über Zigeuner. Er schaltete sämtliche Kanäle durch. »Mieses Programm!« brummte er und stellte den Apparat ab. Er hatte eigentlich gar nicht die Absicht gehabt, in die Röhre zu sehen. Er hatte den Wunsch, sich zu betrinken – wegen Sybill, dieser verrückten Ziege. Er goß das Glas zum erstenmal voll. Sein Blick fiel auf das Telefon. Ob er sie anrufen sollte? Er grinste. Bestimmt wartete sie auf seinen Anruf und darauf, daß er sie auf dem Bauch liegend um Verzeihung bat. Pah, um Verzeihung. Weshalb denn? Er war sich keiner Schuld bewußt. Trotzig trank er. Da schrillte das Telefon. Er erhob sich und ging an den Apparat.
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»Atlee.« Er grinste, als er Sybills Stimme erkannte. Und er war stolz darauf, daß nicht er sie angerufen hatte, sondern sie ihn. »Hallo, Baby. Immer noch eingeschnappt?« »Jetzt nicht mehr«, antwortete Sybill Rivera sanft. »Das freut mich. Freut mich für uns beide. Hast du Lust, auf einen Drink zu mir zu kommen? Es darf natürlich auch mehr sein.« »Sitzt du, Tim?« »Nein. Ich stehe. Warum?« »Dann setz dich!« »Aber – weshalb denn?« »Setz dich!« Atlee setzte sich wirklich auf den Hocker, der neben dem Telefontischchen stand. »Schon geschehen, Baby«, sagte er grinsend. »Komm rüber mit deinem Heiratsantrag.« »Du denkst wohl, ich habe sie nicht alle, was? Ich will dir keinen Heiratsantrag machen. Ganz im Gegenteil. Ich will dir jetzt mal klipp und klar sagen, was ich von dir halte . . .« »Aber, Baby . . .« »Bitte, unterbrich mich nicht, Tim!« »Hör mal, mit einer Predigt brauchst du mich nicht anzuöden, darauf bin ich nicht scharf.« »Du wirst dir anhören, was ich dir zu sagen habe!« »Na schön, wenn ich dir damit einen Gefallen erweisen kann.« Dann legte Sybill Rivera los. Es war verblüffend, wie viele Schimpfwörter sie kannte. Daß Atlee ein 157
miserabler Feigling und ein jämmerlicher Waschlappen war, erwähnte sie nur nebenbei. Ihr Hauptaugenmerk lenkte sie darauf, ihn so schwer wie möglich zu beleidigen. Sie kannte einige seiner Schwächen, wußte, wo man ihn verletzen konnte und setzte ihm ihre zahlreichen Lanzen genau in diese Weichteile. Timothy Atlee wechselte während eines klassischen Wutanfalls mehrmals die Farbe. Ehe er dem Mädchen ins Wort fallen konnte, sagte es abschließend: »Es ist dir wohl klar, daß ich unsere Freundschaft unter diesen Umständen nicht fortzusetzen gedenke. Ich nehme an, du wirst dich jetzt vor Wut besaufen. Rechne bitte nicht damit, daß ich dich morgen im Krankenhaus besuchen werde, falls man dich da im Laufe der heutigen Nacht mit einer schweren Alkoholvergiftung einliefern sollte.« »Das – das ist doch nicht dein Ernst, Sybill!« schrie Timothy Atlee außer sich. »Es ist mein vollster Ernst. Du solltest mich kennen, Tim. « »Hör mal, ich will nicht, daß es aus ist.« »Was hast du denn schon zu wollen?« erwiderte das Mädchen verächtlich. »Verdammt, kapierst du denn nicht, daß ich dich zwingen könnte, bei mir zu bleiben, Sybill?« Das Mädchen lachte spöttisch. »Niemand kann mich zwingen, etwas zu tun, was ich nicht tun will, Tim. Niemand, auch du nicht.« »Ich habe dich in der Hand, Baby!« 158
»So? Womit denn?« »Das fragst du noch? Mit dem, was wir getan haben. Ich könnte es an die große Glocke hängen. Norton Garner würde dir einen Tritt geben. Die ganze Welt würde von dem Skandal erfahren.« »Von Garner habe ich nichts mehr zu befürchten. Mit dem habe ich ebenfalls Schluß gemacht. Außerdem kannst du nicht beweisen, daß etwas zwischen uns war.« »Doch, Baby, das kann ich. Ich habe unter dem Bett im Schlafzimmer immer ein Tonband mitlaufen lassen. Wenn du keine Zeit für mich hattest, habe ich mir das Band vorgespielt und mir vorgestellt, du wärst bei mir. Möchtest du die Aufnahmen hören? Dein sinnliches Gestöhne reißt selbst den kältesten Eunuchen vom Stuhl, sage ich dir. Mit diesem Band habe ich dich in der Hand, mein Schatz. Solange es in meinem Besitz ist, wirst du nur das tun, was ich von dir verlange. Verstehst du? Andernfalls könnte ich das Band jemandem zuspielen, der mehr damit anzufangen weiß als ich.« »Schwein!« zischte Sybill Rivera entrüstet. »Niederträchtiges, dreckiges Schwein! So eine abscheuliche Gemeinheit liegt genau auf deiner Linie, du Mißgeburt. Aber ich habe keine Angst vor deinen Enthüllungen. Mach mit dem Tonband meinetwegen, was du willst, es ist mir egal. Ich bleibe dabei: Es ist aus zwischen uns. Und ich kann dir gar nicht oft genug sagen, wie glücklich ich darüber bin.« 159
Es knackte in der Leitung. »Sybill!« rief Atlee. »Sybill!« Er drückte mehrmals auf die Gabel. Sybill war nicht mehr dran. Wutschnaubend ließ er den Hörer sinken. Er kniff die Augen zusammen. Kleine graue Flecken klebten an seinen roten Wangen. »Na, warte!« preßte er haßerfüllt hervor. »Na, warte!« Die nächste Ampel zeigte rot. Der Mann trat auf die Bremse und ließ den Wagen bis an den Zebrastreifen heranrollen. Ein eiskaltes Zittern durchlief seinen Körper. Er hustete und wischte sich den lästigen Schweiß von der Stirn. Übelkeit würgte ihn. Und noch etwas war in ihm: Hunger. Doch es war nicht das bekannte menschliche Hungergefühl, das ihn quälte. Dieser Hunger war schlimmer. Er war nicht mit Brot zu stillen und auch nicht mit irgendeiner gekochten Speise. Dieser Hunger wurzelte im Reich der Dämonen. Und er war nicht anders als mit Menschenfleisch und Menschenblut zu stillen. Wieder hustete der Mann. Es klang wie ein Bellen. Das Lichtsignal sprang auf Grün. Der Mann starrte auf seine Hände, die sich mit langen, struppigen Haaren zu bedecken begannen. Stöhnend schüttelte er den Kopf. »Nicht jetzt! Noch nicht!« knurrte er. Ein ungeduldiger Fahrer hupte hinter ihm. Der Mann erschrak. »Grüner wird es nicht mehr!« brüllte der Fahrer. 160
Der Mann hatte Schwierigkeiten, seinen Körper wieder unter Kontrolle zu bekommen. Er wollte etwas aus dem offenen Seitenfester zurückrufen, doch aus seiner Kehle stieg nur ein heiseres Röcheln. Schwer atmend zwang der Mann den gefährlichen Wolf aus seinem Körper. Mit wutverzerrtem Gesicht gab er Gas. Der Wagen machte einen wilden Satz vorwärts, schoß über die Kreuzung und die abendliche Straße entlang. Der Mann fühlte ein schreckliches Feuer in seinen Eingeweiden brennen. Die Gier nach Blut wuchs beängstigend schnell und war schon fast nicht mehr zu unterdrücken. Mit dem Anwachsen der Gier steigerten sich auch die pausenlosen Attacken des Wolfs, der nun endgültig von diesem menschlichen Körper Besitz ergreifen wollte. Der Mann achtete kaum noch auf den Verkehr. Er war zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Gurgelnd und hechelnd verstrickten sich in seinem Körper Gut und Böse miteinander. Wie all die anderen Male würde der Mensch schließlich unterliegen, denn die Kräfte des Tieres wurden vom Satan gelenkt. Grelle Lichtreklamen fegten an dem dahinrasenden Fahrzeug vorbei. Passanten blickten hinter dem rücksichtslosen Fahrer her und schüttelten wütend und empört den Kopf. Keiner wußte, daß der personifizierte Tod, das Fleisch gewordene 161
Grauen an ihnen vorüberraste. Autofahrer hupten protestierend und stießen zornige Flüche aus, um ihrem Unmut Luft zu machen. Der Mann bemerkte sie alle nicht. Er raste weiter. Die Lichter schmerzten ihn in den Augen. Er sehnte sich nach der Dunkelheit und nach dem Fleisch eines ahnungslosen Opfers. Er wußte selbst nicht, daß er bereits zu einem Menschen unterwegs war, den der Wolf in ihm töten wollte. Mechanisch tat er seit geraumer Zeit nur noch das, was das Tier in ihm befahl. Mehr und mehr kam es nun an die Oberfläche. Aus den Händen wurden scharfe Krallen. Der Mann sah sie und erschrak darüber. Noch einmal gelang es ihm, die Verwandlung einzudämmen, sich dagegen zur Wehr zu setzen. Ein Schrillen gebremster Pneus ließ ihn hinter dem Volant hochschrecken. Er riß die Augen entsetzt auf. Das Herz blieb ihm beinahe stehen. Grelle Lichtkegel fraßen sich in seine Pupillen. Sie wurden groß wie Sonnen. Er riß die Arme vom Lenkrad und preßte sie vor das Gesicht. Jemand stieß einen schrillen Schrei aus. Es kam dem Mann nicht mehr zum Bewußtsein, daß er selbst diesen Entsetzensschrei ausgestoßen hatte. Schon kam der Aufprall. Blech donnerte gegen Blech. Metall kreischte, Glas klirrte. Die Windschutzscheibe konnte die gewaltige Spannung nicht verkraften und zerplatze. Glas prasselte wie Hagelkörner in das Wageninnere. 162
Scheppernd und sich immer wieder überschlagend tanzten Zierbleche davon. Der Mann wurde nach vorn gerissen. Ehe ihm schwarz vor den Augen wurde, sah er, wie sich die Welt auf den Kopf stellte. Er merkte, wie er durch die Luft flog, an der dunkelgrauen Bordwand eines Lasters vorbei. Etwa zehn Meter weit segelte der Mann davon. Dann knallte er mit dem Schädel auf den Asphalt. Jemand schaltete sofort alle Scheinwerfer aus. Und auch die Gier nach Blut erlosch in diesem Moment. Böser als die schlimmste Verbrecherjagd ist der hinterher und zwischendurch zu bewältigende Papierkrieg. Wie, was, wann, wieso, womit – und dergleichen Fragen mehr sind zu beantworten und an der richtigen Stelle, im richtigen Formular, zur richtigen Zeit einzusetzen. Niemand kann von mir behaupten, ich wäre nicht zuverlässig, nicht gewissenhaft, nicht bemerkenswert geduldig. Aber wenn ich meine Formulare auszufüllen habe, passiert es leider regelmäßig, daß ich mich zu den unflätigsten Schimpfwörtern hinreißen lasse. Wieder einmal saß ich hinter meinem erbitterten Feind, der alten Schreibmaschine, und tippte auf das vorgedruckte Formular, was man von mir wissen wollte. Natürlich hätte ich mir eine Schreibkraft dafür nehmen können, aber ich hatte meine triftigen Gründe, die Arbeit allein zu machen. Schon nach dem ersten deftigen Fluch wäre die 163
Schreibkraft vermutlich aus dem Büro gesaust, und mein Image, das mich im ganzen Haus als wohlbeherrschten Detektiv auswies, wäre für immer dahin gewesen. Sergeant Peppers Vertretung hatte sich vor zehn Minuten mit mir telefonisch in Verbindung gesetzt. Jason Bloom war zu Hause. Keine wie immer gearteten Vorkommnisse seien zu vermelden. Da schlug das Telefon wieder an. An und für sich habe ich es nicht gern, wenn man mich bei der Arbeit stört. Doch bei dieser Arbeit war mir jede -wirklich jede – Unterbrechung willkommen. Leichten Herzens entfernte ich mich von der Schreibmaschine und ging an den Apparat. »Whittaker.« »Ich bin es. Allan«, kam es atemlos durch den Draht. »Sag’ mal, bist du gerannt?« fragte ich grinsend. »Du schnaufst ja richtig.« »Das wirst auch du gleich tun«, stieß Allan Crown aufgeregt hervor. »Ist irgend etwas mit Brian Jones schiefgelaufen?« fragte ich schnell, und ich spürte, wie es in meinem Nacken unangenehm zu prickeln begann. »Er hat das Haus verlassen, ich bin ihm nachgegangen, er hat mich bemerkt und ist verduftet. « »Allan!« sagte ich vorwurfsvoll. »Ach, Allan!« »Zum Geier, ich weiß, daß ich mich wie ein Anfänger benommen habe, Tom. Setz mir nicht auch 164
noch mit Vorhaltungen zu. Sag’ mir lieber, was ich jetzt tun soll. Wenn Jones der Werwolf ist, dann ist wieder etwas zu erwarten. « Ich gönnte mir nicht die Zeit, erst zu durchleuchten, warum Jones seinen Schatten abgehängt hatte, wenn er nicht jenes Monster war, hinter dem wir her waren. Ich nahm einfach die Tatsache an, daß Jones unser Mann war. Der Werwolf war demnach wieder auf der Jagd. Abgesehen von Earl Barton, der ihm ja nur in die Quere gekommen war, hatte er jedesmal Mädchen getötet. War er nun wieder zu einem Mädchen unterwegs? Es wäre mir lieb gewesen, die Namen und die Adressen jener sechs Mädchen zu kennen, von denen Norton Garner ebenfalls Probeaufnahmen gemacht hatte. »Was soll nun geschehen, Tom?« Allans Frage riß mich aus meinen Überlegungen. »Ruf mich in fünf Minuten noch mal an.« Er sagte: »Aber . . .« Dann war er nicht mehr da, denn ich hatte bereits aufgelegt. Das Telefonbuch verriet mir Jason Blooms Nummer. Ich rief ihn an. Er hob nicht ab. Ich ließ es zwei Minuten lang klingeln, denn der Mann vor Blooms Haus hatte mir erzählt, Bloom wäre daheim. Es blieb dabei, Jason Bloom hob nicht ab. Allan rief zum zweitenmal an. Ich erklärte ihm, was ich vorgehabt hatte. Ich hätte es trotz der Arbeitskräfteknappheit möglich gemacht, daß jedes dieser 165
sechs Mädchen einen Schutzengel von Scotland Yard bekommen hätte. Doch dazu hätte ich ihre Namen wissen müssen. Der Gedanke, daß dieser Werwolf sich bereits auf dem Weg zu einer von ihnen befand, rief einen heftigen Schüttelfrost in mir hervor. »Was tun wir?« fragte Allan drängend. Ja, was? Ich dachte angestrengt nach. Wer konnte noch Gefahr laufen, ein Opfer der grausamen Bestie zu werden? Zwei Namen fielen mir ein: Rosalind Ashley und Sybill Rivera. »Hallo! Hallo, Tom! Bistdunochda? Verdammt, nun hat er schon wieder aufgelegt!« hörte ich Allan schimpfen. »Nein!« rief ich schnell. »Ich bin noch dran, Allan!« Ich sagte ihm hastig, was mir gerade durch den Kopf gegangen war. Und ich bat ihn, sofort zu Rosalind Ashley zu fahren. Um Sybill Rivera wollte ich mich selbst kümmern. Da Allan Crown auch mal jung und unverheiratet gewesen war, konnte er meinen Entschluß sehr gut verstehen. Blieb nur noch zu hoffen, daß wir nicht zu spät dran waren und sich der Werwolf für eines von diesen beiden Mädchen entscheiden würde. »Ich bestehe darauf, daß man zur Kenntnis nimmt, daß ich an diesem Unfall keinerlei Schuld habe«, sagte der Lastkraftwagenfahrer. Er war groß und schwer. Sein rundes Gesicht war unnatürlich grau. 166
Er rauchte, und die Hand, die die Zigarette zum bebenden Mund führte, zitterte merklich. »Werden Sie das zu Protokoll bringen, Konstabler?« Der Uniformierte nickte beschwichtigend. »Natürlich. Alles wird schriftlich festgehalten, was Sie sagen. « »Er ist in der Straßenmitte gefahren. Was heißt gefahren? Er ist gerast«, machte sich der Fahrer Luft. Mit geschlossenen Lidern lag der andere Fahrer auf dem Asphalt. Neugierige umringten die Unfallstelle. Der Aufprall hatte den Pkw auf die halbe Länge zusammengepreßt. Irgend jemand war mit einem Schaumlöscher herbeigeeilt, als unter der Motorhaube Flammen hervorschlugen. Der Brand war im Keim erstickt worden. »Nicht mal Papiere hat er dabei«, sagte der LkwFahrer nervös. Nicht er, sondern der Konstabler hatte das festgestellt, als er an der Unfallstelle eingetroffen war und die Taschen des Bewußtlosen durchsucht hatte. »Ich wette, der besitzt nicht mal ’nen Führerschein, Konstabler. Eingesperrt gehören solche Leute, bis sie schwarz sind. Solche Verkehrsrowdies darf man doch nicht auf die Menschheit loslassen. Bringen einen rechtschaffenen Mann in Teufels Küche. Da hört sich doch alles auf!« Der angeforderte Ambulanzwagen traf ein. »Platz!« rief der Konstabler. »Bitte, treten Sie zurück! Leute, so seid doch vernünftig! Laßt die Männer von der Ambulanz durch!« 167
Ein Arzt puffte sich durch die Menge. Zwei Träger folgten ihm mit einer Bahre. Der Bewußtlose wurde kurz untersucht. »Schwerer Schock, Gehirnerschütterung«, sagte der Doktor zum Konstabler. »In welches Hospital bringen Sie ihn?« Der Arzt nannte ein Krankenhaus in der Nähe. Schon lag der Ohnmächtige auf der Trage. Augenblicke später wurde er in den Krankentransportraum des Ambulanzwagens geschoben. Der Arzt stieg die Stufen hoch und setzte sich neben ihn. Polternd flogen die Türen zu. Ein Träger nahm hinter dem Lenkrad Platz. Der andere verfrachtete sich neben ihn. Der Wagen setzte sich sofort in Bewegung. Während der Fahrt horchte der Arzt die Herztöne des Bewußtlosen ab. Er hob dessen Lider und prüfte die Reflexe. Ein tiefer Seufzer leitete das schrittweise Erwachen des Patienten ein. Der Mann schlug die Augen auf und sah sich verwirrt um. »Wo bin ich? Was ist passiert?« »Sie hatten einen Autounfall. Wir bringen Sie ins Krankenhaus. « Der Mann wollte sich aufsetzen. »Bleiben Sie liegen«, sagte der Arzt. Er drückte den aufgeregten Patienten auf die Bahre zurück. »Ich will nicht ins Krankenhaus!« rief der Mann erregt aus.
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»Man wird Ihnen schon nicht den Kopf abreißen«, sagte der Arzt lächelnd. »Sie werden gründlich untersucht. Wenn sich herausstellt, daß Sie soweit okay sind, können Sie schon bald wieder nach Hause gehen. Bei der herrschenden Bettenknappheit behalten die Sie sowieso nicht länger, als es unbedingt nötig ist.« Der Mann zitterte schrecklich, klapperte mit den Zähnen. »Ich kann nicht ins Krankenhaus, ich will nicht. . .« »Wovor haben Sie denn solche Angst?« »Ich habe keine Angst.« »Dann verstehe ich nicht. . .« »Bitte, lassen Sie anhalten! Ich flehe Sie an, veranlassen Sie, daß der Wagen sofort stehenbleibt!« »Ich denke nicht daran«, entgegnete der Arzt schroff. »Ich muß hier raus!« schrie der Mann wütend. »Seien Sie doch vernünftig! Merken Sie denn nicht, was für einen schweren Schock Sie erlitten haben? Es wäre unverantwortlich, Sie ohne ärztliche Hilfe Ihrem Schicksal zu überlassen.« »Ich bin gesund, mir fehlt nichts.« »Das können Sie nicht wissen. Sie könnten innere Verletzungen erlitten haben.« »Ich fühle mich prächtig.« »Na fein. Dann wird Ihr Krankenhausaufenthalt nicht allzu lange dauern.«
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Der Mann begann zu heulen. Er krümmte sich auf der Bahre. Haare bedeckten für den Bruchteil einer Sekunde sein Gesicht. Gleich darauf verschwanden sie wieder. Der Arzt bezweifelte verwirrt, was er gerade gesehen hatte. »Sehen Sie denn nicht, was mit mir los ist?« keuchte der Mann. »Sie müssen mich gehen lassen, schnell, sonst sind Sie verloren!« Der Arzt hielt perplex die Luft an. »Was reden Sie denn da?« preßte er heiser hervor. Seine ungläubigen Blicke fielen auf die Finger des Patienten. Die Nägel wurden zu scharfen, schwarzen Krallen, während auf den Handrücken lange Haare sprossen. Noch war aus dem Gesicht des Mannes keine Wolfsschnauze geworden. »Doktor!« brüllte er und hielt dem entsetzten Arzt die abscheulichen Pfoten hin. »Sehen Sie . . .« Seine Stimme überschlug sich, brach, wurde zu einem Husten, Bellen, und schließlich kam nur noch ein grauenerregendes Knurren aus dem Mund, in dem sich während eines kurzen Augenblicks Raubtierzahne bildeten. Wie gelähmt war der Arzt. »O Gott!« rief er aus. Das Monster schnellte hoch. Der Doktor wollte sich mit einem Sprung in Sicherheit bringen, doch der haarige Teufel hackte mit einem wilden Fauchen nach ihm. Der weiße Mantel wurde von den Pranken aufgeschlitzt. Sofort schoß Blut aus tiefen Wunden. Der Arzt schrie verzweifelt auf, doch die
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beiden Träger hörten ihn nicht. Blitzschnell biß der Werwolf zu. Knirschend brachen Elle und Speiche des rechten Arms. Der Arzt schrie in wahnsinnigem Schmerz auf. Er wollte mit der linken Hand gegen die Wand trommeln, die die Fahrerkabine vom Krankentransportraum trennte. Der Werwolf biß ihn brutal in den Nacken. Er riß ihn zurück, schüttelte ihn gewaltig und schleuderte ihn auf den Boden. Ringsum war alles voll Blut. Der Arzt starb einen grauenvollen Tod. Gierig trank das Untier den roten Lebenssaft. Dann richtete es sich hechelnd auf. Seine funkelnden Augen schauten sich um. Er eilte zu den beiden Türen, die den Transportraum abschlossen. Schnell öffnete er sie. Der kühle Abendwind zerzauste sein silbernes Fell. Blut tropfte aus seiner Schnauze. Die Zunge hing ihm weit aus dem Maul. Er bot einen erschreckenden Anblick. Das Dunkelgrau der Straße fegte unter ihm hinweg. Er zögerte keine Sekunde, sprang aus dem Ambulanzwagen, krümmte den kräftigen Körper, überschlug sich mehrmals, rollte sich ab und kam unverletzt auf die Beine. Hastig huschte er auf den dunklen Spalt einer schmalen, schlecht beleuchteten Straße zu und verschwand darin. Mit Mühe gelang es ihm, sich vorübergehend zurückzuverwandeln. Als dies geschehen war, orientierte er sich kurz. Ein dämonisches Grinsen wisch171
te über seine menschlichen Züge. Es war nichts Gutes mehr in seinem Geist. Und sein Hunger meldete sich schon nach wenigen Minuten wieder. Er wußte, wo er war, und er wußte, wo er sich neue Nahrung holen konnte. Rosalind Ashley wohnte in einem siebenstöckigen Haus im Erdgeschoß. Für eine Person allein war die Wohnung groß genug. Sie wies den üblichen Komfort auf, ohne luxuriös zu sein. An den Wänden klebten helle, freundliche Tapeten. Auch die Möbel waren größtenteils in hellen Farbtönen gehalten. Über einer cremefarbenen Anrichte hingen drei Bilder von Insekten – zwei Spinnen und einer Fliege. Bei Allan Crowns Eintreffen war Miß Ashley damit beschäftigt gewesen, mittels Kartenlegen die Zukunft zu erfahren. Als sie ihn ins Wohnzimmer führte, raffte sie die Karten schnell zusammen und ließ sie in einer großen Lade verschwinden. Er hatte ihr den wahren Grund seines Kommens gesagt. Sie zu belügen hätte wohl keinen Sinn gehabt. »Sie wollen die ganze Nacht hierbleiben?« fragte das ältliche Mädchen verblüfft. »Nur zu Ihrem Schutz«, erwiderte Allan lächelnd. »Ja, natürlich. Ich zweifle nicht daran, daß Sie ein Gentleman sind, Sergeant Crown. Aber meinen Sie wirklich, daß mir Gefahr droht?« »Niemand kann das mit Sicherheit bejahen oder verneinen, Miß Ashley. Inspektor Whittaker und 172
ich sind lediglich der Meinung, daß es besser ist, vorbeugende Maßnahmen zu treffen, als ein neuerliches Opfer zu beklagen.« Miß Ashley fuhr sich erschrocken an den Hals und schluckte aufgeregt. »Ich habe Angst, Sergeant.« »Dessen brauchen Sie sich nicht zu schämen, Miß Ashley. Ich werde auf jeden Fall mein Bestes geben, um Ihr Leben zu beschützen.« Das Skriptgirl richtete sich nervös die Brille. »Hoffentlich reicht Ihr Bestes, Sergeant.« »Wir werden sehen.« »Ich hatte also recht mit meiner Annahme, daß Brian Jones dieser schreckliche Mörder ist.« »Das ist noch nicht bewiesen, Miß Ashley. Vorläufig nehmen wir es bloß an.« »Er ist es, ich weiß es. Ich habe ihn aufmerksam studiert. « Allan Crown massierte seine müden Augäpfel. »Vielleicht gelingt es uns, das Geheimnis noch in dieser Nacht zu lüften. Wer weiß.« Timothy Atlee öffnete die Tür. Es hatte geläutet. Ein guter Bekannter stand draußen. »Nanu«, sagte Atlee grinsend. »Das trifft sich ja richtig großartig – trifft sich das. Komm herein! Na, komm schon. An so einem Abend ist mir jeder Besuch recht. Ich will dich damit natürlich nicht beleidigen, verstehst du.« Der Mann trat ein. 173
»Siehst ein bißchen mitgenommen aus«, sagte Atlee. Er war wie aufgezogen. Der Ärger über Sybill machte ihn geschwätzig. Er war froh, mit jemandem reden zu können. Sie gingen ins Wohnzimmer. Auf Atlees Bitte hin setzte sich der Besucher. Der Kameramann grinste. »Hast heute anscheinend nicht gerade deinen gesprächigen Tag, was?« »Ich hatte Ärger.« »He, was ist denn mit deiner Stimme los?« »Was soll damit los sein?« »Klingt wie ein rostiger Blechtopf.« »Erkältet.« »Dann wird dir ein Whisky sicherlich helfen.« »Kann sein.« »Ärger hattest du?« fragte Atlee mit einem schiefen Grinsen. »Ja.« »Ich auch. Wir werden unseren Kummer im Whisky ersäufen, okay?« »Ich habe nichts dagegen«, sagte der Mann. »Wir werden uns sinnlos betrinken, uns unser Leid klagen und hinterher ein paar hundsordinäre Lieder grölen, was?« »Meinetwegen. « Atlee musterte den Mann kurz. »Sag mal, wieso ist dein Anzug so dreckig?« »Ich sagte doch, ich hatte Ärger.« »Ach, du hattest ’ne Schlägerei?« 174
»Ja.« »Dann sind die dunklen Flecken da wohl Blut?« »Ja.« »Dein Blut?« »Nein, das des anderen.« »Prima«, sagte Timothy Atlee begeistert. »Davon mußt du mir gleich mehr erzählen. « Atlee ging zur Hausbar, um ein zweites Glas zu holen. Plötzlich konnte der Mann keine Sekunde länger sitzen bleiben. Er federte hoch, ohne daß Atlee es bemerkte. Im selben Augenblick verwandelte er sich in einen Werwolf, dessen schrecklicher Blick starr funkelnd auf sein nächstes Opfer gerichtet war. Mit leisen Schritten schlich das Monster auf den Ahnungslosen zu. Timothy Atlee war bereits in diesem Augenblick ein toter Mann. »Je später die Gäste. . .«, begann Sybill Rivera. ». . . desto härter die Reste«, vervollständigte ich lächelnd den Spruch. Sie trug ein Neglige aus transparentem weißem Satin. Die weiten Ärmel dieses Gebildes erlaubten die Sicht auf vollkommene Arme und auf einiges mehr. Ich fühlte schon an der Tür ihres hübschen Hauses, daß ihr beruflicher Erfolg in dem umwerfenden Charme lag, den sie unentwegt versprühte. Ihr blondes Haar war lang. Sie trug es offen. Mir gefielen die sanften Wellen, in denen das Haar auf die wohlgerundeten Schultern floß. Ich sagte ihr, welch trister Grund mich zu ihr führte. 175
Sie musterte mich mit ihren verwirrend schönen Augen, lächelte und sagte: »Kommen Sie trotzdem herein, Inspektor Whittaker.« Für die Einrichtung jedes Raumes schien eine ganze Gage draufgegangen zu sein. Das Haus – sie zeigte es mir während eines kurzen Rundgangs – war geschmackvoll eingerichtet. Ich fühlte mich sofort wohl. Im Wohnzimmer war ein Zebrafell über die Wand hinter der Sitzgruppe aus Schlangenleder gespannt. In einem gläsernen Schrank war so ziemlich alles vorzufinden, was einem das Leben verschönt. Eine Stereoanlage mit Tonbandgerät und Plattenspieler. Langspielplatten in allen Geschmacksrichtungen – von schwerer klassischer Musik bis zum heißesten Soul-Rock. Es gab Bücher, einen Filmprojektor, Filmspulen, einen Farbfernseher und natürlich auch eine Bar, in der mehr Flaschen standen als Bäume in so manchem Wald. Ich bekam einen Drink. Dann entschuldigte sich Sybill Rivera für einen Augenblick. Als sie zurückkam, trug sie einen kornblumenblauen Hausanzug aus raschelnder Seide. Als ich feststellte, daß sie darunter nackt war, wurde mir zum erstenmal siedend heiß. Obwohl das Ding bis obenhin geschlossen war, kam sie mir nun nackter vor als im Neglige. Ich bemerkte, daß ich ein wenig zu schnell trank und verlegte mich deshalb aufs Rauchen, um mich zu beruhigen. Ohne es zu ahnen, hatte ich genau 176
den richtigen Zeitpunkt erwischt: Sybill hatte das Bedürfnis, sich mit jemandem auszusprechen. Ich kam mir wie ein Beichtvater vor, und ich erfuhr Dinge, die sie mir zu einer anderen Stunde bestimmt nicht erzählt hätte. Unter anderem gestand sie mir ihr Verhältnis mit Timothy Atlee, obwohl alle Welt wußte, daß sie mit Norton Garner zusammen war. »Ich habe heute mit beiden Schluß gemacht«, eröffnete sie mir mit einem kriegerischen Augenaufschlag. Ich roch, daß sie bereits vor meinem Eintreffen einige Gläschen gekippt hatte. Es gibt wohl kaum einen Schauspieler, der die Finger vom Alkohol läßt. Ich fragte mich insgeheim, weshalb das eigentlich so ist. Sind sie alle trotz ihres beruflichen Erfolgs, trotz ihres Reichtums unglücklich? In Sybills Fall konnte ich mich persönlich davon überzeugen, daß das Schicksal sie schwerer angeschlagen hatte, als sie sich selbst einzugestehen bereit war. Hier bewahrheitete sich wieder einmal der Spruch, daß nicht alles Gold ist, was glänzt. Obwohl Sybill mein Mitleid bestimmt nicht haben wollte, hatte sie es. Aber ich ließ es sie nicht fühlen. Sie wäre zu stolz gewesen, um es anzunehmen. Sie hätte mich vermutlich kurzerhand hinausgeworfen. Um sie psychisch zu stärken, erzählte ich ihr, in was für einer Verfassung ich Norton Garner vorgefunden hatte. Sie lachte begeistert auf. Das gefiel ihr. Norton Garner saß allein in einer Bar und betrank sich – ihretwegen. Das gab ihr Berge. 177
» Ich wette mit Ihnen um jeden Betrag, daß sich in diesem Augenblick auch Tim Atlee bis an den Rand vollaufen läßt, Inspektor. « »Tun Sie das etwa nicht?« fragte ich besorgt. »Ich vertrage eine ganze Menge von dem Zeug, mein Lieber. Um mich brauchen Sie sich wirklich nicht zu sorgen. « »Wie Sie meinen.« Sie stand auf, begab sich mit wiegenden Schritten zum gläsernen Schrank, wählte nach ihrer Stimmung eine Schallplatte aus und legte die schwarze Scheibe auf den Teller. Als die sanften Klänge einer einschmeichelnden Melodie erklangen, kehrte sie mit kleinen Tanzschritten zu mir zurück. Ich hatte den Eindruck, sie legte es darauf an, sowohl Garner als auch Atlee in meinen Armen zu vergessen. Ich gebe zu, es fiel mir nicht leicht, diese Absicht zu übersehen. Schließlich war Sybill Rivera nicht irgend jemand, und außerdem war sie atemberaubend schön. Die ernsten Umstände zwangen mich, einen kühlen Kopf zu behalten. Sybill machte mir das verdammt schwer. »Einer von diesem Filmpack ist also der Werwolf«, sagte sie, während sie mit ihrem leeren Glas spielte. »Sie behaupten, es ist Brian Jones.« »Es ist lediglich eine Vermutung«, schränkte ich ein. »Ich sage Ihnen, daß Jones so harmlos ist wie Sie und ich.« »Haben Sie einen anderen Verdacht?« 178
»Vielleicht.« Ich holte Blooms Zeichnung aus der Tasche. »Kennen Sie jemanden, der solche Schuhe besitzt?« »Sind das besondere Schuhe?« »Es sind die Schuhe des Mörders.« Sybill schürzte die Lippen. Sie schaute die Skizze lange an, dann schüttelte sie den Kopf. »Nie gesehen.« »Wer könnte Ihrer Meinung nach der Mann sein, den wir suchen, Sybill?« »Norton Garner.« »Sie scherzen«, sagte ich aufgeregt. »Keineswegs, Inspektor. Wenn einer der Werwolf ist, dann Garner.« »Denken Sie, in diesem Fall würden Sie noch leben? Er hätte Sie doch längst umgebracht.« »Vielleicht hat er die Pfoten von mir gelassen, weil er mich liebte.« »Glauben Sie im Ernst, daß so eine Bestie jemanden lieben kann?« »Warum nicht, Inspektor? Als Mensch kann er das auf jeden Fall.« »Als Mensch vielleicht, aber nicht als Werwolf.« Sybill nahm sich noch einen Drink. Sie setzte sich mit dem Glas in der Hand auf die breite Lehne meines Sessels. Ich wollte zur Seite rücken, sie meinte, es wäre nicht nötig, sie hätte Platz genug. Als ob ich deshalb wegrücken wollte. Der Whisky, die schwüle Musik, das ungeheuer frauliche Par179
füm und die berückende Nähe dieses wunderschönen Mädchens machten mir schwer zu schaffen. Ich zündete mir schon wieder eine Zigarette an. Nach den ersten Zügen nahm sie mir das Stäbchen von den Lippen und rauchte daran weiter. »Haben Sie schon mal junge Hunde miteinander spielen, sich balgen gesehen?« fragte sie. »Natürlich.« »Ist Ihnen aufgefallen, daß sich die Hunde zwar beißen, einander aber nicht verletzen?« »Worauf wollen Sie hinaus, Sybill?« »Irgendwo im Schädel dieser jungen Hunde ist eine Sperre eingebaut. Sie beißen zu, ohne sich gegenseitig weh zu tun, weil sie sich mögen. Nun übertragen Sie diese Tatsache mal auf den Werwolf. Er liebt ein Mädchen – als Mensch. Als Wolf liebt er dieses Mädchen nicht. Er haßt es, wie alle anderen Menschen auch. Ich bestreite nicht, daß er den Wunsch hat, dieses Mädchen zu töten. Aber da ist die Sperre in seinem Geist. Er hat den Wunsch, zu töten, aber er kann es nicht. Sie müssen zugeben, daß diese Theorie einleuchtend ist, Inspektor Whittaker.« »Einleuchtend vielleicht, aber falsch. Ein Werwolf ist ein Monster. Sie können ihn nicht mit einem harmlosen Hund vergleichen.« »Er ist ein Tier. Und Tiere handeln emotionell.« »Er legt bestimmt alles Menschliche ab, wenn er zum Wolf wird, auch die Liebe.« »Ich bleibe dabei: Norton Garner ist ein Werwolf.« »Das sagen Sie doch nur, weil Sie ihn satt haben.« 180
»Irrtum, Inspektor. Ich sage es, weil ich davon felsenfest überzeugt bin. Haben Sie alle seine Filme gesehen?« »Nein.« »Ich schon. Solche Filme kann nur einer machen, der das Böse im Leib hat.« Ich schüttelte heftig den Kopf. »Verzeihen Sie, daß ich sage, was ich mir denke, Sybill. Das ist doch Blödsinn, was Sie als Argument anführen. Ein Film wird von einem ganzen Team gemacht, nicht von einem einzelnen Mann. Sie wissen das doch am besten. Von Ihrer Warte aus betrachtet, müßte doch der Drehbuchautor am verdächtigsten sein, denn er liefert die Idee für den Film. Ebensogut könnten Sie behaupten, Murray Collins ist der Werwolf, denn wer ein Monster so beklemmend echt darstellen kann wie er, muß selbst eines sein.« Sybill stieß meine Zigarette in den Keramikaschenbecher, der eine Hummel darstellte. Sie leerte ihr Glas auf einen Zug und hielt es sich nachdenklich an die Wange. »Sie werden sehen, daß ich recht habe, Inspektor. Garner ist es.« »Haben Sie Beweise?« » Mir genügt mein Gefühl. Und ich will Ihnen noch etwas verraten, Inspektor Whittaker. Bisher konnte mir Norton nichts anhaben, weil er in mich verliebt war. Diese Sperre ist nun gefallen. Es würde mich nicht erstaunen, wenn er demnächst zu mir kommen würde. «
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Sybill Rivera sagte das so kalt, daß mich fröstelte. Mein Blick fiel auf das schilfgrüne Telefon. Ich fragte, ob ich mal telefonieren dürfe. Sie hatte nichts dagegen. Ich rief Scotland Yard an. Was ich erfuhr, ließ mein Blut in den Adern gerinnen. Der Werwolf hatte einen Rettungsarzt zerfleischt. Als man den grauenvollen Mord entdeckte, leitete man sofort eine großangelegte Suchaktion ein. Die Aktion lief immer noch. Bisher mit negativem Erfolg. Ich befürchtete mit Recht, daß sich daran auch in einigen Stunden nichts ändern würde. Dieser verfluchte Teufel verstand es, immer wieder blitzschnell zuzuschlagen und dann spurlos zu verschwinden. Dabei half ihm die Fähigkeit, das Aussehen blitzschnell verändern zu können. »Wir wollen nicht an ihn denken, Tom«, flüsterte Sybill hinter mir. »Ich darf Sie doch Tom nennen?« »Es freut mich, daß Sie mich so nennen wollen.« »Sie sind mein Freund, nicht wahr, Tom?« »Wenn Sie es sagen.« »Möchten Sie mit mir tanzen? Hören Sie die schöne Musik, Tom. Läßt Sie diese wundervolle Melodie nicht alles Häßliche vergessen? Nehmen Sie mich in die Arme, Tom, kommen Sie, tanzen Sie mit mir!« Ich wollte nicht und tat es doch. Sie war leicht wie eine Feder. Ich spürte sie kaum im Arm. Ihr verführerisches Parfüm legte sich schwer auf meine Lunge. Ihr Fleisch unter dem seidenen Hausanzug 182
war weich und fest zugleich. Es war warm, durchpulst vom Leben. Ich begann wirklich zu vergessen, obwohl mir jemand immer wieder zuraunte, wie gefährlich das war. Irgendwann fragte sie mich, womit ich sie verteidigen wollte, wenn das Monster in ihr Haus kommen würde. Ich zeigte ihr meinen Webley & ScottRevolver. »Womit ist der geladen?« wollte Sybill wissen. »Nicht mit Bonbons«, erwiderte ich schmunzelnd. Das Mädchen sah mich ernst an. »Es müssen Silberkugeln in der Waffe sein, Tom.« »Woher soll ich denn Silberku . . .« »Andernfalls ist diese Waffe so wertlos wie eine Spielzeugpistole.« »So«, sagte Timothy Atlee kichernd. »Und nun kann die Fete steigen.« Er hatte das zweite Glas aus dem Schrank genommen und wandte sich nun mit einem Ruck auf den Absätzen um. Im selben Moment sprang ihn ein eiskaltes Grauen an. Gelähmt stand er da. Unfähig, zu reagieren. Seine Augen traten weit aus den Höhlen. Aus seinem offenstehenden Mund sickerte Speichel. Kraftlos spreizten sich die zitternden Finger. Das Glas fiel polternd zu Boden, ohne jedoch kaputtzugehen. » D – d u b-bist das?« stöhnte er erschüttert. Da traf ihn ein gewaltiger Hieb am Kopf. Er kippte zur Seite. Seine Arme ruderten durch die Luft. Er 183
versuchte das Gleichgewicht zu halten, doch es gelang ihm nicht. Schwer krachte er auf den Teppich. Das Monster flog mit angespannten Muskeln knurrend auf ihn zu. Die scharfen Wolfszähne klappten hart aufeinander, als sich Atlee keuchend zur Seite warf. Schon stieß die schreckliche Schnauze erneut zu. Diesmal fanden die dolchartigen Fangzähne ihr Ziel. Atlee brüllte mit schmerzverzerrtem Gesicht auf. Er riß sich verzweifelt los. Das Monster setzte nach. Atlee schnellte auf die Beine, packte einen Stuhl und drosch ihn dem Scheusal mit aller Kraft auf den grauenerregenden Schädel. Fauchend schüttelte sich der Werwolf. Atlee drosch noch einmal zu. Diesmal zerbrach der Stuhl. Das Holz klapperte zu Boden. Ehe sich das Monster auf Atlee stürzen konnte, bückte sich dieser und nahm ein handliches Stuhlbein an sich. Damit gedachte er sein Leben zu verteidigen. Das Untier riß sein ekelhaftes Maul auf und knurrte markerschütternd. Atlee wich zurück. Zitternd vor Angst erwartete er den nächsten Angriff des grausamen Mörders. Als der Angriff kam, stieß Timothy Atlee mit dem schräg abgebrochenen Stuhlbein zu. Das Holz drang dem Werwolf tief in die Brust. Er brüllte wütend auf. Ein Vampir wäre an dieser Verletzung qualvoll zugrundegegangen. Doch ein Werwolf war nicht zu töten, indem man ihm einen Holzpfahl durch das Herz stieß. 184
Das grauenerregende Monster packte das Stuhlbein und zerrte es sich brüllend aus der Brust. Wütend schleuderte er es durch den Raum. Die Wunde im Fell schloß sich sofort. Das verkraftete Timothy Atlees Geist nicht. In panischer Furcht erwartete er schrill kreischend den Tod. Der Werwolf brachte ihn, doch nicht sofort. Atlee hatte Höllenqualen auszustehen, ehe er zusammenbrach. Schlimmer als je zuvor vollendete das Monster sein grausames Werk. Immer wieder biß es zu. Timothy Atlee war bereits nach wenigen Sekunden nicht mehr wiederzuerkennen. Mrs. Bixby war eine kleine, resolute Frau, die zu Hause ein recht beachtliches Kommando führte. Ihr kränklicher Mann hatte ausnahmslos das zu tun, was sie ihm befahl, und auch die fünf Kinder hatten nach keiner anderen Pfeife als der ihren zu tanzen. Trotzdem – oder gerade deswegen klappte der Haushalt von Mr. Bixby vorbildlich. Da Mr. Bixby wegen seiner Diabetes immer wieder für einige Zeit arbeitsunfähig war, mußte Mrs. Bixby wohl oder übel diejenige sein, die einer relativ geregelten Arbeit nachging. Obwohl sie keinen Beruf erlernt hatte, war es für sie nicht schwer gewesen, Arbeit zu finden. Sie kam in das Haus jener Leute, die sich zu nobel dafür waren, selber ein Staubtuch zur Hand zu nehmen. 185
Für Geld machte Mrs. Bixby diese Arbeit. Mit dem, was ihr Mann gelegentlich nach Hause brachte und mit ihrem Verdienst fand Mrs. Bixby ihr Auskommen, ohne jedoch in Saus und Braus leben zu können, doch das konnten viele andere Leute auch nicht. Es war acht Uhr morgens. Die Sonne meinte es gut mit London und seinen verschlafenen Bürgern. Da Mrs. Bixby zuviel Sonne nicht vertragen konnte, trug sie an solchen Tagen stets einen hellen Strohhut mit breiter Krempe. Es machte ihr nichts aus, daß die Menschen wegen des Hutes über sie lachten. Sie brauchte ihn, und einen anderen wollte sie sich nicht leisten. Mit gravitätischen Schritten durchquerte Mrs. Bixby den kleinen Garten. Sie erreichte die Eingangstür des Hauses, in dem sie zweimal wöchentlich für Sauberkeit und Ordnung zu sorgen hatte. Ihr breiter Daumen legte sich auf den Klingelknopf. Mit der Linken nahm sie inzwischen schon ihren Sonnenhut ab. Als nach einer angemessenen Weile immer noch niemand gekommen war, um die Tür zu öffnen, wurde Mrs. Bixby ungeduldig. »Denkt wohl, ich hätte meine Zeit gestohlen.« Sie blickte sich um und klingelte dann noch einmal. Nun aber ungestüm. Wieder nichts. Da versuchte Mrs. Bixby selbst ihr Glück an der Tür. Es war nicht abgeschlossen. Nicht einmal ganz
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zu war die Tür gewesen, das fiel der Putzfrau jetzt erst auf. »Nanu!« murmelte sie und drückte die Tür weiter zur Seite. Mit einem ungnädigen Ausdruck um die dünnen Lippen schüttelte sie den Kopf. »Diese Filmleute, was sind das doch für schlampige Typen.« Sie trat ein, sog die Luft prüfend ein und stellte einen süßlichen Geruch fest, ohne sich dessen Herkunft erklären zu können. »Hallo!« rief sie zum Schlafzimmer hinauf. »Mr. Atlee! Mrs. Bixby ist da!« Sie ließ den Sonnenhut auf die Hutablage segeln und begab sich in die Tiefe des Hauses hinein. Als sie ins Wohnzimmer trat, faßte sie sich kreidebleich ans Herz. Das viele Blut drehte ihr den Magen um. Sie starrte die grauenvoll verstümmelte Leiche Atlees kurz an, wandte sich mit einem schrillen Schrei um, rannte ins Bad und übergab sich da. Fünfzehn Minuten später fand sie die Kraft, die Polizei über diesen schrecklichen Fund zu informieren. Wir hatten beide während der vergangenen Nacht kein Auge zugetan. Allan Crown hatte es unternommen, Miß Rosalind Ashley von seinen Söhnen zu erzählen. Stolz auf seine einstigen Erziehungsmethoden, die heute gute Früchte trugen, ließ er auch diese nicht unerwähnt. Von Miß Ashley, die 187
einige Semester Psychologie und Pädagogik studiert hatte, hatte er nun erfahren müssen, wie grundfalsch er seine beiden Jungs erzogen hatte. Die Diskussion erstreckte sich bis in die frühen Morgenstunden. Abgekämpft und niedergeredet war der Sergeant in unser gemeinsames Büro zurückgekommen. Ich hingegen hatte eine himmlische Nacht verbracht. Nicht nur in Sybills Haus, sondern auch in ihrem Bett und in ihren Armen. Eigentlich hätten wir Grund zur Freude gehabt, daß der Werwolf weder bei Miß Ashley noch bei Sybill Rivera aufgetaucht war. Wir freuten uns trotzdem nicht, denn es gab noch sechs Mädchen, an die sich das Monster gehalten haben konnte. Jedesmal, wenn das Telefon an diesem Morgen anschlug, gab es mir einen Stich, denn jeder Anruf konnte die Hiobsbotschaft sein, mit deren Attacke ich sicher rechnete. Als dann der Anruf kam, riß es mich vom Stuhl. Zum erstenmal hatte sich das Monster kein Mädchen, sondern einen Mann geholt. Timothy Atlee war dem grausamen Mörder zum Opfer gefallen. Mir flimmerte es vor den Augen. Was mit Earl Barton und dem Rettungsarzt geschehen war, durfte man nicht mit den anderen Morden in einen Topf werfen. Die waren nur als Beiwerk anzusehen. Als klare Linie war bisher zu erkennen, daß der Werwolf ausgezogen war, um Anne Melton, Carol Sky, Judy Brent und nun auch Timothy Atlee zu töten. 188
Inzwischen wußten wir, daß der Wagen, mit dem der gesuchte Mörder gegen einen Lkw geprallt war, nicht ihm gehört hatte. Der Wagen war einem Bankbeamten gestohlen worden. Ehe Sergeant Crown und ich mit den Männern der Mordkommission New Scotland Yard verließen, brachte ich eine Vielzahl von Steinen ins Rollen. Ich schickte einen Mann zu Brian Jones. Wenn er zu Hause war, sollte der Beamte ihn festnehmen und unseren Vernehmungsspezialisten übergeben. Als nächstes verlangte ich, alle Personen heranzuschaffen, die den Werwolf als Mensch gesehen hatten. Und zwar nach dem Unfall. Das waren der Fahrer des Lasters, der Konstabler, die beiden Krankenträger und vielleicht auch noch ein paar Neugierige. Sie alle sollten sich mit unserem Zeichner zusammensetzen. Ich wollte endlich ein Bild von diesem Scheusal sehen. Hinterher rief ich Norton Garner an. Er war halb tot, als er sich meldete. »Gut geschlafen?« fragte ich stichelnd. »Verdammt, Whittaker, ich habe noch geschlafen.« »Machen Sie mir keinen Vorwurf, Mr. Garner. Sie hätten sowieso aufstehen müssen.« »Wieso denn?« »Weil das Telefon geläutet hat.« »Seit wann kann ein Bulle denn dämliche Witze reißen?« »Atlee ist tot!« sagte ich schneidend.
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Garner blieb die Luft weg. Ich hörte ihn förmlich um Fassung ringen. »Tot?« ächzte er schließlich. »Aber – wieso denn?« »Der Werwolf!« »Sagen Sie, Whittaker, finden Sie es nicht langsam an der Zeit, daß Sie etwas gegen dieses Monster unternehmen?« Er hatte gut reden. Ich unternahm doch andauernd etwas gegen die Bestie, aber es blieben immer nur Schläge ins Wasser. Unglücklicher als ich war wohl keiner darüber. Schließlich ging es nicht nur darum, den Tod von sechs Menschen zu sühnen und weitere Morde zu verhindern. Allmählich begann auch mein Ruf als guter Kriminalist abzubröckeln und zu verblassen. Ein Erfolg war dringend nötig. »Ich tue mein Bestes, Mr. Garner«, entgegnete ich scharf. »Das scheint aber zuwenig zu sein, Inspektor.« »Was schlagen Sie als Laie vor?« »Geben Sie den Fall doch ab. Vielleicht hat einer Ihrer Kollegen mehr Erfolg als Sie.« »Ein Glück, daß Sie von meiner Arbeit ungefähr genauso viel verstehen wie ich von der Ihren«, gab ich bissig zurück. »Und nun zum eigentlichen Grund meines Anrufs, Garner. Ich habe Ihnen gestern abend eine Skizze gezeigt. Erinnern Sie sich?« »Dunkel, sehr dunkel.«
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»Dann machen Sie Licht, verdammt noch mal! Es war ein Sportschuh mit Silberschnalle. Wird es jetzt hell?« »Sagen Sie mal, wie reden Sie denn mit mir, Whittaker?« brauste er auf. »Ich will, daß Sie über diesen Schuh nachdenken. Garner, und zwar gründlich! Und wenn Ihnen einfallen sollte, wer ein solches Paar besitzt, dann rufen Sie unverzüglich New Scotland Yard an. Falls ich nicht dasein sollte, wird sich einer meiner Kollegen anhören, was Sie zu sagen haben. Das wär’s. Und nun springen Sie raus aus Ihrer verfluchten Lethargie, sonst sind vielleicht schon heute nacht Sie das nächste Opfer.« Bestimmt wollte er noch etwas sagen. Auf jeden Fall hätte er mich noch tüchtig beschimpfen wollen, doch ich nahm ihm diese Gelegenheit, indem ich den Hörer auf die Gabel fallen ließ. Danach brachen wir auf. Timothy Atlee und Mrs. Bixby erwarteten uns – mehr oder weniger ungeduldig. Es gab keinen Beamten, den dieser gräßliche Anblick kalt gelassen hätte. Wir waren bestimmt einiges an Scheußlichkeiten gewöhnt, aber das übertraf alles, was wir bisher kennengelernt hatten. »Die Leichen sehen von mal zu mal schlimmer aus«, sagte Allan, nachdem er sich mit einem Schluck Wasser gelabt hatte. Das restliche Wasser trank ich, denn auch mein Magen quälte mich mit einem unangenehmen, faulen Gefühl. 191
Das, was von Timothy Atlee übriggeblieben war, sammelten zwei Männer mit Gummihandschuhen ein, nachdem die Leiche von unserem Polizeiarzt und vom Fotografen freigegeben worden war. Die Leichenteile wurden in eine Blechwanne gelegt. Da, wo sie gelegen hatten, waren nur Kreidemarkierungen zu sehen. Wir hörten uns an, was Mrs. Bixby zu sagen hatte. Es war so gut wie nichts. Wir entließen sie. Ich beauftragte einen meiner Männer damit, die schwer erschütterte Frau mit dem Dienstwagen nach Hause zu fahren. »Und was nun?« fragte Allan ratlos. »Hast du mir keine eigenen Ideen anzubieten?« fragte ich brummig zurück. »Tut mir leid, Tom. Ich kann die unsichtbare Wand, vor der wir stehen, genausowenig durchbrechen wie du. « »Dann geh nach Hause und schlaf dich aus!« »Kommt überhaupt nicht in Frage.« »Deine Frau hat dich eine Ewigkeit nicht mehr gesehen. « »Sie ist sehr verständnisvoll.« »Bist du mit ihr oder mit Scotland Yard verheiratet?« schnauzte ich ihn gereizt an. »Es genügt vollkommen, wenn einer von uns beiden bei dieser verfluchten Arbeit langsam vor die Hunde geht. « »Wir werden ihn finden, Tom. Dann werden wir Ruhe haben.« Ich fletschte die Zähne.
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»Schön von dir, daß du nicht sagst, was auf uns zwischen ›Finden‹ und ›Ruhe haben‹ wartet. Geh jetzt endlich nach Hause, Allan!« »Ich muß nicht gehen, wenn ich nicht will, Tom.« »Dann bleibe doch, du sturer Bock! « Allan grinste. »Wir sind nur zu zweit ein Team, Tom, vergiß das nicht. « Ein Anruf kam. Ich befürchtete, daß er für mich sein könnte, und diese Befürchtung bewahrheitete sich Augenblicke später, als mich einer meiner Kollegen an den Apparat rief. Der Chef persönlich hatte Sehnsucht nach mir. Sir John Baxter war am anderen Ende der Leitung, und was er mir eröffnete, war alles andere als erfreulich. Die Zeitungsfritzen hatten von den abscheulichen Morden natürlich Wind bekommen. So etwas läßt sich auf die Dauer nicht vertuschen. Nun hatten die Reporter ein kleines demokratisches Kesseltreiben veranstaltet und schließlich eine Pressekonferenz erwirkt. Es war klar, daß Sir John größten Wert darauf legte, daß er diesen Spießrutenlauf nicht allein bestritt. Allan Crown und ich sollten mit ihm laufen. In einer Stunde. Im Pressesaal von Scotland Yard. Ich wäre pervers veranlagt gewesen, wenn ich mich auf diese Konferenz gefreut hätte. Mir war klar, daß die Journalisten mit den klügsten Worten nicht über unsere bisherige Erfolglosigkeit hinweg193
zutäuschen waren. Außerdem war mir klar, daß die Zeitungsmänner uns mit ihren scharf geschliffenen Fragen vivisezieren würden. Vor allem mich, denn ich leitete ja das erfolglose Unternehmen. Es wurde um vieles schlimmer, als ich geahnt hatte. Sie ziehen uns – aber vor allem mich – der Unfähigkeit. Sie verlangten offen meinen Rücktritt. Sir John stellte sich lobenswerterweise schützend vor uns und verteidigte uns, so gut er konnte, mit schärfster Entschlossenheit. Einen Teil der unqualifizierten Angriffe konnten wir parieren und entkräften. Doch es blieben viele Dolche übrig, die uns tief ins wunde Fleisch gesetzt wurden. Ich hätte am liebsten laut herausgelacht, als sie mir sozusagen ein Ultimatum stellten. Sie räumten mir achtundvierzig Stunden ein. Wenn ich den Werwolf bis dann nicht unschädlich gemacht hätte, würden sie mich – bildlich gesprochen – in der Luft zerreißen. Danach könnte ich meinen Hut nehmen. Doch nicht nur ich, sondern auch Allan Crown und vor allem Sir John Baxter, der es sich geleistet hatte, sich offen zu uns zu bekennen. Atemlos durchhetzten wir den Tag. Wir tranken pausenlos Tee, aßen jedoch so gut wie gar nichts, weil dafür einfach die Zeit nicht reichte. Als der Abend anbrach, stürmte die Turbulenz einem absoluten Gipfel entgegen. Uns riß sie natürlich mit. Da kam zum Beispiel über Fernschreiben von Interpol die Antwort auf unsere nachmittags losge-
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lassene Anfrage herein. Ich hob senkrecht vom Stuhl ab, als ich den Telexstreifen in Händen hielt. Der undurchsichtige Nebel hatte gewaltige Risse bekommen. Allan und ich konnten mit einemmal glasklar sehen, was dahinter war. Und dann ging es Schlag auf Schlag weiter. Unsere Pechserie hatte ein Ende. Ich wußte plötzlich, daß wir keine achtundvierzig Stunden mehr benötigen würden, um den gesuchten Werwolf unschädlich zu machen. Es würde in den nächsten Stunden geschehen, an diesem wunderschönen Abend. Oder in der darauffolgenden Nacht. Jedenfalls war gewiß, daß der Werwolf das Morgengrauen nicht mehr erleben würde. Brian Jones war den ganzen Tag über unauffindbar gewesen. Nun brachten sie ihn in unser Büro. Ich schickte ihn postwendend wieder nach Hause. Wir brauchten ihn nicht mehr. Die Sache war gelaufen und geklärt. Jones mochte noch so verdächtig gewesen sein, nun wußten wir, daß er unschuldig war. Mit welchen Spielchen er seine abartigen Triebe befriedigte, interessierte uns nicht. Solange es Leute gab, die freiwillig mit ihm spielten, war soweit alles in Ordnung. Kaum war Jones aus dem Tempel, rief Norton Garner an. Mit seinem Anruf hatte ich ehrlich gesagt nicht mehr gerechnet. Ich erwartete irgendwelche geschwollene Reden und zum Schluß den bedauernden Satz, er hätte zwar den ganzen Tag 195
lang über die Schuhe nachgedacht, könne mir aber beim besten Willen nicht weiterhelfen. Jedoch weit gefehlt. Plötzlich konnte mir auch Norton Garner weiterhelfen. »Ich habe diese Schuhe heute gesehen, Inspektor Whittaker!« sagte er aufgeregt. »Die mit der Silberschnalle?« fragte ich. »Ja, die.« »Wer trägt sie?« Er nannte genau den Namen, den wir bereits im Visier hatten. So fügte sich an jenem Abend ein Steinchen präzise an das andere. Was wir so lange nicht gewußt hatten, begriffen wir nun um so deutlicher. Ein Irrtum war ausgeschlossen. Es war uns endlich bekannt, wer von den Personen, die wir im Verlaufe unserer Ermittlungen kennengelernt hatten, die Fähigkeit besaß, sich von einem harmlos wirkenden Menschen in einen blutrünstigen Werwolf zu verwandeln. Den Ausschlag gab die Skizze, die unser Zeichner mittels verschiedener Schablonen nach Angaben der Augenzeugen von dem Gesuchten angefertigt hatte. Wir erhielten sie, nachdem ich das Gespräch mit Norton Garner beendete. »Wer hätte das gedacht!« sagte Allan Crown beeindruckt. Obwohl wir seit sechsunddreißig Stunden im Einsatz waren, spürten wir nicht die geringste Müdigkeit. Allans Frau hatte kurz angerufen und sarkastisch gefragt, ob sie ihn diese Nacht wieder nicht zu 196
Gesicht kriegen würde. Ich hatte ihr gesagt, daß es vermutlich spät werden würde, daß Allan hinterher aber einige Tage nicht zum Dienst erscheinen müsse. Nun saßen wir fasziniert vor der sauberen Zeichnung. Die Wogen hatten sich geglättet. Es blieb uns nur noch eines zu tun: wir mußten zum entscheidenden, vernichtenden Schlag ausholen. »Murray Collins! « sagte Allan. »Der Amerikaner spielt nicht nur den Werwolf, er ist auch einer.« Ich blickte auf das sympathische Gesicht mit den freundlichen Augen. Wie war so etwas möglich? Wenn die Beweise nicht so erdrückend gewesen wären, hätte ich es nicht geglaubt. Aber da war das Fernschreiben von Interpol. Überall da, wo Murray Collins gefilmt hatte – in Australien, in Brasilien, in den Vereinigten Staaten -, waren Menschen auf die grausamste Weise umgebracht worden. Niemand hatte den sympathischen Jungen jemals mit diesen grauenvollen Verbrechen in Zusammenhang gebracht. Kürzlich war er nach London gekommen. Zwei Tage später schon war Anne Melton von dieser Bestie zerfleischt worden. An diesem Tag hatte er im Filmstudio die Sportschuhe mit den Silberschnallen getragen. Ein Beweis mehr. Und zuletzt die hervorragende, präzise Zeichnung, die vor mir auf dem Tisch lag. Ich atmete tief durch.
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»Wir haben unser Ziel erreicht, Allan«, sagte ich und erhob mich. Der Sergeant wiegte den Kopf. »Ein schwieriges Stück Arbeit liegt noch vor uns.« »Ihn auszuforschen war der härtere Job«, gab ich zurück. Dann griff ich zum Telefon und stellte eine Mannschaft zusammen, die Allan und mich begleiten sollte. Zu acht verließen wir New Scotland Yard. Ich hatte mir Leute ausgesucht, die jung und kampferprobt waren. Zudem waren sie bärenstark. Jeder von ihnen hätte als Eisenbieger auftreten können, mit beachtlichem Erfolg sogar. Von der Fahrbereitschaft wurden uns zwei schnelle Dienstwagen zur Verfügung gestellt. Murray Collins wohnte in einem Hotel namens »Four Seasons«. Ein Zweisternebetrieb in einer ruhigen Gegend, geeignet für Leute, die nicht auffallen wollten. Collins hatte allen Grund, nicht auffallen zu wollen. Nach einer Fahrt von fünfzehn Minuten erreichten wir das Hotel. Ein schlanker Bau, mit renovierter Fassade und keinem Portier vorne dran. Gegenüber befand sich ein Taxistandplatz. Ich eilte mit meinen Männern in die schmale Empfangshalle. Die gläserne Drehtür wirbelte noch eine Weile hinter uns weiter. Damit es keine Mißverständnisse gab, wies ich mich dem Mann hinter dem Empfangspult gegenüber erst mal aus. 198
»Scotland Yard«, sagte ich gleichzeitig. »Inspektor Whittaker. Ist Mr. Collins zu Hause?« Der dünne Mann mit den wasserhellen Augen blickte erstaunt auf meine kleine Armee. »Zur Zeit wohnen drei Gentlemen bei uns, die Collins heißen, Sir. Welchen meinen Sie?« »Ich meine Murray Collins, den Schauspieler! « sagte ich ungeduldig. »Es wird doch keine Schwierigkeiten geben, Sir?« »Nicht für Sie, wenn Sie mir endlich sagen, was ich wissen muß ! « »Mr. Collins ist nicht zu Hause, Sir«, erklärte der dünne Mann nun schnell. Er schaute mich bedauernd an und zuckte die Schultern. »Wann hat er das Hotel verlassen?« »Vor zehn Minuten etwa. Ist mit ihm irgend etwas nicht in Ordnung, Sir? Soll ich den Direktor verständigen?« »Ist Ihnen irgend etwas an ihm aufgefallen, als er das Hotel verließ?« »Nein, Sir. Oder doch! Er war ein wenig nervös. Er hüstelte seltsam und bedachte mich mit einem Blick, als würde er mir zürnen. « »Wohin er gegangen ist, wissen Sie nicht?« »Nein, Sir. Im allgemeinen pflegen sich unsere Gäste nicht bei mir abzumelden.« »Haben Sie schon mal New Scotland Yard von innen gesehen?« schnauzte ich ihn grimmig an. »Nein, Sir.«
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»Wenn Sie noch mal so vorlaut sind, werden Sie dazu Gelegenheit bekommen. « Der dünne Mann wurde bleich. Er merkte, daß mit mir nicht gut Kirschen essen war, und er wurde sofort freundlicher und sogar entgegenkommend. »Da fällt mir ein . . .«, begann er nachdenklich, »er überquerte die Straße und bestieg ein Taxi.« »Marke, Farbe, Kennzeichen!« »Mit dem Kennzeichen kann ich Ihnen nicht dienen. Es war ein weißer Peugeot 504.« Seine Stimme hob sich, als er rief: »Dieser dort!« Gerade reihte sich der weiße Wagen in die Taxischlange, die auf Fahrgäste wartete. Wir stürmten aus dem Hotel. Der Taxifahrer sah uns verdattert an. Ich ratschte hastig herunter, was ich von ihm wissen wollte. »Den Mann? Sir, das war vielleicht ein komischer Heini.« »Wieso?« »Saß im Fond und gab manchmal so’n komisches Bellen von sich. « Mir brach der Schweiß aus den Poren. »Wohin haben Sie ihn gefahren?« fragte ich ungeduldig. »Cremer Street, Sir.« »Cremer Street?« schrie ich entsetzt. »Ja, Sir.« Mir lief es kalt den Rücken herunter. Sybill Rivera wohnte in der Cremer Street.
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Der Schauspieler Collins unterdrückte den Wolf in sich mit großer Mühe. Nach außen hin wirkte er gelassen und ruhig. Es kostete ihn enorm viel Kraft, den sympathischen Jungen zu mimen, als den ihn alle Welt kannte. Sybill saß ihm gegenüber. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, was ihr bevorstand. Collins betrachtete sie mit versteckter Gier. Sie trug einen Jeansanzug, unter dem Jackett eine karierte Bluse, um den Hals weit offen. Es war keine menschliche Gier, die die Nerven Collins’ vibrieren ließ. Es war die triebhafte Gier eines Monsters, eines Jägers, der seinem ahnungslosen Opfer gegenübersitzt. Zwei Drinks standen auf dem Tisch. Collins rührte den seinen nicht an. »Der Streifen ist fast fertig, Murray«, sagte Sybill lächelnd. »Wieso kommst du mit deinen Vorschlägen jetzt erst?« Er hatte sie vom Hotel aus angerufen und ihr erzählt, daß er verschiedene Szenen des Films anders haben wollte. Er hatte gefragt, ob er zu Sybill kommen dürfe, um mit ihr über seine Änderungsvorschläge sprechen zu können. »Ich bin der Meinung, daß manche Szenen nicht realistisch genug geworden sind«, sagte Collins. »Das fällt dem Publikum doch nicht auf, Murray.« »Ich möchte die Szenen trotzdem anders anlegen. Kann ich mit deiner Unterstützung rechnen, Sybill? Wir werden die Ideen gemeinsam durchdrücken, okay?« 201
Sybill lachte amüsiert. »Klar, Murray, sicher. Wenn es gegen Norton Garner geht, bin ich immer auf der Seite seines Gegners anzutreffen. « Collins wollte etwas sagen. Er öffnete den Mund. Ein heiseres Krächzen kam aus seiner Kehle. Sybill sah ihn verwirrt an. Er krümmte sich im Sessel zusammen. Sein Gesicht verzerrte sich. Sybill dachte, er hätte plötzlich Schmerzen. »Gott, was ist mir dir, Murray?« Ein Röcheln war seine Antwort. »Ist dir schlecht, Murray?« Er schüttelte heftig den Kopf. Plötzlich starrte er sie aus blutunterlaufenen Augen an. Sybill preßte die Hände an die fahlen Wangen. Mit einemmal begriff sie, was hier vor sich ging. Schon sprang die dunkle, haarige Schnauze aus Collins’ Gesicht. Er sperrte den schrecklichen Rachen auf und stieß ein fürchterliches Knurren aus. Seine Hände waren zu gefährlichen Pranken geworden. Namenlose Todesangst zwang Sybill Rivera, einen langgezogenen, grellen Schrei auszustoßen. Da griff sie das Monster an . . . Als ich Sybills furchtbaren Schrei hörte, verlor ich fast den Verstand. Ich trieb meine Männer zu größter Eile an. Wir fackelten nicht lange, sondern brachen augenblicklich die Tür auf. Es war keine Zeit zu verlieren.
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Mit wilden Sätzen jagten wir in das Haus hinein, den wahnsinnig gellenden Schreien des verzweifelten Mädchens entgegen. Ein Bild des Grauens bot sich uns im Wohnzimmer. Sybill blutete aus zahlreichen Wunden. Ihr Anblick krampfte mir das Herz schmerzhaft zusammen. »Collins!« brüllte ich, doch das Scheusal hörte nicht auf diesen Namen. Das Mädchen taumelte uns entsetzt entgegen. Angst und Schmerz verzerrten ihr hübsches Gesicht. Die blutrünstige Bestie wollte sie’ mit einem schnellen Biß in den Nacken töten. »Sybill!« schrie ich bestürzt. Das Mädchen ließ sich kraftlos fallen. Ehe sich der Werwolf auf sie stürzen konnte, feuerten meine Männer auf das Untier. Die Kugeln schüttelten den Körper des Scheusals mächtig durch. Es stieß Schreie aus, die an Abscheulichkeit nicht zu überbieten waren. Uns gefror das Blut in den Adern, als wir erkannten, daß ihn keine einzige Kugel verletzt hatte. »Packt ihn!« schrie ich. Meine Männer warfen sich auf ihn und versuchten ihn niederzuringen. Es war unglaublich, was er mit diesen bärenstarken Polizeibeamten aufführte. Er riß sie hoch und schleuderte sie wütend durch den Raum, als wären sie leicht wie Strohpuppen. Diejenigen, die an ihm hängen blieben, schüttelte er mit einer raschen Drehung ab. 203
Allan Crown bekam einen Hieb, der ihn von den Beinen riß. Er knallte auf den Boden und verlor das Bewußtsein. Ich hatte keine Zeit, mich um ihn zu kümmern. Das Monster versuchte schon wieder, Sybill anzugreifen. War es wirklich nur mit Silberkugeln zu töten? Ich stürzte mich auf ihn, ehe er sich zu Sybill hinunterbeugen konnte. Ich umschlang ihn verzweifelt mit meinen Armen. Sein Körper war hart wie Stein. Verbissen wollte ich ihn hochheben, ausheben und auf den Boden schleudern, doch er war so schwer wie zehn dicke Männer. Und er hatte übernatürliche Kräfte. Es genügte, daß er einmal tief Luft holte. Sein Brustkorb sprengte meine Umklammerung, als hätte ich Arme aus Papier. Dann drosch er mir seine mächtige Pranke in den Bauch. Ich flog durch das Zimmer und prallte fürchterlich hart gegen die Wand. Ein wahnsinniger Schmerz durchraste meine Brust. Die in den Lungenflügeln gepreßte Luft schien die Lunge zerrissen zu haben. Röchelnd ging ich in die Knie. Meine Männer waren tapfer genug, um nicht schon nach dem ersten Mißerfolg zu kneifen. Sie griffen die schreckliche Bestie ein zweites Mal an - gleichzeitig, von allen Seiten. Wie Windmühlenflügel wirbelten die Pranken des Monsters durch die Luft. Schmerzensschreie gellten auf. Die Männer bluteten aus unzähligen Wunden. Sie erlitten die schlimmste Niederlage ihres Lebens.
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Mit schreckgeweiteten Augen verfolgte ich das furchtbare Schauspiel. Der Werwolf drosch alles nieder, was sich ihm in den Weg stellte. Und dann richteten sich seine mordlüsternen Augen wieder auf Sybill. Mir sprossen weiße Haare auf dem Kopf, als ich ihn auf das Mädchen zugehen sah. Seine lange Zunge leckte gierig über die Schnauze. Sybill sah ihn auf sich zukommen. Sie lag auf dem Boden und schrie gellend um Hilfe. Sie schrie meinen Namen. Sie flehte mich an, ihr zu helfen, sie vor diesem Ungeheuer zu beschützen, zu retten. Und ich war hilflos. So verflucht hilflos. Fast hatte das Scheusal das Mädchen erreicht. Sybill kroch von ihm weg. Sie zitterte schrecklich. Ihr schneeweißes Gesicht zuckte in panischer Angst. Mein Blick irrlichterte durch den Raum, War denn diese furchtbare Bestie mit nichts zu stoppen? Mein Blick fiel auf einen langen, schlanken, metallenen Brieföffner. Er glänzte silbern. Silbern! Ich überlegte nicht lange, packte den silbernen Brieföffner. Der Werwolf hatte das Mädchen erreicht. Er beugte sich zu ihr hinunter. Sybill schrie sich die Seele aus dem Leib. Ich war zum äußersten entschlossen. Sybill durfte nicht sterben. Nötigenfalls wollte ich mein Leben opfern, um das ihre zu retten. 205
Mit wilden Sätzen jagte ich auf das verdammte Scheusal zu. Angst, Wut, Haß rissen einen irren Schrei aus meiner zugeschnürten Kehle, als ich mit aller Kraft zustach. Die schlanke Klinge des Brieföffners drang tief in den breiten Rücken der Bestie. Der Werwolf bäumte sich brüllend auf. Ich riß den silbernen Brieföffner aus seinem Körper und stach sofort wieder zu. Das Monster vollführte einen höllischen Tanz. Ich war blind vor Zorn. Ein blutroter Nebel senkte sich über meine Augen. Ich sah all die schrecklich zugerichteten Leichen noch einmal, diese armen, bedauernswerten Opfer dieses gräßlichen Scheusals. Man durfte kein Erbarmen mit ihm haben, selbst wenn er noch so markerschütternd brüllte. Er war kein Mensch, sondern ein Monster. Ich mußte ihn töten. Er drehte sich schreiend, kläffend und zuckend im Kreis. Seine Pranken versuchten meine Hiebe zu parieren. Doch ich fand mit eiskaltem Blick seine ungedeckten Stellen und stach wie eine Maschine erbarmungslos auf ihn ein. Das Silber drang ihm in den Kopf, in den Hals, in die Brust. Es durchbohrte seine Arme. Ich stach ihn in den Bauch. Er brach mit einem ohrenbetäubenden Brüllen nieder. Ich stach weiter auf ihn ein. Jemand fiel mir in den Arm. »Loslassen!« brüllte ich. »Loslassen!« »Sehen Sie denn nicht, Sir? Er stirbt!« 206
»Es soll sterben! Er muß sterben!« schrie ich wie besessen. Ich wollte mich keuchend losreißen, doch die Männer, die es gut mit mir meinten, hielten mich fest wie eiserne Schraubstockbacken. Der blutbesudelte Brieföffner entfiel meiner Hand. Allmählich kam ich wieder zu mir. Der Todeskampf des Scheusals war erschütternd. Vielleicht war es nicht richtig, aber ich trank jede Sekunde davon gierig in mich hinein, und ich genoß das schwindelerregende Gefühl des heißersehnten Sieges über diese teuflische Kreatur. Während er zuckte und röchelte, löste sich das häßliche Fell von seinem Körper. Die grauenerregenden Pranken bildeten sich zu menschlichen Händen zurück. Ein letztes schrecklich klagendes Heulen kam aus seinem Maul, dann brach sein Blick. Die Haut über dem Wolfsschädel wurde trocken, brüchig und schließlich rissig. Sie fiel von den Knochen ab. Innerhalb weniger Sekunden lag ein menschliches Skelett vor uns, das den gleichen Knochenschädel eines Wolfs trug. Meine verletzten Männer kümmerten sich um Sergeant Crown, während ich mich um Sybill bemühte. Sie hing zitternd in meinen Armen und weinte sich den ganzen furchtbaren Schreck aus dem Leib. Obwohl mir selbst die Knie zitterten, streichelte ich sie sanft.
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»Nicht weinen, Baby! « flüsterte ich in ihr kleines Ohr. »Du brauchst keine Angst mehr zu haben. Es ist überstanden. « -ENDE-
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