, Das Problem des ,Ur-Ich bei Edmund Husserl
PHAENOMENOLOGICA REIHE GEGRÜNDET VON H.L. VAN BREDA UND PUBLIZIERT UNTER...
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, Das Problem des ,Ur-Ich bei Edmund Husserl
PHAENOMENOLOGICA REIHE GEGRÜNDET VON H.L. VAN BREDA UND PUBLIZIERT UNTER SCHIRMHERRSCHAFT DER HUSSERL-ARCHIVE
178 SHIGERU TAGUCHI
, DAS PROBLEM DES ,UR-ICH BEI EDMUND HUSSERL
Redaktionskomitee: Director: R. Bernet (Husserl-Archief, Leuven) Secretary: J. Taminiaux (Centre d’études phénoménologiques, Louvain-la-Neuve) Members: S. IJsseling (HusserlArchief, Leuven), H. Leonardy (Centre d’études phénoménologiques, Louvain-laNeuve), D. Lories (Centre d’études phénoménologiques, Louvain-la-Neuve), U. Melle (Husserl-Archief, Leuven) Wissenschaftlicher Beirat: R. Bernasconi (Memphis State University), D. Carr (Emory University, Atlanta), E.S. Casey (State University of New York at Stony Brook), R. Cobb-Stevens (Boston College), J.F. Courtine (Archives-Husserl, Paris), F. Dastur (Université de Nice), K. Düsing (Husserl-Archiv, Köln), J. Hart (Indiana University, Bloomington), K. Held (Bergische Universität Wuppertal), K.E. Kaehler (Husserl-Archiv, Köln), D. Lohmar (Husserl-Archiv, Köln), W.R. McKenna (Miami University, Oxford, USA), J.N. Mohanty (Temple University, Philadelphia), E.W. Orth (Universität Trier), C. Sini (Università degli Studi di Milano), R. Sokolowski (Catholic University of America, Washington D.C.), B. Waldenfels (Ruhr-Universität, Bochum)
, Das Problem des ,Ur-Ich bei Edmund Husserl Die Frage nach der selbstverständlichen , ,Nähe des Selbst
Shigeru Taguchi Yamagata University, Japan
A C.I.P. Catalogue record for this book is available from the Library of Congress.
ISBN-10 ISBN-13 ISBN-10 ISBN-13
1-4020-4854-8 (HB) 978-1-4020-4854-8 (HB) 1-4020-4855-6 (e-book) 978-1-4020-4855-5 (e-book)
Published by Springer, P.O. Box 17, 3300 AA Dordrecht, The Netherlands. www.springer.com
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Inhaltsverzeichnis
Vorwort Einleitung
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ERSTER TEIL: VORMEDITATIONEN ZUR THEMATISIERUNG DES ,UR-ICH’
1
Kapitel I: Die Phänomenologie als Wissenschaft der ,Selbstverständlichkeit’
3
1. Das ,Fremdwerden’ der ,Selbstverständlichkeit’ in der Philosophie 2. Der Durchbruch des Motivs vom ,Rückgang auf das Selbstverständliche’ 2.1 Philosophie als Wissenschaft des ,Selbstverständlichen’: Frühe Ansätze 2.2 Intentionalität als ,Selbstverständlichkeit’ 3. Die ,Fremdartigkeit’ der phänomenologischen Enthüllung der Selbstverständlichkeiten 3.1 ,Anonymität’ der Selbstverständlichkeiten und ,Widernatürlichkeit’ der Phänomenologie 3.2 Wissenschaftskritik und das Recht der Natürlichkeit 4. Die ,Fremdartigkeit’ der transzendentalen Reduktion und das Weltproblem 4.1 Die Aufgabe, das Selbstverständliche zu ,verstehen’ 4.2 Die ,Fremdartigkeit’ der universalen Epoché vom Weltglauben 5. Das Problem der Subjektivität und die Tiefendimension der Selbstverständlichkeiten 5.1 Der Rückgang auf das selbstverständlich durchlebte ,transzendentale Leben’ 5.2 Die universale Konkretion der ,transzendentalen Subjektivität’ und die Selbstverständlichkeit des Anderen 5.3 Das Problem des ,Ur-Ich’: Die letzte Selbstverständlichkeit?
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Inhaltsverzeichnis
Kapitel II: Die ,non-egologische’ Reduktion und der Rückgang auf die Evidenz: Zur Vertiefung des ,Sehens’ 1. Einleitung 2. Die non-egologische Position der frühen Phänomenologie und die phänomenologische Reduktion 2.1 Die ,verstehende’ Sinnesaufklärung des Selbstverständlichen und die natürlichen Theorien 2.2 Die radikale Skepsis als Methode: Die Vermeidung des Zirkels 2.3 Die phänomenologische ,Immanenz’ und die Reduktion 2.4 Die Ausschaltung der Ich-Apperzeption 2.5 Rückgang auf die ,Nähe’ des Lebens und die ,Unbestimmtheit’ des absoluten Bewußtseins 3. Die Evidenz als ,Schauen’: Die Eröffnung der evidenztheoretischen Perspektive 3.1 Die Unhintergehbarkeit der Evidenz: Das ,Schauen’ als letztes ,Maß’ allen Wissens 3.2 Die Radikalisierung des Evidenzprinzips und die Erweiterung der phänomenologischen Gegebenheitssphäre 3.3 Das vertiefte Selbstverständnis des ,Sehens’ und die Umdeutung der Reduktion
Kapitel III: Die Entdeckung des ,Ich’ als phänomenologisches Thema 1. Die Frage nach dem ,Schauenden’: Implizite Ansätze in der frühen Phänomenologie 2. Das Problem der Intersubjektivität und die egologische Wende der Phänomenologie 2.1 Die intersubjektive Reduktion und die Frage nach dem phänomenologisierenden Ich 2.2 Die egologische Konzeption der transzendentalen Phänomenologie und die ,monadologische’ Intersubjektivität 2.3 Die Bedeutung der egologischen und intersubjektiven Umwendung: Rück- und Ausblick 3. ,Reines’ und ,phänomenologisierendes’ Ich: Reinheit und Faktizität 3.1 Die ,Entdeckung’ des reinen Ich als neuartiger ,Gegebenheit’ 3.2 Die einfache ,Selbstverständlichkeit’ und die ,Nähe’ des reinen Ich 3.3 Der ,faktische’ Vollzug der Ich-Evidenz und das phänomenologisierende Ich
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Inhaltsverzeichnis 3.3.1 Die Notwendigkeit des jeweiligen Selbstvollzugs der IchEvidenz 3.3.2 Die ,Selbstverantwortung’ des Ego und die Einstellung des ,anfangenden Philosophen’ 3.3.3 Die ,Faktizität’ des phänomenologisierenden Ich
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ZWEITER TEIL: VERSUCH EINER SYSTEMATISCHEN DARSTELLUNG DER LEHRE VOM ,UR-ICH’
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Kapitel IV: Die ,Paradoxie’ der Subjektivität und die sich aufdrängende Frage nach dem ,Ur-Ich’
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1. Rückblick und Problemstellung 2. Die Paradoxie der menschlichen Subjektivität 3. Die Einheit der ,drei Ich’ und die Bedeutung des phänomenologisierenden Ich 4. Die Problematisierung des ,Ur-Ich’ 4.1 Das Problem der Intersubjektivität und die Frage nach der transzendentalen ‚Sichtweise’ 4.2 Das Problem des ,Ur-Ich’ und der intersubjektiven Pluralisierung 4.2.1 Das vertiefte Selbstverständnis und die ,philosophische Einsamkeit’ 4.2.2 Die radikalisierte Epoché und das Problem der ,Äquivokation’ 4.2.3 Die undeklinierbare ,Einzigkeit’ und die ,intentionale Modifikation’ 4.2.4 Die Analogie zwischen Fremderfahrung und Wiedererinnerung und das Problem der Zeitigung 4.2.5 Der methodische Primat des Ich und die Überwindung der Naivität 4.3 Die apodiktische Evidenz des ,absoluten Ego’
Kapitel V: Das Ur-Ich und die Radikalisierung der Epoché: Kritische Abgrenzung des Problems 1. Einleitung und Problemstellung 1.1 Die ,Unbekanntheit’ des Ur-Ich und die Radikalisierung der Epoché 1.2 Erfahrung und Begriff. Die ,transzendentalen Symbole’
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105 105 105 107
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Inhaltsverzeichnis
1.3 Terminologische Klärung: ,Ur-Ich’, ,Ur-Ego’ und ,absolutes Ego’ 2. Das ,Ur-Ich’ als ,stumme Konkretion’? 2.1 Die scheinbare ,Unterschiedslosigkeit’ 2.2 Die ,Wachheit’ des Phänomenologisierenden in der Epoché 3. Das ,Ur-Ich’ als ,Anfang’ der Bewußtseinsentwicklung? 3.1 Entwicklungspsychologische Mißverständnisse 3.2 ,Ur-Ich’ und ,Vor-Ich’. Die Ordnung der Evidenz und der Genesis 4.,Singular’ oder ,Plural’ des Ur-Ich? 4.1 Vielheit der gleichursprünglichen Ur-Ich? Die Radikalisierung der Epoché 4.2 Die ,Einzigkeit’ des Ur-Ich: Ist ,jedes’ Ich einzig? 4.3 Das Ur-Ich ist ,weder Eines noch Vieles’. Eine metaphysische Annahme? 5. Ur-Ich als ,Eidos-Ego’? 5.1 Mögliche Belege für diese Interpretation 5.2 Die Epoché im Hinblick auf das Denkschema ,Eidos – Faktum’ 5.3 Das ,Urfaktum’ des Ego 6. Das ,absolute Leben’ vor dem Ur-Ich? Das Problem der ,Nähe’ des Selbst 6.1 Die Weggabelung von Husserl und Fink 6.2 Das ,Ur-Leben’ oder das ,Ur-Ich’? 6.3 Die Überwindung der tieferen Naivität des Phänomenologisierens: Die ,Nähe’ des ,Ich-schaue’ und Selbstverantwortlichkeit
Kapitel VI: Das Ur-Ich und die ,intentionale Modifikation’: Einzigkeit und Gleichstellung 1. Das Problem der ,intentionalen Modifikation’ 1.1 Die allgemeine Charakterisierung der ,Modifikation’ 1.2 Die fundamentale Struktur der Modifikation: Einzigkeit und Gleichstellung 2. Die intentionale Modifikation und die Fremderfahrung in der V. Meditation 2.1 Das Motiv der Sinnesaufklärung und die Modifikationslehre 2.2 Die ,analogisierende Apperzeption’ als intentionale Modifikation 2.3 Die primordiale Reduktion und der Doppelcharakter des Urmodus
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Inhaltsverzeichnis 3. Der urmodale Sinn des ,Ich’ und seine ,Verdeckung’ durch die Modifikation 3.1 ,Ein Ich – ist nicht Ich.’ Der modifizierte Sinn des ,Ich’ 3.2 Der urmodale ,Erfahrungssinn’ des Ich und seine wesensmäßige Implizitheit 3.3 Die Schwierigkeit der Thematisierung des ,Ur-Ich’ und ihre Notwendigkeit 4. Die Parallele zwischen dem ,Ur-Ich’ und der ,lebendigen Gegenwart’ im Hinblick auf die Modifikation 4.1 Die Fehlinterpretation des ,Produktionsmodells’ 4.2 Die ,lebendige Gegenwart’ und das Ur-Ich als Geltungsboden 4.3 Die ,Sinnesverdoppelung’ des Urmodus und dessen ,Selbsteingliederung’ in die Modifikationsreihe 4.4 Die ,Selbsteingliederung’ des Urmodus und die Ursprünglichkeit der ,Perspektivität’ 4.5 Die intentionale Modifikation als ,Selbsttranszendieren’ und das mediale ,Durchscheinen unter Verdeckung’ 5. Die ,Monadisierung’ des Ego. Die ursprüngliche ,Selbstentfremdung’ und ,Selbstwiederholung’ 5.1 Die rückwirkende Modifikation und die ,Monadisierung des Monadisierens’ 5.2 Das Urphänomen der ,Wiederholung’ in der monadischen Multiplikation ,in mir’
Kapitel VII: Die apodiktische Evidenz des Ur-Ich: Selbst als ,Nähe’ und ,Differenz’ 1. Problemstellung: Die ,perspektivische’ Ordnung der Evidenz und die Rehabilitierung der *`>" 2. ,Alles ist für mich’: Die apodiktische Urevidenz als ,selbstverständliche Nähe’ 2.1 Das Ego als Urquelle der Geltungsvollzüge und als ,Medium’ des Erscheinens 2.2 Das Ich als Pol und als ,Lebendigkeit’ des Lebens selbst 2.3 Die eigentümliche Bedeutung der ,Apodiktizität’ des Ego 2.3.1 Die Radikalisierung der Evidenzkritik 2.3.2 Die Differenz zwischen der ,adäquaten’ und der ,apodiktischen’ Evidenz 2.4 Die ,Nähe’ der apodiktischen Evidenz des Ego: Perspektivische Erkenntniskritik
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Inhaltsverzeichnis
2.5 Das ,Ich bin’ als die ,selbstverständlichste Selbstverständlichkeit’ 2.5.1 Das nicht-urteilende ,Wissen’ von der ,medialen’ Urevidenz 2.5.2 Die absolute Selbstverständlichkeit als ,Verständlichkeit des absoluten Selbst’ 3. ,Ich gehe mir selbst voran’: Das Ur-Ich in seiner ,Selbstdifferenz’ 3.1 Die Befremdung des ,Ich bin’ und das sich aufdrängende ,Fremde’ 3.2 Das Vorangehen des ,Ich’ vor mir selbst: Selbstentzug und Selbsttranszendenz des ,Ich-seins’ 3.3 Das ,Ur-Hyletische’ als Fremdheit in meinem ,Ich bin’ selbst 3.4 Die ,Machtlosigkeit’ des Ich und der Andere ,in mir’ 3.4.1 ,Ich stehe mir nicht zur Verfügung’: Die unverhüllte Offenheit des Ich 3.4.2 Die Bekundung des Anderen in meiner ,nächsten Nähe’ 4. Die Selbstverantwortlichkeit des Denkens und die Offenheit für das ,Fremde’ 4.1 Die Selbstverantwortlichkeit des ,Ich schaue’: Verbindlichkeit und Freiheit der Evidenz 4.2 Die Anderen und das ,Fremde’ der Theorie 5. Schluß
217 222 226
Zusammenfassung
243
Literaturverzeichnis
247
208 209 212 214 214
226 227 232 233 237 240
Vorwort Die vorliegende Arbeit ist die überarbeitete Fassung einer Dissertation, die im Herbst 2003 von dem Fachbereich A (Geistes- und Kulturwissenschaften) der Bergischen Universität Wuppertal angenommen wurde. Ich freue mich, an dieser Stelle meinem Doktorvater, Prof. Dr. Klaus Held, noch einmal danken zu können, der meine Forschung immer mit warmherziger Ermunterung und wertvollen Ratschlägen unterstützt hat. Ohne ihn hätte dieses Buch überhaupt nicht entstehen können. Mein besonderer Dank gilt auch Prof. Dr. Dieter Lohmar, der mir den Zugang zu Husserls unveröffentlichten Manuskripten ermöglicht und zudem dieser Arbeit auch verschiedene inhaltliche Impulse gegeben hat. Den Professoren Heinrich Hüni und László Tengelyi möchte ich auch für ihre freundliche Unterstützung und die anregenden Diskussionen danken. Prof. Dr. Rudolf Bernet, dem Direktor des Husserl-Archivs in Leuven, danke ich für die freundliche Erlaubnis, aus unveröffentlichten Manuskripten Husserls zitieren zu dürfen und ebenso für die Aufnahme der vorliegenden Arbeit in die Reihe Phaenomenologica . Auch durch die Anerkennung und Anregungen der Professoren Antonio Aguirre und James Mensch wurde ich sehr ermutigt, denen ich deshalb hier meinen herzlichen Dank ebenso aussprechen möchte wie den beiden japanischen Professoren für ihre kontinuierliche Unterstützung: Prof. Hiroshi Endo hat mich in die philosophische Forschung eingeführt und meinen philosophischen Weg entscheidend beeinflußt. Prof. Yoshihiro Nitta hat mich durch zahlreiche wertvolle und lehrreiche Hinweise inspiriert. Zu danken habe ich auch dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD), der mich für viereinhalb Jahre finanziell unterstützt hat, so daß ich mich in Wuppertal und Köln auf die Arbeit an der Dissertation konzentrieren konnte. Bei der sprachlichen Verbesserung dieser Arbeit hat mir Dr. Dirk Fonfara außerordentlich geholfen, dessen selbstloser Bemühung ich unendlich dankbar bin. Dr. Rainer Schäfer bin ich nicht nur für seine Änderungsvorschläge des Textes, sondern auch für die anregenden philosophischen Gespräche verbunden. Gedankt sei auch Prof. Dr. Eberhard Scheiffele für seine Verbesserungsvorschläge der Einleitung, PD Dr. Smail Rapic für das Korrekturlesen eines Kapitels sowie allen (auch ehemaligen) Mitarbeitern des Kölner Husserl-Archivs, insbesondere Dr. Henning Peucker, Siegfried Rombach und Dr. Mario Egger, für ihre Hilfe beim Zugang zu Husserls Manuskripten sowie für ihren kollegialen Ansporn. Schließlich geht mein Dank an meine Freunde, besonders Julio Vargas, Lina Rizzoli, Lee-Chun Lo, Manuel Alvarez,
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Vorwort
Jagna Brudzinska, Christian Lotz, Nicolas de Warren, Andrea Borsato, Stefano Micali, Euree Song und Dai Takeuchi; ohne die Diskussionen mit ihnen wäre ich nicht auf die Gedanken gekommen, die ich in dieser Arbeit vorgelegt habe. Yamagata, im Dezember 2005
Einleitung Wenn man die Entwicklung von Husserls Phänomenologie, deren Ansatz durch den erbarmungslos kritischen Geist der Logischen Untersuchungen bestimmt ist, schrittweise bis zu ihrem Ende verfolgt, stößt man in ihrer letzten Phase auf den zunächst recht seltsam erscheinenden Begriff des Ur-Ich, bei dessen Befremdlichkeit sich Fragen aufdrängen wie: Verdankt sich dieses Konzept etwa einem spekulativen Sprung, mit dem sich Husserl über seine sonstigen konkret-minutiösen Erfahrungsanalysen hinwegsetzt? Ist es nur als ein zusätzliches Nebenprodukt zu betrachten, das von Husserls spezifisch phänomenologischen Analysen problemlos geschieden werden kann? Zeigt sich das ,Ur-Ich’ wirklich dem phänomenologischen Blick? Oder ist es eine ,Idee’, die von außen her in die Phänomenologie eingeschmuggelt wurde? Die vorliegende Arbeit wird solche Fragen verneinen, indem sie zeigt, daß das ,Ur-Ich’ ein freilich äußerst schwer zu durchschauendes Phänomen darstellt, auch wenn es erst durch Husserls ,trockenen Geist’ 1 von seinen mehrfachen Verdeckungen befreit werden konnte. Die Schwierigkeit dieser Freilegung liegt darin, daß die traditionellen Denkformen, mit denen wir nicht nur im alltäglichen, sondern auch im wissenschaftlichen Leben vertraut sind, als unreflektierte ,Selbstverständlichkeiten’ fungieren, welche unsere Sicht immer schon in bestimmte Bahnen lenken und verengen. Das direkte, naive Bestimmen eines Phänomens durch herkömmliche, wohlbekannte Begriffe setzt ja unvermeidlich bestimmte ,Selbstverständlichkeiten’ mit in Geltung; dadurch werden diejenige Dimensionen des Phänomens verdeckt, welche nicht in der Richtung jener ,Selbstverständlichkeiten’ liegen. Was man also, ,Ich’ sagend, stillschweigend versteht; was man, um überhaupt ,Ich’ sagen zu können, immer schon ,weiß’, das läßt sich nur phänomenologisch ‚erschauen’, wenn man das als ,selbstverständlich’ geltende Verständnis dieses Begriffs in seinen naiven, möglicherweise die Reflexion hemmenden Funktionen Schritt für Schritt verfolgt und schließlich sorgfältig in Klammern setzt. Zu beachten ist, daß sich bei Husserl das ,Ur-Ich’ nicht jenseits, sondern diesseits von alltäglichen Selbstverständlichkeiten befindet. Es ist unauffällig und widersetzt sich der Thematisierung, weil es selbstverständlicher ist, 1
Fink spricht mit Bewunderung von der „hellen, klaren Trockenheit“ Husserlschen Geistes (Fink 1976, 227). Dabei denkt er an dem heraklitischen Fragment: „Trockene Seele weiseste und beste“ (Frg. B 118, Diels / Kranz 1996, 177).
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Einleitung
als es die alltäglichen Selbstverständlichkeiten sind. In der natürlichen Sprache findet sich daher kein entsprechender Ausdruck für das fragliche Phänomen. Bei dem ,Ur-Ich’ handelt es sich weder um etwas Allgemeines, das noch völlig unbestimmt wäre, noch um einen abstrakten Gegenpol zum Allgemeinen, das Individuelle, das etwa nur als Idee gesetzt würde. In beiden Fällen findet man sich bereits erneut auf der Bahn eines vertrauten Denkschemas, das das in Frage Stehende nicht sehen läßt, sondern vielmehr verdeckt. Der Begriff ,Ich’ scheint also zu gefährlichen Irrwegen zu führen. Husserl weiß sich aber davor zu hüten, diesen Begriff, der gewissermaßen an unsichtbaren Klippen zu scheitern droht, unkritisch von der Tradition zu übernehmen. Vielmehr versucht er ganz bewußt, hier einen „dunklen Winkel zu durchleuchten“ (XVII, 244), in dem — wie er selbst schreibt — allerlei „Gespenster“ spuken, nämlich ,Selbstverständlichkeiten’, wie sie die Philosophie so oft in ihren Bann ziehen.2 Der Titel ,Ur-Ich’ meint also in erster Linie ein Problem, das uns als Fremdes in uns selbst begegnet, und nicht etwa ein festes Stück unseres Lebens, aus dem sich alles andere deduzieren ließe. Besonders zu berücksichtigen ist, auf welche Weise Husserl hin und wieder zunächst auf Irrwege und sogar in Sackgassen gerät, diese aber gerade dadurch erst sichtbar werden läßt. Für die Phänomenologie gilt allgemein: „Ihr Schicksal (freilich hinterher wird es als ein Wesensnotwendiges verstehbar) ist ein immer wieder neues Hineingeraten in Paradoxien, die von unbefragt, ja unbemerkt gebliebenen Horizonten herstammen und als mitfungierende sich zunächst in Unverständlichkeiten melden“ (VI, 185). Aus Selbstverständlichkeiten stammender Schein soll hier also nicht einfach umgangen, sondern aufmerksam solange studiert werden, bis er Erfahrungsstrukturen und -konstellationen offenbart. Diese ,Methodik’ spielt bei der Thematisierung des ,Ur-Ich’ eine besondere Rolle, wie nachgewiesen wird. ———
Im hauptsächlich historisch ausgerichteten ersten Teil wird zunächst eingehend verfolgt, auf welchem Weg Husserl zu jenem dunklen Problembereich des ,Ich’ gelangt. Dadurch wird zugleich verdeutlicht, was für eine Bedeutug dieser Problematik innerhalb der Husserlschen Phänomenologie insgesamt zukommt. Es galt auch, frühere Motive Husserls zur Thematisierung des Ich sowie die sich in dieser bekundende eigentümliche Sichtweise herauszuarbeiten, weil ohne deren gründliche Untersuchung der spätere Begriff des ,UrIch’ nicht nachzuvollziehen wäre. In diesem Sinn wird im ersten Kapitel versucht, durch thematische Erörterung des Begriffs ,Selbstverständlichkeit’ einen Perspektivenwechsel erkennbar zu machen, der, wie ich meine, alle phänomenologische Analysen von Grund auf bestimmt. Allgemein geht es Husserl in seiner Phänomenologie 2
Vgl. die am Schluß der Arbeit zitierte Passage (Kapitel VII, 241).
Einleitung
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darum, die unscheinbaren Selbstverständlichkeiten des Lebens verständlich zu machen; denn sie bleiben verdeckt, solange sie in der natürlichen Einstellung durchlebt werden. Dieser Grundzug der Phänomenologie soll präzise charakterisiert werden. Dadurch wird deutlich, daß dem Leben seine ,Selbstverständlichkeiten’ in ihrem natürlichen Vollzug so tief verdeckt sind, daß sie fremdartig erscheinen, wenn sie eigens aufgedeckt werden. Daher kann man umgekehrt sagen, daß der fremdartige Anschein einer phänomenologisch beschriebenen Sache als dasjenige Indiz zu deuten ist, an dem sich die Tiefe ihrer ,selbstverständlichen’ Verborgenheit erkennen läßt. So drängt sich letztlich die Frage auf, ob das zunächst fremdartig erscheinende ,Ur-Ich’ nicht das ,selbstverständlichste Selbst’ meint, das im natürlichen Lebensvollzug – und sogar auch oft im philosophischen Denken – in Vergessenheit geraten ist. Im II. Kapitel wird versucht, Grundzüge der Phänomenologie bis etwa 1910 herauszuarbeiten, die einen markanten non-egologischen Charakter aufweisen. Hierbei wird sich zeigen, daß sich die Ausschaltung des empirischen Ich notwendigerweise aus der methodischen Grundforderung der Phänomenologie ergibt. Die phänomenologische Methode stützt sich auf eine strenge Evidenzkritik. Die Erörterung dieser Evidenzbetrachtung führt zu dem Resultat, daß die Methode der ,phänomenologischen Reduktion’ als Rückgang auf die ,Nähe’ des erfahrenden Lebens zu charakterisieren ist. Dies schließt eine Befreiung des phänomenologischen ,Sehens’ von seiner natürlich-objektivierenden Blickrichtung ein. Diese methodische Eigentümlichkeit der Phänomenologie macht aber gerade die egologische Umbildung der Phänomenologie unumgänglich. Darauf gehe ich im III. Kapitel ein. Es wird gezeigt, daß die methodische IchPerspektive die phänomenologische Analyse von Anfang an latent mitbestimmt. Ihre Bedeutung wird aber erst allmählich – besonders angesichts der Intersubjektivitätsproblematik – erkennbar. Unter diesem Aspekt wird Husserls ,egologische Wende’ nach der Ideen-Zeit verfolgt. Dabei wird sich herausstellen, daß das sogenannte ,phänomenologisierende Ich’ in dieser Entwicklung zunehmende Bedeutung gewinnt, die sich anhand der Analyse des ,reinen Ich’ im Hinblick auf seinen ,urfaktischen’ Charakter erweist. ———
Durch die Untersuchungen des I. Teils rückt die charakteristische Bedeutung des phänomenologisierenden Ich in den Vordergrund, was mit dem Grundzug der Phänomenologie als Rückgang auf die ,selbstverständliche Nähe’ des Lebens untrennbar zusammenhängt. Hierbei ist zu berücksichtigen, daß das phänomenologisierende Ich nicht ein empirisches Ich besonderer Art – das nämlich Phänomenologie treibt – meint: Der Akzent liegt nicht auf der phänomenologisierenden Tätigkeit als einer unter vielen Tätigkeiten, sondern auf der Aktualität des ,hier und jetzt’ Lebenden; ein solches Ich kann innerhalb der phänomenologischen Reflexion nur das gerade phänomenologisierende
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Einleitung
Selbst sein, denn die Phänomenologie ist in spezifischer Weise auf die sich aktuell vollziehende Ich-Perspektive angewiesen. Dies führt aber den Phänomenologen zu einer „einzigartige[n] philosophische[n] Einsamkeit” (VI, 187f.). In diesem Zusammenhang tritt in der Krisis der eigentümliche Begriff des ,Ur-Ich’ auf. Im II. Teil soll seine Notwendigkeit und Bedeutung anhand der späten Schriften und Manuskripte Husserls systematisch herausgearbeitet werden. Das IV. Kapitel verfolgt zunächst den spezifischen Kontext, in dem das Problem des Ur-Ich hervortritt. Dabei wird gezeigt, daß dieses Problem erstens mit der Problematik der Intersubjektivität, zweitens mit der methodischen Frage des ,phänomenologisch schauenden’ Ich unmittelbar zusammenhängt. Zugleich werden die Anknüpfungspunkte für die genauere Erö rterung des Ur-Ich verdeutlicht, die den Darstellungen der Krisis zu entnehmen sind. Auf dieser Grundlage gehe ich im V. Kapitel auf die thematische Analyse des Ur-Ich ein. Dabei wird sich herausstellen, daß die sogenannte ,radikalisierte Reduktion’ notwendigerweise zum Ur-Ich hinführt. In diesem Zusammenhang sollen verschiedene mögliche Interpretationen des ,UrIch’ einer detaillierten Kritik unterzogen werden. Das ,Ur-Ich’ muß von dem ,Vor-Ich’ als einer genetischen Vorstufe streng unterschieden werden. Die naheliegende metaphysische Interpretation des Ur-Ich muß ebenfalls ferngehalten werden. Die zentrale Frage ist, wie die eigentümliche Einzigkeit des Ur-Ich zu verstehen ist. Die Radikalisierung der Reduktion führt zu einem scheinbar merkwürdig anmutenden Ergebnis, daß das Ur-Ich weder als eines noch als vieles zu charakterisieren ist. Dieser eigentümliche Charakter des Ur-Ich wird im VI. Kapitel anhand der Lehre von der intentionalen Modifikation eingehend erörtert. Dabei spielt eine charakteristische ,Rückwirkung’ der Modifikation auf den Urmodus eine zentrale Rolle. Die Erörterung dieser Modifikationsstruktur führt zu dem Resultat, daß die sogenannte ,Monadisierung’ bzw. ,monadische Pluralisierung’ des Ur-Ich nicht als – sei es reale oder metaphysische – Produktion zu interpretieren ist, in der sich aus dem einzigen Ursprung mehrere Resultate gleichermaßen ergeben. Diesem ,Produktionsmodell’ wird eine ursprüngliche unübersteigbare Perspektivität entgegengesetzt, die zur intentionalen Modifikation des Ich wesentlich gehört. In diesen Erörterungen wird sich herausstellen, daß die Lehre von der intentionalen Modifikation – insbesondere von der ,Sinnesverdoppelung’ – Einzigkeit und Vielheit der Subjektivität nicht als disjunktive Alternativen, sondern in ihrer ,Urspaltung’ und wesentlichen Zusammengehörigkeit zum Verständnis bringt. Schließlich wird im VII. Kapitel der Frage nachgegangen, wie das ,UrIch’ im Hinblick auf seine ,Evidenz’ näher zu charakterisieren ist. Zunächst soll erläutert werden, in welchem Sinn das ,Ich bin’ eine ursprüngliche Voraussetzung des Bewußtseinslebens sein muß. Durch eingehende Untersuchungen der Husserlschen Evidenzkritik wird deutlich, daß der traditionelle
Einleitung
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Begriff der ,Apodiktizität’ als höchster Evidenz beim späten Husserl eine grundsätzliche Umdeutung erfährt. Die ,Apodiktizität’ des Ego ist nicht als diejenige Evidenz aufzufassen, die etwa einem kleinen ,reglosen’ Gebiet des Bewußtseins zukäme, sondern als das allerursprünglichste – einfachste und selbstverständlichste – Medium allen Bewußtseinslebens, das letztlich die Lebendigkeit des Lebens selbst ausmacht. Dabei wird eine eigentümliche Struktur der ichlichen Apodiktizität ,Ich gehe mir selbst vorher’ deutlich. Aufgrund dessen ist die radikale Vorgängigkeit des Ur-Ich als innere Differenz und unüberwindbare Fremdheit meines eigenen Ich-Seins für mich selbst zu deuten. Dies ermöglicht es in weiterer Folge, einerseits die Apodiktizität des eigenen Ich-Seins als die letzte Instanz der ,selbstverantwortlichen’ Aussage der Philosophie zu beanspruchen, andererseits den ,radikalen Entzug’ meiner eigenen Apodiktizität als eine lebendige ,Freiheit’ zu verstehen, mich von jedem objektiv Festgestellten lösen zu können und dieses – auch meine eigenen Gedanken und Aussagen – der offenen Kritik zu unterziehen.
I. TEIL VORMEDITATIONEN ZUR THEMATISIERUNG DES ‚UR-ICH’
Kapitel I
Die Phänomenologie als Wissenschaft der ‚Selbstverständlichkeit’
„Von vornherein lebt der Phänomenologe in der Paradoxie, das Selbstverständliche als fraglich, als rätselhaft ansehen zu müssen [...].” (VI, 184)
1. DAS ‚FREMDWERDEN’ DER ‚SELBSTVERSTÄNDLICHKEIT’ IN DER PHILOSOPHIE ‚Ur-Ich’ ist offensichtlich kein gewöhnlicher, unproblematischer Begriff. Er ruft dem ersten Blick nach sogar Befremden und Skepsis hervor. Ein Philosoph sollte sich aber davor hüten, ohne weiteres sich einer solchen natürlilichen Reaktion zu ergeben. Zumindest müssen die Gründe für dieses Befremden verständlich gemacht werden. Jede Philosophie hat zunächst einen gewissen fremdartigen Anschein, sofern sie mit dem ‚Erstaunen’ (2"LµV.,4<) anfängt, bei dem das Wohlbekannte – wie Sein, Zeit, Welt oder Ich – sein selbstverständliches Aussehen verliert und nun als Problem gegenübertritt.1 Es ist nach Husserl „das Schicksal der Philosophie, in den größten Trivialitäten die größten Probleme finden zu müssen” (XXIV, 150). Um das ‚Triviale’ und ‚Selbstverständliche’ aufklären zu können, wird die Philosophie oft dazu genötigt, eine unvertraute, fremdartige Redeweise in Anspruch zu nehmen. Das gilt besonders für die Phänomenologie Husserls, die versucht, sich ‚von den Sachen selbst’ „belehren [zu] lassen” (XVI, 9),2 ohne unangenehme Probleme durch eine theoretische Konstruktion zu verschleiern. Anders als eine forciert systematische Theorie, welche die Wirklichkeit mehr oder we1 Vgl. zu dieser Anfangssituation der Philosophie XXXIV, 481ff. Fink vermerkt in einem Abschnitt des Entwurfs zu einem von Husserl projektierten systematischen Werk, der den „Anfang der Philosophie” behandelt: „Das Vertraute und Geläufige wird in seinem Vertrautsein und Geläufigsein radikal fraglich. Ein ungeheures Misstrauen steht auf gegen alles, was bislang für selbstverständlich und fraglos galt [...]” (Dok II/2, 33). (Husserl hat bei der Durchsicht von Finks Text das Wort „Misstrauen” durch „Nicht-Verstehen” ersetzt.) Zum ‚Anfang der Philosophie’ und zum 2"LµV .,4< vgl. auch Heideggers eingehende Analyse in der Vorlesung Grundfragen der Philosophie (WS 1937/38), GA 45, 1984, 153ff.; Held 1991, 91. 2 Vgl. XVIII, 9; XIX/1, 10; Mat III, 61; XXV, 61, 206; XXX, 339f.
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Kapitel I
niger vereinfacht, ist Husserls Phänomenologie, wie Eugen Fink treffend formuliert, „eine unbequeme, herausfordernde und mühsame Philosophie, [...] die zuerst jeden auf den Weg eigener Nachdenklichkeit schickt” (Fink 1976, 225).3 Der herausfordernde, „unbequeme” Charakter der Phänomenologie ist vor allem darauf zurückzuführen, daß sie gerade in dem, was man fraglos hinnimmt, beunruhigende Probleme offenlegt. Husserls phänomenologische Analyse enthüllt befremdliche Dimensionen nicht jenseits des Selbstverständlichen, sondern mitten in ihm, das so trivial erscheint, daß man zu ihm gewöhnlich nichts zu fragen sucht.4 Sie darf aber nicht mit einer bloß empirischen Untersuchung verwechselt werden. Diese ist in einem nur vermeintlich selbstverständlichen, objektivwissenschaftlichen Weltverständnis befangen. Sie untersucht etwas NatürlichVertrautes lediglich als solches. Das philosophische Befremden angesichts des Selbstverständlichen bleibt einem bloß empirisch-objektiv Untersuchenden unbekannt.5 In Husserls phänomenologischen Analysen dagegen verwandelt sich das Selbstverständliche, Alltäglich-Allervertrauteste in ein be fremdliches Problem, in ein unbekanntes ‚Rätsel’: „Also, stehe ich nun [...] in dem Zustand ‚nichts verstehe ich’, oder was ich irgend verstehe, hat einen Boden der Unverständlichkeit, der da Selbstverständlichkeit heißt, und so ist es im Grunde und vom Grunde her unverständlich” (XXXIV, 481). So bleibt zu fragen, ob der befremdliche Begriff des ‚Ur-Ich’ tatsächlich – wie man zunächst vermuten könnte – als Ausdruck einer metaphysischen Voreingenommenheit Husserls zu interpretieren ist. Kann die Fremdartigkeit dieses Begriffs nicht vielmehr ein Indiz dafür sein, daß es dabei um ein ‚Selbstverständliches’ geht, das in unserem natürlichen Leben völlig unbemerkt bleibt? Dies ist die Grundfrage, der ich in der vorliegenden Arbeit nachgehen will. Um diese Frage zu beantworten, werde ich zunächst in diesem Kapitel den Begriff der ‚Selbstverständlichkeit’ bei Husserl präzise herauszuarbeiten versuchen. Darüber hinaus soll gezeigt werden, daß das Anliegen, die ‚Selbstverständlichkeiten’ zu problematisieren und dadurch allererst verständlich zu machen, Husserls gesamtes Schaffen durchzieht. Hierbei wird sich herausstellen, daß das Moment des Befremdlichen, das dem Begriff des ‚Ur-Ich’ eignet, nicht als Abweichung vom eigentlichen Zug der Phänomenologie zu deuten ist, sondern vielmehr eine Treue zur spezifisch phänomenologischen Methode bezeugt.
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Vgl. auch XX/1, 274; Dok II/2, 175, 217; Fink 1966, 184. Nach einem Bericht von Leo Schestov erzählte Husserl, daß er zu den Logischen Untersuchungen hingeführt wurde, indem er begann, „die Wahrheit gerade dort zu suchen, wo bisher niemand die Wahrheit gesucht hatte, da keiner annahm, daß man sie dort suchen könne” (Dok I, 330f.). Vgl. auch XX/1, 273. 5 Zur Kritik an den natürlich-positiven Wissenschaften vgl. 3.2 und Kapitel II, 2.1. 4
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Dabei ist vor allem auf die Zweideutigkeit der ‚Selbstverständlichkeit’ zu achten: Im natürlichen Bewußtsein wird sie dessen naiver Voraussetzung zugeschrieben, die man in ihrem natürlichen Vollzug nicht thematisiert.6 Die ‚Selbstverständlichkeit’ ist aber nicht nur negativ als natürliche Naivität zu betrachten, sondern auch – philosophisch gesehen – als eine unentbehrliche, fundamentale Voraussetzung des Lebens. Etwas, womit dieses durchgängig zu tun hat, rückt nicht ins thematische Bewußtsein, da dessen Aufmerksamkeit gewöhnlich auf das Neue, das Auffällige, das Herausragende gelenkt wird. Die Verfolgung der ‚Selbstverständlichkeiten’ besagt also einen Rückgang auf die tieferen Schichten des Bewußtseinslebens, die immer schon unbemerkt in Geltung sind.
2. DER DURCHBRUCH DES MOTIVS VOM ‚RÜCKGANG AUF DAS SELBSTVERSTÄNDLICHE’ 2.1 Philosophie als Wissenschaft des Selbstverständlichen: Frühe Ansätze Das Motiv der ‚Problematisierung des Selbstverständlichen’ tritt schon in Husserls frühen Schriften zutage. Bereits sein erstes Werk Philosophie der Arithmetik (1891) zeigt diesen charakteristischen Zug, der allerdings noch im Hintergrund bleibt. Der Ausgangspunkt dieser Untersuchung besteht darin, die fraglose ‚Selbstverständlichkeit’ für den gewöhnlichen Mathematiker eigens zu befragen, nämlich: ‚Was ist die Zahl?’7 Wer diese Frage konsequent verfolgt, bemerkt bald, daß die vermeintliche Gewißheit dieser ‚Selbstverständlichkeit’ zu wanken beginnt. Wenn die Zahl als ‚eine Vielheit von Einheiten’ definieren wird, muß geklärt werden, was ‚Vielheit’ und was ‚Einheit’ bedeutet (XII, 14). Wenn die Zahl aus der Menge der konkreten Dinge abstrahiert wird, stellt sich die Frage, was jeweils ‚Menge’, ‚Kolligieren’ und ‚Zählen’ der Dinge besagt. So wird man auf immer grundlegendere ‚Selbstverständlichkeiten’ geführt. Dies legt die heikle Frage nach dem Ursprung der Zahl nahe: Wenn sich der Begriff der Zahl in unseren Bewu ß tseinsakten und Erlebnissen bildet, hat er dann letztlich einen psychologischen Ursprung? Ist die Anzahl aber nicht etwas anderes als das ,Psychische’? 6
In einer Beilage zur Krisis definiert Husserl die ‚Selbstverständlichkeiten’ folgendermaßen: „Selbstverständlichkeiten, das sagt, benutzte Seinsgeltungen, aber nicht thematisch gewordene, in theoretische Erwägung und Arbeit genommene [...]” (VI, 451). 7 Der spätere Husserl betont, daß „Mathematik treiben noch nicht Mathematik ‚verstehen’ ist (ihr Wesen, ihre Möglichkeit verstehen)” (XXIV, 404); vgl. auch XXIV, 161; IX, 27, 87; VIII, 109.
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Diese Fragen hat Husserl in Studien weiter verfolgt, deren Ertrag sich in den Logischen Untersuchungen (1900/01) manifestiert. Erst in diesem Werk kommt die ‚Problematisierung der Selbstverständlichkeiten’ als charakteristische Methode der Phänomenologie zum Durchbruch. Dieses methodischen Zugs wird Husserl nun so weitgehend inne, daß er sagen kann: „Er [= der Philosoph] müßte ja auch wissen, daß sich gerade hinter dem ‚Selbstverständlichen’ die schwierigsten Probleme verbergen, und dies so sehr, daß man paradox, aber gar nicht ohne tiefen Sinn, die Philosophie als die Wissenschaft von den Trivialitäten bezeichnen könnte. Jedenfalls wird auch hier das im ersten Augenblick so Triviale bei genauerer Betrachtung ein Quell tiefliegender und vielverzweigter Probleme” (XIX/1, 350).8 Um das Wesen der Logik und der Wissenschaft aufzuhellen, untersucht Husserl in den Prolegomena (XVIII) die Möglichkeit der wissenschaftlichen Begründung, die ein Wissenschaftler in seiner beruflichen Arbeit als selbstverständlich voraussetzt. Die phänomenologische Problematisierung des ‚Selbstverständlichen’ mag zunächst merkwürdig erscheinen – aber nur deshalb, „weil wir allzuwenig geneigt sind, das Alltägliche zum Problem zu machen” (XVIII, 34f.).
2.2 Intentionalität als ‚Selbstverständlichkeit’ Es soll nun genauer gefragt werden, in welchem Sinne diese ‚Wissenschaft des Selbstverständlichen’ befremdend wirkt. Diese Frage kann zunächst in bezug auf die Intentionalität beantwortet werden, welche in den Logischen Untersuchungen als Problem aufgedeckt wird und weiterhin ein Grundthema der Husserlschen Phänomenologie bleibt.9 Der Begriff ‚Intentionalität’, den Husserl von Brentano übernommen hat, erhält bei ihm ein neues, ‚fremdartiges’ Gesicht. Die Intentionalität stellt nun nicht mehr bloß den Charakter der ‚psychischen Phänomene’ dar,10 sondern meint eine Korrelation, die über die schematische Gegenüberstellung von
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In der Vorlesung Einleitung in die Philosophie von 1922/23 findet sich folgende Parallelstelle: Die Philosophie „hat das Merkwürdige, dass sie ausschließlich das Selbstverständliche zum Problem macht. Und in der Tat, es ist nicht zu viel gesagt, dass all das, was für den natürlichen Menschen (und auch den natürlich eingestellt bleibenden Wissenschaftler) das Selbstverständliche ist, sich in der Reflexion als mit den tiefsten Rätseln behaftet zeigt, und es ist paradox, aber wahr, wenn man die Philosophie geradezu die Wissenschaft von dem Selbstverständlichen nennt” (XXXV, 8). In den C-Manuskripten wird derselbe Ausdruck verwendet: „Philosophie [als] Wissenschaft vom Selbstverständlichen” (Ms. C 7/ 31b). Dieses Motiv prägt auch die gesamte Darstellung der Krisis (vgl. besonders VI, 114). 9 Vgl. III/1, 191, 337; I, 81ff.; VI, 170ff. 10 Vgl. XIX/1, 384ff.; IX, 31ff.; Dok III/2, 10f.
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Innen und Außen hinausreicht.11 Es handelt sich hier weder um eine reale Beziehung zwischen Seele und Ding noch um ein innerpsychisches Verhältnis zwischen seelischen Bestandteilen. 12 Der Begriff der Intentionalität macht ein bloßes Nebeneinanderstellen von Bewußtsein und Gegenstand unmöglich, die äußerlich in Beziehung gebracht werden müßten. ‚Intentionalität’ meint vielmehr diejenige Korrelativität, in der die immanente und die transzendente Seite des Phänomens erst polarisiert und unterscheidbar werden. Dabei geht es jedoch nicht um eine künstlich ausgedachte Lösung des Erkenntnisproblems, sondern vielmehr darum, einer stummen ‚Selbstverständlichkeit’ unseres Erfahrungslebens einen neuen Ausdruck zu geben. Es steht außer Frage, daß der Gegenstand im Bewußtsein nicht reell enthalten ist; es ist aber ebenso selbstverständlich, daß es sinnlos wäre, vom Gegenstand als solchen zu sprechen, wenn meine Erfahrung ihn überhaupt nicht erreichen könnte. Wenn beides nicht zu leugnen ist, kann man nur dadurch zu einem widerspruchsfreien Verständnis der Sachlage gelangen, daß den konkret durchlebten „Sachen selbst” „das letzte Wort belassen” wird (XVIII, 9); dazu muß man die eigenen theoretischen Voraussetzungen kritisch in Frage stellen. Den anonym durchlebten Selbstverständlichkeiten darf man nicht durch theoretische Vorannahmen Gewalt antun. Vielmehr muß sich die Aufklärung und Beschreibung den selbstverständlichen Gegebenheiten anmessen. 13 Die ‚Fremdartigkeit’ der Aussage, die hierbei auftreten könnte, rührt also nicht daher, daß es dabei um eine nicht-selbstverständliche, höherstufige theoretische Annahme ginge, sondern daher, daß mit dem Intentionalitätsbegriff eine tiefe Selbstverständlichkeit aufgedeckt wird, die sonst überhaupt nicht thematisch bewußt ist. Die vermeintliche ‚Fremdartigkeit’ der Intentionalität ist z. B. auch dem folgenden Zitat zu entnehmen: „Für das Bewußtsein ist das Gegebene ein wesentlich Gleiches, ob der vorgestellte Gegenstand existiert oder ob er fingiert und vielleicht gar widersinnig ist. Jupiter stelle ich nicht anders vor als Bismarck, den Babylonischen Turm nicht anders als den Kölner Dom, ein
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Diese schon den Logischen Untersuchungen zu entnehmende Absicht ist in späteren Texten noch markanter formuliert; z. B. an der folgenden Stelle: „Das intentionale Innen (als Idee des erkenntnismässig Bewährbaren) ist zugleich Aussen” (XV, 556); vgl. auch IX, 430ff., 436f.; XI, 392ff. 12 Vgl. XIX/1, 385. 13 Das Prinzip ‚Zu den Sachen selbst!’ besagt auch das Prinzip des ‚Sehens’: „Der ‚Einsicht’ folgen, ist das Prinzip aller Prinzipien. Und Einsicht ist Urteilen aufgrund der Gegebenheit, sich ihr unmittelbar anmessend” (III/2, 526); Näheres dazu in Kapitel II, 3. Zur Kritik an ‚Theorie’ überhaupt vgl. III/1, 60; XIX/1, 26f.; Mat III, 59f., 75; XXIV, 190, 399; XVI, 3f.; auch Kapitel II, 2.1.
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regelmäßiges Tausendeck nicht anders als einen regelmäßigen Tausendflächner” (XIX/1, 387).14 Offensichtlich bringt diese scheinbar ‚fremdartige’ Aussage etwas ‚allzu Selbstverständliches’ zum Ausdruck,15 das tiefer liegt als die apperzeptive Unterscheidung zwischen Realem und Irrealem, die allerdings für unser praktisches Leben höchst relevant ist. Ein idealer oder ein phantasierter Gegenstand kann ebenso identisch vermeint werden wie ein realer. Damit ich sagen kann, ob etwas existiert oder nicht, muß ich es schon als Identisches bewußt haben. Die ‚Modalisierung’ des Seins tut der Identität des Gegenstands keinen Abbruch: Ein identischer Gegenstand wird zunächst für existent gehalten, erhält dann den Modus der Nicht-Existenz oder umgekehrt. Dies ist so selbstverständlich, daß man es gar nicht für nötig hält, es auszusprechen. Gerade eine solche tiefe Selbstverständlichkeit erweckt einen merkwürdigen Anschein, wenn sie eigens ausgedrückt wird.
3. DIE ‚FREMDARTIGKEIT’ DER PHÄNOMENOLOGISCHEN ENTHÜLLUNG DER SELBSTVERSTÄNDLICHKEITEN Die anhand des Intentionalitätsbegriffs gewonnene Einsicht kann dadurch präzisiert werden, daß eine doppelte Bedeutung der Selbstverständlichkeit verdeutlicht wird: 1) Die Selbstverständlichkeit ist als Korrelat der Naivität zu betrachten; das ‚Selbstverständliche’ ist dasjenige, das wir immer schon durchleben und wovon wir ein unthematisches ‚Wissen’ haben, worauf wir aber nicht eigens thematisch reflektieren; 2) Die tiefe Selbstverständlichkeit wird aber deswegen nicht unmittelbar als solche erkannt, wenn sie thematisiert wird, sondern erscheint zunächst fremdartig. Die Fremdartigkeit entsteht also aus der Diskrepanz zwischen dem naiven Durchleben und dem thematischen Erfassen des Selbstverständlichen. 14
Vgl. auch XIX/1, 396, 401. Husserl weist darauf hin, daß es sich bei der Identität des intentionalen Gegenstandes um eine leicht mißzudeutende ‚Selbstverständlichkeit’ handelt (XIX/1, 440). In den Ideen I heißt es deutlicher: „Also ‚Bewußtsein von etwas’ ist ein sehr Selbstverständliches und doch zugleich höchst Unverständliches” (III/1, 201). Dies präzisiert eine eindrucksvolle Passage in der Vorlesung von 1910/11: „[...] das Wunder des Bewußtseins ist das Wunder der sogenannten Intentionalität. Für den philosophisch Naiven ist es das Allerselbstverständlichste, daß in einem subjektiven Erleben, genannt Vorstellen, Urteilen, Werten usw., etwas gemeint sein kann, was nicht selbst ein Erlebnis ist, sondern dem Erleben jenseitig, und daß das Subjekt im Zusammenhang solcher Erlebnisse, die man ‚Bewußtseinserlebnisse’ nennt, der objektiven Gültigkeit seines Meinens gewiß werden kann. Dem Naiven ist das ganz selbstverständlich – so sehr, daß er nicht den mindesten Anlaß empfindet, darüber zu reflektieren [...]. Diese Selbstverständlichkeit (und schon die allerprimitivste der Wahrnehmung eines Dings) ist das Rätsel aller Rätsel” (XXX, 341). 15
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Diese Sachlage zwingt die Phänomenologie als ‚Wissenschaft des Selbstverständlichen’ zur doppelseitigen Kritik an der Natürlichkeit und an der Wissenschaftlichkeit: a) Um die tiefe Selbstverständlichkeit zu thematisieren, muß die Phänomenologie die Naivität des natürlich-selbstverständlichen Lebens durchbrechen, denn dieses hat die Tendenz, in seinem naiven Vollzug eingeschlossen zu bleiben. b) Die wissenschaftliche Thematisierung des Selbstverständlichen birgt aber eine große Gefahr in sich, es als solches zu überspringen und von einer bestimmten Theorie her zu erklären; das Selbstverständliche kann dadurch wiederum verhüllt oder verzerrt werden. Davor soll sich die Phänomenologie hüten. Im folgenden sei diese doppelseitige Kritik erläutert, welche auch die Notwendigkeit einer phänomenologischen ‚Epoché’ ansatzweise verständlich machen soll.
3.1 ,Anonymität’ der Selbstverständlichkeiten und ,Widernatürlichkeit’ der Phänomenologie Zunächst muß herausgestellt werden, daß Husserl die ‚Fremdartigkeit’ der phänomenologischen Feststellung nicht als bloßes Begleitphänomen oder als eine bloß technische Schwierigkeit betrachtet, sondern als ein wesentliches Moment des phänomenologischen Philosophierens selbst. Gewöhnlich interessiert uns das ‚Selbstverständliche’ nicht, da es keine neuen Erkenntnisse liefert. Das besagt aber nicht, daß wir das ‚Selbstverständliche’ befriedigend erklären könnten. Es ist vielmehr deswegen selbstverständlich, weil es nicht erklärt werden muß oder – im zugespitzten Fall – auch nicht kann. Etwas, das nicht mehr zu begründen ist, wovon ich aber trotzdem sicher ‚weiß’, läßt sich als eine fundamentale Basis unseres Bewußtseinslebens betrachten. Wenn man eine solche ‚Selbstverständlichkeit’ eigens thematisiert und fragt, was sie bedeutet, wirkt dies fremdartig, wie etwa: ‚Was bedeutet das, daß dieser Apfel hier, den ich in der Hand habe, existiert?’ Je selbstverständlicher das Thematisierte ist, desto fremdartiger erscheint seine Befragung. Daher kann die ‚Fremdartigkeit’ einer eigens thematisierten Selbstverständlichkeit ein bezeichnendes Merkmal für eine tief verborgene Problemdimension sein, welche die Grundlage unseres Lebens betrifft. Aus dieser Perspektive akzentuiert Husserl das ‚rätselhafte’ Erscheinen der befragten Selbstverständlichkeit der einfachen Dingwahrnehmung: „Die triviale Selbstverständlichkeit, daß Sachen an sich sind und wir nur dazukommen und sie anfassen, ansehen, über sie Aussagen machen usw., verwandelt sich in ein Mysterium” (XXIV, 153).16 Nach Husserl gilt es, dieses 16
Dieses ‚Mysterium’ nennt Husserl im Brief an Hofmannsthal vom 12. 1. 1907 auch die ‚Sphinx der Erkenntnis’: „Sobald die Sphinx der Erkenntnis ihre Frage gestellt hat, sobald wir in das abgrundtiefe Problem der Möglichkeit einer, doch nur in subjectiven Erlebnissen sich vollziehenden und gleichwohl eine an sich seiende Objectivität erfassenden Erkenntnis ge-
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‚Rätsel’ nicht durch eine spekulative Konstruktion zu überspringen, sondern gerade in die fragliche ‚Selbstverständlichkeit’ selbst einzudringen; d. h., das selbstverständlich-anonyme Selbstverständnis des Erfahrungslebens muß zum Ausdruck gebracht werden. Dabei stößt man auf einen besonderen Widerstand. Denn das natürliche Leben hat eigentlich die Tendenz, sich geradehin auf das Gegenständliche zu richten.17 Die eigene Tätigkeit bleibt dabei unthematisch: „[...] im Erfahren wird das Erfahrene bekannt, nicht aber das Erfahren, nicht Wesen und Sinn erfahrenden Leistens. Das aber ist ganz natürlich, da das subjektive Leben, das da Erleben heißt, in seinem eigenen Wesen verborgen und nie studiert worden ist” (VII, 81).18 Damit die Leistungen unseres Lebens und Erfahrens in ihrer lebendigen Funktion enthüllt werden können, muß man den Grundzug des Lebens zur Selbstverhüllung durchschauen und es sich vollbewußt versagen, dieser natürlichen Tendenz unkritisch nachzugeben. Dies ist die Aufgabe, welche die ‚phänomenologische Epoché’ erfüllt. Diese Methode und die durch sie ermöglichte phänomenologische Denkhaltung haben daher gewissermaßen eine wesentliche ‚Unnatürlichkeit’: „Ich lebe nicht mehr als natürlicher Mensch, ich lebe sozusagen in einer Unnatürlichkeit” (XXXIV, 323).19 Bereits in der Einleitung zum zweiten Band der Logischen Untersuchungen macht Husserl darauf aufmerksam, daß die „Quelle aller Schwierigkeiten” in der „widernatürlichen Anschauungs- und Denkrichtung” liegt, „die in der phänomenologischen Analyse gefordert wird” (XIX/1, 14). Im Gegensatz zum natürlichen Bewußtsein ist die phänomenologische Denkrichtung wesentlich ‚nicht-gegenständlich’. Sie ist „eine Denkrichtung, die den allerfestesten, von Anbeginn unserer psychischen Entwicklung sich immerfort steigernden Gewohnheiten zuwider ist. Daher die fast unausrottbare Neigung, immer wieder von der phänomenologischen Denkhaltung in die schlichtobjektive zurückzufallen [...]” (XIX/1, 14).20 Eine bloße Blickwendung auf das Subjektive reicht keineswegs aus, um das Subjektive als solches in seiner aktuellen Funktion zu enthüllen.21 Ohne blickt haben, ist unsere Stellung zu aller vorgegebenen Erkenntnis u. zu allem vorgegebenen Sein – zu aller Wissenschaft und aller prätendirten Wirklichkeit – eine radical andere geworden. Alles fraglich, alles unverständlich, rhätselhaft!” (Dok III/7, 134); vgl. auch XXIV, 397, 516, 177; Ms. B II 1/ 44a; Dok III/5, 110; XIV, 47; XXX, 322; XXXV, 21f. 17 Zum wesentlichen Zusammenhang von natürlicher Einstellung und Gegenstandsorientiertheit vgl. II, 19; VI, 146f.; IX, 429. 18 Zur notwendigen Verdecktheit des Subjektiven vgl. auch VI, 149; XXXIV, 252f.; IX, 21. 19 Vgl. auch VIII, 121. 20 Noch dreißig Jahre später bemerkt Husserl in einem Brief: „[...] nirgends kann ich an Bekanntes anknüpfen, die ganze Denkweise ist sozusagen widernatürlich, gegen die natürliche wissenschaftliche und philosophische Naivität gerichtet” (Dok III/9, 76). 21 Vgl. VI, 122.
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die methodische Enthaltung einer Gegenstandsorientiertheit durch die ‚phänomenologische Epoché’ ist man immer noch in der natürlichen Bewußtseinseinstellung befangen, auch wenn man das Subjektive wissenschaftlich thematisiert: in der positivistischen Psychologie behandelt man die subjektive Bewußtseinsleistung nicht in ihrer anonym durchlebten Selbstverständlichkeit, sondern objektiviert sie durch die Umdeutung ins vermeintlich ‚Subjektive’ im Sinne der psychischen Realität, die als eine Art reales Objekt in der Welt aufgefaßt wird.22 Im allgemeinen haben die neuzeitlichen Wissenschaften die Tendenz zur Objektivierung, welche dem eigentlich Subjektiven objektive Bestimmungen ‚unterschiebt’ und beides miteinander vermengt. Es bedarf „großer Umständlichkeiten”, so Husserl, „um uns zunächst frei zu machen von den beständigen Unterschiebungen, welche uns alle durch die Schulherrschaft der objektiv-wissenschaftlichen Denkweisen verführen” (VI, 132). Bewußtseinsmäßige Leistungen phänomenologisch „verständlich zu machen”, ist aber etwas „durchgängig und radikal anderes” als „objektive, ‚positive’ Wissenschaft zu treiben” (VII, 83).23 Die ‚widernatürliche’ Epoché soll uns „vor jenen Vermengungen, die zu tief in uns, als geborenen Dogmatisten, verwurzelt sind”, methodisch schützen (III/1, 132). Die fremdartig erscheinende Epoché bedeutet also eigentlich eine Befreiung von den natürlichen Denkgewohnheiten, die nun einen völlig neuen Horizont für unseren theoretischen Blick eröffnet.24
3.2 Wissenschaftskritik und das Recht der Natürlichkeit Daß die Problematisierung des ‚Selbstverständlichen’ den Eindruck der ‚Fremdartigkeit’ hervorruft, liegt nicht nur an der Gegenstandsorientierung des natürlichen Bewußtseins, sondern auch an der Diskrepanz zwischen natürlichfundamentaler und wissenschaftlich-vermeintlicher Selbstverständlichkeit. Wissenschaftler haben verschiedene Denkgewohnheiten und theoretische Muster, die sie aus der Tradition übernommen haben und in ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit ohne weiteres voraussetzen. Diese haben zwar ihre berechtigte Funktion innerhalb der betreffenden Wissenschaft. Wenn sie jedoch darüber hinaus in einer philosophischen Überlegung auf die fundamentalen Selbstverständlichkeiten des Lebens angewandt werden, wirken sie u. U. als Hindernisse in Form von ‚Vorurteilen’. Die fundamentalen ‚Selbstverständlichkeiten’ des Lebens haben nicht nur die Tendenz, sich selbst zu 22
Vgl. XXXIV, 252. Vgl. auch VII, 67f., 82f. 24 Vgl. dazu die emphatische Passage in der Einleitung der Ideen I (III/1, 5). Husserl weist auch darauf hin, daß die ‚Widernatürlichkeit’ der Philosophie mit ihrer ‚Voraussetzungslosigkeit’ zusammenhängt (XXIV, 165). 23
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verhüllen, sondern werden auch durch die nachkommenden ‚Selbstverständlichkeiten’ der Wissenschaften vielfach verdeckt.25 Husserls Rückgang auf die echten ‚Selbstverständlichkeiten’ hat daher auch den Charakter einer Wissenschaftskritik.26 Nehmen wir noch einmal die Dingwahrnehmung als Beispiel: Husserl betont, daß die Erkenntnis eines Dinges, die „im natürlichen Denken die allerselbstverständlichste Sache” ist, „mit einem Mal als Mysterium” dasteht, wenn ihre Möglichkeit eigens befragt wird (II, 19). Husserl macht darauf aufmerksam, daß der vermeintlich ‚selbstverständliche’ Bewußtseinsbegriff, den wir wissenschaftlich in Anspruch nehmen, ein rechtes Verständnis der erfahrungsmäßigen ‚Selbstverständlichkeit’ verhindert. Die objektiv-wissenschaftliche Betrachtungsweise legt es nahe, den Bewußtseinsprozeß so zu betrachten, als sei er ein realer Vorgang, der in einer geschlossenen ‚Kapsel’ abläuft.27 Dies kann aber eine Quelle für erkenntnistheoretische Schwierigkeiten sein. Husserl warnt insbesondere vor der Gefahr, die wissenschaftlichen Quasi-Selbstverständlichkeiten, die in den Wissenschaften durchaus ihr eigenes Recht haben mögen, abstrakt-einseitig zu generalisieren und daraus philosophische Konsequenzen zu ziehen; dies läuft darauf hinaus, daß die echten Selbstverständlichkeiten des Lebens in Vergessenheit geraten: „Es ist für jedermann, nur nicht für den verwirrten Philosophen absolut selbstverständlich, daß das in der Wahrnehmung wahrgenommene Ding das Ding selbst ist, in seinem selbsteigenen Dasein” (XVII, 287).28 In diesem Zusammenhang soll das wissenschaftskritische Motiv der Epoché und Reduktion unterstrichen werden, das eng mit der Absicht verbunden ist, die Natürlichkeit des Lebens vor den wissenschaftlich-philosophischen Verzerrungen zu bewahren. Die phänomenologische Reduktion ist keine bloß abstrakte Denkoperation, die etwa von der Welt wegsehen wollte.29 Gegen ein solches Mißverständnis verteidigt sich Husserl bereits in den Ideen I folgendermaßen: „Nicht ist die reale Wirklichkeit ‚umgedeutet’ oder gar geleugnet, sondern eine widersinnige Deutung derselben, die also ihrem eigenen, einsichtig geklärten Sinne widerspricht, ist beseitigt. Sie stammt aus 25 Bekanntlich hat Husserl in der Krisis die wissenschaftliche Verhüllung als ‚Ideenkleid’ gekennzeichnet (VI, 51f.). 26 Dieses Motiv durchzieht die Ausführungen der Krisis. Husserl geht es darum, die vermeintlichen Selbstverständlichkeiten als theoretische ‚Vorurteile’, die in der Tradition zu Gewohnheiten erstarrt sind, zu entlarven und auf die echten Selbstverständlichkeiten des Lebens zurückzugehen. Zu Husserls Gegenüberstellung der theoretischen, höherstufigen Selbstverständlichkeit und der Selbstverständlichkeit des Lebens vgl. z. B. VI, 60. Zur höherstufigen, theoretischen Naivität vgl. VI, 35; XVII, 6, 233; I, 179. 27 Zur Kritik an der Kapsel-Vorstellung des Bewußtseins vgl. II, 12, 71f., 74f.; III/2, 538; IX, 388, 437f.; XXIV, 151; XXVII, 239; XXXV, 122f.; Mat III, 114. 28 Vgl. Mat III, 81, 83f. 29 Vgl. hierzu Held 1985, 41.
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einer philosophischen Verabsolutierung der Welt, die der natürlichen Weltbetrachtung durchaus fremd ist. [...] Der Widersinn erwächst erst, wenn man philosophiert [...]” (III/1, 120).30 Die transzendentale Reduktion beabsichtigt zwar die Überwindung der ‚Naivität’, die der natürlichen Einstellung anhaftet, richtet sich aber nicht gegen die Natürlichkeit des natürlichen Lebens selbst. Wenn auch die im Wesen des natürlichen Lebens beschlossenen fraglosen ‚Voraussetzungen’ hinterfragt werden, „so soll damit”, sagt Husserl, „dem eigentümlichen Rechte dieses Lebens keineswegs irgendein Abbruch getan werden. Nichts liege uns ferner, als daß gegen die natürlich-vernünftige Lebenstätigkeit [...] – und somit auch gegen die natürliche Wissenschaft – ein Spiel skeptischer Paradoxien eröffnet und daß sie irgendwie entwertet werden solle” (VII, 246). Das Ziel der Epoché und Reduktion ist es vielmehr, die philosophische Naivität der Wissenschaften, die unbemerkt in der natürlichen Einstellung befangen sind, zu überwinden und über die konkrete fungierende Lebenswirklichkeit Rechenschaft zu geben: „Die natürliche Welt ist kein Schein, sondern wahres Sein, die natürliche Weltauffassung hat nicht das Mindeste an Korrektur notwendig, der Korrektur bedarf nur die Philosophie als unklare Reflexion über die Welt in ihrer Relativität zum Subjekt” (XIV, 278).
4. DIE ‚FREMDARTIGKEIT’ DER TRANSZENDENTALEN REDUKTION UND DAS WELTPROBLEM Aus den vorangegangenen Überlegungen ist klar geworden, daß die ‚Fremdartigkeit’ der phänomenologischen Beschreibung für die Phänomenologie etwas Wesentliches ist, sofern sie versucht, das natürlich fungierende Leben – entgegen seiner eigenen Tendenz zur Verdeckung – offenzulegen. Die Epoché ist eine Methode dieses ‚widernatürlichen’ Unternehmens. Sie soll zugleich von der Thematisierung des Selbstverständlichen eine philosophisch-wissenschaftliche Um- und Überinterpretation fernhalten, sofern diese aus naiven Vorurteilen stammt. Die Eigentümlichkeit dieser Methode ist dadurch weiter zu verdeutlichen, daß das Problem der Welt als neue, ‚fremdartige’ Selbstverständlichkeit in Erwägung gezogen wird.
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Husserl meint hier allerdings nicht das Philosophieren überhaupt, sondern ein Philosophieren auf der Grundlage naiver Vorurteile. Was den Vorzug des Lebens gegenüber der Philosophie anbelangt, vgl. auch I, 36, 177; XVII, 242, 282; XV, 553; XXXIV, 280.
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4.1 Die Aufgabe, das Selbstverständliche zu ‚verstehen’ Die phänomenologische Epoché und Reduktion beabsichtigt zwar, die Natürlichkeit des Lebens vor ihrer philosophischen Verfälschung zu schützen, dies besagt aber nicht, daß sie die natürlichen Tatsachen bloß hinnimmt und ‚bestätigt’. Was die Objektivität angeht, betont Husserl: „Es gilt nicht, Objektivität zu sichern, sondern sie zu verstehen” (VI, 193). Dieser Grundzug der Phänomenologie, der auch die Problematisierung des ‚Ur-Ich’ prägt, soll zunächst näher erörtert werden. Das Motiv, Selbstverständlichkeiten zu ‚verstehen’, durchzieht Husserls gesamtes Schaffen. Schon in den Logischen Untersuchungen bemerkt er, die Phänomenologie als Erkenntnistheorie wolle „den idealen Sinn der spezifischen Zusammenhänge, in welchen sich die Objektivität der Erkenntnis dokumentiert, verstehen” (XIX/1, 27; Mat III, 60).31 In der Krisis heißt es: „Einen stärkeren Realismus kann es also nicht geben, wenn dieses Wort nicht mehr besagt als: ‚ich bin dessen gewiß, ein Mensch zu sein, der in dieser Welt lebt usw., und ich zweifle daran nicht im mindesten’. Aber es ist eben das große Problem, diese ‚Selbstverständlichkeit’ zu verstehen” (VI, 191).32 Dieses Hauptanliegen der Phänomenologie tritt in bezug auf das Weltproblem besonders deutlich zutage. Es ist zweifellos, daß die Welt wirklich ist, in der ich lebe. Das ist ‚selbstverständlich’. Es kann sich zwar jederzeit herausstellen, daß ein einzelnes Ding, von dessen Existenz ich überzeugt bin, in Wirklichkeit doch nicht existiert. Was aber die Welt anbelangt, so ist das ausgeschlossen: Trotz der Durchstreichung und Korrektur hinsichtlich der einzelnen Erfahrungsdinge hält sich die Welt als identischer universaler ‚Boden’ und ‚Horizont’ aller einzelnen Dingerfahrungen durch.33 Die Welt ist eine der ursprünglichsten Voraussetzungen unseres Erfahrungslebens überhaupt. Man kann nicht ernstlich das Sein der Welt bezweifeln, da man sich 31 Dieses Interesse prägt auch die frühen Vorlesungen; vgl. Mat III, 60, 62, 64, 75; XXIV, 141ff., 148ff. In bezug auf die schon erwähnte „Sphinx der Erkenntnis” weist Husserl 1907 auf die Aufgabe des ‚Verstehens’ hin, wobei er klarmacht, daß die Phänomenologie die natürlichen Selbstverständlichkeiten nicht skeptisch verneint: „Ich leugne [...] nicht Wahrnehmung, Erfahrung, Denken in seinen einzelnen Leistungen, ich verstehe nur nicht, wie sie möglich sind” (XXIV, 398); vgl. hierzu auch XXIV, 405, 141, 185f.; Mat III, 90. Zum Verhältnis von Skeptizismus und Erkenntnistheorie vgl. XXIV, 405; Ms. B II 1/ 37b. 32 Husserl schreibt im „Nachwort” zu den Ideen: „Daß die Welt existiert, daß sie in der kontinuierlichen immerfort zu universaler Einstimmigkeit zusammengehenden Erfahrung als seiendes Universum gegeben ist, ist vollkommen zweifellos. Ein ganz Anderes ist es, diese Leben und positive Wissenschaft tragende Zweifellosigkeit zu verstehen und ihren Rechtsgrund aufzuklären” (V, 153). Diese Aufgabe charakterisiert Fink in seinem „Entwurf” zu Husserls systematischem Werk als „Thematisierung des uns durch seine Selbstverständlichkeit entzogenen ‚Selbstverständlichen’” (Dok II/2, 4). 33 Vgl. XXIX, 191; I, 75; VI, 145f., 165f.; VIII, 259; IX, 387; XV, 453; XXXIV, 436f., 446f.; Ms. C 7/ 34a, 39bf.
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eine andere Möglichkeit überhaupt nicht vorstellen kann. Eine vorstellbare Alternative wäre nur eine anders bestimmte Welt. Die Welt ist so selbstverständlich, daß es sinnlos wäre, ihre Existenz noch ‚bestätigen’ zu wollen, da man sie überhaupt nicht für ‚gefährdet’ halten kann wie die Existenz der einzelnen Dinge.34 „Allem voran ist das Sein der Welt selbstverständlich — so sehr, daß niemand daran denken wird, es ausdrücklich in einem Satz auszusprechen” (I, 57). Diese ‚Selbstverständlichkeit’ und ‚Zweifellosigkeit’ besagt jedoch noch nicht, daß der „Rechtssinn” der Welt „verstanden” ist (VII, 247). Wenn man gefragt wird: ‚Was bedeutet das, daß die Welt ist?’, bleibt innerhalb der natürlichen Einstellung nur die Möglichkeit, die Frage als absurd zurückzuweisen oder zu versichern: ‚Das ist doch selbstverständlich!’ Dies ist aber eigentlich keine Antwort, geschweige denn eine Klärung. Das Selbstverständliche ist auf diese Weise noch nicht – nämlich im Sinne reflexiver Einsicht – ‚verstanden’ (VII, 247). Vielmehr muß man sagen: „Die Welt — jedermann weiß, was das besagt, und so ist der allgemeine Sinn ‚Welt’ das Allerbekannteste. Und doch ist er zugleich das Unbekannteste [...]” (XXXIV, 231). „Das radikale Problem ist gerade die Selbstverständlichkeit, in der ständig Welt ist und diese Welt ist” (XXIX, 119).35 Diese ‚Selbstverständlichkeit’, die man im natürlichen Leben überhaupt nicht auszusprechen braucht, tritt uns nun als ein unverständliches „transzendentale[s] Rätsel” entgegen (Ms. B I 5/21a). Die phänomenologische Aufgabe besteht also darin, die Frage zu beantworten: „Wie ist die naive Selbstverständlichkeit der Weltgewißheit [...] zu einer Verständlichkeit zu bringen?” (VI, 99)
4.2 Die ‚Fremdartigkeit’ der universalen Epoché vom Weltglauben Um die Selbstverständlichkeit der Welt zu ‚verstehen’, darf man sie nicht bloß als selbstverständlich hinnehmen, sondern muß sie einer strengen Epoché unterziehen, die einen ‚widernatürlichen’ Charakter hat. Hierbei muß aber die Epoché vom ‚Weltglauben’ mit besonderer Konsequenz durchgeführt werden, weil er den Kern der ganzen ‚natürlichen Einstellung’ ausmacht. Die Ursprünglichkeit der ‚Weltgewißheit’ besteht erstens darin, daß jede Erfahrung der Einzeldinge immer schon die Welt als ‚universalen Horizont’ voraussetzt, in dem allein sie erscheinen können.36 Zweitens ist zu beachten, 34
Was wir uns als ‚Weltuntergang’ vorstellen können, wäre höchstens ein Zusammenbruch der universalen Weltordnung. Diese besagt jedoch nur eine inhaltliche Anders-Bestimmung der Welt, wie fatal die Folgen für unser Leben auch sein mögen. Vgl. Ms. B I 5/ Tr. VII,17. 35 Zur ‚Selbst-’ und ‚Unverständlichkeit’ der Welt vgl. auch XXXIV, 482; Ms. B I 5/ Tr. VII, 17. 36 Vgl. auch I, 75; VI, 146, 165; IX, 96, 429; XXXIV, 437.
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daß die Welt den Charakter des ‚universalen Vorurteils’ hat, der ein anderer Ausdruck der ‚Generalthesis’ im Sinne der Ideen I ist (IX, 531). ‚Vorurteil’ besagt bei Husserl terminologisch die unausdrückliche Setzung bzw. Apperzeption, die in einer Erfahrung immer schon vorausgesetzt ist. 37 Die Ursprünglichkeit der Welterfahrung erklärt sich also dadurch, daß die Welt vor jeder Setzung oder Nicht-Setzung des einzelnen Realen immer schon als seiend gilt38; und jedes Einzelne impliziert diese ihm vorausgehende Geltung der Welt.39 „[...] Welt ist für mich ein beständig-lebendiges Vorurteil und in gewisser Weise das Universum aller meiner Vorurteile im natürlichen Leben” (Mat VIII, 41). Drittens ist die Welt als ‚universaler Boden’ für jede natürliche Praxis anzusehen.40 Das gilt sowohl für das vorwissenschaftliche als auch für das wissenschaftliche Leben, sofern dieses in der natürlichen Einstellung verbleibt.41 Jede natürliche Praxis ist Praxis in der vorgegebenen Welt; erst auf diesem Boden ist überhaupt ein praktisches Ziel zu setzen und zu verfolgen, sofern es sich auf irgendeine Weise auf reale Dinge oder Sachverhalte bezieht. „Die Welt ist uns”, so Husserl, „immer und notwendig als Universalfeld aller wirklichen und möglichen Praxis, als Horizont vorgegeben. Leben ist ständig In-Weltgewißheit-leben” (VI, 145). So ist die Welt als eine der „ursprünglichsten Selbstverständlichkeiten” (VIII, 75), als „der ständige Geltungsboden, eine stets bereite Quelle von Selbstverständlichkeiten” (VI, 124) zu charakterisieren. Als solche ist sie diejenige ursprüngliche ‚Voraussetzung’ für die natürliche Einstellung, die im Vollzug dieser Einstellung nicht sichtbar wird.42 Die ‚universale Epoché’ setzt nun die ursprüngliche Voraussetzung der Welt, welche die natürliche Einstellung von Grund auf bestimmt, gänzlich außer Kraft, um sie dadurch von der Anonymität zu befreien und zu einem thematischen Bewußtsein zu bringen. Die transzendentale Epoché und Reduktion hat daher den Charakter einer „völlige[n] Umstellung des gesamten Lebens” (VI, 153), das bisher natürlich-ungebrochen verlief. Sie muß die natürliche Einstellung als Ganze betreffen, weil eine Epoché, die verschiedene natürliche Geltungen einzeln suspendieren würde, die Bodengeltung der Welt unberührt ließe.43 Husserl ist sich dessen bewußt, daß diejenige radikale Umstellung, die als ‚transzendentale Epoché’ bezeichnet wird, zunächst „Befremden und Skepsis” erwecken kann (VI, 101): „Aus leicht einsehbaren Wesensgründen lebte 37
Vgl. IX, 528 Anm.; XXXIV, 441ff. Vgl. IX, 530; XXXIV, 443f. 39 Dies bringt Husserl wie folgt klar zum Ausdruck: „Jeder einzelne Gegenstand als Geltung impliziert schon intentional die Geltung der ganzen Welt als einer in der Welt” (Dok II/2, 92 Anm. 349). 40 Vgl. auch VI, 145f., 157; XXXIV, 277, 340; Ms. A I 31/ 8b; B II 13/ 18a; K III 6/ 102b. 41 Vgl. VI, 124, 142f., 157, 465. 42 Vgl. IX, 43; VI, 112f.; XXXIV, 447; Held 1991, 81, 83. 43 Vgl. VI, 153; Ms. B I 14/ Tr. XIII, 38f. 38
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die Menschheit und lebt jeder einzelne Mensch zunächst ganz ausschließlich in der Positivität, und so ist die transzendentale Reduktion eine Art Änderung der ganzen Lebensform, die alle bisherige Lebenserfahrung völlig übersteigt und vermöge ihrer absoluten Fremdartigkeit schwer verständlich ist nach Möglichkeit und Wirklichkeit” (IX, 276f.).44 Die transzendentale Reduktion ist nicht etwa deswegen ‚fremdartig’, weil sie die ganze natürliche Welt für nichtig erklären und sie durch eine andere ‚Welt’ ersetzen würde. Ganz im Gegenteil: Die Reduktion will das Leben und Erfahren in der natürlichen Einstellung nicht aufheben, sondern ‚verständlich’ machen. Damit aber das natürliche Leben sich selbst zeigen kann, darf die universale Voraussetzung bzw. das universale ‚Vorurteil’ der natürlichen Einstellung – nämlich der schlichte Weltglaube – nicht geradewegs mitvollzogen werden. In einer solchen Einstellung kann die Weltgewißheit als solche nie thematisch werden, da sie der betreffenden Einstellung als Basis vorausgeht. Die universal-transzendentale Reduktion ist darauf gerichtet, diese ursprüngliche Selbstverständlichkeit der ‚Welt’ als zu bedenkende Unverständlichkeit zu enthüllen, um nach ihrem ‚Sinn’ fragen zu können. Dieses Problembewußtsein wird auch aus folgender Manuskriptstelle deutlich: „Ich betätige radikale Vorurteilslosigkeit, indem ich zurückfrage nach der Urstätte aller meiner Urteile, aller meiner selbst erworbenen oder traditionell übernommenen und schließlich auch der mir durch Unausdrücklichkeit zunächst verborgenen und mich doch bestimmenden Selbstverständlichkeiten, deren universaler Titel die Welt ist” (Mat VIII, 41).
5. DAS PROBLEM DER SUBJEKTIVITÄT UND DIE TIEFENDIMENSION DER SELBSTVERSTÄNDLICHKEITEN 5.1 Der Rückgang auf das selbstverständlich durchlebte ‚transzendentale Leben’ In den vorangegangenen Überlegungen wurde die ‚Fremdartigkeit’ der transzendentalen Reduktion dadurch begründet, daß sie gerade eine der tiefsten Selbstverständlichkeiten – nämlich diejenige der ‚Welt’ – außer Geltung setzt und infolgedessen den geradlinigen Vollzug der natürlichen Einstellung suspendiert. Diese Umstellung führt uns aber nicht zu einem Nichts, sondern zu einem neuartigen Erfahrungsleben, das aber kein ‚natürliches’ ist. Dasjenige Erfahrungsleben, für das es in der natürlichen Sprache keine Bezeichnung gibt, nennt Husserl ‚transzendentales Leben’ bzw. ‚konkrete transzendentale Subjektivität’. Die Welt wird nicht mehr als selbstverständliche hingestellt, 44
Vgl. auch IX, 295.
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sondern in ihrer Korrelation mit dem subjektiven Vollzug des Lebens erfaßt. 45 Die Welt bestimmt sich – wie gezeigt – erstens als universaler Horizont für die Erscheinung der Naturdinge, zweitens als das Vor-Urteil aller natürlichen Urteile, drittens als Urboden aller natürlichen Praxis. Alle diese Bestimmungen verweisen auf den subjektiven Vollzug, ohne den die Welt für uns nicht als solche da sein könnte. Zur natürlichen Einstellung gehört eine Selbstvergessenheit bzw. eine Befangenheit in einer unreflektierten Gegenstandsorientierung.46 Das Außer-Geltung-Setzen der Welt besagt daher zugleich die Aufhebung dieser Selbstvergessenheit des subjektiven Lebensvollzugs.47 Wenn die Reduktion auf die ‚transzendentale Subjektivität’ fremdartig erscheint, so liegt das nicht daran, daß sie eine neue theoretische Konstruktion darstellen würde,48 sondern daran, daß sie die „Sphäre einer neuartigen, der transzendentalen Erfahrung” (I, 66) freilegt. Die sich in der natürlichen Einstellung stets anonym vollziehende Selbsterfahrung gelangt nun zum thematischen Selbstbewußtsein.49 Es handelt sich hierbei also um einen weiteren Rückgang auf eine ‚Selbstverständlichkeit’, die tiefer liegt als jede weltliche Objektivität.50 Die Enthüllung der transzendentalen Subjektivität bedeutet also kein bloßes Thematisch-werden des Unthematischen innerhalb des universalen Welthorizonts.51 Vielmehr kann die mittels der Reduktion entdeckte ‚transzendentale’ Dimension in der Welt nicht mehr eine geeignete Stelle finden, da es sich bei ihr um das universale ‚Weltbewußtseinsleben’ handelt, in dem die Welt allererst als solche erscheinen kann. Man muß mit Husserl sagen, „daß Subjektivität etwas absolut Einzigartiges ist, das in der Welt der ichfremden Gegenständlichkeiten seinesgleichen gar nicht haben kann” (VIII,
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Vgl. I, 65; VI, 121f.; VIII, 167; IX, 289. Vgl. VI, 179; XV, 640; Dok II/1, 132 Anm. 47 Vgl. Held 1991, 81ff. 48 Die transzendentale Subjektivität ist „nicht ein hohles metaphysisches Postulat, sondern Gegebenheit einer eigenen, transzendentalen Erfahrung” (IX, 345); vgl. VI, 156; Mohanty 1997, 93f.; Bernet 2004, 249. Husserls Begriff der ‚Transzendentalität’ stellt also einen Korrelatbegriff zu einer neuartigen Einstellung dar: ‚Transzendental’ ist (1) vor allem jene nichtnatürliche Einstellung, in der die tieferliegende ‚Selbstverständlichkeit’ des Lebens erst sichtbar wird, und (2) alles, was für mich in dieser Einstellung festzustellen ist; vgl. XXXIV, 249; XXV, 220. Auf das Verhältnis zwischen dem traditionellen und dem Husserlschen Transzendentalitätsbegriff werde ich in Kapitel III, 2.2 hinweisen; vgl. dazu VI, 100ff.; Landgrebe 1973; Kern 1964, 245; Mohanty 1985, 191ff.; ders. 1997, 88ff. 49 Vgl. XV, 538, 150. 50 Vgl. LV, 220 = XXXV, 92f.; Ms. B I 5/ Tr. III, 18. 51 Die Verhüllung der transzendentalen Subjektivität besagt „etwas total anderes als Horizonthaftigkeit” (XV, 389), die eine bloß ‚bestimmbare Unbestimmtheit’ darstellt. Vgl. XXXIV, 452; VI, 180; Ms. K III 6/ 102a; B II 13, 9a, 9b; Fink 1966, 110. 46
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124).52 Diese fremdartige Erfahrungsdimension muß man vorerst „sehen lernen” (VIII, 122f.).53 Durch die transzendentale Reduktion befreie ich mich von der natürlichen Abblendung meines thematischen Gesichtskreises und mache die volle Konkretion meines transzendentalen Lebens für mich selbst durchsichtig. Es handelt sich also bei der phänomenologischen Reduktion eigentlich um eine Vertiefung des Selbstverständnisses, und zwar – mit Husserl zu sprechen – um die ‚volle und letzte’ Selbstverständigung des wissenschaftlich sich Besinnenden.54 Im Zusammenhang mit der Aufgabe des Selbstverständnisses drängt sich aber auch die Frage nach dem transzendentalen Anderen und letztlich nach dem ‚Ur-Ich’ auf.
5.2 Die universale Konkretion der ‚transzendentalen Subjektivität’ und die Selbstverständlichkeit des Anderen Die volle Konkretion der ‚transzendentalen Subjektivität’ umgreift nach Husserl alles erdenkliche Seiende, das ich sinnvoll thematisieren kann.55 Sie meint also die Gesamtheit des von mir korrelativ Untrennbaren und daher für mich phänomenologisch Zugänglichen überhaupt, das außer sich kein ‚sinnvolles’ Thema übrigläßt. Dieses transzendentale Universum, das kein ‚Außen’ hat, scheint nicht mit meiner ‚privaten’, ‚primordialen’ Subjektivität identifizierbar zu sein, sofern ich weiß, daß es andere Subjekte gibt. Trotzdem spricht Husserl von der Vielheit transzendentaler Subjektivitäten, die der Vielheit menschlicher Subjektivitäten entspreche. Wenn ‚transzendentale Subjektivität’ das Universum dessen meint, worüber ich überhaupt sinnvoll sprechen kann, wie kann man dann eine ‚Mehrzahl transzendentaler Subjektivitäten’ ansetzen – was zur Folge hat, daß das Universum des Sinnvollen, das kein Außen haben soll, außer sich andere Universa hat? Läuft dies nicht auf einen Widerspruch hinaus? Auch der ‚Andere’, sofern er ‚sinnvoll’ für mich zum Thema werden kann, muß sich innerhalb des phänomenologischen Themenfeldes zeigen, das mir als Phänomenologen zugänglich ist. Ist aber der ‚Andere’ als er selbst für mich nicht unzugänglich? Droht hier nicht die Gefahr eines ‚Solipsismus’? 52
Vgl. besonders folgende eindrucksvolle Passage: „Welt und Transzendentalität — nicht koexistierend oder nicht-koexistierend, nicht stimmend oder streitend, nicht Regionen, die zusammen sind oder nicht sind in einer Totalregion, nicht Korrelation in einem umfassenderen Seinsuniversum — Verwandlung aller natürlichen Begriffe” (Dok II/1, 49 Anm. 133). 53 Vgl. auch LV, 213 = XXXV, 76. Dabei handelt es sich aber nicht um ein zweites Leben außerhalb des menschlichen. Die Reduktion hebt nur die ‚Selbstvergessenheit’, die ‚Blindheit’ für die Transzendentalität des eigenen Lebens auf; vgl. XXXIV, 225f., 233; I, 75; IX, 294; VI, 267f.; XV, 389; Mohanty 1985, 208, 222. 54 Vgl. V, 146; Dok III/9, 78f.; VI, 100f., 275f., 346. Näheres dazu in Kapitel III. 55 Vgl. I, 117, 33; VI, 183; VIII, 432; XIV, 350; Dok III/6, 247; Dok III/7, 16f.; Dok III/9, 83.
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Husserl läßt sich durch diesen skeptischen Einwand nicht zu metaphysischen Interpretationen des ‚Seinsganzen’ provozieren, sondern befragt die ‚selbstverständliche’ Tatsache, daß es Andere gibt: Sie bekunden sich mir im transzendentalen Erfahrungsfeld, sind aber zugleich selbständige Subjekte, die meine ‚Eigenheitssphäre’ völlig transzendieren und selbst transzendentalen Charakter haben. Husserls Absicht liegt weder darin, den Anderen etwa in meine Subjektivität aufzulösen, noch darin, die Andersheit des Anderen zu ‚bekräftigen’ oder einen ‚ontologischen Beweis’ des Anderen zu führen: Ein solcher Beweis wäre überflüssig, da Husserl von Anfang an das Sein des Anderen nicht im geringsten bezweifelt. Notwendig muß man von der ‚Selbstverständlichkeit’ ausgehen, daß der Andere ist und nicht mein Ich ist. Unabhängig davon, ob man die Erfahrbarkeit des Anderen überhaupt behauptet oder bestreitet, weiß man dabei durchaus, was ‚der Andere’ bedeutet. Jede natürliche Rede und jeder angebliche philosophische ‚Beweis’ vom Anderen setzt dieses elementare ‚Wissen’ voraus. Husserls Aufgabe ist es, gerade dieses höchst selbstverständliche ‚Wissen’ bzw. den ‚Geltungssinn’ vom Anderen eigens verständlich zu machen.56 Der Andere ‚bekundet’ sich in meiner Erfahrung, welcher er sich jedoch als das ‚andere Ich’ zugleich radikal entzieht. Husserl versucht nicht, diese widersprüchlich erscheinende ‚Selbstverständlichkeit’ durch eine theoretische Konstruktion zu überdecken. Statt dessen reflektiert er über die Sichtweise, in der man das Problem des Anderen behandelt; denn es ist die mit den Vorurteilen behaftete Sichtweise, welche die ‚Selbstverständlichkeit’ der Fremderfahrung paradox erscheinen läßt. Diese ‚Selbstverständlichkeit’ ist in unserem natürlichen Leben eigentlich völlig unproblematisch tätig. Der Anschein des Widerspruchs ist ein Indiz dafür, daß die philosophischen Interpretationsmuster, die man unbemerkt verwendet, nicht dazu geeignet sind, die betreffende ‚Selbstverständlichkeit’ zu verstehen. Husserl versucht daher, die überlieferten, unkritisch in Geltung stehenden Denkgewohnheiten durch die Epoché außer Kraft zu setzen, um dadurch die fragliche ‚Selbstverständlichkeit’ in ihrer ursprünglichen Funktion sichtbar zu machen. Am Ende der V. Cartesianischen Meditation, in der die Fremderfahrung analysiert wird, hebt Husserl hervor, daß die phänomenologische Auslegung „nichts dergleichen wie metaphysische Konstruktion” ist, sondern allein sich betätigt, „den Sinn aus[zu]legen”, der „philosophisch enthüllt, aber nie geändert werden kann [...]” (I, 177). Die natürliche Existenz des Anderen wird von Husserl keinesfalls in Frage gestellt; statt dessen soll ihr vertrauter ‚Sinn’, nach dem 56
Dies hebt er im Schlußparagraphen der V. Cartesianischen Meditation hervor: „Es ist vor allem zu beachten, [...] daß unsere Theorie der Fremderfahrung, der Erfahrung von Anderen, nichts weiteres sein wollte und sein durfte als die Auslegung ihres Sinnes Anderer [...]” (I, 175); vgl. auch I, 122ff. Diese Problemstellung werde ich später eingehend behandeln (Kapitel V, 3.1, 5.2; Kapitel VI, 2.1).
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in der natürlichen Einstellung nie eigens gefragt wird, ausdrücklich zum Thema der phänomenologischen Analyse gemacht werden. Die zugespitzte ‚Fremdartigkeit’, welche der Husserlschen Frage nach dem transzendentalen Anderen anhaftet, ist nicht der Ausdruck eines Solipsismus, sondern bezeugt die Fundamentalität der befragten Dimension, die sich für das natürliche Bewußtsein hinter einer tiefen Fraglosigkeit verbirgt.57
5.3 Das Problem des ‚Ur-Ich’: Die letzte Selbstverständlichkeit? Sowohl die ‚Gegebenheit’ als auch die ‚Transzendenz’ des Anderen nehmen wir im natürlichen Leben als bloße ‚Selbstverständlichkeiten’ hin. Wenn man aber die notwendige ‚Gegebenheit’ des Anderen ernst nimmt, gerät man in eine Verlegenheit: Wenn der Andere mir als mich Transzendierender dennoch ‚gegeben’ ist, wie kann ich dann dieses ‚mir’ und ‚mich’ verstehen? Kann ich etwa über mein Ich hinausgehen, um den Anderen zu erreichen? Es erhebt sich hier die Frage nach dem ‚Ich’, das wir als selbstverständlich zu wissen glauben, das sich aber als Problem herausstellt, wenn man danach eigens fragt. Husserls Frage nach dem ‚Ur-Ich’ wird in diesem Zusammenhang gestellt. Die Behauptung, daß sich der Sinn des Anderen im ‚Ur-Ich’ konstituiere,58 erweckt zwar Befremden und Skepsis; es ist aber aufgrund der bisherigen Charakterisierung der Husserlschen Phänomenologie davon auszugehen, daß es sich hier nicht um die spekulative Konstruktion eines mir und den Anderen vorangehenden metaphysischen ‚Ich’ handelt. 59 Statt dessen wäre es hingegen durchaus denkbar, daß der Begriff des ‚Ur-Ich’ eine radikalisierte Bezeichnung derjenigen ‚Selbstverständlichkeit’ darstellt, daß ‚alles und jedes’ mir auf irgendeine Weise gegeben sein muß, sofern auch das mich Transzendierende und das für mich ‚Unerfahrbare’ als solches sinnhaft zu verstehen ist.60 Die vorangegangene Untersuchung hat gezeigt, daß eine tiefe Selbstverständlichkeit ‚fremdartig’ erscheinen kann, wenn sie eigens problematisiert wird. Es ist also folgerichtig anzunehmen, daß der fremdartig wirkende Begriff des ‚Ur-Ich’ eine solche grundsätzliche ‚Selbstverständlichkeit’ meint, die Husserl als „Genie der Reflexion und Analyse”61 nicht unberücksichtigt 57
Zur Fremdartigkeit im Hinblick auf das Problem des Anderen vgl. I, 120, 123; XV, 551; Ms. B I 14/ 161a, 168b. 58 Vgl. z. B. VI, 188; XV, 372f., 636. 59 Diese Interpretation werde ich in Kapitel V systematisch zurückweisen. 60 Die ‚Selbstverständlichkeit’ des Mir-gegeben-Seins betrachtet Husserl als „eine Feststellung, die aller Philosophie vorangehen und alle Philosophie einleiten muss”. „Was in dieser Feststellung liegt, wie sie vorurteilslos auszulegen ist, das entscheidet für den ganzen Gang der Philosophie” (XXXIV, 280). Vgl. auch XV, 369f., 373. 61 Fink 1976, 220.
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lassen konnte. Husserl bemerkt dazu: „Das ganze Absehen der Transzendentalphilosophie geht letztlich auf jene prinzipiellen Selbstverständlichkeiten zurück [...]” (VII, 247). Dies legt nahe, daß das ‚Ur-Ich’ als Resultat der ‚radikalisierten transzendentalen Reduktion’ eine der fundamentalsten ‚Selbstverständlichkeiten’ zum Ausdruck bringt, die in gewissem Sinne allzu bekannt ist, bei der Thematisierung aber gerade deswegen so ‚fremdartig’ erscheint, weil sie im natürlichen Leben ständig vorausgesetzt wird, ohne eigens thematisiert zu werden. Die ‚Fremdartigkeit’ dieses Begriffs ist ein Zeichen dafür, daß sich hinter ihm ein ernst zu nehmendes Problem verbirgt, welches im natürlichen Leben – und sogar auf der ersten Stufe der Phänomenologie – kaum bemerkbar ist. Um dies zu belegen, werde ich im folgenden zunächst Husserls Weg zur Thematisierung des Ur-Ich verfolgen (I. Teil, Kapitel II und III) und anschließend dessen einschlägige sachliche Analysen systematisch rekonstruieren (II. Teil). Dadurch soll deutlich werden, daß die Konzeption des ‚Ur-Ich’ keine Abweichung von der phänomenologischen Methode darstellt, sondern vielmehr deren konsequente Vertiefung und ‚Radikalisierung’.
Kapitel II
Die ‚non-egologische’ Reduktion und der Rückgang auf die Evidenz: Zur Vertiefung des ‚Sehens’
„[...] die ganze Kunst besteht darin, rein dem schauenden Auge das Wort zu lassen [...]” (II, 62)
1. EINLEITUNG Im vorangegangenen Kapitel wurde die methodische Eigenheit der Phänomenologie als konsequente Problematisierung der ‚Selbstverständlichkeiten’ charakterisiert. Unter der ständigen Berücksichtigung dieses methodischen Standpunktes sollen nun weitere Aspekte herausgestellt werden, die sich in Husserls Phänomenologie schon früh ausgeprägt haben und Husserl letztlich zur späten Thematisierung des ‚Ur-Ich’ führen. Es ist bekannt, daß die frühe Position der Husserlschen Phänomenologie einen non-egologischen Charakter hat.1 Dem ersten Anschein nach liegt es nahe, daß es sich dabei um eine Gegenposition zur späteren egologischen Phänomenologie, insbesondere zum Gedanken des ‚Ur-Ich’, handelt. Die Differenz ist zwar offensichtlich, doch zeigt sich durch eine nähere Untersuchung, daß dieselben methodischen Prinzipien beide Positionen prägen, was allerdings in der späten Position entscheidend vertieft wird: Es handelt sich (1) um die phänomenologische Reduktion und (2) um die eng damit verbundene Berufung auf die Evidenz und das ‚Sehen’.2 1
Marbach hat diesen Punkt hervorgehoben und die frühe Phänomenologie als „ichlose” gekennzeichnet (1973; 1974, 23ff.; vgl. dazu auch Trappe 1996, 116ff.). Der Terminus ‚nonegologisch’ wird in der vorliegenden Arbeit dahingehend verstanden, daß das Ich in der betreffenden Konzeption keine wesentliche Rolle spielt. Das besagt jedoch nicht, daß sie keinen Ichbegriff hätte. Um dieses Mißverständnis zu vermeiden, spreche ich von ‚non-egologischer’ statt von ‚ichloser’ Phänomenologie. 2 Dabei werden die Texte herangezogen, die etwa von 1902 bis 1910 entstanden sind, als sich vor allem der Begriff der phänomenologischen Reduktion herauskristallisierte. Zur Bedeutung der betreffenden Schaffensphase sei Mohantys treffender Hinweis angeführt: „As a matter of fact, the years 1905-10 are the years during which he makes the most important discoveries of his life, discoveries which determined the rest of his thinking” (1995, 57). Man kann auch die Zeit etwa von 1902 bis 1905 hinzufügen, in der das Selbstverständnis der Phänomenologie eine zunehmende Klarheit gewinnt und damit die anschließenden ‚Entdeckungen’ unmittelbar
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Erstens soll klargemacht werden, daß der ‚non-egologische’ Charakter der frühen Phänomenologie kein bloßes Defizit bedeutet, sondern die Konsequenz einer radikalen Erkenntniskritik und einer sich daraus ergebenden notwendigen ‚Reinigung’ der phänomenologischen Gegebenheitssphäre darstellt. Dieses ‚non-egologische’ Stadium mußte also einmal durchlaufen werden, damit auf diesem Grund die weitere Vertiefung erfolgen konnte. Ich werde versuchen, diejenigen methodischen Grundzüge der frühen Phänomenologie herauszuarbeiten, die für die späteren Entwicklungen – auch für die Thematisierung des ‚Ur-Ich’ – maßgebend bleiben. Aufgrund dieser Untersuchungen wird die phänomenologische Reduktion als Rückgang auf die ‚selbstverständliche Nähe’ des Lebens charakterisiert. Zweitens werde ich zeigen, in welchem Sinne die phänomenologische Methode überhaupt auf dem Rückgang auf die Evidenz basiert. Es geht dabei besonders darum, auf welche Weise die Phänomenologie die gesamte Sphäre der ‚Phänomene’ als ihren Arbeitsbereich sichern kann, um sich selbst als Wissenschaft zu etablieren. Dadurch wird die entscheidende Bedeutung der Evidenzlehre sichtbar werden; dies ermöglicht in den folgenden Kapiteln, die weiteren Entwicklungen des Husserlschen Denkens, besonders in Hinsicht auf den Ichbegriff, präzise zu verfolgen.
2. DIE NON-EGOLOGISCHE POSITION DER FRÜHEN PHÄNOMENOLOGIE UND DIE PHÄNOMENOLOGISCHE REDUKTION 2.1 Die ‚verstehende’ Sinnesaufklärung des Selbstverständlichen und die natürlichen Theorien Es gilt zunächst, die Bedeutung der erkenntnistheoretischen Überlegungen zu verdeutlichen, die letztlich zum Gedanken der ‚Reduktion’ führen. Einen Hauptgrund für die Verwirrungen im Bereich der Erkenntnistheorie sieht Husserl darin, daß die eigentlich philosophische Fragestellung der Erkenntnistheorie mit Fragestellungen der ‚natürlichen’ Wissenschaften, darunter besonders der Psychologie, vermengt wird. Die Kontrastierung beider Richtungen läßt die Eigentümlichkeit der Husserlschen Erkenntnistheorie hervortreten. In der Vorlesung Allgemeine Erkenntnistheorie von 1902/03 weist Husserl zunächst auf das Verhältnis zwischen der Subjektivität des Denkens und der Objektivität des Denkinhalts als eine erkenntnistheoretische Schwierigvorbereitet. Allgemeine Überblicke über Husserls Entwicklung nach den Logischen Untersuchungen finden sich z. B. in der Einleitung des Herausgebers zu Husserliana XXIV von Melle, XIVff. und zu Husserliana III/1 von Schuhmann, XVIff. sowie bei Mohanty 1995, 56-60.
,Non-egologische’ Reduktion und Rückgang auf die Evidenz
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keit hin: „Wie ist Erkenntnis überhaupt zu verstehen? Der Gegenstand soll ‚an sich’, und doch soll er im Erkenntnisakte ‚gegeben’ sein” (Mat III, 57). Auf diese Frage nach der ‚Möglichkeit der Erkenntnis’ antwortet die phänomenologische Erkenntnistheorie nicht mit einer theoretischen Erklärung im üblichen Sinne, wie etwa eine empiristisch-sensualistische oder eine psychogenetisch-biologische Theorie. Wenn die Erkenntnis nach ihrer Möglichkeit befragt wird, darf sie nicht bereits als bekannt vorausgesetzt werden, als ob damit ihre unbekannten ‚Hintergründe’ untersucht werden sollten. Gefragt wird nicht etwa nach der ‚Vorgeschichte’ der faktisch entstandenen Erkenntnisse, sondern nach dem ‚Sinn’ der Erkenntnis als solcher. Was Erkenntnis bedeutet, scheint zunächst ‚selbstverständlich’ zu sein; genau diese ‚Selbstverständlichkeit’ soll aber befragt werden. Husserl kontrastiert in dieser Hinsicht in der Idee der Phänomenologie die „natürliche Denkhaltung” mit der „philosophischen Denkhaltung” (II, 17ff.). Die „Möglichkeit der Erkenntnis” ist in der natürlichen Denkhaltung „selbstverständlich” (II, 19); sie wird also von den natürlichen, nichtphilosophischen Wissenschaften ohne weiteres vorausgesetzt: „[...] in immer neuen Wissenschaften von Entdeckung zu Entdeckung fortschreitend hat das natürliche Denken keinen Anlaß, die Frage nach der Möglichkeit der Erkenntnis überhaupt aufzuwerfen” (II, 19). Wenn man aber darüber reflektiert, gerät man in Verwirrungen, da man im Rahmen seiner ursprünglichen Arbeitsrichtung keine Antwort finden kann: „Leben wir uns in die natürlichen Wissenschaften ein, so finden wir, soweit sie exakt entwickelt sind, alles klar und verständlich. [...] Sowie wir aber reflektieren, geraten wir in Irrungen und Verwirrungen” (II, 21). Aus dieser Unterscheidung geht hervor, daß die Erkenntnistheorie eigentlich keine ‚Theorie’ im strengen Sinne ist.3 Husserl betont, daß die natürlichen Wissenschaften nicht in der Lage sind, das Erkenntnisproblem von Grund auf zu lösen, weil ihre ‚theoretischen’ Bemühungen völlig anders ausgerichtet sind als die Befragung der ‚selbstverständlichen’ Erkenntnis. Die unmittelbar-intuitiv begründbaren Erkenntnisse sind für die natürlichen Wissenschaften bloße Tatsachen, die als ‚selbstverständlich’ vorausgesetzt, aber nicht wissenschaftlich thematisiert werden. Ihre theoretische Aufgabe besteht vielmehr darin, ein System der mittelbar begründeten Erkenntnisse und Gesetze aufzubauen. Dieses System soll es ermöglichen, ein Einzelnes aus allgemeinen Gesetzen begreiflich zu machen oder ein Bekanntes aus 3
Bereits in den Logischen Untersuchungen heißt es: „Nach unserer Auffassung ist die Erkenntnistheorie, eigentlich gesprochen, gar keine Theorie. Sie ist keine Wissenschaft in dem prägnanten Sinne einer Einheit aus theoretischer Erklärung” (XIX/1, 26); vgl. auch XIX/1, 124 Anm.; XX/1, 283; Mat III, 59. Darüber hinaus meint Husserl, daß die „Rede von Theorie” nicht nur unpassend ist für die Erkenntnis‚theorie’, sondern auch für die ganze Phänomenologie (XVI, 3f.).
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theoretischen Hintergründen zu ‚erklären’ und eventuell etwas Neues auf begründete Weise zu antizipieren.4 Der Sinn und die Leistung der natürlichen Wissenschaften liegen also darin, uns über die Sphäre der unmittelbaren Gegebenheiten in systematischer Weise hinauszuführen.5 „Die Wissenschaft ist die Sphäre des nicht mehr Selbstverständlichen, vielmehr auf Selbstverständlichem Gegründeten. Und nun kommt es darauf an, das Selbstverständliche in passender Weise zusammenzubringen und zu verknüpfen, daß daraus Neues, nicht mehr Selbstverständliches erwachse” (XXIV, 15). Die unmittelbaren „Selbstverständlichkeiten” sind die ständigen Voraussetzungen für die Wissenschaften, die ihre gesamten Systeme als „Grundsteine” tragen, aber in ihrer Interessenrichtung „trivial” bleiben (ebd.). Die ‚Möglichkeit der Erkenntnis’, nach der die Erkenntnistheorie eigentlich fragt, gehört gerade zu dem ‚Selbstverständlichen und Trivialen’. Es ist für die natürlichen Wissenschaften ‚selbstverständlich’, daß es Erkenntnis gibt und daß sie möglich ist. Die philosophische Aufgabe der Erkenntnistheorie hingegen besteht darin, die fundamentale ‚Selbstverständlichkeit’ der Erkenntnis aufzuklären. Insofern ist ihre Richtung von Anfang an eine völlig andere als die der natürlichen Wissenschaften: „Die Philosophie [...] liegt in einer völlig neuen Dimension. Sie bedarf völlig neuer Ausgangspunkte und einer völlig neuen Methode, die sie von jeder ‚natürlichen’ Wissenschaft prinzipiell unterscheidet” (II, 25).6 Die philosophische Erkenntnistheorie beabsichtigt also nicht, wie die anderen Wissenschaften, aufgrund der ‚Selbstverständlichkeit’ weiter vorwärts zu gehen, nämlich eine über die unmittelbaren Gegebenheiten hinausgehende ‚Theorie’ zu bilden, sondern auf die fragliche ‚Selbstverständlichkeit’ als solche zurückzugehen, um sie reflektiv verständlich zu machen, nämlich ihren ‚Sinn’ aufzuklären, statt sie theoretisch zu erklären. Husserl betont diesen Punkt wiederholt: „[...] Erkenntniskritik will nicht theoretisieren; was sie will, liegt auf keinen mathematischen oder naturwissenschaftlichen, auch psychologischen Wegen. Sie will ‚aufklären’, sie will nichts deduzieren, nichts auf Gesetze als erklärende Gründe zurückführen, sondern einfach verstehen, was im Sinn der Erkenntnis und ihrer Objektivität liegt” (XXIV, 190).7 Dieser fundamentale Unterschied zwischen der natürlich-wissenschaftlichen und der erkenntnistheoretisch-philosophischen Fragestellung muß weiterhin im Auge behalten werden. Denn er ist eine unentbehrliche Voraus4 Vgl. XIX/1, 26f.; XXIV, 12ff.; auch die folgende Charakterisierung: „Alle naturwissenschaftliche Erkenntnis ist mittelbare Erkenntnis” (XXX, 328). 5 Vgl. XVIII, 31f.; XXIV, 15. 6 Vgl. auch II, 25f.; XXIV, 239. Zur strengen Unterscheidung zwischen Einzelwissenschaften und Phänomenologie als „‚radikale[r]’ Wissenschaftslehre” vgl. Gleixner 1986, 32ff. 7 Zur Gegenüberstellung von theoretischer Erklärung und philosophischer Aufklärung bzw. Verständlichmachung vgl. XIX/1, 124f.; Mat III, 59f.; II, 6f., 32, 58; XXII, 206; XXX, 337ff.; Dok III/2, 123f.
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setzung dafür, daß die Bedeutung der phänomenologischen Entdeckungen – letztlich auch diejenige des ‚Ur-Ich’ – verstanden werden kann.8 Jene Unterscheidung wird deswegen so betont, weil stets die Gefahr besteht, daß in die Phänomenologie und die Erkenntnistheorie ihr fremde, aber uns als wissenschaftlich Eingestellten naheliegende Fragestellungen hineingeraten können.
2.2 Die radikale Skepsis als Methode: Die Vermeidung des Zirkels Daß die Erkenntnis in der Erkenntnistheorie nicht durch theoretische Mittel der natürlichen Wissenschaften (auch nicht der metaphysischen Ontologie) ‚erklärt’ werden darf, läßt sich nicht nur auf die oben erläuterte ‚Mittelbarkeit’ dieser Methoden zurückführen. Der entscheidende Grund, warum diese nicht in Anspruch genommen werden dürfen, ist, daß die Erkenntnistheorie dadurch in einen argumentativen Zirkel gerät. Um nach dem ‚Sinn’ der Erkenntnis zu fragen, kann man nicht von vornherein den fraglichen ‚Sinn’ in seiner Argumentation voraussetzen. Als das Ziel der Befragung ist er zu Beginn der Erkenntnistheorie ‚noch nicht verstanden’. Wenn ein Psychologe oder Physiologe die Erkenntnis als ein angeblich ‚zu Beweisendes’ vor sich hat und den sie ermöglichenden Hintergrund untersucht, beantwortet er damit nicht die Frage nach dem ‚Sinn’ der Erkenntnis, da er ihn dabei schon als ‚selbstverständlich’ voraussetzt. Er weiß schon, was ‚Erkenntnis’ bedeutet; er will sie sozusagen ‚von außen’ (in bezug auf die äußeren Umstände) theoretisch erklären. Die naturwissenschaftliche Erkenntnisforschung ist als solche zwar sinnvoll und berechtigt, wenn der Sinn der Ergebnisse im Rahmen ihres Arbeitsbereichs bewertet wird. Wenn man jedoch die von ihr entwickelte Erklärung für die Lösung des fundamentalen philosophischen Erkenntnisproblems hält, gerät man in einen circulus vitiosus oder einen regressus in infinitum, sofern sie die Erkenntnis überhaupt als selbstverständliche Voraussetzung verwendet, um Erkenntnis überhaupt aufzuklären.9
8 Zur fundamentalen Bedeutung der ‚Erkenntnistheorie’ für die Reduktionslehre und die Phänomenologie überhaupt vgl. die klare Darstellung von Mensch 1988, 5ff. 9 Dieses Argument gegen den ‚Zirkel’ spielt schon bei Husserls Kritik an skeptischen Theorien in den Prolegomena eine zentrale Rolle und wird weiterhin im Auge behalten. Husserl bringt es dort folgendermaßen zum Ausdruck: „Beruht aber jede Begründung auf Prinzipien, denen gemäß sie verläuft, und kann ihre höchste Rechtfertigung nur durch Rekurs auf diese Prinzipien vollzogen werden, dann führte es entweder auf einen Zirkel oder auf einen unendlichen Regreß, wenn die Begründungsprinzipien selbst immer wieder der Begründung bedürften” (XVIII, 94); vgl. auch XIII, 152. Zur Bedeutung dieses Arguments für die Reduktions theorie vgl. besonders die eingehende Erörterung in Lohmar 2002a. Auch Mensch weist darauf hin, daß die Epoché durch die Forderung begründet wird, eine petitio principii zu vermeiden (Mensch 1988, 12f.).
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Damit dieser Zirkel vermieden wird, führt Husserl als methodisches Prinzip eine radikale Skepsis ein.10 Im allgemeinen gilt: „Was eine Wissenschaft in Frage stellt, das kann sie nicht als vorgegebenes Fundament benützen” (II, 33). Die Erkenntnistheorie will das Wesen der Erkenntnis aufklären; sie fragt nach der Möglichkeit von ‚Erkenntnis überhaupt’. Sie kann daher ‚Erkenntnis überhaupt’ nicht von vornherein als Prämisse in Anspruch nehmen.11 Alle Erkenntnisse sind nun ‚in Frage gestellt’. Fängt die Erkenntniskritik an, „so kann ihr keine Erkenntnis als gegeben gelten. Sie darf also aus keiner vorwissenschaftlichen Erkenntnissphäre irgend etwas übernehmen, jede Erkenntnis trägt den Index der Fraglichkeit” (II, 33). Nicht nur die vorwissenschaftlichen, sondern auch alle wissenschaftlichen Überzeugungen dürfen nicht als Prämisse vorausgesetzt werden: „Was wir feststellen, kann nicht die wirkliche Geltung von außen aus Leben und Wissenschaft entnommenen Tatsachen oder Gesetzen in einem festbestimmten Sinn voraussetzen, da wir den Sinn des Geltens, den Sinn von Gesetz und Tatsache in allgemeiner Weise überhaupt erst bestimmen wollen” (Mat III, 89). In diesem Sinne muß die Erkenntnistheorie „voraussetzungslos verfahren” (ebd., 88). Das Prinzip der „Voraussetzungslosigkeit”, von dem schon in den Logischen Untersuchungen die Rede war (XIX/1, 24ff.), nimmt nun eine Form der radikalen Skepsis an. „Wir müssen in der Tat”, betont Husserl, „die Erkenntnistheorie als Skeptiker beginnen” (Mat III, 88).12 Die radikale Form der ‚skeptischen’ Suspendierung aller natürlich-objektiven Geltung ist äquivalent mit der sogenannten ‚phänomenologischen Epoché’. 13 Die Erkenntnistheorie muß also mit einer „absoluten Epoché” beginnen, die „aller natürlichen Erkenntnis ihr non liquet als reine Urteilsenthaltung gegenübersetzt” (XXIV, 187). Diese Epoché ist „das erste und Grundstück der erkenntnistheoretischen Methode” (ebd.). Husserl hebt dabei hervor, daß der ‚methodische’ bzw. ‚kritische’ Skeptizismus als ‚Epoché’ und der ‚dogmatische’ Skeptizismus streng auseinanderzuhalten sind. 14 Die ‚Epoché’ ist keine Skepsis als Selbstzweck, keine solche, die sich als Theorie behauptet: „Im Gegensatz zur dogmatischen Skepsis ist die kritische keine Theorie, sondern eine Stellungnahme und eine Methode” (XXIV, 180). Wenn man nämlich die Skepsis als eine Theorie auffaßt, gerät man in einen Widerspruch mit sich selbst. Die theoretische Behauptung, es gebe keine Erkenntnis, enthält insofern immer schon eine Erkenntnis, als darin ein für ‚richtig’ gehaltenes Urteil gefällt ist. 15 Oder: 10
Zu diesem Zweck der Skepsis vgl. XXV, 15. Zum Verhältnis von ‚Prämisse’ und ‚Voraussetzungslosigkeit’ vgl. Mat III, 89 Anm. 1, 90; XXIV, 379; Rosen 1977, 140ff. 12 Vgl. XXIV, 179; II, 29. 13 Vgl. Mat III, 191; XXIV, 187, 193; II, 29. 14 Vgl. Mat III, 88; XXIV, 180, 188, 194. 15 Vgl. XXIV, 397f. 11
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Wenn man sagt, es gebe keine Wahrheit, so meint diese Aussage, daß sie selbst eine Wahrheit sei, während sie dies in ihrem Inhalt negiert, was ja gerade das Merkmal der skeptischen Theorie ist.16 Es ist zu bedenken, daß man sich auch unbemerkt in eine solche widersinnige Argumentation verwickeln kann: „Es gibt nicht nur einen bewussten, offen eingestandenen, sondern auch einen unbewussten Skeptizismus” (Mat III, 87). Auf diesen versteckten Skeptizismus will Husserl eigentlich aufmerksam machen. Denn: „Fast jede falsche Erkenntnistheorie ist unbewusster Skeptizismus” (ebd.). Eine psychologistische Erkenntnistheorie würde behaupten, daß logische Gesetze in den psychologischen Entwicklungen ihre Quelle haben. Um dies argumentativ zu zeigen, benötigt sie jedoch gerade die fraglichen logischen Gesetze, die erst durch die Theorie erklärt werden sollen.17 Indem jene behauptet, die logischen Gesetze hätten einen psychologisch-empirischen Ursprung, bestreitet sie zumindest implizit den apriorischen Charakter der logischen Gesetze, welcher von ihr selbst schon vorausgesetzt wird. Dadurch gerät die psychologistische Erkenntnistheorie in einen latenten Skeptizismus.18 Durch die Gegenüberstellung mit dem dogmatischen Skeptizismus als Theorie tritt nun der Sinn der kritischen Skepsis als Methode deutlicher hervor: Die kritische Skepsis als Epoché bestreitet oder bezweifelt Erkenntnis nicht im eigentlichen Sinne, d. h. sie behauptet nicht deren ‚Unmöglichkeit’. Faktisch zweifelt sie an nichts, auch nicht an der Mathematik und an den Naturwissenschaften (Mat III, 88). Diese dürfen nur nicht als Prämisse verwendet werden, wenn man die erkenntnistheoretische Frage aufklären will: „Der erkenntnistheoretische Skeptizismus leugnet also keine Erkenntnis, leugnet keine der vorhandenen Wissenschaften, er bestreitet sie in keiner Richtung, weder hinsichtlich ihrer praktischen Triftigkeit noch hinsichtlich ihrer Rationalität. Aber er läßt alle Erkenntnis und Wissenschaft dahingestellt; alle Erkenntnis und Wissenschaft macht er zum Problem” (XXIV, 185).19 Die erörterten Grundzüge der phänomenologischen Methode – nämlich die Vermeidung des Zirkels und die dazugehörige radikale ‚Skepsis’ bzw. ‚Epoché’ – sind auch bei den folgenden Darlegungen weiterhin zu berücksichtigen; denn sie spielen, wie später ersichtlich wird, auch bei der Thematisierung des ‚Ur-Ich’ eine ausschlaggebende Rolle.20 16
Vgl. besonders XXIV, 183; auch XVIII, 118ff.; Mat III, 85; XXIV, 147; XXV, 9f.; Mertens 1996, 51ff. 17 Vgl. XXIV, 143ff. 18 Zum Psychologismus als Skeptizismus vgl. XVIII, 118ff.; Mat III, 9, 63; XXIV, 176; XXX, 325; Peucker 2002, 113ff. 19 Vgl. XXIV, 186; Ms. B II 1/ 37b. 20 Vgl. besonders Kapitel V.
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2.3 Die phänomenologische ‚Immanenz’ und die Reduktion Angesichts dieser radikalen methodischen Skepsis erhebt sich nun die Frage, worin die phänomenologische Erkenntnistheorie einen ‚positiven’ Ausgangspunkt finden kann. Husserl knüpft dabei an die Cartesische Zweifelsbetrachtung an: „[...] ich mag zweifeln an allen Wissenschaften, ich mag zweifeln an der Existenz der Natur (an der Existenz meines Ich), ich mag zweifeln an was immer, aber so zweifelnd kann ich nicht zweifeln, daß ich zweifle” (XXIV, 198). 21 Man mag auch darüber in Zweifel sein, ob das Wahrgenommene wirklich existiert, aber „die Tatsache des Wahrnehmens selbst, die Tatsache, dass uns der und der Gegenstand als hic et nunc gegenwärtiger vor Augen zu stehen scheint, können wir nicht bezweifeln” (Mat III, 91). Das gilt nicht nur für die Wahrnehmung. Denn auch während des Phantasierens, Denkens, Fühlens usw. kann ich nicht bezweifeln, daß ich phantasiere, denke, fühle, usw. Letztlich gilt in bezug auf alle cogitationes, „dass, wenn wir sie wirklich erleben, es absolut zweifellos ist, dass wir sie erleben, dass sie also wirklich sind” (ebd.).22 Husserl versucht aber, dieses evidenzkritische Motiv der Cartesischen Zweifelsbetrachtung noch über Descartes hinaus weiter zuzuspitzen. Es kommt Husserl nicht darauf an, das denkende Ich als ‚Substanz’ zu sichern, um auf der Basis dieses Ich ein festes theoretisches System deduzierend aufzubauen.23 Das Ziel der Erkenntnistheorie ist für Husserl – wie gezeigt –, zum Verständnis zu bringen, was zum Wesen der Erkenntnis gehört, und was der Erkenntnis ihren Rechtsgrund verleiht.24 Anders als Descartes geht Husserl nicht ‚nach vorne’, sondern geht auf die cogitationes selbst, die eigentlich schon für ‚sicher’ erklärt wurden, zurück, um ihren Evidenzcharakter genauer zu erhellen.25 Also fragt Husserl weiter: Wie kann verständlich gemacht werden, daß die cogitationes klar und deutlich sind? Angesichts dieser Frage führt Husserl das Begriffspaar Immanenz und Transzendenz ein und eröffnet dadurch eine neue Perspektive.26 Er sieht den Evidenzcharakter der cogitationes in ihrer ‚Immanenz’. Dabei darf ‚Imma21
Vgl. auch Mat III, 89ff.; XXIV, 193, 198ff.; II, 4, 30, 33. Vgl. XXIV, 199f.; II, 30f., 33. 23 Vgl. Mat III, 90f., 89 Anm. 24 Vgl. XXIV, 188f. 25 Vgl. dazu besonders XXIV, 408. 26 Dazu finden sich ausführliche sachliche Analysen in der Vorlesung von 1902/03 (Mat III, 91ff.). Die Einbeziehung von ‚Immanenz und Transzendenz’ wird auch in einem Brief an Theodor Lipps (1904) im Hinblick auf den Cartesianischen Zweifel und auf die Evidenz für wichtig gehalten (Dok III/2, 124); dies wird in der Vorlesung von 1906/07 weiter entwickelt (XXIV, 203ff.), gewinnt aber in der Idee der Phänomenologie einen völlig neuen Sinn (II, 5f., 33ff.). Es ist zu beachten, daß der Immanenzbegriff dabei eine erhebliche Modifikation und Erweiterung erfährt. Vgl. dazu 3.2 und 3.3. 22
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nenz’ nicht als ein Objektbereich betrachtet werden, etwa als ‚Innerseelisches’ im Gegensatz zur ‚Außenwelt’. Der springende Punkt ist vielmehr, daß die Evidenz der cogitationes nicht davon abhängig ist, auf welchen Gegenstand sie sich beziehen.27 Es verhält sich nicht so, daß nur die ‚innere’ Wahrnehmung evident wäre, die ‚äußere’ hingegen nicht. Das wahrgenommene äußere Ding kann in seiner Existenz zwar bezweifelt werden, aber das aktuelle Erlebnis dieser ,äußeren’ Wahrnehmung kann nicht durchstrichen werden. Andererseits ist die ‚innere’ Wahrnehmung nicht ohne weiteres evident. So heißt es in der Vorlesung von 1902/03: „Fühle ich Schmerz, so ist es mir zweifellos gewiss, es ist evident, dass ich fühle. Sage ich aber: ‚Ich fühle Schmerz im Kopf’, und glaube ich damit ein solches Wahrnehmen auszudrücken, so irre ich. Ich deute wahrnehmend den Schmerz als Kopfschmerz, also ich lokalisiere ihn im Kopf. Aber damit gehe ich über das Gegebene hinaus” (Mat III, 94). An dieser Stelle ist es unverkennbar, daß es sich hier nicht etwa darum handelt, die gesamten Gegenstände in ‚an sich evidente’ und ‚an sich nicht-evidente’ einzuteilen. Es kommt allein darauf an, ob das Gegebene so genommen wird, wie es gegeben ist, oder eine ‚transzendierende’ Deutung erfährt, die es auf etwas in der Wahrnehmung nicht unmittelbar Gegebenes bezieht (z. B. das raumzeitlich aufgefaßte Objekt ‚Kopf’); im letzteren Fall entfällt der Charakter der schlichten Evidenz. Dieses Verständnis der ‚Immanenz’ hat Husserl durch die Lehre von der ‚Adäquation’ präzisiert, die er seit der VI. Logischen Untersuchung entwikkelt hat.28 Wenn wir die cogitationes „aktuell erleben und darauf reflektieren, darauf wahrnehmend hinblicken” (Mat III, 94), dann ist das Gemeinte im Meinen selbst auf solche Weise gegeben, daß die meinende Intention ‚ihr Ziel erreicht’ hat, daß sie also „im Objekte gleichsam befriedigt” ruht, ohne daß irgend etwas von der Intention „unbefriedigt bliebe”. An dieser adäquaten Erfüllung hängt die „Widervernünftigkeit des Zweifels” (ebd.). Die Evidenz ist also nicht von der Art der Erlebnisse abhängig, sondern sie hat vielmehr überall da „denselben Charakter”, „dieselbe Quelle der Zweifellosigkeit”, wo die Intention nicht bloß etwas meint, sondern „es voll und ganz in demselben aktuellen Bewusstsein erfasst” (Mat III, 94f.). Ob es um eine Wahrnehmung oder um eine Halluzination geht, d. h. ob der Gegenstand wirklich existiert oder nicht, ob sie sich auf ein ‚seelisches’ oder ‚dingliches’ Objekt bezieht, spielt insofern keine Rolle, als es um die Evidenz des Erlebnisses selbst geht: „Nicht die Besonderheit der Wahrnehmungsobjekte bestimmt den Charakter der Wahrnehmung in Hinsicht auf Evidenz oder Nichtevidenz; sondern allein darauf kommt es an, wie die Wahrnehmung 27
Darauf weist bereits die Beilage der Logischen Untersuchungen „Äußere und innere Wahrnehmung” hin; vgl. XIX/2, 751ff. 28 Vgl. XIX/2, 645ff.; Mat III, 132ff.; Tugendhat 1967, 72, 91ff.; Rosen 1977, 49f.; Heffernan 1983, 67f.
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selbst beschaffen ist, ob sie in ihrem eigenen Inhalt das findet, was ihre Intention erfüllt, oder ob sie mit ihrem Meinen über das hinausgeht, was ihr in wirklichem und eigentlichem Sinn einwohnt. Im ersteren Fall hat die Wahrnehmung den Charakter der klaren und distinkten Perzeption, den Charakter der Evidenz, im zweiten Fall nicht” (Mat III, 95). Durch diese Überlegung wurde zugleich deutlich, daß die Quelle der erkenntnistheoretischen Verwirrungen in der ‚Transzendenz’ der Erkenntnis liegt: Daß es der Erkenntnis, die über das Gegebene hinausgeht, am Charakter der adäquaten Evidenz mangelt, das macht die Erkenntnis problematisch (II, 34f.). Aufgrund dieser Einsicht soll nun die evidenzkritische ‚Skepsis’ zur strikten Methode der phänomenologischen Reduktion umgestaltet werden. 29 Alle ‚transzendierenden’ Denkakte und Auffassungen sind mit der erkenntnistheoretischen ‚Unklarheit’ in bezug auf ihre transzendenten Gegenstände behaftet.30 Die Transzendenz der Erkenntnis ist also „das Aus-gangsund Leitproblem der Erkenntniskritik” (II, 36). Insofern darf „Transzendentes nicht als vorgegeben benützt werden” (ebd.), da die Erkenntnis-theories so vorgehen muß, daß wir „keine der Fragen als entschieden voraussetzen, die wir erst beantworten wollen” (XXIV, 407).31 Es ist unverkennbar, daß die Methode der Reduktion – zumindest in ihrer anfänglichen Gestalt – eine unmittelbare Konsequenz der oben erläuterten Vermeidung des Zirkels darstellt. Auch die natürlichen Wissenschaften dürfen in der Erkenntnistheorie nicht in Anspruch genommen werden, da sie sich überall auf reale und ideale Transzendenzen beziehen, deren Erkenntnis die Erkenntnistheorie ja erst aufzuklären sucht.32 Wenn man irgend etwas von diesen ‚transzendierenden’ Wissenschaften als Prämisse verwendet, gerät man in einen Zirkel,33 oder es kommt zu einer Verwechslung der Problemstellungen, die Husserl als ‚Metabasis’ brandmarkt.34 Alle psychologistischen, anthropologistischen und biologistischen Erkenntnistheorien begehen Husserl zufolge diesen Grundfehler (II, 39). Die Reduktion fungiert aber nicht nur kritisch, sondern ermöglicht auch einen Perspektivenwechsel, durch den man überall – unabhängig von den Typen der Erfahrung und ihres Gegenstandes – ‚immanente’ Gegebenheiten aufdeckt, die erkenntnistheoretisch als Evidenz in Anspruch zu nehmen sind. ‚Immanenz’ besagt aber nicht mehr ein ‚Inneres’ des seelischen Objektes, das neben seiner ‚Außenwelt’ stände. Diese eigentümliche ‚Immanenz’, die in der natürlichen Einstellung noch völlig verhüllt bleibt, muß nun zu einem 29
Vgl. XXIV, 211ff.; II, 5ff., 39ff.; XVI, 39. Vgl. II, 37, 83f. 31 Vgl. auch XXIV, 215; II, 39. 32 Vgl. XXIV, 369, 407. 33 Vgl. XXIV, 187f., 400f., 410; XIII, 152. 34 Vgl. XXIV, 409; II, 6, 39. 30
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besseren Verständnis gebracht werden. Dabei tritt die Ausschaltung der IchApperzeption in den Vordergrund, auf die im folgenden eingegangen werden soll.
2.4 Die Ausschaltung der Ich-Apperzeption Es ist zunächst offensichtlich, daß die Ausschaltung des empirischen Ich eine unmittelbare Konsequenz der ‚methodischen Skepsis’ darstellt. Wenn man von ‚meinem Erlebnis’ spricht, bedeutet dieses ‚mein’ in gewöhnlicher Rede, so Husserl, „das, was jedermann als sein Ich setzt, die Person, die dann und dann geboren ist, die und die Eltern hat usw.” (XXIV, 212). Nach der radikalen Skepsis ist uns jedoch klar, daß eine solche Setzung in bezug auf ‚mich’ ebenso bezweifelbar ist wie jede transzendierende Setzung hinsichtlich realer Tatsachen. Keine der empirischen Bestimmungen des Ich ist zweifelsfrei, sofern sie sich auf Zufälligkeiten bezieht und ein Anders-sein zumindest denkbar ist. Es geht hier aber nicht um einen ernstlichen Zweifel, der die geglaubte Realität skeptisch bestreitet, sondern um eine Kritik hinsichtlich der erkenntnistheoretischen Tauglichkeit: Rein erkenntnistheoretisch gesehen, sind Glauben und Auffassungen bezüglich der empirischen Person, wie sicher sie auch erscheinen mögen, nicht als schlichte Evidenz in Anspruch zu nehmen. In evidenzkritischer Hinsicht hat sie keinen Vorzug vor den Glauben in bezug auf die anderen empirischen Realitäten: „Vom Sein meines Ich, wofern damit gemeint ist die empirische Persönlichkeit, gibt es keine Evidenz, so wenig wie vom Sein irgendeines empirischen Dinges sonst” (XXIV, 378).35 Man könnte aber einwenden, daß das ‚Ich’ nicht ein bloßes Ding sei, sondern in der Hinsicht ausgezeichnet sei, daß es sich mit allen cogitationes auf eine besondere Weise verbinde. Diese Verbundenheit ist zwar ‚deskriptiv’ festzustellen, aber die daran haftende ‚transzendierende’ Apperzeption, die das ‚Ich’ als ein reales Objekt auffassen läßt, muß streng eingeklammert werden. Denn es besteht eine starke (psychologisierende) Tendenz, daß man die cogitationes als ‚zu mir, zu diesem Menschen, zu meiner Seele Gehöriges’ und als ‚in der Welt raumzeitlich Lokalisierbares’ auffaßt.36 Die Reduktion tion soll aber die cogitationes von dieser empirisch objektivierenden Apperzeption gerade befreien, damit sie als solche in unmittelbarer Intuition untersuct 35
An dieser Stelle wird deutlich, daß Husserl in dieser frühen Schaffensphase mit dem Ich gewöhnlich ‚das empirische Ich’ meint. Auch in einem Brief an Hocking von 1903 bemerkt er: „Ich ist eine objective Einheit, wie Stiefel u. Strumpf, nur kein ‚physisches Ding’, sondern eben ein Ich, eine Person, eine objective Einheit von ganz anderem apperceptiven Gehalt” (Dok III/3, 148). Den Begriff des reinen Ich lehnt er – wie in der ersten Auflage der Logischen Untersuchungen – als „Fiction” ab (ebd.). Vgl. auch Mat III, 89; Dok III/2, 124; XXIV, 407. 36 Vgl. XXIV, 202ff., 210; II, 43f.
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werden können. Die cogitationes erweisen sich für uns als eine Sphäre der unmittelbar durchlebten ‚Selbstverständlichkeiten’, aufgrund derer unsere Selbstapperzeption als ‚Mensch’ überhaupt erst möglich wird; diese ist erkenntnistheoretisch gesehen nicht so ‚selbstverständlich’, wie es zunächst scheint. Husserl meint also: „Die Sphäre der cogitationes ist die Fundamentalsphäre, sofern sich in ihr alle Seinssetzung vollzieht” (XXXVI, 6). Die Sphäre der cogitationes stellt auch die Voraussetzung für diejenige Apperzeption dar, durch welche die cogitationes erst als ‚meine’ aufgefaßt werden können. Aus diesem Grund muß man sagen: „Wir bedürfen hier der Reduktion, damit ja nicht die Evidenz des Seins der cogitatio verwechselt werde mit der Evidenz, daß m e i n e cogitatio ist, des sum cogitans und dgl.” (II, 43).37 Entscheidend ist hierbei, was durch die Reduktion eigentlich gewonnen wird und wie dieses Resultat zu verstehen ist. Wenn das phänomenologische Bewußtsein die Fundamentalsphäre für alle möglichen Apperzeptionen ist, kann es selbst nirgendwo apperzeptiv lokalisiert werden. Es handelt sich also um die Urstätte, in der jede Art von Lokalisation und sonstigen apperzeptiven Bestimmungen erst zustande kommen kann. Die Reduktion zielt darauf ab, diesen ‚Ursprungsbereich’ rein als solchen zu sichern, ohne ihn transzendierend zu deuten. Es darf nicht die überall mit Transzendenz behaftete Psychologie38 sowie die psychischen Vorkommnisse und Tatsachen mit ihrem transzendenten Gehalt in Anspruch genommen werden, „sondern nur das Bewußtsein, in dem sich die Beziehung auf die Transzendenz konstituiert, nur das absolute Phänomen, das nichts von Transzendenz in sich birgt und darum auch nichts mehr von dem an sich hat, was es als Tatsache der Psychologie charakterisiert” (XXIV, 210f.).39 Die Ausschaltung der Transzendenz besagt also keinesfalls, daß ich mich in die ‚psychische’ Immanenz zurückziehe. Es geht nicht um „die reale Immanenz, Immanenz im Bewußtsein des Menschen und im realen psychischen Phänomen” (II, 7). Was man durch die Reduktion gewinnt, ist nicht eine absolut gesicherte ‚Insel’ der Evidenz, sondern vielmehr eine neue Perspektive,40 aus der die Bewußtseinsphänomene nicht mehr als objektive Zustände des realen Menschen betrachtet werden, sondern als „eben dies da, nicht was es transzendierend meint, sondern was es in sich selbst ist und als was es gegeben ist” (II, 45). Die konsequent durchgeführte Ausschaltung der psychologisierenden Ich-Apperzeption erfordert es, die natürliche Betrachtungsweise des Bewußtseins auf entscheidende Weise außer Spiel zu setzen. Dabei vollzieht sich ein radikaler Perspektivenwechsel, den Husserl in den 37
Vgl. auch II, 7; X, 346; XXIV, 216. Vgl. XXIV, 203f. 39 Vgl. II, 45. 40 Auch Mertens (1996, 135f.) hebt diesen Punkt hervor. 38
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späteren Jahren als eine Grundfunktion der ‚transzendentalen Reduktion’ zunehmend betont. Es ist hier im Auge zu behalten, daß dieser Perspektivenwechsel eine notwendige Konsequenz des evidenzkritischen Grundmotivs darstellt.
2.5 Rückgang auf die ‚Nähe’ des Lebens und die ‚Unbestimmtheit’ des absoluten Bewußtseins Durch die bisherige Untersuchung sind die Grundzüge der frühen Phänomenologie, die Husserl zur ‚non-egologischen’ Reduktion geführt haben, in ihren Hauptlinien klar geworden. Diese lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: 1) Verstehende Sinnesaufklärung statt konstruierende Theoretisierung 2) Radikale methodische Skepsis und Vermeidung des Zirkels 3) Reduktion auf die cogitationes und Eröffnung einer neuen Betrachtungsweise der ‚Immanenz’ Aufgrund dieser Überlegungen kann man die phänomenologische Bedeutung des Bewußtseins pointieren, das durch die phänomenologische Reduktion eine radikale Umdeutung erfährt. Zunächst soll hierzu eine charakteristische Stelle aus der Vorlesung von 1906/07 herangezogen werden: „Hört aber Bewußtsein [in der Reduktion] auf, menschliches oder sonst ein empirisches Bewußtsein zu sein, so verliert das Wort allen psychologischen Sinn, und schließlich wird man auf ein Absolutes zurückgeführt, das weder physisches noch psychisches Sein im naturwissenschaftlichen Sinn ist. Das aber ist in der phänomenologischen Betrachtung überall das Feld der Gegebenheit. Mit dem aus dem natürlichen Denken stammenden, vermeintlich so selbstverständlichen Gedanken, daß alles Gegebene entweder Physisches oder Psychisches ist, muß man eben brechen” (XXIV, 242). An dieser Stelle ist ein Motiv der Reduktion besonders klar zu erkennen, nämlich, über die objektiven Apperzeptionsschemata hinaus auf ihre Voraussetzungsdimension zurückzugehen, die sich nicht mehr durch die betreffenden Schemata bestimmen läßt. Dabei handelt es sich, genauer gesagt, um die Ausschaltung der transzendierenden Deutungen und um die Freilegung der unmittelbaren Gegebenheitssphäre, die vor aller Deutung durchlebt wird. Das ‚Absolute’ im phänomenologischen Sinne ist also nicht als eine transzendente Instanz, als ein ‚Jenseits’ des Bewußtseins zu interpretieren. Es geht vielmehr um dasjenige, was für das Bewußtsein ‚am nächsten’ ist, wovon wir gewissermaßen nicht Abstand nehmen können. Die ‚Absolutheit’ des phänomenologischen Bewußtseins besteht ja gerade in dieser ‚absoluten Nähe’, die immer schon ‚selbstverständlich’ durchlebt wird und jeder transzendierenden Apperzeption ihre fundierende Grundlage gibt.
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Kapitel II
Es ist zu beachten, daß das ‚absolute Bewußtsein’, da es vor aller Deutung liegt, nicht durch etwas objektiv Bestimmtes – wie Mensch, Seele oder Person – zu charakterisieren ist. Damit das reine Bewußtsein überhaupt als etwas bestimmt werden kann, muß es sich selbst als apperzipierender Bewußtseinsakt schon voraussetzen. Daraus ergibt sich eine gewisse ‚Unbestimmtheit’ des reinen Bewußtseins. Hierzu schreibt Husserl etwa 1905: „Sagen wir also, das Erlebnis, auf das schlicht hingeblickt und das in reiner Immanenz und Adäquation genommen wird, so wie es erlebt ist, sei eine evidente Gegebenheit, so ist sogar schon der Ausdruck ‚Erlebnis’ und ‚Immanenz’ mit Überschüssigkeiten behaftet. [...] Vor aller Bestimmung liegt aber das wissenschaftlich und überhaupt begrifflich noch Unbestimmte. [...] Die Phänomenologie geht von diesen intuitiven Gegebenheiten, die noch vor aller Bestimmung liegen, aus.” (XXIV, 378).41 Die ‚non-egologische’ Ausrichtung der frühen Phänomenologie ist nichts anderes als eine notwendige Folge dieser Position. „Die phänomenologische Reduktion ist ja nicht die solipsistische Reduktion”, bemerkt Husserl an einer Stelle der Ding-Vorlesung (XVI, 40); das phänomenologische Denken sei „niemandes Denken”: „Wir abstrahieren nicht bloß vom Ich, als ob das Ich doch darin stehe und nur nicht darauf hingewiesen würde, sondern wir schalten die transzendente Setzung des Ich aus und halten uns an das Absolute, an das Bewußtsein im reinen Sinn” (XVI, 41). Von dieser ‚absoluten Sphäre’ des Bewußtseins ausgehend, versucht Husserl, die Konstitution aller Objektivitäten zu verfolgen, d. h. auf welche Weise Objektivitäten – wie Dinge, Welt, Raum, Zeit, mein empirisches Ich, andere Menschen etc. – aufgrund dieser Grundsphäre dazu gelangen, sich als Objektivitäten zu bekunden.42 Darin zeigt sich das Motiv, das Husserl zur ‚transzendentalen’ Phänomenologie führt.43 Die Sphäre der cogitationes bzw. 41
Vgl. auch die folgende charakteristische Bemerkung: „[...] was sind Vorstellungen, Urteile etc. in der Erkenntnistheorie? Sie haben keinen Ort, sie haben keine Zeit, sie haben keine Wirklichkeit” (XXIV, 409; vgl. 419). 42 Vgl. Ms. B II 1/ 42a. Die Konstitution hat auf der einen Seite den Charakter der subjektiven Leistung, aber auf der anderen Seite ist sie nichts anderes als „das sich Beurkunden” der Gegenständlichkeit (XVI, 8). Husserl schreibt in einem Brief an Hocking von 1903: „Der wiederholt vorkommende Ausdruck, dass sich in einem Akte ‚Gegenstände constituiren’ besagt immer die Eigenschaft des Aktes den Gegenstand vorstellig zu machen: nicht ‚constituiren’ im eigentlichen Sinn!” (Dok III/3, 132). Vgl. auch III/1, 344ff., bes. 351; VI, 171; XXIX, 221 (Fink); Sokolowski 1970. Schuhmann faßt diese Doppelseitigkeit des Konstitutionsbegriffs folgendermaßen zusammen: „[...] Konstitution ist [...] ursprünglich ebensosehr Leistung des Bewußtseins wie auch Bekundung der Sache selbst” (Schuhmann 1971, 139). Einleuchtend ist auch Strassers Vorschlag der „Minimaldefinition”: „Konstituieren ist Erscheinen-lassen” (Strasser 1991, 65). 43 Der ‚transzendentale’ Charakter der Phänomenologie tritt seit etwa 1908 in den Vordergrund. Vgl. XXIV, 424ff.; Marbach 1974, 50ff.; Melle, Einleitung zu Husserliana XXIV, XXIIIf.
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das ‚absolute Bewußtsein’ ist die Basis für die gesamte Konstitution bzw. die letzte Instanz, in der jede Objektivität seine Gültigkeit ausweisen muß. Die Reduktion auf das phänomenologische ‚Absolute’ besagt also einen Rückgang auf die ‚absolute Nähe’ des unmittelbaren Erlebens, das ‚diesseits’ aller Objektivation liegt. Diese Grundposition wird beibehalten, wenn Husserl in späteren Jahren den Gedanken der phänomenologischen Reduktion weiter vertieft. Dies gilt auch für die Phase nach der ‚egologischen Wende’ der Phänomenologie in den zwanziger Jahren. Die empirische IchApperzeption bleibt ausgeschaltet, aber das ‚Ich’ erhält aus einer völlig neuen Perspektive eine für die Phänomenologie entscheidende Bedeutsamkeit, die besonders mit dem sich phänomenologisch besinnenden Ich zu tun hat. Später werde ich zeigen, daß der Gedanke des ‚Ur-Ich’ an den oben gezeigten Grundzügen der Phänomenologie deutlich festhält und zugleich das neu aufgetretene egologische Gedankenmoment bis zum Äußersten treibt.
3. DIE EVIDENZ ALS ‚SCHAUEN’: DIE ERÖFFNUNG DER EVIDENZTHEORETISCHEN PERSPEKTIVE Nachdem die frühe ‚non-egologische’ Reduktion als Rückgang auf die ‚absolute Nähe’ des unmittelbaren Lebens charakterisiert wurde, gilt es nun, die Bedeutung der ‚Evidenz’, die für die Ermöglichung der Reduktion eine maßgebliche Rolle spielt, näher zu erörtern. Husserl bemerkt schon in einem Brief an Hocking von 1903, daß der „letzte Ankergrund” der Phänomenologie die „Evidenz” sei (Dok III/3, 131). Die phänomenologische ‚Immanenz’ ist allein deswegen vorzuziehen, weil sie eine Sphäre der unbezweifelbaren Evidenz ausmacht. Im folgenden soll erstens im einzelnen herausgearbeitet werden, was dabei die ‚Evidenz’ ursprünglich bedeutet. Zweitens werde ich verdeutlichen, daß der Begriff der ‚Immanenz’ durch den evidenztheoretischen Perspektivenwechsel eine eigentümliche Erweiterung seines Umfangs erfährt. In dieser Hinsicht wird drittens versucht, die fundamentale Bedeutung der Evidenzlehre für die phänomenologische Forschung überhaupt herauszustellen, die auch – wie die späteren Kapitel zeigen werden – die egologische Wende der Phänomenologie und letztlich die Problematisierung des ‚Ur-Ich’ wesentlich bestimmt.
3.1 Die Unhintergehbarkeit der Evidenz: Das ‚Schauen’ als letztes ‚Maß’ allen Wissens Aus den bisherigen Erörterungen ging hervor, daß das ‚Absolute’ im phänomenologischen Sinn weder metaphysische Supposition noch bloß logische
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Kapitel II
Voraussetzung ist, sondern das am unmittelbarsten Gegebene darstellt. Es ist deswegen ‚absolut’, weil es jedem möglichen Zweifel vorausgeht und daher als die Grundsphäre für die Erkenntnistheorie in Anspruch zu nehmen ist. Es ist bemerkenswert, daß diese evidenztheoretische Bedeutung der ‚Bewußtseinsnähe’ besonders mit dem Terminus ‚Schauen’ zum Ausdruck gebracht wird. Mit ihm wird die ‚absolute’ Sphäre der Phänomenologie in methodischer Hinsicht charakterisiert: „Die Untersuchung der Phänomenologie bewegt sich in einer Sphäre direkten Schauens. Worüber man spricht, was man da feststellt, das hält sich durchaus im Rahmen der strengen Immanenz” (XXIV, 220).44 Das phänomenologische ‚Absolute’ ist also das, was in diesem ‚Schauen’ gegeben ist. Das ‚Schauen’ hat dabei einen erweiterten Sinn, so daß es das schlichte Evidenzbewußtsein überhaupt kennzeichnet:45 „Dieses Gegebensein, das jeden sinnvollen Zweifel ausschließt, ein schlechthin unmittelbares Schauen und Fassen der gemeinten Gegenständlichkeit selbst und so wie sie ist, macht den prägnanten Begriff der Evidenz aus, und zwar verstanden als unmittelbare Evidenz” (II, 35). Das ‚Schauen’ wird hier besonders durch die ‚Selbstgegebenheit’ charakterisiert, die Gegebenheit der Sache „in eigener Person” (XXX, 326) und die ‚Adäquation’, nämlich die vollständige Erfüllung der Intention.46 Diese beiden Charakterisierungen weisen auf die ‚Unhintergehbarkeit’ der Evidenz hin. Diese stellt sich besonders dann heraus, wenn man die Kritik an der Gefühls- und Index-Theorie der Evidenz heranzieht. Husserl kritisiert wiederholt auf schärfste Weise die Ansicht, daß die Evidenz etwas zur Erfahrung „Hinzutretendes”, etwa „ein sich an die Wahrnehmung anknüpfendes Gefühl” (Mat III, 95) sei.47 Der entscheidende Kritikpunkt liegt m. E. in folgendem: 48 Die ‚Gefühlstheorie’ behauptet, daß zwischen der an sich bestehenden Wahrheit und dem ‚Evidenzgefühl’, das diese Wahrheit anzeigen soll, eine notwendige Verbindung bestände. Diese Verbindung erfordert aber weitere Klärung, da man fragen kann: Wie kann man wissen, daß das ‚Evidenzgefühl’ wirklich der Wahrheit entspricht? Was verbürgt, daß diese angebliche Entsprechung ‚stimmt’?49 Um diese Fragen zu beantworten, muß man sich wiederum auf die Evidenz berufen. Die ‚Ge44
Vgl. auch XXIV, 173, 376f., 403; Ms. B II 1/ 47b. Das ‚Schauen’ ist ein weitreichenderer Begriff als Wahrnehmung überhaupt: „[...] es gibt ein Schauen, das nicht immer Wahrnehmung ist, dem sich das Wahrnehmen als Spezies unterordnet” (Ms. B II 1/ 47a). 46 Vgl. XIX/2, 651ff. und besonders Ms. B II 1/ 38b. 47 Vgl. XVIII, 183ff.; XIX/2, 656; Mat III, 95; XXIV, 7f., 156; II, 59; X, 351f.; XXX, 323ff.; III/1, 46f., 334; XVII, 165, 286, 289f.; Ms. B II 1/ 38b, 39a; B II 22/ 3b; Tugendhat 1967, 101ff.; Rosen 1977, 47ff.; Heffernan 1999. Die Theorien des ‚Evidenzgefühls’ von Husserls Zeitgenossen sind zusammengefaßt bei Rosen 1977, 44ff.; Heffernan 1999, 89ff. 48 Eine differenziertere Begründung der Kritik findet sich bei Rosen 1977, 47f. 49 Vgl. XVIII, 192; XXIV, 156; II, 59. 45
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fühlstheorie’ beantwortet also keinesfalls die Frage, was Evidenz ist, bzw. wie sie zu verstehen ist. Generalisierend kann man sagen: Jeder Versuch, Evidenz durch etwas anderes als Evidenz zu ‚erklären’, ist zum Scheitern verurteilt: Denn die Richtigkeit dieser Evidenzerklärung erfordert wiederum einen Rekurs auf die Evidenz; dadurch gerät man in einen regressus in infinitum oder einen circulus vitiosus.50 Die Evidenz kann sich also nur durch sich selbst ausweisen: „[...] eine absolute Evidenz rechtfertigt sich selbst durch sich selbst” (Ms. A I 31/ 29a). Diese ‚primitive’ Unmittelbarkeit und ‚Simplizität’ der Evidenz soll durch den Terminus ‚Schauen’ zum Ausdruck kommen. Husserl bemerkt dazu: „Das Schauen läßt sich nicht demonstrieren oder deduzieren” (II, 38),51 da jede Demonstration oder Deduktion bereits voraussetzen muß, daß sie ‚schauend’ vollzogen wird, sofern sie ‚richtige’ sein soll. Man weiß dabei selbstverständlich, was ‚wahr’ oder ‚richtig’ bedeutet. Dieses Wissen von ‚Wahr-sein’ oder ‚Richtig-sein’ muß jeder diskursiven Demonstration vorausgehen, die sich als ‚wahr’ behauptet. Das primitive ‚Wissen’ bzw. das ‚Erlebnis’, in dem sich überhaupt etwas als ‚wahr’ zeigt, nennt Husserl ‚Evidenz’ bzw. ‚Schauen’.52 In diesem Sinne hat das ‚Schauen’ als ‚absolute Evidenz’ den Charakter vom ‚Maß’ des Wissens, sofern das Wissen überhaupt nach Wahrheit strebt. So heißt es in einem wichtigen frühen Manuskript über Evidenz (1908): „Sehen ist das Letzte, und andemonstrieren läßt sich das Sehen nicht, da jede Argumentation versagt, wenn sie nicht die Gültigkeit des Sehens voraussetzt (sie als prinzipiell zweifelhaft erklärt). [...] Das letzte Maß aller Bürgschaft (die Maßeinheit) kann nicht selbst wieder gemessen werden” (XXXVI, 10).53 50 Vgl. dazu besonders die folgende Manuskriptstelle: „Daß Sehen wirklich Sehen ist, das kann mir kein Gefühl sagen, denn fühle ich, so ist es unverständlich, wie das Fühlen das Sehen zum wirklichen Sehen machen soll oder als solches charakterisieren soll: daß es das tut, das müßte ich selbst wieder sehen. Und wenn dieses neue Sehen wieder nur im Gefühl das Kennzeichen haben sollte, daß es nichts Ungesehenes enthält, so müßte ich wieder fragen, ob das Kennzeichen wirklich Kennzeichen ist usw.” (XXXVI, 10); vgl. XXX, 324. 51 Vgl. auch II, 6; XXIV, 8; XXXV, 477. Dazu bemerkt Brand treffend: „Evidenz ist unmittelbar. Alles Reden über sie, alle versuchte Demonstration setzt sie schon voraus” (Brand 1955, 2). 52 Erinnert sei an die Definition der Evidenz in den Prolegomena: „Evidenz ist [...] nichts anderes als das ‚Erlebnis’ der Wahrheit” (XVIII, 193). Vgl. ebenso: „‚Evidenz’ ist eben dieses Bewusstsein erlebter, realisierter Wahrheit. [...] Und eben in diesem Bewusstsein erfasse ich die Wahrheit der Sache, die Sache selbst ist mir in und mit der Wahrheit gegeben” (Mat III, 64). „Also Evidenz ist das Erlebnis, in dem uns Wahrheit zum Bewusstsein kommt, und zwar zum vollkommensten Bewusstsein. Die Wahrheit ist in ihm gegeben” (Mat III, 133f.). 53 Vgl. hierzu auch: „[...] die Selbstgegebenheit überhaupt leugnen, das heißt alle letzte Norm, alles der Erkenntnis Sinn gebende Grundmaß leugnen” (II, 61). In diesem Zusammenhang unterstreicht Mertens mit Recht, daß die Unhintergehbarkeit der Letztbegründung nicht mit einem willkürlichen Abbruch der Argumentation verwechselt werden darf (Mertens 1996, 49f.).
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Darüber hinaus soll der Terminus ‚Schauen’ besonders zum Ausdruck bringen, daß die Evidenz zwar ‚Maß’, aber kein „absolutes Kriterium der Wahrheit” ist.54 Wenn man das ‚Gefühl’ oder irgendein ‚Index’ als Unterscheidungskriterium von Wahrheit und Unwahrheit betrachtet, setzt man dabei die Evidenz schon voraus; denn damit das Kriterium richtig angewandt werden kann, muß man sich letztlich auf die Evidenz berufen, in der allein es verstanden wird, was eigentlich ‚Richtig-sein’ bedeutet. Mit der Evidenz kann man nicht wie mit einem Instrument operieren; jede ‚Kunst’, die Wahrheit zu finden, setzt schon die Evidenz als das primitive ‚Wissen’ von Wahrheit voraus. Das ‚Schauen’ zeigt in erster Linie dieses letzte Bewußtsein der Wahrheit an, das nicht mehr auf ein Ursprünglicheres zurückzuführen ist. Die Bedeutung des ‚Schauens’ kann durch Husserls Kritik an dem traditionellen Licht-Gleichnis der Evidenz noch deutlicher gemacht werden. Hierzu bemerkt Husserl in der Vorlesung von 1902/03: „Das Gleichnis vom Lichte ist aber wenig passend. Ein Licht macht sichtbar, was unsichtbar war, die Evidenz aber macht nicht sichtbar, sondern ist das Sehen selbst. Nur ist sie ein Sehen im eigentlichen und strengsten Sinn, das das Gesehene wirklich erschaut und genau als das erschaut, als was es im Sehen vermeint ist” (Mat III, 95). Die Evidenz ist keine ‚Lichtquelle’, mit der man die Wahrheit ‚von außen her’ erhellen könnte, wobei es sich im übrigen um eine Vorstellung handelt, welche die Gefühlstheorie nahelegt. 55 Um etwas als ‚wahr’ festzustellen, braucht man eventuell Mittel; etwas als ‚wahr’ zu erleben, ist aber selbst kein Mittel. Dieses Erlebnis, das als ‚Schauen’ gekennzeichnet wird, ist also das ‚Grundmaß’ allen Wissens, an dem allein jede Rede von Wahrheit gemessen werden kann. Als solches Grundmaß ist das ‚Schauen’ überall da, wo das Wissen ist. Unser Wissen bewegt sich ständig, sei es auch unbemerkt, im Medium des Schauens.56 Das Schauen ist „ein Absolutes, ein Dies-da, etwas, das in sich ist, was es ist, etwas, an dem ich messen kann als an einem letzten Maß, was Sein und Gegebensein besagen kann und hier besagen muß [...]” (II, 31). Die ‚absolute’ Evidenz, die als ‚Schauen’ charakterisiert wird, ist also keine unfehlbare dogmatische Stimme, die irgendeinen ‚absolut richtigen’ Lehrsatz wie ein Orakel aussprechen würde. Jeder objektiv festgelegte ‚evi54
Vgl. XVII, 165; dazu auch Tugendhat 1967, 103. Es bestehen jedoch Bedenken, ob das Gleichnis vom ‚Licht’ in jeder Hinsicht auszuschließen ist. Das Licht kann nicht nur als das Leuchtende wie ein ‚Scheinwerfer’ aufgefaßt werden, sondern auch als ein ‚Medium’ bzw. ‚Element’, in dem das Sichtbare erscheint; vgl. dazu Kapitel VII, 2.4, 2.5. In der Tat schließt der spätere Husserl die Benutzung des Wortes ‚Licht’ nicht völlig aus; vgl. z. B. III/1, 142, 175, 327; V, 104; XXXV, 476. 56 In dieser Hinsicht betont Husserl, „dass keine Theorie wegschaffen kann, was das letzte Maß aller Theorie ist: das im schlichten Sehen, also ursprünglich, Gegebene” (XX/1, 283); vgl. VIII, 33. 55
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dente’ Satz kann kritisch geprüft werden, wobei aber das letzte ‚Maß’ der möglichen Korrektur wiederum das ‚schauende’ Evidenzbewußtsein ist. Die Evidenz kann also, wenn überhaupt, nur durch sie selbst korrigiert werden.57 Die ‚Absolutheit’ der Evidenz besagt, daß sie eine so tiefe Voraussetzung ist, daß man nichts aussagen kann, ohne sich auf sie – sei es bewußt oder unbewußt – zu berufen. Es geht um diese tiefe ‚Selbstverständlichkeit’, auf der alles Wissen beruht, wenn es zumindest potentiell meint, daß es ‚wahr ist’ oder ‚stimmt’. Das ‚Schauen’ ist sozusagen die ‚letzte Selbstverständlichkeit’, die man nicht bezweifeln kann, auch wenn man es will: „[...] Schauen und gar nichts anderes meinen als das, was schauend gefaßt ist, und da noch zu fragen und zu zweifeln, das hat keinen Sinn. [...] Das ist die absolute Selbstverständlichkeit; das nicht Selbstverständliche, das Problematische, vielleicht gar Mysteriöse liegt bei dem transzendierenden Meinen [...]” (II, 49f.).58
3.2 Die Radikalisierung des Evidenzprinzips und die Erweiterung der phänomenologischen Gegebenheitssphäre Es ist klar geworden, daß Husserl den ‚Ankergrund’ der Phänomenologie und darüber hinaus alles Wissens, in der absoluten Evidenz als ‚Schauen’ findet. Nun erhebt sich aber die Frage: Wie kann man auf dieser Grundlage der absoluten Evidenz mit konkreten phänomenologischen Forschungen anfangen? Denn die ‚klarste’ Evidenz, die als ‚Schauen’ bezeichnet wird, scheint inhaltlich gesehen unbestimmt zu sein.59 Die Evidenz ist das ‚Sehen’ selbst, also weder eine absolute Formel noch ein technisch anwendbares Kriterium.60 Was hat man dann eigentlich durch dieses Evidenzverständnis gewonnen? Angesichts dieser Frage geht Husserl nicht den naheliegenden Weg, die Evidenz zu einem brauchbaren Mittel zu gestalten. Vielmehr radikalisiert er 57
Vgl. Tugendhat 1967, 106; Wiegerling 1984, 152. Das besagt jedoch nicht, daß es hier um etwas leicht zu Erkennendes geht. Diesen Punkt unterstreicht Ströker und weist darauf hin, daß die Gewinnung der Evidenzen „eine eminente Leistung des Bewußtseins” ist (Ströker 1978, 8). Sie denkt dabei an das konkrete erkennende Verfahren aufgrund der ‚Gradualität’ der Evidenz, die ich später behandeln werde. Aus der Perspektive der ‚Selbstverständlichkeit’ ist jedoch das ‚Schauen’, das Ströker im übrigen negativ bewertet, m. E. durchaus ein sehr schwer zu Erkennendes; die Evidenz fordert nämlich im doppelten Sinne eine Anstrengung: 1) Die Feststellung des evidenten Urteils aufgrund des Evidenzbewußtseins besagt, wie Ströker meint, diejenige behutsame Bewußtseinsleistung, der intentionalen Verweisung folgend nach immer größerer Erfüllung zu suchen. 2) Noch anspruchsvoller ist es m. E. aber, das Evidenzbewußtsein selbst als ‚Maß’ zu thematisieren, da es sich als die ‚selbstverständliche’ Basis für jede Erkenntnisstrebung überhaupt erweist. 59 Vgl. II, 11f. 60 Vgl. XXIV, 379. 58
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sein evidenztheoretisches Motiv: Es wird verlangt, weder die Evidenz ausführlicher zu definieren noch als Mittel in Anspruch zu nehmen; anstatt Evidenz überhaupt gegenständlich fixieren zu wollen, muß man sich vielmehr auf die Evidenz in angemessener Weise stützen, um die Sachen bzw. die Phänomene von diesem ‚Standpunkt’ aus deutlicher erscheinen zu lassen.61 In dieser Hinsicht soll gezeigt werden, daß durch die bewußte, ausschließliche Stützung auf die Evidenz keine Verengung der Sicht, sondern vielmehr eine entscheidende ‚Erweiterung’ der phänomenologischen Gegebenheitssphäre erfolgt. Auf die Frage: ‚Was ist evident?’ kann man zunächst aufgrund der schon erläuterten erkenntnistheoretischen Überlegungen antworten, daß es die „Immanenz” sei (II, 5). Das ‚Immanente’ ist adäquat gegeben, alles ‚Transzendente’ ist es nicht. Was ist aber ‚Immanenz’? Sie läßt sich zunächst als ‚reelle Immanenz’ verstehen: „Zunächst ist man geneigt und hält das für selbstverständlich, die Immanenz als reelle Immanenz zu interpretieren [...]” (II, 5). Was die ‚reelle Immanenz’ ausmacht, ist die Sphäre der cogitationes.62 Diese muß durch die Reduktion von allen transzendierenden Deutungen gen befreit werden. Dadurch ergibt sich die schon erörterte ‚Unbestimmtheit’ des reinen Bewußtseins. Wie kann man aber mit diesem ‚ewigen Heraklitischen Fluß’ eine wissenschaftliche Forschung beginnen? 63 Nun radikalisiert Husserl den evidenztheoretischen Standpunkt, um den Sinn der ‚Immanenz’ auf tiefere Weise zu verstehen. An Descartes anknüpfend fragt Husserl erneut: Warum können wir eigentlich die cogitationes als gegeben annehmen? „[...] was ist es, was mich dieser Grundgegebenheiten versichert?” Die Antwort lautet: „clara et distincta perceptio” (II, 49). Die Evidenz ist also der einzige Grund für die Anerkennung der cogitationes als phänomenologischer Gegebenheiten. Daß die cogitationes zu meinem reellen Bewußtsein gehören, daß sie ‚psychische’ Phänomene sind usw., spielt phänomenologisch gesehen keine entscheidende Rolle. Wenn man das evidenztheoretische Prinzip durchhält, kann man nun mit Descartes sagen: „[...] was immer, so wie die singuläre cogitatio, durch clara et distincta perceptio gegeben ist, das dürfen wir ebensogut in Anspruch nehmen” (ebd.). Gibt es also andere Gegebenheiten, die ebenfalls den Rang der absoluten Gegebenheit behaupten können? Die „Möglichkeit einer Erkenntniskritik” hängt von dieser „Aufweisung noch anderer absoluter Gegebenheiten” ab (II, 50).64 An dieser Stelle rückt die „Wesensobjektivität” in den Gesichtskreis (II, 8). Das Wesen ist allerdings nicht „reell immanent” (II, 9); es findet sich ei61
Vgl. II, 60; XXX, 326, 329; III/1, 46; Ms. B II 22/ 3b. Hierzu gehören auch die Empfindungsdaten; vgl. Mat III, 95. 63 Vgl. zu dieser Fragestellung II, 47f., 8; XXIV, 220ff., 378; X, 349. 64 Zu dieser Problemlage vgl. Rosens präzise Beschreibung vom Gesichtspunkt der Logischen Untersuchungen aus (Rosen 1977, 55ff.). 62
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nerseits nirgendwo im reellen Erlebnisfluß, tritt andererseits in verschiedenen Phänomenen als Identisches auf. In dieser Hinsicht kann man es als ‚Transzendenz’ bezeichnen (II, 56). Es handelt sich dabei aber um eine völlig andere Art der Transzendenz als die real-dingliche. 65 Anders als der dingliche Gegenstand gibt sich die Wesensobjektivität nicht durch die abschattungsmäßige Mannigfaltigkeit der Erscheinungen. Die Spezies ‚Rot’ ist nicht ein rotes Ding, das sich nur perspektivisch darstellt, sondern vielmehr das elementare Moment, das in jeder Erfahrung des Roten schon selbstverständlich vorausgesetzt wird.66 Die Spezies ist nicht dasjenige Transzendente, das sich sozusagen in unzähligen Erscheinungen ‚bezeugen’ muß, sondern dasjenige, das schon in den primitivsten Phänomenen enthalten ist, welche unabhängig davon erscheinen können, ob sie Darstellungen eines identischen Gegenstandes sind oder nicht. Wenn sie rein als solche ‚geschaut’ wird, ist die Spezies eine einfache Gegebenheit, deren Intentionen keine weitere Erfüllungen fordern. In diesem Sinne kommt ihr der Rang der ‚adäquaten Selbstgegebenheit’ zu, sofern das Charakteristische der adäquaten Wahrnehmung darin besteht, „dass für sie die aufgefassten Inhalte nicht Repräsentanten sind für etwas von ihnen Verschiedenes, sondern für sich selbst” (Mat III, 102).67 Das Wesen ‚Rot’ ist nichts Mysteriöses, das sich hinter den roten Gegenständen verstecken würde68; vielmehr ist es ein ‚selbstverständliches’ Phänomen, das in jeder Erfahrung und Rede von ‚Rot’ bereits im Spiel ist.69 Insofern ist es eine ebenso grundsätzliche, primitive Gegebenheit wie die
65
Vgl. dazu nicht nur die Erläuterung der ‚kategorialen Anschauung’ in der VI. Logischen Untersuchung (XIX/2, bes. 657ff.), sondern auch die grundlegenden Argumentationen für die Gegebenheit der idealen Gegenständlichkeit (Spezies) und gegen die empiristischnominalistischen Vorurteile in der II. Untersuchung (XIX/1, 111ff.). Zu ‚Wesen’ und ‚kategorialer Anschauung’ vgl. Tugendhat 1967, 107-168; Sokolowski 1974, 31-85; Kersten 1975, 61-92; Rosen 1977, 55-136; De Boer 1978, 234-269; Lohmar 1998, 178-273; ders. 2002b, 125-145. Auf Details der Wesenslehre gehe ich hier nicht ein. Zu dem Zweck, die evidenztheoretische Erweiterung der Gegebenheitssphäre zu erläutern, soll die Feststellung genügen, daß das Wesen im evidenten ‚Schauen’ gegeben werden kann. 66 Es handelt sich dabei um den einfachsten Kern des Sinnes ‚Rot’, um das einfache ‚Was’, das in jeder Rede von ‚Rot’ vorausgesetzt werden muß (vgl. XIX/1, 117ff.). Jede transzendierende Beziehung auf die faktischen Gegenstände muß dabei dahingestellt bleiben. Jede Argumentation über das ‚Rot’ setzt schon die betreffende Spezies ‚Rot’ voraus. 67 Vgl. XXV, 32f.; Ms. B II 1/ 37a. 68 Zu den Mißverständnissen in bezug auf die Wesensschau vgl. Rosen 1977, 72ff. 69 Zur ‚Selbstverständlichkeit’ der Wesensgegebenheit vgl. auch Husserls folgende Äußerung: „Der Bann des urwüchsigen Naturalismus besteht auch darin, daß er es uns allen so schwer macht, ‚Wesen’, ‚Ideen’ zu sehen oder vielmehr, da wir sie ja doch sozusagen beständig sehen, sie in ihrer Eigenart gelten zu lassen, statt sie widersinnig zu naturalisieren. Wesensschauung birgt nicht mehr Schwierigkeiten oder ‚mystische’ Geheimnisse als Wahrnehmung” (XXV, 32); vgl. auch II, 56; XXV, 36; XX/1, 282; Kersten 1975, 90ff.; Sokolowski 1974, 69.
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Individualität, die nicht mehr zu erklären (oder zu deduzieren) ist, sondern selbst eine Grundlage jedweder Erklärung ausmacht.70 Wenn man sich nur auf die Evidenz beruft, kann man nicht nur die individuell durchlebten cogitationes, sondern auch die Wesensobjektivitäten als phänomenologische Selbstgegebenheiten anerkennen (II, 56). Indem diese evidenztheoretische Sichtweise durchgesetzt wird, erfährt der Begriff der ‚Immanenz’ eine entscheidende Erweiterung. Auch die Gegebenheit des Wesens „ist eine rein immanente, nicht immanent im falschen Sinn, nämlich sich in der Sphäre des individuellen Bewußtseins haltend” (II, 57). Die Unterscheidung zwischen der reellen Immanenz und der entsprechenden Transzendenz stützt sich auf diejenige zwischen dem ‚Inneren’ des individuellen Bewußtseins und dem ihm gegenüberstehenden ‚Äußeren’. Diese aus der natürlichen Vorstellung stammende Unterscheidung wird nun durch den evidenztheoretischen Perspektivenwechsel relativiert. Ob die Gegebenheit im Erlebnis reell enthalten ist oder nicht, stellt kein Kriterium für die Evidenz der Gegebenheit dar. Vielmehr muß sich die phänomenologische Betrachtung rein auf die ‚schauende’ Evidenz der ‚Selbstgegebenheit’ stützen. Die ‚Immanenz’ wird nun nicht durch das reelle Enthaltensein im Erlebnis, sondern durch die „absolute und klare Gegebenheit, Selbstgegebenheit im absoluten Sinn” (II, 35) definiert. Es ist nun klar, daß „reelle Immanenz [...] nur ein Spezialfall des weiteren Begriffes der Immanenz überhaupt ist [...]; denn das Allgemeine ist absolut gegeben und nicht reell immanent” (II, 9). Dieser evidenztheoretische Perspektivenwechsel befreit unser Sehen von dem Vorurteil, daß nur die reelle Immanenz evident und alles andere fraglich wäre. Auch der Begriff der ‚Transzendenz’ erfährt eine entsprechende evidenztheoretische Umdeutung: „Alle nicht evidente, das Gegenständliche zwar meinende oder setzende, aber nicht selbst schauende Erkenntnis ist im zweiten Sinn transzendent. In ihr gehen wir über das jeweils im wahren Sinne Gegebene, über das direkt zu Schauende und zu Fassende hinaus” (ebd.). In einem weiteren Schritt stellt Husserl heraus, daß die cogitationes in sich selbst den Wesenscharakter haben, über sich hinauszumeinen und sich auf etwas zu beziehen. Sofern diese ‚Intentionalität’ als Wesensstruktur des 70
In den Vorlesungen von 1902/03 findet sich die Ansicht, daß das „Dies-da” als die modifizierte Cartesianische Evidenz „schon die niederste Stufe der Ideation ist” (Mat III, 78). Das „Erlebnis” bedeutet in der Phänomenologie sozusagen „Erlebnis-Idee oder Erlebnis-Wesen, Erlebnis-Essenz” (ebd.). Auch in der Vorlesung von 1906/07 heißt es: „[...] ‚dies-da’ ist nicht ein zeitlich einzelnes Dies-da, sondern bedeutet schon eine Ideation, und zwar die niederste Stufe der Ideation” (XXIV, 386); vgl. auch XXIV, 225ff.; XXV, 32f., 36; III/1, 12f. Dies zeigt, daß Husserls „Philosophie von unten” (XXV, 41; vgl. Dok III/3, 160; Dok III/5, 15; Dok III/6, 99) keineswegs mit einem empiristischen Ansatz gleichzusetzen ist. Husserl weist in einem Brief an Natorp (1909) darauf hin: „Es giebt meinen wir nicht bloß ein falsches empirisches u. psychologistisches, sondern auch ein echtes idealistisches Unten, von dem aus man sich Schritt für Schritt zu den Höhen emporarbeiten kann” (Dok III/5, 110).
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Bewußtseins deskriptiv und ‚schauend’ feststellbar ist, müssen sie und zu ihr gehörige Strukturmomente ebenfalls in den phänomenologischen Forschungsbereich miteinbezogen werden: „Sofern aber jedes Bewußtsein ‚Bewußtsein von’ ist, schließt das Wesensstudium des Bewußtseins auch dasjenige der Bewußtseinsbedeutung und Bewußtseinsgegenständlichkeit als solcher ein” (XXV, 16).71 Mitten in der reinen Selbstgegebenheit tut sich die Differenz zwischen der ‚Erscheinung’ und dem in ihr ‚Erscheinenden’ auf (II, 11).72 Es wird nun eingesehen, daß sich die bewußtseinstranszendenten Gegenständlichkeiten in den reinen Erlebnissen selbst „konstituieren” (II,12, 72). Vermittelt durch diese notwendige „Korrelation” zwischen Erscheinung und Erscheinendem ist nun jede Art der Gegenständlichkeit – sei es eine reale oder ideale, eine mögliche oder unmögliche – der phänomenologischen Wesensforschung zu unterziehen (II, 74).73 Der Begriff der ‚Immanenz’ wird nun in dem Maße erweitert, daß er auch die transzendenten Gegenstände als ‚intentionale Immanenz’ einschließt.74
3.3 Das vertiefte Selbstverständnis des ‚Sehens’ und die Umdeutung der Reduktion Aus den vorangegangenen Überlegungen ist deutlich geworden, daß die Evidenzlehre eine neue Perspektive eröffnet, aus der die ganze Weite der universalen ‚Korrelation’ zum Thema einer intuitiven Forschung werden kann. Dieses Ergebnis soll nun genauer bewertet und auf seine philosophische Bedeutsamkeit hin betrachtet werden. Zunächst ist folgendes zu beachten: ‚Evident’ ist eigentlich nicht etwa ein bestimmtes Objekt- oder Gegebenheitsgebiet, das von den anderen disjunktiv unterschieden würde.75 Beim Rückgang auf die Evidenz wird nicht beabsichtigt, etwas Zweifelloses isolierend zu sichern, sondern einen neuen Gesichtspunkt bzw. eine vertiefte Sichtweise zu gewinnen. Es kommt eben darauf an, unsere philosophierende Sicht von der Abhängigkeit von der natürlichen Gliederung des Gegenstandsbereichs – Inneres und Äußeres, Psychisches und Physisches, Reelles und Nicht-Reelles usw. – zu befreien und rein auf das Evidenzbewußtsein zu stützen. Die Phänomenologie verschließt sich also keineswegs in einer ‚Innenwelt’, sondern befragt alles, was uns in irgendeinem Sinn ‚gegeben’ ist, nach ihrer Gegebenheitsweise. Man darf die 71
Vgl. II, 11, 71f.; X, 347f. Zur Doppeldeutigkeit des ‚Phänomens’ und ihrer Bedeutung für die transzendentale Phänomenologie vgl. II, 12, 14; XXIV, 425; X, 336, 348; Held 1980, 90. 73 Dieser Punkt wird in den späten Schriften pointiert hervorgehoben; vgl. I, 182; V, 140f.; VI, 192; Dok III/9, 83f. 74 Vgl. II, 55. 75 Auf diese Objektunabhängigkeit der Evidenz weist auch Ströker (1978, 7f.) hin. 72
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Kapitel II
Sphäre der eigenen ‚Immanenz’ nicht so verstehen, als ob man sie in ein – sei es psychologisches, sei es reelles – Teilgebiet der gesamten Gegebenheitssphäre einordnen könnte. Die evidenztheoretische Überlegung durchbricht diese Verschlossenheit der Sicht, indem sie dem methodischen ‚Sehen’ ein vertieftes Selbstverständnis ermöglicht. Das ‚Schauen’ versteht sich also nicht als ein Etwas-Bestimmtes-Schauen, sondern als eine Art Sichtweise bzw. ‚Einstellung’. Dieses methodische Selbstbewußtsein und die evidenztheoretische Umdeutung der ‚Immanenz’ spielen für die Vertiefung des Reduktionsgedankens eine entscheidende Rolle. Der erste Anschein, wonach die Reduktion eine Einschränkung auf das Reelle besagen könnte, wird durch jenen evidenztheoretischen Perspektivenwechsel endgültig aufgehoben. Die Reduktion bedeutet „überhaupt nicht Einschränkung auf die Sphäre der cogitatio, sondern die Beschränkung auf die Sphäre der reinen Selbstgegebenheiten [...], Beschränkung auf die Sphäre der reinen Evidenz [...]” (II, 60f.). Es ist seit der Idee der Phänomenologie offensichtlich, daß die Beschreibung der Reduktion ihren Schwerpunkt verlagert von der Selektion der Gegebenheitsarten zu dem Perspektivenwechsel, der auf der Evidenzkritik beruht. Bei der phänomenologischen Reduktion geht es also nicht darum, irgendein sicheres Gegebenheitsgebiet von anderen auszuwählen. Es tritt vielmehr immer deutlicher hervor, daß die radikale Stützung auf die Evidenz trotz ihres Anscheins überhaupt keine Einschränkung besagt, was die thematisierbaren Gegebenheiten anbelangt, sondern sie ermöglicht es gerade, die über die reelle Immanenz hinausgehenden Gegebenheiten als ‚Phänomene’ im neuen Sinn zurückzugewinnen. Besonders durch das Medium der Intentionalität und Konstitution werden alle transzendenten Gegenstände, die durch die Reduktion abgeblendet schienen, aufs neue in phänomenologischer Sicht analysierbar. Dies bringt Husserl in der Vorlesung von 1909 deutlich zum Ausdruck: „Vermöge der Intentionalität der cogitatio oder des ‚Bewußtseins’, wie wir auch sagten, umspannt die Phänomenologie, die wir auch als Wissenschaft vom reinen Bewußtsein bezeichnen könnten, in gewisser Weise all das, was sie sorgfältig ausgeschaltet hat, sie umspannt alle Erkenntnis, alle Wissenschaften, und in gegenständlicher Hinsicht alle Gegenständlichkeiten, auch die gesamte Natur. Die Wirklichkeit der Natur, die Wirklichkeit von Himmel und Erde, von Menschen und Tieren, von eigenem Ich und fremdem Ich schaltet sie freilich aus, aber sozusagen ihre Seele, ihren Sinn behält sie zurück” (X, 335).76 76
In diesem Zitat klingt schon der spätere, reife Reduktionsgedanke an, der die Reduktion als ‚Einstellungsänderung’ charakterisiert. Das Motiv der ‚Zurückgewinnung’ aller Gegebenheiten tritt mit Betonung in den späteren Schriften auf (vgl. III/1, 159; I, 183; VIII, 166ff.). Man darf aber nicht übersehen, daß die Bestimmung der Reduktion als ‚Einstellungsänderung’ eigentlich erst durch die evidenztheoretischen Überlegungen der frühen Zeit ermöglicht wird.
,Non-egologische’ Reduktion und Rückgang auf die Evidenz
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Es muß noch herausgestellt werden, daß die auf diese Weise gewonnenen phänomenologischen Gegebenheiten nicht ohne jeden Zusammenhang in den Gesichtskreis treten. Es ist wiederum die Evidenzbetrachtung, die es ermöglicht, einer systematischen Ordnung der gesamten Gegebenheitssphäre nachzugehen. Husserl unterstreicht, daß die Evidenz kein dichotomisches Unterscheidungskriterium ist, das wie ein Index am Phänomen haftet. Es taucht nicht erst ein Phänomen auf, das dann eventuell zusätzlich (akzessorisch) mit einem „Index veri” versehen würde.77 Vielmehr gibt es eigentlich kein einziges Phänomen, das im Hinblick auf die Evidenz ‚neutral’ wäre. Jedes Phänomen erscheint sozusagen von Anfang an im Licht der Evidenz. Das heißt: Jeder Gegebenheit entspricht eine Art der Evidenz.78 Dadurch können alle Gegebenheiten im Zusammenhang der evidenziellen Verweisungen betrachtet werden. Es besteht also eine strukturelle Verbindung zwischen gebender und nicht-gebender Vorstellung, sofern letztere als ‚Leerintention’ auf erstere als ‚Erfüllung’ verweist.79 In dieser Hinsicht kann man sagen, daß jeder nichtgebende Akt immer schon an einem umfassenden Zug des Evidenzbewußtseins beteiligt ist. Kein Erlebnis, keine Gegebenheit ist isoliert, vielmehr ist alles mit allem in einem sogenannten ‚teleologischen’ Zusammenhang verbunden: „[...] die Erkenntnisakte, weiter gefaßt die Denkakte überhaupt sind nicht zusammenhanglose Einzelheiten [...]. Sie zeigen, wesentlich aufeinander bezogen, teleologische Zusammengehörigkeiten und entsprechende Zusammenhänge der Erfüllung, Bekräftigung, Bewährung und ihre Gegenstükkr’’ (II, 75). 80 So ist es möglich, alle Akte und Gegebenheiten im universalen Zusammenhang des Bewußtseins zu überschauen und – sich an den Evidenzverweisungen orientierend – spezielle Untersuchungen der Phänomene anzustellen. Die Evidenzlehre bietet also – vermittelt durch die Theorie von ,Intention und Erfüllung’ – eine entscheidende Grundlage für die theoretische Orientierungsmöglichkeit im phänomenologischen Feld.81
77
Vgl. III/1, 46; XXIV, 155; XXX, 325. Dieses Argument wird in bezug auf die ‚Evidenzgefühl’-Kritik immer wieder angeführt; vgl. XVIII, 192, 194; XIX/2, 656; Mat III, 95; XXIV, 155f.; II, 59f.; XXX, 325; Ms. B II 1/ 39a. 78 Vgl. dazu besonders Ms. B II 1/ 39a; auch ebd., 47b; XXIV, 155. 79 Vgl. besonders XVII, 170. Ströker setzt einen Akzent darauf, daß das Verhältnis von ‚Intention und Erfüllung’ für die Evidenzlehre eine grundlegende Rolle spielt (Ströker 1978, 9f.); vgl. dazu auch die eingehenden Studien von Rosen (1977, 26ff.) und Heffernan (1983, 49ff.). 80 Zur ‚teleologischen’ Bedeutung des intentionalen Bewußtseinszusammenhangs vgl. auch II, 13, 57f.; XXV, 16. 81 Vgl. XXIV, 375.
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Kapitel II
In dieser Hinsicht soll noch auf die ‚Gradualität’ der Evidenz hingewiesen werden, von der Husserl seit den Logischen Untersuchungen spricht.82 Sie darf wiederum nicht wie ein ‚Index mit Gradunterschied’ verstanden werden; sie bezieht sich vielmehr auf die Struktur von Intention und Erfüllung. 83 Verschiedene ‚Grade’ der Evidenz stellen jeweils Erfüllungsstatus innerhalb des intentionalen Verweisungssystems dar. Eine inadäquate Evidenz zeigt in sich selbst eine Richtung, in der die weitere Erfüllung der betreffenden Intention stattfinden kann. Die adäquate Evidenz muß also nicht ständig – wie eine ‚fixe Idee’ – bewußt sein;84 denn auch im inadäquaten, symbolischen Meinen bekundet sich die adäquate Evidenz in Form der intentionalen Verweisung.85 In diesem ‚Zug’ bzw. der ‚Strebung’ nach Adäquation besteht die ‚Gradualität’ der Evidenz. Bei verschiedenen Gegebenheiten sind in dieser Hinsicht die ‚Nähe’ und ‚Ferne’ der adäquaten Evidenz zu messen.86 Auf diese für die späte Evidenzlehre charakteristische Sichtweise werde ich später zurückkommen.87 ——— Durch die vorangegangenen Untersuchungen hat sich ergeben, daß die ‚absolute Evidenz’ bei Husserl nicht die Form eines Grundsatzes oder Axioms annimmt, sondern vielmehr eine ursprüngliche Perspektive ausdrückt, aus der alles Erfahrene so gesehen werden kann, wie es erfahren ist. Die ‚absolute Selbstverständlichkeit’ dieser Perspektive erschwert es allerdings, sie als solche zum thematischen Bewußtsein zu bringen. Im natürlichen Leben gerät sie strukturell in Vergessenheit, indem man sich selbst mit einem realen, raumzeitlich begrenzten Objekt ‚Mensch’ identifiziert und seine eigene Sicht in einem Teilgebiet des Gegebenen verschließt. Die Reduktion ist nichts anderes als die Selbstbefreiung des philosophischen Sehens von der objektivierenden Selbstapperzeption verschiedener Stufe – als Reales, Psychologisches, Reelles usw. Die Berufung auf die absolute Evidenz führt uns also keineswegs zu einem Dogmatismus, sondern ermöglicht erst einen freien intuitiven Zugang zum gesamten Universum aller erdenklichen Gegebenheiten, der nicht mehr von der Gliederung des Objektbereichs abhängig ist. Dieses Universum kann nun aus der Perspektive der Evidenz konkret durchschritten werden.
82
Vgl. XIX/2, 646ff., besonders 651; XVIII, 29f.; Mat III, 133; XXIV, 154f.; Heffernan 1983, 62ff.; Lohmar 2000, 195ff. 83 Zu den „Erkenntnisstufen” in bezug auf ‚Intention und Erfüllung’ vgl. XIX/2, 596ff. 84 Vgl. XXIV, 374. 85 Vgl. Mat III, 61f., 132ff.; XXIV, 320f., 324f., 430ff. 86 Dieses perspektivische Bild verwendet Husserl ausdrücklich in III/1, 141f.; V, 103f.; XI, 383; XXXV, 406; Ms. A I 31/ 35b-38a, um nur einige Beispiele zu nennen. 87 Vgl. Kapitel VII, 1 und 2.4.
,Non-egologische’ Reduktion und Rückgang auf die Evidenz
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Dieser Standpunkt stellt eine fundamentale Basis für die folgenden Untersuchungen dar. Im III. Kapitel werde ich zeigen, daß das ‚Schauen’ bei der egologisch-intersubjektiven Wende der Phänomenologie eine zentrale Rolle spielt. Im V. Kapitel soll verdeutlicht werden, daß das ‚Ur-Ich’ erst durch eine weitere Radikalisierung der reduktiven ‚Reinigung’ der Sicht thematisiert werden kann. Im VII. Kapitel wird dann die Bedeutung der Evidenz im Hinblick auf die vertiefte Ich-Lehre erneut detailliert erörtert werden, wobei als Doppelfunktion der Evidenz sowohl eine Verbindlichkeit als auch eine Befreiung hervortreten werden.
Kapitel III
Die Entdeckung des ‚Ich’ als phänomenologisches Thema
„‚Zeigen Sie uns das Ich!’ Worauf Husserl zurückrief: ‚Ich werde auch das noch herausfinden!’”1
Durch die vorangegangenen Erörterungen ist deutlich geworden, daß die non-egologische Ausrichtung der frühen Phänomenologie nicht bloß besagt, daß ein Begriff des reinen Ich fehlt, sondern eine notwendige Konsequenz der Evidenzlehre darstellt. Die radikal durchgesetzte Evidenzbetrachtung bildet dabei eine unentbehrliche Grundlage für die Etablierung der transzendentalen Phänomenologie. Insofern ist es undenkbar, daß diese evidenztheoretische Grundlage, auf die sich die gesamte phänomenologische Untersuchung stützt, durch die spätere egologische Wende einfach aufgehoben würde. Wie ist es aber möglich, daß die Evidenzlehre, die den non-egologischen Charakter der Phänomenologie ermöglichte, für die egologisch umgewandelte Phänomenologie weiterhin als Grundlage dient? Dies läßt sich nur dadurch erklären, daß gerade eine weitere Vertiefung der Evidenzlehre die fragliche egologische Wende ergibt. Es gilt also zu zeigen, daß das reine oder transzendentale ‚Ich’ nicht als ein völlig neuer, von außen hergebrachter Ansatz, sondern als Resultat einer konsequenten Weiterentwicklung der frühen Phänomenologie in den phänomenologischen Gesichtskreis tritt. Das ‚Ich’ im transzendentalen Sinne wird also nicht etwa als metaphysische Instanz aus außerphänomenologischen Gründen eingeführt, sondern durch eine Vertiefung der sachlichen phänomenologischen Analysen als eine tiefe ‚Selbstverständlichkeit’ entdeckt, die am Anfang schwer zu durchschauen war. Die ‚Entdeckung’ des Ich bedeutet nicht eo ipso eine Aufhebung der frühen non-egologischen Phänomenologie, sondern ist als Konsequenz ihrer sachlichen und methodischen Vertiefung zu interpretieren. Im folgenden soll zunächst herausgestellt werden, daß die frühe Evidenzlehre ein unbeantwortetes Ichproblem in sich birgt, und zwar in Hinsicht auf den die Evidenz ‚Schauenden’. Dann werde ich zeigen, auf welche Weise das Problem der ‚Intersubjektivität’, vermittelt durch den konsequenten Evidenzgedanken, in den Vordergrund tritt. Infolgedessen muß das 1
Schuhmann 1973, 162.
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Kapitel III
phänomenologisch ‚schauende Ich’ selbst in der von ihm problematisierten Sphäre notwendig eine Rolle spielen. Schließlich ist das ‚reine Ich’ im Hinblick auf seine Evidenz in Betracht zu ziehen. Auf diese Weise soll die Bedeutung des‚phänomenologisierenden Ich’ für die gesamte Phänomenologie deutlich hervortreten; dabei handelt es sich um eine unmittelbare Motivation zur späteren Thematisierung des ‚Ur-Ich’, wie es im zweiten Teil ersichtlich wird.
1. DIE FRAGE NACH DEM ‚SCHAUENDEN’: IMPLIZITE ANSÄTZE IN DER FRÜHEN PHÄNOMENOLOGIE Um zu zeigen, daß die egologische Wende aus einer Vertiefung der Evidenzlehre resultiert, möchte ich zunächst vorbereitend auf zwei Aspekte der Evidenzlehre hinweisen, die ihr schon von Anfang an zukommen: nämlich ,Faktizität’ und ‚Selbstbezogenheit’ der Evidenz von cogitationes. (1) In der frühen Phänomenologie wird oft ihr Charakter als ‚Wesensforschung’ hervorgehoben. Das könnte den Anschein erwecken, daß das empirische Ich deswegen ausgeschaltet wird, weil es kein Eidetisches, sondern ein Faktisches und Individuelles ist. Der entscheidende Grund für die Ausschaltung des empirischen Ich liegt jedoch darin, daß es nicht adäquat gegeben, sondern vielmehr dem Bewußtsein ‚transzendent’ ist.2 Die IchAusschaltung wird also durch die Evidenzkritik begründet. Man darf nicht übersehen, daß aus der evidenztheoretischen Perspektive nicht nur die eidetischen Gegebenheiten, sondern auch die individuellen cogitationes, die ‚jetzt’ faktisch durchlebt werden, ‚adäquat gegeben’ sind. Darüber hinaus geht die Evidenz der cogitatio der Evidenz des Wesens prinzipiell voraus. Das Wesen als Objektivität kann nicht allein die Evidenz ausmachen, da die Evidenz ein ‚Erlebnis’ ist. Erst wenn es in der cogitatio ‚geschaut’ wird, besteht die Evidenz des Wesens, obwohl der gegebene eidetische Inhalt kein reelles Moment der cogitatio ist. Die Evidenz der cogitatio kann unabhängig von Wesensevidenz auftreten (wie der Heraklitische Fluß), nicht aber umgekehrt.3 (2) Die Evidenz des cogitativen Erlebnisses, die der Evidenz der Wesensobjektivität vorausgeht und sie fundiert, hat nun eine bemerkenswerte 2
Auch im Kontext, der die Wesensforschung stark betont, wird bezüglich der Ausschaltung des Ich besonders dessen Nicht-Selbstgegebenheit hervorgehoben; vgl. dazu Dok III/2, 124; XXII, 207. Ebenfalls Marbach ist der Ansicht, daß die Ausschaltung des empirischen Ich nicht aus dem Übergang zur Wesenslehre resultiert (Marbach 1974, 31 Anm.); vgl. auch Bouckaert 2001, 295ff. 3 Wesensforschung läßt sich eigentlich – wie im letzten Kapitel gezeigt – erst durch Evidenzkritik rechtfertigen. Evidenz überhaupt, die sich in dieser ergibt, reicht weit über die Sphäre des Eidetischen hinaus. Sie selbst kann daher nicht als bloß Eidetisches charakterisiert werden. Der deskriptive Unterschied zwischen Faktischem und Eidetischem läßt sich erst im ‚Schauen’ als Evidenz feststellen. Vgl. dazu 3.3.
Die Entdeckung des ,Ich’
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Eigentümlichkeit: Eine cogitatio kann nur dann als ‚evident’ bezeichnet werden, wenn ‚ich’ sie ‚erlebend schaue’. Wenn ich auch meine frühere cogitatio oder die cogitatio des Anderen schaue, habe ich keine adäquate Evidenz. Dasselbe gilt auch für die Empfindung: Die Schmerzen, die ein Anderer empfindet, sind nicht adäquat gegeben. Diese Eigentümlichkeit der Evidenz wird in der Vorlesung von 1902/03 mit der Ich-Rede zum Ausdruck gebracht: „ich erlebe, schaue es zugleich, es ist selbst da” (Mat III, 92). Die cogitationes sind nur insofern adäquat gegeben, als wir sie „aktuell erleben und darauf reflektieren, darauf wahrnehmend hinblicken” (Mat III, 94). Ihre Evidenz besteht also in einer Selbstbezüglichkeit, die Husserl durch „Perzeption perzipieren” (Mat III, 93) charakterisiert: „Also zweifellose Sicherheit des Daseins, das gehört nicht zu den Erlebnissen der cogitatio selbst, sondern zu den perceptiones, d. i. zu den Wahrnehmungen dieser Erlebnisse” (ebd.). Dieser Hinweis auf die ‚Selbstwahrnehmung’ macht deutlich, daß die Evidenz der cogitationes es erfordert, daß der Erlebende selbst bei seinem eigenen Erlebnis aktuell ‚dabei’ ist. In dieser Hinsicht ist die Frage nach dem ‚Wer’ des Erlebens nicht unwesentlich. Die Evidenz der cogitatio besteht nur dann, wenn ‚ich’ ‚meine eigene’ cogitatio schaue, aber nicht, wenn ich die cogitatio vom Anderen betrachte. Dieser deskriptive Unterschied gilt auch, wenn die transzendierende Apperzeption des Ich dahingestellt bleibt. Darauf weist Husserl in der Vorlesung von 1909 hin: „Bei der cogitatio, in dem Moment ihres reflexiven Gegebenseins, habe ich [...] absolute Gegebenheit: bei meiner cogitatio, nur daß ich mich selbst ausschalte. Von den cogitationes eines Anderen habe ich natürlich keine absolute Gegebenheit” (X, 350). Hier verwendet Husserl die Bestimmung ‚mein’, obwohl er zugleich die empirische Ich-Apperzeption ausschaltet.4 Die Frage nach dem ‚Wer’ muß allerdings dahingestellt bleiben, wenn sie auf die empirische Bestimmung des Ich bezogen ist: „Natürlich, ich bin es, der jetzt (sechs Uhr abends) in meinem Bewußtsein das Wesen der Wahrnehmung etwa analysiert [...]. Aber die Existenz des Ich (die Person in Raum und Zeit, die sich eben als Ich bezeichnet) ist nicht Voraussetzung der Untersuchung, deren Ergebnisse dieselben bleiben, wenn ich mich auch für einen Zentauren oder ein Nilpferd oder sonst was halte” (XXIV, 441).5 Es darf aber nicht übersehen werden, daß dasjenige, was hier ausgeschaltet wird, nur die objektivierende Selbstauffassung ist; die Ausschaltung betrifft jedoch 4
Vgl. dazu auch folgende Bemerkung von etwa 1908: „Der mir gegebene Strom, das direkt und absolut Gesetzte, dies da! — mir, aber noch nicht mir, dem Individuum im psychologischen Sinn” (XIII, 5). Auch das Wort ‚cogito’, das auf die erste Person Singular verweist, kommt in der Vorlesung von 1909 in einer ähnlichen Zweideutigkeit vor; der Terminus wird hier einmal negativ, das andere Mal positiv verwendet (X, 346, 353). 5 Zu ähnlichen Ausdrücken in Husserls Texten vgl. XXIV, 118, 146, 168, 234.
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Kapitel III
nicht das phänomenologisierende Ich als solches, das nur aller empirischen Bestimmung entkleidet ist. Wer phänomenologisch ‚schauend’ die eidetischen Wahrheiten feststellt, spielt eine unentbehrliche Rolle, sofern sich die eidetischen Ergebnisse der Forschung im ‚Schauen’ ausweisen müssen, um überhaupt ‚evident’ zu sein. Das ‚Ich’, das hier als Problem benannt wird, ist kein empirisch so und so bestimmtes Ich, aber dennoch ‚Ich’, da die Evidenz letztlich nur in ‚meinem’ direkten Vollzug des ‚Schauens’ besteht. Husserls Evidenzlehre verdeutlicht, wie ich im letzten Kapitel zeigte, 6 daß die Evidenz nicht in einer leeren, ‚symbolischen’ Rede von angeblich wahren Sätzen besteht; wenn diese ihre Wahrheit behaupten wollen, müssen sie ‚schauend’ nachvollzogen werden, und zwar nicht von ‚irgend jemandem’, sondern letztlich von ‚mir selbst’. Nur in diesem ‚Selbst-vollziehen’ besteht das ‚Urrecht’ der Evidenz. Die Wesensgesetze können nicht frei schweben, sondern müssen im Evidenzvollzug verankert sein, der letztlich ein ‚wirkliches Schauen’ bedeutet. Der ‚Schauende’ kann dabei nicht als ein eidetischer ‚Jedermann’ aufgefaßt werden, der bloß ‚logisch’ als ‚Idee’ anzunehmen ist. Daß Wesensgesetze für jedermann gelten, muß ebenfalls als Evidenz von ‚mir’ eingesehen werden.7 Wenn sich jede phänomenologische Evidenz auf den Evidenzvollzug des Phänomenologisierenden selbst stützt, kann das ‚phänomenologisierende’ Ich nicht – wie ein objektiv ausgerichteter Wissenschaftler – außerhalb seines Themenbereichs bleiben, ohne auf ihn Einfluß zu nehmen; es muß vielmehr in seiner Analyse und Beschreibung sozusagen ständig ‚mit im Spiel’ sein, obwohl zu Anfang noch völlig unklar ist, was dieses ‚Ich’ eigentlich bedeutet, das ja weder als empirisches noch als eidetisches verstanden werden darf. In diesem Zusammenhang sei auch darauf hingewiesen, daß Husserl die Erkenntnistheorie als „eine Selbstverständigung der Erkenntnis” charakterisiert (XXIV, 193): „Es ist nun selbstverständlich, daß wir, um Dunkelheiten der Erkenntnis aufzuhellen und Probleme, die sie selbst uns stellt, zu lösen, keinen Standort außerhalb der Erkenntnis einnehmen können. Nur erkennend vermögen wir Erkenntnis aufzuklären” (ebd.). Dieses notwendige selbstbezügliche ‚Dabeisein’ des phänomenologisch Erkennenden bei der zu thematisierenden Erkenntnis begründet Husserl mit dem Wesenscharakter der Erkenntnis als solcher: „Die notwendige Rückbeziehung der Erkenntnisaufklärung auf sich selbst ist offenbar etwas zum Wesen der Erkenntnis als solcher Gehöriges” (ebd.).8 6
Kapitel II, 3.1. Vgl. dazu die weiteren Erörterungen in Kapitel VII. 8 Vgl. auch XXIV, 200f. Der Zweifel, ob diese Rückbeziehung der Erkenntnistheorie nicht einen fehlerhaften ‚Zirkel’ bedeuten könnte, wird von Ingarden in dem 1921 verfaßten Aufsatz über die petitio principii in der Erkenntnistheorie von Grund auf ausgeräumt (Ingarden 7
Die Entdeckung des ,Ich’
55
So stellt sich die Frage nach dem ‚Ich’, besonders in bezug auf den phänomenologisierenden Betrachter, schon in der frühen ‚non-egologischen’ Phänomenologie, wo Husserl trotz der Ausschaltung des Ich in der Beschreibung häufig die Ich-Rede verwendet: „Ich lasse es dahingestellt”, „Ich suspendiere”, „Ich habe dann das Ich-Phänomen” (XXIV, 212), „Stelle ich Ich und Welt und Icherlebnis als solches in Frage, [...]” (II, 44) usw.9 Wie ist aber dieses ‚Ich’ zu verstehen, wenn das Phänomenologisieren notwendig ein phänomenologisierendes ‚Ich’ fordert, das ‚tatsächlich’ – seine cogitationes erlebend – die phänomenologische Betrachtung vollzieht? Diese Frage tritt zwar erst in Husserls später Schaffensphase zugespitzt in den Vordergrund, scheint aber seinen Denkweg schon in der frühen Zeit latent zu bestimmen.10
2. DAS PROBLEM DER INTERSUBJEKTIVITÄT UND DIE EGOLOGISCHE WENDE DER PHÄNOMENOLOGIE Die Frage nach dem ‚Ich’ scheint insofern unumgänglich zu sein, als der phänomenologische Zugang zu den Sachen festgehalten wird, der sich auf das evidenzielle ‚Schauen’ beruft. Eine weitere Verfolgung dieser Frage kann zu einer radikalen Umwendung der Phänomenologie führen, denn man hat es hier mit der Evidenz als ‚Ankergrund’ der gesamten Phänomenologie zu tun: Wenn die ‚absolute Evidenz’ (bzw. das ‚Schauen’), die zunächst nonegologisch konzipiert wurde, dasjenige Moment in sich enthält, das notwendig als ‚ichlich’ zu charakterisieren ist, muß das Selbstverständnis der Phänomenologie als ‚niemandes Denken’ eine entscheidende Transformation erfahren. Durch diese wird die fundamentale Bedeutung der Evidenzlehre jedoch keineswegs gemindert. Im Gegenteil: Es geht hierbei um eine
1994, 201ff.). Auch Mertens weist auf eine notwendige Zirkularität bzw. Selbstbezogenheit der phänomenologischen Letztbegründung hin, der nicht ein Beweisfehler wie eine petitio principii oder ein circulus vitiosus zuzuschreiben ist (Mertens 1996, 49f., 132f.). 9 Vgl. auch Mat III, 92; II, 43-46. 10 Husserl stellt in einem Manuskript um 1908-1909 die Frage nach dem ‚Ich’, das in der phänomenologischen Beschreibung auftritt: „Und wie soll ich für das Ich sagen? [...] immer sage ich Ich, mein Sehen, mein Zweifeln etc., ich finde es, darauf hinblickend” (Ms. A VI 8/ 104a; zitiert nach Marbach 1974, 63f.). Dieses Problem des ‚phänomenologisierenden Ich’ bringt Husserl – wie Marbach zeigt – „in Verlegenheit”, aber er weicht einer thematischen Auseinandersetzung zunächst aus (Marbach 1974, 59ff.). Carr weist darauf hin, daß die methodische Ich-Perspektive schon in den Logischen Untersuchungen eine implizite, aber entscheidende Rolle spielt: „Implicit in everything Husserl does in the Logical Investigations, but never thematized, is the first-person point of view” (Carr 1999, 74). Diesen Punkt hebt auch Smid hervor (Smid 1978, 34f., 60ff.).
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Kapitel III
Vertiefung des Selbstverständnisses vom evidenten ‚ Schauen’, das weiterhin der‚Ankergrund’ der Phänomenologie bleibt. Im folgenden werde ich dieser Selbstvertiefung des phänomenologisierenden ‚Schauens’ im Hinblick auf die Intersubjektivitätsproblematik nachgehen. Der frühe Husserl versucht, die Intersubjektivität als diejenige Vielheit der empirischen Ich zu interpretieren, die sich aufgrund des ‚nonegologischen’ absoluten Bewußtseins als eine Art objektiver Einheit konstituiert; das absolute Bewußtsein selbst liege vor aller Unterscheidung von Ich und anderem Ich.11 In seinen konkreten, immer tiefer gehenden Analysen zur ‚Fremderfahrung’ sieht Husserl sich dazu genötigt, das ‚Ich’ nicht mehr als eine bloß gegenständliche Einheit innerhalb des phänomenologischen Bewußtseinsfeldes aufzufassen; es wird vielmehr als ein dieses Feld von Grund auf Bestimmendes neu entdeckt, woraus sich auch die Problematisierung des ‚transzendentalen Anderen’ ergibt. Dabei rückt das Problem des phänomenologisch betrachtenden Ich zunehmend ins Blickfeld.12
2.1 Die intersubjektive Reduktion und die Frage nach dem phänomenologisierenden Ich Husserl stellt die Frage nach dem phänomenologisierenden Ich zwar erst in seiner Spätzeit ausdrücklich, aber sie scheint schon die Vorlesungen Grundprobleme der Phänomenologie von 1910/11 implizit zu bestimmen. Diese enthalten bekanntlich Husserls ersten Versuch zur ‚intersubjektiven Reduktion’, der zunächst in eine andere Richtung zu weisen scheint als in diejenige der frühen ‚ichlosen Reduktion’. Diese Wende darf jedoch nicht als bloße Meinungsänderung betrachtet werden. Sie bedeutet vielmehr eine weitere Konsequenz der Reduktion, insbesondere der Methode des ‚Schauens’.13 Husserl führt in diesen Vorlesungen die sogenannte ‚doppelte Reduktion’ ein, die nicht nur die jeweilige Erfahrung zum reinen Erlebnis bringt, sondern auch dasjenige, worauf die betreffende Erfahrung intentional verweist, ins phänomenologische Datum verwandelt (XIII, 178f.). So wird z. B. die 11
Solche Versuche finden sich in XIII, 19f., 241ff., 245, 247. In der folgenden Untersuchung der ‚Entdeckung des Ich’ werde ich mich auf das Problem des phänomenologisierenden Ich konzentrieren und auf die allgemeine Entwicklungsgeschichte des Ichproblems nicht eingehen; hierzu sei verwiesen auf Marbach 1974, 74ff.; Schuhmann 1973, 40ff., 60ff., 85ff., 154ff.; Sakakibara 1997, 21ff. 13 Marbach analysiert dieselben Vorlesungen, um Husserls Motivation zur Anerkennung des reinen Ich deutlich zu machen. Dabei geht es Marbach um die Herausstellung des reinen Ich als „Prinzip der Einheit eines Bewußtseinsstroms” (1974, 87ff.). Diese sachliche Analyse möchte ich durch einen anderen, hauptsächlich ‚methodischen’ Aspekt der Thematisierung des Ich ergänzen. Offensichtlich macht das ‚Ich’ nicht ein bloßes Teilproblem der Phänomenologie aus, sondern ein für den Bestand der gesamten Phänomenologie entscheidendes Problem, sofern es ihre Methode von Grund auf bestimmt. 12
Die Entdeckung des ,Ich’
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Wiedererinnerung nicht nur als Erlebnis auf die betreffende phänomenologische cogitatio reduziert; vielmehr ist noch eine „zweite Reflexion und Reduktion” möglich, die „sozusagen in der Wiedererinnerung verläuft und die ein wiedererinnertes Erlebnis als phänomenologische Gewesenheit zur Gegebenheit bringt” (XIII, 168). Diese Gegebenheit ist zwar nicht ‚absolut zweifellos’, muß aber dennoch als phänomenologische Gegebenheit anerkant werden, sofern sie in der phänomenologischen Einstellung ‚vorgefunden’ den’ werden kann; sie bleibt also übrig, auch wenn die transzendierende Setzung und Apperzeption der Natur ausgeschaltet wird. Nicht nur das Erfahren selbst, sondern auch das Erfahrene steht als solches vor dem phänomenologischen Blick, ob es nun wirklich existiert oder nicht, also ohne jedes empirisch-naturale Urteil. Es geht hier also um eine Weiterführung der im letzten Kapitel erläuterten ‚Erweiterung der phänomenologischen Gegebenheit’. 14 Jeder empirischen Erfahrung entspricht, wenn sie auf passende Weise reduziert wird, eine ‚phänomenologische Erfahrung’: „Wir werden in dieser Hinsicht den Begriff der phänomenologischen Erschauung so erweitern müssen, dass er der empirischen Erfahrung parallel läuft, also gleichsam zur phänomenologischen Erfahrung wird” (XIII, 159).15 Husserl stößt dabei auf „eine besondere Form der empirischen Erfahrung”, nämlich die „Einfühlung” (XIII, 187). Auch diese kann in doppelter Weise reduziert werden (XIII, 188f.), nämlich einerseits im Hinblick auf das Erlebnis des Einfühlens und andererseits auf das in ihm Eingefühlte. Dabei gilt allerdings das besondere „Gesetz”, daß das einfühlende Erlebnis und das eingefühlte Erlebnis prinzipiell „nicht demselben Bewußtseinsstrom, also demselben phänomenologischen Ich, angehören können. Von dem eingefühlten Strom führt kein Kanal in denjenigen Strom, dem das Einfühlen selbst zugehört” (XIII, 189). Denn das einfühlende Erlebnis hat seinen „Zeithintergrund” mit vergangenen und zukünftigen Erlebnissen und ordnet sich dadurch in einen einheitlichen Bewußtseinsstrom ein. Andererseits ist die Einfühlung „Erfahrung von einem eingefühlten Bewußtsein” (ebd.). Auch das eingefühlte Erlebnis hat einen Zeithintergrund, der aber eine andere Einheit des Stroms ausmacht als die Einheit jenes Stroms, in dem das Einfühlen vollzogen wird. Man darf nicht übersehen, daß – wie der oben zitierten Stelle (XIII, 189) zu entnehmen ist – die Analyse der besonderen Erfahrungsweise der Einfühlung, welche die ‚Andersheit’ des Anderen andeutet, Husserl dazu führt, das ‚phänomenologische Ich’ zu erwähnen: Das eingefühlte Erlebnis gehört einem phänomenologischen Ich an, das notwendig ein anderes ist als dasjenige Ich, welches das einfühlende Erlebnis vollzieht. Jenes Sondergesetz der 14
Vgl. Kapitel II, 3.2. Vgl. XIII, 164, 179, 182. Zur Entwicklung und Bedeutung des Begriffs der ‚transzendentalen Erfahrung’ vgl. Trappe 1996, bes. 100ff.
15
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Einfühlung besteht also darin, daß ein jeweiliges Ich einfühlen muß, das von den anderen Ich unterschieden ist. Ohne ein Ich zu sein, kann man keinen Anderen erfahren. Dabei ist es unmöglich, dieses Ich als ein universales, über-individuelles Ich zu verstehen; denn wenn dies der Fall wäre, bestände das obige Sondergesetz nicht, da ein solches Ich die Differenz zwischen Ich und anderen Ich aufhöbe. Das gilt auch für das phänomenologisch betrachtende Ich. Wenn ich mein Einfühlungserlebnis und das darin eingefühlte Erlebnis auf phänomenologische Daten reduziere, muß ich als phänomenologisierendes Ich immer noch ‚ein Ich’ sein, um überhaupt verstehen und in der Weise der phänomenologischen Erfahrung feststellen zu können, daß das eingefühlte Erlebnis einem ‚anderen Ich’ zugehört. Das phänomenologische ‚Schauen’ kann sich angesichts der Erfahrung des Anderen nicht als eine universale, alles umfassende Schau verstehen, sondern nur als das Schauen eines Schauenden, der eine bestimmte ‚Perspektive’ hat. Die Einfühlung als besondere Erfahrung verweist in sich selbst auf die Eigenheit der Perspektive, die für die Erfahrung des Anderen sowie für ihr phänomenologisches Nachvollziehen unentbehrlich ist.16 Aus dem Gesagten folgt, daß hier die wechselseitige Erhellung von Phänomen und Methode entscheidend ist: 1) Erst durch die phänomenologische Methode, die sich auf das evidente ‚Schauen’ stützt, kann die ‚Andersheit’ als ernst zu nehmendes phänomenologisches Phänomen herausgestellt werden. Denn die ‚schauende’ Methode der Selbstgegebenheit stößt angesichts der Fremderfahrung auf ein NichtSelbstgegebenes im radikalen Sinne. Diese Art der Nicht-Selbstgegebenheit ist jedoch nicht mit derjenigen eines transzendenten Dinges gleichzusetzen.17 Das Ding kann prinzipiell nicht selbstgegeben sein, weil es ein sich durch Abschattungen Darstellendes ist, das kein ‚dahinterstehendes’ An-sich hat, sondern als ‚Idee’ bzw. „als das identifizierbare Integral der sich verwirklichenden und zu verwirklichenden Merkmale” (XIV, 361)18 gegeben ist. Ein Ding auf eine andere Weise zu erfahren, ist für niemanden — Husserl zufolge auch für Gott19 nicht — möglich,
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Wenn ich das Erlebnis des Anderen unmittelbar erleben könnte, würde die Andersheit des Anderen aufgehoben. Diesen Punkt betont Husserl wiederholt: „Natürlich, Anderer Empfindungen kann ich nicht empfinden, sondern nur einfühlen. Könnte ich es empfinden, dann wäre sein Leib mein Leib, und es hätte die Sonderung zwischen Ich und Du keinen Sinn” (XIII, 11); „[...] wäre das Eigenwesentliche des Anderen in direkter Weise zugänglich, so wäre es bloß Moment meines Eigenwesens, und schließlich er selbst und ich selbst einerlei” (I, 139); vgl. auch XIII, 2, 18 Anm.; XV, 338. 17 Vgl. XIII, 2; XIV, 244, 248f., 274, 360f. 18 Vgl. auch XIV, 245f., 93, 128; IX, 181ff., 431. 19 Vgl. III/1, 92, 351; XIV, 349f.
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weil die beschriebene Seinsart gerade das Ding-sein als solches definiert. Das Erlebnis, das dem Anderen gehört, ist mir ebenfalls nicht selbstgegeben; aber der Unterschied zur dinglichen Gegebenheit besteht darin, daß das fremde Erlebnis als dasjenige gegeben ist, das dem betreffenden anderen Ich doch selbstgegeben ist; es ist also als Erlebnis eigentlich originär zugänglich, aber nicht mir, sondern nur dem betreffenden Anderen. Durch die ‚Einfühlung’ wird mir ein Erlebnis gegeben, das von einem anderen Ich erlebt wird und daher prinzipiell originär erlebt werden kann, aber doch wesentlich ausschließt, von mir originär erlebt zu werden.20 Das bedeutet aber keinesfalls ein Versagen der Methode, sondern im Gegenteil: Die Reduktion und die Methode des Schauens ist vielmehr als ein vorzüglicher Zugang zum Phänomen der ‚Andersheit’ zu betrachten. Die phänomenologische Reduktion hat ja den Charakter der Selbstreflexion bzw. der ‚Selbstverständigung’ der Erkenntnis; die Ich-Perspektive muß dabei unentbehrlich sein, was Husserls häufige Ich-Rede bestätigt. Gerade jene Eigenart der phänomenologischen Sichtweise ermöglicht es, die originäre Nicht-Erfahrbarkeit des Anderen als eine ursprüngliche Erfahrungsweise erkennbar zu machen. Nur weil ich reduziere und schaue, kann das andere Ich nicht als ein Gegenstand unter anderen, sondern im echten Sinne als Anderer in der phänomenologischen Sphäre auftreten. Wenn das phänomenologische Schauen ein über-individuelles, alles überblickendes wäre, würde es in der phänomenologischen Sphäre nie einem echten Anderen, also dem transzendentalen – nicht empirisch-objektiven – Anderen, begegnen.21 2) Auf der anderen Seite erweist sich die Methode ‚Ich reduziere und schaue’ erst dann als entscheidend, wenn sie mit dem charakteristischen Phänomen der ‚Einfühlung’ bzw. ‚Fremderfahrung’ konfrontiert wird. Die thematische Betrachtung dieser Erfahrung erhellt die eigenartige ‚Perspektivität’ des Phänomenologisierens selbst, d. h., daß das phänomenologische Schauen notwendig ‚mein’ Schauen sein muß, wobei ‚mein’ im Rahmen der Epoché nicht empirisch aufzufassen ist. Jene phänomenologische ‚Perspektivität’ ist keinesfalls eine bloße Tatsache, die eidetisch zu überspringen wäre, da ein solches Überspringen gerade die Erfahrung der ‚Andersheit’ aufheben 20
Das Selbsterfahren des Anderen, das mir nicht originär gegeben sein kann, ist trotzdem auf seine Weise – also als radikales ‚Nicht-Original’ – in der Fremderfahrung ‚gegeben’. In ihr bekundet sich der Andere als ein selbsterlebendes Ich. Die Unmöglichkeit meines originären Schauens hebt dabei die Seinsgeltung des Anderen keineswegs auf; vielmehr gehört diese Unmöglichkeit zu den wesentlichen Bestimmungen der Erfahrung des Anderen: „Diese Erfahrung mit prinzipieller Indikation von Nichterfahrbarem ist solche von nichterfahrbarem Ich und Seelenleben, und mit einer zugehörigen Bestätigungsart, die ich jederzeit erproben kann” (XIV, 351); „In dieser Art bewährbarer Zugänglichkeit des original Unzugänglichen gründet der Charakter des seienden Fremden” (I, 144); vgl. auch I, 139; dazu Näheres in Vf. 2002. 21 Diesem Problem werde ich im VI. Kapitel (4.4) nachgehen.
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würde. Die Ich-Perspektive, welche die phänomenologische Beschreibung immer schon auf latente Weise mit bestimmte, gelangt nun zu einem klaren Selbstbewußtsein. Durch diese wechselseitige Erhellung von Phänomen und Methode stellt sich heraus, daß das methodisch schauende Ich das von ihm betrachtete Phänomen notwendig mitbestimmt. Die folgende Formulierung in den Vorlesungen Grundprobleme der Phänomenologie bestätigt, daß Husserl bei der dort eingeführten ‚intersubjektiven Reduktion’ bereits das phänomenologisierende, reduzierende Ich im Auge hat: „Alles phänomenologische Sein reduziert sich dann auf ein (auf ‚mein’) phänomenologisches Ich, das ausgezeichnet ist als wahrnehmendes und erinnerndes, einfühlendes Ich und als dabei phänomenologisch reduzierendes [m. H.], und auf andere in der Einfühlung gesetzte, und als schauende, erinnernde, evtl. einfühlende Ich gesetzte Ich” (XIII, 190). In diesem Zitat tritt das ‚phänomenologisch reduzierende’ Ich selbst in der von ihm durchgeführten Beschreibung auf. Das bedeutet jedoch nicht eine unzureichende Reduktion, sondern ist vielmehr als notwendige Konsequenz der Reduktion zu betrachten, die durch die Enthüllung des neuen Phänomens der ‚Einfühlung’ vermittelt ist. Es gilt zwar auch hier – wie in der früheren Konzeption der non-egologischen Reduktion –, die Bodendimension aller Konstitution freizulegen und alles Konstituierte auf die ‚Phänomene’ im phänomenologischen Sinne zurückzuführen. Durch die intersubjektive Reduktion ergibt sich jedoch, daß die eigenartige ‚Perspektive’ des methodisch enthüllenden, ‚schauenden’ Ich die enthüllte Dimension der Phänomene immer schon mitbestimmt und dadurch sich selbst in dieser Dimension als ‚Phänomen’ bekundet. Die transzendentale Sphäre, die zunächst wegen der Selbstvergessenheit des phänomenologisierenden Ich eine homogendurchsichtige zu sein schien, wird nun gewissermaßen ‚von innen her’ als eine intersubjektiv-vielfältig gegliederte Sphäre aufs Neue erkannt. Diese Sichtweise, die schon in der Grundprobleme-Vorlesung eine wichtige Rolle spielt, prägt die Entwicklung der transzendentalen Phänomenologie Husserls zunächst latent, dann aber immer deutlicher. Im folgenden soll unter diesem Aspekt Husserls Konzeption der transzendentalen Phänomenologie in den zwanziger Jahren genauer erörtert werden.
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2.2 Die egologische Konzeption der transzendentalen Phänomenologie und die ‚monadologische’ Intersubjektivität Im Gegensatz zu der frühen Position behauptet die Phänomenologie der zwanziger Jahre ausdrücklich eine ‚Reduktion auf das Ego’.22 Dadurch wird die transzendentale Dimension unmißverständlich ‚egologisch’. Dabei ist aber besonders zu berücksichtigen, daß die ‚egologische’ Wende bei Husserl zugleich eine intersubjektive Wende bedeutet. Das ‚Absolute’, das in der frühen Zeit non-egologisch aufgefaßt wurde, wird nun ‚transzendentales Ich’ bzw. ‚Ego’ genannt; aber dieses ‚Ich’ kann nicht als über-individuelles, metaphysisches Prinzip interpretiert werden. Anderenfalls wäre die Pluralität der transzendentalen Ich sinnlos und ausgeschlossen; es gäbe dann keine transzendentale Intersubjektivität; in diesem Fall wäre nur eine Frage nach der Intersubjektivität sinnvoll, nämlich auf welche Weise die empirische IchVielheit aus dem über-individuellen absoluten Ich ‚abgeleitet’ werden könnte. Husserl spricht dagegen unter dem Titel der transzendentalen Intersubjektivität von einer Vielheit der jeweils absoluten transzendentalen Ich. Hier liegt ein besonderes Problembewußtsein zugrunde, das sich vor allem darin bekundet, daß die Vertiefung der phänomenologischen Methodik dazu führt, das phänomenologisierende Ich als ‚Schauendes’ in die phänomenologische Erfahrungssphäre – zunächst jedoch nicht als eigenständiges Thema – miteinzubeziehen. 23 Husserl gelangt in den zwanziger Jahren zu einem klareren Verständnis dieses Zusammenhangs zwischen dem methodisch-phänomenologisierenden Ich und der intersubjektiven Differenzierung der konkreten transzendentalen Sphäre. In einem Manuskript (um 1924), in dem er auf die frühe Reduktionstheorie und auf die Vorlesungen Grundprobleme der Phänomenologie kritisch zurückblickt, sagt er ausdrücklich, daß das „Vollzugssubjekt” der 22
In den Ideen I findet sich noch keine starke Betonung der Egologie, ebensowenig in der 1917 gehaltenen Freiburger Antrittsrede (XXV, 68ff.) und in den Aufsätzen aus diesem Jahr (XXV, 82ff., 125ff.). Der phänomenologische Boden, auf den die Reduktion führt, wird nicht ‚Ego’, sondern ‚reines Bewußtsein’ genannt. Die Londoner Vorträge von 1922 zeigen hingegen eine ausdrückliche Orientierung an der egologischen Phänomenologie (LV, 200ff. = XXXV, 311ff.). 23 In dieser Hinsicht soll nicht unerwähnt bleiben, daß Husserls Begriff der ‚Transzendentalität’ von dem traditionellen Begriff stark abweicht (vgl. Landgrebe 1973, 320). Husserl lehnt die traditionelle Definition des ‚Transzendentalen’ als ‚Allgemeines’ bzw. ‚Wesensnotwendiges’ ab. Das ‚transzendentale Bewußtsein’ ist für Husserl nicht das ‚Wesen’ des empirischen Bewußtseins (vgl. Mohanty 1985, 192, 211; Waldenfels 1971, 40), sondern die konkrete Sphäre der ‚phänomenologischen Erfahrung’, die der Wesenslehre vorausgeht und ihr erst ein ‚Arbeitsfeld’ bietet (IX, 345; Dok III/ 6, 458f.). Schon in der Grundprobleme-Vorlesung macht Husserl deutlich, daß die Phänomenologie nicht von vornherein als Wesenslehre zu betrachten ist (XIII, 111 Anm., 162 Anm., 174). Zum Unterschied von transzendentaler und eidetischer Reduktion vgl. Held 1985, 40f.
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transzendentalen Erfahrung „Ich selbst bin, als phänomenologisierendes und dabei anonymes Ich” (VIII, 432).24 Dabei fügt er hinzu, diese Bemerkung könnte den Anschein erwecken, daß es sich hier um eine Reduktion auf „mein privates Ich” (ebd., Anm.) bzw. „meine private Subjektivität” (VIII, 436) handeln würde. Dagegen betont er: Die durch die Reduktion gewonnene transzendentale Sphäre umspannt in ihrer vollen Konkretion nicht nur mein eigenes Sein und Leben, sondern auch das „Sein und Leben aller für mich Anderen” (ebd.), das sich von meinem streng unterscheidet. Das Leben aller Anderen ist nicht mein Leben, aber auch nicht eine unerfahrbare Hypothese. Es erweist sich nicht als originär Gegebenes oder zu Gebendes, sondern als sich in meinem Leben ‚Bekundendes’ bzw. „Gespiegeltes” (ebd.).25 In dieser eigentümlichen Erfahrungsweise sind auch die Anderen in der transzendentalen Erfahrungssphäre „gegeben”.26 Die Umwandlung der empirischen Erfahrung in die phänomenologische Erfahrung, die sich in den Vorlesungen Grundprobleme der Phänomenologie aus der ‚doppelten Reduktion’ ergab, versteht Husserl nun als die Methode, welche die Enthüllung (Explikation) der ‚intentionalen Implikationen’ ermöglicht (VIII, 434).27 In der Sphäre der phänomenologischen Erfahrung ist nicht nur meine Erfahrung des Anderen, sondern sind auch die Anderen als die erfahrenen und erfahrbaren ‚impliziert’, aber nicht in der Weise eines reellen Enthaltenseins, sondern in Form der ‚intentionalen Implikation’: „Wenn die Konstitution, die sich in mir vollzieht, als ‚daseiender fremder Mensch’, rein phänomenologisch betrachtet wird, so liegt in ihr nicht nur mein Erlebnissystem einstimmiger wirklicher und möglicher Einfühlung, sondern vergegenwärtigungsmäßig in Geltung ist dabei der Andere, aber als reine Subjektivität” (VIII, 435). Die transzendentale Gegebenheitssphäre ist also nicht mit meinem Erlebnisfluß gleichzusetzen.28 Die Reduktion besteht nicht darin, das ‚eigene’ Be24
Vgl. auch folgende Bemerkung aus dem Jahr 1929: „Die Phänomenologie beginnt als Wissenschaft des transzendental reduzierten Ego — meines, des phänomenologisch Philosophierenden” (III/2, 641). 25 Die Unterscheidung zwischen den „Gegebenheitsweisen” meines Lebens und des Lebens des Anderen bezeichnet Husserl als „die Unterscheidung zwischen zwei Grundarten der Erfahrung”, nämlich: „a) die in der Tat selbstgebende, das Erfahrene selbst in sich verwirklichende, b) die selbstbekundende, aber nicht selbstgebende” (XIV, 354). 26 Vgl. hierzu folgende Stelle aus der Ersten Philosophie: „[...] fremde Subjektivität ist mir im Bereich meines eigenen selbsterfahrenden Lebens, nämlich in selbsterfahrenden Einfühlungen, mittelbar, nicht ursprünglich gegeben, aber doch gegeben, und zwar erfahren” (VIII, 176). Husserl betrachtet den Anderen weder als unmittelbar erfahrbar noch als völlig unerfahrbar; beide Auffassungen führen offenbar zu widersinnigen Konsequenzen. 27 Vgl. dazu auch besonders VIII, 436 Anm. 28 In dieser Hinsicht blickt Husserl kritisch auf die frühe Reduktionstheorie zurück: „Dabei betonte ich ursprünglich zu sehr in dieser Reduktion den Bewußtseinsstrom, als ob es sich um Reduktion darauf handle” (VIII, 433). Der späte Husserl versäumt es nicht, auf diese Ver-
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wußtsein von allen anderen herauszunehmen, als ob dieses Verfahren es von Anfang an als Zielgebiet vor Augen hätte, auf das reduziert werden sollte. Vielmehr stellt die Reduktion – wie im letzten Kapitel gezeigt wurde – eine Konsequenz der Evidenzlehre dar, die eine Befreiung des Sehens von seinen vorurteilsmäßigen Einschränkungen ermöglicht. Das erste ‚non-egologische’ Ergebnis der Reduktion ist als eine unbestimmte, ‚stumme Konkretion’29 zu betrachten, deren intersubjektive Implikation noch nicht expliziert ist. Eine konsequente Auslegung dieser Konkretion führt „von selbst zur Wissenschaft von der in mir sich transzendental bekundenden fremden — transzendentalen — Subjektivität” (III/2, 641). Dabei ist im Geltungssinn des Phänomens ‚Anderer’ wesentlich impliziert, daß auch für den Anderen als ‚fremde transzendentale Subjektivität’ alles gilt, was für mich selbst als transzendentales Ich gilt. Daraus folgt eine ‚monadologische’ Konzeption der transzendentalen Intersubjektivität. Die Anderen sind ‚in mir’ impliziert als andere transzendentale Ich, die als solche mich selbst implizieren als das sie Implizierende: „Die Anderen [...] sind in mir impliziert als andere Ich, und jedes untrennbar von jedem” (VIII, 439); „In mir impliziert [sind] die Anderen als ineinander impliziert, und ich in ihnen wieder impliziert [...]” (XV, 200). Diese ‚wechselseitige Implikation’ bzw. ‚Spiegelung’ wird als die fundamentale Struktur der transzendentalen Subjektivität herausgestellt. Demgemäß läßt sich sagen: Die transzendentale Subjektivität ist immer schon transzendentale Intersubjektivität.30 Im allgemeinen betont die Reduktionstheorie der zwanziger Jahre, daß der zunächst solipsistisch erscheinende Vollzug der phänomenologischen Reduktion in weiterer Folge notwendig zur intersubjektiven Reduktion führt.31 Dabei ergibt sich, daß die vollentwickelte Phänomenologie eine monadologische Gestalt haben muß, die durch ‚wechselseitige Implikation’ der monadischen Subjektivitäten charakterisiert ist.32 Nach dem bisher Gesagten wechslung wiederholt aufmerksam zu machen: „Durch die transzendentale Methode entdecke ich meine ‚transzendentale Subjektivität’. Aber zunächst heisst das nicht: mein primordiales Eigensein, was zu bezeichnen ist als eine für den Anfänger fast unvermeidliche Verwechslung” (XV, 368). 29 Vgl. VI, 191; I, 77; XV, 17; XXXIV, 203; Dok II/1, 203. 30 Vgl. dazu Kerns Einleitung des Herausgebers zu XV, XXXIII. 31 Vgl. I, 35, 69f.; V, 153; VIII, 173ff., 433ff.; IX, 245f., 283f., 320f., 345; XVII, 244ff.; Ms. B III 8/ 11a, b. Charakteristisch ist z. B. folgende Stelle aus einem Brief an Ingarden (1924): „[...] die Ph<änomenologie> ist nur scheinbar solipsistisch, die volle transc<endentale> Reduktion ergibt, über das Ego hinaus, das mit ihm in Gemeinschaft stehende offene Ich-All” (Dok III/3, 224). 32 Vgl. VIII, 190, 505f.; I, 176f.; XV, 194, 366, 370, 377, 382ff., 587ff., 635; Dok III/3, 486. Husserl zeigt, daß die Welt – bezogen auf die Vielheit der transzendentalen Subjektivitäten – wesentlich in einer monadologischen Perspektivität erscheint. Das intersubjektiv vielfältige Erscheinen der ‚einen’ Welt ist dabei vermittelt durch die identische Natur als die ‚Idee’ für alle Erfahrungen: „Das Absolute, auf das sich die Welt reduziert, ergibt sich als eine absolute
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steht außer Zweifel, daß Husserl die ‚Monadologie’ nicht aus metaphysischen Gründen eingeführt hat. Sie ist im Gegenteil nichts anderes als eine weitere Konsequenz der phänomenologischen Reduktion, die sich durch das ‚Schauen’ bestimmt: Nur wenn ‚ich selbst’ – nicht ein allgemeines, neutrales, niemandes Ich – ‚schauend’ phänomenologisiere, können die Anderen im echten Sinne als ‚transzendentale Andere’ enthüllt werden. Diese Auffassung ermöglicht es, die sogenannte ‚Erweiterung’ der egologischen zur intersubjektiven Reduktion angemessen zu verstehen. ‚Erweiterung’ besagt nicht, daß die Reduktion zunächst die ‚egologische’ Sphäre als ein begrenztes Teilgebiet des Ganzen entdecken und dann die anderen Teilgebiete weiter enthüllen würde. Vielmehr führt der konsequente Vollzug der Reduktion dazu, daß die einzige transzendentale Dimension, die am Anfang tendenziell mit ‚meiner’ transzendentalen Subjektivität naiv gleichgesetzt wird, bereits die anderen transzendentalen Subjektivitäten in der Weise der ‚Implikation’ in sich birgt. In dieser Hinsicht weist Husserl auf die ‚Zweideutigkeit’ der transzendentalen Subjektivität hin: „‚Reduktion auf transzendentale Subjektivität’, das wird sich als zweideutig erweisen. Die in der Epoché setzbare Subjektivität wird zu verstehen sein als ‚meine monadisch eigene’, des phänomenologisierenden Ich monadisch eigene Subjektivität, und als die in dieser sich erschliessende transzendentale Intersubjektivität” (XV, 73). Statt als ‚Erweiterung’ ist die intersubjektive Reduktion ist also eigentlich als ‚Vertiefung’ der Reduktion zu charakterisieren, in der die transzendentale Subjektivität zu einem vertieften Selbstverständnis gelangt:33 „So erweitert sich die transzendentale Subjektivität zur Intersubjektivität oder vielmehr, eigentlich gesprochen, erweitert sie sich nicht, sondern es versteht sich selbst nur die transzendentale Subjektivität besser. Sie versteht sich selbst als primordiale Monade, die in sich andere Monaden intentional trägt, sie darin als transzendentale Andere notwendig [...] setzen muss” (XV, 17).
Vielheit von Egos, die einander in dieser orientierten Weise erscheinen und einander des Näheren nur erscheinen können mittels einer Natur, sich ausdrückend in Leibern in der Natur” (LV, 239 = XXXV, 283); auch VIII, 189f.; I, 36, 176, 182; XIV, 244ff.; XV, 192ff., 362ff., 586ff.; XXXV, 304, u.v.a. Auf die Struktur der Husserlschen Monadologie kann hier nicht näher eingegangen werden; vgl. dazu Meist 1980; Strasser 1975; ders. 1989; Nitta 1978a; ders. 1978b, 142ff.; Cristin 1990; Römpp 1992; Iribarne 1994; Zahavi 1996, 53ff.; Tani 1998, 602ff. 33 Vgl. dazu Kerns Einleitung des Herausgebers zu XV, XXXIII.
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2.3 Die Bedeutung der egologischen und intersubjektiven Umwendung: Rück- und Ausblick Blicken wir nun auf die bisherigen Untersuchungen zurück: Zuvor wurden die phänomenologische Reduktion und ihre Schritte bedacht. Historisch ist Husserls Weg von einer ‚non-egologischen’ Position ausgegangen, die das Ergebnis der Reduktion als ein ‚unbestimmtes’ Absolutes interpretierte. Die Vorlesungen Grundprobleme der Phänomenologie vollzog einen Durchbruch, indem sie durch die konkrete Analyse der ‚phänomenologischen Erfahrung’ – insbesondere durch die Analyse der reduzierten ‚Einfühlung’ – zur Vielheit der transzendentalen Ich geführt wurde. Dabei rückte das Problem des ‚phänomenologisierenden Ich’ unvermeidlich in den Vordergrund, das die phänomenologische Untersuchung schon implizit bestimmt hatte. Dies ist als einer der entscheidenden Gründe zu betrachten,34 warum sich die frühe Konzeption der transzendentalen Phänomenologie zur Umbildung gezwungen sah: Sie wird nun als ‚egologische’ und zugleich als ‚intersubjektive’ Phänomenologie gekennzeichnet. Diese von Husserl mühsam vollzogenen historischen Schritte werden in den zwanziger Jahren mit vollem Methodenbewußtsein etabliert. Den Texten dieser Zeit ist zu entnehmen, daß sich folgende drei Schritte als maßgeblich herauskristallisierten: (1) Die phänomenologische Reduktion führt zuerst zur Sphäre der transzendentalen Erfahrung als ‚unbestimmter Konkretion’. (2) In dieser Sphäre der transzendentalen Erfahrung werden die konkreten sachlichen Analysen der ‚Einfühlung’ durchgeführt. (3) Dadurch kommt die Phänomenologie innerhalb der phänomenologisch gewonnenen transzendentalen Sphäre zur Thematisierung der transzendentalen Intersubjektivität und in eins damit zu einem vertieften Selbstverständnis des phänomenologisierenden Ich. Eine Stelle der Pariser Vorträge (1929) bestätigt, daß Husserl diese Schritte klar vor Augen hatte: „[1] Das erste ego, auf das die transzendentale Reduktion führt, entbehrt noch der Unterscheidungen zwischen dem Intentionalen, das ihm ursprünglich eigen ist, und dem, was in ihm Spiegelung des alter ego ist. [2] Es bedarf erst einer weitgeführten konkreten Phänomenologie, [3] um die Intersubjektivität als transzendentale zu erreichen. Aber es zeigt sich dabei doch, daß für den philosophierend Meditierenden sein ego das ursprüngliche ego ist und daß die Intersubjektivität dann in weiterer Folge für jedes erdenkliche ego als alter ego wieder nur denkbar ist als in ihm sich spiegelnde” (I, 35).
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Als ein anderer Grund ist die Neuentwicklung in bezug auf die Analyse der ‚Einheit des Bewußtseinsstroms’ zu nennen, die Marbach herausarbeitet (Marbach 1974, 74ff.).
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Ähnliche Aussagen finden sich an verschiedenen Stellen aus den zwanziger Jahren.35 Die Phänomenologie der zwanziger Jahre kulminiert, was ihre Gesamtkonzeption angeht, in der ‚monadologischen’ Intersubjektivitätstheorie, was auch aus dem Schlußwort der Vorlesung Erste Philosophie hervorgeht: „[...] das gesamte absolute Sein ist das des Universums transzendentaler Subjekte, die miteinander in wirklicher und möglicher Gemeinschaft stehen. So führt die Phänomenologie auf die von Leibniz in genialem aperçu antizipierte Monadologie” (VIII, 190). Das stimmt mit folgender Passage der Cartesianischen Meditationen überein: „Das an sich erste Sein, das jeder weltlichen Objektivität vorangehende und sie tragende, ist die transzendentale Intersubjektivität, das in verschiedenen Formen sich vergemeinschaftende All der Monaden” (I, 182).36 Ist nun die ‚monadologische Intersubjektivität’ das letzte Wort der Phänomenologie? In bezug darauf drängt sich die Frage auf, wie die Bemerkung über das ‚Ur-Ich’ in der Krisis zu verstehen ist. Dies motiviert die Überlegungen des zweiten Teils der vorliegenden Untersuchung. Im Hinblick darauf kann man noch weitere gezielte Fragen stellen: Ist der bisher beschriebene Gedankengang tatsächlich zur ‚echten’ Intersubjektivität gelangt? Denn die vorhin zusammengefaßten drei Schritte fangen doch mit einer ‚Selbstbesinnung’ des phänomenologisierenden Ich an, und die Enthüllung der monadologischen Intersubjektivität läßt sich durch eine Vertiefung des Selbstverständnisses der transzendentalen Subjektivität kennzeichnen,37 das letztlich von ‚mir’, der ich jetzt phänomenologisiere, durchgeführt werden muß. Kann man in der Tat auf diese Weise den solipsistischen Rahmen sprengen? Wie kann man das phänomenologisierende Ich verstehen, das die ganze Phänomenologie von Grund auf bestimmt und dennoch vom Solipsismus befreit sein soll? Warum hat Husserl – wie den bisher zitierten Texten zu entnehmen ist – bei der Problematisierung der Intersubjektivität immer wieder die Bedeutung des phänomenologisierenden Ich betont?
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In der ersten Fassung der Fünften Meditation (1929) heißt es: „Das nach der transzendentalen Reduktion zunächst gesetzte transzendentale ego ist eben noch unbestimmt, es entbehrt noch der Unterscheidungen, die doch wesensmässig in ihm selbst liegen, es versteht noch nichts von der transzendentalen Intersubjektivität, die in ihm als einem vorausgesetztermassen eine objektive Welt erfahrenden ego intentional beschlossen sein muss” (XV, 17). auch IX, 345; III/2, 641; I, 175f. 36 Die Cartesianischen Meditationen wurden 1929 geschrieben (Vgl. Strassers Einleitung des Herausgebers zu I, XXVI) und gehören inhaltlich gesehen noch zum Gedankenkreis der zwanziger Jahre. 37 Im „Schlußwort” der Cartesianischen Meditationen heißt es: „Der notwendige Weg zu einer im höchsten Sinne letztbegründeten Erkenntnis oder, was einerlei ist, einer philosophischen ist der einer universalen Selbsterkenntnis, zunächst einer monadischen, und dann intermonadischen” (I, 182); vgl. auch I, 102f. Auch das Augustin-Zitat, mit dem Husserl die Meditationen schließt, betont die Richtung auf die ‚Selbstbesinnung’ (I, 183).
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Diese Fragen sollen im zweiten Teil eingehend behandelt werden. Um dies vorzubereiten, muß das Problem des phänomenologisierenden Ich noch von einem anderen wichtigen Aspekt betrachtet werden, nämlich im Hinblick auf das ‚reine Ich’.
3 ‚REINES’ UND ‚PHÄNOMENOLOGISIERENDES’ ICH: REINHEIT UND FAKTIZITÄT Die ‚Entdeckung’ des reinen Ich stellt eine charakteristische Errungenschaft der zwanziger Jahre dar, die mit der Thematisierung der transzendentalen Intersubjektivität parallel läuft. Im folgenden werde ich versuchen, das Verhältnis zwischen dem reinen Ich und dem phänomenologisierenden Ich in seinen Hauptlinien herauszuarbeiten. 38 Dabei gilt es erstens zu skizzieren, wie das reine Ich als neue Gegebenheit entdeckt wird. Im Anschluß daran werde ich zweitens verdeutlichen, was das reine Ich eigentlich bedeutet, wobei vor allem sein spezifischer Evidenzcharakter zu berücksichtigen ist. Aufgrund dessen soll drittens herausgestellt werden, daß eine genaue Analyse des reinen Ich die eigentümliche Bedeutung des ‚phänomenologisierenden Ich’ sichtbar macht. Aus dieser Perspektive wird die Notwendigkeit der egologischen Wende der Phänomenologie nachvollziehbar gemacht.
3.1 Die ‚Entdeckung’ des reinen Ich als neuartiger Gegebenheit Wenn Husserl nachdrücklich bemerkt, daß sein Begriff des reinen Ich nichts mit irgendeiner Ichmetaphysik zu tun hat, ist das nicht als leeres Wort zu betrachten. Bekanntlich ist er in der frühen Zeit der Logischen Untersuchungen von einer scharfen Kritik am Begriff des reinen Ich ausgegangen. Dort heißt es, daß er es als notwendiges Beziehungszentrum des Bewußtseins „schlechterdings nicht zu finden vermag” (XIX/1, 374). Das reine Ich, das nicht zum Gegenstand zu machen ist, scheint Husserl damals nur metaphysisch konstruierbar, also phänomenologisch gar nicht feststellbar zu sein. Husserl beginnt aber zur Zeit der Ideen damit, von dem ‚reinen Ich’ positiv zu sprechen. Das besagt allerdings nicht, daß er ein nur spekulativ konstruierbares Ich als metaphysisches Prinzip einführen wolle. Husserls Grundhaltung, daß nur das ‚sich phänomenologisch Gebende’ anzuerkennen sei, bleibt unverändert, was auch aus dem bekannten „Prinzip der Prinzipien” in den Ideen I (III/1, 51) hervorgeht. Dies bestätigt auch die Anmerkung 38
Auf Details der Lehre vom ‚reinen Ich’ kann ich hier nicht eingehen. Vgl. dazu Broekman 1963, 188ff.; Marbach 1974, 98ff.; Heinsen 1982; Mensch 1988, 80ff.; Benoist 1994, 13ff.; Sakakibara 1997.
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zur zweiten Auflage der Logischen Untersuchungen (1913), in der die Ablehnung des reinen Ich in der ersten Auflage widerrufen wird: „Inzwischen habe ich es [= das reine Ich] zu finden gelernt, bzw. gelernt, mich durch Besorgnisse vor den Ausartungen der Ichmetaphysik in dem reinen Erfassen des Gegebenen nicht beirren zu lassen” (XIX/1, 374 Anm.). Hier ist ein entscheidender Schritt getan, wenn Husserl die phänomenologische ‚Gegebenheit’ nicht mehr auf die Gegenstände und die Erlebnisse – die cogitata und die cogitationes – einschränkt, sondern eine völlig andere Art der ‚Gegebenheit’ als phänomenologische anerkennt, die weder mit dem gegenständlichen empirischen Ich identifizierbar noch auf die reellen Erlebnisse reduzierbar ist. Husserl betont in den Ideen I, „daß wir nach Durchführung dieser Reduktion in dem Flusse mannigfacher Erlebnisse, der als transzendentales Residuum übrig bleibt, nirgends auf das reine Ich stoßen werden” (III/1, 123). Diese ‚Nicht-Vorfindlichkeit’ des reinen Ich, die in den Logischen Untersuchungen kritisch angeführt wurde, wird nun in eine positive Bestimmung umgewandelt. Die ‚Entdeckung’ des reinen Ich ist methodisch gesehen als Überwindung einer Naivität zu betrachten, mit der die anfängliche Phänomenologie behaftet blieb. Zu Beginn richtet sich das Interesse des Phänomenologen naturgemäß auf Akte und Erlebnisse sowie auf ihre mannigfaltigen Korrelationen mit dem Gegenständlichen (VI, 186). Das ‚Ich’ kann daher – wie Husserl wiederholt betont – in der Phänomenologie erst sehr spät thematisiert werden.39 Der betrachtende Blick, der bisher an das primär Vorzufindende gefesselt war, löst sich nun von dieser Bindung und gewinnt eine neue ‚Sicht’ auf eine bisher nicht gesehene, aber dennoch ständig durchlebte Dimension. Da es hier aber um das ‚Ich’ geht, kann diese Befreiung der neuen ‚Sicht’ keine bloße Entdeckung einer neuen Objektivität bedeuten: Die neue Dimension fordert vielmehr, daß mitten in seinem Vollzug der reflektierende Blick selbst einer neuen Blickrichtung inne wird, die eine wesentlich andere ist als die bisher bekannten Richtungen auf die cogitata und die cogitationes.40
3.2 Die einfache ‚Selbstverständlichkeit’ und die ‚Nähe’ des reinen Ich Die neuartige Gegebenheit des reinen Ich muß nun näher charakterisiert werden. Jene ‚Unscheinbarkeit’ des reinen Ich weist zunächst darauf hin, daß mein Ich für mich selbst als den phänomenologisch Betrachtenden nichts anderes ist als meine ‚Nähe’ selbst, die ich nicht ‚aus der Distanz’ be39 40
Vgl. VI, 173ff., 182f., 186; I, 100; V, 158f. Vgl. V, 113; XIV, 49.
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obachten kann. Jede gegenständliche Erkenntnis von meinem Ich setzt das ‚reine Ich’ voraus, sofern sie ‚von mir selbst’ vollzogen wird. Man darf sich aber durch diese ‚Ungegenständlichkeit’ des reinen Ich nicht zu einer metaphysischen Spekulation hinreißen lassen. Für Husserl ist das reine Ich nicht das Resultat eines logisch konstruierenden Schlusses. Die Schwierigkeit, das reine Ich zu thematisieren, ist vielmehr ein Indiz dafür, daß es sich hierbei um eine tiefe ‚Selbstverständlichkeit’ handelt: Das reine Ich ist mir zwar ‚bewußt’, aber auf eine ‚allzu vertraute’ Weise, so daß ich es im natürlichen Lebensvollzug überhaupt nicht thematisch im Sinn haben muß. Das reine Ich stellt die ‚mir nächste’, ‚selbstverständlichste’ Gegebenheit dar, der eine Art Evidenz entspricht. Sein Charakter der ‚Nähe’ und ‚Selbstverständlichkeit’ erinnert an die ‚absolute Evidenz’, die im II. Kapitel ausgeführt wurde. In der Tat finden sich Stellen, in denen Husserl dem reinen Ich den Rang der ‚adäquaten Evidenz’ zuschreibt.41 Die Cartesianische Evidenz kommt nun nicht mehr allein den cogitationes, sondern auch dem reinen Ich zu.42 Ich kann mich über meine empirischen Bestimmungen (Name, Alter, Größe etc.) täuschen, aber mein einfaches ‚Ich-Sein’ kann sich nicht ‚als falsch’ erweisen, auch wenn alle meine Urteile und Vermeinungen über mich falsch wären; ich könnte dabei immer noch ‚ich’ sagen (‚Ich habe alles vergessen’, ‚Ich bin ein völlig Anderer geworden’ usw.). Die Evidenz des reinen Ich ist diese höchst selbstverständliche, ‚einfache’ Evidenz, die aber deswegen sehr schwer zu thematisieren ist. Seine ‚Einfachheit’ ist radikaler als diejenige der cogitationes, sofern diese noch inhaltliche Komponenten haben. Das reine Ich ist hingegen „völlig leer an Wesenskomponenten, es hat gar keinen explikabeln Inhalt, es ist an und für sich unbeschreiblich: reines Ich und nichts weiter” (III/1, 179).43 Im Gegensatz zum perspektivisch sich darstellenden Gegenstand ist das reine Ich „keiner Konstitution durch ‚Mannigfaltigkeiten’ fähig und bedürftig” (IV, 111). Es gibt sich immer schon ‚restlos’, nämlich „in absoluter Selbstheit” (IV, 105); es hat ‚nichts in sich zu verbergen’: „Als reines Ich birgt es keine verborgenen inneren Reichtümer, es ist absolut einfach, liegt absolut zutage” (IV, 105).44 Die ‚Identität’ des reinen Ich muß aufgrund dieser ‚extremen Einfachheit’ verstanden werden und ist von der Identität der Person streng zu unterunterscheiden: 45 Die Identität der Person ist eine objektiv feststellbare Einheit, 41
Vgl. IV, 105 (auch 101, 111); Ms. F III 1/ 6a (zitiert in Marbach 1974, 208f.). Vgl. IV, 103, 97. 43 Vgl. ebenso: „Ein Ich hat keine generelle sachhaltige Eigenart; es ist an solcher gänzlich leer. Es ist bloss ego des cogito, das den ganzen Gehalt abgibt, und bezogen auf einen Erlebnisstrom, dem gegenüber es auch unselbständig ist, wie auch umgekehrt” (XIV, 23); sowie XIV, 29, 43; XXXIII, 280. 44 Diese Charakterisierung des reinen Ich stimmt überein mit der Bestimmung der adäquaten Evidenz als „prinzipiell nicht mehr zu ‚bekräftigende’ oder zu ‚entkräftende’” (III/1, 321). Die ‚Selbstwahrnehmung’ des reinen Ich enthält keine Leerintention, die noch zu erfüllen ist. 42
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der bestimmte Bewährungsmöglichkeiten entsprechen,46 d.h. eine sich zeitlich extendierende Einheit, die als solche auf angemessene Weise konstituiert und etabliert werden muß. Im Gegensatz dazu stellt die ‚Identität’ des reinen Ich keine sich in der Zeit erstreckende Einheit dar.47 Das reine Ich kann sich nicht zeitlich verändern, da es wegen seiner inhaltsleeren ‚Einfachheit’ keine differente Phasen haben kann, die den jeweiligen Zeitpunkten entsprechen: „[...] was dauert, hat in jeder Phase der Dauer einen neuen Gehalt, das Ich aber hat in der Zeit gar keinen Gehalt, nichts Verschiedenes und nichts Gleiches [...]” (XXXIII, 280).48 Die ‚Unveränderlichkeit’ des reinen Ich darf also nicht als eine mit sich selbst gleichbleibende Dauer interpretiert werden. Das reine Ich ist zwar ‚beständig da’, aber nicht so, wie etwa „ein in stupider Identität fortdauerndes Tonempfinden” (III/2, 562).49 Die ‚Identität’ des reinen Ich ist also nicht aufgrund des Denkschemas ‚Veränderung und Unveränderung’ zu begreifen, das bereits ‚Extension’ überhaupt voraussetzt, die aus Phasen besteht. Da das reine Ich keine zeitlich bestimmte Extension haben kann, kann es auch in der Zeit nicht ‚entstehen und vergehen’:50 „Das Ich ist ‚stehendes und bleibendes’ Ich, es ist nicht entstehend und vergehend wie ein Erlebnis. Es ist nicht ein zeitlich Extendiertes [...]” (XXXIII, 280). In diesem Sinne schreibt Husserl dem reinen Ich eine eigentümliche ‚Unzeitlichkeit’ zu. Das reine Ich ist als ein notwendiges Korrelat der immanenten Zeit zu betrachten, dessen Konstitution mit derjenigen der immanenten Zeit gleichursprünglich ist. Es ist „als identisches in dieser immanenten Zeit” (IV, 103) gegeben, tritt aber nicht innerhalb des immanenten Zeitstroms auf, da es mit diesem untrennbar eins ist. Man könnte sagen, daß das reine Ich sich deswegen nicht in ihm zeigt, weil es – mit Broekman gesprochen – die immanente Zeit ist.51 Das reine Ich ist zwar vom immanenten Zeitstrom untrennbar, aber als der ‚nächste Standpunkt’ meiner Erfahrung ‚diesseits’ alles in diesem Strom Erscheinenden und Erfahrenen gegeben. Dies wird eindrucksvoll in den 45
Zu dieser Unterscheidung vgl. auch Ms. A VI 8 I (zitiert in Marbach 1974, 156 Anm. 68); auch Orth 1999, 90ff. 46 Vgl. IV, 110f.; XIV, 43f. 47 Vgl. auch folgende prägnante Formulierung: „Das Ich als reines Ich ist absolut identisch dasselbe, zu jedem Punkt dieser [immanenten] Zeit gehörig, und doch nicht gedehnt” (XIV, 43). 48 Vgl. auch XIV, 42, 50. 49 So heißt es auch in den Ideen I: „[...] diese Beständigkeit [des reinen Ich] ist offenbar nicht die eines stupide verharrenden Erlebnisses, einer ‚fixen Idee’” (III/1, 123). 50 Vgl. III/1, 123; IV, 103; XXXIII, 280. Husserl sagt, daß es seinen „Auftritt” und „Abgang” hat, damit meint er aber nur, daß die spezifische Funktion des reinen Ich aktuell oder potentiell sein kann (vgl. IV, 103f., 107f.). 51 Broekman 1963, 193.
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Bernauer Manuskripten von 1917 wie folgt beschrieben: Beim reinen Ich geht es um „das Ich, für das sich die Zeit konstituiert, für das Zeitlichkeit, individuell singuläre Gegenständlichkeit in der Intentionalität der Erlebnissphäre da ist, das aber nicht selbst zeitlich ist. In diesem Sinn ist es also nicht ‚Seiendes’, sondern Gegenstück für alles Seiende, nicht ein Gegenstand, sondern Urstand für alle Gegenständlichkeit” (XXXIII, 277). Wenn aber das reine Ich als „Urstand” bezeichnet wird, droht eine Hypostasierung. 52 Sogleich weist Husserl auf die Gefahr hin, durch die sprachliche Verbildlichung eine scheinbare Substanz zu beschwören: „Das Ich sollte eigentlich nicht das Ich heißen, und überhaupt nicht heißen, da es dann schon gegenständlich geworden ist. Es ist das Namenlose über allem Fassbaren, über allem nicht Stehende, nicht Schwebende, nicht Seiende, sondern ‚Fungierende’, als fassend, als wertend usw.” (XXXIII, 277f.).53 Dieses Zitat zeigt, daß die zeitliche ‚Unerscheinbarkeit’ des reinen Ich aus seiner radikalen ‚Nähe’ resultiert. Das reine Ich ist deswegen nicht im immanenten Erfahrungsfeld zu finden, weil ich es näher durchlebe als jedes im Zeitfeld Vorfindliche für mich. Daraus folgt, daß die eigentümliche ‚Unzeitlichkeit’ des reinen Ich von der ‚Allzeitlichkeit’ der eidetischen Gegebenheit (des Wesens) streng zu unterscheiden ist.54 Denn die eidetische Gegebenheit ist zwar etwas Nicht-Reales, aber doch ein im erweiterten Sinne ‚Vorfindliches’, das ich als Gegenstand erkenne.
3.3 Der ‚faktische’ Vollzug der Ich-Evidenz und das phänomenologisierende Ich Nachdem die Gegebenheit des reinen Ich durch seine ‚Nähe’ und ‚selbstverständliche’ Evidenz gekennzeichnet wurde, liegt nun die Frage nahe, auf welche Weise die Thematisierung des reinen Ich zur ‚egologischen Wende’ der Phänomenologie beiträgt. Denn die Anerkennung des reinen Ich besagt nicht ohne weiteres die ‚Egologisierung’ der Phänomenologie: Das reine Ich wird nämlich in den Ideen I zwar als phänomenologisches Thema anerkannt, ihm wird aber noch keine zentrale Bedeutung für die Konzeption der gesamten
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Zu Husserls Kritik an der Hypostasierung des Ich vgl. VII, 103ff.; XXXIV, 189. Zum fundamentalen Unterschied zwischen Gegebenheiten des reinen Ich und des Gegenstandes vgl. auch XIV, 30, 51; III/2, 562; XXXIII, 287; XXXV, 92. Die ‚Namenlosigkeit’ des Ich wird auch in der Vorlesung Einleitung in die Philosophie von 1922/23 erwähnt: „Für das spezifisch Ichliche haben wir leider keinen Namen” (XXXV, 91). 54 In dieser Hinsicht ist es irreführend, daß Husserl das reine Ich als „allzeitlich” (XXXIII, 286; VIII, 471f.) oder „überzeitlich” (XXXIII, 277) bezeichnet. Denn Husserls späterer Terminologie zufolge beziehen sich die beiden Termini spezifisch auf die Wesensallgemeinheiten (vgl. EU, 309ff., bes. 313; Held 1966, 49ff.). 53
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Phänomenologie zugeschrieben.55 Im folgenden werde ich zeigen, daß ‚Selbstbezüglichkeit’, ‚Selbstverantwortlichkeit’ und ‚Faktizität’ der egologischen Evidenz als die entscheidenden Aspekte zu betrachten sind, welche die fragliche egologische Wende motivieren. Dabei wird auch die besondere Bedeutung des ‚phänomenologisierenden Ich’ hervortreten. 3.3.1 Die Notwendigkeit des jeweiligen Selbstvollzugs der Ich-Evidenz Die Evidenz des reinen Ich kann zwar zunächst als eine notwendige Struktur des Bewußtseins herausgestellt werden, die unabhängig von dem Bewußtseinsinhalt identisch bleibt. Aber die Evidenz des reinen Ich kann nicht als bloß objektive Evidenz bestehen. Diese hat den Charakter, nur im schlichten Selbstbezug bewährt werden zu können. Von der ‚Gegebenheit’ des reinen Ich kann auch auf leer-symbolische Weise gesprochen werden. Wenn sie aber zur letzten Evidenz gebracht werden soll, muß ich mich letztlich auf das adäquate ‚Schauen’ berufen, in dem ich das reine Ich als dasjenige Ich erfasse, das ich selbst bin. Die Evidenz des reinen Ich ist in bezug auf den Anderen nicht unmittelbar zu bewähren; ich kann die Evidenz der ‚Nähe’ eines anderen Ich nicht anstelle von ihm feststellen. „Die reinen Ich” sind, so Husserl, „aus der originären Gegebenheit jedes cogito, in dem sie fungieren, originär und in absoluter Selbstheit zu entnehmen”, dabei aber „monadisch voneinander gesondert” (IV, 111). Dieses monadische Ich ist „in ursprünglicher Erfahrung (der phänomenologischen Selbstschauung) für sich selbst und nur für sich erfahrbar” (LV, 237 = XXXV, 335). Das schließt zwar nicht aus, daß ich die Evidenz des reinen Ich im allgemeinen Sinn verstehen und mich darüber mit anderen verständigen kann. Ich schöpfe aber dieses Verständnis letztlich aus ‚meiner’ Einsicht, die ich nur durch meinen eigenen Vollzug der Selbstwahrnehmung gewinnen kann. Ohne selbst ein Ich zu sein und dessen bewußt zu sein, könnte ich überhaupt nicht verstehen, worum es überhaupt bei der fraglichen Evidenz geht. Die Evidenz des reinen Ich impliziert also in ihrem Sinn, daß sie als Evidenz der ‚Nähe’ nur durch die Bestätigung des betreffenden Ich selbst den Rang adäquater Evidenz genießen kann. Getrennt von diesem Selbstvollzug verlöre sie sofort die Bedeutung der adäquaten Evidenz, da es keinen objektiven Anhaltspunkt gäbe, an dem sie objektiv geprüft werden kann. Jene extreme ‚Einfachheit’ und Inhaltslosigkeit des reinen Ich besagt, daß von ihm 55
Vgl. III/1, 124, 180. Das Ich tritt aber spätestens Anfang der zwanziger Jahre unverkennbar in den Vordergrund; vgl. insbesondere Londoner Vorträge (LV, 200ff. = XXXV, 311ff.); zur Bedeutsamkeit dieser Vorträge vgl. die „Einleitung” von Goossens (LV, 183ff.; XXXV, XXIff.). In den thematischen Analysen zum reinen Ich in den Ideen II wird diese Neuentwicklung vorbereitet (IV, 97ff., 297ff.). Nach Ingarden sei Husserl schon 1916 „sich der Wichtigkeit des Problems der Identität des reinen Ich vollkommen bewußt” gewesen (Ingarden 1968, 132).
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eigentlich nichts objektiv zu bestätigen ist. Diese Evidenz kann weder bekräftigt noch korrigiert werden, da sie über keinen variierbaren Inhalt verfügt. Sie kann nur im einfachen Selbstvollzug des ‚Ich bin, ich lebe’ bzw. ‚Ich fungiere’ bestehen: „[...] sowie ich auf das strömende Leben in seiner wirklichen Gegenwart hinblicke und mich selbst dabei als das reine Subjekt dieses Lebens fasse (...), sage ich schlechthin und notwendig: Ich bin, dieses Leben ist, Ich lebe: cogito” (III/1, 96f.). Zum reinen Ich gibt es also keinen anderen Zugang als das unmittelbare Erfassen bzw. ‚Schauen’ des betreffenden Ich von sich selbst.56 Diese notwendige Selbstbezüglichkeit besagt, daß das ‚phänomenologisierende Ich’, das sich selbst im lebendigen Fungieren ‚schaut’, in die Evidenzbetrachtung und -beschreibung notwendig miteinzubeziehen ist. Es geht hier nicht um das Ich überhaupt, das etwa eidetisch zu objektivieren ist, da es seine Evidenz letztlich aus der Evidenz meines Ich-Seins schöpfen muß; nirgendwo anders als in ihm kann ich die Erfüllung der betreffenden Evidenz finden. Die unersetzbare Stellung dieses ‚faktisch’ phänomenologisierenden Ich gewinnt tatsächlich in der egologisch umgeformten Phänomenologie der zwanziger Jahre zunehmend an Aufmerksamkeit. Die Ich-Rede, die schon die Erörterungen der frühen Phänomenologie implizit mitbestimmte, wird jetzt mit einem klaren methodischen Bewußtsein verwendet. Angesichts des ‚Anfangs’ der phänomenologischen Besinnung stellt Husserl klar: „Wir müssen jetzt die Ichrede bevorzugen und jeder innerlich Teilnehmende ist das Ich, von dem dabei gesprochen ist” (LV, 204 = XXXV, 315).57 Das besagt, daß „jeder für sich selbst” (XXXV, 93) die phänomenologische ‚intuitive’ Betrachtung innerlich vollziehen muß, bevor er sich über ihre Ergebnisse mit anderen verständigen kann. Daraus folgt zugleich, daß „nach phänomenologischer Reduktion, die wir einzeln in uns vollziehen, die Gemeinsamkeit außer Spiel gesetzt” bleibt (XXXV, 94).58 Darin zeigt sich bereits das Problem der eigentümlichen ‚Einzigartigkeit’ und „philosophischen Einsamkeit” (VI, 188) des phänomenologisierenden Ich, das später im Zusammenhang mit dem ‚Ur-Ich’ näher analysiert werden soll. Das phänomenologische Denken ist also nicht mehr ein ‚niemandes Denken’, sondern notwendig ‚mein’ Denken, das ‚jeder für sich selbst’ vollziehen muß. Die Evidenz als ‚Ankergrund’ der Phänomenologie wird nun 56
Zu diesem Punkt vgl. auch Smid 1978, 60ff. Vgl. auch XXXV, 64, 75 (=LV, 212). 58 Vgl. ebenso: „Jetzt aber, als Philosoph des Anfangs, ist jedes Alterego für mich eingeklammert, also stehe ich vor der Aufgabe, eine Egologie als Wissenschaft auf dem Boden meines eigenen Ego, und zwar im Rahmen seiner, dieses Ego, apodiktischen Gegebenheiten zu entwerfen, eine Wissenschaft von einem bloß Subjektiven, einer transzendentalen und apodiktisch evidenten Subjektivität, die ausschließlich die meine ist! Also von jener gemeinen Objektivität ist nicht mehr die Rede” (XXXV, 148). 57
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ausdrücklich als ‚mein’ Schauen aufgefaßt. Daraus resultiert notwendig die ‚egologische Wende’ der gesamten Phänomenologie. Diese Wende bringt unausweichlich die schwierige Frage nach dem ‚Anderen’ des phänomenologisierenden Ich mit sich. Diese zunächst latente Problematik, die Husserl durch die monadologische Theorie der transzendentalen Intersubjektivität für überwindbar hielt, nötigt ihn später zu einer ausdrücklichen Stellungnahme, auf die ich im zweiten Teil näher eingehen werde. 3.3.2 Die ‚Selbstverantwortung’ des Ego und die Einstellung des ‚anfangenden Philosophen’ In den zwanziger Jahren kommt ein weiteres Gedankenmoment zum Durchbruch, das mit dem phänomenologisierenden Ich eng zusammenhängt. Es wird in den Londoner Vorträgen als das „erkenntnisethische” Motiv bezeichnet, 59 das einen ‚voraussetzungslosen Anfang’ erfordert, mit dem die Philosophie sich selbst absolut rechtfertigen kann. Dieser ‚Anfang’ muß den Charakter der ‚absoluten Evidenz’ haben, auf welche sich die gesamte phänomenologische Überlegung stützt. In der absoluten Evidenz sieht Husserl den Charakter des Selbstvollzugs. Dieser Charakter der Evidenz, der schon in der frühen Theorie der Evidenz im Hinblick auf die cogitationes deutlich wurde, gewinnt nun durch die Thematisierung des reinen Ich einen neuen, bedeutenden Aspekt. Die Einsicht, daß die absolute Evidenz ‚vom jeweiligen Ich selbst’ vollzogen werden muß, enthält die erkenntnisethische Forderung der „absoluten Selbstverantwortung”, die Husserl mit der „letzten Rationalität” gleichsetzt (XXXV, 48).60 Am Anfang des Philosophierens darf man die Evidenzen, die eventuell überzeugend oder sogar ‚selbstverständlich’ erscheinen mögen, nicht unbefragt hinnehmen, da auf diese Weise eine absolute Rechtfertigung nicht geleistet werden kann: „Die Philosophie kann mit keiner Vorgegebenheit anfangen, sich Selbstverständlichkeiten voransetzen, d.h. selbst in Naivität verfallen und den Eigensinn als Philosophie preisgeben” (XXXV, 49). Die Evidenz muß ‚jeder für sich selbst’ in seiner Selbstverantwortung vollziehen, da die sich absolut rechtfertigende Evidenz nur in diesem unmittelbaren ‚SelbstVollziehen’ bestehen kann, nicht in einer irgendwoher überlieferten angeblichen Evidenz: „Rechtfertigungen sind notwendig solche für mich und vor 59
LV, 202f. = XXXV, 314f., 47. Diese letzte ‚Rationalität’ bzw. ‚Vernünftigkeit’ besteht in der Evidenz als ‚Schauen’, wie Husserl seit der frühen Zeit betont (II, 62; XXXV, 288ff.); vgl. dazu Kapitel V, 2.2. Der ‚jemeinige’ Evidenzvollzug des ‚Schauens’ spielte schon im frühen Evidenzgedanken latent eine Rolle; vgl. z. B. folgende Stelle aus der Idee der Phänomenologie: „Es ist doch klar, das Wesen der Erkenntnis kann ich nur zur Klarheit bringen, wenn ich sie mir selbst ansehe, und wenn sie mir im Schauen, so wie sie ist, selbst gegeben ist” (II, 46; m. H.).
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mir selbst” (XXXV, 405); „Jeder Mitphilosophierende muss für sich selbst philosophieren und sich sagen: Der Anfang ist mein Anfang” (XXXV, 61). Die phänomenologische Reduktion, die jeden Philosophen zum absoluten Anfang führen soll, erweist sich nun in dieser Hinsicht notwendig als egologisch. Am Anfang der Philosophie muß ‚jeder für sich selbst’ derart ‚zum Philosophen’ werden,61 daß er sich in eine besondere ‚Einstellung’ versetzt, in der er jede Evidenz ‚selbstverantwortlich’ vollzieht und feststellt. 62 So fordert Husserl: „Versetzen wir uns in die erkenntnisethische Einstellung, mit der der werdende Philosoph beginnt” (LV, 204 = XXXV, 315). Diese Einstellung wird auch als „meditierend[e] Icheinstellung”, „reflektiv[e] egologisch[e] Einstellung”, „Einstellung der philosophischen Ichmeditation” 63 oder als „Einstellung der Ich-Rede” (VIII, 59) bezeichnet. Das ‚Ego’ als der notwendige Anfang der Phänomenologie bedeutet kein punktuelles Fundament, aus dem andere Prinzipien zu deduzieren wären,64 sondern in erster Linie eine Einstellung, in welcher der Philosophierende selbstverantwortlich, sich selbst rechtfertigend das Philosophieren beginnen kann. 65 In dieser Hinsicht wird ein entsprechender „Standpunkt” bzw. „Blickpunkt”66 gewonnen, von dem aus ich das Universum der phänomenologischen Gegebenheiten vorurteilsfrei überschauen kann. Die „scheinbar armselige Evidenz des ego cogito in der phänomenologischen Reduktion” eröffnet „einen endlosen Bereich vielverschlungener Phänomene [...], einen phänomenologischen Urwald sozusagen” (LV, 220 = XXXV, 322f.).67 Wenn dieser ‚Standpunkt’ des ‚Ich schaue’ fehlt, geht die gesamte phänomenologische ‚Erfahrung’ verloren. Hierbei hebt Husserl hervor, daß „Selbsterfahrung mir den ganzen Boden herstellt, auf dem sich meine Betrachtung bewegt, mit dessen Preisgabe sie absolut sinn- und haltlos würde” (VIII, 75). Die Forderung jenes absoluten Anfangs mit der ichlichen Evidenz ist also keine Setzung einer egologischen Prämisse, sondern die Forderung, auf ‚selbstverantwortliche’ und ‚vorurteilsfreie’ Weise ‚sehen zu lernen’: „Der Phänomenologe muß allem voran erst phänomenologisch schauen lernen”
61
Vgl. XXXV, 49, 59f., 93f., 148f., 164f.; VIII, 10ff., 21ff., 40. Die ‚Selbstverantwortlichkeit’ des Denkens werde ich in Kapitel VII, 4 näher behandeln. 63 LV, 206, 209, 212 = XXXV, 317, 70, 75. 64 Vgl. VII, 73; I, 63; VIII, 75. Dies ist auch der Hauptpunkt von Husserls Descartes-Kritik; vgl. XXXV, 60; IX, 329f.; XVII, 235ff.; I, 48f.; VI, 80ff., 414f. 65 Die „apodiktische Evidenz des ego cogito” ist in diesem Sinne „nur ein Anfang und nicht ein Ende” (VIII, 169). Man darf sich „nicht formal auf die Apodiktizität des Ich-bin berufen, sondern sie muss vielmehr Leitfaden sein dafür, sie zu verstehen und zunächst ihren konkreten Sinn klarzulegen” (XV, 449); vgl. auch I, 77; VI, 191; Dok II/1, 203. 66 Vgl. XXXV, 24f. 67 Vgl. auch XXXV, 93, 330 (= LV, 226); VIII, 5, 123; Ms. F I 44/ 11b. 62
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(VIII, 123).68 Offensichtlich hängt diese Forderung eng mit der im II. Kapitel erläuterten Evidenzkritik und der schrittweisen Befreiung des Sehens zusammen, woraus die ‚Erweiterung der phänomenologischen Gegebenheitssphäre’ resultiert. Dieses Motiv wird in den zwanziger Jahren als „apodiktische Kritik der transzendentalen Erfahrung” (VIII, 169) methodisiert, welche für die Etablierung der phänomenologischen ‚Wissenschaft’ eine fundamentale Rolle spielt. 3.3.3 Die ,Faktizität’ des phänomenologisierenden Ich Wie gesehen handelt es sich bei der apodiktischen Evidenz des ‚Ego’ nicht um eine leere Formel; es geht vielmehr um die Evidenz, die ‚jeder für sich’ in der wirklichen Anschauung vollziehen muß. Es ist zu beachten, daß in diesem Zusammenhang die ‚faktische’ Unersetzlichkeit des ‚Ich schaue’ in den Vordergrund tritt. Husserl bezeichnet die apodiktische Evidenz des Ego unmißverständlich als „Tatsache”: „Diese phänomenologische Wahrnehmung ist absolut unaufhebbar, die Tatsache, die sie erfaßt, erfaßt sie als eine apodiktisch evidente, als adäquat gegebene Tatsache. So Wahrgenommenes zu leugnen, ist apodiktisch unmöglich. Reflektierend finde ich ‚ich bin das und das erfahrend’ und bin absolut, wenn ich diesen Ausdruck ‚Ich bin’ adäquat deskriptiv verstehe” (LV, 209 = XXXV, 69f.). Diese ‚Faktizität’ kann nicht eine bloß empirische Zufälligkeit bedeuten, da damit die geforderte ‚absolute Rechtfertigung’ nicht geleistet werden kann. Es handelt sich hierbei auch nicht um eine Tatsache, die eine bloß zufällig verwirklichte Möglichkeit darstellt und auch durchaus anders sein könnte. In der phänomenologisch ‚egologischen’ Einstellung darf keine inhaltliche Stellungnahme zum cogitatum als geltend aufgenommen werden (LV, 209 = XXXV, 70).69 Die ‚absolut evidente’ Tatsache ist nicht diejenige des Erfahrenen oder Geurteilten, sondern die des ‚ich erfahre und urteile’. Was die egologisch reflektierende Wahrnehmung „apodiktisch” feststellt, „ist bloß die Tatsache, daß ich so und so erfahre, mich erinnere, denke, fühle, will [...]” (ebd.). 70 Gewonnen werden „die Phänomene als Fakta”, welche „die rein egologische Tatsachensphäre” ausmachen (ebd.). Diese ist gerade dasjenige, was mit dem Cartesianischen Titel „ego cogito” bzw. als „transzendentale oder absolute Subjektivität” (ebd.; XXXV, 77f.) gekennzeichnet wird. 68
Das Motiv ‚sehen lernen’ findet sich häufig in Husserls Schriften; vgl. XXXV, 82, 98, 100; VII, 251, 279; VI, 251; XXIX, 129, 425. In einem Brief an Metzger (1919) schreibt Husserl, daß sein „ganzes Leben es war, reines Sehen zu lernen u. zu üben, und sein Urrecht durchzusetzen” (Dok III/4, 413). 69 Vgl. LV, 211 = XXXV, 321f. Näheres dazu in Kapitel VII, 2. 70 Vgl. auch LV, 214 = XXXV, 77f.
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Es ist nun klar, daß die ‚transzendentale Subjektivität’ durch die transzendentale Reduktion als ‚Tatsachensphäre’ erst freigelegt werden muß, damit eine Wesensanalyse jeder Art auf diesem fundamentalen Arbeitsboden durchgeführt werden kann. Husserl stellt heraus, daß die „Tatsache” des ego cogito „doch vor allen Möglichkeiten und vor allen unmittelbaren Evidenzen sonst vorhergeht” (XXXV, 388). Die im Husserlschen Sinne transzendentale Sphäre ist nicht mit einer eidetischen Sphäre zu identifizieren, die von dem Faktischen theoretisch abstrahiert. Sie ist vielmehr – wie Husserl immer wieder betont – eine Sphäre der ‚konkreten Erfahrung’, die von mir zuerst faktisch durchlebt und dann durch meinen eigenen Vollzug der Reduktion ‚tatsächlich’ in meiner ‚Selbsterfahrung’ festgestellt werden muß. Auch das Ideale und Eidetische beruht auf dem faktisch Egologischen, da jede Evidenz schließlich in anschaulicher Weise ‚vollzogen’ werden muß. Die eidetischen Feststellungen schöpfen ihre Evidenz aus dem transzendentalen Erfahrungsboden und weisen letztlich auf den ‚egologischen’ Evidenzvollzug zurück.71 Die ‚Faktizität’ des Ego ist also kein Gegenbegriff zur Idealität des Eidetischen, sondern rekurriert auf die Bodenfunktion der transzendental‚egologischen’ Erfahrung, die von jedem Erfahrenen – sei es einem Faktischen oder einem Eidetischen – vorausgesetzt ist. Die Phänomenologie (und die Philosophie überhaupt) beruht Husserl zufolge „einzig auf dem absoluten Faktum ‚Ich bin’” (XXXV, 255).72 Dies ist aber eine äußerst ‚primitive’ Tatsache, die in jeder Erfahrung und Evidenz impliziert ist,73 aber wegen ihrer Einfachheit und ‚Selbstverständlichkeit’ dem natürlichen Bewußtsein tief verborgen ist. Die ‚absolute’ Evidenz des Ego stellt also keinen metaphysischen Lehrsatz dar, sondern in erster Linie diese primitive Einfachheit, die auch den unhintergehbaren Charakter des Ego ausmacht; es geht um „ein absolutes Sehen [...], hinter das ich nicht mehr fragen kann” (XXXV, 393). Das „Prinzip aller Prinzipien” – der Ausdruck des Evidenzprinzips in den Ideen I (III/1, 51) – wird nun explizit egologisch umgedeutet. So heißt es in der Ersten Philosophie, daß „der Satz ‚Ich bin’ das wahre Prinzip aller Prinzipien und der erste Satz aller wahren Philosophie sein muß” (VIII, 42).74 Dabei geht es allerdings nicht um den formalen Satz selbst, sondern um die transzendentale Faktizität ‚meines’ Evidenzvollzugs: „Das ‚Ich bin’ ist das absolute undurchstreichbare Faktum” (XXXV, 280). 71
Vgl. insbesondere XXXV, 433f. und ebenso: „Selbst wenn ein Apriori, irgendein Wesensgesetz zur Erfassung kommt, ist es Gebilde im Rahmen der Immanenz. [...] Das Ideale, und Ideales jeder Art, hat ideales Sein im Rahmen eines Ego, das wesensmäßig die betreffenden Bildungen in sich jederzeit vollziehen kann als solche identischen Gehalts” (XXXV, 258). 72 Vgl. auch XXXV, 433. 73 Husserl hebt hervor, daß „die erste und notwendig unabhängigste Evidenz und darum die primitivste die der Tatsache des ego cogito ist, die mit einem gewissen Bestand, den sie in sich schließt [...], in jeder anderen Evidenz vorausgesetzt ist” (XXXV, 387f.). 74 Vgl. auch XXXV, 394.
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Kapitel III
In dem bisherigen Erörterungen wurde gezeigt, daß das ‚absolute Faktum’ des transzendentalen Erfahrungslebens, das aller Wesensanalyse vorangeht, von Husserl in den zwanziger Jahren eindeutig ‚egologisch’ charakterisiert wird; die Evidenz des ‚Ich bin’ wird im Hinblick auf die ‚absolute Rechtfertigung’ mit ihrem ‚faktischen’ Vollzug durch das phänomenologisierende Ich in Verbindung gebracht. Diese egologische Wende der Phänomenologie bedeutet also in erster Linie, daß die ‚Faktizität’ des phänomenologisierenden Ich nun kein Randproblem mehr darstellt, das auch unberücksichtigt bleiben könnte, sondern zu einem zentralen Problem der Phänomenologie überhaupt geworden ist, sofern sie eine selbständige, selbstverantwortliche Philosophie zu sein beansprucht. Die Bedeutung des ‚faktisch’ phänomenologisierenden Ich für die Phänomenologie ist nun offenkundig geworden. Die Frage, wer eigentlich dieses ‚Ich’ ist, ist damit aber noch nicht hinreichend beantwortet. Man kann zwar entgegnen: ‚Das bin ich selbst’, aber dieses ‚ich’, der ich phänomenologisiere, kann weder durch den Namen noch durch sonstige objektive Merkmale bestimmt werden. Es ist kein eidetisches Ich, sondern ‚faktisch’ und ‚absolut konkret’, scheint aber dennoch ‚unbeschreiblich’ zu sein. Dies darf aber nicht als Vorwand dienen, jede Erklärung zu verweigern, was auf einen Dogmatismus hinausliefe. Es drängt sich also die Frage auf: „Wer ist [...] dieses Ich, für das alles und jedes und speziell alle objektiv wahre Welt Bewußtseinsobjekt ist?” (LV, 230 = XXXV, 269). Es ist nun besonders schwierig darzulegen, in welchem Verhältnis dieses ‚Ich’, das nun als „das absolute Ego”, „das absolute und letzte Ich” bezeichnet wird (LV, 231 = XXXV, 269f.), zum Anderen steht; denn dieses ‚absolute Ich’ scheint zunächst ‚mein’ Ich sein zu müssen und nicht ‚irgendein anderes’; ein wirklicher Anderer scheint aber doch dasselbe Recht beanspruchen zu können, das mir als philosophierendem Ich zukommt. Husserl beabsichtigt in den dreißiger Jahren – in seiner letzten Schaffensphase –, über diese Frage Rechenschaft zu geben, indem er unter dem Titel ‚Ur-Ich’ die Bedeutung des fraglichen ‚absoluten Ich’ von verschiedenen Aspekten her erhellt. Im folgenden werde ich versuchen, Husserls Überlegungen in bezug auf das ‚Ur-Ich’ systematisch zu rekonstruieren. Dabei wird sich herausstellen, daß der Gedanke des ‚Ur-Ich’ eine deutliche Kontinuität wahrt zu den ihm vorangehenden und bisher in der vorliegenden Untersuchung skizzierten Gedankenlinien der Phänomenologie, aber zugleich aus jenen radikale Konsequenzen zieht, die eine weitere Vertiefung der phänomenologischen Sicht ermöglichen.
II. TEIL VERSUCH EINER SYSTEMATISCHEN DARSTELLUNG DER LEHRE VOM ‚UR-ICH’
Kapitel IV
Die ,Paradoxie’ der Subjektivität und die sich aufdrängende Frage nach dem ‚Ur-Ich’
„Ihr [= der Phänomenologie] Schicksal [...] ist ein immer wieder neues Hineingeraten in Paradoxien, die von unbefragt, ja unbemerkt gebliebenen Horizonten herstammen und als mitfungierende sich zunächst in Unverständlichkeiten melden.” (VI, 185)
1. RÜCKBLICK UND PROBLEMSTELLUNG Die vorangegangenen Untersuchungen ermöglichen jetzt, den Begriff des ‚Ur-Ich’ auf entsprechende Weise thematisch zu behandeln. Es wird sich zeigen, daß die Husserls Denkweg konsequent bestimmenden Motive, die ich bisher herausgearbeitet habe, in seiner letzten Schaffensphase in die Problematisierung des ‚Ur-Ich’ einmünden. Bevor ich auf die systematische Untersuchung des ‚Ur-Ich’ eingehe, möchte ich auf die bisherigen Schritte der Untersuchung kurz zurückblicken, um die Richtung unserer Frage präziser zu bestimmen. Im ersten Kapitel wurde gezeigt, daß das Motiv der Problematisierung der Selbstverständlichkeiten den ganzen Denkweg Husserls konsequent durchzieht. Im zweiten Kapitel stellte sich heraus, daß zwei Grundmotive die frühe ‚non-egologische’ Phänomenologie leiten: (1) der Rückgang auf die Nähe des Lebens (das unmittelbar durchlebte Bewußtsein selbst als das ihm am nächsten Gegebene) und (2) die konsequente Frage nach der Evidenz. Durch den Versuch, die Reduktion aus dieser Perspektive nachvollziehbar zu machen, trat die fundamentale Bedeutung der phänomenologischen ‚Sichtweise’ bzw. des ‚Gesichtspunkts’ des Phänomenologen hervor. Dementsprechend wurde im dritten Kapitel deutlich gemacht, daß die Anerkennung des ‚reinen Ich’ zur Zeit der Ideen I sowie die egologische Umwendung der ganzen Phänomenologie in den zwanziger Jahren keine bloße Verleugnung der frühen ‚non-egologischen’ Phänomenologie bedeuten, daß sie vielmehr die Konsequenzen der genannten Grundmotive darstellen, welche die ‚nonegologische’ Phänomenologie schon von Anfang an bestimmten. Vermittelt durch die Probleme der Intersubjektivität und des reinen Ich stellen sich die Fragen erstens nach dem ‚Ankergrund’ der Phänomenologie, der der
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Kapitel IV
Wesensanalyse vorangeht und im spezifischen Sinne ‚faktisch’ ist, und zweitens nach dem ‚phänomenologisierend Schauenden’. Angesichts dieser Ergebnisse drängen sich insbesondere die zwei folgenden Fragen auf: (I) In welchem Verhältnis steht das ‚phänomenologisierende Ich’ zur transzendentalen Intersubjektivität, die von ihm freigelegt wird? Ist das phänomenologisierende Ich ein Glied der transzendentalen Gemeinschaft der Subjektivität? Handelt es sich nicht aber um einen Solipsismus, wenn ich als Phänomenologisierender behaupte, daß die transzendentale Intersubjektivität nur ‚in mir’, in ‚meiner’ transzendentalen Erfahrung, freigelegt werden kann? Oder: Führt der Rückgang auf das ‚Ego’ des Phänomenologisierenden selbst, der die ‚absolute Selbstrechtfertigung’ erfüllen soll, nicht zu einem Relativismus der jeweiligen Ego? (II) Wie kann die Evidenz des ‚Ich bin’, die zunächst als ‚absolute Evidenz’ bloß formal festgestellt wurde, zu einem klaren Selbstverständnis gelangen? Denn sie ist mit verschiedenen Irrwegen behaftet, auf denen man die eigentliche Bedeutung dieser Evidenz völlig aus dem Auge verlieren kann. Wer bin ich selbst, der ich das ‚Ich bin’ als die absolute Evidenz aussage? Dieses ‚Ich’ wird von Husserl als das „absolute und letzte Ich” (XXXV, 269), für das alles und jedes in Geltung ist, gekennzeichnet. Was besagt aber dieses ‚Ich’ eigentlich, wenn es weder der mundane Ich-Mensch noch ein metaphysisch konstruiertes Ich ist? Wie kann man dieses ‚Ich’ als phänomenologische Gegebenheit auf entsprechende Weise ‚schauen’? Diese zwei eng miteinander zusammenhängenden Fragen motivieren und leiten unsere Untersuchung des ‚Ur-Ich’ in den folgenden Kapiteln. Zunächst werde ich dem Gedankengang der Krisis nachgehen, in dem der Begriff des ‚Ur-Ich’ einen der Kulminationspunkte der ganzen Darstellung ausmacht. Zentral sind die Paragraphen 52 und 53, in denen die nach dem Vollzug der Reduktion auftauchenden ‚paradoxen Unverständlichkeiten’, darunter besonders die sogenannte ‚Paradoxie der menschlichen Subjektivität’, in den Vordergrund treten. Ebenfalls besondere Aufmerksamkeit verdient der Paragraph 54, in dem Husserl der Paradoxie der Subjektivität letztlich dadurch begegnet, daß er die Problemdimension des ‚Ur-Ich’ ins Auge faßt. Schließlich soll der Paragraph 55 untersucht werden, in dem der Evidenzcharakter des ‚Ur-Ich’ verdeutlicht wird. Durch die Untersuchung dieser Paragraphen wird sich das Problembewußtsein, das die Thematisierung des ‚Ur-Ich’ motiviert, besonders deutlich herausstellen, denn diese Paragraphen sind als die einzige systematische, zu Husserls Lebzeiten veröffentlichte – obschon skizzenhafte – Darstellung der ‚Ur-Ich’-Problematik anzusehen.
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2. DIE PARADOXIE DER MENSCHLICHEN SUBJEKTIVITÄT Bevor ich auf den unmittelbaren Zusammenhang des ‚Ur-Ich’-Problems eingehe, möchte ich zunächst auf die allgemeine Richtung der Krisis-Schrift aufmerksam machen. Geleitet von dem – diesem letzten Werk besonders klar zu entnehmenden – Motiv, das ich im ersten Kapitel durch das ‚Verständlichmachen der Selbstverständlichkeiten’ charakterisiert habe, blickt Husserl in der Krisis auf die neuzeitliche Wissenschafts- und Philosophiegeschichte zurück.1 Dabei stellt er fest, daß die im echten Sinne ursprünglichen ‚Selbstverständlichkeiten’, die er zunächst in bezug auf die ‚Lebenswelt’ und dann darüber hinaus hinsichtlich der ‚transzendentalen Erfahrung’ thematisiert, im Laufe der neuzeitlichen Entwicklung der Wissenschaften in Vergessenheit geraten und durch die scheinbaren Selbstverständlichkeiten, die die Wissenschaften prätendieren, verhüllt und ersetzt werden. Die phänomenologische Reduktion auf die ‚transzendentale Subjektivität’ besagt für Husserl nichts anderes als den Rückgang auf die ‚echten Selbstverständlichkeiten’, die in tiefe Vergessenheit geraten sind. Der Rückgang auf immer tiefere ‚Selbstverständlichkeiten’, der in III A fortgesetzt wird, kulminiert in der ‚Paradoxie’ der Subjektivität und der anschließenden Problematisierung des ‚Ur-Ich’.2 Es ist zu beachten, daß die ‚Paradoxie’ im Prinzip von der radikalen Frage nach dem ‚Ankergrund’ der Phänomenologie verursacht wird. Husserl macht im § 52 darauf aufmerksam, daß die erste Umschau in der Korrelationsproblematik nach der Reduktion „eine Fülle von offenbar sehr befremdlichen Erkenntnissen” ergibt (VI, 178). Diese Sachlage fordert eine „Besinnung hinsichtlich des Bodens letzter Voraussetzungen, in dem diese ganze Problematik wurzelt, aus welchem also ihre theoretischen Entscheidungen letztlich ihren Sinn schöpfen” (ebd.). Angesichts dieser Frage gerät man aber alsbald, sagt Husserl, „in große Schwierigkeiten, in unerwartete und zunächst unlösliche Paradoxien” (ebd.). Hierbei geht es darum, daß die zunächst naiv angefangene Phänomenologie auf ihren eigenen Vollzug und ihre ersten sachlichen Ergebnisse zurückblickt, um sich darüber Klarheit zu verschaffen, was sie eigentlich leistet, was für einen Sinn diese Leistung hat. Es ist offensichtlich, daß diese Aufgabe zum Problemkreis der ‚apodiktischen Selbstkritik der transzendentalen Erfahrung’ gehört, der Husserl seit den zwanziger Jahren große Bedeutung beimißt.3 Der späteste Husserl ver1
Vgl. VI, 18ff. Vgl. VI, 173ff. Eine ausführlichere Überschau über die Krisis geben z. B. Gurwitsch (1956/1957), Orth (1999) und Möckel (1998, 270ff.). (Bei Gurwitsch fehlt übrigens jede Stellungnahme zum ‚Ur-Ich’.) 3 Diese Aufgabe verfolgt Husserl in der Vorlesung Einleitung in die Philosophie von 1922/23 auf besonders detaillierte Weise (XXXV, 115ff.). Beachtet sei die charakteristische Darstellung in der Ersten Philosophie (VIII, 169ff.), deren Anfang ähnlich wie an der oben angege2
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Kapitel IV
sucht nun noch einmal, von seinem neuesten Standpunkt aus diese Aufgabe mit äußerster Konsequenz zu erfüllen. Dabei handelt es sich in erster Linie um das Verhältnis zwischen dem natürlichen und dem transzendentalen Ich, insbesondere um die ‚Identität’ und ‚Einheit’ der beiden scheinbar auseinandergeratenen Ich (VI, 179f.). Genau dieses Problem wird im § 53 als die „Paradoxie der menschlichen Subjektivität” thematisch herausgestellt.4 Diese „wirklich ernstliche Schwierigkeit” nötigt nach Husserl dazu, die ganze Aufgabenstellung der Phänomenologie und den Sinn ihrer Ergebnisse „in der Tat neuzugestalten” (VI, 182).5 Die ‚Paradoxie’ läßt sich folgendermaßen skizzieren: Durch den Vollzug der universalen Epoché verwandelt sich die ganze Welt in eine Art ‚Subjektives’, das „transzendentales Phänomen” heißt (VI, 182f.). Kann aber die menschliche Subjektivität, die sich in der Welt findet, diejenige Subjektivität sein, in der sich die Welt und alles Objektive konstituieren? Wie soll die menschliche Subjektivität, die ein „Teilbestand” der Welt ist, „die ganze Welt konstituieren, nämlich konstituieren als ihr intentionales Gebilde”? „Der Subjektbestand der Welt verschlingt sozusagen die gesamte Welt und damit sich selbst. Welch ein Widersinn” (VI, 183).6 An dieser Stelle fragt sich Husserl: „Oder ist es doch eine sinnvoll auflösbare, sogar eine notwendige Paradoxie, notwendig entspringend aus der beständigen Spannung zwischen der Macht der Selbstverständlichkeit der natürlich objektiven Einstellung (der Macht des common sense) und der sich ihr gegenübersetzenden Einstellung des ‚uninteressierten Betrachters’?” (ebd.). Die Frage muß bejaht werden: Es handelt sich hier um jene ‚Fremdheit’ und ‚Unnatürlichkeit’ der phänomenologischen Einstellung gegenüber benen Stelle der Krisis formuliert wird. Es darf nicht übersehen werden, daß das Problem der Intersubjektivität, das für die Problematisierung des ‚Ur-Ich’ in der Krisis eine zentrale Rolle spielt, auch in der Ersten Philosophie im Kontext der transzendentalen ‚Selbstkritik’ im Vordergrund steht (VIII, 173ff.). 4 ‚Die Paradoxie der Subjektivität’ erwägt Husserl auch in verschiedenen Forschungsmanuskripten wiederholt. Vgl. das später zu behandelnde Manuskript E I 5 (XV, Nr. 31, bes. 546ff.) und das umfangreiche Konvolut unter der Signatur B I 14, das die Aufschrift trägt: „Rätsel. Paradoxa” (bes. die Innenumschläge IV und VII; vgl. zu diesem Konvolut die Beschreibung im „Textkritischen Anhang” von Sebastian Luft, XXXIV, 544f.). Zur ‚Paradoxie’ vgl. auch XXXIV, 256f.; Ms. B I 5/ 14a. 5 Diese „Neugestaltung” deutet offensichtlich die später im § 55 angesprochene „Umgestaltung” der ersten Epoché durch „Reduktion auf das absolute ego” an (VI, 190). Dies bestätigt, daß es sich bei der ‚Paradoxie der menschlichen Subjektivität’ um das unmittelbare Motiv für die Problematisierung des absoluten ‚Ur-Ich’ handelt. 6 Auf diese ‚Paradoxie’ macht Husserl schon seit der früheren Zeit aufmerksam; vgl. III/1, 116; VII, 277f.; XXXV, 23. Husserl versucht aber in der Krisis von seinem letzten Standpunkt aus, die radikalste Konsequenz aus dieser ‚Paradoxie’ zu ziehen. Es ist auch zu berücksichtigen, daß in diesem Kontext die Vermeidung des ‚Zirkels’ eine besondere Rolle spielt (vgl. XXXIV, 288); dieser Punkt muß im V. Kapitel eingehend behandelt werden.
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der auf Selbstverständlichkeiten beruhenden natürlichen Einstellung, die ich schon im ersten Kapitel ausführte.7 Husserl weist darauf hin, daß diese ‚unnatürliche’ Einstellung „überaus schwer radikal durchzuführen” ist, „da sie beständig von Mißverständnissen bedroht ist” (ebd.). Dies ist der Grund, warum eine besondere Überlegung nötig ist, um uns über die eigentümliche ‚Sichtweise’ des Phänomenologen Klarheit zu verschaffen und sie in ihrer reinen Gestalt zu behalten. In dieser Hinsicht muß ernstlich bedacht werden, daß Husserl an der betreffenden Stelle sorgfältig vor verschiedenen Irrwegen und Mißverständnissen warnt. Dadurch versucht er, unsere Aufmerksamkeit schrittweise auf die hier zu erblickende Problemdimension zu lenken, die sich erst in jener besonderen, zunächst ‚fremdartig’ erscheinenden Einstellung erschließt. Husserl macht deutlich, daß er jene Paradoxie der Subjektivität einerseits nicht dadurch zu lösen sucht, daß er sich auf die bloß selbstverständliche, doppeldeutige „Tatsächlichkeit” beruft, die besagen würde, „daß die Menschen Subjekte für die Welt sind [...] und zugleich Objekte in dieser Welt” (VI, 184). Eine solche bloße Hinnahme der ‚Selbstverständlichkeit’ bringt kein Verständnis. Andererseits lehnt er es ab, die Paradoxie durch eine metaphysische Konstruktion oder durch ein theologisches bzw. mystisches Denken aufzulösen (ebd.). Die Argumentationen, die man aus der philosophischen Tradition heranzieht, dürfen nicht ohne weiteres in Anspruch genommen werden, bevor sie die phänomenologische Feststellung erhalten.8 Sogar die Logik muß ihre Gültigkeit erst auf dem phänomenologisch-intuitiven Weg nachweisen. Die Phänomenologie muß „ihre Methode und selbst den echten Sinn ihrer Leistungen nur durch immer neue Selbstbesinnungen gewinnen” (VI, 185). Der fraglichen ‚Paradoxie’ muß nur durch das erneute ‚Schauen’ begegnet werden, das bei seinen eigenen heimlichen Voraussetzungen, die eventuell scheinbare Lösungen bieten, ständig wachsam bleiben muß. Zusammenfassend kann man sagen: Die sich hier zeigende ‚Paradoxie’ fordert in erster Linie ein vertieftes Selbstverständnis der Phänomenologie, aber speziell ein Selbstverständnis des ‚Ich’, und zwar nicht nur hinsichtlich seiner konstitutiven Leistungen, sondern auch hinsichtlich seines phänomenologisierenden Tuns. Die ‚Paradoxie der menschlichen Subjektivität’ führt letztlich auf die Frage: Wer bin ‚ich’, der ich mich selbst normalerweise als ein Ich-Mensch in der Welt verstehe, der ich mich selbst aber durch die 7
Vgl. Kapitel I, 3 und 4. Daß Husserl es weder mit der Natürlichkeit noch mit der Transzendentalität im traditionellen Sinne bewenden läßt, bestätigt auch eine Stelle aus der Ersten Philosophie. Nachdem er auf den „scharfen Widerspruch” zwischen der natürlich-positiven und der transzendentalen Welterkenntnis hingewiesen hat, zeigt er, daß die übliche Antwort des Transzendentalphilosophen auf Bedenken von Seiten des natürlichen Denkens nicht zufriedenstellend ist (VII, 277f.). Das wirkliche Verständnis erwächst nicht „aus bloß argumentierenden Überlegungen [...], die sich in sachfernen Allgemeinheiten bewegen” (VII, 278); vgl. auch VI, 203ff. 8
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transzendentale Reduktion als das ‚weltkonstituierende Ich’ entdecke? Wie kann ich dieses ‚Ich selbst’ entsprechend ‚sehen’ und verstehen? Diese Frage drängt sich nun als eine so gravierende Schwierigkeit auf, welche die ganze Phänomenologie von Grund auf in Frage stellen könnte.
3. DIE EINHEIT DER ‚DREI ICH’ UND DIE BEDEUTUNG DES PHÄNOMENOLOGISIERENDEN ICH Bevor ich auf die weiteren zentralen Paragraphen der Krisis eingehe, möchte ich etwas näher begründen, warum die ‚metaphysische’ Lösung der Paradoxie nicht zureichend ist; denn das ist eine entscheidende Voraussetzung dafür, die Frage nach dem ‚Ur-Ich’ als solche entsprechend zu verstehen. Die ‚Einheit’ des Ich und die Bedeutung des ‚phänomenologisierenden Ich’ sollen zugleich verdeutlicht werden. Angesichts der ‚Paradoxie’ könnte man etwa sagen, daß das Problem verschwände, wenn man das menschliche Ich in der Welt von dem transzendentalen Ich, das nicht in der Welt zu finden sei, kategorisch unterschiede. Das könnte man eventuell als Husserls eigene Meinung annehmen, da er durch die transzendentale Reduktion die Unterscheidung zwischen den beiden Ich hervorhebt. Man muß sich jedoch vor einer zu starken Kontrastierung von Weltlichkeit und Nicht-Weltlichkeit hüten, die eine Hypostasierung der zwei Ich nahelegen würde. Husserl warnt ausdrücklich vor diesem Mißverständnis: „Mein transzendentales Ich ist also evident ‚verschieden’ vom natürlichen Ich, aber keineswegs als ein zweites, als ein davon getrenntes im natürlichen Wortsinn, wie umgekehrt auch keineswegs ein in natürlichem Sinne damit verbundenes oder mit ihm verflochtenes. Es ist eben das (in voller Konkretion gefaßte) Feld der transzendentalen Selbsterfahrung, die jederzeit durch bloße Änderung der Einstellung in psychologische Selbsterfahrung zu wandeln ist. In diesem Übergang stellt sich notwendig eine Identität des Ich her” (IX, 294).9 Durch dieses Zitat wird klar, daß es sich bei der fraglichen Unterscheidung im Grunde um den Unterschied der Einstellungen handelt, die sich auf ein und dasselbe Ich beziehen. In der natürlichen Einstellung finde ich mich selbst als Menschen in der Welt vor, aber durch die transzendentale Einstellungsänderung werde ich mir der sonst verborgenen Leistung meines Lebens inne; in dieser sich immer schon anonym vollziehenden Leistung gelangt die 9
Dieser zentrale Punkt wird auch im folgenden klar ausgedrückt: „Es hebt sich das universal leistende ego in seinem leistenden universalen Leben, als worin Welt überhaupt und Ich als Mensch Leistungsgebilde ist, von dem Gebilde Ich-Mensch ab. Aber in der Kontrastierung heisst es doch Ich, ich bin derselbe als ego und als menschliche Person” (XV, 540); auch XXXIV, 200f., 220, 222f.
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Welt, in der ich mich als Mensch finde, zu ihrer Geltung. Diese anonyme Leistung ist als Funktion ‚meines’ Lebens erfahrungsmäßig feststellbar. Es ist dasselbe Ich, das durch die ‚Einstellungsänderung’ das Selbstverständnis seines eigenen Erfahrungslebens vertieft: „Ich bin ja als transzendentales Ich dasselbe, das in der Weltlichkeit menschliches Ich ist. Was in der Menschlichkeit mir verdeckt war, enthülle ich in transzendentaler Forschung” (VI, 267f.).10 Wenn man annimmt, daß das weltkonstituierende Ich außerhalb der Welt stände und ein anderes Subjekt als das in ihr existierende Menschen-Ich wäre, wird das Problem nur scheinbar ‚gelöst’, da man noch verpflichtet ist, das Verhältnis beider aufzuklären, das heißt, den Grund verständlich zu machen, warum ein solches von mir als Mensch abgesondertes ‚Außerweltliches’ noch ‚Ich’ genannt werden muß. 11 Eine solche ‚Lösung’ bringt zwar eine scheinbare Widerspruchslosigkeit, die aber bloß formal-abstrakt ist; sie wird erst um den Preis der konkreten Anschauung gewonnen, so daß der anschauliche Zugang zur Sache versperrt und eine evidente Bewährung der Aussage unmöglich gemacht wird.12 Es ist bemerkenswert, daß Finks bekanntliche Unterscheidung der „drei Ich”13 möglicherweise eine ähnliche Abstraktheit in die Analyse hineinbringen könnte, obwohl Fink selbst ausdrücklich betont, daß es sich im Grunde um das einzige Ich handelt (Dok II/1, 43). Kritisch zu bedenken ist nicht Finks Verständnis des Ich, sondern die Rede von „drei Ich”, die nicht Husserlianisch klingt.14 In der Tat fand Husserl bei der Zusammenarbeit mit Fink, wie dieser berichtet, „den Gegensatz zwischen dem konstituierenden und dem phänomenologisierenden Ich zu stark betont [...]” (Dok II/1, 183). In 10
Vgl. auch I, 75; XXXIV, 155; Brand 1955, 46; Broekman 1963, 185f. Diese angebliche ‚Lösung’ macht vielmehr das Ego „zu einem Paradoxon, zum größten aller Rätsel” (VI, 82). „Aber vielleicht hängt viel, ja für eine Philosophie alles an diesem Rätsel [...]” (ebd.). 12 Den Grund, warum der Transzendentalismus des Deutschen Idealismus, dessen eigentliche Richtung Husserl hoch schätzt, sich vor der Einmischung der metaphysischen Konstruktion nicht schützen konnte, sieht Husserl darin, daß dieser Transzendentalismus von einer zu scharfen Trennung des transzendentalen Ich vom empirischen ausgeht, so daß das Verhältnis beider Ich unverständlich geworden ist; dies verursachte zugleich, daß der anschauliche Zugang zur transzendentalen Dimension verlorengegangen ist. Vgl. VI, 116-120, 201ff., bes. 205; XXIX, 117. 13 Nämlich die Unterscheidung zwischen (1) mundanem bzw. menschlichem Ich, (2) transzendental-konstituierendem Ich und (3) phänomenologisierendem Ich; vgl. Fink 1966, 122; Dok II/1, 43ff. 14 Auch Trappe meint, daß Finks starke Gegenüberstellung von ‚konstituierender’ und ‚phänomenologisierender’ Leistung nicht Husserlianisch ist. Die ‚transzendentale Erfahrung’ muß nicht als ‚deutungsfrei’ betrachtet werden; sie enthält vielmehr von Anfang an ein reflektives Moment. Das Phänomenologisieren ist auch ein Konstituieren; es zeichnet sich aber dadurch aus, daß es kein weltkonstituierendes Leisten ist (Trappe 1996, 171f.). 11
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bezug auf die Frage nach dem ‚Ur-Ich’ haben wir auch die Bedeutung des phänomenologisierenden Ich akzentuiert. Dies darf aber nicht dahingehend mißverstanden werden, daß ein ‚neues Ich’ jetzt in Frage käme, das ein ‚anderes’ als die bekannten Ich wäre.15 Vielmehr kommt es immer auf die Vertiefung des Selbstverständnisses an, die durch ein einziges Ich vollzogen werden muß, da es sonst kein Selbstverständnis wäre.16 In dieser Hinsicht muß man sagen, daß das phänomenologisierende Ich immer schon mit im Spiel ist, wenn vom transzendental-konstituierenden Ich die Rede ist; denn die anonyme transzendentale Funktion gelangt erst zum thematischen Bewußtsein, wenn ich die transzendentale Reduktion als ‚Einstellungsänderung’ vollziehe; dadurch bin ich aber schon der transzendental Phänomenologisierende. Im Hinblick auf die Einstellungsänderung ist also nicht nur das menschliche, sondern auch das transzendentale Ich – solange es anonym bleibt – Korrelat der natürlichen Einstellung; das transzendentale Ich fungiert zwar als Weltkonstituierendes, aber seine Einstellung ist die natürliche, insofern es für seine eigene transzendentale Leistung ‚blind’ ist. Wenn es sich seines eigenen transzendental-konstituierenden Fungierens inne ist, handelt es sich bereits um das phänomenologisierende Ich. Dieses ‚Innesein’ ist eigentlich die Voraussetzung dafür, überhaupt vom ‚transzendentalen Ich’ sprechen zu können. Das transzendentale Ich, das immer schon anonym, auch wenn ich nicht phänomenologisiere, in Funktion ist, setzt das phänomenologisierende Ich in dem Sinn voraus, daß es um das ‚Selbstverständnis’ geht, wenn überhaupt vom ‚Transzendentalen’ die Rede ist.17 Die Kennzeichnung des phänomenologisierenden Ich als ‚unbeteiligten Zuschauer’, welche die Vorstellung seines ‚Außenstehens’ nahelegt, muß ebenfalls im Zusammenhang mit der Einstellungsänderung verstanden werden. Das ‚unbeteiligt’ besagt nicht, daß ich an der Weltkonstitution nicht beteiligt wäre; das ist unmöglich, da es sich bei ihr nicht um meine willentliche Aktion handelt, die ich beenden könnte. Das ‚unbeteiligt’ ist vielmehr der Ausdruck für die fundamentale Einstellungsänderung des ‚Interessenlebens’.18 Im natürlichen Leben „terminieren alle Zwecke in ‚der’ Welt” (VI, 15
Vgl. XXXIV, 462. Man darf nicht übersehen, daß Husserl die Beschreibung Finks über den Vollzug der Epoché, die in der dritten Person geschrieben ist und etwas metaphysisch klingt, durchgehend mit der ersten Person umschreibt (Dok II/1, 43 Anm.). 17 Husserl weist darauf hin, daß mein konkretes Ego nur Thema sein kann mit einem prinzipiell anonym fungierenden phänomenologisierenden Akt-Ich (Dok II/1, 205). Auch Fink spricht zwar mit Recht von der wechselseitigen Vorausgesetztheit des weltkonstituierenden und des phänomenologisierenden Ich (Dok II/1, 65). Bei alldem bleiben aber doch Bedenken, ob die Rede von „drei Ich” angemessen ist. 18 Vgl. dazu auch die folgende Bemerkung: „Unbeteiligt bin ich insoferne, als ich aller weltlichen Interessen, die ich darum doch habe, insoferne mich ‚enthalte’, als Ich – der Philosophierende – mich über sie stelle und ihnen zuschaue, sie als Themen der Beschreibung nehme 16
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180). Der Phänomenologe muß zwar auch in der Epoché „das natürliche Leben ‚natürlich durchleben’” (ebd.); das „Erkenntnisziel” ist aber nun völlig anders. „Das Interesse des Phänomenologen zielt nicht ab auf die fertige Welt” (ebd.). Vielmehr geht sein Blick auf die ‚transzendentale Subjektivität’ zurück und „auf die Weisen, wie sie in ihrer verborgen-inneren ‚Methodik’ Welt hat, ‚zustande gebracht’ hat, fortgestaltet” (ebd.). In dieser Einstellungsänderung besteht die ‚Unbeteiligtheit’ des phänomenologisierenden Ich, die doch so, wie die natürlich-interessierte Beteiligung, ein ‚Modus’ meines einzigen Lebens ist, obschon „eine durchaus neue Weise des Lebens” (VI, 153).19 Es ist zu beachten, daß alle drei Ich – das mundane, das transzendentalkonstituierende und das phänomenologisierend-thematisierende – im Prozeß der Einstellungsänderung und des sich vertiefenden Selbstverständnisses untrennbar eins sind. Ich als Phänomenologisierender komme zum thematischen Bewußtsein der anonymen Konstitutionsleistung meines eigenen transzendentalen Ich (bzw. Ichlebens), durch die sich die Welt immer schon als diejenige konstituiert, in der ich mich selbst als Mensch objektiviert finde.20 Diese Gesamtkonstellation wird also erst von mir als Phänomenologisierendem durchschaut. Das phänomenologisierende Ich ist in diesem Sinne das mir ‚nächste’ Ich, von dessen Standpunkt aus ich schaue; und es weiß sich selbst als das einzige Ich, das die ganze Einstellungsänderung durchlebt hat.21 Die Frage ist nun: Wer ist dieses ‚nächste’, einzige Ich? Auf diese Frage kann man weder durch die alltäglichen Tatsachen noch durch die metaphysischen Argumentationen antworten. Es geht allein darum, dieses Ich, das sich selbst phänomenologisierend als das transzendental Fungierende thematisiert, durch entsprechende Anschauungen aufzuweisen und verständlich zu machen. Dabei ist besonders zu berücksichtigen, daß das phänomenologisierende wie überhaupt mein transzendentales ego” (I, 16); vgl. auch I, 72ff., IX, 189, sowie die Ausführung in der Ersten Philosophie (VIII, 86ff., bes. 96ff.). 19 Vgl. besonders die folgende Aussage: „Der Übergang in die transzendental-reflexive Einstellung bedeutet [...] auch einen neuen Modus der Vollzugsweise dieses [Bewußtseins-] Lebens” (XV, 537), oder auch: Das „Phänomenologisieren” ist „selbst nichts anderes als eine besondere Einstellung und Weise der konstituierenden Leistung [...]” (Dok II/1, 192); auch VI, 209. 20 Auch die folgende Stelle zeigt die untrennbare Einheit der drei Aspekte des Ich unverkennbar: „Etabliere ich mich als phänomenologisierendes Ich, [...] so entdecke ich erst mein menschliches Dasein (unter anderem weltlichen Dasein) als Gebilde von meinen intentionalen Leistungen im universalen Zusammenhang der vordem anonymen, unthematischen Leistungen, in denen ständig Welt für mich konstituiertes Geltungsgebilde ist als System von Identitätspolen einstimmiger Bewusstseinssynthesen” (XV, 540). 21 Ähnlich argumentiert Broekman 1963, 181ff. Dabei berührt er das Problem des ‚Ur-Ich’, ohne diesen Terminus ausdrücklich zu verwenden; vgl. seine Bemerkung zur „Äquivokation” (184).
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Ich sich nicht als solches thematisch bewußt ist, wenn es sich ins thematische Feld des transzendentalen Phänomens hineinversenkt. Die Thematisierung des phänomenologisierenden Ich besagt eine weitere Vertiefung des Selbstverständnisses, die wiederum eine sorgfältige Bekämpfung naheliegender Mißverständnisse fordert.22 Dies ist der thematische Zusammenhang, auf den jene ‚Paradoxie’ hindeutet. Die Frage, die durch die ‚Paradoxie’ aufgeworfen wird, leitet nun in die zentralen Paragraphen der Krisis über, in denen das Problem des ‚Ur-Ich’ behandelt wird.
4. DIE PROBLEMATISIERUNG DES ‚UR-ICH’ Im §54 und §55 der Krisis wird versucht, die in der vorangegangenen Darstellung herausgestellte ‚Paradoxie’, die sich nach dem ersten Vollzug der Epoché aufdrängt, aufzulösen; genau in diesen Paragraphen wird der Begriff des Ur-Ich mit besonderem Nachdruck zur Sprache gebracht. Im folgenden sollen diese Paragraphen in Augenschein genommen werden, weil daraus deutlich hervorgeht, welche speziellen Probleme Husserl dazu zwingen, den befremdlichen Begriff des ‚Ur-Ich’ zu prägen.
4.1 Das Problem der Intersubjektivität und die Frage nach der transzendentalen ‚Sichtweise’ Der §54 „Die Auflösung der Paradoxie” ist in zwei Abschnitte aufgeteilt: a) „Wir als Menschen und wir als letztlich fungierend-leistende Subjekte” und b) „Ich als Ur-Ich konstituiere meinen Horizont der transzendentalen Anderen als der Mitsubjekte der die Welt konstituierenden transzendentalen Intersubjektivität”. In §54 a) spitzt Husserl zunächst jene ‚Paradoxie’ und die sich dadurch aufdrängende Frage noch schärfer zu. Hinsichtlich der Frage nach der paradox erscheinenden Subjektivität, welche die Welt konstituierend sich selbst ihr einordnet (VI, 185), weist er nun auf die „Naivität unseres ersten Vorgehens” der Phänomenologie hin: In der ersten Reflexionsstufe interessiert uns vornehmlich die Korrelation „Gegenstandspol – Gegebenheitsweise (Erscheinungsweise in einem weitesten Sinne)”. Im Gegensatz zu ‚cogitatio und cogitata’ kommt das übrige Korrelationsglied ‚ego’ noch nicht in den thematischen Gesichtskreis: „Das Ich kam als Thema der obersten Reflexionsstufe zwar zu Wort, aber bei dem vorsichtigen analytisch-deskriptiven Vorgehen, das die näheren Zusammenhänge natürlich bevorzugt, kam es nicht zu
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Vgl. XXXIV, 299f.; VI, 185.
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seinem Rechte. Die Tiefen seines Fungierendseins werden eben erst spät empfindlich” (VI, 186). Anschließend stellt Husserl heraus, daß mit dem auftretenden Ichproblem die Frage nach der ‚Intersubjektivität’ in ihrer zentralen Bedeutung in den Vordergrund tritt: Im Zusammenhang mit dem Ichproblem „fehlte das Phänomen des Bedeutungswandels von ‚Ich’ – so wie ich soeben Ich sage – in ‚andere Ich’, in ‚Wir alle’, Wir mit den vielen ‚Ichen’, worin Ich ‚ein’ Ich bin. Also fehlte das Problem der Konstitution der Intersubjektivität, als dieses Wir-Alle, von mir aus, ja ‚in’ mir” (VI, 186). Es ist unverkennbar, daß es sich hierbei um das Problem handelt, das ich im dritten Kapitel herausgearbeitet und am Anfang dieses Kapitels als Frage (I) zusammengefaßt habe. Man darf dabei nicht übersehen, daß dieses Problem im Hinblick auf den ‚Bedeutungswandel’ von ‚Ich’ angesprochen wird. Dies ist der erste zu markierende Punkt. Darauf kommen wir später zurück. 23 Hier soll nur betont werden, daß die Frage nach dem paradoxen Zusammenhang zwischen dem Ich und der Intersubjektivität die wichtigste Grundfrage ist, die die Problematisierung des Ur-Ich direkt motiviert. Bevor Husserl auf das Problem des ‚Ur-Ich’ eingeht, macht er noch einmal darauf aufmerksam, daß es hier um das Selbstverständnis von ‚uns selbst’ geht, welche die Welt und darin uns selbst konstituieren: „[...] die Notwendigkeit, jetzt haltzumachen und in Selbstbesinnung einzutreten, wird uns am schärfsten empfindlich durch die endlich einmal und unvermeidlich auftauchende Frage: Wer sind wir als die Sinn- und Geltungsleistung der universalen Konstitution vollziehenden Subjekte – Wir als die in Vergemeinschaftung die Welt als Polsystem, also als intentionales Gebilde des vergemeinschafteten Lebens Konstituierenden?” (VI, 186); es geht also nun um die Frage (II). Dabei wird unterstrichen, daß die transzendentalfungierenden Subjekte nicht mit den ‚Menschen’ zu identifizieren sind. Die ‚Menschen’ sind Realitäten in der Welt, die durch die Epoché zu ‚Phänomenen’ umgewandelt worden sind. Sie sind zunächst ‚Gegenstandspole’ der intentionalen Erfahrungen, die als Leitfäden für die Rückfrage dienen (ebd.). Die transzendental-konstituierenden Subjekte müssen von diesen Gegenstandspolen strikt unterschieden werden, stellen aber doch ‚Phänomene’ dar, die allerdings von völlig anderer Art sind als die gegenständlichen. Husserl weist darauf hin, daß „der Philosoph in der Epoché weder sich noch die Anderen naiv-geradehin als Menschen in Geltung hat, sondern eben nur als ‚Phänomene’, als Pole der transzendentalen Rückfragen” (VI, 187). Damit sind aber diesmal die reinen ‚Ichpole’ gemeint. In bezug darauf muß man betonen, daß der Ichpol und die Gegenstandspole nicht im ‚Nebeneinander’ vorgestellt werden dürfen. Alles Nebeneinander ist schon etwas, was gegenständlich gesehen wird. Wie ich vorher schon 23
Es handelt sich also um das Problem der ‚intentionalen Modifikation’; dazu vgl. 4.2.3 und Kapitel VI.
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herausgestellt habe, geht es an dieser Stelle der Krisis in erster Linie um die ‚Einstellung’ und ‚Sichtweise’, in der auch die fragliche Differenz zwischen Ichpol und Gegenstandspol in einer bisher unbemerkten einheitlichen Konstellation zu erblicken ist. In dieser Hinsicht muß die letzte Passage von §54 a) betrachtet werden: „Aber in der Epoché und im reinen Blick auf den fungierenden Ichpol und von da auf das konkrete Ganze des Lebens und seiner intentionalen Zwischen- und Endgebilde zeigt sich eo ipso nichts Menschliches, nicht Seele und Seelenleben, nicht reale psychophysische Menschen — all das gehört ins ‚Phänomen’, in die Welt als konstituierten Pol” (VI, 187). Hier wird der eigentümliche „Blick” ausdrücklich angesprochen, der von dem „fungierenden Ichpol” ausgehend das „konkrete Ganze des Lebens” und die Vielfalt seiner Leistungsgebilde ins Auge faßt (ebd.). Dieser ‚Blick’ hat keinen menschlichen Charakter, da der ‚Mensch’ ins gesehene Phänomen ‚Welt’ gehört. Die strikte Unterscheidung des ‚Transzendental-Phänomenologischen’ vom ‚Menschlichen’ besteht eben in dieser Einzigartigkeit der ‚Sichtweise’, nicht etwa in einer ‚außerweltlichen Existenz’ des Transzendentalen.
4.2 Das Problem des ‚Ur-Ich’ und der intersubjektiven Pluralisierung In §54 b) wird schließlich das ‚Ur-Ich’ zur Sprache gebracht. Im folgenden soll dieser extrem komprimierte Text sorgfältig ausgelegt werden, damit sich die wichtigsten Punkte herausstellen, die in den weiteren Kapiteln genauer analysiert werden müssen. 4.2.1 Das vertiefte Selbstverständnis und die ‚philosophische Einsamkeit’ §54 b) beginnt Husserl mit dem Hinweis auf das Unbefriedigende der bisherigen Vorgehensweise, das die ‚Paradoxie’ hervorrief: „Unser naives Vorgehen war in der Tat nicht ganz korrekt, und zwar durch die Selbstvergessenheit unserer selbst, der Philosophierenden” (VI, 187). Das sich hier aufdrängende Problem betrifft also nichts anderes als das ‚phänomenologisierende Ich’, und zwar in Hinsicht auf seine ‚Selbstvergessenheit’. Es kommt darauf an, wie ich, der Philosophierende, meine eigene ‚Sicht’ von vielfacher Verblendung befreiend, zu einem neuen Selbstverständnis und zu einer neuen ‚Wachheit’ in bezug auf mich selbst durchdringen kann. Diese Forderung des Selbstverständnisses, die eine fundamentale methodische Bedeutung hat, macht den ersten Hauptpunkt der Darstellung aus, der den allgemeinen Rahmen der Fragestellung kennzeichnet. Diese Frage nach dem phänomenologisierenden ‚Ich selbst’ präzisiert Husserl folgendermaßen: „[...] die Epoché vollziehe ich, und selbst wenn da
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mehrere sind, und sogar in aktueller Gemeinschaft mit mir die Epoché üben, so sind für mich in meiner Epoché alle anderen Menschen mit ihrem ganzen Aktleben in das Weltphänomen einbezogen, das in meiner Epoché ausschließlich das meine ist. Die Epoché schafft eine einzigartige philosophische Einsamkeit, die das methodische Grunderfordernis ist für eine wirklich radikale Philosophie” (VI, 187f.). Nun kreuzen sich die zwei Linien, die ich in Husserls Denken des Ich konsequent verfolgt habe: Das Problem der intersubjektiven Pluralität des Ich auf der einen Seite und die Frage nach dem phänomenologisierenden Ich auf der anderen. Die fundamentale Frage: ‚Wer bin ich?’ treibt Husserl letztlich dazu, das philosophierende Ich nach seinem Verhältnis zum transzendentalen ‚Anderen’ radikal zu befragen, damit klar wird, ob, und wenn ja, in welchem Sinn das ‚Ich’ trotz des befremdlichen Anscheins doch den geforderten ‚letzten Ankergrund’ der Phänomenologie bieten kann. 4.2.2 Die radikalisierte Epoché und das Problem der ‚Äquivokation’ Nachdem die allgemeine Richtung der Frage verdeutlicht wurde, analysiert Husserl das befragte Phänomen genauer. Die pointierte ‚philosophische Einsamkeit’ muß zunächst von der natürlich-mundanen Isoliertheit eines Menschen strikt unterschieden werden. Husserl weist darauf hin, daß ‚ich’ in dieser Einsamkeit nicht ein Einzelner bin, der sich aus der Gemeinschaft bloß aussondert wie ein Schiffbrüchiger; denn er weiß dabei, daß er noch der Gemeinschaft der Menschheit zugehört, von der er nur zufällig abgetrennt ist (VI, 188). Dagegen gilt es hier, die Geltung des Sinnes ‚Ich’ und ‚Gemeinschaft’ methodisch außer Kraft zu setzen, da sonst diese Geltung als Vorurteil für die betreffende philosophische Betrachtung wirkt; sie wird vorausgesetzt und verwendet, bleibt aber außer acht. Diese Epoché, die in eine bisher unberührte Dimension hineinführt, aber formal gesehen durchaus dasselbe methodische Verfahren seit der frühen Reduktion darstellt, 24 wird folgendermaßen zum Ausdruck gebracht: „Ich bin nicht ein Ich, das immer noch sein Du und sein Wir und seine Allgemeinschaft von Mitsubjekten in natürlicher Geltung hat. Die ganze Menschheit und die ganze Scheidung und Ordnung der Personalpronomina ist in meiner Epoché zum Phänomen geworden, mitsamt dem Vorzug des Ich-Mensch unter anderen Menschen” (ebd.). Diese Bemerkung macht unmißverständlich klar, daß es sich hier nicht um eine reale Vereinzelung des Menschen, sondern um die radikalisierte Epoché hinsichtlich des Geltungssinnes handelt, wobei es darauf
24
Es ist beachtenswert, daß das Motiv, den argumentativen Zirkel zu vermeiden, an dieser Stelle der Krisis klar zu sehen ist; vgl. dazu auch XXXIV, 299. Zur Charakterisierung der Epoché und Reduktion vgl. Kapitel II, 2.
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ankommt, die ganze sinnhafte Struktur, die mit den Personalpronomina vorausgesetzt wird, außer Funktion zu setzen. Diese radikale Epoché, die die ganze Geltungsstruktur der Ich-Pluralität betrifft, ist der zweite Hauptpunkt, der zu markieren ist. Es ist zu bedenken, daß das sogenannte ‚Ur-Ich’ erst durch diese radikale Epoché thematisiert werden kann. Husserl bringt nun einen in diesem Zusammenhang entscheidenden Punkt zur Sprache: „Das Ich, das ich in der Epoché erreiche, dasselbe, das in der kritischen Umdeutung und Verbesserung der Descartes’schen Konzeption das ‚ego’ wäre, heißt eigentlich nur durch Äquivokation ‚Ich’, obschon es eine wesensmäßige Äquivokation ist, da, wenn ich es reflektierend benenne, ich nicht anders sagen kann als: ich bin es, ich der EpochéÜbende, ich, der die Welt, die mir jetzt nach Sein und Sosein geltende Welt, mit allen ihren Menschen, deren ich so völlig gewiß bin, als Phänomen befrage” (VI, 188). Diese wegweisende Stelle zeigt, daß das ‚Ich’, das sich durch die radikale Epoché enthüllt, nicht mehr im gewöhnlichen Sinne ‚Ich’ ist. Diese „Äquivokation” besagt keine zufällige Mangelhaftigkeit, die überwältigt werden könnte, sondern eine „wesensmäßige” Notwendigkeit, die zum betreffenden Phänomen selbst gehört (ebd.). Man muß dabei auch darauf achtgeben, daß der Grund, warum man hier trotz der ‚Äquivokation’ noch ‚Ich’ sagen muß, mit dem Problem des Epoché-übenden, phänomenologisierenden Ich in Beziehung gebracht wird. In dieser Problemlage bekundet sich ein zentrales Phänomen, das durch die weitere Untersuchung in den folgenden Kapiteln beleuchtet werden soll. An der betreffenden Stelle der Krisis finden sich einige Hinweise dafür, wie dieses ‚Ich’ im eigentümlichen Sinn zu verstehen ist. Das vorhin genannte ‚Ich’ wird so präzisiert: „[...] also ich, der ich über allem natürlichen Dasein, das für mich Sinn hat, stehe und der Ichpol bin des jeweils transzendentalen Lebens, worin zunächst Welt rein als Welt für mich Sinn hat: Ich, der ich, in voller Konkretion genommen, all das umfasse” (VI, 188). Hieraus sind zwei Charakterisierungen des ‚Ich’ zu entnehmen: Erstens wird das ‚Ich’ als ‚Ichpol’ charakterisiert. In diesem Sinn habe ich mit allem, was für mich sinnvoll erfahren werden kann, eine einzigartige Beziehung, insofern gesagt werden kann: Alles hat seine Weise des Für-mich-Seins, sofern es für mich überhaupt als Seiendes in Frage kommen kann. Zweitens besagt das ‚Ich’ in voller Konkretion genommen ein solches, das alles, was für mich ist, ‚umfaßt’. Diese Bestimmung klingt besonders problematisch. Wenn dies keinen absurden Solipsismus bedeuten soll, was meint Husserl eigentlich damit? Diese Frage soll im VII. Kapitel genauer behandelt werden.
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4.2.3 Die undeklinierbare ‚Einzigkeit’ und die ‚intentionale Modifikation’ Husserls Darstellung kommt nun auf die ‚Naivität’ des Vorgehens zurück. Er macht nun auf folgendes aufmerksam: Aus der ‚Einsamkeit’ des philosophierenden ‚Ego’ in seiner merkwürdigen Äquivokation resultiert keineswegs, „daß es nicht zu rechtfertigen sei, daß trotzdem von einer transzendentalen, die Welt als ‚Welt für alle’ konstituierenden Intersubjektivität gesprochen werden muß, in der ich wiederum auftrete, aber nun als ‚ein’ transzendentales Ich unter den Anderen, und dabei ‚wir alle’ als transzendentalfungierende” (VI, 188). Die schon auf entscheidende Weise etablierte Erkenntnis der ‚transzendentalen Intersubjektivität’ mindert ihre Bedeutung nicht im geringsten; dem widerspricht die neue Einsicht in die ‚philosophische Einsamkeit’ nicht. Diese Einsicht bedeutet vielmehr einen vertieften Rückgang auf eine bisher unbemerkte Dimension, die bei der Thematisierung der transzendentalen Intersubjektivität bereits ständig als Geltungsboden diente, aber trotzdem nicht als solche problematisiert wurde. In dieser Hinsicht ist das Vorgehen der Überlegung in der Krisis bis zu diesem §54 mit einer gewissen Naivität behaftet. Diese methodologische Naivität muß nun durchbrochen werden. Dabei wird die fragliche, in Vergessenheit geratene Dimension ausdrücklich mit dem Titel ‚Ur-Ich’ bezeichnet: „[...] verkehrt war das Methodische, war das sogleich Hineinspringen in die transzendentale Intersubjektivität und das Überspringen des Ur-Ich, des ego meiner Epoché, das seine Einzigkeit und persönliche Undeklinierbarkeit nie verlieren kann” (VI, 188). Das besagt, daß die transzendentale Intersubjektivität noch nicht eine gesicherte Evidenz hat, solange ihr Verhältnis zur eigentümlichen ‚Einzigkeit’ des Ich unberücksichtigt bleibt. Die „persönliche Undeklinierbarkeit” verweist auf jene radikale Epoché bezüglich des Sinnes der Personalpronomina.25 Das ‚Ur-Ich’ kennzeichnet also die Dimension, die durch diese Epoché freigelegt wird, die ich aber trotz der Epoché des gewöhnlichen Sinnes ‚Ich’ noch notgedrungen ‚Ich’ nennen muß, woraus die ‚Äquivokation’ entsteht. In welchem Sinn aber muß man diese Dimension noch ‚Ich’ nennen? Ist es wirklich unvermeidlich? Diese Frage soll im Zentrum der folgenden Untersuchungen stehen. Zunächst soll nur weiterhin im Auge behalten werden, daß die ‚UrIch’ genannte Dimension einerseits über den gewöhnlichen Sinn des Wortes ‚Ich’ hinausgeht, daß es andererseits Husserl zufolge dennoch notwendig ist, 25
Aus diesem Grund kann ich Orths Interpretation nicht zustimmen, daß Husserl dem Ur-Ich einen „persönlichen Charakter” zuspreche (Orth 1999, 94). Mit dem Ausdruck „persönliche Undeklinierbarkeit”, den Orth heranzieht, meint Husserl m. E. die ‚Unmöglichkeit der persönlichen Deklination’ und nicht eine ‚Undeklinierbarkeit (Einzigkeit), die einen persönlichen Charakter hat’. Orth selbst scheint an einer anderen Stelle in dieser Richtung zu interpretieren, wenn er sagt, daß das Ur-Ich „noch vor der Bestimmung der Personalpronomina” liege (183 Anm. 40).
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sie mit dem Wort ‚Ich’ zum Ausdruck zu bringen. Das Präfix Ur- deutet darauf hin, daß es sich hierbei nicht um das Ich im gewöhnlichen Sinne handelt, aber auch nicht um irgendeines Nicht-Ich, sondern vielmehr um das ‚Ichliche’ im gesteigerten, radikalen Sinne; jenes Präfix drückt also die Differenz zum uns bekannten Ichbegriff und zugleich dessen Radikalisierung aus. Husserl versäumt aber nicht, sofort zu betonen, daß jene ‚Einzigkeit’ und ‚Undeklinierbarkeit’ des Ur-Ich die uns vertraute Deklinierbarkeit des Ich und die Konstitution der Intersubjektivität keinesfalls ausschließt. Ohne Widerspruch kann man sagen, daß das Ur-Ich „sich – aber durch eine besondere ihm eigene konstitutive Leistung – für sich selbst transzendental deklinierbar macht; daß es also von sich aus und in sich die transzendentale Intersubjektivität konstituiert, der es sich dann zurechnet, als bloß bevorzugtes Glied, nämlich als Ich der transzendentalen Anderen” (VI, 188f.). Die transzendentale Intersubjektivität darf nicht bloß von Anfang an vorausgesetzt werden: Insofern sie für mich ‚gilt’, kann und muß ihr Geltungssinn phänomenologisch befragt werden. Auf diese Frage antwortet Husserl, indem er das Phänomen der ‚transzendentalen Deklination’ verfolgt; sie bedeutet eine Art Selbstrelativierung, durch die ich mich selbst als ein Ich unter anderen erfahren kann. Ohne sie kann es auch kein Verständnis dafür geben, daß der Andere ebenso ‚ein Ich’ ist. Diese ‚Deklination’, welche die Relativität des Ich und die intersubjektive Pluralität erst erfahrbar macht, präzisiert Husserl folgendermaßen: Die „philosophische Selbstauslegung in der Epoché [...] kann aufweisen, wie das immerfort einzige Ich in seinem originalen in ihm verlaufenden konstituierenden Leben eine erste Gegenstandssphäre, die ‚primordiale’, konstituiert, wie es von da aus in motivierter Weise eine konstitutive Leistung vollzieht, durch die eine intentionale Modifikation seiner selbst und seiner Primordialität zur Seinsgeltung kommt unter dem Titel ‚Fremdwahrnehmung’, ‚Wahrnehmung eines Anderen’, eines anderen Ich, für sich selbst Ich wie ich selbst” (VI, 189). Es handelt sich also um die Konstitution der sogenannten ‚Primordialität’ sowie um ihre ‚intentionale Modifikation’. Diese ‚Modifikation’ ermöglicht Husserl zufolge, die Relativität und Gleichrangigkeit der Ich, die zum Sinn der Fremderfahrung wesentlich gehört, bewußtseinsmäßig zu erfahren. Das Thema ‚Konstitution der Primordialität’ verbindet diese Darstellung in der Krisis mit der fünften Cartesianischen Meditation, welche die Konstitution der Intersubjektivität systematisch behandelt, mit welcher sich Husserl aber nie zufriedengab.26 Die oft kritisierte Darstellung der V. Meditation enthält bereits die Analyse der intentionalen Modifikation, aber 26
Vgl. die Versuche der Selbstkritik und Revision in den Manuskripten (XV, 70ff.). Die geplante Verbesserung und Erweiterung der Cartesianischen Meditationen wurde nicht vollendet.
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nur ansatzweise und fragmentarisch. Die oben zitierte Stelle der Krisis zeigt, daß dieses Thema nun zum zentralen Punkt der Intersubjektivitätsanalyse geworden ist. Die ‚intentionale Modifikation’ soll später eingehend untersucht werden (Kapitel VI). 4.2.4 Die Analogie zwischen Fremderfahrung und Wiedererinnerung und das Problem der Zeitigung Im nächsten Schritt ist zu erwägen, daß Husserl das Phänomen der ‚intentionalen Modifikation’ in bezug auf die Fremderfahrung anhand der Analogie der ‚Wiedererinnerung’ untersucht. Zum Wiedererinnerten gehört ein Ich, das aber nicht das originale Ich ist, das in der Gegenwart lebt. „Also das aktuelle Ich vollzieht eine Leistung, in der es einen Abwandlungsmodus seiner selbst als seiend (im Modus vergangen) konstituiert” (VI, 189). Das vergangene Ich hat den Charakter der ‚Modifikation’ des originalen Ich. In diesem Phänomen wie in der Fremderfahrung sieht Husserl die Struktur der IchPluralisierung durch die ‚intentionale Modifikation’, obwohl ein fundamentaler Unterschied darin besteht, daß in einem Fall die ‚Identifizierung’ des Ich herrscht (das modifizierte Ich ist das vergangene Ich-selbst), im anderen eine definitive Nicht-Identität (das durch die Modifikation erst verständlich gewordene Ich ist nicht Ich-selbst). Es handelt sich dabei nicht um eine willkürliche Analogie, sondern um eine sachlich begründete Parallele zwischen zwei fundamentale Arten der Zeitigungen: „Die Selbstzeitigung sozusagen durch Ent-Gegenwärtigung (durch Wiedererinnerung) hat ihre Analogie in meiner Ent-Fremdung (Einfühlung als eine Ent-Gegenwärtigung höherer Stufe — die meiner Urpräsenz in eine bloß vergegenwärtigte Urpräsenz)” (VI, 189). Es darf nicht übersehen werden, daß die ‚Ent-Fremdung’ ebenso eine Art ‚Ent-Gegenwärtigung’ ist, d. h. sich als eine Art ‚Zeitigung’ vollzieht. Husserl sieht im Phänomen der Zeitigung einen Anhaltspunkt, um die der Fremderfahrung zugrundeliegende Struktur der ‚intentionalen Modifikation’ konkreter zu analysieren. In dieser Hinsicht soll die fragliche ‚Analogie’ im VI. Kapitel thematisch untersucht werden. Es sei noch erwähnt, daß die ‚intentionale Modifikation’ auf keinen Fall als eine ‚von mir ausgehende Produktion des Anderen’ verstanden werden darf. Denn in einem solchen Gedanken der angeblichen ‚Produktion’ wären sowohl der Sinn des Ich als auch der des Anderen vorausgesetzt, während es sich bei Husserls Analyse der ‚Modifikation’ um die Ur-Konstitution der Sinne ‚Ich’ und ‚Anderer’ als solcher handelt. Wie ich schon betont habe, geht es hier nicht um das reale Sein des Anderen, sondern um ihre spezifi-
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sche Art der ‚Seinsgeltung’. 27 Insofern ich den Anderen als ‚anderes Ich’ erfahren kann, habe ich eine spezifische Erfahrungsform und eine spezifische Seinsgeltung, die phänomenologisch befragt und verstanden werden müssen. Es geht also um die Rückfrage von der immer schon selbstverständlich gebrauchten Seinsgeltung auf ihre konstitutiven Sinnesvoraussetzungen. Insofern kann die fragliche ‚Modifikation’ keinesfalls bedeuten, daß ‚ich’ die Anderen im realen oder metaphysischen Sinn ‚produzieren’ würde. 28 4.2.5 Der methodische Primat des Ich und die Überwindung der Naivität Husserl begann den Abschnitt §54 b) mit dem Hinweis auf die Naivität des bisherigen methodischen Vorgehens. Es ist beachtenswert, daß er am Ende dieses Abschnitts noch einmal die methodische Bedeutung des Ichproblems akzentuiert. Der ‚Primat’ des Ich muß in erster Linie im methodischen Sinn verstanden werden: „Methodisch kann nur vom ego aus und der Systematik seiner transzendentalen Funktionen und Leistungen die transzendentale Intersubjektivität und ihre transzendentale Vergemeinschaftung aufgewiesen werden, in der von dem fungierenden System der Ichpole aus die ‚Welt für alle’ und für jedes Subjekt als Welt für alle sich konstituiert” (VI, 189). Das besagt, daß man keinen anderen Zugang zum Phänomen des Anderen und der Intersubjektivität hat, als daß man sich selbst und seine eigene Fremderfahrung befragt. Ohne Ich zu sein, hätte ich auch kein Phänomen des Anderen, wie sich im dritten Kapitel herausstellte. 29 Das Ich-Sein macht den Zugang zu diesem Phänomen aus, obwohl das sich in ihm Bekundende den Charakter hat, daß es mich selbst völlig übersteigt. Das Problem ist, daß das ‚Ich-Sein’ in dieser methodischen Rückfrage, die durch die radikale Epoché ermöglicht wird, seinen gewöhnlichen, vertrauten Sinn verlieren muß. Dieses Problem beherrscht letzten Endes die ganze Darstellung über das ‚UrIch’ und seine ‚Modifikation’. Da diese Schwierigkeit zunächst unbekannt bleibt, muß die methodische Naivität, die an der Betrachtungsweise des Phänomenologisierenden haftet, als solche aufgezeigt und bewältigt werden: „Die Naivität der ersten Epoché hatte, wie wir sogleich sahen, die Folge, daß Ich, das philosophierende ‚ego’, indem ich mich als fungierendes Ich, als Ichpol transzendentaler Akte und Leistungen erfaßte, in einem Sprunge und unbegründet, also unrechtmäßig, der Menschheit, in der ich mich finde, dieselbe Verwandlung in die fungierende 27
Dies wird deutlich, indem Husserl die Leistung der ‚Ent-Fremdung’ z. B. folgendermaßen beschreibt: „So kommt in mir ein ‚anderes’ Ich zur Seinsgeltung, als kompräsent, und mit seinen Weisen evidenter Bewährung, offenbar ganz anderen als denen einer ‚sinnlichen’ Wahrnehmung” (VI, 189). 28 Näheres dazu im Kapitel VI, 4. 29 Vgl. Kapitel III, 2.2.
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transzendentale Subjektivität zumaß, die ich allein in mir vollzogen hatte” (VI, 190). Die ‚Naivität’ besteht darin, daß ich als transzendentaler Phänomenologe ohne weiteres vorausgesetzt habe, daß jeder von ‚uns’, nämlich ich und jeder Andere, ein Ich ist, daß alle in dieser Hinsicht ‚gleich’ sind. Es wurde nicht danach gefragt, woher ich von dieser Gleichrangigkeit weiß, bzw. wie sie in mir zu ihrer unbezweifelbaren Geltung gelangt ist. Diese unkritisch vorausgesetzte ‚Selbstverständlichkeit’ muß nun thematisiert werden.30 Die komprimierte Darstellung des §54 schließt Husserl mit folgenden emphatischen Worten: „Unter allen Umständen muß aber, aus tiefsten philosophischen Gründen, auf die nicht weiter eingegangen werden kann, und nicht nur aus methodischen, der absoluten Einzigkeit des ego und seiner zentralen Stellung für alle Konstitution genuggetan werden” (VI, 190). Die ‚absolute Einzigkeit des ego’ wurde zwar in erster Linie in methodischer Hinsicht befragt, aber ihre Bedeutung beschränkt sich nicht auf das Methodische. Auf die ‚tiefsten philosophischen Gründe’ wurde aber in der vorangegangenen Darstellung dieses Paragraphen zumindest bereits hingewiesen. Es gilt jetzt, diesen Hinweisen nachzugehen und die angedeuteten Probleme, mit denen sich Husserl hauptsächlich in seinen Forschungsmanuskripten aus den spätesten Jahren beschäftigt, genauer zu erörtern. Die ‚intentionale Modifikation’ und die ‚Ent-Gegenwärtigung’ gehören z. B. zu den Problemen, die über das Methodische hinausgehen; allerdings darf nicht vergessen werden, daß diese Probleme nur aus der entsprechenden methodischen Perspektive thematisierbar sind.
4.3 Die apodiktische Evidenz des ‚absoluten Ego’ Bevor wir uns den zuletzt genannten Aufgaben zuwenden, müssen noch die nicht weniger bedeutsamen Hinweise in §55 in Betracht gezogen werden. Im Anschluß an die Darstellung des §54 legt Husserl noch einmal besonderen Nachdruck auf die zentrale Stellung des Ego. Dabei ist zu berücksichtigen, daß er von der ‚Umgestaltung der Epoché’ spricht: „Demnach bedarf es gegenüber dem ersten Ansatz der Epoché eines zweiten, bzw. einer bewußten Umgestaltung derselben durch Reduktion auf das absolute ego als das letztlich einzige Funktionszentrum aller Konstitution. Das bestimmt hinfort die ganze Methode der transzendentalen Phänomenologie” (VI, 190). Diese ‚Umgestaltung der ersten Epoché’ besagt keinesfalls eine willkürliche Umwendung zur Ich-Metaphysik. Wie ich schon darauf hinwies, 30
Wenn der Andere und die Intersubjektivität in ihrer ‚selbstverständlichen’ Seinsgeltung verständlich gemacht werden, handelt es sich nicht mehr um eine naiv vorausgesetzte Geltung, sondern um eine kritisch geprüfte Wahrheit. Der zuletzt zitierten Stelle fügt Husserl hinzu: „Trotz der methodischen Unrechtmäßigkeit lag darin doch eine Wahrheit” (VI, 190).
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handelt es sich dabei um eine Überwindung der Naivität, d. h. um die Befreiung des philosophierenden Ich von der blinden Selbstvergessenheit und die Freilegung der übersehenen Sphäre der tieferen ‚Selbstverständlichkeit’. Diesen Aspekt der Ur-Ich-Lehre verdeutlicht Husserl im Anschluß an die oben zitierte zentrale Stellung des ‚absoluten ego’. Nachdem er auf die ständige unthematische Bodengeltung der Welt und auf die zweifellose apperzeptive Geltung des Ich als des ‚Menschen in der Welt’ hingewiesen hat, spricht er den maßgebenden Satz aus, auf den ich schon im ersten Kapitel aufmerksam gemacht habe: „Aber es ist eben das große Problem, diese ‚Selbstverständlichkeit’ zu verstehen” (VI, 191). Diese Aufgabe, die ‚Selbstverständlichkeit’ zu verstehen, verbindet Husserl an dieser Stelle ausdrücklich mit der Selbstbefragung und -enthüllung des Ego: „Die Methode erfordert nun, daß das ego von seinem konkreten Weltphänomen aus systematisch zurückfragt und dabei sich selbst, das transzendentale ego, in seiner Konkretion, in der Systematik seiner konstitutiven Schichten und seiner unsagbar verschlungenen Geltungsfundierungen kennen lernt” (ebd.). Dabei muß unterstrichen werden, daß sich das Ego nicht als ein starrer Punkt, sondern als ein Arbeitsfeld freilegt, das noch ungesehene Probleme birgt: „Das ego ist im Einsatz der Epoché apodiktisch gegeben, aber als ‚stumme Konkretion’ gegeben. Sie muß zur Auslegung, zur Aussprache gebracht werden, und zwar in systematischer, vom Weltphänomen aus zurückfragender intentionaler ‚Analyse’” (ebd.).31 Auf dem Weg dieser Analyse drängen sich die neuen Fragen auf, die sich ebenfalls auf die ‚Selbstverständlichkeiten’ der Menschheit beziehen, wie ‚Anomalität’ (Kindheit, Verrücktheit, tierisches Subjekt usw.),32 Generativität, Geburt und Tod, Geschlechter, Schlaf und Ohnmacht (das Unbewußte), um einige Beispiele zu nennen. Auf Details dieser Probleme soll hier nicht eingegangen werden; zu unserem Zweck muß vielmehr die ‚Apodiktizität des Ego’ besonders beachtet werden, die an dieser Stelle der Krisis wiederum stark betont wird. Aus der zuletzt zitierten Stelle läßt sich klar entnehmen, daß das Ego zu Anbeginn der Analyse in einem Sinn noch ‚unbestimmt’ ist, aber trotzdem ‚apodiktisch’ gegeben ist. Alle vorhin genannten Probleme tauchen erst auf dem Boden der transzendentalen Selbsterfahrung des Ego auf. Das Ego macht also den umfassendsten Rahmen dieser Probleme und die Evidenzquelle ihrer Lösung aus. Wenn Husserl aus dieser Perspektive betont, „daß es kein erdenkliches sinnvolles Problem der bisherigen Philosophie gibt, das nicht die transzendentale Phänomenologie auf ihrem Wege einmal erreichen müßte” (VI, 192), so ist dies in dem Sinn zu verstehen, daß die Konkretion des ‚ego’ als diejenige Grundsphäre entdeckt wird, 31
Vgl. auch I, 77; XXXIV, 203. Es ist bemerkenswert, daß Husserl diese Probleme aus der Perspektive der ‚intentionalen Modifikation’ darstellt (VI, 191).
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der sich kein erdenkliches Problem entziehen kann. Dies ist aber keine Behauptung metaphysischer Art, sondern besagt nur, daß es eine ‚Sichtweise’ gibt, die wir ständig voraussetzen und in der wir sehen, die aber in der natürlichen Blickrichtung notwendig unthematisch bleibt. Aus dieser gewissermaßen ‚radikal subjektiven’ Perspektive findet man alle erdenklichen Themen, denen man in objektiver Richtung begegnen kann, aber aus völlig neuer Sicht. Welche Bedeutsamkeit dieser scheinbar trivialen Tatsache zukommt, soll später ausführlich erörtert werden.33 Im letzten Absatz von § 55 betont Husserl „den Sinn der Forderung einer Apodiktizität des ego und aller auf diesem transzendentalen Grunde gewonnenen transzendentalen Erkenntnisse” (VI, 192) noch deutlicher. Die phänomenologische Bedeutung des Ego wird dadurch charakterisiert, daß seine Apodiktizität erstens von der natürlichen Evidenz, zweitens von der Prämisse für eine ‚Deduktion’ strikt unterschieden wird. Husserl kontrastiert die unhintergehbare Evidenz des Ego zunächst mit den natürlichen Evidenzen: „Beim ego angelangt, wird man dessen inne, daß man in einer Evidenzsphäre steht, hinter die zurückfragen zu wollen ein Unsinn ist. Dagegen war jede übliche Berufung auf Evidenz, sofern damit eine weitere Rückfrage abgeschnitten sein sollte, theoretisch nicht besser als eine Berufung auf ein Orakel, in dem ein Gott sich offenbart” (ebd.).34 Auf diese Weise macht Husserl darauf aufmerksam, daß die angeblichen ‚Selbstverständlichkeiten’, bei denen man normalerweise zu fragen aufhört, mit blinden Glauben gleichzusetzen sind, insofern man dabei tatsächlich in einem naiv-geradehin vollzogenen ‚doxischen’ Akt lebt; man merkt und befragt aber die Funktion seiner eigenen Subjektivität nicht. Dies betrifft nicht nur die alltägliche Berufung auf die Selbstverständlichkeiten, sondern auch die wissenschaftlichen Evidenzen, die oft unser unbedingtes Vertrauen genießen: „Alle natürlichen Evidenzen, die aller objektiven Wissenschaften (die der formalen Logik und Mathematik nicht ausgenommen), gehören in das Reich der ‚Selbstverständlichkeiten’, die in Wahrheit ihren Hintergrund der Unverständlichkeit haben” (ebd.). Das ‚Ego’ ist der Titel für diesen Hintergrund, der zwar immer schon durchlebt, aber noch nicht ‚verstanden’ ist. Andererseits muß man sich davor hüten, die apodiktische Evidenz des Ego als eine ‚Prämisse’ zu betrachten, auf der ein theoretisches System deduzierend aufgebaut werden könnte: „Es ist natürlich ein lächerliches, obschon leider gewöhnliches Mißverständnis, die transzendentale Phänomenologie als ‚Cartesianismus’ bekämpfen zu wollen, als ob ihr ‚ego cogito’ eine 33
An dieser Stelle möchte ich nur die folgenden Worte Husserls anführen: „[...] ego cogito, dieser trivialsten Trivialität für den philosophisch Blinden, diesem Wunder aller Wunder für den philosophisch Sehenden” (LV, 207 = XXXV, 318); vgl. XXXV, 66; VIII, 5, 166f. 34 Es ist auch zu berücksichtigen, daß Husserl an der zitierten Stelle von einer ‚Evidenzsphäre’ spricht, nicht von einer punktuellen Evidenz.
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Prämisse oder Prämissensphäre wäre, um aus ihr die übrigen Erkenntnisse (wobei man naiverweise nur von objektiven spricht) in absoluter ‚Sicherung’ zu deduzieren” (VI, 193).35 Das Ego ist kein fester Punkt, auf den sich ein ganzes Gebäude der Theorie stützen würde. Man kann nicht oft genug betonen, daß mit dem Titel ‚Ego’ in erster Linie eine eigentümliche ‚Sichtweise’ ausgedrückt ist. In dieser ‚Sichtweise’ sieht man das ‚Ego’ nicht als ein Glied eines theoretischen Apparats vor sich, sondern man sieht aus der Perspektive des ‚Ego’, die Husserl, wie ich im letzten Kapitel zeigte, die ‚egologische Einstellung’, die ‚meditierende Ich-Einstellung’ usw. nennt.36 In dieser Einstellung verfolgt man nicht mehr die praktischen Zwecke des natürlichen Lebens, die von Anfang an auf die Objektivität gerichtet sind. Auch die Wissenschaftler in der natürlichen Einstellung bewegen sich auf dem Boden der Welt, in der alle natürlichen Zwecke terminieren (auch die Wissenschaften dienen zum natürlichen Zweck). 37 Aus der phänomenologisch-egologischen Perspektive wird dagegen versucht, die ganze Tätigkeit und Leistung, die dieses natürliche und wissenschaftliche Leben ausmacht, ‚verständlich’ zu machen: „Es gilt nicht, Objektivität zu sichern, sondern sie zu verstehen. Man muß endlich einsehen, daß keine noch so exakte objektive Wissenschaft irgend etwas ernstlich erklärt oder je erklären kann. Deduzieren ist nicht Erklären. Voraussagen oder objektive Aufbauformen physikalischer oder chemischer Körper erkennen und danach voraussagen – das alles erklärt nichts, sondern bedarf der Erklärung. Das einzig wirkliche Erklären ist: transzendental verständlich machen. Alles Objektive steht unter der Forderung der Verständlichkeit” (VI, 193). Es ist unverkennbar, daß das Motiv, das den frühen Reduktionsgedanken leitete, auch hier klar zu sehen ist, nämlich das Verständlichmachen der Selbstverständlichkeiten im Gegensatz zur transzendierenden Theoriebildung der objektiven Wissenschaften.38 Es ist nicht zu übersehen, daß die ‚Apodiktizität des Ego’, die in der Lehre vom ‚Ur-Ich’ eine zentrale Rolle spielt, keine objektiv fixierte Evidenz besagt, sondern auf eine evidenztheoretische ‚Sichtweise’ verweist, in der alles Objektive in einem umfassenderen, sonst als ‚selbstverständlich’ übersehenen Zusammenhang „zurückverstanden” werden kann (ebd.). Dabei handelt es sich nicht um eine bloß zunehmende Ausbreitung des Themenbereichs, sondern um eine Vertiefung des Selbstverständnisses vom Philosophierenden, worauf ich im zweiten Kapitel hinwies.39 Es geht also, so Husserl, um „eine radikalste und tiefste Selbstbesinnung der leistenden Subjekti35
Wir wissen, daß es sich hierbei um einen zentralen Punkt handelt, den Husserl seit der frühen Zeit immer wieder akzentuiert. Vgl. Kapitel II, 2.2. 36 Vgl. Kapitel III, 3.3. 37 Vgl. VI, 180. 38 Vgl. Kapitel II, 2. 39 Vgl. Kapitel II, 3.3.
Die ,Paradoxie’ der Subjektivität
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vität” (ebd.). In diesem Zusammenhang ist es auch bemerkenswert, daß Husserl sowohl im einleitenden ersten Teil als auch in der Aufzeichnung, die vom Herausgeber als „Schlußwort” gewählt wurde, die Vertiefung des Selbstverständnisses als den maßgeblichen Beweggrund der Philosophiegeschichte stark betont.40 Dabei wird wiederum die Bedeutung der phänomenologischen Apodiktizität im Gegensatz zum geläufigen Begriff der ‚apodiktischen Erkenntnisse’ hervorgehoben (VI, 274f.). Die Krisis, die das Motivvon der ‚Vertiefung des Selbstverständnisses’ durchzieht, verweist an ihren wichtigen Stellen auf das Problem der Apodiktizität, das aber in dieser Schrift nicht eingehend behandelt wird. Die Darstellung der Krisis stützt sich auf die ständigen Bemühungen Husserls seit den zwanziger Jahren, die frühe Evidenzlehre weiter zu vertiefen und zu einem möglichst klaren Verständnis der Evidenzen zu gelangen. Im VII. Kapitel werde ich versuchen, aufgrund dieser Neuentwicklung der Evidenzlehre die Bedeutung der ‚Apodiktizität’ im Husserlschen Sinn deutlich zu machen, was eine wesentliche Rolle dabei spielt, den Gedanken des ‚Ur-Ich’ nachvollziehbar zu machen. Blicken wir auf unser Ergebnis zurück, bevor wir weitergehen: Durch die vorgenommene Auslegung der Krisis wurde bestätigt, daß die folgenden zwei Fragen, die ich am Anfang dieses Kapitels gestellt habe, in der Darstellung, die in der Problematisierung des ‚Ur-Ich’ kulminiert, tatsächlich eine maßgebliche Rolle spielen: (I) Wie verhält sich die transzendentale Intersubjektivität zu dem phänomenologisierenden Ich? (II) Wer bin ‚ich’, der ich die Epoché übe und phänomenologisierend das ‚Ich bin’ als die apodiktische Evidenz aussage? In bezug auf die ‚Paradoxie der menschlichen Subjektivität’ wurde herausgestellt, daß es sich dabei in erster Linie um die schwer zu verstehende, für die natürlichen Augen fremdartige ‚Sichtweise’ handelt, die ein vertieftes Selbstverständnis der Subjektivität sowie des Phänomenologisierens selbst fordert. Diese Fragestellung wurde dann im Hinblick auf das Problem der ‚drei Ich’ präzisiert. Die Frage ist nun: Wer bin ich, der ich die drei Aspekte des Ich als ein einziges Ich durchlebe? Dabei kann man weder zum vertrauten natürlichen Selbstverständnis noch zu einer metaphysischen Konstruktion Zuflucht nehmen. Erst aus dieser Problemstellung geht hervor, daß die Frage nach dem ‚Ur-Ich’ unausweichlich ist. Dabei tritt das Problem der transzendentalen Intersubjektivität aus einer neuen Perspektive in den Vordergrund; jetzt muß die verborgene Naivität, die Intersubjektivität ohne weiteres in Anspruch zu nehmen, kritisiert werden. Dadurch wird die Frage nach der phänomenologischen Methodik, die auf der ‚Selbstbesinnung’ beruht, zugespitzt. Vor dem Hintergrund dieses Problembewußtseins wurden zunächst vier zentrale Punkte deutlich: (1) die einzigartige ‚philosophische Einsamkeit’; 40
Vgl. VI, 9ff.; 273ff. Auch Orth weist mit Recht auf die Selbstbesinnung und -klärung als Grundmotiv der Krisis-Schrift hin (Orth 1999, 95ff.).
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Kapitel IV
(2) die radikalisierte Epoché und die ‚Äquivokation’ der Ich-Rede; (3) die undeklinierbare ‚Einzigkeit’ und die intentionale Modifikation; (4) die Analogie zwischen Fremderfahrung und Wiedererinnerung. Hinzu kam (5) die Frage nach der ‚Apodiktizität’ des Ego, die in bezug auf seine Absolutheit eine zentrale Rolle spielt. Diese Themen sollen jetzt eingehend erörtert werden. Die ersten beiden eng miteinander zusammenhängenden Fragen werden im Kapitel V. behandelt, die beiden anderen in Kapitel VI. Das VII. Kapitel wird ausschließlich der ‚Apodiktizität’ des Ego gewidmet sein.
Kapitel V
Das Ur-Ich und die Radikalisierung der Epoché: Kritische Abgrenzung des Problems
„Demnach mußte der phänomenologisch sich Einstellende erst sehen lernen, Übung gewinnen und in der Übung zunächst eine rohe und schwankende, dann immer bestimmtere Begrifflichkeit von seinem und Anderer Eigenwesentlichem erwerben” (VI, 251).
1. EINLEITUNG UND PROBLEMSTELLUNG 1.1 Die ‚Unbekanntheit’ des Ur-Ich und die Radikalisierung der Epoché Durch die Auslegung der Krisis nahm das ‚Rätsel’ des Ich eine radikale Form an, wobei vor allem die Probleme hinsichtlich dessen ‚philosophischer Einsamkeit’ und ‚Einzigkeit’ in den Vordergrund rückten. Die transzendentale Intersubjektivität kann nicht ohne weiteres den Status der letzten phänomenologischen Wahrheit in Anspruch nehmen, bevor die Schwierigkeiten mit dem Verständnis des ‚Ich’ aufgeklärt werden. Das Denken des ‚Ur-Ich’ dokumentiert Husserls Anstrengung, das ‚Rätsel des Ich’ aufzulösen. Im folgenden werde ich versuchen, den von ihm begangenen mühevollen Weg durch konsequente Radikalisierung der Epoché zu charakterisieren. Dabei ist besonders zu beachten, daß Husserl zu der immer klareren Einsicht kommt, daß es nun gar nicht mehr reicht, ein System der Ich-Theorie auf scheinbar ‚objektiv-neutrale’ Weise darzustellen. Hinsichtlich der transzendentalen Problematik kann man im allgemeinen sagen: „Die Unverständlichkeit greift in besonders empfindlicher Weise unsere Seinsart selbst an” (IX, 289). Dieser Problemcharakter spitzt sich bei der Problematisierung des ‚Ur-Ich’ zu. Das philosophierende Ich kann außerhalb seines Themenbereichs nicht mehr eine sichere ‚Zuschauertribüne’ finden. Seine ‚Sichtweise’ gewinnt eine fundamentale Bedeutung; ohne eine passende ‚Einstellung’ kann das fragliche Urphänomen des Ich überhaupt nicht in Sichtweite kommen. Denn es handelt sich hierbei um eine tiefe ‚Selbstverständlichkeit’, die sowohl von dem natürlichen als auch von dem wissenschaftlich anerzogenen Bewußtsein – sogar auch von der transzendentalen Phänomenologie in der
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Kapitel V
ersten Stufe – völlig unbemerkt vorausgesetzt ist. Um diese ‚Selbstverständlichkeit’ als eine in unserem Selbstverständnis tief verborgene ‚Unverständlichkeit’ zu enthüllen, ist eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen selbstverständlich-naiv vollzogenen ‚Sichtweise’ unentbehrlich. Durch die Epoché erscheint das transzendentale Ich, wie ich zeigte,1 als ein „völlig Fremdes” (LV, 213 = XXXV, 76). Was das ‚Ur-Ich’ anbelangt, ist seine Unbekanntheit und Fremdheit noch fundamentaler, sofern es sich erst durch eine radikalisierte Epoché freilegen läßt, welche die unbemerkten Voraussetzungen des zunächst naiv gewonnenen Begriffs vom transzendentalen Ich betrifft. Der ‚Sinn’ der ‚transzendentalen Intersubjektivität’, der zunächst als selbstverständlich in Gebrauch war, muß nun kritisch nach Geltung und Konstitution befragt werden. Es handelt sich hierbei um eine wohlvertraute Sinnesstruktur, in der unser (mein) Selbstverständnis tief verwurzelt ist. Indem diese außer Funktion gesetzt wird, enthüllt sich diejenige höchst fremdartige Dimension, die Husserl mit dem Begriff ‚Ur-Ich’ zu beschreiben versucht. Sie erfordert eine weitere Vertiefung des Selbstverständnisses, bei der die Methode der Epoché auf radikale Weise in Anspruch zu nehmen ist. „Das naiv gewonnene transzendentale Ich muss selbst wieder einer transzendentalen Reduktion unterworfen werden” (XXXIV, 300). Damit die ‚Ur-Ich’ genannte Problemdimension überhaupt erst in den thematischen Gesichtskreis treten kann, ist es also erforderlich, sowohl die natürlich-alltäglichen als auch die wissenschaftlich-philosophischen Voraussetzungen unserer ‚Sicht’ sich sorgfältig bewußt zu machen und außer Kraft zu setzen. Dies ist jedoch mit eigentümlichen Schwierigkeiten behaftet, denn solche Voraussetzungen gehören zu den völlig selbstverständlichen ‚Vorurteilen’, die in der individuellen und gemeinschaftlichen Bewußtseinsentwicklung zur festen Gewohnheit geworden sind: „[...] die Denkgewohnheiten einer jahrhundertelangen Tradition sind nicht so leicht zu überwinden und machen sich noch geltend, auch wenn man ihnen ausdrücklich entsagt” (VI, 248). Solange die heimlich vorausgesetzten Denkgewohnheiten als ‚Vorurteile’ in Funktion sind, wird unser Blick unbemerkt in eine bestimmte Richtung gelenkt; dadurch werden die bestimmten Problemdimensionen verhüllt, die nicht in jener Richtung stehen. Die verhüllend wirkenden ‚Vorurteile’ als solche entziehen sich infolge dessen unserem Blick um so tiefer. Husserl warnt nicht umsonst: „Zum Wesen solcher, schon den kindlichen Seelen eingeschulten Vorurteile gehört es ja gerade, in ihrem aktuellen Sichauswirken verborgen zu sein. Der abstrakt allgemeine Wille, vorurteilslos zu sein, ändert an ihnen nichts” (VI, 122). Es ist die Aufgabe der methodischen Epoché, diesen Mechanismus der vorurteilsmäßigen Verhüllung zum thematischen Bewußtsein zu bringen und ihre unbemerkten Wirkungen ge-
1
Vgl. Kapitel I, 5.1.
Das Ur-Ich und die Radikalisierung der Epoché
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zielt auszuschalten.2 Diese Aufgabe muß bei der Thematisierung des ‚UrIch’ besonders berücksichtigt werden.
1.2 Erfahrung und Begriff. Die ‚transzendentalen Symbole’ Bevor der radikalen Epoché näher nachgegangen wird, ist noch eine Vorbemerkung notwendig, die das Verhältnis zwischen Erfahrung und Begriff angeht. Das ‚Ur-Ich’ steht uns allen nicht von Anfang an als ein selbstverständliches gemeinsames Thema zur Verfügung. Auf die Frage: ‚Was ist Ur-Ich?’ kann man nicht ohne weiteres antworten, indem man angibt, zu welcher Gattung und Art der fragliche Gegenstand gehört. Denn das ‚Ur-Ich’ ist eigentlich kein Objekt, dessen Eigenschaften bloß nicht bekannt wären. In dieser Hinsicht können der Fragende und der Antwortende nicht ohne weiteres eine gemeinsame ‚Richtung’ des Bewußtseins teilen, da diese ‚Richtung’ nicht von objektiv-praktischer oder objektiv-wissenschaftlicher Art sein kann. Man weiß also noch nicht, wonach man eigentlich fragt. Es handelt sich beim ‚Ur-Ich’ aber auch nicht um eine neue theoretische Konstruktion. Die fehlende Bekanntheit meint vielmehr das Vorausgehen der ‚Erfahrung’. Es darf nicht vergessen werden, daß die Epoché als die Befreiung der ‚Sicht’ eine neue Erfahrung freilegt. „Und so muß auch der Blick, den die Epoché frei macht, ebenfalls ein in seiner Weise erfahrender Blick sein” (VI, 156). Die Epoché eröffnet eine Erfahrung, welche die bisher anonym durchlebten Erfahrungen reflektiv ‚sichtbar’ macht. Nur aus dieser Quelle der ‚transzendentalen Erfahrung’ kann die phänomenologische Erkenntnis und Aussage ihre Evidenz schöpfen. Darin besteht also die Möglichkeit der ‚Bewährung’ phänomenologischer Beschreibungen, die den Phänomenologen vor einer willkürlichen Konstruktion abhält. Die Schwierigkeit einer Aussage über das ‚Ur-Ich’ besteht also darin, daß wir durch die konsequente Epoché eine völlig neuartige ‚Erfahrung’ gewinnen, die mit den vorhandenen, bereits bekannten Begriffen auf keine Weise verständlich zu machen ist. Wenn man bei der Thematisierung des ‚Ur-Ich’ die wohlvertrauten Begriffe, seien es natürliche oder wissenschaftliche Begriffe, als selbstverständlich in Anspruch nimmt, wird auf diese Weise gerade die mögliche neue ‚Sicht’ versperrt, in der jene ‚unbekannte’ Erfahrung erst freigelegt wird; d. h., man fällt in das naive Verständnis der eigenen Erfahrung zurück, das ohnehin vertraut und angenehm ist. Es ist zwar unvermeidlich, daß auch bei der Beschreibung des ‚Ur-Ich’ die natürliche Sprache 2 In bezug auf den verhüllenden Charakter der ‚Vorurteile’ weist Husserl darauf hin, daß zu einer Einleitung in die Philosophie nicht nur die Aufgabe gehört, den Entdeckungsweg zur wahren Philosophie und ihrer Methode darzustellen. „Unvermeidlich muß sich damit verflechten ein wirksames Außer-Spiel-setzen der Vorurteile, die für eine sachliche und dabei radikale Begründung blind machen” (VI, 439).
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Kapitel V
gebraucht wird; aber die Begriffe sollen so verwendet werden, daß die schlechthinnige Geltung ihrer natürlichen Sinngehalte in Suspension bleibt; dadurch sollen sie als Zugang zur fraglichen Sache selbst fungieren.3 In diesem Zusammenhang spricht Husserl von ‚transzendentalen Symbolen’: „[...] die Sprache wird egologisch reduziert und die Worte und Sätze werden zu bloß egologischen Symbolen, die vom Ego freitätig ihren Bedeutungsgehalt empfangen, einen Gehalt, der, vermöge der Einklammerung ein rein egologischer oder nach der In-Geltung-Setzung der transzendentalen Anderen ein transzendentaler, im Ego als transzendental zugänglicher, freitätig den Symbolen beigelegt wird” (Ms. B I 5/ 2a).4 An dieser Stelle kann man Landgrebes anregenden Hinweis auf das Verhältnis zwischen Begriff und Anschauung bei Husserl heranziehen: „[...] für Husserl sind Begriffe nicht eine Explikation des der Vernunft a priori Eigenen, sondern nur Hinweise, Hilfsmittel, um den Gehalt der Anschauung darzustellen. Daher die Vorläufigkeit und Auflösbarkeit aller Begriffe, die er einführt, und die beständige Möglichkeit, sie wieder zurückzunehmen” (Landgrebe 1973, 322). Darin bekundet sich eine gänzliche Abweichung von der neuzeitlichen Tradition in Hinsicht auf das Verhältnis zwischen Anschauung und Denken: „Das Denken ist auf Anschauung gerichtet und erfüllt sich in ihr. Die Anschauung geht ihm voraus, und es bleibt hinter ihr immer zurück” (ebd.).5 Daher ist die ‚Reinigung’ der Sicht durch die Epoché notwendig, welche die ‚Anschauung’ allererst zugänglich macht und dadurch alles Denken (und die prädikative Explikation) in bezug auf das Angeschaute sowie die Bewährung des Gedachten ermöglicht.6 Aus dem Gesagten geht hervor, daß ein sorgfältiges Methodenbewußtsein bei der Thematisierung des ‚Ur-Ich’ keineswegs zweitrangig, sondern schon für die Gewinnung des Themas selbst unentbehrlich ist. Entscheidend ist dabei, unser wohlvertrautes Selbstverständnis methodisch außer Kraft zu 3 Vgl. Dok II/2, 216f. (Fink). Auf das Problem der ‚phänomenologischen Sprache’ sei hier nicht näher eingegangen; vgl. dazu Finks VI. Cartesianische Meditation (Dok II/1, 93ff.); auch Hülsmann 1964; Kaiser 1997, 212f.; Luft 2002, 209ff. 4 Vgl. auch Ms. C 2/ 5a, 5b. Die phänomenologischen Aussagen sind daher, meint Husserl, nicht „formelhaft” zu lesen (Dok III/4, 24). Sie fordern, daß man ihre Bedeutung durch die eigene erfahrende Reflexion selbst anschaulich erfüllt. In dieser Hinsicht weist Fink auf „eine vehemente Spannung und innere Unruhe” in allen transzendentalen Aussagen hin (Dok II/2, 217): „Deshalb erfordert auch das Nachverstehen transzendentaler Explikation, weil wir dem bekannten normalen Wortsinn nicht naiv vertrauen dürfen, immer die selbst zu leistende Vergegenwärtigung der transzendentalen Anschauung” (ebd.); vgl. auch Husserls Anmerkung (ebd., 127) sowie Landgrebe 1963, 137. 5 Diese Ansicht Landgrebes bestätigt sich, wenn Husserl z. B. sagt, daß das „Eidos” als „ein erschautes, bzw. erschaubares Allgemeines” „vor allen Begriffen im Sinne von Wortbedeutungen” liegt, die „vielmehr als reine Begriffe ihm angepaßt zu bilden sind” (I, 105); vgl. Dok III/3, 146; LV, 212 = XXXV, 75f. 6 Vgl. dazu auch Fink 1976, 282.
Das Ur-Ich und die Radikalisierung der Epoché
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setzen. Wie Husserl betont, verlangt die transzendentale Epoché einen drastischen Perspektivenwechsel, der „mit einer religiösen Umkehrung” zu vergleichen sei (VI, 140). Das besagt aber nicht, daß dieser Perspektivenwechsel einfach vom Himmel fiele. Ganz im Gegenteil: Die Umstellung erfolgt erst durch eine sorgfältige, minutiöse Selbstkritik der thematischen Sicht. Jener Vergleich macht deutlich, daß die radikale Umwendung der ‚Sichtweise’ überhaupt nicht stattfinden kann, wenn man seine bisherige Sichtweise unangetastet läßt und mit den bekannten, naiv geltenden Begriffen operiert. Dies muß besonders berücksichtigt werden, wenn es um die Freilegung des ‚Ur-Ich’ geht, sofern sie aus einer radikalisierten Epoché resultiert. Bevor Husserl in der Krisis auf das Problem des ‚Ur-Ich’ eingeht, unterstreicht er ein notwendiges „Schicksal” der Phänomenologie, daß sie immer wieder in neue Paradoxien und Selbstmißverständnisse hineingerät (VI, 185).7 Wichtig ist dabei aber, von eigenen Mißverständnissen zu lernen. Ich werde nun im folgenden versuchen, verschiedene Interpretationen des ‚Ur-Ich’ zu prüfen, um die Bedingungen des ‚Sehens’ entsprechend vorzubereiten und die ‚Sichtweise’ Schritt für Schritt zu vertiefen. Die eigentliche Problemdimension des ‚Ur-Ich’ soll dadurch kritisch umgrenzt werden, daß verschiedene naheliegende Möglichkeiten, das ‚Ur-Ich’ verständlich zu machen, zurückgewiesen werden. Dadurch eröffnet sich der erfahrende Blick für das ‚Ur-Ich’, der es erst ermöglicht, von ihm phänomenologisch sinnvoll zu sprechen.
1.3 Terminologische Klärung: ‚Ur-Ich’, ‚Ur-Ego’ und ‚absolutes Ego’ Der Erörterung der verschiedenen Interpretationen sei eine kurze terminologische Erklärung vorangestellt. Im folgenden werde ich nicht nur die Stellen, an denen der Terminus ‚Ur-Ich’ vorkommt, in Betracht ziehen, sondern auch diejenigen, in denen das ‚Ur-Ego’, das ‚urtümliche Ich/Ego’ oder das ‚absolute Ich/Ego’ auftritt. Auch die Bemerkungen zum ‚Ego’ kommen eventuell in Frage. Der Terminus ‚Ur-Ich’ muß besonders in Hinsicht darauf beachtet werden, daß Husserl ihn in seinem zuletzt veröffentlichten Werk Krisis mit Nachdruck verwendet. Er findet sich ebenfalls in den Forschungsmanuskripten.8 In ihnen kommt auch der Terminus ‚Ur-Ego’ vor.9 Sowohl im Hinblick 7 Husserl betont, „wie groß” bei dem Gedankengang nach der Reduktion „die Versuchung zu Selbstmißverständnissen ist und wieviel, ja schließlich das wirkliche Gelingen einer Transzendentalphilosophie, an der selbstbesinnlichen Klarheit bis ins Letzte hängt” (VI, 156); vgl. auch VI, 183, 253ff. 8 Vgl. z. B. XIII, 407f. (1918); XXXIII, 286 (1917/18) sowie Ms. M III 3 III 1 II/ Tr. 35 (etwa 1922); B III 1/ Tr. 19 (1929); C 2/ 3a, 8b (1931); C 10/ 14a, 14b, 15b (1931); A V 5/ 6b, 7b (1933). 9 XV, 14 (1929); Ms. A V 20/ 9b (1935); C 2/ 5a, 10b (1931); C 3/ 5a (1930).
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Kapitel V
auf die äußere Form als auch auf die Wortbenutzung lassen sich die beiden Termini meistens als Synonyme betrachten. Ein möglicher Unterschied besteht allenfalls darin, daß das ‚Ur-Ich’ oft im Kontrast zum ‚Urstrom’ des Lebens verstanden und mit dem ‚Ur-Pol’ gleichgesetzt wird,10 während das ‚Ur-Ego’ tendenziell eine konkrete Subjektivität bedeutet, die sowohl den Ur-Pol als auch das Ur-Leben in sich enthält.11 Diese Unterscheidung wird aber nicht streng beibehalten, so daß auch das ‚Ur-Ego’ möglicherweise den Ur-Pol bedeuten kann.12 Die laxe Unterscheidung von ‚Ur-Ich’ und ‚Ur-Ego’ spiegelt im übrigen die ebenfalls lockere Unterscheidung zwischen ‚Ich’ und ‚Ego’ wider. Das Wort ‚Ich’ gebraucht Husserl oft im Sinne des ‚Ich-Pols’, der dem ‚Bewußtsein’ (‚Leben’, ‚Bewußtseinsfluß’, ‚Lebensstrom’ etc.) gegenübersteht. Das ‚Ego’ dagegen zeigt häufig die konkrete transzendentale Subjektivität an.13 Man muß auch darauf hinweisen, daß der Terminus ‚Ego’ oft dazu verwendet wird, im Zusammenhang mit der Reduktion den transzendentalen Charakter des Ich hervorzuheben. Das ‚Ego’ ist daher schon für sich ein belasteter Begriff, so daß es eventuell das ‚Ur-Ich’ bzw. ‚Ur-Ego’ bedeuten kann. Man kann sagen, daß das ‚Ur-Ego’ eine Radikalisierung des Grundcharakters, den das ‚Ego’ schon in sich birgt, präziser darstellt; daher gilt das, was das ‚Ego’ im allgemeinen betrifft, auch für das ‚Ur-Ego’, nicht aber notwendigerweise auch umgekehrt. Dies berechtigt dazu, in der folgenden Untersuchung des ‚Ur-Ich’ auch die Charakterisierungen des ‚Ego’ entsprechend hinzuzuziehen.14 Dasselbe gilt auch für das ‚(letzte) absolute Ich/Ego’. Wie im letzten Kapitel gezeigt wurde, akzentuiert Husserl in der Krisis im Anschluß an die Problematisierung des ‚Ur-Ich’ die „Reduktion auf das absolute ego” (VI, 190). Der Ausdruck ‚absolutes Ego’ findet sich seit den zwanziger Jahren oft mit besonderer Betonung, und zwar meistens im Kontext der Reduktionstheorie. Man kann aber das ‚absolute Ego’ nicht mit dem ‚Ur-Ich’ gleichsetzen, solange die Epoché in bezug auf den Sinn der Intersubjektivität nicht ausdrücklich vollzogen wird. Hingegen gehören die allgemeinen Charakteristika des ‚absoluten Ego’ auch zum ‚Ur-Ich’, dessen Konnotationen nur präziser bestimmt sind.
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Vgl. Ms. A V 5/ 7b; C 2/ 3a, 8b; C 10/ 15b. Vgl. Ms. C 2/ 10b; C 3/ 5a. 12 Es findet sich auch die Formulierung „stehendes Ur-Ego als Pol des Ego cogito” (Ms. A V 5/ 5a). In bezug auf den Terminus ‚Ichpol’ ist später zu bedenken, ob diese ‚flexible’ Terminologie doch eine sachgemäße Anschauung in sich bergen könnte (vgl. Kapitel VII, 2.2). 13 Darauf weist auch Embree hin (Embree 1973, 243). 14 Es gibt auch Stellen, die unter dem ‚Ego’ eindeutig das ‚Ur-Ich’ verstehen, was durch Anführungszeichen kenntlich gemacht wird (XXXIV, 489; XV, 586f.). An einer Stelle der Krisis wird das ‚ego’ offensichtlich im Sinne von ‚Ur-Ich’ verwendet (VI, 84). 11
Das Ur-Ich und die Radikalisierung der Epoché
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Das Wort ‚urtümliches Ich (bzw. Ego)’ ist oft in den Analysen der Zeitigung und der genetischen Konstitution in Gebrauch und eventuell als Synonym für ‚Ur-Ich’ anzusehen.15 Allerdings darf man nicht vergessen, daß der Begriff des ‚urtümlichen Ich’ – anders als das ‚Ur-Ich’ – die ausdrückliche Epoché hinsichtlich der Intersubjektivität nicht voraussetzt und daher im weiteren Sinn zu verwenden ist. Schließlich sei folgendes bemerkt: Der Begriff der ‚Monade’ setzt die Vielheit der Monaden voraus. Der Terminus ‚Ur-Monade’ kann sich dagegen mit dem ‚Ur-Ego’ decken, weil die Ur-Monade den Urmodus für die pluralisierten Monaden darstellt.16 Auf diese ‚Monadisierung’ werde ich später im VI. Kapitel zurückkommen und noch näher eingehen. Den Unterschied zwischen ‚Ur-Ich’ und ‚Vor-Ich’ werde ich im folgenden (3.2) thematisch erörtern.
2. DAS ‚UR-ICH’ ALS ‚STUMME KONKRETION’? 2.1 Die scheinbare ‚Unterschiedslosigkeit’ Nun beginne ich damit, mögliche Interpretationen des ‚Ur-Ich’ zu prüfen und die radikale Epoché hinsichtlich der transzendentalen Intersubjektivität nachvollziehbar zu machen. Zuerst soll die Deutung, das ‚Ur-Ich’ sei die ‚stumme Konkretion’ des Ego, geprüft werden. Es ist ein zentrales Moment der Lehre vom Ur-Ich, das eine gründliche Aufklärung erfordert, daß das ‚Ur-Ich’ noch nicht „sein Du und sein Wir und seine Allgemeinschaft von Mitsubjekten in natürlicher Geltung hat” (VI, 188; vgl. 84). Da die Scheidung von Ich und Anderen in Klammern steht, kann man hier „nur durch Äquivokation” von dem „Ich” sprechen (ebd.). Das erinnert daran, daß das ‚Ego’, wie Husserl kurz nach der zitierten Stelle schreibt, im Einsatz der Epoché als „stumme Konkretion” gegeben ist, die erst zur Auslegung gebracht werden muß (VI, 191). Dadurch scheint eine Interpretation denkbar zu sein, daß das ‚Ur-Ich’ nichts anderes als diese ‚stumme Konkretion’ bedeute; die Charakterisierung des ‚Ur-Ich’, daß es kein Du und Wir habe, stelle die anfängliche ‚Unbestimmtheit’ der transzendentalen Subjektivität dar; wenn die phänomenologische Auslegung fortschreite, stelle sich heraus, daß die transzendentale Subjektivität (‚Ego’) in sich selbst auf die ganze Struktur der ‚transzendentalen Intersubjektivität’ verweise. Die volle konkrete transzendentale Subjektivität sei nun nichts anderes als die transzendentale Intersubjektivität. Auf diese Weise scheint 15 16
Vgl. vor allem: „[...] mein urtümliches Ich als fungierendes, als Ur-Ich” (Mat VIII, 199). Vgl. Ms. C 2/ 23b, 24b; A V 20/ 9b; I, 167; XV, 591, 636.
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Kapitel V
die fragliche ‚Äquivokation’ des Ego verstehbar zu werden, ohne die transzendentale Intersubjektivität preiszugeben. Diese scheinbar überzeugende Interpretation erweist sich aber nach einer genauen Prüfung als unhaltbar. In ihr wird nämlich die ‚Unbestimmtheit’ des ‚Ur-Ich’ als ‚Unthematizität’ der intersubjektiven Struktur aufgefaßt. Das heißt: Die ganze Sinnesstruktur der Intersubjektivität bleibt dabei unangetastet in Geltung; sie ist nur nicht thematisch bewußt. Ich habe schon die Sinnesstruktur der Intersubjektivität, aber am Anfang der phänomenologischen Analyse gelangt sie nicht unmittelbar zum thematischen Bewußtsein, sondern bleibt im Hintergrund: Sie ist sozusagen schon ‚da’, aber nur verhüllt. Es ist unverkennbar, daß diese Art ‚Unthematizität’, welche die natürliche Naivität charakterisiert, etwas vollkommen Anderes ist als das Resultat der methodischen Epoché, die sich bewußt und gezielt auf die betreffende Sinnesstruktur bezieht und sie außer Kraft setzt. Die Epoché ist in diesem Sinne keine Ausklammerung vom Thema, sondern gewissermaßen eine ‚thematisierende Einklammerung’, welche die fragliche Sinnesstruktur von der Verschlossenheit ihrer unthematischen (anonymen) Funktion befreit und erst in diesem funktionellen Zusammenhang sichtbar machen kann. Man muß sich daran erinnern, daß die Frage nach dem ‚Ur-Ich’ in der Krisis erst dadurch in den Vordergrund rückt, daß das „sogleich Hineinspringen in die transzendentale Intersubjektivität” als „Naivität” des ersten Vorgehens kritisch bloßgelegt wird. 17 Das ‚Ur-Ich’ ist folglich keinesfalls als diejenige ‚stumme Konkretion’ zu verstehen, die dem Anfangsstadium der Phänomenologie entspricht, in dem die transzendentale Intersubjektivität noch gar nicht thematisiert ist. Das ‚Ur-Ich’ kann vielmehr erst befragt werden, nachdem die transzendentale Intersubjektivität schon thematisch behandelt wurde. Das Problem des ‚Ur-Ich’ drängt sich dadurch auf, daß die scheinbare Diskrepanz zwischen der thematisch gewordenen transzendentalen Intersubjektivität und der radikal ‚egologischen’ Betrachtungsweise der Phänomenologie eine entsprechende Auflösung fordert.
2.2 Die ‚Wachheit’ des Phänomenologisierenden in der Epoché Aus dem Gesagten resultiert eine wichtige Erkenntnis, die in ihrer Allgemeinheit weiter im Auge zu behalten ist: Daß das ‚Ur-Ich’ weder sein ‚Du’ noch sein ‚Wir’ in Geltung hat, weist keineswegs darauf hin, daß es sich hier um einen unklaren, dumpfen Bewußtseinszustand wie Schlaf oder Ohnmacht handeln könnte. Die ‚Erfahrung’, auf die der Terminus ‚Ur-Ich’ verweist, hat nichts mit einer obskuren ‚Berauschtheit’ zu tun, die alle markanten Differenzen verschwinden ließe. Im Gegenteil ist die fragliche Epoché eine höchst 17
VI, 188; auch 185, 187.
Das Ur-Ich und die Radikalisierung der Epoché
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aufmerksame Operation, welche es erfordert, sich vor einem möglichen Rückfall und einem unbewußten Bruch des Außer-Geltung-Setzens zu hüten. Es geht hierbei um ein äußerst ‚waches’ Bewußtsein, das die tiefste ‚Selbstvergessenheit’ zu überwinden sucht, indem es die letzte anonyme Funktion des eigenen Lebens offenlegt. Husserl benutzt in diesem Zusammenhang die Ausdrücke ‚Schau’, ‚Schauen’ etc.; das deutet aber keineswegs auf eine begeisternde (im pejorativ mißverstandenen Sinne ‚mystische’) Ekstase hin, sondern vielmehr auf eine höchst nüchterne „Vernunft”.18 In bezug auf das transzendentale Ego sagt Husserl: „Dieses Ich aber und seine Teleologie ist nicht ein mythologisch konstruiertes Ich an sich, sondern das in der phänomenologischen Einstellung nüchtern anschaulich gegebene und der Wesensdeskription zu Gebote stehende” (LV, 234 = XXXV, 273). An derselben Stelle bezeichnet Husserl das „aufklärende Verstehen” der transzendentalen Subjektivität, das seine Evidenz aus dem apodiktischen „Schauen” schöpft, als „die denkbar höchste Form der Rationalität” (ebd.). Das Gesagte gilt auch für die Problematisierung des ‚Ur-Ich’ ohne jeden Vorbehalt. Bis in seine spätesten Jahre ändert Husserl die an der obigen Stelle geäußerte Grundhaltung nicht. Dies zeigt auch der Text in der Krisis, der vom Herausgeber als „Schlußwort” gewählt wurde: Dort versteht Husserl unter der Phänomenologie „eine Philosophie des tiefsten und universalsten Selbstverstandes des philosophierenden ego als Trägers der zu sich kommenden absoluten Vernunft” (VI, 275). Allerdings darf wiederum die ‚Vernunft’ nicht ‚mythologisch’ verstanden werden; sie stellt nichts anderes als den Evidenzcharakter des „nüchternen” Schauens dar.19
3. DAS ‚UR-ICH’ ALS ‚ANFANG’ DER BEWUßTSEINSENTWICKLUNG? 3.1 Entwicklungspsychologische Mißverständnisse Der eben herausgestellte Punkt, daß das ‚Ur-Ich’ nichts mit einer dumpfen Berauschtheit zu tun hat, impliziert auch die folgende Konsequenz: Es ist ein kategorisch auszuschließendes Mißverständnis, daß die hier in Rede stehen18 Vgl. das folgende Zitat: „Schauende Erkenntnis ist die Vernunft, die sich vorsetzt, den Verstand eben zur Vernunft zu bringen” (II, 62); auch XXXV, 288. Zum Vernunftcharakter des ‚Schauens’ vgl. besonders Aguirres Interpretation (Aguirre 1972). 19 Vgl. XXXV, 288, 474. Wie Aguirre schreibt, ist Husserls Phänomenologie „eine klare Absetzung gegen den klassischen Rationalismus” (Aguirre 1972, 104), sie versucht, ein neues Verständnis von Vernunft auszubilden, wobei das evidenzielle „Schauen” eine zentrale Rolle spielt (ebd., 105ff.). Auch Lévinas betont treffend die höchste „Wachheit” oder „Wachsamkeit” in der Epoché (Lévinas 1982, 34ff.).
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Kapitel V
de ‚radikale Epoché’ die immer schon bestehenden Unterscheidungen bloß ‚verschleiern’ oder ‚abblenden’ würde. Die Epoché darf nicht so verstanden werden, als ob allein die Erkenntnis der Unterscheidungen außer Funktion gesetzt würde, während die Unterscheidungen selbst, auf die sie sich bezieht, ontisch gesehen immer unabhängig von der Erkenntnis bestünden. Es ist klar, daß eine solche naive Trennung zwischen dem An-sich-Sein und seiner Erkenntnis gerade dasjenige ist, was die phänomenologische Epoché zu überwinden sucht. Man muß davon ausgehen, daß die durch die Epoché geforderte Suspendierung der ‚Sinne’ – darunter der ontischen Unterscheidungen – darauf zielt, ihr ‚Bestehen’ bzw. ‚Gelten’, das sich sonst nicht zeigt, thematisch erscheinen zu lassen und zu befragen, damit seine anonyme Funktion von Grund auf verstanden werden kann.20 Aus dem Gesagten geht hervor, daß eine weitere naheliegende Interpretation des ‚Ur-Ich’ nicht haltbar ist: Das ‚Ur-Ich’, das „die ganze Scheidung und Ordnung der Personalpronomina” nicht in Geltung hat (VI, 188), sei als eine genetische Vorstufe der Bewußtseinsentwicklung zu deuten. Die Entwicklungspsychologie biete reichliche empirische Kenntnisse, die darauf verwiesen, daß das Kind am Anfangsstadium seiner Entwicklung keinen Begriff von den ‚Personen’ habe, die es später erst allmählich verstehen lernen müsse. Diese empirische Beobachtung steht zwar, wie ich später zeigen werde, nicht ohne Zusammenhang mit dem Problem des ‚Ur-Ich’, aber man darf nicht voreilig die beiden Problemdimensionen gleichsetzen; denn bei der psychologischen Beobachtung geht es darum, den kindlichen Bewußtseinszustand und seine Entwicklung hypothetisch zu rekonstruieren. Der Psychologe verfolgt den Prozeß, in dem diejenigen psychologischen Momente nach und nach auftreten, die dem Kind zunächst fehlen, aber beim Erwachsenen normalerweise zu finden sind. Dabei versucht man festzustellen, wie sich das erkennende Bewußtsein des Kindes strukturiert, so daß es sich der immer schon an sich bestehenden ‚äußeren Realität’ anpaßt. Es ist besonders zu beachten, daß der ‚Sinn’ des Anderen und der intersubjektiven Gemeinschaft bei diesem Verfahren von Anfang an als gültig vorausgesetzt ist. Dagegen setzt die radikale Epoché, die das Problem des ‚Ur-Ich’ zugänglich macht, diesen ‚Sinn’ des Anderen und der Gemeinschaft als solchen in Klammern. Untersucht wird dann nicht der empirische Entwicklungsprozeß der Erkenntnis, sondern die transzendentale ‚Sinneskonstitution’, die erst den betreffenden ‚Sinn’ in Geltung bringt. Nur durch das In-Frage-Stellen des ‚Sinnes’ vom Anderen tritt das beunruhigende Problem des ‚Ur-Ich’ hervor. Andernfalls bleibt man in einer Naivität, den betreffenden ‚Sinn’ als ‚selbstverständlich’ vorauszusetzen, ohne nach ihm zu fragen und ihn zum Verständnis zu bringen. 20
Vgl. zu diesem erkenntnistheoretischen Motiv der Epoché Kapitel II, 2.
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Darüber hinaus muß das Mißverständnis beseitigt werden, daß das ,UrIch’ ein Bewußtseinsstadium bedeuten würde, das einmal in der Entwicklung aufträte und dann wieder verschwände. Die naturwissenschaftliche, positivistische Psychologie setzt die objektivierende Apperzeption des Bewußtseins als eines ‚Realen in der Welt’ voraus. Als Reales ist das Bewußtsein ein objektiv-zeitliches Vorkommnis, das in eine Reihe von Entwicklungsphasen, die nacheinander auftreten, aufgegliedert werden kann. Von diesem Standpunkt aus sieht man die urkindliche Vorstufe des Bewußtseins als eine Phase, die der Erwachsene schon hinter sich hat. Sie ist sozusagen eine uneinholbare ‚Ferne’, die man nur hypothetisch zu rekonstruieren vermag. Im Gegensatz dazu handelt es sich beim ‚Ur-Ich’ erstens um eine ursprüngliche Zeitigung, in der sich die objektive (darunter auch die immanent-objektive) Zeit mit ihrer Ordnung von ‚Vorher und Nachher’ erst konstituiert. Es ist klar, daß man dieses Urphänomen nicht wiederum als eine Art ‚Vorher’ ansehen darf, da man sich sonst in einen argumentativen Zirkel verwickeln würde. Zweitens darf nicht vergessen werden, daß das Urphänomen des ‚Ego’, wie ich bereits betont habe,21 eine äußerste ‚Nähe’ zu mir selbst bedeutet, und zwar die ‚Nähe’ von dem phänomenologisierenden Ich, das die Epoché übt und sich selbst nach den Implikationen seines Lebens befragt. Das ‚absolute Ego’ ist kein rekonstruiertes Ich, sondern das Ich in der unmittelbar gegenwärtigen Lebensevidenz, von der ich mich nie distanzieren kann. Beide Punkte müssen in den folgenden Kapiteln eingehend analysiert werden.22 An dieser Stelle muß aber sofort hinzugefügt werden, daß zwischen dem ‚Ur-Ich’ und der genetischen Vorstufe des Bewußtseins nicht jeglicher Zusammenhang fehlt: In der Psychologie findet sich, wie Husserl immer wieder betont, eine unübersehbare Parallele zur Phänomenologie, 23 die auch hier mitzuberücksichtigen ist. Wenn man konsequent versucht, sich in das urkindliche Bewußtsein hineinzuversetzen und alles ‚aus seiner Sicht’ zu sehen, muß man notwendigerweise die Epoché als Außer-Kraft-Setzen der höherstufigen Sinnesgeltungen durchführen, auch wenn ihr Vollzug unbemerkt und nicht methodisch erfolgt. Das zwingt den Psychologen letztlich dazu, die Generalthesis der Welt und die dazu gehörige menschliche Selbstapperzeption in Klammern zu setzen. Eine konsequente psychologische Reduktion führt zur transzendentalen Reduktion.24 Wenn das Problem des ‚Ur-Ich’ als eine Konsequenz der radikalisierten Epoché und Reduktion auftritt, so muß
21
Vgl. vor allem Kapitel III, 3.2 u. 3.3. Zu ‚Zeitigung’ und Ur-Ich vgl. Kapitel VI, 4 und 5. Zur ‚Nähe’ der Evidenz des Ur-Ich vgl. die thematische Untersuchung in Kapitel VII, 2.4. 23 Vgl. XXIV, 384f.; I, 130f., 159; IX, 247f., 266, 288, 342ff.; V, 146ff.; VI, 208ff., 261ff. 24 Vgl. VI, 238ff.; IX, 328ff.; XV, 535f.; Ms. A VI 20/ 11bff., 29aff. 22
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die Psychologie, wenn sie sich von seinem objektiv-naturalistischen Selbstverständnis loszulösen sucht, letztlich auf dasselbe Problem stoßen können. Dies bestätigt eine Stelle der Krisis (§71): Husserl weist zunächst darauf hin, „daß sich in der reinen Auswirkung der Idee einer deskriptiven Psychologie, die das Eigenwesentliche der Seelen zu Wort kommen lassen will, notwendig der Umschlag der phänomenologisch-psychologischen Epoché und Reduktion in die transzendentale vollzieht” (VI, 259). Nach diesem Hinweis auf die ‚Parallele’ zwischen Psychologie und Phänomenologie macht Husserl darauf aufmerksam, daß hier „die Korrektur an dieser nächstliegenden Weise der Epoché und Reduktion” notwendig ist, die er schon in §54 und 55 im Zusammenhang mit dem ‚Ur-Ich’ angesprochen hat25: Die radikalisierte Epoché in Hinsicht auf die Anderen, die er in der Krisis also schon am Ende von III A behandelt hat, bringt er am Schluß von III B wiederum zur Sprache: Nicht nur die ganze Welt, sondern auch die Anderen, so Husserl, müssen der konsequenten Epoché verfallen und für mich ‚Phänomene’ werden. „Somit führt die radikale und vollkommene Reduktion auf das absolut einzige ego des sich damit zunächst absolut vereinsamenden reinen Psychologen [...]” (VI, 260). Daß es sich hierbei in der Tat um das ‚UrIch’ handelt, macht Husserls anschließende Bemerkung offenkundig: In den reinen Intentionalitäten, die das „apodiktische ego” in sich birgt, ist wesensmäßig „das Mitsein anderer Subjekte, aber als implizierter anderer ego’s, somit die Urscheidung Ich und Anderer nachzuweisen” (ebd.). Die Unterscheidung ‚Ich/Anderer’ kann sich also aufgrund der Urerfahrung des ‚absolut einzigen ego’ erst konstituieren und wird als solche auf diese Weise erkennbar. Somit kann die Intersubjektivität nicht mehr als ein äußerlich gesehenes „Außereinander”, sondern „von innen her” als ein notwendiges „intentionales Ineinander” sichtbar werden (ebd.).
3.2 ‚Ur-Ich’ und ‚Vor-Ich’. Die Ordnung der Evidenz und der Genesis Im letzten Schritt wurde auf die Verwechslung des ‚Ur-Ich’ mit dem anfänglichen Bewußtseinsstadium aus der Sicht der Entwicklungspsychologie aufmerksam gemacht. Dabei wurde auch berücksichtigt, daß man die rein psychologische Sichtweise konsequent vertiefen und dadurch zur transzendentalen Reduktion durchdringen kann. Damit sind aber noch lange nicht alle Fragen zum Verhältnis zwischen dem ‚Ur-Ich’ und der ‚Vorstufe’ des Bewußtseins beantwortet: Bekanntlich versucht Husserl in seiner ‚genetischen Phänomenologie’, auf die genetischen Vorstufen des Bewußtseins zurückzugehen, die sich letztlich als eine ‚vor-ichliche’ Stufe zeigen. In diesem Zu25
Die Überschrift des §55 lautet: „Die prinzipielle Korrektur unseres ersten Ansatzes der Epoché durch Reduktion derselben auf das absolut einzige letztlich fungierende ego” (VI, 190).
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sammenhang spricht Husserl vom ‚Vor-Ich’ der transzendentalen Bewußtseinsgenesis. Ist dieses mit dem ‚Ur-Ich’ zu identifizieren? Wenn nicht, worin besteht der Unterschied zwischen beiden ursprünglichen ‚Ich’? In bezug auf das ‚Vor-Ich’ muß zunächst ein naheliegendes Mißverständnis ausgeräumt werden. Husserl charakterisiert die ‚vor-ichliche’ Stufe der Bewußtseinsgenesis auch durch die ‚Ichlosigkeit’. Dies besagt aber nicht, daß in dieser Stufe des Bewußtseins überhaupt kein Ich dabei wäre. ‚Ichlos’ besagt vielmehr, daß das Ich an Bewußtseinsprozessen nicht aktiv beteiligt ist.26 Die passive Intentionalität ist zwar nicht im spezifischen Sinne ‚ichlich’, setzt aber die Zentrierung des Ich bereits voraus.27 Kann man aber nicht annehmen, daß es noch eine tiefere Schicht gibt, die auch der passiven Ichbezogenheit vorangeht? Darauf scheint eine Stelle in den Bernauer Manuskripten (1917/18) hinzudeuten (XXXIII, 276). Dort spricht Husserl von den „‚völlig ichlosen’ sinnlichen Tendenzen”, die von der „passiven Reaktion” des Ich zu unterscheiden sind. Man kann jedoch nicht behaupten, daß Husserl damit ein ‚Bewußtsein ohne jegliches Ich’ zur Sprache brächte. Erstens ist darauf zu achten, daß die fraglichen „ichlosen” Tendenzen, wie Husserl ausdrücklich betont, von dem Ichlichen bloß „abstrahiert” sind (XXXIII, 275f.). Insofern handelt es sich hierbei nicht um eine genetische Vorstufe, in der das Ich noch nicht da wäre, sondern um eine „‚abstrakt’ herauszuhebende Struktur” (XXXIII, 276), die konkret gesehen schon mit dem Ich auftritt, die sich aber ohne Beteiligung von ihm konstituiert; insofern bin ich immer schon dabei.28 Zweitens muß berücksichtigt werden, daß das Ich, auch wenn es ‚schläft’, als Pol der Zentrierung dabei ist; das besagt, daß das ‚Ich’ einen anderen Ausdruck für die Zusammengehörigkeit aller Bewußtseinsprozesse darstellt. Wenn ich ‚aufwache’, weist dieses Phänomen ‚Ich wache auf’ in sich selbst auf das ‚Ich war im Schlaf’ zurück. Das schlafende ‚ichlose’ Bewußtsein ist dadurch schon mit dem wachen verbunden und gehört zur kontinuierlichen Einheit meines Bewußtseins. Das Ich ist das Korrelat dieser universalen wesensmäßigen Aufeinanderbezogenheit der Erlebnisse, dessen invariable Funktion sowohl im ‚wachen’ als auch im ‚schlafenden’ Bewußtsein notwendig intentional impliziert ist,
26
Vgl. dazu auch die treffende Darstellung von Zahavi (1999, 152f.). Dazu bemerkt Husserl z. B.: „Wo keine Abhebung, wo das Ich völlig schläft, ist nicht einmal Assoziation möglich” (XXXV, 143 Anm. 1); „[...] ichliche Aktivität setzt Passivität voraus – ichliche Passivität – „ (Mat VIII, 53); vgl. auch XXXV, 128f.; Bernet / Kern / Marbach 1989, 194. 28 In der Tat spricht Husserl im weiteren Verlauf des Textes vom ‚Ich’ als vorzeitlichem „Urstand”, der bei dem ursprünglichen Erlebnisstrom ständig dabeibleibt, ohne in ihm als ein reelles Moment aufzutreten (XXXIII, 277f.); vgl. Kapitel III, 3.2. Zur Abstraktheit der Ichlosigkeit vgl. auch Zahavi 1996, 59. 27
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sofern die beiden Bewußtseinsphasen zu einem Bewußtsein gehören.29 Drittens ist darauf hinzuweisen, daß Husserl die ‚ichlose’ Auffassung des Zeitbewußtseins, die er in der „alten Lehre des Zeitbewußtseins” entwickelte, später revidiert hat und in der früher ‚ichlos’ genannten Schicht der Intentionalität die „Triebintentionalität” sieht, in der schon „die ständige Zentrierung durch den Ichpol” zu finden ist (XV, 594f.). Genau in diesem letzten Zusammenhang spricht Husserl vom ‚Vor-Ich’.30 Husserls „Rückfrage [...] auf das radikal Vor-Ichliche” (XV, 598) erweckt den Anschein, als ob es eine Schicht gäbe, die überhaupt kein ichliches Moment enthielte; das ist aber nicht der Fall. Husserl zeigt, daß die unterste triebhafte Bewußtseinsschichte schon auf den Ur-Pol zentriert ist, der als „Trieb-Ich” (Mat VIII, 257), „Ich der ‚Instinkte’” (Mat VIII, 254), „Pol von ursprünglichen Instinkten” (Ms. E III 9/ 18a) oder „Pol auch der noch unterminierten Instinkte” (Mat VIII, 49) zu kennzeichnen ist. Der Uranfang der transzendentalen Genesis, in der die höheren Konstitutionsschichten wie die der Vernunftakte noch nicht aufgetreten sind, birgt schon eine ursprüngliche Ichzentrierung in sich, die mit dem triebhaften Streben untrennbar verbunden ist; er enthält auch die auf den Anderen gerichtete Ur-Intentionalität, die das Ichliche als ihr Korrelat voraussetzt. Die folgende Manuskriptstelle zeigt eindeutig, daß Husserl unter ‚Vor-Ich’ das ‚Zentrum’ der noch blinden Instinkte versteht: „Natürlich ist die Rede vom Ich letztlich bestimmt von der ‚Polarisierung’ der Ichakte. In der genetischen Rückfrage konstruieren wir als Anfang das noch weltlose Vorfeld und Vor-Ich, das schon Zentrum ist, aber noch nicht ‚Person’, geschweige denn Person im gewöhnlichen Sinn der menschlichen Person” (Mat VIII, 352).31 Das Vor-Ich besagt also die Vorstufe des entwickelten Ich, die der Genesis der höherstufigen Selbstkonstitution vorausgeht, die es ermöglicht, mich letztlich als ‚Person’ aufzufassen. Nun komme ich auf die ursprüngliche
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Eine Stelle macht diesen Zusammenhang unmißverständlich klar: „Das Zentrum Ich ist immer vorhanden, ob es auftritt, wach wird oder wach ist oder auch nicht, und immerfort strömt der Erlebnis- oder Bewusstseinsstrom, mag er spezifische Ichakte enthalten oder auch nicht. Es ist eine wesensmäßige Aufeinanderbezogenheit oder Zusammengehörigkeit, es ist nicht ein Ganzes aus Teilen, es ist eine absolute Einheit: Eine gewisse Potentialität verbindet das ‚ichlose’ Bewusstsein, für das das Ich, evtl. das anderweitig wache Ich, schläft, mit dem wachen Bewusstsein, dem eines wachen Ich. Das Ich kann für alles Erleben seines Stromes wach werden (der darum der seine heisst), kann sich seinen intentionalen Gehalten zuwenden” (XIV, 46). Zur ‚nicht-zeitlichen’ Ständigkeit des Ich vgl. auch die Ausführung über das reine Ich in Kapitel III, 3.2. 30 Zu Husserls Begriff des Vor-Ich vgl. die systematische Darstellung von Lee 1993, 122ff., 164ff., 214ff. 31 Vgl. auch folgendes Zitat: „Das Ego im Uranfang (der Urgeburt) ist schon Ich gerichteter Instinkte” (Ms. B III 3/ 35a); auch Lee 1993, 164.
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Frage zurück: Ist das Vor-Ich mit dem Ur-Ich gleichzusetzen?32 Dies muß verneint werden. Wie ich im letzten Kapitel dargelegt habe, rückt das Problem des Ur-Ich erstens angesichts der methodischen Schwierigkeit, die das Verhältnis zwischen der Apodiktizität des Ego und der intersubjektiven Pluralität betrifft, in den Vordergrund. Die Thematisierung des Vor-Ich ist hingegen nicht durch dieses methodische Problem motiviert, sondern durch ein spezifisches sachliches Problem: Es geht um die Rekonstruktion einer genetischen Vorstufe des konstituierenden Bewußtseins. Im Zusammenhang damit kann man zweitens darauf hinweisen, daß es sich beim Ur-Ich in erster Linie um dasjenige Ich handelt, das die Epoché übt und selbst phänomenologisiert. Die Frage nach dem Ur-Ich betrifft niemand anderen als ‚mich selbst’, der ich in der Reduktion die Evidenz des ‚Ich bin’ in ihrer Originarität, d. h. als meine eigene Evidenz erlebe. Das ‚UrIch’ besagt also gewissermaßen das ‚zu mir nächste Ich’,33 zu mir, der ich jetzt in der Haltung der Epoché phänomenologisiere. Im Gegensatz dazu liegt das Vor-Ich für mich als Phänomenologisierenden in einer weiteren ‚Ferne’, da es um eine vergangene34 Vorstufe geht, in der ich noch nicht dieses Ich bin, die aber in meiner Geschichte des Bewußtseins tief verborgen ist. Das Vor-Ich muß erst rekonstruiert werden, während das Ur-Ich das ist, was ich vor aller Rekonstruktion immer schon bin. Auf diesen Unterschied macht Husserl an folgender Manuskriptstelle aufmerksam: „Hinsichtlich der Urtümlichkeit ist natürlich zu unterscheiden die Urtümlichkeit meiner, des Rückfragenden von der konstituierten Welt, meiner, des reifen, mich besinnenden Ich, und die Urtümlichkeit aus der weiteren Rückfrage, die durch die Enthüllung der Genesis rekonstruierte Urtümlichkeit des ‚Anfangs’ der konstitutiven Genesis. Meine verborgene Vergangenheit, Vergangenheit im dunklen Horizont” (Mat VIII, 279). Drittens ist zu beachten, daß das Ur-Ich erst durch die radikale Epoché thematisiert wird, die den Sinn des ‚Anderen’ und die gesamte Geltungsstruktur der Intersubjektivität suspendiert; daher hat das Ur-Ich kein ‚Du und Wir’. Das Vor-Ich dagegen ist als ‚Trieb-Ich’ schon von Anfang an intersubjektiv: Es birgt auf Andere gerichtete ‚Instinkt-Intentionalitäten’ in sich.35 Die Analyse des Vor-Ich kann eigentlich nicht von der Analyse seines intersubjektiven Zusammenhangs getrennt werden. Es ist unverkennbar, daß die Thematisierungen des Ur-Ich und des VorIch durch grundverschiedene Motivationen geleitet sind und zu völlig 32
Als Interpreten, die die beiden Ich nicht streng unterscheiden, sind z. B. Diemer (1965, 99), Holenstein (1972, 221) zu nennen. Dazu vgl. Lee 1993, 214f. 33 Die ‚Nähe’ des Ur-Ich hebt auch Lee hervor (1993, 214). 34 Gemeint ist hier nicht nur das im schlicht zeitlichen Sinne Vergangene, sondern auch das transzendental Vergangene. 35 Lee 1993, 212.
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unterschiedlichen Problemdimensionen gehören. Um dies zu verdeutlichen, möchte ich an dieser Stelle auf den Unterschied zwischen zwei grundverschiedenen ‚Ordnungen’ aufmerksam machen, denen zufolge die ‚Ursprünglichkeit’ des Ur-Ich in einem ganz anderen Sinn verstanden werden muß als diejenige des Vor-Ich. Treffend unterscheidet Nam-In Lee die beiden Ich, indem er darauf hinweist, daß jenes als der letzte Ursprung der Geltung, dieses hingegen als der letzte Ursprung der Genesis zu kennzeichnen ist.36 Diese Unterscheidung soll im folgenden noch etwas präzisiert werden. Das Ur-Ich ist der ‚Ursprung’ der Geltungsfundierung bzw. das ‚Erste’ der Fundierungsordnung.37 Damit die Welt als Welt, die Anderen als Andere erfahren werden können, muß das fungierende ‚Ich bin’ und ‚Ich erfahre’ immer schon als Geltungsboden vorausgesetzt werden. Das besagt aber keineswegs, daß das ‚Ich bin’ der Welt und den Anderen genetisch voranginge.38 Ich, das jetzt philosophierende Ich, bin zwar Resultat einer Genesis, die ich ‚hinter mir’ habe. Das wache Vernunft-Ich hat die passive Vorstufe der Bewußtseinsentwicklung als seinen ‚genetischen Ursprung’. Wie kann ich aber von diesem Vorausgehen des genetischen Ursprungs wissen? Ist dieses ‚Wissen’ überhaupt möglich, wenn das Ich, das jetzt erfahrend-erkennende, nicht wäre? Sobald man diese Frage nach dem ‚Wissen’ und ‚Erkennen’ stellt, befindet man sich in einer anderen ‚Ordnung’, die sich von der durch das zeitliche Nacheinander bestimmten Ordnung fundamental unterscheidet. 39 Selbst das Wissen davon, daß ich Resultat einer Genesis bin, kann 36
Lee 1993, 214. Husserl kontrastiert die ‚objektive’ Ordnung mit der „subjektiven Seinsordnung der Fundierung”: „Das Erste im ‚objektiven’ Sein, das Erste im weltlichen (auch das Erste in der Sphäre der idealen Existenzen) ist nicht das Erste im konstitutiven Sein. Der Seinssphäre der Objektivität geht konstitutiv voran eine subjektive Seinssphäre in einer subjektiven Seinsordnung der Fundierung, und eben damit stehen wir im Ganzen der transzendentalen Subjektivität [...]” (Ms. B I 5/ 23b). Die ‚Einzigkeit’ und ‚Undeklinierbarkeit’ des Ur-Ich kann erst durch die Analyse der Geltungsfundierung herausgestellt werden: „Solange die Methode der phänomenologischen Reduktion und von da aus in ihrer Durchführung die Methode der Analyse der Geltungsfundierungen und der reflexiven Analyse der gesamten monadischen Leistungen nicht entdeckt und durchgeführt ist, solange kann der Unterschied des absolut einzigen ego [...] und des sich personal sozusagen deklinierenden Ich [...] nicht durchleuchtet und verstanden werden” (VI, 417). 38 Husserls Beschreibung der Einfühlung hat zwar manchmal den Anschein, als ob er nach der Genesis des Sinnes ‚Anderer’ fragend das solipsistische Ich anspräche. Dabei handelt es sich aber um eine ‚fiktive Genesis’, nämlich um einen experimentellen ‚Abbau’ der Konstitutionsschichten, die analytisch auseinanderzuhalten sind: „Ich sagte, fiktive Genesis. Denn ich kann nicht im voraus behaupten, dass die Genesis der Fremdapperzeption voraussetzt die vorangegangene Genesis einer Umwelt ohne Fremdsubjektivität [...]” (XIV, 477). 39 In einem Manuskript aus dem Jahr 1932 stellt Husserl die Frage: „Also wie kann konkrete strömende Gegenwart anfangen oder aufhören? Und wie kann ich, der ich doch in ihr lebendig lebe, anfangen und aufhören?” (Ms. B I 14/ 89a). Man mag darauf antworten: „Ich erinnere mich an meine Kindheit und mein leibliches Wachstum und werde wohl auch vor 37
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nicht bestehen, ohne daß ich das weiß. Wenn das Wissen von der Genesis in die Gesamtkomposition des philosophischen Wissens integriert werden soll, muß es das ‚philosophierende Ich’ als letzten Ankergrund des Wissens ‚voraussetzen’. Es ist zu beachten, daß diese ‚Voraussetzung’ keineswegs die ‚Prämisse’ gegenüber der ‚Folge’ im logischen Schluß bedeutet.40 Alles Erscheinende zeigt sich in der Urevidenz des Erlebens, die als das fundamentalste ‚Medium’ aller Erscheinung und alles Wissens von Erscheinung dient. Dieses Medium ist das, was ich in meinem Leben und Wissen ‚am nächsten’ durchlebe, und in diesem Sinne das ‚Ursprünglichste’ (aber allein in diesem Sinne).41 Der andere ‚Ursprung’, der genetische, muß erst von jenem erkenntnisund evidenztheoretischen ‚Ursprung’ ausgehend rekonstruiert werden, obwohl der in mir sedimentierte ‚Sinn’ der Genesis darauf zurückverweist, daß ich erst durch diese Genesis zum jetzigen Ich geworden bin.42 Dabei muß man die Vieldeutigkeit des ‚Ich’ berücksichtigen. Das Ich als Ur-Ich ist nicht ohne weiteres mit dem Ich als Resultat der Genesis zu identifizieren. Wenn das letztere das personale Ich bedeutet, ist es auch ein apperzipiertes Ich, das das apperzipierende Ur-Ich voraussetzt. Das Ur-Ich braucht nicht notwendig die bestimmten personalen Eigenschaften zu haben, die auch anders sein können.43 Die schlichte Geltung aller Selbstapperzeptionen muß der phänomenologischen Epoché verfallen; für das Ur-Ich sind sie jetzt ‚bloße Phänomene’. Die genetische Vorgeschichte setzt ebenfalls das Ur-Ich voraus, in dem sie intentional impliziert ist und von dem sie erst expliziert werden kann. Aus der Perspektive des ‚Bewußtseins’ und des ‚Wissens’ können wir uns dieser ‚Urstätte’ aller Geltung nie entziehen. Allerdings trägt sie zur Bereicherung des inhaltlich differenzierten Wissens überhaupt nicht bei; sie bleibt dessen anonym-unthematische Voraussetzung. Die vorangegangenen Erörterungen mögen für die Unterscheidung zwischen ‚Ur-Ich’ und ‚Vor-Ich’ genügen. Die zwei grundverschiedenen der Zeit, die hinter die Erinnerungszeit zurückgehenden, gewachsen sein” (ebd., 90a-b). Dabei fragt Husserl: „Doch eben woher weiß ich von diesem vor der Zeit, deren ich mich erinnere?” (ebd., 90b). Wenig später weist Husserl auf folgendes hin: „Die entscheidenden Evidenzen sind unsere eigenen Evidenzen” und alle Möglichkeiten „setzen uns schon voraus als ihre Träger” (ebd., 92a). Als weitere Folge muß man sagen: „Aber genauer besehen gehe ich, der ich für mich bin, wie ich es bin, gehe diesem Wir und dem Sein der Welt voraus, die Welt für uns nur dadurch ist, daß ‚Wir’ mein Wir ist” (ebd., 92a-b). Das kann man als einen typischen Gedankengang aus der Perspektive der Evidenzlehre bezeichnen, auf den ich im VII. Kapitel näher eingehe. 40 Vgl. dazu Kapitel VII, 2.5.1 und die Charakterisierung der absoluten Evidenz in Kapitel II, 3.1 und 3.3. 41 Näheres dazu in Kapitel VII, 2. 42 Zu dieser ‚nachträglichen’ Rekonstruktion des Vorseins vgl. Ms. B III 3/ Tr. 8ff.; auch Ms. C 17/ 65b. 43 Vgl. dazu die Unterscheidung der Evidenzen von ‚Sein’ und ‚Sosein’ in Kapitel VII, 2.3.2.
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Ordnungen, nämlich der Genesis und der Evidenz, sollen in den folgenden Kapiteln näher behandelt werden.44 Man muß jedenfalls im Auge behalten, daß die ‚zentrale’ Stellung des Ur-Ich keine konstruktiv gesetzte Prämisse eines Systems meint, sondern eine „unscheinbar[e] Evidenz” (VIII, 166), die wir immer schon durchleben, die aber wegen ihrer fundamentalen ‚Selbstverständlichkeit’ notwendig in Vergessenheit gerät. Diese ‚Nähe’ des Ur-Ich ist ein charakteristisches Merkmal für die Unterscheidung zwischen ihm und dem Vor-Ich, das in der nicht mehr einholbaren ‚Ferne’ der vergangenen Geschichte versunken ist. Im übrigen kann man den intersubjektiven Charakter der vor-ichlichen Instinkte nicht zur Untermauerung der Behauptung anführen, daß der Gedanke des ‚Ur-Ich’ ohne Du und Wir unhaltbar wäre. Die Aufgabe, die intersubjektive Struktur der Instinkte zu enthüllen, gehört zur genetischen Analyse und muß von der Aufgabe der Ur-Ich-Lehre streng unterschieden werden, weil diese die Sinnesstruktur der Intersubjektivität zu verstehen sucht, die auch von der instinktiven Intersubjektivität – soweit sie als Intersubjektivität aufzufassen ist – vorausgesetzt wird.
4. ‚SINGULAR’ ODER ‚PLURAL’ DES UR-ICH? Bisher wurde gezeigt, daß der einzigartige Charakter des ‚Ur-Ich’ weder mit der Unklarheit und Unbestimmtheit des ‚Ich’ im Ansatzpunkt der Reduktion noch mit dem ‚vor-ichlichen’ Status der Bewußtseinsgenesis identifiziert werden kann. Wenn aber das Ur-Ich als das ‚Zentrum’ aller Konstitution betrachtet werden muß, ist die Frage unumgänglich, wie es mit der intersubjektiven Pluralität des Ich vereinbart werden kann. Ist der Begriff des Ur-Ich, aufgrund dessen sich der Sinn des Anderen und die Unterscheidung von Ich und dem Anderen erst konstituieren sollen, nicht ein Ausdruck für einen Solipsismus? Um dieser naheliegenden Skepsis auf angemessene Weise zu begegnen, werde ich im folgenden einige mögliche Interpretationen des Ur-Ich prüfen. Dadurch wird ein Weg gesucht, auf dem die eigentümliche Bedeutung der ‚Einzigkeit’ des Ur-Ich zutreffend zum Ausdruck kommen kann. Zur Orientierung der Diskussion weise ich zunächst auf die folgende Aporie hin: Wenn man das ‚Ur-Ich’, welches das Konstitutionszentrum von Ich und dem Anderen sein soll, als das individuelle Ich interpretiert, scheint die Gefahr eines Solipsismus zu nahen, als ob man gegenüber den Anderen sagen würde: ‚Ihr seid Produkte meines Bewußtseins’. Will man diese Gefahr dadurch vermeiden, daß man das ‚Ur-Ich’ als ein über-individuelles Ich betrachtet, stößt man auf eine andere Gefahr, von der ‚schauenden’, ‚erfahrenden’ Methode der Phänomenologie abzuweichen und in eine (im schlechten 44
Vgl. Kapitel VI, 1.2, 4.2; Kapitel VII, 1; zur Ordnung der Evidenz im allgemeinen vgl. Kapitel VII, 2.
Das Ur-Ich und die Radikalisierung der Epoché
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Sinne) ‚metaphysische’, phänomenologisch unbegründbare Konstruktion zu geraten. Man ‚nimmt an’, daß es ein solches ‚Ich’ gebe, das eigentlich weder Ich noch ein Anderer, sondern ihr ‚gemeinsamer Ursprung’ sei. Dabei kann ich aber diesen ‚Ursprung’ nicht durch das phänomenologische ‚Ichschaue’ nachweisen, da ‚ich’ noch überhaupt nicht sein soll. Ich kann allenfalls vermuten, daß es einen solchen ‚Ursprung’ geben könnte. Hier scheint man also vor einer Alternative zu stehen, die in jedem Fall problematische Konsequenzen hat.
4.1 Vielheit der gleichursprünglichen Ur-Ich? Die Radikalisierung der Epoché Theunissen vertritt offensichtlich die erste Interpretation. Aus seiner eingehenden Untersuchung der Husserlschen Intersubjektivitätstheorie zieht er die Konklusion, daß der Gedanke des Ur-Ich in den Solipsismus gerät, wenn die Konstitution der Intersubjektivität letztlich auf das Ur-Ich zurückzuführen ist (Theunissen 1965, 151ff.). Theunissen erhebt den Vorwurf, daß dem Ur-Ich ein „gleichursprünglicher Partner” fehle (ebd., 155). Kann man aber diese „Partnerlosigkeit” (ebd.) wirklich als Mangel der Lehre vom Ur-Ich verurteilen? Theunissen selbst hat den Begriff des Ur-Ich wie folgt erläutert: „Seine Absolutheit besteht in seiner ‚Einsamkeit’ [...] in einer Einsamkeit allerdings, die, weil es neben mir gar kein Ich gibt, auch frei ist von jeder Sehnsucht nach Gemeinschaft” (ebd., 23). Wenn ein Ich-Begriff einen entsprechenden Begriff des Anderen ‚vermißt’, besagt das, daß er das relative System von ‚Ich, Du und Wir usw.’ noch als gültig voraussetzt. Das ‚Ur-Ich’ ist aber erst dadurch zu thematisieren, daß dieses System der intersubjektiven Sinnesstruktur außer Geltung gebracht wird. Insofern ist der Vorwurf, daß die Lehre vom Ur-Ich in einen Solipsismus geriete, ein Kategorienfehler oder – mit Husserl gesprochen – eine Metabasis. Es ist unverkennbar, daß Theunissen im Gedanken des Ur-Ich einen ontologischen Primat des Ich vor dem Anderen sieht und somit übersieht, daß es sich beim Gedanken des Ur-Ich um die Epoché vom Geltungssinn des Anderen handelt. Sonst wäre es unmöglich zu denken, daß das Ur-Ich ‚asozial’ wäre, da der Sinn der ‚Sozialität’ und der korrelativen ‚Asozialität’ den Sinn vom Plural der Subjekte impliziert, der hier eigentlich in Klammern stehen müßte.45 Man kann das Ur-Ich nicht als ‚sozial’ oder ‚asozial’ beurteilen, weil es bei seiner Problematisierung eben darum geht, die Geltungssinne bezüglich der intersubjektiven Struktur nicht mehr naiv vorauszusetzen. Wenn man die ‚Asozialität’ des Ur-Ich kritisiert, unterschiebt man dem Ur-Ich stillschweigend einen ‚gewöhnlichen’ Sinn des 45
Husserl bemerkt in der Krisis ausdrücklich, daß der „Vorzug des Ich-Mensch unter anderen Menschen” mit der ganzen Scheidung und Ordnung der Personalpronomina in der Epoché „zum Phänomen” werden muß (VI, 188).
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Ich, nämlich: ‚das Ich gegenüber dem gleichrangigen Anderen’.46 Genau dieser Sinn muß hier der Epoché unterworfen werden, da er jetzt das Thema ist; ohne diese Epoché gerät man in einen circulus vitiosus,47 oder man bleibt im naiv-selbstverständlichen Glauben der Intersubjektivität eingeschlossen. Die Annahme, daß die Lehre vom Ur-Ich mit der ‚Gleichursprünglichkeit’ aller transzendentalen Ich unvereinbar sei, ist eigentlich unangemessen. Husserl zweifelt nicht im geringsten daran, daß wir alle gleichursprüngliche Ich sind, daß kein Ich gegenüber den anderen Ich hinsichtlich der Ichheit einen Vorrang haben kann. Wenn dies einen ‚Realismus’ besagen würde, würde er sich gerne als Realist bezeichnen. 48 Ihm geht es aber überhaupt nicht darum, die selbstverständliche Tatsache der ‚Gleichursprünglichkeit’ zu bestätigen, sondern darum, sie zu verstehen.49 Wie Husserl immer wieder betont, stellt die Epoché keinen positiven Zweifel dar, der ein negativsetzendes Urteil hinsichtlich des Bezweifelten enthält. Ihre Leistung besteht vielmehr in dem Außer-Geltung-Bringen der ‚Sinne’, wodurch diejenigen ‚Sinne’, die sich in ihrer selbstverständlichen Funktion nicht als solche zeigen, sichtbar gemacht werden können. Die radikale Epoché hinsichtlich der intersubjektiven Sinnesstruktur, die zum Problem des Ur-Ich führt, muß allein in diesem Sinne verstanden werden. Die Lehre vom Ur-Ich bestreitet also keinesfalls die Intersubjektivität der gleichursprünglichen Subjekte, sondern ist nichts anderes als die Konsequenz der phänomenologischen Epoché, welche die sinnhafte Struktur der Intersubjektivität außer Kraft setzt, um diesen Sinn ‚sichtbar’ und ‚verständlich’ zu machen. Wenn man die betreffende Sinnesstruktur einfach voraussetzt, besagt das phänomenologisch insofern eine unkritische Naivität, als man etwas in Geltung läßt, was man selbst nicht ‚versteht’. Etwas als Tatsache hinzunehmen, ist kein Verstehen. Die ‚Selbstverständlichkeit’ wird zwar nicht bestritten, muß aber verstanden werden. Dem naiven Vollzug der ‚selbstverständlichen’ Geltung wird die ‚selbstverantwortliche’ Kritik gegenübergestellt.50 „Das Unverständliche will ich nicht hinnehmen, als ob es verstanden wäre [...]” (XXXIV, 481). Die radikalisierte Epoché, die zur Thematisierung des Ur-Ich führt, verneint die Fundamentalität der Intersubjektivität nicht, sondern versucht, über ihre durchlebte ‚Selbstverständlichkeit’ Rechenschaft zu geben, sie in der kritischen Haltung zur verstandenen, reflektiven Evidenz zu bringen, statt sie auf ihrer naiv-faktischen Evidenz beruhen zu lassen. Dieses Interesse Husserls zeigt sich – wie in der ganzen 46
Vgl. Aguirre 1982, 43ff. Vgl. Kapitel II, 2.2. 48 Vgl. VI, 190f.; I, 121f. 49 Vgl. VI, 191, 193; Kapitel I, 4.1. 50 Waldenfels weist auf dieses Moment der Ur-Ich-Lehre hin (Waldenfels 1971, 43, 49). Zum Verhältnis zwischen Ur-Ich und Selbstverantwortlichkeit vgl. Kapitel VII, 4. 47
Das Ur-Ich und die Radikalisierung der Epoché
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Darstellung der Krisis – auch an folgender Stelle: „Ich bin schon in der Weltzeit als raumzeitlich verharrend seiendes eines Ich, und jeder Andere ein ebensolches Ich. Aber vor dieser Einheit liegt die Leistung, aus der sie Sinn gewonnen hat und hat, so wie sie auch fortgesetzt als schon geworden in fortgehenden Leistungen neuen Sinn in sich aufnimmt. Ich muss nach verschiedenen Richtungen Epoché üben, um diese Leistungen zu sehen” (XXXIV, 495).
4.2 Die ‚Einzigkeit’ des Ur-Ich: Ist ‚jedes’ Ich einzig? Aus dem Gesagten ist klar, daß es keinen Sinn hat, wenn man die Fundamentalität der Intersubjektivität zu ‚beweisen’ sucht, um das Ur-Ich zu bestreiten. Denn es handelt sich nicht um zwei disjunktive Thesen, die auf der gleichen Ebene nebeneinanderstünden. Die Affirmation des einen besagt keineswegs die Verneinung des anderen. Zahavi sieht diesen Punkt richtig, wenn er bemerkt: „Daß Husserl gelegentlich auf der Fundamentalität des UrIchs beharrt, steht nämlich in keinem Widerspruch zu seiner intersubjektiven Transformation des transzendentalphilosophischen Projektes, sondern ist im Gegenteil eine Voraussetzung dafür” (Zahavi 1996, 64). 51 Dies begründet Zahavi erstens aus methodischer Perspektive: Die phänomenologische ‚Bewußtseinsanalyse’ muß notwendig eine „Explikation der Erfahrungsstrukturen des Ich” sein, auch wenn die Intersubjektivität zum Thema wird (ebd.). Zweitens argumentiert er, daß die unvergleichliche ‚Einzigkeit’ des Ur-Ich als ‚indexikalisch’ zu verstehen ist: „Die von Husserl erwähnte Undeklinierbarkeit des Ich, die jede Vervielfältigung ausschließt, weist auf eine Einzigkeit hin, die offensichtlich indexikalischer Natur ist — es geht also durchaus nicht um eine substantielle Einzigkeit — und sie läßt auch ohne weiteres andere Einzigkeiten zu!” (ebd., 66).52 51
An dieser Stelle scheint Zahavi Aguirres Interpretation zu kritisieren; dies wird aber durch seine oben angeführte Ansicht nicht unmittelbar nahegelegt. Erstens ist die von Aguirre herangezogene „Korrektur” der intersubjektiven Reduktion (Aguirre 1970, 63 Anm.; 1982, 43) nicht als ‚Leugnung’ der transzendentalen Intersubjektivitätstheorie zu verstehen. Es handelt sich vielmehr um die Radikalisierung der Epoché. Dabei gebraucht Husserl selbst das Wort „Korrektur” (VI, 190, 259f.). Zweitens wird aus dem Kontext deutlich, daß Aguirre an der von Zahavi angeführten Stelle eigentlich herausstellen will, daß die Intersubjektivität keine substantielle Instanz ist, die „seinsmäßig meinem Sein voranginge” (Aguirre 1970, 63 Anm.). Diese Ansicht Aguirres teilt auch Zahavi, wenn er bemerkt, daß die Intersubjektivität „keine bewußtseinstranszendente Überinstanz” sei (Zahavi 1996, 64). 52 Zahavi nennt noch einen weiteren Grund: Das Ich kann als eine „Schicht” vom Anderen abstrahiert werden, ist aber als konkretes ohne den Anderen gar nicht möglich (ebd., 67). Dieser Hinweis ist sachlich völlig zutreffend, scheint mir aber hier nicht zu passen, wenn er eine Begründung dafür sein soll, warum die Lehre vom Ur-Ich mit der Intersubjektivitätstheorie verträglich ist; denn das Ur-Ich stellt keine abstrakte Bewußtseinsschicht dar, sondern – wie Zahavi selbst im Zitat anführt (ebd. 66) – die „‚Konkretion’ vor allen Konkretionen” (XV,
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Der ersten Begründung kann man vollkommen zustimmen. Wie ich schon in den vorangegangenen Kapiteln dargelegt habe, zwingt uns die Durchsetzung der phänomenologischen Methode angesichts der Intersubjektivitätsproblematik notwendig zur Problematisierung des Ur-Ich. Die zweite Begründung wäre aber noch nicht hinreichend, solange man sich mit der Tatsache zufrieden gäbe, daß ‚jedes Ich’ einzigartig sei. Zahavi spricht in bezug auf das Ur-Ich von der absoluten Priorität der „je-meinigen Subjektivität” (ebd., 67). Diese ‚Jemeinigkeit’ muß aber sorgfältig interpretiert werden. Damit man von ‚jedem Ich’ sinnvoll sprechen kann, muß man schon die sinnhafte ‚Pluralisierung des Ich’ (bzw. die transzendentale ‚Deklination’) voraussetzen; diese ist aber gerade das, was durch die Epoché außer Funktion gesetzt werden muß. In dieser Hinsicht muß Husserls Beschreibung aus einem späten Manuskript über das Ur-Ich ernst genommen werden: „Dieses ego ist das im absoluten Sinn einzige, der keine sinnvolle Vervielfältigung zuläßt, noch schärfer ausgedrückt, als sinnlos ausschliesst” (XV, 589f.). Es wäre verkehrt, wenn man sich zunächst ‚mehrere Iche’ vorstellen und dann ‚jedem’ Ich die ‚ur-ichliche’ Einzigkeit zuschreiben würde. Auf diese Gefahr macht Held aufmerksam, indem er die eigentümliche Bedeutung der ‚Einzigartigkeit’ erörtert, die das Ich der ‚lebendigen Gegenwart’ hat (Held 1966, 160ff.). „Meine stehende Gegenwart” ist, so Held, „Quellpunkt aller meiner Erfahrung, auch der Mitgegenwart”, also „einzigartiger und einzigmöglicher ‚Urboden’ meines erfahrenden Lebens überhaupt” (ebd., 161). Dabei weist er auch deutlich auf folgendes hin: „Diese Einzigartigkeit hat einen über die geläufige Wortbedeutung hinausgehenden Sinn” (ebd.). Das Wort ‚einzigartig’ setzt normalerweise eine Vorstellung von einem Überragenden voraus, was aus mehreren Vergleichsobjekten hervorgehoben wird. Aber das ursprüngliche ‚Ich fungiere’ hat in diesem Sinne nichts Vergleichbares neben sich. Seine Einzigkeit wird nicht durch einen Vergleich mit Anderen bestimmt, sondern lehnt vielmehr überhaupt jede Vergleichbarkeit ab. 53 „Das ‚einzig’ bedeutet nicht: ‚numerisch eines’; es darf mit anderen Worten nicht solipsistisch verstanden werden; es schließt in seiner Einzigartigkeit keineswegs ein zweites und drittes Ich aus” (ebd.). Das, was Held am Ende des obigen Zitats vorsichtig in Form eines Verneinungssatzes formuliert,54 darf nicht überinterpretiert werden. Das heißt: 586). Das ‚Ich’ in dieser Konkretion sei es, so Husserl, für das „ein alter ego keinen Sinn gibt” (ebd.). 53 In dieser Hinsicht weist Aguirre treffend darauf hin, daß eine Monade „hier keinem vorgeordnet” ist, „weil es da keinen gibt, der nach oder hinter ihr käme, untergeordnet sein könnte – weil es einfach noch nichts gibt, sondern alles erst zu machen ist” (Aguirre 1982, 43). Das „Machen” darf aber nicht im Sinne der Produktion verstanden werden, sondern als Konstitution des Sinnes. 54 Das gilt auch für eine andere Stelle, an der er bemerkt, daß die „vorzeitliche Funktionsgegenwart” „andere ebenso einzige Ichgegenwarten nicht ausschließt” (Held 1966, 162).
Das Ur-Ich und die Radikalisierung der Epoché
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Dieser Satz impliziert nicht, daß man ohne weiteres sagen dürfte, daß es ‚mehrere absolute Iche’ gäbe. Er muß ausschließlich im Rahmen der Epoché verstanden werden. Diesen Punkt präzisiert Held folgendermaßen: Wenn ‚Pluralität’ im gewöhnlichen Sinne die auf irgendeine Weise ‚abzählbare’ Mehrzahl bedeutet, kann man dem in unserem Sinne ‚einzigartigen’ Ur-Ich keineswegs diese gewöhnliche Pluralität zuschreiben: „[...] diese transzendentalen Ich sind in der Ursprünglichkeit ihres ‚Ich fungiere’ nicht abzählbar; daß sie doch abgezählt werden können, liegt schon an ihrer intersubjektiv erfahrbaren Selbstzeitigung. — Als unzählbares, einziges letztfungierendes Ich ermögliche ich von mir aus überhaupt erst Gezeitigt-sein und Zählbarkeit, ebenso wie jedes andere in gleicher Weise einzige Ich Ermöglichungsgrund dieser Art ist” (ebd.). Es ist zu beachten, daß die Pluralendung und das Wort ‚jedes’ im Rahmen der radikalen Epoché nicht ‚wörtlich’ verstanden werden dürfen. Das ‚einzigartige’ Ego kann eigentlich nur dadurch im Plural beschrieben werden, daß man von der gewöhnlichen abzählbaren Pluralität her auf es zurückblickt und es auf diese Weise versteht. Nur vom Standpunkt des Ich, das sich schon intersubjektiv ‚deklinierbar’ machen kann, läßt sich eigentlich sagen: ‚Jedes Ich’ kann durch die phänomenologisch-reduktive Methode in sich selbst die ur-ichliche Dimension freilegen. Dasselbe gilt aber auch für die Singularform; der Singular verliert durch die radikale Epoché ihren relativen Sinn gegenüber dem Plural. Hier muß man sich streng davor hüten, den scheinbaren ‚Plural’ mit der gewöhnlichen abzählbaren Pluralität und den ‚Singular’ mit der numerisch-exklusiven Singularität zu verwechseln. Denn wenn das ‚letztkonstituierende’ Ur-Ich im gewöhnlichen Sinn ‚eines’ wäre, würde das bedeuten, daß ich als ‚ein Ich unter vielen anderen’ unberechtigterweise alle anderen Iche konstituieren würde. Wenn es hingegen ‚Ur-Iche’ im abzählbaren Plural gäbe, deren jedes ‚in sich’ erst die Intersubjektivität und die ganze Welt konstituieren würde, so ständen viele verschiedene ‚Intersubjektivitäten’ und ‚Welten’ nebeneinander. Diese ‚Pluralität’ muß wiederum phänomenologisch verstanden werden; so kehrt man wieder zum Anfang der Diskussion zurück. Daraus ergibt sich ein Zirkel bzw. ein unendlicher Regreß. Angesichts dieser Überlegungen kann man zum ‚monadologischen’ Pluralismus der transzendentalen Subjektivität nicht mehr Zuflucht nehmen, weil Husserl auf der Problemebene des Ur-Ich gerade die transzendentale – nicht mundane – Intersubjektivität der Monaden zu verstehen sucht. Die transzendentale Intersubjektivität ist die plurale Subjektivität im fundamentalsten Sinn.55 Dies steht zwar fest, aber diese ‚Urtatsache’ muß nun als solche auf ihren ‚Geltungssinn’ hin befragt und aus der Perspektive der radikalen len Sinnesaufklärung verständlich gemacht werden. Im Gegensatz zum 55
Vgl. I, 182, sowie Kapitel III, 2.3.
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Kapitel V
Transzendentalen ‚im ersten Sinn’ – also zu demjenigen der ‚monadologischen’ Intersubjektivität – kennzeichnet Husserl die Dimension des Ur-Ich als ‚in einem zweiten Sinn transzendental’: „Während die Monaden seiend sind, konstitutive Einheiten, in einer monadischen Zeit einer monadischen Welt gezeitigt (obschon gegenüber den Menschensubjekten und Tiersubjekten und gegenüber der Welt transzendental), ist das absolute ‚ego’ unzeitlich, Träger aller Zeitigungen und Zeiten, aller Seinseinheiten, aller Welten, auch in einem zweiten Sinn transzendentaler” (XV, 587).56 Die Vielheit von Monaden ist schon eine abzählbare Pluralität, welche die ursprüngliche Zeitigung und ‚Ontifikation’ voraussetzt. Befragt wird aber hier gerade die Zeitigung der Monaden, d. h. die Monadisierung, die ursprüngliche sinnhafte Konstitution der transzendental-intersubjektiven Pluralität. Auf ihre genaue Struktur werde ich im nächsten Kapitel eingehen. An dieser Stelle soll nur hervorgehoben werden, daß die Frage nach dem UrIch unter der Voraussetzung der pluralisierenden Ontifikation nicht angemessen gestellt werden kann. Aguirre schreibt dazu treffend: „[...] das Ich oder das Du der Einzigkeit steht noch diesseits jeglicher Ontifikation, es ist nicht ‚ein Ich unter anderen Ichen’, nicht einzig in bezug auf Anderes, sondern seine Einzigkeit ist absolute Vorgängigkeit, absoluter Anfang, wo die Rede von einem solus ipse ihren Sinn verliert” (Aguirre 1982, 44f.).
4.3 Das Ur-Ich ist ‚weder Eines noch Vieles’. Eine metaphysische Annahme? Es wurde festgestellt, daß das Ur-Ich nicht einfach im abzählbaren Plural verstanden werden darf, aber auch nicht im exklusiv-numerischen Singular. Könnte aber diese merkwürdige Beschreibung nicht zu einer ominösen Metaphysik verleiten, die nicht mehr phänomenologisch zu begründen ist? Dies ist offensichtlich Zahavis Bedenken, wenn er die Äußerung Finks über das ‚Ur-Leben’ mit Skepsis betrachtet. 57 Fink vertritt in seinem Aufsatz „Die Spätphilosophie Husserls in der Freiburger Zeit” (1959) die Ansicht, daß nach dem späten Husserl die „Gabelung” von „Eins und Vielem” erst aus der ursprünglichsten „Lebenstiefe des Bewußtseins” entspringt (Fink 1976, 223). Finks Darstellung enthält zwar in der Tat als Husserl-Interpretation problematische Momente, auf die ich später kritisch eingehen werde, 58 aber zu56
Daß die monadologische Intersubjektivität keine letzte Instanz der Phänomenologie darstellt, drückt Husserl an folgender Stelle unmißverständlich aus: „Das monadische Sein ist aber noch nicht das letzte und ist es ‚konstituiert’” (Dok II/1, 84 Anm.); „[...] das Sein der Monaden‚welt’ ist an sich früher, aber das an sich Erste bin ich, diese jetzt lebendig strömende Gegenwart (das urtümliche Strömen)” (XV, 591). 57 Zahavi 1996, 55f., 62f. 58 Siehe unten Kapitel V, 6.
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nächst soll geprüft werden, inwiefern der obige Kommentar Finks berechtigt ist. Erstens ist zu prüfen, ob Fink in der Tat meint, daß Husserls Lehre der Intersubjektivität durch den Gedanken des Ur-Ich „aufgehoben würde” (Zahavi 1996, 55). In der von Zahavi angeführten Stelle weist Fink zunächst darauf hin, daß Husserls Fünfte Meditation mit großem Nachdruck „die These vom Plural transzendentaler Subjekte” dargelegt hat. Anschließend schreibt Fink folgendes: „Diese Position wird zwar von Husserl nachher nicht aufgegeben, doch tritt in den Manuskripten der Gedanke eines Ur-Ich auf, das dem Unterschied von ego und alter ego voraufliegt, das erst den Plural aus sich hervorbrechen läßt” (Fink 1976, 223). Fink übersieht also den schon erwähnten Punkt nicht, daß die Ur-Ich-Lehre in keinem Widerspruch zur transzendentalen Intersubjektivitätstheorie steht. Dies muß auch Zahavis Meinung sein.59 Zweitens muß gefragt werden, ob Fink letztlich die intersubjektive Differenz bestreitet und die Pluralität in der Einheit aufgehen läßt. Auch diese Frage muß verneint werden. Fink sagt zwar: Die „Entzweitheit alles Seienden” gründet „in einer Ur-Einheit, die weder ‚faktisch’, noch ‚möglich’, weder eins, noch vielhaft, weder ein Exemplar, noch eine Gattung ist” (ebd., 223f.). Wenn man diese Aussage wörtlich auffaßt, kann die genannte ‚UrEinheit’ nicht als die Einheit im Sinne des numerischen Singulars verstanden werden, da sie ‚weder eins, noch vielhaft’ sein soll. Die ‚Ur-Einheit’ ist nicht die gewöhnliche Einheit, die den Gegenbegriff zur abzählbaren Pluralität darstellt. Freilich wäre es unberechtigt, wenn man die Pluralität auf die Einheit als ihren Gegenbegriff zurückführen wollte; das ist aber bei Fink offensichtlich nicht der Fall, obwohl seine Formulierungen es nahelegen könnten. Fink hätte jedoch betonen können, daß dieser ‚merkwürdige Gedanke’ nichts anderes ist als die Konsequenz der radikalen Epoché. Das heißt: Husserls Gedanke über das Ur-Ich bewegt sich überhaupt nicht im Bereich der ontologischen Diskussionen. Es wird nicht behauptet, daß die intersubjektive Pluralität aus dem Ur-Ich seinsmäßig ‚entstände’; Finks Formulierung mag in dieser Hinsicht irreführend sein. Husserl selbst stößt auf das Ur-Ich nur im reduktiven Rückgang. 60 Das heißt: Husserls Absicht liegt nicht darin, eine ontologische Skala der Seinsstufen zu bilden, in der das Ur-Ich an der Spitze stände, sondern darin, die fundamentalen ‚urfaktischen’ Strukturen (darunter auch die intersubjektive), die völlig ‚selbstverständlich’ und eventuell ‚unhintergehbar’ zu sein scheinen, zu verstehen. In dieser Rückfrage ist er gezwungen, selbst die ursprünglichsten Begriffsrahmen wie ‚Einheit und
59 60
Siehe oben S. 125 (Zahavi 1996, 64). Vgl. Kapitel IV, 4.2.2.
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Vielheit der Subjekte’ nicht mehr einfach vorauszusetzen, weil sie nun erst 61 thematisch befragt werden müssen. Man muß also folgendes beachten: Daß das Ur-Ich nicht pluralistisch verstanden werden darf, besagt nicht, daß es eine alle Pluralität und Verschiedenheit in sich auflösende Einheit darstellen würde. Die negative Aussage, das Ur-Ich sei nicht vielhaft, legt nahe, daß sie durch den Ausschluß einer Alternative die andere positiv behaupten würde, nämlich: ‚Das Ur-Ich sei eins’. Dies ist aber nicht der Fall, weil es bei der fraglichen Epoché eigentlich nicht um eine Alternativfrage geht, welche die positive Entscheidung fordert, ob das Ur-Ich ‚eins’ oder ‚vielhaft’ ist. Die versteckte Behauptung, daß das Ur-Ich ‚nicht vielhaft’, ‚also dann eins’ sei, muß ebenfalls aufmerksam in Klammern gesetzt werden. Die Interpretation des Ur-Ich als ‚Eines’ führt auf jeden Fall dazu, die Fundamentalität der intersubjektiven Pluralität zu verneinen: Das Ur-Ich als ‚Eines’ läßt sich entweder als ‚individuell Eines’ oder als ‚über-individuell Eines’ deuten. Aus der Interpretation, die das Ur-Ich als ‚individuelle Einheit’ betrachtet, folgt ein Solipsismus, der besagen würde, daß ‚ein’ Individuum die Vielheit aller Individuen konstituiert. Die andere Interpretation, die unter dem Ur-Ich eine ‚alle Individuen umgreifende Einheit’ versteht, gerät in die Nähe einer metaphysischen Annahme, daß es ein ‚großes Ich’ im Singular gäbe, das ‚uns alle’ zusammen mit unseren individuellen Differenzen ‚verschlänge’. Husserls Gedanke des Ur-Ich läßt weder die eine noch die andere Interpretation zu. Denn in der ersten Interpretation wird die ‚individuelle Einheit’ so verstanden, daß sie den Gegensatz zur ‚Vielheit der Individuen’ impliziert, so daß der Sinn der Intersubjektivität schon stillschweigend in Geltung ist. Dies verstößt jedoch gegen die radikale Epoché. Was die zweite Interpretation anbelangt, muß man sich daran erinnern, daß Husserl hinsichtlich des UrIch stets betont, daß es sich um das ‚jetzt phänomenologisierende Ich’ handelt, das als „ich der Epoché-Übende” (VI, 188), „das erste ‚ego’ der Reduktion” (XV, 586) etc. bezeichnet wird. Das Ur-Ich kann keinesfalls eine überichliche, transzendente Instanz bedeuten, die jenseits meines eigenen Ich stände. Darauf werde ich später noch einmal bei der Thematisierung von Husserls Auseinandersetzung mit Fink zurückkommen. Die bisherigen Überlegungen lassen sich wie folgt zusammenfassen: Das Ur-Ich ist weder als Einzahl noch als Vielzahl zu begreifen.62 Vielmehr muß
61
Diesen Punkt hat Fink aber wohl im Auge, wenn er bemerkt: „Husserl gebraucht zwar das Vokabular einer ‚absoluten Metaphysik’, in der Sache jedoch ist er davon weit entfernt. Er gelangt zu den ominösen Begriffen, die ihm Verlegenheitsbegriffe philosophischer Grenzlagen sind, nicht durch spekulatives Denken. Im Zuge einer weitläufigen, vielfältigen und in unzähligen Wiederholungen sich verbessernden analysierenden Reflexion stößt Husserl auf diese Probleme vor” (Fink 1976, 224).
Das Ur-Ich und die Radikalisierung der Epoché
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das Begriffspaar ‚Einzahl-Vielzahl’ der sorgfältigen Epoché unterzogen werden. Man darf es nicht einfach voraussetzen und vor diesem Hintergrund fragen, ob das Ur-Ich unter die eine oder die andere Kategorie fällt, da die Sinnesstruktur von ‚Einheit und Vielheit des Ich’ gerade das ist, was zum Verständnis gebracht werden muß. Insofern muß die Geltung dieser Sinnesstruktur in Klammern stehen. Das heißt, es bedarf äußerster Achtsamkeit, damit man den in Frage stehenden Sinn nicht naiv und unbemerkt gelten läßt. Man muß sich streng davor hüten, daß der phänomenologisch zuschauende Blick durch die unkritische Geltung der befragten Sinne implizit in eine bestimmte Richtung gelenkt wird. Vor diesem Hintergrund müssen Husserls merkwürdige Formulierungen in bezug auf das Ur-Ich gelesen werden.
5. UR-ICH ALS ‚EIDOS-EGO’? 5.1 Mögliche Belege für diese Interpretation Es kann nun aber gefragt werden, ob das ‚Ur-Ich’, das weder eins noch vielhaft ist, nicht als ein Eidetisches betrachtet werden kann. Denn an dem reinen ‚Eidos-Ego’ müßte jedes Ego teilhaben, während das Eidos selbst dabei immer das ‚eine und einzige’ zu bleiben scheint. Diese Einzigkeit darf man nicht mit der numerischen Singularität des einzelnen Exemplars verwechseln; sie läßt ihrer Natur nach die Pluralität des Ich als Exemplar zu. Das ‚Eidos-Ego’ kann auch nicht als eine alle Ich umgreifende Totalität verstanden werden. Man könnte einige Stellen nennen, die diese Interpretation zu stützen scheinen. An folgenden Stellen scheint Husserl zu behaupten, daß die faktischen Egos im Eidos-Ego zusammenfallen: „Ich sehe nun, daß die Wesensform eines und aller für mich faktisch seienden Anderen, ob bekannten oder selbst völlig unbekannten, dieselbe ist als die Wesensform meines faktischen ego” (XV, 382); „Jeder andere hat Ichstruktur; das, was ich an mir apodiktisch als Wesensstruktur erfasse” (XXIX, 84). Darüber hinaus scheint folgende Manuskriptstelle63 zu zeigen, daß die wechselseitige ‚Implikation’ aller transzendentalen Ich, welche die wesentliche Struktur der transzendentalen Intersubjektivität ausmacht, im Eidos-Ego enthalten ist: „Jedes exemplarische Ich als Wirklichkeit oder Möglichkeit ergibt dasselbe Eidos. Aber dieses Eidos hat das Merkwürdige, dass jede seiner eidetischen Singularitäten ein einzelnes transzendentales Ich (als Möglichkeit) ergibt, das ein Universum 62
Darauf weist auch Hart hin (Hart 1992, 275f.). Er bemerkt, daß die Pluralität zwar das Letzte für die Weltkonstitution ist, aber nur das Vorletzte für die letzte Konstitution bzw. Pluralisation des Bewußtseins. 63 XV, Text Nr. 22 (1931).
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von transzendentalen Ich intentional impliziert als kompossible Möglichkeit [...]” (XV, 383); dieses ist „ein Universum, eine Allheit von möglichen Subjekten, deren jedes alle anderen impliziert und die Allheit als Allheit impliziert” (ebd.). Husserl beendet den Absatz wie folgt: „[...] es ist klar, dass das Eidos dieses Universums, also das Eidos transzendentale Intersubkektivität, zugleich impliziert ist im Eidos transzendentales Ich” (ebd.). Diese ‚Implikation’ aller Ich ineinander und des Ich-Universums in jedem Ich weist auf die monadologische Struktur der Intersubjektivität hin. Diese Struktur wird an dieser Stelle als das Eigentümliche betrachtet, das im einzigen Eidos-Ego impliziert ist. Daraus scheint zu resultieren, daß das eine und einzige Eidos-Ego das Sein der monadologischen Intersubjektivität und der dazu gehörigen einzelnen Monaden erst ermöglicht. Besagt das, daß das Eidos-Ego die fragliche Rolle des Ur-Ich übernehmen kann?
5.2 Die Epoché im Hinblick auf das Denkschema ‚Eidos – Faktum’ Auf diese Frage kann man folgendermaßen antworten: Es läßt sich zwar sagen, daß das Eidos-Ego eine notwendige Bedingung für die monadologische Intersubjektivität darstellt, oder besser, daß es als eine solche Bedingung theoretisch herausgestellt werden kann. Ein Eidos ist aber eine – wenn auch allzeitliche – Objektivität; es kann insofern nicht mit der konstituierendfungierenden Subjektivität gleichgesetzt werden. Das Eidos-Ego ist daher nicht als das letztfungierende Ur-Ich zu interpretieren. Es ist auch darauf hinzuweisen, daß das Ur-Ich als die „‚Konkretion’ vor allen Konkretionen” gekennzeichnet wird (XV, 586), während das Eidos-Ego ein Abstraktes darstellt, das nach dem Vollzug der Reduktion durch die eidetische Intuition herausgearbeitet wird, und nicht das letzte Konkrete, worauf die Reduktion führt. Im Hinblick darauf möchte ich zu Thyssens Interpretation des Eidos-Ego kritisch Stellung nehmen. Er meint, daß für Husserl der Übergang vom faktischen absoluten Ego zum Eidos-Ego den Ausweg aus dem „geschlossenen System” der Monade bedeute (Thyssen 1953, 191). Dabei weist er darauf hin, daß es naheliege, daß Husserls Weg darin bestünde, „im Sinne Fichtes und seiner Nachfolger, als das weltkonstituierende Subjekt ein über-individuelles Ich anzunehmen, dessen Beschränkungen die einzelnen Iche sein würden”; denn das Eidos-Ego bei Husserl ist nicht mehr ‚dieses’ oder ‚jenes’ Ich (ebd.). Diese metaphysische Interpretation schließt Thyssen aber zu Recht als nicht-Husserlianisch aus. Das Eidos-Ego kann kein „reale[s] überindividuelle[s] Ich” bedeuten: „‚Möglichkeiten’ und ein ‚Wesen’ sind jedoch keine Realitäten, die etwas konstituieren könnten, mein faktisches ego ist das einzige Reale, das ich als konstituierend usw. haben kann” (ebd., 192). Aus dieser für sich berechtigten Feststellung zieht er aber die Konsequenz, daß „der
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Cartesianische Ansatz des ‚je mein Ich’ [...] durch keine Wesensbetrachtung überschreitbar” wird, daß also „kein Weg aus dem geschlossenen System herausführt durch die Methode der Wesensschau” (ebd.).64 Beim Gedanken des Eidos-Ego geht es aber eigentlich nicht darum, einen ‚Ausweg’ aus der Monade zu suchen. Der Gedanke des Eidos-Ego tritt im Grunde genommen in der ersten egologischen Stufe der Phänomenologie auf, die zunächst das Problem der transzendentalen Intersubjektivität ausklammert.65 Auch wenn das Eidos-Ego – wie in der vorhin zitierten Manuskriptstelle (XV, 383) – auf die Intersubjektivität bezogen wird, versucht Husserl damit nicht, das Problem der intersubjektiven Pluralität zu lösen. Die eidetische Methode ist die verdeutlichende Umgrenzung der Wesensstruktur, die das gelebte Konkretum voraussetzt.66 Wenn man die Struktur der Intersubjektivität durch die eidetische Variation untersucht, setzt man damit schon die Struktur selbst als ‚geltend’ voraus. Husserls Frage nach der Intersubjektivität zielt aber darauf, ihre selbstverständliche ‚Geltung’ verständlich zu machen. Wenn Thyssens ‚Realismus’, den er gegen Husserl behauptet, die Anerkennung der wirklichen Anderen bedeutet, die ‚für mich’ sind, aber dennoch ‚außerhalb meiner Reichweite’ stehen,67 würde Husserl ohne weiteres mit ihm übereinstimmen. Für Husserl gilt es aber nicht, den ‚Realismus’ zu bestätigen, sondern den in ihm implizierten merkwürdigen ‚Sinn’ der Anderen zu verstehen, der ‚in mir’ zu finden ist, aber ein mich völlig Transzendierendes bekundet: „[...] es ist nun das Problem, wie es zu verstehen ist, daß das ego solche neuartige Intentionalitäten in sich hat und immer neu bilden kann mit einem Seinssinn, durch den es sein eigenes Sein ganz und gar transzendiert” (I, 135). Um diesen Sinn zu verstehen, reicht es nicht aus, wenn man sich als ‚Realist’ bezeichnet und den betreffenden Sinn bloß als Tatsache hinstellt. Eigentlich setzt Thyssen von Anfang an voraus, daß das transzendentale Ich, wenn nicht ein ‚Eidos’, dann ein ‚Faktisch-Einzelnes’ ist. Dieser Interpretation liegt das geltende Begriffspaar ‚Eidos-Faktum’ sowie ‚SpeziesExemplar’ zugrunde. Demzufolge bedeutet das ‚Faktische’ ein bloß ,Einzelnes’, das neben den anderen Einzelnen steht. Die Pluralität der Subjekte, die eigentlich erst zum Verständnis gebracht werden muß, ist also von vornherein vorausgesetzt. Andererseits kann auch die Spezies keine Lösung bieten. Denn sofern ein Ich als Exemplar der Spezies ‚Ich’ betrachtet wird, ist ein 64
Ricœur weist auch – aber nicht kritisch wie Thyssen – darauf hin, daß es auf dem Weg über das Allgemeine keinen Zugang zur Ich-Pluralität gibt (Ricœur 1967, 92). 65 In dem auch von Thyssen angeführten Paragraph 34 der Cartesianischen Meditationen findet sich folgender deutlicher Hinweis: „Es ist wohl darauf zu achten, daß im Übergang von meinem ego zu einem ego überhaupt weder die Wirklichkeit noch Möglichkeit eines Umfangs von Anderen vorausgesetzt ist” (I, 106). 66 Vgl. dazu auch Kapitel III, 1. 67 Vgl. Thyssen 1953, 194.
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‚anderes Ich’ auch ein bloßes Exemplar derselben Spezies. Unter dieser Voraussetzung steht von Anfang an fest, daß das einzelne Ich nirgendwo auf einen im echten Sinn ‚fremden’ Anderen treffen kann. Bei Husserls Frage nach dem ‚Ur-Ich’, das durch die Rückfrage nach dem ‚Sinn’ des Anderen hervortritt, handelt es sich aber überhaupt nicht um einen ‚ontologischen Beweis’ des Anderen, sondern um die Radikalisierung der Epoché. Ein Husserl-Kritiker würde sein Ziel bereits verfehlen, wenn er annähme, daß Husserls Absicht darin bestünde, von einem einzelnen Ich ausgehend das Sein der anderen Iche zu ‚beweisen’ oder zu ‚deduzieren’.68 Husserl äußert sich hierzu in einem Manuskript, daß das Universum der transzendentalen Intersubjektivität „sich im Ego aufschließt”, aber „nicht durch Schlüsse erschließt” (Ms. A I 31/ 8b). Er versucht vielmehr zu verstehen, was es bedeutet, daß es überhaupt das ‚andere Ich’ gibt, das ich nicht selbst bin; um dies zu verstehen, muß er die Geltung des betreffenden Sinnes methodisch suspendieren. Zu dieser Epoché gehört es ebenso, das Denkschema ‚Eidos – Faktum’ oder ‚Spezies – Exemplar’ nicht mehr naiv in Geltung zu lassen. Dieses Denkschema ist zumindest dann nicht zwingend, wenn sich von der Sache her dasjenige Phänomen zeigt, das den Rahmen dieses Schemas sprengt. Genau ein solches Phänomen begegnet Husserl in der Problematik des Ur-Ich. Darauf werde ich im nächsten Abschnitt eingehen.
5.3 Das ‚Urfaktum’ des Ego In jenem zitierten Manuskript über das Eidos-Ego (XV, Nr. 22) weist Husserl im weiteren Verlauf auf folgendes hin: Ich bin zwar ein faktisches Ich, das nur eine unter vielen Möglichkeiten darstellt, die zum Eidos-Ego gehören. Man darf aber nicht übersehen: „Das Eidos konstruiere ich, das faktische phänomenologisierende ego. Konstruieren und Konstruktion (die konstituierte Einheit, das Eidos) gehört zu meinem faktischen Bestande, meiner 68
Das typische und klassische Beispiel hierzu ist Schütz’ Kritik. Er versteht unter Husserls Frage nach der Intersubjektivität folgendes: „How is it possible to derive the intersubjectivity of the world from the intentionalities of my own conscious life?” (Schütz 1975, 57); vgl. auch eine ähnliche Fragestellung bei Henry 1990, 137ff. Aus dieser Perspektive muß Kaehlers Kritik an Husserls Monadologie kritisch überprüft werden. Er scheint die transzendentale Reduktion als die Beschränkung auf die individuelle Monade zu interpretieren (Kaehler 1995, 694). Dementsprechend wird Husserls Monadologie als Versuch betrachtet, die „Harmonie” der Monaden von einer individuellen Monade ausgehend zu erklären, ohne sich dabei auf eine „Über-Instanz” zu berufen (ebd., 695, 709). Husserl setzt aber nicht von Anfang an einen Pluralismus der individuellen Monaden voraus, sondern sein Ausgangspunkt ist die ‚stumme Konkretion’ der transzendentalen Subjektivität, die nicht mit meinem privaten Ich verwechselt werden darf (vgl. Kapitel III, 2.2 u. 2.3). Darüber hinaus verdeutlicht die Problematisierung des Ur-Ich, daß Husserls Denken letztlich über den Begriffsrahmen ‚Einheit und Vielheit der Monaden’ hinausgeht.
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Individualität” (XV, 383). Durch diesen Hinweis auf das phänomenologisierende Ego eröffnet sich eine neue Perspektive. Husserl bemerkt dazu: „Wir haben hier einen merkwürdigen und einzigartigen Fall, nämlich für das Verhältnis von Faktum und Eidos. Das Sein eines Eidos, das Sein eidetischer Möglichkeiten und des Universums dieser Möglichkeiten ist frei vom Sein oder Nichtsein irgendeiner Verwirklichung solcher Möglichkeiten, es ist seinsunabhängig von aller Wirklichkeit, nämlich entsprechender. Aber das Eidos transzendentales Ich ist undenkbar ohne transzendentales Ich als faktisches” (XV, 385). Normalerweise besteht ein Eidos ‚unabhängig’ davon, ob das entsprechende Faktum existiert oder nicht. Was das transzendentale Ich betrifft, verhält es sich aber anders. Das Eidos als das Konstruierte weist auf das es konstruierende Leisten zurück, das zum ‚faktisch’ phänomenologisierenden Ich gehört.69 Jedes Eidos ist auf solche Weise im ‚Urfaktum’ des phänomenologisierenden Ich verankert.70 Auch das Eidos ‚transzendentales Ich’ ist in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Es ist also in dem ihm entsprechenden Faktum selbst verankert, nämlich im faktischen transzendentalen Ich, das aber kein abstrakt gedachtes, sondern das konkret phänomenologisierende, das jetzt so lebende Ich, darstellt.71 Wenn das Faktum im Gegensatz zu dem von ihm unabhängigen Eidos verstanden wird, beruhen das so verstandene ‚Faktum’ und dieser Gegensatz auf dem ‚Urfaktum’ des lebendigen Ich, das phänomenologisierend die theoretische Konstruktion vollzieht.72 Mit der phänomenologischen Rückfrage und der eidetisch-ontologischen Untersuchung gelange ich zu den „teleologischen” Urtatsachen und Urnotwendigkeiten (XV, 385), aber „ich denke sie, ich frage zurück und komme auf sie schliesslich von der Welt her, die ich schon ‚habe’. Ich denke, ich übe Reduktion, ich, der ich bin und für mich in dieser Horizonthaftigkeit bin”; „Ich bin das Urfaktum in diesem Gang” (XV, 386).73
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Man kann auch sagen: Das Eidos als „Erschautes” (I, 105) setzt das urfaktische ‚Schauen’ voraus. Vgl. dazu Kapitel III, 1. 70 Dies läßt sich auch aus folgendem Zitat klar entnehmen: „Aber ich, der Umdenkende, der mich der faktischen Wirklichkeit Enthebende, bin apodiktisch das Ich der faktischen Wirklichkeit [...]. Die Phantasiemöglichkeiten als Varianten des Eidos schweben nicht frei in der Luft, sondern sind konstitutiv bezogen auf mich in meinem Faktum, mit meiner lebendigen Gegenwart, die ich faktisch lebe, apodiktisch vorfinde und mit allem, was darin enthüllbar liegt” (XXIX, 85). 71 Daß das transzendental-konstituierende und das phänomenologisierende Ich nicht als zwei getrennte Instanzen zu betrachten sind, habe ich im letzten Kapitel gezeigt (vgl. Kapitel IV, 3). 72 Vgl. dazu die genauen Erläuterungen in Ms. E III 9/ 7bff. Im Normalfall geht die Essenz der Existenz voran. „Hinsichtlich der Apodiktizität des Ego steht es aber so, daß die das notwendig Frühere ist, als welche die des Wesens erst einsehbar macht” (Ms. E III 9/ 7b). 73 Aus diesem Text wurden die Passagen zur ‚Teleologie’ in der Literatur oft mit Betonung herangezogen. Wenn man aber den umfassenderen Kontext sorgfältig betrachtet, ergibt sich,
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Das ‚methodische’ Ich, das phänomenologisierende, kann sich nicht außerhalb des Themenbereichs halten, sondern fällt vielmehr mit dem thematisierten transzendentalen Ich zusammen.74 Nur auf diese Weise läßt sich das merkwürdige ‚Urfaktum’ des transzendentalen Ich verstehen. Das grundlose ‚Absolute’, das am Ende desselben Textes angesprochen wird, ist folglich nicht als ein ‚jenseitiges’ Prinzip zu deuten; auch wenn es mit dem urfaktischen Ich nicht völlig zu identifizieren ist, kann es zumindest vom Urfaktum des ‚Ich bin’ nicht getrennt werden. In diesem Zusammenhang läßt sich die oft zitierte Passage über das ‚Absolute’ nachvollziehen: „Seine Notwendigkeit ist nicht Wesensnotwendigkeit, die ein Zufälliges offen ließe. Alle Wesensnotwendigkeiten sind Momente seines Faktums, sind Weisen seines in bezug auf sich selbst Funktionierens — seine Weisen, sich selbst zu verstehen oder verstehen zu können” (XV, 386).75 Das lebendige ‚Funktionieren’ ist das ‚Absolute’ im Sinne des phänomenologisch ‚Unhintergehbaren’. Aus diesem wird das Eidos als reines ‚erschaut’; insofern geht die ursprüngliche ‚Faktizität’ des Funktionierens über das bloß zufällige Faktum hinaus, das sich durch den Gegensatz zum Eidetischen bestimmt; dieses kommt vielmehr erst aufgrund jener ‚Urfaktizität’ zum Vorschein. Es darf auch nicht übersehen werden, daß an der obigen Stelle das lebendige Funktionieren mit dem ‚Verstehen’ in Zusammenhang gebracht wird. Das deutet darauf hin, daß es sich hierbei nicht um eine metaphysische Ontologie handelt,76 sondern um den nachvollziehenden Rückgang auf das ursprüngliche, anonyme ‚Selbstverständnis’, ohne dessen ständige Funktion das Seiende weder als Eidetisches noch als Faktisches in Erscheinung treten könnte.77
daß Husserl mindestens ebenso großen Nachdruck darauf legt, daß die teleologischen Urstrukturen im Urfaktum des Ego verankert sind. 74 Das, was ich schon bei der Problematisierung des transzendentalen Anderen festgestellt habe (vgl. Kapitel III, 2.1), findet sich hier in zugespitzter Form. 75 Daß es sich bei diesem ‚Absoluten’ im Grunde genommen um das absolute Ego handelt, ist in Ms. E III 9/ 8b zu bestätigen. Hier zitiere ich nur folgende Randbemerkung: „Apodiktisch beschlossen in meinem absoluten Eidos alles Eidos, in meinem absoluten Sein alles Sein” (ebd.). 76 In demselben Text weist Husserl darauf hin, daß ich, solange ich eidetische Forschung betreibe, in der Ontologie stehe (XV, 385). Die ganze ‚Ontologie’ im Husserlschen Sinne ist also im ‚Urfaktum’ verankert; vgl. auch Ms. E III 9/ 4b, 5a. 77 Die ‚Apodiktizität’ und ‚Urfaktizität’ des Ich soll in Kapitel VII eingehend erläutert werden.
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6. DAS ‚ABSOLUTE LEBEN’ VOR DEM UR-ICH? DAS PROBLEM DER ‚NÄHE’ DES SELBST 6.1 Die Weggabelung von Husserl und Fink Aufgrund des Gesagten kann man jetzt die Frage stellen: Haben die vorangegangenen Überlegungen die These Finks bestätigt, daß das Ur-Ich weder eins noch vielhaft, weder faktisch noch eidetisch, weder ein Exemplar noch eine Spezies ist? Wenn dies streng im Sinne der Epoché verstanden wird, kann man dies bejahen. Wenn man mit Husserls Texten vertraut ist, kann dies aber trotz allem nicht darüber hinwegtäuschen, daß in Finks Darstellung etwas Befremdliches liegt. Dieses Befremden ist m. E. durchaus gerechtfertigt. Um Husserls Position zu pointieren, möchte ich diese im folgenden mit der Ansicht seines letzten Assistenten und späteren Kritikers konfrontieren.78 Zunächst soll der schon behandelte Aufsatz „Die Spätphilosophie Husserls in der Freiburger Zeit” noch einmal kritisch untersucht werden. Es wurde gezeigt, daß seine Darstellung zutreffende Punkte enthält. Wenn man aber die folgende Passage liest, erheben sich doch Bedenken, ob das Gesagte wirklich Husserls Meinung widerspiegelt: „[...] der Plural der Subjekte gründet in einer Lebenstiefe vor jeder selbsthaften Individuation. [...] er [=Husserl] will die Zeit erfassen in ihrem Hervorgang aus dem ZeitlosEwigen, das Weltgefüge von Faktum und Wesen in seiner Fügung, und die Selbste, die Subjekte, in der Selbstung des absoluten Seins” (Fink 1976, 224). Es ist offensichtlich, daß Fink die letzte Tiefendimension der Phänomenologie als das nicht-ichliche Absolute betrachtet, das ‚vor jeder Individuation’ der Subjekte liegt. Diese Bestimmung scheint aber Husserls Begriff des ‚Absoluten’ zu überschreiten. 79 Hierin wird eine scheinbar kleine, aber in Wirklichkeit entscheidende Differenz zwischen den beiden Philosophen deutlich. Darüber berichtet Fink selbst in seinem Entwurf eines Vorwortes zur VI. Cartesianischen Meditation: “Die Exposition des Problems einer transzendentalen Methodenlehre ist hier bei aller Nähe zu Husserls Philosophie durch den Vorblick auf eine meontische Philosophie des absoluten Geistes bestimmt. Das dokumentiert sich in der Einschränkung, die Husserls zustimmendes Urteil zu dieser Arbeit macht: Husserl [...] verteidigt den indivi78
Dabei beschränke ich mich, was die Fink-Interpretation angeht, im Prinzip auf seine Gedanken der dreißiger Jahre. Auch der erst 1959 verfaßte Aufsatz „Die Spätphilosophie Husserls in der Freiburger Zeit” (Fink 1976, 205-227) gehört m. E. inhaltlich gesehen zu diesem Gedankenkreis, und zwar als Husserl-Interpretation. 79 Auch Waldenfels äußert mit Recht Bedenken zu dieser radikalen „Umdeutung des Ur-Ich in einen eshaften Ur-Grund” (Waldenfels 1971, 41).
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duellen Begriff des philosophierenden Subjekts gegen die in dieser Schrift allerdings unausdrücklich gemachte Reduktion des als individueller Geist beginnenden philosophierenden Subjekts in die vor aller Individuation liegende Lebenstiefe des absoluten Geistes” (Fink: Dok II/1, 183). Husserl hat also der von Fink vorgeschlagenen ‚Auflösung’ des individuellen Ich in die vor-individuelle ‚Lebenstiefe des absoluten Geistes’ nicht zugestimmt. Es liegt aber eigentlich nahe, daß die letzte Dimension der Reduktion als ‚vor-ichlich’ und ‚vor-individuell’ aufzufassen sei: Ist es nicht so, daß eine konsequente Epoché auch den Gegensatz zwischen ‚Ich und dem Anderen’ einklammern und infolgedessen eine ‚vor-ichliche’ Lebensdimension ergeben müßte? Es wurde gezeigt, daß die Epoché hinsichtlich des Gegensatzes ‚Eines-Vieles’ eine notwendige Konsequenz der Reduktion ist. Besagt das nicht, daß auch der Begriff der ‚Individualität’ einer Epoché unterworfen werden muß? Ist Husserls Beharren auf dem ‚individuellen philosophierenden Ich’ nicht auf eine Inkonsequenz seines Denkens zurückzuführen, die er selbst gar nicht bemerkt hat? Diese Skepsis kann m. E. aus mehreren Gründen widerlegt werden. Finks Bericht läßt vermuten, daß Husserl wohl in der Lage war, durch die fast tägliche Diskussion mit Fink80 die These seines Schülers, daß die letzte Dimension der Phänomenologie vor-ichlich sei, 81 eingehend zu prüfen. In dieser Auseinandersetzung hat er offensichtlich – seinerseits ‚bei aller Nähe’ zu Fink – diese These bewußt und mit Entschiedenheit zurückgewiesen. Fink mag zwar durch die Diskussion möglicherweise Husserls Gedanken ‚beeinflußt’ haben, aber Husserls Prinzip verbietet es ihm, dasjenige einfach hinzunehmen, was er nicht ‚sehen’ kann. Insofern kann man einerseits von den Gedanken, die Husserl aufgenommen hat, eine phänomenologische Authentizität erwarten, daß man sie nämlich ‚schauend’ nachweisen kann; andererseits deutet Husserls Ablehnung darauf hin, daß die ‚Sachen’, die sich Husserl zeigten, nicht für Finks These sprachen. Worin hat Husserl die sachlichen Gründe gesehen, die Finks These widersprachen und Husserl dazu zwangen, den ‚individuellen Begriff des philosophierenden Subjektes’ zu verteidigen? Der springende Punkt dabei ist m. E., daß Finks These es nahelegt, daß die letzte Radikalisierung der Reduktion ein ‚Heraustreten aus dem Selbst’ bedeuten würde. Im folgenden werde 80
Vgl. Dok III/7, 89. Es ist unverkennbar, daß Fink damals (1931-32) schon seine Idee der ‚Meontik’ und des Absoluten vor dem Ur-ego hatte. Vgl. Berichte von Cairns (1976, 57, 67), besonders die folgende Stelle: „He [=Fink] suggested that the Ur-ego, in which the enduring ego is constituted, that the Ur-now is not, perhaps, the Absolute, but the first emanation of the absolute” (ebd., 95).
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ich aufzuzeigen versuchen, warum Husserls Phänomenologie den spekulativen ‚Sprung’ Finks nicht mitmachen konnte. Die Hauptfrage ist dabei, warum Husserl die letzte phänomenologische Problemdimension nicht als ein ‚vor-ichliches’ Ur-Leben bzw. als ein nicht mehr ‚selbsthafter’ Grund, der aller ‚Selbstung’ vorangeht, charakterisieren kann.
6.2 Das ‚Ur-Leben’ oder das ‚Ur-Ich’? Man muß zunächst eine Manuskriptstelle betrachten, in der Husserl von dem vor- oder über-ichlichen Grund des transzendentalen Ich zu sprechen scheint. Hier soll danach gefragt werden, ob das ‚Absolute’ als die ‚Urzeitigung’ nicht diejenige Instanz sein kann, die allem Ichlichen vorangeht. In der bekannten Aufzeichnung von 1934, welche die Überschrift „Zeitigung – Monade” trägt (XV, Nr. 38), weist Husserl auf „eine Zeitigung der Zeitigungen, eine Zeitigung der urzeitigenden Urtümlichkeiten, bzw. eine innere Vergemeinschaftung derselben” hin (XV, 668) und fährt wie folgt fort: „So ist auch zu sprechen von der einen stehenden urtümlichen Lebendigkeit (der Urgegenwart, die keine Zeitmodalität ist) als der des Monadenalls. Das Absolute selbst ist diese universale urtümliche Gegenwart, in ihr ‚liegt’ alle Zeit und Welt in jedem Sinn” (ebd.). Ist das also nicht ein Beleg dafür, daß Husserl letztlich zu der Ansicht gelangt, daß die letzte absolute Zeitigung nicht mehr ‚meine’, sondern ‚des Monadenalls’ Zeitigung ist, daß also alle Iche aus demselben Urgrund stammen? Wenig später sagt er aber folgendes über die „urtümliche absolute Allheit”: „Sie ist aber nur aus meiner urtümlichen Gegenwart (selbst ein Gegebenes aus Rückfrage) auf dem Wege der Rückfrage über Weltzeitlichkeit und monadische Zeitlichkeit zu gewinnen, also nur explizit seiend in dieser phänomenologischen Leistung — doch auch eine Zeitigung” (ebd.). Es ist besonders zu berücksichtigen, daß hier nicht nur die ‚Rückfrage’, sondern auch die ‚phänomenologische Leistung’ bzw. das ‚Phänomenologisieren’ eigens hervorgehoben wird. Die beiden betonten Aspekte deuten darauf hin, daß es sich beim Gedanken der Urzeitigung nicht um eine metaphysische Konstruktion handelt, sondern um die Radikalisierung der Epoché. Es soll im folgenden gezeigt werden, daß der letztere Aspekt besonders eng mit der Kritik am metaphysischen (oder ‚mythischen’) Denken zusammenhängt. Der Gedanke, daß alles Seiende aus einem einzigen Ursprung entstehe, erscheint uns vertraut. Es wäre eine ‚angenehme’ Lösung, wenn man Husserls Phänomenologie in die Tradition der monistischen Metaphysik einordnen könnte; das gilt ebenso, wenn man Husserl als bloßen Befürworter der ‚gleichursprünglichen’ Ich-Pluralität hinstellt, die ohnehin einem natürlichen Bewußtsein angenehm erscheint. ‚Alles kommt aus einem Ursprung’: Dieser Gedanke ist wohl als ein Archetypus unseres theologisch-metaphysischen
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Denkens zu bezeichnen. Er hat zwar seine eigene Bedeutsamkeit und Funktion, hat aber die – wohl während der langen Geschichte des menschlichen Denkens verstärkte – Tendenz, in ein bloßes Denkschema zu verfallen. Der Gedanke eines einzigen universalen Ursprungs kann aber seine Wahrheit – wenn überhaupt – nur dadurch nachweisen, daß ich sie in der ‚Evidenz’ einsehe; das heißt, daß ich diesen Gedanken nicht als ein herkömmliches nützliches Denkschema hinnehme, sondern in der kritischen Haltung selbst ‚schauend’ feststelle, daß das Gesagte ‚nicht anders sein kann’. Die Wahrheit des universalen Ursprungs kann merkwürdigerweise und doch folgerichtig ohne den Evidenzvollzug als ‚Ich-schaue’ nicht bestehen. Die zuletzt zitierte Stelle weist darauf hin, daß dieser Evidenzvollzug auch eine Zeitigung ist. Daß ich nicht anders denken kann, als daß alles aus einer einzigen Urzeitigung ist, das ist auch eine Zeitigung, die notwendigerweise dann im Spiel ist, wenn die einzige Urzeitigung als solche überhaupt für mich ‚da’ ist. Man könnte auch sagen: Die Zeitigung ‚ist’ nur durch diejenige Zeitigung, die sie für mich als Zeitigung erst ‚sichtbar’ macht. Ohne dieses Sich-selbst-Zeigen der Zeitigung wäre für mich jede Rede von ihr sinnlos. Aus der Perspektive der Evidenz ist nichts von mir vollkommen unabhängig; jede Aussage enthält explizit oder implizit das ‚Ich-schaue’ bzw. das ‚Ich kann jederzeit nachschauen’ oder zumindest seine Modifikation, die indirekt auf das ‚Ich-schaue’ zurückverweist. Wenn man auch scheinbar ‚neutral’ bzw. ‚quasi-objektiv’ mit einem alles hervorbringenden Ursprung beginnt und seine Folgen der Reihe nach erzählt, ist man doch nicht vom ‚Ich-schaue’ befreit, sondern läßt nur außer Acht, ‚wer’ dies erzählt. Diese ‚Selbstvergessenheit’ des Philosophierenden, der ein neutral-universales Blickfeld vor sich zu haben glaubt, ist aus der Perspektive der Evidenzlehre verhängnisvoll. Daß Husserl diese ‚Naivität’ höherer Ordnung eingesehen hat, war für ihn offenbar ein entscheidender Grund, warum er am Begriff des Ur-Ich bis zum Ende festgehalten hat.82 Das besagt allerdings nicht, daß das Ur-Ich anstatt der vor-ichlichen Urzeitigung die systematische Stellung des ‚Ursprünglichsten’ einnähme, daß man also das vor-ichliche Absolute einfach durch das Ur-Ich ersetzen dürfte; dann wäre man immer noch in der scheinbar neutralen, systematischmetaphysischen Denkweise befangen. Dieser Punkt wird besonders deutlich, wenn Husserls Auseinandersetzung mit dem Problem des ‚phänomenologisierenden Ich’ näher in Betracht gezogen wird. Ein Manuskript aus dem Jahr 82
Erinnert sei daran, daß Husserl bei der Einführung des ‚Ur-Ich’ auf die „Naivität unseres ersten Vorgehens” (VI, 185) und auf die „Selbstvergessenheit unserer selbst, der Philosophierenden” (VI, 187) einen besonderen Akzent setzt; vgl. Kapitel IV, 4.1 und 4.2.1. Es ist zu beachten, daß das folgende selbst für die ‚Selbstreflexion’ gilt: „Ich als letztlich fungierendes (wie als reflektierendes) bin auch dabei in ursprünglicher Selbstvergessenheit, bin im Modus eben des An-das-zielmäßige-Ganze-Hingegebenseins” (Mat VIII, 278).
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193083 enthält folgende wichtige Überlegung: Durch die konsequente Rückfrage stößt Husserl einerseits auf das „absolut[e] Strömen”, das auch als das letzte „Ursein” zu bezeichnen ist (XXXIV, 172). Andererseits versäumt er es nicht, die Frage nach dem ‚Wissen’ vom letzten Urströmen zu stellen: „Wenn von dem ursprünglichsten Sein des Ego in seiner strömenden Urpräsenz gesprochen wird, wie ist ein ursprüngliches Wissen von dieser möglich, wie kommt der Urstrom des Erlebens oder vielmehr die strömend konkrete transzendentale Gegenwart zur Wahrnehmung und zur Identifizierung als seiend?” (XXXIV, 173). Husserls Antwort lautet: dieser Urstrom ist auch „erst seiend aus meiner Leistung” (XXXIV, 175). Dies wird noch wie folgt präzisiert: „Das Ich-denke, Ich-besinne-mich, Ich-identifiziere, Ich-stellefest, Ich-übe-Urteilsevidenz — das geht vorher dem festgestellten Sein, es ist das feststellende, leistende Ich. Und es selbst stellt heraus das, was Feststellung möglich macht, das Vorsein meiner als Seienden im urphänomenalen Strom, die Strukturen dieses Stroms, das Sich-darin-Konstituieren der immanenten Zeit und das Hineingehören des Ich-denke, das Hineingehören der Denkvermögen und vor allem ihm zugehörigen strömenden Sein in dieses Leben und Sein” (ebd.). Husserl behauptet also, daß das phänomenologisierend feststellende Ich dem Festgestellten ‚vorhergeht’ – hier der ‚Urzeitigung’ als urphänomenalem Lebensstrom –. Das darf, wie gesagt, nicht in dem Sinne verstanden werden, daß es ‚vor’ dem Urströmen noch eine ‚tiefere’ Dimension gäbe, die es hervorbrächte.84 Es geht nicht um eine lineare Weitervertiefung der Rückfrage, aus der eine Skala der Seinsschichten resultieren würde, sondern darum, einer immer schon anonym mitfungierenden ‚Sichtweise’ inne zu werden, die in der Blickrichtung der bisherigen Rückfrage überhaupt nicht zu spüren war. Husserl versucht also, auf eine vollkommen neuartige ‚Ordnung’ aufmerksam zu machen. Es scheint zwar eine naheliegende Ordnung darzustellen, daß die phänomenologische Feststellung erst durch das urphänomenale ‚Vorsein’ ermöglicht wird, daß das Ich-denke also in das ‚Vorsein’ als Urleben ‚hineingehört’. Dieses ‚Vorsein’, das dem phänomenologisierenden Ich-denke in diesem Sinne vorangeht, kann aber dennoch erst durch das phänomenologisierende Ich-denke herausgestellt werden. Und dieses von mir vollzogene Herausstellen ist ein notwendiges Moment der Evidenz, daß das ‚Vorsein’ mir vorangeht. Aus evidenztheoretischer Perspektive muß man sagen, daß das mich als Phänomenologisierenden erst ermöglichende ‚Vorsein’ ohne mein Phänomenologisieren doch nicht für mich ‚sein’ kann. Diese wechselseitige Bedingtheit, oder besser, das sich ineinander verschachtelnde Verhältnis zweier Ordnungen bringt Husserl im weiteren 83
XXXIV, Nr. 9 (= Ms. C 5, B II 6). Wenn das Ich durch das Strömen, das Strömen durch das Ich ermöglicht würde, kämen wir auf einen Zirkel oder auf einen unendlichen Regreß (vgl. XXXIV, 181).
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Verlauf des Textes deutlich zum Ausdruck: „So urteilend-erkennend sage ich: Das Leben geht immer vorher der auslegenden Methode, und diese Methode ist selbst Leben usw. Aber die denkende Auslegung stellt dies erst fest, dass es so ist, das ist ihr Ergebnis, und so geht sie dem Sein im Sinn der Wahrheit voraus. Alles, was für mich ist und so ist, ist Leistung meines Denkens, das sich besinnende und denkend besinnende, +das, eben dies auch denkend feststellt und das Vorangehen des unbestimmten, ungedachten Vorseienden feststellt in Form eines Seienden vor dem Es-Denken, während das Denken dieses ‚Vorher’ und den Sinn des Vorseins selbst feststellt” (XXXIV, 175). Daß es sich hierbei um zwei andere, aufeinander nicht reduzierbare Ordnungen handelt, wird im folgenden noch deutlicher: „Der Strom ist a priori von dem Ego zu verzeitlichen. Dieses Verzeitlichen ist selbst strömendes; das Strömen ist immerzu im Voraus. Aber auch das Ich ist im Voraus, es ist als waches Ich (transzendental-phänomenologisch wach) immerfort Bewusstseins Ich” (XXXIV, 181).85 Auf diese Weise wird auch verständlich, warum Husserl die radikalisierte Reduktion als Reduktion „auf ein transzendentales Ur-Ich und ein transzendentales Ur-Leben” (XXXIV, 300) beschreibt. Das transzendentale Ich und sein Bewußtseinsleben ist schon ein „konstituiertes Gebilde und als das einzuklammern”, insofern als es die Form der immanenten Zeitlichkeit hat, die nach der Zeitmodalitäten der Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft strömt (ebd.). Diese Radikalisierung der einklammernden Epoché bringt das stehend-strömende Urleben zutage; wenn man es aber als die einzige letzte Instanz der Konstitution annimmt, gerät das Ur-Ich dabei in Vergessenheit, das zunächst das „Ich dieses allzeitigenden Lebens” (ebd.) besagt, das aber nicht ein allgemein angeschautes wissenschaftliches Objekt, sondern letztlich das konkrete „ich, der ich hier und jetzt phänomenologisiere” 86 darstellt; die phänomenologische ‚Selbstverständigung’ darf diesen letzten ‚blinden Fleck’ für die Phänomenologie nicht in Anonymität lassen.
6.3 Die Überwindung der tieferen Naivität des Phänomenologisierens: Die ‚Nähe’ des ‚Ich-schaue’ und Selbstverantwortlichkeit Gemäß meinen bisherigen Darlegungen erhob Husserl gegen Finks Gedanken des ‚nicht selbsthaften Absoluten’ in erster Linie deswegen Einspruch, 85
Aufgrund dieser Überlegung gelangt Husserl spätestens 1932 zu der Ansicht, daß die Zeitlichkeit „in jeder Weise Ichleistung” ist. „Die wirkliche Zeitigung, die in der evidenten zeitlichen Gegebenheit des Stromes der Erlebnisse vorausgesetzt und getätigt ist, ist die des transzendental-phänomenologisierenden Ich” (XXXIV, 181; vgl. auch 184). 86 Auch das ‚hier und jetzt’ darf freilich nicht als ein objektiver, raumzeitlich lokalisierbarer Punkt verstanden werden. Husserl zeigt, daß das ‚Letztindividualisierende’ aller Washeit vorangeht. Vgl. dazu näher Vf. 2002, 57ff.
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weil er über die fundamentale, aber schwer zu fassende Rolle des ‚phänomenologisierenden Ich’ nicht hinwegsehen konnte. Man kann jedoch dagegen einwenden, daß auch Fink dessen hinreichend inne war, daß das ‚Phänomenologisieren’ keine zweitrangige, sondern eine zentrale Problematik der Phänomenologie ausmacht; das wird vor allem in der VI. Cartesianischen Meditation dokumentiert. Im Hinblick auf das phänomenologisierende Leisten besteht aber wiederum eine unübersehbare Differenz zwischen Husserl und Fink. Betrachten wir zunächst Finks Ansicht: „Das Phänomenologisieren weist sich selbst aus als ein transzendentales Geschehen, und zwar als das Geschehen der transzendentalen Selbstbewegung des konstituierenden Lebens” (Dok II/1, 126); „Das ‚Subjekt’ der absoluten Wissenschaft ist das Absolute selbst” (ebd., 166). Das Subjekt des Phänomenologisierens ist für Fink nicht mehr das ‚Ich’, sondern ‚das Absolute’; die Phänomenologie ist nicht mehr das Sich-selbst-Erkennen des transzendental-phänomenologisierenden ‚Ich’, sondern dasjenige des „Absoluten” (ebd., 167ff.). Statt ‚Ich phänomenologisiere’ könnte man mit Fink sagen: ‚Es phänomenologisiert’. In der Tat gebraucht er im Schlußteil der VI. Meditation kaum die Ich-Rede. Husserls Beilagen zu diesem Text sowie andere Aufzeichnungen aus den dreißiger Jahren bilden dazu einen klaren Kontrast. Denn das Subjekt des Phänomenologisierens verliert seinen Ich-Charakter bis zum Ende nicht:87 „Das phänomenologisierende Subjekt in seiner theoretische Erkenntnis schaffenden Wachheit ist seiner selbst bewusstes Ego” (Dok II/1, 215).88 Besagt dies, daß Husserl seine Naivität nicht überwinden konnte, daß er das Phänomenologisieren noch als ‚eines unter vielen’ begriff, obwohl er bereits die Epoché hinsichtlich der Differenz ‚Eines-Vieles’ einführte? Handelt es sich also hierbei um eine unzureichende Reduktion? Im Gegenteil: Naiv ist vielmehr diejenige Einstellung, in der man glaubt, daß die Individualität des denkenden Ich durch die Universalität der philosophischen Übersichtlichkeit aufgehoben werden könnte. Durch das Denken des phänomenologisierenden Ich wird die tiefste Naivität des Philosophen in bezug auf sich und sein ‚Sehen’ selbst bloßgelegt: Der Philosophierende merkt gerade in seinem Philosophieren nicht, daß er die Spur seines eigenen ‚Blicks’ aus dem Universum des ‚Gesehenen’ konsequent ‚ausradiert’, das deswegen so durchsichtig und übersichtlich aussieht.89 87
Vgl. Dok II/1, 203ff. Dieselbe Stelle macht auch klar, daß das ‚Absolute’ bei Husserl noch ein ‚Ich’ bedeutet (Dok II/1, 216). 89 In späten Manuskripten stellt Husserl die „Naivität des Geradehin-Philosophierens” (XXIX, 413) kritisch heraus, in der man selbstverständliche Voraussetzungen des Philosophierens selbst nicht kritisch zum Thema macht (XXIX, 415ff.). Dabei spielt das philosophierende Ich eine besondere Rolle. In der transzendentalen Thematisierung der ‚Subjektivität’ muß man Husserl zufolge die übliche „Gewohnheit” der Wissenschaftler fahren lassen, „alle Ich-Rede 88
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Dies ist eine Kehrseite des philosophischen Universalitätsanspruchs, der auch die radikalisierte Epoché teilweise bestimmt. Ein konsequenter Vollzug der Epoché fordert – wie ich zeigte – die vertrauten grundsätzlichen Begriffsrahmen wie ‚Eines-Vieles’, ‚individuell-universal’, ‚faktisch-eidetisch’ usw. außer Geltung zu setzen. Dadurch gelangt man zu einem scheinbar ‚neutralen’ ‚charakterlosen’ Punkt. Da kann man sich leicht täuschen, als ob man über alle bestimmten Standpunkte hinausginge und in einem offenen, ‚standpunktlosen’ Horizont stände. Dies liegt aber daran, daß der Phänomenologisierende jede ontifizierende Selbstapperzeption einstellt, d. h. sich selbst nicht mehr ins Feld des Gesehenen naiv hineinversetzt. Die ‚Unsichtbarkeit’ des Ich besagt also nicht, daß ich ‚verschwunden’ wäre, sondern zeigt vielmehr an, daß ich mich in der ‚äußersten Nähe’ zu meinem ursprünglichsten Gesichtspunkt befinde. Wenn dieser ‚nächste’ Standpunkt, der mir selbst trotz der intentionalobjektiven ‚Unsichtbarkeit’ dennoch auf seine Weise ‚bewußt’ ist, in Selbstvergessenheit gerät, naht die Gefahr einer willkürlichen Spekulation; denn wenn eine Spekulation sich als wahrhaft ausweisen will, muß sie sich ihrerseits auf die Evidenz berufen; die Evidenz besteht aber im ‚Schauen’, das nur dadurch ‚verbindlich’ zu machen ist, daß ‚ich’ schaue. Wenn man diese ‚Bezeugung’ des lebendigen Ich vernachlässigt, folgt daraus eine fatale Verantwortungslosigkeit; es wäre so, als ob man sagen würde: ‚Jemand (Gott oder wer auch immer) hat das eingesehen, deshalb ist das wahr’; oder noch zugespitzter: ‚Ich weiß nicht, aber das ist wahr’. Etwas als wahr zu behaupten, das impliziert schon, wenn es ernst genommen werden soll, notwendig das lebendige ‚Ich-sehe(-ein)’: „Ich glaube das, weil ich es einsehe (bzw. sehe)” (III/2, 618). Man darf also nicht vergessen, daß die Epoché nicht nur einen befreienden, sondern auch einen verbindlich machenden Charakter hat; der letztere bezieht sich auf die mit der Epoché ursprünglich verbundene Evidenzsuche, die sich letztlich auf die apodiktische Evidenz des ‚Ichschaue’ stützt. 90 Die „einzigartige philosophische Einsamkeit” des Ur-Ich, die in der Krisis als „das methodische Grunderfordernis” angesprochen wird (VI, 188f.), ist die Einsamkeit der ‚Selbstverantwortung’. Darauf komme ich im VII. Kapitel zurück.91 Es muß unterstrichen werden, daß der Rekurs auf das ‚Ich-schaue’ keinen Rückfall in das alte Niveau meint, in dem das Ich bloß als ‚eines unter viezu vermeiden und möglichst alle Subjektbezogenheit auszuschalten, sei es auch in der farblos gewordenen Wir-Rede” (XXXIV, 292). Das mag zwar in der positiven Wissenschaft sein Recht haben, jedoch nicht mehr in der transzendentalen, ‚radikal subjektiven’ Wissenschaft, die durch die Epoché und das Ich-schaue wesentlich bestimmt ist. Diese zeichnet sich dadurch aus, daß ihr Vollzugssubjekt in seiner wissenschaftlichen Darstellung selbst auftritt und sogar sich thematisch betrachtet. 90 Vgl. Kapitel II, 3.1. 91 Vgl. Kapitel VII, 4.
Das Ur-Ich und die Radikalisierung der Epoché
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len’ aufgefaßt wurde. Dieses ‚Ich-schaue’ in der Epoché ist zwar in einem gewissen Sinne ‚individuell’, da es von ‚diesem Ich hier’ vollzogen wird: „Die Epoché übe ich, der mich hier und jetzt Besinnende” (XXXIV, 292). Es wird aber zu der Einsicht gebracht, daß die Bedeutung der ‚Individualität’ in diesem Zusammenhang über den Begriff ‚Einzelnes unter vielen anderen Einzelnen’ hinausgeht. Dieser geläufige Begriff der Individualität beruht auf der im weitesten Sinne ‚objektiven’ Sichtweise. Bei jener ‚Individualität’ des phänomenologisierenden Ich geht es hingegen um die urfaktische ‚Nähe’ des erfahrend-erkennenden ‚Sehens’, in dem alles Vorfindliche erscheint. Wie das Wort ‚Ich’, so wird auch das Wort ‚Individualität’ in der radikalisierten Epoché in demjenigen Sinn in Anspruch genommen, der die Schranken des geläufigen Sinnes überschreitet. Es ist nicht so, „als ob ich Epoché übend nicht einmal sagen dürfte, ‚Ich übe sie, ich bin’, nämlich sie übend” (ebd.). Mit dem ‚Ich’ ist zwar nicht mehr ‚ein Ich unter vielen’ gemeint, aber dennoch kann ich nicht anders sagen als ‚ich bin es, der Epoché übt’.92 Es handelt sich hier also um jene ‚Äquivokation’. Ich schaue zwar ‚hier und jetzt’, diese ‚individuelle’ Gegenwart geht aber allem objektiv aufgefaßten Individuell-Einzelnen voran, insofern als sie die ‚Urstätte’ alles Evidenzvollziehens darstellt. „Ich bin einzig, nicht bloß einmal ‚vorkommend’, einmal vorhanden, sondern Voraussetzung aller Vorhandenheiten” (Ms. B I 14/ 138a).93 Durch die Radikalisierung der Epoché sucht Husserl konsequent nach der Urstätte der Evidenz. Dies führt ihn zum ‚individuellen’ Begriff des phänomenologisierenden Ich. Dieses Ich interpretiert Fink wiederum als ‚eines unter vielen’ und integriert es infolgedessen in die Ordnung des Stufenbaus der Zeitigungen. Mit dem phänomenologisierenden Ich meint Husserl aber dasjenige, was in diese eindimensionale Ordnung nicht eingebettet werden kann. Es handelt sich nicht um einen genetischen oder ontologischen Ursprung als ‚Vorstufe’, sondern um einen ‚Ursprung’ in einem ganz eigentümlichen Sinn, der durch die urfaktische ‚Nähe’ meiner selbst gekennzeichnet ist. Evidenztheoretisch gesehen – wie ich später im VII. Kapitel ausführen werde – ist jede Wirklichkeit und Möglichkeit in dieser ‚Nähe’ des UrIch verankert. So kommt Husserl immer wieder darauf zurück, daß „das Ego ‚nicht über sich selbst hinaus kann’, weil Welt und Wissenschaft und wieder dessen Sein als Ego mit all seinen Wirklichkeiten und Möglichkeiten seine eigene Geltungsleistung ist” (XXXIV, 479). Aus dem Gesagten ist deutlich geworden, welche Motive Husserl hauptsächlich bewegt haben, als er gegen Fink den ‚individuellen Begriff des philosophierenden Subjekts’ verteidigt hat. Man kann aber noch nicht behaupten, daß die ‚Äquivokation’ des phänomenologisierenden ‚Ich’ sowie die 92
Vgl. VI, 188. Auf diese Bedeutung des Ego und der lebendigen Gegenwart gehe ich im VI. Kapitel (bes. 4.2) ein. Zur Vorausgesetztheit des ‚Ich bin’ als ‚Urstätte’ und ‚Medium’ vgl. Kapitel VII, 2.
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Kapitel V
eigentümliche Bedeutung des ‚Evidenzursprungs’ zu einem zufriedenstellenden Verständnis gelangt ist. In den folgenden Kapiteln werde ich vor dem Hintergrund der radikalisierten Epoché zunächst die Pluralisierung des Ich als ‚intentionale Modifikation’ im Zusammenhang mit dessen ‚Äquivokation’ behandeln (Kapitel VI); dann soll verständlich gemacht werden, auf welche Weise die ‚Apodiktizität’ des Ego die letzte Quelle der Evidenz sein kann, wobei auch der Frage, was ‚Ich’ ursprünglich besagen kann, von Grund auf nachgegangen wird (Kapitel VII).
Kapitel VI
Das Ur-Ich und die ‚intentionale Modifikation’: Einzigkeit und Gleichstellung
„Die ganze Aufgabe einer systematischen Phänomenologie ist, uns zurückzuführen auf die Urmodi in diesem letzten Sinn, aus denen alle intentionalen Modifikationen entspringen [...]” (XXXV, 426 Anm.).
Durch die bisherigen Untersuchungen ist klar geworden, daß das ‚Ur-Ich’ nicht bloß ‚eines unter vielen anderen Ich’ besagt, aber auch keine überindividuelle Instanz, die uns als erfahrende Subjekte absolut transzendieren würde. Die Pluralität der Subjekte, nach deren ‚Sinn’ man gerade fragt, darf nicht als geltend vorausgesetzt werden. Es wird aber ebensowenig ein monistischer Urgrund gesucht. Vielmehr gewinnt das Ich, das ‚hier und jetzt’ die Epoché übt und phänomenologisiert, eine zentrale Bedeutung, sofern die Urzeitigung aller zeitlich Seienden nicht metaphysisch konstruiert, sondern nach ihrer intuitiven ‚Evidenz’ gefragt werden muß, die als ‚Ich-schaue’ vollzogen wird. Dadurch stößt man auf die ‚Äquivokation’ des Ich. Durch die radikalisierte Epoché darf der natürliche Begriff des Ich nicht mehr naiv gelten. Trotz allem kann man aber auch nicht sagen, es gehe jetzt um eine ‚neutrale’ Instanz, die ‚außerhalb’ des Ich stände, da das durch die Epoché gewonnene Urphänomen die ‚absolute Nähe’ zum Ich – dem Epoché-Übenden – ausmacht.1 Durch die radikalisierte Epoché gehe ich sozusagen auf den Quellbereich des Ich-Seins zurück, aus dem der übliche Sinn des Ich erst entspringt. Die ‚Äquivokation’ des Ich ist dabei keine bloß sprachliche Verwirrung, sondern weist auf eine phänomenologisch präzise analysierbare Struktur hin. Der Schlüssel liegt im Begriff der ‚intentionalen Modifikation’, auf die Husserl im Zusammenhang mit der „absolut notwendigen Äquivokation” des Ego hinweist (XV, 586). Dort wird – wie in der Krisis – die intentionale Modifikation der Wiedererinnerung zum Vergleich herangezogen. 2 Damit liegen Anhaltspunkte vor, an denen die sinnhafte Pluralisierung des Ich nachvollziehbar wird. 1 2
Vgl. VI, 188 sowie Kapitel IV, 4.2.2. Vgl. VI, 189 sowie Kapitel IV, 4.2.4.
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Kapitel VI
Die ‚Modifikation’ des Ich hat nichts mit dem widersinnigen Gedanken zu tun, daß der Andere etwa eine ‚leicht abweichende Kopie’ von mir wäre. Die ‚intentionale Modifikation’ ist vielmehr ein Grundphänomen des Bewußtseinslebens, das möglicherweise fremdartig aussieht, aber phänomenologisch genau zu analysieren ist. Die folgende Überlegung versucht, die Struktur der ‚intentionalen Modifikation des Ur-Ich’ in ihren Grundzügen herauszuarbeiten.3
1. DAS PROBLEM DER ‚INTENTIONALEN MODIFIKATION’ 1.1 Die allgemeine Charakterisierung der ‚Modifikation’ Es soll zunächst die spezifisch Husserlianische Bedeutung der ‚Modifikation’ geklärt werden. ‚Intentionale Modifikation’ ist ein allgemeiner Titel für ein Grundphänomen des intentionalen Lebens, welches Husserl seit der frühen Schaffensphase im Auge hatte. 4 Dieses Phänomen ist überall im Bewußtsein zu finden: Retention, Wiedererinnerung, Phantasie, noetische Glaubenscharaktere, noematische Seinscharaktere, Evidenz, Reflexion, Apperzeption und Urteilsgenesis, um nur einige Beispiele zu nennen. Ein Manuskript von 1930,5 das dieses Phänomen der ‚Modifikation’ thematisch behandelt, trägt die Aufschrift: „Bewusstseinsleben, intentionales, ist nichts 3
Die folgenden Überlegungen beschränken sich auf die allerwichtigste Kernstruktur der intentionalen Modifikation des Ur-Ich. Hierüber wäre eine weitere systematische Arbeit erforderlich, die Husserl selbst anscheinend nicht vollständig zu Ende geführt hat. Dieses Thema wird meines Wissens in der Forschung kaum berücksichtigt. Eine Ausnahme bildet Tajimas skizzenhafter, aber anregender Versuch (Tajima 1996, 421ff.), den Zusammenhang zwischen dem Ur-Ich und der intentionalen Modifikation zu zeigen. Bei ihm scheint aber die Gefahr nicht ausgeräumt zu sein, das Ur-Ich als ein über-individuelles, unpersönliches Subjekt zu verstehen. 4 Der Begriff der Modifikation spielt schon in den Logischen Untersuchungen eine wichtige Rolle (XIX/1, 487f., 499ff.; vgl. Belussi 1990, 24ff.). In den Zeitvorlesungen von 1905 finden sich eingehende Analysen zur zeitlichen Modifikation (vgl. z. B. X, 29ff., 63ff., 99ff.), deren Ansätze auf frühe Aufzeichnungen vor 1900 zurückgehen (vgl. X, 166f., 170ff.). Der Modifikationsbegriff ist auch für die Analyse der Vergegenwärtigung unentbehrlich (vgl. bes. XXIII, 241ff., 265f., 301ff.). Die Lehre von der ‚intentionalen Modifikation’ wird dann in den Ideen I (1913) zu einer systematischen Gestalt fortentwickelt (vgl. Belussi 1990, 48ff.). Es ist auch nicht zu übersehen, daß Husserl in den Bernauer Manuskripten (1917/18) den Modifikationsbegriff nicht nur sehr häufig verwendet, sondern ihn selbst auch thematisch betrachtet (vgl. bes. XXXIII, 142ff., 172ff.). In den späten Schriften wird dieser Begriff noch zunehmend bedeutsamer (vgl. XXXIV, 189ff.; XVII, 314ff.; XV, 543f.; IX, 425). Die Modifikationslehre hat zur Entwicklung der Husserlschen Phänomenologie entscheidend beigetragen (vgl. Belussi 1990, 19ff.). 5 Ms. B III 8 (1930) (XXXIV, 189ff.).
Das Ur-Ich und die ,intentionale Modifikation’
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anderes als ständige intentionale Modifikation” (XXXIV, 564).6 Das ganze Bewußtseinsleben ist als ein Prozeß des ständigen strömenden Modifizierens jeder Stufe des originären Bewußtseins zu betrachten, der sich in „fast schwindelnder Mannigfaltigkeit” entfaltet (XV, 543f.). Jedes intentionale Bewußtsein ist entweder ein Urmodus oder impliziert die Verweisung auf einen Urmodus, dessen Modifikation es ist. Husserl beschreibt den Wesenscharakter der intentionalen Modifikation folgendermaßen: „Intentionale Modifikation aber hat ganz allgemein das Eigene, daß sie in sich selbst auf das nicht-Modifizierte zurückweist. Die modifizierte Gegebenheitsweise, gewissermaßen befragt, sagt uns selbst, daß sie Modifikation von jener ursprünglichen sei” (XVII, 315).7 Überhaupt stellt dieses Grundphänomen für die phänomenologische Analyse ein entscheidendes methodisches Fundament dar.8 Jedes Bewußtsein kann als Leitfaden für eine intentionale Analyse dienen, die immer weitere intentionale Verweisungen enthüllt, bis sie zu einem entsprechenden Urmodus gelangt ist. In dieser Hinsicht bezeichnet Husserl die intentionale Modifikation als „die im Wesen der Intentionalität liegende, in unzähligen Gestalten erwachsende, in Stufen und kontinuierlich sich iterierende ‚Reflexivität’ des Bewusstseinslebens” (XV, 543).9 Allerdings ist die intentionale Modifikation keine psychologisch-reale Genesis. Husserl macht schon in den Logischen Untersuchungen darauf aufmerksam, daß Modifikation „keineswegs in einem empirisch-psychologischen und biologischen Sinn zu verstehen ist, sondern ein im phänomenologischen Gehalt der Erlebnisse gründendes eigenartiges Wesensverhältnis ausdrückt” (XIX/1, 488). Auch Husserls Zeitanalyse zeigt seit der frühen Phase unverkennbar, daß die Retention als die „erste Modifikation”10 keine reale Verwandlung des Empfindungsgehalts ist.11 In der noetisch-noematischen Analyse in den Ideen I wird ihre nicht-reale, ‚logische’12 Bedeutung besonders deutlich: Modifikation bezieht sich nicht nur auf eine aktuelle Operation, sondern auch auf „Wesenseigentümlichkeit” von Noesen und Noemata, „in ihrem eigenen Wesen und ohne jede Mitberücksichtigung der Entstehung, auf ein Anderes, Unmodifiziertes zurückzudeuten” (III/1, 245). Besonders in bezug auf die Fremderfahrung ist es bedeutsam, daß die Modifikation kein reales Vorkommnis als ‚Naturtatsache’, sondern ein Sin6
Vgl. auch XIII, 61; XXXIII, 144. Zur Definition der intentionalen Modifikation vgl. auch XXXIII, 176. Held betont die fundamentale Bedeutung der intentionalen Verwiesenheit auf die Originarität im Zusammenhang mit der ‚Erfüllung’ (Held 1986, 9ff.); vgl. auch Belussi 1990, 18. 8 Vgl. XXXV, 426 Anm. 9 Der Zusammenhang zwischen Reflexion und Modifikation wird schon in der Kant-Rede von 1924 angesprochen (VII, 263ff.). 10 Vgl. EU, 335. 11 Vgl. X, 31f., 172f.; XXXIII, 216. 12 Vgl. XIX/1, 488. 7
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Kapitel VI
nes- und Wesensphänomen ist. Es wäre nämlich absurd, wenn man die ‚Modifikation des Ich’ im real-genetischen Sinn verstände, als ob sie ein Modifikat als ihre kausale Folge hervorbringen würde. Der Andere kann kein Produkt desjenigen kausalen Vorgangs sein, der von mir inszeniert wird; ich kann ja meine Eltern als andere Ich nicht real-kausal zur Welt bringen. Die ‚intentionale Modifikation’ ist also kein real-kausaler, in der objektiven Zeit verlaufender Prozeß, der dem Anderen seine Existenz verschaffen würde. Sie muß vielmehr als ‚Sinnesmodifikation’ verstanden werden, die jederzeit völlig anonym stattfindet, wenn ich den Sinn ‚Anderer’ bzw. ‚anderes Ich’ verstehe und in Anspruch nehme.
1.2 Die fundamentale Struktur der Modifikation: Einzigkeit und Gleichstellung Wie ist diese ‚intentionale Modifikation’ in bezug auf die Fremderfahrung zum besseren und konkreteren Verständnis zu bringen? Um diese Frage zu beantworten, muß man die Grundzüge der intentionalen Modifikation näher betrachten. Im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Urmodus und Modifikation möchte ich folgende zwei Aspekte hervorheben: (1) Erstens ist zu berücksichtigen, daß der Urmodus und seine Modifikationen nicht ‚nebeneinander’ stehen oder ‚gleichrangig’ sind. Eine Reihe zusammenhängender Modifikationen weist auf einen Urmodus zurück, der als ihre ‚Sinnesquelle’ einen unvergleichbaren Vorrang gegenüber ihnen hat.13 Das Nichtsein der Modifikationen höbe den urmodalen Sinn nicht auf, wohl aber umgekehrt. Diese fundamentale ‚Nicht-Umkehrbarkeit’ der Modifikation zeigt zugleich die einzigartige Sonderstellung des Urmodus. Das läßt sich durch folgendes Beispiel illustrieren: Alle „Glaubensmodi” zeigen sich im Bewußtsein als Modifikationen eines Urmodus, der als „Urglaube” bzw. „Urdoxa” zu bezeichnen ist (III/1, 241). Die urmodale Glaubensgewißheit ist „Glaube schlechthin, in prägnantem Sinne”. Das heißt: „Sie hat nach unseren Analysen in der Tat eine höchst merkwürdige Sonderstellung in der Mannigfaltigkeit von Akten, die alle unter dem Titel Glaube [...] begriffen werden” (ebd.). „Urdoxa” ist der besondere Ausdruck, der „dieser Sonderstellung Rechnung trägt und jede Erinnerung an die übliche Gleichstellung der Gewißheit und der anderen Glaubensmodi auslöscht” (ebd.).
13
Vgl. auch die folgende Charakterisierung der „Bewußtseinsmodifikation”: „Darum steht im Zweifelhaftsein, im Vermutlichsein, im Nichtsein, im Ja-wirklich-Sein und im Doch-nichtwirklich-Sein, Eventuell-doch-nicht-nicht-Sein usw. immer wieder das ursprünglichste Sein, das schlichte Sein als Implikat und als Modifiziertes, und ohne das würden alle Modalitäten ihren Sinn für uns verlieren” (XXXIV, 347).
Das Ur-Ich und die ,intentionale Modifikation’
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(2) Das zuletzt Gesagte weist aber darauf hin, daß die eigentlich urmodale ‚Gewißheit’ und die modifizierten Glaubensmodi auch einander ‚gleichgestellt’ werden können, was sogar ‚üblich’ ist. Wenn man die ‚Gewißheit’ als Urmodus den anderen Modalitäten wie ‚Zweifelhaftigkeit’, ‚Fraglichkeit’, ‚Wahrscheinlichkeit’ usw. gegenüberstellt, erhält sie gerade durch diese Gegenüberstellung einen neuen Sinn, der von ihrem rein urmodalen Sinn streng zu unterscheiden ist. Sie genießt nun nicht mehr jene ‚Sonderstellung’, sondern stellt nur einen Modus unter vielen anderen dar.14 Hier zeigt sich eine sehr bedeutsame Struktur der intentionalen Modifikation: Wenn der Urmodus in die Modifikation übergeht, modifiziert er sich selbst in einem gewissen Sinn: Er tritt nun als ‚Unmodifiziertes im Gegensatz zum Modifizierten’ auf. Der Sinn ‚un-modifiziert’ impliziert dabei schon den Sinn ‚modifiziert’; die Auffassung des Urmodus als ‚unmodifiziert’ setzt hier schon die Modifikation voraus. Der Urmodus, der seinen Modifikationen gegenübersteht, ist also nicht mehr ein ‚reiner’ Urmodus, der gleichsam keine Modifikation kennt. Er unterzieht sich gewissermaßen einer ‚rückwirkenden Selbstmodifikation’. Um diese Doppelbedeutung des Urmodus anschaulich zu machen, möchte ich an das bekannte Manuskript von 1934 über den „Umsturz der kopernikanischen Lehre” (Ms. D 17) anknüpfen. Dort heißt es: „Erde selbst in der ursprünglichen Vorstellungsgestalt bewegt sich nicht und ruht nicht, in bezug auf sie haben Ruhe und Bewegung erst Sinn. Nachher aber ‚bewegt’ sich oder ruht Erde — und ganz ebenso die Gestirne, und die Erde als eines unter ihnen” (UKL, 309). Die Erde ist als Boden aller erscheinenden (kinästhetisch bedingten) Bewegung in der ‚absoluten Ruhe’, die noch keinen relativen Sinn hat.15 Sie kann erst durch die höherstufige Konstitution als objektives ‚Ding’ apperzipiert werden, das gegenüber anderen Sternen im Weltraum eine ‚relative’ Stelle hat. Ihr urmodaler Seinssinn wird so modifiziert, daß sie mit anderen Sternen ‚gleichgestellt’ werden kann. In dieser Modifikation verdoppelt sich der Sinn von ‚Ruhe’: Die ursprüngliche, absolute ‚Ruhe’ hat einen wesentlich anderen Sinn als die relative Ruhe, die nur einer der Modi ist, die durch jene ermöglicht werden. Nach dem Vollzug der Modifikation wird die absolute ‚Ruhe’ mit der relativen Ruhe gleichgesetzt.16 Dieselbe Struktur der ‚Modifikation’ findet sich auch in der Leiberfahrung: Der eigene Leib birgt in sich den Sinn der urmodalen Einzigkeit einerseits und den modifizierten relativen Sinn andererseits; der letztere 14
Vgl. dazu Belussi: „Eine Gewißheitssetzung kann im Durchgang durch ein Zweifelsbewußtsein etc. wiederhergestellt werden, es entsteht dann gegenüber der schlichten Gewißheit der Ausgangswahrnehmung eine affirmative Entscheidungsgewißheit, die Gewißheit des bestätigenden ‚ja’. Insofern ist die Urform der schlichten Gewißheit ‚modalisiert’” (Belussi 1990, 111). 15 Vgl. UKL, 310. 16 Vgl. dazu auch Ms. B I 14/Tr. VII, 35f.; UKL, 311f.
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ermöglicht erst die Gleichstellung mit anderen Leibkörpern: „[...] die Erde kann ebensowenig ihren Sinn als ‚Urheimstätte’, als Arche der Welt verlieren, als mein Leib seinen ganz einzigen Seinssinn verlieren kann als Urleib, von dem jeder Leib einen Teil seines Seinssinnes ableitet und als wir Menschen in unserem Seinssinn den Tieren vorangehen, usw.” (UKL, 323). Dieser urmodalen Einzigkeit von Erde, Leib und Menschen stellt Husserl die ‚Gleichstellung’ durch die Modifikation scharf entgegen: „Daran aber, an dieser konstitutiven Dignität oder Wertordnung können alle sich notwendig mitkonstituierenden Gleichstellungen (Homogenisierungen) von Leib und Körper, oder körperlichem Leib als Körper gleich anderen, Menschheit als Tierspezies unter Tierspezies, und so schliesslich Erde als Weltkörper unter Weltkörpern nichts ändern” (ebd.). Auch hier treten die zwei grundverschiedenen ‚Ordnungen’, auf die ich im letzten Kapitel hinwies, deutlich hervor.17 Fassen wir zusammen: Ein urmodaler Sinn hat einen unvergleichbaren Vorrang, sofern er in jeder seiner Modifikationen impliziert ist, also jede Modifikation in sich auf ihn zurückverweist. Wenn er aber mit seinen Modifikationen ‚gleichgestellt’ wird, ist er nur ein Sinn unter anderen. In der Modifikation modifiziert sich der Urmodus selbst. Durch diese ‚rückwirkende’ Modifikation verhüllt sich die urmodale ‚Einzigkeit’ und gerät in Vergessenheit, denn solange man jene sinnhafte Nuance der Modifikation nicht im Auge hat, ist man nicht in der Lage, das Urmodale von dem Unmodifizierten zu unterscheiden. Die ‚Ordnung’ der Konstitution, die Husserl durch die Epoché herausstellt, ist in dem durch die Modifikation verdeckten Urmodalen zentriert, wobei diese Zentrierung keinesfalls einen realobjektiven Vorrang mit impliziert. Die Aufgabe der Epoché besteht darin, diese unscheinbare, aber ständig anonym fungierende ‚Ordnung’ der Konstitution methodisch sichtbar zu machen.
17
Vgl. Kapitel V, 3.2, S. 120ff. Die ‚zwei Ordnungen’ hebt Husserl wiederholt mit dem Motiv der ‚Umkehrung’ der naturalen und naturwissenschaftlichen Weltanschauung hervor: „Abhängigkeit aller Tierspezies von den Menschen, die ausgestorbenen aus Zeiten, wo noch keine Menschen waren, von den Menschen, die aus ihnen geworden — sonderbare Kausalität des Späteren durch das Frühere etc.” (Ms. B I 14/ 11a; vgl. XV, 667; Ms. K III 6/ 101a; B I 14/Tr. VII, 28ff.). Die ‚Umkehrung’ der Reihenfolge findet sich auch zwischen Welt und Subjektivität; vgl. hierzu z. B.: „So ist auch das Sein des Menschen Sein in der im voraus seienden Welt. In der Phänomenologie ist dieses Im-voraus-Sein selbst Problem und die Monaden sind nicht in der im voraus seienden Welt, sondern die sie konstituierenden und das ständige VorausSein konstituierenden Subjekte. So sind sie selbst voraus – gegenüber der Welt, während in der naiven Natürlichkeit die Welt voraus ist” (Dok II/1, 190); „Aber Leiblichkeit stirbt – es wird ein bloßer Körper, Körperlichkeit gewisser konkreter Struktur ist Bedingung für Leben, für Ichsein; aber ohne Leben, ohne Ichsein ist nicht Welt, ist nicht Körperlichkeit, ist nicht Raum-Zeitlichkeit etc.” (XXIX, 334).
Das Ur-Ich und die ,intentionale Modifikation’
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2. DIE INTENTIONALE MODIFIKATION UND DIE FREMDERFAHRUNG IN DER V. MEDITATION Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen soll nun die ‚Fremderfahrung’ in der Struktur ihrer ‚intentionalen Modifikation’ untersucht und zunächst gezeigt werden, daß die Modifikationslehre bei der Analyse der Fremderfahrung in der V. Cartesianischen Meditation eine entscheidende Rolle spielt.18 Dies wird eine Neubetrachtung der häufig kritisierten V. Meditation ermöglichen.19
2.1 Das Motiv der Sinnesaufklärung und die Modifikationslehre Es soll zunächst gezeigt werden, daß die Problemstellung der V. Meditation die Absicht schon deutlich erkennen läßt, die Struktur der Sinnesmodifikation auszulegen. Zu Beginn gibt Husserl dem transzendentalen Realismus insofern Recht, als dieser die Transzendenz des Anderen behauptet (I, 121f.). Es scheint also ‚selbstverständlich’ zu sein, daß ich über meine Erfahrungssphäre nicht hinaustreten kann. Daraus resultiert aber nicht ohne weiteres, daß der mich transzendierende ‚Andere’ nur durch „‚metaphysisch’ sich nennende Hypothesen” thematisiert werden kann (I, 122). Dagegen kann man kritisch fragen: Wie kann etwas, das ich keineswegs wissen kann, für mich zum Problem werden? Jene ‚selbstverständliche’ Transzendenz des Anderen führt also nicht zu einem Agnostizismus bezüglich des Anderen, sondern verweist vielmehr darauf, daß ich den ‚Sinn’ des Anderen, der seinen Transzendenz wesensmäßig impliziert, immer schon in Geltung habe.20 Deswegen ist es ‚selbstverständlich’, daß der Andere nicht ‚Ich selbst’ ist, daß ich seine Erfahrung nicht als ‚meine’ haben kann. Husserl betont, daß die Phänomenologie 18
Die Darstellung der V. Meditation ist eigentlich aus umfangreichen Forschungsmanuskripten hervorgegangen, in denen die Fremderfahrung bereits aus der Perspektive der Modifikationslehre behandelt wird. Schon in der Vorlesung über Urteilstheorie von 1905 behandelt Husserl die ‚Einfühlung’ als eine Art der ‚Modifikation’, die sich aber nicht nur auf die Fremderfahrung bezieht, sondern auf alle Akte überhaupt (Mat V, 136ff.; dazu Ravalli 2003, 204ff.). Der spezifische Modifikationscharakter der Fremderfahrung wird spätestens 1914 oder 1915 anerkannt (XIII, 341f.). Auch die Kant-Rede macht diesen Aspekt deutlich (VII, 265). 19 Gleichwohl ist ihr systematischer Aufbau nicht vollkommen, wie Husserl selbst kurz nach der schnellen Abfassung bemerkt hat; vgl. Strassers Einleitung des Herausgebers zu I, XXVIIff.; Kerns Einleitung des Herausgebers zu XV, XXIff. 20 Das ‚Rätsel’ der Transzendenz des Anderen setzt schon den ‚Sinn’ des Anderen voraus, aufgrund dessen die Unterscheidung von Ich und dem Anderen erst verstanden wird (I, 150). Die in-direkte Erfahrbarkeit des Fremd-Psychischen hat nichts mit der „Skepsis an dem Wert der Fremderfahrung” zu tun, sondern drückt ihren wesentlichen Charakter der „NichtUrsprünglichkeit” aus (Ms. A VI 20/ 27b).
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Kapitel VI
nach diesem selbstverständlichen ‚Wissen’ vom Anderen fragt21 und versucht, „den Sinn seiender Anderer” auszulegen, der immer schon, sogar auch in den metaphysischen Argumentationen über den Anderen, vorausgesetzt ist (ebd.). Husserls Absicht ist es also weder, die psychologische Genesis der Fremderkenntnis aufzuzeigen,22 noch, den Anderen aus dem Ich metaphysisch abzuleiten, sondern den selbstverständlichen, urfaktischen ‚Sinn’ des transzendenten Anderen phänomenologisch verständlich zu machen.23 Dabei findet Husserl im ‚Geltungssinn’ des Anderen jene Struktur der ‚intentionalen Modifikation’: „Der Andere verweist seinem konstituierten Sinne nach auf mich selbst” (I, 125); „[...] alter sagt alter-ego, und das ego, das hier impliziert ist, das bin ich selbst [...]” (I, 140).24 Der Sinn des ‚Ich’ ist im Sinn des ‚Anderen’ insofern schon impliziert, als der ‚Andere’ als ‚anderes Ich’ verstanden wird. Ohne den Sinn des ‚Ich’ kann es den Sinn ‚anderes Ich’ nicht geben.25 Dabei handelt es sich nicht um bloße Wortsinne, sondern vielmehr um die Urkonstitution der Geltungssinne ‚Ich’ und ‚anderes Ich’, die in aller Fremderfahrung fundamental vorausgesetzt sind. Der Andere ist auch ein ‚Ich’, das ich selbst aber nicht bin. Der ursprüngliche Sinn des ‚Ich’ verdoppelt sich also, ohne seinen Wesenscharakter zu verlieren. Es geht um nichts anderes als diese sinnhafte Struktur der ‚Multiplikation’ des absolut einzigen ‚Ich’; sie ist eine ursprüngliche Sinnes- und Geltungsstruktur, die immer schon in Funktion ist, wenn ich einfach ,ich’ sage oder den Anderen als anderes ‚Ich’ verstehe. Die intentionale Modifikation kann als Leitfaden dienen, um diese verwickelte, allzu selbstverständliche und deswegen schwer zu erkennende Urstruktur des Lebens aufzuwickeln.
2.2 Die ‚analogisierende Apperzeption’ als intentionale Modifikation Es soll nun gezeigt werden, wie die ‚Modifikation’ in der Fremderfahrung konkreter analysiert wird: Das Phänomen der intentionalen Modifikation findet sich zunächst in der ‚analogisierenden Apperzeption’ des fremden 21
Vgl. VI, 416. Husserl betont, daß der fragliche „Sinn” des Anderen „noch nicht der von objektiven, von weltlich seienden Anderen” ist (I, 124; vgl. 138). 23 Vgl. I, 175, 177; auch Kapitel I, 5.2. 24 Vgl. auch XVII, 247. Die Struktur der ‚Modifikation’ wird aus dem Folgenden deutlich: „Letztlich weist also der Sinn alter ego zurück auf mein eigenes ego in dieser Reinheit. Das Wort alter in seinem Sinn deutet dabei auf eine gewisse, in der Gegebenheitsweise selbst liegende Modifikation, die mein eigenes Selbst, eben in der Weise der ‚Modifikation’, intentional in sich schliesst” (XV, 13). 25 Das besagt nicht, daß die reale Existenz des Anderen von meiner realen Existenz abhängig wäre; es geht vielmehr ausschließlich um den ‚Sinn’ des Anderen. Husserl schreibt: „Der Sinn Anderer setzt mich [...] voraus” (XV, 616), und bemerkt dazu: „Aber ‚voraussetzen’ ist nicht ‚entspringen’!” (ebd. Anm.). 22
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Leibes. Der „Körper dort”, der als „Leib” aufgefaßt wird, hat diesen Sinn „von einer apperzeptiven Übertragung von meinem Leib her” (I, 140). In Husserls Lehre von der Apperzeption überhaupt spielt die intentionale Modifikation eine zentrale Rolle.26 Das gilt auch für die ‚Einfühlung’ als ‚analogisierende Apperzeption’.27 Es gibt jedoch gewisse Eigentümlichkeiten dieser besonderen Apperzeption: (1) Man darf nicht übersehen, daß die „Urstiftung” hier kein bloß vergangenes Geschehnis ist, sondern daß „das urstiftende Original immerfort lebendig gegenwärtig ist, also die Urstiftung selbst immerfort in lebendig wirkendem Gang bleibt” (I, 141f.). Wo der andere Leib erfahren wird, ist mein Leib als erfahrender notwendig dabei.28 Wenn der modifizierte Sinn ‚anderer Leib’ in Geltung tritt, ist der urmodale Sinn ‚mein Leib’ nicht nur in der Weise der ‚Zurückverweisung’ da, sondern auch gleichzeitig lebendig im Spiel. (2) Ebenso ist zu beachten, daß „das vermöge jener Analogisierung Appräsentierte nie wirklich zur Präsenz kommen kann” (I, 142). Dasjenige, worauf der modifizierte Sinn verweist, kann sich in meiner Eigenheitssphäre nie als es selbst original zeigen (I, 143). Der modifizierte Sinn ‚Anderer’ verweist nicht nur auf ‚mein’ Ich-selbst als Urmodus zurück, sondern auch auf ‚sein’ Ich-selbst als einen absolut entfremdeten, verdeckten Urmodus. Darin liegt, daß das Modifizieren als ‚Entfremden’ eigentlich keine lineare Entwicklung vom Urmodus zur Modifikation, sondern eine ‚Vervielfältigung’ des Urmodus als solchen besagt. Die beiden Aspekte werden später noch näher behandelt. Wegen einer Art ‚Reziprozität’, die sich im Gesagten schon bekundet, charakterisiert Husserl die Fremdapperzeption durch die „Paarung”: „ego und alter ego” sind „immerzu und notwendig in ursprünglicher Paarung gegeben” (I, 142). Es handelt sich um eine „Sinnesübertragung”, die als „ein lebendiges, wechselseitiges Sich-wecken, ein wechselseitiges, überschiebendes Sich-überdecken” zu bezeichnen ist (ebd.). Darin zeigt sich der zweite Grundcharakter der intentionalen Modifikation, den ich in 1.2 aufzeigte: Die Modifikation greift den Urmodus rückwirkend an; dadurch erhält er einen ‚relativen’ Sinn gegenüber dem Modifikat, ist mit ihm somit ‚gleichgestellt’. Dieses Phänomen in der Fremderfahrung nennt Husserl die „intentionale Rückprojektion der Einfühlungen” (XV, 635). An der folgenden Stelle spricht Husserl die Sinneskonstitution des Fremden als diejenige Modifikation an, die auch den Sinn ‚mein’ betrifft: „Notwendig tritt es [= Fremdes] vermöge seiner Sinneskonstitution als intentionale Modifikation meines erst objektivierten Ich, meiner primordinalen Welt auf: der Andere 26
Vgl. I, 141; XVII, 317; XV, 259. Vgl. XIV, 125. 28 VII, 63ff.; XV, 357. 27
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phänomenologisch als Modifikation meines Selbst (das diesen Charakter mein seinerseits durch die nun notwendig eintretende und kontrastierende Paarung erhält)” (I, 144). Die ‚Gleichstellung’ von Ich und dem Anderen ergibt sich erst durch die Modifikation als ‚kontrastierende Paarung’. Insofern hat der ‚reine’ Urmodus noch nicht diesen relativen Sinn des ‚Ich’, der mit dem des ‚Anderen’ kontrastiert wird. Deshalb spricht Husserl hier nur von ‚meinem Selbst’. Der urmodale Sinn als solcher kann nur durch jene Äquivokation ‚Ich’ genannt werden. Wegen des Doppelcharakters des Urmodus handelt es sich hier nicht um eine zufällige, sondern um „eine wesensmäßige Äquivokation” (VI, 188). Der Terminus ‚Ur-Ich’ zeigt in der Krisis und in den späten Manuskripten diesen urmodalen Sinn des ‚Ich’ an, so wie der Urmodus der Glaubensmodi überhaupt als ‚Urglaube’ bezeichnet wird, damit er sich vom modifizierten Modus ‚Glaube’, der mit anderen Modi wie ‚Frage’, ‚Zweifel’ usw. gleichgestellt ist, abheben kann.
2.3 Die primordiale Reduktion und der Doppelcharakter des Urmodus Um den angedeuteten Zusammenhang zwischen der Modifikation und dem Ur-Ich deutlicher zu machen, werde ich die Lehre von der ‚primordialen Reduktion’ in der V. Meditation näher betrachten. Es wird sich herausstellen, daß die intentionale Modifikation kein partielles Phänomen in der transzendentalen Erfahrungssphäre darstellt, sondern diese Sphäre als Ganzes betrifft. In erster Linie wird die primordiale Reduktion als ‚Abstraktion’ charakterisiert; sie ist eine Operation, den transzendentalen Erfahrungshorizont „von allem Fremden überhaupt abstraktiv zu befreien”, das Fremde „abstraktiv auszuschalten”, soweit es „sinnmitbestimmend” auftritt (I, 126). Dadurch gewinnt man eine abstraktiv umgrenzte Sphäre des ‚primordial Eigenen’. Bei diesem Verfahren muß man den durch sie auszuschließenden ‚Sinn’ des Fremden voraussetzen. Die primordiale Reduktion nimmt die Unterscheidung von Eigenem und Fremdem als Voraussetzung in Anspruch, damit sie das letztere gezielt ausschließen und das erstere kontrastiv umgrenzen kann. Insofern muß diese negative Exklusion des Sinnes ‚Fremdes’ von jener ‚radikalisierten Epoché’, welche die Problemdimension des Ur-Ich freilegt, streng unterschieden werden; diese setzt gerade den vorausgesetzten ‚Sinn’ der Unterscheidung von Eigenem und Fremdem außer Funktion und besteht also darin, diesen ‚Sinn’ nicht mehr in Gebrauch zu nehmen. Aus der Perspektive der Modifikationslehre kann man sagen, daß es sich bei der primordialen Reduktion um denjenigen Urmodus handelt, der schon mit dem Modifikat gleichgestellt ist, also nicht um den ‚reinen’ Urmodus als solchen. Denn Husserl bestimmt das „Mir-Eigene” zunächst als „NichtFremdes” (I, 126). Dies stellt jene rückläufige Bestimmung des Urmodus als ‚Un-modifiziertes’ dar, die von der vollzogenen Modifikation sinnhaft schon
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abhängig ist. In dieser „indirekt[en]” Charakterisierung des „Mir-Eigenen” als „Nichtfremdes” ist der Sinn des Anderen schon vorausgesetzt (I, 131). Wenn aber diese Reduktion auf den Urmodus — über seinen ‚relativen’ Sinn als ‚Un-modifiziertes’ hinausgehend — konsequent durchgeführt wird, vollzieht sich ein Umbruch der Sichtweise: Das ‚Mir-Eigene’ als Urmodus wird dem ‚Fremden’ als Modifikat zunächst gegenübergestellt; wenn man aber konsequent versucht, aus der Perspektive des ‚Mir-Eigenen’ zu sehen, bemerkt man, daß es eigentlich nichts gibt, dem man – zumindest als ‚Sinn’ – in der Sphäre des ‚Mir-Eigenen’ nie begegnen würde. Zu dieser Sphäre gehört auch meine wirkliche und mögliche Erfahrung von Fremdem, welche also paradoxerweise die „Abblendung des Fremden” nicht betrifft: „Es gehört also in mein seelisches Sein hinein die gesamte Konstitution der für mich seienden Welt, und in weiterer Folge auch deren Scheidung in die konstitutiven Systeme, die Eigenheitliches und die Fremdes konstituieren” (I, 129); „Halten wir uns an das letzte transzendentale ego und an das Universum des in ihm Konstituierten, so gehört ihm unmittelbar zu die Scheidung seines gesamten transzendentalen Erfahrungsfeldes in die Sphäre seiner Eigenheit [...] und in die Sphäre des Fremden” (I, 131). Alles, was ich ausgeschaltet habe, kehrt wieder zurück, allerdings in völlig neuer Sicht. Wenn auch dieser Perspektivenwechsel in der V. Meditation noch nicht als radikalisierte Reduktion methodisiert ist, kann man zumindest sagen: Dort bekundet sich eine Erfahrungsdimension, welche die Unterscheidung zwischen Eigenem und Fremdem, die zu Beginn des Verfahrens schlechthin vorausgesetzt war, nicht mehr in Geltung läßt, sondern dieser Unterscheidung als ihr Sinnesfundament vorausgeht. Es gilt nun, die intentionale Urkonstitution dieser Unterscheidung als solcher zum Verständnis zu bringen. Es ist hier wie gesagt nicht von einer realen Genesis die Rede, sondern die Frage ist, wie der ‚Sinn’ von Eigenem und Fremdem für mich transzendental in Geltung kommt, was im übrigen in mir immer schon ‚selbstverständlich’ stattfindet. Dabei tritt eine eigentümliche Doppelheit des Sinnes hervor: Das ‚Mir-Eigene’ hat einerseits den relativen Sinn, der schon mit dem Sinn des ‚Fremden’ gleichgestellt ist, andererseits auch den urmodalen Sinn, der über die Unterscheidung von dem Fremden und über die Gleichstellung mit ihm hinausgeht. 29 Dieser Doppelcharakter des Urmodus, den ich bereits oben herausgestellt habe, betrifft nun die ganze Sphäre der transzendentalen Er-
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Bei dem Urmodalen handelt es sich aber um diejenige Dimension, die, sofern man im normalen Sprachgebrauch bleibt, gar nicht ‚mir eigen’ ist. Das ‚Mir-Eigene’ wird gewöhnlicherweise nur im relativen Sinne verstanden, obwohl dieser auf den urmodalen Sinn implizit hinausweist. Der urmodale Sinn bleibt im expliziten Sprachgebrauch anonym (siehe unten Kapitel VI, 3).
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fahrung des ‚Ego’. Diese Problemsituation legt bereits nahe, daß die Befragung des ‚Ur-Ich’ unvermeidlich ist.30
3. DER URMODALE SINN DES ‚ICH’ UND SEINE ,VERDECKUNG’ DURCH DIE MODIFIKATION Im letzten Schritt hat sich ergeben, daß die intentionale Modifikation im Zentrum von Husserls Analysen des ‚Anderen’ steht. Es wurde zugleich der Zusammenhang zwischen der Fremderfahrung und der intentionalen Modifikation im allgemeinen Umriß skizziert. Im folgenden müssen die bisher erwähnten Aspekte der intentionalen Modifikation genauer erörtert werden. Zunächst möchte ich den ‚urmodalen’ Charakter des ‚Ich’ herausstellen, indem er – von dem sprachlichen Sinn des ‚ich’ ausgehend – schrittweise hinterfragt wird. Dabei werden (1) die ‚Einzigartigkeit’ des Ich und die ‚Asymmetrie’ der Beziehung ‚Ich-Anderer’ untersucht. (2) Dann wird gezeigt, daß es sich bei der Urmodalität des Ich um den implizit-unausgesprochenen ‚Erfahrungssinn’ handelt. (3) Schließlich werde ich die daraus resultierende Schwierigkeit, den urmodalen Sinn des ‚Ich’ zum Ausdruck zu bringen, näher charakterisieren. ‚Ur-Ich’ wird sich dabei aus der Perspektive der Modifikationslehre als präziser Terminus für den fraglichen urmodalen Sinn erweisen.
3.1 ‚Ein Ich – ist nicht Ich.’ Der modifizierte Sinn des ‚Ich’ Die Aussage, daß das ‚andere Ich’ eine Modifikation des ‚Ich’ sei, wirkt mit dem ersten Blick befremdlich; sie scheint einen fehlgeschlagenen Versuch auszudrücken, entweder aus einem Ich die anderen Ich zu deduzieren, oder diejenige Produktion der ‚Vorstellung’ vom Anderen, die bloß in einem Ich stattfindet, mit der wirklichen Erfahrung des Anderen gleichzusetzen. Man darf aber dieser Skepsis nicht voreilig Recht geben. Denn in diesen Interpretationen war es als selbstverständlich vorausgesetzt, daß ‚Ich’ ohne weiteres als ‚ein Ich’ zu verstehen wäre. Ist es aber wirklich korrekt, daß das ‚Ich’, das in der Modifikationslehre als ‚Urmodus’ charakterisiert wird, bloß ‚ein Ich’ ist? Wenn das nicht der Fall ist, muß der urmodale Sinn des ‚Ich’ über den Begriff ‚ein Ich unter vielen’ hinausgehen. Ist es tatsächlich ein so ungewöhnlicher Gedanke, der vom alltäglichen Wortgebrauch des ‚ich’ vollkommen abweichen würde? 30
Auch die ‚Paradoxie der menschlichen Subjektivität’, die in der Krisis in die Problematisierung des Ur-Ich einführt, hat Husserl schon in der V. Meditation deutlich vor Augen; vgl. I, 129.
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Husserl erläutert die urmodale ‚Einzigkeit’ des Ich in einem hier höchst relevanten Manuskript von 1934, in dem er im Gebrauch des Wortes ‚Ich’ einen Anhaltspunkt für die Analyse findet: „Andere besagt zwar andere Ich, aber es ist doch nicht so, wie wenn ich sagte, dieser Baum – andere Bäume. Andere Ich sind, sind nicht Ich. Ich, so gesprochen, wie das Wort wirklich ursprünglich bedeutsam ist, läßt keinen Plural zu” (Ms. B I 14/ 127a). In dieser Nicht-Pluralität – die aber auch keine bloße Singularität bedeutet – bekundet sich, wie ich im letzten Kapitel zeigte, das Charakteristische des ‚UrIch’. Über diese noch allgemeine Charakterisierung hinaus versucht Husserl im obigen Manuskript, den urmodalen Sinn des ‚Ich’ konkret herauszuarbeiten. Es tritt dabei deutlich hervor, daß jener Charakter des ‚Weder-Pluralnoch-Singular’ keine diffuse Allgemeinheit bedeutet, sondern vielmehr auf eine Art ‚Individualität’ im Sinne der Einzigartigkeit verweist; diese muß aber von der bloßen ‚Einzelheit’ streng unterschieden werden, da ‚Einzelheit’ bereits ‚Vielheit’ voraussetzt. Die Gegenüberstellung des Verhältnisses ‚Ich – andere Ich’ mit ‚dieser Baum – andere Bäume’ zeigt nicht nur, daß das erstere Verhältnis mit demjenigen der dinglichen Gegenstände nicht vergleichbar ist, sondern auch, daß das Denkschema ‚Spezies und Exemplar’ hier nicht anzuwenden ist. Der Sinn des ‚Ich’ läßt es zwar scheinbar zu zu sagen: ‚Ich bin ein Ich, du bist auch ein Ich’. Dies ist aber keine gewöhnliche Rede, wenn man den ursprünglichen Sinn des Wortes ‚ich’ berücksichtigt. Wenn jemand einfach ‚ich gehe’ sagt, fungiert ‚ich’ nicht so, wie wenn es das Subjekt der Handlung in dessen spezifischem Charakter (‚Ichheit’) beschriebe, als ob der Satz etwa meinte: ‚Ein Ich geht’ (wie ‚Ein Baum steht’). Jeder kann zwar ‚ich’ sagen, das besagt aber nicht, daß jeder sich durch eine gemeinsame Spezies ‚Ich’ beschriebe. Wenn jemand ‚ich...’ sagt, bezieht sich dies schon auf ein unverkennbares Individuum, auch wenn mehrere Personen da sind, die ebenfalls ‚ich’ sagen können. Den urmodalen Sinn des ‚Ich’ prägt eine einzigartige ‚Individualität’, die aber nicht als bloß exemplarische Einzelheit verstanden werden darf. Husserl erläutert diesen Zusammenhang folgendermaßen: „Ein Ich – ist nicht Ich. Ich habe nicht neben mir ein zweites, von dem ich sagen könnte: das bin ich. Das ist rot – das ist auch rot; das ist ein Haus – das ist ein anderes Haus. Das ist Ich – ein Ich, das ist auch ein Ich. Aber wir sagen nie: ein Ich. Man kann so eigentlich nicht sagen, wenn Ich eben Ich bedeutet. Man kann sagen: ‚ein Mensch und ein anderer Mensch’, aber eigentlich nicht ‚ein Ich und ein anderes Ich’. Ich ist absolut individuell [...]” (Ms. B I 14/ 138a). Wenn man sagt: ‚Das ist Ich, das ist auch ein Ich’ usw., ist der Sinn des ‚Ich’ bereits modifiziert; er ist so verstanden, daß das Ich mit dem anderen Ich ‚gleichgestellt’ werden kann. Husserl sagt ‚ein Ich’ dann vollbewußt, wenn es sich um eines der gleichgestellten Subjekte handelt. Dieser Aus-
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druck wird oft negativ verwendet, um kontrastiv den urmodalen Sinn des ‚Ich’ herauszustellen. Das in der Epoché entdeckte ‚Ego’ hat also, heißt es in der Krisis, „noch gar nicht ‚ein’ Ich [...], das andere oder viele Mit-Iche außer sich haben kann” (VI, 84). Das erinnert an den zentralen Satz über das Ur-Ich: „Ich bin nicht ein Ich, das immer noch sein Du und sein Wir und seine Allgemeinschaft von Mitsubjekten in natürlicher Geltung hat” (VI, 188).31 Der urmodale Sinn des ‚Ich’ besteht darin, daß er die Gleichstellung und ‚Homogenisierung’ der Ich nicht zuläßt, die jene einzigartige ‚Individualität’ – die auch die Kehrseite der ‚Andersheit’ ist – verschwinden läßt. Das ‚ich’ im gewöhnlichen Wortgebrauch kann zwar nicht mit dem ‚UrIch’ gleichgesetzt werden, da es bereits sein ‚Du und Wir’ in Geltung hat. Aber die Ich-Du- (und die Ich-Wir-) Beziehung ist schon in der natürlichen Wortbenutzung gar nicht durch die ‚Gleichstellung’ homogener Subjekte charakterisiert. Der eigentliche Wortsinn des ‚ich’ weist über den Sinn von ‚einem Ich’ hinaus, der einem Exemplar der Gattung ‚Ichsubjekte’ entspricht. Im gewöhnlichen Wortsinn des ‚ich’ bekundet sich schon jene ‚Einzigartigkeit’, aber auch eine fundamentale ‚Asymmetrie’ der Ich-Du-Beziehung. Diese ‚Asymmetrie’ schließt nicht aus, daß der Andere auch ‚ich’ sagen kann. Das, was ich unter diesem ‚ich’ des Anderen verstehe, ist nicht ‚ein anderes Ich’. Die Ich-Rede von mir und vom Anderen kann ich nicht aus der Perspektive eines Dritten umschreiben, wie etwa: ‚Ein Ich sagt ..., und ein anderes Ich sagt...’. Dadurch ginge ein wesentliches Sinnesmoment der IchRede verloren, das jener ‚Einzigartigkeit’ und ‚Asymmetrie’ entspricht. Der Sinn ‚ein anderes Ich’ birgt in sich eine doppelte Modifikation, denn er verweist auf den Sinn ‚ein Ich’ als sein urmodales Moment zurück, der wiederum schon durch die homogenisierende Gleichstellung der pluralen Ich modifiziert ist. Das urmodale ‚Ich’ darf trotz Substantivierung nicht als Gattungsname verstanden werden. Bei der Husserlschen Rede vom urmodalen Sinn des ‚Ich’ handelt es sich um einen äußerst primitiven Sinn, der immer schon der sinnhaften Gleichstellung und Homogenisierung der Ichsubjekte entgleitet. Er gehört zu einer Dimension, die im universal-homogenisierten Feld der Gegenstandssinne, in dem alles gleichgestellt nebeneinander steht, prinzipiell nicht erscheint.32
31
Vgl. auch VI, 186. Husserl verwendet auch den Ausdruck ‚ein Leib’, um ‚meinen’ Leib nicht in der Urmodalität, sondern in der relativen Gleichstellung mit den anderen Leibern zu nennen; in diesem Sinne bin ich selbst für den Anderen ‚sein Anderer’ und umgekehrt (Ms. C 2/ 18a, b). 32 Husserl betont, daß die pluralisierende Modifikation des ‚Ich’ nicht so verläuft, „als ob Ich zunächst zufällig als ein Exemplar in meinem Wahrnehmungsfelde aufträte und dann in diesem Felde sich gleiche dazugesellten, miteinander sozusagen eine Ichkonfiguration bildend, wie zu einer Kugel auf dem Brett sich Andere zugesellen mögen und als gleiche oder ähnliche zusammen da sind, konfiguriert” (Ms. B I 14/ 128a); vgl. auch XV, 645.
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3.2 Der urmodale ‚Erfahrungssinn’ des Ich und seine wesensmäßige Implizitheit Im nächsten Schritt soll deutlich gemacht werden, daß der ‚urmodale’ Sinn des ‚Ich’ zwar in jedem Verständnis der Ich-Rede implizit vorausgesetzt ist, aber nicht auf der Ebene der ausdrücklichen Sprache auftritt. Zunächst ist auf folgendes hinzuweisen: Wenn ich zum hörenden Anderen ‚ich’ sage, erkenne ich ihn bereits als das Ich an, das meine Ich-Aussage entsprechend verstehen kann. Die ausdrückliche Ich-Rede setzt also schon das Verstehen des ‚anderen Ich’ und des Ich-Seins überhaupt voraus. Dies wird aber gerade befragt, wenn Husserl den urmodalen Sinn des ‚Ich’ und seine Modifikation thematisiert; es darf daher nicht von vornherein vorausgesetzt werden. Daraus folgt, daß der fragliche Ursinn des ‚Ich’ und sein Modifikationsphänomen durch die Analyse des sprachlich ausgedrückten ‚ich’ nicht vollständig verständlich gemacht werden können. Der Wortsinn des ‚ich’ verweist auf eine Erfahrungsdimension zurück, die sich im sprachlichen Ausdruck des ‚ich’ nicht unmittelbar zeigt. Diese Verweisung auf den unausdrücklichen, urmodalen ‚Erfahrungssinn’ wird auch dadurch ersichtlich, daß die Erfüllung der Bedeutung des Wortes ‚ich’ berücksichtigt wird, die Husserl in den Logischen Untersuchungen analysiert: Er unterscheidet die „anzeigende” und die „angezeigte” Bedeutung des wesentlich okkasionellen Ausdrucks.33 Unter dem Ausdruck ‚ich’ kann schon ein ‚sinnvolles’ Wort verstanden werden, wenn ich z. B. auf meinem Tisch einen Zettel finde, auf dem nur zu lesen ist: ‚Ich war hier!’ Dieser Ausdruck erweckt den unbestimmt allgemeinen Gedanken, es werde auf jemanden hingewiesen. Darin besteht die anzeigende Bedeutung. Diese allgemeine Intention bleibt aber unerfüllt, solange weitere Bestimmungen fehlen. Wenn ich hinter mir oder aus der Menge jemand rufen höre: ‚Ich bin hier!’, versuche ich, den Rufenden zu sehen oder frage ich ihn nach seinem Namen, usw.34 Bei einer solchen weiteren (wenn nötig anschaulichen) Bestimmung handelt es sich um die angezeigte Bedeutung des Ausdrucks. Allerdings kann meine Suche nach der erfüllenden, ‚angezeigten’ Bedeutung, die durch die Ich-Rede des Anderen eventuell hervorgerufen wird, bei meiner eigenen Ich-Rede gar nicht stattfinden. Die Intention meiner Ich-Rede ist für mich ohne jede Ausnahme erfüllt. Denn es wäre widersinnig, wenn man ‚ich’ sagt und anschließend fragt: ‚Auf wen bezieht sich dieses ich?’ Die ‚angezeigte’ Bedeutung ist im Fall der eigenen Ich-Rede immer schon mit 33
XIX/1, 87ff.; XIX/2, 556ff. Die „garantierte Referenz” (Holenstein 1985, 61) macht keine ‚volle und ganze Bedeutung’ des Wortes ‚ich’ aus. Wenn ich jenen Zettel lese, verstehe ich schon, daß der Schreibende mit dem ‚ich’ sich selbst bezeichnet. Das befriedigt aber die durch den Ausdruck erweckte Intention nicht vollständig (XIX/1, 88).
34
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dabei, auch wenn man sich selbst (z. B. wegen der Amnesie) nicht auf spezifisch beschreibende Weise charakterisieren kann.35 Der Ausdruck ‚ich’ kann für den Hörenden eine Divergenz der beiden Bedeutungen verursachen: Die erste unbestimmte Bedeutung fordert die zweite ergänzende Bedeutung. Für den Sprechenden aber gibt es dieses Auseinander der zwei Bedeutungen nicht (XIX/2, 557f.). Diese ausnahmslose Erfülltheit, die der Wortsinn des ‚ich’ für mich selbst hat, weist darauf hin, daß der Sinn des ‚Ich’ in evidenztheoretischer Hinsicht als ‚Urmodus’ für den Sinn des ‚anderen Ich’ zu betrachten ist. Das Wort ‚ich’ verweist – wer es auch immer sagen mag – auf die erfüllte Koinzidenz der beiden Bedeutungen. Sie erlebe ich jedesmal, wenn ich ‚ich’ sage. Wenn ein Anderer ‚ich’ sagt, wird zwar auf die Koinzidenz verwiesen, aber nicht direkt erlebt; sie kann erfüllt sein, aber nicht unmittelbar; in diesem Fall ist die Erfüllung notwendig mittelbar und approximativ. Hier gibt es eine Diskrepanz zwischen (a) der möglichen Erfüllung der Koinzidenz und (b) der Unmöglichkeit einer unmittelbaren Erfüllung. Das Sinnesmoment (a) weist dabei auf die originäre Erfülltheit der Koinzidenz ‚in mir’ zurück, in der allein ich von dieser Koinzidenz wissen kann. Das Sinnesmoment (b) impliziert ein Teilmoment ‚unmittelbare Erfüllung’; darin wird ebenfalls auf die einzigartige originäre Koinzidenz ‚in mir’ verwiesen. Im Hinblick auf die Erfüllung muß man also generell sagen, daß ‚mein’ originäres Erlebnis der fraglichen Koinzidenz eine wesentliche Rolle im Verständnis der Ich-Rede überhaupt spielt. Jeder Andere kann auch ‚ich’ sagen, aber das Verständnis dieser Ich-Rede setzt das uroriginale Verständnis der ‚lebendigen’ Koinzidenz der beiden Bedeutungen voraus.36 Husserl findet in der Erfahrung des Ich und des Anderen eine analoge Struktur, wobei das ‚Ur-Ego’ als ‚urstiftendes Original’ zum Ausdruck gebracht wird: „Das Ur-ego für die Erfahrung von jedem ego ist für mich das, das ich selbst ursprünglich bin und das in der beständigen Selbsterfahrung unablässlich in der bezeichneten Zentrierung und Gliederung der primordinalen Eigenheit seiner als Original bewusst ist, ob nun beachtet oder nicht. Und eben dies ist die fundamentale Eigentümlichkeit dieser Apperzeption ‚Anderer’, dass für sie ihr urstiftendes Original immer zugleich lebendig gegenwärtig ist und somit ego und alter immerzu und notwendig in ursprüngli-
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Die Frage des Amnesie-Patienten: ‚Wer bin ich?’ setzt schon die vollbestimmte Referenz des Wortes ‚ich’ voraus. Er ist sicher, in bezug auf wen die Frage gestellt ist; unbekannt ist nur, durch was er sich spezifisch bestimmen kann. 36 Das besagt keineswegs, daß die originäre Erfahrung des Ich der Fremderfahrung zeitlich voranginge. Es handelt sich hier nicht etwa um einen realen Lernvorgang des Wortes, sondern um das Sinnesverhältnis der Fundierung.
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cher Paarung [...]” (XV, 15).37 Die urmodale Selbsterfahrung des Ich ist immer schon lebendig mit dabei, wo ein anderes Ich erfahren wird, aber nicht umgekehrt.38 Dieselbe Struktur des lebendigen Mit-Dabeiseins und der ‚Paarung’ war schon im Leibphänomen zu sehen gewesen.39 Man kann zwar mit Recht sagen: ‚Das bisher Gesagte gilt für jedes Ich!’ Aber der Sinn ‚jedes Ich’ setzt schon die ‚Gleichstellung’ der Ichsubjekte implizit voraus; er kann also erst aus dem urmodalen Sinn des ‚Ich’ seine sinnhafte Erfüllung schöpfen. Der urmodale Sinn des ‚Ich’ erfährt also eine ganz ‚natürlich-selbstverständliche’ und daher schwer zu durchschauende Modifikation, wenn er gemäß der ‚Reziprozität’ verstanden wird; dies ist aber bei der expliziten Ich-Rede immer schon der Fall (XIV, 478). Das ausgesprochene Wort ‚ich’ hat einen Adressaten und eine performative Funktion. Sofern man auf der Ebene der explizit ausgedrückten Sprache bleibt, muß man von Anfang an immer die Pluralität und Reziprozität der Ich voraussetzen.40 Husserls Analyse verfolgt hingegen die intentionalen Verweisungen des Sinnes ‚Ich’ zurück, bis er auf den letzten urmodalen Sinn stößt, welcher der ganzen betreffenden Sinnesstruktur ihre Erfüllung ‚einflößt’. Wenn der Sinn ‚ich’ seine evidenzielle Erfüllung finden will, muß er auf die urmodale Erfahrung jener ‚Koinzidenz’ der Bedeutungen des ‚ich’ zurückgeführt werden. Dabei muß dieser urmodale ‚Erfahrungssinn’ nicht explizit ausgedrückt sein. Das Aussprechen des Wortes ‚ich’ im gewöhnlichen Sprachgebrauch ruft vielmehr notwendigerweise die gleichstellende Modifikation des ‚Ich’ hervor; der urmodale Sinn wird dabei durch den modifizierten verdeckt. Um diese modifizierende Verdeckung des urmodalen Sinnes anschaulich zu machen, kann man ein allgemeines sprachliches Phänomen heranziehen: Ein Sinnesmoment, das sonst nicht ausgedrückt wird, erhält durch das explizite Ausdrücken einen neuen sinnhaften Wert. Wenn ich sage: ‚Es regnet’, versteht es sich von selbst, daß ich es weiß. Das Gemeinte wäre aber nicht identisch, wenn ich eigens ausspräche: ‚Ich weiß, daß es regnet’. Der Sinn des zweiten Satzes ist eigentlich im ersten Satz stillschweigend mitgemeint; wenn er aber eigens ausgedrückt wird, ist der betreffende Sinn nicht mehr derselbe, sondern begleitet eine besondere Behauptung, die im Kontrast zu anderen möglichen Behauptungen (‚Ich weiß nicht...’, ‚Ich zweifle...’ usw.)
37 Obwohl Husserl den Terminus ‚urstiften’ (sowie ‚Assoziation’) verwendet (XV, 15) im Sinne des ständig urstiftend fungierenden Phänomens, so fordert dessen Herausstellung als Sinnesschicht noch keine genetische Analyse im prägnanten Sinn. 38 Vgl. I, 127. 39 Siehe oben 2.2 (S. 155). 40 Das Sprechen ist eine wesentlich intersubjektive Handlung. Die Analyse der Sprache kann daher den Geltungssinn der Intersubjektivität nicht radikal aufklären, da sie ihn bereits voraussetzt.
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steht.41 Das betrifft auch die Ich-Rede: Es ist selbstverständlich, daß ‚ich’ alles sage, was ich sage. Wenn ich aber vor jedem von mir ausgesprochenen Satz explizit ausdrücke – ‚Ich sage, es regnet’, ‚Ich sage, hier ist ein Stift’ usw. – erhält der Satz einen neuen, spezifischen Sinneswert. Er tritt nun so kontrastiv auf, daß er auf andere gegensätzliche Möglichkeiten hindeutet wie: ‚Du sagst vielleicht nicht...’, ‚Er hat anders gesagt, aber...’ usw. Bei jeder Ich-Rede haben wir es mit einem parallelen Phänomen zu tun: Man kann sagen, daß jede explizite Ich-Rede schon auf einen mehr oder weniger kontrastiv-relativen Sinn des ‚Ich’ verweist, der sich gegenüber ‚dir’, ‚euch’, ‚ihm’ usw. behauptet. Dasjenige, was Husserl aber als Urmodus des Sinnes ‚Ich’ herauszuarbeiten sucht, ist der unausgesprochene ‚Erfahrungssinn’, der sich in jeder expliziten Ich-Rede implizit bekundet, aber zugleich durch sie modifiziert und verhüllt wird.42
3.3 Die Schwierigkeit der Thematisierung des ‚Ur-Ich’ und ihre Notwendigkeit Aufgrund der vorangegangenen Untersuchungen kann man die wesensmäßige Schwierigkeit bei der Herausarbeitung des urmodalen Sinnes des ‚Ich’ näher charakterisieren. Bei dem fraglichen Ursinn handelt es sich nicht um den bloßen Wortsinn des ‚ich’. Der Sinn des ‚ich’ in der expliziten Ich-Rede ist aus phänomenologischer Sicht immer schon ein modifizierter Sinn, der 41
Wenn Wittgenstein in den Philosophischen Untersuchungen sagt, das Wort „wissen” werde gewöhnlich nur dann verwendet, wenn man die betreffende Sache auch bezweifeln kann (1960, 391), hat er insofern Recht, als das ausgesprochene Wort ‚wissen’ immer schon den modifizierten Sinn trägt. ‚Wissen’ hat aber auch den urmodalen Sinn, der dem ‚Urglauben’ entspricht und als die überall vorausgesetzte Basis der Akte nicht genannt werden muß. Wenn ich eigens ausspreche: ‚Ich glaube...’, ist das nicht der Ausdruck für den ‚Urglauben’, sondern zeigt vielmehr, daß ich mir der Möglichkeit meiner Täuschung bewußt bin (‚Ich glaube, er ist Herr K.’). Hierbei handelt es sich um die Modifikation und um die ‚Gleichstellung’ mit anderen Modi. Wittgenstein scheint in Teil II, X den unausgesprochenen Urmodus des ‚Glaubens’ anzudeuten; vgl. Wittgenstein 1960, 499ff.; auch Tugendhat 1979, 132ff.; Holenstein 1985, 66. 42 Die Urmodalität des Sinnes ‚Ich’ gegenüber demjenigen des ‚anderen Ich’ widerspricht nicht der Tatsache, daß Kinder die Wortbenutzung des ‚ich’ relativ spät erlernen. Denn das Aussprechen des ‚ich’ setzt – wie Holenstein zeigt – die Fähigkeit zur metasprachlichen Bezugnahme voraus (1985, 60ff.). Beim Urmodus des ‚Ich’ hingegen handelt es sich um den unausgesprochenen ‚Erfahrungssinn’, der durch das Aussprechen notwendig modifiziert wird. Dieser ‚Sinn’ ist es, den auch das Kind, das das Wort ‚ich’ noch nicht benutzen kann, voraussetzen muß, damit es auf sich z. B. mit Eigennamen Bezug nehmen kann. Der urmodale ‚Sinn’ des ‚Ich’ zeigt sich auch im frühkindlichen ‚egozentrischen’ Verständnis der intersubjektiven Beziehungen, das den primitiven Gebrauch des Wortes ‚ich’ prägt. Zu diesen entwicklungspsychologischen Befunden vgl. Holenstein 1985, 68. Holenstein meint aber, daß das implizite Selbstbewußtsein keine notwendige Voraussetzung für den richtigen Gebrauch des Wortes ‚ich’ sei (ebd., 76).
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die Gleichstellung mehrerer Ich voraussetzt. Dabei bedeutet die Charakterisierung des Anderen als ‚Modifikation’ keineswegs einen einseitigen Vorrang des Ich gegenüber dem Anderen. Die Kennzeichnung des ‚Ich’ als ‚Urmodus’ kann nur dann ungerecht erscheinen, wenn das ‚Ich’ schon mit dem Anderen gleichgestellt ist; wenn dies aber der Fall ist, handelt es sich nicht mehr um den Urmodus des ‚Ich’ als solchen, sondern um den ‚modifizierten Urmodus’. Sofern die Gleichstellung aus der Modifikation resultiert, muß sie radikal außer Geltung gesetzt werden, damit der urmodale Sinn des ‚Ich’ als solcher herausgearbeitet werden kann. Ohne die entsprechende Epoché wird das explizit ausgesprochene ‚Ich’ notwendig im schon modifizierten Sinn verstanden, da die explizite Herausstellung des ‚Ich’ unvermeidlich die Relativität zum Sinn des ‚anderen Ich’ in Geltung setzt: „[...] sowie Ich gesagt ist, sind auch schon die Personalpronomina überhaupt als Korrelate da” (VI, 415). Dasjenige, was wir unter dem Wort ‚Ich’ verstehen, ist insofern immer schon ein modifizierter Sinn. So ist zu sagen: Wenn der ‚Andere’ eine Modifikation ist, bin ‚ich’ selbst ebenfalls in der gewöhnlichen Ich-Rede schon eine Modifikation. Das sagt Husserl in bezug auf die leibliche Fremderfahrung, in der er die Urform der Sinneserfahrung des Anderen sieht: Sie ist „nicht Einsfühlung [sic!], als ob ich mich einfühlte und im Anderen lebte, mich in ihn hineinlebte etc., und doch ist der Andere nichts anderes als eine Abwandlung meiner selbst, und ihn erfahrend erfahre ich mich selbst in Abwandlung. ‚Abwandlung’ ist hier doppeldeutig” (XIV, 527).43 Die intentionale Modifikation in der Fremderfahrung ist also nicht nur die Modifikation, die den Sinn ‚Anderer’ in Geltung bringt, sondern auch eine Selbstmodifikation des ‚Ich’, die den kontrastiv-relativen Sinn des Ich erst in Kraft setzt. Es handelt sich also bei dieser Modifikation um die Urkonstitution, in der die Sinnesstruktur ‚Ich – Anderer’ erst fundamental zur Geltung gelangt. Die ‚Selbstmodifikation’, in der ich mir selbst ‚fremd’ werde, wird aus dem Folgenden deutlich: „[...] für die mir nun miteinander gleichstehenden Fremden als nicht nur für mich, sondern füreinander Fremden bin ich selbst notwendig Fremder, d. i. ich bin nicht nur Urmodus für die Fremden, sondern bin für mich auch Fremder der für mich seienden Fremden” (XV, 635). Die gewöhnliche Ich-Rede birgt in sich die implizit vorausgesetzte Verweisung auf den urmodalen Erfahrungssinn. Dies ist aber durch den modifizierten, relativen Sinn des Ich verdeckt. Husserls Versuch, diesen verdeckten Urmodus phänomenologisch zum Ausdruck zu bringen, stößt auf eine nicht unwesentliche Schwierigkeit, sofern er das Wort ‚Ich’ oder ‚Ego’ unvermeidlich in Anspruch nimmt. 44 Dadurch entsteht Husserls fremdartige 43
Das Wort ‚Abwandlung’ verwendet Husserl als Synonym für ‚Modifikation’. Er spricht an der betreffenden Stelle auch von der „Verdeckung” durch die Modifikation (XIV, 527). 44 Vgl. VI, 415.
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Beschreibung, daß das „erste ‚ego’ der Reduktion”, sofern es urmodal verstanden wird, „fälschlich darum so heisst, weil für es ein alter ego keinen Sinn gibt” (XV, 586). Um den fraglichen Ursinn von dem gewöhnlichen Wortsinn des ‚Ich’ zu unterscheiden, benötigt man einen besonderen Terminus, welcher den herauszuarbeitenden urmodalen Sinn vor einem Rückfall in die natürliche Modifikation schützen soll. Diese Aufgabe kommt dem ‚Ur-Ich’ zu. Wenn Husserl von ihm spricht, handelt es sich um den in der Natürlichkeit nie ausgesprochenen Sinn, der in einem fundamentalen Unterschied zum gewöhnlichen, modifizierten Sinn des Ich zu verstehen ist. Das ‚Ur-Ich’ bedeutet nicht bloß ein Ich, das nur im allgemeinen Sinn ursprüngliches ist; aus der Perspektive der ‚Modifikationslehre’ ist es als ein spezifischer Ausdruck für den betreffenden ‚Urmodus’ zu betrachten. Denn das Präfix ‚Ur-’ zeigt stets die Notwendigkeit der radikalisierten Epoché an.
4. DIE PARALLELE ZWISCHEN DEM ‚UR-ICH’ UND DER ‚LEBENDIGEN GEGENWART’ IM HINBLICK AUF DIE MODIFIKATION Zuletzt wurde die wesensmäßige Verdecktheit des Sinnes ‚Ur-Ich’ und die Notwendigkeit einer radikalen Epoché hinsichtlich des modifizierten, relativen Sinnes des Ich herausgestellt. Man darf aber die Differenz zwischen dem urmodalen und dem modifizierten Sinn des Ich nicht zu einseitig betonen. Denn der markante Charakter der intentionalen Modifikation liegt darin, daß sie gerade einen wesensmäßigen Sinneszusammenhang zwischen dem Urmodus und den Modifikationen herstellt. Deshalb muß trotz der ‚Äquivokation’ der Ausdruck ‚(Ur-)Ich’ in Anspruch genommen werden. Im folgenden soll diese modifizierende ‚Sinnesverdoppelung’ des Ich anhand einer Parallelisierung mit der Modifikation der ‚lebendigen Gegenwart’ genauer analysiert werden. Dabei gilt es besonders zu zeigen, daß die ‚Modifikation’ des Ur-Ich keine einseitige Produktion der Modifikate bedeutet, sondern die Struktur einer sinnhaften Selbstverdoppelung zeigt. Dadurch kann das Mißverständnis vermieden werden, die ‚Modifikation’ des Ur-Ich meine einen metaphysisch-hypothetischen Entstehungsprozeß der pluralen Ich.
4.1 Die Fehlinterpretation des ‚Produktionsmodells’ Wenn man etwa sagt: ‚Die Anderen und das im Gegensatz zu ihnen aufgefaßte Ich konstituieren sich durch die Modifikation des Ur-Ich’, könnte es naheliegen, daß das ‚Ur-Ich’ ein Drittes wäre, welches die Anderen und das
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Ich im relativen Sinn produzieren würde. Die ‚Modifikation’ des Ur-Ich, die auch ‚Monadisierung’ genannt wird, darf aber nicht nach folgendem Schema verstanden werden: U
a
b
c...
Dieses Bild illustriert, wie der Ursprung (U) die Modifikate (a, b, c, ...) gleichmäßig produziert, wobei der Ursprung eine völlig andere Instanz darstellt als die Modifikate, die ihrerseits auf einer Ebene gleichgestellt sind. Dieses Modell, das ich vorläufig als ‚Produktionsmodell’ bezeichne, scheint zunächst gut zu der bisherigen Beschreibung der ‚intentionalen Modifikation’ zu passen. Der Urmodus ist ‚einzigartig’, die Modifikate sind dagegen gleichgestellt. Ist jedoch die monadisierende, ‚entfremdende’ Modifikation wirklich nach diesem Modell sachgemäß zu beschreiben? Werden die Monaden – wie dieses Modell zeigt – vom Ur-Ich als Über-Instanz gleichermaßen produziert? Um diese Frage zu beantworten, kann man die Parallele zwischen der ‚entfremdenden’ und der ‚entgegenwärtigenden’ Modifikation heranziehen, auf die in der Krisis hingewiesen wird.45 Zentral ist das Problem der notwendigen Beziehung zwischen dem Urmodus und der Modifikation. In dieser Hinsicht sollen insbesondere die folgenden drei Punkte betrachtet werden: 1) Das Urmodale als Geltungsboden und die Fundiertheit der Modifikate 2) Das Urmodale gliedert sich selbst in die gleichgestellten Modifikate ein. 3) Das Urmodale ist kein ‚gemeinsamer’ Ursprung der Modifikate.
4.2 Die ‚lebendige Gegenwart’ und das Ur-Ich als Geltungsboden Die Parallele zwischen der ‚lebendigen Gegenwart’ und dem ‚Ur-Ich’ ist nicht rein formaler Natur. Zunächst handelt es sich bei beiden im Grunde genommen um dasselbe ‚Urphänomen’, sofern die Reduktion auf die lebendige Gegenwart auch als diejenige auf das Ur-Ich charakterisiert wird: „So stoßen wir bald vor auf das nie herausgestellte, geschweige denn systematisch ausgelegte ‚Urphänomen’, in dem alles, was sonst Phänomen heißen mag und in welchem Sinne immer, seine Quelle hat. Es ist die stehendströmende
45
Vgl. Kapitel IV, 4.2.4.
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Kapitel VI
Selbstgegenwart bzw. das sich selbst strömend gegenwärtige absolute Ich seinem stehend-strömenden Leben [...]” (Mat VIII, 145).46 In welchem Sinn ist dieses ‚Urphänomen’ als ‚Quelle’ für jedes Phänomen zu bezeichnen? Das Bild von der ‚Quelle’ könnte nahelegen, das Verhältnis zwischen dem ‚Urphänomen’ und den sonstigen Phänomenen als produktives zu interpretieren und das ‚Urphänomen’ als einen alles hervorbringenden Ursprung im Sinne einer ‚Ursache’ zu betrachten. Da muß man aber im Hinblick auf das Bild aus dem natürlichen Erfahrungsbereich folgendes bedenken: Das Wasser, das einmal aus der Quelle geflossen ist, kann für sich weiter existieren, auch wenn die Quelle versiegt ist. Oder: Die Früchte sind noch da, nachdem der Baum abgeholzt wurde. Ein realer Ursprung als Ursache verliert also die unmittelbare Verbindung mit dem Sein seiner Produkte, nachdem diese aus jenem hervorgegangen sind. Die fragliche ‚Urquelle’ aller Phänomene kann aber nicht nach diesem Modell der realen Produktion verstanden werden. Um das deutlich zu machen, betrachte ich zunächst das Modifikationsphänomen der Gegenwart: Die Vergangenheit verweist in doppelter Hinsicht auf die Gegenwart zurück: Jene impliziert den Geltungssinn, daß sie eine ‚modifizierte Gegenwart’ ist, die auf ihren Urmodus zurückverweist. Dieser hat wiederum einen Modifikationscharakter; denn er ist zwar eine ‚aktuelle Gegenwart’, die aber nicht jetzt aktuell, sondern ‚aktuell gewesen’ ist. Dieser Modifikationscharakter ‚nicht jetzt’ bzw. ‚gewesen’ verweist auf den weiteren Urmodus ‚lebendig aktuelle Gegenwart’. Ohne die aktuell lebendige Gegenwart kann die Vergangenheit nicht als solche sinnhaft bestehen. Der Sinn ‚vergangen’ setzt die Relation zum Sinn der ‚aktuellen’ Gegenwart wesensmäßig voraus; d. h., ohne die ‚aktuell lebendige’ Gegenwart könnte sich nicht einmal bestimmen lassen, in bezug worauf eine Gegenwart ‚vergangen’ ist. Offenbar handelt es sich hierbei um ein Fundierungsverhältnis, wie Husserl im Hinblick auf die Retention und die Protention klarstellt: „Es geht das Sein der konkreten strömenden Gegenwart selbst als das im Modus der Originarität, der Präsentation Bewusste dem darin als retentional und protentional Bewussten voran, in der Weise der Fundierung” (XV, 126). ‚Sein’ besagt hier nicht ‚reale Existenz’, sondern ‚Seinsgeltung’ bzw. ‚Seinssinn’. Es wird nicht behauptet, daß ein in der Vergangenheit real Gewesenes seiner Existenz beraubt würde, wenn das gegenwärtig seiende Reale nicht existieren würde, sondern es geht hier darum, daß der Seinssinn der ‚Vergangenheit’ ohne den Seinssinn der ‚Gegenwart’ nicht bestehen könnte. „Die Aufhebung
46
Charakteristisch ist auch folgende Stelle: „Zeiten, Gegenstände, Welten jedes Sinnes haben letztlich ihren Ursprung im Urströmen der lebendigen Gegenwart – oder, besser, im transzendentalen Ur-Ego [...]” (Mat VIII, 4); vgl. auch Ms. C 3/ 38a, b.
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des Seins der Gegenwart bedeutet auch die aller Vergangenheit und Zukunft” (ebd.). Dasselbe gilt auch für das ‚Ich’: Das ‚andere Ich’ verweist sinngemäß darauf, daß es ein ‚Ich’ ist. Der Seinssinn des ‚anderen Ich’ impliziert also denjenigen des ‚Ich’ als Urmodus. Darüber hinaus kann auch das Sinnesmoment ‚anderes’ ohne den Sinn des ‚eigenen Ich’ nicht bestehen, da sich sonst nicht bestimmen ließe, für wen ein Ich ‚anderes’ ist. Das ‚andere Ich’ ist ein Ich, das ich selbst nicht bin. Wenn dies zum wesentlichen Sinnescharakter des ‚anderen Ich’ gehört, muß man sagen, daß ein ‚anderes Ich’ ein urmodales ‚Ich’ fordert, um überhaupt ‚anderes’ zu sein. Wenn der Sinn des ‚eigenen Ich’ nicht wäre, gäbe es auch den Sinn des ‚anderen Ich’ nicht, wohl aber umgekehrt. „So wie Zeitmodi eine eigene Gruppe von Seinsmodi sind, auf die originale Form oder <den> Urmodus Gegenwart bezogen, so ist ‚Anderer sein’ eine allgemeine Seinsmodalität zum Urmodus Ich-selbst” (XIV, 362). Im sinnhaften Aufbau der Fundierungen sind die lebendige Gegenwart und das Ur-Ich als „der letzte absolute Boden aller meiner Geltungen” (Ms. C 3/ 25a) zu bezeichnen, da sie in jeder Seinsgeltung sozusagen als ‚Medium’ bzw. ‚Leistungsstätte’ der erscheinenden Geltungen immer schon vorausgesetzt sind.47 Auch die ‚Zeit’ im objektiven und immanenten Sinn erhält erst in dieser Leistungsstätte ihre Geltung: „Die Reduktion auf die lebendige Gegenwart ist die radikalste Reduktion auf diejenige Subjektivität, in der alles Mir-Gelten sich ursprünglich vollzieht, in der aller Seinssinn für mich Sinn ist und mir erlebnismäßig als geltend bewußter Sinn. Es ist die Reduktion auf die Sphäre der Urzeitigung, in der der erste und urquellenmäßige Sinn von Zeit auftritt – Zeit eben als lebendig strömende Gegenwart. Alle sonstige Zeitlichkeit, ob nun subjektive oder objektive – welchen Sinn dabei diese Worte auch annehmen mögen –, erhält aus ihr ihren Seinssinn und ihre Geltung” (XXXIV, 187).48 Das Modell der real-kausalen Produktion läßt sich folglich nicht auf die intentionale Modifikation der ‚Urgegenwart’ und des ‚Ur-Ich’ anwenden, da es die zeitliche Ordnung voraussetzt, die sich erst in der ‚Urgegenwart’ sinnhaft konstituieren muß. Alles für mich Seiende hat seine zeitlichen Gegebenheitsmodi in der strömenden Zeitigung. 49 „Meine strömend-lebendige Gegenwart, die urmodale, trägt alles Erdenkliche in sich; sie ist die urzeitliche, überzeitliche ‚Zeitlichkeit’, die alle Zeit als verharrend-seiende Zeitordnung und Zeitfülle in sich trägt” (Mat VIII, 22). Das besagt auch, daß alles für mich Geltende ‚mein Sein’ nicht als reale Ursache, sondern als den lebendigen Geltungsboden, als „Urboden aller Geltungen” (XXXIV, 299) 47
Zum Medium-Charakter des Ich vgl. Kapitel VII, 2.1 und 2.2. Vgl. auch Ms. C 2/ 2b; C 3/ 31a. 49 Vgl. XXXIV, 185ff., 298; Ms. C 2/ 3b, 4a. 48
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voraussetzt. Ohne das ‚ich bin, ich lebe’ würde alles, was für mich Seinssinn hat, als das so Geltende entschwinden. Selbst meine Geburt und mein Tod, wenn sie für mich überhaupt Sinn haben, beruhen hinsichtlich ihrer Sinneskonstitution auf meinem stehend-strömenden ‚Jetzt-leben’50: „Mein Sein ist apodiktischer Grund für alles Sein, das für mich Sein und Sinn hat. [...] Aber bin ich nicht zeitweilig, geboren etc.? Ja, aber diese Zeitweiligkeit ist selbst in meinem apodiktischen Sein verwurzelt” (XV, 383 Anm.); „Also mein transzendentales Anfangen und Enden ist in mir, als jetzt im Modus Gegenwart Seiendem, beschlossen” (XV, 590).51 Dem schadet es nicht im Geringsten, daß mein reales Sein durch meine Geburt und vergangene Lebensgeschichte bedingt ist. Es handelt sich im jetzigen Zusammenhang durchgehend um eine eigentümliche ‚Ordnung’, die in der objektiven Zeitordnung nicht erscheint und daher eine wesentlich andere ist als die Ordnung der realen Reihenfolge.52 Was über die zeitliche Modifikation gesagt wurde, gilt auch für den Modifikationscharakter des ‚Anderen’: Die Anderen sind nicht meine ‚Produkte’. Wenn sie aber von mir als ‚andere Ich’ sinnhaft verstanden werden können, setzt ihr Seinssinn mein lebendiges gegenwärtiges Sein als ‚Geltungsboden’ voraus. Dabei impliziert dieser Seinssinn auch, daß die anderen Ich keine bloßen Gegenständlichkeiten, sondern ihrerseits lebendige Geltungsböden sind, die alles für sie Geltende sinnhaft in sich tragen. In dieser ,Wiederholung’ des fundierenden Geltungssinnes besteht der eigentümliche Charakter der intentionalen Modifikation. Darauf komme ich später zu sprechen. Hier ist entscheidend, daß der Seinssinn der anderen Ich, obwohl sie selbst fundamentale Geltungsträger sind, auf ‚mein’ strömend gegenwärtiges Sein als Urmodus zurückverweist, sofern der Seinssinn der anderen Ich ohne ‚mein’ urmodales Sein nicht sinnhaft bestehen kann;53 er impliziert wesensmäßig das Mitdabeisein des ‚Ur-Ich’ meiner lebendigen Gegenwart.54
50
Vgl. XV, 590. Vgl. XV, 583, 586. 52 Vgl. Kapitel V, 3.2; VI, 1.2. Diese ‚Ordnung’ nennt Husserl auch „Ordnung der Implikationen” (Mat VIII, 21). Hierbei handelt es sich keineswegs um das zeitliche Vorangehen des ‚Geltungsbodens’, sondern vielmehr um die ‚transzendentale Simultaneität’: „Das ImpliziertSein meiner Vergangenheit in meiner strömenden Gegenwart, das Impliziert-Sein der anderen Monade in meiner Monade, in meiner strömenden Gegenwart: Implikation als transzendental simultane” (Mat VIII, 22). 53 Vgl. Ms. C 2/ 3b; XV, 383 Anm., 590. 54 Auch ein ‚Anderer nach meinem Tod’ z. B. verliert seinen Sinn, wenn man den Sinn ‚mein’ nicht voraussetzt; dieser ‚mein’ verweist auf das entsprechende ‚Ich’, das sich den fraglichen Anderen als ‚meinen Anderen’ vorstellt und bei ihm auf solche Weise ‚mit dabei’ ist. 51
Das Ur-Ich und die ,intentionale Modifikation’
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4.3 Die ‚Sinnesverdoppelung’ des Urmodus und dessen ‚Selbsteingliederung’ in die Modifikationsreihe Im letzten Schritt wurde gezeigt, daß zwischen dem Urmodalen und seinen intentionalen Modifikationen ein wesentliches, untrennbares Fundierungsverhältnis besteht, das mit dem objektiv-zeitlichen Produktionsverhältnis zwischen real Seienden nicht vergleichbar ist. Im nächsten Schritt möchte ich eine besonders charakteristische Struktur der intentionalen Modifikation herausstellen, die man als ‚Selbsteingliederung’ des Urmodus in die Modifikationsreihe bezeichnen kann. Dadurch lassen sich weitere Mißverständnisse der Modifikationslehre beseitigen, die das Produktionsmodell nahelegt. Zunächst ist der Terminus ‚Gegenwart’ doppeldeutig: (1) Die ‚urströmende Gegenwart’ muß als Urmodus von der Gegenwart als einem Zeitmodus unter anderen streng unterschieden werden. Durch die radikale Epoché verliert die urmodale ‚Gegenwart’ ihre gewöhnliche relative Bedeutung innerhalb ‚Vergangenheit–Gegenwart–Zukunft’ 55 : „Die Rückfrage von der Epoché aus führt auf das urtümlich stehende Strömen – in einem gewissen Sinne das nunc stans, stehende ‚Gegenwart’, wobei das Wort ‚Gegenwart’, als schon auf eine Zeitmodalität verweisend, eigentlich noch nicht passt” (XXXIV, 384). Die stehende ‚Gegenwart’ ist nicht mehr einer der gleichgestellten Zeitmodi, sondern die konstitutive Geltungsquelle aller Zeitmodi.56 (2) Andererseits ist der Ausdruck ‚Gegenwart’ „unvermeidlich” (Mat VIII, 6). Es wäre nicht sachangemessen, wenn man für den fraglichen Urmodus eine ‚neutrale’ Bezeichnung einführen würde, die mit ‚Gegenwart’ nichts zu tun hätte. Eine ähnliche Konstellation liegt auch zwischen dem ‚Ich’ im gewöhnlichen Sinne und dem ‚Ur-Ich’ vor. Trotz der scharfen Differenz zum ‚Ich’ im gewöhnlichen Sinne muß es doch durch die wesensmäßige Äquivokation ‚Ich’ oder ‚Ego’ bezeichnet werden. Das ‚Ur-Ich’ kann eigentlich nicht einfach ‚Ich’ genannt werden, da dies den gewöhnlichen Sinn des ‚Ich im Gegensatz zu den anderen Ich’ ohne weiteres in Geltung läßt. Die Beschreibung würde aber auch von dem fraglichen Phänomen abweichen, wenn man die ‚äquivoke’ Rede von ‚Ich’ durch einen ‚neutralen’ Terminus ersetzen würde.57 Aus der Perspektive der Modifikationslehre kann man die Notwendigkeit 55
Sie wird auch als „‚Gegenwart’ in einem uneigentlichen Sinne” (Mat VIII, 6) bezeichnet. „Denn”, fährt Husserl fort, „ihr eigenes Sein als transzendentales Sein in der Urgestalt ist nicht etwa in einem normalen (obschon erweiterten) Sinn eine Gegenwart als strömend verströmendes Zwischenstück für eine mitströmende Vergangenheit und Zukunft” (ebd.). Zum Doppelsinn des Jetzt als (1) „allüberspannendes” (XXXIII, 45) und als (2) ‚Zwischenstück’ vgl. auch Ms. C 7/ 20a, b. 56 Vgl. XV, 583f., 668; Dok II/1, 63 Anm. 57 Vgl. auch die Argumentation zur ‚Nähe’ des phänomenologisierenden Ich in Kapitel V, 6.
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der fraglichen ‚äquivoken’ Rede noch präziser verstehen, indem die Parallelisierung des Ur-Ich mit der lebendigen Gegenwart näher untersucht wird. Zunächst soll die ‚retentionale’ Modifikation betrachtet werden. Die Retention zeigt sich als ein Modifikat, das in sich selbst auf seinen Urmodus, das ‚urimpressionale Jetzt’, zurückverweist.58 Bei dieser Modifikation handelt es sich nicht um eine bloß einseitige Produktion, denn der Urmodus erfährt eine rückwirkende Modifikation. Wenn der Urmodus ‚Jetzt’ sich modifiziert und in den Modus ‚Soeben-gewesen’ übergeht, wird er dadurch mit diesem modifizierten Zeitmodus kontrastiv ‚gleichgestellt’. Der Urmodus steht ‚nicht mehr allein’, sondern ‚neben seiner Modifikation’; er bildet nun einen „Gegensatz gegen ‚modifiziert’” (XXXIII, 238). Durch diese Gleichstellung und Kontrastierung ergibt sich eine Sinnesverdoppelung des Urmodus ‚Jetzt’. Das lebendige Jetzt ist einerseits der urmodale ‚Quellpunkt’ alles zeitlichen Geschehens, wird aber andererseits als ‚ein Zeitpunkt unter vielen’ erlebt, der kontinuierlich in die Retention übergeht. 59 Dasselbe Jetzt zeigt sich als das Urmodale und gliedert sich selbst zugleich in die Nacheinanderfolge der Jetztpunkte ein.60 Im uroriginalen, sich modifizierenden Strömen61 konstituiert sich das „Ur-Jetzt” selbst als „Urquellpunkt aller konstituierten Modifikationen” (Mat VIII, 8). Dieselbe Struktur findet sich offenbar in der ‚Wiedererinnerung’: Durch die wiedererinnernde Modifikation modifiziert sich die urmodale Gegenwart selbst, die nun als ‚eine Gegenwart unter vielen’ auftritt, sich also in die Reihe der gleichgestellten Gegenwarten einordnet. Diese sinnhafte Verdoppelung lung der ‚einzigen’ lebendigen Gegenwart charakterisiert Husserl auf folgende Weise: „Diese Gegenwart ist einzige Lebendigkeit, eine Urgegenwart, ein Strom, aber doch ein Strom, indem mit gutem Sinn zu sagen ist, dass eine Urgegenwart in eine neue Urgegenwart und immer wieder neue über-
58
„[...] soeben-vergangen besagt so viel wie soeben vergangenes Jetzt” (XXXIII, 142). Der Sinn „Jetzt” ist darin „‚modifiziert’ beschlossen” (ebd.). „Modifiziert: Das Vergangene ist nicht jetzt, ‚nicht mehr’ jetzt, vergangenes Jetzt” (XXXIII, 143); vgl. auch XXXIII, 41; X, 34. 59 Zum Doppelsinn der Gegenwart vgl. besonders Ms. C 3/ 45b, 47a. 60 Diese ‚rückwirkende’ Bestimmung und Sinnesverdoppelung des ‚Jetzt’ durch die Gleichstellung beschreibt Husserl wie folgt: „Der ganze Jetztpunkt nun, die ganze originäre Impression erfährt die Vergangenheitsmodifikation, und erst durch sie haben wir den ganzen Jetztbegriff erschöpft, sofern er ein relativer ist und auf ein ‚vergangen’ hinweist, wie ‚vergangen’ auf das ‚jetzt’” (X, 68). Durch die retentionale Modifikation ergibt sich also nicht nur der modifizierte Zeitmodus ‚Soeben-gewesen’, sondern auch der ‚modifizierte’ Urmodus, der, wie jede vergangene Gegenwart, als eine „relative Urpräsenz gegenüber seiner Modifikation” (XXXIII, 220) zu bezeichnen ist. Zur Sinnesverdoppelung der Gegenwart vgl. auch XXXIII, 143. 61 Das Strömen ist nichts anderes als das ständige „Sich-selbst-Modifizieren” (Mat VIII, 129); vgl. auch XXXIII, 143f.; Ms. A V 20/ 17b.
Das Ur-Ich und die ,intentionale Modifikation’
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strömt” (XV, 349).62 Durch die Wiedererinnerung vollzieht sich eine rückwirkende Selbstkonstitution der lebendigen Gegenwart, die sich nun mit den wiedererinnerten Gegenwarten kontrastiv gleichstellt: „Die Erinnerung ist ‚sekundäre’ Originalität. Meine konkrete Gegenwart selbst in ihrer Originalität gliedert sich in das Uroriginale und sekundär Originale” (XV, 641).63 Diese scheinbar ‚paradoxe’ Struktur der lebendigen Gegenwart64 läßt sich aus zwei Gründen nicht durch das naheliegende Modell der Produktion verständlich machen: (1) Die ‚Urgegenwart’ steht nicht in einer einseitig übergeordneten Position, die außerhalb der modifizierten Gegenwarten läge. 65 Vielmehr erhält ‚dieselbe’ Urgegenwart selbst durch das Auftreten der Modifikationen die Bedeutung von ‚einer unter vielen’ und nimmt einen Platz unter den sich anreihenden Gegenwarten ein. (2) Das Verhältnis zwischen Urmodus und Modifikation ist nicht bei jeder Modifikation gleich, so wie ein Ursprung mehrere Produkte gleichermaßen hervorbringt. Die Urgegenwart ordnet sich zwar in die Reihe der gleichgestellten Gegenwarten ein, aber diese gleichgestellte, modifizierte Urgegenwart ist das Resultat der sinnhaften ‚Selbstverdoppelung’ der ‚einzigen’ Urgegenwart selbst. Diese verdoppelt sich in die urmodale und die modifizierte Urgegenwart, die sich beide zugleich als ‚Urgegenwart’ decken. Insofern steht die urmodale, ‚absolute’ Urgegenwart in einem besonderen Verhältnis zur modifizierten Urgegenwart, die trotz ihrer Gleichstellung mit den anderen modifizierten (vergangenen und zukünftigen) Gegenwarten herausragt. Durch die Parallele mit der erläuterten Modifikation der Urgegenwart wird nun jene fremdartige Modifikation des Ur-Ich nachvollziehbar. Zur ‚Selbsteingliederung’ des Urmodus in die Modifikationen sei an die zentrale Beschreibung der Krisis erinnert: Trotz seiner nie zu verlierenden „Einzigkeit” und „Undeklinierbarkeit” macht sich das Ur-Ich für sich selbst „transzendental deklinierbar” (VI, 188), so daß „es also von sich aus und in sich die transzendentale Intersubjektivität konstituiert, der es sich dann zurechnet, als bloß bevorzugtes Glied, nämlich als Ich der transzendentalen Anderen” (VI, 189). Die Konstitution der transzendentalen Intersubjektivität darf also nicht nach dem Produktionsmodell verstanden werden, als ob das Ur-Ich von einer einzigen überlegenen Position aus die Intersubjektivität auf einseitige Weise erzeugen würde. Das Ur-Ich kann gegenüber seiner Modifikation nicht ‚gleichgültig’ bleiben, sondern reiht sich unter die gleichgestellten Ichsubjekte ein. Es ist jedoch mit den anderen Ich nicht völlig gleichgestellt. Unter den Modifikaten besteht nämlich ein fundamentaler Unterschied, so daß sich ein bestimmtes Ich als „bevorzugtes Glied” von den Anderen 62
Vgl. auch Ms. C 2/ 10a; C 3/ 39a, 42a. Vgl. auch Ms. C 3/ 44b. 64 Vgl. Ms. C 3/ 39a. 65 Vgl. die Zeichnung in 4.1 (S. 167). 63
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Kapitel VI
unterscheidet. Das besagt, daß zwischen dem Ich und den anderen Ich eine unübersteigbare ‚Asymmetrie’ vorliegt. 66 Das Ur-Ich ist keine ‚Über-Instanz’, welche die Vielheit der gleichgestellten Subjekte gleichmäßig produzieren und abgetrennt von ihnen völlig autark bliebe. Vielmehr wird das einzigartige Ur-Ich mit ‚einem’ Ich unter vielen identifiziert, während es dieses mit den anderen gleichgestellten Ich durch die ‚Selbstmodifikation’ und die sinnhafte ‚Selbstverdoppelung’ erst in Geltung bringt.67
4.4 Die ‚Selbsteingliederung’ des Urmodus und die Ursprünglichkeit der ‚Perspektivität’ Im Hinblick auf die ‚Selbsteingliederung’ des Ur-Ich in die Intersubjektivität ist noch ein naheliegendes Mißverständnis auszuräumen. Man könnte ja behaupten, daß das Ur-Ich ein ‚gemeinsamer Ursprung’ von dem Ich und den anderen Ich sein müsse, wenn das Ich und die anderen Ich erst vom Ur-Ich als ‚Urquelle’ ihre Seinsgeltungen erhalten. Dagegen ist aber folgendes einzuwenden: ‚Gemeinsamkeit’ setzt bereits ‚Vielheit’ voraus. Denn ‚gemeinsam’ ist dasjenige, was für jedes Glied einer Vielheit gleichermaßen gilt. Wenn man das Ur-Ich als den ‚gemeinsamen’ Ursprung von dem Ich und den anderen Ich betrachtet, ist der Sinn der ‚Vielheit der Ich’ schon in Geltung. Der Begriff der ‚Gemeinsamkeit’ ist erst möglich, nachdem sich die pluralisierende Modifikation vollzogen hat; insofern ist er nicht auf das UrIch anwendbar, das den Urmodus dieser Modifikation darstellt. Darüber hinaus steht das Ur-Ich nicht mit jedem Glied der Ich-Vielheit in einem gleichartigen Verhältnis. Auch wenn die intentionale Modifikation bereits wirksam ist, stiftet sie im Grunde genommen keine völlige Gleichstellung, sondern ein ‚asymmetrisches’ Verhältnis unter den Modifikaten, das durch die Rückwirkung der Modifikation und die ‚Selbsteingliederung’ des Urmodus in Geltung tritt. Dabei bedeutet diese ‚Asymmetrie’ eine Art Perspektivität. Um das zu verdeutlichen, soll nochmals die Modifikation der lebendigen Gegenwart zum Vergleich herangezogen werden. Die Gegenwarten sind eigentlich nicht völlig gleichgestellt, sondern geben sich immer schon in einer ‚Perspektivität’. Man kann also die aktuelle Gegenwart und die nicht aktuellen (vergangenen und zukünftigen) Gegenwarten nicht wirklich im Nebeneinander (gleichermaßen) vor Augen haben wie Dingobjekte. Diese ‚Ungleichmäßigkeit’ der Gegebenheitsmodi der Gegenwarten verweist auf einen ‚Blickpunkt’ der Zeiterfahrung, der immerfort in der aktuellen Gegenwart seinen Platz einnimmt. Vergangenheit und Zukunft werden notwendig aus dem Blickpunkt der Gegenwart erfahren. Die 66
Vgl. Kapitel VI, 3.1, 4.4. In bezug auf die Einfühlung scheint J. R. Mensch dieselbe Struktur der modifizierenden Verdoppelung zu beschreiben (Mensch 2001, 236).
67
Das Ur-Ich und die ,intentionale Modifikation’
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vergangenen und zukünftigen Gegenwarten sind zwar mit der aktuellen Gegenwart insofern gleichgestellt, als sie – wenn auch modifizierte – ‚Gegenwarten’ sind. Eine völlige Gleichstellung würde aber den Unterschied zwischen den Zeitmodi vernichten, so auch den Sinn der ‚Gegenwart’ selbst. Die fragliche Modifikation ergibt also einerseits die Möglichkeit der Gleichstellung, erhält aber andererseits die urmodale lebendige Perspektive aufrecht, die durch die gleichstellende Homogenisierung sinngemäß nicht überstiegen werden kann. Die gesamte Zeitkonstellation ‚Vergangenheit–Gegenwart–Zukunft’ ist also immer in der Gegenwart perspektivisch zentriert. Das Ich steht dabei im „Mittelpunkt der beiden Zweige der orientierten Zeit, Vergangenheit– Zukunft” (Mat VIII, 59).68 Der Blickpunkt aller meiner Erfahrung liegt in der Gegenwart. Die ‚Perspektivität’ bzw. die ‚Asymmetrie’ des Verhältnisses bestimmt nicht nur die ‚primordiale’ Erfahrung, sondern auch die ‚Fremderfahrung’ wesentlich. Das Ich und die Anderen stehen nie in völliger Gleichstellung zueinander, sonst verlöre ihr Verhältnis seinen Sinn: Der Sinn des Verhältnisses ‚Ich–Anderer’, das die Urmodalität des Ich und die Andersheit des Anderen impliziert, läßt sich nicht verstehen, wenn man so eingestellt ist, daß man eine Vielheit der Objekte aus der ‚Vogelperspektive’ betrachtet.69 Wenn es mehrere Ich gibt, kann man objektiv (aus der Perspektive des Dritten) überhaupt nicht bestimmen, wer ‚ich selbst’ bin. Das ‚urmodale’ Ich hat die Bedeutung eines ‚lebendigen Gesichtspunktes’, von dem aus erst die unumkehrbare Beziehung zwischen ‚Ich und dem Anderen’ erscheinen und erlebt werden kann. Die ‚Ungleichmäßigkeit’ unter den gleichgestellten Ich ist – wie gesagt – auf die ‚Selbsteingliederung’ des Ur-Ich zurückzuführen, nämlich auf das Phänomen, daß das Ur-Ich sich mit einem ‚bevorzugten’ Modifikat identifiziert. Die asymmetrische Beziehung zwischen Ich und dem Anderen verweist also auf die ‚Selbstmodifikation’ und ‚Sinnesverdoppelung’ der ichlichen Urmodalität zurück. Es ist also nichts anderes als die intentionale Modifikation, die die unvergleichliche Einzigartigkeit des Ich mit seiner Gleichstellung mit den Anderen verknüpft und zugleich streng auseinanderhält: Im Phänomen der ‚Modifikation’ sind die Einzigkeit des Ich und die Gleichstellung der Ich in ihrer Differenzierung zugleich untrennbar eins. Aufgrund dieser Überlegungen kann man sagen, daß der Rückgang auf das Ur-Ich keinesfalls eine Perspektive eröffnet, aus der die Vielheit der Ich 68
Zur Untrennbarkeit von Ichzentrierung und Gegenwartzentrierung vgl. Ms. C 3/ 45b. Eine völlige Gleichstellung der Ichsubjekte wäre nur als eine höherstufige Abstraktion denkbar, die eine Quasi-Verdinglichung der Ichsubjekte voraussetzen würde. Zum phänomenologischen Ausschluß der Perspektive des Dritten vgl. Tengelyi 1998, 189, 201; besonders: „In der systematischen Ausschaltung der Perspektive einer komparativen Identifikation, wie man sie nennen könnte, dürfte das eigentlich Phänomenologische an einer phänomenologischen Hermeneutik des Selbst bestehen” (189). 69
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in der Gleichstellung gleichsam ‚überschaut’ werden könnte. Im Gegenteil: Man stößt durch das Phänomen der ‚Selbsteingliederung’ des Ur-Ich auf die fundamentale Perspektivität, die sich der nivellierenden Gleichstellung wesentlich entzieht. Es ist also in jeder Hinsicht ausgeschlossen, das Ur-Ich als einen ‚gemeinsamen’ Ursprung vieler Ich (bzw. als das ‚neutrale Dritte’ für das Ich und den Anderen) zu interpretieren, da das Phänomen der ‚Selbsteingliederung’ eine Unmöglichkeit der ‚Vogelperspektive’ impliziert, aus der man die Vielheit der Ichsubjekte überschauen und ihr ‚Gemeinsames’ entnehmen könnte. Die Pluralität der Ich und ihr Verhältnis zueinander wird eigentlich auf eine vollkommen andere Weise gestiftet, die eine solche Überschaubarkeit nicht voraussetzt, sondern vielmehr erst ermöglicht. Husserl hat diese Fundamentalität der ‚Perspektivität’ vor Augen, wenn er behauptet, daß die wechselseitige Implikation von Ich und den Anderen wiederum ‚in mir’ impliziert ist. Er weist zuerst darauf hin, daß „jede Monade jede intentional impliziert und das ganze All impliziert, ein und dasselbe Monadenall für alle, in dem alle als Glieder sind” (XV, 589). In dieser Hinsicht sind alle Ich „gleichwertig” (XV, 588). Man darf sich aber nicht mit diesem für das natürliche Bewußtsein naheliegenden Gedanken begnügen; denn wenn man die wechselseitige Implikation von Ich und dem Anderen als eine vollkommen symmetrische Reziprozität betrachtet, würde dies bedeuten, daß man dabei eine fiktive ‚Vogelperspektive’ einnähme, aus der die Gleichmäßigkeit der Wechselverhältnisse ‚objektiv’ festgestellt werden könnte. Daher muß Husserl notwendig noch hinzufügen: „Und doch ist nicht zu vergessen, dass das alles [...] in mir, im konkreten ego der Reduktion als dem urtümlichen ego, impliziert ist” (XV, 589).70 Die absolute „Einzigkeit” des Ur-Ich, die „keine sinnvolle Vervielfältigung zulässt” (XV, 590), wird erst dadurch verständlich. Es handelt sich nicht um den Ausdruck für einen einseitigen Primat des Ich, das ‚über’ der Ich-Vielheit stände, sondern um einen pointierten Ausdruck für die wesentlich asymmetrische ‚Perspektivität’, die sich letztlich jeder Gleichstellung entzieht. In diesem Zusammenhang soll noch erwähnt werden, daß das „konkret[e] ego der Reduktion” im letzten Zitat – das Ur-Ich als phänomenologisierendes Ich – nicht als das ‚überblickende Dritte’ interpretiert werden darf. 71 Dessen Charakterisierung als ‚uninteressierter Zuschauer’ mag in dieser Hinsicht irreführend erscheinen, aber hier geht es gerade um das Gegenteil der ‚Vogelperspektive’: Alles natürlich-weltliche Interesse setzt sofort eine entsprechende ontifizierende Selbstauffassung von mir in Geltung, so daß ich mich mit einem ontisch Apperzipierten (Mensch, Person usw.) identifi70
Vgl. XV, 635; Ms. B I 14/ 159a. Der Objektivismus setzt latent einen Gesichtspunkt des überblickenden Dritten voraus. Der Rückgang auf den philosophierenden ‚Zuschauer’ hängt daher wesentlich zusammen mit der Überwindung des Objektivismus überhaupt; vgl. VI, 346. 71
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ziere und mich auf diese Weise von der ursprünglichen ‚Nähe’ meines urfaktischen Lebens entferne.72 Die natürliche ‚Uninteressiertheit’ des phänomenologisierenden Ich besagt also nichts anderes als den radikalen Rückgang auf die ‚Nähe’ meines urfaktischen Standpunktes selbst, also auf die unscheinbare, lebendige ‚Perspektive’, die im gewöhnlichen (natürlichen und wissenschaftlichen) Interessenleben schon vielfach überschritten wird.
4.5 Die intentionale Modifikation als ‚Selbsttranszendieren’ und das mediale ‚Durchscheinen unter Verdeckung’ Nachdem die Grundsätzlichkeit der ‚Perspektivität’ im Hinblick auf die Selbstverdoppelung und -eingliederung des Ur-Ich geklärt wurde, muß nun die Bedeutung der entsprechenden Asymmetrie in bezug auf die Andersheit des Anderen erörtert werden. Auch wenn festgestellt wird, daß das Verhältnis zwischen den Modifikaten durch eine fundamentale Asymmetrie bestimmt ist, liegt die Frage nahe, ob es überhaupt berechtigt ist, den Anderen als ‚Modifikat’ zu behandeln. Um diese Frage zu beantworten, ist wiederum der Vergleich mit der zeitlichen Modifikation sehr lehrreich. (1) Verbindende, einheitsstiftende Funktion. Die intentionale Modifikation der Gegenwart bringt einerseits die urmodale Gegenwart und die modifizierten Gegenwarten in Verbindung, sowie die modifizierten untereinander.73 Die Vergangenheit verweist in sich auf den Urmodus ‚Gegenwart’ zurück, sofern sie sowohl selbst die vergangene ‚Gegenwart’ ist als auch aus der immerfort mitdaseienden aktuellen Gegenwart ihre Sinneserfüllung schöpft. Die möglicherweise mehrfach verschachtelte Struktur der intentionalen Verweisung und Implikation verschafft den modifizierten Gegenwarten einen untrennbaren Zusammenhang. (2) Transzendenz-Charakter. Andererseits bedeutet die entgegenwärtigende Modifikation zugleich dasjenige Geschehen, in dem eine unübersteigbare ‚Transzendenz’ auf ursprüngliche Weise aufkommt: „[...]das Nicht-Jetzt transzendiert das Jetzt, im besonderen das Bewußtsein vom Nicht-Jetzt. So ist die Kontinuität der intentionalen Abwandlungen eine stetige Kontinuität, in welcher Transzendenz ursprünglich 72
Allerdings vollzieht sich dieses Sich-Entfernen nur gedanklich-abstraktiv, so daß es mit der Selbstvergessenheit des Lebens gleichzusetzen ist. Tatsächlich kann man sich von jener ‚Nähe’ des urfaktischen Lebens nie distanzieren, denn sie stellt das ‚Medium’ alles Lebens dar, in dem auch das gedankliche Sich-Entfernen stattfindet. Zum Medium-Charakter des urfaktischen Lebens vgl. Kapitel VII, 2. 73 Das Modifizierte ist nicht ein völlig „Andersgewordenes”, das vom Urmodalen „nichts mehr impliziert”; die Bewusstseinsmodifikation ist vielmehr „Bewusstsein vom Modifizierten als solchem, also Bewusstsein von einem anderen Bewusstsein, aber als in einem modifizierten Bewusstsein Bewussten” (XXXIV, 190). Die einheitsstiftende Funktion der Retention wird folgendermaßen ausgedrückt: „Durch alles hindurch geht Einheit einer ‚Retention’” (XXXIII, 53).
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bewußt wird, und dieses Transzendente ist immerzu Bewußtsein” (Mat VIII, 130). Die primitivste Modifikation, welche die ‚Lebendigkeit’ der strömenden Gegenwart ausmacht, besteht in einem ständigen Selbsttranszendieren: „In jeder Gegenwart als Phase genommen und so in stehender, fortwährender Gegenwart bin ich so, daß ich mein gegenwärtiges Sein transzendie re” (Mat VIII, 129); „[...] ich bin im Strömen, im Strömen vollzieht sich kontinuierlich ein Selbsttranszendieren, nämlich ein Konstituieren einer Vergangenheit [...]” (Mat VIII, 130).74 Die entgegenwärtigende Zeitigung als die allerprimitivste Modifikation – und in weiterer Folge die darauf beruhende intentionale Modifikation überhaupt – ist durch den Charakter der ‚Selbsttranszendenz’ von Grund auf bestimmt. Dadurch kann besser nachvollzogen werden, warum die Fremderfahrung durch die ‚intentionale Modifikation’ zu charakterisieren ist. ‚Modifikation’ meint nicht ein bloßes Gleichnis, sondern eine präzise Bestimmung durch den spezifisch phänomenologischen Terminus. In bezug auf die Analogie zwischen Wiedererinnerung und Fremderfahrung, die zunächst befremdlich erscheint, betont Husserl die ‚Transzendenz’, die schon meine eigene vertraute Vergangenheit bestimmt: „Wie meine erinnerungsmäßige Vergangenheit meine lebendige Gegenwart transzendiert als ihre Modifikation, so ähnlich das appräsentierte fremde Sein das eigene (in dem jetzigen reinen und untersten Sinn primordinal Eigenheitlichen). Die Modifikation liegt beiderseits im Sinne selbst als Sinnesmoment, sie ist Korrelat der sie konstituierenden Intentionalität” (I, 145).75 Die Vergangenheit ist zwar eine modifizierte ‚Gegenwart’, aber diejenige, die ich nie mehr in ihrer originalen Lebendigkeit erleben kann. In dieser Hinsicht ist ‚mein eigenes’ Ich der vergegenwärtigten Gegenwart in gewisser Weise „doch eigentlich Anderer, nicht der eigentlich Seiende, jetzt wirklich Seiende” (XV, 344). Die vergangene Gegenwart trägt aber den Sinn, daß ich selbst es bin, der ich diese Gegenwart originär gelebt habe – ich selbst, der ich jetzt in der aktuellen lebendigen Gegenwart lebe. Dadurch unterscheidet sich die erinnerungsmäßige Modifikation von der ‚entfremdenden’ bzw. „alterierende[n] Modifikation” (Mat VIII, 124), die sich durch eine noch radikalere Transzendenz charakterisieren läßt, sofern es hierbei um den ‚Anderen’ geht: „Fremdwahrnehmung ist eine intentionale Modifikation von Wahrnehmung, nämlich sie ist eine Vergegenwärtigung, aber ungleich der Wiedererinnerung”, da sie diejenige Modifikation ist, „deren Ich nicht ich selbst bin, sondern der Andere ist” (XV, 560). Die Transzendenz des Anderen bekundet sich aber nicht in einer absoluten ‚Unwissenheit’, sondern gerade im ursprünglichen ‚Wissen’, daß die Fremderfahrung auf ein ‚Ich’ verweist. Der Andere ist ein ‚Ich’, das alles in Geltung hat, was überhaupt zum Sinn des 74 75
Vgl. auch XXXIV, 171. Vgl. auch XV, 16.
Das Ur-Ich und die ,intentionale Modifikation’
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Ich gehört, was ich also als Ich in Geltung habe.76 Die intentionale ‚Dekkung’ und ‚Verdoppelung’ des Sinnes spielt auch hier eine entscheidende Rolle.77 Selbst die ‚Unverständlichkeit’ des Anderen setzt voraus, daß ich es mit einem ‚Ich’ zu tun habe; sonst gäbe es, wie beim leblosen Ding, eigentlich nichts zu ‚verstehen’. „Auch den mir eigentlich ‚unverständlichen’ Anderen verstehe ich eben als Anderen” (Mat VIII, 371). Der Andere zeigt sich als anderes Ich, das sinngemäß fordert, als der ‚letzte Boden’ aller Seinsgeltungen anerkannt zu werden wie ich selbst. In dieser absoluten Zentrierung, die sich mit derjenigen in mir selbst sinnhaft ‚decken’ muß, besteht die ‚Transzendenz’ des Anderen, denn sie ist ‚logisch’ nicht verträglich mit meiner Geltungszentrierung.78 Die fragliche ‚Modifikation’ impliziert einerseits die sinnhafte Deckung, setzt aber andererseits zugleich die fundamentale Unverträglichkeit und Transzendenz in Geltung. Die intentionale Modifikation stiftet also in eins mit der Transzendenz und Differenz eine „innerlich[e] intentional[e] Vermittlung” (XV, 16).79 Es geht hier bei der ‚Transzendenz’ nicht etwa um zwei getrennte Räume, als ob ich in einem eingesperrt wäre und in den anderen nicht hineinschauen könnte. Diese räumliche Dichotomie von Innen und Außen ist hier nicht in Anspruch zu nehmen.80 „Meine Vergangenheit ist an sich und ist nicht Stück meiner Gegenwart; mein Anderer ist an sich und nicht Stück meines ego” 76
Das andere Ich hat den „Seinssinn, worin es doch, wenn auch im Modis Anderer, Ich heißt. Also wie mein Jetztsein mein vergangenes und jedes vergangene seine vergangenen impliziert, aber sich in der Identität zeitlichen Verharrens mit ihnen notwendig einigt, so impliziert nicht nur mein Ich je ein anderes, sondern dieses als Ich hat schon allein den Seinssinn, der zu ‚Ich’ gehört” (Ms. B I 14/ 161b); vgl. auch Ms. C 2/ 17b. 77 Die Struktur der sich deckenden Verdoppelung, die in der ‚Paarung’ zu sehen ist, nennt Husserl auch „Spiegelung” (vgl. XIV, 502); dieser Terminus ist nicht als bloßes Erbe der Leibnizschen Monadologie, sondern im Kontext der Modifikationslehre zu verstehen. Husserl spricht mit diesem Terminus von der Parallele zwischen Entgegenwärtigung und Entfremdung, auf deren Modifikationsstruktur ich schon eingegangen bin: Nachdem Husserl auf die „Spiegelung” der Gegenwart in der erinnernden Vergegenwärtigung sowie auf ihre „Synthesen der Identifikation und Unterscheidung” hingewiesen hat, heißt es: „Im konkreten Primordium, dem Urströmen, das zweite Spiegeln der Alteration, nicht Selbstbespiegelung, nicht Selbstzeitigung, sondern ich bin Spiegel für Andere, Alteration” (Mat VIII, 374). 78 Vgl. auch folgende charakteristische Stelle: „Die Individualität der Seelen besagt in gewissem Sinn unüberbrückbare Trennung, also ein Anders-sein und Aussereinander-sein (im logischen und nicht räumlichen Sinn), das nie zu einer kontinuierlichen Verbindung werden kann [...]. Andererseits hindert diese Trennung nicht, ja sie ist die Bedingung der Ermöglichung dafür, dass Monaden sich ‚decken’ können, dass sie, mit anderem Worte, in Gemeinschaft sein können” (XV, 335; m. H.). Zur eigentümlichen Struktur der „Deckung im Widerstreit”, der Husserl mehrere Untersuchungen widmet (XIV, 143, 147f., 153), vgl. Vf. 2002, 66ff. 79 Dieses Phänomen spiegelt m. E. die ursprüngliche Eigentümlichkeit der ‚Zeitigung’ überhaupt wider, die folgendermaßen zu beschreiben ist: „Die Zeitigung ist Unifikation und Pluralisierung in eins” (XV, 317); vgl. C 3/ 69a, b. 80 Vgl. dazu Vf. 2006.
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(XV, 591), aber dabei handelt es sich nicht um ein „zeiträumliches Außen”, sondern um das „transzendentale Außen” (ebd.). Husserl weist darauf hin, daß „im allgemeinen Wesen der transzendentalen Intentionalität schon liegt, dass das Innen und Aussen sich nicht ausschliessen, sondern fordern” (XV, 554). Diesen Grundcharakter der Intentionalität führt Husserl auf die Leistung der ‚intentionalen Modifikation’ zurück: „Das intentionale Leben in seinem Strömen ist ein ständiges Leisten durch intentionale Modifikation mannigfaltiger Weisen. Jede intentionale Modifikation konstituiert ein Aussen im Innen” (ebd.).81 Die Beschreibung dieser Struktur präzisiert Husserl in bezug auf die Erinnerungsmodifikation in einem Manuskript von 1933: Auf der einen Seite ist das Vergangene seinem Seinssinn gemäß ‚außerhalb des Gegenwärtigen’. „Darinnensein” und „Draußensein” sind in dieser Hinsicht „evident unverträglich” (Ms. B I 14/ 160a). „Auf der anderen Seite hieß es aber, daß doch dieser ganze Seinssinn meiner Vergangenheit in meiner strömenden Gegenwart ‚liegt’, in einem ernstlichen Sinne in ihr ist, so daß paradoxerweise drinnen und draußen sich nicht ausschließen, sondern sich fordern” (ebd.). Dieselbe Struktur findet sich auch bei der ‚alterierenden’ Modifikation, aber auf noch radikalere Weise: Der Andere trägt als Ich alles sinnvoll Geltende, auch den Seinssinn anderer Ich, darunter auch mich selbst, der ich als aktuelles Ich den Anderen in Geltung habe: „So in offener Unendlichkeit, die jetzt nicht eine Kontinuität ist (wie die meiner Vergangenheiten und vergangenen Ich), sondern eine Diskretion, ein Außereinander und Ineinander, alle in mir, alle außer mir, jedes andere, alle für es anderen in sich und doch alle diese anderen außer ihm in einem Außereinander — eine unendliche Implikation” (Ms. B I 14/ 161b).82 „Die Anderen [sind] ‚in mir’ und doch außer mir” (Ms. B I 14/ 159b); in diesem Satz zeigt sich die Eigentümlichkeit der ‚intentionalen Modifikation’, in der die Phänomenalität des Phänomens ursprünglich besteht. Es ist zu beachten, daß die retentionale Modifikation schon eine solche Struktur hat, daß das Erscheinen und das verdeckende Transzendieren in eins sind. Der Urmodus wird zwar durch die Modifikation verdeckt, bekundet sich aber selbst nirgendwo anders als in dieser Verdeckung: „Ich versuche nun, die spezifisch zeitigende, die retendierte Wandlung als so etwas wie Verdeckung un81
Vgl. auch Dok III/3, 486. Vgl. dazu auch VI, 259f., 346. Dies soll nicht dahingehend mißverstanden werden, daß man die oben erläuterte Ineinander-Verschachtelung von einem überlegenen Standpunkt aus überschauen würde. Die radikale Diskontinuität der alterierenden Modifikation kann auf solche Weise nicht verstanden werden. Um diesen Punkt herauszustellen, macht Husserl nach der oben zitierten Stelle sofort darauf aufmerksam: „Aber daran nicht genug, ist dieses Außereinander doch von mir aus gesehen, der ich es als konstitutive Quelle alles für mich Seienden in mir trage, eine Einheit von miteinander seienden Ich, die als diese Einheit (All-Einheit der für mich seienden Mit-Ich) eine Einheit der Zeit konstituieren” (Ms. B I 14/ 162a).
82
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ter ‚Durchscheinen’ zu verstehen” (Mat VIII, 81). 83 Die Retention läßt in ihrer Modifiziertheit als solcher den verdeckten Urmodus ‚durchscheinen’. Im Hinblick auf diese ‚Medialität’ wird das ‚Durchscheinen’ auch als „das mediale Darstellen” bezeichnet (XXXIII, 54), das wie folgt präzisiert wird: „[...] in dieser Überdeckung ‚vertritt’ das überdeckende Medium das Verdeckte und stellt es, so weit die Ähnlichkeit reicht [...], ‚entfernt’ dar” (ebd.).84 Darin ist die Struktur zu sehen, daß sich das mich Transzendierende in seiner Transzendenz selbst ‚zeigt’. Die Struktur des Durchscheinens bzw. „den Charakter der Abwandlung-von, des ‚Mediums-wodurch’” (XXXIII, 54) hat auch die Fremderfahrung, aber in einer extremen Form: Sie läßt einen Urmodus, nämlich das urmodale Ich des Anderen, zwar ‚durchscheinen’, aber als dasjenige, das ich selbst nie originär erlebt habe und überhaupt erleben kann. Der Andere ‚bekundet’ sich trotz allem als ein urmodales Ich, weshalb ich von Anfang an weiß, daß seine Urmodalität in meinem urmodalen Leben selbst nicht erlebt werden kann; anderenfalls ginge es nicht um zwei Urmodalitäten, sondern nur um eine. Hier ist das eigentümliche Phänomen der ‚Selbstvervielfältigung’ des Sinnes ‚Ich’ besonders spürbar. Daß der Andere auch ‚Ich’ ist, verbindet mich als ‚Ich’ mit ihm, aber gerade dieses Ich-Sein von mir und dasjenige des Anderen ‚entfremden’ die beiden auf entscheidende Weise: Das Ich-Sein fungiert als das ‚Medium’, das einerseits den Anderen als ein ‚Ich’ durchscheinen läßt, das ich als Ich nie ‚ignorieren’ kann, gegenüber dem ich nie völlig ‚gleichgültig’ sein kann. (Dies wäre nicht der Fall, wenn das sich Bekundende ein nicht-ichliches Ding wäre.) Das Ich-Sein stiftet die untrennbare Gemeinschaft, da es für mich unmöglich ist, mich der ‚Deckung’ des verdoppelten Sinnes zu entziehen. Auf demselben ‚Medium’ beruht andererseits die unüberwindbare Transzendenz des Anderen. „Sie [=Andere] erleben sich als ‚Ich’, aber ich erlebe mich und nicht sie als Ich” (Ms. B I 14/ 127a). Diese medial-modifizierende Funktion des ‚Ich-Seins’ schließt die völlige Gleichstellung und die entsprechende ‚Vogelperspektive’ sinnhaft aus: „Ich sehe dann, daß jedes Ich, rein als Ich betrachtet, als in seinem Bewußtseinsleben und rein darin lebend seine Individualität hat, jeder ein Ich und doch ein Anderer, derart daß schon völlige Gleichheit notwendig ausgeschlossen ist. Im Gehalt jedes Ich selbst liegt die absolute Einzigkeit, trotz der allgemeinen Form, dem allgemeinen Wesen, durch die Ich eben Ich ist” (Mat VIII, 386). 83
Vgl. auch Ms. C 3/ 79a. Da alles Erscheinen je nach seiner Art eine Zeitigung ist und daher einen Modifikationscharakter in sich enthält, läßt sich das ‚Durchscheinen’ als Grundcharakter des Erscheinens überhaupt betrachten. In dieser Hinsicht spricht Husserl vom ‚Durcherscheinen’, wenn er die intentionale Struktur der Gegenstandserscheinung behandelt, in der sich das Erscheinende durch die Erscheinungen hindurch selbst darstellt (XI, 383f.). 84
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5. DIE ‚MONADISIERUNG’ DES EGO. DIE URSPRÜNGLICHE ‚SELBSTENTFREMDUNG’ UND ‚SELBSTWIEDERHOLUNG’ Vor dem Hintergrund der eingehend erörterten ‚Modifikationslehre’ kann die sogenannte „Monadisierung” bzw. „monadisch[e] Pluralisierung” des Ego (VI, 417) jetzt auf entsprechende Weise ausgelegt werden. Man darf sich nicht von dem vagen Eindruck leiten lassen, daß es sich hierbei um etwas ‚Metaphysisches’ handeln würde. Vom Gesichtspunkt der Modifikationslehre wird sich herausstellen, daß dieser fremdartige Begriff, der sich erst in den spätesten Texten findet,85 auf der streng phänomenologischen Analyse basiert, welche die ‚Sinnesgeltung’ der Ich-Pluralität betrifft. Im folgenden soll zunächst die eigentümliche Struktur der ‚Monadisierung des Monadisierens’ als eine Funktion der ‚rückwirkenden Modifikation’ erörtert werden. Es wird dann gezeigt, daß die Monadisierung eine charakteristische Struktur der ‚Wiederholung’ aufweist. Aus dieser Perspektive kann die Fehlinterpretation der einseitigen Produktion oder Deduktion besonders wirkungsvoll außer Kraft gesetzt werden.
5.1 Die rückwirkende Modifikation und die ‚Monadisierung des Monadisierens’ In einem Text von 1934 (XV, Nr. 36) wird die sinnhafte Konstitution des Ich als ‚ein Ich’ dahingehend beschrieben, daß das „absolut konkrete ego, das volle und ganze, als monadisches ego monadisiert” wird (XV, 640). Das besagt zugleich eine gleichstellende Konstitution der Monadenvielheit: „Jede fremde Monade als entfremdende Modifikation des absoluten bzw. des monadischen ego hat im Seinssinn das konkret absolute ego mit allen ihm irgend zugehörigen Seinsstrukturen, aber eben entfremdet – abgewandelt” (ebd.). Diese auf den ersten Blick fremdartige Rede drückt offensichtlich die elementare Modifikationsstruktur des Ego aus: Der Seinssinn der fremden Monade, die eine ‚entfremdende Modifikation’ des Ego darstellt, verweist in sich auf den urmodalen Seinssinn des ‚konkret absoluten Ego’ zurück; durch die ‚Sinnesübertragung’ sind alle Monaden einander gleichgestellt. In jeder Monade ist ein ‚absolutes Ego’ impliziert, das aber nicht das urmodale Ego in der unmittelbaren Lebendigkeit darstellt, sondern in der modifizierten, ‚entfremdeten’ Form.86
85
Vgl. XV, 589, 636ff.; Dok II/1, 188f., 191ff.; VI, 417. Vgl. dazu auch folgende Manuskriptstelle, in der das absolute Ego als ‚Ur-Monade’ bezeichnet wird: „[...] mein stehend-strömendes Leben als Monade ist Ur-Monade, und in ihr schon Implikat ist meine Monade als Eine im Monadenall, worin jede meinesgleichen ist, als das in mir als Wahrheit seiend Implizierte; jedes ist von sich aus letztlich Ur-Monade, mich,
86
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Daß es hierbei nicht um eine metaphysische Produktion, sondern um eine ‚Sinnesmodifikation’ geht, bestätigt folgende Aussage Husserls über die Struktur der ‚rückwirkenden Modifikation’: „Indem das absolute ego sich selbstentfremdet ist, monadisiert ist, ist selbst das Monadisieren monadisiert. In der Ichmonade ist das absolute ego vermöge der ‚Gleichstellung’ mit anderen Monaden auch schon entfremdet” (XV, 640).87 Durch die entfremdende Modifikation und die gleichstellende Pluralisierung des Ego monadisiert und pluralisiert sich die monadisierende Sinneskonstitution selbst. Die Vorstellung, daß die Vielheit der Subjekte aus einem einzigen Ursprung einseitig produziert würde, ist hier nutzlos; und zwar nicht nur deswegen, weil sich das Ur-Ich als Urmodus selbst in die Modifikationsreihe der pluralen IchMonaden eingliedert, sondern auch, weil die ganze Prozedur der Modifikation und Selbsteingliederung selbst wiederum eine pluralisierende Modifikation erfährt, so daß sich der urmodale ‚Ursprung’ selbst vervielfältigt. Das besagt ein Zweifaches: (a) Die ‚Monadisierung’ des absoluten Ur-Ich, welche die Vielheit der einander gleichstehenden Ichsubjekte erst in Geltung setzt, kann sich in der Reflexion nur in einer modifizierten Form zeigen; denn ich sehe dabei unvermeidlich von demjenigen Standpunkt aus, der die Leistung der Monadisierung bereits voraussetzt. Bei der Reflexion erweckt also die Monadisierung selbst den Anschein, als ob sie ‚in mir’ stattfände, in meinem Ich, das als ‚ein’ Ich schon mit anderen Ich gleichgestellt ist. Das Urgeschehen, in dem ich erst zu ‚einem’ transzendentalen Ich unter vielen werde, finde ich immer schon ‚monadisiert’ in meiner eigenen Monade, sofern ich – allerdings durch Äquivokation – sagen muß, daß das ‚Urmodale’ dieser Modifikation niemand anderer als ‚ich selbst’ bin. (b) Durch die rückwirkende Selbstanwendung des Monadisierens wiederholt sich das Monadisieren selbst, so daß es in jeder einzelnen Monade impliziert ist. Jede Monade hat also in sich den Seinssinn, daß sie mit meiner Monade gleichgestellt ist und insofern – wie meine Monade – ein Resultat der ‚Selbstentfremdung’ ist, die auf ein urmodales ‚absolutes Ego’ zurückverweist. In jeder Monade, die durch die Monadisierung ihre Seinsgeltung erhält, wiederholt sich das Zur-Monade-Werden des absoluten Ego und das In-Geltung-Setzen der Ich-Pluralität selbst. Dazu bemerkt Husserl: „Seine [=des absoluten Ego] Entfremdung als Anderer ist Abwandlung, aber dann eine Abwandlung, in der monadisiert auch die Selbstentfremdung als Ichnämlich die meine, und jede andere implizierend” (Mat VIII, 22); vgl. auch Ms. A V 20/ 9b; XV, 591, 636. 87 Auch in einer Beilage zu Finks VI. Meditation bemerkt Husserl, „dass sich das Monadisieren und Verweltlichen selbst wieder monadisiert und verweltlicht” (Dok II/1, 192). Die strömende Zeitigung hat eine entsprechende rückwirkende Struktur, in der die Zeitigung sich selbst zugleich verzeitlicht (Ms. C 3/ 39a, 44b), so daß das Zeitigende selbst notwendig als Gezeitigtes erscheint (Ms. C 3/ 22a).
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monade liegt. Der Andere ist anderes Ich, ist für sich selbst Ich als die für sich selbst durch Entfremdung gewordene Selbstapperzeption des absoluten ego” (XV, 640). An dieser Stelle soll nicht unerwähnt bleiben, daß die Monadisierung notwendig die ‚Naturalisierung’ mit sich führt, die das erste Konstitutionsfundament für die objektive Welt ist: „Die Monadisierung, die monadische Konstitution ist wesensmäßig so, dass sie impliziert die Naturalisierung jeder Monade, die Verzeitlichung derselben in der Raumzeitlichkeit” (XV, 639). Die Monade ist ein konkretes Ich, das eine mit ihm untrennbare Umwelt hat, die aus seiner einzigartigen Perspektive erfahren wird. Im sonderbaren ‚Nullpunkt’ dieser perspektivischen Umwelt findet das ‚Ich’ der Monade seinen ‚eigenen Leib’, in dem es waltet,88 der aber auch als ein Körper wie andere in der Umwelt vorzufinden ist, so daß es leiblich handelnd in die ‚äußere’ Natur ‚eingreifen’ kann. Das Zur-Monade-Werden heißt folglich zugleich ein Sich-selbst-Naturalisieren, da das zur Monade gewordene Ich durch das Medium ihres einzigen Leib-Körpers sich selbst notwendig in der Natur findet. Durch die Monadisierung „verleiblicht sich” (XV, 289) die transzendentale Subjektivität. Sie findet auch ‚andere Leibkörper’, die in der ‚gemeinsamen Natur’ notwendig gleichgestellt sind und sich einander in ihr ‚objektiv’ erfahren können.89 Der ‚Doppelsinn’ des Ich, den ich bereits erörtert habe, findet sich in dieser leib-körperlichen Naturalisierung bzw. ‚Mundanisierung’ 90 des Ego in konkreter Form wieder: Einerseits besteht eine lebendige leibliche ‚Asymmetrie’, welche die unübersteigbare Perspektivität der Erfahrung bedeutet. Sie ist andererseits untrennbar von der körperlichen Gleichstellung, in der jeder Körper ein Teil der allgemeinsamen Natur ist. Die Konstitution der universal-identischen Natur ist auf diese Weise mit der Gleichstellung der monadischen Ich untrennbar eins, die aber wiederum von der lebendigen Perspektivität der je eigenen leiblichen Erfahrung nicht abzutrennen ist. Das 88
Vgl. dazu folgendes Zitat: „Jeder Leib ist fest ‚verbunden’ mit seinem Ich und dessen leiblichen Walten, schliesslich dem ganzen monadischen Leben der betreffenden Monade” (XV, 637). 89 Auf dieses bedeutsame Problem der ‚Naturalisierung’ und ‚Verweltlichung’ kann ich hier nicht näher eingehen, da dies den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen würde. Hier sei nur folgende komprimierte Beschreibung zitiert: „Die (phänomenologisierende) methodische Aufweisung der Primordialität in meinem Ego, als in welcher sich ein fremdes Ego konstituiert und so eine offene Allheit fremder Egos gezeitigt ist, zeigt, dass jeder Fremde seine primordiale Umwelt hat, und dass durch alle diese Vergegenwärtigungsgegebenheiten hindurch eine Geltungsidentität notwendig hindurchgeht, dieselbe Natur für alle, für meine urmodalprimordiale Umwelt und für alle einfühlungsmässig vergegenwärtigten. Darin für ein jedes Ego sein Leib — die ‚Monaden’, die Subjekte haben ihre Leiber, ihre Lokalisation in der einen universalen Natur für diese Subjekte alle” (Dok II/1, 189); vgl. XV, 368, 373. Zur Selbstlokalisation der lebendigen Gegenwart vgl. auch Mensch 2001, 232f. 90 Vgl. XV, 589, 640; Dok II/1, 192ff.
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alles gehört zur Leistung der Monadisierung. Dadurch wird deutlich, warum die Monadisierung als das „Grundstück” der universalen weltkonstituierenden Leistung bezeichnet werden kann (XV, 636).
5.2 Das Urphänomen der ‚Wiederholung’ in der monadischen Multiplikation ‚in mir’ Im Zusammenhang mit der beschriebenen Eigentümlichkeit der Monadisierung soll noch ein wichtiger Aspekt der intentionalen Modifikation des Ego erörtert werden: Es ist zunächst die Bedeutung der ‚Wiederholung’ zu bedenken, welche die ‚intentionale Modifikation’ überhaupt, und folglich auch die ‚Monadisierung’ wesentlich bestimmt. Aufgrund dessen soll anschließend ihre Erlebtheit in der ‚Nähe’ hervorgehoben werden, um so die metaphysische Interpretation der Monadisierung fernzuhalten. Die ‚Wiederholung’ ist für das natürliche Interessenleben ein Triviales, dem man wenig Aufmerksamkeit schenkt. Dieses ‚selbstverständliche’ Phänomen ist aber als ein Grundphänomen des Bewußtseinslebens zu betrachten, sofern es das ursprüngliche Erscheinen der ‚Identität in der Differenz’ darstellt: Die unendlich verfließenden, stets differierenden Momente können keine Wiederholung darbieten; ein einziges identisches Moment kann es ebensowenig. Daraus folgt, daß die ‚Wiederholung’ sowohl das Auftreten des Gleichen als auch die Differenz mehrerer Glieder, in denen das Gleiche auftritt, wesentlich impliziert. Jede intentionale Modifikation hat diesen Grundcharakter der ‚Wiederholung’, die sich bereits in der Retention findet. ‚Dasselbe’ Jetzt gibt sich retentional modifiziert wieder; es ist dasselbe, aber doch ein anderes. In der Retention ist dasselbe kontinuierlich bewußt, aber in einer ursprünglichen zeitlichen Differenz. 91 Auch was die Vergegenwärtigung anbelangt, sei an Husserls Symbolisierung erinnert: R (Wa) = Va.92 Die Vergegenwärtigung des Gegenstandes a ist nichts anderes als die Reproduktion der Wahrnehmung des a. Dieselbe Wahrnehmung Wa wird in jeder Vergegenwärtigung reproduziert und wiederholt. Die Vergegenwärtigung bewahrt also dieselbe Wahrnehmung und gibt sie zugleich in einer unverkennbaren Differenz zur Originarität.93 Im allgemeinen ist die Modifikation ein Anderes als das Uroriginale, aber doch seine Modifikation. Dasselbe gilt auch für die Monadisierung als ‚entfremdende Modifikation’: Die Konstitution und ‚Gleichstellung’ der Monaden besagt, daß jedes
91
Vgl. X, 210f., 215, 34; XXXIII, 12. Auch in einem späten Manuskript wird die „zeitliche Konstitution” als die „lebendige, ursprüngliche Wiederholung” bezeichnet (Mat VIII, 148). 92 Vgl. X, 128; XXIII, 311. 93 Vgl. I, 155; zur ‚Wiederholung’ in der Vergegenwärtigung auch Ms. C 5/ 6a.
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Ichsubjekt eine Monade ist, die sich aber von jeder anderen streng differenziert. Darin zeigt sich die elementare Struktur der ‚Wiederholung’. In einer Aufzeichnung von 1932 spricht Husserl von der „Wiederholung der urmodalen strömenden Gegenwart meines ego in erinnernder Modifikation — in stetiger Iterierbarkeit” (XV, 236). In der entgegenwärtigenden Modifikation findet sich insofern die Struktur der ‚Wiederholung’, als sich die Vergangenheit als eine – wenn auch modifizierte – Gegenwart gibt, die als solche sowohl der urmodalen Gegenwart ‚gleichgestellt’ ist als auch von dieser unverkennbar differiert. Da ereignet sich eine ‚iterierende Multiplikation’ der Gegenwart. Husserl zieht dann die „Einfühlungsmodifikation und ihre Iteration” in Betracht (XV, 237). Durch diese Modifikation wird die ‚Gegenwart’ wiederum multipliziert. Als ein ‚Ich’ ist der Andere „eine neue ‚Wiederholung’ des in meiner Primordialität Gegebenen” (XV, 238).94 „Das dem Anderen Gegenwärtige” ist aber „für mich Mitgegenwart” (ebd.), eine ‚fremde’ Gegenwart, die sich doch als eine Gegenwart mit meiner lebendigen Gegenwart sinnhaft ‚deckt’.95 Ohne diese ‚Deckung’ und ‚Wiederholung des Gleichen’ wäre der Andere nicht anders gegeben als ein Ding wie eine Puppe oder ein rauschender Baum. Diese ‚Deckung’ ist jedoch kein Resultat einer Vergleichung, sondern sozusagen eine Ur-Verbindung des Eigenen mit dem Fremden, die ihren Vergleich erst ermöglicht.96 Sie ist dennoch keine Kongruenz, sondern eine „Deckung in Differenz” (XV, 642) bzw. eine „Deckung (Gemeinschaft) in der Anderheit” (XV, 450; sic!). Wenn Husserl die entfremdende Modifikation als ‚Wiederholung’ charakterisiert, ist diese eigentümliche ‚Einheit in Differenz’ – und zugleich ‚Differenz in Einheit’ – gemeint. Das „Geltunghaben” des Anderen ist also „eine Wiederholung, eine Vervielfältigung, die doch keine bloße Wiederholung ist” (Ms. B I 14/ 128b). Dies wird auch mit den Termini „Spiegelung” und „Analogon” ausgedrückt: „[...] der Andere ist Spiegelung meiner selbst, und doch nicht eigentlich Spiegelung; Analogon meiner selbst, und doch wieder nicht Analogon im gewöhnlichen Sinne” (I, 125).
94
Die entfremdende Modifikation bedeutet nicht nur die wiederholende Multiplikation der Gegenwart, sondern auch die der zu ihr gehörigen entgegenwärtigenden Wiederholung. Die ganze iterierende Struktur der Selbsterinnerung (Gegenwart–Vergangenheit) wiederholt sich in der modifizierten anderen Primordialität (XV, 237); vgl. auch XV, 641f. 95 Vgl. auch Ms. C 3/ 45a. 96 Zur ‚Deckung’ des Ich mit dem anderen Ich bemerkt Husserl, „dass hier Deckung das Ursprüngliche ist und dass ich nicht anderes Ich und mein aktuelles Ich im Nebeneinander oder in Sonderung haben kann, um erst nachher eine überschiebende Deckung zu vollziehen. Hier gibt es anschaulich nur Deckung” (XIV, 142); „Ein fremdes Subjekt kann aber, wenn es mir überhaupt gegeben ist, nur in einer Deckung gegeben sein, ich brauche nicht erst zu vergleichen” (XIV, 143). Vgl. dazu Vf. 2002, 63ff.
Das Ur-Ich und die ,intentionale Modifikation’
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Durch diese charakteristische ‚Wiederholung’ vervielfältigt sich das Ego als der letzte ‚Geltungsboden’ der Konstitution. Der Andere als ursprüngliches Ego setzt also mich selbst als seine ‚Wiederholung’ in Geltung. Die monadisierende Wiederholung wiederholt sich in jeder Monade, in der ich mich selbst als fundierte Seinsgeltung wieder finde. Ich bin also „Anderer des Anderen” (XV, 645).97 Durch die Monadisierung und ihre Rückwirkung auf sich selbst muß ich nicht nur den Anderen, sondern auch mein eigenes Ich selbst notwendig als eine ‚Wiederholung’ finden: „Der Andere ist meine intentionale ‚Wiederholung’, und darin liegt nicht nur, dass ich ihn als Wiederholung habe (aktuell oder vermöglich), sondern auch, dass er (so muss er mir gelten, das ist in meiner Seinsgeltung, durch die er für mich ist, intentional beschlossen) auch mich als seine intentionale Wiederholung hat” (XV, 489).98 Diese ‚Wiederholung’ hat aber keine vollkommen symmetrische und reziproke Struktur. Sie hat ‚in mir’ einen singulären ‚Nullpunkt’, in dem alle Wiederholungen verankert sind. Dies ist ein entscheidender Aspekt für das Verständnis der ‚Monadisierung’. Obwohl sich diese ‚in mir’ zentrierende Struktur wiederum iteriert (worauf die ‚Monadisierung des Monadisierens’ hinweist), verweist diese Iterierung selbst auf ihren Ansatzpunkt zurück, in dem sie ‚wirklich erlebt’ wird: „Das alter tritt überhaupt iterierbar auf und dabei immer in Relationen – letztlich aber auf ein Absolutes bezogen, auf mich als das ego der originalen Erfahrung, ich, der ich denke und der ich jeden Andern wieder als ‚ich, der ich denke’, aber im Modus Anderer erfahre und der ich mich mit allen Andern darin gleichstelle und eben alle Andern wieder als sich mit allen Andern gleichstellend, so wie ich es tue, auffasse” (XIV, 478). Die ursprüngliche Zentrierung der gesamten Wiederholungsreihe ‚Anderer des Anderen des Anderen...’ meint – wie ich betont habe – die grundsätzliche Perspektivität, die ich nie durch eine Gleichstellung überwinden kann.99 Die ganze Wiederholung muß ein leibhaft erlebtes Phänomen sein, dessen Asymmetrie auf einen ‚Gesichtspunkt’ verweist, der letztlich ein ‚lebendiger, wirklicher’ sein muß. Dieser ‚Gesichtspunkt’ hat zwar den ‚absoluten’ Charakter der Einzigartigkeit, ist aber kein ‚standpunktloser Standpunkt’,100 der alle Monaden aus der ‚Vogelperspektive’ überschauen würde. Der fragliche 97
Vgl. auch XV, 237. Die ineinanderverschachtelte Struktur der Wiederholung ist an folgender Stelle deutlich zu sehen: „[...] ist anderes Ich, so ist es aus mir und in mir konstituierte Geltungseinheit, und doch anderes Ich und als das ein Ich, für das alles aus ihm und durch es ist und auch ich selbst wieder, und so bin ich selbst aus mir und durch mich Ich, das nur ist, was es ist, durch das und in dem anderen Ich, das seinerseits für mich und aus mir dies andere ist” (XV, 370). 98 Vgl. C 3/ 44b. 99 Vgl. Kapitel VI, 4.4. 100 Vgl. Strasser 1975, 12.
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Kapitel VI
‚Gesichtspunkt’ ist auch kein abstrakter, sondern derjenige, von dem aus ich, der ich jetzt lebe und phänomenologisiere, immer schon schaue – der ‚Gesichtspunkt’, den ich nie verlassen kann. Der Rückgang auf den Urmodus der monadisierenden Modifikation ist demzufolge auch keine Spekulation über den unsichtbaren ‚Ursprung’, der jenseits meines Ich selbst und meiner erfahrbaren Anderen läge. Es geht vielmehr um das Urphänomen, das ‚hier und jetzt’ in meiner unmittelbaren, aber deshalb undurchschaubaren ‚Nähe’ stattfindet, obwohl es durch die wiederholende Modifikation immer schon verdeckt wird. In meiner ‚absoluten Nähe’ vollzieht sich die ‚schwindelnde’ Wiederholung der Wiederholungen, die nicht linear-sukzessiv verläuft, sondern in der ‚transzendentalen Simultaneität’ erlebt wird.101 Aufgrund der vorangegangenen Erörterungen ist deutlich geworden, daß die ‚Monadisierung’ als intentionale Modifikation keine linear-einseitige Produktion der Ich-Vielheit darstellt, die in einem hierarchischen Stammbaum zu beschreiben wäre. Vielmehr handelt es sich dabei um eine sich wiederholende ‚Kreisbewegung’, in der die Modifikation des Urmodus nicht nur auf den Urmodus selbst, sondern auch auf das ganze Modifizieren selbst zurückwirkt.102 Man darf nicht aus dem Auge verlieren, daß dies ein Grundphänomen der ‚Sinnesmodifikation’ darstellt, das sich ‚selbstverständlich’ und ‚unscheinbar’ immer schon in der tiefsten Mitte von ‚mir’ selbst ereignet, „in der urtümlichen Lebensstätte des urtümlichen Ich” (XV, 586), die noch nicht als eine monadisch-primordiale Sphäre zu verstehen ist. Im nächsten Kapitel soll diese Ur-Lebensstätte – die ‚meine’, aber noch nicht ‚meine private’ ist – mit Hilfe der ‚Evidenzlehre’ näher charakterisiert werden.
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Vgl. Ms. C 2/ 25a. Die ‚Kreisbewegung’ ist schon ursprünglich in der „urzeugend-urgezeugten” bzw. „zeitigend-gezeitigten” Struktur der strömenden Gegenwart zu finden; vgl. XV, 348; Ms. C 10/ 14a; C 16/ 68a; B I 14/ 135a. Die strömende Gegenwart charakterisiert sich eigentlich durch die rückwirkende Selbstkonstitution: „Ich bin als strömende Gegenwart, aber mein Für-michSein ist selbst in dieser strömenden Gegenwart konstituiert — lebendige Gegenwart ist sich selbst als lebendige Gegenwart konstituierend [...]” (Mat VIII, 56). Der unmittelbare Zusammenhang zwischen dieser Kreisbewegung und der ‚Wiederholung’ macht folgende Stelle klar: „Welchen egologischen Zeitpunkt ich betrachte, ich finde die immer gleiche Form, die zeitigend-gezeitigte Form meines Lebens als sich immerfort wiederholende. Gerade durch diese – kontinuierliche – Wiederholung wird jeweils im Quellpunkt Jetzt zeitliches Dasein kontinuierlich als Einheitliches konstituiert” (Mat VIII, 148). Ich bin also „das strömend zeitigende und gezeitigte Subjektive” (Mat VIII, 361).
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Kapitel VII
Die apodiktische Evidenz des Ur-Ich: Selbst als ‚Nähe’ und ‚Differenz’
„[...] echte Apodiktizität [...], die allein die tiefste Intention der als Philosophie gestellten Aufgabe erfüllt, sofern sie bestreiten und negieren zu wollen ebensoviel hieße, als etwas zu bestreiten, ohne was das philosophierende Ich nicht Ich sein könnte.” (VI, 439)
1. PROBLEMSTELLUNG: DIE ‚PERSPEKTIVISCHE’ ORDNUNG DER EVIDENZ UND DIE REHABILITIERUNG DER *`>" Im V. Kapitel wurde die Bedeutung des ‚Ur-Ich’ auf dem Weg einer radikalisierten Epoché herausgestellt, wobei es in erster Linie ‚negativ’ bestimmt wurde, indem die naheliegenden Mißverständnisse diskutiert und ausgeräumt wurden. Aufgrund dieser Überlegung habe ich im VI. Kapitel versucht, das Verhältnis zwischen (1) dem Ur-Ich, (2) dem Ich im ‚relativen’ Sinne und (3) dem Anderen aus der Perspektive der Lehre von der ‚intentionalen Modifikation’ systematisch darzustellen. Das Ur-Ich wurde dabei im Grunde genommen nicht als solches, sondern in Beziehung zu den Modifikationen betrachtet. Vor dem Hintergrund der bisherigen Untersuchungen soll im folgenden näher erwogen werden, wie das ‚Ur-Ich’ als solches verständlich gemacht und zur Sprache gebracht werden kann. Am Ende des letzten Kapitels ist deutlich geworden, daß die Monadisierung, durch die ich eigentlich erst zu ‚einem Ich unter vielen’ werde, dennoch in meiner lebendigen strömenden Gegenwart stattfinden muß. Diese „Selbstgegenwart” ist, so Husserl, „diejenige, in der alles passiert, was ururtümlich mein eigen ist, all mein Gelten, all meine Seinssinn schaffende Leistung, in der ich für mich selbst bin, der ich bin, und in der alles, was für mich ist, aus mir, aus meinem ‚absoluten’ Sein als strömend Gegenwart-Sein Sinn gewinnt” (Mat VIII, 140).1 Auch ‚mein Sein’ gewinnt also erst in dieser ‚meiner’ lebendigen Gegenwart seine Geltung. Wie ist aber diese ‚Urstätte’ aller Sinnesgeltung präziser aufzufassen? In ihr gewinnt alles Sein – einschließlich meines und des Anderen – den jeweiligen Sinn, aber dem 1
Vgl. auch die Stelle aus Ms. C 3/ 31a (Mat VIII, 40), die ich später zitieren werde (Anm. 22).
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Kapitel VII
bisherigen Ergebnis zufolge läßt sie sich dennoch nicht als ein allgemeinsamer ‚Ursprung’ im Sinne der transzendenten Ursache des Universums charakterisieren, sondern als ‚mein Hier-und-Jetzt’. Diese Frage scheint zunächst dadurch beantwortet werden zu können, daß es hierbei um jene umgekehrte Ordnung geht: In der uns wohlvertrauten, ‚objektiv’ orientierten Sichtweise wird ‚mein Hier-und-Jetzt’ nur als ein kleines Teilmoment in einer Gesamtkonstellation betrachtet. In der Welt als Kosmos ist die Erde „ein geringfügiger Himmelskörper” unter vielen anderen; auf der Erde „ist der Mensch ein ‚unbedeutendes’ Vorkommnis” (XV, 667). Aber: „In der transzendentalen Betrachtung umgekehrt!” (ebd.). Wenn man nun einwendet, daß der Mensch auch einmal nicht war und sich auf der Erde erst allmählich entwickelt hat, daß die Erde selbst einmal nicht war usw., setzt man schon die objektive Zeit voraus, die sich eigentlich erst transzendental konstituieren muß: „Wir stehen in der Transzendentalität. Ich bin. Von mir aus konstituiert die Zeit. Transzendentale Selbstzeitigung des ego in der stehend-urtümlichen Vor-Gegenwart” (ebd.). Selbst meine Zeitweiligkeit ist in meinem apodiktischen Sein verwurzelt (XV, 383). 2 Es wurde bereits aufgezeigt, daß diese ‚umgekehrte’ Ordnung eine solche der Fundierung besagt. Das Fundierungsverhältnis wird eigentlich durch die Evidenz bestimmt. Die uns wohlvertraute Ordnung, nach der das Spätere aus dem Früheren resultiert und das Kleinere (der Teil) im Größeren (dem Ganzen) enthalten ist – also die Ordnung der realen Raumzeitlichkeit –, kehrt sich möglicherweise um, wenn man sich an der Fundierung und Evidenz orientiert: ‚Meine Geburt’ setzt als Seinsgeltung meine aktuelle lebendige Gegenwart voraus; die ganze Welt ist in meinem fungierenden Leib fundiert, der ‚hier und jetzt’ lebt.3 Diese ‚Umkehrung’ ist aber eigentlich nur scheinbar fremdartig; es handelt sich nämlich um eine ebenso ‚selbstverständliche’ Ordnung wie jene uns vertraute. 4 Oder man muß sagen: Die thematische Herausstellung der ‚umgekehrten’ Ordnung erscheint deswegen so befremdlich, weil sie ‚selbstverständlicher’ und tiefer verborgen ist als jene vertraute, so daß sie gewöhnlich überhaupt nicht zum thematischen Bewußtsein gelangt, obwohl (und weil) sie ständig und überall vorausgesetzt ist. Es geht um die perspektivische Ordnung der ‚Nähe und Ferne’ des Bewußtseins, und zwar im weitesten Sinne. Diese ‚perspektivische’ Ordnung erfordert offenkundig einen ‚Nullpunkt’, dem etwas ‚nah’ oder ‚fern’ ist. Er muß dabei ein lebendiger Punkt sein, denn in diesem Nullpunkt lebe ich, der ich etwas in Nähe und Ferne erlebe. 2
Vgl. auch III/2, 632, insbesondere folgende Stelle: „Wäre keine Natur, so wäre auch kein Mensch — ich, dieser Mensch, wäre auch nicht — und doch, ich bin. Dieses unzerstörbare Ich-bin ist das Ich und Ichleben in seiner konkreten Eigenwesentlichkeit”. 3 Vgl. Dok II/1, 190; sowie Kapitel VI, 1.2. 4 Vgl. Ms. B I 5/ 14a.
Die apodiktische Evidenz des Ur-Ich
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Ich-Sein und Nullpunkt-Sein gehören hier wesentlich zusammen. Für den Blick, der auf die objektive Festigkeit fixiert ist, erscheint das ‚Ich, Hier und Jetzt’ als das Unsicherste und Flüchtigste, da es als bloß Subjektiv-Relatives betrachtet wird. In der Ordnung der Evidenz ist dies aber gerade das ‚Sicherste und Unbezweifelbarste’ — allerdings in einem für das natürliche Bewußtsein wiederum befremdlichen Sinn, der in den folgenden Abschnitten verdeutlicht werden soll. Diese Art der grundsätzlichen Evidenz kennzeichnet Husserl insbesondere mit dem Terminus ‚Apodiktizität’, oder genauer: ‚apodiktische Urevidenz’. Husserls unnachgiebiges Bemühen seit der ‚Entdeckung’ der Reduktion scheint darin zu bestehen, unsere Aufmerksamkeit auf die scheinbar merkwürdige, ‚umgekehrte’ Ordnung der Evidenz, die letztlich in der ‚Apodiktizität’ verwurzelt ist, zu lenken: Die Reduktion enthüllt zunächst die Evidenz der cogitationes, die sonst als ‚bloß subjektiv’ verfließende begriffen werden. Die absolute Evidenz versteht er dann in den zwanziger Jahren als ‚Apodiktizität des Ego’. Das Subjektive, das gewöhnlich pejorativ als Doxa bezeichnet wird, beansprucht nun den höchsten Grad an Wahrheit. In der Krisis hebt Husserl diese ‚Umwertung’ hervor: „Das wirklich Erste ist die ‚bloß subjektiv-relative’ Anschauung des vorwissenschaftlichen Weltlebens” (VI, 127). Er spricht von der „sonderbaren Wissenschaft – von der verachteten *`>", die auf einmal die Würde eines Fundamentes für die Wissenschaft, die ¦B4FJZµ0 beanspruchen soll” (VI, 158).5 Wenn Husserl die ‚absolute Einzigkeit’ und ‚zentrale Stellung’ des UrIch unterstreicht, handelt es sich keineswegs um ein metaphysisches ‚Aufblasen’ des Ich — auch wenn es nicht zu bestreiten wäre, daß Husserls Formulierungen so etwas zuweilen nahelegen könnten —, sondern um die Rehabilitierung einer besonders unscheinbaren, allzu verachteten *`>". Im folgenden soll verständlich gemacht werden, in welchem Sinn diese *`>" in den Mittelpunkt der Philosophie rücken muß. In erster Linie ist dabei die Bedeutung der Apodiktizität und die der Selbstverantwortung zu berücksichtigen, welche die Andersheit des Anderen überhaupt nicht ausschließen, sondern sogar von ihr wesentlich unabtrennbar ist.
5
Vgl. auch VI, 465. Husserl hat schon in den Ideen I den Evidenz- und Vernunftcharakter der
*`>" im Auge: „Wahrheit ist offenbar das Korrelat des vollkommenen Vernunftcharakters der Urdoxa, der Glaubensgewißheit” (III/1, 323).
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Kapitel VII
2. ‚ALLES IST FÜR MICH’: DIE APODIKTISCHE UREVIDENZ ALS ‚SELBSTVERSTÄNDLICHE NÄHE’ 2.1 Das Ego als Urquelle der Geltungsvollzüge und als ‚Medium’ des Erscheinens Zunächst soll geklärt werden, in welchem Sinn die Evidenz des Ego immer schon ‚vorausgesetzt’ sein muß, wobei besonders der spezifische Sinn des Voraussetzens zu berücksichtigen ist.6 Wenn Husserl die Evidenz des ‚Ego’ betont, geht es ihm dabei nicht um die innerweltlich-reale Ordnung, sondern um die Ordnung des Wissens. Das ‚Wissen’ beruht überhaupt auf der ‚Erfahrung’: „Alle Erkenntnis, alles Wissen setzt Erfahrung letztlich voraus” (Ms. B I 14/ 147b); dabei ist die ‚Erfahrung’ nicht in einem engeren Sinne der ‚Empirie’ zu verstehen, sondern im Sinne der transzendentalen Erfahrung. Auch das für uns momentan oder überhaupt ‚Unerfahrbare’ setzt unsere Erfahrung voraus, sofern sie uns erst ermöglicht, auf das ‚Unerfahrbare’ begründet schließen und dessen Seins gewiß sein zu können. Alle Seinsmodalitäten, in denen sich das Seiende uns zeigt – dessen ‚Sein schlechthin’, dessen ‚anzunehmendes’, ‚mögliches’, ‚vermutliches’, ‚zweifelhaftes’, ‚nichtiges’ Sein – , setzen voraus, daß wir schon die unmittelbare Erfahrung des Seienden haben, in der wir seines Seins zweifellos gewiß sind – die Erfahrung, in der „wir bei ihm selbst sind, es direkt erfassen und haben” (ebd., 147a). Die ‚Evidenz’ ist nichts anderes als dieses unmittelbare ‚Dabeisein’ des Ich beim Seienden. Diesen Charakter drückt auch folgende Definition der Evidenz klar aus: „Evidenz bezeichnet [...] die intentionale Leistung der Selbstgebung. Genauer gesprochen ist sie die allgemeine ausgezeichnete Gestalt der ‚Intentionalität’, des ‚Bewußtseins von etwas’, in der das in ihr bewußte Gegenständliche in der Weise des Selbsterfaßten, Selbstgesehenen, des bewußtseinsmäßigen Bei-ihm-selbst-seins bewußt ist” (XVII, 166).7 Die Evidenz ist also weder der noetischen noch der noematischen Seite zuzuordnen,8 sondern besitzt – um mit Fink zu sprechen – den Charakter des „ursprünglichen Zugangs zum Seienden”, des „wahrhaftigen Seinszugangs”. 9 Alles ‚Sein’, dessen ich – in welcher Modalität auch immer – bewußt bin, ist entweder in der Evidenz, nämlich als ‚es selbst’, da oder weist als ‚Modifi6
Für die folgende Darstellung ist das Manuskript B I 14 XIII aus dem Jahr 1933 richtungsweisend. 7 Die Evidenz als ‚Dabeisein’ besagt in subjektiver Perspektive: „nicht verworren, leer vormeinend auf etwas hinmeinen, sondern bei ihm selbst sein, es selbst schauen, sehen, einsehen” (I, 93); vgl. auch I, 51f.; VI, 367; Mat III, 64; Ms. C 7/ 39a. 8 Vgl. III/1, 316f.; Wiegerling 1984, 144f. 9 Vgl. Fink 1966, 201; dazu auch Rosen 1977, 153f.
Die apodiktische Evidenz des Ur-Ich
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kation’ auf seine urmodale, evidente Gegebenheitsweise zurück: „Alle Gewißheiten verweisen uns auf Urgewißheiten des eigentümlichen Modus ‚Evidenz’, Bewußtseinsweise der unmittelbaren Selbsthabe oder Erfahrung im weitesten Sinne, alle Gewißheiten modalisierten Inhalts auf unmodalisierte Evidenzen, alle Gewißheiten unmodalisierten Inhalts, die Urgewißheiten auf Urevidenzen — die Erfahrungen in schlichtem Sinne” (Ms. B I 14/ 147b). So beziehen sich alle Modi des Bewußtseins, in denen sich das Seiende zeigt, auf „das System der Evidenz” (IX, 427), auf das intentionale Verweisungssystem von Urmodi und Modifikationen. Jedes Sein gibt sich in einer bestimmten Seinsmodalität, die einen Modus der ‚Evidenz’ darstellt, der entweder der Urmodus ist oder auf ihn zurückverweist.10 Auf diese Weise ist alles Sein und Bewußtsein auf die ‚Urevidenz’ zurückbezogen, die das ursprünglichste ‚Ich erfahre und schaue’ darstellt. Es ist zu beachten, daß ‚ich’ auf diese Weise bei allem und jedem „immer dabei” und sozusagen „allgegenwärtig” bin (XIII, 52f.). Alles, was mir überhaupt bewußt sein kann, wovon ich überhaupt sprechen kann, ist ‚für mich’ da. Auch dasjenige, was ich nicht erfahren kann, setzt mich als dasjenige Ich voraus, das es als ‚unerfahrbar’ gelten läßt, sofern ich von ihm sprechen, es vermuten oder überhaupt bewußt haben kann; sonst wäre es wirklich nichts. Die ‚Unerfahrbarkeit’ ist auch ein ‚Geltungssinn’ für mich. Das ‚NichtSeiende’ hat auch eine – wenngleich negative – Seinsgeltung. Wenn alles Seiende mit dem entsprechenden ‚Seinssinn’ gegeben ist, kann es kein ‚Jenseits’ bzw. ‚Außerhalb’ geben, das sich der transzendentalen Sphäre des ‚Mir-Geltens’ entzöge.11 „[...] selbst jeder Unsinn ist ein Modus des Sinnes und hat seine Unsinnigkeit in der Einsehbarkeit” (I, 117).12 Angesichts dieser Konsequenz fragt Husserl, was das „Unerträgliche” an diesem Gedanken ist, daß „alles, was für mich ist, Sein und Sosein ausschließlich aus meinem Bewußtseinsleben” schöpfen muß (Ms. B I 14/ 154b). Das ‚Unerträgliche’ stammt offenbar aus dem Rest des natürlichen Selbstverständnisses des ‚Ich’. In den Cartesianischen Meditationen kritisiert Husserl Descartes’ Versuch, von der Evidenz des Ego ausgehend die Existenz der ‚Außenwelt’ zu beweisen. Husserl zufolge ist diese Fragestellung als solche widersinnig, da das Ich dabei als ein Reales in der Welt aufgefaßt wird, das die übrige Welt ‚außer sich’ hat. Dadurch ist „die Gültigkeit der Weltapperzeption schon in der Fragestellung vorausgesetzt worden, in den Sinn der Frage eingegangen, während doch ihre Beantwortung erst das Recht der objektiven Geltung überhaupt ergeben sollte” (I, 116); man gerät also in einen widersinnigen Zirkel. Dagegen muß man vielmehr die Frage 10
Zur Verwiesenheit aller Gegebenheiten auf die Originarität als ‚Sachnähe’ vgl. Held 1986, 9ff. 11 Vgl. I, 63ff.; VI, 82, 414f.; XVII,235, 238; Ms. B I 14/ 154b, 155a; Benoist 1994, 14. 12 Vgl. auch LV, 232 = XXXV, 271.
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zuspitzen: „wer ist denn das Ich, das solche transzendentalen Fragen rechtmäßig stellen kann?” (ebd.) Mit der Epoché von der Weltapperzeption kann ich mich selbst nicht mehr als ein Teilbestand des Weltganzen verstehen, sondern rein als das ‚Ich’ des ‚Mir-Geltens’ und des ‚Ich erfahre und schaue’. Daß es kein ‚Außerhalb’ der konkreten Sphäre des ‚Mir-Geltens’ gibt, besagt also nicht, „daß wir aus unserer ‚Haut’ nicht herauskönnen, es ist nicht gesagt, daß unsere Erkenntnis notwendig beschränkt ist, daß wir über die ‚Grenzen’ unserer Erkenntnis nicht hinaus kommen können [...]” (Ms. B I 14/ 155a), da ich dabei schon das ‚Außerhalb’ als einen Geltungssinn setze, das insofern ‚für mich’ ist. Man könnte behaupten, daß ein ‚Jenseits’ etwa durch ein „Gefühl” oder irgendwie „mystisch in unserer Bewußtseinssphäre anklopft, auf das nur die Sprache unseres Bewußtseins nicht paßt usw.” (ebd., 155a). Dagegen bemerkt Husserl: „Gibt ein Gefühl etwas kund, so ist das eine Weise des Für-uns-Seins, und wird von uns behauptet, daß jede Weise des Für-uns-Seins seine Sonderweisen hat, die da Bewährung heißen, so gilt das, meinen wir, auch vom Gefühl, und es wird auch von denjenigen implicite behauptet, die in ihm sich irgendein ‚Nichts’ bekunden lassen” (ebd., 155b). Sofern meine konkrete Bewußtseinssphäre kein ‚Außerhalb’ haben kann, „hat es keinen Sinn, diese Bewußtseinssubjektivität in der Welt zu suchen und nach dem Wo und Wann dieser Subjektivität zu fragen” (ebd., 156a). Das ‚Ich erfahre und schaue’ als die ‚Urquelle’ der Seinsgeltung und Bewährung ist nicht in der „Raumzeit”, aber auch nicht „überräumlich” oder „außerzeitlich”, als ob der Raum über sich wieder einen Über-Raum hätte (ebd., 159b). Ich bin zwar als Geltungsträger immer dabei, wo ein Seiendes ‚ist’, bin aber kein ‚Überseiendes’, das ‚über’ oder ‚neben’ allem Seienden stände. Ich bin weder eine „Bewußtseinsinsel” (I, 116) noch eine Über-Instanz außerhalb alles Seienden, sondern sozusagen das Medium, in dem alle diese ‚Ortungen’ überhaupt stattfinden können; daher ist es im strengen Sinne ‚nirgendwo’. Zugespitzt kann man auch mit Husserl sagen: Ich bin „nicht Seiendes”.13 Alles Seiende konstituiert sich in der Zeitigung, in der es in einer bestimmten Zeitstelle (und in weiterer Folge in einer bestimmten Raumstelle) erscheint, so daß sie alles Seiende im konstituierten Zeitfeld ‚ontifiziert’. Ich bin aber der ‚fungierende Pol’ der zeitlichen Konstitution, dem alles erscheint; insofern finde ich mich selbst als ‚fungierendes Ich’ nirgendwo im Zeitfeld: „Der fungierende Pol ist in seinem ursprünglichen Fungieren nie im Zeitfeld” (Ms. A V 5/ 5a). „Das Ich in seiner ursprünglichsten Ursprünglichkeit ist nicht in der Zeit [...]” (Mat VIII, 197).14 Alles, was ich von mir gegenständlich finde, ist ein Gezeitigt-Ontifiziertes, das mich als Fungierenden schon voraussetzt. Wenn man fragt, wer ich bin, der ich Gel13 14
XXXIII, 277f.; vgl. Kapitel III, 3.2. Vgl. auch Ms. E III 2/ 24b.
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tungsträger alles Seienden bin, so „erkenne ich, daß diese Frage nach dem Wer nicht besagt die Frage nach der menschlichen Person, welche vielmehr ein Motivat im ständigen lebendig fungierenden Motivationszusammenhang dieser Ursubjektivität ist. Dieser Wer bin ich selbst und doch nicht ich im gewöhnlichen Sinne, sofern ich in diesem gewöhnlichen Sinne Ich sagend schon über ein Endgebilde meines letztlich fungierenden Ich spreche, das überhaupt, um sich auszusprechen, schon fungieren muß. Das Fungieren und fungierende Ich ist aber, während es das ursprünglich lebendige ist, verborgen, unthematisch” (Mat VIII, 16).15 Das ‚Ur-Ich’ ist dieses ‚letzt-fungierende Ich’,16 das nicht im Zeitfeld erscheint, sondern vielmehr das ‚Medium’ alles zeitlich Erscheinens ist. Das Ich ist nicht das alles Umfassende, wie ein Gegenstand, der die anderen Gegenstände umgibt; das Verhältnis zwischen dem Ich und den Erscheinenden ist nicht durch räumliche Analogie zu begreifen. Man muß vielmehr sagen, daß das Bewußtseinsleben und letztlich das ‚Ich’ als Medium alles Erscheinende durchzieht: „[...] die Welt und ihrer Grundstruktur nach die Natur ist das Nicht-Ich, das für mich nur gegeben ist als Einheit meiner einstimmigen Erfahrung, also in einem ichlichen Medium, ohne das es für mich nichts wäre. Es ist gegeben in einem Medium, das nicht Natur ist, das rein ichlich ist” (IX, 528; m. H.). „Also in einem Milieu des Subjektiven scheint die Weltkugel zu schwimmen [...]” (IX, 148).17 Durch die Charakterisierung des Ich als ‚Medium’ kann man auch eine Hypostasierung des Ich in einem gewissen Maße fernhalten. Husserl schreibt in einem späten Manuskript: „Das Ich ist nicht etwas für sich und hat Bewußtsein nicht als etwas außer sich, neben sich” (XXXIV, 189). Das Ich kann überhaupt nicht als etwas ‚neben’ etwas anderem vorgestellt werden. Eine solche Vorstellung ontifiziert und objektiviert das Ich, so daß es mit dem Erscheinenden oder mit dem Erscheinungsfeld als Ganzen fiktiv nebeneinandergestellt wird. Ich bin vielmehr als das unsichtbare Medium alles Erscheinens untrennbar von dem ‚Erscheinen des Erscheinenden’ überhaupt. ‚Ich’ kennzeichnet in diesem zugespitzten Verständnis nicht mehr ein ‚Erscheinendes’, sondern eine ‚Wesensart’ des Erscheinens überhaupt.
2.2 Das Ich als Pol und als ‚Lebendigkeit’ des Lebens selbst Wenn das Ich als ‚Medium’ alles ontischen Erscheinens auf nichthypostasierende Weise zu verstehen ist, wird auch nachvollziehbar, warum der ‚Ichpol’ als dasjenige angesprochen werden kann, in dem alles Erscheinende erscheint. Der Ichpol darf nämlich nicht wie ein ‚Punkt’ im Erscheinungsfeld verstanden werden. Ich sehe nirgendwo einen Punkt, der das Ich 15
Vgl. auch Ms. C 10/ 2a, 5a; C 3/ 45a. „Ur-Ich = fungierendes Ich” (Ms. C 10/ 14b). 17 Vgl. dazu auch Lévinas 1982, 39. 16
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Kapitel VII
sein soll, weil ich es gerade bin, aus dem ich alles Erscheinende zu Gesicht bekomme.18 In diesem Sinne kann man zwar sagen, daß das Ich die Bedeutung des ‚Gesichtspunkts’ hat; das besagt aber nicht, daß der ‚Gesichtspunkt’ außerhalb des Erscheinungsfeldes eine Seinsdomäne hätte. Der Ichpol ist so gesehen letztlich eine andere Bezeichnung für die Zentrierung des Bewußtseinslebens selbst. Diese ‚Zentrierung’ muß aufgrund der Charakterisierung des Ich als Medium auf nicht-hypostasierende Weise verstanden werden. Es ist nicht so, daß es innerhalb des Bewußtseinslebens ein substantielles Zentrum gäbe. Husserl setzt das Ich vielmehr mit dem Sich-Zentrieren des Bewußtseins gleich: „[...] das Ich ist ‚Subjekt’ des Bewußtseins. ‚Subjekt’ ist dabei nur ein anderes Wort für die Zentrierung, die alles Leben als Ichleben – und somit lebend etwas zu erleben, etwas bewußt zu haben – hat” (Mat VIII, 35).19 ‚Ich’ meint bei Husserl keine zentrale Substanz, sondern nichts anderes als die ‚hinfällige’ perspektivische Zentrierung des Lebens, die durch die homogenisierende Gleichstellung des Ich mit dem Erscheinenden (als Folge der Ontifikation des Ich) sofort aus dem Blick gerät.20 Das ‚Ich’ wird also überhaupt nicht ‚sichtbar’, wenn alles in objektiver Hinsicht behandelt wird; es wird erst spürbar, wenn alles Sein in Hinsicht auf seine ‚lebendige Erlebtheit’ betrachtet wird. Man kann auch sagen, daß das ‚Ich’ ein anderer Ausdruck dafür ist, daß alles Seiende im Medium einer ‚Lebendigkeit’ erscheint.21 Es gibt kein Seiendes, das nichts mit dieser ‚Lebendigkeit’ des Erscheinens zu tun hätte. Die Verwurzelung alles Seienden im ‚Ich’, die zunächst merkwürdig klingt, meint eigentlich diese allzu selbstverständliche Urtatsache, die man in der natürlichen gegenstandsorientierten Einstellung unvermeidlich übersieht. Aus dieser Perspektive umschreibt Husserl das ‚Ich’ im reinen Sinn als „das strömende Lebendigsein” (Mat VIII, 40), 22 „Quellpunkt des Lebens” oder als „Träger aller Lebendigkeit” (XXXVIII, 390).23 Die Urlebendigkeit, die die Welt zusammen mit allem darin Erscheinenden zur lebendigen Welt 18
Vgl. XV, 289. Vgl. auch folgende Bemerkung: „Mein Ich und alles mir Eigene [...] das Meine hat seine Meinheit in dieser Ichzentrierung [...]” (XV, 351); auch Benoist 1994, 13ff. 20 Zur lebendigen Zentrierung und Nicht-Substantialität des Ich vgl. Ms. C 2/ 4a; C 7/ 9a; B III 8/ 4a. Zur ‚Hinfälligkeit’ der lebendigen Einzigkeit des Ich vgl. Held 1966, 171f. 21 Folgende Aussage Husserls ist in diesem Sinne zu verstehen, nicht im Sinne irgendeiner Ichmetaphysik: „Dieses ganze urströmende Geschehen ist nicht totes Geschehen, sondern ‚ichliche’ Leistung ist der innerste Motor” (Mat VIII, 199). 22 „Wir nehmen die phänomenologische Einstellung ein, wir reduzieren auf das transzendentale Ego, auf das strömende Lebendigsein, das Ich, als der ich bin, das Subjekt aller Geltungen ist, durch die alles und jedes, was für mich ist, auch ich selbst, eben für mich ist, mir gilt” (Mat VIII, 40). 23 Zitiert nach Marbach 1974, 184. Vgl. auch folgende Bemerkung: „[...] das konkrete IchSein (das des wachen Ich) ist die lebendige Zeitigung mit dem Ichpol [...]” (Mat VIII, 49). 19
Die apodiktische Evidenz des Ur-Ich
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(Lebenswelt im prägnanten Sinn) macht, setzt der Welt gewissermaßen objektiv-inhaltlich nichts hinzu; ohne sie ist aber kein ‚Erscheinen’ der Welt denkbar.24 Dieses im natürlichen Leben kaum bemerkbare Lebendigsein, in dessen Medium sich unser Bewußtsein und das Erscheinen der Welt ereignet, ist dasjenige, was Husserl mit dem Terminus ‚Ego’ oder spezifischer mit ‚Ur-Ich’ ausspricht — mögen dies auch nicht gerade unmißverständliche Ausdrücke sein.25
2.3 Die eigentümliche Bedeutung der ‚Apodiktizität’ des Ego Die bisher dargelegte Deutung des Ich-Seins als Lebendigkeit findet in Husserls Evidenzlehre eine weitere Bestätigung. Hierbei soll gezeigt werden, daß die ‚Urevidenz des Ego’ keine punktuelle Evidenz ist, die eine kleine ‚Insel’ des Sichersten wäre, sondern nichts anderes bedeutet als das ursprüngliche Lebendigsein, das als ‚Medium’ zu verstehen ist. Zunächst soll Husserls Evidenzkritik kurz skizziert werden, damit daraus die fundierende Bedeutung der ‚Apodiktizität des Ego’ ersichtlich werden kann. Diese Bedeutung wird dann noch näher erörtert, indem der Unterscheidung von ‚apodiktischer’ und ‚adäquater’ Evidenz präzise nachgegangen wird. 2.3.1 Die Radikalisierung der Evidenzkritik Zunächst muß hervorgehoben werden, daß der ‚Erfahrungs’-Charakter der Evidenz für Husserls Evidenzkritik eine fundamentale Rolle spielt. Die Evidenz wird in den Cartesianischen Meditationen folgendermaßen definiert: „Erfahrung im gemeinen Sinne ist eine besondere Evidenz, Evidenz überhaupt, können wir sagen, ist Erfahrung in einem weitesten, und doch wesensmäßig einheitlichen Sinne” (I, 93).26 In dieser Hinsicht ist die Evidenz nicht nur der Wahrnehmung zuzuschreiben, sondern auch der Wiedererinne24
Vgl. auch: „Diese Urlebendigkeit als ‚beständige’ Konstitution, beständige Zeitigung, ist Zeitigung, durch die alles und jedes, was für mich das aktuell Gegenwärtige ist, ist [...]” (Mat VIII, 49). 25 Dies kann auch umschrieben werden durch ‚leben’. Nach Benoist ist das Ich als „le « vivre »” zu bezeichnen, im Gegensatz zu „la vie” und „le vécu” (Benoist 1994, 72-75, 69). Das Ich als ‚leben’ und das als eine Einheit konstituierte ‚Leben’ sind selbstverständlich voneinander nicht zu trennen. In diesem Sinne machen Ich und Leben (Bewußtseinsstrom) das Medium für das jeweils Andere aus. Husserl hebt hervor, daß das reine Ich „als etwas von diesen Erlebnissen, als etwas von seinem ‚Leben’ Getrenntes nicht gedacht werden kann — ebenso wie umgekehrt diese Erlebnisse nicht denkbar sind, es sei denn als Medium des Ichlebens” (IV, 99); vgl. XIV, 45f.; IX, 323; XXIX, 254; B III 8/ 5a. 26 Vgl. auch I, 52; XVII, 169; sowie besonders folgende Bemerkung: „Evidenz im ersten Sinne ist ‚Erfahrung’, ‚reine Evidenz’, (auf das eigentlich Erfahrene reduzierte) reine Erfahrung” (XXXV, 404).
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rung, sofern sie das ‚Vergangene’ als solches ursprünglich gibt. Dasselbe gilt für die Wesensschau als ursprüngliche ‚Erfahrung’ des Eidetischen. Letztlich entspricht jeder Gegenständlichkeit eine eigentümliche Erfahrungsart, die eine bestimmte Art der ‚Selbstgebung’ bzw. Evidenz darstellt.27 Dabei ist im Auge zu behalten, daß die Evidenz als solche – wie schon erwähnt – weder als Noetisches noch als Noematisches zu charakterisieren ist, sondern der ursprüngliche Zugang zum Seienden selbst ist. Eine Art der Evidenz stellt eine Art der Zugänglichkeit des Seienden dar, die in sich intentional auf andere Arten der Zugänglichkeit verweist. Husserls Evidenzkritik besagt eine Verfolgung dieses umfassenden Verweisungs- und Modifikationssystems der Evidenz, dessen Umfang sich mit dem System der ‚Erfahrung überhaupt’ deckt. Dabei werden verschiedene Evidenzen kritisch abgewogen, damit ihre Fundierungszusammenhänge untereinander deutlich hervortreten können. Husserl drückt in einem zentralen Manuskript über Evidenz (1924-26) diese Suche nach der ursprünglichen Evidenz folgendermaßen aus: „Wir suchen nach Evidenzen – Erfahrungen und Einsichten – die allen anderen in der Weise vorangehen, daß sie überall bereitliegend sind, derart, daß ihre Aufhebung diejenige aller anderen bedeuten würde” (Ms. A I 31/19b). Anhand dieses Kriteriums prüft Husserl die Evidenzen der einzelnen Gegenstände, der Welt und des Ego. Die Wahrnehmung eines Gegenstandes kann zwar sinnvoll als ‚evident’ bezeichnet werden, aber ihr Evidenzcharakter kann nicht für sich bestehen. Ein Ding zeigt sich als ‚seiend’ in der Welt, als ‚wahrnehmungsmäßig-real’. Diese scheinbar zweifellose Evidenz kann aber dennoch ‚modalisiert’ werden. Die Möglichkeit einer Täuschung oder Halluzination ist hier nie prinzipiell auszuschließen. Ein wahrgenommenes Ding kann seine Seinsgeltung im prägnanten Sinn verlieren; die Geltung als ‚seiend’ modalisiert sich in ‚möglich-seiend’, ‚wahrscheinlich-seiend’, ‚nicht-seiend’ usw. Ein Ding erscheint aber nicht für sich allein; es hat seinen Außenhorizont. Seine schlichte Seinsgeltung kann zwar durchstrichen werden, aber das besagt, daß statt dessen ein anderes Ding Seinsgeltung gewinnt. Anstelle eines erwarteten Buches steht ein anderes Buch im Regal. Wenn es durch nichts ersetzt wird, ist dennoch die ‚Welt’ da. Die Welt ist der Boden aller Erscheinungen und der äußerste Limes des Außenhorizonts, der als Ganzes nie zu durchstreichen ist. Wenn man die volle Konkretion der intentionalen Verweisungen miteinbezieht, bedeutet die Geltungsmodalisierung eines Dinges für mich im Grunde genommen ein Anders-Erfahren der Welt. Die Evidenz des jeweiligen Teilgehalts der Welt kann zwar immer schon modalisiert werden; das gilt aber nicht für die Welt als ‚Horizont’ und ‚Boden’ für die Erscheinung aller einzelnen Dinge.28 27 28
Vgl. XXXV, 325ff. Vgl. Ms. A I 31/ 26a = XXXV, 405f.
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Das Sein der Welt ist aber noch nicht die ‚fundamentalste’ Evidenz. Denn bei der Welt hat man es noch nicht mit dem Allerkonkretesten im transzendentalen Sinne zu tun. Jede Evidenz hat nicht nur eine noematische, sondern auch eine noetische Seite. Man kann also nicht unerwähnt lassen, daß die Geltung der Welt die Dimension der fungierenden Subjektivität voraussetzt, in der sie sich nach ihrem Sinn und ihrer Geltung erst konstituiert.29 Die Welt, die als der ‚Boden’ für die Evidenz aller dinglichen Gegenstände gilt, hat selbst nur eine ‚relative’ Apodiktizität.30 Ihre Evidenz ist auch eine Erfahrung, in der die Welt erst als solche erscheinen kann.31 „Apodiktisch ist mein Sein beschlossen als selbsterfahrenes in jedem Welterfahren” (XXXIV, 432). Die Welt hat also das ‚transzendentale Bewußtseinsleben’ als verborgene Voraussetzungsdimension; sie zeigt sich notwendig auf dem Boden des konkreten Bewußtseinslebens.32 Wie verhält es sich aber mit den idealen Gegenständlichkeiten, die nicht in der realen raumzeitlichen Welt erscheinen? Sofern sie Gegenständlichkeiten sind, verweisen sie auch auf eine Erfahrung, in der sie sich zeigen. Sie bestehen zwar unabhängig von der einzelnen empirischen Erfahrung, aber gerade diese ‚Unabhängigkeit von der momentanen Erfahrung’ ist ihre spezifische ‚Erfahrungsart’ im transzendentalen Sinne: Das Eidetische wird also als diejenige Gegenständlichkeit erfahren, die unabhängig von der realen Raumzeitlichkeit a priori Identisches ist. Es zeigt sich zwar in der Erfahrung, aber ihm fehlt – anders als beim Realen – jegliche Verweisung auf weitere Erscheinungen, die unendlich perspektivisch verlaufen werden.33 Das ist der spezifische Evidenzcharakter des Eidetischen, dem durchaus eine Art ‚Erfahrung’ entspricht. Auch die idealen Gegenständlichkeiten sind im transzendentalen Bewußtseinsleben und in dessen Erfahrungssystem verwurzelt.34 Aus dem Gesagten geht hervor, daß das transzendentale Bewußtseinsleben als der universalste Boden der Seinsgeltungen zu betrachten ist, dessen Evidenz im eigentlichen Sinne die Bezeichnung Apodiktizität verdient. Ohne seine Evidenz würden alle darauf basierenden Evidenzen (die der Welt und aller Gegenständlichkeiten) aufgehoben. „Mein Leben ist das an sich Erste, ist der Urgrund, auf den alle Begründungen zurückbezogen sein müssen [...]” (VIII, 396).35 Das konkrete Bewußtseinsleben enthält aber verschiedene
29
Vgl. dazu Kapitel I, 5.1. Vgl. VIII, 397, 400, 406. 31 Vgl. VIII, 404. 32 Vgl. Ms. A I 31/ 26a = XXXV, 406. 33 Vgl. dazu Kapitel II, 3.2. 34 Vgl. Kapitel II, 3.2, 3.3; Kapitel III, 1. 35 Vgl. auch folgende charakteristische Stelle: „Auf die absolute Subjektivität zurückzugehen, die ‚transzendentale’, ist das Ursein feststellen, das absolut zu rechtfertigen ist und allem zu rechtfertigenden Sein notwendig voranliegt. Es zeigt sich eben, daß alles andere Sein in diesem 30
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Gehalte. Seine Apodiktizität kann nicht die Evidenz jedes seiner Gehalte bedeuten, da sie ständig verfließende reelle Erlebnismomente darstellen. Hier ergibt sich die weitere kritische Frage, was am transzendentalen Bewußtseinsleben im prägnanten Sinne apodiktisch ist. Durch die von dieser Frage motivierte ‚apodiktische Evidenzkritik’ 36 stellt sich heraus, daß die letzte apodiktische Urevidenz nicht den ganzen konkreten Bewußtseinsstrom, sondern allein dessen „ich bin, ich lebe” (XIV, 442) betrifft. Das besagt nicht, daß nur ein kleines Stück des Bewußtseinslebens, das ‚Ich’ hieße, apodiktisch wäre. Das ‚Ich’ ist eigentlich kein reeller Punkt im Bewußtsein, sondern ein anderer Ausdruck für die ‚Lebendigkeit’ des ganzen Bewußtseinslebens als solchen.37 Das ‚ich bin, ich lebe’ macht also die letzte absolute Urevidenz aus. Wie ist nun aber diese „Urevidenz des Ich-bin” (XIV, 154) präziser zu verstehen, ohne die alle anderen, bisher beschriebenen Evidenzen aufgehoben würden? 2.3.2 Die Differenz zwischen der ‚adäquaten’ und der ‚apodiktischen’ Evidenz Damit die Eigentümlichkeit der Evidenz des ‚ich bin, ich lebe’ genauer bestimmt werden kann, muß der Unterschied von adäquater und apodiktischer Evidenz eingehend in Erwägung gezogen werden. Beide Termini benutzt Husserl seit der frühen Zeit, hält aber zu Beginn den Unterschied der beiden Evidenzarten nicht für wesentlich.38 Er sieht zwar, daß sie unterschiedliche Bedeutungen haben: Die adäquate Evidenz bedeutet eine vollständige Erfüllung der Leerintentionen, die apodiktische dagegen eine Unbezweifelbarkeit und Unmöglichkeit des Anders- oder Nicht-Seins des Eingesehenen. Bis zum Anfang der zwanziger Jahre meint Husserl aber, daß die adäquate Evidenz notwendigerweise auch apodiktischen Charakter hat und vice versa.39
Ursein – dem der transzendentalen Subjektivität – vermeintes und, wenn es wirklich ist, als rechtmäßig auszuweisendes ist” (VIII, 377). 36 Vgl. dazu Melle 1996, 624ff. 37 Vgl. Kapitel VII, 2.2. 38 Zur Unterscheidung der beiden Begriffe in den Logischen Untersuchungen vgl. Heffernan 1983, 65 Anm. 39 In den Ideen I werden die beiden Termini zwar verwendet, aber ihre Unterscheidung weicht von derjenigen in den späteren Schriften ab (III/1, 317ff.; Tugendhat 1967, 207 Anm. 20). In den Londoner Vorträgen von 1922 heißt es, Adäquatheit und Apodiktizität seien „gleichwertig” (LV, 207 = XXXV, 318; vgl. auch XXXV, 63, 286, 383f.). Dasselbe sagt Husserl auch in der Ersten Philosophie (1923/24), obwohl er zugleich auf ihren Bedeutungsunterschied aufmerksam macht (VIII, 35). Die Vorlesungen und Vorträge vom Anfang der zwanziger Jahre enthalten aber schon Überlegungen, die implizit zu einer entscheidenden Differenzierung beider Evidenzen führen.
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Man kann aber anhand der Texte aus dem Ms. A I 31,40 die etwa aus den Jahren 1924-26 stammen, die Entwicklung der Differenzierung beider Evidenzbegriffe genau verfolgen: Auch hier werden sie zu Beginn als äquivalent behandelt, aber im Laufe der Untersuchungen allmählich deutlicher unterschieden. Entscheidend ist, daß die Apodiktizität des ‚Seins’ von derjenigen des ‚Soseins’ streng abgegrenzt wird, so daß erstere ohne letztere auftreten kann (Ms. A I 31/ 27aff. = XXXV, 410f.). Aufgrund dieser Einsicht wird die Apodiktizität als eigenständiger Evidenzbegriff etabliert (ebd., 31aff.). Es ist zu unterstreichen, daß die Betrachtung des ‚Ego’ dabei von Anfang an eine maßgebliche Rolle spielt. Es ist offensichtlich die eigentümliche Evidenz des ‚Ego’, deren Erörterung Husserl dazu führt, die Apodiktizität als einen spezifischen Evidenzbegriff zu etablieren.41 Um diese Entwicklung nachvollziehbar zu machen, soll zunächst die Unterscheidung zwischen Seins- und Soseinsevidenz näher erörtert werden. Im traditionellen Begriff der Apodiktizität kommt zum Ausdruck, daß etwas aus einem allgemeinen Wesensgesetz notwendig folgen muß.42 Der darin enthaltene Sinn ‚es muß sein’ bzw. ‚es kann nicht anders sein’ wird im Sinne der Notwendigkeit der Wesensallgemeinheit verstanden. Diese deckt sich aber nicht mit dem gesamten Umfang der Notwendigkeit von ‚Nicht-anders-seinKönnen’. Auch das faktische ‚ego cogito’ kann ‚nicht anders sein’, wenn es nicht in Hinsicht auf seinen Erfahrungsinhalt, sondern in seiner Erlebtheit als solcher betrachtet wird. Die Tatsache, daß ich jetzt dieses weiße Papier sehe, kann ich nicht durchstreichen. Es könnte sich zwar später herausstellen, daß das Papier in der Tat cremefarbig ist und nur wegen der Beleuchtung weiß aussah. Diese Korrektur in bezug auf den Erfahrungsinhalt ändert aber nicht im geringsten die Tatsache meines Erlebnisses, daß ich es nämlich so und so erlebt habe; sie kann diese Tatsache nicht rückgängig machen und ‚wegwischen’. Diese Undurchstreichbarkeit kann hier als Probierstein für die Apodiktizität im neuen Sinn dienen (Ms. A I 31/ 12a = XXXV, 402). Schon in den Londoner Vorträgen bezieht Husserl Apodiktizität im phänomenologischen Sinne auf „das Faktum der Erfahrung” (LV, 208 = XXXV, 69). Diese Apodiktizität erstreckt sich über den ganzen Bereich der Erfahrung: Es ist apodiktisch unbezweifelbar, daß ich mich jetzt an das und das erinnere, das und das erwarte, vermute, phantasiere, urteile, begehre, fühle usw. (LV, 209 = XXXV, 70). Die Apodiktizität in diesem Sinne betrifft aber nicht den Sinn- bzw. Bestimmungsgehalt des Erfahrenen: „Nicht auf Recht und Unrecht meines cogito darf diese Evidenz im mindesten erstreckt werden” (ebd.). Gerade diese ‚Beschränkung’ gewährleistet paradoxerweise den 40
Ein Teil des Ms. A I 31 ist in XXXV (401-406, 410-411) veröffentlicht. Daß die Apodiktizität eventuell inadäquat sein kann, wird im Hinblick auf die Evidenz des ‚Ich bin’ deutlich gemacht (Ms. A I 31/ 11a = XXXV, 401). 42 Vgl. III/1, 19; III/2, 619; Ms. A I 31/ 27b = XXXV, 411. 41
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umfassenden Charakter jener Evidenz. Auch wenn ich urteile 2 × 7 = 15, ist das faktische Erlebnis des Urteilens ‚apodiktisch’ gegeben. Die Evidenz oder Nicht-Evidenz des Erfahrungsgehalts ist insofern irrelevant, als es hier um die Apodiktizität der faktischen ‚egologischen Wahrnehmung’ geht: „Was diese apodiktisch feststellt, ist bloß die Tatsache, daß ich so und so erfahre, mich erinnere, denke, fühle, will” etc. (ebd.). Mögen die vollzogenen Stellungnahmen auch unrichtig sein, „als Tatsachen sind sie absolut” (LV, 211 = XXXV, 321). So ergibt sich die „Unterscheidung zwischen der Apodiktizität des Faktums (und das ist eine einzige, die des Ego für sich selbst) und der Apodiktizität im gewöhnlichen und besonderen Sinn, der aller Wesensgesetze” (XXXV, 287). Die Apodiktizität im phänomenologischen Sinn gehört nur zum ‚Ego’ und seinem ‚cogito’ überhaupt. Das Ego ist aber keine sichere ‚Insel’ im Erfahrungsfeld, sondern das Medium des Erscheinens, das immer schon vorausgesetzt ist, aber in der gegenständlich orientierten Einstellung nicht sichtbar wird. ‚Voraussetzung’ darf dabei nicht im Sinne einer logischen ‚Prämisse’ verstanden werden. Das Ego ist kein Ansatzpunkt einer Deduktionskette, sondern als das universalste ‚Medium’ immer schon ‚da’, in dem alle sonstigen Evidenzen auftreten. Als ‚Medium’ ist es mit allen Evidenzen und Evidenzerlebnissen untrennbar ‚eins’: „Das Weltliche und die Welt überhaupt, die für mich beständig ist, ist nicht hypothetisch bedingt durch mein Sein als Ego, aber was immer ich erfahre, es ist in eins mit ihm erfahren, in der Weise des in ihm Erfahrenen gegeben [...]. So bin ich als Ego mit allem und jedem, was für mich soll sein können, eins, wie immer dies Miteinandersein aufzuklären ist in seinen ausgezeichneten Eigenheiten.” (Ms. A I 31/ 10b). Obwohl die Apodiktizität des faktischen ‚Ich bin, ich erfahre’ in diesem Sinne von dem darin Erfahrenen untrennbar ist, kann ihr Sinngehalt in eidetischer Hinsicht durchaus des Charakters des ‚Nicht-anders-sein-Könnens’ entbehren. Wenn ich urteile 2 > 3, ist das Geurteilte selbst nicht evident, aber ich kann die erlebte Tatsache, daß ich so urteile, nicht durchstreichen, sie ist also im phänomenologischen Sinne ‚apodiktisch gewiß’. Diese konkrete Erfahrungstatsache enthält aber auf gewisse Weise ihren Erfahrungsgehalt: Aus der Perspektive der unmittelbaren Erlebtheit hat auch dieser Gehalt einen besonderen Charakter des ‚Nicht-anders-sein-Könnens’; denn es wäre eine andere Erfahrungstatsache, wenn ich statt 2 > 3 doch richtig 2 < 3 urteilen würde. Auch die mögliche Korrektur setzt die primäre ‚apodiktische’ Erlebtheit voraus, in der allein das zu Korrigierende ‚ansprechbar’ ist. Das Erfahrene ist in seinem So-und-so-erfahren-Sein apodiktisch; die Evidenz oder Nicht-Evidenz seines Erfahrungsgehalts muß dagegen unabhängig von dieser primären Apodiktizität entschieden werden. Das ‚Sosein’ des erfahrenen Gehalts kann also nicht ohne weiteres seine eidetisch-allgemeine Gül-
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tigkeit behaupten: „Wir haben das Ego cogito als einen Bereich absoluter Erkenntnisse, die aber hinsichtlich des So-Seins keineswegs vollkommen sind [...]” (Ms. A I 31/ 29a).43 Die Apodiktizität des ‚Ich bin’ und ‚Ich erfahre’ ist also die fundamentale Evidenz, die jeden Zweifel ausschließt. Auch wenn man sie bezweifeln wollte, gibt es noch keinen sinnhaft differenzierten Inhalt, der anders sein könnte. Das Zweifeln selbst setzt schon die Apodiktizität des zweifelnden ‚ego cogito’ und das apodiktische Erlebtsein des zu Bezweifelnden voraus. Die apodiktische Evidenz ist inhaltlich gesehen völlig ‚anspruchslos’, aber – und deswegen – das Umfassendste und Fundamentalste, das überhaupt denkbar ist.44 Die inhaltliche Vollständigkeit bezieht sich vielmehr auf die Adäquatheit der Evidenz. ‚Adäquat’ besagt, daß das Vermeinte in aller Hinsicht vollkommen erkannt ist; es bleibt nichts übrig, was seinen Meinungshorizont ausmacht und noch nicht erfüllt ist.45 Dies unterscheidet deutlich die Adäquatheit von der Apodiktizität: „Adäquate und apodiktische Selbstgebung und Prädikation auf dem Grunde der Selbstgebung: Apod<eixis> geht auf Sein, Notwendigkeit des Seins, Unmöglichkeit des Nicht-Seins, Adäquation auf den Gehalt, das So-Sein” (Ms. A I 31/ 31a).46 Die adäquate Evidenz verlangt nicht nur die Unbezweifelbarkeit des Seins, sondern auch das inhaltliche Nicht-anders-sein-Können des Soseins: „[...] adäquate Erkenntnis ist apodiktisch, aber nicht jede apodiktische ist adäquat” (Ms. A I 31/ 37a).
2.4 Die ‚Nähe’ der apodiktischen Evidenz des Ego: Perspektivische Erkenntniskritik Die Urevidenz des ‚Ich bin, ich erfahre’ wurde als ‚Apodiktizität’ im prägnanten Sinne herausgearbeitet im Gegensatz zur ‚Adäquatheit’. Im folgenden soll der Zusammenhang zwischen den beiden (und auch anderen) Evidenzarten erörtert werden. Auf diese Weise wird die Bedeutung der apodiktischen Evidenz innerhalb der ganzen Evidenzkonstellation deutlicher hervortreten. Es sei zunächst daran erinnert, daß die Apodiktizität des Ego keine punktuelle Evidenz ist, als ob nur das Ego evident wäre und alles andere ungewiß oder Schein. ‚Evidenz’ bei Husserl deckt sich dem Umfang nach mit 43
Vgl. auch Ms. A I 31/ 27b = XXXV, 411. Zur Unhintergehbarkeit der Apodiktizität vgl. besonders folgende Stelle: „Absolute Evidenz im Sinne apodiktischer Zweifellosigkeit rechtfertigt sich durch die Sache selbst, nämlich durch Übergang in ebensolche Evidenzen. Alle diese Evidenzen sind ‚zweifellos’, fraglos gültig, die weitere Frage nach dem Grund der Geltung ist widersinnig, und auch das sehe ich eben in derselben Weise” (Ms. A I 31/ 29a). 45 Vgl. Ms. A I 31/ 36b, 37a, b. 46 Vgl. XIV, 433. 44
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,Erfanrung’ überhaupt. Auch der nicht apodiktische Erfahrungsgehalt gibt sich in seiner spezifischen Evidenz, sofern er erfahrungsmäßig gegeben ist. Es gibt also verschiedene Arten der Evidenz: Die Dingwahrnehmung ist eine ‚perspektivische’ Erfahrung, die wesensmäßig einen präsumtiven Charakter hat: Ihr Gegenstandsbezug ist notwendig durch die perspektivischen Darstellungen vermittelt; dabei „komme ich nie zu einem ‚nackten’ unverhüllten Selbst” (Ms. A I 31/ 12b = XXXV, 403). Dies führt uns aber keineswegs zu einem verzweifelten Relativismus oder Skeptizismus. Das perspektivische Sich-Zeigen stellt vielmehr die spezifische Evidenzart des realen dinglichen Gegenstandes dar. In der perspektivischen Erfahrung liegt ein „Vorgriff auf ein Optimum” (ebd. 13a = 404), der das Streben nach Adäquation bedeutet. Das wahre ‚Selbst’ des dinglichen Gegenstandes ist der ideale „Limes” dieses Erfahrungsprozesses (ebd.),47 an dem „jede Spannung zwischen Erscheinung und Erscheinendem verschwindet” (Ms. A I 31/ 24b). Es ist als diejenige ‚Idee’ gegeben, auf welche jede dazugehörige ‚einseitig-relative’ Erscheinung über sich hinausweist; 48 die Erscheinungen deuten in ihrer Nicht-Endgültigkeit selbst – nämlich in ihren Leermeinungen – auf die Wege hin, auf denen sich die Erfahrung mit steigernder Evidenz dem Ideal der Adäquation ‚annähern’ kann. Auch die ‚Welt an sich’ ist eine Idee, die sich nie vollständig gibt: „Die Welt an sich, die endgültig wirkliche, ist nie gegeben” (XV, 614). Das besagt aber nicht, daß die Welt, die wir erfahren, eine Illusion wäre. Die erfahrene Welt ist in jeder Phase ‚wirklich’, aber zu ihrem Wesen gehört, daß sie notwendigerweise über sich hinaus auf weitere Erscheinungen verweist; die ‚Welt an sich’ als Idee ist also Korrelat des unendlichen Prozesses der Welterfahrung.49 Die Erfahrung der Welt findet nie ihren Abschluß, sondern ist immerfort ‚auf dem Weg’.50 Die Adäquation ist dabei das ‚Telos’ der Erfahrung, das nie zur vollkommenen Erfüllung zu bringen ist. Das schadet aber dem Evidenzcharakter der Welterfahrung nicht im geringsten; ganz im Gegenteil: Gerade in der Annäherung an dieses Telos hat die Welterfahrung ihre präsumtive Evidenz, die in jeder Phase ihre relative Erfüllung hat: „Die Welt ‚beweist’ sich in der Form einer apodiktischen Präsumtion, die sich ständig bewährt, aber in ständiger Relativität” (XXIX, 330). Darin zeigt sich
47
Vgl. auch Ms. A I 31/ 31a, 33a, 36b, 38a; XI, 431. Vgl. XIV, 245f., 286f.; IX, 180, 186, 431. 49 Zur Gegebenheitsweise des ‚Limes’ überhaupt vgl. folgendes Zitat: „So ist der Limes ein selbst Nicht-Gegebenes, aber adäquat gegeben jedes Glied, jede Phase der Approximation und apodiktisch, daß sie ein Ziel hat” (Ms. A I 31/ 31a). 50 Zum wesentlich perspektivischen Charakter der natürlichen Erkenntnis vgl. Ms. A I 31/ 26b = XXXV, 406, und folgende Stelle: „Menschliches Dasein, menschliches Leben spielt sich als ihm selbst horizonthaft in der beständigen und beständig beweglichen Spannung der Bekanntheit und Unbekanntheit, der Nähe und Ferne ab [...]” (XV, 395). 48
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deutlich der Charakter der Evidenz als Weg, der mit ihrem Ziel-Charakter wesentlich untrennbar ist.51 Es ist nun zu beachten, daß die fundamentale Apodiktizität des Ego diesen unendlichen Prozeß der Welterfahrung derart fundiert, daß diese ständig in jenem ‚Medium’ statthat, sofern es sich dabei überhaupt um eine Erfahrung handelt.52 Die perspektivische Annäherung an die Adäquation ist ohne das konkrete ‚Ich bin, ich lebe’ als mediale Urstätte der Erfahrung undenkbar: „So bin ich präsumtiv gewiss, dass die Welt ist — gewiss, solange ich so lebe, wie ich lebe. Die erste Gewissheit: ich bin, ich lebe, absolut undurchstreichbar” (XIV, 442). Erst auf dem universalsten Boden dieser Apodiktizität kann sich das Evidenzstreben der Welterfahrung überhaupt in Gang setzen, das sich auf präsumtivem Wege dem Ideal der Adäquation annähert. Dies ist als die allgemeinste Konstellation von Evidenzerfahrung zu betrachten, die eine triadische Struktur von Apodiktizität, Präsumtivität und Adäquation ausmacht.53 Aufgrund dieser Erörterungen kann nun besonders hervorgehoben werden, daß nicht nur die Welterfahrung, sondern auch die Bewegung des Evidenzstrebens überhaupt ‚perspektivischen’ Charakter hat: Sie schreitet vom „absolut Nahen und selbst Absoluten” zum „Ferneren und Fernsten” fort (Ms. A I 31/ 26b = XXXV, 406). In dieser Hinsicht spricht Husserl von einer „perspektivischen Kritik der transzendentalen Erfahrung” bzw. einer „perspektivischen Erkenntnistheorie” (ebd.). Mit jenem ‚absolut Nahen’ ist die Apodiktizität des Ego gemeint, die als ‚Lebendigsein’ der lebendigen Gegenwart zu verstehen ist. Ihr fundierender Charakter für das Evidenzstreben wird auf folgende Weise ausgedrückt: „Das Ich in einer Reduktion auf die Gegenwart und jedes abzuhebende Gegenwartserlebnis, reduziert auf das rein Gegenwärtige, und zwar auf das strömend Gegenwärtige und eventuell seine darin konstituierte Einheit – von diesem apodiktisch absolut Nahen und auf seinem Grund, unter seiner Voraussetzung +führt, der Weg zu den 51
Erinnert sei auch an den Zugangscharakter der Evidenz; vgl. Kapitel VII, 2.1. Brand bemerkt treffend: „Evidenz ist Prinzip, Methode und Ziel in eins” (Brand 1955, 5). Husserl selbst charakterisiert die „Wahrheit” als „Ziel” und „Weg” (Ms. A I 31/ 19a, b); vgl. auch Lohmar 2000, 196. 52 Den Medium-Charakter des Ego präzisiert Husserl auch dadurch, daß „Objektivität als ein in der Subjektivität Erzielbares nirgendwo sonst seine Stätte haben kann als eben in ihrem Bewußtseinsbereich selbst [...]” (VII, 84). 53 Vgl. dazu Nitta 1997, 286f. Der Präsumtivität der Erfahrung ist die ‚Relativität’ der Evidenz deutlich zu entnehmen. Dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß diese ‚Relativität’ erstens nur auf dem Grund der ‚absoluten’ Apodiktizität möglich ist und zweitens ein System der intentionalen Verweisungen und Modifikationen darstellt, innerhalb dessen jede ‚relative’ Evidenz einen sicheren ‚Stellenwert’ haben kann. Der sogenannten ‚Relativitätstheorie’ der Evidenz ist insofern kein skeptischer Relativismus zu unterstellen. Zu diesem Thema vgl. VIII, 34; XVII, 284ff.; Heffernan 1983, 166ff.; ders. 1998, 55ff.; Lohmar 2000, 195ff. Zur ‚Gradualität’ der Evidenz vgl. Ms. A I 31/ 35bff., 38a; sowie Kapitel II, 3.3.
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weiteren Apodiktizitäten für mich, dieses absolute und reduzierte Ich” (Ms. A I 31/ 26a = XXXV, 406). Die perspektivische Evidenzbetrachtung nach ‚Nähe und Ferne’ steht schon in den Ideen I im Vordergrund, wenn Husserl von den „Klarheitsstufen” spricht.54 Dieser Blickwinkel ist auch in der Darstellung der „Methode der Klärung” in den Ideen III ausgeprägt.55 Demzufolge gibt es „für alle Gegenstände eine Anschauungsnähe und eine Anschauungsferne, ein Emportauchen in das helle Licht, das einen inneren Reichtum an bestimmten Momenten herauszuanalysieren gestattet, ein Zurücksinken ins Dunkel, in dem alles verschwimmt” (V, 104). Dabei ist aber die fundamentale Bedeutung der Apodiktizität des Ego noch nicht klar sichtbar. Unter der ‚absoluten Nähe’ wird vielmehr die ‚Adäquation’ als die zu erreichende ‚Idee’ verstanden. Dasselbe gilt auch für eine Beilage der Analysen zur passiven Synthesis, welche die „Nähe und Ferne innerhalb der Klarheit” (XI, 383) behandelt. Dort wird die ‚absolute Nähe’ folgendermaßen erläutert: „Die optimale Erscheinung, die der absoluten Nähe, ist das absolute Maximum, in dem das Durchscheinen aufhört und die Erscheinung nicht mehr durch sich hindurch auf Neues verweist, sondern selbst der terminus ad quem ist” (XI, 383). Das widerspricht aber nicht der Auffassung von der ‚absoluten Nähe’ als Apodiktizität. Die Frage ist hier, wozu eine Anschauung ‚nah’ ist. Husserls Rede von der „Ichnähe und Ichferne” (XIII, 248; III/1, 189) weist darauf hin, daß das Ich bei ‚Nähe und Ferne’ schon von Anfang an als der einzigartige „Beziehungspunkt” (III/1, 189) – oder besser: als „Nullpunkt”56 – eine fundamentale Rolle spielt. Bei ‚Nähe und Ferne’ geht es nicht um eine umkehrbare, sondern um eine asymmetrische Beziehung mit eindeutiger ‚Richtung’. Die ‚absolute Nähe’ ist kein bloßer Grenzpunkt, sondern der ‚Null- und Quellpunkt’ aller perspektivischen Gerichtetheit und Distanz, ohne den es weder Nähe noch Ferne geben kann. Das Ich ist also die ‚Null’ der Orientierung für die gesamte Nah-Fern-Perspektive der Evidenzen. Man darf dabei nicht übersehen, daß dieses ‚Null’-Phänomen diejenige Struktur der intentionalen Modifikation und der Sinnesverdoppelung hat, die im letzten Kapitel ausgeführt wurde: Alle Nähen und Fernen der Evidenz verweisen auf die Apodiktizität des Ego als ‚absolute Nähe’, die von ihnen allen als Urgrund vorausgesetzt ist. Jede Nähe und Ferne impliziert die Beziehung auf die ‚Null’, die aber selbst nicht von ihnen sinnhaft abhängig ist. Vielmehr verlöre ohne diese Beziehung jede relative Nähe und Ferne ihren 54
Vgl. III/1, 141ff. Vgl. besonders V, 101ff. 56 In bezug auf die „phänomenale Nähe und Ferne” der Vergangenheit spricht Husserl aus drücklich vom „Nullpunkt” und „Nahpunkt” (XXXIII, 148). Daß dieser maßgebende Nullpunkt das Ich bedeutet, ist folgender Formulierung zu entnehmen: „Das unklar Wiedererinnerte ist mir ‚ferner’, das klare ist mir ganz ‚nahe’” (XXXIII, 51; m. H.). Zur „Erinnerungsnähe und -ferne” vgl. auch Ms. C 14/ 4a. 55
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Sinn. In dieser Hinsicht muß die ‚absolute Nähe’ von der ‚relativen Nähe’ streng unterschieden werden. Die erstere ist das Medium, durch das alle Nähen und Fernen erst erscheinen können. 57 In dem so eröffneten perspektivischen Horizont nimmt sie aber selbst eine Stellung ein, die zwar als ‚Nullstellung’ noch einen besonderen Charakter hat, aber schon neben anderen Stellungen steht. Die ‚absolute Nähe’ gliedert sich selbst in die durch sie erschlossene perspektivische Konstellation ein, in der sie jetzt in der Relativität zur ‚Ferne’ aufgefaßt wird. Dieser ‚Doppelsinn’ von ‚Nähe’, der aus der intentionalen Modifikation resultiert, spielt in der Struktur des Evidenzstrebens eine entscheidende Rolle. (1) Oben wurde schon festgestellt, daß jede Evidenz hinsichtlich ihres ‚Ich erfahre’ absolut undurchstreichbar ist. Dies ist dahingehend zu verstehen, daß jede Evidenz in einer primitiven ‚Nähe’ erlebt wird, welche die mediale Basis für das Evidenzstreben bedeutet. Ohne die ‚absolute Nähe’ als das primitive ‚Ich bin, ich erfahre’ kann es kein Evidenzstreben geben. (2) Die Evidenz ist hinsichtlich ihres inhaltlichen ‚Soseins’ modalisierbar.58 Die Modalisierbarkeit bedeutet jedoch, daß sich jede Evidenz im System des Evidenzstrebens bewegt, in dem auf die ‚Wege’ zur Evidentmachung in mehrfacher Weise verwiesen ist. 59 In dieser ‚Evidentmachung’ spielt die ‚Nähe’ im zweiten, relativen Sinn eine entscheidende Rolle. Das ‚Evidentmachen’ des ‚noch nicht Evidenten’ besagt, daß ich den zu erkennenden Gegenstand in meine ‚relative Nähe’ bringe.60 Im Grenzfall könnte ich ihn in meiner ‚absoluten Nähe’ erfahren, die aber hier die absolute ‚Adäquation’ als die unerreichbare Idee darstellt.61 Es ist aber apodiktisch zu erkennen, daß diese als Idee gegeben ist;62 d. h., das An-sich des Gegenstandes ist zwar das ‚Fernste’ hinsichtlich der vollkommenen Erfüllung, erscheint aber notwendig auf dem Grund bzw. im Medium der apodiktischen ‚Nähe’, sofern es überhaupt erscheint und im weitesten Sinne ‚gegeben’ ist. In diesem Sinne 57
Husserl charakterisiert die „aktuelle Gegenwart” als „Urnähe”, d. i. „Urmodus” für die zeitlichen Nähen und Fernen (Mat VIII, 292). Daraus ist deutlich die modifikationstheoretische Bedeutung der ‚absoluten Nähe’ zu entnehmen. Diese betrifft auch die ‚absolute Nähe’ in der Evidenzlehre. 58 Vgl. Ms. A I 31/ 29b, 36a. 59 Fink schreibt zu Recht: „Originäre und nichtoriginäre Bewußtseinsweisen stehen nicht nebeneinander, getrennt und unbezüglich, sondern bilden eine Sinneinheit, einen Sinnzusammenhang, ein zusammengehöriges System” (Fink 1966, 206). 60 Das wird auch „Näherbringen” (V, 104), „Näherkommen an das Selbst” (Ms. A I 31/ 35b) oder „Näherkommen” als tendenzielle und relative Erfüllung (XXXIV, 166) genannt. 61 Zu dieser ‚absoluten Nähe’ im Sinne des adäquaten Optimums vgl. Ms. A I 31/ 24b; C 14/ 2b, 3a. Man darf nicht aus dem Auge verlieren, daß sie nur ein Ideal darstellt, das immer eine – wenn auch minimale – „Ichferne hat” (VIII, 13). In diesem Sinne ist die wirkliche ‚Nähe’ nur der Apodiktizität der ichlichen ‚Null’ zuzuschreiben. 62 Vgl. folgendes: „Jedes, auch das Ferne kann klar gesehen sein, Klarheit weist selbst auf einen endlichen Limes des relativen Selbst” (Ms. A I 31/ 35b).
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„bin ich immer schon bei dem Gegenstand selbst” (Ms. A I 31/ 36a). Darin zeigt sich der Zugangscharakter der Evidenz. Die apodiktische Evidenz des Ego ist also – zusammengefaßt gesagt – bei jeder Evidenz (jeder näheren und ferneren, einschließlich der fernsten) und ihren inhaltlichen Momenten immer schon als das ‚durchsichtige Medium’ dabei. In diesem apodiktischen Medium vollzieht sich erst die Bewegung des Evidenzstrebens überhaupt. Hier ist allerdings auf die Anonymität dieser ‚medialen’ Evidenz zu achten: Als das Medium des eigenen ‚Schauens’ ist die Apodiktizität des Ego einerseits das ‚Nächste aller Nächsten’, aber andererseits wegen dieser äußersten Nähe gerade nicht leicht durchschaubar. Vielmehr muß man sagen, daß sie in der gewöhnlichen thematischen Richtung des Evidenzstrebens strukturell nicht auftreten kann, da sie dabei als ‚Ankergrund’ und ‚Medium’ aller Thematisierung ständig vorausgesetzt ist. Auch das philosophische Evidenzstreben bildet davon eigentlich keine Ausnahme. Hinzu kommt die Schwierigkeit, daß diese ‚mediale’ Evidenz keine inhaltlich bestimmte Evidenz ist, die man unter die inhaltlich je verschieden bestimmten Evidenzen einordnen könnte; man kann sie vielmehr gerade nicht auf solche Weise ‚festnageln’ und ‚vor Augen’ haben. Im folgenden soll diese Eigentümlichkeit der Apodiktizität des Ego im Hinblick auf deren ‚Selbstverständlichkeit’ näher betrachtet werden.
2.5 Das ‚Ich bin’ als die ‚selbstverständlichste Selbstverständlichkeit’ Die ursprüngliche Apodiktizität des Ego ist als ‚Medium’ eigenen Sehens zwar höchst schwer zu durchschauen; aber damit ist nicht gemeint, daß von ihr überhaupt nichts zu wissen wäre, daß sie nur spekulativ konstruierbar wäre. Sie ist vielmehr allzu klar bewußt, so daß sie gewöhnlich gar nicht eigens bewußt gemacht werden muß. 63 Bei der natürlichen, im weitesten Sinne praktisch orientierten Evidenzsuche fehlt jede Motivation, diese ‚selbstverständlichste’ Klarheit überhaupt zu thematisieren, da dies gar nicht erforderlich ist. Selbst beim Philosophieren bleibt diese meist ein stummes Medium. Die ‚mediale’ Apodiktizität des Ego macht also die tiefste Selbst-
63
Die apodiktische Evidenz des Ego ist, aristotelisch gesagt, ein ‚an sich Früheres’, aber ‚für uns Späteres’ (vgl. Aristoteles: Physik I 1, 184a17ff.; Metaphysik VII 3, 1029b 1-12). Mit dieser Sichtweise ist Husserl schon seit der frühen Schaffensphase vertraut; vgl. XVIII, 255 (1900); Mat III, 81 (1902/03); XXIV, 249 Anm. 1 (1906/07); dazu auch Ströker 1988, 261. Ein Einfluß Heideggers ist in dieser Hinsicht nicht anzunehmen, obwohl nicht auszuschließen ist, daß Husserls spätere Zusammenarbeit mit ihm eine Aufmerksamkeit auf diese Sichtweise verstärkt haben könnte; vgl. Heidegger 1927, 15, 43; 1975, 220; 1976, 331f.
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verständlichkeit aller Evidenzstrebungen aus. 64 Dieses selbstverständliche ‚Wissen’ soll im folgenden näher charakterisiert werden. 2.5.1 Das nicht-urteilende ‚Wissen’ von der ‚medialen’ Urevidenz Die Apodiktizität des Ego ist nicht objektiv zu fixieren, da jede objektive Evidenz erst in diesem ‚Medium’ auftritt. Wenn man glaubt, daß diese ‚Ungreifbarkeit’ der letzten Apodiktizität ihrer Wahrhaftigkeit schaden würde, geht man stillschweigend von einem bestimmten Wahrheitsbegriff aus, demzufolge die Wahrheit als solche mit der gegenständlichen Wahrheit ohne weiteres zu identifizieren sei. Dagegen wurde schon zuvor aufgezeigt, daß die als Gegenstand betrachtete Wahrheit nur ein Moment der ‚Evidenz’ im weitesten Sinne ist, die eine sich noetisch-noematisch erstreckende ‚Evidenzerfahrung’ darstellt. Ohne diese ist die gegenständliche Wahrheit eigentlich nicht denkbar. Daraus geht hervor, daß die Apodiktizität des Ego auch keine Evidenz des Urteils ist, das die Existenz eines Seienden mit dem Namen ‚Ego’ behauptet, da dies schon als ein zu beurteilender Gegenstand vorgestellt ist. Die Apodiktizität des Ego besteht ebensowenig in einer ‚wahren’ Verknüpfung zwischen Subjekt und Prädikat, weil die ‚Wahrheit’ dieser Verknüpfung ihren letzten Grund wiederum in der fraglichen Apodiktizität hat, um überhaupt als ‚wahr’ eingesehen zu werden. Husserl charakterisiert die Evidenz nicht nur durch die „Selbstgebung”, sondern auch durch die „Normgebung der Richtigkeit” (Ms. A I 31/ 35a). Dabei unterscheidet er einerseits „die Richtigkeit der Meinung als ihr Recht” und andererseits „das ‚Selbst’, das satte, erfüllte Urteil, die Wahrheit als das Telos, der richtunggebende Pol” (ebd.). Das letztere, betont Husserl, „darf nicht verwechselt werden mit dem Sich-Richten des prädikativen Urteils nach der unterliegenden Erfahrung” (ebd.).65 Die letzte Apodiktizität ist also keine bestimmte Wahrheit, die sich unter anderen ‚Wahrheiten’ behaupten würde, sondern der letzte und allgemeinste Grund für das ‚Wahr-sein’ überhaupt bzw. für das ‚Als-wahr-Erscheinen’ und ‚Als-wahr-Erfahren’ überhaupt; dies ist bei jedem Urteil notwendig vorausgesetzt, sofern es etwas als ‚wahr’ behauptet. Die Apodiktizität im neuen Sinne ist also mit der absoluten Evidenz als Maß gleichzusetzen, die ich im 64
Vgl. dazu folgende Bemerkung Helds: „Das anonyme Faktum des ‚Ich fungiere’ ist eine so ‚selbstverständliche’ und darum gerade unverständliche ‚Vorgegebenheit’ [...]” (Held 1966, 162). 65 Die Gleichsetzung der Evidenz überhaupt mit der urteilenden Evidenz kritisiert Husserl scharf: „Es ist das verderblichste aller verbreiteten Vorurteile, daß Evidenz und ‚logische’ Evidenz einerlei ist, daß mittelbare Evidenz soviel hieße wie logisch deduktive und unmittelbare soviel wie axiomatische, wie die ‚unmittelbar evidenter Aussagen’ (‚Urteile’)” (XXIX, 150).
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II. Kapitel anhand der frühen Evidenzlehre erläutert habe. Sie ist als ‚Maß’ aller Evidenzen schlechthin unbezweifelbar. Diese Zweifellosigkeit ist aber keine dogmatische, die etwa andere Möglichkeiten ausschließen müßte, um sich zu behaupten. Ein Urteil ‚A ist B’ begleitet notwendig andere denkbare Möglichkeiten wie ‚A ist nicht B’, ‚A ist vielleicht B’ usw., auch wenn sie faktisch oder a priori als ‚Unmögliches’ auszuschließen sind. Für die nichturteilsmäßige Evidenz des apodiktischen ‚Ich bin, ich lebe’ gibt es aber keine andere – sei es reale, ideale oder phantasiemäßige – Alternative, die zu verneinen wäre.66 Auch alle Phantasiemöglichkeiten sind in dieser Apodiktizität verwurzelt: „Die Phantasiemöglichkeiten als Varianten des Eidos schweben nicht frei in der Luft, sondern sind konstitutiv bezogen auf mich in meinem Faktum, mit meiner lebendigen Gegenwart, die ich faktisch lebe, apodiktisch vorfinde und mit allem, was darin enthüllbar liegt” (XXIX, 85).67 Jeder Zweifel muß ebenfalls die letzte Apodiktizität voraussetzen, sofern er das zweifelnde Urteil als das ‚wahre’, ‚richtige’ vollzieht. Selbst der Skeptizismus, der behauptet, alle Erkenntnisse seien unsicher, bewegt sich stillschweigend auf dem Grund bzw. im Medium der ‚absoluten Evidenz’ im Sinne der letzten Apodiktizität.68 Man müßte wohl sagen: Ob man davon weiß oder nicht, leben wir immer schon in dieser ‚absoluten’ Evidenz: „Man lebt in der Evidenz, reflektiert aber nicht über Evidenz” (XXIV, 164).69 Das betrifft auch den Wissenschaftler: „Solange wir in den Wissenschaften darin stehen und sie naiv betreiben, leben wir in der Evidenz ihres Verfahrens [...]” (XXX, 322). „Während wir, Wissenschaften von den verschiedenen Gegenständlichkeiten treibend, in der Evidenz leben, das Vernunftbewußtsein vollziehen mit dem Gehalt, den eben Erkenntnis solcher Gegenständlichkeiten fordert, ist dieses Bewußtsein nicht unser Objekt, wir erleben es, wir erkennen es aber nicht” (XXX, 329).70 Die Evidenz ist also ein anonymes ‚Ur-Element’ des vorwissenschaftlichen und wissenschaftlichen Lebens, in dem es sich ständig bewegt. Die charakteristische Evidenzdefinition der Cartesianischen Meditationen muß dahingehend verstanden werden: „Im weitesten Sinne bezeichnet Evidenz ein allgemeines Urphänomen des intentionalen Lebens” (I, 92). Husserl bezeichnet die Evidenz auch als „einen wesensmäßigen Grundzug des intentionalen Lebens überhaupt” (I, 93). Die Apodiktizität des ‚ich bin, ich lebe’ ist das letzte anonyme Medium, auf dem dieser Zug der Evidenz beruht.71 66
Vgl. Ms. B I 5/ 17a. Vgl. auch Ms. E III 9/ 7b. 68 Vgl. XXIV, 147, 397f.; Mat III, 85. 69 Zur Unterscheidung zwischen unthematisch gelebter und reflektierter Evidenz vgl. XXIV, 432, 374 (auch 123, 125); Ms. K III 6/ 103b. 70 Vgl. dazu auch XVII, 206; Ms. B II 22/ 4a. 71 Insofern bezieht sich die Evidenz nicht nur auf die ‚begriffliche’, sondern auch auf die ‚vorbegriffliche’ Sphäre, in der ich noch keine Aussage mache (Ms. A I 31/ 24a). 67
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Auf diese Weise ist die Apodiktizität des ‚ich bin, ich lebe’ immer schon ‚vorausgesetzt’. Mit dieser ‚Voraussetzung’ ist keine aktive Setzung einer „Prämisse” gemeint, also nicht eine „aktive Seinssetzung, ‚auf die hin’ eine Nachsetzung statthat”, und zwar in der Weise des durch jene begründeten Schlusses (Ms. B I 5/ 22a). Die Aussage: „Voraussetzung besagt nicht: Prämisse” (VII, 246 Anm.) charakterisiert Husserl anschließend durch die Vorgängigkeit des sich immer schon anonym vollziehenden Lebens: „Wir beschrieben also unter dem Titel ‚Voraussetzung’ den allgemeinen Sinn natürlichen Lebens, den es als solches also immerzu in sich trägt — als eine Form aller seiner Überzeugungen, ohne daß er je herausgestellt würde” (ebd.). Die Apodiktizität des Ego wird somit nicht etwa ‚logisch’ oder ‚spekulativ’ angenommen,72 sondern ist ein Ausdruck für das immer schon anonym fungierende Selbsterleben, in dem ich meiner selbst auf nicht-gegenständliche Weise ‚bewußt’ bin. Die Apodiktizität besteht in meinem urfaktischaußerthematischen ‚Dabeisein’ bei meinem eigenen Leben,73 oder genauer, darin, daß ich dieses eigentümliche ‚Selbstwissen’ des Lebens nie durchstreichen kann, sofern ich lebe. „Mein eigenes Sein ist für mich unverlierbar, nämlich mein Sein ist, während ich was immer erfahre, bewusst habe (darin beschlossen mich selbst im Thema), unbezweifelbar, undurchstreichbar und bei allem, was für mich ist, ‚dabei’, sofern alles zunächst Gemeintes meiner Meinungen ist [...]” (XIV, 433).74 Die ‚Undenkbarkeit’ der Verleugnung dieses ‚Ich bin’ besagt nicht etwa, daß es als ‚Satz’ oder ‚Formel’ unbezweifelbar wäre; eine formale Negation des ‚Ich bin’ ist immer schon möglich (‚Ich bin nicht’). Es verhält sich nicht so, als ob die Aussage ‚Ich bin’ nicht falsch sein könnte (XIV, 433): „Es ist mir unmöglich, dieses Ich in dieser mir evident möglichen Epoché und mein strömendes Leben zu bezweifeln oder zu negieren, was aber nicht besagt, dass jede Aussage, die ich nun machen wollte, richtig sein muss und dass für sie ‚objektive’ Wahrheit in welchem Sinn immer bestehe” (XIV, 436).75 Dagegen hebt Husserl hervor, daß es sich bei dem apodiktischen ‚Ich bin’ um „ein beständiges unthematisches Leben” (XIV, 433) handelt, das für seinen eigenen Vollzug in Konkretheit die fundamental-‚mediale’ Basis bietet. Insofern kann man es nicht schlechthin ‚dogmatisch’ nennen, wenn Husserl sagt: „Beim ego angelangt, wird man dessen inne, daß man in einer Evidenzsphäre steht, hinter die zurückfragen zu wollen ein Unsinn ist” (VI, 192). 72
Ich setze mein Sein nicht „als Hypothese” (Ms. B I 5/ 15a; vgl. B III 1/ Tr. 8). Vgl. XIV, 431. 74 Zum nicht-gegenständlichen Selbstbewußtsein vgl. Kern 1989; Ni 1998 und vor allem Zahavi 1999. Kern betont dessen non-egologischen Charakter; Zahavi weist dagegen mit Hilfe einer Sartre-Kritik auf Schwierigkeiten der non-egologischen Bewußtseinskonzeption hin (138ff.), wobei er treffend aufweist, daß diese Differenz der Auffassungen an der Mehrdeutigkeit des ‚Ich’ liegt (142ff.). 75 Vgl. auch XXXIV, 238. 73
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Das ist keine beliebige Abschneidung der Evidenzsuche, sondern ein Ausdruck für das ‚Selbstbewußtsein’ des letzten Mediums, in dem sich jede Evidenzsuche – einschließlich des Philosophierens – abspielt.76 2.5.2 Die absolute Selbstverständlichkeit als ‚Verständlichkeit des absoluten Selbst’ Es wurde herausgestellt, daß die Apodiktizität des Ego als ‚Medium’ allen Wissens in jeder Evidenzstrebung immer schon ‚vorausgesetzt’ ist, daß dieses Voraussetzen aber nicht ein aktives Setzen der Prämisse bedeutet, sondern vielmehr auf die Urtatsache hinweist, daß wir immer schon ‚in der Evidenz leben’, ohne uns dessen thematisch bewußt zu sein. Darin zeigt sich die ‚Selbstverständlichkeit’ der apodiktischen Evidenz. Allerdings handelt es sich hierbei nicht um eine naive ‚vermeintliche’ Selbstverständlichkeit, die durch weitere Rückfragen nach ihren Gründen verständlich gemacht werden kann, sondern um die selbstverständlichste Selbstverständlichkeit, hinter die nicht mehr zurückzufragen ist. In dieser Hinsicht unterscheidet Husserl „eigentliche” und „uneigentliche Selbstverständlichkeit” (Ms. C 7/ 31b). Die „Selbstverständlichkeit im gewöhnlichen Sinn” läßt sich charakterisieren – wie im I. Kapitel erläutert wurde – durch die „Benützung eines fraglosen Erkenntnisbodens”, die auch „Verstecktheit von Voraussetzung” bedeutet (ebd.). Die nächstliegenden Selbstverständlichkeiten könnten in dieser Hinsicht „Selbstmißverständnisse” sein (VI, 254). Wenn man dagegen versucht, die „Idee der absolut verstehenden Erkenntnis zu realisieren”, stößt man letztlich auf die „absolute Selbstverständlichkeit”, die jede Frage nach weiteren Gründen sinnlos macht. „Selbstver-
76 In dieser Hinsicht weist Brand auf die „Zirkelhaftigkeit” des Phänomenologisierens hin (Brand 1955, 51); vgl. dazu auch Kapitel III, Anm. 8. Rosen weist treffend darauf hin, daß das „dogmatische Motiv” des Strebens nach absoluter Gewißheit darin besteht, daß sich die erkenntniskritische Prüfung selbst „im Medium der Evidenz” vollziehen soll: „Die reine Immanenz der Evidenz ist als das Medium der phänomenologischen Forschung gefordert, weil die Kritik der Erkenntnis radikal sein will. Das dogmatische Motiv kommt also nicht zufällig oder aus caprice zum kritischen hinzu, sondern gerade der Radikalismus der Kritik verlangt einen dogmatischen Gewißheitsboden” (Rosen 1977, 147). In dieser Hinsicht ist Tugendhats Kritik, daß die apodiktische Evidenz bei Husserl „dogmatisch” sei, nicht zu rechtfertigen (Tugendhat 1967, 208ff.). Husserl versucht nicht, diese Evidenz weiter zu begründen, weil das sinnlos wäre, da man sich für diese Begründung wiederum auf die betreffende Evidenz berufen muß. Tugendhat meint später selbst, während er Wittgensteins Analyse der „ich n”-Sätze auslegt, daß es „ein Wissen” gibt, „das nicht auf einer Feststellung – auf einem Erkennen – beruht” (Tugendhat 1979, 133). Bei diesem „Wissen” wäre es „sinnlos”, „die Frage » wie wissen wir es? « zu iterieren” (ebd.). Zur Unhintergehbarkeit der Letztbegründung vgl. auch Mertens 1996, 49f.
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ständlichkeit” besagt in diesem Fall nichts anderes als Verständlichkeit des absoluten Selbst (Ms. C 7/ 31b).7778 Diese „absolute Selbstverständlichkeit” bedeutet offensichtlich die bisher erörterte ‚Apodiktizität’ im prägnanten Sinn. In einer Beilage zur Krisis betont Husserl, daß „jede erdenkliche Meinung, jede erdenkliche Frage, jede erdenkliche Stellung zu ihr in Anerkennung, in Negation, in Bezweiflung, in Vermutung etc. schon einen, und überall formal denselben Boden voraussetzt, als eine absolut apodiktische Selbstverständlichkeit, ohne die nichts dergleichen, also keine prätendierte Erkenntnis Sinn haben könnte, also auch keine wirkliche Erkenntnis” (VI, 425)79. Ob man etwas anerkennt, bezweifelt oder vermutet, immer ist man schon im Zug der Evidenz und kann sich insofern niemals der ‚absoluten Selbstverständlichkeit’ entziehen, die das letzte und universalste Medium des Erkenntnislebens darstellt, das in sich jede speziell bestimmende Erkenntnis ermöglicht und als solche ‚zuläßt’. Schon in der Idee der Phänomenologie (1907) bezeichnet Husserl das evidente ‚Schauen’80 als „absolute Selbstverständlichkeit” (II, 50). Die absolute Evidenz, die in der frühen Phänomenologie noch als non-egologisch aufgefaßt wurde, wird angesichts der egologischen Wende als Apodiktizität des ‚Ego’ gekennzeichnet. Die letzte ‚Selbstverständlichkeit’, die das Medium allen Denkens, Fragens und Antwortens darstellt, besagt nun die apodiktische Evidenz des ‚Ich bin, ich erfahre’. In bezug auf die schlichte Unbezweifelbarkeit des ‚Ich bin’ sagt Husserl: „Hier stehe ich, der mich selbst Besinnende, in der Tat in der letzten Selbstverständlichkeit – bzw. ich habe mich zurückgeführt auf eine letzte Seinssituation – in der [Selbstverständlichkeit] als der letzten, auf die ich zurückfragen kann, welche also die an sich erste ist für die universale Ordnung der Fragen und für ihre universale 77
Ich interpretiere diese Stelle nach einer alten Transkription des stenographischen Manuskripts. In der neuen Transkription hingegen lautet diese Stelle: „Idee der Selbstverständlichkeit als Verständlichkeit des Absoluten selbst”. Beide Interpretationen sind möglich, denn es gibt in der Stenographie keinen Unterschied zwischen Groß- und Kleinschreibung. Es scheint mir plausibel, daß die absolute ‚Selbst-verständlichkeit’ Verständlichkeit desjenigen meint, wessen Verstehen nichts mehr anderes als es selbst erfordert; also desjenigen, was sich selbst absolut verständlich macht. An einer anderen Stelle bezeichnet Husserl die adäquate Gegebenheit als Grenze des absoluten Selbst (Ms. A I 31/24b). Schon in den Logischen Untersuchungen verwendet Husserl diesen Ausdruck in demselben Sinne (XIX/2, 647); vgl. auch XXXV, 404; Ms. A I 31/36a; B II 22/2b. Das ,Selbst’ wird auch mit der ,Sache selbst’ gleichgesetzt (Ms. C7/39a). 78 Auch im Aufsatz Über Ursprung (1930) stellt Husserl den „vermeinten Selbstverständlichkeiten altererbter Vorurteile” die „absolute Selbstverständlichkeit, die Aufweisungen aus purer Evidenz” entgegen (XXVII, 131). 79 Auch in den Vorlesungen Einleitung in die Philosophie (1922/23) spricht Husserl von „apodiktischen Selbstverständlichkeiten”, die dem deduktiven Beweis entgegengesetzt werden (XXXV, 166). 80 Vgl. Kapitel II, 3.1.
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und geordnete Beantwortung, indem ich dieser intuitiven Sachlage inne werde und ihre Geltung intuitiv vollziehe” (Ms. B I 5/ 17a). 81 Hieraus ist deutlich zu entnehmen, daß die Apodiktizität als ‚absolute Selbstverständlichkeit’ keine punktuelle Ich-Evidenz ist, sondern als eine „Grenzsituation” (ebd.) zu betrachten ist, in der ich bin. Man muß also sagen: Ich bin ‚in’ der Apodiktizität des ‚Ich bin’. Diese selbstbezügliche Selbstverdoppelung des apodiktischen ‚Ich bin’ soll im folgenden Schritt genauer betrachtet werden (3). Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, daß die ‚absolute Selbstverständlichkeit’, die in der natürlichen Evidenzsuche anonym durchlebt wird, für den Philosophen zum wachen, klaren – wenn auch nicht gegenständlichen – ‚Bewußtsein’ gebracht werden muß. Dies ist ein weiterer entscheidender Grund dafür, daß die ‚letzte Selbstverständlichkeit’ nicht von der ‚Ichlichkeit’ zu trennen ist. Darauf werde ich anschließend eingehen (4).
3. ‚ICH GEHE MIR SELBST VORAN’: DAS UR-ICH IN SEINER ‚SELBSTDIFFERENZ’ 3.1 Die Befremdung des ‚Ich bin’ und das sich aufdrängende ‚Fremde’ Durch die vorangegangenen Untersuchungen ist deutlich geworden, daß die sogenannte Apodiktizität des Ego bzw. des ‚Ich bin’ keine punktuelle Evidenz darstellt, die den Primat des Ego dogmatisch behaupten würde, sondern vielmehr das universalste Medium des erfahrenden Lebens meint, ohne das alle seine Evidenzerlebnisse und korrelative Wahrheiten aufgehoben würden. Dieses Medium wurde durch absolute Nähe und Selbstverständlichkeit charakterisiert. Damit ist Husserls Evidenzlehre aber noch nicht von Skepsis befreit: Gerät man dadurch nicht in einen Solipsismus, daß dieses apodiktische Medium gerade als ‚Ich bin’ gekennzeichnet wird? Wenn ‚ich’ der einzige Urgrund aller Evidenzen ist, bedeutet das, daß das Sein des Anderen bezweifelbar und von der Evidenz meines Ich einseitig abhängig sei? Auf diesen Einwand hin kann man zunächst die naheliegenden Mißverständnisse ausräumen, die ich im V. Kapitel behandelt habe: Die Urevidenz des ‚Ich bin’ ist weder die Evidenz eines Ich unter vielen noch die Evidenz 81
Zur Vorgängigkeit des ‚Ich bin’ vor allem Fragen und Antworten vgl. auch folgende Stelle: „Auf die reine Subjektivität, auf das ego cogito zurückzugehen, das heißt, sich auf das Letztunfragliche, Letztzweifellose besinnen, als das seinerseits in jedem In-Frage- und In-Zweifelstellen vorausgesetzt ist” (VII, 167).
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eines über-individuellen, allgemeinen Ich. Denn beide Auffassungen des Ich setzen schon das urfaktisch-apodiktische ‚Ich bin, ich lebe’ voraus, sofern das ‚Ich’ als Gegenstand kategorial begriffen und beurteilt wird. Auch der Sinn des Anderen muß notwendig dieses ‚Ich bin’ voraussetzen. Es scheint eine unausweichliche Urtatsache zu sein, daß alles, was mir gilt, „ob Sein oder Schein, ob Sein von Anderen oder Sein meiner selbst”, ohne das erlebend-fungierende ‚Ich bin’ nicht bestehen kann (Ms. B I 5/16a).82 Es drängt sich jedoch die Frage auf: Kann es mit dem Gesagten in bezug auf den Anderen wirklich sein Bewenden haben, obwohl es vollkommen Recht zu haben scheint? Das Befremden, das die anscheinend richtige Aussage: ‚Alles ist für mich’ in mir hervorruft, warnt uns insgeheim, was wir ernst nehmen müssen; denn sie offenbart gewichtige Probleme, die noch zu bedenken sind. Jenes Befremden darf weder ignoriert noch durch eine künstliche Theoretisierung eliminiert werden, sondern auf entsprechende Weise in konkret analysierbare Probleme umgewandelt werden. Es ist zwar richtig, daß der Andere mein Anderer ist, sofern es um die Evidenz und Erfahrung geht, die ihn betrifft: „Anderer ist ja Für-michAnderer” (VII, 334). „Der Intersubjektivität geht aber für jeden Erkennenden er selbst voran, in der Weise: Ich bin es, der in sich die Anderen erfährt und erkennt und nur von daher von Anderen etwas weiß” (Ms. B II 5/ 15a).83 Andererseits kann man aber auch sagen, daß der Andere nicht bloß ‚für mich’ ist: Denn im Sinn des Anderen ist impliziert, daß er die mir originär zugängliche Sphäre transzendiert. Dieser Sinn muß jedoch als Sinn notwendig ‚in mir’ auftreten und erfahren werden. Sofern es sich um den Sinn handelt, scheint die Evidenz des ‚Alles ist für mich’ unbeschränkt zu gelten. Alles, was für mich überhaupt sinnvoll ist – darunter auch jeder ‚Unsinn’ und ‚Widersinn’ als spezifische Arten von Sinn – , gilt ‚für mich’.84 Wenn das Sein des Anderen gegen die schrankenlose Geltung dieser Evidenz dennoch Widerspruch erhebt, stammt dieser offensichtlich nicht aus der Sphäre des Sinnes. In ihm bekundet sich vielmehr etwas, das alles Sinnvolle übersteigt. Allerdings läßt sich der Unterschied zwischen ‚Sinn’ und dem ‚Sinn-Transzendierenden’ wiederum als ein Sinn begreifen, wenn er so ausgedrückt wird. Das legt es nahe zu sagen, daß das Sinn-Transzendierende auf sinnvolle Weise völlig ‚unsagbar’ ist. Wenn man dennoch davon spricht, kann dies eigentlich keine ‚sinnvolle’ Aussage darstellen. Wie ist es dann aber zu verstehen, daß jener ‚Widerspruch’ von Seiten des Anderen dennoch etwas ‚sagt’, wenn er sich in mir in Form jenes lautlosen Befremdens bekundet?
82
Vgl. auch LV, 229ff. = XXXV, 267ff. Vgl. auch XXXIV, 273. 84 Vgl. I, 117; vgl. auch Kapitel VII, 2.1. 83
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Angesichts dieser Frage kann man sich als Anhaltspunkt darauf berufen, daß sich die Apodiktizität des ‚Ich bin’ dem Machtbereich des Sinnes ‚halbwegs’ entzieht; denn sie ist als ursprünglichste Voraussetzung (bzw. als Medium) für jeden geltenden Sinn einerseits von jedem Sinn untrennbar, kann aber andererseits in der sinnhaft erkennbaren Sphäre nicht vollständig erscheinen, da sie in ihrer Ursprünglichkeit und Medialität bei einem solchen Erscheinen wiederum vorausgesetzt ist. Die Apodiktizität des ‚Ich bin’ ist insofern „unsagbar”, worauf Husserl schon in den Logischen Untersuchungen hinweist: Die „Evidenz des Satzes ich bin” hänge an einem „begrifflich ungefaßten und daher unsagbaren Kern” der Ichvorstellung (XIX/1, 367). Der späte Husserl, der die entwickelte Theorie der transzendentalen Intersubjektivität vor Augen hat, spitzt die Frage nach der ‚unsagbaren’ Evidenz des ‚Ich bin’ zu; dabei tritt das Problem des Ur-Ich in den Vordergrund, das nur durch ‚Äquivokation’ so bezeichnet werden kann. Das ‚Ur-Ich’ stellt – wie besonders das V. Kapitel ergab – in seiner lebendigen Funktion diejenige einzige Dimension innerhalb der konstitutiven Phänomenologie dar, die das radikal Sinn-Transzendierende kundtun kann. Aber dadurch, daß man diese Dimension zur Sprache bringt, wird sie unvermeidlich in die Welt der ‚Sinne’ aufgenommen und ‚modifiziert’, wie die im VI. Kapitel ausgeführte Lehre von der ‚intentionalen Modifikation’ detailliert erörterte. Jene Dimension spielt im Modifikationsphänomen einerseits eine fundamentale Rolle, sofern alle ihre Modifikationen auf sie als ‚Urmodus’ sinngemäß zurückverweisen; andererseits wird sie in ihrer allerprimärsten Urmodalität gerade durch dasselbe Modifikationsphänomen verdeckt. Es liegt somit nahe, daß die Dimension des ‚Ur-Ich’ wegen ihrer singulären Stellung im gesamten System des ‚Sinnhaften’ gerade noch dasjenige Fremde spüren läßt, das sich allem Sinnhaften absolut entzieht; das ‚Ur-Ich’ kann also ein Zugang zum radikalen ‚Anderen’ bzw. das ursprüngliche ‚Medium’ für dessen Bekundung sein.85 Um dies zu belegen, möchte ich im folgenden zunächst die apodiktische Urevidenz des ‚Ich bin’ dahingehend näher betrachten, daß sie selbst eine gewisse ‚Fremdheit’ in sich birgt, sofern sie sich nicht anders als eine ‚Differenz’ zeigt. Diese Interpretation werde ich dann durch eine Erörterung des Verhältnisses von ‚Ur-Ich’ und Ur-Hyle ergänzen. Aufgrund dessen soll 85
Darauf weist auch Mensch in bezug auf die „Unruhe” der lebendigen Gegenwart hin: „Disquiet, we can now say, arises from the fact that, as mine, presence can be not mine” (Mensch 2001, 235). Bernet stellt heraus, daß Husserls Zeitanalyse, die einer Phänomenologie des egologischen transzendentalen Bewußtseins zugrunde liegen soll, paradoxerweise Momente enthält, die zu einer „ethischen” Phänomenologie des Anderen führen (Bernet 2004, 247f.). Husserls Beschreibungen der Zeiterfahrung bergen also in sich „les germes d’un dépassement du cadre philosophique dans lequel Husserl les avait insérées” (ebd., 247). Wie diese Autoren darauf hinweisen, zeigen Husserls Beschreibungen als solche ‚symptomatisch’, daß die Radikalisierung der Analyse des ‚Ego’ den Weg zum radikalen ‚Anderen’ eröffnet.
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schließlich als Resultat der phänomenologischen Radikalisierung der Frage nach dem ‚Ich’ gezeigt werden, daß sich die radikale Fremdheit des Anderen gerade in der tiefsten Mitte von mir selbst bekundet. Auf diesem Weg muß man den Rahmen der reinen Text-Exegese überschreiten und diejenigen Phänomene erhellen, die sich in Husserls Analysen nur implizit bekunden. Eine solche Bekundung wird dadurch ermöglicht, daß Husserl, anstatt die Phänomene künstlich zu systematisieren, alles unverhüllt beschreibt, was er ‚sieht’ — auch dort, wo das Gesehene seiner Theorie nicht mehr zu entsprechen scheint.
3.2 Das Vorangehen des ‚Ich’ vor mir selbst: Selbstentzug und Selbsttranszendenz des ‚Ich-Seins’ In einem Text von etwa 1927 unterstreicht Husserl die apodiktische Vorausgesetztheit des Ego mit folgendem nicht zu vernachlässigenden Gedanken: „[...] alles, was mir gilt, setzt mich und mein Notwendiges voraus, und so ist immerzu vorausgesetzt mein Ich in einem notwendigen Seinsbestand, der von allen meinen Meinungen schon vorausgesetzt ist, ob sie sich auf anderes oder auf mich selbst beziehen. Ich gehe mir selbst so vorher und zugleich allem Nicht-Ich” (XIV, 432). Oberflächlich gesehen handelt es sich um eine nicht sonderbare Aussage über die Vorgängigkeit des apodiktischen Ich. Die Aussage: ‚Ich gehe mir selbst vorher’ scheint mir aber eines der wichtigen Gedankenmomente anzuzeigen, deren konsequente Entwicklung in den dreißiger Jahren zur Lehre vom ‚Ur-Ich’ führt. Denn damit wird nicht nur die radikale Vorgängigkeit des Ich, sondern auch die Sinnesverdoppelung und die Selbstdifferenzierung des dennoch einzigen Ich schlicht ausgedrückt. Tatsächlich tritt die Aussage: ‚Ich gehe mir selbst vorher’ in den Manuskripten der dreißiger Jahre wiederholt auf: Im Manuskript B I 5 III (1931) macht Husserl darauf aufmerksam, daß die Vorgängigkeit des ‚Ich bin’ im Rückbezug auf mich selbst eine besondere Bedeutung erhält: „Diese Seinspriorität hat mein eigenes Dasein vor allem vor mir selbst, als von mir selbst in der Selbsterfahrung und sonstigen Selbsterkenntnisakten Erkannten und zu Erkennenden” (Ms. B I 5/ 14a). Die vorangehende „Selbsterfahrung” ist keine „reflektierende”, „auf mich aktiv gerichtet aufmerkende” (ebd./14b). Ihr Unterschied zur thematisch-objektivierenden Selbsterfahrung zeigt sich besonders darin, daß ich in der letzteren „wie hinsichtlich anderer Gegenstände so auch hinsichtlich meiner selbst mich reichlich täuschen kann” (ebd.). Auch der Selbsttäuschung entspricht aber eine Selbsterkenntnis, denn sie „vollzieht sich als Bewußtsein, daß ich nicht so bin, sondern anders” (ebd.). Dieses urfaktische ‚Bewußtsein’, in dem die Evidenz meines Soseins modalisiert wird, kann als ‚Medium’ dieser Modalisierung nicht selbst
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modalisiert werden.86 Daraus geht hervor, „daß ich nie zu beirren bin durch mein Irren in der Hinsicht, daß ich bin, der ich bin, daß mein Mich-übermich-Täuschen doch schon voraussetzt, daß ich bin und mit einem wahren Wasgehalt bin, eben dem, den meine Selbstirrungen verfehlen” (ebd.).87 Es ist aber zu beachten, daß dieser evidenzielle Vorrang zugleich besagt, daß ich mich als ‚Ur-Ich’ meinem mich selbst so und so apperzipierenden Blick wesentlich entziehe. Ich kann mich selbst als ‚Ur-Ich’ nicht apperzeptiv ‚fassen’, da allem ‚Gefaßten’ immer schon die mediale Evidenz des ‚ich bin, ich lebe’ vorangeht. Das besagt auch, daß ich mein ursprüngliches IchSein selbst sozusagen nie ‚im Griff’ haben kann. Die Aussage: ‚Ich gehe mir selbst vorher’ bringt nicht nur die durchgängige Vorausgesetztheit der Apodiktizität zur Sprache, sondern auch zugleich den radikalen Entzug des Ich für mich selbst: „[...] ich habe doch kein anderes Sein als aus meiner Erkenntnis, das Wort in einem weitesten Sinne genommen, das gewissermaßen in dem prägnanten kulminiert. Mein Sein geht allem Sein, auch meinem eigenen Sein vorher” (Ms. B I 5/ 15b). Diesen ‚Entzug’ des Ich selbst pointiert Husserl in Ms. B I 5 an anderer Stelle88 dadurch, daß das ‚Ich selbst’ immerfort ‚hinter’ allem für mich überhaupt Erscheinenden bleibt: „Alles, was ich als Bewusstseinserlebnis feststelle (als bloß Subjektives) und in der Form immanenter Zeitlichkeit scheinbar in einer Ordnung der Koexistenz und Sukzession überschaue, hat schon Bewusstsein hinter sich und das Ich hinter sich, das in diesem Raume nicht sichtbar ist” (XXXIV, 229f.).89 Im Hinblick auf diese ‚Unsichtbarkeit’ des Ich verwendet Husserl wiederum jene Redeweise: Ich „gehe [...] mir selbst vorher als ‚Objekt’ für mich, als Einheit meiner Bewußtseinspassivitäten und -aktivitäten, durch die ich +in, mannigfaltigem Erfahren etc. für mich seiender, der eine und selbe für mich wirkliche und zu bewährende etc. bin” (ebd., 229). Dieser ‚Entzug’ darf aber nicht dahingehend mißverstanden werden, daß sich hinter mir eine unsichtbare ‚Substanz’ versteckt hielte. Das letzte ‚Ich’ im phänomenologischen Sinne ist trotz seiner radikalen Vorgängigkeit nicht etwa ein metaphysisches Ich ‚außerhalb’ von mir, sondern ich selbst, der ich faktisch lebe und jetzt phänomenologisiere. ‚Ich selbst’ bin es, der mein phänomenales Ich-selbst in jeder Gestalt ‚transzendiert’. Diese ‚Transzendenz’ muß aber von derjenigen Transzendenz streng unterschieden werden, 86
Die Geltung alles für mich ‚Seienden’ ist „modalisierbar, eventuell durchstreichbar”. Aber: „Das Ich-bin ist seinerseits davon nicht betroffen, als Stätte derartiger Vorkommnisse” (Ms. B I 5/ 68b; m. H.). 87 Vgl. dazu näher Ms. B I 5/ 16a. 88 Ms. B I 5 IX aus dem Jahr 1930 = XXXIV, 228-254 (Nr. 15). 89 Vgl. auch: „[...] wenn ich mich selbst zum Thema mache, bin ich, der ich mich zum Thema mache, und mein auf mich bezogenes Bewußtsein wieder anonym. Alle Objekterfahrung hat also das Ich hinter sich, aber nicht vor sich” (IX, 385); „Allem Für-mich-Sein geht mein Sein vorher” (Ms. B I 5/ 23a); vgl. auch XXXIV, 451.
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die sich auf das Gegenständliche richtet. Sie ist keine ‚ekstatische’ Transzendenz, in der ich selbst aus mir herausträte, sondern gewissermaßen eine innerliche Transzendenz. Dieser noch vage Begriff muß nun mit Hilfe der Modifikationstheorie konkretisiert werden: Das ‚Ur-Ich’ in seiner primären Urmodalität zeigt sich mir als ‚transzendent’, wenn ich als Betrachtender mich selbst mit einem Modifikat des Ur-Ich identifiziere. Im allgemeinen hat ein Modifikat gegenüber dem Urmodus einen Charakter der Transzendenz.90 Wenn man seinen ‚Standpunkt’ in ein Modifikat versetzt, sieht der Urmodus so aus, als ob er ein unerreichbares Jenseits wäre. Dies ist aber eine – im Modifikationsprozeß – ‚nachträglich’ gedachte, konstruierte Sichtweise. Die fragliche ‚Transzendenz’ bezieht sich nicht auf ein Jenseitiges, das alles Sichtbare ‚zur anderen Seite hin’ übersteigt. Vielmehr geht es um die schlichte Nähe alles Sehens und Erfahrens selbst, die immer schon ‚hier und jetzt’ durchlebt ist, ohne daß darauf ausdrücklich ‚abgezielt’ wird. Alles Intendieren vollzieht sich seinerseits im Medium dieser Nähe des Selbsterlebens. Der Satz ‚Ich gehe mir selbst vorher’ drückt dieses ‚innerliche Selbsttranszendieren’ des Ich aus. Husserl bemüht sich dabei, die künstliche Vereinfachung des Phänomens fernzuhalten, daß man ausschließlich das ‚UrIch’ als authentisches Ich anerkennt und das phänomenale Ich als ‚Schein’ verurteilt. Vielmehr handelt es sich dabei um eine innere Differenzierung des einzigen Ich, die wesensmäßig zur ‚Ichheit’ des Ich als solcher gehört. Das ‚Ich’ ist kein starrer Punkt, sondern das Lebendigsein des Lebens selbst,91 das eine andere Bezeichnung für ‚Selbsttranszendieren’ ist. Im stehenden Strömen bin ich in der „Selbsttranszendenz” (Mat VIII, 130). 92 Dieses Selbsttranszendieren und -differenzieren läßt mich selbst zugleich als das ‚Medium’ alles Erscheinens und als das ‚greifbare’ Ich in seiner Objektivität und konkreten Inhaltsfülle (gewissermaßen als das Ich in der ‚absoluten Nähe’ und zugleich in der ‚greifbaren Nähe’) erfahren. Anders gesagt, geht es hierbei um jene Selbstverdoppelung des Ich, welche allerdings nicht nur meine Selbstmodifikation und ‚Monadisierung’ besagt, sondern auch eine Ermöglichung bzw. ‚Zulassung’ alles gegenständlichen Erscheinens durch die primäre zeitliche ‚Distanzierung’. Vor diesem Hintergrund ist zu beachten, daß Husserl diese ursprüngliche Selbsttranszendenz als ‚Übersein des Ego’ bezeichnet, welches ein ‚Entquellen’ und ‚Überfließen’ assoziiert: „Das ‚Übersein’ des ego ist selbst nichts anderes als ein ständiges urtümlich strömend Konstituieren, und Konstituieren von verschiedenen Stufenuniversa von Seienden (‚Welten’) [...]” (XV, 590). Das Ego ist immer schon ein 90
Vgl. Kapitel VI, 4.5. Vgl. Kapitel VII, 2.2. 92 Näheres dazu in Kapitel VI, 4.5. 91
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‚Über-sich’, das ‚im Überfluß (an Erscheinungen) lebt’, das sich selbst jedoch niemals einholen kann. Der radikale Entzug des Ich-selbst ist von dem Erscheinen und Sich-Konstituieren alles Erscheinenden überhaupt nicht zu trennen. Erst durch diesen Entzug, der die Kehrseite der evidenziellen Priorität darstellt, kann ich alles wirkliche und mögliche Sein im weitesten Sinne ‚empfangen’. Das Ego ist also als ein ‚Grund’ alles Erscheinens zu betrachten, der jedoch nicht das erste Seiende unter allen erscheinenden Seienden bedeutet. Vielmehr besteht der Charakter des ‚Grundes’ gerade in seinem SichEntziehen von dem Kreis der Seinserscheinung. Anders ausgedrückt: Das ‚Mir-Erscheinen’ überhaupt besteht in der unüberbrückbaren Differenz zwischen dem sich entziehenden ‚Ego’ und allem als seiend Erscheinenden. Diese Differenz pointiert Husserl in dem wichtigen Manuskriptkonvolut K III 6 der Krisis-Zeit (1936), wobei er wiederum jene Formel in Anspruch nimmt: „Ich kann zwar mein Sein in Frage stellen und diese Frage, ob und was ich bin, entscheiden wollen und entscheiden. Aber dann bin ich wieder das Subjekt, das entscheidet, und ich finde alle Gründe in mir. Mein Sein ist Grund für mein Sein, mein Sein geht wie allem Sein meinem eigenen Sein voran” (Ms. K III 6/ 100b). Dabei ist ‚Grund’ nicht im Sinne einer substanziellen ‚Ursache’ zu verstehen, die alles Seiende kausal hervorbrächte, sondern im Sinne der ‚apodiktischen Evidenz’. Mein urfaktisches ‚Sein’ wird von allen meinen urteilsmäßigen Entscheidungen nicht betroffen, weil sie erst im Medium dieses apodiktischen ‚Seins’ stattfinden. Diese primitive – ‚mediale’ – Vorausgesetztheit ist auch nicht als ‚Begründung’ im gewöhnlichen, logischen Sinne zu begreifen. Um dies anzudeuten, setzt Husserl in der Überschrift jenes Textes das Wort Grund in Anführungszeichen: „Ich als letzter ‚Grund’ aller Erscheinungen” (ebd., 100a). Dazu bemerkt er auch: „Ich als Ego, als letzter Grund für das Universum der Objektivität, für die Welt — aber Ordnung der ‚Begründung’?” (ebd., 101a) Darauf antwortet Husserl an anderer Stelle: Die „Fundierung” ist zwar keine „schließende Begründung”, aber doch eine „Begründung” im weitesten Sinne,93 denn ohne das Fundierende bestände das Fundierte nicht. Es geht also um jene unauffällige, ‚umgekehrte’ Ordnung der Evidenz, die schon mehrfach behandelt wurde. Dies ist gemeint, wenn das Ur-Ich als ‚Grund’ für alles Seiende bezeichnet wird. Das Ego als ‚Urgrund’ ist also keine zugrundeliegende Substanz, sondern das lebendige Medium, das trotz (und wegen) seiner evidenziellen Vorausge-
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So lautet die gesamte Aussage: „Eine Fundierung der Geltung, das ist eine Einsicht der konstitutiven Explikation, ist aber nicht schließende Begründung, obschon Begründung” (Ms. B I 5/ 23b).
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setztheit nicht als ein fest identifizierbares Objekt aufzufassen ist. 94 Darin zeigt sich die Eigentümlichkeit des urmodalen Ich, die ich als die rein ‚subjektive’ – d. h. auch unscheinbar-‚hinfällige’ – Lebendigkeit gekennzeichnet habe.95 Dies bestätigt eine Stelle im oben genannten Manuskript von 1936: „Mein Sein als Grund ist absolut subjektiv — es ist in sich und für sich Sein, in sich apodiktisch entscheidbar; also muß es schlechthin von allem ‚objektiven Sinn’ befreit werden, von mir selbst, wie andererseits ich es bin, der aller Objektivität Sinn geben müßte und Geltung” (Ms. K III 6/ 100b).96 Hier bringt Husserl nicht nur die Differenz zwischen jenem Unscheinbaren, das prinzipiell nicht objektiv erscheint, und allem objektiv Seienden zur Sprache, vielmehr bestätigt dies auch, daß sich mein apodiktisches Sein allem Objektiven entzieht und zugleich alles Objektive erst erscheinen und gelten läßt. Daraus ergibt sich: Mit der Formulierung: ‚Ich gehe mir selbst vorher’ bringt Husserl zum Ausdruck, daß ich in mir selbst eine Differenz berge, die deswegen unübersteigbar ist, weil sie gerade das Zentralste meines Ich-Seins ausmacht.97 Ich bin ein Selbstdifferieren, sofern ich mich selbst immer schon in meiner konkreten Lebensgeschichte erfahre und zugleich mein urmodales Ich-selbst niemals ‚vor Augen’ haben kann. Gerade diese sich entziehende Nähe gewährt aber die primitivste und fundamentalste Apodiktizität des ‚ich bin, ich lebe’. Alle Erscheinenden finden in dieser ‚medialen’ Evidenz die lebendige Urstätte ihrer Erscheinung, in der sie das elementarste ‚Sein’ als urfaktische Undurchstreichbarkeit gewinnen, das allerdings noch keine inhaltliche Evidenz von ihnen verbürgt. Es darf nicht übersehen werden, daß diese primärste Evidenz für mich ‚unfaßbar’ ist, sofern sie jenen sich entziehenden Charakter hat. Trotz allem besagt sie die höchste Evidenz: Eigentlich braucht man sie überhaupt nicht zu ‚erfassen’, da sie vor allem Erfassen und Bestätigen ‚gewiß’ ist, das ja seinerseits erst im Medium dieser Evidenz möglich ist. Die ‚Unfaßbarkeit’ gehört zur elementaren Struktur der Apodik-
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Das Ur-Ich geht der Identifikation voraus, die eine Art – obschon primitive – Objektivation ist: „Das ständige Ich [ist] ständig Urquelle, identisch nicht durch ein ‚Identifizieren’, sondern als Ureinig-Sein, seiend im urtümlichsten Vor-sein” (Ms. A V 5/ 6b); vgl. auch XV, 289. 95 Vgl. Kapitel VII, 2.2. Man kann auch an die ‚Umkehrung’ der Ordnung erinnern, welche die vermeintliche ‚Doxa’ in die Evidenz höchsten Grades verwandelt. Dazu ist folgende charakteristische Stelle zu berücksichtigen: „Mag Seiendes wie immer, mir eventuell in gutem Sinne als An-sich gegenüber meinem Zufälligen des Vorstellens etc. gelten — es kann mir nicht gelten, ohne daß ich selbst in Fraglosigkeit und Undurchstreichbarkeit mit dabei wäre mit meinem Bewußtseinsleben, worin diese Geltung Sinn hat” (Ms. B I 5/ 17a). 96 Auf die hier genannte ‚Freiheit’ des Ur-Ich komme ich später in 4.1 zurück. 97 Held weist darauf hin, daß die Ur-Ichlichkeit in der sich lebendig einigenden Distanzierung besteht: „Durch die vorgegenständliche Selbstidentifikation ist mein Ur-Ich etwas unverändert Stehendes und Bleibendes, durch die vorgegenständliche Selbstdistanzierung ist es etwas lebendig Strömendes [...]. So ist mein Ich in seiner tiefsten Dimension ein lebendiges Sein, worin ‚Stehen’ und ‚Strömen’ eins sind” (Held 1986, 30).
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tizität des ‚Ich bin’, da sie nur in jener Selbstdifferenz besteht, die mit dem Formel ‚Ich gehe mir selbst voran’ ausgedrückt wird. So wird man schließlich gezwungen zu sagen, daß ich gerade in meinem wesentlichen Kern mir selbst ‚unbekannt’ und ‚befremdlich’ bin. Ich begegne mir selbst nun als ‚Fremdes’. Dieses Fremde tritt nicht ‚von vorne’ auf, so daß ich es ‚vor Augen’ haben könnte. Vielmehr öffnet es sich für den phänomenologisch Denkenden mitten in seinem Ich selbst. Diese ‚Fremdheit des Eigenen’ kann von mir selbst ebensowenig abgerissen werden wie ich von mir selbst. Die ‚absolute’ Evidenz des ‚Ich bin’ besteht nur darin, daß sie sich allem erkennenden Beweisen und Gewährleisten entzieht und so dem thematisch erkennenden Geist überhaupt ‚fremd’ bleibt. In dieser ‚Fremdheit’ der ur-ichlichen Evidenz kulminiert die ‚Unbekanntheit’ des transzendentalen Ich, die Husserl folgendermaßen zum Ausdruck bringt: „Hier geht ja nicht eine Bekanntheit, mindestens einem Typus nach, voraus; ich bin als transzendentales Ich ja noch völlig Unbekanntes, noch nie in seiner Eigenheit Erfahrenes und schon Angesprochenes, Beschriebenes, unter anderen meinesgleichen Vorgegebenes, geschweige denn Substrat altvertrauter logischer Aktionen, also schon im voraus aufgefaßt in der Sicherheit, dergleichen in logischen Akten erkennen zu können” (Ms. B II 13/ 9b).98
3.3 Das ‚Ur-Hyletische’ als Fremdheit in meinem ‚Ich bin’ selbst In der bisherigen Darlegung wurde die ‚Fremdheit im Zentrum meiner selbst’ bloß in ihrer formalen Struktur festgestellt. Die gewonnene Einsicht kann aber dadurch einigermaßen konkretisiert werden, daß die Bedeutung des Ur-Hyletischen für das undurchstreichbare Selbsterleben beleuchtet wird. Im nächsten Schritt muß zunächst deutlicher herausgestellt werden, in welchem Sinn das Erscheinen von allem Erscheinenden ‚undurchstreichbar’ ist, und auf welche Weise diese Undurchstreichbarkeit von derjenigen des ‚Ich bin’ untrennbar ist. Dadurch wird die spezifische Einigkeit und ‚Nähe’ von Ur-Ich und Ur-Hyle hervortreten. Was das Sosein des für mich Erscheinenden anbelangt, so ist die Möglichkeit der Modalisierung prinzipiell nicht auszuschließen; seine inhaltsbezogene Evidenz hat nie endgültigen Charakter. Im Gegensatz dazu ist sein lebendiges, hinfälliges Für-mich-da-Sein insofern undurchstreichbar, als ich kein einziges Erscheinen ‚rückgängig’ machen kann.99 Ich kann zwar möglicherweise das Nicht-Sein eines Gegenstandes in der Welt nachweisen (‚Da ist kein Wasser, das ist nur eine Fata Morgana.’); das primäre ‚Erscheinen’ des Gegenstandes als intendierter, das bereits stattgefunden hat und stattfindet, kann ich jedoch nicht aus meinem erfahrenden Leben ‚wegwischen’, 98 99
Vgl. dazu auch XXXIV, 451f.; Ms. K III 6/ 102a. Vgl. XIV, 433f.; Ms. E III 9/ 8b; vgl. auch Kapitel VII, 2.3.2.
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auch wenn er sich als Nicht-Existierendes herausstellt. Kein Seiendes ist denkbar, das dieses primären – im Husserlschen Sinne ‚transzendentalen’ – Erscheinens entbehrt; ohne dies verlöre das Seiende jeglichen Zugang, durch den es mich überhaupt ‚angeht’. Wie fließend und vergänglich es auch erscheinen mag, kann ich doch das lebendige Ganze des Erscheinens nicht durchstreichen. Wenn ich bin, ist es auch da. Man kann dieses ‚erscheinende Ganze’ auch als ‚Welt’ bezeichnen, obwohl es noch keine gegenständliche Welt ist. Diese ‚Welt’ ist sozusagen absolut subjektiv-lebendige und von meinem ‚Ich bin, ich lebe’ als dem medialen Lebendigsein gar nicht abzutrennen. Die ‚Welt’ erscheint nicht als totes Substrat, sondern in ihrer vollen Lebendigkeit und Beweglichkeit, welche die apodiktische Medialität des ‚Ich bin, ich lebe’ von einem anderen Aspekt darstellt. „Ich bin apodiktisch und apodiktisch im Weltglauben” (XV, 385); „[...] das ‚Ich bin’ und die Zeit, die Welt, und jede mögliche Welt – das ist untrennbar” (Ms. A V 20/ 9b).100 Die Reduktion auf die lebendige Gegenwart ist nach Husserls Bestimmung „die radikalste Reduktion” auf die „Ursubjektivität” alles Mir-Geltens (XXXIV, 187). Hier handelt es sich um die ‚Urquelle’ aller Konstitution, in der die erscheinende Welt zusammen mit allem in ihr Auftretenden ‚impliziert’ ist. Diese ‚Implikation’, die freilich nicht als reelles Enthaltensein betrachtet werden darf, läßt sich in ihrer primärsten Form als die oben dargestellte Einigkeit von meinem ‚Ich bin, ich lebe’ und dem ‚für mich Undurchstreichbaren’ verstehen. In der strömenden Urzeitigung konstituiert sich die immanente (und – in weiterer Folge – die objektive) Zeit, in der sich das Gegenständliche erst als für mich Identifizierbares, als „ein für alle Mal Seien des” (XXXIV, 188), zeigen kann. In bezug auf sein Erscheinen, das notwendig im Medium des ‚Ich bin’ statthat, bemerkt Husserl: „Der Bereich des ‚ein für alle Mal’ wie des Ansich und dieser Zeit bin ich selbst, Ich, Ego” (ebd.). Es geht dabei um die undurchstreichbare ‚Einmaligkeit’. In einer Aufzeichnung von etwa 1927 beschreibt Husserl die Reduktion auf mein ‚Lebendigsein’ wie folgt: „Die Reduktion des für mich Seienden auf mich und mein Leben (mein ‚Bewusstsein’) in reiner Originalität ist Reduktion auf mein reines Dasein in seiner undurchstreichbaren Eigenwesentlichkeit und ‚Individualität’, d.i. absoluten Einmaligkeit des Daseins” (XIV, 434). Aus der Perspektive der ‚Einmaligkeit’ ist alles, was mir überhaupt erscheint und – ob positiv oder negativ – gilt, von meinem einzigartigen Urfaktum des ‚Ich bin, ich lebe’ unabtrennbar.101
100
Zur untrennbaren Einigkeit von ‚Ich bin’ und Objektivität überhaupt vgl. auch I, 117; XIV, 439. 101 Vgl. auch die Einmaligkeit der Monade und ihre undurchstreichbare ‚Individualität’, deren Möglichkeit (Essenz) ohne Wirklichkeit (Existenz) undenkbar ist; vgl. XIV, 159f., auch 98, 139; XV, 374ff.
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Es ist besonders zu bedenken, daß die Reduktion auf das ‚Lebendigsein’ des Ur-Ich keine bloße Abstraktion innerhalb der Subjekt-Objekt-Korrelation bedeutet. Das Objektive erscheint nach Husserl notwendig durch den ‚Sinn’. Die Epoché setzt dabei die sinnhafte Konstitution außer Funktion. Das besagt freilich nicht, daß ich alles für mich Erscheinende eliminieren würde. Ohne aber die geltende sinnhafte Konstitution ist das Erscheinende nicht als ein erkennbares Identisches ‚greifbar’. Alles Erscheinende reduziert sich also letztlich auf die Ur-Hyle, die sich noch nicht sinnhaft bestimmen läßt. Hier muß man die Vorstellung, daß uns die Ur-Hyle etwa ‚von vorne’ als unverständliches ‚Etwas’ begegnen würde, streng fernhalten. 102 Zu ihrem Wesen gehört es, daß sie noch nicht als ‚Gegen-stand’ aufzufassen ist. Wie Husserl seit den Logischen Untersuchungen klarstellt, erscheint das ‚Reelle’ nicht als Gegenstand, sondern wird erlebt, also nicht intendiert, sondern durchlebt.103 Das gilt für die Ur-Hyle als rein Reelles auf zugespitzte Weise: Sie entzieht sich also radikal jeder gegenständlichen Apperzeption. Bemerkenswert ist, daß diese Charakterisierung mit derjenigen des Ur-Ich übereinstimmt. Die Ur-Hyle ist keinesfalls ein Mir-Gegenübertretendes, sondern das ‚abstandslos’ Durchlebte; in diesem Sinne gehört sie auch mit zur Dimension der absoluten Nähe. In dieser Hinsicht legt Husserl besonderen Nachdruck darauf, daß sich das „Ichliche [...] in eins mit und ungetrennt von dem untersten Hyletischen” zeitigt (Mat VIII, 53).104 Das besagt nicht, daß beide bloß in minimalem Abstand nebeneinander ständen; sondern sie sind im prägnanten Sinne ‚in eins’:105 „Das Ich ist nicht etwas für sich und das Ichfremde ein vom Ich Getrenntes, und zwischen beiden ist kein Raum für ein Hinwenden; sondern untrennbar ist Ich und sein Ichfremdes [...]” (Mat VIII, 351f.). Das Hyletische gehört zum Wesen des Ichlichen und umgekehrt; ohne ein Reich des hyletischen „Nicht-Ich” „ist kein Ich möglich” (XIV, 379). Das wird besonders deutlich, wenn die radikale Reduktion auf die ‚Urquelle’ vollzogen wird. Husserl weist darauf hin, daß die Konstitution von allem Seienden „zwei Urvoraussetzungen, zwei Urquellen” hat: „1) mein urtümliches Ich als fungierendes Ur-Ich in seinen Affektionen und Aktionen [...]; 2) mein urtümliches Nicht-Ich als urtümlicher Strom der Zeitigung und selbst als Urform der Zeitigung, ein Zeitfeld, das der Ur-Sachlichkeit, konstituierend” (Mat VIII, 199). Offensichtlich gehört zu diesem ‚urtümlichen Nicht-Ich’ besonders die 102
Hinsichtlich der Affektion macht Husserl auf folgendes aufmerksam: „Das ‚Ansprechen’ des Inhaltes sei nicht Anruf zu etwas, sondern ein fühlendes Dabei-Sein des Ich, und zwar nicht erst als ein Dabeisein durch Hinkommen und Anlangen” (Mat VIII, 68a). 103 XIX/1, 359f., 387. 104 Vgl. auch Ms. C 3/ 38a, b. 105 Zahavi schreibt zu Recht: „These two sides can be distinguished, but not separated” (Zahavi 1999, 124).
Die apodiktische Evidenz des Ur-Ich
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Ur-Hyle.106 Anschließend macht Husserl unmißverständlich klar: „Aber beide Urgründe sind einig, untrennbar und so für sich betrachtet abstrakt” (ebd.). Die radikale Reduktion auf die lebendige ‚Urquelle’ der Zeitigung und Konstitution muß also als diejenige auf das Ur-Ich und die Ur-Hyle in ihrer untrennbaren Einigkeit verstanden werden. Wenn Husserl die Reduktion als Rückgang auf das ‚radikal Subjektive’ charakterisiert, darf das ‚Subjektive’ keineswegs als eine Seite der Subjekt-Objekt-Korrelation aufgefaßt werden, die durch eine Abstraktion von der anderen Seite übrigbliebe. Das Hyletische ist zwar ein ‚Nicht-Ichliches’, aber mit dem Ichlichen reell einig, kann daher ebenfalls ‚subjektiv’ genannt werden.107 Insofern habe ich in dem ‚subjektiven’ Kern meines eigenen Lebens ein ‚Fremdes’, das noch nicht sinnhaft aufzufassen ist: „Innerhalb der Innerlichkeit [ist] das erste ‚Ichfremde’ dem puren Ich vorgegeben, das Ich Affizierende (Reize Ausübende): das Hyletische. Sofern es zum Wesen des Ich gehört, auf ein ihm Fremdes (in einem eigenen Sinn ‚Äußeres’) angewiesen zu sein und reizbar zu sein” (Ms. E III 2/ 22a). Dieses ‚Äußere’ ist also nicht als ein Intentionales zu betrachten, das sich innerhalb der transzendentalen Sphäre sinnhaft konstituiert. Die hyletischen Daten sind zwar schon im primären Sinne ‚konstituiert’; die Ur-Hyle ist aber als das Urmaterial aller transzendentalen Konstitution zu verstehen.108 Es ist zu beachten, daß Husserls evidenztheoretische Argumentation, die ich in bezug auf das ‚Ich bin’ erläutert habe, im Grunde genommen auch für die Ur-Hyle gilt, da diese von jenem im strengen Sinne untrennbar ist. Oder besser: Das, was Husserl als ‚Ich bin’ bzw. ‚Ur-Ich’ behandelt, ist eigentlich die untrennbare Einigkeit des Ur-Ichlichen mit dem Ur-Hyletischen. Sofern aber das Ur-Hyletische als ein ursprüngliches ‚Nicht-Ich’ bezeichnet werden kann, habe ich in meiner absoluten Nähe des ‚Ich bin’ – im Ichlichsten des Ich selbst – ein undurchstreichbares Nicht-Ich. Die angeblich ‚realen’ Gegenstände sind das Intendierte, das das Reelle übersteigt und im Hinblick auf die Evidenz jederzeit ‚modalisierbar’ ist; es ist also – wie zweifellos es auch erscheinen mag – wesentlich relativ, obwohl diese ‚präsumtive’ Relativität eine spezifische Evidenzart darstellt.109 Im Gegensatz dazu ist die Ur-Hyle als dasjenige zu betrachten, was die Urwirklichkeit ausmacht, die für mich im echten Sinne ‚unübersteigbar’ ist. Dieses urwirkliche ‚Nicht-Ich’ steht 106
In einem Manuskript von 1921 findet sich eine entsprechende Aussage über die „Urelemente für Zeitkonstitution”, die von zwei Seiten dargeboten werden: „a) von der ursprünglich ichfremden Seite, der hyletischen, b) von der ursprünglich ichlichen Seite, den ursprünglichen Ichakten, Ichverhaltungsweisen” (Ms. E III 2/ 24b). 107 Vgl. die folgende klare Aussage: „Sofern es undenkbar ist, dass ein Ich Bewusstsein hat ohne eine Hyle, und diese sich als reell einig mit dem Ichlichen gibt, heisst auch die Hyle subjektiv” (XIV, 52). 108 Vgl. Ms. C 13/ 25a; XV, 385. 109 Vgl. Kapitel VII, 2.4.
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mir nicht in gewöhnlicher Weise ‚zur Verfügung’, ist mir nicht als ‚Gegenstand’ gegenübergestellt, sondern ist das, was mir ohne jeglichen Abstand, also in meiner einzigartigen Nähe, gegeben ist. Man muß also sagen, daß ich mitten in mir selbst das urwirkliche und unverfügbare ‚Nicht-Ich’ berge, das von mir als dem ursprünglichen ‚Ich bin’ nicht loszureißen ist.110 Das UrHyletische ist nicht etwas für mich; das habe ich nicht, sondern das lebe ich und bin ich gewissermaßen, bevor ich mich selbst dem Nicht-Ichlichen gegenüberstelle.111 Dieses ursprünglich ‚Ichfremde’ befindet sich nicht vor mir, sondern in mir selbst.
3.4 Die ‚Machtlosigkeit’ des Ich und der Andere ‚in mir’ 3.4.1 ‚Ich stehe mir nicht zur Verfügung’: Die unverhüllte Offenheit des Ich Es wurde gezeigt, daß das Ur-Ichliche mit dem Ur-Hyletischen untrennbar eins ist. Das besagt aber dennoch nicht, daß sich die ‚nicht-ichliche’ Ur-Hyle in mein Ego auflöst, sondern daß ich auf dieses ursprünglich ‚Ichfremde’ unausweichlich „angewiesen” (Ms. E III 2/ 22a) bin, daß ich ihm gewissermaßen im Innersten ausgesetzt bin. Darüber hinaus hat sich schon herausgestellt, daß mein ursprüngliches ‚Ich-Sein’ als solches so beschaffen ist, daß ich mir selbst notwendig ‚vorangehen’ muß. Das läßt sich auch dahingehend interpretieren, daß ich mir selbst in einem eigentümlichen Sinne ‚nicht zur Verfügung’ stehe. Denn die Unterscheidung zwischen Verfügbarkeit und Nicht-Verfügbarkeit erhält in bezug auf mich als das urtätige Ich erst ihren Sinn. Dazu bemerkt Husserl folgendes: „Als dieses letztlich entscheidende Ich bin ich in meinem Sein apodiktisch — von inneren Entscheidungen unbetroffen, deren Sein selbst erst in mir der Entscheidung bedarf, ob sie und was sie sind” (Ms. K III 6/ 100b). Dieses Ich selbst ist also in der Weise ‚unverfügbar’, daß es derjenige ‚Nullpunkt’ ist, von dem aus erst zu bestimmen ist, was verfügbar und was nicht 110
Die Einigkeit von Ur-Hyle und Ur-Ich beschreibt Waldenfels treffend. Bemerkenswert ist, daß er dabei auf das Vorausgehen des ‚Ich bin’ vor mir selbst hinweist: „Dieses Schon-sein bedeutet Welt- und Selbstvorgegebenheit in eins. Das ist zunächst nicht zu verstehen als äußeres Prius: Welt und Ich waren schon da, sondern als inneres Prius: ich bin mir voraus und habe eine Welt.” (Waldenfels 1971, 127). 111 Husserl macht an folgender Stelle deutlich, daß das Hyletisch-Unwillkürliche zwar nicht dem konstituierten, aktiven Ich, aber dennoch dem Ur-Ich ‚entquillt’: „Das Ich ist im Unwillkürlichen nicht schlechthin passiv, in jedem Sinne untätig; vielmehr entquillt es dem Ich, dem Ur-Ich (nicht dem Ich-Mensch und Du-Mensch)” (Ms. M III 3 III 1 II/ Tr. 35). Dies ist nicht als eine Reduzierbarkeit des Ur-Hyletischen auf das Ich zu verstehen, sondern als die ursprüngliche Untrennbarkeit und Unentrinnbarkeit des Ich vom Ur-Hyletischen. Selbst gegen das ‚Unwillkürliche’ kann das Ich im tiefsten Niveau nicht ‚gleichgültig’ sein, da es mitten in mir selbst herausquillt.
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verfügbar ist; es kann daher von der auf ihm beruhenden Entscheidung und Unterscheidung nicht betroffen werden. Mein Ich-Sein habe ich nicht ‚in meiner Hand’, da es in jeder meiner freien Verfügbarkeit vorausgesetzt ist und ihr auf diese Weise vorausgeht. Diese fundamentale ‚Unverfügbarkeit’ (bzw. ‚Urpassivität’ 112 ) des IchSeins für mich selbst kann als ein Moment der ursprünglichen Fremdheit des Ich-Seins für mich selbst verstanden werden. Diese Fremdheit ist deswegen besonders fundamental, weil sie die Macht des Ich nicht ‚von Außen her’ relativiert, sondern das ursprüngliche Ich-Sein selbst innerlich betrifft. Diese urpassive Fremdheit des Ich selbst ist keine für mich lediglich unbekannte ‚Ferne’, die in eine gewohnte Bekanntheit umgewandelt werden könnte, sondern tut sich nirgendwo anders als in meiner nächsten Nähe auf. Das phänomenologisch ‚wache’ Ich, das sich seiner urfaktischen Apodiktizität bewußt ist, stellt gerade in dieser Apodiktizität selbst jenes ‚unverfügbare’ Vor-Sein meines eigenen Ich fest. Die klarste Evidenz aller Evidenzen weist also gerade in sich die ‚Fremdheit’ des radikalen Mir-Vorangehens bzw. des Entzugs von meiner eigenen Verfügbarkeit auf. Dieses Resultat erfordert notwendigerweise einen radikalen Perspektivenwechsel in bezug auf die Vorstellung des Ich, der sich durch die bisherigen Untersuchungen schon ankündigte. ‚Ich’ ist keine verschlossene Kapsel, die aus sich nie heraustreten kann, sondern ein offenes Lebendigsein als ‚Medium’, in dem alles Seiende und überhaupt Erscheinbare erscheint. Die ursprüngliche Weise des medialen Ich-Seins steht aber außer meiner Verfügbarkeit. Das ursprüngliche Ich-Sein kann man in dieser Hinsicht als ‚hüllenlos-bloße’ Offenheit bezeichnen, in der ich auf keinerlei Weise in der Lage bin, mich dem Erscheinenden zu verschließen. Husserls evidenztheoretische Feststellung: ‚Alles ist für mich’ ist kein Zeichen für einen Solipsismus, demzufolge ich ‚triumphierend’ über allem Seienden stände, sondern meint eine ursprüngliche, ‚unumgängliche’ Offenheit, welche besagt, daß ich allem Erscheinenden in der Weise ‚ausgesetzt’ bin, daß ich dieses Ausgesetztsein überhaupt nicht ‚abhalten’ kann bzw. mich nicht dagegen ‚wehren’ kann. Wie kann ich vermeiden, daß das Erscheinen als solches geschieht? So gleicht das ‚Ich’ den Augen, die ich nicht schließen, den Ohren, die ich nicht zuhalten kann. In diesem Sinne bin ich immer schon dem Erscheinen alles Erscheinenden wehrlos ausgeliefert und auf diese Weise von ihm ‚überwältigt’. 3.4.2 Die Bekundung des Anderen in meiner ‚nächsten Nähe’ Was besagt nun diese Umwandlung der Ichvorstellung, wenn man die Erfahrung des Anderen in Betracht zieht? Das mediale Ich-Sein kann sich auch 112
Zur Urpassivität des Ich und ‚Selbsthinnahme’ des ‚Ich fungiere’ vgl. Held 1966, 162ff.
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dem Sich-Zeigen des Anderen nicht verschließen. Ich bin auch der Bekundung des Anderen, dieses radikalen Nicht-Ich, unausweichlich ‚ausgesetzt’. In evidenztheoretischer Hinsicht steht zwar fest, daß ich als die apodiktische ‚Urstätte’ aller Geltungen auch dem Gegebensein des Anderen ‚vorangehe’. Im ‚Sinn’ des Anderen bekundet sich aber das radikal Fremde, das sich all meinem sinnhaften Begreifen entzieht. Ich kann nicht ‚abwehren’, daß der Andere sich gerade ‚in mir’ – in dem offenen Medium meines Ich-Seins – als dasjenige zeigt, das selbst ‚Ich’ ist, und insofern das apodiktische Medium für alles Erscheinende sein muß.113 Dies ist aber nicht dasjenige, dessen ich mir als meines ‚Ich bin’ inne werde; das bedeutet, daß ich auch das mich radikal transzendierende ‚Fremde’ gewissermaßen in mir aufnehmen muß, daß ich dieses Fremde in meinem ursprünglichsten Ich-Sein selbst ‚wehrlos empfangen’ muß, bevor ich überhaupt zu ihm irgendwie Stellung nehmen kann.114 In dieser Dimension ‚erfahre’ ich das mich radikal Transzendierende. Diese ‚Erfahrung’ bedeutet aber keine Herrschaft des Ich, sondern vielmehr eine uneingeschränkte, ‚hüllenlose’ Offenheit, welche die Vorstellung der wie Kapseln aneinander grenzenden Ichsubjekte nutzlos macht. Das radikal Fremde ist weder vor noch neben mir, sondern in mir ‚gegeben’; dabei ist streng genommen jede räumliche oder quasi-räumliche Vorstellung des Enthaltenseins gegenstandslos, da sie eine entsprechende sinnhafte Konstitution voraussetzt, die bereits außer Geltung gesetzt ist. Um diesen thesenhaften Vorblick zu konkretisieren, soll die Apodiktizität des Ego noch einmal genauer in Erwägung gezogen werden. Sie ist nach den vorangegangenen Überlegungen als ‚Medium’ alles Erscheinens zu charakterisieren; dies kann aber kein abstraktes, allgemeines, neutrales Medium sein.115 Aus evidenztheoretischer Perspektive hat es nur als ‚Ich bin’ und ‚Ich schaue’ mediale Bedeutung. Das impliziert, daß es als letzte Evidenz nicht ein bloßes ‚Jemand schaut’ sein kann. Die Evidenz fordert, daß niemand anderer als ‚ich’ schaut: „Sowie wir also apodiktische Gewissheit fordern, sind 113
Die Bekundung des mich Transzendierenden im medialen Ich-Sein drückt Husserl, obwohl seine Analyse noch auf die sinnhafte ‚Bewährung’ zielt, folgendermaßen aus: „[...] sollten andere als transzendentale Ichsubjekte von mir aus transzendental zugänglich sein, so gehe ich mit meinem eigenen Sein vorher, und die Zugänglichkeit würde besagen, mir selbst eigenes Bewusstsein vollzieht als Anderen eine transzendente, eben mein Eigensein überschreitende Setzung, ein über mich Hinausmeinen, das doch zu Bewährung kommen kann — transzendental” (XV, 115). 114 Dieses Ergebnis würde auch bedeuten, daß die von Lévinas herausgestellte ‚Andersheit’ des Anderen Husserls Gedanken vom ‚Ur-Ich’ keineswegs widerspricht, sondern vielmehr aus ihm notwendig folgt. Dies würde Lévinas selbst – in gewissem Sinne – einräumen; vgl. dazu besonders seine späteren Schriften (Lévinas 1974, 1982). Eine eingehende Überlegung hierzu würde jedoch den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen. 115 Vgl. dazu die Kritik an der Vorstellung des ‚gemeinsamen Ursprungs’ in Kapitel V, 4.
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wir auf das Ego beschränkt” (XXXV, 145). Wie kann ich mich aber auf das Ego ‚beschränken’, wenn ich vom Non-Ego nichts weiß? Auch wenn die Reduktion in ihrer Radikalität letztlich auf das Ur-Ich führt, das nicht mehr im Gegensatz zum anderen Ich steht, besagt das nicht, daß aus ihr Unterschiedslosigkeit resultiert. 116 Durch die radikale Reduktion verschwindet zwar der Anschein, daß ich mich auf eines unter vielen Ich, also auf mein privates Ich, beschränken würde. Wenn aber die apodiktische Evidenz trotzdem das ‚Ich schaue’ sein muß und nicht ein ‚Jemand schaut’, zeigt sich in diesem ‚nicht’ eine Differenz, die noch kein apperzeptiv konstituierter Unterschied zwischen gleichgestellten Ichsubjekten sein kann. Da sind wir gewissermaßen auf ein im eigentümlichen Sinne Konkretes und Singuläres verwiesen,117 das noch nicht ein Einzelnes unter vielen anderen, aber auch nicht ‚alles’ ist. ‚Alles’ erscheint durch das Medium dieses Singulären, das selbst jedoch nicht ‚alles’ ist. In diesem Nicht-alles-Sein bekundet sich auf negative Weise das mir radikal Fremde, das insofern nicht ‚erscheint’, als alles Erscheinende durch das Medium jenes singulären ‚Ich’ zum Vorschein kommt. Es handelt sich bei dieser ‚Differenz’ als ‚Nicht’ offensichtlich um die weitere Bedeutung jenes ‚Lebendigseins’, welches das ‚Ich bin’ und ‚Ich schaue’ nicht zu einem unbewegten Endpunkt macht. Die apodiktische Evidenz des ‚Ich bin’ kann kein ‚gleichmäßiges’, ‚ein-fältiges’ Medium sein; die Medialität dieses Mediums besteht vielmehr in der ‚Differenz’, die mit dem Satz: ‚Ich gehe mir selbst vorher’ ausgedrückt wird. Die Charakterisierung der absoluten Evidenz als ‚Ich schaue’ ist einerseits aus evidenztheoretischer Perspektive notwendig, erzeugt andererseits aber gerade die „innere Unruhe” der Phänomenologie, von der Fink spricht.118 Man könnte sagen, daß Husserl als Philosoph des Sinnes das ‚Ich bin’ als letzte Urstätte aller Sinneskonstitution notwendig beanspruchen mußte, was jedoch gerade eine „treibende Ungewißheit”119 schafft, die verhindert, daß man es bei der Feststellung der Apodiktizität des ‚Ich bin’ bloß bewenden läßt. Die ‚Unruhe’ besteht darin, daß die letzte Evidenz weder als eine mir ausschließlich zugehörige Sphäre noch als das allgemeine ‚neutrale’ Absolute zu betrachten ist, das über allen einzelnen Ichsubjekten steht; die letzte apodiktische Evidenz ist ‚meine’, aber nicht ‚lediglich meine’ Evidenz. Der Sinn des ‚Mein’ durchbricht die abgegrenzte Sphäre des Mir-Eigenen, kann aber nie zu einer allgemeinen ‚Über-Instanz’ werden. Das besagt keine theoretische Unvollständigkeit, sondern eine ‚Urtatsache’ des Lebens, die phänomenologisch
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Vgl. Kapitel V, 2.1. Darauf habe ich in Kapitel VI, 4.4 in bezug auf die ‚Urperspektive’ hingewiesen. 118 Vgl. Dok II/2, 175. 119 Fink 1966, 184. 117
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herauszustellen ist. 120 Dieser ‚beunruhigenden’ Urtatsache ist das ‚radikal Fremde’ zu entnehmen, das Husserl vielleicht spürte, aber nicht klar zum Ausdruck brachte.121 Es ist aber nicht ausgeschlossen, in Husserls Texten Indizien für die Bekundung des radikal fremden Anderen aufzufinden. Sie ist vielmehr in seinen Texten überall zu spüren, sofern sie in ihnen als ‚treibende Ungewißheit’ wirksam ist. Husserl schreibt z. B., daß im Bereich des ego cogito „keine Seinsgewissheit für einen Anderen” beschlossen ist (XXXV, 145). Wenn aber der Andere in dieser Dimension überhaupt nicht in Frage käme, hätte man überhaupt keinen Anlaß, die Frage nach der transzendentalen Intersubjektivität zu stellen. Dagegen versucht Husserl bis zur letzten Phase seines Lebens unermüdlich, dieses Problem in immer tieferer Dimension in Augenschein zu nehmen, wie es in seinem Nachlaß dokumentiert ist. Bei der ‚Erfahrung’ des radikalen Anderen handelt es sich nicht mehr um ein Phänomen im eigentlichen Sinne. Daher sagt Husserl nichts Deutliches von einer solchen negativen Bekundung des Anderen aus, da von ihr keine eigentlich evidenzielle Aussage zu machen ist. Indessen ist zu vermuten, daß er sich über sie nicht hinwegtäuschen konnte, denn er reagiert auf diese nicht-erscheinende Bekundung in der Weise, daß er – die absolute Evidenz des Ich behauptend – keine Ichmetaphysik entwickelt, womit seine Phänomenologie als Theorie hätte stabiler sein können; statt dessen kommt er immer wieder auf das unbehagliche ‚Phänomen’ des Anderen zurück, der auch ein ‚Ich’ ist und alle Rechte des Ichlichen teilt.122 Husserl bringt zwar die ‚negative Phänomenalität’ des Anderen nicht klar zur Sprache, ist jedoch so schlicht und offen, daß er dieses unangenehme Problem nicht theoretisch verschleiert oder scheinbar ausradiert, sondern auf die eigene Beschreibung so ‚wirken lassen’ konnte, daß es als deren treibende Kraft dient. Über diese Andeutung hinaus möchte ich nun das ‚nicht-erscheinende’ Phänomen des Anderen konturieren. Jene Aussage, der Andere sei nicht evident gegeben, ist von Husserls Absicht der Evidenzsuche abzutrennen und als reine Beschreibung zu lesen anstatt als eine Behauptung, die das Sein des Anderen für ‚ungewiß’ erklärt und im Gegensatz zum Ich-Sein etwa ‚degradiert’. Dort ist also zum Ausdruck gebracht, daß sich der ‚Andere’ gerade 120
Dieses Ziel verfolgten die Untersuchungen des II. Teils. Es wäre zwar denkbar, daß Husserl auch in folgender Bemerkung das Gesagte im Sinn hatte: „Mein faktisches Sein kann ich nicht überschreiten und darin nicht das intentional beschlossene Mitsein Anderer etc. also die absolute Wirklichkeit” (XV, 386). Wenn er aber von dem intentionalen Beschlossensein spricht, zielt er schon offensichtlich auf den sinnhaft verstehbaren ‚Anderen’ ab, und nicht auf das radikal ‚Fremde’ in ihm. 122 Waldenfels bemerkt treffend: „Was sich nur zeigt, indem es sich entzieht, erfordert eine phänomenologische Frageweise, die den Spalt zwischen Sagen und Sichzeigen nicht nur nicht schließt, sondern von ihm ausgeht und immer wieder auf ihn zurückkommt” (Waldenfels 2001, 37). 121
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dadurch in meiner Erfahrung bekundet, daß er sich nicht zeigt. Wenn er sich in mir wie mein Ich selbst zeigen würde, höbe das den Sinn des Anderen auf. Das ‚Sein’ des Anderen besagt vielmehr für mich sein radikales Nichtpräsent-Sein.123 Durch dieses ‚Nicht’ zeichnet sich die paradoxe ‚Gegebenheit’ des Anderen aus. Angesichts dieser ‚Gegebenheit’ des Anderen steigert sich jene ‚Unverfügbarkeit’, die mein Ich-Sein grundsätzlich bestimmt. Die Machtlosigkeit des Ich prägt sich nicht nur in meinem Ausgesetzt-Sein von allem Erscheinen aus, sondern auch darin, daß ich das ursprüngliche Sein des Anderen, der in Form der sinnhaften Konstitution nicht erscheint, dennoch als ‚gegeben’ akzeptieren muß. Ich muß diese unerklärbare ‚Gegebenheit’ des NichtErscheinenden hinnehmen, das ich auf keinerlei Weise erkenntnismäßig sicherstellen kann. Der radikale Andere kann sich nirgendwo im Erscheinungsfeld geben, das von dem ‚Für-mich’ durchdrungen ist, das sich also grundsätzlich auf die apodiktische Evidenz des Ego stützt. Über dieses Medium der Evidenz kann keine Erscheinung des Erscheinenden hinaustreten. Der Herrschaft dieser Evidenz entzieht sich – wie schon festgestellt – einzig das mediale Ur-Ego selbst. Daraus ergibt sich: Wenn sich der radikale Andere, der in meinem Erscheinungsfeld nicht auftritt, mir trotzdem bekundet, kann dies für mich nirgendwo anders stattfinden als in meinem Ur-Ego selbst. Der radikale Andere, der meiner Erkenntnis nicht verfällt, bekundet sich also im tiefsten Grund meiner selbst; m. a. W., in meiner absoluten Nähe. Dort zeigt er sich als das radikale Nicht-Ich. Ich erfahre also in meiner nächsten Nähe selbst das Fremdeste.124 Dieses Fremdeste kann nicht als ‚Ferne’ bezeichnet werden, obwohl es nicht ‚vor Augen’ präsent ist. Denn die Gegebenheit von etwas als einem ‚Fernen’ impliziert, daß ich es mit Distanz betrachten kann. Das Hinsehen aus der sicheren Distanz ist eine Weise, etwas zu beherrschen, ohne selbst bedroht zu sein. Der Andere gibt sich jedoch als derjenige, von dem ich nicht ‚Abstand nehmen’ kann. Ein völlig unverständlicher, unheimlicher Mensch bringt mich deswegen in Verlegenheit, weil er nicht als ein von mir entferntes, beziehungsloses Objekt, sondern gerade als ein ‚Ich’ – als ein lebendiges ‚Ich-lebe’ – auftritt, das als solches in meinem eigenen Ich ein unabweisbares ‚Mitschwingen’ auslöst, während ich von seiner ‚inneren Welt’ fast 123
Vgl. I, 144, 139; XIV, 351. Dazu vgl. die genauere Argumentation in Vf. 2002 (bes. 66ff.), die dasselbe Thema aus der Perspektive der zeitlichen Individuation behandelt. Diese Argumentation dient offensichtlich dazu, den Gedanken der ‚Nähe’ des Anderen bei Lévinas (Lévinas 1974, 102ff.) phänomenologisch zu bestätigen. Er spricht beispielsweise von: „L’autre en moi et au sein de mon identification même” (ebd., 160). Auch Nishida unterstreicht mehrfach, daß ich das Du als die absolute Andersheit im Urgrund meines eigenen Seins finde (Nishida 1948, 380ff.). Dasselbe stellt Kimura durch seine psychopathologischen Überlegungen fest (Kimura 1990, 290ff.).
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nichts erkennen und wissen kann. Das Sich-Bekunden des fremden Ich, von dem ich immer schon ‚betroffen’ bin, kann ich nicht ignorieren, obwohl es sich nicht in meine Erkenntnis aufnehmen läßt und sich nicht wie das evidente Erlebnis von mir selbst gibt. Selbst das Ignorieren ist eine Weise des Antwortens auf den Anderen, in der ich die unleugbare Manifestation des Anderen immer schon empfangen habe. Oder: Ich lasse ihn ins Zentrum meines Ich-Seins ein, bevor ich auf ihn irgendwie erkennend reagieren kann. Die Bekundung des Anderen greift mich in meinem ur-ichlichen Grund an. In meinem Kern sich bekundend gehört er doch auf keinerlei Weise zu mir. Diese ‚Nähe’ des Anderen sprengt die gewöhnliche Ordnung von Nähe und Ferne, die für mich die Ordnung der Evidenz bedeutet.125 Obwohl sich der Andere in meiner ur-ichlichen, absoluten ‚Nähe’ bekundet, habe ich nicht die geringste Ahnung, wohin (zu welchem Ort) er gehört: Er läßt sich in dem von mir erkennbaren Universum des Wirklichen und Möglichen nicht lokalisieren. Er gibt sich gewissermaßen als ortlos und a-dimensional, ist nicht zu fassen, aber dennoch ‚erfahren’.126 So derangiert der Andere die Ordnung des erscheinenden Universums von Grund auf, die auf meiner apodiktischen Evidenz beruht. Die Begegnung mit dem Anderen ist für mich ein – zumindest potentielles – ‚Durcheinandergeraten’. Dies ist zwar gewöhnlicherweise durch die Sozialisation und die damit ermöglichte Antizipierbarkeit scheinbar verharmlost; die Begegnung mit dem Anderen verliert aber ihren beunruhigenden Charakter nicht. Selbst in einer sehr vertrauten Person kann sich jederzeit ein unermeßlicher Abgrund auftun; ohne diese Möglichkeit wäre es nicht anders, als wenn man allein ist. Das Mitsein des Anderen besagt eine Potentialität, daß die universale Ordnung, in der sich mein Verstehen des Gegenständlichen überhaupt bewegt, umgestürzt werden kann. Diese Potentialität verbürgt mir, daß mein Leben und Erfahren in meiner von mir projizierten universalen Ordnung der Erkenntnis nicht erstarrt. Darauf gehe ich im nächsten Abschnitt ein.
4. DIE SELBSTVERANTWORTLICHKEIT DES DENKENS UND DIE OFFENHEIT FÜR DAS ‚FREMDE’ Am Schluß möchte ich noch ein bedeutsames Moment des Husserlschen IchGedankens in Erwägung ziehen, aus dem sich ergibt, daß sich die Phänomenologie dem radikal Fremden für das schauende Ich nicht verschließt: Es
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Vgl. Kapitel VII, 2.4. In diesem Zusammenhang kann man an die „Nähe” als „Nicht-Ort” (non-lieu) und „Utopie” bei Lévinas erinnern (Lévinas 1974, 58, 103, 229).
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geht um die ‚Selbstverantwortlichkeit’ des Denkens. Dabei spielt die Evidenzlehre wiederum eine entscheidende Rolle.
4.1 Die Selbstverantwortlichkeit des ‚Ich schaue’: Verbindlichkeit und Freiheit der Evidenz Es hat sich herausgestellt, daß jedes Verständnis des ‚Sinnes’ letztlich auf der apodiktischen Einsehbarkeit beruht, die das ‚Ich schaue’ bedeutet. Warum ist aber das ‚Schauen’ nicht als etwas Allgemeines, nicht mehr Ichliches zu charakterisieren? Zur Beantwortung dieser Frage dient neben den vorangegangenen Erörterungen noch ein wichtiger Gesichtspunkt, der bisher im Hintergrund geblieben ist: Wenn das sinnhaft-intentional aufzuzeigende System der transzendentalen Erfahrung letztlich in einem allgemeinen Schauen verankert wäre, das ‚niemandes’ Schauen wäre, müßte man dieses System als ein ‚Vollkommenes’ annehmen, das außer sich nichts übrig ließe, was noch sinnvoll behandelt werden könnte. Das würde eine ‚perfekte Theorie’ darstellen, die niemand mehr korrigieren oder bestreiten könnte, denn sie würde weder von ‚mir’ noch von ‚dir’ oder sonst irgend jemandem, sondern von einem angeblich über-ichlichen, ‚absoluten Schauen’ als solchen geschaut und verbürgt. Entgegen dieser Verabsolutierung eines philosophischen Systems findet man bei Husserl eine völlig andere Haltung zum System und zur Theorie: Er charakterisiert das absolute Schauen durchgängig als ‚Ich schaue’. In einer späten Aufzeichnung akzentuiert er, daß „wir eine Philosophie versuchen aus wirklicher Verantwortung, die nur meine eigene sein kann und erst von mir aus ‚unsere’, eine ‚objektive’” (XXIX, 331f.). Die apodiktische ‚Antwort’ auf transzendentale Fragen gibt nicht irgend jemand anders, sondern es geht um die „Antworten, die ich selbst gebe und in transzendentaler Absolutheit verantworte” (ebd., 331). Sofern die Evidenz das Erfüllungsbewußtsein der Selbstgegebenheit darstellt, besagt dies, daß sie auch die Bedeutung des ‚Für mich da’ notwendigerweise impliziert. Ich kann nicht ohne weiteres dasjenige als Wahrheit hinnehmen, was ich mittelbar von jemandem erfahren habe. Die Evidenz muß von mir selbst vollzogen werden. Eine bloß symbolisch vorgestellte Wahrheit ist zwar eine Möglichkeit der Wahrheit, die bewährt werden kann, aber noch keine Wahrheit als solche, die ihre Rechtsquelle im ‚Schauen’ und ‚Einsehen’ hat: „Ich, der aktuell hier Überlegende und irgendeine Wissenschaft Aufklärende, muß mir sagen, daß aus meinem Erkennen, aus meinem Leben alle Wahrheit, die für mich ist und soll sein können, sich verstehen muß, ihr Recht sich aufklären muß. Mein Leben ist das an sich Erste, ist der Urgrund, auf den alle Begründungen zurückbezogen sein müssen” (VIII, 396).
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Darunter kann man nicht einen subjektiven Dogmatismus verstehen, der behaupten würde: Alles, was ich sage, ist wahr. Husserls Pointe liegt vielmehr darin, daß ein angeblicher ‚Objektivismus’ ein sich tarnender Dogmatismus sein kann. Husserls Anliegen ist eigentlich viel bescheidener als dasjenige dessen, der die Objektivität der Wahrheit schlechthin behauptet. Wer sagt: ‚Ich sehe das als wahr und verantworte die Antwort’, der verantwortet auch die mögliche Konsequenz, daß sich die Antwort als falsch erweisen könnte. Wer hingegen seine Aussage einfach als ‚objektive’ Wahrheit hinstellt, befindet sich in einer Selbstvergessenheit, in der er nicht vor Augen hat, daß niemand anderer als er die betreffende Wahrheit als solche einsieht; ihre ‚Evidenzquelle’ liegt in seinem eigenen Evidenzerlebnis. Wenn es um diejenige Wahrheit geht, die von jemand anderem behauptet wurde, vollziehe ich als der sie als ‚wahr’ Aussagende, das urstiftende Evidenzerlebnis des Stifters nach.127 Allein durch diesen Nachvollzug kann ich die betreffende Wahrheit als Wahrheit aussprechen. Es ist nichts anderes als mein Evidenzerlebnis, das die Wahrhaftigkeit meiner Aussage verbürgt und verantwortet: „Die absolute Rechtfertigung aller ursprünglichen Setzungen und wissenschaftlichen Bestimmungen von Objektivitäten, die ursprüngliche Rechtfertigung also aller Wissenschaften, setzt voraus, dass der Erkennende absolutes Selbstbewusstsein in einer absoluten Rechtfertigung vollziehe, im ego cogito” (XXXV, 434). Die objektive Wahrheit kann daher nicht eine abgeschlossene sein. Ihre ‚Nicht-Endgültigkeit’ schadet aber ihrer Evidenz nicht im geringsten. Von einem bloßen Relativismus kann hier keine Rede sein. Die Wahrheit schöpft zwar ein wesentliches Moment ihrer Wahrhaftigkeit aus meinem Evidenzbewußtsein des Nicht-anders-sein-Könnens, ohne das keine Wahrheit möglich wäre. Das bedeutet aber nicht, daß ich willkürlich bestimmen könnte, was wahr und was falsch wäre. Im Evidenzbewußtsein besteht kein Raum für eine Willkürlichkeit, in der man sich für das A entscheidet, das auch B sein könnte. In der apodiktischen Evidenz bin ich vielmehr an die Notwendigkeit des Nicht-anders-sein-Könnens gebunden. Diese Gebundenheit an die Evidenz besagt aber nicht unbedingt eine Gebundenheit an das objektiv Festgestellte. In dieser Hinsicht ist zu berücksichtigen, daß die Evidenz ‚ausgelegt’ bzw. ‚expliziert’ werden kann. Ihre erste Auslegung kann sich als ungenügend und korrekturbedürftig herausstellen. Denn es ist jederzeit möglich, daß die erste unklare Evidenz sich deutlicher zeigt oder auf weitere Evidenzen verweist. Zur Evidenz als solcher gehört als Grundzug, daß sie nicht an das objektiv Ausgelegte und Festgestellte starr und fest gebunden ist, sondern
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Vgl. Beilage III der Krisis, die als „Ursprung der Geometrie” bekannt ist (VI, 365ff.).
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darüber hinausgehend sich entfaltet.128 Nicht eine Auslegung der Evidenz, sondern die Evidenz selbst zeigt sich als letzte Instanz, nach der sich die Auslegung richten muß. Der folgenden Stelle kann man diese ‚Offenheit’ der Evidenz, die dennoch verbindlich ist, unmißverständlich entnehmen: „Die Möglichkeit der Täuschung gehört mit zur Evidenz der Erfahrung und hebt ihren Grundcharakter und ihre Leistung nicht auf [...]. Evidenz der Erfahrung ist also hierbei immer schon vorausgesetzt. Die bewußtseinsmäßige ‚Auflösung’ einer Täuschung, in der Ursprünglichkeit des ‚nun sehe ich, daß das eine Illusion ist’, ist selbst eine Art der Evidenz, nämlich die von der Nichtigkeit eines Erfahrenen, bzw. von der ‚Aufhebung’ der (vordem unmodifizierten) Erfahrungsevidenz. [...] Selbst eine sich als apodiktisch ausgebende Evidenz kann sich als Täuschung enthüllen und setzt doch dafür eine ähnliche Evidenz voraus, an der sie ‚zerschellt’” (XVII, 164).129 Die apodiktische Evidenz ist also als Medium immer schon vorausgesetzt, unterscheidet sich aber prinzipiell von der objektiv erstarrten Gestalt der Evidenz. Darüber hinaus darf nicht übersehen werden, daß diese Nicht-Gebundenheit der Evidenz an das objektiv Festgestellte gerade die Kritik der Evidenz erst ermöglicht. Evidenz bedeutet für das Ich eine unentrinnbare Verbindlichkeit und zugleich eine Freiheit, da ich mich aufgrund der Evidenz von jedem Ausgesagten und ‚Gefestigten’ loslösen und dieses jederzeit einer freien Kritik unterziehen kann.130 Diese ‚Freiheit’ bedroht nicht die Invarianz der Wahrheit, sondern gewährleistet vielmehr, daß eine Wahrheit jederzeit kritisch überprüft werden kann, so daß sie sich bewähren läßt; sie bleibt aber ein Korrelat des Evidenzbewußtseins, und nur insofern kann sie als ‚zweifellose’ erscheinen. Keine ausgesagte Wahrheit gilt also bedingungslos und ‚autark’; keine kann sich einer Kritik entziehen. Gerade dadurch kann aber eine Wahrheit gegebenenfalls unendlich bekräftigt werden. Es ist nun zu bedenken, daß die oben erläuterte ‚Freiheit’ und ‚Verbindlichkeit’ der Evidenz mit der Selbstverantwortung des Denkens untrennbar
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Das ideale Korrelat dieses Prozesses ist die vollkommen objektive Wahrheit, deren Adäquation eine ‚unendliche Idee’ bzw. ein ‚Limes’ ist; vgl. dazu Kapitel VII, 2.3.2. Es ist zu beachten, daß die Unterscheidung zwischen Apodiktizität und Adäquatheit es ermöglicht, den bindenden, aber nicht gebundenen Charakter der Evidenz verständlich zu machen. 129 Husserl bemerkt: „[...] die naive Evidenz gibt sich als irrelativ – das führt zum verkehrten Rationalismus; sie muß relativiert werden” (Ms. A I 31/ 20b; vgl. Ms. B I 14/ 149b). Dogmatisch ist die naive Evidenz; die apodiktische Evidenz im Husserlschen transzendentalen Sinne ist keine absolute im Gegensatz zur relativen Evidenz, sondern impliziert wesentlich die Relativität und Mannigfaltigkeit der Explikationen. 130 Mit dieser ‚Freiheit’ ist die Epoché untrennbar verbunden, die letztlich auf das selbstverantwortliche ‚Ich denke’ in der Apodiktizität führt. In der „freien Epoché” bin ich, sagt Husserl, der „unbeteiligte Betrachter aller und auch der eigenen Philosophie” (XXIX, 419); vgl. XXIX, 374f., 416.
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zusammenhängt.131 Jede Evidenz und Wahrheit stützt sich letztlich auf mein ‚Ich schaue’; dies ist es, das meine Aussage ‚verbindlich’ macht und zugleich von einem dogmatischen Verharren am Festgestellten befreit. Die blinde Hinnahme eines angeblich objektiv Festgestellten besagt hingegen, daß man zum Wahrheitsgrund seiner eigenen Aussage nicht Stellung nimmt; darin besteht eine Verantwortungslosigkeit der Aussage. Wenn man andererseits die ‚Freiheit’ der Evidenz mit der schrankenlosen Willkürlichkeit vermengt, ergibt sich ein relativistischer Skeptizismus, der eine andere Art von Verantwortungslosigkeit darstellt. Allein die Berufung auf mein eigenes ‚Ich schaue’ ermöglicht eine ‚letztverantwortliche’ Aussage, in welcher sich der Aussagende direkt auf seine eigene Evidenzquelle der Aussage stellt und zugleich sich selbst kritisch gegenüberstehen kann.132 Bei der medialen ‚Apodiktizität’ handelt es sich – wie ich schon zeigte133 – um „eine absolut apodiktische Selbstverständlichkeit” (VI, 425), die das natürliche Erkenntnisleben immer schon unthematisch durchlebt. Für die Philosophie ist es aber entscheidend, daß diese ‚Selbstverständlichkeit’ als solche thematisiert und ausdrücklich anerkannt wird: „Die Enthüllung dieser Selbstverständlichkeit und ihre apodiktische Inanspruchnahme ergibt den absolut apodiktischen Boden einer Philosophie [...]” (ebd.). Es würde für den Philosophen eine fundamentale Unverantwortlichkeit gegenüber seiner eigenen Erkenntnis und Aussage bedeuten, wenn er denjenigen Boden nicht anerkennt oder sogar negiert, auf den sich seine ganze Erkenntnis und jede Aussage stützt.134 Durch den Rekurs auf die selbstverantwortliche Evidenz wird also nicht der „alte Rationalismus” erneuert (VI, 346).135 Die ‚Selbstverantwortung’ meint vielmehr ein fundamentales Selbstverstehen des Denkenden, in dem er des Grundes seines ‚Sehens’ inne wird: „Die ratio, die 131
Zum Zusammenhang von Freiheit und Selbstverantwortung vgl. XXIX, 377. Held versteht unter „Freiheit” bei Husserl „die Verantwortlichkeit, die ich als transzendentales Ur-Ich besitze, das sich durch keine Vergegenständlichung einholen läßt” (Held 1986, 47). 132 Husserl zufolge muß jeder Wissenschaftler einsehen, „daß Wissenschaft, daß Philosophie entweder einen Boden naiver Vorurteile hat oder einen neu und frei geschaffenen Boden aus absoluter Selbstverantwortung – das ist meiner, in der unwiederholbaren Einzigkeit meines Ich”, daß die Transzendentalphilosophie „der Weg der Selbstverantwortung überhaupt ist, der echten, der den Menschen zu sich selbst, zu seinem absoluten ‚Ich selbst’, als mich verantwortendes, zurückführt” (XXIX, 165). Darin sieht Husserl die Aufgabe des letzten Selbstverständnisses vom Menschen (VI, 275, 429f.). In dieser Hinsicht würde Husserl Aguirres Ansicht zustimmen, daß die Einzigkeit und Undeklinierbarkeit des Ur-Ich „die Auszeichnung des Menschen” sei (Aguirre 1982, 46), wobei der Begriff Mensch nicht anthropologisch oder humanistisch mißverstanden werden darf. 133 Vgl. Kapitel VII, 2.5.2. 134 Vgl. auch die bemerkenswerte, als Motto diesem Kapitel vorangestellte Passage (VI, 439); auch VI, 115; I, 118. 135 Mit Aguirre kann man sagen, daß Husserls Phänomenologie „eine klare Absetzung gegen den klassischen Rationalismus” ist (Aguirre 1972, 103f.).
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jetzt in Frage ist, ist nichts anderes als die wirklich universale und wirklich radikale Selbstverständigung des Geistes in Form universaler verantwortlicher Wissenschaft” (VI, 346). Es ist dabei nicht aus dem Auge zu verlieren, daß der „äußerste Radikalismus der philosophischen Selbstverantwortung” (VI, 426) nicht zu toten Formeln führt,136 sondern zur absoluten Freiheit des lebendigen ‚Ich schaue’, die ihm selbst – im bereits erläuterten Sinne – ‚vorangeht’ und jeder objektiv fixierten Evidenz kritisch begegnen kann. 137
4.2 Die Anderen und das ‚Fremde’ der Theorie Aus dem Gesagten ergibt sich, daß die Berufung auf das apodiktische ‚Ich schaue’ keineswegs als dogmatisch zu bezeichnen ist, sondern im Gegenteil auf entscheidende Weise verhindert, daß die Phänomenologie zu einer angeblich ‚absoluten Theorie’ erstarrt und sich ihrem ‚Fremden’ verschließt.138 Es soll nun gezeigt werden, daß das Problem des ‚radikal Fremden’ aus dieser Perspektive eine neue Bedeutung erhält. Der Gedanke, daß alle Anderen ihr Sein ‚in mir’ bezeugen müssen, scheint insofern in Schwierigkeiten zu geraten, als er die Frage beantworten muß, auf welche Weise der Andere in seiner radikalen Fremdheit dennoch ‚gegeben’ sein kann. Die Fremdheit des Anderen kann gewiß als ein ‚Sinn’ betrachtet werden; ich kann ‚sinngemäß’ verstehen, daß sich mir der lebendige Andere nicht vollständig gibt. Wenn ich aber die radikale Fremdheit des Anderen bloß sinnhaft ‚annähme’, hätte sie nur eine Evidenz niederen Ranges, die im Prinzip jederzeit gestrichen und für ‚Schein’ erklärt werden könnte. Dagegen scheint man einwenden zu können, daß das ‚Wirklichsein’ des Anderen über alle meine sinnhaften Auffassungen hinausgeht, m.a.W. jeder sinnhaften Konstitution vorangeht. Muß man demzufolge sagen, daß Husserls Phänomenologie, die sich als universale ‚Sinnesaufklärung’ bestimmt, nicht den ‚wirklichen’ Anderen erreichen und man nicht vom urfaktischen ‚Dasein’ des Anderen sprechen kann? Auf diese Skepsis kann man mit folgender Gegenfrage antworten: Muß und kann das Dasein des Anderen wirklich durch die ‚Theorie’ verbürgt 136
Husserl schreibt an Cairns: „Bedenken Sie, dass meine Schriften keine formelhaft zu lernenden Resultate bringen, sondern Fundamente um selbst bauen zu können, Methoden um selbst arbeiten zu können, Probleme, sie selbst zu lösen” (Dok III/4, 24). 137 ‚Selbstverantwortlichkeit’ markiert also die einzigartige Weise, in der die Evidenz für immer ‚meine’ ist, ihren einmalig-singulären Charakter nie verliert, aber dennoch als ‚Maß’ des Wissens fungiert, ohne das auch die ‚objektive’ Evidenz nicht möglich wäre. Hier befindet man sich sozusagen jenseits von Relativismus und Dogmatismus. Dies könnte – was im Rahmen der vorliegenden Untersuchung jedoch nicht geleistet werden kann – im Hinblick auf Nietzsches Perspektivismus näher erörtert werden. 138 Darin sieht Landgrebe den entscheidenden Unterschied zwischen Husserls Gedanken vom notwendig vorangehenden ‚Ego’ und dem absoluten Idealismus (Landgrebe 1963, 196).
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werden? Die Frage muß verneint werden, denn es wäre vielmehr eine Hybris, wenn man behaupten würde, daß eine ‚Theorie’ das Wirklichsein des Anderen in sich vollkommen ‚subsumieren’ und ‚absorbieren’ könnte. Das würde einen versteckten Solipsismus bedeuten, da eine Theorie aus Aussagen besteht, die notwendigerweise jeweils ‚meine’ sein müssen. Auch wenn eine solche Theorie von mehreren Forschern (von ‚uns’) vertreten wird, liegt ihre Evidenzquelle letztlich jeweils in meinem ‚Ich schaue’. Die wirklichen Anderen stehen immer ‚außerhalb’ der Theorie. Das ist offenbar eine gesunde ‚Selbstverständlichkeit’, die durch eine extreme Verallgemeinerung und Verabsolutierung der philosophischen Theorie leicht in Vergessenheit geraten kann. Unter ‚Anderen’ müssen diejenigen verstanden werden, die ich nie ‚neben mir’ gleichgestellt finden kann;139 wäre dies nämlich der Fall, wären sie nur die sinnhaft aufgefaßten Anderen, die theoretisch vollständig bestimmt werden könnten. Ob absichtlich oder nicht – Husserl spricht nicht explizit vom radikal fremden Anderen, der über allen ‚Sinn’ hinausgeht. Dies wäre eine konsequente Haltung, sofern er sich für einen Analytiker aller erdenklichen ‚Sinne’ hielte.140 Wenn er aber auf die ‚Selbstverantwortung’ der philosophischen Aussage Anspruch erhebt, bekundet sich darin zumindest, daß er niemals das sinnvoll Ausgesagte verabsolutiert, sondern vielmehr im Auge behält, daß jede Aussage immer schon auf dem urfaktischen ‚Medium’ der apodiktischen Evidenz beruht, die sich als mein urfaktisches ‚Ich schaue’ vollzieht. Die Philosophie muß ausgesprochen werden; ohne das Sprechen und Aussagen wäre sie nichts. Es gibt keine reglose ‚Philosophie an sich’, die von jedem Aussagen unabhängig wäre. Husserls ‚strenge Wissenschaft’ stützt sich durchgängig auf das ‚selbstverantwortliche’ Aussagen, das sein Recht allein aus dem Evidenzvollzug des Aussagenden schöpft.141 Husserl versteht also unter Philosophie eine unendliche Aufgabe, die immer auf dem Weg zur Erfüllung ist. 142 Er meint, daß die verwirklichten Philosophien und ihre Aussagen – auch Husserls eigene – prinzipiell jederzeit korrigiert, ja sogar umgestürzt werden können. 143 Die ‚Philosophien’ im Plural sind nicht relativistisch 139
Vgl. VI, 346. Vgl. XVII, 13; I, 117ff.; Dok III/9, 83f. Es wäre auch denkbar, daß Husserl – wie der frühe Wittgenstein – über dasjenige schwieg, was nicht ‚sinnvoll’ ausgesprochen werden kann. Dabei war er möglicherweise konsequenter als dieser, da er tatsächlich schwieg, anstatt zu sagen, daß man schweigen müsse. Man könnte auch daran erinnern, daß sich Husserl nahezu sein ganzes Leben hindurch für religiöse Probleme stark interessierte, sich aber in seiner theoretischen Arbeit eine Haltung der asketischen Selbstbeschränkung bewahrte (vgl. Dok III/3, 83, 419; Dok III/4, 408; Dok III/7, 237; Dok III/9, 124; Cairns 1976, 23, 46f.). 141 Vgl. Brand 1955, 52; Ströker 1988, 263. 142 Vgl. VI, 273ff.; XXIX, 405. 143 Vgl. hierzu folgende charakteristische Stellen: „Die Phänomenologie geht auf Wahrheit aus, aber Wahrheit in ständiger Bewegung, antizipierend, dass jede erreichte Wahrheit als 140
Die apodiktische Evidenz des Ur-Ich
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zu betrachten, sondern tragen in sich die Philosophie als universale teleologische Idee.144 Diese ‚Idee’ zwängt uns aber nicht in eine bestimmte Richtung, sondern eröffnet uns immer auch andere Möglichkeiten, und zwar auf radikale Weise. Dessen inne zu werden, auch darin besteht das wesentliche Moment jener Freiheit und Selbstverantwortung des philosophischen Denkens. Eine philosophische ‚Theorie’ kann sich also – wie vollkommen und universal sie auch erscheinen mag – niemals von ihrem ‚Fremden’ losreißen. Husserl betrachtet die gewisse „Vagheit”, welche den tatsächlichen Philosophien anhaftet, nicht als ein Zufälliges, sondern als „das Schicksal aller Begriffsgebilde, universal gesprochen, aller philosophischen aus Wesensgründen” (XXIX, 405). So fährt Husserl fort: „Diese Vagheit als ein in allem Umgriffenen, doch nicht Ergriffenes, +die, also ungeformte Tiefe ausmacht, ist schwer zu fassen” (XXIX, 405f.). Es sei eine Naivität, hier mit schulmäßigen Definitionen oder Logistik helfen zu wollen, da diese selbst zum Problem gehören. M.a.W., es geht hier eigentlich um das „Rätsel der Voraussetzung der Vernunft” (XXIX, 31), die der Wissenschaftler in seiner theoretischen Interessenrichtung naiv unterläßt (ebd., 30f.). Dies sind wesentlich „unbehagliche” Fragen, mit denen jede Theorie behaftet ist (ebd.). Diese ‚Unbehaglichkeit’ hängt offenbar untrennbar mit der ‚Fremdheit’ des eigenen urfaktischen, lebendigen ‚Ich schaue’ zusammen, das allerdings auch die Quelle der ‚Freiheit’ des Denkens ist. Jede meine Aussage hat also ihren ‚verbindlichen’ Grund darin, daß sie aufgrund des Evidenzbewußtseins ‚selbstverantwortlich’ in Anspruch genommen wird; aber gerade deshalb entzieht sich das evidenzielle ‚Ich schaue’ dem Horizont des Ausgesagten.145 Jede Aussage ist dem notwendig bleibenden ‚Fremden’ ausgesetzt, das ihr sowohl durch die ‚Freiheit’ von meinem eigenen kritischen ‚Ich schaue’ als auch durch diejenige des Anderen gegenübertreten kann. Wenn Husserl von der transzendentalen ‚Philosophengemeinschaft’ spricht, handelt es sich nicht nur um die Intersubjektivität, die durch die phänomenologische Theorie relative in einem Horizont vermöglicher systematischer Vervollkommnung ist [...]” (Ms. K III 6/ 59; zit. nach Brand 1955, 51); vgl. Ms. K III 6/ 100a; VIII, 406; XXXIV, 431ff. Es sei auch Finks Bemerkung über Husserl herangezogen: „Immer war er bereit, alle Erkenntniserwerbe, alle Theoreme aufzugeben, wenn die Sache sich anders zeigen sollte” (Fink 1976, 225). 144 Vgl. XXIX, 403ff.; Hoyos Vásquez, 1976, 196; Nitta 1978b, 178ff.; Melle 1988, 59. Husserl bemerkt in einem Brief: „Die Struktur der konstitutiven Unendlichkeiten ist selbst eine Unendlichkeit in Bewegung, mit einem Horizont von Entwicklungsmöglichkeiten und Entwicklungswirklichkeiten, der zwar eine allumspannende Vorzeichnung hat, aber nicht eine in endlicher Axiomatik abschließbare ontol Struktur und Theorie” (Dok III/3, 497f.; m. H.). Wenn er dabei von einer „Unendlichkeit der Teleologie” spricht, besagt dies „nicht eine einlinige oder mehrlinige Unendlichkeit, es ist ein unendliches Strahlensystem von Unendlichkeiten” (ebd., 498). 145 Auch Held verbindet die Möglichkeit der freien verantwortlichen Selbstkritik mit der Anonymität des Ur-Ich (Held 1966, 182).
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Kapitel VII
entsprechend behandelt werden kann, sondern darüber hinaus um das ‚Fremde’ der Theorie, das sich von ihr nie subsumieren läßt, da es zu ihren eigenen ‚selbstverständlichsten’, also unüberholbaren Voraussetzungen gehört. Aus der Perspektive der Modifikationslehre kann man dies dahingehend umschreiben, daß es hier nicht nur um die monadisierten Anderen geht, die mit meiner Monade gleichgestellt sind, sondern auch um das ‚Fremde’ inmitten des Monadisierens selbst, das durch die erfolgte monadisierende Modifikation notwendigerweise verdeckt wird.
5. SCHLUß Aufgrund der vorangegangenen Überlegung kann man schließlich feststellen, daß Husserl niemals die ‚gesunde Selbstverständlichkeit’ aus dem Auge verloren hat, daß ‚ich selbst’ und die Anderen als wirklich Aussagende – mit ihrer urfaktischen Wirklichkeit des Lebens – nicht in, sondern vor und außerhalb der Philosophie stehen: „Das Leben geht immer vorher der auslegenden Methode und diese Methode ist selbst Leben [...]” (XXXIV, 175).146 Das ‚Fremde’ der Theorie meint nicht etwas Extravagantes, sondern das ‚selbstverständlichste’ Leben, Sehen und Aussagen, das aber in unserer ‚nächsten Nähe’ durchlebt wird und sich deswegen paradoxerweise dem theoretisierenden Blick immerfort entzieht. Wenn Husserl dennoch versucht, diese scheinbar ‚triviale’ Selbstverständlichkeit zur Sprache zu bringen, nehmen seine Aussagen einen befremdlichen Anschein an. Diese beunruhigende ‚Befremdlichkeit’ ist dasjenige, das nicht überwunden werden soll, sondern bis ins Unendliche ‚durchgehalten’ werden muß. Husserl befaßt sich mit der systematischen Begründung alles sinnhaft Auszusagenden, indem er das Universum der ‚Sinne’ in seiner durchgängigen Evidenzstruktur untersucht. Dabei schält sich das ‚UrIch’ als der letzte ‚Ankergrund’ bzw. als ‚Medium’ der Evidenzstruktur heraus, in dem sowohl das welterfahrende Leben als auch die phänomenologische Enthüllung selbst verwurzelt ist; es handelt sich dabei um die „Quelle alles erdenklichen Seins, aller erdenklichen Wahrheit — die für mich, den sich Besinnenden, je soll Sinn haben können [...]” (XXXIV, 451). Genau dieses ‚Ur-Ich’ – und seine ‚strömende Gegenwart’ – zeigt sich jedoch als dasjenige, das dem Universum der ‚Sinne’ prinzipiell entgeht.147 Das 146
Vgl. I, 177. Zum urtümlichen Strömen bemerkt Husserl: „Es ist als Vor-Sein unerfahrbar, unsagbar; sowie das Unsagbare bzw. Unerfahrbare aufgewiesen, also doch erfahren und zum Thema einer Aussage wird, ist es eben ontifiziert” (Mat VIII, 269). Das Ego ist nicht mehr „das urtümliche ego”, „wenn es selbst als seiend in Anspruch genommen, bezeichnet, ausgesprochen ist, gar beschrieben” (XV, 584).
147
Die apodiktische Evidenz des Ur-Ich
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,UrIch’ ist der Urgrund und das innere Fremde dieses Universums zugleich. Das besagt, daß es nicht in dem Universum des Seienden eine überlegene – herrschende – Position einnimmt, sondern vielmehr aus diesem ‚sinn-reichen’ Land für immer vertrieben ist, während es bei allem Erscheinen des Seienden notwendigerweise ‚dabei’ ist. Es ist das ‚Ego’, das „fälschlich” so heißt (XV, 586), denn es gibt keine entsprechende ‚richtige’ Beschreibung des ‚Ur-Ich’, da es sich hierbei um eine wesentlich ungewöhnliche, ‚regelwidrige’ Bezeichnung handelt, die ein Nicht-sinnhaft-Auszusagendes zum sprachlichen Ausdruck bringen soll. Dieser Ausdruck zeigt jedoch gerade durch seine ‚Fremdartigkeit’ etwas an, was man zunächst einmal als Problem ‚sehen’ soll. Das ‚Ur-Ich’ bleibt also für eine Theoretisierung und Systematisierung wesentlich ‚unbehaglich’, verschafft dieser jedoch eine ‚gesunde Offenheit’, indem es das Fremde der Theorie bleibt. Es verneint die Theorie nicht, führt also nicht zu einem Skeptizismus, der die Möglichkeit der Wahrheit und der enthüllenden Feststellung des Sinnes-Universums in Frage stellt. Vielmehr erweist sich an diesem ‚Fremden’, daß alles theoretisch Invariante – wie dasjenige der Logik – nicht als Leblos-Erstarrtes, sondern in einer ursprünglichen Belebung bzw. in einer unendlich-lebendigen Selbsterneuerung ist; das macht seine ‚Evidenz’ aus, die eine unendliche Transformation – Umdeutung und Umformulierung – des Identischen zuläßt. Mit dem Begriff des ‚Ur-Ich’ liefert Husserl einen Ansatz, das dem ‚Sinn’ Entgehende zu denken, ohne das Universum der ‚Sinne’ zu leugnen. Dadurch wird es ermöglicht, daß die Ordnungen der ‚Sinne’ als Evidenzen festgestellt werden, wobei aber diese Feststellungen nicht zu absoluten Theoremen erstarren; sie behalten vielmehr eine Offenheit für freie Kritik und ihre ‚Lebendigkeit’ in der Evidenzbewegung. Dies besagt auch, daß uns jene ‚Unbehaglichkeit’ des Ur-Ich ‚wach’ hält und davon abhält, uns in die faszinierende Erstarrtheit der unlebendigen – insofern scheinbaren – ‚Wahrheit’ zu verlieren. ——— Vor dem Hintergrund der vorangegangenen Untersuchungen erscheint folgende Passage aus der Formalen und Transzendentalen Logik – mit der ich die Arbeit schließen will – nicht mehr als eine Zumutung: „Zuerst und allem Erdenklichen voran bin Ich. [...] Ob bequem oder unbequem, ob es mir (aus welchen Vorurteilen immer) als ungeheuerlich klingen mag oder nicht, es ist die Urtatsache, der ich standhalten muß, von der ich als Philosoph keinen Augenblick wegsehen darf. Für philosophische Kinder mag das der dunkle Winkel sein, in dem die Gespenster des Solipsismus, oder auch des Psychologismus, des Relativismus spuken.
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Kapitel VII
Der rechte Philosoph wird, statt vor ihnen davonzulaufen, es vorziehen, den dunklen Winkel zu durchleuchten” (XVII, 244).
Zusammenfassung1
Das Ziel dieser Arbeit ist es, Husserls Gedanken zum ,Ur-Ich’ phänomenologisch nachvollziehbar zu machen, indem sowohl der historische Weg zur Thematisierung des Ur-Ich als auch die systematischen Zusammenhänge der einschlägigen Problemdimensionen aufgezeigt werden. In der Forschung wird der Begriff des Ur-Ich tendenziell kritisch betrachtet; hierbei wird seine ‚Undeklinierbarkeit’ der Individualität und Pluralität des einzelnen Ich gegenübergestellt. Dieser Ansicht liegt die Interpretation zugrunde, daß das UrIch ein ‚über-individuelles’ Ich sei, das erst die Pluralität der einzelnen Ich hervorbringt. Durch eine genaue Untersuchung der Husserlschen Texte erweist sich aber diese Interpretation als unhaltbar. Das Ur-Ich ist keine ÜberInstanz, die außerhalb der einzelnen Ichsubjekte stände. Es ist aber ebensowenig mit einem einzelnen Ich schlechthin zu identifizieren; denn das Ur-Ich geht Husserl zufolge derjenigen Selbstkonstitution voraus, in der das Ich erst als Einzelnes im Gegensatz zu anderen Einzelnen erscheint. Wie kann man dieses ‚Ich’ verstehen, wenn es weder ein bloß Einzelnes noch ein ÜberIndividuelles ist? Um diese Frage zu beantworten, muß man die eigene theoretische Sichtweise sorgfältig prüfen. Diejenigen Mißverständnisse müssen ausgeräumt werden, die für das entsprechende ‚Sehen’ der Problemdimension hinderlich sind. Dies bedeutet zugleich eine Vertiefung des phänomenologischen Sehens, die vor aller Interpretation es ermöglicht, daß die betreffende Sachsphäre ‚sich zeigt’. Die vorliegende Arbeit beleuchtet diese Aufgabe von zwei Aspekten aus: Zunächst wird im ersten Teil gezeigt, daß Husserls Phänomenologie seit den frühen Jahren konsequent den Weg verfolgt, auf die unmittelbare ‚Nähe’ des selbstverständlichen Lebens zurückzugehen, und daß Husserl auf diesem Weg notwendig das Ich als eines der wichtigsten phänomenologischen Themen anerkennt. Die Nachzeichnung dieses historischen Weges, den Husserl mit Mühe auf sich nahm, kann als angemessene Einleitung in die Thematik des Ur-Ich und zugleich als methodische ‚Reinigung’ der phänomenologischen Sichtweise fungieren. Dieses Vorhaben, die Sichtweise zu vertiefen, wird im zweiten Teil fortgesetzt, vor allem im V. Kapitel. Verschiedene irreführende Interpretationen werden kritisch betrachtet und widerlegt. Ohne 1
Eine detaillierte Zusammenfassung findet sich in der „Einleitung” der Arbeit (xivff.). Hier möchte ich hauptsächlich die Absicht und das Ergebnis der Arbeit herausstellen.
244
Zusammenfassung
diese methodischen Überlegungen zur phänomenologischen ‚Sichtweise’ wäre es unmöglich, die fragliche Problemdimension entsprechend offenzulegen. Bei diesen Untersuchungen stellt sich allmählich heraus, daß es Husserl bei der Thematisierung des Ur-Ich eigentlich darum geht, die schlichte Bewußtseinsrichtung auf das gegenständlich Vorgestellte in jedem Sinne methodisch außer Kraft zu setzen und auf die ‚selbstverständlichste Nähe’ des erfahrend-schauenden Selbst zurückzugehen, die in ihrer lebendigen Wirklichkeit immer schon anonym durchlebt wird. Um überhaupt das Ich als Einzelnes oder als Über-Individuelles auffassen zu können, muß diese Dimension der ‚Nähe’ des urfaktischen Ich-Lebens schon vorausgesetzt sein. Warum muß aber diese Dimension der ‚Nähe’ als Ur-Ich bezeichnet werden? Wäre es nicht konsequent, das Wort ‚Ich’ nicht mehr zu verwenden, wenn die fragliche Dimension der Selbstkonstitution des Ich vorausgeht? In den letzten drei Kapiteln der Arbeit wird dieser Frage nachgegangen. In Kapitel V. wird die Interpretation zurückgewiesen, der zufolge die UrDimension der Phänomenologie das nicht-ichliche ‚Absolute’ sei. Eine alternative Fragestellung, ob die Ur-Dimension ichlich oder nicht-ichlich sei, ist als solche unzutreffend. Auf diese Frage kann man allenfalls mit ‚wedernoch’ bzw. ‚sowohl-als-auch’ antworten. Die Ur-Dimension ist nicht bloß ichlich, da sie der ausdrücklichen Konstitution des Ich vorausgeht. Andererseits kann sie auch nicht ausschließlich als ‚nicht-ichlich’ betrachtet werden, da sie für mich als den phänomenologisch Schauenden die ‚am nächsten’ durchlebte Dimension ist. Und ohne diese phänomenologische ‚IchPerspektive’ hat man keinen methodischen Zugang zur betreffenden Dimension. Mit der Bezeichnung ‚Ur-Ich’ beabsichtigt Husserl, die äußerste ‚Nähe’ der phänomenologischen Ur-Dimension zu mir selbst im Auge zu behalten und jede metaphysische Verabsolutierung fernzuhalten. Die Ur-Dimension als Ur-Ich zu bezeichnen, ist eine methodische und zugleich sachliche Notwendigkeit; denn die betreffende Dimension würde sich nicht als Phänomen zeigen, wenn sie quasi objektiv behandelt würde. Eine Objektivierung würde nämlich das Phänomen selbst zerstören, das hier befragt wird. Der Terminus ‚Ur-Ich’ hat für Husserl offenbar die Funktion, den methodisch Schauenden stets auf diese ‚Nähe’ der Problemdimension zu ihm selbst aufmerksam zu machen. In diesem Zusammenhang muß noch folgendes hinzugefügt werden: Man kann die Frage ,Was ist Ur-Ich?’ nicht durch eine Definition oder durch eine Angabe seiner Eigenschaften beantworten. Im V. Kapitel wird gezeigt, daß gerade eine solche am Objekt orientierte Auffassung von Frage und Antwort hier nicht zutrifft. Es geht vielmehr darum, die Erfahrung der betreffenden Dimension sichtbar zu machen, die sich sonst nur anonym-selbstverständlich vollzieht. Ohne diese Freilegung der betreffenden Erfahrung wäre jede Rede von Ur-Ich phänomenologisch sinnlos. Das heißt: Das Ur-Ich ist keine hypothetische Über-Instanz, sondern eine Erfahrungsdimension, die phänomeno-
Zusammenfassung
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logisch zu ‚schauen’ ist. Im VI. Kapitel wird die Struktur dieser Erfahrungsdimension näher charakterisiert. Dabei geht es um die ‚intentionale Modifikation’ des Ur-Ich. Dies meint keine Produktion bzw. Deduktion der pluralen Ich aus dem UrIch, sondern ein Ur-Geschehen, in dem sowohl das einzigartige Ur-Ich als auch die Vielheit der Ich notwendige Strukturmomente darstellen. Dies kann als die ursprüngliche Pluralisierung („Monadisierung“) des Ich gekennzeichnet werden, die aber von der fundamentalen Einzigartigkeit der ‚Perspektive’ nicht zu trennen ist. Diese sozusagen ‚urwüchsige’ Differenzierung besagt eine Pluralisierung und zugleich eine perspektivische Zentrierung. Dieses Urgeschehen ermöglicht erst die konstituierte Ordnung eines Nebeneinander der Ichsubjekte. Dieses Geschehnis kann man durch eine ‚sich wiederholend-multiplizierende Kreisbewegung’ veranschaulichen. Im VII. Kapitel wird die ‚Apodiktizität des Ego’ eingehend analysiert. Es stellt sich heraus, daß die apodiktische Evidenz des ‚ich bin, ich lebe’ keine objektiv festzumachende Evidenz ist, sondern sich vielmehr als ein ‚Medium’ bzw. ‚Element’ alles Wissens und seiner Evidenzsuche erweist. Die Gesamtkonstellation der Evidenzen kann folgendermaßen beschrieben werden: Jede Evidenzsuche bewegt sich im Medium der apodiktischen Evidenz; in dieser Evidenzstrebung fungiert die adäquate Evidenz, die den Charakter der Endgültigkeit hat, als ihr ideales Ziel. Alle Stadien der Evidenzsuche, die die endgültige Erfüllung noch nicht erreichen, haben trotzdem den Charakter einer Evidenz – der präsumtiven Evidenz –, sofern sie sich in diesem Prozeß der Evidenzsuche befinden. Keine Evidenz kann aus diesem Prozeß bzw. aus dieser Bewegung herausgerissen werden. Die apodiktische Evidenz des Ego wird als die ‚sicherste’ Evidenz betrachtet; das bedeutet aber, daß sie die ‚einfachste’ und ‚unmittelbarste’ Evidenz darstellt, welche in der vorliegenden Arbeit als ‚Nähe des Selbst’ thematisiert wird. Sie darf nicht als starre Formel behandelt werden. Vielmehr entzieht sie sich allem objektiv Feststellbaren. Die Apodiktizität als die ‚sicherste’ Evidenz erweist sich paradoxerweise als diejenige Evidenz, die wir überhaupt nicht als etwas durchgehend Invariantes vor Augen haben können. Sie bleibt vielmehr dasjenige Moment der Evidenzkonstellation, das jedem festgestellten Inhalt als die absolute Freiheit gegenübertritt, die eine freie Kritik ermöglicht. Es handelt sich um das Moment der ‚Lebendigkeit’ als solcher in der Evidenzbewegung. Dieses apodiktische ‚ich bin, ich lebe’ ist der unmittelbarste Standpunkt, von dem aus ich alles Gegenständliche erfahre. In diesem Sinne hat es die Bedeutung der ‚Nähe des Selbst’. Zu dieser Dimension der ‚Nähe’ gehören aber sowohl die Ur-Hyle als auch der Andere als das radikale Fremde. Im Gegensatz zu allem intentional Nahen und Fernen bleibt die ‚Nähe’ des apodiktischen ‚ich bin, ich lebe’ für mich selbst ‚unbekannt’; wenn sie thematisiert wird, tritt sie selbst als das ‚für mich Fremde’ auf. Die ‚urwüchsige’ Untrennbarkeit des apodiktischen ‚ich bin, ich lebe’ von der Ur-Hyle und
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Zusammenfassung
dem radikalen Anderen ist das, worauf ich in diesem Kapitel hinweisen wollte. Diese Dimension liegt allem Theoretisieren zugrunde; sie ermöglicht es, bleibt ihm aber fremd. Durch sie bleibt die Theorie überhaupt lebendig; diese Lebendigkeit verhindert, daß jene zu einem ‚unerschütterlichen’ System erstarrt, das gegen jede Kritik immun wäre. Husserls Lehre vom ‚Ur-Ich’ – auch wenn diese Bezeichnung irreführend sein mag – kann als ein Zugang zu dieser lebendigen Dimension dienen, der uns zu einem entsprechenden Perspektivenwechsel bzw. zu einer ‚Vertiefung des Sehens’ führt.
Literaturverzeichnis
Zur Zitierweise: Schriften Husserls werden nach der römischen Bandnumerierung der Husserliana und arabischer Seitenzahl zitiert (z. B. VI, 188). Die Passagen aus Husserliana Dokumente und Husserliana Materialienbände werden durch die Abkürzung ,Dok’ und ,Mat’ gekennzeichnet und sonst auf dieselbe Weise zitiert (z. B. Dok II/2, 73). Unveröffentlichte Manuskripte (= Ms.) zitiere ich nach der Signatur des Husserl-Archivs mit Seitenzahl der Originalblätter (z. B. Ms. B II 22/ 4a) bzw. der Transkription (z. B. Ms. B I 5/ Tr. III, 15); die Manuskripte habe ich in Husserl-Archiv in Köln gelesen. Zu den anderen Schriften Husserls siehe die Abkürzungen in folgender Liste (1.5). Sekundärliteratur wird zitiert unter Angabe des Verfassers, des Erscheinungsjahres und der Seitenzahl (z. B. Fink 1966, 52). Einfügungen in eckigen Klammern [...] in den Zitaten stammen von mir. Meine Hervorhebungen werden mit ,m. H.’ kenntlich gemacht.
1. Husserls Schriften
1.1 Husserliana Husserl, Edmund: Husserliana. Gesammelte Werke, Husserliana, Den Haag/ Dordrecht 1950ff. I:
Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge. Hrsg. v. Strasser, Stephan, 1950.
II:
Die Idee der Phänomenologie. Fünf Vorlesungen. Hrsg. v. Biemel, Walter, 1973.
III/1:
Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie. 1. Halbband. Neu hrsg. v. Schuhmann, Karl, 1976.
III/2:
Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen
248
Literaturverzeichnis
Philosophie. Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie. 2. Halbband: Ergänzende Texte (1912-1929). Neu hrsg. v. Schuhmann, Karl, 1976. IV:
Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Zweites Buch: Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution. Hrsg. v. Biemel, Marly, 1952.
V:
Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Drittes Buch: Die Phänomenologie und die Fundamente der Wissenschaften. Hrsg. v. Biemel, Marly, 1952.
VI:
Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie. Hrsg. v. Biemel, Walter, 1954.
VII:
Erste Philosophie (1923/24). Erster Teil: Kritische Ideengeschichte. Hrsg. v. Boehm, Rudolf, 1956.
VIII:
Erste Philosophie (1923/24). Zweiter Teil: Theorie der phänomenologischen Reduktion. Hrsg. v. Boehm, Rudolf, 1956.
IX:
Phänomenologische Psychologie. Vorlesungen Sommersemester 1925. Hrsg. v. Biemel, Walter, 1962.
X:
Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893-1917). Hrsg. v. Boehm, Rudolf, 1966.
XI:
Analysen zur passiven Synthesis. Aus Vorlesungs- und Forschungsmanuskripten (1918-1926). Hrsg. v. Fleischer, Margot, 1966.
XII:
Philosophie der Arithmetik. Mit ergänzenden Texten (1890-1901). Hrsg. v. Eley, Lothar, 1970.
XIII:
Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass. Erster Teil: 1905-1920. Hrsg. v. Kern, Iso, 1973.
XIV:
Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass. Zweiter Teil: 1921-1928. Hrsg. v. Kern, Iso, 1973.
XV:
Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass. Dritter Teil: 1929-1935. Hrsg. v. Kern, Iso, 1973.
XVI:
Ding und Raum. Vorlesungen 1907. Hrsg. v. Claesges, Ulrich, 1973.
XVII:
Formale und transzendentale Logik. Versuch einer Kritik der lo-
Literaturverzeichnis
249
gischen Vernunft. Mit ergänzenden Texten. Hrsg. v. Janssen, Paul, 1974. XVIII:
Logische Untersuchungen. Erster Band: Prolegomena zur reinen Logik. Hrsg. v. Holenstein, Elmar, 1975.
XIX/1:
Logische Untersuchungen. Zweiter Band: Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis. I. Teil. Hrsg. v. Panzer, Ursula, 1984.
XIX/2:
Logische Untersuchungen. Zweiter Band: Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis. II. Teil. Hrsg. v. Panzer, Ursula, 1984.
XX/1:
Logische Untersuchungen. Ergänzungsband. Erster Teil. Entwürfe zur Umarbeitung der VI. Untersuchung und zur Vorrede für die Neuauflage der Logischen Untersuchungen (Sommer 1913). Hrsg. v. Melle, Ullrich, 2002.
XXIII:
Phantasie, Bildbewusstsein, Erinnerung. Zur Phänomenologie der anschaulichen Vergegenwärtigungen. Texte aus dem Nachlass (1898-1925). Hrsg. v. Marbach, Eduard, 1980.
XXIV:
Einleitung in die Logik und Erkenntnistheorie. Vorlesungen 1906/07. Hrsg. v. Melle, Ullrich, 1984.
XXV:
Aufsätze und Vorträge (1911-1921). Hrsg. v. Nenon, Thomas; Sepp, Hans Rainer, 1987.
XXVII:
Aufsätze und Vorträge (1922-1937). Hrsg. v. Nenon, Thomas; Sepp, Hans Rainer, 1989.
XXVIII: Vorlesungen über Ethik und Wertlehre (1908-1914). Hrsg. v. Melle, Ullrich, 1988. XXIX:
Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Ergänzungsband. Texte aus dem Nachlass 1934-1937, Hrsg. v. Smid, Reinhold N., 1993.
XXX:
Logik und allgemeine Wissenschaftstheorie. Hrsg. v. Panzer, Ursula, 1996.
XXXI:
Aktive Synthesen: Aus der Vorlesung ‚Transzendentale Logik’ 1920/21. Hrsg. v. Breeur, Roland, 2000.
XXXII:
Natur und Geist. Vorlesungen 1927. Hrsg. v. Weiler, Michael, 2001.
Literaturverzeichnis
250
XXXIII: Die ,Bernauer Manuskripte’ über das Zeitbewusstsein (1917/18). Hrsg. v. Bernet, Rudolf; Lohmar, Dieter, 2001. XXXIV: Zur phänomenologischen Reduktion. Texte aus dem Nachlaß (1926-35). Hrsg. v. Luft, Sebastian, 2002. XXXV:
Einleitung in die Philosophie. Vorlesungen 1922/23. Hrsg. v. Goossens, Berndt, 2002.
XXXVI: Transzendentaler Idealismus. Texte aus dem Nachlass (19081921), Hrsg. v. Rollinger, R.D., 2004.
1.2 Unveröffentlichte Manuskripte A I 31 (1924-26), A V 5 (1933), A V 20 (1934/35), A VI 20 (1925/26) B I 5 (1922-33), B I 6 (1930-33), B I 14 (1923-35), B II 1 (1907/08), B II 6 (1930-33), B II 13 (1930-34), B II 22 (1913-26), B III 1 (1929), B III 3 (1931), B III 8 (1930) C 2 (1931/32), C 3 (1930), C 5 (1930), C 7 (1932), C 10 (1931), C 13 (1934), C 14 (1933), C 16 (1931/32), C 17 (1930-32) E III 2 (1921), E III 9 (1931-33) F I 44 (1916-28) K III 6 (1936) M III 3 III 1 II (etwa 1922)
1.3 Husserliana Dokumente. Husserliana Dokumente. Den Haag/ Dordrecht, 1977ff. Dok I:
Schuhmann, Karl: Husserl-Chronik. Denk- und Lebensweg Edmund Husserls, 1977.
Dok II/1: Fink, Eugen: VI. Cartesianische Meditation. Teil I. Die Idee einer transzendentalen Methodenlehre. Hrsg. v. Ebeling, Hans; Holl, Jann; Kerckhoven, Guy van, 1988. Dok II/2: Fink, Eugen: VI. Cartesianische Meditation. Teil II: Ergänzungsband. Hrsg. v. Kerckhoven, Guy van, 1988.
Literaturverzeichnis
Dok III:
251
Edmund Husserl: Briefwechsel. Hrsg. v. Schuhmann, Elisabeth in Verbindung mit Schuhmann, Karl, 1994.
Dok III/2: Die Münchener Phänomenologen. Dok III/3: Die Göttinger Schule. Dok III/4: Die Freiburger Schüler. Dok III/5: Die Neukantianer. Dok III/6: Philosophenbriefe. Dok III/7: Wissenschaftlerkorrespondenz. Dok III/9: Familienbriefe.
1.4 Husserliana Materialienbände Mat III:
Allgemeine Erkenntnistheorie. Vorlesung 1902/03. Hrsg. v. Schuhmann, Elisabeth, Dordrecht 2001.
Mat VIII: Späte Texte über Zeitkonstitution (1929-1934). Die C-Manuskripte. Hrsg. v. Lohmar, Dieter, Dordrecht 2006.
1.5 Sonstige Schriften Husserls UKL
Grundlegende Untersuchungen zum phänomenologischen Ursprung der Räumlichkeit der Natur („Umsturz der kopernikanischen Lehre“). Hrsg. v. Schutz, Alfred, in: Farber, Marvin (ed.): Philosophical Essays in Memory of Edmund Husserl, Cambridge (MA) 1940, 307-325.
EU
Erfahrung und Urteil. Untersuchung zur Genealogie der Logik. Redigiert u. hrsg. v. Landgrebe, Ludwig, mit Nachwort u. Register v. Eley, Lothar, Hamburg 1972.
LV
Phänomenologische Methode und phänomenologische Philosophie. . Hrsg. v. Goossens, Berndt, in: Husserl Studies 16, 1999, 183-254.
252
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An dieser Stelle möchte ich einen sinnentstellenden Druckfehler meines oben angegebenen Aufsatzes korrigieren: „aufgehoben” statt „abgehoben” in der letzten Zeile von S. 72.
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