Nr. 300
Das neue Atlantis Ein uralter Mythos wird Wirklichkeit von William Voltz
Auf Terra und den übrigen Menschheit...
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Nr. 300
Das neue Atlantis Ein uralter Mythos wird Wirklichkeit von William Voltz
Auf Terra und den übrigen Menschheitswelten schreibt man das Jahr 2648. Frieden und Wohlstand herrschen im Solaren Imperium. Auf vielen tausend Welten der Milchstraße siedeln Menschen. Doch es ist ein trügerischer Frieden. Eine neue Gefahr für die Menschheit zieht herauf – und Atlan, der unsterbliche Arkonide, ist der einzige, der ihr zu begegnen vermag. Zusammen mit einem mysteriösen Gefährten bricht der Mentor der Menschheit auf. Ihr Ziel: DAS NEUE ATLANTIS …
Das neue Atlantis
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Die Hautpersonen des Romans: Carmel Sphinx und Purflinth - Zwei USO-Agenten auf den Spuren des Atlantis-Rätsels. Tervor Aretosa alias Razamon - Ein Fremder auf der Erde. Atlan - Der Lordadmiral der USO beginnt eine lange Reise. Perry Rhodan - Der Großadministrator des Solaren Imperiums läßt Vorsichtsmaßnahmen treffen.
»Vor dem Eingang des Meeres, der, wie ihr sagt, Säulen des Herakles heißt, befand sich eine Insel, größer als Asien und Libyen zusammen.« (Platon, »Timaios« Kapitel 3)
1. Die trockene Hitze, die im Wettbüro herrschte, hatte Purflinth schläfrig gemacht, so daß er die Kontrolle über seinen nachempfundenen menschlichen Körper zu verlieren begann. Carmel Sphinx, der den Eingang und die Schalter beobachtete, bemerkte die verräterische Veränderung erst, als eine Gesichtshälfte des Matten-Willys bereits wie eine Teigtasche herabhing. Der USO-Spezialist zuckte zusammen und trat Purflinth gegen ein Schienbein. Das Bein gab nach und floß unter die Bank. »Purflinth!« zischte Sphinx wütend. Das Plasmawesen zuckte zusammen und beeilte sich, die mißratenen Körperstellen wieder zu korrigieren. Zum Glück waren alle Kunden an den Schaltern beschäftigt, so daß niemand den Zwischenfall bemerkt hatte. »Ich hoffe, daß du dich etwas zusammenreißt«, warnte Sphinx seinen extraterrestrischen Begleiter. »Wenn hier jemand merkt, was du wirklich bist, gibt es einen Höllenspektakel und wir können unsere Nachforschungen getrost aufgeben.« Mutwillig veränderte Purflinth eines seiner Augen, so daß es wie ein Spiegelei aussah. Sphinx knirschte hörbar mit den Zähnen. »Ich bin dein Assistent«, erklärte der Matten-Willy. »Trotzdem verlange ich, daß du
mich höflich behandelst.« »Drei Whisky?« fragte Sphinx, der nur mühsam die Fassung bewahrte. Purflinth leckte sich mit einer Zunge, die wie ein roter Schöpflöffel aussah, über die Lippen. »Fünf!« »Also gut«, gab Sphinx nach. »Fünf! Aber ich erwarte, daß du dich jetzt anständig beträgst.« Purflinth normalisierte das Auge und blickte zur Tür. »Er kommt sowieso nicht.« »Abwarten!« meinte Sphinx. »Klement hat gesagt, daß er jeden letzten Freitag im Monat kommt, um seine Wetten abzuschließen.« Klement war der Besitzer des automatischen Wettbüros. Bei ihm wurden die unglaublichsten Wetten abgeschlossen. Die Tatsache, daß Klement eine Villa am Goshun-See und eine Raumjacht besaß, bewies deutlich, wer bei diesen Wetten zu gewinnen pflegte. Seit ein paar Monaten war das anders. Damals, am letzten Freitag im Februar des Jahres 2648, war Tervor Aretosa zum erstenmal in Klements Wettbüro aufgetaucht. Aretosa hatte die Gründung einer Sekte mit dem Namen Jünger von Atlantis in Europa vorhergesagt und eine hohe Summe darauf gewettet, daß dieses Ereignis auch stattfinden würde. Klements Roboter, die trotz aller gründlicher Recherchen keine Anhaltspunkte für eine derartige Gründung finden konnten, hielten dagegen – und verloren. In den vier Monaten März, April, Mai und Juni war Aretosa ebenfalls erschienen und hatte absurde Wetten angeboten, die alle mit dem Thema »Atlantis« in Zusammenhang standen. Auch diese vier Wetten hatte er gegen alle Wahrscheinlichkeitsrechnungen der
4 Wettroboter gewonnen. Klement hatte Nachforschungen angestellt und sogar eine Regierungsstelle benachrichtigt. Niemand schien Tervor Aretosa zu kennen oder zu wissen, wo er lebte. In seiner Juni-Wette hatte Aretosa angekündigt, daß die Regierung sich genötigt sehen würde, zum Thema »Atlantis« eine Erklärung herauszugeben, und genau das war vor ein paar Tagen geschehen. Carmel Sphinx ging der Atlantis-Rummel auf die Nerven, er war überzeugt davon, daß die wahrhaft epidemische Ausbreitung dieser Geschichten und Gerüchte von einigen geldgierigen Geschäftemachern ausgelöst worden war. Wahrscheinlich arbeitete Aretosa mit diesen Leuten zusammen. Der USO-Spezialist sah seinen Auftrag so, daß er etwas über Aretosa und dessen Hintermänner herausfinden sollte und nicht etwa etwas über den möglichen Wahrheitsgehalt der Atlantis-Geschichten. Atlantis war vor zehntausend Jahren im Atlantik versunken. Atlan selbst hatte noch einmal in der Regierungserklärung darauf hingewiesen. Alles andere waren Hirngespinste. Sphinx konnte sich vorstellen, daß die Regierung angesichts der Ausmaße, die die Atlantis-Euphorie angenommen hatte, beunruhigt war. Es wurde Zeit, daß man dieser Sache ein Ende machte. Sphinx war entschlossen, dieses Ende vorzubereiten. Der USO-Spezialist war ein kleiner hagerer Mann mit einem freundlichen Gesichtsausdruck, der vor allem von den Lachfältchen um seine großen blauen Augen bestimmt wurde. In Sphinx' Stirn hing stets eine schwarze Locke, die er ab und zu durch ruckartige Bewegungen des Kopfes an ihren Platz zurückzubefördern versuchte. Bisher war Sphinx mit Nachforschungen bei Rauschgifthändlern beschäftigt gewesen. Bei dieser Arbeit hatte ihm sein Assistent, der Matten-Willy Purflinth, stets gute Dienste geleistet. Diese Wesen konnten in die kleinsten Winkel und Spalten fließen und sie
William Voltz untersuchen, so daß man kaum etwas vor ihnen verbergen konnte. Aber auch bei diesen Einsätzen war Purflinths ständige Müdigkeit eine Erschwernis gewesen. »Wir sollten aufgeben und endlich den versprochenen Whisky holen«, unterbrach der Matten-Willy die Gedanken des USOSpezialisten. »Ich bin fast bereit, eine Wette anzunehmen, daß Aretosa nicht kommt.« Sphinx warf einen hilfesuchenden Blick zu Klement hinüber, der in einer Ecke stand und ebenfalls den Eingang beobachtete. Er wollte Sphinx ein Zeichen geben, sobald Aretosa erschien. Die Kunden, die hereinkamen, um bei den Robotbuchmachern ihre Wetten abzuschließen, kannten Klement nicht, denn er hielt sich nur selten in seinem Wettbüro auf. Klement war ein schwerfällig wirkender, ärmlich gekleideter Mann. Man hätte ihn eher für einen Kunden des Büros als für dessen Besitzer halten können. Sphinx' Blicke wanderten zu den Robotbuchmachern hinüber, einfallslos bemalten Kästen, in denen vergleichende Positroniken eingebaut waren. In diesem Augenblick wurde es still innerhalb des Büros. Die Männer und Frauen an den Schaltern hielten in ihrer Tätigkeit inne und starrten in Richtung des Eingangs. Die Atmosphäre innerhalb des Raumes schien sich mit einem Schlag zu verändern. Noch bevor Sphinx den Blick wandte, wußte er, daß Tervor Aretosa angekommen war. Im Eingang stand ein überschlanker, etwa 1,80 Meter großer Mann. Sphinx wurde vom Anblick des Fremden sofort gefangen, er spürte, daß er einem ungewöhnlichen Menschen gegenüberstand. Trotz seiner Hagerkeit wirkte Aretosa (und es hätte nicht mehr Klements Kopfnicken bedurft, um Sphinx davon zu überzeugen, daß es sich um diesen handelte) knochig und stark. Aretosa hatte mittellanges, blauschwarzes Haar und eng beieinander stehende Augen, mit denen er unstete und stechend wirkende Blicke auf die Umge-
Das neue Atlantis bung richtete. Dichte schwarze Brauen ließen diese Augen noch düsterer wirken. Die Wangenknochen Aretosas traten hervor, seine scharfrückige und große Nase verliehen dem Gesicht zusätzliche Härte und Verbissenheit, genau wie die schmalen Lippen. Das massive Kinn war durch ein tiefes Grübchen unterteilt. Die Haut Aretosas besaß einen gelblichen Schimmer und stand in einem unheimlichen Kontrast zu den Augen und den Haaren. Sphinx ertappte sich dabei, daß er dieses Gesicht nicht nur einfach studierte, sondern davon in Bann geschlagen wurde. Erst, als ihn die Blicke des Ankömmlings trafen und sekundenlang auf ihm ruhten, als könnten sie ihn und seine Absichten mühelos ergründen, löste sich die Starre des USOSpezialisten. Sphinx sah verlegen zu Boden, als hätte man ihn bei einer unrechtmäßigen Handlung ertappt. »Ist er das?« flüsterte Purflinth. Sphinx nickte. Tervor Aretosa bewegte sich auf den äußersten rechten Schalter zu, und Sphinx konnte dabei sehen, daß der Mann das linke Bein etwas nachzog. Nun begann Klement zu handeln. Ihr gemeinsames Vorgehen war zwischen Sphinx und Klement genau abgesprochen, aber plötzlich zweifelte der USO-Mann, daß es auch funktionieren würde. Klement setzte sich in Bewegung und blieb zwischen dem Schalter und Aretosa stehen, so daß er seinem geheimnisvollen Kunden praktisch den Weg versperrte. »Tervor Aretosa?« sagte Klement mit sichtlicher Aufregung. Aretosa wandte Sphinx den Rücken zu, doch der USO-Spezialist konnte sich vorstellen, daß dieser Mann Klement ansah und daß Klement unter diesen Blicken förmlich litt. »Der bin ich!« Die Stimme besaß einen fremdartigen Akzent, den Sphinx niemals zuvor gehört hatte, und sie drückte eine ganze Skala mühsam beherrschter Gefühle aus.
5 »Ich bin Klement, der Besitzer dieses Wettbüros«, sagte Klement. Er drehte sich seitwärts, so daß Aretosa, um ihn weiter ansehen zu können, ebenfalls eine Drehung vollführen mußte. Auf diese Weise gelang es Klement, das Gesicht Aretosas wieder in Sphinx' Blickfeld zu bringen. Sphinx hielt das jedoch für einen Zufall, denn er glaubte einfach nicht, daß Klement ruhig denken konnte – jedenfalls nicht in dieser Minute. Aretosa lächelte, ein oberflächliches Lächeln, das in den Fältchen rund um die Augen steckenblieb und gleich wieder auseinanderbrach, als wäre es eine dünne, nicht zu diesem Körper gehörende Schicht. »Sie haben viel Geld an mich verloren, Klement.« »Eine Menge«, bestätigte Klement. »Deshalb möchte ich mit Ihnen sprechen.« »Diesmal haben Sie Gelegenheit, alles zurückzugewinnen«, verkündete Aretosa. Für Sphinx, der als stiller Beobachter fungierte, erhob sich die Frage, ob dieser Mann ein Spiel trieb. »Sie wollen eine neue Wette abschließen?« erriet Klement. »Natürlich! Sind Sie interessiert?« Inzwischen waren auch die anderen Kunden auf die Unterhaltung aufmerksam geworden. Sie umringten jetzt Klement und Aretosa, aber keiner von ihnen wagte, irgend etwas zu sagen. Klement sagte nervös: »Es kommt auf den Inhalt der Wette an.« Aretosa verschränkte die knochigen Arme über der Brust, und Sphinx fand, daß dieser Mann unglaublich überheblich wirkte – und einsam. »Es ist sozusagen eine Doppelwette«, erklärte Aretosa. »In den nächsten zwei Wochen wird ein seltsames Artefakt aufleuchten, in das eine Botschaft über Atlantis eingraviert ist.« »Das ist durchaus wahrscheinlich«, meinte Klement. Sphinx sah, daß der schwere Mann schwitzte. »Nach allem, was Sie bisher prophezeit haben, zweifle ich nicht daran.«
6 »Der zweite Teil meiner Wette«, fuhr Aretosa fort, »betrifft Atlantis selbst. Es wird am dreißigsten August im Atlantik auftauchen.« Es blieb unheimlich ruhig, obwohl Sphinx erwartet hatte, daß jemand unter den Zuhörern lachen würde. Aretosas Behauptung war absurd, niemand konnte ernsthaft in Erwägung ziehen, daß ein solches Ereignis tatsächlich eintraf. »Das … das ist ja verrückt!« brachte Klement schließlich hervor. »Ich bin bereit, eine Million Solar einzusetzen«, sagte Aretosa mit einer Selbstverständlichkeit, als hätte er gerade einen Soli gewettet, daß am nächsten Tag die Sonne aufging. »Eine Million Solar!« ächzte Klement. »Werden Sie darauf eingehen?« drängte der Hagere. »Nein … nein! Selbst wenn ich wollte, kann ich das nicht. Ich verfüge nicht über soviel Kapital.« Sphinx erhob sich und ging auf die Gruppe zu. Er versuchte, völlig ruhig zu sein, aber das gelang ihm nicht. Ihm war, als wanderte er am Rand eines Abgrunds, obwohl die Situation doch offensichtlich völlig ungefährlich war. Wahrscheinlich war es ihre Ungewöhnlichkeit, die ihn verunsicherte. »Ich halte die Wette!« hörte er sich sagen. Aller Augen richteten sich auf Carmel Sphinx, der unwillkürlich darauf wartete, daß ihn einer der Anwesenden der Verrücktheit bezichtigen würde. Doch die Stille der Zuschauer hielt an, als würde die Ausstrahlung Aretosas ausreichen, um jede von ihm unerwünschte Aktivität zu ersticken. Sphinx sah, daß Klement zitterte. Aretosa sah Sphinx an, eher verächtlich als interessiert. »Sie? Und wer sind Sie?« In Sphinx entstand der übermächtige Wunsch, aufzugeben und das Büro zu verlassen. Irgend etwas warnte ihn, sich näher mit diesem Mann einzulassen, ein längst verloren geglaubter Instinkt, der vielleicht den Urmenschen vor seinen natürlichen
William Voltz Feinden geschützt hatte. Gleichzeitig erwachte ein trotziges Gefühl in dem kleinen Mann. Das war ja alles lächerlich! Er durfte sich nicht von dem Gebaren eines Fremden beeindrucken lassen und schon gar nicht von dessen phantastischen Behauptungen. »Mein Name ist Carmel Sphinx«, sagte der USO-Spezialist. »Ich war lange Jahre erfolgreich als Prospektor im Wega-Sektor tätig und habe mir dort ein Vermögen erworben. Nun vertreibe ich mir die Zeit mit Wetten. Ich habe bereits von Ihnen gehört, denn ich bin ein ständiger Kunde Klements. Nach allem, was ich von Ihnen weiß, mußten Sie heute hier auftauchen.« Falls Tervor Aretosa auf den Gedanken kommen sollte, diese Geschichte nachzuprüfen, würde er sie als richtig anerkennen müssen, denn die USO hatte für Sphinx eine entsprechende Vergangenheit konstruiert. »Spielen Sie gerne Vabanque?« fragte Aretosa. Er schien amüsiert zu sein. »Keineswegs!« erwiderte Sphinx. »Aber keine noch so gut arbeitende Organisation kann Atlantis zurückbringen.« Aretosa hob die Augenbrauen. »So sehen Sie das!« »Ja«, sagte Sphinx. »So sehe ich das.« »Wollen wir beide das Geld bei Klement hinterlegen?« Diese Frage bedeutet, daß Aretosa eine Million Solar besitzt! dachte Sphinx betroffen. »Ich bin dafür, daß wir dieses Geschäft privat abwickeln«, schlug der USOSpezialist vor. »Wenn Sie damit einverstanden sind, suche ich Sie zusammen mit meinem Sekretär auf, dann erledigen wir alle Formalitäten.« Er gab Aretosa seine Karte. Der schlanke Mann nickte. Sphinx, der gehofft hatte, nun Aretosas Adresse zu erfahren, sah sich enttäuscht. »Vielleicht rufe ich Sie an, dann machen wir einen Termin aus«, sagte Aretosa, dann ging er langsam auf die Tür zu.
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Sphinx überlegte verzweifelt, wie er den Mann aufhalten konnte. »Ihr Bein!« rief er, weil ihm nichts Besseres einfiel. »Sind Sie verletzt? Soll ich Sie nach Hause fliegen?« Aretosa blieb stehen. Er blickte auf sein linkes Bein. Es war, als würde er angestrengt versuchen, sich an irgend etwas zu erinnern. Er sah jetzt sehr traurig aus. »Es ist nichts«, sagte er dann. »Lediglich ein Zeitklumpen.«
2. »Dafür, daß du zehntausend Jahre alt bist, verfügst du über ungewöhnliche Fähigkeiten«, sagte Irsthya sanft und strich Atlan über die Haare. Dann glitt sie aus dem Bett und trat an das Fenster. Atlan beobachtete sie und bewunderte ihre Schönheit, ihre vergängliche Schönheit. Er hatte Irsthya vor zwölf Jahren kennengelernt, damals war sie zweiundzwanzig Jahre alt gewesen. In diesen zwölf Jahren war er um keine Sekunde gealtert. Er mußte zusehen, wie sie an seiner Seite alterte. Nein, das war nicht das richtige Wort: Er erlebte, wie sie allmählich starb! Zu Beginn ihrer Freundschaft hatten sie sich oft über dieses Problem unterhalten und Irsthya hatte behauptet, es würde ihr nichts ausmachen. »Ich werde gehen, sobald es Zeit ist«, hatte sie gesagt. Inzwischen sprachen sie nicht mehr darüber. Aber manchmal, wenn sie dachte, daß Atlan schlief, weinte Irsthya. »Du bist schön«, sagte der Arkonide spontan. »Ich liebe dich!« »Wie liebst du mich?« fragte sie. »Wie ein Mann eine Frau liebt«, erwiderte der Lordadmiral. Sie warf den Morgenmantel über. »Wann wirst du mich vergessen haben? In einem Jahr, in zehn Jahren oder in hundert Jahren?«
Atlan richtete sich bestürzt auf. Er kannte die Bedeutung dieser Worte, er hatte sie oft in dieser oder in jener Form gehört. Irsthya würde ihn verlassen. Er war nicht in der Lage, irgend etwas zu sagen, sondern sah stumm zu, wie sie im Badezimmer verschwand. Als er ihr ein paar Minuten später dorthin folgen wollte, hatte sie die Tür von innen verriegelt. Atlan orderte Kaffee und Toast in der Robotküche und wusch sich im Gästebad. Dann kleidete er sich an und begann zu frühstücken. Er war zu müde und zu enttäuscht, um die Morgennachrichten von TerraTelevision anzuschauen. Nach einer Weile hörte er eine Tür zuschlagen. Irsthya war gegangen. Atlan schloß die Augen. Warum muß es immer so enden? dachte er. Da erfolgte die Explosion. Ein gewaltiger Donnerschlag erschütterte das Gebäude. Atlan wurde aus dem Stuhl geworfen und stürzte zu Boden. Das Frühstücksgeschirr fiel auf ihn herab. Seine Ohren dröhnten, halb betäubt tastete er umher und versuchte, sich irgendwo hochzuziehen. Der Explosion folgte fast völlige Stille, nur das Knacken beanspruchten Metalls war zu hören und in einem der Nebenzimmer rieselte Mörtel auf den Boden. Atlans Gedanken setzten wieder ein. Irsthya! dachte er betroffen. Er kam auf die Beine. Unbewußt nahm er das Ausmaß der Zerstörung in der Küche wahr. Aber das Zentrum der Explosion hatte außerhalb des Hauses gelegen. Atlan taumelte auf den Korridor hinaus, dann erreichte er die kurze Treppe, die zum Ausgang führte. Die Tür war zerborsten, ihre Trümmer lagen auf den Stufen verstreut. Der Gleiter! schoß es Atlan durch den Kopf. Er gelangte ins Freie, und seine Vermutung bestätigte sich. Der vor dem Haus geparkte Fluggleiter Irsthyas war in die Luft geflogen. Ein Krater markierte die Stelle des Unglücks. Überall lagen Wrackteile, zum
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William Voltz
Teil waren sie in den Gärten der Häuser in der Umgebung niedergegangen. Atlan, der benommen dastand, hörte Stimmen. Von allen Seiten kamen Menschen gerannt. Das Gewinsel der Alarmsirenen der Robotfeuerwehr und des Unfallkommandos erklang. Irsthya! dachte Atlan. Er hockte sich auf die untere Stufe vor der Eingangstür. Allmählich bereitete sich die Erkenntnis in ihm aus, daß die Frau einem Anschlag zum Opfer gefallen war, der eigentlich ihm gegolten hatte.
* Prohn Korum, der dunkelhäutige Chefredakteur des ASTRA, sah ein bißchen einfältig aus, aber er war es nicht. Unter Korums Leitung war der ASTRA zu einem Forum für innenpolitische Ereignisse geworden. Da er nur noch Schreibtischarbeit erledigte, hatte Korum Fett angesetzt, ein Vollbart sollte sein Doppelkinn verbergen. Sein dreidimensionales Abbild blickte Perry Rhodan vom Visiphon herab an. »Wir hielten die ganze Sache für einen schlechten Scherz der Atlantis-Fanatiker«, sagte er gerade. »Deshalb haben wir uns nicht darum gekümmert und auch keine Meldung gemacht. Wir hätten nicht einmal einen Bericht darüber gebracht.« »Nun ist es zu spät«, sagte Perry Rhodan bitter. »Ein Mensch ist gestorben.« Es entstand eine Pause, weil Korum sich mit jemand im Hintergrund des Redaktionsraums unterhielt. Als er sich wieder an Rhodan wandte, hielt er ein Blatt Papier in den Händen. »Hier ist der genaue Text, den der Anrufer durchgegeben hat. Ich zitiere: Atlan will verhindern, daß Atlantis in alter Pracht entsteht, deshalb wird er sterben. Legion Atlantis.« Er schnaubte heftig. »Legion Atlantis, pah! Allmählich wird die ganze Sache bedenklich. Die Regierung sollte diesem Rum-
mel ein Ende bereiten.« Rhodan ging nicht darauf ein. »Konnte festgestellt werden, woher der Anruf kam?« »Aus dem Bezirk Xonis im Osten Terranias. Natürlich anonym, aus einer öffentlichen Sprechzelle. Der Anrufer hatte irgend etwas im Mund, um seine Stimme zu verstellen, außerdem war ein Tuch über das Aufnahmegerät gehängt, so daß wir nicht sehen konnten, wer gesprochen hat.« »Ich möchte Sie bitten, vorläufig nicht darüber zu berichten«, sagte Rhodan. »Erfahrungsgemäß werden solche Taten nachgeahmt.« »Gut«, sagte Korum. »Halten Sie mich auf dem laufenden.« Die Verbindung wurde unterbrochen. Rhodan lehnte sich im Sitz zurück und sah Allan D. Mercant an, der ihm gegenübersaß. Der Chef der SolAb nickte nachdenklich. »Es war zu erwarten, daß einige politische Wirrköpfe die Sache auf die Spitze treiben würden. Atlan muß aufgrund seiner Vergangenheit und seines Namens auf alle anziehend wirken, die sich der Atlantis-Hysterie angeschlossen haben. Denken Sie nur an diesen verrückten Propheten Casneur, der die Sekte der Ewigen Atlanter gegründet hat und Atlan als Gottheit verehren läßt.« »Casneur bringt keine Menschen um!« »Das nicht«, stimmte der unscheinbar wirkende Zellaktivatorträger zu. »Aber Casneur und seinesgleichen schaffen den Nährboden, auf dem die Saat der Gewalt schließlich aufgeht.« »Wenn ich daran denke, wie alles begonnen hat, kann ich mir immer noch nicht vorstellen, daß diese Atlantis-Geschichte ein derartiges Ausmaß angenommen hat. Vielleicht steckt doch mehr dahinter, als wir annehmen.« »Wir werden die Hintermänner, die das alles angezettelt haben, bald fassen«, versicherte der Halbmutant grimmig. »Dann wird dieser Spuk so schnell vorbei sein, wie er begonnen hat.« Zweifellos glaubte Mercant fest an diesen
Das neue Atlantis Erfolg, überlegte Rhodan. Und er selbst? Fast wäre vor ein paar Stunden einer seiner besten Freunde bei einem Anschlag ums Leben gekommen. Es sah also eher danach aus, als sollte die Entwicklung noch eskalieren. All das geschah ausgerechnet in einer Zeit, da das Solare Imperium von keinen äußeren Feinden bedroht war. Seit im Jahre 2437 die Gefahr einer Invasion der Uleb aus M87 endgültig gebannt worden war, hatte sich die Menschheit ganz dem Aufbau ihres Sternenreichs widmen können. Die Explorerflotten des Solaren Imperiums waren in allen Teilen der Galaxis unterwegs, um neue Welten zu erforschen. Planeten wurden kolonisiert, Verträge mit extraterrestrischen Völkern geschlossen und Handel mit anderen Sternenreichen betrieben. Alles, was Rhodan bis zum Beginn der Gerüchte um Atlantis Sorgen bereitet hatte, waren die Autarkiebestrebungen einiger Kolonisten. Es wurde von der Gründung selbständiger Sternenreiche gesprochen. Dabei fielen Begriffe wie »Carsualscher Bund« und »Zentralgalaktische Union«. Die Entstehung des Carsualschen Bundes war wahrscheinlich nicht mehr zu verhindern, denn die Ertruser, die diese Entwicklung förderten, standen dem Solaren Imperium in den letzten Jahren weitgehend ablehnend gegenüber. Das waren die Probleme, um die Perry Rhodan sich eigentlich hätte kümmern müssen. Statt dessen mußte er sich mit Vorgängen beschäftigen, die, hätte sie ihm jemand vorausgesagt, nur ein ungläubiges Lächeln als Reaktion hervorgerufen hätten. Wie war es möglich, daß zunächst Hunderte und nun Tausende von Menschen dieser Hysterie um Atlantis unterlagen? Zuerst hatte Rhodan geglaubt, daß sich alles sehr schnell wieder legen würde. Als jedoch das Gegenteil geschehen war, hatte Perry Rhodan eine Erklärung abgegeben, um die Bürger Terras zu beruhigen. In dieser
9 Botschaft hatte Atlan noch einmal berichtet, wie die Insel, der er den Namen gegeben hatte, untergegangen war und daß alle Spekulationen über dort existierende geheimnisvolle Zivilisationen aus der Luft gegriffen waren. Doch auch der nüchterne Bericht des von allen Terranern als glaubwürdig anerkannten arkonidischen Augenzeugen der Katastrophe hatte nicht geholfen. Die Gerüchte wollten nicht verstummen, der Name Atlantis tauchte immer häufiger auf. »Atlan kommt!« drang Mercants Stimme an Rhodans Ohren. Rhodan stand auf, um den alten Freund zu begrüßen. Ein Blick in Atlans Gesicht genügte, um Rhodan erkennen zu lassen, welchen Schock der Arkonide erlitten hatte. »Es tut mir schrecklich leid, Alter«, sagte Rhodan. »Ich trauere mit dir um Irsthya.« »Ich hatte sie schon vorher verloren«, entgegnete der Lordadmiral der USO finster. »Aber das ist es nicht, was mir zu schaffen macht. Im Grunde genommen trage ich die Verantwortung für ihren Tod, denn mein Name beginnt sich als eine Art Fluch zu erweisen. Alle, die mich kennen, müssen damit rechnen, daß dieser Fluch sie trifft.« »Ich habe Verständnis für Ihre Gefühle«, warf Mercant ein. »Trotzdem sehen Sie die Dinge falsch. Verbrecher sind für diesen tragischen Vorfall verantwortlich. Die eigentlich Schuldigen aber sind jene Menschen, die die Atlantis-Hysterie verursacht haben, um daraus Nutzen zu ziehen.« Atlan sagte: »Ich verlasse die Erde!« »Wohin willst du gehen?« fragte Rhodan. »Du gehörst zu uns, und diese Welt ist deine Heimat.« »Ich weiß noch nicht, wohin ich gehe, aber hier bleibe ich auf keinen Fall. Erst, wenn diese Sache ausgestanden ist, werde ich zurückkehren. Das ist die einzige Lösung, wenn ich verhindern will, daß durch mich und meinen Namen noch mehr Unheil angerichtet wird.« »Niemand kann vor seinem Namen flie-
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hen«, sagte Rhodan sanft. »Dein Name wird dich überall hin begleiten.«
* Vor zwei Tagen war Roger Casneur von der Osterinsel zurückgekehrt. Dort hatte er zusammen mit seinen engsten Anhängern die alten Götter um eine Erleuchtung Atlans angefleht. Atlan war in Casneurs Augen ein schlafender Gott, der geweckt werden mußte, um seine große Aufgabe in dieser Zeit zu erfüllen. Als Casneur jetzt vor die Mitglieder der von ihm gegründeten Sekte trat, um über den Erfolg seiner Reise zu berichten, war er sich darüber im klaren, daß sein Auftritt zum erstenmal im Beisein von zwei SolAbAgenten stattfinden würde. Die SolAb hatte diese Maßnahme angekündigt und sie mit den zunehmenden Unruhen begründet, die in Zusammenhang mit den Atlantis-Gerüchten überall auf der Erde ausgebrochen waren. Casneur war klug genug, den wahren Grund zu erraten. Die Verantwortlichen in der Regierung wollten endlich herausfinden, wer die ganze Entwicklung heraufbeschworen hatte. Roger Casneur gehörte zum Kreis der Verdächtigen. Casneur wußte nicht, ob er über die Anwesenheit der beiden Agenten ärgerlich sein oder sie als sicheres Zeichen seines Popularitätszuwachses begrüßen sollte. Das große Kunststoffzelt war bis auf den letzten Platz gefüllt, über dreitausend Menschen waren gekommen, um Casneur predigen zu hören. Die Ewigen Atlanter waren in weiße Gewänder gehüllt, auf der linken Seite war das Emblem der Sekte aufgemalt: ein Stierkopf in einem roten Kreis. Der Prophet war genauso gekleidet wie seine Anhänger. Casneur ließ seine Blicke über die Versammlung gleiten. Wo mochten die beiden Agenten sitzen? Er lächelte unmerklich. Was wollten sie schon über ihn herausfin-
den? Früher oder später, so hoffte Casneur, würde Atlan nachgeben und sich mit ihm auseinandersetzen müssen. Der öffentliche Druck auf den Arkoniden würde so stark sein, daß Atlan keine andere Wahl blieb. Casneur hob mit einer theatralischen Gebärde beide Arme. Sofort trat innerhalb des Zeltes Stille ein. »Das Licht von Atlantis leuchtet bis in unsere Zeit«, sagte Casneur mit seiner tiefen, weithin hallenden Stimme. »Es wird heller und dringt mit seiner wahrhaftigen Botschaft in die Herzen von immer mehr Menschen.« Er wunderte sich, mit welcher Leichtigkeit ihm diese Worte über die Lippen kamen. Und es erstaunte ihn immer wieder, welchen Effekt er damit bei anderen Menschen erzielte. Casneur war ein mittelgroßer schmalbrüstiger Mann. Er trug eine schwarze Perücke, die verbarg, daß er fast kahl war. Seinen wachsamen braunen Augen entging keine Reaktion der gebannt lauschenden Menge. Casneur hatte verschiedenen politischen Parteien angehört, ohne jemals einen entscheidenden Erfolg erzielt zu haben. Erst, nachdem er sich entschlossen hatte, auf der Atlantis-Welle mitzuschwimmen, hatte sich das geändert. Casneur hielt eine kurze Predigt, in der er die Wiedererrichtung des Atlantischen Reiches ankündigte und Atlan als den unumschränkten Herrscher und Gott über dieses Reich ausrief. Danach wurde ein Film gezeigt, in dem Roger Casneur der Hauptakteur war. Als die Lichter im Zelt erloschen waren und der Film lief, begab Casneur sich in sein großes Wohnmobil hinter dem Zelt, um neue Mitglieder seiner Sekte zu begrüßen. Zu seiner Überraschung hatte Delk Massar, sein Manager, alle Bewerber unter einem Vorwand weggeschickt. »Es gibt wichtige Nachrichten«, begründete Massar seine Maßnahmen. »Wir müssen darüber sprechen und Entscheidungen
Das neue Atlantis treffen.« Casneur, der zunächst protestieren wollte, nickte und ließ sich in einen Sessel sinken. Er sah den schlanken Mann, der eigentlich wie ein sensibler Künstler wirkte, abwartend an. »Es gibt ein neues Gerücht«, erklärte Massar. »Irgend jemand hat eine gute Idee gehabt, eine sehr gute Idee. Wenn wir nicht aufpassen, verlieren die Ewigen Atlanter den Vorsprung, den sie gegenüber anderen Vereinigungen haben.« Casneur war alarmiert. Er wußte, daß er sich auf Massar verlassen konnte. Massar besaß einen untrüglichen Instinkt für alle Strömungen und Entwicklungen. »Jemand hat das Gerücht in Umlauf gebracht, daß sich ein uraltes Artefakt außerirdischen Ursprungs auf der Erde befinden soll«, fuhr Massar fort. »Es soll sich um das Bruchstück einer Metallplatte handeln, in das eine Botschaft über Atlantis und den bevorstehenden Weltuntergang eingraviert ist.« »Raffiniert!« stieß Casneur hervor. »Natürlich wird dieses Gebilde früher oder später auftauchen. Wer immer es den Menschen präsentiert, kann sich als Erbe von Atlantis profilieren.« »Eine Sekte, die sich im Besitz dieses Artefakts befindet, hätte großen Zulauf«, bestätigte Massar. »Ich hoffe jedoch, daß lediglich ein großes Geschäft gemacht werden soll. Wahrscheinlich wird bald jemand erscheinen, um uns dieses Ding anzubieten.« »Sie meinen, es existiert wirklich?« »Eine Idee allein ließe sich unter diesen Umständen schlecht verkaufen. Ich bin sicher, daß eine gut gemachte Fälschung existiert.« Casneur sagte wütend: »Das wird uns viel Geld kosten!« Massar entzündete ein Räucherstäbchen und inhalierte den Rauch. »Wenn wir das Artefakt haben, holen wir uns das Geld doppelt zurück!« In Casneur erwachte die Furcht, daß sie im Begriff standen, eine bestimmte Schwelle
11 zu überschreiten, hinter der sich die Entwicklung nicht mehr unter Kontrolle halten ließ. Sekundenlang regte sich der Verdacht in ihm, Massar könnte die ganze Geschichte erfunden haben, um schließlich davon zu profitieren. Massar erhob sich. »Ich werde mich um diese Angelegenheit kümmern und Kontakte zu Personen aufnehmen, die uns helfen können.« Casneur fühlte sich unentschlossen. Er dachte an die SolAb-Agenten drüben im Zelt. Auch sie waren ein Beweis für eine Eskalation. »Manchmal denke ich, wir sollten aufhören«, sagte er nachdenklich. »Aufhören? Jetzt?« Massar sah ihn ungläubig an. »Nachdem wir alles aufgebaut haben und anfangen, gut zu verdienen!« »Und wenn wirklich etwas an dieser Atlantis-Sache ist?« »Ich dachte mir, daß Sie früher oder später auf diese Idee kommen würden.« Massar lächelte ironisch. »Sie haben sich damit identifiziert und beginnen sich zu fragen, ob nicht alles einen realen Hintergrund haben könnte.« »Könnte es nicht sein?« »Dann wären Sie König von Atlantis«, spottete Massar.
3. Carmel Sphinx starrte auf die Tür, durch die Tervor Aretosa vor wenigen Augenblicken verschwunden war. Von den Besuchern des Wettbüros schien ein starker Druck abzufallen, denn sie begannen plötzlich alle gleichzeitig zu reden. »Ein Zeitklumpen«, sagte Klement verwirrt. »Was kann er damit gemeint haben?« Sphinx zuckte mit den Achseln. »Ich werde versuchen, ihm zu folgen!« Er blickte zu der Bank, wo Purflinth noch immer saß und verschlafen blinzelte. »Komm, mein Freund! Es gibt Arbeit.« »Ich wußte, daß der Whisky noch auf sich warten lassen würde«, bemerkte der Matten-
12 Willy entsagungsvoll und folgte Sphinx auf die Straße hinaus. Das Wettbüro befand sich im Vergnügungsviertel von Terrania, auf der anderen Straßenseite lagen der Traumpalast und ein Bürgerzentrum. Dazwischen gab es eine Transmitterstation. Sphinx hatte angenommen, daß Aretosa sich dorthin wenden könnte, aber jetzt sah er, daß der geheimnisvolle Mann die Straße in Richtung des Stadtkerns hinaufging. Der leicht humpelnde Gang war unverkennbar. Sphinx fragte sich, warum Aretosa nicht das Transferband in der Straßenmitte benutzte. »Wir folgen ihm unauffällig«, sagte er zu Purflinth. »Vielleicht finden wir heraus, wo er wohnt.« »Er sieht nicht danach aus, als würde er überhaupt irgendwo wohnen«, stellte Purflinth übellaunig fest. »Er wird uns eine Zeitlang an der Nase herumführen und sich dann auflösen.« »Unsinn!« rief Sphinx. Sie überquerten die Straße und benutzten die andere Seite des Gehwegs. Dort waren sie vor einer Entdeckung durch Aretosa sicherer. Um diese Zeit war das Vergnügungsviertel nicht übermäßig besucht, nur wenige Passanten kreuzten ihren Weg. Aretosa hielt kein einziges mal an oder sah sich um. Er schien keinen Verdacht geschöpft zu haben. »Sein Name gibt mir zu denken«, bemerkte Sphinx. »Er gibt Anlaß zu Wortspielereien.« »Wie meinst du das?« »Aretosa klingt nach Esotera oder Satorin.« »Satorin?« »Eine Insel, die auch Thera genannt wurde. Früher spekulierte man, daß Satorin identisch mit Atlantis gewesen sein könnte. Du brauchst nicht erstaunt zu sein, mein Freund. Ich weiß das auch erst, seit ich diesen Auftrag bekommen habe. Es gibt eine unübersehbare Literatur über Atlantis.« Purflinth kicherte und vergaß dabei, die Kontrolle über sein Gesicht aufrechtzuerhalten. Seine Nase zerfloß und sank bis zum
William Voltz Kinn hinab. »Paß auf!« herrschte Sphinx ihn an. »Ich kann nicht Aretosa im Auge behalten und gleichzeitig dich beobachten.« Purflinth brachte den Fehler wieder in Ordnung, bevor einer der Vorbeikommenden auf ihn aufmerksam wurde. Sie erreichten die Kaufhauszone. Aretosa bog in eine Seitenstraße ein und bestieg ein Flugtaxi. Sphinx stieß eine Verwünschung aus und rannte los. In der Straße war kein zweites Taxi zu sehen, aber diesmal erwies Purflinth sich als reaktionsschnell und winkte eine Maschine herbei. Aretosa hatte ein Robottaxi bekommen, aber der Gleiter, der neben Sphinx landete, besaß eine menschliche Pilotin. Sphinx und der Matten-Willy zwängten sich auf den Rücksitz. Der USO-Spezialist kam sich ein bißchen lächerlich vor, als er auf das startende Robottaxi deutete und sagte: »Folgen Sie dieser Maschine!« Die Frau drehte sich im Sitz um. Sie musterte Sphinx mißtrauisch. »Solche Sachen mache ich nicht«, erklärte sie. Sphinx seufzte und zog seine Identitätskarte hervor. Die Pilotin studierte sie so gründlich und lange, daß Sphinx zu befürchten begann, Aretosa würde ihnen entkommen. »Besitzt die USO keine Maschinen?« erkundigte sich die Frau. »Sie sind alle in Reparatur!« versetzte Sphinx freundlich. »Ich mag keine USO-Agenten«, sagte die Pilotin. »Aber ich weiß, daß ich Schwierigkeiten bekommen kann, wenn ich Ihnen nicht helfe.« Sphinx hätte gern etwas zur Aufbesserung seines Images getan, aber da ihm keine Zeit blieb, nickte er nur. Endlich startete die Frau ihren Gleiter. Sphinx konnte das Robottaxi nicht mehr sehen, aber die Tatsache, daß die Pilotin sofort einen festen Kurs programmierte, bewies ihm, daß sie die andere Maschine nicht aus den Augen verloren hatte.
Das neue Atlantis Wenige Augenblicke später befanden sie sich in einer Flugschneise, die aus Terrania hinausführte. Sphinx entdeckte den Gleiter mit Aretosa darin wieder. Purflinth kuschelte sich eng an ihn und schloß die Augen. Sphinx versetzte ihm einen Rippenstoß. »Werden Sie bezahlen?« fragte die Frau am Steuer. Sphinx zog einen Zehn-Solar-Schein aus der Tasche und legte ihn auf die Kontrollen. »Dafür mache ich einen Rundflug!« erklärte die Pilotin. Purflinth beugte sich nach vorn und bekam dabei einen unnatürlich langen Hals. »Haben Sie zufällig Whisky an Bord?« erkundigte er sich begierig. »Ist das auch ein USO-Agent?« wollte die Pilotin verächtlich wissen. »Aber ja!« beteuerte Sphinx. »Der Beste!« Danach verlief der Flug schweigsam. Am westlichen Rande der Stadt verließ das Robottaxi die Flugschneise und verlor an Höhe. Sphinx sah, daß es auf eine Vorstadtsiedlung zuflog. »Kreisen Sie hier und warten Sie, ob die Maschine landet!« ordnete Sphinx an. Die Pilotin tat, was Sphinx von ihr verlangt hatte. Der USO-Spezialist überlegte, ob Aretosa tatsächlich in einem dieser kleinen Häuser lebte. Er schien nicht in diese friedlich wirkende Umgebung zu passen. Vielleicht würde es interessant sein, einmal seine Nachbarn zu fragen, welche Meinung sie von ihm hatten. Das Taxi landete auf einem öffentlichen Parkplatz, der zur Siedlung gehörte. Aretosa kletterte heraus und bewegte sich zielstrebig auf eine der schmalen Straßen zu. Hier gab es keine Transferbänder, und die nächste Transmitterstation war ein paar hundert Meter weit entfernt. Sphinx klopfte der Pilotin auf die Schulter. »Das wär's dann«, sagte er. »Landen Sie!« Als sie aus der Maschine stiegen, war das Robottaxi bereits wieder gestartet. Sphinx
13 und der Matten-Willy rannten auf die Straße zu, in der Tervor Aretosa verschwunden war. Sie kamen gerade noch rechtzeitig, um den geheimnisvollen Mann eines der Häuser betreten zu sehen. »Das sieht nicht sehr vielversprechend aus«, bemerkte Purflinth. »Ein ganz normales Haus in einer ganz normalen Umgebung.« Sphinx schwieg und ging langsam weiter. Hinter einer großen Ulme blieben sie stehen. Sphinx sah, daß alle Vorhänge an den Fenstern von Aretosas Haus zugezogen waren. Der Vorgarten sah ungepflegt aus. Am Eingang befand sich kein Namensschild. Sphinx sah auf die Uhr. »Jetzt bist du an der Reihe«, sagte er zu Purflinth. »Du mußt in das Haus eindringen und dich im Innern umsehen. Paß auf, daß er dich dabei nicht erwischt.« »Und was machst du?« »Ich werde inzwischen mit einigen Bewohnern aus den Häusern in der Umgebung sprechen. In einer Stunde treffen wir uns hier wieder.« Purflinth schaute sich um. Als er sicher war, daß sie von niemand beobachtet wurden, trat er an die Umzäunung eines Gartens und ließ sich zusammensinken. Als unförmige Masse floß er auf das Grundstück hinüber und war gleich darauf aus Sphinx' Blickfeld verschwunden. Der USO-Spezialist wußte, daß Purflinth eine Ritze finden würde, durch die er in Aretosas Haus gelangen konnte. Er wartete ein paar Minuten, dann überquerte er die Straße und drückte auf den Bildmelder am Eingang eines Hauses. »Es ist niemand hier«, sagte eine mechanische Stimme. »Sie können eine Botschaft hinterlassen.« Sphinx verzog das Gesicht und ging weiter, um an der nächsten Tür sein Glück zu versuchen. Diesmal hatte er mehr Erfolg. Eine Frauenstimme fragte nach seinen Wünschen. Sphinx hielt seine Identitätskarte vor den Aufnahmeteil des Bildmelders. »Ist etwas passiert?« fragte die Frau im
14 Haus erschrocken. »Aber nein!« beruhigte sie Sphinx. »Es handelt sich nur um ein paar Routinefragen und betrifft nicht Sie.« Eine große blonde Frau kam aus dem Haus. Sie öffnete und sah Sphinx mißtrauisch an. Der USO-Spezialist trat in den Vorgarten. »Es handelt sich um einen Ihrer Nachbarn«, eröffnete er. »Tervor Aretosa! Wissen Sie etwas über ihn?« Die Frau blickte in die Richtung von Aretosas Haus, drehte dann aber sofort wieder den Kopf. »Ich habe diesen Namen nie gehört«, behauptete sie. »Schon möglich«, gab Sphinx zu. »Aber Sie wissen zweifellos, wer gemeint ist.« »Niemand kümmert sich um diesen Mann«, erklärte die Frau. »Aber uns wäre wohler, wenn er wieder von hier wegziehen würde.« »Weshalb?« »Er spricht mit niemand und bekommt niemals Besuch. Er sieht auch so merkwürdig aus. Manchmal dringen nachts Geräusche aus seinem Haus.« Sphinx hob die Augenbrauen. »Geräusche?« »Als würde jemand etwas zertrümmern.« Sphinx überlegte, was das zu bedeuten hatte. Er bezweifelte, daß irgend jemand mehr über Aretosa wußte als diese Frau. »Wie lange wohnt er schon dort drüben?« wollte er wissen. »Knapp zwei Jahre.« Sie sah ihn aufmerksam an. »Ist er ein Krimineller?« »Nein«, sagte Sphinx. »Sie brauchen sich keine Gedanken zu machen.« Er wollte sie noch ermahnen, mit keinem ihrer Nachbarn über diese Unterhaltung zu sprechen, aber er bezweifelte, daß das viel Erfolg haben würde, und so ließ er es sein. Es begann allmählich dunkel zu werden. Sphinx verabschiedete sich und begab sich wieder zu dem mit Purflinth verabredeten Treffpunkt. Er hatte noch über eine halbe Stunde Zeit. Die Frau kam auf die Straße
William Voltz und sah zu ihm herüber. Sphinx fragte sich, ob seinem Begleiter in Aretosas Haus Gefahren drohten. Wenn Purflinth nicht pünktlich zurückkam, würde er seine passive Rolle aufgeben und Aretosa offiziell verhören müssen. Sphinx lauschte angestrengt, aber kein Geräusch drang aus Aretosas Haus. Ein paar Minuten später wurde die Straßenbeleuchtung eingeschaltet. Das Licht aus den Scheinwerfern vorbeifliegender Gleiter huschte über die kleinen Gebäude beiderseits der Straße hinweg und tauchte sie ab und zu in Helligkeit. Ein paar Häuser weiter straßenaufwärts verließen zwei Halbwüchsige ihre Wohnung, sie kamen an Sphinx vorbei, ohne ihn zu beachten. Auch Aretosas Haus schenkten sie keine Aufmerksamkeit. In dem Haus, vor dem Sphinx Posten bezogen hatte, öffnete sich ein Fenster. Ein Mann blickte heraus. Musik drang an Sphinx' Ohren. Er lehnte sich gegen den Baum und wartete.
* Purflinth war durch einen Spalt unter der Terrassentür in Aretosas Haus geglitten. Das Zimmer, in das er auf diese Weise gelangte, war dunkel. Obwohl kein Zweifel daran bestand, daß der Mann sich irgendwo aufhielt, war es vollkommen still. Purflinth wartete, bis seine Sinne sich soweit an die Dunkelheit gewöhnt hatten, daß er sich orientieren konnte. Das Zimmer, in dem er sich befand, war mit einfachen Möbeln eingerichtet, aber ihm fehlte jede Behaglichkeit. Purflinth lebte schon seit vielen Jahren auf Terra und kannte die Mentalität der Menschen. Er vermochte sich nicht vorzustellen, daß sich hier jemand wohl fühlen konnte. Von Aretosa war noch immer nichts zu sehen oder zu hören. Purflinth floß über den glatten Bodenbelag bis zur Tür. Dort hielt er inne. Unmittelbar vor ihm lag der Korridor, von dem aus die anderen Zimmer erreicht werden konnten. Der Matten-Willy drang in den Korridor
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ein. Die Tür rechts von ihm stand offen und gestattete einen Blick in die Robotküche. Sie schien nicht benutzt zu werden. Aß Aretosa niemals zu Hause? fragte sich Purflinth. Er wandte sich in die andere Richtung. Dort lag das Schlafzimmer. Die Tür war geschlossen. Ob Aretosa sich dort aufhielt? Während Purflinth unentschlossen wartete, vernahm er plötzlich einen dumpfen Laut. Es hörte sich an, als schlage jemand mit einem stumpfen Gegenstand gegen eine weiche Masse. Das Geräusch kam von unten, aus den Kellerräumen. Purflinth setzte sich wieder in Bewegung. Die Tür zur Kellertreppe stand spaltbreit offen, durch den Spalt war ein Lichtschimmer zu sehen. Purflinth hörte jemand stöhnen, aber er war nicht in der Lage, zu beurteilen, ob das ein Fremder oder Aretosa selbst gewesen war. Auf jeden Fall war dieser Lärm beunruhigend. Wieder gab es ein paar dumpfe Schläge. Purflinth bildete jetzt einen breiten flachen Fladen, und in dieser Form floß er die Kellertreppe hinab. Das Licht drang aus einem Raum im hinteren Teil des Kellers. Alles deutete daraufhin, daß Aretosa dort mit jemand kämpfte. Purflinth beeilte sich, vielleicht brauchte ein Mensch seine Hilfe. Er kroch durch den schmalen Gang auf den hinteren Raum zu.
* Die Minuten verstrichen mit quälender Langsamkeit, aber je näher der Zeitpunkt rückte, zu dem Purflinth zurückkommen sollte, desto unruhiger wurde Sphinx und desto wilder wurden seine Vorstellungen, die er sich in seiner Phantasie von den Vorgängen in Aretosas Haus ausmalte. Noch vor Ablauf der einen Stunde verließ der kleine Mann seinen Platz und näherte sich dem Gebäude, in dem Purflinth verschwunden war. In keinem der Zimmer schien Licht zu brennen. Vielleicht war Aretosa
zu Bett gegangen, und der Matten-Willy nutzte die Gelegenheit, um die gesamte Wohnung nach Whisky zu durchstöbern. Diese Wesen von der Hundertsonnenwelt waren oft unberechenbar und kamen auf die verrücktesten Einfälle. Am Eingang von Aretosas Haus blieb Sphinx stehen. Da hörte er ein platschendes Geräusch. Purflinth ließ sich von der Grundmauer der Umzäunung fallen und bildete hastig einen häßlichen Klumpen, der entfernt wie ein Kopf aussah. Seine Stimme klang quäkend. »Schnell!« rief er. »Aretosa braucht Hilfe!« Sphinx spürte die Erregung des MattenWillys und handelte, ohne weitere Fragen zu stellen. Er griff nach dem Türöffner, aber das Schloß war verriegelt. Seine Hände umschlossen den oberen Teil des Türrahmens. Er zog sich hoch und schwang sich in den Vorgarten. Purflinth kroch hinter ihm her. Sphinx stürmte die Treppe zum Hauseingang hinauf. Auch diese Tür war verschlossen. Sphinx zog seinen kleinen Thermostrahler aus der Tasche, um das Schloß aufzuschweißen, als im Innern des Hauses plötzlich Licht anging. Die Tür wurde geöffnet. Verblüfft und sprachlos sah Sphinx Aretosa im Eingang stehen. Er sagte sich, daß er einen ziemlich unglücklichen Eindruck machen mußte. Aretosas Augen funkelten, er wirkte ein bißchen außer Atem, aber seine Stimme klang beherrscht. »Der Prospektor! Kommen Sie herein, Sphinx, und bringen Sie Ihren seltsamen Assistenten mit, sofern er sich inzwischen von seinem Schrecken erholt hat.« »Ich dachte, Sie brauchen Hilfe«, stammelte Sphinx, der sich nicht gerade geistreich vorkam. Er sah sich nach Purflinth um und entdeckte den Matten-Willy ein paar Schritte neben der Treppe, wo er versuchte, in aller Hast einen menschlichen Körper zu bilden. In seiner Aufregung gelang ihm das jedoch nur unvollständig.
16 Sphinx verwünschte Purflinth im stillen, aber nun war das Unheil passiert und ließ sich nicht rückgängig machen. Aretosa trat zur Seite, um Sphinx hereinzulassen. Wie unter einem inneren Zwang kam der USO-Spezialist der Aufforderung nach. Der Korridor, den er betrat, war spartanisch eingerichtet. Sphinx sah weder Bilder noch einen Spiegel. Purflinth folgte seinem terranischen Freund, er hatte sich zwei verschieden lange Beine geschaffen und taumelte mehr als er ging. Die Kleider schlotterten um seinen deformierten Körper. Sphinx schloß einen Moment die Augen und holte tief Atem. »Es tut mir leid«, krächzte das Plasmawesen. »Offensichtlich habe ich die Situation falsch eingeschätzt und einen Fehler gemacht.« Aretosa warf die Tür zu. Er lächelte kalt. »Es ist überhaupt nichts passiert«, erklärte er. »Ihr Begleiter hat mich bei meiner sportlichen Betätigung beobachtet und dabei offenbar die Nerven verloren.« Sphinx, der überhaupt nichts mehr verstand, wünschte nur noch, daß er möglichst schnell einen Vorwand finden und sich zurückziehen konnte. »Sportliche Betätigung!« echote Purflinth. »Carmel, du mußt dir diese stählerne Zelle im Keller ansehen. Er hat darin getobt wie ein Ungeheuer. Ich mußte annehmen, daß er sich umbringen wollte.« Aretosa sah Sphinx durchdringend an. »Für wen arbeiten Sie? Für die SolAb?« Sphinx zeigte ihm seine Karte, denn er sah keinen Sinn darin, sich weiter als Prospektor auszugeben. »Es handelt sich um eine allgemeine Untersuchung der Atlantis-Angelegenheit«, sagte er matt und versuchte, den Blicken des Hageren auszuweichen. »Die Regierung will herausfinden, wer die Sache inszeniert hat.« »Und da ist man auf mich verfallen?« »Sie sind nur einer von vielen Verdächtigen!« Aretosa breitete die Arme aus.
William Voltz »Sie können sich gern umsehen.« »Was ist das für eine Zelle, von der Purflinth gesprochen hat?« »Ich werde Sie hinführen.« Aretosa ging voraus und stieg die Kellertreppe hinab. Obwohl es keine Anzeichen für Gefahr gab und Aretosa sich friedlich verhielt, schnürte eine nie gekannte Furcht Sphinx die Kehle zu. Er hätte am liebsten die Flucht ergriffen und wäre aus dem Haus gerannt. Aber irgend etwas anderes trieb ihn voran und veranlaßte ihn, dem geheimnisvollen Mann in den Keller zu folgen. Aretosa wartete mit verschränkten Armen im Eingang eines Kellerraums. »Das ist alles«, bemerkte er mit einem Kopfnicken. Sphinx starrte in den Raum. Die Wände bestanden aus Metall, ebenso der Boden und die Decke. Ein paar stählerne Säulen befanden sich in der Mitte des Raumes. Dazwischen lagen Steinbrocken, zerbrochene Holzbalken und verbogene Eisenstangen. Sphinx schluckte. Er erinnerte sich daran, was die blonde Frau aus Aretosas Nachbarschaft ausgesagt hatte, und stellte sich diesen Mann vor, wie er in diesem Raum herumtobte, Felsen zertrümmerte, Holz zerbrach und Eisen verbog. Sogar die stählernen Wände zeigten Spuren dieser zerstörerischen Tätigkeit. Keiner der Männer, die Sphinx kannte, wäre in der Lage gewesen, die am Boden liegenden Gegenstände so zuzurichten, wie das offenbar durch Aretosa geschehen war. Der USO-Spezialist wich unwillkürlich einen Schritt zurück. »Haben … haben Sie das gemacht?« brachte er hervor. Die dunklen Augen blickten ihn an völlig teilnahmslos, wie es Sphinx erschien. »Ich trainiere hier«, sagte Aretosa. »Das ist doch sicher nicht verboten.« Purflinth schob sich durch die Tür. »Du hättest ihn sehen sollen, Carmel! Er hat sich wie ein Wahnsinniger über diese Sachen hergemacht und sie zerstört.«
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Sphinx nickte und bückte sich nach einer der Stangen. Er versuchte, sie zu verbiegen, aber sie gab nicht um einen Millimeter nach. Seine Furcht wuchs noch. Er ahnte, daß er auf irgend etwas Ungeheuerliches gestoßen war, aber er fürchtete sich gleichzeitig davor, die endgültige Wahrheit in Erfahrung zu bringen. Die Eisenstange fiel klirrend zu Boden. »Wer sind Sie, Tervor Aretosa?« stieß er hervor.
4. Vor ein paar Tagen hatten Keith Essex und Jacco Carragitrio den Jachthafen von Lissabon an Bord der BENOR verlassen. Das hochseefeste Schiff war mit modernen Steuer und Navigationsinstrumenten ausgerüstet, aber die Hochseefischerei, eine Leidenschaft der beiden Männer, wurde ohne technische Hilfsmittel (mit Ausnahme der Angeln) durchgeführt. Die Jagd nach Fischen mit elektronischen oder positronischen Spürgeräten und Schockwaffen war längst verpönt und verboten; auf der Erde gab es kaum noch Menschen, die nicht begriffen hatten, wie wichtig die Fischbestände waren, um das ökologische Gleichgewicht auch in den Meeren zu bewahren. Ihrem Wesen und ihrer Herkunft nach waren Essex und Carragitrio zwei völlig unterschiedliche Männer. Der dunkelhaarige und lebhafte Portugiese, der in Lissabon eine große Weinstube besaß, war das genaue Gegenstück zu dem stillen Ingenieur aus dem europäischen Bundesland Großbritannien. Wenn das gute Wetter anhielt, würde die BENOR in wenigen Stunden die ersten Azoreninseln anlaufen. Bei strahlendem Sonnenschein lag Carragitrio nur mit einer Hose bekleidet auf dem Vordeck und spielte auf seiner alten Mandoline. Essex bereitete in der Kombüse das Essen zu. Die BENOR wurde vom Robotsteuermann gelenkt. Nach einer Weile unterbrach Carragitrio sein Spiel, hob den Kopf und schnupperte.
Er begab sich zum Kabinenabgang. »Das riecht verführerisch«, erklärte er. »Wenn der Kapitän nichts dagegen einzuwenden hat, werde ich eine gute Flasche portugiesischen …« Seine Stimme erstarb. Er richtete sich bolzengerade auf. Ein seltsamer, alles umfassender Blitz schien über das Meer zu huschen. Es war, als hätte jemand einen gigantischen Wischer betätigt, um eine den Horizont bedeckende Schmutzschicht für den Bruchteil einer Sekunde zu entfernen und die dahinter liegende strahlende Helligkeit sichtbar werden zu lassen. Der wie erstarrt dastehende Carragitrio hatte ein solches Phänomen niemals zuvor erlebt, obwohl er sich seit seiner frühesten Kindheit oft auf hoher See aufgehalten hatte. Auch im Jahre 2648 gab es abenteuerliche Geschichten von unheimlichen Vorfällen auf den Weltmeeren, aber Carragitrio hatte sie nie besonders ernst genommen. In ihrer Phantasie bildeten sich Seeleute oft absonderliche Dinge ein. Es muß in meinem Kopf gewesen sein! dachte der Portugiese. Plötzlich bemerkte er, daß die BENOR den Kurs wechselte. Steine Starre fiel von ihm ab. »He!« rief er in den Abgang hinein. »Hast du den Robotsteuermann anders programmiert?« Essex steckte den Kopf aus der Kombüse. Er hatte ein Messer in der einen und eine Knoblauchzehe in der anderen Hand. »Was?« fragte er irritiert. Carragitrio schüttelte den Kopf und begab sich in den Steuerraum. Er warf einen Blick auf die Instrumente und bekam einen fürchterlichen Schrecken. Sie zeigten eine Position an, wo die BENOR sich nie und nimmer befinden konnte. Carragitrio begann zu zittern, denn sofort brachte er den gerade erlebten Zwischenfall mit dem Verhalten der Steueranlage in Zusammenhang. Er warf sich auf einen Sitz und schaltete
18 das Bordsprechgerät ein. »Keith!« sagte er rauh. »Da ist etwas passiert! Die Instrumente spielen verrückt. Es ist besser, wenn du jetzt heraufkommst.« »Hast du irgend etwas verstellt?« wollte der Ingenieur wissen. Carragitrios Stimme überschlug sich fast: »Komm herauf, Keith!« Wenige Augenblicke später tauchte Essex in der Steuerzentrale auf. »Hast du den Kurs geändert?« fuhr er Carragitrio an. »Wir bewegen uns ja in südöstlicher Richtung, und wenn …« Sein Blick war auf die Anzeigen der Kontrollen gefallen, und er brach mitten im Satz ab. »Das ist ja nicht möglich!« stieß er hervor. Carragitrio sah ihn an. »Was hältst du davon?« Essex überprüfte die Instrumente. »Der Robotsteuermann funktioniert einwandfrei. Es gibt auch keinerlei Fehleranzeige. Das kann einfach nicht möglich sein.« »Was tun wir jetzt?« erkundigte sich der Schwarzhaarige. »Kein Problem!« bemerkte Essex. »Wir orientieren uns nach der Sonne. Ich werde sofort den Kurs ändern.« Er merkte, daß sein Freund ihn zögernd ansah. »Was gibt es noch?« »Oh, es ist sicher ganz unbedeutend, aber bevor ich hierher kam, gab es einen gewaltigen Blitz über dem Meer. Jedenfalls sah es so aus – oder so ähnlich.« »Eine atmosphärische Entladung«, überlegte Essex leise. »Das könnte die Erklärung sein. Vielleicht hat uns zufällig auch ein Satellitenimpuls getroffen, obwohl das ein kaum erklärbarer Zufall wäre.« Er ließ sich vor der Funkanlage nieder. »Auf jeden Fall werde ich einen Bericht durchgeben. Vielleicht sind noch andere Schiffe betroffen und es ist besser, wenn die Hafenstationen wissen, was geschehen ist.« Der Brite machte sich am Funkgerät zu schaffen. Gleich darauf ließ er sich im Sitz zurücksinken. »Irgend etwas nicht in Ordnung?« erkun-
William Voltz digte sich Carragitrio ahnungsvoll. »Wir bekommen keine Verbindung!« Carragitrios Augen weiteten sich. »Aber das ist doch unmöglich! Das gibt es doch nicht!« »Es ist aber so«, beharrte Essex. »Außerdem bekomme ich keinen einzigen Sender rein.« In diesem Augenblick veränderten sich die Lichtverhältnisse im Steuerraum. Das durch die Fenster hereinkommende Sonnenlicht bekam einen fahlen, unwirklichen Schein. Die beiden Männer sahen sich an, keiner sagte etwas. Essex stand langsam auf und trat auf das Vorderdeck hinaus. Er blickte zum Himmel hinauf. Er war wolkenlos, trotzdem sah die Sonne seltsam verzerrt aus, als sollte sie jede Sekunde erlöschen. Das Meer war ruhig, es gab kaum nennenswerten Wellengang, und die BENOR schien sich mit bleierner Schwere durch das Wasser zu bewegen. »Unheimlich«, flüsterte Carragitrio, der seinem Freund gefolgt war. Der andere antwortete nicht, sondern fuhr fort, die Sonne zu beobachten. Schließlich sagte er: »Wir können uns auch nicht an der Sonne orientieren.« »Und warum nicht?« krächzte der Portugiese. »Du hast doch gesagt, daß du den Kurs bestimmen könntest.« »Die Sonne steht nicht da, wo sie stehen sollte.« Auf Carragitrios Gesicht erschien ein ungläubiges Lächeln, aber nur kurz, dann machte es dem Ausdruck unverhohlener Angst Platz. Der Schwarzhaarige taumelte zur Reling und starrte auf das Meer hinaus. »Wir müssen hier weg!« schrie er. »Und wohin?« erkundigte sich Essex trocken. »Aber das … das ist doch Wahnsinn! Wie kann so etwas geschehen?« »Wir müssen warten, bis es vorüber ist«, wich Essex aus. Carragitrio umklammerte mit beiden Händen so fest die obere Querstange der Reling,
Das neue Atlantis daß die Knöchel weiß hervortraten. »Weißt du, woran ich denken muß?« murmelte er. »An den verbrannten Fisch unten in der Kombüse«, versuchte Essex zu scherzen. »Nein!« Carragitrio schüttelte den Kopf. »Du weißt ja, was in letzter Zeit über Atlantis erzählt wird. Auch in meiner Weinstube wird darüber diskutiert. In Lissabon hat sich eine Interessengemeinschaft gegründet und beschäftigt sich mit diesen Dingen. Wir befinden uns in dem Gebiet, wo einst Atlantis untergegangen ist. Atlan hat das in dem Bericht der Regierung noch einmal erwähnt.« »Hör auf zu spinnen!« sagte Essex ärgerlich. »Es wird für alles eine plausible Erklärung geben.« Er begab sich auf die andere Seite des Decks und blickte aufs Meer hinaus. Sein Mund öffnete sich, aber er brachte keinen Ton hervor. Das Blut wich aus seinem Gesicht. Langsam hob er einen Arm und deutete auf die Wasseroberfläche. Carragitrio, der die Bewegung sah, kam schwankend auf ihn zu. »Mein Gott!« rief er aus, als er sah, was Essex entdeckt hatte. Das Meer schräg vor der BENOR war eine weiße strahlende Fläche, als gehe die Sonne darin auf. Es war keine Wellenbewegung mehr zu sehen. Über dem Wasser bildete sich eine fluoreszierende Luftschicht. Die BENOR glitt genau auf dieses Gebiet zu. Essex fuhr herum und stürmte in den Steuerraum. Er schaltete die automatische Anlage ab. »Volle Kraft zurück!« schrie er. »Wir müssen hier weg.« Nach einer Weile sanken seine Schultern schlaff herab, sein Gesicht bekam einen Ausdruck unnatürlicher Starre. »Es reagiert nicht«, sagte er gefühllos. »Die BENOR läßt sich nicht mehr steuern. Wir treiben genau auf dieses leuchtende Gebiet zu.« Da begann Carragitrio wie ein Wahnsinniger zu brüllen. Essex konnte ihn nicht ver-
19 stehen und trat wieder ins Freie. Dort, wo die Bugspitze der BENOR hinwies, war ein gewaltiger Strudel im Entstehen begriffen. Carragitrio verstummte plötzlich. Es war völlig windstill. Der Himmel sah jetzt wie ein straff gespanntes weißes Leinentuch aus und die Sonne wie eine dunkelrote Kupferscheibe. Unwirklich! dachte Essex wie betäubt. Alles ist unwirklich! Es war, als sollte die gesamte reale Umgebung zurückgedrängt werden, zugunsten von etwas Bedrohlichem und Ungeheuerlichem. Carragitrio stieß einen unartikulierten Schrei aus und sprang über Bord. Das geschah so schnell und unerwartet, daß Essex keine Zeit zum Eingreifen blieb. Der Portugiese tauchte lautlos im Meer unter. Als er wieder auftauchte, nur für einen kurzen Augenblick, hielt er die Augen geschlossen, und sein Gesicht wirkte entspannt. Dann verschwand er endgültig, ohne eine sichtbare Schwimmbewegung zu machen. Essex spürte, daß sein Herz bis zum Hals hinauf schlug. Er bekam fast keine Luft mehr. Panikartige Furcht bemächtigte sich seiner. Das Gurgeln des Schlundes war jetzt deutlich zu vernehmen, es hörte sich an wie das Schmatzen eines riesigen Tieres. Die BENOR wurde immer schneller, sie bewegte sich genau auf das Zentrum des Schlundes zu. Essex wankte in den Steuerraum und nahm wieder vor der Funkanlage Platz. Er schaltete die Notrufanlage ein. »Mayday!« rief er. »Mayday! Hier ist das Hochseesportboot BENOR.« Er verstummte erst, als ein knirschendes Geräusch durch den Rumpf des Schiffes ging. Als er sich aufrichtete, sah er, daß die BENOR sich an der Innenwand eines ausgedehnten Wasserkreisels befand. Dann brach das Schiff auseinander, und seine Trümmer wurden zusammen mit dem verbliebenen Passagier in die Tiefe gezogen. Die BENOR war das erste von einem hal-
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ben Dutzend Schiffen, die in den nächsten Wochen auf ähnliche Weise verschwinden sollten.
5. »Wer ich bin?« Aretosa schien durch Sphinx hindurchzublicken, in unbekannte Fernen. Sein düsteres Gesicht bekam jetzt einen fast träumerischen Ausdruck. »Ein Heimatloser – vielleicht.« Sphinx fühlte, daß der hagere Mann Schwäche zeigte, und er hielt den Zeitpunkt für gekommen, weiter in ihn zu dringen und ihm die vollständige Wahrheit zu entlocken. »Reden Sie!« forderte er Aretosa auf. »Es wird Ihnen alles leichter machen.« Doch da war dieser kurze Augenblick, da eine Verständigung möglich schien, schon wieder vorüber. Aretosas Lippen wurden noch härter, als er sie so fest aufeinanderpreßte, daß das Blut aus ihnen zurückwich. Er drehte sich langsam um. Unwillkürlich blickte Sphinx auf die blank polierte Stahltür, in der sich jetzt Aretosas Spiegelbild abzeichnete. Neues Entsetzen überkam ihn, als er sah, daß dort anstelle zweier Augen nur zwei dunkle Löcher zu erkennen waren. Aretosa bemerkte, was vorging, und wandte sich schnell ab. Sphinx zitterte heftig. War er einer Halluzination zum Opfer gefallen? »Ihre Augen!« stöhnte er auf. »Ihr Spiegelbild hat keine Augen!« »Lächerlich!« gab Aretosa zurück. »Zügeln Sie Ihre Phantasie.« »Dann beweisen Sie es!« forderte der USO-Spezialist. »Treten Sie vor einen Spiegel, damit ich Ihr Gesicht darin betrachten kann.« »In diesem Haus«, sagte Aretosa, »gibt es keine Spiegel.« »Sie sind überhaupt kein Mensch!« Sphinx würgte die Worte hervor. »Sie sind irgend etwas anderes, ein Monstrum.« Aretosa schlug ihm ins Gesicht, ohne daß
die Bewegung im Ansatz zu erkennen gewesen wäre. Der Hieb warf Sphinx zurück und schleuderte ihn gegen die stählerne Tür. Er spürte, daß seine Lippen aufplatzten. Sein Nasenbein war gebrochen. In diesem lässig ausgeführten Schlag hatte unvorstellbare Kraft gesteckt. Aretosa sah ihn an. »Niemand nennt mich ein Monstrum«, sagte er beherrscht. Sphinx wischte sich mit dem Handrücken über sein blutendes Gesicht. Er blieb gegen die Tür gelehnt. Dann sah er, daß der Matten-Willy auf Aretosa zuglitt, um ihn anzugreifen. »Nicht, Purflinth!« stieß er hervor. »Laß ihn in Ruhe!« Das Plasmawesen hielt inne. »Sie können sich oben waschen«, bot Aretosa dem USO-Spezialisten an. »Sie können froh sein, daß ich kurz vorher in diesem Raum gearbeitet habe, sonst hätte ich Sie wahrscheinlich umgebracht.« Sphinx zweifelte keinen Augenblick daran, daß diese Worte ernst gemeint waren. »Lassen Sie mich in Ruhe«, fuhr Aretosa fort. »Sagen Sie Ihren Auftraggebern, daß sie mir nicht nachstellen sollen. Wenn es an der Zeit ist, werde ich mich mit Atlan in Verbindung setzen.« Sphinx wagte nicht, weitere Fragen zu stellen. Gefolgt von Purflinth und Aretosa ging er die Kellertreppe hinauf. Aretosa zeigte ihm das Badezimmer und gab ihm ein Tuch. Sphinx tränkte es mit Wasser und kühlte sein geschwollenes Gesicht. »Ein Whisky würde ihm helfen«, bemerkte Purflinth, der offenbar vor nichts zurückschreckte. »Ich habe keinen Alkohol im Haus«, erwiderte Aretosa. »Ich trinke nicht.« Sphinx tupfte sich das Blut aus dem Gesicht. Er fühlte dumpfen Haß auf Aretosa, wußte aber, daß er ihm nichts anhaben konnte. Der Thermostrahler in seiner Tasche fiel ihm ein, aber er hütete sich, ihn zu ziehen. Aretosa würde ihn niederschlagen, bevor er die Waffe in Anschlag gebracht hatte.
Das neue Atlantis »Lassen Sie uns gehen?« erkundigte er sich, nachdem er sein Gesicht gesäubert hatte. »Ja«, sagte Aretosa. Getrieben von dem Wunsch, dem anderen Schaden zuzufügen, drohte Sphinx trotzig: »Ich werde diesen Zwischenfall melden! Man wird Sie verhaften.« »Ja«, sagte Aretosa abermals. Dann, nach einer nachdenklichen Pause. »Ich gehe weg von hier.« »Man wird Sie finden!« »Nur, wenn ich will«, erklärte Aretosa unbeeindruckt. Sphinx wandte sich an seinen Begleiter. »Purflinth, du mußt deinen Körper in Ordnung bringen. Wir werden diese Wohnung jetzt verlassen.« Als der Matten-Willy wieder wie ein richtiger Mensch aussah, ging Sphinx mit ihm zur Wohnungstür. »Ich gebe Ihnen einen guten Rat«, klang Aretosas Stimme noch einmal auf. »Lassen Sie sich in den Weltraum versetzen, meinetwegen auch auf einen anderen Planeten.« »Ich verzichte auf Ihre Ratschläge!« Sphinx' Stimme klang undeutlich. Es tat ihm weh, die Lippen zu bewegen. »Sie werden daran denken!« prophezeite Aretosa, dann schob er Sphinx und dessen extraterrestrischen Begleiter hinaus und schlug die Tür hinter ihnen zu. Sphinx holte tief Atem, er hatte ein Gefühl, als wäre er gerade von einem Alptraum erlöst worden. Dort drinnen im Haus hatte er sich wie auf einer fremden Welt gefühlt, nun kehrte er in seine vertraute Umgebung zurück. Beinahe mechanisch setzte er sich in Bewegung, stieg die Treppe hinab und durchquerte den Vorgarten. »Die Tür ist jetzt offen«, kam Aretosas Stimme aus dem Bildsprecher im Torpfosten. Sphinx öffnete und trat auf die Straße. »Du gibst auf?« fragte Purflinth überrascht. »Ja!«
21 »Aber du hast doch eine Waffe! Warum gehst du nicht hinein und nimmst ihn fest?« »Es geht nicht«, sagte Sphinx bedrückt. »Ich kann es nicht. Es würde mir nicht gelingen. Wahrscheinlich würde er uns beide umbringen, wenn ich es versuchte.« Purflinth trottete schweigend neben ihm her. Sphinx war so in Gedanken vertieft, daß er nicht, wie es seine Gewohnheit war, ab und zu auf das Aussehen des Matten-Willy achtete. Schließlich brach Purflinth das Schweigen. »Er ist geisteskrank, nicht wahr?« »Aretosa? Bestimmt nicht! Aber ich bin fest davon überzeugt, daß er kein Mensch ist. Wahrscheinlich stammt er nicht von dieser Welt.« Sie kamen an einer öffentlichen Visiphonzelle vorbei. Sphinx ging hinein und hielt die Tür offen, damit Purflinth ihm folgen konnte. Dann drückte er die Nummer der USO-Zentrale in Terrania.
* Allan D. Mercant sah, daß die Anzeige über der Rohrpostöffnung aufglühte, und erhob sich. »Das Bild scheint fertig zu sein«, sagte er zu den beiden SolAb-Agenten, die sich in seinem Büro aufhielten. »Sie haben beide gute Arbeit geleistet. Wir wissen, was Casneur der Öffentlichkeit präsentieren wird.« Er öffnete die Klappe und nahm eine große Fotografie heraus. Dann hielt er das dreidimensionale Bild hoch und zeigte es den beiden Männern. »Ist es das?« »Ja«, bestätigte einer seiner Mitarbeiter. Mercant begab sich zum Schreibtisch und legte das Foto vor sich auf die Leuchtplatte, um es sorgfältig zu betrachten. Es zeigte das Bruchstück eines größeren metallischen Gegenstands von dunkelgrauer Farbe mit schwarzen Bildsymbolen und fremdartigen Schriftzeichen. Der abgebildete Gegenstand war etwa
22 vierzig auf zwanzig Zentimeter groß, die Dicke mochte fünf Zentimeter betragen. Auf der linken Seite war der Bruch unregelmäßig. Am oberen Rand war das Gebilde fast glatt, wenn man von einer zackigen Erhöhung ganz rechts einmal absah. Unter dieser Erhöhung führte ein gerippter Wulst bis kurz vor die untere Bruchstelle. Rechts neben dem Wulst befanden sich ein paar Auswüchse mit gerade noch sichtbaren Schriftzeichen. Das Interessanteste jedoch waren zweifellos vier quadratische Bildsymbole inmitten der Hauptfläche. Sie zeigten von links nach rechts ein menschliches Gesicht mit einem Strahlenkranz, eine Art Landkarte, eine Sonne und sechs Blitze. Die primitiv wirkenden Bilder waren mit einer aus Rechtecken bestehenden Linie verbunden. Eine Hieroglyphenzelle verlief über den Bildern, zwei weitere darunter. Vom fünften Bild ganz links war nur der äußere Rand zu sehen, alles andere war dem Bruch zum Opfer gefallen. Mercant hob den Kopf. »Das Ding, das wir fotografiert haben, besteht aus Guß und wiegt etwa fünf Pfund«, sagte einer der beiden SolAb-Agenten. Mercant nickte und griff nach dem Laborbericht, der zusammen mit dem Foto in der Rohrpost gelegen hatte. »Das Gebilde ist natürlich eine Fälschung. Die untersuchten Materialproben haben ergeben, daß es erst vor ein paar Tagen hergestellt worden ist«, sagte er. »Casneur wird natürlich behaupten, daß es sich um ein uraltes Artefakt handelt.« »Ja«, bestätigte der Mann, der kurz zuvor gesprochen hatte. »Delk Massar hat es für Casneur gekauft. Bisher konnten wir nicht herausfinden, wer es ihm angedreht hat. Der Verdacht liegt nahe, daß Massar dieses Ding selbst hergestellt hat, um den Propheten um ein paar tausend Solar zu erleichtern.« »Wurden Sie beobachtet, als Sie in Casneurs Wohnmobil eindrangen, um zu fotografieren und die Materialprobe zu nehmen?« »Nein«, der Agent lächelte. »Casneur hat-
William Voltz te seine Anhänger gerade im Zelt versammelt, und Massar war unterwegs. Unter diesen Umständen hatten wir leichte Arbeit.« »Gut«, nickte Mercant. »Bleiben Sie weiter in Casneurs Nähe und berichten Sie mir, wie er dieses Artefakt für seine Zwecke einsetzt.« Die beiden Männer verließen das Büro. Mercant widmete sich wieder dem Foto. Obwohl es ohne jeden Zweifel eine Fälschung zeigte, beschäftigte es ihn. Der Anblick löste seltsame Gefühle und Ahnungen in ihm aus. Er fragte sich, ob seine latenten parapsychologischen Fähigkeiten dafür verantwortlich sein mochten. Ein phantastischer Gedanke breitete sich in ihm aus. Was, so fragte er sich, wenn der Gegenstand in Casneurs Besitz nur ein Duplikat war? Womöglich existierte ein Original! Dieses konnte tatsächlich uralt und fremdartig sein. Mercant lehnte sich zurück und schloß die Augen. Sollte er Perry Rhodan und Atlan benachrichtigen? Er wog das Für und Wider gegeneinander ab. Vielleicht machte er sich zum Narren, wenn er diesem Ding eine Bedeutung beimaß. Andererseits konnte er sich im allgemeinen auf seine Ahnungen verlassen. Als er sich wieder aufrichtete, war er entschlossen, das Foto von Sachverständigen untersuchen zu lassen. Sollte auch nur der geringste Verdacht bestehen, daß es ein Original gab, würde Mercant weitere Schritte in die Wege leiten. Er dachte daran, daß Foto von NATHAN überprüfen zu lassen.
* Atlan sah dem kleinen USO-Spezialisten mit einer Mischung von Sympathie und Interesse entgegen. Er ging auf ihn zu und schüttelte ihm die Hand. »Sie sind also Carmel Sphinx!« stellte er
Das neue Atlantis fest. Er warf einen Blick in das Gesicht des Spezialisten. »Sie sehen noch ein bißchen ramponiert aus.« Sphinx errötete. »Daran ist Aretosa schuld, Lordadmiral! Er muß eine Hand aus Stahl haben.« »Wollen Sie andeuten, daß er ein Roboter sein könnte?« »Er ist bestimmt kein Roboter, Sir!« ereiferte sich Sphinx. »Aber er ist auch kein Mensch, dessen bin ich sicher.« Atlan hatte den USO-Spezialisten allein empfangen, denn er wollte nicht, daß Sphinx sich durch die Anwesenheit vieler USOOffiziere belastet fühlte. Er wollte ein zwangloses Gespräch mit Sphinx führen, um möglichst viel über diesen geheimnisvollen Aretosa zu erfahren. Er lud Sphinx ein, in einem Sessel Platz zu nehmen. »Soll ich einen Kaffee kommen lassen?« »Einen Whisky!« sagte Sphinx spontan. Er leckte sich die Lippen und fügte entschuldigend hinzu. »Diese Angewohnheit kommt vom ständigen Umgang mit diesem MattenWilly.« Atlan bestellte das Getränk und nahm gegenüber Sphinx Platz. »Wir hätten Aretosa gern für seinen Angriff auf einen USO-Spezialisten belangt«, räumte er ein. »Aber wir haben ihn nicht erwischt. Obwohl ein USO-Kommando zusammen mit SolAb-Agenten schon wenige Minuten nach Ihrem Anruf bei Aretosas Haus eintraf, konnten wir ihn nicht mehr festnehmen. Er war spurlos verschwunden.« Sphinx sah auf. »Sie glauben mir doch hoffentlich?« »Aber ja«, versicherte Atlan. »Wir haben die Aussagen von Klement und Aretosas Nachbarn. Außerdem haben wir dieses Stahlbad im Keller gefunden.« »Stahlbad!« bekräftigte Sphinx zufrieden. »Das ist der richtige Ausdruck.« »Wir haben Erkundigungen eingezogen«, berichtete Atlan. »Es gibt bei keiner offiziellen Behörde Unterlagen über einen Tervor Aretosa, dieser Name ist also offensichtlich
23 eine Fälschung.« »Werden Sie ein Fahndungsblatt mit Bild herausgeben?« Atlan schüttelte den Kopf. »Dazu sind die Vergehen dieses Mannes nicht schwerwiegend genug. Sie wissen, daß die USO eine autarke Organisation ist, die sich in erster Linie um kriminelle Vereinigungen außerhalb der Erde kümmert. Auf der Erde sind wir zwar geduldet, aber nicht beliebt. Ich habe keine Lust, mich wegen dieser Angelegenheit mit Bürgerrechtskommissionen anzulegen. Wir finden Aretosa auch so. Außerdem hat er Ihnen zugesichert, daß er sich mit mir in Verbindung setzen würde.« »Sobald er den richtigen Zeitpunkt für gekommen hält«, stimmte der kleine Mann zu. Ein Sekretär kam herein und brachte ein Tablett mit einer Karaffe und zwei Gläsern. Atlan bedankte sich, schickte den Mann wieder hinaus und goß selbst ein. Sphinx sah sich um und bemerkte bewundernd: »Das ist ein wunderschönes Büro, Lordadmiral.« »Ja«, sagte der Arkonide. »Arkonidische Möbel. Sie erwähnten in Ihrem Bericht die Sache mit den Augen, die im Spiegelbild nicht sichtbar waren.« »Ich weiß, daß es verrückt klingt«, sagte Sphinx leise. »Aber ich habe mich nicht getäuscht.« »Aretosa hat tiefliegende Augen, Carmel. Wahrscheinlich lagen diese Augen im Schatten, so daß sie im Spiegelbild nicht sichtbar wurden.« Sphinx beugte sich im Sitz vor. »Daran habe ich bereits gedacht, aber das war es nicht.« Atlan erhob sich und ging zum Schreibtisch. Er ergriff ein Bild und zeigte es seinem Besucher. »Wir haben nach Ihren und Klements Angaben ein Bild anfertigen lassen.« Sphinx betrachtete das Bild lange. Schließlich nickte er zögernd. »Das ist er! Aber auf diesem Bild ist ein menschliches Gesicht zu sehen. Aretosa ist
24 kein Mensch. Auf diesem Bild fehlt diese Aura des Unheimlichen.« Atlan hob sein Glas und trank dem USOSpezialisten zu. Dieser Sphinx schien ein vernünftiger Mann zu sein. Atlan hatte die Akte des Spezialisten kommen lassen. In seiner Laufbahn hatte Sphinx noch nie einen gravierenden Fehler gemacht. Seine Berichte waren stets sachlich und begründet gewesen. Sphinx war weder überspannt noch esoterisch veranlagt. Er trank mäßig, rauchte nicht und nahm keine Drogen. Seine Urteilskraft war bei allen seinen Vorgesetzten unbestritten. Sollte sie ihn diesmal im Stich gelassen haben? »Was halten Sie von Aretosas seltsamen Wetten?« erkundigte sich Atlan. »Sie werden es noch nicht wissen, aber der erste Teil seines jüngsten Wettangebots hat sich erfüllt. Casneur, der Prophet der Ewigen Atlanter hat seinen Anhängern heute ein Artefakt präsentiert, auf das Aretosas Prophezeiung zutreffen könnte. Allerdings handelt es sich um einen neu angefertigten Gegenstand, und wir wissen noch nicht, ob es ein altes Original gibt.« Er zeigte Sphinx die Fotokopie jener Aufnahme, die sich noch in Mercants Besitz befand. Sphinx betrachtete das Bild lange, dann deutete er auf das linke Quadrat in der Grundfläche. Dort waren die Umrisse eines Kopfes mit einem Strahlenkranz eingraviert. »Löcher anstelle von Augen«, sagte er tonlos. Atlan runzelte die Stirn. »Jede Maske sieht so aus, mein Freund! Das besagt überhaupt nichts.« Es war leicht festzustellen, daß Sphinx noch immer unter dem Eindruck des Erlebten stand. Atlan füllte die beiden Gläser neu. »Ich möchte, daß Sie mir noch einmal in allen Einzelheiten erzählen, was sich ereignet hat. Natürlich habe ich Ihr Protokoll gehört und mehrfach gelesen. Aber ich möchte, daß Sie mir noch einmal einen Bericht
William Voltz geben. Schildern Sie vor allem Ihre Eindrücke.« Sphinx stellte das Glas so vorsichtig auf das Tablett zurück, als sei es besonders zerbrechlich. »Sie haben doch selbst gesagt, daß diese Geschichten über Atlantis absurd sind«, sagte er nervös. »Denken Sie jetzt etwa, daß Aretosas letzte Prophezeiung sich erfüllen und Atlantis am dreißigsten August auftauchen wird?« »Keineswegs! Ich habe den Untergang von Atlantis miterlebt. Es gibt nicht den geringsten Hinweis dafür, daß es wieder auftauchen könnte. Das ist völlig unmöglich.« Er hatte nicht den Eindruck, daß er seinen Besucher mit dieser Behauptung besonders beruhigte. Sphinx begann stockend zu berichten, aber allmählich schien er die Anwesenheit seines berühmten Gastgebers zu vergessen, und er sprach offen und ohne Hemmungen über seinen letzten Auftrag.
* Carel Czibor von der meteorologischen Station auf der Azoren-Insel Terceira war zwar kein pedantischer, aber dafür ein sehr gründlich arbeitender Mann. Er gehörte zu den Meteorologen, die in einer weltweit gespannten Kette von Kontrollanlagen arbeiteten und jene Satelliten beobachteten, die für das Klima auf der Erde verantwortlich waren. Seit der Einführung der totalen Wetterkontrolle war dies eine verantwortungsvolle Aufgabe, denn ein noch so geringfügig erscheinender Fehler in diesem geschlossenen System konnte in letzter Konsequenz dazu führen, daß dort ein Tornado losbrach, wo die Menschen einen normalen Regentag erwarteten. Zu Czibors Arbeiten gehörte unter anderem das Überprüfen jener Aufnahmen von Satellitenfotos, die ständig an die Station auf Terceira gefunkt wurden. Alle Aufnahmen wurden auf vorgefertigte Rasterbilder gelegt, so daß eine Unregelmä-
Das neue Atlantis ßigkeit sofort auffallen mußte. Als Czibor diesmal das Satellitenbild der Azorengruppe in den Lichtbildapparat schob, reagierte der Computer sofort und markierte die Stelle, wo etwas Ungewöhnliches zu sehen war, mit einem Leuchtpfeil. »Ich glaube, ich träume«, sagte Czibor. Er hatte unwillkürlich laut gesprochen und seinen Mitarbeiter Olav Kondall aufmerksam gemacht. »Was hast du denn?« erkundigte sich Kondall. »Hat dir Petrus mit dem Zeigefinger gedroht?« Czibor deutete mit seinem Iridiumschreiber auf die bedrohlich erscheinende Stelle. »Da! Sieh dir das an! Wir haben uns also doch nicht getäuscht, als wir die Emission angemessen haben. Südlich von hier ist irgend etwas passiert, eine Explosion oder so.« Kondall machte einen erfolglosen Versuch, sein kurzes Hemd so in den Hosenbund zu stopfen, daß es dort blieb. Dann kam er herüber, um sich das Bild anzusehen. »Ein Bildfehler!« meinte er. »Es gibt nichts, was so aussehen könnte.« Czibor schaute seinen korpulenten Mitarbeiter abschätzend an. »Es ist kein Bildfehler! Außerdem wäre uns das von der Satellitenpositronik sofort angezeigt worden. Wofür hältst du das?« Kondall wischte sich den Schweiß vom Gesicht, dann trat er nahe an die Tafel heran. »Ein weißer Fleck im Meer, ein strahlender Fleck mit einem dunklen Punkt im Zentrum.« »Das ist kein dunkler Punkt, sondern ein Strudel!« »Ach, hör doch auf!« rief Kondall. Czibor griff zum Visiphon, dann fiel ihm ein, daß jede Unregelmäßigkeit im normalen Wetterbild sofort vom Computer an die Kontrollzentrale gemeldet wurde – und diese befand sich auf Luna. NATHAN, der biopositronische Großrechner, war für die Integration aller klimatischen Abläufe verantwortlich. Vermutlich liefen dort bereits die Auswertungen, um den Grund für die Unre-
25 gelmäßigkeit herauszufinden. Czibor zog seine Hand zurück. »Wie hieß doch dieses als vermißt gemeldete Schiff?« wollte er wissen. Kondall brummte etwas Unverständliches und kramte in den zuletzt eingetroffenen Funknachrichten. Er zog ein Blatt hervor. »BENOR«, sagte er knapp. »Finde die ungefähren, zuletzt bekannt gewordenen Positionsdaten heraus«, befahl Czibor. »Ich möchte ein Rasterbild davon haben und es über diese Aufnahme legen.« »Hast du einen Film gesehen?« erkundigte sich Kondall und begann mit der Arbeit. Als Czibor nicht antwortete, fügte er hinzu: »Du denkst, daß die BENOR explodiert sein könnte. Der weiße Fleck könnte die Explosionsstelle markieren.« Kondall reichte ihm die Rasterbildschablone, die der Computer gerade ausgespien hatte. Czibor legte sie über die beiden anderen Aufnahmen. Er sah seinen Mitarbeiter triumphierend an, dann pochte er mit seinem Stift auf die Stelle, wo der weiße Fleck sich abzeichnete. »Die letzte Position der BENOR muß hier gewesen sein! Oder ganz in der Nähe.«
6. Drei Wochen später »Solarmarschall Julian Tifflor«, quäkte die Robotstimme. »Staatsmarschall Reginald Bull und der Regierende Lordadmiral der USO – Atlan.« Perry Rhodan blickte nur kurz von seinem Schreibtisch auf. Mercant, Waringer und John Marshall, der Chef des Mutantenkorps, waren bereits im Konferenzzimmer eingetroffen. »Sie sollen reinkommen!« sagte Rhodan unwillig. »Seit wann bedürfen sie einer Sondereinladung.« Die Tür wurde spaltbreit geöffnet, und Reginald Bull streckte seinen kantigen Kopf mit den kurzgeschorenen Haaren herein. Er grinste breit.
26 »Eine reine Vorsichtsmaßnahme«, erklärte er. »Wir wußten, daß du eine Delegation dieser Atlantis-Spinner zu Besuch hattest, und wollten sicher sein, daß sie bereits gegangen sind.« Die Tür wurde vollständig geöffnet, und Bull trat, flankiert von Atlan und Tifflor, ins Zimmer. »In diesem Fall kann ich diese Vorsicht noch verstehen«, meinte Rhodan. »Der Kristallprinz aber täte besser daran, sich um diese Dinge zu kümmern.« Atlan sah seinen terranischen Freund abschätzend an. »Ich weiß, daß der innenpolitische Einfluß dieser Sekten in den letzten Wochen stark gewachsen ist. Du wertest sie aber noch auf, indem du ihre Sprecher empfängst.« »Sie werden durch die äußeren Umstände aufgewertet«, verteidigte sich Rhodan. »Fünf Boote sind im Atlantik spurlos verschwunden, und es gibt Hinweise auf geheimnisvolle Energieausbrüche im Bereich der Azoren. Casneur präsentiert der Öffentlichkeit ein Artefakt, in dem ein uralter Text eingraviert ist, und der Mann, der das alles prophezeite, Tervor Aretosa, ist selbst mit Hilfe des Mutantenkorps noch immer nicht gefunden worden. Atlantis beherrscht die Titelseiten der Zeitungen.« Obwohl er leise gesprochen hatte, wirkte er erregt. »Der, den das alles angeht, hält sich zurück«, fuhr er fort. »Ja, es bedurfte einiger Überredungskunst, ihn davon abzuhalten, Terra zu verlassen.« »Mir geht dieser Rummel auf die Nerven«, gestand Atlan. »Jedermann hält mich für kompetent, Kommentare und Erklärungen zu diesem Thema abzugeben. Dabei weiß ich nicht mehr als andere. Ich kann nur immer wieder betonen, daß es keine Erneuerung von Atlantis geben wird.« »Sind wir deshalb zusammengekommen?« warf Bull ein. »Soll hier jeder seelischen Ballast loswerden?« Rhodan lächelte ihm zu.
William Voltz »Du hast recht, Dicker! Kommen wir zum Wesentlichen. Es geht um das Artefakt. Doch darüber soll Atlan berichten.« Solarmarschall Mercant, der stets ein bißchen zurückhaltend wirkende Chef der Solaren Abwehr, nickte bereitwillig und begab sich zu einem kleinen Tisch in der Nähe des Fensters, wo ein flacher Metallbrocken lag. »Sie kennen alle Bilder von diesem Artefakt«, erinnerte er. »Inzwischen haben wir dieses Modell anfertigen lassen, das eine ziemlich genaue Reproduktion des Gebildes ist, mit dem Roger Casneur auf Seelenfang geht.« Er ergriff das Gußstück und reichte es Waringer. Dann fuhr er fort: »Um völlig sicher zu sein, daß die ganze Geschichte ein Windei ist, habe ich diese Hieroglyphen von Sachverständigen prüfen lassen. Zu meiner Überraschung kamen sie zu dem Schluß, daß es sich um eine alte, uns bisher noch nicht bekannte Schrift handeln müsse.« Seine Worte lösten Unruhe aus. Atlan trat an Rhodans Schreibtisch und fragte protestierend: »Warum erfahren wir das erst jetzt?« »Das ist meine Schuld«, gestand Mercant verlegen. »Ich wollte keinen unnötigen Wirbel verursachen. Schließlich kann man eine solche Schrift auch erfinden, wenn man die nötigen Kenntnisse besitzt. Auf jeden Fall war ich alarmiert und gab die ganze Sache zu einer positronischen Auswertung an NATHAN.« »NATHAN hat diese Schriftzeichen entschlüsselt?« erriet Tifflor aufgeregt. »Zum Teil«, schränkte Mercant ein. »Wir haben eine sinngemäße Übersetzung, mit allen dazu gehörigen Vorbehalten. Perry, würden Sie den Text verlesen?« »Gewiß«, sagte Rhodan und ergriff eine vor ihm liegende Folie. »Ich zitiere: Im Verlauf von Jahrmillionen wurde dieser dritte Planet einer durchschnittlich großen gelben Sonne von mehreren globalen Katastrophen heimgesucht. Jede Sintflut wurde durch das Auftauchen oder den Untergang von Atlantis
Das neue Atlantis (NATHAN gebraucht für Atlantis die Bezeichnung Pthor) verursacht, und oft gingen dabei menschliche Hochkulturen unter. Auftauchen und Verschwinden von Pthor geschehen azyklisch und stehen in einem Zusammenhang mit der Entwicklung der jeweils auf der Erde vorherrschenden Zivilisation. Wir können …« Er unterbrach sich, denn bei den Zuhörern machte sich starke Unruhe bemerkbar. Alle bis auf Atlan redeten durcheinander. Der Arkonide hatte sich in einen Sessel niedergelassen und machte einen geistesabwesenden Eindruck. Rhodan argwöhnte, daß sein Freund überhaupt nicht zugehört hatte. »Das ist doch alles ausgemachter Blödsinn!« verschaffte Bully sich schließlich Gehör. »Atlantis als Langzeitwaffe gegen menschliche Hochkulturen. Das hat sich jemand ausgedacht, um die ganze Geschichte anzuheizen. Früher oder später wird Casneur uns diese Übersetzung präsentieren und sich als Retter der Welt bezeichnen.« Tifflor ging zu Atlan und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Sie wissen doch am ehestens, daß dies Unsinn ist!« Der Blick des Arkoniden blieb leer. »Zumindest für einen Teil stimmt diese Geschichte«, sagte er langsam. »Als Atlantis vor zehntausend Jahren unterging, wurde eine Sintflut ausgelöst. Ich habe es selbst erlebt.« »Das bestreitet ja auch niemand!« rief Waringer aufgebracht. »Aber hier ist von einer ständigen Wiederkehr des Kontinents die Rede.« Rhodan sprang auf und beugte sich über den Schreibtisch. »Das ist noch nicht alles! Vielleicht hören Sie sich den von NATHAN übermittelten Text zu Ende an.« Sofort trat wieder Stille ein. Rhodan sah seine Freunde und Vertrauten nacheinander an, dann sagte er betont: »Es ist nur noch ein Satz. Er lautet: Wir können davon ausgehen, daß ein neues Auftauchen von Atlantis unmittelbar bevorsteht und da-
27 mit der Untergang unserer Zivilisation.« Die Männer sahen sich betroffen an. Bully lachte unsicher. »Diese Horrorgeschichte beweist lediglich, daß sie von einem geschäftstüchtigen Menschen erdacht wurde. Ich glaube, wir sollten Casneur festnehmen. Wenn diese Dinge bekannt werden, kann es überall auf der Erde zu schweren Unruhen kommen.« »Diese Botschaft besagt doch, daß Atlantis jedesmal mit seiner zerstörerischen Kraft eingreift, wenn auf der Erde eine blühende Kultur entstanden ist«, gab John Marshall zu bedenken. »Immerhin gibt es in den Mythen der alten Völker viele Hinweise auf globale Katastrophen.« »Wäre es möglich, daß du damals irgend etwas übersehen hast, Alter?« wandte Rhodan sich an den Arkoniden. »Es handelte sich schließlich um einen ausgedehnten Kontinent. Wäre es nicht möglich, daß sich in einem abgelegenen Gebiet Dinge ereigneten, die dir entgangen sind?« »Möglich – aber sehr unwahrscheinlich!« lautete die Antwort. »Wir müssen uns Gedanken darüber machen, was nun zu tun ist«, sagte Perry Rhodan. »In den letzten Tagen hat die AtlantisHysterie einen neuen Höhepunkt erreicht. Aretosas Prophezeiung zum Zeitpunkt des Wiederauftauchens von Atlantis ist der Öffentlichkeit bekannt geworden. Die AtlantisAnhänger fiebern dem dreißigsten August entgegen.« Allan D. Mercant räusperte sich. »Nach all den Ereignissen in jüngster Zeit müssen wir tatsächlich davon ausgehen, daß das Solare Imperium bedroht wird«, sagte er unmißverständlich. »Natürlich glaubt niemand diesen Unsinn über Atlantis. Vielmehr habe ich den Verdacht, daß die allgemeine Hysterie von einer extraterrestrischen Macht geschürt wird. Fremde haben diesen raffinierten Plan entwickelt. Es gibt eine dunkle Macht im Hintergrund. Darauf müssen wir uns konzentrieren. Dieser Tervor Aretosa muß gefunden werden, denn er gehört zweifellos zu den Unbekannten, die den An-
28 schlag geplant haben. Wahrscheinlich erfolgt auf dem Höhepunkt der Krise ein Angriff auf die Erde.« An der nun folgenden Diskussion nahm Atlan nicht teil. Seine Gedanken waren weit in die Vergangenheit zurückgeeilt. Er versuchte, sich in allen Einzelheiten an das zu erinnern, was damals geschehen war. Larsaf III, wie die Arkoniden die Erde damals genannt hatten, war gründlich untersucht worden. Atlan dachte daran zurück, wie er an Bord der TOSOMA, einem Schlachtschiff der Imperiumsklasse, Atlantis zum erstenmal überflogen hatte. Die Insel war so groß gewesen, daß man sie eigentlich schon als Kontinent hatte bezeichnen können. Sie war oval und zweitausend Kilometer lang gewesen, schmale Landbrücken hatten sie mit den Kontinenten im Westen und Osten verbunden. Damals waren Tarts, Atlans alter Freund und Berater, und Atlan nur auf die Angehörigen einer primitiven Zivilisation gestoßen. Lediglich ein Stamm im Süden hatte Streitäxte aus Bronze, Lederschilde und Pfeil und Bogen benutzt; seine Mitglieder hatten die Intelligenzstufe A 5 besessen. Atlan verzog bei dem Gedanken an diese Menschen unwillkürlich das Gesicht. Wie konnten solche Wesen eine Bedrohung darstellen, auch wenn man voraussetzte, daß das Unglaubliche zutraf und Atlantis wieder auftauchte? Die Arkoniden hatten damals innerhalb von vier Jahren auf Atlantis eine Musterkolonie geschaffen und die braunhäutigen Eingeborenen viele Dinge gelehrt. Den Wilden waren die Arkoniden wie Götter erschienen. Mythen waren später aus diesem Besuch hervorgegangen, erinnerte sich Atlan. Vor allem einer seiner arkonidischen Freunde namens Inkar hatte sich als Namensgeber der Inkas erwiesen. Wenn es auf Atlantis ungewöhnliche Dinge gegeben haben sollte, dann waren sie gut verborgen gewesen. Der Arkonide dachte an die Zeitüberlappungszonen, die dann das Unheil heraufbe-
William Voltz schworen hatten. Die gesamte Erde war damals in Unordnung geraten. Die Achsenstellung hatte sich verändert. Flutkatastrophen unvorstellbaren Ausmaßes hatten den Untergang von Atlantis begleitet. Diese Zeitverschiebungen! überlegte Atlan angestrengt. Waren sie vielleicht schon vor der Ankunft der Arkoniden eingetreten, ohne zunächst schlimme Folgen zu haben? Hatte es auf Atlantis vielleicht unzugängliche Zeitnischen gegeben, die Atlan und dessen Freunden verborgen geblieben waren? Mußte die ganze Geschichte unter einem völlig anderen Aspekt gesehen werden? Oder hatten vielleicht sogar die Druuf ihre Hände im Spiel? Vielleicht hatte er sich zu früh in seine Unterseekuppel zurückgezogen! »Deine Gedanken sind nicht hier!« drang eine Stimme an sein Gehör. Er zuckte zusammen und sah Rhodan vor sich stehen. Erstaunt stellte er fest, daß alle anderen bereits gegangen waren. Er hatte es überhaupt nicht bemerkt. »Glaubst du, daß die Antwort in der Vergangenheit liegt?« wollte Rhodan wissen. Atlan preßte die Hände gegen die Schläfen. Sein Extrasinn schwieg zu all diesen Problemen, wahrscheinlich wußte er selbst keinen Rat. »Dein Atlantis und das Atlantis, von dem jetzt die Rede ist, können zwei völlig verschiedene Dinge sein«, mutmaßte Rhodan. »Es ist sinnlos, daß du dich immer wieder quälst. Du kannst dich schließlich nicht an etwas erinnern, was du nicht gesehen hast.« Der Arkonide nickte bedächtig. »Ich dachte gerade an diese zeitlichen Überlappungsfronten. Sie müssen nicht sofort in so massiver Form aufgetreten sein, wie wir das im Verlauf der letzten Tage von Atlantis erlebt haben. Vielleicht spielten sich unmittelbar neben uns, durch einen Dilatationseffekt unsichtbar gemacht, die verrücktesten Dinge ab.« Mitfühlend legte Rhodan dem Arkoniden eine Hand auf die Schulter. »In ein paar Tagen ist alles ausgestanden!
Das neue Atlantis Nach dem dreißigsten August werden Casneur und seinesgleichen vor ihren Anhängern fliehen müssen, damit man sie nicht als falsche Propheten verprügelt.« Mit geballten Fäusten saß der Lordadmiral da. In seinem Gesicht arbeitete es. »Und wenn es geschieht? Wenn Atlantis auftaucht?« »Mein Gott!« seufzte Rhodan. »Du fängst doch hoffentlich nicht an, selbst an dieses Schauermärchen zu glauben?« »Wieviel Feldprojektionssatelliten haben wir im Erdorbit?« »Was?« Rhodan sah den anderen verständnislos an. »Ich verstehe diese Frage nicht.« »Wieviel?« drängte Atlan verbissen. »Nun, etwa zwanzig. Die genaue Zahl kenne ich nicht. Ich weiß nicht, was du mit dieser Frage …« Der Ausdruck seines Gesichts veränderte sich. »Bei allen Planeten, das kann doch nicht dein Ernst sein?« »Die Anzahl der Satellitenprojektoren muß innerhalb der nächsten Tage verdoppelt werden«, verlangte Atlan. »Ich glaube nicht, daß Atlantis auftauchen wird, aber irgend etwas Schlimmes wird sich im Atlantik ereignen, vielleicht ein Überfall oder eine Hyperenergieexplosion. Das heißt, daß wir diesen gesamten Bereich unter einen Energieschirm legen müssen.« Rhodan stöhnte. »Wir machen uns lächerlich!« prophezeite er. »Du mußt es tun!« Rhodan sah ein, daß er den Arkoniden nicht umstimmen konnte. Er hätte es auf einen Streit ankommen lassen können, schließlich besaß er in diesem Fall die höchste Befehlsgewalt. Andererseits war der technische Aufwand verhältnismäßig gering. Vielleicht half es dem Arkoniden über seine augenblickliche Verfassung hinweg, wenn Rhodan die gewünschten Anordnungen traf. »Wenn es dich erleichtert«, meinte er, »will ich alles Notwendige veranlassen.« »Es erleichtert mich nicht«, erwiderte Atlan bitter. »Aber ich habe nun das Gefühl,
29 alles Menschenmögliche getan zu haben.«
7. RAZAMON »Wer sich an die Vergangenheit nicht erinnern kann, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen.« George Augustin Nicolas de Santayana 1863 – 1952 Ein Wesen ohne Heimat ist einsam. Ein Wesen ohne Erinnerung an seine Heimat ist mehr tot als lebendig. Immer, wenn ihm diese oder ähnliche Gedanken durch den Kopf gingen, wußte Razamon, daß eine neue Krise bevorstand. Dann war er gezwungen, vorbeugende Maßnahmen zu treffen, denn er wollte weder entdeckt werden noch ein Verbrechen begehen. Das Böse in ihm kam immer seltener zum Durchbruch, so daß er bereits zu hoffen gewagt hatte, seine Vergangenheit einmal endgültig überwinden zu können. In seinem Haus in Terrania, das er fluchtartig hatte verlassen müssen, waren die Bedingungen zur Beilegung einer Krise ideal gewesen. Razamon hatte sich dort einen mit Stahl verkleideten Raum eingerichtet und jedesmal, wenn ihn die tief in ihm schlummernden Mächte zu überwältigen drohten, war er in diesen Raum gegangen und hatte sich ausgetobt. Vielleicht, sinnierte Razamon, hätte er sich diesem Carmel Sphinx ergeben sollen. Die Folgen waren damals allerdings noch unüberschaubar gewesen. Razamon hielt sich vor der Öffentlichkeit weitgehend verborgen, seit seiner Flucht aus Terrania lebte er in verschiedenen kleinen Hotels in den Vorstädten. Jedesmal, wenn er seinen Standort wechselte, änderte er auch seinen Namen. Tervor Aretosa durfte er sich nicht mehr nennen, das wäre zu gefährlich gewesen. Er war sich darüber im klaren, daß er seine augenblickliche Freiheit nur seinen finan-
30 ziellen Möglichkeiten zu verdanken hatte. Ohne das Geld, das ihm reichlich zur Verfügung stand, wäre er längst aufgegriffen worden. So gelang es ihm aber immer wieder, sich das Schweigen von ein paar Menschen zu erkaufen. Die Besitzer der ärmlichen Hotels hier in den Vorstädten waren froh über einen Gast, der freiwillig die dreifache Übernachtungsgebühr auf den Tisch legte und auch sonst nicht kleinlich war. In diesen Hotels lebten Gelegenheitsarbeiter und alte Raumfahrer, Diebe und erfolglose Künstler. Viele von ihnen nahmen nicht einmal den von der Regierung gewährten Mindestzuschuß in Anspruch. Solche Menschen hatte es immer gegeben, erinnerte sich Razamon. Ihr Verhalten war ihm vertraut, und er konnte gut mit ihnen auskommen. Sie ließen ihn in Ruhe und stellten keine Fragen. Das Hotel, in dem Razamon zuletzt abgestiegen war, trug den Namen Zool (kein Mensch wußte, was das bedeutete, auch der Besitzer nicht) und war ein doppelstöckiges aus Leichtmetallteilen zusammengesetztes Gebäude. Außer Razamon gab es noch sieben andere ständige Gäste; eine Varieté-Gruppe mit zwei weiblichen und zwei männlichen Mitgliedern, die auf die Unterzeichnung eines Engagements auf einem Kolonialplaneten warteten; einen grauhaarigen Mann in einer verblichenen Uniform, der sich von den anderen mit »Oberst« anreden ließ; einen drogensüchtigen Kunstmaler, der dreidimensionale Bilder mit wahnsinnigen Effekten anfertigte, und einen schweigsamen Akonen, von dem niemand wußte, wie er hierher verschlagen worden war, und der den ganzen Tag im Aufenthaltsraum saß, um die alten Nachrichtenmagazine zu lesen. Razamon hatte ein Doppelzimmer in der oberen Etage gemietet. Nur noch der Oberst wohnte hier oben, alle anderen lebten in den Zimmern im Erdgeschoß. Unter anderen Umständen hätte Razamon vielleicht versucht, eine völlig neue Identität
William Voltz anzunehmen und sich einen neuen Lebensbereich aufzubauen. Nun jedoch, unmittelbar vor dem entscheidenden Ereignis, sah er keinen Sinn mehr darin. Die Katastrophe stand unmittelbar bevor, und wenn sie eintrat (was Razamon keinen Augenblick bezweifelte), würde sowieso niemand mehr Gelegenheit haben, über die Herkunft anderer nachzudenken. Razamon schaute auf die Uhr. Eine halbe Stunde vor Mitternacht! Er lauschte in sich hinein. Aus Erfahrung wußte er, daß er den gefährlichen Drang in seinem Innern vielleicht noch ein bis zwei Stunden unterdrücken konnte, aber dann würde das Böse in ihm um so stärker hervorbrechen. Razamon rief sich die nähere Umgebung des Zool ins Gedächtnis zurück. Gab es keinen Platz, an dem er ungestört sein konnte? In solchen Augenblicken empfand Razamon seine Einsamkeit immer als besonders niederdrückend. Er sehnte sich danach, mit irgend jemand über seine Probleme zu reden, aber er wußte auch, daß das unmöglich war. Wahrscheinlich hätte ihm niemand geglaubt – bis es zu spät gewesen wäre. Früher, als er seinem dunklen Ich noch häufiger unterlegen war, hatte Razamon Verbrechen begangen, die er heute, in seinem normalen Zustand, als verabscheuungswürdig empfand. Er spürte den Druck des Zeitklumpens an seinem Bein. Pthor wurde bereits durch den Korridor der Dimensionen hindurch wirksam. Der Druck, den Pthor aus diesem Korridor heraus ausübte, war schon so stark, daß es im Atlantik zu seltsamen Effekten kam und ein paar Schiffe vernichtet worden waren. Allerdings wollte auf der Erde niemand die Wahrheit erkennen. In diesem Augenblick klopfte jemand gegen die Tür. Instinktiv fuhr der hagere Mann herum.
Das neue Atlantis Er zog die Lippen hoch, so daß seine großen weißen Zähne sichtbar wurden. Ein Knurren entrang sich seinem Mund, und seine Hände spreizten sich wie zu Klauen. Seine Augen bekamen einen animalischen Ausdruck. Das währte nur eine oder zwei Sekunden, dann gewann Razamon die Kontrolle über sich zurück. Er atmete tief ein und ging langsam zur Tür. »Wer ist da?« Jemand räusperte sich. »Der Oberst!« Razamon strich sein Haar zurück. Er überlegte, was den alten Mann veranlaßt haben konnte, um diese Zeit zu ihm zu kommen. War es eine Falle? Er schüttelte unwillig den Kopf. Wenn die SolAb oder die USO ihn fanden, würden sie sich kaum der Mithilfe eines Greises bedienen, um Razamon zu verhaften. Razamon öffnete die Tür und sah den Oberst draußen im Korridor stehen, einen zierlichen und zerbrechlich wirkenden Mann, der sich mit großer Kraftanstrengung aufrecht hielt und dessen Gesichtsausdruck stets ein bißchen verträumt aussah. An jenen Stellen seiner Uniform, wo der Oberst die Rangabzeichen abgetrennt hatte, war sie noch nicht soweit verblichen, daß die ursprüngliche Farbe darunter gelitten hätte. »Sind Sie Arzt?« erkundigte sich der Oberst. Razamon sah ihn aufmerksam an. »Wie kommen Sie darauf, daß ich Arzt sein könnte?« Ein Lächeln flog über das faltige Gesicht, der Mann litt sichtbar darunter, daß er auf Hilfe angewiesen war. »Ich bin krank«, sagte er verlegen. »Lassen Sie einen Medo-Robot kommen«, empfahl ihm Razamon. Er hoffte, daß in dieser Nacht mit dem alten Mann nichts passierte, denn das zog in der Regel Untersuchungen nach sich, und diese wiederum hätten Razamon gezwungen, erneut die Unterkunft zu wechseln. »Das ist nicht möglich«, sagte der Oberst,
31 und dann, mit einer schier übermenschlichen Anstrengung, fügte er hinzu: »Ich bin nämlich ein Deserteur.« Obwohl er kein Mensch war und auch nicht wie ein solcher empfand, rührte irgend etwas an dieser armseligen Gestalt Razamon so sehr, daß er dieser Regung nachgab und beiseite trat, um den anderen zu sich ins Zimmer zu lassen. Erst jetzt sah er, daß der Oberst schwankte. Er machte einen Schritt auf ihn zu, um ihn zu stützen, dann führte er ihn zu der Couch neben dem Fenster. Unmittelbar davor sackte der Terraner in sich zusammen. Razamon fing den Sturz auf und bettete den Alten in die Kissen. Der Atem des Kranken ging stoßweise, sein Gesicht war mit fahler Blässe überzogen, und kalter Schweiß bildete sich auf der Stirn. »Ich muß einen Medo-Robot oder einen Arzt kommen lassen«, erklärte Razamon zögernd. »Am besten gleich den Noteinsatz.« »Nein!« keuchte der Oberst. »Bitte nicht!« Razamon starrte auf ihn hinab und überlegte, was er nun tun sollte. Wenn er keine Hilfe holte, starb der alte Mann womöglich. Andererseits hätte eine derartige Aktion dazu geführt, daß man Razamon Fragen stellen würde. Razamon spürte, daß sich in seinem Innern etwas zusammenzog, er gab einen bellenden Laut von sich. »Sie können hier nicht bleiben!« stieß er hervor. »Massieren Sie meine Arme«, flehte der Mann. »Bringen Sie mir Wasser und massieren Sie die Arme. Es wird dann schnell vorübergehen.« »Verstehen Sie denn nicht?« Razamon entfernte sich von ihm. »Ich kann Ihnen nicht helfen.« Er sah Verständnislosigkeit, ja Enttäuschung im Gesicht des Kranken. »Ich … ich würde Sie umbringen!« stammelte er. Der Oberst begriff nicht, er lebte in dieser
32 kleinen Welt, in die er sich zurückgezogen hatte und in der er sich halbwegs geborgen fühlte. Wahrscheinlich war es zum erstenmal, daß er jemanden um Hilfe bat. »Ich bin nicht der, für den Sie mich halten«, sagte Razamon, aber er sprach schon mehr zu sich selbst. Er ging in den Duschraum und füllte einen Becher mit Wasser. Als er damit zu dem Kranken ging, hatte dieser das Bewußtsein verloren. Razamon ergriff einen der mageren Arme und begann ihn sanft zu massieren. Da veränderte sich die Umgebung vor seinen Augen, es war, als schiebe sich ein Filter davor und tauche alles in ungewisses Licht. Razamon ließ die Arme los. Er gab einen unartikulierten Laut von sich. Dann sank er vornüber und packte die Couch am Rahmen. Mühelos, als wäre sie aus Papier, hob er sie hoch und kippte sie nach hinten. Der Oberst rollte mit den Kissen in die Ecke. Razamon fuhr herum und griff nach dem Tisch. Er hob ihn hoch und schleuderte ihn mit voller Wucht in Richtung des Badezimmers. Klirrend zerbrach ein Spiegel. Razamon stürmte in den Korridor hinaus. Er kam wieder zu sich und stand breitbeinig und zitternd da. Dieser Anfall war erst der Anfang. Razamon hörte unten jemand rufen. Entweder der Hotelbesitzer oder einer der anderen Gäste war durch den Lärm aufgeschreckt worden. Razamon starrte in sein Zimmer. Erleichtert sah er, daß der alte Mann gerade hinter der Couch hervorkroch. Ich muß weg hier! dachte Razamon. Er raste die Treppe hinab. Unten im kleinen Empfangsraum stand eine der Artistinnen. Sie schaute ihn ängstlich, dann mit zunehmendem Entsetzen an. »Dort oben!« schrie Razamon. »Dieser alte Mann, der Oberst. Kümmern Sie sich um ihn.« Er riß die Tür auf und stürzte auf die dunkle Straße hinaus. Das Blinken der Lich-
William Voltz ter überall in seiner Nähe irritierte Razamon. Er blieb einen Augenblick stehen, um sich zu orientieren, dann rannte er in die Nacht hinein.
* Als er zu sich kam, schien Sonnenlicht in sein Gesicht. Er lag auf dem Rücken, um ihn herum befanden sich ausgerissene Büsche, niedergetrampelte Blumen und die Trümmer einer Marmorstatue, die er offenbar von ihrem Sockel gerissen hatte. Ruckartig setzte er sich auf. Er befand sich inmitten eines Parks, wie es sie rund um die Hauptstadt zahlreich gab. Es war noch früh am Morgen, nur diesem Umstand verdankte er die Tatsache, daß man ihn noch nicht gefunden hatte. Als er aufstand, sah er in einiger Entfernung einen zerstörten Brunnen und dahinter einige entwurzelte Bäume. Er stöhnte. Wahrscheinlich hatte er eine Spur wie die eines Bulldozers hinterlassen. Hoffentlich hatte er bei seiner nächtlichen Toberei niemanden verletzt oder gar umgebracht. Der Umstand, daß er völlig allein hier im Park zu sich gekommen war, ließ ihn hoffen, daß es zu keinen Zusammenstößen mit Menschen gekommen war. Er glättete seine Kleider und säuberte sie, so gut es ging, von Gras und Dreck. Erst jetzt dachte er an Flucht. Rechts von ihm verlief eine Schneise, die zu einem künstlich angelegten See führte. Hinter dem See verlief ein Damm. Auf der anderen Seite befand sich der von dichten Büschen begrenzte Brunnen. Razamon hob den Kopf. Hoch über ihm glitten lautlos Dutzende von Flugmaschinen vorüber. Sie bedeuteten keine Gefahr für ihn. Als er sich durch die Schneise zurückziehen wollte, fühlte er sich plötzlich beobachtet. Er warf sich herum. Zwischen zwei Palmen stand ein Kind, ein vielleicht sieben oder achtjähriger Junge. Razamon erschrak.
Das neue Atlantis Der Junge fragte: »Arbeitest du hier?« Der vertrauliche Tonfall ließ Razamon erkennen, daß das Kind gerade erst aufgetaucht war. Das erleichterte ihn. »Ja«, sagte er schrill. »Ich arbeite hier!« Er machte eine vage Geste. »Du siehst ja, was hier alles zu tun ist. Am besten, du verschwindest jetzt und läßt mich allein.« Der Knabe dachte angestrengt nach. »Seltsam«, sagte er. »Warum sind keine Roboter hier?« »Ich bin ein Spezialist«, erklärte Razamon. »Für solche Sachen zieht man Spezialisten heran, verstehst du?« Das Kind nickte zögernd. »Ich werde meine Sachen holen«, verkündete Razamon und drang in die Schneise ein. Er drehte sich ab und zu um, aber der Junge folgte ihm nicht. Als er den See umrundet hatte, kletterte er den Damm hinauf. Schräg unter ihm lag eine kleine Siedlung. An den Schrifttafeln über den Flugschneisen erkannte er, daß es sich um Trantor handelte, eine kleine Vorstadt im Osten von Terrania. Das Zool lag mindestens zwanzig Meilen von hier entfernt. Razamon erschauerte bei dem Gedanken daran, daß er diese Strecke unbewußt zurückgelegt hatte. Hier oben auf dem Damm konnte er nicht bleiben. Ob er es riskieren konnte, ins Zool zurückzukehren? Er hatte alles dort zurückgelassen, vor allem aber sein Geld. Er rutschte den Damm auf der anderen Seite hinab und gelangte auf den Landeplatz eines Einkaufszentrums, das so früh am Morgen noch geschlossen hatte. Razamons Schritte hallten über den Platz, er ging durch eine Lücke zwischen den aneinander geketteten Antigraveinkaufspaletten bis zu einem Schuhgeschäft. Auf der Straße zwischen den Kaufhäusern suchten ein paar Tauben nach Futter. Tauben! dachte Razamon. Fast überall gab es diese Tiere. War auch ihr Ende am dreißigsten August gekommen? Er blieb vor einem Schaufenster stehen
33 und betrachtete sein Spiegelbild. Den Anblick der dunklen Höhlen in seinem Gesicht war er gewöhnt. Er stellte fest, daß er ziemlich abgerissen aussah. In diesem Zustand würde er überall, wo er auftauchte, Mißtrauen erwecken. An einer Wasserstelle tauchte er den Kopf unter den kalten Strahl und trank. Danach fühlte er sich besser. Sein Haar hing ihm jetzt klatschnaß in der Stirn. Er drehte sich langsam um die eigene Achse. Das alles würde verschwinden! dachte er. Gewaltige Flutwellen würden alles hinwegspülen, oder Erdbeben würden das Land verwüsten. Vielleicht aber ging in diesem Gebiet auch alles glimpflich ab, so genau konnte man das nie vorhersagen. Wer bei der eigentlichen Katastrophe nicht ums Leben kam, würde ein Opfer der Horden der Nacht und der Berserker werden. Jene, die sofort starben, würden noch die Glücklichsten sein. Und es war unabwendbar! Trotz der beeindruckenden Technik des Solaren Imperiums bestand keine Möglichkeit, den Korridor zu vernichten und Pthor aufzuhalten, auch dann nicht, wenn sich die Menschheit der drohenden Gefahr wirklich bewußt geworden wäre. Ich hätte sie warnen müssen! dachte Razamon verzweifelt. Aber was hätte das schon genutzt? Er stellte sich vor, was wäre, wenn er zu einer Polizeistation ginge, vor einen Beamten träte und sagte: »Mein Name ist Razamon! Ich bin ein unsterblicher Atlanter!«
* Die Sirenen des Krankengleiters verklangen in der Ferne. Carmel Sphinx bedauerte, daß ausgerechnet jener Bewohner des Zool, der die interessantesten Aussagen über Tervor Aretosa hätte machen können, nicht dazu in der Lage war. Prien Gersell, den sie auch »Oberst«
34 nannten, hatte einen schweren Schlaganfall erlitten. Sphinx war vor einer halben Stunde in dem kleinen Hotel eingetroffen. Nachdem der Besitzer wegen der Zerstörung Anzeige erstattet und eine Beschreibung seines Gastes (Aretosa hatte sich diesmal Kurgo Feltran genannt) durchgegeben hatte, war man bei der routinemäßigen Auswertung in der zentralen Fahndungsstelle sofort auf Aretosas Akten gestoßen. USO und SolAb waren benachrichtigt worden. Purflinth, der zusammen mit Sphinx angekommen war, flegelte an der Theke vor dem Empfang herum. Er hing so lässig da, daß seine Körperbiegungen einem aufmerksamen Beobachter ungewöhnlich erscheinen mußten. Sphinx ging zu ihm und versetzte ihm einen Ellenbogenstoß. Der Hotelier kam aus der Robotküche. »Dieser Kunstmaler kommt nicht zu sich«, sagte er bedauernd. »Wir könnten ihn zu einer Krankenstation bringen lassen, die bringen ihn wieder auf die Beine.« Sphinx winkte ab. »Die Mitglieder der Artistengruppe sind unterwegs, um Einkäufe zu machen.« Der Hotelier deutete auf den Eingang zum Aufenthaltsraum. »Bleibt nur noch Khor, dieser Akone. Aber er hat sich nie um die anderen gekümmert.« Sphinx sah, daß der Mann zitterte. Wahrscheinlich fürchtete er um seine Lizenz, die er verlieren würde, wenn man ihm nachweisen konnte, daß er Kriminelle beherbergt hatte. Von Sphinx hatte er jedoch in dieser Hinsicht nichts zu befürchten. Dem USOSpezialisten ging es nur darum, Aretosa zu fassen. »Ich möchte mir jetzt Aretosas Zimmer ansehen«, verlangte er. »Purflinth, du wartest hier unten und paßt auf, ob einer der anderen Gäste zurückkommt. Laß keinen von ihnen wieder weggehen.« Der Matten-Willy rutschte an der Theke entlang. »Gibt es hier eine Hotelbar?« fragte er in
William Voltz scharfem Ton. Der Hotelier warf Sphinx einen verwirrten Blick zu. »Eine … äh … Routinefrage!« sagte der kleine Spezialist und warf seinem Begleiter einen wütenden Blick zu. Sie gingen zum Obergeschoß hinauf. Ja, dachte Sphinx seltsam berührt. Tervor Aretosa war hier gewesen! Der Treppenaufgang und der Korridor oben zwischen den Zimmern waren vom Fluidum dieses Geheimnisvollen geschwängert. Der Hotelier hätte ihn wahrscheinlich ausgelacht, wenn er diesen Gedanken laut ausgesprochen hätte. Sphinx stieß die Tür auf und blickte in das einfach eingerichtete Zimmer. Sein Begleiter deutete auf die Spuren der Zerstörung. »Das hat er getan!« stieß er haßerfüllt hervor. Er ging zur Wand und hob die kleine Couch hoch. »Da lag der Oberst!« Sphinx nickte und begann sich umzusehen. Der Gedanke, daß Aretosa am vergangenen Abend noch hier gewesen war, bereitete ihm Unbehagen. Er öffnete den Wandschrank. Ein paar Kleider hingen darin. Auf der oberen Ablage befand sich ein schäbig aussehender Koffer. Sphinx zog ihn heraus und legte ihn auf den Boden. Mit zwei geschickten Griffen öffnete er das Schloß. Der Deckel sprang auf. Der Koffer war mit Geldscheinen gefüllt. Sphinx hörte, daß der Hotelier einen Pfiff ausstieß. Der USO-Spezialist begann mit beiden Händen in den Banknoten zu wühlen. Er spürte etwas Hartes und griff zu. Dann zog er eine Gußplatte heraus. »Das Artefakt!« sagte er triumphierend. »Das Original!«
* Der Beamte in der Wachstube war so müde und mißgelaunt, wie ein Mann so früh am Morgen überhaupt sein konnte. Er hatte
Das neue Atlantis einen Plastikbecher mit heißem Kaffee neben sich auf dem Tisch stehen und war damit beschäftigt, Karteiblätter abzulegen. Als Razamon eintrat, blickte er nicht einmal auf. »Alle Formulare liegen drüben am Schreibtisch«, sagte er. »Mein Name ist Razamon«, sagte Razamon. Irgend etwas am Klang dieser Stimme veranlaßte den Wachhabenden aufzublicken. Er musterte Razamon abschätzend. »Die Sozialstation befindet sich vier Blocks weiter«, sagte er schließlich. »Dort wird man sich Ihrer annehmen.« »Sie verstehen nicht«, sagte Razamon. »Ich bin gekommen, um mich zu stellen. Mein Name ist Razamon. Ich bin ein Atlanter.« Einen Augenblick sah es so aus, als wollte der Mann laut auflachen. Ein Blick in Razamons Gesicht ließ dieses Lachen jedoch im Ansatz ersticken. »Hören Sie!« sagte er unwirsch. »Jeder dritte hält sich für einen Atlanter. Ich will damit nichts zu tun haben, ich glaube nicht an diese Geschichten. Sie können mich nicht bekehren. Verschwinden Sie!« Mit einem Sprung war Razamon neben dem Mann, packte ihn an seiner Jacke und zog ihn mühelos hoch. Der Beamte stieß entsetzt einen Schrei aus und strampelte heftig. »Sie haben eine Fahndungsliste?« Razamon hielt erbarmungslos fest. »Ja«, ächzte der Mann, der einen hochroten Kopf bekommen hatte. »Um Himmels willen, lassen Sie mich los.« Razamon ließ ihn auf den Boden herab. »Sehen Sie nach, ob darin ein Tervor Aretosa eingetragen ist«, befahl er. »Ich bin dieser Mann. Man sucht mich. Verhaften Sie mich.« Der Beamte sah ihn unglücklich an. Er strich seine Jacke zurecht und schaltete die elektronische Kartei ein. Der Bildschirm flackerte auf, der Name Tervor Aretosa erschien zusammen mit einigen anderen. »Was werden Sie jetzt tun?« erkundigte
35 sich Razamon grimmig. Der Beamte schluckte. »Ich verhafte Sie!« sagte er tapfer. »Bleiben Sie stehen und rühren Sie sich nicht. Ich alarmiere die Zentrale.« »Ich warte«, sagte Razamon. Er lächelte bedauernd. »Eigentlich schade, daß Ihnen der Erfolg nicht weiterhelfen wird. Bevor man Sie befördern kann, wird die Welt untergehen.« »Sie sind ja verrückt«, murmelte der Beamte. »Alle diese Spinner, die zu den Atlantis-Sekten gehören, sind verrückt.«
* »Machen Sie sich auf eine Sensation gefaßt«, sagte Mercant anstelle einer Begrüßung. Selten zuvor hatte Atlan den unscheinbaren Mann so ernst gesehen wie in diesem Augenblick. Der SolAb-Chef hatte Atlan in dessen Büro angerufen. »Spannen Sie mich nicht auf die Folter, Allan«, sagte Atlan. Dachte Mercant vielleicht, er könnte ihm keinen neuen Schock zumuten? Seit ein paar Tagen wurde der Arkonide von einem Gefühl grimmiger Entschlossenheit durchdrungen. Er würde die Rätsel um Atlantis lösen, um endlich seine Ruhe wiederzufinden. »Das Labor hat schnell gearbeitet«, fuhr Mercant fort. »Die Wissenschaftler haben das Artefakt, das Sphinx gefunden hat, untersucht. Es ist fünfzig Millionen Jahre alt.« Atlans Gefühle waren wie ausgelöscht. Er saß da und rührte sich nicht. Sein einziger Gedanke war: Fünfzig Millionen Jahre! »Fragen Sie mich nicht, ob ich sicher bin«, klang Mercants Stimme abermals auf. »Die Wissenschaftler sind sicher. Sie täuschen sich nicht. Dieses Ding stammt nicht von der Erde.« »Das besagt noch gar nichts«, sagte Atlan schließlich. »Es kann Teil eines großangelegten Schwindels sein.« Er erhob sich. »Haben Sie Perry informiert?« »Er wußte es zuerst. Die Administration
36 wurde vom Labor aus unterrichtet.« Mercant strich über seinen schütteren Haarkranz. »Sie wissen, daß ich von Anfang an der Meinung war, daß eine extraterrestrische Macht hinter dieser Massenpsychose um Atlantis steckt. Daran kann jetzt nicht mehr gezweifelt werden.« »Sie glauben also auch, daß am dreißigsten August irgend etwas passieren wird?« »Ich habe Perry Rhodan empfohlen, Verbände der Solaren Flotte im Solsystem zusammenzuziehen und alle Wachstationen zu alarmieren«, erwiderte Mercant ausweichend. »Wir sollten auf alle Eventualitäten vorbereitet sein.« Mercant glaubte also, daß ein Angriff aus dem Weltraum erfolgen würde, überlegte Atlan. Für diesen nüchtern denkenden Mann war es einfach unvorstellbar, daß Atlantis sozusagen aus dem Nichts wieder auftauchen könnte. Als hätte er die Gedanken des Arkoniden erraten, fügte der SolAb-Chef hinzu: »Aufgrund der letzten Auswertung aller seismographischen Messungen können wir ausschließen, daß es im Atlantik innerhalb der nächsten Zeit zu vulkanischen Aktivitäten oder Erdbeben kommen wird. Das wären ja die Voraussetzungen für ein Wiederauftauchen dieses rätselhaften Kontinents. Darüber hinaus habe ich einige Tiefseeforschungsschiffe das gesamte in Frage kommende Gebiet absuchen lassen. Sie fanden nichts, überhaupt nichts! Abgesehen von Ihrer Kuppel bei den Azoren, aber dort ist ebenfalls alles ruhig.« »Sie haben wohl an alles gedacht!« Atlan sprach ohne Sarkasmus. »Ich bin für die Sicherheit der Menschheit verantwortlich«, erklärte Mercant ohne jedes Pathos. »Dabei kann ich mir nicht erlauben, irgend etwas bei meinen Nachforschungen auszuklammern. Ich habe über meine Maßnahmen jedoch nicht geredet, denn wenn sie bekannt geworden wären, hätte die beunruhigte Öffentlichkeit sofort daraus geschlossen, daß an der ganzen Geschichte doch etwas Wahres sein könnte.«
William Voltz »Für Sie ist Atlantis damit erledigt?« »Ja, zumindest in der Form, wie es auf den Straßen gepredigt wird. Ich denke, daß ein heimtückischer Anschlag geplant ist, den wir vielleicht erst durchschauen, wenn es fast zu spät sein wird.« Atlan war mehr denn je davon überzeugt, daß er irgend etwas übersehen hatte. Der Kontinent Atlantis war vor zehntausend Jahren endgültig untergegangen, und keine Macht des Universums konnte ihn zurückbringen. Was also sollte geschehen? »Ich habe lange über alles nachgedacht«, sagte Mercant. »Vielleicht sind Sie damals so früh in Ihre Kuppel gegangen, daß Sie irgend etwas Entscheidendes versäumt haben.« Atlan runzelte die Stirn. »Woran glauben Sie? An eine Invasion aus dem Weltraum oder an die Atlantis-Legende?« »Eines schließt doch das andere nicht aus«, meinte der Zellaktivatorträger. »Jene Macht aus dem Weltraum, die uns heute bedroht, kann bereits damals angegriffen haben.« »Die Druuf?« Mercant winkte geringschätzig ab. »Die Druuf profitierten damals und im Jahre zweitausenddreiundvierzig von den Überlappungsfronten zweier RaumZeit-Kontinua. Sie haben einfach losgeschlagen, wenn sich eine Gelegenheit dazu ergab. Was wir jetzt erleben, scheint von langer Hand vorbereitet worden zu sein.« Natürlich hatte Mercant recht! dachte Atlan. Nun, da man das echte Artefakt gefunden hatte, gewann der darauf eingravierte und von NATHAN zumindest dem Symbolgehalt nach entschlüsselte Text eine neue Bedeutung. Mercant sprach mehr oder weniger von der Möglichkeit einer immer wiederkehrenden Bedrohung aus dem All – und diese Ansicht deckte sich mit den Prophezeiungen des Artefakts. Unwillkürlich warf Atlan einen Blick auf den Datenanzeiger über der Tür. 28. August 2648 las er.
Das neue Atlantis
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»Wir haben noch zwei Tage Zeit«, sagte er ironisch. »Ich wünschte, es wären zwanzig«, gestand Mercant. »Wir kommen einfach nicht weiter. Auch die Überprüfung Casneurs und der anderen Sektenführer hat keine Erfolge gebracht. Diese Sorte Menschen nutzt lediglich eine bestehende Situation aus, sie haben sie jedoch nicht verursacht.« Atlan war beruhigt, daß Perry Rhodan seinem Wunsch gefolgt war und die Anzahl der Feldprojektoren im Erdorbit verdoppelt hatte. Diese lampenschirmförmigen Satelliten sollten im Verlauf des 29. August aktiviert werden. Alles, was dann im Gebiet des ehemaligen Atlantis auftauchen sollte, würde unter einem undurchdringlichen Schutzschirm liegen. Rhodan hielt diese Vorsichtsmaßnahme für übertrieben. »Atlan!« rief Mercant in diesem Augenblick. Auch auf dem Bildschirm war zu sehen, daß der kleine Mann voller Erregung aufsprang. »Es ist etwas Entscheidendes geschehen.« »Ich höre«, sagte der Arkonide alarmiert. »Wir haben diesen Aretosa«, verkündete Mercant.
* Seine fast völlige Amnesie, was die Gegebenheiten und Vorgänge auf Pthor betraf, belasteten Razamon schwer. Er wußte, daß für diesen Zustand ebenso die Herren von Pthor verantwortlich waren wie für seine Verbannung auf die Erde. Als er damals zusammen mit den Horden der Nacht und den Berserkern auf diese Welt gekommen war, hatte sich in ihm ein nie gekanntes Gefühl geregt: Mitleid für jene Kreaturen, die die Katastrophe überlebt hatten und nachträglich umgebracht werden sollten. In völliger Umkehrung seines Auftrags hatte Razamon dafür gesorgt, daß zahlreiche Eingeborene dem Massaker entkommen waren. Den Mächtigen von Pthor war seine Handlungsweise nicht verborgen geblieben.
Sie hatten ihn zur Strafe auf die Erde verbannt und ihm einen Zeitklumpen an das Bein gehängt, so daß sein Alterungsprozeß gestoppt worden war. Seit über zehntausend Jahren war Razamon nun schon dazu verurteilt, unter verschiedenen Namen und in verschiedenen Rollen auf der Erde zu leben. Zwar beherrschte er noch immer Pthora, die Sprache seiner Heimat aber er konnte sich kaum noch an Pthor erinnern. Die Hoffnung, eines Tages dorthin zurückkehren zu können und die verbrecherischen Herrscher zu stürzen, hatte Razamon aufrechterhalten. Im Verlauf der Jahrtausende war er immer weiter vermenschlicht, nur noch gelegentlich brach jene schreckliche Kraft in ihm durch, die er einst zur Vernichtung intelligenten Lebens eingesetzt hatte. Doch Razamon hatte gelernt, mit diesen Gegebenheiten zu leben. Er wußte, wie er sich abreagieren konnte. Alles, was Razamon als Erinnerung geblieben war, das Parraxynt mit seinen prophetischen Andeutungen, befand sich jetzt in den Händen der terranischen Regierung. Um die Menschen vor der drohenden Gefahr zu warnen, hatte Razamon Kopien des Parraxynts herstellen lassen und sie in Umlauf gebracht. Gegen seinen Willen waren diese Kopien dann in die Hände skrupelloser Geschäftemacher geraten und hatten ihren Effekt verfehlt. Ein ebenso großer Fehlschlag war Razamons Versuch gewesen, vorsichtig das Gerücht von einer Wiederkehr des versunkenen Kontinents Atlantis auszustreuen. Fanatiker und Spinner hatten sich dieser Idee bemächtigt und sie kolportiert. Vorbeugende Gegenmaßnahmen waren ausgeblieben, so daß Razamon sich jetzt, zwei Tage vor der Stunde X, fragen mußte, ob es überhaupt noch eine Rettungsmöglichkeit für die terranische Zivilisation gab. Razamon rechnete fest mit einer globalen Katastrophe. Durch seinen Zeitklumpen spürte er immer stärker werdenden Druck Pthors aus
38 dem Dimensionskorridor. Vielleicht hätte er sich früher stellen sollen, überlegte er. Aber am Beginn der Atlantis-Hysterie hätte man ihm nicht geglaubt. Er wäre verlacht und weggeschickt worden. Erst im Endstadium der Entwicklung konnte er hoffen, gehört zu werden. In mancher Beziehung, dachte Razamon, empfand er sich bereits als Mensch, als Bewohner dieses Planeten. Andererseits war er Pthorer geblieben. Diese Gedanken gingen ihm durch den Kopf, als er in der kleinen Wachstube saß und geduldig darauf wartete, daß man ihn abholte. Er wunderte sich darüber, wie langsam sich alles abspielte, es dauerte offenbar eine gewisse Zeit, bis der Mechanismus der Bürokratie ins Rollen gekommen war. Razamon zweifelte trotzdem nicht daran, daß man ihn mit den höchsten Stellen der Administratur in Verbindung bringen würde, vielleicht sogar mit Perry Rhodan und Atlan selbst. Die Lage hatte sich derart zugespitzt daß die Verhaftung Razamons den Verantwortlichen auf der Erde wie eine Erlösung erscheinen mußte. Die trockene Wärme in der kleinen Polizeistation hatte Razamon schläfrig gemacht, seine Gedanken verloren sich. Er schloß die Augen, sein Kopf sank auf die Brust. Der eingeschüchterte Beamte ließ ihn nicht aus den Augen, wahrscheinlich sehnte er den Zeitpunkt herbei, da er den seltsamen »Gefangenen« endlich loswerden sollte. Endlich landete ein gepanzerter Gleiter der SolAb vor der Wachstation. Allan D. Mercant selbst in Begleitung zweier hoher Offiziere befand sich in der Maschine. Der Lärm weckte Razamon aus dem Halbschlaf. Mercant trat ein und übersah die Szene mit einem Blick. »Tervor Aretosa?« »Das war einmal!« Razamon lächelte. »Mein Name ist Razamon.« »Der Lordadmiral erwartet Sie!« Mercant machte eine einladende Geste in Richtung der Tür. »Haben Sie irgendwelche Wün-
William Voltz sche? Sie können einen Anwalt verlangen, aber in Anbetracht der Lage werden Sie darauf sicher verzichten.« An die Möglichkeit, daß man ihm einen Prozeß machen könnte, hatte Razamon überhaupt noch nicht gedacht. Auch Mercant schien dies nur als Hypothese in Betracht zu ziehen. Razamon folgte den drei Männern von der SolAb hinaus. Ein paar Neugierige hatten sich draußen versammelt und beobachteten, wie Razamon und die Terraner in den Gleiter kletterten. Der Beamte war Mercant auf die Straße gefolgt und versuchte nun wichtigtuerisch die Zuschauer zurückzudrängen. »Woher haben Sie dieses uralte Artefakt?« erkundigte sich Mercant, nachdem er sich in den freien Sitz neben Razamon hatte sinken lassen. »Von Pthor«, erwiderte Razamon bereitwillig. »Oder, wie Sie sagen würden, von Atlantis. Es heißt Parraxynt, und die Legende berichtet, daß der, dem es eines Tages gelingt, alle Bruchstücke zusammenzusetzen, das Geheimnis von Pthor lösen wird.« Mercant warf ihm einen Seitenblick zu. »Sie behaupten also allen Ernstes, von Atlantis zu kommen?« »Ja«, sagte Razamon. Mercant schnaubte. »Ich halte Sie für das Mitglied einer Fünften Kolonne, die eine außerirdische Macht auf die Erde geschickt hat, um alle Vorbereitungen für einen Anschlag oder eine Invasion zu treffen!« Razamons Lippen zuckten. »Im ursprünglichen Sinn haben Sie sogar recht, Mercant. Ich nahm an einer Invasion der Erde teil – vor mehr als zehntausend Jahren.« Der SolAb-Chef winkte ärgerlich ab. »Hören Sie doch damit auf! Es gibt einen Augenzeugen der damaligen Ereignisse, das sollten Sie eigentlich wissen. Wie wollen Sie Ihre Lügen vor Lordadmiral Atlan aufrechterhalten?« Als Razamon nicht antwortete, fuhr er
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fort: »Damals ist der Kontinent Atlantis untergegangen – unwiederbringlich!« »Ihr Atlantis ist untergegangen, nicht zuletzt aufgrund des ungeheuren Drucks, den Pthor aus dem Dimensionskorridor ausgeübt hat. Dort, wo sich der Kontinent Atlantis befunden hatte, materialisierte Pthor und blieb einige Zeit an dieser Stelle. Auch diesmal wird Pthor im Atlantik auftauchen, wahrscheinlich in jenem Gebiet, wo sich in ferner Vergangenheit einmal der östlichste Zipfel von Atlantis befand.« »Ich glaube fast, Sie sind von dem, was Sie sagen, überzeugt!« sagte Mercant unsicher. »Trotzdem können Sie nicht so alt sein, wie Sie behaupten.« Razamon befeuchtete die Lippen mit der Zungenspitze. Er war zutiefst erleichtert, daß das Versteckspiel endlich ein Ende gefunden hatte. Nun sah er den kommenden Ereignissen fast mit einer gewissen Gelassenheit entgegen. »Auch Atlan ist sehr alt«, hielt er Mercant entgegen. »Sie selbst tragen einen Zellaktivator und sind relativ unsterblich. Wenn man Ihrem Leben kein gewaltsames Ende bereitet, können Sie in zehntausend Jahren noch immer existieren.« »Sie haben aber keinen Zellaktivator!« »Dafür habe ich einen Zeitklumpen am Bein.« »Erwarten Sie nicht, daß ich danach frage, was das ist!« sagte Mercant brummig. »Atlan wird sich mit Ihnen befassen.« Razamon blickte aus dem Seitenfenster. Unter ihm lag Terrania. »Wir haben vieles gemeinsam, dieser Atlan und ich«, sagte er.
8. Trotz der dringenden Ermahnungen seiner Mitarbeiter hatte Atlan auf alle Vorsichtsmaßnahmen verzichtet. Er trug weder eine Waffe, noch hatte er einen Individualschutzschirm angelegt, wozu man ihm geraten hatte. Außerdem war er entschlossen, allein mit
Razamon zu sprechen. Auch Mercant, der die Ankunft des Gefangenentransports bereits über Funk angekündigt hatte, sollte zunächst außerhalb von Atlans Büro warten. Perry Rhodan, Bully und Tifflor waren zur Stunde unabkömmlich, sie verabschiedeten die Kommandanten einer Explorerflotte, die noch heute in den Halo der Milchstraße aufbrechen und neue Planeten erforschen sollte. Daran erkannte Atlan, wie wenig der Rummel um Atlantis dem normalen Ablauf der Dinge auf dieser Welt im Grunde genommen geschadet hatte. Eigentlich hatte sich überhaupt nichts verändert. Vielleicht sah er alles aufgrund seiner Vergangenheit in einem falschen Licht, dachte Atlan. Er dramatisierte unbewußt Vorgänge, über die andere lächelten. Seine Zweifel erloschen in dem Augenblick, da Razamon das Zimmer betrat. Atlan hatte lange genug gelebt, um außergewöhnliche Menschen sofort zu erkennen. Der Mann, der jetzt vor ihm stand, war nicht nur von seinem düsteren Aussehen her eine imponierende Erscheinung. Eine Aura des Geheimnisvollen und der schicksalhaften Bedeutung umgab ihn, er präsentierte sich dem Arkoniden als ein Stück lebendig gebliebener rätselhafter Vergangenheit. Dieser Eindruck war so intensiv, daß Atlan ihm sofort erlag. Der Ankömmling wich Atlans Blicken nicht aus, er zeigte keine Anzeichen von Unsicherheit oder gar Furcht. Unwillkürlich fragte sich der Arkonide, was es bedeuten mochte, einen solchen Mann zum erbarmungslosen Gegner zu haben. »Willkommen, Razamon!« sagte er. »Betrachten Sie sich als mein Gast, nicht als mein Gefangener.« Razamon verschränkte die Arme über der Brust und blieb breitbeinig stehen. »Ich wurde niemals gefangengenommen«, versetzte er gelassen. »Ich habe mich gestellt, weil ich es für richtiger hielt.« Atlan deutete auf einen Sessel. »Sie können sich setzen! Haben Sie ir-
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gendwelche Wünsche? Ich lasse gern etwas kommen.« »Nein«, sagte Razamon. Er durchquerte in seinem leicht humpelnden, aber kraftvoll wirkenden Gang das Büro und nahm in dem angebotenen Sessel Platz. »Ich werde Sie in mancherlei Beziehung enttäuschen müssen«, meinte er. »Die Geschichte, die ich zu erzählen habe, ist unvollständig, und das Wichtigste davon kennen Sie bereits. Als man mich von Pthor verstieß, nahm man mir die Erinnerung an die dortigen Gegebenheiten. Vielleicht war das eine Vorsichtsmaßnahme, vielleicht auch nur eine Schikane.« »Sie bestehen also darauf, ein Atlanter zu sein?« »Ein Pthorer!« korrigierte Razamon. »Obwohl natürlich von Ihrem Standpunkt aus die andere Bezeichnung genauso zutreffend ist.« »Und Sie behaupten, daß Atlantis – Pthor – übermorgen auftauchen wird?« »Allerdings! Sie haben nur noch verdammt wenig Zeit, um irgend etwas zu unternehmen.« Atlan schaltete die Aufzeichnungsgeräte ein. SolAb und USO mußten sofort über alle Einzelheiten informiert werden, damit eventuell noch Gegenmaßnahmen getroffen werden konnten. »Sagen Sie alles, was Sie wissen!« forderte er Razamon auf. »Wenn Sie wie Sie behaupten, auf unserer Seite stehen, müssen Sie uns helfen.« »Ich versuche, mir selbst zu helfen«, erwiderte Razamon. »Und ich habe nur den einen Wunsch, nach Pthor zurückzukehren und die dortigen Machthaber zu vernichten, damit sie kein Unheil mehr über blühende Zivilisationen bringen können.«
* Razamons Erinnerungsvermögen war so stark beeinträchtigt, daß seine Geschichte unvollkommen wirkte. Bruchstücke davon waren Atlan bereits bekannt, obwohl er sie
bisher als unglaubwürdig abgetan hatte. Wenn Razamon die Wahrheit sprach, war Atlantis die Waffe einer unbekannten Macht, die unter allen Umständen zu verhindern suchte, daß sich auf bestimmten Planeten in verschiedenen Galaxien hochstehende Zivilisationen entwickelten. Auch Razamon wußte nicht, wer diese Unbekannten waren und wo sie sich aufhielten. Auf jeden Fall gingen sie ihrer verbrecherischen Tätigkeit schon viele Millionen Jahre nach. Razamon bestätigte, daß Atlantis in der Vergangenheit schon oft auf der Erde aufgetaucht war und blühende Kulturen vernichtet hatte. Er hielt es für möglich, daß auf diese Weise viele Legenden und Mythen entstanden waren. Weil Razamon sich gegen dieses Vorgehen aufgelehnt und den Betroffenen zu helfen versucht hatte, war er von Pthor verbannt worden. Man hatte ihn in doppelter Hinsicht bestraft, indem man ihm die Erinnerung an seine Heimat genommen und ihn mit einem Zeitklumpen belastet hatte. Razamon hatte unter verschiedenen Namen bei vielen Völkern der Erde gelebt und ihren Aufstieg und ihren Untergang miterlebt. Dank seiner Erfahrung und seiner ungewöhnlichen Körperkräfte war es ihm bei gefährlichen Situationen immer wieder gelungen, sich in Sicherheit zu bringen. Alles, was er von Pthor gerettet hatte, war das geheimnisvolle Parraxynt, jenes metallische Bruchstück, in das prophetische Botschaften eingraviert waren. Razamon zweifelte keinen Augenblick daran, daß alle Prophezeiungen des Parraxynts eintreffen würden. Da er seine Muttersprache, Pthora noch immer perfekt beherrschte, konnte er die Hieroglyphen in der Oberfläche des Artefakts einwandfrei übersetzen. Seine Übersetzung deckte sich nahezu vollständig mit dem von NATHAN entschlüsselten Text. Dieser Mann, erkannte Atlan betroffen, war zutiefst von dem überzeugt, was er berichtete. Je länger Atlan zuhörte, desto wahr-
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scheinlicher erschien es auch ihm, daß die angekündigte Katastrophe in dieser oder jener Form eintreten würde. Er erzählte Razamon von seinen Gegenmaßnahmen. Der Pthorer war erleichtert, als er davon hörte, daß im Erdorbit zahlreiche Satellitenprojektoren aktiviert werden sollten, die jeden noch so großen Fremdkörper im Atlantik isolieren würden. Allerdings war Razamon nicht davon überzeugt, daß diese Maßnahmen ausreichten. Atlan teilte diese Ansicht. Ohne sich darum zu kümmern, daß Perry Rhodan außerhalb der Administration weilte, gab der Lordadmiral der USO Alarm für das Solarsystem.
* Im gewissen Sinne erschienen die gemeinsamen Maßnahmen der USO, der SolAb und der Solaren Flotte absurd, denn es gab keinen sichtbaren Feind. Die Ortungssysteme der innerhalb des Solsystems stehenden Schiffe suchten den gesamten Weltraum ab, ohne die geringsten Hinweise für das Auftauchen einer fremden Invasionsflotte zu entdecken. Die Besatzungen der gepanzerten Weltraumforts lösten sich an den Impuls und Transformkanonen ab; sie hätten mit ihren Waffen die Erde durch einen Wall aus lodernder Energie schützen können. Die Azoreninseln wurden innerhalb weniger Stunden evakuiert ebenfalls die Tiefseestädte in diesem Bereich. Alle Fischfarmen wurden geschlossen, für die Küsten bestanden besondere Sicherheitsvorschriften. Die Schiffe mußten die Häfen aufsuchen, und kein Fluggleiter durfte das als Materialisationspunkt in Frage kommende Gebiet überqueren. Die im Erdorbit stationierten Satellitenprojektoren wurden aktiviert und ein undurchdringlicher kombinierter HÜ und Paratronschirm legte sich über eine große Fläche des Atlantiks. Erdstreitkräfte und Bodenforts wurden in höchsten Alarmzustand versetzt.
Perry Rhodan sprach über Terra-Television zur Erdbevölkerung und bezeichnete die eingeleiteten Maßnahmen als eine vorbeugende Reaktion auf gewisse Vorfälle. Nach wie vor liege kein Grund zur Beunruhigung vor. Das änderte nichts an der Tatsache, daß damit die Möglichkeit eines Wiederauftauchens von offizieller Seite in Betracht gezogen wurde. Jene Verantwortlichen, die eine Zunahme der Atlantis-Hysterie befürchtet hatten, täuschten sich jedoch. Es schien, als sei das Atlantis-Thema mit einem Schlag aus dem Bereich des Okkulten gerückt und zu einem Bestandteil der realen Welt geworden. Praktisch über Nacht verloren die Sekten, die ihren Mitgliedern Rettung verheißen hatten, ihre Anhänger. Die falschen Propheten wurden mit Schimpf und Schande davongejagt. Auch so populär gewordene Prediger wie Roger Casneur blieben von dieser Entwicklung nicht verschont. Die Menschheit hatte begriffen, daß sie von einer durchaus realen Gefahr bedroht wurde. In diesem Stadium zogen es die Terraner vor, sich auf die Maßnahmen Perry Rhodans und Atlans zu verlassen. Diese Männer hatten oft genug bewiesen, daß sie in der Lage waren, die Erde vor allen Angriffen zu bewahren. Am Morgen des 30. August herrschte überall gespannte Erwartung, doch es gab keine Anzeichen einer bevorstehenden Panik. Gemessen an den Ereignissen der vergangenen Wochen blieb es sogar bemerkenswert ruhig. Die Welt schien den Atem anzuhalten …
9. 30. August 2648 – Atlantis taucht auf. Atlan schob die Hypnohaube über den Kopf zurück und richtete sich vom Lager inmitten des Labors der USO auf. Er brauchte einen Augenblick, um die Benommenheit zu überwinden, dann wandte er sich lächelnd an Razamon und sagte in einwandfreiem Pthora: »Die Programmierung hat funktio-
42 niert, Razamon. Ich danke dir für deine Instruktionen.« Der Pthorer, der jetzt eine grünfarbene Kombination der Solaren Flotte trug, nickte ernst. »Hoffentlich hast du meine Sprache nicht umsonst gelernt, Arkonide! Vielleicht wirst du niemals mit Wesen zusammentreffen, die von Atlantis kommen.« »Dann kann ich mich immerhin mit dir in deiner Sprache unterhalten und den Text des Parraxynts lesen«, meinte Atlan lakonisch. »Außerdem besteht die Möglichkeit, daß ich einmal nach Pthor gelangen könnte.« Razamon sah ihn zweifelnd an. »Niemand wird je gegen den Willen der Herren von Atlantis dorthin gelangen«, meinte er. »Wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, sind diese Verbrecher dazu in der Lage, Besucher aller Art zu erledigen, noch bevor sie einen Fuß auf Pthor gesetzt haben.« Die im Labor versammelten Wissenschaftler sahen sich unschlüssig an. Schließlich sagte der ebenfalls anwesende Geoffry Abel Waringer ärgerlich: »Wenn ihr beide wieder Interkosmo sprecht, können wir auch verstehen, was ihr sagt.« Atlan entschuldigte sich und blickte auf die Uhr. »Zwei Stunden nach Mitternacht! Schon irgendwelche Nachrichten von unseren Raumstationen und Beobachtungsflugzeugen aus dem Atlantik?« »Nein«, sagte Waringer verdrossen und seinem Tonfall war deutlich anzumerken, daß er auch nicht daran glaubte, daß im Verlauf des Tages die erwartete Meldung eintreffen würde. Zusammen mit seinen Kollegen hatte Waringer eine »Brainstorming-Session« abgehalten und war zu der Ansicht gelangt, daß nichts geschehen würde. Es gab keinerlei Anzeichen für ein Ereignis von globaler Bedeutung. Unmittelbar bevor Atlan die Hypnoschulung in Pthora begonnen hatte, war Waringer noch drastischer geworden. »Die Wahrscheinlichkeit, daß ein Meteor
William Voltz auf das Crest-Denkmal im Park am Goshunsee fällt, ist wesentlich größer als die, daß Atlantis auftaucht«, hatte er verkündet. Die Skepsis der Wissenschaftler war einerseits beruhigend, andererseits ließ sie, falls sie sich nicht bestätigen sollte, einen schweren Schock bei diesem Personenkreis erwarten. Atlan hoffte, daß, wenn es schon zu dem befürchteten Katastrophenfall kommen sollte, dies bald geschehen würde. Er war überzeugt davon, daß das Solsystem und die Erde gewappnet waren. Je schneller sie die Gefahr überstehen würde, desto besser für die Menschheit. Wer waren die Herren von Pthor und in wessen Auftrag handelten sie? Trotz seines nun zehntausend Jahre währenden Lebens konnte Atlan sich keine Macht vorstellen, die seit über fünfzig Millionen Jahren Kulturen zerstörte. Im Verlauf eines so langen Zeitraums mußte jedes Volk untergehen, es sei denn, man berücksichtigte den Faktor Zeit in einer besonderen Weise. Razamon hatte in dieser Hinsicht einige Andeutungen gemacht, ohne sich jedoch konkret auszudrücken. Die Erinnerung des Atlanters war einfach zu verschwommen, als daß er sich in dieser Hinsicht hätte festlegen können. Verschiedene Dimensionsbereiche mit ihren unterschiedlichen Zeitabläufen schienen jedoch bei den Operationen Pthors eine große Rolle zu spielen. Razamon bestritt, daß Mächte, mit denen das Solare Imperium schon konfrontiert worden war, irgend etwas mit dem bevorstehenden Angriff zu tun haben könnten. Wenn er tatsächlich seit zehntausend Jahren auf der Erde lebte, konnte man ihm das getrost glauben. »Laßt uns jetzt in die Kommunikationszentrale gehen«, schlug Atlan vor. »Perry und die anderen warten dort bereits auf uns. Ich will die Entwicklung zumindest über die Bildschirme beobachten.« Die Funkzentrale der USO in Terrania war vorübergehend zum Hauptquartier des Solaren Imperiums geworden. Dort hatten
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sich alle Verantwortlichen versammelt. Nur Tifflor war nicht zugegen. Er befand sich im Weltraum, an Bord des Flaggschiffs der Solaren Flotte, der INTERSOLAR. Waringer und Razamon folgten dem Lordadmiral, die Wissenschaftler und Spezialisten blieben zurück. Obwohl innerhalb des gesamten Gebäudes eine für diese späte Stunde ungewöhnliche Betriebsamkeit herrschte, war es in den Gängen und Räumen still. Eine gespannte Erwartung beeinträchtigte das Denken und Fühlen der Männer und Frauen. Alle sehnten das Ende dieses 30. August herbei. Dabei war es denkbar, daß das Unheil erst morgen oder an einem der nächsten Tage passierte. Razamon hatte diese Möglichkeit erwähnt. Die Zentrale war in so helles Licht getaucht, daß es den Augen weh tat. Atlan sah, daß Rhodan und Bully zusammen mit ein paar Mutanten und Regierungsmitgliedern vor dem dreidimensionalen Bildschirm saßen. Das, was sich dort abzeichnete, war geradezu enttäuschend: Der Atlantik mit einem verhältnismäßig ruhigen Seegang. Hunderte von Robotkameras, die ununterbrochen das gesamte Gefahrengebiet abflogen, spielten diese Bilder ein. Die ganze Situation war so normal, daß Atlan sich unwillkürlich fragte, ob sie nicht alle einem kolossalen Schwindel aufgesessen waren.
* Der gepanzerte Shift mit den USOSpezialisten Carmel Sphinx und Walther Delaney, sowie dem Sonderbeauftragten Purflinth an Bord, gehörte zu den Einheiten, die seit dem Abend des 29. August etwa hundert Meilen von der afrikanischen Küste entfernt über dem Atlantik außerhalb des Schutzschirms patrouillierten. Sphinx hatte eine Vision, die er einfach nicht los wurde. Er überlegte, was geschehen würde, wenn
das Gebilde, das man erwartete, mit dem Schutzschirm kollidierte. Würden die Auswirkungen eines solchen Zusammenpralls nicht genauso apokalyptisch sein wie die einer Materialisation im Atlantik? Sphinx tröstete sich damit, daß die Verantwortlichen schon an diese Möglichkeit gedacht und entsprechende Sicherheitsvorkehrungen getroffen hatten. Trotzdem wäre ihm wohler gewesen, wenn man ihn zu den Raumstreitkräften abkommandiert hätte, dort wäre er in jedem Fall sicherer gewesen. Aber was zählte schon die eigene Sicherheit, wenn der Heimatplanet und seine gesamte Bevölkerung bedroht waren? Für eine Evakuierung der Menschheit war keine Zeit mehr geblieben, bestimmt aber hatte man diese Möglichkeit zunächst einmal in Betracht gezogen. »Du bist an der Reihe«, unterbrach Delaney das Grübeln des kleinen Mannes und machte den Platz an den Kontrollen für ihn frei. »Ich habe alle Beobachtungen eingetragen.« Nicht ohne Sarkasmus fügte er hinzu: »Es handelt sich um einen Schwarm fliegender Fische und vier Möwen.« Sphinx verzog das Gesicht. »Dir ist das wohl alles gleichgültig?« Sein jüngerer Kollege grinste. »Das nicht, aber ich glaube nicht an diese ganze Geschichte.« Er nahm einen Becher aus der Ablage und ließ Kaffee aus dem Thermobehälter einlaufen. »Jetzt wäre eigentlich Zeit für einen Whisky«, ließ Purflinth verlauten. Der Matten-Willy lag quer ausgestreckt auf der hinteren Sitzbank, wobei er mehr einem großen Fisch als einem Menschen glich. »Es ist sechs Uhr morgens!« rief Delaney und bespritzte das Plasmawesen mit Kaffee. Purflinth bäumte sich auf. »Laß das!« sagte er wütend. »Du warst eben nicht von Anfang an dabei, sonst würdest du anders darüber denken«, bemerkte Sphinx und beobachtete die Kontrollinstrumente. »Jetzt spielst du wieder auf deinen priva-
44 ten Frankenstein an«, sagte Delaney und warf sich auf den Sitz. »Morgen werden wir beide darüber lachen.« Sphinx verkniff sich eine Antwort. Er konnte seinem Begleiter nicht einmal einen Vorwurf machen. Delaney hatte Razamon nicht gesehen das war der Unterschied. Ein Alarmsignal ertönte. »Paß auf!« rief Delaney. »Du kommst zu nahe an den Schirm.« Sphinx änderte den Kurs. Wenn er den Kopf zur Seite drehte, konnte er den weiter westlich fliegenden Shift im Licht der ausgehenden Sonne erkennen. Ab und zu empfingen sie eine allgemeine Funknachricht aus der Zentrale. Aus keinem Teil des Operationsgebiets lagen beunruhigende Meldungen vor. Der Shift überflog einen sieben Einheiten starken Verband von Patrouillenschiffen der Terra-Marine. Von diesen Schiffen aus wurden die Projektoren am Meeresgrund kontrolliert, die zur Stabilisierung und Vervollkommnung des Schutzschirms aktiviert worden waren. Sphinx warf einen Blick auf die Karte. Sie hatten sich weiter den Azoren genähert und befanden sich auf der Höhe des 30. Breitengrads. Damit waren sie bis auf ein paar Meilen an den äußeren Rand des Energieschirms herangekommen. Zwischen dem zwanzigsten und dem vierzigsten Breitengrad hatte einst der Kontinent Atlantis gelegen. Der gewaltige Schutzschirm schloß dieses Gebiet ein. »Ich lege mich aufs Ohr«, verkündete Delaney. »Du kannst mich wecken, wenn irgend etwas Aufregendes passieren sollte.« Sphinx nickte. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, daß jemand jetzt schlafen konnte, aber Delaney schien sich nicht die geringsten Sorgen zu machen. Wenige Augenblicke später bewiesen gleichmäßige Schnarchgeräusche, daß Delaney bereits eingeschlafen war. Purflinth kam wie ein praller Wassersack auf den Vordersitz geglitten. »Vielleicht hat Delaney recht«, quäkte er
William Voltz ungehalten. »Wir werden einen Tag nutzlos hier verbringen.« Sphinx beachtete ihn nicht, denn die Nörgelei des Matten-Willy zielte lediglich darauf ab, einen Whisky zu bekommen. Plötzlich fiel ein Schatten über das Meer. Sphinx richtete sich im Sitz auf und blickte in Richtung der Sonne denn er glaubte, daß sich eine Wolke davor geschoben hätte. Geblendet schloß er die Augen. Unverdeckt stand die Sonne über dem Meer. Trotzdem war es dunkler geworden. Die Wasseroberfläche sah wie ein erstarrtes graues Leinentuch aus. Sphinx spürte, wie sich in seinem Innern alles zusammenschnürte. Dieses unerklärliche Phänomen machte ihm Angst. »Walther!« krächzte er. »Walther, wach auf!« Delaney hob den Kopf. »Was ist?« murmelte er. »Taucht Atlantis aus den Fluten?« »Rede keinen Unsinn! Sieh dir den Himmel an!« »Die Sonne ist weg!« stellte Delaney fest, dann warf er einen Blick durch die Kuppel ins Freie und stieß eine Verwünschung aus. »Es scheint Nebel aufzuziehen.« »Mach dich nicht lächerlich!« fuhr Sphinx ihn an. »Es ist keine Spur von Nebel zu sehen.« In diesem Augenblick nahm die Funkaktivität zu. Verschiedene Gleiter und Schiffsbesatzungen meldeten ihre Beobachtungen an die Zentrale in Terrania. Delaney rutschte auf den Nebensitz. Er hatte seine Gleichgültigkeit abgelegt. Mit bleichem Gesicht beobachtete er die Kontrollen. »Alles unverändert!« sagte er leise. »Massetaster und Impulsorter zeigen nichts an.« »Gib eine Meldung durch!« befahl Sphinx. Der junge USO sah ihn mit einer Mischung aus Verzweiflung und Ratlosigkeit an. »Was soll ich denn sagen? Daß es dunkler
Das neue Atlantis geworden ist und trotzdem die Sonne scheint?« »Gib unsere Position durch und berichte, was du siehst. Vielleicht ist es wichtig!« Sphinx starrte unverwandt auf die Wasseroberfläche hinab, als erwarte er, daß jeden Moment etwas Entsetzliches geschehen könnte. Delaney begann zu funken. »Ich glaube«, bemerkte Purflinth hoffnungsvoll, »jetzt könnten wir alle einen kräftigen Schluck vertragen!« Keiner der beiden Männer beachtete ihn. Die Sonne schien jetzt zu flackern und in sich zusammenzuschrumpfen. Der Himmel erinnerte an eine überdimensionale über das Meer gestülpte Porzellanschüssel, so daß Sphinx unwillkürlich befürchtete, es könnten Risse darin erscheinen. Dann brachen alle Funksignale ab. Sphinx fuhr herum. »Hast du abgeschaltet?« »Nein«, sagte Delaney erschrocken. »Die Verbindung ist mit einem Schlag abgerissen.« Er machte sich an den Einstellungen zu schaffen, aber die Anlage blieb stumm. »Wir sind von der Zentrale abgeschnitten.« »Nicht nur von der Zentrale«, erklärte Sphinx grimmig, »sondern auch von allen anderen Patrouillenflugzeugen und schiffen.« »Unser Gerät hat einen Defekt«, sagte Delaney. Sphinx lachte nur hart. Er beugte sich zur Seite. Unten auf dem Wasser waren ein paar Schiffe zu sehen. Sie schienen im Wasser festgefroren zu sein. Eine Aura aus gelbem Licht umgab sie. Auch auf der Oberfläche des Shifts tanzten jetzt funkelnde Lichter, erkannte Sphinx. Die Instrumente begannen auszuschlagen, aber die Werte, die sie anzeigten, lagen in Bereichen, die jede Messung sinnlos erscheinen ließen. »Was geht da vor?« stöhnte Delaney. »Sind wir in den Schutzschirm geraten? Vielleicht haben sie ihn ausgedehnt, ohne
45 uns vorher zu warnen.« Sphinx wunderte sich, daß die Steuerung noch immer funktionierte. Der Shift blieb auf dem eingeschlagenen Kurs. Die Meeresoberfläche begann jetzt in unwirklichem Licht zu glühen, als hätte jemand einen Flammenteppich ausgebreitet. Der unheimliche Effekt reichte bis zum Horizont. Dann erklang ein heller durchdringender Laut, der Sphinx Schmerzen bereitete. Es hörte sich an, als hätte jemand eine gigantische stählerne Saite angeschlagen, die nun endlos tönte. Delaney rief: »Wir müssen hier weg!« Sphinx preßte die Lippen aufeinander und blieb auf Kurs. Jenseits des Schutzschirms schien sich eine gewaltige dunkle Masse zu manifestieren. Sie schälte sich gleichsam aus dem Nichts, aber ihre Konturen waren nur verschwommen zu sehen. Delaney verlor die Nerven und warf sich auf Sphinx, um ihn aus dem Pilotensitz zu zerren. Er hatte nicht mit Purflinth gerechnet, der sich von hinten auf ihn fallen ließ und umschlungen hielt. »Gut gemacht«, sagte Sphinx. Delaney keuchte und wehrte sich verzweifelt, aber gegen die Umklammerung des Plasmawesens war er machtlos. Sphinx schaltete den Robotpiloten ein, denn er fürchtete, daß er eine Panikreaktion begehen könnte. Unter dem Schutzschirm, mitten im Atlantik, materialisierte eine große braune Masse. Sie war in leuchtenden Dunst gehüllt und wirbelte ungeheure Mengen von Wasserdampf auf. Nun geschieht es! dachte Sphinx und erkannte schlagartig, daß er es bis zu diesem Zeitpunkt für unmöglich gehalten hatte. Er konzentrierte sich auf die Kontrollen vor ihm. Sein Blut rauschte im Kopf, er fürchtete, wahnsinnig zu werden. Atlantis! schoß es ihm durch den Kopf. Da taucht es auf!
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* Später, als die Menschen, die den phantastischen Vorgang als Augenzeugen erlebten, wieder einigermaßen klar und vernünftig denken konnten, wurden sie sich der Tatsache bewußt, daß die große Landmasse nicht aus den Tiefen des Atlantiks emporgestiegen, sondern einfach in der Luft und im Wasser materialisiert war. Die seltsame Insel erschien genau auf dem dreißigsten Längengrad und zwischen dem dreißigsten und vierzigsten Breitengrad der nördlichen Erdhalbkugel. Auf den Karten, die den untergegangenen Kontinent Atlantis darstellten, nahm dieses Gebilde nur den östlichsten Teil ein und bedeckte damit eine Fläche von ungefähr siebenhundertdreißig mal fünfhundertsechzig Kilometern. In ihren Umrissen erinnerte die Insel an ein verzerrtes Sechseck. Das Neue Atlantis, wie es vom Zeitpunkt seines Erscheinens an genannt wurde, war weder aus dem Weltraum noch aus dem Meer gekommen. Die Art seines Auftauchens gab jenen Wissenschaftlern recht, die von Dimensionseinbrüchen gesprochen hatten. Ein paar Menschen starben vor Angst und Aufregung, und einige fanatische Sektierer begingen Selbstmord. Das waren die einzigen Opfer, die das Erscheinen der Insel forderte. Da das Neue Atlantis unter dem Paratronschirm materialisiert war, blieben die befürchteten weltweiten Katastrophen aus. Es gab ein paar schwache Erdbeben, aber es kam nicht einmal zur Entwicklung einer Flutwelle. Das Neue Atlantis lag von Anfang an unter einer Dunstglocke, so daß von seiner Oberfläche nicht viel zu sehen war. Darüber hinaus schien es einen eigenen halbkugelförmigen Schutzschirm zu besitzen, der Ortungen unmöglich machte. Die Besatzungen jener Schiffe und Flugmaschinen, die sich zu nahe am Ort des Geschehens aufgehalten hatten, verloren au-
genblicklich ihr Gedächtnis und mußten von Robotern aus dem Gefahrenbereich geholt werden. Danach normalisierte sich ihr Zustand wieder. Auch Sphinx, Delaney und Purflinth gehörten zu den davon Betroffenen.
* Unmittelbar vor dem Auftauchen der Insel versagten alle Funkanlagen an Bord der Schiffe und Flugmaschinen im Atlantik-Sektor. Die flugfähigen Robotkameras sendeten keine Bilder mehr, so daß die in der USOZentrale versammelten Menschen auf die Beobachtungen der Weltraumstationen und Satelliten angewiesen waren. Diese Aufnahmen waren beeindruckend genug, um etwas von dem zu übermitteln, was in diesen Minuten tatsächlich geschah. Trotz aller Vorbereitungen löste das Ereignis bei der Mehrzahl der Beobachter einen gewaltigen Schock aus. Atlan sah Männer und Frauen mit bleichen Gesichtern und weit aufgerissenen Augen an den Kontrollen sitzen. Einige von ihnen begannen heftig zu zittern und waren nicht in der Lage, die übernommene Aufgabe durchzuführen. Der Arkonide selbst spürte, daß ihn eine tief verwurzelte Angst zu überwältigen drohte. Er hörte, daß jemand aufsprang und aus dem Raum rannte. Unwillkürlich blickte er zu Razamon hinüber. Der hagere Mann stand hochaufgerichtet da. Seine Augen glühten in verhaltenem Feuer, und sein Gesicht wirkte wie eine steinerne Maske. Er schien mehr tot als lebendig zu sein. Atlan bezweifelte, daß sich in diesem Augenblick auch nur ein Gefühl in diesem Fremden regte. Niemand vermochte zu ermessen, was dieses Ereignis für Razamon bedeutete. Atlan hörte Rhodan sprechen. Der Funkkontakt zu den Weltraumstationen und den Raumschiffen bestand nach wie vor. Rhodan unterhielt sich mit Tifflor an Bord der IN-
Das neue Atlantis TERSOLAR, um ihn über die jüngsten Ereignisse zu unterrichten. Atlan riß seine Blicke gewaltsam vom Bildschirm los und begab sich zu Razamon. »Das ist es, nicht wahr?« fragte er beherrscht. »Das ist Pthor?« Er hatte die Sprache des Unsterblichen benutzt. Razamon reagierte nicht, aber sein Körper wurde plötzlich von konvulsivischen Zuckungen geschüttelt. »Einen Arzt!« rief Atlan erschrocken. Einer der anwesenden Ärzte eilte herbei und begann sich um Razamon zu kümmern. Atlan bezweifelte, daß der Mediziner viel ausrichten konnte. »Es sieht aus wie eine Insel«, klang Bullys Stimme auf. »Sie ist etwas unterhalb der Azoren erschienen, aber es scheint nicht so, als sei sie aus den Fluten gestiegen oder vom Himmel herabgefallen.« »Nein!« bestätigte Mercant. »Sie war ganz einfach plötzlich da.« Die Positroniken hatten den genauen Standort des Objekts längst ermittelt und ein dreidimensionales Umrißbild auf die Leuchtkarte mit dem alten Kontinent Atlantis projiziert. »Das scheint nur der östlichste Teil des ehemaligen Atlantis zu sein«, bemerkte Bully. »Hoffentlich kommt nichts mehr nach, sonst werden unsere Schutzschirme der Belastung kaum standhalten.« »Sie begehen einen Denkfehler«, versetzte Waringer. »Das, was Sie auf dem Bildschirm sehen, ist kein Bruchstück des alten Atlantis. Es ist Pthor, von dem Razamon berichtete.« »Für mich ist das alles eins«, erklärte Bully kategorisch und drückte damit aus, was alle mehr oder weniger intensiv empfanden. Rhodan hatte das Gespräch mit Tifflor unterbrochen. »Wir haben offensichtlich einen gewaltigen Dimensionseinbruch erlebt«, stellte er fest. »Die Folgen sind noch nicht abzusehen. Außerdem bin ich nicht sicher, ob wir alles, was sich dort auf der Insel befindet, mit Hilfe des Schutzschirms zurückhalten können.«
47 Atlan verstand, was sein alter Freund meinte. Der Paratronschirm war nur in diesem Raum-Zeit-Kontinuum wirksam; es bestand die Gefahr, daß die Insel sich auflöste, um außerhalb des Schutzschirms erneut zu materialisieren. Der Arkonide hoffte jedoch, daß ein derartiges Manöver unmöglich war. Inzwischen war das Neue Atlantis Bestandteil dieses Kontinuums geworden und unterlag den hier geltenden Naturgesetzen. Das hieß, daß es vorläufig völlig abgeschirmt war. »Eines dürfen wir niemals vergessen«, sagte Rhodan finster. »Auf dieser Insel leben Mächte, die unsere Zivilisation vernichten wollen. Solange das Neue Atlantis sich auf dieser Welt befindet, sind wir alle vom Untergang bedroht, auch wenn es uns zunächst einmal gelungen ist, eine globale Katastrophe abzuwenden.« Wenig später begannen die Robotkameras im Eintauchgebiet wieder zu arbeiten, aber den Bildern, die sie übermittelten, konnten keine Einzelheiten entnommen werden. Auch die Funkverbindung kam wieder zustande. Die ersten Berichte trafen ein, ausnahmslos von Menschen, die noch so unter dem Eindruck des Geschehens standen, daß sie keine vernünftigen Meldungen zustande brachten. Jene Schiffe und Flugmaschinen, die sich sehr nahe am Schutzschirm aufgehalten hatten, wurden zunächst als vermißt gemeldet, später stellte sich dann heraus, daß sie unversehrt waren. Ihre Besatzungen hatten lediglich das Gedächtnis verloren. Als Rhodan davon hörte, nickte er grimmig. »Das ist bestimmt kein Zufall«, meinte er. »Operationen in unmittelbarer Nähe des Neuen Atlantis werden damit praktisch unmöglich gemacht.« Atlan glaubte dieser Bemerkung entnehmen zu können, daß Rhodan in Gedanken bereits mit der Möglichkeit spielte, ein Kommandounternehmen nach Pthor zu schicken. Nach allem, was man gerade gehört hatte, war ein solcher Versuch jedoch
48 zum Scheitern verurteilt. Der Arkonide fragte sich, ob das Neue Atlantis ein künstlich entstandenes Gebilde war oder eine Landmasse, die man aus einem Planeten herausgelöst hatte. Beides war denkbar, und die Frage ließ sich wahrscheinlich erst dann beantworten, wenn man Pthor betrat und sich dort umsah. Es war eine Ironie des Schicksals, daß sie einen echten Atlanter auf ihrer Seite hatten, ohne daß dieser ihnen hätte helfen können. Razamon hatte fast alles vergessen, was mit Pthor zusammenhing. Trotzdem wären sie ohne seine Aktivitäten jetzt wahrscheinlich bereits alle tot gewesen. »Nachdem wir den ersten Anschlag erfolgreich abgewehrt haben, wollen wir überlegen, wie wir die Invasoren zurückschlagen können«, sagte Perry Rhodan. »Wegen des Schutzschirms kommt eine Bombardierung der Insel nicht in Frage, ganz abgesehen davon, welche Folgen das unter Umständen für die Erde haben könnte. Darüber hinaus wollen wir nicht vergessen, daß auf Pthor wahrscheinlich viele intelligente Wesen leben, darunter bestimmt auch solche, die mit einem Angriff auf die Menschheit nichts zu tun haben.« »Bevor wir überhaupt etwas unternehmen, sollten wir zunächst einmal gründliche Untersuchungen einleiten«, schlug Waringer vor. »Je mehr wir über Atlantis herausfinden, desto einfacher werden alle Gegenmaßnahmen durchführbar sein.« Atlan hörte nicht länger zu, denn wie er Waringer kannte, würde der Wissenschaftler jetzt sofort mit einer Reihe spekulativer Erörterungen beginnen, um eine fruchtbare Diskussion in Gang zu bringen. Der Arkonide verließ die Zentrale und begab sich in den kleinen Behandlungsraum, wohin man Razamon inzwischen gebracht hatte. Ein Medo-Roboter und der Arzt kümmerten sich um den Pthorer. Der Mediziner machte ein besorgtes Gesicht. »Sein Zustand läßt Schlimmes befürchten,
William Voltz Lordadmiral! Wir sollten ihn in eine USOKlinik bringen. Ich glaube, unsere ärztliche Kunst ist auf ihn nicht anwendbar.« Atlan trat an das Lager und sah Razamon starr auf dem Rücken liegen. Die dunklen Augen waren weit geöffnet und starrten ins Leere. »Haben Sie einen Spiegel?« fragte Atlan. Der Arzt sah ihn verwirrt an, nahm aber den gewünschten Gegenstand aus seiner Bestecktasche. Atlan hielt den Spiegel über Razamons Gesicht. »Mein Gott!« rief der Arzt entsetzt. »Sein Spiegelbild hat keine Augen.« »Ich wollte mich selbst davon überzeugen«, sagte Atlan. »Bisher habe ich es für unmöglich gehalten. Haben Sie eine Erklärung dafür?« »Nein … nein!« stotterte der Mann. »Es gibt keine Erklärung. Das ist unmöglich.« »Mhm!« machte Atlan. »Haben Sie eine Diagnose?« »Katalepsie!« erklärte der Arzt. »Vermutlich ausgelöst durch einen schweren Schock. Aber ich habe das in dieser Form noch nie erlebt und weiß auch nicht, was ich tun soll. Der Medo-Roboter versucht, den Kreislauf des Patienten einigermaßen zu stabilisieren.« »Wissen Sie, was Berserker sind?« fragte Atlan spontan. »Was?« Der Mediziner sah ihn verständnislos an. »Nach einer nordischen Sage sind das Männer, die sich in Bärengestalt verwandeln und Bärenkräfte entwickelten, wenn die Berserkerwut sie überkam. Ich dachte, dieser kleine Hinweis könnte vielleicht hilfreich sein.« »Sie wollen doch nicht behaupten, daß das so ein Berserker ist?« fragte der Arzt entrüstet. Atlan ließ die Frage unbeantwortet. Er schickte den Arzt hinaus und dieser schien froh zu sein, endlich aus der Nähe seines unheimlichen Patienten entkommen zu sein. Der Medo-Robot verrichtete seine Aufgaben
Das neue Atlantis mit völliger Lautlosigkeit. Atlan zog einen Stuhl heran und ließ sich am Bettrand nieder. Er war sich darüber im klaren, daß dieser Fremde eine fest magische Anziehungskraft auf ihn ausübte. Wahrscheinlich rührte sie daher, daß Atlan erkannt hatte, daß Razamon und er im Grunde genommen Schicksalsgenossen waren. Genau wie der Arkonide hatte Razamon zehntausend Jahre auf einer fremden Welt gelebt, abgeschnitten von seiner Heimat. Im Gegensatz zu Atlan besaß Razamon nicht einmal eine vollständige Erinnerung an seine Heimat. Razamon hatte zugegeben, daß er eine gespaltene Persönlichkeit besaß. In der Regel gelang es ihm, sich wie ein Mensch zu verhalten, aber ab und zu überwältigte ihn sein böses atlantisches Erbe, dann verwandelte er sich in einen mit übermäßigen Kräften ausgestatteten gnadenlosen Kämpfer. Eines Tages, davon war Razamon überzeugt, würde er sich völlig unter Kontrolle bringen. Doch dieser Zeitpunkt war weit entfernt und nun, da das Neue Atlantis aufgetaucht war, bestand sogar die Gefahr, daß Razamon jede Menschlichkeit vergaß und in jeder Beziehung rückfällig wurde. Diese körperliche Starre war vielleicht bereits das erste Anzeichen für einen derartigen Prozeß. Es war denkbar, daß Razamon in ein paar Stunden erwachte und sich wie ein wildes Tier gebärdete. Atlan wandte sich an den Roboter. »Schlitze sein linkes Hosenbein auf!« befahl er. »Mich interessiert, wie sein Fuß und sein Bein aussehen.« Da der Roboter nicht in der Lage war, darüber zu befinden, ob dies ein normaler oder ein ungewöhnlicher Auftrag war, kam er der Anordnung widerspruchslos nach. Man hatte Razamon die Schuhe bereits ausgezogen, so daß Atlan nur noch den Strumpf vom Fuß streifen mußte. Inzwischen hatte der Roboter das Hosenbein aufgetrennt und das Bein bis zum Oberschenkel freigelegt.
49 »Kannst du etwas Ungewöhnliches erkennen?« fragte Atlan den MedoRobot. »Keine Verwundungen oder Anomalien, Sir!« »Ja«, sagte Atlan gedehnt. Mehr zu sich selbst fügte er hinzu: »Und doch behauptet er, einen Zeitklumpen an seinem linken Bein zu tragen.« Das war eines der vielen ungelösten Rätsel, die mit Razamon und Pthor zusammenhingen, dachte der Arkonide. Seine Gedanken wurden unterbrochen, als der Arzt den Kopf zur Tür hereinstreckte und sagte: »Entschuldigen Sie, aber ich bin für diesen Patienten verantwortlich.« »Verschwinden Sie!« sagte Atlan schroff. Gleich darauf erlebte er ein neues Beispiel für die von ihm oft gepriesene terranische Unerschrockenheit. Der Mann kam herein. »Sie können mich nicht von meinen Pflichten als Arzt entbinden, und ich nehme in dieser Beziehung auch keine Befehle von Ihnen entgegen.« Atlan mußte mitansehen, wie der Mediziner Razamon erneut untersuchte. »Irgendwelche Veränderungen?« erkundigte er sich. »Nein«, sagte der Arzt. »Wie steht es mit der Überweisung in die USO-Spezialklinik? Dort können sich Galakto-Mediziner seiner annehmen. Diese Spezialisten verstehen etwas von einem fremdartigen Metabolismus.« »Sie halten Razamon also nicht für einen Menschen?« »Ich weiß nicht, wofür ich ihn halten soll«, lautete die ausweichende Antwort. »Ich werde in den nächsten Minuten entscheiden, was geschehen soll«, versprach Atlan. »Warten Sie draußen auf mich. Ich rufe Sie, wenn es schlimmer werden sollte.« Gleich darauf war er wieder mit Razamon allein – wenn man von dem unauffällig arbeitenden Medo-Robot einmal absah. Nein! überlegte Atlan und starrte auf das hagere und wachsbleiche Gesicht mit den schwarzen Augen. Razamon war kein Men-
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William Voltz
sch! Es war kein Wesen von dieser Welt. Aber woher kam er? Woher kam Atlantis? Wer hatte dieses gewaltige Instrument der Vernichtung in Marsch gesetzt? Fragen über Fragen, von denen sich nicht eine einzige befriedigend beantworten ließ. Razamon durfte auf keinen Fall sterben, denn er war der Schlüssel zu allen Geheimnissen. In diesem Augenblick kam Farbe in das Gesicht des Gelähmten. Er schloß die Augen. Sein Körper begann zu beben. Wenig später öffnete er die Augen wieder. Diesmal wirkten sie lebendig, und sie nahmen die Umgebung wahr. Razamon drehte den Kopf und blickte Atlan an. Ein zaghaftes Lächeln spielte um die harten Lippen. »Ich wußte, daß du da sein würdest«, sagte Razamon in Pthora. Atlan war seltsam gerührt. Razamon streckte einen Arm aus und berührte Atlans Hände. »Vertraust du mir?« »Ich weiß nicht«, gab Atlan unsicher zurück. »Ich würde dir gern vertrauen, aber ich weiß nicht genügend über dich. Du kennst dich selbst nicht genau.« »Würdest du mich begleiten?« »Begleiten? Wohin?« »Nach Atlantis«, sagte Razamon.
10. Wie Atlan nicht anders erwartet hatte, erhob Perry Rhodan Einwände. »Ihr würdet euer Ziel niemals erreichen«, gab er zu bedenken. »Jeder, der sich in den vergangenen Stunden zu dicht an den Schutzschirm gewagt hat, verlor das Gedächtnis und mußte von Robotern herausgeholt werden.« »Razamon ist überzeugt davon, daß er nicht von diesem Effekt betroffen sein wird«, entgegnete der Lordadmiral. »Er hofft, daß auch ich dagegen immun bin.
Sollte dies nicht der Fall sein, wird er sich um mich kümmern. Wenn wir aber beide eine Amnesie erleiden sollten, kann man uns mit Hilfe der Roboter zurückholen.« »Nun gut«, sagte Rhodan unwillig. »Aber es gibt noch andere Probleme. Es ist riskant, eine Strukturlücke in unseren Schutzschirm zu brechen, denn wir müssen damit rechnen, daß sie sofort von der Gegenseite entdeckt wird. Außerdem sind unsere Wissenschaftler nach den letzten Ortungsergebnissen ziemlich sicher, daß es einen zweiten, zu Atlantis gehörenden Schutzschirm gibt, und darüber wissen wir überhaupt nichts.« Zum erstenmal, seit er mit Atlan zu Rhodan gekommen war, ergriff Razamon das Wort. »Ich glaube, daß ich mich an die Funktion dieses Schutzschirms erinnern kann«, sagte er. »Es ist der sogenannte Wölbmantel, eine unsichtbare Raum-Zeit-Barriere. Sie reicht zehn Kilometer in die Höhe und einhundert Meter über den Rand von Atlantis hinaus.« »Also eine Defensivwaffe«, mutmaßte Rhodan. Der hagere Pthorer schüttelte den Kopf. »Atlantis gleicht einem abgeschlossenen Raumschiff«, sagte er langsam, als bereitete ihm die Erinnerung an diese Gegebenheiten Qualen. »Es behält immer seine eigenen Naturgesetze, dafür sorgt dieser Wölbmantel. Er nivelliert alle äußeren Einflüsse im Sinn der Atlantis-Regeln, wie zum Beispiel den Tag-und-Nacht-Rhythmus.« Rhodan dachte einen Augenblick nach. »Das würde in letzter Konsequenz bedeuten, daß auf Pthor ein völlig anderer Zeitablauf herrscht.« »Davon muß man ausgehen«, bestätigte Razamon. »Können Sie etwas über den Unterschied aussagen?« wollte Waringer wissen. »Ich erinnere mich nicht genau«, behauptete Razamon. Rhodan machte eine entschiedene Geste. »All diese Dinge bestärken mich nur in der Ansicht, daß wir viel zu wenig über unseren Gegner wissen, um uns leichtfertig in
Das neue Atlantis seinen Einflußbereich zu begeben. Ein solcher Versuch käme einem Selbstmord gleich.« Razamon richtete sich auf. »Ich werde in jedem Fall gehen«, erklärte er stolz. »Sie müßten mich mit Gewalt daran hindern. Pthor ist meine Heimat, und sie wird von einer schrecklichen Macht beherrscht und mißbraucht. Ich habe vor, das zu ändern.« Rhodan konnte ein geringschätziges Lächeln nicht unterdrücken. »Sie als einzelner können überhaupt nichts ändern. Sie wären besser beraten, sich mit uns zu verbünden und darauf zu warten, bis wir genügend herausgefunden haben, um eine großangelegte Aktion riskieren zu können.« »Ich werde gehen«, erklärte Razamon lakonisch. Atlan warf Rhodan einen Blick zu, doch der Großadministrator reagierte nicht darauf. Einen Augenblick lang befürchtete der Arkonide, Rhodan würde Razamon festnehmen lassen. Doch Rhodan erklärte: »Es ist sicher ein Fehler, Sie gehen zu lassen, Razamon! Doch ich werde ihnen nichts in den Weg legen.« »Ich begleite ihn«, hörte Atlan sich ausrufen. Bully, der offenbar argwöhnte, in Rhodan könnte sich ein Sinneswechsel vollziehen, protestierte lautstark. »Wir dürfen sie nicht gehen lassen, Perry. Das ist doch verrückt.« »Schau sie dir an!« empfahl ihm Rhodan. »Schau sie dir an und sage mir, ob du sie wirklich aufhalten willst. In Gedanken sind sie bereits an ihrem Ziel.« »Du redest von ihnen, als seien sie eine … eine besondere Art von Wesen«, sagte der Staatsmarschall mit einer gewissen Abscheu. »Sie haben vieles gemeinsam«, stimmte Rhodan zu. Razamon schien das alles nicht mehr zu berühren. Er wandte sich an den Arkoniden und fragte in Pthora: »Gehen wir jetzt, mein
51 Freund?«
* »Ich werde sofort die nötige Ausrüstung bestellen und an Bord eines Shifts bringen lassen«, kündigte Atlan an, nachdem er zusammen mit Perry Rhodan und Razamon die Zentrale verlassen hatte. Der Pthorer blieb stehen. »Wir brauchen keine Ausrüstung!« »Ist das dein Ernst?« erkundigte Atlan sich fassungslos. »Du willst doch nicht ohne Schutzanzug und Waffen nach Atlantis gehen, ganz zu schweigen von Funkgerät und Flugaggregaten?« »Wir müssen gehen, wie wir sind. Es würde uns nicht gelingen, auch nur einen Teil unserer Ausrüstung nach Pthor zu schaffen«, behauptete Razamon. Atlan wurde ärgerlich. »Es ist mir gleichgültig, was du sagst. Ich werde den Shifts vollpacken lassen. Vor allen Dingen brauchen wir ein stabiles Kunststoffboot.« Razamon sah ihn mit seinen unergründlichen Augen an, sagte aber nichts mehr. Ein USO-Spezialist trat in den Korridor und überreichte Perry Rhodan das Parraxynt. Rhodan gab das metallische Bruchstück an Razamon weiter. »Es gehört Ihnen«, verkündete er. »Ich dachte mir, daß Sie es vielleicht mitnehmen wollen.« Atlan hatte den Eindruck, daß Razamon überwältigt war, trotzdem fand der Pthorer kein Wort des Dankes. »Die Legende sagt, daß eines Tages jemand alle Bruchstücke finden und durch das Zusammensetzen dieser Teile das Geheimnis von Atlantis lösen wird«, sagte er nur. »Sie denken, daß Sie dieser Mann sind!« erriet Perry Rhodan. »Ich hoffe es!« Er wandte sich wieder an Atlan. »Es ist schade, daß wir keine Quorks haben, wenn wir nach Atlantis kommen. Das würde unsere Aufgabe wesentlich erleichtern.«
52 »Quorks?« wiederholte der USO-Chef. »Was ist das?« »Knochen mit komplizierten Schnitzereien«, erklärte Razamon. »Sie dienen auf Atlantis als Zahlungsmittel. Je komplizierter die Schnitzarbeit ist, desto größer wird der Wert eines Quorks eingeschätzt. Diese Knochen wurden aus dem Körper der Yuugh-Katze hergestellt, und es gibt dreißig Millionen Exemplare davon. Sollte es jemand gelingen, sie alle in seinen Besitz zu bringen, würde der Körper der Yuugh-Katze wiederentstehen und zum Leben erwachen. Auch das ist natürlich nur eine Legende.« »Ihr Erinnerungsvermögen scheint plötzlich wieder zu funktionieren«, bemerkte Rhodan mißtrauisch. »Durch das Auftauchen von Pthor wurden verschiedene Einzelheiten in meinem Gedächtnis geweckt«, bestätigte Razamon scheinbar arglos. »Aber das sind wirklich nur unbedeutende Dinge.« Perry Rhodan begleitete die beiden Männer bis in den Hangar unter dem Dach der USO-Zentrale. Dort waren Roboter und USO-Spezialisten bereits dabei, den von Atlan angeforderten Shift mit Ausrüstungsgegenständen zu beladen. »Wir müssen die genaue Position der Strukturlücke festlegen«, erklärte Atlan. »Außerdem den exakten Zeitpunkt, wann sie entstehen wird.« »Ich kümmere mich um alles«, versprach Rhodan. »Du erhältst die Koordinaten über Funk.« Atlan spürte, daß Razamon von rastloser Ungeduld erfüllt war. Der geheimnisvolle Fremde schien den Start kaum noch abwarten zu können. Atlan kamen plötzlich Bedenken. Worauf ließ er sich da überhaupt ein? Vielleicht wäre es klüger gewesen, Rhodans Rat zu befolgen und erst einmal die Untersuchungen abzuwarten. Großangelegte Aktionen verhießen eher Erfolg als dieses Zwei-Mann-Unternehmen. Rhodan schien das Zögern seines Freundes zu registrieren.
William Voltz »Noch ist Zeit, alles abzubrechen«, sagte er leise. »Ich habe wirklich mit diesem Gedanken gespielt«, gab der Arkonide grimmig zu. »Aber ich glaube, jetzt gibt es kein Zurück mehr für mich.« Razamon kletterte in den. Shift, kam aber gleich darauf wieder heraus. »Wir haben kaum noch Platz zum Sitzen«, sagte er. »Die Spezialisten der USO meinen es wirklich gut mit uns.« Seinem Tonfall konnte man deutlich entnehmen, daß er diese Maßnahmen für überflüssig hielt. Atlan warf einen Blick auf die Uhr. Es war 14:23 Uhr Standardzeit, vor knapp acht Stunden war das Neue Atlantis materialisiert. Diese Zeit war wie im Flug vergangen. Atlan fragte sich unwillkürlich, was inzwischen auf Pthor geschehen sein mochte. Wenn die Zeit dort tatsächlich anders ablief, mußte man damit rechnen, daß die Herren von Atlantis Schritte eingeleitet hatten, um den Abwehrmaßnahmen der Terraner zu begegnen. Atlan wünschte, er hätte ein paar ruhige Minuten gehabt, um noch einmal gründlich über alles nachzudenken. Vielleicht bot sich ihm auf dem Flug zum Atlantik dazu Gelegenheit. Das Dach des Hangars öffnete sich. Razamon trug das Parraxynt in den Shift. Diesmal kam er nicht wieder heraus. »Er hätte sich zumindest von dir verabschieden können«, bemerkte Atlan unwillig. »Wozu?« fragte Rhodan. »Ihn und mich verbinden nichts! Außerdem hat er es verdammt eilig, seine Heimat zu erreichen. Ich frage mich, ob es die Wahrheit ist, die er uns über sich erzählt hat.« »Fellmer Lloyd hat seine Gedanken durchforscht«, erinnerte Atlan. »Er hat nichts gefunden, was im Widerspruch zu den Geschichten stünde, die Razamon uns erzählt hat.« Er sah, daß es in Rhodan arbeitete. Der Terraner hatte Bedenken, aber er äußerte sie nicht.
Das neue Atlantis »Es wird Zeit«, sagte Atlan. »Die gesamte Ausrüstung befindet sich an Bord des Shifts. Ich werde jetzt zusammen mit Razamon aufbrechen.« Er reichte Rhodan die Hand. »Leb wohl«, sagte er ruhig. »Und Dank für alles.« »Das klingt dramatisch«, meinte Rhodan. »Es hört sich nach einem endgültigen Abschied an.« »Ich habe ein merkwürdiges Gefühl«, gestand Atlan. »Wie zu Beginn einer sehr langen Reise.« »Deine Reise dauert jetzt schon länger als zehntausend Jahre«, erinnerte Perry Rhodan. Atlan nickte ihm zu und verschwand im Innern des Shifts. Er tauchte gleich darauf hinter der transparenten Kuppel auf und ließ sich in den Pilotensitz sinken. Der Antigravantrieb des gepanzerten Allzweckfahrzeugs sprang an. Rhodan sah, daß der Shift lautlos abhob und aufwärts zu gleiten begann. Atlan winkte dem Terraner noch einmal zu, dann geriet er außer Sichtweite. Die USO-Spezialisten hatten den Hangar längst verlassen. Rhodan stand allein zwischen den SpaceJets und Fluggleitern. Ein Gefühl von Leere breitete sich in ihm aus. Plötzlich hörte er Schritte und wandte sich zum Eingang um. Reginald Bull näherte sich. »Zu spät!« rief der Staatsmarschall enttäuscht aus. »Ich wollte mich von ihm verabschieden.« »Du kannst es sofort über Funk nachholen!« schlug Rhodan vor. »Das wäre kein richtiger Abschied«, hielt ihm Bull entgegen. »Wir werden uns noch Vorwürfe machen, daß wir ihn ziehen ließen.« Sie verließen gemeinsam den Hangar. Draußen im Korridor blieb Rhodan vor dem Antigravschacht stehen. »Er wird zurückkommen!« Bully antwortete nicht, aber sein Gesichtsausdruck war beredter als alle Worte. »Neue Nachrichten von unseren Außen-
53 stationen?« lenkte Rhodan ab. Sein rothaariger Freund schüttelte den Kopf. »Alles unverändert«, erklärte er. »Unsere Gegner müssen offenbar auch erst mit dieser unerwarteten Situation fertig werden. Solange es ihnen nicht gelingt, den Schutzschirm zu durchdringen, sind wir in Sicherheit.« »Vielleicht geben sie auf!« hoffte Rhodan. »Du meinst, Atlantis könnte wieder verschwinden?« »So ist es!« »Nein«, sagte Bull düster. »Dieser unheimliche Feind wird sich erst zurückziehen, wenn er seine Aufgabe erledigt hat. Und diese besteht in der Vernichtung der menschlichen Zivilisation.« »Warum mag den Unbekannten soviel an einer Zerstörung der Erde gelegen sein?« fragte Rhodan. »Sie machen nicht einmal den Versuch, Verhandlungen aufzunehmen.« »Wenn es tatsächlich stimmt, daß Atlantis für viele globale Katastrophen in der Vergangenheit verantwortlich ist, müssen wir diesen Angriff nach kosmischen Zeitbegriffen beurteilen und können ihn nicht allein aus unserer Sicht sehen. Vielleicht handelt es sich um ein universelles Projekt. ES könnte etwas darüber wissen.« »ES schweigt!« »Ja«, bedauerte Bully. »Vielleicht kommen Atlan und Razamon mit allen wichtigen Informationen zurück.« Sie stiegen in den Antigravschacht und schwebten in die Zentrale hinab. Dort hatte man bereits Funkkontakt zu dem Shift hergestellt. Der Allzweckpanzer überquerte gerade Osteuropa und näherte sich der Atlantikküste. Der entscheidende Anflug stand bevor.
* Die Daten für die Position der Strukturlücke und der Zeitpunkt ihres Entstehens waren Atlan und Razamon mitgeteilt wor-
54 den, so daß sie ihren Zeitplan aufstellen und ihren Kurs festlegen konnten. Der Shift kam an großen Verbänden verschiedenartiger Flugmaschinen der SolAb und der Solaren Flotte vorbei. Diese Einheiten waren überall zusammengezogen worden, um für den Fall einsatzbereit zu sein, daß der Schutzschirm von Atlantis aus zerstört werden sollte. Auch vor den Küsten operierten die Flotten der Terra-Marine. Razamon blickte aus dem Seitenfenster. »Wie beurteilst du die Situation?« Atlan zuckte mit den Schultern. »Was soll ich darüber sagen? Ich weiß kaum etwas über deine Heimat.« »Das meine ich auch nicht! Ich dachte an deine Freunde, die Terraner. Wie lange, denkst du, wird es dauern, bis sie den Schutzschirm abschalten und Pthor angreifen?« Atlan sah ihn bestürzt an. »Das werden sie bestimmt nicht tun! So verrückt werden sie nicht sein. Rhodan würde das auch nicht zulassen. Er ist sich des Risikos bewußt.« »Oh doch!« widersprach Razamon. »Sie werden es tun! Du kennst diese Menschen genausogut wie ich, und du kennst ihre Geschichte. Sie werden eine Zeitlang stillhalten, aber nicht sehr lange. Dann schlagen sie los und niemand kann sagen, wie das dann ausgeht.« »Wir müssen einer solchen Entwicklung zuvorkommen!« »Das habe ich unter anderem vor.« Sie hatten den offenen Ozean erreicht. »Wir kommen in ein paar Minuten in jenen Sektor, wo alle bisher dorthin vorgedrungenen Menschen das Gedächtnis verloren«, sagte Atlan. »Ich werde den Robotpilot für den Fall programmieren, daß uns das gleiche Schicksal widerfährt. Der Shift wird dann automatisch zurückfliegen, wenn wir die Programmierung nicht löschen.« Razamon erhob keine Einwände. Sie bekamen Funkkontakt mit den am weitesten vorgerückten Schiffen, und der
William Voltz kommandierende Offizier wünschte ihnen viel Glück bei ihrem Unternehmen. Atlan bedankte sich und widmete seine Aufmerksamkeit dann wieder den Kontrollen. Die beiden Männer schwiegen, sie wußten, daß ein entscheidender Augenblick bevorstand. Razamon hatte das Parraxynt vor sich auf den Beinen liegen. Er hielt es mit beiden Händen umklammert, als könnte ihm dieses Gußstück Kraft und Zuversicht verleihen. Dann erreichten sie die unsichtbare Grenze, hinter der jene Strahlung wirksam war, die jede Erinnerung auslöschte. Atlan schloß die Augen. Obwohl er versuchte, gelassen zu bleiben, krampfte sich doch alles in ihm zusammen. Da hörte er Razamon triumphierend auflachen. »Wie ich prophezeit habe! Wir sind nicht davon betroffen!« Atlan öffnete die Augen und atmete erleichtert auf. Dabei standen die wirklich gefährlichen Aktionen des Unternehmens erst noch bevor. Der Arkonide löschte die für den Eventualfall eingespeiste Rettungskursprogrammierung. Dann drosselte er die Geschwindigkeit des Shifts. »Bereitmachen zum Wassern!« rief er seinem Begleiter zu. »Wir gehen dicht vor dem Schutzschirm nieder, dann bringen wir unser Boot mit der Ausrüstung hinaus.« Der Shift, so war es jedenfalls geplant, sollte vor der Strukturlücke verankert werden. Atlan und Razamon konnten das Allzweckfahrzeug nicht mit durch die enge Lücke auf die andere Seite nehmen, dazu stand ihnen nur das Boot zur Verfügung. Das bedeutete, daß sie einen Teil ihrer Ausrüstung an Bord des Flugpanzers zurücklassen mußten. Genau zwölf Stunden nach dem Aufbau der ersten Strukturlücke sollte eine zweite an derselben Stelle gebildet werden, damit die beiden Männer die Insel wieder verlassen konnten. Doch daran dachte Atlan im Au-
Das neue Atlantis genblick nicht. Dicht vor dem grün flimmernden Schutzschirm sank der Shift auf das Wasser. Atlan schaltete das Funkfeuer ein, dann öffnete er die Luke und warf das Boot hinaus, das sich sofort entfaltete und auf den Wellen zu tanzen begann. Es wurde mit einem Tau am Shift festgehalten. Atlan stellte fest, daß nur schwacher Wellengang herrschte. Die äußeren Bedingungen kamen ihrem Vorhaben also entgegen. Der Arkonide blickte auf die Uhr. »Siebzehn Minuten!« stellte er fest. »Wir brauchen nichts zu überstürzen.« Gemeinsam beluden die beiden Männer das Boot, dann kletterten sie ebenfalls hinein. Vergeblich versuchte Atlan, Einzelheiten von Pthor zu erkennen. Hinter der flimmernden Energiewand des Paratronschirms lag die dunkle Landmasse in einer nahezu undurchdringlichen Dunstschicht. Atlan fieberte dem Augenblick entgegen, da die Strukturlücke entstehen und ihnen die Möglichkeit zum Hinüberwechseln geben würde. Jenseits des Schutzschirms befand sich niemand im Wasser. Die Bewohner von Pthor hatten die Insel nicht verlassen, obwohl Atlan damit gerechnet hatte. Die Anwesenheit von Fremden hätte für die beiden Männer das Vordringen nach Atlantis erschwert. Der kleine Bootsmotor sprang an. Auf die Sekunde genau erreichte das Boot die Stelle, an der die Strukturlücke entstand. Atlan hatte keinen Augenblick am Gelingen dieses Planes gezweifelt. Er wußte, daß er sich auf die Männer, die die Satellitenprojektoren von Weltraumstationen aus kontrollierten, verlassen konnte. Eine rotbogenförmige Öffnung bildete sich. Ihre dunkle Umrandung zuckte hin und her und änderte ständig die Form, ohne daß die Ausdehnung der Lücke davon bedeutend betroffen wurde. Das Boot schoß förmlich durch den entstandenen Spalt und hinter ihm schlugen die Energien wieder zusammen.
55 »Geschafft!« schrie Atlan. In diesem Augenblick kenterte das kleine Schiff. Vergeblich versuchte Atlan sich festzuklammern. Zusammen mit der Ausrüstung wurde er über Bord geschleudert und versank im Meer. Mit ein paar Schwimmstößen kam er wieder an die Wasseroberfläche. Eine starke Strömung hatte das Boot erfaßt und trug es so schnell davon, daß Atlan sofort den Versuch aufgab, es noch einmal einzuholen. Er sah Razamon in seiner unmittelbaren Nähe im Wasser schwimmen. Der Arkonide stieß eine Verwünschung aus. »Unsere Ausrüstung ist komplett untergegangen!« Razamon zeigte ihm das Parraxynt, das er in einer Hand hielt. »Ich wußte, daß es keinen Sinn haben würde, irgend etwas mitzunehmen«, erklärte der Pthorer lakonisch. »Ich werde versuchen zu tauchen, um wenigstens unsere Waffen zu retten«, kündigte Atlan an. Er mußte jedoch feststellen, daß dieses Vorhaben undurchführbar war. Die Strömung hatte ihn längst von der Unglücksstelle weggetragen. »Wir sollten versuchen, die Küste zu erreichen«, schlug Razamon vor. »Das erscheint mir klüger zu sein als diese sinnlose Suche nach unserer Ausrüstung.« Atlan sah ein, daß der Atlanter recht hatte. Sie schwammen mit kraftvollen Armbewegungen nebeneinander her. Obwohl Razamon das Parraxynt in einer Hand hielt, blieb er ohne sichtbare Anstrengung an Atlans Seite. Plötzlich stellte Atlan fest, daß seine Kleider vom Körper abfielen. Sie schienen sich geradezu zu zersetzen. Er blickte zu Razamon hinüber und erkannte, daß bei seinem Begleiter ein ähnlicher Effekt auftrat. »Unsere Kleider!« rief er bestürzt. »Sie lösen sich auf!« Razamon lächelte, als hätte er mit einer solchen Entwicklung gerechnet. »Wir werden nackt auf Pthor ankommen«, prophezeite er. »Immerhin bleibt uns
56 das Parraxynt erhalten.« Atlan war über diese Entwicklung maßlos enttäuscht. Das Unternehmen hatte so erfolgversprechend begonnen – und nun das! In diesem Augenblick spürte Atlan einen heftigen Druck an seiner Brust. Er tastete mit einer Hand nach dem Zellaktivator und spürte, daß dieser unter die Haut schlüpfte. Obwohl dieser Vorgang unerklärlich und beunruhigend war, fühlte Atlan sich erleichtert, denn er hatte bereits befürchtet, daß der Aktivator das gleiche Schicksal erleiden könnte wie seine Kleidung. Das hätte seinen baldigen Tod bedeutet. Solange das Gerät jedoch in einer Körperhöhlung unter der Brustknochenplatte saß, war er sicher. Katastrophal jedoch war der Verlust der gesamten Ausrüstung. Ohne Waffen waren sie verloren. Sie mußten froh sein, wenn sie unentdeckt an Land gehen und sich irgendwo verkriechen konnten. Unter diesen Umständen war es sogar zweifelhaft, ob sie zum verabredeten Zeitpunkt wieder an jener Stelle sein konnten, wo die Strukturlücke ihnen die Möglichkeit zur Flucht bieten sollte. Atlan begann seine Voreiligkeit zu verwünschen. Er hätte sich niemals auf eine Teilnahme an diesem Unternehmen einlassen sollen. Ärger auf Razamon stieg in ihm auf, er fühlte sich von diesem Mann geradezu hintergangen. Er unterdrückte dieses Gefühl, schließlich war er freiwillig hier, und Razamon hatte die gleichen Probleme wie er. Sie schwammen auf die im Dunst liegende Küste zu. Was verbarg sich hinter dieser Nebelwand? fragte sich Atlan. Was erwartete ihn und seinen Begleiter? Die Strömung ließ nach, das Wasser bekam eine hellere Farbe. Atlan wußte, daß sie sich ziemlich genau etwas oberhalb jener Stelle befanden, wo der dreißigste Längengrad sich mit dem dreißigsten Breitengrad der nördlichen Erdhalbkugel schnitt. Soweit man von den Weltraumstationen überhaupt etwas hatte feststellen können, war die Kü-
William Voltz ste in diesem Gebiet flach. Atlan spürte, daß seine Kräfte überraschend schnell nachließen. Auch das war ungewöhnlich. Eine Strömung spülte ihn jedoch auf das Land zu. Er begann zu befürchten, daß er bewußtlos am Ziel ankommen würde. Die Bewegungen Razamons begannen ebenfalls zu erlahmen. Atlan sah Grund unter sich. Das letzte, was er wahrnahm, bevor er endgültig das Bewußtsein verlor, war Razamons düsteres Gesicht – das Gesicht eines Fremden.
EPILOG Fast auf die Stunde genau zwei Tage, nachdem das Neue Atlantis materialisiert war, verschwand es wieder, ohne daß es zu nennenswerten oder gar dramatischen Zwischenfällen gekommen wäre. Genauso schnell und plötzlich wie es aufgetaucht war, löste es sich auch wieder auf und nahm alle seine ungeklärten Geheimnisse mit sich. Die Menschen auf der Erde sollten dieses Ereignis bald wieder vergessen, wie einen schlechten Traum. Niemand wußte, wieviel Zeit in diesen beiden Tagen für die Bewohner und Herren des Neuen Atlantis vergangen waren und was sich auf diesem mysteriösen Gebilde alles ereignet hatte. Die beiden einzigen Männer, die darüber hätten Auskunft geben können, Atlan und Razamon, waren weder zurückgekehrt, noch hatten sie eine Nachricht übermittelt. Sie verschwanden zusammen mit dem Neuen Atlantis – und das war genauso, als wären sie gestorben. Atlantis war Wirklichkeit und Mythos geblieben. ENDE
Das neue Atlantis
57 ENDE