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Carl Dreadstone Der Werwolf von
London Originaltitel: THE WEREWOLF OF LONDON
(Adapted from the screenplay by John ...
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Carl Dreadstone Der Werwolf von
London Originaltitel: THE WEREWOLF OF LONDON
(Adapted from the screenplay by John Colton, based upon an original story by Robert Harris) Aus dem Englischen übertragen von Dr. E. Maisch VAMPIR-Taschenbuch erscheint vierwöchentlich im Erich Pabel Verlag KG, Pabelhaus, 7550 Rastatt Copyright © 1977 by MCA Publishing Vertrieb: Erich Pabel Verlag Kg Gesamtherstellung: Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany Februar 1979
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1. Wenn ein Mann weiß, daß er zum Sterben verdammt ist, wird er oft von einer inneren Kraft erfüllt, von einer philosophischen Ruhe, die ihm bisher fremd war. Der Arzt sieht ihn möglichst sachlich und gleichgültig an, bevor er sein medizinisches Urteil fällt. „Sie werden an Krebs sterben – oder an einer Verknöcherung der Muskeln – oder an einem allmählichen Verschluß der Schlagadern.“ Nachdem der Arzt seinem Patienten dann erklärt hat, wie lange er noch zu leben habe, versucht er ihn zu trösten, den Priester zu spielen, ihm Mut zu machen. „Es steht ja noch gar nicht fest, ob Sie wirklich zum Tod verurteilt sind. Sie können noch einen anderen Arzt konsultieren. Und manchmal geschehen auch Wunder.“ Zu welchem Doktor sollte ich gehen? Welchen Trost konnte er mir geben, nachdem ich den Namen meiner Krankheit erfahren hatte? Ich sah an jenem sonnigen Aprilmorgen auf meine Hände und konnte nicht begreifen, was mir widerfahren war. Und dann stieg Entsetzen in mir auf. Es war keine gewöhnliche sterbliche Krankheit, an der ich litt. Es war eine Krankheit, die von der orthodoxen Medizin nicht anerkannt wurde. Aber sie existierte, und ich wußte, daß nicht nur ich selbst in Gefahr war. Ich 3
bedeutete auch eine Gefahr für andere Menschen, vor allem für die Menschen, die ich liebte. Nicht weil ich sie anstecken könnte, sondern weil ich den schrecklichen Drang verspürte, sie zu töten. Wie lebenswert war mir das Leben noch vor wenigen Monaten erschienen, und jetzt mußte ich dem Tod ins Auge sehen. Innerhalb weniger gräßlicher Sekunden hatten die Worte des Arztes mein inneres Gleichgewicht vernichtet, und nun stand ich zitternd vor dem Toilettentisch meiner Frau, starrte in den Spiegel, starrte mein Gesicht an, als hätte ich es noch nie gesehen, suchte nach den ersten Anzeichen der Zerstörung. Abgesehen von dem gehetzten Ausdruck in den Augen konnte ich nichts Ungewöhnliches entdecken. Mein Blick wanderte hinab zu meinen Händen, die auf dem Tisch lagen. Sie waren faltenlos, die Adern schimmerten bläulich. Die Hände eines noch jungen Mannes, denn ich bin erst einundvierzig Jahre alt – Wilfrid Glendon, Forscher, Botaniker, Wissenschaftler, sechs Spalten im Who’s Who, verheiratet mit Linda, die ich anbetete und die einen grausamen Tod erleiden wird. Der Gedanke erscheint mir immer noch ungeheuerlich, und doch ist er bittere Wirklichkeit. Das hatten mir meine Hände an jenem sonnigen Aprilmorgen verraten, und seither lebe ich in einem dunklen Tunnel der Angst. 4
Lisas Schlafzimmer und das morbide Geheimnis des Gesichtes, das mir aus dem Spiegel entgegenstarrt, scheinen nichts gemein zu haben mit dem Litze-Tal, hoch oben in den Zaskar-Bergen an der Grenze zwischen Kaschmir und Tibet, etwa zweihundert Meilen östlich von Srinagar. Und doch hatte ich in jenem Tal die Saat des Todes empfangen. Vor acht Monaten war ich mit meinem Freund und Kollegen Hugh Renwick nach Tibet gereist. Ich hatte gehofft, eine Blume zu finden, die Mariphasa Lumini Lupino, die so selten ist, daß viele Menschen an ihrer Existenz zweifeln und behaupten, sie sei nur eine Legende. Ich dachte, wenn ich die Blume fände, wäre die Silberhochzeit von King George und Queen Mary ein würdiger Anlaß, meine Entdeckung in einer großen Blumenausstellung der Öffentlichkeit zu präsentieren. Die Vorstellung, wie sich die Königin interessiert über die Mariphasa beugte, beflügelte uns, und wir ignorierten die warnenden Stimmen, die von den Gefahren des Litze-Tals sprachen. Das Benehmen unserer tibetischen Gepäckträger stand in krassem Gegensatz zu dem ermutigenden Optimismus und der Hilfsbereitschaft, die den Bergsteigern im Himalaya zuteil wurde. Zuerst folgten sie uns nur widerstrebend, und dann, als wir uns dem Tal näherten, erkannten wir immer deutlicher, daß sie 5
Angst hatten. Schließlich begegneten sie uns mit offener Feindseligkeit. Anscheinend identifizierten sie uns mit den Yetis, den schrecklichen Schneemenschen, die angeblich das LitzeTal bevölkerten und über die in Bergsteigerkreisen so gern gespottet wurde. Der Yeti ist ebenso wie das Monster von Loch Ness ein imaginäres Wesen, eine jener erfundenen Gestalten, die der trockenen Welt der Wissenschaft einen Hauch von Romantik geben. Über das Aussehen der Yetis gingen die Meinungen etwas auseinander. Sie waren zehn Fuß groß und hatten riesige runde Füße, die auch in die härteste Schneedecke tiefe Löcher gruben. Entweder waren sie weiß und hatten gelbe Gesichter, oder sie waren schwarz mit weißen Gesichtern. Sie bewegten sich lautlos durch das ewige Eis. „Du darfst nichts für unmöglich halten“, sagte Renwick eines Abends, als wir in unserem Zelt Schutz vor einem heftigen Sturm gesucht hatten. „Ich war schon immer der Meinung, daß man stets aufgeschlossen und flexibel sein muß. Nur wenn man allwissend ist, kann man behaupten, daß dies oder jenes Unsinn ist.“ „In der Wissenschaft muß man sich an Fakten halten“, erwiderte ich. „Der Glaube allein genügt nicht. Das ist
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sicher der grundlegende Unterschied zwischen Religion und Wissenschaft.“ „Aber man kann nur dann Tatsachen entdecken, wenn man gewisse Theorien anwendet“, sagte Renwick. „Wenn ich es für möglich halte, daß irgendwo da draußen ein Wesen lauert, das darauf wartet, entdeckt zu werden, dann werde ich mich auf den Weg machen, um den Beweis seiner Existenz zu erbringen. Aber wenn ich mir sage, daß es ein solches Wesen unmöglich geben kann, nehme ich Zuflucht in bequemer Ignoranz.“ „Ich muß zugeben, daß diese Art von Ignoranz weitverbreitet ist.“ „Nun, ist es dann nicht möglich, daß es diese Yetis wirklich gibt?“ Er lächelte. „Oder willst du erst an ihre Existenz glauben, wenn du sie gesehen hast?“ „Ich will einräumen, daß es solche Wesen geben könnte, aber ich werde nicht daran glauben, solange ich keine Beweise habe.“ Renwick seufzte. „Es kann uns Wissenschaftlern nicht schaden, ab und zu ein bißchen romantisch zu sein. Mir gefällt der Gedanke, daß heute abend ein unbekanntes Wesen in unserer Nähe ist.“ „Und würde es dir auch gefallen, morgen früh
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feststellen zu müssen, daß unsere Träger vor diesem Wesen geflüchtet sind und uns im Stich gelassen haben?“ „Das würde mir nichts ausmachen, wenn wir den Beweis für die Existenz der Yetis mit ins Tal nehmen könnten.“ „Der einzige Beweis, den die Wissenschaft akzeptieren würde, wäre ein Yeti aus Fleisch und Blut.“ „Gut, dann fangen wir einen“, schlug Renwick vor. „Wenn es überhaupt einen gibt. Aber wie willst du das anstellen?“ „Ich bezweifle, ob der Verstand der Yetis so hoch entwickelt ist, wie der unsere. Wir können ihn zu uns locken und ihn dann mit einem Gewehrkolben bewußtlos schlagen. Wir könnten ihn auch erschießen. Ein toter Yeti wäre ein genauso stichhaltiger Beweis wie ein lebendiger.“ Renwick runzelte die Stirn. „Andererseits wäre das Mord -wenn die Yetis menschenähnliche Wesen sind.“ Ich grinste ungerührt, denn ich war überzeugt, daß draußen in der Schneewildnis keine Lebewesen existierten, außer unseren tibetischen Trägern. „Diesen Mord müßtest du wohl oder übel auf dich nehmen…“ Ich brach ab, als ich ein seltsames Geräusch vernahm, das plötzlich das Heulen des Windes übertönte. Es klang 8
wie ein ferner, langgezogener Schmerzensschrei und endete mit einem heiseren Kreischen, das mir einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Die Träger begannen ängstlich zu jammern und zu winseln, und wir stürzten aus dem Zelt. Renwick sprach ein wenig Tibetisch, aber er brauchte mir das Gestammel des zitternden Mannes nicht zu übersetzen, der im Mondlicht vor uns stand und auf den Berg wies, Sein Blick und der entsetzte Klang seiner Stimme sagten mir genug. Renwick schüttelte den Kopf und versuchte die Träger zu beruhigen, jedoch ohne Erfolg. Sie waren wie von Sinnen vor Angst, begannen über das Geröll des Berghangs hinabzuklettern; und nach wenigen Minuten waren wir allein. „Wir müssen sie zurückholen“, sagte Renwick. „Warum? Wir haben das Litze-Tal schon fast erreicht.“ „Es wäre Selbstmord, allein weiterzugehen“, meinte Renwick. „Unsinn! Jetzt brauchen wir diese Angsthasen nicht mehr.“ „Und wenn wir hier irgend etwas finden, das viel größer ist als die Mariphasa?“ „Dann würden uns die Träger auch nicht helfen. Im Gegenteil, sie würden sofort die Flucht ergreifen. Ich sehe 9
der Gefahr lieber allein ins Auge, bevor ich mich von fliehenden Tibetern niedertrampeln lasse.“ Renwick zuckte mit den Schultern. „Also gut. Dann gehen wir jetzt schlafen, damit wir morgen frisch und ausgeruht sind.“ Wir kehrten in unser Zelt zurück. Bevor ich einschlief, hörte ich noch einmal jenen seltsamen, klagenden Schrei, diesmal aus nächster Nähe! Ich streichelte das Gewehr, das neben mir lag, und fühlte mich stark und unbesiegbar. 2. Als wir am nächsten Morgen unser Zelt verließen, empfing uns eine milchig-weiße Welt voller geisterhafter Wolken, die über unseren Köpfen durcheinanderwirbelten. Der Schnee unter unseren Füßen war cremigweiß im blassen Licht der Morgendämmerung. Unsere Gesichter schienen dieses Licht widerzuspiegeln, und wir starrten uns an wie Neuankömmlinge im Fegefeuer, die nicht wissen, ob sie gestorben sind oder immer noch leben. Das Heulen des Windes war verstummt, und eine unheimliche Stille lag in der Luft, als wir auf die zerklüftete Silhouette des Berges zugingen. Langsam stiegen wir bergan, behindert durch das Gewicht unseres Gepäcks,
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und mit jedem Schritt verstärkte sich das Gefühl, daß wir beobachtet wurden. „Ich komme mir vor wie ein Insekt, das von einem Naturforscher beäugt wird“, sagte Renwick. „Hast du nicht auch das Gefühl, daß du von einer Nadel durchbohrt bist, daß dich ein unsichtbarer Riese interessiert betrachtet?“ „Nein“, sagte ich, verärgert über seine blühende Phantasie, und wollte nicht zugeben, daß mich ähnliche Gefühle bewegten. Vorsichtig überquerten wir ein Schneefeld, tasteten vor jedem Schritt mit den Fußspitzen die Schneedecke ab, um festzustellen, ob sich nicht eine Gletscherspalte darunter verbarg, die auf ein argloses Opfer wartete. Ein Fehltritt, ein Schrei – und wir würden in einen Eissarg stürzen, wenn unsere Wachsamkeit auch nur für einen Augenblick nachließ. So kletterten wir mühsam weiter, suchten unseren Weg über unberührte Schneefelder, vor deren blendendem Weiß uns dunkle Brillengläser schützten. Und dann sahen wir plötzlich etwas am Horizont flackern, hoch über uns. Wir blieben stehen und warteten, aber nichts geschah, nichts verriet uns, was die Bewegung verursacht hatte.
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Renwick wandte sich zu mir. „Da war doch etwas, nicht wahr?“ „Ich bezweifle, daß wir beide gleichzeitig an Halluzinationen gelitten haben“, entgegnete ich leichthin und bemühte mich, meine innere Unsicherheit zu verbergen. „Gehen wir weiter.“ Renwick zögerte. „Vielleicht sollten wir noch ein wenig warten.“ „Warten? Worauf?“ stieß ich hervor. Wenn mir mein besseres Wissen auch sagte, wie leichtsinnig es war, ohne Gepäckträger und Führer, nur mit einem einzigen Gewehr bewaffnet, weiterzugehen, so hatte ich doch die Hoffnung, daß ich in wenigen Stunden die Mariphasa finden würde, alle Bedenken ausgelöscht. „Bevor der Mond aufgeht, werden wir ohnehin nichts finden“, meinte Renwick. „Wir können genausogut eine Ruhepause einlegen.“ „Wenn der Mond aufgeht, will ich im Litze-Tal sein. Komm!“ Ich mußte Renwick, der offenbar von Zweifeln geplagt wurde, meinen Willen aufzwingen. Widerwillig ging er weiter, und ich folgte ihm. Wenn der Mond am Himmel aufstieg… Das Mondlicht war die Sonne der Mariphasa. Es war eine charakteristische Eigenheit dieser Blume, daß ihre Blütenblätter während des Tages fest verschlossen blieben, daß sie im 12
Sonnenschein schlief. Erst im Mondlicht öffneten sich die Blütenblätter, erst dann erblühte sie zu ihrer vollen Schönheit, wachstarben wie eine Orchidee, mit gelben Fruchtknoten und blutroten Staubfäden. Angeblich hatte die Mariphasa Heilkräfte, eher mystischer als medizinischerNatur. Zum Beispiel sagte man ihr nach, daß sie böse Geister abwehren und die Menschen vor dem Wahnsinn bewahren konnte. Wir stiegen gerade eine schmale Schlucht hinauf, als Renwick plötzlich stehenblieb. „Ich kann nicht weitergehen, Glendon.“ „Unsinn! Du mußt weitergehen!“ „Ich kann nicht. Ich bin steckengeblieben.“ „Wie kannst du steckenbleiben?“ fragte ich ungeduldig. „Du stehst doch auf Eis.“ „Ich bin steckengeblieben, ich säge es dir doch“, beharrte er, und seine Stimme zitterte. „Es ist, als – als wäre ich gelähmt.“ Ich warf mich mit aller Kraft gegen Renwick, aber ich konnte ihn nicht von der Stelle bewegen. Und hoch über uns klang der klagende Schrei auf, den wir in der vergangenen Nacht gehört hatten. Der Schrei, der unsere Träger in die Flucht geschlagen hatte, durchbebte schaurig die dünne kalte Bergluft.
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„Mein Gott, es ist überall, rings um uns!“ rief Renwick keuchend, und tatsächlich -das schrille Klagen schien uns einzuhüllen, quälte unser Trommelfell, verwirrte uns so, daß wir unseren Orientierungssinn verloren. Wir wußten nicht mehr, wo oben und wo unten war. Wir wußten kaum noch, wer wir waren, warum wir hier waren. Einsam und reglos standen wir in der schmalen Schlucht. Endlich erstarb der Schrei, und Renwick löste sich aus seiner Erstarrung, stieg vor mir zum Ende der Schlucht hinauf, die auf ein Plateau mündete. Plötzlich wich er zurück. „Mein Gott! Sieh doch!“ Ein Fußabdruck zeichnete sich vor uns im Schnee ab, wie wir ihn noch nie gesehen hatten. Und ich bezweifelte, daß jemals zuvor ein menschliches Auge etwas Ähnliches erblickt hatte. Der Schrecken Robinson Crusoes, als er einen Fußabdruck auf einer vermeintlich unbewohnten Insel entdeckte, war nichts im Vergleich zu dem Entsetzen, das uns erfaßt hatte. Denn wir konnten nicht glauben, was unsere Augen sahen. Der Fußabdruck bestand aus konzentrischen Kreisen, und am äußeren Rand war der Schnee von fransenartigen Linien durchzogen, als sei er von unzähligen Borstenhaaren durchfurcht worden. Der Abdruck war etwa zwei Fuß 14
breit. Vielleicht stammte er von einem Yeti-Baby, denn ein ausgewachsener Schneemensch hätte einen größeren Abdruck hinterlassen müssen – wenn diese Wesen wirklich so groß waren, wie die Legende sagte. Etwa vier Fuß entfernt entdeckten wir einen ähnlichen Abdruck und dann noch weitere, die sich in gleichmäßigen Abständen über das ganze Plateau zogen. „Wer immer diese Spur hinterlassen hat, muß mindestens acht Fuß groß sein“, sagte Renwick. „Und er geht aufrecht.“ Ich umklammerte mein Gewehr fester, und meine Zuversicht kehrte zurück, als ich das Gewicht der Waffe in der Hand spürte. Doch dann stellte ich bestürzt fest, daß die Ladeklappe vereist war, holte ein Flaschen Öl aus meinem Rucksack und rieb mühsam das Eis weg, mit angespannten Nerven, da ich jeden Augenblick einen weiteren gräßlichen Schrei zu hören erwartete. „Wir brauchen nicht zu befürchten, daß uns dieses Wesen angreifen wird“, sagte ich. „Sogar die wildesten Tiere greifen die Menschen nur an, wenn sie provoziert werden.“ „Vielleicht fühlt sich dieses Geschöpf allein durch unsere Anwesenheit provoziert.“ „Vielleicht.“ Immer noch lauschte ich angestrengt, erwartete, daß ein neuer Schrei die Luft durchzitterte. 15
„Du hast doch gehört, daß die Mariphasa bewacht wird“, sagte Renwick. „Das ist nur ein Gerücht. Es gibt doch auch verrückte Geschichten über mysteriöse Wesen, die hoch oben in den Bergen leben, wo keine Mariphasa-Blumen wachsen.“ Ich zuckte mit den Schultern. „Meiner Ansicht nach ist es reiner Zufall, daß wir diese Spur in der Nähe des Litze-Tals entdeckt haben.“ „Ich wünschte, ich könnte genauso sicher sein wie du“, sagte Renwick. „Vielleicht solltest du doch das Gewehr entsichern.“ Ich schüttelte den Kopf. „Soll ich vielleicht riskieren, daß plötzlich ein Schuß losgeht und dich trifft. Ich werde es erst entsichern, wenn wir wirklich in Gefahr sind. Aber ich glaube nicht, daß es dazu kommen wird. Was für ein Geschöpf es auch immer sein mag, das da vor uns durch den Schnee gestapft ist, es hat vor uns wahrscheinlich genauso große Angst wie wir vor ihm.“ Vorsichtig gingen wir weiter, überquerten das Plateau und erreichten den entgegengesetzten Rand, als das Licht des Tages erlosch. Der Schnee schimmerte nun grünlich, und die Sterne über uns schienen unglaublich nah zu sein. Es war, als ob uns die Augen des Universums aus nächster Nähe anstarrten.
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Der Mond stieg unfaßbar schnell auf, ein Vollmond, der eben noch über den Rand des Plateaus geblickt hatte und bald direkt über uns am Nachthimmel hing. Auch wir blickten über den Rand des Plateaus und sahen vor uns ein weites Tal, dessen glatter Boden von Gewächsen durchbrochen war. „Die Mariphasa!“ rief ich triumphierend. Renwick beglückwünschte mich, schüttelte mir die Hand, und dann sahen wir mit angehaltenem Atem zu, wie die Blumen ihre Blütenblätter öffneten, um das gelbe Mondlicht zu trinken. Wir begannen in das Tal hinabzusteigen, und plötzlich drang von allen Seiten der Klageschrei auf uns ein, gellend, ohrenbetäubend, und irgend etwas bewegte sich in den Schatten der Felsen, die vor uns aufragten. Renwick hielt sich die Ohren zu. Ich versuchte das Gewehr zu entsichern, aber es gelang mir nicht, weil mich der schaurige Schrei verwirrte. Irgend etwas kam auf mich zu, etwas Gigantisches, Bestialisches. Ich starrte in gelbe Augen, die in einem länglichen Wolfsgesicht glühten, auf gierige Fänge, die auf mich zuschnellten, bereit, meinen Hals zu zerfetzen. Im letzten Augenblick gelang es mir, das Gewehr zu entsichern und zu feuern. Ein grausiger Schmerzensschrei klang auf, die Fänge rissen meinen Arm auf, dann wandte sich die Bestie ab, 17
humpelte heulend in die Schatten zurück. Und als sie sich entfernte, schien sie zu flackern, teilte sich in zwei Kreaturen, in einen Wolf und einen Riesen, und dann war sie verschwunden. Erleichtert atmete ich auf, als das Gebrüll verstummte. Ich achtete nicht auf meinen verwundeten Arm, vertraute auf die Heilkraft der eisigen Luft, die gleichzeitig als Betäubungsmittel und als Aderpresse fungierte, fiel inmitten der Blumen auf die Knie. Die leuchtenden Blütenblätter starrten mich an, und ich begann mehrere Gewächse mit der Gartenkelle auszugraben, die ich aus meinem Rucksack geholt hatte. Da uns die Gepäckträger verlassen hatten, würde ich nicht viele Blumen mitnehmen können. Sorgfältig packte ich meine Schätze ein. Ich stellte fest, daß sich die Blütenblätter schlossen, sobald mein Körper das Mondlicht abschirmte, sobald mein Schatten auf die Blumen fiel. Als ich etwa ein Dutzend Blumen ausgegraben hatte, sah ich mich nach Renwick um. Mein Freund stand am Rand des Tales, wie erstarrt vor Entsetzen. „Es ist alles in Ordnung!“ rief ich ihm zu. „Ich bin nicht schwer verletzt. Komm, hilf mir die Blumen einpacken!“ Langsam kam er auf mich zu und versuchte sich zu entschuldigen, weil er mir nicht zu Hilfe geeilt war.
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„Schon gut“, sagte ich. „Der Lärm hat dich wohl genauso verwirrt wie mich. Der Krach des Schusses muß sie vertrieben haben. Hast du gesehen, wie viele es waren?“ „Ich glaube, zwei oder drei“, antwortete Renwick, der immer noch am ganzen Körper zitterte. „Dem Himmel sei Dank, daß dir nichts passiert ist!“ Keiner von uns beiden ahnte in diesem Augenblick, daß wir unseren Dank an die falsche Adresse richteten, daß der Himmel mich nicht errettet hatte, sondern daß mir ein tödliches Geschenk zuteil geworden war – ein Geschenk der Hölle. 3. Wir wurden begeistert empfangen, als wir nach England zurückkehrten, und ich muß zugeben, daß ich es genoß, im Mittelpunkt des Interesses zu stehen. Nicht zuletzt trug mein verwundeter Arm zu meinem Erfolg bei, und man feierte mich wie einen Helden, der auf dem Schlachtfeld für sein Vaterland gekämpft und eine ehrenvolle Verletzung davongetragen hatte. Königin Mary lud mich zum Tee ein und erkundigte sich eingehend nach dem Verlauf meiner Expedition und nach dem eigenartigen Verhalten der Mariphasa. Auch die Königlich Botanische Gesellschaft lud mich ein und täglich flatterten neue Einladungen ins Haus. Wichtige Persönlichkeiten, die ich bisher nur vom Hö19
rensagen gekannt hatte, baten mich zum Tee oder zum Dinner. Lisa war stolz auf mich und glücklich, obwohl sie sich bisher kaum für meine geliebte Botanik interessiert hatte, die mir nun einen so großen Erfolg bescherte. Um einen Raum zu haben, wo ich in Ruhe arbeiten konnte, ließ ich ein Laboratorium an mein Haus anbauen. In der Tür wurde ein Periskop angebracht, damit ich meine Besucher inspizieren konnte, bevor ich sie eintreten ließ, denn ich liebte es ganz und gar nicht, gestört zu werden. Ich entwarf eine Mondlampe, die alle Phasen des Mondes während seines Auf- und Abstiegs imitieren konnte und ein blaßsilbernes Licht verbreitete. Dieses Gerät ließ ich unter großem Kostenaufwand herstellen. Die Mariphasa ließ sich von der Maschine täuschen, und ich konnte beobachten, wie sie die Blütenblätter gierig auseinanderfaltete, als wollte sie die bleiche, kühle Lichtquelle umarmen, die so hoch über ihr leuchtete. Ich entwickelte eine seltsame Gefühlsbeziehung zu der Blume, die sich sogar bis zur Sinnlichkeit steigerte. Auch die Maschine übte ihren Einfluß auf mich aus. Zuerst bemerkte ich ihre Wirkung nicht. Aber ein paar Tage, nachdem ich die Mariphasa davon überzeugt hatte, daß der Mond an der Decke des Laboratoriums 20
schimmerte, wurde ich heiser. Ansonsten konnte ich keine Symptome von Erkältung oder Kehlkopfentzündung an mir feststellen. Ich verspürte auch nicht das Bedürfnis, mich zu räuspern, denn nicht mein Hals war beschädigt, sondern meine Stimme. Ich hatte Schwierigkeiten, gewisse Worte auszusprechen und eine gleichmäßige Tonhöhe beizubehalten. Manchmal rutschte meine Stimme ganz unmotiviert nach oben oder nach unten. Ich war erstaunt, als mir bewußt wurde, wie wild meine Stimme plötzlich klang. Ich grunzte, wenn ich das gar nicht wollte, krächzte höhnisch, wenn gar keine Veranlassung dazu bestand, und auf diese Weise stieß ich immer wieder Leute vor den Kopf, obwohl das gar nicht in meiner Absicht lag. Da ich nie wußte, wann meine Stimme mich im Stich lassen würde, begann ich mich in Schweigen zu hüllen, und Lisa und unsere Freunde beschwerten sich über mein mürrisches Wesen. Bald wurde ich wirklich der Griesgram, als der ich verschrien war, und ich verspürte eine täglich wachsende Sehnsucht, nach Einsamkeit, nach Abgeschlossenheit. Ich ging den Menschen aus dem Weg, übersah Lisas Verwirrung, ignorierte ihre beleidigte Miene. Sie warf mir ungerechterweise vor, daß ich sie absichtlich verlet21
ze. Und bald legte ich es tatsächlich darauf an, ihr weh zu tun. Ich boykottierte ihre diversen Pläne und weigerte mich, sie zu Partys zu begleiten, die sie besuchen wollte. „Wenn du nur diese schreckliche Blume vergessen und mehr unter Menschen gehen würdest“, sagte sie, und ich war gekränkt, als hätte sie meinen besten Freund angegriffen. Ich war wütend, konnte mich kaum beherrschen. Ich benahm mich wie ein wildes Tier, wie Lisa sehr treffend bemerkte. Ich stellte fest, daß mein Gesicht hager wurde. Innerhalb weniger Wochen schien ich um Jahre gealtert zu sein. Ich erkannte, daß ich gegen meinen Willen mein Glück zerstörte, vor allem mein Eheglück, und deshalb hatte ich ein schlechtes Gewissen. Mein verwundeter Arm, der meinen Ruhm mitbegründet hatte, wurde immer häßlicher. Ich verbarg ihn, so gut es ging -wie ein Mann den tätowierten Namen eines Mädchens zu verstecken sucht, das er nicht mehr liebt. Außerdem, und das war höchst bestürzend, begann ich mich unsauber zu fühlen, fast leprös. Wenn ich Linda umarmte, litt ich unter der gräßlichen Vorstellung, sie zu beschmutzen. Und deshalb umarmte ich sie immer seltener, was zu ihrer wachsenden Verwirrung beitrug.
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„Seit du aus Tibet zurückgekommen bist, habe ich das Gefühl, daß du dich von mir scheiden lassen und deine Mariphasa heiraten willst“, sagte sie eines Nachmittags. Sie hatte etwa ein Dutzend Leute zu einer Gartenparty eingeladen, die ich zu vergessen suchte. Ich saß in meinem Laboratorium und betrachtete die schlafende Mariphasa, denn ich hatte die Mondlampe nicht eingeschaltet. „Es – es tut mir leid. Ich war ganz in Gedanken versunken. Ich wußte nicht, daß es schon so spät ist.“ Sie lächelte verzeihend und rückte mir meine Krawatte zurecht. „Lieber alter Brummbär! Er will eben nicht aus seiner Höhle kommen. Komm mit mir unterhalte dich mit ein paar Leuten, die zur Abwechslung mal keine Botaniker sind – zum Beispiel mit Tante Ettie.“ Schon vor meiner Reise nach Tibet hatte ich eine ausgeprägte Abneigung gegen diese Tante entwickelt und ihre Gegenwart nicht einmal ertragen, wenn ich bester Stimmung gewesen war. Tante Etties herausragende Charaktereigenschaften waren ihre Schwatzhaftigkeit und ihre unersättliche Neugier, was die Angelegenheiten anderer Leute betraf. Sie war groß und dürr und sah aus wie eine alte Krähe, weshalb sie höchstens
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für die Ornithologische Gesellschaft interessant sein konnte, aber nicht für mich. „Mein lieber Wilfried!“ rief sie, als ich mit Lisa aus dem Laboratorium kam. „Du mußt mir endlich deine Blumen zeigen. Ich liebe Blumen, ich bete sie an. Und ich bin sehr demokratisch, was meine diesbezüglichen Neigungen betrifft. Ich liebe einfach alle Blumenkinder, die Mutter Natur uns schenkt, von der Orchidee bis zur Anemone. Du mußt mir endlich deine Marigolda zeigen – nein, so heißt sie ja gar nicht. Wie war doch gleich der Name?“ „Mariphasa, meine Liebe“, sagte Lisa. „Oh, das wäre ein sehr charmanter Name für ein Mädchen – Mariphasa. Stimmt es, daß die Mariphasa nur nachts blüht?“ „Nur bei Mondlicht“, erklärte ich ihr widerstrebend. „Wie faszinierend!“ sagte Tante Ettie. „Die Mariphasa muß ein sehr seltsames Temperament haben. Ich meine, wenn die Sonne gut genug für alle anderen Blumen dieser Welt ist…“ „Für alle Blumen, die uns bekannt sind…“ „Natürlich, für alle Blumen, die wir kennen. Aber wie dem auch sei, du mußt mir deine Mariphasa zeigensofort!“
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„Es tut mir leid, aber im Augenblick ist das leider nicht möglich.“ „Wilfried läßt nicht einmal mich in sein Laboratorium“, sagte Lisa begütigend, da sie meinen wachsenden Ärger spürte. „Aber warum denn nicht?“ fragte Tante Ettie. „Es kann der Mariphasa doch nicht schaden, wenn man einen kurzen Blick auf sie wirft.“ „Es ist ein atmosphärisches Problem“, sagte ich. „Vielleicht klingt das dumm – aber die Blume ist an mich gewöhnt.“ Sie starrte mich ungläubig an. „Dumm? Mein lieber Junge, ich finde, daß das im höchsten Maße absurd klingt.“ „Wenn du das absurd findest, kann ich dich auf keinen Fall ins Laboratorium lassen.“ Sekundenlang war sie sprachlos, was mich sehr befriedigte, wie ich gestehen muß. „Also gut“, entgegnete sie schließlich gekränkt. „Aber eins muß ich dir sagen – es ist mir ein Rätsel, daß deine Frau dich noch nicht verlassen hat. Du läßt sie monatelang allein und reist in der Weltgeschichte herum, und wenn du dann hier bist, darf sie nicht einmal in dein Laboratorium…“
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Lisa lächelte und setzte eine heiter-gelassene Miene auf, was ich rührend fand. „Manche Frauen sind Kleopatras und halten sich auf andere Weise schadlos“, sagte sie. „Andere sind Penelopes, üben sich in Geduld zu warten. Ich gehöre zur letzten Kategorie. Außerdem wußte ich, was ich auf mich nahm, als ich einen Glendon heiratete. Die Glendons sind berühmt für ihre seltsamen und düsteren Stimmungen.“ „Es ist überhaupt ein großes Risiko, zu heiraten“, erklärte Tante Ettie in ihrer autoritären Art, die mich stets von neuem entnervte. „Mit einem berühmten Mann verheiratet zu sein – das ist die schlimmste aller Katastrophen…“ Sie unterbrach sich. „Um Himmels willen, was macht denn diese Pflanze da drüben -die unter dem Glassturz?“ Sie starrte auf eine Venusfliegenfalle, eine meiner fleischfressenden Pflanzen, die gerade gierig eine Fliege verschlang. Sie hatte das Tierchen mit ihren borstigen Blättern gepackt und festgeklemmt, und nun war es verdaut. „Manche Pflanzen fressen Mäuse und Spinnen“, sagte ich. „Die Venusfliegenfalle bevorzugt Fliegen.“ Tante Ettie erschauerte, und während ich noch schadenfroh grinste, sah ich, daß Lisa in den Garten starrte. Sie 26
errötete leicht und schien ihre Erregung nur mühsam zu unterdrücken. Tante Ettie wandte sich um und blickte in dieselbe Richtung. „Oh, das ist doch Paul Arnes, nicht wahr? Sein Name stand in den letzten Wochen fast täglich in der Zeitung. Er ist Flieger und hat mehrere Geschwindigkeitsrekorde gebrochen. Vielleicht hattest du keine Zeit, die interessanten Artikel über ihn zu lesen, Wilfried“, fügte sie mehr taktlos als bösartig hinzu. „Er zählte zu Lisas hartnäckigsten Verehrern, bevor du auf der Bildfläche erschienen bist.“ „Also wirklich, Tante Ettie“, sagte Lisa, und die Röte auf ihren Wangen vertiefte sich. Arnes kam auf uns zu, ein großer Mann mit bronzebraunem Gesicht, in einem gutgeschnittenen Tweedanzug. Instinktiv rückte ich an meiner Krawatte und haßte ihn. „Miß Charenton – Lisa – Dr. Glendon“, sagte er und nickte uns allen lächelnd zu. Wie förmlich er war! Am liebsten hätte ich ihn gegen das Schienbein getreten. „Wie schön, Sie wiederzusehen, Mr. Arnes“, flötete Tante Ettie mit dem ranzigen Charme später Mädchen. „Wie gut du aussiehst, Paul“, sagte Lisa. 27
„Oh, ich fühle mich auch sehr gut.“ Sie sahen sich tief in die Augen, bevor sich Lisa zu mir wandte. „Paul war nicht bei unserer Hochzeit, weil er damals gerade nach Australien geflogen ist, Liebling.“ „Schade, daß ich so lange auf Ihre Bekanntschaft verzichten mußte“, sagte ich. „Wie geht es Ihnen, Arnes?“ „Gut, vielen Dank. Ich habe sehr viel über Sie gelesen, Dr. Glendon.“ „Ich glaube, die Fleet Street hat uns beiden in letzter Zeit viel Druckerschwärze geopfert“, sagte ich, weil ich es für nötig hielt, das „Kompliment“ zurückzugeben. „Es freut mich, daß Sie zu uns gekommen sind.“ „Ich bin auch froh, daß ich endlich einmal Zeit dazu hatte“, entgegnete er lächelnd. „Wäre es möglich, die berühmte Blume aus Tibet zu sehen?“ „Ausgeschlossen“, sagte Tante Ettie prompt und kehrte mir den Rücken zu. „Ich werde mal sehen, ob ich irgendwo eine Tasse Tee organisieren kann. Ich bin sehr enttäuscht von dir, Wilfried!“ rief sie mir über die Schulter zu. „Daß du mir die Blume nicht zeigen willst…“ Sie ging auf den Kuchenstand zu, mit hocherhobenem Kopf, auf dem ein breitrandiger schwarzer Hut wippte.
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„Wir Schlagzeilenkönige müssen zusammenhalten“, sagte ich und führte Arnes und Lisa in mein Laboratorium. Meine Frau wußte nicht recht, ob sie verärgert oder angenehm überrascht sein sollte. Ich verriegelte die Tür, und dann fragte ich mich, warum ich den Anblick der Mariphasa eigentlich mit Lisa und Arnes teilen sollte. Dadurch wand ich um uns alle drei ein Band inniger Vertrautheit, obwohl ich das doch gar nicht wollte. Ich wußte nicht, was über mich gekommen war. Warum gestattete ich es den beiden, hier im Dunkeln zu stehen und die schlafende Blume anzustarren, als könnten sie ihr Geheimnis verstehen? Ich spürte, wie heiße Wut in mir aufstieg. Weder Lisa noch Arnes hatten eine tiefere Beziehung zu meiner Blume. Sie erwarteten, daß sie ihnen ein Schauspiel bot. Das Orchester müßte eine kurze Ouvertüre spielen, dann müßte das Rampenlicht aufflammen der Vorhang müßte aufgehen, und dann müßte die Mariphasa in der Bühnenmitte stehen und tanzen. Aber jetzt war es zu spät, um die beiden aus dem Laboratorium zu scheuchen. Ich hätte sie niemals hier hereinführen dürfen. Die Show mußte weitergehen. Ich schaltete die Mondlampe ein, regulierte den Rheostat, und der Raum wur-
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de immer dunkler, bis ihn schließlich pechschwarze Finsternis einhüllte. Die ersten schwachen Lichtstrahlen begannen zu schimmern, als der „Mond“ aufging. Silber berührte Silber, als die Strahlen auf die Blütenblätter der Mariphasa fielen, sie sanft streichelten, bis sie sich langsam öffneten. „Was für eine wollüstige Blume“, sagte Lisa. „Sie scheint das Mondlicht genüßlich zu umarmen.“ „Außergewöhnlich“, meinte Arnes. Die Mariphasa schien zu wachsen, dem Licht entgegenzustreben, damit sie es besser trinken konnte. Sie begann zu leuchten, wie von einem inneren Glühen erfüllt, schien das ganze Laboratorium mit dem Widerschein ihrer Lust zu erfüllen. Ich wollte auf sie zugehen, sie liebkosen, mit ihr das Entzücken teilen, das ihr das silberne Mondlicht schenkte. Ich wollte diese zarten, seidigen Blütenblätter streicheln. Aber noch während ich mit meinem Verlangen kämpfte, trat Lisa vor, wie hypnotisiert, und verwirklichte meine heißen Wünsche. Sie streichelte die Mariphasa, und ich glaubte zu sehen, wie sich die Blume zärtlich in ihre Hand schmiegte, wie ein schmeichlerisches Kätzchen.
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„Sie ist ganz kühl“, flüsterte Lisa. „Und doch scheint sie von Blut und Leben erfüllt zu sein. Ich kann ihren Puls fühlen.“ Arnes trat an ihre Seite, und sein ungläubiges Lächeln erschien mir wie eine Entweihung. „Nein!“ schrie ich. Aber das Wort kam unverständlich über meine Lippen. Es war ein unartikuliertes Knurren. Und während ich den gräßlichen Laut ausstieß, wußte ich, daß ich meine Zähne fletschte, daß sich mein Haar in atavistischer Feindseligkeit sträubte. „Wilfrid“, flüsterte Lisa erschrocken, „du siehst so seltsam aus. Bist du krank? Wilfrid – du siehst schrecklich aus!“ Ich wirbelte herum und schaltete die Mondlampe ab. Die Mariphasa zögerte, sie schien verwirrt zu sein, dann zitterte sie leicht, als das brutale Tageslicht über sie hereinbrach. Die Blütenblätter rollten sich nach innen, die Blumenkrone gähnte, bevor sie im schützenden Kelch verschwand. Die Mariphasa schlief. Als ich die Blume betrachtete, wußte ich, daß Lisa und Arnes mich beobachteten. Ich schloß die Augen -nicht nur, um Lisa zu zeigen, daß ich wirklich krank war, sondern auch, weil ich das seltsame und unheimliche Gefühl hatte, daß meine Augen sich verändert hatten. 31
Plötzlich war ich ganz sicher, daß meine Augen sich gelb gefärbt hatten. 4. Ich lag im Bett und träumte von Mord. Ein blutiges Rot war die Farbe, die in meinem Traum vorherrschte, und Blut floß aus Arnes’ Hals. Während ich ihm den Hals zerfetzte, lächelte er spöttisch und unterwarf sich meiner mörderischen Absicht. Die blutende, zerrissene Kehle schien ihn nicht im mindesten zu stören. Aufheulend ließ ich von ihm ab und rannte davon. Als ich die Augen öffnete, sah ich Blut über den Vorhang rinnen. Doch der hellgraue Samt sog das Blut auf, und es verwandelte sich in das blasse Rosa der Morgendämmerung. Der Stoff des Vorhangs veränderte sich, wurde zu einem saftigen Rasen. Und das Gras schien zu den Händen zu passen, die vor mir auf der seidenen Bettdecke lagen. Ich blinzelte, und der Vorhang war wieder glatt und fleckenlos, das Blut war verschwunden. Aber die Hände waren immer noch dicht behaart, von einem grauen, rauhen Wolfspelz überzogen. Ein Stöhnen kam über meine verzerrten Lippen. Ich muß sofort Dr. Payne anrufen, dachte ich und griff ungeschickt nach dem Telefon auf dem Nachttisch. „Die Nummer, bitte“, sagte eine kühle Stimme. 32
„Thampthead 1-3-5-4.“ „Ich habe Sie leider nicht verstanden, Sir.“ Die Zunge lag mir schwer im Mund, ich konnte sie kaum bewegen. Aber ich war doch nicht betrunken… Ich versuchte es noch einmal. „Thamph… Thampthdead…“ „Vielleicht schlafen Sie sich erst einmal aus und sagen mir später, was Sie wollen“, schlug die Dame in der Vermittlung mißbilligend vor. Wie gern hätte ich ihr das Gesicht zerfetzt… „Legen Sie nicht auf! Ich möchte…“ Ich sprach ganz langsam und sorgfältig, betonte jeden einzelnen Konsonanten, um ihr zu beweisen, daß ich nüchtern war – nüchtern und völlig normal. „Bitte, verbinden Sie mich mit Hampstead 1-3-5…“ Doch ich durfte nicht erleichtert aufatmen, durfte nicht hoffen, daß schon in wenigen Sekunden Dr. Paynes Stimme an mein Ohr dringen würde. Denn die letzte Zahl, die Vier, kam als schmerzliches, langgezogenes Heulen aus meiner Kehle. Die Dame in der Vermittlung stieß einen schrillen Schrei aus, zutiefst erschrocken über den unirdischen Laut, und legte den Hörer auf. Die Tür meines Zimmers flog auf, und Lisa stürzte herein, gefolgt von Spragg, unserem Butler. 33
„Geht es Ihnen nicht gut, Sir?“ „Was ist los, Liebling?“ Ich versteckte meine Hände unter der Decke und kniff die Lider zu, um meine gelben Augen zu verbergen. „Nichts ist los. Es geht mir gut.“ Lisa holte eine meiner Hände unter der Decke hervor, um mir den Puls zu fühlen. Verzweifelt wehrte ich mich, und sie lächelte mich beruhigend an. „Reg dich doch nicht so auf, Liebling, ich will doch nur…“ „Nein, nein!“ Ich entzog ihr meine Hand. „Bitte, Wilfrid, sei doch nicht so dumm!“ Sie schlug die Bettdecke zurück, griff nach einer glatten, unbeharrten Hand. Verwirrt blickte ich sie an, und ihr Lächeln vertiefte sich. „Jetzt siehst du schon viel besser aus, Liebling. Ich weiß wirklich nicht, warum du so ein Theater machst.“ Ihre liebevolle Fürsorge verstärkte meine Verzweiflung. Diese herablassende Sanftmut, die man in Krankenzimmern zur Schau trägt… „Nun, wie geht es uns denn heute?“ Oh, dieses gräßliche „Wir“, das den Kranken nur noch hilfloser macht und das Lisa zweifellos anwenden würde, wenn sich mein Zustand verschlechtern sollte… Ich, ihr Mann und Liebhaber, würde in ihren Augen kein menschliches Wesen mehr sein, sondern ein 34
schwächliches Stück Fleisch, ein Haufen von Molekülen, mit dem man nur noch Mitleid haben konnte. Und Arnes würde zweifellos die Lücke füllen, die ich hinterlassen hatte. O nein, Lisa, das kannst du mir nicht antun, dachte ich. Das wirst du mir nicht antun. Lieber sehe ich dich tot vor mir liegen… Doch dann zuckte ein seltsames Flimmern durch mein Gehirn, und der wilde Haß wurde verdrängt von meiner innigen Liebe zu ihr. „Danke, Spragg, wir brauchen Sie nicht mehr“, sagte ich. Er verbeugte sich und verließ mein Zimmer. Als sie die Tür hinter ihm geschlossen hatte, nahm ich Lisa in die Arme und küßte sie mit einer Leidenschaft, wie ich sie noch nie zuvor empfunden hatte. Nicht nur Liebe und Verlangen hatten diese Leidenschaft geweckt, sondern auch der Schatten einer maßlosen, unausweichlichen Verzweiflung. Ich engagierte einen diskreten, verläßlichen Diener, Cuthbert Hastings, der mir half, die Mariphasa zu pflegen. Er war in mittleren Jahren und sehr loyal. Um seinen Charakter zu beschreiben, verglich man ihn am besten mit einem Cockerspaniel, der die Treue und Aufrichtigkeit eines Schäferhunds besaß.
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Mit vereinten Kräften statteten wir das Laboratorium mit der nötigen Ausrüstung aus, die ich brauchte, um die Mariphasa zu züchten. Sie war keine wild wuchernde Pflanze und trieb nur wenige Knospen, die sich langsam entfalteten. Um diesen Prozeß zu unterstützen, war ich auf die Hilfe der Technik angewiesen. Hastings kümmerte sich um die technischen Belange der Maschinerie, während ich den Wachstumsprozeß der Mariphasa in meinen Tagebüchern aufzeichnete, sorgfältig und in allen Einzelheiten. Gelegentlich hielt ich in verschiedenen wissenschaftlichen Vereinen Vorträge über die Pflanze. Als Lisa erkannte, daß sie sich unbegründete Sorgen um mich machte, fühlte sie sich erneut vernachlässigt und war wütend auf mich, weil ich so viele Stunden in der Abgeschiedenheit meines Laboratoriums verbrachte. Sie vertrieb sich die Zeit, indem sie ihre Freunde besuchte und sich dabei zweifellos bitter über ihren ungeselligen Ehemann beklagte. Arnes führte sie mit meiner Erlaubnis manchmal ins Theater, denn dieses Vergnügen wollte ich ihr nicht mißgönnen, und ich hatte keine Zeit dafür. Außerdem war ich überzeugt, daß mir diese Großzügigkeit ihre Liebe erhalten würde, während sie mich vielleicht zu hassen begann, wenn ich sie daheim einsperrte. 36
Vielleicht vertraute ich ihr zu sehr, aber mir war nicht bewußt, daß ich ihre Treue als etwas Selbstverständliches betrachtete. Ich machte mir darüber kaum Gedanken. Wenn ich nicht in meinem Laboratorium arbeitete, erholte ich mich bei ausgedehnten Spaziergängen im Garten und fütterte die fleischfressenden Pflanzen, die in Glaskäfigen in einem geräumigen, jedoch geschützten Innenhof lebten. Außer der Venusfliegenfalle hatte ich noch eine große, gierige Pflanze, die ich in Madagaskar entdeckt hatte, eine Carnalia. Sie war krank gewesen, und ich hatte gedacht, daß sie sterben müsse. Aber nun hatte sie sich erholt und beugte sich hungrig vor, als ich ihr eine kleine Maus hinhielt. Die großen, fleischigen Sporen, aus denen sich die Pflanze zusammensetzte, arrangierten sich zu einem erwartungsvollen Lächeln. Die Beute wurde in das schwarze Loch inmitten der schützenden Lappen geschoben, und die Carnalia zitterte vor Vergnügen und spuckte gelegentlich ein Fellbüschel aus. Eines Morgens brachte mir der Postbote den Brief eines Mannes, den ich nicht kannte, den Brief eines Dr. Yogami, Professor der Botanik an der Universität von Tokio. Er erkundigte sich, ob ich einem demütigen Verehrer den Besuch meines einzigartigen Laboratoriums er37
lauben würde. Ich schrieb nach Grosvenor House, wo der Professor wohnte, und lud ihn ein. Ich wußte nicht, warum ich ihm meine Gastfreundschaft anbot, denn Fremde waren mir nicht willkommen, mochten sie auch noch so bedeutend sein. Vielleicht erschien es mir unhöflich, einem weitgereisten Mann, der ohnedies nicht lange in England bleiben würde, eine harmlose Bitte abzuschlagen. Diesen Entschluß sollte ich bitter bereuen. 6. Dr. Yogami war eine Mischung von Gegensätzlichkeiten. Er war nachgiebig und doch hartnäckig, herzlich und doch kalt, liebenswürdig und doch voller Bosheit. Er war groß und dick und selbstbewußt. Er sprach mit westlichem Akzent und behauptete, eine Zeitlang in Oxford studiert zu haben. Aber er hatte die typischen Augen der gelben Rasse -dunkel und ausdruckslos. Er gab sich gleichmütig, und doch klang seine Stimme sehr eindringlich, vor allem, wenn er mir Fragen über meine schlafende Mariphasa stellte. „Finden Sie nicht auch, Sir, daß Mut eine Frage der Unempfindlichkeit ist?“ meinte er lächelnd. „Ins LitzeTal zu gehen, obwohl man Sie nachdrücklich vor unirdischen Gefahren gewarnt hat… Das war tapfer. Aber es 38
war die Tapferkeit eines Mannes, der ungerührt in alten Häusern schläft, obwohl er weiß, daß es darin spukt – die Tapferkeit eines Mannes, der keine Phantasie besitzt.“ „Ich glaube nicht, daß ich phantasielos bin“, entgegnete ich gekränkt. „Ich möchte Sie nicht kritisieren, Sir“, sagte er. „Ganz im Gegenteil. Ein Forscher muß nur seine eigene Kraft und Fähigkeit in Betracht ziehen, nicht die Schwächen anderer. Und doch – die Gefahren des Litze-Tals waren so deutlich beschrieben worden…“ „Aber sie konnten nicht nachgewiesen werden“, unterbrach ich ihn. „Und selbst wenn diese Gefahren tatsächlich existierten – Renwick und ich hätten unseren Plan ebensowenig aufgegeben, wie Livingstone auf seine Reisen verzichtet hätte, wenn er über alle Einzelheiten der Schlafkrankheit und anderer Heimsuchungen die ihm drohten, Bescheid gewußt hätte.“ „Natürlich nicht. Nichts wird einen Mann davon abhalten, Ruhmeslorbeeren zu ernten. Aber nun zu Renwick ich habe nicht viel von ihm gehört. Hat er an allen Ihren Abenteuern teilgenommen?“ „Gewiß.“ „Aber ich habe nicht gelesen, daß er auch von diesem Wesen angegriffen wurde.“ 39
„Er war zwar in jenem Augenblick bei mir, aber er wurde glücklicherweise nicht gebissen.“ „Dann hatte er tatsächlich Glück“, meinte Yogami mit sanfter Stimme. „Soviel ich weiß, wurde außer Ihnen bisher nur ein einziger Mann von einem dieser Wesen attackiert. Auch er hat überlebt.“ „Ach, wirklich? Und wer ist das?“ „Ein Mann, den ich sehr gut kenne. Sagen Sie mir doch, Dr. Glendon, haben Sie irgendwelche Vermutungen, was die Beschaffenheit des Wesens angeht, das Sie in den Arm gebissen hat?“ „Ich nehme an, es war ein Yeti – einer dieser scheußlichen Schneemenschen“, antwortete ich und kam mir dabei ein wenig lächerlich vor. „Ich versichere Ihnen, Dr. Glendon, daß es nichts dergleichen war.“ ‘ „Was war es dann?“ „Ich glaube, es war eine Art Wolf.“ Ich versuchte mir jene grausige Szene zu vergegenwärtigen, und es gelang mir. Ich sah den Speichel auf den langen Eckzähnen glitzern, die schmalen Augen, die im Mondlicht seltsam farblos gewirkt hatten, hörte das unheimliche Echo des klagenden Heulens. „Vielleicht haben Sie recht“, sagte ich. „Aber das Wesen hat aufrecht vor mir gestanden.“ 40
„Eine gewisse Wolfsart steht aufrecht“, sagte Yogami. „Und was für eine Spezies ist das? Ich habe noch nie davon gehört.“ „Der Werwolf.“ Ich wollte lachen über diese phantastische Behauptung, wollte den Professor verspotten mit der kühlen Überlegenheit des Wissenschaftlers. Aber mein Gelächter wäre Heuchelei gewesen, Lüge und Selbstbetrug. Nur allzudeutlich erinnerte ich mich an die seltsame Veränderung, die mit meiner Stimme vorgegangen war, an meine behaarten Hände. „Haben Sie keine unerklärlichen Symptome an sich beobachtet?“ fragte Yogami. „Vielleicht ein gelegentlicher Haarwuchs – zuerst auf den Handrücken, später auch auf den Handinnenflächen? Die plötzliche Neigung zu knurren, wenn Sie sprechen wollen? Eine Verzerrung des Mundes zu beiden Seiten, zu den Augenzähnen hin, die den menschlichen Ersatz für die tierischen Eckzähne unserer Ahnen darstellen? Haben Sie das alles nicht an sich selbst beobachtet?“ Meine Stimme gehorchte mir kaum, ich konnte nur flüstern. „Wieso kennen Sie diese Symptome?“ „Vielleicht, mein lieber Dr. Glendon“, entgegnete er, ebenfalls im Flüsterton, „weil ich selbst jener andere Mann bin, der von einem Werwolf gebissen wurde.“ 41
Die Worte fehlten mir. Ich konnte ihn nur anstarren, konnte kaum glauben, daß dieser kultivierte, ruhige Mann all das miterlebt hatte, was auch mir widerfahren war. Und sein Anblick gab mir neue Hoffnung. „Wann ist das passiert?“ fragte ich nach einem langen, drückenden Schweigen. „Vor drei Jahren. Auch ich ging ins Litze-Tal, um die Mariphasa zu suchen, Dr. Glendon. Auch ich ignorierte die Warnungen, die Angst der Menschen, die in jener Gegend leben. Ich hielt sie für abergläubisch, für die Opfer irgendwelcher unbekannter Götter, die nicht entdeckt werden wollen und deshalb einen Schleier von Furcht und Schrecken rings um sich ziehen, genauso wie der Polyp Tinte verspritzt, um sich darin zu verbergen.“ Er machte eine Pause, sah mich ausdruckslos an und fuhr dann fort: „Ich habe die Mariphasa gefunden. Und ich habe auch die Werwölfe gefunden.“ „Ich habe nichts davon in den Zeitungen gelesen.“ „Ich habe es auch keinem Reporter verraten. Ich erklärte, es sei mir nicht gelungen, das Tal zu finden, und behauptete, daß die Mariphasa nicht existiere. Ich wollte nicht, daß andere erdulden, was ich erdulden mußte – ganz allein. Denn ich hatte keinen Renwick bei mir. Die Werwölfe umringten mich, verspotteten mich. Sie be42
nahmen sich wie Aussätzige, die einem gesunden Menschen gegenüberstehen – einem Menschen, den sie mit einem einzigen Biß ebenfalls in einen Aussätzigen verwandeln konnten. Die Werwölfe haben ebenso wie die Aussätzigen die Gabe, Leben oder Tod zu schenken, Dr. Glendon. Sie sahen mich an, und sie entschieden sich für den Tod -für einen grausigen Tod.“ Atemlos hörte ich ihm zu, und in diesem Augenblick glaubte ich noch einmal jene gräßliche Szene zu erleben, die Fänge zu sehen, die sich gierig entblößten, bevor sie sich in mein Fleisch gruben. „Eine der Bestien kam knurrend auf mich zu und schnappte nach meinem Arm. Ich wollte mich losreißen, aber ich konnte es nicht. Die Zähne des Werwolfs hielten mich fest, zermalmten meine Knochen. Ich schrie auf und verlor das Bewußtsein, und als ich wieder zu mir kam, war ich allein – allein mit der Mariphasa. Sie sah mich an. Ich war überzeugt, daß sie Augen hatte, daß sie versuchte, mir irgend etwas mitzuteilen.“ Ich kroch zu der Blume, die mir am nächsten blühte, preßte sie an meinen Arm, und sofort verschwanden die Schmerzen. Vorsichtig grub ich die Mariphasa aus und steckte sie in meinen Rucksack. Ich grub viele Blumen aus, Dr. Glendon, und legte immer wieder neue auf meine Wunden, als ich langsam den Berg hinabstieg.“ 43
Seine Stimme dröhnte in meinen Ohren, während ich mich an mein eigenes Erlebnis in diesem tödlichen und doch so schönen Tal erinnerte. „Ich fühlte mich zu der Pflanze stark hingezogen“, fuhr er fort, „und ich sah eine vertraute Freundin in ihr. Sie schien mir zu sagen, daß sie mich heilen würde, wenn ich nichts von ihren ärztlichen Künsten verriete. Doch wenn ich ihr Geheimnis preisgäbe, würde sie sich von mir abwenden, mich einem qualvollen Tod zu überlassen.“ Wieder machte er eine Pause, und seine Stimme war nun so leise, daß ich ihn kaum noch verstand. „Als Sie das Litze-Tal und seine schrecklichen Bewohner entdeckten, vermutete ich, daß die Mariphasa es wußte und mir die Schuld daran gab, daß sie glaubte, ich hätte das Geheimnis verraten. Meine Ahnung bestätigte sich, als meine Mariphasa zu verfallen begann, als sie ihre Blütenblätter nicht mehr öffnete um das Mondlicht zu trinken.“ Yogami beugte sich zu mir vor und sah mir in die Augen. „Nur die Mariphasa stand zwischen mir und einem Schicksal, daß ich keinem Menschen wünsche, Dr. Glendon – dem Schicksal, ein Werwolf zu werden. Auch ich entdeckte das Fell auf meinen Händen. Zuerst ver44
schwand es von selbst wieder. Aber dann nicht mehr… Und ich verspürte das seltsame und grausige Verlangen, die Kehle eines Menschen zu zerfetzen, den ich liebte. In einer Vollmondnacht wurde die Versuchung so unwiderstehlich, daß ich mir kaum zu helfen wußte. Ich preßte eine Mariphasa an meinen Arm und aß ihren Blütenstaub, und das allein half mir, die Instinkte des Werwolf s zu besiegen, der in mir lebt.“ Er senkte den Kopf, seine Flüsterstimme begann zu zittern: „Nur habe ich nur noch eine einzige Mariphasa, und die welkt langsam dahin. Hegen und pflegen Sie Ihre Blumen, Dr. Glendon, denn nur die Mariphasa kann Sie retten.“ „Ja, ich werde sie hegen und pflegen“, antwortete ich und sagte mir im gleichen Augenblick entschlossen, daß nur einer von uns beiden das Glück der Rettung genießen sollte. Ich würde Yogami keine einzige meiner langsam wachsenden Blumen geben. Ich wollte ihn nicht für den Rest meines Lebens am Hals haben. Bestürzende Visionen entstanden vor meinem geistigen Auge - Professor Yogami, der zu mir kam, um in meinem Haus zu leben, sich beständig in alle meine Angelegenheiten mischte, nur um in der Nähe der Heilpflanze zu sein.
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„Gut, Dr. Glendon. Die Wolfsucht ist eine schreckliche Krankheit.“ Yogami lächelte, und ich spürte, daß ihn ähnliche Gedanken bewegten wie mich: daß er einen Weg suchen würde, mich auszuschalten, um allein in den Genuß der Mariphasa zu kommen. 7. Lisa lächelte mich an im blassen Mondlicht. Ihr Haar floß dunkel über das weiße Kissen. Ihre Hände auf meiner Haut waren kühl und glatt. Ich erwiderte ihre Umarmung, und im Schein der Mondstrahlen, die zwischen den Vorhängen hindurchdrangen, las ich zärtliche Liebe in ihren Augen. Lisas Mund preßte sich auf den meinen. Ihre Leidenschaft verriet mir, daß sie mir verziehen hatte. Sie war mir nicht mehr böse, weil ich sie in letzter Zeit so oft allein gelassen und so viele Stunden in meinem Laboratorium verbracht hatte. Ich liebe dich über alle Maßen, Lisa. Ich will dich nicht vernachlässigen, ich will dir nicht weh tun. Aber meine wissenschaftliche Neugier ist eben stärker als jene biologische Neugier, die manche Männer immer wieder in die Arme ihrer Geliebten treibt. Jene Neugier kann nie befriedigt werden. Aber eine unstillbare körperliche Leidenschaft ist meinem Wesen fremd. Was ich kenne, 46
das kenne ich zur Genüge. Und ich will nur das kennenlernen, was ich noch nicht kenne. Ich brauche die Genüsse intimer Zweisamkeit nicht immer wieder von neuem zu erleben, jene Freuden, die andere Männer zur Auffrischung ihrer Gefühle benötigen. Lisa, dein schönes Gesicht lächelt mich an, dein wunderbarer, weicher weißer Hals… Plötzlich verspüre ich das Verlangen, diesen Hals zu zerfleischen. Die Worte der Liebe, die ich eben noch geflüstert habe, ersterben in meiner Kehle, und ich muß mich von dir losreißen, Lisa, ich muß mich abwenden, bevor du die Augen öffnest und die Veränderung siehst, die mit mir vorgegangen ist. Der Mann, dem du dich noch vor wenigen Minuten hingegeben hast, ist kein Mann mehr. Ich wage nicht meinen Mund zu öffnen, um mich zu entschuldigen, weil ich mich aus deiner Umarmung befreit habe, denn ich weiß, daß es kein menschlicher Laut wäre, der über meine Lippen käme. Wahrscheinlich würde ich meine Gefühle in einem seltsamen heiseren Flüstern ausdrücken, in einem wölfischen Knurren. Und doch sehne ich mich nach dir, Lisa. Und mit meinem Verlangen nach dir wetteifert ein wachsender Wunsch, mich deiner zu entledigen. Meine Begierde kann ich morgen stillen, wenn du mir verziehen hast, was ich dir heute nacht angetan habe – morgen, wenn 47
der Mond abnimmt. Aber wirst du morgen noch am Leben sein, Lisa? Ich mußte sie verlassen, ich mußte in mein Laboratorium fliehen, zu meiner Mariphasa, die mich retten, die mich von meinem unseligen Verlangen heilen würde. „Wilfrid!“ Ihre klagende Stimme folgte mir, als ich zur Tür rannte und nicht wagte, mich zu ihr umzudrehen. Ich hoffte, daß sie nichts merkte, daß sie mir von hinten nicht ansehen konnte, welch ungeheure Verwandlung mit mir vorgegangen war. Der wilde Wunsch in mir ließ nach, als mich das Licht des Mondes nicht mehr mit voller Wucht traf. Ich erreichte die Tür, die in mein Laboratorium führte, drehte mit meinen ungeschickten, behaarten Fingern den Schlüssel im Schloß herum. Ich hoffte, daß Hastings schlief, daß er nicht Wache hielt wie in so vielen Nächten, denn ich hatte ihm von Dr. Yogami erzählt, und der gute Mann befürchtete, daß der Asiate einen Einbruch plante. Hastings war nicht im Laboratorium. Der Drang, ein wildes Geheul auszustoßen, war fast unwiderstehlich. Als ich nach der Mariphasa griff, hob ich mein Gesicht dem künstlichen Mondlicht entgegen und öffnete den
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Mund, entblößte die Augenzähne, die sich in mordlüsterne Fänge verwandelt hatten. Ich preßte die Mariphasa an meinen verletzten Arm, leckte mit langer, gieriger Zunge an ihrem Blütenstaub. Ich spürte, wie das wilde Verlangen in mir abebbte, meine Lippen waren nicht mehr grotesk verzerrt, ich sah, wie das Fell von meinen Händen verschwand. Ich nahm die Blume mit nach oben und öffnete die Tür unseres Schlafzimmers. „Was ist denn los, Wilfrid?“ „Es tut mir leid, Liebling. Mir ist ganz plötzlich übel geworden.“ Ich hoffte, daß sie mir die Lüge nicht ansah. „Verzeih mir -zu dumm, daß das ausgerechnet in diesem Augenblick passieren mußte…“ Lisa lachte und streckte die Arme nach mir aus. „Geht es dir jetzt wieder besser?“ „Ja, ich denke schon, mein Liebling.“ Ich legte mich zu ihr ins Bett und sah, wie sie die Augen schloß. Der Anblick ihres schönen, glücklich lächelnden Gesichts erfüllte mich mit Entzücken. Der Gedanke war schrecklich, daß ich nie mehr unbeschwert die Freuden einer Umarmung genießen würde. Denn das Glück unserer Liebe würde für immer von der Blume abhängig sein, die ich in jener verhängnisvollen Nacht im Litze-Tal gefunden hatte. 49
Wie unglaublich schön Lisa aussah, als sie in der Tür der Bibliothek stand, in dem Kleid aus der orientalischen Seide, die ich ihr aus dem Fernen Osten mitgebracht hatte. Und hinter ihr stand der verhaßte Arnes. „Liebling“, sagte sie, „komm doch mit uns zu der Party. Tante Ettie wäre schrecklich enttäuscht, wenn du…“ „Tut mir leid“, unterbrach ich sie und zwang mich zu einem bedauernden Lächeln. „Ich würde ja gern mitkommen, aber ich muß hierbleiben und arbeiten.“ „Wie du meinst…“ Sie sah mich schmollend an, aber sie war eine schlechte Schauspielerin. Ich wußte, daß es ihr nichts machte, allein mit Arnes zu Etties Party zu gehen. Im Gegenteil, sie freute sich sogar darüber. War er ebenso ehrenhaft wie weltmännisch? Ich bezweifelte es. Mir war bewußt, wie gefährlich es war, meine Frau seiner Obhut anzuvertrauen. Aber ich kannte auch die Gefahr, die von dem silbernen Vollmond ausging, der langsam am Himmel aufstieg. Wieder einmal, viel zu schnell, war der Mond zu einer hell leuchtenden Kugel angeschwollen. Ich mußte vorsichtig sein. Wenn mich meine Mariphasa heute nacht im Stich ließ? Was würde ich tun? Wenn mich das unselige Verlangen gerade überkäme, wenn ich mit einer der Damen tanzte oder wenn Lady Comble eine Arie vortrug (Lady Comble litt unter dem Wahn, daß sie einen 50
angenehmen Sopran habe, während ihre Stimme eher wie ein Baß klang)? Was würde geschehen, wenn ich mich vor den Augen aller Partygäste plötzlich in einen Werwolf verwandelte? Müßte ich nicht auf Lisa Rücksicht nehmen, bestünde nicht die Gefahr, daß ich erschossen würde oder für den Rest meines Lebens hinter Gitter käme, hätte ich es vielleicht sogar genossen, als wilde Bestie durch Tante Etties Salon zu toben. Aber da ich die Konsequenzen fürchtete, wagte ich es nicht, Lisa und Arnes zu der Party zu begleiten. „Also, dann guten Abend, Wilfrid“, sagte sie.“ Guten Abend, Lisa.“ Ich schenkte ihr mein liebenswürdigstes Lächeln. „Guten Abend, Sir“, sagte Arnes. Wie freundlich war ihm das Schicksal gesinnt, und wie grausam traf es mich… Sie wandten sich ab, die Tür der Bibliothek fiel hinter ihnen ins Schloß. Dicke Samtvorhänge schützten mich vor der hellen Mondscheibe. Ich mußte hinab ins Laboratorium gehen, zu meiner Mariphasa, um in ihrer Nähe zu sein, wenn sich die ersten Symptome der Wolfssucht zeigten. Ich blickte auf das aufgeschlagene Buch in meiner Hand, das einen illustrierten Bericht über die Werwölfe 51
enthielt, die im vierzehnten Jahrhundert in Transsylvanien gelebt hatten. Ein Holzschnitt zeigte ein düsteres Schloß und eine unirdische Gestalt, die in der Nähe der Zugbrücke lauerte. Auf der nächsten Seite war die Kreatur aus dem Blickwinkel eines Wachtpostens dargestellt, der auf den Zinnen stand. Der Werwolf hockte am Fuß der Mauer und starrte nach oben, mit gesträubtem Haar und gefletschten Zähnen. Würde ich jetzt auch so aussehen, wenn mich die Heilkraft der Mariphasa nicht beschützte? Ein bizarrer Gedanke, daß dieses Monstrum, das in meinem Buch abgebildet war, einst das gleiche Leid getragen hatte, das nun auch mich heimsuchte… Ich schloß das Buch, stellte es ins Regal zurück, und plötzlich fühlte ich mich dazu gezwungen,- den Vorhang aufzuziehen und hinauszublicken – vielleicht, um festzustellen, ob wirklich der Vollmond am Himmel stand. War es eine Geste der Herausforderung? Entsprang dieser Wunsch einem krankhaften Gemüt? Oder war es etwas anderes – vielleicht das heiße Verlangen, mich den Strahlen des Mondes auszusetzen, die Sehnsucht nach der unseligen Verwandlung? Wollte ich wissen, ob die Veränderung vollkommen sein würde? Wollte ich he-
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rausfinden, ob ich der Mordlust, die mich befallen würde, widerstehen könnte? Es war ein Vollmond, dessen Strahlen sich einen Weg zwischen den Eichenzweigen vor dem Fenster suchten. Ich badete mich in seinem Schein, und meine Sehnsucht nach der Mariphasa und der Sicherheit, die sie mir bot, schwand. Ich wollte das Haus verlassen, die stillen Straßen entlang laufen, mir ein Opfer suchen, um zu erfahren, wie es war, wenn… Mein Verstand kehrte langsam zurück, als ich die Vorhänge wieder zuzog. Ich sah, daß die Haare auf meinen Handrücken wuchsen, spürte die Eckzähne, die über meine Lippen hinausragten. Ich lief zum Telefon, rief Dr. Payne an und bat ihn, sofort zu mir zu kommen. „Was für Symptome hast du denn, alter Junge?“ fragte er mit der rauhen Herzlichkeit eines guten, wohlmeinenden Freundes. „Das kann ich dir am Telefon nicht sagen“, antwortete ich und hatte Mühe, mich deutlich auszudrücken. „Deine Stimme klingt so rauh“, meinte er. „Ich werde dir ein Mundwasser mit Glyzerin mitbringen.“ „Ja, danke.“
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Ich legte den Hörer auf und ging zu meinem Sessel zurück, und plötzlich schienen meine Beine nicht mehr fähig zu sein, meinen Körper zu tragen. Ich fiel auf alle viere und kroch langsam weiter. Dieser verdammte Payne, warum hatte er mich nach den Symptomen meiner Krankheit gefragt? Oh, er würde seine Neugier noch bereuen. Ich knurrte wütend und schnappte nach dem Schonerdeckchen, das auf dem Sessel lag. Ich haßte Schonerdeckchen, aber Lisa legte sie in schöner Beharrlichkeit immer wieder auf meinen Sessel in der Bibliothek, weil sie behauptete, mein Haaröl würde Flecken auf den Bezug machen. Es gelang mir, die wölfischen Regungen zu unterdrücken, die mich für wenige Augenblicke erfüllt hatten. Daß ich nach dem Schonerdeckchen geschnappt hatte, half mir, mein Denken wieder in normale Bahnen zu lenken, denn das hatte meine wilden Instinkte befriedigt – wenigstens vorläufig. Ich schaffte es sogar, mich aufzurichten, zum Sideboard neben dem Fenster zu gehen und mir einen doppelten Whisky einzugießen. Ein dünner Mondstrahl fiel durch ein winziges Loch im Vorhang ins Zimmer, und ich sprang zurück, als hätte ich mich verbrannt. Spragg, unser Butler, führte Payne herein. 54
„Nun, Wilfrid, was ist los mit dir?“ Sein Lächeln erstarb, als er mich genauer betrachtete. „Mein Gott, du siehst ja schrecklich aus! Was hast du denn, alter Junge?“ „Ich -ich glaube, es ist eine Drüsenkrankheit. Sieh dir einmal meine Hände an.“ Payne griff nach meiner rechten Hand, untersuchte sie sorgfältig und fragte mich: „Wie lange hast du das schon?“ „Seit ein paar Wochen.“ Ich konnte seinem Blick kaum standhalten. „Es kommt und geht… Ich komme mir vor wie eine Wiese, sehe das Gras wachsen, das heißt – ich habe eher das Gefühl, von Unkraut überwuchert zu werden.“ Payne dachte eine Weile nach, und dann sagte er: „Ich glaube, du solltest Sir James Handforth konsultieren. Ich bin nicht auf Drüsenkrankheiten spezialisiert. Ich werde ihn hierherholen. Wenn ich mich beeile, könnte ich ihn noch in seinem Klub erwischen. Um diese Zeit ist er meistens dort.“ Als er sich zur Tür wandte, kam Sappho, unsere Perserkatze, herein. Sie sah mich an, begann zu fauchen, und das Haar auf ihrem Rücken sträubte sich. „Kein sehr freundliches Tierchen“, sagte ich und versuchte zu lächeln, aber ich spürte eine unkontrollierbare 55
Wut in mir aufsteigen. Am liebsten hätte ich Sappho gepackt und wie eine Zeitung zerrissen. Als spürte sie meine bösen Gelüste, verschwand sie hinter dem Vorhang und sprang durch das halb geöffnete Fenster in den Garten. Ich konzentrierte mich wieder auf Payne, und unter Aufbietung meiner ganzen Willenskraft gelang es mir, ruhig zu bleiben, ihm die Hand zu schütteln und ihn zur Tür zu begleiten. Er warf mir einen seltsamen Blick zu, und es war fast so, als würde er eher Angst vor mir als Sorge um mich empfinden. Vielleicht begannen meine Zähne wieder zu wachsen. Es wäre wohl besser, schleunigst ins Laboratorium zu laufen und die Mariphasa auf meinen verwundeten Arm zu pressen. Ich wartete, bis ich Paynes Auto davonfahren hörte, dann riß ich das Fenster weit auf und sprang hinaus in den Garten. Das Wolfsgefühl drohte mich wieder zu übermannen, war fast unwiderstehlich. Ungeschickt landete ich auf allen Vieren und beneidete Sappho um ihre Schnelligkeit und Anmut. Eine Ewigkeit schien verstrichen zu sein, als ich endlich die Tür des Laboratoriums erreichte, und es fiel mir schwerer als je zuvor, den Schlüssel im Schloß herumzudrehen.
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Die Mondlampe schien auf kahle Blumenstengel. Meine Mariphasa hatte nur noch eine einzige Knospe. Meine kostbaren Blüten waren abgerissen worden. Ein kalter Luftzug streifte mich, und ich sah hinauf zum Oberlicht. Das Fenster hing schief in den Angeln. Es war aufgebrochen worden. Ich stand da, im vollen Licht des Mondes, und spürte ein Prickeln auf der Kopfhaut, fühlte, wie sich mein Gesicht verzerrte. Yogami… Ich mußte Yogami finden. Er war der Dieb, und ich mußte ihn zur Rede stellen. Ich mußte mir meine Mariphasa-Blüten zurückholen. Yogami… Ich glaubte sein Gesicht vor mir zu sehen, dann schien es vor meinen Augen zu verschwimmen, zu flimmern. Schließlich verschwand es, und an seine Stelle trat eine Wölfische Vision rohen Fleisches, die Vision eines Mannes, der mir davonlief. Warum strengte er sich so an? Warum rannte er davon? Er mußte doch wissen, daß ich ihn mit spielerischer Leichtigkeit einholen würde. Ich war mir meiner Kraft bewußt, und ich genoß die mörderische Wut, die mich erfüllte.
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Ich stürmte hinaus in den Garten, hob meine Schnauze dem Mond entgegen und stieß ein langgezogenes Heulen aus. 9. Um schneller laufen zu können, richtete ich mich auf, floh instinktiv in das schützende Dunkel der Schatten. Die Straße war leer wie die Straßen in einem abgelegenen Dorf in der russischen Steppe. Wenn in solchen Dörfern das Heulen eines Wolfes aufklingt, verbarrikadieren die Bauern ihre Fenster und Türen, lauschen zitternd dem Geheul, das immer näher kommt, und wissen, daß der Tod auf der Straße lauert. Die Bauern würden auch andere Wölfe hören, denn die Wölfe rotten sich zu Rudeln zusammen, um die Dörfer zu überfallen. Aber ich war ein einsamer Wolf. Nur Yogami würde in dieser Nacht vielleicht ebenfalls auf die Jagd gehen, hätte er meine Mariphasa nicht gestohlen. Wir würden nebeneinander dahinspringen, mit blutunterlaufenen Augen, von Mordlust erfüllt, und alles zerfleischen, was uns über den Weg lief. Lisa, dachte ich plötzlich. Ich mußte Lisa haben – Lisas Hals, Lisas Leben. Dieses Verlangen war stärker als alle Leidenschaft, die der Mann Wilfrid jemals empfunden hatte, wenn er seine Frau in den Armen hielt.
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Während ich diese Zeilen niederschreibe, fällt es mir schwer, mich genau an alles zu erinnern, was ich in meinem wölfischen Dasein gefühlt habe. Es fällt mir schwer, mich zu erinnern, was für ein Gefühl es war, die Fänge aufeinanderzubeißen, wie es war, in kräftigen Sprüngen die Straße hinabzujagen. Meine Lungen mußten sich vergrößert haben, denn sonst wäre es unmöglich gewesen, diese Geschwindigkeit beizubehalten, ohne nach Atem zu ringen. Wie kann ich die seltsamen Bilder schildern, die mein wölfisches Gehirn durchzogen, abgesehen von den Visionen, die ich bereits erwähnt habe? Genährt wie Romulus und Remus, die Pflegekinder einer Wolfsmutter, war ich nun kein menschliches Wesen mehr, dessen Verstand die Instinkte unter Kontrolle hatte, sondern ein Geschöpf, von Instinkten beherrscht. Ich erinnerte mich – wenn mir auch nicht bewußt war, daß ich mich erinnerte –, wo Etties Haus lag. Ich näherte mich meinem Ziel durch dunkle Seitengassen, und auch das war mir nicht bewußt, denn ich gehorchte einem Instinkt. Und es war auch ein Instinkt, der mich zu dem Opfer führte, das ich mir auserkoren hatte – zu Lisa. Ich sah etwas unter einem Baum stehen. Im Mondlicht sah ich etwas Flüssiges glitzern, ein dünnes Rinnsal. Ein 59
Hund hob sein Bein. Plötzlich wandte er sich um, entdeckte mich, sprang knurrend auf mich zu. Es war ein Schäferhund, ein Wesen, mit dem ich in dieser Nacht eng verwandt war. Ich hörte ein schrilles Pfeifen, eine Männerstimme, aber der Schäferhund reagierte nicht. Als das Biest mich erreichte, fiel ich auf die Knie, schnappte nach seinem Hals, sah seine Fänge dicht vor mir. Es biß in meinen Arm, genauso wie damals das Monstrum in Tibet. Ich hatte kein Messer, aber meine überlangen Fänge leisteten mir gute Dienste. Bevor die Zähne des Hundes mein Fleisch durchdringen konnten, hatten sich meine Fänge in seinen Hals gegraben. Er heulte, und es klang beinahe wie ein menschlicher Schmerzensschrei. Aber als das Blut in mein Maul floß, erstarb das Geheul meines Gegners. „King, laß das! Hierher!“ rief der Herr des Hundes. Natürlich nahm er an, daß sein kräftiger Schäferhund den Kampf gewinnen würde. Zweifellos war er schon aus unzähligen Kämpfen mit schwächeren Artgenossen als Sieger hervorgegangen. Aber diesmal war er besiegt worden. Der Mann lief auf mich zu. „King?“ Er blieb stehen, und ich knurrte ihn an und sah, wie er zusammenzuckte, hörte ihn flüstern: „Oh, mein 60
Gott!“ Er starrte in mein blutüberströmtes Gesicht, auf die Zunge, die mir aus dem Maul hing und dann die Blutstropfen vom Kinn leckte. Ich sprang ihn an, hieb meine Fänge in seinen Hals. Hilflos brach er neben seinem Hund zusammen. Diese beiden Morde waren nur ein Zwischenspiel gewesen. Ich war nur teilweise befriedigt. Das Ziel meiner Wünsche war noch am Leben, amüsierte sich auf Etties Party. Ich setzte meinen Weg fort. Im Schatten einer Hecke blieb ich stehen. Gelächter drang zu mir, helles Licht fiel durch ein halbkreisförmiges Fächerfenster über einer Tür in die Nacht heraus. Ich kannte dieses Haus, diese Stufen, die zur Tür hinaufführten. Da oben gab es irgendeine Plattform, etwas, auf dem man stehen konnte. Ich hatte schon einmal darauf gestanden… Erinnerte ich mich in diesem Augenblick daran, wie leicht es sein mußte, auf der Terrasse zu stehen, durch ein offenes Fenster ins Haus zu springen oder sich durch die offenstehenden Französischen Fenster in den Salon zu schleichen? Während ich hier sitze und das alles niederschreibe, bin ich mir nicht mehr sicher. Nur an eines erinnere ich mich ganz deutlich – damals, in der Gestalt eines Wer-
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wolfs, wußte ich instinktiv, daß meine Beute in diesem Haus und daß das Haus verwundbar war. Das Gefühl, meinem ersehnten Opfer nahe zu sein, rief eine Reaktion in mir hervor, die für einen Wolf ganz natürlich war. Ich hob den Kopf und stieß ein warnendes, drohendes Heulen aus. Sofort verstummte das Gelächter im Haus. Rasch sprang ich in den Garten. Die Klinke klickte, als die Haustür geöffnet wurde, und ich hörte verwirrte Stimmen. Auf allen vieren näherte ich mich dem Haus und dem Licht, das durch die Fenster in den Garten fiel, starrte in den heller leuchteten Salon. Männer in Dinner Jacketts, Frauen in langen Kleidern, ein polierter Fußboden, ein Klavier auf einem Podest, genauso schweigsam wie die Gesellschaft, die es eben noch mit heiteren Klängen erfreut hatte. Dunkel erinnere ich mich – oder bilde ich mir das nur ein? – an jene Szene. Ich hatte sie so oft erlebt – Menschen, wie erstarrt, angestrengt lauschend auf das unheimliche Heulen eines Wolfes, der durch nächtliche Straßen zog… Vergeblich hielt ich nach meinem Opfer Ausschau und verbarg mich neben einem der Französischen Fenster im Schatten der Bäume. 62
Zwei Männer betraten den Salon und schüttelten die Köpfe. Ein paar Minuten verstrichen, dann belebte sich die erstarrte Szene wieder. Das Entsetzen über mein Geheul ebbte ab, befreites Lachen klang auf. „Das haben wir uns sicher nur eingebildet.“ „Das ist doch unmöglich.“ „Wie sollte auch ein Wolf mitten in die Stadt kommen?“ „Wie dumm von uns…“ „Eine Sinnestäuschung…“ Und dann war alles wieder normal. Eine große Frau in rosa Tüll, die wie ein überdimensionaler Flamingo aussah, stieg auf das Podest neben das Klavier und sah lächelnd auf die Zuhörerschaft hinab, die auf den bereitgestellten Stühlen Platz nahm, in resignierter, aber höflicher Langeweile. Ein kleiner Mann, der so zäh aussah, daß er mir sicher zwischen den Zähnen steckenbleiben würde, stieg zu der Lady auf das Podest hinauf und setzte sich ans Klavier. Er betrachtete die Tasten so liebevoll und ehrerbietig, als wären sie die elfenbeinweißen Finger eines Heiligen. Dann blähte die Frau ihren dicken, fleischigen Hals und stieß einen dünnen Schrei aus. Ein Mann, der außerhalb ihres Blickwinkels am Ende der Stuhlreihe saß, preßte die Hände auf die Ohren. Die Frau an seiner Seite warf ihm einen tadelnden Blick zu, dann lachte sie. Sie war 63
sehr schön, und bei ihrem Anblick sträubten sich meine Nackenhaare. Die Frau war Lisa -meine Lisa. Arnes ließ die Hände sinken und wandte sich Lisa zu. Er schnitt eine Grimasse, dann grinste er, legte den Kopf in den Nacken und riß den Mund auf, gab einen lautlosen Schrei von sich. Lisa hielt sich die Hände vor den Mund und lachte. Der tiefere Sinn der Pantomime war offensichtlich. Arnes machte die dicke Sängerin für den mysteriösen Schrei verantwortlich, der die Gesellschaft vor wenigen Minuten so sehr verwirrt hatte. Ich spürte ein Knurren tief in meiner Kehle und wußte, daß ich meinen Angriff in dieser Nacht nicht wagen konnte. Die Gefahr, eingefangen, getötet oder eingesperrt zu werden, war zu groß. Für heute Nacht mußte ich mich mit dem Blut begnügen, das ich bereits gekostet hatte. Wie leicht hätte ich durch das Französische Fenster in den Salon stürzen und mit wenigen Bissen alle diese Leute in Werwölfe verwandeln können… Aber ich hatte Angst vor einer so großen Menschenansammlung. Zumindest nehme ich an, daß ich von solchen Gefühlen erfaßt wurde, denn ich wandte mich ab von der hellen Fensterfront, lief durch den Garten, leckte mir über die Lefzen und erinnerte mich an den Geschmack fremden Blutes in meinem Maul. 64
Indem ich tötete, gab ich mir selbst neues Leben. Ein Werwolf ist wohl der Nutznießer des Todes, genauso, wie ein Löwe der Nutznießer ist, wenn er ein Zebra tötet. Wolken verhüllten den Mond, und mit seinem silbernen Schein verschwand mein wölfisches Wesen. Aufrecht stand ich im Dunkel, wieder zum Menschen geworden, entsetzt über das, was ich gewesen war, über das, was ich in jener gräßlichen Gestalt getan und gedacht hatte. Ich sah eine Menschenmenge in der Ferne, eine aufgeregte Menge, die mühsam von der Polizei zurückgedrängt wurde, und ich mied die Straße, wo der Schäferhund und sein Herr so brutal ermordet worden waren. Ich hob meine Faust gegen den dunklen Himmel und betete verzweifelt, daß die Sonne nie mehr aufgehen möge, daß die Gezeiten die Wellen des Meeres nie mehr bewegen sollten – wenn das Unwesen der Werwölfe damit beendet wäre. Als ich die Tür meines Hauses öffnete, schauderte ich wie im Fieber. Ich ging in die Bibliothek, goß mir einen doppelten Whisky ein und weinte vor Scham, weil ich zum Mörder geworden war. 10. „Ist das nicht unglaublich, Wilfrid? Ein so schrecklicher Mord, ganz in der Nähe von Tante Etties Haus…“ 65
Lisa war schon den ganzen Tag von nervöser Erregung erfüllt und mußte immer wieder an die Ereignisse der vergangenen Nacht denken. „In der Zeitung steht, daß zur Tatzeit ein Wolfsgeheul gehört wurde“, sagte ich. „Vielleicht war es kein Mord sondern der Überfall eines wilden Tieres.“ „Ja, da hat die Zeitung ausnahmsweise recht“, antwortete Lisa. „Wir haben das Heulen gehört – zuerst aus weiter Ferne, dann kam es immer näher. Es war, als würde dieses schreckliche Wesen auf das Haus zukommen, als würde es jeden Augenblick hereinstürzen. O Wilfrid, es war gräßlich!“ „Anscheinend hat Tante Ettie ihren Portwein sehr großzügig ausgeschenkt“, meinte ich grinsend. „O Wilfried, du bist unmöglich!“ stieß Lisa ärgerlich hervor. „Glaubst du vielleicht, sie hat die ganze Nachbarschaft betrunken gemacht? Viele Leute haben dieses Heulen gehört. Es war unheimlich – der unheimlichste Laut, den ich jemals gehört habe.“ Sie fröstelte und verschränkte die Arme vor der Brust. „Aber Liebling, du brauchst doch keine Angst zu haben. Wenn wirklich ein Wolf in der Stadt herumläuft, wird die Polizei sicher bald seine Spur finden.“ „Das ist es ja – sie haben nichts gefunden. Pauls Onkel, Colonel Forsythe, ist Polizeikommissar bei Scotland 66
Yard. Er war auch auf Tante Etties Party, und er hat nach dem schrecklichen Mord die ganze Umgebung abgesucht und keine Wolfsspuren gefunden. Er erzählte uns, er hätte beinahe in der ganzen Welt Wölfe gejagt, und versicherte uns, daß sie in England längst ausgestorben wären.“ „Damit hat er recht. Aber vielleicht ist der Wolf aus einem Zoo geflohen.“ Lisa nickte. „Der Colonel sagte, man würde sofort die erforderlichen Nachforschungen anstellen und in Erfahrung bringen, ob gestern nacht irgendwo ein Wolf entsprungen ist. Aber selbst, wenn ein Wolf frei herumlaufen würde, wäre es unwahrscheinlich, daß er jemanden angreift, solange er nicht dazu herausgefordert wird. Es sei denn, er sei halb verrückt vor Hunger. Der Colonel meinte auch, es sei zwar verständlich, daß der Wolf mit dem Schäferhund gekämpft habe, aber er könne sich nicht vorstellen, daß er auch auf den Hundebesitzer losgegangen sei. Außerdem wäre ein Schäferhund ein gleichwertiger Gegner für einen Wolf. Aber das arme Tier gestern nacht wurde anscheinend mühelos entzweigerissen.“ „Vielleicht hatte der Wolf die Tollwut. Und tollwütige Tiere sind oft unglaublich kräftig.“ Lisa sah mich entsetzt an. 67
„O Gott… Das würde bedeuten, daß die ganze Stadt in Gefahr ist. Die Leute könnten qualvoll sterben, auch wenn sie gar nicht gebissen wurden. Man kann doch auch Tollwut kriegen, wenn man nur mit dem Speichel eines kranken Tieres in Berührung kommt, nicht wahr? Oder wenn man eines dieser armen Tiere streichelt…“ „Ich bin überzeugt, daß kein Mensch auf die Idee kommen wird, einen Wolf zu streicheln -es sei denn, man verwechselt ihn mit einem Schäferhund.“ Meine sarkastische Bemerkung verfehlte ihre Wirkung auf Lisa. Nachdenklich runzelte sie die Stirn. „Was für ein Tier das auch immer ist – ich hoffe, es wird bald eingefangen. Wenn ein wildes Tier erst einmal Blut geleckt hat…“ Sie erschauerte. „Oder ein Mensch.“ Sie starrte mich fassungslos an. „Du glaubst, daß es ein Mensch war?“ flüsterte sie. „Dann will ich mir doch lieber vorstellen, daß es ein Wolf war. Wie könnte ein Mensch so etwas tun?“ „Ich bin sicher, daß es kein Mensch war“, sagte ich tröstend, „und ich bin auch überzeugt, daß man diese Bestie bald fangen wird. Ich nehme an, daß die Polizei bald wichtige Anhaltspunkte finden wird.“
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Ich hoffte, daß ich recht behalten würde – um Lisas willen, um der Menschen willen, deren entsetzte Gesichter ich für kurze Sekunden sehen würde, bevor ich sie ansprang. Aber was hoffte ich um meiner selbst willen? Was sollte ich tun? Sollte ich zur Polizei gehen, mich stellen und gestehen, daß ich kein Mensch mehr war, sondern ein Wesen, das außerhalb ihres Erfahrungsbereiches existierte, das sich wieder in eine reißende Bestie verwandeln würde, wenn der nächste Vollmond am Himmel stand? Aber wie würden die Beamten reagieren, wenn ich auf die nächste Polizeistation ging und bat, man möge mich festnehmen, weil ich ein Werwolf sei? Ich wußte, wie man mich empfangen würde -mit spöttischem Gelächter. „Das muß ja eine tolle Party gewesen sein, Sir, und an Ihrer Stelle würde ich in den nächsten Tagen ein bißchen vorsichtiger sein und einen großen Bogen um jede Flasche machen. He, Sergeant, haben Sie das gehört? Der Gentleman hier behauptet, daß er ein Werwolf ist.“ Ich könnte mich natürlich auch umbringen. Aber eine Kreatur, die das Leben auslöscht, liebt das Leben. Mord ist für sie viel schöner als Selbstmord. Es gab nur einen Ausweg: Ich mußte Professor Yogami finden. 69
11. „Dr. Yogami? Einen Augenblick, Sir. Ich werde auf der Liste unserer ausländischen Gäste nachsehen.“ Ich suchte ein Konsulat nach dem anderen auf, ohne Erfolg. Niemand kannte Yogami. Ich wußte nicht, in welchem Land er geboren war. Ich wußte nicht einmal, ob er wirklich Yogami hieß. Die Stufen, die ich hinauf und hinab stieg, die unzähligen Türen, die ich in den Amtsgebäuden öffnete und schloß, das bedauernde Lächeln höflicher Gentlemen, die Straße voller argloser Menschen, die nicht ahnten, welche Gefahr ihnen drohte -das alles wurde mir immer vertrauter, während die Stunde des nächsten Vollmonds heranrückte. Ich verbrachte viele Stunden in meinem Laboratorium, hoffte verzweifelt, daß die letzte Knospe der Mariphasa erblühen würde. Aber die Pflanze wirkte lustlos und lebensmüde. Es war, als hätte der Diebstahl ihrer blühenden Gefährten ihr alle Daseinsfreude genommen. „Sie sollten sich nicht so anstrengen, Sir“, ermahnte mich Hastings eines Abends, nachdem ich mich stundenlang bemüht hatte, die Mondlampe neu zu adjustieren. Ich hoffte, ihr verstärkter Strahl würde die Mariphasa dazu bewegen, ihre Blütenblätter zu öffnen. 70
„Kümmern Sie sich um Ihre eigenen Angelegenheiten, Sie Idiot!“ schrie ich wütend. Er starrte mich an, entsetzt und mit Recht gekränkt. „Tut mir leid, Hastings“, sagte ich in sanfterem Ton, „ich wollte Ihnen nicht den Kopf abreißen…“ Doch kaum waren mir diese Worte über die Lippen gekommen, warf ich den Kopf in den Nacken und brach in schallendes Gelächter aus. Es war ein häßliches, schrilles, falsches Lachen – so falsch wie das Mondlicht, das auf die Mariphasa herabschien. „Es ist schon gut, Sir.“ Hastings sah auf seine Uhr. „Ich werde mich jetzt zurückziehen, wenn Sie mich nicht mehr brauchen.“ „Ja, gehen Sie nur, Hastings, gute Nacht.“ „Gute Nacht, Sir.“ Er hatte kaum die Tür hinter sich geschlossen, als ich erneut in Gelächter ausbrach. Ich spürte das wölfische Blut in meinen Adern rauschen und wußte, daß ich weit davon entfernt war, mich zu töten, um meine Mordgelüste auszulöschen, das Leben eines Mitmenschen zu retten. Nein, davon war ich weit entfernt. Ich freute mich auf den nächsten Vollmond. Aber ich mußte einen Weg finden, um Lisa zu schützen. Meine geliebte Lisa durfte ich nicht töten.
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Ich würde sie an dem Abend, bevor ich mich wieder in einen Werwolf verwandelte, wegschicken. Und ich würde versuchen, meine bösen Gelüste zu befriedigen, damit sie mich nicht zu Lisa trieben. Tante Ettie besaß ein Landhäuschen in Berkshire, in der Nähe von Wamtage. Ich würde dafür sorgen, daß sie Lisa einlud. Während die Mordlust in mir wuchs, gab ich die intensive Suche nach Professor Yogami auf. Was hätte es für einen Sinn, ihn vor der nächsten Vollmondnacht zu finden, ihm die gestohlenen Mariphasa-Blüten zu entreißen? Ich wußte, daß ich die Blumen nicht auf meinen Arm pressen würde, um die grausige Verwandlung zu verhindern. Noch einmal, sagte ich mir. Nur noch ein einziges Mal wollte ich hinaus auf die Straße gehen. Wie schön wäre jene Nacht, wenn ich den Mord und meine Rettung kombinieren könnte, wenn ich Yogami fände… Die Mariphasa würde ihn vor dem wölfischen Gift in seinem Blut schützen, er wäre mir wehrlos ausgeliefert. Ich würde mich auf ihn stürzen und lachen über seine Hilflosigkeit. Ich würde mein Maul öffnen und mich ein paar Sekunden lang an seiner Furcht weiden. Er würde auf meine Fänge starren und wissen, daß er dem Tod nicht entkommen konnte. 72
Von diesem Gedanken besessen, nahm ich meine Suche nach dem fernöstlichen Wissenschaftler wieder auf, denn nun hatte diese Suche einen neuen Sinn bekommen. Ich hatte begriffen, daß man mir auf den Konsulaten nicht helfen konnte, und so wandte ich mich den Schiffahrtslinien zu. Ich fuhr auch nach Croydon und erkundigte mich nach den Passagieren, die in den nächsten Tagen Flüge gebucht hatten. Ich bezog Stellung in der Halle, mit einem Feldstecher bewaffnet, und sah mir alle Passagiere an, die an Bord der Maschinen gingen. Dreimotorige Dewotines stiegen in die Wolken hinauf, zweimotorige Breguets rasten dröhnend über die Startbahn. Große Metallvögel glitzerten silbern am Himmel, bevor sie von Wolkenbergen verschluckt wurden. Aber ich konnte Yogami nirgends entdecken, niemand hatte einen Mann gesehen, auf den seine Beschreibung paßte. Ich verließ Croydon und fuhr nach London zurück, umarmte Lisa, die mich ängstlich und besorgt ansah und meinte, ich solle sie doch lieber zu Tante Ettie begleiten, statt mich in meiner Arbeit zu vergraben. Ich beruhigte sie und versicherte ihr, ich würde am Wochenende nach Berkshire kommen. Außerdem ver-
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sprach ich ihr, mich nicht zu überanstrengen und jeden Abend spätestens um zehn Uhr ins Bett zu gehen. Ich fuhr sie nach Paddington und sah zu, wie der Zug aus der Station fuhr, gezogen von einer starken Lokomotive. Eine halbe Stunde später betrat ich wieder mein Haus, froh und erleichtert, denn nun brauchte ich nicht zu fürchten, daß ich über meine geliebte Lisa herfallen würde. Und wenn der übernächste Vollmond am Himmel aufstieg, würde ich Yogami sicher gefunden haben. Vielleicht begann bis dahin auch meine Mariphasa wieder zu blühen und würde mich von der Wolfsucht heilen. Ich saß in meinem Laboratorium und starrte im künstlichen Mondlicht auf meine Hände, auf die Armbanduhr an meinem linken Handgelenk. Zweimal mußte der kleine Zeiger noch rund um das Zifferblatt wandern, dann würde das Fell auf meinen Händen zu wachsen beginnen, die Fänge würden blutrünstig aus meinem Maul ragen. Noch vierundzwanzig Stunden… Ich konnte es kaum mehr erwarten. 12. Wie schnell wir Menschen den Kalender der Unschuld durchschreiten…
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An unserem Geburtstag sind wir makellos, umgeben von der Familie, eingebettet in die Watte kindlicher Sicherheit. Aber jedes Erlebnis drückt uns einen Stempel auf, und mit den Jahren wiegt die Last unserer Erfahrungen immer schwerer. Die Familie verläßt uns, einer nach dem anderen geht von uns, wir bleiben allein und immer verwundbarer zurück. Nach jedem Todesfall blicken wir betrübt auf jenen Platz, der bei der nächsten Familienfeier leer bleibt. Und unser eigenes Leben neigt sich allmählich dem Ende zu, und wenn wir die Lebensmitte überschritten haben, freuen wir uns nicht mehr über Geburtstagsglückwünsche. Wir leben weiter, schieben die Wogen beiseite, die unsere Lieben hinweggeschwemmt haben, bis eine höhere Macht die letzte Seite unseres Kalenders umblättert, um das Datum unseres eigenen Todes festzusetzen. Wir werden betrauert, unsere guten Eigenschaften werden gerühmt, denn über die Toten darf man nichts Schlechtes sagen. Wir kehren zurück in die Welt der Unschuld, die wir bei unserer Geburt verlassen haben, aber wenn wir den Tod anderer verursacht haben, ist uns jene Unschuld für immer verlorengegangen. Daran glaube ich, und dieser Glaube ist meine Hölle, denn ich sehe mich in meinem ewigen Leben verfolgt 75
von den Seelen der Rachsüchtigen, die ich so brutal ermordet habe. Im Licht des Vollmonds ist meine freudige Erregung so groß, daß ich mich im Spiegel betrachten kann, ohne Abscheu zu empfinden. Meine Augen verengen sich zu Schlitzen, meine Zunge wächst, wird zusammengepreßt zwischen den großen Fängen, die meine Mundwinkel machtvoll nach außen schieben. Mein Stirnhaar wächst bis hinab zum Nasenrücken, ein grauer Pelz bedeckt meinen ganzen Körper. Ich hasse mich selbst, ich will sterben und bin gleichzeitig erfüllt von einem triumphierenden Glücksgefühl. Denn in dieser Nacht wird mich die Lust nach einem neuen Opfer berauschen. Ich heule den heiter schimmernden fernen Mond an, öffne das Fenster und springe in den Garten hinab, rase auf die hohe Mauer zu, die das Grundstück umgibt, überquere sie mit einem Satz. Die Kraft, die meine Muskeln füllt, kennt keine Hindernisse. * In jener Nacht trug ich einen Umhang und einen breitrandigen Hut, der mein bestialisches Gesicht überschattete. Ich sah aus wie ein Künstler, der ein billiges Vergnügen in einem der Cafes am linken Themse-Ufer suchte. Aber ich suchte kein Cafe. Noch wußte ich 76
nicht, was ich suchte – doch was immer es war, Mann oder Frau, es würde mir sein Blut geben, mir höchstes Entzücken schenken. Ein Schatten tauchte vor mir auf – ein Mädchen. Sie lehnte an einer Hausmauer, eine nicht entzündete Zigarette zwischen den Lippen. „Hast du Feuer, Liebling?“ fragte sie. Ich antwortete nicht – konnte nicht antworten. Zumindest nicht in der Sprache, die das Mädchen verstehen würde. „Warum bist du denn so unfreundlich? Ich habe dich doch nur um Feuer gebeten.“ Ihre Augen durchdrangen den Schatten unter meinem Hut, weiteten sich in namenlosem Entsetzen. „Oh, mein Gott!“ flüsterte sie. Ein tiefes Knurren stieg in meiner Kehle auf, geduckt stand ich vor ihr. Das arme Ding -es war gelähmt vor Schreck. Die Zigarette fiel zu Boden, das Mädchen öffnete den Mund, doch der Schrei blieb ihm im Hals stecken. Endlich kam wieder Bewegung in den eben noch Schreckstarren Körper. Sie streckte eine Hand aus, versuchte mich wegzuschieben, und diese Geste machte mich wütend. Ich packte sie, preßte meine Lippen auf die ihren,
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bevor ich den Kopf zur Seite wandte, bevor meine Fänge zuschnappten. Ihr Schrei klang niemals auf. Ich attackierte sie so heftig, daß der Kamm aus ihrem Haar fiel, daß ihre Locken über mich fluteten und mein grausiges Tun wie hinter einem Vorhang verbargen. Als ich sie verließ, war wenig von ihr übriggeblieben, das die Polizei identifizieren konnte. Ich rannte davon, beglückt über meinen Erfolg und blieb nur kurz stehen, um den Mond mit einem langgezogenen, zitternden Heulen zu grüßen, dessen Echo die dunklen Gassen ringsumher erfüllte. Meine Fänge schrumpften, ein Zucken ging durch meine Stirn, als sich der Haaransatz nach oben verschob. Eine plötzliche heftige Reue erfaßte mich, und ich lief zurück zu dem leblosen Ding, das auf dem Gehsteig lag. Ich legte meinen Umhang ab, breitete ihn über die Tote – eine Geste verzweifelten Mitleids, ein unvollkommener Ausdruck meiner bitteren Reue. 13. Hatte ich das wirklich getan? ,Ein junges Mädchen wurde gestern nacht auf dem Justin Court gefunden, an der Ecke der Great Tichfield Street. Sie wurde von der Polizei als Ada Yates identifiziert, ein Mädchen aus Blackburn, das erst vor kurzem 78
nach London gekommen war. Inspektor Brickwell von Scotland Yard erklärte, daß Adas Ermordung die brutalste und bizarrste sei, die ihm in den fünfzehn Jahren seiner polizeilichen Tätigkeit untergekommen sei und daß der Mörder wahnsinnig sein müsse.’ Bin ich ein Verrückter, der brutale, bizarre Verbrechen begeht? Bevor mich der Werwolf in Tibet gebissen hatte, war ich allem Bösen aus dem Weg gegangen, hatte nur die schönen und angenehmen Seiten des Lebens gekannt. Ich betrachtete das arme Mädchen, das ich in der vergangenen Nacht getötet hatte, als Beute. Als Beute konnte ich sie vergessen. Sie war nur eine Mahlzeit gewesen, eine Mahlzeit unter vielen, ein blutiges Geschenk. Warum mußte die Zeitung ihrem anonymen Gesicht einen Namen geben? Warum mußte ich erfahren, wer der Mensch gewesen war, der mein blutiges Opfer mit einer Seele erfüllt hatte? Warum mußte jene Begegnung in dem Schatten der Nacht, jene Begegnung zwischen Jäger und Gejagter, auf diese Weise eine neue Bedeutung gewinnen? Ada Yates war in Lancashire aufgewachsen und nach London gekommen, um in der großen Stadt ihr Glück
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zu suchen, mit ihrem toten lächelnden Mund, mit Beweisen unaufrichtiger Zuneigung. ,Hast du Feuer, Liebling?’ Wäre ich ein normaler Mann gewesen, hätte mich in jenem Augenblick vielleicht eine normale Begierde erfaßt. Ich hätte es zugelassen, daß sie meinen Arm nahm und mich in das schäbige Loch führte, das sie bewohnte. Ich hätte kurze, vergängliche Freuden in ihrem Bett genossen und sie dann verlassen, ohne Reue oder Scham. Aber ich bin kein normaler Mann. Zumindest war ich es nicht in der vergangenen Nacht, als ein heller Vollmond am Himmel gestanden hatte. Ich brauchte mich nicht zu schämen, weil ich den Verlockungen niedriger Begierden erlegen war. Meine Scham ist die Scham des Mörders. Der Zeitungsartikel schloß mit den abgedroschenen Worten: ,Die Polizei versichert, daß sie alle erforderlichen Anstrengungen unternehmen wird, um dem bestialischen Mörder das Handwerk zu legen.’ Die Öffentlichkeit wurde eindringlich gewarnt. Man möge keine unnötigen Fußwanderungen durch die Stadt unternehmen und nach Einbruch der Dunkelheit Fenster und Türen verriegeln, vor allem, wenn das Heulen eines Wolfes aufklang.
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Offenbar war sich die Polizei noch immer nicht klar, ob die beiden Morde und der Tod des Schäferhundes das Werk eines menschlichen Wesens waren. Es war verwirrend, daß jedesmal zur Tatzeit ein Wolf geheult hatte, ebenso irritierte es die Gemüter, das die Mädchenleiche unter einem dunklen Umhang gelegen hatte. Hatte der Mörder die Tote zugedeckt oder ein Passant, der zufällig vorbeigekommen war – ein Unbekannter, der nicht in einen Mordfall verwickelt werden und deshalb keine Zeugenaussage machen wollte? Die Zeitungen ergingen sich in verschiedenen Spekulationen, bevor sie sich neuen Ereignissen zuwandten – einem Schönheitswettbewerb und dem Scheidungsprozeß einer hochgestellten Persönlichkeit. * Nach dem Frühstück rief mich Lisa an. Ihre süße, melodische Stimme bat mich, am Freitag zu ihr zu kommen, das Versprechen zu halten, das ich ihr gegeben hatte. Ich antwortete, daß ich zu ihr fahren würde. Ein Wochenende auf dem Land würde mir guttun. „Wunderbar, Liebling!“ Wie erfreut ihre Stimme klang! Aber wäre sie nicht ebenso entzückt, wenn Ames seinen Besuch angekündigt hätte, fragte ich mich. 81
Ein Gedanke, der meiner nicht würdig war. Aber in jener Zeit gingen meine Gedanken sonderbare Wege. „Paß gut auf dich auf, Wilfrid. Ich mache mir Sorgen um dich. Es gefällt mir nämlich gar nicht, daß du jetzt allein in London bist. Wo doch dieser Werwolf die Straßen unsicher macht…“ „Ich werde schon aufpassen, Liebling“, versicherte ich und hoffte, daß meine Stimme gleichmütig klang und nicht verriet, daß mir im gleichen Augenblick ein Schauer über den Rücken lief. Ja, mein Liebes, ich werde nachts das Haus nicht verlassen, ich werde aufpassen, damit ich mir selbst nicht begegne, ich werde mich vor mir selbst schützen, mir selbst aus dem Weg gehen… Ich legte den Hörer auf die Gabel zurück und ging langsam durch den Innenhof zu meinem Laboratorium. „Guten Morgen, Sir“, hörte ich Hastings sagen. Er war höflich wie immer, aber in letzter Zeit hatte ich eine gewisse Unsicherheit in seinem Blick bemerkt, wenn er mich ansah. Ich hätte ihn in jener Nacht nicht beleidigen dürfen. Meine Worte waren genauso scharf gewesen wie meine Fänge, wenn ich mich in einen Werwolf verwandelte. „Guten Morgen, Hastings“, erwiderte ich und lächelte liebenswürdig. „Nun, was macht unsere Mariphasa?“ 82
„Ich glaube, sie ist ein bißchen gewachsen. Finden Sie nicht auch, daß die Knospe seit gestern abend voller geworden ist?“ Tatsächlich, die Pflanze war ein wenig größer geworden, die Knospe dicker. Es war fast, als hätte die Mariphasa, deren Blätter das künstliche Mondlicht widerspiegelten, nun endlich gespürt, wie dringend ich ihre Hilfe brauchte. Die Knospe in meinem Laboratorium würde bald erblühen. Aber was sollte mit den Blüten geschehen, die mir Yogami gestohlen hatte? Beim Gedanken an Yogamis Rückkehr sträubten sich meine Nackenhaare vor Erregung. Natürlich mußte er zurückkommen. Und ich würde ihm eine Falle stellen. Kurz vor der nächsten Vollmondnacht. Er sollte mir nichts mehr von der rettenden, heilenden Kraft der Mariphasa stehlen. „Schrecklich, dieser Mord gestern nacht, nicht wahr?“ meinte Hastings. „Ja, schrecklich“, antwortete ich, und es kostete mich meine ganze Willenskraft, mit ruhiger Stimme zu sprechen. „Das arme Mädchen! Und der arme Kerl, der vor einem Monat umgebracht worden ist, mitsamt seinem Hund.
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Ich möchte wirklich wissen, was das für ein Wesen ist, das solche brutalen Morde begeht.“ „Zweifellos ein Mensch“, sagte ich. „Aber das Heulen, Sir…“ Hastings runzelte skeptisch die Stirn. „Das ist ein Trick“, erklärte ich. „Es ist ungefähr so, als würde ein kleiner Mörder große Stiefel tragen und damit eine Spur hinterlassen, die zu falschen Schlüssen führt. Oder ein Mörder täuscht vor, ein Geist zu sein, um den Eindruck zu erwecken, seine Tat sei von unirdischen Mächten begangen worden. Und dieser Mörder tut eben so, als sei er ein Wolf.“ Ich hätte mir am liebsten die Zunge abgebissen. Du Narr, sagte ich mir. Du Idiot. Damit hast du Hastings einen wesentlichen Hinweis gegeben. Glücklicherweise begriff Hastings die tiefere Bedeutung meiner Worte nicht. Trotz der unheimlichen Atmosphäre im Laboratorium, in dem schwachen Licht, untermalt vom Ticken der verschiedenen Geräte, neigte er nicht zu phantastischen Vorstellungen. Er war überhaupt phantasielos und kam sicher nicht auf die Idee, daßsich sein Arbeitgeber von Zeit zu Zeit in ein blutrünstiges Monstrum verwandelte. Er nickte.
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„Das leuchtet mir ein, Sir. Das wäre ein raffinierter Schachzug. Aber was für einen Sinn hätte das? Es glaubt doch ohnehin niemand, daß ein Wolf diese Greueltaten begangen hat, nicht wahr?“ „Die Polizei ist sich nicht ganz sicher“, entgegnete ich. „Vielleicht ist ein Wolf aus einem Zoo entsprungen.“ „Ja, Sir.“ Aber er war sichtlich nicht überzeugt. „Jedenfalls habe ich zu meiner Frau gesagt: ,Gertie, geh nachts nicht allein auf die Straße!’ Ich mache mir Sorgen, daß ihr was passieren könnte, wenn ich noch hier zu tun habe, wenn sie allein unterwegs ist.“ „Ja, Sie sind immer sehr lange hier, Hastings“, sagte ich. „Möchten Sie in Zukunft früher nach Hause gehen? Ich könnte noch einen Assistenten engagieren. Dann könnten Sie sich die Arbeit mit ihm teilen.“ Seine Sorge um seine Frau rührte mich. Ich konnte seine Angst verstehen, da auch ich um Lisas Leben bangte. „Das ist sehr nett von Ihnen, Sir, aber ich schaffe es schon.“ Nett von mir… Wie angenehm diese Worte klangen. Ich war froh, daß Hastings trotz der Sorge um seine Frau nicht die Absicht hatte, mich zu verlassen. Sicher würde er in keiner anderen Stelle so viel verdienen wie bei mir. Und ich redete mir sogar ein, daß er gern für 85
mich arbeitete, obwohl ich manchmal nicht gerade freundlich war. Außerdem – wo sonst konnte er eine fremdartige, seltene Pflanze, die nur bei Mondlicht ihre Blütenblätter öffnete, aus nächster Nähe beobachten? Ich überlegte, daß Hastings vielleicht nicht imstande wäre, sich selbst und das Laboratorium zu verteidigen, wenn Yogami während meiner Abwesenheit hierherkäme. Sollte ich ihm eine Waffe geben? Nein, besser nicht. Vielleicht würde er sie in einer Vollmondnacht gegen mich erheben. Aber vielleicht wäre das sogar eine glückliche Fügung. Der Tod würde das Elend beenden, das wie ein nasser Mantel an mir klebte. Eine tiefe Depression überkam mich, als ich mir vorstellte, daß Lisa jeden Moment in Lebensgefahr war, eine Vollmondnacht lang, welche Vorsichtsmaßnahmen ich auch treffen mochte. Einmal im Monat mußte ich mich von Lisa trennen, um nicht bei ihr zu sein, wenn ich mich auf so schreckliche Weise verwandelte, zwölf mal im Jahr, all die Jahre hindurch, bis ans Ende meines Lebens. Gib Hastings ein Gewehr, sagte ich mir. Zeig ihm, wie man damit umgeht. Und weich ihm nicht aus, wenn er in einer silbern schimmernden Nacht die Waffe gegen dich richtet. 86
Ich versuchte, mir Hastings’ Gesicht vorzustellen, wenn er den Hausherrn ins Laboratorium kommen sah, wenn sich vor seinen Augen die grausige Verwandlung vollzog. * ,Sind Sie krank, Sir?’ Das wäre die erste Frage, die mir der gute Hastings stellen würde, wenn sich meine Gesichtszüge verzerrten. Und ich würde mit ruhiger Stimme antworten: Nein, Hastings. Ich bin nicht krank. Ich pflege mich nur zeitweilig in einen Werwolf zu verwandeln.’ Hastings würde ungläubig lachen, weil so etwas doch unmöglich wäre, obwohl es vor seinen Augen geschähe. Und dann, nach ein paar Minuten wäre er eines Besseren belehrt. ,Sie – Sie haben die Wahrheit gesagt, Sir’, würde er stammeln. Ich wäre dann nicht mehr in der Lage, ihm mit meiner menschlichen Stimme zu antworten. Er würde das Gewehr nehmen, mit zitternden Händen auf mich zielen. ,Gott helfe mir, Sir, aber ich muß Sie leider erschießen.’ Was würde ich dann tun? Würde ich seinen Hals zerfleischen? Ihn aus Mitleid ignorieren und aus dem Laboratorium laufen, um mir ein anderes Opfer zu suchen? Oder würde ich reglos ste87
henbleiben, ein fast menschliches Lächeln um die Lefzen, und ihm mit einem tiefen Knurren danken, wenn er die Kugel abfeuerte? Aber natürlich würde die Mariphasa mich retten. Ich würde jedesmal, bevor die Wolfsucht mich packte, ins Laboratorium kommen und ihre Blüten in meinen Arm pressen. Und wenn Hastings zufällig gerade hier wäre, würde ich ihm beruhigend zulächeln und erklären, das sei ein neues Experiment. Wie die meisten Männer in seiner Position wäre er geschmeichelt, weil ich meine wissenschaftlichen Geheimnisse mit ihm teilte, und er käme niemals auf den Gedanken, daß ich ihn anlog. Es wäre auch gar nicht nötig, ihm die Wahrheit zu sagen. Er brauchte nicht zu wissen, daß die Mariphasa einen wilden Werwolf zähmen würde. Aber noch stand sie zwischen zwei Werwölfen. Ich mußte Yogami töten. Sonst würde er mich töten. Er würde mich verfolgen und auf eine Gelegenheit warten, mich zu ermorden. * „Hastings, bringen Sie doch bitte das Spalier der Kletterrosen in Ordnung“, sagte ich. „Sie müßten auch geschnitten werden.“
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„Ja, Sir. In letzter Zeit wuchern sie ein bißchen zu stark“, antwortete er und verließ das Laboratorium. Ich war allein in dem kleinen Raum mit seinen hohen, glänzenden Metallwänden. Wie sollte ich dieser engen Welt jemals wieder entkommen? Würden meine Gedanken jemals wieder um etwas anderes kreisen als um den schrecklichen Fluch, der mich befallen hatte, und um die Mariphasa? Würde ich jemals wieder in einer normalen Welt leben? Zumindest konnte ich eins tun – ich würde versuchen, nicht in Panik zu geraten, einen klaren Kopf zu behalten. Ein klarer logischer Verstand ist der einzige Schlüssel, der alle Türen aufsperren kann, sagte ich mir. Ich brauchte Zeit – Zeit für die Mariphasa, damit sie ihre Blüten entfalten konnte, Zeit, um auf Yogami zu warten. Wenn er hier auftauchte, im Glauben, ich würde nicht mit seinem Erscheinen rechnen, konnte ich den ersten Schritt tun und ihn überrumpeln. Und ich brauchte auch Zeit, um ein anderes Heilmittel zu finden, falls die Mariphasa mich im Stich lassen sollte. Vielleicht sollte ich noch einmal nach Tibet reisen, eine neue Begegnung mit einem der Werwölfe in der kalten Einsamkeit des Litze-Tals suchen.
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Vielleicht würde mich ein zweiter Biß von meiner Krankheit heilen. Vielleicht würde der zweite Biß die Wirkung des ersten aufheben. Doch vorläufig mußte ich meine Abnormität vergessen, das Wochenende mit Lisa in Tante Etties Landhäuschen verbringen und so tun, als wäre nichts geschehen. Ich würde mit meiner Frau ins Dorfgasthaus gehen, das starke, bittere Berkshire-Bier trinken und die bäuerlichen Kartenspieler beobachten. Ja, ich mußte diesen Wahnsinn vergessen, der mich durch mondbeschienene Straßen hetzte und mich zu blutigen Greueltaten zwang. 14. „Wilfrid, Liebling!“ rief sie mit einem glücklichen Lächeln. „Lisa, ich habe mich so nach dir gesehnt.“ Sie stand auf der Schwelle, umarmte und küßte mich. Sie trug Hosen, und ihr dunkles Haar fiel über eine braune Bluse bis zu ihrer Taille. Die Sonne ist ihr Planet – nicht der Mond. Doch dann zwang ich mich, diese morbiden Gedanken beiseitezuschieben. Als sie den Kopf wandte, um Tante Ettie etwas zuzurufen, fiel mein Blick auf ihren weißen Hals. Wie hypnotisiert starrte ich auf die pulsierende Schlagader. Lisa hob die Hand, tastete über ihre Kehle. 90
„Was ist denn, Liebling? Hat mich irgend etwas gestochen? Ich weiß, Insektenstiche sind so häßlich…“ Fragend sah sie zu mir auf mit ihren schönen großen Augen. Ich lächelte gequält. „Ich habe mir nur gerade gedacht, wie wunderschön du bist.“ „Oh!“ Sie erwiderte zärtlich mein Lächeln. O Gott, wie sie mich liebte… „Dann verzeihe ich dir, daß du mich so angestarrt hast.“ Sie winkte Tante Ettie zu, die strahlend auf uns zukam. „Wilfrid, mein lieber Junge, wie schön, dich endlich wiederzusehen!“ rief Ettie und umklammerte meinen Arm. „Ich wollte schon mit Lisa wetten, daß du deinen Besuch in letzter Minute absagen würdest, weil du dich doch nicht von deinen Blumen trennen könntest.“ „Ich habe mich zu der Überzeugung durchgerungen, daß ich in letzter Zeit ein langweiliger, ungeselliger Bursche war und daß ich diesen Zustand ändern müßte. Deshalb bin ich hier.“ Ich wünschte, Tante Ettie würde sich in Luft auflösen. Wie himmlisch wäre es, allein mit Lisa in dieser zauberhaften Umgebung zu sein…
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Wir hatten so viel nachzuholen. Ich mußte sie entschädigen für die vielen Stunden, die ich im Laboratorium bei meiner Mariphasa verbracht hatte. Konnte ich das jemals wiedergutmachen? Ja, natürlich, denn Lisa liebte mich. Sie lachte spitzbübisch. Sie wußte, was ich dachte. Und ich hatte befürchtet, Arnes könnte sie mir wegnehmen. „Du bist der erste Gast auf meiner kleinen Party“, erklärte Ettie. „Außerdem kommen noch Jessica Beet, Colonel Forsythe und sein Neffe…“ „Arnes kommt auch?“ unterbrach ich sie. „Ja, sicher, mein Lieber. Ich weiß doch, wie gern ihr beide ihn habt – du und Lisa. Außerdem kommen noch Sandy Blake und…“ Ich hörte ihr nicht mehr zu. Ich hörte die Namen der anderen Gäste nicht. Ich beobachtete Lisa. Sie sah zufrieden aus, und ich war verwirrt. Es gab keinen Grund, warum sie sich über Tante Etties Bemerkung hätte ärgern sollen. Und doch war ich von heißer Eifersucht erfüllt. Vielleicht würde ich Arnes eines Nachts auflauern, mich an ihn heranschleichen… „Sollen wir ausreiten, Liebling?“ fragte Lisa und unterbrach meine finsteren Gedanken. „Ja, gern“, sagte ich. „Wenn du einen Augenblick wartest -ich möchte mich nur rasch umziehen.“ 92
„Ja, geht nur reiten.“ Tante Ettie lächelte mich wohlwollend an. „Eine wunderbare Idee! Jetzt, wo du dich auf einen wilden Galopp freust, siehst du gleich viel besser aus. Man kann dir direkt ansehen, wie du den Staub der Großstadt von deinen Sohlen schüttelst.“ Ich blickte Lisa an. „Ja, ich fühle mich auch schon viel besser. Das macht deine Nähe, Liebes.“ Sie lächelte, dann stieg ihr das Blut in die hübschen, zarten Wangen. „Ach, die beiden Turteltäubchen!“ rief Tante Ettie mit dem Taktgefühl eines Elefanten, der durch einen Porzellanladen stampft. Ich nahm Lisas Hand, und wir gingen nach oben in unser Zimmer. Bald darauf saßen wir in den Sätteln und ritten in gemächlichem Trab durch den Sonnenschein, einen schmalen Wiesenweg entlang. Für eine kurze Weile war ich befreit von meinem Fluch, hatte die Welt der Wirklichkeit betreten. Aber dies war eine Wirklichkeit, in der andere Menschen lebten. Meine Wirklichkeit… Das war das dunkle Land, in dem die Verdammten wandelten – in einer ewigen Nacht, die von keinem Hoffnungsstrahl erhellt wurde. Diese Vision meines Elends überwältigte mich. Ich ritt neben der lachenden Lisa über saftige, blumenübersäte, 93
leuchtend grüne Wiesen und konnte die Tränen meiner Verzweiflung kaum zurückhalten. 15. Colonel Forsythes rundes rotes Gesicht, umrahmt von grauen Bartkoteletten, strahlte zufriedenes Selbstbewußtsein aus. Sicher war sein Verstand noch nie von den Höhenflügen lebhafter Phantasie befruchtet worden. Er war ein eher stumpfsinniger Mensch, aber mit Hilfe einflußreicher Gönner hatte er bei Scotland Yard Karriere gemacht und bekleidete jetzt einen Spitzenposten, auf den begabtere Männer vergeblich gehofft hatten. Im Gegensatz zu seinem Onkel besaß Arnes eine gewisse intellektuelle Neugier, aber auch er neigte zur Selbstgefälligkeit. Er sah recht gut aus, allerdings auf eine etwas fleischige Art, und tat alle die Dinge, die man von einem echten Mann erwartete. Er spielte Polo, flog sein eigenes Flugzeug und ging auf Fuchsjagden. Wenn ich nicht sehr gut aufpaßte, würde Arnes meine Frau betören, würde mir Lisa wegnehmen. Heftige Wut erfaßte mich, als ich mich erinnerte, daß er vor mehreren Jahren nach Amerika gegangen war und eine unglückliche Lisa zurückgelassen hatte. Das war der Augenblick gewesen, wo ich auf der Bildfläche erschienen war. 94
Ich hatte mich auf den ersten Blick in Lisa verliebt. Aber hatte sie meine Liebe jemals in vollem Maß erwidert? Ich hatte mich niemals, trotz ihrer zärtlichen Beteuerungen, von dem quälenden Gefühl befreien können, daß ich ihr nur das zweitbeste Glück schenkte. Ich beobachtete sie jetzt, wie sie mir an der Dinnertafel gegenübersaß und Arnes zuhörte, der ihr irgendeine Anekdote erzählte. Ihre Augen funkelten im Kerzenlicht. Und in dieser Sekunde haßte ich ihn wie nie zuvor. Und doch -was hatte ich ihr zu bieten? Jedes Jahr drei Monate Einsamkeit, während ich auf Reisen ging… Ich war nicht so anmutig wie Arnes, konnte nicht gut tanzen, ich war gern mit mir selbst allein, was in krassem Gegensatz zu Lisas ausgeprägtem Bedürfnis nach Geselligkeit stand. Alles, was ich ihr bieten konnte, war die Aussicht auf einen viel zu frühen, grausamen Tod. „Natürlich, meine Liebe“, hörte ich Colonel Forsythie zu der bedauernswerten Frau sagen, die zu seiner Rechten saß, einer Mrs. Feckless. „Natürlich werden wir den Wolfsmörder fangen, nur keine Angst. Irgendwann wird er einen Fehler machen, und dann haben wir ihn.“ „Ich hoffe es, Colonel Forsythe“, sagte sie, seufzte tief auf, und ihr üppiger Busen wogte heftig. „Ich hoffe es sehr.“ 95
„Verlassen Sie sich drauf“, erwiderte er. „Dieser brutale Verbrecher wird uns nicht entkommen. Wie sollte er auch der besten Polizei der Welt gewachsen sein?“ „Mit welchem Recht können Sie so etwas behaupten?“ fragte ich. Vielleicht war es töricht, diese Frage zu stellen, aber die Versuchung war zu groß. „Das ist doch ganz klar, Glendon“, entgegnete er. „Ich habe fünfzig von meinen besten Detektiven beauftragt, diesen Fall zu klären. Ich habe die Unterstützung aller meiner Kollegen, und jeder kleine Straßenpolizist hat den Befehl bekommen, Augen und Ohren offenzuhalten. Wir haben auch unsere Patrouillen verstärkt. Jede einzelne dunkle Gasse von London steht unter ständiger Beobachtung. Der Mörder wird keine Gelegenheit mehr finden, noch einmal zuzuschlagen.“ „Es dauert nicht lange, den Hals eines Menschen zu zerfleischen“, wandte ich ein. „Das stimmt, aber nach vollbrachter Tat muß der Mörder versuchen, zu entkommen. Ein blutüberströmter Mann, der durch nächtliche Straßen läuft, wird doch sicher Aufsehen erregen, nicht wahr? Und da ich die nötigen Maßnahmen ergriffen habe, kann er nicht unbemerkt entkommen.“ „Hast du dir schon einmal überlegt, daß du es mit einem außergewöhnlichen Mörder zu tun haben könn96
test, Onkel?“ fragte Arnes. „Vielleicht ist er kein normaler Mensch, sondern ein Werwolf?“ Arnes grinste, und ich spürte, wie sich meine Nackenhaare sträubten. „Wir leben im Jahre 1936 mein Junge, nicht im fünfzehnten Jahrhundert“, entgegnete Colonel Forsythe ungeduldig. „Und wir sind in England – nicht in Transsylvanien.“ „Was für ein gräßlicher Gedanke!“ rief Mrs. Feckless, und ihr Busen wogte noch heftiger. Aber Arnes ließ sich nicht so leicht von diesem Thema abbringen, das ihn sehr zu fesseln schien. „Du mußt doch zugeben, daß diese Morde außergewöhnlich sind, Onkel. Was ich damit sagen will – auch Jack the Ripper war kein konventioneller Mörder. Er war von dem Drang besessen, leichte Mädchen zu töten. Und diese Besessenheit verwandelte ihn in ein Monstrum. Die meisten Mörder werden aufgrund der Triebe, die sie nur durch Bluttaten befriedigen können, mehr oder weniger zu Monstren.“ Es war seltsam still im Zimmer geworden, und diese fast unheimliche Stille zerrte an meinen Nerven. Es war Colonel Forsythe, der das drückende Schweigen brach.
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„Das stimmt, mein Junge. Aber es sind Monstren im metaphysischen, nicht im physischen Sinn. Aber die Annahme, dieser Kerl, der die Hälse unschuldiger Londoner Bürger zerfetzt, könnte ein Werwolf sein… Das ist doch lächerlich.“ „Oh, hört doch auf!“ rief Tante Ettie schaudernd. Ich starrte auf das rote Gesicht des Colonels. Wie gern würde ich ihm beweisen, daß er sich gründlich irrte. „Verzeihen Sie, meine Liebe“, sagte Colonel Forsythe. „Ich werde mich jeder weiteren Bemerkung zu dieser dummen Idee meines Neffen enthalten, bis wir nach dem Dinner unseren Portwein trinken.“ Tante Ettie hob gequält die Augen zum Himmel auf. „Ja, bitte, tun Sie das, Colonel.“ „Aber ich finde dieses Thema sehr interessant“, warf Lisa ein. „Dieser seltsame Mörder muß ein Romantiker sein.“ Sie sah mich lächelnd an. „So schrecklich der Gedanke auch ist, daß es ein Werwolf sein könnte, der diese Verbrechen begeht – es ist auch faszinierend. Ich könnte mir vorstellen…“ „Genug jetzt, Lisa!“ sagte ich. Oder hatte ich geschrien? Ihr Lächeln erstarb, und sie sah mich gekränkt an. Hastig versuchte ich sie zu beruhigen. „Sei doch vernünftig, mein Liebes! Tante Ettie ist ganz blaß geworden. Wir sollten endlich von etwas anderem 98
reden. Dieses Thema eignet sich wirklich nicht für ein Tischgespräch.“ Wieder senkte sich Schweigen über den Raum, und diesmal war es Mrs. Feckless, die als erste das Wort ergriff. Und sie befolgte meinen gutgemeinten Rat nicht, denn auch sie schien von dem Thema fasziniert zu sein, das Tante Ettie so entsetzte. „Ich glaube, in uns allen ist eine Spur von Wildheit, die gelegentlich an die Oberfläche dringt, mehr oder weniger heftig. Die Zivilisation hat einen goldenen Schleier über unsere Triebe gelegt, aber im Grunde unterscheiden wir uns doch kaum von unseren primitiven Vorfahren, nicht wahr?“ „Oh, ich hoffe doch, daß wir uns seither weiterentwickelt haben“, sagte Tante Ettie. „Natürlich haben wir uns weiterentwickelt, Madam“, stimmte ihr Colonel Forsythe zu. „Ich muß Ihnen ganz entschieden widersprechen, Mrs. Feckless.“ Es schien ihn stets von neuem zu befriedigen, wenn er jemandem widersprechen konnte. „Sicher sind manche Menschen immer noch primitiv. Vor allem im kindlichen Alter. Aber wenn wir das Schuljungenstadium erst einmal überschritten haben, sind wir doch recht kultiviert.“ Er grinste und sah beifallheischend in die Runde.
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„Leider bleiben manche Leute bis an ihr Lebensende kleine Kinder“, meinte Arnes. „Das stimmt“, sagte Colonel Forsythe, „aber das bedeutet noch lange nicht, daß ein ausgewachsenes Kind ein Werwolf ist.“ „Das gebe ich zu“, entgegnete Arnes mit einem Lächeln. „Aber du mußt ebenso zugeben, daß nicht einmal ein abartiger kindhafter Mörder so vorgehen würde wie unser Wolfsmörder.“ “Der kindliche Mörder’!“ rief der Colonel. „Es wäre eine gute Schlagzeile. Viel besser als ,Der Werwolf hat wieder zugeschlagen’… Was nicht heißen soll, daß das noch einmal passieren wird“, fügte er hastig hinzu. „Der Mörder ist ja auch gar kein Werwolf.“ „Es wäre auch höchst schwierig für Ihre Leute, nach einem Werwolf Ausschau zu halten“, hörte ich mich sagen. „Denn Werwölfe kann man nur in Vollmondnächten erkennen. Sonst sehen sie wie normale Menschen aus. Nur in Vollmondnächten verwandeln sie sich, nehmen wölfische Gestalt an. Ihre Männer müßten also in solchen Nächten besonders wachsam sein. In anderen Nächten unterscheidet er sich nicht von anderen Menschen. Sie könnten ihm tagtäglich begegnen und würden niemals wissen, daß er kein normaler Mensch ist.“ 100
„Schön und gut“, meinte Colonel Forsythe. „Aber da ich nicht glaube, daß der Mann ein Werwolf ist, da ich ihn für einen ganz normalen Mörder halte, trotz seiner ungewöhnlichen Methoden, werde ich meinen Leuten ganz bestimmt nicht auftragen, daß sie nach einem Werwolf suchen sollen. Ich werde mich doch nicht zum Gespött von Scotland Yard machen.“ „Trotz allem glaube ich, daß gewisse Aspekte dieser Mordfälle unerklärlich sind“, wandte Arnes ein. „Zumindest kann man sie nicht auf orthodoxe Weise erklären.“ Der Colonel seufzte tief auf. „Mein lieber Junge, kümmere du dich um deine Pferde und um dein Flugzeug und laß mich meine Arbeit machen, so wie ich es für richtig halte. Wenn ich mich von irgendwelchen wilden Phantasien leiten ließe, statt mich an die praktischen, erprobten Methoden der Polizei zu halten, würden wir nicht die geringsten Erfolge erzielen.“ Tante Ettie erhob sich. „Für heute abend habe ich genug von diesen schrecklichen Dingen gehört.“ Sie wandte sich an Colonel Forsythe. „Nur eins will ich Ihnen noch sagen. Sie haben mich nicht überzeugt, Colonel. Sie vergessen, daß ich in jener
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Nacht einen Wolf heulen hörte. Dafür haben Sie noch keine einleuchtende Erklärung gefunden.“ Arnes warf Tante Ettie einen kurzen Blick zu. „Sie hat recht, lieber Onkel.“ Colonel Forsythe starrte ihn ärgerlich an. „Jetzt habe ich aber genug von diesem Unsinn, Paul. Ich gebe ohne weiteres zu, daß wir uns nicht erklären können, wieso dieses Geheul…“ „Ich habe eine Erklärung dafür“, unterbrach ihn sein Neffe respektlos. Der Colonel lief puterrot an. „Wirst du jetzt endlich den Mund halten? Ich will nichts mehr von deinen idiotischen Werwölfen hören.“ Schweigend verließen die Damen das Speisezimmer. Lisa blieb neben meinem Stuhl stehen, um mir die Hand auf die Schulter zu legen und mich anzulächeln. Wie hatte ich jemals an ihr zweifeln können? Wie hatte ich nur für einen einzigen kleinen Augenblick aufhören können, sie zu lieben? Und doch war die Liebe eine tödliche Falle für uns beide. Denn ein Werwolf ist von dem unseligen Wunsch besessen, die Menschen zu töten, die er liebt. Ich mußte sie verlassen, mußte verreisen, in ein fernes Land, wo ich keine Gefahr für sie bedeutete.
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Aber dieser Gedanke erfüllte mich mit tiefer Verzweiflung. Kurz nachdem sie hinausgegangen war, verließ auch ich den Raum, ging nach oben und sperrte mich im Badezimmer ein, trauerte in wildem Schluchzen um die Zukunft, die ich nicht mit Lisa teilen konnte. 16. Dr. Payne flatterte wie ein aufgeregtes Huhn in Sir James Handforth’ mächtigem Schatten. Der Schatten glich der Silhouette von Toulose-Lautrec und bestand hauptsächlich aus Weste und Uhrkette, und letztere sah aus, als sei sie stark genug, eine Zugbrücke zu tragen. Handforth hatte eine weiche, melodische Stimme, und ich konnte mir gut vorstellen, daß seine Patienten ihm bedingungslos vertrauten, wenn er mit dieser Stimme ärztliche Ratschläge erteilte. Er hatte runde Krötenaugen, die aus malvenfarbenen Fleischpolstern hervorquollen. Im großen und ganzen wirkte er sehr eindrucksvoll und auch ein wenig einschüchternd. „Tut mir leid, ich war gerade in Urlaub, als Payne mich zu erreichen versuchte“, erklärte er mir. „In Italien -das ideale Land für erholungssuchende Mediziner. Das Beste, was wir für unsere Gesundheit tun können. Der reichliche Sonnenschein vertreibt alle nervös-morbiden
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Gefühle, unter denen wir Ärzte ja besonders leiden. Meinen Sie nicht auch, Payne?“ „Gewiß, Sir James“, versicherte Payne mit einem eifrigen Lächeln. Die Anwesenheit des Drüsenspezialisten schien ihm den Rücken zu stärken. Er betrachtete mich nun mit herablassender Güte, als hätte er niemals Angst vor mir empfunden, als hätte er niemals befürchtet, daß sich mein Leiden seinem medizinischen Erfahrungsbereich entziehen könnte. „Ich finde, daß Sie völlig normal aussehen, Glendon“, sagte Sir James. Ich fragte mich, was ich wohl noch alles erdulden mußte, bis er von dieser Annahme zu einer endgültigen Diagnose gelangen würde, und zuckte mit den Schultern. „Ich fühle mich auch recht gut, Sir James.“ „Seltsam“, meinte Payne, als der Spezialist nach meiner rechten Hand griff, um sie zu untersuchen. „Deine Hände sind ganz glatt.“ „Ja -jetzt.“ Damit hatte ich bereits viel zuviel gesagt. Aber meine Augen verrieten nichts von meinen Gedanken. „Als ich sie das letztemal sah, waren sie von einem rauhen Pelz überzogen.“ Payne sah mich vorwurfsvoll an, als hätte ich ihn zum Narren gehalten. 104
„Das heißt also, daß dieser Pelz ganz plötzlich auftritt und nach einiger Zeit wieder verschwindet, Glendon?“ „Ja, Sir James.“ Wie seltsam sie mich anstarrten… „Und wie oft passiert das?“ fragte Sir James. „Etwa einmal im Monat.“ Sieh zu, was du mit diesem Hinweis anfangen kannst, mein Lieber, fügte ich in Gedanken hinzu. „Hm – ich verstehe“, sagte Sir James, obwohl er ganz offensichtlich gar nichts verstand. „Und wird dieser Haarwuchs noch von anderen Symptomen begleitet, Glendon?“ Eine große Versuchung überkam mich, ihm alles zu sagen, mich an seinem ungläubigen Staunen zu weiden. Die Versuchung war übermächtig. Ich mußte mir alles von der Seele reden, auch wenn ich mich damit noch tiefer ins Unglück stürzte. „Ja, es gibt noch andere Symptome.“ „Sehr gut. Nun, mein lieber Glendon, dann machen Sie’s nicht so spannend. Reden Sie schon!“ „Meine Augenzähne wachsen zu langen Fängen aus, der Haaransatz zieht sich plötzlich bis zur Nasenwurzel hinab. Ich verwandle mich in ein blutrünstiges Ungeheuer“, erklärte ich mit ruhiger Gelassenheit.
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„Ich finde nicht, daß Ihre Situation zu leichtsinnigen Scherzen Anlaß gibt, Glendon“, sagte er tadelnd, mit der unwandelbaren Sicherheit eines Empirikers, der sich nicht vom Makabren beeindrucken läßt Genau, wie Mendelssohn sich geweigert hatte, Mussorgsky anzuerkennen… „Ich habe Ihnen die Wahrheit gesagt, Sir James.“ „Tatsächlich?“ fragte er mit kalter Stimme. Sollte ich ihm alles erzählen? Sollte ich die Morde schildern, die ich begangen hatte? Nein, warum sollte ich ihm den Triumph gönnen, den mysteriösen Mörder gefunden zu haben? Warum sollte ich diesem dünkelhaften selbstgefälligen Mann helfen, auf ein Heldenpodest zu steigen? Diese Wohltat würde ich lieber dem armen Payne erweisen, der mich jetzt entsetzt anstarrte. Sein Gefühl schien ihm zu sagen, daß ich nicht scherzte. Offenbar erinnerte er sich nur zu deutlich an meine behaarten Hände, an das drohende gelbe Glitzern in meinen Augen. „Ja, tatsächlich“, antwortete ich tonlos. „Als nächstes werden Sie mir wahrscheinlich erzählen, daß Sie fliegen können und bald auf einem Besen zum Hexensabbat reiten werden“, meinte Sir James.
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„Ich habe Besen immer als höchst unbequeme Fortbewegungsmittel betrachtet“, erwiderte ich sarkastisch. „Ich ziehe es vor, auf Lichtstrahlen zu reisen.“ Das Mondlicht – mein anderes Ich, mein wölfisches Ich kam aus den Strahlen des Mondes zu mir. Sir James verschränkte die Arme vor der Brust. Wir starrten uns feindselig an. „Wenn ich vielleicht etwas sagen darf, Sir James“, mischte sich Payne zögernd ein, „ich glaube, im medizinischen Bereich gibt es keine Erklärung für den Zustand des Patienten. Ich wünschte, Sie können ihn sehen, wenn er einen seiner – Anfälle hat.“ „Das wäre zweifellos sehr interessant, Payne“, sagte Sir James. „Trotzdem muß ich betonen, daß die medizinische Wissenschaft alle Zustände des menschlichen Körpers erklären kann. Davon bin ich ganz fest überzeugt. Wäre es nicht, müßte ich das Unakzeptable akzeptieren, denn die Medizin würde plötzlich das Ansehen verlieren, das sie sich im Lauf der Geschichte erworben hat, und wir würden in einen Abgrund stürzen.“ Er wandte sich wieder an mich, und seine Augen verengten sich. „Sie sagen, daß diese Symptome nur einmal im Monat auftreten, Glendon. Können Sie den genauen Zeitpunkt
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angeben? Können Sie die Symptome immer zur gleichen Zeit an ihrem Körper beobachten?“ Mit ruhiger Stimme antwortete ich: „Ja – in jeder Vollmondnacht.“ „Vor oder nach einem späten Dinner mit Hummer und Champagner?“ Sein Spott brachte mich in Wut. „Ich finde das gar nicht lustig, Sir James.“ Er hob die Brauen. „Oh, ich meine das durchaus ernst, lieber Glendon. Ich glaube nämlich, daß diese seltsame Unordnung in Ihrer Drüsenfunktion eher auf ein Unwohlsein nach dem Genuß bestimmter Speisen zurückzuführen ist als auf die Einwirkung von Vollmondstrahlen.“ „Ich würde Ihnen zustimmen, wenn es sich um eine alltägliche Unpäßlichkeit handeln würde. Aber mein Leiden ist nicht alltäglich.“ Also gut, Glendon, ich will Ihnen zugestehen, daß Sie recht haben könnten. Ich werde ein paar Tage vor der nächsten Vollmondnacht in Ihr Haus ziehen und Sie während dieser Periode beobachten. Sind Sie damit einverstanden?“ Ich starrte auf seinen Hals, auf das Doppelkinn, das über seinen altmodischen hohen Kragen quoll.
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„Ja“, sagte ich lächelnd, „ich bin damit einverstanden. Ich hoffe, es stört Sie nicht, daß die Hausherrin nicht hier sein wird. Meine Frau wird verreisen.“ „Oh…“ Sir James blinzelte. „Ich werde sie zu ihrer Tante aufs Land schicken“, erklärte ich. Zum erstenmal schien sich Sir James unbehaglich zu fühlen. „Hat dieses Arrangement gesellschaftliche Gründe -oder andere, nicht ganz so offensichtliche Gründe?“ „Was für nicht so offensichtliche Gründe könnte es denn Ihrer Meinung nach geben?“ „Ja, natürlich.“ Er atmete erleichtert auf, als hätte ich ihm eine klare Antwort gegeben.“ „Soll ich auch hierherziehen?“ fragte Payne in einem Ton, der mir deutlich verriet, daß er sich auch ablehnende Antwort erhoffte. „Nein, danke, Payne, das ist nicht nötig“, sagte Sir James. Ich lehnte sein Angebot ebenfalls ab. Nein, vielen Dank, Payne. Warum sollte er sich in Lebensgefahr begeben? Ich hatte ihn gern und wollte nicht die Schuld an seinem Tod tragen. „Gut, dann ist ja alles geregelt“, sagte Sir James.
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Ich lächelte zufrieden, als ich in seinen Augen einen leisen Zweifel las. Vielleicht bereute er es bereits, daß er meine Herausforderung angenommen hatte. Sein Blut würde so reichlich fließen wie der Hohn, mit dem er mich heute überschüttet hatte. Plötzlich erfüllte mich eine heiße, wilde Vorfreude. 17. Zwei Tage vor der nächsten Vollmondnacht fuhr Sir James in seinem protzigen Daimler vor meinem Haus vor, nickte mir kurz zu und ging dann sofort in das Gästezimmer hinauf, das ich für ihn hatte vorbereiten lassen. Während des Dinners sprach er wenig, lobte nur den Wein und bemerkte, daß er nichts Ungewöhnliches an meinen Händen entdecken könne. Die Stille des Hauses war bedrückend. Ich hatte Lisa dazu überredet, Tante Ettie noch einmal zu besuchen. Zuerst hatte sie sich gesträubt, aber dann hatte sie doch nachgegeben. Ich hoffte, daß Arnes nicht wieder in Berkshire sein würde, um Lisa über die Trennung von mir hinwegzutrösten. Andererseits war dieser Gedanke ohne jede Bedeutung, denn ich würde ohnehin nicht mehr lange am Leben bleiben. Beim ersten Anzeichen meiner Verwandlung, noch bevor ich im Vollbesitz meiner wölfischen Kräfte sein würde, bevor meine Fänge ihre tödli110
che Macht erreicht hatten, würde sich Sir James auf mich stürzen und mich überwältigen. Denn er war sehr kräftig, obwohl er ziemlich dick war. Außerdem wußte ich, daß er einen Revolver bei sich trug. Nach dem Dinner gingen wir ins Laboratorium, wo Sir James wenig Interesse an meiner Mariphasa zeigte, wenn er mir auch ein paar Fragen nach meiner Reise in die tibetischen Berge stellte. Nachdem ich seine Fragen beantwortet hatte, fügte ich hinzu: „Die bekannteste Spezies der tibetischen Fauna ist der Ya. Aber es gibt dort auch noch andere Wesen, die nicht so bekannt sind.“ „Und die wären?“ „Diese Wesen gehören zur Gattung der Wölfe.“ „Ich wußte gar nicht, daß es in Tibet Wölfe gibt“, erklärte er in einem Ton. der besagte, daß es nichts geben könne, von dem er nichts wisse. „Ich wurde sogar von einem dieser Wölfe gebissen“, berichtete ich und strich über ein Blütenblatt der Mariphasa. „Tatsächlich.“ Im schwachen Licht, das mein Laboratorium erfüllte, starrte er mich ungläubig an. „In den Arm.“ Langsam krempelte ich meinen Ärmel hoch und zeigte ihm die Narben.
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„Großer Gott!“ rief er, und das war die erste positive Reaktion, die ich an ihm beobachten konnte. „Diese Blume lindert die Schmerzen, die ich in jeder Vollmondnacht verspüre“, erklärte ich. „Und sie hilft auch gegen den Haarwuchs, der von Zeit zu Zeit an meinen Händen auftritt.“ Der Spezialist nahm meine Hände und betrachtete sie so intensiv wie ein Wahrsager. „Ich finde, sie sehen ganz normal aus“, sagte er dann. „Wirklich?“ Ich spürte, daß ich nun die Oberhand gewonnen hatte. „Schauen Sie doch noch einmal ganz genau hin, Sir James.“ Ich hielt ihm meine Hände unter die Nase und drehte sie so, daß das blausilberne Licht der Mondlampe direkt darauf fiel. „Fast alle Menschen haben Haare auf den Handrücken, Glendon“, sagte er tonlos. „Aber nicht auf den Handflächen.“ Ich drehte die Hände um. „Da sind doch keine Haare… Moment mal!“ Er beugte sich über meine Hände, kniff die Augen zusammen, streckte zögernd einen Finger aus und strich über die Handflächen. „Ich kann tatsächlich feine Härchen fühlen, Glendon. Hatten Sie jemals Schwierigkeiten mit Ihrer Schilddrüse?“ 112
„Noch nie, Sir James.“ „Jedenfalls funktioniert Ihre Hypophyse nicht so, wie sie sollte. Aber deshalb brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen.“ Er schenkte mir sein herablassendes Lächeln, mit dem er sicher schon viele Patientinnen betört hatte. „Wollen wir wieder ins Haus zurückgehen, Sir James?“ schlug ich vor. „Einverstanden. Dort haben wir besseres Licht, und ich kann Sie genau untersuchen.“ Als wir in meinem Arbeitszimmer angekommen waren, starrte Sir James durch eine Lupe in meine Pupillen, tastete an meinem Hals herum, und dann sog er nachdenklich die Luft zwischen den Zähnen ein. „Sind Sie sich nun im klaren über meinen Zustand?“ fragte ich. „Nein“, antwortete er, und der Klang seiner Stimme verriet seine Verwirrung. „Mit Ihren Drüsen scheint alles in Ordnung zu sein. Aber die Schilddrüse und die Hypophyse können ausfallen, ohne daß sich äußere Anzeichen bemerkbar machen, zum Beispiel Schwellungen. Ihre Augen sehen auch ganz normal aus. Sie quellen nicht aus den Höhlen hervor - um diese ophtalmischen Symptome laienhaft zu erklären“, fügte er gönnerhaft hinzu. „Was schlagen Sie also vor, Sir James?“ 113
„Ich werde Sie sofort in die Klinik einweisen“, sagte er und ging zum Telefon. „Ich werde alles Nötige in die Wege leiten.“ Ich hielt ihn am Arm fest. „Das ist unmöglich.“ „Es ist nicht nur möglich, es ist sogar dringend erforderlich“, erklärte er in seiner autoritären Art und befreite sich aus meinem Griff. „Dringend erforderlich?“ „Sehen Sie sich doch Ihre Hände an, Mann!“ herrschte er mich an. „Die Haare werden mit jeder Minute länger.“ „Und Sie wollen einen Werwolf in die Klinik einweisen? Kurz vor einer Vollmondnacht?“ Ich grinste ihn an, und ich glaube, ich sah dabei ziemlich unheimlich und bedrohlich aus. „Sie sind verrückt, Glendon!“ schrie Sir James. „Es gibt keine Werwölfe!“ Er war genauso von seinem Irrglauben überzeugt wie Colonel Forsythe. „Sind Sie nicht deshalb in mein Haus gekommen? Weil Sie im stillen zugeben, daß es doch Werwölfe geben könnte?“ Nun saß er in der Falle. „Unsinn! Ich bin hier, weil Sie erklärt haben, Sie hätten in jeder Vollmondnacht Schwierigkeiten mit Ihren Drü114
sen. Das bedeutet doch nicht, daß ich mit der Möglichkeit rechne, Sie könnten sich in ein mythisches Wesen verwandeln.“ „Der Wolf, der mich in Tibet gebissen hat, war kein gewöhnlicher Wolf, Sir James“, erklärte ich. „Er war zweifellos ein Werwolf.“ „In spätestens einer Stunde liegen Sie im Krankenhaus“, sagte er und sah auf seine Uhr. Dann griff er nach dem Telefonhörer. „Gut. Ich freue mich schon darauf.“ Er legte den Hörer auf die Gabel zurück. „Sie freuen sich darauf?“ „Sicher“, entgegnete ich und genoß es in vollen Zügen, daß ich ihn nun in der Hand hatte. „All die Patienten, die auf mich warten, ordentlich aufgereiht, in ihren Betten… Oh, ich kann sie fast vor mir sehen. Und die hübsche Schwester, die ihren Bericht schreibt – in einem kleinen Zimmer, im schwachen Lampenlicht, das durch die silbernen Mondstrahlen, die durchs Fenster hereinfallen, fast ausgelöscht wird… Oh, die vielen Patienten, Sir James! Ein herrliches Nachtmahl!“ Ich brach in schallendes Gelächter aus, als ich in die Augen des Spezialisten sah, die nun keine Selbstsicherheit mehr ausstrahlten, sondern nur noch ungläubiges Staunen und wachsende Angst. 115
„Sie sind verrückt, Glendon“, flüsterte er. „Sie müssen nicht in einer Klinik, sondern in einer Irrenanstalt behandelt werden.“ „Und was wird man dort für mich tun? Sicher, mir ist klar, was man in solchen Anstalten für die armen Irren tut. Man beschützt sie vor sich selbst. Aber was wird man für mich tun, Sir James? Wie wird man mich von den Haaren an meinen Händen befreien? Wie wird man verhindern, daß sich meine Gesichtszüge verzerren, daß ich von dem unwiderstehlichen Verlangen erfüllt werde, den Hals eines Menschen zu zerfleischen? Wie wird man mir helfen? Denn auch in diesen Anstalten stehen doch die Interessen der Patienten an erster Stelle, nicht wahr?“ fügte ich sanft hinzu. „Natürlich, natürlich“, versicherte er mir mit einem beruhigenden Lächeln. „Ich werde jetzt erst einmal die Klinik anrufen, einverstanden?“ „Großartig.“ Er hob wieder den Hörer ab, und ich sah ihm interessiert über die Schulter. „Ich würde es sehr begrüßen, wenn Sie etwas zurücktreten könnten, Glendon. Ich habe ja gar keinen Platz“, beschwerte er sich.
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„Oh, Verzeihung. Ich habe ein schrecklich schlechtes Gewissen, weil ich Sie daran gehindert habe, die Irrenanstalt anzurufen.“ „Das wollte ich gar nicht. Ich will meine Klinik anrufen.“ „Oh, das freut mich aber.“ Zorn stieg in mir auf, der wilde Zorn des Werwolfs. Sollte ich diese Wut bekämpfen? Sollte ich in mein Laboratorium laufen und eine Mariphasa-Blüte auf meinen Arm pressen? Oder sollte ich meinen Trieben freien Lauf lassen? Der Gedanke an frisches, warmes Blut umnebelte meinen Verstand. Ich zwang mich, ruhig zu bleiben, erst noch zu warten, bis Sir James telefoniert und seine Anweisungen erteilt hatte. „Ich bringe den Patienten mit meinem Wagen zur Klinik. Lassen Sie ein Zimmer vorbereiten. Und bitten Sie Dr. Sidonie, er möge auf uns warten. Auf Wiedersehen.“ Er legte den Hörer auf und drehte sich zu mir um. Sein Atem stockte. „Mein Gott, Ihr Gesicht, Mann! Ihr Gesicht!“ Und in jenem letzten Augenblick, bevor sich meine Fänge in seinen Hals gruben, glaubte er es. 18. Sir James war sehr schwer. Es dauerte lange, bis ich ihn in einen Regenmantel gewickelt, die Treppe hinab und 117
durch die Halle geschleppt und vorsichtig die Haustür geöffnet hatte. Die Straße vor mir war menschenleer, das Haus hinter mir still. Die Dienerschaft hatte sich bereits in ihre Räume zurückgezogen. Meine Instinkte hatten mich übermannt. Ich war ein Dummkopf. Nein, ich war verrückt. Ich blickte in den Spiegel neben dem Eingang. Der Mord hatte meine Gesichtszüge vorläufig normalisiert, abgesehen von dem Blut, das mein Kinn und meine Wange befleckte. Mein Haaransatz war niedriger als gewöhnlich, mein Mund ein wenig verzerrt – morgen, wenn der Mond in seinem Zenit stand, würden sich meine Lippen viel schrecklicher verzerren… Es sei denn, der Mord an Sir James bedeutete, daß sich mein Fluch für diesen Monat erfüllt hatte, daß ich mich erst nächsten Monat wieder in einen Werwolf verwandeln würde. Die Mariphasa – ich mußte zu meiner Mariphasa… Aber erst mußte ich Sir James loswerden und das Blut vom Teppich wischen. Nein, es würde mir nicht gelingen, die Flecken zu entfernen. Ich mußte den Teppich beseitigen – den Teppich und Sir James. Mein Gehirn, das für ein paar Minuten klar funktioniert hatte, begann sich wieder zu verwirren.
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Ich zwang mich dazu, mich erst einmal auf Sir James zu konzentrieren. Ächzend hob ich die Leiche auf meine Schulter, brach fast zusammen unter ihrem Gewicht und taumelte durch die Haustür hinaus. Schwankend blieb ich auf den Stufen stehen, unter den Augen des unheilvollen Mondes. Ich schleppte meine Last die Treppe hinab und lief, so schnell ich konnte, zu dem großen Daimler. Niemand war zu sehen. Ich öffnete die Tür zum Beifahrersitz, schob Sir James hinein und breitete eine Mohair-Decke über ihn, die ich im Fond des Wagens gefunden hatte. Dann rannte ich ins Haus zurück, rollte den blutbefleckten Teppich zusammen und trug ihn zum Wagen. Ich warf ihn auf den Rücksitz, suchte in Sir James’ Taschen nach dem Zündschlüssel, setzte mich hinter das Lenkrad und startete den Motor. Als ich durch die stillen Straßen fuhr, sah ich aus dem Winkel meines verlängerten gelben Auges, wie Sir James hin und her schwankte. In einer Kurve fiel er gegen mich, und ich richtete ihn mühsam wieder auf. Was sollte ich tun? Ich beschloß, einen einsamen Ort auf dem Land zu suchen, in der Nähe einer Bahnstation. Ich würde den Daimler in Flammen aufgehen lassen. Berühmter Facharzt erleidet tödlichen Autounfall’, würde die Schlagzeile lauten. Aber wie sollte ich mit der 119
Bahn nach Hause fahren - mit dem Blut des berühmten Facharztes beschmiert? Ich mußte es riskieren. Ich würde mich in die Autodecke wickeln, und sollte mich jemand fragen, würde ich erklären, ich hätte einen kleinen Unfall in meinem Auto erlitten, das danach nicht mehr angesprungen sei. Als ich an einer Kreuzung bei Rotlicht anhalten mußte, richtete ich mich auf und warf einen Blick in den Rückspiegel. Mein Gesicht war zwar voller Blut, sah aber wieder so normal aus, daß niemand vor meinem Anblick erschrecken würde. Nun konnte ich auch wieder ganz klar denken. Eine Idee schoß mir durch den Kopf. Ich verließ die Stadt, fuhr sehr vorsichtig, um niemanden auf mich aufmerksam zu machen. In einer dunklen Allee bei Aylesbury lenkte ich den Wagen gegen einen dicken Eichenstamm. Schützend legte ich einen Arm vor mein Gesicht. Die Windschutzscheibe zersplitterte. Sir James’ Kopf fiel durch die zerbrochene Scheibe. Mein Arm stieß hart gegen das verbogene Lenkrad, und ich schürfte mir ein wenig die Haut auf. Ich zerriß Sir James’ Hemd, drehte einen Stoffetzen zu einer Zündschnur zusammen und stopfte sie in den Benzintank. Dann suchte ich in meinen Taschen nach Streichhölzern, aber ich fand keine. 120
Sollte ich zum Tod verdammt sein oder zum trübseligen Leben in einer Irrenanstalt, mit der mir Sir James gedroht hatte, nur weil ich keine Streichhölzer bei mir trug? Ich kämpfte gegen die Panik an, die in mir aufzusteigen drohte, und durchsuchte Sir James’ Taschen, fand ein goldenes Feuerzeug, hielt das Flämmchen an das Ende der Zündschnur. Als sie brannte, rannte ich über ein Feld, auf die fernen Lichter der Stadt zu. Ich hörte eine dumpfe Explosion hinter mir, wandte mich um und sah Flammen hochzüngeln. Bald darauf hörte ich Sirenen in der Ferne, sah das Licht von Scheinwerfern die Allee entlangrasen. Ich hoffte, daß es der Feuerwehr nicht gelingen würde, die Flammen zu löschen. Ich wollte nicht, daß mehr von Sir James übrigblieb als sein guter Ruf. Gott sei Dank sollte wenige Minuten, nachdem ich den Bahnhof erreicht hatte, ein Zug nach London fahren. „Sie haben Glück, Sir“, erklärte mir der freundliche Mann am Fahrkartenschalter. „Der nächste Zug geht nämlich erst um sechs Uhr morgens.“ Voller Mitgefühl hörte er mir zu, als ich ihm von meinem kleinen Unfall und der Panne erzählte. Ich hatte mir das Blut notdürftig mit dem kalten Wasser eines 121
kleinen Bächleins abgewaschen, die restlichen Blutspuren verhüllte die Autodecke, die ich mir bis zur Nase hochgezogen hatte. Der Zug war fast leer, und ich hatte ein Abteil für mich allein. Darüber war ich sehr froh, denn ich war erschöpft und nicht in der Stimmung, mich mit irgendwelchen Mitreisenden zu unterhalten. Der Waggon schaukelte mich sanft hin und her, die rollenden Räder sangen ein Schlummerlied. Ich schlief ein. 19. Die Klinik, in der Sir James gearbeitet hatte, war so gastfreundlich wie ein Luxushotel. „Ich glaube, Sir James hat ein Bett für mich bestellt“, erklärte ich der Pfortenschwester. „Ich heiße Wilfrid Glendon.“ Sie lächelte mich an, sah in einem Notizbuch nach und runzelte die Stirn. „Es tut mir sehr leid, Sir, aber ich kann keine entsprechende Eintragung finden.“ Ich runzelte ebenfalls die Stirn und bemühte mich, verwirrt auszusehen. „Wirklich nicht?“ „Sicher werden wir bald von Sir James hören. Inzwischen kann ich ja Ihre Personalien aufnehmen, Schwester?“ 122
Sie rief eine attraktive Frau heran, die gerade vorbeiging. „Würden Sie den Gentleman bitte auf Nummer zehn bringen? Sir James wird bald eintreffen. Mr. Glendon ist sein Patient.“ Die Schwester lächelte, und ich starrte auf ihre schlanken Waden, als sie vor mir herging. Als wir das Zimmer erreichten, trat sie beiseite, um mich vorbeizulassen, und lächelte immer noch. Sie schlug mir vor, ich solle mich sofort ausziehen und ins Bett gehen. „Ja, natürlich, Schwester“, sagte ich. „Die Oberschwester wird gleich zu Ihnen kommen, Mr. Glendon.“ „Ja, danke, Schwester.“ Sie lächelte mir ein letztesmal zu, dann ließ sie mich allein. Ich packte meine Tasche aus, zog mich aus und schlüpfte in meinen Pyjama. Dann legte ich mich ins Bett, um auf die Oberschwester und den verbrannten Spezialisten zu warten. Ich würde meinem Erstaunen Ausdruck verleihen, wenn man mir mitteilte, daß er nicht eingetroffen sei, aber dann würde ich ihm verzeihen. Zweifellos würde mich die Polizei irgendwann im Lauf des Tages verhören. Dabei mußte ich mich so natürlich wie möglich benehmen. 123
Die Oberschwester kam zu mir, eine energische kleine Frau. „Ich wußte nicht, daß Sir James Sie in unsere Klinik einweisen wollte, Mr. Glendon.“ „Er hat sich erst gestern abend dazu entschlossen“, erklärte ich. „Er kam zu mir nach Hause, um mich zu untersuchen.“ „Oh…“ Sie schien überrascht zu sein. Offenbar hatte es nicht zu Sir James’ Gepflogenheiten gehört, Hausbesuche zu machen. „Sie waren also nicht in der Harley Street?“ „Nein, Schwester.“ „Nun ja – zweifellos werden wir bald von ihm hören. Er beginnt um zehn mit der Visite.“ Sie kniff die Augen zusammen und musterte mich kritisch. „Was für Symptome haben Sie denn?“ „Ich leide gelegentlich an einem unnatürlichen Haarwuchs.“ „Gelegentlich?“ „Ja“, antwortete ich unschuldig. „Die Haare wachsen und verschwinden wieder. Sir James konnte keine genaue Diagnose stellen. Deshalb bin ich hier. Ich fühle mich großartig, und es kommt mir fast komisch vor, daß ich jetzt in einem Krankenhaus liege.“ Sie lächelte nicht über meinen müden Scherz. 124
„Sir James hätte Sie nicht hierhergeschickt, wenn er Ihren Zustand komisch fände“, sagte sie in strengem Ton. „Ich komme bald wieder zu Ihnen zurück. Inzwischen wird Schwester Oliver Ihre Temperatur messen.“ „Danke, Schwester.“ Sie ging hinaus, und ich legte mich entspannt in die Kissen zurück und harrte der Dinge, die da kommen sollten. Nachdem meine Temperatur gemessen worden war, machte sich eine gewisse Hektik bemerkbar, da Sir James in wenigen Minuten erwartet wurde. Er war angeblich immer pünktlich, und jede der vielen Uhren in der Klinik schien seine Verspätung zu dramatisieren. Sogar die Oberschwester, die inzwischen noch zwei- oder dreimal nach mir gesehen hatte, wurde mit jeder Minute nervöser. Die Polizei traf erst gegen Mittag ein. Ungläubiges Entsetzen erfüllte das ganze Krankenhaus und hatte auch die Patienten in den Nebenräumen angesteckt. Wilde Gerüchte kursierten. Sir James war tot. Sir James war in seinem Auto verbrannt. Sir James hatte einen Unfall erlitten. War Sir James betrunken gewesen? Wie war das passiert?
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Die Oberschwester erschien in der Tür des Krankenzimmers und war offenbar nahe daran, die Fassung zu verlieren. „Ich muß Ihnen eine schreckliche Nachricht überbringen“, sagte sie mit gepreßter Stimme. „Sir James ist tot.“ „O nein!“ Ich hoffte, daß mein gespieltes Entsetzen echt wirkte. „Er hatte einen Unfall“, fuhr sie fort. „Die Polizei möchte seine Patienten verhören.“ „Ich – ich kann es nicht glauben.“ Ja, meine Stimme zitterte eindrucksvoll, und ich war sehr zufrieden mit mir. „Es ist leider nur zu wahr“, sagte sie. „Aber – warum will die Polizei die Patienten verhören?“ fragte ich. „Reine Routine, Sir“, sagte eine Stimme von der Tür her. „Tut mir leid, daß ich hier so eindringe“, entschuldigte er sich bei der Oberschwester, als sie hinausging. „Inspektor Gravesend, Sir“, stellte er sich vor. Er war klein und untersetzt und hatte ein schmales, blasses Gesicht. „Wie ich erfahren habe, sind Sie erst heute morgen hier angekommen, Sir?“ „Ich nickte. „Ja, das stimmt.“ „Und Sir James war gestern abend in Ihrem Haus?“ fragte der Inspektor und zog seinen Notizblock aus der Tasche. 126
„Auch das ist richtig.“ „Er notierte in seinem Tagebuch, daß er die Nacht bei Ihnen verbringen wollte.“ „Ja, das hatte er vor. Unglücklicherweise wurde er zu einem dringenden Fall aufs Land gerufen.“ Der Inspektor runzelte nachdenklich die Stirn. „Wurde er von einem Boten geholt oder hat man ihn angerufen?“ „Er wurde telefonisch verständigt.“ „Hm… Und wann war das?“ „Ich glaube, um neun Uhr.“ Bis jetzt lief alles wie am Schnürchen. „Ich verstehe“, sagte er und machte sich ein paar Notizen.“ Ich muß sagen, daß sein Tod mich tief erschüttert hat. Er war ein großartiger Arzt – und ein wunderbarer Mensch“, fügte ich hinzu, in heuchlerisch salbungsvollem Ton. Nicht nur mein Körper war von der Wolfsucht befallen, auch mein Denken ging bereits krumme Wege. „Leider hatte ich nie das Vergnügen, ihn kennenzulernen“, sagte Inspektor Gravesend. „Oder vielleicht…“ Er lächelte leicht. „Vielleicht war es mein Glück, daß ich seine Hilfe nie in Anspruch nehmen mußte.“ „Ja, ganz sicher.“ „Wie ich gehört habe, soll sich Sir Hartley Jenner um Sir James’ Patienten kümmern. Würden Sie mir bitte noch 127
sagen, ob Sie Sir James gestern abend selbst zur Tür hinausgelassen haben oder ob das einer Ihrer Dienstboten getan hat, Sir?“ „Ich war es selbst.“ „Und wollte er noch in derselben Nacht zu Ihnen zurückkommen, Sir?“ Meine Gedanken rasten den Fragen des Inspektors voraus. Sir James’ Kleider… Sein Koffer war ausgepackt worden, seine Sachen hingen im Schrank des Gästezimmers. Hätte ich sie auch verbrennen sollen? Nein, ich hatte alles richtig gemacht. Es war besser, die Polizei glauben zu machen, Sir James hätte noch in der vergangenen Nacht in mein Haus zurückkommen wollen. „Ja, er hat seine Sachen bei mir zurückgelassen.“ „Sein Wagen ist in der Nähe von Aylesbury gegen einen Baum gerast.“ Wie gut ich das wußte… „Wenn er dort draußen jemanden besuchen und danach noch zu Ihnen zurückfahren wollte, wäre er sicher sehr spät in Ihrem Haus angekommen.“ „Wahrscheinlich ist er sehr schnell gefahren, um nicht allzu spät bei mir einzutreffen“, meinte ich. „Das wäre eine Möglichkeit. Allerdings hat seine Frau mir bereits mitgeteilt, daß er normalerweise ziemlich
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langsam fuhr. Aber auch ein langsamer Fahrer fährt ja manchmal schnell, wenn er es eilig hat, nicht wahr?“ „Ja, sicher.“ „Die Allee, in der er den Unfall erlitt, war nicht die Hauptstraße nach Aylesbury.“ „Vielleicht wollte er zu einem Haus außerhalb der Stadt fahren.“ „Das einzige Haus da draußen ist ein Bauernhof“, entgegnete Gravesend und schüttelte den Kopf. „Und die Leute hatten nie was mit Sir James zu tun.“ „In diesem Fall muß er sich verirrt haben. Wenn man einen falschen Weg eingeschlagen hat, fährt man ja meist ziemlich schnell wieder zurück, um die verlorene Zeit wieder aufzuholen.“ „Ja, Sir, das stimmt. Vielen Dank für Ihre Hilfsbereitschaft.“ Er ging zur Tür, wandte sich jedoch noch einmal um. „Übrigens, Sir, würden Sie mir sagen, weshalb Sie Sir James konsultiert haben?“ „Ich sehe nicht ein, was mein Gesundheitszustand mit diesem Fall zu tun hat“, erwiderte ich indigniert. „Ich kann Ihre Gefühle ja verstehen, Sir. Aber ich würde gern wissen, weshalb sich Sir James dazu entschlossen hatte, zwei Nächte in Ihrem Haus zu verbringen. Seine Frau sagte mir, das sei sehr ungewöhnlich gewesen, und Dr. Payne war derselben Meinung.“ 129
„Hat Dr. Payne mit Ihnen über meine Krankheit gesprochen?“ fragte ich, und kalte Angst stieg in mir auf. „Nein, Sir. Er war sehr diskret.“ „Gut. Sie verstehen sicher, daß ich über so persönliche Dinge nicht sprechen will. Und der Gedanke, ein Mann, den ich ins Vertrauen gezogen habe, könnte diese Dinge ausgeplaudert haben, hat mich etwas irritiert.“ „Das verstehe ich, Sir, und ich bin ganz Ihrer Meinung“, sagte der Inspektor. „Nochmals vielen Dank.“ Als er gegangen war, starrte ich auf meine Hände. Sie waren ganz glatt. Ich beschloß, das Spiel möglichst rasch zu beenden, mich von Sir Hartley untersuchen zu lassen und dann um meine Entlassung zu bitten. Ich fuhr mir mit der Zunge über die trockenen Lippen. Diesen Plan könnte ich natürlich nur verwirklichen, wenn der Mord an Sir James meine bösen Gelüste bis zum nächsten Monat gestillt hatte. In der kommenden Nacht würde ein Vollmond am Himmel stehen, und ich mußte damit rechnen, daß ich mich in ein blutrünstiges Monstrum verwandeln könnte. Wenn ich in wenigen Stunden ein Werwolf werden sollte, konnte ich an diesem Ort reiche Beute machen. Ich wagte nicht, mir auszumalen, was danach geschehen würde. 20. 130
Der Satan stürzte sich auf mich, wirbelte mich spielerisch umher, ließ mich wieder los, blähte sich auf vor mir, es tropfte von seinen Fängen. Ich griff nach ihm, und er riß mich in die Arme. Ich spürte seinen heißen Atem, näherte meine Lippen den seinen, die sich öffneten, um lange, krumme Zähne zu zeigen. Ich schrie auf, aber es war ein stummer Schrei. Ich rang mit dem Satan, versuchte mich aus seinen Armen zu befreien, aber es war ein lautloser Kampf. Das Universum schien in unheiliger Lust zu erbeben, und ich war gefangen in der Umarmung des Satans. Ich wehrte mich, spürte, daß ich in Leinentücher gewickelt wurde, die mich meiner Freiheit beraubten, ich zerriß sie mit den Fingernägeln, die zu Krallen geworden waren, sprang auf den Boden. Stille beherrschte die Nacht, die vom Licht eines fernen, bleichen, allmächtigen Mondes erfüllt war. Knurrend starrte ich auf die Tücher, riß sie mit scharfen Zähnen in Fetzen. Dann sah ich zum Fenster auf, kroch leise zur Tür und öffnete sie. Der Korridor war schwach erleuchtet, in den Ecken schwarz wie Lakritze. In der Ferne sah ich einen helleren Fleck, einen orangegelben Nebel über dem Kopf der diensthabenden Schwester. Vor ihr reihten sich Betten aneinander, die mir wie Futtertröge erschienen. 131
Die Schwester hob den Kopf. „Wer sind Sie?“ fragte sie mich, als ich in den Schatten des Ganges stehengeblieben war. Ich verriet es ihr mit einem wilden Knurren, bevor ich sie ansprang. Sie fand keine Zeit zu schreien, und nach ihr wurden zwei ihrer Schutzbefohlenen meine Opfer. Ich lief zurück in die Schatten, verfolgt vom Echo angstvoller Schreie, floh zurück in mein Zimmer. Ich spürte, wie ich wieder in mein normales Dasein zurückkehrte, nachdem meine Mordlust gestillt war. Im Spiegel über dem Waschbecken sah ich, daß mein Gesicht wieder menschlich aussah. Ich wusch mir das Blut ab und kroch in mein Bett zurück. Der Schlaf hatte mich schon fast übermannt, als ich Schritte hörte und die Tür geöffnet wurde. „Es ist ihm nichts passiert, Gott sei Dank“, hörte ich eine Stimme flüstern. Ich hörte, wie die Tür wieder geschlossen wurde. Ich versuchte nicht an das zu denken, was ich getan hatte, das Gesicht der jungen Schwester aus meiner Erinnerung zu verdrängen – das Gesicht dieser jungen Frau, die ihr Leben den Kranken geweiht hatte, um Kummer und Schmerzen zu lindern, ein Leben, das ich grausam ausgelöscht hatte. Es klopfte leise an der Tür, und dann trat Gravesend ein. Er entschuldigte sich, weil er mich zu so später Stunde 132
störte, und ich setzte mich auf und versicherte ihm, daß mir das nichts ausmache. „Was kann ich für Sie tun, Inspektor?“ Wie großzügig ich doch war – die Liebenswürdigkeit in Person… Ja, Glendon kann man mitten in der Nacht wecken, auch wenn man ihm nur ein paar dumme Fragen und offenbar überflüssige Fragen zu stellen hat, man wird höfliche Antworten bekommen. Ja, darauf kann man sich verlassen. „Haben Sie während der letzten Stunde irgend etwas Ungewöhnliches gehört oder gesehen, Sir?“ „Leider nein“, sagte ich und täuschte ein Gähnen vor. „Ich habe geschlafen. Ich hatte Schlaftabletten genommen.“ Ich zeigte auf das Glas, das auf meinem Nachttisch stand. Mit dem Wasser aus diesem Glas hatte ich die Tabletten hinuntergespült – aber erst vor wenigen Minuten, als ich von meinem blutigen Raubzug zurückgekehrt war. „Warum, Inspektor?“ „Da draußen ist etwas Schreckliches passiert, Sir. Ein Blutbad…“ „Oh?“ Ich blinzelte und rieb mir die Augen. „Die diensthabende Schwester und zwei Patienten…“ Er schüttelte den Kopf. „So etwas habe ich noch nie zuvor gesehen.“ „Ich verstehe nicht…“ 133
„Ehrlich gesagt, Sir, ich auch nicht. Haben Sie auch wirklich nichts gehört? Gar nichts?“ „Leider nicht, Inspektor.“ Ich konnte ihm ja nicht gut sagen, daß ich zu beschäftigt gewesen war, um auf irgendwelche Geräusche zu achten. „Nun ja – vielen Dank, Sir.“ Er ging zur Tür, und ich wartete auf eine letzte, fast beiläufig gestellte Frage, auf jene typische Frage, die Polizisten zu stellen pflegen, wenn sich ihr Opfer bereits in Sicherheit wiegt, auf die Frage, mit der sie die Verbrecher zur Strecke bringen. Aber ich wartete vergeblich. Seufzend verließ der Inspektor mein Zimmer. Gähnend ließ ich mich in die Kissen zurücksinken, spürte bereits die Wirkung der Tabletten. Aber dann fiel mir noch etwas ein. Mein Pyjama – wenn er nun voller Blutflecken war… Ich sprang aus dem Bett und lief zum Spiegel. Oh, ich Idiot! Da war der verräterische Fleck, grell wie ein Stigma auf dem weißen Stoff. Ich wußte, daß ich das Blut nicht herauswaschen konnte, und geriet fast in Panik. Ich mußte mich selbst verletzen, mir die Nase einschlagen oder mir eine Schnittwunde zufügen und hoffen, daß sich die Polizei nicht damit aufhalten würde, meine Blutgruppe mit der des Flecks zu vergleichen, der auf meinem Pyjama leuchtete. 134
Ich hatte keinen zweiten Pyjama mitgenommen, doch mit diesem hier mußte ich irgend etwas tun. Aber was? Ich war jetzt so müde, daß mich nicht einmal mehr die Angst auf den Beinen hielt. * Als ich erwachte, dämmerte der Morgen herauf. Die Vögel sangen, als gäbe es nichts zu betrauern. Es war ein ganz alltäglicher Morgen. Ich stand auf, zog mich an und ging nach unten. Ich sagte der Pfortenschwester, daß ich nicht in einem Krankenhaus bleiben könne, wo etwas so Gräßliches passiert sei. Sie sah mich verständnisvoll an. „Natürlich, Sir. Wer weiß, was noch alles passiert. Jedenfalls war das keine gute Reklame für unsere Klinik.“ Als die nötigen Formalitäten erledigt waren, verließ ich das Gebäude, lief die Treppe hinab, trat aufatmend auf die Straße. Zitternd und fröstelnd kam ich zu Hause an. Nun setzte die volle Reaktion auf die Ereignisse der letzten Nacht ein. So konnte es nicht weitergehen, ich mußte meinem grausigen Tun ein Ende bereiten, mußte mir das Leben nehmen. Niemand sonst würde es tun, also mußte ich selbst handeln. Denn niemand, der meine schreckliche Verwandlung nicht mit eigenen Augen sah, würde mir glauben, wenn ich davon erzählte und um Hilfe flehte. 135
Aber mußte ich wirklich mein Leben auslöschen und in jenen dunklen Abgrund gleiten, der meine sündhafte Seele im Jenseits erwartete? Sicher gab es noch einen anderen Ausweg, einen Ausweg, der mich zwar nicht davon abhalten würde, weitere Menschen zu töten, der aber Lisa schützen würde, ohne daß ich sie vor jeder Vollmondnacht wegschicken mußte. Ich würde mir ein Zimmer mieten, irgendwo im trüben East End, wo ich mich verstecken konnte, wenn ich mich in einen Werwolf verwandelte. Ein schäbiges, schmutziges Loch, das gerade die richtige Umgebung für mein verunstaltetes Ich wäre, wo ich in dunkler Anonymität versinken könnte… Unsinn, sagte ich mir und verwarf den Gedanken wieder. Ich hatte ja noch meine Mariphasa, deren Knospe zu blühen begann. Die Mariphasa würde mich retten. Doch aus dieser Vorstellung schöpfte ich nur kurzlebigen Trost. So viele Blumen müßten in den kommenden Jahren blühen, erweckt von dem falschen Mondlicht, das die surrende Maschine erzeugte. Und wie konnte ich wissen, ob es mir gelingen würde, die empfindlichen Blüten am Leben zu erhalten? Ich würde in ständiger Gefahr schweben. Blattläuse oder Mehltau konnten die Mariphasa befallen, andere schädliche Einflüsse konnten ihre Blüten vernichten. 136
Wut stieg in mir auf, als ich mich an den Diebstahl des unverschämten Yogami erinnerte. Die Mariphasa, die er mir entwendet hatte, mußte längst dahingewelkt sein. Zweifellos würde er mich bald wieder besuchen. Das war vielleicht die Lösung meines Problems die Antwort auf die Frage, ob ich weiterleben oder sterben sollte. Ich würde die Entscheidung Yogami überlassen. Wenn er hierherkam, um meine Mariphasa zu stehlen, würde ich ihm meinen bloßen Hals darbieten, um erwürgt zu werden, wenn er in normaler Menschengestalt auf tauchte -oder zerfleischt zu werden, wenn er die Gestalt eines Werwolfes angenommen hatte. Die gerechte Strafe würde mich ereilen – aber der Gedanke, daß ich erleiden sollte, was ich anderen angetan hatte, jagte mir einen kalten Schauer über den Rücken. Es wäre vielleicht doch besser, ein Zimmer zu mieten, überlegte ich. Zumindest wäre das eine vorläufige Lösung, und Lisa wäre in den nächsten Vollmondnächten sicher vor mir. Ihr Bild tauchte vor meinem geistigen Auge auf. Verwundert sah sie mich an. Wohin gehst du, Liebling? Warum kann ich nicht mit dir kommen?’ Zweifellos würde sie glauben, daß ich mich in irgendein ländliches Luxushotel zurückzog, und nichtverstehen, warum ich sie nicht an diesen Freuden teilhaben ließ. 137
Aber wie sonst sollte ich sie vor mir schützen und – was für ein böser, unwillkommener Gedanke – mich vor ihr? Ein anderes Bild erschien vor meinem inneren Auge – Lisas Gesicht, kurz vor meinem tödlichen Angriff. Das Bedürfnis der Werwölfe, die Menschen zu ermorden, die sie am innigsten liebten, zeigte mir einen Ausweg. Lisa töten – mich für immer von ihr befreien… Ich versuchte diese schrecklichen Gedanken beiseitezuschieben. Denn was für einen Sinn hätte mein Leben ohne Lisa, die ich doch mehr liebte als mein Leben – vor allem mehr als das Leben, das ich jetzt führte? Lieber wollte ich sterben als ihr etwas zuleide tun. Natürlich, so siehst du es jetzt, flüsterte eine böse Stimme tief in meinem Inneren. Aber denk doch an die nächste Vollmondnacht! Dann wirst du ganz anders empfinden. Und deshalb muß ich vor Lisa fliehen, erklärte ich der bösen Stimme, um sie zu schützen. Ihre weibliche Neugier wird dich verrückt machen, antwortete die Stimme mit einem boshaften Kichern. Sie wird dir zu dem Mietshaus folgen, den Schleier deiner Anonymität zerreißen, Erklärungen verlangen, dich mit Fragen bestürmen. Sie wird dir immer noch Fragen stellen, wenn der nächste Vollmond aufgeht, und dann wirst du dich vor ihren Augen verwandeln. 138
Sei still, befahl ich meiner inneren Stimme. Wenn ich dir recht gäbe, würde das bedeuten, daß ich nie mehr lieben könnte. Was für ein gräßliches Schicksal… Niemals mehr zu lieben, nie mehr geliebt werden… Niemals mehr die Wonne geteilter Freuden,den Trost geteilter Leiden fühlen… Ich würde alle Emotionen unterdrücken müssen, durfte keine Empfindungen in anderen Herzen wecken, würde dahinvegetieren in qualvoller Einsamkeit. Die Stimme in meinem Inneren sagte nichts mehr, aber in den Tiefen meines Bewußtseins hörte ich immer noch das Echo ihres höhnischen Kicherns. Ich beschloß, mein Vorhaben zu verwirklichen. Ich mußte Lisa schützen. Wen immer ich auch im Licht des nächsten Vollmonds angreifen würde, es würde ein Fremder sein. Ich verließ mein Haus und fuhr nach Whitechapel, wo ich in einem Secondhand-Shop einen schäbigen, verbeulten Hut kaufte. Welchen Kopf hatte er einst bedeckt? Welche Gedanken hatten diesen Kopf erfüllt, welche Hoffnungen und Wünsche, welche Resignationen? Außerdem kaufte ich einen geflickten Pullover und schlechtsitzende Hosen, ein Paar braune Schuhe mit Löchern, ein graues Hemd und eine grünspiegelnde Krawatte, die früher einmal schwarz gewesen war.
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In einer öffentlichen Toilette zog ich die Sachen an, packte meine eigenen Kleider in einen Koffer, den ich im Gepäckraum meines Wagens verstaute, und dann ging ich auf Zimmersuche. 21. Die „Drei Spatzen“ waren ein schäbiges Pub, erfüllt vom Gestank billigen Tabaks und heiserem Gelächter. Der Wirt war ein großer, bulliger Bursche und offensichtlich der beste Gast in seinem eigenen Lokal, denn seine Nase war so rot wie seine Augen und seine Augen leuchteten feuerrot. „Sie suchen ein Quartier, Sir?“ „Ja, ganz recht“, sagte ich mit der blechernen Stimme, die ich mir für diese besondere Gelegenheit zugelegt hatte. „Dann sind Sie bei mir genau richtig“, erwiderte er und zeigte mit dem Daumen auf eine Tür im Hintergrund der Gaststube. „Dort drin sitzen Mrs. Wack und Mrs. Moncaster, die beiden vermieten Zimmer. Sie können sich eine der beiden Damen aussuchen – oder zuschauen, wie sie sich um den neuen Mieter prügeln.“ Er kicherte, und seine kleinen Augen verengten sich zu Schlitzen. Ein seltsames Licht flackerte in diesen Augen, das mir Unbehagen bereitete, ein feindseliges Licht, das mich beunruhigte. 140
Die beiden Frauen aßen Kutteln mit Zwiebeln. Die eine trug einen schwarzen Hut, der schief auf ihrem rotgefärbten Haar saß, die andere war kahl wie ein Geier und hatte ein zerfurchtes Gesicht. Ihre Nase war grotesk verformt. Der eine Nasenflügel preßte sich gegen die Wange, der andere war zu einem breiten, schwarzen Tunnel geöffnet, der irgendwie obszön wirkte. „Mrs. Moncaster?“ fragte ich, als ich zögernd den Nebenraum betrat. „Das bin ich“, sagte die Geierfrau und kaute schmatzend an ihren Kutteln. „Ich suche ein Zimmer.“ „Ich vermiete auch“, erklärte Mrs. Wack. „Dreißig Schilling die Woche, für das schönste Zimmer, das Sie je gesehen haben.“ „Hören Sie nicht auf sie, sie ist eine gemeine alte Diebin!“ schrie ihre Tischgenossin. „Das Zimmer ist feucht und nicht mehr wert als sechs Pennies. Kommen Sie zu mir, da sind Sie bestens untergebracht. Fünfundzwanzig Schilling die Woche, inklusive Frühstück.“ „Frühstück?“ rief Mrs. Wack mit schriller Stimme. „Ein Klecks giftiger Anchovispastete auf einem verschimmelten Biskuit, dazu eine Tasse Spülwasser – das würde Ihnen Mrs. Moncaster zum Frühstück servieren.“ 141
Wütend griff Mrs. Moncaster nach ihrer Segeltuchtasche und warf sie ihrer Freundin auf den Kopf. Mrs. Wack verlor das Gleichgewicht und fiel vom Stuhl. Grinsend blieb sie inmitten der Sägespäne sitzen und kaute an den Kutteln, die sie immer noch im Mund hatte. „Jetzt haben Sie ja wohl gesehen, was für eine Frau das ist. Kommen Sie zu mir, mein Junge, bei mir werden Sie es hübsch gemütlich haben.“ Ich betrachtete sie voller Abscheu. Der Gedanke, mit dieser Kreatur unter einem Dach zu hausen, entsetzte mich. „Ich – glaube“, stammelte ich, „ich glaube…“ „Jetzt haben Sie ihn völlig verwirrt, Mrs. Moncaster“, schimpfte Mrs. Wack. „Kommen Sie nur, mein Lieber, schauen Sie sich Ihr neues Zimmer an.“ „Glaubst du, er will in diesem alten Puff wohnen?“ kreischte Mrs. Moncaster. „Ich finde, er sieht sehr respektabel aus.“ Sie wandte sich lächelnd an mich. „In ihrem Haus wohnen lauter Huren, mein Lieber. Das zwinkert und kichert und schmatzt… Und schaufelt sich ein frühes Grab. Dort werden Sie doch nicht wohnen wollen, zusammen mit Betrunkenen, die in alle Ecken pinkeln, mit Mädchen, die den Abschaum der Menschheit mit aufs Zimmer nehmen…“ 142
Nun schlug Mrs. Wack zurück. Mrs. Moncaster fiel vom Stuhl, landete auf dem Rücken, und ihre schmutzige Unterwäsche kam zum Vorschein. Oh, das Elend der Armut, dachte ich schaudernd. Mrs. Wack schlang den letzten Bissen ihrer Kutteln hinunter und stieg über die verkrümmte Gestalt ihrer Freundin. Mrs. Moncaster rappelte sich mühsam auf und griff nach meinem Arm. „Kommen Sie, mein Lieber, wir gehen jetzt nach Hause. Sie werden sich sehr wohl bei mir fühlen.“ Aber da zerrte mich Mrs. Wack schon zur Tür. Der Wirt grinste, als wir durch die Gaststube gingen, und schallendes Gelächter folgte uns bis zur Tür. Bei Gott, dachte ich, wie gern würde ich wiederkommen, in neuer Verkleidung, in der furchterregenden Gestalt, die ich bald annehmen würde. Noch bevor der Monat zu Ende ginge, werde ich hier eine grausige Mahlzeit halten, dachte ich und unterdrückte ein Kichern. Dichter Nebel erfüllte die schmale Straße, und das Licht der Lampen bahnte sich mühsam einen Weg durch die grauen Schwaden. „Es ist nicht weit, mein Lieber“, sagte Mrs. Wack, die immer noch meinen Arm umklammerte. „Vergessen Sie, was Mrs. Moncaster Ihnen erzählt hat. Ich führe wirklich ein gutbürgerliches Haus, bei mir wohnen kei143
ne leichten Mädchen. Die treiben sich ja vor allem im Hafen herum.“ Sie lachte schrill auf. „Waren Sie schon mal Matrose?“ „Nein.“ „Was machen Sie denn so?“ Was für eine neugierige alte Vettel… „Ich bin – ich bin…“ Was für ein Narr war ich doch! Warum hatte ich mir nicht vorher überlegt, was ich auf solche Fragen antworten wollte? „Sie laufen wohl vor den Bullen davon, was?“ meinte sie verständnisinnig. „Nun, bei mir brauchen Sie keine Angst zu haben. Da sucht Sie niemand, so lange Sie in meinem Haus keinen Unsinn treiben. Bei mir sind schon viele Jungs von Ihrer Sorte untergekrochen.“ „Gut“, erwiderte ich und fragte mich, was sie wohl sagen würde, wenn sie wüßte, daß ich viel schlimmere Verbrechen beging, als Schnapsleichen auszurauben. Würde sie auch einem mehrfachen Mörder Unterschlupf gewähren, einem Triebtäter, der im Licht des Vollmonds wehrlose Opfer zerfleischte? Wir blieben vor einem halbverfallenen Haus an der Ecke einer schmalen Gasse stehen. Nicht weit entfernt lispelte und gurgelte der Fluß. „Das ist mein Haus“, verkündete Mrs. Wack voller Stolz. „Das ist Ihr neues Zuhause, mein Lieber. Sie wer144
den sich sicher bald gut bei mir einleben.“ Sie klopfte an die Tür, die von einer verhutzelten alten Hexe geöffnet wurde. „Hallo, Nellie“, sagte Mrs. Wack, „da ist ein neuer Gast. Er wird in Nummer zwei wohnen, im ersten Stock.“ Sie drehte sich zu mir um. „Das ist ein sehr schönes Zimmer, und es hat eine gute Lage. Sie haben es nicht weit zur Haustür – falls Sie einmal schnell weg müssen.“ Nellie sah sie fragend an, und sie fügte erklärend hinzu: „Er hat was ausgefressen.“ Dann wandte sie sich wieder zu mir. „Nellie mag solche Burschen wie Sie. Von unseren kleinen Taschendieben bekommt sie immer hübsche Geschenke.“ „Ja, das stimmt.“ Nellie grinste mich zahnlos an, und wir folgten ihr ins Haus. Drinnen war es so feucht, wie ich es erwartet hatte. Dieses Loch glich eher einem Aquarium als einer menschlichen Behausung. Moos überwucherte die Wände, schimmerte schwärzlich im schwachen gelben Lampenlicht. Ein zerrissener Teppich bedeckte die schmalen Stufen, die nach oben führten. Und der Schmutz, der mir aus allen Ecken entgegenstarrte. Ja, Dieses Haus war genauso schmutzig wie meine Seele. „Nun, mein Lieber?“ Mrs. Wack und Nellie warteten vergeblich auf meinen Begeisterungsausbruch. Wortlos 145
stieg ich die Treppe hinauf. Mrs. Wack ging vor mir her. Der Schlüsselbund, der klirrend an ihrem Schürzenbund baumelte, hätte jedem Gefängniswärter Ehre gemacht. Vor einer zerkratzten Tür blieb sie stehen, wartete, bis ich sie eingeholt hatte, dann griff sie nach der Klinke und öffnete die Tür. Ich betrat das Zimmer und sah ein paar Haken, die im fleckigen Verputz steckten, eine trübselige Couch mit einer Decke, über die eine aufgescheuchte Küchenschabe lief. Das Tierchen ließ sich hastig auf den Boden fallen und verschwand dann in einer Ritze. Vor zerbrochenen Fensterscheiben hingen verschimmelte Gardinen. Aber ein Werwolf brauchte ja nicht viel Komfort. „Ich nehme das Zimmer“, sagte ich. „Die Miete muß immer für eine Woche im voraus bezahlt werden, mein Junge.“ Mrs. Wack hielt mir die Hand hin, und ich gab ihr ein paar Münzen. „Danke, mein Lieber.“ Sie lächelte mich an und entblößte ihre Zahnlücken. „Dahinten ist die Toilette.“ Ich sagte nichts und wartete, bis ihre Schritte auf der Treppe verklungen waren. Dann folgte ich ihr. Eine Tür flog auf, und ich sah einen Matrosen auf der Schwelle stehen. Er rang mit einer jungen Frau und versuchte offenbar, sich das Geld zurückzuholen, das er ihr gegeben hatte. 146
„Gib her, du Diebin!“ „Fällt mir nicht ein… He, Mister, helfen Sie mir!“ schrie sie, als sie mich sah. „Er hat gekriegt, was er wollte, und nun will er mir das Geld wieder wegnehmen!“ Der Seemann wandte sich zu mir um, ballte die Hände. Er war ein großer, kräftiger Kerl, und ich hatte nicht die Absicht, mich auf einen Kampf mit ihm einzulassen. Wütend schimpfte die Frau hinter mir her, als ich, so schnell wie die Küchenschabe in meinem Zimmer, zur Haustür hinabrannte. Auf der Straße blieb ich stehen, atmete tief die neblige Luft ein und lauschte dem klagenden Ton einer Sirene. Mit einem trüben Lächeln sagte ich mir, daß der Tod viel schöner sein müsse als ein Leben unter Mrs. Wacks Dach. Und es wäre sicher auch viel schöner, zu Hause zu sterben. 22. Noch nie hatte ich die Schönheit und den Komfort meines Heims so genossen wie nach diesem beschämenden Intermezzo. Auch wenn ich nur einen Nachmittag und einen Abend im Schmutz von Wapping verbracht hatte, hatte ich das Gefühl, mein Haus nach einer langen Irrfahrt wiederzusehen. Es erschien mir wie ein strahlendes
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Paradies, und Lisa war die Göttin, die inmitten all dieser Schönheit residierte. Ich sah sie an, über die glänzende Mahagoniplatte des Eßtisches hinweg, prostete ihr zu. Auch sie hob ihr Glas und lächelte mich liebevoll an. Nach dem Dinner saß ich neben ihr auf dem Sofa, legte meinen Arm um sie, überschüttete sie mit zärtlichen Küssen, bevor ich meinem drängenden Bedürfnis nachgab und ins Laboratorium ging, um zu sehen, ob die Knospe meiner Mariphasa aufgegangen war. Als ich den halbdunklen Raum betrat, sagte mir mein Instinkt, den die Wolfsucht vermutlich geschärft hatte, daß ich nicht allein war. Irgend jemand versteckte sich in den Schatten jenseits des bläulichen Scheins, den die Mondlampe verbreitete. Rasch drückte ich auf den Lichtschalter. Grelles Licht durchflutete den Raum, verdrängte den künstlichen Mondschein und fiel auf den Eindringling. Er war gerade dabei, die Mariphasa zu pflücken. Seine Hand streckte sich nach der Blume aus, seine Augen verengten sich, als er sich zu mir umwandte, sein Gesicht verriet das Erschrecken des auf frischer Tat Ertappten. „Guten Abend, Dr. Yogami“, sagte ich kühl. Ich mußte ganz ruhig bleiben und ihm den ersten Schritt überlassen. Ich mußte ihn in Sicherheit wiegen, ihn zu einem 148
unbedachten Angriff verleiten, und dann würde ich ihn um so empfindlicher treffen. Oh, wie ich es genießen würde, diesen Dieb zu töten, der die Schuld daran trug, daß so viele Menschen ihr Leben verloren hatten… „Guten Abend, Mr. Glendon“, sagte er langsam „Wünschen Sie etwas?“ fragte ich und trat einen Schritt auf ihn zu. „Ich möchte Menschenleben retten.“ Seine Stimme klang verzweifelt. „Nur die Mariphasa kann mich davor bewahren, ein blutrünstiges Ungeheuer zu werden.“ ‘ „Und deshalb haben Sie mich dazu verdammt, ein Ungeheuer zu werden“, sagte ich anklagend. „Ich mußte die Morde begehen, von deren Last Sie sich befreit haben.“ „Es tut mir leid, Glendon. Aber was für eine Alternative hatte ich schon, nachdem Sie sich geweigert hatten, die Mariphasa mit mir zu teilen?“ Angstschweiß glänzte auf seiner Stirn. „Wenn Sie mir wenigstens erlaubt hätten, meinen Arm mit den Blüten einzureiben, wären wir beide gerettet worden – und auch Ihre Opfer.“ Wut stieg in mir auf, wie ein heftiger Sturm. Es war unerträglich, daß er mir nun die Schuld an seinem Diebstahl in die Schuhe schob. Ich stürzte mich auf ihn, hieb ihm die eine Faust an die Schläfe und die andere in den Magen. Als er sich zusammenkrümmte, schlug ich 149
ihm mit der Handkante auf den Nacken. Aber diesen Angriff hatte er erwartet, obwohl der Schmerz sein Gehirn umnebelte, und er wich mir aus, landete einen bösartigen Hieb in meiner Leistengegend. Zitternd standen wir voreinander, fast blind von den Schmerzen, die wir einander zugefügt hatten. Langsam, wie im Zeitlupentempo, richteten wir uns auf, das Atmen fiel uns immer noch schwer, und wir starrten einander an in tierischer Wut, erfüllt von der Mordlust, die wir sonst nur in Wolfsgestalt verspürten. „Sie wollen mich also töten“, zischte Yogami. „Ich will keinen anderen mehr töten. Die Mariphasa gehört mir.“ „Teilen Sie die Blume mit mir, Glendon!“ flehte Yogami und fiel auf die Knie. „Ich bitte Sie – verdammen Sie mich nicht zum Schreckensdasein eines Mörders!“ „Es ist nur noch eine einzige Blüte übrig – und die wollten Sie mir stehlen.“ „Ich schwöre Ihnen, ich werde sie nie mehr zu stehlen versuchen“, sagte er verzweifelt, „wenn Sie mir versprechen, sie mit mir zu teilen. Wenn wir zusammen arbeiten anstatt gegen einander, werden wir weitere Blumen finden. Wir könnten zusammen nach Tibet reisen und uns genug Mariphasa-Blüten holen, so daß wir friedlich leben können, bis zum Ende unserer Tage.“ 150
Ich dachte an das öde Litze-Tal, an den Felsenrand, über dem der Wolfskopf meines Angreifers erschienen war, und schauderte. „Ich habe schon daran gedacht, noch einmal in diese Wildnis zu gehen, um mir neue Mariphasa-Blüten zu holen. Aber ich kann es nicht. Ich würde nie mehr hierher zurückkehren können.“ „Es ist unsere einzige Hoffnung“, sagte Yogami. „Schließen wir Freundschaft, Glendon. Wir wollen versuchen, uns gegenseitig das Leben zu retten.“ „Ihr Leben braucht nicht gerettet zu werden!“ schrie ich. „Sie haben nicht getötet, Yogami! Ich bin dazu verdammt, durch Ihre Schuld. Ich werde den Menschen töten, der mir der liebste auf Erden ist, meine Frau…“ „Und ich? Wen werde ich töten?“ flüsterte Yogami. „Wen liebe ich am meisten – jetzt, in diesem Augenblick?“ Er erhob sich, kam auf mich zu, mit geballten Händen. „Auch ich habe getötet, Glendon, glauben Sie mir. Ich habe meine Frau getötet und…“ Seine Stimme wurde so leise, daß ich ihn kaum mehr verstand. „Und ich habe meine Tochter getötet. Ich habe meinen Bruder getötet, der mir sehr nahe stand. O ja, ich habe getötet. Mr. Glendon. Sie sind nicht allein dem bösen Einfluß des Vollmondes ausgesetzt. Deshalb bin ich, ein ehrenwerter Mann, zum Dieb geworden, und ich entschuldige 151
mich dafür. Und ich würde wieder zum Dieb werdenich würde alles tun, um zu verhindern, daß ich mich wieder in einen Werwolf verwandle.“ „Haben Sie es denn nicht genossen, ein Werwolf zu sein?“ hörte ich mich mit einer Stimme fragen, die mir seltsam fremd in den Ohren klang. „Hatten Sie keine Freude am Töten? Hat Ihnen das Blut nicht geschmeckt?“ Yogami wich entsetzt vor mir zurück. „Sie – Sie stehen hier vor mir – in menschlicher Gestalt – und Sie deuten an, daß Ihnen das Töten Lust bereitet hat?“ „Ich hasse es – ich verabscheue es. Und doch, gleichzeitig werde ich von einem seltsamen Entzücken erfaßt.“ Meine Stimme klang entrückt, die Stimme eines Menschen, der nicht von dieser Welt war, aber auch dem Jenseits nicht angehörte… Es war auch nicht die Stimme eines Toten, der mit den Lippen eines Mediums sprach. Es waren merkwürdig heisere Laute, die anders klangen als alles, was ich jemals aus menschlichem Mund gehört hatte. „Ein Entrücken? Ich erinnere mich an das Gefühl, das ich empfand, als ich vor der Leiche meines Kindes stand, vor diesem schönen kleinen Körper mit der zerfleischten Kehle. Ich erinnere mich an den Augenblick, 152
als ich auf meine Frau und meinen Bruder hinabblickte, dessen Kopf ich mit meinen Fängen beinahe abgerissen hatte. Wenn ich mir die Kehle selbst durchbeißen hätte können, ich hätte es getan. Entzücken, Mr. Glendon? Nein, als Mensch habe ich es nie empfunden. Als Werwolf – ich weiß es nicht.“ „Dann ist mein Erinnerungsvermögen besser als Ihres, Yogami“, sagte ich. „Wie dem auch immer sei, ich habe Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Ich werde meine Frau in allen Vollmondnächten schützen, indem ich mich von ihr trenne. Und ich rate Ihnen, ähnliche Vorkehrungen zu treffen.“ „Ich verstehe.“ In seinen Augen lag immer noch Entsetzen. „Sie lassen sich irgendwo einsperren, und eine vertrauenswürdige Person hat den Schlüssel – und den Auftrag, sie erst aus Ihrem Gefängnis zu befreien, wenn der Vollmond erloschen ist?“ „Nein, auf diese Idee bin ich noch gar nicht gekommen“, gestand ich. „Welche Vorkehrungen treffen Sie dann?“ fragte er verwirrt. „Ich halte mich von meiner Frau fern, aber ich habe noch nicht daran gedacht, mich einsperren zu lassen.“ „Ich habe es getan. Vor langer Zeit, nachdem ich das erstemal getötet hatte.“ Sein Blick war ins Leere gerich153
tet. „Ich empfand Ekel vor mir selbst. Ich wollte sterben. Aber ich liebte mein Kind und meine Frau, die zu jener Zeit noch am Leben waren, und ich wollte leben -für sie. Deshalb ließ ich mich in der nächsten Vollmondnacht in eine Zelle sperren, in einem leerstehenden tibetanischen Kloster. Einem guten Freund vertraute ich die Schlüssel an und tobte und heulte die ganze Nacht. Am nächsten Morgen rief ich nach meinem Freund. Ich sagte ihm, nun würde ich nichts mehr anrichten, und er könne mich beruhigt freilassen. Aber er antwortete nicht. Ich rief und schrie und flehte, aber die einzige Antwort war das Schluchzen des Windes. Und während die Zeit verstrich, wuchs in mir die Überzeugung, daß dies meine Strafe sei. Ich glaubte, ich sei nun dazu verdammt, den Rest meines Lebens in dieser kleinen Zelle zu verbringen, zu verhungern, zu erfrieren. Ich betete um die Kraft des Werwolfs und kratzte an den Wänden bis meine Fingernägel abgebrochen waren und meine Finger bluteten. Aber ich war immer noch gefangen. Viele Tage und Nächte verstrichen. Ich lag frierend auf dem Boden, zu schwach, um mich zu bewegen. Eines Nachts sah ich auf, sah durch die Gitterstäbe meines kleinen Fensters den Mond in seinem Zenit stehen. Zur gleichen Zeit hörte ich, wie sich draußen etwas bewegte. Ich schrie, hoffte, daß meine dünne, schwache Stimme 154
zu hören war. Die Schritte kamen auf mich zu, und dann erkannte ich, daß es ein Tier war, denn es begann zu schnaufen und zu knurren.“ Er schüttelte den Kopf, während die bösen Erinnerungen in ihm lebendig wurden. ,Angst stieg in mir auf, und ich betete, daß die Tür zwischen mir und jenem Wesen fest bleiben möge, daß die Wände keinem Druck von außen nachgeben sollten. Ich hörte noch ein Schnaufen, dann ein Scharren und Kratzen. Ein Schatten erschien über mir, hinter dem Gitter, und das Scharren wurde lauter und heftiger. Was immer das auch für ein Tier war, es hielt etwas in den Fängen, etwas, das zwischen Stoffetzen herabbaumelte. Es war ein menschlicher Arm. Dr. Glendon, der Arm meines Freundes und Wächters.“ „Und was war das für ein Tier?“ flüsterte ich. Er schien meine Frage nicht zu hören. „Der Schatten bewegte sich, und ich konnte die Umrisse eines Kopfes erkennen, eines länglichen Kopfes mit borstigen Haaren, die im Mondlicht strahlenförmige Schatten warfen. Das Tier hob den Kopf und knurrte zufrieden, dann stieß es ein Geheul aus, wie ich es nur wenige Male zuvor gehört hatte.“ „Wo, Yogami?“ fragte ich, gleichzeitig angewidert und fasziniert. 155
„Es war aus meiner eigenen Kehle gekommen.“ Yogami rang keuchend nach Luft. „Das Wesen da draußen war ein riesengroßer Werwolf. Ich glaube, daß mein Freund in jener Vollmondnacht zu mir hereingesehen hatte und vor Angst gestorben war. Und dann hatte der Werwolf die Leiche gefunden. Genau weiß ich das nicht. Er heulte wieder, warf sich gegen die Zellentür. Ich verkroch mich in einer Ecke, winselte vor Angst und hörte, wie das Schloß brach. Langsam schwang die Tür nach innen auf, ich versuchte ein Schatten zu werden, ein Wesen ohne Substanz, aber die Bestie, die hinter der Tür gestanden hatte, war verschwunden. Ich brauchte mich nicht mehr zu verstecken.“ Plötzlich sah er mir in die Augen. „Nach mehreren Minuten kroch ich aus der Zelle, sah hinab auf die zermalmte Gestalt, die vor der Tür lag. Ich habe Ihnen diese Geschichte erzählt, um Ihnen ein wenig Trost zu spenden, Mr. Glendon.“ „Ich verstehe“, sagte ich, aber ich war eher entsetzt als getröstet. „Ich war halbverhungert, und es gab nichts zu essen – nichts außer der entstellten Leiche zu meinen Füßen. Sie verstehen, Mr. Glendon?“ Er lächelte. Es war ein geisterhaftes Lächeln. Ich nickte. 156
„Ich verstehe Sie.“ Nach einer kleinen Pause fügte ich hinzu: „Und trotz dieses Erlebnisses würden Sie noch einmal ins Litze-Tal gehen?“ „Wenn mich diese Reise retten würde – ja, dann würde ich es tun“, erwiderte er ohne Zögern. „Dann werde ich Sie begleiten und in der Zwischenzeit die Mariphasa mit Ihnen teilen.“ Er griff nach meiner Hand, und wir sahen uns lächelnd in die Augen. In jenem Augenblick glaubten wir, daß wir noch hoffen durften. 23. Drei Tage vor der nächsten Vollmondnacht ging ich ins Laboratorium und sah, daß die Mariphasa starb. Hastings blickte mich an im schwachen Licht, mit tiefbetrübter Miene. „Ich bin selbst eben erst gekommen, Sir, und habe sie so vorgefunden“, erzählte er mir im Tonfall eines Trauernden, der einen lieben Freund zu Grabe trägt. Ich sagte nichts, denn es gab nichts zu sagen. Die Mariphasa war dahingewelkt, neigte in verzweifelter Resignation die Blätter. Ich versuchte meiner Erregung Herr zu werden, nicht in Panik zu geraten, vernünftig zu überlegen. Vielleicht mußte man die Mondlampe neu einstellen, dachte ich, und inspizierte das Gerät. Es funktio157
nierte ausgezeichnet, aber ich verstärkte das Licht, ließ die Maschinerie lauter surren. Doch die Blume zeigte keine Reaktion. Sie begann sich zu entblättern, die Blütenblätter segelten traurig zu Boden. Ich drehte verzweifelt an den Knöpfen des Gerätes, doch immer neue Blätter fielen hinab. Meine ganze Hoffnung war vernichtet. „Sie können gehen, Hastings“, sagte ich. „Vorläufig werde ich Sie nicht brauchen.“ „Ja, Sir. Es tut mir sehr leid.“ „Ich danke Ihnen.“ Ich sah ihm zu, wie er seine Sachen zusammensuchte, dann schloß ich die Tür hinter ihm. Ich mußte so schnell wie möglich nach Tibet reisen. Ich würde mit Yogami sprechen. Wir mußten schleunigst abreisen, sofort nach der nächsten Vollmondnacht. Ich schauderte bei dem Gedanken an ein Schiff, das über das nächtliche Meer fuhr, mit zwei Werwölfen an Bord. Die erwartungsvolle Freude, die mich noch vor kurzem beherrscht hatte, war verflogen. Die Mariphasa hatte mir Hoffnung gegeben, moralische Unterstützung. Ohne die Mariphasa fühlte ich mich verloren. „Wohin fährst du, Liebling?“ fragte Lisa. Sie stand in der Tür unseres Schlafzimmers. Sie hatte mich dabei ertappt, wie ich meinen Koffer hervorholte, der immer noch meine East-End-Kleider enthielt. 158
„Nach Manchester. Ich treffe mich mit Professor Gibbings von der Königlichen Botanischen Gesellschaft. Ich habe vergessen, es dir zu sagen. In ein paar Tagen werde ich wieder zu Hause sein, gerade rechtzeitig, um dich vor dem Wochenende wegzubringen.“ „Wohin?“ fragte sie mit einer aufgeregten Klein – Mädchen-Stimme. „Ich dachte, wir könnten nach Le Touquet fliegen und ein bißchen spielen.“ Ich sagte das, weil ich wußte, wie sehr sie diesen Ort liebte. „O Wilfrid, das wäre himmlisch!“ Außer dem Reiten war das Roulette ihr liebster Zeitvertreib, aber das Schicksal vergönnte ihr nur selten einen größeren Gewinn. „Laß mich deinen Koffer packen“, sagte sie, ging zum Schrank und nahm mein Dinnerjackett heraus. „Gut, Liebling. Aber der Koffer ist viel zu klein.“ Ich räumte ihn weg, während sie einen größeren für mich packte und lauter Sachen hineinstopfte, die ich in meinem schäbigen Logis bestimmt nicht brauchen würde. Ich grinste bei dem Gedanken, was Mrs. Wack wohl sagen würde, wenn sie mich im Dinnerjackett sähe. Lisa schloß den Koffer, küßte mich zärtlich und sagte mir, wie sehr sie sich auf unser Wochenende freue.
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„Ein Wochenende ist nicht sehr lang“, erwiderte ich. „Vielleicht können wir die ganze Woche bleiben“, fügte ich hinzu. „Hältst du es denn so lange ohne dein Laboratorium aus?“ neckte sie mich. Ich wandte mich ab, damit sie mein Gesicht nicht sehen konnte. Ihre Worte erinnerten mich an die Sorgen, die ich mit mir herumschleppte, seit ich die sterbende Mariphasa entdeckt hatte. „Natürlich, Liebling“, sagte ich. Sie küßte mich wieder, dann trat sie beiseite, um mich mit meinem Koffer vorbeizulassen, sah sich ein letztesmal im Zimmer um, um sich zu vergewissern, daß ich auch nichts vergessen hatte. „Würdest du mir den Wagen aus der Garage holen, Liebling?“ bat ich. „Ich muß noch rasch telefonieren.“ „Natürlich, Liebster“, sagte sie und ging hinaus. Ich wartete, bis ich vom Fenster aus sah, daß sie das Garagentor öffnete, dann lief ich mit den beiden Koffern nach unten und versteckte den kleineren in einem Schrank in der Halle, hinter einigen Mänteln. Danach ging ich in mein Arbeitszimmer und hob den Telefonhörer ab. Als Lisa ins Haus zurückkam, sagte ich „Auf Wiedersehen“ und legte auf.
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„So, mein Liebling.“ Ich breitete die Arme aus, und sie schmiegte sich an mich. „Verdammt, ich habe meine Brieftasche oben liegen lassen. Sei ein Engel und hol sie mir, während ich das Gepäck in den Wagen bringe.“ Lisa küßte mich und rannte nach oben. Hastig riß ich den kleinen Koffer aus dem Schrank, warf ihn in den Fond des Wagens, breitete eine Reisedecke darüber und stellte den größeren Koffer darauf. „Danke, mein Liebes“, sagte ich, als Lisa mir die Brieftasche brachte. Ich küßte sie ein letztesmal, dann stieg ich in den Wagen und fuhr davon. Ich hätte mein Haus erst am nächsten Tag verlassen müssen. Doch ich war in Panik geraten. Ich wußte, daß ich es in Mrs. Wacks Loch keinen Augenblick länger aushalten würde als unbedingt nötig, und so beschloß ich, eine Nacht in einem Hotel zu verbringen, in einem Hotel, in dem ich aller Wahrscheinlichkeit nach keine Bekannten treffen würde. Das Simmons erschien mir geeignet, und so nahm ich mir ein Zimmer und saß bald darauf im Speisesaal, kam mir wie ein Ehebrecher vor und hatte Angst, daß doch jemand hereinkommen könnte, den ich kannte. Ich glaubte schon Lisas wütende Stimme zu hören. ,Ich dachte, du wärst in Manchester gewesen. Und dabei hat man dich im Simmons gesehen.’ 161
Ich vertrieb mir die Zeit, in dem ich mir alle möglichen Ausreden zurechtlegte. Am Tag vor der Vollmondnacht stellte ich mein Auto in einer Garage ab. In einer öffentlichen Toilette zog ich meine schäbigen Kleider an und stand am frühen Abend vor Mrs. Wacks Tür. Nellie ließ mich eintreten. Sie grinste mich an, und ihr verhutzeltes altes Gesicht wurde noch faltiger. Ich stieg die Treppe hinauf und ging in mein Zimmer. Als ich mich auf das knarrende, wacklige Bett setzte, kam mir ein Gedanke, der mich sekundenlang mit lähmender Angst erfüllte. Ich hatte Dr. Yogami vergessen. In diesem Augenblick würde er vor meinem Haus stehen. Wir hatten besprochen, daß wir uns in meinem Laboratorium treffen würden, um uns der Heilkraft meiner Mariphasa zu bedienen. Was würde er tun, wenn er weder mich noch die Blume vorfand? In einer Stunde würden die Haare auf seinen Händen zu wachsen beginnen, bald danach würden sich seine Gesichtszüge verzerren, dann wäre seine schreckliche Verwandlung beendet. Lisa… Ich mußte Lisa schützen. Aber wenn auch ich eine Gefahr für sie bedeutete? Yogami liebte sie nicht, deshalb war sie vielleicht sicher vor ihm. Aber konnte 162
ich mich darauf verlassen? Ich könnte sie anrufen – aber was sollte ich ihr sagen? Verlaß sofort das Haus und geh zu Tante Ettie? Welche Erklärung sollte ich ihr geben? Sollte ich die Polizei anrufen? Aber was sollte ich dem Beamten sagen? Doch dann überlegte ich, daß jetzt nicht die Zeit war, um über Ausreden nachzudenken, ich mußte die nächstbeste Idee aufgreifen, die mir in den Sinn kam. Ich könnte ihr von einem Alptraum erzählen, den ich gehabt hätte. Das würde ihre romantische Ader berühren. Sie würde nicht ahnen, wie realistisch der Alptraum war, den ich seit Wochen erlebte. Ich rannte die Treppe hinab, und als meine Hand über das alte, abgegriffene Geländer strich, spürte ich, daß die Haut meiner Handfläche nicht mehr glatt war. Das Geländer fühlte sich an, als sei es gepolstert. Ich rannte hinaus auf die Straße, hielt nach einer Telefonzelle Ausschau. Ich raste die Straße hinab, doch an keiner Ecke fand ich eine Zelle, keine Lampe warf ihr Licht auf eines der roten Häuschen, das ich so verzweifelt suchte. Ich spürte, wie sich meine Gefühle zu verändern begannen, auch meine Angst um Lisa. Ich versuchte, dieser Veränderung Einhalt zu gebieten, das Verlangen nach Lisas frischem, warmem Blut zu unterdrücken.
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Endlich sah ich eine Telefonzelle. Ich taumelte hinein, wählte keuchend „Bei Mr. Glendon“, meldete sich eine würdevolle Stimme, die gut zu einem Erzherzog gepaßt hätte – die Stimme unseres Butlers Spragg. „Hier ist Mr. Glendon“, sagte ich. „Ich möchte mit meiner Frau sprechen -sofort.“ „Guten Abend, Sir. Ja, natürlich, einen Augenblick, bitte.“ Ich spürte, wie mein Haaransatz prickelte, spürte, wie meine Zähne wuchsen. „Liebling, wo bist du denn?“ fragte Lisa. „In einer Telefonzelle“, antwortete ich. „Lisa…“ „Deine Stimme klingt so klar und deutlich“, sagte sie mißtrauisch. „Du bist nicht weit weg, Wilfrid, ganz sicher nicht in Manchester…“ „Die Verbindung ist heute abend eben sehr gut“, unterbrach ich sie. „Lisa, ich kann es dir nicht genau erklären, aber ich habe eine böse Vorahnung. Ich bitte dich, alle Türen und Fenster zu verriegeln. Und sag Spragg, er soll die ganze Nacht in deiner Nähe bleiben.“ „Warum?“ „Das kann ich dir jetzt nicht erklären. Und wenn Dr. Yogami versucht ins Haus zu gelangen…“ „Seltsam, daß du das sagst… Er ist schon hier. Wilfried, er war mir von Anfang an unsympathisch…“ Ihre 164
Stimme senkte sich zu einem Flüstern, so daß ich sie kaum mehr verstehen konnte. „Aber heute abend erscheint er mir noch merkwürdiger als sonst. Er geriet fast in Panik, als ich ihm sagte, daß du verreist seist. Hast du vergessen, daß du mit ihm verabredet warst?“ „Ja“, antwortete ich mit belegter Stimme. „Du mußt ihn sofort loswerden, und sag Spragg, er soll die Polizei anrufen.“ „Aber…“ „Widersprich mir nicht!“ knurrte ich und versuchte den unwillkommenen Eindringling abzuwehren, der in meinen Körper kroch und meine Lippen verzerrte. „Wie du meinst.“ Ihre Stimme klang gekränkt. „Lisa, Liebling – ich liebe dich!“ schrie ich und hoffte, daß die Worte so aufrichtig klangen, wie sie gemeint waren, daß sie verzerrt klangen, verzerrt von dem wilden Gefühl, das in mir aufstieg, von dem Wunsch, daß nicht Yogami sie töten möge – weil ich sie selbst töten wollte. „Ich liebe dich auch“, sagte sie leise. „Dann halt mich um Gottes willen nicht für verrückt, weil ich diese schlimmen Ahnungen habe. Sieh zu, daß du Yogami loswirst, und verständige die Polizei.“ „Gut, Liebling.“ Sie lachte. „Ich werde Colonel Forsythe anrufen.“ 165
Ich wollte sie anflehen, das nicht zu tun, wollte ihr sagen, daß er ein viel zu phantasieloser Dummkopf sei, um ihr helfen zu können. Aber dann überlegte ich, daß er sicher gern den galanten Helden spielen und Lisa aufsuchen würde, auch wenn er die Gefahr, in der sie schwebte, als Hirngespinst abtat. „Gut“, sagte ich ohne echte Begeisterung und hängte ein. Ich stieß die Tür der Telefonzelle auf und trat langsam auf die Straße hinaus. Die Mordlust schwoll immer stärker in mir an. Ich wußte, daß sie mich bald überwältigen würde, wenn der Mond in seinem Zenit stand. Eine Stimme begrüßte mich. „Also, wenn das nicht Mrs. Wacks neuer Mieter ist! Sie haben mich im Stich gelassen. Die alte Mutter Moncaster haben Sie einfach auf dem Boden liegen lassen.“ Im Schein der Straßenlaterne sah ich das häßliche Gesicht, die verdrehten Nasenflügel, und ein Knurren stieg in meiner Kehle auf. „Was ist denn los mit Ihnen?“ rief Mrs. Moncasters schrille Stimme, und plötzlich stand Angst in ihren Augen. Ich wollte ihr Blut nicht – auch nicht ihren Körper. Sie war zu abstoßend. Ich fletschte die Zähne, erklärte ihr, daß alles in Ordnung sei, und als ich davonrannte, war hinter mir entsetztes Schweigen. Ich erwartete, daß sie 166
jeden Augenblick zu schreien beginnen würde, aber kein Laut folgte mir, bis ich die nächste Straßenecke erreichte. Und als ich mich dann umdrehte, sah ich etwas Dunkles auf dem Gehsteig liegen. Die alte Hexe war in Ohnmacht gefallen. Ich verlangsamte meine Schritte und verbarg mich in den Schatten. Ich wußte, daß meine Zähne sich zu Fängen verlängert hatten, daß mein Gesicht lang und spitz geworden war. Vor mir, nur wenige Schritte entfernt, sah ich die hellen Fenster eines Pubs. Ein Mann kam aus der Tür und sang den Vollmond an, denselben Mond, der mich zum Mord verführte. Ein Heulen rang sich aus meiner Kehle, und als meine Ohren es hörten, schienen meine Augen die öde Landschaft Tibets zu sehen, den Werwolf, der sich auf mich stürzte, jenes schreckliche Wesen, das nun mein Bruder war. Die Stimmen in der Schankstube verstummten, nur der Mann, der mir den Rücken zuwandte, sang noch eine Weile weiter, dann drehte er sich zu mir um. „Willst du nicht mitsingen, Kamerad?“ Seine Augen verengten sich, als ich langsam auf ihn zukam. „Was, zum…“ Ich schnappte nach ihm, und er schrie auf. Die Tür des Pubs flog auf, mehrere Männer rannten heraus, blieben jedoch wie angewurzelt stehen, als sie mich sahen. 167
„Jesus Christus!“ rief einer der Männer. „Großer Gott, was ist denn das?“ „Das ist der Bursche, von dem so viel in der Zeitung stand!“ schrie ein anderer. „Der Wolfsmörder!“ Ich schlug die Hände vors Gesicht und rannte davon. Aber ich hörte, daß sie mir folgten. Ich flüchtete durch dunkle, leere Straßen, suchte einen Unterschlupf, hielt mich immer dicht an den Hauswänden, wie eine verschüchterte Nonne. Ich wich dem Mondlicht aus, so gut ich konnte. Das Tier in mir beherrschte mich völlig mit der Furcht, die es vor dem Menschen empfand, vor dem Jäger. Ich mußte dem Mob entfliehen, dessen Schreie hinter mir durch die dunklen Gassen hallten. Vielleicht war es Instinkt oder reines Glück, das mir half, meine Unterkunft wiederzuerkennen. Ich stieß die Tür auf, warf sie hinter mir zu, rannte die Treppe hinauf und gelangte in mein Zimmer, ohne gesehen zu werden. Geduckt kauerte ich am Fenster und zitterte vor innerer Anspannung. Die Schreie kamen immer näher. Ich hörte, wie Nellie die Tür öffnete und Fragen stellte, die nicht beantwortet wurden von der vorbeistürmenden Menge. Sie fluchte und meinte, es sei eine Unverschämtheit, daß diese betrunkene Horde die ganze Nachbarschaft aufschreckte.
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Als Mrs Moncaster ankam, dachte ich, sie würde zwei und zwei zusammenzählen. Deshalb blieb ich am Fenster, bis der Morgen graute, bis die Sonne den Mond verdrängte und der Fluch des Werwolfs keine Macht mehr über mich hatte. Ich spürte, wie mein Haaransatz wieder nach oben rutschte, wie meine Zähne schrumpften. 24. „Wir möchten Ihren neuen Mieter sehen“, hörte ich jemanden sagen. „Was wollt ihr denn von ihm?“ fragte Nellies Stimme. „Unsere Mieter brauchen sich nicht mit euresgleichen abzugeben.“ „Nein?“ schrie eine schrille Stimme, an der ich sofort Mrs. Moncaster erkannte. „Euer neuer Mieter ist ja gar kein Mensch.“ „Es ist viel menschlicher als du“, entgegnete Nellie. „So?“ schrie ein Mann. „Dann zeig ihn uns doch mal! Hol ihn herunter, oder wir gehen hinauf.“ Die Menschenmenge war angewachsen, ich hörte dichtes Stimmengewirr. Ich hielt den Atem an -aber der Mob war in Worten tapferer als in Taten. Ich hatte wohl nichts zu befürchten. „Also gut, ich werde nachsehen, ob er wach ist“, sagte Nellie. „Und dann dürft ihr euch bei ihm entschuldigen.“ 169
Ich hörte Schritte auf der Treppe, dann ein Klopfen an meiner Tür. „Herein!“ rief ich mit sanfter Stimme. Und als sie die Tür geöffnet hatte, sagte ich: „Hallo, Nellie! Guten Morgen!“ „Guten Morgen, Sir. Tut mir leid, daß ich Sie stören muß. Aber da unten sind ein paar Holzköpfe, die ein Wörtchen mit Ihnen reden möchten.“ Sie starrte mich aus zusammengekniffenen Augen an. „Mit mir?“ Ich tat mein Bestes, um verdutzt auszusehen. „Worüber denn?“ „Das weiß Gott. Die Leute wollen nachsehen, ob „Sie ein Mensch sind.“ Sie kicherte verlegen. „Ob ich ein Mensch bin?“ Ich kicherte auch, entschlossen, gutmütig zu erscheinen und tolerant bis zur Idiotie. „Also gut, wenn sie das sehen wollen, dann werde ich es ihnen zeigen.“ Ich ging nach unten zu der stinkenden Toilette, spritzte mir Wasser ins Gesicht, rückte meinen Hemdkragen zurecht, und dann schritt ich würdevoll zur Haustür, die schief in den Angeln hing. „Guten Morgen“, sagte ich zu den Männern, die sich auf der Schwelle drängten. „Was kann ich für Sie tun?“ Ich blickte an ihnen vorbei auf Mrs. Moncaster. „Hallo,
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Mrs. Moncaster! Sie sind heute morgen aber früh auf den Beinen.“ „Ich bin schon auf, weil ich nicht geschlafen habe.“ Sie blinzelte mich mit ihren roten Lidern an. „Sie haben mich gestern abend ganz furchtbar erschreckt.“ „Was?“ Ich hob erstaunt die Brauen. „Ich kann mich nicht entsinnen, Ihnen gestern abend begegnet zu sein.“ „Nein?“ Sie stemmte die Fäuste in die Hüften und starrte mich an. „Sie sind doch aus der Telefonzelle gekommen.“ Da dachte ich an Lisa, und meine Angst um sie drohte mich zu überwältigen. Ich mußte diese Leute möglichst schnell loswerden, damit ich meine Frau anrufen konnte. „Es tut mir leid, Mrs. Moncaster, aber Sie irren sich. Ich habe gestern abend niemanden angerufen.“ Ich lächelte sie verzeihend an, dann blickte ich in die Runde. „Darf ich jetzt fragen, was das alles soll?“ „Sie dachte, daß Sie ein Werwolf sind!“ rief ein Mann, der auf den Eingangsstufen stand, „Ein Wolf?“ „Dieses Biest, das schon so viele Leute in den Vollmondnächten umgebracht hat.“ „Und gestern nacht war Vollmond!“ kreischte Mrs. Moncaster. „Jetzt sieht er wieder normal aus, weil es Tag 171
geworden ist. Aber gestern nacht war er ganz anders, was? Ihr habt ihn doch gesehen.“ Sie sah sich beifallheischend um. „Ja, das stimmt“, sagte ein alter Mann mit schmalen Schultern. „Wir haben ihn gesehen.“ „Packt ihn!“ schrie Mrs. Moncaster. „Ihr werdet bald genug merken, daß ihr diesen bestialischen Mörder gefangen habt. Sicher könnt ihr bald in der Zeitung lesen, daß wieder irgendwo ein armes Opfer mit zerfetzter Kehle gefunden wurde.“ „Aber wie können wir denn beweisen, daß er ein Werwolf ist?“ fragte ein großer Mann, der direkt vor mir stand und mir ins Gesicht starrte. „Das kann ich euch sagen!“ rief Mrs. Moncaster. „Ich habe ihn doch gesehen und bin dann in Ohnmacht gefallen. Er verwandelte sich vor meinen Augen: Jesus, war das ein Anblick…“ „Aber was ich gestern abend gesehen habe, war nicht dieser Bursche da“, erklärte der große Mann. „Sehr genau konnte ich dieses Biest ja nicht sehen – aber der da war es jedenfalls nicht.“ Mrs. Moncaster begann vor Wut und Enttäuschung auf und ab zu hüpfen und sah mehr denn je wie ein Geier aus, der auf einer Leiche tanzte.
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„Ich sage euch, er war es! Ah, Mrs. Wack, Sie sind schon aufgestanden?“ Ich wandte mich um. Mrs. Wack stand hinter mir. „Wie kann man denn schlafen, wenn Sie mitten in der Nacht vor meinem Haus auftauchen und zu plärren anfangen? Was fällt Ihnen eigentlich ein, Sie verrückte alte Kuh?“ „Das werde ich Ihnen sagen. Ich werde diesen Mörder festnehmen lassen, der neben Ihnen steht, und dann wird er kriegen, was er verdient.“ „Mörder?“ Mrs. Wack warf einen ängstlichen Blick in meine Richtung. „Ich glaube, sie ist wahnsinnig geworden“, erklärte ich mit einem geduldigen Seufzer. „Sie glaubt, daß ich mich in einen Wolf verwandle und Leute umbringe.“ „So ein Unsinn!“ Mrs. Wack schob ihr Kinn vor. „Sie sind nur eifersüchtig, weil er lieber bei mir wohnt als bei Ihnen, Mrs. Moncaster.“ „Das ist eine verdammte Lüge! Aber wir alle wissen ja, was wir gesehen haben!“ „Schluß jetzt!“ Der große Mann trat auf mich zu. „Wir bringen Sie jetzt zur Polizei, dort können Sie ja wohl Ihre Unschuld beweisen.“ „Zur Polizei?“ Mrs. Moncasters Gesicht war puterrot. „Nein, wir hängen ihn am nächsten Laternenpfahl auf!“ 173
„Was ist denn hier los?“ Ein kräftiger Polizist in blauer Uniform bahnte sich einen Weg durch die Menge. „Da ist ein Mörder, Officer“, schrie ihm Mrs. Moncaster ins Ohr. „Gestern nacht hat er mich fast zu Tode erschreckt. Er ist der Wolfsmörder.“ Der Polizist wischte sich das Kinn mit einem Taschentuch ab. „Wann war das denn, Madam?“ „Kurz vor elf. Ich glaube, die Pubs waren noch offen.“ „Ja, das stimmt“, sagte der große Mann. „Wir hatten gerade die Gläser leergetrunken, als wir Bill Yellett draußen schreien hörten. Wir liefen hinaus und sahen Bill vor einem Ding zurückweichen, das nicht wie ein Mann aussah, aber aufrecht dastand. Wir kamen Bill zu Hilfe, und das Ding rannte davon. Wahrscheinlich ist es im Erdboden versunken. Wir rannten die ganze Nacht umher, aber wir konnten es nirgends finden. Dann trafen wir Mrs. Moncaster, und sie sagte uns, daß sie glaube, Mrs. Wacks neuer Mieter hätte sich in einen Wolf verwandelt. Und da beschlossen wir, uns den Mann mal anzusehen.“ „In der vergangenen Nacht wurde ein neuer Wolfsmord verübt“, verkündete der Polizist mit ernster Miene. „Na, was habe ich euch gesagt?“ schrie Mrs. Moncaster. „Los, verhaften Sie ihn!“ 174
„Der Mord geschah im Westen“, sagte der Beamte, „in St. Johns Wood. Kurz vor Mitternacht.“ Lieber Gott, dachte ich, hatte Yogami Lisa getötet? Ich begann am ganzen Körper zu zittern. Mrs. Moncaster runzelte enttäuscht die Stirn. „Um Mitternacht könnte er ja schon im Westen gewesen sein.“ „Nur wenn er einen Wagen gefahren oder ein öffentliches Verkehrsmittel benutzt hätte“, sagte der Polizist. „Und wir haben nicht gehört, daß ein Wolf in einen Bus gestiegen wäre oder sich ein Taxi genommen hätte. Und welcher Wolf kann schon fahren?“ „Wölfe können schnell laufen“, wandte Mrs. Moncaster ein. „Aber es ist unwahrscheinlich, daß er von hier nach St. Johns Wood gerannt sein soll, ohne gesehen zu werden.“ Der große Mann nickte, und die Menge begann sich zu zerstreuen. Mrs. Wack wollte die Tür schließen, aber der Polizist schob sich an ihr vorbei in die Halle und machte die Tür hinter sich zu, direkt vor Mrs. Moncasters Nase. „Vielleicht könnten Sie mir schildern, was Sie gestern abend gemacht haben, Sir.“ „Gar nichts, Officer“, sagte ich mit einem respektvollen Lächeln. „Ich bin früh ins Bett gegangen. Wer ist denn gestern nacht getötet worden?“ fragte ich und versuchte 175
meiner Stimme einen möglichst gleichmütigen Klang zu geben. „Ein Mädchen. Ihr Hals wurde zerfleischt, genau wie bei den anderen Opfern.“ „Oh, mein Gott“, flüsterte ich. Mir war übel, als lägen Bleigewichte in meinem Magen. „Ist es auf der Straße passiert?“ „Nein, Sir. Die Bestie ist in ein Privathaus eingedrungen.“ Schwarze Nebel wallten vor meinen Augen, aber ich riß mich zusammen. Ich durfte jetzt nicht das Bewußtsein verlieren. Es war Lisa. Yogami hatte Lisa getötet. „Würden Sie mir Ihren Namen sagen, Sir?“ bat der Polizist. „Roberts – Ted Roberts“, sagte ich und rang nach Fassung. „Okay, Mr. Roberts. Bleiben Sie heute bitte hier in der Nähe. Wir werden Ihnen später noch ein paar Fragen stellen.“ „Ja, natürlich.“ Der Polizist ging, und Mrs. Wack sah mich besorgt an. „Sie brauchen jetzt eine schöne Tasse…“ „Ich habe jetzt eine Verabredung“, unterbrach ich sie. „Aber später trinke ich gern eine Tasse Tee.“
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„Ja, schon gut, mein Junge. Ich werde nach oben gehen und mich ausschlafen. Dieses verdammte Gesindel!“ Sie klopfte mir mütterlich auf die Schulter, dann stieg sie die Treppe hinauf. Die Hände in den Taschen vergraben, schlenderte ich die Straße hinab und bemühte mich, nicht zu zeigen, wie eilig ich es hatte. Doch unwillkürlich ging ich immer schneller, bis ich schließlich rannte. Ich raste durch die Straßen, bis ich endlich eine Telefonzelle fand. Zitternd lehnte ich an der Tür, dann ging ich hinein. Meine Hand bebte so stark, daß ich kaum die Nummer wählen konnte. Lisa, dachte ich, meine Lisa. Meine Verzweiflung schnürte mir fast die Kehle zu. Ich hörte das Freizeichen. Wer würde sich melden? Die Polizei – oder Spragg, der mich mit würdevoller, melancholischer Stimme zu trösten versuchte? „Sieben-fünf-acht-eins.“ Ihre Stimme… „Lisa – Lisa, Liebling.“ „Wilfried!“ Ihre Stimme war wie Champagner, erfrischend und belebend. „Wilfried, Liebling.“ „Geht es dir gut?“ „Ja, und das habe ich dir zu verdanken. Ich habe fast ein wenig Angst vor dir und deinen Vorahnungen.“ „Wieso?“ fragte ich. 177
„Ich sagte dir doch, daß Dr. Yogami gestern abend so seltsam war. Als ich mit Colonel Forsythe telefoniert hatte und zu ihm zurückging, zitterte er am ganzen Körper, und sein Gesicht sah plötzlich ganz anders aus. So etwas hatte ich noch nie zuvor gesehen. Ich läutete nach Spragg und sagte ihm, ich würde mit ihm ins Arbeitszimmer gehen und nach einem Silberlöffel suchen, den ich vermisse. Der arme Mann dachte, ich hätte den Verstand verloren. Ich entschuldigte mich bei Dr. Yogami, Spragg begleitete ihn hinaus, und als er gegangen war, da war es, als hätte etwas Böses, Schreckliches das Haus verlassen. Glaubst du, daß ich an dummen Einbildungen leide, Liebling?“ „Nein, ganz und gar nicht“, sagte ich. „Kurz danach kam der Colonel mit Paul an, der sich gern als Amateur-Detektiv betätigt. Und wenige Minuten später hörten wir ein schauriges Heulen in der Ferne, so wie damals bei Tante Ettie, und dann einen Schrei. Paul und der Colonel rannten aus dem Haus und sahen, daß sich vor einem Haus in der nächsten Straße eine Menschenmenge versammelt hatte. Ein Fenster war zerbrochen, Glasscherben lagen auf dem Gehsteig. Sie gingen hinein, und da fanden sie das arme Mädchen. O Liebling, wie kann ein Mensch nur so etwas tun? Die Kehle zerfleischt -genau wie bei den anderen. Der Mör178
der muß ein Monstrum sein, und ich habe das Gefühl, daß Yogami etwas damit zu tun hat.“ „Gott sei Dank, daß du ihn rechtzeitig losgeworden bist. Ich komme sofort nach Hause. In ein paar Stunden bin ich bei dir.“ „Ja, Liebling“, sagte sie dankbar. „Ich bin so froh, daß du zurückkommst. Ist die Konferenz schon vorbei?“ „Nein.“ „Oh, ich hätte nie gedacht, daß ich dir einmal wichtiger sein würde als dein Beruf, Liebling“, neckte sie mich, schickte mir einen Kuß durch den Draht, und dann legte sie auf. Als ich die Telefonzelle verließ, starrte ich in das Gesicht des Polizisten. 25. „Ah, Sir!“ Ich lächelte unsicher. „Hallo, Officer.“ „Sie telefonieren also manchmal, Sir?“ „Ich habe nie behauptet, daß ich nicht telefoniere. Ich habe nur gesagt, daß ich gestern nacht nicht telefoniert habe – als diese alte Hexe mich angeblich gesehen hat.“ „Ich verstehe“, sagte er nachdenklich. „Es ist doch wohl kein Verbrechen zu telefonieren?“ „Das nicht, Sir. Aber es ist doch ein merkwürdiger Zufall – in Anbetracht des Gesprächs, das da vorhin vor 179
Mrs. Wacks Haus geführt wurde. Wen haben Sie denn angerufen, Sir?“ „Das ist doch wohl meine Sache, nicht wahr?“ „Ich will wissen, mit wem Sie telefoniert haben“, beharrte er. „Mit meinem Mädchen, wenn Sie es unbedingt wissen müssen. Sie arbeitet in einem Hutgeschäft in Peckham.“ „Ich kenne Peckham. Was ist denn das für ein Hutgeschäft, Sir?“ „Madame Mona’s Shop. Ein neuer Laden. Sie sollten mal mit Ihrer Frau hingehen, Officer. Die haben dort eine tolle Auswahl.“ „Ja, vielleicht werde ich das tun“, meinte er, so nachdenklich wie zuvor, und ich wappnete mich, war bereit, ihm einen Stoß zu geben und davonzulaufen, wenn er mich nach der Nummer fragen sollte, die ich soeben angerufen hatte. Doch er nickte mir nur zu und schlenderte davon. Aber ich hatte immer noch das Gefühl, daß er an der nächsten Straßenecke auf mich warten würde, um mich im Auge zu behalten. Ich schlug die Richtung zu Mrs. Wacks Haus ein und sah, daß er mir folgte – ohne Eile, aber beharrlich. Ich bog um eine Ecke, rannte eine kurze Straße hinab und ging in ein schäbiges Cafe, wo ich mir eine Tasse Tee kaufte und mich in einiger Entfernung von den Fens180
tern an einen Ecktisch setzte. Nach wenigen Minuten sah ich den Polizisten vorbeilaufen. Er blickte in das Cafe, aber er sah mich nicht. Ich trank meinen Tee, dann verließ ich das Lokal, sah mich nach beiden Seiten um und lief dann zu der Garage, wo ich meinen Wagen abgestellt hatte. Bald darauf war ich auf der Heimfahrt, nachdem ich mich in einer öffentlichen Toilette umgezogen hatte, und freute mich auf das Wiedersehen mit Lisa. Doch plötzlich fiel mir ein, daß ich nicht schon jetzt nach Hause fahren konnte, wenn der Zug aus Manchester erst in zwei Stunden eintreffen würde. Sollte ich in den Klub gehen? Nein, das war unmöglich. Ich konnte nicht riskieren, jemanden zu treffen, der Lisa von dieser Begegnung erzählen würde. ,Ihr Mann muß ja todunglücklich daheim sein, wenn er schon um zehn Uhr morgens im Klub sitzt…’ Also blieb mir nichts anderes übrig, als zwei Stunden lang ziellos durch die Stadt zu fahren. Irgendwann ging ich in ein Cafe, aß ein weiches Ei und trank eine Tasse Kaffee, dann fuhr ich weiter durch die Straßen, kreuz und quer. Endlich waren die beiden Stunden verstrichen, und ich konnte nach Hause fahren, ohne Mißtrauen zu erregen.
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Als ich mich meinem Haus näherte, trat jemand vor mir auf die Straße und winkte. Ein Schauer lief mir über den Rücken, als ich Yogami erkannte. Widerstrebend trat ich auf die Bremse. „Mr. Glendon!“ rief er. Yogami war nicht mehr der ruhige, gelassene, kultivierte Mann, den ich gekannt hatte. Er zitterte, seine Krawatte saß schief, seine Augen flackerten wild - die Augen eines Mannes, der den Tod gesehen und keine Möglichkeit gefunden hatte, ihm auszuweichen. „Guten Morgen, Yogami“, sagte ich, als er die Tür des Beifahrersitzes aufriß und er sich neben mich setzte. „Ich komme eben erst nach Hause…“ „Die Mariphasa“, unterbrach er mich. „Sie haben mir versprochen, die Mariphasa mit mir zu teilen. Aber als ich gestern abend in Ihr Haus kam, waren Sie nicht da.“ „Die Mariphasa ist verwelkt, Yogami.“ Beinahe hätte ich hinzugefügt, daß wir sofort nach Tibet aufbrechen müßten, doch ich unterließ es. Wenn ich nach Tibet reiste, dann allein, nicht mit diesem elenden Mann, der in der vergangenen Nacht einen brutalen Mord begangen hatte. Zu meinem Erstaunen stellte ich fest, daß ich mich nun als sein Richter aufspielte, Entsetzen vor seiner Tat empfand, obwohl ich doch die gleichen Verbrechen begangen hatte. 182
„Wir müssen sofort abreisen“, sagte er. „Wenn wir fliegen, werden wir rechtzeitig ankommen. Wir können die Maschine nach Paris nehmen, dann nach Rom weiterfliegen…“ Er brach ab und sah mich eindringlich an. „Wen haben Sie gestern nacht getötet?“ „Niemanden“, erwiderte ich triumphierend. „Wie haben Sie das geschafft?“ fragte er verwirrt. „Die Person, die ich überfallen wollte, war so abstoßend, daß ich es nicht über mich brachte, sie zu beißen.“ Beinahe hätte ich gelacht. Ich fühlte mich grenzenlos erleichtert, als wäre ich gerettet, für alle Zeiten, als wäre mir nicht nur eine kurze Atempause vergönnt. „Nun brauchen wir nur noch ein Zaubermittel zu finden, das alle Menschen in ekelerregende Monstren verwandelt, so daß uns der Appetit auf ihr Blut vergeht.“ „Sie scherzen, Mr. Glendon.“ „Keineswegs. Ich habe es doch letzte Nacht erlebt.“ Ich war rasch an meinem Haus vorbeigefahren. Nun hielt ich, ein paar Straßen weiter. „Die Liebe wird durch Schönheit erweckt, die ihren eigenen, nicht immer offensichtlichen Magnetismus besitzt. Das wirkliche Gegenteil von Liebe ist nicht Haß, sondern Gleichgültigkeit, der Wunsch, nicht mit der betreffenden Person Kontakt aufzunehmen. Wir müßten irgendein Mittel
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finden, das die Menschen abstoßend macht – einmal im Monat, in jeder Vollmondnacht.“ „Hypnose!“ rief Yogami. „Wir könnten uns einmal im Monat hypnotisieren lassen, so daß wir alle Menschen für abscheulich halten.“ „Natürlich, das ist die Lösung unseres Problems.“ „Vielleicht könnten wir in der Hypnose auch vergessen, daß wir Werwölfe sind. Aber wem sollen wir uns anvertrauen?“ Er runzelte die Stirn. „In China habe ich viele Leute hypnotisiert und wurde als Zauberer betrachtet. Es war ein Zweig der Medizin, den ich damals praktizierte, zusammen mit Akupunktur. Ich habe nie versucht, mich selbst zu hypnotisieren, aber…“ Er brach ab, dachte eine Weile nach, mit geschlossenen Augen. „Aber ich kenne einen Mann, der uns helfen könnte, einen Mann, der die nötige Diskretion üben und uns nicht auslachen würde. Das würden die meisten Hypnotiseure tun. Sie würden uns nicht glauben, wenn wir Ihnen von unserem Problem erzählten. Diese Unfähigkeit zu glauben ist der wahre Atheismus des Geistes. Das ist keine Frage des Götterglaubens, sondern es geht um die Weigerung, etwas begreifen zu wollen, das die Grenzen der eigenen Intelligenz und Erfahrung überschreitet.“ „Wo ist dieser Mann?“ fragte ich.
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„In der Harley Street. Offiziell ist er ein Arzt, der den Großteil seines Lebens hier verbracht hat. Aber das stimmt nicht. Er ist zwar ein hervorragender Mediziner, aber vor allem Orientale und eng verbunden mit der Kultur seiner Vorfahren.“ „Ich muß jetzt nach Hause. Können Sie einen Termin mit dem Mann vereinbaren?“ Er nickte. Nun sah er entspannt und fast heiter aus. „Aber es wird viel Geld kosten.“ „Das macht nichts – solange niemand mehr mit seinem Leben bezahlen muß“, entgegnete ich und dachte an Lisa. „Sie haben recht, Glendon. Wir beide sind ebensowenig Mörder wie der Bauernjunge, dem man ein Gewehr in die Hand drückt, den man zu einem Graben schickt und dem man erzählt, der Bauernjunge auf der anderen Seite des Grabens sei sein Todfeind, den er töten müsse. Ist es nicht so?“ „Natürlich. Ich kann gar nicht glauben, daß ich jemals gemordet habe.“ „Ich kann auch kaum glauben, daß ich zum Mörder geworden bin. Kann ich Sie zu Hause anrufen?“ „Nein“, sagte ich und stellte mir vor, wie Lisa reagieren würde, wenn sie zufällig am Apparat wäre. „Treffen wir uns in der Harley Street.“ 185
„Gut. Ich werde sehen, daß ich heute abend einen Termin bekomme. Mein Bekannter heißt Tann – Hubert Tann.“ „Um sieben Uhr?“ „Einverstanden. Wo kann ich Sie erreichen, wenn er keine Zeit hat?“ „Ich meinem Klub – im Parthenon. Sie können dort anrufen und mir eine Nachricht hinterlassen.“ „Sehr schön. Auf Wiedersehen, Glendon.“ Er öffnete die Wagentür. „Auf Wiedersehen, Yogami.“ Er stieg aus und ging davon, ohne sich noch einmal umzudrehen. Ich startete den Motor und fuhr nach Hause. 26. Tanns Apartment war wie ein arabischer Märchenpalast ausgestattet. In der Halle lagen kostbare Perserteppiche. Eine elegant geschwungene Treppe führte in den ersten Stock hinauf, wo sich Mahagonitüren mit vergoldeten Klinken aneinanderreihten. Tanns Sprechstundenhilfe, eine schlanke Frau mit strengem Gesicht in einem weißen Kittel, hatte uns eingelassen. Yogami stand da, den Hut in der Hand, den Kopf unterwürfig geneigt. Die Sprechstundenhilfe klopfte an eine der Türen, verschwand dahinter, kam nach wenigen Minuten zurück und bat uns, einzutreten. 186
Tanns Sprechzimmer war ebenfalls sehr elegant eingerichtet. Japanische Kleinmöbel mit Perlmuttintarsien standen an den Wänden aufgereiht und bildeten eine horizontale Symmetrie, die von den vertikalen Linien einer alten Großvateruhr und eines Queen AnneSchränkchens mit Glastüren unterbrochen wurde. Aber am eindrucksvollsten war Tann selbst. Er war fast sieben Fuß groß, hatte breite Backenknochen und längliche, sehr kluge Augen, die zwar asiatisch geformt waren, aber in einem lebhaften Blau strahlten. Er trug eine Mandarin-Robe und sprach mit leiser, sanfter Stimme. „Dr. Yogami“, begann er, „wie schön, Sie zu sehen. Und Sie, Mr. Glendon… Ich habe viel von Ihren Entdeckungsreisen gelesen, und Ihr Besuch ehrt mich sehr.“ „Danke“, sagte ich. Wir sahen uns alle an, und er lächelte – es war ein seltsames, distanziertes Lächeln. Ich war von einer gewissen Angst erfüllt, denn in den Händen dieses Mannes lag nun meine und Yogamis Zukunft – und das Leben vieler Menschen. Es widerstrebte mir, meine Unabhängigkeit aufzugeben, diesem Mann meinen Geist anzuvertrauen. Denn einmal im Monat würden Yogami und ich seine Marionetten werden, willenlose Wesen, die unfähig sein würden, sich ohne seine leitende Hand zu bewegen.
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„Setzen Sie sich doch, Gentlemen“, sagte Tann. „Ein Gläschen Madeira?“ Wir nickten, und er nahm eine Flasche und Gläser aus dem Schrank und stellte sie auf seinen Schreibtisch. „Ihr Anruf hat meine Neugier geweckt, Dr. Yogami“, sagte er, als er die Gläser gefüllt hatte. „Sie beide wollen mich also konsultieren. Ich nehme an, es geht um eine ungewöhnliche Krankheit?“ „Allerdings, Mr. Tann“, antwortete Yogami in leisem Ton. „Was wir Ihnen jetzt sagen werden, ist streng vertraulich.“ „Sie können sich auf meine Diskretion verlassen.“ Gleichgültig erwiderte er Yogamis Blick. „Dr. Glendon und ich wollen einmal im Monat hypnotisiert werden – in jeder Vollmondnacht.“ „In jeder Vollmondnacht?“ Nun war Tanns Interesse geweckt. „Ja. Wir wollen von ungewöhnlichen Gefühlen beherrscht werden.“ „Und welcher Art sollen diese Gefühle sein?“ „Wir wollen Ekel vor unseren Mitmenschen empfinden.“ „Oh, meine Mitmenschen ekeln mich sehr oft an. Ich sehe so oft ihre allerschlimmsten Eigenschaften. Andererseits erkenne ich auch das Gute im Menschen – zum 188
Beispiel Eigenschaften wie Mut. Wenn man einen Menschen sieht, der elend dahin siecht und zu den Dimensionen eines Kopfjägers aus Neu-Guinea zusammenschrumpft, kann man nur bewundern, daß er immer noch lächelt…“ Er machte eine Pause und schüttelte den Kopf. „Verzeihen Sie, ich komme vom Thema ab.“ „Können Sie dieses Gefühl in uns hervorrufen?“ fragte Yogami. „Können Sie uns dazu bringen, die Menschen zu verabscheuen, ohne sie zu hassen?“ „Sie müßten sich völlig meinem Willen unterwerfen“, warnte uns Tann. „Einem beschränkten Geist fällt eine solche Unterordnung leicht. Sie ist auch unbedingt erforderlich, denn die Macht eines Hypnotiseurs hängt davon ab, daß sich sein Patient willenlos ausliefert.“ „Wir werden uns Ihrem Willen fügen“, sagte ich. „Sehr schön. Aber dieses Versprechen allein genügt mir nicht. Bevor wir uns weiter unterhalten, muß ich feststellen, ob Sie beide geeignete Objekte sind. Wären Sie damit einverstanden?“ „Ja“, sagte Yogami, und ich nickte. Tann stand auf und stellte sich vor mich hin. Seine Augen schlossen sich, dann weiteten sie sich, starrten eindringlich in die meinen. Ich kam mir vor wie eine Wand, in die lautlos ein Loch gebohrt wird. Eine seltsame Vibration erfaßte meinen Körper, ich wurde eins 189
mit den durchdringenden blauen Augen, die sich vor mir schlössen und öffneten, immer wieder. Mein Wille verließ mich, das Bewußtsein, daß ich ein Individuum mit individuellen Gedanken war, schwand dahin, ich verschmolz mit Tanns blauen Augen, wurde hinabgezogen in ein dunkles Verlies, von dessen Wänden subtile, aber unwiderstehliche Befehle widerhallten. „Heben Sie die Arme!“ echoten die Befehle. „Jetzt senken Sie die Arme wieder – heben – senken…“ Keuchend gehorchte ich, bis die Stimme mir befahl aufzuhören. „Schreien Sie!“ befahl die Stimme nun, und in dem dunklen Verlies klang ihr Echo, als sei es durch Samt gefiltert. „Sie haben Angst – schreien Sie.“ Der Schweiß brach mir aus allen Poren. Etwas Geheimnisvolles, Amorphes erwartete mich im schwarzen Dunkel. Ich schrie, bis das Echo mir versicherte, daß ich keine Angst mehr zu haben brauchte. „Wachen Sie auf“, sagte die Stimme sanft, und einen Moment später öffnete ich die Augen. Ich hatte nicht gewußt, daß ich sie geschlossen hatte. Tann saß lächelnd hinter seinem Schreibtisch. Yogami saß leichenblaß neben mir, Schweiß perlte auf seiner Stirn. „Danke, Mr. Glendon“, sagte Tann. „Sie sind ein mutiger Mann, denn es erfordert Mut, sich für ein solches 190
Experiment herzugeben. Wie schön, daß das Experiment geglückt ist. Nun wollen wir sehen, ob Sie sich ebensogut hypnotisieren lassen, Dr. Yogami.“ Yogami zitterte, von nackter Angst ergriffen. „Beruhigen Sie sich erst einmal. Für den Zuschauer ist es immer schwerer als für den unmittelbar Betroffenen. Noch ein Madeira, Gentlemen?“ Er füllte unsere Gläser zum zweitenmal, dann stand er auf und ging lächelnd auf Yogami zu. Yogami trank sein Glas in einem Zug leer und erwiderte unsicher das Lächeln. Er sah in Tanns Augen, dann sah er weg. Sanft legte Tann einen Finger unter sein Kinn und hob sein Gesicht zu sich empor. Seine Augen tauchten in die Yogamis. „Fliegen Sie“, befahl Tann leise. „Fliegen Sie wie ein Vogel.“ Yogamis Ellbogen begannen sich zu bewegen, hoben und senkten sich. Er stand auf, lief mit ausgebreiteten Armen im Zimmer umher. „Zwitschern Sie“, befahl Tann, und Yogami begann zu tschilpen. „Fliegen Sie in Ihr Nest zurück und brüten Sie Ihre Eier aus.“ Yogami kehrte zu seinem Stuhl zurück, kauerte sich darauf, preßte die Arme eng gegen seine Rippen. „So, und jetzt erwachen Sie.“ Yogami schüttelte den Kopf und gehorchte. 191
Das Experiment hatte mich entsetzt. Wie einfach war es, einem anderen Menschen seinen Willen zu nehmen – und damit seine Würde. „Und jetzt sagen Sie mir, warum Sie in jeder Vollmondnacht hypnotisiert werden wollen“, bat Tann. „Weil…“ begann ich stockend, denn mein Mund war trocken. Yogami war offensichtlich in keiner besseren Verfassung. „Weil Yogami und ich an einer Krankheit leiden, die uns dazu zwingt, unsere Mitmenschen anzugreifen.“ „Handelt es sich vielleicht um die Wolfsucht?“ fragte Tann ruhig. Ich nickte. „Ich habe keine physiologische Kontrolle über Sie, Gentlemen“, sagte Tann. „Ich kann Ihren Willen beherrschen, aber nicht Ihre Körper. Ah, wenn ich die Körper der Menschen beherrschen könnte, ich wäre der mächtigste Mann der Welt. Ich würde über Jugend und Alter bestimmen, über Tod und Leben, ich würde dem Verfall des menschlichen Körpers Einhalt gebieten, unsterblich sein… Aber das alles kann ich nicht. Aber ich kann den menschlichen Geist hypnotisieren, bevor er tierisch wird. Unter gewissen Bedingungen bin ich bereit, es zu versuchen.“
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„Welche Bedingungen stellen Sie?“ fragte ich, und Yogami beugte sich in seinem Sessel vor. „Ich werde Sie mehrere Stunden, bevor der Mond sein Zenit erreicht, hypnotisieren. Ich werde Sie in einen tiefen Schlaf versenken. Was immer während Ihres Schlafs passiert, ist unwesentlich, vorausgesetzt, daß Sie nicht erwachen. Wenn Sie in Wolfsgestalt erwachen, werde ich nicht zögern, Sie zu erschießen.“ Er sah uns beide an. „Sind Sie damit einverstanden?“ Yogami fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, und Tann goß ihm noch einen Madeira ein. „Wir haben keine andere Wahl“, sagte ich. Yogami sprang auf. „Wir könnten nach Tibet reisen. Wenn wir gleich aufbrechen, kommen wir noch rechtzeitig im Litze-Tal an…“ „Und wenn nicht?“ unterbrach ich ihn. Plötzlich war ich sehr müde, vielleicht von den Nachwirkungen der Hypnose, vielleicht auch, weil das Gehirn wie betäubt ist, wenn man zwischen zwei Wegen wählen muß und überzeugt ist, daß keiner zur Rettung führen wird. „Warum nicht?“ rief Yogami. „Ich – bei allem Respekt, Mr. Tann, ich halte nichts von Hypnose.“ „Der Stolz sollte selektiv sein, wie alle menschlichen Eigenschaften“, meinte Tann lächelnd. „Sonst wirkt er mitleiderregend.“ 193
„Wenn wir nach Tibet reisen, sind wir viel eher zum Mißerfolg verurteilt, als wenn wir hier bleiben, Yogami“, sagte ich. „Vielleicht kommen wir nicht rechtzeitig an, vielleicht werden wir von Werwölfen überfallen und getötet – oder vielleicht finden wir keine Mariphasa mehr im Litze-Tal.“ „Das Litze-Tal quillt doch fast über von MariphasaBlüten.“ „Aber wie viele andere Menschen könnten gebissen worden sein und dort Hilfe suchen – ebenso wie wir?“ entgegnete ich. „Sind wir beiden die einzigen auf der Welt, die an der Wolfsucht leiden? Und selbst wenn es uns gelingen sollte, ein paar Mariphasa-Blumen mit nach England zu bringen – wer garantiert uns, daß sie nicht genauso eingehen werden wie meine Mariphasa?“ Yogami setzte sich. Es war, als könnten ihn seine Beine nicht mehr tragen. „Also gut, dann lassen wir uns hypnotisieren -und erschießen.“ „Ist das Leben denn so lebenswert?“ fragte ich ihn. Er lächelte mich an. Es war ein seltsames, fast verschämtes Lächeln. „O ja. Ich weiß nicht, warum – aber es ist lebenswert.“
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„Dann wollen wir uns Mr. Tann anvertrauen. Das ist unsere einzige Chance, ein halbwegs lebenswertes Leben zu führen.“ Tann erhob sich langsam. „Also gut, Gentlemen, dann wollen wir uns nun über mein Honorar unterhalten.“ „Hypnotisieren Sie uns vorher lieber noch einmal“, schlug ich vor. Er lachte, daß sich sein ganzer Körper schüttelte, und griff wieder nach der Madeiraflasche. 27. „Liebling, ich muß ausgehen“, sagte ich zu Lisa. Sie sah mich enttäuscht an. „Ich dachte, wir gehen heute abend zu den Parvitts.“ „Morgen abend, Liebling.“ „Ach ja, du hast recht, verzeih, Liebster. Wann kommst du nach Hause? Wir könnten gemütlich essen, nur wir beide. Ich habe so richtig Lust auf einen beschaulichen Abend daheim.“ Wie schnell sie ihre Absichten änderte – mit der entnervenden Unbeständigkeit aller Frauen… „Das wäre sehr schön, Liebling, aber ich werde erst in den frühen Morgenstunden zurückkommen. Ich habe eine wichtige Besprechung, die sehr lange dauern wird.“ Sie schmollte dekorativ. „Kannst du nicht absagen?“ Wie unwiderstehlich sie war… „Oder könntest du die Besprechung verschieben?“ 195
„Auf welchen Abend, Liebling? Morgen sind wir bei den Parvitts, am Donnerstag gehen wir ins Theater, am Freitag machen wir unseren Wochenendausflug.“ „Kann ich nicht mit dir kommen? Ich möchte heute abend nicht allein sein.“ Ich beschloß, ihr Arnes als Köder hinzuwerfen. Sie würde entzückt über meine Großzügigkeit sein. „Ruf doch Arnes an und frag ihn, ob er mit dir ausgeht.“ „Würde dir das nichts ausmachen?“ „Warum sollte mich das stören? Ich bin nicht eifersüchtig. Eifersucht ist ein Ausdruck innerer Unsicherheit.“ „Aber daß du nicht eifersüchtig bist, zeigt mir auch, daß du dir meiner viel zu sicher bist.“ Lachend umarmte sie mich, und ein leichtes Zucken ging durch meinen Körper. Ich spürte bereits die Haare auf meinen Händen wachsen. Tief im Hintergrund meines Bewußtseins war der Wunsch, Lisa zu töten, drängte sich immer mehr an die Oberfläche. Und so verließ ich sie hastig, fuhr weg von meinem Haus, hielt aber noch einmal an, um einen Blick zurückzuwerfen. Würde ich sie jemals wiedersehen? Würde ich noch am Leben sein, wenn der Vollmond erlosch? Wenn sich der Werwolf in mir zu schlafen weigerte, würde Tann mich erschießen. Aber würde er das wirklich tun? Hatte er keine Angst, als Mörder angeklagt zu 196
werden? Wenn Yogami und ich tot waren, würden sich dann an unseren Leichen noch Spuren der Wolf sucht finden? Oder würden unsere Körper ganz normal aussehen? Ich fuhr weiter, zu ungeduldig, um mich mit solchen Fragen zu beschäftigen. Und ich beschloß, mich an die Hoffnung zu klammern, daß Tann Erfolg haben möge, daß ein tiefer Schlaf die Lösung meines Problems brächte. Ich parkte den Wagen vor dem Haus, in dem sich Tanns Praxis befand, und läutete. Tann selbst öffnete mir die Tür. „Guten Abend, Mr. Glendon.“ Er sah über meine Schulter, und ich folgte der Richtung seines Blicks und sah den Mond, der langsam, aber unaufhaltsam aufstieg. „Ist Yogami schon da?“ fragte ich. „Nein. Kommen Sie bitte mit nach oben.“ Tann führte mich in ein Zimmer, vor dessen Fenster dicke Samtgardinen hingen. Die Einrichtung bestand aus einem Bett und einem Waschtisch. „Schlafen Sie“, sagte er. „Schlafen Sie. Sie werden schlafen, bis ich Sie wecke.“ Wieder das dunkle Verlies, das sanfte und doch strenge Echo von Befehlen… Ich fiel unaufhaltsam in einen schwarzen Abgrund. 197
28. In meinem Traum hatte ich das Gefühl, entzweigerissen zu werden, wie der arme Damien, der geistig zurückgebliebene Mann, der Louis XV zu ermorden versucht und dessen schrecklicher Tod Poe zu einer Schauergeschichte inspiriert hatte. Ich spürte, wie das geschmolzene Blei in meine Wunden gegossen wurde. Die Pferde wurden zu mir geführt, eins wurde an meinem rechten Arm festgebunden, eins an meinem linken. Jemand gab ein Zeichen, und die Pferde wurden gepeitscht, und dann durchflutete mich ein Schmerz, der jeder Beschreibung spottete. Der Himmel färbte sich rot, dann orangegelb. Der Himmel war der Alptraum eines Alchimisten, wo alles miteinander verschmolz. Ich schrie, und das Echo meiner Stimme durchdrang die Nebel meines Gehirns. Gigantische Gestalten verspotteten mich, Gestalten mit Wolfsgesichtern und scharfen grauen Fängen, auf denen der Speichel glänzte. Ein Gott schien vor ihnen aufzutauchen, eine undefinierbare Gottheit von zerstörerischer Macht. Aber sie zerfetzten sie mühelos. Die verzerrten Bilder verschwammen und verschwammen, aber das Echo der Schreie verstummte nicht. Ich erwachte und starrte auf eine weiße Wand, erhob mich von meinem Bett. Taumelnd, noch halb bewußtlos, ging 198
ich zu der Öffnung in der Wand, aus der die Schreie zu mir drangen. Ein Teil der Wand hing lose vor mir. Ich schob sie zurück, stand auf einem Korridor. Schwankend ging ich den Gang entlang, zu einem Treppenabsatz, starrte über ein Geländer nach unten. Ich sah einen knurrenden Wolfskopf auf gleicher Höhe mit einer Männerbrust. Es war ein großer Mann, und sein Gewehr war ihm mit solcher Gewalt entrissen worden, daß der Lauf verbogen war. Es lag wie ein bizarres Kunstwerk auf dem farbenfrohen Teppich. Und dann sah ich, wie sich der Wolfskopf langsam nach vorn bewegte, wie das Maul nach dem Hals des Riesen schnappte, hörte einen ohrenbetäubenden Schrei, der aus den kältesten Tiefen menschlichen Entsetzens zu kommen schien. Ich rannte die Treppe hinab, um dem Riesen beizustehen, aber da brach er schon zusammen, stürzte schwer zu Boden, wie ein gefällter Baum. Angst überkam mich, wurde jedoch verdrängt von einem fast heiteren Gefühl, der Gelassenheit, von einer blutrünstigen Vorfreude. Nun wußte ich, was ich zu tun hatte. Während ich die Stufen hinabrannte, spürte ich, wie meine Zähne wuchsen, wie meine Augen zu Schlitzen wurden. Und dann standen wir einander gegenüber. Ich 199
kannte meinen Feind, erkannte ihn an seinen erschrockenen Augen. Ein Name tauchte auf aus dem satanischen Abgrund, in den ich gestürzt war – Yogami… Wir starrten uns an, mit gesenkten Köpfen, und jeder suchte den Hals des anderen. Wir gingen aufeinander zu, zwei seltsame Parodien der Menschheit, geifernd, mit gefletschten Fängen. Yogami schnappte nach mir, ich spürte seine Zähne am rechten Ohr, doch diesen Biß nahm ich gern hin, denn meine Fänge hatten seine Kehle gefunden. Mein Feind brach zusammen neben dem Mann, den er ermordet hatte, und die blutroten Nebel, die mein Gehirn durchwallten, begannen sich aufzulösen. Ich stand vor den beiden Leichen, von einer heißen Welle des Mitleids erfaßt. Noch während ich hinabsah, veränderte sich der Wolfskopf, nahm menschliche Züge an – die bleichen, stillen Züge Yogamis. Nun brauchte ich nicht mehr zu befürchten, daß er mir meine Mariphasa stehlen könnte – wenn ich auch keine besaß. Ich brauchte nicht zu befürchten, daß er Lisa töten würde. Nun war ich der einzige, der ihr gefährlich werden konnte. Was mich selbst betraf – um mich machte ich mir keine Sorgen mehr. Mir selbst galt nur noch eine einzige Sorge – wie ich mein Leben möglichst schnell beenden könnte. 200
Denn das Leben ermüdete mich. 29. Noch vor wenigen Monaten war mir das Leben so lebenswert erschienen. Und nun starrte ich in den Spiegel über Lisas Toilettentisch, und was ich sehe, jagt mir einen Schauer über den Rücken. Ich habe nicht gewußt, daß sich ein Mensch so sehr vor seinem Spiegelbild entsetzen kann. In zwei Wochen wird der nächste Vollmond aufgehen. Wozu soll ich mich selbst verdammen? Zu einer weiteren Nacht in Mrs. Wacks Haus? („Was für ein komischer Kerl. Er kommt nur alle vier Wochen -und bleibt nur eine Nacht…“) Soll ich mich dem Polizisten ausliefern, der mich letztesmal fast in die Enge getrieben hätte? Es ist nur mehr eine Frage der Zeit, daß man mich entdecken wird. Soll ich nach Tibet reisen, für den Rest meines Lebens von der rettenden Kraft einer Blume abhängig sein? Nein, das Leben hat mir nichts mehr zu bieten, ich habe nur noch einen Wunsch – zu sterben. Ich habe meinen Entschluß gefaßt. Während draußen die Vögel singen, während die Welt von hellem Sonnenschein erfüllt ist, muß ich nun entscheiden, wie ich sterben werde. Ein Messer – nein, der stählerne Tod widert mich an, der Gedanke, daß mein Körper von kaltem 201
Metall durchbohrt würde, auch wenn es ganz schnell ginge, ist zu entsetzlich. Ein Revolver? Das Risiko, daneben zu schießen, sich selbst zu verstümmeln, statt in ewiger Nacht zu versinken, ist zu groß. Wenn man die Mündung an die Schläfe oder auf die Brust preßt, könnte man im Augenblick der Explosion zusammenzucken, die Kugel fände nicht ihr Ziel… Schlaftabletten, die das Gehirn umnebeln… Ein sanftes Versinken in immerwährende Bewußtlosigkeit… Aber wenn man mich fände, wenn man mich ins Krankenhaus brächte, bevor die Tabletten ihr Werk vollendet hätten, wenn man mir den Magen auspumpte, mich zum Weiterleben verurteilte… Lisa würde glauben, es sei ein unglückseliger Zufall gewesen. Sie würde mich anblicken, voller Erleichterung und liebevoller Zärtlichkeit. „Liebling“, würde sie verwirrt sagen, „ich wußte gar nicht, daß du Schlaftabletten nimmst…“ Welche Freuden konnte mir ein Leben bieten, das mich täglich mit neuen Schuldgefühlen belastete? Wenn ich weiterlebte, würde ich weiterhin morden – in jeder Vollmondnacht. Und Lisa würde es eher verstehen, daß ich Selbstmord begangen hätte, als daß ich zu einer mörderischen Bestie geworden war. Sie würde mit Ar202
nes glücklich werden. Jetzt, in diesen Minuten vor meinem Tod, fühle ich keine Eifersucht mehr. Ich gönne ihr ein neues Glück. Denn auch mir war es vergönnt, sie ein wenig glücklich zu machen. Ich werde einen Revolver benutzen und hoffen, daß er mich in Sekundenschnelle töten wird. Wieder starre ich auf mein Spiegelbild, minutenlang, bevor ich mit der linken Hand mein rechtes Handgelenk umklammere und den Revolverlauf in meinen Mund schiebe. Meine Lippen schließen sich um das kalte Metall. Noch einmal lasse ich die Waffe sinken, um diese letzten Zeilen meines Geständnisses zu schreiben. Ich hoffe, daß Du mir verzeihen wirst, wenn Du meinen Bericht liest, Lisa. Und ich hoffe auch, daß Gott mir verzeihen wird. ENDE
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