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Das Riff ist ein neuer Bestseller von Peter Benchley, der seinen überwältigenden Erfolg mit Der weiße Hai an Spannung und Dramatik noch übertrifft und ebenfalls verfilmt wurde. Schauplatz des abenteuerlichen Geschehens sind die Bermu das. Dort wollen Gail und David Sanders unbeschwerte Flitterwochen verbringen – mit Tauchen, Schwimmen und Sonnenbaden. Bis sie eines Tages in der grünblauen Tiefe des Atlantik ein 1943 gesunkenes Wrack entdecken und seine Ladung: geheimnisvolle kleine Glasbehälter mit einer gelb lichen Flüssigkeit. Eine verdächtig hohe Summe wird ihnen für den Fund geboten, und als sie ablehnen, überstürzen sich die Ereignisse. Gail gerät in Lebensgefahr, und ihr Mann sieht sich eingekreist von Leuten, die keine Gnade kennen. Peter Benchley verbindet in diesem beispiellosen Buch präzi ses Wissen über Tiefseetauchen mit der farbigen Geschichte der Bermudas und einer spannenden Abenteuerstory. In unerhört verdichteter Atmosphäre werden die fesselnden Details der Handlung konsequent bis zum überraschenden Ende geführt. Das Riff stand monatelang auf den Spitzenplätzen amerikani scher und englischer Bestseller-Listen: »Eine unglaublich fesselnde Lektüre«. (Newsweek)
Peter Benchley
Das Riff
Roman
Aus dem Amerikanischen von Jürgen Abel
Fließtext-RTF
Non-profit ebook by tigger
August 2003
Ullstein
Titel der Originalausgabe:
The Deep
ein Ullstein Buch
Nr. 20127
Ungekürzte Ausgabe
Umschlagentwurf: Volkmar Schwengle
Umschlagfoto: Warner-Columbia
Alle Rechte vorbehalten
© 1976 by Peter Benchley
Übersetzung © 1977 Verlag
Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin
Printed in Germany 1981
Druck und Verarbeitung:
Mohndruck Graphische Betriebe GmbH, Gütersloh
ISBN 3 548 20127 X
November 1981
1943 Es war zehn Uhr morgens, als der Kapitän merkte, daß der Wind allmählich abflaute. In seiner Kabine, wo er gerade zerstreut in einer Illustrierten blätterte, die ein Besatzungsmitglied in Norfolk an Bord gebracht hatte, spürte er, wie das Schiff seine Bewegungen änderte, wie der Rumpf immer schwerfälliger durch das Was ser rauschte, wie schlaffe Segel an Masten und Rahen klatsch ten. Er rollte sich aus der Koje, reckte sich und ging zur Tür. Am Schott links von der Tür war ein Brett mit meteorologi schen Messinginstrumenten angebracht. Die Nadel des Baro meters zeigte einen Quecksilberstand von 756 mm. Er klopfte auf das Glas, und die Nadel fiel schnell auf 749 mm. An Deck ging er nach achtern, schnupperte die flaue Brise ein und suchte den Horizont ab. Der Himmel war klar, aber ein trüber, gelblicher Dunst hing in der Luft. Der Kapitän kniff die Augen zusammen. In einiger Entfernung krochen hohe, dünne, zerfaserte Zirruswolken langsam über den Himmel. Der Steuermann, ein junger, bärtiger Schotte, stand am Ruderrad und steuerte das Schiff durch die träge Dünung. Er nickte zur Begrüßung, als er den Kapitän auf sich zukommen sah. »Großsegel getrimmt?« fragte der Kapitän. »Ja, und das Besan auch. Blöde Flaute.« »Nicht mehr lange. Da braut sich was zusammen.« »Schlimm?« »Weiß nicht. Wegen der verdammten Funkstille. Wenn dieser Krieg nicht bald zu Ende ist, verlernen wir das Funken 5
noch ganz. Aber ich würde sagen, ziemlich schlimm. Das Barometer ist ganz schön abgekippt.« Der Steuermann sah auf seine Uhr. »Wie weit haben wir noch?« »Fünfzig, höchstens sechzig Seemeilen. Bis zur Meerenge. Wenn wir da sind, werden wir sehen. Vielleicht versuchen wir, nach Hamilton zu kommen, oder wir machen in St. George’s fest.« »Keine Sorge«, sagte der Steuermann lächelnd und klopfte auf das Ruder. »Sie wird’s schon schaffen.« Der Kapitän spuckte auf das Deck. »Dieses alte Wrack? Das einzige, was an ihr stimmt, ist der Name. Sie ist genauso dick und unbeweglich wie der, nach dem sie benannt ist.« Er blickte zum Himmel. »Na ja, wir haben wenigstens den verdammten Golfstrom hinter uns.« Gegen ein Uhr mittags bedeckten dicke, graue AltostratusWolken den Himmel. Der Wind hatte eine Geschwindigkeit von dreißig Knoten erreicht, peitschte weiße Schaumkronen über den Ozean und wühlte schwere Seen auf, die über dem Bug der Goliath zusammenstürzten und den hölzernen Schiffs rumpf der Länge nach erbeben ließen. Es hatte zweimal kurz und heftig geregnet, und von Südost näherte sich erneut eine schwarze Wolkenwand. Der Kapitän, der inzwischen Ölzeug angelegt hatte, stand neben dem Steuermann, der sich Mühe geben mußte, den Kurs zu halten. Der Bootsmannsmaat, ein kleiner, drahtiger Mann – ohne Hemd und triefend naß –, rannte nach achtern und blieb vor dem Kapitän stehen. »Alles klar?« fragte der Kapitän. »Ja«, sagte der Bootsmannsmaat. »Aber mir ist schleierhaft, warum sie die Ampullen in Zigarrenkisten gepackt haben, wenn sie soviel wert sind. Genausogut kann man auf Eiern tanzen.« 6
»Bruch?« »Hab’ nichts gesehen. Sie liegen zwischen den Mehlsäcken.« Die ersten dicken Regentropfen trafen den Kapitän ins Gesicht. »Bleiben Sie auf eins-zwei-null«, sagte er zu dem Steuermann. »Wenigstens solange es geht. Wenn ich mich nicht täusche, hat dieser Scheißsturm noch nicht mal richtig angefangen.« Plötzlich drehte der Wind abermals, und zwar nach Südost. Er blies heftiger, heulte durch die Takelage, trieb stechende Regentropfen vor sich her. »Null-zwei-null!« brüllte der Kapitän gegen die heulende Bö an. »Wir könnten beidrehen!« schrie der Steuermann zurück. Der Bug der Goliath klatschte in eine Welle. Irgendwo vorn löste sich ein Stück Holz und flog nach achtern, wobei es gegen mehrere Wanten knallte. Der Kapitän beugte sich näher zum Steuermann und rief: »Bei solchem Wetter dreht kein Mensch vor den Bermudas bei! An manchen Stellen reichen die Riffe zwölf Seemeilen weit ins Meer!« Die Goliath kämpfte sich noch eine Stunde nach Nordost, ächzte vor dem Sturm her. Bei jeder Sturzsee stöhnte und knarrte der Rumpf. Um drei Uhr ließ der Wind etwas nach, und der Regen, der beinahe waagerecht über das Deck gepeitscht war, fiel ein bißchen senkrechter. Der fahlgraue Himmel begann aufzuklaren. Der Kapitän änderte wieder den Kurs, steuerte eine halbe Stunde nach Südost, um in genügender Entfernung von der Südküste zur Meerenge zu kommen – die einzig sichere Möglichkeit, den Schutz des Bermuda-Archipels zu erreichen. »Wir können diesem Hurensohn noch ein Schnippchen schlagen«, rief er dem Steuermann zu, der nur lächelte und sich das Salz von den Lippen leckte. Eine Stunde danach brach der Sturm wie eine Explosion aus 7
Nordost herein. Die Böen knallten auf das Schiff herunter, zerschlitzten die Wellen und wühlten schwarze Berge auf, die sich drohend über den Masten erhoben. Nur zwei Segel funktionierten noch. Das Focksegel flog als erstes, riß seine Wanten los und hinterließ Fetzen, die im Wind pfiffen. Eine riesige Welle erwischte den Bug und schleuderte das Schiff hoch. Über ihrem Kamm erblickte der Kapitän einen Leuchtturm – ohne Licht, wegen der Kriegsverdunkelung, nur als dünnen weißen Streifen, der sich vor dem schwarz werdenden Himmel abzeichnete. Er drehte sich gerade um, weil er dem Steuermann etwas zuschreien wollte, als das Schiff vom Kamm rutschte und in das Wellental sauste. Eine Wasserwand traf, verschluckte das Deck und riß den Kapitän zu Boden. Er zappelte verzweifelt, um einen Halt zu finden. Seine Arme fanden den Spindelkasten, und er klammerte sich daran fest. Er hörte einen Schrei und blickte auf. Das Ruder drehte sich wie wild, und der Steuermann wurde in die schäumende Schwärze geschleudert. Der Kapitän stemmte sich hoch und packte das Ruder. Das Schiff kletterte auf einen anderen Wellenkamm, und abermals sah er den Leuchtturm. Das Besansegel stand noch; er konnte hinkommen. Wenn er es bis zum Leuchtturm schaffte, konnte er auch den schützenden Hafen von St. George errei chen. Das Besansegel hielt. Das Schiff krängte bedrohlich in die Wellen und begann gehorsam auf nördlichen Kurs zu gehen. Auf jedem Wellenkamm hielt der Kapitän eine Hand über die Augen, um die Gischt- und Regennadeln abzuwehren. Er richtete den Bug ein paar Grad nach Steuerbord, vom Leucht turm weg. In der Dunkelheit mittschiffs regte sich etwas. Zuerst dachte der Kapitän, es sei abgerissenes Holz, das nach achtern getrie ben wurde. Dann sah er, daß es ein Mann war, der Boots 8
mannsmaat, der auf ihn zukroch, sich von einem Halt zum anderen zog, von der Ladewinde zu einer Klampe, von der Klampe zu einem Stag, um nicht über Bord gespült zu werden. Als der Bootsmannsmaat knapp zwei Meter vom Kapitän entfernt war, schrie er. Alles, was der Kapitän verstand, waren die Worte »Saint David«. Er nickte und zeigte nach vorn. Der Bootsmannsmaat machte eine Grimasse und kroch näher heran. »Das ist nicht Saint David!« brüllte er. »Doch!« brüllte der Kapitän zurück. »Ich sage Ihnen, es ist nicht Saint David! Es ist der ver dammte Gibb’s Hill!« »Nein!« »Es ist Gibb’s Hill! Sehen Sie genau geradeaus!« Der Kapitän spähte in das Dunkel. Vor dem Bug, keine fünf zig Meter weit entfernt, sah er, worauf der Bootsmannsmaat zeigte: eine schartige Brandungslinie, die das Riff markierte. Völlig verwirrt und vom Regen geblendet hatte der Kapitän die Orientierung verloren und sein Schiff zwölf Seemeilen süd westlich vom Kurs abkommen lassen. Er zog das Ruder hart nach Backbord, und das Schiff begann aus dem Wind zu drehen. Einen Augenblick lang dachte der Kapitän, er hätte die Goliath vor dem Riff in Sicherheit ge bracht. Und dann fühlte er das erste fürchterliche Knirschen von Holz auf Korallen. Das Schiff hielt ruckartig inne, rumpel te sofort danach ein Stück weiter. Es hielt wieder inne und rutschte abermals ein paar Meter weiter. Der Bug stieg in die Luft, schien dann plötzlich in die Tiefe zu stürzen. Das Decks haus mittschiffs wurde hochgestemmt; das Achterschiff sauste nach Backbord. Der Kapitän strauchelte, langte nach dem Steuerrad und verfehlte es. Sein Arm rutschte durch die wirbelnden Speichen, seine Faust knallte gegen den Spindel kasten. Eine Sekunde kämpfte sein Ellbogen mit dem Ruder. Dann brach der Ellbogen, der Arm wurde aus dem Steuerrad gerissen, und der Kapitän sauste in hohem Bogen ins Meer. 9
Am Morgen war der Sturm vorbei. Ein britischer Marineoffizier führte seinen Hund am Strand unter der hohen Steilklippe spazieren, auf der der Orange Grove Club stand. Nach einem Sturm war der Strand immer mit Treibgut übersät, aber heute lag besonders viel herum. Der Hund schnüffelte neugierig an Wrackteilen. Er wollte gerade ein Bein an einem Holzstück heben, als er etwas Ungewöhn liches roch. Er winselte und wurde aufgeregt, sauste hin und her. Er blieb vor einem großen Lukendeckel stehen und scharrte den Sand daneben auf. Der Offizier folgte ihm und hob den Deckel hoch, damit der Hund es leichter hatte. Darunter, halb im Sand begraben, lag ein Mann, der nur noch die zerfetzten Überreste einer kurzen Hose anhatte. Wasser lief ihm aus Mund und Ohren, als sein Kopf zur Seite fiel. Der Marineoffizier beugte sich zur Erde und berührte ihn, und der Mann stieß einen röchelnden, gurgelnden Laut aus. Er stöhnte, und seine Augenlider flatterten. Der Mann hieß Adam Coffin.
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I Schon in wenigen Metern Tiefe wirkt Blut im Meerwasser grün. Das Wasser filtert das Licht, das von oben einfällt, und scheint eine Farbe des Spektrums nach der anderen aufzusau gen. Rot ist die erste Farbe, die ihm unterliegt, die verschwin det. Grün hält länger. Aber dann, ab dreißig Meter, verblaßt auch das Grün allmählich, so daß nur noch Blau zurückbleibt. In den dämmrigen Tiefen – sechzig, siebzig Meter und mehr – sieht Blut ganz schwarz aus. David Sanders hockte auf dem sandigen Grund und beobach tete die grüne Flüssigkeit, die aus dem Rücken eines verwunde ten Fisches quoll. Es war ein großer Meerbrassen mit spitzen, fangähnlichen Zähnen, mindestens sechzig Zentimeter lang und blau-grau getupft. Ein sichelförmiger Fleischfetzen war aus seinem Rücken gerissen worden, vielleicht von einem anderen Fisch, und aus der Wunde pulsierte das Blut in kleinen Wolken, die sich schnell im Wasser auflösten. Der Brassen schwamm ziellos, offenbar vom Schmerz oder vom Geruch seines Blutes durcheinandergebracht, hin und her. Sanders stieß sich vom Grund ab und schwamm zu dem Brassen, weil er damit rechnete, daß der Fisch die Flucht ergreifen würde. Aber das Tier schoß weiter hin und her. Sanders näherte sich dem verzweifelten Fisch bis auf einen Meter; als der Brassen nicht zurückwich, beschloß er, ihn zu fangen. Mit seiner bloßen Hand griff er nach der Partie vor dem Schwanz. Seine Berührung versetzte den Fisch in Panik. Er zappelte konvulsivisch, um sich zu befreien. Sanders hielt ihn fest. 11
Der Fisch war ein zuckendes graues Bündel. Sanders schloß die Augen und drückte fester. Und dann fühlte er plötzlich einen stechenden Schmerz. Entsetzt machte er die Augen auf und versuchte, seinen Griff zu lockern, aber jetzt hatte der Fisch ihn: seine Vorderzähne gruben sich in Sanders’ Hand fläche. Er schrie in seine Taucherbrille und riß die Hand fort. Die Zähne lösten sich, und der Fisch schoß weg. Grüne Flüssigkeit pulsierte aus zwei blauen Bißlöchern in Sanders’ Handfläche. Er sah nach oben und kämpfte gegen den Impuls an, so schnell wie möglich zur Oberfläche emporzutauchen. Dort, nur neun oder zehn Meter entfernt, ruckte das kleine Motorboot an seinem Anker. Er atmete tief ein und verfluchte sich. Verlier um Gottes willen nicht die Ruhe, dachte er: bloß keine Panik; nicht hastig nach oben schwimmen; nicht den Atem anhalten, sondern langsam und ordentlich ausatmen. Er machte ein paar Schwimmstöße, zog Blut hinter sich her, zwang sich, nicht schneller aufzusteigen als die Blasen aus dem Rückschlagventil an seinem Mundstück. Gail Sanders, die im Motorboot saß, hörte ihren Mann, bevor sie ihn sah: seine Luftblasen durchbrachen gluckernd die Oberfläche und zerplatzten schmatzend. Als sein Kopf durchs Wasser stieß, ergriff sie den Hals der Druckluftflasche, wartete, bis er den Gurt und einen Schulterriemen gelöst hatte, und zog die Flasche ins Boot. »Was gesehen?« fragte sie. Sanders schob die Brille hoch. »Nein, nichts. Nur Sand und Korallen. Hier liegt bestimmt kein Wrack.« Er hielt sich mit der rechten Hand am Boot fest, und Gail sah Blut an der Bordwand hinuntertropfen. »Was ist passiert?« Sanders war verlegen und sagte: »Ach, nichts.« Er machte ein paar Stöße mit seinen Schwimmflossen, stemmte sich ins Boot und blickte zu dem zwei- oder dreihundert Meter entfern ten Ufer. Auf der Felswand hinter dem Strand leuchteten die orangefarbenen Gebäude des Orange Grove Club in der 12
Nachmittagssonne. Er hob einen Arm und zeigte geradeaus, zielte dann mit dem anderen Arm auf einen fernen Leuchtturm. »Der Rettungsschwimmer sagte doch zehn Uhr, nicht wahr? Wir sollten uns vorstellen, wir seien auf einem Zifferblatt. Der Club sollte auf zwölf Uhr stehen und der Leuchtturm von Gibb’s Hill auf zehn Uhr, und dann wären wir genau über der Stelle.« »Vielleicht ist es nicht mehr da. Dreißig Jahre unter Wasser …« »Ja, aber er hat steif und fest behauptet, daß man den Innen kiel und ein paar Spanten noch sehen könnte.« Gail zögerte, sagte dann: »Der Portier hat gesagt, wir sollten einen Führer nehmen.« »Zum Teufel damit. Wenn es hier liegt, kann ich es auch allein finden.« »Aber …« Gail zeigte auf seine blutende Hand. »Es wäre vielleicht klüger, einen Führer zu nehmen.« »Ich brauche keinen Führer«, sagte Sanders und ignorierte die Geste. »Wasser ist Wasser. Man darf nur nicht in Panik geraten, dann schafft man es.« Gail blickte nach achtern. Vierzig Meter weiter zeigte eine Reihe von Schaumkronen das nächste Riff. Hinter diesem Riff lag noch eines und dahinter noch eines. »Wenn hier ein Schiff aufläuft, würde es doch am ersten Riff auflaufen und dort sinken?« »Nicht unbedingt. Wenn der Sturm sehr stark war, wurde es vielleicht über zwei oder drei Riffe gedrückt und ist erst am dritten zerschellt.« »Es könnte also an jedem Riff liegen?« »Ja. Aber der Rettungsschwimmer hat gesagt, es läge hinter dem ersten. Vielleicht sind wir nur nicht weit genug dahinter.« Sanders löste den Anker und ließ das Boot zum zweiten Riff treiben. Als es zehn Meter da von entfernt war, gab er Leine, bis der Anker erneut faßte, und zog die Riemen des Trag 13
gestells zurecht, an dem die Druckluftflasche saß. Gail fragte: »Willst du wirklich noch mal runter?« »Warum nicht? Ich habe dir doch gesagt, daß die Wunde harmlos ist. Ich werde etwas darumwickeln, damit sie nicht blutet und keine Raubfische anlockt.« Gail begann ihre Tauchutensilien zusammenzusetzen. Sie schraubte den Lungenautomaten an das Ventil ihrer Luft flasche, drehte dann den Knopf, mit dem die Flasche geöffnet wurde. Mit einem lauten Pfft schoß Luft in den Lungenautoma ten. Sie drückte den Knopf, der dafür sorgte, daß Wasserrück stände aus dem Mundstück entfernt wurden, und Luft zischte aus dem Gummischlauch. Sie legte den Gewichtsgürtel an – einen breiten Nylonriemen mit drei angeschnürten, je zwei Pfund schweren Bleigewichten, tauchte ihre Schwimmflossen ins Wasser und streifte sie über die Füße, spülte die Taucher brille ab, spuckte auf die Innenseite des Glases und verrieb den Speichel sorgfältig, damit das Glas nicht beschlug. Sie stellte ihre Druckluftflasche senkrecht hin und prüfte die Länge der Schulterriemen. »Kannst du mir kurz helfen?« fragte sie. Sie warf Sanders einen Blick zu und sah, daß er noch keine Anstal ten gemacht hatte, seine Luftflasche anzulegen. Er hatte ihr zugeschaut. »Was ist los?« fragte sie. Er schüttelte lächelnd den Kopf. »Nichts. Ich fürchte, ich habe mich nicht mehr in der Gewalt, das ist alles.« »Was meinst du damit?« »Ich sitze nur da, und es erregt mich schon, wenn ich sehe, wie du in deine Maske spuckst.« Gail lachte. »Möchtest du nackend runter? Wir könnten ein kleines Experiment machen.« »Meine Erfahrungen lassen darauf schließen«, antwortete Sanders feierlich, »daß eine Ejakulation in über zehn Metern Tiefe zu Kreislaufkollaps mit anschließendem Gehirnschlag führen kann.« Er stand auf, hob ihre Druckluftflasche und hielt sie, bis sie 14
die Arme durch die Schulterriemen gesteckt hatte. Sie sagte: »An diesen Flaschen sind keine Ersatzpatronen.« »Du brauchst keine Ersatzpatrone. Hier ist das Wasser nur sieben oder acht Meter tief, und eine Füllung reicht eine Stunde. Vielleicht noch länger, wenn du nicht so schnell atmest.« Gail hockte mit dem Rücken zum Wasser auf dem Seiten deck und atmete durch das Mundstück ein. »Die Luft ist gut.« »Das will ich hoffen. Wenn sie uns schlechte Luft geben, sind die Flitterwochen schnell zu Ende.« »Wie lange brauchst du noch?« »Eine Minute. Geh schon vor, aber schau dich gut um, bevor du tauchst. Damit du keine unangenehme Überraschung erlebst.« Gail ließ sich nach hinten fallen und verschwand in einer Wolke von Luftblasen. Sanders fand einen Lappen und wickelte ihn um die Hand. Dann sammelte er seine Utensilien zusammen, legte sie an und sprang an der Seite des Bootes ins Wasser. Es dauerte ein paar Sekunden, bis seine Luftblasen ver schwunden waren, so daß er richtig sehen konnte. Einzelne Sonnenstrahlen durchbrachen das Blau und sprenkelten Sand und Korallen. Das Wasser war transparent; Sanders schätzte die Sehweite auf gut dreißig Meter. Er ließ sich einen Meter tief sinken, hielt sich mit schwachen Schwimmstößen in der Schwebe und drehte sich langsam um, wobei er den dämmri gen Wasserhorizont nach potentiellen Gefahren absuchte. Zwei Stachelmakrelen flitzten aus den Felsen heraus, sausten dann wieder hinein. Er sah nach unten und erblickte Gail, die über dem Grund schwebte und mit den Fingern im Sand grub. Neben ihr schwamm ein kleiner Barsch auf der Stelle; er wartete offenbar darauf, daß sie mit dem Sand Leckerbissen – Würmer oder winzige Krebse – aufwühlte, die auf ihn zutrei ben würden. Sanders ließ sich langsam nach unten gleiten und 15
schluckte dabei mehrmals, damit seine Ohren sich besser auf den zunehmenden Druck einstellen konnten. Als er den Grund erreicht hatte, sah er, daß sie sich in einem Kessel befanden, der etwa die Form eines Amphitheaters hatte und an drei Seiten von steil emporragenden Korallenbänken und Felsen umgeben war. Die vierte, zum Meer gewandte Seite war offen. Dort schaukelte das Boot friedlich an der Ober fläche, und das Ankertau lief an Sanders vorbei zu einer Stelle hinter ihm in den Felsen. Er hörte nur das leise Pfeifen, das er beim Einatmen verursachte, und das Geräusch der Luft bläschen, die er beim Ausatmen durch das Rückschlagventil drängte. Er blickte umher und versuchte, weiter hinten – dort, wo das glasklare Blau in trüben Dunst überging – Formen zu erkennen. Wie jedesmal, wenn er mehrere Monate nicht getaucht hatte, spürte er einen erregenden Kitzel, eine schwache, aber elektri sierende Mischung aus Agoraphobie und Klaustrophobie: er war allein, ausgesetzt in einer unendlichen Weite aus Sand, und wußte, daß er von Geschöpfen beäugt wurde, die er nicht sehen konnte; gleichzeitig war er aber eingeschlossen von Tausenden von Tonnen Wasser, deren sanften, aber unnachgiebigen Druck er überall an seinem Körper spürte. Er stieß sich vom Grund ab und schwamm nach rechts, zum Ende der Felsbank. Er kroch an den Steinen entlang und suchte irgend etwas, das auf ein Wrack hindeuten konnte: Metall, Glas oder Holz. Er schwamm den ganzen Kessel ab und fand nichts. Dann glitt er wieder zur Mitte, zu Gail, und klopfte ihr auf die Schulter. Als sie aufblickte, hob er die geöffneten Hände und zog die Augenbrauen hoch, als wollte er sagen: Was meinst du, wo ist es? Sie zuckte die Achseln und hielt ein Stück Glas, den Boden einer Flasche, in die Höhe. Er machte eine verächtliche Handbewegung: Vergiß es, völlig wertlos. Er gab ihr ein Zeichen, ihm zu folgen. Sie schwammen gemeinsam nach links. Am Rand des 16
Kessels setzten sich die Felsen und Korallen in einer ziemlich geraden Linie fort. Ein Schwarm glänzender, blaugelber Doktorfische huschte vorbei. Ein Sonnenstrahl tanzte über einem senffarbenen Korallenstück mit einer glatten, einladen den Oberfläche. Sanders zeigte darauf und bewegte warnend den Zeigefinger. Dann beschrieb er pantomimisch den Schmerz, der bei Verbrennungen entsteht, indem er jäh mit der Hand zurückzuckte und das Gesicht verzog. Gail nickte: Feuerkorallen, deren schleimige Haut schreckliche Qualen verursachte. Sie schwammen am Riff entlang, gefolgt von dem kleinen Barsch, der offenbar noch instinktiv hoffte, die fremden Besucher würden ihm eine Mahlzeit verschaffen. Sanders fühlte, wie Gail an seinem Knöchel zupfte. Er sah sich um. Sie hatte die Augen weit aufgerissen und atmete viel schneller als normal. Sie zeigte nach links. Sanders schaute in die angegebene Richtung und erblickte einen riesigen Barrakuda, der regungslos im Wasser stand und sie mit einem weißgeränderten schwarzen Auge anglotzte. Sein Rumpf war schmal und glänzend wie ein Dolch, und sein vorstehender Unterkiefer stand halb offen, gab eine Reihe drohender, nadelspitzer Zähne frei. Sanders ergriff Gails linke Hand, drehte ihren Brillantring so, daß der Stein innen lag, und ballte die Hand zur Faust. Zur Erklärung hielt er seine eigene geballte Faust hoch. Gail nickte, klopfte sich auf die Brust und zeigte nach oben. Sanders schüttelte den Kopf: Nein. Gail blieb hartnäckig, runzelte die Stirn. Ich schwimme jedenfalls hoch, sagte sie in der Taucher sprache; du kannst ja hierbleiben, wenn du willst. Sie schnellte mit kräftigen Schwimmstößen zur Oberfläche. Sanders atmete ärgerliche Luftblasen aus und folgte ihr. »Hast du etwa schon genug?« fragte er, als sie sich ins Boot zogen. »Nein. Ich muß mich nur ein bißchen erholen. Bei Barrakudas 17
bekomme ich immer eine Gänsehaut.« »Er ist nur vorbeigeschwommen. Aber du hättest den Ring im Boot lassen sollen. Wenn man mit dem Stein herumblitzt, beschwört man die Gefahr geradezu herauf.« »Warum?« »Sie denken, es wäre ein Beutetier. Als ich zum erstenmal an einem Korallenriff tauchte, hatte ich eine Messingschnalle an der Badehose. Der Lehrer sagte mir, ich solle sie abschneiden. Ich weigerte mich, weil ich die Badehose nicht versauen wollte; sie hatte schließlich 15 Dollar gekostet. Da nahm der Lehrer ein Messer, band es an einem Stock fest und steckte es mit der Schneide nach oben in den Sand. Wir schwammen ein paar Meter weiter weg, und er ruckte ein paarmal an dem Stock, so daß die Schneide in der Sonne aufblitzte. Er brauchte nur vier- oder fünfmal zu rucken, bis ein großer Barrakuda vorbeikam und das Messer beglotzte. Der Lehrer ruckte noch einmal, und peng! Der Fisch war blitzschnell auf das Messer losgeschossen und hatte daraufgebissen – schneller, als wir sehen konnten. Er schoß immer wieder darauf los und zerfetzte sich das ganze Maul, aber jedesmal, wenn der Lehrer erneut am Messer ruckte, sauste er wieder los und biß darauf. Und jedesmal, wenn er darauf biß, stellte ich mir vor, es wäre meine Gürtelschnalle oder genau daneben. Ich habe die Badehose später nur noch in Swimming-pools angezogen.« Gail zog ihre Ringe von den Fingern und legte sie in eine Ecke über dem Steuerpult. »Und noch etwas«, sagte Sanders. »Wenn wir zusammen tauchen, muß einer von uns das Kommando haben.« »Wozu soll das gut sein?« Gail dachte, er wolle einen Witz machen. »Bist du vom Machtrausch gepackt?« »Nein, verdammt noch mal«, sagte Sanders schärfer, als er beabsichtigt hatte. »Aber unter Wasser müssen wir alles gemeinsam machen. Wir müssen ständig wissen, wo der andere ist. Zum Beispiel eben: Wenn es kein Barrakuda, sondern ein 18
Hai gewesen wäre und du wärst nach oben gesaust, statt auf mich zu hören, dann gäbe es dich jetzt vielleicht nicht mehr.« »Ein Hai! In dieser Gegend?« »Na schön. Wahrscheinlich kommen sie einem nicht in die Quere, aber es gibt hier welche. Und wenn einer vorbei schwimmt, willst du doch nichts Idiotisches machen.« »Und das wäre?« »Und das wäre: in Panik geraten und nach oben sausen. Solange du noch Luft hast, bleibst du am besten auf Grund und verkriechst dich irgendwo zwischen den Felsen. Wenn du zur Oberfläche schwimmst, besonders, wenn du Angst hast und hastig schwimmst, bist du Beute. Und an der Oberfläche bist du Frühstück.« »Und wenn mir die Luft ausgeht?« »Dann teilen wir uns meine Luft und warten auf eine Gele genheit, um zusammen nach oben zu schwimmen. Wenn es kein Menschenfresser ist, haben wir eine reelle Chance, das Boot zu erreichen.« Sanders sah, daß das Hai-Thema Gail nervös machte. »Keine Sorge«, sagte er. »Du darfst nur nichts tun, ohne es vorher mit mir abzustimmen.« Gail betrachtete ihn und holte tief Luft. »In Ordnung.« Sie beugte den Kopf über den Bootsrand und blickte durch ihre Brille ins Wasser. »Glaubst du, der Barrakuda ist fort?« »Wahrscheinlich.« Sie schaute noch eine Weile hinab und suchte den Grund ab. Sie wollte die Brille gerade aus dem Wasser ziehen, als sie hinter dem Boot etwas Großes und Braunes erblickte. »He, was haben wir denn da?« sagte sie und gab Sanders die Brille. »Wo?« Er beugte sich über den Bootsrand. »Hinter uns. Dort, wo man noch so eben sehen kann.« »Schiffsholz. Da liegt es, oder ich will verdammt sein.« Sanders löste das Ankertau und ließ das Boot ein paar Meter zurücktreiben. »Los, schauen wir mal nach.« »Wie hieß es eigentlich? Was hat der Portier doch gleich 19
gesagt? Goliath?« »Ja. Goliath.« Sie hechteten gleichzeitig ins Wasser und konnten, sobald ihre Luftblasen verschwunden waren, Holzteile auf dem Grund erkennen. Ein langer, dicker Balken lag quer zum Riff. Der weiße Sand war von angefaulten Holzplanken übersät. Sanders berührte Gails Schulter, und sie blickte ihn an. Er lächelte breit und machte mit Daumen und Zeigefinger das Zeichen für »In Ordnung«. Sie antwortete mit demselben Zeichen. Sie schwammen am Fuß des Riffs den Grund entlang. Gail fand eine verrostete Blechdose mit aufgeplatzten und scharti gen Rändern. Aus einer Felsspalte zog Sanders eine heile, noch volle Cocaflasche. Gail legte sich auf den Grund und schaufelte unter dem Balken Sand fort. Sie entdeckte eine Gabel und eine große Tellerscherbe. Sanders sah am anderen Ende des Balkens etwas aus dem Sand ragen. Er entfernte den Sand ringsum, bis er es identifizieren konnte: einen riesigen Ankerflügel. Gail schwamm zu ihm und sagte ihm mit Gesten, daß sie wieder hoch wollte. Er folgte ihr. Gail strampelte an der Oberfläche im Wasser, spie ihr Mund stück aus und sagte: »Laß uns über das Riff schwimmen.« »Warum?« »Es sieht so aus, als ob hier nur das vordere Ende vom Bug liegt. Auf der anderen Seite muß mehr sein.« »In Ordnung. Achte aber auf die Brandung, wenn du rüber schwimmst, und trödel nicht lange herum, wenn du merkst, daß deine Luft knapp wird. Schwimm dann auf dem kürzesten Weg zum Boot.« An der anderen, dem Meer zugewandten Seite des Riffs sah der Grund aus wie ein Schuttabladeplatz. Überall lagen Holz stücke, verrostete Eisenstangen und korallenüberzogene Metallteile herum. Gail zog einen Zinnbecher aus dem Sand. Die eine Seite war zerbeult, und der Henkel war an mehreren Stellen eingedellt, aber sonst war der Becher unbeschädigt. Am 20
Fuß des Riffs sah Sanders einen auffallend regelmäßig geform ten runden Korallenring. Er nahm ihn hoch, hielt ihn dicht vor das Gesicht und lächelte Gail zu. Es war der Rest eines Bullau ges. Gail scharrte an der Stelle, wo sie den Becher gefunden hatte, und hatte bald einen kleinen Haufen von Bestecken zusammen – Gabeln und Löffel und Messer, alle verbogen und zerschrammt. Sie schwamm zu Sanders hinüber, der in den Riffspalten herumstocherte. Ganz unten am Riff war ein Korallensims: die Korallen hörten knapp einen Meter über dem Sand auf, und darunter schien eine kleine Höhle zu sein. Sie klopfte Sanders auf die Schulter und zeigte auf das Sims. Er schüttelte den Kopf – nein – und umfaßte seine eine Hand mit der anderen, womit er ihr sagen wollte, daß in der Höhle etwas Lebendiges sein konnte, etwas, das eine umhertastende Hand beißen oder umschlingen oder zwacken konnte. Sie trennten sich. Gail schwamm wieder zu der Stelle, wo sie die Bestecke entdeckt hatte, und Sanders fuhr fort, in den Ritzen zu stochern. Er erreichte eine andere Höhle, ein bißchen größer als die, vor der er Gail gewarnt hatte. Er bückte sich und spähte hinein. Drinnen war es bedrohlich dunkel, und er wollte sich gerade abwenden und woanders suchen, als ein Aufblit zen, ein winziger Widerschein seinen Blick erneut anzog. Er hielt sich an einem Felsvorsprung fest und starrte auf das Glänzen, versuchte zu erraten, was es war. Er betrachtete seine lappenumwickelte Hand und hatte plötzlich ein Bild vor Augen, das er früher einmal gesehen hatte: das Photo von einer Männerhand, die kurz vorher von einer Muräne gebissen worden war. Das Fleisch war zerfetzt gewesen, und die Kno chen hatten beängstigend weiß durchgeschimmert. Er zögerte, hörte das Blut in seinen Schläfen pochen und wußte, daß er zu schnell atmete. Er spürte Furcht; er verachtete sich dafür. Er starrte auf seine Hand und zwang sich, sie langsam zur Höhlenöffnung zu bewegen. 21
Tief einatmend, griff er blitzschnell nach dem Glitzern. Seine Finger umschlossen etwas Kleines, Zerbrechliches; er zog die Hand sofort wieder aus dem Dunkel. In seiner Hand lag ein ungefähr sieben Zentimeter langer Glasbehälter, eine an beiden Enden verjüngte Ampulle. Sie war mit einer klaren gelblichen Flüssigkeit gefüllt. Als er sich von der Höhle entfernte, merkte Sanders, daß das Einatmen schwerer wurde. Er schwamm zu Gail – machte auf dem Weg kurz Station, um ein paar Relikte mitzunehmen, die er am Fuß des Riffs zurückgelassen hatte – und berührte sie. Als sie aufblickte, hielt er einen Finger quer über seine Kehle. Sie nickte und wiederholte die Geste. Sanders stieg zur Oberfläche. Gail blieb noch ein bißchen, weil sie ihre Gabeln und Löffel einsammeln wollte – schon in den wenigen Minuten hatte die schwache Strömung einen Löffel mit einer Patina aus feinem Sand überzogen. Dann folgte sie ihm. Sie überquerten gemeinsam das Riff und schwammen zum Boot. »Wunderbar!« sagte Gail, als sie ihren Bleigürtel und die Schwimmflossen ablegte. »Das ist phantastisch!« Auf dem Bootsboden, neben Gails Gabeln, Löffeln und dem Zinnbecher, lagen die Gegenstände, die Sanders gefunden und mitgenommen hatte: das ramponierte, aber vollständige Unterteil einer Butterdose; eine verrostete und zerbeulte Leuchtpistole; ein Rasiermesser und ein schwärzlicher Brok ken, der aussah wie Kohle. »Was ist das?« fragte sie und zeigte auf den Brocken. »Es könnte Metall drin sein. Manche Metalle bekommen eine schwärzliche Hülle, wenn sie sehr lange im Wasser liegen. Wir werden ihn einfach mit einem Hammer aufklopfen. Dann sehen wir, was drin ist.« Sanders öffnete die rechte Hand und zog die Ampulle unter dem Lappenverband hervor. »Schau mal«, sagte er und reichte sie Gail. »Was ist denn das?« 22
»Ich nehme an, irgendein Medikament. Es sieht so aus, als seien die Enden dafür bestimmt, daß man sie abbricht, um die Flüssigkeit mit einer Injektionsspritze herauszusaugen.« »Ob es verdorben ist?« »Ich glaube nicht. Der Behälter ist sicher wasserdicht. Aber hundertprozentig weiß ich es natürlich nicht.« Sanders blickte über das Heck. »Morgen nehmen wir eine Tasche mit. Ich glaube, da unten liegt noch viel mehr herum.« Als sie den Strand erreichten, wartete der Rettungsschwimmer – blond, tiefbraun gebrannt, mit einem weißen T-Shirt, das auf dem Rücken ein rotes Kreuz hatte – bereits auf sie. Er stand bis zur Hüfte im Wasser. Er packte den Bug, lenkte das Boot behutsam auf den Sand und half ihnen, ihre Tauchutensilien an Land zu bringen. »Na, Sie haben ja eine Menge gefunden«, sagte er zu Gail, während er zuschaute, wie sie ihre Schätze auf ein Handtuch häufte und dessen Zipfel verknotete, um einen Beutel zu improvisieren. »Ein bißchen«, antwortete Sanders abschwächend. Der Ret tungsschwimmer hatte ihn schon bei ihrem ersten Zusammen treffen am Morgen geärgert, als Sanders das Boot von ihm gemietet hatte. Er war vorlaut und jung, und Sanders war sicher, daß der Bursche nicht viel älter war als Gail. Sie war 27, und er, Sanders, war schon 37. Und wenn der Rettungs schwimmer redete, selbst wenn er eine Frage von Sanders beantwortete, sah er dauernd Gail an. Sanders war überzeugt, daß der Rettungsschwimmer sich weniger für die Relikte, die Gail vom Wrack mitgebracht hatte, als für ihre schwingenden Brüste interessierte. Gails Brüste schwangen nämlich ganz leicht hin und her, während sie sich bückte, um ihre Sachen einzusammeln. Der Rettungsschwimmer spürte Sanders’ Verstimmung und sagte zu ihm: »Und Sie, haben Sie Granaten gefunden?« »Granaten?« 23
»Ja, Granaten. Artilleriegeschosse. Wasserbomben. Sie wissen schon, Munition.« »Scharfe Munition?« »Man erzählt sich, daß die Goliath einen Haufen Munition geladen hatte. Vielleicht ist es auch nur Gerede.« Sanders sagte: »Wir werden morgen nachsehen. Wir würden das Boot gern wieder nehmen.« »Sicher, es sei denn, der Wind dreht nach Süden und wird stärker. Bei starkem Südwind wollen Sie doch nicht zu den Riffen fahren, oder?« »Nein. Die Goliath wollte es bestimmt auch nicht.« Gail und David schritten mit ihren Sachen den Strand hinauf. Der Sand war rosa – gefärbt von Millionen winzigen Meeres tieren, sogenannten Kammerlingen oder Foraminiferen, mit hartem Gehäuse – und so fein, daß man meinte, auf Talkum zu gehen. Als sie die Felsklippen erreichten, war Sanders ins Schwitzen gekommen. Seine Handflächen waren naß, und die Druckluft flaschen drohten ihm zu entgleiten. Er blickte die Steilwand hoch, dreißig Meter Korallen und Kalkstein. Rechts begann eine schmale Treppe, die sich nach oben wand. Links war ein Aufzug, ein quadratischer, gut einen Meter breiter und langer Käfig an einer Eisenstange, die in eine Betonplatte eingelassen war. Man hatte ihn vor Jahrzehnten in einer senkrechten Felsspalte installiert, die zu diesem Zweck ausgesprengt worden war. Im Aufzug waren zwei Knöpfe, einer für »Auf« und einer für »Ab«. Es gab keinen Alarmknopf; wenn der Aufzug stecken blieb, konnten die Insassen (höchstens drei) nichts anderes tun als warten, daß man sie mehr oder weniger zufällig entdeckte und Hilfe holte. Beim Frühstück hatten die Sanders eine Geschichte über ein älteres Ehepaar gehört, das mit dem Aufzug steckengeblieben war, als es in der Dämmerung vom Strand nach oben fahren wollte. Sie waren als letzte vom 24
Strand aufgebrochen, so daß niemand unten war, der sie sehen konnte. In der Nacht drehte der Wind nach Südwest und frischte zu einem leichten Sturm auf. Die Böen ließen die Eisenstange heftig erzittern, und der Käfig mit dem Ehepaar wurde wie ein Beutel Kleingeld hin und her geschüttelt. Als sie am Morgen schließlich gefunden wurden, war die Frau (so hieß es jedenfalls) vor Angst und Unterkühlung gestorben, und der Mann war wahnsinnig geworden. Er brabbelte etwas von Teufeln, die in der Dunkelheit gerufen hätten, und von Vögeln, die versucht hätten, ihm die Augen auszupicken. Auf dem Weg zum Strand hatte Gail sich geweigert, den Aufzug zu benutzen. »Ich bekomme bereits in den Fahrstühlen im Büro Klaustrophobie«, hatte sie gesagt. »Und in dem Ding wäre ich garantiert schon invalide, bevor wir unten angekom men wären.« Sanders hatte nichts eingewendet, aber er bestand darauf, die Luftdruckflaschen mit dem Aufzug nach unten zu befördern, und zwar mit der Begründung: »Wenn wir eine fallen lassen, wird sie an den Felsen zerschellen und explodieren, und wir gehen hoch wie eine Silvesterrakete.« Jetzt dachte er gar nicht daran, die Treppe hinaufzugehen. Er wandte sich nach links, zum Aufzug. Gail wandte sich nach rechts. »Willst du etwa zu Fuß hoch?« fragte er. »Ja, ich habe die feste Absicht. Du nicht? Ich dachte, du hättest Angst vor Höhen.« »Ich habe genausowenig Angst vor Höhen wie vor Flugzeu gen. Zugegeben, ich habe für beides nicht viel übrig, aber ich finde mich damit ab. Soll ich mir das Leben unnötig schwer machen?« »Na gut, aber ich betrete diesen Vogelkäfig auf keinen Fall. Komm. Es ist gut für die Beine.« Sanders schüttelte den Kopf. »Wir sehen uns oben.« Er legte die Tauchgeräte in den Aufzug, klappte die Tür zu und drückte 25
den Knopf für »Auf«. Es klickte, dann surrte der Motor, ächzte und hob den Käfig vom Boden. Sanders stand mit dem Rücken zum Meer und starrte angestrengt auf die graue Felswand, die langsam an ihm vorbeiglitt. Als er genug von der Klippe gesehen hatte, drehte er sich um und blickte zum Wasser, zwang sich, nach unten zu schauen. Er sah den Rettungs schwimmer, der das Boot auf einem Trailer den Strand hinauf zog, und ein Pärchen, das auf bunten Badetüchern in perfekter Symmetrie nebeneinander lag und mit zunehmender Entfer nung wie eine Briefmarke aussah, die man auf den rosafarbe nen Sand geklebt hatte. Er nahm die Änderung im Motorengeräusch, das sich von einem Ächzen zu einem Jaulen gesteigert hatte, kaum wahr. Als der Käfig einmal ruckte und dann stehenblieb, hatte er keine Angst; er nahm an, irgend jemand habe irgendwo auf einen »Halt«-Knopf gedrückt und würde gleich auf einen »Fahrt«-Knopf drücken. Er wartete. Der Motor lief immer noch auf Hochtouren, wie ein Auto im Leerlauf mit durchgetretenem Gaspedal. Sanders drückte den Knopf für »Auf«. Es klickte abermals. Der Aufzug rührte sich nicht. Er blickte hoch. Der Käfig hatte kein Dach, und er konnte den oberen Rand der Felswand sehen, der knapp fünf Meter entfernt war. Als Gail die Treppe geschafft hatte, atmete sie schwer, und ihre Oberschenkel schmerzten. Sie ging ein paar Schritte den Weg entlang und stellte zu ihrer Überraschung fest, daß der Aufzug noch nicht da war. Bei ihrem ersten Gedanken mußte sie lächeln: David hatte nasse Hosen bekommen und war doch zu Fuß gegangen. Sie kehrte zur Treppe zurück und blickte nach unten; es war niemand zu sehen. Beim nächsten Gedan ken bildeten sich Schweißperlen auf ihrer Stirn. Sie rannte zu der Stelle, wo der Aufzug hätte sein müssen, hielt sich an der Leitschiene fest und beugte sich über die Klippe. Sie war erleichtert: der Aufzug war noch da – er hatte sich wenigstens 26
nicht von der Stange gelöst und war nicht unten zerschellt. Sanders hatte die Hände durch die Stangen des Käfigs gesteckt und die Leitschiene gepackt. »Ist dir was passiert?« rief sie. »Nein, ich bin nur steckengeblieben.« Gail betrachtete die Maschinerie am oberen Ende der Auf zugschiene. Zwei Stahlarme, die in einer Betonplatte verankert waren, hielten die Schiene fest. Daneben stand ein großer Metallkasten, der, wie sie annahm, den Motor enthielt. Aber es waren keine Hebel, keine Knöpfe zu sehen. »Bleib da!« rief sie. »Ich hole jemanden.« Sie rannte in das Foyer des Orange Grove Club, ignorierte strenge Schilder, die »Badeanzüge, Badehosen und bloße Füße« in den Clubräumen untersagten. »Der Fahrstuhl ist steckengeblieben!« rief sie, als sie sich der Rezeption näherte. »Mein Mann ist drin.« Der ältere Angestellte hinter dem Tresen trug einen Mor genmantel und schien über ihre mangelhafte Kleidung besorg ter zu sein als über den Hilferuf. Er sagte nur: »Ja.« »Der Fahrstuhl ist steckengeblieben! Mein Mann …« »Ja«, wiederholte der Hotelbedienstete. Er nahm den Tele fonhörer ab und wählte eine Ziffer. »So tun Sie doch etwas!« sagte Gail. »Ich bin dabei, Madam.« Er sprach in die Muschel. »Clarence? Es ist schon wieder passiert«, erklärte er in einem ironischen Ich hab’s-ja-gleich-gesagt-Ton. Er legte auf und beruhigte Gail: »Gleich kommt jemand.« »Was meinen Sie mit ›gleich‹?« »Madam«, sagte der Angestellte förmlich. »Wenn Sie bitte auf der Veranda warten würden …« Er warf einen mißbilligen den Blick auf Gails nackte Taille. Sobald Gail draußen war, begann sie zu laufen, und dann sah sie Sanders, der sie mit einem breiten Lächeln an der Spitze der Felswand erwartete. Gail rannte zu ihm, umarmte ihn und 27
küßte ihn. »Ich hatte solche Angst …« sagte sie. »Wie hast du ihn wie der in Gang gebracht?« »In Gang gebracht? Ich bin einfach die Stange hochgeklet tert.« »Du bist was?« »Hochgeklettert. Hochgehangelt, wenn du das besser ver stehst.« Ungläubig schaute Gail über den Rand der Klippe. Der Auf zug hing an derselben Stelle wie vorher, ihre Tauchutensilien lagen noch drin. »Warum?« »Ich wollte es ausprobieren.« Sie blickte ihn an und fühlte plötzlich Zorn in sich aufstei gen. »Willst du dir unbedingt alle Knochen brechen?« »Sei nicht albern. Es war ein kalkuliertes Risiko. Ich dachte, ich könnte es schaffen, und ich habe es geschafft.« »Und wenn du dich geirrt hättest?« »Nun, dann wäre es Schicksal gewesen.« Er bemerkte die Wut in ihrem Gesicht. »Komm, es ist doch alles …« Er sah ihre Hand auf sich zusausen und duckte sich. Ihre Faust streifte seine Haare. »Um Gottes willen!« sagte er und hob den Arm, um den zweiten Schlag aufzufangen. Er packte sie, hielt ihre Arme fest und zog sie an sich. »He … es ist doch nichts passiert.« Sie wehrte sich kurz, gab dann nach und ließ sich festhalten. »Wem willst du eigentlich imponieren?« fragte sie. Als Sanders gerade antworten wollte, hörte er Schritte hinter sich. Er drehte sich um und sah einen alten Schwarzen mit einem großen Schlüsselbund. Der Mann murmelte etwas vor sich hin. »Was hat er denn?« fragte Sanders. »Launisch wie eine Diva.« Der Mann fischte den Schlüssel für den Metallkasten heraus. »Passiert das oft?« 28
Der Mann antwortete nicht. Er öffnete den Kasten, griff hinein und knipste einen Schalter. Das Motorgeräusch wurde sofort wieder normal. Der Mann betätigte irgend etwas ande res, und nachdem es ein paarmal geklickt hatte, begannen sich Räder zu drehen. In wenigen Sekunden war der Aufzug oben. Der Mann machte den Kasten zu, drehte den Schlüssel um und ging wieder fort. »He«, rief Sanders. »Was war denn?« »Weiß nicht. Vielleicht zu heiß, vielleicht zu kalt.« »Er kann doch nicht von der Stange fallen, oder?« »Ist er bisher noch nie. Wenn etwas nicht in Ordnung ist, legen sich Zwingen um die Stange und halten sie fest wie ein alter Krake. Nein, bisher ist er immer nur steckengeblieben. Die Leute müssen bloß Geduld haben, dann ist es ganz unge fährlich.« Als der Mann gegangen war, lud Sanders die Tauchutensilien aus. »Würdest du bitte auch etwas nehmen?« sagte er zu Gail. Sie rührte sich nicht. Sie betrachtete ihn und antwortete kühl: »Mach so etwas nicht noch mal, hörst du?«
29
II Sanders kam unter der Dusche hervor, trocknete sich ab und blieb vor dem Badezimmerspiegel stehen. Er spannte seine Brust- und Bauchmuskeln und stellte befriedigt fest, daß die einzelnen Muskelfasern sich unter der Haut abzeichneten. Er klopfte auf seinen Bauch und lächelte. Die Badezimmertür wurde hinter ihm geöffnet, und er spürte einen kühlen Luftzug, der Gails Duft mitbrachte. Zärtlich zwickte Gail in die unbedeutenden Fleischpolster über seinen Beckenknochen. »Mach bitte nicht zuviel Gymna stik«, sagte sie. »Sonst habe ich nichts mehr zum Festhalten.« »Keine Angst.« Sanders drehte sich um und küßte sie. Sie zogen sich zum Abendessen an, und als sie den Bunga low verlassen hatten, knallte Sanders die Tür zu, drehte den Schlüssel im Schloß und prüfte mit dem Türknauf, ob er auch richtig abgeschlossen hatte. »Was soll man denn bei uns stehlen?« fragte Gail. »Alles. Photoapparate, Tauchgeräte – alles teure Sachen. Man braucht es ja nicht heraufzubeschwören.« »Nun, das Abschließen nützt nicht viel. Das Zimmermädchen hat einen Schlüssel.« Sie hielten sich an der Hand und gingen zum Hauptgebäude des Orange Grove Club. Es war wie ein Spaziergang durch einen tropischen Pflanzgarten. Oleander, Hibiskus, Bougain villea-Sträucher, Flamboyant-Bäume und Weihnachtssterne, in verschwenderischen Farben erblüht, drängten sich auf beiden Seiten des Weges. Apfelsinen und Zitronen hingen von Bäu men in kleinen, gepflegten Hainen. Sie kamen an einer Gruppe 30
von Kalkstein-Bungalows vorbei, die ähnlich gebaut waren wie ihrer; bis auf die Dächer, die in der Abendsonne gedämpft weiß leuchteten, waren sie orangefarben gestrichen. Gail sagte: »Hast du schon einmal so saubere Dächer gese hen?« »Sie müssen auch sauber sein. Sie liefern immerhin das Wasser, das du hier trinkst.« »Was meinst du damit?« »Auf den Bermudas gibt es keine Brunnen, kein Grundwas ser, keine Flüsse, nichts. Es gibt nur Regenwasser. Es läuft von den Dächern in Zisternen.« »Hast du nicht gesagt, daß es hier nie regnet?« »Ich habe nur gesagt, daß hier an 340 Tagen im Jahr die Sonne scheint. Wenigstens ein paar Stunden. Es regnet ziem lich viel, sogar im Sommer. Die Wolkenbrüche sind unvermit telt und heftig, aber sie dauern nicht lange.« »Für jemanden, der zum erstenmal hier ist, kennst du dich erstaunlich gut aus.« »Dank meiner Studien beim National Geographic Magazi ne«, antwortete Sanders. »Das Leben ist eine ständige Jagd nach Informationen.« »Warum hast du eigentlich beim Geographic gekündigt? Es muß doch Spaß machen, dafür zu schreiben.« »Ja, Schreiben hätte vielleicht Spaß gemacht.« Sanders lächelte. »Irgendeine schöpferische Arbeit hätte Spaß gemacht. Ich habe aber nicht geschrieben und nicht schöpferisch gearbei tet. Ich habe nur Bildunterschriften komponiert. BU’s, sagen die Journalisten. Ich ging hin, weil ich vorhatte, mit Menschen affen zu leben, mit Krokodilen zu kämpfen und nach Wracks zu tauchen, die noch kein lebender Mensch gesehen hat. Statt dessen brütete ich jeden Tag stundenlang Sprüche aus, einzei lige Sprüche, sogar die Zahl der Buchstaben war vorgeschrie ben. Zum Beispiel: ›Kalkutta – Endstation Sehnsucht für Indiens Millionen‹. Ich habe nie etwas Schöpferisches 31
gemacht. Ich wurde dafür bezahlt, daß ich das abkürzte, was andere Leute machten.« Als sie sich dem eigentlichen Clubgebäude näherten, kam ihnen ein anderes, jüngeres Paar entgegen. Der Gang der beiden wirkte merkwürdig linkisch, denn sie hielten sich umfaßt, und da der Mann viel größer war als die Frau, mußte er seine Schritte unnatürlich verkürzen und beinahe hoppeln, damit sie mitkam. Sanders hatte das junge Paar kaum gesehen, als er auch schon Gails Hand losließ. Als das Paar vorbei war, fragte Gail: »Warum hast du das gemacht?« »Was?« »Meine Hand losgelassen.« Sanders wurde rot. »Pärchen in den Flitterwochen machen mich nervös.« Sie nahm seinen Arm und berührte mit dem Kopf seine Schulter. »Bist du dir nicht darüber klar, daß wir auch dazuge hören?« »Ja. Aber ich habe schon einmal Flitterwochen gehabt.« »Ich dagegen noch nicht«, sagte Gail. »Verdirb mir nicht den Spaß daran.« Sie gingen durch das Foyer – groß, dezent, mit glänzendem, dichtgemasertem Zedernholz getäfelt – und kamen auf dem Weg zur großen Terrasse über dem Meer am Billardzimmer, Spielzimmer, Bridgezimmer, am Lesezimmer und an der Bar vorbei. Man führte sie zu einem Tisch am Rand der Terrasse. Die Sonne, die hinter ihnen unterging, beleuchtete die Wolken am Horizont und ließ sie rosarot aufglühen. Der Kellner kam zuerst, um ihre Getränkebestellung aufzu nehmen. Er war jung, schwarz und hieß, wie ein Schildchen auf seiner Brusttasche besagte, Slake. Er kannte wohl nur einsilbige Worte und hatte offenbar noch nichts von der Anrede »Madam« oder »Sir« gehört, was allerdings kein Zeichen von Respektlosigkeit zu sein schien. Einmal redete er 32
Sanders sogar mit »Mann« an. Als der Kellner sich umdrehte und ging, sah Gail ihm nach und sagte ernst: »Das muß ein schrecklicher Job sein.« »Warum?« »Was hat er denn zu erwarten? Wenn er sehr gut ist, wird er vielleicht Oberkellner. Das ist aber auch das höchste.« »Was ist daran so schlimm?« meinte Sanders. »Es ist doch besser, als gar keine Arbeit zu haben.« »Hast du seinen Namen gelesen? Slake. Das klingt nicht sehr bermudisch.« »Ich glaube nicht, daß es so etwas wie ›Bermudisch‹ über haupt gibt. Es gibt hier Schwarze, die Bascomb heißen und wie die feinsten Briten aus der Savile Row sprechen, und es gibt Weiße, die so reden, als stammten sie aus einem Farbigengetto von Jamaika. Ich erinnere mich noch, daß ich einmal eine Bildunterschrift überprüfen mußte, auf der ein Bursche, ein Fischer, zitiert wurde: ›Morgen frei. Morgen wird eine Winds braut kommen.‹ Ich dachte, ›Windsbraut‹ stünde nur in alten Gedichten. Aber der Mann redete tatsächlich so. Ethnologisch gesehen sind die Bermudas ein großer Schmelztiegel.« Als die Cocktails kamen, schwiegen sie und lauschten dem Klang der Wellen tief unten, schauten zu den wenigen Riff spitzen hinaus, die an dem windstillen Abend zu sehen waren. Sanders griff in die Tasche und holte die Ampulle heraus, die er gefunden hatte. »Vielleicht können wir morgen früh jemanden auftreiben, der es für uns analysieren kann. Ich wette zehn Cents darauf, daß es Penicillin ist – aus der Schiffsapotheke. Alle Schiffe führen diese Medikamente mit sich.« »Aber Penicillin wurde doch erst nach dem Krieg in größeren Mengen hergestellt. Es sieht mehr wie ein Impfstoff aus. Auf jeden Fall nehme ich die Wette an.« Als er Gail den kleinen Behälter reichte, damit sie ihn in ihre Handtasche steckte, ertönte hinter ihm eine Stimme: »Woher 33
haben Sie das?« Sie wandten sich um und erblickten den Kellner, Slake. Er hatte zwei Speisekarten in der Hand. »Wie bitte?« fragte Gail. Slake schien seine unvermittelte Frage peinlich zu sein. »Entschuldigung. Ich sah nur das kleine Glas und wollte wissen, wo Sie es gefunden haben.« Er hatte den singenden Akzent der Einwohner Jamaikas. Sanders sagte: »Aus dem Wrack dort hinten.« »Von der Goliath?« »Ja.« Gail hielt die Ampulle so, daß Slake sie besser sehen konnte. »Wissen Sie, was es ist?« Slake nahm die Ampulle und hielt sie zwischen den Finger spitzen. Hinter ihnen brannte eine Gaslampe, und er drehte die Ampulle vor dem Licht hin und her. Dann gab er sie Gail zurück und sagte: »Keine Ahnung.« Sanders fragte: »Warum haben Sie sich dann so sehr dafür interessiert?« »Ich interessiere mich für Glas. Es wirkte irgendwie alt. Es ist ganz hübsch. Entschuldigung.« Slake legte die Speisekarten auf den Tisch und ging wieder zur Küche. Nach dem Essen schritten die Sanders Hand in Hand den Weg zu ihrem Bungalow zurück. Der Mond stand im ersten Viertel und warf blaßgoldenes Licht auf die Blätter und Blüten. Die Büsche schienen zu leben, so eifrig quakten die Frösche darunter. Sanders schloß die Tür des Bungalows auf und sagte: »Laß uns noch einen Kognak auf der Terrasse trinken.« »Sie werden uns bei lebendigem Leib auffressen.« »Ich glaube nicht.« Er zeigte auf ein gelbes Licht über der Tür. »Diese Dinger halten angeblich das Ungeziefer fern.« Er goß Kognak in die beiden Zahnputzgläser und brachte sie auf die Terrasse. Gail saß in einem der beiden Rohrsessel, die einen kleinen Tisch flankierten. »Es ist schön hier«, sagte sie und schnupperte Luft ein. »Hundert verschiedene Gerüche.« 34
Einige Minuten saßen sie nur da und betrachteten den Him mel und horchten auf das Rascheln der Brise in den Bäumen. »Kannst du noch eine aufregende Information aus dem Archiv des National Geographic verdauen?« fragte Sanders. »Sicher.« »Im 17. Jahrhundert nannte man Bermuda die ›Insel der Teufel‹.« »Und warum?« »Wie soll ich das wissen? In meinem Vertrag stand nur, daß ich die nackten Tatsachen liefern mußte. Für die Ursachen und Gründe wurde jemand anders bezahlt.« Gail sagte: »Ich werde gleich fürchterlich gähnen.« »Tu dir keinen Zwang an.« »Es wird das sinnlichste und vielversprechendste Gähnen sein, das du je gehört hast. Es wird zügellose, unerhörte Genüsse verheißen, die mich vergessen lassen, daß du ein geisteskranker Selbstmordkandidat bist. Es wird, kurz gesagt, ein unwiderstehlicher Brunstschrei sein.« »Gähn endlich«, sagte Sanders. Er schloß die Augen und lauschte. Er hörte, wie sie ein tiefes, stöhnendes, raubkatzen haftes Gähnen anstimmte. Es war so unvermittelt zu Ende, als hätte ihr jemand einen dicken Korken in die Kehle gestopft. »Was ist los?« fragte er. »Hast du deine Zunge verschluckt?« Er machte die Augen auf und sah, wie sie ins Dunkel starrte. »Was?« »Da hinten ist jemand.« »Es ist der Wind.« »Nein, nicht der Wind.« Sanders ging zum Rand der Terrasse. Auf dem Weg war niemand. Er drehte sich zu Gail und sagte: »Kein Mensch da.« »Dort.« Gail zeigte auf eine Stelle hinter ihm. Als Sanders in die betreffende Richtung sah, erblickte er einen Mann, der aus den Büschen auf den Weg trat. Er kam auf sie zu, blieb ein paar Meter vor der Terrasse stehen und sagte: 35
»Ich bitte vielmals um Entschuldigung.« Er war ein Schwarzer und trug einen schwarzen Anzug. Sanders sah nur seine Augen und einen weißen Hemdtupfen. »Wie lange sind Sie da schon gewesen?« fragte Sanders. »Wie bitte, Sir? Ich bin eben erst gekommen.« »Aus den Büschen?« Der Mann lächelte. »Das geht am schnellsten. Der Weg ist in Wirklichkeit ein großer Umweg.« Er sprach das gepflegte Britisch der oberen Mittelklasse. »Was können wir für Sie tun?« »Ich würde gern einige Worte mit Ihnen reden, wenn Sie gestatten.« »In Ordnung. Aber kommen Sie bitte ins Licht.« Der Mann – er sah aus wie fünfzig – trat auf die Terrasse. Seine blauschwarze Haut hatte zahlreiche Fältchen, und seine pechschwarzen Locken waren weiß gesprenkelt. »Mein Name ist Tupper. Basil Tupper. Ich bin der Geschäftsführer eines Schmuckgeschäfts in Hamilton. Drake’s. Vielleicht sind Sie schon einmal daran vorbeigegangen. Aber das spielt im Augenblick keine Rolle. Ich sammle altes Glas.« Sanders warf Gail einen Blick zu. »Auf den Bermudas scheint es ja viele Leute zu geben, die altes Glas sammeln.« Tupper sagte: »Ich habe gehört, daß Sie einen kleinen Glas behälter aus dem Wrack der Goliath geborgen haben. Ich würde ihn sehr gern einmal sehen.« »Wozu?« »Was soll überhaupt das Ganze?« sagte Gail und griff nach der Handtasche, die neben ihrem Sessel stand. »Es ist nur ein Medizinfläschchen.« »Sie finden es natürlich unverständlich«, sagte Tupper. »Aber für jemanden, der gutes altes Glas sammelt, ist es vielleicht hochinteressant. Mitte der vierziger Jahre hat in Norfolk ein Glasbläser namens Reinhardt gearbeitet. Er produzierte relativ wenig. Seine Sachen haben noch keinen 36
Marktwert, aber für die wenigen Spezialisten ist es ein Voll treffer, wenn sie ein Glas von Reinhardt entdecken.« Gail fand die Ampulle und reichte sie Tupper. Er hielt sie ans Licht. »Ein hübsches Stück«, sagte er. »Nicht außergewöhn lich, aber sehr hübsch.« »Es ist eine Ampulle«, sagte Sanders. »Diese Dinger gibt es doch wie Sand am Meer.« »Sicher, aber an einem Ende ist ein winziger Lufteinschluß. Mit solchen Lufteinschlüssen hat Reinhardt seine Sachen signiert.« »Was ist drin?« fragte Gail. »Ich habe keine Ahnung. Kann alles mögliche sein. Dafür interessiere ich mich nicht.« Gail lächelte. »Für jemanden, der sich nicht für den Inhalt interessiert, untersuchen Sie ihn aber sehr genau.« »Ich untersuche den Behälter, nicht den Inhalt. Die Flüssig keit wirkt gelb, aber sie könnte völlig farblos sein. ReinhardtGläser haben oft einen spezifischen Lüster, der sich auf Flüs sigkeiten überträgt.« Tupper reichte Gail die Ampulle zurück. »Sehr hübsch. Ich würde Ihnen zwanzig Dollar dafür geben.« »Zwanzig Dollar!« sagte Sanders. »Aber es ist …« »Ich weiß, Sir, das kommt Ihnen viel vor. Aber in unserem kleinen Kreis sind alle wie verrückt nach Reinhardt-Gläsern, und ich würde gern als erster eines finden. Das Stück ist offen gesagt höchstens zehn Dollar wert, und wenn ich Ihnen zwan zig biete, dann nur, weil die meisten anderen nicht soviel zahlen können. Mr. Slake, den Sie ja kennen, könnte Ihnen kaum mehr als zehn zahlen. Man kann sagen, daß ich von Anfang an weit über den Schätzwert gehe, um den Zuschlag zu bekommen.« »Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn wir vorher einen Teil der Flüssigkeit herausholen?« fragte Gail. »Wir interessie ren uns nämlich nicht für den Behälter, sondern für den Inhalt.« »Bitte nicht«, antwortete Tupper. »Das ist unmöglich. An die 37
Flüssigkeit kommt man nur heran, wenn man ein Ende ab bricht. Dann wäre das Stück nichts mehr wert.« »Dann kommen wir eben nicht ins Geschäft«, sagte Sanders. »Dreißig Dollar«, sagte Tupper, nun längst nicht mehr so britisch. »Nein«, sagte Sanders. »Nicht einmal für fünfzig.« »Wissen Sie, daß Sie einen Fehler machen? Niemand wird Ihnen auch nur annähernd soviel bieten.« »Dann werden wir es vermutlich selbst behalten müssen«, antwortete Sanders. »Sie haben schließlich selbst gesagt, daß es ein Volltreffer ist, wenn man ein Glas von Reinhardt entdeckt.« Tupper betrachtete ihn finster, nickte Gail kurz zu, sagte: »Guten Abend« und verließ die Terrasse. Nach einigen Schrit ten auf dem Weg teilte er die Büsche, schlüpfte in das Unter holz und war verschwunden. »Kannst du dir einen Reim darauf machen?« fragte Sanders. Gail stand auf. »Laß uns hineingehen. Wenn er in den Büschen herumstrolchen konnte, ohne daß wir ihn gehört haben, strolchen hier vielleicht noch mehr Leute herum.« Sie gingen in den Bungalow, und Sanders verschloß die Tür. »Glaubst du ihm etwa?« »Nein. Und du?« »Ich habe jedenfalls noch nie was von Reinhardt-Gläsern gehört.« »Wenn die Sammler tatsächlich so verrückt darauf sind«, sagte Gail, »hätte Slake ihm wohl kaum von der Ampulle erzählt, oder? Er hätte versucht, sie selbst zu kaufen. Nein. Ich wette, daß er sich nicht für den Behälter interessiert. Er will die Flüssigkeit haben.« »Dann möchte ich wissen, warum er es nicht zugegeben hat.« »Keine Ahnung. Ich nehme an, es ist ziemlich schwer, sich einigermaßen glaubwürdig als Sammler von Flüssigkeiten auszugeben.« »Hast du die anderen Sachen noch, die wir gefunden haben?« 38
»Sicher«, sagte Gail. »Warum?« »Am besten, wir versuchen morgen jemanden zu finden, der etwas über das Wrack weiß. Vielleicht können wir irgendwo ein Schiffsladungsverzeichnis auftreiben. Dann wüßten wir wenigstens, was die Goliath mit sich führte.«
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III »Gab es eigentlich Überlebende?« fragte Gail. »Nur einen«, antwortete der Portier, ein korpulenter Englän der. »Aber der ist jenseits von Gut und Böse.« »Jenseits von Gut und Böse?« Der Portier faßte sich an die Stirn. »Er hat einen kleinen Dachschaden. Er würde Ihnen Bände erzählen, aber zwei Drittel davon wäre erfunden. Es gibt allerdings einen Mann, der Ihnen helfen könnte – Romer Treece. Er kennt jedes Wrack vor den Bermudas; hat die Hälfte davon selbst gefunden. Wenn jemand in diesen Gewässern Bescheid weiß, dann er.« »Steht er im Telefonbuch?« fragte Sanders. »Er hat kein Telefon. Man kann ihn nur erreichen, wenn man zu ihm fährt. Er wohnt auf St. David’s Island.« »Gut. Ich habe draußen Motorräder gesehen. Kann man sie mieten?« »Die kleinen – die Mofas – ja.« Der Portier hielt inne. »Mr. Sanders … Sie haben doch schon einmal etwas über St. David’s Island gehört?« »Muß man das? Ich habe es auf der Karte gesehen.« »Die Leute dort sind nicht gerade … sehr gastfreundlich. Sie betrachten sich nicht als Bewohner der Bermudas. Sie sind gewissermaßen Davidianer. Es gibt eine Brücke, die SevernBrücke; sie verbindet die Insel mit dem eigentlichen Bermuda. Wenn es nach ihnen ginge, müßte sie eher heute als morgen einstürzen und dürfte nie wieder aufgebaut werden.« Sanders lachte. »Was sind es denn für Leute, Eremiten?« »Nein, aber ein sehr stolzer Menschenschlag, und auch ein 40
bißchen verbittert, könnte man sagen. Sie machen sich ihre Gesetze selbst, und die Regierung der Bermudas drückt beide Augen zu. Es gibt da eine Art stillschweigende Vereinbarung, vermutlich als Wiedergutmachung für die Sklaverei.« »Sklaverei?« »Die Vorfahren der Davidianer waren Sklaven. Die Hälfte von ihnen war Mohikaner, aufsässige Typen, die von den amerikanischen Siedlern hierher verbannt wurden. Die anderen waren aufrührerische Iren, die die Briten deportiert hatten. Sie heirateten untereinander und vermischten sich im Lauf der Jahre, und daraus entwickelte sich eine ziemlich bösartige Rasse, das können Sie mir glauben.« »Ich muß sie unbedingt kennenlernen«, sagte Gail. »Aber bitte nur bei Tage, Madam. Bleiben Sie bloß nicht nachts auf St. David’s.« Sanders sagte: »Vielen Dank für den Tip. Ich habe unsere Preßluftflaschen unten im Geräteschuppen gelassen. Könnten Sie dafür sorgen, daß sie nachgefüllt werden?« Der Portier antwortete nicht. Er wirkte verlegen. »Ich … ich muß Sie noch etwas fragen, Mr. Sanders.« Er hielt zwei kleine Karten – ungefähr Kreditkartengröße – hoch. »Wegen der Karten, die Sie mir gegeben haben. Sie müssen meine Unwis senheit entschuldigen, aber von NTV habe ich noch nie etwas gehört.« »Ach so«, sagte Sanders verbindlich. »Nationale Taucherver einigung. Es gibt heute so viele Sporttaucher, daß das NAUI und das Y nicht alle betreuen können. NTV ist ein neuer Verein.« »Aha.« Der Portier kritzelte etwas in einen Notizblock. »Es ist nur wegen der Vorschriften. Ich hoffe, Sie haben Verständ nis dafür.« »Aber sicher.« Gail und David gingen nach draußen und mieteten im Club laden zwei Mofas. Während der Angestellte Formulare ausfüll 41
te, flüsterte Gail: »Was war das mit den Karten?« Sanders antwortete leise: »Ich habe es kommen sehen. Sie stellen sich jedes Jahr verrückter an. Ohne Ausweis bekommt man bald nirgends mehr Luft.« »Aber wir sind doch in keinem Verein.« »Ich weiß. Ich hab’ die Karten in New York machen lassen.« »Was ist NTV? Gibt’s das überhaupt?« »Nicht daß ich wüßte. Keine Angst. Sie prüfen es nie nach. Sie brauchen nur etwas, das sie in die Kartei schreiben kön nen.« »Wir hätten doch den Y-Kurs machen sollen«, sagte Gail. »Gestern habe ich zum erstenmal seit einem Jahr wieder getaucht.« »Wer kann schon vierzehn Dienstagabende in einem Schwimmbecken vertrödeln?« Sanders legte den Arm um ihre Taille. »Du tauchst sehr gut!« »Ich habe weniger an mich gedacht.« Sie ließen sich erklären, wie die Mofas funktionierten. Der Angestellte zeigte auf eine Helmreihe und sagte: »Welche Größe haben Sie?« »Vergessen Sie’s«, sagte Sanders. »Ich hasse diese Dinger.« »Es ist Vorschrift. Sie müssen Helme aufsetzen. Sonst kann die Polizei die Mofas beschlagnahmen.« »Ich finde«, sagte Sanders gereizt, »daß ich als freier Bürger selbst entscheiden müßte, ob …« Er fühlte Gails Hand auf seinem Arm und hielt inne. »Na gut.« Gail legte das Handtuch mit den geborgenen Gegenständen in den Gepäckkorb auf dem hinteren Schutzblech ihres Mofas und vergewisserte sich, ob die Ampulle noch in ihrer Brustta sche steckte. Sie fuhren los und schlugen die South Road nach Nordosten ein. Der Wind hatte nach Südost gedreht, und als sie die Straße, von der man die Südküste überblicken konnte, entlangtucker ten, zeigte Sanders zu den Riffen: Was gestern noch ein ruhiger 42
Ankerplatz für das Boot gewesen war, hatte sich in einen gischtenden Vulkan verwandelt. Wellen krachten gegen die Felsen. Sogar auf der Landseite der Riffe sammelte das wind gepeitschte Wasser noch genug Kraft, um mit einer schäumen den Brandung auf den Strand zu treffen. Die Straße wurde von vielen kleinen und langsamen Taxis befahren, deren Chauffeure sich – obwohl sie sich von Kindes beinen an kennen und täglich mehrmals begegnen mußten – impulsiv zuwinkten und plärrende Hupen betätigten, deren hohe Töne durch Mark und Bein gingen. Die Häuser, an denen sie vorbeikamen, schienen keine sozia le Rangfolge, keine geschlossenen Viertel zu kennen. Im allgemeinen waren die Gebäude rechts von der Straße, mit einem grandiosen Blick über das Meer, groß, sehr gepflegt und offensichtlich teuer. Die Häuser auf der linken Seite, die sich dicht nebeneinander an die Hügel schmiegten, waren kleiner und schäbiger, und ihre unkrautüberwucherten Gärten wurden von schwarzen Kindern bevölkert. Jede Brise enthielt eine Fülle schwerer Gerüche, süße und saure, würzige und fruchti ge. Sie fuhren durch Devonshire und Smith’s Parishes, bogen dann links auf die Harrington Sound Road ein und folgten dem langen Damm durch Castle Harbour zu St. George’s Island. Ein Wegweiser zeigte nach St. George, das links lag; sie fuhren aber nach rechts, über die Severn-Brücke, und erreichten dann die schmale Straße, die neben dem Flughafengelände nach St. David’s führte. Sie hatten einen schmucken, übersichtlich angelegten Ort erwartet. Was sie jedoch fanden, waren wahllos zusammenge würfelte kleine Kalksteinhäuser mit Feldwegen dazwischen. Es war, als wäre jemand mit einem Sack Häuser dreitausend Meter hoch geflogen und hätte den Sack dann achtlos ausge schüttet, so daß der Inhalt auf die Hänge purzelte. Offenbar stand nur ein Bauwerk an einem Platz, den man nicht dem 43
Zufall überlassen hatte: der kleine Leuchtturm am Rand einer ziemlich steilen Felswand. Sie hielten an der Straßenseite an, und Sanders faltete die Karte auseinander, die sie im Hotel bekommen hatten. »Das ist es«, sagte er. »Muß es sein. Das da oben ist der Leuchtturm von St. David’s.« »Komm, wir wollen jemanden fragen.« »Ja. Du brauchst dir nur einen der vielen Passanten auszu suchen.« Er machte eine weit ausladende Armbewegung zu den Hängen hin. Es war kein einziges Fahrrad, kein einziges Auto, kein einziger Fußgänger zu sehen. Der Ort schien völlig menschenleer zu sein. Fünfzig Meter weiter, hinter einer Kurve, erblickten sie ein handgemaltes Schild: »Kevins Gasthaus«. »Sieht nicht sehr einladend aus«, sagte Gail. Die Öffnung des Schuppens hatte keine Tür, sondern nur einen ramponierten Perlenvorhang, der von einem Weidenrohr herabbaumelte. Sanders klopfte mit den Fingerknöcheln an die Wand. »Ist da jemand?« Sie gingen durch die Türöffnung. »Was wünschen Sie?« sagte eine Stimme am anderen Ende einer langen Theke. Der Mann trug kein Hemd, seine Haut war dunkelbraun, sein Oberkörper schwammig und haarlos. Seine Augen waren schwarze Löcher über kugelrunden Wangen. Sanders sagte: »Wir suchen Romer Treece.« »Nicht hier.« »Wo können wir ihn finden?« »Er ist keine Touristenattraktion.« »Wir sind keine Touristen«, sagte Sanders. »Wir möchten ihn nach einem Schiff fragen.« »Schiffe kennt er allerdings«, antwortete der Mann ein biß chen friedfertiger. »Da gibt es keinen Zweifel. Wie dringend möchten Sie ihn denn sprechen?« »Wie bitte?« Sanders brauchte einen Augenblick, um zu 44
begreifen, was Kevin meinte. »Ach so.« Er nahm eine FünfDollar-Note aus seiner Brieftasche und legte sie auf die Theke. »Sehr dringend scheint es ja nicht zu sein.« Sanders öffnete den Mund, um etwas Passendes zu antwor ten, aber dann sah er Gail an, und ihr Gesichtsausdruck sagte: Laß uns so schnell wie möglich hier raus. Er legte noch einen Fünfer auf die Theke. »Ist das dringend genug?« »Oben auf der Klippe. Der Leuchtturm.« Gail sagte: »Wohnt er da drin?« »Nein, genau daneben. Er ist der Leuchtturmwärter.« Der Leuchtturm stand auf einem kleinen Kap, so hoch über dem Meer, daß das eigentliche Leuchtfeuer nur 18 bis 20 Meter über dem Boden zu sein brauchte. Es gab einen gut markierten Weg, der Touristen zum Leuchtturm leitete. Ein kleines weißes, von einem Lattenzaun umgebenes Haus kauerte im Windschatten des Turms. Das Wort PRIVAT war an die Pforte gemalt. Die Sanders lehnten ihre Mofas an den Zaun, öffneten die Pforte und gingen den kurzen Weg zum Häuschen hinauf. Zu beiden Seiten der Haustür, wo man eigentlich Blumenbeete vermutet hätte, stand je ein badewannengroßer Zuber mit einer durchsichtigen Flüssigkeit. In den Zubern sahen die Sanders Dutzende verrostete Metallstücke – Bolzen, Schnallen, Pisto lenläufe und zahlreiche Gegenstände, die sie nicht identifizie ren konnten. Gail hielt das Handtuchbündel hoch. »Glaubst du, es sind solche Sachen?« »Sieht so aus. Es ist wahrscheinlich ein chemisches Bad, zum Säubern.« Die Haustür stand offen, aber dahinter war eine geschlossene und von innen verriegelte Moskitotür. Sanders klopfte an den Rahmen und rief: »Hallo? Mr. Treece?« »In dem verdammten Leuchtturm liegen genug Prospekte rum! Da steht alles drin, was Sie wissen wollen.« Die Stimme war tief, und der Akzent irgendwie britisch oder schottisch. 45
»Mr. Treece, wir würden gern Ihre Meinung zu ein paar Sachen hören, die wir gefunden haben.« Sanders blickte Gail an. Als er sich wieder zur Moskitotür wandte, starrte er unver mittelt hinauf in das Gesicht des größten Mannes, den er je gesehen hatte. Er war fast 2,10 Meter groß, und sein Brustkasten hatte einen derartigen Umfang, daß die Ärmel seines T-Shirts begonnen hatten, sich an den Nähten zu lösen. Seine Haare waren schwarz und zu einer Bürstenfrisur in Form eines V’s gescho ren, dessen scharfe Spitze in der Mitte der Stirn ansetzte. Seine Nase war lang und schmal und auffallend gekrümmt, als sei sie früher einmal gebrochen und nicht behandelt worden. Sein Gesicht wirkte dreieckig, fast wie eine umgedrehte Pyramide: breite, hohe Wangenknochen über eingefallenen Wangen, ein dünnlippiger Mund über einem spitzen, vorspringenden Kinn. Seine Haut war braun und ausgedörrt wie zu lange gebratener Schinken. Das einzige Merkmal, das nicht auf Indianerblut hindeutete, war die Augenfarbe: ein helles, meliertes Blau. »Wir sind keine Touristen«, sagte Sanders. »Der Mann vom Club sagte, Sie würden vielleicht so freundlich sein, sich ein paar Sachen anzuschauen, die wir aus einem Wrack geholt haben.« »Welcher Mann?« »Der Portier.« »Briscoe«, sagte Treece. »Zum Teufel noch mal, ich bin doch nicht sein Dienstmädchen.« »Er sagte nur, außer Ihnen könne uns niemand helfen, und Sie würden es vielleicht tun.« »Welches Schiff?« »Die Goliath.« »Die hatte nur wertloses Zeug geladen. Das heißt, man hat nie etwas anderes gefunden.« Treece sah an ihnen vorbei zur Pforte. »Sind Sie etwa den ganzen Weg mit diesen Dingern hergekommen?« 46
»Ja.« »Nun, was haben Sie gefunden?« Treece öffnete die Moski totür, trat auf den Weg und machte die Tür hinter sich zu. »Ist es da drin?« fragte er und zeigte auf das Bündel, das Gail in der Hand hielt. »Ja.« Gail reichte es ihm. Treece hockte sich hin, legte das Handtuch auf den Weg, knotete die Zipfel auf und betrachtete die Gabeln und Löffel, den Zinnbecher, das Rasiermesser und die Butterdose. »Das muß von der Goliath sein, kein Zweifel.« Er richtete sich auf. »Jetzt wissen Sie, was Sie wissen wollten. War es die Fahrt wert?« Sanders sagte: »Wir haben noch etwas anderes gefunden.« Er zeigte auf Gail, und sie nahm die Ampulle aus ihrer Brust tasche und gab sie Treece. Treece ließ die Ampulle in seiner Hand ruhen. Er starrte darauf hinunter und sagte nichts. Sanders sah, wie seine Kinnbackenmuskeln sich bewegten, als knirschte er mit den Zähnen. Schließlich ballte Treece die Hand mit der Ampulle zur Faust. Er hob den Kopf und schaute zum Meer. »Zum Teufel noch mal!« sagte er. »Es mußte zweiunddreißig Jahre dauern, bis dieser Hurensohn recht bekommt.« »Was …« Treece wirbelte zu Sanders herum, unterbrach ihn. »Wer hat das sonst noch gesehen?« »Nun …« stammelte Sanders. »Ich habe gesagt, wer sonst noch?« »Gestern abend«, antwortete Sanders, »kam ein Mann und wollte es uns abkaufen. Ein Schwarzer. Er sagte, er interessiere sich für altes Glas. Und ein Kellner vom Hotel hat es auch noch gesehen.« Treece lachte – halb zornig, halb verächtlich. »Altes Glas!« Er hielt Sanders die Faust vors Gesicht und öffnete sie, so daß 47
dieser gezwungen war, die Ampulle zu betrachten. »Wissen Sie, was da drin ist? Morphium, reines, unverfälschtes Morphi um, genug für einen einwöchigen Erster-Klasse-Trip. Kein Wunder, daß man versucht hat, es Ihnen abzukaufen. Es beweist die Legende.« »Welche Legende?« Treece blickte auf Sanders, auf Gail, dann wieder auf San ders hinunter. »Ich sollte es Ihnen eigentlich nicht sagen, aber jetzt, wo man weiß, daß Sie es gefunden haben, wird man es Ihnen wahrscheinlich eher heute als morgen erzählen. Kommen Sie.« Sie folgten Treece zur Rückseite des Hauses. Er führte sie in die Küche, einen großen, luftigen Raum mit Blick aufs Meer. Flaschen und Phiolen mit Chemikalien, Bunsenbrenner und Instrumente – Zahnarztbohrer, lange Spezialzangen, Messer, Hämmer, Beitel – standen und lagen überall herum, auf den Regalen und auf dem runden Tisch. Er forderte sie mit einer Handbewegung auf, am Tisch Platz zu nehmen. Gails Kehle war wie ausgedörrt, und sie sagte: »Könnte ich bitte etwas Wasser haben?« »Ja, wenn ich ein Glas finde«, antwortete Treece und stöberte in dem Durcheinander auf einem Regal herum. Gail sah ein halbgefülltes Glas auf dem Tisch. »Das wird reichen«, sagte sie und griff danach. »Es braucht nicht kalt zu sein.« Treece beobachtete sie und wartete, bis das Glas nur noch zwei oder drei Zentimeter von ihrem Mund entfernt war. Dann lachte er und sagte: »Bei Gott, Mädchen, trinken Sie das nicht. Ein Schluck, und Sie stehen morgen in der Zeitung. Schwarz eingerahmt.« Gail erschrak. »Was ist es?« »Salzsäure. Würde Sie ganz schön ausputzen, soviel ist sicher.« Er fand ein Glas, füllte es mit Leitungswasser und gab es ihr. »Hier. Das kann Sie höchstens ein bißchen anrosten.« 48
Sanders hörte hinter sich ein Knurren. Erschrocken drehte er sich um und sah auf der Fensterbank einen Hund sitzen. Es war irgendein Terrier, mittelgroß, mit grauen Schnauzhaaren, der ihn eindeutig anknurrte. Treece sagte: »Schon gut, Charlotte, du dummes Ding.« Die Hündin wandte die Augen nicht von Sanders. Sie knurrte wieder. »Ich sagte, schon gut!« Treece nahm Gails Glas und goß dem Tier das Wasser ins Gesicht. Die Hündin wedelte mit dem Schwanz und leckte sich die Schnauzhaare ab. »Brav. Es sind keine Touristen. Im Augenblick jedenfalls nicht.« Die Hündin sprang vom Fensterbrett und schnupperte an Sanders’ Hosen herum. »Es ist ihr nicht recht, daß Sie ohne ihre Erlaubnis hereinge kommen sind«, sagte Treece. »Sie muß jeden Besucher zuerst beschnüffeln.« »Ist sie wirklich bissig?« fragte Gail, als die kalte Nase der Hündin Sanders’ Knöchel begutachtete. »Das will ich meinen! Sie ist auf Touristen abgerichtet.« Treece lehnte sich gegen die Wand und fuhr fort: »Was wissen Sie von der Goliath?« »Im Grunde nichts«, antwortete Gail. »Eines vielleicht«, sagte Sanders. »Der Rettungsschwimmer am Strand sagte, sie hätte Munition geladen.« »Ja«, sagte Treece. »Das auch. Die Goliath war ein Fracht schiff, ein hölzernes Segelschiff, das im Zweiten Weltkrieg Nachschub nach Europa brachte. Es gab damals einen guten Grund, Holzschiffe zu benutzen, obgleich sie so langsam waren. Der Rumpf zog keine Magnetminen an, und wenn sie unter Segel waren, machten sie keine Schraubengeräusche, die sie an U-Boote verraten hätten. Die Goliath war beladen: Munition und medizinischer Bedarf. Sie ging im Herbst 1943 unter, zerschellte auf den Felsen und streute ihren Inhalt überall herum. Die Leute haben wochenlang das unmöglichste Zeug 49
aufgesammelt, das man jemals am Strand gesehen hat. Ich bin in den fünfziger Jahren zwei- oder dreimal hinuntergetaucht und habe mindestens eine Tonne Messing raufgeholt – Was serbomben und Granaten. Unten lagen überall Funkgeräte herum. So was hat man noch nicht gesehen. Aber von diesem medizinischen Bedarf hat kein Mensch etwas gefunden.« »Was für medizinischer Bedarf sollte es denn sein?« fragte Gail. »Das weiß niemand mit Sicherheit. In den Ladepapieren stand medizinischer Bedarf, Punkt. Es konnte alles mögliche sein – Sulfonamide, Verbandszeug, Jod, Chloroform – alles. Ein paar Jahre nach dem Krieg, ich glaube, es war 1947, machte ein Riesenhurrikan endgültig Kleinzeug aus dem Wrack. Die meisten Leute haben die Goliath danach vergessen, einige aber nicht.« Sanders sagte: »Der Portier erzählte uns, ein Mann hätte überlebt.« »Ja, einer. Sein Zustand war fast noch schlechter als der des Wracks, aber er lebte. Als er aus dem Krankenhaus kam, verhökerte er eine Zeitlang Strandgut von der Goliath und erzählte für einen Drink die unglaublichsten Geschichten. Eines Nachts war er stockbetrunken und verbreitete wilde Gerüchte über einen Rauschgiftschatz an Bord. Tausende und aber Tausende von Ampullen mit Morphium und Opium, sagte er, in Zigarrenkisten verpackt. Er behauptete, er sei persönlich dafür verantwortlich gewesen, sagte, er wüßte, wo sie seien, aber er würde es keiner Menschenseele verraten. Einen Tag danach wurde er von Leuten, die es unbedingt herausbekom men wollten, erwischt und halb zu Tode geprügelt. Er schwor, er hätte vergessen, was er gesagt habe, und behauptete, nichts von den Drogen zu wissen. Er erzählte die Geschichte nie wieder. Aber das eine Mal hatte genügt. Das Gerücht verbreite te sich wie der Blitz, und ein paar Tage später hieß es schon, da unten lägen Drogen für zehn Millionen Dollar. Die Leute 50
suchten alles ab. Bei Gott, sie machten eine richtige Autopsie und hätten fast noch Pinzetten benutzt, um in den Resten herumzustochern. Aber sie fanden keine einzige Ampulle. Ihre ist die erste.« »Aber wie kommt es, daß sie erst jetzt gefunden wird, so viele Jahre danach?« fragte Sanders. »Der Meeresgrund ist ein lebendes Wesen. Die See ist ein launisches Tier. Sie hält einen gern zum Narren. Der Grund ändert sich dauernd. Ein Sturm kann seine Oberfläche ändern; eine Änderung der Strömung kann sein Innerstes nach außen kehren. Heute taucht man vielleicht zu einem Wrack hinunter und findet nichts. In der Nacht kommt ein Wind auf, und am nächsten Morgen findet man an derselben Stelle einen Teppich von Goldmünzen. So was ist schon vorgekommen. Und in den letzten sechs Wochen gab es vier Stürme, die es in sich hat ten.« Gail sagte: »David dachte, die Ampulle sei aus der Schiffs apotheke.« »Die Goliath hatte keine richtige Schiffsapotheke. Sie hatte höchstens einen kleinen Tablettenvorrat für die Besatzung. Wenn es irgendein anderes Schiff wäre, würde ich sagen, daß die Ampulle dem Schiffsarzt gehörte, aber bei der Goliath nicht. Am besten wäre es, wenn Sie die erste und letzte Ampul le gefunden hätten, die da ist.« »Warum?« fragte Sanders. »Weil es Leute gibt, die Ihnen schon für einen Bruchteil des angeblichen Drogenschatzes die Kehle durchschneiden wür den. Was haben Sie dem Burschen von gestern abend erzählt? « »Nichts. Wir wußten ja auch nichts. Höchstens, daß wir es bei der Goliath gefunden hatten.« Treece blickte aus dem Fenster. Dann sagte er: »Wären Sie bereit, noch einmal zu tauchen, noch einmal nachzusehen? Nicht heute. Heute würde die See jeden Taucher zu Hack 51
fleisch machen. Aber morgen?« Sanders warf Gail einen Blick zu. »Sicher.« »Wir müssen wissen, ob unten noch mehr herumliegt. Wenn nicht, um so besser. Wenn aber doch, sollten wir es heraufho len, bevor jeder Glücksritter zwischen den Bermudas und Bahamas Wind davon bekommt und hier aufkreuzt. Ich würde es ja selbst machen, aber dann wüßte auch der letzte Dumm kopf sofort Bescheid.« Treece fing an, einige Schubladen zu durchwühlen. »Ich brauche mir nur die Füße naß zu machen, und schon schreiben die Zeitungen, ich hätte einen Schatz entdeckt. Und jetzt, wo ein paar Leute wissen, daß auf der Goliath wirklich etwas sein kann, wäre es ein todsicherer Tip, wenn ich runterginge.« Er griff in die hinterste Ecke einer Schublade und holte zwei faustgroße Steine heraus, die er auf den Tisch legte. »Wenn Sie noch eine Ampulle finden, legen Sie einen davon auf die betreffende Stelle. Die glänzenden Splitter sind Infrarot-Reflektoren. Ich tauche dann in der Nacht mit einem Infrarotlicht hinunter und sehe mich ein bißchen um.« »In Ordnung«, sagte Sanders. »Wir machen es morgen.« »Wenn der Wind brav ist.« Gail stand auf, und als sie ihr Bündel vom Tisch nahm, be merkte sie den schwarzen Brocken, den David gefunden hatte. Sie zeigte darauf und sagte zu Treece: »Ist das Kohle?« »Nein.« Treece nahm den Klumpen hoch. »Es muß irgendein Sulfid sein. Ich kann mal hineinschauen, aber dann besteht die Gefahr, daß ich es kaputtmache.« »Das ist nicht schlimm.« Treece nahm einen Hammer und einen Beitel vom Regal, setzte sich wieder hin und legte den schwarzen Brocken vor sich auf den Tisch. In seiner riesigen, narbigen Hand wirkte der Hammer wie ein Spielzeug; sein Daumennagel war so groß wie die Schlagfläche. Aber er benutzte die Werkzeuge so behutsam und geschickt wie ein Edelsteinschleifer. Er untersuchte den 52
Brocken, indem er hier und da einen Span abklopfte, fand fast in der Mitte einen Haarriß und setzte den Beitel darauf. Er schlug einmal auf den Beitel, und der Brocken spaltete sich in zwei Stücke. Er betrachtete die beiden Hälften und lächelte. »Ein sehr schönes Exemplar. Kann zwar das Datum nicht genau erkennen, aber ansonsten ist es ein Prachtstück.« »Was ist es denn?« fragte Sanders. »Der Rest eines Achters. Sie wissen doch, der Vorfahre unseres verdammten Dollars.« »Ich verstehe nicht.« »Sehen Sie.« Treece hielt die beiden Hälften des Brockens ans Licht. In der schwarzen Masse erkannte Sanders die schwachen Abdrücke eines Kreuzes, einer Burg und eines sprungbereiten Löwen. »Das war früher einmal ein spanischer Silbergroschen. Als er in das Salzwasser fiel, begann er zu oxydieren. Dann verwandelte er sich in Silbersulfid. Das ist alles, was von ihm übriggeblieben ist, ein Schatten. Silber reagiert immer so, es sei denn, es liegt in einem ganzen Haufen herum oder es berührt Eisen. Dann bleibt es einigermaßen gut erhalten.« »Sie meinen, ein spanischer Silbergroschen?« fragte Gail. »Das ist doch nicht möglich.« »Es ist, Mädchen. Acht Silberreales. Waren damals so ver breitet wie heute Schillinge.« Gail sagte: »Und es war einen Dollar wert?« »Nein. Ich wollte nur sagen, daß sich das Dollarzeichen aus dem Achterstück entwickelt hat. Sehen Sie.« Treece klopfte schwarzen Staub von dem Brocken und zeichnete mit dem Finger darin. »Die spanischen Buchhalter registrierten diese Silberreales so: ein P neben einer 8. Da ihnen das zu umständ lich wurde, zogen sie die Zeichen zusammen, ungefähr so.« Er zeichnete die 8 und das P in einem Symbol, wischte ein paar Linien aus, und es entstand ein Dollarzeichen: $. »Wie alt ist es?« fragte Gail. 53
»Ich weiß nicht. Ich konnte die Jahreszahl nicht entziffern. Jedenfalls ein paar hundert Jahre.« »Das ist doch nicht möglich!« Treece lachte. »Glauben Sie«, sagte er nachsichtig. »Wo haben Sie es gefunden?« Gail sagte: »Auf der Goliath.« »Nein!« Treece verstummte, sagte dann ruhig: »Die Goliath ist 1943 abgesoffen. Sie hatte keine spanischen Münzen geladen.« »Nun, wir haben es jedenfalls an derselben Stelle gefunden. Das heißt, David. In den Felsen.« »Ach so«, sagte Treece. »Man findet sie hin und wieder. Manchmal werden sie sogar von der Brandung angespült.« »Könnten dort noch mehr herumliegen?« fragte Gail. »Ja.« Treece lächelte. »Und darunter könnte Atlantis liegen. Sie haben eine Münze gefunden – noch nicht einmal eine Münze, sondern nur das Skelett einer Münze. Stellen Sie sich vor, es gibt gleich ein Erdbeben und bricht diese verdammte Klippe ab und stürzt uns ins Meer. Und stellen Sie sich vor, in dreihundert Jahren kommen ein paar Taucher und finden die Überreste des Hauses, und das erste, was sie aufheben, ist ein Penny, der mir aus der Tasche gespült wurde. Sie wären doch Narren, wenn sie annähmen, sie seien über den Schatz eines Bermudabonzen gestolpert.« Sanders sagte: »Aber es könnten noch mehr da sein.« »Möglich, ja, ich will es nicht bestreiten. Die See birgt mehr Geheimnisse, als wir beide uns vorstellen können, und dann und wann gibt sie eines davon frei – wenn sie es für richtig hält. Meist neckt sie einen aber nur, schenkt einem irgendwel chen Plunder, damit man bei Laune bleibt und nicht die Hoffnung verliert. Dann spuckt sie einem ins Gesicht.« »Ich habe einmal gelesen, daß ein kleines Kind am Strand spielte und eine goldene Kette im Wert von 50 000 Dollar ausgrub.« 54
Treece nickte. »Es kommt vor, aber wenn man darauf wartet, daß man es selbst erlebt, verliert man den Verstand.« »Sollen wir morgen nach weiteren Münzen suchen?« fragte Gail. »Nein. Sie würden sie selbst dann nicht erkennen, wenn Sie darüber stolperten. Sie können doch nicht jeden schwarzen Brocken aufheben, den Sie sehen.« Treece begleitete die Sanders zur Hintertür hinaus und brach te sie vors Haus. Die Hündin folgte ihnen schnüffelnd und schwanzwedelnd. »Wie sollen wir uns mit Ihnen in Verbindung setzen?« fragte Sanders. »Wie heute. Es ist zwar eine lange Fahrt, aber auf diese Weise kommen nur wenige Besucher. Und solche, die es ehrlich meinen. Wenn etwas passiert, können Sie meinen Vetter Kevin anrufen.« »Kevins Gasthaus? Wir haben ihn nach dem Weg gefragt.« Sanders’ Gesicht mußte ein gewisses Mißfallen ausgedrückt haben, denn Treece lachte und sagte: »Was hat es gekostet?« »Zehn Dollar.« »Er ist ein verdammter Raubritter, dieser Kevin. An sich ist er ganz in Ordnung, aber wenn er irgendwo Geld rausschinden kann, tut er es.« Gail sagte: »Er schien sehr darum besorgt, daß … daß Sie nicht belästigt werden.« »Das ist er. Die meisten Leute hier sind es. Es ist eine Tradi tion.« »Sie zu schützen?« »Jeden Treece, der für das Leuchtfeuer verantwortlich ist, vor Belästigungen zu bewahren. Als die verdammten Hunde uns im 18. Jahrhundert als Sklaven hierhergebracht haben, setzten sie einen Sheriff und einen Haufen von Mördern und Banditen als Aufseher über uns ein. Aber wir hatten etwas gegen die Sklaverei, und nach kurzer Zeit skalpierten wir den Sheriff und 55
warfen ihn und seine Bande den Fischen zum Fraß vor. Danach ließen sie uns lieber in Ruhe. Wir bestimmten selbst, wie wir zusammen leben wollten. Ein Treece wurde zum Häuptling gewählt, und zwar aus zwei Gründen: Wir waren schon immer größer als die anderen, und es gab auf der Insel mehr Treeces als andere, so daß wir immer genug Verwandte hatten, die uns dabei halfen, mit Aufrührern fertig zu werden. So ist es nun schon seit über hundert Jahren.« »Sind Sie jetzt der Häuptling?« »Ja, so könnte man es nennen. Das Amt bedeutet nicht mehr viel. Ich schlichte Streitigkeiten, und ich verhandle mit den Leuten von Bermuda, wenn es etwas mit ihnen zu verhandeln gibt, was Gott sei Dank nur selten vorkommt. Und ich kümme re mich um den Leuchtturm, was als einziger Teil der Arbeit bezahlt wird. Aber es ist trotzdem kein schlechter Job, beson ders in den Jahren, bevor man ihn bekommt. Dann ist es ein bißchen so, als wäre man der Prince of Wales. Als mein Vater noch lebte, bezahlten die Insulaner dafür, daß ich in England erzogen und ausgebildet wurde. Sie finden, daß der Häuptling ein gebildeter Mann sein sollte. Warum, weiß ich nicht: ein akademischer Grad nützt einem nicht viel, wenn man einen Halunken versohlt oder die entlaufene Ziege eines Nachbarn sucht.« »Dann gibt es hier also doch Verbrechen«, sagte Gail. »Man hat uns davor gewarnt, nach Einbruch der Dunkelheit zu bleiben.« »Es ist eigentlich ganz ungefährlich, wenigstens für Insula ner. Aber die Warnung war nicht ganz unberechtigt. Fremde sind manchmal eine willkommene Beute.« »Und wenn Sie in den Ruhestand gehen«, sagte Gail, »geben Sie das Amt an Ihren Sohn weiter?« »Ich würde es tun«, antwortete Treece betont gleichmütig, »wenn ich einen Sohn hätte.« Seine Stimme brachte Gail in Verlegenheit. Sanders bemerk 56
te ihr Unbehagen und sagte: »Sollen wir die Ampulle hierlas sen?« »Das wäre vielleicht am besten«, sagte Treece. »Niemand wäre so dumm, sie hier zu suchen, und ich bin sicher, daß sich kein Verrückter hierher wagt, um mich niederzuschlagen.« Er ging zur Pforte. »Aber Sie müssen sich die Sache reiflich überlegen. Sie wollen schließlich Urlaub machen. Sie brauchen sich nicht damit zu befassen, wenn Sie es nicht wirklich wollen.« »Was könnte denn passieren?« fragte Gail. »Eigentlich nichts. Aber man kann nie wissen, was die Leute machen, wenn sie Geld wittern. Besonders ein paar von den schwarzen Hurensöhnen, die hier herumstrolchen.« Treece bemerkte, daß Gail bei den Worten »schwarzen Hu rensöhnen« zusammenzuckte, und fuhr fort: »Rassist. Neger fresser. Faschist. Ich habe keine Vorurteile, aber ich habe meine Erfahrungen. Die Schwarzen von Bermuda haben reichlich Grund, sich zu beklagen, und sie beklagen sich auch reichlich. Aber sie müssen noch einiges leisten, bis ich Ach tung vor ihnen habe.« »Aber Sie können doch nicht …« »Komm«, unterbrach Sanders. »Wir wollen hier kein Sym posium über ethnologische Fragen veranstalten.« Zu Treece sagte er: »Dann bis morgen.« »Gut.« Treece machte ihnen die Pforte auf und schloß sie hinter ihnen wieder. Sie war kaum zu, als die Hündin auch schon am Lattenzaun hochsprang und knurrte und kläffte. Treece lachte: »Jetzt sind Sie wieder Touristen.« Sie schoben ihre Mofas die Anhöhe hinunter zur Straße vor dem Leuchtturm. »Wir sollten uns die Sache wirklich reiflich überlegen«, sagte Gail. »Das habe ich schon. Was für eine Chance, endlich etwas zu tun. Ich habe immer nur gelesen, was andere Leute taten oder 57
leisteten oder schrieben. Ich kann dieses Stellvertreter-Dasein nicht mehr ertragen. Es ist doch, als ob man von der Wiege bis zur Bahre masturbiert.« Als David Sanders 17 war und die vorletzte Oberschulklasse besuchte, hatte er im Englischunterricht den Essayzyklus Walden. Ein Leben in den Wäldern lesen müssen. Die meisten seiner Klassenkameraden fanden das Buch langweilig und überholt, betrachteten es als eine Sammlung von Maximen, die man unterstreichen, auswendig lernen und bei einer Prüfung herunterleiern mußte. Und dann beruhigt vergessen konnte. Sanders fand Thoreaus Einstellung zum Leben jedoch anre gend und hochinteressant. Er ließ sich zwei Holzschilder malen. Auf dem einen stand: »Die große Masse der Menschen vegetiert in stummer Verzweiflung dahin«; auf dem anderen: »… ich möchte ganz bewußt existieren, mich nur mit den grundlegenden Dingen des Lebens beschäftigen und versuchen, ob ich seine Lehren lernen kann, statt auf dem Totenbett festzustellen, daß ich nicht gelebt habe.« Die Schilder waren mit der Zeit zwar verblichen und fast unleserlich geworden, hingen aber immer noch über seinem Schreibtisch. In seinem vorletzten Collegejahr ging Sanders zu einem Vortrag von Jacques-Yves Cousteau, und als der Abend zu Ende war, wußte er, daß er so leben wollte wie Cousteau. Er schrieb dem Tiefseeforscher Briefe und fuhr dreihundert und mehr Kilometer, um ihn zu hören oder einen seiner Filme zu sehen. Einmal, nach einem Vortrag, hatte er einfach mit Cousteau geredet, und dieser hatte ihm – höflich, aber be stimmt – erklärt, es gebe Hunderte von Bewerbern um eine Stellung auf der Calypso, und solange Sanders keine Verdien ste als Meeresforscher oder Unterwasserphotograph habe, komme er nicht in Frage. Unmittelbar nach dem Examen verbrachte Sanders sechs Monate bei der Armee. Als sein aktiver Wehrdienst vorbei war, 58
heiratete er seine feste Freundin, mit der er seit dem dritten Semester gegangen war. Er wollte zwar nicht unbedingt heiraten, hielt die Ehe aber nun, da ihm nichts anderes übrig blieb, als eine langweilige feste Anstellung zu finden, für ein Abenteuer: zumindest war sie etwas, das er bisher noch nie gemacht hatte. David und Gloria zogen nach Washington. Damals war es schick, im Stil des Kennedy-Clans zu leben, und David tat so, als gehörte er dazu. Er schwamm, segelte, spielte amerikani schen Football. Er hatte sogar einen Empfehlungsbrief von einem seiner Geschichtsprofessoren mitgebracht, einem Mann, der in Harvard mit J. F. K. zusammen studiert hatte. Er dachte, er könnte vielleicht Reden schreiben – natürlich nur Entwürfe – und rechte Hand von Ted Sorensen werden und dem Führer der freien Welt assistieren. Man sagte ihm, der beste Weg in die Regierung führe über die Aufnahmeprüfung zum auswärtigen Dienst. Er bestand die schriftliche Prüfung, fiel aber in der mündlichen durch. Den Grund erfuhr er nie, doch er nahm an, einer der Prüfer habe seine Antwort auf die Frage nach außer beruflichen Interessen mißbilligt: »Sporttauchen und Mordwa le.« Ein Brief von einem Freund seines Vaters verschaffte ihm eine Anstellung beim National Geographic Magazine. Nach dem er ein Jahr lang Bildunterschriften gemacht hatte und beim Anblick der »richtigen« Autoren, die sonnengegerbt von exotischen Reisen zurückkehrten, vor Neid geplatzt war, fragte er seinen Vorgesetzten, wie lange es wohl noch dauere, bis er Chefreporter würde. Es gebe keine Garantie, lautete die Antwort, daß er jemals Chefreporter werden würde. Er könne sein Talent den Redakteuren am besten beweisen, so sein Vorgesetzter, wenn er auf eigene Faust einen Bericht schreibe. Er kündigte und fing an, die Redakteure mit halbseitigen Artikelentwürfen über entlegene Gegenden zu bombardieren, stellte aber bald fest, daß man höchstens Ideen aufgriff, die so 59
ausführlich und detailliert ausgearbeitet waren, daß sie nur von jemandem stammen konnten, der die betreffenden Regionen ganz genau kannte. Sanders war noch nie westlich vom Missis sippi gewesen, und das einzige, was er außerhalb der eigentli chen USA kannte, war die Jungferninsel Saint Croix (die aber zu den Vereinigten Staaten gehörte). Er begann an einem Roman zu arbeiten. Er hatte beinahe zwanzig Seiten geschafft, als Gloria verkündete, daß sie – trotz eifrigen Gebrauchs aller Verhütungsmittel, die der Wissenschaft bekannt waren; nur Enthaltsamkeit hatten sie nicht geübt – schwanger sei. An die Wall Street dachte Sanders zum erstenmal an einem deprimierenden, alkoholisierten Abend mit einem ehemaligen Kommilitonen vom College. Die Hausse-Spekulation der sechziger Jahre fing gerade an, und Sanders’ Bekannter verdiente 30 000 Dollar im Jahr, indem er, wie er selbst gestand, praktisch nichts tat. Er war bestimmt nicht weniger qualifiziert als sein Kommilitone, argumentierte Sanders, und die Geschichten über die gewagten, manchmal ans Kriminelle grenzenden Manöver der neuen Generation von Börsenspeku lanten reizten ihn irgendwie. Er zog nach New York, mietete eine Wohnung an der East Side, las ein paar Bücher, lernte ein paar Leute kennen und fand einen Job – alles in weniger als einem Monat. Zu seiner Überraschung liebte er die neue Arbeit. Sie war leicht und aufregend und lohnend. Er war gesellig, liebte finanzielle Risiken, und seine frühen Erfolge (die einfach darauf beruhten, daß er die Ratschläge erfahrener Börsenmak ler befolgte) brachten ihm so viele Klienten, daß er nicht mehr jeden zu nehmen brauchte. Er war jedoch gescheit genug, um die zwangsläufige Entwicklung vorauszusehen. Der DowJones-Index konnte zwar die legendäre Tausendermarke erreichen, aber letzten Endes würde doch irgend etwas passie ren, das eine allumfassende Baisse auslöste. Deshalb informier te er sich gründlich über Deckungskapital und Verkäufe ohne 60
Deckung. Der Erdrutsch, der 1968 begann, machte ihn, wenig stens auf dem Papier, einigermaßen wohlhabend. Er kündigte und arbeitete als freiberuflicher Anlageberater weiter, lebte ausschließlich von den Provisionen auf Aktien käufe und -verkäufe für seine Klienten. Er hatte viel Glück (er glaubte, einen guten Riecher für bevorstehende Marktänderun gen zu haben, und es machte ihm Spaß, riskante Entscheidun gen zu treffen, die einzig und allein auf Eingebungen beruh ten), und drei konkurrierende Maklerfirmen versuchten, ihn mit ansehnlichen Gehältern für sich zu gewinnen. Er lehnte ab, da er das wechselvolle Leben eines freien Anlageberaters vorzog. Die Tatsache, daß er niemals wußte, wieviel Geld er im nächsten Monat verdienen würde, regte ihn an. Er betrachtete das als Freiheit. Wenn er nicht genug Geld nach Haus brachte, brauchte er niemandem außer sich selbst die Schuld zu geben. Wenn er (was der Fall war) Erfolg hatte, brauchte er die Anerkennung mit niemandem zu teilen. Seine Frau Gloria betrachtete diese Freiheit, diese sogenannte Courage allerdings als Wahnsinn. Sie war eine Person, die ein geregeltes Leben liebte, die keine Risiken einging und gern auf den Pfennig genau wußte, wieviel Geld sich in jedem der Umschläge befand, die sie in einer Schublade mit der Auf schrift »Budget« aufbewahrte. Es gab übrigens Umschläge für Nahrung, Kleidung, Spielzeug, Unterhaltung und Schulbücher. 1971 hatte Sanders zwei Kinder, eine Eigentumswohnung in der 67. Straße West und ein Haus in Westhampton. Er wußte, daß er eigentlich zufrieden, wenn nicht glücklich sein sollte, aber das Leben, das er führte, ödete ihn an. Gloria ödete ihn an. Ihr Interesse – und Wissen – beschränkte sich auf zwei Dinge: Kleidung und Essen. Gloria tat so, als könne sie ohne Sex nicht leben, weigerte sich aber strikt, darüber zu diskutieren, wie man ihn abwechslungsreicher machen könnte. An Experimente war noch weniger zu denken. Sanders stellte fest, daß er sich beim Beischlaf Filmstars, Sekretärinnen und Billie-Jean King 61
vorstellte. Bald ödete ihn auch seine Arbeit an. Er hatte sich bewiesen, daß er unter allen möglichen Umständen Geld verdienen konnte, und er gab das Geld genauso gern aus, wie er es einnahm. Aber es war keine Herausforderung mehr. Er wurde innerlich rastlos und fing an, unbedacht zu handeln. Von Zeit zu Zeit träumte er immer noch davon, mit Cousteau zu arbeiten. Er hielt sich körperlich fit, als erwarte er dauernd einen Anruf des Tiefseeforschers. Aber seine Fitness befriedig te ihn nicht: er wollte seinen Körper richtig auf die Probe stellen. Einmal nahm er absichtlich zehn Pfund zu, um zu prüfen, ob eine spezielle Diät, die er sich ausgedacht hatte, die überschüssigen Pfunde tatsächlich in drei Tagen vertreiben würde. Ein andermal wollte er aufgrund einer Wette 20 Kilo meter laufen. Er brach zwar nach zehn Kilometern zusammen, tröstete sich aber mit der Feststellung eines befreundeten Arztes: Da er noch nie für den Marathonlauf trainiert habe, hätte er eigentlich schon nach drei oder vier Kilometern zusammenbrechen müssen. Er sah eine Fernsehsendung über Drachenflug, einen neuen Sport, bei dem man an einem tragflügelähnlichen Gebilde durch die Luft schwebte, und beschloß, sich einen Gleitdrachen zu basteln. Er baute ihn und wollte ihn mit einem Sprung von einer Adirondack-Steilwand testen, aber ein Experte überzeugte ihn davon, daß sein Gerät eine aerodynamische Fehlkonstruktion war: die Flügelverstre bungen seien zu schwach und würden wahrscheinlich brechen, wodurch der Apparat sich zusammenfalten würde. Sanders wäre wie ein Stein in den Abgrund gestürzt. Es gab nur eine einzige Woche im Jahr, in der ihn nichts anödete – die sieben Tage im Winter, wenn seine Kinder ihre Großeltern besuchten, seine Frau in einen Badeort nach Arizona fuhr und er selbst auf einem Gelände des Club Medi terranee in der Karibik tauchte. Er lernte Gail im Club Med auf Guadeloupe kennen – das 62
heißt, unter dem Club Med. Sie machten gerade eine Unter wassertour zu einigen Korallengärten. Das Wasser war glas klar, und das Sonnenlicht hob die natürlichen Farben des flachen Riffs hervor. Als Sanders dem gewissenhaften Führer, der bei jedem neuen Exemplar der Meeresfauna oder -flora stehenblieb, um es gründlich zu erläutern, einige Minuten gefolgt war, machte er sich selbständig und ließ sich neben dem Riff auf Grund gleiten. Er merkte zwar, daß jemand in der Nähe war, beachtete die Gestalt, die ihm folgte, aber nicht weiter. Er ließ sich von der Bewegung des Meeres treiben, zog faule Kreise. Er schwamm am Fuß des Riffs entlang und spähte in Ritzen und Spalten. Ein kleiner Tintenfisch kreuzte seinen Weg und verspritzte schwärzliche Flüssigkeit. Sanders schwamm zu dem Loch, in dem der Tintenfisch verschwunden war, und versuchte gerade, das Tier aus seiner Höhle zu locken, als ihm von hinten jemand auf die Schulter tippte. Er drehte sich um und sah das Gesicht einer Frau, weiß vor Furcht, mit weit aufgerissenen Augen. Sie machte das Taucherzeichen für »keine Luft mehr«, eine schneidende Bewegung des Zeigefingers quer über die Kehle. Er atmete tief ein und reichte ihr sein Mundstück. Sie holte zweimal Luft und gab ihm das Mundstück wieder zurück. Zusammen atmeten sie sich auf diese Weise bis zur Oberflä che. Sie erreichten das Boot und kletterten an Bord. »Vielen Dank«, sagte Gail. »Das ist ein schreckliches Gefühl – als wenn man an einer leeren Colaflasche saugt.« Sanders lächelte und schaute zu, wie sie sich mit einem Handtuch abtrocknete. Sie war die attraktivste Frau, die er je gesehen hatte – keine klassische oder gar statuarische Schönheit, sondern vor Leben vibrierend, unter die Gürtellinie gehend. Ihre Haare waren kurz und hellbraun, von der Sonne unregelmäßig gebleicht. Sie war fast so groß wie Sanders, beinahe 1,80 Meter. Ihre Haut war 63
glatt und bis auf eine Blinddarmnarbe, die über ihrem Bikini höschen schwach zu sehen war, vollkommen makellos. Sie war unwahrscheinlich gleichmäßig gebräunt: die einzigen Partien, die nicht honigbraun waren, waren die Stellen zwischen ihren Zehen, ihre Handflächen und die Spitzen ihrer Brüste, die Sanders sah, als sie sich bückte, um das Handtuch unter ihrem Sitz zu verstauen. Ihre Arme und Beine waren lang und geschmeidig. Wenn sie stand, bewegten sich die Sehnen ihrer Waden und Schenkel, als wäre ihre Haut aus Papier. Ihre Augen waren von einem tiefen, glänzenden Blau. Gail sah, daß er sie anstarrte, und sie lächelte. »Sie haben eine Belohnung verdient«, sagte sie. Der Ton ihrer Stimme hatte nichts Ungewöhnliches, aber die Art, wie sie sprach – mit einer beinahe forschen Selbstsicherheit –, gab ihren Worten Autorität. »Sie haben mir immerhin das Leben gerettet.« Sanders lachte. »So schlimm war es wohl nicht. Wenn ich nicht dagewesen wäre, hätten Sie es wahrscheinlich auch allein bis nach oben geschafft. Wir waren nur fünfzehn Meter tief.« »Ich nicht«, sagte sie. »Ich wäre sofort in Panik geraten. Hätte den Atem angehalten oder so. Ich tauche noch nicht lange und weiß nicht, wie ich mich in Notfällen verhalten muß. Aber wie dem auch sei, ich lade Sie hiermit zum Mittagessen ein. Ist das ein Geschäft?« Sanders wurde plötzlich sehr nervös. Noch nie, weder auf der High School oder im College noch in den Jahren danach hatte ihn ein Mädchen um ein Rendezvous gebeten. Da er nicht wußte, was er antworten sollte, sagte er einfach: »Sicher.« Sie hieß Gail Sears. Sie war 25 Jahre alt und arbeitete als Lektorin in einem kleinen, sehr angesehenen New Yorker Verlag, der auf Sachbücher über soziale, wirtschaftliche und politische Themen spezialisiert war. Sie war in Vereinen, die für die Durchsetzung der Bürgerrechte und für das Nullwach stum der Bevölkerung eintraten. Im ersten Jahr nach ihrem Collegeexamen hatte sie mit einer Freundin zusammen ge 64
wohnt, aber jetzt hatte sie eine eigene Wohnung. Sie charakte risierte sich als Privatmensch – »man könnte es auch egoistisch nennen«. Nach dem Essen spielten sie Tennis, und wenn Sanders nicht gut trainiert gewesen wäre, hätte sie ihn geschlagen. Sie stand an der Grundlinie und schlug lange, tiefe Bälle, die ganz hinten in den Ecken landeten. Nach dem Tennis schwammen sie, aßen zu Abend, machten einen Spaziergang am Strand und liebten sich dann geräuschvoll und schwitzend in Gails Bungalow – mit einer Selbstverständlichkeit, als wäre es der nächste Punkt im sportlichen Programm des Tages. Als sie fertig waren, stützte Sanders sich auf einem Ellbogen hoch und betrachtete sie. Sie lächelte ihn an. Schweißperlen klebten Haarsträhnen an ihre Stirn. »Ich bin ganz froh, daß du mir das Leben gerettet hast«, sagte sie. »Ich auch.« Dann fügte er, ohne sich über den Grund klar zu sein, hinzu: »Bist du eigentlich verheiratet?« Sie runzelte die Stirn. »Was für eine dumme Frage!« »Entschuldigung. Ich wollte es nur wissen.« Sie sagte einen langen Augenblick nichts. »Ich wäre es um ein Haar gewesen. Aber ich kam Gott sei Dank noch rechtzei tig zur Besinnung.« »Warum ›Gott sei Dank‹?« »Ich wäre als Ehefrau eine Katastrophe gewesen. Er wollte Kinder haben; ich will keine, wenigstens bis jetzt noch nicht. Ich würde ihnen übelnehmen, daß sie mein Privatleben abwür gen.« Zwei Tage nach seiner Rückkehr zog Sanders aus seiner New Yorker Wohnung und reichte die Scheidung ein. Er wußte, daß seine Kinder ihm fehlen würden, und er vermißte sie auch, aber seine Schuldgefühle legten sich allmählich, und er genoß seine Nachmittage mit ihnen, ohne darunter zu leiden, daß er nicht mehr bei ihnen wohnte. Er hatte sich nicht um irgendeine Zusage von Gail bemüht, 65
und sie hatte auch von sich aus keine gemacht. Er wußte zwar, daß er verliebt in sie war, doch er wußte auch, daß er sie praktisch zu einer Abfuhr zwingen würde, wenn er sie nun wie ein liebestoller Primaner verfolgte. Er lud sie zweimal zum Essen ein, bevor er ihr erzählte, daß er seine Frau verlassen hatte, und als er es endlich erzählte, fragte sie nicht nach dem Grund. Sie wollte lediglich wissen, wie Gloria die Nachricht aufgenommen habe. Er sagte, sie habe sie sehr gut aufgenom men: nach einer kurzen, tränenreichen Szene habe sie zugege ben, sie wisse, daß Sanders nicht glücklich sei und daß ihre Ehe nur noch auf dem Papier stehe. Als ihr Anwalt sie davon überzeugt hatte, daß Sanders’ Angebot einer einmaligen Abfindung so großzügig war, wie er, Sanders, behauptet hatte (so großzügig, daß keine einzige Aktie oder Schuldverschrei bung in seinem Depot zurückbleiben würde), war sie sogar sehr zufrieden gewesen. In den nächsten Monaten traf Sanders sich so oft mit Gail, wie sie erlaubte. Er wußte, daß sie auch mit anderen Männern ausging, und er malte sich unter Qualen aus, was sie mit ihnen machte. Er zwang sich jedoch, sie nie danach zu fragen, und sie erzählte ihm von sich aus nichts. Obwohl er mit ihr über die Zukunft sprach, über Dinge, die sie zusammen machen woll ten, Orte, die sie besuchen wollten, redeten sie nie von Heira ten. Es hätte auch keinen praktischen Sinn gehabt: nach dem Gesetz war Sanders noch gebunden. Emotional gesehen, fürchtete er sich davor, von Heiraten zu sprechen, fürchtete, eine solche potentielle Einschränkung ihrer Freiheit könnte Gail dazu veranlassen, ihn als Bedrohung dieser Freiheit zu betrachten. Sanders hatte immer gedacht, sein Sexualtrieb sei ganz nor mal, doch in jenen ersten Monaten mit Gail entdeckte er ein so großes Reservoir an animalischer Lust in sich, daß er sich manchmal fragte, ob man ihn als Wüstling qualifizieren könne. Für Gail war die Sexualität ein Mittel, alles mögliche auszu 66
drücken – Freude, Zorn, Hunger, Liebe, Frustration, Ärger, sogar Scham oder Schmach. Wie ein Alkoholiker überall eine Entschuldigung zum Trinken findet, konnte Gail in allem – vom ersten Laub, das im Herbst fiel, bis zum Jubiläum des Nixon-Rücktritts – einen Grund zum Beischlaf sehen. An dem Tag, als seine Scheidung ausgesprochen wurde, beschloß Sanders, Gail zu fragen, ob sie bereit sei, ihn zu heiraten. Er hatte seine Beweggründe geprüft und fand sie zwar altmodisch, aber logisch: er betete sie an; er wollte mit ihr zusammen leben; und er brauchte die – wenn auch nur symbo lische – Gewißheit, daß sie ihn genug liebte, um sich an ihn zu binden. Hinter diesem logischen Vorhang lauerte jedoch eine gewisse Herausforderung. Sie war jung, sehr begehrt und, wie sie selbst zugegeben hatte, gegen die Ehe. Wenn sie seinen Antrag annahm, hatte er einen wichtigen Sieg errungen. Er hatte schreckliche Angst vor einem Korb, war aber inner lich darauf vorbereitet, und er wollte seinen Antrag so vorbrin gen, daß sie ihn nicht als Ultimatum, als Entweder-Oder auffassen konnte. Sie sollte wissen, daß er die gegenwärtige Beziehung im Fall einer Ablehnung, lieber so fortsetzen würde wie bisher, als ganz Schluß zu machen. Er hatte die Absicht, sie daran zu erinnern, daß sie in mancher Hinsicht ausgezeich net zusammenpaßten. Er stellte eine Liste mit zwölf Punkten zusammen, die in der unstrittigen Tatsache gipfelte, daß es finanziell gesehen sinnvoll sei, in einer Wohnung zu leben statt in zweien. Er hatte keine Chance, ihr das Kompendium vorzulegen. Sie wollten in einem italienischen Restaurant an der Third Avenue zu Abend essen, und als sie bestellt hatten, zog Sanders die Scheidungsurkunde aus der Tasche und hielt sie Gail hin. »Übrigens, das ist heute gekommen «, sagte er. Er fischte sich eine Sardelle vom Antipasto-Teller. »Fabelhaft!« antwortete sie. »Dann können wir ja heiraten.« Sprachlos ließ Sanders die Sardelle in sein Weinglas fallen. 67
»Wie bitte?« »Ich sagte, dann können wir ja heiraten. Du bist frei. Ich bin frei. Ich habe in der letzten Zeit alle anderen vom Programm gestrichen. Es wäre doch ganz plausibel, oder?« »Sicher, ja«, stammelte Sanders. »Ich dachte nur, daß …« »Ich weiß. Du bist zu alt für mich. Du denkst, ich sei eine Nympho und du würdest es auf die Dauer nicht schaffen. Du hast kein Geld mehr. Aber ich habe einen Job. Wir werden es schon schaffen.« Sie hielt inne. »Nun, was sagst du?« Für die Flitterwochen wählten sie die Bermudas, weil sie beide noch nie dort gewesen waren und weil man dort ausge zeichnet Tennis spielen, ausgezeichnet schwimmen und ausgezeichnet tauchen konnte.
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IV Der Rettungsschwimmer stand am Wasser und hielt den Trailer mit dem Motorboot. »Na, noch mehr Gabeln und Löffel holen?« fragte er, als die Sanders näher kamen. »Genau«, antwortete David. »Und ein paar von den Grana ten, die Sie erwähnten.« »Messing bringt im Augenblick gutes Geld. Aber seien Sie vorsichtig. Soweit ich weiß, sind sie noch scharf.« Sie schoben das Boot ins Wasser, beluden es mit ihren Uten silien und stießen sich ab. Als sie zum Riff fuhren, bat Sanders Gail, das Ruder zu übernehmen. Er zog eine kleine Taschen lampe aus der Tasche und setzte sich auf die vordere Bank. »Wofür brauchst du sie?« fragte Gail. »Für die Höhle, wo die Ampulle gelegen hat.« »Die Lampe ist aber nicht wasserdicht. Sie wird höchstens eine Sekunde brennen.« »Warte.« Sanders holte einen Brotbeutel aus Plastikfolie aus seiner anderen Tasche, steckte die Lampe hinein, zog den Beutel straff und knotete das offene Ende fest zu. Dann knipste er die Lampe an. Sie brannte. »So müßte es gehen.« »Genial«, sagte Gail. »Einfach, aber genial.« Sie fanden eine Nische im Riff, steuerten das Boot hinein und drehten es, bis der Bug zum Ufer zeigte. Gail stand auf der vorderen Bank, um den Anker über Bord zu werfen, und visierte mit Hilfe ihrer Arme, ob sie die richtige Stelle erwischt hatten. Als der Anker in den Felsen Halt gefunden hatte, legten sie die Taucherausrüstung an und sprangen ins Wasser. 69
Sie schwammen zu einem hellen Sandfleck einige Meter seewärts vom Riff, setzten sich auf den Grund und musterten die Felsen und Korallen, suchten die Höhle, wo sie die Ampul le gefunden hatten. Die Sonne stand beinahe genau über ihren Köpfen, und ihr Licht schnitt senkrechte Regenbogenbahnen ins Wasser. Schatten regten sich, erschienen und verschwanden als dunkle Tupfen im Riff. Sanders stieß sich ein Stück nach rechts. Am Ende seines Blickfelds, wo das blaue Wasser dunkel wurde und die Felskonturen verschwammen, sah er einen Schatten, der sich nicht zu verändern schien. Er berührte Gail und zeigte auf den Schatten. Sie nahm die Taschenlampe aus dem Bleigürtel und knipste sie an. Ein gelber Lichtkegel traf den Sand. Die Höhle lag viel weiter rechts, als sie gedacht hatten, aber jetzt – sie hielten sich an einer großen Korallenbank fest und blickten sich um – erkannten sie mehrere Wrackteile. Sie drängten sich vor der Öffnung des schwarzen Lochs aneinan der. Gail schwenkte den Kegel der Taschenlampe von links nach rechts. Die Höhle war höchstens einen Meter tief; sie war leer und unten mit feinem Sand bedeckt. Sanders sah Gail an und schüttelte den Kopf: Hier ist nichts. Gail gab ihm die Taschenlampe und zeigte auf eine Stelle im Sand. Es war nichts zu sehen, doch als Sanders die Lampe für sie hielt, fächelte sie den Sand mit der Hand zu einer Wolke auf, die die Sichtweite auf 15 Zentimeter begrenzte. Sie fächelte im Schein des Lichtkegels weiter, bis eine kleine Vertiefung entstand. Sie fächelte abermals, und plötzlich blitzte etwas auf dem Grund der Senke. Sanders steckte den Kopf in die Vertiefung und entfernte mit den Fingerspitzen Sand von dem glänzenden Punkt. Es war eine Ampulle, gefüllt mit einer farblosen Flüssigkeit. Zuerst dachte er, sie sei leer, doch als er sie anfaßte und bewegte, verlagerte sich im Inneren eine Luftblase. Behutsam zog er sie aus dem Sand, reichte sie Gail und schob Sand in das Loch, bis 70
die Oberfläche wieder glatt war; dann legte er einen Markier stein darauf. Sie verließen die Höhle und schwammen am Fuß des Riffs entlang. Gail hielt dann und wann bei einem Felsen oder Holzrest inne und leuchtete mit der Taschenlampe darunter oder fächelte den Sand daneben fort. Sie fanden nichts. Gail schwamm weiter und drehte sich nach Sanders um. Er war hinter ihr und machte sich am Riff zu schaffen. Sie schwamm zu ihm und sah, daß er mit einem großen Stein Korallenstücke abbrach. Alle paar Sekunden hörte er auf, mit dem Stein zu hämmern, und versuchte, ob seine Hand in das entstehende Loch paßte. Schließlich schaffte er es, drei Finger in das Loch zu stecken. Er benutzte sie als Zange und zog ein gelbes Metallstück heraus. Es war stark verbogen und ungefähr so groß wie ein Fünfzig-Cent-Stück. Als er es hochhielt, damit Gail es mit der Taschenlampe beleuchten konnte, sah er jedoch, daß es keine Münze war: die Kante war konkav vorgewölbt, als wäre früher etwas darin befestigt gewesen. An vier Stellen des vorgewölbten Randes waren runde Vertiefun gen, deren oberer Durchmesser einen guten halben Zentimeter betrug. Das Metall glänzte hell, war offenbar nicht korrodiert und wies auch keine Spuren von Meerestieren oder Algen auf. Sanders drehte es herum und sah im Strahl der Taschenlampe die eingravierten Buchstaben »E. F.«. Die Ampulle in der einen und das Metallstück in der anderen Hand, schwamm er nach oben. Als sie wieder im Boot waren, sagte Sanders: »Ich glaubte schon, wir hätten eine Golddublone gefunden.« »Was ist es deiner Meinung nach?« »Ich weiß nicht.« Sanders überlegte. »Ich nehme an, irgend ein Schmuckstück … aber es ist so verdammt sauber, daß es nicht sehr alt sein kann. Dann wäre es doch irgendwie verwa schen oder angelaufen.« Sanders legte das Metallstück beiseite und betrachtete die 71
Ampulle. Er hielt sie in die Sonne, und das Glas funkelte. »Eine andere Farbe als die erste.« Seine Augen waren auf die Ampulle gerichtet und sahen nicht die Gestalt, die auf den Klippen von Orange Grove stand. Es war sechs Uhr, als die Sanders das Haus von Treece erreich ten. Treece kam heraus und forderte sie mit einer Handbewegung auf, ihm zur Rückfront zu folgen. »Haben Sie noch welche gefunden?« »Eine«, sagte Sanders. »Sieht so aus, als sei etwas anderes drin.« Gail gab Treece die Ampulle. »Sie lag an derselben Stelle wie die andere.« Treece nickte Sanders zu. »Sie haben recht, eine andere Chemikalie.« »Was ist es?« »Ich bin nicht sicher. Es könnte Verschiedenes sein. Ein Heroingemisch oder eine andere Substanz auf Opiumbasis. Vielleicht sogar eine andere Morphiumlösung. Haben Sie die Stelle markiert?« »Ja«, sagte Gail. Sie reichte Treece den zweiten Markier stein. »Lagen sonst keine mehr herum?« »Nein, und auch diese lag nicht auf dem Sand. Wir mußten sie ausgraben.« Treece sagte: »Ich schaue am besten morgen abend nach.« »Sollen wir mitkommen?« fragte Gail und hoffte halb, Tree ce werde verneinen. »Das liegt bei Ihnen. Sie können es gern tun, wenn Sie wol len.« »Darauf können Sie wetten«, sagte Sanders. Er zeigte auf Gails Handtasche. »Gib ihm das andere Ding.« Treece studierte das Metallstück sorgfältig und fuhr mit dem 72
Finger an dem vorgewölbten Rand entlang. Er drückte es mit Daumen und Zeigefinger, und das Metall verbog sich sofort. »Wo haben Sie es gefunden?« »Zwischen den Felsen«, antwortete Sanders. »Es steckte ziemlich fest drin. Ich mußte ein paar Korallen abbrechen, um es loszubekommen.« »Sie hätten die Stelle mit dem anderen Stein markieren kön nen.« »Warum?« Treece lächelte Sanders breit an. »Weil« – er machte große Augen und hob pathetisch die Stimme –, »weil es die Königin der Metalle ist: Gold!« »Spanisches Gold? Mein Gott, es sieht so aus, als ob man es vor ein paar Tagen weggeworfen hätte.« »Das hat kein Mensch freiwillig weggeworfen. Es gehörte bestimmt jemandem, der mit einem Schiff untergegangen ist.« »Wie kommt es, daß es so gut erhalten ist?« »Das gehört zu den wunderbaren Eigenschaften des Goldes«, sagte Treece. »Es ist chemisch beständig. Man kann eine frischgeprägte Goldmünze ins Meer werfen und bis ans Ende aller Tage drin lassen, und wenn man sie kurz vor dem Jüng sten Gericht herausholt, ist sie noch wie neu. Nichts wächst darauf; nichts zerfrißt sie.« Gail fragte: »Was ist es überhaupt?« »Irgendeine Kamee.« Treece zeigte auf den inneren Kreis. »Das Bild oder die erhabene Darstellung war hier. Hier drin« – er berührte nacheinander die vier Löcher im Rand – »saßen wahrscheinlich Perlen, das Symbol der Reinheit. Der Besitzer trug es vielleicht an einer Halskette.« »Und was sollen wir davon halten?« »Daß Sie es gefunden haben? Das braucht nicht unbedingt etwas zu bedeuten. Wahrscheinlich ist irgendwo draußen ein Schiff aufgelaufen, und der Gezeitenstrom hat die Kamee und die Münze, die Sie gestern gefunden haben, über die Riffe 73
gespült. Oder ein Überlebender versuchte, an Land zu schwimmen, und schaffte es nicht. Es ist irgendein persönli ches Schmuckstück, gehört bestimmt nicht zu einem Schiffs schatz.« Treece schien seine Worte genau abzuwägen. »Ver dammt noch mal, das klingt alles irgendwie falsch.« »Wieso?« »Ich bin nun schon über zwanzig Jahre an den Riffen herum getaucht. Ich möchte nicht behaupten, daß ich alle Riffe vor den Bermudas wie meine Westentasche kenne, aber jene Stelle kenne ich genau, wegen der Goliath. Wenn dort noch ein anderes Wrack liegt, hätte ich irgend etwas davon bemerken müssen. Kanonen, den Anker, Ballaststeine – irgend etwas.« »Wie alt ist es?« fragte Sanders. »Die Kamee? Ein paar hundert Jahre.« Treece drehte sie in seiner Hand um. »Und sie ist eine verdammt gute Arbeit. Sehr sauber gemacht.« »Vor ein paar hundert Jahren waren die Bermudas doch schon bewohnt. Vielleicht gibt es irgendwelche Dokumente – ich meine, wenn es überhaupt von einem Schiff stammt.« »Das kommt darauf an, ob jemand gesehen hat, wie es unter ging, ob jemand überlebte oder ob es ausgeräumt wurde. Das ist am wahrscheinlichsten – es wurde ausgeräumt.« »Warum?« »Dann wäre der Vorfall ein für allemal erledigt gewesen. Keine Scherereien mit Suchaktionen oder ausführlichen Berichten der Überlebenden, also auch kein Papierkrieg. Wenn ich raten sollte, würde ich sagen, das Schiff ist bei einem Sturm aufgelaufen, aber nicht gesunken. Vielleicht wurden ein paar Leute – auch dieser E. F. – über Bord gespült. Als der Wind sich legte, haben sie das Leck vielleicht ausgebessert und das Schiff wieder zu Wasser gebracht. Oder sie haben alles ausge räumt, was nicht niet- und nagelfest war – Kanonen, Ladung, persönliche Habe, alles. Und dann haben sie es einfach auf den Felsen gelassen. Der nächste Sturm hat es zerschmettert und 74
die Reste überall verstreut. Dann wäre kaum noch etwas davon zu finden.« Sanders war enttäuscht. »Sie glauben also, wir hätten alles gefunden, was da ist?« »Es ist nur eine Vermutung.« Treece gab Gail die Kamee zurück. »Was wollen Sie damit machen?« »Darüber hab’ ich noch nicht nachgedacht. Kann ich sie nicht behalten?« »Ja, aber nach dem Gesetz dürfen Sie sie nicht außer Landes bringen, es sei denn, Sie bieten sie der Regierung der Bermu das vorher zum Kauf an und diese lehnt ab.« »Ich möchte sie aber nicht verkaufen. Ich möchte sie behal ten.« »Dann, Mädchen«, sagte Treece lächelnd, »dann gibt es zwei Möglichkeiten: Sie können sie entweder hinausschmuggeln oder die Staatsbürgerschaft der Bermudas beantragen.« Sanders sagte: »Wann wollen Sie morgen abend los?« »Kommen Sie gegen Sonnenuntergang. Mein Boot liegt unten in einer kleinen Bucht. Wir können bei der Goliath sein, wenn es richtig dunkel ist.« Sie fuhren den Hügel hinab, durch St. David’s und über die Severn-Brücke. Auf dem Damm zwischen St. George’s Island und Hamilton Parish wurden sie von zwei Taxis überholt, die vom Flughafen kamen, aber sonst war die Straße leer. Als sie an Reklameschildern vorbeikamen, die Touristen auf die Delphinschau in der Blauen Grotte hinwiesen, fuhr ein grüner Morris Minor aus einem Feldweg heraus und folgte ihnen in zwanzig Metern Abstand. Das Auto war schon einige Minuten hinter ihnen hergefah ren, als Sanders es im Rückspiegel bemerkte. Er fuhr so dicht an den linken Straßenrand, wie die Korallenwand es zuließ. Vor ihnen kam eine Rechtskurve. Als Sanders sie durchfahren hatte, sah er zwei Motorräder und einen kleinen Lastwagen auf 75
sich zukommen. Er streckte den rechten Arm aus und gab dem grünen Auto ein Zeichen zurückzubleiben. Die Fahrzeuge kamen vorbei, und jetzt hatten David und Gail einen schnurgeraden Abschnitt der Harrington Sound Road erreicht. Es gab keinen Gegenverkehr, so daß Sanders das grüne Auto an sich vorbeiwinken wollte. Aber es überholte nicht. Sanders hörte eine Hupe und sah in den Rückspiegel. Hinter dem grünen Auto war ein Taxi aufgetaucht. Der Taxi fahrer hupte abermals, und Sanders winkte es vorbei. Das Taxi scherte aus und überholte das grüne Auto und die beiden Mofas. Sanders verlangsamte das Tempo, bis Gail neben ihm war. »Der Idiot weiß anscheinend nicht, wie man überholt!« rief er ihr zu. »Ja. Da vorn ist eine Einfahrt. Da können wir halten und ihn vorbeilassen.« Fünfzig Meter vor sich sah Sanders eine Lücke in den dich ten Büschen und einen schmalen Weg, der einen Hügel hinauf führte, auf dem ein Haus stand; auf einem Wegweiser las er »Innisfree«. Er streckte den Arm aus, um zu signalisieren, daß er links abbiegen wollte, und nahm das Gas weg, bis das Mofa im Schneckentempo dahinkroch. Er rechnete damit, daß das grüne Auto ausscherte und vorbeifuhr, aber es wurde ebenfalls langsamer. Sanders und Gail hielten am Tor zur Einfahrt. Der Morris bog kurz hinter der Einfahrt scharf nach links ab, bis seine Vorderräder zwischen den Büschen standen. Jeder Fluchtweg war abgeschnitten. Ein großer Neger in einem MechanikerOverall öffnete die linke Tür und stieg aus. Der Fahrer, eben falls ein Neger, blieb sitzen. »Was wollen Sie?« fragte Sanders. »Mann will Sie sprechen«, antwortete der große Neger. »Welcher Mann?« »Nicht so neugierig. Einsteigen.« 76
Sanders hörte ein Motorengeräusch und blickte verstohlen nach links, die Straße hinunter. Ein Kombiwagen kam gerade aus einer Kurve und näherte sich. Er war schwer beladen und fuhr langsam. »Los!« sagte der Neger. Der Kombiwagen war ungefähr zwanzig Meter entfernt; in ein paar Sekunden würde er neben dem Morris sein. Sanders tat so, als ob er gehorchen wollte, ging einen Schritt zum Morris, drehte sich dann aber blitzschnell zur Seite und sprang auf dessen Kühlerhaube und machte, ehe der Neger ihn aufhal ten konnte, einen Satz in die Luft, um auf dem näherkommen den Kombiwagen zu landen. Hinter der Windschutzscheibe erblickte er kurz das entsetzte Gesicht des Fahrers. Er hörte das Kreischen der Räder, die ins Schleudern gerieten. Der Kombiwagen bewegte sich kaum noch, als Sanders auf dem Kühler landete, so daß er sich bei dem Aufprall nicht verletzte. Er hatte aber noch soviel Schwung, daß er keinen Halt fand; er glitt vom Kühler und schlug mit dem Gesicht aufs Straßenpflaster. Er schmeckte Blut. Sanders richtete sich mühsam auf und schrie: »Hilfe!« Der Kombiwagen war voller Kricketspieler, alle ganz in Weiß. Der Fahrer, ein junger Schwarzer, steckte den Kopf aus dem Fenster und schrie zurück: »Sind Sie verrückt, Mann?« Sanders zeigte auf den Morris. »Sie wollen uns kidnappen!« »Was?« Der große Neger, der jetzt neben Gail stand, rief: »Hör nicht auf ihn. Er spinnt.« »Nein!« sagte Sanders. »Helfen Sie uns! Sie wollen …« »Verdammtes Arschloch!« schrie der Fahrer. »Geschieht Ihnen recht, wenn Sie eines Tages totgefahren werden.« Dann sagte er zu dem großen Neger: »Du hast dir ja ein paar schöne Fahrgäste ausgesucht, Ronald.« Er zog den Kopf wieder zurück und trat aufs Gaspedal. 77
Sanders griff nach dem Kombiwagen, als er anfuhr, doch seine Hand rutschte an dem glatten Blech ab. Die Straße war in beiden Richtungen leer. Er überlegte, ob er einfach wegrennen sollte, aber er wollte Gail nicht allein zurücklassen. Der große Neger, Ronald, klappte ein Springmesser auf und hielt es, die Spitze auf Sanders gerichtet, in Hüfthöhe. »Los!« sagte er. »Oder ich schlitze dir den Arsch auf.« Er packte Sanders’ Arm und stieß ihn grob zum Morris. Sanders sagte: »Laßt sie wenigstens gehen.« »Nein.« Ronald öffnete die Seitentür des Autos und schubste Sanders hinein. »Und was soll ich damit machen?« fragte Gail und blickte auf den Lenker des Mofas, den sie immer noch umklammert hielt. »Fallen lassen.« Sie ließ die Handgriffe los, und das Mofa schepperte auf das Pflaster. Sie zwängte sich auf den Rücksitz des Autos. Ronald stieß die beiden Mofas ins Gebüsch, kletterte neben Gail auf den Rücksitz, machte die Tür zu, legte das Messer auf die Knie und sagte: »In Ordnung.« Der Fahrer setzte etwas zurück und fuhr in der ursprüngli chen Richtung weiter.
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V Sie fuhren schweigend dahin. Die Fenster waren geschlossen, und die Luft im Wagen begann bald ätzend nach verbrauchtem Atem und Schweiß zu riechen. Als sie an einem Wegweiser zum botanischen Garten in Paget vorbeikamen, kurbelte Sanders das Fenster an seiner Seite herunter. Er fühlte, wie sich die Spitze des Messers in seinen Nackenansatz bohrte, und hörte Ronald sagen: »Zumachen.« Er kurbelte das Fenster wieder hoch. Sie näherten sich einem Kreisverkehr mit Richtungsschildern – rechts nach Hamilton, geradeaus nach Warwick und Southampton. In der Mitte stand ein Polizist und regelte den frühabendlichen Verkehr. Sanders fragte sich, ob der Fahrer die Geschwindigkeit so stark und lange drosseln würde, daß er die Tür öffnen, sich hinausfallen lassen und um Hilfe schreien könnte. Dann sah er, daß der Fahrer dem Polizisten zuwinkte, und der Polizist lächelte und winkte zurück. Es wurde langsam dunkel, und als sie die South Road ent langfuhren, ohne die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 32 Stundenkilometern auch nur eine Sekunde lang zu übertreten, entzifferte Sanders mit einiger Mühe die Wegweiser: Elbow Beach, Orange Grove Club, Coral Beach und Princess Beach Club. Auf einem Hügel sah er das riesige Southampton Princess Hotel thronen, auf einem anderen den Leuchtturm von Gibb’s Hill. Sie hatten die Insel fast der ganzen Länge nach durchfahren. Das dumpfe Schweigen steigerte seine Nervosität. »Wie weit noch?« fragte er. 79
»Maul halten«, sagte Ronald. Sie überquerten die Somerset-Brücke, und Sanders erinnerte sich an eine andere Information aus seiner Vergangenheit beim National Geographic. Er drehte sich halb zu Gail um und sagte: »Das ist die kleinste Zugbrücke der Welt. Wenn sie hochgezogen ist, paßt nur der Mast eines Segelboots durch. Mehr nicht.« Gail antwortete nicht. Sanders’ Fluchtversuch hatte sie un glaublich mitgenommen, und sie wollte nichts tun, was ihn zu einer weiteren Konfrontation ermutigen könnte. Ronald befahl Sanders mit einer Messerbewegung, wieder nach vorn zu sehen. »Wenn Sie meinen«, sagte Sanders und wandte sich ab. Das Auto bog nach links auf einen Feldweg, folgte einem Schild, das zum »öffentlichen Anleger« zeigte. Sie erreichten einen schmutzigen Platz mit Fisch- und Gemüsebuden und baufälligen Läden. Am anderen Ende befand sich ein nicht sehr stabil wirkender Steg, an dem ein paar ramponierte, vielfach geflickte Boote festgemacht hatten. Es war kein anderes Auto zu erblicken, und kleine Kinder tobten so achtlos vor dem Morris herum, daß der Fahrer im ersten Gang weiterkriechen mußte. Er hielt vor einem schuppenähnlichen Haus, das offenbar als Lebensmittelladen diente. Ein mit Bleistift ge schriebenes Plakat pries Fischköder und Schweineschwarte an. Verblichene Buchstaben auf dem grauen Kalkstein verkünde ten: »Teddys Markt.« In der Tür lungerten zwei junge Schwarze. Der eine schleu derte lässig ein Jagdmesser in den Schmutz. Der andere lehnte mit verschränkten Armen am Türpfosten und beobachtete das grüne Auto; sein Hemd war bis zur Taille offen und gab eine frische, rote Narbe frei, die vom rechten Schlüsselbein bis unter den linken Brustmuskel lief – ein Männlichkeitsschmiß. Der Mann wirkte irgendwie vertraut; Sanders versuchte, ihn unterzubringen, konnte es aber nicht. 80
»Sie bleiben ganz ruhig«, sagte Ronald. »Ein Wort, und Sie werden in Stücke geschnitten.« Er zeigte mit dem Kopf zu den Männern an der Tür, stieg dann aus und hielt die hintere Tür für Gail auf. Sanders öffnete die vordere Tür und trat in den Schmutz. Von Ely’s Harbour wehte eine schwache Brise herüber, die ihm kühl und erfrischend vorkam, weil sie den Schweiß auf seinem Gesicht trocknete. »Rein«, befahl Ronald. Er ging hinter ihnen und sagte zu dem Mann mit der Narbe: »Was los?« »Warten auf dich, Mann.« Es war der Tonfall bei dem Wort »Mann«, der Sanders dar auf brachte, wer der Narbige war: Slake, der Kellner vom Orange Grove Club. Automatisch drehte er sich um, weil er ihn betrachten wollte, wurde aber in den Laden geschoben. Als David in die Schwärze des Ladens trat, konnte er nichts erkennen. Es schien ein Mittelgang mit vollgestellten Regalen auf beiden Seiten zu sein. Allmählich, während seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnten, sah er mehr: einen schwa chen Lichtstreifen unter einer Tür am Ende des Ladens. »Wohin?« Ronald drängte sich an ihm vorbei. »Hinter mir her.« Als er die Tür erreicht hatte, klopfte er, zuerst einmal, dann zweimal. Drinnen sagte eine Stimme: »Herein.« Ronald öffnete die Tür und ließ David und Gail eintreten. Er folgte ihnen, machte die Tür zu und lehnte sich dagegen. Am anderen Ende des Zimmers stand ein Schreibtisch, und dahinter saß ein junger Mann – Ende Zwanzig oder Anfang Dreißig, schätzte Sanders. Das Licht brach sich in dem Schweiß auf seiner Stirn und ließ seine schwarze Haut glänzen. Er hatte eine Brille mit Goldrand auf und trug ein gestärktes Hemd. Seine Hände waren nicht beringt, aber um seinen Hals hing eine goldene Kette mit einer fast drei Zentimeter langen Feder aus Gold. Rechts und links von ihm neben dem Schreib 81
tisch standen in abgezirkelter Symmetrie zwei stämmige Männer, älter als die Neger an der Tür. Der Raum war mit Kisten und Schachteln und Aktenschränken vollgestellt und roch nach Fisch und Schmutz und Schweiß und angefaulten Früchten. Von der Decke baumelten zwei nackte Glühbirnen herab. Der Mann hinter dem Schreibtisch stand auf. »Mr. und Mrs. Sanders?« sagte er lächelnd. »Ich freue mich, daß Sie meiner Einladung gefolgt sind. Ich weiß, daß Sie Ihre Pläne meinet wegen ändern mußten.« Sanders identifizierte den Akzent, er hatte ihn auf Guade loupe gehört; es war der Akzent eines Mannes, der von Haus aus kreolisches Französisch spricht und in einer kirchlichen Schule Englisch gelernt hat. »Eine Einladung kann man es wohl kaum nennen«, antworte te Sanders. »Nein. Aber ich freue mich, daß Sie sich nicht geweigert haben. Mein Name ist Henri Cloche.« Er hielt inne, offenbar in der Erwartung, daß der Name den Sanders etwas sagte. Als sie nicht reagierten, fuhr er fort: »Sie kennen mich nicht? Desto besser.« Er sah Gail an. »Ich bitte um Entschuldigung, Madam. Möchten Sie sich setzen?« »Nein.« Gail erwiderte seinen Blick und hoffte, er würde nicht merken, daß sie Angst hatte. »Warum sind wir hier?« »Ach ja«, sagte Cloche. Er streckte die Hand aus. »Die Am pulle.« Sanders sagte: »Wir haben sie nicht.« Cloche blickte von David zu Gail, hielt die Hand ausge streckt. Er schnippte mit den Fingern. Sanders fühlte, wie starke Hände seine Arme packten und seine Ellbogen nach hinten zogen. Einer der Männer, die neben dem Schreibtisch standen, kam auf ihn zu, ergriff seinen Kragen und riß das Hemd so heftig auf, daß die Knöpfe der Reihe nach abplatzten. Die Hände hinter ihm zerrten ihm das 82
Hemd vom Rücken. Der andere Mann war im Begriff, zu Gail zu gehen, aber Cloche hielt ihn mit einer Handbewegung auf. »Ziehen Sie sich aus«, sagte er. »Alle beide. Sofort.« Gail zwang sich, den Blick nicht von Cloche zu wenden. Langsam knöpfte sie ihre Bluse auf und ließ sie zu Boden fallen. Einer von Cloches Männern hob sie auf und untersuchte sie, betastete die Nähte, bog die Krageneinlagen hin und her. Sie hakte ihren kurzen Wickelrock auf. Der Mann griff danach, doch sie ließ ihn vor seine Füße fallen. Den Blick immer noch fest auf Cloche gerichtet, machte sie ihren Büstenhalter auf und ließ ihn ebenfalls fallen. Der Mann fing ihn auf, bevor er den Boden erreicht hatte, und schnippte gegen die Schalen, prüfte die dünnen Polster. Sanders zog sich nicht so bedächtig aus, warf seine Klei dungsstücke in die Ecke oder ließ sie sich von den Händen in seinem Rücken abnehmen. Erst als er nackt war, bemerkte er, daß Gail Cloche anstarrte. Ihre Daumen steckten in ihrem Slip. Er versuchte, sie nicht mehr anzusehen, aber die Erregung der glotzenden Männer wirkte irgendwie ansteckend, und er spürte, wie Hitze in seine Leistengegend schoß. Er schloß die Augen und kämpfte gegen die absurde Erektion an. Cloche hatte die Augen nicht von Gail gewandt. »Nichts«, sagte der Mann hinter Sanders. Das Wort brach die Trance, und Cloches Augen glitten an Gails Körper hinunter. Er sah fort. »Ziehen Sie sich wieder an«, sagte er. Gail bückte sich, um ihre Sachen aufzusammeln. »Ich könnte Sie jetzt richtig ins Kreuzverhör nehmen«, sagte Cloche gereizt. »Aber ich habe keine Lust dazu. Ich nehme an, daß Romer Treece die Ampulle hat. Es spielt keine Rolle.« »Wozu dann diese ganze Räuberpistole?« fragte Sanders, während er seine Hosen anzog. »Kennen Sie die Bermudas, Mr. Sanders?« 83
»Ein bißchen.« »Dann erinnern Sie sich bestimmt noch an den ExGouverneur – den verstorbenen Gouverneur, sollte ich besser sagen. An den, der dänische Doggen liebte.« Sanders erinnerte sich. In einer warmen Nacht des Jahres 1973 hatte Sir Richard Sharples, der britische Gouverneur der Bermudas, noch einen Spaziergang mit seiner dänischen Dogge gemacht. Herr und Hund wurden abgeschlachtet in den Anla gen der Residenz gefunden. »Was hat das mit uns zu tun?« fragte er. »Er war ein Querkopf. Er wollte einfach nicht realistisch sein. Ich möchte, daß Sie begreifen, wie nützlich es ist, reali stisch zu sein.« »Realistisch?« »Ich wollte die Ampulle lediglich sehen, um meine diesbe züglichen Vermutungen zu bestätigen. Die Tatsache, daß Sie sie nicht haben, daß Sie sie Romer Treece zur Aufbewahrung gegeben haben – das haben Sie doch wohl getan? –, nun, diese Tatsache dürfte meine Vermutungen hinreichend bestätigen. Wie viele Ampullen sind noch unten?« »Ich weiß es nicht.« »Wie viele haben Sie gefunden?« Sanders warf Gail einen Blick zu, aber ihr teilnahmsloser Gesichtsausdruck änderte sich nicht. »Zwei.« »Wissen Sie, was darin ist?« »Nicht genau, nein.« »Aber Sie kennen die Legende. Oder vielmehr die Geschich te, denn die Legende scheint sich zu bewahrheiten.« »Ja.« »Mr. Sanders, ich muß alle Ampullen haben, die dort unten liegen. Alle, verstehen Sie?« »Warum?« »Sie sind wertvoll. Wir brauchen sie.« »Wofür?« 84
»Das ist nicht Ihre Sache. Die Einzelheiten gehen Sie nichts an.« Gail sagte: »Wo wollen Sie sie verkaufen?« Cloche lächelte. »Ich stelle zu meinem Vergnügen fest, daß Ihr Interesse endlich erwacht ist. Aber auch das geht Sie nichts an. Mehr noch – je weniger Sie darüber wissen, desto besser ist es für alle Beteiligten.« »Warum ziehen Sie uns denn in die Sache hinein? Sie brau chen uns nicht«, sagte Sanders. »Sie wissen, wo sie liegen.« »Nein. Wir wissen nur, wo zwei von ihnen lagen. Und nichts beweist, daß noch mehr da sind. Außerdem gibt es Taucher, die sich hier tausendmal besser auskennen als wir.« »Vielleicht. Aber es zeugt von der Weitsicht der Briten, daß sehr wenige von diesen Tauchern Schwarze sind. Wie sie die Schwarzen erfolgreich von den akademischen Berufen fern gehalten haben, haben sie die meisten von ihnen auch daran gehindert, erstklassige Taucher zu werden. Ich könnte ein paar einfliegen lassen, aber jeder Taucher, das heißt, jeder schwarze Taucher würde schon beim Zoll Verdacht erregen. Sie sind bereits hier, Sie sind Touristen, Sie sind weiß. Sie sind über jeden Verdacht erhaben.« Gail sagte: »Wir sind aber keine Dealer.« »Dealer?« Cloche schien zunächst nichts mit dem Ausdruck anfangen zu können. »Ah, vendeurs de mort, Verkäufer des Todes. Ich auch nicht. Ich bin in erster Linie Politiker, und bei der Politik heiligt der Zweck die Mittel. In diesem Fall ist es ein sehr wichtiger Zweck, ein sehr hohes Ziel. Ich bin aber auch Geschäftsmann, und als solcher weiß ich, daß man bei Leuten, die dieses politische Ziel nicht kennen oder nicht billigen, an andere Dinge appellieren muß. Deshalb bin ich bereit, ein Geschäft mit Ihnen zu machen.« Er hielt inne und sah Sanders an. »Sie werden feststellen, wie viele Ampullen noch da sind. Wenn es nur wenige sind, wenn die Legende also 85
eine Legende ist, werden Sie es außer mir niemandem erzäh len. Sie werden mit guter Gesundheit und einem unbeschwer ten Bermuda-Urlaub belohnt. Wenn es aber noch viele Ampul len gibt, werden Sie sie heraufholen. Wir werden Ihnen dabei natürlich helfen, soviel wir können. Sobald wir die Ampullen haben, werden Sie die Bermudas verlassen. Sie werden nach New York fliegen und dort eine Telefonnummer wählen, die ich Ihnen vorher gegeben habe. Sie werden Ihrem Gesprächs partner sagen, in welchem Land und in welcher Währung Sie ein halbes Jahr später eine Million Dollar abheben oder abho len wollen. Sie können sich die Währung aussuchen, die Ihnen am liebsten ist.« Gail holte vor Überraschung tief Luft. Cloche lächelte, blickte dann zu Sanders, der seinen Blick ausdruckslos erwiderte. »Nein«, sagte Sanders. »Seien Sie nicht voreilig, Mr. Sanders. Ich sehe an Ihrer Unterlippe, daß Sie dazu neigen, voreilige Entscheidungen zu treffen.« Sanders fuhr sich mit der Zunge über die Unterlippe. Ein weicher Brocken war in seiner Kehle hochgestiegen, und der Speichel machte ihn klebrig. »Überlegen Sie es sich gut«, sagte Cloche. »Denken Sie an die Freiheit, die Sie … die Sie mit einer Million Dollar kaufen können.« Er wandte sich an Ronald. »Wo sind ihre Mofas?« Ronald antwortete mit einer Handbewegung, als würde er etwas wegwerfen: »In den Büschen.« Cloche sagte zu Sanders: »Morgen früh haben Sie sie wieder. Und noch etwas. Sollten Sie immer noch dazu neigen … voreilige Entscheidungen zu treffen, werden Sie feststellen, daß es mich offiziell nicht gibt. Aber wenn Sie versuchen sollten, die Bermudas zu verlassen, werden Sie bald merken, daß es mich in Wirklichkeit überall gibt. Ich finde Sie.« Er wandte sich wieder an Ronald. »Bring sie nach Haus.« 86
Während der halbstündigen Fahrt zum Orange Grove Club sprach niemand im Auto ein Wort. Ronald saß vorn beim Fahrer, David und Gail hatten hinten Platz genommen. Als sie auf die Hauptstraße einbogen, kurbelte Sanders sein Fenster herunter. Da Ronald keine Einwendungen machte, kurbelte Gail ihres ebenfalls herunter. Außer dem Wind und dem Motorgeräusch war auf der ver lassenen Straße nur das Quaken von Baumfröschen und das Zirpen von Zikaden zu hören. Der Fahrer hielt vor der Einfahrt zum Club. Er bot ihnen nicht an, sie zu ihrem Bungalow zu bringen; sie baten auch nicht darum. Sie gingen schweigend die Einfahrt hoch, blieben dort stehen, wo der Weg zu ihrem Bungalow rechts abzweigte. »Hast du Hunger?« fragte Sanders. »Nicht sehr.« »Wir können im Bungalow Sandwiches bestellen. Ich brau che dringend etwas zu trinken.« Im Bungalow warf Sanders den Schlüssel auf die Kommode und ging zum Badezimmer, wo ein Kühlschrank stand. »Scotch?« fragte er. »Ja.« Er ging ins Badezimmer, öffnete den Kühlschrank, löste schimpfend ein paar Eiswürfel aus der altmodischen Eisschale und ließ sie in die beiden Zahnputzgläser fallen. Er hörte, wie Gail den Telefonhörer abnahm, und rief: »Für mich bitte Truthahn mit grünem Salat und Majonäse.« Gail antwortete nicht. Als er Whisky in die Gläser schenkte, hörte er Gail in die Muschel sagen: »Geben Sie mir bitte die Polizei.« Eine Pause. »Ja, Sie haben richtig verstanden. Nein, hier ist alles in Ord nung.« Sie klang gereizt. »Geben Sie mir jetzt bitte die Poli zei.« Sanders stellte die Whiskyflasche ins Waschbecken und stürzte ins Schlafzimmer. »Was hast du vor?« fragte er. 87
»Wozu denn?« Sie sprach in die Muschel. »Was hat meine Bungalow-Nummer damit zu tun? Ich nehme an, es ist ein Ortsgespräch, oder?« »Leg bitte auf«, sagte Sanders. »Wir wollen darüber reden.« »Was gibt’s da noch zu reden? Man hat uns gekidnappt, um Gottes willen!« »Leg auf!« befahl Sanders. »Oder ich tu’s.« Er hielt seinen Zeigefinger über die Gabel. Gail sah ihn an. »Es ist kein Scherz. Leg auf!« Gail zögerte einen Augenblick, sagte dann in die Muschel: »Schon gut, Vermittlung. Ich versuche es später noch mal.« Sie legte auf. »Also? Rede.« »Beruhige dich«, sagte Sanders. Erlegte ihr die Hand auf die Schulter. Sie schob die Hand fort. »Ich will mich aber nicht beruhigen! Ist dir denn gar nicht klar, wo man uns da hineinziehen will?« »Doch!« sagte Sanders, während er ins Badezimmer zurück ging, um die Gläser zu holen. Er reichte ihr eines. »Aber die Polizei ist keine Lösung. Was soll die schon machen?« »Ihn verhaften.« »Weshalb? Wie sollen wir etwas beweisen? Du hast doch gehört, was er sagte: Es gibt ihn nicht. Jedenfalls nicht offiziell. Hast du nicht gesehen, wie der Verkehrspolizist dem Fahrer zuwinkte? Wahrscheinlich steckt die ganze verdammte Polizei mit ihm unter einer Decke.« »Dann rufen wir die Regierung an. Die britische Regierung steckt bestimmt nicht mit ihm unter einer Decke.« »Und was sollen wir erzählen?« »Wir wurden gekidnappt. Das dürfte doch …« »Ja, für eine Stunde. Es wird schwer sein, einen großen Fall daraus zu machen.« »Dann eben überfallen, tätlich angegriffen. Man kann schließlich nicht herumspazieren und nichtsahnende Leute mit 88
dem Messer bedrohen und ihnen das Zeug vom Leibe reißen. Und wie ist es damit, was er von uns verlangt hat? Ihm Rauschgift zu verkaufen?« »Nicht ganz. Es für ihn finden.« Gail sah ihn einen langen Augenblick wortlos an. Dann sagte sie: »Du willst das Angebot annehmen.« »Das habe ich nicht gesagt. Wofür hältst du mich?« »Ich weiß es langsam nicht mehr.« Sanders spürte, wie sein Gesicht und seine Ohren vor Wut rot wurden. Er packte sie am Arm und schüttelte sie, wobei Whisky aus ihrem Glas schwappte und auf ihre Hand spritzte. »Hör auf damit! Hör auf mit diesem Scheiß! Ich ertrage es nicht!« Seine Heftigkeit überraschte sie beide. Er hatte sie noch nie angeschrien und noch weniger im Zorn Hand an sie gelegt. Ihr Gesicht rötete sich. Er holte tief Luft. »Wir sollten uns besser in Ruhe unterhal ten, ja? Ich habe nicht vor, sein Angebot anzunehmen. Aber wir müssen praktisch denken. Es gibt einen Weg, den Hund reinzulegen, aber nicht mit Hilfe der Polizei.« »Würdest du endlich aufhören, so zu tun, als wäre dies ein Spiel? Der Mann ist ein Verbrecher!« »Ja, aber er ist auch nur ein Mensch. Man kann seine Pläne durchkreuzen.« »David!« sagte sie böse. »Steig bitte von deinem SupermannPodest herunter! Du wolltest weglaufen, und was hat dir der Fluchtversuch eingebracht? Eine aufgerissene Lippe, mehr nicht. Was bildest du dir eigentlich ein, was du machen könn test?« »Ich weiß nicht genau. Vielleicht fällt Treece etwas ein.« »Und vielleicht muß ich dich im Sarg nach New York überfüh ren lassen.« »Komm, wir wollen uns nicht noch mal …« Gail mußte niesen. Als sie ihr Taschentuch zusammenfaltete, bemerkte sie 89
einen Blutfleck. »Ich habe schon wieder Nasenbluten«, sagte sie. »Wieso ›schon wieder‹?« »Als ich heute hochtauchte, war Blut in meiner Brille.« Am nächsten Morgen verließen sie das Clubgelände gleich nach dem Frühstück. Irgendwann in der Nacht waren die Mofas, wie versprochen, zurückgebracht und vor ihrem Bungalow abgestellt worden. Beim Anblick der Fahrzeuge schauderte Gail unwillkürlich zusammen. »Was ist denn?« fragte Sanders. »Sie sind hiergewesen.« »Wer?« »Diese Männer. Als wir schliefen.« »Sicher waren sie hier. Wie hätten sie uns die Mofas denn sonst bringen sollen?« »Ich weiß. Aber es ist unheimlich.« Als sie das Haus von Treece erreichten, blieben sie vor der Pforte stehen und riefen. Als er zurückrief, sie sollten eintreten, kam die Hündin den Weg entlang gesprungen und begleitete sie zur Küchentür. Der Küchentisch war mit Photokopien alter Dokumente bedeckt. Treece sah, wie Sanders auf die Papiere blickte, und sagte: »Ich forsche gerade ein bißchen.« »Was ist das?« »Logbücher, Ladungsverzeichnisse und -empfangsscheine, Tagebücher, Briefe. Gewissermaßen eine Rendite meiner Studienzeit in Europa. Ich habe meine Ferien fast nur in den Archiven von Madrid, Cadiz und Sevilla verbracht. Freunde schicken mir Photokopien und Abschriften von jedem Doku ment, das neu auftaucht.« »Und was sagen Ihnen die Papiere?« fragte Gail. »Welche Schiffe zu welchen Häfen fuhren, was sie geladen hatten, wer an Bord war, wo sie sanken, wenn sie sanken, wie 90
viele Überlebende es gab. Es sind unerläßliche Werkzeuge. Ohne sie kann man einen Monat in einem Wrack herumwühlen und weiß noch nicht mal, was man überhaupt sucht.« Sanders nahm einen Bogen in die Hand. Die Worte waren spanisch, und er konnte nur ein paar verstehen – artillería und canones zum Beispiel. Das Datum lautete 1714. »Wonach suchen Sie?« »Ich glaube, es hat nicht viel Sinn.« »Was denn?« »Ich versuche herauszubekommen, ob es möglich ist, daß an der Stelle noch ein Schiff gesunken ist. Daß es mit Mann und Maus unterging und nie gefunden wurde. Daß es ein unberühr tes spanisches Wrack ist und was weiß ich geladen hat.« Gail fragte: »Wäre das möglich?« »Es ist schon vorgekommen. Im Abstand von hundert oder zweihundert Jahren entstehen in derselben Ecke zwei Stürme, erwischen zwei Schiffe am selben Fleck, die denselben Hafen oder dieselbe schützende Bucht erreichen wollen, und werfen sie auf dasselbe Riff.« Treece schüttelte den Kopf. »Es ist zum Verzweifeln.« »Ich finde, es klingt phantastisch«, sagte Gail. »Ja, nicht wahr? Stellen Sie sich ein schönes sauberes Wrack vor – es liegt ganz allein da, tief im Sand, ist tadellos erhalten, und Sie finden vielleicht sogar ein paar Münzen, mit denen Sie es datieren können. Sie buddeln ein Jahr lang im Sand herum und finden trotzdem nichts mehr – Sie haben nur die Münzen, sonst nichts. Nun stellen Sie sich vor, ein zweites Wrack liegt darüber, aber eines, das in tausend Teile zerbrochen ist und scharfe Munition geladen hat. Eine gute Methode, einen Schatz zu suchen, oder?« »Haben Sie etwas gefunden?« fragte Sanders. »Nein. Ist auch sehr fraglich, ob hier etwas zu finden ist.« Treece klopfte auf den Papierstapel. »Ich stöbere nur herum, weil ich jemanden suche, der das Monogramm E. F. hat. 91
Wahrscheinlich Zeitverschwendung, aber irgendwo muß man ja anfangen, und E. F. ist alles, was wir haben. Aber … sagen Sie mir, warum Sie so früh die weite Reise hierher gemacht haben. Wir wollten doch erst heute abend los.« Sie erzählten ihm das Abenteuer mit Cloche. Bei der ersten Erwähnung des Namens sagte Treece resigniert, als wäre eine lang erwartete schlechte Nachricht endlich eingetroffen: »Oh, Gott.« Ansonsten saß er ruhig da und unterbrach sie nicht. Als sie ausgeredet hatten, sagte er: »Es war richtig, daß Sie die Polizei nicht alarmiert haben.« »Warum?« fragte Gail. »Sie hätte nichts machen können. Dieser Mann ist ein Schat ten. Er hat Freunde an den unglaublichsten Stellen.« Er schüt telte den Kopf. »Verflucht. Es ist ein saumäßiges Pech, daß wir es so schnell mit ihm zu tun bekommen. Haben Sie noch nie von ihm gehört?« »Nein«, antwortete Sanders. »Sollten wir?« »Vermutlich nicht. Er hat ein Dutzend verschiedene Namen. Er kommt ursprünglich aus Haiti. So lautet jedenfalls der Mythos. Bei Cloche ist es schwer, Dichtung und Wahrheit auseinanderzuhalten; er hat sich bei den farbigen Inselbewoh nern zu einer Art Volksheld hochstilisiert. Viele von ihnen glauben, er sei eine Reinkarnation von Che Guevara. Nicht nur hier. Überall. Seine Mutter ist auf den Inseln vor dem Wind und unter dem Wind immer noch eine mächtige Hexe.« »Hexe?« »Zauberei, Voodoo. Auf den Hügeln von Guadeloupe und Martinique sieht man in jeder zweiten Hütte kleine Statuen von ihr. Sie wird angebetet wie … nun, ich glaube, man kann es irgendwie mit Evita Peron vergleichen. Sie war vorher Zim mermädchen in einem Hotel auf Haiti. Mit 43 Jahren bekam sie den grünen Star, und als es so schlimm wurde, daß sie bei der Arbeit nicht mehr richtig sehen konnte, setzte man sie ohne einen Pfennig auf die Straße. Cloche war damals zwar erst 92
Pikkolo, aber er war schon unglaublich gerissen. Er ging mit Mama in die Wälder und machte sie zum Symbol der Unter drückung durch die Weißen. Er verbreitete Geschichten über sie, machte sie zu einer allwissenden schwarzen Prinzessin, sagte, sie könnte die Unheilbaren heilen und die Toten wieder aufstehen lassen – das übliche Zeug. Die Leute wollten an sie glauben – mein Gott, ›wollten‹ ist nicht das richtige Wort: sie fieberten geradezu danach. Als Mama etabliert war, fing Cloche an, sich als ihren Sendboten auszugeben. Er ist auf allen Inseln gewesen, um die Botschaft zu verbreiten, und von den meisten hat man ihn zwei- oder dreimal heruntergejagt. Niemand weiß, ob Mama noch lebt, aber Cloche verbreitet ihre Botschaft immer noch.« »Was für eine Botschaft?« fragte Sanders. »Es ist höchste Zeit, daß die Schwarzen sich den Kuchen allein holen. Ich nehme an, daß er früher oder später hier auftauchen mußte.« »Die Bermudas scheinen mir nicht gerade für eine Revoluti on reif zu sein«, bemerkte Sanders. »Schwer zu sagen.« Gail warf ein: »Man kann wohl kaum behaupten, daß die Schwarzen hier gleichberechtigt sind.« »Nein, aber seit den Unruhen von 1968 hat es keine ernsten Schwierigkeiten mehr gegeben – abgesehen von dem Mord an Sharples, und da ist bis jetzt noch nichts bewiesen.« »Cloche hat praktisch zugegeben, daß seine Leute Sharples auf dem Gewissen haben«, sagte Sanders. »Natürlich. Warum auch nicht? Man hat niemanden verhaf tet, und es macht ihn zu einer noch größeren Gefahr. Es ist wie bei diesen arabischen oder palästinensischen Splittergruppen. Jedesmal, wenn ein Flugzeug abstürzt, melden sich irgendwel che schrägen Vögel und nehmen den Absturz für sich in Anspruch, behaupten, er gehe auf ihr Konto. Quatsch. Viel leicht hat Cloche den Gouverneur tatsächlich ermorden lassen; 93
ich will nicht bestreiten, daß es möglich ist. Aber die Tatsache, daß er es behauptet, macht es noch lange nicht wahr. Die Bermudas sind jedenfalls in letzter Zeit einigermaßen friedlich gewesen. Es ist allerdings ein ziemlich wackliger Frieden.« Treece sah Gail an. »Die Statistiken sind kein Geheimnis: Die Schwarzen sind hier in der Mehrheit, und sie kriegen ein viel kleineres Stück vom Kuchen als die Weißen. Wenn sie mehr leisteten, würden sie natürlich auch mehr kriegen, und sie kriegen ja auch allmählich mehr. Aber ein Bursche wie Cloche kann sie leicht aufputschen und davon überzeugen, daß sie unterdrückt werden, daß schon ihre Zahl genügen müßte, um mehr zu kriegen. Sie in seinem Sinn manipulieren. Er ist ein guter Redner, und außerdem ist es nicht weiter schwer, den Leuten weiszumachen, daß sie mehr verdienen, als sie krie gen.« »Ist er Kommunist?« fragte Gail. »Zum Teufel, nein. Er wirft zwar mit marxistischen Zitaten um sich – ›Jeder gibt, was er kann, jeder bekommt, was er braucht‹ und so weiter. Ich glaube aber, was er wirklich will, ist so eine Art Inselkönigreich. Er wird es selbstverständlich nicht so nennen. Es wird Volksrepublik Soundso heißen.« »Und das Rauschgift?« »Geld. Ich glaube, er wird versuchen, die Drogen in den USA zu verkaufen.« Treece hielt inne. »Eine Million Dollar? Ihm liegt wirklich etwas daran. Sind Sie nicht in Versuchung gekommen?« Sanders sah Gail an. »Nein«, sagte er. »Es ist zweifellos ein ganz schöner Batzen.« Treece lächelte und schlug mit der flachen Hand auf die Photokopien. »Aber wenn ich ein paar Teile von diesem Puzzle finde und wir ein bißchen Glück haben, liegt dort unten ein richtiger Schatz herum.« »Glauben Sie das im Ernst?« fragte Gail. »Nein. Aber ich bin auch nicht vom Gegenteil überzeugt. 94
Ehe man nicht nachschaut, kann man nichts sagen.« »Aber was machen wir mit Cloche?« fragte Sanders. »Man muß ihn doch irgendwie hinter Gitter bringen können.« »Hinter Gitter? Darauf würde ich nicht wetten. Bisher hat es noch niemand geschafft. Vielleicht kann man ihn aufhalten, aber wir können im Augenblick nichts weiter machen. Wir werden uns heute abend ein bißchen umschauen. Wenn wir keine Ampullen mehr finden, können wir Cloche die beiden Dinger geben und ihm alles Gute wünschen. Mit einigem Glück wird es auch so kommen. Aber bevor wir losfahren, möchte ich noch mit Adam Coffin reden.« »Wer ist das?« »Der Überlebende von der Goliath. Ich nehme an, er hat immer noch etwas dagegen, über die Drogen zu reden, aber der Anblick der beiden Ampullen wird sein Gedächtnis vielleicht ein bißchen auffrischen.« Treece steckte die Ampullen in die Tasche. »Lassen Sie die Räder hier. Sie kommen ja wieder her, zum Tauchen. Wir werden schon alle in Kevins Auto passen.« »Apropos Tauchen«, sagte Gail. »Meine Nase blutet seit gestern.« »Stark?« »Nein.« »Keine Angst. Wenn man längere Zeit nicht getaucht hat, leiden die Gewebe in den Stirnhöhlen durch das viele Runter und Rauf. Bleiben Sie ein paar Tage aus dem Wasser, und es richtet sich von selbst.« »Und heute abend?« »Ich würde an Ihrer Stelle nicht tauchen. Man soll nichts provozieren. Wir schaffen es schon allein.« Treece öffnete ihnen die Küchentür. »Dann fahren Sie am besten doch mit den Mofas vor. Ich komme am Hotel vorbei, und Sie fahren hinter mir her. Zu Coffin.«
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Das Häuschen, ein Kalkstein-Bungalow in einem kleinen Garten, von dem aus man den Hafen von Hamilton überblicken konnte, war winzig. Es gab keine Einfahrt, nur einen unbe wachsenen Bankettstreifen, auf den ein Auto paßte, ohne daß die hintere Stoßstange über die Straße ragte. Treece fuhr den Hillman halb in das Gebüsch neben dem Bankettstreifen, damit die beiden Mofas auch noch Platz hatten. Sein riesiger Körper wirkte in dem Wagen ziemlich lächerlich: Er mußte gebückt dasitzen, damit sein Kopf nicht an das Dach stieß, und seine Beine waren so lang und verkrampft, daß er nicht mit ihnen zuerst aussteigen konnte. Er kam nur aus dem Auto hinaus, indem er sich durch die Tür fallen ließ, sich mit den Händen auf die Erde stützte und die Beine nachzog. »Scheißdinger«, sagte er, während er sich die Hände an der Hose abwischte. »Nur für verdammte Zwerge gebaut.« »Wenn Sie mit diesem Auto jemals einen Unfall haben«, sagte Sanders, »dann muß man Sie mit dem Schweißbrenner herausschneiden. Warum fahren Sie nicht Motorrad?« »Selbstmordmaschinen. Das einzig Gute an ihnen ist, daß sie die Bevölkerungsexplosion der Schwarzen verhindern.« Treece blickte zu Gail und lächelte. »Verzeihung. Ich bin ein unver besserlicher Rassist.« Sie gingen den schmalen Weg zu dem Häuschen hinauf. Ein kleiner Mann hockte auf allen vieren neben der Haustür vor einem Blumenbeet und wühlte in der Erde. »Adam«, sagte Treece. Coffins Kopf schoß herum. »Treece!« sagte er überrascht. Behende stemmte er sich hoch und stand auf. Er hatte nur zerschlissene Shorts aus Jeansstoff an. Sein Körper war braungebrannt, mager und sehnig, ohne eine Spur von Fett. Alternde Muskelstränge liefen an seinen Armen und auf seinem Brustkasten entlang, so deutlich wie eine Abbil dung in einem Lehrbuch der Anatomie. Seine Augen waren ständig zusammengekniffen, so daß sich tiefe Furchen in die 96
trockene Haut auf seinen Wangen und seiner Stirn gegraben hatten. Eine ungepflegte weiße Mähne hing ihm in den Nak ken. Er lächelte Treece zu und zeigte dabei von schwindendem Zahnfleisch umgebene Zahnstummel und gelbe Zähne. »Schön, Sie zu sehen. Ist schon eine ganze Weile her.« »Ja, das stimmt.« Treece umschloß Coffins knochige Finger mit seiner gigantischen Faust und pumpte sie einmal auf und ab. »Wir sind nur vorbeigekommen, um ein paar Worte mit Ihnen zu reden.« Er stellte ihm die Sanders vor. »Kommen Sie rein«, sagte Coffin und führte sie in das dunk le Haus. Es bestand aus einem einzigen Raum, der durch Möbelstücke in drei Bereiche unterteilt wurde. Rechts war eine Hängemat tenlatte mit schräg laufenden Ketten an zwei Stahlringe in der Steinwand gehängt. Hinter einem halb geöffneten Vorhang sah David ein WC und ein Waschbecken. In der Mitte des Zim mers stand ein einziger Polsterstuhl vor einem Fernsehapparat aus den fünfziger Jahren. Links gab es noch ein Waschbecken, eine Kochplatte, einen Kühlschrank, einen Gläserschrank und einen Spieltisch mit zwei Stühlen und zwei Hockern. »Nehmen Sie Platz«, sagte Coffin. Er öffnete den Gläser schrank und zeigte auf eine Flaschenreihe. »Möchten Sie was? Ich rühre nichts mehr an, meine alten Eingeweide können die Wacholderbeeren nicht mehr verkraften.« Sanders wußte nicht, was er sagen sollte, und warf Treece einen Blick zu. Er sah, daß dieser dem Gastgeber zugrinste. »Ich nehme einen Tropfen Rum«, sagte Treece. »Wie lange rühren Sie denn schon nichts mehr an?« »Schon ‘ne ganze Zeit«, antwortete Coffin. »Es ist nicht weiter schwer, wenn man genug Disziplin hat.« Er blickte auf Sanders. »Und Sie?« »Gin-Tonic, wenn Sie haben«, sagte Sanders. Gail nickte. »Für mich auch, vielen Dank.« »Sofort.« Coffin nahm vier Gläser aus dem Schrank, füllte 97
zwei davon mit Bombay-Gin – kein Eis, kein Tonicwasser – und reichte sie David und Gail. Die anderen beiden füllte er mit dunklem Barbados-Rum. Eines gab er Treece, aus dem anderen nahm er einen langen Schluck, und dann setzte er sich. »Ich dachte, Sie rührten nichts mehr an«, sagte Treece. »Stimmt. Hab’ seit Monaten schon keinen Tropfen Gin mehr getrunken. Rum ist nicht Trinken, sondern Überleben. Ohne ihn zirkuliert das Blut nicht richtig. Das ist eine Tatsache.« Sanders trank einen Schluck von dem lauwarmen Gin und unterdrückte eine Grimasse, als die scharfe Flüssigkeit seine Kehle verbrannte. »Also. Erzählt einem alten Mann, was euch vorbeibringt.« Coffin lächelte. »Oder ist es nur gerade der Tag, an dem ihr Alte und Gebrechliche zu besuchen pflegt?« Treece langte in die Tasche und legte die beiden Ampullen wortlos auf den Tisch. Coffin faßte sie nicht an; er starrte nur darauf und sagte nichts. Dann blickte er auf, zuerst zu Treece, dann zu den Sanders. Sein Gesicht zeigte keine Regung, aber seine Augen hatten sich irgendwie verändert, hatten einen Glanz bekom men, den Sanders nicht deuten konnte – Aufregung vielleicht oder Furcht. Oder beides. Coffin machte eine blitzschnelle Kopfbewegung zu den Sanders und sagte zu Treece: »Was wissen sie?« »Alles, was ich weiß. Sie haben die Dinger gefunden.« Dann berichtete er Coffin über den Vorschlag, den Cloche den Sanders gemacht hatte. »Dieser verdammte Nigger«, sagte Coffin, als Treece aufge hört hatte. »Er hätte mit seiner Million zu mir kommen sollen. Es gehört alles mir.« »Sie gelten hier überall als Narr, Adam. Lassen Sie es dabei bleiben. Das ist sicherer. Außerdem haben Sie schon längst kein Anrecht mehr auf die Goliath. Ich habe mich erkundigt. Jetzt wollen wir aber endlich Nägel mit Köpfen machen. Wie 98
viele waren es?« Coffin zögerte. »Nägel mit Köpfen können verdammt weh tun«, sagte er und hielt eine Ampulle ans Licht. »Ich habe einmal welche gemacht und wurde dafür fast totgeschlagen.« »Adam, wenn wir das Zeug nicht ganz schnell holen und wegschaffen, macht Cloche die Sache selbst. Wie viele waren es also?« Coffin trank seinen Rum aus, griff nach der Flasche und schenkte sich neu ein. »Sie lagen in Zigarrenkisten. 48 pro Kiste, in Papprosten. Im Ladungsverzeichnis stand, daß es 10 000 Kisten waren, und ich glaube es. Ich habe jede einzelne persönlich verstaut, mit der Hand.« »Stand im Verzeichnis auch, was drin war?« »Nein, aber wir wußten es. Zum größten Teil Morphium. In einigen war Opium, in ein paar Adrenalin. In fast allen aber Morphium.« »Kein Heroin?« fragte Sanders. »Nein. Jedenfalls …« Gail unterbrach: »Es ist dasselbe.« »Was meinst du damit?« fragte Sanders. »Es ist dasselbe. Ich habe einmal ein Buch über Rauschgift redigiert. Heroin ist nichts anderes als Morphium, das mit Essigsäure erhitzt wurde – ein Morphiumderivat. Sobald es in den Körper kommt, wird es wieder in Morphium umgewan delt.« »Warum nehmen die Junkies dann nicht gleich Morphium?« »Sie haben keine Wahl. Sie nehmen, was die Dealer dealen, und die Dealer dealen, was die Schmuggler schmuggeln. Die Schmuggler schmuggeln Heroin, weil sie damit mehr Geld verdienen: Ein Pfund reines Morphium ergibt über ein Pfund Heroin, und man braucht nicht soviel Heroin zu nehmen, weil es stärker wirkt als einfaches Morphium – das hängt damit zusammen, wie es ins Gehirn kommt. Aber wie dem auch sei, man kann sich leicht ausrechnen, daß Ihre Ladung für eine 99
runde halbe Million Herointrips gut ist, und bei einem Endver kaufspreis von zehn bis zwanzig Dollar macht das insgesamt fünf bis zehn Millionen Dollar. Mein Gott!« Treece sagte: »Wo hat es gelegen, Adam?« »Laderaum drei. Jedenfalls das meiste. Mittschiffs. Ich habe es zwischen Mehlsäcke gelegt.« »War noch etwas darunter?« »Ja, die Munition. Wir haben den Ballast weggeworfen und die Kisten mit den Granaten nach unten gepackt. Ich kann euch sagen, wir kamen uns vor wie auf einem Vulkan, buchstäblich. Ein Maat bekam drei Tage Arrest, weil er eine Zigarette geraucht hatte. An Deck!« »Ist sie voll gekentert, als sie sank?« »Soweit ich weiß, nicht. Aber ich habe nicht gewartet, um zu sehen, in welcher Lage sie absoff.« »Wenn sie also sauber auseinanderbrach, sanken die Grana ten wahrscheinlich zuerst, und zwar am tiefsten. Die Zigarren kisten blieben darüber liegen.« »Bedenken Sie, daß die Kisten aus dünnem Holz waren, sie hielten nichts aus. Inzwischen ist bestimmt nichts mehr davon übrig.« Treece nickte. »Stimmt, aber sie sind wenigstens nicht von den Granatenkisten zerdrückt worden. Und das Gewicht der Ampullen war im Wasser praktisch gleich Null, so daß sie nicht sehr tief in den Sand gesunken sein können.« »Wenn Sie mich fragen, sind sie inzwischen von den Stür men und der Strömung in alle Richtungen verstreut worden.« »Das habe ich auch gedacht.« Treece betastete eine der Am pullen. »Bis die hier auftauchten.« »Aber sie lagen in einer Höhle, haben Sie gesagt, waren also geschützt. Ich wette, die anderen sind längst weg.« »Wahrscheinlich. Aber wir sehen heute abend trotzdem nach.« Coffin leerte sein Glas und knallte es auf den Tisch. »Sehr 100
gut. Ich bin dabei.« Treece lächelte. »Nein. Wir machen es allein. Wenn wir mehr finden, werden wir Sie allerdings brauchen.« »Aber es ist mein Schiff! Sie denken wohl, ich schaffe es nicht mehr, ist es das?« Coffin schlug sich mit der Faust an die Brust. Seine Augen glänzten, sein Gesicht war vom Rum gerötet. »Ich bin so fit wie ein Deckhengst! Was schätzen Sie, wie alt bin ich?« Treece sagte gelassen: »Ich weiß, wie alt Sie sind, Adam.« »Und Sie«, sagte Coffin und starrte Sanders an. »Wie alt schätzen Sie mich?« Sanders sah ihn an und wälzte schnell einige Daten. Coffin mußte mindestens siebzig sein. »Ich würde sagen … sechzig.« »Sehen Sie, Treece?« Coffin lachte. »Sechzig!« Er wandte sich wieder an Sanders. »Ich bin 72 verdammte Jahre alt, mein Sohn! Und so fit wie ein Deckhengst!« »Adam«, sagte Treece und faßte Coffin am Arm. »Kein Mensch hat behauptet, daß Sie es nicht mehr schaffen. Aber ich möchte nicht, daß jemand sieht, wie Sie zum Wrack tauchen. Sie sind viel zu bekannt hier.« Treece erwärmte sich für seine Lüge. »Sie sind beinahe eine Berühmtheit! Wenn man erfährt, daß Sie beim Wrack waren, weiß man sofort, daß irgendwas los ist.« Coffin lehnte sich, besänftigt durch das Kompliment, auf seinem Stuhl zurück. »Da ist was dran. Will auf keinen Fall, daß man meinetwegen Lunte riecht.« Er betrachtete sein leeres Glas. »Würde sagen, darauf trinken wir noch einen.« »Nein«, antwortete Treece und stand auf. »Ich habe noch einiges zu tun.« Coffin folgte Treece und den Sanders den Weg bis zur Straße hinunter. Treece öffnete die Tür des Hillman, zwängte seinen gewaltigen Rumpf hinein und zog seine Gliedmaßen behutsam hinterher, eine nach der anderen – wie ein Krake, der in einer Felsspalte verschwindet und seine Tentakel nachzieht. 101
Coffin sagte: »Atmen Sie nicht zu tief, sonst kommen Sie mit der Brust auf die Hupe.« Treece sagte zu Sanders: »Wollen Sie hinter mir herfahren, oder finden Sie den Weg allein?« »Wir finden ihn schon. Fahren Sie nur.« Treece sah Gail an. Er zögerte, überlegte sich offensichtlich genau, was er sagen wollte. »Sie bleiben doch heute nacht im Hotel?« »Ich glaube ja«, sagte sie. »Warum fragen Sie?« »Tun Sie es. Und schließen Sie die Tür ab. Ich will Ihnen keine Angst machen, aber Cloche weiß bestimmt, daß Sie da sind.« Gail erinnerte sich an den Schreck, den sie am Morgen beim Anblick der Mofas bekommen hatte. »Ich weiß.« Treece ließ das Auto an, wartete, bis ein Taxi vorbei war, wendete dann auf der schmalen Straße und knatterte in Rich tung St. David’s fort. Als das Auto außer Sicht war, starrte Coffin die verlassene Straße hinab. Die Sanders stiegen auf ihre Mofas und setzten ihre Schutzhelme auf. »Auf Wiedersehen, Mr. Coffin«, sagte Gail. Coffin schien sie nicht gehört zu haben. »Ich habe ihn schon gekannt, als er ein kleiner Junge war«, sagte er. »Ein großarti ger Bursche.« Gail und David warfen sich einen Blick zu. »Sicher«, sagte Gail. »Er scheint wirklich ein großartiger Mann zu sein.« »Ja. Geradeheraus, ohne Falsch, zuverlässig wie kein zwei ter. Hätte etwas Besseres verdient.« »Etwas Besseres als was?« »Einsamkeit. Trauer. Das ist was für alte Miesmacher wie mich. Bei uns erwartet man, daß wir einsam sind! Aber ein junger Mann wie er – es ist nicht richtig. Er müßte Söhne haben, denen er sein Wissen weitergeben kann.« Sanders sagte: »Vielleicht zieht er es vor, allein zu leben.« 102
Coffin sah Sanders an. Seine Augen wirkten in seinem kno chigen Gesicht wie Narben. »Zieht es vor, hm?« sagte er scharf. »Er zieht es also vor. Sie wissen ja sehr gut Bescheid.« Er drehte sich um. David und Gail beobachteten, wie Coffin den Hügel hinauf ging und in seinem Häuschen verschwand. Sanders fragte: »Was habe ich eigentlich gesagt?« »Ich weiß nicht mehr. Aber es war jedenfalls das Falsche.« Sanders schaute auf seine Uhr. »Laß uns fahren. Ich muß noch ganz nach St. David’s, bevor es dunkel wird.«
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VI Der Mond war ein ganzes Stück über den Horizont gestiegen und warf eine goldene Bahn über das bewegungslose Wasser. Treeces Boot war dreizehn Meter lang, ein Motorboot aus Holz, an dessen Heck der Name Corsair gepinselt war. Sanders stand links von Treece am Ruder und sah nach achtern. Es war vermutlich einmal ein gewöhnliches Fischerboot gewesen, aber Treece hatte es so radikal für seine speziellen Bedürfnisse umgebaut, daß es exzentrisch wirkte. Auf beiden Seiten der Kabine waren Winden, an den Dollbords standen Gestelle für Druckluftflaschen, und dort, wo sonst ein drehbar gelagerter Anglersitz auf dem Deck befestigt gewesen wäre, befand sich ein Luftkompressor. Ein ungefähr vier Meter langes Alumini umrohr mit einem Durchmesser von etwa zehn Zentimetern war am Steuerbord-Schanzdeck festgezurrt. Das Licht aus dem Kompaßgehäuse ließ Treeces Gesicht in einem gedämpften Gelb aufglühen. Sanders sagte: »Es sind so viele Sterne da, daß ich das Leuchtfeuer von St. David’s nicht finde.« »Es muß eines sein, das regelmäßig aufblitzt«, sagte Treece. Das Meer lag wie ein öliger Teppich da, und die Lichter an der zwei Kilometer entfernten Küste zogen mit entnervender Monotonie vorbei. »Die Lichter sehen alle gleich aus«, sagte Sanders. »Wie können Sie bloß erkennen, wo Sie sind?« »Gewohnheit. Wenn man die Küste erst einmal genau kennt, sieht man es an der Dichte der Lichter. Bei Orange Grove und Coral Beach gibt es zum Beispiel mehr als woanders. Sie 104
werden sehen.« »Wie kommen Sie in der Dunkelheit heil an den Riffen vor bei? Die Felsen sind doch nicht zu sehen!« »In einer Nacht wie heute ist es wirklich ein bißchen riskant. Die Brise ist so schwach, daß sich das Wasser praktisch nicht mehr an den Felsen bricht. Man laviert sich einfach durch.« Treece lächelte. »Wenn man sich ein paarmal geirrt hat, verlegt man die Schraube weiter unter den Rumpf in Fahrtrichtung und bringt zwei Kielhacken aus Stahl an, damit es möglichst laut scheppert, wenn man auf Grund kommt. Dann kann man immer noch rechtzeitig abdrehen.« Sanders hörte ein leises Winseln vom Bug her. Er blickte durch die Windschutzscheibe des Cockpits und sah Charlotte auf dem Vordeck kauern. Ihre Flanken zitterten, und sie wedelte aufgeregt mit dem Schwanz. »Was hat sie?« »Meeresleuchten«, sagte Treece. »Schauen Sie mal hinein.« Sanders beugte sich über die Steuerbordreling und blickte nach vorn. Eine Schicht von winzigen, gelbweißen Lichtern bedeckte das Wasser, das vom Bug des Bootes verdrängt wurde. »Es heißt Biolumineszenz. Das Boot stört die Mikroorganis men, die im Wasser leben, und sie reagieren, indem sie Licht erzeugen. Es sind zum Teil Würmer und zum Teil Krebse. Im Grunde dieselbe Erscheinung wie bei Glühwürmchen oder Leuchtkäfern. Die Japaner rieben im Krieg ihre Hände damit ein, damit sie nachts die Karten im Dschungel lesen konnten. Charlotte möchte sie fressen.« Sanders sagte: »Sie hat einen enormen Appetit.« »Eines Tages wird sie selbst gefressen werden. Vor ein paar Monaten wurde sie so scharf auf einen Hai, der um das Boot herumschwamm, daß sie auf seinen Rücken sprang und versuchte, ein Stück davon abzubeißen.« »Warum hat er sie nicht gefressen?« 105
Treece lachte. »Er bekam einen Todesschreck – war wohl noch nicht daran gewöhnt, daß ein haariges Ding von oben auf seinen Rücken hüpfte. Zuckte furchtbar zusammen und ssst! – weg war er. Er kam zwar kurz danach zurück, aber da hatte ich das dumme Ding schon wieder an Bord gezogen.« »Warum haben Sie sie eigentlich mitgenommen?« »Sie ist einsam, wenn ich sie allein lasse.« Treece drehte das Ruder neunzig Grad nach links. »Außerdem leistet sie mir Gesellschaft.« Sie schwiegen und beobachteten das gläserne nächtliche Wasser und die blitzenden Lichter an der Küste. Sanders atmete tief ein und genoß die salzige Frische der Luft. Er meinte, sich noch nie so gut, so lebendig gefühlt zu haben. Es kam ihm vor, als lebte er die Träume seiner Jugend, und er freute sich wie ein Kind, war beinahe stolz darauf, daß er mit Treece allein war. Er schämte sich ein wenig, als er begriff, daß er über Gails Abwesenheit im Grunde ganz froh war. Dies war etwas Besonderes, ein Erlebnis, das ihm allein gehören würde. Er tadelte sich: Sei nicht so schrecklich pubertär. Wir haben Gail nicht mitgenommen, weil es gefährlich werden könnte. Er dachte an die möglichen Gefahren und stellte wie üblich fest, daß er ihnen zwiespältig gegenüberstand: Er war zwar nervös, aber auch aufgeregt, fürchtete sich vor dem Unbekann ten und konnte gleichzeitig kaum erwarten, Dinge zu tun, die er noch nie getan hatte. Als er auf das dunkle Wasser schaute, sträubten sich die Haare auf seinem Arm vor Erwartung. Sie fuhren noch einige Minuten in südwestlicher Richtung. »Sehen Sie da oben«, sagte Treece. »Das ist Orange Grove. Sie erkennen es an den Lichtern: vier dicht nebeneinander in einer Reihe, das ist der Speisesaal. Dann ein dunkler Fleck, die Küche, und dann ein langer, schmaler Lichtstreifen – das Panoramafenster in der Bar.« »Und was machen Sie, wenn es nachts neblig ist?« »Dann bleibe ich eben zu Hause.« 106
Treece drosselte die Geschwindigkeit, bis sie genau vor den Lichtern des Clubs waren. Dann drehte er zur Küste und verlangsamte das Tempo fast bis auf Leerlauf. Er spähte durch das Kajütfenster auf das Wasser vor dem Boot. »Könnte ein bißchen Wind gebrauchen«, sagte er, »und auch ein paar Wolken. Bei diesem Mondlicht fallen wir auf wie die Kirsche auf einem Stück Schlagsahnetorte.« »Wieviel Tiefgang hat das Boot?« »Neunzig Zentimeter. Wir müßten es mit ein oder zwei klei nen Kratzern schaffen.« »Stehe ich Ihnen im Weg, wenn ich zum Bug gehe?« »Nein. Sagen Sie Bescheid, wenn Sie etwas sehen, das uns rammen möchte.« Sanders ging nach vorn. Die Hündin versperrte immer noch den Zugang zum Vordeck, und er gab ihr einen Stups, damit sie ihn durchließ. Der Bug zerschnitt das Wasser mit einem zischenden Geräusch, das man hier ebenso deutlich hörte wie das leise Tuckern des Motors. Sanders betrachtete die Licht bahn des Mondes vor sich. Das Wasser wurde plötzlich geteilt – ein silberner Blitz schoß durch die Lichtbahn und ver schwand im Dunkeln. Sanders blickte sich zu Treece um, und dieser sagte: »Barrakuda.« Sie fuhren über das erste Riff hinweg, dann über das zweite. Zwanzig oder dreißig Meter vor dem Boot sah Sanders Was serringe, die sich von einem unbeweglichen Mittelpunkt entfernten, als hätte eine unsichtbare Hand von oben einen Stein hineingeworfen. »Was ist das?« fragte er laut. Treece stellte sich auf die Zehenspitzen. »Mein Gott!« sagte er und drehte das Ruder hart nach rechts. »Ein Felsen?« »Ja. Wir sind jetzt über dem dritten Riff.« Treece richtete den Bug auf das Ufer und stellte den Motor ab. Das Boot trieb ein bißchen weiter und lag dann fast bewegungslos auf dem Wasser. Treece sprang auf das Seitendeck und ging nach vorn. 107
»Kein Wind, keine Tide, nichts. Hier müßte einer reichen.« Er warf einen Anker über Bord und ließ das Tau durch seine Hände laufen, bis es schlaff wurde. Er zog zweimal daran, bis der Anker in den Korallen gegriffen hatte, und sicherte es an einer Klampe am Bug. »So, jetzt können wir uns umziehen.« Gefolgt von der Hündin, ging er wieder nach achtern ins Cockpit. Während Sanders seinen Lungenautomaten an den Hals der Druckluftflasche schraubte, wobei er das Gerät ins Mondlicht hielt, damit er ihn nicht verkehrt herum befestigte, ging Treece unter Deck. Er warf zwei Schutzanzüge aus Neopren durch die Luke hoch – Stiefel, Hosen, Jacken und Hauben. »Ist das Wasser so kalt?« fragte Sanders. »Nein, aber man kann sich nachts böse an den Korallen aufreißen. Man sieht die Zacken nicht richtig, und dann ist es schon zu spät.« Treece duckte sich erneut nach unten und kehrte wieder zurück, in der einen Hand eine kleine Metallki ste, in der anderen eine starke Taschenlampe mit Unterwasser gehäuse. Er zeigte Sanders, wie man die Lampe an- und ausknipste, und sagte: »Wir benutzen sie nur, wenn es unbe dingt nötig ist. Da unten ist es verdammt duster.« »Wie werden wir denn sehen?« »Ich werde sehen«, sagte Treece und zeigte auf die Metallki ste. »Sie bleiben dicht neben mir.« Er machte die Kiste auf. Sie war mit Gummi ausgepolstert und enthielt eine Maske und eine Lampe mit Pistolengriff. »Infrarotgeräte. Damit kann … ich den Stein finden, den Sie da unten hingelegt haben.« Als sie sich umgezogen hatten, setzten sie sich auf das Steu erborddeck. »Schauen Sie auf die Uhr«, sagte Treece. »Kom men Sie in einer halben Stunde wieder hoch, ganz gleich, wieviel Luft Sie noch haben. Riskieren Sie nachts nie, daß Ihnen unvermittelt die Luft ausgeht. Sie können in eine Unter wasserströmung geraten, und es ist kein Spaß, einen halben Kilometer zurückzuschwimmen und dabei an einem leeren 108
Tank zu saugen.« Treece langte unter das Schanzdeck, zog einen Tischtennis-Schläger hervor und steckte ihn in seinen Bleigürtel. Die Hündin wedelte heftig mit dem Schwanz und schnüffelte an den Schwimmflossen ihres Herrn. »Paß gut auf das Boot auf, Charlotte«, sagte er. Er sah Sanders an. »Fertig? Wir gehen zusammen hinunter. Wenn wir auf Grund sind, knipsen Sie die Lampe an und verschaffen sich einen kurzen Überblick. Aber so schnell wie möglich. Sobald Sie etwas erkennen und wissen, wo wir sind, machen Sie die Lampe wieder aus und schwimmen darauf zu. Wenn ich mit dem Ding hier Glück habe« – er hielt die Infra rotlampe hoch –, »werden wir Ihre Lampe nicht lange benöti gen.« »Wie kommen Sie darauf, daß jemand hinter uns herkommen könnte?« »Wahrscheinlich wird man uns nicht verfolgen. Aber wir brauchen ja nicht gerade Einladungen zu verschicken.« Treece legte sein Mundstück an und machte das Daumen hoch-Zeichen. Sanders antwortete mit dem gleichen Zeichen, und sie ließen sich nach hinten ins Wasser fallen. Unter der Oberfläche war undurchdringliche Schwärze. Mehr als Dunkelheit – totale, alles umhüllende Schwärze, ein beina he greifbares Nichts. Sanders’ Augen waren offen, aber sie sahen nichts, weder die Luftblasen, die er beim Ausatmen machte, noch den Rand der Glasscheibe seiner Brille, noch den Zeigefinger, den er sich probeweise ganz dicht vors Gesicht hielt. Eine Sekunde lang glaubte er, er sei mit Blindheit ge schlagen worden. Wasser umspülte seine Nase. Er warf den Kopf zurück, um die Brille zu leeren, tastete nach der Glasplat te, drückte mit aller Kraft darauf, atmete durch die Nase aus und erblickte tanzende Lichtpunkte – Sternenlicht, das vom Wasser gebrochen wurde. Während er ausatmete und seine Lungen leerte, begann er nach unten zu sinken. Er atmete ein und sank langsamer. Das 109
Wasser, das ihm zuerst eiskalt vorgekommen war, erwärmte sich in dem Schutzanzug langsam auf Körpertemperatur. Er fühlte sich warm und hilflos und friedlich, als wäre er in den mütterlichen Schoß zurückgekehrt. Er streckte die Arme aus und ließ sich schwerelos auf Grund gleiten. Seine Schwimmflossen berührten Sand. Es herrschte eine schwache Strömung, genug, um das Stehen zu erschweren, so daß er in die Knie ging. Die Lampe hing an einem Gummiband um sein Handgelenk. Er tastete nach dem Schalter und betätig te ihn mit dem Daumen. Ein gelber Zylinder zerstach die Schwärze. Sanders hatte keine Ahnung, wo er war oder in welche Rich tung er schaute. Er richtete den Lichtzylinder nach links und dann nach rechts, auf Sand und Felsen, und staunte darüber, wie intensiv der gelbe Strahl die Farben herausbrachte. Am Tag hatte der Sand hell-blaugrau ausgesehen, die Felsen hatten blaubraun und die Fische blaugrün gewirkt. Aber das künstli che Licht ließ die natürlichen Farben zum Vorschein kommen. Er sah die Weiß- und Rot- und Orangetöne der Korallen, den blaßrosa Bauch eines schlafenden Papageifisches. Der Lichtzy linder traf einen braunen, teilweise grün überwucherten Strei fen, und Sanders erkannte, daß es einer der Balken vom Wrack war. Am Rand des Lichts erschien der Kopf eines kleinen Barrakudas. Er blieb nur einen Sekundenbruchteil. Sanders blickte sich um. Außerhalb des schmalen gelben Zylinders war alles schwarz. Erfragte sich, ob Haie vom Licht angelockt würden. Etwas berührte seine Schulter. Er zuckte in panischem Ent setzen zurück und fühlte Finger, die ihn antippten. Dann sah er die schwarze Gestalt von Treece ins Licht treten. Treece gab ihm ein Zeichen, die Lampe auszuknipsen und ihm zu folgen; er streckte die Hand aus. Sanders ergriff sie, machte die Lampe aus und begann sich neben Treece weiterzustoßen, als er ein leichtes Rucken spürte. 110
Er sah weiterhin nur Schwärze. Ohne Spezialbrille war das Infrarotlicht unsichtbar. Sanders nahm an, daß Treece sich auf die Höhle zubewegte, weil er überhaupt nicht zu zögern schien: er schwamm schnell und offenbar ziemlich genau geradeaus. Treece wurde langsamer, hielt dann inne. Mit der Hand führ te er Sanders zu einer Stelle am Grund. Er klopfte gegen die Taschenlampe, und Sanders knipste sie an. Sie waren an der Öffnung der Höhle. Das Licht wurde vom weißen Sand und von den Felswänden zurückgeworfen. Sanders sah den Markierstein, den er in die Höhle gelegt hatte. Treeces Hand nahm ihn und legte ihn neben der Infrarotlampe in den Sand. Ein Finger zeigte auf die Vertiefung, die der Stein hinterlassen hatte, und befahl San ders, den Lichtstrahl dorthin zu schwenken. Der Finger wurde zurückgezogen, und es erschien eine Hand, die den Tischten nis-Schläger hielt. Treece bürstete mit kurzen, schnellen Bewegungen über den Sand. Sandschwaden stiegen auf, und nach wenigen Sekunden war die Höhle von einer Wolke ausgefüllt. Sanders bückte sich und hielt den Kopf neben das Licht. Das Loch im Sand wurde größer. Es war jetzt ungefähr zehn Zentimeter tief und über dreißig Zentimeter breit. Treece beugte sich ebenfalls nach unten, und die beiden wuchsen im Licht zusammen, während der Tischtennis-Schläger den Sand fortwedelte. Treece hörte auf zu fächeln. Zuerst dachte Sanders, er hätte aufgegeben. Dann sah er, wie zwei Finger in das Sandloch griffen und wieder zurückgezogen wurden, wobei sie etwas festhielten, das Sanders wie ein braunes Blatt vorkam. Das Blatt hatte einen schwachen Abdruck, Spuren von handschrift lichen oder gedruckten Buchstaben. Das Fächeln begann wieder, und Sanders sah ein Flimmern im Sand. Die Finger sondierten abermals, so zart, als entfernten sie einen Splitter aus einem Kinderfuß. Eine Ampulle wurde aus dem Sand gezogen. 111
Kurz danach kam weiteres Laub zum Vorschein – verfaultes Holz, nahm Sanders jetzt an, von den Zigarrenkisten, in denen man die Ampullen verpackt hatte. Dann wurde noch eine Ampulle hervorgeholt. Danach zwei Ampullen auf einmal. Dann, als das Loch tiefer wurde, sah er die verrottete, halb aufgelöste Ecke einer Zigarrenkiste. Sanders kroch ein kleines Stück zurück, da die Kiste zum größten Teil außerhalb der Höhle zu liegen schien. Treece fächelte, bis er die Kiste freigelegt hatte. Sie lag mit der Unterseite nach oben, ein braunes, etwa fünfzehn mal zwanzig Zentimeter großes Recht eck. Er legte den Tischtennis-Schläger beiseite und hob den Kistenboden vorsichtig ab; der Boden löste sich in einem breiigen Stück. Darunter befanden sich, abgeteilt durch einen wabenartigen Papprost, 48 Ampullen. Keine einzige war zerbrochen. Treece faßte sie nicht an. Er nahm den Schläger und begann wieder zu fächeln, diesmal aber von der Höhlenöffnung fort. Der aufgewirbelte Sand setzte sich bereits zwischen den Ampullen, bedeckte sie teilweise. Treece fächelte, bis er die Ecke einer anderen Zigarrenkiste freigelegt hatte, und hörte dann auf. Er hielt sein linkes Handgelenk ins Licht und schlug die Manschette des Schutzanzugs hoch. Sanders sah das Zifferblatt der Armbanduhr: sie waren schon 32 Minuten unten. Treeces Daumen zeigte nach oben, und seine Hand griff nach der Taschenlampe, die Sanders hielt. Sanders schwamm langsam in dem schwarzen Wasser hoch und beobachtete den Lichtzylinder unter sich. Das Licht bewegte sich einen knappen Meter, blieb dann stehen, bewegte sich wieder. Sanders schwamm, ohne die Arme zu gebrauchen, machte nur leichte Schwimmstöße mit den Füßen und bemühte sich, die Stille des Wassers nicht zu brechen, weil er sich in der Schwärze plötzlich allein und verwundbar vorkam. Seine Sinne waren nutzlos, und er wollte nichts anlocken, das darauf lauerte, über Schwache oder Einsame herzufallen. 112
Sein Kopf erreichte die Oberfläche. Er schaute sich um und sah, daß er sich verschätzt hatte; er war nicht auf das Boot zugeschwommen, sondern in die entgegengesetzte Richtung. Es lag etwa fünfzig Meter von ihm entfernt vor Anker, eine schwarze Skulptur im Mondlicht. Er wollte nicht oben schwimmen, wo er Geräusche machen und Erschütterungen verursachen konnte, bei denen Tiere in der Tiefe auf die Idee kamen, sie stammten von einem verletzten Fisch. Also duckte er sich unter die Oberfläche und schwamm auf das Boot zu. Da er nichts sah, was ihm als Anhaltspunkt dienen konnte, war er auch nicht imstande, die Richtung exakt zu halten. Er atmete zu schnell, zu tief, und seine Lungen gierten nach mehr Luft, als der Automat ihnen geben konnte. Hör endlich auf damit! befahl er sich. Hör auf damit, oder dir geht die Luft aus. Er hörte auf zu schwimmen und lag regungslos im Wasser, zwang sich, langsamer zu atmen. Allmählich ließ der Schmerz in seinen Lungen nach. Er hob das Gesicht aus dem Wasser, sah das Boot und schwamm mit gezielten, kräftigen Stößen darauf zu. Sanders erreichte das Boot und ergriff den Rand der Tauch plattform am Heck, mit deren Hilfe man allein an Bord kom men konnte. Er löste die Bänderung und hievte seine Preßluft flasche auf die Plattform. Dann zog er sich selbst hoch und setzte sich schwer atmend hin, ließ seine Schwimmflossenfüße ins Meer baumeln. Vom Bug her hörte er ein schwaches Jaulen. Treece steckte neben der Plattform den Kopf aus dem Was ser. Er spie sein Mundstück aus und fragte: »Wo ist Charlotte?« »Vorn. Sie scheint einen Alptraum zu haben.« »Ziemlich unwahrscheinlich.« Treece zog sich mit Druck luftflasche und allem auf die Plattform. Mit einer einzigen Bewegung warf er die Flasche ab und kletterte über den Heckspiegel an Deck. »Auf dem Boot schläft sie nie. Sie wartet auf mich, damit sie mir das Salz vom Gesicht lecken kann.« Er 113
ging nach vorn, und Sanders folgte ihm. Als sie sich dem Bug näherten, wurde das Jaulen lauter, qualvoller. Sanders betrachtete die Umrisse von Treece – eine breite, hohe Gestalt, die sich sogar in der Dunkelheit mit anmutiger Sicherheit bewegte. Er sah, wie Treece stehenblieb, und hörte ihn aufschreien: »Verfluchte Hurensohne!« »Was ist los?« Als Sanders neben Treece stand, erblickte er die Hündin. Sie hatte sich gegen die Backbordverkleidung geworfen und verrenkte sich in krampfhaften Zuckungen, biß wie rasend nach ihren Flanken. Aus ihrem Rücken, genau über dem Schwanz, wo sie nicht mehr mit den Zähnen hinkommen konnte, ragte etwas Glänzendes heraus. Sie hatte versucht, es zu packen, und sich dabei wie besinnungslos vor Schmerz in die Seite gebissen. Man erkannte es an den herausgerissenen Haarbüscheln und Fleischfetzen. Erschöpft und jaulend schnappte sie weiter nach dem eigenen Körper. Treece hockte sich hin und streckte eine Hand aus, um sie zu beruhigen. Die Hündin bleckte die Zähne und knurrte. »Ist ja schon gut«, sagte Treece zärtlich. »Ist ja schon gut.« Er bekam den Hals zu fassen und drückte den Kopf der Hündin auf das Deck. Mit der anderen Hand griff er nach hinten und zog ihr mit einem Ruck ein Stück Stahl aus dem Rücken. Vom Schmerz befreit, winselte das Tier auf und leckte sich. »Was ist geschehen?« Treece ging mit langen Schritten nach achtern, schwang sich in das Cockpit und knipste ein Oberlicht an. Er hielt einen fünf Zentimeter langen, wie eine Feder geformten Pfeil in der Hand. »Bei Gott, was bilden die sich eigentlich ein?« Sanders betrachtete den Pfeil und sagte: »Cloche.« »Was?« »Cloche trägt genauso eine Feder um den Hals, nur etwas kleiner. Es muß seine Visitenkarte sein. Mich und Gail hat er schon bearbeitet. Jetzt will er Sie wahrscheinlich auch noch in 114
die Mangel nehmen.« »Der Idiot«, sagte Treece. »Nur weil er irgendeinem schwar zen Bastard befiehlt, hierher zu rudern und meinen Hund umzubringen? Und deshalb soll ich in die Knie gehen?« Er spuckte auf das Deck. »Damit bewirkt er nur das Gegenteil.« Er blickte hoch und sah die Hündin am Schanzdeck entlang humpeln. »Würden Sie mir bitte den Verbandskasten holen?« sagte er und zeigte auf ein Spind an der Steuerbordseite. »Ich muß die alte Dame zusammenflicken.« Er hob die Hündin auf und setzte sie ins Cockpit. Zärtlich drehte er sie auf die unverletzte Seite. Treece schnitt die verfilzten Haare im Umkreis der klaffenden Wunde ab, säuberte diese mit einem Desinfektionsmittel und schüttete Sulfonamidpuder darauf. Dabei beruhigte er das Tier mit leisen, liebevollen Worten, behandelte es, fand Sanders, mit mütterlicher Zuneigung und Fürsorge. Die Hündin spürte es: Sie gab keinen Ton von sich und be wegte sich nicht. Als er fertig war, kraulte Treece die Hündin hinter den Ohren und sagte: »Ich glaube, es ist besser, wenn ich dich verbinde.« Er griff nach einem Stück Mull und Pflaster. »Ich kenne dich. Du hast Blut geleckt und würdest dich unter Umständen noch selbst auffressen.« Er half dem Tier auf die Füße, und es humpelte schwanzwedelnd, mit wackeligen Schritten in eine Ecke und rollte sich dort zusammen. »Was werden sie Ihrer Meinung nach als nächstes tun?« fragte Sanders. »Cloche? Keine Ahnung. Ich habe die Ampullen wieder mit Sand bedeckt, er wird also wahrscheinlich nicht herausbekom men, daß wir etwas gefunden haben. Aber das verschafft uns nur einen oder zwei Tage.« Treece schüttelte den Kopf. »Mein Gott, wo da unten ein Riesenhaufen herumliegt.« »Mehr, als wir entdeckt haben?« »Ja. Die eine Kiste war nur die Spitze des Eisbergs. Ich nehme 115
an, daß der dritte Laderaum auf einen Felsen lief und aufge schlitzt wurde. Dabei rutschte ein kleiner Teil der Ladung heraus. Dann glitt der Schiffsrumpf vielleicht wieder nach hinten und platzte endgültig auf.« Treece formte mit den Händen ein umgedrehtes V. »Was wir entdeckt haben, war nur die Spitze. Ich habe am Sandmuster gesehen, daß ein paar Meter von der Höhle entfernt viel mehr liegen muß. Und dazwischen Munition.« »Können wir denn alles hochholen?« »Nicht mit dem Tischtennis-Schläger. Wir brauchen das Saugrohr.« Er zeigte auf das festgezurrte Aluminiumrohr. »Und wir können nicht mehr mit Flaschen tauchen. Wir müssen Luftschläuche und Vollmasken nehmen. Wir können nicht jede Stunde einmal hochschwimmen und die Flaschen austauschen. Das bedeutet aber, daß wir den Kompressor anstellen müssen, und das bedeutet Krach. Jetzt wird’s brenz lig.« »Warum?« »Weiter unten müssen überall Granaten und Wasserbomben zwischen den Zigarrenkisten liegen.« »Aber sie sind doch nicht mehr scharf, oder?« »Das spielt keine Rolle. Messing korrodiert. Vielleicht sind die Zünder nicht mehr intakt. Das Schießpulver ist bestimmt noch wie neu. Sie brauchen nur aneinanderzustoßen oder auf einen Felsen zu prallen, von einem Schweißbrenner ganz zu schweigen – ein Bums, und wir hören die Engel im Himmel singen.« »Kann die Regierung uns denn nicht helfen?« »Die Regierung der Bermudas?« Treece lachte. »Ja. Sie werden den königlichen Schreiber beauftragen, ein hübsches Phantasiedokument zu entwerfen, auf dem steht, daß ich das Ärgernis so schnell wie möglich aus der Welt schaffen soll. Am liebsten würde ich da unten eine Sprengladung anbringen und den ganzen Mist in die Luft jagen, das heißt ins Wasser. 116
Aber …« Treece fischte in der Brusttasche der Jacke seines Schutzan zugs herum, fand das Gesuchte und reichte es Sanders. Es war eine unregelmäßig geformte, grün angelaufene Münze. Sie schien beim Prägen verrutscht zu sein, denn ein Viertel der Oberfläche wies keine Zeichen auf. Am Rand erkannte Sanders die Buchstaben »EI«, dann, nach einem Zwischenraum, den Buchstaben »G« und nach einem weiteren Zwischenraum die Ziffern »170«. Zwischen dem Rand und der Mitte war ein »M« eingeprägt, und in der Mitte befand sich ein kompliziertes Wappen mit zwei Burgen, einem Löwen und mehreren Balken. »Na und?« meinte Sanders. »Sie haben doch selbst gesagt, eine Münze macht noch lange keinen Schatz.« »Stimmt. Aber diese tut es vielleicht.« »Warum?« »Nachdem ich Sie hochgeschickt hatte, bin ich noch ein kleines Stück am Riff entlanggegangen und habe am Rand der Felsen ein paar Löcher in den Sand gewedelt. Die Münze lag ungefähr fünfzehn Zentimeter tief, und zwar an einem Stück Eisen. Deshalb ist sie im Gegensatz zu der anderen erhalten geblieben, das heißt, sie konnte nicht oxydieren.« »Warum ist sie dann so grün?« »Das hat nichts zu bedeuten, man kann es einfach abwischen. Das Eisenstück, an dem sie lag, kam mir so vor wie die Spange von einem Vorhängeschloß. Es löste sich nicht gleich, und ich wollte nicht noch mehr Zeit verlieren. Also habe ich es dage lassen.« »Wollen Sie etwa sagen, da unten liegt eine Truhe mit Geld?« »Nicht ganz. Wenn einmal eine Truhe da war, ist das Holz längst verfault. Die Münzen würden zusammengeklumpt sein, und die meisten wären nichts mehr wert. Ein ganzer Haufen von Münzen liegt jedenfalls da, unter einem Felsen. Ich habe versucht, eine loszureißen, aber es ging nicht. Ich nehme an, sie 117
ist eine Verbindung mit ein paar anderen eingegangen.« »Es könnten also noch mehr da sein. Goldmünzen, meine ich.« »Scheint so.« Treece hielt die Münze ins Licht. »Hier. Das ›M‹ bedeutet, daß sie in Mexiko geprägt wurde. Was sagt Ihnen das?« »Das Schiff fuhr nach Osten, zurück nach Spanien.« »Richtig. Es verließ die Neue Welt. Rund ein Drittel der untergegangenen Schiffe war auf dem Weg zur Neuen Welt gewesen, und diese Schiffe hatten keine Schätze geladen. Sie führten Wein und Käse und Kleidung und Bergbaugeräte mit sich. Die Zahlen sind die ersten drei Ziffern der Jahreszahl, also des Prägedatums. Demnach wurde sie in den ersten zehn Jahren des 18. Jahrhunderts geprägt. Das paßt zu dem Wappen. Es ist das Wappen von Philipp V. Er wurde 1700 König.« »Was bedeuten die Buchstaben?« ›»Von Gottes Gnaden‹«, antwortete Treece. »Es sind die letzten Buchstaben der Inschrift auf der Vorderseite; die Inschrift ist bei allen Münzen gleich: Philippus V, und dann Dei G. Das ›G‹ steht für gratia.« Treece drehte die Münze um. »Das ist ein Jerusalem-Kreuz. Ich kann nur zwei von den Buchstaben erkennen, dieses ›M‹ und das ›R‹, aber hier stand ursprünglich Hispaniarum et Indiarum Rex – König von Spanien und Westindien.« »Und?« »Im Jahre 1715 ging eine große Flotte, eine der größten Flotten Philipps V., auf der Fahrt nach Spanien unter.« »Davon habe ich schon gehört. Irgend jemand hat sie doch gefunden, oder?« »Ja, ein Taucher namens Kip Wagner. Zehn Schiffe gingen unter, bis ans Deck mit Gold und Silber vollgeladen, und Wagner fand sie Anfang der sechziger Jahre, das heißt, er meinte, er habe acht von ihnen gefunden. Er hob einen Gold schatz im Wert von rund acht Millionen Dollar.« 118
Sanders wurde ganz aufgeregt. »Und unsere Münzen kom men von einem der beiden restlichen Schiffe?« Treece schüttelte lächelnd den Kopf. »Unmöglich. Da unten muß zwar etwas liegen, aber eines von Philipps zehn Schiffen kann es nicht sein. Sie gingen alle vor Florida unter, alle zehn. Daran ist nicht zu rütteln, weil es durch alle möglichen Leute und Dokumente bewiesen wurde – Überlebende, Augenzeu genberichte, Logbücher, Aussagen von Bergungsmannschaften und was weiß ich. Außerdem wird kein Wrack fast zweitau send Kilometer weit von der Unglücksstelle fortgetrieben oder fortbewegt. Nein, was wir wissen, ist kein Problem. Ärgerlich ist das, was wir nicht wissen.« »Zum Beispiel?« »Wenn unter der Goliath tatsächlich noch ein Schiff liegt, können wir mit einiger Sicherheit annehmen, daß es zwischen 1710 und 1720 sank. Wenn es später gesunken wäre, hätten die Münzen, die wir gefunden haben, spätere Prägestempel. Münzen der Neuen Welt blieben nämlich nicht lange dort. Die Spanier brauchten sie bis auf den letzten Heller, um die Ge schäfte in ihrem eigenen Land in Gang zu halten. Aber nir gends steht etwas von einem spanischen Schiff, das zwischen 1710 und 1720 in diesen Gewässern vor Bermuda gesunken ist.« »Es braucht doch nicht unbedingt ein spanisches Schiff zu sein, oder? Ich meine, nur weil spanische Münzen an Bord waren …« »Nein. Silberreales waren eine internationale Währung. Jeder benutzte sie. Aber in den Dokumenten ist kein einziges Schiff erwähnt, das Anfang des 18. Jahrhunderts in dieser Gegend sank.« Sanders sagte: »Das könnte doch auch ein gutes Zeichen sein, oder? Es bedeutet doch nur, daß das Wrack nie entdeckt wurde.« »Es kann ein gutes und ein schlechtes Zeichen sein. Es be 119
deutet, daß wir praktisch aus dem Nichts anfangen müssen. Wahrscheinlich ging es nachts unter. Wenn es Überlebende gab, was ich bezweifle, hatten sie nicht den leisesten Schim mer, wo sie waren. Sie dachten bestimmt nur daran, ihre eigene Haut zu retten. Also ist die Ladung, die mit unterging, voraus sichtlich noch da.« »Und es könnte …« »Keine Ahnung. Nach den bisher bekannten Aufzeichnungen holten die Spanier zwischen 1520 und 1800 Gold und andere Schätze im Wert von zwölf Milliarden Dollar aus der Neuen Welt – das heißt, es war damals zwölf Milliarden Dollar wert. Etwa fünf Prozent davon ging verloren, und rund die Hälfte von dem, was verlorenging, wurde geborgen. Demnach würden noch rund 300 Millionen Dollar im Meer liegen. Berücksichti gen Sie die Inflation in den letzten Jahrhunderten, und Sie haben mindestens eine Milliarde Dollar. Das wäre ein hübsches Sümmchen – wenn es stimmte. Das Dumme ist, daß alle Leute korrupt waren, und für jeden Dollar an registriertem Gold wurde wahrscheinlich ein ›schwarzer‹ Dollar mitgeschmug gelt.« »Steuerhinterziehung?« »Ja, eine Sondersteuer. Der König von Spanien bekam laut Gesetz zwanzig Prozent von jedem Schatz, ganz gleich, wem er gehörte. Selbst ein Geschäftsmann, der europäische Waren gegen Gold aus der Neuen Welt verhökerte, mußte noch den sogenannten Quinta des Königs auf den Tisch blättern. Da war es natürlich viel billiger, irgendeinen Burschen zu bestechen, damit er ein paar Sachen übersah. Ich meine, billiger als die zwanzig Prozent für die Krone.« »Das erklärt den Ankertrick«, sagte Sanders. »Beim National Geographic habe ich einmal etwas über einen Kapitän gelesen, der seinen Anker aus Gold gießen und schwarz pinseln ließ.« »Ja. Er wurde gehängt. Ich wollte nur sagen, daß man nie wissen kann, was in einem Wrack ist. Es gab ein Dutzend Fälle 120
von Schiffen, die sanken und dann zur Hälfte ausgeräumt wurden, und diese Hälfte war immer noch mehr als die Fracht, die für das gesamte Schiff angegeben worden war. Das Flagg schiff einer Flotte, die sogenannte capitana, konnte gut und gern registriertes Gold im Wert von drei Millionen Dollar geladen haben. Unser Schiff war aber keine capitana: die Flotte fehlt. Möglicherweise brachte es Überlebende von der Flotte nach Haus, die 1715 unterging. Und vielleicht einen Teil der geborgenen Schätze. Aber dann müßte es irgendwelche Dokumente geben – wenn nicht hier, dann in Cadiz oder Sevilla. Dokumente von den Überlebenden, die in Havanna an Bord gingen und hier strandeten. Es gibt aber keine.« Treece langte in die Jacke seines Schutzanzugs und zog ein goldenes Oval heraus. »Hier ist noch ein Stück von dem Puzzle.« »Eine Münze?« »Nein.« Treece gab es Sanders. »Ein Medaillon.« Das Medaillon trug die erhaben gearbeitete Darstellung eines Frauenkopfes und die Buchstaben »S.C.O.P.N.«. »Ich glaube, es hat etwas mit Santa Clara zu tun«, sagte Treece. »Das ›O.P.N.‹ heißt ora pro nobis – heilige Clara, bete für uns. Drehen Sie es mal um.« Sanders drehte das Medaillon um. Bis auf die Buchstaben »E. F.« war die Rückseite glatt. »Dieselben Initialen!« »Ja. Ich habe heute morgen versucht, einen Offizier oder Aristokraten oder Kapitän mit diesen Anfangsbuchstaben zu finden – vergeblich. Obgleich ich Berge von Papier durchge wühlt habe.« Sanders reichte ihm das Medaillon zurück. »Vielleicht war es ein Geschenk für irgend jemanden.« »Nicht sehr wahrscheinlich. So etwas verschenkte man nicht.« Treece steckte das Medaillon und die Münze wieder in seine Brusttasche, knipste das Oberlicht aus und ließ den Motor an. Er schickte Sanders nach vorn, um den Anker einzuholen, und als er Eisen auf das Deck klappern hörte, drehte er das 121
Ruder hart nach links und fuhr ins Meer hinaus. Sanders kehrte ins Cockpit zurück und sagte: »Und was machen wir jetzt?« »Wir bleiben hier ein paar Tage weg, und ich versuche indes sen herauszufinden, was zum Teufel unter der Goliath liegt.« »Cloche …« »Ja. Jetzt, wo er weiß, daß ich mich für die Sache interessie re, wird es nicht mehr lange dauern, bis er Himmel und Hölle in Bewegung setzt. Am besten wäre es sicher, wenn Sie und Ihre Frau noch heute Ihre Sachen packten und nach Haus flögen. An mich wird er sich nicht heranwagen, aber mit Ihnen kann er so ziemlich machen, was er will.« Sanders antwortete nicht; er wußte, daß Treece recht hatte. Der gesunde Menschenverstand und der Selbsterhaltungstrieb verlangten, daß er morgen früh mit Gail die erste Maschine zum Festland bestieg. Sie hatten nichts mit Cloche zu schaffen. Wenn irgend jemand mit ihm fertig werden konnte, dann Treece; Gail und er waren wegen ihrer Verwundbarkeit nur ein Posten auf der Passivseite. Aber er konnte seine eigenen logischen Argumente einfach nicht akzeptieren. Wenn er abreiste, bedeutete das, daß er sich sein Leben lang etwas vorgemacht hatte. Seine Träume und Ziele – die Arbeit bei Cousteau, die Reisen um die Welt für das National Geographic – wären endgültig als müßige Phantasien eines Bürohengstes abgestempelt. Hier war endlich die Chance, etwas zu tun, was er noch nie getan hatte, die Chance, im Mittelpunkt des Geschehens zu stehen, statt als Voyeur durchs Leben zu gehen. Die Risiken, die er eingehen würde, waren echt, nicht eingebildet oder selbst auferlegt, und das machte sie reizvoller. Und wenn unter der Goliath wirklich ein Goldschatz lag, könnte der Lohn … Nicht auszumalen! Er blickte zu Treece, dann zum Deck und suchte nach Wor ten, damit die Frage, die ihm auf der Zunge lag, nicht falsch klang. Endlich sagte er: »Und was ist, wenn tatsächlich eine 122
Menge Gold unten liegt?« »Wir werden Stein und Bein schwitzen, wenn wir es nach oben bringen wollen, mit all den Sprengkörpern.« »Nein, das habe ich nicht gemeint … Ich meinte, wenn wir es oben haben?« »Nun, dann …« Treece verstummte. Er lächelte Sanders breit an. »Ich sehe förmlich die vielen kleinen Räder, die in Ihrem Kopf in Bewegung geraten sind. In Ordnung. Ich könnte Sie jetzt anlügen und zur Abreise überreden, aber das ist nicht meine Art. Ich meine, wenn ein Mann sich unbedingt in eine Sache hineinstürzen will, ist es nicht meine Aufgabe, ihn daran zu hindern. Wir werden also folgendes tun: Zunächst gehen wir zur Havariebehörde und beantragen eine Bergungslizenz.« »Man braucht eine Lizenz?« »Ja, bei jedem Wrack. Wir könnten natürlich sagen, wir arbeiteten an der Goliath, die ein offenes, also freigegebenes Wrack ist. Dann wäre die Lizenz nicht so wichtig, und wir könnten auf sie verzichten. Aber ich werde eine beantragen, damit alles seine Ordnung hat. Man hat mir noch nie eine abgeschlagen. Auf der Lizenz lasse ich Sie und mich als gleichberechtigte Partner aufführen. Normalerweise zählt das Boot ebenfalls als Partner.« »Wieso?« »Das Boot bekommt einen Anteil, damit Benutzung und Verschleiß, Wertminderung, Abschreibung und andere Unkosten abgegolten werden, die sonst der Bootseigner von seinem Anteil tragen müßte. Aber davon können wir später reden. Wir werden irgendeine Vereinbarung treffen, wie wir uns die Kosten teilen. Sie und Ihre Frau können ja halbe-halbe machen, oder Sie einigen sich anders. Alles, was wir finden, gehört theoretisch den Bermudas, aber die Regierung wird einigermaßen großzügig sein, solange sie uns nicht für Hoch stapler hält. Wenn das Amt für historische Wracks etwas haben will, wird es uns ein Angebot machen. Wenn es wirklich scharf 123
darauf ist, müssen wir das Angebot annehmen. Es beruht auf der Schätzung eines Sachverständigen, der natürlich von der Regierung bestimmt wird. Was sie nicht kaufen wollen, geben sie uns zurück, und wir können damit machen, was wir wol len.« »Auch verkaufen?« »Vielleicht.« Treece hielt inne. »Aber eines sage ich Ihnen schon jetzt, wo die ganze Sache noch mehr oder weniger in den Sternen steht – spätestens dann könnten wir uns in die Haare geraten.« Sanders war verblüfft. »Beim Verkaufen?« »Ja. Wir sind grundverschieden. Ich brauche kein Geld; ich stelle mir aber vor, daß Sie es brauchen. Mir liegt etwas daran, daß die Funde erhalten bleiben und nicht auseinandergenom men und einzeln verscherbelt werden. Sie wissen sowenig von Wracks, daß sie Ihnen im Grunde gleichgültig sind.« Der Hieb saß. »Ich werde lernen.« »Meinetwegen.« Treece lächelte. »Bei der gegenwärtigen Marktlage wird es sowieso kaum möglich sein, etwas zu verkaufen. Fälscher.« »Wer?« »Ende der fünfziger und Anfang der sechziger Jahre wurden eine Menge Münzen entdeckt. Damals fand ich meine ersten, und Wagner fand die acht Schiffe von 1715. Alle Leute wollten plötzlich spanisches Gold haben, so daß ein paar Hurensöhne schnell schalteten und anfingen, es zu fälschen. Es ist ziemlich leicht, und man kann es kaum nachweisen. Man kann Gold nicht nach der Karbonmethode datieren, und beim heutigen Stand der Technik können sogar Stümper ganz gute spanische Goldmünzen nachahmen.« »Erkennen Sie Fälschungen?« »Manchmal, aber es ist sehr schwer. Letztes Jahr bekam ich einen Anruf vom Forrester-Museum. Ein gewisser Professor Peabody bat mich, heraufzukommen und mir ein paar Münzen 124
anzusehen. Den Grund sagte er nicht, aber ich rechnete mir aus, daß er irgendeinen Schwindel witterte, weil er mir sonst wohl kaum die Reise nach Delaware bezahlen würde. Ich sah mir die Münzen an, und ich will verdammt sein, wenn ich irgend etwas fand, das nicht in Ordnung war. Aber ich wußte, daß es irgend etwas geben mußte. Ich saß eine Woche lang in einem Zimmer und starrte die Dinger an. Sie waren perfekt! Ich fing an, Selbstgespräche zu führen, und stellte jeden einzelnen Buchstaben und jede einzelne Zahl auf den Münzen laut in Frage. So lange, bis ich die Antwort hatte. Der Präge stempel war auf allen Münzen gleich – ein ›P.‹. Das bedeutete, daß sie in der Münze von Potosi in Peru geprägt worden waren. Potosi gehört heute zu Bolivien. Dann betrachtete ich das Datum auf einer der Münzen: 1627. Da hatte ich es.« »Was?« »Die Münze von Potosi begann erst kurz vor 1660 zu prägen. Es waren also astreine Fälschungen. Es stellte sich heraus, daß der Kerl Tausende von Dollar ausgegeben hatte, um in Europa Gold zu kaufen und die Münzen machen zu lassen.« »Und warum?« »Man tut es normalerweise, weil echtes spanisches Gold viel höher bezahlt wird als gewöhnliches Gold. Für eine guterhaltene königliche Dublone konnte man früher 5000 Dollar bekommen. Ich habe einen Barren, der nur 48 Feinunzen wiegt, was beim gegenwärtigen Preis von knapp 115 Dollar pro Feinunze gut 5500 Dollar ausmachen würde. Aber man hat mir schon 40 000 dafür geboten. Dieser Kerl hatte aber noch mehr vor. Er fälschte die Münzen, um die Leute davon zu überzeugen, daß er ein Wrack gefunden hätte, hinter dem er schon lange her wäre: die San Diego, die in den achtziger Jahren des 16. Jahrhunderts unterging. Er überzeugte ein paar Typen und brachte sie dazu, Geld in sein Unternehmen zu investieren. Er nannte es Dublonen GmbH. Ich glaube, er wurde wegen Betrugs angeklagt.« 125
»Kamen seine Münzen in den Handel?« »Das ist ja der Mist. Niemand kann sicher sein. Aber selbst wenn seine nicht weit kamen, gibt es bestimmt jemand anders, der noch bessere Münzen machen wird. Im Augenblick kann man eine Münze oder einen Barren nur dann verkaufen, wenn man Zertifikate von der Smithsonian Institution und allen maßgeblichen Museen der Welt hat. Ich habe auf Auktionen Münzen gesehen, die höchstens 15 Dollar gekostet haben. Man brauchte sie nur ein bißchen zu hart anzufassen, und das Datum war plattgedrückt. Auf den Philippinen fabriziert. Es ist so schlimm geworden, daß manche Sammler – ehrliche Leute mit echten Sachen – gezwungen sind, spanische Münzen an Zahnärzte zu verkaufen, die sie für Plomben einschmelzen. Drei- oder vierhundert Jahre alte Münzen, an denen der Atem der Geschichte hängt. Und sie wandern in den Zahn irgendei ner alten Frau.« »Was können wir mit denen machen, die wir finden?« Treece lachte. »Wenn wir welche finden«, sagte er. »Keine Ahnung. Da ist aber noch etwas, und zwar etwas Gutes: Es sieht ganz so aus, als ob dieses Schiff nicht nur Münzen geladen hätte, sondern auch Schmuckstücke, wenigstens ein paar. Schmuck ist bis jetzt noch nicht so oft gefälscht worden.« Er nahm das Medaillon aus seinem Schutzanzug und hielt es in das schwa che Licht, das aus dem Kompaßgehäuse drang. »Die Indios sagten: ›Gold ist der Gott der Spanier.‹ Es hat die Indios verrückt gemacht, es hat die Spanier verrückt gemacht, und es sieht so aus, als würde es die Menschen noch bis zum Jüngsten Tag verrückt machen.« Es war schon nach elf, als Treece das Tempo drosselte und die Corsair in die kleine, versteckte Bucht unter dem Leuchtturm von St. David’s einlaufen ließ. Im Schein des untergehenden Mondes konnte Sanders sehen, daß der baufällige Kai verlas sen dalag. Treeces andere beiden Boote, ein Dory und ein 126
offenes, breitgebautes kleines Motorboot, hingen schlaff an ihren Bojen. Sie machten die Leinen der Corsair fest, verstauten ihre Tauchutensilien unter Deck und gingen zum Ende des Kais. Die ersten paar Meter des Feldwegs, der den Hügel hinaufführ te, waren im Mondlicht noch recht gut zu sehen. Dann bog der Weg nach links und verschwand in dem dunklen Gebüsch. »Ideal für einen Hinterhalt«, sagte Sanders und hielt sich die Arme vors Gesicht, um die klatschenden Zweige abzuwehren. »Ja, für jemanden, der so dumm ist, es hier zu versuchen«, antwortete Treece. Sanders fühlte, wie Ärger in ihm hochstieg. Manchmal war Treeces felsenfester Glaube an seine Unverwundbarkeit einfach nicht zu ertragen. »Was ist eigentlich mit Ihnen los? Sind Sie vielleicht kugelsicher?« »Ich glaube nicht. Aber ich bin irgendwie tabu. Viele Leute meinen, wer sich mit mir anlegt, wird noch am selben Tag bei Petrus anklopfen. Es ist ein sehr nützlicher Aberglaube. Man sollte ihn pflegen.« Sie erreichten die Spitze der Anhöhe und gingen zu dem Lattenzaun um Treeces Haus. Die Hündin, deren Lebensgeister wieder erwacht waren, sprang über den Zaun und schnüffelte an der Eingangsstufe. »Und morgen?« fragte Sanders. »Ich werde den ganzen Tag in Papieren wühlen.« »Sollen wir Sie bei Kevin anrufen?« »Ja, wenn Sie wollen. Sie können auch herkommen, wenn Sie sehen möchten, wie aufregend es ist, zwei Anfangsbuch staben in einem Berg von staubigen Dokumenten zu suchen. Beinahe wie die berühmte Stecknadel im Heuhaufen.« Treece machte die Pforte auf und betrat den Vorgarten. »Jedenfalls hören wir voneinander.« Er ging zur Haustür. Sanders schloß die Vorhängekette an seinem Vorderrad auf und nahm sie ab. Wie alle Mofas, die an Touristen verliehen 127
wurden, hatte auch seines keinen automatischen Anlasser und keine Gänge und war auf eine Höchstgeschwindigkeit von dreißig Stundenkilometern gedrosselt. Er setzte sich drauf, brachte den Motor auf Touren und trat in die Pedale. Das Fahrzeug kam langsam in Bewegung, der Motor hustete zweimal heftig und war dann da. Er hörte, wie Treece »He!« rief. Er drehte das Gas weg und trat wieder in die Pedale. Er wendete scharf und fuhr zur Pforte zurück. »Sehen Sie sich das an.« Treece hielt etwas in der Hand. Es war eine Cocaflasche, in deren Hals man eine weiße Feder gesteckt hatte. »Was ist das?« »Zauberei. Um mir Angst einzujagen, nehme ich an – aber mir ist schleierhaft, wie sie darauf kommen, daß ihre VoodooTricks bei einem Mohikaner wirken sollen, der von presbyte rianischen Geistlichen in Schottland erzogen wurde.« Treece warf einen Blick über das dichte Gesträuch, das den Garten umgab. »Aber eines muß ich ihnen lassen. Sie haben mehr Mumm, als ich gedacht habe. Sonst hätten sie sich nicht hergewagt.« Er wiegte die Flasche in der Hand. Dann schleu derte er sie zornig in die Luft. Sie drehte sich, traf Mondstrah len und brach sie in glänzende grüne und gelbe Tupfen und fiel hinter der Steilwand ins Meer. Sanders’ Mofa hatte einen schwachen Scheinwerfer, der kaum ausreichte, um die Schlaglöcher der St. David’s Road auszu leuchten. Er fuhr langsam, verließ sich mehr auf seinen Spür sinn als auf seine Augen. Hinter einer kleinen Anhöhe machte die Straße eine scharfe Kurve nach rechts. Sanders bremste, als er die Anhöhe hinunterfuhr, und als er unten war, hatte das Mofa so wenig Fahrt, daß es schwankte. Die Straße stieg sofort wieder steil an. Er drehte das Gas auf und half mit den Beinen nach, bekam aber nicht genug Schwung. Das Mofa blieb fast 128
stehen. Sanders stieg ab und schob es den Hügel hinauf, wobei er von Zeit zu Zeit das Gas aufdrehte, damit er nicht die ganze Arbeit allein machen mußte. Als die Straße endlich wieder eben verlief, hielt Sanders inne, um zu Atem zu kommen. Er setzte sich auf den Sattel und ließ den Kopf sinken. Als er wieder aufblickte, sah er genau hinter seinem Lichtkegel einen schwarzen Schatten aufragen. Eine Stimme sagte: »Haben Sie über unser Angebot nachge dacht?« Sanders wußte nicht, was er antworten sollte. Er blickte sich um und hörte nur Zikaden, sah nur Dunkelheit. »Wir … wir haben noch nichts gefunden.« Die Stimme wiederholte: »Haben Sie über unser Angebot nachgedacht?« »Ja.« »Und sind Sie zu einer Entscheidung gekommen?« Der Akzent war irgendwie singend, wie bei den Farbigen auf Jamaika. Also nicht Cloche. »Nun …« Sanders stockte. »Noch …« »Ja oder nein?« »Noch nicht. Die Zeit war zu kurz. Ich …« »Sie müssen ja wissen, was Sie tun.« Der Schatten ging ins Gebüsch zurück. Die Blätter raschelten kurz, und die Straße lag wieder verlassen da. Sie müssen ja wissen, was Sie tun – was soll das, dachte Sanders. Wenn sie etwas mit mir vorhaben, warum haben sie es dann nicht gleich gemacht? Dann bekam er einen fürchterli chen Schreck: Gail.
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VII Er stürzte zweimal. Das erstemal riß er das Mofa in einer Kurve, wo er nur zehn Meter weit sehen konnte, zu unvermit telt herum. Das Hinterrad fuhr plötzlich auf losem Geröll und kam ins Rutschen; Sanders landete mit einem Ellbogen und einem Knie auf der Straße und schrammte sich beides auf. Das zweitemal stürzte er kurz vor der Abzweigung nach Orange Grove. Er hatte voll aufgedreht und fuhr, was das Mofa hergab, aber wegen des schwachen Scheinwerfers bemerkte er die scharfe Linkskurve nicht rechtzeitig und sauste in die Büsche. Dornen und Äste schlugen ihm ins Gesicht und zerrissen seine Kleidungsstücke. Als er das Mofa wieder aufrichtete und auf die Straße zurückschob, wurde er beinahe hysterisch vor Aufregung. Er drehte voll auf, und das Fahrzeug schoß die Straße hinunter. Er versuchte, sich zu beruhigen, argumentier te, wenn Gail etwas geschehen wäre, würde er auf jeden Fall zu spät da sein, um es noch zu verhindern – seit der Unterhaltung mit dem Mann auf der Straße war nämlich fast eine Stunde vergangen. Aber wenn sie verletzt war und er noch helfen konnte? Und wenn sie nicht mehr da war? Er bog in die Clubeinfahrt und sah durch die Sträucher, daß in ihrem Bungalow Licht brannte. Er ließ das Mofa einfach fallen, und als er zur Tür rannte, konnte er durch ein Fenster sehen, daß jemand im Schlafzimmer war. Er blieb stehen und fühlte das Blut heftig in seinen Schläfen pochen. Die Vorhänge waren zwar halb zugezogen, aber Sanders erkannte Gail, die auf dem Fußende des Doppelbetts saß, mit aufgelöstem Haar, das Nachthemd bis zum Schoß hochgezogen. Sie starrte wie 130
hypnotisiert auf einen Gegenstand am Boden. Er stieß die Tür auf und sah, wie sie entsetzt zurückzuckte und die Arme schützend vor der Brust verschränkte. Zu ihren Füßen stand ein Schuhkarton mit Seidenpapier. Als sie Sanders erblickte, stöhnte sie laut auf und begann zu schluchzen. Er betrachtete sie einen Augenblick lang, ratlos und außer Atem. Dann schloß er die Tür und ging zu ihr. Er setzte sich auf das Bett und legte die Arme um sie. Sie zitterte, und die heftigen Schluchzer pflanzten sich bis in ihren Rücken fort. »Gail«, sagte er. Sie schien unverletzt zu sein; jedenfalls war nichts zu sehen. Er nahm trotzdem an, daß man sie vergewal tigt hatte, und als er die Augen zumachte, sah er drei oder vier Neger vor sich – er dachte besonders an den jungen Schwarzen mit der Narbe, Slake. Ein Neger vergewaltigte sie, während sie von den anderen festgehalten wurde. Bei dem Bild wurde ihm übel. Er fühlte sich benommen und schwindlig. Er fragte sich, wie er sich fühlen würde, wenn er das nächstemal mit ihr schlief. Dann wurde die Übelkeit von Zorn abgelöst, und er überlegte krampfhaft, wie und wo er sich eine Pistole beschaf fen konnte. »Nimm’s nicht so schwer. Ist ja alles wieder gut. Erzähl, was passiert ist.« Sie nickte. »Ich bin wahrscheinlich …« begann sie und ver suchte, das konvulsivische Schluchzen unter Kontrolle zu bekommen. »Ich bin wahrscheinlich albern. So schlimm war es nämlich gar nicht.« »Was haben sie gemacht?« Sie sah ihn an und begriff, woran er dachte. Sie lächelte schwach. »Nein, sie haben mich nicht vergewaltigt.« Sanders war erleichtert, spürte aber gleichzeitig Bedauern darüber, daß er das große Rachemotiv nicht mehr hatte. Aber umbringen wollte er die Schurken immer noch. »Was war es dann?« »Wie spät ist es?« fragte sie. 131
»Viertel nach zwölf.« »Ich bin um elf ins Bett gegangen. Ich drehte den Schlüssel um und legte die Kette vor. Ich muß sofort eingeschlafen sein. Ich weiß nicht, wie lange ich geschlafen hatte, aber ich hörte plötzlich, wie es klopfte. Ich dachte, du seist es. Ich rief deinen Namen, aber eine Stimme sagte, nein, du seist bei einem Motorradunfall verletzt worden und er sei ein Polizist, der mich zum Krankenhaus bringen solle. Ich machte auf. Da standen sie, zu dritt.« »Hast du einen von ihnen erkannt?« »Alle. Sie waren vorgestern bei Cloche. Der eine war vorher unser Kellner gewesen, der mit der großen Narbe.« »Slake«, sagte Sanders. »Er war der, der mich zurückgeschubst hat. Er fuhr mir mit der Hand ins Gesicht, genau hier« – sie legte eine Hand auf den Mund –, »und stieß mich aufs Bett. Er sagte, wenn ich auch nur einen Ton von mir gäbe, würde er mir die Kehle durchschnei den. Ich glaube, er hätte es getan.« »Ich glaube es auch.« »Er hielt mir die Hand an die Kehle und fragte, ob wir mit machen wollten. Ich sagte ihm … ich glaube, ich war ziemlich ordinär …« »Wieso?« »Aber ich hatte solche Angst, und ich war sicher, daß sie mich sowieso vergewaltigen würden. Also sagte ich: ›Fickt euch doch selbst, ihr Schweine.‹ Aber er lachte nur und sagte in diesem blöden Jargon, den sie haben: ›Sie sehr vorsichtig, Missy, oder Sie müssen wirklich Beine breit machen.‹ Dann fragte er mich noch einmal, was wir machen wollten, und ich antwortete sinngemäß, er könnte seinem Cloche erzählen, daß wir es selbst für zehn Millionen Dollar nicht tun würden.« »Du hättest vielleicht lügen sollen.« »Die Genugtuung wollte ich ihnen nicht verschaffen.« »Und dann?« 132
»Einer von ihnen sagte: ›Worauf warten wir noch? Ran!‹« Sie schauderte zusammen, und er hielt ihre Schultern fester. »›Ran.‹ Mein Gott, was für ein schreckliches Wort. Ich mußte an die Kriminalromane denken, wo es immer heißt: ›Erledigen wir ihn.‹ Slake hielt mich mit einer Hand an der Kehle fest und zog mit der anderen mein Nachthemd hoch. Er drückte so fest zu, daß ich nicht nach unten sehen konnte. Alles, was ich sehen konnte, war die Zimmerdecke. Ich fühlte, wie mir zwei Hände den Schlüpfer vom Leib streiften.« Sie hielt inne und begann zu weinen. Sanders sah den Schlüpfer in einer Ecke liegen. Der Stoff war um das Gummiband gewickelt; sie hatten sie förm lich abgeschält. »Aber du hast doch gesagt, sie hätten dich nicht …« Sie legte eine Hand auf sein Knie und schüttelte schniefend und schluckend den Kopf. »Das haben sie auch nicht. Einer von ihnen packte meine Beine und spreizte sie. So ein entsetz liches Gefühl habe ich in meinem ganzen Leben noch nie gehabt … hilflos, ausgeliefert, offen. Es war furchtbar.« »Aber sie haben dich nicht verletzt?« »Nein. Als nächstes hatte ich das Gefühl, ein Finger fahre an mir entlang … da unten, vom Bauchnabel abwärts. Aber es war kein Finger. Es war viel weicher, etwas Haariges. Ich weiß immer noch nicht genau, was es war. Vermutlich ein Pinsel.« »Ein Pinsel?« »Sieh nur.« Gail zog das Nachthemd bis zur Taille hoch und legte sich aufs Bett zurück. Sanders fühlte Entsetzen in sich aufsteigen und mußte sich zwingen hinzuschauen. Er erinnerte sich an ein Erlebnis, das er vor Jahren gehabt hatte. Ein befreundeter Arzt hatte ihn eingeladen, bei einer Blinddarmoperation zuzusehen. Sanders hatte eine Chirurgenmaske getragen, und die Patientin, ein junges Mädchen, hatte ihn für den Arzt gehalten. Sie hatte mit entblößter und rasierter Geschlechtspartie dagelegen und ihn angefleht, den Schnitt so klein wie möglich zu machen, damit 133
die Narbe nicht über dem Bikini zu sehen sein würde. Sanders war irgendwie fasziniert und (worüber er sich schämte) ein bißchen erregt gewesen. Dann, als der erste Schnitt gemacht wurde, hatte ihn das Ganze abgestoßen. Gail bemerkte sein Unbehagen, und sie sagte: »Es ist nicht weiter schlimm. Schau nur.« Auf ihrem Unterleib sah man sechs breite, hingeschmierte Streifen, annähernd gerade Linien von der Scham zum Nabel, von einer Hüfte zur anderen, von der Scham zu beiden Hüften und von den Hüften zum Nabel. Das rote Gebilde erinnerte an einen Papierdrachen. »Was ist es?« fragte Sanders. »Farbe?« »Nein. Ich glaube, es ist Blut.« »Aber doch nicht deines?« »Nein. Von irgendeinem Tier.« »Wie kommst du darauf?« »Ich habe es geschmeckt. Es schmeckt salzig, wie Blut.« Sie setzte sich wieder auf und ließ das Nachthemd los. »Haben sie dabei etwas gesagt?« »Nein, nichts. Ich auch nicht. Ich hatte solche Angst und … und solange sie mich nicht verletzten, wagte ich nichts zu sagen. Es dauerte kaum eine Minute. Dann sagte Slake: ›Jetzt überlegen Sie es sich vielleicht noch mal.‹ Er ließ mich los, aber ich rührte mich nicht. Dann legte mir einer von den anderen das Ding auf den Bauch.« Sie zeigte auf den Schuh karton. »Er sagte, es sei ein Geschenk von Cloche.« Sanders bückte sich und faltete das Seidenpapier in dem Schuhkarton auseinander. »Mein Gott«, sagte er. »Ich will es nie wieder sehen.« Gail stand auf und ging ins Badezimmer. Sanders nahm den Schuhkarton hoch und stellte ihn auf seine Knie. Er holte die Puppe heraus. Es war eine primitive Arbeit – Stoff um eine Einlage aus Stroh gewickelt –, aber die Bedeutung war klar: Die Puppe hatte Menschenhaare, die gleiche Farbe, wie Gail sie hatte. Die Blinddarmnarbe war 134
rechts von der silbernen Ziermünze eingestickt, die den Nabel darstellen sollte. Und auf dem Unterleib waren sechs rote Streifen, in der gleichen Anordnung wie bei Gail. Aber die Streifen der Puppe waren mit einem Messer geschlitzt worden, und rote und blaue Wattebüschel quollen daraus hervor und hingen bis auf die Beine. Es war ein grotesker Anblick. Sanders starrte die Puppe an. Seine Finger kamen ihm eiskalt vor; sein Mund fühlte sich trocken und pelzig an. Er hatte noch nie eine derartige Angst gespürt. Mit Drohungen, die gegen ihn selbst gerichtet waren, meinte er fertig werden zu können, aber dies hier lag außerhalb seiner Kontrolle – genau das, er war ganz sicher, was Cloche beabsichtigt hatte. Er hörte im Bade zimmer Wasser laufen. »Es ist Blut«, rief Gail. »Es geht ganz leicht ab.« »Glaubst du, sie würden es wirklich …« begann Sanders. »Wie bitte?« »Nichts.« Sanders schleuderte die Puppe quer durchs Zim mer. Er ging zum Telefon, und als die Hotelvermittlung sich meldete, sagte er: »Geben Sie mir bitte die PanAm-Filiale.« Gail kam aus dem Badezimmer. Ihr Haar war gekämmt, und sie hatte ein Glas Whisky in der Hand. »Das müßte eigentlich helfen«, sagte sie. »Es ist …« Sie verstummte, als sie Sanders am Telefon sah. »Oh, zum …« sagte Sanders in die Muschel. »Entschuldigen Sie. Vielen Dank.« Er legte auf. »Was wolltest du?« »So schnell wie möglich hier weg. Aber die Fluggesellschaf ten machen erst um neun Uhr morgens auf.« »Zurück nach New York?« »Ja, verdammt noch mal.« »Aber warum?« »Warum?« Sanders zeigte auf die Puppe. »Ist das nicht Grund genug?« »Mir geht’s schon wieder ganz gut.« Sie sah, daß die Hand 135
mit dem Scotch zitterte. »Mir geht’s gleich wieder gut.« Sanders antwortete nicht sofort. »Ich glaube nicht, daß sie Spaß machen. Und du glaubst es auch nicht.« »Nein.« »Dann brauchen wir nicht länger darüber zu reden. Es ist das Risiko nicht wert, daß man dir wirklich den Bauch aufschlitzt. Selbst wenn die Wahrscheinlichkeit noch so gering ist. Treece hat es schon gesagt: Wir sind im Urlaub, es ist unsere Hoch zeitsreise, um Himmels willen. Wir sind doch nicht herge kommen, um uns von einem Wahnsinnigen ermorden zu lassen!« »Du machst dir keine Sorgen um uns, nicht wahr? Du hast Angst um mich.« »Nun, nicht …« »Du denkst, auf dich selbst kannst du schon aufpassen.« Da er nicht antwortete, fuhr sie fort: »Einen Augenblick. Um mich brauchst du keine Angst zu haben. Wichtig ist, daß wir Cloche daran hindern, das Rauschgift in die Hand zu bekom men. Er wird es benutzen, um Menschenleben zu ruinieren, um Unschuldige zu töten; es ist ihm gleichgültig. Mir aber nicht. Ich werde das tun, was ich schon die ganze Zeit hätte tun sollen: zur Regierung gehen. Ich muß es einfach.« »Was meinst du damit – du mußt es einfach? Treece hat dir doch gesagt, daß es nichts bringen wird.« »Vielleicht nicht, aber ich muß es wenigstens versuchen.« Ihre Hand zitterte immer noch, aber auf ihrem Gesicht lag der Ausdruck unabänderlicher, fast grimmiger Entschlossenheit. »Sieh mal, wenn wir abreisen, kann er nicht an das Rausch gift herankommen.« »Er wird auch ohne uns Mittel und Wege finden«, sagte sie. »In Wirklichkeit möchtest du nur, daß ich abreise, damit du keine Angst mehr um mich zu haben brauchst.« »Nein, das …« »Es stimmt, und du weißt es. Nun, zum Teufel mit dir. Dich 136
haben sie nicht aufs Bett geworfen; deinen Bauch haben sie nicht beschmiert. Ich bleibe, zumindest so lange, bis ich mit der Regierung geredet habe.« Sanders sah weg. Was sie sagte, war wahr, hundertprozentig wahr, und es gab nichts, was er dagegen einwenden konnte. Sie ging zu ihm und berührte sein Gesicht. »Es wird nicht lange dauern, höchstens ein paar Tage. Wir können einen Flug buchen, der in drei Tagen geht. So lange kann ich selbst auf mich aufpassen. Oder« – sie lächelte – »wir können auf mich aufpassen.« Er umarmte sie und küßte sie auf die Stirn. »Was habt ihr heute abend gefunden?« fragte sie, den Kopf an seine Brust gelegt. »Ampullen. Kistenweise. Sie sind da, das steht fest.« »Auch noch spanische Sachen?« »Eine Silbermünze und ein goldenes Medaillon.« »Was sagt Treece dazu?« Sanders berichtete es ihr, und während er sprach, kehrte die Begeisterung zurück, die er auf dem Boot gespürt hatte. Sie beobachtete ihn, sah, wie aufgeregt ihn die Aussicht auf den Goldschatz machte und wie stolz er auf seine neuen Kenntnisse von spanischen Schiffen war, und hätte beinahe gelächelt. Aber das Bild von der Puppe schob sich immer wieder dazwischen. Treece sah müde aus; seine Augen waren gerötet, und die Haut darunter war grau und geschwollen. Er wirkte abge kämpft. Er führte die Sanders in die Küche, wo die Hündin zusammengerollt am Ofen lag und dann und wann ihre ver bundene Flanke leckte. Auf dem Küchentisch lag ein Stapel Papiere – alt und vergilbt oder Photokopien. Gail erzählte Treece von dem Besuch der Schwarzen und zeigte ihm die Puppe von Cloche. »Mit diesem Hokuspokus will er Sie verhexen«, sagte Tree ce. »Ihnen zeigen, wie mächtig er ist. Nicht, daß er zögern 137
würde, Sie umzubringen. Aber im Augenblick würde er damit nichts erreichen. Es würde nur einen Riesenaufruhr geben, und dann könnte er endgültig nicht mehr mit Ihrer Hilfe rechnen. Aber wenn er zu dem Schluß kommt, daß Sie wirklich nicht mitmachen werden, dann müssen Sie auf der Hut sein. Dann wird er Ihnen mit der linken Hand die Kehle durchschneiden, während er Ihnen die rechte noch zur Begrüßung hinhält.« »Wir haben beschlossen abzureisen«, sagte Sanders. Gail fügte hinzu: »In drei Tagen, wenn ich …« »Scheint ganz vernünftig«, unterbrach Treece. »Ist nicht sehr wahrscheinlich, daß er Sie in New York behelligt.« »Nicht sehr wahrscheinlich?« sagte Sanders. »Ich dachte, es sei nur Geschwätz, er wollte uns nur Angst einjagen, als er sagte, wir seien nirgends vor ihm sicher.« »Er wollte Ihnen auch Angst einjagen, aber Geschwätz war es nicht.« »Sie meinen, er würde uns nach New York folgen?« »Hätte er gar nicht nötig. Ein Anruf würde genügen. Er ist eine rachsüchtige Schlange und hat Freunde an den unglaub lichsten Stellen. Aber es ist keine Frage – dort wären Sie sicherer.« Sanders wurde plötzlich ganz schwindlig. Er hatte noch nie daran gedacht, daß er verfolgt oder gejagt werden könnte. Wie es wohl wäre, in New York zu leben und sich bei jedem Verlassen der Wohnung zu fragen, ob jemand in einem Hauseingang darauf lauerte, ihn und Gail umzubringen; jedesmal, wenn er Gail allein ließ, insgeheim einkalkulieren zu müssen, er würde sie bei der Rückkehr mit aufgeschlitztem Bauch wiederfinden? Er sagte wütend: »Aber was haben wir ihm um Himmels willen getan?« »Ich fürchte, das spielt dann kaum noch eine Rolle«, antwor tete Treece. »Tut mir leid. Ich hätte keine dunklen Andeutun gen machen sollen. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird er Sie in Ruhe lassen, wenn Sie erst mal von der Insel weg sind.« 138
Gail sagte: »Mir scheint, wir sind hier sicherer – wenigstens solange er denkt, wir würden ihm helfen.« Sie wandte sich an Sanders. »Du hast recht gehabt. Ich hätte lügen sollen.« »Klingt fast, als seien Sie sich noch nicht ganz schlüssig«, sagte Treece. »Bevor Sie sich endgültig entscheiden, möchten Sie vielleicht noch erfahren, was ich gestern nacht oder viel mehr heute morgen herausgefunden habe. Ich glaube, ich weiß, welches Schiff unter der Goliath liegt – wohlgemerkt, ich glaube es zu wissen.« »Sie haben E. F. gefunden«, sagte Sanders. »Nein.« Treece zeigte auf den Papierstapel. »Das hier ist nur der Anfang, aber es hat mir wichtige Hinweise geliefert. Sie erinnern sich, daß wir über die Flotte von 1715 gesprochen haben?« »Sicher.« »Es kann etwas mit ihr zu tun haben. Hören Sie zu.« Er nahm ein Blatt Papier hoch. »Die Flotte von 1715 wurde von einem Admiral namens Don Juan Esteban de Ubilla befehligt. Er hatte eigentlich schon Ende 1714 nach Spanien aufbrechen wollen, aber es gab wie üblich Verzögerungen. Schiffe aus dem Fernen Osten trafen verspätet ein, Manila-Galeonen, die Chiang HsiPorzellan, Elfenbein, Jade, Seide, Gewürze und ähnliche Kostbarkeiten geladen hatten. Er wartete über ein Jahr in Vera Cruz darauf, daß die Fracht ankam, durch den Dschungel geschleppt und auf seine Schiffe geladen wurde. Dann segelte er nach Havanna, wo sich die Flotte für die letzten Vorberei tungen sammelte. In Havanna gab es weitere Verzögerungen: Schiffe mußten repariert, andere Güter mußten geladen wer den, man mußte die Ladepapiere ausfertigen. Das Frühjahr 1715 verging, der Frühling war vorbei, und dann wurde es Mitte Juli. Ubilla war bestimmt außer sich vor Wut.« »Warum?« fragte Gail. »Hurrikane. Es gibt in der Karibik ein geflügeltes Wort: ›Im Juni noch nicht, im Juli nur selten, aber dann im August oder 139
spätestens im September, und erst im Oktober ist alles vorbei.‹ Ein Hurrikan war das Schlimmste, was einer solchen Flotte zustoßen konnte. Die Schiffe waren saumäßig. Sie konnten nicht hoch an den Wind gehen, nur schwerfällig kreuzen und waren bei Stürmen praktisch manövrierunfähig. Sie waren unweigerlich überladen, von Würmern angefressen und angefault. Sie waren nie richtig dicht, so daß die Besatzung Tag und Nacht Wasser schöpfen mußte. Aber wie dem auch sei, während Ubilla wartete, wurde ein Mann namens Daré bei ihm vorstellig, der Kapitän eines Schiffes, das früher französisch gewesen war, jetzt aber unter spanischer Flagge fuhr und einen spanischen Namen hatte – El Grifón. Daré wollte unbedingt mit Ubillas Flotte segeln, und zwar aus einem verdammt guten Grund: Sein Manifest ver zeichnete über 50 000 Dollar in Gold und Silber, und wenn er allein fuhr, würde er höchstens bis zur Floridastraße kommen. Spätestens dann würden ihn die Piraten aus Jamaika erwischen. Sie hatten ihre Spitzel überall und würden auf Tag und Stunde genau erfahren, wann er Havanna verließ. Aber Ubilla lehnte ab. Er war sowieso schon außer sich über die Verzögerungen und die drohenden Stürme und wollte sich keinesfalls noch den Geleitschutz für ein zusätzliches Schiff aufladen; zehn Schiffe waren mehr als genug. Daré blieb hartnäckig; er deutete an, er habe noch etwas Besonderes geladen, etwas, das im Verzeich nis nicht erwähnt werde. Ubilla ließ sich nicht breitschlagen.« »Und das steht alles da drin?« fragte Gail und zeigte auf die Papiere. »Das meiste. Damals führten alle Leute Tagebuch, und spa nische Bürokraten waren unübertrefflich, wenn es galt, auch die kleinsten Einzelheiten aus ihrem Leben festzuhalten; sie taten es gewöhnlich aus Selbstschutz, um später etwas gegen eventuelle Anschuldigungen in der Hand zu haben. Normaler weise wäre Ubillas Wort Gesetz gewesen. Er war für die Flotte verantwortlich, und er konnte entscheiden, wer mit ihm segelte 140
und wer nicht. Offensichtlich war mit der Grifón jedoch ein Geheimnis verbunden, das Daré ihm nicht anvertrauen wollte. Er wandte sich über Ubillas Kopf hinweg an den höchsten Vertreter des Königs in Havanna, und kurz danach bekam Ubilla den Befehl, El Grifón Geleitschutz zu geben. Die Flotte hatte jetzt also elf Schiffe.« Sanders unterbrach: »Gestern abend sagten Sie aber, die Flotte hätte zehn Schiffe gehabt, und die seien alle vor Florida gesunken.« »Das dachte ich auch. Das dachten alle.« Treece hielt ein Blatt Papier hoch. »Das ist Ubillas Manifest. Es verzeichnet zehn Schiffe mit Fracht. Die Sache muß sich folgendermaßen zugetragen haben: Ubilla hatte seinen Papierkrieg beendet und brannte darauf, in See zu stechen. Wenn er die Vorschriften buchstabengetreu befolgt und sein Ladungsverzeichnis revi diert hätte, um das elfte Schiff – mit dem er ohnehin nichts zu tun haben wollte – ebenfalls zu registrieren, hätten ihn die verdammten Bürokraten noch einen Monat länger in Havanna festgehalten. Sie bestanden nämlich darauf, sämtliche Schiffs ladungen bis auf die allerletzte Kleinigkeit zu registrieren – das heißt, sofern man sie nicht bestochen hatte, irgendwelche Kleinigkeiten zu übersehen. Und wenn sie das Verzeichnis noch einmal geprüft hätten, wäre die Abreise bis zum Höhe punkt der Hurrikanzeit verzögert worden.« Gail fragte: »Wie haben Sie die Geschichte mit der Grifón herausbekommen?« Treece blätterte in dem Dokumentenstapel, bis er ein zerknit tertes, vergilbtes, an den Rändern zerfranstes Stück Papier gefunden hatte. Er schob es über den Tisch zu ihr hin. »Aber Sie brauchen gar nicht erst zu versuchen, es zu lesen. Es ist altes Spanisch, und der Bursche, der es schrieb, hatte noch nie etwas von Orthographie gehört. In der viert- oder fünftletzten Zeile steht das Wort once – elf. Ich muß es schon hundertmal gelesen haben, aber ich habe nie richtig geschaltet. Der Verfas 141
ser berichtet, daß die Flotte aus elf Schiffen bestand!« Er hielt den Papierstapel mit vier Fingern fest und fuhr mit dem Daumen daran aufwärts, so daß die einzelnen Blätter sich blitzschnell hochbogen und wieder zurückfielen. »Als ich diesen Hinweis hatte, war es ganz leicht zu überprüfen. Der Beauftragte des Königs führte ein detailliertes Tagebuch, und er erwähnte, daß El Grifón mit Ubilla segelte. Ich brauchte die halbe Nacht, um seine Aufzeichnungen zu lesen. Er war ein übervorsichtiger Mann und badete förmlich in Selbstrechtferti gungen, und dazu kommt noch der damals übliche Schwulst. Na ja. Als Ubilla die Order bekam, Daré mitzunehmen, befahl er ihm offensichtlich, in wenigen Stunden Segel zu setzen, damit die Bürokraten nichts erfuhren – sie hätten ihn sonst gezwungen, bis zur Revision der Ladepapiere zu warten.« Treece hustete, stand auf und schenkte, ohne zu fragen, drei Gläser zur Hälfte mit Rum voll. »Die Flotte mit den elf Schiffen verließ Havanna am 24. Juli 1715, einem Mittwoch«, sagte er und nahm wieder Platz. »Mit insgesamt 2000 Mann und – wenigstens offiziell – Gold und Silber im Wert von 14 Millionen Dollar. Der wahre Wert betrug wahrscheinlich mehr als 30 Millionen. Das Wetter blieb fünf Tage lang ausgezeichnet. Man sollte meinen, sie hätte bis dahin schon offenes Meer erreicht, aber die alten Kisten machten nur sieben Knoten. Sie waren also kaum bis Florida gekommen, irgendwo auf der Höhe zwischen dem heutigen Sebastian und Vero Beach. Inzwischen hatte sich im Süden ein Hurrikan zusammengebraut, der ihnen immer näher kam, was sie natürlich nicht wissen konnten. Der Hurrikan holte sie am sechsten Tag ein, also in der Nacht zum Dienstag. Er schlug mit voller Kraft zu: haushohe Wellen und Sturzseen, Böen, die mit einer Geschwindigkeit von 100 Meilen pro Stunde aus dem Osten peitschten und sie nach Westen, zu den Riffen, trieben. Ubilla ließ den Kurs alle paar Minuten ändern, und die meisten seiner Schiffe versuchten, 142
ihm zu folgen, aber es war aussichtslos. Daré muß der einzige gewesen sein, der die Anweisungen bewußt mißachtete. Vielleicht hielt er nicht viel von Ubilla; vielleicht war er einfach ein besserer Seemann. Er hielt sein Schiff jedenfalls einen halben Strich, also fast sechs Grad, weiter nach Nord osten als die anderen Kapitäne, und damit schaffte er es.« »Und fuhr allein weiter?« fragte Sanders. »Nein. Er fuhr zurück nach Havanna. Er hatte immer noch Angst vor Piraten. Oder sein Schiff war so ramponiert, daß er es nicht wagte, den freien Ozean zu überqueren, ohne es vorher instand setzen zu lassen. Und jetzt«, fuhr Treece mit einem spitzbübischen Lächeln fort, »wird es spannend. Es gibt keinerlei Aufzeichnungen darüber, was mit Daré und El Grifón geschah, nachdem er Havanna erreicht hatte. Er löste sich buchstäblich in Luft auf. Sein Schiff ebenfalls.« »Vielleicht hat er versucht, es allein zu schaffen«, sagte Sanders. »Später.« »Vielleicht. Oder er rührte sich eine Weile nicht, änderte den Namen seines Schiffes und schloß sich einer anderen Flotte an.« »Warum sollte er das getan haben?« fragte Gail. »Dafür gibt es einige Gründe. Aber jetzt muß ich Sie warnen: Was ich Ihnen bisher erzählt habe, ist die historische Wahrheit, soweit ich sie aus den Dokumenten herauslesen konnte. Von nun an ist es reine Spekulation.« Er trank einen Schluck. »Wir wissen, daß Daré einen viel größeren Schatz nach Spanien bringen wollte, als in seinen Ladepapieren stand, denn sonst wäre Ubilla niemals gezwungen worden, ihn mitzunehmen. Man kann mit einiger Sicherheit annehmen, daß nur wenige Leute wußten, was Daré an Bord hatte – darunter Daré selbst und der Mann des Königs in Havanna. Gesetzt den Fall, Daré fuhr nach Havanna zurück und erzählte den Beamten, die Flotte sei untergegangen. Gesetzt den Fall, er ging dann zu dem Mann des Königs und machte ein kleines Geschäft mit ihm. 143
Sagen wir, der Mann des Königs meldete den offiziellen Stellen, die Grifón sei ebenfalls untergegangen, und bekam dafür einen Teil der Schätze, die sie beförderte. Anschließend ließ Daré das Schiff neu streichen und taufte es um und konnte dann machen, was er wollte. Er konnte alles behalten, was an Bord war, weil jedermann glaubte, es läge auf dem Grund des Meeres.« Sanders sagte: »Das sind ziemlich viel Vermutungen auf einmal.« »Ja«, räumte Treece ein. »Ich habe Ihnen ja gesagt, daß ich im Augenblick noch nicht sicher bin. Das einzige gute Indiz, das wir haben, ist die Zeit. Das Prägedatum auf den Münzen paßt zum Beispiel genau. Die meisten anderen Indizien sind negativer Art: Niemand hörte jemals wieder etwas von Daré oder der Grifón; kein anderes Schiff wurde hier damals als vermißt gemeldet. Und ich kann niemanden finden, dessen Namen mit den Buchstaben E. F. beginnt – was bedeutet, daß die Sachen mit diesen Initialen zu einer geheimen Fracht gehörten. Wenigstens zu einer Fracht, die nicht registriert war.« »Aber die Bermudas sind nur eine winzige Inselgruppe«, sagte Sanders. »El Grifón könnte an vielen Stellen gesunken sein, vor Florida, bei den Bahamas …« »Möglich, aber nicht wahrscheinlich. In tiefem Fahrwasser vielleicht, aber da gingen selten Schiffe unter. Wir wissen, daß Daré ein verdammt guter Seemann war. Er wäre nicht noch einmal in einer stürmischen Jahreszeit an Florida vorbeigese gelt. Und der Canal Viejo de Bahama, der alte Bahamakanal, wurde schon längst nicht mehr benutzt, weil er zu gefährlich war. Wenn Daré untergegangen ist, dann hier. Aber ich sage Ihnen, es ist nur ein Wenn.« »Warum ist er überhaupt hier vorbeigekommen?« »Wenn Sie sich ein bißchen informieren«, antwortete Treece, »werden Sie begreifen, daß ihm gar nichts anderes übrigblieb. 144
Die Route nach Amerika verlief südlich, an der spanischen Küste entlang, dann zu den Azoren und dann auf den östlichen Handelswegen über den Atlantik. Die Route nach Europa verlief zuerst nördlich an der Küste der Vereinigten Staaten entlang und machte dann einen Bogen nach Osten. Man mußte sich beim Navigieren größtenteils nach visuellen Anhaltspunk ten richten, weil man keine guten Instrumente zur Bestimmung der Längengrade hatte. Also benutzte man die Bermudas gewissermaßen als Wegweiser oder Markstein, hinter dem die Route nach Osten abbog. Bei schlechtem Wetter sah man sie aber erst, wenn man praktisch schon aufgelaufen war. Mein Gott, vor diesen Inseln liegen über dreihundert Wracks! Das kann schließlich kein Zufall sein.« »Gibt es eine Chance, das Schiff zu heben?« fragte Gail. »Ich meine, wenn es wirklich die Grifón ist.« »Das Wrack heben? Völlig unmöglich. Es ist längst verrottet. Man kann höchstens versuchen, das zu heben, was sie geladen hatte.« »Aber niemand weiß, was es war.« »Stimmt, aber wir haben schon ein paar gute Hinweise. Ir gend etwas muß dort unten liegen.« Treece sah ganz aufgeregt und glücklich aus. »Sie sind übrigens die rechtmäßigen Finder, weil Sie das Schiff zuerst entdeckt haben. Sie wußten es zwar nicht, und Sie würden es immer noch nicht wissen, wenn ich es Ihnen nicht gesagt hätte, aber das ändert nichts an den Tatsa chen. Ich möchte nur nicht, daß Sie jetzt abreisen und sich dann totärgern, wenn ich etwas raufhole. Was dort liegt, gehört zur Hälfte Ihnen, ganz gleich, was es ist – ein paar alte Töpfe oder ein Schatz.« Sanders wollte ihm danken, aber Gail war schneller. »Eines müssen Sie wissen«, sagte sie. »Ich gehe zu den Be hörden, um die Rauschgiftsache zu melden.« »Um Gottes willen!« Treece schlug mit der Hand auf den Tisch. »So dumm kann man doch nicht sein! Die Behörden 145
werden nicht das geringste unternehmen.« Sanders staunte über den heftigen Ausbruch und wußte nicht, was er davon halten sollte. War Treece wütend geworden, weil Gail so unhöflich gewesen war, das Thema zu wechseln, weil sie ihn aus seiner guten Laune gerissen hatte, oder verachtete er die Regierung tatsächlich so sehr? Treece sah Gail finster an, und Sanders hatte den Wunsch, ihr zu helfen, wußte aber nicht, wie. Sie schien allerdings keine Hilfe zu brauchen. Sie erwiderte den Blick von Treece und antwortete gelassen: »Mr. Treece, es tut mir aufrichtig Leid; ich hatte keineswegs die Absicht, Sie zu verstimmen. Aber wir sind keine Bürger der Bermudas. Wir sind Touristen, Gäste Ihrer Regierung. Ich weiß nicht, was Sie gegen die Regierung haben, aber ich weiß, daß wir – jedenfalls David und ich – das Rauschgift melden müssen.« »Mädchen, ich kann die Drogen raufholen, und ich habe es auch felsenfest vor. Ich möchte ebensowenig wie Sie, daß Cloche sie in die Hände bekommt. Ich habe nichts für das Zeug übrig. Ich habe selbst erlebt, was es anrichten kann.« Gails Gesichtsausdruck änderte sich nicht. Treece stand auf. »Dann melden Sie es! Durch Schaden wird man klug.« Sanders spürte, daß Treece allein sein wollte. »Was werden Sie tun?« fragte er. »Was ich Ihnen gesagt habe und sonst nichts. Ich lasse das spanische Schiff registrieren.« »Wie wollen Sie es nennen?« »Spanisches Schiff. Mehr brauchen die Idioten nicht zu wissen.« Sie bestellten das Mittagessen in den Bungalow. Während sie darauf warteten, studierte Gail das Telefonbuch der Bermudas. Die verschiedenen Ministerien und Regierungsbehörden füllten fast eine Spalte. »Ich weiß noch nicht einmal genau, was ich 146
suche«, sagte sie. »So etwas wie ein Rauschgiftdezernat scheint es hier nicht zu geben.« »Für Rauschgift ist sicher die Polizei zuständig«, sagte San ders. »Und gerade dahin wollen wir ja nicht gehen.« Er schwieg eine Weile. Dann sagte er: »Ich kann mir einfach keinen Vers darauf machen. Was zum Teufel hat Treece bloß gegen die Regierung?« »Keine Ahnung. Aber irgend etwas ist es. Vielleicht ist es das, was der Portier gesagt hat – die Leute von St. David’s Island meinen, sie hätten nichts mit den Bermudas zu schaf fen.« »Nein, es muß mehr sein. Er war richtig außer sich.« »Vielleicht beim Zoll?« »Wie bitte?« »Soll ich das Zollamt einschalten?« »Niemand versucht, das Rauschgift einzuschmuggeln.« »Nein, aber Cloche will es hinausschmuggeln.« Sie bat die Hotelvermittlung, sie mit dem Zollamt zu verbinden. Als eine Stimme sich meldete, sagte sie: »Ich würde gern einen Termin mit einem leitenden Beamten vereinbaren, bitte.« Die Stimme sagte: »Darf ich fragen, worum es geht?« »Es geht …« Gail hätte sich ohrfeigen können, weil sie sich keine passende Antwort zurechtgelegt hatte. »Es geht um … Schmuggelei.« »Aha. Wird etwas geschmuggelt?« »Ja. Das heißt, eigentlich nicht. Jedenfalls noch nicht. Aber es soll geschmuggelt werden.« Die Stimme wurde skeptisch. »Worum handelt es sich? Und wann soll es geschmuggelt werden?« »Das möchte ich lieber nicht am Telefon sagen. Kann ich nicht mit jemandem sprechen?« »Darf ich bitte fragen, wer am Apparat ist?« »Ja.« Gail wollte gerade ihren Namen nennen, als ihr wieder einfiel, was Treece über Cloche gesagt hatte – er hätte Freunde 147
an den unglaublichsten Stellen. Sie überlegte blitzschnell, ob die Stimme einer Farbigen gehörte. »Ich möchte … ich möchte es am Telefon lieber nicht sagen.« Nun war die Stimme ungeduldig. »Wie Sie wollen, Madam. Darf ich dann fragen, ob Sie eine Bürgerin der Bermudas sind?« »Nein.« »Dann schlage ich Ihnen vor, sich mit dem Fremdenver kehrsamt in Verbindung zu setzen.« Ein Klicken ertönte, und die Leitung war tot. »Das war ein großer Erfolg«, sagte Gail und fuhr mit dem Zeigefinger die Spalte mit den Regierungsbehörden hinunter. »Ich hätte Treece fragen sollen, an wen ich mich am besten wende.« »Ich glaube nicht, daß er es dir gesagt hätte«, antwortete Sanders. Sie rief bei zwei anderen Behörden an, wurde aber beide Male zuletzt wieder an das Fremdenverkehrsamt verwiesen, weil sie sich weigerte, ihren Namen zu nennen. Schließlich rief sie beim Fremdenverkehrsamt an und verlangte den Direktor. »Darf ich fragen, worum es sich handelt?« fragte eine weibli che Stimme. »Ja. Mein Mann und ich sind auf Hochzeitsreise, und wir hatten ein sehr unangenehmes Erlebnis. Wir möchten mit dem Direktor darüber reden.« »Hat es etwas mit Geld zu tun?« »Wie bitte?« »Geld. Ist Ihnen vielleicht das Geld ausgegangen?« »Natürlich nicht. Warum?« »Oh. Gut. Entschuldigen Sie, aber ich habe Anweisung, danach zu fragen. Solche Fälle kommen vor.« »Nein, das ist es nicht. Ganz und gar nicht.« »Einen Augenblick bitte.« Die Frau unterbrach die Verbin dung einen Moment, kam dann wieder in die Leitung und 148
sagte: »Würde es Ihnen um vier Uhr recht sein?« »Sehr gut.« »Würden Sie mir bitte Ihren Namen nennen?« »Ich möchte ihn nicht am Telefon sagen. Später. Vielen Dank.« Gail legte auf. Sie fuhren mit ihren Mofas auf der South Road nach Hamil ton. Die Stoßzeit hatte noch nicht begonnen, aber trotzdem kamen ihnen viel mehr Fahrzeuge entgegen, als in die Stadt fuhren. Geschäftsleute mit Kniestrümpfen, Bermudashorts, kurzärmeligen Hemden und Krawatten hockten feierlich auf ihren 125-ccm-Motorrädern, die Aktentasche auf dem Gepäck träger festgeschnallt. Hausfrauen, die von den täglichen Besorgungen zurückkehrten, hatten ihre Kinder in Drahtgestel le auf dem hinteren Schutzblech ihrer Mopeds gesetzt. An beiden Seiten des Hinterrads baumelten Weidenkörbe mit Lebensmitteln. Das Fremdenverkehrsamt teilte sich das zweite Stockwerk eines rosa Bürogebäudes in der Front Street – unmittelbar vor dem Hafen von Hamilton – mit der Nachrichtenagentur der Bermudas. Ein Passagierschiff lag am Pier der Front Street vor Anker, und die wimmelnden Touristen brachten den Verkehr zum Erliegen. Die Sanders stellten ihre Mofas zwischen zwei Autos an der linken Straßenseite ab, blockierten die Vorderrä der mit Vorhängeketten und warteten auf eine Lücke im Verkehr, um über die Straße zu kommen. »Ich möchte nur wissen …« sagte Gail. »Was?« »Ich schäme mich fast, es zu sagen. Aber was ist, wenn sich herausstellt, daß dieser Mann ein Farbiger ist?« »Ich weiß. Ich habe auch schon daran gedacht.« »Ich komme mir langsam vor wie vom Rassenwahn gepackt. Bei jedem schwarzen Gesicht denke ich, Cloche hätte mir jemanden auf den Hals gehetzt.« Das Mädchen am Empfang war eine hübsche junge Schwar 149
ze, Als sie die Rezeption erreicht hatten, sagte Gail: »Ich habe vorhin angerufen.« Sie warf einen Blick zur Wanduhr: zehn nach vier. »Wir haben uns leider ein bißchen verspätet. Der Verkehr war fürchterlich.« »Könnte ich jetzt bitte Ihren Namen haben?« fragte das Mäd chen am Empfang. »Selbstverständlich. Mr. und Mrs. Sanders.« »Der Direktor ist leider nicht da. Im Princess ist eine PRVeranstaltung für Reisebüroleute, und er hat den ganzen Tag Besprechungen. Ich habe mit seinem Stellvertreter einen Termin für Sie vereinbart.« Sie stand auf und sagte: »Wenn Sie mir bitte folgen würden?« Sie ging zu einem Büro am anderen Ende des Raums und sprach durch eine geöffnete Tür. »Mr. und Mrs. Sanders.« Sie ließ die Sanders zuerst eintreten und sagte: »Mr. Hall.« Der Herr erhob sich, um den Besuchern die Hand zu geben. Er war weiß, ungefähr vierzig, braungebrannt und sehr dünn. »Mason Hall«, stellte er sich vor. »Treten Sie bitte näher.« Sanders machte hinter sich die Tür zu, und er und Gail setz ten sich auf zwei Besucherstühle vor dem Schreibtisch. Hall lächelte und sagte: »Was kann ich für Sie tun?« Er hatte den Akzent eines Amerikaners von der Ostküste. Sanders sagte: »Haben Sie schon einmal etwas von einem Wrack gehört, das vor Orange Grove liegt – das Wrack der Goliath?« Hall dachte einen Augenblick nach. »Die Goliath. Mitte der vierziger Jahre, stimmt’s? Ein britisches Segelschiff.« Sie erzählten Hall die Geschichte, wobei sie allerdings die klinischen Einzelheiten des Überfalls auf Gail und Treeces Vermutungen über die Existenz des spanischen Schiffs weglie ßen. Als sie fertig waren, warf Gail David einen Blick zu und sagte: »Treece war dagegen, daß wir uns an die Regierung wenden.« »Das überrascht mich nicht«, sagte Hall. »Er hatte ein paar 150
Zusammenstöße mit den Behörden.« »Welcher Art?« fragte Sanders. »Nichts Ernstes. Und es ist schon ziemlich lange her. Ich freue mich jedenfalls, daß Sie gekommen sind. Selbst wenn nichts mehr passiert, haben Sie schon genug Unannehmlichkei ten gehabt. Es tut mir leid, und ich weiß, daß der Direktor mich beauftragen wird, Ihnen auszurichten, daß es ihm ebenfalls leid tut.« »Mr. Hall«, sagte Sanders, »das ist zwar sehr nett, aber wir sind nicht hierhergekommen, um zu hören, daß es den Behör den leid tut.« »Nein, natürlich nicht.« »Was können Sie unternehmen?« »Ich werde noch heute abend mit dem Direktor reden. Ich bin sicher, daß er es dem Innenminister erzählen wird, wenn er wieder da ist.« »Wo ist er?« »Auf Jamaika … eine Konferenz über regionale Probleme. Aber er kommt in ein paar Tagen zurück. Inzwischen werden wir uns mit der Polizei in Verbindung setzen und fragen, ob sie etwas über diesen Burschen, diesen Cloche, weiß.« »Die Polizei?« fragte Sanders. »Ich habe Ihnen doch gesagt, daß Cloche behauptet, er habe sehr gute Freunde bei der Polizei. Ich weiß, daß es stimmt.« »Wir werden es sehr diskret machen.« Hall stand auf. »Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind. Wie lange werden Sie noch bleiben?« »Warum?« »Weil ich Ihnen gern einen Polizisten zuteilen würde, damit Sie ganz sicher sind.« »Nein«, sagte Sanders. »Vielen Dank. Wir kommen allein zurecht.« Sie gaben sich die Hand, und die Sanders verließen Halls Büro. 151
Draußen spazierten sie die Front Street entlang. Auf dem Bürgersteig wimmelte es von Touristen, die im Schaufenster von Trimingham irisches Leinen, schottischen Kaschmir und französisches Parfüm begutachteten und sich ausrechneten, was sie bei den zollfreien Spirituosen sparen würden, die von den einschlägigen Geschäften angepriesen wurden. »Ob er uns geglaubt hat? Was meinst du?« fragte Gail. »Ich denke ja, aber wenn wir darauf warten, daß er etwas unternimmt, werden wir bestimmt an Altersschwäche sterben.« Ein paar Eingänge weiter sah Sanders die PanAm-Filiale. Als sie neben der Tür waren, berührte er Gaus Arm und zeigte darauf. Sie blieb stehen und betrachtete den halbmeterhohen blauen »PanAm«-Schriftzug, der auf das Fenster gemalt war. »Wir werden es in jedem Fall bereuen: wenn wir es tun und wenn wir es nicht tun«, sagte sie. »Ich weiß nicht, ob ich zu Hause mit dem ständigen Druck leben könnte; mit der Drohung, der Ungewißheit, der ewigen Frage, ob und wann etwas passiert …« David betrachtete die Buchstaben noch ein paar Sekunden, sagte dann abrupt: »Laß uns zu Treece fahren.« »Ich will Sie jetzt nicht daran erinnern, daß ich es gleich gesagt habe«, erklärte Treece. »Ein Narr muß sich erst die Finger verbrennen, bis er zugibt, daß ein Feuer da ist.« Sanders sagte: »Haben Sie das spanische Schiff registrieren lassen?« »Ja. Davon haben Sie dem edlen Mr. Hall doch nichts er zählt, oder?« »Nein.« »Er wirkte ziemlich … reserviert, als wir von Ihnen spra chen«, sagte Gail. »Reserviert?« Treece lachte. »Das ist wohl kaum das richtige Wort. Diese Bürokraten können aus mir nicht schlau werden. 152
Sie verstehen nur was von Papierkrieg und Politik, was auf dasselbe hinausläuft.« »Glauben Sie, daß man etwas unternehmen wird?« »Vielleicht, aber erst um die Jahrhundertwende.« Treece schüttelte den Kopf, als wollte er jeden Gedanken an die Behörden abschütteln. »Nun«, fuhr er fort, »da Sie zur Hälfte an einer Sache beteiligt sind, die sich als Seifenblase heraus stellen kann – was wollen Sie jetzt machen?« »Bleiben«, antwortete Gail. »Wenn Sie glauben, daß wir zu etwas nütze sein können.« »Zum Teufel, ja. Ich bin sicher, Sie haben sich das Risiko genau ausgerechnet.« Sanders sagte: »Das haben wir.« »Sehr gut. Als nächstes brauchen wir ein paar Spielregeln. Von jetzt an werden Sie das tun, was ich sage. Sie können fragen und diskutieren, soviel Sie wollen, aber nur, wenn wir Zeit dafür haben. Wenn nicht, flitzen Sie und sparen sich Ihre Fragen für später auf.« Gail warf David einen Blick zu und sagte: »Leithammel.« »Wie bitte?« fragte Treece. »Ach nichts. David hat sich beim Tauchen über mich geär gert, weil ich nicht auf ihn hörte.« »Er hatte recht. Vielleicht geht alles glatt über die Bühne, aber es kann auch Augenblicke geben, in denen unser Überle ben davon abhängt, wie schnell wir reagieren. Wenn Sie in Versuchung kommen, Ihren Dickkopf aufzusetzen, denken Sie bitte jedesmal an folgendes: Ich werde Ihnen in den Hintern treten und Sie in das nächste Flugzeug prügeln. Ich habe keine Lust, daß man mir die Schuld an Ihrem Tod gibt.« »Wir haben nicht die Absicht, eigene Wege zugehen«, sagte Sanders. »Um so besser. Und nun« – Treece lächelte – »Tagesbefehl Nummer eins: Fahren Sie zurück nach Orange Grove und geben Sie die Mofas ab. Packen Sie Ihre Sachen, bezahlen Sie 153
die Rechnung und bestellen Sie ein Taxi, das Sie hierher bringt.« »Wie bitte?« »Sehen Sie? Sie setzen bereits Ihren Dickkopf auf. Wenn wir uns schon in diese Sache stürzen, möchte ich Sie wenigstens hier haben, wo ich Sie im Auge behalten kann, die Leute von Cloche aber nicht. Drüben geben Sie ein viel zu gutes Ziel ab.« »Aber …« Gail wollte protestieren. »Das ist doch Ihr …« »Ich kann Ihnen vielleicht nicht die Annehmlichkeiten Ihres Vier-Sterne-Bungalows bieten, aber es wird reichen. Und Sie brauchen keine Angst zu haben, daß Ihnen irgendein Verrück ter wieder Voodoo-Puppen ins Bett legt.«
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VIII Als das Taxi die Sanders und ihr Gepäck vor dem Haus von Treece abgesetzt hatte und wieder abgefahren war, sagte Gail: »Glaubst du, wir müssen in der Küche schlafen?« »Wieso?« »Das ist der einzige Raum, den wir bisher gesehen haben. Er hat uns noch nicht einmal durch den Vordereingang hineinge lassen. Ist dir das nicht aufgefallen?« Die Moskitotür flog auf, und die Hündin sprang auf sie zu. Sie blieb schwanzwedelnd und jaulend hinter der Pforte stehen. Treece erschien in der Türöffnung. »Schon gut, Charlotte.« Die Hündin lief ein paar Schritte zurück und setzte sich. »Brauchen Sie Hilfe?« »Wir schaffen es schon.« Sanders öffnete die Pforte, nahm die beiden großen Koffer und ging zur Tür. Gail folgte ihm. Sie hatte über jeder Schulter eine Druckluftflasche hängen. »Sie müssen gut in Form sein«, sagte Treece zu ihr. »Die Dinger sind nicht leicht.« Er hielt ihnen die Moskitotür auf und ließ sie ins Haus. Sie betraten eine schmale Diele. Der Fußboden war nackt – breite, polierte Zedernbretter. Eine alte spanische Karte der Bermudas – gelbbraunes, rissiges Pergament – hing eingerahmt an der Wand. Unter der Karte hing ein Mahagonikasten mit Glastüren, in dem alte Flaschen, Musketenkugeln, Silbermünzen und Schuhschnallen zur Schau gestellt waren. »Dort bitte«, sagte Treece und zeigte auf eine Tür am Ende der Diele. »Geben Sie mir bitte die Flaschen. Sind sie leer oder voll?« 155
»Leer«, sagte Gail. »Ich werde sie zum Kompressor bringen.« Sanders fragte: »Sie haben einen eigenen Kompressor?« »Sicher. Kann doch nicht jedesmal nach Hamilton sausen, wenn ich ein bißchen Luft brauche.« David und Gail gingen ins Schlafzimmer. Es war klein und wurde fast gänzlich von einer Kommode und einem über dimensionalen Doppelbett ausgefüllt. Das Bett war mindestens 2,10 Meter lang und breit und offensichtlich handgearbeitet: verdübelte Zedernbretter, poliert mit einem öl, das ihnen einen warmen, satten Glanz verlieh. »Das ist sein Schlafzimmer«, flüsterte Gail. »Sieht ganz so aus. Was mag dort wohl gewesen sein?« Sanders zeigte auf eine Stelle an der Wand über dem Bett, wo bis vor kurzem ein Photo oder Bild gehangen hatte: auf der leicht angedunkelten Wand zeichnete sich ein schneeweißes Rechteck ab. Sie hörten Treeces Schritte in der Diele. Sanders legte die Koffer auf das Bett. »Wir können Ihnen nicht das Schlafzimmer wegnehmen«, sagte Gail zu Treece, der sich in der Türöffnung aufgebaut hatte. »Wo sollen Sie denn schlafen?« »Da drin«, sagte Treece und nickte zum Wohnzimmer hin. »Ich habe ein Sofa gebaut, das groß genug für ein Monster wie mich ist.« »Aber …« »Es ist besser, wenn ich dort schlafe. Ich bin ein unruhiger Schläfer. Außerdem hat man mir gesagt, ich schnarche wie ein Grislybär.« Er führte sie zur Küche. Als sie durch das Wohnzimmer gingen, kam Gail zu dem Schluß, daß eine Frau im Haus gewohnt und es eingerichtet haben mußte; den Zeitpunkt konnte sie allerdings nicht bestimmen. Der größte Teil der Einrichtung trug unverkennbar den Stempel von Treece: Schiffslaternen mit Kardanaufhän gung, Granatenhülsen aus Messing, alte Waffen, Karten und 156
Stapel von Büchern. Es gab aber auch Dinge, die auf ein weibliches Wesen hinwiesen – zum Beispiel einen Vorleger mit Petitpoint-Stickerei und fröhliche Bezüge mit Blumenmu ster auf Sofa und Sesseln. Die Bilder an den Wänden waren meist Seestücke. Von zwei weißen Rechtecken waren ebenfalls Bilder entfernt worden. In der Küche sagte Treece: »Am besten ist es wohl, ich zeige Ihnen, wo alles ist.« Er schaute aus dem Fenster. »Blaue Stunde.« Er öffnete einen Hängeschrank, in dem nur Flaschen standen. »Machen Sie sich einen Drink, wenn Sie mögen. Ich nehme einen Schluck Rum.« Sanders schenkte ein, während Treece Gail die anderen Schränke zeigte. »Sollen wir nicht etwas einkaufen?« fragte Gail. »Nur wenn’s unbedingt nötig ist. Mit dem Essen werden wir keine große Mühe haben.« Treece lächelte. »Oder glauben Sie, Sie müßten jetzt einen hilflosen Junggesellen bekochen?« »So hab’ ich es nicht gemeint. Aber zeigen Sie mir, wo die Sachen zum Abendessen sind, damit ich etwas auf den Tisch bringen kann.« »Das Abendessen kommt gleich. Ich kümmere mich schon darum.« Treece nahm das Glas mit Rum, das Sanders ihm reichte. »Wir fangen morgen an. Werden Adam am Strand abholen.« »Coffin?« sagte Sanders. »Er soll mittauchen?« »Ja. Ich habe versucht, es ihm auszureden, aber er blieb stur. Er denkt immer noch, es wäre sein Schiff, und er will Cloche unbedingt eins auswischen.« »Ist er gut?« »Gut genug. Er hat zwei Hände, und wir brauchen alle Hän de, die wir bekommen können. Wir müssen verdammt schnell arbeiten, weil wir keine ruhige Minute mehr haben werden, wenn Cloche uns erst einmal auf der Pelle sitzt. Und Adam hat noch einen Vorteil: sein Mund hat einen Reißverschluß. Wenn 157
er ihn zumacht, wird es niemandem gelingen, ihn zu öffnen. Der Überfall von damals war eine gute Lektion.« »Und wenn wir die Drogen haben«, fragte Gail. »Was wollen Sie damit machen? Sie vernichten?« »Ja, aber erst, wenn wir auch die letzte Ampulle haben. Wenn wir sie nacheinander vernichten, das heißt so, wie wir sie finden, und Cloche kriegt Wind davon, sind wir erledigt. Er würde uns auf der Stelle umbringen lassen. Dasselbe gilt, wenn wir anfangen, sie Stück für Stück den Behörden zu übergeben. Cloche würde sehen, wie sein schöner Plan sich in Luft auflöst, und er würde uns schon deshalb umbringen, um noch eine letzte Chance zu haben. Das beste Mittel, gesund zu bleiben, besteht darin, Cloche im Ungewissen zu lassen. Er darf die Hoffnung nicht aufgeben: Soll er ruhig denken, daß wir die Arbeit für ihn machen und daß er uns das Zeug abnehmen kann, wenn wir alles hochgeholt haben.« Sanders bemerkte, daß Gail ihn spöttisch ansah. Zuerst er kannte er den Grund nicht; dann wurde er sich darüber klar, daß er gelächelt hatte, während Treece redete – ein unbewußtes Grinsen, das seine merkwürdige Erregung verriet. Er hatte diese Erregung schon einmal gespürt: vor seinem ersten Fallschirmsprung. Er erinnerte sich auffallend lebhaft an das Gefühl, das er gehabt hatte. Es war ein Gemisch von Emotio nen: Die Furcht ließ seine Arme und Finger kribbeln und seinen Nacken und seine Ohren rot anlaufen; die Aufregung ließ ihn zu hastig atmen, so daß ihm ganz benommen und schwindlig wurde; und die Erwartung (wahrscheinlich brannte er darauf, endlich erzählen zu können, er sei aus einem Flug zeug gesprungen) ließ ihn lächeln. Die Tatsache, daß er sich beim Landen den Knöchel verstaucht hatte und daß sein erster Sprung auch sein letzter gewesen war, tat dem Hochgefühl keinen Abbruch. Gail betrachtete ihn stirnrunzelnd, und er zwang sich, das Lächeln zu unterdrücken. 158
Hinter der Küchentür schien etwas auf die Erde zu plumpsen. Treece stand auf und sagte: »Das wird das Abendessen sein.« Er öffnete die Tür und hob ein in Zeitungspapier gewickeltes Paket auf, das jemand auf die Schwelle gelegt hatte. »Das Abendessen?« fragte Gail. »Ja.« Treece legte das Paket auf die Arbeitsplatte und wickel te es aus. Drinnen lag ein sechzig Zentimeter langer Barrakuda, noch ganz naß und glänzend. »Ein Prachtexemplar«, sagte er. Gail betrachtete den Fisch und erinnerte sich an den Barra kuda, der durch das Riff patrouilliert war und sie drohend angestarrt hatte. Sie hatte das Gefühl, ihr drehte sich der Magen um. »Essen Sie diese Dinger etwa?« »Warum nicht?« Sanders sagte: »Ich dachte, sie seien giftig.« »Meinen Sie Ciguatera?« »Ich weiß nicht. Was ist das?« »Ein Nervengift, ein übles Zeug. Niemand kennt es genau. Man weiß nur, daß es einem fürchterlich zusetzen kann. Dann und wann ist es auch tödlich.« »Ist es in Barrakudas enthalten?« »Ja, aber nur in geringen Mengen, und es gibt ungefähr drei hundert andere Fischarten, in denen es ebenfalls enthalten ist. Auf den Bahamas wirft man eine Silbermünze in den Topf, wenn man einen Barrakuda kocht. Man sagt, wenn die Münze schwarz wird, ist der Barrakuda giftig. Aber hier in der Zivili sation gibt es einen viel wissenschaftlicheren Test.« Treece nahm den Fisch, streckte seinen rechten Arm in die Höhe und maß das Tier daran. »Wir sagen: ›Ist er länger als dein Arm, wirf ihn zurück, woher er kam.‹ Hübsch, nicht? Mein Arm ist eine volle Hand länger, also brauchen wir keine Angst zu haben.« »Ein schöner Trost«, sagte Gail. »Es ist gar nicht so dumm, wie es klingt. Ciguatera ist bei größeren Fischen verbreiteter, denn je größer ein Fisch ist, 159
desto mehr Ciguatera wird er im Lauf der Zeit absorbieren. Wir meinen, daß man bei einem so kleinen Tier wie diesem höchstwahrscheinlich mit ein bißchen Bauchweh davonkommt – selbst wenn Ciguatera drin ist.« Treece griff in eine Schubla de und holte ein Tranchiermesser und einen Schleifstein heraus. »Hoffentlich haben Sie ein dickes Fell«, sagte er. Er spuckte auf den Stein, legte die lange, schmale Schneide darauf und rieb sie mit kurzen, schnellen, kreisförmigen Bewegungen in der Speichellache hin und her. »Ich esse diese Dinger nun schon beinahe vierzig Jahre, und mir ist noch nie was passiert.« Er schuppte den Fisch unglaublich geschickt ab. Die silbrigen Schuppen sprangen von der Schneide und schwebten zu Boden. »Woher kommt er?« fragte Sanders. »Ich nehme an, vom Riff.« »Nein, ich meinte, wie er hierhergekommen ist? Ich habe noch nie gehört, daß Fische sich selbst in Zeitungspapier wickeln und auf die Schwelle legen.« Sanders kicherte über seinen kleinen Scherz. »Jemand hat ihn gebracht. So ist es hier. Einer von uns fängt ein paar Fische, hat mehr, als er braucht, und bringt einen vorbei.« Gail sagte: »Ist es das, was Sie vor ein paar Tagen sagten? Sich um den Leuchtturmwärter kümmern?« »Nicht ganz.« Treece drehte den Barrakuda um und schuppte die andere Seite ab. »Wir helfen uns alle gegenseitig. Wenn eine Frau krank wird, passen die Nachbarn auf ihre Kinder auf und versorgen sie. Seitdem …« Er schien zu zögern. »Die Insulaner wissen, daß ich keine Zeit zum Fischen habe und selbst für mich kochen muß. Also bringen sie ab und zu etwas vorbei.« Mit zwei schnellen Hieben trennte er Kopf und Schwanz ab. Den Schwanz warf er in den Mülleimer. »Möch ten Sie den Kopf haben?« David und Gail verneinten und betrachteten den Fischkopf, 160
dessen Auge von Treeces Messer gepfählt worden war, mit unverhohlenem Abscheu. »Schmeckt gar nicht schlecht, wenn man nichts anderes hat«, sagte Treece und warf den Kopf in den Mülleimer. »Aber dieser Bursche ist kräftig genug.« Er schlitzte den Bauch des Barrakudas der Länge nach auf und holte die Innereien heraus. Dann drehte er den Fisch um und machte einen Längsschnitt auf dem Rücken. Jetzt fiel das grauweiße Fleisch auseinander. »Sie könnten vielleicht ein bißchen Öl warm machen«, sagte er zu Gail. »Welche Sorte?« »Olivenöl. Steht dort neben dem Herd. Schütten Sie eine halbe Flasche in den Tiegel und machen Sie es heiß.« Treece schnitt die beiden großen Filets in zwei Hälften und legte die vier Stücke in den Tiegel mit dem heißen öl, wo sie brutzelten und spritzten und sich schnell goldbraun färbten. Gail machte einen einfachen Salat – Bermuda-Zwiebeln und grünen Salat – und fragte Treece, wo die Marinade sei. »Hier«, sagte er und gab ihr eine Flasche ohne Etikett. »Was ist das?« »Wein, sagt man. Ich weiß nicht genau, was drin ist, aber man benutzt es für alles mögliche – Salate, Speisen, Getränke. Möchte aber nicht zuviel davon trinken. Macht einen fürchter lichen Brummschädel.« Gail schenkte ein wenig von dem Gebräu in ein Glas und trank. Es schmeckte bitter, wie sehr trockener Wermut. Die Sonne war unter den Horizont gesunken, als sie sich zum Essen hinsetzten, und rosarote Strahlen, die von den Wolken zurückgeworfen wurden, strömten durch das Fenster und tauchten die Küche in ein warmes, gedämpftes Licht. Treece sah Gail an ihrem Stück stochern. Sie brachte es offenbar nicht fertig, davon zu essen. »Ich werde jetzt mein Leben riskieren«, sagte er lächelnd. »Wenn Ciguatera drin ist, wissen Sie es in ein paar Sekunden. Ein Bursche wurde schon 161
ins Krankenhaus geschafft, als der giftige Brocken noch in seiner Kehle steckte.« Er benutzte keine Gabel, sondern brach mit der Hand ein großes Stück ab und steckte es in den Mund. Er wackelte heftig mit dem Kopf, als fürchte er sich vor den möglichen Krämpfen. »Nichts«, sagte er. »So sauber wie ein Sonntagshemd.« Die Sanders aßen den Fisch. Er war köstlich. Die dünne Bratkruste hatte das Fleisch saftig und schmackhaft gehalten. Um halb zehn gähnte Treece und verkündete: »Höchste Zeit zum Schlafengehen. Wir wollen morgen früh aufstehen. Ich muß den Kompressor auf dem Boot tanken und Ihnen zeigen, wie das Saugrohr funktioniert. Sind Sie schon einmal mit Luftschlauch und Vollmaske getaucht?« »Nein«, antwortete Sanders. »Dann müssen Sie üben. Es ist ganz leicht, wenn man erst mal gelernt hat, mit dem Schlauch umzugehen. Wenn er irgendwo hängenbleibt oder verknickt, denkt man, man hätte das Ungeheuer von Loch Ness am Hals.« »Tauchen wir denn ohne Flaschen?« fragte Gail. »Wir werden zur Sicherheit ein paar mitnehmen. Ach ja, wir müssen sie vorher noch auffüllen. Der Kompressor draußen macht einen Mordslärm. Aber Sie sollten auf jeden Fall versuchen, mit Schlauch zu tauchen. Dann kann Ihnen nie die Luft ausgehen, es sei denn, dem Kompressor auf dem Boot geht das Benzin aus. Wenn Sie fünf Stunden an einer Flasche gehangen haben, denken Sie, Sie hätten eine Stechpalme geküßt. Das Mundstück tut nach kurzer Zeit weh.« »Gibt es denn beim Schlauch kein Mundstück?« »Nein. Er mündet in die Maske. Man kann die ganze Zeit Selbstgespräche führen – singen, Vorträge halten und fluchen, wenn einem danach ist. Man kann sich sogar unterhalten, wenn man Lippenbewegungen zu lesen versteht.« Um zehn Uhr lagen sie im Bett. Draußen pfiff der Wind, der vom Meer kam und von der Steilwand hochgedrückt wurde. 162
Als Sanders sich umdrehte, um die Nachttischlampe auszu knipsen, sah er die Hündin abwartend in der Tür stehen. »Hallo«, sagte Sanders. Die Hündin nahm es als Einladung, wedelte mit dem Schwanz und sprang aufs Bett. Sie legte sich zwischen Gail und David und rollte sich zusammen. »Jag sie weg«, sagte Gail. »Ich nicht. Ich brauche meine zehn Finger noch.« Sie hörten Treece »Charlotte!« rufen, worauf das Tier die Ohren spitzte. Treece erschien in der Tür. »Nehmen Sie’s ihr nicht übel, es ist sonst ihr Stammplatz. Ich werde sie ein oder zwei Tage zu mir nehmen.« Zu der Hündin sagte er: »Marsch«, und sie hob den Kopf, reckte sich, sprang vom Bett und lief zu ihm. Er sagte: »Schlafen Sie gut« und machte die Tür zu. Das erste Bellen schien zu Sanders’ Traum zu gehören. Das zweite, längere und lautere Kläffen weckte ihn. Er sah auf das Leuchtzifferblatt seiner Uhr: zehn nach zwölf. Ein schwaches gelbes Licht drang an den Rändern des geschlossenen Fenster ladens ins Zimmer und zuckte an den Wänden. Die Hündin bellte wieder. Gail bewegte sich unruhig, und Sanders rüttelte sie wach. »Was ist denn?« fragte sie. »Ich weiß nicht.« Er hörte, wie Treece auf die Diele kam. »Vielleicht brennt es.« »Wo? Im Haus?« »Nein, draußen.« Er sauste aus dem Bett und zog seine Pope line-Unterhose an. »Bleib hier.« Er ging zur Tür. »Wenn etwas passiert …« »Wenn etwas passiert, was dann?« Gail griff nach ihrem Bademantel. »Soll ich mich vielleicht unter dem Bett verstek ken?« Sanders öffnete die Schlafzimmertür und sah Treece, nur mit einer Badehose bekleidet, im Eingang stehen. Die Hündin 163
stand neben ihm. Obgleich Treece die Türöffnung praktisch ausfüllte, konnte Sanders hinter ihm flackerndes Licht – wie von Flammen – und einige dunkle Gestalten erkennen. »Wer ist es?« flüsterte er. Treece fuhr herum. »Weiß ich nicht. Haben sich noch nicht vorgestellt.« Sanders ging zu Treece und stellte sich neben ihn, etwas dahinter. An der Pforte standen zwei schwarz gekleidete Männer mit Ölfackeln, die dicke schwarze Rauchfahnen in die Nachtluft schickten. »Nun?« sagte Treece laut. Er legte eine Hand an den Tür rahmen und verlagerte sein Gewicht. Sanders sah, daß er mit dieser unauffälligen Bewegung in Reichweite einer Flinte mit abgesägtem Lauf gekommen war, die in der Ecke hinter der Tür stand. Die beiden Männer mit den Fackeln traten auseinander, und zwischen ihnen tauchte Cloche auf. Er kam langsam auf die Pforte zu. Er war ganz in Weiß, und seine schwarze Haut hob sich wie Graphit davon ab. Das Fackellicht funkelte auf der Goldfeder an seinem Hals und auf seinen runden Brillenglä sern. Sanders hörte Gails barfüßige Schritte auf den Bohlen und roch ihr Haar, als sie dicht hinter ihm stehenblieb. »Was wollen Sie?« fragte Treece mit einer Stimme, aus der Zorn und Verachtung klangen. »Wenn Sie etwas auf dem Herzen haben, sagen Sie es, aber bitte schnell. Sonst ziehen Sie Leine. Ich bin nicht in der Stimmung für dumme Scherze.« »Scherze?« Cloche hob die rechte Hand bis zur Hüfte und bewegte den Zeigefinger nach unten. Sanders hörte ein Schwirren. Instinktiv duckte er sich, und irgend etwas prallte gegen den hölzernen Türrahmen. Ein ungefiederter Pfeil steckte – noch bebend – im Holz, nur 15 Zentimeter von Treeces Kopf entfernt. Treece hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Er zog den 164
Pfeil aus dem Türrahmen und warf ihn auf die Erde. »Eine Armbrust?« sagte er. »Stecken Sie ein paar von Ihren schönen Federn dran, dann können Sie besser zielen.« »Ihre … Freunde … sind nicht sehr vernünftig«, sagte Clo che. »Sie sind zur Regierung gegangen. Ich habe ihnen gesagt, sie sollten es lieber nicht tun. Jetzt fragt die Polizei überall nach mir.« »Na und?« »Sie wissen, was ich möchte. Ich weiß, daß sie unten sind – zehntausend Zigarrenkisten voll.« »Ein Märchen.« »Ihre Freunde denken anders. Sie wirkten ziemlich über zeugt, als sie mit Mason Hall redeten.« Treece fuhr fort, Cloche anzusehen, und flüsterte Sanders zu: »Gehen Sie nach hinten und sehen Sie nach, ob die Luft rein ist.« Als Sanders sich die Diele entlangtastete, hörte er Treece sagen: »Sie kennen doch Touristen. Sie hören Geschichten …« In der Küche war es stockdunkel, und Tür und Fenster waren geschlossen. Sanders fand den Griff einer Schublade, öffnete sie und fingerte darin herum, weil er ein Messer haben wollte. Er fand eine lange, schwere Stahlschneide und steckte sie in das Bund seiner Unterhose. Das kalte Metall an seinem Ober schenkel gab ihm ein Gefühl der Sicherheit. Er wußte natür lich, daß es eine Illusion war, denn er hatte noch nie mit einem Messer gekämpft. Aber er hatte gute Reflexe und war kräftig, und er kannte das Haus. In der Dunkelheit würde er sich schon gegen jemanden wehren können, der es nicht kannte. Er öffnete die Hintertür. Draußen regte sich nichts, und außer dem Wind war nichts zu hören. Er machte die Tür zu und schloß ab, machte dann die beiden Fenster zu. Jetzt, sagte er sich, muß man die Scheiben einschlagen, wenn man ins Haus will, und wir hören es sofort. Zufrieden mit sich ging er wieder zurück und blieb, die Hand am Messerheft, neben Gail stehen. 165
»… mir schleierhaft«, hörte er Cloche sagen, »wie Sie dazu kommen, den britischen Schweinen zu helfen. Nach allem, was sie Ihnen angetan haben.« »Das ist wohl kaum Ihre Sache«, fuhr Treece ihn an. »Sie irren sich. Wir stehen auf einer Seite, Sie wollen es nur nicht einsehen. Sie haben genausoviel Grund wie ich, die Briten zu hassen. Denken Sie nur mal daran, was Sie verloren haben.« Sanders sah, daß Treece ihm und Gail einen schnellen Blick zuwarf. Treece schien sich in seiner Haut nicht wohl zu fühlen und wollte offenbar das Thema wechseln. »Lassen wir das, Cloche. Ich kann Ihnen nur sagen, daß ich Sie daran hindern werde, die Drogen zu bekommen.« »Wie schade«, antwortete Cloche. »Der Feind sitzt auf dem Präsentierteller, und Sie wagen sich nicht an ihn heran. Haben Sie vielleicht Angst um Ihr kleines Königreich auf St. David’s Island? Sie können ganz beruhigt sein; ich habe keine diesbe züglichen Absichten.« Treece antwortete nicht. »Sehr gut«, sagte Cloche endlich. »Mit oder ohne Ihre Hilfe – das Ergebnis wird dasselbe sein.« Zwei Männer traten aus dem Dunkel und bauten sich hinter Cloche auf. Beide trugen eine geladene und gespannte Arm brust, die genau auf die Tür zielte. Cloche nahm einen kleinen Beutel, den einer der beiden ihm reichte. Er drehte den Beutel um und schleuderte den Inhalt zur Tür. Drei Stoffpuppen mit gefiederten Stahlpfeilen in der Brust landeten im Staub. Treece sah nicht nach unten. Die Schützen drückten ab. Sanders stieß Gail gegen die Wand und deckte sie mit seinem Körper. Treece ließ sich auf ein Knie fallen und griff gleichzei tig nach dem Gewehr. Sanders hörte die Pfeile durch die Türöffnung schwirren und an den gemauerten Kamin knallen. Treece schoß dreimal, wobei er den Finger nicht vom Abzug 166
zu nehmen schien. Der Explosionslärm war in der schmalen Diele ohrenbetäubend und schmerzhaft. Als das Echo des letzten Knalls erstorben war und Sanders nur noch ein Klingen in den Ohren hörte, drehte er sich um und blickte zu Treece. Dieser war immer noch auf dem Knie und hielt das abgesägte Gewehr schußbereit. Wo Cloche und seine Männer gestanden hatten, waren nur noch die beiden Fackeln zu sehen – fallen gelassen, von flackernden Öllachen umgeben. »Jemanden getroffen?« fragte Sanders. »Glaube nicht. Sind sofort abgehauen, als sie das hier sahen.« Treece klopfte auf das Gewehr. »Ich glaube nicht, daß sie damit gerechnet haben.« Sanders fühlte, wie Gail zitterte, und hörte ihre Zähne klap pern. »Kalt?« fragte er und legte den Arm um ihre Schultern. »Kalt? Ich bin halb tot vor Angst. Du vielleicht nicht?« »Ich weiß nicht«, sagte Sanders ehrlich. »Ich hatte keine Zeit, darüber nachzudenken.« Gail berührte das Messer in Sanders’ Unterhose. »Wofür soll das denn sein?« »Ich habe es mitgenommen … für alle Fälle.« Gail sagte zu Treece: »Wird die Polizei kommen?« »Die Polizei der Bermudas?« Treece richtete sich auf. »Wohl kaum. Ich habe Ihnen doch schon gesagt, daß sie sich auf St. David’s nicht einmischt. Wenn man drüben überhaupt etwas gehört hat, was ich bezweifle, dann wird man sich nicht weiter darum kümmern. Nur die Mischlinge, die sich gegenseitig abknallen. Nein. Was mir Sorgen macht, sind die Insulaner.« »Warum?« »Sie haben bestimmt etwas gesehen – und gehört natürlich auch. Sie sind furchtbar abergläubisch. Ich wette, Cloche ist auch deshalb gekommen – um ihnen ordentlich Angst einzuja gen.« »Angst wovor?« 167
»Vor ihm. Sie sehen einen pechschwarzen Mann ganz in Weiß – so zieht man bei uns die Toten an, bevor sie begraben werden – in der dunklen Nacht mit zwei Fackelträgern und zwei Armbrustschützen den Hügel hinaufgehen: das ist ganz großer Zauber. Wenn er noch einmal kommt, wagen sich die Leute bis zum Jüngsten Gericht nicht mehr aus dem Haus.« Sanders sagte: »Sollten wir nicht Wache schieben?« Treece starrte ihn an: »Wache schieben?« »Sie wissen schon: vier Stunden wachen, vier Stunden schla fen, falls er zurückkommt.« »Er wird heute nacht nicht zurückkommen.« »Wie wollen Sie das wissen? Mein Gott, Sie haben ja noch nicht einmal geglaubt, daß er sich überhaupt herwagt!« Sanders staunte selbst über den Ton, den er angeschlagen hatte. Er forderte Treece heraus, was er gar nicht gewollt hatte, und nach Treeces Gesichtsausdruck zu urteilen, war eine Herausforde rung das letzte, was er erwartet hätte. Sanders wußte zwar, daß er recht hatte, aber er wollte nicht nachhaken. »Ich hatte nicht die Absicht, Sie zu …« »Wenn er zurückkommt«, sagte Treece gelassen, »werde ich ihn hören. Oder Charlotte wird ihn hören.« »Gut.« »Es ist spät. Wir haben morgen eine Menge vor.« Treece nickte Gail zu, drehte sich um und ging durch die Diele zum Wohnzimmer. David und Gail gingen ins Schlafzimmer und machten die Tür hinter sich zu. »Überleg dir gefälligst, was du sagst«, meinte Gail. »Ja, ich weiß.« »Ist nicht weiter schlimm. Er kann ruhig wissen, daß wir Angst haben.« »Das war es nicht. Es ist nur besser, wenn man auf alles vorbereitet ist.« Sanders zog die Popeline-Unterhose aus und krabbelte unter die Decke. 168
Gail blieb auf dem Bettrand sitzen und kuschelte sich in ihren Bademantel. »Ich kann bestimmt nicht wieder einschlafen.« »Du wirst es schon können.« Sanders streichelte ihren Rük ken. Er lächelte und fragte sich, ob die heftige Leidenschaft, die er plötzlich in sich aufsteigen fühlte, etwas mit der über standenen Gefahr zu tun hatte. Als sie am Morgen erwachten, hörten sie Stimmen in der Küche. Sanders zog eine Hose an und verließ das Zimmer. Treece saß am Küchentisch und hatte eine Tasse Tee in der Hand. Ihm gegenüber saß Kevin; er hatte ein schmutziges, ärmelloses T-Shirt an und kaute Schwarzbrot. Sie blickten auf, als Sanders in die Küche kam. Kevin schien ihn nicht wieder zuerkennen, auch dann noch nicht, als Treece sagte: »Ihr kennt euch ja schon.« »Sicher«, sagte Sanders. »Guten Morgen.« Kevin antwortete nicht, doch Sanders meinte zu sehen, wie er zur Begrüßung kurz die Augen zusammenkniff. Er goß sich eine Tasse Kaffee ein und setzte sich ebenfalls an den Tisch. Treece sagte zu Kevin: »Hat er denn jemanden, der damit umgehen kann?« Kevin zuckte die Achseln. »Hat er ein Saugrohr?« »Davon stand nichts in den Papieren.« »Was ist los?« fragte Sanders. »Sie erinnern sich doch an Basil Tupper, den Kerl vom Schmuckladen, der Ihnen einen Besuch gemacht hat? Heute morgen hat die Maschine der Eastern Airlines zwei Kisten mit Tauchgeräten vom Kennedy-Flughafen mitgebracht. Für ihn.« »Woher wissen Sie das?« »Ein Freund beim Zoll. Es waren Druckluftflaschen, Lun genautomaten, Anzüge – für sechs Leute.« »Haben die Behörden keine Fragen gestellt?« »Ist ja nicht illegal. Er hat den Einfuhrzoll gezahlt – bar auf 169
die Hand. Außerdem importiert er soviel Zeug für sein Ge schäft, daß er mit den meisten Leuten vom Zoll auf ziemlich gutem Fuß steht. Er könnte sagen, er wolle einen Laden für Tauchutensilien aufmachen.« Treece neigte lauschend den Kopf, und erst jetzt hörte San ders das leise, gedämpfte Tuckern eines Motors, der draußen in der Nähe der Küche laufen mußte. »Dem Kompressor geht der Saft aus.« Treece erhob sich und sagte zu Kevin: »Ruf Adam Coffin für mich an. Sag ihm, er soll um Punkt zwölf am Strand sein.« Dann sagte er zu San ders: »Am besten, Sie holen Ihr Mädchen sofort aus dem Bett. Wenn Cloche Taucher trainiert, haben wir keine Zeit mehr zum Üben. Der Ernstfall hat begonnen.« »Sie ist schon auf«, antwortete Sanders. Sie gingen hinaus. Kevin verabschiedete sich, und Sanders folgte Treece zu einem kleinen Schuppen hinter dem Haus. Im Schuppen hustete und stotterte ein Kompressor mit Benzinmo tor, der drauf und dran schien, seinen Geist aufzugeben. Zwei Preßluftflaschen waren mit Schläuchen daran angeschlossen. Treece prüfte die Manometer auf den Flaschen. »Zweitausend zweihundert. Möchte sie nur noch auf zwei-fünf bringen.« Er stellte den Kompressor ab, füllte aus einem Blechkanister Benzin nach und ließ den Motor wieder an. »Muß mir langsam einen elektrischen besorgen«, sagte er. »Benzin ist verdammt gefährlich.« »Dämpfe?« »Ja. Darum ist dieses Rohr da.« Er zeigte auf ein metallenes Auspuffrohr, das vom Kompressor zur Erde führte und durch ein Loch in der Schuppenwand nach draußen lief. »Als ich das Ding bekam, habe ich es im Freien aufgestellt und nur notdürf tig vor Regen geschützt. Der Wind pustete ganz schön, aber ich achtete nicht weiter darauf – bis er die Auspuffgase eines Tages genau in den Luftfilter pustete. Es war ein Trip, den man nicht vergißt. Hätte beinahe im Himmel geendet.« 170
»Wie haben Sie es gemerkt?« »Fing in einer Tiefe von fünfzehn Faden plötzlich an einzu dösen. Ich hatte gerade noch genug Geistesgegenwart, um mir auszurechnen, was los war. Also riß ich die Flasche los und ließ sie hochsausen. Fast wäre es zu spät gewesen.« Gail erschien in der Schuppentür, eine Scheibe Toast in der Hand. »Guten Morgen«, sagte sie. »Viel mehr würde ich an Ihrer Stelle nicht essen«, sagte Treece. »Wir haben einen Haufen Arbeit vor uns, und Sie wollen sicher nicht in Ihre Maske kotzen. Verzeihen Sie den ordinären Ausdruck.« Sie verließen Treeces Anleger kurz nach elf. Im Cockpit der Corsair lagen drei gelbe Schlauchrollen. Ein Ende jedes Schlauchs war an den Kompressor geschraubt; das andere war an einer Vollmaske befestigt. In den Gestellen an den Schanz decks standen sechs Druckluftflaschen. Das an Steuerbord festgezurrte Aluminiumrohr war mit einem dicken roten, ebenfalls aufgerollten Gummischlauch verbunden worden, der auch zum Kompressor führte. Das abgesägte Gewehr hatte Treece auf ein Sims über dem Steuerpult gelegt. Die Hündin stand am Bug auf dem Vordeck, schwankte ein bißchen mit der Dünung, fiel aber kein einzigesmal hin. David und Gail hatten sich neben Treece an den Ruderstand gestellt. »Glauben Sie wirklich, daß sie hinter uns herkommen?« fragte Sanders und zeigte auf die Flinte. »Man kann nie wissen.« Treece blickte Gail an. »Schon mal ein Schießeisen benutzt?« »Nein.« »Dann bleibt Adam zuerst an Bord. Ist auf jeden Fall besser. Er weiß, wie man den Kompressor abstellt, und er wird nicht lange fackeln.« »Abstellen?« »Ja. Anders kann er uns nicht mitteilen, wenn es oben mul mig wird. Wir werden sofort begreifen, wenn wir plötzlich 171
anfangen, am Nichts zu saugen. Solange Sie den Atem auf dem Rückweg nicht anhalten, schaffen Sie’s. Das heißt …« Treece lächelte. »Wenn es hier oben schiefgeht, tun wir vielleicht besser daran, unten zu bleiben und Sand zu atmen.« Treece drosselte die Geschwindigkeit und suchte sich einen Weg durch die Riffe. Die ablandige Brise war stark genug, um weiße Gischt über den Felsen aufzuwerfen, so daß er keine Mühe hatte, die schmalen Durchfahrten zu finden. Als sie sich dem Strand von Orange Grove näherten, konnten sie Coffin in den auslaufenden Wellen stehen sehen – eine sonnengegerbte Gestalt in zerrissenen Shorts aus Jeansstoff. Im Wasser waren keine Badenden. Also gab Treece Gas, als er die Riffe hinter sich hatte, und sauste zum Ufer. Zehn Meter vor der schwachen Brandung legte er den Rückwärtsgang ein, gab kurz Vollgas, und das Boot kam knapp vor dem Strand zum Stehen. Coffin hechtete in eine Welle und schwamm zur Corsair. Treece griff mit einer Hand über den Bootsrand und zog ihn mit einem kräftigen Ruck ins Cockpit. »Gut, daß Sie für den Besuch in Orange Grove Abendklei dung angelegt haben«, sagte Treece. Coffin spuckte Wasser ins Meer und wischte sich die Nase ab. »Diese Arschlöcher. Haben mir verboten, den Aufzug zu benutzen. Meinten, er sei Privateigentum. Ich sagte ihnen, sie sollten sich an meinen Anwalt wenden.« Er lachte. »Bin mit der tollsten Biene runtergefahren, die ich seit Jahren gesehen habe. Habe mich sofort verknallt. Hätte ihr fast einen Heirats antrag gemacht.« Treece wendete und fuhr wieder seewärts. Auf dem Weg zum Riff unterrichtete er Coffin über Cloches Drohung und über die Taucherausrüstungen, die am Morgen durch den Zoll gekommen waren. Als er ihm sagte, er solle an Bord bleiben, protestierte Coffin heftig, ließ sich aber durch den Hinweis auf sein vermeintliches Geschick beim Umgang mit Feuerwaffen davon überzeugen, daß es nicht anders ging. 172
Sie ankerten hinter dem zweiten Riff. »Sobald wir alles in Gang gesetzt haben«, sagte Treece zu den Sanders, »gehen wir hinunter. Ich nehme das Saugrohr. David, Sie halten sich links von mir. Haben Sie schon mal gesehen, wie ein Saugrohr arbeitet?« »Nein.« »An der Seite ist ein kleines Rohr, das komprimierte Luft nach unten leitet und hochdrückt. Dadurch entsteht ganz unten eine Art Vakuum, so daß der Sand hochgesaugt wird. Der Sog ist gewaltig, passen Sie also auf und kommen Sie nie mit der Hand zu nahe an die Öffnung, weil er Ihnen sonst die Finger abreißen kann. Das Ding saugt den Sand unglaublich schnell weg. Wenn wir Ampullen freigelegt haben, müssen Sie sie sofort greifen. Ich muß verdammt vorsichtig sein, damit sie nicht mit dem Sand hochgesaugt werden, weil sie sonst unwei gerlich im Rohr kaputtgehen. Und Sie«, sagte er zu Gail, »Sie halten sich links von ihm. Sie werden höchstens einen halben Meter weit sehen können, machen Sie also keine großen Spaziergänge. Hier.« Er gab ihr einen großen Einkaufsbeutel aus Segeltuch. »Er wird Ihnen die Ampullen reichen, die er gefunden hat. Sie tun sie da hinein. Wenn der Beutel voll ist, tippen Sie ihn an, er tippt mich an, und Sie bringen den Beutel hoch. Schwimmen Sie auf keinen Fall hoch, ohne mir Bescheid zu geben; ich brauche ein bißchen Zeit, um das Saugrohr wegzuschieben. Wenn ich zu weit vor Ihnen bin, wird der Sand die Ampullen bedecken, bevor Sie sie einsammeln können. Wenn oben etwas schiefgeht, stellt Adam den Kompressor ab. Wir werden den Luftmangel sofort merken, aber Sie werden wahrscheinlich noch einmal richtig einatmen können. Kommen Sie möglichst nahe am Bug hoch und halten Sie sich am Boot fest. Von oben kann man Sie dann kaum sehen, und wenn jemand an Bord ist, der Ihnen an den Kragen will, können Sie wenigstens ein paarmal einatmen, ehe Sie wieder untertauchen. Verstanden?« 173
»Verstanden«, sagte Sanders. »Ich …« Gail zögerte. »Reden Sie«, befahl Treece. »Je eher es heraus ist, desto besser. Ich möchte nicht, daß Sie Ihre Überraschungen für unten aufbewahren.« »Ich mag diese Dinger nicht …« Sie zeigte auf die Masken und die gelben Luftschläuche. »Sie machen mir Angst.« »Warum?« »Ich weiß nicht. Vielleicht ist es eine Art Klaustrophobie. Ich kann den Gedanken nicht ertragen, daß ich … an die Leine gelegt bin. Und wenn jemand den Kompressor abstellt, be komme ich garantiert einen Schlaganfall.« »Na hör mal!« sagte Sanders. »Es stimmt«, antwortete sie. »Ich kann nichts dafür.« Treece sagte: »Kein Problem. Besser, Sie fühlen sich wohl in Ihrer Haut, als daß Sie kribbelig werden und Dummheiten machen. Nehmen Sie eine Flasche. Wir haben mehr als ge nug.« »Danke.« »Wer noch etwas zu sagen hat, sage es bitte jetzt. Wenn ich das Biest erst mal angestellt habe, werden Sie nicht einmal mehr hören können, was Sie denken.« »Sollen wir Schutzkleidung anlegen?« fragte Sanders. »Ja. Wir werden ziemlich lange unten sein. Das Wasser ist zwar warm, aber so warm nun auch wieder nicht. Nach einer Stunde geht die Körpertemperatur flöten.« Treece nahm einen Schraubenzieher aus einem Werkzeugkasten, schloß den Kompressor an und berührte mit dem Schraubenzieher zwei Kontakte am Anlassermotor. Funken sprangen von den Kon takten hoch, und der Kompressor erwachte donnernd zum Leben. Sanders ging nach unten. Die Kajüte der Corsair sah aus wie ein Flohmarkt für Taucher. Schlauch- und Seilrollen baumelten von der Decke. Zwei Angelruten mit weißen Salzflecken lagen 174
auf Haltern an den Schotten. In einer Ecke war ein Gewirr von alten, brüchigen Luftschläuchen zu sehen. Werkzeuge – Hämmer, Stemmeisen, Schraubenzieher, Schraubenschlüssel – bedeckten die Kojen. Das kleine Klosettabteil hatte keine Tür. Als Toilettenpapier diente die auseinandergerissene Sonntags beilage einer Zeitung; die Papierquadrate waren einfach an das Schott genagelt worden. Sanders fand einen Haufen mit Schutzanzügen, Masken und Schwimmflossen. Er sortierte Jacken und Hosen, versuchte, passende Größen für sich und Gail zu finden. Unter dem Haufen sah er ein angerostetes Messer und eine Gummischeide mit Wadenriemen. Er steckte das Messer in die Scheide und nahm sie und die Schutzanzüge mit nach oben. Gail schnürte Zweipfund-Gewichte an ihren Bleigürtel. Er gab ihr einen Schutzanzug und sagte: »Wieviel nimmst du normalerweise, sechs Pfund?« »Ja.« »Mit dem Schutzanzug hast du mehr Auftrieb. Am besten, du legst die Zweier wieder weg und nimmst vier Vierer.« Gail nickte. Sie sah das Messer in seiner Hand. »Was willst du denn damit?« »Ich weiß nicht. Im Sand graben. Ich habe es unten gefun den.« Treece warf das Aluminiumrohr über Bord. Es blieb einen Augenblick auf dem Wasser liegen, furchte es, versank dann langsam und zog die rote Schlauchrolle hinter sich her. Ein Strom von Luftblasen zerplatzte an der Oberfläche. Treece schrie Sanders etwas zu. »Werfen Sie diese Rolle an Backbord ins Wasser. Ich werfe meine an Steuerbord hinein. Passen Sie auf, daß sie nicht gleich abrollt und sich verhed dert.« Sanders warf die gelbe Rolle ins Wasser. Sie schwamm, und aus der Maske blubberte Luft. Er befestigte eine Druckluftfla sche an einem Traggestell mit Bänderung, prüfte den Lungen 175
automaten und half Gail, in die Schulterriemen zu schlüpfen. Dann schnallte er das Messer an sein rechtes Bein, schnürte noch zehn Pfund an seinen Bleigürtel und legte ihn an. Er steckte die Füße in die Schwimmflossen und sagte: »So, ich glaube, ich bin soweit. Ein seltsames Gefühl: keine Flasche, keine Brille.« Gail sagte: »Wirf mir den Beutel nach, wenn ich fertig bin, ja?« Gail ließ sich vom Seitendeck ins Wasser fallen. Sie zog ihre Brille über die Augen und hob eine Hand hoch. Sanders beugte sich über den Bootsrand und gab ihr die Henkel des Beutels; sie winkte und tauchte nach unten. Treece ging als nächster ins Wasser, und dann sprang San ders neben seine Schlauchrolle, ergriff die Maske und zog sie sich über den Kopf. Als Sanders nach unten schwamm, analysierte er das neue Tauchgefühl, das er mit der Vollmaske und dem Luftschlauch hatte. Sein Gesichtsfeld war viel größer als bei der Brille; er konnte sogar seine Nase sehen. Die Luft, die durch die Öffnung über seinem rechten Auge hereinzischte, war kalt. Es war angenehm, kein Mundstück aus Gummi im Mund zu haben; er stellte fest, daß er mit sich selbst reden konnte. Aber er war sich auch des leichten Rückens an seinem Kopf bewußt. Er blickte hoch und sah den Gummischlauch, der sich hinter ihm herschlängelte. Er konnte auch Treeces Schlauch erkennen, der quer über den Grund zum Riff lief, und folgte ihm. Treece wartete an der Öffnung der Höhle und hielt das Ende des Saugrohrs ein gutes Stück über dem Sand. Selbst unter Wasser gab es ein lautes Geräusch von sich – wie ein starker Wind, der zwischen Wolkenkratzern hindurchpfeift. Als David und Gail ihn erreicht hatten, zeigte Treece ihnen, wo sie sich neben der Höhle hinstellen sollten. Er formte mit Daumen und Zeigefinger einen Kreis und sah sie an. Er sagte in seine Maske: »In Ordnung?« Die Worte waren zwar nicht zu 176
hören, aber die Geste und die Lippenbewegung waren eindeu tig. Sie antworteten mit dem Taucherzeichen für »In Ordnung« . Treece setzte das Saugrohr auf den Sand. Sofort wurde Sand vom Grund abgesaugt. Sanders fand, daß es aussah, wie wenn in einem Zeitrafferfilm ein Staubsauger über einen Haufen Zigarrenasche gehalten würde. In wenigen Sekunden entstand ein dreißig Zentimeter tiefes und breites Loch. Am anderen Ende des Rohrs wurden Sandpartikel und kleine Steine ausgestoßen und bildeten eine dichte, wabernde Wolke. Der Gezeitenstrom lief nach rechts und drückte die Wolke von ihnen fort, aber die Wellen, die sich über dem Riff brachen, kämpften gegen den Strom an, und Sanders mußte sich schon nach kurzer Zeit auf den Grund legen, um das Loch zu sehen. Die Spitze einer Ampulle ragte aus dem Sand und vibrierte unter dem kräftigen Sog. Sanders ergriff sie und reichte sie Gail. Sie legte sie in den Einkaufsbeutel. Das Loch war jetzt bedeutend tiefer, und plötzlich gab die eine Seite nach. Sand stieg vor Sanders’ Gesicht auf. Durch den Nebel erblickte er ein vielfaches Flimmern; er langte in das Loch und schloß die Hand um mehrere Ampullen zugleich. Treece hob das Saugrohr hoch, damit der Sand sich setzte. Sanders konnte wieder besser sehen und sammelte die Ampul len ein. Dann zog Treece das Rohr einen knappen Meter nach rechts und begann ein neues Loch zu saugen. Er legte sofort einen Haufen anderer Ampullen frei, von denen einige farblos, einige gelb und ein paar bernsteinfarben waren. Gail ging näher zu Sanders, nahm ihm die Ampullen so behutsam wie möglich aus der Hand und legte sie eine nach der anderen in den Segeltuchbeutel. Es tat gut, sich rühren zu können. Das Wasser im Schutzanzug erwärmte sich allmählich auf Körpertemperatur, und wenn sie die Arme oder Beine bewegte, wurden Wassertaschen von einem Teil des Anzugs in den anderen gedrückt. Sie versuchte, die Ampullen im Beutel 177
zu zählen, aber es waren schon zu viele. Sie befürchtete, es könnten so viele werden, daß die unten liegenden zerbrächen, wenn sie auftauchte. Hier wogen sie fast nichts; über Wasser könnte die Flüssigkeit aber so schwer sein, daß die Ampullen auf dem Boden einfach zerdrückt würden. Sie tippte Sanders an und zeigte zu Treece, der nur noch als verschwommene, graue Gestalt zu sehen war, obgleich er höchstens einen guten Meter von ihnen entfernt stand. Sanders tippte Treece an, und dieser nahm das Saugrohr vom Sand. Gail bewegte sich zu ihm hin und hielt ihm die Tasche vor die Maske. Er nickte und zeigte nach oben. Als sie hochschwamm, wirkte der Beutel wie ein Anker. Sie mußte schwer arbeiten und kräftige Schwimmstöße machen und ihre freie Hand zu Hilfe nehmen, um hochzukommen. Sie schaute nach unten und sah, wie Treece Sanders antippte und zum Riff winkte. Coffin hatte ihre Luftblasen gesehen und wartete schon auf der Tauchplattform. Er nahm ihr den Beutel ab, und als er hineinschaute, bekam er ganz glänzende Augen. Er hatte die Ampullen wiedererkannt. Aber er sagte nur: »In Ordnung.« Gail zog sich auf die Plattform und legte sich keuchend auf den Bauch. »Nächstes Mal«, sagte Coffin, »lassen Sie die Gewichte unten. Dann ist es leichter.« Gail sagte: »Ja« und war wütend, daß sie nicht selbst darauf gekommen war. »Ich bin sofort fertig; muß nur vorsichtig mit dem Glas um gehen.« Sie setzte sich auf. »Keine Eile.« Coffin ging nach vorn, und Gail hörte es leise klirren, wäh rend er die Ampullen aus dem Beutel nahm. »War etwas los?« rief sie. »Alles ruhig. Ich glaube nicht, daß der Kerl was unternimmt, bei den vielen Leuten am Strand. Er ist unter Wasser phänomenal, 178
nicht wahr?« »Treece? Ja. Ist die Arbeit mit dem Saugrohr schwer?« »Ja, für die meisten. Es bockt wie eine alte Ziege. Aber Tree ce kann es fünf oder sechs Stunden hintereinander so gut festhalten, daß es keinen Zentimeter zur Seite ruckt. Ich glaube, er würde am liebsten sein ganzes Leben unten bleiben. Da ist er am glücklichsten, fern von den Menschen …« Coffins Stimme erstarb. »Was meinen Sie damit?« »Wissen Sie es denn nicht?« »Ich glaube nicht.« »Nun, es ist nicht meine Aufgabe, Geschichten zu erzählen.« »Mr. Coffin«, sagte Gail und versuchte, sich ihren Ärger nicht anmerken zu lassen. »Ich habe Sie nicht gebeten, mir Geschichten zu erzählen. Aber es gibt an Treece etwas, was alle außer uns wissen und was keiner sagen will. Wir wohnen in seinem Haus und schlafen in seinem Bett. Ich finde, wir haben ein Recht darauf, wenigstens etwas zu erfahren.« Coffin nahm die letzte Ampulle aus dem Beutel. »Vielleicht. Ich sage Ihnen nur, daß er verheiratet war.« Er kam wieder nach achtern. »Wo ist seine Frau?« »Tot.« Er gab ihr den Beutel. »264 Stück. Noch einiges zu tun.« Gail sah ihn an und fragte sich, ob sie weiterbohren sollte. Sie beschloß, es nicht zu versuchen: Wenn er reden wollte, würde er es tun – wann es ihm paßte. Es hatte keinen Zweck, ihn zu drängen. Damit würde sie ihn vielleicht nur endgültig zum Schweigen veranlassen. Sie zog sich die Brille über Augen und Nase, steckte das Mundstück in den Mund und rutschte von der Plattform ins Wasser. Unter Wasser rollte sie den Beutel zu einer Kugel zusammen, damit er sich nicht im Wasser aufblähte und sie behinderte. Sie schaute nach unten und sah Treece und Sanders am Riff 179
arbeiten, einige Meter links von der Höhle. Wegen der Sand wolke, die über den beiden schwebte, konnte sie allerdings nicht erkennen, welche Gestalt Sanders und welche Treece war. Sie schwamm nach unten, und das Wasser, das in ihren Schutzanzug drang, fühlte sich kalt an. Sie fragte sich, wieviel Luft sie noch hatte, und sehnte sich beinahe nach der Zwangs pause, die sie machen müßte, wenn sie die Preßluftflasche auswechselte. Die Sonne würde ihr guttun, und vielleicht würde sie Coffin dazu bringen können, ihr mehr über Treeces Frau zu erzählen. Sie schwamm durch den schwebenden Sand und spürte, wie einzelne Partikel an ihren Haaren hängenblieben. Sie hörte ein hämmerndes Geräusch, als ob jemand auf einem Amboß arbeitete. Sie war vom Sand geblendet, als ihre Brust plötzlich von einem heftigen Strahl aus Luft und kleinen Steinen getrof fen wurde. Sie war nur noch wenige Zentimeter vom Auslaß des Saugrohrs entfernt. Sie wich entsetzt zurück und ließ sich auf Grund sinken. Sand und Steine umregneten sie, während sie zum Riff krabbelte. Treece schlug mit dem Ende des Saugrohrs gegen die Koral len und versuchte, ein Stück abzubrechen, damit er seine Hand in ein Loch stecken konnte. Ein faustgroßer Korallenbrocken löste sich und rumpelte das Rohr hinauf. Treece tastete mit den Fingern, schüttelte dann den Kopf: seine Hand war zu groß. Er zeigte auf Sanders, der seine Finger in das Loch quetschte und wieder zurückzog. Er hatte ein grünes, krustiges Metallstück in der Hand und gab es Treece. Gail tippte Treece an, damit er wußte, daß sie wieder da war. Er drehte sich um und gab ihr ein Zeichen, den Beutel aufzu machen. Sie faltete ihn auseinander, und er ließ das Metall stück hineinfallen. Dann führte er sie zur Höhle zurück. Inzwischen war Sand in das Loch getrieben, das Treece gemacht hatte, und der Grund wies nur noch eine kaum sicht bare Vertiefung auf. Treece ließ die Sanders ihre alten Plätze 180
wieder einnehmen und setzte die Öffnung des Saugrohrs in die Vertiefung. Treece höhlte das Loch erneut aus, und bis zu einer Tiefe von 15 Zentimetern kam nur Sand heraus. Bald hatte er den Ampul lenteppich jedoch wieder erreicht, und Sanders nahm jeweils zwei oder drei aus dem Sand, der ständig in Bewegung blieb, und reichte sie Gail. Gail lag beinahe flach auf dem Grund, hatte sich mit den Ellbogen aufgestützt und bewegte nur die Hände. Sie spürte eine durchdringende, unangenehme Kälte. Das Wasser in ihrem Schutzanzug zirkulierte nicht. Ihr Körper, der Wärme erzeugen mußte, ließ ihre Arme, ihre Schultern, dann ihren Nacken erschauern. Sie hoffte, daß ihr bald die Luft ausgehen würde. Sanders holte die letzten beiden Ampullen aus dem Loch. Treece trat einen knappen halben Meter zur Seite, setzte das Rohr auf unberührten Sand und hatte in einer halben Minute zahllose neue Ampullen freigelegt. Auf dem Boden des Lochs zeichnete sich etwas Festes ab, ein hartes, kegelförmiges Gebilde. Der Sand, der es noch teilweise bedeckte, wurde abgesaugt, und Sanders konnte eine metallische grüne Spitze sehen. Plötzlich wußte er, was es war: eine Granate. Er griff danach, doch Treece schlug sofort mit dem Saugrohr an seine Hand, hob das Rohr dann hoch und sah ihn an. Er streckte den Zeigefinger seiner linken Hand in die Höhe. Vorsicht, wollte er damit sagen. Er zeigte auf den grünen Kegel und bewegte den Finger hin und her, zeigte dann auf sich: Finger weg, ich mache es allein. Er zeigte auf Sanders, auf das Saugrohr, auf den Kegel: Nehmen Sie das Rohr und halten Sie es darüber. Sanders nickte und langte nach dem Rohr. In der Nähe der Öffnung war ein Haltering. Treece hielt den Griff fest, bis Sanders ihn ebenfalls gepackt hatte, und ließ dann los. Als er zugesehen hatte, wie Treece das Gerät benutzte, den 181
Griff festhielt und das Rohr dabei mit dem Arm an seine Seite drückte, damit es nicht bockte, war er zu dem Schluß gekom men, es sei so etwas wie ein gutmütiges Tier, so daß er den Griff jetzt ziemlich lose umfaßte. Die Rohröffnung glitt über dem Grund hin und her, saugte Sand und Steine ein. Plötzlich nahm das Rohr einen Stein auf, der nicht durchpaßte. Es gab einen heftigen Ruck, das Rohr flog Sanders aus der Hand und schlug in seine Achselhöhle. Von dreißig Metern Preßluft schlauch gepeitscht, schleuderte es Sanders zu Boden und schwenkte ihn wie ein Yo-Yo über den Grund. Sanders wand seine Arme um das Rohr und versuchte, seine Fersen in den Sand zu graben, doch das Rohr zog ihn wieder hoch und riß ihn hin und her. Er sah die Oberfläche aufblitzen und erblickte graue und braune Streifen, als er am Riff vorbeigeschleudert wurde. Er lockerte seinen Griff, um das Rohr loszuwerden, und es schlug ihm gegen die Rippen. Dann rührte es sich plötzlich nicht mehr. Keuchend sah San ders hinter einem wirbelnden Schleier aus Sand und Luftbla sen, wie Treece das Ende des Saugrohrs an das Riff drückte und gegen einen Felsen schlug. Er knallte es noch einmal dagegen und noch einmal, bis es den Stein endlich ausspuckte. Der Schlauch wedelte langsam im Gezeitenstrom. Treece machte das In-Ordnung-Zeichen und zog fragend die Augenbrauen hoch. Sanders faßte sich an die Rippen und nickte. Treece zeigte auf den Griff: Gut festhalten, dann ist es ganz artig. Er führte Sanders wieder zum Loch. Gail tippte ihn an und blickte besorgt. Er machte das InOrdnung-Zeichen und ließ sich auf die Knie gleiten. Treece reichte ihm den Haltegriff und legte ihm das Rohr unter den Arm. Sanders packte es so fest, daß seine Knöchel ganz weiß wurden. Als er sicher war, daß er es völlig in der Gewalt hatte, nickte er Treece zu und setzte die Öffnung auf den Sand. Das Rohr zuckte gegen seinen Körper und vibrierte summend, aber er hielt es fest. 182
Treece schwamm zur anderen Seite des Lochs, zog Sanders mit, forderte ihn durch Zeichen auf, das Loch breit genug zu graben, damit es nicht zusammenfallen konnte. Die Granate stand auf der Spitze und verbreiterte sich auf einen Durchmesser von etwa 15 Zentimetern, während sie vom Sand befreit wurde. Sie war zum größten Teil mit Algen überwuchert, aber danach zu urteilen, wie Treece mit ihr umging, noch hundertprozentig scharf. Als sie freilag, umfaßte Treece sie vorsichtig mit beiden Händen und hob sie behutsam hoch. Er betrachtete sie einge hend und stellte sie dann am Fuß des Riffs in den Sand. Er nahm Sanders das Saugrohr ab und durchstöberte das Loch nach weiteren Ampullen. Der Beutel füllte sich schnell. Gail fror bis ins Mark und sehnte sich nach der warmen Sonne, wollte es den Männern aber nicht eingestehen. Sie würde sich zwingen, noch so lange auszuhalten, bis der Beutel voll genug war. Da merkte sie erleichtert, daß das Atmen schwerer wurde – die Druckluftfla sche war beinahe leer. Sie tippte Treece an, legte einen Finger quer über die Kehle und zeigte nach oben. Treece machte eine Kopfbewegung zum Beutel und hob die linke Hand, spreizte zuerst zwei, dann drei Finger ab: Sie sollte mehr Beutel mit nach unten bringen. Sie nickte. Als sie zur Oberfläche schwamm, sah sie, daß Treece und Sanders am Loch blieben, statt zum Riff zu gleiten. Sie wollten so viele Ampullen ausgraben, wie sie konnten und so schnell sie es konnten. Drei oder vier Meter über dem Grund erinnerte das Gewicht des Beutels sie daran, den Gürtel abzulegen. Sie löste die Schnalle und schaute zu, wie die zwölf Pfund Blei blitzschnell zum Sand hinunterglitten. Coffin hielt sich abermals bereit. Als sie ihm den Beutel reichte, sagte sie: »Ganz unten ist etwas.« »Was denn?« »Ich weiß nicht. Sie haben es am Riff gefunden.« Gail nahm 183
die Preßluftflasche ab und gab sie Coffin. »Möchten Sie eine neue?« fragte Coffin. »Ja. Und er möchte noch mehr Beutel haben.« »Wundert mich nicht. Wenn da unten wirklich soviel liegt, wie man sagt, brauchen wir eine Ewigkeit, wenn wir es mit einem Beutel hochholen wollen.« Gail zog sich auf die Tauchplattform und machte den Reiß verschluß der Schutzjacke auf. Sie lehnte sich an den Heck spiegel und ließ ihre kalte, nasse Haut von der Sonne erwär men. Ihr Gesicht hatte von der Brille rote Druckstellen be kommen, und ihr Mund fühlte sich von dem Mundstück ganz ausgeleiert und entzündet an – als hätte ein Zahnarzt einen Backenzahn bearbeitet und dabei ihre Lippen zu stark gedehnt. Sie wischte sich die Nase ab und sah Blut auf ihrer Hand. »Müde?« fragte Coffin, während er die Ampullen auspackte. »Erschöpft.« »Dann gehe ich jetzt einmal runter. Hier oben passiert nichts mehr.« »Nein, ich schaffe es schon«, sagte sie, ohne genau zu wis sen, warum sie das Angebot ablehnte. »Wenn doch etwas passiert, ist es besser, Sie sind hier.« »Dann wollen wir wenigstens mit Leinen arbeiten, damit es leichter geht.« Gail ruhte sich noch ein paar Minuten aus, kletterte dann ins Boot und schraubte ihren Lungenautomaten von der leeren Druckluftflasche. Während sie eine neue Flasche vorbereitete, überlegte sie sich, wie sie Coffin möglichst unauffällig dazu bringen konnte, etwas von Treeces Frau zu erzählen. Ihr fiel nichts Unauffälliges ein, so daß sie schließlich ohne Um schweife fragte: »Woran ist seine Frau denn gestorben?« Coffin warf ihr einen Blick zu, konzentrierte sich dann wie der auf den Einkaufsbeutel. »Ich muß jetzt zählen«, sagte er und tat Ampullen in einen kleinen Frühstücksbeutel aus Plastikfolie. »Da. Fünfzig.« Er band den Beutel zu und fing an, 184
einen anderen zu füllen. Gail schwieg, bis sie die Druckluftflasche fertig hatte. Coffin tat die letzte Ampulle in den Plastikbeutel und band ihn zu. »Ist sie schon lange tot?« Coffin überhörte sie. »Zwei-zehn«, sagte er. »Macht zusam men vier-sechsundfünfzig.« Er langte auf den Boden des Segeltuchbeutels und holte das grüne Metallstück heraus. »Was haben wir denn da?« »Was ist es?« »Ein Wappenschild.« Er hielt es hoch. Das Schild war wie eine Bourbonen-Lilie geformt. In jedem Blütenblatt befand sich ein Schlüsselloch. An den Rändern waren sechs Löcher, in denen ehemals Nägel gesteckt hatten. »Hat früher als Beschlag gedient. Saß auf dem Schloß einer Truhe oder Kiste. Was will er bloß damit?« »Er hat es nicht gesagt.« Coffin legte das Wappenschild auf das Steuerpult. »Ist nur aus Messing.« Gail sagte einen Augenblick nichts. Dann fing sie wieder an. »Wenn Sie es mir nicht erzählen wollen«, sagte sie, »frage ich ihn eben selbst.« Coffin öffnete ein Spind und nahm zwei Segeltuchbeutel und eine Seilrolle heraus; das Seil war gut einen Zentimeter dick. »Das wäre grausam.« Coffin steckte ein Seilende durch die Henkel seines Beutels und knüpfte einen einfachen Paalsteek. Dann maß er zwanzig bis dreißig Meter Leine ab, schnitt das Seil durch und band das Ende an eine Heckklampe. Mit dem anderen Beutel machte er das gleiche, nur daß er das Seilende diesmal an eine Klampe mittschiffs zurrte. Als er fertig war, starrte er einen Augenblick nachdenklich auf das Messer hinunter. Dann stieß er die Spitze ins Schanz deck und wandte sich zu Gail. »Na gut. Ich will nicht, daß Sie ihn fragen. Ich will nicht, daß er wieder leidet. Er hat schon genug durchgemacht.« 185
Gail schwieg betreten. Dann wollte sie etwas sagen, aber Coffin ließ sie nicht zu Wort kommen. »Als Halbwüchsiger hat er auf der Insel die unglaublichsten Dinge angestellt. Vermutlich nicht mehr als die meisten anderen Jungs, aber er machte es in einer bestimmten Rich tung, als ob er damit etwas sagen wollte. Er ist nie irgendwo eingebrochen und hat nie normalen Leuten etwas weggenom men. Alles, was er tat, war gegen die Leute, die am Drücker saßen, gerichtet – die Polizei oder die Briten. Ich weiß noch, wie die Briten versuchten, ein Stück Land auf St. David’s Island zu konfiszieren, das Gemeinschaftseigentum war. Sie wollten darauf irgendeine Anlage bauen. Die Insulaner mach ten beinahe einen Aufstand und behaupteten, das Land gehöre ihnen. Natürlich nahmen die Briten es weg, aber sie schafften es einfach nicht, etwas hinzusetzen. Treece und seine Kumpel rissen die Mauern schneller ein, als sie gebaut werden konnten, schütteten Zucker in die Benzintanks der Baumaschinen und dergleichen. Als er ungefähr dreiundzwanzig war, lernte er ein britisches Mädchen kennen – Priscilla. Ihren Nachnamen habe ich vergessen. Sie war in den Ferien hier, und sie begegneten sich zufällig auf St. David’s. Mein Gott, sie war ein prachtvolles Mädchen! Und freundlich. Ein netteres, süßeres Ding hat nie unter der Sonne geatmet. Treece brachte ihr bei, wie man taucht, wie man alte Wracks sucht – zum Teufel, er brachte ihr alles bei, außer, wie man sich mit den Fischen unterhalten kann. Sie brachte ihm dafür bei, wie man mit Menschen umgeht, wie man mit sich selbst fertig wird. Glättete ihn wie Öl die Wellen. Sie fuhr wieder nach England, kam aber im darauffolgenden Sommer zurück und nahm eine Stelle in Hamilton an. Sie arbeitete irgendwas mit Kindern und Halb wüchsigen. Ein Jahr danach heirateten sie – das muß ungefähr 1958 gewesen sein. Die waschechten Briten auf den Bermudas fanden es ziemlich shocking. Ihnen waren die Leute von St. 186
David’s schon immer unheimlich gewesen. Sie nannten sie manchmal rote Nigger, und meistens taten sie so, als gäbe es St. David’s überhaupt nicht. Als Priscilla aber mit Treece nach St. David’s gezogen war, statt ihn in die Zivilisation zu brin gen, wo er wie ein seltenes Tier gewirkt hätte, vergaßen sie die Sache. Sie behielt ihren Job in Hamilton, und er blieb auf der Insel. Treece schien von einem Tag zum anderen ein neuer Mensch geworden zu sein. Es war kein Zorn mehr in ihm, weil es dafür einfach keinen Platz gab. Vor lauter Glück. Zwei oder drei Jahre ging alles gut. Sie räumten zusammen Wracks aus. Treece machte Bergungsarbeit, damit die Speise kammer immer voll war. Damals lebte sein Vater noch, so daß er den Job beim Leuchtturm noch nicht hatte. Anfang der sechziger Jahre, es war gerade Frühling, fand Treece sein erstes Schatzschiff, die Trinidad. Sehr groß war der Schatz allerdings nicht – ein Goldbarren, ein Smaragdring und ein paar andere Sachen –, aber er gab ihm Auftrieb. Gleich danach wurde Priscilla schwanger. Damals wußte es noch niemand; es stellte sich erst danach heraus, als es zu spät war. Aber man hätte es wissen sollen: Sie strotzte irgendwie vor Leben. Sie trug den Smaragdring so stolz, und sie war nichts als Liebe und … ja, Güte, anders kann man es wohl nicht nennen. Ich habe schon gesagt, daß sie mit Halbwüchsigen arbeitete, mit Problemkindern, die auf die schiefe Bahn zu kommen drohten, wenn die Gesellschaft sie nicht richtig anfaßte, die sonst aber ganz gut zurechtkommen würden. Sie liebte diese Kinder, als wären sie ihre eigenen. Es war ungefähr die Zeit, als in den Vereinigten Staaten die große Rauschgiftwelle begann. Hier nicht; auf den Bermudas verbreitete sich das Rauschgift nie richtig. Aber man munkelte, die Bermudas würden von den Schmugglern als Zwischenstati on benutzt. Wenn ein Schiff mit europäischer Fracht in Florida oder Norfolk ankommt, zieht man sofort die Augenbrauen 187
hoch, besonders wenn es vorher in Haiti oder vor den anderen Inseln unterwegs festgemacht hat. Aber kein Mensch achtet auf Segeljachten, die von einem Trip nach Bermuda zurückkom men, oder auf Geschäftsleute, die hier ein verlängertes Wo chenende verbracht haben. Eines Tages plauderten Priscillas Kinder aus, eine Jacht mit einer Ladung Drogen sei vom Süden her unterwegs. Sie dachte, es sei nur ein Gerücht, aber sie erzählte es Treece. Schatztau cher haben überall ihre Ohren, in jeder Bar und auf jedem Fischmarkt. Sie müssen es, weil sie Hinweise brauchen: Der und der hat hier einen Haufen Steinballast gesehen; ein anderer hat dort einen seltsamen Balken ausgemacht; ›He, sieh mal, was für eine Münze ich vor dem Spanischen Felsen gefunden habe!‹ Und so weiter. Treece hatte also keine Schwierigkeiten, dem Gerücht nachzugehen, und es stellte sich heraus, daß es stimmte. In St. George’s wurde eine Privatjacht mit zehn Kilo Heroin an Bord erwartet. Ein Teil davon sollte in Brotlaiben auf ein Passagierschiff gebracht werden; den Rest wollte man hier lassen, damit er nach und nach von harmlosen ›Geschäfts leuten‹ in die Staaten geschmuggelt werden konnte. Damals hatte Treece noch nicht ganz das Vertrauen in die Regierung verloren. Priscilla hatte ihm klargemacht, daß die Behörden nicht unbedingt darauf aus waren, ihn unschädlich zu machen. Also gingen sie zur Regierung, gleich ganz nach oben, und erzählten alles, was sie wußten. Nun, die Regierung glaubte ihnen nicht, und um fair zu sein, muß man zugeben, daß sie keine handfesten Beweise hatten – fair, weil man bedenken sollte, wie voreingenommen die Briten bei Treece waren. Sie hatten keine Ahnung, was er alles wußte. Für sie war es nur ein Gerücht, das ein Halbstarker in die Welt gesetzt hatte. Treece war ziemlich sauer, zum Teil aus verletztem Stolz. Er meinte, sichere Anhaltspunkte zu haben, daß ein paar Leute Heroin schmuggelten, und die Regierung glaubte ihm nicht. Er 188
beschloß, das Schmuggelschiff selbst aufzubringen und der Regierung die Drogen auf einem Tablett zu servieren. Er wußte nicht, worauf er sich einließ, und machte ein paar Dummheiten, erzählte zum Beispiel einmal zu oft, was er vorhatte. Er wurde ein paarmal bedroht, aber das machte ihn nur noch hartnäcki ger. Priscilla versuchte, ihn davon abzubringen, aber das war schwer, weil sie im Grunde seiner Ansicht war. Lassen wir die Einzelheiten. Um es kurz zu machen: Treece und ein paar Freunde stellten die Jacht vor dem Hafen von St. George und versuchten zu entern. Es gab einen Riesentumult, und die Jacht dampfte ab.« »Mit den Drogen?« fragte Gail. »Ja, aber sie rächten sich. Vier Tage später fand man Priscilla tot an ihrem Schreibtisch im Büro. Der gerichtsmedizinische Befund lautete, sie sei an einer Überdosis Rauschgift gestor ben, und die Akte wurde geschlossen. Man glaubte aber allgemein, einer von den Kontaktmännern der Schmuggler habe seine Felle wegschwimmen sehen, eines Morgens im Büro auf sie gewartet und ihr etwas injiziert, ehe sie um Hilfe rufen konnte. Sie hatte mehrere Einstiche in den Armen, damit es aussah, als wäre sie schon länger süchtig gewesen, aber sie waren alle ganz frisch.« Coffin schwieg einen Augenblick. »Treece wurde beinahe verrückt vor Kummer und Schuldge fühlen und Wut«, fuhr er dann fort. »Halb gab er sich die Schuld, halb der Regierung.« »Fand er den Mann, der sie umgebracht hatte?« »Niemand weiß es … mit Sicherheit. Aber ungefähr eine Woche später fand man auf St. George’s einen Mann – in den obersten Zweigen eines Baums. Jeder Knochen seines Körpers war an den Gelenken gebrochen. Seine Finger waren nach oben, seine Arme nach hinten gebogen, seine Knie und Zehen waren genauso gebrochen worden. Sein Gesicht saß hinten, als hätte jemand versucht, den Kopf abzuschrauben. Er war Barkeeper gewesen, meist arbeitslos, hatte aber immer viel 189
Geld ausgegeben. Der Staatsanwalt erhob nie Anklage, und man verbindet die Sache nur deshalb mit Treece, weil der Mann, der den Burschen zu Kleinholz machte und ein paar Meter hoch auf einen Baum schleuderte, übermenschliche Kräfte gehabt haben muß. Den nächsten Monat war Treece dauernd betrunken, mor gens, mittags und abends. Er soff alles, was ihm unter die Finger kam. Er hockte in seinem Haus, und die einzigen Leute, die sich hinwagten, waren die Insulaner, die ihm Schnaps und Essen brachten. Dann kam er eines Tages wieder heraus und fing an zu tauchen, aber wie ein Wahnsinniger: allein, bei schlechtem Wetter, zu tief und zu lange. Es war, als wollte er sich selbst bestrafen oder umbringen, und er hätte es um ein Haar geschafft – verkrümmte sich wie eine Brezel und mußte drei Tage in einer Höhenkammer liegen. Ein Fischer sah ihn auf dem Wasser treiben und zog ihn an Bord.« »Was brachte ihn wieder zu sich?« »Zu sich? Sie meinen, was ihn wieder einigermaßen normal machte? Ich nehme an, die Zeit. Aber was ist schon normal? Er ist nie wieder so geworden, wie er vor ihrem Tod war. Wird es wohl auch nicht mehr.« »War Cloche in die Sache verwickelt?« Coffin schwieg. Dann sagte er: »Ich wette darauf, aber es gibt keine Beweise. Doch jetzt sieht Treece kommen, daß das gleiche noch mal passiert – das ist es.« Gail blieb eine Weile stumm. »Danke«, sagte sie dann. Sie spürte ein Gefühl der Trauer, litt irgendwie mit Treece. Sie versuchte sich vorzustellen, wie seine Frau ausgesehen hatte, aber das einzige passende Bild, das ihr einfiel, war ihr eigenes. Coffin hielt die Druckluftflasche für sie, während sie das Traggestell anlegte und die Schulterriemen festmachte. Er reichte ihr den Segeltuchbeutel, den sie mit nach oben gebracht hatte, und sagte: »Wenn Sie drin sind, gebe ich Ihnen die beiden anderen. Nehmen Sie sie mit nach unten und legen Sie 190
einen Stein drauf, damit sie nicht abgetrieben werden. Wenn sie voll sind, rucken Sie dreimal kräftig an der Leine, und ich ziehe sie hoch. Schwimmen Sie aber vorsichtshalber hinterher, damit sie nicht umkippen.« »In Ordnung.« Sie kletterte über den Heckspiegel auf die Tauchplattform, überprüfte noch einmal Druckluftflasche und Brille und sprang ins Wasser. Sie zog die beiden Leinen hinter sich her und schwamm zum Grund. Ohne die Bleigewichte hatte sie mehr Auftrieb, und sie mußte beide Arme benutzen, um schneller hinunterzukommen. Sie nahm den Bleigürtel vom Grund, legte ihn an und schwamm zu der Sandwolke. Sie war länger oben gewesen, als sie gedacht hatte. Neben David ragte ein dreißig Zentimeter hoher und sechzig Zentime ter breiter Ampullenhügel aus dem Sand. Sie kniete sich auf zwei Beutel und öffnete den dritten. Sie stellte fest, daß sie eine Handvoll Ampullen auf einmal vom Hügel nehmen und in den Beutel fallen lassen konnte; sie glitten langsam hinein. Sie füllte einen Beutel, dann den nächsten, dann den dritten. Sie tippte Sanders an, damit er Bescheid wußte, daß sie wieder nach oben ging, und ruckte dreimal an den Leinen. Als sie den Gewichtsgürtel löste, strafften sich die beiden Taue, und die Beutel schwebten hoch. Sie ergriff die Taue mit einer Hand, nahm den nicht angebundenen Beutel in die andere und ließ sich nach oben ziehen. »Sie bluten ja«, sagte Coffin. Gail schielte nach unten und sah, daß ihre Nase von blutigem Wasser umspült wurde. Sie warf den Kopf zurück und blies die Taucherbrille aus. »Ich weiß. Hat nichts zu bedeuten.« »Soll ich Sie wirklich nicht ablösen?« »Einmal mache ich es noch.« Vorsichtig schüttete Coffin die Ampullen auf eine Persen ning, die er an Deck ausgebreitet hatte. »Ich zähle sie, wenn Sie wieder unten sind«, sagte er und gab Gail die Beutel 191
zurück. Sie schwamm wieder hinab, und diesmal hatte sie Schmerzen – ein anhaltendes Brennen in den Stirnhöhlen, genau über den Augen. Sie hielt ein paar Meter unter der Oberfläche inne, bewegte sich nur, damit sie die Tiefe hielt, und wartete darauf, daß der Schmerz nachließ. Sie schwamm weiter nach unten, bis das Brennen abermals einsetzte und sie zwang, erneut zu warten. Dies ist das letztemal, dachte sie: zuviel Runter und Rauf. Jetzt spürte sie auch Druck auf den Ohren, und sie gähnte. An ihrem Trommelfell knackte es zweimal geräuschvoll, und der Druck war fort. Als sie weiterschwamm, sah sie eine Bewegung – einen grauen Wirbel an dem dunklen Rand hinter dem Riff. Sie schaute genauer hin und bemühte sich, den dunstigen Schleier zu durchdringen. Nichts. Dann bewegte sich weiter links blitzschnell etwas. Sie wandte den Kopf in die Richtung, in der sie die nächste Bewegung vermutete. Hinter ihr, weiter von der Sandwolke entfernt, war das Wasser klarer, und als sie sich umdrehte, sah sie es: Wie aus einem Vorhang glitt ein Hai aus dem Nebel hervor. Er bewegte sich mit sicherer, gelassener Anmut, schoß mit gleichmäßigen Schlägen seines sichelförmi gen Schwanzes durchs Wasser. Panikartiges Entsetzen stieg in ihr auf. Sie war erst auf hal bem Weg zum Grund, und sie erinnerte sich an Davids War nung, nicht an die Oberfläche zu hasten. Sie wußte nicht genau, wie groß der Hai war, weil sie im Wasser nichts sah, woran sie ihn messen konnte. Sie konnte auch nicht erkennen, wie weit er entfernt war; er schwamm am äußeren Rand ihres Gesichts felds. Aber wie weit konnte sie sehen? Fünfzehn Meter? Zwanzig? Der Hai machte einen großen Bogen, und als sein Rücken von Sonnenstrahlen getroffen wurde, sah Gail verschwommene Streifen an seiner Seite, hingetupfte, hellbraune Streifen, die 192
sich deutlich von der graubraunen Haut abhoben. Ein schwar zes Auge schien sie zu beobachten, doch ohne Interesse oder Neugier. Sie ließ die Leinen nicht los und schwamm langsam weiter zu dem rülpsenden Saugrohr. Sie nahm ihren Bleigürtel, band ihn um und tippte Treece an. Als er sie ansah, machte sie mit der rechten Hand eine weit ausholende Schwimmbewegung, dann mit der linken eine zuschnappende Geste. Sie zeigte nach rechts, wo sie den Hai jetzt vermutete. Treece schaute in die angegebene Richtung, sah aber nichts, da er in treibenden Sand gehüllt war. Er blickte zu ihr zurück, schüttelte den Kopf und tat die Gefahr mit einer wegwerfenden Handbewegung ab. Sanders war nicht sicher, ob er verstanden hatte, was Gail Treece berichtete. Er erinnerte sich, wie nervös sie beim Anblick des Barrakudas gewesen war, und nahm an, sie habe wieder einen gesehen. Als er jedoch ihre angstgeweiteten Augen erblickte, beschloß er, sie zu fragen. Er legte die Daumenballen aneinander, spreizte die Finger ab und schloß sie dann blitzschnell – eine gute pantomimische Darstellung eines großen Mauls. Er sah sie an, zog die Augenbrauen hoch, breitete die Arme aus, fragte damit: Wie groß? Sie zuckte die Achseln: Weiß ich nicht genau. Aber sie breitete die Arme so weit aus, wie sie konnte: Mindestens so groß. Sanders bemerk te, daß ihre Taucherbrille gut einen Zentimeter hoch mit Blut gefüllt war. Er zeigte darauf und bewegte den Finger hin und her, wollte ihr auf diese Weise befehlen, die Brille auf keinen Fall zu säubern, damit kein Blut ins Wasser kam. Sie nickte, aber sie hatte falsch verstanden. Ehe er sie daran hindern konnte, drückte sie auf die Sichtplatte der Brille und atmete durch die Nase aus. Ein Strom grünen, schleimigen Wassers schoß aus der Brille und wurde von der Gezeitenströ mung fortgetragen. Sanders schlug sich an die Stirn und schüttelte den Kopf. Er zeigte auf die treibenden Blutfäden. 193
Gail war völlig niedergeschmettert. Sie berührte seinen Arm und zeigte zur Oberfläche, fragte, ob sie nach oben schwimmen sollte. Er hielt ihr Handgelenk fest und schüttelte heftig den Kopf: Nein. Er zeigte auf einen leeren Segeltuchbeutel, nahm eine Handvoll Ampullen und ließ sie hineinfallen. Der Graben, den Treece inzwischen ausgehoben hatte, ent hielt reiche Beute. Überall ragten Ampullen aus dem Sand wie Rosinen aus einem Kuchen. Treece setzte das Saugrohr vor sichtig zwischen der Artilleriemunition auf, berührte einen halbverfaulten Kistendeckel oder Kistenboden und schälte das Holzstück einfach ab. Darunter kamen 48 Ampullen zum Vorschein, in regelmäßigen Sechserreihen. Sanders konnte nicht mit ihm Schritt halten. Er nahm vier, sechs, zehn Ampullen auf einmal aus dem Sand und reichte sie Gail, die schräg hinter ihm war, aber Treece legte weit mehr frei, als er hochnahm. Er versuchte, eine ganze Zigarrenkiste zu packen, die intakt zu sein schien, aber sie hatte keinen Boden mehr, so daß die Ampullen in den Sand rutschten. Er legte die Hände becherförmig zusammen, schaufelte fünfzehn oder zwanzig Ampullen hoch und drehte sich um, weil er sie Gail geben wollte. Ihre Hände waren nicht mehr da. Wütend drehte er sich weiter um und sah, daß sie zum Riff starrte. Der Hai war nur noch gut drei Meter entfernt und schien zwischen ihnen und den Korallen zu schweben. Er war etwas über zwei Meter lang, ein geschmeidiger Muskeltorpedo. Er beobachtete sie abwartend, und Sanders fragte sich, ob der Fisch überlegte, woher das Blut im Wasser stammte. Er langte an seine Wade und holte das Messer aus der Scheide. Er sah, daß Treece den Hai noch nicht bemerkt hatte. Er tippte ihn an und zeigte auf das Tier, das inzwischen nach links schwamm. Es hielt sich etwa anderthalb Meter vom Riff entfernt, und auch die Entfernung zu den drei Tauchern war gleichbleibend – drei oder vier Meter. Treece beobachtete, wie der Hai an Gail vorbeischwamm und 194
gut sechs Meter von ihm entfernt wendete, wobei er hinter der Sandwolke verschwand. Er klopfte mit den Knöcheln auf das Saugrohr und schüttelte den Kopf. Er schien sagen zu wollen: Ganz ruhig bleiben. Mit dem Messer in der rechten Hand hatte Sanders nur noch die linke Hand für die Ampullen frei und konnte damit um so weniger ausrichten, als Gail ihm keine Ampullen mehr abneh men würde. Sie blieb wie erstarrt auf den Knien hocken, hielt einen halbvollen Beutel umklammert und wartete in panischem Entsetzen darauf, daß der Hai wiederkam. Er sah ihn zuerst. Der Hai kam auch diesmal von rechts, immer noch ein gutes Stück entfernt, aber, meinte Sanders, etwas näher als beim ersten Mal. Er näherte sich Treece, der völlig gelassen blieb, und kam dann auf Sanders zu, der sich duckte und das Messer nach vorn hielt. Dann sah Gail ihn und fuhr entsetzt mit den Armen durchs Wasser. Der Hai sah die Bewegung, und sein Kopf ruckte, sauste nach unten, auf Gail los. Gails Arm stieß in Sanders’ Seite, und die Berührung wirkte wie ein Auslöser, der ihn vorschießen ließ. Seine rechte Hand mit dem Messer war ausgestreckt. Die Messerspitze zeigte nach oben. Der Hai sah ihn kommen und wich aus, wobei sein Kopf nach rechts zuckte und sein Schwanz zweimal das Wasser peitschte. Sein Instinkt befahl ihm jedoch, das Riff zu meiden, und, offenbar verwirrt, wurde er so langsam, daß Sanders Zeit hatte, ihm das Messer ungefähr dreißig Zentimeter vom Schwanz entfernt in den Bauch zu stoßen. Sanders konnte nur noch denken, wie weich das Fleisch doch sei; die Scheide glitt bis ans Heft hinein. Dann verrenkte der Körper sich krampfartig und riß ihm das Messer aus der Hand. Blut quoll in einer dicken grünen Wolke aus der Wunde. Der Hai schoß fort, ohne Ziel, im Zickzack; sein Rumpf zitterte heftig, und sein Schwanz schnellte hin und her. Der 195
Kopf wandte sich zur Seite und schnappte nach dem blutenden Bauch. Der Hai versuchte, sich selbst zu fressen. Das Messer war einen knappen Meter weiter in den Sand gefallen, und Sanders schwamm hin, um es zu holen, da er fürchtete, der Hai könne wiederkommen und rasend vor Schmerz angreifen. Aber es war nicht der Hai, der angriff. Sanders fühlte, wie eine Hand ihn um den Knöchel packte und zurückzerrte. Auf dem Rücken liegend, blickte er in Treeces wutentbrannte Augen. Er sah, wie Treece die Lippen bewegte, aber er hörte nur Laute, keine Worte. Treece ergriff seinen Arm und zog ihn auf die Füße. Seine Finger umschlossen Sanders’ Oberarm völlig und zwickten an der Innenseite, wo sie sich trafen, schmerzhaft ins Fleisch. Sanders hatte einen tödlichen Schreck bekommen und war ganz konfus. Er wußte nicht, womit er Treece so in Wut gebracht hatte, und als er in das schreiende Gesicht blickte, fürchtete er wirklich, Treece könne ihn umbringen. Treece riß ihm das Messer aus der Hand und schleuderte es in die Saugöffnung. Es klapperte das Rohr hinauf. Dann zeigte Treece zur Oberfläche und begann hochzuschwimmen. Er hielt inne, kehrte um und hob eine Granate auf. Gail kauerte immer noch auf dem Grund. Sanders nahm ihren Arm und half ihr auf die Beine, ruckte dreimal an einer der Leinen und legte ihre Hand daran, als die Leine sich straffte, weil Coffin oben zog. Während er mit Gail hochschwamm, sah Sanders in der Ferne einen grauen Schatten, der sich bewegte. Er war zwar sehr undeutlich, aber Sanders konnte trotzdem erkennen, daß er größer war als ein Mensch. Als er dicht unter dem Boot war, blickte er nach unten und sah, wie der verletzte Hai über dem Riff hin und her zuckte. Dann strömte keine Luft mehr in seine Maske. Er atmete seine letzte Luft aus und machte einen heftigen 196
Schwimmstoß, um die Oberfläche zu erreichen. Er hielt sich mit einer Hand an der Tauchplattform fest, nahm die Maske ab und sagte: »He, was …« Treeces Stimme ließ ihn verstummen. »… so etwas Dummes, Gottverdammtes, Idiotisches, Ver rücktes habe ich wirklich noch nicht erlebt!« Treece war bereits im Boot und schimpfte – das nahm Sanders jedenfalls an – mit Coffin, weil er den Kompressor abgestellt hatte. Sanders tauchte das Gesicht ein, um sich die Nase zu säu bern, so daß er die Hand, die nach ihm griff, nicht sehen konnte. Er hörte nur das Wort »Sie!« und fühlte, wie er unter dem Arm gepackt und aus dem Wasser und über den Heck spiegel gerissen wurde. Seine Füße klatschten auf das Deck. Gail, die noch an der Plattform hing, sah Sanders aus dem Wasser fliegen und hatte plötzlich ein Bild vor Augen: einen Mann, der mit gebrochenen und nach hinten gebogenen Gliedmaßen auf einen Baum geschleudert wurde. Treece hielt Sanders am Arm gepackt und schüttelte ihn so heftig, daß sein Kopf sich vom Rumpf zu lösen drohte. »Was zum Teufel haben Sie sich bloß dabei gedacht? Bilden Sie sich vielleicht ein, Sie wären ein gottverdammter neuer Tarzan? Sie sind ein gottverdammtes Risiko, das sind Sie!« »Wie …« »Einen halben Tag versaut … mein Gott!« Treece stieß San ders weg und drehte sich um, nahm Gails Druckluftflasche von der Plattform. Sanders massierte die Striemen auf seinem Arm. »Sie hat geblutet!« »Quatsch!« »Es stimmt! In die Brille. Sie hat es ins Wasser geblasen.« Treece sah Coffin an und sagte: »Der Herr bewahre mich vor diesen Idioten.« Er wandte sich wieder an Sanders und machte den Mund auf, um ihn anzuschreien, änderte aber offensicht lich seine Meinung. »Erstens war dieser kleine Fisch gar nicht darauf aus, uns zu fressen.« 197
»Klein!« sagte Sanders. »Das Biest war mindestens zwei Meter lang.« Jetzt, wo er ganz sicher war, daß Treece ihm nichts tun würde, wurde er verlegen, aufgebracht und aggressiv zugleich. Er konnte dieses autoritäre Getue einfach nicht mehr aushalten. »Wenn er auch nur anderthalb Meter lang war, bin ich der König von Spanien! Im Wasser sieht alles größer aus.« Sanders fühlte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoß. »Selbst dann …« »Und zweitens«, fuhr Treece fort, »war nicht genug Blut im Wasser, um ihn richtig scharf zu machen. Er wollte nur mal nachschauen. Wenn er wirklich Beute gewittert hätte, dann hätte sich die Erregung an seinem Körper abgezeichnet, und er wäre richtig in Bewegung gekommen. Und sobald ich das festgestellt hätte, hätten wir uns nur in der Sandwolke vom Saugrohr zu verstecken brauchen. Haie kommen ihnen nie zu nahe, und wenn doch, ergreifen sie sofort die Flucht, ohne erst lange zuzuschnappen. Der Sand verstopft ihre Kiemen, und das haben sie nicht gern: Es kann sie nämlich umbringen. Einmal griff sein Großvater mich an – ein großer Bursche, ein Tiger hai, mindestens vier Meter lang. Ich brauchte nur in der Wolke zu warten, bis er wieder abzog. Aber mit dem Messer auf einen Hai losgehen ist das Dümmste, was man machen kann. Das Allerdümmste! Wenn Sie keine andere Wahl mehr haben, wenn es heißt, er oder Sie, dann können Sie meinetwegen zustechen. Vorher aber nicht.« »Warum nicht?« »Dann wird er nach Ihnen schnappen. Sie haben angeblich nicht genug Hirn, um wütend zu werden, aber ich kann Ihnen sagen, ich habe sie schon ganz schön heimtückisch erlebt. Wenn Sie noch einen Grund wissen wollen, gehen Sie ins Wasser.« »Wie bitte? Wo?« Treece schob ihm eine Brille hin. »Setzen Sie sie auf und 198
lassen Sie sich von der Plattform baumeln.« Zu Gail sagte er: »Sie auch. Aber schwimmen Sie in Gottes Namen nicht spazieren!« David und Gail ließen sich zögernd, ohne zu wissen, was sie erwarten würde, von der Plattform ins Wasser und hielten sich an den Ketten fest, mit denen sie am Boot befestigt war. Sie atmeten ein und steckten die Köpfe ins Wasser. Das Schauspiel, das sich ihnen in zehn Metern Entfernung am Riff bot, erinnerte an eine Messerstecherei zwischen zwei Rockerbanden. Von dem Hai, den Sanders verletzt hatte, waren nur noch ein paar Fetzen übrig, um die sich zahllose andere Haie wie rasend vor Hunger rissen. Fünf oder sechs riesige Tigerhaie schossen in einer wirbelnden Kugel um ein Fleisch stück herum. Ein kleinerer Hai verfolgte einen Fleischfetzen zum Grund, schnappte danach und suchte, von zwei anderen Haien verfolgt, hastig das Weite. Überall flitzten Haie, sausten in der Hoffnung, etwas Eßbares zu erwischen, auf Gerüche und Geräusche und Bewegungen im Wasser los. Einige waren grau, einige braun, andere gestreift. Große Haie bedrohten kleinere, die sofort die Flucht ergriffen – und, wenn sie nicht schnell genug waren, verwundet und vom Mob zerfetzt wurden. Während die Sanders zuschauten, lösten sich immer mehr dunkle, gewölbte Schatten aus dem blauen Zwielicht. Einer schwamm genau unter dem Boot vorbei und kam auf sie zu, als er etwas an der Oberfläche sah. Sie zogen sich auf die Platt form und kletterten ins Boot. Treece und Coffin hockten an Deck und zählten Ampullen. Treece blickte noch nicht einmal auf. »Sehen Sie jetzt, was Sie angerichtet haben?« Seine Stimme klang weder vorwurfsvoll noch hämisch, sondern konstatierte einfach: Nun begreifen Sie wohl endlich. »Ja.« Gail sagte: »Wie lange werden sie dableiben?« »Bis das Futter ausgeht. Aber wenn sie sich zerfleischen, wie 199
sie es gewöhnlich machen, wird das Futter nicht schnell ausgehen, und sie werden noch eine ganze Weile dableiben.« »Der Tag ist also hin«, sagte Sanders. »Tut mir leid.« »Ja«, antwortete Treece versöhnlich. »Aber es ist nicht so tragisch. Wir haben schon einen ganzen Haufen raufgeholt, und die Biester haben wenigstens ein Gutes: Sie sorgen dafür, daß niemand unten herumstöbert.« Gail klapperte vor Kälte. Sie zog die Jacke des Schutzanzugs aus und trocknete sich ab. »Wie viele sind es?« »Viertausend« – Treece sah Coffin an – »… achthundertund siebzig«, fuhr Coffin fort und schnürte den letzten Plastikbeutel mit Ampullen zu. »Nicht genug.« Treece schaute zum Ufer. »Und nicht mehr viel Zeit. Ich stelle mir vor, daß Cloche so schlau gewesen ist, seine Kundschafter in den Klippen zu postieren.« Coffin sagte: »Er kann sie nicht in zwei Tagen zu guten Tauchern machen. Und er muß sich ein Saugrohr bauen. Kann keine blutigen Laien nach unten schicken, um mit den Händen im Sand zu buddeln.« »Nein, in zwei Tagen nicht. Aber viel länger wird es nicht dauern, bis sie sich einigermaßen auskennen. Und dann werden sie da sein. Ich denke, wir sollten auch nachts arbeiten.« Er sah Gails kummervolles Gesicht und fügte hinzu: »Keine Angst, heute nacht noch nicht. Ihre Nase soll sich ein bißchen ausru hen.« »Und was machen wir hiermit?« fragte Sanders und zeigte auf die Granate. »Im Augenblick nichts. Ich wollte sie nur unten weghaben. Später kann ich sie entschärfen und das Messing verkaufen.« »Ist sie denn wirklich noch scharf, nach dreißig Jahren?« »Sie glauben einem aber auch gar nichts«, sagte Treece wohlwollend. Er klemmte die Granate in eine Schraubzwinge, die am Steuerbord-Schanzdeck angebracht war. Aus einem Spind nahm er einen gewaltigen Schraubenschlüssel und setzte 200
ihn am unteren Ende der Granate an. Er ruckte am Griff, doch der Schraubenschlüssel bewegte sich keinen Zentimeter. »Bis ins Mark korrodiert.« Er stemmte einen Fuß gegen das Längs schott, packte den Schraubenschlüssel mit beiden Händen und lehnte sich zurück. Sein Bizeps ballte sich zu festen Knoten, seine Nackensehnen traten hervor, und sein Gesicht färbte sich einen Ton dunkler. Ein metallisches Quietschen ertönte, dann ein scharfes Knak ken, und der Griff des Schraubenschlüssels bewegte sich. Treece zog noch einmal mit aller Kraft, und die korrodierte Partie löste sich. Er drehte das Unterteil der Granate ab und ließ es auf das Deck fallen. »Sehen Sie.« Die Granate war mit steifen, grauen, spaghettiähnlichen, dicht gebündelten Fäden gefüllt. Treece reichte Coffin eine kleine Flachzange und eine Schachtel Streichhölzer. Coffin fischte einen Faden aus der Granate, hielt ihn mit der Flachzange fest und gab Sanders die Streichhölzer. »Zünden Sie es an.« »Was ist es?« »Cordit. Das läßt alles explodieren.« Sanders hielt ein brennendes Streichholz an das Ende des Corditfadens. Es gab einen grellen Blitz, und der Faden brannte so hell wie Magnesium. Gail sagte: »Das ist alles, was in diesen großen Granaten steckt?« »Alles? Mein Gott, Mädchen, legen Sie hundert davon zu sammen und verbinden Sie sie mit einem Zünder, und Sie können ganz Bermuda ausradieren.« »Wie viele sind da?« »Keine Ahnung«, sagte Coffin. »Als wir losfuhren, hatten wir ungefähr zehn Tonnen geladen, aber ein Teil davon ist gehoben worden.« Treece warf das Cordit über Bord. Es zischte, als es das Wasser erreichte, und strömte Blasen aus, während es sank. 201
Sie zogen die Luftschläuche aus dem Wasser und rollten sie an Deck zusammen. Treece zerrte das Saugrohr ans Schanz deck und ließ danach den Motor an. Charlotte, die bis dahin geschlafen hatte, rappelte sich auf und bezog ihren Deckposten am Bug – wie ein Soldat, der widerwillig die Nachtwache antritt. Coffin holte den Anker ein, und Treece steuerte das Boot vorsichtig durch die Riffe und nahm Kurs aufs Ufer. »Morgen um welche Zeit?« fragte Coffin. »Früh. Sagen wir acht Uhr. Wir arbeiten vormittags vier oder fünf Stunden, ruhen nachmittags ein bißchen aus und fangen gegen sechs wieder an.« Er stichelte: »Wenn man älter ist, braucht man mittags ein kleines Nickerchen, nicht wahr?« »Was Sie nicht sagen!« Das Boot war noch 75 Meter vom Strand entfernt. »Euch überlebe ich noch alle!« Coffin sprang auf das Schanzdeck und hechtete ins Wasser. Treece sah ihm grinsend nach, bis er wieder hochkam und zum Strand schwamm. Dann wendete er und fuhr seewärts. Als das Boot von der sanften Dünung gewiegt wurde, fiel etwas vom Steuerpult und klapperte auf das Deck: das Wap penschild. Gail hob es auf und gab es Treece. »Teufel noch mal, das hätte ich fast vergessen«, sagte er und fügte mit einem für Sanders bestimmten Lächeln hinzu: »Bei all der Aufregung mit dem todesmutigen Haibezwinger.« »Adam hat gesagt, es sei ein Schloßbeschlag gewesen.« »Ja, aber nicht für ein gewöhnliches Schloß. Ich hab’ schon mal von solchen Schlössern gehört, aber dies ist das erste, das ich zu Gesicht bekomme. Ich weiß nicht, ob es überhaupt noch welche davon gibt. Es saß an einer dreifach gesicherten Truhe. Sehen Sie die drei Schlüssellöcher? Man brauchte drei Schlüs sel, um sie zu öffnen.« Sanders fragte: »Welchen Sinn sollte das haben?« »Es sollte einen oder zwei Gauner daran hindern, sich mit dem Inhalt auf und davon zu machen. Drei Partner, drei 202
Schlüssel. Angenommen, jemand schickte eine Truhe von der Neuen Welt nach Spanien. Der König hatte gewissermaßen einen Universalschlüssel, in diesem Fall alle drei Schlüssel. Der Mann an dem Ort, wo sie losgeschickt wurde – sicher in Havanna –, hatte wahrscheinlich zwei, und der Kapitän des Schiffs hatte einen. Sie verschlossen die Truhe in Havanna, und der Kapitän nahm sie mit auf das Schiff. Da er nur einen Schlüssel hatte, konnte er sie natürlich nicht öffnen. Er kam nach Spanien und ließ sie dem König bringen.« »Konnte man sie nicht aufbrechen?« »Ja, aber so etwas passierte nur selten. Die Spanier betrachte ten Schlösser als … nun, nicht gerade als etwas Heiliges, aber doch als etwas ganz Besonderes. Die Briten und Holländer schickten ihre Dokumente und Wertsachen in unverschlosse nen Kisten oder Truhen über die Weltmeere; wenn ein Schiff gekapert wurde, nützte ohnehin kein Schloß mehr etwas. Die Spanier verschlossen jedoch alles, beinahe symbolisch. Aber eine dreifach gesicherte Truhe!« Treece fuhr mit den Fingern über das Wappenschild. »Nun, das ist wirklich interessant.« »Warum?« »Es bedeutet, daß sich in der Truhe etwas befand, das ver dammt wichtig war. Verdammt wichtig für den König von Spanien, möchte ich beinahe wetten!«
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IX Als sie an Treeces Anleger festmachten, lag die Sonne auf dem westlichen Horizont, ein praller, apfelsinenfarbener Ball. Treece schnupperte die Abendluft ein und sagte: »Werden morgen was erleben.« Sanders wäre um ein Haar seinem Impuls gefolgt und hätte Treece gefragt, woher er wisse, daß das Wetter umschlagen würde, aber er konnte sich die Antwort nun schon vorher ausrechnen, zum Beispiel: »So was hab’ ich im Gefühl« oder »Riechen Sie den Sturm etwa nicht?« Deshalb fragte er nur: »Wie schlimm?« »Vielleicht zwanzig Knoten, aus dem Süden. Wird uns ganz schön herumschaukeln.« »Können wir arbeiten?« »Haben keine andere Wahl. Cloche legt auf keinen Fall die Hände in den Schoß, darauf können Sie sich verlassen. Wir müssen nur eine ruhige Stelle finden und beide Anker setzen.« Sanders fing an, sich aus seinem Schutzanzug zu schälen, aber Treece hinderte ihn daran. »Wir sind noch nicht fertig.« »Noch nicht fertig?« »Müssen die Ampullen noch verstauen. Können sie nicht auf dem Boot herumliegen lassen.« »Ich weiß, aber ich dachte …« Er verstummte, als er Treece auf das dunkle Wasser zeigen sah. »Oh.« »Sie sollen wissen, wo sie sind, falls mir etwas zustößt.« »Was sollte Ihnen denn zustoßen?« »Wer weiß? Vielleicht ein unheilbarer Fall von Wechselfie ber oder Delirium tremens. Vielleicht passiert auch nichts. Nur 204
für den Fall. Unten an der Steilwand ist eine Unterwassergrot te. Bei Flut wird sie vollgeschwemmt, aber wenn wir die Ampullen weit genug nach hinten packen und vergraben, sind sie sicher.« Er wandte sich an Gail. »Sie brauchen nicht mitzukommen.« »Ich kann es aber«, antwortete sie. »Wenn Sie mich brau chen.« »Nein. Sie können uns hier oben nützlicher sein. Indem Sie uns die Beutel reichen.« Sie richteten zwei Druckluftflaschen her und holten die Pla stikbeutel mit den Ampullen an Deck. Treece füllte die Segel tuchbeutel zur Hälfte, reichte Sanders dann eine Taschenlampe. »Nehmen Sie ein paar Gewichte zusätzlich«, sagte er. »Der Beutel hat bestimmt Auftrieb. Adam hat zwar soviel Luft aus den Plastikdingern gedrückt, wie er konnte, aber man kann kein Vakuum darin herstellen. Wenn Sie richtig schwer sind, brauchen Sie sich und den Beutel nur vom Bleigürtel nach unten ziehen zu lassen. Wenn Sie unten sind, folgen Sie meinem Licht.« »Gut.« Treece zeigte auf eine rechteckige Holzkiste auf dem Anleger und sagte zu Gail: »Holen Sie mir bitte einen Fisch aus der Kiste.« »Einen Fisch?« »Ja. Die Kiste ist voll von gesalzenen Fischen. Sind alle für Percy. Er wohnt in der Grotte.« Gail kletterte auf den Steg und machte den Deckel der Holz kiste auf. Der Fischgestank ließ sie zurückprallen und den Atem anhalten. »Nehmen Sie einen großen«, rief Treece. »Er soll etwas zu tun haben, damit er uns in Ruhe läßt.« »Wer ist Percy?« fragte Sanders. »Eine riesige, alte grüne Muräne. Ein Prachtstück. Er lebt schon so lange in der Grotte, wie ich zurückdenken kann. Wir 205
kommen ganz gut miteinander aus, aber er ist ein gefährlicher Bursche, und ich halte ihn bei Laune, indem ich ihm dann und wann eine Mahlzeit zukommen lasse.« Gail langte in die Kiste und griff nach dem größten Fisch, den sie sah. Sie schluckte, um ihren Brechreiz zu unterdrücken. »Haben Sie denn kein Eis?« »Nicht nötig. Das Salz hält sie frisch genug.« Treece nahm den Fisch von ihr entgegen. »Das wird ihn eine Weile beschäf tigen.« Zu Sanders sagte er: »Lassen Sie mich vorschwimmen. Ich möchte ihn sehen, damit er weiß, was los ist. Wenn ein solcher Bursche Sie für einen Beutefisch hält, ist Feierabend, wenigstens für heute. Und stecken Sie ja nicht die Hand in irgendwelche Löcher. Soviel ich weiß, teilt er seine Wohnung mit ein paar Verwandten.« Er zog sich die Brille über Augen und Nase, ließ sich vom Schanzdeck fallen, tauchte wieder auf und langte nach Beutel, Fisch und Lampe. Sanders sprang kurz danach ins Wasser und stellte fest, daß die zusätzlichen Gewichte – wie Treece gesagt hatte – den Auftrieb, den er wegen der restlichen Luft in den Plastiktüten hatte, ungefähr wettmachten, so daß er sofort nach unten sank. Die Bucht war nicht tief – vier, höchstens sechs Meter, schätzte Sanders, als er den Lichtkegel seiner Taschenlampe langsam vom sandigen Grund bis zum Boot an der Oberfläche schwenkte. Der Segeltuchbeutel war lästig: er zerrte an seinem linken Arm, so daß er ihn an den Bauch drückte und dem Licht folgte, das mit Treece in die Tiefe glitt. Treece wartete am Eingang der Grotte – einem dunklen, übermannshohen Loch in der zerklüfteten Felswand. Als Sanders ihn erreicht hatte, richtete er den Strahl seiner Lampe hinein und schwenkte ihn von einer Seite zur anderen. Zu nächst schien die Höhle leer zu sein – blatternarbige, graue Kalksteinwände, die zehn Meter weit in das Dunkel liefen. Dann ließ Treece den Lichtstrahl in einer Ecke an der Rücksei te der Grotte ruhen, und Sanders sah, wie sich etwas bewegte. 206
Langsam schwamm Treece in die Grotte, wobei er die Hand mit dem Fisch nach vorn streckte. Sanders folgte ihm zögernd. Am Fuß der Wand lag ein Steinhaufen, sicher das Ergebnis eines teilweisen Einsturzes vor vielen Menschenaltern. Treece reichte den Fisch die Wand hoch. Das rüsselartige Maul der Muräne schob sich aus einer tiefen Spalte zwischen den Steinen und der Wand. Sanders hatte zwar schon Muränen in Aquarien gesehen, aber noch nie ein Exem plar, das auch nur annähernd so groß war wie das grüne Monstrum, das jetzt aus der Spalte glitt. Es war über dreißig Zentimeter hoch – vom Rücken zum Bauch – und mindestens fünfzehn Zentimeter breit. Die Muräne wand und schlängelte ihren Körper etwa 1,20 Meter weit aus der Spalte; der Rest blieb unsichtbar. Dann ließ sie sich von den Steinen hängen und fixierte Sanders, Treece und den Fisch mit ihren kalten Schweinsaugen. Der Mund öffnete und schloß sich rhythmisch, wobei lange, nadelspitze Zähne freigelegt wurden, die in klebrigen, im Licht der Lampe aufblitzenden Gaumenschleimhäuten steckten. Der Kopf neigte sich ein wenig und packte den Fisch – so schnell, daß Sanders gar nicht recht sah, wie er sich bewegte. Treece ließ nicht los; er hielt den Fisch kurz vor dem Schwanz fest. Die Muräne zerrte, hielt dann inne, begann ihren Körper zusammenzuziehen wie einen Läufer, der aufgerollt wird, bis ein Teil des Fischbauchs abriß. Die Muräne zog sich noch etwas weiter zurück, schluckte, zwang das Fleisch mit den Zähnen in den Schlund, wobei ihre grüne Haut vor An strengung vibrierte. Dann schoß sie wieder auf den Fisch los, bekam ihn diesmal an der Hauptgräte zu fassen und riß ihn Treece aus der Hand. Sie versuchte, sich wieder in ihr Loch zu winden, aber der Fisch war so groß, daß er seitlich nicht in die Spalte paßte, und die Muräne begnügte sich damit, ihn in der schmalen Öffnung festzuklemmen und von unten zu zerflei schen. 207
Treece gab Sanders ein Zeichen, ihm zu folgen, und Sanders gehorchte widerstrebend. Wäre er allein gewesen, hätte er nicht im Traum daran gedacht, dem Untier in der Dunkelheit den Rücken zuzukehren. Die Grotte war knapp drei Meter hoch, und Sanders sah, wie der Lichtkegel an der Decke ruhte und der Segeltuchbeutel von Treece langsam hochschwamm. Der Beutel stieß an die Decke der Grotte und blieb dort. Sanders bugsierte seinen Beutel daneben und schwamm dann wieder zu Treece nach unten. Sie gruben ein breites, tiefes Loch in den Sand und legten die Plastikbeutel mit den Ampullen hinein. Sie schütteten das Loch wieder mit Sand zu, damit die Behälter nicht wegschwimmen konnten, und kehrten zum Boot zurück. Sie machten noch drei Tauchgänge in die Grotte und gruben jedesmal ein neues Loch. Als sie die Höhle nach dem letzten Tauchgang verließen, hatte die Muräne den Fisch bis auf wenige Zentimeter verzehrt. »Wie groß ist das Biest eigentlich?« fragte Sanders, als sie an Bord geklettert waren. »Percy? Ich habe ihn noch nie ganz gesehen, aber ich wette, er ist gut drei Meter lang. Wenn es richtig dunkel ist, kommt er heraus und geht auf Jagd. Wir können ja mal nachts hinunter gehen, wenn er sich in seiner ganzen Schönheit zeigt.« »Nein, vielen Dank. Er sieht in seinem Loch schon bösartig genug aus. Ich möchte ihm nicht gerade in offenem Wasser begegnen.« »Was? Ich dachte, ein Haijäger wie Sie wüßte gar nicht, was Furcht bedeutet.« »Hören Sie, verflucht noch mal …« Sanders ärgerte sich über Treeces Stichelei, wollte, daß er aufhörte, hatte aber keine Lust, einen Streit vom Zaun zu brechen. Bitten wollte er noch weniger. »Regen Sie sich nicht auf«, sagte Treece. Er wandte sich zur Hündin, schnippte mit den Fingern, und das Tier sprang vom 208
Boot auf den Anleger. »Lauf schon vor, Charlotte. Sieh nach, ob irgendwelche Schurken auf uns lauern.« Die Hündin lief munter den Weg hinauf, blieb dann und wann kurz stehen, um am Unterholz zu schnüffeln. Treece nahm die beiden leeren Druckluftflaschen aus dem Gestell und legte sie auf den Steg. »Am besten, wir füllen sie gleich heute abend nach.« Als sie das Haus erreichten, sahen sie vor der Küchentür ein Paket, das in Papier gewickelt war. Treece hob es auf, roch daran und sagte: »Das Abendessen.« »Fisch?« fragte Gail und erinnerte sich schaudernd an die Fischkiste auf dem Anleger. »Nein. Fleisch.« Treece öffnete die Tür und ließ sie vorge hen. Gail sagte: »Schließen Sie denn nie ab?« »Nein. Ich habe Ihnen doch schon erzählt, daß nur die Spa nier etwas auf Schlösser geben.« Als sie im Haus waren, sagte Treece zu Sanders: »Würden Sie mir einen Rum einschenken, während ich dieses Tier unter Dampf setze?« »Sicher.« Sanders wandte sich an Gail: »Möchtest du auch etwas?« »Noch nicht. Ich würde gern duschen. Mir ist, als hätte ich seit einer Woche kein Wasser mehr gesehen – obgleich ich gerade aus den Wellen komme.« »Wissen Sie, wie der Boiler funktioniert?« fragte Treece. »Boiler?« »Im Bad ist ein Gasboiler. Drehen Sie den Hahn eine halbe Umdrehung nach rechts, im Uhrzeigersinn, und warten Sie zwei Minuten. Dann ist es schon einigermaßen warm, und wenn Sie mit dem Duschen fertig sind, hat es die richtige Temperatur.« »Danke.« Gail ging hinaus. Sanders reichte Treece ein Glas Rum und nippte an seinem 209
Scotch. »Kann ich sonst noch etwas tun?« »Nein. Ruhen Sie sich aus.« Sanders setzte sich an den Tisch und schaute zu, wie Treece die Gasflamme anzündete, öl in eine Bratpfanne goß, das Fleisch hineintat und Kräuter darüber streute. Als er sich vergewissert hatte, daß das Fleisch richtig briet, wandte Treece sich vom Herd ab und betrachtete Sanders. »Na, was nagt denn an Ihnen?« »Wie bitte?« Sanders verstand nicht. »Die Sache mit dem Hai. Was wollen Sie eigentlich?« Sanders dachte: Mein Gott, jetzt fängt er schon wieder an! »Nichts. Es war dumm von mir. Ich weiß.« Er hoffte, sein Eingeständnis würde Treece den Wind aus den Segeln nehmen und das Thema abschließen. »Ich glaube, es ist mehr«, sagte Treece. »Ich glaube, insge heim denken Sie, Sie hätten eine Heldentat vollbracht.« Sanders errötete, denn Treece hatte recht. Er war sich durch aus bewußt, daß er dumm, unüberlegt und gefährlich gehandelt hatte, aber unterschwellig war er stolz darauf, daß er einen Hai mit dem Messer angegriffen hatte. Stolz wie ein kleiner Junge. Er würde es zwar nie zugeben, aber er hatte sich sogar schon ausgemalt, wie er die Geschichte hindrehen würde, wenn er sie seinen Bekannten erzählte. Er antwortete nicht. »Es ist ganz natürlich«, sagte Treece. »Es gibt viele Leute, die sich selbst etwas beweisen wollen, und wenn sie etwas tun, das sie beeindruckend finden, dann sind sie selbst beeindruckt. Das ist leider ein Trugschluß – was man macht, ist nämlich nicht dasselbe wie das, was man ist. Sie machen gern etwas, um zu sehen, daß Sie es schaffen. Stimmt’s?« Obgleich Treeces Stimme keineswegs vorwurfsvoll klang, war Sanders verlegen. »Manchmal. Ich nehme an …« »Ich will nur auf folgendes hinaus«, begann Treece und hielt inne. »Es ist ein viel besseres Gefühl, wenn man etwas richtig macht, wenn man weiß, daß etwas gemacht werden muß, und 210
wenn man weiß, was man macht. Dann leistet man etwas. Im Leben läuft man dauernd Gefahr, sich oder anderen zu scha den. Weh zu tun.« Treece trank einen Schluck. »In den näch sten Tagen werden Sie öfter Gelegenheit haben, sich zu schaden, als die meisten Menschen in ihrem ganzen Leben. Man kommt nur dann mit sich zu Rande, wenn man lernt und alles richtig macht. Als ich jung war, ließ ich mir von nieman dem etwas sagen. Ich war schlauer als alle anderen. Ich mußte erst eine Menge Fehler machen, bis ich lernte, daß ich Gänse mist nicht von Tapioka unterscheiden konnte. Wie alt sind Sie jetzt?« »Siebenunddreißig.« »Das ist nicht mehr jung, aber es ist auch noch nicht am Rand des Grabes. Sie könnten jetzt anfangen und vierzig Jahre damit verbringen, das Meer kennenzulernen, und der Stoff wird Ihnen nie ausgehen. Das ist das Dumme beim Lernen: es ist irgendwie erniedrigend. Je mehr man lernt, desto mehr wird man sich darüber klar, wie wenig man weiß.« Treece leerte sein Glas und stand auf, um sich neu einzuschenken. »Ich will damit nur wieder darauf hinaus, was ich Ihnen vorhin sagte – es ist verrückt, etwas zu machen, nur um sich zu beweisen, daß man es schafft. Je mehr man lernt, desto mehr wird man feststellen, daß man Dinge fertigbringt, die man sich niemals zugetraut hätte.« Sanders nickte. Er wußte nicht, ob Treece seine Einstellung zu ihm geändert hatte oder ob er Treeces Einstellung in einem neuen Licht sah. Er kam sich eigenartig privilegiert vor, und er sagte nur: »Vielen Dank.« Das schien Treece nervös zu machen. Er schnippte mit den Fingern und sagte: »Die Flaschen. Hätte ich beinahe vergessen. Es ist besser, wenn ich das Monster sofort in Gang setze, sonst rattert es bis morgen früh.« Sanders folgte ihm nach draußen und blieb neben ihm stehen, während er den Kompressor anließ und die beiden Druckluft 211
flaschen anschloß. Als sie in die Küche zurückkehrten, machte Gail sich gerade einen Drink. Sie war barfuß und trug einen Frotteebademantel. Sanders küßte sie auf den Nacken; er roch nach Seife. »Du schmeckst gut«, sagte er. »Mir geht’s auch gut, bis auf meine Stirnhöhlen.« »Kopfschmerzen?« fragte Treece. »Nicht richtig. Aber hier oben.« Sie berührte die Knochen über ihren Augen. »Sie drücken. Es tut weh, wenn ich anfas se.« »Ja, sie sind zu sehr strapaziert worden. Morgen wird Adam tauchen. Sie können sich in die Sonne legen.« Treece wendete das Fleisch in der Bratpfanne, langte in den Schrank unter der Spüle und holte verschiedene Gemüse heraus: Bohnen, Gur ken, einen kleinen Kürbis, Zwiebeln und Tomaten. Er schnit zelte alles über einer Rührschüssel in kleine Stücke, verteilte Salatsoße darüber und rührte das Ganze mit einer Gabel um. Das Fleisch war dunkelrot, fast purpurrot und schmeckte merkwürdig kräftig, beinahe penetrant. »Wie lange wird Rindfleisch hier abgehangen?« fragte Gail und tunkte einen Bissen in die Salatsoße, um den Geschmack zu neutralisieren. »Ich weiß nicht. Warum?« »Nur so.« »Mögen Sie es?« »Ja, es ist … irgendwie interessant.« »Es ist kein Rindfleisch – falls Sie es dafür gehalten haben.« »Oh?« sagte sie betroffen. »Was ist es denn?« »Ziege.« Treece schnitt sich ein Stück ab, steckte es in den Mund und kaute genußvoll. »Oh.« Gail drehte sich der Magen um, und sie blickte zu Sanders hinüber. Er hatte sich gerade einen Bissen zwischen die Zähne schieben wollen, aber jetzt schwebte die Gabel ein paar Zentimeter von seinen Lippen entfernt. 212
Er sah, daß sie ihn betrachtete, hielt den Atem an, steckte das Fleisch in den Mund und schluckte es unzerkaut hinunter. Nach dem Essen stellte Treece seinen Teller in die Spüle und sagte: »Ich gehe ein bißchen spazieren, schaue wahrscheinlich kurz bei Kevin vorbei. Sie brauchen nicht auf mich zu warten.« »Können wir etwas tun?« fragte Gail. »Nein. Erholen Sie sich.« Er wischte sich die Hände an der Hose ab und nahm eine Flasche Rum aus dem Schrank. »Kevin trinkt Palmenwein, selbst gekeltert. Zerfrißt den Magen schneller als Dieselöl.« Er schnalzte nach der Hündin, die unter dem Tisch schlief, und sagte: »Komm, wir gehen.« Die Hündin sprang schlaftrunken auf, reckte sich, gähnte und folgte Treece ins Freie. Als die Pforte zugefallen war und Treeces Schritte verhallten. sagte Sanders: »Nett von ihm.« »Was?« »Uns allein zu lassen.« Er langte über den Tisch und nahm ihre Hand. Sie zog die Hand nicht zurück, reagierte aber auch nicht auf die Berührung. »Treece war verheiratet«, sagte sie und erzählte ihm die Geschichte, die sie von Coffin gehört hatte. Während des Berichts mußte Sanders wieder an die Unterhal tung mit Treece denken, und er begriff, daß Treece ihm keine unverbindlichen guten Ratschläge hatte geben wollen, wie er zuerst gedacht hatte. Es war aus tiefstem Herzen gekommen, und Treece hatte versucht, ihn von einem Kurs abzubringen, den er, Treece, eingeschlagen hatte und der ihn um sein Glück und seinen inneren Frieden gebracht hatte. Während er es begriff, spürte Sanders, wie eine eisige Furcht in ihm hoch stieg, die nicht von der Aussicht auf spannende Abenteuer erwärmt wurde. »Ich liebe dich«, sagte er. Sie nickte. Sie hatte Tränen in den Augen. »Laß uns schlafen gehen.« Er stand auf und stellte das 213
Geschirr in die Spüle, kam dann wieder zurück und ging mit ihr ins Schlafzimmer. Zum erstenmal ließ seine Sinnlichkeit sie kalt, und nach ein paar Augenblicken hörte er auf und sagte: »Was ist denn los?« »Es tut mir leid … ich kann nicht …« Sie drehte sich weg und starrte auf die Wand. Er lag noch lange wach und lauschte auf das Tuckern des Kompressors. Allmählich wurden die Atemgeräusche neben ihm regelmäßiger, und bald schlief Gail tief und fest. Sein sexuelles Verlangen war keine reine Begierde; er hatte irgendwie das Bedürfnis, sie mit seiner Liebe zuzudecken, damit sie einen Schutz hatte. Aber sie wollte ihn nicht, wollte zumindest das nicht, was er ihr geben wollte, und Sanders merkte auf einmal, daß er sich über Treece ärgerte. Treece hatte ihnen nichts von seiner Frau erzählt, wußte noch nicht einmal, daß sie es wußten, aber irgendwie war er mit seiner Vergangenheit, seinem Kummer zwischen sie getreten. Endlich schlief er ein. Er wachte nicht bei den neuen Geräu schen auf, die sich in die Stille der Nacht drängten: das Geräusch eines Automotors, der in einer anderen Tonlage dröhnte als der Kompressor, das Geräusch von Reifen, die auf Kies knirschten. Es war die frische Brise, die ihn morgens weckte, sie pfiff durch die Moskitotür und rüttelte an den Fensterläden. Sie kam vom Meer und gewann an Kraft, während sie über die Steil klippen fegte. Treece saß in der Küche und blätterte in alten Papieren. Sanders fragte gar nicht erst, ob er etwas Neues gefunden hatte; inzwischen wußte er schon, daß Treece von allein reden würde, wenn er etwas zu sagen hätte. Also meinte er nur mit einer schnellen Handbewegung zum Fenster: »Sie hatten recht.« »Ja. Es bläst ganz schön. Aber hier oben ist es schlimmer als 214
unten. Wir brauchen keine Angst zu haben.« Sanders schaute auf seine Uhr; es war halb sieben. »Wann fahren wir?« »In einer halben Stunde, vielleicht zehn Minuten später. Wenn Ihr Mädchen noch frühstücken möchte, sollten Sie sie lieber wecken.« »Gut.« Sanders konnte seine Neugier doch nicht zügeln. »Etwas Neues?« »Ein paar Kleinigkeiten, nicht der Rede wert. Tagebücher – mein Gott, wenn man liest, was diese Seeleute so geschrieben haben, könnte man meinen, jedes Schiff sei ein Fort Knox gewesen.« Die Fahrt an der Südküste entlang war ziemlich rauh. Die Corsair klatschte in stürmische Seen, die sich drohend aufbau ten, am Bug hochschossen und gähnende Täler hinterließen; Gischt spritzte von Backbord über den Bug und machte die Fensterscheiben blind. Die Hündin, die sich vergeblich bemüht hatte, ihren Stammplatz auf der Bugplattform einzunehmen, lag in einer trockenen Ecke am Heck und winselte jedesmal auf, wenn sie auf das schlingernde Deck zurückfiel. David und Gail standen neben Treece im Cockpit und stemmten sich gegen die Schotten. »Und da sollen wir hineingehen?« fragte Sanders. »Sicher. Es sind zwar fast zwanzig Knoten, aber wir ankern im Windschatten des Riffs und gehen am Grund entlang.« »Und wenn die Anker nicht halten?« »Dann liegt ein brandneues Wrack vor Orange Grove.« Als sie auf gleicher Höhe mit dem Club waren, nahm Treece Kurs auf die Küste. Wellen krachten auf das Riff und zerbar sten zu Schaumwolken. Sanders hatte gedacht, Treece würde wie immer vorsichtig zwischen den Riffen hindurchfahren. Statt dessen drosselte er das Tempo vor den Riffen nur kurz, untersuchte das Wellen verhalten und die Wellenströme, gab dann wieder Gas und 215
sauste auf einen bestimmten Punkt des Riffs los. »Festhalten«, sagte Treece. »Sie macht gleich einen kleinen Bocksprung.« Das Boot schoß auf die Brandung über dem Riff zu. Das Heck wurde von einer Welle erfaßt und nach rechts gedrückt; Treece drehte das Ruder hart nach links, und das Boot fuhr wieder geradeaus. Er nahm die Geschwindigkeit eine oder zwei Sekunden lang zurück, ging dann auf volle Kraft und sauste zum zweiten Riff. Als sie alle Riffe hinter sich hatten und im relativ ruhigen Windschatten waren, fühlte Sanders, wie ihm der Schweiß von den Schläfen in den Kragen seines Schutzanzugs tropfte. »Wie in der Achterbahn«, sagte Treece. Er sah, daß Gail immer noch mit einer Hand einen Griff an der Ruderkonsole umklammert hielt, und tätschelte die Hand. »Wir haben es geschafft.« Sie lockerte den Griff und lächelte schwach. »Puh.« »Ich hätte Sie warnen sollen. Das ist bei diesem Seegang die einzige Möglichkeit, über die Riffe zu kommen. Wenn man den richtigen Moment abpaßt, hat man genug Wasser unter dem Kiel und läuft nicht auf. Wenn man sich aber durchtastet, wird man garantiert von den Wellen gegen die Felsen ge schleudert.« Sie brauchten nicht lange auf Coffin zu warten. Sobald er gesehen hatte, daß das Boot vor den Riffen war, lief er durch die flache Brandung und begann zu schwimmen. »Tut mir leid, daß wir so spät kommen«, sagte Treece, als er Coffin an Bord hievte. »Mußten erst ein bißchen Wellenrei ten.« »Kann ich mir denken. Im Windschatten ankern?« »Ja. Sind Sie bereit, sich heute naß zu machen? Das Mädchen hat Schwierigkeiten mit den Stirnhöhlen.« »Ja, gern.« Treece nahm wieder Kurs auf die Riffe. Coffin ging nach 216
vorn und untersuchte die Ankertaue. »Backbord und Steuer bord?« rief er. »Ja, und viel Leine lassen. Ich sage Bescheid.« Treece ließ das Boot über die ersten beiden Riffe sausen, drosselte dann die Geschwindigkeit, als es sich dem dritten näherte. Das Boot hüpfte und schlingerte heftig, ohne regelmäßigen Rhythmus, aber Coffin benutzte seine dicken braunen Zehen als Stabilisa toren, beugte und streckte die Knie, um die Stöße des Bootes aufzufangen, und schaffte es auf diese Weise, am Bug zu arbeiten. Als Sanders sah, wie Coffin die Balance hielt, lächelte er und schüttelte den Kopf. »Was ist?« fragte Gail. »Mir ist nur etwas eingefallen. Als Treece das erstemal sagte, Coffin würde tauchen, fragte ich ihn, ob er gut genug sei. Nun sieh ihn dir an. Wenn ich dort stünde, wäre ich schon zehnmal ins Wasser gefallen.« Gail nahm seine Hand. »Steuerbord!« schrie Treece. Coffin warf einen Anker zum Riff; das aufgerollte Seil zu seinen Füßen peitschte hinterher. Treece legte den Leerlauf ein und ließ das Boot zurückglei ten, bis das Seil sich spannte. Coffin berührte das zitternde Tau mit einer Hand und sagte: »Hat gut zugebissen.« Treece legte den Vorwärtsgang ein und fuhr langsam auf den Anker zu. Er rief: »Backbord!«, und Coffin warf den anderen Anker. Als beide Ankertaue straff waren, drehte er den Zündschlüs sel, und der Motor erstarb. Man hörte nur noch, wie die Wellen gegen die Felsen brandeten, wie der Wind über das Meer pfiff und wie der Bootsrumpf auf das Wasser klatschte. Treece sagte zu Coffin: »Sie wollen sicher mit Schlauch suchen.« 217
»Ja. Möchte bei diesem Seegang nicht mit einer Flasche rumgescheppert werden.« Treece schloß drei Luftschläuche an den Kompressor an, prüfte den Treibstofftank und startete den Motor. Während sie sich anzogen, sagte Treece zu Gail: »Nicht, daß Sie es brauchen werden, aber Sie könnten es trotzdem lernen.« Er nahm das abgesägte Gewehr vom Steuerpult, pumpte es leer, bis alle fünf Patronen in seine Hand gefallen waren, und gab es Gail. »Es ist ganz leicht. Sie müssen nur den vorderen Hebel nach hinten ziehen, dann ist der Hahn gespannt. Danach ziehen Sie einfach hier am Abzug. Verstanden?« Gail hielt das Gewehr übertrieben vorsichtig, als hätte sie eine Schlange in der Hand. Sie zog unbewußt die Mundwinkel nach unten und runzelte die Stirn. Sie spannte den Hahn und zog ab; ein metallisches Klicken ertönte. »Wie muß ich zie len?« »Sie zielen überhaupt nicht. Sie halten es ungefähr in Hüft höhe. Wenn Sie es an die Schulter legen, kann es Ihnen den Arm abreißen. Schießen Sie einfach in die Richtung, wo das Ziel steht, und wenn es nahe genug ist, wird es in tausend Stücke zerfetzt.« Treece nahm das Gewehr und steckte die fünf Patronen wieder ins Magazin. »Ich glaube, ich bringe es nicht fertig«, sagte Gail. »Wir werden sehen. Wenn einer von Cloches Irren mit dem Schlachtermesser auf Sie zukommt, werden Sie die verrückte sten Sachen fertigbringen.« Treece sah den entsetzten Aus druck in ihrem Gesicht. »Aber ich sagte ja schon, Sie werden es nicht brauchen. Ihre größte Sorge wird wahrscheinlich darin bestehen, wie Sie das Frühstück bei sich behalten können.« Treece ging unter Deck und kam mit sechs alten, verschieden großen Schutzhandschuhen zurück, die er auf den Heckspiegel warf. »Sucht euch welche aus, die einigermaßen passen«, sagte er zu den anderen beiden Männern. »Wir müssen uns bestimmt am Riff festhalten. Und nehmt genug Gewichte mit. Am besten 218
ist es, wenn wir sofort wie ein Stein auf Grund sinken. Dann können uns die verdammten Wellen hier oben nichts anhaben.« Sie gingen über den Bootsrand ins Wasser. Sanders wollte gerade wieder zur Oberfläche zurück, um seine Maske zu leeren, überlegte es sich jedoch schnell anders: Die Wellen warfen ihn hin und her, wobei er dem stampfenden Bootsrumpf bedrohlich nahe kam. Er atmete aus und ließ sich schnell auf Grund fallen. Er konnte nicht auf dem Sand stehen; die Strö mung war zwar nicht so stark wie oben, aber immer noch stark genug, um ihn wie einen Ball herumhüpfen zu lassen. Er ging auf die Knie und kroch zum Riff. Über ihm glitt Treece schnell mit zwei Segeltuchbeuteln und dem Saugrohr in die Tiefe. In der Nähe des Riffs wurde die Strömung schlimmer: Die Wellen, die oben über die Felsen peitschten, erzeugten unten Strudel, die die Taucher ans Riff zogen. Sanders versuchte, vor dem Riff anzuhalten, schaffte es aber nicht. Seine Hüfte streifte einen Felsvorsprung, und er torkelte wie betrunken auf spitze Korallenvorsprünge zu. Er streckte blindlings den Arm aus, traf etwas und packte es: messerscharfe Korallen. Ohne den dicken Gummihandschuh wäre seine Hand zerrissen worden. Sein Körper schwebte waagerecht in der Strömung; er sah Treece und Coffin, die mit dem Gesicht nach unten im Sand lagen, den Sog offenbar gar nicht spürten und bereits mit dem Rohr gruben. Sanders zog sich mühsam mit den Händen weiter, bis er am Fuß des Riffs war. Seine Beine wurden immer noch zu den Korallen gezogen, aber er fand heraus, daß er nur die Knie in den Sand zu rammen brauchte, um einigermaßen festen Halt zu haben. Coffin reichte ihm einen Beutel, dann die erste Hand voll Ampullen. In einer Stunde füllten sie die drei Beutel sechsmal. Sanders schwamm sechsmal nach oben und mußte dort seine ganze Kraft aufbieten, um sich an der schlingernden Tauchplattform festzuhalten und nicht unter das Boot gedrückt zu werden, 219
während Gail die Beutel leerte. Er fror und war müde, und seine Stirnhöhlen schmerzten. Jedesmal fiel es ihm schwerer, dauerte es länger, wieder den Grund zu erreichen, denn seine Ohren wollten den Druck nicht mehr richtig ausgleichen, und seine Stirnhöhlen machten sich immer deutlicher bemerkbar. Mit Handzeichen bat er Coffin, mit ihm zu tauschen, die nächsten Ladungen zum Boot zu bringen; Coffin war einver standen. Sanders legte sich bäuchlings an den Rand des Lochs, das Treece grub, und griff hastig nach den Ampullen, die das Saugrohr freilegte, damit sie nicht von der Strömung fortgetra gen wurden. Sie arbeiteten noch eine Stunde – diesmal waren es sieben Ladungen –, und Coffin und Sanders wechselten sich wieder ab. Als Sanders mit den vollen Beuteln nach oben schwamm, sah er auf seine Uhr: kurz vor elf. Er klammerte sich an die Plattform und wartete auf die Beutel. Gail reichte sie ihm, und er schob das Unterteil seiner Maske hoch und fragte: »Wie viele?« »Ich kann sie nicht alle zählen. Sechs- oder achttausend, vielleicht auch zehntausend. Ich habe bei fünftausend aufgehört zu zählen. Ihr bringt sie zu schnell hoch.« Sanders schwamm noch fünfmal mit den Beuteln zum Boot, und seine körperlichen Qualen übertrafen jetzt alles, was er bisher erlebt hatte. Die einzelnen Schmerzen und Beschwerden hielten sich die Waage: Alles tat weh und wurde ihm zur Last, sogar seine Zehen, die sich in unregelmäßigen Abständen derart verkrampften, daß er keine gezielten Schwimmstöße mehr ausführen konnte. Während er noch an der Plattform hing, schaute er nach unten und fragte sich, wie lange er wohl diesmal brauchen würde, um den Grund zu erreichen; beim letzten Mal hatte es so lange gedauert, daß er am Riff genug Ampullen vorfand, um die Beutel unverzüglich wieder füllen zu können. Er zwang sich, alle seine schmerzenden Körperpartien wieder 220
in Bewegung zu setzen, und kroch zum Riff. Er wollte sich gerade neben dem Ampullenhaufen niederlassen, als ihn ein Strudel erfaßte. Er zappelte wild mit den Beinen, um im Sand Halt zu finden, erreichte ihn aber nicht mehr; er wurde gegen die Korallenwand geworfen. Er hatte vorher gerade noch Zeit, die Hände vors Gesicht zu halten und die Knie anzuziehen, weil er hoffte, den Stoß mit seinen Schwimmflossen oder Armen auffangen zu können. Sein rechtes Knie traf zuerst, und das, was es getroffen hatte, gab nach und brach ab. Dann wurde er herumgewirbelt, und sein Gesäß knallte gegen die Felsen, wodurch sein Kopf jäh nach hinten gerissen wurde. Seine Nackenmuskeln hielten stand, aber sein Hinterkopf prallte auf etwas, das zum Glück ziemlich elastisch war – eine Fächerkoralle. Er tastete nach einem Halt und fand einen kleinen Felsvorsprung, der sich löste und nach unten polterte und im Fallen andere Steine abbrach. Der Strudel ließ nach, und Sanders lehnte schwer atmend am Riff und versuchte, den Schaden abzuschätzen, den sein geschundener Körper davongetragen hatte. Er spürte neue Schmerzen, aber keiner davon schien schlimmer zu sein als die alten. Er hangelte sich zentimeterweise am Riff nach unten und prüfte jedesmal, ob das, was er als Halt benutzen wollte, auch fest genug war. Als er kurz nach links blickte, sah er zwischen den Korallenbänken etwas Glänzendes, ein Flimmern, das wieder erstarb, sobald die einfallenden Sonnenstrahlen eine andere Stelle erreicht hatten. Er winkte, um die Aufmerksam keit von Treece zu erregen, aber Treece beschäftigte sich intensiv mit dem Ampullengraben. Er wartete, weil er wußte, daß Coffin aufblicken würde, wenn er bemerkte, daß ihm niemand die Ampullen abnahm, die er nach hinten reichte, und einen Augenblick später schaute Coffin tatsächlich zu ihm. Er zeigte auf Treece und auf das Loch im Riff. 221
Coffin tippte Treece an. Treece sah hoch, legte das Saugrohr ans Riff und schwamm zu Sanders. Eine Wolke zog an der Sonne vorbei, und ihr Schatten kroch über den Grund, verdunkelte das Wasser und machte den Sand grau. Treece sah Sanders an, zog die Augenbrauen hoch und formte mit den Lippen die Frage: »Was?« Sanders hob Treece seine Handfläche entgegen, zeigte dann auf die Oberfläche, um zu sagen: Warten Sie, bis es wieder hell ist. Der Schatten glitt über das Riff und entfernte sich; Licht pfeile schossen in das Loch. Treece schaute, wartete, schaute wieder. Er nickte, wandte sich zu Sanders, machte das Zeichen für »Verstanden« und steckte den Arm in die gähnende Öffnung. Sanders beobachtete Treeces Gesicht, während dieser das Loch ertastete. Treece kniff konzentriert die Augen zusammen und legte die Stirn in Falten. Plötzlich riß Treece die Augen weit auf, öffnete den Mund und schrie vor Schmerz und Entsetzen auf. Er versuchte, den Arm aus dem Loch zu ziehen, aber irgend etwas hielt ihn fest. Er gab eine Sekunde nach; seine Schulter wurde an die Koral len gezogen, und Sanders konnte sehen, wie sie heftig ruckte. Dann stemmte Treece sich mit seinem freien Arm gegen einen Felsbrocken und zog wieder, zähneknirschend, mit schmerz verzerrtem Gesicht. Der Arm kam aus dem Loch und zerrte den zappelnden Körper einer Muräne mit, die sich in dem weichen Fleisch zwischen Daumen und Zeigefinger festgebis sen hatte. Treece schrie abermals auf und streckte die linke Hand aus, um die Muräne hinter dem Kopf zu packen. Aber der Körper des Tieres, der nicht mehr im Riff verankert war, schlängelte in wilden Zuckungen außer Reichweite. Die Muräne bebte heftig und rollte sich in einem grünen Wirbel zu einem Knoten zusammen, benutzte ihren eigenen Körper als Verankerung und begann, Treeces Hand mit dem Maul durch den Knoten zu 222
ziehen. Treece konnte nicht an den Kopf herankommen, so daß er dem Körper ungezielte, wirkungslose Boxhiebe versetzte. Die Muräne reagierte nicht: mit kleinen, zuckenden Bissen zogen die nach hinten gebogenen Zähne die Hand weiter ins Maul. Sanders war instinktiv zum Riff zurückgewichen und erin nerte sich jetzt an die Größe der Muräne, die sie am Abend zuvor gesehen hatten. Ihr Kopf war zwei- oder dreimal so groß gewesen wie der Kopf, der jetzt an Treeces Hand hing. Dann sah Sanders, wie Fleisch abgefetzt wurde – der Gummihand schuh gab nach, zerriß, grün getönte Haut hing im Wasser, eine grüne Blutwolke quoll aus der Wunde. Die Muräne rollte sich auseinander, schluckte und schoß auf Treeces Taillengegend los. Treece wich blitzschnell aus und umschloß den Körper des Tieres etwa zehn Zentimeter hinter dem Kopf mit der linken Hand. Der Kopf schnellte nach hinten, Kiefer peitschten das Wasser, suchten etwas, das sie beißen konnten. Treece legte seine verletzte Hand vor die linke Hand und drückte so fest, daß Blut aus der Wunde gepumpt wurde. Er beachtete den zappelnden Körper nicht und schob den Kopf der Muräne langsam an einen Felsen und zerquetsch te ihn. Der Körper bäumte sich zweimal auf, dann rührte er sich nicht mehr. Treece ließ los, und die Muräne glitt langsam auf den Sand. Treece zeigte auf Sanders, dann auf das Loch im Riff, sagte ihm damit, er solle hineingreifen und den Gegenstand heraus holen. Ohne zu überlegen, von Angst gepackt, schüttelte Sanders den Kopf: Nein, auf keinen Fall. Treece stieß ihm seinen linken Zeigefinger in die Brust und zeigte wieder auf das Loch: Tun Sie es! Sanders griff in das Loch. Er schloß die Augen, lauschte auf seinen rasenden Puls, seinen keuchenden Atem, malte sich einen stechenden Schmerz aus – rechnete bereits damit. Seine Finger krochen an den Korallen nach hinten und spürten 223
weichen Sand. Nichts. Es war gut möglich, daß die Muräne den Gegenstand tiefer in das Loch gedrückt oder im Sand vergra ben hatte, als sie den Kopf mit Treeces Hand zurückzog. Seine Schulter lag dicht an den Korallen; er konnte nicht weiter hineingreifen. Seine Finger rutschten nach links und rechts, kratzten über den Grund des Lochs, fühlten Kiesel und Koral lenstücke; dann, an der äußeren Grenze seiner Reichweite, etwas Hartes. Er preßte sich gegen die Korallen, versuchte, noch einen Zentimeter weiter zu greifen, und bekam den Gegenstand endlich mit den Fingerspitzen zu fassen. Er holte ihn etwas näher heran, ließ ihn fallen und ergriff ihn dann richtig. Er zog den Arm zurück und öffnete die Augen. Er war allein. Das Saugrohr bockte blubbernd am Riff auf und ab; der Ampullenhaufen lag unberührt im Sand. Er blickte hoch und sah Treece und Coffin, die gerade die Oberfläche erreichten. Treece trat das Wasser heftig mit den Schwimmflossen und zog sich ins Boot. Sanders machte die Faust auf und betrachtete das Ding, das in seiner Hand lag. Es war ein gekreuzigter Christus aus Gold, etwa zwölf Zentimeter groß. Die Nägel in den Händen und Füßen waren rote, die Augen blaue Edelsteine. Sanders drehte die Figur um und sah am Fuß des Kreuzes die eingravierten Buchstaben »E. F.«. Treece lehnte am Schanzdeck, während Coffin seine verletzte Hand mit Mull verband. Sanders stand auf der Plattform und nahm seine Maske ab. »Schlimm?« fragte er. »Nein. Aber wenn ich keine Handschuhe angehabt hätte … Das größte Problem bei den Biestern ist die Infektionsgefahr.« »Haben Sie etwas draufgemacht?« »Ja, Sulfonamidpuder. Vergessen Sie’s. Was haben Sie ge funden?« Sanders kletterte über den Heckspiegel und reichte Treece 224
das Kruzifix. Treece betrachtete es, bemerkte die Initialen, hielt es dann ein paar Zentimeter von seinem Gesicht entfernt. »Mein Gott, was für eine Arbeit!« Gail beugte sich zu ihm, aber so, daß sie ihn nicht behinderte, und starrte auf die Figur. »Wundervoll!« »Es ist mehr als das. Sehen Sie die Rubine in den Händen und Füßen? Die Spanier haben fast nie Rubine benutzt. Sie mochten Smaragde; Grün war die Farbe der Inquisition. Sie stritten sich ungefähr hundert Jahre über den Gebrauch von Rubinen herum. Sie benutzten sie erst spät, Anfang des 18. Jahrhunderts, aber auch dann nur für den König. Und noch etwas Besonderes: Die Figur hat keine Beschläge.« »Beschläge?« »Zum Zusammenhalten. Sie wurde nicht in einem Stück gegossen, weil man diese Technik damals noch nicht be herrschte. Und sie hat keine Nadeln oder Nägel oder Zapfen. Sie gleicht gewissen chinesischen Zusammensetzspielen: eine Menge Einzelteile, die sich nur dann verbinden lassen, wenn man sie in der richtigen Reihenfolge zusammensetzt. Wenn Sie genau hinsehen, erkennen Sie an den Verbindungsstellen haarfeine Linien. Unser E. F. war entweder ein sehr reicher Mann oder der Freund eines sehr reichen Mannes.« Coffin riß das Mullende ein und band einen Knoten. Treece ballte die Hand zur Faust, verzog das Gesicht. »Ver dammt lästig.« »Wollen Sie nicht zum Arzt?« fragte Gail. »Nur wenn ich sehe, daß mein Arm rot anläuft.« Treece stieß sich vom Schiffsrand ab und stand auf. Er hob die verbundene Hand und sagte zu Sanders: »Sie sind nicht der einzige Dumm kopf auf diesem Schiff. Wenn es Percy gewesen wäre, würde er jetzt schon an meinem Nacken kauen.« Sanders sagte: »Daran mußte ich auch denken.« »Adam«, sagte Treece. »Sie und David holen das Saugrohr und die letzten Ampullen herauf. Bis heute abend machen wir 225
erst einmal Schluß.« »Sie wollen wieder runter?« fragte Coffin. »Mit dieser Hand?« Treece nickte. »Ich fahre nach Haus und verbinde sie so, daß sie trocken bleibt. Das Saugrohr werde ich damit schon halten können; mehr habe ich unten ja ohnehin nicht gemacht.« Sie brachten noch drei Beutel mit Ampullen herauf, holten die Anker ein und überquerten die Riffe, um Coffin vor dem Strand abzusetzen. »Ich kann mitfahren, wenn Sie wollen«, sagte Coffin zu Treece. »Jetzt, wo Ihre Hand verletzt ist, sollten Sie auf keinen Fall in die Grotte.« »Nein. Ruhen Sie sich aus. Ich werde Kevin holen.« »Kevin! Sie trauen ihm?« »Ja. Er würde seiner toten Großmutter zwar die Goldplom ben herausnehmen, aber mir gegenüber ist er hundertprozentig loyal.« »Wirklich?« »Fangen Sie nicht auch noch an. Es reicht schon, daß der gute David mir kein Wort glaubt.« Treece sah, daß Sanders ihn gehört hatte, und lächelte. »Entschuldigung. Aber Sie müssen ebenfalls immer recht behalten. Wird vielleicht besser, wenn wir ein paar Tage zusammen gearbeitet haben.« Treece legte ungefähr fünfzig Meter vor dem Strand den Leerlauf ein. »Das wär’s, Adam. Möchte das Boot bei der Brandung nicht auf den Sand setzen.« »Kein Problem.« Coffin warf einen Blick auf die Wellen. »Bläst immer noch ganz schön.« »Ja, aber er dreht langsam nach Westen. Gut für heute abend.« »Wieviel Uhr?« »Sagen wir um sieben. Diesmal kommen wir pünktlich.« »In Ordnung.« Coffin schälte sich aus dem Schutzanzug und hechtete ins Wasser. 226
Auf der Rückfahrt nach St. David’s Island zählten David und Gail die Ampullen. Gail hatte bereits hundert Plastikbeutel mit je fünfzig Ampullen gepackt, aber es waren noch ungefähr zwei- oder dreimal so viele übrig; sie lagen in den Kojen geschichtet, waren in Handtücher gewickelt, füllten das angerostete Spülbecken. Treece fuhr langsam, ließ das Boot mit der schweren See schlingern, damit sie nicht zerbrachen. Anderthalb Stunden später, als Treece die Corsair längsseits des Anlegers steuerte, zählten und verpackten sie immer noch. Als sie den letzten Plastikbeutel zugebunden hatten, sagte Sanders: »Das wär’s: 23 270.« »Macht insgesamt rund 28 000.« Treece schaute auf die Beutelhaufen an Deck. »Wir werden die Plastikindustrie noch reich machen.« Gail rechnete. »Selbst wenn wir unsere tägliche Leistung auf 50 000 steigern, brauchen wir noch neun oder zehn Tage.« »Ja, und soviel Zeit haben wir nicht mehr.« Nach dem Essen verließ Treece das Haus und ging den Hügel hinunter. Gail stand an der Spüle und wusch ab. Sanders stellte sich hinter sie, legte die Arme um ihre Taille und streichelte mit der Nase ihren Nacken. »Er braucht mindestens zwanzig Minuten«, sagte er. »In zwanzig Minuten könnten wir ‘ne Menge tun.« Sie lehnte sich zurück. »Meinst du?« »Komm.« Er nahm ihren Arm und ging mit ihr ins Schlaf zimmer. Sie liebten sich mit zärtlicher Leidenschaft. Danach sah Gail, daß Davids Augen feucht waren. »Was ist los?« fragte sie. »Nichts.« »Warum weinst du dann?« »Ich weine nicht.« »Na gut, dann weinst du eben nicht. Und warum sind deine Augen ganz naß?« Sanders wollte gerade bestreiten, daß seine Augen naß wa 227
ren, überlegte es sich aber anders, drehte sich auf den Rücken und sagte: »Mir ist eingefallen, was für ein Glück ich habe … wie es wäre, wenn du stürbest und wenn ich wüßte, daß ich dich nie wieder so halten könnte. Ich frage mich, wie er damit leben kann.« Gail berührte seine Lippen. »Ich nehme an, in so einem Fall lebt man von Erinnerungen.« Sie hörten, wie die Küchentür geöffnet wurde. Sanders sprang aus dem Bett und zog seine Badehose an. Kevin stand mit Treece in der Küche. Sein gewaltiger brau ner Bauch hing über die eng sitzende Taucherhose und ver deckte sie teilweise. Sonst trug er nur noch alte, staubige braune Halbschuhe mit Kappe; die Schnürsenkel fehlten. Sein Gesichtsausdruck verriet äußerstes Mißfallen. Treece klopfte auf seine fleischige Schulter und sagte zu Sanders: »Er kann es gar nicht abwarten, die Haie mit diesem ganzen Speck zu beglücken. Wann hast du das letztemal getaucht, Kevin? 1955, nicht wahr?« Kevin grunzte. Sie gingen den Weg zum Bootssteg hinunter. Als Kevin die Ampullen sah, riß er die Augen auf. »Verdammt«, sagte er. »Sind sie das?« »Nur das, was wir bisher gehoben haben. Unten liegt noch ein Nachttopf voll.« »Wie viele?« »Wer weiß?« sagte Treece und lächelte. »Dich gehen nur diese hier etwas an.« Er setzte den Kompressor in Gang. Sanders schlüpfte in seinen Schutzanzug. Er war klamm und kalt. »Was ist mit Ihrem Freund da unten … Percy?« »Er sitzt wahrscheinlich in seinem Loch und pennt. Aber Sie könnten ihm auf alle Fälle einen Fisch vorbeibringen.« Sanders blickte auf Treeces verbundene Hand. »Ich brauche doch wohl nicht zu warten, bis er zuschnappt, oder?« »Nein, lassen Sie ihn einfach in seinem Loch oder nahe dabei 228
liegen. Er wird ihn schon riechen.« Sanders und Kevin brauchten zwei Stunden, um die Ampul len in der Grotte zu vergraben. Sanders fror und war erschöpft, aber Kevin, der lediglich Taucherhose und Bleigürtel – keinen Schutzanzug, keine Schwimmflossen – trug, schien weder das Wasser noch die Arbeit zu spüren. Sanders ergriff den Rand der Tauchplattform und blieb noch einen Augenblick im Wasser, ehe er sich hochzog. Er sah, wie Kevin den letzten Ampullenbeutel von Treece entgegennahm und wortlos hinabtauchte. »Ich dachte, er könnte das Wasser nicht ausstehen. Er ist wie eine Maschine.« »Er haßt es«, sagte Treece, »aber geben Sie ihm eine Arbeit, und er verwandelt sich in einen Roboter. Wenn ich eine schwierige Bergung habe, nehme ich ihn mit. Er hat zehn PS und soviel Speck, daß ihm nie kalt wird. Er ist irgendwie paradox: geldgierig wie ein alter Wucherer und zugleich so unausstehlich, daß er nicht mit den Leuten zusammenarbeiten kann, die genug Geld haben, um ihn zu bezahlen.« »Werden Sie ihn bezahlen?« »Ja. Er wird hundert Dollar verlangen. Ich biete ihm zwan zig, und wir einigen uns bei fünfzig.« »Kein schlechter Stundenlohn.« »Stimmt, aber er ist ein fabelhafter Arbeiter. Ich könnte alle möglichen Dummköpfe für fünf Dollar die Stunde bekommen, aber sie würden den ganzen Tag brauchen und dann losziehen und alles versaufen und überall auf der Insel ausposaunen, was sie gemacht haben. Außerdem bekommt Kevin nicht oft Arbeit. Ich fühle mich verpflichtet, ihm dann und wann zu helfen.« Sanders kletterte ins Boot und öffnete den Reißverschluß der Schutzjacke. Seine Brust und seine Arme waren eine einzige Gänsehaut. »Gehen Sie hinauf und nehmen Sie eine heiße Dusche«, sagte Treece. »Kevin und ich schaffen den Rest schon allein.« 229
Sanders klapperte mit den Zähnen. »Gut.« Treece nahm ihm die Jacke ab und hängte sie ans Dach der Aufbauten. »Die Sonne wird sie ein bißchen aufwärmen. Dann haben Sie’s heute abend gemütlicher.« Auf dem Weg zum Haus wurde es Sanders etwas wärmer, aber nicht warm genug, und als er in die Küche trat, klapperte er immer noch mit den Zähnen. Er schenkte sich einen Scotch ein und nahm das Glas mit ins Bad. Als er geduscht hatte, ging er zum Schlafzimmer. Im Vorbei gehen sah er Treece in der Küche wirken. Er öffnete leise die Tür – Gail schlief –, zog eine lange Hose an und steckte sein Portemonnaie in die Tasche. Treece saß am Küchentisch. Rechts von ihm stand ein Glas Rum, links von ihm befand sich ein Stapel Papiere, und vor ihm lag das Kruzifix. Sanders schenkte sich neu ein. »Was haben Sie doch gleich gesagt? Fünfzig?« »Ja.« Sanders nahm zwei Zehner und einen Fünfer aus dem Porte monnaie und legte die Scheine auf den Tisch. »Unser Anteil.« Treece musterte das Geld und sagte: »In Ordnung.« Er tippte mit dem Finger auf die Figur. »Ihr Anteil hiervon wird eine ganze Menge mehr ausmachen.« »Wieviel ist es wert?« Sanders hatte keine Ahnung von spa nischem Gold. Das Kruzifix mochte sieben oder acht Feinun zen wiegen – der Metallwert durfte also knapp tausend Dollar betragen. Die Edelsteine waren winzig. »Genau kann ich es nicht sagen. Wenn wir es verkaufen wollten, wenn wir es verkaufen könnten, wenn wir einen Markt dafür hätten – ungefähr 100 000 Dollar.« »Mein Gott!« Sanders’ Hand fuhr in die Höhe und verschüt tete Scotch. »Geben Sie das Geld nicht schon vorher aus, denn Sie wer den es wahrscheinlich nie sehen. Bevor wir einen Pfennig dafür 230
bekommen, müssen wir alles hochholen, schätzen lassen, den verdammten Behörden melden, beschließen, ob wir etwas oder alles verkaufen wollen, mit den Kerlen verhandeln – was Monate dauern kann. Und dann, vielleicht …« »Trotzdem, 100 000 Dollar! Wie kommt das?« »Vor allem, weil es eine alte Arbeit ist, und damit sind wir schon bei einem anderen Problem. Der Wert solcher Arbeiten ist schwer zu bestimmen; er hängt von subjektiven Faktoren ab. Wieviel ist die Arbeit wert?« Treece wiegte das Kruzifix in seiner Hand. »Verdammt, diese holländischen Juden waren richtige Künstler!« »Holländische Juden? Ich dachte, es sei aus Südamerika.« »Ist es auch. Aber der bessere Schmuck – die Sachen für die hohen Aristokraten – wurde von holländischen Juden gemacht, die die Spanier anheuerten und in die Neue Welt brachten. Die Spanier und Indios beherrschten diese Techniken nicht. Und dann zahlt man noch für die Herkunft. Das suche ich gerade, etwas, womit wir die Herkunft beweisen können.« »Warum?« »Ich habe Ihnen doch schon gesagt, daß solche Sachen dau ernd gefälscht und als spanisch ausgegeben werden. Schmuck allerdings weniger als Münzen. Aber man muß trotzdem beweisen können, woher es stammt. Zweifelsfrei beweisen.« Treece schlug auf den Stapel. »Also wieder dieser verdammte Papierkrieg.« »E. F. ist doch ein Name, oder? Es muß ein Name sein.« Treece sah ihn an, als hätte er etwas unglaublich Dummes gesagt. Sanders wurde rot.»Ich meine … es ist nicht wie das ›D. G.‹ auf der Münze oder wie die anderen Buchstaben – ›König von Spanien und Westindien‹. E. F. ist eine Person.« »Ja, es ist ein Name, und ich habe hier die Namen aller bes seren spanischen Adeligen, die Ende des 17. und Anfang des 18. Jahrhunderts lebten. Keine große Hilfe, aber immerhin 231
etwas.« »Kann ich Ihnen helfen?« »Nein. Man braucht ein geübtes Auge, sonst weiß man noch nicht mal, was man überhaupt sucht.« Treece reichte ihm das Kruzifix. »Aber ich habe eine andere Arbeit für Sie. Sie können ausklamüsern, wie man Mister Jesus auseinander nimmt.« Sanders hielt sich die Figur dicht vors Gesicht. Zwischen dem Hals und den Schultern des Gekreuzigten lief eine hauch dünne Linie, und Sanders versuchte, den Kopf zu drehen. Er ließ sich nicht bewegen. »Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.« Ertrank einen Schluck Whisky, bemühte sich dann vergebens, ein Gähnen zu unterdrücken. »Am besten ist es«, sagte Treece, »wenn Sie sich ein paar Stunden hinhauen. Es ist jetzt halb vier; wir müssen gegen sechs los. Ein bißchen eher, wenn der Wind sich nicht legt.« »Sie haben recht.« Sanders leerte sein Glas und ging ins Schlafzimmer. Gail lag zusammengerollt wie ein Embryo auf ihrer Seite des Betts und schnarchte wegen ihrer verstopften Stirnhöhlen. Sanders streifte die Hose ab und kroch unter die Decke. Er dachte daran, Gail die Nase zuzuhalten, damit sie sich anders hinlegte und – vielleicht – so lange mit dem Schnarchen aufhörte, bis er eingeschlafen war. Aber wenn er sie aufweckte … Als nächstes spürte er Treeces Hand auf seiner Schulter und hörte ihn sagen: »Zeit für das nächste kalte Bad.« Der Wind hatte nach Westen gedreht und wehte nur noch als angenehme, frische Brise, und während sie in der niedrig stehenden Sonne an der Südküste entlangfuhren, konnten sie die weißen Brandungslinien sehen, die die Riffe anzeigten. Treece gab Sanders das Ruder und sagte: »Immer gerade aus.« Er ging unter Deck, wühlte in einigen Kisten herum und 232
kam mit einem dünnen Gummihandschuh, wie man ihn für Küchenarbeiten benutzt, und einigen Gummibändern wieder. »Da bekommen Sie Ihre Hand nie hinein«, sagte Sanders. »Nein.« Treece legte den Handschuh auf das Deck, zog ein Messer aus einer Scheide, die ans Schott genagelt war, und schnitt die Finger vom Handschuh ab. Er gab Gail den Hand schuh, und sie hielt ihn fest, während er seine Hand hinein wand. Er streifte ein Gummiband über sein Handgelenk, damit der Handschuh fest saß, und zog dann die Jacke seines Schutz anzugs und einen Tauchhandschuh an. »Sie tauchen?« fragte Gail. »Was macht Ihr Kopf?« »Drei bis vier.« »Ich tauche. Ich glaube sowieso nicht, daß ich hier oben die Hände in den Schoß legen kann, wenn ihr drei Experten da unten herumwirkt. Ich würde mir die verrücktesten Sachen vorstellen.« Treece bog seine Finger; er konnte sie nicht zur Faust schließen. »Ein bißchen Wasser ist nicht weiter schlimm. So können die Biester wenigstens kein Blut wittern.« Die Lichter des Orange Grove Club strahlten hell durch das Zwielicht. Die untergehende Sonne ließ die Brandung rosaweiß erglühen, aber der Strand selbst lag im Schatten der Steilklip pen. Die ruhige See erlaubte Treece, bis auf zwanzig Meter zum Ufer zu fahren. Der Strand war leer. »Wo ist er?« fragte Sanders. »Er kommt bestimmt gleich.« Treece schaute auf seine Uhr. »Wir sind fünf Minuten zu früh dran.« Sie ließen sich von der sanften Dünung schaukeln und warte ten. Treece legte alle paar Minuten den Rückwärtsgang ein und gab kurz Vollgas, damit das Boot nicht auf den Sand getrieben wurde. Der blaue Himmel verdunkelte sich schnell. Um Viertel nach sieben sagte Treece: »Er kommt sonst nie zu spät.« »Soll ich mal nachsehen?« fragte Sanders. 233
»Nachsehen, was? Wenn er zu spät kommt, kommt er zu spät.« »Vielleicht hat er Ärger mit den Leuten vom Hotel. Weil er den Aufzug benutzen wollte oder so.« »In Ordnung.« Sanders zog den Verschluß seiner Schutzjacke zu und legte die Schwimmflossen an. Gail sagte: »Sei vorsichtig.« »Wieso? Auf dem Sand gibt’s höchstens ein paar Krebse.« »Ich weiß nicht, aber … bitte.« »Na gut, ich verspreche es.« Sanders zog seine Taucherbrille über den Kopf und ließ sich ins Wasser fallen. Fünf Meter vor dem Ufer stellte er fest, daß er Grund hatte. Er nahm Schwimmflossen und Brille ab und hüpfte durch die kleinen Wellen. Als er den Strand erreicht hatte, schaute er nach links und rechts; er konnte in beiden Richtungen noch mindestens anderthalb Kilometer weit sehen und erkannte trotz der herein brechenden Dämmerung, daß kein Mensch am Strand war. Er legte Schwimmflossen und Brille oberhalb der Flutlinie in den Sand und ging zu der Steilwand, die wie ein dunkler Felsvor hang in den indigofarbenen Himmel ragte. Rechts hinter ihm stieg eine gelbe Sichel über den Horizont: Neumond. Er hörte das dumpfe Klatschen und Gurgeln der Wellen auf dem Sand und das Flüstern des Windes in den Büschen auf den Klippen. Als er in den Schatten trat, blickte er hoch; er konnte den rechteckigen Käfig sehen, der sich gegen den Himmel abzeich nete. Er ging zur Verankerungsplatte der Eisenstange, denn er wollte den Aufzug herunterholen. Da er die Stange nicht erkennen konnte, richtete er sich nach dem Käfig hoch oben. Plötzlich stolperte er über etwas und fiel auf die Knie. Er konnte nichts erkennen. Noch auf den Knien, drehte er sich um und tastete mit der Hand. Kotgestank drang ihm in die Nase, und er dachte einen Augenblick lang, er sei über ein Tier gestrauchelt, das sich gerade entleerte. Dann berührten seine Finger Fleisch, kühles Fleisch: einen Arm. Er holte schnell und 234
erschrocken Luft, spürte jähe Furcht und tastete weiter. Er beugte sich dichter über den Sand und sah Coffins glasige, leblose Augen in den Himmel starren. Gerinnendes Blut sickerte ihm aus dem Mund. Sanders legte die Finger an Coffins Hals und fühlte den Puls: nichts. Dann sprang er auf und rannte. Am Rand des Wassers blieb er stehen, legte hastig die Schwimmflossen an, hechtete dann über eine kleine Welle und schwamm wie ein Gehetzter zum Boot. »Er ist tot!« keuchte Sanders, als Treece ihn an Bord zog. »Sie müssen ihn die Klippen hinuntergestürzt haben.« Treece preßte Sanders’ Handgelenk. »Sind Sie sicher?« »Kein Zweifel! Kein Atem, kein Puls, nichts.« »Scheiße!« Treece stieß die Hand grob weg. Sanders dachte: Das ist ein seltsamer Nachruf – Scheiße. Aber was sollte man sonst noch sagen? Der Fluch war beredt genug, enthielt nicht nur Verzweiflung, sondern auch Zorn. Er blickte zu Gau Sie zitterte am ganzen Körper und atmete kurz, fast schluchzend. Sie starrte wie gebannt ins Wasser. Er ging zu ihr und legte die Arme um sie. Sie reagierte nicht auf die Berührung, zuckte nicht vor der klammen Nässe des Schutzanzugs zurück. Er atmete in ihr Haar und flüsterte: »Schon gut … schon gut.« Sie sah ihn an und sagte barsch: »Ich möchte nach Haus.« »Ich weiß«, sagte er. »Ich möchte sofort nach Haus. Schlimmer kann es hier nicht werden.« Sanders wollte antworten, aber Treece, der zu den Klippen blickte, sprach zuerst: »Jetzt nicht. Er ist bereit, das Spiel zu eröffnen.« Sanders sagte: »Spiel?« »Ich nehme an, daß seine Taucher soweit sind. Er braucht uns nicht mehr. Ich dachte, wir hätten noch ein bißchen Zeit, aber wir haben keine Zeit mehr.« Er stieß den Gashebel bis 235
zum Anschlag. Der Motor heulte auf, das Boot machte einen Satz und sauste zu den Riffen. Als sie das Riff erreicht und den Anker ausgeworfen hatten, sagte Treece zu Sanders: »Kann sie tauchen?« »Ich bin nicht sicher. Ich …« »Ich kann tauchen«, sagte Gail. »Ich könnte hier oben sowie so nicht allein sein. Ich werde es schon schaffen, wenn ihr mir genug Zeit gebt.« »Ich will verdammt sein, wenn ich das Boot gern allein las se«, sagte Treece. »Charlotte kann nicht allzu gut mit dem Gewehr umgehen. Aber ich sehe keine andere Möglichkeit. Vielleicht unternimmt er heute nichts mehr, weil er denkt, daß der Schreck bis morgen anhält.« Sie zogen sich um, und Gail schraubte ihren Lungenautoma ten an eine Druckluftflasche. »Ihr beide nehmt die Lampen«, sagte Treece. »Richtet sie auf die Öffnung des Saugrohrs. Sammelt mit den freien Händen die Ampullen ein. Ich werde versuchen, so langsam zu arbeiten, daß ihr mitkommt.« Treece ließ den Kompressor an und warf den roten Schlauch mit dem Saugrohr ins Wasser. »Zum Teufel, macht das Monster einen Krach. Wenn das verdammte Saugrohr nicht wäre, könnten wir darauf verzichten und Flaschen nehmen.« Sie sprangen ins Wasser und knipsten die Taschenlampen an. Treece blickte sich nach ihnen um, nickte und ließ sich auf Grund sinken. Die Hündin stand auf ihrem gewohnten Platz, beobachtete, wie die Lichter im Dunkel verschwanden, und schnüffelte die warme Abendluft ein. Sanders und Treece erreichten den Grund zuerst. Gail war langsamer, weil sie nicht schneller tauchen konnte, als ihre Stirnhöhlen und Ohren es zuließen. Die Luft, die sie einatmete, war irgendwie anders; sie schien ein bißchen süßlich zu schmecken, ansonsten aber gut zu sein, so daß sie sich weiter 236
sinken ließ. Sie arbeiteten nicht am Riff, sondern ungefähr zehn Meter von der Höhle entfernt, in einem neuen Ampullenfeld. Sanders hielt seine Lampe auf die Rohröffnung gerichtet und nahm eine Ampulle nach der anderen aus dem Loch. Gail legte sich gegenüber von Treece auf den Bauch, genau vor das Loch, und machte den Segeltuchbeutel auf. Sie fühlte keinen Druck mehr, keine Nervosität, keine Angst; sie staunte darüber, wie entspannt sie war. Selbst als das Saugrohr eine Granate freilegte, registrierte sie das Geschoß nur als Objekt, nicht als Gefahr. Treece gab sich keine Mühe, die Granate zu entfernen. Er saugte den Sand ringsum ab, und als das Rohr ein anderes Munitionsstück freigelegt hatte, einen länglichen Kubus aus Messing, saugte er ebenfalls weiter. Bald konnte er den Ge schossen jedoch nicht mehr aus dem Weg gehen; sie waren überall zwischen den zahllosen Ampullen verstreut. Treece gab den beiden ein Zeichen, ihm nach rechts zu folgen, stieß sich mit der linken Hand vom Grund ab und glitt zwei oder drei Meter weiter. Sanders blieb ihm auf den Fersen. Gail brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, daß sie fort waren. Sie starrte auf das Loch im Sand, hing träumeri schen Gedanken nach, freute sich über den hübschen gelben Schlauch, der sich hinter David durchs Wasser schlängelte. Ihre Augen folgten dem Schlauch, und als sie die beiden Männer endlich sah, spazierte sie gemächlich über den Sand und ließ den Lichtkegel ihrer Lampe auf den Farben im Riff spielen. Sie wollte die Lampe nicht auf das neue Loch richten, das Treece grub; sie beobachtete lieber die beiden gelben Fische, die am Riff entlanghuschten und aufglühten, wenn sie vom Licht getroffen wurden. Aber sie sah, daß Sanders zu ihr blickte und ungeduldig auf das Saugrohr zeigte, schwang sich also herum und ließ sich auf Grund sinken. Sie gähnte, fühlte 237
sich wunderbar – warm und geborgen im schwarzen Wasser. Sanders arbeitete im Lichtkegel seiner Lampe, sammelte die Ampullen ein, so schnell er konnte, drückte das Gesicht beinahe in den Sand. Es war Treece, dem zuerst auffiel, daß der Lichtkreis zu klein war. Er hob den Kopf vom Loch und sah, daß Gails Lampe ziellos im Wasser hüpfte, daß der Lichtkegel von oben nach unten, von links nach rechts schwankte. Als Sanders schließlich aufblickte, war Treece bereits losge sprungen. Er schwamm mit kräftigen Stößen auf Gails Lampe zu und zerrte sich die Maske vom Gesicht. Er nahm Gail die Lampe aus der Hand und richtete den Lichtkegel auf ihr Gesicht; ihre Augen waren geschlossen, ihr Kopf baumelte zur Seite. Treece ließ die Lampe fallen und griff nach ihrem Kopf, zog ihr den Lungenautomaten aus dem Mund und riß ihre Brille herunter. Dann legte er eine Hand auf ihren Hinterkopf und preßte ihr Gesicht in die Maske. Er hob das Knie und schob es ihr behutsam in den Magen. Sanders begriff nicht, was geschah; er sah nur das Licht ihrer Lampe, die im Sand lag. Er drehte seine Lampe nach oben, wo sich etwas bewegte, hielt es darauf gerichtet und stieß sich vom Grund ab. Treeces Hände umfaßten Gails Kopf. Schwache Blasenströme – aus der Maske, aus Gails Lungenautomaten und aus Treeces Mund – begleiteten sie an die Oberfläche. Treece erreichte die Tauchplattform, atmete seine letzte Luft aus und ließ die Maske von Gails Gesicht sinken. Er schob sie mit dem Gesicht nach unten auf die Plattform und begann ihren Rücken rhythmisch zu drücken, während er sich noch hinter ihr hochzog. Sanders’ Kopf stieß durchs Wasser. Er sah Treece knien, hörte ihn sagen: »Vorwärts … hilf mir ein bißchen … los … wir schaffen es schon … wir schaffen es … wupp!« Ein würgender Ton, ein Platschen, dann wieder Treeces Stimme: »Wir schaffen es schon … noch einmal … wir schaffen es … 238
sehr schön … komm … noch einmal … das war sehr schön.« Treece lehnte sich zurück und blieb auf den Fersen hocken. »Dieser Hurensohn! Das war verflucht nahe dran.« Gail kehrte durch einen dichten Nebel ins Bewußtsein zu rück, sie spürte ein schmerzhaftes Kratzen im Hals und schmeckte beißend sauren, wäßrigen Mageninhalt. Ihr war speiübel; ein schmerzhaftes Klopfen schien ihren Kopf zu zersprengen. Sie stöhnte schwach und hörte, wie Sanders sagte: »Was ist passiert?« Dann fühlte sie, wie sie hochgeschoben wurde, und Treeces Stimme sagte: »Augenblick noch.« Treece legte sie seitlich auf das Deck. Er beugte sich über sie und zog mit dem Daumen eines von ihren Augenlidern hoch. »Alles in Ordnung?« Das Lid des anderen Auges war bleischwer, aber sie zwang sich, es aufzumachen, und flüsterte: »Ja.« Treece nahm den Schlauch ihres Lungenautomaten hoch und hielt sich das Mundstück unter die Nase. Er drückte auf das Ventil, und aus der Preßluftflasche strömte Luft in seine Nase. »Mein Gott.« Er verzog das Gesicht. »Um ein Haar säßen Sie jetzt mit Erzengel Gabriel beim Tee.« »Was ist es?« »Kohlenmonoxyd.« »Auspuffgase?« fragte Sanders. »Vom Kompressormotor?« »Nicht vom Kompressor. Ich habe Ihnen doch gesagt, daß seine Gase sicher ins Freie geleitet werden.« »Wovon denn?« »Von jemandem, der wußte, was er tat. Hat wahrscheinlich sein Auto bis zum Luftfilter zurückgesetzt.« »Um sie umzubringen?« »Ja. Oder mich oder Sie. Ich glaube, es war ihm gleichgültig, wen von uns es treffen würde.« Sanders blickte auf Gail hinunter. Sie stützte sich auf einen Ellbogen und ließ den Kopf schlaff zur Seite hängen, als müsse sie sich jeden Augenblick übergeben. 239
Er wandte sich an Treece und fuhr ihn an: »Das ist es!« »Das ist was?« »Das Ende! Es ist vorbei! Wir haben verloren, verdammt noch mal. Wenden Sie dieses verdammte Boot, und dann nichts wie weg hier.« »Aber das können wir nicht«, sagte Gail schwach. »Wir haben …« »Und ob wir können! Er soll alles haben. Ist doch scheißegal. Es ist besser, als …« Treece sagte: »Beruhigen Sie sich.« »Ich will mich aber nicht beruhigen! Angenommen, sie hät ten sie umgebracht. Was dann? Beruhigen? Scheiße!« Sanders fühlte, daß seine Hände zitterten, und ballte sie zu Fäusten. »Nein, vielen Dank. Nicht noch einmal. Er soll nicht noch einmal Gelegenheit haben, ihr was anzutun. Nichts wie weg hier!« Sanders ging nach vorn ins Cockpit und suchte das Instru mentenbrett nach dem Anlasserknopf ab. Er hatte schon ein dutzendmal gesehen, wie Treece den Motor startete, hatte dabei aber nie auf die einzelnen Handgriffe geachtet. Er drückte und schaltete einen Knopf nach dem anderen, aber es geschah nichts. »Sie müssen den Zündschlüssel drehen«, sagte Treece. Seine Stimme war tonlos, nüchtern. Sanders griff nach dem Schlüssel, drehte ihn aber nicht. Er blickte zu Treece, der gelassen am Heck stand. »Es gibt tatsächlich keinen Ausweg, nicht wahr?« »Nein.« Die beiden Männer sahen sich einige Sekunden an. Dann bückte Treece sich und tippte Gail auf die Schulter und sagte: »Wie geht’s?« »Besser.« »Bleiben Sie an Deck; atmen Sie tief durch. Das Gewehr liegt neben dem Ruder. Kommen Sie, ich möchte Ihnen etwas 240
zeigen.« Er half ihr auf die Füße, führte sie zum Kompressor und berührte eine Flügelmutter an der Seite des Motors. »Sehen Sie das? Wenn Sie ein Boot kommen sehen oder etwas hören – wenn irgend etwas passiert, was Ihnen nicht gefällt –, brauchen Sie die Mutter nur eine halbe Umdrehung nach rechts zu drehen. Damit ist der Kompressor abgestellt. Wir werden dann sofort oben sein, das verspreche ich Ihnen.« »Gut.« Gail zögerte. »Ich wollte Sie nur fragen …« »Was denn?« »Was werden Sie mit Adam machen?« »Ihn dort lassen, wo er liegt. Wir können nichts für ihn tun; er ist dort, wo wir eines Tages alle landen.« »Und die Polizei?« »Sehen Sie, Mädchen …« In seiner Stimme schwang kaum merklicher Spott. »Vergessen Sie den ganzen Law-and-OrderUnsinn. Hier gibt es niemanden, der uns hilft. Wenn wir überleben, haben wir es einzig und allein uns zu verdanken. Wenn nicht, ist es unsere eigene Schuld. Morgen früh wird jemand baden gehen wollen und Adam finden und die Polizei alarmieren, und dann werden die Bullen kommen und sehr geschäftig tun und ihn auf einer Bahre wegtragen und in ihre kleinen Notizbücher schreiben, Adam sei abends auf der Steilwand herumspaziert, und zwar betrunken; das werden sie schreiben. Und dann sei er über Bord gegangen. Wenn wir zur Polizei gehen, werden sie zu demselben Schluß kommen, nur daß sie uns – um den Schein zu wahren – tagelang dumme Fragen stellen, diese Aktenhengste. Die Polizei ist Zeitver schwendung.« Treece winkte Sanders nach achtern zur Tauch plattform. Als die beiden Männer ihre Ausrüstung angelegt hatten, sagte Sanders zu Gail: »Es wird dir bessergehen, wenn du dich hinlegst.« »Mir geht’s schon ganz gut. Sei du lieber vorsichtig.« Sie lächelte. 241
Treece machte das Daumenzeichen, Sanders antwortete, und sie sprangen rückwärts ins Wasser. Gail beobachtete, wie Sanders’ Licht zu dem Licht glitt, das am Grund lag – ihre Lampe. Ihre Lampe wurde hochgenom men, und die beiden Lichtkegel wanderten zusammen weiter, blieben stehen und verschwammen, als die Sandwolke aufwir belte. Sie schauderte und hob die Augen zu den düsteren Klippen. Sie versuchte sich vorzustellen, wie Coffins Leichnam aussah, eine zerquetschte Masse im Sand. Sie schüttelte den Kopf, um sich von dem Bild zu befreien, ging nach vorn und nahm das Gewehr von dem Sims über dem Ruder. Sie setzte sich auf den Heckspiegel und legte das Gewehr in den Schoß – haßte es, fürchtete sich davor, war aber dankbar, daß sie es hatte. Ein Geräusch hinter ihr: platsch, bumm. Sie sprang vom Heckspiegel und wirbelte herum, spannte den Hahn, legte den Zeigefinger an den Abzug und zielte aufs Wasser. Eine Hand durchstieß die Oberfläche und griff nach ihr; die Hand hielt einen Beutel mit Ampullen. Gail legte das Gewehr hin und langte zitternd nach dem Beutel. Sanders schob das Unterteil seiner Maske hoch. »Alles in Ordnung?« »Ja.« Sie schüttelte die Ampullen langsam auf die Persenning an Deck. »Nur, daß ich dich um ein Haar erschossen hätte, mehr nicht.« »Ich glaube nicht, daß sie mit einem U-Boot kommen«, sagte Sanders. Er nahm ihr den leeren Beutel ab und sank unter die Oberfläche. Gail kniete sich auf das Deck und fing an, die Ampullen zu zählen, griff im Dunkeln nach ihnen. Da nur zwei Taucher unten waren, ging die Arbeit langsam voran. Jedesmal, wenn Sanders nach oben schwamm, hörte Treece auf zu graben, weil er fürchtete, die freigelegten Ampullen würden vom Gezeitenstrom fortgeschwemmt 242
werden. Er wartete auf Sanders’ Rückkehr, schritt zum Riff und stocherte mit dem Saugrohr daran herum. Er setzte das Rohr aufs Geratewohl an, fand an einer Stelle Ampullen, an einer anderen Granaten, an der dritten nichts. Er kam zu einer kleinen Nische im Riff, wo die Korallen etwa anderthalb Meter zurückwichen und eine winzige Bucht bildeten. Er betrachtete die Bucht, berührte mit dem Saugrohr den Grund und schaute zu, wie der Sand in die Öffnung schoß. Sanders war wieder da und tippte Treece auf die Schulter. Treece nickte und sah routinemäßig auf die Uhr, ehe er zum Ampullenfeld zurückkehrte. Der linke Ärmel der Schutzjacke bedeckte das Zifferblatt, so daß Treece das Rohr unter den rechten Arm klemmen und den Ärmel mit der rechten Hand hochschieben mußte, um die Uhr zu sehen. Es war elf. Treece ließ den Ärmel wieder los und bewegte den rechten Arm etwas zur Seite, damit das Saugrohr in seine Hand fiel. Es fiel aber daneben. Seine verbundene, gummibedeckte Hand hatte nicht schnell genug reagiert, und das Rohr glitt in den Sand und ruckte heftig hin und her. Treece langte mit der linken Hand danach, ergriff es und bekam es wieder unter Kontrolle. Dann sah er ein Flimmern. Als das Rohr den Grund erreicht hatte, war es ein Stückchen in die Korallenbucht geschnellt und hatte in seinem unstillba ren Sandhunger auf eigene Faust ein Loch gesaugt. Aus diesem Loch drang das Flimmern. Treece gab Sanders seine Lampe und machte ihm ein Zei chen, beide Lichtkegel auf das Loch zu richten. Dann führte Treece das Saugrohr zu dem Flimmern, behutsam wie ein Chirurg, der einen Einschnitt untersucht. Seine linke Hand lauerte neben dem Loch, um den Gegenstand rechtzeitig zu packen, falls er losgerissen wurde und in den Sog geriet; mit der rechten Hand hielt er das Rohr gut zwanzig Zentimeter über dem Grund, schwächte den Sog so weit ab, daß der Sand nur noch ganz schwach aufgewühlt wurde. 243
Es war ein Kiefernzapfen, etwa so groß wie ein Tennisball, naturgetreu aus Gold gegossen oder gehämmert. Jede der zahllosen Schuppen des Kiefernzapfens war mit einer winzigen Perle besetzt. Vorsichtig holte Treece den Kiefernzapfen aus dem Sand und hielt ihn in die Lichtkegel. Sandkörner, die zwischen den Zapfen und das Licht getragen wurden, ließen das Gold aufblitzen. An Sanders’ Handgelenk hing ein Segeltuchbeutel. Treece langte hinein, legte den Kiefernzapfen behutsam ganz nach unten und begann wieder zu graben. Noch ein Flimmern: eine goldene Scheibe, fast anderthalb Zentimeter im Durchmesser. Treece faßte sie mit zwei Fingern und zog; sie löste sich nicht. Er entfernte mehr Sand und sah, daß die Scheibe mit einer anderen Scheibe verbunden war, und diese mit einer dritten: eine goldene Kette. Als zwanzig Scheiben freigelegt waren, konnte Treece die Kette aus dem Sand ziehen. Sie war gut drei Meter lang. Treece zeigte auf einen Verschluß am Ende der Kette. Sanders blickte genau hin und sah die eingravierten Buchstaben »E. F.«. Treece grub noch ein paar Minuten weiter, fand aber nichts mehr. Er legte die goldene Kette in den Segeltuchbeutel und zeigte nach oben. »Paß gut damit auf«, sagte Sanders, als er Gail den Beutel reichte. Dann gab er ihr eine der Lampen. Er hörte, wie Treece neben ihm auftauchte, und sagte: »Warum sollen wir aufhören? Vielleicht liegt noch mehr unten.« »Vielleicht, aber es ist zu spät, um alles auszubuddeln, und ich möchte keine halbe Arbeit machen und einen Riesengraben hinterlassen, den man schon von weitem sieht.« »Unglaublich!« sagte Gail und richtete den Strahl der Lampe auf den Kiefernzapfen in ihrer Hand. »Machen Sie das verdammte Licht aus!« sagte Treece. Sie 244
knipste die Lampe aus. »Wenn jemand mit einem Nachtglas auf den Klippen steht, kann er es so gut erkennen, als wäre hellichter Tag.« Treece kletterte an Bord, stellte den Kompressor ab, befahl Sanders, die Luftschläuche einzuholen, und ließ den Motor an. Er blickte zurück zu Sanders, der auf dem Deck hockte und die Schläuche säuberlich zusammenrollte. »Geben Sie sich jetzt nicht damit ab. Werfen Sie sie einfach ins Boot. Wenn Sie fertig sind, nehmen Sie das Ruder.« Treece stieg auf das Seitendeck und ging nach vorn, schubste die Hündin ungeduldig mit den Füßen aus dem Weg. Sanders holte das Saugrohr an Bord und zog den Schlauch nach. »Nehmen Sie das Ruder«, rief Treece. »Moment noch.« »Nein, sofort, verdammt noch mal!« Sanders sah Gail an und reichte ihr den Schlauch. »Hier. Zieh weiter.« Er nahm das Ruder. »Vorwärtsgang rein«, sagte Treece. »Und bitte ein bißchen Gas, aber nur ganz schwach. Ich möchte, daß sie zum Anker fährt.« Sanders gehorchte. Treece holte den Anker ein und kam nach achtern. Als er ins Cockpit sprang, sagte Sanders: »Warum so eilig?« Treece antwortete nicht. Er übernahm das Ruder. Auf der Rückfahrt nach St. David’s Island kam kein Ge spräch auf. Treece stand nachdenklich am Ruder. David und Gail rollten Schläuche zusammen und zählten Ampullen. Treece sagte auch noch nichts, als sie kurz vor eins das Haus erreichten. Er schenkte sich ein Glas Rum ein, legte den Kiefernzapfen und die Kette auf den Küchentisch und holte einen Karton mit Dokumenten aus einem Wandschrank. Als die Sanders ihm gute Nacht wünschten, nickte er nur kurz. Um vier Uhr morgens bekam Treece heraus, wer E. F. war. 245
X Beim ersten Indiz wollte er es einfach nicht glauben. Er blieb noch zwei Stunden am Küchentisch sitzen, verglich Dokumen te und machte Notizen. Als schließlich kein Zweifel mehr möglich war, stand er auf, schenkte sich ein neues Glas Rum ein und ging ins Schlafzimmer, um die Sanders zu wecken. Gail kam zuerst in die Küche, und Treece sagte: »Wie fühlen Sie sich?« »Gut. Niemand hat versucht, mich im Bett umzubringen. Dafür muß man ja schon dankbar sein.« »Fühlen Sie sich wie Krösus?« »Wieso? Sollte ich das?« Treece lächelte geheimnisvoll. »Warten Sie, bis David kommt.« Gail betrachtete sein Gesicht, seine roten Augen und die Ringe darunter. »Haben Sie überhaupt geschlafen?« »Nein. Gelesen.« Da wußte sie es. »Sie haben E. F. gefunden!« Im Schlafzimmer stieg Sanders in seine Badehose. Über einer Stuhllehne hing ein Polohemd. Er langte danach, hielt dann inne und dachte: Zum Teufel damit; ich muß es in einer Stunde sowieso wieder ausziehen. Er musterte sich im Spiegel und schlug sich erfreut auf seinen flachen Bauch. Er war braun und schlank, und er fühlte sich pudelwohl. Selbst seine Füße fühlten sich gut an, hart und schwielig; er konnte sich gar nicht mehr erinnern, wann er das letztemal Schuhe angehabt hatte. Er ging in die Küche. Gail und Treece saßen am Tisch und hatten Tassen in der 246
Hand. Als er zum Herd ging, um sich Kaffee einzuschenken, sagte er: »Guten Morgen.« Sie antworteten nicht, und im Vorbeigehen sah er, wie sie einen Blick tauschten. Gereizt dachte er: Was ist denn nun schon wieder? Er setzte sich an den Tisch und sagte: »Na?« »Fühlen Sie sich wie Krösus?« fragte Treece. »Wie bitte?« Gail konnte sich nicht beherrschen: »Er hat E. F. gefunden!« Jetzt verstand Sanders, und er lächelte. »Wer ist er?« »Sie«, sagte Treece. »Sie wissen sicher noch, was Sie vor ein paar Tagen sagten, als Sie das Medaillon fanden: ›Vielleicht war es ein Geschenk für jemanden.‹« »Sicher. Und Sie sagten, das sei unmöglich.« »Ja, aber dann kamen Dinge, die nicht mehr ins Bild paßten. Ein Mann hätte zwar das Medaillon tragen können, aber die Kamee, die Sie gefunden haben, gehörte bestimmt keinem Mann; sie war für eine Dame bestimmt. Und der Kiefernzapfen zweifellos auch. Vielleicht wurde er einer Ehefrau oder Freun din geschickt; darauf hat mich Ihre Bemerkung mit dem Geschenk gebracht. Ich habe noch einmal alle Papiere durch geackert, aber umsonst; darin steht nichts von einem oder einer E. F. Der Kapitän einer der naos, der Frachtschiffe, hieß zwar Fernández, aber er sank vor Florida.« »Wer war es also?« Treece überhörte die Frage, nippte an seinem Tee. »Der Kiefernzapfen machte mich nachdenklich, er und das Kruzifix. Es war unmöglich, daß solche Meisterwerke nicht registriert wurden – von dem Mann, der sie gemacht hatte, von dem Mann, der sie schickte, von dem Mann, der sie in Auftrag gegeben hatte. Irgend jemand muß etwas darüber aufgeschrie ben haben. Ich kam auf die Idee, daß ich auf der falschen Fährte sein könnte. Also legte ich alle Papiere über die Neue Welt beiseite und machte mich an die Geschichtsbücher. Dort fand ich den ersten Hinweis.« 247
»Was?« fragte Gail. »Den Namen?« »Ja, und eine Bestelliste. Wenn ich recht habe« – Treece blickte Sanders an –, »und ich weiß jetzt, daß ich recht habe; ich weiß, was da unten zwischen all den Bomben und Granaten liegt, die ausreichen würden, um die Bermudas auszulöschen. Es ist ein Schatz, wie man ihn noch nie gesehen hat. Er ist nicht mit Geld aufzuwiegen. Man hat ihn seit 260 Jahren gesucht, man hat Menschen dafür gehängt, und ein spanischer König hat sich schwarz geärgert, weil er ihn nicht bekam.« Sanders sagte: »War er auf der Grifón?« »Ja. Es ist nicht anders möglich. Hören Sie zu. 1714 starb die Gemahlin von König Philipp V. Sie war noch nicht kalt, als Philipp sich bereits in die Prinzessin von Parma verliebte. Wahrscheinlich hatte er sie schon länger haben wollen, konnte die Katze aber erst jetzt aus dem Sack lassen, wo seine Frau tot war. Er machte ihr einen Heiratsantrag. Sie nahm an, sagte aber, sie würde erst dann mit ihm schlafen, wenn er sie mit Juwelen überschüttet hätte, die – ich zitiere – einzigartig auf der Welt seien. Philipp muß scharf wie tausend Russen gewe sen sein, denn er schickte sofort einen Brief an seinen Mann in Havanna. Der Bursche übertrug den Brief in sein Tagebuch, das später in den Anhang eines gelehrten alten Schinkens über den Niedergang Spaniens in der Neuen Welt im 18. Jahrhun dert aufgenommen wurde. Der Brief war eine Bestelliste für Juwelen, die in Südamerika angefertigt und nach Spanien gebracht werden sollten. Unter der Abschrift des Briefes notierte der Tagebuchschreiber, was er schon alles hatte.« Treece zitierte aus dem Gedächtnis. »Ferner: zwei Goldschnüre mit jeweils 38 Perlen. Ferner: ein goldenes Kreuz mit fünf Smaragden. Und so weiter und so weiter. Geht bis zur nächsten Seite des Buchs, die irgendein Idiot vor hundert Jahren heraus gerissen hat.« »Kein Kiefernzapfen?« »Nein, und kein Kruzifix wie unseres, wenigstens nicht auf 248
der Seite, die noch da ist. Aber eine Truhe mit dreifachem Schloß wird erwähnt.« Sanders sagte: »Das ist aber noch kein Beweis, oder? Sie haben selbst gesagt, daß die Spanier solche Truhen öfter benutzten.« »Für sehr, sehr wichtige Sachen. Aber Sie haben recht: Sol che Truhen wurden nicht nur von der Grifón befördert. Also mußte ich wieder an die Dokumente.« Er nippte an seinem Tee. »Das königliche Gold befand sich gewöhnlich in einer Truhe, die man in einer Sicherheitskammer in der Nähe der Kabine des Kapitäns der capitana einschloß, in einer Art Tresorraum. Aus irgendeinem Grund traute der König dem Kommandeur der Flotte – Ubilla – nicht so recht. In seinem Brief nach Havanna stand, die Juwelen müßten von dem zuverlässigsten Kapitän der ganzen Flotte befördert werden, und niemand anders – niemand – dürfe von ihrer Existenz wissen. Philipp war sich damals nicht darüber klar, daß diese Vorsichtsmaß nahme ein Fehler war.« »Warum?« fragte Gail. »Denken Sie nach, Mädchen. Wir haben schon davon ge sprochen, als wir uns über El Grifón unterhielten. Ein Sturm kommt; die meisten Schiffe gehen unter. Nur zwei Leute auf der Welt wußten, wer die Juwelen hatte, der Kapitän, der sie beförderte, und der Mann in Havanna, der sie ihm anvertraut hatte. Der Kapitän überlebt, einigt sich mit dem Mann in Havanna, und dieser schreibt dem König, er hätte die Juwelen einem von den Kapitänen anvertraut, die untergegangen und ertrunken seien. Dann teilt er sich den Schatz mit dem Kapitän. Der wartet ein bißchen, gibt seinem Schiff einen anderen Namen, belädt es mit einer relativ wertlosen Fracht und segelt nach Haus. Wenn er es schafft, braucht er nie wieder zu segeln. Er hat genug, um sich und seine Familie und zwei oder drei kleine Fürstentümer über die Runden zu bringen. Ich habe noch nicht einmal die halbe Schmuckliste, aber auf dem Teil, den ich 249
habe, sind schon über fünfzig unschätzbare Kostbarkeiten aufgeführt. Der Plan hatte nur einen kleinen Fehler – das Schiff schaffte es nicht. Wurde von einem Sturm erwischt und vor den Bermudas auf ein Riff geworfen. Kein Mensch wußte, daß Dinge an Bord waren, die eine Bergung lohnten.« Sanders fragte: »Hat der Mann in Havanna das zugegeben?« »Zum Teufel, nein! Er jammert ausdauernd über den Unter gang der Flotte und den Verlust des königlichen Schatzes. Davon habe ich mich eine Zeitlang täuschen lassen.« »Ich glaube, Sie kombinieren zuviel. Sicher, er hätte es machen können, er könnte es gemacht haben. Aber das sind alles nur Vermutungen.« Treece nickte. »Das habe ich auch gedacht, ungefähr bis vier Uhr morgens.« Er hielt inne, genoß es, die beiden auf die Folter zu spannen. »Wie hieß der König doch gleich?« »Was soll das?« sagte Sanders, der sich manipuliert vorkam. »Philipp V.« »Ja. Und seine neue Frau?« Sanders seufzte. »Das war die Prinzessin von Parma.« »Nein!« Treece lächelte. »Das war nur ihr Titel, aber nicht ihr Name.« Er wartete, aber sie wußten keine Antwort. »Sie hieß … Elisabeth Farnese.« Es dauerte eine Sekunde, bis sie die Anfangsbuchstaben registriert hatten. Gail sperrte den Mund weit auf. Sanders war vor Überraschung sprachlos. Treece lächelte breit. Sanders wollte sich von Treeces Hochstimmung anstecken lassen, aber seine Gedanken wirbelten um die verschiedensten Dinge: Juwelen und Drogen und Granaten, den Anblick von Coffins zerschmettertem Körper, die aufgeschlitzte Stoffpuppe, Slakes tückisches Gesicht. »Wieviel ist der Schatz wert?« fragte er. »Keine Ahnung. Kommt darauf an, was noch unten liegt, was wir raufholen können, wieviel verlorenging und wieviel der 250
Mann in Havanna bekam. Was wir jetzt haben, dürfte ungefähr eine Viertelmillion Dollar wert sein, vorausgesetzt, wir können die Herkunft beweisen. Dazu müssen wir allerdings eines von den Schmuckstücken finden, die auf der Liste verzeichnet sind.« »Was machen wir mit dem Rauschgift?« fragte Gail. »Ich habe darüber nachgedacht. Wir haben keine Chance, alles zu bergen, jedenfalls nicht, bevor Cloche seinen ersten Schachzug macht. Sie wissen, wie viele es sind. Wie hoch schätzen Sie den Wert der Ampullen, die wir schon haben?« »Ich weiß nicht genau, wie viele wir haben, aber nehmen wir eine runde Zahl – sagen wir, es sind zusammen hundert tausend. Das wäre über eine Million Dollar, vielleicht zwei Millionen.« »Dann liegt für ihn noch mehr als genug unten. Aber das weiß er natürlich nicht, oder?« Treece redete mehr mit sich als mit den beiden anderen. »Er weiß nicht, was wir schon haben und was noch unten ist.« »Also?« »Also tauchen wir jetzt nach den Juwelen; sie sind viel wich tiger. Er soll ruhig denken, wir suchten die Ampullen.« »Wir können die übrigen Ampullen doch nicht einfach für ihn unten lassen.« »Nein, das wollen wir auch nicht, aber Sie müssen das Risiko bedenken. Eines steht fest: Cloche wird versuchen, uns aus dem Weg zu schaffen, höchstwahrscheinlich, indem er uns umbringt.« Treece verstummte, damit die Stille seine Worte unterstrich. »In diesem Fall können wir sagen, jetzt ist es egal, was er bekommt; es tangiert uns nicht mehr. Aber mir ist es nicht egal. Ich will nicht, daß er die Drogen bekommt, und ich will noch viel weniger, daß er auch nur ein einziges Schmuck stück bekommt; der Idiot würde es doch nur einschmelzen und für immer zerstören, um das verdammte Gold zu verkaufen. Der Schatz ist einzigartig. Es wäre ein Verbrechen, ihn jeman 251
dem in die Hände fallen zu lassen, der keinen Schimmer hat, was er wirklich bedeutet. Wenn wir die Ampullen aber suchen, bis er etwas unternimmt, verlieren wir die Juwelen. Selbst wenn er uns nicht umbringt, kann er uns vom Wrack fernhalten – er kann es aus reiner Gehässigkeit sprengen, wenn er will. Wenn wir jedoch die Juwelen haben, können wir uns in der Zeit, die uns noch bleibt, mit den Ampullen beschäftigen. Wir können eine Sprengladung zünden, wenn wir wollen. Ich finde, das ist eine sehr gute Chance.« David und Gail machten keine Einwendungen. »Wir wollen in den Keller gehen.« Er stand auf und öffnete eine Schublade. »Sie haben einen Keller?« fragte Sanders. »Ja, übertrieben ausgedrückt.« Treece holte einen braunen Samtstreifen aus der Schublade und wickelte die Kamee, das Medaillon, das Kruzifix, die Kette und den Kiefernzapfen hinein. »Mußte etwas haben, um diesen Schuppen bei einer steifen Brise zu verankern. Sonst wäre er längst über die Klippe gefegt worden.« Er führte sie ins Wohnzimmer und rückte einen Sessel beisei te. Unter dem Sessel war ein kleiner Messingring in den Fußboden eingelassen. Treece zog daran und hob eine ungefähr 1,20 mal 1,20 Meter große Platte aus Zederndielen ab. Er legte die Falltür neben die Öffnung und nahm eine Taschenlampe vom Kaminsims, setzte sich dann auf den Boden und ließ die Beine in das Loch baumeln. »Es ist etwa anderthalb Meter tief, man muß beinahe kriechen. Passen Sie auf Ihre Köpfe auf.« Er ließ sich in das Loch fallen und duckte sich. Der Keller war so groß wie das darüberliegende Wohnzim mer und hatte Wände aus dicken Steinen, die mit Mörtel zusammengehalten wurden. Sie folgten Treeces gebückter Gestalt zu der linken Kellerecke. »Zählen Sie drei Steine von unten ab«, sagte Treece und richtete den Lichtkegel in die Ecke. Sanders berührte den dritten Stein über dem Boden. 252
»Jetzt vier nach rechts.« Sanders fuhr mit den Fingern über die Wand, bis sie einen Stein von der Größe einer Pampelmuse erreicht hatten. »Hier?« »Ja. Ziehen Sie.« Sanders konnte die Hand kaum um den Stein bekommen, doch als er ihn einigermaßen im Griff hatte, ließ er sich mühe los bewegen. Er zog den Stein aus der Wand. In dem Loch lagen zwei Papiere; dahinter war ein anderer Stein zu sehen. »Meine Geburtsurkunde«, sagte Treece, griff hinein und nahm die Papiere heraus. Gail fragte sich, was das andere Papier sein mochte, und konnte in dem zurückgeworfenen Licht der Taschenlampe einen Nachnamen – Stoneham – und drei Buchstaben von einem Vornamen erkennen: lla. Priscilla, dachte sie: die Geburtsurkunde seiner Frau. »Was ist das?« fragte Sanders und zeigte auf etwas Kleines und Glänzendes, das in dem Loch lag. Treece schwenkte den Lichtkegel schnell zur Seite und steck te die Hand hinein. »Nichts.« Er nahm den Gegenstand heraus. Gail dachte: sein Ehering. »Greifen Sie jetzt hinein und ziehen Sie den anderen Stein heraus.« Sanders tat es. Sein Arm paßte fast bis zum Ellbogen in das Loch. Als der andere Stein entfernt war, legte Treece die samt umwickelten Schmuckstücke ganz hinten in das Loch. »In Ordnung, schieben Sie ihn wieder hinein.« Sanders tat den hinteren Stein in das Loch, Treece legte die beiden Papiere und den glänzenden Gegenstand zurück und steckte den vorderen Stein in die Wand. Dann sagte er: »Sie brauchen sich nur folgendes zu merken: drei nach oben, vier nach rechts.« »Ich will es mir aber nicht merken«, sagte Gail. »Es geht uns nichts …« 253
»Nur für den Fall. Ich mache vielleicht einen falschen Schritt und sause von der Klippe. Kann jedem von uns passieren. Es ist also besser, wenn wir alle wissen, wo die Sachen liegen.« Sie kletterten ins Wohnzimmer. »Ich glaube, wir sollten unserem Magen etwas Gutes tun«, sagte Treece, als er den Sessel über den Metallring im Fußboden schob. »Wird ein langer Tag.« Sie erreichten das Riff um elf Uhr morgens. Es war ein klarer, ruhiger Tag, und die ablandige Brise reichte kaum aus, um das Boot in sicherer Entfernung von den Felsen zu halten. Am Strand von Orange Grove lagen und liefen zwanzig bis dreißig Leute herum, und eine Mutter spielte mit ihrem Kind in der leichten Brandung. Während Treece den Anker setzte, nahm Sanders ein Fern glas und richtete es auf die Stelle, wo er Coffin gefunden hatte. »Sie haben die Stelle glattgeharkt; man erkennt es genau.« »Ja. Wollen natürlich keine Spuren zurücklassen, die die Touristen erschrecken. Für hundert Dollar pro Tag sind Lei chen am Strand nicht Inbegriffen.« Gail fand Treeces herzlose und kaltschnäuzige Reaktion auf Coffins Tod abstoßend. Sie verzog das Gesicht und wollte gerade etwas sagen, aber Treece hatte ihre Gedanken erraten und kam ihr zuvor. »Ein Mensch stirbt, Mädchen, und ist nicht mehr, jedenfalls nicht mehr hier unten. Die Achtung vor den Toten und all das Zeug nützt den Verstorbenen nichts; beruhigt höchstens die Lebenden. Vielleicht ist der Tote wirklich woanders – viel leicht muß er nur daran glauben, woanders hinzukommen, um woanders zu sein. Ich will niemandem seinen Glauben nehmen, und ich weiß über Seelen und all den Unsinn auch nicht mehr als Sie. Eines weiß ich aber: Es ist eine verdammte Zeitver schwendung, gut oder schlecht über etwas zu reden, das nicht mehr da ist. Ich kann mir nicht vorstellen, daß Petrus da oben 254
sitzt und sagt: ›Hör mal, Adam, da unten sind ein paar Leute, die auf dich schimpfen. Was hast du ihnen denn getan?‹« Gail antwortete nicht. Sie wartete einen Augenblick, sagte dann: »Ich kann heute tauchen.« »Nein. Bleiben Sie oben. Wir haben nicht viel zu schleppen. Selbst wenn wir alles finden, was unten liegt, paßt es in einen oder zwei Beutel. Und ich möchte, daß jemand im Boot ist, besonders heute.« »Warum?« »Weil ich glaube, daß es heute aufregend wird.« Treece spannte den Hahn. »Sie dürfen nur nicht vergessen, wie das Schießeisen funktioniert und wie man den Kompressor abstellt. Wenn nichts passiert, werden Sie wenigstens fabelhaft braun.« Er ließ den Kompressor an. Treece und Sanders kehrten zu der kleinen Bucht im Riff zurück, wo sie den Kiefernzapfen gefunden hatten. Die Gezei tenströmung trieb den Sand vom Saugrohr nach rechts, so daß sie den Grund gut sehen konnten. In den ersten Minuten fanden sie nur einzelne Ampullen, insgesamt zehn. Sanders griff danach, um sie aus dem Loch zu holen, aber Treece winkte ab und ließ die Ampullen das Aluminiumrohr hinauf klappern. Eine zerbrach dabei, und eine kleine Wolke aus einer blassen, halb durchsichtigen Flüssigkeit puffte aus dem oberen Rohrende. Treece grub tiefer, näherte sich dem Riff zentimeterweise. Der Sand bewegte sich jetzt anders unter dem Sog. Er kam nicht mehr glatt und regelmäßig, sondern strömte beinahe trichterförmig hoch, als sei in der Mitte ein Hindernis. Treece bedeckte die Rohröffnung mit der Hand, um den Sog abzu schwächen, und gab Sanders ein Zeichen weiterzugraben. Sanders rieb die Spitze des Trichters mit den Fingern und spürte etwas Hartes. Er bürstete Sand fort und sah Gold. Es war eine gut sieben Zentimeter hohe und ebenso breite Rose mit fein gehämmerten Blütenblättern. Sanders zog sie aus dem 255
Sand, hielt sie an dem zarten Stiel fest, damit Treece sie richtig sehen konnte, und legte sie in einen Segeltuchbeutel. Treece setzte das Saugrohr am unteren Rand des Riffs auf. Sanders legte sich gut zwanzig Zentimeter von der Rohr öffnung entfernt auf den Bauch und sah unter einem kleinen Felsvorsprung mehr Gold. Sanders griff unter den Vorsprung, faßte das Gold mit den Fingern und zog. Es bewegte sich, fühlte sich jedoch schwer an, als hinge etwas daran. Als er es herausgezogen hatte, betrachtete er es. Es war eine goldene Eidechse mit Smaragdaugen. Der Mund der Eidechse war offen, und beim Schwanz war noch eine andere kleine Öff nung. Aus dem Bauch ragte ein spitzer, kielähnlicher Fortsatz aus Gold heraus. Von einem Ring auf dem Rücken des Tiers führten zwei Enden einer Goldkette ins Riff. Sanders zog an der Kette, und sie löste sich langsam – sie war drei Meterlang und wand sich unter seinem Gesicht im Wasser. Treece nahm ihm die Eidechse ab und hielt sie dicht vor seine Maske. Er spitzte die Lippen und blies in seiner Maske auf den Eidechsenkopf, sagte Sanders damit, daß die Figurine als Flöte gedacht war. Dann drehte er das Tier auf den Rücken, zog die Oberlippe hoch und tat so, als wollte er sich den Stachel in den Mund stecken: Der Stachel war ein Zahnstocher. Sie waren fast fünf Stunden unten gewesen und hatten vier goldene Ringe (einer war mit einem großen Smaragd besetzt), zwei riesige mandelförmige Perlen an einer Goldscheibe mit den eingravierten Buchstaben »E. F.« und – auf der anderen Seite – einer lateinischen Inschrift, einen Gürtel aus massiven goldenen Gliedern und zwei Ohrclips mit Perlen gefunden. Dann entdeckte Treece die erste Goldschnur. Sie steckte tief im Riff, wurde nur dann sichtbar, wenn Sonnenstrahlen auf die gewirkten Goldfäden und die winzigen Perlen fielen, die gleichsam eingewebt waren. Treece gab Sanders ein Zeichen, nach der Schnur zu greifen. Sanders fror bitterlich. Trotz des Schutzanzugs hatte der 256
stundenlange Aufenthalt im Wasser seinen Körper unterkühlt, und er zitterte jetzt permanent. Er gehorchte, ohne zu überle gen, ohne daran zu denken, daß in dem Loch etwas Lebendes sein könnte. Seine bebende Hand langte in das Riff, die Finger schlossen sich um das Gold und zogen: Die Schnur steckte fest, hing vielleicht an einem Felsbrocken oder war mit Steinen bedeckt. Sanders zog die Hand zurück, sah Treece an und schüttelte den Kopf. Treece hob den rechten Zeigefinger und zeigte auf Sanders: Schauen Sie genau her. Er machte mit dem Saugrohr stoßende Bewegungen zum Riff hin, legte dann die Hände zusammen und streckte sie Sanders entgegen. Sanders verstand nicht, was Treece meinte. Er schüttelte den Kopf; ein eisiger Schauer lief sein Rückgrat hinauf und ließ seinen Kopf zittern. Er konnte sich nicht auf Treeces Körper sprache konzentrieren. Treece zeigte nach oben, legte das Saugrohr zwischen zwei große Steine am Riff und schwamm hoch. Sanders nahm den Segeltuchbeutel und schwamm hinterher. »Das ist der Beweis«, sagte Treece, als sie an Bord waren. »Der Beweis für die Herkunft. Die Schnur steht auf der Liste.« »Ich weiß.« Sanders machte seine Schutzjacke auf und mas sierte die Gänsehaut auf seiner Brust fort. »Wir werden uns ein bißchen ausruhen, und Sie lassen sich aufwärmen. Dann holen wir sie.« Er blickte in die Sonne, sah dann Gail an. »Fünf Uhr. War irgend etwas los?« »Nein. Ich brate, das ist alles.« Sanders fragte: »Was wollten Sie mir unten eigentlich sa gen?« »Daß wir das Riff aufbrechen müssen, um an die Schnur zu kommen. Ich werde mit dem Rohr gegen die Steine schlagen, und Sie räumen sie weg, wenn sie sich lösen. Ich will nämlich nicht, daß sie in das Loch fallen.« Er ging zur Kajüte. »Ich hole Ihnen ein Stemmeisen. Die Korallen schaffe ich mit dem Rohr, 257
aber für den großen Felsbrocken braucht man mehr.« Sie ruhten sich eine halbe Stunde aus. Sanders lag auf dem Kajütdach und ließ sich von der Sonne verwöhnen, die schon recht tief stand. Die wenigen Leute, die noch am Strand waren, packten all mählich ihre Sachen und gingen zum Aufzug, der im Schatten der Klippe nach oben und unten glitt und jedesmal aufblitzte, wenn er ins Sonnenlicht stieg. »Wir wollen los«, sagte Treece. Er tippte Gail mit einem Finger auf die Schulter, und auf ihrer rosabraunen Haut zeich nete sich ein weißer Kreis ab, der sofort wieder verschwand. »Bleiben Sie jetzt lieber im Schatten. Sonst bekommen Sie einen bösen Sonnenbrand, trotz der späten Tageszeit.« »Gut.« »Wenn Sie wollen, können Sie auch nach unten gehen und sich ein bißchen hinlegen. Charlotte meldet sich bestimmt, wenn Besuch kommt.« Die Männer sprangen ins Wasser – Treece mit einem Segel tuchbeutel, Sanders mit einem Stemmeisen. Gail schaute ihnen nach, bis sie ihre Luftblasen nicht mehr sehen konnte, und stieg dann unter Deck. Die Arbeit am Riff ging langsam voran und war wegen des einsetzenden Zwielichts sehr mühsam: Jedesmal, wenn Treece die Öffnung des Saugrohrs in die Korallen rammte, erhob sich eine Wolke aus feinem Korallenstaub von den abgebrochenen Partien. Sanders mußte aufs Geratewohl hingreifen, um die Korallen zu erwischen, ehe sie in das Loch fielen, das außer halb seiner Reichweite lag. Die goldene Schnur war um einen gewaltigen ovalen Felsbrocken geschlungen und lag offenbar zum größten Teil darunter – als sei sie zunächst lose ins Riff gefallen und dann durch die jahrhundertelange Tätigkeit der Wellen und Gezeiten tief in die einzelnen Risse und Spalten des Felsbrockens gepreßt worden. Sanders hatte die Absicht gehabt, den Brocken mit dem Eisen nach hinten zu stemmen, 258
aber Treece hinderte ihn daran und wies ihn mit den Händen auf die potentielle Gefahr hin: Vielleicht hatte sich die Schnur auch um die Rückseite des Brockens geschlängelt, und sein Gewicht könnte die weichen, empfindlichen Stränge zerdrük ken. Sie brauchten eine Stunde, um das Loch auf einen Durch messer von neunzig Zentimetern zu erweitern. Nun konnte Sanders bis zu den Schultern hineinfahren und die Öffnung des Saugrohrs vorsichtig an der Goldschnur entlangführen, die Schnur dabei Stück um Stück lösen, während sie vom Sand befreit wurde. Die Perlen hatten einen Abstand von sieben Zentimetern. Sanders zählte die Perlen, die bereits freigelegt waren – 17. Wenn Treeces Nachforschungen stimmten, wenn jede Schnur wirklich mit 38 Perlen besetzt war, steckte die Schnur noch zu anderthalb Metern im Sand. Die Arbeit wirkte wie ein Traum, wie ein unwirklicher Vor gang: Von Wasser umschlossen, hörte er nur das Geräusch der eigenen Atemzüge und das ferne Tuckern des Kompressors, das sich durch den Luftschlauch fortpflanzte, und sah die mechanischen Bewegungen, die er mit den Fingerspitzen ausführte – er bildete sich plötzlich ein, er hockte in einem Kokon und rechnete das Einmaleins. Gail saß auf einer der Kojen und versuchte, sich auf einen Artikel in einer alten, vergilbten Zeitung zu konzentrieren, als die Hündin plötzlich anschlug. Dann hörte sie ein Motor geräusch, das näher kam und dann aufhörte. Dann wieder Bellen, dann Stimmen. Sie hielt den Atem an. »Niemand da.« »Scheint so, nur der Hund.« »He, Hund! Wie geht’s?« »Halt den Mund. Sonst merken sie was.« »Wie denn? Im Wasser? Du spinnst.« Die Hündin bellte zweimal, knurrte. Eine dritte Stimme, die ihr irgendwie bekannt vorkam: »Hört 259
auf mit dem Gefasel. Zieht euch um.« Gail stemmte eine Hand unter das Deck und kroch aus der Koje. Sie duckte den Kopf unter das Steuerbord-Bullauge und krabbelte zur Leiter. Dort hielt sie inne, lauschte auf ihren Pulsschlag, atmete so leise wie möglich durch den Mund und dachte: Wenn das andere Boot vor der Corsair ist, kann ich ins Cockpit kriechen, ohne daß man mich sieht, mit dem Rücken zum Schott. Dann kann ich aufstehen und das Gewehr nehmen. Wenn das Boot allerdings hinten ist, werden sie mich sehen, sobald ich den Kopf aus der Kajüte gesteckt habe. Sie horchte auf die Geräusche der Ausrüstungsstücke, die vorbereitet und zusammengesetzt wurden: das Klicken von Schnallen und Schließen, das Zischen von auf- und zugedreh ten Ventilen, das Klappern von Druckluftflaschen, die auf das Deck gestellt wurden. Die Geräusche schienen links vor dem Bug zu sein, so daß Gail die kurze Leiter hochstieg und sich gegen das Schott drückte. Das Gewehr lag auf dem Sims über dem Ruder, einen oder anderthalb Meter weiter weg. Wenn sie es erreichen wollte, mußte sie mit der Hand am Fenster vorbei greifen. »Wie viele Ladungen hast du für das Ding?« »Diese und noch zwei.« »Und du?« »Auch. Scheiße, Mann, unten sind doch nur drei. Und das Weib zählt nicht.« »Denkt daran, daß ihr den roten Schlauch heil lassen müßt. Wir brauchen ihn noch.« Jetzt, dachte Gail; sie werden nicht hierhergucken. Sie streck te den Arm aus, beugte sich vor und packte den Kolben des Gewehrs. Sie zog ihn mühelos vom Sims, aber auf Armeslänge gehalten, war das Gewehr schwerer, als sie in Erinnerung hatte: der Lauf sackte ein paar Zentimeter nach unten und traf das Steuerrad. »Hast du gehört?« 260
»Was?« Gail preßte das Gewehr an ihre Taille. Die eine Hand hatte sie um den Hahn gelegt, die andere war am Abzug. »Das Geräusch!« »Hab’ kein Geräusch gehört.« »Aber ich. Auf dem Boot ist was.« »Quatsch. Nur der Köter.« »Im Boot ist was.« »Hast wohl Angst, Mann.« »Ihr geht ins Wasser. Ich mache unser Boot an dem da fest und sehe nach.« Ein Lachen. »Paß auf, sonst wirst du noch in den Hintern gebissen.« »Ich mache die Töle mit der Harpune kalt.« Ein lautes Plätschern, ein paar unzusammenhängende Worte, dann Stille. Gail wartete. Sie hörte das Geräusch eines Paddels, das durchs Wasser gezogen wurde, blickte nach achtern und sah den Schatten des anderen Boots näher kommen. Sie ging um das Schott herum, hielt das Gewehr an die Taille gedrückt. Der Mann stand am Heck, schaute ins Wasser und paddelte. Sie brauchte sein Gesicht nicht zu sehen: die zornige rote Narbe hob sich schwarz von seiner dunklen Brust ab. Slake. »Was wollen Sie?« Slake blickte hoch. Sie sah sein Gesicht zwar nur einen Sekundenbruchteil, konnte darin aber Überraschung, dann Belustigung erkennen. Was jetzt kam, schien aus einer einzigen Bewegung zu beste hen: Er ließ das Paddel fallen, bückte sich, richtete sich wieder auf. In seiner Hand glänzte etwas. Ein schwirrender Ton, als sei etwas losgefedert. Blitzendes Metall. Der zitternde Schaft eines Stahlspeers im Schott, zehn Zentimeter von ihrem Hals entfernt. 261
Dann – sie würde sich später nicht mehr an alle diese Einzel heiten erinnern können – das Klicken beim Spannen des Hahns. Das donnernde BUMM der explodierenden Patrone mit den großkalibrigen Schrotkugeln. Drei Meter vor ihr Slake, der, von neun Kugeln in die Brust getroffen (ein baseballgro ßes, rotes, weiß geschecktes Loch), rückwärts durch das Cockpit taumelte, an das Schanzdeck prallte und, die Hände gegen die gähnende Öffnung in seiner Brust gepreßt, langsam zusammensackte. Ein gurgelndes Atmen. Das Echo der Explo sion über dem stillen Wasser. Zwei Augen, die sich nach oben verdrehten. Das Gesicht immer grauer, weil das Blut nicht mehr in den Kopf kam. Das Klatschen des Körpers auf den Decksplanken. Das gleichmäßige Tuckern des Kompressors. Mit weit geöffnetem Mund beobachtete sie den zuckenden Körper. Erst das Plätschern des Wassers am Rumpf der Corsair riß sie aus dem Schock. Sie legte die Flinte auf das Deck, ging nach achtern zum Kompressor, suchte die Flügelmutter und drehte sie halb herum. Der Motor stotterte und erstarb. Sanders zog die letzten Zentimeter der Goldschnur aus dem Sand. Er klopfte auf das Aluminiumrohr, sah, wie es aus dem Loch gezogen wurde, legte die Schnur in seine rechte Hand und schob sich aus dem Loch. Das Licht wurde jetzt schnell schwächer, doch in dem blaugrauen Schleier konnte er Treece und den Widerschein des Saugrohrs und die Umrisse des Riffs immer noch einigermaßen erkennen. In der Annahme, sie würden weitergraben, machte Sanders seine Schutzjacke auf und stopfte die Goldschnur in die Innentasche. Sanders hörte, wie die regelmäßigen Geräusche anders wur den; irgend etwas fehlte plötzlich. Er atmete aus, holte Luft und begriff, was fehlte: der Kompressor. Er pumpte heftig, um seine Lungen noch einmal zu füllen, blickte zu Treece und sah, wie etwas Glänzendes und ein Schatten auf ihn zufielen. Das Glänzende wurde bewegt – ein Messer. Treeces Luftschlauch 262
versteifte sich, das Messer fuhr hin und her, und der Schlauch erschlaffte. Treece drehte sich um und hob die Arme über den Kopf. Zwei Männer zappelten in einem wirbelnden Schattenball, einem Gewirr von Armen und Schläuchen und Luftblasen, und die Konturen eines Messers fielen auf den Grund. Schlagend und tretend stiegen die beiden Gestalten zur Oberfläche hoch. Sanders hielt den Atem an und wehrte sich gegen die Panik, die ihn zu erfassen drohte. Er stieß sich vom Grund ab und folgte den zappelnden Figuren, möglichst langsam, regelmäßig ein bißchen Luft ausatmend, das Zwielicht nach anderen Schatten absuchend. Die Umrisse der Gestalten änderten sich. Er konnte Treece jetzt deutlich sehen. Sein langer Körper hing senkrecht im Wasser, seine Schwimmflossen traten gleichmäßig. Seine Hände umklammerten den Kopf des anderen Mannes. Der Lungenautomat und das Mundstück des Mannes trieben von seiner Preßluftflasche fort. Einen Augenblick lang meinte Sanders, Treece helfe dem Mann, die Oberfläche zu erreichen. Dann, als er die Arme des Mannes sah, die an seinem Körper festgebunden waren und vergebens versuchten, sich zu befrei en, als er sah, wie die Beine schwach zuckten, begriff er, was Treece machte: Seine Hand war auf Mund und Nase des Mannes gepreßt und hinderte ihn am Ausatmen. Die kompri mierte Luft in den Lungen des Mannes dehnte sich in dem Maße aus, wie er nach oben gezogen wurde. Da die Luft nicht durch Mund oder Nase entweichen konnte, würde sie sich gewaltsam einen Weg durch die Lunge in den Brustfellraum bahnen. Sanders erinnerte sich einen Sekundenbruchteil lang an ein Schaubild, das er in einem Tauchbuch gesehen hatte: eine gerissene Lunge, eine Luftblase im Pleuraraum, die den Lungenflügel kollabieren ließ, wodurch noch mehr Luft in den Brustfellraum drang, die den kollabierten Lungenflügel und 263
andere Organe durch den Brustkorb preßte und die andere Lunge ebenfalls zerdrückte. Bilateraler Spontan-Pneumo thorax, lautete der Fachausdruck dafür; beidseitige Luft- oder Gasbrust. Der Mann könnte durchaus tot sein, bevor er die Oberfläche erreichte. Sanders fragte sich, ob der Mann Schmerzen fühlen oder einfach das Bewußtsein verlieren und an Sauerstoffmangel sterben würde. Sanders war gut drei Meter von der Oberfläche entfernt und hatte jetzt nur noch einen Gedanken: Luft. Die Spannung in seiner Brust verringerte sich, als er weiter hochglitt; er wußte, daß er es schaffen konnte. Aber was mochte ihn oben erwar ten? Plötzlich sauste sein Kopf zurück, und er wurde nach unten gezogen. Irgend jemand hatte seinen Luftschlauch gepackt. Er langte nach seiner Maske und versuchte, sie vom Kopf zu zerren, aber sie saß zu fest. Seine rudernden Hände bekamen den Schlauch zu fassen und zogen gegen die Kraft an, die von unten wirkte. In dem dämmrigen Blau konnte er den gelben Schlauch kaum einen Meter weit sehen. Dann blitzte es stäh lern, und er sah einen Mann mit einer Harpune, der auf ihn zukam – an seinem Luftschlauch hochkletterte. In seinem Kopf pochte es heftig; er brauchte unbedingt Sau erstoff. Er ruckte wie rasend an dem Schlauch, aber der Mann hatte ihn fest im Griff. Sie waren noch knapp zwei Meter voneinander entfernt, als der Mann den Luftschlauch losließ, die Harpune hob und auf Sanders’ Brust richtete. Sanders trat mit den Schwimmflossen nach der Harpune, damit der Mann nicht mehr richtig zielen konnte, aber der Mann war geduldig. Seine kalten Augen beobachteten ihn und warteten darauf, daß er nicht mehr genug Kraft zum Treten hatte. Eine schwindelnde Wolke zog durch Sanders’ Gehirn, und er wußte, daß er ein toter Mann war. Er wartete auf den jähen Schmerz, der kommen mußte, wenn der Speer seinen Schutz 264
anzug durchbohrte und ihm zwischen die Rippen fuhr. Viel leicht würde er vorher ohnmächtig werden … Der Mann drückte ab. Sanders sah den Speer auf sich zusau sen, fühlte den Aufprall, als er seine Brust traf, wartete auf den Schmerz. Aber der Schmerz kam nicht. Ein gelber Wirbel. Die Harpune zuckte hoch, glitt dem Mann aus der Hand und fiel. Der Mann griff sich an die Kehle; das Mundstück flog ihm aus dem Mund. Riesige, behandschuhte Hände knoteten ihm ein Schlauchende um den Hals. Dann verlor Sanders das Bewußtsein. Das Pochen in seinem Kopf hörte auf, und er hatte das Gefühl, als flöge er durch warmes Dunkel. Er wachte oben auf. Gails Hände wiegten sein Gesicht, hiel ten seinen Hinterkopf, damit er nicht an die Tauchplattform schlug. Er merkte, daß ein Gesicht an seinem Gesicht lag, daß ein feuchter Mund seinen Mund umschloß, ein fremder, kräftiger Atem seine Kehle durchdrang. Er öffnete seine flatternden Augenlider und sah, wie Treece den Kopf zurück zog. »Willkommen daheim«, sagte Treece. Sanders war immer noch wie umnebelt. »Bin ich ertrunken?« »Probeweise. Noch ein paar Sekunden, und Sie hätten uns zusammen mit Adam von oben betrachtet. Sie sollten froh sein, daß die Dame aus Parma so ein raffgieriges Aas war.« »Wieso?« »Der Kerl hat Sie mit seinem Speer mitten auf der Brust erwischt. Ohne das Gold wären Sie jetzt tot.« Sanders blickte nach unten und sah ein sauberes Loch in seiner Schutzjacke. Der Speer hatte das Gummi durchdrungen, war aber an der Goldschnur abgeprallt, die er in die Brustta sche gestopft hatte. Gail faßte ihn unter die Achselhöhlen und zog ihn auf die Plattform, während Treece von unten nachhalf. »Wie viele waren es?« 265
»Drei. Einer treibt irgendwo und versucht, mit dem Teufel ins reine zu kommen. Einen zweiten hat Ihr Mädchen in dem anderen Boot verteilt. Der dritte ist hier.« Treece zog die rechte Hand hoch, und aus dem Wasser schoß ein Kopf mit Gummi haube. Am Hals hing noch ein gelbes Schlauchende. Sanders sah Gail an. »Du hast einen getötet?« »Ich wollte es nicht. Ich hatte keine Wahl. Er …« Treece unterbrach: »Was habe ich Ihnen gesagt? Wenn man nicht anders kann, macht man die unglaublichsten Sachen.« Sanders drehte sich auf den Bauch und stand auf. »Hier«, sagte Treece und zeigte auf den schlaffen Körper. »Nehmen Sie dieses Häufchen Elend und hieven Sie es an Bord, während ich noch einmal nach unten gehe und die Utensilien hole.« Sanders nahm den Schlauch. »Ist er tot?« »Ich nehme es an. Aber verlassen Sie sich nicht darauf. Schmeißen Sie ihn auf Deck und richten Sie die Flinte auf ihn, bis ich wieder da bin.« »Wollen Sie nicht den Kompressor anstellen?« fragte Gail. »Nein, werfen Sie mir nur eine von den Brillen her. Wenn ich es nicht in einem Mal schaffe, müssen wir uns etwas anderes ausdenken.« Während Gail eine Taucherbrille suchte, zog Sanders den leblosen Mann auf die Plattform. Er ließ den Schlauch los, bückte sich und faßte ihn an den Armen. »Die Rücksicht können Sie sich sparen«, sagte Treece. »Zie hen Sie ihn einfach mit dem Schlauch hoch.« »Ich …« Sanders wußte, daß Treece recht hatte, wenn man es praktisch sah: Es war viel leichter, den Mann an dem Schlauch um seinen Hals hochzuziehen. Aber er brachte es nicht fertig. Wenn er wüßte, daß der Mann bereits tot war, wäre es etwas anderes. Wenn er jedoch nicht tot war … Sanders hatte keine Lust, den Henker zu spielen. »Seien Sie nicht so zimperlich«, sagte Treece. »Er ist so gut 266
wie tot.« Er nahm Gail die Brille ab, blies den Lungenautoma ten ein paar Sekunden durch, holte noch einmal tief Luft, steckte sich das Mundstück zwischen die Zähne und ließ sich unter die Oberfläche sinken. »Was hat er damit gemeint?« fragte Gail. »Ich weiß nicht. Kannst du mir kurz helfen?« Jeder von ihnen nahm einen Arm, und dann zogen sie den Mann über den Heckspiegel und legten ihn an Deck. »Er ist schwerer, als man denkt«, sagte Gail. »Das ist bei Leichen immer so.« »Warum?« »Ich weiß nicht. Ich habe es irgendwo gelesen.« »Meinst du, wirklich schwerer oder nur schwerer, als sie aussehen?« »Ich weiß nicht. Wo ist das Gewehr?« »Da drüben.« Gail zeigte. »Ich glaube nicht, daß du es brau chen wirst.« Sie blickte auf die reglose schwarze Gestalt und schauderte zusammen. Sanders nahm das Gewehr hoch, setzte sich auf das Schanz deck und legte das Gewehr auf die Knie. »Wie war es?« Er nickte zum anderen Boot hin. Sanders stellte fest, daß er Gail darum beneidete, daß sie Slake getötet hatte. Die Vorstellung, den Mann zu töten, der hilflos zu ihren Füßen lag, war absto ßend. Das war unfair. Aber einen Mann in reiner Notwehr zu töten, die Herausforderung anzunehmen und jemanden zu besiegen, der einen töten wollte – ein fairer Kampf. Vergel tung. »Es war furchtbar«, sagte Gail. »Ich wußte nicht, was ich tat … Ich wußte es erst danach.« Es war jetzt dunkel; der Mond kroch über den Horizont, und die Sterne waren als bleiche Tupfen am Himmel zu erkennen. David und Gail saßen sich auf den Schanzdecks gegenüber und sahen sich als gesichtslose Silhouetten. Sie bemerkten nicht, daß der schwarze Gummikörper auf 267
dem Deck zu zittern begann, die Augen öffnete, die Finger langsam zur linken Wade bewegte; hörten nicht, wie die angeschnallte Scheide mit einem leisen Klicken geöffnet wurde, wie das Messer aus der Scheide glitt. Die Hündin hörte die neuen Geräusche zuerst. Sie jaulte auf. Sanders schaute zum Bug, und als er den Kopf wandte, ging der Körper mit einem Ruck in die Hocke und schrie – heulte hoch und guttural wie eine Katze. Sanders wirbelte zurück und zielte. »He …« Er beendete den Befehl nicht. Der Mann sprang auf ihn los. Sanders drückte ab. Nichts. Der Hahn war nicht gespannt. Er zog den Hahn durch und lehnte sich gleichzeitig zurück, um einen Sekundenbruchteil zusätzlich zu gewinnen. Er sah, wie das Messer auf ihn herabsauste, hob einen Arm, um den Stoß aufzufangen, und fiel über Bord. Der Hahn schnappte wieder vor, und als Sanders das Wasser erreichte und einen neuen, undefinierbaren Schmerz – in seinem Arm oder seiner Seite, er wußte es nicht genau – spürte, betätigte sein Finger den Abzug. Das Gewehr feuerte in die Luft. Der Mann wandte sich zu Gail – gebückt, das Messer lang sam hin und her schwenkend, als wolle er sie herausfordern, danach zu greifen. Er gab leise, kehlige Töne, jaulende und knurrende Laute von sich, machte Finten mit dem Messer, ging immer näher auf sie zu. Der Mond beleuchtete sein Gesicht, und Gail sah seine Augen – sie waren wild und fiebrig – und eine Speichelbahn auf seinem Kinn. Sie wollte mit ihm reden, diskutieren, aber sie war nicht sicher, ob der Mann überhaupt wußte, wo er war und was er tat. Er jaulte wieder. Gail drückte sich an die Reling, warf einen Blick ins Wasser und fragte sich, ob sie über Bord hechten sollte. Nein: er wäre sofort auf ihr. Sie wich zurück – zum Bug, weil sie hoffte, der Mann würde in das dunkle Cockpit sausen, wenn er den Todessprung machte. Der Mann schrie und sprang und schwang das Messer dabei 268
in einem großen Bogen. Gail duckte sich und warf sich nach links, hörte das Klirren von zerschlagenem Glas: die Hand hatte soviel Schwung gehabt, daß sie durch die Glasscheibe im Schott gesaust war. Gail kauerte neben dem Ruder. Der Mann drehte sich um, murmelte unverständliche Flüche, suchte sie im Dunkel. Er sah sie und hob das Messer. Ein Geräusch hinter ihm ließ ihn innehalten. Er wandte sich halb um. Gail beschloß, zum Heck zu rennen. Sie machte einen Schritt, sah dann, daß sie nicht mehr zu fliehen brauchte: ein dumpfer Aufprall, die Augen des Mannes verdrehten sich, bis nur noch zwei weiße Halbmonde zu sehen waren, und er fiel auf das Deck. Wo der Mann gewesen war, stand jetzt Sanders – mit einem großen Schraubenschlüssel in der rechten Hand. Er hatte den Mann mit der flachen Seite des Schraubenschlüssels getroffen, an der nun Blut und Haare klebten. Sanders sagte: »Ist dir was passiert?« »Nein«, antwortete Gail. Sie sah, daß er den linken Arm quer über die Brust hielt, wie in einer Schlinge. »Du bist verletzt.« Sanders berührte seinen Arm. »Ich glaube ja, aber es kann nicht sehr schlimm sein.« Sie hörten, wie Treece an Bord kam. »Hat er was versucht?« fragte Treece, als er sah, wie der Körper jetzt lag. »Ja. Ich war nicht schnell genug.« »Nun, sieht so aus, als hätten Sie es trotzdem geschafft.« Treece bückte sich und legte die Hand an den Hals des Man nes, um den Puls zu fühlen. »Der rührt sich nicht mehr.« »Ist er tot?« fragte Sanders. »Das will ich meinen.« Treece ging nach unten. Sanders hielt den Schraubenschlüssel immer noch. Er blickte darauf, dann auf den Körper. Einen Augenblick vorher war es 269
noch ein lebender Mensch gewesen; nun war es ein Leichnam. Ein einziger Armschwung hatte genügt, um Leben in Tod zu verwandeln. Töten dürfte nicht so leicht sein. Sanders hörte Treece fragen: »Wo ist die Flinte?« Er blickte auf und sah, daß Treece mit dem Lichtkegel einer Taschenlampe über das Wasser fuhr, um das andere Boot ausfindig zu machen. »Im Wasser«, antwortete Sanders. »Tut mir leid.« »Hatten Sie einen plötzlichen Anfall von Barmherzigkeit? So was kann tödlich enden.« »Nein, ich wollte auf ihn schießen, aber der Hahn war nicht gespannt.« »Sie haben noch Glück gehabt.« Treece reichte ihm die Taschenlampe, machte einen Kopfsprung ins Wasser, schwamm zu dem anderen Boot, kletterte an Bord, ging nach vorn, fand ein Tau und knotete ein Ende des Taus an einen Bugbeschlag. Dann hechtete er vom Bug, schwamm mit dem anderen Ende zur Corsair und vertäute das Boot daran. Er legte den toten Mann auf das Schanzdeck, löste das Tau wieder und band es um den Hals der Leiche. »Was machen Sie da?« fragte Gail. Treece sah sie an, sagte aber nichts. Er nahm ein Messer, schlitzte den Bauch der Leiche auf und rollte sie ins Wasser, bevor Eingeweide herausquellen konnten. »Was machen Sie da?« fragte Gail wieder. »Ich schenke ihn den Haien.« »Aber warum?« »Als Warnung. Cloche pumpt die Kerle mit irgendeinem üblen Zeug voll, um sie aufzuputschen, in Kamikazes zu verwandeln. Hexerei. Es ist alles Quatsch, aber wenn man diesen Leuten halluzinogene Drogen gibt und irgendwelche Zauberformeln vorbetet, laufen sie Amok und nehmen an, sie dienten irgendeinem verdammten Götzen und würden im Nirwana sein, wenn sie am nächsten Morgen aufwachen. Aber 270
sie glauben, daß man nur dahin kommt, wenn man körperlich unversehrt ist; es darf kein Körperteil fehlen. Gefressen zu werden ist also ein böser Gegenzauber. Wenn Cloches Leute die Überreste von diesem Burschen am Tau hängen sehen, überlegen sie es sich vielleicht zweimal, ob sie noch so ein Ding drehen sollen.« Das andere Boot zeichnete sich im Mondlicht ab. Der Kopf der Leiche wurde von dem Tau hochgeruckt, tauchte kurz auf, versank dann wieder. Gail wandte sich ab und sagte: »Mein Gott!« »Sie verschwenden Ihr Mitgefühl«, sagte Treece. »Er merkt nichts mehr.« Plötzlich bumste es heftig gegen den Rumpf der Corsair. Ein schmatzendes Geräusch ertönte, dann bumste es wieder. »Was ist das?« fragte Sanders und dachte schon, sie würden erneut von Cloches Tauchern angegriffen. Er schaute über den Bootsrand ins Wasser und sah weißen Schaum aufgurgeln. Treece richtete die Lampe auf das Wasser, knipste sie schnell aus und sagte: »Als nächstes werden sie noch das Boot fressen.« Er ging nach vorn. Sanders spürte, wie ihm eine saure Flüssigkeit die Kehle hochkam, und mußte würgen. Der kurze Lichtschein hatte ihm ein alptraumhaftes Bild gezeigt, das er wohl nie vergessen würde. Was gegen das Boot gebumst war, war ein Körper, aber nicht die Leiche des Mannes, den Treece an das andere Boot gebunden hatte, sondern der Körper des Tauchers, den Treece getötet hatte, indem er ihn am Ausatmen hinderte. Und was den Körper gegen das Boot gedrückt hatte, war der breite, flache Kopf eines Hais. Der Kopf war so groß wie ein Lukendeckel. Zwei Nasenlöcher blähten sich über dem Maul, und die Kiefer schnappten, während der Schwanz schlug, zwangen immer mehr Fleisch und Gummi ins Maul hinein. Die Augen, die zu zwei Dritteln von einer weißen Schutzhaut bedeckt waren, blickten müde und verschlagen. Sanders hatte sehen können, 271
wie der Kopf wild hin und her peitschte und dabei einen Fleischfetzen losriß, der über einen halben Meter lang war. Jetzt, in der Dunkelheit, konnte Sanders immer noch den weißen Schaum sehen. Er hörte, wie der Schwanz das Wasser schlug, wie Zähne auf Knochen und Sehnen knirschten. »Was ist das?« fragte Gail. Sanders schüttelte den Kopf und versuchte, den würgenden Brechreiz zu unterdrücken. Gail schaute über das dunkle Wasser zu dem Schatten des anderen Boots, der sich langsam entfernte. »Es ist so still«, sagte sie. »Ja«, sagte Treece, der am Ruder stand. »Der Tod ist so.« Er ließ den Motor an. Die Rückfahrt nach St. David’s Island dauerte nicht lange, denn die Nacht war ruhig und das Mondlicht hell. Sie waren noch einige hundert Meter von der Küste entfernt, als die ablandige Brise die schrillen Klänge von Taxihupen zu ihnen trug.
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XI Nachdem Treece das Boot festgemacht hatte, stellte er den Motor ab. Das leise Murmeln des Winds wurde von mehreren fernen Taxihupen unterbrochen, die offenbar um die ganze Insel verteilt waren. Die Hupen wurden im unregelmäßigen Stakkato, ohne Rhythmus und Harmonie betätigt. Treece runzelte die Stirn. »Was zum Teufel hat er jetzt schon wieder vor?« »Er?« sagte Sanders. »Ist das Cloche? Diese Taxis?« »Ja. Auf St. David’s gibt es keine Taxis. Er zaubert wieder.« Ein Schauder erfaßte Sanders’ Rückgrat. »Mir reicht’s jetzt langsam. Ich hoffe, daß er heute abend nichts mehr versucht.« »Wenn er was vorhat, wird er uns kaum vorher benachrichti gen. Aber was verspricht er sich bloß von einem neuen Be such? Er weiß nichts von der Grotte, und er kann einfach nicht so dumm sein zu glauben, daß wir es ihm erzählen.« »Warum also …?« »Ich weiß es nicht. Er hat etwas zu sagen, das steht fest. Wenn Sie mich fragen, versucht er, den Insulanern Angst einzujagen, ihnen mitzuteilen, daß sie sich auf keinen Fall aus dem Haus wagen sollen – abergläubischer Unfug. Aber Sie haben recht: Wenn er das tut, hat er sicher vor, uns einen Besuch abzustatten.« Treece schnippte mit den Fingern nach der Hündin und zeigte auf den Weg. »Nun, ich werde auf jeden Fall ein paar von Kevins Schießeisen holen, um ihn würdig zu empfangen. Zu schade, daß wir das Gewehr nicht mehr haben. War ein fabelhafter Menschenfresser.« In seiner Stimme lag kein Vorwurf, so daß Sanders nur »Ja« 273
sagte. Treece ging mit der Hündin den Weg hinauf, und die Sanders marschierten hinterher. »Eine Waffe ist immer nur so gut wie der Mann, der sie benutzt«, sagte Treece, »und ein guter Mann kann fast alles in eine gute Waffe verwandeln. Schon mal jemanden mit dem Messer getötet?« »Ich?« sagte Sanders. »Nein.« »Man kann es richtig und falsch machen. Die meisten Messer haben drei Hauptmerkmale: die Spitze, die scharfe Seite und die stumpfe Seite. Es kommt immer darauf an, was man mit dem Kerl vorhat …« Gail, die die Nachhut bildete, gab sich Mühe, die Unterhal tung vor ihr zu überhören. Es wurde alles so unwirklich, unmenschlich … widerlich und grauenerregend. Anscheinend sprach plötzlich ein ganz neuer Treece – kein verwundeter oder mitfühlender oder vernünftiger Mann, nein: sondern ein Killer. Aber vielleicht war es gar kein neuer Treece, vielleicht war es nur das Kind, das Kind, das nach seinen eigenen Regeln spielte, das tötete, wenn die Regeln es verlangten. Was ihr am meisten Angst machte, war die Tatsache, daß der Mann, mit dem Treece redete, dem er die Regeln erklärte, ihr Mann war. Sie hörte, wie Sanders sagte: »Ja, aber er könnte trotzdem …« »Nicht, wenn Sie tief genug gehen«, unterbrach Treece. »Sie schneiden das Rückenmark einfach durch, wie einen Faden, und er wird sofort zu Brei.« »Aufhören!« Gails Stimme war so laut, daß sie selbst einen Schreck bekam. »Psst, Mädchen! Sie wecken ja die Toten auf.« Der Schnitt in Sanders’ Arm blutete nicht mehr; ein geronne ner, krustiger braunroter Streifen war durch seinen Ärmel zu sehen. Treece gab ihm eine Flasche mit einer dunklen, klebrigen braunen Flüssigkeit. »Hier. Waschen Sie sich den Arm ab und schmieren Sie etwas davon drauf. Ich lege die Juwelen inzwi 274
schen in den Kellertresor.« »Was ist das?« »Meine Großmutter hat es schon immer gemacht. Das ver dammte Zeug widersteht jeder chemischen Analyse. Es enthält irgendein Mangoderivat und Beerensaft und etwas, das angeb lich aus Geißblattrinde gewonnen wird. Angeblich. Der Rest ist ein Geheimnis. Aber es wirkt.« Als sie hörte, wie Treeces Füße auf den Kellerfußboden klatschten, sagte Gail zu David: »Ich habe Angst.« »Kann ich verstehen.« »Nicht um mich. Um dich. Treece scheint dies für eine Art Krieg zu halten.« »Das war nur so dahingesagt.« »Dahingesagt. Wir haben drei Menschen getötet.« »Es gab nicht viele Alternativen.« Sanders hatte genug Me dizin auf seinem Arm verrieben. »Sie haben versucht, uns zu töten.« Gail hörte, wie die Falltür im Wohnzimmer geschlossen wurde und der Sessel über die Bohlen scharrte. »Es reicht langsam«, flüsterte sie. »Viel mehr verkrafte ich nicht.« Treece kam in die Küche. Er öffnete einen Hängeschrank und nahm etwas heraus, das wie ein Klumpen Knetgummi aussah. Dann nahm er eine abgebrochene Sektflasche, plastiküberzo genen Draht, einen kleinen, rechteckigen Magneten, einen Küchenwecker und eine kleine Pappschachtel heraus. Er legte das Sammelsurium auf den Tisch und schenkte sich ein Glas Rum ein. »Sieht aus wie kreative Freizeit«, sagte Sanders. »Was?« »Kreative Freizeit. Bastelunterricht in der Schule. Sie wissen schon: unnütze Dinge für Mutti kneten, schnitzen und zusam mensetzen.« »Ja.« Treece lächelte. »Aber wenn Sie hiermit aus der Schule kommen, wird Mutti die Röcke raffen und um ihr Leben 275
laufen.« Treece brach Stücke aus der knetgummiartigen Masse heraus und stopfte sie in die Flaschenhälfte. »Schon mal damit gearbeitet?« »Was ist es?« fragte Gail. »Es heißt C-4. Plastiksprengstoff. Fabelhaftes Zeug.« »Wofür brauchen Sie es?« »Normalerweise für die Bergungsarbeit. Häfen freimachen, Kais in die Luft jagen, alte Wracks aus dem Weg räumen, Löcher in Riffe sprengen, damit Schiffe durchpassen. Aber diesmal werden wir den Rest der Drogen unschädlich ma chen.« »Gott sei Dank«, sagte Gail. »Wie? Damit?« fragte Sanders. »Nicht nur, nein.« Treece füllte die Flaschenhälfte bis zum Rand. Er machte die Pappschachtel auf, zog vorsichtig ein Zündhütchen heraus und steckte es behutsam in den Spreng stoff. Dann fing er an, den isolierten Draht mit dem Zündhüt chen zu verbinden. »Aber wenn man das C-4 mit einer Ladung von anderen Sprengstoffen – zum Beispiel mit einer Ladung Munition – zusammenbringt, kann man den Bermudas einen Grand Canyon schenken. Es handelt sich hierbei um eine Spezialsprengladung mit Richtungseffekt. Diese Sektflaschen sind unten hochgewölbt; das heißt, sie haben innen eine Spitze, die nach oben zeigt. Man packt das C-4 hinein, und wenn man es zündet, lenkt die Spitze die Kraft der Detonation in die Richtung, in die man sie gelegt hat.« Treece tippte gegen die Flasche. »Sagen wir, man legt sie so gegen eine Granate.« Er bedeckte das Zündhütchen mit der Hand. »Die gesamte Kraft wird auf die Granate gerichtet. Bumm!« »Wie bringen Sie sich rechtzeitig in Sicherheit?« Treece hielt den Küchenwecker hoch. »Damit. Ich gehe runter, schließe den Draht an den Wecker an und stelle ihn auf fünf Minuten ein. Dann habe ich genug Zeit, um nach oben zu sausen und mich aus dem Staub zu machen. Möchte minde 276
stens ein paar hundert Meter entfernt sein, wenn die Ladung losgeht. Die Munition würde jedes Schiff in der Nähe sofort in ein Wrack verwandeln.« Gail fragte: »Wann wollen Sie es machen?« »Morgen früh, wenn wir uns noch einmal umgesehen haben. Dann fahren wir zurück und vernichten die Ampullen in der Grotte.« Treece hatte die Sprengladung verdrahtet und stand auf. »Ich gehe schnell zu Kevin und hole ein oder zwei Kano nen. Ich lasse Charlotte hier. Sie sagt Bescheid, wenn ein Spanner ums Haus schleicht.« Die Hündin bellte zweimal und sprang auf die Fensterbank. Treece sah aus dem Fenster. »Nichts.« Er tätschelte den Kopf des Tiers. »Sie wird auch schon schreckhaft, wie …« Dann hörte er etwas, neigte den Kopf und lauschte. »Hurensohn.« »Was ist es?« fragte Sanders. »Da unten ist ein Boot!« Treece öffnete eine Schublade und stöberte in einem Haufen von Küchenmessern herum. Er holte ein langes, schmales Tranchiermesser heraus und gab es Sanders. »Denken Sie daran, was ich Ihnen gesagt habe: Mit diesem Ding können Sie ein Krokodil abhäuten.« Er nahm ein Hackmesser von einem Wandgestell und reichte es Gail. Sie wich zurück, weigerte sich, es zu nehmen. »Was soll ich denn damit?« »Nehmen Sie es einfach.« Er drückte es ihr in die Hand. »Sie sind schließlich nicht lebensmüde. Sie haben doch vorhin gezeigt, was in Ihnen steckt.« »Was soll ich tun?« »Kommen Sie mit.« Er suchte sich ein langes Schlachtermes ser aus, dessen Schneide vom vielen Schleifen sichelartig gewölbt war, und machte die Schublade wieder zu. Dann schloß er das Fenster. »Charlotte, du bleibst hier. Sonst machst du plötzlich Krach und vermasselst uns die Tour.« Auf dem Weg zur Küchentür blieb Treece neben einem Hängeschrank 277
stehen und holte eine wasserdichte Taschenlampe heraus. Sie betraten den verlassenen Hof. Der Mond schien hell auf die glänzenden Blätter der Büsche am Rand der Steilküste. Treece gab David und Gail ein Zeichen, sich zu bücken, und sie liefen geduckt den Weg entlang, der zum Anleger führte. Als sie nach unten blickten, sahen sie vor der kleinen Bucht ein Boot, das sich kaum bewegte. Die fernen Hupentöne wurden ein paarmal von einem dumpfen Klappern unterbro chen. »Ist es Cloche?« flüsterte Gail. »Er muß es sein, aber ich will verdammt sein, wenn ich weiß, wieso er die Grotte kennt. Sie bleiben hier oben und halten sich im Schatten. Wir gehen nach unten und schauen nach. Viel leicht schnüffeln sie nur aufs Geratewohl herum.« Treece steckte die Taschenlampe in den Gürtel seiner Tauch hose und winkte Sanders, ihm zu folgen. Sie gingen den Weg hinunter. Das hohe Blätterwerk bedeckte den Weg mit schwarzen, undurchdringlichen Schatten. Zweimal stolperte Sanders in die Büsche, hörte Treeces Warnung: »Pssst!« Dann stellte er fest, daß es ganz leicht war, wenn er die Spitzen der Büsche im Auge behielt: Wenn Treece unten vorbeiging und einen Zweig streifte, schimmerten die obersten Blätter im Mondlicht. Ein paar Meter vom unteren Ende des Wegs entfernt blieb Treece stehen und wartete auf Sanders. Man konnte jetzt gut hören, wie auf dem Boot hantiert wurde, und um diese Geräu sche und das Plärren der Hupen auf der Insel zu übertönen, mußte Treece den Mund an Sanders’ Ohr legen. »Bleiben Sie hier. Ich gehe zum Anleger und sehe nach.« Er berührte das Messer in Sanders’ Hand. »Fühlen Sie sich wohl damit?« Sanders nickte. Treece schlich zum Ende des Wegs und kroch lautlos wie eine Raubkatze den schmalen Streifen zwischen dem Anleger 278
und den Büschen entlang. Sanders blieb auf einem Knie hocken und hielt das Tran chiermesser umklammert. Er spürte sämtliche Symptome der Furcht, aber sie wurden durch sein – mehr unbewußtes – Vertrauen auf Treece gedämpft. Er war aufgeregt wie ein kleiner Junge, der mit seinem großen Bruder auf verbotene Streifzüge geht; er hatte Angst, beruhigte sich aber mit dem Gedanken, er brauche nur die Anweisungen von Treece zu befolgen. Deshalb war er doppelt überrascht, als er fühlte, wie ein dicker, muskulöser Arm gegen seine Kehle schlug, wie eine Hand seinen Kopf nach vorn drückte und ihm die Luft ab schnitt, wie ihn eine schwere Last zu Boden warf und mit schlüpfrigem, schweißnassem Fleisch zudeckte. Er versuchte zu schreien, aber der Druck auf seiner Kehle reduzierte den Schrei zu einem Gurgeln. Er hielt das Messer immer noch – mit der Schneide nach oben, wie Treece ihm gezeigt hatte – und stieß damit nach dem Fleisch, doch ein Knie nagelte sein Handgelenk auf der Erde fest. Sein linker Arm wurde von dem Körper, der auf ihm lag, an seine Seite gepreßt. Er war hilflos. Er entkrampfte seine Muskeln und kämpfte gegen den Schleier an, der sich langsam auf sein Bewußtsein senkte. Er hoffte verzweifelt, er könne seinen Gegner glauben machen, er wäre tot. Und als der Mann spürte, wie der Widerstand der Muskeln erlahmte, lockerte er tatsächlich seinen Griff. Dann, genauso plötzlich, wie sie auf ihn heruntergefallen war, ließ die Last von ihm ab. Er war frei. Er holte mühsam und röchelnd Luft. Er hörte, wie Treeces Stimme mit einer Bitterkeit und einem unbändigen, animalischen Haß – er bekam unwillkürlich eine Gänsehaut, denn einen solchen Tonfall hatte er in seinem ganzen Leben noch nicht gehört – ein einziges Wort flüsterte: »Kevin!« 279
Sanders stemmte sich auf einen Ellbogen hoch und sah sich um. Kevin lag flach auf dem Rücken, Treece kniete auf seiner Brust und zog seine Haare so zur Seite, daß Kopf und Hals einen unnatürlichen Winkel bildeten. Mit der anderen Hand drückte er die Spitze des langen Schlachtermessers an Kevins Kehle. Kevins Beine traten, fielen dann zur Erde. »Du hast es ihm gesagt!« zischte Treece. »Warum?« Kevin sagte nichts. »Warum? Für Geld?« Treeces Stimme war nicht mehr zor nig; sie würgte vor Kummer über den maßlosen Verrat. »Für Geld?« Kevin blieb stumm. Im Mondlicht, das vom Wasser zurückgeworfen wurde, konnte Sanders ihre Augen sehen: die von Kevin wirkten stumpf und ausdruckslos, schienen mit unendlicher Resignati on durch Treece hindurchzublicken; Treeces Augen funkelten wütend, ungläubig. »Oh, du verdammtes, verdammtes Arschloch«, sagte Treece, und als das letzte geflüsterte Wort verklungen war, stieß er das Messer quer in Kevins Kehle und zog die Schneide blitzschnell durch den Hals. Ein dicker schwarzer Blutstreifen, schaumige Blasen, ein gurgelndes, pfeifendes Stöhnen. Treece ließ den Kopf auf die Brust sinken, schloß die Augen. Ein Lichtkegel kam über die Bucht auf sie zugeschwenkt, und Sanders hörte die Stimme von Cloche rufen: »Kevin?« Sanders flüsterte: »Treece?« Treece antwortete nicht. »Treece!« Das Licht näherte sich, und Sanders wußte, daß es Treeces Rücken in ein paar Sekunden zur Hälfte beleuchten würde. Er richtete sich auf, kniete und warf sich gegen Treece, traf ihn mit der Schulter und riß ihn um. Das Licht schwenkte über sie hinweg, blieb stehen und glitt wieder zum Wasser. »Kevin?« rief Cloche wieder. »Idiot!« 280
Treece lag neben Sanders auf der Erde und schüttelte lang sam seine Erstarrung ab. »Na gut«, sagte er. »Na gut. Jetzt wissen wir es wenigstens.« Er kroch bäuchlings zum Ende des Wegs, schaute zu Cloches Boot und kehrte zu Sanders zurück. »Sieht so aus, als wären es zwei oder drei Taucher und ein paar Burschen, die auf dem Boot bleiben. Wir warten, bis die Taucher im Wasser sind, und schleichen uns dann zur Corsair. Dann werfen wir schnell Flaschen über Bord und springen hinterher.« »Die Flaschen sind vergiftet.« »Nicht alle. Ich habe in jener Nacht nur zwei aufgefüllt. Die anderen waren schon voll. Es müssen also vier gute an Bord sein.« »Und dann?« »Wir werden sehen, wie viele es sind und wie sie arbeiten. Wenn sie jeweils zu zweit mit Handlampen in der Grotte arbeiten, haben wir eine Chance, sie zu erledigen. Sie werden die Hände voller Ampullen haben.« »Sie erledigen?« fragte Sanders. »Warum?« »Damit sie die Ampullen nicht heraufbringen können. Wir können die Drogen nicht wegschaffen, weil es oben vor Niggern wimmelt, und ich will verdammt sein, wenn ich zulasse, daß Cloche sie bekommt.« »Wie sollen wir es denn machen? Mit dem Messer?« »Nur, wenn es nicht anders geht. Versuchen Sie, den Schlauch vom Lungenautomaten zu erwischen, schneiden Sie ihn durch und machen Sie, daß Sie wegkommen. Ein Mann, dem unversehens der Luftschlauch gekappt wird, ist gefährlich; er wird in seiner Verzweiflung nach allem greifen, und wenn’s ein Schnuller ist.« »Aber wenn wir ihre Schläuche durchschneiden, schwimmen sie einfach hoch und warten oben auf uns.« »Ich wette, diese Burschen haben noch keine Erfahrung unter Wasser. Wenn man sie in Panik versetzt, werden sie auf dem 281
Weg nach oben höchstwahrscheinlich nicht den Atem anhalten. Oder sie finden den Weg nicht mehr und ertrinken in der Grotte. Aber nehmen wir einmal an, sie schaffen es bis oben – wenn wir ihre Luftschläuche durchgeschnitten haben, werden sie den Teufel tun und wieder ins Wasser springen. Und Cloche hat keine Reserveausrüstung.« »Also warten sie, bis wir wieder hochkommen, und knallen uns dann einfach ab.« »Wir werden nicht hochkommen. Es ist dunkel. Einer Luft blasenspur können sie nicht folgen. Wir bleiben auf Grund, verlassen die Bucht und spazieren um die nächste Ecke. Ungefähr fünfzig Meter weiter ist eine Stelle, wo wir an Land können.« »Er wird uns nicht laufenlassen – besonders dann nicht, wenn er die Reste von dem Burschen am Tau findet.« »Nein, er wird wiederkommen. Aber wir brauchen nur noch diese Nacht, um die Ampullen rauszuholen und zu vernichten.« Sanders schwieg einen Augenblick, sagte dann: »In Ord nung.« Sie hörten es plätschern. Gesprächsfetzen. Jemand sagte: »Was ist mit Kevin?« Cloche antwortete: »Vermutlich besof fen. Wir brauchen ihn nicht mehr; er hat seinen Preis einge bracht.« Es plätscherte wieder mehrmals. Dann war alles still. Treece wartete zehn oder fünfzehn Sekunden und kroch ins Freie. Das Boot von Cloche schwamm zwanzig Meter weiter in der Bucht, hinter dem Heck der Corsair, so daß die Corsair sie deckte, als sie den Anleger entlangkrochen. Sie glitten ins Cockpit und legten sich auf die Decksplanken. »Flossen, Maske und Flasche«, flüsterte Treece. »Lassen Sie die Gewichte liegen. Die machen zuviel Krach.« Die Hälse der Druckluftflaschen glänzten im Mondlicht, und Sanders erkannte, daß es unmöglich war, die Flaschen ungese hen aus dem Gestell zu ziehen. »Alter Indianertrick«, sagte 282
Treece und schnürte ein zweipfündiges Bleigewicht von einem Nylongürtel los. Er griff zum Spiegel und löste die Heckleine von der Klampe, ließ das Achterschiff einen knappen Meter weit vom Anleger abtreiben und vertäute das Boot wieder. »Wenn Sie das Platschen hören, greifen Sie sich blitzschnell eine Flasche und springen zwischen Boot und Steg ins Wasser. Ich komme sofort nach.« Er warf das Gewicht, so weit er konnte – machte mit dem ausgestreckten Arm einen großen Bogen, bei dem nur die Schultermuskeln, nicht die Armmus keln tätig wurden. Das Gewicht sauste einen halben Meter über die Brücke des anderen Boots hinweg und platschte dahinter ins Wasser. Sanders sprang auf, zog eine Druckluftflasche aus dem Ge stell, hielt sie über den Bootsrand ins Wasser und glitt hinter her, wobei er alle Geräusche wahrnahm, die auf dem anderen Boot laut wurden: Schritte und Stimmen und das Klicken eines Hahns. Treece kam ihm nach. Sie prüften gegenseitig ihre Druckluftflaschen, vergewisserten sich, daß die Ventile aufge dreht waren und daß die Luft gut war. »Halten Sie meine Hand fest, bis wir auf Grund sind«, sagte Treece. »Dort warten wir eine Minute und schauen uns um. Ihre Lampen verraten uns, wo sie sind.« Hand in Hand sanken sie unter die Oberfläche und schwam men zum Grund. Gail, die in dem dichten Gebüsch auf dem Hügel kniete, hörte das laute Plätschern und die Stimmen. Sie sprang in gebückter Haltung auf, duckte sich, als der Lichtkegel auf sie zugeschwenkt wurde, richtete sich wieder auf und blickte hinunter, befürchtete und erwartete zugleich, einen Schuß zu hören. Sie hörte aber nur das dissonante Tuten der Taxihupen. Sie umklammerte den Griff des Hackmessers – hatte Angst davor, war aber froh, daß sie es hatte, genau wie vorhin beim Gewehr – und ging den Weg hinab. Kurz vor dem Ende des Wegs stolperte sie, mit den Händen 283
wie eine Blinde vor sich her tastend, über ein Bein von Kevin. Erschrocken prallte sie zurück und fiel in die Büsche, wobei einige Zweige abbrachen. Sie hörte eine Stimme: »Kevin?« Sie hielt den Atem an. »Schwimm hin und sieh nach!« Ein Plätschern; Geräusche von Schwimmstößen. Sie atmete aus und holte Luft, und ihre Nase füllte sich mit Kotgestank. Halb ohnmächtig vor Entsetzen rappelte sie sich wieder hoch und kroch auf allen vieren den Hügel hinauf. Sanders und Treece knieten auf dem Grund der kleinen Bucht, hielten sich immer noch an den Händen fest. Zwölf oder fünfzehn Meter weiter war die Grotte so deutlich zu sehen wie die Bühne eines dunklen Theaters, denn sie wurde nicht von Taschenlampen, sondern von starken Scheinwerfern beleuch tet. Ein Taucher schwamm aus der Grotte und knipste eine Taschenlampe an. Er trug ein Netz mit Ampullen. Zwei andere Taucher schwammen an ihm vorbei und knipsten ihre Taschen lampen aus, als sie das Flutlicht erreicht hatten. Treece zog an Sanders’ Hand, und sie glitten mit vorsichtigen Schwimmstößen zur Grotte. Als sie drei Meter vom Eingang entfernt waren und noch nicht von den Scheinwerfern erfaßt wurden, ließ Treece die Hand von Sanders los, schob ihn sanft zur Klippe und gab ihm ein Zeichen, dort zu warten. Treece ließ sich auf den Bauch fallen und zog sich auf dem Sand entlang, bis er in die Grotte hineinsehen konnte. Dann kroch er wieder zurück. Er knipste seine Lampe an, suchte Sanders und schwamm zu ihm. Treece hielt die Taschenlampe mit der linken Hand und richtete sie nach rechts, zeigte auf Sanders, dann auf den nächstliegenden Rand der Grotte, dann auf sich, dann – mit einer weit ausholenden Bewegung – auf die gegenüberliegende Seite der Grotte. Dann richtete er den Lichtkegel auf Sanders’ Gesicht, um zu sehen, ob dieser verstanden hatte. Sanders hatte 284
verstanden: Er sollte sich an der einen Seite des Eingangs aufbauen, und Treece würde zur anderen schwimmen. Sie drückten sich an die Felswände und warteten. In dem schimmernden Licht erkannte Sanders dann und wann das Gesicht von Treece, die glänzende Messerschneide in seiner Hand. Das Wasser kam in Bewegung und wirbelte am Grottenein gang Sand auf: jemand schwamm heraus. Sanders sah, wie Treeces Messer in die Höhe fuhr und bereitgehalten wurde. Der Mann auf Treeces Seite kam zuerst heraus, gut einen Meter vor seinem Kameraden. Sein Kopf erschien; er war auf den Sand gerichtet. Dann waren seine Schultern zu erkennen. Treece sprang auf ihn los: ein rotbrauner Blitz, eine Explosi on von Luftblasen, eine Faust, die den Luftschlauch des Mannes packte und ihm das Mundstück aus dem Mund riß, den Schlauch straffzog, das Messer, das den Gummischlauch glatt durchschnitt. Der Kopf des zweiten Mannes wurde sichtbar, und Sanders hob sein Messer. Der Mann sah hoch und erblickte Sanders. Seine Augen weiteten sich, seine Hände fuhren an seinen Kopf, während Sanders sprang. Der Mann stieß Sanders’ Messerhand fort und griff nach Sanders’ Maske. Sanders wich aus. Seine Schulter traf die Brust des Mannes, und sie taumelten in einem Knäuel zu Boden. Sie rollten den Grund entlang, boxten und traten, und jeder von ihnen versuch te, den Kopf so zu halten, daß der andere ihn nicht zu fassen bekam. Sanders atmete angestrengt und ruckweise ein, hielt die Luft nach jedem Einatmen an, weil er Angst hatte, sein Schlauch würde durchgeschnitten werden, wenn seine Lungen gerade leer waren. Sie waren jetzt schon ein paar Meter weit in der Grotte und vollführten einen grotesken Tanz auf dem Sand; der Mann hielt 285
Sanders’ rechtes Handgelenk fest, so daß das Messer nicht an seinen Hals kam. Sanders hatte seinen linken Arm um die Seite des Mannes gelegt, damit dieser nicht den rechten Arm bewe gen konnte. Sanders konnte den Mann nicht erstechen, konnte seinen Luftschlauch nicht durchschneiden; er wartete auf Treece. Wie gelähmt blickte er zum Eingang der Grotte und rechnete jeden Moment damit, daß Treece auf ihn zuschwamm. Treece schaute jedoch in die entgegengesetzte Richtung und lauerte auf die beiden Taschenlampen, die ihm entgegenglitten. Der Mann bekam den rechten Arm frei. Seine Hand rutschte hoch und schlug in Sanders’ Unterleib, und Finger wollten Sanders’ Hoden umklammern. Sanders stieß sich mit dem linken Fuß hoch, und die Hand glitt ab. Dann sah er das Loch in der Wand der Grotte, einen dunklen Tunnel über einem großen Steinhaufen. Er berührte den Grund mit einem Fuß und stieß sich ab, zog den Mann tänzelnd zur Felswand. Die Fersen des Mannes trafen auf einen Stein, und er strauchelte, ließ Sanders’ Hand gelenk aber nicht los. Sanders lehnte sich gegen ihn, drückte ihn an die Wand, boxte seine Brust, so heftig er konnte, damit der Kopf des Mannes nach hinten flog – zum Loch. Der Kopf war jetzt ein paar Zentimeter unter dem Loch. Sanders’ Fuß fand Halt auf einem Stein, und er drückte den Mann von unten hoch, bot das schwarze Fleisch und die hervortretenden Adern an. Die Schweinsaugen – Perlen in dem glitschigen grünen Kopf – glotzten aus dem Loch. Das Maul war halb aufgesperrt und ruckte hungrig hin und her. Die Muräne schoß los, nadelspitze Zähne gruben sich in den Nacken des Mannes, dessen Kehle konvulsivisch zuckte, als er zum Loch gezogen wurde. Blut quoll an den Seiten des Murä nenmauls heraus. Der Mann öffnete die Lippen, gab das Mundstück frei und schrie in Todesangst. 286
Ihre Arme lösten sich voneinander. Sanders fragte sich, ob er den Mann auf alle Fälle noch erstechen sollte, aber es war nicht mehr nötig: Das Mundstück trieb hinter seinem Kopf. Sein halber Hals steckte im Maul der Muräne, und seine Bewegun gen wurden bereits schwächer, sein Blick glasiger. Sanders schwamm zum Eingang der Grotte zurück. Treece war immer noch auf dem Sprung. Die beiden Lichter hatten sich genähert, rührten sich aber nicht mehr vom Fleck. Er machte einen Scheinangriff, und sie wichen zurück. Sanders wußte, daß Treece auf ihn wartete. Wenn er hätte fliehen wollen, wäre er einfach ins Dunkel geschwommen. Er wäre den Lichtkegeln schnell entkommen, und selbst wenn es den Männern gelungen wäre, ihm auf den Fersen zu bleiben, hätten sie keine Chance gehabt, ihn unter Wasser zu erwischen. Die Taschenlampen wurden ausgeknipst; die Gestalten ver schwanden im Dunkel. Treece knipste seine Lampe an und suchte die Partie vor der Grotte ab. Sanders tippte ihn auf die Schulter, damit er wußte, daß er nicht mehr allein war. Treece zeigte nach oben und schaltete seine Lampe aus. Sanders kam sich nackt und preisgegeben vor, als er durch das Licht der Scheinwerfer in der Grotte hochschwamm. Er wußte, daß die Männer von Cloche ihn sehen konnten. Er trat heftig mit den Schwimmflossen, um das Dunkel zu erreichen. Sein Rücken wurde gerammt. Beine wickelten sich um seine Taille; sein Kopf wurde nach hinten gezogen. Er sog an seinem Mundstück und atmete Wasser: Man hatte den Schlauch des Lungenautomaten durchgeschnitten. Die Beine gaben ihn frei. Das Salzwasser machte ihn würgen. Er biß die Zähne zu sammen und zwang sich, langsam auszuatmen, bekämpfte den physischen Drang, nach Luft zu keuchen. Er erreichte die Oberfläche, hustete und atmete rasselnd ein. Ein Lichtkegel erfaßte sein Gesicht. Er warf den Kopf nach rechts und war gerade wieder untergetaucht, als eine Kugel aufs Wasser schlug, abgelenkt wurde und die Felsklippe 287
streifte. Er hielt den Atem an und blieb einen knappen Meter unter der Oberfläche, sah das Licht über das Wasser gleiten. Es bewegte sich nach links, also schwamm er nach rechts. Seine Hände berührten Felsen, und langsam zog er sich hoch. Sie wußten nicht, wo er war; das Licht suchte das Wasser mehrere Meter links von ihm ab. Dann kam es wieder auf ihn zu. Er tauchte unter, bis es vorbei war, stieg dann wieder hoch, um einzuatmen. Er hörte die Stimme von Cloche. »Treece!« Keine Antwort. »So kommen wir beide nicht weiter, Treece. Sie können uns nicht aufhalten; wir sind zu viele. Hauen Sie ab, solange Sie noch können. Wir begnügen uns mit dem, was in der Grotte ist, ich gebe Ihnen mein Wort. Ein fairer Kompromiß.« Keine Antwort. Sanders fühlte, daß etwas seinen Fuß berührte. Ruckartig zog er das Bein hoch und atmete ein, rechnete damit, nach unten gezerrt zu werden, war fest entschlossen, sich zu wehren, wußte aber genau, daß er nicht mehr die nötige Kraft dazu hatte. Er würde es nicht schaffen. Treece steckte neben ihm den Kopf durchs Wasser. »Schmeißen Sie die Flasche weg«, flüsterte er, löste den Schulterriemen seines eigenen Traggestells und ließ seine Preßluftflasche auf Grund sinken. Cloche rief noch zweimal, aber Treece antwortete nicht. Er führte Sanders zum Ufer, glitt mit lautlosen Schwimmstößen voran. »Dann stirb!« sagte Cloche wütend. Sie erreichten das Ende des Anlegers, krabbelten aus dem Wasser und rannten zu dem Weg, als Cloche seinen Tauchern befahl, an Bord zu kommen. Gail wartete oben auf dem Hügel. »Was …« Treece lief an ihr vorbei zum Haus. »Kommen Sie!« In der Küche untersuchte Treece den Richtungszünder. Er prüfte die Drähte, befestigte dann den Magneten mit Klebe band an der Seite der Flasche. 288
»Haben Sie gehört, was Cloche gesagt hat?« fragte Sanders. »Mit dem Kompromiß?« »Ja. Er lügt. Er will alles; ich wette darauf. Aber wenn wir Glück haben, werden wir ihm zuvorkommen. Draußen beim Kompressor liegen noch eine Flasche und ein Lungenautomat. Holen Sie mir beides. Und bringen Sie eine von den Handlam pen mit, wenn Sie schon mal da sind.« Sanders hastete hinaus, und Gail sagte zu Treece: »Wohin wollen wir?« »Orange Grove. Wir fahren mit Kevins Auto.« Treece nahm die Sprengladung vom Tisch und hielt sie mit beiden Händen. »Wollen Sie das Ding noch heute nacht anbringen?« »Wir haben keine andere Wahl, wenn wir die Ampullen zerstören wollen, bevor Cloche danach taucht.« Er sah Sanders vom Kompressorschuppen zurückkommen und sagte: »Los. Wenn wir nicht zuerst da sind, ist alles verloren.« Während sie den Weg entlangeilten, fragte Sanders: »Und was geschieht mit den Juwelen, die noch unten liegen?« »Wenn noch welche unten sind … nun, meinetwegen soll Philipps Geist sich mit der Dame aus Parma darum schlagen. Wir können nichts mehr riskieren, wegen der Drogen.« Die Hündin folgte ihnen zur Pforte, aber Treece hielt sie auf und befahl ihr zu bleiben. Sie hörten, wie der Motor von Cloches Boot zum Leben erwachte und in südwestlicher Richtung, nach Orange Grove, lostuckerte. Treece begann zu rennen. Er fuhr den Hillman, so schnell es ging, legte sich bei den Windungen der schmalen Straße in die Kurven und fluchte, wenn der schwache Motor auf steilen Hügeln ins Stottern kam. Sanders saß neben Treece, und Gail saß im Fond und hielt die Sprengladung mit der Hand fest. Auf einem geraden Abschnitt der South Road zeigte der Tacho 110 km/h. Sanders stemmte sich gegen das Armaturen 289
brett, trat auf eine imaginäre Fußbremse und sagte: »Und wenn ein Polizist Sie anhält?« »Heute nacht wird mich kein Polizist anhalten, wenn ihm sein Leben lieb ist.« Treece sprach erst wieder, als er das Auto auf dem Parkplatz des Orange Grove Club abgestellt hatte und zu der Treppe lief, die zum Strand hinunterführte. »Können Sie mit einem Außenbordmotor umgehen?« fragte er. »Sicher«, sagte Sanders. »Gut. Ich brauche einen Fahrer.« Der Mond stand hoch, und als sie die steinernen Stufen hin abeilten, konnten sie die weißen Rümpfe der kleinen offenen Motorboote auf den Trailern sehen. Treece blickte aufs Meer, nach links, zu den weißen Bran dungslinien über den Riffen. »Das Licht ist gut. Wir sehen sofort, wenn er kommt.« Er reichte Gail den Richtungszünder, packte die Vorleine des nächsten Bootes, wirbelte den Trailer herum und zog es allein ins Wasser. Dann nahm er Gail die Sprengladung wieder ab und sagte: »Sie bleiben hier.« »Nein.« »Doch. Sie bleiben.« »Das werde ich nicht tun!« Ihr Trotz überraschte ihn. »Es wird draußen hart hergehen, und Sie sind hier sicherer.« »Es ist meine Entscheidung. Es ist mein Leben, und ich komme mit.« Sie wußte, daß sie unvernünftig handelte, aber es war ihr gleich. Sie konnte einfach nicht als hilflose Zuschaue rin am Strand warten. Treece nahm sie am Arm und sah ihr in die Augen. »Ich habe schon eine Frau auf dem Gewissen«, sagte er tonlos. »Ich möchte nicht, daß noch eine dazukommt.« Gail erwiderte seinen Blick und antwortete zornig, ohne zu überlegen: »Ich bin aber nicht mit Ihnen verheiratet!« Treece lockerte seinen Griff. »Nein, aber …« Er schien ver legen zu sein. 290
Gail berührte seine Hand. »Sie haben es selbst gesagt. Ich bin hier. Ich bin ich. Daß Sie mich beschützen, würde ihr nicht mehr helfen.« Treece sagte zu Sanders: »Steigen Sie ins Boot.« Erwartete, bis Sanders im Boot war, half Gail dann hinein, schob das Boot weiter, bis das Wasser tief genug für die Schraube war, und kletterte an Bord. Sie fuhren über die Riffe bis zu der Stelle, unter der die Goli ath lag. Dort ließen sie das Boot einfach schlingern. Treece machte die Druckluftflasche fertig, schlüpfte in die Schulterriemen und setzte sich, den Richtungszünder auf den Schenkeln, auf den Steuerbord-Cockpitrand. Die Lampe hing an einem Riemen um sein Handgelenk. »Ich bringe nur die Ladung an«, sagte er. »Bin sofort wieder zurück. Wenn wir ihn dann kommen sehen, gehe ich noch mal runter und stelle die Zeit ein.« »In Ordnung«, sagte Sanders. »Und jetzt … ein Befehl. Wenn etwas passiert, machen Sie so schnell wie möglich, daß Sie hier wegkommen. Spielen Sie nicht Pfadfinder.« Sanders dachte gar nicht daran, Treece im Stich zu lassen, aber er sagte nichts. Treece ließ sich vom Bootsrand fallen, knipste die Lampe an und schwamm zum Grund. Sekunden später sah Sanders die ersten Spritzer – glitzernde weiße Wasserdetonationen über dem Bug eines Boots, das mit Höchstgeschwindigkeit am äußeren Riff entlangfuhr. »Da!« sagte er und zeigte hin. Gail sah das Boot ebenfalls, blickte dann nach unten. Treeces Licht ruhte auf dem Grund. »Wie lange braucht er, um das Ding anzubringen?« »Ich weiß nicht. Zu lange.« Sanders hörte das hohe Pfeifen einer Kugel über ihnen und eine Sekunde später den Knall. Er duckte sich, und eine andere 291
Kugel pfiff vorbei. Das Boot von Cloche kam näher, und weitere Schüsse knall ten, aber das kleine flache Motorboot lag so tief im Wasser, daß es ein schlechtes Ziel abgab. Die Schüsse waren alle zu hoch gesetzt. Gail kauerte auf dem Bootsboden und sagte: »Er hat gesagt, wir sollten abhauen.« »Zum Teufel mit ihm.« Treece stieß neben der Bordwand mit dem Kopf durchs Wasser. Er wollte etwas sagen, schloß den Mund aber wieder, als er einen Schuß hörte. »Fahren Sie!« sagte er. Sanders sagte: »Nein! Sie …« »Fahren Sie, verdammt noch mal! Ich stelle die Zeit ein und komme nach. Fahren Sie zu der seichtesten Stelle, die Sie finden können.« Treece verschwand wieder im Wasser. Sanders rührte sich ein paar Sekunden lang nicht. »Wir müssen fahren!« sagte Gail. »Aber er …« »Willst du eigentlich sterben?« Sanders sah sie an. Er startete den Motor und drehte das Boot in Richtung auf das Ufer. Zwei Kugeln jagten ihn weiter. Als Sanders meinte, außer halb der unmittelbaren Reichweite der Gewehre zu sein, drosselte er die Geschwindigkeit und drehte den Bug wieder zum Riff. »Er hat gesagt, wir sollen in seichtes Wasser fahren«, sagte Gail. »Hier ist es seicht genug.« Das Boot von Cloche hielt über der Goliath an. Ein Licht flammte auf, dann noch eines, und eine Gestalt nach der anderen hechtete über Bord. »Taucher!« sagte Gail. »Achte nicht auf sie!« zischte Sanders. »Schau dich um, ob 292
du Treece irgendwo siehst. Wenn wir ihn nicht aus dem Wasser holen, bevor das Ding losgeht, ist er ein toter Mann. Er muß fertig sein.« Aber Treece war noch nicht fertig. Ein Draht hatte sich von dem Küchenwecker gelöst, und er befestigte ihn wieder, wobei er seinen Daumennagel als Schraubenzieher benutzte. Er drehte die Schraube fest und stellte den Küchenwecker auf fünf Minuten ein. Dann erfaßte ihn der erste Lichtkegel. Sanders konnte nicht länger warten. »Scheiße!« sagte er, stieß den Gashebel nach vorn und nahm Kurs auf das Riff. »Was machst du denn?« schrie Gail. »Ich weiß nicht! Wir müssen ihn rausholen!« Sanders schätz te, daß sie noch 500 Meter von Cloches Boot entfernt waren. Treece stand jetzt zwischen zwei Lichtkegeln. Er hielt den Atem an, denn man hatte seinen Luftschlauch durchgeschnit ten. Er drehte sich langsam im Kreis, um beide Taucher im Auge zu behalten. Sie waren schnell. Ein Mann ging so, daß er immer hinter Treece blieb, und als er eine Chance sah, an Treece heranzu kommen, sauste er los und senkte sein Messer in Treeces Rücken. Treece fühlte einen tiefen, glühenden Schmerz. Er drückte den Wecker an die Brust und stellte den Zeiger auf Null. Sanders’ Boot war 300 Meter vom Riff entfernt, als das Meer explodierte. David und Gail sahen den Bug ihres Motorbootes auf sich zusteigen und flogen fort. Sie wirbelten durch die Luft, nahmen Bildfetzen wahr, die an ihren Augen vorbeiblitzten: den Wasserberg, der unvermittelt emporstieg und dann zusammen fiel; Bruchstücke von Cloches Boot, die in alle Richtungen flogen, manche davon unglaublich hoch; einen Körper, der mit rudernden Armen und Beinen gen Himmel geschleudert wurde. Sanders schlug mit dem Rücken zuerst auf das Wasser. Seine Augen waren offen, aber er war nicht wirklich bei Bewußtsein. 293
Er hörte nur, wie ringsum Trümmer ins Meer klatschten, nahm nur stechende Schmerzen wahr, als sein Gesicht von Stein- und Korallensplittern getroffen wurde. Seine Beine baumelten unter ihm, und als er ausatmete, sank er ein paar Zentimeter tiefer, stieg dann beim Einatmen wieder hoch. Er sah die Sterne und die schimmernden Strahlen des Mondes, und er dachte vage: Das ist ganz anders, als man den Tod immer schildert. Eine Stimme, die weit entfernt und schwach klang, rief: »David?« Er drehte sich auf den Bauch, testete seine Gliedmaßen mit zögernden, tastenden Schwimmstößen, schwamm ungelenk auf die Stimme zu. Gail trat zwanzig Meter von ihm entfernt das Wasser. Sie sah ihn kommen und sagte: »Alles in Ordnung?« »Ja. Und du?« »Ich weiß nicht. Ich kann einen Arm nicht bewegen.« Er half ihr ans Ufer, und sie taumelten aus dem Wasser. Der Strand kam ihnen wie ein endloses gelbes Feld vor, der Aufzug schien meilenweit entfernt zu sein. Sie drehten sich um und blickten zurück. Die Brandungslinie über dem Riff hatte eine neue Lücke, und auf den Wellen tanzte Treibgut. Sonst war das Meer unverändert. Sie drückten sich aneinander und gingen zur Steilwand, wo sich bereits eine Menschenmenge sammelte.
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Anmerkung des Verfassers Dies ist ein Roman. Handlung und Personen sind frei erfunden, und etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Ereignissen und lebenden oder verstorbenen Menschen wären rein zufällig. Viele Fakten über die Bermudas, über Wracks und über den spanischen Handel mit der Neuen Welt stammen jedoch aus historischen Quellen. Ich kann hier nicht alle Werke anführen, die ich konsultiert habe, aber einige von ihnen waren so wertvoll, daß ich sie unbedingt nennen möchte: Pieces of Eight von Kip Wagner, aufgezeichnet von L. B. Taylor jr.; The Treasure Diver’s Guide von John S. Potter jr.; Marine Salvage von Joseph N. Gores; Diving for Sunken Treasure von Jacques-Yves Cousteau und Philippe Diole; Treasures of the Armada von Robert Stenuit; Port Royal Rediscovered von Robert F. Marx; und Diving to a Flash of Gold von Martin Meylach in Zusammenarbeit mit Charles Whited. Zu großem Dank verpflichtet bin ich außerdem noch einem Freund, Ratgeber und wandelnden Nachschlagewerk – Teddy Tucker.
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Vom selben Autor in der Reihe der Ullstein Bücher
Peter Benchley
Der weiße Hai
Roman Ullstein Buch 3320
Als Buch ein Bestseller in zwölf Sprachen, als Film eine Weltsensation: Der Schreckensreport vom weißen Hai, der mit den ersten Feriengästen am Strand von Amity auftaucht und den ganzen Badeort in Angst, Verzweiflung und in den Ruin stürzt. Eine junge Schwimmerin, die nach heißer Party Abküh lung sucht, wird zerfetzt angeschwemmt; ein kleiner Junge wird samt seinem Gummifloß zerrissen; und kurz darauf verschwindet ein erfahrener Fischer spurlos von seinem Boot. Die Stadtväter aber weigern sich, die Strande sperren zu lassen. Als einziger begreift Polizeichef Brody das ganze Ausmaß der Gefahr. Und er ist es auch, der mit zwei anderen mutigen Männern das Duell mit dem Riesenhai wagt. Es wird ein Kampf auf Leben und Tod.
ein Ullstein Buch