Terra Astra 111
Das Monstrum aus der Tiefe Von JOHN BRUNNER
ERSTER TEIL 1. Ihr Verlangen hatte bisher keine Grenzen g...
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Terra Astra 111
Das Monstrum aus der Tiefe Von JOHN BRUNNER
ERSTER TEIL 1. Ihr Verlangen hatte bisher keine Grenzen gekannt. Sie hatten sich vollgestopft, weit über ihr Vorstellungsvermögen hinaus, sie hatten sorglos verschwendet, weil sie die Vorräte für unerschöpflich hielten; sie waren wie Kinder in einem Haus voll Bonbons gewesen und hatten zerstört, was sie nicht verzehren konnten. Bis zu diesem Tag. Nun jedoch sah es so aus, als sei der Planet selbst ihres Hochmuts überflüssig. Wie oft waren die Schwachen dieser Welt vor dem Zorn Ruaghs und der Seinen gekrümmt davongestoben. Es bot keinen Trost, sich dies ins Gedächnis zurückzurufen. Denn nun befand er, Ruagh - der unbestrittene Herr über Tausende - sich selbst auf der Flucht vor dem entsetzlichen unaufhaltsamen blinden Zorn der Natur ... Die Marmortürme und Edelsteinzinnen Avvans, der Stadt, die sie zu seinem Ruhm erbaut hatten, lagen weit weg, denn als er und sein Gefolge den panikerfüllten Rückzug angetreten hatten, brandete die See schon gegen die weißen Steinmauern des Hafens und schleuderte Schiffe auf die nächstgelegenen Häuser. In den Wänden des Tempels, Ruaghs Tempels, hatten 2
sich Risse und Spalten aufgetan. Und hier zog er nun dahin, Ruagh, dem zu dienen, den zu verehren die einzige Daseinsberechtigung Tausender gewesen war, und nun war er nur mehr Herr über einen halbverhungerten zerlumpten Haufen von Flüchtenden, sein Tempel war eine Sänfte, seine Hohenpriester eine Handvoll stöhnender Träger. Vor der langgezogenen Prozession schien sich eine Ebene endlos zu erstrecken. Die Sonne brannte vom Himmel herab, sie blitzte auf die liturgischen Gongs, die die Spieler vor Schwäche nicht mehr erklingen lassen konnten, die sie aber dennoch weiterschleppten, weil sie ebenfalls zu schwach für den Entschluß waren, sie fortzuwerfen. Auch Ruagh fühlte Anzeichen von Schwäche, doch er ging vorsichtig mit seiner Kraft um, denn er war sich bewußt: Sobald er den eisernen Griff lockerte, in dem er sie gefangenhielt, würde der Haß der Leute überkochen, sich gegen ihn wenden und ihn zerfetzen. Er wußte: Diese Ebene war nicht endlos. Sie war ein flacher Schelf, der von der Küste her landeinwärts leicht anstieg. Jetzt hatten sie die Hälfte des Weges bis zu ihrem Bestimmungsort hinter sich, einer Stadt, die ein anderer Mann aus Ruaghs Klan erbaut hatte - oder vielmehr durch seine Untertanen hatte erbauen lassen. Die Stadt lag in den Bergen. Und wenn auch die See, die gegen die Mauern Avvans tobte, wahnsinnig geworden war, die Berge würden unbeweglich bleiben! Die Hitze ließ das Land in der Ferne flimmern. Einen Augenblick lang erschien es Ruagh, als blicke er auf einen Ozean, nicht auf festen Boden. Wenn doch nur sein Blick die Barriere durchdringen könnte, die sie von ihrem Ziel trennte! Wenn er doch nur sehen könnte, nicht nur hoffen, daß vor ihm die Sicherheit lag! Das beispiellose unglaubliche Verhalten der Meere hatte sein Vertrauen in die natürliche Ordnung der Dinge erschüttert. Dann sackte die mottenzerfressene Sänfte plötzlich mit einem 3
Schlag zu Boden. Ruagh kochte vor Wut. Schließlich hatte er sich wieder soweit in der Gewalt, den obersten Hohenpriester vor sich zu befehlen, damit er sich als Strafe für das geschehene Verbrechen vor Schmerzen wand. Doch auf sein gebieterisches Zeichen erfolgte keine Antwort. Zweifellos war der schwächliche Idiot unterwegs tot umgefallen, während Ruagh mit seinen Gedanken abgeschweift war. Er befahl den Rangnächsten zu sich und fühlte sich erleichtert, als er sofort die Antwort des Mannes verspürte. Doch der Priester war ein trauriger Anblick. Er humpelte eilfertig auf den zusammengebrochenen Palankin zu, aus einer Schnittwunde in seinem Gesicht sickerte Blut. Seine Worte kamen stockend und mühsam. „Großmächtigster Herr! Die Erde ist verrückt geworden!" „Was soll das heißen?" Ruagh, in dessen Erinnerung noch der Kitzel der zuvor zugefügten Pein nachwirkte, begleitete die Frage mit einer Andeutung von Schmerz. Der Mann zuckte sichtlich zusammen und sprach eilig weiter. „Herr, die Erde bebt und zittert, und ein großer Riß hat sich quer über unseren Pfad auf getan!" Ruagh blickte sich um. Es traf zu. Eine Spalte, mehrere Mannslängen tief, gähnte vor ihm. Und auch jetzt noch polterten Steine und Sand vom Rand hinunter in die Tiefe. Mehrere seiner Leute standen jenseits und wehklagten zum Himmel hinauf. Ein Tollkühner hatte sich fast bis an den Rand der Kluft herangewagt, um zu sehen, welches Schicksal die Hinabgerissenen ereilt hatte. Das war wohl seinem obersten Hohenpriester geschehen. Zum erstenmal in seinem Leben empfand Ruagh so etwas wie Furcht. Das willkürliche Verhalten des Planeten zwang ihm jetzt jenen Geisteszustand auf, in den er seine Untertanen so oft getrieben hatte. Und die Furcht vor der Furcht trieb ihn fast zum Wahnsinn. 4
„Baut eine Brücke für mich!" befahl er. Der überlebende Priester blickte sich ungläubig um. „Aber Herr!" sagte er nachdrücklich, „womit sollen wir hier eine Brücke bauen?" „Mit euren Leibern!" befahl Ruagh. „Und macht rasch!" Die Überquerung kostete fast der Hälfte der Leute das Leben. Doch Ruagh peitschte die Prozession vorwärts. Erst bei Einbruch der Nacht gestattete er den Überlebenden auszuruhen und etwas zu trinken. Zu essen gab es nichts, denn die wenigen mitgenommenen Vorräte waren längst aufgebraucht. Aber auch dann noch raste Ruagh, obwohl er wußte, daß er restlos von seinen Trägern und Begleitern abhängig war. Er bestand allerdings nicht auf dem vollen Zeremoniell des Sonnenuntergangs-Gottesdienstes, denn auch der erschöpfte seine Leute körperlich. Er zwang sich zur Geduld, während sie die ausgedörrten Kehlen befeuchteten, dabei einschliefen, wieder erwachten und wieder den Durst zu stillen versuchten, der sie sogar im Traum verfolgte. Sterne blickten nieder, als die Sonne untergegangen war, und Ruagh richtete seine Blicke zu ihnen empor, um seine entsetzliche Angst zu beschwichtigen. Dann bebte die Erde erneut. Nicht stark, es war kaum ein Zittern. Die Schläfer rings um ihn zuckten im Schlummer, dann lagen sie still. Aber auch das Zittern war mehr, als Ruagh ertragen konnte. Weiter! Auf in die Sicherheit der Stadt in den Bergen! In der Morgendämmerung erreichten sie endlich den Kamm eines Hügels. Jenseits des Tales konnten sie ihr Ziel erkennen. Und dort im roten Morgenschein blitzte die riesige Kuppel des Tempels, in dem sein Vetter herrschte. Dort lagen die verschiedenfarbigen Paläste seines Hofstaats, die breiten Alleen, die hohen prächtigen Türme. Erleichtert starrte Ruagh auf das Bild und konnte nicht aufhören zu starren. Die meisten seiner Untertanen waren schon wieder eingeschlafen, dankbar auch für den kürzesten Aufenthalt. Die 5
anderen, die noch wach waren, sahen, was geschah, ehe Ruagh selbst es wahrnahm. Langsam spaltete sich der Gipfel des Berges. Ein Felsblock, der in dieser Entfernung nicht größer wirkte als ein menschlicher Kopf, brach los, fiel, prallte gegen den Hang, sprang in die Höhe. Dann stürzte der Fels durch die Tempelkuppel, riß sie mit sich, zertrümmerte die mächtige Mauer und kam schließlich auf dem großen Platz dahinter zur Ruhe. Ein zweiter Felsblock zerschmetterte die prunkvollen Türme wie Kegel und schleuderte sie nach links und rechts. Nach dem Steinschlag lagen die Ruinen der Stadt unter der höhersteigenden Sonne. Ruagh empfand eine Verzweiflung, die alles übertraf, was er bisher für möglich gehalten hatte. Jede Hoffnung war verloren ... Er konnte es nicht ertragen, auf den Ort zu schauen, an dem die Stadt gestanden hatte. Er starrte ins Tal hinunter und sah etwas Schlangenhaftes über die Talsohle kriechen. Eine Prozession. Ein Menschenzug wie der, den er aus Avvan fortgepeitscht hatte. Ohne an die Zukunft zu denken, preßte er die letzten Kraftreserven aus seinen Trägern und ließ sich rasch zu der anderen Gruppen hinuntertragen. Die Führer des Zuges aus der Bergstadt hielten argwöhnisch an, fächerten auf und zückten Dolche und Schwerter. Ruagh war verwirrt. Er hetzte seine Träger voran, auf die andere Sänfte zu, in der der Herrscher der Bergstadt ruhte. Und aus dieser Sänfte drang nun mit scharfer Stimme ein Befehl, in dem noch alle Kraft lag. „Zurück! Hier ist kein Platz für euch!" „Zurück!" hauchte Ruagh echohaft. Er fühlte, wie schwach er neben diesem anderen Mitglied seiner Rasse war. „Aber zurück wohin? Ich habe alles zwischen der Küste und hier gesehen, und es gibt nirgends Rettung und Sicherheit!" „Du hättest wie ich handeln sollen!" Verachtung schwang in 6
den Worten. „Es bleibt keine Zeit, diese Welt zu verlassen, wie wir die anderen verlassen haben. Und es war ja auch bis heute keiner bereit, sich für den Aufbruch vorzubereiten! Doch ich war weise, ich und ein paar andere, die diesen Tag vorhergesehen haben. Im lebendigen Fels habe ich eine Zuflucht für mich gebaut, dort kann ich Millionen Jahre schlafen, wenn es sein muß, und abwarten, bis die Wut dieser verrücktgewordenen Welt abklingt." „Nimm mich mit! Bei allem, was wir gemeinsam getan haben, nimm mich mit!" Ruagh spürte, wie er zitterte. „Narr! Es ist nur Platz für einen." Und jetzt, da es zu spät war, erkannte Ruagh die Wahrheit. Der andere sprach weiter, eine Spur grausamer Belustigung in der Stimme: „Warum befiehlst du nicht deinen Sklaven, einen Zufluchtsort für dich zu bauen, wie ich die meinen hieß?" Ohne klare Überlegung peitschte Ruagh seine ausgemergelten Begleiter ein letztes Mal hoch und befahl ihnen, die Leute der anderen Prozession anzugreifen. Vielleicht dachte er, er könne seinem Verwandten den Zufluchtsort abkämpfen. Doch über den Ausgang des Gemetzels konnte es keinen Zweifel geben. Und nun fand sich Ruagh allein inmitten des Blutbads wieder, und das Echo der stürzenden Berge hallte um ihn herum. 2. Das Frösteln, das Peter Tränt den Rücken hinunterlief, war nicht auf die Kälte des Wassers zurückzuführen; dagegen war er ausreichend geschützt. Das Frösteln kam von ehrfürchtiger Scheu. Denn es war ihm gerade in den Sinn gekommen, daß er hier unten seit Abertausenden von Jahren das erste Ereignis war. 7
Gewöhnlich ereignete sich hier unten nichts. Es gab den unablässigen Regen der Globigerina auf den Meeresboden, der sich als Schlamm absetzte, dessen Tiefe, geteilt durch die angenommene Fallgeschwindigkeit, es ermöglichte, das Alter des Meeres abzuschätzen, in dem Tränt nun schwamm. Fische waren selten und kamen meist aus höheren Regionen hier herunter. Das Gefühl der Abgeschiedenheit ließ ihn zittern, er drehte sich um und blickte zu der blassen grünen Sonne hinauf. Natürlich war das nicht die wirkliche Sonne, die war erst eine Meile oder höher oben zu sehen, und überdies war sie bedeckt gewesen, als er und seine Begleiter sich auf den langen Weg hier herunter gemacht hatten. Es war der Scheinwerfer des Bathynefs, das sie hierhergebracht hatte. Also, dann war ja alles in Ordnung. Der Scheinwerfer war das hellste Licht, das Menschen jemals produziert hatten. Es entstand aus der Fusion von Wasserstoff, der direkt dem umgebenden Wasser entnommen wurde. Peter schwebte auf der Stelle, während ihm die phantastischen Neuerungen durch den Kopf gingen, die nötig waren, damit er sich hier bewegen konnte, als befände er sich in freiem Fall im Weltraum. Das Bathynef war vielleicht das kleinste unter diesen technischen Wundern, obwohl natürlich die Tatsache, daß es durch einen Fusionsreaktor mehr als tausend Faden unter der Meeresoberfläche angetrieben wurde, das Ergebnis von nahezu unglaublich meisterhaften Konstruktionsplänen war. Das Magnetgehäuse, das den Leuchtstrahl umgab, reduzierte die Strahlung auf ein für die Besatzung sicheres Maß; dabei wurden physikalische Gesetze angewendet, die man bei der Beobachtung weißer Zwergsterne entdeckt hatte. So tief hier herunter hatte noch nie ein Stern geschienen Tausende von Jahren nicht. In anderen geologischen Epochen hatte es auf dieser Seite der Atlantischen Schwelle 8
wahrscheinlich einmal Land gegeben. Unter den Schichten des Globerina-Schlamms, aus denen die Wissenschaftler folgerten, daß der Ozean hier ungefähr hunderttausend Jahre alt war, lag Granit. Auf der anderen Seite der Atlantischen Schwelle, dieser ungeheuren submarinen Bergkette, die breiter war als die Anden und höher als der Himalaja, bestand der Meeresboden aus Basalt. Wieder kroch ein Ehrfurchtsschauer Peter Tränts Rücken hinab ... Die wundervollen Errungenschaften, die ihn hierhergebracht hatten, änderten ihren Platz in seiner Wertschätzung. Bisher hatte er geglaubt, das größte Wunder sei die Ostrovsky-Wong-Behandlung, die es ermöglicht, den Druck der Meerestiefen freibeweglich in einer Tauchausrüstung auszuhalten, die weniger schwerfällig war als die Raumanzüge, die für das interplanetare Vakuum benötigt wurden. Doch war es nicht eigentlich noch erstaunlicher, daß der Mensch fähig war, Echosonden hierherzusenden, die ihm übermittelten, worauf er stoßen würde, wenn er selbst kam? Als Peter sich dem Bathynef näherte, mußte er Bewegungen wie ein Akrobat ausführen, doch der große Widerstand des dichten Wassers machte das traumhaft leicht. Unter den wuchtigen Schwimmtanks geriet er in den Schatten und mußte eine Weile innehalten, um seine Augen an das Lichtfeld zu gewöhnen, das den Leuchtstrahl umgab, den er jetzt nicht mehr sehen konnte. Sobald er das dunklere Oval wahrnahm, das der Eingang zur Lukenschleuse war, zog er sich hinein. Die äußere Luke schloß sich hinter ihm, die innere öffnete sich unmittelbar danach. Der Kabinenraum war natürlich voll Wasser. Luft unter einem Druck, der für menschliche Lungen normalerweise noch erträglich gewesen wäre, hätte eine Verdoppelung der Rumpfwand des Bathynefs bedeutet. Wer in diesem Schiff fahren wollte, mußte die Ostrovsky-WongBehandlung durchmachen und während der ganzen Exkursion im Taucheranzug bleiben 9
Er drückte sich an Mary Davis vorbei und klopfte ihr dabei auf die Schulter. Sie wandte den Kopf, und er sah ihr Gesicht durch die Stirnplatte ihres Helmes. Er grinste sie breit an und winkte ihr zu. Sie antwortete mit einem leicht gezwungenen Lächeln. Das dritte Mitglied der Besatzung, Luke Wallace, hatte die Abwesenheit Peters dazu benutzt, mehr als den ihm zustehenden Anteil des winzigen Raumes zu beanspruchen. Während er sich auf seinen Platz zurückzog, machte er pantomimische Gesten, als wolle er Peter wieder aus der Luke hinauswerfen. „Was suchst du denn so schnell wieder hier?" flüsterte er über die Kopfhörer. Im Bathynef selbst verbreitete Schall sich gut genug, so daß man mit normaler Stimme sprechen konnte, doch Störungsgeräusche der Kehlkopfmikrophone hatten sie bald dazu veranlaßt, beständig zu flüstern. „Mary und ich waren ganz schön vorangekommen!" „Verzapf keinen Unsinn!" sagte Peter. „Jedenfalls hatten wir eine tolle Chance für Forschungsarbeit!" sagte Luke. Mary unterbrach ungeduldig. „Peter, seien Sie doch ernst. Klappt die Geschichte?" „Hundertprozentig", bestätigte Peter sachlich. „Ich kann es immer noch nicht glauben, obwohl ich Gott-weiß-wieviele Drucktank-Tests und Tauchversuche in geringer Tiefe mitgemacht habe." Lukes Flüstern schnitt ihm das Wort ab. „Trotzdem bin ich immer noch sehr glücklich darüber, Peter, daß du den ersten Versuch im tiefen Wasser gemacht hast. Aber ich würde gern die erste Feld-Untersuchung vornehmen, wenn man's so nennen kann. Wie dicht sind wir am Boden? Oder genauer, am Rand?" „Was meinst du?" „Nun, immerhin sind wir im Ostatlantischen Becken. Und 10
hast du schon mal ein Becken ohne Rand gesehen?" „Nicht schlecht, Luke", sagte Mary mit einem gezwungenen Kichern. „Ich schaue nach." Sie drückte einen Knopf auf dem Echolotpult, und auf einem Bildschirm tauchte ein Muster undeutlicher sternförmiger Punkte auf. „Ich habe nicht ganz einen Kilometer bis zum nächsten Punkt unserer Tiefe." „Schön, dann laßt uns 'rüberrudern. Ich möchte hinausgehen, ein bißchen 'rumbuddeln, Schlamm aufwirbeln und ein paar Proben der Fauna einsammeln, wenn ich welche finde." „Ich halte das für eine großartige Idee", sagte Peter. Mary nickte und ließ Wasser in den Atomreaktor. „Ruhig! Gut. Genau ist's. Jetzt habe ich die Bergwand im Scheinwerfer." Luke hing am Schiffsrumpf neben dem Einstieg und spähte in die grüne Düsternis hinaus. „Ich glaube, ich brauche keinen Handstrahler, wenn ihr so nahe bleibt, aber ich nehme ihn mit, falls ich hinunter auf den Schlammboden gehe." Schweigen. Peter bewegte sich auf seinem beschränkten Platz und starrte Mary an; er dachte, wie sehr doch die technologischen Wunder, zwischen denen sie lebten, die Geschlechter fast ununterscheidbar gemacht hatten. Die Kehlkopfmikrophone raubten Marys Stimme den Klang, der Taucheranzug versteckte ihren gutgeformten Körper. Hinter dem Helm konnte er nur ab und zu ihr Gesicht erkennen. Die Augen waren groß und ausdrucksvoll, flache, fast orientalische Backenknochen, ein voller weicher Mund. Sie hatte Sommersprossen in jeder braunen Schattierung, das Haar war ein glänzendes Hellbraun. Verwirrend. Er vergewisserte sich, daß sein Mikro auf Reichweite innerhalb des Schiffes eingestellt war. „Mary, darf ich Ihnen eine persönliche Frage stellen?" Ihr Helm wandte sich ihm zu. Er glaubte ein Lächeln zu sehen, doch er war nicht sicher. „Nur eine einzige, als 11
Belohnung." „Belohnung? Wofür?" Peter war erstaunt, und seine Frage verriet ihn. „Weil Sie der erste waren, der hinausging. Ich bin überhaupt nur aus lauter Heldenverehrung zur Ozeanographie gelangt. Und deshalb, nehme ich an, erleide ich jedesmal einen Anfall erneuter - jugendlicher Unreife, wenn ich auf Heldentum stoße." Der letzte Satz schien ihr peinlich zu sein, und sie schien ihn nur gesagt zu haben, um die Bemerkung über die Belohnung abzuschwächen. „Also, das ist doch ... Übrigens ist damit meine Frage zur Hälfte beantwortet. Sie sind eine sehr attraktive Frau, Mary. Was, zum Teufel, haben Sie hier zu suchen, anstatt zu Hause zu sein und mit jungen Männern zum Dinner zu gehen ?" Sie antwortete lange nicht. „Schon gut, schon gut. Ich werde es Ihnen erklären", sagte sie schließlich. „Aber ich muß Sie warnen, Sie werden es für ziemlich blödsinnig halten. Es war in meiner Schulzeit, und ich war erst vierzehn. Ich war damals entsetzlich in einen älteren Jungen verliebt. Er muß ungefähr siebzehn gewesen sein. Ich machte mich älter, versuchte raffiniert auszusehen, zu reden und mich zu benehmen. Er lachte mich einfach aus. Und das ist ja weiter nicht verwunderlich. Aber schließlich wurde ich richtig wütend. Zuerst auf ihn, dann auf mich selbst. Ich wußte, was dieser Junge nach dem Examen vor hatte, er wollte beim Scripps Institute arbeiten. Er war mit einem der Unterwassergeologen befreundet, und er durfte in den Sommerferien auf einem Beobachtungsschiff mitfahren. Also sagte ich mir: Gut, was, zum Teufel, ist das Scripps Institute? Ein Institut für Ozeanographie? Nie davon gehört. Aber, so wahr ich hier sitze, ich werde darüber besser Bescheid wissen als er!" Ein trockenes Kichern. „Und zum Kuckuck, es kam so. Ach, den Jungen hatte ich nach ein paar Monaten überwunden. Aber inzwischen hatte mich die Sache gepackt, und ich hatte mir 12
außerdem eingeredet, ich würde sowieso mein Leben lang eine einsame Jungfer bleiben, also brauchte ich unbedingt einen Beruf, und dieser schien mir recht gut zu sein." Peter grinste, aber mit abgewandtem Gesicht. Er wollte gerade sagen, daß er die Geschichte tatsächlich komisch, aber vollkommen verständlich finde, als eine Unterbrechung eintrat. Es war kaum mehr als ein Murmeln. Aber es kam von Luke, von draußen im tiefen Wasser. „Na-na!" Es klang wie der ruhige, aber ärgerliche Ausruf eines Mannes, der sieht, wie ein kleines Kind ein wertvolles Stück in Gefahr bringt. Mary preßte ihr Helmfenster dicht an das Quarzglas, aber der Sichtbereich aus dem Innern des Nefs war fast Null. Um zu sehen, mußte die Besatzung durch die Luke hinausgehen. „Luke!" rief Mary. „Alles okay?" „Mir geht's prima, genau wie Peter." Lukes Stimme klang ruhig, aber die Tatsache, daß er „Peter" und nicht „Petey" oder „Pete" gesagt hatte, verriet ihn. „Anstrengung ist möglich, aber nicht über längere Zeit. Mein Koordinationsvermögen läßt ein bißchen nach. Es gibt da so eine Art Höhle, die ich untersucht habe. Habe ein paar unwahrscheinliche Muscheln gefunden. Ich habe ein paar davon abgeschlagen und vielleicht zu fest zugeschlagen, und jetzt ist eine halbe Tonne Schlamm über den Höhleneingang gerutscht." „Kannst du dort 'rauskommen?" fragte Mary besorgt. „Ich glaube schon. Die Öffnung ist groß genug, ich kann den Leuchtstrahl ganz deutlich sehen. Ich werde nur hindurchschwimmen müssen, ohne die Seitenwände zu berühren. Es ist wackelig wie ein Kartenhaus. Muß jetzt los, jetzt oder nie!" Plötzlich schwankte das Schiff wie ein Ballon in einer Bö vom Berghang fort. Ein grollender Lärm an der Schwelle des Hörbaren bewirkte in ihren Ohren die psychologische Störung subsonischer Geräusche. Eine Schlammwolke schob sich 13
langsam vor die kleinen Bullaugen. Mary war auf die Schockwelle besser vorbereitet gewesen als Peter, da sie sicher in ihrem Kontrollsessel saß, während er ausgestreckt dagelegen hatte und sich nun zappelnd durch das träge Wasser hangeln mußte, das die Kabine füllte. Doch noch während er sich abmühte, wieder an seinen Platz zu gelangen, war er sich darüber im klaren, was geschehen sein mußte. Die Höhle lag wohl in einem schrägen Felsauswuchs unter Tonnen von Schlamm, die, einmal in Bewegung gesetzt, wie eine Zeitlupenlawine in den Abgrund donnern mußten. Er schrie: „Luke! Luke!" Dann merkte er, daß sein Mikro auf Innerschiffkontakt eingestellt war. Aber das machte wahrscheinlich überhaupt nichts mehr aus. Luke konnte die Schreie nicht hören.
3. „Mein Gott!" flüsterte Mary. Sie zündete den Reaktor und versuchte das Beben des Schiffes zu kontrollieren. Peter preßte seine Sichtplatte gegen das Bullauge und starrte in das trübe Wasser. Er sah nichts außer einem anscheinend festen, aber leichtgewichtigen Klumpen, der durch den Scheinwerferkegel trieb. Langsam, dann sank er für immer in den Schlamm des Atlantikbodens. „Ich glaube, es hat aufgehört", sagte Peter rauh, dann erinnerte er sich und begann wieder zu flüstern. „Sind wir weit abgetrieben?" „Nicht sehr", brachte Mary hervor. „Könnten Sie die Stelle wiederfinden?" „Mein Gott, das weiß ich wirklich nicht." Sie machte eine Bewegung, als wolle sie sich das Haar aus der Stirn streichen. 14
„Ich kann's versuchen. Wollen Sie 'rausgehen?" „Sicher! Wenn es auch nur die geringste Chance gibt, daß wir ihn erreichen ... Vielleicht steckt er nur im Schlamm fest. Vielleicht ist er auch noch in der Höhle und kann unsere Signale nicht auffangen oder zu uns durchkommen." Er begann die Lukentür zu öffnen. Mary unterbrach die Handbewegung, mit der sie den Reaktor in Gang setzen wollte. Dann wandte sie sich kopfschüttelnd ab. „Das Risiko ist zu groß. Es könnte mehr Schlamm abrutschen." „Zu groß? Was meinen Sie damit? Solange überhaupt noch Hoffnung besteht ..." Dann war es ihm plötzlich klar. Mary war etwa siebenundzwanzig. Er wußte genau, Luke war dreißig. „Mary, war Luke nicht am Scripps Institute, bevor er zu uns kam?" Ihr Ja war kaum hörbar. „Und sind Sie seinetwegen hierhergekommen?" Noch schwächer: „Ja." „Gut. Es mag Ihnen ja nichts mehr an ihm liegen, und er mag ja vielleicht nicht die göttergleiche Idealfigur sein, für die Sie ihn mit vierzehn gehalten haben, aber er ist ein Mensch und außerdem ein verdammt guter Ozeanograph. Ich gebe ihn nicht auf, ehe ich mich selbst überzeugt habe! Und jetzt setzen Sie das Nef in Bewegung!" Er schwang sich durch die Luke, hielt sich an den Griffen am Schiffsrumpf fest und starrte nach vorn auf die Bergkette. Das Bathynef machte höchstens zwei Knoten. Er spürte die Druckverschiebung kaum, die durch die langsame Fortbewegung entstand, doch sie war stark genug, daß der schwebende Schlamm sich auf seiner Sichtscheibe absetzte und er ihn in kurzen Abständen immer wieder fortwischen mußte. Dennoch schnitt der grelle Scheinwerfer durch den Schlammnebel, und Peter schloß daraus, daß der Rutsch trotz der heftigen Schockwelle doch relativ unbedeutend gewesen 15
war. Nur ein paar hundert Tonnen Schlamm. Nur! Das Ostrovsky-Wong-Verfahren machte den menschlichen Körper gegen sehr hohen Druck resistent, aber das Gewicht von hundert Tonnen Schlamm war doch eine ganz andere Sache. Es konnte kaum einen Zweifel geben, es war hoffnungslos. „Stop! Ruhig!" befahl er. „Ich sehe die Wand vor mir." Im Scheinwerferlicht überblickte er jetzt ein größeres Terrain. „Was glauben Sie, wie nahe wir herankönnen?" Marys Stimme verriet eine verhaltene Spannung. „So nahe, wie Ihre Nerven es erlauben", gab Peter brutal zurück. „Okay! Stop! Ich kann nicht sehen, wo mehr Schlamm abrutschen sollte. Die Lawinenspur ist fast hundert Meter breit. Ich schalte jetzt aus und suche die Oberfläche ab, ohne etwas zu berühren. Wenn alles ruhig scheint, gehe ich mit der Sonde darüber, vielleicht kann ich ein. Echo von Lukes Helm oder den Sauerstofftanks hereinkriegen." Das Risiko, daß mehr Schlamm herunterkommen könnte, war nahezu gleich Null, fand er, als er die Katastophenstelle sorgfältig überkreist hatte. Deshalb schaltete er das kleine Gerät, das normalerweise für Sprechfunk bestimmt war, auf Echolot um und begann eifrig über den abgerutschten Schlamm hin und her zu schwimmen ... Er wollte Mary gerade signalisieren, daß er aufgeben müsse, als ihm ein Gedanke kam. Vielleicht war der Schlamm vom Eingang der Höhle, in der Luke gefangen war, tiefer abwärts gerutscht. Dann wäre er jetzt möglicherweise etwas unterhalb der Höhle. Er stieß sich nach oben, zu den Felsen hinauf, die die Schlammlawine freigelegt hatte. Auf einen kurzen Befehl hin kam Mary ihm mit dem Schiff nach. Der Scheinwerfer traf auf nackten Fels, kein Höhleneingang weit und breit. Fels? Er war so eifrig in seine Suche vertieft, daß es eine ganze Weile dauerte, bis ihm die Unwahrscheinlichkeit dämmerte. 16
Fels? Seit wann gab es irgendein Gestein, das sich in kleinen Flächen in leicht unterschiedlichem Winkel zueinander aufwarf - und dabei jede einzelne Fläche quadratisch? Geschmolzenes Gestein, schnell fließende und schnell erkaltende Lava, erstarrt in hexagonalen Formen. Aber Quadrate? Von gleicher Größe? Wie Steinplatten, unter denen der Grund nachgab? Und in diesem Augenblick vergaß Peter seinen verschwundenen Kameraden völlig. Er wußte, nach dieser Entdeckung würde Luke ihm vergeben, ja er würde sogar gern sein Leben geopfert haben, um ans Licht zu bringen, was sonst vielleicht noch jahrhundertelang unentdeckt geblieben wäre. Peter tauchte vorwärts und begann an der dünnen Schlammschicht zu kratzen, die den Stein bedeckte. Marmor. Nein, nicht Marmor. Marmorblöcke mit Rillen, in die etwas Härteres als Marmor eingelegt war. Ein Muster, schwarz gegen den helleren Stein, das nicht zufällig war. Das erste Gebilde, das er mit dem Finger nachzeichnete, ähnelte dem Siegel Salomonis, nur bestand er statt aus zwei verbundenen Dreiecken aus Quadraten. Das nächste sah dem Äskulapzeichen außerordentlich ähnlich, dem Symbol der Ärzte. „Mary! Ich habe etwas Phantastisches gefunden! Unglaublich. Bringen Sie das Nef vorsichtig herüber. Ich will Fotos haben, gute Fotos, und viele!" Fieberhaft beseitigte er die dünne schleimige Schlammschicht. Sein wildes Vorgehen machte jedoch seine Arbeit nutzlos, denn er wirbelte den Schlamm über dem „Pflaster" auf, wie er es bereits nannte. Er mußte mit sanften Bewegungen die feinen Teilchen lange genug beiseitetreiben, damit die Kamera des Tauchboots die geheimnisvollen Symbole fotografieren konnte. Manche von ihnen waren ihm vertraut: konzentrische Kreise, gleichschenklige Dreiecke zu einem Sternmuster gefügt, 17
einfache Gruppen sich schneidender Linien. Manche waren quälend bekannt - wie der Äskulapstab. Er gab gegabelte Symbole wie das chinesische Ideogramm für „Mensch", und etwas wie ein dreiarmiges Hakenkreuz, das ihn an das Wappen der Isle of Man erinnerte. Und dann gab es Zeichen, mit nichts zu vergleichen, was er gesehen hatte, die ihm in einem oder zwei Fällen ein merkwürdiges Gefühl der Unruhe vermittelten. Er umkreiste das Gebiet, stocherte an mehreren Stellen nach Gegenständen, die wie Mauerreste unter Schlamm wirkten, doch wagte er die Funde nicht freizulegen, weil er fürchtete, damit eine zweite Schlammlawine auszulösen. Dann schwamm er zum Schiff zurück. Mary erwartete ihn schweigend. Als er sicher wieder in der Kabine war, setzte sie sofort den Motor in Bewegung, der das Wasser aus den Schwimmtanks in die Magnetglocke des Scheinwerfers pumpte. Die rasende Gewalt zertrümmerte die Elemente sofort zu Gas. Und dieses Gas hob sie langsam der Oberfläche entgegen. Peter machte es sich auf seinem Platz bequem. Er überlegte, was wohl auf den Bildern zu sehen sein würde, wenn sie die nötigen Korrekturen ' angewendet hätten und sie in voller . Farbpracht auf dem Bildschirm erstrahlten. „Mary", sagte er, erschrocken über seine eigenen Gedanken, „Sie müssen sich klar darüber sein, daß wir da über etwas gestolpert sind, das offenbar viel älter ist als Atlantis. Älter als jede bekannte menschliche Zivilisation." Sie nickte. „Wenn sie bauen konnten, ehe es uns gab, was waren sie dann?" „Wer", verbesserte Peter. „Nicht was. Wenn sie bauen konnten, dann waren sie unsere Vettern, wie immer sie auch ausgesehen haben." Er brach ab, dann fügte er verlegen hinzu: „Wissen Sie, ich glaube, Luke hat eine großartigere Gedenkstätte als je ein anderer Mensch." 18
Eine Sekunde lang war ihm nicht klar, was er sah. Dann machte er gerade noch rechtzeitig die angemessenen Armbewegungen. Blind vor Tranen stürzte sich Mary in seine Arme, und Tausende Meter unter dem Meeresspiegel und behindert durch die lebenserhaltenden Anzügen, versuchte er, Mary Trost zu spenden.
4. Nach dem Land-Verfahren farbverbessert, leuchteten die Bilder der unglaublichen Pflastersteine auf dem Projektionsschirm in der eilig abgedunkelten Messe der Alexander Bache auf. Peter starrte benommen auf den Schirm. Das war eine Begräbnisstätte unter hunderttausend jährigem Globi-grennaSchlamm, der zweifellos ebenso mumifizierend gewirkt hatte, wie das Torfwasser des Moores den Tollund-Menschen einbalsamierte, der allerdings erst ein paar Jahrhunderte lang tot war. Neben ihm und Mary waren sechs weitere Personen anwesend. Von der regulären Besatzung des Mutterschiffs Kapitän Hartlund, der Erste Offizier Ellington und der Schiffsingenieur, Offizier Platt. Von der Atlantic Research Foundation waren auf dieser Fahrt folgende Wissenschaftler an Bord der Alexander Bache: Dick Loescher, ein Neuling in der Meeresgeologie, und Eloise Vanderplank, Bio-Ökologin, mit dem Forschungsauftrag, die Interdependenz von Fischbeständen und Plankton zu untersuchen. Peter blickte zu dem letzten Mann der Gruppe, dem Leiter des Unternehmens, Dr. Gordon. 19
Gordon war ein rundlicher, friedlicher Mann. In seinem Fach schätzte man ihn als nüchternen und erfahrenen Ozeanologen. Peter sah überrascht, daß der unerschütterliche Gordon sich auf die Ellbogen gestützt vorbeugte, mit starrem Blick am Bildschirm hing und vor sich hin murmelte. Peter schaute zu Mary auf der anderen Seite des Tisches hinüber. Sie wirkte kühl und wunderschön in ihrem schlichten weißen Rock und der weißen Bluse, doch die roten Augenlider verrieten, was sie getan hatte, als das Nef längsseits geholt wurde. Während die Bilder entwickelt wurden und Peter von Lukes Verschwinden berichtete, hatte sie sich in ihrer Kabine versteckt und sich den Schmerz von der Seele geweint. Es gelang ihm, Marys Blick zu fangen, und er nickte in Richtung Dr. Gordon. Ihr Antwortnicken veranlaßte ihn dazu, sich zu räuspern und sich in seinem Sessel zu drehen. „Hm, Dr. Gordon! Haben Sie schon eine Theorie über die Herkunft dieser Relikte?" Das war natürlich eine ungeschickte Frage einem Mann gegenüber, der oft monate- und jahrelang Theorien prüfte, ehe er sie für brauchbar erklärte, und so beeilte sich Peter, sie abzuschwächen. „Ich meine, soweit wir über Daten verfügen, versuchsweise ..." „Theorie, mein lieber Peter? Theorie? Wer kann in einem Augenblick, wie wir ihn erleben, von Theorien sprechen? Theorien, um Himmels willen, wenn wir wissen, wenn Sie wissen, wenn alle es wissen!" Die anderen warfen einander Blicke zu. Da Eloise Vanderplank das nächstälteste Stabsmitglied war und länger als alle anderen mit Gordon zusammengearbeitet hatte, fiel das Lob auf sie. Sie legte ihren knochigen sonnengebräunten Arm auf den Tisch und fragte mit hoher Stimme: „Was wissen wir, Chef?" „Also wirklich, Eloise!" Gordon richtete sich abrupt auf. „Wir finden Bauten oder Spuren von Bauten auf dem Grund des Ozeans, im Ostatlantischen Becken, von dem bekannt ist, daß 20
es auf einem Granitsockel ruht und also früher zu einem Kontinent gehört haben muß, und Sie stellen solch eine Frage. Wirklich, Eloise, auch wenn Sie sich auf Fische spezialisiert haben, so hätte ich doch angenommen, daß ein bißchen Allgemeinwissen in diesem Bereich auf Sie abgefärbt hätte. Von mir zumindest, wenn schon nicht von anderen." Peter spürte plötzlich Enttäuschung. Lag hier Gordons „geheime Laster" versteckt? Waren sie auf die wirklichen Hintergründe für seine unermüdliche ozeanographische Arbeit gestoßen, sein Faktensammeln. das Zusammenflicken aussichtsreicher, aber löcheriger Hypothesen? Mary hatte wohl die Wahrheit rascher erkannt. Sie schob ihren Stuhl zurück. „Dr. Gordon, wenn Sie Atlantis meinen, dann sind Sie verrückt!" Die Versammlung grinste, die Spannung löste sich. Aber die Wirkung auf Gordon war erschreckend. Sein Gesicht wurde rot, er schniebte, er hieb auf den Tisch. „Das ist unverzeihlich! Geben Sie wenigstens zu, daß nicht ich als erster Atlantis erwähnt habe. Und ich hätte es auch keinesfalls getan, denn ich weiß ebensogut wie sie und wahrscheinlich sogar besser als Sie - denn ich habe die Materie studiert, als Sie alle noch in der Wiege krähten - daß Platos Atlantis in viel jüngerer Zeit unterging als die Landmasse, über der wir treiben. Aber Atlantis ist als Benennung so gut wie jede andere, und es ist durch den Brauch geheiligt und durch die Tradition gerechtfertigt. Für mich jedenfalls war es seit meiner Schulzeit aufgrund von Indizienbeweisen klar, daß irgendeine echte Katastrophe über irgendeine tatsächlich existierende bedeutende Zivilisation hereingebrochen sein muß. Ich sollte Ihnen das eigentlich nicht erklären müssen! Und jetzt finden wir Beweise, die niemand bestreiten kann, auch wenn manche das verzweifelt gern täten. Vielleicht nicht gerade Beweise für Platos Atlantis, aber sicher für eine große Zivilisation, die vielleicht auf ihre Weise ebenso bedeutend 21
war wie die unsere. Wenn sie technisch so weit fortgeschritten gewesen wäre wie wir, hätte sie vielleicht den geologischen Umbruch überlebt, der ihren Untergang herbeiführte. Doch es gibt ja noch andere Wissensgebiete als die Technik." Er spuckte das Wort wie eine Beleidigung aus. Mary saß mit niedergeschlagenen Augen da. Peter tastete unter dem Tisch nach ihrem Fuß und drückte mit dem seinen dagegen. Er wünschte, er hätte statt dessen ihre Hand ergreifen können. In das lastende Schweigen schob sich die kühle Stimme Kapitän Hartlunds. „Ich muß sagen, Chef, Sie holen verdammt viel aus ein paar einzelnen Steinplatten mit Hieroglyphen heraus - die am Ende vielleicht nur Ornamente sind." Er nahm die leere Pfeife aus dem Mund und wies auf den Bildschirm. „Ich bin kein Fachwissenschaftler, aber ich habe auf der Brache und den früheren Forschungsschiffen lange genug gearbeitet, daß ein bißchen was auf mich abgefärbt hat, wie Sie es so schön ausdrücken. Es kann gar kein Zweifel daran bestehen, daß hier unter unseren Füßen eine epochemachende Entdeckung liegt. Vor hunderttausend Jahren dürfte es eigentlich auf der Erde keine Menschen gegeben haben, die was Besseres als Fellzelte oder Höhlen hatten. Aber was haben wir denn wirklich entdeckt? Einen unermeßlichen Schatzfund oder eine so unwiderstehliche phantastische Sache, wie es die Statuen der Osterinsel waren, bevor man sie im richtigen Zusammenhang sah? Peter erklärt, er hat nur Spuren von Mauerwerk gesehen. Ich denke mir, es ist durchaus möglich, daß wir nur auf sowas wie - sagen wir ein Super-Stonehenge gestoßen sind; ein einmaliges Meisterwerk, das eine ansonsten primitive Gesellschaft aus irgendwelchen praktischen oder mystischen Gründen errichtete; und das wird den Anthropologen und Paläontologen noch jahrelang Rätsel aufgeben." Die Spannung wich. Harlunds eindringliche Vernunft 22
verfehlte ihre Wirkung nicht einmal auf Gordon. „Na schön", sagte er bereitwillig. „Ich hatte erwogen, sofort einen Bericht und Kopien der Bilder durchzufunken, die Mary und Peter heraufgebracht haben. Aber mir fällt ein, die Zeitungsreporter könnten Atlantis ausschlachten, ich meine natürlich das sagenhafte Atlantis Platos und Ignatius Donnellys, und auf diese Weise die viel wichtigeren Entdeckungen, die wir vielleicht noch machen, in den Schatten stellen." Er seufzte, und einen Augenblick lang schien er wieder weit weg zu sein. „Doch wenn es nicht das ist, was Sie denken, nicht nur eine unterirdische Osterinsel, was für Perspektiven tun sich dann vor uns auf! Der Schlüssel zur Zukunft, aus der Vergangenheit herübergereicht. Die Hoffnung auf vergessenes Wissen, auf ..." Eloise hustete, und der Chef brach ab. „Tut mir leid. - Was jetzt praktische Vorschläge für das unmittelbare weitere Vorgehen betrifft ..."
5. Im weiteren verlief die Besprechung normal, und als sie beendet war, folgte Peter Harlund auf Deck. Die Sonne stand schon sehr tief, aber die Luft war ruhig und warm. „Danke dafür, daß Sie der kleinen Peinlichkeit ein Ende gemacht haben", sagte Peter. Der Kapitän stopfte Shag in seine Pfeife und lächelte. „Wir haben alle unsere Unzulänglichkeiten", sagte er. „Wann gehen wir wieder mit dem Nef herunter?" fragte Peter. „Hängt davon ab, wie lange Fred Platt braucht, sein Okay zu geben. Und davon, ob der Chef auf Flachwassertests bei Dick 23
und Eloise besteht, ehe er sie ganz 'runterläßt. Wie lange müssen Sie zwischen Tauchfahrten aussetzen?" „Minimal achtundvierzig Stunden in Meereshöhe, und man glaubt, sechs Tauchfahrten unter einer Meile sind das höchste bei jeder Expedition. Aber man weiß es natürlich nicht genau. Vielleicht kann man die Ruhepausen abkürzen. Bis jetzt geht man auf Nummer sicher." „Tschuldigung!" sagte Platt hinter ihnen, und sie traten beiseite, um ihn durchzulassen. Er trug die Service- und Pannendetektoren-Apparate für das Nef, einer der Hilfsingenieure folgte ihm auf dem Fuß. „Hat die ganze Zeit wie ein Traum funktioniert, Fred!" sagte Peter. Platt gab ihm, über die Schulter hinweg Antwort. „Na prima! Und jetzt wollen wir mal sehen, ob es wie eine Maschine funktioniert!" Er und sein Assistent waren Sekunden später über Bord und hangelten sich an der Leine zum Nef hinüber. Hartlund kicherte. „Kein Zweifel und keine Verzögerungen", erklärte er. „Ich wünschte, wir hätten noch ein paar von den verflixten Nefs. Die Bathyscaphes sind ja auf ihre Art auch nicht schlecht, aber was kann man schon ohne Atomantrieb wirklich ausrichten?" „Nun, es gibt tatsächlich mehr als eins, wissen Sie?" korrigierte Peter. Hartlund blies Rauch in die Luft. „Natürlich. Die Russkis haben auch eins. Die Vladimir Ostrovsky, was?" „Pavel Ostrovsky", antwortete Peter. „Ich würde sie wirklich gern mal sehen, noch lieber mal in ihr heruntergehen. Manche der Daten, die die Russen mit ihr heraufbrachten, machten mich verrückt vor Neid!" Hartlund lachte. „Aber vergessen Sie nicht, augenblicklich scheint das Glück auf unserer Seite zu sein." Am nächsten Morgen hätte Peter sich ohrfeigen können, während er zuschaute, wie das Nef mit Eloise und Dick 24
Loescher an Bord untertauchte. Wenn er nicht soviel Zeit mit dem verdammten Steinpiaster vergeudet hätte, dann hätte er einen Großteil der Arbeit, die die beiden jetzt vorhatten, bereits erledigen können, und es wäre befriedigender gewesen, einen besseren Eindruck von der Entdeckung zu gewinnen. Und damit wäre die .unangenehme gestrige Szene mit dem Chef vermieden worden. Um sich während der sechsunddreißig Stunden zu beschäftigen, die der derzeitige Tauchgang dauern würde, bereitete Peter einen Bericht über die Steinplatten vor, der den Bildern beigefügt werden sollte. Er schrieb ihn fünfmal um, um noch ein paar Stunden mehr totzuschlagen, dann brachte er schließlich den Bericht zum Chef. Gordon nahm ihn mit einem abwesenden Nicken entgegen, las, schien offenbar etwas dazu sagen zu wollen, unterließ es aber dann. Peter zögerte eine Sekunde, dann wandte er sich zum Gehen. Er verließ die Kabine und schlenderte tief in Gedanken auf Deck. Die Geschichte, die Mary ihm kurz vor Lukes Tod erzählt hatte, ging ihm durch den Kopf. Es war merkwürdig. Bevor er davon gehört hatte, war er Mary gegenüber blind gewesen. Sie war zwar zu attraktiv, als daß man sie hätte übersehen können, doch obwohl sie eindeutig mit keinem der Männer an Bord ein Verhältnis hatte und auch von keinem Mann an Land sprach, hatte er an sie nie als an eine Frau gedacht. Eine Tür wurde geöffnet. Es war finster, aber Mary trug die weiße Bluse und den weißen Rock, und er erkannte sie sofort. Peter ging langsam zu ihr hinüber an die Reling und blieb neben ihr stehen. Sie nahm seine Anwesenheit mit einer Kopfbewegung wahr und starrte dann wieder ins Wasser. Er sagte nichts. Seine Hand streifte die ihre, dann schloß sie sich um sie, und Mary antwortete auf seinen fragenden Druck mit einem Gegendruck. Schließlich begann sie zu sprechen. „Es war großartig von Ihnen, daß Sie nach Luke gesucht 25
haben." „Was, zum Teufel, hätte ich denn sonst tun sollen?" fragte Peter. „Im Nef hockenbleiben und unter lustigen Gesängen an die Oberfläche zurückplätschern ?" Sie brachte ein höfliches Lachen zustande. „Nein. Ich meine, also, ich glaube, ich kann es ebensogut auch aussprechen: Ich habe nicht übermütig versucht, Sie zurückzuhalten, weil ich mich so sehr bemühen mußte, nicht zur Luke zu stürzen und selbst auf die Suche zu gehen." „Ich verstehe", sagte Peter so sanft er konnte. „Noch dazu haben Sie mir gerade die Geschichte erzählt, und das Ganze war wieder frisch in Ihrer Erinnerung ..." Sie nickte. „Das hat es natürlich noch schlimmer gemacht." „Und haben Sie die Geschichte auch Luke ...?" „Nein." Das Wort klang trocken und verloren. Abrupt hatte sie sich ihm zugewendet. Schluchzen schüttelte sie, während er sie zu trösten versuchte wie gestern, als sie den Schauplatz von Lukes Untergang verließen. Dann sagte Peter sanft: „Sie hatten wirklich noch immer etwas für ihn übrig? Und Sie haben es sehr gut versteckt." Sie entzog sich ihm, ihr Gesicht war plötzlich unbeweglich, die Augen forschend auf ihn gerichtet. „Sie haben gesagt, daß Sie mich verstehen", hauchte sie. „Bloß das stimmt nicht. Sie verstehen überhaupt nichts!" Peter stand immer noch mit halboffenem Mund da und suchte nach einer Erwiderung, als der Messegong ertönte. Mary benutzte die Gelegenheit, drehte sich auf den Hacken um und ging davon. Diese unbegreifliche Episode bohrte in seinen Gedanken und schob sich immer wieder zwischen ihn und das Blatt Papier, auf dem er seine Aussage über Lukes Tod zu machen versuchte, um die ihn der Chef gebeten hatte. Er hatte den Gedanken gerade zum zehntenmal energisch verscheucht und sich das Blatt Papier erneut vorgenommen, als er aufgeregte 26
Stimmen vernahm. Eloise und Dick sollten erst in ein paar Stunden zurückkehren. Er stand auf und stieß in der Tür auf den Ersten Offizier. „He, was ist denn los?" „Das Nef kommt 'rauf", antwortete Elington. „Ich hatte sie vor ein paar Minuten auf dem Echolot. Sie sind zu früh dran, und das bedeutet aller Wahrscheinlichkeit nach Schwierigkeiten. Oder eine epochale Entdeckung, die sie nicht länger für sich behalten können. Entschuldigen Sie mich jetzt bitte." Mit dem Nef schien alles in Ordung zu sein, als es auftauchte. Die Barkasse schoß auf den Zielpunkt zu, Platt hatte seine gesamte Kontroll- und Reparaturausrüstung neben sich am Ruder liegen. Aber als klar wurde, daß das Nef vollkommen unter Kontrolle war, drosselte Platt den Motor und zog verwirrt eine Schleife, ehe er auf das Nef zustieß. Zwei Gestalten in Taucheranzügen kamen ordnungsgemäß und normal neben dem Nef an die Oberfläche. Und eine dritte folgte ihnen. Die dritte Gestalt sah - wie Luke aus. Nein! Es war Luke! ...
6. Die Nachricht verbreitete sich auf dem ganzen Forschungsschiff, noch ehe Platt die Barkasse schaukelnd bei den drei Tauchern zum Halten brachte. Alle, außer dem Funker und dem Zweiten Schiffsingenieur, der im Maschinenraum Dienst hatte, stürzten eilig auf Deck, um die unmögliche Geschichte mit eigenen Augen zu sehen. Die Wirkung auf Dr. Gordon war bestürzend. Er kam aus 27
seiner Kabine getrabt, den Kugelschreiber noch in der Hand, das Gesicht vor Aufregung gerötet und schweißüberströmt. Peter hatte das Gefühl, sein Verstand setze zeitweilig aus. Er konnte nicht einmal eine simple Theorie für Lukes Wiederkehr aufstellen. Aber Luke lebte, er kletterte ohne Hilfe aufs Deck der Barkasse, schraubte sich selbst den Taucherhelm ab und hockte sich auf einen der Achtersitze. Ohne Sauerstoff ... Und er konnte keinen Sauerstoff mehr übriggehabt haben!. Die Barkasse kam längsseits; Platt hatte die Fangleine des Nefs vertäut, ohne merklich zu stoppen, so eilig hatte er es, den seltsamen Passagier an Bord zu bringen. Eine Salve von Fragen schoß ihm entgegen, als er als erster an Bord kam, doch er achtete nicht darauf, sondern beugte sich zurück, um Luke an Bord zu helfen. Peter hatte erwartet, Mary würde auf Luke zustürzen und ihn umarmen. Sie tat es jedoch nicht, sie starrte ihn nur an. Ganz eindeutig, dachte Peter, sie hat recht gehabt, als sie sagte, ich verstehe sie nicht. Dann kamen Eloise und Dick. Die Fragen, die Luke nicht beachtet hatte, prasselten jetzt auf sie herunter. Aber bevor Eloise und Dick irgendeine der Fragen beantworten konnte, hatte sich der Chef zwischen Ellington und Hartlund gedrängt. „Schluß jetzt!" befahl er scharf. „Hartlund, Sie haben doch einen klaren Kopf. Bringen Sie Luke ins Schiffslazarett und lassen Sie ihn von Kopf bis Fuß untersuchen. Ich bin in einer Minute unten. Dick, Eloise, ihr zwei kommt mit in meine Kabine und berichtet, was passiert ist. Und ihr anderen, Schluß jetzt! Wir finden rascher eine Antwort, wenn ihr uns in Ruhe laßt." Gehorsam zerstreute sich die Menge. Peter suchte Mary, konnte sie aber nirgendwo entdecken. Um 17.00 Uhr kam über den Schiffslautsprecher die 28
Nachricht, daß in der Messe sofort eine Stabsbesprechung stattfinden werde. Peter war bereits in der Messe, trank Bier mit Ellington und stellte Hypothesen über die Unterredung zwischen Dick, Eloise, Platt und dem Chef an. Einige Minuten später waren alle da. Gordon saß am Kopfende des Tisches. Von Luke war nichts zu sehen. Alle blickten sich um, ob er nicht doch käme, dann seufzten sie und machten sich bereit, zuzuhören. Gordon lächelte. Er strahlte geradezu. Aber Peter mochte den Anflug von Selbstzufriedenheit in diesem Lächeln nicht. „Also, Eloise", begann der Chef, „fangen wir am Anfang an. Was war los? Sagen Sie's uns, wie Sie es mir erzählt haben." Eloise wirkte geistesabwesend. Als sie sprach, behielt ihre hohe Stimme beständig einen verwirrten Unterton bei. „Das Abtauchen verlief völlig normal", sagte sie. „Und es fiel uns nicht besonders schwer, die Stelle zu finden, wo Peter die Platten entdeckt hat. Sie traten ziemlich deutlich auf dem Echolot auf, weil sie fast frei von Schlick waren. Wir sollten aber trotzdem beim nächstenmal Baken anbringen. - Sie hatten ganz recht, Peter, es sind Mauern. Wir befürchteten, wir könnten eine neue Lawine auslösen, wenn wir nicht vorsichtig wären, also haben wir's zunächst einmal gelassen und ein paar Hundertgrammladungen in die Nähe geschickt. Nichts passierte, nur ein bißchen Schlamm wurde von der Druckwelle weggetrieben. Deshalb hielten wir die Sache für sicher und folgten dem Umriß der Mauer. - Sie liegen um einen riesigen Platz herum, eine Art Plazza mit gut hundert Metern Seitenlänge. Aber das Überraschende ist, der Platz setzt sich nach unten weiter fort. Eine enorme Stufe, höher als ich groß bin, führt nach unten. Seit Sie weg sind, Peter, hat sich wahrscheinlich der heruntergerutschte lose Schlamm ein wenig gesetzt oder ist weggespült worden. Jedenfalls, als wir hinkamen, konnten wir die Kante dieser Stufe über dem Schlammberg erkennen. - Weiter gingen wir nicht. Dick war 29
draußen und säuberte den Fuß einer Mauer, als plötzlich etwas, das eine Schwingung auf dem Echoschirm erzeugte, auf uns zukam. Aus der Tiefe, aber mehr oder weniger in unserer Richtung. Ich rief Dick zurück, Das Ding war groß und darum möglicherweise auch hungrig. Dann konnte ich es sehen. Es war Luke." Hier erzählte Dick auf einen Wink Gordons hin weiter. „Also ich schwamm zu ihm, natürlich traute ich meinen Augen nicht, ich wollte mit ihm reden, aber er zeigte mir, daß sein Sonar voll Schlamm war und nicht funktionierte. Ich brachte ihn ins Nef, wechselte sofort seinen Sauerstoffzylinder, und wir versuchten, etwas Vernünftiges aus ihm herauszubekommen, indem wir ihm einen Ersatz-Sonar gaben, doch das nützte auch nichts. Also nahmen wir an, daß auch sein Mikro kaputt war. Wir kamen zu dem Schluß, daß die Geschichte so unglaublich war, daß wir sofort nach oben gehen sollten. Und das taten wir. Unterwegs gelang es uns, schriftlich mit Luke in Kontakt zu kommen, aber er war ziemlich erschöpft und konnte nicht sehr deutlich schreiben. Wir erfuhren nur soviel, daß er unter der Schlammlawine eingeschlossen war und jegliches Zeitgefühl verloren hatte. Anscheinend war er bewußtlos. Als er schließlich wieder zu sich kam und sich freiarbeiten konnte, war vom Nef nichts zu sehen. Er wartete eine Weile in der Hoffnung, es würde zurückkommen, und kurz vor unserer Ankunft wurde er wirr im Kopf und entschloß sich wegzuschwimmen. Als er unseren Scheinwerfer sah, wurde er wieder vernünftig." „Und er ist vernünftig geblieben", sagte Gordon. „Wir haben ihn mit allen zur Verfügung stehenden Methoden untersucht. Er ist nicht nur geistig in Ordnung, sondern auch - von ein paar Prellungen und der Schwäche aus Nahrungsmangel abgesehen - körperlich völlig gesund." Peter beugte sich vor. „Chef, eine wichtige Frage an Fred Platt." 30
Ärgerlich über die Unterbrechung, gab Gordon seine Zustimmung. „Haben Sie Lukes Sauerstofftanks überprüft, Fred? Wieviel hatte er noch, als Dick sie auswechselte?" „Die Kontrollen zeigten zwei Stunden", antwortete Platt, und ungläubiges Gemurmel erhob sich im Raum. „Deshalb habe ich sie am Hauptmanometer nachgeprüft. Mit dem gleichen Resultat. Der Druck reichte noch für zwei Stunden." „In diesem Fall", sagte Peter so ruhig wie möglich, „hat Luke entweder eine Methode entdeckt, die Tanks zweitausend Meter unter dem Meeresboden wieder aufzufüllen - oder wir haben einen von den Toten auferstandenen Leichnam an Bord." „Gut, Peter! Sehr gut!" platzte Gordon heraus. „Es tut gut, Sie so vernünftig argumentieren zu hören!" Peter blinzelte. „Es ist zwangsläufig so ...", begann er, doch der Chef unterbrach ihn. „Natürlich ist es zwangsläufig so. Das habe ich doch schon gesagt, bevor es passiert ist. Luke ist gesund zurückgekehrt aus einer Situation, die ihn eigentlich hätte umbringen müssen. Es ist kein Zufall. Es kann kein Zufall sein. Und er selbst sagt, er könne sich nicht daran erinnern, das gefunden zu haben, was ich gerade noch für vorstellbar halte: einen Sauerstoffgenerator, den die Erbauer der Stadt gebrauchsfähig zurückgelassen haben. Ja, ich gebe zu, das klingt lächerlich, aber es ist eben doch nicht ganz unmöglich. Aber wenn wir das fallenlassen, dann bleibt uns nur noch die wahrscheinliche Wahrheit." „Und die wäre?" fragte Hartlund. „Daß etwas - oder besser jemand -da drunten Luke geholfen und ihn entweder wiederbelebt oder am Leben erhalten hat."
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7. Aufgeregte Stimmen erhoben sich rund um den Tisch. Der Chef wartete eine Weile, dann unterbrach er das Gerede. „Okay. Ich möchte jetzt besprechen, was weiter unternommen werden soll. Die Vorräte und die Möglichkeiten unserer Ausrüstung sind begrenzt. Ich will aber wissen, was da unten wirklich ist." Jemand hob die Hand „Ellington?" „Chef, ich möchte gern erst hören, was Luke zu sagen hat." „Ausgeschlossen. Wir lassen ihn vierundzwanzig Stunden schlafen. Ich habe das Wesentliche von ihm gehört, Eloise und Dick haben euch berichtet. Wir können jetzt nur hoffen, daß er sich nachher besser erinnert. Er hat selbst zugegeben, daß er delirierte, als man ihn fand. Wenn er sich nicht erinnert, müssen wir eben selbst suchen. Platt?" Der Schiffsingenieur runzelte die Stirn. „Ich stimme dafür, daß wir noch eine Tauchfahrt machen und jedes Stückchen Ausrüstung mitnehmen, das ich am Nef anbringen kann. Ich schwanke zwischen dem Vorschlag, zwei Mann herunterzuschicken, die dann länger untenbleiben könnten, oder drei, wobei zwei draußen arbeiten könnten." „Notgedrungen werden es zwei sein. Dick und Eloise müssen achtundvierzig Stunden aussetzen, und Luke kommt nicht in Frage. Also bleiben Mary und Peter. Wo ist Mary übrigens?" Der Chef blickte sich um. „Sie wacht bei Luke", sagte Peter. „Gut. Ja, für eine umfassende Untersuchung benötigen wir zusätzlich das russische Nef, und ich bin ziemlich sicher, daß sie kommen werden. Und da wir jetzt nichts Besseres haben, müssen wir die Franzosen bitten, uns ein paar ihrer Bathyscaphes zu leihen. Und die Briten haben auch kürzlich 32
eine neue TV-Kamera an einem ultratiefen Treibanker ausprobiert, der weiter herunterreicht, als je ein Nef gegangen ist." „Und damit werden wir nicht viel mehr als Schlick sehen", sagte Dick Loescher trocken. „Chef, um alles da unten zu erfassen, werden wir eine Unmenge völlig neuer Instrumente entwickeln müssen." Als sie sich ihrem Bestimmungsort näherten und während Mary nach dem deutlichen Sonarecho suchte, das sie hinführen sollte, starrte Peter durch das kleine Fenster. Er war neugierig, ob er überhaupt etwas sehen würde, ob Luke etwas gesehen hatte. Luke hatte noch in tiefem Schlag gelegen, als das Nef zu tauchen begann. „Ziel angepeilt", sagte Mary plötzlich. Peter bestätigte den Empfang und begab sich zur Luke, um das komplizierte Manövrieren auf den letzten hundert Metern zu überwachen. Diesmal vertäuten sie das Nef so, daß sie im Notfall beide für eine kurze Zeit die Kabine verlassen konnten. Sie hatten allerdings strengen Befehl, dabei kein Risiko einzugehen. Die erste Aufgabe war, einen günstigen Platz für den Sonarstrahl zu finden, den sie vor dem Auftauchen einschalten würden. Peter ging zuerst hinaus und untersuchte den gleichen Bereich wie Dick und Eloise. Offenbar hatten sie bereits getan, was möglich war. Ohne eine Art Riesenstaubsauger war es undenkbar, die Wände um den Platz weiter freizulegen, als bereits geschehen war. Er wälzte im Kopf alle möglichen atomgetriebenen Saugapparate, als er ins Nef zurückkehrte, um die Probenbeutel, Schachteln und Netze zu holen. Inzwischen „fotografierte" Mary mit dem Sonarabtaster die genaue Beschaffenheit des Bodens. Die erste Sechsstundenschicht verbrachten sie damit, sorgfältig und geduldig zu vertiefen, was vorher begonnen worden war. 33
„Wir müssen uns eingestehen", sagte Peter, „daß wir hier getan haben, was wir konnten. Der Rest kommt später. Ich schlage vor, wir ziehen los und prüfen den Hang weiter abwärts, vielleicht können wir eine ähnliche Stelle wie die hier finden und den Schlamm zum Gleiten bringen." Mary stimmte zu, und sie stiegen in Stufen von jeweils dreißig Metern hinunter. Peter hielt sich am Schiffsrumpf fest. Jedesmal schwammen sie abwechselnd vom Nef weg und untersuchten den Berghang, aber jedesmal ergaben die Echolote, daß der Fels und etwaige weitere Mauerreste tief unter Schlamm lagen. Sie waren beinahe dreihundert Meter abgestiegen, und wieder verlief die Suche ergebnislos. „Nichts los", Peter zuckte die Schultern. „Versuchen wir's seitwärts." Sie gingen an den ursprünglichen Fundort zurück und stießen von da aus horizontal vor. Am Rande ihrer Dreihundertmeterzone entdeckten sie etwas Neues: den abgebrochenen Stumpf eines runden Turmes, um den sich Schlamm angehäuft hatte. Die weite Höhlung war ebenfalls voll Schlamm, sonst konnten sie nichts weiter finden. Trotzdem verbrachten sie mehr als drei Stunden damit, die Umrisse mit Sonar aufzuzeichnen, so gut es ging, den Turmstumpf zu vermessen und verschiedene Stücke zwecks Untersuchung und Analyse abzuschlagen. Das Material war sehr hart, aber es schien kein Stein zu sein. Dann gingen sie in entgegengesetzter Richtung vor. Ab und zu zeigten die Sonden Gegenstände an, aber die beiden Menschen kümmerten sich um die wenigsten, da sie zu nahe an der Schlammoberfläche lagen, was bedeutete, daß sie erst vor kurzem dorthin gelangt sein konnten. „Und jetzt gehen wir direkt an die Spitze des Schlammrutschs, der Luke begraben hat", sagte Peter. Ruagh und die Seinen besaßen Macht. 34
Einst waren sie fähig gewesen, sich um sich selbst zu kümmern; sich zu versorgen und zu ernähren. Sie brauchten nicht oft zu essen, aber wenn sie aßen, dann waren es ungeheure Mengen. Doch da sie Macht besaßen, vermochten sie andere zu zwingen, für sie zu arbeiten. Es war schon sehr lange her, daß sie sich herabgelassen hatten, selbst eine Bewegung zu machen. Und als sie auf der Erde waren - diesem phantastischen, scheinbar unerschöpflichen Paradies -, waren sie sorglos geworden, ja, sogar gierig. Sie aßen aus Freßlust, um des Vergnügens willen, und wuchsen zu solcher Masse heran, daß es ihnen unmöglich war, die Nahrungsmenge selbst herbeizuschaffen, die sie bei einer einzigen Mahlzeit verschlangen. So war das mit Ruagh. So geschah es, daß er sich zwar aufmachte, als seine Gefährten ihn verlassen hatten, um Versprengte aus den anderen Städten zu finden, die er dazu zwingen konnte, Nahrung für ihn zu suchen, daß er auf halbem Wege zusammenbrach. Überdies war es Jahrhunderte her, daß er seinen Körper mehr als ein paar Meter weit hatte schleppen müssen ... Sein Sterben war ohne Großartigkeit. Er wurde still. Die Bakterien, die Irdisches zur Verwesung bringen, drangen in sein Fleisch ein und fanden es ungenießbar. So veränderte er sich eine lange Zeit hin nicht sichtbar. Deshalb errichteten die Menschen, die noch im Land herumstreiften und deren einige Ruaghs Untertanen gewesen waren, eine breite Ruhestatt für ihn. Mit der Zeit aber begannen die Bakterien, die in Symbiose mit seinem Körper lebten, ihn langsam zu zersetzen. Und als schließlich die See in das Tal einbrach, war der Leib voll von Verwesungsgasen und trieb auf stürmisch anschwellenden Wassern wie ein obszönes Gummispielzeug. So schwamm er eine Weile dahin. 35
Dann schleuderte ihn ein Windstoß gegen die kantigen Trümmer eines Turmes jener Stadt, die zu erreichen er sich abgemüht hatte. Gase entwichen wimmernd einem Riß in seiner Haut. Wasser drang ein, er versank. Langsam bereitete ihm der Schlamm ein Grab. Da lag wirklich etwas! Peter bekam Herzklopfen. Tatsächlich war der Schlick von einer anderen Mauer abgeglitten. Sie sah gekrümmt aus, vielleicht war es der Sockel eines weiteren runden Turmes. Und in dem Schlammberg lag etwas eingebettet. Etwas Großes, leicht Schimmerndes, ziemlich Glattes, das auf Druck kaum merklich reagierte. Etwas Enormes. Es war so riesig, daß er die ganze Masse von einem Ende bis zum anderen freigelegt hatte und immer noch nicht erkannte, was es war, als ein erstickter Ausruf Marys ihn erreichte. Automatisch wirbelte er herum und schoß auf das Nef zu. „Nein, Peter! Ich bin okay! Aber schau'n Sie doch nur!" Er wendete sich um, blickte hin und hatte plötzlich Angst. Zehn Meter lang oder länger, mit Beinen, einem aufgedunsenen Bauch, einem Kopf, aus dem trübe, schlammverkrustete Augen sie starr zu fixieren schienen ... Es war ein Tier. Aber ein Tier, wie es nur in Alpträumen vorkommt ... Unendliches Schweigen. Schließlich sagte Mary mit zitternder Stimme: „Wissen Sie, ich habe gerade über eine andere Erklärung für Lukes Überleben nachgedacht. Ich hatte vorschlagen wollen, daß es vielleicht ein Nebenergebnis der Ostrovsky-Wong-Behandlung ist. Ich überlegte mir bereits, mit welchem Spott ich die Theorien des Chefs in der Luft zerreißen würde. Und jetzt ..." „Und jetzt haben wir eine Lebensform gefunden, die mit nichts bisher Bekanntem zu vergleichen ist." Peter stieß die Worte grimmig hervor. „So verschieden ist das Ding sogar, daß ich nahezu bereit bin zu glauben, es könnte intelligent sein." 36
„Ich bin froh, daß es tot ist", flüsterte Mary. „Ich auch ... Glauben Sie, das Nef kann es hochhieven?" Sie brauchte eine Sekunde, bevor sie begriffen hatte. „Sind Sie wahnsinnig? Sie wollen das Ding an die Oberfläche bringen? Wir können es doch allein gar nicht ausgraben. Und selbst wenn wir es könnten, es würde einfach unterwegs zerplatzen, wenn es auf den Druck hier unten eingerichtet ist." „Da bin ich nicht so sicher", murmelte Peter. Er tauchte wieder zu dem toten Tier hinüber und begann es vorsichtig zu untersuchen. Unten an dem aufgetriebenen Bauch entdeckte er einen dreieckigen Riß, dort war ein zäher Hautlappen von einem scharfen Felsen aufgerissen worden. Er kam wieder zu Mary zurück. „Nein, Sie haben unrecht. Von dem Ding ist außer der Haut und dem Skelett nichts mehr übrig, und die Haut ist so undurchdringlich, daß ein Nashorn daneben wie aus Papiermache wirkt. Es gibt nur ein einziges Loch, das im Bauch, durch das Wasser eingedrungen ist. Abgesehen davon ist alles noch intakt. Wenn ich mich nicht irre, könnten wir ohne weiteres ein Kabel festzurren und das Ding ohne Schwierigkeiten aus dem Schlamm ziehen. Und es wird auch nicht beim Auftauchen platzen. Bei der geringen Geschwindigkeit, mit der das Nef aufsteigt, kann sich der Druck durch das Loch ganz leicht ausgleichen." Minuten später zerrte das Nef an dem Riesenkörper. Peters Hände krampften sich um eine Stange. Plötzlich überkam ihn die irrsinnige Vorstellung davon, wie das Eigengewicht des Kadavers sie in die äußersten Tiefen hinabzog und er verzweifelt an den Trossen sägte, um das Nef freizubekommen. Dann, als die rasende Gewalt des Atomstrahls das Wasser in den Schwimmtanks bis über den kritischen Punkt hinaus in Atome zerlegte, veränderte sich das Gleichgewicht, und der alptraumhafte Kadaver hob sich aus seinem Schlammgrab, schwebte langsam auf einen Punkt unter dem Nef zu und 37
entschwand ihren Blicken. Das Tauchschiff stieg weiter ruhig nach oben. Eine ehrfurchtsvolle Stille lag über der Alexander Bache. Seit sie das Tier mit der Ankerwinde längsseits geholt und einen improvisierten Kran aufgestellt hatten, um es auf das Achterdeck zu hieven, liefen Stab und Mannschaft mit verwirrten, geistesabwesenden Gesichtern herum. Sogar der Chef wirkte gedrückt, obwohl das fremdartige Tier, das Peter und Mary heraufgebracht hatten, ihn faszinierte. „Ich weiß nicht, was ich davon halten soll", hatte er gemurmelt. „Und kein anderer wird mehr wissen, jedenfalls für lange Zeit. Waren es solche Wesen, die die Stadt da unten gebaut haben? Und wenn, wieso sind sie dann in solch einer kurzen Zeit - geologisch gesprochen - so vollkommen verschwunden? Und warum haben wir keine verwandten Arten gefunden? Es hat in der Geschichte noch nie ein derartiges Unternehmen gegeben, das so viele unbeantwortbare Fragen mit zurückgebracht hätte." Man konnte fast sehen, wie in seinem Kopf die Illusionen sich in Rauch auflösten. Ein paar herrlich verrückte Tage lang hatte er es sich erlauben können, seinen langgehegten versteckten Träumen von versunkenen, nun wiederentdeckten Zivilisationen, deren vergessenes Wissen einst Gemeingut der Menschheit gewesen war, die Zügel schießen zu lassen; und nun hatte das Alptraumtier seine Hoffnungen zertrampelt und ihn deprimiert zurückgelassen. Aber sie hatten immerhin genug Material, um weiterzu machen. Ein Bericht war an ihre Basis, die Atlantic Foundation, gefunkt worden, in dem der Fund nicht näher beschrieben, seine ungeheure Bedeutung jedoch erwähnt war. Am nächsten Morgen würde das Nef ins Schlepptau genommen werden, und man würde nach Hause fahren. Alle wären am liebsten sofort abgefahren, doch Fred Platt und seine beiden Hilfsingenieure 38
waren augenblicklich noch zu sehr mit dem Nef beschäftigt. Und sie mußten Gerüste bauen und Verankerungsringe an den Rumpf schweißen, um den Kadaver auf dem Achterdeck abzusichern. „Mein Gott", sagte Peter plötzlich, als sie gerade eine Stunde wieder an Bord waren. „Wir haben vergessen, den Richtstrahl einzuschalten!" Er machte sich auf die Suche nach dem Chef und entschuldigte sich. Geistesabwesend wischte der Chef die Sache vom Tisch. „Sagen Sie Fred, er soll einen anderen 'runterlassen", schlug er vor und ging davon. Peter schrieb seinen Bericht, entwickelte Fotos, ging immer wieder nach hinten und betrachtete den Tierkörper, dann fiel ihm ein, daß er schon ein paar Stunden wieder an Bord war, ohne Luke gesehen zu haben. Vielleicht hatte ihn das Geräusch vertrauter Schritte aufmerksam gemacht, denn einen Augenblick später klopfte es an seine Kabinentür. „Ja?" grunzte er, ohne sich umzuwenden. In der Tür stand Luke, in Schlafanzug und Morgenrock, die Augen voll Schlaf und irgendwie unsicher wirkend. „Mensch, Luke! Wie geht's?" fragte Peter und sprang auf. Luke zuckte die Schultern. „Mir geht's prima", sagte er und gähnte. „Ich habe so viel geschlafen, daß ich jetzt wochenlang keine Koje mehr sehen will." „Du hast die ganze Aufregung verschlafen, als wir zurückkamen?" Peter konnte es kaum fassen. „Muß ich wohl", gab Luke zu. „Ich bin erst vor ein paar Minuten aufgewacht." „Dann hast du also noch gar nicht gesehen, was wir diesmal mit heraufgebracht haben?" Peter zog Luke am Ärmel. „Das wird dir einen schonen Schlag versetzen. Es sieht so aus, als wärst du damit als Geheimnis Nummer eins vom Thron gestoßen! Übrigens, erinnerst du dich inzwischen besser?" Er wendete sich um. 39
Einen Augenblick lang huschte der Ausdruck geistiger Qual über Lukes Gesicht. Dann schüttelte er gereizt den Kopf. „Ich war bewußtlos. Mehr als bewußtlos. Ich .vermute, ich fiel in so eine Art Scheintod, als ich verschüttet wurde. Vielleicht hat die Ostrovsky-Wong-Behandlung das bewirkt." „Na, das werden wir irgendwann herausbekommen. Aber jetzt ..." Peter zerrte ihn fast an Deck. Er hatte gesagt, der Anblick würde Luke einen Schlag versetzen. Auf die tatsächliche Wirkung jedoch war er nicht vorbereitet. Als sie um das Deckhaus bogen und Luke sich dem Tier direkt gegenübersah, blieb er wie erstarrt stehen und wurde blaß. Etwa zehn Herzschläge lang stand er unbeweglich da, dann begannen seine Lippen zu zucken, als wolle er schreien. „Ruhig, Luke!" sagte Peter und faßte ihn am Arm, da er befürchtete, er könne ohnmächtig werden. „Weißt du, es sieht ja ziemlich scheußlich aus, aber es ist absolut tot. Es ist nichts als eine leere Haut mit ein paar Knochen drin." „Tot?" fragte Luke ungläubig zurück. Er trat zögernd einen Schritt vor, preßte die Hände fest zusammen. „Sicher. Denkst du, es würde da ruhig sitzenbleiben und zulassen, daß Fred es festbindet, wenn es lebendig wäre?" Er deutete auf den Ingenieur, der mit der Schweißermaske vor dem Gesicht I-Träger befestigte, die als Verankerung für die Kette um den Körper dienen sollten. In vorsichtigem Abstand ging Luke um den Kadaver herum und betrachtete ihn. Ab und zu nickte er, und als er wieder an seinem Ausgangspunkt angelangt war, schien er sich erholt zu haben. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. „Ja, natürlich. Blöd von mir. Ich weiß nicht, warum mich das so erschreckt hat." Zerstreut wischte er sich mit dem Ärmel des Morgenrocks übers Gesicht. Peter betrachtete die schimmernde schwarzbraune Haut, auf der die Sonne helle Reflexe hervorrief. „Der Himmel weiß, 40
was das da ist", sagte er. „Die Biologen werden darüber wahnsinnig werden. Ich wollte, wir müßten nicht solange auf ihre Entscheidung warten. Immerhin, fünf Tage sind ja keine Ewigkeit." „Fünf Tage?" Lukes Stimme klang scharf und schrill. „Was soll das heißen, fünf Tage? Wir sind mindestens fünf Tage von zu Hause entfernt!" Peter war erstaunt. „Ja, aber sicher doch! Wir brechen morgen sehr früh auf, weißt du ..." „Nein, das weiß ich nicht. Und wir werden morgen nicht losfahren." Lukes Augen glänzten wie im Fieber. „Wer ist denn überhaupt auf diese Idee gekommen? Ich wette, der Idiot Gordon. Ich werde ihm mal kräftig die Meinung sagen!" Er wirbelte herum und war verschwunden. Und noch bevor Peter ihn einholen konnte, hatte Luke die Tür zum Büro des Chefs aufgerissen und fragte mit hysterischer Stimme: „Was, zum Teufel, soll das heißen, daß wir wegfahren, ehe ich noch mal 'runtertauchen konnte?" Der Chef wich mit ausgestreckten Händen zurück, als wollte er einen Angriff abwehren. Peter brüllte, jemand solle zu Hilfe kommen. Ellington tauchte mit einem Bierglas in der Hand aus der Messe auf, als Lukes Selbstbeherrschung zusammenbrach und er zu schreien begann. Zu dritt schafften sie ihn in seine Kajüte und stopften ihn mit Beruhigungsmitteln voll. Aber trotz aller Medikamente und obwohl seine Augen geschlossen waren und er bewegungslos dalag, hörte er nicht auf zu murmeln, er müsse noch einmal hinuntertauchen. Sein Gesicht verzerrte sich in Abständen vor Schmerz. Wieder hielt Mary Wache an seinem Bett. Es war kurz nach drei Uhr morgens, als der Bordlautsprecher sich mit einem Quieken meldete. Ellington, der die Wache hatte, fragte, ob Fred Platt noch am Nef arbeite. Peter, der 41
unruhig geschlafen hatte, entschloß sich, hinauszugehen, um nachzusehen, was los war. Das Nef war von der Vertäuungsleine losgemacht und schon zu einem Viertel untergetaucht. Aus den verwirrten Rufen der anderen Männer konnte er entnehmen, daß alle zu verblüfft waren, um klar zu denken. Ein furchtbarer Verdacht trieb ihn zu Lukes Kabine. Er fand Mary zusammengesunken auf einem Stuhl neben der zerwühlten Koje. Auf ihrer linken Schläfe war eine bläuliche Quetschung. Von Luke selbst war nichts zu sehen.
8. „Er hat mich mit der Wasserflasche geschlagen", sagte Mary niedergedrückt. Eloise betupfte die Prellung mit Hautbalsam. Die ganze Belegschaft wanderte in Pyjamas auf dem hellerleuchteten Deck herum. „Woher hat er bloß die Kraft genommen", donnerte Gordon los. „Nach den Beruhigungsmitteln, die wir ihm verpaßt haben, hätte er mindestens zwölf Stunden lang bewegungsunfähig sein müssen." „Er redete die ganze Zeit wie im Fieber", sagte Mary. „Gegen Mitternacht öffnete er die Augen und bat mich um Wasser. Ich gab ihm zu trinken und fragte, wie er sich fühle. Er sagte, die Schmerzen seien fürchterlich, doch er konnte nicht angeben, was für Schmerzen es waren. Er sagte, sie säßen im Kopf. Ich fragte ihn, ob er Veganin oder ein anderes Schmerzmittel wolle, aber er lehnte es ab. Dann schlief er wieder, etwa zwei Stunden lang. Ich döste vor mich hin. Dann wachte ich auf: Er hatte sich aufgesetzt und die Wasserflasche gepackt, aber ich 42
war zu schläfrig, mich zu bewegen, bevor er mich traf." Peter blickte zu Mary hinüber. Sie biß sich auf die Lippen. Was für verworrene Gedanken Luke in diesem hübschen Kopf wohl bewirkte. Peter wünschte sich schmerzlich, die Antwort auf dieses Problem zu finden. Er sagte, um sich abzulenken: „Und was machen wir jetzt?" Eloise schnaubte: „Die Zweihundert-Mark-Frage, während wir warten." Ihre Stimme war beißend. „Was, zum Kuckuck, können wir denn tun? Wollen Sie hinterherschwimmen und das Nef wieder 'raufholen?" „Seien Sie ruhig, Eloise!" befahl Gordon. „Ellington, versuchen Sie eine Marinestation zu erreichen. Fragen Sie, ob irgendwo in unserer Nähe ein schnelles U-Boot liegt. Luke braucht etwa drei Stunden, bis er auf sechshundert Meter abgetaucht ist. Wenn ein U-Boot in der Nähe ist, haben wir noch eine Chance, ihn mit einem Greifer oder einem Netz zu erwischen." Ellington nickte und machte sich auf den Weg zur Funkkabine. Dick Loescher sagte zu Gordon: „Netze gehören nicht zur Standardausrüstung von Unterseebooten. Und wenn sie ihn mit Enterhaken fangen wollen, wird Luke sich dann nicht einfach losmachen und tiefer abtauchen?" „Wir haben es mit einem Verrückten zu tun, und wir wissen nicht, was er vorhat", antwortete Gordon düster. „Jetzt ist eine einmalige Ausrüstung im Wert von fünfzehn Millionen in den Händen eines Wahnsinnigen und sinkt auf den Meeresboden. Und wenn wir das Nef wiederhaben - falls wir es je wiederkriegen -, wird es unbrauchbar sein." In das Schweigen, das diesem Ausbruch folgte, drang schwach Ellingtons Stimme: „Beobachtungsschiff Alexander Bache, P-eins-T-eins-null!" „Hat einer von euch den Eindruck, daß Luke sich einbildete, er hätte eigentlich da drunten sterben sollen und müsse nun wieder hinunter, um die Sache zu Ende zu bringen?" fragte 43
Gordon. Mary schüttelte den Kopf. „Der Schmerz schien ihn vorwärtszutreiben." „Nun, es ist immer möglich, daß er wieder hochkommt. Hartlund, haben Sie Kenntnis von irgendwelchen MarineBeobachtungsschiffen hier in der Gegend? Wir können nicht einfach herumsitzen und auf ihn warten, aber wir können andere bitten, das Gebiet abzusuchen." „Ich erkundige mich", sagte Hartlund und ging zur Brücke. Ellington kam aus der Funkkabine. „Das einzige, was ich Ihnen anbieten kann, Chef", sagte er mutlos, „ist ein britisches U-Boot. Es ist auf Probefahrt, etwa sechsunddreißig Meilen von uns entfernt. Sie wollen ihr Bestes für uns tun. Wenn alles klappt, können wir in vierzig Minuten mit ihnen rechnen." „Da!" sagte Hartlund und deutete auf ein phosphoreszierendes „V" im dunklen Wasser. „Das kann nie im Leben ein U-Boot sein!" entgegnete Peter und bemühte sich, die undeutliche Silhouette auszumachen. „Natürlich nicht. Das ist das Mutterschiff. Vielleicht ein umgebautes Torpedoboot." Das Mutterschiff kam auf Rufweite heran, und eine englische Stimme ertönte aus einem Sprachrohr: „Hallo, AlexanderBache! Ich hoffe, ihr habt nur anständige uneigennützige Wissenschaftler an Bord. Keiner außer uns darf unser Baby eigentlich so nahe sehen. Sagen Sie uns, was Sie wollen, und wir versuchen es." Der Chef antwortete durch das Sprachrohr und informierte sie nur über das Wesentliche. „Wie schnell taucht euer Ding?" erkundigte sich der britische Offizier. „Es taucht nicht. Es sinkt einfach und wird immer langsamer, je tiefer es sinkt. Es ist eine Stunde unterwegs, wahrscheinlich ist es jetzt bei etwa dreihundert Meter und wird zunehmend langsamer." 44
„Okay! Ich kann sagen, wir haben auf dem Weg hierher fast fünfundvierzig Minuten lang störungsfrei funktioniert. Und das heißt, irgend was wird gleich explodieren. Aber drückt uns mal die Daumen." Eine atemlose Pause. Peter hörte ein Geräusch hinter sich, wendete sich um und sah, wie Mary das Deck betrat. Um ihre Stirn lag eine weiße Binde. Am Heck des U-Bootes zeigte sich ein Licht. Leise hörten sie Ketten rasseln. „Wir basteln nur etwas zusammen, das sich an eurem Bathynef festhakt, wenn sie es finden", berichtete der Offizier. „Ein Notbehelf, leider, aber wenn es einen Ansatzpunkt gibt, dann wird es wohl funktionieren." „Macht es stabil und lang", sagte der Chef warnend. „Auf dem Nef ist ein Atomstrahler. Ihr müßt mindestens fünf Meter weit wegbleiben." „Wir setzen mindestens neunzig Faden an", sagte der Offizier ruhig. Das Licht erlosch. Wieder eine Pause. Und dann ... „Du lieber Gott!" sagte Hartlund. Das U-Boot hatte den Bug so steil ins Wasser getaucht, daß das Heck mit der Reaktorröhre eine sechzig Meter hohe Fontäne von mehr als kochendem Wasser zum Himmel schickte. Das Deck schwankte unter ihren Füßen, als das Boot verschwunden war. Es wurde schon dunkel, als das U-Boot wieder in Sprechbereich kam, und die unklaren Berichte boten keinen Anlaß zur Hoffnung. Alles im U-Boot hatte geklappt. Sie hatten das Nef gefunden und ergebnislos versucht, mit Luke in Kontakt zu kommen. Dann hatten sie in die Kette einen Ziehknoten gemacht. „Was?" sagte man auf dem Expeditionsschiff, als man das hörte. Der britische Offizier hustete und wirkte leicht erstaunt. „Ja, warum denn nicht? Gute Übung für den Steuermann. Warum hätten wir sonst neunzig Faden für die Kette 45
genommen?" „Wie Nadel und Faden?" fragte Hartlund ungläubig. „Genau. Dann legten sie die Schlinge wie ein Lasso um das Bathynef und zurrten sie fest, ehe sie anfingen, es nach oben zu schleppen. Bloß, euer Mann hat irgendwo einen Schneidbrenner gefunden und die Kette gekappt. Das hat es natürlich schwierig gemacht, einen zweiten Knoten zu schlingen. Aber sie kriegten es gut hin und erwischten ihn wieder. Es war niemand an Bord, der die Ostrovsky-WongBehandlung mitgemacht hatte, deshalb konnten wir nur Leute im Gummianzug hinausschicken, und euer Mann hatte diesen Strahler. Jedenfalls sind meine Männer auf ihn losgegangen, aber er jagte sie durch die Gegend, am Nef hatte er sich mit einer Leine verankert. Und schließlich entschied unser Kapitän, es lohne sich nicht, und rief die Taucher zurück." Der Offizier zuckte die Schultern. „Tut mir schrecklich leid, aber mehr konnten wir nicht tun." Unangemeldet tauchte ein Marine-Schutzschiff der Fischereiflotte auf, gerade als sie die Maschinen starten wollten, um ihren Standort zu verlassen. Eine Stunde später kam auch die USS Gondwana heran, die in Eile von der UBoot-Planstelle von ihrem gewöhnlichen Standort auf der anderen Seite der Mittelatlantischen Schwelle abberufen worden war. Während die Alexander Bache davondampfte, begannen die zwei Schiffe ihre Suche: das eine an der Oberfläche, das andere ein paar Meter darunter. „Glauben Sie, er kommt ein zweites Mal zurück?" fragte Mary Peter, während sie auf die kleiner werdenden Beobachtungsschiffe blickten. Peter zuckte die Schultern. „Das liegt bei den Göttern." „Ich ... Also, ich muß sagen, diesmal liegt mir nicht mehr so viel daran. Sie müssen mein Verhalten ziemlich seltsam 46
gefunden haben, und ich muß mich bei Ihnen entschuldigen, daß ich Sie angefahren habe, als Sie mir so freundlich helfen wollten. Wissen Sie, ich habe Ihnen nicht die ganze Geschichte über Luke und mich erzählt. Wollen Sie den Rest hören?" Peter sah sie nachdenklich an. Schließlich sagte er: „Ja, ich würde es gern hören." „Also, es war so. Als ich so in Luke verschossen war, glaubte ich, daß es nichts gäbe, was ich nicht für ihn tun würde. Ich bin seinetwegen beinahe kaputtgegangen. Ich war ein sehr nervöses Kind, sehr labil, voller Gefühle und so. Und dann - es war am Tag, bevor er ans Scripps zu seinem Vorbereitungskurs fuhr - bekam ich meine Chance. Er hatte gefeiert, und ich hatte ihm ein Abschiedsgeschenk machen wollen. Wir waren allein im Haus ..." Sie zurkte die Schultern. „Nun, ich bekam meine Chance, und ich glaube, man kann sagen, ich habe sie ergriffen. Ich sagte mir, ich würde alles für ihn tun, und also tat ich's auch. Sie können sich das Ergebnis vorstellen. Ich, mit meinen noch nicht ganz fünfzehn Jahren, war verrückt vor Glück, ebensosehr, wie ich erschüttert war. Und das hätte mich beinahe kaputtgemacht. Was das Faß allerdings zum Überlaufen brachte, war, daß ich herausfand, daß es für Luke nur ein kleines Zwischenspiel auf seinem Weg zum Ziel bedeutet hatte. - Es dauerte Monate, bis ich mich wieder einigermaßen in der Hand hatte. Und als es dann soweit war, ging das nur, indem ich Luke, oder vielmehr das Idealbild von Luke, das ich mir aufgebaut hatte, als Richtpunkt benutzte. Und deshalb bin ich jetzt hier und betreibe Ozeanographie. Es war ein ziemlicher Schock für mich, als Luke vom Scripps ans Atlantic kam und ich den leichtfertigen, oberflächlichen Kerl akzeptieren mußte, der er in Wirklichkeit war. Ich konnte ihm nie verzeihen, daß er nicht fähig war zu begreifen, was er so viele Jahre lang für mich bedeutet hatte ..." Sie wendete sich Peter zu und fragte ein wenig trotzig: 47
„Klar?" Peter nickte. „Und jetzt?" „Jetzt, glaube ich, ist es allmählich Zeit, daß ich mich nach einem wirklichen Mann umsehe." Peter streckte die Arme aus, und sie ließ sich lächelnd von ihm umfangen. 9. Ein friedlicher Neu-England-Herbst zog übers Land. Doch es war noch warm genug, um im Freien zu frühstücken, wenn man nicht gerade unsinnig früh aufstand. „Und wer steht in den Flitterwochen früh auf?" fragte Peter die Bäume vor dem kleinen Haus. „Königin Victoria und Prinz Albert", antwortete Mary geheimnisvoll, als sie mit einem Teller voll Pfannkuchen auf die sonnige Terrasse trat. „Wie?" „Tatsache", sagte sie und teilte den Ahornsirup aus. „Ich habe irgendwo gelesen, daß sie am ersten Tag ihrer Flitterwochen früh aufgestanden sind, und der Lordkämmerer schrieb mißbilligend in sein Tagebuch, dies sei keine Methode, einen Erben für den Thron zu garantieren." Ihre Augen fanden sich über dem Tisch. Eine Sekunde lang konnten sie ernst bleiben, dann brachen sie in unbändiges Lachen aus. „Arme Victoria!" rief Mary, als sie endlich wieder sprechen konnte. „Armer Albert, meinst du nicht auch?" entgegnete Peter. „Du, die Pfannkuchen sind aber köstlich!" „Hast du etwas anderes erwartet?" Mary reckte sich in ihrem Pullover. „Hast du die Post schon heraufgeholt?" 48
„Nein, und ich habe auch keine große Lust dazu. Es ist ziemlich weit bis zur Straße." „Ich weiß, und deshalb bin ich hinuntergegangen, ehe du wach warst." Wie ein Zauberer seine Kaninchen, holte sie die Briefe hervor, auf denen sie gesessen hatte. Sie hielt sie wie Spielkarten aufgefächert und bot sie ihm an. „Ziehen Sie eine Karte, und ich werde Ihnen Ihr Schicksal deuten, schöner Herr. Nur zuerst müssen Sie meine Hand versilbern." „Ich habe mein Schicksal schon auf dem Hals", sagte Peter lachend und drückte ihre Hand. Er blickte kurz auf die Briefe: „Einer, noch einer, drei von der Foundation. Verflucht, können die uns nicht einmal in den Flitterwochen in Ruhe lassen?" Nachdem er dem Frühstück alle Ehre angetan hatte, zündete er sich mit einem zufriedenen Seufzer eine Zigarette an und öffnete die Briefe, während Mary das Geschirr spülte. Die Briefe von der Foundation hob er bis zuletzt auf. „Herzliche Wünsche von Hartlund und der Besatzung der Alexander Bache", berichtete er. „In Panama aufgegeben, als sie dort mit den Russen zusammentrafen, um sie zur Fundstelle zu bringen. Mit ihrem Bedauern, daß sie die Trauung verpaßt haben." „Das ist nett. Sonst noch was?" „Eine Einladung von einem Vetter aus Florida, und eine Notiz von ..." Er pfiff durch die Zähne. „Das ist ja unglaublich! Liebling, hier haben wir die Analyse der Haut von dem Ungeheuer, das wir heraufgeholt haben. Sie besteht aus Kohlenstoff, Silikon, Sauerstoff und Bor. Und die Knochen haben sie auch analysiert. Sie enthalten Chrom, du liebe Zeit, und Kobalt, Nickel und Gott weiß was noch. Aber jetzt höre zu: Die Chemiker sagen, daß diese Bestandteile sich grundlegend von allen organischen Substanzen unterscheiden, die man in irgendeiner höheren Form von Leben irgendwo auf der Erde bisher entdeckt hat. Ihre vorsichtige Schlußfolgerung lautet, daß ihr Ursprung anderswo liegen müsse ..." 49
Eine plötzliche Kühle schien durch die Bäume zu ziehen. Mary kam mit dem Geschirrtuch in der Hand heraus und setzte sich mit ernstem Gesicht Peter gegenüber nieder. „Marsianer, was?" fragte sie. Plötzlich war Peter neugierig, was in den übrigen Briefen von der Foundation stand. Er warf seiner Frau den einen zu und riß den anderen auf. Ein paar Neuigkeiten und Glückwünsche von Eloise Vanderplank. Er legte das Blatt nach einem kurzen Blick beiseite und nahm das letzte Kuvert in die Hand. Sein Gesicht wurde bleich, er saß lange da und starrte auf das Blatt Papier. Schließlich reichte er Mary den Brief. Dr. Gordon schrieb: Sie haben sicher mittlerweile erfahren, daß die Biologen annehmen, die Kreatur, die ihr aus Atlantica (so haben wir die Stadt genannt) heraufgebracht habt, außerirdischen Ursprungs ist. Es wird vorläufig noch vor der Öffentlichkeit geheimgehalten. Was Sie nicht wissen können, ist, daß wir das Bathynef entdeckt haben. Es wurde per Zufall während der Suchaktion nach der Gondwana gesichtet, die wir zuletzt über dem Fundort gesehen haben, wo sie auf das Wiederauftauchen des Nefs wartete. Ich weiß das nur aus zweiter Hand. Ich war zu der Zeit im Pazifik, auf dem Rückweg von der Inspektion des russischen Bathynefs, das in ein paar Tagen im Operationsgebiet erwartet wird. Anscheinend ist die Gondwana einige hundert Meter abgetaucht, nachdem man verdächtige Echolotungen aufgefangen hatte, hat den Kontakt mit dem britischen Schiff verloren und ist nicht mehr hochgekommen. Zwei Tage später entdeckte ein Marineaufklärungsflieger das verlassene Bathynef. Es sah aus, als hätte jemand seine empfindlichsten Instrumente mit einem Schlaghammer bearbeitet. Es wird Wochen, vielleicht sogar Monate dauern, bis es wieder einsatzfähig ist. Über zwei Wochen lang gab es 50
kein Lebenszeichen von der Gondwana. Das ist aus offensichtlichen Gründen streng geheim. Und natürlich hat man keine Spur von Luke Wallace entdeckt. Ich kann und will Ihnen nicht mehr sagen als dies: Hartlund hat mir erzählt, daß Sie gern einmal in dem russischen Nef tauchen möchten, und wir sind sehr knapp an Leuten, die die Ostrovsky-Wong-Behandlung gehabt haben. Die Dinge erscheinen in einem ziemlich üblen Licht, und wir werden jede Hilfe brauchen können, ehe wir mit der Geschichte fertig sind. Ich weiß nicht, was mich dazu bewegt hat, meine gewohnte methodische Skepsis zugunsten wilder Spekulationen aufzugeben, aber irgend etwas hat mich dazu gebracht ... Ich bin beunruhigt. Mary faltete den Brief zusammen und reichte ihn Peter zurück. „Das ist das Äußerste, was ich mir an Panik beim Chef vorstellen kann", sagte sie. Peter schaute sie an und nickte. „Also?" Sie seufzte tief und schob den Stuhl zurück. „Also, ich glaube, wir packen wohl besser unsere Koffer." Das Verschwinden der hatte die Marine ins Spiel gezogen. Die wissenschaftlichen Daten erregten das Interesse der „Ersten Sowjetischen Bathygraphischen Expedition im Pazifik", wie die Pavel Ostrovsky und ihr Mutterschiff offiziell bezeichnet wurden. Ein Ersuchen Dr. Gordons hatte die Hilfe der ozeanographischen Institute aller Nationen an der Atlantikküste, und einer, auf die das nicht zutraf, nämlich Monacos, das eine fürstliche Tradition in der Tiefseeforschung besitzt, bewirkt. Die Maschine, in der Peter und Mary saßen, war ein Marineflugzeug, das eine brandneue fünfzehn Tonnen schwere Unterwasser-Fernsehkamera beförderte. Sie stürzten durch fast zweitausend Meter Wolken aus dem Sonnenlicht zu dem Operationsgebiet hinab. Peter packte Mary am Arm. „Schau dir das an!" 51
Mehr als dreißig Schiffe standen da. Beherrschend wirkte das russische Mutterschiff, weiß schimmernd, eine Kreuzung zwischen Luxusjacht und Walfangboot. Sie landeten, und sobald die Fernsehkamera auf einen Leichter verfrachtet worden war, brachte man Mary und Peter in einem Rennboot zum russischen Mutterschiff hinüber. Gordon begrüßte sie herzlich, stellte sie Kapitän Vassiliev vor und machte sie mit den Gegebenheiten des Schiffes bekannt. „Die Ostrovsky ist kurz vor eurem Eintreffen getaucht", sagte er. „Ostrovsky und Wong sind drüben auf der Insel, unserer Basis, und behandeln Ersatzmannschaften von Woods Hole, Darwin und der chinesischen Station in Tienling. Aber das ist nicht einmal ein Zehntel der Geschichte. Leute haben sich mit Apparaten gemeldet, von denen niemand außer den Erfindern wußte, daß es sie gab. Das britische U-Boot ist auch wieder hier. Im Augenblick ist es dreihundert Meter tief unten." Ihr Erstaunen wuchs, als ihnen das Ausmaß der hier unternommenen Anstrengungen wirklich klar wurde. Aber schließlich konnte Mary es nicht länger ertragen. „Chef!" sagte sie. „Ich glaube einfach nicht, daß das alles nur auf wissenschaftliche Neugier zurückzuführen ist. Ich habe das Gefühl, daß da jemand nicht bloß beunruhigt ist, sondern Angst hat." Gordon blieb stehen und fixierte sie. „Angst?" sagte er ernst. „Ja, man könnte es so nennen. - Ich schrieb in meinem Brief, daß wir keine Spur von der Gondwana entdeckt hätten. Aber das war nur die halbe Wahrheit. Das Linienschiff Queen Alexandra hat sie vor zwei Tagen gesichtet, dreißig Stunden von New York entfernt, auf der Route Southampton und Cherbourg. Aber wir konnten sie nicht ein zweites Mal orten. Und jetzt haben wir die Alexandra mit achtzehnhundert Passagieren an Bord ebenfalls verloren ..."
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ZWEITER TEIL 10. Zuerst war er sehr schwach. Er hatte sich vorbereitet wie auf einen langen interstellaren Flug. Er hatte seinen Stoffwechsel fast auf Null gesenkt, Reserven angesammelt, die Schaltung eingebaut, die ihn wecken sollte, wenn er auf der Erde wieder sicher sein würde. Nur hatte er nicht mit dem gerechnet, was geschah. Er erwachte, und die Erinnerung an die Vernichtung seiner Stadt war in seinem Gedächtnis so frisch, als wäre sie gestern zerstört worden. Es schien ihm erst Stunden her zu sein, daß er diesen Narren, der ihn um Hilfe anflehte, in den Trümmern seiner Hoffnungen zurückließ und die Erde bebte und zitterte. Vorsichtig griff sein Verstand in das große Dunkel hinaus. Er war bereit, sich sofort wieder in den Tiefschlaf zu versetzen, wenn der Alarm falsch gewesen war. Er war es nicht. Normalerweise war er nicht in der Lage, aus dem Gehirn eines Menschen viele Informationen zu erhalten. Und dieses Gehirn, stellte er fest, war im großen und ganzen jenen ähnlich, die er vor der Katastrophe gekannt hatte. Es war leichter, diese dumpfen Wesen zum Sprechen zu peitschen. Ihre Sprache hatte zwar niemals Feinheiten übermitteln können, doch war es leicht, sie zu verstehen und zu analysieren. Immerhin, dieses Gehirn hier war von einem schweren Schock betäubt, war vielleicht sogar bewußtlos. Es bot seinem Bohren keinen Widerstand. Er befand sich im Wasser, schloß er, unter Schlamm und lag immer noch sicher in seinem Zufluchtsort, beutesuchende Tiere hatten ihn nicht aufgespürt. Unter Wasser, das bot kein Problem. Er besaß genau dafür die nötigen Reserven, doch die 53
Information, die er über die Tiefe und Weite des Ozeans empfing, der sich um ihn erstreckte, besagte, daß sie nicht ausreichen würden, ihn an Land zu bringen. Aber er mußte aufs Land zurück. Die Millionen, diese Massen krabbelnder menschlicher Wesen, die sich auf diesem Planeten wie Bakterien vermehrten, hatten niemals die Geißel eines von seinem Volk kennengelernt. Wenn er sich befreien konnte, würde es ihm wohl nach und nach gelingen, sich den halben Planeten zu unterwerfen. Dann, erst dann würde er nachforschen, ob noch andere von seinem Volk überlebt hatten, und ihnen großmütig gestatten, unter sich zu teilen, was er übrigließ. Wenn er jedoch allein war, dann war es einfach genug, die Bevölkerung so weit zu verringern, daß er sie manipulieren konnte. Er würde die Maschine, mit der dieser Mensch hier heruntergekommen war, verwenden müssen. Er sammelte Daten über sie. Es ging sehr langsam, denn er war schwach. Fast ein ganzer Tag mochte vergangen sein, bevor er über genügend Informationen verfügte, um einen Plan aufzustellen. Die Maschine würde wieder auftauchen. Sie würde diesen Mann mitnehmen, die anderen würden aussteigen. Im Gehirn des Mannes würde ein Zwang ausgeübt werden, das Boot allein wieder herunterzubringen. Vorsichtig öffnete er das Schleusentor in seinem Gehirn, hinter dem seine Kraft, Schmerz zuzufügen, sich staute, und überprüfte die verfügbare Stärke. Ja. Nur eine einzige von diesen Kreaturen vermochte er im Augenblick zu manipulieren. Und während er auf die Ausführung seines Befehls wartete, würde er sich aus seinem Versteck herauswühlen müssen und dabei seine sämtlichen Überlebensreserven verbrauchen. Das hieß, wenn der Mann seinem Befehl nicht gehorchte, würde er sterben wie jener Schwächling Ruagh. Er fügte dem Mann Schmerz zu, um sich zu beweisen, daß er genug Kraft besaß. Ja, das würde genügen! Dieses Gehirn 54
besaß keine Widerstandskraft. Er überlagerte den Schmerz für eine Zeitspanne, prägte dem Gehirn seine Befehle ein und begann sich zufrieden aus dem Versteck zu befreien. Die dicke Schlammschicht überraschte ihn. Er hatte länger in seinem Versteck gelegen, als er angenommen hatte. Doch erst als die Maschine prompt zurückgekehrt war, um ihn an die Oberfläche zu bringen, und er dem Mann befohlen hatte, sich weit von dem Mutterschiff zu entfernen, erblickte er die Sterne und konnte die tatsächliche Dauer seiner Einkerkerung ermessen. Nicht weniger als hunderttausend Jahre, schloß er. Selbst für die Maßstäbe seiner Rasse bedeutete dies eine lange Zeit. Wie dem auch war, nun war die erste wichtige Aufgabe die, seine Kraft wiederzugewinnen. Dann mußte er Sklaven finden und seinen Herrschaftsbereich ausdehnen. Er befahl dem Mann, ihn zu füttern, und zwang ihn durch gelegentliche Peitschenhiebe, die richtigen Bestandteile seiner Nahrung auszuwählen. Aber er würde mehr als einen einzigen Sklaven brauchen, um sich mit dem Nötigen zu versorgen. Dennoch, ein Anfang war getätigt. Und er hatte Zeit. Geduldig wartete er darauf, sein Gefolge zu vergrößern. Bald gelang es ihm, und zugleich fand er. dabei ein überlegenes Transportmittel. Seine Stärke nahm zu. Rascher als erhofft, gelang es ihm, eine Stadt zu erobern. Es war eine schwimmende Stadt, eine technologische Errungenschaft, die er diesen kurzlebigen Erdwürmern nicht zugetraut hätte. Hier fand er genug Nahrung, und so konnte er sich mit dem Problem befassen, wie er den Menschen ihre Niedrigkeit klarmachen könne. Die angemessene Verehrung mußte als nächstes befohlen werden. Hin und wieder fuhren andere menschenerfüllte Schiffe an ihm vorüber, während er seine Herrschaft stabilisierte. Er war noch nicht bereit, sich mit ihnen zu befassen. Er blendete sie, und sie wendeten sich ab. 55
Das Dröhnen des Motors brachte den ganzen Hubschrauber zum Beben. Peter hatte sich einen Platz an Bord des Schraubers erbettelt, bevor er wieder mit dem russischen Nef abtauchen würde (ihr eigenes Boot war noch immer im Dock). Die Aufräumungsarbeiten in Atlantica gingen erschütternd langsam voran, obwohl der deutsche Unterwasserpflug den Schlamm tonnenweise beiseite schob. Sie flogen etwa dreihundert Meter hoch, die Fluggeschwindigkeit lag bei 130. Es gab fast nichts außer Wasser zu sehen. Gelegentlich deutete eine Insel auf den Verlauf der Mittelatlantischen Schwelle hin. Einige wenige Schiffe zogen durch ihren Sichtbereich, doch der Tag war trüb, die Sicht begrenzt. Bald würde schlechtes Wetter ihre Aufgabe erschweren. Peter empfand den Flug als erholsam, er döste halb vor sich hin, träumte von den paar kurzen Tagen, die er mit Mary nach der Hochzeit genießen durfte, und schmiedete Pläne, genau dort wieder anzuknüpfen, wo sie abgebrochen hatten, als der Pilot sich vorbeugte und auf etwas deutete. „Da! Sehen Sie?" „Aber das ist ja die Alexandral" rief Peter. „Das ist wirklich wahnwitzig! Ein Schiff von dieser Größe mitten im atlantischen Hauptverkehr für so lange Zeit verschollen ..." Der Pilot schaltete die Kameras ein, die das Geschehen aufzeichnen sollten, dann drückte er einen Knopf auf dem Autopiloten. „Kurskorrektur", sagte er kurz. „Irgendwas von der Gondwana zu sehen?" Peter blickte angestrengt durch das Fernglas. „Keine Spur. Vielleicht versenkt." Der Pilot schien ungerührt. „Sie scheinen eine bestimmte Vorstellung zu haben", bemerkte Peter. „Was, zum Teufel, ist denn da unten los?" Sie waren jetzt nahe genug, um Bewegungen auf dem großen Promenadendeck des Schiffes feststellen zu können. Menschen standen überall in Schlangen in einer Art Halbkreis herum. Sie 56
bewegten sich rhythmisch. . Manche der Leute gehörten zur Schiffsbesatzung, sie trugen Uniform, andere waren Passagiere in verschiedenartigster Kleidung. Ab und zu traten ein, zwei Leute vor und wendeten sich einem dunklen Ding zu, das sich unter einer Plane an der offenen Seite des Halbkreises verbarg. Plötzlich versuchte einer der Gerufenen sich umzuwenden und davonzulaufen. Die Menschenkette zerbrach. Männer und Frauen stürzten vorwärts, packten den Mann, zerrten ihn zur Reling und schleuderten ihn in die bleierne See hinunter. Der Schrei war so laut, daß er das Dröhnen des Motors durchbrach. Peter und der Pilot starrten entsetzt auf die Szene. Sie kreisten nun nahe genug und konnten die Gesichter durch die Ferngläser erkennen: verstörte, verzerrte Gesichter. Dunkle Ringe um die Augen deuteten auf Schlaflosigkeit hin. Eine Gruppe von Stewards in schmuddeligen weißen Jacken schlugen auf Serviertablette ein, als wären es Gongs. „Sind die alle wahnsinnig geworden?" fragte der Pilot. „Nein ...", sagte Peter. „Sehen Sie denn nicht, was unter der Plane liegt? Eine zweite Kreatur wie die, die wir aus Atlantica heraufgeholt haben ... nur die hier lebt ..." Im Augenblick, da er die Worte aussprach, traf ihn ein Stoß nackter Pein, nicht körperlich, sondern geistig. Eine Sekunde danach waren er und der Pilot ohnmächtig geworden. Unbeeindruckt und ahnungslos flog der Roboterpilot den Hubschrauber aus der Gefahrenzone.
12. „Sie sind gleich wieder in Ordnung", sagte eine beruhigende männliche Stimme. Peter öffnete blinzelnd die Augen und sah in ein kantiges Gesicht unter einer Marinemütze. 57
„Was ...", fragte er und setzte sich mühsam auf. Der Mann half ihm. Peter schüttelte benommen den Kopf und schaute um sich. Er saß auf dem Deck des Flugzeugträgers, der Hubschrauber wurde gerade auf einer Laufkatze zum Aufzug gefahren, um den Piloten stand eine Gruppe von Männern und Frauen und redete erregt auf ihn ein. Der Pilot hatte sich offenbar rascher erholt. Er stand aufrecht, doch sein Gesicht war bleich. „Irgend etwas hat euch bewußtlos gemacht", sagte der Mann zu Peter. „Aber physisch sind Sie jetzt wieder ganz in Ordnung. Sie leiden nur ein bißchen unter Schock." „Mich bewußtlos gemacht? Oh ja, ich erinnere mich. Als wir über die Alexandra wegflogen. Wir haben sie gefunden!" Peter packte den Arm des Mannes. „Wir haben sie gefunden! Und das ist noch nicht alles!" „Nur ruhig", sagte der Mann besänftigend. „Wir wissen es schon. Ihr Pilot hat es uns gesagt. Jetzt werden gerade die Bilder entwickelt. Der Autopilot brachte den Hubschrauber zurück, und wir landeten Sie mit Fernsteuerung. Und jetzt, glaube ich, brauchen Sie einen Drink und ein bißchen Ruhe. Ich schlage vor, Sie kommen mit mir in die Messe. Können Sie schon wieder gehen?" Peter probierte seine Beine aus. Er hatte das Gefühl, daß er eigentlich bewegungsunfähig sein sollte. Seine Erinnerung war voll entsetzlicher Qual, es schien ihm, als sei jeder Knochen in seinem Körper gebrochen. Doch die Qual lag nur in der Erinnerung, er konnte sich frei bewegen. „Wir wissen nicht, was mit Ihnen los war", sagte sein Begleiter und betrachtete ihn. „Aber was es auch ist, es ist sicher das gleiche, was die anderen Suchtrupps gehindert hat, Meldung über das Schiff zu erstatten. Wenn Ihr Hubschrauber nicht auf Automatik umgestellt gewesen wäre, wären Sie höchstwahrscheinlich abgestürzt." Peter runzelte die Stirn. „Vielleicht hätten wir nicht soviel 58
sehen dürfen, wie es der Fall war", meinte er. „Ich weiß nicht, was da wirklich los war. Es wirkte wie eine wahnsinnige Zeremonie. Vielleicht war die Kreatur abgelenkt und bemerkte uns erst, als wir ganz nahe herangekommen waren. Und dann schleuderte sie alles gegen uns, was sie zur Verfügung hatte, weil sie überrascht war." Er zuckte die Schultern. „Sind nur Vermutungen. Hat jemand meiner Frau gesagt, daß ich okay bin?" „Ja, man hat Ihrer Frau Bescheid gegeben. Sie kommt nachher an Bord." „Gut", sagte Peter erleichtert. „Jetzt hätte ich gern den Drink, von dem Sie sprachen." Es war bestürzend, daß das Flugzeug nicht ins Meer stürzte, als er dessen Besatzung bewußtlos gemacht hatte ... Wenn er nicht so mit der Zeremonie beschäftigt gewesen wäre, dann hätte er es wie alle anderen Flugzeuge behandelt und wie die vielen Schiffe, die vorbeigekommen waren, indem er in den Gehirnen der Piloten und Steuermänner eine Spur von Schmerz erzeugte, sobald sie sich seiner schwimmenden Stadt zu nähern versuchten. Momentan war er gezwungen, freundlich, raffiniert und sanft zu sein, obwohl es ihn ärgerte, derartig primitive und unterlegene Kreaturen so behandeln zu müssen. Aber es gab keinen Zweifel daran, sie hatten vieles gelernt, seit sie von ihrem alten Joch befreit waren. Und er würde kein Risiko eingehen, bevor er nicht einen klaren Überblick über die derzeitige Lage besaß. Er dachte über sein weiteres Vorgehen nach. Es war jetzt an der Zeit, sein Gefolge noch mehr zu vergrößern. Er war dabei, seine volle Kraft wiederzuerlangen, und es erhob sich die Frage, wie die noch verbliebenen Untertanen ernährt werden sollten. Obwohl er die halsstarrigen Subjekte als mahnendes Beispiel für die übrigen hatte über Bord werfen lassen, hatte er doch die Zahl nicht bedeutend vermindern wollen. Es war 59
angenehm, viele Gehirne zu kontrollieren, es erregte ihn. Die Vorräte an Bord waren erschöpft, die Leute hungrig. Dennoch, die Leute würden ihn unter seinen zwingenden Befehlen an Land bringen, und dort würde er die Wahl unter Millionen haben. Zur Küste ... Er befahl einen Mann mit Erfahrung in der Navigation vor sich und verlangte, Einzelheiten über die möglichen Küsten zu erfahren. „Peter, du bist ein Dummkopf!" sagte Mary, während sie ihn fest umarmte. „Warum hast du mir nicht erzählt, was du vorhattest? Du hättest dabei umkommen können!" „Schon gut, schon gut. Ich bin ja nicht tot, oder? Ich wäre bestimmt nicht in das Ding eingestiegen, wenn ich nicht gewußt hätte, daß es mindestens so sicher wie ein Nef ist." „Nach allem, was passiert ist, ist das nicht viel", sie versuchte scherzhaft zu sprechen, doch die Worte klangen plötzlich sehr ernst. „Dr. Tränt! Mrs. Tränt! Bitte ..." Lampions Stimme unterbrach sie, und sie bemerkten plötzlich, daß alle anderen im Raum ungeduldig darauf warteten, daß sie ihre Plätze einnahmen. Lampion hustete und blickte ringsum. „Also, meine Damen und Herren, Sie hatten alle Gelegenheit, sich die mitgebrachten Aufnahmen anzusehen, denke ich. Ich habe hier weitere Abzüge, die ich trotzdem herumgehen lasse." Er breitete glänzende Vergrößerungen auf dem Tisch aus. Peter brauchte sie nicht anzusehen, er erinnerte sich haargenau an das, was auf ihnen zu sehen war: der verrückte Halbkreis von Passagieren und Mannschaft auf dem Promenadendeck, die Stewards, die auf Serviertablette schlugen, ein Unglückseliger, der gepackt und über Bord geworfen wurde ... Und dämonisch mitten darin die undeutliche, aber widerwärtige Kreatur, die aus der See aufgetaucht war. „Nach unseren neuesten Informationen hat sich die Alexandra in Bewegung gesetzt. Sie hat gewendet und liegt nun auf einem 60
Kurs, der sich ändern kann oder auch nicht, der aber im ersteren Fall die Küste der USA nördlich der Bahamas berühren wird. Am wahrscheinlichsten im nördlichen Florida oder in Georgia. Es kann wohl kaum Zweifel bestehen, daß dies auf Befehl - des Meereswesens erfolgt." „Einwand", sagte Kapitän Vassiliev höflich. „Ich denke, wir haben Grund zur Annahme, daß es sich nicht um ein Meerestier handelt, nicht wahr, Dr. Gordon?" Gordon nickte. „Wir haben noch nicht alle Ergebnisse, aber die Fernsehkamera auf zweitausend Faden Tiefe hat eine Öffnung im Schlamm entdeckt, aus der anscheinend irgend etwas herauskam. Bei dieser Öffnung wurden verschiedene Gegenstände geortet, wahrscheinlich metallischer Natur, die unseren Sauerstofftanks ähneln. Das Bathynef Pavel Ostrovsky ist vor kurzem abgetaucht, um den Ort zu untersuchen. Er liegt weit unter den Tiefen, auf denen wir bislang operierten, aber zwei Mitglieder des Stabes von Professor Wong, die bei Landtests unter vergleichbarem Druck gearbeitet haben, nehmen an diesem Tauchgang teil, und sowohl Ostrovsky wie Wong sind der Ansicht, daß sie den Druck ertragen werden." Lampion nickte. „Danke, Dr. Gordon. Also, die Lage scheint folgende: Wir haben offenbar einen Überlebenden einer außerirdischen Gattung entdeckt, die aller Wahrscheinlichkeit nach vor mehr als hunderttausend Jahren auf unsere Erde eingedrungen ist. Sie versklavte die Menschen und wurde dann von der spätesten Epoche der orogenen oder gebirgsbildenden Entwicklung überwältigt. Ihre Fähigkeiten sind uns unbekannt. Die Tatsache, daß dieses Wesen aus einem möglicherweise vorher angelegten Zufluchtsort nach so langer Zeit entkommen und sich einer veränderten Situation so rasch anpassen konnte, läßt darauf schließen, daß wir es mit einem sehr gefährlichen Gegner zu tun haben. Ja, Dr. Tränt?" Peter beugte sich nach vorn. „Ich habe seine Macht gespürt. Ich glaube, wir dürfen annehmen, daß es sich um eine 61
nichtkörperliche Kraft handelt. Möglicherweise beschränkt sie sich nicht auf die geistige Schmerzzufügung, als Beweis dafür der posthypnotische Befehl, auf den wir aus Luke Wallaces Verhalten schließen können, das Bathynef zu stehlen und den Fremden aus seinem verschütteten Versteck zu befreien. Überdies können wir annehmen, daß das Wesen entweder über hochrangige technische Ausrüstung verfügt, oder daß es körperlich nahezu unzerstörbar ist und den Druck in zweitausend Faden Tiefe ebenso leicht überstehen kann wie den auf Meereshöhe." „Können wir auch annehmen, daß wir es nur mit einem einzigen zu tun haben?" fragte Vassiliev leise. Lampion zuckte die Schultern. „Eine Frage, die noch zu beantworten wäre. Ich persönlich nehme an, ja. Mögliche andere Überlebende dieser Rasse liegen wahrscheinlich noch unter tausend Metern Schlamm. Wir wollen doch unsere Schwierigkeiten nicht selbst vermehren." „Derzeit haben wir es mit einem zu tun", sagte Vassiliev. „Was soll also mit dem Linienschiff und seinem gefährlichen Passagier geschehen?" „Ich bitte um Ihre Meinung." Lampion winkte vage mit der Hand. Kapitän Vassiliev blickte in die Runde, als brauche er Zeit, seine Ansicht zu formulieren. Schließlich sagte er: „Ein Torpedo. Sofort. Und wenn nötig mit Atomsprengkopf." Automatisch schüttelten alle die Köpfe. Vassiliev breitete die Hände aus. „Nun gut. Ich kann nur sagen, daß ich froh bin, daß es nicht die Küste der Sowjetunion ist, auf die das Schiff zusteuert." „Wir haben alle Angst vor dem, was geschehen könnte", sagte Peter. „Aber es sind immer noch ein paar hundert Menschen an Bord, die wir vielleicht retten können. Offensichtlich müssen wir dieses Wesen töten oder irgendwie 62
unschädlich machen. Wenn es vorhat, an Land zu kommen, wird es sich zweifellos irgendeinem Angriff aussetzen müssen." Offiziell wurde die Queen Alexandra nur als vermißt bezeichnet. Das Schiff war vorgeschoben worden, um die ausgedehnten Suchaktionen zu erklären. Aber es würde nicht mehr lange dauern, bis die Wahrheit sich verbreitete, das war sicher. Wenn man sie jedoch noch ein oder zwei Tage zurückhalten konnte, dann würde das genügen. Daran dachte Peter, während er und Tausende anderer am Strand warteten. Das Linienschiff steuerte die Küste Floridas ein wenig südlich von Jacksonville an. Pressenotizen lagen bereit, in denen angegeben wurde, daß das Schiff in die Hand von Meuterern gefallen sei. Eine dünne Geschichte. Aber sie würde lange genug geglaubt werden und die Erfolgschancen verbessern. Das Linienschiff stand fast eine Meile vor der Küste. Es war nahezu dunkel. Man konnte die hellen Lichter erkennen. Auch mit Nachtgläsern war es schwierig auszumachen, was vor sich ging. Boote wurden zu Wasser gelassen, so schien es, und das war nur natürlich. Doch befand sich das Wesen in einem davon? - Nein. Die ersten Boote landeten. Die Besatzung blickte sich mit verzerrten Gesichtern um und signalisierte dann mit einer Lampe zum Schiff zurück. Eine Vorhut. Peter wünschte sich schmerzlich, man hätte sie sofort in die Freiheit entführen können. Doch die Kreatur mußte sich erst selbst auf den Schauplatz begeben ... Und sie tat es. Unter Verbeugungen und Gesten der Verehrung, klagend und mit klingenden Gongs schleppten die Unglücklichen das Monstrum auf einem Tisch, der mit Sesselkissen gepolstert war, zu dem größten Rettungsboot an der Landseite. Das Boot wurde gewassert. Während es langsam sank, machten sich Hunderte von Männern und Frauen bereit, ihm zu 63
folgen. Sie rissen sich verzweifelt die Kleider vom Leib und sprangen hinterher. Die meisten schwammen zum Bug des Rettungsboots, ergriffen die Leinen, die ins Wasser hingen, und begannen es an Land zu schleppen. Das Boot war noch etwa eine Viertelmeile vom Strand entfernt, als plötzlich eine dumpfe Explosion erfolgte und das erste Geschoß den Bug des Rettungsboots über der Wasserlinie aufriß. Sekunden später folgten sechs weitere Schüsse gleichzeitig. Und das war alles. Nach den Explosionen hörte man Schreie, und Peter begann schon zu hoffen, daß es die Kreatur war, die sie ausstieß. Er spürte den Zorn und den Schmerz im gleichen Augenblick, als er wahrnahm, daß die Schreie rings um ihn auf dem Strand ertönten, und zwei Dinge begleiteten ihn in seine Bewußtlosigkeit. Sie waren alles, was sein Gehirn neben der Qual noch begreifen konnte. Das erste war, daß das Ungeheuer unverletzt geblieben war. Das zweite, daß, wenn seine Kontrollgewalt über Menschen tatsächlich begrenzt war, diese Grenze nicht erreicht war.
12. Es war nicht ganz so schlimm, wie es an Bord des Hubschraubers gewesen war, aber es hielt länger an und ließ die Flucht ins Vergessen nicht zu. Diesmal, überlegte Peter, als er für Sekunden wieder selbständig denken konnte, war es ein zerstreuter Schlag gewesen, der jemanden, für den das Ungeheuer keine Verwendung hatte, unfähig machen sollte. Es steckte ein Zweck dahinter. 64
Der Schmerz wirkte wie Migräne, insofern er im Kopf auftrat. Peter versuchte dagegen anzukämpfen, da er wußte, andere taten das gleiche, doch es gab nur eine Möglichkeit der Erleichterung: zu tun, was das Ungeheuer wollte. Lichter flammten an der dunklen Küste auf. Männer und Frauen, vom Schiff und die aus dem Hinterhalt, taumelten umher, als seien sie erblindet. Sie schrien mit hohen unmenschlichen Stimmen. Die Schwächsten hörten zuerst auf zu schreien und machten sich an die Aufgaben, die ihrem Meister nicht mißfielen. Es war nicht leicht herauszufinden, was er wünschte, denn es gab keine Anweisungen, nur die fortgesetzte Qual, bis das Opfer zufällig auf die erwünschte Handlung- verfiel. Dann milderte sich der Schmerz ein wenig, und so machten sie sich fieberhaft an die Arbeit, um zu vermeiden, daß die Pein wieder einsetzte. Viele starben. Die Scharfschützen, die das Feuer auf die Kreatur zu eröffnen gewagt hatten, richteten die Waffen aufeinander und schossen, bis sie tot neben ihren zerstörten Gewehren lagen. Manche der Beobachter, die aus den Verstecken getrieben wurden, kamen dabei um. Die meisten jedoch überlebten. Voll Selbsthaß, unfähig, die Qual zu ertragen, wünschte Peter, ein Geschoß hätte ihn getroffen, als er plötzlich feststellte, daß er auf das Meer zulief. Ein weiterer Hieb der Hirnpeitsche, und er stürzte mit Hunderten anderer in das Wasser und schwamm auf das beschädigte Rettungsboot zu. Von der improvisierten Sänfte aus trieb das Ungeheuer seine Untertanen an. Es ärgerte und verstörte es gleichzeitig, daß sie versucht hatten, ihn zu töten, und daß es ihnen fast gelungen wäre. Es war alarmierend. Sie hatten herausgefunden, wo er an Land gehen würde, und auf ihn gewartet. Er war wütend, denn es war unerträglich, daß niedere Lebewesen es wagen durften, ihn so zu behandeln. 65
Doch sie würden lernen! Er würde sie auf ihren Platz verweisen, ihnen zeigen, daß sie nur Werkzeuge waren, die man benutzte, bis sie kaputtgingen, und dann wegwarf. Da sie sein Boot beschädigt hatten, würden sie es reparieren müssen! Er peitschte und stachelte an und schlug zu. Er zwang die Schwimmer, das Boot zum Strand zu ziehen. Als es auflief, gönnte er ihnen keine Erholung. Sie mußten ihn auf ihren Schultern tragen. Und nun würde er seine erste Stadt auf dem Festland in Besitz nehmen! Er zwang seine neuen Untertanen vorwärts, und während der Zug sich dahinschleppte, berief er weitere und zwang sie, sich anzuschließen. Gegen Mitternacht war es ein Zug von Tausenden. „Aber das ist ja Wahnsinn!" sagte der Präsident der Vereinigten Staaten. „Natürlich ist es Wahnsinn!" fuhr ihn Dr. Gordon an. „Wir haben es mit einem Wesen zu tun, dessen Gehirn anders arbeitet als unseres. Es behandelt uns wie Dreck!" „Das stimmt", bestätigte ein Militärpsychologe. „Wir haben einige von den armen Opfern aufgegriffen, die zurückgeblieben waren. Sie sind erschöpft, halbverhungert, weil sie nicht die Zeit hatten, etwas zu essen. Ihr Gehirn ist auf den Stand eines Idioten hinabgeprügelt, in manchen Fällen ist es völlig verödet. Sie sind verdreckt, vielfach voll unbehandelter Wunden und Ungeziefer. Sie sind bis an die äußerste Grenze ausgenutzt und dann zum Sterben zurückgelassen worden." „Und Sie können nicht herausfinden, was sich in Jacksonville abspielt?" „Nicht das mindeste", sagte der Vier-Sterne-General Barghin. Er hatte bereits seinen Bericht vorgelegt, demzufolge Jacksonville/Florida völlig von der Welt isoliert war. „Alle Straßen sind durch kaputte Autos blockiert, durch Häuser, die mit den Bewohnern in die Luft gesprengt wurden. Wir versuchten einen Spähwagen querfeldein hinzuschicken. Nach 66
zehn Minuten meldete er sich nicht mehr. Luftaufnahmen zeigen, daß er mit voller Geschwindigkeit in einen Benzintank fuhr und explodierte. Wahrscheinlich wurde die Besatzung ebenso bewußtlos gemacht wie das Suchteam, das die Alexandra entdeckte." „Was geschah mit dem Schiff?" fragte der Präsident. „Die Klappen am Reaktor waren gezogen, als sie das Schiff verließen", antwortete ein Sprecher der Marine. „Als wir an Bord kamen, fanden wir ein Gemisch aus geschmolzenem Uran und anderm Zeug im Maschinenraum. Es dauerte eine ganze Nacht, bis der Suchtrupp dekontaminiert war. Wir nahmen das Schiff ins Schlepptau, und es bleibt draußen auf See, bis wir von den Besitzern Richtlinien erhalten haben, was mit ihm geschehen soll. Wir können das Schiff nicht in den Hafen bringen, es ist radioaktiv verseucht." „Und Luftüberwachung über Jacksonyille?" Der Präsident gab nicht so leicht auf. „Wie gewöhnlich", seufzte General Barghin. „Wir haben Höhenaufklärer mit Fernsehkameras über der Stadt, aber die Wolkendecke war zu dicht, und die ferngesteuerten Aufklärer, die wir zweimal tiefer als dreihundert Meter einfliegen ließen, wurden abgeschossen. Das Wesen hat selbstverständlich mit der Stadt auch eine Küstenstation mit Abwehrraketen erobert, und es liegen dort etwa sechzig Zielraketen vom Typ Thunderhorse." „Vassiliev hatte recht", murmelte Gordon mutlos. „Er sagte, das Sicherste wäre es, die Alexandra mitsamt dem Ungeheuer zu versenken, nötigenfalls sogar mit einem Atomtorpedo." „Genau richtig!" sagte General Barghin nachdrücklich. „Irgendwas Ähnliches wird sowieso unvermeidlich sein. Vielleicht hat die Macht dieses Wesens keine Grenzen. Vielleicht versklavt es am Ende noch die ganzen Vereinigten Staaten, ja sogar die ganze Erde!" „Ich werde nicht ohne Zustimmung der Vereinten Nationen 67
den Bau einer Atomrakete anordnen", sagte der Präsident barsch. „Wie steht es mit konventionellen Raketen? Gibt es eine Möglichkeit, den Aufenthaltsort des Ungeheuers genau zu lokalisieren?" „Es könnte sich überall im Umkreis von vier- bis fünfhundert Quadratmeilen aufhalten", antwortete Barghin. „Ich schlage vor, Washington zu evakuieren. Wir hocken hier zu verdammt nahe dran." Es klopfte an der Tür, und der Präsident grunzte seine Erlaubnis, einzutreten. Ein Adjutant legte einen Stapel Fotos vor ihn nieder. „Sie wurden mit einer Scanner-Rakete aufgenommen, die für Abwehrraketen zu schnell flog, Mr. Präsident", sagte er. „Ein Kurier hat sie eben gebracht. Sie werden es morgen bei Tageslicht erneut versuchen. Und es warten eine junge Frau und ein Chinese aus Atlantica draußen, die mit Dr. Gordon sprechen sollen." Der Präsident blickte zu Gordon. Dieser nickte. „Ich erwarte Informationen über den Schlupfwinkel der Kreatur. Wir haben eine Art Höhle im Schlamm gefunden. Ich glaube, wir sollten uns den Bericht sofort anhören." Der Präsident gab einen kurzen Befehl, und der Adjutant führte Mary und einen jungen Chinesen herein, der als Dr. Sun vorgestellt wurde. Marys Gesicht war starr und verkrampft. Sie umklammerte eine dicke Mappe. Sie neigte den Kopf vor dem Präsidenten und setzte sich dann neben Gordon. „Gibt es irgend etwas Neues?" fragte sie leise. „Von Peter? Nein, mein Kind, leider nicht. Wir wissen nichts über alle die Personen, die sich innerhalb einer Meile vom Strand befanden, als die Kreatur an Land kam, und auch nichts" über die Leute zwischen dem Strand und Jacksonville. Das ganze Gebiet ist abgeschnitten." Mary nickte, legte ihre Akten auf den Tisch und saß dann mit niedergeschlagenem Blick da. 68
„Könnte Dr. Sun uns berichten?" schlug Gordon vor. Der Chinese sprach ein sehr gutes, fast akzentfreies Englisch. „Ihre amerikanische Tiefseekamera entdeckte bestimmte Objekte auf dem Meeresgrund, wie Ihnen bekannt sein dürfte, und wir stiegen im Bathynef unserer Kameraden zur Untersuchung hinunter. Wir hatten nur Zeit, ein paar Gegenstände mitzunehmen und viele Aufnahmen zu machen, denn der Schlamm hatte die Öffnung der Höhle schon wieder bedeckt, und wir benötigten drei Stunden, sie freizulegen. Doch wir fanden viel Interessantes. Mrs. Mary, bitte!" Mary zuckte zusammen und reichte ihm die Bilder aus ihrer Mappe. „Es gab viele derartige Gegenstände", sagte Sun und hielt ein Foto hoch, auf dem ein großer Zylinder mit einer dicken stumpfen Hohlnadel zu sehen war. „Wir fanden Spuren von Sauerstoff und vertrockneten organischen Flüssigkeiten darin. Wir vermuten, daß die Kreatur die Nadel durch die Haut in etwas Venenähnliches zu stoßen pflegte, um auf diese Weise dem Blut Sauerstoff zuzuführen. Und wahrscheinlich ist die vertrocknete Flüssigkeit, die wir in der Hohlnadel fanden, ein Blutrest. Es gibt schätzungsweise etwa tausend solcher Zylinder dort unten. - Außerdem", er hielt ein weiteres Foto hoch, auf dem Gestellreihen voll undeutlicher schwarzer abgeplatteter Formen erkennbar waren, „fanden wir dies, was man vielleicht als .Nahrung bezeichnen kann." Er wollte gerade ein drittes Bild zeigen, als Dr. Gordon mit den Fingern schnippte und etwas ausrief. Sun blickte zu ihm hinüber und bedeutete ihm höflich, er solle sprechen. „Verzeihen Sie. Aber ich habe eine Idee. Könnten wir auf der Grundlage unseres Wissens über den Stoffwechsel dieses Wesens nicht ein Gift herstellen? Ein starkes Giftgas zum Beispiel, das für Menschen harmlos oder schlimmstenfalls nur gefährlich wäre?" „Das weiß der Himmel, Dr. Gordon", sagte der Präsident. 69
„Aber wenn es möglich wäre, wäre es sicher die Lösung. Barghin, sorgen Sie dafür, daß das Ministerium für Chemische Waffen alle nötigen Unterlagen erhält." Der General blickte plötzlich hoch, als er begriff, daß zu ihm gesprochen wurde. „Entschuldigen Sie, Mr. Präsident", sagte er. „Ich habe gerade etwas auf diesen Bildern aus Jacksonville gefunden. Ich glaube, ich weiß, wo das Ungeheuer sich vermutlich aufhält." 13. Er gehörte zu den Glücklichen ... Das fand Peter heraus, als er endlich eine Stunde Zeit für sich hatte, die er nicht in erschöpftem Schlaf verbringen mußte. Er fühlte sich, als sei er jahrelang ununterbrochen Tag und Nacht ausgepeitscht worden. Sein Gesicht und seine Hände waren schmutzig, er war unrasiert, seine Kleidung, salzverkrustet von dem Sturz ins Meer, war zerfetzt. Die spärliche Nahrung, die er in den letzten Tagen zu sich genommen hatte, war aus verlassenen Geschäften oder Lieferwagen gestohlen. Die Stadt war erstarrt, als der Meister sie in Besitz nahm. In Jacksonville fuhren keine Autos oder Lastwagen mehr. Die Besitzer von Fahrzeugen waren gezwungen worden, sie zu einem großen Schuttplatz am Stadtrand zu fahren, wo andere Männer sie mit Benzin übergössen und anzündeten. Dies war eine der ersten Pflichten Peters gewesen. Er begriff immer schneller, was der Meister verlangte. Sie alle begriffen immer schneller. Es war nötig, um zu überleben. Nach der Vernichtung der Autos hatte Peter verschiedene Aufgaben erfüllt. Aber keine unerträglichen. Er arbeitete mechanisch, und dabei konnte er ein wenig 70
denken. Er schloß, die ungereimte Mischung von Substanzen, die er und andere zusammentrugen, müsse als Nahrung für den Meister bestimmt sein. Er hätte gern dem Mahl des Meisters zugesehen, doch er wurde weggetrieben und mußte sich einem Trupp anschließen, der die Trümmer eines gesprengten Gebäudes forträumte. Vierundzwanzig Stunden lang hatte er hier ununterbrochen geschuftet, und er war todmüde und von Staubhusten geschüttelt, als ein Peitschenhieb über den ganzen Trupp Trümmerarbeiter herfiel. Sie ließen ihr Werkzeug fallen und ballten ratlos die wunden Hände zu Fäusten. Dann fand jemand heraus, daß der Schmerz aufhörte, wenn er sich in Richtung Rathaus bewegte. Sie alle machten sich auf, es war wie eine Lawine. Dann standen sie auf dem Platz und warteten. Ein Mann in Peters Nähe hatte unterwegs Zigaretten aus einem Laden mitgenommen, und Peter zündete sich eine an. Dankbar sog er den entspannenden Rauch in sich hinein. Dann gab es eine Bewegung. Auf ein geschmücktes Podest traten Leute. Zehn Männer, zehn Frauen. Sauber, in ordentlichen Kleidern. Bleich, aber gefaßt. Dann erschien unter dem Dröhnen eines großen Bronzegongs der Herr und Meister. Er ruhte auf den Schultern von zwanzig starken Männern. Hinterdrein stolperten idiotisch einige Ministranten in Chorhemden, schwangen Weihrauchfässer und sangen dünn und unverständlich irgend etwas. Die Träger ließen den Meister nieder, und ein Schauder erfaßte die Menge. Peter war entsetzt. Das Ding war gewachsen! Einer der ordentlich gekleideten Männer auf der Empore taumelte plötzlich, als sei er getroffen. Er fing sich und trat vor. „Der Herr befiehlt mir, zu euch zu sprechen!" schrie er. „Der Meister befiehlt mir, euch die Wahrheit zu sagen! Wir sind arrogantes, wertloses Ungeziefer. Vor hunderttausend Jahren 71
waren wir schon die Untertanen der Meister. Alles, was wir wissen, haben wir von den Meistern gelernt, und als unser Herr aus der See zu uns zurückkehrte, versuchten wir ihn zu töten! Es mißlang, doch wir müssen dafür bestraft werden. Und wir müssen die Unterwerfung lernen." Die Stimme kam Peter vertraut vor, doch sie schrie so laut und unpersönlich, daß er sie nicht erkannte. „Wir müssen dem Herrn die gebührende Ehre erweisen. Wir müssen seine Macht, seine Weisheit, sein langes Leben, sein Wissen rühmen. Wir müssen zu seinem Preis singen und uns vor ihm niederbeugen und ihm dienen, denn er ist größer als wir." In der Menge entstand Unruhe und Unmut, der Stich grausamer Schmerzen wischte sie beiseite. „Singt!" schrie der Mann auf dem Podest, und die Chorknaben stolperten nach vorn und begannen mit piepsigen Stimmen eine alte, vertraute Melodie. „Großer Herr, wir loben dich, Herr, wir preisen deine Stärke ..." Sie schlossen mit dem vierten Vers, dann standen sie und warteten auf weitere Befehle. Ein Heulen zog über sie hinweg, sie blickten auf. Etwas sehr Schnelles mit Kondensstreifen hatte den kühlen Herbsthimmel überquert. Peter schätzte, daß die Leute draußen durch Aufklärungsflugzeuge oder Raketen mit Foto- oder Scannerausrüstung herauszufinden versuchten, was los war. Ja, das mußte es sein, denn das Heulen kehrte zurück und kam noch ein drittes Mal. Plötzlich sah Peter, daß der Meister ins Haus zurückgetragen wurde und die Menge sich zerstreute. Die Bewegung, die ihn bestimmte, war auf die Empore gerichtet, und er schloß sich ihr automatisch an, denn dies war die erste Lektion, die man unter der Peitsche lernte. Verbissen und trotzig erwiderten die zehn Männer und Frauen in ordentlicher Kleidung die haßerfüllten 72
Blicke ihrer weniger glücklichen Gefährten. Was hatte den Meister bestimmt, diese da auszusondern? Vielleicht hatte er vor, einen Stab von Kollaborateuren auszubilden, Quislinge, die seine Autorität wirksam vertreten sollten. Aber was konnte einen Menschen dazu bringen, freiwillig mit solch einem abscheulichen Tyrannen zusammenzuarbeiten? Während sein Blick antwortsuchend über die Gesichter strich erkannte er Luke. Luke erkannte ihn im selben Augenblick ebenfalls und schien etwas sagen zu wollen. Peter spuckte drastisch aus und schlurfte weiter an dem Podium vorüber. Luke blickte sich nervös um, dann beugte er sich nieder, um zu flüstern: „Peter, jetzt ist Freistunde, glaube ich. Warte auf mich, wo die Autos verbrannt wurden!" „Ich weiß, was du von mir denken mußt", sagte Luke. „Ich denke es ebenfalls über mich. Aber solange du die Gewalt dieses Ungeheuers nicht auf dich als Einzelwesen gerichtet gespürt hast ... Halte dich in der Masse, wenn du kannst. Wenn sich die Kraft verteilt, ist sie nicht ganz so schlimm. Ich kenne das, ich weiß Bescheid. - Seine Kraft ist nicht unbegrenzt, Peter. Und er hat Fehler begangen, die tödlich sein könnten. Weil er uns als Primitive vorfand, als er zum erstenmal auf die Erde kam, glaubt er, wir seien immer noch primitiv, also liegt es bei uns, ihn in diesem Irrtum zu bestärken. Je länger wir ihn in dieser einen Stadt mit ihrer Umgebung zufriedenstellen können, desto größer wird die Chance für die draußen, mit ihm fertig zu werden. Peter, ich wage nicht, mich lange von ihm entfernt aufzuhalten. Wenn er mich verdächtigt, bin ich erledigt. Aber bevor ich jetzt gehe, höre mir genau zu: Im Augenblick hat kein Mensch auch nur die geringste Hoffnung, hier herauszukommen. Die Zufahrtstraßen sind blockiert, jedem Versuch, ein Flugzeug hineinzufliegen, wird mit Abwehrraketen begegnet. Und derzeit bauen sie die 73
Thunderhorse um, damit sie auch in der Lage ist, die Scannerraketen herunterzuholen, die uns überfliegen. Das verfluchte Monstrum besitzt nämlich technisches Wissen. Es befiehlt den Ingenieuren Sachen, von denen ich nie zu träumen gewagt hätte. - Die Lage könnte sich ändern. Wenn das der Fall ist und du entkommen kannst, dann sage, daß ..." Etwas flog heulend über ihre Köpfe. Sie warfen sich instinktiv zu Boden. Bevor sie den Kopf wieder heben konnten, hatte sich eine große, weiße Rauchwolke ungefähr über dem Rathaus erhoben, und man hörte den dumpfen Lärm einer Explosion. Sie schauten einander mit einer plötzlichen wilden Hoffnung an. Peter öffnete den Mund, als die Wucht des Schmerzes und eine Wut, die heftiger war als je zuvor, ihnen klarmachten, daß der Versuch mißlungen war.
14. „Ich glaube, man kann sagen, das Ergebnis war gleich Null", sagte General Barghin. „Wir haben das Rathaus zwar getroffen, aber nur mit einer konventionellen Bombe von einer Tonne." Schlamm gluckste, als er unbehaglich den Stand wechselte. Das Hauptquartier war unter Zeltplanen errichtet und konnte innerhalb von fünfzehn Minuten evakuiert werden. Gordon, der sah, daß niemand sonst etwas zu sagen hatte, räusperte sich und erklärte: „General, ich dachte, Sie setzen Scannerraketen ein, weil sie wegen der hohen Geschwindigkeit nicht abgeschossen werden können?" „Haben wir", stimmte Barghin zu. „Thunderhorse-Raketen dürften sie eigentlich nicht erwischen. Eine hat's dennoch geschafft. Wir fliegen jetzt eine 74
Reihe von Störeinsätzen und wollen sie damit provozieren, ihre Bestände zu verbrauchen. Sie hatten ungefähr sechzig. Bisher haben sie elf verschossen. Aber der Himmel allein weiß, ob es was nützt." „Irgend was Neues auf der chemischen Seite?" fragte ein Oberst. „Jemand sagte ..." „Hier kann man nicht mit sofortigen Ergebnissen rechnen", unterbrach Gordon. „Mehrere der größten Computer bei uns arbeiten daran. In Rußland ebenfalls. Aber es gibt große Schwierigkeiten." Ein Kurier schlug die Zeltbahn zurück. „Meldung, General", stieß er grüßend hervor. Barghin ergriff das vollgekritzelte Blatt. „Sieht aus, als wäre das das Stichwort für ,Robotschaufel' ", sagte er rätselhaft. „Hoffen wir, daß es diesmal klappt. Oberst, ich brauche eine detaillierte Aufstellung aller Waffen, außer Handfeuerwaffen, die es vor der Ankunft des Ungeheuers in Jacksonville gab." Der Oberst folgte dem Kurier nach draußen. Das Rathaus war ein Trümmerhaufen, doch die Signale von drinnen bewiesen durch ihre Stärke, daß der Meister auch dies überlebt hatte. Peter und Luke waren unter den letzten, die den Platz erreichten. Mindestens tausend Menschen bildeten Ketten, trugen den Schutt ab und stapelten ihn auf dem Rathausplatz. Peter und Luke schlössen sich am Ende der Schlange an. Ein kantiger fünf Pfund schwerer Stein flog durch die Luft auf Luke zu. Peter bemerkte zu spät, daß Luke sich noch nicht wieder umgewandt hatte, und versuchte den Stein zu packen. Er griff daneben. Plötzlich war in Lukes Hinterkopf ein Loch. Einen Augenblick lang lag auf seinem Gesicht der Ausdruck von Erstaunen und Schmerz. Dann fiel er nach vorn, Blut quoll unter den Haaren hervor. Peter beugte sich nieder, um zu sehen, ob Hilfe möglich sei, doch ein erneuter Schmerzstoß 75
erinnerte ihn daran, daß der Meister sich nicht um das Geschick seiner Untertanen kümmerte. Aber wenigstens konnte er Luke begraben. Er beschloß, einen Grabhügel über seinem toten Freund zu errichten und dann den Schutt anderswo abzulegen. Wie Sklaven beim Pyramidenbau, dachte er, und der Laune eines viel übleren Herrn als Pharao preisgegeben ... Wahrscheinlich lagen noch mehr Leichen unter dem angehäuften Schutt, als sie den Herrn endlich mit Seilen herauszogen. Einige mußten seine Haut waschen, bis sie sauber schimmerte, andere Material suchen und eine neue Sänfte für ihn bauen. Dann mußten sie alle ihn zu den Klängen des Te Deums in eine fünf Straßen weit entfernte große Kirche schleppen und ihn dort in neuer Pracht inthronisieren. Was taten die übrigen Versklavten? Peter versuchte es herauszufinden, indem er sich eifrig umblickte, während sie den Meister zu seinem neuen Wohnort trugen. Manche würden zweifellos auf der Raketenbasis sein, andere wurden wahrscheinlich gezwungen, an den Grenzen des Herrschaftsbereichs des Meisters zu patrouillieren und mögliche Eindringlinge zu vernichten. Andere beseitigten immer noch die Trümmer der früher gesprengten Gebäude oder legten neues Pflaster. Und wieder andere hatten eine ganz besondere Aufgabe ... Auf einer der Hauptstraßen, die bei der alten Kirche den Weg kreuzten, schoben Männer und Frauen mühsam vollbeladene Handkarren. Auf ihnen waren Karabiner, Sportflinten, Automatiken und die entsprechende Munition angehäuft; daneben Äxte, Schlachtermesser, ja sogar Säbel und Schwerter, die wohl aus einem Museum stammten. „Können Sie mit Schußwaffen umgehen?" fragten sie erschöpft, als sie vorüberkamen. Wer bejahte, erhielt ein Gewehr. Die anderen, meist Frauen, bekamen Messer, Äxte oder Beile. 76
„Er stellt eine Armee auf", murmelte Peter leise vor sich hin. „Also weiß er, daß seine Macht begrenzt ist!" Dieser Gedanke erregte ihn so sehr, daß er völlig überrascht war, als ein Waffenkärrner ihn monoton fragte: „Können Sie mit Schußwaffen umgehen?" Lügen konnte er nicht, das wußte er. Und wenn er nein sagte, würde er auf jeden Fall eine Hiebwaffe nehmen müssen, und die war nicht auf Munition angewiesen. Was war die am wenigsten tödliche Schußwaffe? Er sagte vorsichtig: „Ich kann mit einer .22er Pistole schießen." Es stimmte. Aber er konnte auch ein Maschinengewehr bedienen, einen Karabiner, ein Repetiergewehr und viele andere viel gefährlichere Waffen. Der Waffenkärrner fragte nicht weiter, er stieß eine kleine Sportpistole und Munition in Peters Hand und trottete weiter. Peter ging die Straße entlang und suchte nach Nahrung. Eine der vielen Bananenkisten von dem havarierten Frachtschiff erregte seine Aufmerksamkeit: es lagen noch drei, vier Büschel schwärzlicher Früchte darin. Er aß gierig. Eine Frau mit einem Auge, das zu einer roten Grube geworden war, kam und hielt stumm die blutigen Hände hin, und Peter gab ihr die Hälfte ab, weniger aus Solidarität als deshalb, weil ihn plötzlich die Freude darüber überwältigte, daß Mary nicht in der gleichen mitleiderregenden Lage war. Wenn nicht noch ein Ungeheuer auftauchte, war sie draußen bei den Atlantica-Ausgrabungen sicher. Sicherer wahrscheinlich als irgendwo sonst auf der Welt. Und dann kam schließlich der Befehl an die Armee, vorzurücken. „Raketen über New York, Philadelphia, Baltimore, Richmond und Savannah", lauteten die Berichte. Barghins Gesicht wurde plötzlich sehr ernst. „Gott sei Dank liegt dort unten kein Uran oder anderes spaltbares Material", sagte er. „Wir können nur beten, daß das 77
Ungeheuer nicht Wasserstoffbomben aus alten Konservendosen machen kann. Wie groß ist der Schaden?" „Alle Berichte zusammengefaßt, Sir", sagte der Funker, „kein ernsthafter Schaden in New York. Rakete explodierte über dem Ziel. Am schlimmsten scheint es in Richmond zu sein. Traf einen Supermarkt. Sie graben immer noch nach den Leichen. Washington meldet Panik auf weiten Strecken der Ostküste. Die Leute sind in die Wälder Neuenglands geflohen, alle Hauptstraßen von Autoschlangen verstopft. Menschenmassen haben Seehäfen belagert und sich mit Gewalt auf die Schiffe begeben. Ein Frachtschiff wurde mit Gewehren gezwungen, von Boston abzufahren." „Wo ist der Präsident?" „Irgendwo in Minnesota in einem Katastrophenbunker, der noch vom Kalten Krieg übriggeblieben ist. Er soll Berichten zufolge heute abend eine Rede an die Nation halten." „Geben Sie mir die Evakuierungsberichte!" „Durchgeführt in einem dreißig Meilen breiten Gürtel", sagte der Funker nach einigen hastigen Fragen. „Sammelpunkte für die Flüchtlinge werden in Atlanta, Birmingham und Montgomery errichtet. Nur verschwinden zahlreiche Leute aus diesen Städten, seit sie von der Evakuierung hörten." „Weiter westlich, Sie Blödmann!" sagte Barghin humorlos. „Irgendwelche Kontakte mit den armen Kerlen in Jacksonville?" „Leichte Feuergefechte im ganzen westlichen Quadranten der Front. Die Kommandos melden, daß Rückzug nahezu beendet ist." „Okay. Ich hoffe nur, daß wir ein paar Mann mit unzerstörtem Hirn zurückbekommen. Wir starten jetzt besser 'Robotschaufel'." Pflichtschuldig singend unter der Gehirnpeitsche, im Takt der Gongs und Trommeln marschierend, setzte sich die Armee in der hereinbrechenden Nacht in Bewegung. 78
Sie kamen an die Straßenblockaden, die die Grenzen des Herrschaftsbereichs ihres Meisters bezeichneten, und kletterten darüber weg oder um sie herum. Die Vorhut formierte sich neu, sie schleppten sich weiter. Peter ging am Ende seiner Kolonne. In der Dunkelheit konnte er nur wenige Schritte weit sehen. Er war völlig überrascht, als die Schüsse ertönten und er sich gezwungen fühlte, seine Pistole zu heben und ebenfalls zu feuern. Lichter flammten auf, versteckt hinter Gebüsch oder in einzelstehenden Häusern. Die Armee schwärmte aus. Manche wurden gezwungen, unter wildem Feuer vorwärtszustürmeh. Doch es gab kein Gegenfeuer, und sie rückten weiter und sahen, daß die Männer, die die Scheinwerfer angemacht hatten, sich zurückgezogen hatten. Dies wiederholte sich länger als eine Stunde: Lichter, ein Angriff, Entdeckung der verlassenen Posten. Ein Gefühl der Unsicherheit, das vom Meister zu ihnen drang, hing über der Armee. Und dann ... Schützenpanzerwagen, Truppentransporter, Sanitätswagen: Eine phantastische Menagerie von gepanzerten Fahrzeugen schob sich langsam aus der Nacht heraus. Es peitschten scharfe Gewehrschüsse, dahinter die dumpfen Rumpeltöne der Mörser. Bei jedem Rumpeln schoß ein Netz von einer Halterung an einem der Fahrzeuge, fing Männer und Frauen wie Vögel in Schlingen und zog sich automatisch zu. Kräne schoben sich vor, ergriffen die gefüllten Netze und verluden sie mit ihrer menschlichen Fracht in die Wagen. Schreie ertönten, und ungezielte Schüsse zischten über den Boden. Aber ehe die halbe „Armee" auf diese Weise ruhmlos gefangengenommen war, wurden Peter und die anderen noch nicht Gefangenen zum hastigen Rückzug gezwungen.
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15.
„Es besteht kein Zweifel, das Blatt beginnt sich zu wenden, Mr. Präsident", sagte Barghin ins Telefon. „Wir haben alle vier Raketen heruntergeholt, die seit der gestrigen Massenbeschießung abgefeuert wurden, und die ,Operation Robotschaufel' war ein ziemlich guter Erfolg." Er lauschte. „Ja. Ich bestehe immer noch auf der Zustimmung der UNO zum Bau der Atomrakete. Unser Risiko ist allerdings, daß das Ungeheuer uns bisher nur unterschätzte und vielleicht über Tricks verfügt, die es noch nicht anwendete. Nein, ich weiß nichts Neues über die chemischen Waffen. Ich erwarte in Kürze einen Bericht darüber, außerdem erhalten Sie ja sowieso einen Report über die bisherigen Erfolge." Er verabschiedete sich. Dann lehnte er sich in seinem Stuhl zurück. Das Hauptquartier war aus dem Zelt in einen der Wagen verlegt worden, die von der „Operation Robotschaufel" zurückgekehrt waren. „Dr. Gordon und Mrs. Tränt, Sir",, sagte eine Ordonnanz. Der General nickte und erhob sich, um seine Besucher zu empfangen. Mary wirkte seltsam bleich, und sie war schöner denn je. Gordons Augen waren geschwollen vor Übermüdung, doch er brachte wenigstens ein Lächeln zustande. „Sie haben sich umgesehen?" fragte Barghin und bot Zigaretten an. „Ja", antwortete Mary mutlos. „Nach den Verletzten haben wir die Toten überprüft. Keine Spur von Peter." „Es tut mir leid", sagte Barghin unangebrachterweise. „Ich gewöhne mich allmählich daran, daß ich ihn nie wiedersehen werde", sagte Mary. „Ich zwinge mich dazu. Irgendwie bin ich nicht traurig, daß er nicht unter den Leuten war, die Sie aufgegriffen haben. Ich glaube, wenn er dieses 80
Entsetzen durchgemacht hätte, er wäre nie wieder der gleiche Mensch gewesen." Gordon räusperte sich und zog Papiere aus der Tasche. „Wir können von einem kleinen Fortschritt berichten. Es wurde festgestellt, daß die vertrocknete Substanz in den Hohlnadeln der Sauerstoffzylinder das Gegenstück zu unserem Hämoglobin ist. Funktioniert auf die gleiche Weise: ein Sauerstoff-CO2-Stoffwechsel. Und das ist sehr verhängnisvoll." „Warum?" „Weil es bedeutet, daß Gifte, die zum Beispiel wie Blausäure wirken, indem sie die Versorgung der Gewebe mit Sauerstoff unterbinden, für das Ungeheuer ebenfalls tödlich sein müssen. Oder umgekehrt, alles, was tödlich für das Ungeheuer ist, würde möglicherweise auch für Menschen tödlich sein." „Schlecht. Und weiter?" „Man schlägt vor, daß wir auf jeden Fall Raketen mit den verschiedensten Giften vorbereiten, einschließlich Blausäure, obwohl die so flüchtig ist, daß nur ein Volltreffer Sinn hätte, und herauszukriegen versuchen, wo jetzt das Hauptquartier des Ungeheuers liegt." „Und wie sollen wir das machen?" Barghins Stimme triefte von Ironie. „Wir haben keine Aufnahme von Jacksonville mehr, seit das Ungeheuer unsere schnellsten Scannerraketen herunterholen kann. Wir haben noch schnellere, selbstverständlich, aber damit bekommen wir keine brauchbaren Aufnahmen." „Ich fürchte, das ist Ihr Problem, General. Oder besser, das der technischen Spezialisten. Ich habe übrigens Vassiliev draußen in Atlantica davon berichtet, und er machte Andeutungen, daß wir bald mit einem ziemlich neuartigen Gerät in der Art der sowjetischen Elektronenverstärker rechnen können. Das könnte uns zu brauchbaren Fotos aus einer superschnellen Rakete verhelfen." 81
„Möglich." „Hoffentlich! Alles, was wir uns ausdenken, hängt davon ab, ob wir den Aufenthaltsort des Ungeheuers herausbekommen. Wir vermuten zum Beispiel, daß der Sauerstoffbedarf des Ungeheuers größer als beim Menschen sein muß, da es so sehr viel mehr Masse hat. Also wird es möglicherweise schneller ersticken. Wenn wir es demnach in einen See von flüssigem Feuer einschließen könnten, wäre es erledigt. Wir wissen aber, daß es unglücklicherweise einige hunderttausend Jahre im Winterschlaf verbringen kann. Und es wäre durchaus denkbar, daß es sich in diesen Winterschlaf versetzt, ehe der Sauerstoffmangel es tatsächlich tötet." Gordon breitete hilflos die Hände aus. „Ich sprach gerade mit dem Präsidenten", sagte Barghin nach einer Pause. „Er wird heute den Katastrophen-Ausschuß der UNO um die Erlaubnis ersuchen, einen atomaren KilotonnenSprengkopf herstellen zu lassen." „Ich habe davon gerüchtweise gehört." Barghin zündete sich eine Zigarette an und lehnte sich zurück. „Wie sieht's in der Welt aus?" fragte er. „Ich habe mich so sehr auf Jacksonville konzentriert, daß ich keine Ahnung von den Ereignissen habe." Mary brach ihr langes Schweigen: „Es ist entsetzlich." „Es könnte noch viel schlimmer sein", widersprach Gordon. „Die Flüchtlingsbewegungen sind zu einem Rinnsal abgesunken, aber das wissen Sie sicher. Die Marine hat das entführte Schlachtschiff zurückgebracht. Abgesehen davon hängt nur allgemeiner Wahnsinn in der Luft." „General", sagte Mary, „ich habe mich die ganze Zeit gefragt: Wenn das Ungeheuer so mächtig ist, warum läßt es dann die Leute diese unsinnigen Zeremonien abhalten?" „Die Psychologen haben sich sofort darauf gestürzt und ausnahmsweise mal eine brauchbare Theorie entwickelt. Sie 82
nehmen an, daß bei dieser Rasse, da sie offenbar so langlebig ist, der Geschlechtstrieb minimal ist. Doch theoretisch muß jede intelligente Lebensform einen zentralen Angelpunkt haben, um den die Persönlichkeit kreist. Die Psychologen sind der Ansicht, daß die Macht, anderen Kreaturen Schmerz zuzufügen, und der Drang, sie zu beherrschen, unserem Geschlechtstrieb entsprechen. Also befriedigt sich möglicherweise das Monstrum durch solche unechten Rituale. Andererseits kann es natürlich auch viel einfacher sein: Vielleicht ist es schwer für das Monstrum, Tausende von Menschen ständig zu kontrollieren, und es hält es für richtig, seine Sklaven zu dressieren, so daß sie glauben, es sei kraft Naturgesetz überlegen, wodurch die Gefahr einer Rebellion vermindert würde." „Das klingt mir wahrscheinlicher", sagte Mary. „Denn wenn es für das Ungeheuer nicht harte Arbeit bedeutete, größere Menschenmengen zu kontrollieren, dann hätte es mittlerweile das ganze Land und vielleicht die ganze Erde erobert." Ihre Unterlippe zitterte, plötzlich verlor sie alle Beherrschung. Erschrocken versuchten die beiden Männer sie zu beruhigen, doch sie begann in tiefen schmerzhaften Schluchzern ihre Angst und ihr Elend hinauszuweinen. „Ich hoffe, Peter ist tot!" keuchte sie endlich. „Es wäre besser zu sterben, als zu leben, wie es will!"
16. Der Kordon war auf der Landseite ein etwa fünfzig Meilen langer Halbkreis von unterschiedlicher Stärke. Die äußersten Vorposten waren sämtlich ferngesteuert. Die meisten davon stabile Scannerstationen. Ein paar Roboterfahrzeuge, leichte 83
Panzer und Spähwagen, doch sie waren kaum nützlicher als die stabilen Stationen. Jeder Versuch, sie ins Gebiet des Ungeheuers zu schicken, führte dazu, daß sich verzweifelte Sklaven ihnen in den Weg warfen, und man brachte es einfach nicht fertig, sich einen Weg durch einen Wall von menschlichen Leibern zu bahnen. Auf der Seeseite patrouillierten einige zwanzig Schiffe, darunter auch U-Boote. Seit der Katastrophe mit dem Bananenfrachter, der auf unerklärliche Weise in die Kaimauer gefahren war, hatte es sich als dringend notwendig erwiesen, alle Schiffe fernzuhalten. Gelegentlich und nur für kurze Zeit (wegen der ungeheuren Treibstoffmengen) raste ihr einziges „Auge" durch den Himmel. Es war eine militärische Rakete, die mit einem groben Scanner ausgerüstet war und in niedriger Höhe mit einer Geschwindigkeit von fünftausend Meilen pro Stunde flog. Aus den undeutlichen Signalen konnte man mit Hilfe eines umgebauten Elektronenverstärkers, wie er im Pulkovo-Observatori-um zur Untersuchung schwacher Sterne verwendet wurde, (YYYY) grofite Fotos der Stadt konstruieren. Es war sozusagen ein Verfahren aus zweiter Hand, denn man erhielt erst dann ein klares Bild der Lage, wenn sie sich bereits verändert hatte. Mittlerweile schloß man jedoch vorsichtig, das Schema werde sich nicht bemerkenswert wandeln: Das Ungeheuer hatte offenbar so viele Leute, wie es bequem beherrschen konnte, und würde sein Gebiet demnächst nicht zu erweitern versuchen. Die Informationen, die sie von den bei der „Operation Robotschaufel" Geretteten erhalten hatten, hatten sie in die Lage versetzt, die Blausäure-Raketen ins Ziel zu schicken. Doch ihr Vorrat an Raketen war knapp. Die Psychologen brüteten über ihren Unterlagen und gewannen größere Zuversicht, und diese Zuversicht war ansteckend. Alles deutete darauf hin, daß das Ungeheuer sich übernommen hatte, daß es die Widerstandskraft der Menschen 84
und die Bereitschaft, sich ihm ohne Panik zu widersetzen, unterschätzt hatte. Wenn das zutraf, dann konnte man das Ungeheuer durch scharf gezielte Angriffe in unregelmäßigen Abständen dazu zwingen, sich in niemals endenden Vorsichtsmaßregeln für seine eigene Sicherheit zu verzetteln, die jeweils durch einen Angriff aus einer anderen Ecke vereitelt werden würden. Es schien, als würden sie Erfolg haben. Deshalb waren sie trotz der Erlaubnis zum Bau eines atomaren Kilotonnen-Sprengkopfs und der entsprechenden Trägerrakete entschlossen, dies nur als äußerste Notlösung zu betrachten. Ideen für neue gezielte Angriffe strömten herein, je mehr die Daten, die man aus dem Schlupfwinkel im Meer und aus der Haut und dem Skelett des toten Ungeheuers gewonnen hatte, sich in praktische Verfahren umsetzen ließen. Ein Foto der Scanner-Rakete bewies, daß das Ungeheuer achthundert Leute ans Werk gehetzt hatte, die einen unterirdischen Schutzbunker bauen mußten. Offensichtlich war es ziemlich nervös geworden und wollte sich keiner Gefahr an der Oberfläche mehr aussetzen. Man ließ die Arbeiten fast bis zu ihrer Vollendung ungestört. Dann setzte man eine Vierersalve von Erdwerfern ein: Raketen, die alles außer Zement durchdringen konnten, und in vorgeplanter Tiefe explodierten. Der mühsam ausgehobene Schutzbunker brach prompt in sich zusammen, und die Arbeit mußte erneut begonnen werden. Sooft es ging, lokalisierte man die neuen Schlupfwinkel und beschoß sie mit gewöhnlichen Leuchtraketen, nicht in der Absicht, ernsthaften Schaden anzurichten, sondern nur um zu beweisen, daß man wußte, wo das Ungeheuer sich befand, und das Feuer nur zurückhielt, um Menschen zu schonen, die in der Nähe waren. Von den Geretteten hatte man erfahren, daß das Ungeheuer jetzt nicht mehr so verschwenderisch mit seinen 85
Sklaven umging. Anscheinend hatte es die Hoffnung aufgegeben, eine bemerkenswert größere Anzahl von Menschen in seine Gewalt zu bringen. Früher oder später würden sie das Ungeheuer zermürben, und wenn es auch absolut sicher war, daß der Atomsprengkopf neunzig Prozent der noch Überlebenden töten würde, so bestand doch das Risiko, daß das Ungetüm in seiner äußersten Verzweiflung alle mit sich in den Tod reißen würde. Also entschloß man sich resignierend zu einem Zermürbungskrieg. „Was? Alle?" brüllte Barghin. „Nach den Berichten, ja, Sir", bestätigte der Funker. „Die gesamte nicht-evakuierte Bevölkerung von Brunswick, die gesamte Einwohnerschaft von Savannah und fast alle aus dem Gebiet dazwischen." „Einen Hubschrauber, und alarmieren Sie alle Abteilungen in der Gegend!" befahl Barghin. „Das wird nicht viel nützen, Sir", sagte der Funker vorsichtig. „Wir haben seit fast einer Stunde keinerlei Verbindung mehr mit unseren Truppen am Rand der evakuierten Zone zwischen Jacksonville und Brunswick, und man fürchtet, daß sie als erste geschnappt wurden." „Lassen sie die Lücke durch ferngesteuerte Fahrzeuge schließen, und stecken Sie alles 'rein, was wir haben. Und holen Sie mir den Hubschrauber. Schnell!" In der Geschichte der Vereinigten Staaten hatte es nie etwas Ähnliches gegeben. In Europa, in Kriegszeiten, allerdings wohl. Eine ganze Bevölkerung auf Wanderschaft, Tausende, dann Zehntausende. Manche in Autos, manche auf Autos, andere zu Fuß. Wenn die Straßen sich verstopften, fluteten sie über das Land. Verwirrt versuchten sie zuweilen umzukehren, begriffen jedoch rasch, daß dies sinnlos war. Durch sein Fernglas konnte Barghin plötzlich eintretende Einzeltragödien beobachten. Eine Mutter, deren kleines Kind nicht mehr weiterlaufen konnte, versuchte anzuhalten, damit es 86
sich ausruhen könne, doch sie wurde durch entsetzliche Qual blind und weinend weitergetrieben, und das Kind blieb schluchzend allein zurück. Oder ein Krüppel, dem eine seiner Krücken zerbrochen war und der vergeblich flehte, daß jemand anhalte und ihm wieder auf die Beine helfe. Schließlich war er gezwungen zu kriechen, denn solange er sich bewegte, ließ die Pein nach. Tausende anderer Dramen. Barghin stellte fest, an welchem Punkt der Schmerz auf ihn und den Piloten einzuwirken begann. Keuchend ließen sie sich von der Robotersteuerung höher tragen, bis sie außer Reichweite waren. Und dann begann Barghin seine Streitkräfte zu sammeln. Es war ganz unmöglich, diese Bewegung mit konventionellen Methoden wie Straßenblockaden oder Truppen aufzuhalten. Sperren wurden umgangen oder verzweifelt mit blutigen Händen weggeräumt. Und die Soldaten konnten der Qual auch nicht besser standhalten als alle anderen, wichen als erste beiseite und machten sich auf den Weg nach Jacksonville. Die Robotfahrzeuge der „Operation Robotschaufel" erreichten den Rand der evakuierten Zone kurz vor der Vorhut der Menschenkolonne. Zusammengeschoben, mit zerfetzten Reifen, brachen sie zusammen und bildeten einen Wall aus Metall. Zuerst wurden die Herandrängenden langsamer, dann stieß sie der unerbittliche Zwang von hinten weiter voran, und sie kletterten über die Körper der Schwächeren. Sie mußten die Autos zurücklassen und zu Fuß weitergehen. Wie Ameisen fluteten die Menschen das Hindernis hinauf und hinüber und ließen es hinter sich. Scharf befahl Barghin die Sprengung von Überführungen und Brücken, doch das hielt sie kaum auf. Ein Mensch kann unter Zwang dort gehen, wo eine Bergziege abgleiten würde. Manche stürzten übrigens ab, doch waren es nicht genug, um die Reihen merklich zu lichten. Gab es denn nichts, was sie aufhalten konnte? 87
Nein. Auch die letzte Möglichkeit, ein flammender Napalmvorhang, hatte einen solch scheußlichen Erfolg, daß sie den Versuch nicht fortsetzen konnten: Die Vorhut wurde gezwungen, die Flammen mit ihren Leibern zu ersticken, damit die hinter ihnen Kommenden über sie hinweg weitergehen konnten. Den ganzen Tag und die ganze Nacht zogen sie weiter, unaufhaltsam, ohne ein Ziel außer dem, von der entsetzlichen Qual befreit zu sein, die sie antrieb. Dann, als knapp eine Million Überlebende in die Blindzone um Jacksonville verschwunden waren, hielt der Rest an. Mit bleichen Gesichtern machten sich die Verantwortlichen klar, daß dieser neue Zustrom die Anwendung des Atomsprengkopfes unmöglich machte. Und mit angstbleichen Gesichtern forderte die freie Bevölkerung die sofortige Anwendung ... Schon lange war es für Peter schwierig geworden, sich vorzustellen, daß die Außenwelt noch existierte. Seine letzte Verbindung mit ihr war dahin: die Gesichter, an die er sich erinnerte, weil sie wie er unter den ersten Untertanen des Meisters gewesen waren. Eine Zeitlang war er sehr krank gewesen. Eine Fieberepidemie hatte die Stadt überfallen. Vielleicht waren die unbestatteten verwesenden Leichen daran schuld. Die Hunde hatten das Aas eine Weile unter Kontrolle gehalten, doch eines Tages hatte der Meister Trupps mit Äxten ausgeschickt und alle Tiere töten lassen, die es noch in den Straßen gab. Dies war ihre letzte Fleischration gewesen. Fiebernd schuftete er weiter. Er entdeckte in jedem Frauengesicht die Züge Marys, und dies hatte eine tiefgreifende Auswirkung. Beim zweiten Blick sah er natürlich den Dreck, die eiternden Wunden, die triefenden Augen, die verfaulenden Zähne. Und sein fieberndes Hirn überlagerte beides. Mary war tot. Auf dem Höhepunkt des Fiebers hatte er 88
das herausgefunden. Er wanderte umher, zerrte Menschen am Arm und erklärte ihnen: „Meine Frau ist tot!" Manchmal antwortete man ihm: „Ich hoffe, meine auch!" Manchmal sagten die Leute: „Geh zum Teufel!" Und meistens hörten sie überhaupt nicht, was er sagte. Irgendwann hatte er sich den Arm gebrochen. Dabei war Schmutz in die aufgerissene Haut eingedrungen, und als er wieder zusammenhängend denken konnte und sich erinnerte, daß er bei dem Angriff der Erdwerfer-Raketen verletzt worden war, erstreckte sich die Geschwulst von blaugrüngelbem Eiter fast über den ganzen Unterarm. Es schmerzte beständig. Aus diesem Grund und wegen der Dumpfheit in seinem Hirn wurde ihm erst eine Weile später klar, daß der Meister ihn nicht mehr peitschte. Er saß auf einem zertrümmerten Gehsteig. Gegenüber arbeitete ein Trupp in einem Gebäude, sie taten irgend was mit Feuer und Werkzeug. Fertigten etwas an. Warum war er nicht mit ihnen zur Arbeit getrieben worden? Wegen seines unbrauchbaren Armes? Er erhob sich und begann durch die Stadt zu humpeln. Er wagte noch nicht zu hoffen, daß er für immer aus den Plänen des Ungeheuers ausgeschieden war. Doch die Hoffnung wuchs. Diese Leute waren neu hier! Sie wirkten gesund und wohlgenährt. Ihre Kleider waren kürzlich gereinigt, die Schuhe glänzten an den Füßen. Der Herr mußte neue Arbeitskräfte besorgt haben und die kranken elenden Wracks, die ihm bisher gedient hatten, sich selber überlassen haben. Er strich weiter durch die Stadt, in der Hoffnung, auf einen zu stoßen, der in der gleichen Lage war wie er selbst. Es gab keinen. Viele waren nicht mehr kräftig genug, sich zu bewegen. Er ließ sie in Ruhe. Er fand einen frischen Brotlaib, den offenbar einer der Neukömmlinge mitgebracht hatte, und stopfte sich gierig den Mund voll. Die Neuankömmlinge konnten nicht stehenbleiben, um mit 89
ihm zu sprechen. Sie arbeiteten fieberhaft und besessen an Dingen, deren Kompliziertheit ihn verwirrte. Sie fertigten Einzelteile an, und es wurde ihm klar, daß das etwas Neues war. Einmal fand er Männer und Frauen, die Metallteile aus dem gigantischen Schrotthaufen der Autowracks suchten. Ein andermal sah er Männer von Bergungsarbeiten mit Stahlplatten von dem Bananenfrachter im Hafen kommen. Er gelangte unbehindert bis zur Raketenstation, eine Meile vor der Stadt. Dort sah er ein Gebilde im Bau. Elektriker arbeiteten daran, Schweißer und Kinder, die schwere Lasten schleppten. Er starrte dumpf hinüber, die riesigen Verstrebungen und Platten ergaben für ihn keinen Sinn. Tragbare Schmiedefeuer standen herum. Männer hämmerten, sägten, schmiedeten. Dahinter standen zahllose Gestelle mit bauchigen Zylindern, die ihn an etwas erinnerten. Doch er wußte nicht, woran. Sein Arm preßte ihm Klagelaute ab. Dann kam ihm eine Idee. Er war so weit gewandert, ohne daß der Meister ihn zurückgepeitscht hatte. War es möglich, ganz wegzugehen? 18. Es war wie die endlosen Argumente über die Euthanasie. Angenommen, man findet eines Tages eine Heilmethode für eine angenommenermaßen unheilbare Krankheit, nachdem man einen Patienten von seinem Elend erlöst hat? Angenommen man findet keine Heilmethode! Es mußten jetzt direkt oder indirekt etwa drei Millionen Menschen von der Sache betroffen sein: Krankenhauspersonal und Polizei, die erneute Flüchtlingsströme lenkten, Wissenschaftler, Psychologen, Infanterie und Luftwaffe, die 90
den Kampf fortsetzten. Aber sie alle wurden von den Landesregierungen, der Bundesregierung der Vereinigten Staaten, dem Kongreß und der UNO geleitet. Und deshalb leisteten letzten Endes die wenigen Männer in diesem Zimmer die Arbeit. So konnte man es betrachten, sinnierte Barghin. Es handelte sich nicht darum, einen fremden Eindringling gegen Millionen von Menschen zu setzen. Es war mehr ein Kampf eins gegen zwanzig. Denn sobald man sich entschließt, die Anstrengung unterzuteilen, zu spezialisieren und zu delegieren, zählt jedes Einzelwesen weniger als eins und zugleich mehr als eins. Er sagte: „Mr. Präsident! Lassen Sie uns die Sache gleich erledigen! Ich sehe nicht, daß einer von uns bereit ist, seine vorgefaßte Ansicht aufzugeben, ob wir die Atomrakete jetzt einsetzen sollen oder nicht. Ich möchte einen Vorschlag machen, der uns weitere Streitereien ersparen kann. Wir sind gefechtsbereit. Wir setzen die Atomrakete nur ein, wenn sich eine weitere große Bevölkerungsbewegung ergibt oder diese plötzliche fieberhafte Bautätigkeit in Jacksonville sich als die Konstruktion gefährlicher Raketen herausstellt." Der Präsident fuhr sich mit dem Finger in den Hemdkragen. „Ein vernünftiger Vorschlag, General", sagte er erleichtert. „Ich bin einverstanden. Meine Herren?" Die Konferenzteilnehmer Kabinettsmitglieder, Stabsoffiziere der Streitkräfte, zwei UNO-Beobachter, darunter Lampion von Atlantica, und die von Anfang an Eingeweihten wie Dr. Gordon und Mary Tränt - nickten zögernd oder eifrig. Der Präsident zwang sich zu einem Lächeln. „Gut. General, was ist denn nun diese Konstruktion, über die wir soviel hören?" „Bisher konnten wir in Jacksonville immer nur Straßenbereinigungsarbeiten feststellen - oder den mißglückten unterirdischen Bunker. Seit dem Menschenzustrom hat sich das Bild völlig verändert. Wir konnten Werkbetriebe ausmachen. 91
Die Industrieanlagen in diesem Gebiet, angefangen bei den Werkstätten der Raketenstation bis zu den Hafeneinrichtungen, sind plötzlich wieder in Betrieb gesetzt worden. Anfangs hatte das Ungeheuer alle derartigen Arbeiten eingestellt, Fabriken stillgelegt, Telefon, Radio und Kraftwerke außer Betrieb gesetzt. Jetzt arbeiten die Fabriken wieder, und wir stellen fest, daß sie Elektrizitätswerke außerhalb der Zone anzapfen. Wir haben natürlich die Kabel gekappt, und jetzt haben sie die örtlichen Generatoren wieder in Betrieb gesetzt. - Aber mehr noch, sie haben die Gebäude, die sie nicht brauchen, ausgeschlachtet. Wagenladungen von Telefonausrüstung wurden zur Raketenstation gebracht. Man hat mir erklärt, daß man sie auch für nichtsprachliche Informationsübermittlung verwenden kann, und das ist sehr verdächtig. Brauchbares Material ist von den Wracks im Hafen entfernt worden. Und alles wandert zur Raketenstation. Es sieht sehr gefährlich aus." „Es besteht doch hoffentlich nicht die Möglichkeit, daß das Ungeheuer Atomraketen baut, oder?" fragte der Präsident. „Theoretisch, hat man mir gesagt, kann eine Kernschmelzanlage in eine Bombe umgewandelt werden. Aber es gibt nur ein einziges Kernkraftwerk in diesem Gebiet. Und im Hafen liegen keine Schiffe mit Atomantrieb. Nur Handelsschiffe. Es scheint daher äußerst unwahrscheinlich." „Es ist immerhin beruhigend, das zu wissen." „Jedenfalls ist jede Raketenabwehrstation an der Ost- und Westküste Tag und Nacht in Alarmbereitschaft. Mehr ist nicht möglich." Auf dem Präsidententelefon blinkte eine Lampe auf. Der Präsident hob ärgerlich den Hörer ab. Er lauschte, und plötzlich schien sein Gesicht sich zu erhellen. „Ja. Wunderbar! Ich schicke Barghin hinüber. Ja." Er bedeckte das Mikrophon mit der Hand und sagte: „Barghin, ein Mann konnte ungehindert aus Jacksonville entkommen. Er ist verletzt und im Delirium, aber er ist entkommen!" 92
„Wer?" fragten zwei Stimmen gleichzeitig. Barghin blickte den Tisch hinunter und bemerkte, daß Mary die andere Stimme gewesen sein mußte. Sie beugte sich mit einer plötzlichen Hoffnungsfreude im Gesicht nach .vorn. Der Präsident horchte wieder ins Telefon, dann hängte er ein. „Der Name ist Peter Tränt." Ein schneller Hubschrauber brachte Barghin, Mary und Dr. Gordon ins Feldlazarett hinter dem Kordon. Major Lewicz, der Kommandeur des örtlichen Sanitätskorps, begrüßte sie. Er reagierte auf ihre Fragen mit einem steinernen Gesicht. „Er sagt, seine Frau sei tot", erklärte er. „Es ging ihm ziemlich übel, wahrscheinlich stammt das hohe Fieber von einer Blutvergiftung. Wenn er der Mann dieser Dame hier ist, fürchte ich, daß sie sich wohl auf einen Schock gefaßt machen muß." „Das bin ich schon", sagte Mary weich. „Nein ... Leider noch ein zweiter Schock. Als er entkam, war sein linker Arm zerstört. Er war gebrochen, hatte sich entzündet und war nicht behandelt worden. Das Gangrän war bis über den Ellbogen fortgeschritten, die Finger begannen bereits abzufallen. Wir mußten leider amputieren, Mrs. Tränt." „Hat er seit der Operation schon gesprochen?" fragte Mary. „Noch nicht. Und er wird erst in ein, zwei Tagen wieder klar bei Verstand sein." „Darf ich trotzdem zu ihm?" „Natürlich." Es war Peter. Hinter dem zottigen Bart und der antibiotischen Salbe um die entzündeten Augen erkannte sie Peter. Mary streckte die Finger aus, um die Hand auf der roten Decke zu berühren, dann hielt sie erschrocken inne, als sie die Blasen und die zersplitterten Nägel sah. „Peter", flüsterte sie. „Peter!" Aber der Bewußtlose antwortete nicht. „Ich lasse Nachrichtenspezialisten herkommen, die alles auf 93
Band mitschneiden, was er sagt, wenn er aufwacht", sagte Barghin zu Lewicz. „Ich weiß ja nicht, aber ich denke mir, es könnte nützlich sein, wenn die erste Person, die er sieht, die Frau ist, von der er glaubt, daß sie tot ist." „Möglich", sagte Lewicz und nickte. „Aber wenn man aus seinen früheren Äußerungen schließen kann, dann zweifle ich, daß Sie viel Vernünftiges aus ihm herauskriegen werden." „Vielleicht. Aber solange auch nur die geringste Hoffnung besteht, daß wir aus dem, was er dort in Jacksonville gesehen hat, den schwachen Punkt des Ungeheuers herausfinden können, werden wir die Atomrakete zurückhalten." „Ich verstehe", sagte Lewicz nüchtern. „Es wird so schon schlimm genug sein, die Überlebenden von da drunten zu behandeln. Wenn sie zusätzlich noch der Strahlung und dem Hitzeblitz ausgesetzt würden, möchte ich nicht versuchen müssen, sie zu retten." „Haben Sie irgend etwas Konkretes in Erfahrung bringen können, wie es ihm überhaupt gelang, zu fliehen?" „Ja, ich glaube schon. Wir haben es auf Band, falls Sie es hören möchten. Also, er merkte plötzlich, daß der einzige Schmerz, den er empfand, in seinem Arm war. Er sagte, alle anderen seien tot, und neue Leute seien plötzlich dagewesen. Das scheint zu bedeuten, daß er einer der letzten Überlebenden der ursprünglich Gefangenen ist, und daß man sie sich selbst überlassen hat, weil sie für die neuen Pläne des Ungeheuers zu schwach und krank waren." „Wußte er, welche Pläne das waren?" „Er wurde nicht zu irgendeiner Arbeit gezwungen, und er sagte, er habe nicht begriffen, was da los war. Er ist so ausgehungert und teilnahmslos, daß ihm, glaube ich, alles egal war." „Peter! Peter!" flüsterte Mary, doch das zerquälte Gesicht zeigte keine Reaktion. Es war eine Täuschung gewesen. Sie lehnte sich zurück und hielt weiter seine Hand umfaßt. 94
Zwei ruhige junge Offiziere waren hereingekommen und hatten sich zu beiden Seiten der Tür gesetzt. Einer hatte ein Tonbandgerät in einer Tasche bei sich. Sie ließen Mary in Ruhe, und sie kümmerte sich nicht um die beiden. In Abständen wurden sie abgelöst. Krankenpfleger kamen und tauschten leere Plasma- und Nahrungslösungsflaschen gegen frische aus. Die Stunden krochen wie Wochen dahin. Einmal ertappte sie sich dabei, daß sie eingeschlafen war. Ihr Herz schlug heftig vor Angst, sie könne ein Zeichen seines Erwachens verpaßt haben. Aber es hatte sich nichts geändert. Oder doch? „Peter!" sagte sie wieder. Und die Augen öffneten sich und blickten sie verwirrt an. „Aber ...", sagte er schwach. Und dann lächelte er. „Ja", sagte Peter und schob einen Berg Fotos von sich. Eines behielt er zurück. „Ich habe so was Ähnliches gesehen. Eine Art riesige Regale mitten im Feld auf der Raketenstation." „Gut", sagte der Mann vom Geheimdienst und machte sich eine Notiz. „Wir glauben, es sind Sauerstofflaschen. Eine ganze Menge davon wurden an dem Ort ausgegraben, von dem das Monstrum kam. Was halten Sie von dem da?" Peter betrachtete die Fotos und runzelte die Stirn. „Nein, ich weiß nichts darüber. Klein oder groß?" der Leutnant zeigte es ihm mit den Händen. „Nein." „Und wie ist es mit dem hier?" Das Foto war eine verschwommene Gesamtübersicht der Raketenstation. „Können Sie uns über diese undeutlichen Objekte irgend etwas sagen?" Peter durchforschte sein Gedächtnis, versuchte Zusammenhänge zwischen der verkürzten Luftperspektive und seinen Eindrücken am Boden zu finden. „Es hat sich verändert, seit ich es zuletzt gesehen habe", sagte er endlich. „Glaube ich wenigstens. Als ich dort war, bestand alles nur aus Gerüsten, Verstrebungen und ein paar Platten. 95
Jetzt ist es gewachsen und verkleidet." „Das war auch unser Eindruck. Um diese Struktur scheint sich alles zu drehen. Haben Sie eine Vorstellung, was es sein könnte?" „Nein." Peter drehte das Foto hin und her. „Ist es vielleicht ein Schutzpanzer für den Meister? Ich weiß, daß er sehr wütend war, als die Raketen auf sein Hauptquartier fielen. Vielleicht soll dies die idiotische Sänfte ersetzen, in der wir ihn herumschleppen mußten." „Es ist möglich", sagte der Leutnant zweifelnd. „Aber du lieber Gott, er muß mindestens hundert Tonnen wiegen!" „Denken Sie, das stört ihn?" fragte Peter finster und schüttelte sich beim Gedanken an alles, was er in Jacksonville gesehen hatte. „Er würde ohne weiteres die Menschen zwingen, sich auf die Straße zu legen und sie mit ihrem Blut zu schmieren, damit das Ding leichter darübergleitet, wenn sie es nicht schleppen können." Mary legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter. Er neigte den Kopf und berührte sie mit der Wange. „Fein, und vielen Dank", sagte der Leutnant und legte die Fotos zu einem Stapel zusammen. „Ich lasse Sie jetzt eine Weile in Ruhe, damit Sie sich ausruhen können. Wir sind Ihnen wirklich für Ihre Hilfe dankbar." „Die armen Schweine, die immer noch dort unten sind, werden es zu schätzen wissen", sagte Peter. „Morgen darf ich aufstehen. Ich komme an die Front. Ich will mithelfen. An Ort und Stelle!" Etwas trieb in Jacksonville zweifellos einem Höhepunkt zu. Das hektische Tempo der Arbeiten hatte nachgelassen. Nur auf der Raketenbasis, rund um die geheimnisvolle Metallstruktur, die aus alten Autoteilen konstruiert worden war, herrschte starke Aktivität. Es wurde dunkel, und nach Einbruch der Nacht wirkte Jacksonville wie eine tote Stadt, ohne Elektrizität, fahrende 96
Autos, ja sogar ohne Lagerfeuer. Es war kalt. Barghin empfand Mitleid mit den Opfern, die sich in den halbzerstörten Gebäuden aneinanderpreßten, um sich zu wärmen. Wenn dieses Warten sich bis in den Winter fortsetzen sollte ... Trotz des südlich milden Klimas würden viele erschöpfte Sklaven sterben müssen. Ja, wenn sie gut ernährt und gekleidet wären aber nach Regengüssen würden sicher viele an Lungenentzündung zugrunde gehen. Er berief den Scanner zurück. Es war zu finster für brauchbare Bilder geworden. Morgen würden sie sicher wissen, was bevorstand. 18. Das erste Anzeichen, daß der Höhepunkt nahte, kam eine Stunde vor Morgengrauen. Die Beobachter im Kordon wurden von ihren mechanischen Augen und Ohren von einer Bewegung im Vorfeld unterrichtet. Eine Armee wie jene, die bei der „Operation Robotschaufel" zusammengebrochen war? Sie schalteten das Flutlicht ein und starrten über das taghelle Land. Ja, etwas Ähnliches. Doch diesmal war es nicht bewaffnete Verzweiflung, es war der Vormarsch einer Dampfwalze, dem unaufhaltsamen Marsch der Rekrutierten aus Savannah und Brunswick vergleichbar. Sie hielten kurz an, als sie an den Vorposten vorbeikamen, zertrümmerten die Suchscheinwerfer, zerschlugen die Kameraobjektive und Mikrophone und zogen weiter. Ihre Gesichter waren dumpf, die Schritte schleppend. Sie kamen heran wie Leichname. In nervöser Spannung und voll Furcht, daß auch sie der peitschenden Hirnqual unterzogen werden könnten, die jene 97
Fremden voranjagte, machten sich die Truppen an der Front bereit, ihnen zu begegnen. Doch sie spürten keine peitschende Pein. Die Massen aus der Stadt des Ungeheuers drangen in ihre Reihen ein, achteten nicht auf Haltrufe und Drohungen, ließen sich nicht festhalten und marschierten weiter. In der Verwirrung der Dunkelheit war es schwierig festzustellen, wie viele es waren, doch schien etwa eine Viertelmillion Sklaven auf diesen Irrsinnsmarsch getrieben worden zu sein. Ab und zu strudelten sie um ein Militärfahrzeug und warfen es durch den Druck ihrer Leiber um. Meist aber zogen sie stetig geradeaus. Eine aufgeregte Ordonnanz riß Barghin aus dem Schlaf. Er rannte im Pyjama zum Funkwagen, um die hektischen Berichte zu koordinieren und zu begreifen. Sein erster Gedanke galt dem Feldlazarett in dem evakuierten Gürtel hinter dem Kordon. Der einzige Mensch, der das Gebiet des Ungeheuers lebendig verlassen hatte, befand sich dort. Er mußte rasch weggebracht werden. Ein Dutzend ähnlicher winziger Details beherrschten seine Überlegungen während der ersten halben Stunde nach dem Alarm, doch dann fiel ihm etwas Merkwürdiges in der Struktur der Nachrichten auf. Es wurde kein ernsthafter Schaden angerichtet. Die Sklaven waren unbewaffnet. Die Schmerzpeitsche konnte ihnen bis hierher folgen, doch die Soldaten selbst, unter denen sie sich bewegten, litten nicht darunter. Es mußte etwas dahinterstecken. Aber was? Bericht von einer Sanitätsabteilung. Sie hatten eine Methode entwickelt, mit den Sklaven umzugehen. Drei Soldaten hielten einen Mann fest, während der Sanitäter ihn mit Betäubungsmitteln vollpumpte. Etwa hundert Bewußtlose lagen jetzt dort, die Ampullen wurden knapp. Genial, dachte Barghin und befahl, daß alle Betäubungsmittel, die man finden konnte, in das Gebiet 98
gebracht werden sollten. Bericht einer anderen Abteilung. Ihre Methode war brutaler: Sie gaben den Sklaven einen Hieb auf den Kopf. Aber sie taten es dem Bericht zufolge nur bei Männern von kräftiger Konstitution. Frauen und Kinder ließen sie in die evakuierte Zone vordringen. Das war gut. Das evakuierte Gebiet war dreißig Meilen tief. Barghin korrigierte seinen Befehl und ließ einen Großteil der Betäubungsmittel und der Ärzte jenseits der Zone in Erwartung der Frauen und Kinder stationieren. Bis dahin würde die Sklavenwelle sich erschöpft haben, und es würde leichter sein, sie zu behandeln. Außerdem hatte man mehr Zeit, sich vorzubereiten. Sie würden erst gegen Abend die Zone durchquert haben, wenn sie im gleichen Tempo weiterzogen. Er befahl allen Einheiten, die Sklaven anstandslos passieren zu lassen, und widerrief alle Befehle, den Vormarsch aufzuhalten. Was immer also die ursprüngliche Absicht hinter diesem Strom menschlicher Roboter gewesen war, ihre Energie würde nutzlos verpuffen, und das totale Endergebnis würde nur die Zerstörung einiger vorgeschobener Beobachtungsposten sein. Barghin runzelte die Stirn. Wieso war eine so große Zahl von Sklaven dem Monstrum plötzlich überflüssig erschienen? Irgendwo mußte die Lösung dieser Frage zu finden sein. Er wünschte, es wäre Morgen, und die Scanner-Raketen könnten ein paar Bilder über die Vorgänge in der Stadt selbst aufzeichnen. Vielleicht hatte das Ungeheuer etwas im Ärmel, von dem menschliche Wesen niemals träumen würden. Das Dröhnen eines landenden Hubschraubers riß ihn aus seinen Gedanken. „Schauen Sie nach, ob das Tränt ist, und wenn ja, holen Sie sofort jemand von der Abwehr", befahl er einem Adjutanten. Es waren beide Tränts. Peter hatte den einen Arm in der Schlinge, den anderen um Marys Schulter gelegt. Er wirkte 99
unsicher auf den Beinen. Barghin bot ihm sofort einen Stuhl an. „Tut mir leid, Sie so aus dem Bett zu zerren. Ich habe von Lewicz gehört, daß Sie heute aufstehen dürfen, und da diese verrückte Bande von lebenden Leichnamen direkt auf das Feldlazarett losmarschiert, hielt ich es für sicherer, Sie hier zu haben. Wie geht's?" Peter brachte ein verzerrtes Grinsen zustande. „Wackelig. Sonst bin ich okay." Der Geheimdienstmann vom Vorabend trat ein, salutierte und legte seine Akten auf den Meßtisch. „Fein", murmelte Barghin. „Tränt, Sie sind besser in der Lage als wir, eine Vermutung über die Art und Weise aufzustellen, in der das Monstrum seine Sklaven behandelt. Ich neige dazu, diesen Ausbruch von zweihunderttausend Menschen für eine Finte zu halten. Glauben Sie, daß es uns hoch genug einschätzt, um uns in Verwirrung setzen zu wollen?" Peter schüttelte den Kopf. „Nur wenn er in den letzten paar Tagen dazugelernt hat. Als ich wegging, behandelte er uns immer noch wie Ungeziefer, das seiner Beachtung nicht wert ist. Ich glaube, das paßt auch zu meiner unbehinderten Flucht. Er hielt mich für überflüssig." „Andererseits", schlug der Leutnant vor, „deuten die ersten Berichte, die wir über die Zusammensetzung der Gruppen haben, die jetzt aus der Stadt kommen, darauf hin, daß es sich vorwiegend um Geschäftsleute handelt. Ganz wenige praktische Berufe, Ingenieure oder Fabrikarbeiter. Es ist natürlich schwer, etwas Genaues zu sagen. Aber vielleicht wurden die Arbeiter und Techniker zurückgehalten, weil ihre Fähigkeiten nützlich sind." „Wenn das stimmt", gab Peter zu, „dann habe ich mich geirrt. Vielleicht habe ich diesen Eindruck nur, weil während meiner Zeit dort nicht viel mehr als Trümmerbeseitigung und Autovernichtung vorgenommen wurden, Dinge, die jeder tun 100
kann. Die Arbeit auf der Raketenbasis allerdings - vielleicht hat er sich wirklich die Mühe gemacht und Ingenieure und so weiter gefunden." „In diesem Fall können wir es als Siegeszeichen betrachten", sagte Barghin. „Ihm klargemacht zu haben, daß wir intelligent sind, ist schon etwas. Anfangs würde er meiner Meinung nach bedenkenlos Universitätsprofessoren zum Grabenschaufeln eingesetzt haben. Jetzt begreift er, daß es einfacher ist, Leute zu verwenden, die bereits wissen, was er will." „Aber was will er denn?" fragte Ma-ry ernst. „Ich habe das Gefühl, wir werden es bald wissen", antwortete Barghin. Er blickte auf seine Uhr. Fünfunddreißig Minuten vor Sonnenaufgang. Er wendete sich dem Funker zu, der ausgiebig gähnte. „Bringen Sie mir einen Freiwilligen, der einen Hubschrauber über die Stadt fliegt", sagte er. „Wenn unsere Truppen vom Ungeheuer nicht beeinflußt werden, besteht die Chance, daß wir endlich auch einen direkten Einblick in die Vorgänge in der Stadt bekommen." Eine Viertelstunde später kam der Bericht, daß der Pilot im Tiefflug über der Stadt gekreist hatte, ohne im einzelnen feststellen zu können, was vor sich ging, falls überhaupt etwas vor sich ging, und ohne von der Gehirnpeitsche des Ungeheuers getroffen zu werden. Barghin verdaute diese Neuigkeit schweigend. Dann sprang er auf. „Also, ich möchte selbst sehen, was los ist. Ich bin es leid, weiter im dunkeln zu tappen. Vielleicht ist das ja nur ein vorübergehender Fehler des Ungeheuers, doch wir müssen ihn möglichst gut ausnützen. Vielleicht hat es sich aber auch entschieden, und dann können wir unsere Atomrakete losschicken und es erledigen. Vielleicht ist die gesamte überlebende Bevölkerung nicht mehr in der Stadt, und es hat sich Robotersklaven bauen lassen." „Aber was ist, wenn er diesen Hubschrauber nur unbehelligt gelassen hat, um uns gerade zu diesem Vorgehen zu verleiten?" 101
fragte Mary. Barghin zuckte die Schultern. „Alle diese Hubschrauber haben die gleiche automatische Steuerung wie der, der Ihren Mann damals zurückbrachte. Und unsere Abwehrraketen stehen bereit und schießen auf alles, was von der Raketenbasis Jacksonville aufsteigt. Das Risiko ist nicht sehr hoch." „Dann möchte ich mitkommen", sagte Peter fest. Er schaute seine Frau an. In seinen Augen lag die Bitte um Verständnis. „Vielleicht kann ich die Struktur der kürzlichen Veränderung erkennen, und vielleicht können die Fachleute daraus neue Informationen ableiten." Zuerst näherte sich der große Hubschrauber nur vorsichtig, für den Fall, daß der erfolgreiche erste Flug einer Lücke in der Verteidigung des Ungeheuers zu verdanken gewesen war, die nun verstopft sein konnte. Doch keine Rakete heulte zum morgengrauen Himmel, und sie blieben von der Gehirnpein des Ungeheuers verschont. Die Maschine war für zwanzig Personen bestimmt. Barghin hatte sie mit einem Fernsehsender, Filmkameras, Aufnahmeapparaturen und dem entsprechenden Personal vollgestopft. Der Leutnant von der Abwehr kritzelte in seinen Notizen und hielt sein Mikrophon nahe vor Peters Mund, um eventuelle Kommentare aufzunehmen. Sie starrten auf die tote Stadt hinunter. „Nichts", sagte Peter mutlos. „Oder fast nichts. Ich weiß nicht, wohin der Meister sich geflüchtet hat - das Monstrum, wie Sie sagen." „Waren Sie dabei, als er aus der Kirche umzog?" „Ja. Aber danach bekam ich Fieber und weiß nicht mehr, wohin wir ihn hinterher gebracht haben. Wollen wir uns nicht anschauen, was auf der Raketenstation los ist?" Barghin holte tief Luft. „Es ist der wahrscheinlichste Ort. Wir müssen allerdings weit genug wegbleiben, damit antiballistische Raketen alles abschießen können, was uns 102
angreift. Aber nur zu. Was sein muß, muß sein. Pilot!" Und hier gab es tatsächlich Bewegung. Rings um den nun offensichtlich fertiggestellten Rumpf des geheimnisvollen Dinges lagen zahlreiche Sklaven erschöpft auf der blanken Erde. Peter dachte daran, wie oft er selbst sich hatte fallen lassen, wo er gerade war, und fühlte Bitterkeit und Mitleid in sich aufsteigen. Doch dazwischen bewegten sich andere taumelnde Gestalten, meist Männer in Ingenieursanzügen. Manche trugen Instrumente, die die Beobachter nicht identifizieren konnten, da sie sich abseits hielten und nicht direkt über dem Schauplatz schwebten. Der Himmel wurde hell. Und dann versuchte Peter Barghins Schulter mit seiner linken Hand zu umklammern. Aber nur der Stumpf bewegte sich, und der Schmerz der Amputationsnarbe raubte ihm eine Sekunde lang die Besinnung. Er schrie auf. „Bringen Sie uns weg!" rief Barghin hastig. Er fürchtete, daß das Ungeheuer mit seiner Peitsche zuschlüge. „Nein! Nein! Es ist nur der Stumpf!" keuchte Peter. „Haben Sie es denn nicht gesehen? Ein grünes Blitzen unter dem - dem Ding da auf dem Flugfeld. Ein grünes Licht, das genau unter dem Ding war!" Verwirrt schüttelte Barghin den Kopf. „Ich hab's gesehen", meldete sich der Mann an den Filmkameras. „Und haben Sie denn nicht gesehen", fragte Peter drängend, „daß unter dem Ding nichts ist! Es muß gut hundert Tonnen schwer sein. Und es wird von nichts getragen. Es schwebt einfach!" „Sie müssen sich geirrt haben", sagte Barghin knapp. Er drehte sein Fernglas auf vollste Schärfe und blickte erneut hinunter. „Es ist noch nicht hell genug, aber - ich glaube, jetzt sollten wir doch besser hier verschwinden. Ich glaube, das Ungeheuer kommt." Sie starrten bange hinab. Und tatsächlich, aus einem der 103
riesigen Hangars, in denen die Raketen einsatzbereit gemacht wurden, schleppte sich ein Zug singender Sklaven. Und eine Sekunde, bevor der Hubschrauber davonschwirrte, sahen sie noch kurz, wie das Ungeheuer ans Tageslicht kam.
19. Barghin drängte sich an dem Tonbandtechniker vorbei und nahm das Radiomikrophon. Die Luft schwirrte von Berichten über die Situation am Kordon. Barghin erreichte das Kommandofahrzeug und verlangte eine Direktschaltung zum Hauptsender. „Alle Einheiten, Achtung!" sagte er kurz. „Alarm für Raketenabwehr, Lazarette! Luftaktionen in allen Höhenbereichen, möglicherweise Atomangriffe auf Städte. Das Ungeheuer ist auf der Raketenstation Jacksonville, und es hat eine neue Sache!" Während Peter durch das Fernglas starrte, fühlte er seinen Mut sinken. Das Ungeheuer wurde zu dem merkwürdigen Ding getragen. Er war sicher, daß er gesehen hatte, daß das Ding schwebte. Und jetzt flammte wieder das grüne Licht auf, leuchtendhell, es wirkte beinahe wie eine feste Säule zwischen dem Ding und dem Boden. Und dann ... „Oh Gott!" flüsterte Peter. „Schaut euch das an!" Erschrockene Ausrufe. Auch die anderen hatten es nun gesehen. Barghin befahl dem Piloten, den Panikflug abzubrechen und in gleichbleibender Entfernung zu kreisen, denn wie groß auch das Risiko jetzt sein mochte, sie durften diesen äußerst ungewöhnlichen Anblick auf keinen Fall verpassen. 104
Ruhig hob sich der Metallrumpf auf einer Säule von leuchtendem Grün, das allen Gesetzen der Optik Hohn sprach, vom Grund. Majestätisch, so leicht und doch so sacht wie ein Ballon in absoluter Windstille ... „Was hat er vor?" fragte Barghin laut. „Ist er bewaffnet? Will er das als ständiges mobiles Hauptquartier benutzen? Oder steigt er einfach immer so weiter? Denn wenn er mal höher als einige tausend Meter ist, wissen Sie, was das bedeutet? Dann hat er sich in unsere Hand gegeben!" „Ja, natürlich", sagte Peter atemlos. Eine Atomrakete stand wartend jenseits der evakuierten Zone. Wenn das Ungeheuer hoch genug aufstieg, dann konnten sie sie einsetzen, ohne die Menschen am Boden in Gefahr zu bringen. „General!" krächzte eine Stimme aus dem Lautsprecher. „Wir haben ein Ding gesichtet, das mit einem grünen Triebstrahl von der Raketenbasis aufsteigt. Feuern wir?" Die Stimme des Sprechers zitterte. „Nein!" sagte Barghin schneidend. „Provozieren Sie ihn auf keinen Fall, ehe wir nicht wissen, ob er hinaufgeht oder horizontal weiterfliegt!" Das Ding stieg immer noch und gewann an Geschwindigkeit. Barghin kniff zögernd die Augen zusammen, dann nahm er das Mikrophon. „Schaltung ,Operation Letzter Ausweg'!" befahl er. Als er verbunden war, sagte er: „Er steigt immer weiter. Seid ihr fertig zum Abschuß?" „Countdown bis sechs, General", kam die Antwort. „Ich habe da gestoppt." „Warten Sie mal. Sie sind etwa achtundvierzig Meilen entfernt, was? Wenn sein Parallaxwinkel zwanzig Grad erreicht hat, könnt ihr feuern." „Okay, General", sagte die Stimme aufgeregt. „Und glauben Sie mir, das Vergnügen ist ganz unsererseits!" Weiß er es? fragte sich Peter, während er dem verwirrenden 105
Aufstieg des Flugschiffs zusah. War er sich vielleicht klar darüber, daß er seinem Schicksal bisher nur entgangen war, weil diese Menschen, die er für primitiv gehalten hatte, eben nicht primitiv genug waren, ihre eigene Rasse zur atomaren Hölle zu verdammen, solange es noch einen anderen Ausweg gab? Vielleicht war das so. Vielleicht war es beschämend für ihn, daß die Kreaturen, die er für nutzloses Ungeziefer gehalten hatte, sich als ihm gewachsen erwiesen hatten. Vielleicht verlangte sein Ehrenkodex, daß er als angeblich überlegenes Wesen für seinen Fehler sterben mußte. Man würde es nie erfahren - bis zu jenem Tag nicht, an dem sich dort draußen bei den Sternen die Pfade beider Rassen wieder kreuzten. Die Rakete schwenkte nun ein wenig seitwärts ab, als wolle sie die Stadt unterhalb beobachten, oder als versuche sie, sich für einen Kurs, der absolute Präzision erforderte, besser zu plazieren. Peters Mund war ausgetrocknet. Er hörte Barghin in sich hineinmurmeln. Und dann zog das Ding los. Es war, als habe sich das beinahe blendende Grün verlängert und sei dann verschwunden. Es blieb nur ein rötliches Nachbild. Sie spürten, wie der Hubschrauber im Rückstoß schwankte, und warfen vergeblich die Köpfe in den Nacken, um zu sehen, wohin das Ding verschwunden war. „Wir haben ihn trotzdem geschlagen", sagte Barghin. „Er geht zurück in den Weltraum, nehme ich an. Tut mir bloß leid, daß er so leicht davonkommt. Aber wir haben nichts, was so hinaufgehen kann wie das." Er nahm das Mikrophon. „Letzter Ausweg, habt ihr gefeuert?" „Kam zu überraschend, General", war die verlegene Antwort. „Wir haben effektiv eine Meile zu tief geschossen. Mein Gott, General, was für einen Treibstoff benützt der denn?" „Wie soll ich das wissen? Vielleicht erfahren wir was von den 106
Technikern, die für ihn arbeiteten, und können es nachkonstruieren." „Heiliger Himmel, nein!" Die Radiostimme unterbrach entsetzt. „General, wir haben die Rakete verloren. Wir haben natürlich versucht, sie zurückzuholen, aber sie ist weg!" „Was? Wieso denn? Welche Flugbahn hatte sie zuletzt?" Alptraumvisionen von einer Kilotonnen-Atombombe, die willkürlich durch den Himmel raste, schossen durch Barghins Hirn. Vielleicht hatte das Ungeheuer sie erwischt! „Rasch!" „Die Rakete ist durch die grüne Feuersäule geflogen", sagte die Radiostimme. „Sie lag haarscharf auf Kurs. Bloß, das Ungeheuer war nicht mehr da. Und seither ..." „General", sagte Peter ruhig, ohne den Blick vom Himmel zu wenden. „Dort ist Ihre Rakete, oder ich müßte mich sehr irren. Und außerdem scheint sie ihren Zweck erfüllt zu haben." Barghin folgte ungläubig Peters Blick. Vor dem helleren Morgenhimmel schimmerte ein langsam größer werdender Feuerball wie ein riesiger Morgenstern. Ganz leise hörten sie ein Donnern. „Ja, sowohl die Raumstationen als auch die Mondbasis haben es bestätigt", sagte Barghin. „Wir erklären es uns so, Mr. Präsident, daß die grüne Feuersäule, auf der das Monstrum aufstieg, eine Art Nebenergebnis kontrollierter rasender Energie war. Nichtatomar. Elektro-Gravitation, behaupten sie. Kein Mensch außer Physikern und Mathematikern versteht das. Wir nehmen an, daß die Gesetze der Schwerkraft innerhalb der Säule außer Kraft gesetzt waren. Deshalb konnte die Rakete des Ungeheuers so wahnsinnig schnell aufsteigen. - Aber die Geschwindigkeit unserer Rakete machte es möglich, den Rand der Säule zu durchdringen. Innen war die Schwerkraft polarisiert oder so ähnlich. Und das führte dazu, daß unsere Rakete geradewegs senkrecht die Säule hinaufschoß, anstatt horizontal weiterzufliegen. Und hundertzehn Meilen weiter oben etwa holte sie das Ungeheuer ein und ..." 107
Der Präsident steckte den Finger in den Hemdkragen. Er sagte: „Also, ich glaube, es ist nicht so wichtig, wie genau es vor sich gegangen ist. Die Lage wird in Kürze wieder normal sein, denke ich, auch wenn nach den Berichten über die Verletzten aus Jacksonville eine verdammt große Zahl von Leuten für eine Weile in Irrenanstalten sein wird ... Dr. Gordon, glauben Ihre Männer, daß sich noch andere solche Ungeheuer im Meer verbergen?" Gordon schüttelte den Kopf. „Das weiß der Himmel", sagte er. „Ich hoffe nicht. Eigentlich bezweifle ich es. Es stand etwa eins zu einer Million, daß wir dieses aufgeschreckt haben. Wenn sich also noch andere irgendwo verbergen, werden wir sie erst wecken, wenn wir die wirklich großen Tiefen untersuchen." Er verbarg das Gesicht in den Händen. „Ich war so sicher", murmelte er. „Als wir Atlantica fanden, glaubte ich, wir hätten Atlantis gefunden und damit vielleicht die Geheimnisse einer versunkenen Zivilisation." „Nun", sagte Peter, „in gewisser Weise stimmt das ja. Nur waren die Geheimnisse nicht besonders angenehm. Wo stünden wir wohl heute, wenn unsere Vorfahren damals nicht die Last dieses Monstrums und seiner Brüder zu tragen gehabt hätten!" „Ich muß sagen, einer ganzen Reihe von Leuten wird übel werden, wenn der nächste Finanzierungsplan für die Raumfahrt diskutiert wird", sagte der Präsident barsch. „Mich eingeschlossen, fürchte ich. Wenn das Ding ein Beispiel für Lebensformen auf anderen Sternen ist, dann ..." „Im Gegenteil, Mr. Präsident", sagte Peter. „Dieses Wesen besaß Erfahrung, bevor es auf die Erde kam. Ich glaube es jedenfalls. Und das bedeutet, es muß auf Rassen gestoßen sein, die uns ähnlich sind. Und wenn wir zu den Sternen fliegen, werden wir menschenähnliche Gattungen finden, nicht nur Ungeheuer wie das unsere. Wir sind mit ihm fertig geworden. Ich neige fast dazu, die Ozeanographie an den Nagel zu hängen 108
und in die Raumforschung zu gehen, nur um den Vorzug zu genießen, einer der ersten zu sein, die eine uns ähnliche Rasse auffinden." „Wir müssen aber verdammt vorsichtig sein", sagte Barghin. „Wir werden mit einer Wasserstoffbombe in der einen und der Friedenspfeife in der anderen Hand losziehen müssen, und ich fürchte fast, wir werden wahrscheinlich die falsche Wahl treffen. Aber anders geht es eben nicht." Der Präsident lächelte plötzlich. „Ich bin froh, daß dieses Wesen gerade jetzt gefunden wurde", sagte er. „Von einem rein persönlichen Standpunkt aus bin ich ziemlich sicher, daß die breite Masse diese Geschichte als etwas in Erinnerung behalten wird, was unter meiner Regierung passierte, und sie werden es mir negativ anrechnen. Aber wenn es, sagen wir vor fünfzehn, zwanzig Jahren passiert wäre, als unter jedem Stein Atomwaffen versteckt lagen, dann hätte der Abschuß einer Wasserstoffbombe über Jacksonville Krieg bedeutet, auch wenn wir der Weltöffentlichkeit erklärt hätten, warum wir sie einsetzten. Sie hätten geglaubt, das Ungeheuer sei eine russische Geheimwaffe!" „Oder vor einem Jahrhundert", fügte Barghin hinzu. „Als wir nur Kanonen hatten, keine Raketen, kein Fernsehen, das uns Informationen über die Roboterspäher lieferte. Wir würden immer noch seine Sklaven sein." Das ganze furchtbare Entsetzen hatte direkt wohl nur einen von tausend Menschen auf der Erde betroffen, überlegte Peter. Das umfaßte die Leute, die unter der Peitsche des Ungeheuers gelitten hatten, die Soldaten am Kordon, die Spezialisten, die Informationen zu sammeln versuchten, die Ärzte und Krankenpfleger und die Flüchtigen, die nun wieder nach Hause gehen konnten. Und sie hatten in ein paar kurzen Monaten die Oberhand über das Ungeheuer erlangt. Es war ein gutes Zeichen. Wenn sie je wieder auf 109
seinesgleichen stoßen sollten, dann würde nicht nur ein Zehntel eines Prozents der Menschheit sich gegen die Ungeheuer zur Wehr setzen. Es würden hundert Prozent sein - und sein müssen. Er würde nicht unter ihnen sein. Er bewegte vorsichtig den Armstumpf. Nicht persönlich. Doch wenigstens war er - wenn auch körperlich nicht unbeschädigt - geistig frei und unbeschädigt. Und das war mehr, als die Untertanen des Ungeheuers besaßen, als es zuerst auf die Erde kam. Er blickte zu Mary hinüber, und plötzlich mußte er an Luke denken. Der arme Kerl! Welches Geheimnis hatte er ihm mitteilen wollen und nicht mehr sagen können? Peter war sich nicht sicher, doch glaubte er, es müsse damit zusammenhangen, daß es Luke gelungen war, im Gefolge des Monstrums eine Vertrauensstellung zu erlangen und dennoch die ganze Zeit gegen es zu arbeiten. Und das konnte nur ein freier Mensch tun. Die Menschen wechseln ihre Götter, und wenn sie sie oft genug gewechselt haben, hören sie auf, ihre Macht zu fürchten. ENDE Lesen Sie nächste Woche:
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