PETER MAY
Das rote Zeichen
Buch Ihre Entscheidung stand fest. Die amerikanische Pathologin, Margaret Campbell, wollte...
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PETER MAY
Das rote Zeichen
Buch Ihre Entscheidung stand fest. Die amerikanische Pathologin, Margaret Campbell, wollte Peking für immer verlassen, aber als die chinesische Polizei sie erneut um ihre Hilfe in einer Serie von grausamen Ritualmorden bittet, kann sie nicht Nein sagen. Noch einmal soll sie mit dem Pekinger Hauptkommissar Li Yan zusammenarbeiten und vier mysteriöse Enthauptungen aufklären. Vier Menschen wurden unter Drogeneinfluss gefesselt und enthauptet. Alle Opfer trugen eine Karte um den Hals, auf der eine Zahl und ein Name standen, dennoch scheint es keine Verbindung zwischen den Toten zu geben. Margaret Campbell und Li Yan stehen vor einem Rätsel, das sie in das dunkle Kapitel der chinesischen Kulturrevolution führt. Doch als Team sind die beiden Ermittler unschlagbar, und während der Täter zum großen Schlag ausholt, flammen die alten Gefühle zwischen der unkonventionellen Amerikanerin und dem chinesischen Vorzeigekommissar wieder auf…
Autor Peter May war als Journalist tätig, bevor er Drehbuchautor wurde, drei erfolgreiche TV-Serien für das britische Fernsehen schuf und mehrere Romane schrieb. Für seine Romane »Chinesisches Feuer« und »Das rote Zeichen« unternahm Peter May umfangreiche Studien in China, für die er auch den Zugang zu chinesischen Polizeikreisen erhielt. Peter May lebt abwechselnd in Schottland und Frankreich.
Außerdem von Peter May bei Blanvalet lieferbar: Chinesisches Feuer. Roman (35706)
PETER MAY Das rote Zeichen Roman Aus dem Englischen von Christoph Göhler und Herbert Schröger
BLANVALET
Die englische Originalausgabe erschien 2000 unter dem Titel »The Fourth Sacrifice« bei Hodder and Stoughton, London
Umwelthinweis: Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuches sind chlorfrei und umweltschonend.
Blanvalet Taschenbücher erscheinen im Wilhelm Cioldmann Verlag, München, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH Deutsche Erstausgabe Juni 2002. Copyright © der Originalausgabe 1 999 by Peter May Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2002 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagfoto: Photonica + TIB/Yang Satz: Uhl + Massopust, Aalen Druck und Bindung: Eisnerdruck, Berlin Verlagsnummer: 35.568 Redaktion: Alexander Groß AL • Herstellung: Heidrun Nawrot Made in Germany ISBN 3-442-35.568
Für Carol
Prolog Inzwischen weiß er, dass er sterben wird. Er empfindet sogar etwas wie Erleichterung. Schluss mit den langen, einsamen Nächten und den qualvollen Träumen. Endlich kann er all die nachtschwarzen Gefühle loslassen, die er ein Leben lang wie eine tonnenschwere Last mit sich herumgeschleppt hat, die ihn immer wieder ins Wanken und Taumeln brachten und ihn schließlich in die Knie gezwungen haben. Zwar ist das Wissen, dass der Tod zum Greifen nahe ist, nicht frei von Angst. Doch lauert diese Angst lediglich im Unterbewusstsein und zieht sich, je stärker die Droge wirkt, immer tiefer dorthin zurück. Nur noch verschwommen erkennt er jene Dinge um sich herum, die ihm in den vergangenen Monaten so vertraut geworden sind: die zerkratzten nackten Wände, die verrosteten Fensterrahmen, die zum Trocknen aufgehängte Wäsche auf dem verglasten Balkon hinter der Fliegentür. Wie immer hängt ein schaler Küchengeruch in der Luft, und hin und wieder, vor allem wenn es wie jetzt regnet, steigen Duftschwaden aus dem ungeklärten Abwasser in den Kanälen der Straße vier Stockwerke weiter unten empor. Er hört den Regen gegen die Fensterscheiben klatschen und sieht die Lichter des gegenüberliegenden Wohnblocks verschwimmen, fast wie hinter den Tränen, die er salzig und warm auf seinen Wangen spüren kann. Erst jetzt wird er von lähmender Trauer überwältigt. Welch eine Vergeudung! Sein Leben, das Leben seiner Eltern und das ihrer Eltern davor. Was davon war überhaupt von Bedeutung? Welchen Sinn hatte es je gehabt? Er merkt, wie ihn grobe Hände auf die Knie zwingen, eine Schnur wird über seinen Kopf gezogen, rote Schriftzeichen flackern auf dem weißen Karton auf, der ihm umgehängt wird. Die Hände werden auf seinen Rücken gezogen, er spürt die weiche, vertraute Glätte der Seide, die so straff um seine Handgelenke zusammengezogen wird, dass sie ihm in die Haut schneidet und das Blut abschnürt. Er hätte nicht so fest zugezogen. Die Droge gibt ihr Bestes, trotzdem taucht die Angst wieder auf, steigt ihm in die Kehle wie bittere Galle. Er sieht Licht an dunklem, stumpfem Metall aufblitzen, dann drückt eine Hand seinen Kopf nach vorn und nach
unten. Widerstand ist zwecklos. Alles ist zwecklos, selbst Reue. Trotzdem überkommt sie ihn, groß und unheimlich, und wirft ihren Schatten in sein Bewusstsein, wo sie um einen Platz neben seiner Angst ringt. Er nimmt die Gestalt zu seiner Rechten wahr. Er sieht, wie der Schatten der nach oben schnellenden Klinge über das fahle Linoleum huscht. Er schluckt und fragt sich, ob er wohl Schmerz empfinden wird. Wie gut mag sein Henker sein? Flüchtig überlegt er, ob der Verstand wohl in dem Moment verstummt, in dem der Kopf abgeschlagen wird. Er hört das Zischen der Klinge und zieht scharf die Luft ein. Nein, Schmerz empfindet er keinen, das wird ihm klar in diesem letzten Augenblick vor der Finsternis, als der Raum wie verrückt zu kreiseln beginnt und er beobachtet, wie diese seltsame Erscheinung, sein eigener, kopflos nach vorne kippender Körper, ein Zwillingspärchen von Blutströmen ausspeit. Doch er wird niemandem je davon erzählen können. Es gibt so vieles, was er nie mehr wird erzählen können.
1. KAPITEL I Wie Tränen fielen die Regentropfen aus dem bleiernen Himmel über Peking. Was für eine Ironie, ging es Margaret durch den Kopf, wo ihre Tränen doch längst getrocknet waren. Von ihrem geschützten Balkon im sechsten Stock erspähte sie zwischen den Baumspitzen des gegenüberliegenden Parks das matte Spiegelbild eines kleinen Pavillons auf dem vom Regen aufgewühlten See. Über dem Rauschen des Verkehrs und den gelangweilten Spötteleien der Kürschner unten auf der Straße konnte sie die Klage einer einsaitigen Geige vernehmen und darüber die traurigen Melodien einer weiblichen Stimme, die dem Lied aus der Pekingoper Leben einhauchte. Margaret ging zurück in ihr Hotelzimmer und zog einen leichten Mantel über Bluse und Jeans. Sie hatte sich eingeredet, dieses Hotel wegen seiner Nähe zur amerikanischen Botschaft gewählt zu haben. Dass ihre Wahl nicht das Geringste mit dem Park auf der anderen Straßenseite zu tun hatte. Genau das hatte sie sich eingeredet. Dabei war der Ritan-Park ihre letzte Verbindung zu ihm. Es war jener Ort, an dem der Tod eines Menschen sie zum ersten Mal zueinander geführt und am Ende wieder auseinander gerissen hatte. Ein weiteres Desaster in einem Leben, das dazu bestimmt schien, sie wieder und wieder zu enttäuschen. Sie packte ihren Schirm und zog energisch die Tür hinter sich zu, fest entschlossen, eine Entscheidung herbeizuführen, die sie schon viel zu lange hinausgezögert hatte. Im vierten Stock stieg eine ältere Frau mit betonhart gesprühter Frisur und viel zu viel Make-up in den Aufzug. Margaret bemerkte, dass sie ein Namensschild am Aufschlag ihrer blauen Kostümjacke trug. Dot McKinlay stand darauf zu lesen. Margaret war leicht überrascht. Im Ritan-Hotel wohnten vor allem die wohlhabenden, aber schlichten Ehefrauen russischer Händler, die um jeden Preis
ihre Rubel verprassen wollten, bevor der Wechselkurs noch weiter in den Keller fiel. Die Frau verzog die bemalten Lippen über den langen, leicht gelblichen Zähnen zu einer Grimasse, die sie wohl für ein Lächeln hielt. »Woher kommen Sie?«, fragte sie mit schleppendem Südstaatendialekt. Margaret fühlte Beklemmung in sich aufsteigen. »Aus dem sechsten Stock«, antwortete sie, die Augen starr auf die beleuchteten Ziffern oberhalb der Tür gerichtet, als könne sie die Fahrt durch Gedankenkraft beschleunigen. Dot lachte so herzlich, als hätte Margaret etwas irrsinnig Komisches gesagt. »Ich mag es, wenn jemand Humor hat«, erklärte sie. »Sie müssen aus dem Norden sein, so viel ist sicher. Wir sind aus dem Süden, aus Louisiana. Südlich von uns liegt nur noch der Golf von Mexiko.« Sie lachte erneut, als wolle sie beweisen, dass Südstaatler genauso witzig sein können wie Nordstaatler. »Die olle Dot und ihre reisenden Omas, so werden wir genannt. Wir waren schon überall. Unser Pech, dass wir uns China ausgerechnet während der Reiskrise ausgesucht haben. Hängen Ihnen die ewigen Nudeln nicht auch zum Hals raus?« Sie beugte sich vertraulich vor. »Und wenn ich gewusst hätte, dass dieses Hotel so voll gestopft ist mit gottverdammten Russkis, hätte ich uns garantiert anderswo untergebracht.« Sie nickte energisch. »Jedenfalls ist es grandios, noch eine amerikanische Landsfrau mit an Bord zu wissen. Selbst wenn Sie aus dem sechsten Stock kommen.« Sie grinste. »Spricht irgendwas dagegen, dass Sie sich heute Abend auf einen Drink zu uns setzen?« Margaret sah sie kurz an und erwiderte: »Das geht leider nicht. Ich reise morgen ab.« Gerade als Dot ihrer Enttäuschung Ausdruck verleihen wollte, öffneten sich die Türen zum Erdgeschoss. Margaret eilte davon, vorbei an einer Gruppe von etwa zehn älteren Damen, die ausnahmslos Namensschilder trugen. Sie hörte noch, wie Dot die anderen begrüßte: »Hallo, ihr werdet nie erraten, wer das war…« Nein, dachte Margaret, während sie die Glastüren aufdrückte und hinaustrat in den schwülen, warmen Regen, das werdet ihr nicht. Nicht in einer Million Jahre. Die beiden Wachleute am Tor beobachteten mit finsterem Blick, wie sie auf dem Weg zur Straße ihren Schirm öffnete. Erst im Verlauf der letzten Wochen hatten die westlichen Journalisten es aufgegeben, das Tor in der Hoffnung auf
ein paar Fotos oder ein Interview zu belagern. Davor waren die Wachleute in den braunen Uniformen, private Angestellte des Hotels, gezwungen gewesen, ihre Pflichten ernst zu nehmen, statt wie sonst den ganzen Tag herumzulungern, zu rauchen und einen wichtigen Eindruck zu machen. Sie mochten Margaret nicht sonderlich. Wortlos eilte sie an einigen Standbesitzern vorbei, die wohl hofften, sie könnte Russin sein und sich für die dicht an dicht unter den tropfnassen Markisen aufgehängten Pelze interessieren. Doch die meisten kannten sie vom Sehen und würdigten sie keines Blickes, sondern kauerten auf ihren Hockern, bewachten ihre Töpfe mit kaltem grünem Tee, rauchten beißend stinkende Zigaretten und spuckten lautstark auf das Trottoir. Wohin man auch schaute, waren die Namen der Geschäfte und Restaurants in der unverwechselbaren kyrillischen Schrift des russischen Alphabets abgefasst. Wären nicht die chinesischen Gesichter gewesen, hätte man glauben können, in einem heruntergekommenen Viertel von Moskau gelandet zu sein. Jemand hatte ein Kohlefeuer entzündet, um sich ein frühes Mittagessen zuzubereiten, und nun mischte sich der Rauch in den Nebel und den Regen. Um ein Haar wäre Margaret, im allerletzten Moment durch hektisches Klingeln aufgeschreckt, in die Bahn mehrerer Fahrräder gelaufen. Asiatische Augen blickten sie verärgert unter den Kapuzen der glänzenden Regencapes hervor an. Plötzlich wurde ihr schwindlig, sie griff nach dem Geländer am Rand des Gehsteigs und klammerte sich fest. Schwer atmend wartete sie ab, bis sie sich einigermaßen beruhigt hatte. Erst jetzt begriff sie, wie anstrengend dieser Gang werden würde. Um eine letzte Galgenfrist zu gewinnen, schlug sie den Weg durch den Park ein, obwohl sie natürlich vehement abgestritten hätte, die Entscheidung vor sich herzuschieben. Dabei war ihr vom ersten Moment an klar, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Dieser Ort war zu sehr mit Erinnerungen und Trauer behaftet. Sie eilte vorbei an kleinen, durchnässten Menschengruppen, die unter den Bäumen Tai Chi übten, und verließ den Park durch das südliche Tor. Erneut entschied sie sich für einen Umweg, diesmal über die GuanghuaStraße und dann die Seidenstraße hinunter, vorbei am neuen Gebäude der Visumabteilung, die sich auf dem Gelände der amerikanischen Botschaft befand. Frauen mit weißen Masken und blauen Kitteln fegten mit altmodischen Besen nasse Blätter aus den Rinnsteinen. Trübsal blasende Händler hockten ihren verwaisten
Ständen gegenüber unter dem Schutz der Bäume. Bei dem Regen verirrte sich kein Tourist hierher. Eine junge Frau mit kurz geschnittenem Haar steuerte hoffnungsfroh auf Margaret zu. »CD-Lom?«, bot sie an. »CDMusik? Schau, schau, habe neu.« Margaret schüttelte den Kopf und eilte davon. Ein sehr dünner junger Mann in einem schwarzen Anzug und einem weißen Hemd ohne Krawatte näherte sich ihr. »Wessel Dol-lah?« »Nein!«, schnauzte Margaret ihn an und hastete weiter über die Xiushuibei-Straße. Es hatte keinen Sinn, die Sache noch länger hinauszuzögern. Sie lief an der konsularischen Abteilung der bulgarischen Botschaft und der US-Wirtschaftsabteilung vorbei und blieb vor dem Eingang zum San Ban stehen, dem Gebäude Nr. 3 der amerikanischen Botschaft. Der politischen Abteilung. Sie drückte die Türen des Pförtnerhauses auf und sah sich einem missmutigen chinesischen Wachmann gegenüber. »Margaret Campell«, erklärte sie. »Ich habe einen Termin beim Botschafter.« Ein streng dreinblickender Marine in Galauniform beobachtete sie aus seiner Glaskabine gleich hinter der Tür zur politischen Abteilung. Eine junge Asiatin näherte sich der Tür zu ihrer Linken, die mit einem lang gezogenen elektronischen Summen aufklickte. Das Mädchen lächelte Margaret an und sagte: »Kommen Sie nur herein.« Margaret trat ein und hörte, wie die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, während ihr die Frau die Hand entgegenstreckte. »Hi, ich bin Sophie Daum. Ich werde mich vorerst um Sie kümmern.« »Ach ja?« Margaret musterte sie skeptisch. Sie war klein, hatte kurze dunkle Haare, wunderschöne mandelförmige Augen, kantige, jedoch keineswegs unattraktive Gesichtszüge und wirkte kaum alt genug, um die Highschool abgeschlossen zu haben. »Was ist denn mit dem regionalen Sicherheitsoffizier los?« »Ach, Jon Dakers ist zurzeit ziemlich eingespannt. Ich bin die neue Assistentin des RSO.« »Ihr Name klingt nicht sonderlich asiatisch für eine chinesischstämmige Amerikanerin.« »Vietnamesischstämmige Amerikanerin«, korrigierte Sophie. »Ich wurde von einer sehr altmodischen Familie aus altem kalifornischem Geldadel adoptiert.« Sie führte Margaret eine Treppe hinauf, die von Porträts der früheren amerikanischen Botschafter in
China gesäumt war. »Wahrscheinlich glauben Sie, dass ich zu jung aussehe für diesen Job. Das glaubt jeder.« Sie versuchte, heiter zu klingen, doch Margaret entdeckte mehr als nur eine Spur von Überdruss in ihrer Stimme. »Nicht unbedingt«, erwiderte sie. »Sie sehen eindeutig alt genug aus für die zweite Klasse.« Sie warf der jungen Frau einen Blick zu und bemerkte, dass deren Lächeln zu Eis gefroren war, weshalb Margaret ihre Stichelei auf der Stelle bedauerte: »Entschuldigen Sie. Sie haben mich an einem schlechten Tag erwischt.« Sophie blieb auf dem Treppenabsatz stehen und drehte sich um. »Hören Sie, Dr. Campbell.« Das Lächeln war verschwunden, und die Augen wirkten plötzlich kalt und hart. »Ich möchte nicht unhöflich sein. Aber ich bin dreiundzwanzig Jahre alt. Ich habe einen Universitätsabschluss in Kriminologie, und ich komme direkt aus dem Sicherheitsstab des Verteidigungsministeriums. Ich habe den schwarzen Gürtel in Taekwondo und könnte Sie mit einem einzigen Tritt ans untere Ende dieser Treppe befördern. Ersparen Sie mir Ihre schlechten Tage. Davon habe ich selbst genug.« »Hey«, Margaret hob abwehrend die Hände. »Ich glaube Ihnen. Das klingt, als hätten Sie eine ganze schlechte Woche. PMS kann eine echte Pest sein.« Zu ihrer Überraschung breitete sich auf Sophies Gesicht widerwillig ein Lächeln aus. »Na ja, vielleicht ist bei mir wirklich was im Anflug. Aber eigentlich leide ich nicht unter PMS, sondern unter PCS. Postchinesischem Stress. Verstehen sie? Ich bin jetzt seit einem Monat hier, und alles, was ich zu hören kriege, ist, dass ich nicht alt genug aussehe, um die Highschool abgeschlossen zu haben. Es ist schon schlimm genug, dass mir die Typen so kommen, da brauchen mich die Frauen nicht auch noch dumm anzumachen.« »Und wie vielen Kerlen haben Sie schon gedroht, sie die Treppe hinunterzubefördern?« »Oh, bisher nur Ihnen«, erwiderte Sophie unbekümmert. »Dann nehme ich das als Kompliment.« Sophie grinste sie an, als hätten sie eine gemeinsame Basis gefunden, und öffnete die Glastüren zum Vorzimmer des Botschafters. Rechter Hand sprach die Sekretärin des stellvertretenden Missionschefs gerade ins Telefon. Der Schreibtisch der Sekretärin des Botschafters zur Linken war leer. Im selben Moment tauchte sie aus dem Allerheiligsten auf.
»Oh, hallo.« Sie hielt ihnen die Tür auf. »Gehen Sie gleich rein. Der Botschafter erwartet Sie bereits.« Margaret folgte Sophie in die von weichen Teppichen gedämpfte Atmosphäre im Büro des Botschafters. Es war ein Ehrfurcht gebietender Raum – hohe Wände, große Fenster, ein immenser, auf Hochglanz polierter Schreibtisch gegenüber der Tür, die amerikanische Flagge schlaff an einer Stange im Hintergrund. Margaret war schon mehrmals hier gewesen und doch immer wieder aufs Neue fasziniert. An den Wänden aufgereiht hingen Fotos des Botschafters mit dem Präsidenten und seiner Familie. Es hieß, die beiden seien enge Freunde aus der Zeit vor ihrer jeweiligen politischen Karriere. Eines der Bilder zeigte den Präsidenten breit grinsend bei der Amtseinführung, mit erwartungsvollem Blick angesichts der Aussicht auf praktisch unbegrenzte Macht. Als wäre dies etwas, das ausgekostet und genossen sein wollte. Links standen ein Sofa und mehrere Sessel um einen Kaffeetisch, an den Wänden hingen Gemälde, Leihgaben aus irgendeiner amerikanischen Kunstgalerie. Mehrere aufgereihte chinesische Truhen dienten als Aktenschränke. Der Botschafter, hemdsärmlig, sowie ein jüngerer Mann in einem tadellos sitzenden dunkelblauen Anzug erhoben sich zur Begrüßung. »Margaret«, nickte der Botschafter knapp. Nach beinahe zwanzig Jahren als Senator fühlte er sich in der dünnen Luft der hohen Politik wohler als in den eher profanen Niederungen des wahren Lebens. »Ich glaube, Sie kennen meinen Ersten Botschaftssekretär bereits, Stan Palmer.« »Sicher«, bestätigte Margaret, alle schüttelten einander die Hände und setzten sich. Der Erste Sekretär schenkte ihnen von einem eben hereingebrachten Tablett Kaffee ein. Der Botschafter lehnte sich zurück und musterte Margaret neugierig. Sie sah müde aus, älter als ihre einunddreißig Jahre, ihre matten blauen Augen wirkten überanstrengt und stumpf, und das schöne Haar fiel in großen, traurigen Wellen über ihre Schultern. »Nun«, begann er, »Sie sind also zu einem Entschluss gekommen.« Margaret nickte. »Ich möchte nach Hause, Herr Botschafter. « »Wann?« »Morgen.« »Das kommt ziemlich plötzlich, nicht wahr?« »Ich trage mich schon länger mit dem Gedanken.«
Der Erste Sekretär beugte sich vor: »Haben Sie die Chinesen informiert?« Er klang hochnäsig, beinahe verächtlich. Margaret zögerte. »Ich hatte gehofft, Sie würden das übernehmen.« Der Botschafter runzelte die Stirn. »Warum? Gibt es da ein Problem?« Margaret schüttelte den Kopf. »Nein, ich… mir reicht es einfach. Ich will einfach nur nach Hause.« »Sie hätten bereits vor zehn Wochen heimfliegen können. Sie wissen das.« Aus der Stimme des Botschafters sprach ein unterschwelliger Vorwurf. »Natürlich.« Margaret nickte. »Es war meine Entscheidung, hier zu bleiben und mit den Chinesen zusammenzuarbeiten. Ich hielt das damals für richtig. Und dieser Auffassung bin ich nach wie vor. Aber ich bringe Nacht für Nacht damit zu, in meinem Hotelzimmer zu sitzen und CNN zu glotzen, um mich dann Tag für Tag über dieselben alten Geschichten ausfragen zu lassen. Ich habe es satt. Ich hätte nie gedacht, dass sich die Sache so lange hinziehen würde.« Sie verstummte kurz, denn jäh schoss ihr ein schrecklicher Gedanke durch den Kopf. »Ich kann doch heimfliegen, wenn ich möchte, oder etwa nicht?« »Soweit es mich betrifft, selbstverständlich.« Der Botschafter beugte sich herüber und legte beruhigend die Hand auf ihren Arm. »Sie haben weitaus mehr getan, als Sie mussten, Margaret. Mehr als die mit irgendeinem Recht erwarten konnten.« Er wandte sich an den Ersten Sekretär. »Stan wird das den Chinesen beibringen, das wirst du doch, Stan?« »Natürlich, Herr Botschafter.« Tatsächlich war Stan keineswegs glücklich über diesen Auftrag, was er sich nur allzu deutlich anmerken ließ, als sie gemeinsam die Treppe hinunterstiegen. Den Laufburschen zu spielen widerstrebte ihm zutiefst. Er behandelte Sophie, als wäre sie Luft – sie war für ihn eindeutig ohne Belang –, und wandte sich ausschließlich an Margaret. »Nun ja…«, begann er, »die Anklage gegen Ihren chinesischen Polizisten ist also fallen gelassen worden.« Er fuhr sich mit der Hand über das schon spärliche, aber perfekt gekämmte blonde Haar. »Ist sie das?« Margaret heuchelte Desinteresse. »Wussten Sie das nicht?« Stan heuchelte Überraschung. »Zunächst einmal«, erwiderte Margaret leicht gereizt, »ist er
nicht mein chinesischer Polizist. Zum anderen habe ich von den Behörden nichts dergleichen erfahren.« »Sie stehen also nicht mehr miteinander in Verbindung?« »Nein, und ich habe auch kein Interesse daran!« Gegen ihren Willen war ihr die Verärgerung und Kränkung anzuhören. Stan schlug sofort Kapital aus der Situation. »Tatsächlich? Das überrascht mich.« Er lächelte. »Ich hatte gehört, dass Sie und er… nun, wie soll ich sagen? Sich nahe gestanden haben?« »Wirklich? Es wundert mich, dass ein Mann in Ihrer Position seine Zeit damit verschwendet, sich solchen Tratsch anzuhören – ganz zu schweigen davon, dass er ihn glaubt.« »Sehen Sie, Margaret, da liegen Sie vollkommen falsch.« Stan war aalglatt und einfach nicht zu packen. »Klatsch ist das Lebenselixier einer Botschaft. Ich meine, wie sollten wir denn sonst mitbekommen, was so geschieht? Schließlich sagen Diplomaten und Politiker einander niemals die Wahrheit, da werden Sie mir zustimmen, oder?« Er gab ihr die Hand, sagte: »Gute Heimreise« und zog sich in die schallgedämpften inneren Räumlichkeiten des Gebäudes zurück. »Wichser«, murmelte Sophie. »Ach, Sie haben es auch bemerkt?« Margaret grinste ironisch. »Wenn ich so gut Arschtritte verteilen könnte wie Sie, hätte ich ihm einen versetzt.« »Glauben Sie mir, auf meiner Liste von in den Arsch zu tretenden Persönlichkeiten steht er ziemlich weit oben.« Einen Augenblick lang kicherten sie wie unbekümmerte Teenager. Für Margaret war es ein kurzes Durchatmen nach Wochen und Monaten unter unablässigem Druck. Der Marine drückte auf einen Knopf, und die Tür klickte auf. Sophie begleitete Margaret bis an die Eingangstreppe. »Hören Sie«, fragte sie unerwartet, »haben Sie heute Abend schon was vor?« »Sie meinen außer packen und CNN gucken?« »Ja, genau.« »Nicht viel. Aber wahrscheinlich müsste ich erst mal in meinen Terminplaner schauen, um sicherzugehen. Warum fragen Sie?« »Heute Abend wird in der Residenz des Botschafters ein Empfang für Michael Zimmerman gegeben.« »Für wen?« Sophie verzog das Gesicht. »O Mann, das soll wohl ein Witz sein, oder?« Margaret schüttelte den Kopf. Sophie hakte nach: »Sie
kennen Michael Zimmerman nicht?« Margaret schüttelte immer noch den Kopf. »Daran wird sich auch nichts ändern, wenn Sie mich noch einmal fragen.« »Wo haben Sie die letzten fünf Jahre bloß gesteckt? Schauen Sie denn nie fern, ich meine, mal abgesehen von den Nachrichten?« »Schon ziemlich lange nicht mehr, Sophie.« Margaret konnte sich wirklich kaum erinnern, wann sie zum letzten Mal etwas anderes gesehen hatte als CNN in einem chinesischen Hotelzimmer. »Also, wer ist der Mann?« »Bloß der Typ mit dem größten Sexappeal unter allen lebenden Männern, zumindest nach einer Umfrage unter den Leserinnen von Cosmopolitan.« »Ich dachte, das sei Mel Gibson.« Sophie schüttelte den Kopf. »Sie sind wirklich nicht auf dem Laufenden.« Es hatte aufgehört zu regnen. Die beiden schritten langsam auf das Pförtnerhaus zu. »Michael Zimmerman ist Archäologe.« »Archäologe?« Margaret war perplex. »Das hört sich aber nicht besonders sexy an. Wie ist er denn – so was wie ein zum Leben erwachter Indiana Jones?« Sophie lächelte verträumt. »Also, viel fehlt nicht dazu. Er hat für NBC einen ganzen Haufen von Dokumentarserien über archäologische Funde in aller Welt gemacht. Er hat höhere Einschaltquoten als die großen Krimiserien.« Margaret sah sie skeptisch an. »Die breite amerikanische Öffentlichkeit entdeckt plötzlich die Kultur. Also, was ist sein Geheimnis?« Sophie zuckte mit den Achseln. »Er hat so was… ich weiß nicht recht, er bringt einfach Leben in die Sache.« Sie unterbrach sich, um einen Augenblick ernsthaft nachzudenken. »Außerdem hat er einen tollen Arsch.« Margaret nickte ebenso ernsthaft. »Nun, wenn es um Kultur geht, ist das definitiv hilfreich.« Sie ging ins Pförtnerhaus, bekam Handtasche und Regenschirm wieder ausgehändigt und trat hinaus auf das Trottoir. Sophie folgte ihr. Margaret fragte: »Und warum gibt der Botschafter einen Empfang für ihn?« »Es ist der Auftakt zu einer neuen Produktion. Morgen beginnen die Dreharbeiten bei den Ming-Gräbern außerhalb von Peking. Eine neue Dokumentarserie über einen der angesehensten Archäologen Chinas. Ich habe noch nie von ihm gehört. Aber hier ist das eine
Riesensache. Die Chinesen haben sich schier überschlagen, um die Dreharbeiten zu ermöglichen, und nun trägt der Botschafter das Seinige dazu bei.« »Und Zimmerman präsentiert die Serie?« »Ja. Ihm gehört die Produktionsfirma, die das alles veranstaltet.« Sophie verstummte kurz. »Also, möchten Sie kommen? Ich kann Ihnen eine Einladung ins Hotel schicken lassen.« Margaret ließ sich das Angebot einen Moment durch den Kopf gehen. Sie würde nicht lange zum Packen brauchen, und es würde ihr nicht das Herz brechen, dem Zimmerservice und CNN an ihrem letzten Abend einen Korb zu geben. »Klar«, antwortete sie, »warum nicht? Ich kann ja mal Mr. Zimmermans Arsch inspizieren und sehen, ob er meinen Anforderungen entspricht.« Vor der konsularischen Abteilung an der Ecke zur Seidenstraße verabschiedete sich Margaret von Sophie. Sie war der Assistentin des RSO dankbar, dass diese feinfühlig genug gewesen war, ihr nicht die gleichen Fragen zu stellen wie jeder andere, dem sie während der vergangenen zehn Wochen begegnet war. Sie bahnte sich ihren Weg durch die enge Marktgasse, vorbei an riesigen Seidenballen und Kleiderstangen mit eleganten Bademänteln, Hemden und Kleidern, hinunter zum sechsspurigen Jianguomenwei-Boulevard, der die östliche Innenstadt wie eine klaffende Wunde durchschnitt. Hier ragten die Glas- und Marmortürme des einundzwanzigsten Jahrhunderts aus dem dröhnenden Verkehr in den grauschmutzigen Schleier auf, der sich beständig über die Kapitale legte, und die geschwungenen chinesischen Dachtraufen der Wolkenkratzer blickten herab auf die verfallenden Überreste einer im Verschwinden begriffenen Stadt: die Hutongs und Siheyuans, in denen Straßen- und Familienleben nahtlos miteinander verschmolzen; das wahre Peking, das in Gefahr war, von der Woge jenes finanziellen Erfolgs hinweggeschwemmt zu werden, der sich als Folge der plötzlichen Bekehrung zur freien Marktwirtschaft eingestellt hatte. Margaret hatte kein Ziel und keine Vorstellung davon, wohin sie gehen oder was sie jetzt unternehmen sollte; sie wusste nur, dass sie noch nicht in ihr Hotelzimmer zurückwollte. Sie empfand eine unbestimmte Sehnsucht, das Bedürfnis, diese Stadt ein letztes Mal in sich aufzusaugen, sich von ihr wie von einer Welle überspülen zu lassen, ihr kraftvolles, pulsierendes Leben zu spüren. Voller Wehmut wurde ihr klar, wie sehr sie Peking vermissen würde, mitsamt dem
Lärm, Schmutz und Verkehr, den schreienden, spuckenden, neugierig glotzenden Menschen, den Sehenswürdigkeiten, Geräuschen und den manchmal unbeschreiblich üblen Gerüchen. Doch andererseits war ihr auch klar, dass nichts von alledem von Bedeutung war ohne den Mann, der sie durch diese Stadt gelotst und ihr beigebracht hatte, sie zu lieben. Warum hatte er jede Verbindung zu ihr abgebrochen? Zorn und Schmerz drohten sie zu zerreißen. Kein Anruf, kein Brief. Nichts. Ungeachtet dessen, was sie dem Ersten Sekretär weiszumachen versucht hatte, wusste sie natürlich von Lis Freilassung. Während einer der zahllosen Vernehmungen hatte sie mitbekommen, dass er seinen alten Posten wiederbekommen hatte. Natürlich hatte sie erwartet, dass er etwas von sich hören ließe. Auch aus diesem Grund hatte sie trotz zahlreicher Einladungen keinerlei Anstalten gemacht, am gesellschaftlichen Leben der Botschaft teilzunehmen. Stattdessen hatte sie Nacht für Nacht in ihrem Hotelzimmer auf einen Anruf gewartet, der niemals kam. Einmal hatte sie sogar in der Zentrale der Sektion Eins der Kriminalpolizei in Dongzhimen angerufen und auf Englisch nach dem stellvertretenden Sektionsvorsteher Li Yan gefragt. Ihre Anfrage hatte am anderen Ende der Leitung einige Aufregung verursacht. Schließlich hatte sich jemand in gebrochenem Englisch nach ihrem Namen erkundigt, um ihr anschließend mitzuteilen, der stellvertretende Sektionsleiter Li sei nicht zu sprechen. Ein Bus der Linie vier tauchte aus dem Dunst auf, Margaret drängelte mit den Chinesen um einen Platz in der Schlange zum Einstieg und drückte der Busschaffnerin, die sie ebenso mürrisch wie misstrauisch ansah, fünf Yen in die Hand. Yangguizi, die fremden Teufel, fuhren niemals mit dem Bus. Margaret ignorierte die unverhohlene Neugier in den ihr zugewandten Gesichtern, als sie sich, von zahllosen Körpern eingezwängt, an der Haltestange unter der Fahrzeugdecke festzuhalten versuchte. Eigenartig, fiel ihr auf, wie einsam man sich in einer Stadt mit elf Millionen Einwohnern fühlen konnte. Sie bahnte sich ihren Weg zur Tür und stieg gleich hinter dem Peking-Hotel aus, von wo aus elf Jahre zuvor die westlichen Journalisten beobachtet hatten, wie die Panzer zum Einsatz gegen die demonstrierenden Studenten auf dem Tiananmen-Platz gerollt waren. Sie wechselte durch eine Unterführung auf die andere Seite des östlichen Chang’an-Boulevards. Es war reine Idiotie, ein
unnötiger, selbst zugefügter Schmerz. Aber nichtsdestotrotz trugen ihre Beine sie weiter zur Einmündung der Zhengyi-Straße, wo sie den tosenden Verkehr der Hauptstraße hinter sich ließ und in die Abgeschiedenheit der von Bäumen gesäumten Straße einbog. Das Gebäude des Ministeriums für öffentliche Sicherheit zu ihrer Rechten war, gut versteckt hinter einer hohen Steinmauer, in der ehemaligen britischen Botschaft untergebracht. Weiter hinten ragten die Wohnblöcke für die höheren Polizeibeamten über den Bäumen auf, die selbst im Frühherbst noch üppig grün leuchteten. Ihr war flau im Magen, und sie hatte einen Kloß in der Kehle, als wäre ihr ein Bissen im Hals stecken geblieben. Ohne Schwierigkeiten konnte sie Lis Wohnung im zweiten Stock ausmachen, die drei Räume, die er mit seinem Onkel geteilt hatte. Lächelnd dachte sie zurück an die Nacht, die sie gemeinsam dort verbracht hatten und in der sie sich wohl geliebt hätten, hätte sie damals nicht zu viel getrunken. Dann erinnerte sie sich an jenen kalten und feuchten Eisenbahnwagon auf einem vergessenen Abstellgleis im Norden des Landes, wo sie endlich in seinen Armen gelegen war und sie einander ihre Liebe gestanden hatten. Als sie damals nach Peking zurückgekehrt waren, um zu enthüllen, warum drei Menschen ermordet worden waren, und um die Anschuldigungen zu entkräften, die ein paar in die Enge getriebene Kriminelle gegen Li vorgebracht hatten, hatte er ihr eingeschärft, auf ihn zu warten. Er hatte ihr versichert, dass er sie liebe. Und so hatte sie gewartet. Und gewartet. Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und bemerkte, dass der Wachmann an der Pforte sie neugierig beobachtete – diese seltsame blonde, blauäugige Yangguizi, die weinend auf dem Gehweg stand und ein anonymes Wohnhaus anstarrte. Hastig drehte sie sich um und ging weiter. Der Versuch war zum Scheitern verurteilt und idiotisch. Es war vorbei, und sie würde morgen Früh abreisen. Sie hatte in ihrem Leben schon so viele Tiefschläge einstecken müssen, dass die Beschäftigung mit der Vergangenheit ein freudloses Unterfangen darstellte. Ihr blieb nur der Blick nach vorn. Ein kleines rotes Taxi kam ihr langsam auf der anderen Straßenseite entgegen. Rufend und winkend lief sie über die Straße. Das Taxi hielt an, und sie sprang hinein. »Ritan fandian«, wies sie den Fahrer an und konnte im ersten Augenblick kaum fassen, dass er sie sofort verstand. Auf der Stelle wurde sie wieder von Trauer
überwältigt. China, das Land, seine Sprache, seine Menschen… wie lange hatte es gedauert, bis ihr all dies zu Herzen und unter die Haut gegangen war. Und nun, wo es endlich soweit war, hatte sie keine weitere Verwendung dafür. Gerade als das Taxi zurück zum östlichen Chang’an-Boulevard fuhr, schob ein großer, breitschultriger Chinese mit kurz geschorenem Haar ein Fahrrad aus der Wohnanlage. Er trug ein weißes, kragenloses Hemd, das rund um die schmale Taille in seiner schwarzen Hose steckte. Plötzlich hielt er inne und wühlte in seinen Taschen. Dann wandte er sich an den Wachposten. »Haben Sie vielleicht Zigaretten, Feng?« Der Wachmann fühlte sich unbehaglich. Keiner der anderen Polizeibeamten in dem Block hatte ihn je angesprochen, geschweige denn, dass einer von ihnen seinen Namen kannte. »Natürlich, stellvertretender Sektionsvorsteher«, gab er zur Antwort und zog eine fast volle Packung aus der Tasche. »Hier, nehmen Sie nur. Ich habe noch reichlich.« Li nahm die Schachtel und lächelte. »Ich bringe Ihnen heute Abend Ersatz mit.« »Das ist doch nicht nötig«, erwiderte der Wachposten. Li grinste. »O doch, das ist es. Mein Onkel hat mir immer eingeschärft, dass ein Mann mit Schulden ein Mann mit einer schweren Last ist. Also, bis heute Abend.« Er steckte sich eine Zigarette an, schwang sich aufs Fahrrad und folgte ahnungslos Margarets Taxi.
II Es war schon beinahe dunkel, als Margaret den bewachten Eingang zum Yi Ban, dem Gebäude Nr. 1 der amerikanischen Botschaft an der Guanghua-Straße passierte. Rechts von ihr befand sich der Block mit der Hauptverwaltung, dem Pressebüro und der Abteilung für kulturelle Angelegenheiten. Auf einem Flachdach ragte eine nach Südwesten ausgerichtete Parabolantenne empor. Geradeaus lag die Residenz des Botschafters, ein schlichtes zweistöckiges Gebäude mit einem braunen Ziegeldach. Das Gebäude stand am Ende einer
gepflasterten Auffahrt, die von makellos gepflegten Blumenbeeten und lautlos trauernden Weiden gesäumt war. An einem hohen Fahnenmast flatterten lustlos die Stars and Stripes im sanften Abendwind. Schon von der Straße aus hatte Margaret gehört, wie Klänge traditioneller chinesischer Musik träge aus der Residenz herüberwehten. Nun, da sie sich der roten Flügeltür an der Vorderseite des Hauses näherte, konnte sie durch das Lattengitter zu ihrer Rechten die Musiker – drei Männer und zwei Frauen – auf der festlich erleuchteten Terrasse spielen sehen. An der Tür wurde sie vom Botschafter und seiner Frau begrüßt. Die Gattin war eine stattliche, attraktive Frau von Mitte fünfzig. Margaret begegnete ihr zum ersten Mal, und der Botschafter übernahm die Vorstellung. »Ach ja«, erwiderte seine Frau und betrachtete Margaret neugierig. »Die Dame mit dem Reis. Ich habe schon so viel über Sie gehört.« Der Botschafter registrierte nicht nur Margarets Verlegenheit, sondern wusste wohl auch um ihre Unberechenbarkeit, darum führte er sie rasch in die Kühle des dunklen, marmorgefliesten Korridors. An dessen hinterem Ende wand sich eine mit grünem Teppich ausgelegte Treppe in den ersten Stock hinauf, wo sich die Privaträume der Botschafterfamilie befanden. Gleich linker Hand gab es eine Garderobe und ein Gästeschlafzimmer. Aus einem breiten rechteckigen Durchgang zu ihrer Rechten drangen laute, vom Alkohol beflügelte Stimmen, so als wären alle anfänglichen Hemmungen bereits hinuntergespült worden. Margaret war nicht zu früh gekommen. Von der Garderobe aus konnte sie beobachten, wie der Botschafter kurz auf seine Gattin einredete. Vielleicht machte er ihr klar, dass sie sich für die Frau eines Diplomaten eben äußerst undiplomatisch verhalten hatte. Was immer er auch sagte, es schien seine Gattin nur mäßig zu beeindrucken, denn sie rauschte in die Haupthalle zurück und mischte sich wieder unter ihre Gäste. Der Botschafter blieb stoisch zurück, nahm Margarets Arm und lotste sie über dicke, flauschige chinesische Teppichbrücken auf einen langen, mit Leuten überfüllten Festsaal zu. Sie kamen an einem quadratischen Raum auf der rechten Seite vorbei, in dem feudale, klassische chinesische Möbelstücke auf einen niedrigen, prunkvoll geschnitzten und mit Perlmutt eingelegten Tisch herabblickten. »Unser kleines Empfangszimmer speziell für chinesische Besucher«,
erklärte der Botschafter. »Sie haben es ausgesprochen gern, wenn wir ein wenig Wirbel um sie machen. Das gibt ihnen das Gefühl, Ehrengäste zu sein.« Der Festsaal war ein raffiniert ausgeleuchteter länglicher Raum mit Terrassentüren auf einer Seite und akkurat arrangierten Sitzgruppen. An den weißen Wänden hingen pastellfarbene Collagen aus Papier und Seide, an denen jeweils wie ein Pendel in Form von verschiedenfarbigen Glasscheiben ein altes Siegel baumelte. Der Botschafter registrierte Margarets Blick auf die Bilder. »Hergestellt auf handgemachtem Papier aus der meisterlichen Manufaktur in der Provinz Annhui. Arbeiten von Robert Rauschenberg.« Er lächelte wehmütig. »Aber leider nur Leihgaben, so wie die meisten Stücke in diesem Haus. ›Kunst in der Botschaft‹, ein Programm des Außenministeriums. Großartige Idee. Ein Jammer, dass wir sie irgendwann zurückgeben müssen.« Er winkte einen Kellner mit einem Tablett herbei. »Was möchten Sie trinken?« »Wodka Tonic mit Eis und Zitrone.« Der Ober nickte und verschwand. Offenbar hatte der Botschafter derweil ein verstecktes Zeichen gegeben, denn schon tauchte Sophie strahlend aus der Menge auf. »Hallo, schön, dass Sie es einrichten konnten.« »Ich werde es Sophie überlassen, Sie mit den anderen bekannt zu machen. Ich muss mich auch um die übrigen Gäste kümmern.« Lächelnd und mit einem kurzen Nicken ließ der Botschafter die beiden Frauen allein. Margaret war erleichtert. Etwas an seinem Verhalten bereitete ihr stets ein leichtes Unbehagen – vor allem weil sie das Gefühl hatte, dass ihm ihre Nähe Unbehagen bereitete. »Sind Sie hungrig?« Sophie steuerte bereits mit ihr im Schlepptau auf die andere Seite des Raumes zu. Durch einen weiteren Durchgang gelangten sie in das Esszimmer, das sich Tförmig an den Festsaal anschloss. Unter einem Regiment akkurat aufgereihter Fotos von Vasen und anderen Kunstgegenständen ächzte ein überlanger Tisch unter zahllosen Salaten und kalten Fleischplatten, aber auch Behältern mit leise köchelnden chinesischen Gerichten. Alles sah ausgesprochen köstlich aus; trotzdem hatte Margaret keinen rechten Appetit. »Vielleicht später«, sagte sie und sah sich nach dem Kellner und ihrem Drink um. Einige der Gäste waren durch die offenen Glastüren nach draußen auf die Terrasse gegangen, wo das Quintett zur Höchstform auflief. »Wer sind all diese Leute?« Sie fragte sich
langsam, warum sie eigentlich gekommen war. Keiner der Anwesenden sah auch nur entfernt so interessant aus, wie Sophie Michael Zimmerman beschrieben hatte, und nach seichter Konversation war ihr wirklich nicht zu Mute. »Also, da hätten wir zunächst einmal ein paar Leute von der Filmproduktion und einige Vertreter der Firmen, von denen die Serie gesponsert wird. Die Chinesen da drüben…«, sie nickte in Richtung eines verloren herumstehenden Grüppchens von Männern, die sich ganz offensichtlich unwohl in ihren Anzügen fühlten und ihre Weingläser hielten, als wüssten sie nichts damit anzufangen, »… kommen von den verschiedenen Ministerien, die die Dreharbeiten ermöglicht haben.« »Verzeihung. Ich glaube, das ist Ihrer.« Margaret fuhr herum und sah sich einem jungen Mann im dunklen Anzug gegenüber, der einen Wodka Tonic in der Hand hielt. »Ach, vielen Dank«, sagte sie und nahm ihm das Glas aus der Hand. »Es war mir ein Vergnügen«, erwiderte er und beugte sich an ihr vorbei zu Sophie hinüber. »Sophie, ich glaube, der Botschafter sucht nach Ihnen.« »Ach wirklich?« Sophie zog entschuldigend die Augenbrauen hoch und sagte zu Margaret: »Bin gleich wieder da!« Damit eilte sie davon. Margaret nahm einen tiefen Schluck von ihrem Wodka und bemerkte leicht irritiert, dass der junge Mann immer noch vor ihr stand. Er nestelte umständlich an seinem Kragen herum und fragte: »Sind diese Veranstaltungen nicht furchtbar?« »In der Tat«, antwortete sie leicht überrascht, »allerdings habe ich mir die Sache selbst eingebrockt. Sie werden wenigstens bezahlt.« Er sah sie befremdet an. »Wie meinen Sie das?« Sie verstand plötzlich gar nichts mehr und zeigte mit ihrem Glas auf ihn. »Nun, sind Sie denn nicht…? Haben Sie nicht…?« Sie hatte nicht den Mut, den Satz zu vollenden, und er lachte urplötzlich los. »Sie dachten, ich sei der Kellner?« Sein Gesicht leuchtete amüsiert auf, und seine dunklen warmen Augen blitzten fröhlich. »O Gott.« Margaret brachte nicht den Mut auf, ihn anzusehen. »Entschuldigen Sie bitte vielmals.« Doch als sie einen kurzen Blick riskierte, wurde ihr sofort klar, dass er sich nicht auf den Schlips getreten fühlte.
»Ich fürchte, ich habe mir die Sache ebenso selbst eingebrockt wie Sie.« Sein breites Lächeln wurde von Grübchen eingerahmt, und dichte Augenbrauen lagen unter seinem rötlich braun glänzenden Haar, das er von den Schläfen aus nach hinten gekämmt hatte. Margaret erkannte, dass er älter war, als sie zunächst angenommen hatte, Mitte, vielleicht sogar Ende dreißig. Eine kaum wahrnehmbare Spur von Grau durchzog seine Haare. »Der Kellner hat am anderen Ende des Saals nach Ihnen gesucht. Er sagte, er hätte sie zusammen mit Sophie gesehen, also habe ich ihm den Drink abgenommen, weil ich mir ausrechnete, dass ich Sie finden würde, wenn ich Sophie fände. Und so war es auch.« Margaret stand immer noch vor ihm wie ein begossener Pudel. »Es tut mir so Leid«, stammelte sie, da ihr nichts Besseres einfiel. »Das braucht es nicht. Es war ganz klar mein Fehler. Ich war so erpicht darauf, die Frau kennen zu lernen, die…«, er legte eine effektvolle Pause ein, »… meinen Arsch inspizieren wollte, dass ich völlig vergessen habe, mich vorzustellen.« Margaret spürte, wie ihr die Schamesröte ins Gesicht schoss. Er streckte ihr die Hand entgegen. »Michael Zimmerman.« Es war eine der wenigen Gelegenheiten in Margarets Leben, in der es ihr absolut die Sprache verschlug. Sie schüttelte ihm die Hand und kam sich dabei vor wie eine Vollidiotin. Woher zum Teufel wusste er von ihrer Unterhaltung mit Sophie? Wie hatte sie ihn für einen Kellner halten können? Sie wusste nicht, was ihr peinlicher war. Seine lächelnden Augen fixierten sie unerbittlich. Am liebsten wäre sie spurlos im Boden versunken, doch sie fing sich gerade noch rechtzeitig. »Ehrlich gesagt, damit ich irgendwas an Ihnen inspiziere, müssten Sie schon auf meinem Seziertisch liegen.« »Ah, richtig«, stellte er fest, »Sophie hat es mir erzählt. Sie und ich, wir beschäftigen uns beide mit dem Tod.« »Ach wirklich?« »Sie schneiden sie auf, ich buddle sie aus.« Margaret fixierte ihn mit einem stählernen Blick. »Und dabei nehmen Sie mich gleich mit auf die Schippe, stimmt’s? Als ich meinen Drink bestellt habe, war Sophie noch gar nicht aufgetaucht. Wer ist sie überhaupt, Ihre kleine Schwester?« »Beinahe«, gab Michael zur Antwort. »Sie ist mit meiner kleinen Schwester zur Schule gegangen. Seit sie drei und ich fünfzehn war, ist sie in mich verknallt.« Er nahm ein Glas Rotwein vom Tisch und gönnte sich einen Schluck. »Sie war der Ansicht, Sie könnten etwas
Aufmunterung gebrauchen.« »Ach ja?« Margaret war sich nicht sicher, ob es ihr gefiel, so Mitleid erregend zu wirken. »Seien Sie nicht zu streng mit ihr. Sie ist ein braves Mädchen. Aber auch ausgebufft.« Er trank erneut einen Schluck Wein. »Sie konnte einfach nicht fassen, dass Sie nicht wissen, wer ich bin.« »Und Sie konnten es vermutlich genauso wenig fassen. Muss ja ein ziemlicher Schlag für Ihr Promi-Ego gewesen sein, dass nicht jeder auf der Welt Sie kennt.« »Hey…«, Michael grinste. »Sie brauchen nicht gleich zickig zu werden. Ich habe Sophie erklärt, dass ich bei ihrem Kinderstreich nur mitspiele, wenn Sie absolut hinreißend sind.« Unwillkürlich musste Margaret lächeln. »Ach ja?« »Also habe ich abgewartet, bis Sie hereinkamen und…« »Und was?« »Und dann habe ich mir gedacht, dass jemand, der so beschissen aussieht, unbedingt etwas Aufmunterung brauchen kann.« Margaret lachte und musste sich zu ihrer Überraschung eingestehen, dass sie ihn attraktiv fand. Eine irritierende Erkenntnis. War sie wirklich anfällig für die gleichen stereotypen Männer, auf die auch die Leserschaft von Cosmopolitan ansprang? Ein schrecklicher Gedanke. Aber andererseits, tröstete sie sich, hatte wohl kaum eine Cosmopolitan-Leserin Michael Zimmerman je leibhaftig erlebt. Schließlich fand Margaret den Mann attraktiv, nicht seinen Ruf. Außerdem hatte sie keine vorgefasste Meinung von ihm, die durch seine Medienpräsenz geprägt war. Sie hatte ihn für den gottverdammten Kellner gehalten! Und schließlich und endlich war es schon eine Ewigkeit her, dass sie sich einen kleinen, harmlosen Flirt gegönnt hatte. »Ich hätte es eigentlich merken müssen«, sagte sie. »Ein echter Kellner hätte mehr Stil gehabt.« »Hundertprozentig«, bestätigte Michael. »Schließlich werfen mir meine Kritiker genau das vor. Mangelnden Stil. Sie wissen schon, jenes versnobte, elitäre Auftreten, dem es zu verdanken ist, dass archäologische Dokumentationen normalerweise ausschließlich auf irgendwelchen dubiosen Kabelsendern laufen, wo sie höchstens von einer Hand voll Leute gesehen werden.« »Autsch«, frotzelte Margit, »ich werde doch nicht zufällig meinen Finger auf eine offene Wunde gelegt haben?« »Nein«, antwortete er lächelnd. »Sie haben einen ganzen Salzstreuer reingekippt. Gerade erst hat mich der Fernsehkritiker der
New York Times in der Luft zerrissen, weil er der Ansicht ist, ich würde die Menschheitsgeschichte auf das Niveau einer Seifenoper herunterzerren.« »Und – tun Sie das?« »Nun ja, wahrscheinlich hat er gar nicht so Unrecht.« Michael nickte. »Nur lässt der Kerl dabei völlig außer Acht, dass eine gute Seifenoper von gut erzählten Geschichten lebt und dass sich in der Menschheitsgeschichte Unmengen von fantastischen Geschichten finden, die nur darauf warten, erzählt zu werden. Ich meine, Sie sind doch forensische Pathologin, nicht wahr?« Margaret nickte. »Also versteht das niemand besser als Sie. Jedes Verbrechen hat seine eigene Geschichte, eine Vielzahl von Motiven ist denkbar – Habgier, Geilheit, Eifersucht… Und es ist Ihr Job, zunächst alle Schichten abzutragen, die den Blick auf die wahre Geschichte verstellen, um dann Stück für Stück die Spur der Beweise zu rekonstruieren, die letztendlich zur Wahrheit führt.« Margaret lachte. »Aus ihrem Mund klingt das richtig aufregend. Glauben Sie mir, die meiste Zeit ist es ein ziemlich öder Job.« Er wirkte plötzlich angespannt, als versuche er etwas zu fixieren, das ihm vor Augen stand und dessen Beschreibung seine ganze Aufmerksamkeit erforderte. »Aber natürlich. Es ist ein beschwerlicher, mühsamer Prozess, der schier unendliche Geduld erfordert – sowie eine klare Vorstellung davon, wo er schließlich hinführen soll. Aber die Wahrheit an sich ist niemals langweilig – jene einzigartige Mischung aus menschlicher Leidenschaft und Elend, vielleicht sogar Finsternis, die dazu führt, dass ein Verbrechen begangen wird. Verstehen Sie, was ich meine?« Margaret schüttelte den Kopf. Sie hatte keine Ahnung, worauf er hinauswollte. »Leider nein.« »Ich rede von dem, was ich tue«, sagte er. »Im Grunde tue ich das Gleiche wie Sie. Nur darum geht es in der Archäologie. Die Schichten abzutragen – für gewöhnlich die der Zeit – und Beweise aufzudecken, all die winzigen Anhaltspunkte, die uns die Geschichte hinterlassen hat, bis man schließlich die Wahrheit ans Licht bringt. Und diese Wahrheit kann einzigartig sein. Spannend und emotional, das ganze Spektrum menschlicher Leidenschaften und Schwächen abdeckend, alles, was Sie auch als Motiv in Ihren Kriminalfällen finden. Warum sollte ich diese Geschichten nicht erzählen? Es sind gute Geschichten. Eine gute Geschichte ist es immer wert, erzählt zu werden. Und wenn man sie gut erzählt, wird man auch ein Publikum
dafür finden.« Er hielt unvermittelt inne, als hätte ihn sein Gefühlsausbruch überrascht und verunsichert. Margaret zuckte mit den Achseln. »Kurz gesagt kann sich der Fernsehkritiker der New York Times sein Geschreibsel also in den Arsch schieben?« Es dauerte einen Augenblick, doch dann brach Michael in Lachen aus, ein ungehemmtes und ansteckendes Lachen. »Warum ist mir das nicht selbst eingefallen? Dann hätte ich mir die ganze heiße Luft schenken können.« Doch möglicherweise hatte Margaret in der »heißen Luft« einen kurzen Blick auf das erhascht, was diesen Mann auf dem Bildschirm so erfolgreich machte: Seine Leidenschaftlichkeit und seine Persönlichkeit zwangen dazu, ihm zuzuhören, seinen Geschichten zu lauschen, und zwar so intensiv, dass es, wie Margaret schwante, auf Dauer ermüdend werden konnte. Wobei man Michaels Humor als mildernden Umstand geltend machen konnte. Seinen Humor und seinen tollen Arsch. Er leerte sein Glas, schnappte sich ein volles und nickte in Richtung Terrasse. »Wollen wir ein wenig rausgehen? Hier drin ist es ein bisschen stickig.« Sie schlenderten über die Marmorfliesen durch die Glastüren hinaus auf die Terrasse. Hier war es merklich kühler, und eine schwache Brise wisperte in den Blättern der Weide, die tagsüber wahrscheinlich dringend benötigten Schatten spendete. »Zwei Monde haben wir heute Abend«, sinnierte Michael. Margaret sah zum Firmament auf, konnte aber nichts hinter dem dichten Schleier aus Wolken und Luftverschmutzung erkennen. Er lächelte angesichts ihrer offenkundigen Verwirrung und deutete zum anderen Ende der Terrasse, wo das Quintett in sein Spiel vertieft war. Dann beugte er sich vertraulich zu ihr herüber. »Die beiden gitarrenähnlichen Instrumente mit den kreisförmigen Klangkörpern – sie werden Ruans oder manchmal auch ›Mondgitarren‹ genannt. Sehen Sie genau hin, dann wissen Sie, warum.« Tatsächlich war hier draußen auf der Terrasse besonders gut zu erkennen, wie sich das Licht der dezent aufgehängten Laternen in dem blassen Holz der makellos abgerundeten Klangkörper brach, sodass es unzweifelhaft so aussah, als würden sich zwei Monde im Takt der Musik wiegen. Der Vergleich gefiel ihr. Er hatte etwas Heiteres an sich. Sie leerte ihren Wodka. »Soll ich Ihnen noch einen holen?«, fragte Michael.
»Nein danke. Dann würde ich mir doch nur einen ansaufen.« Sie verstummte verlegen und fügte dann rasch hinzu: »Davon abgesehen, sind die Kellner hier nicht sonderlich auf Trab.« Er lächelte, hatte aber die Melancholie aus ihren Worten herausgehört, was ihr gar nicht recht war. »Sie haben ein paar anstrengende Monate hinter sich«, wollte er sie trösten. Der Blick, den sie ihm zuwarf, war eher misstrauisch als feindselig. »Sie wissen natürlich alles darüber.« Er zuckte mit den Achseln. »Nein. Im Grunde weiß ich nur, dass Sie die Frau sind, die in den Medien die Schauergeschichten über genetisch verseuchten Reis verbreitet hat.« »Das waren keine Schauergeschichten«, erwiderte sie entrüstet. »Hey!« Er hob abwehrend die Hände. »Ich weiß nicht, wie Sie das sehen, aber ich finde die Behauptung, die halbe Menschheit sei in Lebensgefahr, ziemlich schaurig.« Sie zeigte sich nachgiebig und rang sich ein halbherziges Lächeln ab. »Wir mussten das Schlimmste befürchten. Sie sollten froh sein, dass es nicht so weit gekommen ist. Und Sie sollten die Sache auch nicht auf die leichte Schulter nehmen. Zugegeben, nicht der ganze Reis war mit dem Virus verseucht, und Gott sei Dank hat sich auch herausgestellt, dass eine Menge Leute immun gegen das Virus sind. Trotzdem sind noch immer Millionen von Menschen in Gefahr.« »Ich habe gelesen, dass es bald ein Mittel gegen das Virus geben wird.« »Tja, wollen wir hoffen, dass das stimmt.« Ein Augenblick schwiegen sie betreten. Dann sagte Michael: »Also ist es wohl Ihre Schuld, dass wir nur noch diese verdammten Nudeln zu essen bekommen. Mein lieber Mann, damit haben Sie sich bei den Chinesen bestimmt unglaublich beliebt gemacht.« Sie grinste verlegen. »In ein paar Wochen wird die erste neue Ernte eingefahren. Man hat einfach auf das frühere natürliche Saatgut zurückgegriffen. Die Chinesen können dreimal pro Jahr ernten, also werden sie schon bald ihren kostbaren Reis wiederhaben.« Danach standen sie schweigend da und lauschten den fremdartigen Klängen der traditionellen chinesischen Musik, dem Klagen der zweisaitigen Erh-hu-Geige, dem sehnsüchtigen Hauch der lila Bambusflöte, den beiden tanzenden Monden und dem vibrierenden Ton des Hackbretts. Margaret wusste nicht, was sie sagen sollte. Eben hatte sie mit einem einzigen Satz die letzten drei
Monate ihres Lebens abgetan, ganz locker, als ob nichts davon wirklich von Bedeutung gewesen wäre. Obwohl Michael einfach nur neben ihr stand, fühlte sie sich von seiner rein körperlichen Präsenz wie gebannt. Sie verstand nicht, wie sie sich zu diesem Mann hingezogen fühlen konnte, während sie immer noch an der Beziehung zu Li laborierte. Der Gedanke war beinahe erschreckend. Dann fiel ihr etwas ein, das man für gewöhnlich lieber verdrängt – dass es so etwas wie einen harmlosen Flirt nicht gibt. »Ich sollte jetzt gehen«, hörte sie sich sagen. »Aber Sie sind doch gerade erst gekommen.« »Mag sein, aber das ist Ihre Party. Ich möchte Sie nicht die ganze Zeit in Beschlag nehmen.« »Sie dürfen mich jederzeit in Beschlag nehmen.« Sie sah ihn an, weil sie ein Lächeln erwartete, doch er lächelte nicht, woraufhin sie ein ängstliches Flattern spürte, so als hätte sich ein Schmetterling in ihrer Brust verfangen. Doch dann merkte sie, wie er sich wieder entspannte. »Hören Sie, warum kommen Sie nicht morgen zu unseren Außenaufnahmen? Wir drehen ein paar Spielszenen bei den MingGräbern. Nur eine Stunde außerhalb von Peking.« »Tut mir Leid, aber das wird nicht möglich sein«, erwiderte sie. »Ich fliege morgen Früh ab.« Er runzelte die Stirn. »Wohin fliegen Sie?« »Nach Hause«, war die schlichte Antwort. Er schien verwirrt. »Und wo ist das?« »In Chicago.« »Und wann kommen Sie zurück?« »Nie«, hörte sie sich sagen, und die Endgültigkeit in diesem Wort traf sie wie ein Schlag, der sie augenblicklich zur Besinnung brachte. »Ich muss jetzt wirklich gehen.« »Na, wie kommt ihr beiden denn zurecht?« Wie ertappt drehten sich beide zu Sophie um, die eben auf der Terrasse erschien. »Du hast mir nicht erzählt, dass sie morgen abreisen will«, sagte Michael beinahe vorwurfsvoll. Er wandte sich wieder an Margaret: »Und wir sind einander noch nicht einmal ordentlich vorgestellt worden.« »Das ist wahrscheinlich nur gut so«, erwiderte Margaret. »Wer nicht hallo sagt, muss auch nicht Lebwohl sagen.« Sie sah Sophie an. »Vielen Dank für die Einladung. Es hat mir gut gefallen. Aber ich muss noch packen.« Nach einem gezwungenen Lächeln und einem
knappen Nicken bahnte sie sich einen Weg durch den Speisesaal, zwängte sich durch die Gäste in dem vollen langen Festsaal, holte ihre Sachen aus der Garderobe und hastete durch die großen roten Türen hinaus, die Treppe hinunter und in die abendliche Kühle. Auf der Straße hielt sie an und atmete tief durch. Die Musik war nur noch als fernes Klimpern zu hören. Um Fassung ringend, stützte sie sich mit der Hand an einer Mauer ab. Es war das erste Mal seit allzu langer Zeit gewesen, dass sie mit dem wirklichen Leben, dem Alltag in Berührung gekommen war. Und das Gefühl war ihr viel zu schnell zu Kopf gestiegen, fast wie der erste Zug an einer Zigarette nach Jahren der Abstinenz. Sie würde sich ganz behutsam wieder daran gewöhnen müssen.
III Er hörte Margaret um Hilfe rufen. In langen, durch Mark und Bein gehenden Schreien. Sehen konnte er sie nicht – nur einen kurz aufzuckenden Lichtschimmer irgendwo jenseits dieser Dunkelheit, in der er gefesselt war wie in einem Spinnennetz aus unsichtbaren, klebrigen Fäden. Die Pein in ihrer Stimme ging ihm an die Nieren, doch er wusste, dass er nicht zu ihr gelangen konnte, dass er ihr nicht helfen konnte. Plötzlich schoss er hoch und saß kerzengerade und schweißgebadet auf den zerwühlten Laken seines Bettes. Penetrant bohrte sich das nicht endende schrille Klingeln des Telefons im Wohnzimmer in sein Bewusstsein. Er hechtete aus dem Bett und war schon halb durch den Flur, um an den Apparat zu kommen, bevor das Läuten seinen Onkel aufwecken konnte, als ihm einfiel, dass Yifu tot war. Die Erinnerung traf ihn wie ein Magenschwinger, quälend und Übelkeit erregend. Er hätte am liebsten aufgeschrien vor Schmerz. Atemlos polterte er ins Wohnzimmer, wo er im Dunkeln gegen den winzigen Telefontisch rumpelte. Das Telefon schepperte über den Linoleumboden davon, und der Hörer fiel von der Gabel. Aus der Dunkelheit konnte er eine fremde, körperlose Stimme vernehmen. »Wei… Wei…« Nackt tastete er sich über den Fußboden und bemühte sich, im Schein der Straßenlaternen etwas zu erkennen, bis er schließlich den Hörer fand. »Li Yan.«
»Stellvertretender Sektionsvorsteher, hier spricht der Dienst habende Beamte in der Beixinqiao Santiao. Es hat einen weiteren Mord gegeben.« Li hatte inzwischen den Rest des Telefons aufgesammelt und eine Lampe neben dem Sofa eingeschaltet. Er plumpste in die Polster und warf einen Blick auf die Uhr. Es war vier Uhr morgens. »Wieder eine Enthauptung?« »Jawohl, Chef.« »Wo?« »Eine Wohnung im Bezirk Chaoyang. Tuan-Jie-Hu-Straße Nr. 7, vierter Stock.« »Wen haben wir dort draußen?« »Kommissar Qian ist vor ein paar Minuten losgefahren. Soll ich Ihnen einen Wagen schicken?« »Nicht nötig, mit dem Fahrrad geht es genauso schnell. Ich bin schon unterwegs.« Mit hämmerndem Herzen legte Li auf und blieb einen Moment reglos sitzen. Noch ein Mord. Er fühlte sich hundeelend. Dann rätselte er, ob er sich wohl je daran gewöhnen würde, dass sein Onkel nicht mehr lebte. Jene sanfte Stimme, die so viel Gelassenheit und gesunden Menschenverstand ausgestrahlt hatte, die Weisheit und der scharfe Intellekt, die alles überstiegen, was Li je für sich erhoffen konnte. Energisch rieb er sich übers Gesicht, um den Schlaf wegzuwischen und die düstere Wolke zu vertreiben, die sich über ihn senkte, wann immer er an Yifu dachte. Er wünschte, er würde an Geister glauben. Er wünschte, Yifu würde als Gespenst zurückkehren und nicht mehr ausschließlich in Lis Kopf und seiner Erinnerung existieren. Und doch war ihm klar, dass ein Teil seines Onkels in ihm weiterlebte. Immer noch musste er sich vor ihm verantworten, immer noch wurden die höchsten Erwartungen an ihn gestellt. Es war schon zu Yifus Lebzeiten schwer genug gewesen, in die Fußstapfen des angesehensten Polizeibeamten von Peking zu treten. Nun, da er gestorben war, war es noch viel schwerer. Li kehrte ins Schlafzimmer zurück und zog Jeans, Turnschuhe und ein weißes T-Shirt an. Zum Abschluss holte er seine schwarze Lederjacke aus dem Kleiderschrank und vergewisserte sich, dass er Zigaretten und das kastanienbraune Etui mit seinem Dienstausweis dabeihatte. Er zündete sich eine Zigarette an, die allerdings so abscheulich schmeckte, dass er das Gesicht verzog. Nach kurzem Zögern betrat er auf eine unbestimmte Eingebung hin das
Schlafzimmer seines Onkels. Er hatte alles genauso belassen wie zu Lebzeiten des alten Mannes. Seine persönlichen Dinge lagen akkurat aufgereiht auf der Kommode, an der Wand hingen Fotografien. Eine Aufnahme zeigte den jungen Polizeibeamten Yifu im Jahr 1950 vor dem Aufbruch in Richtung Tibet; eine zweite Yifu und seine Frau – die Tante, die Li nie gekannt hatte; eine weitere Yifu während des Banketts anlässlich seiner Pensionierung, mit einem breitem Grinsen auf dem runden Gesicht unter dem schwarz gelockten Wuschelkopf. Die sonst so klar strahlenden Augen wirkten glasig – er hatte bei weitem zu viel Bier getrunken. Lächelnd strich Li über das Bild, als könne er durch die Berührung irgendwie mit dem Onkel im Jenseits in Verbindung treten. Doch die Finger spürten nur Glas, kaltes, lebloses Glas. Er drehte sich rasch um, löschte das Licht und stürmte aus der Wohnung. Der Wachposten der Nachtschicht nickte ihm zu, als Li sein Fahrrad hinaus auf die Zhengyi-Straße schob und dann nach Norden auf den östlichen Chang’an-Boulevard zuradelte. Um diese Zeit gab es kaum Verkehr, nur ein paar Privatautos und gelegentlich eine Kolonne mächtiger rumpelnder Lastwagen, die Kohle von den Gruben nördlich der Stadt nach Süden transportierten. Es waren so gut wie keine anderen Radfahrer unterwegs, darum hatte Li die Fahrradspur praktisch für sich allein. Mit kräftigen Tritten radelte er durch das gesprenkelte Licht der Straßenlaternen hinter den Bäumen. Um diese Zeit waren die meisten der Neonlampen und bunten Strahler, die abends so viele der neuen Gebäude erhellten, abgeschaltet. Es war die schwärzeste Stunde der Nacht, und Li versuchte angestrengt, die schwärzesten Gedanken aus seinem Gemüt zu verbannen. Dies war die vierte Enthauptung in einer Reihe von Serienmorden, den ersten überhaupt seit Menschengedenken in Peking. Vier Morde in ebenso vielen Wochen. Tötungen, die blutigen Hinrichtungen glichen und immer nach demselben bizarren Ritual ausgeführt wurden, dessen eiskalte Berechnung und vorsätzlicher Charakter frösteln ließen. Er wusste, welches Szenario ihn erwarten würde, und versuchte jeden Gedanken daran zu verdrängen. Er hatte es in seinem Leben schon mit vielen Mordopfern zu tun gehabt, auch den Opfern tödlicher Unfälle in zahllosen Variationen, doch nie zuvor hatte er so viel Blut gesehen. Es war fast nicht zu glauben, dass der Körper so viel davon enthielt. Wenn es noch dazu frisch mit Sauerstoff in Berührung gekommen
war, wodurch das Rot noch kraftvoller wirkte, war der Anblick absolut schockierend. Li fuhr unter der Straßenüberführung der zweiten Ringstraße hindurch und dann weiter nach Osten, vorbei am CITIC-Gebäude und dem chinesischen World Trade Center, bevor er wieder Richtung Norden in die dritte Ringstraße einbog. In ein, zwei Stunden würde die Stadt erwachen, und Radfahrer mit verquollenen Augen würden auf dem Weg zur Arbeit die Fahrradspuren verstopfen. Der Verkehr würde immer dichter werden, bis um acht Uhr praktisch alle Hauptschlagadern der Stadt blockiert waren; in endlosen Kolonnen würden die frustrierten Autofahrer zu hupen beginnen und den Motor aufheulen lassen, und dreckige, ungefilterte Abgasschwaden würden in die ohnehin vergiftete Atmosphäre aufsteigen. In Peking war das Rad fahren schon längst kein Vergnügen mehr. Aber noch lag die dritte Ringstraße gottverlassen da; so weit Li blicken konnte, war kein einziges Fahrzeug und auch kein Radfahrer unterwegs. Er hätte fast glauben können, alleine in der Stadt zu sein. Bis er nach Osten in die Tuan-Jie-Hu-Straße einbog und in knapp zweihundert Meter Entfernung auf dieser sonst so abgeschiedenen dreispurigen Straße eine Menge von einigen hundert Menschen erblickte, die sich vor dem Haus Nr. 7 rund um eine Phalanx von am Straßenrand abgestellten Einsatzfahrzeugen der Polizei und des kriminaltechnischen Dienstes versammelt hatte. Es waren Anwohner, die durch die Sirenen von Polizei und Rettungsdienst aus dem Schlaf gerissen worden waren. Hastig angekleidete Gestalten, etliche davon noch in Hausschuhen, standen dicht gedrängt um die Einsatzfahrzeuge, verquollene Augenpaare unter zersaustem Haar bemühten sich nach Kräften, einen Blick auf das Geschehen zu erhaschen. Ein Kontingent uniformierter Beamter, das zum Ordnungsdienst eingeteilt worden war, errichtete bereits die ersten Absperrungen. Die ganze Zeit über strömten immer mehr Menschen aus den Höfen der Mietskasernen herbei. Li musste sich mit Gewalt einen Weg zu den Absperrungen bahnen, wo ihn ein abweisender junger Beamter in Uniform um keinen Preis durchlassen wollte, ehe er seinen Dienstausweis gezückt hatte. Ein weiterer Beamter, diesmal einer, den Li kannte, stand am Eingang zum Hof Wache. »Wo finde ich Kommissar Qian?«, fragte Li. Der Beamte deutete mit einer knappen Daumenbewegung über die Schulter. »Die Treppe rauf. Vierter Stock.«
Die Mauern des Hofes waren ramponiert und schmutzig. Vermutlich waren sie kein einziges Mal gestrichen worden, seit man diese Wohnungen in den Siebzigerjahren erbaut hatte. Im Treppenhaus roch es schwach nach Urin. Auf jedem Treppenabsatz machten sich verrostete Fahrräder den knappen Platz streitig, und die Wohnungstüren waren mit Stahlgittern versperrt. Li nahm beim Hochsteigen zwei Stufen auf einmal. Auf dem vierten Treppenabsatz standen einige Uniformierte und rauchten, während ein paar Kriminalbeamte mit weißen Handschuhen am Geländer lehnten und ihm beim Hinauflaufen zuschauten. Aus der Wohnung drang helles Licht. Mit einem grimmigen Nicken zwängte sich Li durch die Tür, an einer winzigen Küche zu seiner Linken und einer Toilette rechter Hand vorbei. In einem Schränkchen gleich neben der Küche standen ein paar abgetretene Gummisandaletten – offenbar hatte man in pingeligeren Zeiten beim Heimkommen das Schuhwerk gewechselt. Dahinter schloss sich ein schmales Zimmer mit Einbauschränken an der Rückwand an. Ein Tisch war übersät mit Zeugnissen des täglichen Lebens: Zeitungen, Zigaretten, ein überquellender Aschenbecher und schmutzige Teller, zum Abräumen bereit. Zur Linken führte eine Glastür in ein Schlafzimmer, das vom Licht der Straßenlaternen erhellt wurde. Rechts gab es ein winziges Wohnzimmer mit Sofa, Fernsehapparat und einer Fliegentür, die auf einen verglasten Balkon hinausging. Tabak- und Küchengerüche hingen in der abgestandenen Luft, vermischt mit einem kaum wahrnehmbaren Hauch nach etwas eigenartig Scharfem, beinahe Süßlichem, das Li nicht einzuordnen vermochte. Die Leiche lag im Wohnzimmer. Li roch das Blut, noch bevor er die kauernde Gestalt der umgekippten, kopflosen Leiche sah. Der Kopf lag etwa einen halben Meter entfernt auf der Seite, mit starr auf Li gerichtetem Blick. Ein unerwarteter Blitz aus der Kamera des Polizeifotografen brannte die Szene in Lis Gedächtnis ein und tauchte dabei die riesige Blutlache in ein leuchtendes Rot. Kommissar Qians hageres Gesicht schob sich in sein Blickfeld. Er nickte finster. »Genau das Gleiche wie bei den anderen, Chef.« Qian war fast zehn Jahre älter und um einiges erfahrener als Li. Allerdings fehlten ihm Lis feines Gespür und seine Fantasie, was den Ausschlag dafür gegeben hatte, dass man ihm den dreiunddreißigjährigen Li vor die Nase gesetzt hatte. Doch Qian verübelte ihm das nicht. Er kannte seine Grenzen und vermochte die
Fähigkeiten anderer richtig einzuschätzen. Er war absolut vertrauenswürdig, und Li verließ sich ganz und gar auf ihn. Darüber hinaus war Qian völlig offen und direkt. Falschheit war ihm fremd. Bei ihm brauchte Li nicht mit Überraschungen zu rechnen und keine Missverständnisse zu fürchten. »Lassen Sie uns hier klar Schiff machen, sobald der Fotograf fertig ist«, sagte Li. »Hier sind viel zu viele Menschen.« »Allerdings. Ich glaube, er ist schon fast fertig. Der Arzt wird die Leiche jetzt untersuchen.« Qian begann augenblicklich damit, die Leute aus der Wohnung zu treiben. Dr. Wang Xing, der Dienst habende Pathologe vom kriminaltechnischen Dienst in der Pao Jü Hutong, hatte sich über die Leiche gebeugt. Er hatte eine nicht angezündete Zigarette zwischen die zusammengekniffenen Lippen geklemmt und Blut an seinen Handschuhen. Im Aufstehen streifte er die Handschuhe langsam ab, bevor er behutsam über ein Stück des Fußbodens stieg, an dem das Linoleum abgezogen und ein Dielenbrett angehoben worden war. Auf dem Weg zum Flur umging er erst die große Blutlache, die zum Teil in dem Loch im Boden versickert war, und dann die typischen Spritzspuren des aus den Halsschlagadern herausschießenden Blutes. Die Zigarette war an seinen Lippen kleben geblieben, weshalb er sie vorsichtig abschälte und grinste. »Wenn du den Kopf bewahrst, ob rings die Massen ihn auch verlieren und nach Opfern schrein…« »Rudyard Kipling«, stellte Li fest. »Aha«, sagte Wang. »Ein Literat.« »Mein Onkel besaß einen Gedichtband von ihm.« »Aber ja, natürlich… selbstverständlich hatte er einen, nicht wahr?« Der Pathologe sang es beinahe, während er seine blutverschmierten Handschuhe in einem Plastikbeutel verschwinden ließ. »Sie müssen diesen Kerl bald erwischen, Li. Sonst ist irgendwann Ihr Kopf dran.« Er kramte ein Feuerzeug aus seiner Tasche. »Hier drin wird nicht geraucht«, mahnte Li. »Ich nehme an, die Frage nach der Todesursache erledigt sich von selbst?« Der Pathologe zuckte gleichgültig mit den Achseln und steckte das Feuerzeug wieder in die Tasche. »Also, es ist ziemlich offensichtlich, dass ihm jemand den Kopf abgehackt hat. Nicht ganz so sauber wie bei den bisherigen Opfern – aber es wäre durchaus möglich, dass seine Klinge allmählich ein wenig stumpf wird.« Li ging nicht auf die Stichelei ein. »Was den Blutverlust betrifft, so
kann man meiner Meinung nach mit Sicherheit davon ausgehen, dass sein Herz zum Zeitpunkt des Hiebes noch geschlagen hat. Kurz und gut, ich würde einen Haufen Geld darauf verwetten, dass der Tod durch die Enthauptung eingetreten ist.« »Aber nur«, merkte Li an, »falls sich die Regierung jemals dazu durchringen sollte, das Glücksspiel zu legalisieren.« Der Pathologe lächelte. Seine Sucht nach Kartenspielen und Mah Jong war allgemein bekannt. »Ich habe das natürlich nur in übertragenem Sinne gemeint.« »Natürlich«, erwiderte Li. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn in der Pao Jü Hutong je nach Ergebnis einer Autopsie Gelder den Besitzer wechselten. »Wann ist der Tod eingetreten?« »Ach, das ist nun wirklich ein Lotteriespiel«, erklärte Wang. »Nun, dann nehmen wir Ihre beste Schätzung.« Der Pathologe kratzte sich nachdenklich am Kinn. »Es dauert etwa zwölf Stunden, bis die Totenstarre ganz eingetreten ist. Er ist noch nicht ganz so weit. Vielleicht… ungefähr neun Stunden.« Wang schaute auf seine Uhr. »Sagen wir… acht oder halb neun Uhr gestern Abend, plus/minus zwei bis drei Stunden.« Er wedelte mit der Zigarette in Lis Richtung. »Ich bin draußen beim Rauchen, falls Sie mich noch brauchen sollten.« Dann zwängte er sich hinaus auf den Treppenabsatz. Li trat vorsichtig ins Wohnzimmer und betrachtete das Szenario. Qian wich ihm nicht von der Seite. Die Leiche war aus einer knienden Haltung nach vorne gefallen und anschließend zur Seite gekippt, sodass die endgültige Lage unangenehm an einen Fötus erinnerte. Nur dass die Arme auf den Rücken gezerrt und an den Handgelenken gefesselt worden waren. Li ging in die Hocke, um sich die Sache genauer anzusehen. Eine Seidenkordel. Genau wie bei den anderen. Als er aufstand und langsam um die Leiche herumging, sah er, dass die Augen des körperlosen Kopfes ihn anstarrten. Er wurde das irritierende Gefühl nicht los, dass sie ihm folgten, solange er den Raum durchmaß. Schließlich wandte er das Gesicht ab, wobei sein Blick auf ein ehemals weißes Plakat fiel, das zur Hälfte in der größten Blutlache lag. Die Schnur, mit der es dem Opfer um den Hals gehängt worden war, war durchtrennt und hatte sich dunkelrot verfärbt. Behutsam hob Li eine nicht mit Blut verschmierte Ecke des Plakats an und warf einen Blick auf die Schriftzeichen, die mit roter Tinte auf die andere Seite gekrakelt worden waren. Ein Spitzname, »Wühler«, war dort
kopfüber zu lesen und kreuzweise wieder ausgestrichen worden. Darüber befanden sich drei waagrechte Striche. Die Nummer drei. Alles wie gehabt. Als Li aufstand und sich im Zimmer umsah, hatte er das Gefühl, dass hier irgendetwas nicht stimmte. Es gab ein Sofa, einen Tisch mit Lampe und ein Fernsehschränkchen mit einem kleinen Apparat darauf. Aber keinen Krimskrams, keinen persönlichen Dinge, keine Zeitungen, keine Briefe. Sorgfältig suchte Li sich einen Weg um die Leiche herum und stellte fest, dass der Papierkorb neben dem Fernsehschränkchen leer war. Er öffnete das Schränkchen. Nichts. »Was ist los, Chef?«, wollte Qian wissen. Li ging hinaus in den Essbereich und öffnete die Einbauschränke an der Rückwand. Er fand ein, zwei Jacken, eine Hose und zwei Paar Schuhe. Es waren große Schränke, doch sie waren praktisch leer. »Wissen wir schon, wer er ist?«, fragte Li, während er in die Küche weiterging. »Wir arbeiten noch dran, Chef«, antwortete Qian. »Die Wohnung ist in Privatbesitz. Der Kerl hat seit ungefähr drei Monaten hier gewohnt, aber keiner der Nachbarn hat ihn gekannt. Sie haben ihn so gut wie nie gesehen.« »Was ist mit dem Straßenkomitee?« »Die wissen auch nichts. Da er die Wohnung nicht von seinem Danwei hat.« Li verfluchte den Trend zur Privatisierung von Wohnungseigentum. Es mochte ja durchaus erstrebenswert für die Menschen sein, eine eigene Wohnung zu besitzen, aber es brachte die traditionellen Fundamente der chinesischen Gesellschaft zum Einsturz. Die jeweiligen Enden des neuen ökonomischen Spektrums, der Besitz von Wohneigentum und die Arbeitslosigkeit, trugen dazu bei, dass eine wachsende unregistrierte, mobile Bevölkerung heranwuchs, in der sich die Spur des Einzelnen weitgehend verlor. Wie sich immer deutlicher herausstellte, war sie eine Brutstätte des Verbrechens. Li riss die Küchenschränke auf. Abgesehen von ein paar Dosen und einigen Packungen mit getrockneten Nudeln waren sie genauso leer wie alle anderen. »Wer hat Alarm geschlagen?« »Das Paar aus der Wohnung direkt darunter.« Qian zog das Gesicht in Falten. »Der Mann ist aufgewacht und hat festgestellt, dass seine Bettdecke klatschnass ist. Im ersten Moment dachte er, er hätte im Schlaf ins Bett gepinkelt. Aber nur, bis er das Licht
angemacht hat. Das Laken ist knallrot. Er fängt an zu schreien, weil er glaubt, es wäre sein Blut. Seine Frau wacht auf und fängt ebenfalls an zu schreien. Dann sieht sie den riesigen roten Fleck an der Decke, aus dem das Blut tropft. Sie sind beide ziemlich durch den Wind.« Er folgte Li ins Schlafzimmer und sah zu, wie sein Vorgesetzter vorsichtig die Überdecken zurückzog und die Laken überprüfte, bevor er das Innere des Nachtschränkchens inspizierte und schließlich in die Knie ging, um einen Blick unter das Bett zu werfen. »Nach was suchen Sie eigentlich, Chef?« Li stand auf und schien einen Augenblick in Gedanken versunken. »Hier hat niemand gewohnt, Qian«, sagte er. »Jemand hat diese Wohnung genutzt, um sich gelegentlich was zu kochen oder auch mal zu übernachten. Aber gewohnt hat hier niemand. Es gibt keine Klamotten, keine persönlichen Sachen, nichts zu essen…« Qian zuckte mit den Achseln. »Draußen auf dem Balkon hängt Wäsche.« »Lassen Sie uns mal nachsehen.« Mit äußerster Vorsicht gingen sie ein zweites Mal durchs Wohnzimmer und traten durch die Fliegentür auf den verglasten Balkon. An der Decke war ein kreisförmiges Gestell zum Wäschetrocknen angebracht, an dem ein Hemd und zwei Paar Socken hingen. Li hielt Qian mit einer Handbewegung davon ab, die Wäschestücke zu berühren. Er wühlte in seinen Taschen und zauberte eine kleine Taschenlampe hervor. Damit leuchtete er an die Decke über dem Trockengestell, wo im Lichtstrahl die silbrigen Fäden eines kompliziert gewebten Spinnennetzes zu erkennen waren. Eine große, fette schwarze Spinne huschte, von der Helligkeit aufgeschreckt, davon. Li schaltete die Lampe aus. »Hier wurde gewaschen, das stimmt. Aber das ist schon eine ganze Weile her.« Er sah Qian nachdenklich an. »Wir sollten uns mal mit den Nachbarn von unten unterhalten.« Der Polizeibeamte, der bei dem alten Hua gesessen hatte, wirkte ausgesprochen erleichtert über ihre Ankunft. Als er auf dem Weg nach draußen an Qian vorbeiging, verdrehte er die Augen, hob eine Hand vor die Brust und imitierte damit einen Mund, der rasend schnell auf und zu ging. Die Wohnung war genauso geschnitten wie die darüber, doch der alte Hua und seine Frau hatten sie anders aufgeteilt. Sie aßen ebenfalls im mittleren Zimmer, wo ein karierter Vorhang die Regale mit dem Geschirr verdeckte, doch sie schliefen
in dem kleineren Hinterzimmer und nutzten das vordere Zimmer mit Blick zur Straße als Wohnzimmer. Der Gegensatz zu der Wohnung oben hätte nicht größer sein können. Hier wurde wirklich gelebt, jede Ecke war mit Möbeln voll gestopft, jede freie Fläche überhäuft und voll gestellt mit Dingen des täglichen Lebens. An den Wänden hingen Familienfotos, ein Kalender und etliche Plakate aus den Zwanziger- und Dreißigerjahren, die für Seife und Zigaretten warben. Hier roch es nach schmutziger Wäsche, Körper- und Küchenausdünstungen. Es roch nach Leben. »Nehmen Sie eine Tasse Tee.« Mit einem Winken bat sie der alte Mann an den Tisch. »Das Wasser ist noch heiß.« Li und Qian lehnten dankend ab. Aus dem Badezimmer drang das Geräusch von laufendem Wasser. »Sie duscht schon zum dritten Mal«, bemerkte der alte Hua. »Das dumme alte Weib denkt, sie wäre noch immer voller Blut. Ich habe ihr versichert, dass sie sauber ist. Aber auf mich hört sie ja nicht.« Der alte Mann war praktisch kahl. Die wenigen Haare, die ihm geblieben waren, hatte er bis zur Kopfhaut geschoren. Er trug blaue Baumwollhosen und ein schmuddeliges, offenes weißes Hemd, unter dem ein Bauch prangte, der eines Buddhas würdig gewesen wäre. Er war barfuß und rauchte eine selbst gedrehte Zigarette. »Ich meine, es ist ja nicht so, dass ich nicht an den Tod gewöhnt wäre«, sagte er. »Ich war eigentlich nur erschrocken, solange ich glaubte, dass es mein eigenes Blut wäre. Das Blut anderer Leute kümmert mich nicht.« Li zog sich einen Stuhl heran. »Wie kommt es, dass Sie so vertraut mit dem Tod sind?«, fragte er. Er war dem Tod ebenfalls begegnet, allzu oft schon, doch er hatte sich niemals daran gewöhnen können. Der alte Hua grinste. »Ich arbeite für die öffentlichen Versorgungsbetriebe«, erklärte er. »Schon seit dreißig Jahren. Es ist ganz ähnlich wie bei Ihrem Amt für öffentliche Sicherheit. Wir tragen beide Verantwortung für Menschen. Nur kümmern Sie sich um die Lebenden. Ich kümmere mich um die Toten.« Qian runzelte die Stirn. »Öffentliche Versorgungsbetriebe… arbeiten Sie in einem Krematorium?« »Ich arbeite nicht nur dort«, korrigierte Hua und fügte stolz hinzu: »Ich bin Leichenbestatter. Früher bin ich noch mit dem Karren losgezogen und habe die Verstorbenen daheim abgeholt. Heutzutage mache ich die Leichen nur noch zurecht – den Lebenden
zuliebe, versteht sich. Ich habe mir alles selbst beigebracht, aus Büchern über das Schminken und Frisieren. Glauben Sie mir, bei manchen Unfallopfern ist das gar nicht leicht. Sie wissen schon, wenn das Gesicht völlig zertrümmert ist und man Watte, Zellstoff, Gips und so weiter einsetzen muss, um es wieder in Form zu bringen –« »Ja, schon gut«, unterbrach ihn Li, »wir haben alle mit den Toten zu tun.« Der alte Hua reckte den Kopf zur Decke. »Zum Beispiel dem da oben?« »Wie gut kannten Sie ihn?« »Überhaupt nicht. Ich bin ihm vielleicht zweimal auf der Treppe begegnet. Hat gar nicht den Eindruck gemacht, als könnte so viel Blut in ihm fließen. Bei dem ausgelaugten Gesicht, ganz teigig und blass. Was haben die mit ihm angestellt, dass er so viel Blut verloren hat?« »Die?« »Na ja, wer immer das auch war.« »Sie haben also letzte Nacht niemanden kommen oder gehen sehen?« »Keine Menschenseele.« »Und Sie haben auch nichts gehört?« »Nicht das Geringste. Das Weib ist halb taub, deshalb müssen wir den Fernseher furchtbar laut stellen. Wir hören nie irgendwas von oben oder unten.« »Wann sind Sie zu Bett gegangen?« »Das müsste gegen neun gewesen sein. Normalerweise bin ich um sechs Uhr in der Arbeit.« Er kratzte sich am Bauch und drückte seine Zigarette aus. Um neun Uhr war also noch kein Blut zu sehen gewesen. Li vermutete, dass es unterhalb der Dielenbretter nicht mehr allzu viel Bausubstanz zwischen Fußboden und Decke gab. Eine solche Menge an Blut müsste ziemlich schnell durchgesickert sein. Demnach wäre der Tatzeitpunkt ein paar Stunden später anzusetzen, als der Arzt geschätzt hatte. »Wann sind Sie aufgewacht?« Der alte Hua begann sich eine weitere Zigarette zu drehen. »Das kann ich nicht genau sagen. Ungefähr gegen drei, vielleicht auch schon um halb drei.« Womit die Zeitspanne, innerhalb derer der Mord verübt worden war, auf sechs Stunden schrumpfte.
»Was glauben Sie, wie lange mag das Blut auf Sie heruntergetropft sein?«, wollte Li wissen. Hua zuckte mit den Achseln. »Kann ich nicht sagen. Für gewöhnlich schlafe ich wie ein Baby. Und das Weib nimmt Tabletten. Es müsste schon eine Bombe explodieren, damit sie aufwacht. Allerdings war das Blut bereits ziemlich klebrig, es kann also nicht ganz frisch gewesen sein.« Demnach war es möglicherweise gegen Mitternacht passiert, kalkulierte Li. Als die Straße wahrscheinlich wie ausgestorben war und die meisten Leute im Bett lagen. Er deutete mit dem Daumen zum Schlafzimmer. »Hätten Sie was dagegen, wenn wir einen Blick hineinwerfen?« »Gehen Sie nur hinein.« Hua klebte die Zigarette zu und zündete sie an. Li und Qian traten durch die Schlafzimmertür und betrachteten die dunkle Verfärbung an der Decke und das Blut auf den zerwühlten Bettlaken darunter, das schon trocken und braun aussah. »Wer macht den ganzen Dreck eigentlich wieder weg?«, rief der alte Mann ihnen nach. »Das würde ich wirklich gerne wissen.« Li wandte sich zum Wohnzimmer um und erstarrte beim Anblick von Huas Frau, die, ein Handtuch fest an ihren Körper gepresst, wie ein Geist und splitternackt aus dem Badezimmer aufgetaucht war. Sie stieß einen erstickten Schrei aus, stürmte zurück ins Bad und knallte die Tür zu. Der alte Hua lachte nur. »Kein schöner Anblick, was?« Li und Qian tauschten einen Blick aus und unterdrückten ein Grinsen. »Vielen Dank, Herr Hua«, verabschiedete sich Li. »Wir werden Ihre vollständige Aussage und die Ihrer Frau später zu Protokoll nehmen.« An der Tür hielt er inne. »Eine Frage noch. Haben Sie irgendeine Ahnung, wem die Wohnung oben gehört?« »Nee. Der Vorbesitzer ist vor etwa einem Jahr gestorben und hat sie irgendeinem Verwandten vermacht, der sie dann vermietet hat. Genau wie die Hausbesitzer von früher, was? Wir haben mal eine Revolution gemacht, um dieses Gesindel loszuwerden. Sieht ganz so aus, als wären wir wieder da angekommen, wo wir angefangen haben.« Als Li und Qian in die Wohnung des Opfers im vierten Stock zurückkehrten, waren eben zwei Helfer damit beschäftigt, den Toten in einen Leichensack zu bugsieren, um ihn anschließend in die Pao
Jü Hutong zu fahren, wo in wenigen Stunden die Autopsie durchgeführt werden sollte. »Sobald die Kollegen von der Spurensicherung fertig sind, möchte ich, dass die Tür versiegelt wird«, ordnete Li an. »Niemand kommt ohne meine Genehmigung hier herein. Und ich will wissen, wem zum Teufel die Wohnung gehört. Wenn überhaupt jemand weiß, wer unser geheimnisvoller Unbekannter ist, dann der Kerl, der sie ihm vermietet hat.« Plötzlich lenkte ihn aufgeregter Lärm aus dem hinteren Zimmer ab. Ein Beamter rief laut: »Ist der stellvertretende Sektionsvorsteher Li noch da?« »Hier«, meldete sich Li und eilte mit großen Schritten nach nebenan. Der Beamte stand auf und reichte ihm eine Art kleines dunkelblaues Notizbuch. »Das hing aus seiner hinteren Hosentasche.« Li hielt das kleine Buch an einer Ecke zwischen Daumen und Zeigefinger, dann stockte ihm der Atem, weil er das silberne Wappen auf der Vorderseite erkannte. Das war kein Notizbuch. Es war ein Reisepass. Er klappte ihn vorsichtig auf und betrachtete erst das Foto darin und dann den Kopf, der immer noch vom Fußboden zu ihm hochstarrte. Sein Blick zuckte auf das Namensfeld unten auf der Seite: Yuan Tao. »Scheiße«, murmelte er, als ihm bewusst wurde, was das bedeutete. »Was ist los?« Qian blickte ihm besorgt über die Schulter. »Dieser Fall mag fast bis ins kleinste Detail den anderen Mordfällen gleichen. Aber es gibt einen gewaltigen Unterschied.« Er hielt den Reisepass in die Höhe, und Qian erkannte auf den ersten Blick das Adlerwappen. »Der Kerl ist Amerikaner.«
IV »Ich hoffe, Sie haben einen guten Grund dafür.« Margaret warf einen kurzen Blick auf ihre Uhr, während sie mit langen Schritten die Eingangshalle des Ritan-Hotels durchmaß. Sophie hastete hinter ihr
her. »Ich habe noch genau zwei Stunden, um fertig zu packen und zum Flughafen zu fahren.« An der Glastür blieb sie stehen und drehte sich zu Sophie um: »Und überhaupt, wie ist es möglich, dass Sie nicht wissen, worum es geht?« »Weil man mir nichts gesagt hat. Ehrenwort, Margaret. Ich weiß nur, dass der RSO die letzten zwei Stunden mit dem Botschafter konferiert hat und dass alle anderen Termine bis heute Mittag abgesagt wurden.« Sie stürmten die Stufen nach unten, wo eine Botschaftslimousine auf sie wartete. »Und sie hätten doch keinen Wagen zu schicken brauchen, Herrgott noch mal!«, ereiferte sich Margaret. »Es sind doch bloß ein paar Straßen.« »Sie meinten, es sei dringend.« Sophie hielt Margaret die Tür auf und rutschte dann neben ihr in den Fond. »Das ist aber nicht wieder einer von Ihren Streichen, oder?«, fragte Margaret, unvermittelt misstrauisch geworden. Der Wagen fuhr, vorbei an den finster dreinblickenden Wachleuten, zum Eingangstor hinaus. »Natürlich nicht«, antwortete Sophie. Sie klang entrüstet, schon fast beleidigt. »Es tut mir Leid, wenn mein kleiner Spaß gestern Abend nach hinten losgegangen ist.« »Ist er nicht«, versicherte Margaret eilig, vermied es jedoch, Sophie dabei in die Augen zu sehen. »Trotzdem ist es ein ganz schöner Zufall, dass Sie die beste Freundin seiner kleinen Schwester sind.« »Nicht wirklich. Das letzte Jahr hat Michael zum größten Teil hier verbracht, um die vorige Serie abzudrehen, die nächsten Monat zu Hause anläuft. Er war es, der mich ermutigt hat, mich um diesen Posten zu bewerben. China, das klang, nun ja… ziemlich exotisch. Und nun bin ich hier.« »Genau wie er – für die nächsten Monate, nachdem er ja gerade erst wieder zu drehen anfängt. Bestimmt hat das nicht das Geringste mit Ihrem Entschluss zu tun, sich um diese Stelle zu bemühen?« Sophie sah sie mit einem Lächeln an. »Träumen ist schließlich nicht verboten, oder? Aber ich bin überzeugt, dass er seine Zeit lieber mit Ihnen als mit mir verbringen würde. Er war schwer enttäuscht, dass Sie gestern Abend so früh verschwunden sind.« Margaret sah erneut auf die Uhr und wechselte das Thema. »Ich hoffe, es wird nicht allzu lange dauern, Sophie, sonst wird mir die
amerikanische Regierung den verpassten Flug erstatten müssen.« Sophie zuckte mit den Achseln. »Wer weiß, vielleicht haben die Chinesen Ihnen ja das Ausreisevisum verweigert.« Margaret sah sie zutiefst schockiert an. »Das können die doch nicht tun, oder?« Die Sekretärin des Botschafters führte sie direkt in dessen Büro. Der Botschafter, wie gewöhnlich in Hemdsärmeln – diesmal hochgekrempelt –, stand am Fenster, hatte die Hände in die Hüften gestützt und sah hinaus. Stan Palmer saß, Unterlagen vor sich ausgebreitet, am Kaffeetisch und schlürfte schwarzen Kaffee. Seine sonst so glatte Fassade wirkte ungewöhnlich mitgenommen. Jon Dakers, der regionale Sicherheitsoffizier, hatte sich auf einer Ecke des Botschafterschreibtisches niedergelassen und sprach gerade in dessen Telefon. Er klang beunruhigt. »Na gut, sorgen Sie dafür, dass die mich anrufen, sobald sie es bekommen haben. Und faxen Sie es direkt in die Botschaft.« Als Margaret und Sophie eintraten, drehte sich der Botschafter um. »Vielen Dank, dass Sie so schnell gekommen sind, Margaret.« »Worum geht es hier eigentlich, Herr Botschafter? Ich muss in knapp zwei Stunden am Flughafen sein.« »Und ich muss Sie um einen Gefallen bitten, Margaret.« Er durchquerte den Raum und bedeutete ihr, Platz zu nehmen. Sie kam der Aufforderung, wenn auch widerstrebend, nach. Der Botschafter blieb stehen. Er legte eine kleine Kunstpause ein, dann sagte er: »Letzte Nacht wurde ein Mitarbeiter der Botschaft ermordet, ein Amerikaner chinesischer Abstammung namens Yuan Tao.« Er holte Luft. »Jemand hat ihn enthauptet.« »Oh, mein Gott«, entfuhr es Margaret. »Es kommt noch schlimmer«, fügte Stan hinzu, wobei er eine Augenbraue hochzog. »Wirklich?«, fragte Margaret spitz. »Ich kann mir kaum was Schlimmeres als eine Enthauptung vorstellen.« »Schlimmer für uns, nicht für ihn«, ließ sich Dakers vernehmen, wobei er den Raum durchquerte, um sich an der Seite des Botschafters zu postieren. Der RSO war muskulös und von gedrungener Gestalt, ein ehemaliger Polizist, glatzköpfig und angriffslustig, mit einem silbergrauen, kurz geschorenen Bart. »Er wurde in einer von ihm angemieteten Wohnung im Bezirk Chaoyang ermordet.« Er schwieg, als hätte diese Feststellung für Margaret
irgendeine Bedeutung. »Ja und?«, hakte sie nach. »Die Botschaftsangehörigen bekommen eine Unterkunft in eigenen Botschaftsgebäuden zugewiesen«, erläuterte Stan. »In Yuan Taos Fall eine Zweizimmerwohnung in einem Block genau hinter dem Friendship Store.« »Streng genommen«, fügte Jon Dakers hinzu, »hat er gegen das Gesetz verstoßen.« »Ja, ich weiß«, bemerkte Margaret. Sie hatte diesbezüglich bittere Erfahrungen gemacht. »Man muss seinen Wohnsitz bei der öffentlichen Sicherheit melden, und die werden stocksauer, wenn man auch nur eine Nacht woanders verbringt.« »Die Chinesen sind in der Tat stocksauer«, mischte sich der Botschafter wieder ein. Jon Dakers korrigierte ihn: »Die Chinesen sind in arger Verlegenheit. Ein amerikanischer Staatsbürger ist auf ihrem Territorium ermordet worden. Die wollen uns um jeden Preis den schwarzen Peter zuschieben.« Plötzlich keimte ein Verdacht in Margaret auf. »Moment mal. Wenn Sie sagen, dieser Typ war ›ein Mitarbeiter der Botschaft‹, dann ist das doch ein Euphemismus, oder?« Der Botschafter schluckte grimmig. »Er war kein Spion, falls Sie das meinen.« »Und Sie würden es mir natürlich verraten, falls er einer wäre.« »Nein«, erwiderte der Botschafter, »aber ich versichere Ihnen, dass er keiner war. Er war ein einfacher Beamter. Er war gerade mal sechs Monate hier und arbeitete in der Visumabteilung.« »Was wahrscheinlich ein paar tausend Leuten ein Motiv gibt, ihn kaltzumachen«, sagte Stan. »Wir warten darauf, dass uns das Außenministerium seine Akte schickt«, erklärte Dakers. Eine Gesprächspause trat ein, und niemand schien es eilig zu haben, sie zu beenden. Margaret blickte reihum in die Gesichter, die sie erwartungsvoll anschauten. »Und was hat all das mit mir zu tun?«, fragte sie schließlich. Der Botschafter ging um das Sofa herum und setzte sich. »Die chinesische Polizei glaubt, dass sie es mit einem Serienkiller zu tun haben. Man nimmt an, dass Yuan Tao sein viertes Opfer ist. Die anderen drei waren chinesische Staatsangehörige. Aber dieser Kerl ist Amerikaner. Und darum hätten wir es gerne, dass Sie die
Autopsie durchführen.« »Wie bitte?« Margaret war fassungslos. »Sie haben schon mal mit denen zusammengearbeitet«, warf Dakers ein. »Hören Sie«, sagte Margaret, »ich bin im letzten Frühjahr hierher gekommen, um sechs Wochen lang Vorlesungen an der Universität für öffentliche Sicherheit zu halten. Ich habe aus Gefälligkeit eine einzige Autopsie vorgenommen – und die nächsten drei Monate damit zugebracht, diese Gefälligkeit zu bereuen. Ich will nicht schon wieder in etwas hineingezogen werden.« »Ich verstehe Sie vollkommen, Margaret.« Der Botschafter beugte sich mit ernster Miene vor. Er setzte seine gesamten diplomatischen Künste ein. »Aber wir haben keine Möglichkeit, so schnell einen anderen Pathologen hierher zu bekommen. Abgesehen davon vertrauen die Chinesen Ihnen.« »Wirklich?« Margaret war verblüfft. »Immerhin haben sie bereits zugestimmt, dass Sie die Autopsie vornehmen werden – oder zumindest dabei mitwirken.« »Und falls ich mich weigere?« »Wir alle haben gewisse Verpflichtungen unserem Land gegenüber, Margaret.« Der Botschafter ließ sich wieder nach hinten fallen, denn jetzt hatte er seine Trumpfkarte ausgespielt – den Appell an ihren Patriotismus. Margaret hatte sich immer gefragt, was eigentlich hinter den unzähligen Treueschwüren auf die Fahne und dem Absingen der Nationalhymne in der Schule steckte. Nun wusste sie Bescheid. Sie seufzte. »Ich werde meinen Flug umbuchen müssen.« »Das wurde bereits erledigt«, eröffnete Stan ihr selbstgefällig. »Oh, tatsächlich?« Margaret warf ihm einen giftigen Blick zu und stand auf. »Ach, da wäre noch etwas«, sagte Stan, und sie bemerkte den eigenartig erwartungsvollen Blick, der seine Augen aufleuchten ließ. »Der mit dem Fall betraute Beamte ist der stellvertretende Sektionsvorsteher der Stadtpolizei von Peking, Li Yan.« Er strahlte sie an. »Ich glaube, Sie kennen ihn.«
2. KAPITEL I Die sechs frisch von der Zentrale der Kriminalpolizei in Qianmen abgezogenen Kommissare saßen inzwischen bereits eine knappe halbe Stunde rauchend und lebhaft diskutierend herum. Der Rauch ihrer Zigaretten hing in einer dichten Wolke über dem Besprechungszimmer im obersten Stockwerk in der Beixinquiao Santiao – wie ein Sinnbild für die Stimmung der Kollegen aus der Sektion Eins, die sich nun ebenfalls um den großen Tisch versammelten, um das Beweismaterial zu sichten, das sie im Verlauf des letzten Monats zusammengetragen hatten. Die Kollegen aus der Abteilung für Kapitalverbrechen wirkten niedergeschlagen, weil es ihnen einfach nicht gelungen war, irgendwelche messbaren Fortschritte zu erzielen, und betreten, weil sie durch die offensichtlich notwendig gewordene Verstärkung ihr Gesicht zu verlieren drohten. Li saß mit dem Rücken zum Fenster und brütete vor sich hin. Er war kurz nach dem ersten Mord wieder in sein Amt als stellvertretender Sektionsvorsteher eingesetzt worden und inzwischen zutiefst frustriert, weil sie nicht einmal einen einzigen halbwegs gesicherten Anhaltspunkt vorzuweisen hatten. Allmählich begann er sogar an seinem früher so unerschütterlichen Selbstvertrauen zu zweifeln, und fragte sich, ob der Tod seines Onkels und die Ereignisse der vergangenen Monate nicht mehr an ihm gezehrt hatten, als er sich bislang eingestehen wollte. Immer wieder gab es Phasen, in denen es mit seinem Konzentrationsvermögen nicht weit her war, so viel war ihm bewusst. Bei mehreren Sitzungen hatte er sich dabei ertappt, dass seine Gedanken zu Yifu abschweiften. Und zu Margaret. Es war qualvoll, sich auch nur ihren Namen ins Gedächtnis zu rufen, denn er war stets mit einem Wust von Erinnerungen behaftet,
bittersüß und voll von verletzten Gefühlen. In Gedanken durchlebte er nochmals das eine Mal, als sie sich geliebt hatten, während das Sonnenlicht durch die dreckverschmierten Fenster eines vergessenen Eisenbahnschlafwagens auf einem Abstellgleis in der Nähe von Datong geflutet war. »Chef…« Eine penetrante Stimme drang in sein Bewusstsein und riss ihn aus seinen Gedanken. »Sind Sie noch bei uns, Chef?« Li schaute auf und erkannte Kommissar Wu, der ihn, die Sonnenbrille in die Stirn geschoben, mit einem merkwürdigen Ausdruck von der Tischseite gegenüber ansah. Er blickte in die Runde der mittlerweile beinahe zwanzig Kommissare und musste feststellen, dass ihn alle anstarrten. »Ja, sicher. Es tut mir Leid…« Li wühlte in den Schriftstücken, die vor ihm auf dem Tisch lagen. »Ich habe nur eben einen Gedanken verfolgt.« »Vielleicht möchten Sie uns daran teilhaben lassen?« Li sah zur Tür und erkannte erschrocken, dass der Sektionsvorsteher Chen Anming ins Zimmer getreten war, ohne dass Li es bemerkt hatte. »Das lohnt sich nicht, Chef«, wiegelte er rasch ab. »Er führt zu nichts.« »So wie die ganze Untersuchung«, bemerkte Chen. Er zog sich einen Stuhl heran, setzte sich, verschränkte die Arme vor der Brust und musterte die Kommissare mit eisigem Blick. Chen war ein hagerer, sehniger Mann von Ende fünfzig, dessen vorzeitig auf dem breiten Schädel ergrautes Haar von nikotingelben Strähnen durchzogen war. Er war berüchtigt für seine offenkundige Abneigung, seine Gesichtsmuskeln zu einem Lächeln zu zwingen, obwohl das Strahlen in seinen Augen häufig verriet, dass sich hinter der Maske des harten Mannes in Wahrheit ein ausgesprochen menschliches Wesen verbarg. Im Moment war allerdings nichts von einem Strahlen zu erkennen. »Vier Opfer«, platzte es aus ihm heraus. »Und wir haben nichts. Rein gar nichts!« Er hob die Stimme und machte dann eine Kunstpause. »Und jetzt stellt sich heraus, dass das letzte Opfer ein Amerikaner war, wodurch die ganze Geschichte auch noch eine politische Dimension bekommt.« Er beugte sich vor und legte bedächtig die Handflächen auf die Tischplatte. »Gerade eben hat mich der stellvertretende Minister für öffentliche Sicherheit angerufen.« Er holte kurz Luft. »Noch nie hat mich ein
stellvertretender Minister für öffentliche Sicherheit angerufen. Und ich möchte diese Erfahrung nur ungern wiederholen.« Er lehnte sich zurück. Atemlose Stille erfüllte den Raum. »Darum will ich eines in aller Deutlichkeit klarstellen. Wie viele Beamte wir auch einsetzen müssen, wie viele Überstunden wir auch abreißen müssen, wir werden diesen Fall aufklären.« Um die Dramatik zu erhöhen, wartete er ein paar Sekunden, bevor er hinzufügte: »Hier stehen Karrieren auf dem Spiel.« »Sie meinen, es könnten Köpfe rollen?«, hakte Wu grinsend nach, und rund um den Tisch war ein ersticktes Prusten zu hören. Chen fixierte ihn mit stählernem Blick. »Seien Sie versichert, Kommissar Wu, Ihr Kopf wird der allererste sein.« Wus Grinsen erlosch. »Ich wollte die Sache doch nur ein bisschen auflockern, Boss.« »In Ordnung«, schritt Li ein, bevor die »Sache« in irgendeiner Form zur Katastrophe ausarten konnte. »Am besten gehen wir kurz durch, was wir bislang zusammengetragen haben, um die Kollegen vom Hauptquartier auf den letzten Stand zu bringen. Anschließend nehmen wir uns den Mord von gestern Nacht vor. Wu, Sie fangen an.« Wu nahm seinen Aktenordner vom Tisch, kippte den Stuhl nach hinten und schob die Sonnenbrille noch höher in die Stirn. Sein Image bedeutete Wu alles, angefangen von den verwaschenen Jeans über die Jeansjacke bis hin zur Sonnenbrille. Sogar sein Kaugummi gehörte dazu, obwohl er längst jeden Geschmack verloren haben musste. Dies war seine ganz persönliche Show für die Neuankömmlinge. »Okay«, fing er an. »Nummer eins. Zwanzigster August. Tian Jingfu, einundfünfzig Jahre alt, Filmvorführer in einem Kino im Bezirk Xicheng. Erscheint nicht zur Arbeit. Seine Frau ist verreist, auf Besuch bei Verwandten im Süden, also setzt sich die Arbeitseinheit mit dem Straßenkomitee in Verbindung, das ihm einen Besuch abstattet. Niemand macht auf, aber man kann hören, dass der Fernseher läuft. Sie holen den zuständigen Streifenbeamten, der die Tür aufbricht. Zwanzig Millionen Fliegen halten die Wohnung in Beschlag. Der Kerl liegt im Vorderzimmer, mit abgeschlagenem Kopf. Die Pathologen schätzen, dass er dort schon zwei Tage gelegen hat. Es gibt keine Hinweise auf ein gewaltsames Eindringen. Aber der Typ hat Rotwein getrunken. Das ist ungewöhnlich. Und die Autopsie zeigt, dass ihm eine Droge namens
Flunitrazepam reingemischt wurde. Die Hände wurden mit einer Seidenschnur auf seinem Rücken zusammengebunden, und um seinen Hals wurde ein weißer Karton gehängt. Darauf steht mit roter Tinte kopfüber ›Schweinchen‹, allerdings wurde das Schriftzeichen anschließend durchgestrichen. Schweinchen, daran besteht wohl kein Zweifel, ist irgendein Spitzname. Außerdem steht auf dem Karton die Ziffer sechs. Auf Grund der Lage der Leiche ist anzunehmen, dass er gezwungen wurde, sich mit gesenktem Kopf hinzuknien. Offenbar hat man ein Bronzeschwert oder eine Waffe mit ähnlicher Klinge verwendet, um ihm den Kopf abzuschlagen. Höllisch viel Blut. Ansonsten ist der Raum sauber, keine Fußspuren des Täters, keine Fingerabdrücke. Die Leute von der Spurensicherung haben nicht das Geringste gefunden.« Er ließ die Akte auf den Tisch knallen, kippte den Stuhl wieder nach vorn und streckte die Hände mit offenen Handflächen von sich. »Ich habe so ziemlich mit jedem gesprochen, der ihn gekannt hat. Arbeitskollegen, Nachbarn, Freunde, Familie. Die Eltern sind tot, nur in Qianmen lebt noch eine Tante. Jeder sagt, er sei ein netter Kerl gewesen und hätte ganz für sich gelebt. Keiner konnte sich vorstellen, warum ihn irgendjemand umbringen wollte. Niemand hat an dem Tag, an dem er ermordet wurde, irgendetwas Ungewöhnliches bemerkt.« Er zuckte mit den Achseln. »Nichts, aber auch gar nichts.« Mit Daumen und Zeigefinger glättete er den spärlichen Flaum an seiner Oberlippe, den niemand außer ihm als Schnurrbart betrachtete. Li wandte sich an Qian Yi. »Kommissar Qian.« Qian holte tief Luft. »Okay. Nummer zwei. Bai Qiyu, mit einundfünfzig Jahren genauso alt wie das erste Opfer. Verheiratet, zwei Kinder besuchen die Oberstufe. Er ist Geschäftsmann, Leiter einer kleinen ImportExport-Firma im Bezirk Xuanwu. Als das Personal am einunddreißigsten August morgens zur Arbeit erscheint, liegt er in seinem Büro. Geköpft. Dieselbe Geschichte. Die Handgelenke sind mit einer Seidenschnur auf dem Rücken zusammengebunden – und die Kollegen von der Spurensicherung versichern, dass die Schnur von der gleichen Rolle stammt, die der Mörder schon beim ersten Opfer verwendet hat. Ein identisches Stück Pappe um den Hals, Tinte der gleichen Farbe. Nur lautet der Spitzname diesmal ›Null‹ und bei der Zahl handelt es sich um die Fünf. Also nehmen wir an, dass wir die Opfer rückwärts zu zählen haben. Metallspuren, die bei der Autopsie an der durchtrennten Wirbelsäule abgenommen
werden, sprechen dafür, dass eine ganz ähnliche oder dieselbe Waffe mit einer Klinge aus Bronze verwendet wurde. Auch Bai Qiyu hatte Rotwein getrunken, der gleichfalls mit Flunitrazepam versetzt war. Wie im Fall von Tian Jingfu war seine Frau auf Besuch bei Verwandten. Seine Kinder waren zwar zu Hause, aber nicht sonderlich beunruhigt, als er nicht heimkam, bevor sie zu Bett gingen. Der Schauplatz des Verbrechens ist gesäubert, mit Ausnahme eines verwischten, aber abnehmbaren blutigen Fingerabdrucks, den wir am Rand des Schreibtischs entdeckt haben. Der Vergleich mit den Abdrücken in unseren Computern hat nichts ergeben.« Qian atmete tief durch und kam zum Schluss. »Ich habe fast fünfzig Leute vernommen. Das Gleiche wie bei Opfer Nummer eins. Niemand weiß, warum ihn jemand hätte umbringen wollen. Er hatte für diesen Abend nichts in seinen Terminkalender eingetragen. Als der letzte Angestellte das Gebäude verlassen hatte, war er alleine in seinem Büro.« Die Kommissare vom Hauptquartier kritzelten wie wild in ihre Notizblöcke und schlugen dabei immer wieder in den Aktenordnern nach, die man ihnen zur Verfügung gestellt hatte. Die Übrigen beobachteten sie gespannt und mit gemischten Gefühlen. Obwohl alle darauf erpicht waren, einen Durchbruch zu erzielen, war keiner von ihnen scharf darauf, dass ausgerechnet irgendein Klugscheißer aus der Zentrale etwas herausfand, das ihnen selbst entgangen war. Li spürte die zunehmende Nervosität. Er wandte sich an Zhao, mit fünfundzwanzig Jahren der jüngste Kommissar in der Sektion, dem es noch ein wenig an Selbstvertrauen fehlte, der aber aufgeweckt und eifrig war, weshalb Li ihn für eine zukünftige Beförderung in Betracht zog. »Berichten Sie uns von Nummer drei, Kommissar Zhao.« Zhao errötete leicht, als er zu sprechen begann. »Fünfzehnter September. Yue Shi, ein Professor für Archäologie an der Universität von Peking, ist mit seinem Onkel zum Schachspiel und auf ein paar Bier verabredet. Als der Onkel in Yues Wohnung im Bezirk Haidan in der Nähe des Hochschulgeländes eintrifft, findet er seinen Neffen tot im Wohnzimmer liegend auf. Er wurde enthauptet, die Hände sind auf dem Rücken zusammengebunden, wieder mit derselben Seidenschnur. Ein Schild, halb voll gesogen mit seinem Blut, liegt neben der Leiche. Es trägt die Nummer vier und den Spitznamen ›Affe‹. Geschrieben mit roter Tinte, auf dem Kopf
stehend, durchgestrichen.« Er legte eine kleine Pause ein. »Ich möchte zunächst bei den Gemeinsamkeiten bleiben. Genau wie die anderen hat er Rotwein mit Flunitrazepam im Magen und in der Blutbahn. Abgenommene Spuren zeigen erneut, dass die verwendete Waffe aus Bronze war, sie legen sogar die Vermutung nahe, dass es sich um ein und dieselbe Waffe handelt. Aber kommen wir nun zu dem Punkt, bei dem sich erstmals eine gewisse Abweichung zeigt. Am Tatort finden sich kaum Spuren von Blut, obwohl die Leiche praktisch ausgeblutet ist.« »Also wurde er anderswo ermordet und erst dann in seine Wohnung geschafft.« Die Bemerkung kam aus den Reihen der Neulinge. »Ach ja, sehr schlau«, kommentierte Wu. »Darauf wären wir wohl nie gekommen.« Der betreffende Kommissar errötete. »Fahren Sie fort, Zhao«, sagte Li. Zhao blickte nervös auf seine Zuhörerschaft. »Der Kollege hat Recht, die Leiche wurde transportiert. Man hat Fasern an ihr gefunden, die darauf hindeuten, dass sie in eine graue Wolldecke oder etwas Ähnliches eingewickelt worden war. Im Profil der Schuhe und an der Hose fand sich feiner, blauschwarzer, pulvriger Staub. Der Spurensicherung zufolge handelt es sich um gebrannten Lehm, irgendeine Form von Keramik. Die Lehmart findet sich jedoch nirgendwo in der Gegend von Peking. Offenbar kommt dieser Boden eher in der Provinz Shaanxi vor.« Er zuckte mit den Achseln. »Wir haben keine Ahnung, was wir damit anfangen sollen.« Dann fuhr er fort: »Es gab Blutspuren und -flecken im Wohnzimmer, aber nirgendwo fanden sich verwertbare Fußspuren oder Fingerabdrücke. Der Pathologe ist der Auffassung, dass das Opfer etwa vierundzwanzig Stunden vor Entdeckung der Leiche getötet worden ist.« »Was ist mit der Universität?«, wollte einer der Kommissare aus dem Hauptquartier wissen. »Wir haben dort alles abgesucht«, versicherte Zhao. »Sein Büro, seine Unterrichtsräume, die Laboratorien. Falls man ihn irgendwo dort ermordet hätte, hätten wir irgendwas gefunden. Man kann eine solche Menge Blut nicht einfach beseitigen, ohne Spuren zu hinterlassen. Die Kollegen in seiner Abteilung waren fassungslos. Auch hier konnte sich keiner einen Grund vorstellen, weswegen ihn jemand umbringen sollte. Er war nicht verheiratet, er hatte nicht
viele Freunde. Er lebte für seine Arbeit und ging in mehr als neunzig Prozent seiner Zeit völlig darin auf.« »Wie alt war er?« Wieder war es derselbe Kommissar vom Hauptquartier, der das fragte. »Zweiundfünfzig – lediglich ein paar Monate älter als die anderen.« Der Kommissar wandte sich an Li: »Was ist mit dem letzten Opfer? Wie alt war er?« »Laut seinem Reisepass ist er im März 1949 geboren, demzufolge ist er einundfünfzig. Verzeihen Sie, Kollege. Ich kenne Ihren Namen nicht.« »Sang«, erklärte der Kommissar. »Sang Chunlin.« »In Ordnung, Sang«, sagte Li, »der Gedanke ist es wert, festgehalten zu werden. Aber lassen Sie uns zunächst das vierte Opfer unter die Lupe nehmen.« Er warf einen Blick auf die vielen erwartungsvollen Gesichter um ihn herum. »Yuan Tao«, fing er an, »war chinesischstämmiger Amerikaner und in der Visumsabteilung der US-Botschaft tätig.« Anschließend führte er sie über den Schauplatz des Mordes, Schritt für Schritt, so wie er und Qian es fünf Stunden zuvor in Wirklichkeit erlebt hatten. Er berichtete ihnen, dass Yuan die Wohnung in der Tuan-Jie-Hu-Straße Nr. 7, wo seine Leiche gefunden wurde, zwar illegal angemietet hatte, dass er aber nicht unbedingt dort gewohnt hatte, zumindest nicht ständig. »Allem Anschein nach«, fuhr er fort, »wusste die amerikanische Botschaft nichts davon. Man hatte ihm eine Unterkunft in einem Gebäude für Botschaftsangehörige hinter dem Friendship Store zugewiesen.« Er machte eine kurze Pause. »Sie haben unseren Leuten von der Spurensicherung freundlicherweise erlaubt, die Wohnung zu betreten.« In seiner Stimme schwang ein Hauch von Ironie mit. »Und sie haben uns darüber hinaus vollen Einblick in seine Akte zugesichert – sobald Washington sie aufgetrieben hat und uns zufaxen kann.« Vereinzelt wurden Lacher am Tisch laut. »Bis wir das Fax bekommen und die Ergebnisse der Autopsie vorliegen, die im Verlauf des Vormittags durchgeführt wird, kann ich Ihnen nichts Wesentliches mehr mitteilen.« Li stand auf und öffnete das Fenster in seinem Rücken, bevor er sich eine neue Zigarette anzündete. Die Luft war nahezu blau vom Rauch, und seine Augen fingen an zu brennen. »Was wissen wir also bis jetzt?« Sein Blick schweifte über die Gesichter der Anwesenden. »Wir wissen, dass der Mörder eine wie auch immer geartete Waffe
mit einer Bronzeklinge benutzt hat – wahrscheinlich ein Schwert. Wir wissen, dass die Opfer den Täter aller Wahrscheinlichkeit nach gekannt haben. Sie haben Wein mit ihm getrunken und hatten aus ihrer Sicht keinen Grund, auf der Hut zu sein. Schließlich hat er es geschafft, ihnen etwas ins Glas zu schütten. Und er kannte sie gut genug, um ihren Spitznamen zu wissen. Rote Tinte auf weißem Karton – das uralte Zeichen für das Ende einer Beziehung. Meiner Meinung nach untermauert das die These, dass er mit den Opfern gut bekannt war. All die auf dem Kopf stehenden und dann durchgestrichenen Namen – na ja, wir wissen alle, was das ausdrücken soll. Und die Nummerierung der Opfer. Bei sechs zu beginnen und dann runterzuzählen. Was uns wohl zu der Annahme führen muss, dass irgendwo da draußen noch zwei Todeskandidaten herumlaufen.« Es war ein ernüchternder Gedanke, der dazu beitrug, die Aufmerksamkeit am Tisch noch zu erhöhen. »Mir will diese Sache mit dem Alter nicht aus dem Kopf.« Sang meldete sich wieder zu Wort. »Schießen Sie los«, forderte Li ihn auf. Sang kratzte sich am Kopf. Er war ein gut aussehender junger Mann, wahrscheinlich noch keine dreißig Jahre alt, und praktisch der einzige Nichtraucher am Tisch. »Nun, nachdem alle gleichaltrig sind und der Kerl ihre Spitznamen kennt, wäre es da nicht nahe liegend anzunehmen, dass alle irgendwann einmal gemeinsam irgendeiner Organisation, Institution oder Arbeitseinheit angehört haben?« »Die ersten drei haben dieselbe Schule besucht«, sagte Zhao, worauf sich verblüfftes Schweigen über den Tisch senkte. Er wurde knallrot, weil sich alle Augen auf ihn richteten. »Wie bitte?«, fragte Li nach. Er sagte das vollkommen gelassen, beinahe unbeteiligt. »Mir kam der Gedanke, dass man einen Spitznamen gewöhnlich schon in der Schule bekommt«, erläuterte Zhao. »Also habe ich gestern Nachforschungen angestellt.« »Warum zum Teufel ist niemand schon früher auf diese Idee gekommen?«, donnerte Chen. Das war eine berechtigte Frage. Allerdings hatte Li keine Antwort darauf. »Es ist über dreißig Jahre her, dass sie zur Schule gegangen sind«, erläuterte Zhao beinahe abwehrend, »wahrscheinlich haben wir deshalb nicht von Anfang an in diese Richtung ermittelt.«
»Und Sie haben es erst jetzt für notwendig gehalten, uns Ihren Gedankengang mitzuteilen?«, fragte Chen spitz. »Ich habe die Bestätigung erst heute Morgen erhalten, Chef«, verteidigte sich Zhao. »Um Himmels willen, Zhao«, sagte Li, »wir arbeiten hier im Team. Wir tauschen Informationen aus, wir tauschen Gedanken aus, wir sprechen miteinander. Genau dafür halten wir diese Treffen ab.« Doch wie konnte er Zhao Vorhaltungen machen, wo er doch als Einziger auf die richtige Idee gekommen war? Die Kommissare vom Hauptquartier saßen schweigend da und waren froh, nicht selbst im Kreuzfeuer zu stehen. Sang allerdings wühlte sich durch seinen Aktenordner. »Was für eine Schule war das?«, wollte er wissen. »Ich kann hier nichts darüber finden.« »Es steht noch nicht drin«, antwortete Zhao. Er räusperte sich verlegen. »Es hat mich ziemlich viel Zeit gekostet, es herauszufinden. Sie waren alle auf der Mittelschule Nr. 29 in Qianmen.« Einen Moment schien die Zeit stillzustehen; nur das Schaben von Sangs Bleistift in seinem Notizbuch war zu hören. Dann löste sich Li vom Fenster. »Also schön«, verkündete er entschlossen. Er setzte sich, zog sein Notizbuch heran und vermerkte seine Anweisungen, während er sie erteilte. »Wir werden uns in vier Gruppen zu je fünf Personen aufteilen. Gruppenleiter sind Wu, Qian, Zhao und – Sang.« Sang glühte vor Stolz. »Ich möchte, dass jede Gruppe für sich noch einmal das gesamte Beweismaterial in den vier Mordfällen unter die Lupe nimmt und ihre Erkenntnisse anschließend hier vorträgt. Darüber hinaus ist jede Gruppe für einen bestimmten Bereich der Ermittlungen zuständig. Zhao, wir müssen uns mit den ehemaligen Lehrern der Opfer unterhalten. Qian, die Mitschüler müssen vernommen werden, sämtliche früheren Klassenkameraden. Es könnte gut sein, dass irgendwo in ihren Reihen die nächsten beiden potenziellen Opfer zu finden sind. Und wir sollten sie vor dem Mörder aufspüren.« Sang unterbrach ihn. »Überspannen wir den Bogen nicht ein bisschen? Ich meine, gut, die ersten drei gingen auf dieselbe Schule. Aber der Amerikaner doch nicht.« »Ein berechtigter Einwand«, erwiderte Li. »Aber die Tatsache, dass die anderen drei Schulkameraden waren, wiegt zu schwer, als dass man einen Zusammenhang von der Hand weisen könnte.
Außerdem ist es der erste Lichtblick, der sich uns in diesem Fall bietet. Es ist gut möglich, dass wir auf diese Weise erheblich mehr Licht ins Dunkel bringen können.« Er schwieg einen Moment. »Sang, ich möchte, dass Ihre Gruppe versucht, die Tatwaffe zu identifizieren. Und Wu, Ihre Leute werden noch mal alles durchforsten, was die Spurensicherung zusammengetragen hat. Irgendwas müssen wir übersehen haben. Sobald wir mehr über Yuan Tao wissen, treffen wir uns das nächste Mal.« Das Treffen löste sich augenblicklich in einem Gewirr von Stimmen und Spekulationen über die neuesten Entwicklungen auf, und als Zhao sich mit rosa leuchtendem Gesicht erhob, suchte Li seinen Blick und nickte ihm zu. »Gut gemacht. « Zhao wurde noch röter. Wolken von Zigarettenqualm zogen zusammen mit den Kommissaren in den Korridor. Chen kam um den Tisch herum zu Li, der noch damit beschäftigt war, seine Unterlagen zusammenzupacken. »Ich bin froh, dass Sie offenbar endlich eingesehen haben, welche Bedeutung die Arbeit im Kollektiv hat, stellvertretender Sektionsvorsteher Li.« In seiner Stimme schwang leise Ironie mit. »Aber nur, wenn ebenfalls darüber gesprochen wird, das Modell ›ein Beamter – ein Fall‹ einzuführen.« Zu Chens Verärgerung ahmte Li dabei den Tonfall seines Chefs nach. »Sie wissen, dass ich da anderer Meinung bin.« »Womit dies so ungefähr der einzige Punkt ist, in dem Sie mit meinem Onkel einer Meinung gewesen wären.« »Im Gegensatz zu Ihnen?« »Ich bin der Ansicht, dass die alten Methoden durchaus Vorzüge haben, Chef. Aber wir leben in einer sich ständig ändernden Welt.« Li blickte auf die Uhr. »Entschuldigen Sie. Ich muss los. Die Autopsie beginnt um zehn Uhr.« »Ich fürchte, dem ist nicht so«, erklärte Chen und brachte Li damit augenblicklich zum Stehen. »Genau deswegen hat mich der stellvertretende Minister für öffentliche Sicherheit angerufen. Die Autopsie ist auf heute Nachmittag verschoben worden. Außerdem will der Polizeirat Sie im Hauptquartier sehen, und zwar sofort.«
II Die ersten vereinzelten Sonnenstrahlen seit Tagen besprenkelten das Trottoir unter den Akazien in der Dongjiaomin-xiang-Gasse. Es war einer jener Tage, an denen sich aus unerklärlichen Gründen der Schleier der Luftverschmutzung gelüftet und der Himmel aufgeklart hatte. Das schien die Lebensgeister der Stadt geweckt zu haben. Selbst die sonst so griesgrämigen Fahrradmechaniker gegenüber dem Hintereingang des städtischen Polizeihauptquartiers plauderten angeregt, priesen ihre Dienste an und spuckten mit neu erwachtem Eifer in den Rinnstein. Li radelte am Obersten Gerichtshof zu seiner Rechten vorbei und bog dann links auf das umzäunte Gelände hinter der Polizeizentrale ein. Nur ihn allein, konnte man meinen, vermochte der herbstliche Sonnenschein nicht aufzumuntern, der sich immer noch warm auf der Haut anfühlte. Während er den bewaffneten Polizisten in Habachtstellung umkurvte und im Leerlauf durch die geöffneten Türen unter dem Torbogen rollte, musste er an seine erste Begegnung mit Margaret denken. Der Zusammenstoß ihres Dienstwagens mit seinem Fahrrad, genau hier… sein aufgeschürfter Arm… ihre Unverschämtheit… Das Lächeln, das sich bei dieser Erinnerung auf sein Gesicht stahl, war von Schwermut überschattet. Er stellte das Fahrrad ab, verriegelte das Schloss und betrat mit mulmigem Gefühl den roten Backsteinbau, der die Zentrale der Kriminalpolizei beherbergte. Auf dem Weg hierher hatte er in seiner Wohnung Halt gemacht, um seine Uniform anzuziehen – die ordentlich gebügelte dunkelgrüne Hose, das blassgrüne kurzärmlige Hemd mit den Schulterklappen und dem Ärmelabzeichen der öffentlichen Sicherheit sowie zu guter Letzt die dunkelgrüne Schirmmütze mit der roten Kordel und der Schleife aus Goldlitze. Als er eintrat, nahm er die Mütze ab, strich mit der Hand über die dunklen Stoppeln seines Bürstenschnitts und atmete tief durch. Der Abteilungsleiter der Pekinger Kriminalpolizei, Polizeirat Hu Yisheng, stand am Fenster, als Li in sein Büro trat. Die Jalousien waren heruntergelassen und die Lamellen so eingestellt, dass sich schmale Linien von Sonnenlicht im Zickzack über die Konturen des Schreibtisches zogen. In hellen, ausgeblichenen Streifen fielen sie über das Rot der dahinter aufgehängten chinesischen Flagge. Li stand stramm, während der Polizeirat einen stählernen Blick in seine
Richtung sandte. Er war ein stattlicher Mann, etwa Anfang sechzig, dessen Kopf von dichtem stahlgrauem Haar bedeckt war. Sein Blick fixierte Li über eine, wie ihm schien, endlose Zeitspanne. Anfangs fühlte sich Li lediglich unbehaglich, doch nach einer Weile spürte er, wie sein Körper dahinzuwelken begann. Irgendwie war dieser Tadel zermürbender als jede ausgesprochene Rüge. Endlich begann der Polizeirat zu sprechen. »Es tat mir Leid, das von Ihrem Onkel zu hören.« Er sagte das gewichtig und anklagend, so als würde Li die Schuld an dessen Tod tragen. Noch aus dem Grab heraus warf sein Onkel einen Schatten über ihn. Der Polizeirat ging um den Schreibtisch herum und setzte sich, ohne Li einen Platz anzubieten. »Er wäre wohl nicht sonderlich stolz darauf, wie Sie diese Ermittlung durchführen, nicht wahr?« »Ich denke, er hätte mir mit guten Ratschlägen geholfen, Polizeirat Hu«, erwiderte Li. Hu hörte die unterschwellige Kritik gar nicht gern. »Na schön, Li, dann werde eben ich Ihnen einen Rat geben«, zischte er. »Sie sollten den Fall lösen. Und zwar rasch. Und wir wollen uns dabei an die herkömmlichen chinesischen Polizeimethoden halten, ja? ›Wo der Bauer rastlos ist, ist das Land fruchtbar‹, wie Ihr Onkel zu sagen pflegte.« »Das trifft zu, Herr Polizeirat«, erwiderte Li. »Er pflegte aber auch zu sagen: ›Der Ochse ist langsam, doch die Erde ist geduldig‹.« Hu zog die Stirn in Falten. »Was genau soll das bedeuten?« »Also, ich habe meinen Onkel immer so verstanden, dass man sich nicht wundern muss, wenn man sehr lange zum Pflügen braucht, falls man einen Ochsen einspannt.« Der Polizeirat starrte ihn finster an. »Sie waren schon immer dafür, einzelne Beamte mit einem ganzen Fall zu betrauen, habe ich Recht?« »Nachdem die Kriminalitätsrate steigt, sollten wir bei der Verbrechensbekämpfung effizientere Wege gehen«, meinte Li. »Also, auf diesen Streit möchte ich im Moment nicht näher eingehen«, erwiderte der Polizeirat gereizt. »Die Entscheidungen darüber werden ohnehin viel weiter oben gefällt.« Er schwieg kurz. »Genau wie die Entscheidung, die Autopsie an unserem vierten Opfer von den Amerikanern vornehmen zu lassen.« »Was?« Li traute seinen Ohren nicht. »Es wurde vereinbart, dass jemand von ihnen bei der Autopsie assistiert. Was in der Praxis nichts anderes bedeutet, als dass sie die
Autopsie durchführen werden.« »Aber das ist doch lächerlich, Herr Polizeirat«, entfuhr es Li. »Bisher hat an keiner dieser Autopsien ein amerikanischer Pathologe mitgewirkt. Das ergibt keinen Sinn.« »Möchten Sie das dem Minister erklären?« Li presste die Lippen zusammen und sparte sich die Antwort. Hu stützte die Ellbogen auf den Schreibtisch, presste die Fingerspitzen gegeneinander und musterte Li nachdenklich. »Wenn ich richtig informiert bin, haben Sie die Ermahnungen beherzigt, die Ihnen der Sektionsvorsteher bezüglich dieser Amerikanerin, dieser Margaret Campbell, gegeben hat?« Li nickte grimmig. »Das habe ich.« »Gut so.« Hu lehnte sich zurück und holte tief Luft. »Denn sie wird die Autopsie durchführen.« Li sah ihn fassungslos an. Wie in Trance trat Li aus dem Gebäude ins gleißende Sonnenlicht. Er nahm die Mütze ab, reckte sein Gesicht zum Himmel und ließ die warm herabströmenden Sonnenstrahlen gleichsam auf sich herabregnen. Die Augen fest geschlossen, versuchte er das Chaos aus seinem Kopf zu vertreiben, in der aberwitzigen Hoffnung, dass die Welt sich in die andere Richtung drehen würde und all seine Probleme wie weggeblasen wären, wenn er sie wieder öffnete. Natürlich wusste er, dass dem nicht so sein würde. Er hatte alles versucht, um sie aus seinen Gedanken, aus den Tiefen seiner Seele zu verbannen. Wie sollte er ihr jetzt von Angesicht zu Angesicht gegenübertreten? Musste sie nicht glauben, dass er sie in irgendeiner Form betrogen hatte? Und auf gewisse Art und Weise, das war ihm bewusst, hatte er das auch getan. Er öffnete die Augen, und sein Blick fiel auf die Stelle, wo er sein Fahrrad abgestellt hatte. Es war nicht mehr da. Verwirrt runzelte er die Stirn und suchte die Reihe von Fahrrädern ab, die an das rote Ziegelgebäude gelehnt waren. Seines war nicht darunter. Er sah zu dem bewaffneten Polizisten am Eingangstor hinüber, der den Blick eisern auf die Straße gerichtet hielt. Dann schaute er sich noch einmal nach seinem Fahrrad um. Entweder hatte er es doch woanders abgestellt, oder jemand musste es weggestellt haben. In einer endlosen Kette zogen sich die abgestellten Fahrräder unter einer Baumzeile um das gesamte Gebäude herum. Seines war nirgendwo zu entdecken. Er konnte nicht glauben, was geschehen war, und ging
verärgert auf den Beamten mit der Waffe zu. »Ich habe gerade eben mein Fahrrad dort abgestellt«, erklärte er und deutete dabei auf den Platz vor der Innenmauer. »Genau dort. Vor einer halben Stunde. Sie haben mich hineinfahren gesehen.« Der Polizist zuckte mit den Achseln. »Hier kommen und gehen dauernd Leute. Ich kann mich nicht erinnern.« »Sie können sich nicht daran erinnern, dass ich mein Rad da drüben abgestellt habe und dass irgendjemand es weggenommen hat?«, fauchte Li. »Nein, ich erinnere mich nicht«, bellte der Mann zurück. »Ich bin doch kein Parkplatzwächter.« Li fluchte vor sich hin. Da hatte doch wahrhaftig irgendwer die Frechheit besessen, sein Fahrrad aus dem Innenhof eines Gebäudes der Stadtpolizei zu stehlen. Wer würde auch auf die Idee kommen, jemanden zur Rede zu stellen, der mit einem Fahrrad aus der Polizeizentrale kam? Er schüttelte den Kopf und konnte sich angesichts solch unverhüllter Dreistigkeit eines winzigen, ironischen Lächelns nicht erwehren. Den Diebstahl auch nur zur Anzeige zu bringen war zwecklos. Fahrraddiebstähle grassierten in Peking. Und unter den zwanzig Millionen Fahrrädern da draußen, das war ihm völlig klar, würde er seines niemals wieder sehen. Energisch setzte er die Mütze auf und legte zu Fuß die knapp dreihundert Meter zu seinem Wohnblock in der Zhengyi-Straße zurück. Dort holte er die Post aus dem Briefkasten, jagte, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf und stürmte in die Wohnung, wo er die Post auf den Tisch und seine Mütze quer durch das Zimmer auf einen Lehnstuhl feuerte. »Scheiße!«, brüllte er die Wände an und merkte, dass er sich ein kleines bisschen besser fühlte, nachdem er Dampf abgelassen hatte. Er ging ins Schlafzimmer, zog seine Uniform aus und blieb unwillkürlich vor seinem Spiegelbild stehen. Er war ziemlich groß. Ungefähr ein Meter achtzig, mit einer guten Figur und einem schlanken, durchtrainierten Körper. Er betrachtete sein Gesicht und versuchte, sich so zu sehen, wie Margaret es in wenigen Stunden tun würde. Doch als er in seine Augen sah, erblickte er darin nichts als ein schlechtes Gewissen. Er wollte sie nicht sehen. Er wollte die Vorwürfe nicht sehen, die sicherlich in ihrem Blick liegen würden. Den Zorn, die Verletzungen. Er hatte geglaubt, das Schlimmste überstanden zu haben. Doch nun hatte sich das Schicksal gegen ihn verschworen und diese unselige Begegnung herbeigeführt.
Zu seiner Verblüffung musste er feststellen, dass er, ohne es zu wollen, seine Kleidung sorgfältiger als gewöhnlich auswählte, woraufhin er vor Wut in seine ältesten Jeans und ein kurzärmliges weißes Hemd schlüpfte. Dann stopfte er sich Brieftasche und Ausweis in die Gesäßtaschen, Zigaretten und Feuerzeug in die Brusttasche des Hemdes, packte das im Flur stehende Fahrrad des alten Yifu und trug es auf den Schultern die Treppe hinunter. Er nahm keinerlei Notiz von dem Brief mit dem Poststempel aus Sichuan, vor einer Stunde und nur drei Tage zu spät ausgeliefert, den er auf den Tisch hatte fallen lassen. Er radelte erst Richtung Osten den Chang’an-Boulevard entlang und bog dann, verbissen in die Pedale tretend, nach Norden ab; seine Klingel verjagte Fußgänger, die sich auf die Radspur verirrten, Autofahrer mit vermeintlich gepachteter Vorfahrt verbellte er mit Flüchen. Schweiß perlte ihm über die Stirn und klebte das Hemd am Rücken fest. Immer noch hätte er am liebsten laut gebrüllt, mit Sachen um sich geschmissen oder jemanden getreten. Ganz unvorbereitet war er gezwungen, jenen beiden Dämonen ins Auge zu blicken, die er vergeblich aus seinem Leben zu verbannen versucht hatte – er war gegen seinen Willen mit dem Rad seines toten Onkels unterwegs zu einem Treffen mit der Frau, die aufzugeben man ihm befohlen hatte. Hätte er seinen Onkel wieder zum Leben erwecken können und der Frau, die er liebte, in die Arme fallen dürfen, er hätte es augenblicklich getan. Doch beides war unmöglich, darum blieb ihm nichts anderes übrig, als weiterzufahren und beiden Dämonen die Stirn zu bieten. Überall wurde bereits das Mittagessen vorbereitet; auf den Gehwegen dampften und brodelten auf Kohlebecken riesige Töpfe mit Brühe vor sich hin. Li roch frittierte Teigbällchen und sah die Frauen Nudeln auf flachen Brettern ausrollen. Holzkohle brannte qualmend in den Metalltrögen, über die bald die vorbereiteten Spieße mit pikant gewürztem Lamm und Huhn gehängt würden. Auf der Straße wurde eher früh gegessen, und etwa eine Stunde zuvor herrschte hektische Betriebsamkeit, sowohl bei jenen, die das Essen zubereiten, als auch bei denen, die sich auf die Mahlzeit freuten. Kinder in blauen Trainingsanzügen und mit gelben Baseballkappen stürmten aus den Schulhöfen, und aus den Fabriken strömten die Arbeiter in den Sonnenschein hinaus. Eine Zeit lang hatte Li hinter einem dreirädrigen Gefährt festgehangen, dessen Fahrer, ein zerzauster junger Mann, an den Pedalen seiner Rikscha
Schwerstarbeit leistete, um die gewaltige Ladung von runden Kohlebriketts zu ziehen, mit denen im Winter in Peking geheizt wurde. Schließlich schob er sich an ihm vorbei, indem er sich an der Einmündung der Dongsi-Shitiao-Straße zwischen dem Karren und einem entgegenkommenden Bus hindurchzwängte. Gleich darauf war von den Garküchen nichts mehr zu sehen oder zu riechen, und er rollte im Leerlauf durch den letzten, schattigen Abschnitt der Straße vor der Ecke zur Dongzhimennei-Straße, wo ihn hoffentlich sein eigenes Mittagessen in Form eines Jian Bing erwarten würde. Als Li sein Fahrrad zum Stehen brachte, war Mei Yuan gerade damit beschäftigt, Jian Bings für zwei Schulmädchen zuzubereiten. Dies gab ihm Gelegenheit, sie bei der Arbeit an der Kochplatte zu beobachten, die in einem kleinen Glashaus mit rotem Giebeldach untergebracht war, welches wiederum auf der Hinterachse ihres verlängerten Dreirades montiert war. Wie üblich hatte sie das dunkle Haar nach hinten zu einem Knoten gebunden, doch die Falten in ihrer sonst glatten Haut waren ausgeprägter, und ihr Gesicht wirkte angestrengter als sonst. Sie grinste, als sie ihn erkannte, auf ihren Wangen erschienen kleine Grübchen, und schlagartig leuchtete neues Leben in ihren liebenswerten dunklen Mandelaugen auf. Er wusste wohl, dass sie eine Schwäche für ihn hatte. Eine Art unausgesprochener Seelenverwandtschaft verband sie mit ihm. Ein kleines bisschen füllte er die Lücke, die der Verlust ihres Sohnes hinterlassen hatte, und sie im Gegenzug jene Leere, die er seit dem Tod seiner Mutter empfand – beide waren Opfer der Kulturrevolution geworden. Keiner stellte irgendwelche Forderungen an den anderen. Es handelte sich um ein unausgesprochenes Gefühl, das in aller Stille gewachsen war. Sie goss eine Art Pfannkuchenteig auf die Heizplatte und ließ ihn eine Weile brodeln und zischen, bevor sie ein Ei darüber schlug. Er konnte nur mit Mühe der Versuchung widerstehen, sie in die Arme zu schließen. In der vorigen Woche war sie einige Tage nicht an ihrer Ecke erschienen, sodass er sie schließlich zu Hause besucht hatte, um sich nach ihr zu erkundigen. Sie hatte krank und allein in ihrem Bett gelegen. Da sie zu der wachsenden Gruppe der selbstständig Beschäftigten gehörte, gab es keine Arbeitseinheit, die für sie gesorgt hätte. Er hatte ihr an jenem Abend selbst etwas gekocht und anschließend ein Mädchen dafür bezahlt, dass es ihr täglich zu essen brachte und das
Haus in Ordnung hielt. Am Vorabend hatte sie ihm mitgeteilt, dass sie heute wieder wie gewohnt an ihrer Ecke stehen würde, obwohl er den Eindruck hatte, dass sie noch nicht wieder ganz auf dem Damm war. Tatsächlich stand sie jetzt hier, bleich und erschöpft, und kämpfte darum, ihr Leben schleunigst wieder in Schwung zu bringen. Sie wendete den Pfannkuchen, bestrich ihn mit Hoisin- und Chilisoße und bestreute ihn mit klein geschnittenen Frühlingszwiebeln und Koriander, bevor sie einen Löffel Eischnee in die Mitte gab, den Pfannkuchen mehrfach zusammenklappte und ihn schließlich, in braunes Papier eingewickelt, dem zweiten Schulmädchen aushändigte. »Macht zwei Yuan«, sagte sie, dann wandte sie sich strahlend zu Li um. »Haben Sie gegessen?« »Ja, ich habe gegessen.« Er gab die rituelle Antwort auf ihre für Peking typische Begrüßung und fügte dann hinzu: »Tut mir Leid, dass ich das Frühstück verpasst habe. Die Arbeit.« »Das ist keine Entschuldigung«, schalt sie ihn. »Ein großer Junge wie Sie braucht sein Essen.« Sie machte sich an die Zubereitung eines weiteren Jian-Bing. »Ich habe allmählich das Gefühl, dass Sie mir aus dem Weg gehen.« »Warum sollte ich das tun?« »Weil Sie noch keine Antwort auf das letzte Rätsel wissen, das ich Ihnen gestellt habe?« Er runzelte die Stirn. »Wann haben Sie mir denn ein Rätsel aufgegeben?« »Bevor ich krank wurde.« »Oh«, Verlegenheit schwang in seiner Stimme mit, »das weiß ich gar nicht mehr.« »Wie überaus praktisch«, antwortete sie. »Dann will ich Sie mal daran erinnern.« »Das habe ich befürchtet.« Sie grinste. »Wenn ein Mann schnurgerade in eine Richtung geht, ohne dabei den Kopf zu drehen, wie kann er dennoch alles sehen, was er hinter sich gelassen hat? Und die Lösung hat nichts mit irgendwelchen Spiegeln zu tun.« »Ach ja«, Li tat gelangweilt. »Jetzt weiß ich es wieder. Das war schlicht zu einfach.« »Ach ja? Dann mal raus mit der Antwort.« Li zuckte mit den Achseln. »Der Mann geht natürlich rückwärts.« Sie kniff die Augen zusammen. »Also, das war wirklich zu
einfach, nicht wahr?« Sie machte den Jian Bing fertig und reichte ihn Li. Er biss in die pikant würzige Leckerei und hielt ihr einen Zweiyuanschein hin. Sie stieß seine Hand weg. »Lassen Sie den Unfug«, erklärte sie. »Ich mache keinen Unfug«, widersprach er und langte über sie hinweg, um den Schein in ihre Kassendose zu werfen. »Wenn jemand in Ihr Haus einbrechen würde und man mich mit den Ermittlungen betraute, würden Sie dann etwa meine Chefs anrufen und sagen: ›Geht schon in Ordnung, dafür braucht ihr ihn nicht zu bezahlen, ich kenne ihn‹?« Sie musste unwillkürlich lächeln. »Soll das ein Rätsel sein?« »Nein, das ist kein Rätsel. Ich kann Ihnen heute keines stellen. Sie haben mir nicht genügend Zeit gelassen, mir eines auszudenken.« »Also schön«, sagte sie. »Dann habe ich noch eines für Sie. Aber diesmal ein schwierigeres.« Er nickte und stopfte sich den nächsten Bissen Jian Bing in den Mund. »Drei Männer kommen in ein Hotel. Sie wollen sich ein Zimmer teilen, also kassiert die Empfangsdame dreißig Yuan von ihnen.« »Das nenne ich mal ein billiges Zimmer«, fiel er ihr ins Wort. »Kommt ganz auf das Hotel an«, sagte sie geduldig. »Aber völlig egal, in diesem Rätsel sind es nun mal dreißig Yuan, und jeder der drei Männer bezahlt zehn Yuan.« »Okay.« »Also, nachdem die drei auf ihr Zimmer verschwunden sind, wird der Empfangsdame klar, dass das Zimmer eigentlich nur fünfundzwanzig Yuan gekostet hätte.« »Das Hotel wird ja immer billiger!« Sie ging nicht auf seine Bemerkung ein. »Sie ruft den Hotelpagen, erklärt ihm, worum es geht, und drückt ihm fünf Yuan in die Hand, damit er sie nach oben bringt und den Männern zurückgibt. Unterwegs überlegt der Page, dass es für die Männer ziemlich schwierig sein dürfte, fünf Yuan durch drei zu teilen. Folglich beschließt er, ihnen nur drei Yuan zurückzugeben – einen für jeden – und die beiden anderen selbst einzustecken.« »Unehrlichkeit.« Li schüttelte traurig den Kopf. »Genau damit muss ich mich tagtäglich herumschlagen.« »Also«, sie überhörte ihn auch diesmal, »wenn jeder der drei Männer einen Yuan wiederbekommen hat, bedeutet dies, dass jeder nur neun Yuan bezahlt hat. Das ergibt zusammen siebenundzwanzig
Yuan. Der Page hat zwei Yuan für sich selbst behalten. Das macht dann neunundzwanzig Yuan. Wo ist nur der eine Yuan geblieben?« Li hörte einen Moment lang auf zu kauen und rechnete rasch nach. Dann zuckte er mit den Achseln. »Neunundzwanzig«, bestätigte er und fügte hinzu: »Aber das ist doch nicht möglich.« Sie zog die Augenbrauen hoch. »Genau darin liegt das Rätsel.« Er rechnete noch einmal nach und schüttelte den Kopf. »Ich werde darüber nachdenken müssen. Es ist sicherlich ganz einfach.« »Sicherlich.« Sie wühlte in der Tasche, die von ihrem Fahrrad hing. »Ach, beinahe hätte ich es vergessen. Ich habe Ihnen etwas mitgebracht. Ich dachte mir, das könnte Sie interessieren.« Sie zog ein abgegriffenes dunkelblaues Buch mit Leineneinband hervor. »Der rote Fehdehandschuh von Sir Walter Scott.« »Den Namen kenne ich. Ich glaube, mein Onkel hat einige Bücher von ihm besessen. Wer ist er?« »War. Er war ein berühmter schottischer Schriftsteller. Neulich habe ich den Film Braveheart gesehen, in dem es um den schottischen Freiheitskämpfer William Wallace ging. Das hat mein Interesse an diesem Land geweckt. Also habe ich Sir Walter Scott gelesen. Ich glaube, er könnte Ihnen gefallen.« Li nahm das Buch entgegen. »Danke, Mei Yuan. Allerdings könnte es eine Weile dauern, bis ich es zurückgeben kann. Ich stecke gerade bis über beide Ohren in einem schwierigen Fall.« »Schon in Ordnung. Wann auch immer«, erwiderte sie. »Was man einem Freund gibt, ist niemals verloren.« Weil mehrere Kunden kamen, um Jian Bings zu kaufen, drehte Mei Yuan ihm beim Kochen den Rücken zu, während Li über jene zwölf Jahre des Irrsinns nachsann, die auf tragische Weise einer klugen und gebildeten Frau das Leben gestohlen und sie schließlich auf die Straße gespült hatten, wo sie ihren Lebensunterhalt damit bestreiten musste, leckere Pfannkuchen zu backen. Bis Mei Yuan fertig war und ihre Aufmerksamkeit wieder Li zuwandte, war er in Gedanken allerdings längst wieder bei Margaret und der unausweichlichen Begegnung mit ihr. Er schreckte aus seinen Betrachtungen hoch und stellte fest, dass Mei Yuan ihn ansah. »Was bedrückt Sie, Li Yan?«, fragte sie ihn. Wie sollte er ihr das erklären? Wie sollte er ihr das auch nur ansatzweise klarmachen? Er versuchte es dennoch: »Was würden Sie tun, wenn Ihr Herz Ihnen etwas anderes befiehlt als Ihre Vorgesetzten?«
»Ist das ein Rätsel?« »Nein, eine Frage.« Sie überlegte kurz. »Es handelt sich dabei um einen Konflikt zwischen… wie soll ich sagen… Liebe und Loyalität?« »Wahrscheinlich etwas in der Art, allerdings nicht ganz so einfach.« »Wenn nur alles im Leben so einfach wäre wie die Lösung eines Rätsels«, sagte sie und berührte sanft seinen Arm. »Gibt es denn keine Möglichkeit, beides unter einen Hut zu bringen? Es ist immer besser, auf zwei Beinen zu stehen.« Er schüttelte traurig den Kopf. »Ich fürchte, die gibt es nicht.«
III Li ging am Sportplatz vorbei, wo sich hinter dem Maschendrahtzaun rissiger Beton in der Sonne aufheizte. Eine Gruppe von Studenten spielte lachend und unter großem Geschrei Volleyball. Er beneidete sie um ihre Jugend, die frei war von irgendwelchen Alltagssorgen jenseits des Campus. Vor langer Zeit hatte er selbst hier studiert. Er konnte sich gut entsinnen, wie er sich damals gefühlt hatte, und er vermisste die verlorene Unschuld. Zu seiner Verstimmung hatte er bei seiner Rückkehr zur Sektion Eins feststellen müssen, dass die Amerikaner darauf bestanden hatten, die Autopsie im Zentrum für forensische Beweissicherung durchzuführen, das sich auf dem Gelände der Universität für öffentliche Sicherheit im Südwesten Pekings befand. Offensichtlich hatte Dr. Campbell sich beschwert, dass die Einrichtungen in der Pao Jü Hutong ihren Ansprüchen nicht genügten. Ihm war noch gut im Gedächtnis, wie sehr er sich bei ihrer ersten Begegnung über sie geärgert hatte. Jetzt übte sie wieder genau dieselbe Wirkung auf ihn aus. Er erblickte die Limousine mit dem großen roten ShiKennzeichen, das für Botschaft stand, gefolgt von der Zahl 224, die sie als ein Fahrzeug der amerikanischen Botschaft auswies. Sie parkte vor dem Zentrum, und einen Augenblick lang wurden sein Ärger und seine Wut von Nervosität überdeckt. Er merkte, wie sein
Puls raste und sein Mund trocken wurde. Kommissar Qian war bereits da und sah Li unsicher an, als dieser den Autopsiesaal betrat. Eine ziemlich jung wirkende Asiatin mit kurzem dunklem Haar stand weiter hinten im Raum. Ihr Gesicht war sehr hellhäutig, und ihr war anzusehen, dass sie am liebsten weit weg gewesen wäre. Der Pathologe Wang hatte seine beiden Assistenten aus der Pao Jü Hutong mitgebracht. Gemeinsam mit Margaret war er eben dabei, die Fotografien vom Tatort zu untersuchen, die auf einem weiß abgedeckten Tisch auslagen, zusammen mit dem Plakat, das dem Opfer um den Hals gehängt worden war. Eine unausgesprochene Spannung elektrisierte die Luft. Schon beim ersten Blick auf Margaret fühlte Li sich eindeutig im Nachteil. Die Vorbereitungen für die Autopsie waren weitgehend abgeschlossen, und sie war bereits umgezogen, beinahe bis zur Unkenntlichkeit verhüllt unter den Schichten ihrer Berufskleidung: dem grünen Chirurgenanzug, der Plastikschürze und dem langärmligen Operationskittel aus Baumwolle. Das Haar hatte sie unter eine Duschhaube gezwängt, und das Gesicht lag unter der Chirurgenmaske und der Schutzbrille verborgen. Die weiche sommersprossige Haut ihrer Unterarme war von Ärmelschonern aus Plastik verhüllt, ihre langen, eleganten Finger steckten in Latexhandschuhen. All diese Schichten wirkten wie eine Barriere, die sie vor seinem Blick abschirmte und beschützte. Er hingegen fühlte sich in seinen Jeans und dem Hemd mit offenem Kragen wehrlos ihren Blicken ausgesetzt, die ihn, wie er genau spürte, hinter der anonymen Schutzbrille hervor förmlich aufspießten. Sie schaute lange und hartnäckig in seine Richtung, dann vernahm er die vertraute Stimme: »Wie üblich zu spät, Herr stellvertretender Sektionsvorsteher.« Er merkte, wie ihm die Schamesröte ins Gesicht schoss. »Nur der Form halber«, hörte er sich sagen, »möchte ich an dieser Stelle eines klarstellen: Ich bin dagegen, dass diese Autopsie von jemand anderem als unserem Pathologen vorgenommen wird, der bereits die drei vorangegangenen Autopsien in diesem Fall durchgeführt hat.« »Tatsächlich?« Dieser so vertraute, ätzende Tonfall. »Vielleicht wäre gar keine vierte Autopsie nötig gewesen, wenn man schon früher einen Spezialisten hinzugezogen hätte.« Li hörte das asiatische Mädchen nach Luft schnappen. Das war ein Schlag ins Gesicht. Eine eiskalt berechnete Ohrfeige. Er sah auf
Wang, doch dessen Englisch war wahrscheinlich kaum so gut, dass er diesem schnellen Schlagabtausch hatte folgen können. Wie auch immer, falls der chinesische Pathologe etwas verstanden hatte, ließ er es sich nicht anmerken. Dass er sein Mianzi, sein Gesicht, verloren hatte, blieb ebenso hinter seiner Maske und Schutzbrille verborgen wie Margarets Schmerz. Margaret nickte den beiden Assistenten zu. »Nachdem der Chef nun endlich eingetroffen ist, schlage ich vor, unverzüglich zu beginnen.« Die beiden sahen Wang an, der ihnen irgendein unmerkliches Zeichen gab, woraufhin sie nach draußen verschwanden, die Bahre mit dem noch vollständig bekleideten Leichnam hereinfuhren und sie unter dem von der Decke hängenden Mikrofon in Position brachten. Die Leiche bot einen bizarren Anblick: Sie wölbte sich mit durchgestrecktem Rücken über die Arme, die noch immer an den Handgelenken zusammengebunden waren. Der Kopf war, auf ein blutgetränktes Handtuch gebettet, in der Nähe des Halses abgesetzt worden, lag jedoch merkwürdig abgewinkelt da und starrte mit offenem Mund und aufgerissenen Augen seitwärts ins Leere. Margaret nutzte den Augenblick, in dem die allgemeine Aufmerksamkeit auf den Leichnam gerichtet war, um Li heimlich in Augenschein zu nehmen. Er war dünner als bei ihrer letzten Begegnung, und der Stress verriet sich in den dunklen Schatten unter seinen Augen. Es erschreckte sie, wie chinesisch er aussah. Als sie zu beinahe jeder wachen Stunde mit ihm zusammen gewesen war, hatte sie irgendwann aufgehört, ihn als Chinesen zu sehen. Er war einfach Li Yan gewesen, der sie so sanft berührte, wie sie es bei keinem Mann je zuvor erlebt hatte, dessen Augen so weich und dunkel, so voller Humor und Leben waren, dass sie sich auf unerklärliche Weise zu ihm hingezogen fühlte. Jetzt hatte sich diese Vertrautheit in nichts aufgelöst. Er kam ihr beinahe vor wie ein Fremder, und ein seltsames Gefühl von Enttäuschung machte sich in ihr breit. Was sie im Moment ihm gegenüber empfand, war nichts als blanker Zorn. Eilig richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Leiche und schaltete das Deckenmikrofon ein, um sich in ihre Arbeit zu flüchten, wo der Tod Vorrang vor dem Leben besaß. Dann jedoch hielt sie kurz inne, irritiert durch die absonderliche Körperhaltung der Leiche, die sich rücklings über die Hände streckte und deren Kopf so unnatürlich dalag. Irgendwie war dadurch das Gefühl, dass
der Mann eines gewaltsamen Todes gestorben war, viel ausgeprägter, als es nach einer simplen Messerstecherei oder Schießerei der Fall gewesen wäre. Etwas in der Miene des Toten vermittelte eine Andeutung von dem Grauen, das er durchlitten haben musste, während er auf seine Enthauptung wartete. Es war unbeschreiblich. Rasch begann sie mit der Voruntersuchung, wobei sie alle gewonnenen Erkenntnisse zur späteren Niederschrift in das Mikrofon sprach. »Bei der Leiche handelt es sich um einen gut genährten männlichen Asiaten von augenscheinlich etwa fünfzig Jahren. Der Tote wurde das Opfer einer Enthauptung, die im Folgenden noch genauer beschrieben wird. Er trägt graue Hosen, weiße Socken und schwarze Lederschuhe sowie ein weißes Hemd, das überall auf der Vorderseite sowie seitlich des Kragens und im gesamten Brustbereich von Blut durchtränkt ist.« Die Assistenten drehten den Leichnam um, was den makabren Eindruck erweckte, der Körper würde um den reglos verharrenden Kopf rotieren. Danach fiel es wesentlich schwerer, noch etwas Menschliches in den sterblichen Überresten zu erkennen, die jetzt wie wahllos zusammengewürfelte Körperteile aus dem Wachsfigurenkabinett wirkten. Margaret untersuchte die weiße Seidenschnur, mit der die Handgelenke zusammengebunden waren, hob die altmodische Reflektorblitzkamera, die ihr von einem der Assistenten gereicht wurde, und machte einige Aufnahmen. Der zweite Assistent übergab ihr ein knapp fünfzig Zentimeter langes Stück Faden. Dessen Enden band sie im Abstand von ungefähr zwanzig Zentimetern und vielleicht sieben oder acht Zentimeter vom Knoten entfernt an die Seidenschnur, die sie anschließend zwischen den beiden Knoten des Fadens durchtrennte, ohne dass sie dabei den seidenen Knoten beschädigte. Den abgelösten Knoten deponierte Wang vorsichtig auf dem angrenzenden Tisch. Margaret fotografierte die Handgelenke erneut. »Nach Entfernung des Knotens wird erkennbar, dass die Handgelenke schwache rosafarbene Spuren von Quetschungen aufweisen, die im Folgenden noch näher beschrieben werden.« Nun entkleideten die Assistenten Yuan Tao vorsichtig und legten seine Sachen auf dem Tisch neben dem Seidenknoten aus. Die Hosentaschen wurden durchsucht, ohne dass etwas gefunden wurde. Die Assistenten drehten die Leiche erneut auf den Rücken, und Margaret begann sie eingehend zu untersuchen.
»Die Leiche war tiefgefroren und fühlt sich bei Berührung kalt an. Die Totenstarre ist im Kiefer sowie in den Extremitäten eingetreten, am Hals ist sie, bedingt durch die Enthauptung, nicht festzustellen. Voll ausgebildete postmortale Verfärbungen sind nur schwach an den äußeren Gliedmaßen feststellbar.« Li unterbrach sie: »Kannst du schon irgendetwas über den Todeszeitpunkt sagen?« Seufzend schaltete sie das Mikrofon ab. »Warum müssen Polizisten eigentlich immer Fragen stellen, von denen sie genau wissen, dass man sie mit gutem Gewissen nicht beantworten kann?« Li meinte, unter Wangs Chirurgenmaske den Anflug eines Lächelns zu erkennen. Aber Margaret wagte doch eine Prognose. Ihre Frage war rein rhetorisch gewesen. »Da die Leiche eingefroren war, hat es keinen Sinn, die Lebertemperatur zu messen. Ich würde sagen, die Totenstarre hat wohl erst vor wenigen Stunden eingesetzt, darum würde ich schätzen, dass er vor ungefähr zwölf bis sechzehn Stunden gestorben ist.« Was bedeuten würde, dass der Mann zwischen zweiundzwanzig Uhr abends und zwei Uhr morgens in der vergangenen Nacht gestorben war, folgerte Li. Das war etwas später, als Wang geschätzt hatte, aber es passte besser zu den Aussagen der Zeugen in der Wohnung darunter. »Darf ich jetzt weitermachen?«, fragte Margaret spitz. Li nickte. Sie untersuchte den Kopf, drehte und wendete ihn hin und her und hob ihn zwischendurch an den Haaren in die Höhe, wobei weiche johannisbeerrote Blutklümpchen auf dem Tisch zurückblieben. Sie beschrieb die dunklen, leblosen Augen, die auch dann eisig geradeaus blickten, wenn sie den Kopf bewegte, und den durch die Leichenstarre offen gehaltenen Mund, der wie mitten im Schrei erstarrt wirkte. »Vom Jochbein der rechten Wange bis zum seitlichen Rand der Augenhöhle erstreckt sich ein etwa zwei bis zweieinhalb auf vier Zentimeter großer Bereich mit einer rosafarbenen Prellung und goldfarbenen pergamentartigen Abschürfungen. « Verletzungen, die beim Aufschlag des Kopfes auf dem Boden und beim Herumrollen entstanden waren. Sie ging nun zur Beschreibung der Todesursache über, wozu sie eingehend die Halswunde untersuchte. »Der Kopf wurde, wie eingangs erwähnt, vollständig vom Rumpf
abgetrennt. Die hintere Schnittkante liegt drei Zentimeter tiefer als die vordere, der Wundrand weist in der linken hinteren Seitenansicht die schärfsten Konturen auf. An diesem hinteren Seitenrand findet sich ein schmaler Streifen mit einer Abschürfung, auf der Vorderseite ist ein Hautlappen mit einer Fläche von ein auf zweieinhalb Zentimetern erkennbar. Dieser Hautlappen hängt am vorderen äußeren Teil des Halses. Der Wundschnitt zeugt von einer lebhaften Immunreaktion. Die Wirbelsäule wurde zwischen dem fünften und sechsten Halswirbel durchtrennt. Alle weichen Gewebestrukturen des Halses sind vollständig abgetrennt: die Luftröhre auf Höhe des dritten Luftröhrenrings; die Halsschlagadern unterhalb der Gabelungen. Die Schnittkante über dem weichen Gewebe deutet auf eine vorwärts gerichtete Bewegung der Mordwaffe hin.« »Was bedeutet das genau?«, fragte Li. Sie warf ihm einen vernichtenden Blick zu. »Das heißt, dass ich schon sauberere Schnitte gesehen habe.« Sie fuhr damit fort, den Hals aus verschiedensten Winkeln zu fotografieren, ehe sie die graugrüne Verfärbung auf der hellbraunen Schnittfläche der Wirbelsäule einer eingehenden Betrachtung unterzog. Sie gab zu verstehen, dass sie einen Teststreifen abnehmen wollte. Doktor Wang schnitt von einem breiten, klebrigen Film ein gut zehn Zentimeter langes Stück ab. Das hielt er an beiden Enden über die Schnittfläche des zähen, fasrigen Knorpelmaterials zwischen dem fünften und dem sechsten Halswirbel, während Margaret es andrückte. Anschließend zog Wang das Band ab, an dem nun die mikroskopisch kleinen metallischen oder mineralischen Teilchen hafteten, die von der Klinge der Mordwaffe abgesplittert waren und die er sicherte, indem er den Streifen zwischen die Ränder einer gläsernen Petrischale pappte. Margaret sah zu Li auf. »Ich gehe davon aus, dass bei den bisherigen Opfer entsprechend vorgegangen wurde?« »Allerdings.« »Und?« »Die Partikel wurden unter dem Elektronenmikroskop analysiert. Man fand heraus, dass sie vor allem aus Kupfer und Zinn bestehen.« »Bronze«, fasste sie zusammen. »Irgendeine Art von zeremoniellem Schwert oder ein Prunkschwert? Womöglich gar ein antikes Original?« »Möglich«, antwortete Li.
»Nun, es kommen nur diese drei Möglichkeiten in Betracht«, folgerte Margaret. »Seit das Eisen erfunden wurde, stellt kein Mensch mehr Bronzeschwerter für den täglichen Gebrauch her.« Sie überlegte kurz. »Was ist mit den unveränderlichen Kennzeichen?« Li runzelte die Stirn. »Ich verstehe nicht ganz.« In ihrer Ungeduld redete Margaret auf ihn ein wie auf ein kleines Kind. »Jede Klinge, und sei sie auch noch so scharf, weist Kerben und Unregelmäßigkeiten auf, die am durchschnittenen Knochen mikroskopisch kleine Kratzer hinterlassen – unveränderliche Kennzeichen. Ich nehme an, es gibt Präparate von den Wirbelknochen der vorigen Opfer?« Li blickte zu Wang, der das mit einem Nicken bestätigte. »Gut«, sagte Margaret. »Wenn man die Schnittflächen des Knochens oder der Bandscheiben unter dem Mikroskop vergleicht, besteht die geringe Möglichkeit, dass man diese winzigen Kratzspuren zuordnen und daraus schlussfolgern kann, ob bei allen Morden dieselbe Waffe zum Einsatz kam. Ein geübter Schwertkämpfer würde normalerweise jedes Mal mit demselben Abschnitt der Klinge zuschlagen; man könnte fast von einem Lieblingsfleck sprechen. Folglich müssten jedes Mal die gleichen unveränderlichen Kennzeichen zurückgeblieben sein. Und natürlich wäre man in der Lage, das Schwert, sollte es jemals gefunden werden, eindeutig den Morden zuzuordnen – ähnlich wie bei einem ballistischen Vergleich. Man bezeichnet das Ganze als Abgleich des Tatwerkzeugabdrucks.« »Dies gehört nicht zu den… hm… Arbeitstechniken, die wir bislang eingesetzt haben«, ließ sich Doktor Wang vernehmen, zu Lis Verblüffung in fließendem Englisch. »Nun, ich sähe es gerne, wenn man sie diesmal anwenden würde«, erklärte Margaret. »Es könnte in diesem Fall noch von Bedeutung sein. Sollten Ihre Kriminaltechniker dabei Hilfe benötigen, stehe ich gerne zur Verfügung.« Sie nickte einem der beiden Assistenten zu, ein Stück der Wirbelsäule zu präparieren. Mit derselben Elektrosäge, mit der er später das Schädeldach entfernen würde, trennte der Mann die Wirbelsäule ein paar Zentimeter unterhalb der Wunde ab und gab den abgelösten Schnitt in das formalingefüllte Schraubglas, das ihm sein Kollege hinhielt. Das jämmerliche Kreischen der Säge hatte sich angehört wie der Todesschrei einer Kreatur, die nicht von dieser Welt war. Sophie, die die ganze Zeit im Hintergrund des Raumes gestanden hatte und Blut
und Wasser schwitzte, presste sich mit kalkweißem Gesicht eine Hand auf den Mund. Aber als sie Margarets Blick auffing, wurde ihr klar, dass sie dies würde durchstehen müssen, egal wie. Sie schluckte heftig, atmete tief durch und versuchte sich vorzustellen, sie wäre irgendwo weit weg. Margaret trat ein Stück zurück, damit die Assistenten Blut- und andere Proben für die Toxikologie nehmen konnten. Erneut nutzte sie die Gelegenheit, um einen verstohlenen Blick auf Li zu werfen, der seinerseits die Augen starr auf das Geschehen am Tisch gerichtet hatte. Am liebsten hätte sie ihn gepackt, geschüttelt und ihm »Warum?« ins Gesicht gebrüllt. Stattdessen merkte sie, wie ihr Tränen in die Augen schossen, und wandte hastig den Blick ab, gerade als die Nadel, die einer der Assistenten zum Abzapfen von Flüssigkeit in das rechte Auge des Verstorbenen gestochen hatte, den Augapfel einsinken ließ. Mühsam konzentrierte sie sich wieder auf ihre Arbeit. Der Rest der Autopsie war weitgehend Routine und würde ungefähr noch fünfundvierzig Minuten in Anspruch nehmen. Nur noch fünfundvierzig Minuten. Die Assistenten schoben auf Brusthöhe einen Holzkeil unter die Leiche, wodurch die Brusthöhle angehoben wurde, während Margaret den eröffnenden Y-förmigen Schnitt ansetzte, ausgehend von beiden Schulterpartien bis zum Treffpunkt unterhalb des Brustbeins und dann weiter hinunter über den Nabel bis zum Schambein. Nachdem sie den Brustkorb aufgeschnitten hatte und die inneren Organe leicht zugänglich dalagen, arbeitete sie systematisch Herz und Lungen ab, ohne etwas Außergewöhnliches festzustellen, bis sie beim Magen anlangte. Dort klemmte sie die Speiseröhre ab und durchschnitt sie, befreite den Magen danach von Fett- und Bindegewebe und trennte ihn schließlich vom Zwölffingerdarm. Augenblicklich schlug allen Anwesenden der Geruch von Alkohol entgegen. Margaret schnüffelte zwei- oder dreimal und zog eine Braue hoch. »Riecht wie Wodka. Ein Mann nach meinem Geschmack.« Sie hielt den Magen in die Höhe, brachte einen kleinen Einschnitt an und entleerte den Inhalt in einen Messbecher. Der Gestank verbreitete sich im ganzen Raum. Sie öffnete den Magen für die Untersuchung. »Die Speiseröhre ist mit rosiggrauem Schleim ausgekleidet. Es gibt keinerlei abnorme Ausstülpungen oder Gefäßveränderungen.
Der Magen enthält vierhundertfünfundsiebzig Kubikzentimeter einer dünnen bläulichbraunen Flüssigkeit, in der mehrere winzige fahlblaue Partikel schwimmen, bei denen es sich dem Augenschein nach um Rückstände von Arzneimitteln handeln dürfte. Keine Anzeichen von aufgenommener Nahrung sind erkennbar. Ein ethanolähnlicher Geruch ist festzustellen. Der Magenschleim ist fahlblau verfärbt, offensichtlich hervorgerufen durch den Mageninhalt, das Aussehen der Schleimhautfalten ist unauffällig. « Sie schaltete das Mikrofon wieder ab. »Roofys«, erklärte sie. »Die klassische Droge, um eine Frau nach einem Rendezvous zu vergewaltigen. Zwei oder drei Tabletten zu je zwei Milligramm, und wer sie geschluckt hat, fährt Achterbahn, alles weitet sich, er wird müde… das Ganze verstärkt sich noch, wenn die Droge mit Alkohol eingenommen wird. Das erklärt, warum er sich so schicksalsergeben hat hinrichten lassen. Abgesehen von den paar blauen Flecken rund um die gefesselten Handgelenke gibt es keinerlei Anzeichen für eine Verletzung, die darauf hindeuten würde, dass er in irgendeiner Form um sein Leben gekämpft hat.« »In den Mägen der anderen… hm… Opfer haben wir eine Droge namens Flunitrazepam nachweisen können«, warf Doktor Wang ein. »Das ist dasselbe«, sagte Margaret. »Roofys ist die Szenebezeichnung für das Zeug. Die Handelsmarke heißt Rohypnol. Hergestellt von der Firma Hoffmann-LaRoche. Als der Stoff auf den Markt kam, erfreute er sich in gewissen Kreisen großer Beliebtheit, weil er sich in jedem Getränk farb-, geruchs- und geschmacksneutral auflösen ließ. Infolgedessen änderte der Hersteller die Formel so ab, dass das Mittel sich in Flüssigkeiten blau färbt. Das macht es etwas schwieriger, jemandem das Zeug unbemerkt ins Glas zu kippen.« »In den anderen drei Fällen war es mit Rotwein vermischt worden«, merkte Wang an. Margaret sann einen Augenblick darüber nach. »Hm. Ich glaube, das könnte klappen. Wahrscheinlich würde sich der Wein nur etwas trüben, und wohl nur einem echten Weinkenner würde der Unterschied auffallen. Aber in diesem Fall hier«, sie deutete auf den geöffneten Rumpf auf dem Autopsietisch, »ist es sonnenklar, dass sich der Stoff im Wodka knallblau verfärbt hat.« Li zog die Stirn in Falten. »Warum hätte er ihn dann trinken sollen?« Margaret zuckte mit den Achseln. »Wer weiß? Es ist verblüffend, worauf sich die meisten Leute einlassen, wenn man ihnen eine
Kanone an den Kopf hält.« Sie nickte in Richtung des blutgetränkten Pappschildes, das auf dem Beistelltisch lag. »Ich nehme an, man hat ihm das da umgehängt, bevor er einen Kopf kürzer gemacht wurde.« »Davon gehen wir aus«, bestätigte Li. Sie wartete auf eine Erläuterung, doch er blieb stumm. »Also, was soll das bedeuten?«, fragte sie schließlich. Er erwiderte ihren Blick und erklärte gleichgültig: »Das oberste Schriftzeichen steht für die Zahl Drei.« Margaret furchte die Brauen. »Ich war der Meinung, Yuan Tao sei das vierte Opfer?« »Ist er auch. Der Mörder hat bei sechs angefangen und scheint rückwärts zu zählen.« »Er hat also noch zwei Kandidaten auf seiner Liste?« »Es sieht ganz danach aus.« Li verstummte kurz, um dann fortzufahren: »Das durchgestrichene Schriftzeichen ist ein Spitzname. Alle Opfer hatten einen Spitznamen – Null, Affe, Schweinchen. Und alle waren zusammen auf derselben Mittelschule.« Margaret zog eine Augenbraue in die Höhe und ließ sich das durch den Kopf gehen. »Aber nicht Yuan Tao?« »Solange wir nicht die Akte aus eurer Botschaft haben, wissen wir absolut nichts über ihn. Aber da er Amerikaner war, scheint das unwahrscheinlich. Sein Spitzname lautete offensichtlich Wühler. Jedenfalls steht das entsprechende Schriftzeichen, genau wie bei allen anderen, auf dem Kopf.« Margaret wurde neugierig. »Warum? Hat das irgendeine tiefere Bedeutung?« »Während der Kulturrevolution«, führte Li aus, »wurden Leute, die als ›Revisionisten‹ oder ›Konterrevolutionäre‹ der Lächerlichkeit preisgegeben werden sollten, manchmal öffentlich mit solchen Schildern um den Hals an den Pranger gestellt. Die Schriftzeichen standen dabei immer auf dem Kopf und waren durchgestrichen. Das sollte ausdrücken, dass der Träger als ›Unperson‹ angesehen wurde.« Sie fragte sich, wie es wohl gewesen sein musste, als »Unperson« zu gelten. Während der vergangenen Monate hatte sie genug über die Kulturrevolution gehört, um sich bewusst zu sein, dass wohl jeder in diesem Raum ein Ziel für solche Peinigungen gewesen wäre. Die Demütigung und Erniedrigung, manchmal auch Ermordung von Intellektuellen, von gebildeten oder gut ausgebildeten Menschen in diesen dunklen Jahren überstiegen jede Vorstellungskraft. Und es
waren gerade mal gut zwanzig Jahre vergangen, seit all das ein Ende gefunden hatte. Viel zu wenig Zeit. Sie schaltete das Mikrofon ein und widmete sich dem Abschluss der Autopsie. Leber, Milz, Bauchspeicheldrüse, Nieren, Gedärm und Blase. Das einzige Problem, das sich dabei stellte, war die Tollpatschigkeit der Assistenten, die den Kopf nur mit Mühe daran hindern konnten, quer über den Tisch zu schlittern, während sie mit der Elektrosäge die Schädeldecke öffneten. Schließlich schafften sie es doch noch, indem einer den Kopf mit beiden Händen festhielt, während der andere ihn aufsägte. Zu guter Letzt legten sie das Gehirn in Margarets Hände, damit sie es abwiegen konnte. Nachdem von allen Organen Proben genommen worden waren und die Autopsie praktisch abgeschlossen war, nähten die Assistenten den Kadaver zu und befestigten den Kopf mit ein paar Stichen provisorisch am Rumpf. Was sie zu guter Letzt mit Wasser abspritzten, war die groteske Parodie auf ein menschliches Wesen. Sie schrubbten das Blut von dem Leichnam und trockneten ihn mit Papiertüchern, bevor sie ihn in einen Leichensack steckten und zurück in den Kühlraum karrten. Margaret zog erst die Latexhandschuhe aus, dann den Sicherheitshandschuh aus Stahlgeflecht, den sie über eine Hand gestreift hatte, löste die Schleifen an Operationskittel und Schürze und ließ beides zu Boden fallen. Trotz der Kälte im Operationssaal war sie schweißnass. Sie riss sich Schutzbrille und Maske vom Gesicht und nahm die Badehaube ab, um ihr Haar auszuschütteln und es über die Schultern fallen zu lassen. Jetzt sah Li sie erstmals richtig – ihre blasse sommersprossige Haut, ihre leicht fülligen Lippen, die scharfen Konturen ihrer Brauen, die eiskristallblauen Augen – und sein Herz schlug Purzelbäume. Am liebsten hätte er auf der Stelle mit beiden Händen ihr Gesicht ergriffen und sie geküsst. Doch er rührte sich nicht von der Stelle. Als Margaret sich umdrehte, bemerkte sie seinen Blick und verspürte das überwältigende Verlangen, ihm mit aller Kraft ins Gesicht zu schlagen. Stattdessen trat sie an den Beistelltisch, um einen Blick auf die Gegenstände zu werfen, die der Tote bei sich getragen hatte, und um die Fotos vom Tatort zu betrachten. Li, Doktor Wang und eine ziemlich bleich aussehende Sophie versammelten sich um sie herum. Margaret sah Sophie an und bemerkte, dass deren Hände zitterten. Aber immerhin hatte das Mädchen durchgehalten. Die wenigsten Menschen standen die erste
Autopsie durch, ohne sich zu übergeben. Margaret richtete ihre Aufmerksamkeit auf die Fotos. »Was ist das für ein Loch im Boden?«, fragte sie Li, wobei sie ein Foto hochnahm, auf dem deutlich zu erkennen war, dass Dielenbretter abgelöst worden waren. »Wir wissen es nicht«, sagte Li. »Jemand hat das Linoleum zurückgeklappt und die Bretter entfernt. Das meiste Blut ist in das Loch gesickert und durch die Decke in die Wohnung darunter getropft.« »Waren die Bretter festgenagelt oder lose?« »Ursprünglich waren sie angenagelt, aber offenbar wurden die Nägel vor einiger Zeit entfernt. Die Bretter müssen ziemlich locker gesessen haben. Bestimmt haben sie geknarrt und geklappert, wenn jemand darauf getreten ist.« »So etwas wie ein Versteck?« »Möglicherweise.« Margaret nahm das Foto genauer unter die Lupe. »Wurde das Linoleum nur abgehoben oder ist es weggerissen worden?« »Es scheint weggerissen worden zu sein.« Sie nickte gedankenverloren und legte das Bild wieder auf den Tisch zurück. »Doktor Wang sagt, die übrigen Opfer hätten Rotwein im Blut gehabt.« Auf diesen abrupten Gedankensprung war Li nicht vorbereitet. »Das stimmt«, erwiderte er. »Ich sehe da allerdings keinen Zusammenhang.« »Natürlich nicht«, sagte sie kurz angebunden. Ganz offensichtlich hatte sie nicht die Absicht, ihm irgendwas zu erklären. »Wir können also davon ausgehen, dass sie mit dem Mörder bekannt waren. Immerhin haben sie mit ihm getrunken.« »Ja, diese Vermutung haben wir auch schon angestellt.« In Lis Antwort schwang leise Ironie mit. Margaret tat, als hätte sie es nicht bemerkt. »Und der Mörder hat einige Mühe auf sich genommen, um sie heimlich zu betäuben, sonst hätte er ihnen die Roofys nicht in Rotwein gemischt«, fuhr sie nachdenklich fort. »Warum also hat er Yuan Tao ein Glas knallblauen Wodka angeboten? Und warum, das hast du ja selbst schon gefragt, hat Yuan den Wodka getrunken?« »Weil er musste«, sagte Li. »Wie du so eindringlich nahe gelegt hast.« »Stimmt«, erwiderte Margaret, »trotzdem ist das ein Bruch im
Schema. Für gewöhnlich sind Serienmörder äußerst berechenbar. Haben sie ein Schema erst einmal etabliert, befolgen sie es normalerweise sklavisch genau. Mit fast religiösem Eifer.« Sie machte sich daran, nun auch die übrigen Fotos vom Tatort einer eingehenden Prüfung zu unterziehen: die aus verschiedenen Blickwinkeln aufgenommene Leiche, die zentrale Blutlache, die in den Hohlraum gesickert war, wo die Dielenbretter entfernt worden waren; die ein bis zwei Meter von der Leiche entfernten Spritzmuster des Blutes, das im Winkel von etwa fünfundvierzig Grad aus den beiden Halsschlagadern geschossen war. Das Ganze war eine ausgesprochen blutige Angelegenheit. Die Hauptlache hatte sich erst gebildet, nachdem der tote Körper zusammengesackt und das Blut gleichmäßig aus den Schlagadern herausgeflossen war. Plötzlich fiel Margarets Auge auf eine weniger dramatisch wirkende Streuung von Blutspritzern, die sich rechts von der Leiche entlang einer geraden Linie im rechten Winkel zu ihr hinzog. Sie legte das Foto weg und starrte auf die weiß getünchte Wand direkt vor ihr. »Unser Mörder ist also Linkshänder«, sagte sie schließlich. »Woher wollen Sie das wissen?« Erstmals hatte Sophie sich zu Wort gemeldet, und alle anderen sahen sie überrascht an. Plötzlich wurde sie unsicher. »Ich meine, nach allem, was ich so gelesen habe, lässt sich bei tödlichen Verletzungen durch eine Klinge so gut wie nie bestimmen, ob der Mörder Rechts- oder Linkshänder ist.« Irgendwie hatte sie das Gefühl gehabt, sich für ihre Frage rechtfertigen zu müssen. »Schon richtig«, erwiderte Margaret, »aber ich schließe das auch nicht aus dem Eintrittswinkel der Klinge. Ich schließe das aus dem Spritzmuster, das vom Schwert hinterlassen wurde. Schauen Sie, sehen Sie sich das an…« Sie deutete auf die Linie der winzigen Blutstropfen, die sie zuvor so eingehend studiert hatte. »Wenn die Klinge in der Abwärtsbewegung den Hals durchtrennt, bleibt unterwegs eine gewisse Menge Blut daran haften. Wenn das Schwert weitergezogen wird, wird ein Teil dieses Bluts durch das Drehmoment verspritzt. Auf diese Weise ist die Tröpfchenspur hier rechts von der Leiche zu Stande gekommen.« »Was sagt das darüber aus, ob unser Mörder Rechts- oder Linkshänder ist?« Sophie schien, zumindest für den Augenblick, ihren Ekel vergessen zu haben. »Haben Sie jemals etwas von Tameshi Giri gehört?« Sie blickte in eine Runde verständnisloser Gesichter. Niemand konnte etwas mit
dem Begriff anfangen. »Es handelt sich dabei um eine japanische Kampfkunst«, erklärte sie. »Die Kunst, Dinge mit Schwertern zu zerhacken. Ihre Anhänger üben sie an straff zusammengeschnürten Strohbündeln. Möglicherweise könnte das Ganze sogar ursprünglich aus China stammen.« Li und Wang schauten noch immer verständnislos drein. Margaret grinste. »Ich habe einmal eine Autopsie bei einem Fall von Harakiri mit Hilfestellung durchgeführt. Nachdem das Opfer sich selbst den Bauch aufgeschlitzt hatte, wurde es von seinem Tameshi-Giri-Helfer geköpft.« »Gott!« Sophie schauderte. »Wollen Sie behaupten, dass es tatsächlich Leute gibt, die sich freiwillig den Kopf abhauen lassen?« Margaret nickte. »Das erspart einem einiges Leid, wenn man sich den Bauch aufgeschlitzt hat. Die Todesart ist nicht besonders weit verbreitet, aber es hat durchaus einige Fälle gegeben. Für meinen Fall musste ich damals eine kleine Studie erstellen.« Sie wandte sich an Li. »Falls der Zuschlagende Rechtshänder ist, steht er links hinter dem Opfer. Und er steht rechts dahinter, wenn er Linkshänder ist.« Sie drückte ihm das Foto in die Hand. »Wie sich hier unschwer erkennen lässt, befindet sich das Spritzmuster rechts von Yuan Tao. Also ist sein Mörder Linkshänder.« Li sah sich das Bild eine ganze Weile an. »Willst du etwa behaupten, dass der Killer eine Art Experte in Tameshi Giri ist?« »Nein. Aber er ist sicher kein Anfänger. Er versteht eindeutig mit einem Schwert umzugehen. Aber der Hieb wurde nicht besonders sauber ausgeführt. Er hinterließ beim Eintritt eine ausgeprägte Abschürfung und löste beim Austritt einen ziemlich großen, ungleichmäßigen Hautlappen ab. Folglich war der Mörder kein Fachmann.« »Doktor Wang war der Ansicht, die Klinge könnte sich etwas abgenutzt haben«, bemerkte Li trocken, und Margaret schmunzelte über die versteckte Kritik des Pathologen an den schleppenden Ermittlungen. »Was zusätzlich dafür spricht, dass wir es nicht mit einem Experten zu tun haben«, erwiderte sie. »Ein Profi würde sichergehen, dass seine Klinge stets geschliffen ist.« »Die ersten drei… hm… Opfer weisen viel glattere Schnittverletzungen auf«, brachte Wang vor. »Tatsächlich?« Margaret runzelte die Stirn und spielte in Gedanken verschiedene Möglichkeiten durch. Nach einer Weile fragte sie: »Haben Sie Fotos von den anderen Tatorten hier?« Wang
nickte und schickte einen seiner Assistenten los, um sie zu holen. »Kopien der Autopsieberichte in den übrigen Fällen wären auch nicht schlecht. Am besten übersetzt. Ich brauche Zugang zu allem, was es an Beweismaterial gibt.« Li sträubte sich. »Dies sind Ermittlungen der chinesischen Polizeibehörden«, erklärte er. »Über den Mord an einem amerikanischen Staatsbürger«, entgegnete Margaret. »Und wir können unmöglich zwei Jahre auf das Ergebnis warten.« »Zwei Jahre? Was meinen Sie damit?«, fragte Sophie. Margaret schenkte ihr ein honigsüßes Lächeln. »Der stellvertretende Sektionsvorsteher Li hat mir erzählt, dass er einmal zwei Jahre gebraucht hat, um einen Mordfall aufzuklären. Was ich durchaus bezeichnend für die chinesischen Polizeibehörden finde.« »Es war ein einziger Fall«, entgegnete Li scharf und mit kaum verhohlenem Ärger. »Und immerhin haben wir ihn aufgeklärt. In Amerika würde dieser Fall doch nur in einem Ordner für ungelöste Straftaten vor sich hin modern.« Der Assistent kehrte mit drei großen braunen Umschlägen zurück, die Margaret kurz in der Hand behielt. »Darf ich nun einen Blick darauf werfen?«, fragte sie spitz. Li presste grimmig die Lippen zusammen und nickte knapp. Ihr Lächeln war zuckersüß. »Vielen Dank.« Daraufhin breitete sie die Fotos aus den verschiedenen Umschlägen auf dem Tisch aus. Sofort schnaufte sie enttäuscht. »Hast du nicht gesagt, wir hätten es hier mit einem Serienmörder zu tun?« »Davon gehen wir aus«, antwortete Li zuversichtlicher, als ihm zu Mute war. »Nun, Opfer Nummer drei wurde nicht am Fundort der Leiche getötet. Hier ist nicht annähernd genug Blut zu sehen.« »Darüber sind wir uns im Klaren.« Plötzlich klangen Li die Anweisungen in den Ohren, die er bei der morgendlichen Besprechung erteilt hatte. Das Beweismaterial mit unvoreingenommenem Blick noch einmal unter die Lupe zu nehmen. »Schon wieder ein Bruch im Schema«, stellte Margaret fest. Sie sah sich auf den Fotos der ersten beiden Mordfälle den Verlauf der Blutspritzer genauer an. »Und noch einer.« Sie legte die Bilder auf den Tisch zurück. »Opfer Nummer eins und zwei wurden von einem Rechtshänder getötet. Sieh selbst. Die Spritzspuren sind links von den Leichen.«
Li betrachtete die Fotos eingehend. »Na gut, aber wir können nicht wissen, wie das bei Nummer drei ausgesehen hat. Und außerdem ist es durchaus denkbar, dass der Mörder mit der Linken genauso geschickt ist wie mit der Rechten.« Unvermittelt sah er sich in die Defensive gedrängt. Margaret blieb unerbittlich. »Unwahrscheinlich.« Sie schnappte sich die Bilder von den zusammengebundenen Handgelenken aller Opfer und begann sie sorgfältig zu untersuchen, und zwar in der Reihenfolge der Hinrichtungen. »Geben Sie mir mal die Seidenschnur, die wir dem Toten vorhin abgenommen haben«, bat sie Sophie. Sophie erbleichte bei dem bloßen Gedanken, hob die Schnur aber überaus behutsam zwischen Daumen und Zeigefinger hoch und reichte sie ihr über den Tisch hinweg. Margaret nahm sie ihr aus der Hand und betrachtete sie kritisch. Li beeilte sich zu versichern: »Wir konnten bereits nachweisen, dass die Schnurstücke, mit denen die ersten drei Opfer gefesselt waren, allesamt von derselben Rolle abgeschnitten wurden. Ich bin überzeugt, dass das hier nicht anders ist.« Margaret, alles andere als überzeugt, zuckte mit den Achseln. »Und warum«, fragte sie ihn, »hat er dann, als er Yuan Taos Handgelenke zusammengeschnürt hat, nicht den gleichen Knoten gemacht wie bei den drei anderen Opfern?« Li legte die Stirn in Falten, sah sich den Knoten sehr genau an und nahm dann die Fotos in Augenschein. »Für mich schauen die alle gleich aus«, sagte er schließlich. »Alle sehen aus wie Seemannsknoten«, erklärte Margaret. »Nur dass die ersten drei von einem Rechtshänder geknüpft wurden. Rechts über links und durch die Mitte, links über rechts und durch die Mitte. Beim vierten ist es genau umgekehrt. Von einem Linkshänder geknüpft.« Li sah sie an und versuchte die Bedeutung ihrer Worte zu erfassen. »Woraus sich schließen lässt«, fuhr sie ungerührt fort, »dass Yuan Tao mit Sicherheit von jemand anderem getötet wurde. Wir haben es hier mit einem Nachahmungstäter zu tun.«
3. KAPITEL I Nach der Kühle im Operationssaal wirkte der warme Sonnenschein überraschend. Margaret fummelte in ihrer Handtasche nach der Sonnenbrille und setzte sie auf. Li trat hinter ihr auf die Treppe und zündete sich eine Zigarette an. Sophie war im Büro geblieben, wo sie mit ihrem Chef telefonierte, um die protokollarischen Formalitäten für die Übergabe der Autopsieberichte und des fotografischen Materials zu regeln. Eine Weile standen beide schweigend da. Auf dem Spielfeld hinter dem Zaun spielten die Studenten noch immer Volleyball, ihre Pfiffe und ihr Gelächter hallten von den Wänden des Zentrums für Beweissicherung wider. Irgendwie wirkte angesichts der kindlichen Freude, die sie an ihrem Spiel hatten, die eben vorgenommene Zerlegung einer Leiche umso düsterer. Schließlich sagte Li: »Es kann sich nicht um einen Nachahmungstäter handeln.« Sie zuckte demonstrativ gleichgültig mit den Achseln. »Das Beweismaterial spricht für sich. Du kannst glauben, was du willst.« »Es ist einfach unmöglich«, bekräftigte Li. »Wir sind hier nicht in Amerika. Bei uns werden solche Verbrechen nicht groß in den Zeitungen und Fernsehnachrichten aufgemacht. Nur der Mörder selbst und mein Ermittlungsteam sind mit den Einzelheiten der Taten vertraut.« »Dann solltest du vielleicht mal dein Ermittlungsteam unter die Lupe nehmen.« Ihre schnippischen Bemerkungen ärgerten ihn, aber dies war ganz offensichtlich nicht der Zeitpunkt, mit ihr zu streiten. Er schluckte seine Erwiderung hinunter. Gleich darauf drehte sie sich um und sah ihn kühl an. »Sind wir fertig?« Sie wartete kurz ab und fügte dann hinzu: »Beruflich, meine ich.« »Ich denke schon.« »Schön«, sagte sie und knallte mit aller Kraft die flache Hand auf
seine Wange. Er war fassungslos. Er hatte gerade einen Zug von seiner Zigarette genommen, die durch die Wucht des Schlages aus seinem Mund gefegt wurde. Sein Gesicht brannte, alles verschwamm ihm vor den Augen, die sich unwillkürlich mit Tränen füllten. Wütend blinzelte er sie an. »Warum hast du das getan?« »Was denkst du wohl?« Und schon wunderte er sich, dass er diese Frage überhaupt gestellt hatte. »Warum, Li Yan?«, sagte sie. »Warum nur?« Er vermochte ihr nicht in die Augen zu schauen. »Zehn Wochen. Du hast dich kein einziges Mal bei mir gemeldet, du hast kein einziges Mal versucht, mich zu sehen. Stattdessen hast du alle meine Versuche, dich zu sehen, abgeblockt.« Nur mit Mühe konnte sie die Tränen zurückhalten. Neugierig drehte sich der Fahrer des nur wenige Meter entfernt parkenden Wagens der Botschaft nach ihren aufgebrachten Stimmen um und beobachtete sie durch die Heckscheibe. Li wandte dem Fahrzeug den Rücken zu und senkte die Stimme. »Man hat mir Anweisung gegeben, mich unter keinen Umständen mit dir zu treffen oder auch nur Verbindung zu dir aufzunehmen.« Sie sah ihn ungläubig an. »Und es stört dich nicht, dass man, wer auch immer man sein mag, dir vorschreibt, wen du sehen darfst und wen nicht?« »Ich bin Staatsbeamter, Margaret. Das ist eine Vorzugs- und Vertrauensstellung, die sich einfach nicht mit der Beziehung zu einer Ausländerin verträgt.« »Ach so, ich verstehe. Deine Arbeit ist dir also wichtiger als die Frau, die du liebst, oder zumindest die Frau, von der ich dachte, dass du sie liebst. Gott sei Dank habe ich gemerkt, dass dem nicht so ist. Andernfalls hätte ich mich womöglich noch zum Narren gemacht, indem ich mich dummerweise in dich verliebt hätte.« Sie wandte sich angewidert ab. Zorn kochte in ihm auf, weil er sich in die Ecke gedrängt fühlte. »Du hast nicht die geringste Ahnung, nicht wahr?« Er merkte, dass sein Atem in abgehackten Stößen kam. »Seit mein Onkel tot ist, lebe ich nur noch für meine Arbeit. Und wenn ich mich meinen Vorgesetzten widersetze, bin ich meinen Job los. Und was sollte ich dann tun? Als Ex-Bulle! Auf der Straße CD-ROMs an Touristen verhökern? Einen Marktstand aufmachen und Ramschware mit gefälschten Designerlabels verschleudern? Wenn ich mit dir zusammen sein will, Margaret, dann habe ich in China keine Zukunft
mehr. Wir müssten in die Vereinigten Staaten gehen. Und was für eine Zukunft hätte ich dort?« Er zerrte an ihrem Arm und drehte sie gewaltsam herum, sodass sie ihm ins Gesicht sehen musste. »Sag es mir.« Seine Augen flehten sie verzweifelt um Verständnis an. Ihr fiel absolut nichts ein, was sie vorbringen konnte. Sie versuchte sich vorzustellen, wie es wäre, alles in den Staaten aufzugeben – ihr Heim, ihre Familie, ihren Job – und nach China zu gehen, um hier zu leben. Aber ihre Vorstellungskraft verweigerte ihr den Dienst. »Meine Heimat ist hier«, sagte er. »Hier lebe ich. Und so schmerzhaft das auch ist, ich weiß nun, dass es für dich und mich keine Zukunft gibt.« Sie sah die Qualen in seinen Augen und wusste, dass er die Wahrheit sprach. Leider milderte das ihren eigenen Schmerz nicht im Geringsten. Sie erwiderte: »Dann habe ich also Recht gehabt. Ich habe dich bereits aufgegeben, Li Yan. Endgültig. Ursprünglich wollte ich heute Morgen den Heimflug antreten. Dann wurde ich gebeten, die Autopsie zu übernehmen.« »Und das hast du nun getan«, stellte er fest. »Es gibt für dich keinen Grund mehr zu bleiben. Dies ist eine Untersuchung der chinesischen Polizei. Es ist wirklich nicht nötig, dass wir uns gegenseitig noch mehr Kummer zufügen.« Im Grunde ist es doch ganz einfach, schoss es ihr durch den Kopf. Steig in ein Flugzeug, flieg weg und schau nicht zurück. Ursprünglich war sie hergekommen, um ihrem gescheiterten Privatleben daheim zu entfliehen. Nun würde sie heimkehren, um ihrem gescheiterten Privatleben hier zu entfliehen. Scheinbar zerrann ihr alles, was sie anfasste, unter den Händen. Einschließlich Li. Sie streckte die Hand aus und fuhr mit den Fingern leicht über die Wange, auf der sich knallrot der Abdruck ihrer Hand abzeichnete. »Es tut mir Leid, dass ich dich geschlagen habe«, flüsterte sie. Er langte nach oben, legte seine Hand auf ihre und drückte sie sanft. Augenblicklich fühlte er das überwältigende Verlangen, den Kopf zu senken und sie zu küssen. Aber er tat es nicht. Langsam zog sie ihre Hand zurück. Einen Augenblick lang hatte sie geglaubt, er würde sie küssen. Sie hatte sich von ganzem Herzen danach verzehrt. Als er es nicht tat, spürte sie plötzlich eine grässliche, peinigende Leere, denn sie erkannte, dass es für sie beide weder einen Weg zurück noch einen Weg nach vorne gab. »Also schön, das wäre soweit geregelt.« Sophie schob sich durch
die Flügeltür und trat auf die Treppe. »Man ist einverstanden, dass so schnell wie möglich eine Übersetzung der Autopsieberichte und Kopien des fotografischen Materials aller vier Mordfälle an die Botschaft geliefert werden.« Sie merkte augenblicklich, dass sie störte, hielt inne und starrte auf den unübersehbaren Handabdruck in Lis Gesicht. »Ich warte im Wagen«, erklärte sie hastig und eilte auf die Limousine zu. »Schon in Ordnung. Wir sind fertig.« Schlagartig wirkte Margaret wieder ganz nüchtern, schob sich an Li vorbei und folgte Sophie zum Wagen. »Mein Gott«, entfuhr es Sophie, als sie auf den Rücksitz rutschten. »Sie haben ihm eine geknallt!« Doch dann sah sie die Tränen über Margarets Wangen laufen und beeilte sich, den Blick wieder nach vorne zu richten. »Verzeihen Sie.« Li sah die Limousine abfahren und hatte das Gefühl, sein Innerstes würde an einer unsichtbaren Nabelschnur aus ihm herausgezerrt.
II Fast fünfzehn Minuten fuhren sie ohne ein Wort dahin, ehe Sophie einen verstohlenen Blick auf Margaret wagte. Entweder waren die Tränen inzwischen getrocknet oder weggewischt worden. Beide hatten aus ihren jeweiligen Seitenfenstern auf den Verkehr auf der zweiten Ringstraße gestarrt, umringt von Hochhäusern, die sich überall um sie herum erhoben und lange Schatten von West nach Ost warfen. »Das war meine erste Autopsie«, bemerkte Sophie. »Darauf wäre ich nie gekommen.« Margaret hielt den Blick eisern auf den Verkehr gerichtet. Sophie lächelte und wurde rot. »War das so offensichtlich?« Margaret ließ sich erweichen und schenkte ihr ein mattes Lächeln. »Ich habe schon Schlimmeres erlebt. Immerhin ist es uns erspart geblieben, auch noch Ihren Mageninhalt vorgeführt zu bekommen.« Sophie grinste, und Margaret fügte hinzu: »Sie täten aber gut daran, sich daran zu gewöhnen. Es wird sicher nicht Ihre letzte gewesen sein.«
»Wie soll man sich je an so etwas gewöhnen?«, fragte Sophie. »Ich meine, so etwas muss einem doch einfach nahe gehen. Mit Sicherheit. All die armen toten Menschen, auf Tischen ausgelegt wie… wie Fleisch. Als ob sie nie gelebt hätten.« »Vor allem sollte man versuchen, mit den Lebenden auszukommen«, erwiderte Margaret. »Ich persönlich finde es weitaus weniger anstrengend, mit Toten zu arbeiten. Sie erwarten nicht, dass man sie heilt.« Sie fragte sich plötzlich, ob nicht genau das der Kern ihres Problems war. Dass sie sich in der Gesellschaft von Toten so wohl fühlte: während sie ihre Organe in Scheiben schnitt, ihre Gehirne sezierte, den Inhalt ihrer Gedärme haarklein untersuchte, alles mit emotionsloser Sachkunde und ohne Selbstzweifel. Sobald sie es mit Lebenden zu tun hatte, reagierte sie dagegen verlegen, mit Rückzug, abweisend und aggressiv. Es war immer leicht gewesen, anderen die Schuld am Scheitern ihrer Beziehungen zu geben. Für sie hatte es nie einen Zweifel daran gegeben, dass der Fehler nicht bei ihr lag. Aber was war, wenn sie sich geirrt hatte? Schließlich war sie die Außenseiterin, diejenige, die ihre Zeit vorzugsweise mit Leichen verbrachte. Hatten all die Jahre, die sie damit zugebracht hatte, Tote zu zerschneiden, ihr womöglich die Fähigkeit geraubt, Beziehungen zu den Lebenden zu unterhalten? Der Gedanke bewirkte, dass sie sich leer und deprimiert fühlte. Was hatte sie denn schon zu erwarten, falls sie in die Vereinigten Staaten zurückkehrte, einmal abgesehen von weiteren Jahren in kalten Autopsiesälen? Wo wie am Fließband Tragödien an ihr vorbeizogen? Eine öde, weiß gekachelte Zukunft, in der die Berührung von tiefgefrorenem Fleisch das Aufregendste war, was ihr bevorstand. Sophies Handy dudelte eine idiotische elektronische Melodie, die Margaret erst nach einigen Sekunden als »Das tapfere Schottland« identifizierte. Sophie kramte in ihrer Tasche nach dem Gerät. »Sophie Daum«, meldete sie sich, nachdem sie es endlich ans Ohr gebracht hatte. »Oh, hallo Jonathan. Sicher. Wir fahren gerade zu ihrem Hotel zurück.« Sie blickte Margaret an. »Na ja, ich glaube… Sicher. Alles klar, bis dann.« Sie schaltete das Handy aus und beugte sich zum Fahrer vor. »Neuer Plan. Wir fahren direkt zur Botschaft.« Sie wandte sich an Margaret. »Der Botschafter will Sie sehen.« »Scheiß auf den Botschafter«, erwiderte Margaret, und Sophies Augen weiteten sich erschrocken. Margaret herrschte den Fahrer an:
»Fahren Sie zum Ritan-Hotel!« Dann erklärte sie Sophie: »Jetzt werde ich zuallererst mal duschen. Auch wenn Ihnen das merkwürdig vorkommt, ich bevorzuge eher den Duft von Faberge als den von Formaldehyd. Anschließend werde ich mir frische Sachen anziehen. Und wenn der Botschafter dann immer noch mit mir reden will, werde ich mich mit ihm treffen.« Der Fahrer sah sich zu Sophie um und wartete auf eine Bestätigung. Sie zögerte einen Augenblick, bevor sie nickte. »Dafür kriege ich mit Sicherheit einen Anpfiff«, sagte sie zu Margaret. »Nun, dann bellen Sie eben einfach zurück. Sie können schließlich nichts dafür, dass diese schrullige Pathologin sich Ihren Befehlen widersetzt.« Sie grinste. »Behaupten Sie einfach, ich hätte Angst gehabt, den schönen neuen Teppich des Botschafters mit Blut zu versauen.« Der Wagen fuhr am Restaurant Moskva an der südwestlichen Ecke des Ritan-Parks vorbei, gerade mal einen Steinwurf von der Residenz des Botschafters entfernt, bevor er die Reihen der Händler in der Ritan-Gasse und die gelangweilt dreinblickenden Kürschner passierte, die gegenüber Margarets Hotel neben ihren an langen Stangen aufgehängten Fellen hockten. Ihr Eifer war parallel zum Niedergang der russischen Volkswirtschaft erlahmt, der ihnen drastische Umsatzeinbußen beschert hatte. Längst vergangen waren die Zeiten, als die russischen Pelzhändler die Menge der zu kaufenden Ware einzig danach bemaßen, wie viel davon sie wohl im Gepäckwagen des Nachtzuges nach Moskau unterbringen konnten. Sogar die Russenmafia, die ihre Geschäfte ausschließlich in Dollar abwickelte, war knapp bei Kasse. Margaret stieg vor dem Hoteleingang aus und beugte sich noch einmal zu Sophie hinunter. »Holen Sie mich in einer Stunde ab.« Sie blickte auf die Uhr. »Sagen wir um siebzehn Uhr dreißig.« Sophie nickte, sah aber nicht besonders glücklich aus. In ihrem Zimmer schlüpfte Margaret aus ihren Klamotten und steckte sie in einen Wäschesack, der später vom Zimmerservice abgeholt werden würde. Die Dusche tat ihr gut. Heiß und belebend. Mit geschlossenen Augen legte sie den Kopf in den Nacken und ließ sich das Wasser ins Gesicht prasseln, sodass es in Kaskaden über den Rand ihres Kinns stürzte und zwischen ihren Brüsten hindurch an ihr hinabströmte. Sie versuchte, jeden Gedanken an die Autopsie und ihre Begegnung mit Li zu verdrängen. Beides schien untrennbar miteinander verbunden zu sein und zu einem einzigen unglücklichen
Erlebnis verschmolzen. Natürlich war ihr klar, dass sie die Ergebnisse der toxikologischen Untersuchung an den von ihr präparierten Proben abwarten musste, bevor sie den Autopsiebericht schreiben konnte. Noch vierundzwanzig bis höchstens achtundvierzig Stunden, dann würde sie abreisen können. Ohne noch einmal zurückzublicken. Zu dumm, dass sie genauso wenig nach vorn blicken wollte. Sie trat auf die Badematte und trocknete sich gründlich mit einem großen, weichen Handtuch ab, bevor sie ihr nasses Haar in einem kleineren Handtuch sammelte, das sie um ihren Hinterkopf schlang. Aus dem Wandschrank holte sie den schwarzen, mit goldenen und roten Drachen bestickten Bademantel aus Seide hervor, den sie an einem verbummelten Nachmittag in der so genannten Seidenstraße erstanden hatte. Er fühlte sich herrlich auf ihrem nackten Körper an, so zart und sinnlich auf der Haut. Bei einem zufälligen Blick in den Spiegel stellte sie fest, dass ihr Gesicht frisch und rosa leuchtete. Dafür entsetzte sie, wie tief die Falten um ihre müden Augen waren, welche dunklen Ringe sie untermalten und wie tief sie in den Höhlen lagen. Unvermittelt füllten sie sich mit Tränen, die ihr heiß und salzig über die Wangen rannen. Rasch wandte sie den Blick von ihrem Spiegelbild ab. Es gibt wohl kaum etwas weniger Erbauliches, schoss ihr durch den Kopf, als der Anblick des eigenen Selbstmitleids. Ein Pochen an der Tür schreckte sie auf, und eilig wischte sie die Tränen von ihrem Gesicht. »Ich komme sofort«, rief sie und atmete ein paar Mal tief durch. Auf dem Gang stand ein Page mit einem ausladenden Blumenstrauß. Er drückte ihn ihr in die Hand. »Für Sie, gnädige Frau«, erklärte er und war schon wieder verschwunden, bevor sie auch nur auf den Gedanken kam, ihm ein Trinkgeld zu geben. Nachdem sie die Tür mit einem Fußtritt hinter sich geschlossen hatte, trug sie die Blumen ins Schlafzimmer. Für Frauen, die bei Blumen schwach wurden, hatte sie immer nur Verachtung übrig gehabt. Männer wussten ganz genau, wie man einen Blumenstrauß oder auch eine einzelne Rose einsetzen musste, um Frauen zu manipulieren. Was Margaret anging, würde sie sich von niemandem manipulieren lassen. Dennoch merkte sie, dass ganz unvermutet Freude in ihr aufwallte. Die Blumen waren wunderschön, und mit der grellen Farbenpracht paarte sich eine Fülle herrlicher Düfte. Behutsam legte sie den Strauß aufs Bett und bemerkte dabei die
Karte, die in die Umhüllung gesteckt war. Einen Augenblick lang zögerte sie. Sie war sich nicht sicher, ob sie wirklich wissen wollte, von wem die Blumen waren und was auf der Karte stand. Doch schon bald siegte ihre Neugier, sie schlitzte den Umschlag auf und entnahm ihm eine kleine, schlichte Karte mit einem Blumenmuster auf der Vorderseite. Auf der Innenseite stand in einer ihr unbekannten Handschrift: »Es freut mich, dass Sie noch hier sind. Ich hole Sie um zwanzig Uhr ab.« Unterzeichnet war die Karte schlicht mit: »Michael.« Sie konnte spüren, wie das Blut mit einem Schlag aus ihrem Gesicht wich, ihr wurde schwindlig, und sie musste sich einen Moment mit der Hand an der Wand abstützen. Michael war tot. Wie war es möglich, dass er – abrupt unterbrach sie ihren Gedankengang. Natürlich war der Strauß nicht von ihm. Sie brauchte ein paar Sekunden, bis sie das Chaos in ihrem Kopf geordnet hatte. Michael Zimmerman. Er war der einzige andere Michael, den sie kannte, und mit Sicherheit der Einzige, den sie in China kannte. Sie hatte ihn nur völlig vergessen gehabt. Sie lächelte, doch es war ein grimmiges Lächeln, denn schließlich war sie gerade daran erinnert worden, dass der Mann, den sie geheiratet und mit dem sie sieben Jahre ihres Lebens verbracht hatte, sie noch immer, noch aus dem Grab heraus, mit eisiger Hand zu packen vermochte. Ihr schauderte bei dem Gedanken, und sie verbannte ihn so schnell wie möglich aus ihrem Kopf. Michael Zimmerman. Sie erinnerte sich an das Lächeln in seinen Augen und daran, wie anziehend sie ihn gefunden hatte. War das wirklich erst gestern Abend gewesen? Es schien eine Ewigkeit her zu sein. Ich hole Sie um zwanzig Uhr ab. Sie fühlte ein winziges, wohliges Prickeln, so als hätte sie an einem stockdunklen Ort einen schwachen Lichtschimmer entdeckt. »Der Botschafter war außer sich vor Wut«, erzählte Sophie. Sie wirkte aufgewühlt. Margaret blieb unbeeindruckt. »Tatsächlich?« Sie ließ sich neben Sophie auf den Rücksitz sinken, und die Limousine schnurrte leise auf die Straße hinaus. »Er konnte nicht so lange warten. Er hatte irgendeine Verabredung, die er unmöglich absagen konnte.« »So ein Pech«, sagte Margaret. »Warum fahren wir dann eigentlich noch zur Botschaft?«
»Wir treffen uns mit Stan und Jonathan.« Sophie warf ihr einen kurzen Blick zu. »Jonathan hat mir die Hölle heiß gemacht, weil ich Sie nicht sofort angeschleift habe.« »Herrgott noch mal!« Margaret merkte, wie sich ihre Nackenhaare sträubten. »Für wen halten sich diese Leute eigentlich? Ich arbeite schließlich nicht für die amerikanische Regierung. Ich tue ihnen lediglich einen Gefallen. Wir mögen uns zwar in der Volksrepublik China befinden, aber ich bin immer noch amerikanische Staatsbürgerin, ein freier Mensch, und ich will, verdammt noch mal, tun und lassen können, was mir gefällt!« Sie atmete ein paar Augenblicke lang schwer, holte dann tief Luft und ließ beim Ausatmen auch ihre Anspannung ausströmen. Ein paar Minuten saßen sie schweigend nebeneinander, ehe Margaret fragte: »Woher weiß Michael Zimmerman eigentlich, dass ich noch in Peking bin?« Sophie war völlig überrascht. »Wie bitte?« »Er hat mir einen Blumenstrauß mit einer Karte geschickt, auf der steht, dass er mich heute Abend um zwanzig Uhr abholen will.« »Schön für Sie.« Sophie war ihre Verstimmung kaum anzuhören. »Er hat mich vor dem Mittagessen angerufen. Vermutlich habe ich dabei erwähnt, dass Sie Ihre Abreise verschoben haben, um die Autopsie durchzuführen.« »Und bei der Gelegenheit haben Sie zufällig auch erwähnt, wo ich wohne?« Sophie zuckte mit den Achseln. »Er hat mich danach gefragt.« Sie wartete einen Moment ab. »Wohin will er Sie denn ausführen?« »Ich habe nicht die geringste Ahnung.« Zehn Minuten mussten sie unter den unerbittlichen Blicken des Marine hinter der Glasscheibe in der Sicherheitsschleuse ausharren. Schließlich kündigten ein schrilles elektrisches Summen und das dumpfe Klicken des Schlosses das Eintreffen des Ersten Sekretärs an. Er gab sich schroff und kühl, und seine Haltung drückte beim Eintreten alles andere als dankbare Anerkennung aus. »Folgen Sie mir«, herrschte er die beiden Frauen an, um dann hinaus und die Treppe hinunterzueilen. Margaret und Sophie tauschten einen Blick und folgten ihm. »Wollen Sie mir nicht verraten, wohin wir gehen, Stan?«, fragte ihn Margaret, als sie außen am Botschaftsgebäude entlangliefen. Die späte Abendsonne tauchte das Gelände in gelbes Licht. »Einen Happen essen. Ich weiß nicht, wie es mit Ihnen steht, aber
es ist über fünf Stunden her, seit ich etwas in den Magen bekommen habe. Ich bin hungrig.« »Also, das ist ja komisch.« Allerdings lächelte Margaret nicht. »Ich habe ebenfalls noch nicht gegessen. Das letzte Mal vor der Autopsie. Sie erinnern sich? Die Autopsie, die ich vorgenommen habe, um Ihnen einen Gefallen zu tun? Übrigens vielen Dank für die Anerkennung. Es ist ein gutes Gefühl zu wissen, dass man von seinem Land so geschätzt wird.« Stan blieb wie angewurzelt stehen, schickte einen Blick zum Himmel, drehte sich dann um und schürzte die Lippen: »Sie gehen mir wirklich auf die Eier, Margaret, wissen Sie das eigentlich?« »Darauf können Sie Gift nehmen«, erwiderte sie, und Stan musste, wenn auch widerstrebend, grinsen. Margaret fügte hinzu: »Wenn eine junge Frau zwei Stunden lang an einer Leiche herumgeschnippelt hat, Stan, dann hat sie das Recht auf eine Dusche.« »In Ordnung.« Er hob abwehrend die Hände. »Ich hab’s kapiert. Außerdem weiß der Botschafter Ihre Bemühungen sehr wohl zu schätzen, Margaret. Ehrlich. Aber wir müssen uns unbedingt unterhalten. Die ganze Geschichte droht allmählich ekelhaft zu werden. Politisch.« Er drehte sich um, und sie setzten ihren Weg fort, vorbei an einem länglichen blauen Zeltdach inmitten einer Baumgruppe. An den Tischen darunter saßen Mitarbeiter der Botschaft, die ihr Abendessen im Freien einnahmen und sich angeregt unterhielten. Genau gegenüber lag die Kantine – ein lang gestreckter einstöckiger Bau. Stan steuerte auf den Eingang zu. »Inwiefern politisch?«, wollte Margaret wissen. »Das werden Sie sehen, wenn Sie sich Yuan Taos Akte anschauen«, antwortete Stan, und sie folgte ihm ins Haus, an langen Bücherregalen vorbei bis zu einer großen weißen Tafel, auf die mit blauem Filzschreiber eine üppige Speisekarte gekritzelt war. In der dahinter gelegenen Küche klapperte Kochgeschirr. »Wie sich herausgestellt hat, ist der Kerl gebürtiger Chinese. In die Staaten ist er erst mit siebzehn gekommen, kurz vor der Kulturrevolution. Und dort ist er geblieben. Schließlich hat er die amerikanische Staatsbürgerschaft beantragt und erhalten.« Er nahm ein Blatt Papier und einen Bleistift von einem Tisch vor der Speisekarte und drückte Margaret beides in die Hand. »Hier. Sie schreiben die Anzahl der Gerichte darauf, die Sie haben möchten, die Nummer des Gerichts –
steht alles auf der Tafel – und den Preis.« Seinen eigenen Zettel hatte er in Windeseile ausgefüllt. »Und vergessen Sie nicht, Ihren Namen draufzuschreiben.« Margaret blickte auf den Eingang zur Bar gegenüber. »Ein Drink wäre mir wesentlich lieber«, erklärte sie. Stan war ihrem Blick gefolgt und lächelte. »Tut mir Leid, Margaret. Die Bar hat nur am Freitagnachmittag für eine ausgedehnte Happy Hour geöffnet. Ich kann Ihnen eine Limonade aus dem Kühlschrank anbieten.« Margaret seufzte, studierte die Tafel und entschied sich für Schweinefleisch süßsauer, gekochten Reis und eine Cola. »Er ist also hier geboren«, sagte sie. »Inwiefern macht das die Geschichte politisch?« »Daheim gibt es gewisse Kreise, die den Chinesen nur allzu gern die Fähigkeit unterstellen, ihre Rachegelüste praktisch über unbegrenzte Zeit zu hegen.« »Rache wofür?« »Womöglich könnte jemand wie Yuan Tao als eine Art Deserteur angesehen worden sein«, erläuterte Stan, »und nachdem er Amerikaner wurde, sogar als Verräter.« Margaret staunte. »Demnach hätten sie über dreißig Jahre bis zu seiner Rückkehr gewartet, um ihn dann kaltzumachen? Das glauben Sie doch nicht im Ernst, oder?« »Nicht eine Sekunde.« Stan schüttelte den Kopf. »Aber Sie dürfen nicht vergessen, Margaret, dass das rechte Lager in den Vereinigten Staaten händeringend nach einem neuen Erzbösewicht sucht, seit die Sowjetunion den Bach runtergegangen ist. Und China eignet sich wunderbar dazu. Die Presse überschlägt sich mit antichinesischer Propaganda. Manchmal ziemlich plump. Aber zum Teil auch sehr raffiniert. Und bisweilen nur in Andeutungen. Darüber hinaus werden Filme wie Sieben Jahre in Tibet oder Red Corner gedreht, mit denen die Menschen gegen das angebliche chinesische Unrechtssystem aufgebracht werden. Ich meine, Red Corner ist zwar ganz unterhaltsam, falls man solche Filme mag, aber wie das chinesische Justizsystem dargestellt wurde, ist schlicht und einfach lächerlich. Lachhaft. Mit der kleinen Einschränkung, dass die chinesischen Behörden gar nicht darüber lachen können. Sie haben den Film verboten und wurden dafür der Zensur bezichtigt.« Margaret folgte ihm an die Theke, wo eine Frau an der Registrierkasse saß. »Ich wusste gar nicht, dass Sie ein so glühender
Verfechter der chinesischen Sache sind, Stan.« »Bin ich nicht«, knurrte er. »Aber die Menschen zu Hause, die nicht das Geringste über dieses Land wissen, sollten ihre Ignoranz für sich behalten. Damit machen sie uns nur die Arbeit schwer.« Er gab seinen Bestellzettel ab, zahlte und nahm sich ein Mineralwasser aus dem Kühlschrank, bevor er einen Tisch ansteuerte, an dem bereits Jon Dakers auf sie wartete. Margaret begriff, dass man von ihr erwartete, ihr Essen selbst zu bezahlen. Sie kramte ein paar Yuan aus ihrer Geldbörse, schnappte sich eine Cola und gesellte sich zu ihnen. Sophie nahm neben Dakers Platz und faltete die Hände über der Glasplatte, unter der eine knallbunte, mit Blumenmuster bedruckte Tischdecke lag. Sie hatte nichts zu essen bestellt. Dakers hatte bereits gegessen. Er brummelte Margaret eine Art Danksagung über den Tisch zu und reichte ihr dann einen gelbbraunen Aktenordner. »Die Akte Yuan Tao«, erklärte er. »Wie Sophie uns erzählt hat, gehen Sie nicht davon aus, dass er von demselben Täter ermordet wurde, der auch die anderen drei auf dem Gewissen hat?« »Stimmt.« »Sie glauben also an einen Nachahmungstäter?« »Es deutet alles darauf hin.« Stan und Dakers tauschten einen Blick aus. Dann fragte Dakers: »Und was ist mit diesem Bullen, der die Untersuchung leitet?« »Was soll mit ihm sein?« Margaret sah Stan misstrauisch an. »Trauen Sie ihm?«, wollte Dakers wissen. »Vertrauen hat damit nichts zu tun. Er ist ein guter Polizist. Einer der ehrlichsten.« Alle lehnten sich zurück, weil in diesem Moment eine chinesische Kellnerin mit den bestellten Speisen an ihren Tisch trat. Margaret schlug Yuan Taos Akte auf und überflog die fotokopierten Seiten. Ein paar Daten und Absätze, Berichte und Zeugnisse. Das Leben eines Menschen, schwarz auf weiß. Ebenso leicht zusammenzuknüllen und in den Papierkorb zu werfen, wie es gewesen war, ihm den Kopf abzuhacken. Sie rätselte, ob er wohl auf derselben Mittelschule gewesen war wie die anderen Opfer, konnte die entsprechende Stelle aber nicht auf Anhieb finden. »Die Sache ist die, Margaret«, Stan beugte sich vertraulich vor, nachdem die Bedienung wieder verschwunden war, »die Sache macht zu Hause bereits Schlagzeilen. Chinesischstämmiger Amerikaner bei Rückkehr in die Heimat seiner Vorfahren ermordet.
Sie können es sich vorstellen. Allerdings um einiges reißerischer. Die antichinesische Fraktion stürzt sich darauf und reibt sich schadenfroh die Hände. Und nachdem der chinesische Ministerpräsident nächsten Monat nach Washington fliegen wird, hätten wir die Angelegenheit gern so schnell wie möglich geklärt.« »Ich verstehe nicht, was das alles mit mir zu tun hat.« Dakers klärte sie auf: »Wir möchten, dass Sie bei den Ermittlungen am Ball bleiben.« Margaret lachte. »Sobald ich meinen Autopsiebericht fertig geschrieben habe, bin ich hier weg. Warum ermitteln Sie nicht selbst, Jon? Sie waren doch früher Bulle.« »Den Chinesen würde nicht im Traum einfallen, einen amerikanischen Cop an Bord zu nehmen. Auch keinen Ex-Cop wie mich. Sie dagegen sind Spezialistin auf einem Feld, auf dem wir ihnen anerkanntermaßen voraus sind. Das ist etwas ganz anderes. Außerdem haben Sie bereits mit denen zusammengearbeitet.« Margaret schüttelte erneut den Kopf. »Wahrscheinlich werden Sie schnell merken, dass die Chinesen nach den Ereignissen beim letzten Mal nicht besonders scharf darauf sind, mit mir zusammenzuarbeiten.« »Ich schätze, da liegen Sie falsch, Margaret«, mischte sich Stan ein. Margaret schüttelte erneut den Kopf und lächelte angesichts seiner Ahnungslosigkeit. »Wie kommen Sie denn darauf, Stan?« »Weil wir sie bereits gefragt haben«, antwortete Dakers.
III Vor dem Fenster zu Lis Büro im obersten Stock dämmerte es bereits. Überall in der Stadt hatten sich die Straßenlaternen eingeschaltet. Die Menschen aßen an den Buden am Straßenrand oder eilten nach Hause, um sich selbst etwas zu kochen. Die Friseure hatten Hochbetrieb. Auf den Ringstraßen und den dreispurigen Boulevards war der Verkehr praktisch zum Erliegen gekommen, und hoch über den Großbaustellen, auf denen Tag und Nacht gearbeitet wurde und Arbeiter mit nackter Brust zwanzig Stockwerke hoch auf
Bambusgerüsten herumturnten, gingen die Flutlichter an. Unten in der Beixinqiao Santiao warfen die Bäume tiefe Schatten und verdunkelten die Straße. Schon längst waren alle Mitarbeiter des gegenüber gelegenen »Gesamtchinesischen Verbandes zurückgekehrter Auslandschinesen« nach Hause gegangen. Einsatzfahrzeuge der Polizei, teils blauweiß lackiert, teils unauffällige Zivilwagen, parkten Stoßstange an Stoßstange auf dem Trottoir. Beamte auf dem Heimweg grüßten Beamte, die eben zur Nachtschicht eintrafen. Li stand, von tiefer Trägheit gelähmt, am Fenster und rauchte. Von unten war das Lachen von Kindern zu hören, die einen Ball über den Gehweg kickten. Da draußen gab es Menschen, die wirklich lebten. Mit Hoffnungen, Sehnsüchten, einer Zukunft. Für sie ging das Leben weiter. Es hatte einen Sinn. Er fragte sich, ob sein Leben nicht gerade jeglichen Sinn verloren hatte. Solange er Margaret so in seinem Kopf behalten hatte, wie sie seiner Erinnerung nach vor ihrer Trennung gewesen war, hatte er nicht wirklich glauben können, dass er sie nie wieder sehen würde. Tief in seinem Innersten hatte immer noch ein schwacher Funke der Hoffnung geglommen. Nun, nachdem er sie wieder gesehen hatte, nachdem er ihren Zorn und ihre Verletzung gespürt und ihr klargemacht hatte, dass es für sie beide keine Zukunft gab, war dieser Funke verglüht und erloschen. Jetzt war endgültig alles aus. Es klopfte an der Tür, von draußen flutete Neonlicht aus dem großen Büro herein, und Qian erschien mit einem Aktenordner in der Hand. »Wollen Sie nicht das Licht einschalten, Chef?«, fragte er. »Hier ist es ja stockfinster.« Li schüttelte den Kopf. »Mir passt es ganz gut so.« Qian zuckte mit den Achseln. »Hier ist die Akte über Yuan Tao, die wir von der amerikanischen Botschaft bekommen haben.« »Legen Sie das Ding auf den Schreibtisch.« Qian ließ die Akte auf den Tisch fallen und verschwand wieder nach draußen. Vorsichtig fuhr sich Li sich mit den Fingern über die Wange, die sich immer noch empfindlich anfühlte, nachdem Margaret ihn mit solcher Wucht geohrfeigt hatte. Als er in die Sektion Eins zurückgekommen war, hatten ihn sämtliche anwesenden Kommissare reichlich befremdet angestarrt. Doch keiner hatte einen Ton gesagt. Erst nachdem Li sein Büro betreten hatte, hatte er so etwas wie ein ersticktes Lachen vernommen, und jedes Mal, wenn er wieder nach draußen ging, herrschte schlagartig Grabesstille.
Schließlich hatte er zu wissen verlangt, was eigentlich los sei. Einen Moment lang hatte sich verlegenes Schweigen ausgebreitet, doch dann fasste Wu sich ein Herz: »Die Jungs überlegen nur, Chef, ob Sie eine neue Technik entwickelt haben, am Tatort Fingerabdrücke abzunehmen.« Der gesamte Raum hatte vor Lachen gebrüllt. Zuerst hatte Li nur verständnislos die Stirn in Falten gelegt. Doch dann fuhr Wu fort: »Also, Sie pressen einfach Ihr Gesicht auf den Abdruck, und schon haben Sie ihn abgenommen – so läuft das doch, oder?« Li legte sofort die Hand auf sein Gesicht und ertastete die diagonal verlaufenden Striemen, die Margarets Finger hinterlassen hatten. Die Sache war ihm unendlich peinlich, aber das wagte er nicht zu zeigen, da er sonst das Gesicht verloren hätte. Er war gezwungen, die Ohrfeige wie eine Trophäe zu tragen. Schließlich war es in China nicht ungewöhnlich für Männer, von Frauen attackiert zu werden. Bei einem erheblichen Prozentsatz jener häuslichen Streitereien, zu denen die Polizei hinzugezogen wurde, ging es um Ehemänner, die von ihren Frauen verprügelt wurden. Und so hatte Li mit ironischem Grinsen erwidert: »Kommen Sie nur her, Wu, dann zeige ich Ihnen, wie es geht.« Dabei holte er mit offener Hand nach dem Kommissar aus. Wu wich grinsend zurück. »Vorsicht, Chef, wenn Sie nur halb so hart zuschlagen, wie es Sie erwischt hat, stehe ich wahrscheinlich nicht mehr auf.« »Da haben Sie verdammt Recht«, hatte Li unter dröhnendem Gelächter erwidert. Später hatte er sein Gesicht auf der Toilette im Spiegel begutachtet und erschrocken festgestellt, wie deutlich sich der Umriss ihrer Hand in einer roten Schwellung auf seiner Wange abzeichnete. Und als er die Wange jetzt berührte, stellte er dadurch eine Art Verbindung zu ihr her; es war, als würde er Margaret berühren. Er rauchte die Zigarette zu Ende, schnippte die Kippe aus dem Fenster und beobachtete, wie beim Auftreffen auf dem Asphalt ein orangefarbener Funkenregen in die Höhe stob. Dann drehte er sich um und blickte auf die Akte, die Qian auf seinen Schreibtisch gelegt hatte. Er stand vor einem Rätsel. Das gesamte Beweismaterial sprach dafür, dass Yuan das vierte Opfer ihres unbekannten Serienmörders geworden war. Und doch war Margaret zu dem Schluss gekommen, dass in seinem Fall ein Nachahmungstäter am Werk gewesen sein musste, dass Yuan von jemand anderem ermordet worden war. Wie
sollte er an ihrem Urteil zweifeln? Sie war eine versierte Expertin mit überaus großer Erfahrung. Aber ihm war ebenso klar, dass mit Ausnahme seiner Kommissare nur der Mörder selbst all jene winzigen Details kennen konnte, die bei der Tat kopiert worden waren. Auf einer Besprechung der mit dem Fall befassten Beamten hatte er den dicht gedrängt sitzenden Kollegen einen vorläufigen Bericht über die Ergebnisse der Autopsie vorgelegt. Einige von ihnen hatten Margarets Schlussfolgerungen abgetan. Ob Links- oder Rechtshänder, war ihrer Meinung nach ein vernachlässigbares Detail. Ebenso der Wechsel von Rotwein zu Wodka als Medium für das Flunitrazepam. Li wies darauf hin, dass auch der Kopf weitaus weniger sauber abgetrennt worden war. Sang stellte daraufhin die Hypothese auf, dass der Mörder womöglich bewusst seinen Modus Operandi abgeändert habe, um die Ermittlungen in die Irre zu führen; ein absichtlicher Wechsel von der rechten zur linken Hand würde auch erklären, warum der Hieb weniger sauber ausgeführt worden sei. Keiner hielt die abweichenden Details für bedeutsamer als die Vielzahl von übereinstimmenden Merkmalen. Trotzdem war Margaret von deren Wichtigkeit überzeugt, daran hatte sie keinen Zweifel gelassen, und auch sein Onkel hatte stets gemahnt, dass der Teufel unweigerlich im Detail stecke. Li ließ sich am Schreibtisch nieder und schaltete die schwenkbare Schreibtischlampe ein, sodass die Arbeitsfläche in helles Licht getaucht wurde. Wieder fiel sein Blick auf den gelbbraunen Ordner. Das ganze Leben jenes Mannes war darin zu finden. Möglicherweise also auch ein Grund für seinen Tod. Er schlug die Akte auf. Innen fanden sich vor allem Abschriften offizieller Dokumente: medizinische Befunde; eine Zusammenfassung seiner Ausbildung in den Vereinigten Staaten; ein von Yuan eigenhändig verfasster Lebenslauf; eine Kopie seines Gesuchs um die amerikanische Staatsbürgerschaft; eine Einschätzung seiner politischen Gesinnung, abgegeben von irgendeiner Regierungsbehörde; eine Beurteilung seines Einstellungsgesprächs, nachdem er sich beim Außenministerium beworben hatte; die Ergebnisse der Sicherheitsüberprüfung durch das Außenministerium und der folgenden ärztlichen Untersuchung. Immer wieder blätterte Li vor und zurück, um Yuans Lebensgeschichte wie ein Puzzle zusammenzufügen. Yuan Tao wurde 1949 geboren, im selben Jahr, in dem auch die
Volksrepublik China das Licht der Welt erblickte. Das Jahr des Ochsen. Dasselbe Geburtsjahr wie bei den anderen drei Opfern. Alle waren Kinder der Revolution gewesen, die Nachkommenschaft der Befreiung. Im Mai 1966 hatte er als Siebzehnjähriger China verlassen, nicht einmal einen Monat vor Ausbruch der Kulturrevolution, die in der Erinnerung der meisten Menschen am dreizehnten Juni begonnen hatte, als im ganzen Land Schulen und Universitäten geschlossen wurden. Er hatte den Absprung gerade noch rechtzeitig geschafft, dank eines erteilten Ausreisevisums, das es ihm gestattete, nach Ägypten zu gehen und an der Universität von Kairo Physik zu studieren. Allerdings war die Ägyptenreise ein Täuschungsmanöver gewesen, denn noch bevor er sich auch nur einen Monat in Kairo aufgehalten hatte, war er bereits in die Vereinigten Staaten weitergeflogen, wo er zum Studium der politischen Wissenschaften zugelassen worden war. Ein Onkel, der bereits 1948 aus China nach San Francisco geflohen war, hatte ihn finanziell unterstützt. Den Sommer über hatte Yuan im Speiselokal seines Onkels im Chinesenviertel der Stadt gearbeitet, um wenigstens einen Teil seiner Studiengebühren zurückzahlen zu können, bevor er im Herbst das Studium an der Universität von Kalifornien in Berkeley aufgenommen hatte. Es waren bewegte Jahre gewesen in Berkeley, wo die Studenten für mehr Bürgerrechte demonstrierten und gegen den Vietnamkrieg auf die Straße gingen. Li durchforstete den gesamten Inhalt des Ordners, doch das FBI-Dossier, das damals mit Sicherheit über Yuan angelegt worden war, suchte er vergeblich. Natürlich hatte er nicht ernsthaft damit gerechnet, eines zu finden. Genauso wenig wie den Bericht der CIA über die unweigerlich erfolgten Anwerbungsversuche. Im Jahre 1972 machte Yuan seinen Doktor der politischen Wissenschaften, blieb aber noch zwei Jahre an der Universität, um seine Habilitationsschrift fertig zu stellen. 1974 bewarb er sich erfolgreich um eine Stelle als Assistenzprofessor für politische Wissenschaften an der Universität Berkeley und beantragte gleichzeitig eine Greencard. Seinem Gesuch wurde stattgegeben, sodass er die Stelle antreten konnte. Yuan mietete eine Wohnung nahe der Universität in Oakland, genau auf der anderen Seite der Bucht von San Francisco. 1978 wurde er zum außerordentlichen Professor befördert, im folgenden
Jahr betrieb er seine Einbürgerung, die schließlich bewilligt wurde. Wenig später, noch im Jahr 1979, heiratete er als amerikanischer Staatsbürger eine Amerikanerin chinesischer Herkunft. Allerdings hielt die Ehe keine zwei Jahre und blieb kinderlos. Zwei Jahre später, 1983, wurde er zum ordentlichen Professor ernannt und verlebte die nächsten Jahre über seinen vierzigsten Geburtstag hinaus ohne besondere Vorkommnisse in der klösterlichen Abgeschiedenheit des kalifornischen Hochschulwesens. Bis er sich 1995 im Alter von sechsundvierzig Jahren aus heiterem Himmel um eine Stelle beim Außenministerium bewarb. Sicherlich wurde er dort mit offenen Armen aufgenommen, als gebürtiger Chinese, Professor der politischen Wissenschaften und als eingebürgerter Amerikaner, der fließend Mandarin sprach. Von diesem Moment an wendete sich das Leben des Yuan Tao in eine völlig neue Richtung. Im darauf folgenden Jahr zog er nach Washington um. Aus den Unterlagen, die ihnen die Amerikaner überlassen hatten, war nicht ersichtlich, welcher Tätigkeit Yuan damals genau nachging. 1999 jedenfalls bewarb er sich zur Verblüffung seiner Vorgesetzten bei der amerikanischen Botschaft in Peking, wo eine unbedeutende Stelle in der Visumabteilung zu besetzen war. Mehrere interne Stellungnahmen drückten Bestürzung über seinen Entschluss aus, außerdem hatte man ihn persönlich angeschrieben, um ihn darauf hinzuweisen, dass seine Fähigkeiten anderenorts sicher besser zur Geltung kommen würden. Eine Erwiderung fand Li nicht in der Akte, und Taos Bewerbung wurde ordnungsgemäß, wenn auch widerwillig, angenommen. Vor sechs Monaten war Yuan Tao schließlich nach China zurückgekommen, um seine Stelle in der Visumabteilung im Botschaftsgebäude an der Einmündung der Seidenstraße anzutreten. Li zündete sich eine Zigarette an und schaute zu, wie sich die blauen Rauchschwaden träge im Schein der Schreibtischlampe kräuselten. Eine Aneinanderreihung von Fakten. Eine Chronologie der Ereignisse. Nichts davon verriet ihm das Entscheidende über diesen Menschen. Wer war er wirklich gewesen? Welche Hoffnungen und Befürchtungen hatte er gehabt? Wen hatte er geliebt, wen gehasst, und wer hasste ihn? Warum hatte er seine Heimat nicht schon in den Jahren nach der Kulturrevolution besucht, als ihm keine Gefahr mehr gedroht hatte? Und warum hatte er sich nach vierunddreißig Jahren urplötzlich zur Heimkehr entschlossen?
Lis Gedanken wanderten zurück in die Wohnung in der Tuan-JieHu-Straße Nr. 7. Warum hatte Yuan sich eine Wohnung gemietet, wo ihm die Botschaft doch eine Unterkunft zur Verfügung gestellt hatte? Und was hatte er unter den Dielenbrettern versteckt, das sein Mörder an sich genommen haben musste? Darauf, da war Li sicher, würde er in der Akte keine Antwort finden. Er hätte gern gewusst, wie sich Yuan bei der Rückkehr in sein Geburtsland gefühlt hatte, das er vierunddreißig Jahre zuvor verlassen hatte. Unglaubliche Veränderungen waren in dieser Zeit vor sich gegangen. Er dürfte China kaum wiedererkannt haben, es musste ihm wie ein fremdes Land erschienen sein. Hatte er versucht, mit irgendwelchen Verwandten Kontakt aufzunehmen? Irgendwo musste es doch welche geben. Li blätterte die Seiten nochmals durch und förderte dabei einen einzigen Hinweis auf Yuans Eltern zu Tage. Sein Vater war Lehrer gewesen und offenbar 1967 verstorben. Seine Mutter hatte in einem Kindergarten mit Vorschulkindern gearbeitet, doch fand sich keine Notiz darüber, was aus ihr geworden war. Aber bestimmt hatte es irgendwelche alten Schulfreunde gegeben. In den vergangenen sechs Monaten musste er doch mit irgendjemandem Verbindung aufgenommen haben. In Yuans eigenhändig geschriebenem Lebenslauf fand Li schließlich, wonach er gesucht hatte. Eine Auflistung seiner Schulund Studienabschlüsse. Mit dem Finger fuhr er die umgekehrt chronologisch geordnete Liste hinab, hielt schließlich beim vorletzten Eintrag inne und merkte, wie ihm sämtliche Nackenhaare zu Berge standen. Im Mai 1966 hatte Yuan Tao seinen Abschluss an der Mittelschule Nr. 29 in Qianmen gemacht. Minutenlang Li starrte blindlings auf die Seiten, die vor ihm lagen. Alle Mordopfer hatten dieselbe Schule besucht. Die Enthüllung bewirkte, dass sich in ihm leiser Zweifel an den Schlussfolgerungen regte, die Margaret aus der Autopsie gezogen hatte. Demnach waren alle vier untrennbar miteinander verbunden. Alle waren mit derselben Droge betäubt worden, allen waren die Hände mit derselben Seidenschnur auf den Rücken gefesselt worden. Alle hatten Plakate um den Hals gehängt bekommen, auf denen kopfüber ein durchgestrichener Spitzname stand. Die Plakate waren mit sechs anfangend abwärts durchnummeriert. Alle waren geköpft worden – die ersten drei mit einem Bronzeschwert –, und Li war sicher, dass die forensischen Befunde beim vierten Opfer das Gleiche ergeben würden.
Dennoch… all das vermochte seine bohrenden Zweifel nicht auszulöschen. Auch wenn es sich dabei um Kleinigkeiten handelte, konnte Li sie nicht einfach abtun. Warum hätte Yuan den blauen Wodka trinken sollen? Warum hatte der Mörder rechts hinter Yuan gestanden, als er ihm den tödlichen Hieb versetzte, während er in mindestens zwei der übrigen Fälle von links zugeschlagen hatte? Warum hatte er die Handgelenke mit einem Knoten zusammengebunden, der genau spiegelverkehrt zu den anderen drei geknüpft war? Und es gab noch mehr offene Fragen. Warum war Opfer Nummer drei vom Ort der Hinrichtung weggebracht worden? Das musste äußerst riskant gewesen sein, und eine Drecksarbeit dazu. Und warum hatten seine Leute nicht herauszufinden vermocht, wo der Mord begangen wurde, obwohl dabei bestimmt Unmengen von Blut geflossen waren? Die ganze Geschichte war ein bisschen wie eines von Mei Yuans Rätseln. Zu schade, dass sie nicht ebenso einfach aufzulösen war. Das Rätsel mit dem Hotelzimmer für dreißig Yuan, das sie ihm am Morgen gestellt hatte, kam ihm wieder in den Sinn. Doch er konnte sich nicht dazu durchringen, das Problem des fehlenden Yuan genauer zu durchdenken. Im Moment hatte er es mit einem viel schwierigeren Rätsel zu tun, das so schnell wie möglich gelöst werden musste. Und vielleicht würde er, wenn er sich nur tief genug in dieses Rätsel versenkte, es irgendwann schaffen, sich Margaret aus dem Kopf zu schlagen. Gerade als er sich zurücklehnte und einen Rauchstrom an die Decke blies, ging die Tür auf und Chen kam herein. Deutlich zeichnete sich die Silhouette gegen das helle Licht aus dem großen Büro ab, während der Kopf sich außerhalb des Lichtkegels von Lis Schreibtischlampe befand, weshalb Li Chens Miene nicht zu deuten vermochte. Erst als sein Vorgesetzter die Tür schloss, bemerkte Li, dass er einen Anzug trug. Und eine Krawatte. Höchst ungewöhnlich für Chen. Er war bekannt für seine legere, fast schon nachlässige Kleidung und schlurfte sonst meist in ausgebeulten Hosen, einem kragenlosen Hemd und einer alten Jacke mit Reißverschluss ins Büro und wieder heim. Als er sich dem Schreibtisch näherte, bemerkte Li die grimmig verzogenen Mundwinkel. »Sie haben die Besprechung verpasst«, sagte Li. »Ich war im Ministerium.« Das erklärte den Anzug. Chen zog sich einen Stuhl heran und setzte sich. »Haben Sie eine Zigarette?«
Li warf ihm eine zu, Chen zündete sie an, sog den Rauch tief ein und ließ, während er langsam wieder ausatmete, die Augenlider heruntersinken. Dann lockerte er die Krawatte. »Verflucht, ich finde diesen Aufzug so was von unbequem. Wie kann man erwarten, dass jemand seine Arbeit ordentlich erledigt, wenn er sich nicht wohl in seiner Haut fühlt?« Li war klar, dass er darauf nicht zu antworten brauchte. Gespannt wartete er darauf, dass Chen fortfuhr. Aber der hatte es nicht eilig. Er zog erst noch mehrmals an seiner Zigarette, bevor er sich Li zuwandte und ihm in die Augen schaute. »Wir sind gebeten worden, die Amerikaner ausnahmslos über alle Entwicklungen in diesem Fall auf dem Laufenden zu halten. Sie haben Zugriff auf alles und jedes.« Er verstummte kurz. »Auf ihren Wunsch hin ist vereinbart worden – über meinen Kopf hinweg, wohlgemerkt –, dass Dr. Campbell mit uns Verbindung halten soll.« Li war so perplex, als hätte er eben die zweite Ohrfeige an diesem Tag kassiert. »Ich dachte, sie würde in die Staaten zurückkehren?« Seine Stimme kam ihm leise und wie aus weiter Ferne vor. »Offensichtlich hat man sie beschwatzt, hier zu bleiben.« Er zögerte. »Ich weiß, das ist ein dicker Brocken für Sie, Li…« »Ein dicker Brocken?«, wiederholte Li aufgebracht. »Erst befiehlt mir der Polizeirat, mich von ihr fern zu halten. Und dann höre ich von Ihnen, ich soll mit ihr zusammenarbeiten.« Sein Tonfall ärgerte Chen. Er beugte sich vor und blaffte: »Dann müssen Sie eben lernen, Berufs- und Privatleben voneinander zu trennen.« Er hielt inne und sah Li forschend an. »Was haben Sie da im Gesicht?« Li erwiderte: »Die Ohrfeige, die Sie mir gerade verpasst haben.« Benommen schlängelte sich Li durch den nächtlichen Verkehr. Das Fahrrad seines Onkels war, wie alle Räder auf den Straßen, weder mit Licht noch mit Rückstrahlern ausgerüstet. Er musste sich darauf verlassen, dass die Autofahrer ihn sehen würden. Aber im Moment war ihm sowieso alles egal. Er hatte es kaum ertragen, Margaret wieder zu sehen – wie sollte das erst morgen werden und übermorgen und am Tag danach? Ihm war, als wäre er in eine Vorhölle geschleudert worden, wo nur der Schmerz existierte und das Wissen, dass kein Ende absehbar war. Wie hatte sie dem nur zustimmen können? Würde sie nicht ebenso darunter leiden wie er? Oder sah sie am Ende darin eine Gelegenheit zur Rache? Wollte sie
etwa immer neues Salz in die Wunde streuen, die er sich selbst beigebracht hatte? An der Chaoyangmen-Brücke bog er nach Westen ab und passierte ein Kentucky-Fried-Chicken-Restaurant zu seiner Linken, hinter dem er weiter nach Süden fuhr. Nachdem er das Fahrrad an der Ecke Dong’anmen-Straße abgestellt hatte, mischte er sich unter die Menschenmenge, die auf den Nachtmarkt strömte. So weit das Auge blickte, erstreckten sich Imbissbuden. Für ein paar Yuan konnte man sich hier beinahe alles Essbare in Öl ausbacken lassen. Es gab Insektenlarven von der Größe eines menschlichen Daumens, ganze Skorpione, winzige Vögel komplett mit Kopf, alles auf Holzstäbchen aufgespießt und darauf wartend, in die riesigen Woks mit siedendem Öl getunkt zu werden. Doch Li war nicht nach Exotik zu Mute. Stattdessen entschied er sich für Kartoffelwürfel, die in Ei ausgebacken und auf braunem Papier serviert wurden. Er aß eine Portion, bestellte anschließend eine zweite, spülte das Ganze mit einer Dose Cola hinunter und schlenderte zwischen den aufgekratzten Gruppen von Familien und Freunden umher, die sich vor den Buden drängelten wie Haie im Blutrausch. Er hatte sich bemüht, nicht an Margaret zu denken, doch selbst hier spukte sie ihm unaufhörlich im Kopf herum. Hierher war er mit ihr in jener Nacht gekommen, in der sie ihm von ihrem Mann und dessen Tod erzählt hatte. An all den Orten Pekings, die sie gemeinsam besucht hatten, verfolgten ihn seine Erinnerungen wie unbeirrbare Gespenster. Li trank seine Cola aus und bemerkte dabei einen kleinen, abgerissen gekleideten Mann von undefinierbarem Alter, der ihm auf der linken Seite in geringem Abstand folgte. Sein Blick fixierte wie hypnotisiert Lis leere Dose. Doch als Li sich umdrehte und gerade im Begriff war, dem Mann die Dose zu überlassen, wurde sie ihm von einer alten Frau mit straff zurückgekämmtem weißem Haar und einem einsamen Zahnstumpf im Mund aus der Hand gerissen, die sich sofort mit ihrer Beute aus dem Staub machte. Der zerlumpte Mann heulte bestürzt auf und machte sich, Verwünschungen ausstoßend, an die Verfolgung. Je mehr Dosen man zur Wiederverwertung zurückbrachte, desto mehr Yen bekam man ausgezahlt. Gleich darauf balgten sich die beiden um seinen Abfall. Li schwang sich auf das Fahrrad seines Onkels und steuerte erneut nach Süden. Daheim in seiner Wohnung hatte er noch Bier im Kühlschrank, und inzwischen wollte er nur noch eines – sich
betrinken. Die Räder rutschten und schlitterten durch den Sumpf, in den sich die Wangfujing-Straße durch den Regen und die Baustelle verwandelt hatte. Dreck spritzte ihm über Hose und Schuhe. Von der Östlichen Chang’an-Promenade konnte er die Flutlichter am Tiananmen-Platz erkennen, wo man bereits damit begonnen hatte, die riesigen Blumenarrangements für den Nationalfeiertag in zwölf Tagen aufzubauen. Doch Li wollte nur noch weg von all den Menschen und Lichtern. Die Dunkelheit in der Zhengyi-Straße kam ihm wie gerufen. Ihm fiel auf, dass die Bäume bereits die ersten Blätter verloren. Dabei hatte der Herbst noch nicht wirklich begonnen. Dies waren nur die Vorboten seines unvermeidlichen Eintreffens. Der Wachmann nickte ihm zu, als er durch das Tor des Wohnblocks fuhr und das Fahrrad des alten Yifu abstellte und abschloss. Mit bleischweren Beinen schleppte er sich die beiden Stockwerke hinauf. Doch als er den Schlüssel ins Schloss steckte, stutzte er, und seine Müdigkeit und das Selbstmitleid waren wie weggeblasen. Alle seine Sinne waren aufs Äußerste angespannt. Die Wohnungstür war unverschlossen. Dabei sperrte er sie grundsätzlich ab. Er zögerte einige Sekunden, bevor er die Tür behutsam aufschob. Ein spitzer Schrei war zu hören, gefolgt von Fußgetrappel, dann tauchte ein kleines Mädchen im Flur auf, das die schwarzen Haare mit zwei Haargummis zu Zöpfchen gebündelt hatte. Als die Kleine Li erblickte, blieb sie zu Tode erschrocken stehen. Gleich darauf betrat eine gut aussehende junge Frau von Ende zwanzig hinter ihr die Bildfläche. Das Mädchen umklammerte ihr Bein und verbarg ihr Gesicht vor Li. Li war verblüfft. »Was machst du denn hier?«, wollte er wissen. »Das ist ja eine nette Begrüßung nach drei Jahren«, erwiderte die junge Frau. »Hast du denn meinen Brief nicht bekommen?« Li hatte seine Post seit Tagen nicht mehr durchgesehen. Er schaute zu dem Stapel auf dem Tisch hinüber und bemerkte auf den ersten Blick den Umschlag mit dem Poststempel aus Sichuan. Sein Blick wanderte zu der jungen Frau und dem Kind zurück. »Tut mir Leid«, entschuldigte er sich. »Ich bin zurzeit ein bisschen unorganisiert.« Nach kurzem Zögern ging er auf die Frau zu und nahm sie in die Arme, wobei er ihre schmächtige Gestalt fast völlig umschloss. Während sie sich an ihn schmiegte, umklammerte das Kind ihr Bein noch fester. »Warum bist du gekommen?«, fragte Li.
»Wir müssen reden«, antwortete sie.
IV Draußen war es finster, und Margaret verleibte sich in der Bar des Ritan-Hotels bereits den zweiten Wodka Tonic ein, als Michael hereinkam. Sie hatte ihn schon fast vergessen gehabt, so sehr war sie mit Lis gespenstischer Wiederauferstehung beschäftigt und der Aussicht, dass er sie nun bis zum Abschluss des Falles täglich heimsuchen würde. Natürlich, vermutete sie, hatte er wahrscheinlich nicht weniger das Gefühl, heimgesucht zu werden. Sie hatte in Erwägung gezogen, der Botschaft die Mitarbeit zu verweigern. Sie hätte darauf beharren können, dass sie mit den Ermittlungen nichts mehr zu tun haben wollte, und wie ursprünglich geplant mit dem nächsten Flieger nach Hause fliegen können. Niemand hätte sie zum Bleiben zwingen können. Aber sie hatte sich nicht widersetzt. Wobei sie sich fragte, ob dies vielleicht einfach darauf zurückzuführen war, dass sie noch mehr Angst vor der Zukunft zu Hause als vor der trostlosen Situation hier in China hatte. Nichts zu unternehmen und sich treiben zu lassen war eben bequemer, als den Kampf aufzunehmen. Lieber das gewohnte Grauen als das Unbekannte. »Ich möchte das Gleiche wie die Dame.« Michaels Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Der Barmann entfernte sich, um einen weiteren Wodka Tonic zu mixen, und Michael ließ sich auf dem Barhocker neben ihrem nieder. »Darf ich Ihnen auch noch einen bestellen?« »Sie wissen es also schon?« »Was denn?« »Drei Wodka Tonic, und ich gehöre jedem.« »Und noch einen für die Dame«, rief er dem Barmann hinterher. Sie lächelte. »Das ist natürlich gelogen.« »Ach«, seufzte er mit gespielter Enttäuschung. »Dazu braucht es mindestens vier.« Sie sah auf ihre Armbanduhr. »Sie sind zu früh dran.« »Ich lasse niemals eine Dame warten«, erwiderte er. »Niemals?« Er zuckte mit den Achseln. »Also, natürlich hängt alles von den
jeweiligen Umständen ab. Es gibt gewisse Dinge, die man keinesfalls überstürzen sollte.« »Da stimme ich Ihnen zu.« Sie leerte ihr Glas und bemerkte dann: »Es ist schon lange her, dass mir jemand Blumen geschenkt hat.« »Haben sie Ihnen gefallen?« »Sie sind wunderschön. Ich weiß nur nicht genau, was sie bedeuten sollen. Männer tun nichts ohne Hintergedanken.« »Im Gegensatz zu Frauen.« »Frauen selbstverständlich auch. Aber Frauen sind raffinierter. Blumen sind ein wenig… wie soll ich sagen… aufdringlich.« Er überlegte einen Augenblick. »Sagen wir einfach, sie sollten meiner Freude darüber Ausdruck verleihen, dass Sie dem Vernehmen nach noch hier bleiben werden – und sei es auch nur für ein paar Tage. Neulich Abend war ich gerade im Begriff, Sie kennen zu lernen, als Sie plötzlich wie vom Erdboden verschluckt waren. Ein bisschen wie Cinderella.« »Und Sie haben sich gefragt, ob ich mich in einen Kürbis verwandelt habe?« Er lachte. »War der Kürbis nicht die Kutsche?« »Was weiß ich. Bei Märchen kenne ich mich nicht aus.« Ihre Drinks kamen, sie hoben die Gläser und stießen an. »Cheers«, sagte sie und fügte dann hinzu: »Ach ja, jetzt fällt es mir wieder ein. Sie hat beim Hinausgehen einen gläsernen Schuh verloren. So war es doch, nicht wahr? Und er ist überall rumgerannt und hat ihn allen Frauen anprobiert.« Sie verzog das Gesicht. »Bestimmt war er Fußfetischist. Ich meine, wie hätte es sonst sein können, dass er ihr Gesicht nicht wiedererkennt?« Sie nippte an ihrem Wodka Tonic. »Genau wie bei Lois Lane und Superman. Er zieht einen Anzug an und setzt eine Brille auf, und schon hat sie keine Ahnung mehr, wer er ist. Mal im Ernst, das ist doch ein Witz.« Sie fing seinen Blick auf, hielt inne und lachte. »Verzeihen Sie, aber ich genieße es einfach, hier zu sitzen und Quatsch zu reden. Mit jemandem, der mich versteht, und ohne dass ich Angst haben muss, ich könnte jemanden beleidigen oder das Gesicht verlieren oder das Protokoll verletzen… davon hatte ich in den letzten drei Monaten genug. Sie machen sich keine Vorstellung.« Er lächelte. »Ach, ich glaube schon«, erwiderte er. »Ich liebe China und die Chinesen von ganzem Herzen. Aber nach sechs Monaten hier kann ich es kaum erwarten heimzukommen, ins Kino
zu gehen, einen Hotdog zu essen oder mir ein Baseballspiel anzusehen. Ja, und mit Leuten rumzublödeln, mit denen ich auf einer Wellenlänge bin.« »Na sooo was!«, hörten sie eine aufgeregte, gedehnte Stimme. Michael und Margaret drehten sich um und stellten fest, dass Dot McKinlay und ein Trupp ihrer reisenden Omas in der Bar einmarschiert waren. Dot lief vor Begeisterung rot an. Sie legte die Hand auf Michaels Arm, brachte aber vor Aufregung fast kein Wort heraus. »Wissen Sie eigentlich, wer das ist?« Michael lächelte. »Also, als ich das letzte Mal in den Spiegel geschaut habe, wusste ich es noch.« Dot wandte sich an Margaret. »Das ist Michael Zimmerman. Er ist im Fernsehen.« »Eigentlich ist er es nicht«, widersprach Margaret, und Dot klappte die Kinnlade nach unten. Michael sah sie verdutzt an. »Wie meinen Sie das?«, fragte Dot. Margaret schüttelte ernst den Kopf. »Michael Zimmerman ist sein Zwillingsbruder. Also, um genau zu sein, seine Zwillingsschwester. Aber das war vor ihrer Geschlechtsumwandlung. Oder sollte ich sagen ›vor seiner‹? Jedenfalls kommen Daniel und Michaela – so hieß sie, bevor sie zu Michael wurde – nicht gut miteinander aus. Und Daniel mag es nicht besonders, wenn man ihn mit seinem Bruder – seiner Schwester – verwechselt.« Sie trank aus und hakte sich bei Michael unter. »Wie auch immer, wir wollten gerade aufbrechen.« Widerstandslos ließ sich Michael von ihr aus der Bar führen. Lächelnd nickte er Dots reisenden Omas zu, die ihn anstarrten, als hätte er zwei Köpfe. Sie waren schon fast an der Tür, als Dot ihre Fassung wiederfand und Margaret hinterherrief: »Ich dachte, Sie wollten heute abreisen, Miss.« In ihrer Stimme lag ein unterschwelliger Vorwurf. »Musste unerwartet noch bleiben«, rief Margaret zurück. »Um mich mit einem Kerl zu treffen, der den Kopf verloren hat.« Sie schafften es gerade noch durch die Vordertür und die Stufen hinunter, bevor ihr mühsam unterdrücktes Lachen über den hell erleuchteten Vorplatz schallte. »Mein Gott«, sagte Michael. »Von nun an bin ich also ein geschlechtsumgewandelter Zwilling.« »Schon in Ordnung.« Margaret wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln. »Man sieht es Ihnen nicht an.« Damit löste sie einen
neuerlichen Lachanfall aus. So gut hatte sich Margaret, von Wodka und Endorphinen beschwingt, schon ewig nicht mehr gefühlt. »Wissen Sie eigentlich, wer das ist?«, ahmte Michael Dots schleppenden Tonfall nach. »Oh, verdammt, wir werden beobachtet«, stellte Margaret fest. Im Umdrehen erkannte Michael, dass Dot McKinlays reisende Omas ihnen vom Fenster der Bar aus mit finsteren Mienen nachschauten. Er nahm Margarets Arm und führte sie rasch unter den misstrauischen Blicken der braun uniformierten Wachmänner zum Tor hinaus. Ein Taxifahrer sah erwartungsvoll in ihre Richtung, sprang auf einen Wink von Michael hin in seinen Wagen und ließ den Motor an. »Haben Sie schon gegessen?«, wollte Michael wissen. »Aber klar«, antwortete sie. »Nachdem ich erst eine Autopsie für die Botschaft vornehmen durfte, hat man es sich nicht nehmen lassen, mich ganz nobel einzuladen. In die Kantine. Bezahlen musste ich allerdings selbst.« »Wow. Diese Kerle wissen wirklich, wie man eine Dame ausführt.« »Meine Rede.« Er schwieg einen Moment. »Also, wie lange bleiben Sie noch hier?« Sie zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung. Vielleicht einen Tag, vielleicht eine Woche, womöglich einen Monat.« Sie merkte, dass ihm das ausgesprochen gut gefiel. »Also, wohin entführen Sie mich jetzt?« Er hielt ihr die Tür des Taxis auf. »An einen ganz besonderen Ort.« Er rutschte neben ihr auf den Rücksitz, beugte sich vor und redete in fließendem Chinesisch, so meinte Margaret wenigstens, auf den Fahrer ein. Als er sich wieder zurücklehnte, sah sie ihn bewundernd an. »Ihr Chinesisch ist fantastisch«, lobte sie ihn. »Nicht wirklich.« Er schüttelte ernst den Kopf. »Ehrlich gesagt spricht der Fahrer Englisch. Ich habe ihn vor dem Einsteigen angewiesen, so dreinzuschauen, als würde er mich verstehen.« Sie sah ihn fassungslos an. »Sie machen Witze!« Mit stoischer Miene drehte er sich zu ihr um. »Ja, ich mache Witze.« Dann grinste er. »Als ich damals beschlossen hatte, mich an der Washington-Universität in St. Louis auf chinesische Vor- und Frühgeschichte zu spezialisieren, dachte ich mir, dass ich möglichst
auch Chinesisch lernen sollte. Bei Kursbeginn waren fünfundzwanzig Studenten eingeschrieben. Am Ende des ersten Jahres waren noch sieben davon übrig. Und ich war der Einzige, der nicht chinesischer Abstammung war.« »Alle behaupten, Chinesisch sei unglaublich schwer zu erlernen«, sagte sie. Er zuckte mit den Achseln. »Auf dem Papier ist es gar nicht so kompliziert. Die Grammatik könnte nicht einfacher sein. Im Grunde beschränkt sich alles auf die Gegenwart. Ich gehe heute dorthin. Ich gehe gestern dorthin. Ich gehe morgen dorthin. Problematisch wird es erst, wenn man zu sprechen versucht.« »Weil allein die Betonung ausschlaggebend ist.« »Ganz genau. Man kann ein einziges Wort auf vier verschiedene Arten betonen, und jedes Mal hat es eine andere Bedeutung. Ich habe damals immer mit einem Mädchen geübt, dessen chinesische Aussprache ziemlich zu wünschen übrig ließ. Aber sie war ausgesprochen niedlich, darum habe ich mich gern geopfert. Jedenfalls sagt sie eines Tages zu mir: ›Willst du Sex mit mir haben?‹ Ich konnte mein Glück nicht fassen. Aber irgendwie sagt sie das so, dass ich nicht restlos überzeugt bin. Außerdem schält sie währenddessen ungerührt eine Orange.« Margaret musste lachen. »Also bitte ich sie zu wiederholen, was sie eben gesagt hatte. Wieder sagt sie dasselbe: ›Willst du Sex mit mir haben?‹ Ganz ehrlich, am liebsten hätte ich einfach nur ›Ja‹ gebrüllt. Aber stattdessen bat ich sie, ihre Frage aufzuschreiben. Unglücklicherweise lässt das Chinesische in geschriebener Form keinen Raum für irgendwelche Mehrdeutigkeiten.« Er lächelte versonnen. »Ja und?«, fragte Margaret ungeduldig. »Was hat sie geschrieben?« Michael schüttelte wehmütig den Kopf. »Wie sich herausstellte, hatte sie mich fragen wollen, ob ich religiös sei. Ich war am Boden zerstört.« »Also haben Sie nie Sex mit ihr gehabt?« Er zog eine Braue hoch. »Das wäre jetzt aber ziemlich indiskret, oder? Und ich würde nie im Leben eine Dame kompromittieren.« »Das freut mich zu hören.« Das Taxi fuhr westwärts am Tor des himmlischen Friedens vorbei. Mao Zedongs Ebenbild blickte hinab auf den TiananmenPlatz, wo ihn einst hunderttausende von Rotgardisten als die rote, rote Sonne in ihrem Herzen bejubelt hatten. Jetzt war der Platz voll
mit Touristen, und Arbeiter waren im Neonlicht damit beschäftigt, rechtzeitig zum Nationalfeiertag riesige Blumenskulpturen und eine gigantische Spiegelkugel aufzustellen. Während Michael auf den Platz hinausstarrte, musterte Margaret ihn diskret. Er war leger gekleidet – in Jeans, hellbraune Lederschuhe und eine offene schwarze Weste über einem weißen Hemd, das er nicht in die Hose gesteckt hatte. Seine glatte, reine Haut war leicht gebräunt. Er hatte große, starke Hände, rosafarbene Haut unter den makellosen Fingernägeln und ein kräftiges, markantes Kinn. Weil der Wagen nicht besonders groß war, presste sich sein Oberschenkel an ihren. Dadurch konnte sie spüren, wie warm sein Bein und wie fest sein Muskel war. Er verströmte einen unverwechselbaren Duft, den sie aber nicht einzuordnen vermochte. Jedenfalls roch er irgendwie bittersüß, leicht moschusartig und ausgesprochen teuer. »Was für ein Rasierwasser benutzen Sie?«, wollte sie wissen. Er zog die Stirn in Falten; offenbar war er in Gedanken ganz woanders gewesen. »Ich benutze kein Rasierwasser.« Dann begriff er. »Ach so, Sie meinen das Patschuli?« Er. grinste. »Ich kann Rasierwasser nicht ausstehen. So früh am Morgen ist der Geruch wie ein Schlag ins Gesicht. Darum verreibe ich lediglich einen winzigen Tropfen Patschuliöl unter meinem Adamsapfel auf dem Hals. Ich finde, das hat irgendwie etwas Frisches.« Er verstummte unvermittelt. »Mögen Sie es nicht?« »Doch, im Gegenteil«, sagte sie. »Es ist einfach ungewöhnlich.« »Ich hoffe, Sie mögen Jazz«, sagte er unvermittelt. »Jazz?« »Deswegen sind wir unterwegs. Um die beste Jazzband diesseits der Großen Mauer zu hören.« Sie spürte einen winzigen Stich der Enttäuschung. Das Taxi setzte sie im Vorhof des Minzu Fandian am Fuxingmennei-Boulevard ab. Allerdings hatten sie ihr Ziel damit noch nicht erreicht; gleich darauf ließen sie die Lichter des Hotels hinter sich und gingen durch eine Unterführung. Auf der anderen Seite des Boulevards führte die Treppe hinauf in den tiefen Schatten der Bäume zwischen der Fahrradspur und dem Trottoir. Margaret wurde ein wenig mulmig zu Mute. Auf niedrigen Mauern saßen alte Männer und spielten Schach, während Frauen in Grüppchen plaudernd zusammenstanden und Kinder unter johlendem Gelächter einen Ball über den Rasen kickten. Ein unglaublich schmaler Hutong
führte in ein Labyrinth aus ummauerten Höfen. Dann ging Margaret auf, dass sie schon einmal hier gewesen war. Vorn an der Ecke stand die Sanwei-Buchhandlung und überschwemmte die dunkle Straße mit warmem Licht. Sie hörte leise Jazzmusik durch die warme Abendluft wehen. Kaum hatten sie das Haus betreten, kam ein junges Mädchen auf sie zu, um ihnen Eintrittskarten zu je dreißig Yuan zu verkaufen. Ein paar Stufen weiter unten schoben sich die Angestellten durch die schmalen Gänge zwischen den Bücher- und Zeitschriftenregalen. »Lassen Sie sich durch den Buchladen nicht irreführen«, sagte Michael. »Oben befindet sich ein unglaublich schöner Teesalon.« »Ich weiß«, erwiderte sie, worauf er perplex vor der untersten Stufe stehen blieb. »Sie waren schon mal hier?« Sie nickte. »Allerdings nicht zu einem Jazzabend.« Nur allzu gut erinnerte sie sich an den so stillen Teesalon: an die stumm auf dem Fliesenboden stehenden lackierten Tische und Stühle; an die Vasen und Skulpturen auf den Borden und in den Vitrinen; an die teils traditionellen, teils modernen Bildrollen an den Wänden; an die Trennwände entlang der Fensterwand, die den Raum in verschwiegene kleine Nischen unterteilten. In einer davon hatte sie damals mit Li gesessen, an einem Abend, als außer ihnen keine Menschenseele hier gewesen war, an jenem Abend, an dem sie Li zum allerersten Mal ihr Herz geöffnet hatte. »Ist alles in Ordnung?« Michael war besorgt. Beinahe hätte sie ihm erklärt, dass sie nicht hinaufgehen wollte, aber dazu fehlte ihr dann doch der Mut. »Aber ja doch«, sagte sie stattdessen. Er zögerte kurz und wirkte keineswegs überzeugt, dann aber nahm er sie bei der Hand und führte sie hinauf. Gerade als Michael und Margaret oben ankamen, machte die Band eine Pause, und das Publikum im dicht besetzten Teesalon applaudierte noch der letzten Nummer. An einem Tisch saß ein junger Mann mit Brille, der ihre Tickets entgegennahm. »Hallo, Mr. Zimmerman«, sagte er langsam und konzentriert auf Englisch. »Wie geht es Ihnen?« »Danke, gut, Swanney. Wie läuft das Geschäft?« »Seehr gut heute, Mr. Zimmerman.« Michael machte Swanney mit Margaret bekannt, die ihm die Hand schüttelte. »Swanney ist Arzt an der Klinik für Infektionskrankheiten«, erklärte Michael, und augenblicklich wurde
Margaret von dem Verlangen befallen, die Hand, die sie ihm gereicht hatte, zu waschen. »An den Jazzabenden jobbt er hier, zum Teil, weil er Jazz mag, vor allem aber, weil er hier Gelegenheit hat, sein Englisch zu verbessern.« »Sehr erfreut«, sagte Margaret und sah sich um. Im vollen Teesalon waren ebenso viele europäische wie chinesische Gesichter zu sehen. Größtenteils handelte es sich um junge Zuhörer, mit Ausnahme eines ältlichen Herrn, der Jeans, T-Shirt und eine Baseballkappe trug. Er war schwer damit beschäftigt, ein chinesisches Mädchens anzubaggern, das jung genug war, um seine Enkeltochter zu sein. Sie wirkte unerträglich gelangweilt. Die Atmosphäre war überhaupt nicht zu vergleichen mit der Stille und Einsamkeit an jenem von tiefen Gefühlen geprägten Abend, den Margaret mit Li hier verlebt hatte. Heute dröhnten hier Stimmen und Gelächter, und die Gäste scharten sich in lebhaft plaudernden Gruppen bei Tee und Bier um die Tische. Und doch hatte sie den Eindruck, dass irgendwas nicht stimmte, dass irgendwas fehlte. Dann wusste sie, was sie irritierte. Sie sagte zu Michael: »Niemand raucht.« Er grinste. »Ich weiß. Ein Jazzklub ohne Zigarettenrauch. Irgendwie ein Stilbruch, nicht wahr? Die Besitzerin ist ein bisschen exzentrisch.« Er nickte zu einer Tür am Ende eines Säulengangs. »Sie lebt praktisch hier drin. Auch wenn man sie so gut wie nie zu Gesicht bekommt. Sie hasst das Rauchen, darum hat sie an den Jazzabenden Rauchverbot erlassen.« Er führte sie zum einzigen freien Tisch im Lokal, soweit sie erkennen konnte. »Den habe ich reservieren lassen«, erklärte er. »Ich wollte sichergehen, dass wir einen Platz bekommen.« Unvermutet tauchte ein Mädchen von etwa zwanzig Jahren, mit einer Schürze bekleidet und mit einem offenen Lächeln in ihrem hübschen Gesicht, aus der Menge auf. »Hallo, Mr. Zimmerman.« Aus ihrem Blick sprach offene Verehrung. »Hi, Plum«, erwiderte er ihr Lächeln. »Plum, das ist Margaret. Sie ist Ärztin.« Mit einem nicht weniger breiten und entwaffnenden Lächeln wandte sich Plum an Margaret. »Hallo, Miss Margaret«, sagte sie und streckte ihr die Hand hin. »Ich bin seehr erfreut, Sie zu kennen lernen. Ich bin studieren Englisch an Peking-Universität. Was möchten Sie trinken?« Nachdem sie beide Bier bestellt hatten, ließ Margaret den Blick
über die jungen Gesichter im Raum wandern, erstarrte aber unvermittelt, als sie sich umwandte und genau auf einen großen Chinesen blickte, der sich an ihrem Tisch vorbeischob. Es war Li. Sie merkte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss, als er stehen blieb, denn es war zu spät, um so zu tun, als hätten sie einander nicht gesehen. Gleich darauf fiel ihr Blick auf die junge, gut aussehende Chinesin an seiner Seite, und auf der Stelle fühlte sie sich hundeelend. Es war, als hätte er ihr die Ohrfeige zehnfach heimgezahlt. Deshalb also gab es für sie beide keine Zukunft, dachte sie verbittert. Es gab da schon eine andere Frau. Am liebsten wäre sie aufgestanden und hätte ihn noch einmal geschlagen. Nur härter diesmal, mit geballter Faust, damit es wirklich wehtat. Stattdessen blieb sie wie angewurzelt auf ihrem Stuhl sitzen. »Nanu«, sagte sie mühsam beherrscht. »Das ist aber eine Überraschung.« Im ersten Moment war es die Verlegenheit, die Li sprachlos machte, doch dann fiel sein Blick auf Michael, und Wut kochte in ihm hoch. Er sah wieder auf Margaret. Deshalb hatte sie also beschlossen, doch noch hier zu bleiben. Lange hatte sie nicht gebraucht, um über ihren Liebeskummer hinwegzukommen. »Nicht wahr?«, brachte er mühsam über die Lippen. Sofort sprang Michael auf und streckte Li die Hand hin. »Hi. Ich bin Michael Zimmerman.« Seine gute Erziehung zwang Li, den Händedruck zu erwidern. »Li Yan«, stellte er sich knapp vor. Margaret erhob sich betont langsam und fixierte die Frau an Lis Seite. »Und wer ist das?«, fragte sie spitz. Auf keinen Fall würde sie ihn davonkommen lassen, ohne dass er ihr seine Begleitung vorgestellt hatte. Mit irritierend offenem Blick sah Li ihr in die Augen. »Das ist Xiao Ling«, antwortete er. »Meine Schwester.« Ein weiterer Schlag ins Gesicht, diesmal in Form einer Zurechtweisung. Margaret wusste nicht genau, welche ihrer Empfindungen überwog, Scham oder Erleichterung. Auf alle Fälle kam sie sich ziemlich dämlich vor. Sie wagte ein Lächeln und schüttelte Xiao Ling die Hand. »Wie schön, Sie kennen zu lernen.« Xiao Ling nickte höflich und erwiderte für den Bruchteil einer Sekunde ihren Blick, bevor sie die Augen wieder zu Boden senkte. »Hi«, sagte Michael und gab ihr ebenfalls die Hand. »Wollen Sie sich nicht zu uns setzen?« Margaret schaute ihn entsetzt an. Doch Li schlug die Einladung
eiskalt aus. »Wir wollten gerade gehen«, erwiderte er. »Wir haben uns getäuscht. Normalerweise wird an diesen Abenden kein Jazz gespielt.« »Nein«, bestätigte Michael, »die Veranstaltung heute Abend findet außer der Reihe statt. Ein Sonderkonzert.« Mit einem Nicken schob Li Xiao Ling an ihm vorbei. »Viel Vergnügen«, sagte er noch, dann waren beide verschwunden. Margaret und Michael setzten sich. »Puh!«, entfuhr es Michael. »Ich komme mir vor, als hätte ich die letzten Minuten im Eisfach verbracht.« Er untersuchte seine Finger. »Gut möglich, dass ich mir ein paar Frostbeulen geholt habe.« Wider Willen musste Margaret lächeln. »Es tut mir Leid, Michael.« »Wer war der Kerl? Oder sollte ich lieber nicht fragen?« »Nein, nein, fragen Sie ruhig«, erwiderte Margaret. »Ich würde sagen, er ist so ziemlich der starrköpfigste, schwierigste und rüpelhafteste Kerl, den ich je kennen gelernt habe.« »Ach so.« Michael nickte weise. »Sie hatten mal was mit ihm.« Sie warf ihm einen Seitenblick zu. »Ist das so offensichtlich?« Er grinste. »Vor allem hat euch die Tätowierung ›Achtung, ExLover‹ auf eurer Stirn verraten.« Sie lächelte kläglich. »Wer ist er?«, wollte er wissen. »Li Yan ist stellvertretender Sektionsvorsteher der Sektion Eins der städtischen Polizei Peking.« »Ein Bulle?« Michael war sichtlich erstaunt. »Leider ist es in meinem Beruf kaum möglich, ihnen aus dem Weg zu gehen.« Er schüttelte verwundert den Kopf. »Und was ist die Sektion Eins?« »Ach, so etwas wie das Dezernat für Kapitalverbrechen. Sie bearbeiten alle schweren Raubüberfälle und Morde.« Jetzt fiel bei Michael der Groschen. »Er ist der Typ, mit dem Sie während dieser Reisgeschichte zusammengearbeitet haben?« Sie nickte. »Und jetzt? Diese Autopsie, die Sie für die Botschaft vorgenommen haben? Hat er damit etwa auch zu tun?« »Leider ja«, erwiderte Margaret und fügte genüsslich hinzu: »Zu schade, dass nicht er auf meinem Tisch gelegen hat.« »Autsch.« Michael schnitt eine Grimasse. »Ich möchte lieber nicht am falschen Ende Ihres Skalpells landen.« Sie lächelte. »Mir ist schon nachgesagt worden, meine Zunge sei
noch schärfer.« »Auch da würde ich nur ungern auf der falschen Seite stehen.« Sie grinste verlegen. Plum brachte das bestellte Bier. Michael nahm einen tiefen Zug und sah Margaret nachdenklich an. »Und woran arbeiten Sie gerade – an einem Mordfall? Oder ist das ein Staatsgeheimnis?« »Ach, das glaube ich nicht«, antwortete Margaret. Sie trank ebenfalls einen Schluck Bier. »Wir haben es mit einem Botschaftsangestellten zu tun, einem Amerikaner chinesischer Abstammung, dem irgendein Serienmörder die Rübe abgehackt hat. Zumindest glauben das die Chinesen.« Michael verzog das Gesicht. »Geköpft? Das hört sich ziemlich unangenehm an. Eine chinesische Hinrichtungsart mit langer Tradition.« Sie sah ihn interessiert an. »Ach ja?« »Sie wurde seit tausenden von Jahren praktiziert«, erklärte er. »Bis weit in die jüngste Vergangenheit hinein. Sie müssen wissen, wenn die alten Kaiser beigesetzt wurden, war es ganz normal, dass mit ihnen dutzende von kaiserlichen Konkubinen und Angehörigen des Hofstaats in den riesigen unterirdischen Grabstätten eingemauert wurden. Zum Teil wurden sie lebendig begraben. Wer mehr Glück hatte, wurde vorher hingerichtet. Bei Ausgrabungen hat man in den Gräbern jede Menge kopfloser Skelette gefunden.« Margaret schauderte. »So gesehen war es nicht unbedingt erstrebenswert, für den Kaiser zu arbeiten.« Achselzuckend erklärte Michael: »Das war eben der Preis für die unvorstellbaren Privilegien, die sie zu seinen Lebzeiten genossen.« Er nahm einen weiteren Schluck Bier. »Also«, fuhr er fort, »Sie glauben demzufolge nicht, dass dieser China-Amerikaner wirklich von einem Serienkiller ermordet wurde?« Sie zog unsicher die Achseln hoch, denn ihre Gedanken kreisten noch immer um Li. »Nicht wirklich. Zu viele Widersprüche.« »Und wer hat es Ihrer Meinung nach getan?« »Ich habe keine Ahnung. Genauso wenig wie die Chinesen. Und wahrscheinlich bin ich längst in Rente, bis sie es herausgefunden haben – falls sie es überhaupt je herausfinden.« Sie sah von ihrem Bier auf und lächelte kopfschüttelnd. »Aber in Wahrheit ist das alles ziemlich langweilig. Bei weitem nicht so spannend, wie es sich anhört.« Sie nippte an ihrem Glas. »Und wie war’s bei Ihnen?« Sie versuchte Li mit aller Gewalt aus ihren Gedanken zu verbannen.
»Ehrlich gesagt ziemlich öde«, antwortete er. »Ich dachte, Sie hätten heute mit den Dreharbeiten begonnen?« »Schon. Aber das war nicht besonders aufregend. Wir sind immer noch beim Aufbauen. Immerhin kam die Sonne raus, sodass wir vom Hubschrauber aus ein paar Luftaufnahmen des Ding Ling machen konnten.« Sie prustete vor Lachen. »Dingeling?«, wiederholte sie ungläubig. »Nein.« Ihre alberne Reaktion ließ ihn lächeln. »Ding Ling. Es ist der Name des Grabes von Zhu Yijun, dem dreizehnten Kaiser der Ming-Dynastie, bekannt als Kaiser Wanli. Die Grabstätte ist in den Dayu-Hügel eingelassen, am Fuß des Berges der Langlebigkeit des Himmels, gerade mal eine Stunde außerhalb der Stadt. Und es war heute wunderschön da draußen. Zum ersten Mal seit einer Ewigkeit hat die Sonne geschienen. Wir konnten es gar nicht glauben. Also sind wir auf der Stelle im Hubschrauber hoch, wobei wir ziemlich dicht über den Bergen reinkamen, und als wir den letzten Kamm überquert hatten, lag vor uns die Grabstätte in ihrer ganzen Pracht. Bei diesen Herbstfarben und den Lichtverhältnissen haben wir bestimmt ein paar tolle Aufnahmen machen können.« Margaret sagte: »Ich will Ihnen nicht den Spaß verderben, aber auf ein paar schönen Bildern wird sich kaum eine ganze Fernsehserie aufbauen lassen. Und, na ja, ehrlich gesagt kann ich nicht behaupten, dass mich die Aussicht, einen Haufen alter Gräber anzuschauen, vom Hocker hauen würde.« Michael quittierte ihre Ignoranz mit einem nachsichtigen Lächeln. »Darum geht es in dieser Serie auch gar nicht«, erwiderte er. »Geschichte hat immer mit Menschen zu tun, Margaret. Und in dieser Serie geht es um einen faszinierenden Mann namens Hu Bo.« Er hielt einen Moment inne. »Aber wahrscheinlich interessiert Sie das überhaupt nicht.« Sie lachte. »Doch, tut mir Leid. Es interessiert mich. Ehrlich. Erzählen Sie weiter.« Er zuckte fast verlegen mit den Achseln. »Hu war ein Pionier der Archäologie im China des zwanzigsten Jahrhunderts.« »Na ja, wenn ich es recht bedenke…« Michael grinste. »Okay, ich habe verstanden. Das allein mag noch nicht sonderlich spannend klingen. Aber wenn man sich sein Leben ansieht und das, was er erreicht hat – allen Widrigkeiten zum Trotz, ungeachtet der Wirren von Krieg, Revolution und politischem
Irrsinn –, dann ist das eine schier unglaubliche Geschichte. Sie beginnt damit, dass Hu im Alter von gerade mal zehn Jahren von seinem Vater an eine ausländische Forschungsexpedition verkauft wird. Und sie endet mit einem letzten großen Kraftakt – der Veröffentlichung der wahren Ereignisse bei den Ausgrabungen in Ding Ling, die er mit einer Hand voll Kollegen unter großen persönlichen Opfern vor den zerstörerischen Kräften der Kulturrevolution bewahrt hatte.« »Hört sich an wie der einführende Text zum Start einer Fernsehserie über einen chinesischen Archäologen«, warf Margaret ein. Er kicherte. »Das trifft es so ziemlich. Ehrlich gesagt habe ich ihn noch nicht niedergeschrieben. Danach klingt er bestimmt besser.« Seine Augen funkelten sie fröhlich an. »Hätten Sie schon weitergezappt?« Sie sog die Luft durch die Zähne ein. »Na ja… ich bin nicht leicht zufrieden zu stellen, Michael. Vielleicht hätte ich ein, zwei Minuten mit dem Umschalten gewartet.« Er beugte sich vor. Sein Enthusiasmus wirkte ansteckend. »Wenn Sie mir eine Minute Zeit geben, kriegen Sie von mir eine ganze Stunde. Und wenn Sie mir eine Stunde geben, dann werden Sie sich die ganze Serie ansehen. Das kann ich Ihnen versprechen.« Obwohl ihr die Vorstellung widerstrebte, sie könnte auch nur einen Funken Interesse für irgendetwas aufbringen, das mit Archäologie oder Archäologen zu tun hatte, war Margaret fasziniert. Wobei sie allerdings nicht genau zu sagen vermochte, ob nun die Geschichte oder doch eher der Erzähler ihre Neugier geweckt hatte. Wie selbstverständlich nahm er ihre Hand. »Besuchen Sie mich morgen am Drehort. Bitte. Wir zeichnen eine nachgestellte Szene auf, in der Hu Bo und sein bunt zusammengewürfeltes Team von Archäologen und unermüdlichen Amateuren die unterirdische Grabstätte des Kaisers öffnen, fast auf den Tag genau vierhundert Jahre, nachdem sie versiegelt wurde. Keiner von ihnen weiß, was sie darin erwartet. Es gibt Gerüchte über giftige Gase und über Armbrüste, die so angebracht wurden, dass sie automatisch giftgetränkte Pfeile verschießen, sobald die Tore zur Grabkammer geöffnet werden. Als sie die ersten Ziegelsteine entfernt haben, erstarren sie vor Entsetzen…« Er verstummte und wartete ab. »Was war denn passiert?«, fragte sie ungeduldig. Er lehnte sich grinsend zurück. »Sehen Sie. Schon haben Sie
angebissen.« Sie lachte. »Wenn Sie das wissen wollen, müssen Sie morgen rauskommen. Ich werde einen Wagen schicken, der Sie abholt.« »Also gut…«, sagte sie beinahe schüchtern. »Ich werde es mir überlegen.« Zu ihrer Enttäuschung versammelte sich allmählich die Jazzband wieder am anderen Ende des Teesalons. Wenn die Musik erst wieder einsetzte, wäre kein Gespräch mehr möglich, und sie hatte die Unterhaltung genossen. Sie mochte Michael. Er war ein angenehmer Zeitgenosse und ausgesprochen unterhaltsam. Doch gleich darauf wurde ihre Miene düster, da sich Li neuerlich in ihr Bewusstsein drängte. Und sie fragte sich, ob sie je über ihn hinwegkommen würde. Michael drehte seinen Stuhl in Richtung Band und sagte zu Margaret: »Diese Jungs sind etwas Besonderes. Sie sind nur für ein paar Abende in der Stadt, deswegen treten sie auch heute Abend auf und nicht am Wochenende. Der Saxophonist kann sich mit den Besten der Welt messen.« Margaret ließ den Blick über die Mitglieder der Band wandern. Der Keyboarder war Amerikaner – er sprach zwar Chinesisch, doch sie konnte den amerikanischen Akzent heraushören. Schlagzeuger, Saxophonist und Kontrabassist waren eindeutig Chinesen. Der Keyboard-Spieler stellte die Musiker noch einmal auf Chinesisch und Englisch dem Publikum vor und zählte dann ein mittelschnelles Stück an, in dem die einprägsame zyklische Akkordfolge des Keyboards immer wieder vom Saxophon erweitert oder durchbrochen wurde. Ohne Zweifel waren sie gut, doch Margaret war nicht wirklich bei der Sache. Sie bemerkte, dass Michael aufmerksam lauschte. Auf diesem Gebiet deckten sich ihre Interessen offensichtlich nicht. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit darauf, was sonst noch im Teesalon geschah. Der alte Knacker mit der Baseballkappe war bei dem jungen chinesischen Mädchen nicht über ein paar unschuldige Wangenküsse hinausgekommen. Ziemlich weit vorne saß ein gespannt lauschender junger Mann, der den Blick starr auf die Band geheftet hatte und im Takt der Musik mit dem Kopf wippte. Er wirkte wie hypnotisiert. Währenddessen hielt sich seine hübsche Freundin, schmählich von ihrem Liebhaber ignoriert, dadurch wach, dass sie aus einem viereckigen Taschentuch gelangweilt die wunderbarsten Origamifiguren schuf. Beeindruckt beobachtete
Margaret, wie die junge Frau durch eine komplizierte und ausgefeilte Folge von Kniffen das Taschentuch in einen Pfau mit breit gefächertem Schwanz und schief sitzendem Kopf verwandelte. Nachdem sie damit fertig war, stupste sie ihren Freund, nach Anerkennung suchend, in die Seite. Er warf einen kurzen Blick auf ihr Werk, nickte mit einem halbherzigen Lächeln und konzentrierte sich sofort wieder auf die Musik. Das Mädchen zuckte mit den Achseln, löschte ihr Werk mit einer einzigen Handbewegung aus und machte sich sogleich daran, etwas Neues zu falten. Unter stürmischem Beifall beendete die Band das Stück. Der Keyboarder machte eine kurze chinesische Ansage, und Margaret fiel auf, dass sich immer mehr Hälse im Publikum in ihre Richtung reckten. Michael lief rot an. Dann wechselte der Keyboarder ins Englische. »Noch mal für alle, die kein Chinesisch verstehen, wir haben heute Abend einen gewissen Mr. Michael Zimmerman zu Gast.« Er deutete auf Michael, woraufhin sich noch mehr Köpfe umwandten und vereinzelt geklatscht wurde. »Viele von Ihnen haben ihn bestimmt schon mal im Fernsehen gesehen, wo er historische Dokumentationen präsentiert. Aber nur wenige hier im Saal werden wissen, dass seine wahre Berufung das AltSaxophon ist.« Michael sah sie von der Seite an. »Ist mir das peinlich.« »Ich wusste gar nicht, dass Sie spielen.« Unwillkürlich war Margaret fasziniert von dieser neuen und unerwarteten Seite an ihm. Und dann ging ihr auf, dass sie im Grunde gar nichts über ihn wusste. »Also, Michael, wollen Sie nicht raufkommen und eine Nummer mit uns spielen? Einen Riesenapplaus für Mr. Zimmerman.« Inzwischen waren alle Augen auf ihren Tisch gerichtet. »Mein Gott«, flüsterte Michael kaum hörbar, machte aber keinerlei Anstalten aufzustehen. »Los doch!«, drängte Margaret und gab ihm einen Schubs. Dann stand sie auf und begann zu klatschen. »Ich möchte Sie spielen hören.« Damit saß er in der Falle. Er schüttelte den Kopf, erhob sich widerstrebend und schlängelte sich nach vorne zur Band durch. Von einem seltsamen und unerklärlichen Stolz erfüllt, sah Margaret ihm nach. Sie war mit ihm hier, und sie merkte, wie die Leute sie ansahen und sich fragten, wer sie wohl sein mochte. Michael befestigte sein eigenes Mundstück an einem AltSaxophon, das der chinesische Saxophonist aus einem im Hintergrund liegenden Kasten holte.
Nach einer kurzen Diskussion zählte der Schlagzeuger ein langsames, verträumtes Stück an, wie geschaffen für ein sirupsüßes Saxophonsolo. Das elektrische Klavier umspielte eine schlichte, sich wiederholende Melodie, während die Finger des Bassisten auf dem bundlosen Fingerbrett auf- und abglitten und er im Zyklus der Akkorde die Saiten zupfte und anriss. Michael stand mit geschlossenen Augen da, wiegte sich leise im Rhythmus der Musik und ließ sich davon überspülen, bevor er das Saxophon an den Mund führte und ein geschmeidiges Solo hinhauchte, das sich im Raum ausbreitete, sich über die Zuhörer senkte und ihnen in den Magen fuhr. Margaret merkte, wie sich ihre Nackenhaare aufstellten, genauso wie die Kopfhaare, und wie sich eine Gänsehaut über ihre Schenkel zog. Normalerweise fand sie kaum Zeit für Musik, aber hin und wieder wurde sie von einem Stück gepackt. So wie jetzt. Diese Musik atmete eine intensive, Mark und Bein durchdringende Erotik, die einerseits daher rührte, dass dies der Mann war, mit dem sie heute Abend zusammen war, andererseits aber daher, dass er wahrhaft Talent hatte, rein und unverfälscht und zum Greifen nah. Sie beobachtete, wie konzentriert er spielte und wie seine Finger in Windeseile über die Ventile seines Saxophons huschten, während sein Solo dem Höhepunkt zustrebte wie eine Frau dem Orgasmus. Als er fertig war und mit schweißüberströmtem Gesicht einen Schritt zurücktrat, brandete spontaner Applaus auf. Selbst die Origamimaid hatte von ihrem Taschentuch abgelassen und klatschte mit unerwarteter Begeisterung. Als Michael an den Tisch zurückgekehrt war, brannten Margarets Hände immer noch. Er setzte sich und wischte sich mit dem Taschentuch, das ihm die Origamimaid auf dem Rückweg überlassen hatte, den Schweiß aus dem Gesicht. Sehr zum Missfallen ihres Freundes ruhte ihr Blick noch immer auf Michael, voll Verlangen und raubtierhaft. Auch Margaret blieb das nicht verborgen. »Bitte verzeihen Sie mir diesen Auftritt.« Michael wirkte wirklich verlegen. »Und natürlich tragen Sie ihr Mundstück immer bei sich«, spottete sie. »Man kann ja nie wissen.« Er grinste. »Immer.« In diesem Moment beschloss Margaret, dass sie sein Angebot annehmen und am nächsten Tag zum Drehort fahren würde.
V Mei Yuan saß auf dem Sofa, einen Arm um Xinxin gelegt und mit einem großen, aufgeschlagenen Bilderbuch auf dem Schoß. Xinxin war so in die Bilder vertieft, dass sie kaum den Blick losreißen konnte, als ihre Mutter und ihr Onkel hereinkamen. Zwar besaß Mei Yuan kein Telefon, doch hatte Li während ihrer Krankheit einen Nachbarn aufgetan, der bereit war, ihr telefonische Nachrichten zu übermitteln. Und so war Mei Yuan auf seinen Anruf hin sofort losgefahren und schon fünfundzwanzig Minuten später vollkommen außer Puste und mit glühendem Gesicht eingetroffen. Sie hatte einen großen Stapel bunter Bilderbücher mitgebracht, was Li rätseln ließ, wo in aller Welt sie die wohl wieder aufgetrieben hatte. Mei Yuan war begeistert von der Idee, auf Xinxin aufzupassen. Sie liebte Kinder, sagte sie. Ihre eigene Verwandtschaft beschränkte sich auf eine Kusine und deren Ehemann, und deren »Baby« war inzwischen fast dreißig Jahre alt. Folglich hatte sie nur selten Kontakt mit kleinen Kindern. Xinxin wusste noch nicht so recht, was sie von ihrem großen fremden Onkel halten sollte. Scheu musterte sie ihn aus ihren dunklen, misstrauischen Augen. Sie hatte ihn nicht mehr gesehen, seit sie zwei gewesen war, und konnte sich beim besten Willen nicht an ihn erinnern. Zu Mei Yuan hingegen hatte sie sofort Vertrauen gefasst. Li und Xiao Ling waren mit dem Befehl aus dem Haus gescheucht worden, sich keine Sorgen zu machen. Xinxin sei in guten Händen, und sie könnten sich mit der Rückkehr ruhig Zeit lassen. Mei Yuan verstand voll und ganz, dass sie sich ungestört unterhalten wollten, und wenn sie sehr spät nach Hause kommen sollten, würde sie einfach auf dem Sofa schlafen. Daher war sie überrascht, dass die beiden schon nach einer guten Stunde wieder zu Hause waren, und meinte zu spüren, wie bei ihrem Eintreffen die Atmosphäre schlagartig abkühlte. Xinxin war untröstlich, dass ihre Babysitterin so bald wieder aufbrach, und den Tränen nahe, bis ihr Mei Yuan versprach, sie würde sie wieder besuchen kommen und sie dürfe die Bücher solange behalten.
Als sie ging, sagte sie leise zu Li: »Ich bin immer für Sie da.« Er drückte ihr die Hand und zeigte ihr seine Dankbarkeit mit einem stummen Nicken. Nachdem sie gegangen war, hockte er mit düsterer Miene im Wohnzimmer und lauschte, wie Xiao Ling in Yifus früherem Zimmer versuchte, Xinxin zu überzeugen, dass es Zeit fürs Bett sei. Anfangs beschwerte sich Xinxin, sie sei überhaupt nicht müde, doch dann sprach Xiao Ling eine Weile in ruhigem, geradezu hypnotisierendem Tonfall auf sie ein, und schließlich wurde es still. Allerdings vergingen noch einmal an die zehn Minuten, bis Xiao Ling ins Wohnzimmer zurückkam. Sie hatte ihre Strickjacke ausgezogen, und Li bemerkte erstmals, wie deutlich sich der runder werdende Bauch bereits abzeichnete. Xiao Ling sah müde und gestresst aus, und Li erkannte, dass auch seine kleine Schwester zu altern begann. Sie war nicht mehr das junge Mädchen mit dem unverbrauchten Gesicht, an das er sich von seinen Besuchen daheim in Sichuan erinnerte, als er noch die Universität besucht hatte. Plötzlich wurden die Erinnerungen an damals wach, als er heimgekommen war und erfahren hatte, dass sie mit einem jungen Mann verlobt war, den er nicht kannte, einem jungen Mann, den gern zu haben ihm, wie er zu seiner Bestürzung feststellen musste, einfach nicht gelingen wollte. Xiao Xu besaß einen kleinen Bauernhof in der Nähe der Stadt Zigong in der Provinz Sichuan, auf dem er mit Xiao Ling und Xinxin bei seinen Eltern wohnte. Dank der neuen Politik florierte sein privater Hof, und es ging ihnen verhältnismäßig gut. Gerade hatten sie sich ein neues Haus gebaut. Li war nie dort gewesen. Er war nie eingeladen worden. Und er hatte auch keine Lust, hinzufahren. In seinen Augen war Xiao Xu ein ungehobelter Bauer, der seine Schwester nicht verdient hatte. Nicht dass er sie je schlecht behandelt hätte – andernfalls hätte Li ihn zu Brei geschlagen –, doch Li hatte das Gefühl, dass er seine Schwester nie wirklich geliebt oder respektiert hatte. Natürlich war sie ein hübsches Mädchen gewesen und mit einer ansehnlichen Mitgift ausgestattet, aber Li glaubte, dass Xiao Xu ausschließlich nach irgendeiner Frau gesucht hatte, die ihm ein Kind gebären würde, und dass seine Schwester einfach zur richtigen Zeit am falschen Ort gewesen war. Sie hätte etwas weitaus Besseres verdient gehabt. Und jetzt das. »Willst du Tee?«, fragte sie ihn. Er nickte. Ein Bier wäre ihm lieber gewesen, aber er musste einen klaren Kopf behalten. Sie ging in die Küche, um das Wasser aufzusetzen. Bisher hatte sie nichts
weiter gesagt, als dass sie noch unentschlossen sei, ob sie das Kind austragen wolle oder nicht. Immerhin war sie erst in der sechzehnten Woche schwanger und konnte sich noch bis zur achtundzwanzigsten Woche für eine Abtreibung entscheiden. Ein Kind zur Welt zu bringen, nachdem sie bereits eine absolut gesunde kleine Tochter hatte, konnte auf Grund der chinesischen Ein-Kind-Politik einschneidende Strafen nach sich ziehen, sowohl in psychologischer wie in finanzieller Hinsicht: Wahrscheinlich würden die Eltern den Anspruch auf eine kostenlose Schulbildung für Xinxin und ihr ungeborenes Brüder- oder Schwesterchen verlieren, womöglich auch das Anrecht auf kostenlose medizinische Versorgung für die ganze Familie, auf Wohngeld und Steuervorteile, und obendrein eine empfindliche Geldstrafe zahlen müssen. Der psychische Druck, den das Dorfkomitee und die Parteikader ausübten, hatte schon mehr als eine Mutter in den Selbstmord getrieben. Gleichzeitig war Li jedoch der Gedanke an eine Abtreibung, an die Tötung ihres ungeborenen Kindes, zuwider. Es war eine grausame Zwickmühle, eine düstere Zwangslage, in die sich Xiao Ling besser niemals gebracht hätte. Es war praktisch seine erste Frage an sie gewesen. »Warum?« Sie hatte abweisend reagiert. Es sei eben passiert, erklärte sie patzig, und nun nicht mehr zu ändern. Dabei wusste er genau, dass sie dieses Kind gewollt hatte. Ihm war klar, dass sie mit ihrem kleinen Mädchen nicht zufrieden war. Wie jede andere Mutter in China hatte auch sie sich einen Jungen gewünscht. Sein Entschluss, mit ihr in den Teesalon zu gehen, um in Ruhe und ungestört mit ihr zu reden, hatte in einem Fiasko geendet. Normalerweise wurde dort nur am Wochenende Jazz gespielt. Er musste an Margaret denken, daran, wie überrascht er gewesen war, sie dort zu treffen, an seine Wut und seine Eifersucht, sie in Begleitung eines gut aussehenden Amerikaners zu sehen. Er hatte kein Recht, eifersüchtig zu sein, darüber war er sich im Klaren, doch als er seine Wange berührte, die immer noch von ihrer Ohrfeige kribbelte, beschlichen ihn Zweifel, ob ihre selbstgerechte Empörung vom Nachmittag womöglich überhaupt nicht auf einen spontanen Wutausbruch, sondern vielmehr auf ihr schlechtes Gewissen zurückzuführen war. Xiao Ling brachte den Tee auf einem Tablett herein und stellte Kanne und Tassen auf dem kleinen Tisch vor dem Sofa ab. Danach goss sie heißes Wasser auf die grünen Blätter in den Tassen und setzte die Deckel darauf, um den Tee ziehen zu lassen, bis das
Wasser den typischen bitteren Grünteegeschmack angenommen hatte. Zu guter Letzt setzte sie sich neben Li auf den Rand des Sofas und wartete in angespannter Stille. »Also, was hat Onkel Yifu zu dir gesagt?«, fragte Li schließlich, worauf sie sich augenblicklich noch mehr anspannte. Yifu war auf Bitten ihres Vaters mit dem Zug nach Zigong gereist, um mit Xiao Ling über ihre Schwangerschaft zu sprechen, und am Abend seiner Rückkehr nach Peking ermordet worden. Sie faltete die Hände und knetete die Finger, während sie ihm antwortete: »Nachdem alle mich unter Druck gesetzt hatten, hat sich der alte Yifu schließlich mit mir hingesetzt, meine Hand genommen und mir klargemacht, dass mein Schicksal ganz allein in meiner Hand liegt.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Er hat mich weder verurteilt, noch mir Vorwürfe gemacht. Stattdessen ist er mit mir sämtliche Möglichkeiten mit all ihren Konsequenzen durchgegangen. Erst wollte er wissen, warum ich mir eigentlich einen Jungen wünsche. Kommentiert hat er meine Antwort nicht, sondern mich nur dazu gebracht, darüber nachzudenken und mir über meine Gefühle klar zu werden. Davor hat sich kein Mensch dafür interessiert, was in mir vorgeht, weder Xiao Xu, noch seine Eltern oder unser Vater, und auch sonst niemand. Alle wollten immer nur, dass ich tue, was von mir verlangt wird. Onkel Yifu wollte, dass ich das tue, was ich für richtig halte.« Sie sah Li ins Gesicht; inzwischen quollen ihr Tränen aus den Augen und rannen über ihre Wangen. »Er war ein so netter alter Mann, Li Yan. Ein so guter Mensch. Stundenlang haben wir miteinander geredet, bis ich ihn schließlich gebeten habe, doch ein paar Tage zu bleiben. Aber er hat gesagt, er müsse wieder heim.« Sie biss sich auf die Lippe. »Wäre ich nur standhaft geblieben, hätte ich ihn nur einfach gezwungen zu bleiben, dann wäre er heute vielleicht noch am Leben.« Die Schuldgefühle, die sie wer weiß wie lange mit sich herumgeschleppt hatte, brachen sich in gewaltigen Schluchzern Bahn. »Irgendwie bin ich an allem schuld.« Li legte den Arm um sie und zog sie an sich. Sie fühlte sich so zierlich und zerbrechlich an, dass er fast Angst bekam, er könnte sie zu stark drücken und sie versehentlich zerquetschen. »Dich trifft keine Schuld an seinem Tod«, flüsterte er. Seine Stimme war belegt. »Wenn überhaupt jemand Schuld an seinem Tod trägt, dann ich. Wäre ich nicht gewesen, hätte er nicht sterben müssen.« Seine Worte schienen Xiao Ling nur noch mehr zu deprimieren.
»Ich habe sowieso nie verstanden, warum du unbedingt Polizist werden wolltest«, schluchzte sie, und er hörte den Vorwurf heraus. »Weil ich sein wollte wie er.« Li wollte um jeden Preis, dass sie ihn verstand. »Weil ich an dieselben Werte geglaubt habe wie er – an Recht und Gerechtigkeit, und daran, dass die Menschen ein Anrecht darauf haben, in Sicherheit zu leben, ohne um ihr Leben und ihren Besitz fürchten zu müssen.« Mit tränenüberströmten Gesicht sah sie ihm in die Augen. »Es tut mir Leid«, sagte sie. »Ich weiß, dass du ihn auch geliebt hast.« Eine ganze Weile saßen sie einfach nur da und hielten einander fest, bis die letzten Tränen versiegt waren. Schließlich wischte sich Xiao Ling das Gesicht mit einem Taschentuch ab und beugte sich vor, um an ihrem Tee zu nippen. Er war nur noch lauwarm. Li war nicht mehr nach Tee zu Mute, er ging zum Kühlschrank und machte sich eine Flasche Bier auf. Im Gang stehend betrachtete er seine Schwester und nahm dann einen tiefen Schluck aus der Flasche. Das eiskalte Bier linderte das Brennen in seiner Kehle. Schließlich stellte er die Frage, die er den ganzen Abend vor sich hergeschoben hatte. »Warum bist du hier, Xiao Ling?« Sie wich seinem Blick aus. »Es gibt in Peking eine Klinik, wo ich mich mit Ultraschall untersuchen lassen kann.« Ihre Stimme klang rau. Er legte die Stirn in Falten. »Wie funktioniert das denn?« Ihn beschlich ein ungutes Gefühl, auch weil er in derlei Dingen keine Erfahrung hatte. »Sie können dort ein Kind im Mutterleib auf dem Fernseher zeigen. Es geht irgendwie mit Schall… mit hochfrequentem Ultraschall. Ich habe alles darüber gelesen.« »Und wozu soll das gut sein?« Sie zögerte. »Manchmal lässt sich dabei das Geschlecht des Kindes bestimmen.« Er wusste sofort, was in ihrem Kopf vorging, und sein Magen krampfte sich zusammen. »Wenn das nicht funktioniert, nehmen sie eine Fruchtwasserprobe, dann können sie es ganz genau sagen.« Wie angewurzelt stand er da und sah sie an. In seiner Schläfe spürte er eine pochende Ader. »Und wenn es wieder ein Mädchen ist?« Er wartete auf ihre Antwort, doch sie schwieg und weigerte sich, ihn auch nur anzusehen. Darum antwortete er für sie. »Dann würdest du sie abtreiben lassen, nicht wahr?« Irgendwie hörte sich alles noch grausamer an, wenn man das »Es« in ein »Sie«
verwandelte. Xiao Ling schien sich ausschließlich für ihre Fingernägel zu interessieren. »Falls sie das Fruchtwasser testen müssen, erfahre ich das Ergebnis in etwa vier Wochen. Dann wäre ich immer noch erst in der zwanzigsten Woche.« Li nahm einen tiefen Schluck aus der Flasche und zwang sich, sie nicht anzuschreien. Mit welchem Recht konnte er überhaupt über sie urteilen? Er zermarterte sich den Kopf, was Yifu wohl gesagt oder getan hätte, musste sich aber eingestehen, dass er nicht die leiseste Ahnung hatte. Wieder einmal wurde ihm bewusst, wie sehr er sich doch in vielerlei Hinsicht von seinem Onkel unterschied, an dessen Niveau er sich lange Jahre gemessen hatte. Vielleicht hatte er die Messlatte damit einfach zu hoch für sich angelegt. Immer knapp außer Reichweite. »Diese Klinik«, sagte er schließlich, »ist doch eine Privatklinik?« Sie nickte. »Teuer?« Sie nickte erneut. »Wie kannst du dir das leisten?« »Xiao Xu hat in den letzten Jahren gut verdient. Ich habe etwas Geld gespart.« »Und Xiao Xu ist mit alldem einverstanden?« Nach langem Zögern erklärte sie: »Er weiß nichts davon. Er glaubt, dass wir dir einfach nur einen Besuch abstatten.« Li war fassungslos. »Aber ist es nicht auch sein Kind? Hat er nicht auch das Recht, mit zu entscheiden, was mit ihm geschehen soll?« Erst jetzt sah ihm Xiao Ling wieder in die Augen, und er erkannte zu seiner Bestürzung so etwas wie Hass in ihrem Blick. »Er möchte, dass ich es wegmachen lasse, egal, ob es ein Junge oder ein Mädchen ist.« In ihrer Stimme lag Verachtung. »Sie haben ihn umgedreht. Ich weiß nicht, was sie zu ihm gesagt haben, ich habe keine Ahnung, was sie ihm angedroht haben, aber auf einmal wollte er das Kind nicht mehr. Seitdem ist alles mein Fehler, ganz allein mein Problem, und soweit es ihn angeht, soll ich gefälligst selbst sehen, wie ich es loswerde.« Plötzlich wurde ihm klar, wie schrecklich einsam sie sich fühlen musste. Die ganze Welt schien sich gegen sie verschworen zu haben. Jeder drängte sie zu handeln. Dabei wünschte sie sich, getrieben von irgendeinem Instinkt oder der erdrückenden Last einer fünftausendjährigen Tradition, nur einen kleinen Jungen. Ein Wunsch, der überall sonst auf der Welt ganz problemlos zu erfüllen
wäre. »Falls diese… Untersuchung… dir das Geschlecht deines Kindes verrät…« Sein Mund war so trocken, dass er die Frage kaum über die Lippen brachte. »Was wirst du tun, wenn es ein Junge ist?« Diesmal erwiderte sie seinen Blick ruhig und fest. »Wenn es ein Junge ist, behalte ich ihn und gebe Xinxin zur Adoption frei.«
4. KAPITEL I Das große Küchenmesser sauste zweimal knapp hintereinander herab, und die Hühnerköpfe purzelten von den Leitersprossen in den Graben. Ein paar hysterische Sekunden lang rannten die kopflosen Hühner blindlings durch den Dreck, während aus ihren Hälsen Blut sprudelte. Der Bauer, der ihnen die tödlichen Hiebe versetzt hatte, wartete mit angehaltenem Atem, bis jedes Leben in den Tieren erloschen war, sie umkippten und reglos in ihrem Blut liegen blieben. Auf einmal krallte sich eine Hand in seine Schulter und wirbelte ihn herum. Unversehens blickte er in Hu Bos fassungsloses Gesicht. »Was zum Teufel tust du da, Wang Qifa?«, verlangte Hu zu wissen. Wang Qifa nahm Haltung an und erwiderte tapfer: »Herr Hu, Sie selbst haben uns doch vor den Gefahren der versteckten Waffen gewarnt. Die alten Männer im Dorf haben mir erzählt, dass man sich mit Hühnerblut vor Unheil schützen kann. ›Man braucht nur zwei Hühner zu töten, und alle versteckten Waffen werden wirkungslos‹, genau das haben sie gesagt.« »Okay, Schnitt und Prüfung.« Der Mann neben Margaret sprach in sein Funkgerät, und sie sah die Szene auf dem Monitor bis zu dem Moment vor dem Messerhieb zurücklaufen. Der Wortwechsel zwischen Hu Bo und dem Bauern war bereits zum dritten Mal gefilmt worden – einmal in der Totalen und zweimal als Nahaufnahme. Erst nachdem alles andere im Kasten war, durften die Hühner mitspielen. Schließlich konnten sie die nur einmal aufnehmen. Es war schon ekelhaft genug, die Tiere so kopflos herumrennen zu sehen, aber bei Margaret löste der Anblick noch ganz andere Assoziationen aus. »Werden Ihnen dafür nicht die militanten Tierschützer an den
Kragen gehen?«, fragte sie. Der Mann neben ihr grinste. »Die Hühner gehören einem Ehepaar aus dem Dorf. Sie waren sowieso für den Kochtopf bestimmt. Wir haben den beiden lediglich eine Menge Geld dafür bezahlt, dass wir die Vögel vor laufender Kamera schlachten dürfen. Heute Abend werden sie als Ehrengäste einem Festmahl beiwohnen, und zwar als Hauptgericht.« Er wandte sich ab, um sich die Szene nochmals anzusehen. Margaret hatte ihn sofort sympathisch gefunden. Obwohl er unter enormem Druck stand, seine Zeitpläne und Termine einzuhalten, wirkte er locker und gelassen, während allen anderen im Team die Anspannung ins Gesicht geschrieben stand. Michael hatte sie einander vorgestellt, gleich nachdem der Wagen, den er ihr geschickt hatte, in Ding Ling angekommen war. »Charles hat bisher bei allen meinen Serien Regie geführt«, hatte Michael erklärt. Charles hatte ihr die Hand geschüttelt. »Freut mich, Sie kennen zu lernen, Margaret. Aber bitte nennen Sie mich Chuck. In meinem gesamten Bekanntenkreis ist Mike der Einzige, der mich Charles nennt.« »Vielleicht«, hatte Michael mit boshaftem Grinsen erwidert, »weil du der Einzige in meinem Bekanntenkreis bist, der mich Mike nennt.« Mit einem ratlosen Achselzucken hatte sich Chuck an Margaret gewandt. »Was soll man da machen? Mit diesem Menschen kann man einfach unmöglich zusammenarbeiten.« Inzwischen war die Aufnahme auf dem Monitor durchgelaufen, und aus einem der Funkgeräte verkündete eine Stimme: »Gestorben.« »Okay«, sagte Chuck. »Mach alles für die nächste Einstellung bereit, Dave. Und beeil dich bitte. Die beiden warten auf ihre Hühner.« Zu Margaret sagte er: »Außerdem filme ich das Blut und die Eingeweide so, dass wir sie rausschneiden können, falls der Sender befürchtet, bei dem Anblick könnte es so früh am Abend dem Publikum den Appetit auf Pizza und Pommes verschlagen. Aber genauso hat sich damals alles abgespielt, müssen Sie wissen. Wir versuchen nur zu zeigen, wie es wirklich war.« Sie saßen in einem zur Regiezentrale umgebauten Lastwagen, den ein Helikopter auf einer Mauer etwa zehn Meter oberhalb des Sets abgesetzt hatte. Aus einer rückwärtigen Luke hingen Kabel wie
Gedärme aus einem Tierkadaver. Sie schlängelten sich in den langen steinernen Korridor hinab, der zum Eingang des unterirdischen Palastes im Grabhügel von Kaiser Wanli führte. »Ich kann immer noch nicht glauben, dass man Ihnen erlaubt hat, hier am Originalschauplatz zu drehen«, sagte Margaret. »Hey«, erwiderte Chuck. »Mike hat sechs Monate gebraucht, um sie zu überreden. Und einen verdammt hohen Scheck. Im Grunde ihres Herzens sind die Chinesen ausgemachte Kapitalisten. Sie haben sich genau ausgerechnet, wie viele zusätzliche Touristen ihnen die Serie bescheren wird. Und offenbar sind sie zu dem Ergebnis gekommen, dass sich die Sache lohnt, denn sie müssen das Grab sechs Wochen lang für die Öffentlichkeit sperren – bis wir alles in Szene gesetzt, gedreht und wieder aufgeräumt haben. Für uns ist das hier der Höhepunkt der gesamten Serie – wenn wir also irgendwo richtig Geld ausgeben, dann hier.« Margaret sah auf dem Monitor, dass die Kamera nach unten gezogen worden war, sodass sich die Hühner genau in der Bildmitte befanden. Sie verfolgte, wie die Kamera zweimal schwenkte und dann rückwärts etwa drei bis vier Meter nach oben fuhr, bis der gesamte gepflasterte Durchgang ins Bild kam, der zwischen hohen Mauern nach hinten zur Treppe des Stelenpavillons führte. Alle Schwenks gingen sanft und fließend ineinander über. »Schaut gut aus, Jackie.« Chuck sprach in sein Funkgerät. »Dave, ist Mike schon so weit? Will er erst mal einen Probedurchlauf machen?« Daves weiche irische Stimme knisterte durch den Äther. »Michael ist bereit, Chuck. Er sagt, er spricht lieber gleich auf Band. Es ist ein ziemlich langer Text.« Chuck grinste. »Okay, wenn alle anderen so weit sind, dann probieren wir’s.« Margaret erklärte er: »Mike wird wahrscheinlich nur am Anfang und am Ende zu sehen sein. In der Mitte legen wir ein paar Bilder drüber, die wir erst noch schießen müssen. Vermutlich werden wir alles, was er sagt, später noch einmal im Synchronstudio aufnehmen, aber es ist immer nett, Tonmaterial vom Drehort zu haben. Es klingt einfach authentischer.« Dann sprach er wieder in sein Funkgerät. »Jackie, denk daran, dass du Mike in der Halbtotale bringst und ihn dort hältst, solange der Kamerawagen zurückfährt; ich will ihn erst in die Nahaufnahme laufen sehen, wenn du die Kamera wieder nach unten gebracht hast. Sobald du startklar bist, Dave…«
Margaret hörte über den Foldback-Kanal, wie die Stimme des ersten Regieassistenten alle zur Ruhe mahnte. Dann hieß es »Videoband ab«, und nach einer Pause: »Action!« Die Kamera zeigte die toten Hühner in Nahaufnahme. Dann begann sie rückwärts und nach oben zu fahren. Chuck flüsterte in sein Funkgerät: »Und los, Mike.« Gleich darauf vernahm sie Michaels Stimme: »Auch wenn sich viele abergläubische Vorstellungen darum rankten, welche Verteidigungsanlagen der Kaiser in seine Grabstätte hatte einbauen lassen, so beruhten die Befürchtungen der Archäologen und ihrer bäuerlichen Arbeiter doch auf historischen Aufzeichnungen und jenen tödlichen Erfahrungen, die Grabräuber im Lauf der Jahrhunderte immer wieder machen mussten. Die verborgenen Fallen und versteckten Waffen, mit denen Indiana Jones sich herumschlagen muss, sind nicht nur Hirngespinste.« Er kam auf die Kamera zu und deutete dabei nach oben auf eine hohe Backsteinmauer, die den Eingang zur Grabstätte versiegelte. Auf den Ziegeln war deutlich ein umgekehrtes »V« zu erkennen. »Als die Archäologen, nachdem sie ein volles Jahr lang gegraben hatten, am neunzehnten Mai 1957 auf die ›Diamantmauer‹ stießen, die den Zugang zum Grab verriegelte, schürten die aufkeimenden Gerüchte darüber, was sie dahinter erwarten mochte, höchst begründete Ängste. In den Köpfen der bäuerlichen Helfer, aber auch der Mitglieder der Ausgrabungsmannschaft vermischten sich Forschung und Aberglauben, Bildung und Unwissenheit. Man munkelte von Armbrüsten, die, durch einen versteckten Mechanismus ausgelöst, vergiftete Pfeile verschießen würden, mit denen der Leib jedes Eindringlings durchbohrt würde, der versuchte, das Tor zu öffnen. Man schwadronierte über giftige Gase, die freigesetzt würden, um Grabschänder niederzustrecken. Man raunte auch von Säbeln, die von der gewölbten Decke im Inneren heruntersausen sollten. Niemand würde das überleben. Zehn Tage nach Entdeckung der ›Diamantmauer‹ wurden all diese Ängste noch durch einen geheimnisvollen alten Mann verstärkt, der unerwartet auftauchte…« Chuck sagte zu Margaret: »An dieser Stelle sehen wir den alten Knaben, wie er sich mit den Bauern unterhält.« »Er trug abgerissene Sachen und einen Strohhut und hatte einen langen weißen, dünnen Bart. Den bäuerlichen Grabungshelfern erzählte er, er besäße eine uralte Ahnentafel, die seine Vorfahren
von Generation zu Generation weitergegeben hätten. In diesem Schriftstück sei von einem reißenden Fluss die Rede, der innerhalb des Grabhügels quer durch den unterirdischen Palast verlaufen solle. Um an den Sarg zu gelangen, müsse man diesen Strom überqueren, hinter dem sich eine über dreißig Kilometer tiefe Kluft befinde. Der Boden dieser Kluft, über die lediglich ein schmales Brett führe, sei mit Stacheldraht ausgelegt. Nur wer an einem bestimmten Glückstag geboren sei, könne heil hinübergelangen. Alle anderen würden bei dem Versuch ums Leben kommen. Der Eindruck, den er mit dieser Geschichte bei den Bauern machte, war tief genug, um ihnen eine ordentliche Summe abzuknöpfen, weil alle sich darum drängelten, sich von ihm die Zukunft weissagen zu lassen. Als die Archäologen allerdings am nächsten Tag von den Ereignissen hörten und nach dem Mann suchten, der so viel Angst und Schrecken unter ihren Arbeitern verbreitete, war der ›Unsterbliche‹ spurlos verschwunden.« Michael lächelte in die Kamera, als wisse er, wie skeptisch sein Publikum diesen Alten beurteilte: »Lächerlich? Für Sie und mich vielleicht. Doch Hu Bo und die anderen Archäologen in seinem Team, allesamt gebildete Leute, waren nicht bereit, irgendetwas vorschnell als Räuberpistole abzutun. Schließlich studierten sie gerade eine alte Überlieferung von den Bauarbeiten an der Grabanlage für den ersten Kaiser von China, den Kaiser Qin Shihaung, der vor mehr als zweitausend Jahren gelebt hatte. Qin einigte nicht nur China und erbaute die Große Mauer, er ließ auch eine riesige Armee lebensechter Terrakottasoldaten anfertigen, die sein Mausoleum bewachen sollten.« »Hier spielen wir später Bilder von den Terrakottakriegern ein«, sagte Chuck. »Wir haben massenhaft Filmmaterial.« »In der Überlieferung vom Bau der Grabstätte wird von Perlen, Jade und allen möglichen Schätzen in seiner Grabkammer erzählt. Kerzen aus nie verlöschendem Seekuhtalg sollten darin brennen. Im Inneren der Kammer wurden zum Schutz vor Räubern versteckte Armbrüste mit einem automatischen Auslösemechanismus angebracht. Der Sarg selbst war von einem Fluss aus Quecksilber umgeben, der mechanisch am Fließen gehalten wurde. Über allem war ein Nachbau des Himmels angebracht, mit Sonne, Mond und Sternen, und darunter befand sich eine Landschaft mit Flüssen und Bergen…« Michael schritt in die Nahaufnahme und sah tiefernst in die
Kamera. Er war unglaublich fotogen, schoss es Margaret durch den Kopf. Er sah in Fleisch und Blut schon gut aus, aber vor der Kamera wurde er noch schöner. Unwillkürlich überlief sie ein winziger Schauer. Er fuhr fort: »Flüsse aus Quecksilber? Falls es sie wirklich geben sollte, wären es sicherlich Flüsse des Todes für jeden, der versucht, in Qins Grab zu gelangen. Und hat es schon jemand versucht? Ehrlich gesagt nicht. Man hat die Terrakottaarmee ausgegraben, die in Bataillonen rund um das Grab angeordnet ist. Aber bis zum heutigen Tag hat noch niemand den Mut aufgebracht, die Grabkammer selbst zu betreten. Warum? Weil bei Bodenproben eine gefährlich hohe Konzentration von Quecksilber gemessen wurde. War es darum verwunderlich, dass Hu Bo und seine Leute nur mit bangem Herzen darangingen, unter der Führung des hochverehrten Xia Nai das Mausoleum von Kaiser Wanli zu öffnen?« Er wandte sich von der Kamera ab. »Verdammt! Ich habe die mit Zinnober bemalten Steine ausgelassen.« Chuck beugte sich vor. »Mach dir nichts draus, Mike, an der Stelle bist du sowieso nicht im Bild. Wir können das beim Synchronisieren einflicken. Aber ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass wir das unbedingt drin haben müssen.« Michael drehte sich wieder zur Kamera. »Natürlich müssen wir es drin haben«, beharrte er. »Ich will es noch mal probieren.« »Gottverdammter Perfektionist«, murmelte Chuck und sagte dann laut: »Okay. Schnitt und alles zurück auf die Ausgangsposition.« Er wandte sich an Margaret. »Was meinen Sie?« »Für mich hat es sich gut angehört.« »Für mich auch.« Er seufzte. »Das könnte sich noch eine ganze Weile hinziehen.« Sie stand auf. »Ich glaube, ich mache so lange einen kleinen Spaziergang. Ist es okay, wenn ich später wieder reinschaue?« »Klar«, sagte Chuck. »Darf ich mitkommen?« Er grinste. »Schön wär’s.« Draußen brannte die heiße Septembersonne vom Himmel und zeichnete die im Nordwesten aufragenden Berge scharf gegen den Himmel ab. Süßlicher Harzduft entströmte den Fichten rundherum. Margaret entfernte sich von der hektischen Betriebsamkeit rund um die Aufnahmewagen und spazierte durch den Schatten der Bäume bis zu der äußeren, mit Zinnen versehenen Mauer, die das Grab
umgab. Rings um die ummauerte Oase war die Landschaft öde und unfruchtbar, von der Sonne ausgebleicht. Die Ausläufer der Berge waren durchlöchert mit den Gräbern von Wanlis Vorfahren und zeugten dadurch von den verzweifelten Versuchen der Reichen und Mächtigen aller Jahrhunderte, selbst im Tode ihre Erhabenheit über uns andere zu demonstrieren. Vergebliches Streben nach Unsterblichkeit. Inzwischen, Jahrhunderte später, dienten sie lediglich zur Erbauung der MTV-Generation. Wenn das die Reichen und Mächtigen nur gewusst hätten. Margaret steckte die Hände in die Hosentaschen und schlenderte über das gepflasterte Dach der äußeren Mauer. All das war durchaus interessant, Michael war charmant und attraktiv, aber ihre Nerven lagen nach wie vor blank. Bestimmt würde sie schon bei der zartesten Andeutung eines romantischen Interesses zurückschrecken. Immer noch quälte sie jeder Gedanke an Li. Als sie sich dem Stelenpavillon näherte, bedeutete ihr die dritte Regieassistentin, eine junge Chinesin, mit erhobener Hand, stehen zu bleiben, und durch den an ihre Lippen gelegten Finger, ruhig zu bleiben. In dem tiefen Einschnitt zu ihrer Rechten, der den Hügel bis zur steinernen Fassade des Grabeingangs durchzog, konnte sie erkennen, wie Michael im grellen Licht der rundum aufgestellten Scheinwerfer zum zweiten Mal seinen Text in die Kamera sprach. Der Kamerawagen rollte rückwärts vor ihm her, während er vor die von den Bühnenbildnern nachgebaute Diamantmauer trat. Sie konnte hören, wie das Echo seiner Stimme von den schrägen Wänden widerhallte. »Falls es sie wirklich geben sollte, wären es sicherlich Flüsse des Todes für jeden, der versucht, in Qins Grab…« Vor ihr erhob sich majestätisch am Ende einer Treppe der Stelenpavillon mit seinen übereinander aufgeschichteten Dächern, deren geschwungene Traufen durch uralte Holzbalken abgestützt waren. Die Stele selbst, eine aufrecht stehende Steintafel mit antiker Inschrift, war über sechs Meter hoch und auf jeder der vier Seiten des rot gestrichenen Pavillons von offenen Torbögen eingerahmt. Knapp zehn Meter darunter saßen auf einem Platz im Schatten der Bäume rund um ein paar Steintische Komparsen in zeitgenössischen Kostümen auf Hockern in der Form von steinernen Elefanten. Von dort aus führte ein langer gepflasterter Gehweg über drei Marmorterrassen zum Eingang und zu dem dahinter gelegenen Parkplatz, wo die Fahrzeuge der Produktion – Maske, Garderobe, Catering und Michaels Wohnmobil – zusammengedrängt im
Schatten der Bäume am Parkplatzrand standen. Margaret hörte jemanden »Schnitt!« rufen, dann lauschte die dritte Regieassistentin an ihrem Funkgerät angestrengt einem Schwall von Anweisungen, die sie schließlich an eine Gruppe von Produktionsboten auf dem Platz unten weitergab, woraufhin jene begannen, die Statisten zusammenzutreiben. Nachdem sie Margaret weitergewunken hatte, stieg diese die Treppe zum Stelenpavillon hinauf. Von hier aus hatte sie einen ebenso guten Blick auf das Geschehen auf dem Platz unterhalb wie auf die Crew, die eben wieder vor der Diamantmauer in Position ging. Monatelange Vorbereitungen, ging es ihr durch den Kopf, dutzende von Leuten, endlose Aufnahmearbeiten, und alles nur für ein paar Minuten auf dem Bildschirm. Sie wusste nicht, ob sie die Geduld aufgebracht hätte, die für diese Arbeit nötig war. Als Margaret wieder in den Regiewagen kletterte, kam ihr Chuck hektischer vor, als sie ihn den ganzen Morgen über erlebt hatte. Der große schlaksige Mann mit dem früh ergrauten, vollen Haar schien beinahe in sein Schaltpult kriechen zu wollen und redete ohne Punkt und Komma in sein Funkgerät. »Wir müssen die Hauptszene beim ersten Mal hinkriegen, Jungs«, sagte er gerade. »Entweder haben wir sie dann im Kasten, oder wir können den Rest des Tages damit zubringen, alles noch mal aufzubauen.« Er hatte sich eine Zigarette angezündet, die erste, soweit Margaret mitbekommen hatte. Entschuldigend wedelte er damit vor Margaret herum, als er sie bemerkt hatte. »Verzeihen Sie«, erklärte er ihr. »Ich rauche wirklich nur, wenn ich total unter Stress stehe. Wenn Sie mich also mit einer Zigarette in der Hand erwischen, können Sie davon ausgehen, dass ich kurz vorm Platzen bin. Seit Tagen haben die Bühnenbildner das alles aufgebaut. Wir haben ordentlich was dafür hinblättern müssen, und ich habe keine Lust, die ganze Sache ein zweites Mal zu drehen.« »Was ist das für eine Szene?«, wollte Margaret wissen. »Es ist der Moment, in dem sie die ersten Ziegel aus der Diamantmauer lösen und das Grab schließlich öffnen. Die Spezialeffekte sind einfach super.« Er schwieg einen Moment. »Hoffe ich jedenfalls.« Dann grinste er und zog ein paar Mal an seiner Zigarette. »Wir sind mit drei Kameras drauf, also darf einfach nichts schief gehen.« Margaret bemerkte, dass zwei weitere Monitore, die zuvor schwarz gewesen waren, jetzt jene Bilder zeigten, die von den beiden
zusätzlichen Kameras eingespeist wurden. Die größte Totale sollte aus einiger Entfernung geschossen werden und zeigte eine Leiter, die zur Spitze des umgedrehten »V« hinaufführte. Am Fuß der Leiter waren dutzende als Bauern verkleidete Statisten in blauen MaoAnzügen versammelt. Auf der Leiterspitze stand der Schauspieler, der Hu Bo verkörperte, und hielt ein kellenartiges Werkzeug in der Hand, mit dem er gleich die Ziegel herausbrechen würde. Die zweite Kamera war irgendwo oberhalb der Mauer postiert und zeigte von oben auf Hu Bo, unter dem die hochgereckten Köpfe der Bauern zu sehen waren. Eine dritte Kamera war unten mitten im Gedränge rund um die Leiter aufgebaut. Im Hintergrund erkannte Margaret die Kamera und die Crew. Sie fragte Chuck: »Soll das so sein, dass wir die sehen können?« Chuck lachte. »Das soll das Kamerateam sein, das damals bei der Öffnung des Grabes dabei war. Nur deshalb wissen wir überhaupt, wie sich alles zugetragen hat. Wir werden einen Teil des Originalmaterials in unseren Film hineinschneiden.« Bis alles aufnahmebereit war, verstrichen weitere fünfundvierzig Minuten. Hu Bo und der Bauer Wang Qifa hatten ihren Text etliche Male geprobt, und sie hatten genau durchgespielt, wie sie den ersten Ziegelstein herausziehen würden, allerdings ohne dabei die Bewegungen tatsächlich auszuführen. Toningenieur, Kameraleute, Beleuchter – alle schienen erleichtert zu sein, als sie endlich loslegen konnten. »Okay, Dave«, sagte Chuck. »Wenn du so weit bist…« Dave, ein stämmiger junger Bursche mit langem rotem Haar unter seiner Baseballkappe, gab der Kamera das Startzeichen und duckte sich aus dem Bildwinkel. Eine Sekunde später hörte Margaret ihn über den Foldback-Kanal. »Okay, Ruhe bitte. Videoband ab. Absolute Ruhe. Und… Action!« Mit einer Kelle in der Hand stieg Wang Qifa die Leiter hinauf zu Hu Bo. » Was soll das werden?«, fragte Hu Bo. »Ich dachte mir, wir könnten die ersten Steine vielleicht gemeinsam herauslösen«, antwortete Wang Qifa. »Oh, aber vielleicht sind irgendwo Waffen versteckt«, erwiderte Hu Bo. »Und Hühnerblut hilft nicht immer hundertprozentig. Warte lieber am Fuß der Leiter, und ich werde dir die Ziegel hinabreichen. Auf diese Weise kann nur einer von uns getötet werden.« Das genügte, um Wang Qifa die Leiter wieder hinunterzuschicken. Totenstille herrschte, als Hu mit der Kelle an
dem ersten Ziegelstein herumkratzte, um ihn herauszulösen. Die über ihm postierte Kamera fing in Großaufnahme die Anspannung ein, die in seinem nach oben gerichteten Gesicht stand. Allmählich lockerte sich der Ziegel, den Hu nun mit beiden Händen hin und her schob, bis er ihn schließlich aus der Wand ziehen konnte. Es gab einen lauten Knall, und ein Pfeifen wie von ausströmender Luft war zu hören. Sofort ertönte ein Schrei: »Giftgas!« Und beinahe gleichzeitig quoll eine dicke schwarze Wolke aus dem Loch, begleitet von einem Geräusch, das an das Knurren eines Tieres erinnerte. Hu presste die Hand vor den Mund, ließ den Ziegelstein fallen und rutschte hustend und würgend die Leiter hinunter. Die Helfer hatten sich bereits allesamt auf den Boden geworfen, als sich die Wolke auf sie herabsenkte und sie einhüllte. Allgemeines Gewürge war zu hören. Dann sah Margaret auf dem dritten Monitor, wie eine deplatziert wirkende Gestalt in Jeans und weißem Hemd aus dem Nebel auftauchte. Auf ein unmerkliches Zeichen hin verstummte das Würgen, und Ruhe kehrte ein. In der gespenstischen Stille sprach Michael in die Kamera, auf die er immer noch zuschritt, während schwarzer Nebel um seine Beine waberte: »Aber es war kein Giftgas. Es handelte sich schlicht und einfach um zerfallene organische Materie, die nach beinahe dreihundertvierzig Jahren durch die einströmende Luft aufgewirbelt worden war. Widerwärtig und unangenehm, aber nicht giftig. Und falls irgendwo innerhalb des Grabes Waffen versteckt waren, dann warteten sie immer noch auf die Eindringlinge.« »Schnitt!«, rief Chuck. »Großartig! Wir schauen es uns gleich mal an. Ton, braucht ihr eine freie Spur?« Eine Stimme antwortete von irgendwoher: »Ja. Wir brauchen noch viel mehr Husten und Würgen.« »Okay, wird erledigt, sobald wir das Band geprüft haben. Dave, Küsschen allerseits. Sag den Bühnenbildnern, dass ich ihnen einen großen Drink schulde.« Es war kalt und feucht in dem unterirdischen Palast. Margaret zitterte. Michael legte seine Jacke über ihre Schultern und bedeckte damit ihre dünne Baumwollbluse. Sie war sich nicht sicher, ob die Gänsehaut auf ihren Unterarmen auf die Kälte oder auf seine Berührung zurückzuführen war. Dann wischte sie den Gedanken beiseite, ließ den Blick durch die weitläufigen Grabkammern mit den gewölbten Decken schweifen und schüttelte staunend den Kopf. »So
riesig habe ich mir das nicht vorgestellt.« »Aus gewaltigen Steinblöcken erbaut, von denen jeder einzelne von Hand behauen und poliert wurde«, erklärte er ihr. »Die Baukosten für diese Grabanlage haben das Land an den Rand des Ruins getrieben.« »Und es gab letztendlich doch keine versteckten Waffen?« Margaret war enttäuscht. »Leider nein.« »Aber ist das nicht ein bisschen geschwindelt? Dass du dem Publikum so lange weismachst, es gäbe hier welche?« »Nein!«, widersprach Michael ernst. »Ich möchte, dass mein Publikum das gleiche Gefühl des Unbekannten, der verborgenen Gefahren empfindet wie Hu Bo und die anderen. Gut, das Grab war nicht durch Fallen geschützt, aber das konnten sie nicht wissen. Und als sie endlich drinnen waren, stellten sich ihnen ganz andere Probleme. Sie schafften es nicht, auch nur eine dieser gewaltigen Marmortüren vor den Kammern zu öffnen, ebenso wenig die vor dem Zentralgewölbe.« Margaret sah sich die Türen an. Es waren massive beschlagene Flügel, von denen jeder wohl mehrere Tonnen wiegen mochte. »Allem Anschein nach waren sie von innen verriegelt«, erklärte Michael. »Soll das heißen, irgendwer hatte sie von innen versperrt und dann dort auf den Tod gewartet?« Margaret war entsetzt. Michael lächelte. »Anfangs haben sie genau das angenommen. Dann entdeckte Hu das Geheimnis eines hakenförmigen Schlüssels, den man zwischen den Türen durchstecken konnte, um einen steinernen Stützpfeiler zur Seite zu schieben, und dadurch gelang es ihnen, sämtliche Türen zu öffnen, eine nach der anderen. Allerdings fanden sie alle Kammern leer vor.« »Leer?« Margaret war überrascht. »Also war der Kaiser gar nicht hier bestattet worden?« »Eine Weile ging man davon aus, dass das Grab vielleicht irgendwann geplündert worden war. Die Archäologen stießen auf drei Thronsessel aus weißem Marmor, einen für den Kaiser und je einen für die beiden Kaiserinnen. Außerdem fand man etliche sakrale Grabbeigaben, aber nirgendwo einen Sarg. Bis sie die allerletzte Kammer öffneten.« Er führte sie an den Marmorthronen vorbei zur hintersten Kammer. »Und hier, auf einem eigens errichteten Podest, befanden sich, jeder auf einem eigenen goldenen Sockel, die Särge
des Kaisers und der Kaiserinnen, umgeben von sechsundzwanzig rot lackierten Truhen aus Holz.« Auf dem Podest vor ihnen standen drei große rot lackierte Kisten, eingerahmt von sechsundzwanzig Truhen. »Und das sind die da?«, fragte Margaret. Michael schüttelte den Kopf. »Nachbildungen.« Er seufzte. »Du darfst nicht vergessen, zu welchem Zeitpunkt diese Gräber geöffnet wurden. In China waren die späten Fünfzigerjahre geprägt von Säuberungen und gewaltigen sozialen Unruhen. Der zuständige Beamte war aus politischen Gründen ernannt worden. Er wusste nicht das Geringste über die Geschichte dieser Stätte, und der Inhalt des Grabes war ihm schnurzegal. Weil die originalen Särge im Lauf der Jahrhunderte verrottet waren, wurden Nachbildungen angefertigt, die der Öffentlichkeit präsentiert wurden. Anschließend ordnete der Leiter an, die Originale wegzuwerfen.« »Du machst Witze!«, rief Margaret. »Sie wurden doch nicht wirklich weggeworfen, oder?« »Als sich die Archäologen weigerten, befahl der Direktor einigen Soldaten, die Särge über die Außenmauer zu werfen, wo sie an den Felsen unten zerschmetterten.« Unwillkürlich und zu ihrer eigenen Überraschung wurde Margaret von wilder Entrüstung gepackt. »Aber diese Dinge waren hunderte von Jahren alt, es waren unbezahlbare historische Relikte!« Michael sah sie düster an. »Mit dem Inhalt der Särge geschah leider noch wesentlich Schlimmeres. Wunderbare, unersetzliche Kunstgegenstände.« Er legte den Arm um ihre Schulter, und sie spürte sogar durch Jacke und Bluse hindurch seine Wärme. »Aber du frierst hier unten. Und der Rest der Geschichte kann noch warten. Ich finde, wir sollten jetzt mittagessen gehen.« Erst nachdem sie volle fünfzehn Minuten über den gepflasterten Pfad bis zum Parkplatz zurückgewandert waren, hatten die warmen Sonnenstrahlen das Frösteln, das sich in Margarets Knochen eingefressen zu haben schien, erreicht und vertrieben. Unterwegs fragte sie Michael: »Was fasziniert dich eigentlich so an diesem Hu Bo?« Er lächelte beinahe wehmütig. »Er war sein Leben lang ein Opfer. Ein Opfer der Umstände, und ein Opfer der Geschichte. Doch immer wenn das Schicksal ihn zu Boden schlug, stand er wieder auf und schlug zurück.« Seine Finger schlossen sich um ihren Oberarm. »Stell dir das mal vor, Margaret. Im Alter von zehn Jahren wurde er
von seinem eigenen Vater verkauft. Verkauft an einen schwedischen Entdecker, Sven Hedin, der mit seiner Mannschaft gerade eine Expedition in den abgelegenen Westen Chinas vorbereitete. Für den Jungen war das eine Katastrophe, denn er diente dabei nur als besserer Sklave. Unter unvorstellbaren Entbehrungen musste er die westlichen Wüsten durchwandern und Gebirgszüge überqueren, die noch auf keiner Karte verzeichnet waren. Drei Finger froren ihm damals ab. Doch gleichzeitig lernte er zu schneidern, zu kochen, Haare zu schneiden, Brot zu backen, zu reiten, zu schießen, und wie man auf einem Ausgrabungsfeld Relikte aufspürt. Er wurde in die verschiedenen Untersuchungsmethoden eingeführt und in die grundlegende Vorgehensweise bei einer Ausgrabung. Er entwickelte all die Fähigkeiten, die man braucht, um verschüttete Relikte zu restaurieren und zu konservieren.« Michaels Augen leuchteten vor Bewunderung und Verehrung. »Er schaffte es, eine ganze Serie von Katastrophen zu seinem Vorteil zu wenden. Im Alter von zwanzig Jahren studierte der einstige Bauernjunge aus dem Nirgendwo schließlich Archäologie an der Universität in Peking.« Er merkte, dass er ihren Arm umklammert hielt, und ließ sie sofort los. »Verzeihung.« Er lächelte. »Manchmal packt es mich einfach.« Margaret sah das Glänzen in seinen Augen. Seine Begeisterung wirkte jungenhaft, beinahe schon pubertär. Aber zugleich war sie ansteckend und unwiderstehlich. Sie rieb sich den Arm und lächelte halb vorwurfsvoll. »Heute Abend werde ich blaue Flecken haben.« »Es tut mir Leid.« Plötzlich wirkte er unsicher. Sie gingen ein paar Augenblicke schweigend weiter. Hinter ihnen schimmerten die Berge durch einen blauen Dunstschleier, und über dem Blaugrün der Fichtennadeln erhob sich das Doppeldach des Stelenpavillons. Auf dem überfüllten Parkplatz vor ihnen drängten sich das Filmteam, die Schauspieler und die Komparsen um das Cateringfahrzeug. Und plötzlich fragte er aus heiterem Himmel: »Warst du schon in Xi’an, um dir die Terrakottakrieger anzusehen?« Sie lachte. »Ich bin praktisch nicht aus Peking rausgekommen.« »Aber die darfst du auf gar keinen Fall versäumen. Du kannst unmöglich in China gewesen sein, ohne dir das achte Weltwunder anzusehen.« »Einen Haufen Tonfiguren?« Er schnaufte empört. »Margaret, es ist ein atemberaubender Anblick! Tausende von antiken Kriegern, mindestens so groß wie
ich, zum Teil noch größer. Jeder Einzelne individuell gestaltet und von Hand geformt. Jedes Gesicht einzigartig. Vor zweitausendzweihundert Jahren von wahren Künstlern gefertigt. Schon wenn man zwischen ihnen steht, ihre bloße Gegenwart auf sich wirken lässt oder sie gar berührt, spürt man den Atem der Geschichte auf eine Weise, die ich nicht einmal ansatzweise beschreiben kann.« Schon wieder strahlte er diese ansteckende Begeisterung aus. Sie lächelte kopfschüttelnd. »Michael, du verschwendest deine Zeit. Ich bin eine Kulturbanausin.« »Hör zu«, sagte er. »Ich muss morgen nach Xi’an. Wir sind gerade dabei, die Verschickung von mehr als sechzig Terrakottakriegern in die Vereinigten Staaten zu organisieren. Sie werden Teil einer Ausstellung sein, die parallel zur Ausstrahlung meiner neuen Dokumentarreihe gezeigt wird. Sie läuft unter dem Titel ›Die Kunst des Krieges‹ und wird die größte Ausstellung von Terrakottakriegern sein, die je außerhalb Chinas gezeigt wurde.« Er brach unvermittelt ab. »Komm doch mit.« »Was?« Sie war vollkommen verblüfft. Aber Michael war nicht zu bremsen. »Ich fahre heute Abend im Schlafwagen runter. Morgen bin ich dann den ganzen Tag und die ganze Nacht dort, und übermorgen fliege ich in aller Frühe zurück. Ich kann es mir nicht leisten, länger von der Produktion weg zu sein.« »Das ist ganz und gar ausgeschlossen.« Margaret lachte. »Ich muss hier bei der Untersuchung eines Mordfalles mitarbeiten.« »Nur den einen Tag, länger wärst du nicht weg.« Er hielt inne und nahm ihre beiden Hände. »Mein Produktionsbüro wird die Tickets und eine Unterkunft für dich besorgen. Und mit mir zusammen darfst du bis mitten unter die Krieger, du kannst sie berühren und ihnen den Staub von zweitausend Jahren wegpusten. Eine Erfahrung, die nur einer Hand voll Menschen vergönnt ist.« Er holte tief Luft. »Sag Ja. Einfach so, ohne lange nachzudenken. Das Leben ist viel zu kurz. Sag einfach Ja.« Sie sah ihm einen Moment in die Augen, spürte seine Hände, groß und stark, die ihre umschlossen hielten, und merkte, wie tief in ihr etwas ebenso Schmerzhaftes wie Wohltuendes aufwallte.
II Blut, kopflose Leichen, herrenlose Köpfe und mit Seidenstricken gefesselte Hände verschwammen vor seinen Augen. Überall auf dem Tisch verstreut lagen Fotos wie Teile eines Puzzles, die alle identisch aussahen und keinerlei Anhaltspunkt boten, wo oder wie man mit dem Zusammensetzen beginnen sollte. Den ganzen Morgen hatte Li damit zugebracht, Berichte und Bildmaterial, Aussagen und Vernehmungsprotokolle zu sichten, war dabei aber ständig von vollkommen abwegigen Gedanken abgelenkt worden, die auf ihn einstürmten und ihn aus seiner Konzentration rissen. Dann müssen Sie eben lernen, Berufs- und Privatleben voneinander zu trennen, hatte Chen ihn am Vorabend ermahnt. Doch dazu sah Li sich einfach nicht im Stande. Bei seinem allmorgendlichen Jian Bing an der Ecke zur Dongzhimennei-Straße hatte er Mei Yuan von seiner Schwester und ihren Absichten erzählt. Mei Yuan hatte ihm ernst und aufmerksam zugehört, ohne irgendeinen Kommentar abzugeben oder einen Ratschlag zu erteilen. Sie spürte, dass er einfach nur darüber reden musste. Ihre Anteilnahme drückte sie allein dadurch aus, dass sie sanft seinen Arm drückte. Irgendwie hatte ihn das ein wenig beruhigt, und ihre Worte vom vergangenen Abend waren ihm wieder in den Sinn gekommen. Ich bin immer für Sie da. Noch bevor er in seinem Büro angekommen war, hatte er bemerkt, dass sie ganz vergessen hatte, ihn nach der Lösung des Rätsels mit den dreißig Yuan zu fragen. Auch gut, denn er hatte praktisch nicht darüber nachgedacht und noch keine Lösung gefunden. Als er frühmorgens aus dem Haus gegangen war, hatte sich Xiao Ling schon auf ihren Vormittagstermin in der Klinik vorbereitet, wo sie die Ultraschalluntersuchung vornehmen lassen würde. Xinxin war noch verschlafen und mit verquollenen Augen aus ihrem Bett gekrabbelt und hatte dabei völlig vergessen, dass ihr der Onkel noch fremd war, sodass sie Li zum Abschied umarmt und ihm einen dicken Kuss gegeben hatte. Im Gegensatz zu seiner Schwester, die sich durch seine Ablehnung vor den Kopf gestoßen fühlte und ungehalten wirkte. Beide hatten nicht so gut geschlafen wie Xinxin. Jetzt merkte Li, dass er beinahe Angst davor hatte, abends nach
Hause zu kommen, denn ganz gleich, was die Untersuchung ergab, er würde die Reaktion seiner Schwester nicht nachvollziehen können. Mit zusammengekniffenen Augen versuchte er jeden Gedanken an Xiao Ling aus seinem Kopf zu verbannen und sah stattdessen plötzlich Margaret vor sich, die ihn mit wissendem, herausforderndem Blick anschaute. Wie sollte er es bloß anstellen, täglich professionell mit ihr zusammenzuarbeiten, ohne dabei von seinen persönlichen Gefühlen überwältigt zu werden? Dann müssen Sie eben lernen, Berufs- und Privatleben voneinander zu trennen. Aber wie? Wie macht man das? Das hätte er Chen gern gefragt. Und wer, das hätte er Margaret gern gefragt, war gestern Abend im Sanwei der Mann an ihrer Seite gewesen? Er öffnete die Augen, und vier Mordopfer starrten anklagend vom Schreibtisch zu ihm auf. Warum war er ihrem Mörder immer noch nicht auf die Spur gekommen? Eine Sekretärin klopfte an die Tür und kam mit einem großen braunen Umschlag herein. »Die Übersetzungen der Autopsieberichte, die Sie angefordert haben«, erklärte sie. »Und die Abzüge der Fotos von den Tatorten.« Sie legte den Umschlag auf den Schreibtisch. »Die sollen doch nicht zu mir!« Sonst blaffte er nie so, und sie zuckte erschrocken zusammen. »Die sind für Dr. Margaret Campbell von der amerikanischen Botschaft bestimmt. Sorgen Sie dafür, dass sie sofort mit einem Kurier rübergebracht werden.« »Ja«, sagte sie verschüchtert und wurde rot. Noch während sie rückwärts aus dem Zimmer schlich, trat Zhao ein. »Was ist denn, Zhao?«, fragte Li knapp und ungehalten. »Ich konnte nur einen einzigen Lehrer auftreiben, der Anfang der Sechziger an der Mittelschule Nr. 29 unterrichtet hat, Chef. Er ist fast achtzig Jahre alt.« »Was ist mit den anderen?« Zhao zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung. Ein paar sind wahrscheinlich inzwischen gestorben. Außerdem ist während der Kulturrevolution ein großer Teil der Schulakten vernichtet worden, deshalb war es gar nicht so einfach, überhaupt etwas herauszufinden. Auch über Yuans Familie war so gut wie nichts in Erfahrung zu bringen.« »Wie läuft es bei Qian? Hat er schon irgendwelche Fortschritte gemacht?«
»Er hat das gleiche Problem, Chef. Wir müssen mit mündlichen Aussagen arbeiten. Aber immerhin hat er die Namen von einigen ehemaligen Klassenkameraden der Ermordeten, also dürfte es nur noch eine Frage der Zeit sein, bis wir auch die Übrigen ermittelt haben.« »Zeit«, erwiderte Li, »ist etwas, das wir nicht unbedingt im Überfluss haben, Zhao. Alle bisherigen Morde haben sich im Abstand zwischen drei und fünfzehn Tagen ereignet. Und falls es da draußen noch zwei potenzielle Opfer gibt, müssen wir sie vor dem Mörder finden.« »Soll ich die Vernehmungen vorbereiten?« Li ließ sich das kurz durch den Kopf gehen. »Ja«, sagte er schließlich. »Aber wir wollen die Vernehmungen an der Schule durchführen. Morgen Früh. Bitten Sie den Rektor, uns ein paar Räume zur Verfügung zu stellen. Ich möchte ein Gespür für diesen Ort entwickeln.« Aus dem Zimmer der Kommissare ertönte Wus Stimme: »Chef, haben Sie einen Moment Zeit?« Zhao trat beiseite, während Li zur Tür ging. »Was gibt es, Wu?« Wu saß an seinem Schreibtisch und deckte mit der Hand die Sprechmuschel des Telefonhörers ab. »Es sind die Leute von der Spurensicherung draußen in Yuan Taos Botschaftsunterkunft. Sie haben etwas gefunden, das Sie sich ansehen sollten.« Er zog die Augenbrauen hoch. »Wollen Sie hinfahren?« Li nickte. »Fordern Sie gleich einen Wagen an.« Wu sagte ins Telefon: »Wir sind gleich da.« Li kehrte an seinen Schreibtisch zurück. Endlich kam überhaupt Bewegung in die Sache. Qian folgte ihm quasi auf dem Fuß. In der Hand hatte er ein Blatt Papier, und seine Augen sprühten in freudiger Erwartung. »Das hier ist eben reingekommen, Chef. Ein Fax vom Zentrum für forensische Beweissicherung. Das Ergebnis dieser Tests, die wir auf Dr. Campbells Vorschlag hin an der Mordwaffe angestellt haben…« Li schnappte sich das Blatt und überflog die eng bedruckten Zeilen. Er merkte, wie es unter seiner Kopfhaut zu kribbeln begann. Der Botschaftsbau, in dem Yuan Tao eine Wohnung zugeteilt worden war, befand sich genau hinter dem Friendship Store am Jianguomenwei-Boulevard. Wu parkte den dunkelblauen Geländewagen vom Typ »Beijing« auf der Fahrradspur vor dem
Eingang, und gleich darauf stiegen er und Li aus und blickten vom Trottoir hinauf zu den relativ neuen Wohnungen. Ein langhaariger Bettler ohne Beine saß mit dem Rücken an das Gebäude gelehnt auf dem Pflaster. Ein struppiger Bart wuchs aus seinem dunklen, hageren Gesicht. Er sah die beiden flehentlich an und klimperte dabei mit der Blechdose in seiner Hand. Das neben ihm abgestellte dreirädrige Gefährt war mit einem komplizierten Mechanismus ausgestattet, mit dem er die Räder über eine Handkurbel antreiben konnte. Seine Haut war dreckverschmiert, seine Kleidung und sein Haar glanzlos. Als er bemerkte, dass sie beide ebenfalls Chinesen waren, gefror seine Miene vor Enttäuschung. Wenige Meter weiter stand an einen Baum gestützt eine Blinde mit einer verkrüppelten Hand, die sie laut um ein paar Münzen anbettelte. Es gab noch mehr Bettler, die überall auf dem Trottoir ihr Lager aufgeschlagen hatten. Li beschlich beim Anblick all dieser armen Teufel auf der Straße ein elendes Gefühl. Wu hingegen musterte sie mit unverhohlener Verachtung. »Was machen die denn hier?«, fragte er und ließ seinen Blick über den Gehweg wandern. »Das ist ja gleich eine ganze Meute.« Li zückte einen Zehnyuanschein und stopfte ihn in die Dose des beinlosen Bettlers. »Ausländer«, sagte er mit einem Kopfnicken zum Botschaftsgebäude hin. »Botschaftsangehörige und Touristen. Das schlechte Gewissen der ›Wohlhabenden‹ den ›Habenichtsen‹ gegenüber. Kein schlechter Platz zum Betteln.« Entsetzt sah Wu dem Geldschein nach, den Li dem Mann gegeben hatte. »Um Himmels willen, Chef, warum haben Sie das getan?« »Weil es im Leben keine Garantien gibt, Wu«, erwiderte er. »Eines Tages könnte auch ich hier sitzen. Oder Sie. Nein, ich habe kein schlechtes Gewissen. Nur Angst.« Er steuerte auf den Eingang des Wohnblocks zu. Am Eingangstor stand mit unbewegtem Gesichtsausdruck ein uniformierter Beamter der bewaffneten Volkspolizei. »Zu wem wollen Sie?«, erkundigte er sich ohne Umschweife. »Kriminalpolizei. Sektion Eins.« Wu hielt ihm den Ausweis unter die Nase. »Kennen Sie diesen Kerl?« Li zeigte ihm das Foto von Yuan Tao, das mit seiner Akte gekommen war. »Allerdings.« Der Wachmann schniefte einen Batzen Nasenschleim hoch und spuckte aus. »Yuan Tao. Zweiter Stock. Der
Typ, der sich hat umbringen lassen.« Er zeigte mit dem Kopf in Richtung Haus. »Ein paar von Ihren Leuten sind gerade drin.« Tatsächlich parkte im Vorhof ein grauer Lieferwagen der Spurensicherung. »Wie gut haben Sie ihn gekannt?«, fragte Wu. »So gut oder schlecht wie alle anderen«, antwortete der Polizist. »Soll heißen überhaupt nicht. Die mögen uns nicht besonders.« »Warum denn das?«, hakte Li nach. »Sie glauben, wir bespitzeln sie.« »Und tun Sie das?« Die Wache warf einen Blick auf Li, um herauszufinden, ob er Witze machte, kam aber zu dem Schluss, dass die Frage ernst gemeint war. »Wir haben Anweisung, das Kommen und Gehen hier im Auge zu behalten. Chinesische Besucher müssen unten am Tor abgeholt werden. Und beim Gehen müssen sie an den Eingang gebracht werden.« »Und das gefällt denen nicht?«, folgerte Wu. »Nein, nicht besonders.« »Aber Sie haben Yuan Tao vom Sehen gekannt?«, bohrte Li weiter. »Natürlich. Er war anders als die Übrigen. Er war Chinese.« »Ist Ihnen vielleicht sonst noch was Ungewöhnliches an ihm aufgefallen? Irgendwas, das ihn von den anderen unterschieden hätte?« Der Posten schüttelte bedächtig den Kopf. »Nee. Könnte nicht sagen, dass da was gewesen wäre.« Er zögerte. »Wenn überhaupt, dann würde ich sagen, dass ich ihn nicht so oft gesehen habe wie die anderen. Und ich kann mich nicht erinnern, dass er je Besuch bekommen hätte.« »Niemals?« Wu war erstaunt. »Nicht dass ich wüsste. Natürlich müsste man auch die Jungs von den anderen Schichten fragen.« »Wäre es Ihnen aufgefallen«, fragte Li, »wenn er ein oder sogar zwei Nächte nicht in seiner Wohnung verbracht hätte?« »Nicht unbedingt. Er hätte ja bei Schichtbeginn schon im Haus sein können. Oder eben nicht.« »Es gibt darüber keine Aufzeichnungen?« »Nee.« Li zeigte ihm die Fotos der übrigen Mordopfer. »Haben Sie irgendwann mal einen dieser Männer gesehen?«
Der Wachtposten sah sich die Bilder gründlich an und schüttelte schließlich den Kopf. »Nee.« Sie stiegen die Treppen in den zweiten Stock hinauf und fanden die Wohnungstür offen vor. Das Apartment war winzig: Ein zentraler Raum diente gleichzeitig als Wohnzimmer, Esszimmer und Küche, wobei Ofen und Spüle hinten an der Wand in eine Arbeitsplatte über billigen Küchenschränken eingelassen waren. Hinter einer halb verglasten Tür befand sich das winzige Bad mit einer Dusche, deren Ablauf aus einem Abflussrohr im Betonboden bestand. Im Schlafzimmer war gerade genug Platz für das Bett, ein Nachtkästchen und einen einzigen Kleiderschrank mit Spiegeltür. Doch nicht nur in der Größe unterschied sich die Wohnung augenfällig von jener, die Yuan Tao in der Tuan-Jie-Hu-Straße gemietet hatte. Durchhängende Bücherborde waren voll gestopft mit Büchern, die sich auch unter dem Fenster auf dem Linoleumboden türmten. Unter einem hochgeklappten, mit Scharnieren an der Wand befestigten Tisch waren Stapel chinesischer Zeitungen aufgeschichtet. Auf dem Esstisch verrotteten Essensreste auf benutzten Tellern, und in der Spüle war schmutziges Geschirr eingeweicht. Es roch nach Schweiß, Küchendünsten und getragener Kleidung, vermischt mit der kaum wahrnehmbaren Andeutung eines exotischen Dufts, der ihnen vage vertraut vorkam. Die Küchenschränke ächzten unter der Last der Dosen und Lebensmittelpackungen. Aus dem Wäschekorb im Schlafzimmer quoll dreckige Wäsche, während die saubere Wäsche im Badezimmer an einer Leine zum Trocknen aufgehängt war. Im Gegensatz zu der Wohnung in der Tuan-Jie-Hu-Straße hatte Yuan Tao hier wirklich gelebt. Er hatte seinen Geruch, seine Persönlichkeit und überall Spuren hinterlassen, unter denen sich möglicherweise ein Hinweis darauf fand, warum er umgebracht worden war. Zwei Beamte von der Spurensicherung in der Pao Jü Hutong waren anwesend. Sie nahmen überall Fingerabdrücke. Der Ältere, ein kleiner, runzliger Mann namens Fu Qiwei, sagte: »Ich kümmere mich gleich um Sie, Herr stellvertretender Sektionsvorsteher.« Li ließ den Blick über das Regal wandern. Bei den Büchern handelte es sich größtenteils um Fachbücher, daneben gab es einige Romane, fast ausschließlich auf Englisch, mit abgegriffenen Seiten und zerfledderten Buchrücken. »Er muss sie mit rübergebracht haben«, stellte Wu fest. Und Li
rätselte nicht zum ersten Mal, was einen Professor für politische Wissenschaften an einer angesehenen amerikanischen Universität bewogen haben mochte, seine Karriere an den Nagel zu hängen, um in der Visumabteilung der US-Botschaft in Peking zu arbeiten. Steckte da mehr dahinter, als auf den ersten Blick erkennbar war? Mehr als man ihm verriet? Hatte Yuan Tao für die Amerikaner spioniert oder gar für die Chinesen? Aber diesen Gedanken verwarf er sogleich wieder. Wenn es in dieser Hinsicht auch nur den leisesten Verdacht gegeben hätte, so viel war klar, hätte man ihm den Fall längst entzogen. Oben auf den Bücherregalen verstaubte ein kunterbuntes Sammelsurium von persönlichen Gegenständen: ein Briefbeschwerer, Bleistifte und Federhalter, ein vertrockneter Tafelschwamm, ein paar leere Notizbücher, ein auf irgendeinem Flohmarkt aufgelesenes uraltes Dominospiel, ein gesplitterter und gesprungener, doch ansonsten sauberer und mit Yen-Münzen gefüllter Aschenbecher, der auf etwas abgestellt war, das wohl ein auf dem Gesicht liegender Bilderrahmen war. Li zückte ein Taschentuch und stellte den Aschenbecher beiseite, damit er den Rahmen umdrehen konnte. Auf der Vorderseite war eine willkürliche Collage alter, schwarzweißer Familienschnappschüsse zu sehen – ein Paar von Anfang dreißig mit einem kleinen Jungen, der peinlich berührt zwischen den beiden stand und schüchtern in die Kamera grinste; das Passfoto eines Heranwachsenden; je ein Porträtbild der beiden Erwachsenen, die dem Betrachter leicht gealtert und mit Mao-Mützen auf dem Kopf ernst aus dem Nebel der Geschichte entgegenblickten. Wu spähte über Lis Schulter. »Seine Familie?« »Sieht so aus.« Li fand solche Fotos immer deprimierend. Er hatte ganz ähnliche. Seine Schwester, seine Eltern und er selbst als kleiner Junge, Familienfotos mit Onkel und Tanten, Vettern und Basen, Erinnerungen an eine Zeit, in der er noch zu einer vollständigen, glücklichen Familie gehört hatte, die erst später durch die Wirren der Geschichte auseinander gerissen worden war. »Die nehmen wir zu den Akten«, beschloss er, öffnete behutsam den Rücken des Bilderrahmens und kippte die vergilbten Fotos auf den Tisch. Auf der Rückseite hatte sie jemand mit Namen, Ort und Datum versehen – Ping Zhen, Ye und Tao, Tiananmen, 1952; Tao mit siebzehn; Ping Zhen, Qianmen, 1964… Li drehte das Familienbild um, das 1952 auf dem Tiananmen-Platz aufgenommen
worden war. Im Hintergrund, wo jetzt die Große Halle des Volkes stand, entdeckte er Hutongs und Siheyuans. Damals hatten die Menschen ebenso Drachen steigen lassen wie heute. Eine Weile studierte er eingehend die Gesichter von Yuans Eltern, Ping Zhen und Ye, als könnte er in ihrem dumpfen, starren Blick die Antwort auf seine Fragen finden. In ihren zugeknöpften Kitteln und mit ihren Mao-Mützen sahen sie nicht gerade glücklich aus. Sie hatten keine Ähnlichkeit mehr mit dem sorglosen Paar, das zwölf Jahre zuvor unbefangen lächelnd mit seinem Sohn auf dem Tiananmen-Platz posiert hatte. In gerade mal zwölf kurzen Jahren hatte sich der Gram unauslöschlich in ihre Gesichter eingegraben. Und dabei, davon war Li überzeugt, hatte ihnen damals das Schlimmste noch bevorgestanden. Er überließ es Wu, die Bilder in einen Plastikbeutel zu stecken, und sah sich weiter im Zimmer um. Da stand ein einzelner abgewetzter Sessel, ohne Zweifel aus zweiter Hand. In Polster und Rückenlehne zeichneten sich noch die Eindrücke von Yuans Körper ab. Ein paar kurze schwarze Haare hingen am Schonbezug. Am Klapptisch befand sich nur ein einziger Essstuhl. Ich kann mich nicht erinnern, dass er je Besuch bekommen hätte, hatte der Wachposten gesagt. Jedenfalls hatte Yuan das winzige Apartment ganz offensichtlich in der Erwartung möbliert, dass er dort allein bleiben würde. Auf Besuch war er nicht eingerichtet gewesen. Sie betraten das enge Badezimmer. Es gab keinen Vorhang und auch keine andere, noch so notdürftige Abdeckung für die Glasscheibe in der Badezimmertür. Ein weiterer Hinweis darauf, dass Yuan hier in absoluter Isolation gelebt hatte. Es war nicht notwendig gewesen, die Intimsphäre abzuschotten. In dem Abfluss auf dem Boden hatten sich noch mehr Haare verfangen. Ein kleines Schränkchen an der Wand enthielt die gängigen Toilettenartikel: Rasierschaum, zwei Stück abgepackter Seife, Zahnpasta, Hämorrhoidensalbe, mehrere Packungen Advil – durchweg amerikanische Markenware. »Denken Sie, dass er das ganze Zeug auch aus den USA mitgebracht hat?«, wollte Wu wissen. »Ich habe keine Ahnung«, erwiderte Li. Mittlerweile wurde in jedem gewöhnlichen chinesischen Supermarkt ein breites Sortiment von westlichen Konsumgütern feilgeboten. Allerdings waren dies nicht gerade gängige Artikel. »Unparfümiert« stand auf der Dose mit dem Rasierschaum. Und »Hypoallergen« auf der Seifenpackung.
»Was soll das sein?«, fragte Wu. »Sieht so aus, als hätte er unter einer Allergie gegen Duftstoffe gelitten.« Er sah sich den Inhalt des Wandschränkchens noch einmal genauer an. »Ich kann auch kein Rasierwasser oder Deodorant finden.« Als er die Spiegeltür des Schränkchens schloss, erblickte er darin sein starr dreinschauendes Gesicht; erschrocken bemerkte er die dunklen Schatten unter seinen Augen und die angespannten Falten darum. Schnell wandte er den Blick ab, und Wu folgte ihm ins Schlafzimmer. Ein säuerlicher Geruch nach Schweiß und schmutziger Wäsche hing in der Luft. Die Beamten von der Spurensicherung hatten eben die Fingerabdrücke abgenommen. »Was wollten Sie mir zeigen?«, fragte Li. Fu Qiwei winkte ihn zum Kleiderschrank und zog die Tür auf. Er war voll gestopft mit Anziehsachen, vorwiegend herkömmlichen Anzügen und weißen Hemden. Innen an der Tür hing eine Reihe von Krawatten auf einer Stange. Im obersten Schrankfach lagen etliche Paar Jeans, einige Sweatshirts und ein Stapel T-Shirts. Vor den korrekt am Boden aufgereihten Schuhen ging der Beamte in die Hocke. Auch hier waren die meisten unauffällig und aus schwarzem oder braunem Leder. Ein einziges Paar abgetragener blauweißer Turnschuhe befand sich darunter. Mit seinem Handschuh hob der Beamte vorsichtig einen davon hoch, sodass Li sowohl im Profil der Sohle als auch über den Boden des Schranks verteilt eine Spur von dunklem blauschwarzem Staub erkennen konnte. Li pfiff leise durch die Zähne. »Ist das der gleiche Staub wie bei dem Opfer, das vom Tatort weggebracht worden war?« »Dem Archäologieprofessor«, bestätigte Fu Qiwei mit einem Nicken. »Es sieht ganz danach aus. Dieselbe Farbe und Konsistenz. Mit letzter Sicherheit werden wir das aber erst sagen können, wenn wir eine Probe im Labor untersucht haben.« Wu kniete neben Li nieder, starrte prüfend auf den blauen Staub und legte verwirrt die Stirn in Falten. »Was hat das zu bedeuten, Chef?« Li zuckte mit den Achseln und schüttelte nicht minder ratlos den Kopf. »Ich habe nicht die geringste Ahnung.« Doch allen war bewusst, dass diese Übereinstimmung wichtig war. Offenbar war Yuan Tao aus irgendeinem Grund, möglicherweise zur selben Zeit, am selben Ort gewesen wie der Archäologieprofessor Yue Shi. Diese Spur verband die beiden über ihre Todesart und den Umstand hinaus,
dass sie ehemalige Schüler derselben Schule waren. Ein blauschwarzer Staub, dazu Körnchen von gebranntem Lehm – das war ebenso verwirrend und unergiebig wie alle anderen Hinweise, die sie bisher gefunden hatten. »Das ist noch nicht alles«, sagte der Beamte der Spurensicherung. Er stand auf, und sie folgten ihm ihn den Wohnraum, wo er sich bückte und den Küchenschrank unter der Spüle öffnete. Dort standen zwischen einem Eimer und verschiedenen Reinigungsmitteln drei ungeöffnete Flaschen mit kalifornischem Rotwein. Li merkte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten. Gleich darauf fragte er sich jedoch, wieso er so heftig auf diese Entdeckung reagierte. Schließlich wohnte hier ein Mann, der über dreißig Jahre in den Vereinigten Staaten gelebt hatte. War es da nicht das Natürlichste auf der Welt, wenn er Flaschen mit Wein in seiner Küche hatte? Im Westen war es gang und gäbe, zu den Mahlzeiten das eine oder andere Glas zu trinken. Er ging in die Hocke, um sich die Etiketten anzuschauen. Alle Flaschen waren vom selben Jahrgang. Ein ’95er Mondavi Reserve Cabernet Sauvignon aus dem Napa Valley. Li kannte sich gut genug aus, um zu wissen, dass das kein billiger Fusel war. Und ihm war ihm ebenso klar, dass Yuan Tao die Flaschen unmöglich in China aufgetrieben haben konnte, sondern ein paar Flaschen aus Amerika mitgebracht haben musste. Aber warum waren nach einem halben Jahr immer noch drei Flaschen übrig? Und noch merkwürdiger, warum hatte er seinen teuren Jahrgangswein zwischen dem Putzzeug unter der Spüle aufbewahrt? »Puh!«, ließ sich Wu vernehmen. Er kaute wie wild auf seinem Kaugummi herum und rollte seine Sonnenbrille zwischen Daumen und Zeigefinger an einem Bügel vor und zurück. »Lässt sich feststellen, ob das derselbe Wein ist, den unsere ersten drei Mordopfer getrunken haben?« Fu Qiwei nickte. »Wir können ihn mit den Rückständen vergleichen, die wir in den Weingläsern an den ersten beiden Tatorten gefunden haben. Das Ergebnis bekommen Sie heute am späten Nachmittag.« Doch Li war überzeugt, dass die Ergebnisse nur bestätigen würden, was ihm sein Instinkt bereits sagte. Und er fühlte, wie er immer tiefer in jenem Morast der Ratlosigkeit versank, durch den sie schon längst stapften.
II Eigentlich hatte Margaret geglaubt, es könnte ganz interessant sein, sich Yuan Taos Arbeitsplatz anzuschauen. In Wahrheit aber war die Visumabteilung im Bruce-Komplex nur ein weiteres seelenloses Botschaftsgebäude. Auf der Vorderseite war ein Anbau errichtet geworden, um die langen Schlangen von Antragstellern aufzunehmen, die nun nicht länger auf der Straße warten und unter den aufmerksamen und bisweilen einschüchternden Blicken der bewaffneten chinesischen Polizisten am Eingangstor anstehen mussten. Im Hauptgebäude waren im Zuge umfangreicher Renovierungsarbeiten neue, weiß getünchte Büros für die konsularische Abteilung eingerichtet worden, und hier hatte man Margaret ein kleines Zimmer zur Verfügung gestellt. Sophie öffnete die Tür und winkte Margaret hinein. »Ein Büro ganz für Sie allein«, sagte sie. Margaret sah sich mäßig begeistert um. Das einzige Fenster war winzig und so hoch oben an der Wand angebracht, dass man nicht hinaussehen konnte. Das bisschen Tageslicht, das es hereinließ, wurde durch eine nackte Neonröhre an der Decke verstärkt. Es gab einen Schreibtisch mit Telefonanschluss, einer Schreibunterlage, einem Stapel dicker brauner Umschläge und einem Computerterminal, dazu einen ungemütlich aussehenden Bürostuhl, einen schlachtschiffgrauen Aktenschrank, eine Yuccapalme im Topf sowie eine Karte von China, die an die frisch gestrichene Wand geheftet war. Es roch nach Dispersionsfarbe und neuem Teppichboden, und das von den weißen Wänden reflektierte Neonlicht schmerzte in den Augen. Margaret fragte sich kurz, wer diesen Raum wohl für sie freigemacht hatte, zog es aber vor, die Frage nicht auszusprechen. Mit ziemlicher Sicherheit würde sie noch im Laufe des Tages auf dem Gang ein Gesicht entdecken, das sie vorwurfsvoll anstarrte. »Sie scheinen nicht sonderlich beeindruckt zu sein«, stellte Sophie fest. »Sollte ich?«, fragte Margaret. Der Aktenschrank war abgesperrt.
Sie probierte ihr Glück an den Schreibtischschubladen. Sie waren ebenfalls verschlossen. »Offensichtlich rechnet man nicht damit, dass ich länger hier bleibe.« »Nur bis der Fall aufgeklärt ist.« »Was möglichst bald geschehen sollte, soweit es die Botschaft betrifft.« »Natürlich.« Sophie zeigte auf den Packen Umschläge. »Das ist das ganze Zeug, um das Sie die chinesische Polizei gebeten haben – Aufnahmen von den Tatorten, Übersetzungen der Autopsieberichte…« »Das ging aber flott!« Margaret war erstaunt. »Offenbar wollen die mich genauso schnell loswerden wie Sie.« Sophie grinste. »Es ist wirklich flott gegangen. Jonathan mochte es gar nicht glauben. Offenbar ziehen sich solche Sachen normalerweise über Wochen hin. Die Mühlen der chinesischen Bürokratie mahlen ziemlich langsam.« »Das zeigt lediglich, wozu sie im Stande sind, wenn sie nur wollen.« Margaret wühlte sich durch den Inhalt der Umschläge. »Mein Gott«, sagte sie, als sie ein Bündel mit Berichten herauszog. »Da sind ja sogar die toxikologischen Ergebnisse von meiner Autopsie, zusammen mit einer Abschrift des Tonbands. Das bedeutet, dass ich meinen eigenen Autopsiebericht abfassen kann.« Sie überflog die Resultate der toxikologischen Untersuchung und nickte. »Alles wie erwartet.« Dann blickte sie auf die Uhr. »Ups, keine Zeit mehr, das alles durchzuackern.« Damit stopfte sie alles zurück in die Umschläge und begann die Papiere und Umschläge zu einem tragbaren Stapel aufzuschichten. »Wo wollen Sie hin?«, fragte Sophie irritiert. »Ich muss packen. Mein Zug fährt um zehn vor sieben.« Sophie runzelte die Stirn. »Aber die chinesische Polizei hat in der Sektion Eins eine Einsatzbesprechung mit Ihnen angesetzt.« Margaret blieb wie angewurzelt stehen. »Wann?« »Um fünf.« »Dann werden sie sich kurz fassen müssen.« Sie nahm den Papierhaufen vom Tisch und schob sich an Sophie vorbei auf den Gang. Sophie hastete ihr hinterher. »Wo fahren Sie eigentlich hin?« »Nach Xi’an.« »Xi’an?« Sophie war verwirrt. »Aber… was ist denn in Xi’an?« »Die Terrakottaarmee. Nie davon gehört? Anscheinend handelt
es sich dabei um das achte Weltwunder, das man auf keinen Fall verpassen sollte.« »Michael«, stellte Sophie, der jetzt ein Licht aufging, ohne Umschweife fest. »Sie fahren zusammen mit Michael.« »Er hat mich darum gebeten«, erwiderte Margaret leichthin, während sie dem prüfenden Blick des Marine am Eingangstor standhielt und schließlich hinausgelassen wurde. »Sie Glückliche!« Sophie grinste. »Sie wissen hoffentlich, dass er es nur auf Ihren Körper abgesehen hat.« »Tja, vielleicht habe ich es auch auf seinen abgesehen«, erwiderte Margaret augenzwinkernd. »Wie auch immer, wir bleiben nur einen Tag. Übermorgen sind wir zurück.« »Nun, ich hoffe, Sie erwarten nicht, dass die amerikanische Regierung für Sie aufkommt, während Sie mit Michael Zimmerman in der Weltgeschichte herumreisen.« »Natürlich erwarte ich das.« Margaret packte das Bündel in ihrem Arm noch fester. »Schließlich nehme ich meine Arbeit mit.« Im Konferenzsaal in der obersten Etage des Gebäudes der Sektion Eins in der Beixinqiao Santiao war die Spannung beinahe mit Händen zu greifen. Margaret, die zuerst in den Raum geführt worden war, hatte sich mit dem Rücken zum Fenster auf Lis Stammplatz niedergelassen. Sie war sich bewusst, dass dies der beherrschende Platz in diesem Raum war und dass Li ihn darum mit Sicherheit beanspruchen würde. Li ließ sich jedoch trotz der nervösen Blicke der anderen Kommissare nicht anmerken, dass er sich vor den Kopf gestoßen fühlte. Er nahm genau gegenüber von Margaret Platz und schien ganz damit beschäftigt, seine Unterlagen zu sortieren. Außer ihnen waren noch Zhao, Wu, Qian und Sang anwesend. Zum Verdruss der übrigen Kommissare hatte sich herausgestellt, dass Sang fehlerlos Englisch sprach, weswegen Li ihn zum offiziellen Übersetzer bei dieser Konferenz bestimmt hatte. »Okay«, sagte Li. »Hast du die Abzüge und die Kopien der Autopsieberichte erhalten, die wir dir geschickt haben?« Margaret nickte. »Leider habe ich sie eben erst in die Finger bekommen und hatte darum noch keine Zeit, sie mir anzusehen.« Sie wartete einen Moment, bevor sie hinzufügte: »Vierundzwanzig Stunden können eine sehr lange Zeit sein, wenn man dringend auf etwas wartet.« Li spürte Ärger in seiner Kehle hochsteigen und musste sich erst
kurz sammeln, bevor er ihr antwortete: »Aber bestimmt lang genug für dich, um deinen Autopsiebericht fertig zu stellen?« »Ohne die toxikologischen Ergebnisse und die Abschrift des Tonbands, auf deren Zusendung ich natürlich ebenfalls warten musste, wäre das ein aussichtsloses Unterfangen gewesen.« Sang rang mit der Übersetzung. Li lehnte sich zurück und seufzte enttäuscht. »Dann hat diese Konferenz eigentlich wenig Sinn.« »Nichtsdestotrotz«, Margaret zog einen Stapel gehefteter Blätter aus der Tasche, »habe ich heute Nachmittag, sobald ich die benötigten Unterlagen erhalten hatte, ein Büro im Business Center meines Hotels gebucht – wohlgemerkt auf eigene Kosten – und einen vorläufigen Bericht verfasst, der alles Wesentliche beinhaltet.« Sie schob Li mehrere Kopien über den Tisch zu. »Es gibt keine Überraschungen.« Li zog den Haufen an sich, gab eine Kopie an Sang weiter und überflog das Deckblatt. Ohne aufzusehen sagte er: »Wir haben diese Untersuchungen an den Abschnitten des Rückgrats durchgeführt, zu denen du uns geraten hast, und die charakteristischen Spuren verglichen, die von der Waffe an den jeweiligen Wirbelsäulen hinterlassen wurden.« Er verstummte kurz. Margaret konnte ihre Neugier nicht im Zaum halten. »Und?« »Wir konnten den ersten und den dritten Mord einander zuordnen. Eine Weile sah es ganz so aus, als würde sich deine ›Lieblingsfleck‹-Theorie als brauchbar erweisen. Aber in den anderen Fällen konnten wir keine Übereinstimmung feststellen.« Margaret wollte schon etwas einwenden, doch er schnitt ihr das Wort ab. »Allerdings haben wir noch einen weiteren Test durchgeführt, und zwar mit dem Elektronenmikroskop. Wir haben die Bronzerückstände auf den abgenommenen Klebestreifen untersucht. Mithilfe des Computers konnten wir die Anteile der jeweiligen Materialkomponenten berechnen. Wir konnten nicht die geringste Abweichung finden. Was bedeutet, dass in allen vier Fällen dieselbe Mordwaffe verwendet wurde.« Er verstummte so lange, bis ihre Stirn sich in Falten legte. Dann fügte er hinzu: »Damit entbehrt deine Vermutung, der Mord an Yuan Tao wäre die Tat eines Nachahmers, praktisch jeder Grundlage.« Die versammelten Kommissare, die gebannt Sangs Übersetzung lauschten, wandten die Köpfe, um Margarets Reaktion mitzubekommen.
Sie zuckte mit den Achseln. »Nicht unbedingt«, widersprach sie. »Es bedeutet lediglich, dass der Mörder Zugriff auf dieselbe Waffe hatte, mit der die drei vorangegangenen Morde verübt wurden.« Die Kommissare schauten wieder auf Li und warteten auf eine Reaktion. Doch der verzog keine Miene. Sie sprach weiter: »Mehr hast du nicht zu berichten? Ist das alles, was ihr in den letzten vierundzwanzig Stunden ermittelt habt?« »Natürlich nicht.« Li war weit weniger beherrscht, als es den Anschein hatte. Sie hatte sich von seinen Enthüllungen hinsichtlich der Mordwaffe überhaupt nicht aus dem Konzept bringen lassen, und ihre ruhig vorgetragene Erklärung war so schlüssig, dass er sich fragen musste, warum er nicht selbst darauf gekommen war. Allerdings konnte er sich diese Frage gleich selbst beantworten. Er hatte sich von Anfang an gegen den Gedanken gesträubt, dass Yuan Tao von einem Nachahmungstäter umgebracht worden sein könnte, und musste jetzt, da er sich das eingestanden hatte, erkennen, dass er einen Kardinalfehler begangen hatte, für den er von seinem Onkel ausgelacht worden wäre. Er war von einer Annahme ausgegangen und hatte anschließend versucht, das Beweismaterial an diese Annahme anzupassen. Nimm nichts als gegeben hin, hatte ihn sein Onkel immer ermahnt. Zieh keine voreiligen Schlüsse, sondern lass dich von den Beweisen zu einer Schlussfolgerung leiten. Margaret schaute mit kaum verhohlener Verärgerung auf die Uhr. »Und?« Also berichtete Li von dem blauschwarzen Staub, der in Yuan Taos Wohnung gefunden worden war, und von der erst vor einer Stunde eingegangenen Bestätigung der Spurensicherung, dass es sich dabei um den gleichen Staub handelte wie jener an der Hose und im Profil der Schuhe, die Professor Yue zuletzt getragen hatte. Mit frisch erwachtem Interesse beugte sie sich vor. »Um was für einen Staub handelt es sich genau?« Er schob ihr eine winzige Probe in einem durchsichtigen Plastikbeutelchen zu. »Partikel von gebranntem Lehm. Ein Art Keramikpulver. In den Unterlagen, die wir dir zusammengestellt haben, findest du eine genauere Analyse.« Sie runzelte die Stirn, besah sich eingehend den dunkelblauen Staub und dachte kurz nach. »Was noch?«, fragte sie dann. »Wir haben drei Flaschen mit kalifornischem Jahrgangswein in Yuan Taos Wohnung gefunden. Die heute Nachmittag durchgeführten Tests haben ergeben, dass es sich mit hoher
Wahrscheinlichkeit um den gleichen Wein handelt, den die ersten drei Mordopfer getrunken haben. Das Zeug, das der Mörder mit Flunitrazepam versetzt hatte.« Jetzt war Margaret mit Feuereifer bei der Sache. Die knappe Zeit war vollkommen vergessen. »Drei Flaschen?« Li nickte. Sie kratzte sich gedankenverloren am Kinn. »Also… für jedes weitere Opfer eine.« »Wir haben aber vier Opfer«, widersprach Li. »Und der Countdown begann bei sechs.« »Spielen wir das mal durch«, sagte Margaret. »Wenn wir davon ausgehen, dass Yuan Tao gar nicht auf der Abschussliste gestanden hat – « Li fiel ihr ins Wort. »Glaubst du immer noch, dass er von jemand anderem getötet wurde?« Sie nickte. »Ich bin mir ganz sicher. Ich kann dir noch nicht sagen, von wem oder warum, aber das Beweismaterial lässt für mich keinen anderen Schluss zu. Und wenn man ihn außen vor lässt, dann gibt es da draußen immer noch drei und nicht zwei potenzielle Opfer. Daher auch die drei Flaschen Wein.« »Aber was hatte der Wein in Yuan Taos Wohnung zu suchen?« Sangs unerwarteter Einwurf überraschte alle Anwesenden. Er wirkte selbst ganz erstaunt darüber und wurde sofort unsicher. Die übrigen Kommissare erkundigten sich, was er gefragt habe. Mit knallrotem Gesicht erklärte er es ihnen. Margaret lächelte. »Ich habe keine Ahnung«, gestand sie. »Aber von Bedeutung ist diese Frage auf jeden Fall, ganz unabhängig davon, ob man glaubt, dass Yuan Tao zu den ursprünglich vorgesehenen Opfern zählte.« Sie wandte sich wieder an Li. »War in der Wohnung sonst noch irgendetwas?« Er schüttelte den Kopf. »Nichts von Belang. Bücher, Kleidungsstücke, persönlicher Besitz.« »Und die andere Wohnung, die er privat gemietet hatte – hast du einen Hinweis darauf, wozu er sie brauchte?« Li schüttelte erneut den Kopf. »Kommissar Qian hat den Besitzer der Wohnung ausfindig gemacht. Wir haben ihn heute Nachmittag vernommen. Angeblich hat er nicht die geringste Ahnung gehabt, dass Yuan für die Botschaft arbeitete – er hätte ihn für einen Chinesen gehalten, schließlich sprach er mit Pekinger Akzent. In seiner Darstellung hat Yuan ihm erzählt, er würde Vorlesungen an
der Universität halten und brauchte die Wohnung nur für ein paar Monate. Yuan war bereit, weit mehr als die übliche Miete zu bezahlen, darum stellte ihm der Besitzer nicht allzu viele Fragen.« »Glaubst du ihm?« »Ja.« Li nickte. »Er hat gegen die Meldepflicht verstoßen, mehr aber auch nicht.« »Womit wir wieder bei der Frage wären, warum Yuan Tao es für notwendig hielt, eine zweite Wohnung zu mieten. Hatte er vielleicht eine Geliebte?« »Nein.« Das stand für Li außer Zweifel. »In beiden Wohnungen sind keinerlei Spuren zu finden, die auf irgendeine Frau hindeuten würden. Und außerdem war Yuan Tao nicht der Typ für so was.« Er zündete sich eine Zigarette an und fragte sich, welche seiner bisherigen Erkenntnisse über diesen Mann ihn wohl zu der Überzeugung verleiteten, dass Yuan keine Affäre gehabt und sich auch keine Prostituierten in die Wohnung geholt hatte. Es musste wohl ein Instinkt sein. »Einfach so ins Blaue geraten, würde ich sagen, er hat sich die zweite Wohnung gemietet, damit er ungesehen und ungefragt kommen und gehen konnte. Vielleicht wollte er auch Besucher empfangen können, von denen die Behörden nichts wissen sollten.« »Und das wäre in der Unterkunft der Botschaft nicht möglich gewesen?« »Das Eingangstor des Wohnblocks wird rund um die Uhr bewacht.« Margaret nickte nachdenklich. »Aber warum hätte er den Wunsch haben sollen, ungesehen und ungefragt zu kommen und zu gehen oder gar geheimen Besuch empfangen zu können?« Li blies eine Rauchschwade in Richtung Deckenventilator. »Wenn wir das wüssten, säßen wir vermutlich nicht hier.« Plötzlich erstarrte Margaret und blickte auf die Uhr. »Ach herrje, ich komme noch zu spät!« Sie stand eilends auf und stellte ihre Tasche auf den Tisch. »Könntest du mir vielleicht ein Taxi rufen?« Li und seine Untergebenen waren überrascht. Alle hatten damit gerechnet, dass sich die Besprechung noch eine Weile hinziehen würde. »Wo musst du denn hin?«, fragte Li. »Zum Westbahnhof«, erwiderte Margaret. »Mein Zug geht um zehn vor sieben.« Li sah ebenfalls auf die Uhr. Es war Viertel vor sechs. Er schüttelte den Kopf. »Das schaffst du nie. Nicht abends um diese
Zeit. Der Verkehr steht jetzt. Du wirst mindestens neunzig Minuten brauchen.« »So weit weg ist der Bahnhof auch wieder nicht«, widersprach sie entschieden. »Von meinem Hotel aus würde ich die Strecke zu Fuß in zwanzig Minuten schaffen. Wir haben damals von dort den Zug nach Datong genommen.« »Nein.« Li schüttelte den Kopf. »Das war der Hauptbahnhof. Der Westbahnhof liegt genau am anderen Ende der Stadt.« »Verdammt!«, fluchte Margaret. Li erhob sich und sammelte seinen Papierkram zusammen. Die anderen taten es ihm gleich. »Wohin fährst du?«, fragte er und versuchte dabei so zu klingen, als wäre ihm die Antwort vollkommen gleichgültig. »Nach Xi’an. Ich will mir die Terrakottaarmee ansehen.« Li blickte sie erstaunt an. »Ganz allein?« »Nein.« Sie zögerte einen Augenblick. »Michael Zimmerman nimmt mich mit.« Li spürte, wie seine Wangen rot anliefen, und merkte gleichzeitig, dass Sang ihren Wortwechsel immer noch übersetzte. Er wandte sich an die Kommissare. »Das wär’s fürs Erste«, sagte er knapp. Enttäuscht packten sie ihre Unterlagen ein, nickten Margaret höflich zu und verließen das Konferenzzimmer. Immer noch scheinbar gleichgültig erkundigte er sich: »Michael Zimmerman… ist das der Mann, mit dem du gestern Abend im Sanwei warst?« Trotz ihrer Angst, den Zug zu verpassen, hatte Margaret mit leiser Genugtuung beobachtet, wie Lis Gesicht Farbe angenommen hatte, sobald sie Michaels Namen erwähnte. »Ganz recht«, bestätigte sie. »Rufst du mir jetzt ein Taxi oder nicht?« Doch er hatte es nicht eilig. »Und wer ist das, um genau zu sein?« »Ich kann beim besten Willen nicht nachvollziehen, was dich das angehen sollte, um genau zu sein«, erwiderte sie scharf. Er zuckte mit den Achseln. »Also, immerhin werde ich gleich ein Einsatzlicht auf das Dach eines Polizeijeeps stecken, um dich noch rechtzeitig zum Bahnhof zu bringen, da kann ich wohl auf eine vernünftige Frage eine vernünftige Antwort erwarten.« Sie lächelte verlegen. Sie saß in der Falle. Und da sie ihren Zug nicht verpassen wollte… »Er ist Fernseharchäologe.« »Er ist was?« Er hatte keine Ahnung, wovon sie sprach. »Er macht archäologische Dokumentarfilme fürs Fernsehen«,
führte sie aus. »China ist sein Spezialgebiet. In den Vereinigten Staaten ist er ausgesprochen populär.« »Und warum nimmt er dich mit nach Xi’an?« »Das wiederum«, erklärte sie kategorisch, »ist keine vernünftige Frage. Bringst du mich jetzt zum Bahnhof oder nicht?« Die Dämmerung rieselte über die Stadt herein wie graues Pulver, das allmählich alle Lichter auslöschte. Eine Zeit lang hatte die Sonne noch lange Schatten nach ihnen geworfen und sich gleißend durch die Windschutzscheibe gebohrt, während der Jeep mit heulender Sirene, rotierendem Rotlicht und immer wieder auf die Fahrradspur ausweichend durch die Stadt gerast war. Inzwischen war sie untergegangen, und die roten Streifen am Himmel verfärbten sich erst bläulich und erloschen dann ganz. Zeitweise hatte Li die nach Westen führenden drei Spuren der dritten Ringstraße in vier verwandelt, indem er sich zwischen Bussen und Taxis hindurchgezwängt hatte. Margaret beobachtete, wie angespannt er fuhr, wie er zwischen den Zügen an seiner Zigarette immer wieder vor sich hin murmelte, beinahe so, als wäre er allein, und wie er ausdauernd auf die Hupe drückte, um das Heulen der Sirene noch zu unterstreichen. Seit sie von der Sektion Eins losgefahren waren, hatte er kein Wort mehr mit ihr gewechselt. Und ihr hatte die nackte Angst jeden Gedanken an eine wie auch immer geartete Unterhaltung ausgetrieben, während Li wie ein Besessener durch den abendlichen Stoßverkehr jagte. Er blickte auf die Uhr und schien sich ein wenig zu entspannen. Zum ersten Mal sah er zu ihr herüber. »Wir könnten es gerade noch schaffen«, sagte er. »Da bin ich aber froh«, erwiderte sie mit leisem Sarkasmus. »Ich fände es unerträglich, wenn ich für nichts und wieder nichts um zehn Jahre gealtert wäre.« »Und ich fände es unerträglich«, sein Blick war jetzt wieder starr nach vorn gerichtet, »wenn eine lumpige Mordermittlung dein Liebesleben sabotieren würde.« »Weißt du, was dein Problem ist?« Es kostete sie einige Beherrschung, ihm nicht zu erklären, wohin er sich ihretwegen seine Mordermittlungen schieben konnte. »Du sprichst viel zu gut Englisch. Dein Onkel hat ganze Arbeit geleistet, nur hat er dir nicht beigebracht, dass Sarkasmus die niederste Form des Witzes ist.« »Wer sagt denn, dass das ein Witz war?«
»Für mich war es jedenfalls keiner!« Sie starrte ihn finster an, entspannte sich dann aber wieder. »Wie dem auch sei«, fuhr sie fort, »nachdem du es offenbar unbedingt wissen willst, die Beziehung zwischen Michael und mir ist rein platonischer Natur. Was platonisch bedeutet, weißt du doch, oder?« Er nickte. »Es ist der Ausdruck, mit dem die Menschen immer dann eine Beziehung umschreiben, wenn sie kurz davor sind, mit jemandem ins Bett zu gehen.« Er lächelte nicht dabei. Seine Lippen waren zu einem schmalen Strich zusammengepresst, als er den Jeep von der Ringstraße lenkte und auf die Überführung bog, die zur Tianningsi-Brücke führte. Margaret war betroffen. Nicht so sehr wegen seiner Gehässigkeit, sondern weil durchaus Wahrheit in seinen Worten lag. Sie fragte sich, warum sie eigentlich zugestimmt hatte, mit Michael nach Xi’an zu fahren, und wusste sofort, dass die Besichtigung der Terrakottaarmee für sie nicht die Erfüllung eines Lebenstraums bedeutete. Sie merkte, wie sich ihr Magen verkrampfte und eine undefinierbare Furcht in ihrer Brust ihren Puls beschleunigte. Was um Himmels willen tat sie da eigentlich? Sie warfeinen verstohlenen Blick auf Li. Sie hatte wieder aufgehört, ihn nur als Chinesen zu sehen. Wieder war er einfach Li Yan. Und sie hatte gesehen, wie die Wärme und das Funkeln in seine Augen zurückgekehrt waren, sobald sie sich in der Sektion Eins und jetzt im Jeep verbale Gefechte geliefert hatten. Ohne zuzulassen, dass sich der Gedanke in ihrem Kopf herauskristallisierte, spürte sie, dass sie ihn noch immer liebte. Aber wozu sollte das gut sein? Ihn zu lieben war genauso verrückt und aussichtslos wie die Schwärmerei eines Teenagers für einen Rockstar. Li hatte das klargestellt. Für sie beide gab es keine gemeinsame Zukunft. Inzwischen schien Li voll und ganz darauf konzentriert, sich zwischen den Fahrzeugen auf der Lianhuachidong-Straße durchzuschlängeln. Plötzlich beugte er sich nach vorn und deutete nach links. »Der Westbahnhof«, verkündete er. Margaret schaute aus dem Seitenfenster und erblickte im dämmrigen Abendlicht einen riesigen Bau, der sich über den weiten Schleifen der geschwungenen Zubringerauffahrten erhob und dessen von Neonlampen nachgezeichnete Umrisse über einer mit bunten Flutlichtern angeleuchteten Fassade erstrahlten. Riesige Türme ragten beiderseits des monströsen Zentralgebäudes mit seinen drei aufeinander geschichteten Dächern auf, deren Dachtraufen auf
kolossalen Säulen ruhten. »Wahnsinn«, hauchte sie atemlos. »Das ist ja gigantisch!« Der Komplex war größer als die meisten Flughäfen, die sie kennen gelernt hatte. »Der größte Bahnhof der Welt«, erklärte ihr Li. Dann bog er von der Straße ab und fuhr eine Rampe hinauf, über die sie in einem weiten Kreis zu einer mehrspurigen Hauptzufahrt gelangten, die parallel zu der zentralen, mit ankommenden und abfahrenden Reisenden voll gestopften Bahnhofshalle verlief. Noch bevor das Heulen der Sirene verklungen und mit heiserem Stottern versiegt war, hatte er den Jeep an den Bordstein gelenkt, war auf den Gehweg hinausgesprungen und hatte Margarets Gepäck aus dem Wagen gehoben. Margaret klammerte sich an ihre Tasche und sah ehrfürchtig zu der mächtigen Fassade auf. »Mein Gott«, sagte sie. »Wie soll ich Michael hier nur finden?« Zu Lis Enttäuschung wurden sie im selben Moment von Michael entdeckt, der sich mit besorgter Miene durch die Menge drängte. »Ich schätze, er hat dich schon gefunden«, sagte er zu Margaret. Außer Atem und mit rotem Gesicht kam Michael bei ihnen an und nahm Margaret sofort die Tasche ab. »Gott sei Dank, Margaret. Ich hatte schon fast geglaubt, du würdest es nicht schaffen.« »Die Gefahr bestand wirklich nicht, schließlich hatte ich eine persönliche Polizeieskorte«, erwiderte Margaret mit einem Seitenblick auf Li. Michael sah Li an, nickte und streckte die Hand aus. »So sieht man sich wieder, Mr. Li.« Li hätte nicht gedacht, dass Michael sich an seinen Namen erinnerte, und fragte sich, ob er wohl bereits ein Gesprächsthema zwischen Margaret und Michael gewesen war. »Mr. Zimmerman«, erwiderte er höflich. Sie gaben sich einen kräftigen Händedruck. Vielleicht etwas zu kräftig, denn im selben Moment schien die Luft zwischen ihnen zu knistern. Li beschlich das vage, fast unterbewusste Gefühl, dass ihm irgendetwas an diesem Mann bekannt vorkam. Er suchte nach irgendeinem auffälligen Merkmal, einem Anhaltspunkt in dem Gesicht ihm gegenüber, aber die Vertrautheit schien auf merkwürdige Weise nicht fassbar. Gleich darauf hatte sich das Gefühl in nichts aufgelöst, und sie beendeten den Händedruck. Michael sah auf die Uhr und sagte zu Margaret: »Wir müssen uns beeilen.« Und zu Li: »Vielen Dank, dass Sie Margaret noch rechtzeitig hergebracht haben.«
Li widerstand dem Drang, ihm einen Magenschwinger zu versetzten, und wünschte Margaret stattdessen: »Gute Reise.« Es hörte sich steif und formell an. Sie nickte. »Danke.« Im nächsten Moment waren sie und Michael unterwegs und eilten durch die Menschenmassen zum Haupteingang. Li blieb noch einen Augenblick stehen und sah den beiden nach, umhüllt von einer Wolke der Depression, die mindestens so schwarz war wie die mittlerweile hereingebrochene Dunkelheit. Das Innere der Haupthalle des Pekinger Westbahnhofs wirkte einschüchternd und höhlenartig und war voll von Menschen, die sich von den verwirrenden elektronischen Anzeigen auf zahllosen Tafeln überall an den Seitenwänden leiten ließen. Das Stimmengewirr mehrerer tausend Fahrgäste wurde von der sanften Stimme einer weiblichen Ansagerin überlagert, die gebetsmühlenartig auf Chinesisch und Englisch die Ankunfts- und Abfahrtszeiten der Züge wiederholte. Durch ein riesiges klaffendes Loch führten Rolltreppen zu den unteren Ebenen und wieder herauf. An beiden Seitenwänden wurde zwischen den dort eingelassenen Fahrkartenschaltern alles Mögliche verkauft, von Granatäpfeln bis hin zu modischen Kniestrümpfen. Eine Reihe von Imbissbuden bot, soweit Margaret erkennen konnte, Styroporbehälter mit Nudeln in würziger Sauce feil. Allerdings war das Styropor kein Styropor, wie Michael ihr versicherte, sondern gepresstes Stroh. Biologisch abbaubar. Chinas Beitrag zum Umweltschutz. Ein breiter Korridor, an dem sich rechts und links riesige Wartesäle für die jeweiligen Bahnsteige befanden, verlor sich in neonfarben schillernder Ferne. Gewaltige Fernsehwände spielten Musikvideos, unterbrochen von Tipps für umweltgerechtes Verhalten. Michael nahm Margaret bei der Hand und geleitete sie mit schnellen Schritten durch die Menschenmenge, an den Rolltreppen vorbei nach links zum Eingang des Erste-KlasseWartesaals Nummer eins. An der Tür prüfte eine junge Frau in grüner Uniform und deutlich zu großer Schirmmütze ihre Reisepässe und Fahrkarten, ehe sie ihnen Zugang in die exklusive Atmosphäre und den weitläufigen Luxus des Wartesaals erster Klasse gewährte, der den Wohlhabenden und Privilegierten vorbehalten war. Unter einem kupferroten Wandgemälde mit Szenen aus der chinesischen
Geschichte waren rund um niedrige Tische grüne Ledersessel gruppiert. Als Margaret an den Toiletten vorbeikam, stieg ihr ein Hauch brennenden Weihrauchs in die Nase, doch gleich darauf wurde sie zum anderen Ende des Wartesaals weitergeschleift. Dort knipste ein Schaffner die von Michael präsentierten Fahrkarten ab und winkte sie sogleich durch. Im Dauerlauf passierten sie die Wartesäle der einfachen Reisenden, bevor sie nach links schwenkten und eine steile Treppe hinabhasteten, die zum Bahnsteig sechs führte. »Warte!«, rief Margaret unvermittelt. »Dein Gepäck!« Michael lächelte. »Das ist schon im Zug.« Kaum waren sie am Bahnsteig sechs eingetroffen, stach Margaret Kohlequalm in die Nase, der aus dem Schornstein der irgendwo vorn in der Dunkelheit wartenden, ungeduldig stampfenden Dampflokomotive stieg. Michael hetzte sie den Bahnsteig entlang bis zum Wagon Nummer sieben, wo sie einstiegen und in einen langen, engen Gang gelangten. An den Fenstern hingen gemusterte Gardinen zwischen den seitlich angebrachten, blau geblümten Vorhänge. Ein roter, mit Goldmustern eingefasster Teppich führte nach vorn zu ihrem Abteil. Das alles war, ging es Margaret durch den Kopf, Welten entfernt von den Erfahrungen, die sie bei ihrer einzigen bisherigen Bahnfahrt in China gemacht hatte. Damals war sie vierter Klasse gefahren, in kalten, zugigen Wagons, wo die Menschen auf den Boden gespuckt und sich auf harten Bänken zusammengedrängt hatten, auf denen einem der Hintern taub wurde. »Da wären wir«, verkündete Michael und winkte sie in ihr Abteil. Auch hier gab es Gardinen und blaue Vorhänge, die Laken über den vier Schlafwagenbetten waren mit Spitze besetzt und die Rückenlehnen der Sitze mit Schonbezügen versehen. »Ach.« Margaret zeigte sich überrascht. »Wir teilen uns das Abteil.« Michael zog entschuldigend die Schultern hoch. »Es tut mir Leid, aber das Produktionsbüro hat es auf die Schnelle nicht mehr geschafft, ein eigenes Abteil für dich aufzutreiben.« Margaret lachte. »Ich habe doch nicht dich und mich gemeint. Ich meine, mit jemand anderem.« Michael sah auf die Kojen und lächelte. »Nein, das werden wir nicht. Ich habe alle vier Betten gemietet, damit wir das Abteil für uns allein haben.« Erst jetzt bemerkte sie den Eiskübel auf dem Tisch, aus dem der
mit Goldfolie umhüllte Hals einer Champagnerflasche herauslugte, und den großen geflochtenen Picknickkorb auf dem obersten Bett. Michael schloss sachte die Tür. »Wir werden vierzehn Stunden unterwegs sein«, erklärte er. »Also habe ich mir überlegt, dass ein kleiner Imbiss, mit einem guten Schluck Champagner hinuntergespült, helfen könnte, uns die Zeit zu vertreiben.«
IV Bis Li den Jeep zur Sektion Eins zurückgebracht hatte und auf dem alten Rad seines Onkels nach Hause schaukelte, hatte sich seine Niedergeschlagenheit nach der Begegnung mit Margaret in Angst vor der Begegnung mit seiner Schwester verwandelt. Falls die Untersuchung erfolgreich verlaufen war, kannte sie inzwischen das Geschlecht ihres ungeborenen Kindes und hatte womöglich bereits eine Entscheidung gefällt. Falls der Befund nicht eindeutig ausgefallen war, hatte man Fruchtwasser aus ihrer Gebärmutter absaugen müssen, und die Entscheidung war für vier Wochen aufgeschoben. Obwohl Li normalerweise kein Zauderer war, betete er zu seinen Ahnen, dass der Test ergebnislos geblieben sein möge. In vier Wochen konnte viel geschehen. Er stellte das Fahrrad im Wohnblock unter einem Welldach aus Plastik ab und erklomm müde die Stufen zu seiner Wohnung. Von der Straße aus hatte er Licht hinter den Fenstern gesehen, daher wusste er, dass Xiao Ling und Xinxin zu Hause waren. Vermutlich waren sie schon seit Stunden zurück. Li musste daran denken, wie ihn die kleine verschlafene Fünfjährige geküsst hatte, bevor er am Morgen das Haus verlassen hatte, ganz verschmust, anhänglich, einfach niedlich – ein sanftmütiges kleines Mädchen, fröhlich und lebensfroh. Wie konnte seine Schwester auch nur daran denken, Xinxin zur Adoption freizugeben? Mit aller Gewalt hatte sie versucht, ihren Beschluss zu rechtfertigen. Es gebe in der westlichen Welt tausende von Paaren, hatte sie gesagt, die es kaum erwarten könnten, ein kleines chinesisches Mädchen zu adoptieren. Xinxin hätte dort ein viel besseres Leben, als Xiao Li es ihr je bieten könnte. Li hatte immer nur verzagt den Kopf geschüttelt. Er konnte sich ihre Haltung nur
dadurch erklären, dass ihr die hormonellen Schwankungen in der Schwangerschaft komplett den Verstand geraubt hatten. Noch bevor er die Wohnungstür aufgeschlossen hatte, hörte er Xinxin weinen. Im Flur rief er nach Xiao Ling: »Ist alles in Ordnung?« Doch er erhielt keine Antwort, nur Xinxins Heulen hörte sich noch jämmerlicher an als zuvor, sofern das überhaupt möglich war. Das Wohnzimmer war leer. Er eilte durch den Flur zum Zimmer seines Onkels, wo er auf Xinxin stieß, die einsam und allein auf dem Bett saß und sich die Seele aus dem Leib weinte. Ihre Augen waren rot und geschwollen, ihre Stimme heiser. Der kleine Latz an ihrem Kleid war tränennass. Entsetzt schrie Li in den Flur: »Xiao Ling!« Doch auch diesmal bekam er keine Antwort. Er ging vor Xinxin in die Hocke und zog sie an seine Brust. Sofort schlang sie die kleinen Arme um seinen Hals und klammerte sich an ihm fest. »Wo ist deine Mami?«, fragte er. Doch ihre Brust erbebte unter so heftigen Schluchzern, dass sie kein Wort herausbrachte. Dann fiel sein Blick auf den Umschlag auf dem Nachtkästchen, auf dem in der Handschrift seiner Schwester sein Name geschrieben stand. Er befreite einen Arm aus Xinxins Griff und riss den Brief mit zitternden Fingern auf. »Li Yan«, war darin zu lesen, »bitte vergib mir. Ich weiß, dass du das tun wirst, was für Xinxin am besten ist. Ich bin in das Haus einer Freundin in der Provinz Annhui gefahren, um meinen kleinen Sohn zu bekommen. Dort kennt man mich nicht, also wird es keine Probleme geben. Alles Liebe, Xiao Ling.«
5. KAPITEL I Nur gelegentlich durchbrachen ein paar Lichter in der Ferne die nicht enden wollende Dunkelheit hinter den Fenstern des Zuges, der langsam, aber sicher dem Kernland des Mittleren Königreichs mit seiner uralten Hauptstadt Xi’an entgegenratterte. Die leere Champagnerflasche dümpelte auf geschmolzenem Eis und klackerte mit dem Hals leise an den Rand des Kübels. Auf dem Tisch stand eine zum Atmen geöffnete Flasche Bordeaux St. Emilion neben zwei Kelchgläsern aus Kristall. Die Überreste ihrer Vorspeise, kleine Bällchen aus Leberpastete mit Salat und Toast auf Porzellantellern, waren bereits wieder in dem Picknickkorb verstaut, in dem noch eine Auswahl exotischer Käsesorten auf sie wartete. Michael war in Richtung des Speisewagens verschwunden, um das Hauptgericht kommen zu lassen. Margaret lehnte sich gegen das Fenster, dessen kühles Glas sich ausgesprochen angenehm auf ihrem vom Champagner erhitzten Gesicht anfühlte. Es schien eine Ewigkeit her zu sein, seit der Zug Peking verlassen hatte. Immer wieder hatten die Flutlichter des Bahnhofs den Himmel zwischen den neu errichteten Wolkenkratzern erhellt, während sie durch die Stadt in Richtung Südwesten dampften. Margaret war sich darüber im Klaren, dass sie umworben wurde, und kostete jede Minute aus. Es war ein schmeichelhaftes, aufregendes und leicht beängstigendes Gefühl. Jedenfalls gab es ihrem Selbstwertgefühl enormen Auftrieb. Ganz bewusst hatte sie alle Gedanken an Li in die hinterste Ecke ihres Geistes verbannt, wo er sie weder plagen noch verletzen konnte. Sie brauchte wirklich kein schlechtes Gewissen zu haben. Schließlich musste sie ihr Leben weiterleben. Und warum sollte sie diese Reise nicht zu einem Neuanfang nutzen? Die Tür des Abteils glitt auf, und Michael trat lächelnd ein.
»Erfolg auf der ganzen Linie«, sagte er und ließ sich wieder auf den Platz ihr gegenüber fallen. Eine hübsche junge Frau in blauer Uniform und weißer Bluse mit schwarzer Fliege folgte ihm auf den Fersen und brachte ein Tablett mit zwei ganzen Fischen auf ovalen Tellern herein. Von den dampfenden Fischen stieg ein Duft nach Soja, Ingwer und Zwiebeln auf, der das ganze Abteil erfüllte. Das Mädchen stellte das Tablett auf dem Tisch ab und lächelte Michael an. Alle Mädchen lächelten Michael an, das war Margaret schon aufgefallen. Selbst die sonst so griesgrämigen Schaffnerinnen, die ihre Fahrkarten und Reisepässe kontrolliert hatten. Während sie Margaret finster angestarrt hatten, hatte, sobald sie Michael anblickten, ein breites Lächeln ihre Gesichter erhellt und die Augen zum Funkeln gebracht. Mit seinem Charme und seinem Sinn für Humor hatte er leichtes Spiel bei den Frauen. Stets brachte er sie zum Lachen. Natürlich hatte Margaret keine Ahnung, was er eigentlich sagte, wenn er Chinesisch mit ihnen sprach, aber sie begannen unweigerlich schüchtern zu kichern und reagierten dadurch auf die Freude, die es ihm ganz offensichtlich bereitete, mit ihnen zu flirten. Sie wusste, dass sie sich glücklich schätzen sollte, mit jemandem zusammen zu sein, den andere Frauen so begehrenswert fanden. Was sie auch tat. Doch sie wusste zugleich, wie schnell so etwas zur Belastung werden konnte, dass dies ein idealer Nährboden für Unsicherheit und Eifersucht war. Michael drückte der jungen Frau ein paar Yuan in die Hand und machte irgendeine Bemerkung, die ihr ein Kichern entlockte, bevor sie aus dem Abteil in den Gang entschwebte und die Tür hinter sich zuzog. Dann zauberte er Fischmesser und Gabeln aus dem Picknickkorb hervor und reichte ein Gedeck an Margaret weiter, um schließlich ihr Glas mit dem hellroten St. Emilion zu füllen. »Ich nehme an, Puristen würden uns ermahnen, Weißwein zum Fisch zu trinken«, sagte er. »Aber bei aromatischen chinesischen Gerichten wie diesem hier neige ich zu der Ansicht, dass man etwas Robusteres braucht, das sich dagegen durchsetzen kann.« Er hob das Glas. »Auf eine gelungene Reise.« Margaret stieß mit ihrem Glas an seines. »Du würdest doch nicht versuchen, mich betrunken zu machen, nicht wahr?« Er grinste. »Wenn ich das nötig hätte«, erwiderte er, »würde die Sache gar keinen Spaß machen. Probier den Fisch. Meistens schmeckt er ausgezeichnet.« Sie nahm eine Gabel voll weißes, weiches Fleisch und knusprige
Haut und tunkte es in die Soße, bevor sie zaghaft den ersten Bissen probierte. Köstlich, würzig und süß breitete sich das Aroma in ihrem Mund aus. »Es schmeckt wunderbar«, bestätigte sie und spülte mit einem Schluck Wein nach. »Also… demzufolge fährst du die Strecke öfter?« »Ich habe die Reise schon mehrmals gemacht«, antwortete er und ergänzte nach einer kleinen Pause: »Aber heute zum ersten Mal in Gesellschaft.« »Und wie ist es so?«, wollte Margaret wissen. »Xi’an, meine ich?« »Ah.« Michaels Augen wurden groß. »Lass mich bloß nicht mit meinem Lieblingsthema anfangen, sonst sitzen wir bis morgen Früh hier.« »Wir sitzen sowieso bis morgen Früh hier«, erinnerte sie ihn und fügte dann mit einem Augenzwinkern hinzu: »Es sei denn, du hättest etwas anderes im Sinn.« Er sah ihr offen in die Augen und bannte ihren Blick für eine halbe Ewigkeit, wie ihr schien. Die Schmetterlinge, die vorhin in ihrem Brustkorb geflattert hatten, schwärmten nun in ihren Magen aus, und sie spürte die ersten zarten Anflüge eines erwachenden Verlangens. »Xi’an«, sagte er unvermittelt. »Hauptstadt der Provinz Shaanxi. Anfang und Endpunkt der Seidenstraße. Gegründet vor Christi Geburt und über mehr als elfhundert Jahre hinweg die Hauptstadt Chinas. Einst bekannt als Chang’an – Stadt des immer währenden Friedens – wurde sie vor mehr als sechshundert Jahren in Xi’an, Stadt des westlichen Friedens, umbenannt.« Seine Augen leuchteten. »Seit ich denken kann, Margaret, hatte ich immer nur einen Wunsch: die Hand auszustrecken, die Vergangenheit zu berühren, die Geschichte zu spüren und sie durch meine Finger rinnen zu lassen. Wie Wüstensand. In Xi’an kann ich all das an einem einzigen Ort tun.« Margaret sagte: »Na gut, aber haben die da auch einen McDonald’s?« Im ersten Moment befürchtete sie, seinen Sinn für Humor falsch eingeschätzt zu haben. Dann brach er in schallendes Lachen aus. »Weißt du, ich weiß zwar eine Menge über Xi’an, aber das könnte ich beim besten Willen nicht sagen. Jedenfalls gibt es dort ein Kentucky Fried Chicken, so viel kann ich dir verraten. Colonel Sanders und ich sind alte Kumpels.« »Freut mich, das zu hören.« Sie aß erneut einen Bissen von ihrem
Fisch. »Der Fisch ist übrigens wirklich ausgezeichnet. Denk bitte nicht, ich wüsste das nicht zu schätzen.« Sie nippte an ihrem Wein. »Was ist die Seidenstraße eigentlich?« »Das war eine Handelsroute«, erwiderte er, »die sich über tausende von Kilometern durch ein Gebiet zog, das zu den ödesten und unwirtlichsten der Erde gehört.« Er schenkte sich und ihr Wein nach. »Die Völker des Nahen Ostens und Zentralasiens sandten große Handelskarawanen aus, um die geheimnisumwitterte Seide aus China zu holen. Nur die Chinesen wussten damals, wie man sie gewinnt. Die Route florierte zu einer Zeit, da sowohl das Römische als auch das chinesische Reich in voller Blüte standen, wobei man in beiden Ländern nur eine vage Vorstellung von der Existenz des anderen hatte. Bevor die Seidenstraße sich endlich ganz bis Rom erstreckte, glaubten die Römer, die Chinesen würden die Seide von Bäumen ernten. Die lateinische Bezeichnung für Seide lautete Serica, darum nannte man die Menschen, die sie herstellten, Seres oder Chinesen. Die Seidenmenschen.« Mittlerweile hatte er seinen Fisch vollkommen vergessen. »Die Seidenstraße ist aber auch so bedeutsam, weil auf ihr alle möglichen Arten von Kultur, Literatur und Religion nach China gelangt sind. Der chinesische Buddhismus wurde durch alte Schriften aus Indien importiert und wurzelte in China zuerst in Xi’an. Zu ihrer Blütezeit hatte die Stadt über zwei Millionen Einwohner, darunter Fremde aus Arabien, der Mongolei, Indien und Malaysia. Morgen kannst du an den Gesichtern der Terrakottakrieger ablesen, wie sich das in den Gesichtszügen niedergeschlagen hat.« »Dein Fisch wird kalt.« Margaret nickte in Richtung seines Tellers. »Oh. Stimmt.« Er erwachte wie aus einem Traum, der ihn in weite Ferne geführt hatte, und machte sich erneut über seinen Fisch her. »Wahrscheinlich ist das der Grund dafür, dass du nicht verheiratet bist«, entfuhr es Margaret, woraufhin er die Stirn in Falten zog und sie konsterniert ansah. »Du sparst dir deine gesamte Leidenschaft für die Geschichte und Archäologie auf.« »Nicht die gesamte«, sagte er und schob sich einen weiteren Happen Fisch in den Mund. »Und wie kommst du überhaupt auf die Idee, ich wäre nicht verheiratet?« Ihr Gabel verharrte auf halbem Weg zum Mund, und das aufgespießte Stück Fisch plumpste auf den Teller zurück. Sie wurde
rot, denn mit dieser Antwort hatte sie nicht im Traum gerechnet. Er beugte sich vor und säuberte sorgsam mit seiner Serviette ihre Bluse, die einen Sojasaucenspritzer abbekommen hatte. »Das wird Flecken geben«, sagte er. Doch Margaret kümmerte sich gar nicht darum. »Du bist verheiratet?« »Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Wer sagt denn das?« »Du Mistkerl!« Sie grinste und errötete erneut, nur diesmal vor Verlegenheit. »Auch nicht gewesen?« »Nein. Allerdings habe ich fast zehn Jahre lang mit einer Frau zusammengelebt. Sie ist Schauspielerin.« »Kenne ich sie?« »Wohl kaum. Sie hatte ein paar kleinere Auftritte in Filmen und im Fernsehen, aber ihr Schwerpunkt war die Bühne. Ein paar Jahre war sie gut im Geschäft. Wir haben einander kaum noch gesehen. Erst als sie immer weniger Engagements bekam und wir mehr Zeit miteinander verbrachten, fing die Beziehung an zu bröckeln. Es stellte sich heraus, dass wir einander eigentlich nie wirklich kennen gelernt hatten. Die Beziehung war für beide… wie soll ich es ausdrücken?… sehr bequem gewesen. Aber irgendwann kommt der Zeitpunkt, an dem man mehr sucht.« »Und bist du kurz davor, fündig zu werden?« Er zuckte mit den Achseln. »Wer weiß? Ich bin noch immer auf der Suche.« Erneut sahen sie einander lange in die Augen, bevor sie den Blick wieder auf ihren Teller senkte und das letzte Fischfleisch von den Gräten löste. Er fragte: »Und was ist mit dir? Wie ich sehe, trägst du einen Ring.« Instinktiv berührte sie mit der rechten Hand den goldenen Reif an ihrem linken Ringfinger. Sie wusste nicht genau, warum sie den Ring noch trug. Vielleicht zum Schutz. Einer Frau mit Ehering gegenüber waren die Männer weniger aufdringlich. »Ich war sieben Jahre lang verheiratet. Er hieß übrigens auch Michael.« »Ach«, sagte er. Sie konnte sehen, wie diesmal seine Wangen Farbe bekamen. »Ich weiß nicht genau, ob ich mich geschmeichelt fühlen soll oder nicht.« »Du sollst deswegen überhaupt nichts fühlen. Du bist ganz anders als er.« »Geschieden?«
»Getrennt«, sagte sie. Und dann, nach einer langen Pause: »Durch den Tod.« Er war ganz offensichtlich geschockt. »O nein. Ich hatte ja keine Ahnung. Das tut mir Leid, Margaret.« »Das braucht dir nicht Leid zu tun. Mir tut es auch nicht Leid. Es ist vorbei. Und ich möchte lieber nicht darüber reden.« Schweigend beendeten sie das Mahl. Irgendwie hatte sich der Zauber verflüchtigt. Den Käse lehnte Margaret mit der Begründung ab, sie sei schon zu satt. Den Wein hingegen tranken sie aus, aus dem Fenster starrend und bemüht, etwas hinter ihren Spiegelbildern in der Scheibe auszumachen. Margaret war wütend, weil sie einmal mehr zugelassen hatte, dass der Mensch, der ihr schon so viel Schmerz zugefügt hatte, sie aus heiterem Himmel attackierte. Sie hätte gern gewusst, ob es ihr je gelingen würde, ihn endgültig aus ihrer Erinnerung zu verbannen, damit er ihr nicht immer dann, wenn sie am wenigsten damit rechnete, zusetzen konnte, indem er sein Elend von neuem über sie ergoss. Champagner und Wein taten ihre Wirkung. Sie wurde schläfrig und traurig, und als Michael ohne großes Aufhebens den Platz wechselte, um neben ihr zu sitzen, ließ sie es geschehen, dass er sie zärtlich an seine Schulter zog und seine Hand um ihre schloss. Ihr war wohlig und warm, sie roch sein Patschuli und spürte, wie der moschusartige Duft sie kaum merklich erregte. Sie fühlte seinen Atem auf der Stirn, hob den Kopf und blickte aus nächster Nähe in sein Gesicht. Irgendwie schien aufrichtiges Interesse aus seinen ernsten, tiefen Augen zu sprechen, und sie fühlte sich in seinen Armen geborgen und auf eine Art glücklich, wie sie es viel zu lang nicht mehr gewesen war. Er senkte den Kopf und küsste sie. Es war kein Kuss wilder Leidenschaft, sondern ein langer, unvergesslicher Kuss, der Fürsorge und Zärtlichkeit versprach. Sie reagierte unwillkürlich darauf und gab sich ganz seinem Geschmack und Geruch hin. Doch als sie mit der Hand durch sein schönes, glänzendes braunes Haar fuhr, erschrak sie plötzlich über die sexuelle Erregung, die irgendwo tief in ihrem Inneren aufkeimte. Und unvermittelt musste sie daran denken, wie Lis starker, fester Körper sich damals weit entfernt von hier in einem Eisenbahnwaggon an ihren geschmiegt hatte. Mit rotem Gesicht und ein wenig außer Atem wand sie sich aus der Umarmung. »Es tut mir Leid, Michael. Ich bin noch nicht bereit dafür.«
Er sah sie lange an, lächelte dann und strich ihr sanft das Haar aus dem Gesicht. »Schon in Ordnung, Margaret«, sagte er. »Wenn man eines lernt als Archäologe, dann Geduld zu haben. Bis man findet, wonach man gesucht hat, kann ein ganzes Leben oder sogar ein Jahrtausend vergehen.« Er schwieg einen Moment. »Bist du müde?« Sie nickte. Er stand auf, platzierte ihr Kopfkissen am Fensterende ihrer Koje und hob dann sanft Margarets Beine hoch, sodass sie sich bequem der Länge nach ausstrecken konnte. Sie spürte, wie er ganz langsam und behutsam ihre Schuhe auszog und seine Finger dabei über die nackte Haut ihrer Knöchel und Waden strichen. Wieder flammte Begierde in ihr auf. Doch es war zu spät. Der Moment war verflogen, und als er die Steppdecke über sie zog und sie rund um ihren Nacken feststeckte, fühlte sie sich nur noch unglaublich müde und geborgen. Dann strichen seine Lippen sanft über ihre. Eine Weile dämmerte sie irgendwo zwischen Wachen und Schlaf vor sich hin und bekam dabei noch mit, wie er die Reste ihres Nachtmahls beiseite räumte, sich auszog, in seine Koje kletterte und das Licht löschte. Ihr letzter Gedanke, bevor sie in die Dunkelheit des Schlafes hinüberglitt, galt der leise nagenden Befürchtung, sie könne möglicherweise zu schnarchen beginnen. Das Sonnenlicht stahl sich über die Gipfel der Berge im Osten und fiel in langen gelben Strahlen durch das Fenster in ihren Waggon, als Margaret verschlafen blinzelnd die Augen öffnete und bemerkte, dass Michael ihr gegenüber saß und sie ansah. »Guten Morgen«, sagte er. »In knapp einer Stunde sind wir da.« »O mein Gott.« Abrupt setzte sie sich auf, denn ihr letzter Gedanke vor dem Einschlafen war ihr in den Sinn gekommen. »Ich habe doch nicht geschnarcht, oder?« Er schüttelte lächelnd den Kopf. »Nicht sonderlich laut.« »Das ist nicht wahr!«, empörte sie sich. Sein Lächeln wurde zu einem Grinsen. »Ich muss es schließlich wissen. Aber mach dir keine Gedanken deswegen. Dein Geheimnis ist bei mir gut aufgehoben. Du weißt doch, ich würde niemals eine Dame kompromittieren. Möchtest du Kaffee?« »Das nenne ich einen abrupten Themenwechsel!« Sie grinste verlegen. »Ich dachte immer, in China trinkt man nur Tee.« »Stimmt. Aber ich bin auf Reisen immer für sämtliche Eventualitäten gerüstet.«
Er nahm eine Glaskanne, einen Kaffeefilter sowie Filterpapier aus seinem Picknickkoffer und baute alles auf dem Tisch auf. Anschließend öffnete er eine vakuumversiegelte Dose, und auf der Stelle stieg Margaret der Duft von frisch gemahlenem Kaffee in die Nase – ein Geruchserlebnis, das ihr ähnlich weit entfernt schien wie die Vereinigten Staaten selbst. Er löffelte eine großzügig bemessene Menge in den Filter, langte dann unter den Tisch und brachte eine große silberne Thermosflasche zum Vorschein. Als er den Verschluss öffnete, strömte Dampf aus. »Das Wasser kocht natürlich nicht mehr«, erklärte er. »Aber für ein, zwei annehmbare Tassen müsste es reichen.« Sie suchte ihren Kulturbeutel heraus und verschwand in den Waschraum, um den Schlaf aus ihren Augen zu waschen, die Zähne zu putzen und ein wenig Lippenstift aufzutragen. Dann begutachtete sie ihr Gesicht im Spiegel. Es war noch immer leicht verquollen vom Schlaf, und die Haut wirkte fahl, wodurch ihre Sommersprossen noch deutlicher hervorstachen als sonst. Hinter den Augen spürte sie den Ansatz eines Katers. Als sie an Michaels Berührung und Geschmack in der vergangenen Nacht dachte, überlief sie ein leichter Schauer. Sie schämte sich für ihr Zaudern und war ihm dankbar, weil er sie nicht bedrängt hatte. Und sie wurde das Gefühl nicht los, dass der vor ihr liegende Tag entscheidend für ihr weiteres Leben werden könnte. Als sie zurückkam, durchzog der Duft von frischem Kaffee das Abteil. »Es riecht einfach herrlich«, sagte sie. Der Geschmack und das Koffein taten ein Übriges, um den Tag schwungvoll beginnen zu lassen. Draußen erstreckten sich die Stoppeln der abgeernteten Kornfelder bis in weite Ferne, während auf den Ausläufern der rundherum aufragenden Berge sämtliche Konturen in Terrassenfelder verwandelt worden waren, eine Landschaft von Menschenhand geschaffen, der Natur abgerungen durch Blut, Schweiß und Tränen. Von einem Feuer aus getrockneten Maisstängeln stieg eine Rauchfahne in den morgendlichen Himmel, und ein von einem Bauern mit nacktem Oberkörper geführter Ochse zog einen Pflug durch den steinigen Untergrund. Hin und wieder fuhren sie an Ansammlungen großer, senkrecht aufgestellter Metallreifen vorbei, die augenscheinlich mit rosafarbenen und weißen Papierblumen geschmückt waren. »Was ist das denn?«, wollte Margaret wissen. »Die sehen ja aus wie riesige Kränze.«
»Das sind sie auch«, klärte Michael sie auf. »Kränze auf frischen Gräbern oder anlässlich eines Todestages.« »Ich dachte immer, in China würden alle Toten verbrannt«, sagte Margaret. »Eigentlich schon. Die chinesische Regierung steht auf dem Standpunkt, mit Gräbern würde unnötigerweise fruchtbares Land unbrauchbar gemacht. Wahrscheinlich haben sie sogar Recht. Aber alte Bräuche sind schwer auszurotten.« Dann erklärte er ihr plötzlich ganz nüchtern, dass sie sich nach der Ankunft in Xi’an keine Gedanken um ihr Gepäck zu machen brauchte. Seine Produktionsfirma habe einen Boten beauftragt, ihre Reisetaschen und den Picknickkorb abzuholen, und vor dem Bahnhof würde sie ein Wagen mit Fahrer erwarten. Zunächst würden sie in ihr Hotel fahren und dort einchecken, um anschließend zum Museum der Terrakottaarmee aufzubrechen, das sich etwa eine Autostunde außerhalb Xi’ans in der Nähe der Stadt Lintong befand. Dort würde sie eine Weile mit den Kriegern allein bleiben müssen, während er seine Besprechung mit dem Direktor des Museums habe, er werde aber dafür sorgen, dass sie in guten Händen sei. Allmählich wichen die Felder und sanften Hügel den industriellen Ausläufern jener wuchernden Metropole, als die Xi’an sich erwies, und keine Viertelstunde später war ihr Zug auch schon im Bahnhof eingefahren. Durch das Geremple und Geschubse der hin und her hastenden Menschen hindurch, vorbei an den finsteren Blicken der Fahrkartenkontrolleure und verfolgt von dem Krakeelen der fliegenden Händler, die Landkarten und Reiseführer für Touristen feilboten, bahnten sie sich ihren Weg durch das Chaos in der Bahnhofshalle bis in den strahlenden Sonnenschein des morgendlichen Xi’an, wo eine chaotische Menge von Reisenden, Fahrrädern und Fahrzeugen in die Stadt drängelte. Aus heiterem Himmel tauchte die Botin, die ihre Sachen abgeholt hatte, mit einer Gepäckkarre auf. Sie mochte vielleicht sechzehn Jahre alt sein und wirkte kaum kräftig genug, um ihre Taschen hochzuheben. Trotzdem hatte sie alles ohne Hilfe bewerkstelligt. »Wagen neben Tor«, sagte sie. »Sie mir folgen.« Gleich darauf zwängten sie sich durch enge Sperren hinaus auf einen mit Bussen voll gestellten Platz, der an der einen Seite von Hochhäusern begrenzt wurde, an der anderen hingegen von einer uralten, zinnenbewehrten Stadtmauer, die zwölf Meter hoch war und zwölf
Kilometer rund um den alten Stadtkern verlief. Eine große schwarze Limousine stand mit schnurrendem Motor vor dem Tor. »Willkommen in Xi’an«, sagte Michael, und Margaret spürte, wie sie ein leichtes, gespanntes Prickeln überlief.
II Nachdenklich schaute Li dabei zu, wie Xinxin die Brötchen mit Lotussamen verschlang, die er ihr zum Frühstück gedämpft hatte. Allem Anschein nach hatte sie bereits Geschmack an Tee gefunden, denn sie spülte die klebrig süßen Brote in großen Schlucken mit heißem grünem Tee aus einer Drachentasse hinunter. Die Brote waren eine echte Leckerei und ließen sie vorübergehend vergessen, dass ihre Mutter weggegangen war und sie mit diesem Fremden, der ihr Onkel war, in einem fremden Haus allein gelassen hatte. Am Abend zuvor hatte er sie lang zu beruhigen versucht, bis sie schließlich irgendwann eingeschlafen war. Xiao Ling hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, Xinxin ihre Abwesenheit mit einer ausgedachten Geschichte zu erklären. Stattdessen hatte sie dem Kind einfach befohlen, in ihrem Zimmer auf den Onkel zu warten. Er würde bald kommen. Beinahe drei Stunden war Xinxin mutterseelenallein gewesen, bis Li aufgetaucht war. Die zweite Nacht in Folge hatte Li kaum geschlafen, und heute Morgen hatte er sich eine Ausrede für Xinxin zurechtlegen müssen, ihre Mutter sei krank und habe unerwartet in eine weit entfernte Spezialklinik fahren müssen. Sie, Xinxin, solle so lange bei ihrem Onkel bleiben, bis die Mutter zurückkäme. Damit hatte er einen neuerlichen Tränenausbruch ausgelöst, und Xinxin hatte schluchzend immer wieder erklärt, sie wolle nach Hause. Li war zu dem Schluss gekommen, dass sie in der Tat nach Hause gehörte. Schließlich war das Ganze das Problem ihres Vaters, nicht seines. Er würde ihm schreiben, die Umstände darlegen und ihn bitten, schnellstmöglich herzukommen und seine Tochter abzuholen. Allerdings würde das einige Zeit dauern. Eine Woche oder sogar länger. Er hatte nicht die leiseste Vorstellung, was er mit dem Kind in der Zwischenzeit anfangen sollte. Während der langen, schlaflosen Stunden war er
lediglich zu dem Schluss gekommen, dass er Mei Yuans Rat suchen würde. Wobei sich nur das Problem stellte, dass er Xinxin mitnehmen musste. Allerdings erwartete ihn ein weiteres, viel größeres Problem. Während er nordwärts radelte, saß Xinxin im Damensitz auf dem Gepäckträger über seinem Hinterrad und betrachtete staunend die Menschen und den Verkehr in dieser riesigen, scheinbar nicht enden wollenden Stadt. Mit weit aufgerissenen Augen beobachtete sie die Kinder auf dem Weg zur Schule, die jungen Männer, die sich mit ihren dreirädrigen Kohlekarren in die Hutongs mühten, und die unfassbaren Mengen von Fußgängern, Fahrradfahrern und ein- und aussteigenden Buspassagieren. Li trug schwer an der ungewohnten Last der Verantwortung für das Kind auf seinem Rad, und als er schließlich neben der Jian-Bing-Bude an der Ecke DongzhimenneiStraße anhielt, sank ihm das Herz in die Hose, denn als sich die Frau an der Herdplatte umdrehte, um ihn zu begrüßen, blickte er in das Gesicht einer Fremden. »Wo ist Mei Yuan?«, fragte er beunruhigt. »Sie musste zur Polizei, um ihre Lizenz erneuern zu lassen. Darum hat sie mich gebeten, heute Morgen für sie einzuspringen«, antwortete die Frau. »Wann kommt sie wieder?« »Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich erst in ein paar Stunden.« Sie verstummte kurz. »Wer sind Sie?« »Ich heiße Li Yan«, sagte er, und ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. »Ach, Sie sind Li Yan. Sie hat mir alles über Sie erzählt. Ich bin Jiang Shimei, ihre Cousine.« Sie streckte ihm die Hand hin. »Sie haben sich um Mei Yuan gekümmert, als sie krank war.« Sie sah Xinxin an. »Ist das Ihre Tochter?« »Nein.« Li war peinlich berührt. »Meine Nichte.« »Sie ist sehr schön.« Jiang Shimei bückte sich, um Xinxin sanft die Wange zu streicheln. »Wie heißt du denn, meine Kleine?« »Xinxin.« »Xinxin? Das ist aber ein hübscher Name.« »Kannst du mir Zöpfe machen?«, fragte Xinxin unvermittelt und wühlte in den Taschen ihrer kleinen grünen Schürze, bis sie zwei rosafarbene Gummibänder mit Cartoonfuchsköpfen aus Plastik zum Vorschein brachte. »Mein Onkel Yan ist dazu nicht zu gebrauchen. Er sagt, er weiß nicht, wie das geht.«
»Natürlich«, antwortete Jiang Shimei, und Li trat verlegen von einem Fuß auf den anderen, während sie Xinxin in Windeseile zwei Zöpfchen an den Kopf zauberte. »So«, sagte sie schließlich. »Perfekt.« Und Xinxins kleines rundes Gesicht leuchtete erfreut auf. Sie sah in der Tat perfekt aus, dachte Li, mit der roten Kordel auf ihrer weißen Bluse, die farblich genau auf die rote Strumpfhose unter ihrer grünen Schürze abgestimmt war, dem roten Rucksack auf dem Rücken und den offenen weißen Sandalen an ihren kleinen Füßchen. »Richten Sie Mei Yuan aus, dass ich ihren Rat brauche«, bat Li. »Und dass ich später noch mal vorbeikomme.« Er hob Xinxin hinter sich auf das Fahrrad. »Möchten Sie denn keinen Jian Bing?« »Dafür habe ich heute keine Zeit.« Damit fuhr er los, quer über die Straße und mitten durch den Strom zornig hupender Autos. Er radelte die sanfte Steigung hinauf, vorbei an Obst- und Gemüseständen zu seiner Linken sowie einem Friseurladen, aus dessen offener Tür der Geruch von nass geschnittenem Haar und Duftöl wehte. Unter den Bäumen am Haupteingang der Sektion Eins stellte er das Rad ab, dann nahm er Xinxin bei der Hand und schleuste sie mit größter Vorsicht durch einen Seiteneingang ins Gebäude und die drei Treppen ins oberste Stockwerk hinauf. Das ungewöhnliche Paar zog die neugierigen Blicke der Schreibkräfte und Polizisten auf sich. Doch abgesehen von einem grüßenden Nicken gab niemand irgendeinen Kommentar ab. Vor der Tür zum Büro der Kommissare zögerte Li kurz, nahm seinen ganzen Mut zusammen und trat ein, während die kleine Xinxin mit großen Augen neben ihm hertrottete, als ob es das Natürlichste auf der Welt wäre. Zhao legte gerade den Telefonhörer auf die Gabel. Er drehte sich um und sah Li. »Chef, unten wartet schon ein Wagen auf uns, der uns zur Mittelschule bringen…« Seine Stimme verebbte unwillkürlich, als er Xinxin bemerkte. Noch mehr Köpfe wandten sich um. Das Stimmengewirr erstarb. Wu schob sich die Sonnenbrille in die Stirn. »Ähem… gibt es da etwas, was Sie uns verschwiegen haben, Chef?« Li war entschlossen, sich nicht unterkriegen zu lassen. »Leute, das ist meine Nichte Xinxin. Ihre Mutter ist krank, also habe ich Xinxin versprochen, dass ihr sie heute Vormittag unterhalten werdet, während ich meine Vernehmungen durchführe.« Einen Moment herrschte verblüfftes Schweigen, ehe Qian, dessen eigene kleine Tochter schon fast zehn Jahre alt war, die Initiative
ergriff. »Hallo, Xinxin«, sagte er und kam hinter seinem Schreibtisch hervor. »Das sind aber hübsche Zöpfe. Hat die dein Onkel Yan für dich gemacht?« Xinxin zischte missbilligend durch die Zähne und verdrehte die Augen, als sei er verrückt geworden. »Natürlich nicht«, antwortete sie. »Onkel Yan ist zu nichts zu gebrauchen.« Was allgemeines Gelächter im Raum hervorrief. Mit frisch gestärktem Selbstbewusstsein fuhr die Kleine fort: »Eine Frau auf der Straße hat mir die Zöpfe gemacht.« »O ja«, stimmte Wu ihr zu, »wir finden auch, dass dein Onkel Yan praktisch zu nichts zu gebrauchen ist, nicht wahr, Jungs?« Damit erntete Wu allgemeine Zustimmung und einen bösen Blick von Li. Qian hob Xinxin hoch, setzte sie auf den Rand seines Schreibtischs und schaute in ihren Rucksack. »Was hast du denn da drin?« Er zog die Bücher heraus, die Mei Yuan ihr vorgestern Abend dagelassen hatte, und ein zerlegtes Puzzle in einer Pappschachtel. »Das Puzzle geht babyleicht«, erklärte Xinxin. »Soll ich dir zeigen, wie man es macht?« »Na klar«, sagte Qian. Immer mehr Kommissare begannen sich um die beiden zu scharen, der uralten, abgöttischen Verehrung der Chinesen für ihre Kinder folgend. »Hat Onkel Yan es denn schon mal versucht?« Xinxins Lachen wirkte so ansteckend, dass sämtliche Kommissare mitlachen mussten. »Bist du dumm!«, rief sie aus. »Wie soll jemand, der nicht mal Zöpfe machen kann, ein Puzzle zusammenkriegen?« Wieder freuten sich alle auf Lis Kosten. »Li!« Die Stimme klang scharf und herrisch und brachte den Raum sofort zum Verstummen. Li drehte sich um und sah den Sektionsvorsteher Chen Anming auf dem Korridor stehen. Mit einer Kopfbewegung deutete Chen auf Lis Büro. »Auf ein Wort.« Dann ging er hinein. Li schnitt seinen Kollegen eine Grimasse und folgte ihm. Chen wandte sich um. »Schließen Sie die Tür«, wies er Li an. »Was zum Teufel geht da draußen vor, Li?« Li zuckte hilflos mit den Achseln. »Ich habe da ein Problem, Chef.« Und er erklärte ihm, wie seine Schwester ihm Xinxin buchstäblich auf die Türschwelle gelegt hatte. Dass es eine Woche oder länger dauern würde, bis er ihrem Vater geschrieben hätte und dieser sie holen käme. Und dass er im Moment einfach nicht wisse,
was er mit ihr anfangen solle. »Schön und gut«, erwiderte Chen, »aber Sie können das Büro deswegen nicht in eine Kinderkrippe verwandeln. Um Himmels willen, Li, da draußen läuft ein Serienmörder herum!« Li war mit seinem Latein am Ende. »Ich weiß«, erwiderte er matt. Chen starrte ihn einen Augenblick scharf an, doch dann zeigte er durch ein Kopfschütteln zumindest ein klein wenig Verständnis für Lis Zwangslage. »Wo lebt der Vater?« »In der Nähe von Zigong in der Provinz Sichuan.« »Ich werde den dortigen Polizeichef anrufen und ihn beauftragen, mit Ihrem Schwager Kontakt aufzunehmen. Schon heute Abend könnte er in einem Zug nach Peking sitzen.« Li nickte beschämt. »Vielen Dank, Chef.« Im angrenzenden Büro brach Gelächter aus, und Li grinste verlegen. »Die Kollegen scheinen sie schon ins Herz geschlossen zu haben.« Er schwieg einen Moment. »Sie haben selbst Kinder, Chef, nicht wahr?« Chen schnaubte vernehmlich. »Es ist schon einige Zeit her, dass sie in diesem Alter waren. Meine Tochter arbeitet inzwischen in einem Verlag, und mein Sohn unterrichtet Quantenphysik.« Die Tür zu Lis Büro ging auf, Xinxin stolzierte herein und streckte ihnen eines von Mei Yuans Büchern entgegen. »Liest du mir das vor, Onkel Yan?« Li blickte über sie hinweg in die gespannten Gesichter seiner Untergebenen und wusste sofort, dass man Xinxin angestiftet hatte. »Das geht nicht, Süße«, sagte er zu ihr. »Ich muss gleich los und mit ein paar Leuten sprechen. Ich bin schon jetzt zu spät dran.« Xinxin wandte sich an Chen. »Liest du es mir vor, Onkel Anming?« Chen wurde rot und fixierte die Kommissare im Raum gegenüber mit zusammengekniffenen Augen, weil ihm aufging, dass man auch ihn auf den Arm genommen hatte. Er sah kurz zu Li hinüber, der es irgendwie fertig brachte, keine Miene zu verziehen. »Ich habe viel zu tun, meine Kleine«, sagte er zu Xinxin. Die rümpfte die Nase. »Was ist das für ein gelber Fleck an deinem Kopf?«, fragte sie mit kritischem Blick, woraufhin aus dem Büro der Kommissare unterdrücktes Gelächter zu hören war. Chen errötete noch mehr. »Das kommt davon, wenn man zu viel raucht«, erwiderte er.
»Oh.« Xinxin machte ein langes Gesicht und verkündete ernst: »Rauchen ist gaanz schlecht für dich.« »Ja, ich weiß«, seufzte Chen. Xinxin lachte. »Gut. Dann hörst du jetzt auf zu rauchen und liest mir vor, okay?« Sie nahm ihn völlig unbefangen an der Hand, und er lief bis unter die Haarspitzen knallrot an. Li beeilte sich zu sagen: »Du passt gut auf Onkel Anming auf, bis ich zurückkomme, Xinxin.« Er blickte rasch zu Chen hinüber, wagte aber nicht, ihm in die Augen zu sehen. »Entschuldigen Sie, Chef. Ich muss schleunigst los. Bin schon zu spät dran.« Er wandte sich um und rannte hinaus, ehe Chen widersprechen konnte. Unterwegs sammelte er Zhao ein, indem er ihn am Arm packte und zur Tür hinausbugsierte. Durch den ganzen Korridor bis ins Treppenhaus unterdrückten sie mühsam das Lachen, doch dann prusteten sie los, dass das Haus wackelte. »Oh, verdammt, Zhao«, sagte Li, sich die Tränen aus den Augenwinkeln wischend. »Ich glaube, wenn wir wiederkommen, kriege ich mächtig Ärger.« Die Mittelschule Nr. 29 verbarg sich hinter einem schlichten, weiß gefliesten Eingang am äußersten Ende eines Busparkplatzes abseits des westlichen Qianmen-Boulevards, nur einen Steinwurf entfernt vom südwestlichsten Zipfel des Tiananmen-Platzes. Über den schweren grünen Metalltoren war ein langes Brett angebracht, auf dem ein Foto des ursprünglichen, kunstvoll gearbeiteten Eingangstors aus Stein zu sehen war. Zhao stellte den Jeep davor ab, und der Hausmeister eilte aus seinem gemauerten Torhäuschen heraus, um sie einzulassen. Sobald sich die Metalltore hinter ihnen schlossen, betraten sie eine Oase ungewöhnlicher Ruhe mitten in der Innenstadt. Links wie rechts erstreckten sich im Schatten penibel gestutzter Bäume die zweistöckigen Ziegelbauten mit den Klassenräumen. Jenseits eines Durchgangs, der von schwarzen Brettern und üppigen Topfpflanzen gesäumt war, schien die Sonne auf einen von Bäumen umstandenen Innenhof mit mehreren Basketball- und Federballplätzen. Rundherum befanden sich weitere Klassenzimmer. Der Verkehrslärm war hier nur noch als entferntes Grollen zu hören. Li sah sich verwundert um. »Ich wusste gar nicht, dass es hier so was gibt.«
»Früher war das eine Universität«, erklärte der Hausmeister. Zhao runzelte die Stirn. »Wie darf ich das verstehen?« »Die Universität von China.« Der Hausmeister nickte grinsend. Insgeheim vermutete Li, dass er ziemlich einfältig war. »Sie wurde 1912 von Sun Yat-Sen gegründet. Wir haben eine Ausstellung darüber. Überzeugen Sie sich selbst.« Er führte sie in ein Klassenzimmer, das als Ausstellungsraum diente. An sämtlichen Wänden waren blaue Tafeln mit Fotos angebracht, auf denen der Schulgründer und Lehrer, aber auch andere Dinge von historischem Interesse gezeigt wurden. Li hatte den Hausmeister wohl falsch eingeschätzt. Dies war in der Tat die Universität von China gewesen, und sie war von Sun Yat-Sen gegründet worden, dem Präsidenten der ersten chinesischen Republik. Von allen Wänden starrten Antlitze aus der Geschichte auf sie herab: der kahl werdende Sun Yat-Sen mit seinem exakt getrimmten silbergrauen Schnurrbart; der kurz geschorene Li Da Zhao mit seinem an Stalin erinnernden Backenbart, der als Erster die Werke von Karl Marx ins Chinesische übersetzt und hier in den Zwanzigerjahren Volkswirtschaft gelehrt hatte, bis Chiang Kai-Shek ihn im Jahre 1928 aufhängen ließ; der Schuldirektor ehrenhalber, General Zhang Xüe Liang, der Chiang Kai-Shek während des berüchtigten Xi’an-Zwischenfalls im Jahre 1936 an die Kommunisten verraten hatte. In einer Vitrine befand sich die Glocke, die zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts die ersten Studenten in die Unterrichtsräume gerufen hatte. Sie hatte an einem Baum gehangen, der noch heute auf dem viereckigen Platz draußen Wache hielt. Die ebenfalls an einer Wandtafel angebrachte Schulchronik verriet, dass die Universität von China nach der Machtübernahme durch die Kommunisten im Jahre 1949 in die »Mittelschule des neuen Aufbruchs« umgewandelt und drei Jahre später, schon weitaus nüchterner, in »Mittelschule Nr. 29« umgetauft worden war. Ein junger Mann in Jeans und dunklem Troyer-Sweatshirt über einem grauen T-Shirt stürmte eilig und ein wenig außer Atem in den Raum. »Herzlich willkommen«, begrüßte er sie und schüttelte ihre Hände. »Der Direktor hat mich gebeten, mich heute Morgen um Sie zu kümmern. Ich muss erst am Nachmittag wieder unterrichten.« »Sie sind Lehrer?« Li war erstaunt. Zu seiner Zeit hatten sich die Lehrer noch anders gekleidet. »Gewiss«, sagte er. »Ich bin Lehrer Huang.«
»Diese Schule ist ja ziemlich geschichtsträchtig«, stellte Li fest. »Allerdings. Wir sind ausgesprochen stolz auf unsere Vergangenheit«, erklärte Huang. »Aber inzwischen sind wir eine ganz normale Mittelschule. Wir haben sechshundert Schüler und hundertfünfzig Lehrer. Folgen Sie mir. Sie können Ihre Vernehmungen in meinem Klassenzimmer durchführen.« In Huangs Klassenzimmer gab es vier Reihen mit je sechs Bänken und an beiden Stirnseiten eine lange Schultafel. Zu beiden Seiten wurde der Raum durch hohe Fenster erhellt. Li hob einen Stuhl von einer Bank. »Findet hier heute Morgen kein Unterricht statt?« »Doch, natürlich«, sagte Huang. »Es sind viele Klassen im Haus. Sie werden das schon merken, wenn die Schüler in der Pause einen Höllenlärm veranstalten.« Er grinste und fuhr dann fort: »Nebenan warten ein alter Lehrer, der früher hier unterrichtet hat, Lao Sun Lian, und einige ehemalige Schüler. Wenn Sie die Leute sprechen wollen, brauchen Sie mir nur Bescheid zu sagen.« »Schicken Sie mir den Lehrer Sun herein«, sagte Li. Und als der Lehrer Huang schon zur Tür unterwegs war: »Ach übrigens, was ist eigentlich mit dem früheren Schultor passiert?« »Es wurde während der Kulturrevolution von Rotgardisten zerstört«, erklärte Huang. »Denselben Rotgardisten, die auch die Schulakten vernichtet haben?« Huang zuckte mit den Achseln. »Das weiß ich nicht. Möglich wäre es. Aber ich bin erst achtundzwanzig. Viel zu jung, um mich daran erinnern zu können.« Dann ging er hinaus. Li und Zhao schoben drei Bänke zusammen und stellten auf der einen Seite zwei Stühle für sich selbst und auf der anderen Seite einen einzelnen hin. Der Geruch im Raum, eine Mischung aus altem Essen und Kreidepulver, erinnerte Li an seine eigene Schulzeit. Das Klassenzimmer hatte die gleichen hellgrünen und cremefarbenen Wände und atmete den gleichen Geist von Bürokratie, Uniformität und Langeweile. Nichts, so schien es, hatte sich in all den Jahren groß verändert. Es war heiß im Raum. Li spazierte zum nächstbesten Fenster und riss es sperrangelweit auf. Dann blickte er hinaus auf den Schulhof. Alle hatten sie hier gespielt, alle vier Opfer. Sie hatten die gleichen Erfahrungen gemacht, hatten die gleichen Zweifel und die gleiche Schmach durchlitten und die gleichen Hoffnungen, den gleichen
Ehrgeiz gehabt. Irgendwo an diesem Ort, in den Klassenzimmern oder auf dem Schulhof, war vor über dreißig Jahren etwas geschehen, das die Saat jener Gewalt ausgestreut hatte, deren Ernte jemand nun, so viele Jahre später, mit dem Bronzeschwert einfahren wollte. Irgendwo hier, in dieser Wiege des modernen chinesischen Universitätswesens, war das Motiv für die Morde zu finden. Li war sich da ganz sicher. Der Lehrer Sun war neunundsiebzig Jahre alt und hatte sein dünnes eisengraues Haar straff über die von braunen Altersflecken gesprenkelte Kopfhaut gekämmt. Er trug einen alten blauen MaoAnzug aus Baumwolle. Nicht weil er damit einer politischen Gesinnung Ausdruck geben wolle, versicherte er, er habe sich lediglich an das Tragen solcher Anzüge gewöhnt, da sie sich kühl auf der Haut anfühlten und bequem seien. Er sah nicht so aus, als sei ihm unter der blauen Baumwolle noch viel Fleisch auf den Knochen geblieben. Im Gehen stützte er sich auf einen Stock und zog an dem Stummel einer selbst gedrehten Zigarette. Während er sich hinter der Bank ihnen gegenüber niederließ, sah er Li und Zhao nachdenklich an. Das Feuer in seinen alten dunklen Augen war noch nicht erloschen. »Das hier erinnert mich«, sagte er, »an die schlimme alte Zeit.« Damit trat er seinen Zigarettenstummel auf dem Fußboden aus. »Was für eine Zeit?«, fragte Li. »Als sie mich in Klassenzimmer wie dieses gebracht haben und ich mich hinsetzen musste, um mir stundenlang Müll erzählen zu lassen. Und wo dann von mir erwartet wurde, dass ich ihnen ebenfalls Müll erzähle.« »Während der Kulturrevolution?«, hakte Li nach. Der alte Mann nickte. »Das war eine schlimme Zeit für Sie?« Der alte Mann nickte erneut. »Nicht so schlimm wie für manch anderen. Aber schlimm genug. Kampfsitzungen, so wurde das damals genannt.« Er lachte leise in sich hinein. »Sie kämpften darum, dass ich gestehe, und ich kämpfte darum, es nicht zu tun.« »Was hätten Sie denn gestehen sollen?«, wollte Zhao wissen. »Was auch immer denen als Anschuldigung gerade einfiel. Wenn ich nicht gestand, wurde ich bezichtigt, arrogant und ein aktiver Konterrevolutionär zu sein. Falls ich gestand, wurde ich an den Pranger gestellt und beschimpft. Wie damals bei den Frauen, die im Mittelalter in Europa als Hexen verdächtigt wurden. Sie wurden in den Fluss geworfen. Wenn sie überlebten, waren sie Hexen, wenn sie
ersoffen, galt ihre Unschuld als erwiesen. Wie man es auch wendete, sie hatten keine Chance.« »Aber wieso sollten die Lehrer damals denn angeklagt werden?« Zhao war neugierig. Li blickte ihn verwundert an, doch dann wurde ihm klar, dass die Kulturrevolution längst vorbei gewesen war, als Zhao in die Schule gekommen war, und dass danach viele Jahre ins Land gegangen waren, bevor die Menschen über die Ereignisse zu sprechen begannen. So kam es, dass eine ganze Generation praktisch keine Ahnung von den Geschehnissen während dieser tragischen zwölf Jahre hatte. Der alte Mann hingegen lächelte traurig über Zhaos Unwissenheit. »Wären Sie dabei gewesen, hätten Sie es an sämtlichen Wänden lesen können«, erklärte er ihm. »Die Roten Garden kamen hierher und überklebten sämtliche Mauern auf dem Schulhof mit Da-zi-bao-Plakaten, großen, handgeschriebenen Propagandaplakaten, auf denen wir alle als Revisionisten verunglimpft wurden.« Er schüttelte den Kopf. »Natürlich waren es gewöhnlich nicht die Schlauesten, die diese Angriffe anführten, und sie schrieben ihre Parolen einfach aus den Zeitungen ab. Scheinbar waren wir Lehrer immer noch gefährliche Feinde, obwohl wir weder Bomben noch Messer in Händen hielten. Wir impften unseren Schülern reaktionäre Ideen ein. Wir lehrten sie, dass gelehrte Menschen den Arbeitern überlegen seien, und wir förderten den persönlichen Ehrgeiz, indem wir die Schüler um die besten Noten wetteifern ließen. Man konnte fast meinen, die Behörden glaubten, dass wir, indem wir die Fähigkeiten und Hoffnungen unserer Schüler zu fördern versuchten, gute junge Sozialisten in korrupte Revisionisten verwandelten. In Wahrheit hatten sie von einem unwissenden Bauern einfach weniger zu befürchten als von einem scharfsinnigen Denker. Folgerichtig hielten die politischen Führer die unsichtbaren Schwerter der Lehrer für weitaus gefährlicher als irgendwelche echten Schwerter oder Schusswaffen.« Li lehnte sich zurück und zündete sich eine Zigarette an. »Sie wissen, warum wir hier sind, Lehrer Sun?« Der Lehrer Sun zuckte mit den Achseln. »Es gibt Gerüchte.« »Vier Ihrer ehemaligen Schüler«, erklärte Li, »sind ermordet worden.« Sun nickte. »Ich würde gerne wissen, ob Sie sich an sie erinnern können.« Li rasselte die Namen herunter. Noch ehe er zum Ende gekommen war, zog der Alte eine Augenbraue hoch und schüttelte dann den Kopf. »Sehr traurig«,
seufzte er. »An Yuan Tao kann ich mich noch gut erinnern. Er war ein ausgezeichneter Schüler. Mit Abstand der Beste seines Jahrgangs. Ein netter Junge, schüchtern und bescheiden.« Ein Licht flackerte in seinen Augen, als er sich mit so offensichtlicher Zuneigung an Yuan erinnerte. Dann verdüsterte sich sein Gesicht, und der Glanz in seinen dunklen Augen verblasste. »Die anderen…«, fuhr er fort, »…an die kann ich mich nur aus einem einzigen Grund erinnern. Dumme Buben, mit Ausnahme von Yue Shi. Er hat es bis zum Professor der Archäologie gebracht, wenn ich mich nicht irre. Aufgeweckter als die beiden anderen, aber ein rüpelhafter Junge und leicht verführbar.« Irgendeine unangenehme Erinnerung ließ ihn schaudern. Dann blickte er Li offen ins Gesicht. »Alle zusammen waren bei einer Einheit der Roten Garden, die sich Brigade ›Revolution bis zum Endsieg‹ nannte. Eine ultralinke Splittergruppe. Einfältige, brutale Burschen, manipuliert von weitaus schlaueren und wesentlich einflussreicheren Leuten.« Li spürte, wie sich sein Puls beschleunigte. Das war die Verbindung, nach der sie gesucht hatten. Rote Garden! Alle waren Rotgardisten gewesen! Er beugte sich vor. »Waren das die Schüler, die das Schultor eingerissen und die Schulakten vernichtet haben?« Sun nickte. »Damals waren sie schon von der Schule abgegangen. Die meisten waren arbeitslos und nutzten die Kulturrevolution als Vorwand, um nicht arbeiten zu müssen. Sie kamen nur zurück, um Rache an ihren Lehrern zu nehmen. Erst durchforsteten sie die Schulakten, um jeden Beweis ihrer armseligen schulischen Leistungen zu vernichten. Anschließend wurden sämtliche schulischen Berichte, in denen wir ihre Faulheit oder Disziplinlosigkeit kritisiert hatten, gegen uns verwendet. In ihren Augen waren wir Lehrer schuld an ihrem Versagen, nicht sie selbst. Wenn sie faul oder dumm oder unfähig waren oder sie sich schlecht betrugen, konnte man ihnen nicht die Schuld dafür geben. Schuld waren ganz eindeutig wir. Sie zwangen uns, Eselskappen zu tragen, hängten uns Schilder um und ließen uns auf dem Schulhof im Kreis marschieren. Auf mein Schild hatten sie Reaktionäres Ungeheuer Sun Lian gekritzelt. Wir mussten Gongs schlagen und immer wieder laut schreien: ›Ich bin ein reaktionärer Lehrer. Ich bin ein reaktionäres Ungeheuer‹. Dann haben sie uns immer wieder getreten und mit ihren Gürteln ausgepeitscht. Auf der Suche nach schwarzem Material haben sie mein Klassenzimmer in Schutt und Asche gelegt.«
»Schwarzes Material?«, fragte Zhao verwirrt. »Was ist denn das?« Li warf ihm einen Blick zu und stellte fest, dass Zhao kreidebleich geworden war, so entsetzt war er über das, was er da hörte. Sun klärte ihn auf. »Die Farbe Rot stand für die kommunistische Partei. Entsprechend symbolisierte die Kontrastfarbe alles und jeden, der sich im Widerspruch zur Partei befand. Der große Vorsitzende Mao hatte verkündet, dass die Fünf Schwarzen Kategorien die größten Volksfeinde umfassen würden – Landbesitzer, reiche Bauern, Konterrevolutionäre, Kriminelle und Rechte. Alles, was aus dem Ausland stammte, war schwarz. Ich war Geschichtslehrer, also besaß ich eine ganze Reihe ausländischer Bücher und Zeitschriften und natürlich viele Bücher über die Weltgeschichte. Die Brigade ›Revolution bis zum Endsieg‹ erklärte alles zu schwarzem Material, und ich wurde gezwungen, alle meine Bücher und Unterlagen auf den Schulhof zu schleppen, wo ich sie samt und sonders verbrennen musste.« Li blickte aus dem Fenster und sah ein paar Schüler Federball spielen. Er versuchte sich vorzustellen, was sich damals dort unten abgespielt hatte. Rotgesichtige Halbstarke, die ihre Lehrer anschrien, misshandelten und schlugen; Lehrer mit hohen, spitzen Eselskappen, Gongs schlagend und sich selbst anklagend; die Rauchschwaden der lodernden Bücher, die dort über das Spielfeld wehten, wo jetzt zwei Schüler einen Federball hin und her sausen ließen. Und er musste daran denken, wie sein eigener Grundschullehrer im Speisesaal totgeschlagen worden war. Zu seiner Überraschung bemerkte er, dass Sun leise vor sich hin lachte. »Es fing an zu regnen«, fuhr er fort. »Und zwar ziemlich heftig. Meine brennenden Bücher drohten auszugehen. Die Brigade ›Revolution bis zum Endsieg‹ wurde unruhig, und einer von ihnen befahl einem Genossen, ins Haus zu gehen und meinen Regenschirm aus dem Klassenzimmer zu holen. Yang-San nannte er ihn. Daraufhin warf ihm ein Dritter vor, die vier Alten weiterzuverbreiten. Der Bursche verstand das nicht. Und der Dritte, ich nehme an, es war ihr Anführer – ein großer, ungeschlachter Bursche, den alle Vögelchen nannten – erklärte ihm, dass Yang ausländisch bedeute und der Ausdruck Yang-San folglich für einen ausländischen Regenschirm stehen würde. Er behauptete, dass Regenschirme vor der Befreiung so geheißen hätten, weil sie damals aus dem Ausland importiert worden seien. Er sagte weiter, dass man
sie jetzt, wo sie in China hergestellt würden, nicht länger als YangSan bezeichnen dürfe, und jeder, der das tue, sei ein Xenophiler.« Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Ein Ausdruck, den er zweifellos aus der Zeitung übernommen hatte. Wie auch immer, ich fing laut an zu lachen und sagte ihm, dass er nur ein dummer Junge sei, der in der Schule nicht gut genug aufgepasst hätte. Sein Gesicht lief vor Zorn und Scham purpur an. Hauptsächlich, erklärte ich ihm, bedeute Yang nicht ausländisch, sondern Sonne. Ein Yang-San sei also ein Sonnen-Regenschirm oder vielmehr ein Sonnenschirm.« Das Lächeln wich aus dem Gesicht des Lehrers. »Alle anderen wurden ganz still und fragten sich, wie er wohl reagieren würde. Im ersten Moment, glaube ich, wusste er es selbst nicht, doch dann verfiel er plötzlich in grässliche Raserei, packte mich am Hals und schleifte mich zurück in mein Klassenzimmer. Die anderen folgten uns, und er befahl ihnen, alle Fenster einzuschmeißen und die Glasscherben über den Fußboden zu verteilen. Ich sei xenophil, nicht er, tobte er, und er werde mir eine Lektion erteilen. Er stieß mich zu Boden und zwang mich, auf Knien das Klassenzimmer von einem Ende zum anderen zu durchqueren. Die Glasscherben zersplitterten unter meinem Gewicht, bohrten sich durch meine Hose und drangen mir ins Fleisch.« Er beugte sich vor und zog sein rechtes Hosenbein über das Knie hoch, und Li und Zhao sahen das verwobene, komplizierte Muster winziger Narben, wo die Scherben vor so vielen Jahren durch seine Haut gedrungen waren. »Es stecken immer noch etliche Splitter da drin«, sagte er. »Manchmal arbeiten sich welche durch die Haut, dann fängt es wieder zu bluten an.« Er rollte das Hosenbein nach unten und sah die beiden Polizisten an. »Also, ja«, sagte er. »Ich kann mich an diese Burschen erinnern. Ich werde sie ganz bestimmt nicht vergessen.« »Und alle waren in der Brigade Revolution bis zum Endsieg?«, fragte Li. Noch einmal ging er die Namen durch -Tian Jingfu, Bai Qiyu, Yue Shi und Yuan Tao. Sun nickte. »Alle, bis auf Yuan Tao natürlich. Wie ich gehört habe, hat er es vor der Kulturrevolution gerade noch ins Ausland geschafft und ist auf irgendeine amerikanische Universität gegangen. Er war einer der Glücklichen. Einer der sehr, sehr wenigen Glücklichen.«
III Überall in der Luft flatterten riesige Banner im Schlachtenqualm, als die Soldaten in ihren Rüstungen vorwärts stürmten, mit erhobenen Schwertern und verfolgt vom Donnern der Pferdehufe. Margaret zuckte unwillkürlich zusammen, als die Soldaten sie umkreisten, an ihr vorbeistürmten und der Lärm der aneinander klirrenden Bronzeschwerter die Grauen erregenden Schmerzensschreie übertönte. Sie fühlte Michaels warmen Körper, der sich an ihren presste, während sie sich an dem Metallbügel vor ihr festklammerte. Je näher die Schlacht ihrem Höhepunkt kam, desto lauter und eindringlicher wurde auch die Orchesterbegleitung, beinahe wie bei einem Hollywood-Musical. Und dann flogen Margaret die Banner ins Gesicht, eines nach dem anderen, denn nun wurden die Flaggen der unterworfenen Länder Qin Shi Huang, dem allmächtigen ersten Kaiser von China, zu Füßen gelegt. »Beeindruckend, nicht wahr?«, flüsterte Michael ihr zu. Margaret nickte. Es war das erste Mal, dass sie ein 360-GradKino besuchte. Der Zuschauerraum war rundum von Leinwänden umgeben, wobei das Geschehen sich übergangslos von einer zur anderen verlagerte und auch weiterging, wenn man ihm gerade den Rücken zukehrte. Für die Zuschauer, die im Stehen die Haltestangen umklammerten und den Klängen der Dolby-Surround-Anlage lauschten, die diese Illusion perfekt machten, war das Gefühl, sich mitten im Geschehen zu befinden, einfach überwältigend. »Dieser Film muss ein Vermögen gekostet haben«, sagte sie. »Das sind ja unglaublich viele Statisten.« Michael lächelte. »Wenn die Chinesen eines im Überfluss haben, dann Menschen.« Tausende von Kulis wuselten, mit Erde gefüllte Körbe an Bambusstangen schleppend, um sie herum. »Jetzt beginnen sie mit der Arbeit an Qins Grab«, erläuterte Michael. »Hundertzwanzigtausend Handwerker, Arbeiter und Sträflinge. Sie brauchten vierzig Jahre. Damals glaubte man, dass die Seelen der Verstorbenen unter der Erde weiterleben würden. Deswegen ließ Qin sich eine Terrakottaarmee modellieren und in drei Schächten rund um sein Mausoleum vergraben – um sein unterirdisches Reich zu beschützen.«
Auf der Leinwand trampelten halb nackte Arbeiter mit den Füßen Lehm fest, bevor sie ihn in Abdruckformen zwängten, um Krieger und Pferde zu gestalten. Anschließend wurden die einzelnen Körperteile zusammenmontiert und mit handgefertigtem Harnisch und fein ziselierten Gesichtern versehen – jedes anders, alle einzigartig. Das Haar wurde entweder geglättet oder aufgetürmt dargestellt, und selbst die Laufflächen der Stiefel wurden bis ins kleinste Detail nachgebildet. Die Krieger wurden in Generäle, Offiziere, Infanteristen, kniende Bogenschützen und Wagenlenker unterteilt und dann in riesigen Öfen gebrannt. Überall um sich herum sah Margaret in Reih und Glied stehende Terrakottakrieger, die von Künstlern in den leuchtendsten Farben bemalt wurden. »Sind die echt?«, flüsterte sie. Michael lachte. »Nein. Es sind originalgetreue Nachbildungen, aus dem gleichen Lehm wie ihre Vorbilder modelliert und bei denselben Temperaturen gebrannt. Für ein paar tausend Dollar kann man sie kaufen, nach Amerika verfrachten lassen und zu Hause im Garten aufstellen. Nur sehr wenige Leute könnten den Unterschied zwischen Original und Reproduktion erkennen. Die Originale wurden ebenfalls bemalt. Und zwar genauso«, erklärte er mit einem Nicken zur Leinwand hin. »Auf allen Fotos, die ich bisher gesehen habe, sahen sie irgendwie lehmfarben aus«, sagte Margaret. »Die Krieger wurden vor mehr als zweitausend Jahren vergraben. So lange hat die Farbe einfach nicht gehalten. Der lehmige Überzug ist nichts anderes als trockene, staubige Erde. Darunter sind sie bläulichschwarz, genauso wie damals, als sie aus dem Brennofen kamen.« Arbeiter hoben mit schweißglänzenden Leibern die Schächte aus, welche die Krieger aufnehmen sollten. Große Balken wurden hochgezogen, um die Dächer abzustützen. Dann wurden die Krieger in die Erde hinabgelassen und zwischen hohen Wällen aus festgestampfter Erde in Schlachtordnung formiert. Anschließend wurden die Krieger mit echten Waffen ausgestattet – Schwertern, Bögen und Spießen –, dann wurden die Schächte mit Baumstämmen abgedeckt, die als Sparren für das mit Strohmatten gedeckte Dach dienten, und schließlich begrub man das Ganze unter vielen Tonnen Erde. Die schemenhaften Kriegergestalten wurden von der Dunkelheit verschluckt. Doch plötzlich entbrannte das Schlachtgeschehen auf der
Leinwand erneut. Die Stimme des Sprechers, der den Begleitkommentar lieferte, erhob sich über die anschwellende Orchestermusik. »Was ist denn jetzt los?«, wollte Margaret wissen. »Ein Jahr nach Qins Tod kommt es zu einem Bauernaufstand. Die Rebellen plündern seinen Palast und brechen in die drei Kammern mit den Kriegern ein; sie stehlen die Waffen, um sie gegen die echte Armee von Qins Nachfolger einzusetzen.« Schlagartig erwachte die Dunkelheit zum Leben, als sich die Bauern gewaltsam ihren Weg in die Kammern bahnten und die lodernden Fackeln in ihren Händen lange Schatten auf ihre irdenen Gegenspieler warfen. Nachdem sie der gegnerischen Armee aus gebranntem Ton die Schwerter und Speere abgenommen hatten, begannen sie, die dicht gedrängten Reihen der Krieger zu zerschmettern. Das unverwechselbare Klirren zerspringender Keramik gellte in Margarets Ohren. All die Arbeit und Kunstfertigkeit. Die vielen Jahre voller Mühen. Zerstört in wenigen Augenblicken sinnloser Raserei. Mit weit aufgerissenen Augen beobachtete Margaret, wie die Bauern die Schächte in Brand setzten, wie die Dachbalken hell aufloderten und wie sie schließlich einstürzten und die Armee unter sich begruben. Aus dem aufgeregten Fortissimo des Orchesters schälte sich nun eine gewundene, ruhige Geigenmelodie heraus und untermalte die plötzlich auftauchenden Bildern einer friedlichen, weiten Landschaft im Schatten eines Hügels, der von einer zentralen Erhebung gekrönt war. »Das ist das Hügelgrab mit Qins Mausoleum«, erklärte Michael. »Jenes, das man wegen der Quecksilberflüsse nicht zu öffnen wagt. Wir schreiben das Jahr 1974. China wird noch immer von der Kulturrevolution erschüttert.« Eine Gruppe von Bauern in MaoAnzügen grub auf freiem Feld. »Diese Leute waren dabei, einen Brunnen zu graben, als sie plötzlich immer mehr Köpfe und Hände aus Terrakotta freizulegen begannen. Die erste Vorhut einer riesenhaften Armee, die mehr als zwei Jahrtausende lang begraben gewesen war.« Margaret sagte: »Weißt du, vielleicht solltest du dir mal überlegen, ob du mit deinem Erzähltalent nicht Geld verdienen könntest. Vielleicht wärst du gar nicht schlecht.« Er lachte und nahm sie am Arm. »Komm mit.« »Aber der Film ist doch noch nicht zu Ende.«
»Egal. Lass uns gehen und das Original angucken.« Außerhalb des Vorführraums blinzelten sie ins helle Sonnenlicht. Das riesige Gelände war von Touristen überlaufen, die angereist waren, um hier das achte Weltwunder zu besichtigen: Busse mit westlichen Reisegruppen, chinesische Schulklassen, Familien aus dem gesamten Reich der Mitte, Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten; alle waren gekommen, um die einzigartigen Terrakottakrieger zu besichtigen, die in drei gigantischen, über den einzelnen Grabungsschächten errichteten Hallen untergebracht waren. Während sie die Halle durchquerten, erzählte ihr Michael: »Die Ereignisse nach der Entdeckung der Krieger gäben Stoff ab für eine Komödie der Irrungen. Die Funktionäre und Kader des örtlichen Kulturzentrums waren offenbar der Auffassung, die Funde seien es nicht wert, gezeigt zu werden. Sie schleiften ein paar Teile und Bruchstücke in ihr Zentrum und begannen, drei der Figuren dilettantisch in Stand zu setzen, die sie dann notdürftig zusammengeflickt zur Schau stellten. Dass die Behörden überhaupt Wind von der Sache bekamen, war lediglich einem durchreisenden Journalisten zu verdanken, der Monate später einen Artikel über die Krieger schrieb. Sofort wurde das gesamte Fundgelände unter staatliche Aufsicht gestellt, und 1976 wurde die Erste der Ausstellungshallen über dem größten Schacht errichtet – dem Schacht Nummer eins.« Er sah zu der riesigen gewölbten Halle, die vor ihnen aufragte, nahm Margaret am Arm und führte sie die Treppe hinauf und durch den von Säulen gesäumten Eingang. Er sprach mit einem Aufseher, der sofort davoneilte, während sie in der Eingangshalle Platz nahmen, unter großen Karos aus gelbem Licht, das durch die Glasdächer hereinfiel und den Marmorboden zum Funkeln brachte. »Du wirst gleich abgeholt«, sagte Michael. »Und ich muss dann zu meiner Besprechung.« Margaret blätterte in dem Buch, das sie sich auf dem Weg in den Vorführsaal gekauft hatte. Es enthielt zahllose Fotografien der drei Schächte sowie einen Bericht über die Ausgrabungen, verfasst von dem leitenden Archäologen, Yuan Zhongyi. »Ich dachte, es gäbe nur drei Kammern.« »Stimmt«, erwiderte Michael. »Hier steht aber etwas anderes.« Sie las aus Yuan Zhongyis Bericht vor: »Bei unseren Bohrungen spürten wir auch einen vierten Schacht auf, etwa zwanzig Meter nördlich des mittleren Teils von Schacht Nummer eins gelegen.«
»Das ist richtig«, sagte Michael. »Aber dieser Schacht enthielt nichts als Schlick und Sand. Man nimmt an, dass die vierte Kammer nie vollendet wurde, weil die Arbeiter allesamt fortgeschickt worden waren, um den Bauernaufstand niederzuschlagen.« Sie las weiter: »Nachdem in diesem Schacht keine weiteren Lehmfiguren entdeckt worden waren, zählt man ihn nicht zu den Schächten der Terrakottaarmee. Im Allgemeinen spricht man nur von drei Schächten.« Margaret sah Michael mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Ich wette, das hat denen tierisch gestunken. All die Graberei, und dann ist das verdammte Ding total leer.« »Das Los des Archäologen. Manchmal verwendet man Jahre auf irgendetwas, ohne auch nur einen Fingerbreit weiterzukommen. Dann setzt man ein paar Meter weiter links oder rechts von der Stelle neu an und entdeckt eine ganze Zivilisation.« Durch die Sonnenlichtkaros kam ein kleiner Mann mit einem stahlgrau gesträhnten, schwarzhaarigen Igelkopf auf sie zu. Er schüttelte Michael herzlich die Hand, und die beiden begrüßten sich auf Chinesisch. Der Mann war vielleicht Mitte fünfzig, trug eine rechteckige Schildpattbrille und hatte ein glattes, faltenloses Gesicht. Über der langen schwarzen Hose trug er ein weißes, kragenloses Hemd und an den Füßen blaue Leinenschuhe mit Gummisohle. »Margaret«, sagte Michael zu ihr, »das ist Mr. Lao Chuanfang. Er ist hier einer der erfahrensten Archäologen.« Sein Händedruck war trocken und fest, und seine Augen funkelten. »Wie geht es Ihnen, Miss Margaret?«, fragte er sie mit einer leichten Verbeugung. »Es ist sehr freundlich, dass Sie sich um mich kümmern wollen.« Margaret war ein bisschen verlegen. »Es wäre aber wirklich nicht notwendig. Ich könnte genauso gut hier auf Michael warten.« »Nein, nein«, beeilte sich Lao zu versichern. »Ist mein Vergnügen. Mr. Michael see-ehr gute Freund von chinesische Menschen.« »Nun ja, jedenfalls von einem oder zweien«, sagte Michael grinsend. Er sah auf die Uhr. »Hör zu, Margaret, ich muss jetzt los. Sobald ich alles erledigt habe, hole ich dich ab. Passen Sie gut auf sie auf, Mr. Lao.« Er winkte ihr zu und verschwand eilends. Mr. Lao führte Margaret in die Haupthalle. »Ich hätte nicht gedacht, dass die Ausgrabungen noch andauern«, sagte sie. »Ich dachte, das wäre alles längst abgeschlossen.« Mr. Lao lachte. »Ist viee-ele Jahre bis wir fertig, Miss Margaret.
Da vielleicht sechstausend Krieger und Pferd sind drin. Wir entdecken, vielleicht, eine Drittel.« Damit traten sie auf einen Steg, der einmal rund um den Schacht führte. Margaret wusste nicht genau, was sie eigentlich erwartet hatte, aber es war mit Sicherheit nichts verglichen mit dem, was sie hier sah. Ein komplexes Geflecht von Gerüsten stützte das Dach ab, das sich über die Ausgrabungsstätte wölbte und sich in der Ferne in verschwommenem, bläulichem Licht verlor. Direkt unter ihnen standen die Krieger zwischen Wällen aus festgestampftem Lehm. Es waren an die zweitausend, und sie standen in Schlachtformation. In den Lücken zwischen den Reihen warteten geduldig die Pferde, angeschirrt an hölzerne Kampfwagen, die längst zerfallen und verschwunden waren. Sonnenlicht fiel in schrägen Strahlen durch die Dachfenster, legte sich über die stummen Soldaten und warf tiefe Schatten auf die uralten Antlitze. Die Härchen auf Margarets Armen und in ihrem Nacken stellten sich auf, und sie merkte, wie ihr Tränen in die Augen schossen. Sie blinzelte, von ihrer eigenen Reaktion überrascht. Auf so etwas war sie einfach nicht gefasst gewesen. Der Anblick dieser lebensgroßen Gestalten war überwältigend, ihre stille Würde und ihr geduldiger Wachdienst strahlten etwas ganz Außergewöhnliches aus. In stummer Entschlossenheit standen sie da und beschützten das Grab ihres Kaisers. Ringsum tönte das Geschnatter der Touristen durch die Halle, bis Margaret von dem beinahe unwiderstehlichen Verlangen ergriffen wurde, sie anzubrüllen. Sie sollten endlich Ruhe geben. Hier war etwas, das andächtige Stille verdient hatte, Ehrfurcht und Respekt von allen, die es zu Gesicht bekamen. Dies hier war ein Privileg, die seltene Gelegenheit zu einem Blick auf ein unschätzbares Erbe, ein Einblick in die Gefühls- und Gedankenwelt jener Menschen, in ihre Ängste und ihren Glauben, in ihre vergeblichen Anstrengungen, den Tod zu besiegen. Und in gewisser Weise waren die Menschen, die diese Figuren geschaffen hatten, tatsächlich unsterblich geworden. Denn hier standen immer noch ihre Krieger als Vermächtnis ihrer Schöpfer, als stumme Zeugen einer Morgendämmerung lange vor Christi Geburt. Margaret drehte sich um und stellte fest, dass Lao sie anlächelte. »Sie sind beeindruckt«, sagte er. »Ich weiß nicht, was ich bin«, stammelte Margaret. »Sprachlos, wirklich. Sie sind…«, sie suchte nach dem passenden Wort, »… fantastisch«, beendete sie den Satz matt, weil es ihr schlicht nicht
möglich war, ein Adjektiv zu finden, mit dem sich ihre Gefühle angemessen beschreiben ließen. »Sie kommen«, sagte er. »Ich zeige Sie mehr, als Tourist sieht.« Und sie folgte ihm den Weg um die Rampe herum, den Blick die ganze Zeit starr auf die Figuren unten geheftet. Plötzlich ließ lautes Gezeter sie herumfahren, und sie beobachtete, wie ein Polizist in grüner Uniform einem laut keifenden chinesischen Touristen die Kamera wegnahm. Der Mann und seine Frau brüllten den Beamten an und fuchtelten entsetzt mit den Armen, als dieser den Apparat öffnete, den Film herausriss, ihn aufrollte und von Anfang bis Ende belichtete. »Sein verboten machen Foto hier«, bemerkte Lao. Er zuckte gelassen mit den Achseln. »Passieren ständig.« Am anderen Ende der Fundstätte, an einer etwas höher gelegenen Stelle, konnte Margaret jetzt mehrere hundert Keramikfiguren erkennen, die dicht an dicht aufgestellt waren und zwischen denen sich Archäologen hin und her bewegten, um all die abgebrochenen kleinen Stücke und Teilchen zusammenzufügen, bis die Figuren schließlich wiederhergestellt waren. Über ein breites motorbetriebenes Förderband wurde die umgegrabene Erde in großen Haufen durch eine große Luke in der Rückwand weggeschafft. Der gesamte Bereich war der Öffentlichkeit nicht zugänglich. Direkt unter ihnen kauerten, umgeben von zahlreichen weiteren, noch von Erde bedeckten Statuen, Archäologen aller Altersgruppen in weißen Kitteln im Staub, die mit Messern und Bürsten die im Lauf der Zeit aufgehäuften Erdschichten abkratzten und wegfegten, um die Krieger Zentimeter für Zentimeter aus der Vorzeit herauszuschälen. Lao öffnete ein Tor, und Margaret folgte ihm über eine Metalltreppe hinunter in einen für Touristen nicht zugänglichen Bereich, wo eine kleine Gruppe von Archäologen an der Arbeit war: zwei Männer und eine Frau, die wohl etwas jünger als Margaret sein mochte. Lao übernahm die Vorstellung auf Chinesisch, und alle schüttelten Margaret lächelnd und nickend die Hand. Dann überreichte Lao ihr ein kurzes Messer mit abgerundeter Klinge und geschwungenem Heft, das sich zwischen Daumen und Zeigefinger in die Hand schmiegte. »Nun Sie auch sind Archäologe«, sagte er lächelnd. »Miss Zhang zeigt Sie, wie.« Miss Zhang überreichte ihr einen Handbesen mit schwarzen Borsten und führte sie mitten unter eine Ansammlung von
Keramikkörpern, die in merkwürdigen Winkeln aus dem Boden herauswuchsen. Manche von ihnen wiesen an der Schulter Risse und Sprünge auf. Bei anderen lagen die Köpfe seitlich auf dem Rumpf. Wieder andere hatten überhaupt keinen Kopf mehr – ein unangenehmes Bild, das Margaret schlagartig ins Gedächtnis rief, warum sie noch immer in China war. Es waren Krieger im Harnisch: Über der Brust trugen sie kunstvoll gearbeitete, rechteckige Nietenpanzer, das Haar auf ihren Köpfen war hochgetürmt und verknotet, und um die Hälse hatten sie Seidentücher geschlungen. Miss Zhang ging neben zwei Figuren in die Hocke, die noch bis zur Hüfte in der Erde steckten. Der eine Krieger lag halb schräg da und lehnte mit dem Kopf an der Schulter seines Kollegen, als sei er seine zweitausendjährige Existenz leid. Bei beiden waren die Gesichtszüge zum Teil noch von Schlamm verdeckt. Miss Zhang kratzte vorsichtig mit ihrem Messer, um die klare Kinnlinie freizulegen, und fegte dann den Staub mit ihrem Handbesen beiseite. Mit einem Lächeln und einem Nicken bedeutete sie Margaret, es ihr gleichzutun. Margaret ging neben ihr in die Hocke und kratzte nervös und sehr zaghaft die Erde vom Gesicht des Kriegers, bis sie allmählich seine markanten Züge freilegte: die fein geschwungenen, vollen Lippen, den über die Wangenknochen hochgebogenen Schnurrbart und die Mandelaugen unter den buschigen Augenbrauen. Nachdem sie die Reste weggebürstet hatte, schaute sie ihn an. Er war wunderschön. Wenn sie sein kühles, glattes Keramikgesicht berührte, meinte sie zu spüren, wie ein elektrisches Kribbeln durch ihre Fingerspitzen floss. Ihre Hand lag auf über zweitausend Jahre alter Geschichte. Als diese Gesichtszüge geformt wurden, hatten die Römer über Europa geherrscht und noch beinahe siebzehnhundert Jahre vergehen müssen, bis ihr Heimatland auch nur entdeckt worden war. Zum ersten Mal konnte sie Michaels Leidenschaft verstehen. In diesem Keramikgeschöpf aus gebranntem Ton war mehr Leben als in allen Leichen, die sie je in ihrem Operationssaal seziert hatte: jenem kalten, toten, fauligen Fleisch, das schlicht und einfach verdampft wäre, hätte man es der gleichen Hitze ausgesetzt wie der, die diese antiken Krieger ins Leben gerufen und über Jahrtausende hinweg konserviert hatte. An einigen Stellen waren noch Spuren der Originalbemalung erhalten, und Margaret konnte sehen, dass die Figuren unter der orangefarbenen Erde von einem tiefen schwärzlichen Blau waren.
Wie der Staub der Zeit umgab sie der aus den zerbrochenen Körpern rieselnde dunkelblaue Keramiksand.
IV Obwohl Chang Yichun ein Kind der kommunistischen Befreiung war, hatte er sich in der Ära nach Mao zu einem höchst erfolgreichen Kapitalisten entwickelt, wie er Li und Zhao bereitwillig und voll Stolz berichtete. Vor einiger Zeit hatte die Pausenglocke geläutet, und durch die offenen Fenster drang nun der Lärm der auf dem Schulhof spielenden Kinder herein. Chang war ein kleiner, aber kräftig gebauter Mann mit kurz geschorenem Haar und Schwielen an den großen Händen. Er hielt sich für etwas Besseres als seine eher akademisch orientierten Klassenkameraden aus den Sechzigerjahren. Zwar hatte er hier an der Mittelschule Nr. 29 gar nicht schlecht abgeschnitten, wie er widerwillig zugab, aber wozu war ein gutes Zeugnis schon nütze, wenn man anschließend als einfacher Arbeiter aufs Land geschickt wurde? Genau das war ihm während der Kulturrevolution widerfahren. Er zog an seiner teuren westlichen Zigarette. »Ironischerweise war das ein echter Glücksfall für mich. Dort bekam ich eine Ausbildung als Zimmermann, und als ich 1972 in die Stadt zurückkam, wurde ich in der Bau- und Instandhaltungsgruppe des Straßenkomitees von Xichang eingesetzt.« Er kratzte sich am Kopf und fegte dann die Schuppen vom Revers seines Designeranzugs. »Außer mir waren noch zwanzig Männer und sechs Frauen in unserer Einheit. Wir reparierten Zentralheizungen, zogen Schornsteine hoch und erledigten alle anfallenden Arbeiten in den umliegenden Häusern. Es war ein Witz. Völlig unprofessionell. Unsere Aufträge bekamen wir von den Sozialschmarotzern – Sie wissen schon, von denen, die den lieben langen Tag auf der Straße herumlungern. Sie legten die Arbeitszeiten fest, schoben unsere Zuschläge ein und behielten alles, was noch übrig war, nachdem sie uns ausbezahlt hatten. In sieben Jahren häuften wir Schulden von fast neunzigtausend Yuan an.« Er räusperte sich vernehmlich und spie unbefangen auf den
Boden des Klassenzimmers. »Aber ich konnte uns zusätzliche Aufträge besorgen«, fuhr er fort. »Und 1979 haben sie mir die Leitung übertragen. Der Unterschied war, dass ich das Ganze wie eine Firma führen wollte, mit voller Kontrolle über die Finanzen und das Personal. Anständige Verträge, anständige Führungsstruktur und anständige Bezahlung. Im ersten Jahr machte ich einen Gewinn von sechsundsiebzigtausend Yuan. Keine vier Jahre später waren wir eine ordnungsgemäß eingetragene Baufirma mit einer Belegschaft von über zweitausend Mitarbeitern, einem Anlagevermögen von drei Millionen und einem Umlaufvermögen von mehr als sieben Millionen.« Er lehnte sich grinsend zurück, äußerst zufrieden mit seinem Erfolg und stolz, damit prahlen und sich in ihrer Bewunderung sonnen zu können. »Inzwischen berechne ich mein Vermögen in Dollar. Wie sagte doch Deng Xiaoping: ›Reich zu sein ist wunderbar‹. Willkommen in Boomtown, Volksrepublik China.« Er zog geräuschvoll Schleim hoch und spuckte erneut auf den Boden. Dann beugte er sich vor und piekste Li mit dem Finger. »Und wo sind sie heute, diese verdammten Roten Garden? Warten Sie, ich will es Ihnen sagen. Nirgendwo. Ein Haufen nutzloser Nullen!« »Wissen Sie, wie viele Mitglieder die Brigade ›Revolution bis zum Endsieg‹ hatte?«, fragte Li. »Aber ja«, antwortete Chang. »Der Anführer wohnte in meiner Straße. Ein hässlicher Schweinehund namens Ge Yan. Und ein Schwachkopf dazu. Dumm wie Bohnenstroh. Immer der Schlechteste im Unterricht, ständig wurde er von den Lehrern gerügt. Aber sobald die ihm den Rücken zukehrten, prügelte er die anderen Kinder windelweich. Bestimmt war er der schlimmste Rabauke an der Schule, trotzdem hat er mir nie auch nur ein Haar gekrümmt. Ich hätte ihm den verdammten Schädel eingeschlagen, wenn er es versucht hätte. Und das wusste er.« Er unterbrach sich. »Was wollten Sie noch mal wissen? Ach ja, richtig, wie viele es waren? Sie waren zu sechst.« Er strich sich übers Kinn und versuchte sich zu erinnern. »Da gab es Vögelchen…« »Vögelchen?«, fragte Li. »Ja, ja, so haben sie Ge Yan genannt.« Er kratzte sich erneut am Kopf und legte die Stirn in Falten, als müsse er eine widersprüchliche Erinnerung aufdröseln. »Eigentlich komisch. Ein großer, harter Drecksack wie er. Aber seine Vögel hat er geliebt. Er hatte dutzende davon, in allen Farben. Die Käfige hatte er in seinem Hof hängen. Einmal war ich dort und habe ihn mit den Vögeln
beobachtet. Man sollte es nicht für möglich halten, dass diese Hände, die einem mit einem Schlag das Licht ausknipsen konnten, so zärtlich waren, wenn es um die verdammten Vögel ging. Als ob sie das Empfindlichste auf der Welt gewesen wären. Er hat sie einfach geliebt. Seine gesamte Freizeit verbrachte er in seinem Hof oder drunten auf dem Vogelmarkt.« »Erinnern Sie sich, wer sonst noch dabei war?« »Ja, sicher.« Chang zündete sich erneut eine Zigarette an. »Da waren noch Affe und Null und Bettelmaus…. Sie war das einzige Mädchen. Auch wenn man ihr das kaum angesehen hat. Ein hässliches Ding. Außerdem gab es da noch Schildkröte, und… ach ja, Schweinchen. Wie konnte ich nur das große, fette Schweinchen vergessen?« »Was war mit Yuan Tao?« Chang sah Li und Zhao an, als wären sie nicht ganz richtig im Kopf. »Yuan Tao? Soll das ein Witz sein? Der war dazu viel zu nett, auch wenn er irgendwie ein Bücherwurm war. Schon fast ein Streber. Nie im Leben hätte der sich mit diesen Typen eingelassen. Das waren Fieslinge und Versager. Die mit den Komplexen waren die Schlimmsten. Weil sie ihre Wut über ihr eigenes Versagen an den Schlaueren ausgelassen haben. Als ob die daran schuld gewesen wären, dass sie als Deppen zur Welt gekommen waren.« »Yue Shi war nicht dumm«, warf Zhao ein. »Das nicht, aber aalglatt und falsch. Ein Fiesling. Hat die Leute hinter ihrem Rücken fertiggemacht.« »Wie kam Yuan Tao zu dem Spitznamen Wühler?«, wollte Li wissen. Wieder strafte Chang ihn mit einem fassungslosen Blick. »Wo habt ihr bloß eure Informationen her? Kein Mensch hat Yuan Wühler genannt. Sein Spitzname war Hase. Weil er ein solcher Angsthase war, verstehen Sie?« Li runzelte die Stirn. »Sind Sie sicher?« »Klar bin ich sicher.« »Und warum war er ein solcher Angsthase?«, fragte Zhao. »Weil die anderen Kinder es immer auf ihn abgesehen hatten. Ständig haben sie ihn getriezt oder hinter dem Fahrradschuppen windelweich geprügelt. Und er hat nie zurückgeschlagen, kein einziges Mal. Er tat mir Leid, aber solange er nicht Manns genug war, sich selbst zu wehren, habe ich ihm auch nicht geholfen.« »Und wieso sind alle ständig auf Yuan losgegangen?«, wollte Li
wissen. »Nur weil er schlau war?« »Nö. Es gab auch andere schlaue Kinder, die in Ruhe gelassen wurden. Aber wenn der Vater auch noch Lehrer an der Schule ist…« Chang zuckte mit den Achseln. »Was soll man sagen?« Vor Verblüffung fehlten Li im ersten Moment die Worte. »Sein Vater hat hier unterrichtet?« »Sicher. Yuans alter Herr. Er war unser Englischlehrer.« Als Li und Zhao zurückkamen, herrschte im Büro der Kommissare eine geschäftige Atmosphäre, untermalt von einer Mischung aus Stimmen, dem Klingeln der Telefone und dem Rascheln von Papier. Obwohl alle Fenster offen standen, war die Luft voller Zigarettenqualm. »Qian«, rief Li, während er geradewegs in sein Büro marschierte. Qian erschien an der Tür. »Was gibt’s, Chef?« »Wir müssen um jeden Preis so viele ehemalige Klassenkameraden ausfindig machen wie möglich. Wie sich herausgestellt hat, waren die ersten drei Opfer als Rotgardisten gemeinsam in einer Brigade namens ›Revolution bis zum Endsieg‹. Außer ihnen gab es noch drei weitere Mitglieder. Kümmern Sie sich vor allem um die.« Er sah in seinen Notizen nach. »Ein Kerl mit Namen Ge Yan und Spitznamen Vögelchen. Ein Vogelliebhaber. Offenbar war er als Kind dauernd auf einem örtlichen Vogelmarkt. Ein Mädchen namens Bettelmaus, an deren wirklichen Namen sich niemand zu erinnern scheint. Und noch ein Typ namens…« Er ging sein Notizbuch durch. »Gau Huan. Er wurde Schildkröte genannt, offenbar weil er so langsam war.« Er tippte sich an die Stirn. »Hier oben. Möglich, dass er irgendwie geistig zurückgeblieben war.« Und fast im selben Atemzug rief er: »Wu!« Sofort tauchte Wu neben Qian auf. Li sah nicht einmal auf. »Yuan Taos Vater war Englischlehrer an der Mittelschule Nr. 29. Unseren Informationen nach starb er 1967. Aber wir wissen immer noch nichts über das Schicksal der Mutter. Ich glaube, es ist verdammt wichtig, dass wir sie aufstöbern. Und alle anderen Verwandten, die noch am Leben sind. Das hat absoluten Vorrang, verstanden?« »Alles klar, Chef.« Li blickte auf. Wu und Qian standen immer noch unschlüssig im Türrahmen. »Nun?« Die beiden tauschten einen Blick aus, dann sagte Qian: »Der Boss will Sie sehen, Chef. Sobald Sie Ihren Fuß ins Büro setzen, wie
er sagte.« Augenblicklich fiel Li seine Nichte wieder ein. »Ach du Scheiße. Das habe ich ja völlig vergessen.« In Chens Büro herrschte das reinste Chaos. Die Schreibunterlage und sämtliche Akten waren von seinem Schreibtisch verschwunden und stapelten sich auf dem Fensterbrett. Stattdessen war Xinxins Puzzle halb fertig über den Schreibtisch verteilt. Ihre Bücher lagen aufgeschlagen am Boden, sämtliche Stühle waren in der Mitte des Raumes zusammengestellt worden, und eine ganze Reihe von Plüschtieren – ein Panda, ein Hase, ein Tiger und ein Löwe – hatte darauf Platz genommen. Als Li den Raum betrat, saß Xinxin gerade auf Chens Knie, und er las ihr aus einem großen Bilderbuch vor. Er sah auf und starrte Li über Xinxins Kopf hinweg finster an. Im nächsten Moment klappte er das Buch zu, drückte es Xinxin in die Hand und stellte das Kind auf den Boden. »Ich muss jetzt mit deinem Onkel Yan sprechen, meine Kleine«, sagte er zu ihr. Xinxin zog einen Flunsch und sah ihrerseits Li finster an. »Immer verdirbt er einem alles«, befand sie. »Du gehst jetzt nach nebenan und bittest Onkel Qian, dir das Buch fertig vorzulesen«, sagte Chen freundlich, aber bestimmt. Xinxins Gesicht hellte sich auf. »Au ja. Onkel Qian. Der ist super.« Das Buch umklammernd, marschierte sie zielstrebig hinaus auf den Gang, allerdings nicht ohne Li einen weiteren bösen Blick zuzuwerfen. »Wie oft habe ich schon vom so genannten ›Kleiner-KaiserSyndrom‹ gehört«, sagte Chen. »Die unzähligen Einzelkinder, die durch zu nachsichtige Eltern verhätschelt werden. Und jetzt mache ich nichts anderes. Schließen Sie die Tür.« Li schloss die Tür hinter sich und schob den Löwen beiseite, um sich setzen zu können. »Wo kommt das ganze Zeug denn her?«, fragte er Chen. »Onkel Qian«, antwortete Chen sarkastisch, »war mit ihr unten auf dem Markt in der Ritan Lu, wo all diese Plüschtiere verkauft werden. Die Jungs hatten zuvor den Hut herumgehen lassen, und das hier ist dabei herausgekommen.« Er nickte in Richtung der Pelztiersammlung. »Sie waren verdammt lange weg, Li.« Li nickte. »Dafür haben wir möglicherweise einen Durchbruch erzielt, Chef.« Und er berichtete ihm von der Brigade »Revolution bis zum Endsieg«, von Yuans Vater und der Erkenntnis, dass Yuan
Taos Mörder ihm den falschen Spitznamen verpasst hatte. »Aber Yuan Tao war kein Rotgardist«, gab Chen zu bedenken. »Er konnte gar keiner gewesen sein. Er war ja nicht einmal im Land.« »Das nicht«, stimmte ihm Li zu. »Trotzdem waren alle in derselben Klasse, alle wurden von Yuans Vater unterrichtet, und vielleicht hatten sie sonst noch irgendetwas gemeinsam, Chef. Irgendetwas, das wir noch nicht wissen. Dafür wissen wir jetzt, wo wir suchen müssen, und wenn wir energisch genug weiterbohren und am Ball bleiben, dann werden wir es auch finden. Davon bin ich felsenfest überzeugt.« »Und ich bin felsenfest davon überzeugt«, sagte Chen verdrießlich, »dass das mit Ihrer Nichte so nicht weitergehen kann.« Er machte eine weit ausholende Bewegung mit dem Arm. »Sehen Sie sich das an!« Li unterdrückte ein Lächeln. »Ich hatte eigentlich den Eindruck, dass Sie und Xinxin ganz hervorragend miteinander auskommen, Chef.« »Das hat damit absolut nichts zu tun«, brummte Chen. Er verstummte kurz und atmete tief durch. »Ich habe den Polizeichef von Zigong angerufen, und der hat mit Xinxins Vater gesprochen.« Er verstummte erneut. »Und weiter?«, drängte Li. Chen erklärte grimmig: »Er sagt, wenn er sich recht erinnere, hätte seine Frau ihn verlassen und das kleine Mädchen mitgenommen. Er hätte nicht mehr das Geringste mit den beiden zu schaffen.« Li trieb sein Fahrrad durch die nachmittägliche Hitze und fädelte sich durch den Verkehr auf der Dongzhimennei-Straße. Xinxin hockte beleidigt auf dem Gepäckträger, ihren Ranzen und den Panda fest an die Brust gedrückt, als fürchte sie, es könne jeden Moment irgendjemand kommen und ihr die Sachen entreißen. Es missfiel ihr sichtlich, dass Li sie aus der Sektion Eins verschleppt hatte, wo sich alles nur um sie gedreht hatte, und sie spürte immer deutlicher, wie sehr sie ihre Mutter vermisste. Die Unterlippe war schmollend vorgeschoben, und Tränen quollen aus ihren Augen. Li fühlte sich hundeelend. Wie konnte Xinxins Vater erwarten, dass Li sich um seine Nichte kümmern würde? Schließlich lebte er allein und musste schwer und lang für sein ausgesprochen
bescheidenes Gehalt arbeiten. Bis er die Angelegenheit mit ihrem Vater geregelt hatte, würde er jemanden einstellen müssen, der rund um die Uhr auf das Kind aufpasste. Und wo zum Teufel steckte nur ihre Mutter? Das war einfach nicht fair. Er hatte schon genug Probleme, ohne dass man ihm auch noch dieses hier aufhalste. Mei Yuan sah ihn die Straße überqueren, und ihr Gesicht hellte sich auf, als sie hinten auf dem Fahrrad Xinxin erkannte. Das Mädchen war nicht minder froh, Mei Yuan zu sehen, sprang ab, rannte in die ausgebreiteten Arme der Straßenverkäuferin und brach auf der Stelle in Tränen aus. »Onkel Yan lässt mich nicht spielen«, schluchzte sie. »Und meiner Mami geht es nicht gut, und ich will heim.« Mei Yuan hockte sich hin, drückte das Kind zärtlich an sich und richtete den Blick über die Schultern des Mädchens auf Li, der sie hilflos ansah. Er zuckte mit den Achseln und schüttelte den Kopf. »Weißt du was?«, sagte Mei Yuan unvermittelt, wobei sie die Kleine auf Armeslänge von sich schob und die Tränen in ihrem Gesicht trocknete. »Ich wette, du könntest jetzt einen Jian Bing vertragen.« Xinxin runzelte die Stirn. »Was ist das?« »Das ist ein großer Pfannkuchen.« Sie sah Li an. »Soll ich das Chili weglassen?« Li lächelte. »Vergessen Sie nicht, dass sie aus Sichuan kommt.« »Natürlich.« Grinsend stand Mei Yuan auf und nahm Xinxin an die Hand. »Pass auf«, sagte sie zu ihr. »Du kannst mir beim Backen zuschauen.« Und Xinxin vergaß vorübergehend sogar zu weinen, als sie Mei Yuan dabei zusah, wie diese die flüssige Teigmischung auf der heißen Ofenplatte verteilte, dann ein Ei darüber schlug und auf dem blubbernden, langsam fester werdenden Pfannkuchen verstrich. »Meine Cousine hat erzählt, dass Sie heute Morgen schon mal vorbeigeschaut haben«, sagte Mei Yuan zu Li. »Tut mir Leid, dass ich nicht hier war.« »Ich habe ein Problem, Mei Yuan. Aber im Moment kann ich nicht darüber sprechen.« Sie nickte. »Wie gut ist Ihr Kantonesisch?« »Ich bin etwas aus der Übung«, erwiderte er. Während eines sechsmonatigen Aufenthalts in Hongkong hatte er sich mit den Grundzügen vertraut gemacht, aber er hatte es lange nicht mehr gesprochen. »Ich auch«, sagte sie auf Kantonesisch. »Also, wo steckt ihre Mutter?«
»Sie ist schwanger«, sagte Li. »Sie hatte eine… ich weiß nicht, wie das auf Kantonesisch heißt.« Er überlegte angestrengt, wie er es umschreiben sollte. »Sie haben mit Tönen ein Bild von ihrem Kind gemacht. Sie weiß, dass es ein Junge ist. Sie ist zu einer Freundin irgendwo im Süden gefahren, um das Kind dort zu kriegen. Ich habe keine Ahnung, wohin genau. Und Xinxins Vater will mit allem nichts zu tun haben.« Mei Yuan hatte den Jian Bing fertig gebacken, wickelte ihn nun vorsichtig ein und reichte ihn Xinxin. »Los geht’s, meine Kleine. Aber Vorsicht. Er ist heiß.« Xinxin biss hinein. »Mmmh«, ließ sie sich vernehmen, und ihr Gesicht hellte sich auf der Stelle auf. »Der ist lecker.« Sie stopfte sich den nächsten Bissen in den Mund. »Wieso kann ich nicht verstehen, was ihr sagt?« Verdutzt sah sie zu Mei Yuan auf. Mei Yuan lächelte. »Ach«, sagte sie beiläufig, »wir üben nur gerade eine andere Art von Chinesisch. Wenn du möchtest, bringe ich dir heute Abend ein paar Worte bei.« »Heute Abend?« Jetzt strahlte Xinxin übers ganze Gesicht. »Dann kommst du heute wieder Onkel Yan besuchen?« »Nein«, sagte Mei Yuan. »Du kannst für ein oder zwei Tage bei mir bleiben. Was hältst du davon?« »Au ja«, antwortete Xinxin, deren Augen wieder fröhlich funkelten. »Das wäre toll.« Mei Yuan sah Li an. »Um die Jian Bings wird sich in nächster Zeit meine Cousine kümmern.« Sie holte tief Luft. »Bis sich die Angelegenheit geklärt hat.« Li merkte, wie ihm Tränen in die Augen stiegen. Er drückte Mei Yuans Hand mit aller Kraft. »Und, haben Sie mein Rätsel endlich gelöst?«, fragte sie ihn. Er schüttelte den Kopf. »Ich hatte bisher noch nicht einmal Gelegenheit, darüber nachzudenken.« »Okay, aber ich gebe Ihnen nur noch einen einzigen Tag Bedenkzeit«, schalt sie ihn. Sie dachte kurz nach und fügte dann hinzu: »Die Antwort würde Sie förmlich anspringen, wenn Sie nur endlich aufhören würden, mir zu glauben.«
6. KAPITEL Eine warme Brise wehte über das grüne Wasser des Neun-DrachenTeichs und kräuselte sanft seine Oberfläche. Dahinter, hoch über dem Pavillon des Glühenden Sonnenuntergangs, beförderten Sessellifte die Touristen auf den Gipfel des bewaldeten Berges. »Die Wassertemperatur bleibt das ganze Jahr konstant bei dreiundvierzig Grad Celsius«, erklärte Michael Margaret. Sie spazierten gemächlich am Teichufer entlang auf einen Springbrunnen zu, in dessen Mitte die weiße Marmorstatue einer halb nackten Frau stand. Zu ihrer Linken erhob sich auf rostroten Säulen ein riesiger Pavillon mit grünem Dach. »Wenn im tiefsten Winter der Südwind über das Wasser fegt, nimmt er dabei Wärme auf und schmilzt den Raureif vom Dach des Pavillons. Und wenn dann gleichzeitig die Sonne scheint, funkelt die Luft über dem Dach vom Tanz der im Licht glitzernden Frostpartikel. Darum nennt man ihn den Pavillon des Fliegenden Reifes.« Nach einer kurzen Fahrt über eine Landstraße, entlang derer immer wieder Bauern Granatäpfel aus riesigen Bambuskörben verkauft hatten, waren sie hier bei den heißen Quellen angelangt. Über eine Stunde hatte Margaret den Archäologen dabei geholfen, Kriegerstatuen freizulegen, ehe Michael wieder aufgetaucht war und mit ihr die beiden anderen Schächte besichtigt hatte. Sie war immer noch ganz überwältigt von der beeindruckenden Erfahrung des Ausgrabens gewesen, und er hatte sich über ihre Begeisterung lustig gemacht. »Was hast du neulich Abend noch gesagt?«, erinnerte er sie. »Ich kann nicht behaupten, dass mich die Aussicht, einen Haufen alter Gräber anzuschauen, vom Hocker hauen würde? Irgendwas in der Art?« Sie knuffte ihn in den Arm. »Versuchst du etwa, mich als Banausin hinzustellen?« Er grinste. »Muss ich das erst versuchen?« »Okay«, sagte sie. »Dann habe ich mich eben getäuscht.« Sie schüttelte verwundert den Kopf. »Wahrscheinlich habe ich einfach
zu viel Zeit unter Toten verbracht. Ich hatte keine Ahnung, dass Archäologie so… so lebendig sein könnte.« Sie sah ihn offen an. »Weißt du, dass ich dich beneide?« »Warum denn das?«, fragte er lachend. »Weil du das kannst. Du kannst Dinge lebendig machen. Die Geschichte wieder zum Leben erwecken. Ich kann für die Menschen, die auf meinem Tisch landen, nichts dergleichen tun. Ich kann sie nur aufschneiden und feststellen, wie sie gestorben sind. Das bringt nicht allzu viel.« Er hatte vorgeschlagen, auf dem Rückweg zur Stadt einen Zwischenstopp bei den heißen Quellen von Huaqing einzulegen, den winterlichen Lustgärten jener Kaiser, die in Xi’an residiert hatten. Verglichen mit den Menschenmassen in den Museumshallen der Terrakottaarmee und dem hektischen Trubel, den die Marktschreier und Touristen an den umliegenden Verkaufsständen entfalteten, sei es dort angenehm ruhig, hatte er versprochen. Und er hatte Recht behalten. In den Wochen vor dem Nationalfeiertag, dem Jahrestag der Befreiung, kam der Tourismus saisonal bedingt beinahe zum Erliegen. Nur eine Hand voll Besucher lustwandelte auf den Pfaden und Terrassen dieser jahrhundertealten Gärten, die in mehreren Stufen die Ausläufer des Berges Li erklommen. »Wer ist denn die nackte Nymphe?«, fragte Margaret, in Richtung der spärlich bekleideten Statue nickend. Michael lächelte. »Das ist Yang Guifei«, erwiderte er. »Eine der vier schönsten Frauen in der chinesischen Geschichte. Sie war eine der dreitausendsechshundert Konkubinen des Tang-Kaisers Gao Zong. Er verliebte sich in sie. Leidenschaftlich. Bis über beide Ohren. Sie verbrachten alle Wintermonate gemeinsam hier, wo sie ihre Liebe an den heißen Quellen wärmten. Bald wurde er ihr hörig und begann, die Staatsgeschäfte zu vernachlässigen. Er hatte nur noch den einen Wunsch: jede Minute mit der Frau zu verbringen, die er liebte. Als schließlich ihr Adoptivsohn einen Aufstand gegen ihn anzettelte, ließen ihn seine Minister wissen, dass seine Armee nicht kämpfen würde, solange diese Frau am Leben sei.« »Er hat sie getötet, nicht wahr?«, sagte Margaret. Michael schüttelte den Kopf, und sie grinste. »Einen Moment hatte ich schon richtig Angst gekriegt.« »Sie ersparte ihm das, indem sie sich selbst umbrachte.« Sie stöhnte enttäuscht auf. »Musst du denn jede Geschichte
kaputtmachen?« Er lachte. »Ich denke sie mir nicht aus. Es muss an meiner Art zu erzählen liegen.« Sie fragte sich, ob es sich dabei wohl um eine wahre Geschichte handelte, und kam zu dem Schluss, dass sie vermutlich einen wahren Kern hatte, der aber im Lauf der Zeit durch Geschichtenerzähler wie Michael ausgeschmückt worden war. Nichtsdestotrotz legte sie einen melancholischen Schleier über diesen Ort. Auch ein scheinbar allmächtiger Mann wie ein Kaiser konnte in eine Tragödie verwickelt werden. Immerhin war er auch nur ein Mensch. »Es gibt aber noch eine Geschichte, die mit diesem Ort verknüpft ist«, sagte er, »und die nicht ganz so tragisch endet. Obwohl Chiang Kai-Shek da bestimmt anderer Meinung wäre.« Mit größter Selbstverständlichkeit nahm er ihre Hand und führte sie vom See weg über eine gewölbte Brücke, dann zwischen einigen japanischen Schnurbäumen hindurch und anschließend eine Treppe nach oben auf eine gepflasterte Terrasse. Seine Hand fühlte sich warm und kräftig an, und Margaret merkte, dass sie auf die Berührung reagierte. »Du weißt doch, wer Chiang Kai-Shek war?« Sie schüttelte bedauernd den Kopf und merkte wieder einmal, wie beschämend wenig sie wusste. Sofort fühlte sie sich klein und bedeutungslos. »Hatte er was mit irgendwelchen Schecks zu tun?«, fragte sie. Das brachte ihr einen strafenden Blick ein. »Nachdem die QingDynastie im Jahre 1911 endgültig gestürzt wurde, war die erste chinesische Republik geboren. Allerdings lebte ihr Gründer, Dr. Sun Yat-Sen, nicht lang, und das Land wurde durch die Kämpfe verschiedener Kriegsherren in Stücke gerissen. Sein Nachfolger war Chiang Kai-Shek, ein ebenso genialer wie rücksichtsloser Anführer, der die Kriegsherren 1928 vernichtend schlug und während der nächsten zwei Jahrzehnte einen Bürgerkrieg gegen die Kommunisten führte.« Sie hielten an, lehnten sich an eine steinerne Brüstung mit Blick auf das Gewirr von Treppenaufgängen und Terrassen und beobachteten, wie die ersten bernsteinfarbenen Herbstblätter auf die Wasseroberfläche trudelten. »Langweile ich dich?«, wollte er wissen. »Mach dir keine Gedanken. Das würdest du schon mitkriegen.« »Gut.« Er nahm sie erneut bei der Hand und geleitete sie über die Terrasse zu einer schattigen Villa am anderen Ende. »Denn im Dezember 1936 lebte Chiang Kai-Shek genau hier, in diesem Haus.
Die Japaner waren in China eingefallen und hielten weite Teile des Landes besetzt. Einige Generäle Chiang Kai-Sheks waren der Ansicht, er würde zu viel Zeit mit dem Kampf gegen die Kommunisten verschwenden, wo doch die einmarschierenden fremden Teufel der wahre Feind wären. Ihrer Meinung nach hätte er sich mit den Kommunisten verbünden und mit ihnen gemeinsam die Japaner verjagen sollen. Also kamen sie mit einem kleinen Einsatzkommando hierher, um ihn gefangen zu setzen. Es kam zu einem Schusswechsel.« Sie standen jetzt auf der überdachten Terrasse, die sich über die gesamte Länge des Hauses erstreckte. »Schau nur«, sagte er. »Sie haben die Fenster mit Kunststoff abgedeckt, um die Einschusslöcher im Glas zu schützen.« Margaret spähte prüfend durch das Plexiglas und erkannte die runden Löcher in den zersplitterten Scheiben. »Ja«, sagte sie skeptisch. »Als ob das die echten Einschusslöcher wären.« »Du bist eine gnadenlose Zynikerin, Margaret«, stellte er fest. Sie grinste ihn an, und er schüttelte lächelnd den Kopf. »Wie dem auch sei, jedenfalls fassten sie ihn erst nach einer Verfolgungsjagd. Als sie angegriffen hatten, war er gerade im Bett gewesen, und als sie ihn schließlich in einem kleinen Pavillon oben auf dem Hügel stellten, trug er noch immer seinen Schlafanzug, hatte nur einen Schuh an und kein Gebiss im Mund.« Sie lachte. »Wie würdelos. Und hat er daraufhin mit den Kommunisten gemeinsame Sache gemacht?« »Er hat, wenn auch widerstrebend. Nachdem die Japaner dann im Jahr 1946 endlich besiegt waren, fielen beide Seiten erneut übereinander her, bis die Kommunisten 1949 siegten und Chiang Kai-Shek nach Taiwan floh, wo er die Republik China gründete.« »Im Gegensatz zur hiesigen Volksrepublik China.« »Ganz genau.« »Na so was«, sagte sie. »Jetzt erfahre ich doch noch was. Gerade mal drei Monate bin ich in diesem gottverdammten Land, und schon erfahre ich etwas darüber.« Sie lächelte Michael an, wurde dabei von seinem durchdringenden Blick getroffen und spürte sofort ein Ziehen in ihrem Unterleib. Er fasste ihr Gesicht mit beiden Händen und zog es zu sich her. Einen Augenblick zögerte er, fast als wolle er ihr die Möglichkeit lassen, sich zurückzuziehen, bevor er sich entweder zum Narren machte oder sie unwiderruflich beide auf einen Weg lenkte, der sie tief in unerforschtes Gebiet führen würde. Doch sie zog sich nicht zurück, und er küsste sie. Es war ein langer, zärtlicher,
sehnsüchtiger Kuss, bei dem sich ihr Körper unwillkürlich seinem näherte, bis sie seinen festen, warmen Leib an ihrem spürte. Sie lösten sich voneinander, und sie schloss einen Moment die Augen, schwer atmend und seinen warmen Atem auf ihrem Gesicht spürend. Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie, dass er sie aufmerksam musterte. Sie grinste erst und lachte schließlich. »Was ist denn so komisch?«, fragte er verwirrt und beinahe beleidigt. »Also, mal ehrlich«, erwiderte sie, »die meisten Frauen werden damit umgarnt, dass ein Mann ihnen unter einem funkelnden Sternenhimmel erzählt, wie wundervoll sie aussehen. Und ich? Ich lasse mich mit Anekdoten über Chiang Kai-Shek und sein fehlendes Gebiss verführen.« Nun lachte er auch und versprach, als sein Lachen verebbt war: »In Ordnung, dann werden wir heute Abend eben irgendwo einen funkelnden Sternenhimmel auftreiben, und ich werde dir erzählen, wie wunderschön du bist und wie sehr ich mich danach verzehre, mit dir ins Bett zu gehen.« Womit er sie gleichzeitig überraschte, ihr schmeichelte und sie erschreckte. »Sei lieber vorsichtig«, sagte sie. »Am Ende nehme ich dich noch beim Wort.« Die Gesichter der Toten blickten vom Bett zu ihr auf. Vier Männer, die alle durch ein und dasselbe Schwert enthauptet worden waren. Alle waren mit der gleichen Droge betäubt worden, doch nur drei von ihnen hatten diese Droge in Rotwein aufgelöst getrunken. Diese drei waren auch von einer Person geköpft worden, die links hinter ihnen gestanden hatte, und ihre Hände waren mit einem Stück Seidenschnur gefesselt, das mit einem herkömmlichen Kreuzknoten geknüpft worden war. Der Vierte war von jemandem geköpft worden, der rechts hinter ihm stand und ihn mit einem spiegelverkehrten Kreuzknoten gefesselt hatte. Er hatte Wodka getrunken, der sich, wie ihm unmöglich entgangen sein konnte, durch die Droge blau gefärbt hatte. In allen anderen Details waren die Morde deckungsgleich. Margaret schüttelte den Kopf. Nach wie vor war sie überzeugt, dass ihre erste Schlussfolgerung richtig gewesen war. Yuan Tao war von jemandem ermordet worden, der den Anschein erwecken wollte, Yuan sei demselben Täter zum Opfer gefallen wie die drei anderen Enthaupteten. Und doch gab es ganz offensichtlich eine Verbindung,
denn schließlich hatten alle vier dieselbe Schule besucht. Was also hatte sie bisher übersehen? Was hatten sie alle bisher übersehen? Vor ihrem geistigen Auge ließ sie das übrige Beweismaterial Revue passieren. Drei Flaschen Wein in Yuan Taos Wohnung. Drei Flaschen, drei potenzielle Opfer mehr. Aber was hatten diese Flaschen in seiner Wohnung zu suchen? Genauso wie der dunkelblaue Staub, der mit jenem identisch war, den man an Hose und Schuhen eines der anderen Opfer gefunden hatte. Ein weiteres Bindeglied. Aber wen oder was verband es? Und was war unter den Dielenbrettern der illegal angemieteten Wohnung versteckt gewesen? Noch einmal betrachtete sie das Foto von Yuan Taos Leiche mit dem Loch im Boden, wo das Blut abgeflossen war, dem aufgerissenen Linoleum und den abgelösten Fußbodenbrettern. Jemand hat nach etwas gesucht – aber nach was? Margaret hatte mehr als eine Stunde damit zugebracht, Autopsieberichte zu lesen und sich Fotos anzusehen. Als sie und Michael am späten Nachmittag in ihr Hotel zurückgekehrt waren, hatte sie ein schlechtes Gewissen bekommen. Vier Männer waren umgebracht worden, und das Schicksal dreier weiterer hing womöglich davon ab, dass der Mörder rasch gefasst würde. Nichtsdestotrotz war sie hier in Xi’an, tausend Kilometer von Peking entfernt, und flirtete mit einem Mann, der sie zwar attraktiv fand und das auch offen zugab, der aber nicht das Geringste mit den Ermittlungen zu tun hatte. Immer wieder hatte sie sich gesagt, dass es schließlich nicht ihre Ermittlungen waren. Dass sie im Grunde gegen ihren Willen in die ganze Sache hineingezogen worden war. Ihr schlechtes Gewissen hatte sie damit nicht beruhigen können. Weil sie gern gewusst hätte, ob es heute irgendwelche Fortschritte gegeben hatte, überlegte sie kurz, ob sie versuchen sollte, Li anzurufen. Doch sie verwarf diese Idee rasch wieder. Bestimmt würde es Li nicht leicht fallen, mit ihr zu sprechen, und sie würde sich wahrscheinlich unbehaglich fühlen. Was wiederum die Frage aufwarf, ob sie nun eher wegen der Untersuchung oder wegen Li und ihrer Beziehung zu Michael ein schlechtes Gewissen hatte. Aber warum, verdammt noch mal, sollte sie überhaupt ein schlechtes Gewissen haben? Schließlich hatte Li mit ihr Schluss gemacht. In ihrer Brust flackerte kurz Zorn auf, der gleich darauf wieder erlosch und sie leer und ausgebrannt zurückließ. Denn ihr war bewusst geworden, dass sie, was sie auch für Michael empfinden mochte, noch immer in Li verliebt war.
Sie ließ den Autopsiebericht, den sie gerade in der Hand hielt, auf das Bett fallen, wobei eines der Fotos im Windstoß umklappte. Sie drehte es wieder um und warf einen kurzen Blick darauf. Es zeigte das blutdurchtränkte Plakat, das dem zweiten Opfer um den Hals gehängt worden war. Während sie die fremdartigen und unergründlichen chinesischen Schriftzeichen betrachtete, die ihr nicht das Geringste sagten, traf sie die Erkenntnis wie ein Schlag. Die Handschrift! Sicherlich gab es in China Kalligrafieexperten, die bestimmen konnten, ob die Schriftzeichen auf den Plakaten von derselben Hand stammten. Dass ihr der Gedanke nicht früher gekommen war, lag daran, dass es zwar gängige Praxis war, Schriftproben mit der Handschrift einer verdächtigen Person zu vergleichen, aber nicht Schriftproben von verschiedenen Tatorten. Hastig legte sie die Fotos von den vier Plakaten nebeneinander aus. Aber noch bevor sie damit fertig war, war ihre Begeisterung in Enttäuschung umgeschlagen. Auf jedem Karton waren nur zwei Schriftzeichen – eines für den Spitznamen, das andere für die Nummer. Garantiert waren die Muster nicht groß genug, um zu einem aussagekräftigen Urteil zu kommen. Und wie stand es mit der Tinte? Möglicherweise ließ sich feststellen, dass in allen Fällen dieselbe Tinte verwendet wurde. Aber welche Schlussfolgerungen ließe das zu? Vermutlich nur die, dass beide Mörder Zugang zur selben Tinte hatten, wie sie ja auch Zugang zur selben Mordwaffe gehabt hatten. Was mehr Fragen aufwarf als beantwortete. Und was wäre wenn – ihre Gedanken kreisten erneut um die chinesischen Schriftzeichen – was wäre, wenn ein Kalligraf doch nachweisen könnte, dass alle Plakate von derselben Hand beschriftet worden waren? Was hätte das zu bedeuten? Irgendwie irritierte sie diese Vorstellung. Sie schnaubte frustriert, stand vom Bett auf und erblickte sich dabei zufällig im Schlafzimmerspiegel. Erschrocken bemerkte sie, dass sie immer noch nackt war. Sie hatte sich nach dem Duschen nicht wieder angezogen. Sich so nackt zu sehen, ließ sie an Michael denken, und sie merkte, wie sich in ihr sexuelles Verlangen regte. Auf der Stelle meldete sich ihr schlechtes Gewissen zurück, weshalb sie sich eilends vom Anblick ihres Spiegelbildes losriss und in ihr Höschen, die Jeans und die weiße Bluse schlüpfte, die sie sich vorhin auf dem Stuhl zurechtgelegt hatte. Dann konzentrierte sie sich mühsam wieder auf das Blut und die enthaupteten Leichen. Sie
spürte, dass sie ganz, ganz nah an etwas dran gewesen war, das sowohl die Unterschiede als auch die Gemeinsamkeiten aller vier Fälle erklären konnte. Sie wollte gerade aufgeben und die Autopsieprotokolle und Berichte der Spurensicherung beiseite wischen, als es ihr wie Schuppen von den Augen fiel. Irgendwie war es so nahe liegend, dass sie sich fragte, warum sie nicht schon längst darauf gekommen war. Rasch kramte sie das Adressbuch aus ihrer Handtasche und schlug die Telefonnummer der Sektion Eins nach, bei der sie schon einmal vergeblich anzurufen versucht hatte. Sie zögerte einen langen Moment, während ihr das Herz im Hals pochte, als wollte es ihr die Luft zum Atmen abschnüren. Dann ließ sie sich auf die Bettkante sinken, nahm den Hörer ab und wählte die Nummer in Peking. Nach dreimaligem Klingeln meldete sich eine Telefonistin auf Chinesisch. Margaret sagte ganz langsam und betont: »Qing. Li Yan.« Ein Schwall von Chinesisch prasselte auf sie ein. Sie versuchte es erneut. »Qing. Li Yan.« Sie hörte die Frau am anderen Ende der Leitung ungeduldig Luft holen, dann folgte ein neuerlicher chinesischer Wortschwall, und schließlich fand Margaret sich in der Warteschleife wieder. Nach einer halben Ewigkeit hörte sie eine männliche Stimme. »Weif«, fragte er. »Li Yan?« Einen Moment blieb es still. »Margaret?« Er brauchte ihren Namen nur auszusprechen, und sie bekam eine Gänsehaut. »Li Yan, mir ist da was eingefallen«, sagte sie. »Es hat mit Yuan Taos Mörder zu tun…« Sie wartete auf eine Reaktion. »Ja und?«, sagte er schließlich, wobei sich bei seinem Tonfall diesmal eher ihre Haare aufstellten, als dass sie eine Gänsehaut bekam. Sofort fiel Margaret wieder ein, wie frustrierend der Umgang mit diesem Mann sein konnte. Sie holte tief Luft. »Weißt du noch, wie du gesagt hast, dass abgesehen von den ermittelnden Polizisten und dem Mörder niemand mit allen Einzelheiten der Morde vertraut sein könnte?« Sie wartete seine Antwort erst gar nicht ab. »Nun, nehmen wir einmal an, dass Yuan Taos Mörder an den vorangegangenen Taten als Komplize beteiligt war oder dass er sie zumindest als Zeuge beobachtet hat. Das würde erklären, woher er den Modus Operandi kannte. Und wenn er dann noch Linksund kein Rechtshänder wäre, hätten wir auch gleich die Erklärung für die einzige Abweichung in Yuan Taos Fall.«
Wieder blieb es lange still, bis Li schließlich sagte: »Na dann, vielen Dank für die Anregung. Ich werde einen Vermerk zu den Akten nehmen.« Sie merkte, wie sie wütend wurde. »Mehr fällt dir nicht dazu ein?« »Wie gefällt dir Xi’an?«, fragte er und ergänzte, nachdem sie nicht antwortete, nicht antworten konnte: »Seid ihr noch immer nur platonisch befreundet, du und dein Mr. Zimmerman?« »Das geht dich verdammt noch mal einen Dreck an!«, blaffte sie und knallte den Hörer auf die Gabel. Mit einer einzigen wütenden Geste wischte sie sämtliche Fotos und Berichte von ihrem Bett auf den Fußboden. Warum hatte sie sich das nur angetan? Sie war ihm doch völlig egal. Hauptsache, sie steckte ihre Nase nicht in seine Ermittlungen. Im Grunde war er nur ein typischer, frauenfeindlicher, Ausländer hassender chinesischer Mann! Sie fühlte, wie ihr Tränen in die Augen schossen, und lenkte ihren Zorn gegen sich selbst. Warum regte sie sich dermaßen auf? Warum hatte sie ein so schlechtes Gewissen? Warum verschwendete sie ihre Zeit an diesen Mann? Es klopfte an der Tür, deshalb sprang sie rasch auf und wischte sich die Tränen aus den Augen. »Ja?« »Ich bin’s. Michael.« Sie atmete tief durch, blinzelte wütend und rückte vor dem Spiegel ihr Haar zurecht, bevor sie die Tür öffnete. Er begrüßte sie mit einem warmherzigen, offenen und freundlichen Lächeln, und sie wünschte sich nach ihrem kurzen Schlagabtausch mit Li einfach nur, er möge sie in den Arm nehmen und ganz fest halten. Doch »Hallo« war alles, was sie sagte. »Komm rein. Ich bin gleich fertig. Muss nur noch ein wenig Make-up auflegen.« Er trat ein, und sie registrierte peinlich berührt, dass sein Blick auf die verstreut am Boden liegenden Berichte und Fotos fiel. »Ein kleines Missgeschick«, sagte sie. »Ich werde das gleich aufheben.« »Warte, ich helfe dir.« Michael bückte sich, um die herumliegenden Akten aufzusammeln. »Nein, schon gut«, beeilte sich Margaret zu sagen. Doch es war zu spät. Er sah sich bereits das Foto einer kopflosen Leiche an. »O Gott!« Angewidert wandte er sich ab und verzog das Gesicht. Sie riss ihm das Foto aus der Hand. »Ein schwerer Fehler«, seufzte sie, »dass du die zu Gesicht bekommen hast. Die meisten Männer finden es nicht gerade erotisch, wie ich mir
meinen Lebensunterhalt verdiene.« Mit bleichem, erschrockenem Gesicht richtete er sich auf. »Ich werde versuchen, es zu verdrängen«, sagte er. »Es nimmt einen halt ein bisschen mit, wenn man jemanden aus dem Bekanntenkreis mit abgeschnittenem Kopf wieder sieht.« »Jemanden aus dem Bekanntenkreis?« Margaret runzelte die Stirn und sah sich dann das Bild an, das sie ihm abgenommen hatte. Es war das von Yue Shi. »Natürlich«, begriff sie. Sie hatte die Verbindung zuvor gar nicht gesehen. »Er war Professor für Archäologie an der Universität Peking.« »Es war ein schrecklicher Schock für mich, als ich erfahren habe, was ihm zugestoßen ist. Ich hätte allerdings nicht erwartet, dass ich zu sehen bekommen würde, was ihm widerfahren ist.« Margaret war bestürzt. »Es tut mir so Leid, Michael. Hast du ihn gut gekannt?« Er zuckte mit den Achseln. »Wir waren nicht gerade befreundet, aber wir hatten öfter miteinander zu tun, während ich für die Serie über Hu Bo recherchiert habe. Er war ein Protegé von Hu. Er hatte bei ihm studiert und ihm bei mehreren größeren Ausgrabungen assistiert. Darum kannte er Hu Bo besser als irgendjemand sonst. Er hat mir unschätzbare Hilfe dabei geleistet, Hu als Menschen und nicht nur als Archäologen kennen zu lernen.« Margaret ließ die Akten auf das Bett fallen. »Es tut mir Leid«, sagte sie erneut, schlang die Arme um seine Taille und stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihm einen Kuss auf die Lippen zu hauchen. »Ich wollte uns ganz bestimmt nicht den Abend verderben.« Er lächelte matt. »Keine Sorge.« Er beugte sich hinunter, erwiderte ihren Kuss und umarmte sie. »Ich glaube, ich könnte trotzdem erst mal was zu trinken vertragen. Anschließend werde ich dir Xi’an zeigen. Und dann essen wir.« »Und dann…?« Er zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung, Margaret. Das lassen wir einfach auf uns zukommen.« Sie spürte, wie sich tiefe Enttäuschung in ihr breit machte, und verfluchte insgeheim Li und seine Ermittlungen. Was sie auch tat, wohin sie auch ging, irgendwie schien er immer mit von der Partie zu sein und ihr alles madig zu machen. Und nun hatte er einen Keil zwischen sie und Michael getrieben, indem Michael das wirkliche Gesicht ihrer Arbeit erkannt hatte und mit dem Tod eines Freundes konfrontiert worden war. Fast als hätte Li alles genauso geplant, nur
um sicherzustellen, dass ihre Beziehung zu Michael so blieb, wie sie es ihm geschildert hatte, nämlich platonisch. Als sie das in japanischem Besitz befindliche Hotel Ana Chengbao verließen, war es bereits dunkel, und Margaret blickte staunend auf die hell erleuchtete, belebte Stadt, in die sich der tagsüber so verstaubt und langweilig wirkende Ort verwandelt hatte. Das mächtige Südtor gleich gegenüber und die mit Zinnen bestückte, nach Ost und West verlaufende Stadtmauer hoben sich im gelben Neonlicht so deutlich vom Hintergrund ab, dass es wahrhaftig so aussah, als hätte sie jemand mit gelbem Leuchtstift gegen den Nachthimmel umzeichnet. Vielfarbige Scheinwerfer beleuchteten die elegant geschwungenen Dächer des antiken Tores und die in der Ferne schimmernden Wachtürme. Michael grinste. »Fast wie Disneyland«, stellte er fest. »Komm mit.« Er nahm ihre Hand und winkte ein Taxi heran. Die Straße folgte dem Verlauf des großen Stadtgrabens, der durch einen Park voller verschwiegener Spazierwege und friedlicher Pavillons von der Stadtmauer getrennt war und sich rund um die Innenstadt zog. Darüber hoben sich Kilometer um Kilometer gelb auf schwarz die Mauerzinnen gegen den Himmel ab. Die Trottoirs der Straßen außerhalb der Mauer, die tagsüber wie ausgestorben gewirkt hatten, hatten sich in ein einziges riesiges Speiselokal verwandelt. Tische standen dicht an dicht, erleuchtet von niedrigen, roten Lampen, die an durchhängenden Elektrokabeln aufgereiht waren. Überall brannten und qualmten Kohlebecken und Grillfeuer in der Dunkelheit, denn an diesem milden Herbstabend hatten sich die Menschen zu tausenden mit ihren Familien und Freunden unter den fleischig grünen Blättern versammelt, um gemeinsam zu essen. »Die Einwohner von Xi’an sind einfach Nachtmenschen«, sagte Michael. »Sobald die Sonne untergeht, ist es eine aufregende Stadt.« »Wo fahren wir hin?«, fragte Margaret wissen. »Ins islamische Viertel.« Er schmunzelte. »Ein Erlebnis, das man sich nicht entgehen lassen darf. Ich kenne ein kleines Lokal mit original islamischer Küche.« Margaret zog überrascht die Augenbrauen hoch. »Moslems? Hier in China? Ich dachte, Religionen wären hier geächtet?« »Aha«, erwiderte Michael. »Du bist also auch der antichinesischen Propaganda in den Staaten auf den Leim gegangen. Den selbst ernannten Kreuzrittern. In Wahrheit steht es den Leuten
hier seit zwanzig Jahren frei, jeden Gott zu verehren, den sie verehren wollen. Allerdings ist es nach den entsetzlichen Religionsverfolgungen während der Kulturrevolution nicht verwunderlich, dass es etwas Zeit braucht, bis sich die Menschen wieder offen zu ihrem Glauben bekennen.« »Betrachten die Kommunisten denn die Religion nicht als Bedrohung?«, fragte Margaret. »Ich meine, Kommunismus ist doch eine atheistische Philosophie, oder?« »In Wirklichkeit ist es so, Margaret«, erwiderte Michael, »dass der Kommunismus faktisch die Rolle einer Staatsreligion übernommen hat. Diese Religion hat hier ungefähr fünfzig Millionen Mitglieder – die Zahlen schwanken etwas, je nachdem, ob gerade eine korrupte Führungsschicht ausgemerzt und an die Wand gestellt wurde und der nächste Schwung junger, städtisch geprägter Technokraten in die Partei eintritt. Das Wort des großen Mao oder sogar das eines Deng Xiaoping zählt längst nicht mehr so viel wie früher, musst du wissen. Heutzutage ist die Partei eher wie ein großer Verein. Die Leute treten nicht ein, weil sie erleuchtet wurden. Sie treten aus demselben Grund ein, aus dem ein Geschäftsmann in Chicago den Rotariern beitritt. Um Kontakte und Verbindungen zu knüpfen. Um im Leben vorwärts zu kommen.« Margaret beobachtete, wie seine Augen beim Sprechen leuchteten und seine Stimme vor Begeisterung bebte. Er erfreute sich an seinem Wissen und daran, es anderen zu vermitteln. Margaret konnte sich ausgezeichnet vorstellen, warum er im Fernsehen so erfolgreich war, ganz unabhängig vom Thema. Ein paar Gläser Whisky hatten sein Entsetzen über die Bilder auf dem Boden ihres Schlafzimmers hinweggespült. Der Anblick, der für Margaret alltäglich war, hatte ihn zutiefst erschüttert. Wie schon so oft fragte sie sich, ob mit ihr eigentlich alles in Ordnung war oder ob sie durch ihre Arbeit schon völlig abgestumpft war, gleichgültig geworden durch die Jahre, in denen sie dem Grauen des Todes in den unterschiedlichsten Erscheinungsformen ausgesetzt gewesen war. Aber wie sehr ihre Arbeit sie auch geprägt haben mochte, sie hatte Margaret nicht unempfindlich gemacht gegen die emotionalen Tiefschläge, die ihr das Leben scheinbar permanent versetzte: ein Ehemann, der sie betrogen hatte und gestorben war, nicht ohne seine Schuld posthum auf sie abzuwälzen; ein aus einem fremden Kulturkreis stammender Liebhaber, in dessen Leben sie nie wirklich Einlass finden konnte, der aber auch nie den Absprung schaffen
würde, um mit ihr zusammen in ihrer Welt zu leben. Sie fragte sich, ob das bei Michael wohl anders wäre. Würde sie sich am Ende wieder nur Wunden zuziehen, wenn sie ihren Sehnsüchten nachgab? Dabei fühlte sie sich so geborgen, wenn sie mit ihm zusammen war. So sicher. Es lag etwas wundervoll Beruhigendes in der Art, wie er hinten im Taxi ihre Hand hielt. Endlich einmal kümmerte sich jemand um sie und geleitete sie behutsam durch eine ebenso fremdartige wie faszinierende Welt. Eine Welt, deren Gefahren ihr in seiner Gesellschaft nichts anhaben konnten, das spürte sie ganz deutlich. Nach so vielen Jahren als unabhängige, hartgesottene Karrierefrau hatte die Vorstellung, sich ganz und gar dieser Fürsorge hinzugeben, etwas herrlich Verführerisches an sich. Sie fuhren jetzt auf der Xi Dajie durch das Westtor nach Osten, und Margaret beobachtete, wie eine ganze Familie auf einem Motorrad das Taxi überholte. Der kleine Junge klemmte vorne zwischen dem Vater und der Lenkstange, während das kaum größere Mädchen zwischen dem Vater und der Mutter auf dem Sozius eingezwängt war. Zu viert auf einem Motorrad. Margaret war so erstaunt, dass ihr erst nach einer Weile dämmerte, wie selten eine vierköpfige Familie in einem Land war, in dem durch die Ein-KindPolitik alle sozialen Strukturen rigoros zurückgeschnitten worden waren. Vor ihnen ragte ein hell erleuchtetes Bauwerk in den Nachthimmel auf. »Das ist der Glockenturm«, erklärte Michael. Er sagte etwas zu dem Fahrer, und sie hielten an der Ecke eines großen Platzes, dessen sorgsam gestutzter Rasen kreuz und quer von Pfaden und Wegen durchzogen war und von dem eine breite Treppe ins helle Licht eines unterirdischen Einkaufszentrums hinabführte. Sie stiegen aus, und Michael bezahlte den Taxifahrer. Margaret sah sich um. Am gegenüberliegenden Ende des Platzes befand sich ein großes, lang gestrecktes, im traditionellen chinesischen Stil erbautes Restaurant, das sich im Neonlicht deutlich gegen den Himmel abzeichnete. Der Platz selbst war voll mit Menschen, Familien beim Abendspaziergang, Kindern, die auf einer Betonpiste in MiniAutoscootern herumkurvten, und Erwachsenen, die neben einem Teich auf einer Mauer saßen und im Schein eines erleuchteten Springbrunnens Zeitungen und Bücher lasen. Eine Frau versuchte ihnen eine riesige Raupe aus Papier anzudrehen, die sich entnervend
wirklichkeitsgetreu über den Boden wälzte, wenn man sie an ihrer Schnur über den Beton zog. Aber Michael schüttelte nur lächelnd den Kopf. Als er Margaret über den Platz führte, gafften die Leute sie ungeniert an und riefen ihnen in merkwürdig verzerrtem Englisch Satzfetzen zu wie: »Hallo« oder »Sehr erfreut, Sie zu sehen.« Sie durchquerten den Schatten eines Bauwerks, bei dem es sich Michael zufolge um den so genannten Trommelturm handelte, und bogen dahinter in ein enges, überdachtes Gässchen ab, wo sich zu beiden Seiten die Stände fliegender Händler reihten, die billigen Ramsch und religiöse Anhänger zu verscherbeln versuchten. Zu ihrer Linken, auf der anderen Seite der Mauer, befand sich laut Michael die große Moschee. Religion und Geschäft gingen hier, so schien es, Hand in Hand. Sie liefen an den Händlern vorbei, die ihnen von der Teekanne bis zum Zierschwert alles Mögliche zu verkaufen versuchten. Ab und zu blieb Michael stehen und unterhielt sich mit einem von ihnen. Regelmäßig zeichnete sich Verblüffung in ihren Gesichtern ab, wenn er in fließendem Chinesisch parlierte, und er brachte seine Gesprächspartner unweigerlich zum Lachen. In dem Gässchen drängten sich die Kauflustigen und Jugendliche auf Fahrrädern, zwischen denen sich gelegentlich ein Motorrad im Schneckentempo einen Weg hindurchbahnte, und schon bald führte Michael sie nach links, am Haupteingang der Moschee vorbei, in die relative Ruhe eines staubigen, vom Verfall gezeichneten Hutong. »Es ist bestimmt toll, wenn man so gut Chinesisch spricht wie du«, sagte Margaret. »Dir muss sich die ganze Kultur dieses Landes viel besser erschließen, als sich sonst jemand erhoffen darf.« Michael wiegte zweifelnd den Kopf. »Das kann eine zweischneidige Sache sein«, erwiderte er. »Jemand hat mir China mal wie eine Zwiebel beschrieben. Es besteht aus Schichten über Schichten und noch mehr Schichten, die sich nur minimal voneinander unterscheiden. Die meisten Ausländer durchdringen nur zwei oder höchstens drei dieser Schichten. Sie kommen in Kontakt mit Menschen und Orten, mit ein wenig Geschichte, ein bisschen Kultur. Doch das Herz der Zwiebel, das wahre, eigentliche China, liegt viele Schichten darunter. Außer Reichweite, beinahe unberührbar.« Er dachte einen Augenblick nach. »Als ich anfing, Chinesisch zu lernen, haben sich die Menschen unglaublich gefreut. Die Chinesen sind begeistert, wenn man Komplimente machen oder einem
Taxifahrer Anweisungen geben oder eine Mahlzeit auf Mandarin bestellen kann. Aber wenn man eine Weile hier gelebt hat und die Sprache schließlich so gut beherrscht, dass man sich über Politik oder Philosophie unterhalten könnte, werden die Einheimischen misstrauisch. Plötzlich ist Schluss mit den Ermunterungen. Man kommt langsam dem zu nahe, was die Chinesen fremden Teufeln wie dir oder mir eigentlich nicht offenbaren wollen. Dem Herzen von China, der wahren chinesischen Identität.« »Das haut mich um!« Margaret war verblüfft. »Und ich dachte immer, die Chinesen seien unglaublich gastfreundlich.« »Das sind sie auch«, versicherte ihr Michael. »Ich liebe sie. Sie sind warmherzig, freundlich und unwahrscheinlich loyal.« Er überlegte kurz. »Man darf ihnen einfach nur nicht zu nahe kommen, das ist alles. Weil man keiner von ihnen ist.« Margaret rätselte, ob ihre Beziehung zu Li vielleicht genau deshalb zum Scheitern verurteilt war. Weil sie keine Chinesin war und nicht darauf hoffen durfte, ihn jemals so verstehen zu können wie ein anderer Chinese. Ein paar Hühner flatterten, durch ihr Kommen aufgeschreckt, hoch und in eine Seitengasse. Ein chinesischer Arbeiter schleppte Kohle in ein Siheyuan, rief »Ni bau« und lachte dann mit rauer Stimme los, als hätte er etwas furchtbar Spaßiges gesagt. Sie kamen an einem kleinen Mädchen vorbei, das mit bemerkenswerter Geschicklichkeit ein mit Gewichten beschwertes rosa Band durch schnelle Tritte mit dem Spann in der Luft hielt. Ihre Freundinnen schauten ihr zu und warteten geduldig auf einen Fehler, damit sie selbst an die Reihe kämen. Am anderen Ende des Hutong hatten sie die Ausläufer des islamischen Viertels erreicht und liefen unter einem großen Transparent mit chinesischen Schriftzeichen durch, das die Straße überspannte. Vor ihnen fiel aus den Schaufenstern und Imbissbuden grelles Licht auf die Straße. So weit das Auge reichte, war die Straße mit Tischen voll gestellt, über denen die mittlerweile schon vertrauten roten Lampen hingen, bis sie sich in einem Meer von Licht und Menschen verloren. Während sie auf den Trubel des Essens und Kochens zugingen, passierten sie einen Karren mit hoch aufgestapelten Ochsenlebern, auf denen es von Fliegen nur so wimmelte. Ein paar Meter weiter ächzte ein weiteres Gefährt unter großen Haufen stinkender Gedärme. Immer neue Gestanksnoten schlugen ihnen in der warmen
Abendluft entgegen. Als sie an einigen Bäumen vorbeigingen, zwischen denen Pelze aufgehängt waren, mischte sich der Geruch eines offenen Abwasserkanals in den Pesthauch der toten Tiere. Erst nachdem sie die düsteren Randbereiche des Viertels hinter sich gelassen hatten und tiefer vordrangen, wurden die Gerüche allmählich angenehmer. Indische Gewürze. Kreuzkümmel, Koriander, Garam Masala. Küchengerüche. Mariniertes Lamm und gebratenes Huhn. Die Kohlenbecken wurden von direkt darunter angebrachten, elektronisch gesteuerten Gebläsen bis zu extremen Temperaturen aufgeheizt und angefacht. In langen Trögen glühte und rauchte Holzkohle, und die Luft war erfüllt von appetitlichem Duft nach gebratenem Fleisch. Würzige Edelkastanien rösteten zusammen mit schwarzen Bohnen in riesigen Woks, auf lodernden Feuern wurden große Bottiche mit braunem Matsch aus Sesam erhitzt, um das Öl von der Sesampaste zu trennen. Es gab Friseurgeschäfte, Sämereien, Süßwarenverkäufer und Stände mit Haushaltswaren. Auf einem Küchentisch mitten auf dem Trottoir rollte ein Junge Nudeln aus, während hinter ihm eine Frau in einer großen Spüle aus Stein die Teller wusch. Durch einen Türspalt konnte Margaret einen Mann erkennen, der unter den grünen Abdecktüchern auf einem Friseurstuhl eingeschlafen war und darauf zu warten schien, dass der Friseur seine Zeitungslektüre beendete und ihm eine Rasur verpasste. In einer Metzgerei hackten Männer in weißen Kitteln mit mächtigen Beilen auf frisches Fleisch ein, während ein Junge die Fleischteile in einen hinter dem Laden geparkten Lieferwagen mit offener Ladetür warf. Sie kamen an Auslagen mit gegrillten Hühnerschenkeln vorbei und an Tischen, die mit aufgestapelten Tabletts voller kandierter Früchte und Körben voller Nüsse beladen waren. Alte Männer mit runden weißen Hüten saßen essend an den Tischen und beobachteten neugierig aus trüben Augen, wie Margaret und Michael Hand in Hand an ihnen vorbeischlenderten. Dieser Rundgang war in keinem Touristenführer verzeichnet, und weiße Gesichter sah man hier fast nie. Weshalb alle kleinen Kinder, an die Hand der Mutter geklammert, verzweifelt versuchten, jene englischen Brocken zu erproben, die man ihnen in der Schule beigebracht hatte. »Hallo«, sagte eines, um dann groteskerweise anzufügen: »So glücklich Sie kommen.« Spruchbänder und Fahnen flatterten dicht an dicht über ihren
Köpfen im Abendwind. Und darüber wisperten die Blätter der ausladenden Bäume im nächtlichen Himmel. »Ich habe dir gleich gesagt, dass es ein echtes Erlebnis werden würde«, sagte Michael zu ihr. Margaret machte große Augen und hielt seine Hand fest umklammert. »Es ist immer dasselbe«, beklagte sie sich. »Nie unternimmst du was Interessantes mit mir.« »Komm mit«, sagte er unvermittelt und zog sie von der Straße herunter, an einem jungen Mann vorbei, der ein Kohlenbecken bewachte, und in einen hohen, engen Raum mit direktem Zugang zur Straße. Von der Decke hängende Neonröhren schienen grell auf die gesprungenen Fliesen, mit denen Wände und Boden gekachelt waren. Es gab mehrere runde, mit Kunststoff bezogene Klapptische mit niedrigen Hockern aus Holz. Eine offene Betontreppe führte nach hinten ins Freie, allem Anschein nach ins Nirgendwo. »Was tun wir hier?«, fragte Margaret beunruhigt. Michael grinste. »Essen.« »Du machst wohl Witze!« Margaret war entsetzt. Sie sah immer noch die Fliegen vor sich, die auf Bergen von Ochsenleber und Gedärmen herumkrabbelten. »Mach dir keine Gedanken«, beschwichtigte er. »Muslime sind ausgesprochen pedantisch, wenn sie Fleisch zubereiten und kochen.« »O ja, das habe ich gemerkt«, erwiderte Margaret. Sie erinnerte sich noch gut an den Jungen, der die Fleischbatzen einfach hinten in den Lieferwagen geworfen hatte. »Ein Gesundheitsamt wäre hier vollkommen überflüssig.« Michael amüsierte sich über ihre Pingeligkeit. »Hier kann dir wirklich nichts passieren. Ehrlich. Ich habe schon oft hier gegessen und bisher noch jedes Mal überlebt.« Er ließ sich auf einen der niedrigen Hocker sinken, und zögernd tat sie es ihm gleich. Augenblicklich umschwärmte eine Schar rosa und weiß gekleideter, schlicht wirkender junger Mädchen ihren Tisch, um Teller mit Sojaund Chilisaucen zum Eintunken zu bringen. Die Mädchen bestaunten Margaret mit großen Augen. Eines von ihnen sprach schnell auf Michael ein, der daraufhin zu grinsen begann. »Sie wollen wissen, ob sie dein Haar berühren dürfen.« »Klar. Nehme ich an«, sagte Margaret besorgt, und alle fassten ihr zaghaft an die weichen blonden Locken, zogen die Hand aber augenblicklich wieder zurück, als könnten sie sich daran verbrennen. Sie kicherten und schnatterten aufgeregt. Ein Zweites sagte etwas zu
Michael, das ihn zum Lachen brachte. Er schüttelte den Kopf und antwortete rasch, womit er wiederum die Mädchen zum Lachen brachte. »Um was ging es denn?«, wollte Margaret wissen, der es gar nicht gefiel, so ausgeschlossen zu sein. »Sie haben mich gefragt, ob ich ein Filmstar bin«, schmunzelte Michael. Margaret schnippte mit den Fingern. »Ich hab doch gleich gewusst, dass ich dich schon irgendwo gesehen habe. In Das Ding aus dem Sumpf, nicht wahr? Muss einen ja auf die Dauer fertig machen, so gut auszusehen, was?« Er lächelte. »Die Mädchen fragen, ob du Hühnerfüße haben willst.« Margaret verzog das Gesicht. »Nein danke. Meine jetzigen gefallen mir eigentlich ganz gut.« Er seufzte geduldig. »Zum Essen.« Sie zog ein anderes Gesicht. »Warum sollte ich Hühnerfüße essen wollen?« »Die Chinesinnen glauben, dass sie der Haut gut tun. Sie machen einen jünger.« »Ach ja? Frag sie doch mal, wie alt ich ihrer Meinung nach bin?« Er tat wie geheißen, die Mädchen nahmen Margaret erneut in Augenschein, und eine lebhafte Diskussion entspann sich. »Zweiundzwanzig«, teilte ihr Michael schließlich mit. Margaret lachte. »Nun, ich bin einunddreißig.« Sie deutete mit dem Finger auf ihr Gesicht. »Und falls sie wissen wollen, wie ich es anstelle, so jung auszusehen, kannst du ihnen ausrichten, dass ich das McDonald’s verdanke. Viertelpfündern mit Ketchup und Pommes.« Zum Auftakt wurden dampfende Suppenschüsseln hereingebracht, in denen Nudeln, Hühnerfleisch und Pilze schwammen. Die Suppe war extrem heiß und außerordentlich schmackhaft. Es folgte eine Platte, auf der sich gebratene Klöße türmten, gefüllt mit Rindfleisch, Frühlingszwiebeln, Bohnensprossen und Koriander. Margaret wurde ihrer mit den Essstäbchen kaum Herr. Doch die Mühe lohnte sich, denn in Chili-Soja-Sauce eingetunkt schmeckten sie pikant und ausgesprochen delikat. »Was möchtest du trinken?«, fragte Michael. »Etwas Kaltes, und zwar jede Menge, damit mein Mund wieder abkühlt. Bier wäre nicht schlecht.« »Tut mir Leid. Das lässt sich nicht machen. Moslems trinken nicht. Im islamischen Viertel gibt es keinen Alkohol.«
»Natürlich nicht. Dann eine Cola.« Michael sprach mit einem der Mädchen, das daraufhin zu einer alten Frau hinausrannte, die auf der Straße alkoholfreie Getränke vom Gepäckträger ihres Fahrrads verkaufte. Das Mädchen kehrte mit zwei Plastikflaschen zurück. »Was für hübsche Gläser«, sagte Margaret und nahm einen tiefen Schluck aus der Flasche. Das Lamm wurde aufgetischt. Große Bündel von Metallspießen, mit kleinen Häppchen gegrillten Lamms bestückt, die Hälfte davon in Chilisauce mariniert. Das Fleisch war zart, weich und wohlschmeckend. Aufmerksam beobachtete Margaret, wie Michael das Fleisch mit seinen Essstäbchen von einem Spieß auf einen Teller mit Sojasauce streifte, um die Stücke dann genüsslich Stück für Stück wieder herauszufischen und zu verspeisen. Das hier war wirklich ein Erlebnis, schoss es ihr durch den Kopf. Außergewöhnlich, aufregend, ganz anders, als sie es sich vorgestellt hatte. Und dennoch wirkte Michael in dieser Umgebung vollkommen ungezwungen, selbstbewusst und entspannt. Sie sah zu, wie behände er mit den Essstäbchen hantierte, und fühlte wieder Schmetterlinge in ihrem Bauch aufsteigen. Schon bei ihrer ersten Begegnung hatte sie sich vom ersten Moment an zu ihm hingezogen gefühlt, doch jetzt begriff sie, dass sich diese Anziehung unerbittlich gesteigert hatte. Sie fühlte sich wie die Motte im Licht. Er bemerkte ihren Blick und begann zu lächeln. »Schmeckt’s?« Sie nickte. Sie wollte ihn in- und auswendig kennen lernen, ihn sich einverleiben, von seinem gewaltigen Wissensschatz profitieren, alles herausfinden, was mit ihm, mit seinem Leben und seinen Träumen zu tun hatte. »Du wolltest mir noch erzählen, was sie damals in den Särgen der Grabstätte von Ding Ling gefunden haben«, sagte sie. Er winkte ab. »Das interessiert dich doch gar nicht.« »Doch, es interessiert mich. Du hast erzählt, dass man die Särge zerschmetterte, wäre nicht das Schlimmste gewesen.« Michaels Augen begannen zu leuchten, er beugte sich hinüber und ergriff ihre Hand. »Man fand die wundervollsten Dinge in diesen Särgen, Margaret. Herrliche Ming-Vasen, buddhistische Schriften, dutzende von Kunstgegenständen aus Jade, die einem uralten chinesischen Glauben zufolge den Verfall der Leichen aufhalten sollten. Aber das Außergewöhnlichste war eine Reihe von atemberaubenden, handbestickten Decken und Seidentüchern. Im
Sarg einer der Kaiserinnen fand sich eine bezaubernde Jacke, die mit einhundert spielenden Knaben bestickt war. In dem anderen lag die Mumie der Kaiserin, bekleidet mit Jacke und Rock, die beide mit Drachen, Fledermäusen und Hakenkreuzen verziert waren. Alles in einwandfreiem Zustand.« »Mit Hakenkreuzen?« Margaret war verblüfft. »Antike fernöstliche Nazis?« Michael schmunzelte. »Nein. Hitler hat sich das Hakenkreuz nur von den Chinesen ausgeliehen. Es ist das antike chinesische Schriftzeichen für ein langes Leben. Dieser Kretin hat es sogar fertig gebracht, das Zeichen falsch herum abzumalen.« Er verstummte kurz, und sie bemerkte erneut das Strahlen in seinen Augen. »Entscheidend ist, dass all diese wundervollen Stickereien, die Decken, Jacken, Röcke und goldenen Seidentücher – jahrhundertelang unter konstanten Temperaturbedingungen in den Särgen eingeschlossen und niemals der Luft ausgesetzt waren. Niemand konnte wissen, wie sich der Sauerstoff und die wechselnde Luftfeuchtigkeit auf den Stoff auswirken würden. Hu Bo und seine Mitstreiter waren noch Pioniere. Sie hatten nicht die geringste Ahnung, wie sie solche Materialien konservieren sollten.« »Um Himmels willen«, stöhnte Margaret. »Was ist dann passiert?« »Dann wurde die ganze Sache politisch«, sagte Michael grimmig. »Schon im Jahr 1958 hatte sich die große Bewegung gegen Rechtsabweichler formiert. Die Führung ordnete an, sämtliche Arbeiten an der Grabstätte einzustellen. Für sechs lange Monate kam alles zum Stillstand. Die Seide, die das Ausgrabungsteam zu konservieren versucht hatte, indem man sie auf Plexiglasscheiben klebte, wurde hart und brüchig. Die Farben verblassten. Auf den wundervollen Stickereien bildeten sich große schwarze Flecken, sie begannen zu verrotten. Hu Bo und sein Mentor Xia Nai waren nach Peking zitiert worden, um sich der Bewegung anzuschließen. Aber als ihnen zu Ohren kam, was bei der Grabstätte vor sich ging, eilten sie zurück. Schimmelgeruch empfing sie in dem Lagerhaus, in dem sie die Schätze deponiert hatten. Die leuchtenden Farben der Seidentücher und der Stickereien hatten sich in dunklen Staub aufgelöst. Die Stoffe waren brüchig geworden und eingeschrumpft, und als Hu Bo sie berührte, zerfielen sie unter seinen Fingern. Sie waren ein für alle Mal verloren. Heute sind uns nur noch ein ein paar Zeichnungen und
Fotos geblieben, die bei der Öffnung der Särge angefertigt beziehungsweise aufgenommen wurden.« Margaret schnappte nach Luft. »Das ist einfach unvorstellbar.« Sie schüttelte den Kopf. »Bestimmt waren sie am Boden zerstört.« »Allerdings. Aber es sollte noch schlimmer kommen.« »Mein Gott.« Margaret stöhnte auf. »Hat eigentlich irgendeine deiner Geschichten ein Happyend?« Er schüttelte den Kopf. »Letzten Endes nicht. Gibt es denn im Leben überhaupt ein echtes Happyend? Es mögen sich ja unterwegs immer wieder herzerwärmende Geschichten ereignen, aber enden tut die Reise stets mit dem Tod, nicht wahr? Niemand sollte das besser wissen als du.« Margaret dachte an ihren toten Ehemann, an die Mordopfer, deren Fotos sie in ihrem Hotelzimmer liegen hatte, und an all die Leichen, die ihren Autopsiesaal wie auf einem Fließband durchlaufen hatten. Natürlich hatte er Recht. Sie selbst, Michael, Li, sie alle würden irgendwo und irgendwann auf einer kalten Bahre enden. Es war eine deprimierende Vorstellung. »Klar«, erwiderte sie. »Aber keiner von uns würde die Reise überhaupt antreten, wenn wir zu lange darüber nachdächten, wohin sie uns schließlich führt.« Michael lächelte. »Aus diesem Grund haben die Menschen die Götter erfunden. Um ihrem Leben einen Sinn zu geben, um auf ein Leben nach dem Tod hoffen zu können.« »Also bist du Atheist?« »Nein.« Er schüttelte erneut den Kopf. »Dann glaubst du an Gott?« »Ich habe keine Ahnung, woran ich eigentlich glaube. Unter Umständen an den unbeugsamen Willen des Menschen. An seinen Überlebenswillen, seine schöpferischen Fähigkeiten, seinen Zerstörungstrieb. Ich glaube an die Geschichte und daran, dass wir in der Geschichte alle auf irgendeine unbedeutende Art und Weise weiterleben.« Er lachte leise. »Aber das wird mir langsam zu ernst.« »Also was«, fragte sie, »hat den armen alten Hu Bo noch Schlimmes erwartet?« Michael lächelte und schüttelte traurig den Kopf. »Der arme alte Hu Bo«, wiederholte er ihre Worte. »Nachdem man ihnen endlich erlaubt hatte, die Arbeiten an der Grabstätte wieder aufzunehmen, bekamen sie Besuch von einem hohen Regierungsbeamten mitsamt Frau und Sohn. Ausgerechnet während diese Leute vor Ort waren, besprühten Hu und ein paar seiner Helfer die Ausgrabungsfunde mit
einer Mischung aus Formalin und Alkohol, um einen weiteren Schimmelbefall zu verhindern. Die Ehefrau des Politikers fing sofort an zu husten und zu weinen, und der Junge beschuldigte Hu, dieser hätte ihn vergiften wollen. Innerhalb einer Woche wurde Hu angeklagt, giftige Gase freigesetzt und sich unrechtmäßige Vergünstigungen verschafft zu haben. Darüber hinaus hatte man herausbekommen, dass er in seiner Jugend Mitglied im Jugendverband der Kuomintang gewesen war, der Partei Chiang Kai-Sheks. Und so wurde der arme alte Hu zur Umerziehung aufs Land geschickt.« »Er war und blieb ein Pechvogel, wie?«, stellte Margaret fest. »Und was wurde aus dem Grab?« »Die Ausgrabungsstätte wurde in das Museum umgewandelt, das man heute noch dort sieht. Mit der Einschränkung, dass man heute nur noch das sehen kann, was nicht während der Kulturrevolution zerstört worden ist.« »Um Himmels willen, Michael, was kommt denn noch alles?« Margaret mochte es kaum glauben. »Das Museum wurde von Rotgardisten gestürmt«, fuhr er fort. »Sie schleiften die sterblichen Reste des Kaisers und seiner Kaiserinnen auf den Vorhof des Säulenpavillons und schlugen dort alles kurz und klein, dann schichteten sie alles, was sie in die Finger bekamen, auf einen großen Haufen und zündeten ihn an. Was in dieser Grabstätte lag, repräsentierte für sie die vier alten kapitalistischen Untugenden, musst du wissen – praktisch alles, was das Regime auszulöschen versuchte. Wir stellen diese Szene morgen zum Filmen nach. Du solltest rauskommen und zuschauen.« »Das würde ich gerne«, erklärte Margaret und bemerkte, dass er noch immer ihre Hand hielt. »Sie hätten wohl alles zerstört«, erzählte er weiter, »wäre da nicht eine mutige Museumsaufseherin gewesen. Li Ya-juan war eine einfache Hausfrau. Sie hatte vier Kinder zu versorgen. Aber sie trotzte den Rotgardisten und weigerte sich, auch nur eines der übrigen Fundstücke herauszurücken. Man prügelte und trat sie, bis sie blutete, und schließlich sperrte sie sich selbst in dem Lagerhaus mit den Artefakten ein, wo sie Tag und Nacht blieb, und zwar beinahe drei Jahre lang.« Margaret erschrak, als sie bemerkte, dass seine Augen feucht wurden. »Diese Frau war eine wahre Heldin, Margaret. Sie bewies außerordentliche Tapferkeit.« Er schwieg einen Moment. »Es sind Menschen wie sie, an die ich glaube. Das ist der
Geist, von dem ich vorhin gesprochen habe. Eine ganz gewöhnliche Hausfrau. Aber ihr Leben hatte einen Sinn, und sie hat ihren Platz in der Geschichte. 1985 ist sie gestorben, anonym und ungewürdigt. Man hätte sie zur Volksheldin erklären müssen.« Margaret vermochte nicht zu sagen, ob es auf die Geschichte zurückzuführen war oder auf Michaels Reaktion darauf, jedenfalls war sie zutiefst gerührt. Sie drückte seine Hand. Er blinzelte die Tränen weg und lächelte verlegen. »Wie albern«, sagte er. »Verzeih mir.« Er trank einen großen Schluck Cola. »Lass uns von hier verschwinden.« Sie verließen das islamische Viertel durch ein kunstvoll gestaltetes Tor, das den Eingang zum zentralen Hutong überwölbte, und wandten sich zunächst nach Osten dem Glockenturm zu, bevor sie südlich in die Nan Dajie einbogen, wo sich eine Kentucky-FriedChicken-Filiale zwischen einen Supermarkt und einen staatlichen Laden gedrängelt hatte. Michael legte den Arm um Margaret und zog sie fest an sich. Die Geschäfte hatten noch geöffnet, und auf den Straßen schlenderten Familien, junge Liebespaare und Jugendliche beiderlei Geschlechts auf der Suche nach erotischen Abenteuern. Das Werbebild des Kentucky-Fried-Chicken-Colonels lächelte an ihnen vorbei, als sie das Fastfoodrestaurant betraten, und Michael kaufte für sie beide ein Eis, um die immer noch brennenden Kehlen abzukühlen. Sie setzten sich an einen Tisch am Fenster. Hinter den Scheiben zog das Leben in einem unaufhörlichen Strom vorbei. »Wie bist du eigentlich dazu gekommen?«, fragte Margaret. »Zum Fernsehen, meine ich.« Er zuckte mit den Achseln. »Reiner Zufall. Es war ganz bestimmt nicht mein Lebenstraum.« Er spielte mit seinem Plastiklöffel herum und drückte die nach nichts schmeckende rosa Eiscreme in den Pappbecher zurück. »An der Universität hatte ich bei einem Videoprojekt mitgemacht. Dieses Video hat ein Freund jemandem von einem kleinen Kabelsender gezeigt, wo man zufällig ein paar Dollar für eine Dokumentation über eine örtliche archäologische Fundstelle übrig hatte. Und so wurde ich gebeten, das zu übernehmen.« Er schüttelte den Kopf. »Frag mich nicht, warum, aber die Dokumentation hatte Superquoten, und der Kabelsender konnte sie im ganzen Land verkaufen. Dadurch hatten sie mehr Geld zur Verfügung, wir machten ein paar weitere Shows, und schließlich wurde ich gefragt, ob ich nicht eine ganze Serie für den Discovery
Channel übernehmen wolle. Das war’s dann. Die Cosmopolitan brachte einen großen Artikel über mich. Plötzlich galt Archäologie als sexy. Die Einschaltquoten explodierten, und ich bekam ein Angebot von NBC. Der Rest ist Geschichte.« Er blickte ihr einen Moment nachdenklich ins Gesicht. »Jetzt weißt du praktisch alles über mich, und ich weiß so gut wie nichts über dich.« Sie lächelte. »Ich möchte dich nicht enttäuschen.« »Soll heißen, du möchtest mir nichts von dir erzählen.« Sie neigte den Kopf leicht zur Seite. »Das läuft auf dasselbe hinaus.« »Das ist nicht fair, Margaret.« »Mag sein. Das ändert aber nichts.« Er schürzte die Lippen. »Manche Tiere igeln sich zu ihrem eigenen Schutz ein, wenn sie verletzt worden sind. Du auch?« »Und wenn?«, fragte sie trotzig zurück. »Ich bin nicht wie du, Michael. Du bist offen und ehrlich und… Ich weiß nicht, einfach du selbst. Als ob du noch nie in deinem Leben verletzt worden wärst. Als hättest du nicht den geringsten Grund, irgendwem zu misstrauen. Und ich? Mir stößt jedes Mal, wenn ich mich öffne, jemand ein Messer in den Leib. Und dreht es dann hin und her. Du kommst mir vor wie ein großer, freundlicher Hund, der jedem Fremden entgegenläuft, um sich an den Ohren kraulen zu lassen. Ich bin der Hund, der sich ängstlich in die Ecke verkriecht, sobald ihn jemand nur schief ansieht.« »Und zu knurren beginnt, wenn ihm jemand zu nahe kommt.« Sie lächelte widerwillig. »Du hast es erfasst.« »Glaubst du, der Hund in dir wird beißen, wenn ich dir noch näher komme?« Sie hielt seinem Blick stand. »Ich bin mir nicht sicher, ob sich der Hund schon entschieden hat, Michael.« »Dann ist also… vorsichtige Annäherung geboten?« Sie nickte. »Das wäre wohl das Vernünftigste.« Er kratzte sich nachdenklich am Kinn. »Weißt du, für gewöhnlich kann ich mit Hunden ziemlich gut umgehen. Ich bin bisher noch nie gebissen worden.« Sie grinste. »Es gibt immer ein erstes Mal.« Eine Fülle von weißen, pastellgrünen und rosafarbenen Wimpeln hing von dem atriumartigen Glasdach sieben Stockwerke über dem ausgedehnten Marmorfoyer des Hotels Ana Chengbao. Von der Glyzinienbar im ersten Stock schauten ein paar vereinzelte Gäste herunter, deren zwanglose Gespräche nur als ein fernes Wispern zu hören waren. Gleich hinter den automatischen Türen am Eingang
starrten Margaret die lebensgroßen Bronzenachbildungen zweier Terrakottakrieger entgegen und weckten ihre Erinnerung an die staunende Ehrfurcht, die sie heute Morgen in den Begräbniskammern empfunden hatte, als sie behutsam den Staub der Geschichte weggebürstet hatte, um die Gesichtszüge eines antiken Generals bloßzulegen. War das wirklich erst heute Morgen gewesen? Schon kam es ihr wie eine lang vergangene, magische Erinnerung vor. Michael führte sie an der lebensechten Statue eines Händlers der Seidenstraße vorbei zum Aufzug, und sie fuhren hinauf ins oberste Stockwerk. Von der Galerie aus konnten sie durch die Wimpel auf den weißen Marmor hinunterblicken, wo die Bronzekrieger zu winzigen, bedeutungslosen Statuetten geschrumpft waren. Am anderen Ende erreichten sie Margarets Zimmer, wo sie vor der Tür stehen blieben. Auf dem langen Marsch die Nan Dajie hinunter, durch das Südtor und über die breite Ringstraße zurück zum Hotel war praktisch kein Wort zwischen ihnen gefallen. Der eben noch so beschwingte Fluss ihrer Unterhaltung war plötzlich versiegt. Jetzt würde ein verlegener, gestelzter und unentschlossener Abschied folgen. Das lassen wir einfach auf uns zukommen, hatte Michael am frühen Abend zu ihr gesagt, noch aufgewühlt von dem Foto der geköpften Leiche seines Freundes. »Also dann«, sagte Margaret. »Ich schätze, wir müssen morgen früh raus.« Er nickte. »Wir müssen um sieben am Flughafen sein.« »Hoffentlich verschlafe ich nicht.« Insgeheim glaubte sie nicht, dass sie überhaupt ein Auge zutun würde. »Stell dir besser den Hotelwecker.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich komme mit diesen Dingern einfach nicht zurande. Immer gehen sie zur falschen Zeit los.« »Dann übernehme ich das besser.« Erwartungsvoll blieb er stehen, bis ihr klar wurde, dass er darauf wartete, dass sie die Tür öffnete. Ihr Mund war wie ausgetrocknet, als sie ihr Hotelzimmer betraten. Die Vorhänge vor den Glastüren zum Balkon waren immer noch zurückgezogen. Unten konnte man das gelbe Filigranmuster der Stadtmauer und das hell erleuchtete Südtor erkennen, die gemeinsam mit den heraufscheinenden Lichtern der Stadt den Raum in einen sanften Schimmer tauchten. Margaret wollte zum Lichtschalter gehen, doch Michael hielt sie mit ausgestreckter Hand
zurück. »Ich will dich, Margaret.« Seine Stimme war nur noch ein heiseres Flüstern. Sie wurde von einer Woge des Begehrens überspült, unter der ihr beinahe die Knie einknickten. »Hast du denn keine Angst, ich könnte beißen?« Er lächelte. »Das ist mir egal. Außerdem beißen Hunde, die so laut bellen wie du, nur selten.« Und dann küsste er sie. Zunächst langsam und zärtlich. Doch sowie sie den Kuss erwiderte, gewannen bei beiden die Leidenschaft und das Verlangen die Oberhand, und ihre Münder und Körper pressten sich mit aller Kraft aneinander. Zu ihrer Überraschung bemerkte sie, wie ihr der Boden unter den Füßen weggezogen wurde, und gleich darauf fand sie sich in seinen Armen wieder, während er sie vollkommen mühelos zum Bett hinübertrug wie eine federleichte Stoffpuppe. Noch nie hatte ein Mann sie auf diese Art getragen; sie hatte das Gefühl, ihm vollkommen ausgeliefert zu sein. Und doch fühlte sie sich immer noch völlig geborgen. Er legte sie aufs Bett, küsste sie erneut und zog sein Hemd aus. Sie sah, wie sich das Licht auf seinen ausgeprägten Brustmuskeln widerspiegelte, als er aus seiner Hose schlüpfte. Im nächsten Moment spürte sie seinen Atem in ihrem Gesicht, seine Hände auf ihren Brüsten und begann mit ihrer Bluse und den Jeans zu kämpfen, gierig darauf, sein warmes, festes, glattes Fleisch auf ihrem zu spüren. Dann waren sie endlich nackt; während er über ihr verharrte, blickte er ihr mit leuchtenden Augen ins Gesicht. Sie streckte die Hand aus, packte seine Hinterbacken und zog ihn zu sich. Erneut senkte sich sein Mund auf ihren, und gleich darauf fühlte sie seine Lippen warm und feucht auf ihrem Hals, an ihrer Brust, saugend, beißend, an der Brustwarze knabbernd. Ihr Atem floss in einem langen Seufzer aus ihr heraus, als sie ihn endlich in ihrem Inneren spürte und alle Erinnerungen und Gedanken an Li wie weggeblasen waren.
7. KAPITEL I Barfuß und in einer Wolke tiefer Depression holte Li sich eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank und ließ sich damit in seinen Wohnzimmersessel fallen. Sein Hemd stand offen und hing ihm über die Jeans. Ein Bein über die Armlehne des Sessels geschwungen, nahm er einen kräftigen Schluck aus der Flasche. Das Bier schmeckte kalt und bitter. Ein von der Flasche losgelöster Tropfen Kondenswasser fiel auf seinen flachen, muskulösen Bauch und ließ ihn zusammenzucken. Von draußen legte das Licht der Straßenlaterne den lang gezogenen Schatten des Fensterrahmens quer durch den Raum. Er hatte nicht das geringste Bedürfnis, eine Lampe einzuschalten, denn dann hätte er nur Xinxins kleines Jäckchen über dem Sessel gegenüber hängen sehen und wäre daran erinnert worden, dass Mei Yuans Großherzigkeit nur eine Lösung auf Zeit sein konnte. Er zündete sich eine Zigarette an, ließ den Kopf in den Nacken sinken und blies den Rauch zur Decke. Das geht dich verdammt noch mal einen Dreck an, hatte Margaret ihm erklärt. Und sie hatte Recht. Es ging ihn nichts an. Er hatte kein Recht, eifersüchtig zu sein, kein Recht, verletzt zu sein, kein Recht, ihr wehzutun. Warum war er dann am Telefon so grob zu ihr gewesen? Ganz eindeutig hatte sie sich den Kopf über die Ermittlungen zerbrochen, über die Unmenge widersprüchlichen Beweismaterials, und ihn nur angerufen, weil ihr ein neuer Gedanke gekommen war. Ein durchaus stichhaltiger Gedanke. Falls Yuan Taos Mörder tatsächlich ein Nachahmungstäter war, dann war es gut möglich, dass er bei den ersten drei Verbrechen dabei gewesen war und aus diesem Grund genau gewusst hatte, wie er vorgehen musste, damit die vierte Tat wie die anderen aussah. Ein bestechender Gedanke, der aber, wenn überhaupt, noch mehr Schlamm im ohnehin schon trüben Wasser
aufwirbelte. Wer sollte dann der andere Mörder sein? Für keine der Taten gab es ein erkennbares Motiv. Die ersten drei Opfer waren Mitglieder einer Rotgardistengruppe gewesen, aber Yuan war damals nicht einmal im Land gewesen, und zwar dreißig Jahre lang. Li war noch immer nicht überzeugt, dass Yuans Mörder ein Nachahmungstäter war. Einer aus seinem Team – Sang, fiel ihm wieder ein – hatte sogar vermutet, dass der Täter in voller Absicht wie ein Linkshändler zugeschlagen und den Knoten in die andere Richtung geknüpfte hatte, um die Ermittlungen zu erschweren. Das war durchaus möglich, auch wenn Margaret das als unwahrscheinlich abtat. Seine Gedanken kehrten zu Margaret zurück. Er trank die Flasche leer und holte sich eine neue. Warum war er so kurz angebunden gewesen, obwohl er viel lieber gesagt hätte: Margaret, es war ein Irrtum, vergib mir, wir werden einen Weg finden? Warum hatte er sie stattdessen bewusst verspottet und eine zornige Antwort provoziert? Das geht dich verdammt noch mal einen Dreck an! Gefolgt von dem Geräusch des auf die Gabel knallenden Hörers. Er sank wieder in seinem Sessel zusammen und zündete sich die nächste Zigarette an. Sollte das sein Schicksal sein? Alleine im Dunkeln herumzusitzen, rauchend und trinkend, und verschenkten Möglichkeiten nachzuweinen? Vor seinem geistigen Auge erstreckte sich sein weiteres Leben in einem endlosen, eintönigen Wechsel zwischen arbeitsreichen Tagen und einsamen Nächten. Sein Onkel fiel ihm ein, der sich vollkommen in seiner Arbeit vergraben hatte, um die Lücke zu schließen, die der Tod seiner Frau hinterlassen hatte. Bislang hatte es für Li nie etwas anderes gegeben als seine Arbeit. Da war niemand gewesen, der eine Lücke hätte hinterlassen können. Bis jetzt. Kopfschüttelnd setzte er sich auf. Das war doch lächerlich! Morbide und triefend vor Selbstmitleid. Er versuchte, seinen Kopf klar zu bekommen, und plötzlich fiel ihm Mei Yuans Rätsel ein. Wie war das gleich wieder gewesen? Drei Männer hatten zusammen dreißig Yuan für ein Zimmer bezahlt. Eigentlich kostete das Zimmer aber nur fünfundzwanzig Yuan, und als der Hotelpage geschickt wurde, um ihnen die zu viel bezahlten fünf Yuan zurückzugeben, hatte er zwei in die eigene Tasche gesteckt und den drei Männern nur jeweils einen ausgehändigt. Unterm Strich hatten sie demnach nur je neun Yuan bezahlt, zusammen siebenundzwanzig, während der Page zwei behalten hatte. Das ergab zusammen neunundzwanzig Yuan.
Wo war also der eine Yuan geblieben? Li runzelte die Stirn, kratzte sich am Kopf und legte ihn dann in den Nacken, um seine Flasche zu leeren. Wie hatte Mei Yuan heute Nachmittag zu ihm gesagt? Die Antwort würde Sie förmlich anspringen, wenn Sie nur endlich aufhören würden, mir zu glauben. Was hatte sie ihm denn erzählt? Dass jeder zehn Yuan gegeben und einen zurückerhalten hatte, was bedeutete, dass jeder neun bezahlt hatte. Also zusammen siebenundzwanzig. Li drehte und wendete die Geschichte einen Moment lang hin und her, und plötzlich hatte er die Lösung. Natürlich! Wie dumm von ihm! Sie bekamen ja nicht je einen Yuan von dreißig zurück, sondern je einen von achtundzwanzig, weil der Hotelpage bereits zwei Yuan abgezwackt hatte. Sie hatten also an sich fünfundzwanzig bezahlt, und drei Yuan hatten sie wiederbekommen. Macht zusammen achtundzwanzig Yuan. Dazu kamen die zwei, die der Page behalten hatte. Damit waren es dreißig. Mei Yuan hatte Recht gehabt. Er hatte den Fehler begangen, die Rechnung, die sie für ihn aufgemacht hatte, für bare Münze zu nehmen. Und diese Rechnung war natürlich unsinnig gewesen. Weshalb alles andere auch keinen Sinn ergeben hatte. Dieser Gedanke ließ ihn innehalten. Ein paar Augenblicke blieb er wie versteinert sitzen. War das nicht genau das, was auch im Mordfall Yuan Tao ablief? Das gesamte Beweismaterial suggerierte ihnen Dinge, die sich nicht zusammenreimen ließen. Sie gingen von Annahmen aus, die sich nicht miteinander vereinbaren ließen. Vielleicht waren ja die Annahmen falsch. Einige oder sogar alle zusammen. Li verwünschte sich selbst. Hatte er nicht erst einen Tag zuvor die Prinzipien seines Onkels rekapituliert? Nimm nichts als gegeben hin. Zieh keine voreiligen Schlüsse, sondern lass dich von den Beweisen zu einer Schlussfolgerung leiten. Und dennoch hatte er einen ganzen weiteren Tag lang nichts anderes getan. Aufgewühlt stand er auf, zündete sich die nächste Zigarette an und trat auf den verglasten Balkon. Draußen segelte gelegentlich ein gelb verfärbtes Blatt auf das Trottoir hinunter. Wie dämlich! Er hatte so viele Gedanken an Margaret, Xiao Ling und Xinxin verschwendet, dass er seine fünf Sinne nicht völlig beisammen gehabt hatte. Was hatten sie sonst noch für Hinweise? Was hatten sie die ganze Zeit übersehen, weil sie zu sehr damit beschäftigt waren, die vorhandenen Beweise jenem Bild anzupassen, das sie sich im Geist gemacht hatten? Sicherlich ein kleines Detail, etwas scheinbar Unbedeutendes. Aber was?
Angestrengt durchforstete er seine Erinnerung, rief sich alle Einzelheiten noch einmal ins Gedächtnis, größere wie kleinere, ging sie nochmals durch und stellte sie neu zusammen. Die Plakate, die Spitznamen, die Nummern, die Bronzeklinge, die Seidenschnur. Was noch? Yuan Taos illegal gemietete Wohnung. Wozu hatte sie gedient? In Gedanken ging er noch einmal in der Wohnung auf und ab, genau wie in jener Nacht, als sie Yuan Tao gefunden hatten. Er sah den Kopf vor sich, die Leiche und das Blut, das in das Loch im Boden gesickert war. Er hielt inne. Das Loch im Boden. Bretter, die abgehoben worden waren. Ein Versteck. Was war darin versteckt worden? Dann fiel ihm plötzlich eine Frage ein, die Margaret während der Autopsie gestellt hatte. Wurde das Linoleum nur abgehoben oder ist es weggerissen worden? Allem Anschein nach sei es weggerissen worden, hatte er geantwortet. Doch warum hatte sie überhaupt gefragt? Er dachte darüber nach. Wenn man etwas unter dem Fußboden versteckt hatte, würde man das Linoleum darüber äußerst behutsam abziehen. Ein Riss würde Aufmerksamkeit erregen. Folglich hatte Yuan Tao das Versteck nicht selbst geöffnet. Das hatte jemand anderer getan. Jemand, der die Wohnung durchsucht hatte, den es nicht kümmerte, dass das Linoleum beschädigt wurde. Jemand, der gewusst haben musste, dass Yuan Tao eine zweite Wohnung hatte. Wonach hatte derjenige gesucht? Und hatte er es dort unter den Dielenbrettern gefunden? Li hielt inne und spulte seine Überlegungen wie einen Film zurück. Wenn der Mörder gewusst hatte, dass Yuan Tao eine illegal gemietete Wohnung besaß, dann musste er auch von der Botschaftsunterkunft gewusst haben. War diese ebenfalls durchsucht worden? An der Zigarette ziehend versetzte sich Li zurück in das Apartment im Botschaftsgebäude hinter dem Friendship Store. Er und Wu hatten es gründlich in Augenschein genommen. Die Kollegen von der Spurensicherung hatten es vom Boden bis zur Decke untersucht. Es hatte keinerlei Anzeichen dafür gegeben, dass hier jemand etwas gesucht hatte. Li versuchte sich den Fußboden vorzustellen, ihn aus der Dunkelheit der Erinnerung ans Licht zu zerren. Schließlich sah er einen durchschnittlichen, mit grauem Linoleum bedeckten Fußboden vor sich. Er war ziemlich sicher, dass ihn sein Gedächtnis nicht trog. Hätte das Linoleum Risse aufgewiesen, wäre ihm das bestimmt aufgefallen. Doch da schlummerte noch etwas in den Tiefen seiner Erinnerung. Etwas
Vages, schwer Fassbares, das sich ihm irgendwie immer wieder entzog. Es hatte mit dieser Wohnung zu tun. Nochmals ging er jeden Meter durch, den er und Wu dort abgeschritten hatten. Das Wohnzimmer mit den ganzen persönlichen Nippes, die Fotografien von Yuan Taos Eltern, die Bücher… Das Bad, die Ablage über dem Waschbecken, die Zahncreme, der Rasierschaum, zwei Stück Seife… und plötzlich hatte er es. Der Rasierschaum und die Seife waren hypoallergen gewesen. Unparfümiert. Es hatte weder Rasierwasser noch Deodorant gegeben. Und dennoch hatte, wie Li noch genau wusste, ein schwacher, flüchtiger, an Rasierwasser erinnernder Hauch von exotischem Parfüm in der Luft gehangen. Er hatte ihn wohl überhaupt nur deshalb registriert, weil er ihm so fremd gewesen war. Also konnte er unmöglich von Wu oder den Beamten der Spurensicherung gestammt haben. Und auch nicht von Yuan Tao. Natürlich, musste er sich eingestehen, konnte der Duft auch von jemandem aus der Botschaft stammen. Vielleicht vom Sicherheitsbeamten. Amerikaner übertrieben es gern mit ihrem Rasierwasser. Nichtsdestotrotz fühlte Li eine innere Unruhe. Falls jemand das Apartment im Botschaftsgebäude durchsucht hatte, hatte er dann gefunden, was er suchte? Hastig kippte er den letzten Schluck Bier hinunter und machte sich auf die Suche nach seinen Schuhen, wobei er gleichzeitig sein Hemd zuknöpfte und es in die Jeans steckte. Er würde ganz bestimmt nicht in seiner Wohnung hocken bleiben und sich in Selbstmitleid suhlen. Falls Yuan Tao etwas in seiner illegal angemieteten Wohnung versteckt hatte, dann hatte er genauso gut auch etwas in seiner Botschaftswohnung verstecken können. Etwas, das vielleicht noch dort war, vielleicht aber auch nicht. Einen Blick zu riskieren lohnte sich allemal. Li sah auf die Uhr. Es war kurz vor Mitternacht. Aber das spielte keine Rolle. Das Tor zur Botschaftsunterkunft wurde bestimmt rund um die Uhr bewacht.
II Li rollte auf dem Fahrrad seines Onkels durch das Tor zur
Unterkunft der Botschaftsangestellten und blickte zu den Fenstern hoch. In einer ganzen Reihe davon brannte noch Licht – Botschaftsangehörige und ihre Familien, die fernsahen oder so spät noch arbeiteten. »Was zum Teufel hast du hier zu suchen?« Der Wachposten kam hinter seinem Wachhäuschen hervorgestürmt, wo er gerade eine Zigarette geraucht hatte. Er trat sie mit dem Fuß aus, während er auf Li zueilte. Es war ein anderer Wachposten als bei Lis erstem Besuch. Li stellte sich dumm. »Wie meinen Sie das?« »Ich meine, woher nimmst du die verfluchte Frechheit, hier einfach reinzuspazieren?« »Ich besuche einen Freund.« »O nein, du besuchst hier niemanden.« Der Posten baute sich dicht vor Li auf. »Jedenfalls nicht ohne meine Erlaubnis.« Li ignorierte das aggressive Auftreten des Wachmanns und fragte ganz unschuldig: »Und warum nicht?« Die Wache schaute ihn an, als käme er vom Mars. »Weil dies ein Gebäude für Diplomaten ist, du Schwachkopf. Und Chinesen wie du kommen da nicht rein, es sei denn, ich erlaube es ihnen.« Li zückte seinen Dienstausweis und hielt ihn dem Wachposten ins Gesicht. »Ich weiß nicht, ob du da, wo du herkommst, lesen gelernt hast, Schwachkopf.« Erschrocken zuckte das Gesicht des Mannes zurück. »Falls nicht, dann lass dir gesagt sein, dass du gerade mit einem Hauptkommissar der städtischen Kriminalpolizei Peking sprichst. Und wenn ich dich noch einmal dabei erwische, dass du so wie gerade eben mit einem Chinesen redest, werde ich dafür sorgen, dass du bis zu deiner Pensionierung als Grenzpolizist in der Inneren Mongolei Streife gehst.« Der Posten blinzelte und schluckte. Sein Gesicht war bleich geworden. »Verstanden?« Der junge Mann nickte. »Gut«, sagte Li. »Redest du mit Ausländern eigentlich auch so?« »Nein, Chef.« Er schüttelte eifrig den Kopf und verwandelte sich damit endgültig vom knurrenden Wachhund in einen unterwürfigen Bastard. »Wenn ich also ein Yangguizi gewesen wäre und behauptet hätte, ich würde einen Freund besuchen wollen, was hättest du geantwortet?« »Ich hätte nachgeprüft, wen Sie besuchen wollen, und Sie dann reingelassen.« »Hätte derjenige nicht herunterkommen und mich abholen
müssen?« »Nur wenn der Besucher Chinese ist.« Betreten sah er zu Boden. Folglich, überlegte Li, war es nicht leicht, sich Zugang zu dem Wohnhaus zu verschaffen, es sei denn, man wohnte dort oder war Ausländer. »Schau mich an, mein Junge«, befahl Li, und der junge Kerl blickte ihm widerstrebend in die Augen. »Auch wenn du eine Uniform trägst, bist du um keinen Deut besser als irgendjemand sonst. Behandle die Leute so, wie du von ihnen behandelt werden möchtest.« Er schob seinen Ausweis zurück in die Gesäßtasche und radelte in den Innenhof des Blocks. Quer über der Wohnungstür klebte eine Plastikbanderole, auf der – schwarz auf gelb – geschrieben stand: »BETRETEN POLIZEILICH VERBOTEN.« Li öffnete die Tür und duckte sich unter dem Absperrungsstreifen durch. Auf der Stelle stiegen ihm die vertrauten Gerüche nach abgestandenen Essensresten und Körperausdünstungen in die Nase. Aber er konnte nicht einmal den leisesten Hauch jenes Parfüms feststellen, das ihm bei seinem ersten Besuch aufgefallen war. Der Duft war demzufolge frisch gewesen. Wahrscheinlich stammte er von einem Amerikaner. Das Licht im Flur funktionierte nicht, darum arbeitete er sich in der Dunkelheit in das winzige Wohnzimmer vor und tastete dort nach dem Lichtschalter. Die Neonröhre an der Decke erwachte flackernd zum Leben und tauchte den Raum in kaltes, grelles Licht. Die Wohnung wirkte ausgesprochen leer und deprimierend. Es war ein einsamer Ort, an dem ein einsamer Mann lange Stunden nur in Gesellschaft seiner Bücher zugebracht hatte. Was in aller Welt hatte ihn zurück nach China gezogen? Weshalb hatte er eine bedeutende und angesehene Position an einer renommierten amerikanischen Universität aufgegeben, um in Peking als untergeordneter Angestellter in der Visumabteilung zu arbeiten? Was für ein Leben hatte er geführt, tagsüber umgeben von Papierbergen in der Botschaft, nächtens allein zwischen seinen Büchern? Allerdings war das nicht sein einziges Leben gewesen. Er hatte ein Doppelleben geführt. Wozu hatte er eine Zweitwohnung benötigt? Seinen Nachbarn zufolge hatte er sich dort so gut wie nie aufgehalten. Es war kein Ort für irgendwelche Treffen gewesen. Wenn er dort Besucher empfangen hätte, hätten die Nachbarn davon Wind bekommen. Aber irgendjemand hatte ihn besucht. Irgendjemand hatte sich spät in der Nacht und unbeobachtet ins Haus geschlichen.
Irgendjemand hatte das Linoleum aufgerissen und irgendetwas unter den Dielenbrettern Verborgenes gefunden. Irgendjemand hatte Yuan Tao ermordet und war dann unerkannt entkommen. Li unterzog das Linoleum im Wohnzimmer einer eingehenden Untersuchung. Auf der einen Seite waren Bücherschränke aufgestellt, auf der anderen stapelten sich Bücher und Zeitschriften am Boden. Der Belag ließ sich unmöglich anheben, ohne dass man zuvor so gut wie alles in diesem Raum beiseite rückte. Knicke oder Risse waren mit bloßem Auge nirgendwo zu erkennen. Die Enttäuschung versetzte ihm einen kleinen Stich. Er wandte sich dem Schlafzimmer zu, wo er das Bettzeug abzog und Matratze und Lattenrost untersuchte. Da war nichts. Er verschob den Kleiderschrank und tastete die Vorder- und Rückseite nach Geheimfächern ab. Wie sich herausstellte, war es ein ganz gewöhnliches Möbelstück. Alles war so, wie es sein sollte. In diesem Zimmer war das Linoleum sogar am Fußboden festgenagelt. Er ging weiter ins Badezimmer. Es war viel zu klein für ein Versteck. Vergipste Wände, Betonboden, ein Schränkchen an der Wand. Li schraubte den Deckel des Wasserbehälters über der Toilette auf und sah hinein. Ein billiger Plastikmechanismus starrte ihm aus dem kalten, klaren Wasser entgegen. Er bückte sich, um die Haare zu entfernen, die sich im Abfluss auf dem Boden unterhalb des Duschkopfs verfangen hatten, und versuchte das Gitter mit den Fingern aufzustemmen. Es rührte sich nicht vom Fleck. Nachdem er sich die Hände gewaschen hatte, kehrte er ins Wohnzimmer zurück. Dort untersuchte er den Sessel, entfernte alle Polster, kippte ihn anschließend zur Seite und riss das Sackleinen an der Unterseite auf, um die Federn im Rahmen freizulegen. Nichts. Er sah sich um. Enttäuscht. Frustriert. Jetzt blieben nur noch die Bücher. Er ging in die Hocke und begann, sie in Stapeln zu je sechs bis acht Stück aus dem Regal zu ziehen und sie zu seinen Füßen auf dem Boden zu stapeln. Dutzende von politischen Titeln waren darunter. Werke über Geschichte und Entwicklung der Kommunistischen Partei Chinas, eine chinesische Ausgabe der Werke von Karl Marx, eine mehrbändige Reihe über die Entwicklung der Demokratie in Taiwan, ein dicker Band über die politischen Veränderungen in Hongkong seit der Übergabe. Es gab eine Abhandlung über die Geschichte der Kuomintang und das Vermächtnis Chiang Kai-Sheks sowie ein von zwei französischen Journalisten verfasstes Werk über den chinesischen Geheimdienst. Fast ein ganzes Regalfach war den
blutigen Ereignissen auf dem Tiananmen-Platz im Jahre 1989 gewidmet: Der lange Marsch zum vierten Juni; Der Schrei nach Demokratie; Stimmen vom Tiananmen-Platz; Tod in Peking. Wieder ein anderes Regal schien sich mit der Kulturrevolution zu befassen. Li zog ein Buch heraus. Wie die meisten anderen war es auf Englisch abgefasst. Ein Abriss der chinesischen Kulturrevolution. Er schlug es auf und sah, dass es ursprünglich Ende der Achtzigerjahre in China im »Arbeiter-Verlag« erschienen war, bevor ein amerikanischer Verlag Mitte der Neunzigerjahre die Übersetzung veröffentlicht hatte. Zwischen den letzten Seiten steckte ein Lesezeichen, und Li fragte sich, ob Yuan wohl in den Tagen vor seinem Tod darin gelesen hatte. Er blätterte zur markierten Seite weiter, wobei das Lesezeichen auf den Boden fiel. Beim Überfliegen der Seiten fiel ihm nichts Bemerkenswertes auf, doch als er das Lesezeichen aufhob, um es zwischen die Seiten zurückzulegen, bemerkte er, dass es sich nicht um ein wirkliches Lesezeichen, sondern um ein zweifach gefaltetes Blatt Papier handelte. Er legte das Buch weg und klappte das Blatt auf. Es war schon leicht vergilbt und etwas brüchig. Die Innenseite war mit handgeschriebenen chinesischen Zeichen beschrieben, und Li erkannte, dass es sich um einen Brief handelte. Adressiert an Yuan Tao, c/o Universität von Kalifornien, Berkeley. Als Absender war eine Adresse in Guang’anmen im Südwesten Pekings angegeben. Li schaute unten auf die Seite, wo er an der Unterschrift erkannte, dass der Brief von Yang Shouqian stammte, einem Vetter Yuans. Lis Mund war trocken, als er den Sessel wieder aufrichtete und sich auf seinen Rand setzte, um das Schreiben zu lesen. Es stammte vom fünfzehnten Mai 1995: Mein lieber Vetter Tao, auf der Suche nach deiner Adresse habe ich Vetter Liu in San Francisco angeschrieben, doch da sein Vater nicht mehr lebt, konnte er mir nicht genau sagen, wo du wohnst. Er war jedoch ziemlich sicher, dass du noch immer an der Universität von Berkeley unterrichtest, und da ich das durch das Internet überprüfen konnte, schreibe ich dir jetzt. Du wirst wahrscheinlich nicht wissen, dass meine Mutter vor ungefähr sechs Wochen gestorben ist. Sie wurde fast neunzig Jahre alt. Sie hatte ein erfülltes Leben und ist am Ende sanft entschlafen.
Aber als ich vergangene Woche ihre Hinterlassenschaften durchsah, stieß ich auf das beigefügte Tagebuch. Es lag noch ein Brief von deiner Mutter aus dem Jahr 1970 dabei, den ich behalten habe. Darin bat sie ihre Schwester, dafür zu sorgen, dass du ihr Tagebuch erhältst. Es berichtet von den Jahren, nachdem du nach Amerika gegangen warst. Zuerst konnte ich nicht verstehen, warum meine Mutter der Bitte ihrer Schwester nicht nachgekommen war. Aber nur bis ich anfing, in dem Tagebuch zu lesen. Bitte verzeih mir, dass ich das getan habe. Ich hatte nicht die Absicht, deine Privatsphäre zu verletzen. Wie du feststellen wirst, ist das Tagebuch als persönlicher Bericht an dich abgefasst. Ich habe es nicht vollständig gelesen. Um ehrlich zu sein, wäre mir das wohl auch nicht leicht gefallen. Ich vermute, dass meine Mutter dich nur schützen wollte, aber ich bin trotzdem der Auffassung, sie hätte es dir schicken sollen. Andererseits hatte sie damals vielleicht auch nur Bedenken, du würdest es gar nicht erhalten. Und vielleicht kam sie im Lauf der Jahre dann zu der Überzeugung, man sollte die Sache auf sich beruhen lassen. Inzwischen ist das Ganze so lange her, und ich meine, du hast ein Recht, zu erfahren, was geschehen ist. Hier ist also das Tagebuch. Bitte schreib mir und lass mich wissen, wie es dir geht. Bist du inzwischen verheiratet? Hast du Kinder? Ich habe eine Tochter, die an der Universität studiert. Falls du irgendwann mal nach Peking kommst, würde ich mich freuen, dich wieder zu sehen. Ich habe dich noch immer als jungen Burschen in Erinnerung, ich war ja damals auch nicht viel älter. Mit allerbesten Wünschen, dein treuer Vetter Yang Shouqian
Li bemerkte, dass der Brief in seinen Fingern leicht zitterte. Irgendwo direkt vor seiner Nase musste sich eine Tür befinden, hinter der des Rätsels Lösung lag. Und in seiner Hand hielt er, wenn schon nicht den Schlüssel zu dieser Tür, so doch zumindest einen Hinweis auf deren Existenz. Den Brief hatte er jetzt, doch wo war das Tagebuch? Er hatte keine Ahnung, wie es aussah, ob es klein war oder groß, schwarz, rot oder blau… Behutsam legte er das Schreiben auf den Tisch und räumte die Bücherregale leer, nicht ohne dabei jedes einzelne Buch zu untersuchen und von jeder Hardcoverausgabe den Umschlag zu entfernen für den Fall, dass sich das Tagebuch
darunter verbergen würde. Nichts. Dann wandte er sich den Stapeln von Büchern und Zeitschriften unter dem Fenster zu. Wieder fand er nichts, was auch nur entfernt an ein Tagebuch erinnert hätte. In der Zimmermitte stehend, blickte er mutlos auf das Chaos um ihn herum. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, wo es noch versteckt sein könnte. Doch als er den Raum durchquerte, um den Brief noch einmal zur Hand zu nehmen, bemerkte er ein kaum spürbares Knarren unter seinen Füßen. Er hielt inne. Trat einen Schritt zurück und dann wieder vor. Dieses Mal war nichts zu hören. Hatte er sich das Geräusch nur eingebildet? Und selbst wenn nicht? Fußböden knarrten nun mal. Ein weiteres Mal tastete Lis Blick die Kante des Linoleums rund um alle Wände ab. Falls Yuan Tao wirklich etwas darunter versteckt hatte, dann bestimmt nichts, auf das er rasch oder problemlos zugreifen können musste. Trotzdem, überlegte Li, wenn er in der anderen Wohnung etwas unter dem Boden versteckt hatte, lag es da nicht nahe, dass er es hier ebenso machen würde? Die Enttäuschung von eben schlug in hoffnungsvolle Erwartung um. Er brauchte fast zwanzig Minuten, bis er alle Möbel und Bücher auf die Seite geräumt hatte, sodass er das Linoleum zurückziehen konnte. Am Rand klebte es an den Dielenbrettern, doch als er es schließlich zurückrollen konnte, bemerkte er, dass sich darunter eine Schicht von alten Zeitungen befand. Ein Blick auf die Erscheinungsdaten verriet ihm, dass sie alle etwa sechs Monate alt waren – was ungefähr mit Yuan Taos Einzug in das Apartment zusammenfiel. Nachdem er das Linoleum bis zu den Möbeln hin aufgerollt hatte, fegte er die Zeitungen beiseite, bis er die Mitte des Bodens freigelegt hatte, wo er das Knarren unter seinen Füßen gehört hatte. Auf den ersten Blick sah er, dass ein einzelnes Brett an einer Nut herausgezogen, ein Stück von gut dreißig Zentimetern Länge abgesägt und dann wieder festgenagelt worden war. Natürlich wusste Li nicht, ob das Yuans Werk war oder das eines Handwerkers, der hier irgendwann Kabel oder Rohre verlegt hatte. Und er wusste genauso wenig, wie er das Brett wieder herausbekommen würde. Er durchsuchte die Wohnung nach einem Werkzeug, mit dem er das Parkett aufstemmen konnte, und stieß schließlich in dem Schrank unter der Spüle auf eine kleine Werkzeugkiste. Den stabilen Schraubenzieher, für den er sich entschieden hatte, rammte er zwischen die Bretter und zwang sie auseinander, wobei er das
ausgesägte Stück nach oben hebelte. Das Holz splitterte, und die Nägel ächzten, als sie gewaltsam aus dem Balken gerissen wurden. Dann sprang das dreißig Zentimeter lange Stück schließlich hoch und schlitterte klappernd über den Fußboden davon. Li blickte in ein Loch, das er mit seinem eigenen Schatten verdunkelte. Er trat beiseite, um nicht mehr im Licht zu stehen, und sah etwas Helles aus Plastik aus dem Staub und Schmutz schimmern. Ein Taschentuch um die Hand gewickelt, fasste er hinein und zog ein kleines, rotes, in eine Klarsichthülle aus Plastik eingebundenes Buch heraus. Eine Weile verharrte er reglos auf den Knien, starrte das Buch an und hörte in der Stille des Apartments seinen eigenen Atem. Eine winzige Schweißperle rann seine Stirn hinab und tropfte von seiner Augenbraue auf die blanken Dielenbretter. Der Dienstführer in der Sektion Eins traute seinen Augen nicht, als er Li den Korridor im obersten Stockwerk herunterkommen sah. Er blickte auf die Uhr. Es war zwei Uhr morgens. Gerade eben hatte er seine Thermosflasche mit heißem Wasser nachgefüllt und war nun unterwegs, um sich einen Becher grünen Tee aufzugießen. Neugierig eilte er Li hinterher in das Büro der Kommissare. Zwei anwesende Kommissare blickten überrascht auf. »Entweder sind Sie ziemlich früh dran, Chef, oder ziemlich spät«, stellte der Dienstführer fest. Doch Li erwiderte lediglich: »Ich möchte nicht gestört werden. Unter keinen Umständen.« Dann schlug er die Tür seines Büros hinter sich zu.
III 17. Juli 1966 Heute Morgen kam ein Junge zu uns nach Hause, einer deiner früheren Schulkameraden, wie ich sofort erkannt habe. Ein pummeliger Kerl namens Tian Jingfu, den du, wenn ich mich recht erinnere, immer Schweinchen genannt hast. Dein Vater konnte sich ebenfalls an ihn erinnern, schließlich hat er ihn früher unterrichtet. Nicht gerade einer der Hellsten, wie er sagte. Jedenfalls trägt er inzwischen eine rote Armbinde. Er gehört zu den Hung Wei Ping, den Rotgardisten, die das Wort des Vorsitzenden Mao verbreiten. Er
erklärte uns, dass sich alle Lehrer an der Mittelschule Nr. 29 einzufinden hätten. Seit der Unterricht im Juni ausgesetzt wurde, war dein Vater nicht mehr dort. Ich weiß nicht, warum man ausgerechnet Tian Jingfu geschickt hat. Er ist gar nicht mehr an der Schule. Nachdem dein Vater zurückkam, erzählte er mir, dass an allen Wänden Da-Zi-Bao-Plakate aufgehängt worden seien und man die Schüler ermuntert habe, ihre Lehrer zu kritisieren. Als er und die anderen Lehrer dort eintrafen, pinselten die Kinder gerade alles mit Parolen voll. Im ersten Moment hörten sie damit auf und beobachteten ihre Lehrer misstrauisch, als fürchteten sie, bestraft zu werden. Doch wie dein Vater erzählte, erkannten sie bald, dass die Lehrer keine Macht mehr über sie hatten, und begannen sie zu verspotten, indem sie die Lehrer als »Rechte« und »Konterrevolutionäre« beschimpften. Dein Vater wurde auf mehreren Plakaten namentlich erwähnt. Du wirst dich wahrscheinlich nicht mehr erinnern, dass dein Vater schon 1958 als »Rechtsabweichler« denunziert und für sechs Monate zur Feldarbeit aufs Land geschickt worden war. Wir dachten, wir hätten all das überstanden – bis heute. Auf dem Schulhof wurde eine Versammlung abgehalten, auf der sich ein Parteikader an die gesamte Schule wandte und erklärte, es sei ab sofort die Pflicht eines jeden Schülers und eines jeden Lehrers, an der Kampagne »Gegen die vier alten Untugenden« teilzunehmen. Die »vier alten Untugenden« seien, wie er sagte, alte Vorstellungen, alte religiöse Überzeugungen, alte Gewohnheiten und alte bürgerliche Lebensweisen. Die schlimmsten Vertreter der vier alten Untugenden seien Menschen in Machtpositionen, die den kapitalistischen Weg gehen würden. Anschließend wurden alle nach Hause geschickt. Dein Vater glaubt, dass ihm nichts geschehen kann, weil er bereits als »Rechtsabweichler« bestraft wurde und vorbringen kann, dass er durch Arbeit umerzogen wurde. Er ist eben ein unverbesserlicher Optimist. Ich bin mir da nicht so sicher. Ich bin nur froh, dass du mit alldem nichts zu tun hast. Und auch wenn du so weit weg bist, habe ich zumindest das Gefühl, mit dir reden zu können, indem ich dieses Buch über die Geschehnisse hier führe. Ich werde versuchen, es auf dem Laufenden zu halten, damit du ähnlich einem Fotoalbum einst eine Erinnerung an deine Familie hast. Aber ich bin in Sorge, Tao. Weniger um mich als um deinen Vater.
Li rieb sich mit den Handschuhen über die Schläfen. Das grelle Licht der Schreibtischlampe auf den weißen Seiten des Tagebuchs ließ seine Augen tränen. Er lehnte sich zurück, zündete sich eine Zigarette an und blies den Rauch in die Dunkelheit jenseits des
Lichtkegels. Dann beugte er sich wieder vor und drehte mit seinen weißen Handschuhen jede Seite einzeln mit äußerster Vorsicht um, um auf gar keinen Fall etwas von dem möglichen forensischen Material zu zerstören, das sich in diesem Tagebuch finden mochte. Die Lektüre war wie eine deprimierende Zeitreise zurück in seine längst vergangene Kindheit und in eine Erfahrung, die er mit Millionen von Menschen überall in China teilte. Juli 1966. Damals hatte alles erst angefangen. Er arbeitete das Buch nicht von Anfang bis Ende durch, sondern blätterte nur aufmerksam in den Seiten, August, September, hier und da innehaltend, um genauer in dieser zunehmend schaurigen Schilderung zu lesen, was Yuan Taos Eltern im weiteren Verlauf der Dinge widerfahren war. 15. September 1966 Dein Vater und ich haben heute vom Fenster aus beobachtet, wie Herr Cai, unser Nachbar von gegenüber, auf der Straße von Rotgardisten angegriffen wurde. Sie nahmen ihm die Schuhe weg, ließen ihn mitten auf der Straße auf einem Hocker kauern und rasierten ihm den Kopf. Ich habe keine Ahnung, warum. Es sieht mehr und mehr so aus, als könnten sie mit einem machen, was sie wollen. Dein Vater ist seit fast zwei Wochen nicht mehr in der Schule gewesen. Seine Herzanfälle sind seltener geworden, er hat gelernt, ruhig sitzen zu bleiben und geduldig abzuwarten, bis die Schmerzen wieder nachlassen. Auch wenn es ein schrecklicher Gedanke ist, so bin ich insgeheim doch froh, dass sein Herz in so schlechter Verfassung ist. Das hält ihn wenigstens von der Schule fern. Wenn er hingeht, fürchte ich jedes Mal um sein Leben. 21. Oktober 1966 Heute waren sie bei uns zu Hause. Zu sechst. Alles ehemalige Schüler deines Vaters. Um nach »schwarzem« Material zu suchen, wie sie es nannten. Darunter verstehen sie alles, was sie für parteifeindlich halten. Angeführt werden sie von einem Jungen aus unserer Straße, Ge Yan. Ich glaube, du kennst ihn. Er züchtet Vögel in seinem Hof. Es ist kaum vorstellbar, dass jemand, der so zerbrechliche Geschöpfe liebt, gleichzeitig so brutal und hasserfüllt sein kann. Er brüllte mich an und beleidigte mich, weil ich ihn nicht zu deinem Vater lassen wollte. Er war ganz rot im Gesicht, und ich konnte die Adern in seinen Schläfen pochen sehen. Ich hatte große
Angst. Aber dein Vater hatte sich zuvor nicht wohl gefühlt, er lag im Bett. Schließlich bekam er das ganze Geschrei mit, trat im Bademantel an die Tür und fragte sie, was sie wollten. Er war sichtbar wütend, weil sie mich angebrüllt hatten, und damit brachte er sie vollkommen aus der Fassung. Wahrscheinlich wussten sie einfach nicht, wie sie mit ihm umgehen sollten. Sie hatten ihn als Lehrer in Erinnerung, und ich glaube, sie fürchteten sich immer noch ein wenig vor ihm. Das Mädchen, das die anderen Bettelmaus nannten, war am kühnsten. Sie hielt deinem Vater vor, er als Englischlehrer hätte eine Vorliebe für alles Ausländische, und alle Ausländer seien Feinde der großen proletarischen Kulturrevolution. Seine Vorlieben wären demzufolge »schwarz«, und er habe all seine »schwarzen« Besitztümer herauszugeben. Ich glaube nicht, dass sie eine Vorstellung davon hatten, wonach sie eigentlich suchten, aber dein Vater reagierte ausgesprochen klug. Er sagte, dass er ihnen gerne alles aushändigen würde, was sie als »schwarzes« Material ansähen, denn er wolle die Revolution nach besten Kräften unterstützen. Also ging er in das vordere Zimmer, packte all die alten Zeitschriften aus England und Amerika zusammen, die er im Lauf der Jahre gesammelt hatte, und gab sie ihnen mit. Sie wären zweifellos »schwarz«, erklärte er, denn schließlich seien sie allesamt auf Englisch verfasst. Einer, den sie Null nannten, deinem Vater zufolge ein Junge namens Bai Qiyu, schnappte sich dein Fahrrad. Er erklärte, du hättest die Revolution verraten, weil du im Ausland studierst, deshalb müsse dein Fahrrad beschlagnahmt werden. Ich wollte ihn daran hindern, aber ich konnte nichts dagegen tun. Dein Vater sagte, ich solle sie ziehen lassen. Als sie weg waren, fragte ich ihn, ob er nicht am Boden zerstört sei, weil er seine geliebte Zeitschriftensammlung verloren habe. Doch er antwortete, Zeitschriften bestünden lediglich aus Papier und Tinte, und Fleisch und Blut seien viel wertvoller. Das mit deinem Fahrrad tut mir so Leid. 2. Februar 1967 Tao, kannst du dich noch an Frau Gu erinnern, meine Freundin Gu Yi aus dem Kindergarten? Sie ist tot. Nach dem Ende der Trauerzeit für ihren ersten Mann versuchte sie einen neuen Mann zu finden, weil sie noch zwei Kinder zu ernähren hatte und die Arbeit im Kindergarten nicht besonders gut bezahlt ist. Sie zog sich hübsche Kleider an und schminkte sich, um ein paar Blicke auf sich zu ziehen. Aber alles, was sie auf sich zog, war der Zorn der Hung Wei Ping. Letzte Woche zogen sie in einer Prozession vor ihre Tür, mit
Trommeln, Gongs und scharlachroten Fahnen. Sie zwangen sie, ein Da-Zi-Bao an ihre Tür zu kleben, auf dem sie als Kapitalistenhure beschimpft wurde. Dann wurde sie auf die Straße gezerrt, musste dort »gestehen« und versprechen, sich selbst umzuerziehen. Als Zeichen für ihre Verderbtheit wurden ihr zwei zerlumpte Schuhe um den Hals gehängt, dann zwang man sie, sich öffentlich das Gesicht zu waschen und sich die »schwarzen« bourgeoisen Klamotten vom Leib zu reißen. Gestern Nacht hat sie sich erhängt. 15. April 1967 Der Zustand deines Vaters verschlechtert sich zusehends. Er liegt nun schon seit Tagen im Bett. Es ist mir aber immer noch lieber, er bleibt hier zu Hause, als dass er in die Schule geht. Wir hören schreckliche Geschichten. Dein alter Direktor und einige der älteren Lehrer wurden gezwungen, schwere körperliche Arbeiten zu verrichten. Dabei werden sie von den Rotgardisten der Brigade »Revolution bis zum Endsieg« überwacht, die allesamt früher an der Schule waren. Ich glaube, sie sind alle aus deinem Jahrgang. Wie man hört, mussten Direktor Jiang und die anderen mit Vorschlaghämmern, die von einer Baubrigade ausgeliehen wurden, das schöne alte Schultor in Stücke schlagen. Anschließend wurden sie gezwungen, mit spitzen Eselskappen aus Papier rund um den Schulhof zu paradieren, genau wie die Grundbesitzer während der Kampagne für die Bodenreform im Jahr 1951. Dabei hatten sie Schilder um den Hals hängen, auf denen »Kuhdämon« oder »Schlangengeist« stand. Anscheinend machten sich die Schulkinder einen Spaß daraus, ihre Lehrer als »Ungeheuer« zu verspotten. Es hat mich überrascht, dass Direktor Jiang derart behandelt wurde, denn schließlich ist er Mitglied der kommunistischen Partei. Aber dein Vater sagt, dass viele Parteimitglieder zur Zielscheibe geworden seien. Man würde sie als Menschen in Machtpositionen sehen, die den kapitalistischen Weg eingeschlagen hätten. Außerdem meint er, dass er jetzt erst recht froh sei, der Partei nie beigetreten zu sein. 29. April 1967 Heute waren sie wieder da. Ach, Tao. Ich habe solche Angst. Sie haben herausgefunden, dass ich vor der Befreiung an der amerikanischen Universität in Peking studiert habe und dass mein Vater im Norden ein kleines Stück Land besaß. Sie sind grauenvoll, diese Kinder. Ihre Gesichter sind verzerrt von Wut und Hass. In unserem eigenen Haus wurde ich angeschrien und angebrüllt. Sie ließen Gau Huan, den zurückgebliebenen Jungen,
den sie Schildkröte nennen, unser Familienfotoalbum zerreißen. Wahrscheinlich begriff er gar nicht richtig, was er da tat, aber er ist wie ein hungriger Teufel, der nur auf Zerstörung aus ist. Ich flehte sie an, es nicht zu tun, doch als ich Gau Huan in den Arm fallen wollte, schlug mir das Mädchen, Bettelmaus, mit der flachen Hand ins Gesicht. Sie traf mich so fest, dass Sterne und schwarze Punkte vor meinen Augen tanzten. Ein anderer, ein ausgebuffter Kerl namens Yue Shi, brüllte mich an, dass ich keinen anständigen Klassenstatus hätte. Ich sei die Tochter eines Grundbesitzers. Ich könnte mir meinen Klassenstatus nicht aussuchen, aber ich könnte über meine Zukunft bestimmen. Ich sollte meine Familie denunzieren und ihre »schwarze« Geschichte zerstören. Sie fragten auch nach dir, Tao. Sie wollten wissen, wann der junge »schwarze« Hund nach Hause käme. Nun schrie ich sie an. Ich erklärte ihnen, dass du nicht zurückkommen würdest, weil du schlauer wärst als sie. Ich beschimpfte sie als Idioten, die immer nur zerstören konnten. Daraufhin schlug mich das Mädchen, Bettelmaus, erneut. Alarmiert durch das Gezeter und mein Schluchzen, kam dein Vater aus dem Schlafzimmer. Sein Gesicht war aschfahl. Er hielt den großen, massiven Spazierstock deines Großvaters in der Hand und brüllte die kleinen Bastarde an, dass er sie windelweich schlagen würde, falls sie noch ein einziges Mal ihre Hand gegen mich erheben sollten. Ich glaube, dass sein Auftritt, seine Wut und die angedrohte Gewalt sie eingeschüchtert haben. Jedenfalls gingen sie, versprachen aber, bald wiederzukommen. Nachdem sie weg waren, weinte ich fast noch eine volle Stunde, während dein Vater reglos im Sessel saß und schweigend aus dem Fenster starrte. Bis zum Abend konnte ich ihn nicht dazu bewegen, auch nur ein Wort zu sagen. Oh, Tao, so gerne ich dich Wiedersehen würde: Ganz gleich, was du tust, komm nie mehr hierher zurück.
1. Mai 1967 Ich bin heute auf den Platz gegangen, um den Vorsitzenden Mao zu sehen. Hunderttausende von Studenten hatten sich versammelt, überwiegend Rotgardisten. Nie zuvor habe ich so viele Menschen auf dem Tiananmen gesehen. Über die Guan-Bo-Lautsprecheranlage spielten sie »Der Steuermann«, »Die Acht Disziplinen« und dann »Der Osten ist Rot«, kurz bevor der große Mann auf dem Rednerpodest vor der Kulisse der verbotenen Stadt erschien. Dann skandierten alle »Lang lebe der große Vorsitzende Mao«. Die Atmosphäre war einfach unbeschreiblich, fast wie auf einer
Versammlung von religiösen Fanatikern. Ich war hin- und hergerissen. Es ist nicht leicht, sich von so viel Emotionen ringsum nicht mitreißen zu lassen. Aber eigentlich war mir zum Heulen. Ich glaube nicht, dass jemand meine Tränen bemerkt hat. 5. Juni 1967 Nun ist eingetreten, was ich schon lange befürchtet hatte. Yue Shi kam heute Morgen hier an und teilte uns feixend mit, dass dein Vater heute in die Schule müsste. Ich sagte ihm, dass er dazu nicht in der Lage wäre. Der Junge erwiderte nur, falls dein Vater nicht auftauche, würde er abgeholt. Nötigenfalls würde man ihn zwingen, auf Knien dorthin zu rutschen. O Tao, ich bin so froh, dass du nicht hier bist und das nicht mit ansehen musst. Aber ich vermisse dich so sehr. Du bist so klug, du hättest bestimmt gewusst, was wir unternehmen sollen. Ich wünschte, ich könnte einfach mit dir sprechen und deine Hand halten.
Li hielt inne. Auf dem Papier waren drei kleine, runde Blasen zu erkennen, gelblich und abgehoben, und eine vierte hatte die Tinte des Schriftzeichens für den Namen Tao verwischt. Es waren Tränen, wie Li begriff, die vor mehr als dreißig Jahren vergossen worden waren. Ein wortloses Zeugnis, dass Yuan Taos Mutter alle Hoffnungen aufgegeben hatte, als sie um den Sohn weinte, den sie nie wieder sehen würde. Beredter als alles, was sie ihm hätte schreiben können. Dann erkannte Li bestürzt, dass es nicht unbedingt ihre Tränen gewesen sein mussten. Er stellte sich Yuan Tao dabei vor, wie er viele Jahre später die Worte seiner Mutter las. Was für Qualen und Schuldgefühle er dabei empfunden haben musste. Es war durchaus möglich, dass dies Tränen waren, die ein Sohn für seine Eltern vergossen hatte. Er las weiter. Obwohl es heiß war, zitterte dein Vater am ganzen Körper, darum packte ich ihn für den Marsch zur Schule in warme Sachen. Er hatte den Stock deines Großvaters in der rechten Hand, ich stützte ihn am linken Arm, aber trotzdem kam er kaum voran; alle zehn Meter mussten wir anhalten, damit er wieder zu Atem kommen konnte. Es ist grauenvoll, den starken jungen Mann, den man geheiratet hat, in diesem Zustand zu erleben. Bei unserer Ankunft hatte sich bereits eine große Menge auf dem Schulhof versammelt und drängte sich um ein kleines hölzernes
Podest, das längs unter einem Basketballkorb aufgebaut war. Auf dem Podest stand, nach vorne gebeugt, die Hände an den Knien und mit gesenktem Kopf, der Erdkundelehrer, Herr Gu. Um seinen Hals hing ein Schild, auf dem sein Name stand, in Rot, auf dem Kopf stehend und durchgestrichen. Die Schüler und Rotgardisten brüllten: »Nieder mit Lehrer Gu!« Immer wenn er versuchte, den Kopf zu heben, drückte ihn einer der Rotgardisten wieder nach unten. Sie bombardierten ihn mit gebrüllten Fragen, allerdings ohne ihm Gelegenheit zu einer Antwort zu geben. Dann brüllten sie ihn an, weil er sich weigerte zu sprechen. Sobald unsere Ankunft bemerkt wurde, kamen einige der Rotgardisten – Bettelmaus, Yue Shi, Schweinchen und Schildkröte – auf uns zu und rissen deinen Vater von mir weg. Sie hängten ihm ein Schild um den Hals wie das von Lehrer Gu und schubsten ihn durch die höhnisch johlende Menge zum Podest. Ich wollte ihm folgen, doch um mich herum wuselten wie ein Ameisenschwarm lauter Kinder, die mich als »Tochter eines Grundbesitzers« und »Mutter eines jungen schwarzen Hundes« beschimpften. Ich sah, wie dein Vater vergeblich versuchte, das Podest zu erklettern, und wie ihm der große Junge, Ge Yan, mit einem langen Rohrstock auf den Nacken schlug, woraufhin er in die Knie sackte. Schließlich hoben sie ihn auf das Podest und stießen Lehrer Gu beiseite. Jetzt richtete sich die gesamte Aufmerksamkeit auf deinen Vater. Ich sah die Tränen in seinen traurigen dunklen Augen, doch weder er noch ich konnten irgendetwas tun. Ein Mädchen, das früher regelmäßig zur Nachhilfe zu uns nach Hause gekommen war, nahm mich am Arm und führte mich in ein Klassenzimmer. Sie trug zwar ein rotes Armband, doch ich glaube, dass sie nur vorgab, eine von ihnen zu sein. Sie brachte mir Wasser und riet mir, nicht hinzusehen. Aber ich konnte meinen Ehemann in dieser Situation doch nicht alleine lassen. Ich ging zur Tür des Klassenzimmers, von wo aus ich sehen konnte, wie er mit gesenktem Kopf und dem Schild um seinen Hals auf dem Podest kniete. Sie schrien: »Nieder mit Lehrer Yuan!« Man verlangte von ihm zu wissen, warum er seine Schüler vernachlässigt hätte, warum er sich geweigert hätte zu arbeiten. Ob er sich vielleicht zu gut wäre, um dem Volke zu dienen? Was hätte er darauf sagen sollen? Was hätte er gegen solche Beschuldigungen vorbringen können, selbst wenn er in der Lage gewesen wäre zu antworten? Er ist ja krank, so schwer krank. Trotzdem schlugen sie jedes Mal, wenn er keine Antwort gab, reihum auf seinen Nacken ein. Ich konnte den Rohrstock pfeifen hören. Bei jedem Schlag meinte ich den Schmerz selbst spüren. Dann riss Ge Yan seinen Kopf an den Haaren zurück, und der, den sie Null nannten, zwang ihn, einen Topf mit Tinte zu trinken. Er
würgte und erbrach sich, aber nichtsdestoweniger zwängten sie die Tinte weiter in seine Kehle. Ich schrie sie an aufzuhören, aber niemand hörte mich in all dem Lärm, und als ich zu ihm gelangen wollte, hielt mich das Mädchen, das mich in das Klassenzimmer gebracht hatte, mit aller Kraft zurück. Noch jetzt, da ich dir schreibe, habe ich ihre Fingerabdrücke als blaue Flecken an meinen Armen. Sie wollten sich einfach an ihm rächen. Weil er sie angebrüllt und mit dem Stock seines Vaters gedroht hatte, falls sie mich nochmals schlagen würden. Ich fühle mich so schuldig, Tao. Dass sie ihm das angetan haben, ist allein meine Schuld. Wenn ich nicht versucht hätte, sie am Zerreißen unserer Familienfotos zu hindern, wenn ich einfach hingenommen hätte, dass ich nichts unternehmen konnte, dann hätten sie ihn vielleicht verschont. Als er vornüberkippte, versuchten sie zunächst, ihn wieder auf die Knie zu bringen, aber er war tief bewusstlos. Ich vermute, sie hielten ihn für tot. Auf unheimliche Weise erstarb schlagartig der Lärm auf dem Schulhof, so als ob aus einem Spiel plötzlich tödlicher Ernst geworden wäre. Es waren eben Kinder. Sie hatten keine Ahnung, was sie da taten. Ich rannte zu dem Podest, und alle wichen zurück, um mich durchzulassen. Niemand hinderte mich daran, auf das Podest zu klettern und das Schild vom Hals deines Vaters abzunehmen. Sein Mund und sein Gesicht waren schwarz von der Tinte, und sein Kittel war voll mit Erbrochenem. Aber ich konnte ihn atmen hören. In kurzen, flachen Stößen. Ich kniete nieder und zog ihn hoch in meine Arme, doch er war zu schwer, als dass ich ihn allein tragen konnte. Ich rief: »Kann mir jemand helfen?« Aber niemand rührte sich. Bis Ge Yan, der Junge mit den Vögeln, einigen Kindern befahl, mir zur Hand zu gehen und diesen »schwarzen Revisionisten« wegzuschaffen. Als ich ihn endlich nach Hause und ins Bett gebracht hatte, lief ich sofort zum Arzt. Doch der weigerte sich zu kommen, nachdem er gehört hatte, was geschehen war, und so sitze ich inzwischen seit Stunden allein neben deinem Vater, kühle seine Wunden mit kalten Umschlägen und halte ihm ab und zu den Kopf hoch, um ihm etwas Wasser einzuflößen. Es ist dunkel. Ich kann nicht sagen, wie spät es ist. Draußen ist alles ruhig, und auch im Haus herrscht Totenstille. Trotzdem kann ich deinen Vater kaum noch atmen hören. Ich weiß nicht, womit er das verdient haben soll. Du weißt, was für ein freundlicher und liebenswürdiger Mensch er ist. O Tao, ich bin müde, so schrecklich müde.
6. Juni 1967 Tao, dein Vater ist gestorben. Irgendwann heute Morgen, nach vier Uhr; ich war auf dem Stuhl neben seinem Bett eingeschlafen, und als ich erwachte, war er schon ganz kalt. Er starb allein, während ich schlief. Ich weiß nicht, ob ich mir das jemals vergeben kann. Es tut mir so Leid, mein Sohn. Bitte glaube mir, dass ich dich liebe. Ich hoffe, dass du ein besseres Leben führen kannst als wir hier.
Es war der letzte Eintrag, obwohl danach noch viele leere Seiten folgten. Mit Tränen in den Augen blickte Li reglos in den ersten gräulichen Dämmerungsschimmer, der sich am Himmel zeigte. Als Junge hatte er miterleben müssen, wie seine Mutter im Gefängnis gestorben war, und er hatte entsetzt und leidvoll erfahren, wie sein Vater zusehends zu einem matten Abglanz seiner selbst verfiel. Trotzdem überstieg es sein Vorstellungsvermögen, wie Yuan Tao sich gefühlt haben musste, als er mit beinahe dreißig Jahren Verspätung den entsetzlichen Bericht seiner Mutter vom Tod seines Vaters las. Die Schilderungen der Brutalität und der unerträglichen Demütigungen durch jene barbarischen jugendlichen Ignoranten, die sein Vater einst selbst unterrichtet hatte. Er sah Tränen vor sich und Zorn, und er wusste, dass beim Lesen dieser Seiten die Saat der Rache in Yuan Taos Herz eingepflanzt worden war. Jetzt wusste er, wer Null, Affe und Schweinchen getötet hatte. Und warum. Er wirbelte seinen Drehstuhl herum und starrte lange aus dem Fenster, auf den von rosa Streifen durchzogenen grauen Himmel. Eine unfassbare Trauer erfüllte ihn. Wie leer musste Yuan Taos Leben gewesen sein, wenn Hass und Rachsucht so rasch Besitz davon ergreifen konnten. Eine gescheiterte Ehe. Keine Kinder. Eine unauffällige akademische Laufbahn, die ins Nirgendwo geführt hätte. Wie oft, fragte sich Li, hatte Yuan Tao wohl bereut, dass er seine Heimat verlassen hatte und nun auf immer dazu verdammt war, als Fremder in einem fremden Land zu leben? Wie musste ihn sein Gewissen gequält haben, als er das Tagebuch seiner Mutter gelesen hatte und erkennen musste, dass die Vorgänge, vor denen er geflohen war, seinen Vater das Leben gekostet hatten. Dass sein Vater von Yuans ehemaligen Klassenkameraden verfolgt und zu Tode gehetzt worden war, während er selbst außer Gefahr und weitab vom Schuss
auf dem Campus einer amerikanischen Universität geweilt hatte. Darum hatte der Hass seine emotionale Leere gefüllt. Und der Wunsch nach Rache hatte seinem Leben einen Sinn gegeben. Fünf Jahre lang hatte er seine Rache geplant. Erst hatte er seine Rückkehr nach Peking betrieben und dann systematisch damit begonnen, die Folterknechte seines Vaters hinzurichten, und zwar mit einem Ritual, das quasi die Demütigungen seines Vaters wiederholte. Auch wenn das Tagebuch keinerlei schlüssiges Beweismaterial enthielt, gab es dem Ganzen doch einen Sinn. Li hatte da keine Zweifel mehr. Nur eine zutiefst rätselhafte Frage blieb immer noch unbeantwortet. Wer hatte Yuan umgebracht? Und warum? Es klopfte an der Tür, und Qian steckte den Kopf herein. Er schien überrascht, Li zu sehen. »Ich habe gehört, dass Sie schon da sind.« Das klang, als hätte er es nicht geglaubt. »Sie sind früh dran, Chef.« Dann bemerkte er die Rauchschleier überall in der Luft und die tiefen Ringe unter Lis Augen. Er runzelte die Stirn. »Waren Sie etwa die ganze Nacht hier?« Li nickte, steckte das Tagebuch wieder in die Plastikhülle und hielt sie Qian hin. »Lassen Sie das auf Fingerabdrücke untersuchen, Qian. Und anschließend machen Sie für jeden im Team eine Kopie davon.« Qian nahm die Plastikhülle und sah sie neugierig an. »Was ist das denn, Chef?« »Ein Mordmotiv.«
IV Yang Shouqian lebte in einem maroden Wohnblock südlich des Bahnhofs Guang’anmen. Er war, wie Li schätzte, etwa Mitte fünfzig, hatte lichtes Haar und ein langes, von Kummer gezeichnetes Gesicht. Verheiratet war er mit einer kleinen, rundgesichtigen Frau, die Li mit einem freundlichen Lächeln in ihre Küche bat. Sie seien gerade beim Frühstück, erklärte sie, und anschließend würde Yang zur Arbeit im nahe gelegenen Ministerium für Wasserkraft-Elektrizität gehen. Sie würde gerade Lotusbrei und süße Brötchen mit roten Bohnen dämpfen. Ob Li mitessen wolle? Li nahm das Angebot an und saß
zusammen mit ihnen am Tisch, während alle paar Minuten auf der Südstrecke, die man vom rückwärtigen Bereich der Wohnung aus überblicken konnte, ein Zug vorbeiratterte. Er war dankbar für den heißen grünen Tee und die süßen Brötchen, denn er merkte langsam, wie ihn nach der schlaflosen Nacht die Müdigkeit übermannte. Die Nachricht, die er zu überbringen hatte, lastete schwer auf ihm. Yang sah ihn neugierig an. »Meine Frau sagte, Sie wüssten etwas von meinem Vetter Tao.« Li nickte. »Haben Sie ihn in den vergangenen Monaten gesehen?« Yang war erstaunt. »Gesehen? Soll das heißen, dass er in Peking ist?« »Seit ungefähr einem halben Jahr.« Yangs anfängliche Begeisterung kippte in Verwirrung und schließlich in Kränkung um. »Nein«, sagte er. »Ich habe ihn nicht gesehen. Er hat sich nicht bei mir gemeldet.« Betroffen legte seine Frau die Hand auf seine. Sie sah Li an, denn sie spürte sofort, dass hier etwas nicht stimmte. Warum wäre er sonst gekommen? »Was ist passiert?«, fragte sie. »Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass er ermordet wurde«, antwortete Li. Yang wurde ziemlich blass, und seine Frau drückte ihm die Hand. »Das verstehe ich nicht«, sagte Yang. »Ermordet? Hier in Peking?« Er konnte kaum glauben, dass so etwas möglich sein sollte. »Von wem denn?« »Das wissen wir nicht«, antwortete Li. »Hat er überhaupt je Verbindung mit Ihnen aufgenommen? Irgendwann in den vergangenen Jahren?« Yang schüttelte den Kopf. »Nie. In all den Jahren habe ich nichts von ihm gehört. Als ich ihn zum letzten Mal gesehen habe, kurz vor seiner Abreise nach Amerika, war er ein pickliger Halbwüchsiger.« »Aber Sie haben ihm geschrieben?« Yang sah überrascht auf. »Woher wissen Sie das?« »Weil ich den Brief habe, den Sie ihm 1995 geschickt haben.« »Ich wusste gar nicht, dass du Vetter Tao geschrieben hast, Shouqian«, warf seine Frau ein. Er nickte. »Doch, doch, ich habe ihm damals das Tagebuch geschickt.« »Ach ja, richtig.« Sie schaute Li kopfschüttelnd an. »Was für
eine Tragödie.« »Sie haben es gelesen?«, fragte Li. »Nicht alles. Shouqian hat es mir gezeigt, bevor er es abschickte.« »Sie haben Tao geschrieben, dass Sie den Brief, den seine Mutter an Ihre Mutter geschickt hatte, behalten würden.« Er verstummte kurz. »Warum?« »Weil der Brief, wie Sie selbst sagen, an meine Mutter gerichtet war«, erklärte Yang. »Er gehörte ihr und somit auch mir, und nicht Vetter Tao.« Einen Moment lang musterte er angestrengt und schweigend seine Fingernägel. »Abgesehen davon«, sagte er schließlich, »war es wohl besser, dass er ihn nie zu sehen bekommen hat.« »Warum?« »Nachdem er schon das Tagebuch…« Er zuckte mit den Achseln. »Es wäre einfach zu viel gewesen.« »Dürfte ich ihn mal sehen?«, fragte Li. In dem schnellen Blick, den Yang ihm zuwarf, meinte Li, einen Anflug von Scham zu erkennen. Dann stand Yang mit einem Nicken auf und trat an eine Kommode an der Wand gegenüber. Er zog eine Schublade auf und begann, einen Stapel Papiere zu durchwühlen. »Haben Sie die Rotgardisten gekannt, die Taos Vater damals so zugesetzt haben?«, fragte Li unterdessen. Yang schüttelte den Kopf. »Nein. Die waren alle jünger als ich, und wir gingen auf verschiedene Schulen.« »Im vergangenen Monat sind drei von ihnen ermordet worden.« Yangs Frau rang nach Luft. Yang fuhr herum, um Li anzusehen, und die Beschämung in seinem Blick hatte sich in etwas verwandelt, das Li nicht auf Anhieb einordnen konnte. »Gütiger Gott«, stammelte Yang. »Tao hat sie umgebracht, nicht wahr?« Augenblicklich war Li klar, dass Angst aus Yangs Augen sprach. »Ich halte das für sehr wahrscheinlich«, antwortete er. Blitzschnell war Yangs Frau auf den Beinen und hielt den Arm ihres Mannes fest, der kurzzeitig ins Schwanken geriet, sich dann aber wieder fing. Einen alten, vergilbten Briefumschlag umklammernd, kam er zum Tisch zurück und ließ sich schwer auf seinen Stuhl fallen. »Weil ich ihm das Tagebuch geschickt habe.« Er sah seine schlimmste Befürchtung bestätigt, und seine Schuldgefühle meldeten sich zurück. »Ich hätte sie genauso gut selbst umbringen können.« Dann durchzuckte ihn ein noch schrecklicherer Gedanke,
und er blickte zu Li auf. »Wurde Vetter Tao vielleicht deshalb umgebracht?« Li zuckte ratlos mit den Achseln. »Ich weiß es nicht.« Yang ließ den Kopf wieder sinken. »Ich hätte es ihm nicht schicken dürfen. Aber ich dachte, nach so vielen Jahren hätte er einfach das Recht, die Wahrheit zu erfahren. Ich hätte doch nicht im Traum gedacht…« Er brach ab, weil ihm die Stimme versagte. Seine Frau umarmte und tröstete ihn: »Wie hättest du das ahnen sollen, Shouqian?« »Ist das der Brief?«, fragte Li mit ausgestreckter Hand. Yang nickte und händigte ihm das Schreiben aus. Der Umschlag trug keine Briefmarke. Statt einer Adresse stand nur der Name von Yangs Mutter in schnörkellosen, gut leserlichen Schriftzeichen darauf. Li zog den Brief heraus. Das Papier war dünn und an den Falzstellen schon beinahe zerrissen. Vorsichtig faltete Li es auf. Es stammte vom Juli 1970. Meine liebste Schwester Xi-Wen, heute habe ich die Nachricht erhalten, dass mein Sohn Tao seinen Abschluss in Politikwissenschaft an der Universität von Berkeley in Kalifornien gemacht hat. Er wird dort noch zwei Jahre bleiben, um seine Doktorarbeit abzuschließen. Ich freue mich so für ihn. Sein Erfolg ist gesichert, darum wird er nie wieder hierher zurückkehren müssen. In gewissem Sinne ist dies das Einzige, wofür ich seit dem Tod meines geliebten Mannes gelebt habe. Und dennoch kann ich es einfach nicht ertragen, dass er irgendwo am anderen Ende der Welt lebt, wo er zwar dieselbe Sonne auf- und untergehen sieht und derselbe Mond am Himmel steht, den auch ich in klaren Nächten in Peking erkennen kann, wo es mir aber unmöglich ist, mit ihm zu sprechen oder ihn zu berühren. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie ich mit ihm schwanger ging. Doch nun ist er genauso weit weg von mir wie mein Ehemann. Die große proletarische Revolution scheint in eine neue Phase des Wahnsinns einzutreten: Inzwischen bekämpfen sich die verschiedenen Fraktionen gegenseitig. Wegen der Herkunft unseres Vaters und auf Grund meiner Ausbildung stehe ich immer noch in Ungnade. Man verbietet mir nun schon seit fast zwei Jahren, im Kindergarten zu arbeiten. Ich habe alles so satt, und ich frage mich, wo das Ganze noch enden wird. Viele Stunden habe ich damit zugebracht, mir die Überbleibsel aus unserem Leben vor diesem ganzen Irrsinn anzuschauen. Nicht
viel hat überlebt. Ein paar Fotos, ein paar wie ein Schatz gehütete Briefe, die ich mir mit meinem Mann in den Monaten vor unserer Hochzeit geschrieben habe, und ein einziger Brief von Tao, der uns auf wundersame Weise erreicht hatte, kurz nachdem er in die Vereinigten Staaten gegangen war. Und das hier. Es ist ein Tagebuch, das ich nach seiner Abreise für Tao geführt habe. Eigentlich war es als Bericht für ihn gedacht, damit er nach seiner Rückkehr Bescheid weiß, was während seiner Abwesenheit alles passiert ist. Nach dem Tod seines Vaters brachte ich es einfach nicht über mich, das Tagebuch noch weiterzuführen. Trotzdem würde ich mir wünschen, dass er es bekommt. Er soll erfahren, was seiner Familie zugestoßen ist. Ich vertraue es dir an, denn bei dir ist es ganz gewiss in Sicherheit; du wirst bestimmt dafür sorgen, dass Tao es erhält, wenn sich irgendwann eine Gelegenheit dazu ergibt. Bitte lass ihn wissen, dass ich ihn liebe. Verzeih mir, dass ich dir solchen Kummer mache. Deine dich liebende Schwester, Ping Zhen.
Li sah auf und merkte, dass Yang ihn aufmerksam beobachtete, wieder mit unübersehbar schlechtem Gewissen. »Damals galt das als Verbrechen«, sagte er. »Der Vorsitzende Mao bezeichnete es als ›Sich selbst dem Volk entziehen‹.« Er presste Luft durch die zusammengekniffenen Lippen. »Was für ein Euphemismus. In Wahrheit bedeutete das, dass wir im Krematorium keinen abgeschirmten Raum bekamen und dass wir weder Trauerarmbänder anlegen noch Begräbnismusik spielen durften. Die ganze Familie sollte die Schande spüren.« Li merkte, dass Yang sie nach all den Jahren immer noch spürte. »Was ist passiert?«, fragte er. Yang schüttelte den Kopf. Es kostete ihn große Überwindung, sich jene entsetzliche Zeit noch einmal ins Gedächtnis zu rufen. »Sie stürzte sich aus dem Fenster, landete unten auf dem Zaun und wurde gepfählt. Niemand wagte sich in ihre Nähe. Es muss Stunden gedauert haben, bis sie tot war.« Er sah Li in die Augen. »Tao hat es nie erfahren.«
8. KAPITEL I Margarets innerer Zwiespalt beruhte eher auf emotionaler Zerrissenheit als auf einem intellektuellen Konflikt. Womöglich war es gar kein wirklicher Zwiespalt, sondern eher ein Glücksgefühl, das am Rande mit Schuldgefühlen verbunden war. Wobei es sich allerdings um einen äußerst scharfzackigen Rand handelte, der sich unverhältnismäßig schmerzhaft bemerkbar machte. Die Folge war, dass die Freuden der Nacht am Morgen danach von Beschämung überschattet wurden. Was ausgesprochen ärgerlich war angesichts jenes warmen, satten Gefühls, das ein erotischer Höhenflug, wie er schöner nicht hätte ausfallen können, in ihr hinterlassen hatte. Michael hatte sich als fürsorglicher und einfühlsamer Liebhaber entpuppt, dem sie sich vollkommen anvertraut und hingegeben hatte. Hinterher hatten sie sich noch lange im Arm gehalten und miteinander geplaudert. Über sich selbst und über ihr Leben, wobei Margaret allerdings vermieden hatte, über jenen anderen Michael aus ihrer Vergangenheit zu sprechen. Zum Glück hatte der Michael an ihrer Seite sie nicht dazu gedrängt, sodass sie sich in seiner Nähe behaglich entspannt hatte, bis der Schlaf sie übermannte. Während des Einschlafens hatte sie noch bemerkt, wie Michael ihr Gesicht, ihren Hals und ihre Brüste mit unzähligen hingehauchten Küssen übersäte. Was ein paar kurze Stunden doch ausmachen können. Als der Wecker sie im Morgengrauen aus dem Tiefschlaf riss, war ihr Michaels Gegenwart peinlich und unangenehm. Es war kaum zu glauben, wie anders die Ereignisse der vergangenen Nacht im grellen Tageslicht wirkten. Michael hingegen hatte sie zuvorkommend und liebevoll behandelt, und falls er ihre Verlegenheit bemerkt hatte, ließ er es sich nicht anmerken. Jetzt, da das Flugzeug nach einem Flug von siebzig Minuten mit
einer Schleife zur Landung auf dem Flughafen Peking ansetzte, verflüchtigte sich diese Verlegenheit allmählich und machte wachsender Nervosität Platz. Sechsunddreißig Stunden hatte sie ihrem Leben entfliehen und sich vormachen können, sie sei ein völlig anderer Mensch an einem anderem Ort. Nun raste ihr die Realität mit einer Geschwindigkeit von mehreren hundert Stundenkilometern entgegen. Sie hörte die Reifen quietschen, als die Maschine der China Northern Airlines unter heftigem Rütteln und Schaukeln auf der Rollbahn aufsetzte. Schlagartig meldeten sich Li, die vier Morde und die fortlaufenden Ermittlungen in ihre Gedanken zurück, und sie fragte sich, ob ihr im Alltag wohl eine weniger holprige Landung gelingen würde. Jegliche Hoffnungen auf eine unkomplizierte Rückkehr lösten sich jedoch in Luft auf, als Margaret und Michael in die Ankunftshalle traten und Sophie entdeckten, die ungeduldig die Ankommenden musterte. Instinktiv entzog Margaret wie ein ertapptes Schulmädchen Michael die Hand. Michael lächelte. »Schämst du dich, mit mir gesehen zu werden?« Margaret ärgerte sich über sich selbst. »Selbstverständlich«, erwiderte sie. »Welche Frau mit einem Funken Selbstachtung möchte schon mit dir erwischt werden?« Sophie erspähte sie und bahnte sich ihren Weg durch die Menge. Ihr Gesicht war gerötet. »Draußen wartet ein Wagen auf uns«, begrüßte sie Margaret. Sie warf Michael einen schnellen Blick zu. »Es gibt neue Entwicklungen.« Daraufhin zog sie Margaret einen Schritt zur Seite und senkte die Stimme. »Ihr Freund, der stellvertretende Sektionsvorsteher Li, scheint mittlerweile davon auszugehen, dass Yuan Tao die ersten drei Morde begangen hat.« »Was?« Margaret fühlte sich vollkommen überrumpelt. Nachdem sie sich vom ersten Schock erholt hatte, sagte sie: »Vermutlich nimmt er an, dass Tao sich selbst den Kopf abgeschlagen hat?« »Das bezweifle ich«, erwiderte Sophie sarkastisch. »Der springende Punkt ist, dass damit ein amerikanischer Bürger unter Verdacht steht, drei chinesische Staatsbürger ermordet zu haben.« »Bestimmt schlottert er vor Angst im Grab«, bemerkte Margaret. »Und was hat das alles mit mir zu tun?« »Die chinesische Polizei hat ein Informationstreffen im städtischen Hauptquartier angesetzt, und zwar in…«, sie blickte auf ihre Uhr, »…fünfundvierzig Minuten. Wir müssen uns beeilen.« »Eine Minute müssen Sie mir schon noch gewähren«, sagte
Margaret und steuerte wieder auf Michael zu. Er sprach gerade in sein Handy und schaute dabei auf die Uhr. »Ist gut, okay, Charles, ich denke, ich bin spätestens gegen halb elf draußen am Drehort…« Er sah Margaret auf sich zukommen. »Bleib dran«, sagte er und deckte das Handy mit der Hand ab. »Tut mir Leid, Michael, aber ich muss sofort zu einer Besprechung in die Polizeizentrale. Wahrscheinlich werde ich es nicht schaffen, noch zu den Dreharbeiten rauszufahren.« Er zuckte mit den Achseln und lächelte bedauernd. »Da kann man wohl nichts machen.« Er hielt kurz inne. »Was ist denn passiert?« Margaret schnaubte frustriert. »Offensichtlich glauben sie, dass Opfer Nummer vier die drei anderen umgebracht hat.« Er legte die Stirn in Falten. Sie lachte. »Zerbrich dir nicht den Kopf darüber. Rufst du mich an?« »Heute Abend«, versprach er, dann senkte er zu ihrer Überraschung den Kopf und gab ihr einen langen, zärtlichen Kuss. »Wir sollten das irgendwann mal wieder tun«, sagte er zweideutig. Sie nickte und spürte dabei Sophies Blick in ihrem Rücken: »Bald.« Im Wagen bemerkte Margaret, dass Sophie sie neugierig von der Seite ansah. Sie wandte sich ihr zu und stellte sich ihrem Blick. Sophie sagte: »Also haben Sie mit ihm geschlafen.« Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. »Das geht Sie nun wirklich nichts an«, erwiderte Margaret. Sophie schüttelte neidisch den Kopf. »Sie Glückliche. Wissen Sie eigentlich, dass die Hälfte der Frauen in Amerika Sie um diese Erfahrung beneidet? Ich darf gar nicht daran denken, dass ich Sie auch noch mit ihm bekannt gemacht habe!« »Also, in einem Punkt haben Sie jedenfalls Recht gehabt«, erklärte Margaret. »Und der wäre?« Sie grinste. »Er hat einen tollen Arsch.«
II
Polizeirat Hu Yisheng erhob sich, um Margaret über den Schreibtisch hinweg die Hand zu schütteln. Der Leiter der Kriminalpolizei trug seine Gala-Uniform, eine dunkelgrüne Jacke mit zwei goldenen Streifen oberhalb der goldenen Manschettenknöpfe, und dazu ein blassgrünes Hemd mit dunkelblauer Krawatte. Das Polizeiabzeichen des Ministeriums für öffentliche Sicherheit oben an seinem linken Ärmel wirkte ebenso unverhältnismäßig groß wie sein Kopf auf dem eher schmächtigen Körper. Dennoch war er, wie Margaret insgeheim befand, mit seinem von dunklen Strähnen durchzogenen grauen Haar, das er von der faltenlosen Stirn nach hinten gekämmt hatte, für sein Alter ein ansehnlicher Mann. Das Lächeln, mit dem er Margaret einen Stuhl anbot, wirkte allerdings gezwungen. »Ich möchte Ihnen gerne meinen aufrichtigen Dank aussprechen, Dr. Campbell, für die mehr als ausgezeichnete Arbeit, die Sie zum Wohle des chinesischen Volkes geleistet haben«, verkündete er steif. Margaret wollte ihm schon erklären, dass ihre Loyalität gegenüber dem amerikanischen Volk der einzige Grund dafür war, dass sie noch hier war. Doch Sophie witterte den drohenden Bruch der Etikette und erwiderte rasch an ihrer Stelle: »Dr. Campbell schätzt sich überglücklich, Ihnen helfen zu können, Herr Polizeirat.« Margaret konnte dem Polizeirat das Erstaunen darüber ansehen, dass sie die Antwort nicht selbst gegeben hatte. Jonathan Dakers war bereits anwesend, genauso wie der Sektionsvorsteher Chen Anming. Als er und Margaret einander erneut vorgestellt wurden, kühlte die Atmosphäre spürbar ab. Sie hatte nicht vergessen, dass es Chen gewesen war, der sie damals im Juni erstmals in eine Ermittlung der chinesischen Polizei verwickelt hatte. Er hatte sie gebeten, eine Autopsie vorzunehmen. Ein perfektes Beispiel für die Funktionsweise eines chinesischen Phänomens namens Guangxi. Als Teilnehmer eines Kurses für Ermittlungstechnik, den sie im vergangenen Jahr in Chicago geleitet hatte, hatte er ihr ein großzügiges Geschenk gemacht. Dadurch hatte sie ihm einen Gefallen geschuldet, den er auf diese Weise eingefordert hatte. Als diese Ermittlungsergebnisse später die kühnsten Vorstellungen aller Beteiligten zu übersteigen begannen, hatte Chen allerdings gewiss bedauert, dass er sie hinzugezogen hatte. Im Moment ließ sein Benehmen keinen Zweifel daran, dass er nicht den geringsten Wert auf ihre Mithilfe bei den laufenden Ermittlungen legte. Nur dass diese Entscheidung nicht er zu treffen
hatte. Sie fragte sich, ob wohl Chen Li befohlen hatte, sich von ihr fern zu halten. Sophie setzte sich zwischen Margaret und Chen, als spüre sie die Spannung zwischen den beiden, und unterhielt sich angeregt mit dem Sektionsvorsteher, während Dakers zwanglos mit Polizeirat Hu plauderte. Margaret saß stumm wie ein Fisch daneben und fragte sich, was sie hier eigentlich sollte und wie lange sie noch mitspielen würde, bevor sie einfach aufstand und ging. Die Entscheidung wurde allerdings hinfällig, als Li erschien. Er klopfte an und trat ein, ein wenig nervös, wie Margaret bemerkte. Er trug seine Uniform, so wie damals, als sie sich zum ersten Mal begegnet waren. Das blassgrüne kurzärmelige Hemd über der dunkelgrünen Hose. Auf seinen Schulterklappen prangten die drei goldenen Streifen und die drei Sterne eines Ersten Hauptkommissars der Klasse drei. Die Mütze mit Goldlitze saß so tief auf seinem Kopf, dass der Schild die Augen völlig in den Schatten tauchte. Bei seinem Anblick begann Margarets Magen augenblicklich Purzelbäume zu schlagen, und ihre Schuldgefühle nagten von neuem an ihr. Er salutierte vor dem Polizeirat, entschuldigte sich für seine Verspätung, nahm die Kopfbedeckung ab und ließ sich schließlich auf einem Stuhl nieder. Dann öffnete er die mitgebrachte Aktentasche und entnahm ihr einige Papiere. »Gut«, sagte Hu, »da wir nun alle versammelt sind, könnten Sie uns vielleicht auf den neuesten Stand der Dinge bringen, stellvertretender Sektionsvorsteher?« Li räusperte sich verlegen und sah zu Margaret hinüber. In seinem Blick lag etwas unsäglich Trauriges und Verstörendes. Sie war nicht sicher, ob das nicht nur Einbildung war, doch sie glaubte auch verlorenes Vertrauen darin zu erkennen. Als ob er wüsste, dass sie noch wenige Stunden zuvor in den Armen eines anderen Mannes gelegen hatte, sexuell erfüllt und keinen Gedanken an Li verschwendend. Mit einem Mal fühlte sie sich bloßgestellt, so als würde sie nackt hier sitzen, den Blicken aller Anwesenden ausgeliefert. Sie merkte, wie sie errötete. Li fing an zu sprechen. »Im Zuge unserer Ermittlungen habe ich gestern Nacht unter dem Fußboden von Yuan Taos Botschaftsunterkunft ein verstecktes Tagebuch entdeckt. Es stammt aus der Feder seiner Mutter und beschreibt den Zeitabschnitt vom Mai 1966, als Yuan Tao in die Vereinigten Staaten ging, bis zum Tod seines Vaters im Juni 1967.« Er brach ab und ließ einige
fotokopierte Blätter herumgehen. »Dies sind Kopien der für uns wichtigsten Abschnitte. Sie schildern, welchen Schikanen Yuan Taos Eltern durch einen Teil seiner ehemaligen Klassenkameraden ausgesetzt waren, von denen sechs als Rotgardisten die so genannte Brigade ›Revolution bis zum Endsieg‹ gebildet hatten. Die Brigade gehörte während der Kulturrevolution zu den ultralinken Splittergruppen.« Er schwieg einen Moment und sah sich um. »Ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass die drei ersten Opfer allesamt Mitglieder der Brigade ›Revolution bis zum Endsieg‹ waren.« Das waren für Margaret, Sophie und Dakers Neuigkeiten, deren Bedeutung ihnen nicht entging. »Wir lassen das Tagebuch gerade komplett übersetzen«, sagte Li. Margaret hörte schweigend und gleichermaßen gebannt wie geschockt zu, wie er die im Tagebuch geschilderten Schikanen näher beschrieb, bis er schließlich zur Demütigung von Yuans Vater vor einer johlenden Menge im Hof der Mittelschule Nr. 29 kam, die zu seinem Tod wenige Stunden später geführt hatte. Jetzt ging Li zu den Schlussfolgerungen über: »Das Schild, das dem Vater um den Hals gehängt wurde, der in roten Schriftzeichen auf dem Kopf stehende und durchgestrichene Name; die kauernde Haltung und die Schläge in den Nacken, die ihm mit einem Rohrstock beigebracht wurden; selbst das erzwungene Trinken von Tinte – all das kann als Handlungsvorlage für jenen Modus Operandi gesehen werden, der unsere Morde kennzeichnet. An die Stelle der Tinte trat der Rotwein. Die verabreichte Droge Flunitrazepam, aufgelöst im Medium Wein, ermöglichte es, die Opfer in die Knie zu zwingen. Der Nackenschlag, diesmal allerdings mit einem Schwert, führte zum Tod durch Enthauptung. Allen drei Opfern wurden weiße Pappkartons um den Hals gehängt, auf denen mit roter Tinte und auf dem Kopf stehend ihre Spitznamen standen. Darüber hinaus dürfen wir nicht vergessen, dass im alten China die Enthauptung eine klassische Todesstrafe war. Der Mörder muss sich also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit als Henker gefühlt haben, der gerechte Vergeltung für begangene Verbrechen übt.« »Wenn das stimmt, dann hätte das aber nichts mit Gerechtigkeit zu tun. Dann war das reine Rache«, warf Margaret ein. Li nickte knapp. »Richtig. Aber was ist denn die Todesstrafe anderes als eine kollektive Rache der Gesellschaft an jenen, die sich
gegen diese Gesellschaft gestellt haben? Der Müllhaufen der Geschichte ist voll von Individuen, die ihre Angelegenheiten selbst in die Hand genommen haben, nachdem sie sich von der Gesellschaft im Stich gelassen fühlten.« Margaret rätselte, ob diese Gedanken wohl von Onkel Yifu stammten und von seinem Neffen aufpoliert und aufbewahrt worden waren, um sie bei passender Gelegenheit unters Volk zu streuen. Sie sagte: »Eine interessante Theorie, stellvertretender Sektionsvorsteher. Aber läuft dieses Vorgehen den üblichen chinesischen Ermittlungsmethoden nicht vollkommen zuwider?« Sie merkte, wie um sie herum alles zu Eis erstarrte. »So weit ich weiß, darf man sich erst dann ein Bild von einem Verbrechen und dem möglichen Täter machen, wenn man das gesamte Beweismaterial gewissenhaft zusammengetragen hat. Oder um es anders auszudrücken – welche Beweise gibt es, die Yuan Tao mit irgendeinem der anderen Tatorte in Verbindung bringen?« Li verzog keine Miene. »Die Spuren von dunkelblauem Staub, die in Yuan Taos Wohnung gefunden wurden, sind identisch mit den Staubspuren, die man an der Leiche von Yue Shi entdeckt hat.« »Soll das heißen, dass Yue Shi in Yuans Wohnung ermordet wurde?« »Nein.« »Dann besteht auch kein direkter Zusammenhang.« »Dann eben der Wein«, sagte Li in ruhigem Ton. Er war entschlossen, sich nicht von ihr beirren zu lassen. »In Yuans Wohnung hat man den gleichen Wein gefunden wie jenen, den die drei vor ihrer Ermordung getrunken hatten.« »Aber auch daraus folgt nicht zwingend, dass Yuan an einem der anderen Tatorte war, oder?« »Nein«, musste Li zugeben. »Außerdem wissen wir, dass Yuan mit derselben Waffe getötet wurde wie die übrigen Opfer.« »Willst du damit sagen«, fragte Li sarkastisch, »dass Yuan sich den Kopf selbst abgeschlagen hat?« Margaret lachte. »Ehrlich gesagt habe ich befürchtet, dass ihr etwas in der Art annehmen könntet. Obwohl es ihm Schwierigkeiten bereitet haben dürfte, die Waffe nach der Tat zu entsorgen, nicht wahr?« Ihre Erheiterung wurde von niemandem geteilt. »Du selbst hast vermutet, er könnte von jemandem getötet worden sein, der als Zeuge bei den anderen Verbrechen dabei war«,
erwiderte Li. Margaret schüttelte den Kopf. »Damals hatten wir noch kein Motiv. Ein Zeuge hätte zugleich Yuans Komplize sein müssen. Wenn Yuan, wie du annimmst, einen Rachefeldzug durchgeführt hat, dann hätte ein Komplize seine Rachegelüste teilen müssen. Was für ein Motiv hätte er sonst haben sollen? Und welches Motiv hätte er in diesem Fall gehabt, Yuan umzubringen?« »Das ist ja alles ganz interessant, Margaret«, mischte sich Dakers ein. »Wir sind aber nicht hier, um das Beweismaterial zu zerpflücken. Sondern um uns informieren zu lassen.« »Wie bitte?«, blaffte Margaret. »Wir sollen also still dasitzen und nur abnicken, was uns vorgetragen wird?« »Natürlich nicht«, antwortete Dakers aalglatt. »Wir sind im Gegenteil sehr daran interessiert, an einer kritischen Würdigung des Beweismaterials teilzuhaben. Deshalb haben wir bereits bei unseren Freunden im Ministerium für öffentliche Sicherheit angefragt, ob man Ihnen nicht das Privileg zugestehen könnte, ständig bei den Ermittlungen vertreten zu sein – zumindest bis Yuan Taos Verstrickung in den Fall zur Zufriedenheit aller Beteiligten aufgeklärt worden ist.« Er hatte aufgehört, direkt zu Margaret zu sprechen, und sich stattdessen an Polizeirat Hu gewandt. »Man hat mich wissen lassen, dass der Botschafter dieses Thema bereits höheren Orts zur Sprache gebracht hat.« Die Wangen des Polizeirates bekamen ein klein wenig Farbe, als er auf dem Schreibtisch die Hände faltete. Margaret bemerkte, dass seine Fingerknöchel weiß waren. Er konnte es gar nicht leiden, wenn etwas über seinen Kopf hinweg entschieden wurde. »Das ist mir ebenfalls zu Ohren gekommen«, sagte er. »Vor nicht einmal einer halben Stunde habe ich mit dem Minister gesprochen. Ihr Botschafter ist bereits davon in Kenntnis gesetzt worden, dass der Herr Minister Ihrer Bitte entsprochen hat.« Ausnahmsweise fehlten Margaret die Worte. Sie schaute auf Li und sah ihn mit versteinertem Gesicht zu Boden starren. Die kraftlose Sonne am bleichen Himmel schien fahl auf das staubige Weiß des Hofes außerhalb des roten Ziegelgebäudes, in dem sich die Zentrale der Kriminalpolizei befand. Margaret gab sich alle Mühe, nicht von Li abgehängt zu werden, der mit schnellen Schritten über den Hof zu seinem im Schatten einer Baumreihe geparkten Jeep eilte.
»Du hast Bescheid gewusst, nicht wahr?«, sagte sie. »Selbst wenn, würde das etwas ändern?«, antwortete er, ohne sich umzusehen. »Ich habe diese Entscheidung nicht gefällt. Du weißt, wie sie andernfalls ausgefallen wäre.« Er öffnete die Fahrertür und schleuderte seine Aktenmappe hinein. »Ja, natürlich. Gott bewahre, dass du Hilfe brauchen könntest. Oder gar darum bitten müsstest, falls es doch mal dazu kommen sollte.« Mit zornesbleichem Gesicht drehte sich Li zu ihr um. Seine Augen lagen unter dem Mützenschirm im Schatten, sodass Margaret sie nicht sehen konnte. »Ich schätze es gar nicht«, sagte er, »wenn meine Ermittlungen vor dem Sektions Vorsteher und dem Leiter der Kriminalpolizei in Frage gestellt werden!« »O Gott!« Margaret reckte die Hände in den Himmel. »Schon kapiert. Mianzi. Darum dreht sich alles, hab ich Recht? Dein Gesicht. Oder besser der Verlust desselben vor deinem Chef. Scheiß doch auf das Beweismaterial, Hauptsache, wir verlieren nicht das Gesicht! Ist es das? Wie ungeheuer chinesisch von dir.« Trotz seiner spürbaren Wut hielt er, wenn auch mühsam, seine Stimme im Zaum. »Es geht sehr wohl um das Beweismaterial«, sagte er. »Und zwar um das wichtigste Beweisstück, das wir bisher finden konnten und das du… schlicht und einfach verwirfst.« Er wedelte abschätzig zu den Bäumen hin. »Ich habe gar nichts verworfen.« »Nun, wie du unzweideutig klargestellt hast, glaubst du nicht, dass Yuan Tao die anderen Morde begangen hat.« »Selbstverständlich hat er das«, sagte Margaret. »Das Tagebuch liefert uns das perfekte Motiv dafür. Es gibt praktisch keinen Zweifel daran, dass er es getan hat.« Li schwieg verblüfft. Während sie in Fahrt kam. »Er hatte sowohl ein Motiv als auch die Gelegenheit. Den Wein und den blauen Staub können wir getrost als brauchbares, unterstützendes Beweismaterial verwenden. Trotzdem haben wir, wie ich vorhin klarzustellen versucht habe, nicht den kleinsten Beweis dafür, dass er sich tatsächlich und unwiderlegbar an einem der Tatorte aufgehalten hat. Und den brauchen wir.« »Wir?«, fragte er. »Nun, ob es uns gefällt oder nicht, es sieht so aus, als seien wir aneinander gefesselt, bis wir die ganze Sache im Sack haben.« Die unglücklich gewählte Metapher ließ sie einen Moment stocken, dann fügte sie rasch hinzu: »Je eher wir also den Bösewicht gefunden
haben, desto eher können wir aufhören, uns gegenseitig auf die Nerven zu gehen.« »Und desto schneller kannst du zurück zu deinem Archäologen.« Die Worte waren ungewollt über seine Lippen gekommen. Am liebsten hätte er sich die Zunge abgebissen. »Oh«, sagte sie, »deshalb bist du so feindselig. Wegen meiner Beziehung zu Michael.« Er ging sofort in die Defensive. »Was kümmert mich deine Beziehung zu ›Michael‹? Überhaupt ist sie ja streng platonisch, wie du selbst gesagt hast, nicht wahr?« Margaret feuerte augenblicklich zurück. »Und was hast du darauf geantwortet? ›Als platonisch bezeichnet man eine Beziehung dann, wenn man kurz davor ist, mit jemandem ins Bett zu gehen.‹« Er zuckte zusammen, so wie nach der Autopsie, als sie ihm eine Ohrfeige verpasst hatte. Nur war dies keine Ohrfeige. Es war ein Messerstich ins Herz, den sie auf der Stelle bereute. Aber es gab nichts, was sie jetzt sagen konnte, um den angerichteten Schaden wieder gutzumachen. So starrten sie einander feindselig und in angespanntem Schweigen an, bis sie seinen Blick nicht länger ertragen konnte und sich umdrehte, um stattdessen die Polizeizentrale zu fixieren, die am anderen Ende des Hofes aufragte. »Zu dumm, dass das AFIS keine passenden Fingerabdrücke zu denen vom Tatort Nummer zwei gefunden hat«, sagte sie, um überhaupt etwas zu sagen. Mühsam kämpfte sich Li durch den peinigenden roten Nebel, der sein Bewusstsein wie ein Schleier umhüllte, und versuchte sich auf ihre Worte zu konzentrieren. »Was?« »Euer automatisches Fingerabdruck-Identifikations-System. Hätte es den blutigen Fingerabdruck Yuan zuordnen können, dann wäre eine Verbindung zwischen ihm und einem der Tatorte bewiesen.« Der Nebel lichtete sich, und Li erinnerte sich wieder an den blutverschmierten Abdruck, den man am Rand des Schreibtischs in Bai Qiyus Büro gefunden hatte. Er hatte ihn völlig vergessen gehabt. Margaret offensichtlich nicht. Trotzdem gab ihm ihre Frage Rätsel auf. »Wie hätte der Computer Yuan Tao einen Fingerabdruck zuordnen sollen, wenn seine Abdrücke gar nicht in das System eingespeist worden sind?« »Wie bitte?« Margaret traute ihren Ohren nicht. »Soll das heißen, ihr gebt ausschließlich die Abdrücke der Täter in den Rechner ein
und nicht auch die der Opfer? In den Staaten ist das gängige Praxis.« Unter anderen Umständen hätte Li sich mit ihr gestritten. Aber im Moment überschlugen sich seine Gedanken. »Das System ist neu. Es ist noch nicht in vollem Umfang einsatzfähig.« »Also hat niemand nachgeprüft, ob die Abdrücke übereinstimmen?« Er schüttelte den Kopf. Sie fuhr fort: »Nun, findest du nicht, dass das vielleicht ganz sinnvoll wäre?« »Schön zu sehen, dass ihr euch gleich richtig in die Arbeit kniet!« Sie wandten sich um und sahen Sophie und Dakers quer über den Hof kommen. Im Hintergrund konnte Li erkennen, wie Chen in eine Bereitschaftslimousine der Sektion Eins stieg. Dakers strahlte leutselig übers ganze Gesicht. Er richtete das Wort an Li. »Wir sind da drin eben noch mal alles im Groben durchgegangen. Ich denke, wir werden gut miteinander auskommen. Falls Sie irgendetwas brauchen, falls wir Ihnen irgendwie behilflich sein können, dann fragen sie einfach.« Li nickte knapp. Dakers tätschelte Margarets Arm. »Wir sprechen uns später«, ließ er sie wissen. Er und Sophie waren bereits im Weggehen, als Li fragte: »War jemand von Ihren Leute in Yuan Taos Botschaftsunterkunft, bevor unsere Jungs von der Spurensicherung reingelassen wurden?« Dakers kehrte noch einmal zurück. »Na klar«, antwortete er. »Ich habe die Wohnung höchstpersönlich überprüft.« Er grinste. »Nur falls dort noch eine weitere Leiche gelegen hätte, von der wir nichts wussten.« Außer ihm lächelte niemand. »Sonst niemand?«, fragte Li. Leicht irritiert schüttelte Dakers den Kopf. »Niemand. Ich war allein.« Er stockte kurz. »Ist da irgendwas im Busch?« »Nein«, versicherte Li. Um dann unerwartet nachzuhaken: »Hatten Sie schon immer einen Bart?« Von der Frage überrascht, legte Dakers unwillkürlich die Hand auf den sorgsam gestutzten Backenbart und fuhr sich durch die stoppligen Koteletten. »Ja«, sagte er. »Ich hatte schon immer einen starken Bartwuchs. Mit fünfzehn habe ich angefangen, mich zu rasieren. Meine ganze Jugend über lief ich mit einem ekligen Ausschlag rum. Deshalb konnte ich es kaum erwarten, mir endlich einen Bart wachsen zu lassen. Sobald ich mit der Schule fertig war.« Er stockte erneut. »Sind Sie ganz sicher, dass da nichts im Busch ist?« Li setzte ein Lächeln auf, das beruhigend wirken sollte. »Reine
Neugier.« Während er gleichzeitig in Gedanken folgerte, dass Männer, die sich nicht rasierten, auch kein Rasierwasser benutzten. Dementsprechend konnte der Duft in Yuans Wohnung nicht von Dakers stammen. Dakers blickte ihn befremdet an. »Okay«, sagte er. »Dann bis bald.« Er und Sophie entfernten sich in Richtung der im Schatten geparkten Botschaftslimousine mit dem unübersehbaren roten ShiSchriftzeichen auf dem Nummernschild. »Was sollte das eben?«, wollte Margaret wissen. Sie beobachtete neugierig seine Reaktion. Li stellte niemals grundlos Fragen. Aber er zuckte nur mit den Achseln. »Nichts weiter.« Er langte nach innen in den Jeep und schaltete den Polizeifunk an. »Am besten kümmere ich mich sofort darum, dass Yuans Fingerabdrücke in das AFIS eingegeben werden.« Sie hörte zu, wie er auf Chinesisch ins Mikro des Funkgeräts sprach und eine blechern klingende Stimme ihm antwortete. Wie gern hätte sie ihn gepackt und ihm erklärt, dass es ihr Leid tat. Nicht dass sie mit Michael geschlafen hatte, aber dass sie es Li – mehr oder minder – gestanden hatte. Das war grausam und gemein gewesen, und die Röte, die ihm bis unter die Haarwurzeln ins Gesicht geschossen war, hatte sich noch immer nicht verzogen. Doch ihr war klar, dass sie dies unmöglich mit ihm ausdiskutieren konnte. Einzugestehen, dass sie ihn verletzt hatte, würde einen Gesichtsverlust bedeuten. Und den würde er um jeden Preis vermeiden. Er beendete das Gespräch und drehte sich zu ihr um. »Sieht so aus, als wäre Kommissar Wu uns da einen Schritt voraus gewesen. Er hat die Überprüfung der Abdrücke bereits in die Wege geleitet.« »Demnach gibt es wenigstens einen in deiner Mannschaft, der am Ball bleibt«, sagte Margaret. Er ignorierte den Seitenhieb. »Unter Umständen brauchen wir das Ergebnis gar nicht mehr«, erklärte er. »Es sieht so aus, als hätten wir den Händler gefunden, der ihm das Schwert verkauft hat.«
III
Vorsichtig schob sich Lis Jeep durch den engen Hutong namens Xidamochang Jie, der in Richtung Osten aus Qianmen hinausführte. Fußgänger und Radfahrer drängten sich darauf, Händler mit ihren Karren, kleinere Lastwagen und junge Kohlenträger. Vor winzigen Restaurants standen dicht an dicht Tische und Stühle auf der Straße, neben denen Männer hockten und Fleisch über heißen Kohlen grillten, sodass eine aromatisch riechende Rauchwolke den schmalen Streifen blauen Himmels über ihren Köpfen verdüsterte. Frauen saßen in Gruppen auf winzigen Hockern, Klöße zubereitend oder einfach plaudernd. Durch eine offen stehende Eingangstür sah Margaret einen Mann auf einem mit Plastik bezogenen Diwan liegen, die Hände hinter dem Kopf verschränkt und fest schlafend. Hinter einem anderen Eingang stand eine Frau und hackte mit einem Beil auf einem Holzbrett Gemüse. »Wo um alles in der Welt fahren wir eigentlich hin?«, fragte sie Li. »In die unterirdische Stadt.« Sie runzelte die Stirn. »Wohin?« »Nachdem Mao«, erklärte er ihr, »sich in den Sechzigerjahren mit Stalin zerstritten hatte, fürchtete er, die Russen könnten Atombomben auf Peking abwerfen. Darum hielt er die Bevölkerung an, überall in der Stadt unterirdische Tunnel und Luftschutzräume auszuheben. Im Verlauf von zehn Jahren buddelten die Menschen in ihrer Freizeit und mit allem, was sich als Werkzeug verwenden ließ, mehrere hundert Kilometer Tunnel und dutzende von Schutzräumen. Genau hier, direkt unter uns, verlaufen ungefähr zweiunddreißig Kilometer Tunnel in alle möglichen Richtungen.« Er schnaubte. »Zum Glück haben uns die Russen dann doch nicht bombardiert. Die Tunnel waren bei weitem nicht tief genug. Sie zu benutzen wäre gefährlicher gewesen, als überhaupt nichts zu tun.« »Und warum nennt man sie unterirdische Stadt?« »Weil die Chinesen praktisch veranlagte Menschen sind.« Li zog den Wagen abrupt zur Seite, um einem Burschen auf einem Fahrrad auszuweichen, der, ohne auf den Verkehr zu achten, aus einer Seitenstraße herausgeschossen kam. Er drückte auf die Hupe. »Warum sollte man die Tunnel und Schutzräume nicht nutzen, nachdem sie schon ausgehoben worden waren? Und folglich gibt es da unten mittlerweile Geschäfte, Warenhäuser und sogar ein Hotel mit einhundert Betten. Die Aussicht ist nicht der Rede wert, aber dafür ist es billig, und man bleibt vom Verkehrslärm verschont.« Erneut drückte er auf die Hupe, diesmal weil ein Lieferwagen ihren
Weg blockierte. Während er sich in Millimeterarbeit daran vorbeischob, sagte er: »Der Händler von kunsthandwerklichen Reproduktionen, mit dem wir uns unterhalten wollen, hat seinen Laden da unten.« Eine Kolonne von Grundschulkindern mit königsblauen Hosen und Kitteln, weißen Hemden und roten Schals kam in unordentlichen Zweierreihen auf sie zu. Sobald sie Margaret im Jeep erspäht hatten, schrien und winkten sie ihr lachend zu. »Hallo«, riefen sie auf Englisch. »Schön Sie zu sehen.« Sie winkte zurück. »Hier sprechen unglaublich viele Kinder Englisch«, stellte sie fest. »Das ist mir auch in Xi’an aufgefallen.« Sie hatte Xi’an ganz unbedacht erwähnt und hätte ihre Bemerkung am liebsten auf der Stelle zurückgenommen. Li schien es nichts auszumachen. »Bei uns lernen die Kinder in allen Schulen Englisch. Überall in China. Bald werden sie drei Sprachen sprechen. Ihren Heimatdialekt, Mandarin und Englisch.« Sie parkten den Wagen neben einem Gebäude aus weißen Ziegelsteinen, wo ein Durchgang auf einen Schulhof führte und ein stetes Kommen und Gehen von Schulkindern herrschte. An der Westseite des Gebäudes erhob sich, direkt neben einem alten einstöckigen Wohnhaus, ein in traditionellem Stil gehaltenes verstaubtes Eingangstor, dessen Pfeiler und Querbalken ein durchhängendes grünes Ziegeldach stützten. Auf allen Seiten des Hauses lehnten dutzende von abgestellten Fahrrädern an den Wänden. »Das ist er?«, fragte Margaret, als sie aus dem Jeep kletterten. »Der Eingang zur unterirdischen Stadt?« Li zuckte mit den Achseln. »Einer davon. Mein Onkel hat mir mal erzählt, dass es allein zu diesem Bereich ungefähr neunzig Eingänge gäbe, zum Teil in Geschäften, zum Teil in Privathäusern. Angeblich gibt es viele Tunnel und Einstiege, von denen nicht einmal die Behörden wissen.« Als sie sich dem Eingang näherten, trat Kommissar Sang heraus, um sie zu begrüßen. Erst ratterte er, an Li gerichtet, in rasendem Tempo ein paar chinesische Sätze herunter, dann wandte er sich höflich an Margaret: »Hier entlang, bitte. Folgen Sie mir.« In dem dahinter liegenden schlichten Raum mit fleckigen, grün gestrichenen Wänden schaute ein junger Mann nur kurz von seiner Zeitung auf, als Li, Sang und Margaret eintraten und an ihm vorbeigingen. Fremde waren hier nichts Ungewöhnliches. Bis zu
fünfhundert Besucher bezahlten jeden Tag dafür, die unterirdische Stadt besichtigen zu dürfen. Ein Treppenhaus mit rotem Geländer und blättriger Farbe an den Wänden führte hinab in den Tunnelbezirk. Schon als ihnen der Geruch von klammer, abgestandener Luft in die Nase stieg, spürte Margaret die Kälte auf ihrer Haut und merkte, wie sich die Feuchtigkeit in ihrer Kleidung festsetzte. Die Tunnel waren gewölbt und mit weißem Rauputz ausgekleidet, der mit Schmutz- und Wasserflecken überzogen war. In regelmäßigem Abstand hingen Neonröhren an einem einsamen Stromkabel, das sich unter der Decke entlangzog. Auf einem Betonsockel waren wie Museumsstücke Werkzeuge und Utensilien jener Arbeiter ausgestellt, die einst diese Tunnel gegraben hatten: eine Spitzhacke mit gebrochenem Stiel, ein Messer mit Holzgriff, eine Schaufel, drei Zinnkrüge, ein Essensbehälter. Sie bogen nach rechts ab, wo sie in der Ferne hinter mehreren Stützpfeilern eine beleuchtete Karte des Tunnelkomplexes und darüber ein grünes Schild sahen, auf dem auf Englisch zu lesen stand: »LUFT ANGRIFFSSCHUTZRAUM PEKING«. Eine gar nicht ins Bild passende Gruppe skandinavischer Touristen saß auf harten Stühlen davor und ließ den Vortrag eines gelangweilt dreinblickenden chinesischen Führers über die Entstehung des Tunnelsystems über sich ergehen. Sang führte sie mitten durch die Gruppe hindurch nach links in einen Tunnelabschnitt, in dem die Pfeiler in frischem Rot gestrichen und die Mauern mit handgemalten Wandbildern geschmückt waren. Dazwischen befand sich eine von zwei Scheinwerfern angestrahlte weiße Büste Mao Zedongs, die sich scharf gegen den roten Hintergrund abhob. Beinahe in seiner Reichweite stand ironischerweise ein buddhistischer Schrein. Marmorstatuen von auf Löwen reitenden Frauen säumten das letzte Stück dieses Tunnels, der in einen riesigen, grell erleuchteten unterirdischen Markt für Touristenramsch mündete: Hier gab es alles Mögliche zu kaufen, von Jadebuddhafiguren über Seidenbademäntel bis hin zu aufgerollten Gemälden und nachgemachten Ming-Vasen. Die Verkäufer sahen erwartungsvoll hoch, als Margaret eintrat, verloren aber jegliches Interesse, sobald sie Lis Uniform erkannten. Über neonbeleuchteten, gläsernen Ausstellungsvitrinen und zahllosen Regalen voller Seidenwaren hingen rote Lampions von dem hohen Tonnengewölbe herab. Die Besucher kamen an einem Tunnel vorbei, der in ein
klammes, nebliges Dunkel führte, und Margaret fröstelte, als sie den kalten Hauch spürte, der von dort in die relative Wärme des Marktes hereinwehte. Dann entdeckte sie ein Schild mit einem Pfeil, auf dem chinesisch und englisch geschrieben stand: Zum Bahnhof. Allerdings verspürte sie nicht das geringste Verlangen nach einem Vorstoß in das dunkle und verlassene Netzwerk der Tunnel und ließ sich folglich erleichtert von Sang durch einen Korridor in einen langen, engen Laden führen, wo in unterteilten Vitrinen nachgebildete Artefakte aller Art zur Ansicht auslagen. Dies war, dachte Margaret, ein wirklich außergewöhnlicher Ort. Uneingeweihte liefen oben auf der Straße einfach darüber hinweg, ohne auch nur einen Schimmer von seiner Existenz zu haben. Ein kleiner, fettig glänzender, rundgesichtiger Mann kam auf sie zu. Es entspann sich ein kurzer chinesischer Wortwechsel, dann wandte sich Li an Margaret. »Herr Ling sagt, dass er Englisch spricht.« »Nur wenig, nur wenig«, strahlte Herr Ling Margaret an. »Nicht viel Übung.« Er zuckte mit theatralischem Bedauern die Achseln. Li sagte zu ihm: »Sie haben Kommissar Sang erzählt, dass Sie vor ungefähr drei Monaten die Nachbildung eines Bronzeschwerts an einen Mann verkauft haben, der nach einer ganz besonderen Waffe suchte.« »Richtig. Wir verkaufen Schwert normal für Zweck von Zeremonie, manchmal vielleicht auch für Wu Shu. Aber dieser Mann, er will echte Bronzeschwert, wie echte Artefakt. Natürlich, ich habe nicht Schwert wie das. Aber ich sage ihm, ich kann machen lassen für ihn. Nur, ist sehr teuer und braucht Zeit.« »Haben Sie ihn gefragt, wozu er so ein Schwert wollte?«, mischte sich Margaret ein. »Richtig, ich frage«, erwiderte Herr Ling. »Er sage, Schwert für Ausstellung.« »Und er hat Ihnen die genauen Maße vorgegeben?«, wollte Li wissen. »Richtig. Ich erinnere nicht genau, aber Heer Mao in Xi’an, er wird noch haben Form.« »Herr Mao?«, fragte Li nach. »Heer Mao Ming Fu von Handwerks- und Kunstwarenfabrik in Xi’an. Ist seehr geschickter Mann. Er restaurieren Wagen aus Bronze, gefunden mit Terrakottakrieger.« Li sagte leicht süffisant zu Margaret: »Du wirst diese bronzenen
Streitwagen natürlich in Xi’an gesehen haben.« »Natürlich«, erwiderte sie und wandte sich an Herrn Ling: »Um welche Art von Maß hat er gebeten?« »Ach, Sie wissen. Länge. Ich denken ein Meter vielleicht für Schwert. Vielleicht bisschen weniger. Und bestimmte Länge von Griff er wollte. Und Holz. Wollte Griff von Holz. Und auch wollte Gewicht genau.« Er bewegte die Hände auf und ab, als würde er ein unsichtbares Schwert abwiegen. »Und, Sie wissen, wollte Schwert in Stil wie Kriegwaffe. Heer Mao macht seehr gut Arbeit. Er verlangen nur eine tausend Yuan. Seehr gut Preis.« Er grinste. »So ich mache auch kleine Gewinn.« Li zog ein Foto von Yuan aus der Brusttasche. »Ist das der Mann?« Herr Ling setzte seine Brille auf und unterzog das Bild einer eingehenden Betrachtung. »Richtig, er ist das.« Er nickte nachdenklich. »Sie wissen, nicht jede Tag jemand bestellt Schwert wie das. Aber noch zwei Gründe, warum auch ich erinnern diese Mann.« »Ach?« Li steckte das Foto wieder in die Tasche. »Und die wären?« »Er China Mann. Okay. Er Peking Akzent sprechen. Okay. Aber nicht benimmt wie China Mann. Ich nicht weiß, wie beschreiben. Aber er einfach nicht wie China Mann.« »Und der zweite Grund?«, fragte ihn Margaret. Herr Lings Gesicht hellte sich auf. »Ach, ja. Er empfohlen zu mir von meine gute Freund. Seehr berühmte Archäologe von Amerika. Heer Zimmerman.« Sang hielt diskret Abstand und gab vor, nicht zuzuhören, doch auf der Straße drehten sich die Leute nach ihnen um, und neben dem Eingang zum Schulhof starrte eine Gruppe kleiner Kinder mit offenen Mündern auf die Yangguizi, die derart auf den Polizisten einschrie. »Das ist doch einfach lächerlich!« Margarets Stimme wurde schrill. »Wie kannst du auch nur die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass Michael das Geringste mit dieser Sache zu tun haben könnte?« »Wer sagt das denn?« Mit seiner Gelassenheit brachte Li sie nur noch mehr in Rage. Er marschierte los in Richtung Jeep, während Margaret ihm wie ein bissiger Hund hinterherschoss. »Warum willst du ihn dann vernehmen?«
»Damit ich ihn von unserer Verdachtsliste streichen kann, warum denn sonst?« Er kam bei der Fahrertür an und drehte sich um. »Ich meine, du musst doch zugeben«, sagte er, »es ist ein recht merkwürdiger Zufall, dass ausgerechnet er das Opfer gekannt hat. Und er hat ihn nicht nur gekannt, sondern ihn auch an einen Händler vermittelt, von dem er ein Schwert kaufen konnte, bei dem es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um die Mordwaffe handelt.« »Dass das ein Zufall ist, mag sein.« Margaret hatte ihn eingeholt. »Aber merkwürdig ist nichts daran. Yuan arbeitete in der Botschaft. Michael hat in den vergangen sechs Monaten eine Menge Zeit dort verbracht. Es ist eine überschaubare Gemeinschaft. Ich finde dieses Zusammentreffen nicht verdächtiger als Michaels Bekanntschaft mit dem Archäologieprofessor. « Li sah sie stirnrunzelnd an. »Yue Shi? Zimmerman kannte Professor Yue?« Margaret hätte sich am liebsten selbst in den Hintern getreten. Jetzt hatte sie Li auch noch neue Munition gegeben. »Natürlich«, sagte sie, um Schadensbegrenzung bemüht. »Schließlich ist er Archäologe. Und China ist sein Spezialgebiet. Yue Shi war ein Protege des Archäologen Hu Bo - jenes Mannes, über den Michael diese Dokumentation dreht. Zufällig weiß ich, wie entsetzt Michael über die Ermordung des Professors war. Immerhin wird nicht alle Tage jemandem aus dem eigenen Bekanntenkreis der Kopf abgehauen.« Li zündete sich eine Zigarette an, während Margaret eine kleine Verschnaufpause einlegte. Einen Moment lang starrte er unverwandt auf den Boden und kaute dabei nachdenklich auf der Innenseite seiner Wange herum. Dann sah er sie durchdringend an. »Woher wusste Zimmerman eigentlich, auf welche Weise Professor Yue ermordet worden war?« Margaret runzelte die Stirn. »Was meinst du damit?« »Ich meine, woher wusste er, dass der Professor enthauptet worden war? Hier zu Lande stehen solche Sachen nicht in der Zeitung. Nur sehr wenige Personen wissen darüber Bescheid, wie diese Leute ermordet wurden.« Margaret reckte frustriert die Hände gen Himmel. »Woher zum Teufel soll ich das wissen? Er kennt eine Menge Leute an der Universität.« Sie verstummte, ließ die Arme wieder sinken und atmete tief durch. »Das gefällt dir jetzt, nicht wahr?« Er zog die Augenbrauen hoch. »Und erzähl mir ja nicht, du wüsstest nicht,
wovon ich spreche. Du bist eifersüchtig, du bist sauer und verletzt, und dies ist eine himmlische Gelegenheit, es mir heimzuzahlen.« Li zog mit unbewegter Miene an seiner Zigarette. »Ich weiß nicht, warum du glaubst, ich könnte eifersüchtig sein«, sagte er betont ruhig. »Aber falls dem tatsächlich so wäre, dann wäre ich noch immer klug genug, mein berufliches Urteilsvermögen nicht von meinen Gefühlen trüben zu lassen.« Er machte eine Kunstpause. »Im Gegensatz zu einigen anderen.« Sie starrte ihn an, vor Wut schäumend, aber wohl wissend, dass er im Moment unangreifbar war. Geschickt jagte er den Ball ins Tor. »Warum statten wir also Mr. Zimmerman nicht einfach einen Besuch ab und stellen ihm all die Fragen, auf die wir beide keine Antwort haben?«
IV Ein großer Pinsel in einer geballten Faust überschmierte die beiden für »Ding Ling« stehenden Schriftzeichen mit roter Farbe, und als die Kamera zurückfuhr, erschien ein junger Bauer auf dem Bildschirm, der, einen Farbeimer fest umklammernd, die an die riesige Stele gelehnte Leiter hinabstieg. Chuck fuhr sich mit der Hand rastlos durch sein graues Haar, ohne dabei den Blick auch nur für eine Sekunde vom Monitor abzuwenden. »Den Stein haben wir natürlich mit Klarsichtfolie abgedeckt«, erklärte er, als hätte irgendwer die dargestellte Verschandelung für bare Münze nehmen können. Margaret blickte zur offenen Tür des Lastwagens hinaus und sah am anderen Ende des Stelenpavillons einen riesenhaften Kran, an dessen Ausleger die bewegliche Plattform mit Kamera und Kameramann angehängt war. Im Moment schwenkte der Kran vom Pavillon weg und setzte die Kamera langsam auf dem Boden ab. Sie blickte wieder auf den Bildschirm und verfolgte den Kameraschwenk weg vom Pavillon und hin zu der Treppe, die auf den Platz hinunterführte. Dort kam Michael langsam die Stufen herab. Er blickte direkt in das Objektiv, das sich vor ihm her bewegte. »Schon hatten sie die Brücke aus Stein zerstört, die auf den Platz
führte. Dann verwüsteten sie die stolze Steintafel, die so viele Jahrhunderte über die kaiserlichen Grabkammern gewacht hatte. Und nachdem die auf dem Platz versammelten Bauern von den Rotgardisten bis zur Raserei aufgepeitscht worden waren, standen sie nun kurz davor, die größte Barbarei überhaupt zu begehen. Ein Akt, der die junge Anführerin der Rotgardisten bis ans Ende ihrer Tage verfolgen sollte, weil ihr nämlich Nacht für Nacht im Traum der Kaiser und seine Kaiserinnen erscheinen würden, um sie mit dem Schwert zu erschlagen.« Die Kamera hielt in der Bewegung inne, und Michael lief aus dem Bild. »Schnitt«, rief Chuck in sein Walkie-Talkie. »Wunderbar!« Er drehte sich zu Li und Margaret um. »Beim Gegenschuss werden wir ihm mit der Kamera runter auf den Platz folgen. Natürlich werden dort unten dann ungefähr tausendfünfhundert Komparsen nach Blut lechzen.« »Was geschah weiter?«, wollte Li wissen. »Ich meine, in Wirklichkeit.« »Haben sie euch das in der Schule nicht erzählt?«, fragte Margaret. »Überraschung, Überraschung. Vermutlich stand die Kulturrevolution bei euch nicht auf dem Lehrplan.« »Als ich zur Schule ging, war die Kulturrevolution der Lehrplan«, erwiderte Li trocken. Chuck rettete die Situation, indem er sagte: »Sie zertrümmerten die Skelette des Kaisers und der beiden Kaiserinnen.« Er zog nervös an seiner Zigarette. »Danach haben sie einen Scheiterhaufen aufgetürmt«, ergänzte Margaret, ohne die Augen von Li abzuwenden, »und die sterblichen Überreste verbrannt.« Chuck erklärte: »Leider fing es gleich darauf zu regnen an, und alles wurde vom Schlamm fortgespült. Für immer verloren.« Er seufzte. »Den Regen müssen wir nachher noch simulieren. Nicht unbedingt das ideale Wetter für so was.« Er nickte zur Tür hin, hinter der ein strahlend blauer Himmel leuchtete. Die Berge dahinter flimmerten in der Hitze. »Du scheinst dich ja gut auszukennen«, sagte Li zu Margaret. »Dabei weiß ich genau, dass die Kulturrevolution bei euch nicht auf dem Lehrplan stand.« »Michael hat mir alles erzählt. Er weiß mehr darüber als die meisten Chinesen.« Li schnaubte leise.
Die gespannte Atmosphäre, die von den beiden Besuchern in seinem Regiewagen verbreitet wurde, zerrte spürbar an Chucks Nerven. »Hört zu, Leute«, sagte er. »Wenn ihr mit Mike reden wollt, dann habt ihr jetzt ungefähr zwanzig Minuten Zeit, während wir die nächste Einstellung vorbereiten.« Zu Lis Verdruss beugte sich Michael zu Margaret hinunter und gab ihr einen flüchtigen Kuss, bevor er den Arm ausstreckte, um Lis Hand zu schütteln. Li merkte, wie sein Gesicht Farbe bekam. Margaret war die vor Li zur Schau gestellte Zuneigung ebenfalls peinlich. Nur Michael schien nichts davon zu bemerken. Und wieder kam Michael, wie damals am Westbahnhof, Li merkwürdig vertraut vor, auch wenn er nicht zu sagen vermochte, warum. »Hallo«, begrüßte sie Michael. »Toll, dass du es noch geschafft hast. Ich hätte nicht gedacht, dass du das irgendwie hinbiegen könntest, Margaret.« Er schien sich aufrichtig über ihren Besuch zu freuen. »Ich auch nicht«, erwiderte Margaret unsicher. Michael fing ihren Blick auf. »Stimmt irgendetwas nicht?« Er blickte von ihr zu Li. »Wie wär’s mit einem kleinen Spaziergang?«, schlug Li vor, und die drei schlenderten an der Mauerbiegung entlang in den Schatten der rundherum wachsenden Fichten. Mit zunehmender Entfernung verlor sich der Lärm, den das Produktionsteam bei der Vorbereitung der nächsten Einstellung veranstaltete, ebenso wie das Rufen der Assistenten, die das geduldig auf dem Platz wartende Heer von Statisten zu ordnen versuchten. Stattdessen waren hier Vogelgezwitscher und das Rascheln kleiner Tiere im Unterholz zu hören, während ansonsten eine seltsame Stille über dem schimmernden Dunstschleier lag, der im Schutz des Berges Dayu über dem Tal hing. »Was soll das?«, wollte Michael von Margaret wissen. Sie hob abwehrend die Hände. »Tut mir Leid, Michael. Es war nicht meine Idee.« Li warf ihr einen bösen Blick zu. Dann wandte er sich an Michael. »Nach unseren Informationen waren Sie mit Herrn Yuan Tao bekannt, der in der Visumabteilung der amerikanischen Botschaft gearbeitet hat, und außerdem mit Professor Yue Shi von der archäologischen Fakultät der Universität Peking.« Margaret konnte beobachten, wie Michaels braun gebrannte
Gesichtshaut dunkler wurde. Im nächsten Augenblick spürte sie in seinem Blick das ganze Ausmaß seiner Verletztheit, fast wie bei einem Hund, dem sein geliebtes Frauchen eben aus heiterem Himmel einen Tritt versetzt hat. Dann wandte er sich wieder Li zu. »Das stimmt. In der Tat kannte ich Professor Yue sogar ziemlich gut. Herrn Yuan allerdings nur flüchtig.« »Immerhin gut genug, um ihn zu beraten, wo er sich ein nachgemachtes Schwert kaufen kann«, stellte Li fest. »Nur weil er mich darum gebeten hat. Übrigens war dies die einzige Gelegenheit, bei der ich überhaupt mit ihm gesprochen hatte. Irgendjemand aus der Botschaft hatte ihn an mich verwiesen. Also kam er zu mir, und ich schickte ihn weiter zu einem Händler in der unterirdischen Stadt. Aber das ist schon Monate her. Seither habe ich ihn nicht einmal mehr gesehen.« »Sie wissen also nicht, ob er das gesuchte Schwert bekommen hat?« Michael schüttelte den Kopf. »Nein.« »Aber Sie sind sich darüber im Klaren, dass er eines der Mordopfer in den von uns untersuchten Fällen ist?« Er seufzte. »Ja, allerdings.« »Woher wissen Sie das?« Dieses Mal sah Michael wieder Margaret an. »Sophie hat es mir erzählt.« »Und Sophie ist wer…?«, fragte Li. Margaret antwortete an Michaels Stelle. »Sophie Daum. Sie ist Assistentin des RSO an der Botschaft. Du hast sie heute Morgen kennen gelernt.« »Ach ja, richtig«, erinnerte sich Li. Das Walkie-Talkie an Michaels Gürtel krächzte. Eine Stimme ertönte: »Michael, bist du dran?« Michael hob das Gerät an seinen Mund. »Ja, Dave.« »Zeit für die Maske.« »Okay. Bin gleich da.« Er klemmte den Apparat wieder am Gürtel fest. »Gibt es sonst noch was?« »Ja«, sagte Li. Aber er ließ sich Zeit, bevor er seine Frage stellte. »Wissen Sie, auf welche Weise Professor Yue ermordet wurde?« »Ja.« Inzwischen machte er aus seiner Verärgerung keinen Hehl mehr und gab nur noch die nötigsten Auskünfte. Li ließ sich davon nicht beirren. »Möchten Sie es mir vielleicht verraten?«
»Er wurde geköpft.« »Woher wissen Sie das?« »Mein Gott.« Michael konnte seine Verärgerung nicht länger im Zaum halten. »Jeder in der Fakultät wusste, was ihm zugestoßen war. Offenbar haben sich die Polizisten dort tagelang auf die Füße getreten. Alle wussten, was passiert war.« Er verstummte kurz und sah Margaret an. »Außerdem habe ich die Fotos gesehen.« Li war verwirrt. »Was für Fotos?« Margaret errötete bis unter die Haarwurzeln. »Die Fotos, die Margaret nach Xi’an mitgenommen hatte.« Li bedachte Margaret mit einem eisigen Blick, und seine Kiefer mahlten. Sie wagte es nicht, sich seinem Blick zu stellen. Er sagte zu Michael: »Können Sie mir sagen, wo Sie in jener Nacht waren, als Yuan Tao ermordet wurde, und was Sie damals gemacht haben?« »Li, um Himmels willen…« Margarets Geduld war endgültig erschöpft. Doch Michael fiel ihr ins Wort. »Warum fragen Sie nicht Margaret?« Einen Moment war Margaret vollkommen perplex, doch dann dämmerte ihr die Erkenntnis, und ein riesiger Stein fiel ihr vom Herzen. »Der Empfang für die Produktion«, sagte sie. »Wenn ich mich richtig entsinne, bist du gegen zweiundzwanzig Uhr gegangen«, erklärte Michael. »Die Feier dauerte bis ungefähr dreiundzwanzig Uhr dreißig, und anschließend bin ich noch mit einem ganzen Trupp in die mexikanische Bar in der Dongdaqiao Lu gezogen. Es muss gegen zwei Uhr gewesen sein, als wir von dort aufbrachen.« Wieder wandte er sich Li zu. »Offen gesprochen finde ich Ihre Fragen ziemlich ärgerlich, Kommissar.« Und dann zu Margaret: »Und es enttäuscht mich, dass du auch nur in Erwägung gezogen hast, es könnte irgendeine Verbindung zwischen mir und dieser Sache geben.« »Habe ich nicht«, erklärte Margaret kategorisch. Sie drehte sich zu Li um. »Ich glaube, wir sollten jetzt gehen.« Michaels Walkie-Talkie krächzte erneut. »Michael?« Die Stimme klang beschwörend. »Bin schon unterwegs«, sagte er und machte sich nach einem kurzen Nicken auf den Rückweg über die Mauerkrone. Lange blieben Li und Margaret schweigend nebeneinander stehen, dann wandte sich Margaret schließlich ab, lehnte sich an eine Zinne und starrte mit finsterer Miene in das von der Sonne versengte
Tal. »Du hast ihm vertrauliches Fotomaterial gezeigt?« Lis Stimme klang beherrscht, doch der darin mitschwingende Ärger war unüberhörbar. Sie schloss die Augen und biss die Zähne zusammen. Natürlich war sie im Unrecht. »Es war keine Absicht.« »Oh, ich verstehe«, sagte Li. »Du hast ihm die Fotos rein zufällig gezeigt.« »Ganz genau.« Sie fuhr herum und sah ihm ins Gesicht. »Ich war gerade in meinem Hotelzimmer damit beschäftigt, das Beweismaterial durchzugehen. Dabei hatte ich alles auf dem Bett ausgebreitet. Wie du dich vielleicht erinnern kannst, habe ich dich angerufen. Du hast mir mehr oder weniger deutlich erklärt, ich soll mich zum Teufel scheren.« Und wie sich Li daran erinnerte. Etliche Stunden hatte er damit zugebracht, seine barsche Abfuhr zu bedauern. Sie fuhr fort: »Michael kam mich abholen. Wir wollten zum Abendessen gehen. Genau in dem Moment ist mir ein Teil des Materials auf den Boden gefallen, und er hat mir geholfen, die Sachen wieder aufzuheben. Dabei hat er das Foto gesehen. Und er war ziemlich entsetzt.« »Zum Glück nicht so entsetzt, dass es euch den Abend verdorben hätte.« Es kostete sie ungeheure Willensanstrengung, ihn nicht erneut zu ohrfeigen. »Du Mistkerl! Du und dein Blabla, persönliche Angelegenheiten dürften das berufliche Urteilsvermögen nicht trüben! Leeres Gewäsch! Schließlich hast du selbst mich mit einem Arschtritt abserviert, verdammt noch mal! Na gut, damit muss ich mich eben abfinden. Aber trotzdem kannst du es einfach nicht ertragen, dass ich mit jemand anderem zusammen bin, nicht wahr?« Sie starrte ihn finster an. »Also dann, herzlichen Glückwunsch. Wahrscheinlich hast du eben meine Beziehung zu Michael ruiniert. Und warum? Um etwas zu bestätigen, was wir beide sowieso wussten. Dass er auf keine Weise in was auch immer verwickelt ist.« Sie machte auf dem Absatz kehrt und marschierte wutentbrannt davon. Er blieb noch einen Moment stehen, denn ihm schwirrte nach ihrer wilden Tirade der Kopf. Natürlich hatte sie Recht. Zimmermans Verbindung zu den Mordfällen war bestenfalls dürftig. Li fragte sich, warum es ihm eigentlich so wichtig gewesen war, hierher zu kommen und ihn mit Fragen nach Yuan und Professor
Yue zu behelligen. Wurde sein Urteilsvermögen am Ende doch durch Eifersucht getrübt? Margaret hatte sich durch die Masse der Statisten geschoben und war bereits halb über den Platz, als er sie einholte. Er passte sich ihrem Tempo an und überquerte gemeinsam mit ihr die kleine Steinbrücke, die vierunddreißig Jahre zuvor von den Rotgardisten zertrümmert worden war. »Und nun?«, fragte er sie. Sie reagierte erst nach langem Überlegen. Schließlich sagte sie: »Ich finde, es ist wohl an der Zeit, dass wir mit den Leuten reden, die ein Motiv hatten, Yuan Tao umzubringen.« »Und wer könnte das sein?« Sie blieb stehen, wohingegen er noch einige Schritte weiterlief, bevor er es bemerkte, und kehrtmachen musste. »Was glaubst denn du?«, fragte sie ihn verächtlich. Ganz offenkundig hatte sie keine Lust, ihm ihre Überlegungen mitzuteilen, und ihm ging auf, dass er sich über diesen Aspekt noch kaum Gedanken gemacht hatte. Die Entdeckung des Tagebuchs, das Aufspüren des Waffenverkäufers, die mögliche Verbindung zu Zimmermann, all das hatte seine Aufmerksamkeit von jener Frage abgelenkt, die der Fund des Tagebuchs aufgeworfen hatte, indem es Yuan als den Mörder der anderen drei Opfer entlarvte. Wer hatte ein Motiv, Yuan zu töten? Noch bevor der Gedanke ganz ausgereift war, lag die Antwort auf der Hand. »Die noch lebenden Mitglieder der Brigade Revolution bis zum Endsiege« »Herzlichen Glückwunsch«, sagte Margaret. »Sie haben soeben ein sonniges Wochenende in Florida für zwei Personen gewonnen.« Damit marschierte sie weiter den befestigten und gepflasterten Fußweg hinunter. Li eilte ihr nach. »Aber woher sollten die von der Ermordung der anderen drei erfahren haben?« Margaret seufzte verzweifelt. »Mein Gott, bitte erspar mir die alte Leier, dass hier zu Lande in den Zeitungen nicht über Morde berichtet würde. Wir wissen beide, wie effizient die Flüsterpropaganda in China funktioniert. Mit absoluter Sicherheit haben die drei mitbekommen, dass ihren alten Kumpanen aus Rotgardistenzeiten die Rübe abgehackt wurde. Und man braucht nicht übermäßig schlau zu sein, um sich auszurechnen, wer als Nächstes an der Reihe gewesen wäre.«
V Margaret saß da, starrte auf den Bildschirm des Computers und spürte im Rücken die neugierigen Blicke, denen sie hier beständig ausgesetzt war. Vermutlich hatten die meisten der jungen Frauen im Computerraum noch nie eine Yangguizi aus nächster Nähe gesehen. Und hier war ein besonders sehenswertes Exemplar dieser Gattung zu bestaunen. Blonde Locken, verblüffend blaue Augen, sommersprossige helle Haut. Über dem Raum lag eine gespannte Stille, unterbrochen nur durch das leise Klappern der Tastaturen und ein gelegentliches Kichern. Irgendwo in den oberen Stockwerken hielt Li eine Besprechung mit seinen Kommissaren ab. Die gelobte »uneingeschränkte Kooperation«, so schien es, hatte dort ihre Grenzen, wo man Margaret Zutritt zum Allerheiligsten des inneren Zirkels hätte gewähren müssen. Doch da sowieso kaum einer der Kommissare Englisch sprach, hatte Margaret die Sache auf sich beruhen lassen. Stattdessen hatte sie darum gebeten, einen Computer mit Internetzugang benutzen zu dürfen. Seit ihrer Rückkehr aus Ding Ling hatte Li sich ihr gegenüber kühl und förmlich verhalten. Trotzdem hatte die zarte Andeutung eines Lächelns um seine Lippen gespielt, als er sie zum Computerraum geführt und eine der Frauen angewiesen hatte, einen Rechner für sie freizumachen. Schon bald war ihr klar geworden, warum. Alle Pulldown-Menüs waren auf Chinesisch gehalten, und die nicht nachvollziehbare Ansammlung von chinesischen Schriftzeichen zwang sie, sich durch Bildsschirmmasken zu kämpfen, die ihr andernfalls völlig vertraut gewesen wären. Zu guter Letzt hatte sie das Icon für den Internet Explorer gefunden, klickte mit dem Mauszeiger darauf und fand sich auf der Homepage eines nicht minder undurchschaubaren chinesischen Servers wieder. Ein Klick auf das Stoppsymbol verhinderte den Download von noch mehr chinesischem Datenmüll, und das Eintippen von www.altavista.com brachte sie rasch auf das nervenschonend vertraute Terrain der Hauptseite der AltaVista-Suchmaschine. Als Nächstes tippte sie tameshi giri ein. Weniger als eine halbe Minute
später wurden zwanzigtausend Webseiten mit Verweisen auf Tameshi Giri gemeldet, von denen die ersten zehn Links auf dem Bildschirm angezeigt wurden. Sie schüttelte den Kopf. Es würde sie Stunden kosten, all das zu durchsieben. Nach kurzem Überlegen klickte sie das Kästchen New Search an und trug Yuan Tao ein. Ihre Anfrage wurde in den Äther gejagt, durchlief das wahnwitzige Wirrwarr von Telefonleitungen und Computersystemen rund um den Globus und kehrte nur Sekunden später mit der Antwort zurück. Fassungslos und bestürzt musste sie feststellen, dass diesmal Links zu beinahe hundertsechzigtausend Webseiten gemeldet wurden. Sie überprüfte die ersten zehn, die der Bildschirm anzeigte. Bei allen schienen yuan und tao in vertauschter Reihenfolge aufgelistet zu sein. Es gab einen Link zu einem Ort in Taiwan namens Tao Yuan, ein weiterer führte zur Webseite einer amerikanischen Universität, einige andere verwiesen auf Seiten über einen alten chinesischen Dichter namens Tao Yuan-Ming. Doch ganz oben auf der Liste wurde jene Adresse angezeigt, die ihrer Anfrage am treffendsten und als Einzige hundertprozentig entsprach: Yuan Tao. Der Link verwies auf eine Homepage mit Nachrichten auf dem Gebiet der japanischen Kunst des Schwertkampfes. »Ja!«, entfuhr es ihr, als ihre Stimmung sich blitzschnell aufhellte. Wobei ihr klar war, dass sich ein halbes Dutzend Köpfe nach ihr umdrehten. Verlegen lächelte sie in die erstaunten und fragenden Mienen rundum und konzentrierte sich dann sofort wieder auf ihren Monitor. Nach dem Klick auf den Link lud der Rechner surrend und klackernd die entsprechenden Seiten der North California Review of Japanese Sword Arts herunter. Irgendwo hier musste der Hinweis auf Yuan Tao zu finden sein. Sie ließ die Seiten durchlaufen, auf denen Anzeigen für originale japanische Schwerter zu sehen waren, außerdem ein Bericht über einen Tameshi-GiriWettbewerb in Kioto, Japan, während Shogatsu 1997, sowie die Gewinnerliste des vierunddreißigsten jährlichen Kendo Taikai in Vancouver… Margaret nahm den Finger von der Bildabwärtstaste und ging wieder nach oben. Da. Yuan Tao. Auf dem zweiten Platz unter den Teilnehmern in der Kategorie »Einundvierzig Jahre und älter«. Am Ende der Liste fanden sich Kurzbiografien der Gewinner. Diesen Anmerkungen zufolge war Yuan Tao im Jahre 1995 einem in San Francisco beheimateten Kendo-Verein beigetreten, der dem Kendo-Verband Nordwestpazifik angegliedert war, bevor er
später zu einem Club in Washington, D. C. gewechselt war. Er hatte an mehreren Wettbewerben teilgenommen und dabei innerhalb kurzer Zeit außergewöhnlich gute Ergebnisse erzielt. Bei einem dieser Wettbewerbe hatte einer der Juroren ihn als »einen der strebsamsten Wettkämpfer« bezeichnet, »die ich seit langem erlebt habe«. Margaret lehnte sich zurück und stellte sich die Frage, wonach Yuan damals wohl wirklich gestrebt hatte. War es seine selbst gewählte Rolle als Richter über jene Rotgardisten gewesen, die seinen Vater in den Tod getrieben hatten? Und welche Bilder mochten ihm durch den Kopf gegangen sein, während er an zusammengerollten Strohbündeln Tameshi Giri geübt hatte? Verwundert schüttelte sie den Kopf darüber, welche unglaublichen Anstrengungen Yuan Tao auf sich genommen hatte, um Rache an den Mördern seines Vaters nehmen zu können – denn genauso hatte er es wohl gesehen. Kaltblütig, ja pedantisch hatte er die Taten geplant, die Hinrichtungsart wieder und immer wieder geübt, bis er es zur Meisterschaft darin gebracht hatte, sein gesamtes Leben umgekrempelt und einen neuen beruflichen Weg eingeschlagen, der ihn unerkannt in das Land seiner Vorfahren und in seine alte Heimatstadt zurückbringen würde. Rache, wie oft hatte sie dieses Sprichwort schon gehört, Rache ist ein Gericht, das man am besten eiskalt genießen sollte. Yuan Tao hatte die seine in die Gefriertruhe gelegt und um die halbe Welt transportiert, um sie so kalt aufzutischen, dass man eine Gänsehaut davon bekam. Dennoch war sein Rachefeldzug ebenso abrupt wie unerwartet unterbrochen worden. Jemand hatte Yuan das angetan, was er noch anderen anzutun beabsichtigte. Jemand, der genau darüber Bescheid wusste, wie Yuan die ersten drei Opfer vom Leben zum Tode befördert hatte. Konnte es tatsächlich einer der übrig gebliebenen drei Rotgardisten sein? Sicherlich hätten diese ein Motiv. Aber wie hätte einer von ihnen alle Einzelheiten von Yuans Vorgehensweise so genau in Erfahrung bringen sollen, dass er in der Lage war, die Morde präzise zu imitieren? Eben noch hatte sie Li arrogant die Vermutung hingeworfen, dass Yuan von einem seiner potenziellen Opfer ermordet worden sein könnte, und jetzt fragte sie sich bereits, ob diese Theorie wohl einer kritischen Hinterfragung standhalten würde. »Bist du fertig?« Lis Stimme schreckte sie aus ihren Gedanken auf.
Sie wandte sich um und sah ihn auf der Türschwelle stehen. »Nur noch einen Augenblick«, sagte sie, wählte die Druckfunktion aus und ging quer durch den Raum zum Drucker, der bereits in doppelter Ausfertigung das halbe Dutzend Seiten der North California Review of Japanese Sword Arts ausspie. Li baute sich neben ihr auf. »Was druckst du da?« »Eine Reportage über einen Wettbewerb in Schwertkunst, der vor zwei Jahren in Vancouver stattfand. Yuan Tao belegte in seiner Kategorie den zweiten Platz. Anscheinend hat er, kurz nachdem er 1995 das Tagebuch seiner Mutter erhalten hatte, angefangen, die japanische Schwertkunst Kendo zu erlernen. So wie es aussieht, konnte er ziemlich gut mit dem Schwert umgehen, als er hier ankam.« Sie übergab Li die Kopien. »Es besteht praktisch kein Zweifel mehr daran, dass Yuan unser Mann ist.« »Nicht der Geringste«, sagte Li. »Der blutige Fingerabdruck in Bai Qiyus Büro stammt von Yuan.« Margaret schnalzte mit der Zunge. »Das war’s dann wohl. Wir haben das Motiv, die Gelegenheit, ein dickes Paket an Indizien – den blauen Staub, den Wein, die Erfahrung im Umgang mit dem Schwert – und zudem den Beweis, dass er sich an einem der Tatorte aufgehalten hat. Das reicht vor jedem Gericht der Welt für eine Verurteilung.« »Bloß dass uns jemand zuvorgekommen ist und das Gesetz in die eigenen Hände genommen hat. Hier…« Er drückte ihr eine offene, schwere Mappe in die Hand und marschierte in Richtung Tür. Sie eilte ihm nach, krampfhaft bemüht, die vielen losen Blätter in der Mappe nicht über den Fußboden zu verstreuen. »Was ist das?« Er eilte mit großen Schritten den Gang entlang. »Alles, was du brauchst, um auf dem neuesten Stand zu bleiben«, rief er ihr über die Schulter zu. »Übersetzte Abschriften sämtlicher Vernehmungen, die wir mit den ehemaligen Lehrern und Schülern an Yuans alter Schule geführt haben, eine Übersetzung des Tagebuchs, Personenprofile der übrigen Rotgardisten…« »Hättest du das nicht einfach an die Botschaft schicken lassen können?« Mit einer Selbstgefälligkeit, die sie rasend machte, wandte sich Li auf dem Treppenabsatz um. »Ich wollte dir alles persönlich aushändigen, damit mir niemand nachsagen kann, ich hätte dich nicht umfassend informiert.« Sprach’s und verschwand die Treppe hinab.
»Wohin gehst du?« Ein Bündel von Papieren rutschte aus der Mappe und flatterte in seinem Kielwasser die Treppe hinunter. Er drehte sich nicht einmal um. »Wir«, hallte seine Stimme durchs Treppenhaus. »Wie, wir?« Ärgerlich schnaufend machte sie sich daran, die heruntergesegelten Blätter wieder aufzulesen. »Wohin gehen wir«, drang seine Stimme von unten an ihr Ohr, wo er gerade den nächsten Treppenansatz in Angriff nahm. Sie klaubte die letzten Papiere auf und rannte hinterher. »Also gut, wohin gehen wir?« Am Fuß der Treppe holte sie ihn ein, die Akte fest an ihren Busen gepresst, die Arme eng darum geschlungen. Er hielt inne, um eine Kopie des Computerausdrucks oben in die Mappe zu schieben. »Wir besuchen Bettelmaus«, erklärte er. »Wer ist Bettelmaus?« Einen Augenblick schien er völlig in Gedanken versunken zu sein, bevor er ihr zögerlich in die Augen sah: »Damit du es gleich weißt – ich habe die Alibis überprüft, die Michael Zimmerman während der ersten drei Morde hatte.« »Herrgott noch mal!«, brach es aus Margaret heraus. »Die Arbeit der chinesischen Polizei zeichnet sich durch akribische Liebe zum Detail aus, Dr. Campbell.« Er verstummte, doch noch bevor sie ihm mitteilen konnte, was sie von der Arbeit seiner chinesischen Polizei hielt, fügte er hinzu: »Es wird dich freuen zu hören, dass er während der beiden ersten Verbrechen gar nicht im Lande war.« Damit trat er hinaus in das grelle Licht der Nachmittagssonne. Erst am Jeep holte sie ihn wieder ein. Während der paar Sekunden, die sie dazu brauchte, verrauchte ihr Zorn gerade weit genug, um ihre Vernunft wieder die Oberhand gewinnen zu lassen. Auf der Sache herumzureiten war sinnlos. »Also, wer ist Bettelmaus?«, fragte sie erneut. »Eine Rotgardistin.« Er öffnete die Fahrertür, setzte sich hinter das Steuer und beobachtete dann seelenruhig, wie sie sich abmühte, gleichzeitig ihren Ordner beisammen zu halten und die Beifahrertür aufzuziehen. »Reiß dir bloß kein Bein aus«, sagte sie, als es ihr endlich gelungen war, auf den Beifahrersitz zu rutschen und die Akten auf dem Boden hinter ihrem Sitz abzuladen. »Du glaubst also, diese Bettelmaus ist eine mögliche Verdächtige?« Er schüttelte den Kopf. »Das bestimmt nicht.«
»Warum nicht?« »Sie ist blind.«
9. KAPITEL I Der Hutong, in dem Bettelmaus wohnte, schlängelte sich durch ein stilles Labyrinth von traditionellen Sibeyuan-Häusern rund um kleine Innenhöfe in einem baumbestandenen Bezirk nördlich des BehaiParks. Nachdem Li den Wagen am Ende der Straße abgestellt hatte, gingen sie zwischen hohen, zerfallenden Ziegelmauern das enge Gässchen entlang, vorbei an einer dreirädrigen Rikscha, auf deren Hinterachse ein einzelnes Bett geschnallt war. Links und rechts führten robuste Holztore in die abgetrennten Innenhöfe, wo sich bis zu vier Familien jede Hofseite teilten. Hinter den dunklen Torbögen konnte Margaret Fahrräder und Topfpflanzen, Eimer und Besen und Kram aller Art ausmachen, der sich im Lauf der Zeit in einem Siheyimn ansammelte. Vor ihnen scharte sich eine große Traube von Touristen mit idiotischen Baseballkappen um einen chinesischen Reiseführer mit einer roten Fahne in der Hand und einem batteriebetriebenen Megafon am Mund. Mit merkwürdig blechern und monoton klingender Stimme strich der Mann die Charakteristika eines Siheyuan heraus. »Dies hier traditionelles schwarzes Ziegeldach«, sagte er und wiederholte nochmals nachdrücklich: »Traditionelles schwarzes Ziegeldach. In alter Zeit, schwarze Ziegel für gewöhnliche Leute, für gewöhnliche Leute.« Die um den Stock gewickelte Fahne wie einen Zeigestab schwenkend, deutete er auf eine rechteckige braune Kiste, die rechts oben über dem Tor an der Mauer montiert war. Ein dickes schwarzes Kabel führte hinein und hinaus. »Noch eine traditionelle Besonderheit von Siheyuan«, erklärte er. »Traditionelle Besonderheit von Siheyuan. Diese Kiste für Kabelfernsehen.« Er kicherte über seinen eigenen Scherz. »Für Kabelfernsehen. Wir haben fünfzehn Kanäle von Kabelfernsehen hineingehen in traditionelle Siheyuan.«
Li und Margaret zogen die neugierigen Blicke einiger gelangweilt wirkender Touristen auf sich, als sie an der Gruppe vorbeimarschierten, und Margaret hörte, wie eine amerikanische Frau mittleren Alters ihrem Begleiter zuflüsterte: »Warum muss er immer alles wiederholen? Ich begreife einfach nicht, warum er immer alles wiederholen muss!« Nach knapp zwanzig Metern bogen sie hinter einem kleinen Schaufenster mit Zigaretten und Erfrischungsgetränken in einen offenen Eingang, wo sie eine hölzerne Absperrung überstiegen und ein paar Stufen abwärts in jenen Innenhof gingen, in dem Bettelmaus wohnte. An einer Mauer waren runde Kohlebriketts drei Reihen tief und zwei Meter hoch aufgestapelt. Ein zerbrochener alter Stuhl lag verdreht auf den Stufen. Fahrräder lehnten sich stützend gegeneinander. Auf jedem freien Fleck blühten Topfpflanzen. Zwei Kanarienvögel sangen in einem Bambuskäfig an einem Schatten spendenden Baum, der aus einem Sprung in den Bodenplatten herauszuwachsen schien. Die Atmosphäre war merkwürdig still und friedlich. Fast als wäre die Stadt knapp außer Reichweite zu einem unerfreulichen Traum zusammengeschmolzen. Margaret bemerkte die neugierigen Gesichter, die aus den Türen und Fenstern der gegenüberliegenden Hofseite spähten. Li registrierte sie ebenfalls. »Ich suche nach der blinden Bettelmaus«, rief er hinüber. Eine Frau deutete auf eine Tür links von ihnen. Diese stand offen. Li wandte sich an Margaret. »Da hinein.« Sie betraten durch eine zweite Tür eine winzige, voll gestopfte Küche mit zweiflammigem Gasherd und verkohltem Rauchabzug. In krassem Gegensatz zum restlichen Ambiente stand auf dem heruntergekommenen Küchenschrank gegenüber der uralten Emailwanne und dem elektrischen Wasserkocher ein Mikrowellenherd. Li hielt an der Tür zum Wohnraum inne und wollte gerade anklopfen, als eine Frauenstimme rief: »Wer sucht da nach der blinden Bettelmaus?« »Die Polizei«, antwortete Li, und Margaret folgte ihm hinein. Bettelmaus saß strickend auf dem zweisitzigen Sofa gegenüber dem in einem weiß lackierten Wandelement aufgestellten Fernsehapparat. Davon abgesehen gab es im Zimmer einen kleinen Tisch mit einem Aschenbecher darauf, einen Bücherschrank und einen elektrisch betriebenen Ventilator. Durch eine verglaste Tür konnten sie in das winzige Schlafzimmer hineinsehen, ein karges,
zellengleiches Gemach, in dem nichts außer einem Einzelbett stand. Alles war sorgfältig aufgeräumt und peinlich sauber. An den Wänden hingen, wie Margaret registrierte, nirgends Bilder. »Wer ist die Frau?«, wollte Bettelmaus wissen. Sie war eine schrumpelige alte Dame, die das silbergraue Haar zu einem Dutt nach hinten gebunden hatte. Sie trug den traditionellen blauen MaoKittel und kleine schwarze Hausschuhe an den zierlichen Füßen. Margaret hätte sie auf siebzig geschätzt, bis ihr erschrocken klar wurde, dass Bettelmaus genauso alt sein musste wie die anderen. Erst einundfünfzig. Die Brille mit den runden, dunklen Gläsern verlieh ihr eine leicht sinistre Aura. »Woher wissen Sie, dass eine Frau bei mir ist?«, fragte Li. »Ich kann sie riechen.« Bettelmaus’ Lippen verzogen sich zu einem Ausdruck der Missbilligung. »Sie hat ein billiges Westparfüm aufgelegt.« »Sie ist Amerikanerin.« »Ah! Yangguizil« Bettelmaus spie das Wort aus wie einen Schleimbatzen. »Ich nehme an, dass Sie kein Englisch sprechen«, sagte Li. »Wie kommen Sie darauf?«, erwiderte Bettelmaus in perfektem Englisch. Margaret war über den unerwarteten Wechsel der Sprache fast so erschrocken wie über die ätzende Schärfe in ihrer Stimme. »Halten Sie mich vielleicht für dumm, nur weil ich aus einer armen Familie stamme und in der Schule nicht besonders gut war?« »Nein«, sagte Li ruhig. »Aber ich weiß, dass in den Sechzigerjahren nur an sehr wenigen Schulen Englisch unterrichtet wurde.« »Ich habe Englisch gelernt, um Blindenschrift lesen zu können. In chinesischer Blindenschrift gibt es nicht genug zu lesen, um einen augenlosen Geist zu nähren.« Sie verstummte kurz. »Sind Sie wegen der Morde gekommen?« »Ja«, bestätigte Li. Er zog ein Buch aus dem Schrank, begann es durchzublättern und ließ dabei seine Finger über leicht hervorstehende Pünktchenmuster gleiten, die als Worte »gelesen« werden konnten. »Was wissen Sie darüber?« »Bitte fassen Sie meine Bücher nicht an«, sagte sie. »Sie sind sehr kostbar für mich.« Erstaunt blickte Li sie forschend an, als hätte er kurzfristig den Verdacht, sie könnte in Wirklichkeit doch sehen. »Ich kann Sie hören«, klärte sie ihn auf, als hätte sie seine Gedanken gelesen. »Sie mögen Polizist sein, doch das gibt Ihnen noch lange
nicht das Recht, meine Sachen zu betatschen. Was ist das für eine Amerikanerin?« »Ich bin Pathologin.« Margaret zog es vor, selbst zu antworten. »Ich helfe bei den Ermittlungen.« »Seit wann brauchen wir Chinesen Hilfe von den Amerikanern?« Ihr Abscheu war offenkundig. »Wir brauchen ihre Hilfe nicht«, sagte Li. »Aber einer der Ermordeten war Amerikaner.« Bettelmaus legte die Stirn in Falten. »Ein Amerikaner?« Das brachte sie erkennbar aus dem Gleichgewicht. »Ich weiß lediglich von Affe, Null und Schweinchen. Was für ein Amerikaner?« »Ein Amerikaner chinesischer Abstammung. Er wurde hier geboren. Sie sind mit ihm zur Schule gegangen. Sein Name war Yuan Tao.« Das bisschen Farbe, das Bettelmaus in ihrem Gesicht gehabt hatte, wich in Sekundenschnelle. »Um Himmels willen!«, rief sie aus. »Hase!« Dann war ihr anzusehen, wie ihr ein Licht aufging. Sie schlug die Hand vor den Mund. »Er hat sie umgebracht. Wir wussten, dass es jemand auf uns abgesehen hatte. Alle miteinander. Aber dass es Hase sein könnte…«, sagte sie fassungslos. »Ich hätte niemals gedacht, dass er zu so etwas fähig sein könnte.« »Wen meinen Sie mit wir?«, wollte Li wissen. »Vögelchen und mich. Die einzigen Überlebenden.« »Was ist mit Schildkröte? Wir konnten ihn bisher nicht ausfindig machen.« »Wenn Sie den finden wollen, müssen Sie schon zur Hölle fahren«, erklärte sie. »Er ist seit über zehn Jahren tot. Ein dummer Junge. Er war ein bisschen einfältig, müssen Sie wissen. Während der Unruhen am Tiananmen-Platz zog er gleich in der ersten Nacht los, um zu sehen, was sich dort abspielte, und wurde prompt von einem Panzer zermalmt.« Dann traf sie wie ein Blitz ein ganz anderer Gedanke. »Aber wer hat dann Hase getötet?« »Wir hatten gehofft, Sie könnten uns vielleicht eine Antwort auf diese Frage geben.« »Ich?« Bettelmaus lachte ohne jede Spur von Humor, schürzte die Lippen und kniff durchtrieben die Augen zusammen. »Sie glauben, dass es einer von uns gewesen ist.« Sie lachte noch einmal auf. »Vielleicht glauben Sie sogar, dass ich es war.« »Was ist mit Vögelchen?« »Vögelchen?« Sie schnaubte und lachte glucksend in sich hinein.
»Vögelchen? Meinen Sie das im Ernst? Haben Sie schon mit ihm gesprochen?« »Bisher noch nicht.« »Vögelchen könnte keiner Fliege was zu Leide tun. Er ist ein armseliger, harmloser Greis.« »Ich dachte, er wäre der Anführer der Brigade ›Revolution bis zum Endsieg‹ gewesen. Derjenige, der die Angriffe auf die Lehrer angeführt und die Zerstörung des alten Schultors befohlen hat.« »Das ist schon ewig her«, erwiderte ihm Bettelmaus. »Über dreißig Jahre. Damals war er stark und tapfer und mein Idol. Doch als die ultralinke Fraktion zersplitterte, wurde er zum Angriffsziel. Sie kennen doch das alte Sprichwort, dass sich das Rad des Schicksals alle sechzig Jahre einmal dreht. Tja, diesmal geriet das arme alte Vögelchen unter die Räder. Er wurde geprügelt und fast zwei Jahre lang in einem Zimmer eingesperrt, wo er Selbstkritiken verfassen musste und hin und wieder zum Kreuzverhör geschleift wurde. Sie brachten alle seine Vögel um und schickten ihn am Ende als Zwangsarbeiter in die Innere Mongolei, wo er Verteidigungsanlagen bauen musste. Jahre später habe ich ihn noch einmal getroffen, und da war er ein gebrochener Mann.« Sie lachte erneut, ein säuerliches Lachen voller Bitterkeit. »Natürlich war ich bis dahin auch eine gebrochene Frau. Ich hatte mein Augenlicht verloren.« »Wie ist das geschehen?«, fragte Margaret. Bettelmaus drehte den Kopf in ihre Richtung und schnüffelte, als würde sie einen Geruchstest durchführen. »In der Schule wurde ich immer für dumm gehalten«, erklärte sie nach einer Weile. »Weil ich nicht richtig sehen konnte. Immer wieder habe ich ihnen gesagt, dass ich Kopfschmerzen hätte, aber man hielt mich für eine Simulantin. Ich habe ihnen gesagt, dass ich eine schwarze Wolke im Auge hätte, dass ich die Tafel nicht mehr erkennen konnte.« Sie schüttelte den Kopf. »Es vergingen danach noch volle zwei Jahre, bis mein Vater mich ins Krankenhaus brachte. Und zwar erst, nachdem ich zusammengebrochen war. Dort wurde ihm erklärt, ich hätte einen Tumor in meinem rechten Auge, einen bösartigen Tumor, weshalb sie mir das Auge herausnehmen müssten.« Wieder dieses säuerliche Lachen, bei dem sich die Lippen über den gelben Zähnen spannten. »Danach haben sie mir geglaubt.« Sie kniff abrupt den Mund zu, und Margaret sah ihre Unterlippe beben. »Mein einziger Gedanke war, wie hässlich ich mit nur einem Auge aussehen würde. Doch sie
versprachen mir, sie könnten es durch ein Glasauge ersetzen, sodass niemand irgendwas merken würde.« »Waren Sie damals noch in der Brigade ›Revolution bis zum Endsieg‹?«, fragte Li. »Nein. Vögelchen war interniert worden, und wir anderen hatten getrennte Wege eingeschlagen.« »Und was passierte mit Ihrem anderen Auge?« Margaret war neugierig geworden. Bettelmaus grinste sie höhnisch an. »Sie sind doch Ärztin, können Sie sich das nicht denken?« »Das ist nicht mein Fachgebiet«, erwiderte Margaret. »Pah!«, spie Bettelmaus aus. »Ärzte! Was wissen die schon?« Ihre zierlichen Hände hielten das Strickzeug fest umklammert. »Nach etwa sechs Monaten kehrten die Kopfschmerzen wieder. Erst dachte ich, es würde an dem Glasauge liegen, weil die Schmerzen nicht ganz so schlimm waren, wenn ich es rausnahm. Aber dann wurden sie immer schlimmer, und die Ärzte kamen zu dem Schluss, dass ich auch im anderen Auge einen Tumor hätte. Sie müssten es ebenfalls rausnehmen, sagten sie. Doch das wollte mein Vater nicht zulassen. Ich sei doch noch nicht einmal zwanzig Jahre alt, flehte er sie an. Was hätte ich schon gesehen? Vom Leben, von meinem Land.« Die Unterlippe fing erneut an zu beben, und Margaret war überzeugt, dass ihr jetzt die Tränen gekommen wären, hätte sie nur Augen zum Weinen gehabt. »Mein Vater war Packer in einer Fabrik«, fuhr Bettelmaus fort. »Meine Mutter war bereits tot. Wir waren sehr arm. Aber mein Vater borgte sich Geld von seinen Kollegen. Sechshundert Yuan. Das war damals ein kleines Vermögen. Den Ärzten sagte er, sie würden mein anderes Auge in zwei Monaten herausnehmen können. Doch erst nachdem ich mir mein Heimatland angesehen hätte. Wir fuhren mit dem Zug erst nach Xi’an, dann weiter nach Chongqing und anschließend den Yangtse hinunter nach Nanjing und Shanghai. Und schließlich nahm er mich mit in seine Heimatstadt Qingdao, meine Geburtsstadt. Er brachte mich auf den Gipfel eines Hügels über der Stadt, damit ich auf sie hinuntersehen und im Osten den Sonnenaufgang über dem Gelben Meer beobachten könnte. Doch das Meer war nicht gelb. Es war rot. Blutrot, und Qingdao sah aus, als stünde es in Flammen. Ich werde es niemals vergessen. Vor meinem geistigen Auge kann ich es heute noch sehen. Aber in Wirklichkeit werde ich es nie wieder sehen können.«
Sie brauchte eine Weile, bis sie wieder ruhig atmen konnte, und Margaret sah, wie sich ihr Griff um das Strickzeug langsam entspannte. »Als wir im Zug nach Hause saßen, sah ich alles nur noch milchig und verschwommen, so als hätte sich ein Nebel über mich gesenkt. Und dann wurde mir auch das zweite Auge herausgenommen, und ich musste lernen, auf andere Weise zu sehen. Mit Ohren, Nase und Fingern. Manchmal bilde ich mir ein, dass ich ohne Augen sogar besser sehen kann.« Sie deutete mit der Hand auf die Wand gegenüber. »Das ist auch der Grund, warum ich einen Fernseher besitze. Ich sehe mit den Ohren und mache mir die Bilder im Kopf selbst. Ich kann anhand einer Stimme den Gesichtsausdruck bestimmen. Ich brauche keine Augen mehr.« Lange saßen sie schweigend da. Schließlich fragte Li: »Wie sind Sie zu Ihrem Spitznamen gekommen?« »Bettelmaus?« Die Bitterkeit kehrte in ihr Lachen zurück. »Was glauben Sie wohl? Mein Vater hatte kaum genug Geld, um mir was zum Anziehen zu kaufen. Meine Mutter war schon gestorben, und er war nicht gerade geschickt im Flicken. Folglich waren alle meine Anziehsachen zerrissen, abgetragen und schlecht geflickt. Andere Kinder waren genauso arm. Aber denen sah man es nicht so an wie mir. Sie nannten mich Bettelmaus, und der Spitzname ist mir geblieben. Ein Leben lang. Nur, dass ich mittlerweile die blinde Bettelmaus bin. Arm und blind.« Li kratzte sich nachdenklich am Kinn. »Haben Sie jemals den Spitznamen Wühler gehört?« Sie runzelte die Stirn. »Wühler? Nein, den kenne ich nicht. Wer soll das sein?« »Wir nehmen an, es könnte sich dabei um Yuan Tao handeln.« »Hase? Nein. Der hieß immer nur Hase. Er war ein Angsthase.« Ihre Lippen verzogen sich zu einem bösartigen Grinsen. »Freut mich, dass er ermordet wurde. Mit welchem Recht sollte er ein besseres Leben führen als wir? Mit welchem Recht wollte er sich rächen?« Sie hörten eine vertraute blecherne Stimme durch ein Megafon. »Dies traditioneller Siheyuanlnntnhoi. Siheyuanlnnenhoi. Früher hier lebt nur eine Familie. Nur eine Familie. Jetzt sind hier vier Familie. Vier Familie.« Bettelmaus legte das Strickzeug beiseite und erhob sich unbeholfen. »Wie sonst soll sich eine Blinde heutzutage ihren
Lebensunterhalt verdienen? Sie führen die Touristen durch mein Haus und lassen sie beglotzen, wie eine alte blinde Chinesin wohnt. Ich bekomme dafür mehr Geld, als mein Vater in der Fabrik verdient hat. Und wenigstens brauche ich sie nicht anzuschauen.« Li und Margaret gingen zur Tür. Li fragte: »Sehen Sie Vögelchen noch oft?« »Ich habe ihn nicht mehr gesehen, seit sie mir die Augen rausgenommen haben«, erwiderte Bettelmaus. »Aber er kommt mich oft besuchen; dann singen seine Vögel für mich und zwitschern zauberhaft.« »Und er weiß ebenfalls über Affe, Null und Schweinchen Bescheid?« »Natürlich. Wir haben mehrmals darüber gesprochen, wer wohl als Nächster an die Reihe kommen würde.« Das Megafon war vor der Tür angekommen. »Nicht mehr als sechs Leute auf einmal, bitte. Sechs auf einmal. Dies ist traditionelle Siheyuan-Heim. Seehr eng innen. Seehr eng.« Er starrte Li und Margaret feindselig an. Li sagte zu Bettelmaus: »Wir haben von Vögelchen eine Adresse in der Dengshikou-Straße. Wissen Sie, ob er noch dort wohnt?« Sie nickte. »Aber dort werden Sie ihn jetzt nicht antreffen. Er hat einen Stand auf dem Vogelmarkt von Guanyuan. Dort spielt sich sein Leben ab. Wo es sich schon immer abgespielt hat. Bei seinen Vögeln.« Noch während sich Li und Margaret hinauszwängten, drängelte die Reisegruppe ins Haus, aufgeregt über die verlockende Aussicht plappernd, in die Privatsphäre einer alten Dame eindringen zu dürfen.
II Langsam lenkte Li den Jeep durch den dichten Verkehr nach Westen. Im spärlichen Schatten vereinzelter Bäume fädelten sich Fahrräder todesmutig in die engen Autospuren ein, dreirädrige Karren überholend und Bussen wie Taxis ausweichend. Es war ein belebtes Geschäftsviertel, wo auf dem Trottoir reges Treiben
herrschte, an Marktständen Obst und Gemüse aufgestapelt war und vor den Geschäften, deren Auslagen mit Computern, Stereoanlagen und DVD-Playern voll gestopft waren, große Körbe mit Edelkastanien standen. In einiger Entfernung konnten sie im Dunst die Überführung an der Kreuzung zur zweiten Ringstraße erkennen. Hupen quäkten und tuteten, weniger aus Ärger denn aus Verzweiflung. Den Mund zu grimmig verzogen, beugte sich Li über das Lenkrad. Schon bald, ging ihm durch den Kopf, würde sich der Verkehr in Peking Tag und Nacht stauen, und die Fahrräder würden wieder in Mode kommen, weil sie nicht nur das schnellste, sondern auch das einzig mögliche Fortbewegungsmittel wären. »Möchtest du mir von diesen Spitznamen erzählen?« Margarets Stimme riss ihn aus seinen Gedanken, vor allem wegen des unterschwelligen Vorwurfs, den er darin hörte. »Du findest alles darüber in den Aussagen, die wir an der Schule zu Protokoll genommen haben«, antwortete er. Und fügte spitz hinzu: »Als du in Xi’an warst.« Er hörte sie seufzen, hielt aber die Augen fest auf den Verkehr gerichtet. »Irgendwann komme ich bestimmt dazu, sie zu lesen«, bemerkte sie so giftig, wie er es von ihr gewohnt war. »Nächstes Jahr vielleicht, oder übernächstes. Aber im Moment wäre es vielleicht Zeit sparend, wenn du mir die Sache einfach erklären würdest.« Er zuckte mit den Achseln. »Wie Bettelmaus sagte, wurde Yuan nicht Wühler genannt, sondern Hase.« »Und jeder, der ihn von der Schule her kannte, hätte das wissen müssen?« Er nickte. »Was deine Theorie, sein Mörder wäre einer der übrig gebliebenen Rotgardisten, praktisch über den Haufen wirft.« Er drehte sich zur Seite, um sie anzusehen, doch sie blickte stirnrunzelnd in die Ferne. »Das kommt mir ohnehin immer unwahrscheinlicher vor«, sagte sie schließlich. »Einer von ihnen ist tot, die andere blind. Bleibt nur noch Vögelchen. Und der hätte mit Sicherheit Yuans richtigen Spitznamen gekannt. Es sei denn…« »Was?« »Es sei denn, er hätte absichtlich einen anderen Namen gewählt, um die Polizei irrezuführen.« »Das glaube ich nicht«, erwiderte Li. »Und warum nicht?« »Man müsste schon ziemlich gerissen sein, um auf so etwas zu
kommen. Und allen Berichten zufolge kommt Vögelchen mit seinem IQ kaum über die Zimmertemperatur.« »Warum fahren wir dann überhaupt zu ihm?«, fragte sie, beantwortete ihre Frage aber gleich selbst. »Nein, sag nichts, ich weiß schon: ›Weil sich die Arbeit der chinesischen Polizei durch akribische Liebe zum Detail auszeichnet‹.« Sie seufzte erneut und schaute hinaus auf den Verkehr. Er war völlig zum Erliegen gekommen. »Sie zeichnet sich ferner durch ein hohes Maß an Geduld aus. Es dauert einfach elend lange, von A nach B zu kommen.« Doch Lis Geduld war nun erschöpft. Er öffnete das Fenster, klatschte das rote Blinklicht aufs Dach, ließ die Sirene aufheulen und bog mit quietschenden Reifen quer durch den Gegenverkehr in eine enge Gasse ab. Dort stellte er den Jeep am Bordstein ab und sprang hinaus. »Komm mit«, forderte er sie auf. »Den Rest gehen wir zu Fuß. Es ist nicht mehr weit.« Etwa hundert Meter weiter war die Gasse voller Menschen, die von Händlern am Straßenrand tropische Fische kauften. Gläser mit exotischer maritimer Flora und Fauna waren auf Ständen und Karren angehäuft, Plastikschachteln mit Schildkröten lagen entlang dem Rinnstein aus. Eine alte Dame verkaufte Goldfische in wassergefüllten Plastikbeuteln, die an der Lenkstange ihres Fahrrads hingen. Sie kamen an einem langen Wellblechschuppen vorbei, wo sich vom Boden bis zur Decke Aquarien stapelten, voll gestopft mit wundervoll gefärbten Fischen, die im grün blubbernden Wasser um Platz kämpften. Noch nie hatte Margaret so viele Fische auf einem Haufen gesehen. Ein ganzer Ozean schien hier versammelt. Zahlreiche Läden lebten nur vom Verkauf von Zubehör – Aquarien, Ständern, Beleuchtung, Futter. Die Schuppen, Buden und Geschäfte waren gerammelt voll mit Kunden. Feng shui war wieder in Mode. Fische waren in. Das Geschäft lief wie geschmiert. Sie wandten sich nach Westen, passierten, den Fischmarkt hinter sich lassend, einen Bauzaun, hinter dem Abrissarbeiten ausgeführt wurden, und bogen an der U-Bahn-Haltestelle Chegongzhuang wieder nach Süden. Auf der Südlichen Xizhimen-Straße, auf dem Trottoir hinter der von Bäumen gesäumten Fahrradspur, sahen sie die ersten Grüppchen alter Männer um ihre Vogelkäfige versammelt. Hunderte von Fahrrädern waren zu beiden Seiten des Markteingangs auf dem Gehweg abgestellt. Männer, die Raubvögel an die Lenkstangen ihrer Fahrräder gekettet hatten, zeigten prahlerisch
Bambuskäfige mit ihren prächtig gefärbten Neuerwerbungen herum. Wellensittiche, Kanarienvögel, Falken und Papageienvögel. Das Kreischen der über zehntausend Vögel übertönte sogar das Dröhnen des Verkehrs auf der zweiten Ringstraße. Li und Margaret traten unter einem roten Spruchband hindurch in einen überdachten Innenhof; hier waren tausende von Käfigen aufgetürmt, in denen Vögel mit außergewöhnlich farbenprächtigem Gefieder hockten. Gelb, grün, zinnoberrot, schwarz mit gelben Streifen. Alte Männer und junge Burschen feilschten lautstark mit den geschwätzigen Händlern, die aus winzigen runden Käfigen aus geflochtenem Bambus alles Mögliche von kleinen Kätzchen über Hamster bis hin zu Grashüpfern verkauften. Ein kahlköpfiger Mann in blauem Hemd und grauer Weste stand hinter einer Ladentheke, auf der hunderte von Tabakwaren aller Art ausgelegt waren, fein gerollter oder grob gehackter Tabak, schwarzer, gelber, grüner Tabak. Hinter ihm hingen zwischen Regalen voller grob geschnitzter Holzpfeifen mit gekrümmten Stielen dicke Bündel mit ganzen getrockneten Blätter an der Wand. Margaret fielen fast die Augen aus dem Kopf. Wie schon so oft in China, hatte sie so etwas noch nie gesehen. An einem Stand mit Antiquitäten, der zwischen mehreren Reihen von herabhängenden Käfigen eingepfercht war, hielt Li an und erkundigte sich bei einer alten Frau, wo sie Vögelchen finden könnten. Sie deutete auf einen Stand am Ende der Reihe, merkte aber an: »Da ist er jetzt nicht. Immer nur morgens. Um diese Zeit muss er im Park des Lila Bambus sein.« Sie brauchten eine weitere halbe Stunde, um durch den Spätnachmittagsverkehr, der sich schon zum täglichen Stoßzeitchaos verdichtete, in den Park des Lila Bambus zu gelangen. Margaret erkannte den Eingang zum Park mit seinen abgestuften, geschwungenen Bambusdächern wieder. Dahinter standen kunstvoll zu Elefanten gestutzte Sträucher und dazwischen, inmitten der chaotischen Blumenpracht, völlig unpassend wirkende europäische Mannequins. Als sie damals in Peking angekommen war, war sie täglich auf dem Weg vom Freundschafts-Hotel zur Volksuniversität für öffentliche Sicherheit hier vorbeigekommen. Am Tor sprach Li mit der Kartenverkäuferin, die Vögelchen gut kannte. Er kam jeden Tag her, wie sie sagte. Eigentlich seien im Park keine Fahrräder erlaubt, aber Vögelchens Dreirad diene als
Transportmittel für die Vogelkäfige, die er, zu hohen Stapeln auf dem Gepäckträger verschnürt oder von der Lenkstange hängend, beförderte. Die Vögel seien seine ständigen und einzigen Begleiter, deshalb würde man ihn mitsamt seinem Gefährt hereinlassen, das er dann zu einem kühlen Bambuspavillon östlich des Sees schiebe, wo er Wu Shu übe. Schweigend gingen Li und Margaret im dunklen, schattigen Grün der Abenddämmerung durch die dichten Haine von lilafarbenem Bambus, dem der Park seinen Namen verdankte. Hinter den Trauerweiden jenseits des Sees glühte der Himmel rosa, während der Tag langsam in die Nacht hinüberglitt. Nach einer Weile verließen sie den Hauptweg und folgten einem schmalen Trampelpfad, der sich unter den buckligen Kiefern entlangschlängelte, bis er zu einem offenen Pavillon führte, der sich über einen Tümpel mit brackigem braunen Wasser erhob. Ein Dutzend Käfige mit piepsenden und zwitschernden Vögeln hingen von dem Bambusdach, das von stabilen lackierten Pfosten gestützt wurde. Darunter schwang ein Mann in schwarzem Pyjama und Leinenschuhen ein silbernes Schwert in weitem Bogen durch die Dämmerung, um die dicke warme Abendluft nach den Regeln der uralten chinesischen Kunst des Wu Shu zu zerstechen und zu zerschneiden. Er war groß und hager, hatte dünnes, strähniges schwarzes Haar und trug einen zottligen Bart, der an den eingesunkenen Wangen zu kleben schien und in kühnem Schwung in einer Spitze unter seinem Kinn zusammenlief. Li und Margaret hielten kurz inne, noch bevor sie der Mann bemerkt hatte, und schauten zu, wie er die Hiebe mit einer Kühnheit und Konzentration ausführte, die seiner äußeren Erscheinung Hohn zu sprechen schienen. Margaret warf Li einen Seitenblick zu. Dies hier weckte in ihr die Erinnerung an Onkel Yifu, der damals, als Li ihn mit Margaret bekannt gemacht hatte, im Jadesee-Park mit dem Schwert geübt hatte. Lis Miene ließ jedoch nicht erkennen, ob er diese Erinnerung teilte. Die Vögel hatten ihrem Herrn die Fremden verraten, denn ihr aufgeregtes Gezwitscher schwoll an, je näher Margaret und Li kamen, bis der Schwertkämpfer schließlich mitten im Schwung innehielt und in ihre Richtung blickte. Er wirkte angespannt, und Margaret erkannte Furcht in seinen dunklen Augen. Zwar schien er sich ein bisschen zu erholen, als er Lis Uniform sah, doch von der Selbstsicherheit und Kühnheit, die er beim Training mit seinem
Zeremonienschwert demonstriert hatte, war nichts mehr zu spüren. Li streckte ihm den Ausweis der öffentlichen Sicherheit entgegen. »Polizei«, sagte er. »Sprechen Sie Englisch?« Vögelchen schüttelte den Kopf. »Sie wissen, warum wir hier sind?« Wieder schüttelte er den Kopf. Li nahm ihm das Schwert ab und untersuchte es. Es war ein billiges, leichtes Übungsschwert, das man zum Transport wie eine Ziehharmonika zusammenschieben konnte. »Sie sind ziemlich gut damit. Üben Sie oft?« Vögelchen nickte. »Jeden Tag. Es hilft mir abzuschalten.« »Nur der Ordnung halber, würden Sie mir bitte Ihren vollen Namen nennen?« »Ge Yan«, antwortete Vögelchen. »Aber so nennt mich niemand.« »Was wissen Sie über das, was Affe, Null und Schweinchen zugestoßen ist?« Vögelchens Gesicht wurde leichenblass, und er ließ sich auf eine schmale Bank sinken. »Er spricht wohl kein Englisch?«, unterbrach Margaret das Gespräch ungeduldig. Li warf ihr einen Blick zu. »Leider nicht.« Dann ergänzte er süffisant: »Zu schade, dass du kein Chinesisch sprichst.« Dieser Seitenhieb war nicht ganz unverdient, darum verzog sie sich an den Rand des Pavillons, um das Geschehen aus der Entfernung zu verfolgen. Vögelchen blickte nervös in ihre Richtung. »Kümmern Sie sich nicht um sie«, sagte Li. »Beantworten Sie meine Frage.« Vögelchen sah wieder Li an. »Sie wurden ermordet.« Seine Stimme war nur ein heiseres Flüstern, als hätte er Angst, den Satz laut auszusprechen. »Wissen Sie von wem?« Er schüttelte den Kopf. »Aber wir sind als Nächste dran.« »Wer ist wir?« »Ich und Bettelmaus.« »Woher wollen Sie das wissen?« »Bettelmaus hat gesagt, dass jemand versucht, uns alle umzubringen. Alle, die in der Brigade ›Revolution bis zum Endsieg waren‹.« »Und warum sollte jemand so etwas tun wollen?« »Weiß ich nicht.« Li dachte kurz nach. Er hatte noch immer Vögelchens Schwert in
der Hand. Unvermittelt schob er die Klinge zusammen und warf es ihm zu. »Hier.« Vögelchen fing das Schwert geschickt mit der linken Hand auf. Li sah zu Margaret hinüber. Ihr war der Sinn der Übung nicht entgangen. »Linkshänder«, stellte Li fest. Vögelchen zuckte mit den Achseln. »Na und?« »Nur so.« Li steckte sich eine Zigarette an und beobachtete, wie sich der blaue Rauch langsam in den stillen Abendhimmel kringelte. Das Tageslicht begann zu verblassen. »Was hat er gesagt?«, wollte Margaret wissen. »Das Gleiche wie Bettelmaus. Er wusste von den Morden und vermutete, dass sie als Nächste dran wären.« »Weiß er von Yuan Tao?« »Danach habe ich ihn noch nicht gefragt.« Der kurze Wortwechsel auf Englisch schien Vögelchen zu beunruhigen. »Was haben Sie gesagt?«, fragte er nervös. »Wir haben über einen alten Schulkameraden von Ihnen gesprochen. Yuan Tao.« Vögelchens Augen weiteten sich. »Über Hase?« »Wir haben ihn tot in einer Wohnung im Osten der Stadt aufgefunden. Auf die gleiche Weise ermordet wie die anderen.« Einen Augenblick lang starrte ihn Vögelchen einfach nur an, dann wurden seine Augen völlig unerwartet feucht, und dicke Tränen rannen seine Wangen hinab. Seine Reaktion traf Li vollkommen unvorbereitet. Margaret trat wieder zu den beiden. »Was hast du ihm gesagt?« »Ich habe ihm von Yuans Tod erzählt.« Vögelchen presste die Hand vor den Mund, um sein Schluchzen zu unterdrücken. Danach holte er mehrmals hintereinander schnappend Luft und gab ein tiefes, animalisches Stöhnen von sich, während ihm immer mehr Tränen übers Gesicht liefen, die sich in seinen Barthaaren verfingen. Schließlich sah er Li mit gequälten, hoffnungslosen Augen an. »Das tut mir Leid«, stammelte er. »Das tut mir so Leid.« Li stand regungslos da. »Haben Sie ihn umgebracht, Vögelchen?« Vögelchen schüttelte den Kopf, und als er wieder so weit zu Atem gekommen war, dass er sprechen konnte, sagte er: »Nein. Umgebracht habe ich ihn nicht. Aber sein Leben haben wir ihm schon vor vielen Jahren gestohlen. Damals, während der Kulturrevolution.« Seine Brust erbebte unter einem neuerlichen
Schluchzer. »Als wir seinen Vater getötet haben. Auf dem Schulhof, im Beisein seiner Mutter.« Seine Augen flehten herzzerreißend um Lis Verständnis, von dem er wusste, dass es nicht kommen würde, und sein nach oben gewandtes Gesicht war tränenüberströmt. »Wir haben das doch nicht gewollt. Wir waren doch noch Kinder.« Er sackte erneut zusammen und weinte, das Gesicht tief in den Händen vergraben, als wäre er wieder das Kind von damals. Margaret und Li warteten schweigend. Es hatte etwas Erschreckendes, einen erwachsenen Mann so hemmungslos weinen zu sehen. Schließlich hatte Vögelchen sich wieder halbwegs in der Gewalt. »Ich habe mein ganzes Leben damit zugebracht, die Dinge zu bereuen, die wir damals getan haben. China war ins Chaos gestürzt, und wir waren vom Wahnsinn mitgerissen worden. Das Land hat sich inzwischen wieder erholt, aber die Menschen, die damals der Raserei zum Opfer fielen, kann niemand zurückbringen, genauso wenig wie jemand den Schmerz lindern kann, den die immer noch offenen Wunden verursachen.« Er wischte sich mit den Handflächen die Tränen aus dem Gesicht. »Seither bin ich ein nervöses Wrack. Die einzige Beschäftigung, zu der ich noch fähig bin, ist die mit meinen Vögeln.« Er sah zu seinen geliebten Vögeln auf, die in ihren Käfigen zwitscherten. »Sie kennen keine Vergangenheit und keine Zukunft. Sie ahnen nichts von meiner Schuld. Sie richten nicht über mich. Nur in ihrer Gesellschaft fühle ich mich frei. Ich habe mich schon immer nur in ihrer Gesellschaft frei gefühlt.« Und nach ein paar Augenblicken fügte er hinzu: »Armer Hase.« »Es gibt auch Vögel, die gern Hasen jagen, oder?« Li zeigte sich unbeeindruckt von Vögelchens zur Schau gestellter Reue. Die Lektüre des Tagebuchs war ihm noch zu gut im Gedächtnis. Vögelchen sah ihn verwirrt an. »Was meinen Sie damit?« »Es war Hase, der die anderen ermordet hat. Um den Tod seines Vaters zu rächen. Sie und Bettelmaus wären mit Sicherheit die Nächsten auf seiner Liste gewesen.« »Sie glauben immer noch, ich hätte ihn getötet?« Vögelchen sah ihn ungläubig an. »Töten oder getötet werden.« Vögelchen schüttelte den Kopf. »Ich wusste doch nicht einmal, dass er die anderen getötet hat. Und selbst wenn ich es gewusst hätte, wie hätte ich ihm zum zweiten Mal das Leben nehmen können?« Zutiefst verzweifelt fuhr er sich mit der Hand durch das lichte Haar. »Ich hätte mir nur gewünscht, dass mein Name weiter oben auf der
Liste gestanden hätte. Zumindest hätte ich dann nicht länger mit dieser Schuld leben müssen.« »Wo waren Sie am Montagabend?« Vögelchen sah ihn mit einer Mischung aus Panik und nackter Angst an. »Ich weiß es nicht mehr«, sagte er. »Am Montag? Daheim vielleicht?« »Sie leben allein?« »Ja.« »Es gibt also niemanden, der das bestätigen könnte?« Vögelchen wurde zunehmend hektischer. »Nein. Ja. Die Aufzugführerin. Sie muss gesehen haben, wie ich nach Hause kam.« »Um welche Zeit war das ungefähr?« »Ich weiß nicht… gegen sieben vielleicht?« »Und wann macht die Aufzugführerin Feierabend?« »Für gewöhnlich gegen zehn.« »Es würde also niemand mitbekommen, wenn Sie nach zehn Uhr das Haus verlassen.« »Ich habe das Haus nach zehn nicht mehr verlassen!« Vögelchens Protest war schrill und ängstlich. »Was ist denn los?«, wollte Margaret wissen. »Er hat für Montagabend kein Alibi«, antwortete Li. »Warten Sie einen Moment!« Unvermutet hellte sich Vögelchens Blick auf. »Montagabend. Montagabend«, wiederholte er aufgeregt. »Am Montagabend habe ich unten in Xidan mit meinem Freund Mond auf der Mauer Dame gespielt. Normalerweise spielen wir immer dienstags, aber an diesem Dienstag hatte er irgendwas vor, darum haben wir stattdessen am Montag gespielt. Bis ungefähr Mitternacht haben wir zusammengesessen, geredet und geraucht, dann haben wir zu spielen aufgehört. Und anschließend war ich noch auf ein Bier bei ihm, bevor ich nach Hause bin.« »Und er wird uns das bestätigen, falls wir ihn danach fragen sollten?« Li war zutiefst enttäuscht. Auch wenn Vögelchen inzwischen eine Mitleid erregende Gestalt war, konnte das seine schrecklichen Untaten nicht annähernd aufwiegen, und Li hatte gemerkt, dass er sich einfach gewünscht hatte, Vögelchen wäre derjenige gewesen, der seinen ehemaligen Klassenkameraden vom Leben zum Tode befördert hatte. »Der alte Mond«, murmelte Vögelchen erleichtert. »Ganz bestimmt wird er sich daran erinnern.« Dann sackte er in sich zusammen und starrte wieder niedergeschlagen auf den gepflasterten
Boden des Pavillons. »Armer Hase.«
III Als sie auf dem Chang’an-Boulevard in Richtung Osten fuhren, war es bereits dunkel geworden. Am Horizont strahlten die Scheinwerfer auf dem Tiananmen-Platz, die für den Nationalfeiertag aufgestellt worden waren, ihr verschwommenes, buntes Licht in die dunstige Abendluft. Eine ununterbrochene Kette von roten Schlusslichtern wand sich vor dem Jeep her. Li und Margaret hatten kaum mehr ein Wort miteinander gewechselt, seit sie den Park verlassen hatten. Er hatte sie gefragt, wo er sie hinbringen sollte, und sie hatte ihm geantwortet, sie wolle zurück in ihr Hotel. Danach waren sie in Schweigen versunken. Unvermittelt fragte Margaret: »Was meinst du, was Yuan Tao unter den Dielen in seiner Wohnung versteckt hatte?« Überrascht, dass ihre Gedanken noch immer um die Ermittlungen kreisten, sah er zu ihr hinüber. »Das Schwert vermutlich. Wahrscheinlich wollte er es nicht jedes Mal aus dem Wohnblock für Botschaftsangehörige raus- und wieder reinschmuggeln müssen.« Margaret verfiel wieder in Schweigen. Ungeachtet ihrer Zwischenfrage verlor sie rapide das Interesse an diesem Fall. Als sie am Tiananmen-Platz vorbeifuhren, kam ihr Michael in den Sinn. Sie wollte ihn sehen und sich bei ihm entschuldigen. Um ihm deutlich zu machen, dass es nicht ihre Idee gewesen war, ihn nach seiner Bekanntschaft mit den Mordopfern zu befragen oder gar nach seinem Alibi für die Nacht von Yuans Tod zu forschen. Sie versuchte, sich darüber klar zu werden, was sie empfunden hatte, als sie erfuhr, dass Yuan Tao von Michael an den Händler in der unterirdischen Stadt verwiesen worden war. Entsetzen. Und im ersten Moment auch Angst. Wovor hatte sie sich gefürchtet? Bestimmt hätte sie sich nicht einmal in ihren wildesten Träumen vorstellen können, dass Michael auch nur am Rande in diese Untaten verwickelt sein könnte. Und doch hatte Li genau das geglaubt – oder glauben wollen. Oder sie glauben machen wollen. Mit Feuereifer hatte er auf ihre Enthüllung reagiert, dass Michael Professor Yue
gekannt hatte. Auch wenn ihr bewusst gewesen war, dass Li nur von Eifersucht getrieben wurde, war sie doch spürbar erleichtert gewesen, als Michael sie daran erinnerte, dass sie sich in jener Nacht, als Yuan Tao ermordet wurde, in der Residenz des Botschafters kennen gelernt hatten. Demnach konnte er also unmöglich etwas damit zu tun haben. Sie erinnerte sich an seinen gekränkten Blick, als ihm klar geworden war, warum sie tatsächlich heute Morgen mit Li zu den Ming-Gräbern hinausgekommen war, und fühlte sich scheußlich. Wie eine Verräterin. Li warf einen verstohlenen Blick auf Margaret. Sie schien in Gedanken versunken zu sein. Weit, weit weg. Plötzlich fühlte er sich elend. Er hatte sie so geliebt, dass es beinahe qualvoll gewesen war, mit ihr zusammen zu sein. Und dann war es eine einzige Qual gewesen, von ihr getrennt zu sein. Und nun war er in eine Art Vorhölle verbannt, wo er sie weder besitzen noch ihr entkommen konnte. Irgendwie war es so, als wäre sie gestorben und ihr seelenloser Körper anschließend zurückgekehrt, um ihn zu peinigen. Jetzt verdüsterte dieses Gespenst, das ihm zum ständigen Begleiter geworden war, die Erinnerung daran, wie gut sie sich einst verstanden hatten und wie schön diese Zeit gewesen war. Das Signal des Polizeifunks riss ihn jäh aus seinen Gedanken. Er hakte das Mikro los und meldete sich. Eine weibliche Stimme aus der Funkzentrale der Sektion Eins knisterte über den Äther, und Margaret verfolgte, wie Li einen Moment lang ärgerlich widersprach, sich dann aber in sein Schicksal fügte und widerwillig die folgende Anweisung akzeptierte. Nachdem er den Apparat wieder eingehängt hatte, fuhr er schweigend weiter. Doch ihr entging nicht, wie angespannt er das Lenkrad umklammerte. »Schlechte Nachrichten?«, fragte sie nach einer Weile. Er warf ihr einen kurzen Blick zu und zögerte lange, bevor er zu dem Schluss kam, dass es eigentlich keine Rolle spielte, ob er ihr davon erzählte oder nicht. »Du hast doch neulich Abend meine Schwester kennen gelernt«, sagte er. »Im Teesalon Sanwei.« Sie nickte. »Du weißt doch noch, dass ich dir mal von ihrer Schwangerschaft erzählt habe?« Sie nickte erneut, und er berichtete ihr, wie Xiao Ling ihre Tochter Xinxin allein in seiner Wohnung zurückgelassen hatte und in den Süden verschwunden war, um ihr zweites Kind im Haus einer Freundin zur Welt zu bringen, und wie Xinxins Vater daraufhin erklärt hatte, er wolle mit der ganzen
Geschichte nicht das Geringste zu tun haben. »Mein Gott!«, entfuhr es Margaret. »Wie in aller Welt schaffst du das alles?« Er starrte grimmig nach vorn. »Eben nicht.« Dann seufzte er. »Kannst du dich noch an Mei Yuan erinnern? Die Jian-BingVerkäuferin?« »Natürlich.« »Sie wollte Xinxin für ein paar Tage zu sich nehmen, bis ich eine andere Lösung gefunden hätte. Heute Nachmittag hat sie im Büro angerufen und mir ausrichten lassen, dass der Ehemann ihrer Cousine ins Krankenhaus eingeliefert worden ist und operiert werden muss.« Margaret schüttelte verwirrt den Kopf. »Was hat das mit dir zu tun?« »Ihre Cousine wollte sich um den Jian-Bing-Stand kümmern, solange Mei Yuan auf Xinxin aufpassen würde. Aber das geht jetzt nicht mehr, weil ihr Mann im Krankenhaus liegt und sie ihm das Essen bringen muss.« Margaret war verblüfft. »Bekommen die Patienten bei euch im Krankenhaus nichts zu essen?« »In China«, erklärte Li, »essen die meisten Menschen lieber Selbstgekochtes als den Fraß im Krankenhaus. Also wird Mei Yuan morgen den Jiang-Bing-Stand wieder selbst übernehmen müssen, weil sie es sich nicht leisten kann, auf die Einkünfte zu verzichten. Was wiederum bedeutet, dass sie sich nicht mehr um Xinxin kümmern kann. Sobald ich dich beim Hotel abgesetzt habe, muss ich sie abholen und wieder in meine Wohnung bringen.« Über den Lichtern des vorabendlichen Verkehrs erhob sich das rote Neonschild mit der Aufschrift CITIC aus dem Dunst. »Ich würde sie gerne kennen lernen.« Margarets Worte überraschten sie nicht weniger als ihn. Ohne dass sie einen Grund dafür angeben konnte, ließ allein der Gedanke an Lis Nichte und daran, dass er für sie die Verantwortung trug, ihn wieder menschlicher erscheinen und erinnerte sie an jenen Mann, als den sie ihn früher gekannt hatte. Damals bei der Begegnung mit seinem Onkel im Jadesee-Park hatte sie ihn zum ersten Mal nicht als mürrischen, fremdenfeindlichen chinesischen Polizisten gesehen, sondern als jenen Mann, der leicht errötete, schnell in Verlegenheit zu bringen war und einfühlsam auf die Gefühle anderer reagierte. Er sah sie an und runzelte die Stirn. »Warum?«
Sie zuckte mit den Achseln. Ohne ein weiteres Wort wendete Li den Wagen an der nächsten Kreuzung um hundertachtzig Grad und fuhr erst wieder nach Osten und dann nach Norden in Richtung der nördlichen Seen und von Mei Yuans Hutong. Yingdingqiao oder die Brücke des Silberbarrens, war eine winzige gewölbte Bogenbrücke aus Marmor und überspannte den schmalen Wasserweg, der den Houhai-See im Norden mit dem Qianhai-See im Süden verband. Sie war ein uralter Handelsknotenpunkt in den ansonsten eher ruhigen Gewässern von Pekings nördlichem Seenbezirk. Die Lichter eines Minimarkts, der in einem traditionellen fünfseitigen Gebäude untergebracht war, glänzten auf dem Wasser. In windigen Ziegelhäusern mit Blechdächern klapperten alte Frauen mit ihren Woks über glühend heißen Öfen und ließen Dampf, Rauch und wunderbare Küchendüfte in die Abendluft entweichen. Im Schritttempo bahnte sich Li mit dem Jeep einen Weg über die Brücke. Zu ihrer Rechten, ein Stückchen weiter den See hinauf, lag einsam und verlassen ein Kinderspielplatz in der Dunkelheit. Und als sie am Ufer des QianhaiSees nach Süden fuhren, bot sich ihnen der überwältigende Anblick des hundertvierzig Jahre alten Restaurants Kaorouji, wo schon im neunzehnten Jahrhundert Mandschu-Prinzen gespeist hatten und wo Eintopf mit gebratenem Hammel und andere Köstlichkeiten der muslimischen Küche aufgetischt wurden. Hinter den rauschenden Blättern der Trauerweiden funkelten und tanzten die Lichter auf dem Wasser des gegenüberliegenden Ufers. Mei Yuans Siheyuan konnte als Besonderheit mit einem kleinen Garten an der Vorderseite aufwarten, wo hinter einem niedrigen Zaun Gras, Sträucher und Bäume wuchsen. Sie und Xinxin saßen am Tisch und waren mit dem Zubereiten von Klößen beschäftigt, als Li und Margaret hereinkamen. Mei Yuan freute sich sichtlich über Margarets Besuch, sie umarmte und herzte sie wie eine Mutter, die ihre Tochter seit Monaten nicht gesehen hatte. Es war ein für chinesische Verhältnisse äußerst ungewöhnlicher Gefühlsausbruch. Strahlend bat sie die beiden Besucher, sich zu setzen, und entschuldigte sich ein ums andere Mal bei Li für die Unannehmlichkeiten, die sie ihm bereiten müsse. Der Mann ihrer Cousine werde nur wenige Tage im Krankenhaus bleiben, und sie werde Xinxin auf alle Fälle übermorgen wieder zu sich nehmen können, denn dann sei sowieso Sonntag, und sonntags habe sie
grundsätzlich frei. Erst als sie innehielt, um Luft zu holen, bemerkten alle, dass Xinxin mit weit aufgerissenen Augen und offenem Mund dasaß und Margaret wie hypnotisiert anstarrte. Vermutlich war Margaret der erste Ausländer, den sie je zu Gesicht bekommen hatte. »Xinxin, das ist Margaret«, erklärte ihr Li. »Sie ist Amerikanerin.« Wobei er sich keineswegs sicher war, ob das Kind überhaupt wusste, was eine Amerikanerin war. Zigong in der Provinz Sichuan, wo Xinxin aufgewachsen war, lag tief im Herzen des ländlichen China. Wenn überhaupt, dürften sich nicht sonderlich viele Fremde dorthin verirren. Inwieweit Xinxin mit westlichen Fernsehprogrammen vertraut war, entzog sich ebenfalls Lis Kenntnis. Falls sie Li gehört hatte, merkte man Xinxin das nicht an, denn sie starrte Margaret weiter an, als könne sie ihren Augen nicht trauen. »Hallo, Xinxin«, sagte Margaret und streckte ihr die Hand entgegen. »Freut mich sehr, dich kennen zu lernen.« Falls das überhaupt möglich war, riss Xinxin die Augen noch weiter auf, dann zuckte sie vor Margarets ausgestreckter Hand zurück und blickte Li mit kaum verhohlener Furcht an. »Ich verstehe nicht, was sie sagt. Spricht sie auch eine andere Art von Chinesisch, so wie du und Mei Yuan manchmal?« »Nein, Xinxin«, erklärte Mei Yuan. »Das ist eine völlig andere Sprache. Sie benutzt ganz andere Worte, um Dinge zu beschreiben, für die du und ich die gleichen Worte benutzen. Manchmal lernen auch Chinesen diese Worte. Und manchmal lernen die anderen unsere Worte.« Wie gut sie mit dem Kind umgehen konnte, schoss es Li durch den Kopf. »Was ist eine Amerikanerin?«, fragte Xinxin. »Dein Land heißt China«, erläuterte Mei Yuan. »Darum bist du Chinesin. Eine Amerikanerin ist eine Frau, die aus dem Land Amerika kommt.« Margaret lächelte verunsichert; sie fühlte sich ausgeschlossen. »Um was geht es denn?«, fragte sie. »Xinxin erhält eine Lektion in Geografie und Linguistik«, antwortete Li. »Darf ich ihr Haar berühren?«, bat Xinxin. Li sah Margaret fragend an. »Sie möchte dein Haar berühren.« »Sicher.« Margaret musste unvermittelt daran denken, dass die
Kellnerinnen im muslimischen Viertel von Xi’an dieselbe Bitte an sie gerichtet hatten. Xinxin streckte zaghaft die Hand aus, um Margaret mit den Fingern durch die seidigen goldenen Locken zu fahren. Dann breitete sich ein entwaffnendes Lächeln auf ihrem Gesicht aus. »Es ist so weich«, sagte sie und fragte: »Ist es echt?« »Natürlich ist es echt«, versicherte Li. »Kann… wie heißt sie noch mal?« »Margaret.« »Kann Margaret uns helfen, Klöße zu machen?« Li verzog bedauernd das Gesicht. »Wir können nicht so lange bleiben, Xinxin. Wir müssen dich nach Hause ins Bett bringen.« »Ach, bitte…« Wieder riss sie die Augen auf und sah ihn möglichst flehend an. Li sagte zu Margaret: »Sie möchte, dass du ihr beim Klößemachen hilfst.« Margaret lächelte entzückt. »Aber gern.« Über zwanzig Minuten saßen sie am Tisch, tranken grünen Tee und rollten dünne Pfannkuchen aus, deren Teig sie von einer Rolle schnitten. Xinxin führte Margaret vor, wie man die Füllung in die Mitte des Pfannkuchens löffelte, ihn einmal faltete und dann die Ränder so einschlug, dass er entfernt an eine Muschel erinnerte. Das Geheimnis des perfekten Kloßes bestand darin, ihm den letzten Schliff zu geben, indem man mit beiden Daumen und Zeigefingern exakt so fest auf die Füllung drückte, dass diese genau in die Mitte des Kloßes geschoben wurde. Bei den ersten Versuchen produzierte Margaret Ausschuss, und die Füllung kam über den Tisch gespritzt, was bei Xinxin große Freude und Gelächter hervorrief. Ihr Kichern wirkte ansteckend, bis schließlich auch Li, Mei Yuan und Margaret nicht anders konnten, als hemmungslos mitzulachen. Ungeachtet der Tatsache, dass Margaret kein Wort verstand, schalt Xinxin sie bei jedem Fehler, erklärte ihr, was sie tun sollte, zeigte ihr, wie es ging, und stellte dabei jedes Mal einen perfekten Kloß her. Dank ihrer Belehrungen schaffte es Margaret schließlich, halbwegs brauchbare, wenn auch keinesfalls perfekte Klöße zu formen. Mit einem zufriedenen Nicken begann Xinxin, die fertig gestellten Klöße zu zählen, wobei sie Margaret zum Mitzählen animierte. Mei Yuan sagte ihr die Zahlen vor, und Margaret fand rasch heraus, dass es im Grunde genügte, die Zahlen von eins bis
zehn zu erlernen, um beinahe alle anderen daraus bilden zu können. Zehnfünf entsprach fünfzehn, fünfzehn stand für fünfzig. Neunundfünfzig konnte durch fünfzehnneun ausgedrückt werden. Sie hatten fünfundneunzig Klöße geformt, weshalb sie nicht dazu kam, auch noch die Zahl Hundert zu lernen. »Sie müssen noch bleiben und Klöße essen, bevor Sie aufbrechen«, sagte Mei Yuan. »Sie sind in zehn Minuten gekocht.« Doch Li wurde plötzlich unsicher. »Ein andermal, Mei Yuan. Ich muss Xinxin nach Hause bringen. Und ich will auch Margaret nicht länger in Beschlag nehmen.« Xinxin fragte: »Kommt Margaret auch mit zu uns?« »Leider nicht, meine Kleine. Wir müssen sie an ihrem Hotel absetzen.« Eine dunkle Wolke überschattete Xinxins Gesicht, und ihr Mund verzog sich zu einem Schmollen. »Ich gehe aber nicht ohne Margaret!« Li seufzte. »Was passt ihr denn nicht?«, wollte Margaret wissen. »Sie hat das Kleine-Kaiser-Syndrom«, erklärte Li. »Sie kommt nur mit, wenn du auch mitkommst.« Margaret zuckte mit den Achseln. »Na gut, dann komme ich eben noch mit zu euch.« Einen Moment trafen sich ihre Blicke, und Margaret fühlte sich seltsam unwohl in ihrer Haut. Sie errötete verlegen. Gegen seinen Willen wurde Li ebenfalls rot, und als er sich wegdrehte, stellte er fest, dass Mei Yuan Margaret und ihn aufmerksam beobachtete. Sobald Xinxin die frohe Botschaft vernommen hatte, kehrte ihre gute Laune zurück. Mei Yuan sammelte ihre Sachen ein und packte sie zusammen mit den Büchern, die sie ihr neulich Abend mitgebracht hatte, in eine Tasche. »Ein Buch ist wie ein Garten, den man in der Tasche trägt«, klärte Xinxin Li auf. Der runzelte verblüfft die Stirn und warf der lächelnden Mei Yuan einen Blick zu. »Ich habe ihr ein paar alte chinesische Sprichworte beigebracht«, sagte sie. »Vermutlich werden Sie noch das eine oder andere zu hören bekommen.« »Da fällt mir ein«, sagte Li, »ich habe Ihr Rätsel gelöst.« Mei Yuan lächelte erneut und zog eine Braue hoch. »Wirklich?« »Sie haben mich absichtlich in die Irre geführt. Sie haben mir einen ganzen Haufen von Rechenschritten in den Kopf gepflanzt, die keinen Sinn ergaben. Ich habe ganz schön viel Zeit darauf
verschwendet, irgendeinen Sinn hineinzubringen.« »Was war das für ein Rätsel?«, fragte Margaret. Mei Yuan stellte es ihr ebenfalls. »Das ist doch kinderleicht«, sagte Margaret sofort. »So passt die Rechnung auf gar keinen Fall.« »Das habe ich doch eben gesagt«, protestierte Li. Margaret ließ sich dadurch nicht abhalten, die Lösung zu verraten. Wobei sie von der Fünfundzwanzig ausging und erst drei und dann zwei dazuzählte, um dreißig als Ergebnis zu erhalten. Mei Yuan klatschte begeistert in die Hände. »Ich habe Ihnen einen Stein gegeben und Jade zurückerhalten.« »Und was ist mit mir?«, beklagte sich Li. »Ich habe die Lösung auch gefunden.« »Aber Sie haben viel zu lange gebraucht«, sagte Mei Yuan. »Ihnen habe ich einen Stein gegeben und einen Stein zurückbekommen.« Margaret lachte. »Okay. Ich weiß auch noch eines.« Sie überlegte kurz. »Es ist Nationalfeiertag in Peking. Um die Mittagszeit. Alle sind draußen auf der Straße. Li Yan geht von der XidamochangStraße zum Hauptbahnhof, und dennoch kann ihn keine Menschenseele sehen. Wie ist das möglich?« Sowohl Li als auch Mei Yuan vertieften sich schweigend in das Rätsel. Nach einer Weile schüttelte Mei Yuan den Kopf. »Darüber muss ich nachdenken.« Sie öffnete die Tür, strich Xinxin übers Haar und wandte sich an Li. »Da haben Sie ja eine ziemlich ausgebuffte Dame an der Hand, Li. Passen Sie bloß auf, dass sie Ihnen nicht entwischt.« Worauf beide bis unter die Haarwurzeln erröteten. Xinxin schlummerte mit entspanntem und hübschem Gesicht. Margaret saß am Bettrand, strich ihr ein paar verirrte Haarsträhnen aus der Wange und betrachtete ihre unschuldigen Züge. Nachdem sie in Lis Wohnung angekommen waren, hatte Xinxin ihr aus einem der Bilderbücher »vorgelesen«. Natürlich konnte sie noch nicht richtig lesen, dafür aber hatte Mei Yuan ihr diese Geschichte in den vergangenen Tagen so oft vorgelesen, dass Xinxin sie in- und auswendig kannte. Sie konnte immer noch nicht begreifen, dass diese Amerikanierin sie nicht verstehen konnte, redete deshalb permanent auf Margaret ein und reagierte jedes Mal mit einem missbilligenden »Na, na!«, wenn Margaret ihr auf Englisch antwortete. »Du musst ihr Chinesisch beibringen!«, hatte sie Li ärgerlich ermahnt.
Jetzt, als sie schlafend dalag, gehörte ihr Margarets ganzes Mitgefühl. Von der Mutter verlassen, vom Vater verstoßen, gestrandet bei einem Onkel, der nicht die geringste Ahnung hatte, wie er für sie sorgen sollte. Doch auch in Lis Lage konnte sie sich versetzen. Die Verantwortung für das Leben eines anderen Menschen wog schrecklich schwer. Vor allem wenn dieser Mensch so jung und vollkommen von einem abhängig war. Und schließlich hatte Li diese Verantwortung nicht aus freien Stücken übernommen. Margaret spürte nur zu gut, dass tief in ihr das Bedürfnis schlummerte, diese Verantwortung mit ihm zu teilen. Hormonell bedingt, wie sie vermutete. Der chemische Funke, der die Sehnsucht einer Frau nach Kindern schürte. Sie war einunddreißig Jahre alt, und sie hatte diesen Wunsch noch nie verspürt. Bis jetzt. Wie lächerlich. Wie unpassend. Schier unmöglich. Und doch weckte der Anblick des schlafenden Kindes über irgendeinen Ur-Instinkt in ihr das Verlangen, es an ihre Brust zu drücken und vor den schrecklichen Fallstricken und Fährnissen zu beschützen, die das Leben bereithalten mochte. Plötzlich bemerkte sie, dass ihre Kehle wie zugeschnürt war und sie kaum noch Luft bekam, und als sie aufsah, bemerkte sie, dass Li sie vom Flur aus beobachtete. Sie errötete verlegen, als würde sie glauben, er könnte ihre Gedanken lesen. Betreten wandte sie den Blick ab, der daraufhin auf die Fotos des alten Yifu fiel, und unerklärlicherweise traten ihr Tränen in die Augen. Sie blinzelte sie rasch weg, senkte den Blick wieder auf das Bett und hoffte, dass Li nichts bemerkt hatte. Xinxins Bilderbuch in die Hand nehmend, stand sie auf und begann, es mit geheucheltem Interesse durchzublättern. Ihre Augen wanderten die senkrechten Spalten mit den großen chinesischen Schriftzeichen entlang, und im verzweifelten Bemühen, etwas zu sagen, das ihre aufgewühlten Gefühle verbergen würde, fragte sie: »Lest ihr tatsächlich von rechts nach links?« Li nahm ihr das Buch ab und klappte es langsam zu. »Nur wenn die Schriftzeichen senkrecht verlaufen. Verlaufen sie waagrecht, lesen wir von links nach rechts.« Ohne dass sie es bemerkt hatten, schien er ihr ganz nahe gekommen zu sein. Sie konnte ihn atmen hören, und sein vertrauter Geruch beschleunigte ihren Herzschlag ein wenig. Er fuhr fort: »Man sagt, chinesische Kinder würden lernen, von oben nach unten zu lesen, weil sie so fügsam sind und ihren Eltern stets gehorchen.« Er nickte mit dem Kopf auf und ab.
»Westliche Kinder hingegen seien ausgesprochen ungehorsam und würden nie das tun, was man ihnen befiehlt. Aus diesem Grund lesen sie auch von links nach rechts.« Dabei schüttelte er den Kopf langsam hin und her. Sie lächelte. »Wobei du bei diesem ›man‹ wahrscheinlich die Chinesen meinst.« »Natürlich.« Er ließ das Buch auf das Bett fallen, und sie merkte, wie er den Arm um ihre Hüfte schlang. Im nächsten Moment neigte er den Kopf, um sie zu küssen, und sie reckte ihm instinktiv das Gesicht entgegen. Erst als sie seine Lippen auf ihren fühlte, zuckte sie erschrocken zurück. »Nein!«, entfuhr es ihr, doch dann fiel ihr die schlafende Xinxin wieder ein, und sie senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Nein, Li.« Ein paar Sekunden lang standen sie wie angewurzelt da und starrten sich an. Dann erklärte sie: »Ich sollte jetzt gehen. Ich finde schon ein Taxi auf der Straße.« Damit stürzte sie an ihm vorbei, klaubte im Wohnzimmer hastig ihre Mappen zusammen und rannte dann hinaus und die Treppen hinunter. Er hörte, wie die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, und spürte die warmen Tränen auf seinen Wangen.
IV Mit den Akten beladen, die Li ihr aufgebürdet hatte, kämpfte Margaret sich aus dem Taxi. Sie kramte ein paar Geldscheine hervor, mit denen sie den Fahrer bezahlte, eilte dann ins Ritan-Hotel, vorbei an dem menschenleeren Laden in der Lobby, wo man zu überhöhten Preisen Schmuck kaufen konnte, und wandte sich nach rechts zu den Aufzügen. Während der kurzen Taxifahrt von Lis Wohnung ins Hotel hatte sich ihre Erschütterung in Zorn verwandelt. Wie konnte Li es wagen, derart mit ihren Gefühlen zu spielen? Wie sollte sie sich überhaupt Hoffnungen machen können, sich mit seiner Zurückweisung abzufinden, wenn er sich selbst nicht damit abfinden konnte, wenn er jede Beziehung, die sie mit einem anderen Mann hatte, mit Eifersucht verfolgte, wenn er bei jeder Begegnung mit ihr schwach wurde? Und sie war nicht weniger wütend auf sich selbst, weil sie um ein Haar einem Verlangen nachgegeben hätte, das sie zu
verdrängen versucht hatte. Einem Verlangen, das sie gezwungenermaßen zu verdrängen versucht hatte. Was ihr noch vor vierundzwanzig Stunden in Michaels Nähe klar, einfach und abgeschlossen vorgekommen war, war plötzlich wieder ins Chaos gestürzt worden. Sie brauchte Zeit zum Nachdenken. »Margaret.« Gerade als sich die Aufzugtüren öffneten, hörte sie Michaels Stimme und drehte sich um. »Michael. Was machst du denn hier?« »Auf dich warten.« Er kam über den Marmorboden auf sie zu, schaute auf die Uhr und lächelte vorwurfsvoll. »Und zwar schon geschlagene zwei Stunden. Ihr arbeitet wirklich verdammt lang.« Seine Miene verdüsterte sich. »Ich muss mit dir reden, Margaret. Über das heute Morgen.« »Darüber möchte auch ich mit dir sprechen, Michael.« Margaret seufzte. »Ich kann mich gar nicht oft genug entschuldigen. Li Yan war einfach eifersüchtig. Deshalb hat er versucht, sich durch dich an mir zu rächen.« Die Türen des Aufzugs glitten wieder zu. Michael legte die Stirn in Falten. »Ich dachte, das mit euch beiden wäre Vergangenheit.« »Dachte ich auch.« Er trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. »Hör zu, Margaret. Die Sache ist die: Falls Gerüchte aufkommen, ich stünde in einem Mordfall irgendwie unter Verdacht, könnte sich das hier in China katastrophal auf meine Beziehungen auswirken.« Margaret konnte ein Lachen nicht unterdrücken. »Ach, Michael. Du stehst doch nicht unter Verdacht. Li hat einfach eine vollkommen abwegige Schlussfolgerung benutzt, um sein Spiel mit dir zu treiben. Kein Mensch hält es ernsthaft für möglich, dass du etwas mit den Morden zu tun haben könntest. An dem Abend, als Yuan ermordet wurde, warst du mit mir zusammen, und als zwei der anderen Morde begangen wurden, warst du nicht einmal in China.« Sie verstummte und schnaubte frustriert. »Was soll ich noch weiter sagen? Vergiss die ganze Sache. Das ist doch an den Haaren herbeigezogen.« Erst jetzt schien er sich etwas zu entspannen und lächelte sie an. »Hast du schon gegessen?« Sie schüttelte den Kopf. »Sehr gut, denn ich habe uns in einem kleinen Lokal einen Tisch reserviert.« Er schaute erneut auf die Uhr. »Wir müssten dort noch etwas bekommen. Gerade noch.« Sie blickte an sich hinunter. »Michael, ich muss mich erst umziehen. Fünfzehn Minuten. Nicht länger. Ehrenwort.«
Er grinste. »Okay. Und zwar ab…«, er hob die Hand und drückte ein paar Knöpfe auf seiner Uhr: »Jetzt!« Damit schaltete er die Stoppuhr ein. Während sie noch einmal auf den Aufzugknopf drückte. Er hielt ihr die Zimmertür auf, sie stürmte hinein und schleuderte die Akten auf das Bett, wobei sich die Papiere über das Bettzeug verteilten und zum Teil zu Boden fielen. Er bückte sich, um sie wieder aufzuheben. »Lass das einfach liegen«, sagte sie. »Ich mache das später selbst.« Erst griff sie sich frische Unterwäsche aus einer Schublade, dann zerrte sie eine Jeans und ein zitronengelbes T-Shirt von den Bügeln im Kleiderschrank. »Eine kurze Dusche«, sagte sie. »Ganz kurz. Versprochen.« Grinsend klopfte er auf seine Uhr. »Der Countdown läuft.« Sie eilte ins Badezimmer, zog sich rasch aus und drehte die Dusche auf. Bei einem kurzen, zufälligen Blick auf ihr nacktes Spiegelbild fiel ihr die vergangene Nacht mit Michael wieder ein, die zärtliche Liebkosung seiner Hände an ihren Brüsten und auf ihrem Po, das atemberaubende Gefühl gezügelter und kontrollierter Kraft, als er in sie eingedrungen war. Dann vernebelte der Dampf ihr Spiegelbild, und sie wandte dem Spiegel den Rücken zu, um in den herrlich heißen Wasserstrahl zu treten. »Wenn ich nicht mehr der Hauptverdächtige bin, wer ist es dann?«, hörte sie Michael vom Schlafzimmer aus rufen. »Das ist eine lange Geschichte«, rief sie zurück. »Dann mach sie kurz. Du hast nur noch zehn Minuten.« Lachend begann sie, sich mit einem großen, weichen Schwamm einzuseifen, den sie mit Duschgel benetzt hatte. »Während der Kulturrevolution in den Sechzigerjahren wurde Yuans Vater von einer Gruppe aus sechs Rotgardisten umgebracht.« Mit einem Prusten warf sie den Kopf in den Nacken und ließ sich das Wasser über das Gesicht laufen. »Yuan war damals als Student in Amerika und bekam nichts von alldem mit, bis er dreißig Jahre später an das Tagebuch seiner Mutter kam. Wie es aussieht, ist er zurückgekommen, um Vergeltung zu üben.« Michael sagte etwas, das sie nicht richtig verstehen konnte. »Was hast du gesagt?« Er hob die Stimme: »Und wer hat dann Yuan getötet?« »Am ehesten kommt dafür ein Typ in Frage, der Vögelchen genannt wird. Er arbeitet auf dem Vogelmarkt.« »Aus welchem Grund hätte er Yuan töten sollen?«
»Weil Vögelchen der letzte Überlebende aus dieser Gruppe von Rotgardisten ist, die Yuans Vater umgebracht hat. Er ist überzeugt, dass er auf Yuans Abschussliste gestanden hat.« Sie spülte das Shampoo aus ihrem Haar. »Weißt du, er mag ja der Hauptverdächtige sein, aber er ist ein ziemlich armes Schwein. Der Kerl ist ein Außenseiter. Lebt allein mit einem Schwarm Vögel. Er hat ein Nervenleiden und kann keiner geregelten Arbeit nachgehen… abgesehen von einem Haufen anderer Gründe, mit denen ich dich nicht langweilen möchte.« Sie drehte die Dusche ab, stieg aus der Wanne und griff mit geschlossenen Augen nach dem Handtuch auf der Stange. Im selben Moment spürte sie, wie eine Hand sie berührte, und stieß, erschrocken die Augen aufreißend, einen kleinen Schrei aus. Michael stand grinsend im Wasserdampf des Badezimmers und hielt ihr das Handtuch hin. »Mein Gott, Michael!«, keuchte sie, »du kannst einen vielleicht erschrecken.« Sie schnappte sich das Handtuch und hüllte sich darin ein. Er zog eine Braue hoch und erwiderte: »Gestern Nacht hat das aber anders geklungen.« Damit schlang er die Arme um ihre Hüfte und zog sie an sich. »Du wirst nass«, protestierte sie schwach. »Pech.« Er drückte sie an sich und senkte den Kopf, um ihren weichen Hals zu küssen. Sie spürte, wie ihr die Knie unter einer Woge der Lust und Begierde weich wurden, während sie gleichzeitig roch, wie sich der berauschende Duft des Patschulis mit dem Parfüm ihres Duschgels mischte. Mit beiden Händen packte sie sein Gesicht, zog es nach oben zu ihrem und spürte dabei das Kratzen seines Backenbarts. Sie küssten sich. Es war ein langer, leidenschaftlicher Kuss, bei dem sie irgendwann sein erigiertes Glied an ihrem Bauch bemerkte. Ganz unvermittelt musste sie daran denken, wie Li sich zu ihr herabgebeugt hatte, wild entschlossen, sie zu küssen. Die Berührung mit seinen Lippen. An ihre plötzliche Angst und ihre Flucht aus seiner Wohnung. Schwer atmend löste sie sich von Michael, und ihr Lächeln wirkte ein wenig gezwungen. »Ich muss mich beeilen, wenn ich den Kampf gegen die Uhr noch gewinnen will.« Das Restaurant Ya Mei Wei lag versteckt im wenig versprechenden Dong-Wang-Hutong unweit der Kuan-Straße gegenüber dem AVICS-Gebäude für Raumfahrttechnologie. Als Margaret aus dem Taxi stieg, musste sie gleich einer ganzen Phalanx
von Radfahrern ohne Licht ausweichen, die um einen Platz auf der schmalen Radspur kämpften, weil ihnen die nächtlichen Autofahrer kaum noch einen Streifen Asphalt übrig ließen. Die Klingeln der Fahrräder tönten ihr noch in den Ohren, als sie sich auf das Trottoir gerettet hatte und in den dunklen, diesigen Hutong blickte. »Da drin gehen wir essen?«, fragte sie. Und als Michael einfach nur nickte, hakte sie nach: »Das ist doch nicht wieder so ein Lokal wie das, in dem wir in Xi’an waren?« »Nein«, versicherte er ihr. »Nichts dergleichen.« Etwa fünfzig Meter weiter erhoben sich zu beiden Seiten halb verfallene Ziegelmauern, und zwei einsame rote Laternen hingen über einer kastanienbraun gestrichenen, hölzernen Eingangstür, die allerdings fest verschlossen war. Michael klopfte an. »Hier ist es?«, fragte Margaret. Michael lächelte. »Man sollte sich nie vom äußeren Schein täuschen lassen.« Eine gut aussehende Frau, die etwa vierzig Jahre alt sein mochte und ein rosafarbenes Seidenkleid trug, öffnete die Tür. Als sie Michael sah, erstrahlte ein Lächeln auf ihrem Gesicht, und sie streckte ihm die Hand entgegen. »Mr. Zimmerman. Ich freue mich ja so, Sie wiederzusehen.« Sie blickte auf die Uhr. »Sie haben sich verspätet.« Michael hob die Hände. »Das tut mir wirklich schrecklich Leid, Zhao Yi. Sind wir denn zu spät dran?« »Natürlich nicht«, antwortete Zhao Yi, und ihr Lächeln wurde noch breiter. »Ein guter Freund kommt nie zu spät.« Michael stellte die beiden Frauen einander vor, und Zhao Yi führte sie ins Haus. Der Gegensatz zum Hutong draußen hätte nicht verblüffender sein können. Dies war eine andere Welt. Alles konzentrierte sich um einen nachgebauten traditionellen Innenhof im Pekinger Stil mit geschwungenen grünen Ziegeldächern und einer winzigen Brücke, die über einen kleinen Wasserlauf führte. Auf der einen Seite führten mehrere Türen in einen riesigen Speisesaal. Auf der anderen Seite führten weitere Eingänge aus einem schmalen Korridor in kleinere Separees mit abgedeckten Fenstern. Zhao Yi geleitete sie über den Hof in ihr eigenes Separee, wo ein Tisch für zwei Personen gedeckt war, Kerzen brannten und aus diskret versteckten Lautsprechern ruhige, klassische chinesische Musik ertönte. Man hatte beinahe den Eindruck, dass sie das gesamte Restaurant für sich allein hatten. Es war schon fast zweiundzwanzig
Uhr, die übliche Zeit für das Abendessen in Peking war längst vorbei. Augenblicklich wurden sie von mehreren Kellnerinnen in farblich abgestimmten Seidenkostümen umschwärmt, die Platten mit kalten und warmen Vorspeisen auf dem Tisch abstellten. »Bedien dich«, sagte Michael. »So viel oder so wenig du eben magst. Das sind nur Appetithappen.« Er nickte in Richtung einiger Töpfe aus rostfreiem Stahl, die neben ihren Stühlen auf kreisförmigen Ständern über violetten Kerzen bereitgestellt worden waren. »Hast du schon mal mongolischen Feuertopf gegessen?« Sie schüttelte den Kopf. »Der ist hier eine echte Delikatesse.« Zu Zhao Yi sagte er: »Wir nehmen eine Flasche von dem Rioja, den ihr hier habt. Den ’93er.« Sie verschwand mit einem Nicken und ließ Margaret und Michael in Ruhe unter den reichhaltigen Vorspeisen wählen: mariniertes Lamm, geröstete Erdnüsse in Chili, Fisch in süßsaurer Soße. Kaum war der Wein gekommen, erhob Michael sein Glas, um mit Margaret anzustoßen. Das flackernde Kerzenlicht brach sich in der Röte des Weins und tanzte in Michaels Augen. »Auf uns«, sagte er feierlich. »Auf uns.« Margaret bemerkte, dass das schlechte Gewissen schon wieder auf irritierende Weise an ihr zu nagen begann. Einen großen Schluck nehmend, beschloss sie, sich diesen Abend nicht von Li ruinieren zu lassen, nachdem er ihr schon den Tag verdorben hatte. Michael sagte: »Eine Sache verstehe ich nicht.« Er verstummte kurz. »Nein, genau genommen sind es zwei.« Er dachte einen Augenblick nach. »Dieser Mann, Vögelchen… wenn es sechs Rotgardisten gab, aber nur drei Morde, wie kann er dann der letzte Überlebende sein?« Margaret lachte. »Da zeigt sich die tägliche Übung. Dir entgeht einfach nichts. Jedes noch so winzige Detail könnte von Bedeutung sein.« »Wie ich dir schon gesagt habe. Archäologie ist praktisch wie Detektivarbeit. Ein langsamer, sorgfältiger Prozess, bei dem in der Vergangenheit gewühlt wird, bis man ein Ereignis nachvollziehen kann oder einen Ort freigelegt hat.« »Du hättest chinesischer Polizist werden sollen. Die sind genauso detailbesessen wie du.« Sie trank einen Schluck Wein. »Ich habe bei meiner Erklärung was übersprungen, Michael. Er ist nicht der einzige Überlebende. Es gibt noch jemanden. Eine Frau, aber die ist
blind. Der noch fehlende Dritte ist damals auf dem Tiananmen-Platz ums Leben gekommen.« Sie nahm sich etwas von dem Fisch. »Das Zeug schmeckt ja hervorragend.« Sie spülte mit Wein nach, bevor sie ihn fragte: »Und was verstehst du außerdem nicht?« Michael stemmte die Ellbogen auf den Tisch und beugte sich zu ihr vor, wobei er ihr beharrlich in die Augen sah. »Wenn es zwischen dir und Kommissar Li aus ist, warum ist er dann auf mich eifersüchtig?« Margaret wünschte von ganzem Herzen, Michael hätte Li nicht schon wieder wie einen Geist aus der Tiefe heraufbeschworen. Auch ohne dass Michael sie ständig an Li erinnerte, fiel es ihr schwer genug, ihn aus ihren Gedanken zu verbannen. Sie seufzte. Aufrichtigkeit schien ihr die beste Strategie zu sein. »Wir haben uns damals getrennt, weil ihm seine Vorgesetzten eingeredet hatten, unsere Beziehung sei…«, sie suchte nach den geeigneten Worten, »… unangemessen für einen chinesischen Polizeibeamten von höherem Rang.« »Mit anderen Worten, es hieß du oder die Karriere.« Sie nickte. »Und er hat sich für die Karriere entschieden.« Sie merkte, dass sie sich über seine Reaktion ärgerte. »So einfach ist die Sache auch wieder nicht, Michael.« Er hob abwehrend die Hände. »Verzeihung. Nichts ist einfach.« »Ich habe den Eindruck«, sagte Margaret, »dass es ihm nicht leicht fällt, mit seiner Entscheidung zu leben.« »Und wie ist das bei dir?« »Es war nicht gerade einfach, das muss ich zugeben. Schließlich hatte ich mir was anderes gewünscht. Aber unsere Affäre ist inzwischen Geschichte. Ich blicke ausschließlich nach vorn.« Er schenkte ihr ein liebevolles Lächeln, streckte die Hand aus und drückte ihre. »Das freut mich.« Die Kellnerinnen kehrten zurück, entzündeten die Paraffinkerzen und füllten die darauf stehenden Töpfe mit kochender, würziger Brühe, die auf dem Tisch vor sich hin blubberte und dampfte. Teller mit rohem Fleisch – mariniertes Lamm, hauchdünn geschnittenes Schweinefleisch, Rindfleischstreifen, eingelegte, ungeschälte Garnelen – wurden zusammen mit Tellern aufgetragen, auf denen sich knackiger grüner Salat türmte. Sie kochten sich alles in der heißen Brühe selbst, Stückchen für Stückchen, und tunkten die fertigen Häppchen anschließend in scharfe Sojasaucen, bevor sie das Aroma in ihrem Gaumen explodieren ließen.
»Es schmeckt fantastisch«, sagte Margaret. »Noch nie habe ich so zartes Fleisch und so leckere Garnelen gegessen.« Dann tat sie es Michael gleich, der auch den grünen Salat in der Brühe kochte. Auf diese Weise wurde der Gaumen beim Wechsel zwischen Fleisch und Fisch wieder neutralisiert. Schon bald war der Wein ausgetrunken, und Michael bestellte eine zweite Flasche. Margaret fühlte sich wohl, sinnlich und satt, und Michael brachte sie mit einer Geschichte über ein Missverständnis während einer Ausgrabung in Ägypten, das groteske Folgen nach sich gezogen hatte, zum Lachen. Nach einer Weile merkte sie, dass sie schon ein bisschen betrunken und Michael still geworden war und sie, das Kinn auf die Hände gestützt, über den Tisch hinweg eindringlich ansah. »Ich weiß, es ist viel zu früh, dir zu sagen, dass ich dich liebe«, sagte er plötzlich. »Aber das ist mir egal.« Genauso plötzlich fühlte sich Margaret stocknüchtern, und ihr Herz pochte wie wild. »Was?« Er zog ein kleines rotes Schmucketui aus der Tasche, klappte es auf und brachte einen Ring aus Rotgold mit einem Solitärdiamanten zum Vorschein. »Hätte man mich vor einer Woche gefragt, hätte ich bestimmt geantwortet, dass ich mir nicht vorstellen kann, jemals zu heiraten. Aber da kannte ich dich noch nicht.« Er verstummte kurz, und sie bemerkte, dass seine Augen feucht waren. »Deshalb wollte ich auch alles über dich und Li wissen. Ich bin verrückt nach dir, Margaret. Ich möchte, dass du mich heiratest.« Verblüfft und schweigend saß sie da und starrte ihn scheinbar eine Ewigkeit einfach nur an. Dann lachte sie ungläubig und schüttelte den Kopf. »Soll das ein Heiratsantrag sein?« »Für mich hat es sich ganz danach angehört.« »Nun gut, dann lautet die Antwort: Nein.« Die Röte schoss ihm ins Gesicht. »Warum?« Sie lachte erneut. »Weil ich dich kaum kenne, Michael. Wir kennen uns erst ein paar Tage.« Er hielt ihrem Blick lange stand, dann lächelte er und ließ das Schächtelchen wieder zuschnappen. »Wieso habe ich nur geahnt, dass du das sagen wirst?« »Weil du weißt, dass es wahr ist.« »Nun, wenn es keine anderen Probleme gibt, dann werden wir dem ohne Schwierigkeiten abhelfen können. Mit ein bisschen Zeit und jeder Menge trauter Zweisamkeit.« Sein Lächeln verblasste, bis
er sie ganz ernst ansah. »Ich meine es ehrlich, Margaret. Noch nie habe ich für jemanden das empfunden, was ich für dich empfinde.« Dann schüttelte er den Kopf und lachte über sich selbst. »Und du gibst mir das Gefühl, ein unbeholfener Schuljunge zu sein, der sich den ersten Korb seines Lebens geholt hat.« »Ach, Michael.« Sie legte die Hand auf seine. »Das geht mir viel zu schnell. Ich brauche Zeit. Um über Li hinwegzukommen. Um mir darüber klar zu werden, was ich für dich empfinde.« Sie schwieg einen Moment. »Die vergangene Nacht war wunderschön. Aber ich muss mir sicher sein, dass es sich nicht darauf beschränkt. Ich habe sieben Jahre meines Lebens weggeworfen, weil ich mit dem falschen Mann verheiratet war. Diesen Fehler möchte ich kein zweites Mal begehen.« Er nickte. »Ich verstehe. Wirklich. Also werde ich den Ring auf Eis legen, und zwar mitsamt meiner Frage. Denn so schnell gebe ich nicht auf, Margaret. So einfach werde ich dich nicht gehen lassen. Wenn du irgendwann endgültig die Tür zur Vergangenheit zuschlagen willst, werde ich da sein und dir dabei helfen.«
10. KAPITEL I Er ließ Xinxin im Jeep warten. Und dann machte sich der chinesische Wachposten in dem Torhäuschen ein Vergnügen daraus, Li seine Macht zu demonstrieren, indem er ihn bis zu Sophies Erscheinen warten ließ. Offiziell war das hier amerikanisches Territorium, und Li hatte keinerlei Amtsgewalt. Es kam nicht oft vor, dass ein einfacher Chinese die Gelegenheit hatte, einem Vorgesetzten ungestraft eine lange Nase zu drehen. Sophie schüttelte Li freundlich die Hand. »Hallo«, sagte sie. »Wir haben uns neulich schon in der Stadt getroffen, in der Zentrale der Kriminalpolizei.« »Ja, gewiss.« Li entging nicht, dass sie ihn mit unverhohlenem Interesse musterte. Zweifellos wusste sie, dass er und Margaret zusammen gewesen waren. Vermutlich wusste das die gesamte Botschaft. Sie führte ihn außen um das Botschaftsgebäude herum und steuerte dann die Kantine an. »Sind Sie schon lange hier?«, wollte er wissen. »Nicht besonders lange. Gerade mal einen Monat.« »Wie gut sprechen Sie Mandarin?«, fragte er sie auf Mandarin. Sie lächelte. »Ich bin Vietnamesin. Aber Vietnamesisch spreche ich auch nicht besonders gut.« Li sah sie prüfend an. »Wie lange haben Sie in Amerika gelebt?« »Ich bin dort geboren und aufgewachsen. Sie glauben doch nicht, dass man mich andernfalls zum stellvertretenden RSO in einer Auslandsvertretung ernannt hätte, oder?« Er lächelte. »Wohl kaum.« Dakers erwartete sie an einem Tisch in der Kantine. Rundum drängten sich die Botschaftsangehörigen, die beim Frühstück kräftig zulangten und in Sirup getränkte Waffeln und Pfannkuchen mit
starkem schwarzem Kaffee hinunterspülten. Dakers stand auf und reichte Li förmlich die Hand. »Mr. Li«, sagte er. »Freut mich, Sie wieder zu sehen. Möchten Sie Kaffee?« Li schüttelte den Kopf. »Setzen Sie sich doch. Was kann ich für Sie tun?« Li sagte bedächtig: »Ich möchte Sie um Erlaubnis bitten, ein paar Angehörige Ihrer Botschaft befragen zu dürfen, wo Michael Zimmerman sich vergangenen Montagabend aufgehalten hat.« Sophies Gesicht lief rot an. »Warum wollen Sie das wissen?« Li lächelte und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Nichts von Bedeutung. Reine Routine. Wir ermitteln nur, wo sich jeder, der Yuan kannte, in der Nacht seines Ablebens aufgehalten hat.« »Es ist wohl kaum reine Routine, wenn der stellvertretende Sektionsvorsteher persönlich erscheint, um diese Fragen zu stellen«, erwiderte Dakers. Li grinste ihn an. »Und ich werde wohl kaum einen einfachen Beamten schicken, um mit dem Regional Security Officer der amerikanischen Botschaft zu sprechen.« Dakers nickte zufrieden. »Das leuchtet mir ein.« Er überlegte einen Augenblick. »Ich denke, ich habe keine Einwände. Wie steht es mit Ihnen, Sophie?« Sie zuckte mit den Achseln. »Absolut keine. Nur können Sie Ihre Befragung auf die hier Anwesenden beschränken. Ich kann Ihnen ganz genau sagen, wo Michael sich am Montagabend aufgehalten hat – zumindest bis gegen zwei Uhr morgens.« »Dann waren Sie also auch auf dieser Party?«, fragte Li. »Sicher«, erwiderte sie. »Ich selbst habe ihn an diesem Abend mit Dr. Campbell bekannt gemacht.« Li warf ihr einen Blick zu und fragte sich, ob ihr bewusst war, was sie da sagte, ob sie mit voller Absicht Salz in seine Wunden streute. Falls dem so war, verriet ihre Miene jedenfalls nicht das Geringste. »Und nach der Party…?« »Sind wir mit einer Hand voll Leute weiter in die Mexican Wave Bar gezogen.« Sie wandte sich an Dakers. »Sie kennen das Lokal, Jon… wo sich die Hash House Harriers immer treffen.« Dakers nickte. »Klar.« »Und Zimmerman brach um zwei Uhr von dort auf?« »Nein, ich bin um zwei gegangen. Ich habe keine Ahnung, wie lange er noch geblieben ist.«
II Beschwingten Schrittes spazierte Margaret an den verdrossenen Wachleuten am Hoteleingang vorbei und wanderte durch die Reihen der Pelzhändler hinunter zur Ritan-Gasse. Die Händler wirkten nicht fröhlicher als sonst. Die Geschäfte waren keinesfalls besser geworden. Michael war in aller Frühe aufgebrochen, noch vor sechs Uhr, um zum Drehort hinauszufahren, und hatte ihr seinen Duft und seine Wärme im Bett hinterlassen. Eine ganze Weile war sie genüsslich liegen geblieben und hatte darüber nachgedacht, was sie eigentlich wirklich für ihn empfand. Jedenfalls war sie süchtig nach ihm und verzehrte sich danach, ständig mit ihm zusammen zu sein. Eindeutige Anzeichen für einen Anfall von Vernarrtheit. Er war gut aussehend, intelligent und ein wunderbar einfühlsamer Liebhaber. Und er war ein einzigartiger Archäologe, der es ausgezeichnet verstand, mit Menschen umzugehen. Sie erinnerte sich an den Abend im Teesalon Sanwei, als er sich der Band angeschlossen hatte, um AltSaxophon zu spielen. So viel Talent war ungewöhnlich. Und sexy. Lediglich ihre immer noch nicht erkalteten Gefühle für Li trübten ihre Empfindungen für Michael. Je mehr Abstand sie von Li gewann, da war sie sich ganz sicher, desto klarer würde sie sich über ihre Gefühle für Michael werden. Sie musste ein für alle Mal mit Li brechen. Das Tuten einer Autohupe schreckte sie auf, als sie, ohne sich umzusehen, vom Trottoir auf die Straße trat. Sie fuhr herum und starrte auf den Jeep, der direkt vor ihr zum Stehen gekommen war. Li grinste sie vom Fahrersitz aus an, und Xinxin winkte ihr vom Rücksitz aus hektisch zu. Er beugte sich hinüber und stieß die Beifahrertür auf. Sie stapfte vorn um den Wagen herum und kletterte ärgerlich hinein. »Was war das denn, ein Mordversuch?« »Eigentlich«, erwiderte Li, »wollte ich nur nicht, dass du mir eine Beule in den Kotflügel rennst.« Noch während sie ihm eine Grimasse schnitt, bemerkte sie, dass Xinxin von hinten an ihr zupfte und dabei gebetsmühlenartig einen
Satz wiederholte. Als sie sich umdrehte, drückte Xinxin ihr einen dicken Schmatz auf die Lippen und begann dann hysterisch zu kichern. Margaret lachte. »Was sagt sie?« »Hallo, Tantchen Margaret«, übersetzte Li schmunzelnd. »Ach du liebe Güte«, stöhnte Margaret. »Das klingt, als wäre ich eine alte Jungfer.« »Sie war heute Morgen zutiefst enttäuscht, dass du nicht mehr da warst, als sie aufwachte.« Margarets Lächeln verschwand. »Nun, du hast ihr hoffentlich klargemacht, dass sie nicht mehr lange mit mir rechnen kann. Sie hat schon so oft jemanden verloren, da sollte man keine allzu große Erwartungen an irgendjemand anderen heraufbeschwören.« Xinxin hüpfte hinten zwischen den beiden Sitzen herum und schleuderte ihre Zöpfchen von einer Seite zur anderen. Li fädelte sich wieder in den fließenden Verkehr ein, ohne sich um die aufgebrachten Hupproteste zu kümmern, und sagte: »Ich bin unterwegs zur archäologischen Abteilung der Universität. Ich dachte, du würdest vielleicht mitkommen wollen.« Margaret sah ihn misstrauisch an. »Was sollen wir denn da?« »Ich wollte mich dort nach Zimmerman erkundigen.« Margaret explodierte augenblicklich. »Herr im Himmel, Li Yan, du kannst es einfach nicht gut sein lassen, wie?« Der unvermittelte Zornesausbruch ließ Xinxin erstarren. Li blieb gelassen. »Zimmerman hat behauptet, er hätte an der Fakultät erfahren, was Professor Yue zugestoßen war. Ich will einfach nur herausfinden, wie viele Leute darüber Bescheid wussten. Sein Alibi für Montagnacht habe ich bereits überprüft. Nach dem Empfang beim Botschafter war er im Mexican Wave, genau wie er gesagt hat.« »Du bist so ein Riesenarschloch«, ließ sie ihn wissen. »Das ist absolut unfair. Michael hat überhaupt nichts getan. Alle mögen ihn. Da kannst du jeden fragen, der ihn kennt. Niemand wird irgendwas Schlechtes über ihn sagen. Alle werden dir bestätigen, was für ein netter Kerl er ist. Du kannst ihm doch nicht derart zusetzen, nur weil du eifersüchtig auf ihn bist.« »Ich bin nicht eifersüchtig«, widersprach Li gleichgültig. »Von wegen!« »Onkel Li, warum ist Tantchen Margaret böse?«, fragte Xinxin ängstlich vom Rücksitz aus. »Sie ist nicht böse auf uns, Liebling, es hat was mit der Arbeit zu
tun«, erklärte ihr Li. »Was hast du zu ihr gesagt?«, fragte Margaret argwöhnisch. »Ich habe ihr nur gesagt, sie soll sich nichts dabei denken, wenn du mich so anschreist. Dass Amerikaner grundsätzlich schlecht gelaunt sind.« »Mein Gott!«, zischte Margaret. »Weißt du«, fuhr Li fort, »ich knüpfe nur ein paar lose Fäden zu einer Schnur zusammen. Bei unseren Ermittlungen folgen wir dieser Schnur, bis wir in eine Sackgasse geraten. Dann geht es in eine andere Richtung weiter.« Allerdings war er sich keineswegs sicher, ob er diesen speziellen Ermittlungsfaden so hartnäckig verfolgen würde, wenn da nicht Margarets Beziehung zu Zimmerman wäre. »Meinetwegen brauchst du nicht unbedingt mitzukommen. Dann setze ich dich eben an der Botschaft ab.« »O nein, das wirst du nicht tun. Ich komme mit, und sei es nur, um sicherzustellen, dass du Michael nicht noch mehr Unannehmlichkeiten bereitest.« Sie merkte, wie Xinxin an ihrem Ärmel zupfte. Sie wandte sich um und sah sich dem ernsten kleinen Kind gegenüber, das sie mit offenem Blick, aber ungewohnt schüchtern ansprach. Li übersetzte: »Sie will wissen, ob du jetzt nicht mehr böse bist.« Einen Moment lang kniff sie noch zornig die Lippen zusammen, doch dann brachten Xinxins große Augen, die sie unschuldig unter der gerunzelten Stirn anstarrten, sie zum Lächeln. Sie seufzte. »Sag ihr, dass ich nicht mehr böse bin. Sag ihr, dass ich auf sie überhaupt nicht böse gewesen bin. Und richte ihr aus, dass ich ihrem Onkel, wenn er sich noch einmal sein professionelles Urteilsvermögen durch seine persönlichen Gefühle trüben lässt, schon wieder eine runterhauen müsste.« Li sprach mit Xinxin, die zufrieden mit dem kleinen Kopf nickte. »Was hast du ihr gesagt?«, erkundigte sich Margaret. Allmählich ging es ihr auf die Nerven, immer auf die Gnade eines Dolmetschers angewiesen zu sein. »Dass es dir wirklich Leid täte und dass du nie wieder so mit Onkel Yan schimpfen würdest«, erwiderte er. Margaret kniff die Augen zusammen, und Li grinste. »War nur ein Scherz«, schob er rasch nach. Sie fuhren nach Norden, durchquerten dabei die Bezirke Chaoyangmen und Dongcheng und nahmen dann Kurs auf die dritte
Ringstraße. Auf dem Rücksitz sang Xinxin ihrem Panda Kinderlieder vor. »Was hast du eigentlich gemeint, als du gestern Abend vom ›Kleinen-Kaiser-Syndrom‹ gesprochen hast?«, fragte Margaret plötzlich. Li lächelte betrübt. »Das ist eine der sozialen Folgen der EinKind-Politik.« Er dachte kurz nach. »Früher ruhte die chinesische Gesellschaft auf den Säulen von Familie und Gemeinschaft, das heißt, der Einzelne trug stets Verantwortung für die anderen. Doch seit die meisten Familien nur noch ein Kind haben, werden die Kinder verhätschelt und verwöhnt und denken nur noch an sich selbst. Sie werden zu kleinen Kaisern. In China liegt die Zukunft in der Hand selbstsüchtiger und egoistischer Individuen. Genau wie in Amerika.« »Vielleicht folgt ihr ja nur dem Rest der Welt ins einundzwanzigste Jahrhundert«, bemerkte Margaret. »Und ersetzen eine fünftausendjährige Geschichte und Kultur durch Hotdogs und Hamburger?« Margaret war es leid, sich über Chinas Geschichte und Kultur belehren zu lassen. Sogar von Michael musste sie sich ständig Vorträge anhören. »Nun, vielleicht ist es höchste Zeit, dass ihr anfangt, die Zukunft zu gestalten, statt immer nur in der Vergangenheit zu leben«, erklärte sie. »Gut möglich, dass Amerika genau darum zur mächtigsten Nation der Erde aufgestiegen ist. Weil wir nicht durch fünftausend Jahre alte Traditionen gefesselt waren. Wir haben einfach nach vorn geschaut und unsere Traditionen so entwickelt, wie wir sie brauchen.« »Und wenn ihr einmal nicht mehr weiterwisst, habt ihr keine Geschichte, von der ihr lernen könntet. Es ist euch nicht möglich, Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen.« »Mein Geschichtslehrer pflegte immer zu sagen, das Einzige, was man aus der Geschichte lernen kann, ist, dass man nicht aus ihr lernen kann«, erwiderte Margaret. »Natürlich war dein Geschichtslehrer Amerikaner.« Margaret sah ihn triumphierend an. »Weit gefehlt, er war Chinese.« Li warf ihr einen Blick zu. »Ein chinesischer Amerikaner.« Sie starrte ihn finster an. »Du musst immer das letzte Wort haben, nicht wahr?« Er zuckte mit den Achseln. »Meistens schon.«
Das Westtor der Universität Peking war eines jener traditionellen chinesischen Tore mit einem geschwungenen, auf einem wunderschön bemalten Querträger ruhenden Ziegeldach sowie rostroten Stützpfeilern. Li parkte den Jeep draußen im Schatten der Alleebäume und zeigte dem Sicherheitsmann am Tor seinen Polizeiausweis, woraufhin sie durchgewunken wurden, vorbei an den steinernen Löwen, die zur Linken wie zur Rechten des Portals Wache hielten. Die kleine Xinxin trabte neben Margaret her, ihre Hand so fest umklammernd, als fürchte sie um ihr Leben. Hinter den grauen Mauern lag der Campus in fast klösterlicher Abgeschiedenheit inmitten schön gestalteter Gärten und ruhiger Seen, scheinbar eine Million Lichtjahre weit entfernt von dem hektischen Getriebe und dem Lärm der Stadt. Studenten und Dozenten spazierten oder radelten die baumbestandenen Pfade entlang, die sich durch die üppigen Gärten schlängelten, und uralte Brücken wölbten sich über grüne, von Blumen gesäumte und mit Wasserlilien gesprenkelte Wasserläufe. An verschiedenen Stellen hatte man kleine Pavillons mit Sitzgelegenheiten errichtet, wo Erstsemester über ihren Lehrbüchern brüteten, Zeitung lasen oder einfach nur rauchend dasaßen und in aller Ruhe über Gott und die Welt nachdachten. Die Fakultäten waren in großen weißen Pavillons mit kastanienbraunen Fenstern untergebracht, wo unter elegant geschwungenen Dächern hohe Säulen aufragten. Margaret war hingerissen. »Was für ein wunderschöner Ort zum Studieren«, sagte sie. »Es ist so friedlich hier. So… chinesisch.« »Um ehrlich zu sein«, entgegnete Li, »ist es so… amerikanisch.« Sie sah ihn stirnrunzelnd an. »Wie meinst du das?« »Hier befand sich früher die Yengching-Universität der amerikanischen Methodisten. Die Universität Peking ist erst im Jahre 1952 hier eingezogen. All diese ›wunderschönen‹ Säle und Pavillons wurden von den Methodisten gebaut; ein amerikanischer Architekt hatte sie im chinesischen Stil entworfen. Möglicherweise waren die Amerikaner damals noch der Auffassung, sie könnten was von uns lernen.« Die archäologische Fakultät befand sich in einem langen einstöckigen Pavillon hinter einer frisch gemähten Rasenfläche, deren üppiges Grün von regelmäßiger Bewässerung kündete. Das Erdgeschoss war in das »Arthur-M.-Sackler-Museum für Kunst und
Archäologie« umgewandelt worden. Die Verwaltung und die Hörsäle waren im ersten Stock angesiedelt. Li führte sie zum Haupteingang hinein, und dort sahen sie sich den lebensgroßen Nachbildungen zweier Terrakottakrieger gegenüber, die jenseits des glänzenden Marmorfußbodens am anderen Eingang Wache hielten. Margaret stutzte kurz und fühlte sich unvermittelt zurückversetzt in den Ausgrabungsschacht bei Xi’an, wo sie behutsam die Erdschichten abgetragen hatte, um ein aus Ton gebranntes Gesicht freizulegen, das seit mehr als zweitausend Jahren kein menschliches Auge mehr erblickt hatte. Ein kahlköpfiger Hausmeister mit runzligem Gesicht erklärte ihnen, dass sie das Gebäude durch einen Seiteneingang betreten und die Treppe hinauflaufen müssten, um zum Dekan der Fakultät zu gelangen. »Professor Chang ist gerade nicht da«, bekamen sie in den Büroräumen kurz angebunden von einem übereifrigen jungen Mann in weißem Hemd und schwarzer Hose zu hören. Er hatte einen dichten schwarzen Haarschopf und Schmutz unter den Fingernägeln, und er war ganz offensichtlich mehr am Inhalt eines Aktenschrankes interessiert als an den drei Besuchern. »Möchten Sie mir vielleicht erklären, wo wir ihn finden können?«, fragte Li. »Eigentlich nicht. Sie sehen doch, dass ich zu tun habe.« Der junge Mann war sichtlich ungehalten über die Störung. Li zückte seinen Dienstausweis und streckte ihn vor. »Wie heißen Sie?« Der junge Mann drehte sich um, warf einen Blick auf den Ausweis und verzog das Gesicht. Mit ängstlichen Karnickelaugen schaute er zu Li auf. »Es tut mir Leid, Herr Kommissar, ich…« »Wie heißen Sie?«, wiederholte Li unbeeindruckt. »Wang Jiahong.« »Was machen Sie hier?« »Ich arbeite als Laborassistent drüben im Kunstbau.« »Sprechen Sie mit allen Besuchern so wie mit uns eben?« »Nein, Herr Kommissar.« »Freut mich zu hören. Also, würden Sie mir nun gütigerweise mitteilen, wo wir Professor Chang finden können?« »Er ist im Konservierungslabor.« »Wo ist das?« »Im Kunstbau. Da sind alle unsere Labors.« Er gab sich alle Mühe, seinen Fauxpas von vorhin wieder gutzumachen. »Wenn Sie
möchten, bringe ich Sie hin.« Der Kunstbau gegenüber der biologischen Fakultät war älter und wirkte weit weniger glanzvoll, hier wurden die staubgrauen Ziegel von Fenstern mit abblätternden Rahmen durchbrochen. Auf dem Vorplatz waren die Fahrräder der Studenten zu dutzenden abgestellt. Drinnen war alles farblos und schmuddelig, und Margaret wehte eine Schwade von abgestandenem Urin in die Nase, die durch die offen stehenden Toilettentüren herüberzog. Am Ende des Ganges lauschten in einem Vorlesungssaal Studenten konzentriert den Worten einer Dozentin. Wang Jiahong öffnete eine unbeschriftete Tür, führte sie ins Konservierungslabor, zog sich dann sofort zurück und ließ sie mit Professor Chang allein. Das Labor war ein großer, unaufgeräumter Raum mit Bücherregalen und Holzschränken an allen Wänden sowie einer riesigen hölzernen Werkbank in der Mitte. Die Arbeitsfläche war übersät mit Tonstücken und -scherben, einer unüberschaubaren Vielzahl achtlos hingeworfener Werkzeuge und Reinigungsmittel sowie mehreren Waffen – zwei Dolchen und einem fest zwischen die Backen einer Schraubzwinge geklemmten Bronzeschwert. Auf dem Fußboden mischten sich Holzspäne und -staub mit den Splittern zerbrochener Keramik. Die grün gestrichenen Wände waren abgeblättert und mit bis zu fünfzig Jahre alten Plakaten, Karten und Mitteilungen voll gepflastert. Durch die Lamellen der Jalousien zwängte sich trübes Tageslicht herein. Professor Chang war gerade mit dem Bronzeschwert beschäftigt, wo er geduldig Schicht um Schicht jener Patina entfernte, die sich im Lauf der Jahrhunderte angesammelt hatte. Er trug eine schmutzige Schürze und Gummihandschuhe und schwenkte bei ihrem Eintritt die Hand in einer fahrigen Geste durch den Raum. »Verzeihen Sie die Unordnung«, sagte er auf Englisch, nachdem Li sich und Margaret vorgestellt hatte. Er blickte Margaret über die halbmondförmigen Brillengläser hinweg an. »Hier drin restaurieren wir seit Jahrzehnten die antiken Schätze Chinas. Irgendwie haben wir es dabei anscheinend nie für nötig gehalten, unseren Müll wegzuräumen.« Xinxin machte einen Erkundungsrundgang. Li fragte: »Haben Sie viele Mitarbeiter in Ihrer Fakultät?« »Zweihundert Studenten, siebenundsechzig Dozenten, zwölf ordentliche und neunzehn außerordentliche Professoren«, sagte Professor Chang.
»Und wie viele davon haben schätzungsweise gewusst, wie Professor Yue starb?« Der Professor schabte mit äußerster Konzentration an der Patina herum. »Ach, vermutlich alle«, antwortete er. Aus dem Augenwinkel registrierte Li, wie Margarets Kopf zu ihm herumfuhr. Ohne dass sie einen Ton gesagt hätte, konnte er sie triumphieren hören: Zufrieden? Er fuhr fort: »Ich dachte, man hätte nur einige leitende Mitarbeiter der Fakultät in die Einzelheiten eingeweiht.« Chang sah zu ihm auf. »Das stimmt natürlich. Aber Sie wissen selbst, wie die Menschen sind. Es war ein Skandal, eine Schauergeschichte. So etwas verschlingen die Leute geradezu. Archäologen bilden da keine Ausnahme. Innerhalb weniger Stunden hatte sich die Sache in der gesamten Fakultät herumgesprochen. Wahrscheinlich sogar an der ganzen Universität.« Li hob einen der Dolche hoch und untersuchte ihn, um Margaret nicht ansehen zu müssen. »Kennen Sie den amerikanischen Archäologen Michael Zimmerman?«, fragte er. Professor Chang legte sein Werkzeug weg und rückte seine Brille zurecht. »Was hat der denn damit zu tun?« »Nichts«, sagte Li. »Ich habe mich nur eben gefragt, ob Sie ihn wohl kennen.« »O ja, natürlich kenne ich ihn«, erwiderte der Professor. Er nahm Li den Dolch aus der Hand und legte ihn zurück auf den Tisch. »Er war oft bei uns, als er für seine Dokumentation über Hu Bo recherchiert hat. Yue war Hus Protegé gewesen. Damals haben Yue und Zimmerman sich angefreundet.« Irgendetwas an seinem Tonfall ließ Li aufhorchen. »Das hört sich so an, als wären Sie nicht begeistert darüber gewesen.« »Ich kann Michael Zimmerman nicht leiden«, sagte Professor Chang unverblümt, und Margaret merkte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss, bis sie brannten, als hätte man ihr eine Ohrfeige gegeben. Li warf ihr einen Seitenblick zu. »Und warum nicht?«, wollte er von Chang wissen. »Weil er bei all seinem aufgesetzten Charme im Grunde ein Getriebener ist, Herr stellvertretender Sektionsvorsteher. Ich weiß nicht genau, was ihn umtreibt. Ehrgeiz. Gier. Jedenfalls nutzt er die Menschen aus und benutzt sie für seine Zwecke.«
»Hat er das auch mit Professor Yue getan?« »Ich weiß es nicht.« Der Professor dachte einen Augenblick nach. »Jedenfalls schien er Yue mehr und mehr in seinen Bann zu ziehen. Sie wurden sehr vertraut miteinander. Zu vertraut. Mir erschien das gefährlich.« Auf dem Trottoir in der Haidan-Straße türmten sich bunt bedruckte Schachteln mit Computern und Druckern, Scannern und Modems, Bildschirmen und Festplatten. Auf allen Läden prangten Namen wie IBM, Microsoft, Apple oder Pentium. Hier befand sich das Silicon Valley von Peking, hier gab es geballte Rechenkraft zu kaufen: Mikrochips, Software und alle nur erdenklichen Zusatzgeräte. Im Gegensatz zum russisch orientierten Pelzhandel florierten hier die Geschäfte. Die Läden waren gerammelt voll, und der Verkehr war vollständig zum Erliegen gekommen. Ohne ein Wort miteinander zu wechseln, hatten sie die Universität verlassen und saßen jetzt im Stau auf der Haidan-Straße fest. Li blickte zu Margaret hinüber. Ihre Wangen waren noch immer knallrot, und sie starrte stur geradeaus. Glücklicherweise war Xinxin auf dem Rücksitz in ein kompliziertes Fantasiespiel mit ihrem Panda vertieft. Schließlich sagte Li: »Ich dachte, niemand würde schlecht über ihn reden. Sagtest du nicht, jeder würde mir versichern, was für ein netter Kerl er ist?« Margaret wurde nicht gern an ihre Worte erinnert. Als sie sich umwandte und Li anblickte, lag in ihren Augen beinahe so etwas wie Abscheu. »Die Meinung eines Einzelnen, nichts weiter.« Nie im Leben hätte sie Li gegenüber zugegeben, wie geschockt sie über diese Meinung gewesen war. Professor Chang hatte nicht den Michael beschrieben, den sie kannte. Es war, als hätte er über einen Fremden gesprochen. Dennoch hatten seine Worte sie verletzt. »Alle lieben ihn, das hast du gesagt. Ich könnte mit jedem reden, der ihn kennt. Nun, das haben wir getan.« Sie schüttelte den Kopf. »Du bist Mitleid erregend, ist dir das klar? Was wolltest du wirklich an der Universität? Herausfinden, ob man dort über Professor Yues Ableben Bescheid wusste. Und was hast du herausgefunden? Dass alle Bescheid gewusst haben. Folglich hatte natürlich auch Michael davon gehört. Aber warst du damit zufrieden? O nein. Denn da gibt es jemanden, der ihn nicht mag.
Und wenn schon, verfluchte Scheiße! Wenn wir heute überhaupt irgendwas herausgefunden haben, dann dass du ein erbärmlicher, eifersüchtiger Idiot bist.« Xinxin hatte den Panda fallen gelassen und starrte Margaret mit weit aufgerissenen Augen an. »Scheiße«, rief sie, Margaret nachäffend. »Scheiße, Scheiße!« Li blickte Margaret finster an. »Vielen Dank«, sagte er. »Du hast meiner Nichte eben ihr erstes englisches Wort beigebracht.« Der Polizeifunk knisterte, und gleich darauf hörte Li sein Rufsignal. Wütend zerrte er das Sprechgerät vom Haken. Sie drehte sich um, starrte aus dem Fenster in die Ferne und kämpfte damit, die Tränen zurückzuhalten. Sie würde auf gar keinen Fall weinen. Zumindest nicht in Lis Gegenwart. Es war ihr unbegreiflich, wie jemand eine so schlechte Meinung von Michael haben konnte. War sie etwa blind? Waren alle seine Freunde und Kollegen ebenfalls blind? Natürlich war dem nicht so. Dies war lediglich die Ansicht eines verschrobenen Einzelgängers, sagte sie sich. Wer konnte schon wissen, was da für eine Geschichte dahinter steckte. Sie hörte, wie Li sein Gespräch beendete. »Das war Kommissar Sang«, sagte er ruhig. Sie wandte sich wieder um und schaute ihn trotzig an. »Anscheinend ist Vögelchens Alibi geplatzt. In der Nacht, in der Yuan ermordet wurde, hat er nicht in Xidan Dame gespielt. Beim Staatsanwalt wird gerade ein Haftbefehl gegen ihn beantragt.«
III Ohne die Geschöpfe, denen er seinen Spitznamen verdankte, war Vögelchen vollkommen verloren. Er wirkte nackt und verwundbar ohne die Gesellschaft seiner gefiederten Freunde. Warum, war schwer zu beschreiben, aber der Mann, der vor ihnen saß, kam ihnen vor wie eine Hülle, leer und substanzlos. Beinahe, ging es Li durch den Kopf, wie ein Mensch, der seine Seele verloren hatte. Mit hängenden Schultern, die Hände im Schoß schlaff übereinander gelegt, kauerte er auf der Stuhlkante und fixierte sie aus dunklen, furchtsamen Augen. Sein Antlitz war durchfurcht von den Spuren
der Tränen, die er vergossen hatte, weil man ihm nicht erlaubt hatte, seine Vögel mitzunehmen. Der zerknitterte blaue Mao-Anzug war verdreckt und eigentlich zu groß für seine verhärmte Gestalt. Im Raum war es warm und stickig, die Einrichtung war spartanisch; die Farbe blätterte von den nackten, cremefarbenen, vernarbten Wänden, in denen sich die Namen und Gedanken tausender von Menschen eingeprägt hatten, von Schuldigen wie Unschuldigen, die an diesem Ort endlose Verhöre hatten durchstehen müssen. Durch einen Fensterschlitz oben an der Rückwand fielen ein paar Sonnenstrahlen herein und tauchten die Seitenwand in ein verwaschenes Gelb. In ihrem Licht hingen ein paar langsam dahinschwebende Rauchkringel. Die Stille im Raum wurde noch unterstrichen von dem Summen und Surren des Kassettenrekorders auf dem Tisch. Von draußen war das ferne Brummen des Verkehrs auf der Dongzhimenei-Straße zu hören, durchbrochen von dem näheren und grotesk unschuldig wirkenden Lärmen der im Hutong spielenden Kinder. Schweißtropfen rannen von Kommissar Sangs Stirn. Angespannt und ernst beugte er sich vor. Er hatte es kaum erwarten können, das Verhör gemeinsam mit Li durchzuführen, vor allem, nachdem Li ihm die Leitung überlassen hatte, da der Hauptkommissar möglichst unvoreingenommen und objektiv bleiben wollte. Sang war beides nicht. Er nahm kein Blatt vor den Mund und reagierte aggressiv auf Vögelchens offenkundige Verwirrung darüber, wo er sich nun tatsächlich am vergangenen Montagabend aufgehalten hatte. Er sei sich ganz sicher, erklärte Vögelchen, dass er mit Mond Dame gespielt habe; wenn jener allerdings versichern würde, dass das nicht stimme, dann müsse er wohl etwas anderes unternommen haben. Er könne sich leider nur nicht entsinnen, was das gewesen war. Normalerweise bliebe er abends allein daheim. Manchmal würde er fernsehen, aber er könne sich beim besten Willen nicht erinnern, ob dies am letzten Montagabend der Fall gewesen war, und falls ja, was er dann gesehen hatte. Gewöhnlich würde er früh zu Bett gehen, nämlich sobald seine Vögel den Kopf unter das Gefieder steckten. Er sei Frühaufsteher. Er mache immer erst einen Abstecher in den Park, bevor er auf den Vogelmarkt gehe. »Also gut«, sagte Sang schließlich. »Sie geben also zu, dass Sie kein Alibi haben?« Vögelchen schüttelte niedergeschlagen den Kopf. »Aber ich brauche auch kein Alibi. Ich habe nicht das Geringste verbrochen.«
»Wollen Sie damit behaupten, dass Sie nichts von den Morden wussten?« »Nein. Das habe ich Ihnen doch schon gesagt. Ich habe mit Bettelmaus darüber geredet.« »Sie geben also zu, gewusst zu haben, dass drei ehemalige Mitglieder der Brigade ›Revolution bis zum Endsieg‹ ermordet worden waren?« »Ich habe Ihnen schon gesagt, dass wir davon gehört hatten.« »Und hatten Sie auch gehört, aufweiche Weise sie ermordet wurden?« Vögelchen zuckte zusammen. »Wir haben mitbekommen, dass sie… hingerichtet worden sind.« »Was meinen Sie mit ›hingerichtet‹?« »Dass…«, er rutschte unruhig auf dem Stuhl hin und her, »… dass ihnen die Köpfe abgeschlagen worden sind.« »Wer hat Ihnen das erzählt?« Vögelchen zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung. Man hat es einfach erzählt.« »Wer ist man?«, hakte Sang nach. »Eine Frau in Nulls Fabrik.« »Sie meinen Bai Qiyu?« »Ja.« »Was für eine Frau?« »Das weiß ich nicht. Vielleicht war es die Kollegin, die ihn gefunden hat. Bettelmaus müsste das wissen. Sie weiß mehr über diese Sachen als ich. Sie spricht mit den Leuten, sie hört so manches.« »Also haben Sie und Bettelmaus angenommen, dass jemand alle Mitglieder der Brigade ›Revolution bis zum Endsieg‹ umbringen wollte und dass Sie beide früher oder später an die Reihe kommen würden?« »Bettelmaus hat das jedenfalls gedacht.« »Hat Bettelmaus schon immer das Denken für Sie übernommen?« Sang lehnte sich zurück. »War es also ihre Idee, Yuan Tao umzubringen, bevor er Sie beide töten würde?« Vögelchen schaukelte langsam auf seinem Stuhl vor und zurück. Inzwischen lagen seine Hände nicht mehr untätig im Schoß. Er hatte sie heftig knetend ineinander verschlungen. »Wir haben Hase nicht umgebracht!« Er schrie es in tränenüberströmtem Trotz heraus. »Wir wussten doch gar nicht, dass
er in Peking war. Das ist uns gar nicht in den Sinn gekommen.« »Es hat keinen Zweck, uns anzulügen, Vögelchen«, erwiderte Sang. »Irgendwann kriegen wir die Wahrheit sowieso raus.« Doch Vögelchen starrte ihn nur wortlos an. »Wie haben Sie erfahren, dass Hase wieder in Peking war? Hat ihn jemand zufällig getroffen? Oder hat er vielleicht Kontakt mit Ihnen aufgenommen? Mit seinen anderen Opfern muss er ja auch irgendwelche Verabredungen getroffen haben. War es so? Kam er auf den Vogelmarkt, und Sie haben sich irgendwo verabredet?« »Nein!« »Was hat er gesagt? Dass er Sie treffen möchte, um mit Ihnen darüber zu sprechen, was damals in den Sechzigerjahren passiert ist? Dass es zu spät sei für irgendwelche Beschuldigungen, dass er aber erfahren wolle, wie alles passieren konnte? Dass er es einfach verstehen wolle? Meinen Sie, so was könnte er zu den anderen gesagt haben? Meinen Sie, deshalb könnten sich die Übrigen mit ihm getroffen haben? Weil sie sich immer noch schuldig gefühlt haben? Selbst nach dreißig Jahren?« »Ich habe keine Ahnung«, protestierte Vögelchen. »Woher soll ich denn wissen, was er zu denen gesagt hat?« Doch Sang war nicht mehr zu bremsen. Dies war seine Chance, Li zu beeindrucken, und er packte sie beim Schopf. »Bestimmt hatten Sie Todesangst, Vögelchen. Sie müssen gewusst haben, dass er Sie ebenfalls töten würde.« »Nein!« »Was haben Sie gemacht? Haben Sie ihn verfolgt? Haben Sie so von seiner Wohnung in der Tuan-Jie-Hu-Straße erfahren?« »Was für eine Wohnung?« »Ich tippe mal, dass Sie in der fraglichen Nacht dort eingedrungen sind und auf ihn gewartet haben. Woher wussten Sie, dass Sie unter den Dielenbrettern nachschauen mussten?« Sang überrollte Vögelchens stotternde Proteste, er wisse von nichts. Stattdessen verstärkte er den Druck noch. »Bestimmt hielten Sie es für eine Ironie des Schicksals, dass Sie das Schwert dort fanden. Das war die Gelegenheit, ihn mit seiner eigenen Waffe zu töten, und zwar genau so, wie er die anderen ins Jenseits befördert hatte und wie er auch Sie ins Jenseits zu befördern gedachte.« »Nein… nein…!« Doch Vögelchens Dementis wurden immer schwächer, und seine Augen füllten sich zum wiederholten Mal mit Tränen.
»Was haben Sie unter den Dielenbrettern sonst noch gefunden? Die Todesliste vielleicht? Die Seidenschnur, mit der Sie seine Handgelenke fesseln konnten, genau wie es mit Ihren geschehen sollte? Was hat er Ihnen gesagt, als Sie ihn zur Rede gestellt haben? Hat er alles zugegeben?« Sang beugte sich wieder vor und redete beinahe nachsichtig auf Vögelchen ein. »Warum haben Sie ihn getötet, Vögelchen? Sie hätten doch einfach nur zur Polizei zu gehen brauchen. Was war geschehen? War es die Wut? Hat er Ihnen ins Gesicht gespuckt? Oder war es Ihr schlechtes Gewissen? Hatten Sie keine andere Möglichkeit, die Gespenster der Vergangenheit loszuwerden? Diesen grauenhaften Tag im Frühjahr 1967, Sie erinnern sich doch? Damals, als Sie Yuans Vater auf dem Schulhof gedemütigt, geschlagen und schließlich zu Tode gequält haben, und das vor aller Augen, vor den Augen seiner eigenen Frau? Einen herzkranken alten Mann? Sie müssen damals ja mächtig stolz auf sich gewesen sein.« Vögelchen hatte aufgehört, seine Hände zu kneten. Inzwischen hingen sie schlaff an den Seiten herunter, während er nervös hin und her rutschte und hemmungslos schluchzte, bis Li glaubte, er würde ersticken. Er starrte seine Peiniger an, ohne sie zu sehen, und die Reuetränen flossen in Sturzbächen über sein Gesicht. »Mussten Sie deshalb auch Hase umbringen? Haben Sie ihn deshalb in die Knie gezwungen, mit dem Schwert über ihm ausgeholt und ihm mit einem einzigen Schlag den Kopf abgetrennt?« Vögelchen stieß ein tierisch klingendes Heulen aus, ein tiefes, kehliges Jaulen, das von seinem Zwerchfell aufstieg und den Polizisten einen Schauer über den Rücken jagte. »Ich habe das doch nicht gewollt«, schrie er. Li und Sang tauschten einen Blick. »Was wollten Sie nicht?«, fragte Li. »Lehrer Yuan töten.« Bei dem Versuch, die Tränen abzuwischen, zerkratzte sich Vögelchen mit den Fingernägeln das Gesicht. »Ich habe das wirklich nicht gewollt. Bitte, bitte, bitte, ich wollte das doch nicht.« »Wir sprechen von Hase, Vögelchen«, sagte Li sanft. Er wartete einen Moment. »Woher haben Sie so genau gewusst, was er den drei anderen angetan hatte?« Doch Vögelchen schüttelte nur den Kopf, während er immer weiter vor und zurück schaukelte. »Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht«, beharrte er. »Das Plakat um seinen Hals. Wie konnten Sie davon wissen? Der
auf dem Kopf stehende und dann durchgestrichene Name?« Vögelchen hörte auf zu schaukeln und starrte Li unter Tränen an. »Sie sprechen doch von Lehrer Yuan. Davon, was wir ihm während der Kulturrevolution angetan haben.« Er schlug unvermittelt mit der Faust auf den Tisch. »Wie oft soll ich denn noch dafür bezahlen?«, schrie er. »Wie viele Tode kann man in einem einzigen Leben denn sterben? Wir waren doch noch Kinder. Wir wussten doch gar nicht, was wir da taten. Wir befolgten doch nur die Befehle des Vorsitzenden Mao. Er war die rote, rote Sonne in unserem Herzen.« Nein, dachte Li. Er war der blutrote Hass in eurer Seele. Schweigend stiegen sie die Treppe ins oberste Stockwerk hinauf. Sang blickte Li mehrmals besorgt an. »Sie sehen nicht sonderlich zufrieden aus, Chef«, sagte er schließlich. »Nicht wie ein Mann, der gerade einen Fall gelöst hat.« »Gar nichts haben wir gelöst«, grummelte Li. »Wir sind weit davon entfernt.« Sang war verblüfft. »Er hat doch praktisch gestanden.« »Nein, hat er nicht. Er war völlig verwirrt. Er schien mir nicht im Stande, zwischen Yuan und seinem Vater zu unterscheiden.« »Aber Chef, er hatte sowohl ein Motiv als auch die Gelegenheit. Er hat zugegeben, von den anderen Morden gewusst zu haben, er hat kein Alibi – es steht fest, dass er in dieser Beziehung gelogen hat.« Sang musste sich sputen, um mit Li Schritt zu halten, der über den Korridor hastete. Li schüttelte den Kopf. »Der Teufel steckt immer im Detail.« Die Worte seines Onkels flossen von seinen Lippen, als wären es seine eigenen. »Und hier wollen die Details einfach nicht zusammenpassen. Wie sollte Vögelchen an das Flunitrazepam gekommen sein? Wie sollte er von dem Plakat um den Hals erfahren haben oder davon, dass er die Hände mit einer Seidenschnur fesseln musste?« Sang zuckte mit den Achseln. »Mit Gewalt. Möglicherweise presste er es aus Yuan heraus. Und das Flunitrazepam war womöglich zusammen mit den übrigen Sachen unter den Dielenbrettern versteckt.« Li hielt abrupt an, drehte sich um und sah Sang ins Gesicht. »Beantworten Sie mir eine Frage, Kommissar. Hat Vögelchen auf Sie den Eindruck eines Mannes gemacht, der jemanden einschüchtern könnte?« Sang schien verunsichert. »Und selbst wenn
er es irgendwie fertig gebracht hätte, alle diese Details mit Gewalt aus Yuan herauszupressen, warum sollte er dann ›Wühler‹ anstelle von ›Hase‹ auf den Karton schreiben? Wie hätte er einen so kapitalen Fehler begehen können?« Darauf wusste Sang keine Antwort mehr. Li begab sich in das Büro der Kommissare. Ein halbes Dutzend Polizisten hatte sich um Margaret und Xinxin geschart, die in irgendein Kartenspiel vertieft waren. Als Li eintrat, schlichen alle verstohlen zurück an ihre Schreibtische. »Qian!« Lis geheilter Befehl ließ seinen Untergebenen aufspringen. »Ja, Chef?« »Besorgen Sie uns einen Durchsuchungsbefehl für Vögelchens Wohnung.« »Warum durchsuchen wir seine Wohnung, wenn Sie gar nicht glauben, dass er es getan hat?«, fragte Sang. Er wäre um ein Haar auf Li geprallt, als dieser unvermittelt stehen blieb und sich zu ihm umwandte. »Das machen wir immer so, Sang. Ich dachte, Sie hätten etwas auf der Polizeiakademie gelernt. Bei unseren Ermittlungen folgen wir jeder Spur bis zum Abschluss. Ich erwarte gar nicht, dass wir Belastungsmaterial finden werden. Im Gegenteil, ich will Vögelchen von der Liste der Verdächtigen streichen.«
IV Fünf Polizeifahrzeuge brachten Li, Margaret, Qian, Wu, Zhao und Sang zusammen mit sechs uniformierten Beamten in jene kleine Gasse abseits der Dengshikou-Straße, wo sich im achten Stock eines verfallenden Wohnblocks aus den Siebzigerjahren Vögelchens Wohnung befand. Hier waren sie genau im Herzen von Pekings Einkaufsmeile, ganz in der Nähe der Wangfujing-Straße, wo im Zuge kolossaler Neubaumaßnahmen immer mehr internationale Luxushotels und gigantische Einkaufszentren aus dem Boden gestampft wurden. Dessen ungeachtet überlebten in kleinen Nischen wie dieser hier Überbleibsel aus der Vergangenheit.
Die Gasse war verdreckt und mit Schlaglöchern übersät. Hinter schäbigen Ständen hockten Frauen und boten lauwarme Nudeln in wässeriger Soße feil. Ein pickliger Junge verkaufte Zigaretten und Erfrischungsgetränke aus einem Loch in der Wand. Die Ankunft der Polizei rief allgemeine Aufregung hervor, und im Nu hatte sich eine Menschenmenge versammelt, die sich über die Abwechslung vom eintönigen chinesischen Alltag freute. Von der Gasse aus betraten die Beamten durch eine in einem Eisentor eingelassene Tür den Innenhof. Auf drei Seiten standen unter Wellblechdächern abgestellte Fahrräder. Auf der ins Haus führenden Treppe türmte sich der Müll, und das Mädchen im Teenageralter, das den Lift bediente, geriet durch das Eintreffen der Polizei kurzfristig völlig aus der Fassung. Verhuscht hockte sie auf ihrem Stuhl in der Aufzugkabine, einen Stapel romantischer Groschenromane auf den Knien, und hörte scheppernde Popmusik aus einem Transistorradio. Ein Krug mit kaltem grünem Tee stand neben ihr auf dem Boden. An der Wand hinter ihr hing ein Pelzmantel, als hätte sie sich schon auf einen bitterkalten Winter eingestellt. Li, Margaret und zwei der Kommissare, Wu und Qian, quetschten sich zu ihr in den Lift. Die Übrigen nahmen die Treppe. »Kennen Sie Herrn Ge?«, fragte Li das Mädchen. Sie sah ihn ratlos an und schüttelte den Kopf. »Er wohnt im achten Stock. Er hält sich Vögel.« Sie verzog angewidert das Gesicht. »Ach, Sie meinen den Vogelmann. Ich hasse ihn. Immer bringt er mir diese stinkenden Vögel hier rein. Er denkt sich überhaupt nichts dabei. Dabei ist er an den Gestank gewöhnt, ich dagegen rieche das Viehzeug noch Stunden, nachdem er wieder ausgestiegen ist.« »Bringen Sie uns bitte nach oben.« Achselzuckend drückte sie den Knopf für den achten Stock, woraufhin sich der Aufzug ruckelnd und jaulend in Bewegung setzte und langsam nach oben stieg. »Wissen Sie noch, wann er am Montagabend nach Hause gekommen ist?«, fragte Li. Sie lachte. »Soll das ein Witz sein? Haben Sie eine Ahnung, wie viele Leute in diesem Haus wohnen? Glauben Sie im Ernst, ich kontrolliere, wann wer kommt? Ich sehe sie praktisch gar nicht.« »Aber den Vogelmann würden Sie bemerken, nicht wahr? Sie würden seine Vögel riechen.« »Er kommt und geht ständig«, erwiderte das Mädchen
abweisend. »Und überhaupt, ein Tag vergeht hier wie der andere. Ich kann sie kaum voneinander unterscheiden. Wollen Sie meinen Job? Sie können ihn gerne haben.« »Sie wüssten es also auch nicht, wenn er in der letzten Zeit Besuch bekommen hätte?«, fragte Li, ohne sich große Hoffnungen zu machen. »Vergessen Sie es«, sagte das Mädchen. Margaret beobachtete den Wortwechsel mäßig neugierig. Nach anfänglichem Interesse scherte sich dieses Mädchen inzwischen einen Dreck um Lis Fragen und war demzufolge keine große Hilfe. Margaret hätte nicht genau sagen können, warum sie eigentlich mitgekommen war, nachdem Li sie gefragt hatte. Seit ihrem Besuch an der Universität war ihr Interesse an den Ermittlungen so gut wie erloschen. Sie hatte die emotionale Achterbahnfahrt satt, bei der sie schmerzhaft zwischen Li und Michael hin und her geschleudert wurde. Das Ganze würde ohnehin zu nichts führen. Und wenn sie ganz ehrlich war, war es ihr mittlerweile völlig egal, wer Yuan ermordet hatte. Was ging sie diese Geschichte überhaupt an? Schließlich handelte es sich um eine ungefähr dreißig Jahre alte Vendetta in einer ihr fremden Kultur, aus einer anderen Zeit. Wie sollte sie sich irgendwelche Hoffnungen machen, das zu begreifen? Im achten Stock kam der Aufzug ratternd zum Stillstand, und die Tür glitt auf. Sie gingen ihr voraus durch einen Korridor mit weißen Wänden und Fenstern mit hellgrünem Rahmen, von denen man auf den Innenhof hinunterblicken konnte. Durch eine teilverglaste Tür bogen sie in einen dunklen Seitengang ab, und wenig später entdeckte Margaret die Zahl 805 über einer Tür, die durch ein Scherengitter mit Vorhängeschloss gesichert war. Li trat beiseite, damit Qian das Schloss mit den Schlüsseln aufsperren konnte, die sie Vögelchen abgenommen hatten. Nachdem Qian sich ein paar Sekunden lang vergeblich abgemüht hatte, trat er einen Schritt zurück und verkündete achselzuckend: »Das Schloss ist kaputt. Wir brauchen überhaupt keinen Schlüssel.« Damit zog er das Scherengitter zurück. »Was glaubst du hier zu finden?«, fragte Margaret Li. »Gar nichts«, lautete die überraschende Antwort. »Falls er es war«, sagte sie, »besteht die Möglichkeit, dass es hier beweiskräftiges Spurenmaterial gibt. Einen Blutfleck oder ein Haar. Möglicherweise sogar noch mehr. Weißen Karton, rote Tinte.« »Falls er es war.«
»Du glaubst nicht daran?« »Ich bin mir sicher, dass er es nicht gewesen ist.« Nun kamen auch Sang, Zhao und die uniformierten Beamten – nach dem langen Aufstieg außer Atem und schwitzend – vor der Wohnung an. Li streifte ein Paar weiße Handschuhe über, und die anderen taten es ihm gleich. »Packt alle Kleidungsstücke ein«, sagte Li. »Egal ob sauber oder schmutzig. Außerdem brauchen wir alle seine Schuhe. Macht nicht allzu viel Unordnung, aber ich will, dass alles in dieser Wohnung, und sei es noch so klein und unbedeutend, untersucht wird.« Er nickte Qian zu, und dieser stieß die Tür auf. Augenblicklich schlugen ihnen atemberaubender Gestank und Lärm entgegen. »Um Himmels willen!« Qian zog ein Taschentuch hervor, presste es an die Nase und trat, nach dem Lichtschalter tastend, ein. Nachdem er ihn gefunden hatte, flackerte brummend eine von der Decke des Flurs hängende Neonleuchte auf, und kaltes Licht wurde von Wänden zurückgeworfen, die seit zwanzig Jahren keine frische Farbe mehr gesehen hatten. »Mein Gott!«, entfuhr es Margaret. Entgeistert starrte sie auf die an der Decke hängenden Bambuskäfige. Es waren dutzende, und sie waren an einem flaschenzugähnlichen Mechanismus angebracht, der es Vögelchen erlaubte, alle gleichzeitig herabzulassen oder hinaufzuziehen. In sämtlichen Käfigen drängten sich Vögel, die außer sich vor Angst vor dem plötzlichen Licht und den eintretenden Fremden zeternd und panisch mit den Flügeln schlugen. Der Lärm war ohrenbetäubend. Gleich links befand sich eine fetttriefende Kochnische, wo oben auf dem hölzernen Küchenschrank alte Flaschen mit klebriger Gewürzsoße mit schmutzigen Tellern um den beengten Platz kämpften. Ein rauch- und rußgeschwärzter Wok sowie ein paar verdreckte Pfannen standen auf dem zweiflammigen Gasherd. Ein Stückchen weiter hinten im Gang trocknete, ebenfalls zur Linken, Wäsche an einer über der stinkenden Toilette aufgespannten Leine. Schmutzige Wäschestücke lagen überall im Flur verstreut. Erst nachdem sich die Polizisten mühsam an einer Kühl- und Gefrierkombination und einer von oben zu befüllenden Waschmaschine vorbeigequetscht hatten, konnten sie zum Ende des Ganges vordringen, wo Wu die Tür zum Schlafzimmer aufstieß. Auch hier hingen Vogelkäfige an der Decke, und noch mehr standen auf jedem freien Fleckchen: auf dem Schreibtisch, dem Kleiderschrank, der Kommode. Der Lärm war kaum auszuhalten.
Der Gestank ließ Margaret würgen. Dass hier tatsächlich jemand lebte, war unvorstellbar. Rechts von ihnen führte eine Tür in das winzige Wohnzimmer. Noch mehr Käfige, noch mehr Vögel. Hier flatterten einige davon frei herum, sodass die Polizisten den Kopf unter den wild schlagenden Flügeln einziehen mussten. Der gesamte Fußboden war von Vogelmist bedeckt. Durch ein Fliegengitter konnten sie auf den verglasten Balkon sehen, der beinahe schwarz war vor auffliegenden Vögeln. Vögelchen hatte überall alte Zweige und Äste, aber auch Stangen und Trümmer alter Möbelstücke aufgestellt, um den Tieren hier drin so etwas wie eine natürliche Umgebung zu schaffen. »Mein Gott!« Margaret musste schreien, urn den Lärm zu übertönen. »Das ist ja abartig! Der Mann muss geisteskrank sein.« Li nickte grimmig. Irgendwann und irgendwie hatte Vögelchen jeglichen Bezug zur Realität verloren, und als Konsequenz auch die Fähigkeit, Kontakte zu seiner Umwelt zu unterhalten. Seine Liebe zu den Vögeln war zur Obsession geworden, zu einem Ersatz für das wirkliche Leben. Was faszinierte ihn derart an diesen Geschöpfen? Die Illusion von Freiheit, die ihre Fähigkeit zu fliegen erweckte? Doch wie viel Freiheit blieb einem Vogel im Käfig denn? Vielleicht verschaffte sich Vögelchen ja selbst ein bisschen Freiheit, indem er den Tieren ihre Freiheit raubte. Freiheit von der Vergangenheit. Freiheit von seiner Schuld. Freiheit von der Wirklichkeit. Die Beamten machten sich daran, Kleidungsstücke und Schuhwerk in großen Plastikbeuteln zu verpacken, sie durchsuchten Schubladen und Schränke und zogen das spröde graue Linoleum zurück, um die Dielenbretter zu überprüfen. »Ich warte draußen im Treppenhaus«, sagte Margaret und bahnte sich mit zugehaltener Nase einen Weg durch den Flur zur Eingangstür. Gerade als sie den Gang erreicht hatte, hörte sie einen erregten Aufschrei, auf den hin mehrere Beamte ins Schlafzimmer eilten. Ihre Neugier gewann die Oberhand, und sie machte sich erneut auf den Weg durch den Wohnungsflur. Li schob sich an den uniformierten Beamten vorbei, und Margaret sah Kommissar Wu in der Zimmermitte stehen, ein Bronzeschwert in den behandschuhten Händen in die Höhe haltend wie eine Trophäe. »Es war im Boden des Kleiderschranks versteckt, Chef«, meldete er Li. Margaret drängte in den Raum und sah sich das Schwert an. Es war etwa einen Meter lang und hatte einen lasierten, mit Perlmutt eingelegten Holzgriff. Blutspuren waren mit bloßem Auge nicht zu
erkennen. Die Klinge glänzte sauber und scharf. Sang blickte Li triumphierend an. »Für mich sieht das wie ein ziemlich belastendes Indiz aus, Chef.« Und Li kam es vor, als läge ein Anflug von Selbstgefälligkeit in seiner Stimme. Hier drin war es fast taghell, denn das Neonlicht wurde von den weißen Kacheln reflektiert. Auf ihrem Weg durch den langen, kühlen Korridor konnten sie durch große Fenster in die Labors zu beiden Seiten hineinsehen. Mit ihren Trophäen aus besonders kniffligen oder grausamen Fällen, die viele Wände zierten, sahen sie eigentlich genauso aus wie die meisten forensischen Laboratorien auf der Welt, dachte Margaret. An der Rückwand des elektronenmikroskopischen Labors hingen vergrößerte Fotos eines haarig aussehenden, monströsen Insekts. Ein weiteres Bild zeigte die Spitze eines Schraubenziehers neben einer Großaufnahme der damit beigebrachten Wunde. Hinter einem anderen Fenster konnten sie eine Reihe von etwa serviettengroßen weißen Leintüchern erkennen, die nebeneinander an die Wand geheftet waren und allesamt ein kleines, von schwarzen Schmauchrändern umgebenes Einschussloch aufwiesen. Im nächsten Raum gab es einen Tisch voller todbringender Schießeisen – Handfeuerwaffen, Gewehre und Schrotflinten, jedes Stück mit einem Schildchen als Beweismaterial ausgewiesen. In wieder einem anderen Zimmer waren Utensilien des Drogenmissbrauchs zur Schau gestellt: kleine, verbogene und schwärzlich verfärbte Metalllöffel, Spritzen, Flaschen voller Pillen. Wie so viele forensische Labortechniker hatte auch Herr Qi einen ausgeprägten Hang zu schwarzem Humor. Er war ein kleiner Mann mit schütterem Haar und einem fröhlichen Gesicht. Sein ehemals weißer Labormantel war ihm um einige Nummern zu groß und hätte schon längst eine Runde in der Waschmaschine vertragen. Aus seiner Brusttasche lugte ein buntes Sammelsurium von Bleistiften, Kugelschreibern und Linealen. Er deutete durch ein Fenster zu ihrer Linken. »Das da war Familienstreit im Bezirk Chongwen.« Er genoss sichtlich die Gelegenheit, Englisch zu sprechen. Sie blickten auf eine Bluse, die auf einer mit Papier abgedeckten Arbeitsplatte ausgebreitet war. Sie war übersät von länglichen Einstichlöchern und Rissen und überzogen mit eingetrockneten, gräulichbraunen Blutflecken. »Ehemann kommt heim und findet sie liegend auf Fußboden von Schlafzimmer. Siebenunddreißig Stiche. Erst wir denken, sie hat Einbrecher gestört. Stellt sich raus, es ist Ehemann.
Hat andere Frau und will Ehefrau loswerden.« Er grinste. »Ich mag diese neue Welle von Verbrechen in China. Das macht Leben seehr interessant.« Er schwenkte sein Hinterteil über den Sicherheitssensor an der Tür seines Labors. Der Magnetstreifen seiner Kennkarte, die in der Brieftasche in seiner hinteren Hosentasche steckte, aktivierte das Schloss, und mit einem Surren und einem dumpfen Klacken öffnete sich die Tür. Er grinste erneut. »Macht Leben einfach, wenn Hände voll. Willkommen in mein Labor.« Margaret, Li, Qian und Sang folgten ihm, alle in weißen Laborkitteln, die sie im Vorzimmer zum Labortrakt angelegt hatten. Die Schuhe hatten sie sich erst an Gittern abgekratzt und anschließend an Matten abgewischt, um auf den fleckenlos reinen und glänzenden Böden nur ja keinen Schmutz oder Staub aus der Außenwelt zu hinterlassen. Das Mikroskop für den Spurenvergleich war auf einem eigenen Tisch aufgebaut. Der Standfuß maß etwa siebzig Quadratzentimeter. Auf der Arbeitsfläche befanden sich zwei Objektträger von ungefähr fünfzehn Quadratzentimetern Größe, auf denen die zu vergrößernden und zu vergleichenden Objekte unter hellen Strahlern aufgelegt wurden, wodurch die Untersuchungsgegenstände für die Kollektorlinsen ausgeleuchtet werden konnten. Darüber war an zwei Aufbauten ein Gewirr von Spiegeln und Linsen angebracht, das die vergrößerten Bilder an ein paariges Okular weiterleitete, durch welches ein Wissenschaftler die Objekte dann nebeneinander vergleichen konnte. Über eine unter dem Okular angebrachte Leitung wurden die Bilder außerdem per Videosignal auf einen großen Farbmonitor übertragen, der auf einem eigenen Gestell stand. Die Wirbelsäulenabschnitte, die von den Hälsen sämtlicher Opfer genommen worden waren, standen in vier mit Formalin gefüllten Gefäßen auf dem Labortisch. Qis Laborassistent kippte das Formalin weg und wusch die Proben anschließend gründlich ab, damit der Geruch seinem Vorgesetzten nicht die Nase verätzte und seine Augen zum Tränen brachte, während er das Material mikroskopisch untersuchte. Währenddessen spannte Qi das Bronzeschwert, das sie in Vögelchens Wohnung gefunden hatten, in ein bewegliches Gestell, in dem es stabil gehalten würde, während die Klinge zur Überprüfung Zentimeter für Zentimeter über den einen der beiden Objektträger geschoben werden sollte. Das Schwert war bereits einer peinlich genauen forensischen Untersuchung unterzogen worden, die
aber weder Blutreste noch Fingerabdrücke zu Tage gefördert hatte. Jegliche Spuren waren sorgfältig, ja pedantisch entfernt worden. Allerdings war die Klinge nur auf einer Seite geschliffen worden, sodass auch nur eine Schneide benutzt worden war. Herr Qi ließ scheppernd die Jalousien des Fensters zum Korridor herunter und löschte das Licht. Nun war der Raum in Dunkelheit getaucht, einmal abgesehen vom Glimmen des Monitors und dem Licht der Lampen im Vergleichsmikroskop, deren Widerschein auf die weißen Kittel der kleinen Gruppe von Ermittlern fiel, die sich um das Gerät versammelt hatten. Der Assistent schnitt mit einer feinmechanischen Säge eine hauchdünne Scheibe vom ersten Wirbelabschnitt und platzierte sie auf dem linken Objektträger. Daraufhin rückte Qi die Klinge des Schwertes so zurecht, dass auf dem rechten Objektträger ein Abschnitt der Klinge zu liegen kam, der sich ungefähr ein Drittel unterhalb der Spitze befand, also ungefähr in jenem Bereich, in dem man die »Lieblingsstelle« vermuten durfte, von der Margaret bei der Autopsie gesprochen hatte. Qi blickte angestrengt in das Okular und begann das Mikroskop scharf zu stellen. Vorläufig blieb das Bild auf dem Monitor noch verschwommen, und die Kommissare traten ungeduldig von einem Bein aufs andere. Margaret war klar, dass der Vorgang einige Zeit dauern würde. Mithilfe einer ganzen Reihe von winzigen Kurbeln verschob Qi das Gestell mit dem Schwert Zentimeter um Zentimeter, aufmerksam auf kleinste Einkerbungen und Schrammen achtend, die sich in der Vergrößerung zeigten und die er mit den mikroskopisch kleinen Kratzern verglich, die das Schwert auf dem ersten Stück Halsknorpel hinterlassen hatte. »Aha!«, rief er plötzlich aus. »Wir haben eine Übereinstimmung.« Mit diesen Worten stellte er die Linsen so ein, dass das Bild auf dem Monitor scharf wurde. Die nebeneinander dargestellten, ins Riesenhafte vergrößerten Bilder des Halsknorpels und der Klinge zeigten ein identisches Muster von mehreren vertikalen Kratzern. Qi grinste sie triumphierend an. »Dieses Schwert schneidet ab diesen Kopf.« Er nahm einen roten Filzstift zur Hand, markierte damit sorgfältig jenen Bereich der Klinge, der die Übereinstimmung mit dem Wirbelstückchen gezeigt hatte, und versah ihn mit der Nummer der Probe. »Das Nächste«, sagte er gut gelaunt. Nacheinander wies Qi bei sämtlichen Halswirbelproben
Übereinstimmungen mit diversen Abschnitten der Klinge nach. Was die ersten drei Fälle betraf, überlappten sich die einschlägigen Abschnitte auf der Klinge jeweils am linken oder rechten Rand. Im vierten Fall war der betreffende Bereich um einige Zentimeter zum Griff hin verschoben. Herr Qi markierte jede Übereinstimmung mit einem andersfarbigen Stift. Auf Grund seiner jahrelangen Erfahrung hatte Yuan Tao mit geradezu beängstigender Präzision jedes Mal mit seiner »Lieblingsstelle« getroffen. Sein eigener Mörder hingegen hatte es nicht zu solcher Perfektion gebracht. Dafür stand nun völlig außer Zweifel, dass dies die Tatwaffe war. Vor sich hin brütend starrte Li auf die roten, gelben, grünen und blauen Markierungen. Sang freute sich diebisch. »Glauben Sie immer noch, dass Vögelchen nicht unser Mann ist, Chef?«
11. KAPITEL I Hier oben fühlte man sich wie irgendwo in einer magischen Welt über den Wolken. Nichts dort unten konnte einen hier berühren. Man konnte alles sehen, aber man stand über allem. Auf der Treppe nach oben war Margaret an den letzten hinuntersteigenden Touristen vorbeigekommen, denn schließlich begann es im Jingshan-Park bereits zu dämmern. Nun saß sie ganz allein auf den warmen Marmorstufen des Pavillons hoch oben auf dem Aussichtshügel, wo ihr Peking zu Füßen lag, sich hoch im Norden die ungeheure Leere der Wüste Gobi verlor und im Westen der purpurrote Sonnenball langsam hinter den bläulich schimmernden Bergen versank. Der Duft der Kiefern schwebte vereint mit der kleinen Nachtmusik der Vögel in der warmen Abendluft. Vor drei Monaten hatte Li sie zum ersten Mal hierher geführt. Hierher, hatte er gesagt, zöge er sich gern zurück, wenn er nachdenken wolle. Weil er hier inmitten der Elfmillionenstadt allein und doch in ihrem Herzen sein konnte. Jetzt war sie hierher gekommen, weil sie nachdenken musste, weil sie versuchen wollte, ihrem Leben irgendeine Perspektive zu geben, und weil sie konkrete Entscheidungen über ihre Zukunft zu fällen hatte. Es war noch keine Woche her, da hatte sie geglaubt, genau das getan zu haben. Doch die Welt hatte sich weitergedreht, und was seither geschehen war, hatte ihr Denken und ihr Leben, womöglich für immer, verändert. Sie hatte Michael kennen gelernt. Den leidenschaftlichen, einfühlsamen, intelligenten Michael, der ihr einen Heiratsantrag gemacht hatte. Wenn er jetzt hier gewesen wäre, hätte er ihr zweifellos erklärt, dass der Hügel, auf dem sie saß, künstlich aufgeschüttet worden war, und zwar mit dem Aushub aus dem gigantischen Wassergraben, der die Verbotene Stadt am Fuß des Hügels umgab. Sie lächelte bei diesem Gedanken und fragte sich
unvermittelt, was sie eigentlich genau für ihn empfand. Jedenfalls nicht, so viel war ihr klar, jene glühende und heftige Leidenschaft, die sie Li entgegengebracht hatte. Die war damals unter außergewöhnlichen Umständen entfacht worden: Furcht, Hass und Liebe… aus einem wahren Schmelztiegel intensivster Gefühle war eine außergewöhnliche Beziehung geschmiedet worden. Bis Li selbst die Flamme gelöscht hatte. Er hatte sie zwischen Daumen und Zeigefinger erstickt und sich dabei schmerzhafte Verbrennungen zugezogen, die ihn nun seine Entscheidung ständig bereuen ließen. Mit Michael war das völlig anders. Schon allein weil sie dieselbe Sprache sprachen und derselben Kultur angehörten. Zwischen ihnen gab es keine interkulturellen Missverständnisse, keine politischen Klüfte, die es zu überbrücken galt, keine Notwendigkeit, das eine Land gegenüber dem anderen in Schutz zu nehmen oder zu kritisieren. Margaret war sich bewusst, dass es hier keine Zukunft für sie gab, sosehr ihre Liebe zu diesem Land und seinen Bewohnern auch gewachsen sein mochte. Ihr blieb nichts anderes übrig, als in die Heimat zurückzukehren. Aber eigentlich bezeichnete »Heimat« einen Ort, an dem einem alles vertraut war, an dem man sich unter den Menschen wohl fühlen konnte, die man liebte. So gesehen war sie heimatlos geworden. Ihre Heimat bestand aus der verschwommenen Erinnerung an eine glückliche Kindheit oder an die vergeudeten Jahre, in denen sie Tisch und Bett mit einem Mann geteilt hatte, der inzwischen längst gestorben war. Sie war einunddreißig Jahre alt. In zehn Jahren würde sie die vierzig überschritten haben. Die vierzigjährige Margaret Campbell, die fünfzigjährige Margaret Campbell. All das kam ihr plötzlich viel zu nah und viel zu real vor. Unter Umständen rauschte das Leben völlig an einem vorbei. Dort unten, in jener anderen Welt unter den Wolken, konfrontierte Li gerade die ausgebrannte Hülle eines Menschen mit der Mordwaffe, durch die vier Menschen vom Leben zum Tode befördert worden waren. Andere Menschen lebten währenddessen ihr ganz normales Alltagsleben, kehrten von der Arbeit heim, bereiteten das Abendessen zu, liebten sich, gebaren Kinder, wurden alt und starben. Schlangen roter Schlusslichter erstreckten sich unten bis zum Horizont, fast wie die sichtbar gemachte Zeit. Manchmal kroch sie dahin. Ein anderes Mal raste sie einem davon. So oder so endete die Reise viel zu schnell.
Sie merkte, wie die Trostlosigkeit ihres Lebens ihr die Kehle zuschnürte. Die hinter den Bergen versunkene Sonne hatte die Stadt in ein blutiges Rot getaucht, und als Margaret aufblickte, sah sie erschrocken einen Blitz aufleuchten, dem grollender Donner folgte. Über die Ebenen im Osten trieben düstere Wolken mit purpurroten Rändern heran. Sie schmeckte den Regen in der Luft vor dem Sturm und begriff, dass es Zeit war zu gehen.
II Das Schwert lag auf dem Tisch zwischen Li und Sang auf der einen und Vögelchen auf der anderen Seite. Letzterer starrte verständnislos auf die Waffe. »Das ist nicht von mir«, sagte er. »Oh, wem es gehört, wissen wir schon«, teilte ihm Sang mit. »Von Ihnen wollen wir vor allem wissen, warum es in Ihrer Wohnung gelegen hat.« Vögelchen schüttelte den Kopf. »Nein, nicht in meiner Wohnung.« »Es war in Ihrem Kleiderschrank. Wir waren heute Nachmittag in Ihrer Wohnung und haben es dort gefunden.« Vögelchen riss den Blick von dem Schwert los und sah zu Li auf, der im ersten Moment über das Flehen in dessen Augen erschrak, fast als könnte Vögelchen irgendwie seine Zweifel spüren und würde nun die Chance wittern, einen Verbündeten zu gewinnen. »Nein«, wiederholte er. Und sprach dann Li direkt an: »Ich möchte nach Hause, bitte. Meine Vögel müssen gefüttert werden. Es ist niemand da, der meine Vögel füttert.« Sofort tauchte die Wohnung wieder vor Lis geistigem Auge auf, mit den kreischenden Vögeln in unzähligen Käfigen, dem Mistgestank und den in der Wohnzimmerecke lehnenden Säcken voll Vogelfutter. Er fragte sich, was aus den Tieren werden sollte, falls sie Vögelchen weiter festhielten, falls sie ihn den Profis aus der Sektion Sieben überließen, die ihn dann in endlosen Verhören weich kochen würden. Vielleicht sollte er ein paar Beamte
abkommandieren, um Vögelchens Wohnung auszuräumen und die ganzen Vögel auf den Markt nach Guanyuan zu bringen. »Das wird leider nicht möglich sein«, erklärte er Vögelchen. Sang stand auf und hob das Schwert hoch. »Das ist das Schwert, das Hase benutzt hat, um Affe, Null und Schweinchen den Kopf abzuhacken. Und dann haben Sie es benutzt, um Hase zu köpfen.« »Nein!« »Wozu wollen Sie das leugnen, Vögelchen? Wir kennen die Wahrheit. Wir wissen, dass Sie in seiner Wohnung waren und das hier unter den Dielenbrettern gefunden haben. Wir wissen, dass Sie ihn unter Drogen gesetzt, seine Hände gefesselt und ihm den Kopf abgeschlagen haben. Wir wissen das deshalb, weil Sie das Schwert in Ihrem eigenen Schlafzimmer versteckt haben. Warum gestehen Sie nicht einfach? Dann lastet die Sache nicht länger auf Ihrer Seele. Wir wissen, wie schuldig Sie sich wegen Lehrer Yuan fühlen. Sie schleppen diese Schuld nun schon seit über dreißig Jahren mit sich herum. Sie wollen doch nicht, dass auch noch die Schuld an Hases Tod bis an Ihr Lebensende auf Ihren Schultern lastet, oder? Sie wünschen sich doch ein reines Gewissen. Alles wäre so viel einfacher, wenn Sie nicht immer diese Zentnerlast mit sich herumschleppen müssten. Vielleicht könnten Sie den Richter sogar davon überzeugen, dass Sie ihn praktisch aus Notwehr getötet haben. Schließlich wissen wir, dass Yuan drauf und dran war, auch Sie zu töten.« Er legte das Schwert auf den Tisch zurück und beugte sich so weit vor, dass sein Gesicht nur noch wenige Zentimeter von Vögelchens entfernt war. Inzwischen flüsterte er beinahe: »Gestehen Sie, Vögelchen. Erzählen Sie uns die ganze Geschichte. Sie wissen genau, dass Sie sich danach viel besser fühlen werden.« Vögelchen kamen erneut die Tränen. Doch diesmal völlig lautlos. Er starrte irgendwo ins Leere, direkt durch Sang hindurch und in weite Ferne, in eine schon halb vergessene Vergangenheit. Es ist erklärte Politik der Partei, Nachsicht mit denen zu üben, die ihre Verbrechen eingestehen, aber Strenge walten zu lassen gegenüber jenen, die sich verweigern, genau das hatten sie ihm immer gesagt, und als er sich weigerte zu gestehen, hatten sie ihn bis zur Bewusstlosigkeit getreten, gestoßen und geschlagen. Glaubst du wirklich, dass wir nichts anderes können, als uns zu bereichern? Sprich lauter! »Die revolutionären Massen bringen ihre Verehrung für den Vorsitzenden Mao auf jede nur erdenkliche Art und Weise zum Ausdruck, weil sie ihrem Führer gegenüber tiefe Gefühle
hegen«, sagte Vögelchen zu Sang, und der unerfahrene Kommissar starrte ihn erstaunt an. »Was reden Sie da, Vögelchen?« »Du bist ehrlos und glitschig wie der Pimmel eines Straßenköters!«, kreischte Vögelchen zu Sangs und Lis Verblüffung. Dann schlug er die Hände vors Gesicht, begann zu schluchzen und wie zuvor auf dem Stuhl vor und zurück zu schaukeln. Li stand auf und zog Sang vom Tisch weg. »Das reicht, mein Sohn«, sagte er. Er wusste nicht genau warum, aber Li empfand tiefe Trauer beim Anblick dieses Häufchens Elend, das einmal ein Mann gewesen war. Vögelchen stand stellvertretend für eine ganze Generation, der in diesen zwölf Jahren des Schreckens und des Wahnsinns die Jugend und allzu oft auch das Leben geraubt worden war. Was ihn betraf, so hatte er seine Seele verloren, und die dadurch entstandene Leere hatte ihn aufgefressen. Er war Täter und Opfer zugleich. Xinxin saß im Lichtkegel der Schreibtischlampe auf Lis Schreibtisch und schaute die Teile ihres Puzzles durch. Mit der linken Hand umklammerte sie eine halb leere Tüte Orangensaft. Die Kommissare hatten sie verwöhnt, ihr alle erdenklichen Süßigkeiten und Limonade spendiert, mit ihr Karten gespielt und ihr bei ihrem Puzzle geholfen. Jetzt, da die meisten von ihnen im Zwielicht des Spätnachmittags nach Hause gingen, stand Li am Fenster und wartete nur noch darauf, dass Margaret wieder auftauchte und sie gemeinsam Xinxin zu Mei Yuan zurückbringen konnten. Er hatte keine Ahnung, wohin sie verschwunden war. Seit ihrem Besuch an der Universität Peking hatte sie sich ihm gegenüber verschlossen gezeigt und irgendwie bedrückt gewirkt. Er merkte nur zu deutlich, dass sie das Interesse an dem Fall verloren hatte. Nachdem das Schwert als Tatwaffe identifiziert worden war, hatte sie ihm erklärt, sie hätte noch etwas zu erledigen, würde aber später wieder zurückkommen. Auch wenn er nicht zu sagen vermochte wie, hatte Xinxin es kurzzeitig geschafft, eine Brücke zwischen Margaret und ihm zu bauen, eine Brücke, die zu überschreiten allerdings keiner von beiden Gelegenheit gehabt hatte, bevor Li sie wieder eingerissen hatte, indem er Margaret mit zur Universität genommen hatte. Er verfluchte seine Eifersucht, die ihn dazu verführt hatte, Zimmerman möglichst in Misskredit zu bringen. Natürlich hatte er versucht, das vor sich selbst als übliche polizeiliche Vorgehensweise zu
rechtfertigen. Dabei wusste er genau, dass er sich damit in die Tasche log. Es war, als wollte er, wenn er schon auf sie verzichten musste, um jeden Preis sicherstellen, dass sie auch keinem anderen Mann gehören würde. Das war weder richtig noch fair. War er wirklich so ein Jammerlappen? Kein Wunder, dass sie ihn heute Morgen mit solchem Hass in den Augen angesehen hatte. Seine Gedanken kehrten zurück zu dem bedauernswerten Bild, das Vögelchen abgegeben hatte, als er in eine Gefängniszelle im Keller geführt worden war. Li konnte sich noch immer nicht vorstellen, dass Vögelchen die Geistesgegenwart und die Berechnung besessen hatte, Yuan bis zu dessen angemieteter Wohnung zu verfolgen, dass er fähig war, den Modus Operandi der vorangegangen Morde bis ins kleinste Details zu kopieren, dass er ihnen so erfolgreich vorgegaukelt hatte, Yuan sei das vierte Opfer gewesen. Zudem blieben noch viele offene Fragen und ungeklärte Widersprüche: der knallblaue Wodka, die Rotweinflaschen, der schwarzblaue Tonstaub, der falsche Spitzname. Andererseits hatte er ein Motiv und kein Alibi, und was noch schwerer wog, man hatte die Tatwaffe in seiner Wohnung gefunden. Entweder, folgerte Li, führte Vögelchen sie also mit erstaunlichem Schauspielertalent an der Nase herum, oder der wahre Mörder hatte ihm die Waffe untergeschoben. Wobei auch dies ausgesprochen unwahrscheinlich war. Denn dazu hätte der Mörder schließlich wissen müssen, dass Vögelchen der Hauptverdächtige war. Und außerhalb der Sektion Eins konnte das niemand wissen. Ein Blitz zuckte vom Himmel, gefolgt von Donnergrollen, und als Li sich umdrehte, bemerkte er, dass Margaret wie ein Schatten auf dem Gang stand und ihn beobachtete. Xinxin war so vertieft in ihr Puzzle, dass sie Margaret noch gar nicht bemerkt hatte. Ein paar Sekunden standen sich die beiden gegenüber und blickten einander durch den abgedunkelten Raum an, bis er etwas Peinigendes in der Stille spürte, die sie wie eine unüberbrückbare Kluft trennte. Dann bemerkte Xinxin Margaret, kletterte mit einem entzückten Quietschen vom Schreibtisch und raste auf sie zu, um sie in die Ärmchen zu schließen. Margaret spürte den warmen kleinen Körper, die zitternde Aufregung, und bereute schon mit einem schmerzhaften Stich die Entscheidung, die sie vor nicht einmal einer Stunde getroffen hatte. Xinxin plapperte zusammenhanglos auf sie ein. Margaret sah Li an. »Was sagt sie?« »Du sollst ihr helfen, das Puzzle fertig zu machen.«
»Klar«, sagte Margaret und blickte auf die Uhr. »Falls es nicht allzu lange dauert.« Nachdem sie keine zehn Minuten für das Puzzle gebraucht hatten, brachten sie die heftig protestierende Xinxin zum Jeep, wo sofort wieder eitel Sonnenschein einkehrte, nachdem Li ihr eröffnet hatte, dass sie zu Mei Yuans Haus fahren würden. Unter den von Osten heranrollenden dunklen und mit Regen beladenen Wolken war die Nacht drückend schwül geworden. Weil sich die Rushhour allmählich dem Ende zuneigte, hatte sich der Verkehr wieder verflüssigt, und Taxis und private Fahrzeuge surrten um die schwerfälligen Busse und Lastwagen herum wie Insekten, die hektisch vor dem heraufziehenden Unwetter zu fliehen versuchten. Jedermann spürte, dass Regen in der Luft lag. Die rauchenden Öfen und Kohlebecken auf dem Trottoir wurden mit Schirmen und Vordächern überspannt, die Händler zogen Planen über die offen ausliegenden Waren. Selbst die sonst so gemütlich dahinschaukelnden Radfahrer traten plötzlich energisch in die Pedale, um nach Hause zu kommen, bevor der Himmel seine Schleusen öffnete. Nachdem Mei Yuan ihnen die Tür geöffnet hatte, nahm sie Xinxin auf den Arm und trug sie zum Tisch. »Heute Abend«, sagte sie zu Li und Margaret, »müssen Sie einfach zum Essen bleiben. Xinxin und ich konnten unmöglich so viele Klöße schaffen. Deshalb werde ich heute die übrig gebliebenen anbraten.« Während sie sich an ihrem winzigen Ofen zu schaffen machte, setzten sich Li und Margaret an den Tisch, wo Xinxin zum xten Mal die Geschichten aus ihren Büchern vorlas. Als Li Margaret einen verstohlenen Blick zuwarf, stellte er fest, dass sie nicht wirklich zuhörte. Nicht nur, weil sie sowieso kein Wort verstand, sondern weil sie ganz offensichtlich in Gedanken versunken war. Ihr Blick war in weite Ferne gerichtet, und sie kam ihm irgendwie bedrückt vor. Nur mit Mühe schaffte sie es, Xinxin ein Lächeln zu schenken, um vor dem Kind zu verbergen, was auch immer sie so verstörte. Als sie zufällig Lis Blick auffing, versenkte sie ihren Blick rasch wieder im Buch, als befürchte sie, Li könne ihre Gedanken lesen, wenn sie sich ansahen. Mei Yuan trug die würzigen Klöße auf, braun gebacken und klebrig, die sie alle in dieselbe Schüssel mit Sojasoße eintunkten. Geschmack und Konsistenz der Klöße ließen Margaret ungewollt an
jenes Speiselokal denken, in dem sie mit Michael im muslimischen Viertel von Xi’an gegessen hatte, und diese Erinnerung rief ihr wiederum die Entscheidungen ins Gedächtnis, die sie auf dem Aussichtshügel gefällt hatte. Mei Yuan spürte die unterschwelligen Spannungen, auch wenn sie keine Erklärung dafür hatte. Sie versuchte alles, um die Stimmung zu heben. »Also«, sagte sie strahlend zu Margaret. »Ich habe wirklich viel über Ihr Rätsel nachgedacht, aber keine Antwort darauf gefunden.« Sie sah Li an. »Wie steht es mit dir, Li Yan?« Li schüttelte die Gedanken ab, die ihm gerade durch den Kopf gingen, und blickte auf. Er hatte überhaupt nicht über Margarets Rätsel nachgedacht und war drauf und dran, das auch zuzugeben, als ihm wie aus heiterem Himmel die Antwort in den Schoß fiel. Er schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich glaube, ich weiß die Lösung«, sagte er. »Doch nur ein Fremder, der sich nicht wirklich in Peking auskennt, kann so ein Rätsel stellen.« »Was soll das heißen?«, fragte Margaret. »Du hast gefragt, wie ich am Nationalfeiertag ungesehen von der Xidamochang-Straße zum Hauptbahnhof spazieren könnte. Ich nehme an, du erwartest als Antwort, dass ich durch die unterirdische Stadt gehen und den Gängen bis zum Bahnhof folgen würde.« »Und was soll daran falsch sein?« Li sah Mei Yuan an. »Wollen Sie es ihr sagen?« Mei Yuan legte tröstend die Hand auf Margarets und lächelte. »Die Gänge führen nicht zum Hauptbahnhof.« »Aber ich habe ein Schild gesehen«, protestierte Margaret. »Auf dem stand: Zwra Bahnhof.« »Damit ist der alte Hauptbahnhof gemeint«, erklärte Li. »Der befand sich früher an der südöstlichen Ecke des Tiananmen-Platzes in Qianmen, bevor man ein paar Kilometer weiter östlich den neuen Bahnhof errichtet hat.« Margaret erhob nur noch pro forma Einspruch. »Also gut, dann haben sie den Bahnhof eben verlegt. Aber woher hätte ich das wissen sollen?« Li zuckte mit den Achseln. »Wie ich schon sagte, nur ein Fremder würde dieses Rätsel stellen.« Daraufhin machte sich betretenes Schweigen breit, und schließlich fragte Mei Yuan, ob jemand Bier wolle. Margaret lehnte kopfschüttelnd ab. Es sei höchste Zeit für sie zu gehen. Li bot an, sie in ihr Hotel zurückzubringen. Alle standen auf. Xinxin schaute mit
hochgereckter Nase von einem zum anderen, erstaunt, dass das Essen so abrupt endete. »Was ist denn los?«, wollte sie wissen. »Margaret muss gehen«, erklärte ihr Li. Xinxin machte ein langes Gesicht. »Sehe ich sie morgen wieder?« Li übersetzte die Frage für Margaret, die eine ganze Weile angestrengt nachzudenken schien, bis sie plötzlich zu einem Entschluss kam. »Sag ihr«, bat sie ihn, »dass ich morgen vorbeikommen und mit ihr auf den Spielplatz hinter der Brücke gehen werde. Um mich zu verabschieden.« »Um sich zu verabschieden?«, fragte Mei Yuan betroffen nach. Margaret blickte Li an. »Ich reise am Montag ab.« Draußen, jenseits der Bäume, kräuselte eine leichte Brise die dunkle Oberfläche des Qianhai-Sees, und auf der Motorhaube von Lis Jeep zerplatzten, Krater in den Staub reißend, die ersten fetten Regentropfen. Li fasste Margaret am Arm, als sie gerade auf den Beifahrersitz klettern wollte. »Warum willst du schon abreisen? Die Ermittlungen sind doch noch gar nicht abgeschlossen.« Diesmal wich sie seinem Blick nicht aus. »Es geht um mich«, erwiderte sie. Kühl liefen die inzwischen dichter fallenden Regentropfen über ihr brennend heißes Gesicht. »Es ist vorbei, Li Yan. Das mit dir und mir, das mit China.« »Und was ist mit Zimmerman?« Doch ihr Zorn war verraucht. Sie lächelte ihn nur traurig an. »Michael hat mich gefragt, ob ich seine Frau werden möchte.« Sie sah sein ungläubiges Staunen und den Schmerz in seinen Augen. »Ich habe Nein gesagt. Aber das Angebot gilt noch immer. Ich werde nach Hause fahren und darüber nachdenken. Ganz ernsthaft. Weit weg von dir. Weit weg von ihm. Weit weg von hier. Endgültig.« Genau über ihnen zuckte ein Blitz, und mit dem gleichzeitig krachenden Donner öffnete der Himmel endgültig seine Schleusen. Jetzt regnete es in Strömen, und im Nu waren beide durchnässt bis auf die Haut. Trotzdem rührten sie sich nicht von der Stelle. Ganz deutlich konnte er den Umriss ihrer Brüste sehen, die weiblichen Formen, die sich durch den nassen Baumwollstoff abzeichneten. In nassen Locken klebte ihr das Haar im Gesicht, einem bleichen, sommersprossigen und wunderschönen Gesicht. Er war nicht ganz sicher, ob es Tränen waren, die er aus ihren blauen Augen rinnen
sah, oder einfach nur Regentropfen. Nass und traurig glänzte ihr Gesicht in dem Lichtermeer der Blitze, die vom Himmel zuckten. Er wusste, dass dies das Ende war. Für sie ging es weder vor noch zurück. Auf den Zehenspitzen stehend, küsste sie ihn sanft auf die Lippen. Er spürte, wie ihre Finger zärtlich über seine Kinnlinie strichen. Und dann war sie weg, durch den Hutong in der Nacht verschwunden, von der Dunkelheit und vom Regen verschluckt. Er wusste, dass er sie nie Wiedersehen würde, dass all das, was sie gemeinsam erlebt hatten, die ausgestandenen Ängste, die Leidenschaft, das eine einzige Mal, bei dem sie in einem verlassenen Schlafwagen in Nordchina körperliche Erfüllung gefunden hatten, unwiederbringlich verflossen war, wie Tränen im Regen. Sobald Michael von der Bar des Ritan-Hotels Margaret aus dem Taxi steigen sah, eilte er durch das weitläufige, mit glänzendem Marmor ausgelegte Foyer, um sie am Eingang abzufangen. Sie sah ihn nur kurz an, bevor sie zu seiner Verwirrung und Bestürzung in Tränen ausbrach. Er nahm sie in die Arme. Nass und zerzaust war sie und hatte Mascaraspuren an den Wangen. »Um Gottes willen, Margaret, was ist passiert?« »Nichts ist passiert«, murmelte sie in seine Brust. »Gar nichts, Michael. Halt mich einfach nur fest.«
III Margaret wandte ihm den Rücken zu. Er sah, wie Michael auf sie zukam. Er hielt dabei irgendwas in der Hand, das Li nicht genau erkennen konnte. Dann hob er den Arm, sie wandte sich um, und im nächsten Moment sauste die Klinge des Dolches im Licht funkelnd und in hohem Bogen durch die Luft auf Margaret herab. Li schrie auf, doch kein Ton drang aus seiner Kehle. Er wollte ihr zu Hilfe eilen, doch man hatte ihm die Hände auf dem Rücken gefesselt, und nun bemerkte er auch das weiße Plakat um seinen Hals. Sein eigener Name stand darauf geschrieben, und zwar kopfüber. Als er wieder aufsah, erkannte er, dass es sich nicht um einen Dolch, sondern um ein Schwert handelte, und dass nicht Michael, sondern Margaret es führte. Mit einem äußerst befremdlichen Lächeln holte sie zum
entscheidenden Schlag aus. Sein eigener Schrei, den er als fernes Echo in seinem Traum widerhallen gehört hatte, weckte ihn auf. Er atmete schwer und war in Schweiß gebadet wie nach einem Wettlauf. In seinen Schläfen pochte schmerzhaft das Blut. Mit einem Blick auf die Digitaluhr neben dem Bett stellte er fest, dass es erst ein Uhr morgens war. Er hatte gerade mal eine halbe Stunde geschlafen. Die Beine aus dem Bett schwingend, fingerte er nach seinen Zigaretten. Kaum hatte er sich eine angezündet, erschrak er halb zu Tode, weil jemand mit der Faust an seine Tür pochte. »Hallo?«, hörte er eine Frauenstimme rufen. »Ist da jemand?« Er rannte durch die dunkle Wohnung, entriegelte die Tür, riss sie auf und sah die Frau mittleren Alters, die ihm gegenüber auf seiner Etage wohnte. Sie war eine Furcht erregende Erscheinung mit einem großen, hässlichen Gesicht und einem Damenbart am Kinn, eine ziemlich hochrangige Beamtin des Ministeriums für Staatssicherheit, dessen Angehörige im selben Wohnblock wie die des Ministeriums für öffentliche Sicherheit untergebracht waren. Ihre massige Gestalt hatte sie in einen pinkfarbenen Bademantel aus Baumwolle geschnürt, und ihr Gesicht war mit weißer Creme verschmiert. Li starrte sie verblüfft an. »Was ist denn los?« »Ich habe jemand schreien gehört.« Erleichtert atmete er aus. War das alles? »Ich hatte einen Albtraum«, erklärte er und bemerkte, dass ihr Blick sich auf das Mittelstück seines Körpers gesenkt hatte. Erschrocken wurde ihm klar, dass er splitterfasernackt war. »Gibt es sonst noch was?«, fragte er. Widerwillig riss sie den Blick vom Brennpunkt ihres Interesses los und sah ihm zornig ins Gesicht. »Sie sind widerlich!«, sagte sie. »Sich da mitten in der Nacht vor einer hilflosen Frau zur Schau zu stellen!« Trotzdem klang ihre Stimme eher mäßig angewidert. »Ich hätte gute Lust, Sie anzuzeigen.« »Weswegen?«, fragte er. »Weil ich keinen Ständer habe? Ein Blick auf Sie, Genossin, und kein Gericht in diesem Land würde mich deswegen verurteilen.« Sie wurde rot. »Vielen Dank für Ihre Anteilnahme.« Damit knallte er ihr die Tür in das entrüstete Gesicht. Er ging zum Kühlschrank, um sich ein Bier zu holen, doch er hatte bereits alles leer getrunken. Enttäuscht streifte er eine Jogginghose über und blieb, tiefe Züge aus seiner Zigarette nehmend, in seinem stockfinsteren Wohnzimmer sitzen. Wie er
sehen konnte, hatte der Regen draußen aufgehört. Doch das Laub der Bäume glitzerte immer noch nass im Licht der Straßenlaternen, und es tropfte daraus auf den Bürgersteig hinunter. Er dachte an Margaret, gebot sich aber augenblicklich Einhalt. Das war zu einfach. Den ganzen Abend hatte er praktisch nichts anderes getan. Auf gar keinen Fall würde er weiterhin hier herumsitzen und in Selbstmitleid baden. Er sprang auf, trat auf den Balkon und zwang seinen Geist, sich anderen Dingen zuzuwenden. Vor seinem inneren Auge tauchte das Bild von Vögelchen in seiner Arrestzelle auf, wie er elend und traurig, wie ein Fötus zusammengekrümmt auf den harten Brettern seines Etagenbetts lag. Und dann drängte sich ihm ein zweiter Gedanke auf, ein schon einmal angedachter, den er später wieder verworfen hatte. Mit diesem Gedanken verbunden war ein Bild, das Bild einer schemenhaften Gestalt, die in Vögelchens dunkler Wohnung herumschlich, um ein Schwert im Boden des Kleiderschranks zu verstecken. Er konnte förmlich die Vögel kreischen hören, die durch eine Bewegung in der Dunkelheit verängstigt aus dem Schlaf aufgeschreckt waren. Und plötzlich fiel ihm ein, wie Qian an dem Vorhängeschloss vor dem Scherengitter herumgefummelt hatte. Das Schloss ist kaputt. Wir brauchen überhaupt keinen Schlüssel. Genau das hatte er gesagt. Li verfluchte sich selbst. Warum hatte er sich nicht einmal die Mühe gemacht, einen Blick darauf zu werfen? War das Schloss aufgebrochen worden oder einfach nur kaputtgegangen? Er zündete eine neue Zigarette an und fuhr sich mit der Hand über die Haarstoppeln. Zu diesem Zeitpunkt war das allerdings auch kein Thema gewesen. Niemand hätte da vermutet, dass jemand in Vögelchens Wohnung eingebrochen sein könnte, um ihm die Mordwaffe unterzuschieben. Selbst jetzt war das keineswegs sicher. Li sah auf die Uhr. Es war gerade mal ein Uhr dreißig. Er kehrte zurück ins Schlafzimmer, streifte ein T-Shirt über und schlüpfte in seine Turnschuhe. Bis zum Morgen zu warten und dann Qian zu fragen überstieg eindeutig seine Geduld. Die Luft schmeckte nach feuchter Erde und nassem Laub, als er durch die dunklen, verlassenen Straßen nach Norden radelte und sich dabei fragte, ob seine Entschlossenheit, das Schloss vor Vögelchens Wohnung gleich jetzt zu überprüfen, nicht einfach ein Mittel war, um die Gedanken an Margaret zu vertreiben. In der Hoffnung, seinen Kopf von der Last jedes bewussten Gedankens freizubekommen, senkte er den Kopf und trat noch härter in die Pedale.
In der Sektion Eins holte der Dienst habende Beamte Vögelchens Schlüsselsatz aus der Asservatenkammer und übergab ihn Li. »Vor ein paar Stunden hat er nach Schreibzeug und Papier verlangt«, erzählte er Li. »Seither habe ich ihn nicht mehr zwitschern gehört.« Er strahlte über seinen mäßig originellen Witz. Das Gässchen, das von der Dengshikou-Straße abging, war wie ausgestorben. In stiller Dunkelheit lagen die Fensterreihen des Wohnblocks übereinander. Li radelte in den Innenhof, wo er in dem Müllhaufen auf der Treppe eine Ratte bei der Futtersuche aufstörte. Er stellte sein Fahrrad unter der Lampe an der Eingangstür ab und ging hinein. Von irgendwo aus den Tiefen des Gebäudes vernahm er das leise Summen eines elektrischen Geräts. Ansonsten herrschte Grabesstille. Die Türen des Aufzugs waren geschlossen, und der normalerweise beleuchtete Knopf, mit dem man den Lift rufen konnte, war dunkel. Li suchte sich seinen Weg zum Treppenabsatz und zog die Schlüssel aus der Tasche, um das Gittertor zum Treppenhaus aufzuschließen. Doch das Tor schwang quietschend auf, als er es nur berührte. Er zog eine Miniaturstablampe aus seiner hinteren Hosentasche und richtete den Lichtstrahl auf das Schloss. Es klemmte, und zwar ganz offensichtlich schon länger. Demzufolge hätte sich nach zehn Uhr abends, nachdem der Lift abgestellt worden war, jedermann Zugang zu dem Gebäude verschaffen können. Li begann mit dem langen Aufstieg. Als er endlich im achten Stock anlangte, bereute er es schwer, nicht schon längst das Rauchen aufgegeben zu haben – woraufhin er sich instinktiv auf der Stelle eine Zigarette anzündete und einen tiefen Zug nahm. Durch die Fenster drang der schwache Schein weit entfernter Straßenlaternen und erhellte den Korridor. Er arbeitete sich langsam vor und bog dann nach links in den dunklen Seitengang ab, wo der Strahl seiner Stablampe über die Nummer 805 über Vögelchens Wohnungstür strich. Das Scherengitter stand einen Spaltbreit offen, und Li spürte, dass er sich über die Fahrlässigkeit seiner Beamten ärgerte, die es nicht geschlossen hatten. Er bückte sich und hob das Vorhängeschloss am Ende der Kette in die Höhe. Der Verschlussbügel ließ sich problemlos ins Loch stecken und wieder herausziehen, aber das Schloss wollte nicht zuschnappen. Als Li den Strahl der Lampe auf das Schlüsselloch richtete, entdeckte er mehrere kleine Kratzer im Metall, glänzend und dem Anschein nach ziemlich frisch. Das Schloss war eindeutig aufgebrochen worden.
Vor kurzem. Und von jemandem, der sich mit so etwas auskannte. Im Aufstehen ließ Li das Schloss los und zog das Scherengitter zur Seite. Jemand war in die Wohnung eingebrochen und hatte Vögelchen das Schwert untergeschoben. Einen Augenblick blieb Li reglos stehen, erschrocken und verwirrt über diese Erkenntnis. Das konnte doch nicht sein. Mit einer Drehung am Griff der Wohnungstür stieß er sie auf. Er hörte das Schlagen von Flügeln in der Luft, den kreischenden Chor der Warnrufe, dann flog aus der Dunkelheit irgendetwas auf ihn zu. Etwas Großes und Dunkles, das äußerst schmerzhaft auf seiner Brust auftraf. Völlig überrascht und atemlos taumelte er zurück. Dann schälte sich ein Schatten aus der Dunkelheit, und Li erkannte die Umrisse eines drahtigen Mannes, der ein bisschen kleiner war als er selbst. Allerdings war Li nur ein äußerst flüchtiger Blick auf die Silhouette vergönnt, bevor ihm der Mann erneut mit dem Fuß gegen die Brust trat und ihm eine kleine, aber eisenharte Faust ins Gesicht schmetterte. Lis Kopf schlug mit einem ekelhaften Knacksen gegen die Wand in seinem Rücken, dann glitt er hinunter auf den Boden, während ihm Blut aus Mund und Nase quoll. Der Angreifer setzte behände über Lis hingestreckten Körper hinweg und war im nächsten Moment zur Tür hinaus und im Gang verschwunden. Li hörte Fußgetrappel auf Beton, das Zuschlagen einer Tür und schließlich das Echo der Schritte aus dem Treppenhaus, in das sein Peiniger unbehelligt entkommen war. Etliche Minuten saß Li einfach nur gegen die Wand gelehnt da und rang nach Atem. Sein Brustkorb tat höllisch weh, und das Blut, das ihm in die Kehle rann, ließ ihn würgen. Er kam sich vor wie ein kompletter Idiot. Kopfschüttelnd starrte Qian auf das Blut, das in Streifen über Lis TShirt gelaufen und dort geronnen war. Lis Gesicht war ziemlich übel zugerichtet. Die Unterlippe war gespalten und geschwollen, und aus beiden Nasenlöchern hingen ihm blutgetränkte Wattebäuschchen, die ein Sanitäter hineingeschoben hatte, um die Blutung zu stillen. »Muss ja ein riesiger Kerl gewesen sein, Chef, der Sie da so fürchterlich hergenommen hat.« Li schüttelte grimmig den Kopf. »Mit der Größe hat das nichts zu tun. Er hat mich einfach überrumpelt, sonst nichts. Ich habe nicht im Traum damit gerechnet, dass jemand in der Wohnung sein könnte.« Was ihm offenkundig peinlich war.
Mittlerweile erstrahlte der gesamte Wohnblock in hellem Licht. Kaum war die Polizei mit heulenden Sirenen eingetroffen, waren auch die Bewohner auf die Treppenabsätze und in den Innenhof geströmt. Weil die Bewohner der benachbarten Blocks ebenfalls aufgewacht waren, hatte sich auf der Straße eine Menge von mehreren hundert Schaulustigen versammelt, zum Teil mitsamt verschlafenen Kindern, die sich an der elterlichen Hand festklammerten und müde blinzelnd das Kommen und Gehen der uniformierten Beamten beobachteten. Qian war eben erst eingetroffen, nachdem ihn ein Anruf des Dienst habenden Beamten der Sektion Eins aus dem Bett gerissen hatte. Sein Gesicht war noch verquollen vom Schlaf. »Also, was hat der Kerl Ihrer Meinung nach da drinnen gemacht?« Er blickte durch die Tür in die Wohnung, wo die Uniformierten sämtliche Räume auf den Kopf zu stellen schienen. »Und was machen die da drin?« »Dasselbe wie er«, erwiderte Li. »Sie suchen. Der Unterschied ist lediglich, dass er wusste, wonach er suchte. Wir nicht.« Qian legte die Stirn in Falten und kratzte sich am Kopf. »Ich kann Ihnen nicht ganz folgen, Chef. Wollen Sie damit sagen, Sie wissen, wer er ist?« »Ganz klar. Es ist derselbe Kerl, der hier schon einmal eingebrochen ist und Vögelchen die Mordwaffe untergeschoben hat.« Das war Qian völlig neu. »Die Mordwaffe untergeschoben? Soll das heißen, Sie glauben nicht mehr, dass Vögelchen der Mörder ist?« »Das habe ich nie geglaubt. Und ich kann mir nur einen einzigen Grund vorstellen, warum dieser Typ noch mal zurückgekommen ist – nämlich weil er beim ersten Mal irgendwas hier vergessen oder verloren hat. Irgendwas, das ihn möglicherweise belasten könnte.« »Und glauben Sie, dass er es gefunden hat, bevor Sie ihm in die Quere gekommen sind?« Li zuckte mit den Achseln und verzog das Gesicht. Der Sanitäter hatte seine Rippen verbunden, aber sie schmerzten trotzdem. »Wer weiß? Aber falls es noch da ist, will ich es haben.« Es ging schon auf fünf Uhr morgens zu, als Qian mit einem kleinen durchsichtigen Plastikbeutel in der Hand aus der Wohnung trat. Li hockte draußen auf dem Gang, inmitten von kleinen Haufen von Asche und Zigarettenkippen. Allmählich ließ die Wirkung der Schmerzmittel nach, die er zuvor eingenommen hatte, und die
Schmerzen meldeten sich zurück. Mühsam richtete er sich auf. »Was haben Sie da?« Qian schüttelte niedergeschlagen den Kopf. »Das hier könnte vielleicht interessant sein, muss es aber nicht.« Das erste Licht dämmerte am Himmel, den der Regen des Vorabends rein gewaschen hatte. Die Wolken waren allesamt weitergezogen. Li nahm den Beutel und inspizierte den Inhalt. Er bestand aus einem winzigen Diamanten, kaum größer als ein Streichholzkopf, der auf dem Ende einer kurzen stumpfen Nadel aufsaß. »Was zum Teufel ist das?« »Ein Ohrstecker«, erklärte Qian. »So was stecken sich die Leute in ihre frisch gestochenen Ohrläppchen, damit das Loch nicht wieder zuwachsen kann. Ich glaube kaum, dass er Vögelchen gehört.« Li sah ihn mit unverhohlener Bestürzung an und deutete auf sein Gesicht. »Soll das etwa bedeuten, dass ich von einer Frau so zugerichtet wurde?« Qian grinste, denn der Gedanke belustigte ihn sichtlich. »Das halte ich für nicht besonders wahrscheinlich, Chef. Heutzutage lassen sich auch viele junge Männer die Ohrläppchen durchstechen. Eine hässliche Angewohnheit, die sie aus dem Westen übernommen haben.« Enttäuscht blickte Li an ihm vorbei in die Wohnung. »Mehr habt ihr nicht?« »Leider nein, Chef. Zumindest nichts, was irgendwie auffällig gewesen wäre. Wir waren schon froh, dass wir wenigstens das hier aus dem Müll da drinnen gezogen haben. Wenn das Ding nicht im Licht geblinkt hätte…« Qian wollte Li den Beutel wieder aus der Hand nehmen, doch sein Chef ließ das nicht zu. »Vielleicht gehört er Dr. Campbell«, sagte Li. »Sie war gestern in der Wohnung. In welchem Zimmer lag er?« »Im Schlafzimmer.« Li nickte nachdenklich. Qian gegenüber war sein Gesicht völlig ausdruckslos, aber innerlich pochte sein Herz schmerzhaft gegen die geprellten Rippen. Er hatte einen Grund, sie noch mal zu sehen. Es war ein dummes und unsinniges Unterfangen, das wusste er, und es konnte seine Seelenqualen eigentlich nur noch steigern. Aber es war ein legitimer Grund. »Ich werde mich frisch machen«, sagte er, »und dann zu ihr gehen und sie fragen.« Die Buden der Pelz- und Spielzeughändler auf dem westlichen
Gehsteig der Ritan-Gasse waren noch verrammelt und verriegelt. Im Park gegenüber versammelten sich Gruppen von Männern und Frauen, um Foxtrott zu tanzen oder Übungen in Tai Chi oder Wu Shu auszuführen. Li hörte, wie sich die scheppernde Musik aus den Ghettoblastern unter den Bäumen mit der klagenden Weise einer Violine und einer geisterhaften Frauenstimme mischte, die ein Lied aus der Pekingoper zum Besten gab. Die ersten Strahlen mattgelben Sonnenlichts flackerten schräg durch die Blätter. Die Luft war so erfrischend, wie es in Peking nur höchst selten vorkam. Obwohl es erst sechs Uhr morgens war, waren die Straßen schon voller Radfahrer, die in den Park, in die Fabrik oder ins Büro unterwegs waren. Einige wenige Straßenverkäufer hatten sich bereits an den Kreuzungen postiert, um im Kohlebecken gegarte heiße Süßkartoffeln, Jian Bing oder geröstete Esskastanien zu verkaufen. Der Geruch nach süßen Leckereien, die für ein frühes Frühstück vor sich hin brieten, wehte zusammen mit dem Rauch über die Straße. Li radelte langsam nach Norden. Bei jeder Umdrehung der Pedale taten ihm die Rippen von neuem weh. Er hatte rasende Kopfschmerzen, und die geschwollene Unterlippe pochte schmerzhaft. Aber all das war praktisch vergessen, als er aufsah und über den Baumwipfeln die weiß gekachelte Fassade des Ritan-Hotels erblickte. Am Eingangstor bremste er und stieg langsam ab. Ein Taxi hupte ihn im Vorbeifahren an, rollte dann an dem penibel gepflegten Blumenbeet vorbei und kam unter dem rot lackierten Aufbau aus Stahl und Glas zum Stehen, der eine Art Vordach über dem Eingang bildete. Li wollte gerade dem Wagen durch die offenen Torflügel folgen, als er eine vertraute Gestalt aus dem Hotel eilen und in das Taxi steigen sah. Es war Michael Zimmerman, der ausgesprochen glücklich und entspannt aussah und dessen Gang bemerkenswert federnd wirkte. Ihn aus dem Hotel herauskommen zu sehen traf Li mit noch größerer Wucht als die Attacke in Vögelchens Wohnung. Zimmerman konnte sich die Selbstzufriedenheit leisten, dachte Li verbittert. Schließlich hatte er Margaret. Augenblicklich zog Li sich zurück, suchte Deckung hinter einem am Rinnstein parkenden Wagen und beobachtete, wie das Taxi aus der Hoteleinfahrt auf die Straße bog und dann verschwand. Zimmerman bemerkte ihn überhaupt nicht. Wie hätte er es auch sollen? Schließlich war Lis chinesisches Gesicht nur eines unter elf Millionen in dieser Stadt. Er merkte, dass ihn die beiden braun uniformierten Wachleute mit unverhohlenem Misstrauen von
außerhalb ihres Wachhäuschens beäugten, vor dem sie rauchend herumstanden. Lange blieb er unschlüssig stehen. Er konnte jetzt einfach nicht hineingehen. Bestimmt würde sie ahnen, dass er Michael beim Verlassen des Hotels gesehen hatte. Und dieser Erkenntnis wollte er sich nicht stellen. Das hatte er niemals gewollt. Ganz langsam drehte er sein Rad herum und bestieg es wieder. Irgendwann im Lauf des Tages würde er Sang herschicken, um sie nach dem Ohrstecker zu fragen. Das brauchte er nicht unbedingt selbst zu erledigen.
IV Sobald er mit dem Rad in die Beixinqiao Santiao einbog und ein Dutzend uniformierte Beamte rauchend im Halbschatten der Bäume herumstehen sah, wusste er, dass etwas nicht stimmte. Ein Krankenwagen stand, halb auf dem Trottoir geparkt, vor dem Seiteneingang der Sektion Eins. Sobald sie ihn entdeckt hatten, drehten sich die Beamten zu ihm um, und das lebhafte Stimmengewirr erstarb. Er stellte sein Fahrrad ab und eilte hinein. Am anderen Ende des Korridors waren noch mehr Beamte versammelt, genau am Absatz der kurzen Treppe, die zu den Arrestzellen hinunterführte. In Lis Magen machte sich ein flaues Gefühl breit. Er rannte den Korridor entlang, schubste die Beamten einfach beiseite und stürzte, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinunter. In Vögelchens Zelle drängten sich uniformierte Polizisten und Beamte in Zivil. Zwei Ärzte beugten sich über eine bäuchlings ausgestreckte Gestalt auf dem Fußboden. Leiber wichen zur Seite, um Li durchzulassen. Vögelchens Kopf lag unnatürlich angewinkelt da. Seine Augen standen weit offen und starrten leblos an die Wand. Zwischen den blauen Lippen lugte die Zungenspitze hervor. Neben ihm auf dem Boden lag ein schmutziges Stück Seil, dessen Muster sich noch deutlich als trockene rotgoldene Abschürfung rund um Vögelchens Hals abzeichnete. »Er hat sich erhängt, Chef. Irgendwann während der Nacht.« Li wandte sich um und sah Wu an seiner Seite stehen.
»Wie zum Teufel ist er an das Seil gekommen?« Langsam verwandelte sich Lis Entsetzen in Wut. »Wie es aussieht, hat er es als Gürtel benutzt. Er trug den Kittel über der Hose, darum hat es niemand bemerkt.« Nach einer kurzen Pause fügte er bedeutsam hinzu: »Und niemand hat es überprüft.« Lis Wut ging nun in Verzweiflung über. Er ließ den Kopf sinken und rieb sich die Augen mit Daumen und Zeigefinger. Nachdem er einen tiefen, bekümmerten Seufzer ausgestoßen hatte, blickte er wieder auf Vögelchen. So grotesk die durch die Erdrosselung verzerrten Züge auch wirken mochten, in seinen Augen lag dennoch ein merkwürdig friedlicher Ausdruck. Er war entkommen. Nach dreiunddreißig Jahren hatte er endlich seine Schuld abladen können. Frei wie die Vögel, die er sein Leben lang so geliebt hatte. »Er hat ein Geständnis hinterlassen, Chef.« Wu sah ihn aufmerksam an. Li fuhr herum und runzelte die Stirn. »Ein Geständnis?« Wu nickte. »Es liegt beim Chef.« Chen überreichte ihm die beiden dünnen Blätter Papier, die mit Schriftzeichen in unbeholfen kindlicher Handschrift bedeckt waren. Grimmig bemerkte er: »Die Geschichte wird ein übles Nachspiel haben, Li Yan. Im Ministerium schätzt man es überhaupt nicht, wenn Gefangene in der Arrestzelle Selbstmord begehen. Man wird eine Untersuchung einleiten.« Li nickte. Zunehmend mutlos überflog er Vögelchens Geständnis. »Wenigstens«, fuhr Chen fort, »haben wir sein Geständnis. Der Fall ist gelöst, darum wird der politische Druck bald nachlassen. Ihr Jungs habt ja nicht die geringste Vorstellung, wie viel Druck ich euch erspart habe.« Li konnte es sich nur zu gut vorstellen. Er schüttelte den Kopf. »Ein Jammer, dass dieses ›Geständnis‹ nichts wert ist.« Chen starrte ihn finster an. »Wie meinen Sie das?« Li wedelte abschätzig mit den Blättern in seiner Hand. »Chef, er hat lediglich, und zwar praktisch Wort für Wort, die Anschuldigungen wiedergekäut, mit denen ihn Sang gestern konfrontiert hat, um ihn weich zu klopfen. Sie brauchen sich nur das Tonband anzuhören. Er hat uns einfach alles erzählt, was wir hören wollten. Dieses Geständnis ist wie eine dieser schriftlichen Selbstbezichtigungen, die man ihm während der Kulturrevolution
abgezwungen hat. Gestehen, gestehen, gestehen. Mehr wollte man damals nicht. Die Menschen sollten einfach genau das gestehen, was auch immer ihre Verfolger an so genannten ›Verbrechen‹ ersonnen hatten. Nichts anderes hat Vögelchen getan. Ein Geständnis ist der Weg des geringsten Widerstands – und zwar selbst dann, wenn man gar nichts getan hat.« Chen funkelte ihn wütend an. »So ein Unfug! Sein Alibi war falsch, er hatte das perfekte Motiv, und wir haben die Tatwaffe in seiner Wohnung gefunden.« »Ein Motiv ist kein Schuldbeweis, Chef. Das wissen Sie ebenso gut wie ich. Er wusste schlicht und einfach nicht mehr, was er letzten Montagabend gemacht hat. Und die Mordwaffe in seiner Wohnung ist ihm untergeschoben worden.« »Haben Sie dafür Beweise?« Li deutete mit dem Finger auf sein Gesicht. »Was halten Sie davon?« »Sie haben sich eine blutige Nase eingehandelt, als Sie einen Einbrecher in Ge Yans Wohnung überrascht haben. Was soll das beweisen?« Einen Augenblick lang war Li ratlos. Natürlich hatte er keinen hieb- und stichfesten Beweis dafür, dass jemand Vögelchen das Schwert untergeschoben hatte, auch wenn er absolut überzeugt davon war. »Es gibt noch haufenweise andere Ungereimtheiten, Chef. Der Spitzname, der Wein…« Chen schnitt ihm das Wort ab. »Ich will nichts davon hören, Li. Ich will nie wieder etwas davon hören.« »Aber Chef-« Chens Stimme war jetzt leise und streng geworden. »So weit es mich betrifft, Herr stellvertretender Sektionsvorsteher, konnten wir ohne jeden Zweifel nachweisen, dass die drei als Affe, Null und Schweinchen bekannten Opfer von Yuan Tao getötet worden sind. Damit rächte er sich dafür, dass sie Yuans Vater während der Kulturrevolution in den Tod getrieben hatten. Jetzt haben wir zusätzlich das Geständnis eines Individuums, das glaubte, ebenfalls auf der Todesliste zu stehen, ein Geständnis, demzufolge dieses Individuum Yuan Tao ermordet hat, um nicht selbst ermordet zu werden. Dieses Geständnis wird durch die Tatsache untermauert, dass in der Wohnung des Verdächtigen die Mordwaffe gefunden wurde. Ende der Geschichte. Ende des Falles.« Er schwieg einen langen Moment. »Haben wir uns verstanden?«
Eine ganze Weile sahen sich die beiden Männer schweigend und feindselig an. Li schäumte vor Wut. Am liebsten hätte er seinem Vorgesetzten Vögelchens Geständnis ins Gesicht geworfen und ihm erklärt, wohin er sich diesen angeblichen Beweis schieben konnte. Doch je länger er diesem Drang widerstand, desto klarer wurde ihm, dass diese Geste nicht das Geringste bringen würde. Am Ende sagte er nichts weiter als: »Ja, Chef.«
12. KAPITEL I Margaret lag auf dem Bett und schwelgte in einem Gefühl von Freiheit. So schmerzlich es auch gewesen war, die Entscheidung zu fällen, seit sie gefallen war, fühlte sie sich wie von einer ungeheuren Last befreit. In der vergangenen Nacht hatte sie lange nur Trost suchend in Michaels Armen gelegen, an ihn gekuschelt, bis sie sich geborgen und wohlig gefühlt hatte und sie sich geliebt hatten. Anschließend hatte sie tief und fest geschlafen und war erst kurz nach sechs Uhr morgens aufgewacht, als Michael sich leise auf den Weg machte. »Wohin gehst du?«, hatte sie ihn gefragt. Doch er hatte nur gelächelt und sie auf die Stirn geküsst. »In China ist der Sonntag kein Ruhetag. Außerdem finden schlechte Menschen sowieso nie Ruhe. Ich werde bei den Dreharbeiten gebraucht. Wir sehen uns später.« Jetzt drehte sie sich zur Seite und schaute auf die Uhr. Sie hatte Xinxin versprochen, mit ihr in den Park zu gehen. Bei dem Gedanken spürte sie einen winzigen schmerzlichen Stich, der sie wie ein Echo aus einem früheren Leben traf. Schon jetzt bereute sie ihr Versprechen. Sie hatte es gegeben, bevor sie Li mit Michaels Heiratsantrag und mit ihrem Entschluss, nach Hause zurückzukehren, konfrontiert hatte. Jetzt wollte sie nur noch einen klaren Schlussstrich ziehen. Noch mal einen Schritt zurückzumachen, und sei es nur für eine Stunde, konnte nur qualvoll werden. Aber versprochen war versprochen, und sie wollte das kleine Mädchen nicht unnötig enttäuschen. Das hatten bereits zu viele Menschen getan. Sie duschte, wusch sich die Haare und föhnte sich anschließend, wobei sie bei einem Blick in den Spiegel zu dem Schluss kam, dass sie alt aussah, verkniffen und ein wenig abgehärmt. Sie hatte
Gewicht verloren und konnte andeutungsweise die Rippen unter der Haut erkennen. Schlank wollte sie schon gern sein, doch allzu mager war unattraktiv. Schon oft hatte sie mitbekommen, wie Frauen zwischen dreißig und vierzig in dem verzweifelten Bemühen, ihre gute Figur zu erhalten, derart gefastet hatten, dass sie umso älter aussahen. Ein bisschen Fleisch auf den Knochen ließ die Menschen jünger erscheinen. Im Grunde wollte sie jetzt nur noch heim, und ein kleiner Trosthappen konnte ihr sicherlich auch nicht schaden. Als sie die Kleidungsstücke in ihrem Schrank durchsah, fiel ihr ein, dass sie irgendwann im Laufe des Tages noch packen musste. Allerdings verharrte sie nicht unnötig über ihren Anziehsachen. Die im Schrank hängenden Teile waren mit zu vielen Erinnerungen behaftet. Zu viele Sachen, die sie bei bestimmten Gelegenheiten extra für Li angezogen hatte, waren darunter. Sachen, die sie immer an ihn erinnern würde. Sachen, die sie zu Hause der Heilsarmee überlassen würde. Sie stieg in eine Jeans und steckte ein frisches TShirt in den Bund, dann wühlte sie unter den Schuhen auf dem Boden des Schranks nach einem Paar Turnschuhe. Ihre Wahl fiel auf ein weißes Paar mit hellrosa Streifen, doch im nächsten Moment gefror ihr das Blut in den Adern, weil sie beim Herausnehmen den schwärzlichblauen Staub auf der Holzverkleidung darunter entdeckte. Fast volle dreißig Sekunden verharrte sie regungslos, die Turnschuhe in der Hand, wie gebannt auf die schwärzlichen Körner starrend. Sie konnte ihr Herz pochen hören. Langsam griff sie in den Schrank und nahm eine Prise Staub zwischen die Finger, um sie einer eingehenden Betrachtung zu unterziehen. In Beschaffenheit und Farbe entsprach er exakt jener Probe, die Li ihr gezeigt hatte. Als sie die Turnschuhe umdrehte, fand sie das blaue Pulver in die Laufrillen gepresst. Ohne dass sie es merkte, war ihre Atmung schnell und flach geworden. Angestrengt versuchte sie sich zu erinnern, wann und wo sie diese Turnschuhe zum letzten Mal getragen hatte, wo sie wohl diesen eigenartigen pulverförmigen Staub in ihre Sohlen eingetreten haben könnte. Sie ließ die vergangenen Tage Revue passieren und begriff erschrocken, dass sie die Schuhe zuletzt getragen hatte, als sie mit Michael die Terrakottakrieger besucht hatte. Dort unten in den Schächten, unter dem Staub und Schutt der Jahrhunderte, hatte sich der abgebröckelte, zerriebene Ton als Keramikpulver abgelagert, ein gebrannter Lehm, der sich in der Gluthitze der Öfen bläulichschwarz verfärbt hatte. Dort hatte sie sich die Krümel in das Profil ihrer Schuhe eingetreten.
Und doch ergab das alles keinen Sinn. Welche Verbindung konnte denn zwischen den unterirdischen Grabstätten von Xi’an, wo zweitausend Jahre alte tönerne Soldaten ihren Kaiser bewachten, und einer Mordserie in Peking bestehen? Einer Mordserie, die nach menschlichem Ermessen bereits aufgeklärt war? Ebenso rasch, wie ihre Fantasie mit ihr durchgegangen war, holte sich Margaret wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Sie wusste ja nicht einmal, ob der Staub an ihren Schuhen wirklich mit den Proben der Polizei übereinstimmte. Doch zu ihrem sofortigen Bedauern begriff sie, dass ihr diese Frage keine Ruhe lassen würde. Und so fand sie sich urplötzlich und vollkommen unerwartet wieder im Zentrum jener Ereignisse wieder, denen sie sich unter so großen Anstrengungen zu entziehen versucht hatte. Ihre Neugier trieb sie mit unwiderstehlicher Macht, auch wenn sich, wie ihr allmählich klar wurde, ein Anflug von Beunruhigung in diese Neugier mischte. Margarets Zweifel, ob Herr Qi wohl am Sonntag arbeiten würde, waren rasch zerstreut. Schließlich gönnten sich die Verbrecher kein freies Wochenende, warum also sollten Kriminaltechniker das tun? Er besah sich die Staubprobe, die sie ihm in einem Briefumschlag des Hotels mitgebracht hatte, und kratzte sich nachdenklich am Kinn. Ihre Schuhe lagen in einer Plastiktüte auf dem Tisch. »Schaut gaanz aus wie selbe Staub«, sagte er. »Höchst wahrscheinlich ungefähr siebzig Prozent besteht aus gebrannte Lehm. Rest organisch, mineralisch, bisschen auch künstlich.« Er sah Margaret an. »Wo haben Sie gefunden, Doctah Cambo?« »Ich habe mir den Staub in den Schächten der Terrakottaarmee in Xi’an in das Profil meiner Schuhe eingetreten.« »Aha!« Qis Gesicht erstrahlte wissend. »Dann diese fast sicher selbe Staub. Wir Analyse machen von mineralische Bestandteile von Ton. Für gewöhnlich man findet in Gebiet von Shaanxi-Provinz in Westen von Xi’an-Stadt. Wenn Sie haben aus Schächten, dann muss sein Ton, mit dem gemacht Terrakottakrieger vor über zweitausend Jahre.« Plötzlich fiel Margaret wieder ein, in den forensischen Berichten gelesen zu haben, dass der Ton aus der Provinz Shaanxi stammte. Nur hatte sie das nicht mit Xi’an in Verbindung gebracht. Bis jetzt hatte sie dazu ja auch keinerlei Veranlassung gehabt. »Wie schnell können Sie bestimmen, ob dieser Staub mit den Proben übereinstimmt, die bei den Ermittlungen bezüglich Yuan Taos
sichergestellt wurden?« »Oh«, er sagte fröhlich. »Ist ruhig heute. Keine Problem. Paar Stunden, vielleicht. Kann machen Feinstruktur-Analyse mit die Stereomikroskop, und vielleicht Dichtegrad-Analyse. Sogar Mineralprofil, wenn möchten Sie. Wollen Sie warten?« Sie blickte auf ihre Uhr. »Das geht nicht.« Sie überlegte einen Augenblick. »Könnten Sie das Ergebnis dem stellvertretenden Sektions Vorsteher Li telefonisch durchgeben?« »Sicher. Keine Problem.« Er grinste. »Sie gerissene Dame, Doctah Cambo. Sie müssen kommen und arbeiten für chinesische Polizei.« Sie lächelte. Lieber würde sie in der Hölle schmoren, dachte sie. Das Taxi setzte sie an der Silberbarren-Brücke ab. Der Lebensmittelladen an der Ecke machte gute Geschäfte, und die Wege rund um die Seen waren voller Paare und Familien, die einen Sonntagsspaziergang unternahmen. Zumindest für einige war der Sonntag offenbar doch ein Mußetag. Margaret lief am Südufer des Qianhai-Sees entlang, an halb verfallenen einstöckigen Ziegelhäusern vorbei, bevor sie in die ruhigeren baumbestandenen Gässchen gelangte, die hinüber zum Lotusblütenmarkt führten, wo sich am Sonntag sicherlich schon die Menschen um die Imbissstände drängen würden, um einen Teller dampfende, mit Koriander garnierte Schweinekutteln zu erstehen. Kurz davor bog Margaret jedoch durch ein Bogentor ab, das in Mei Yuans Siheyuan führte. Ihre Gedanken hatten ausschließlich um den jahrtausendealten Staub gekreist, der sich an ihren Schuhen gesammelt hatte, aber auch in der Wohnung eines Ermordeten gefunden sowie von der Kleidung eines weiteren Mordopfers gekratzt worden war. Falls sie übereinstimmten, dann bestand die einzige Verbindung zwischen den jeweiligen Proben in jenem Lehm, der dazu gedient hatte, das achte Weltwunder zu erschaffen – tausende von Soldaten, zweihundertzwanzig Jahre vor Christi Geburt aus Ton gebrannt, um die unterirdischen Grabkammern des ersten chinesischen Kaisers zu bewachen. Unverständlich. Margaret erkannte einfach keinen Sinn darin. Jubelnd und in Hausschuhen stürzte ihr Xinxin entgegen. Schon seit dem Frühstück hatte sie an der Tür gestanden und gewartet. Margaret umarmte das Kind ganz fest, nahm es an der Hand und ging mit ihm ins Haus, wo sie von Mei Yuan mit einem breiten
Lächeln begrüßt wurde. »Sie kann es kaum mehr erwarten«, erklärte Mei Yuan. »Gestern Abend wollte sie gar nicht einschlafen, weil sie so aufgeregt war, dass Sie heute mit ihr auf den Spielplatz im Park gehen würden.« Ihr Lächeln verschwand. »Sie werden Peking doch nicht wirklich verlassen?« »Ich fürchte doch.« Margaret tat ihre Verlegenheit mit einem Achselzucken ab. »Ich habe den Eindruck, dass Sie und Li Probleme haben.« Margaret nickte nur. Ihr war nicht danach, das Thema zu vertiefen. Außerdem spürte sie, wie Xinxin an ihrem Arm zerrte. Als sie sich umwandte, stellte sie fest, dass das Kind mit großen, funkelnden Augen zu ihr aufsah und dabei unermüdlich auf sie einplapperte. »Sie bittet Sie, schnell zu machen«, übersetzte Mei Yuan grinsend. »Sie sagt, sie hätte schon seit Stunden auf Sie gewartet. « Margaret nahm Xinxin bei der Hand. »Na dann los.« »Einen Moment.« Mei Yuan bremste die beiden. »Sie hat noch Hausschuhe an. Ihre Turnschuhe stehen an der Tür. Sie kann sich die Schnürsenkel noch nicht alleine zubinden.« »Das mache ich schon«, sagte Margaret und hockte sich auf den niedrigen Schemel, der neben einer ganzen Reihe von Schuhen an der Tür stand. Xinxins Turnschuhe waren winzig, kleiner als Margarets Hände, und ihr schoss durch den Kopf, wie teuer es sein musste, ihr immer neue Schuhe zu kaufen, aus denen sie im Nu herauswuchs, ohne sie überhaupt lange tragen zu können. Als sie den linken Schuh hochhob, fiel ihr Blick auf eine Spur schwärzlichblauen Staubs auf dem Fußboden, die sich wie ein dunkler Fleck vom hellgrünen Linoleum abhob, und sämtliche Härchen in ihrem Nacken und auf ihren Armen stellten sich auf. Xinxin warf sich über Margarets Knie, drängte sie zur Eile, doch Margaret nahm sie kaum noch wahr. Sie drehte den Turnschuh um und sah den schwärzlichblauen Staub tief in den Laufrillen hängen. Bei dem anderen Schuh war es ebenso. Wogen der Verwirrung schlugen über ihr zusammen. Das hier ergab überhaupt keinen Sinn mehr. Xinxin war schließlich nicht in Xi’an gewesen. »Was ist denn los?« Mei Yuan blickte sie besorgt an. »Wann hat Xinxin diese Schuhe zuletzt getragen?« Verblüfft über die Frage, legte Mei Yuan die Stirn in Falten. »Gestern. Sie hatte sie an, als sie mit Ihnen und Li Yan unterwegs war.«
Margaret schaffte es einfach nicht, ihr Hirn auf Touren zu bringen. Ihr war, als würde es vollkommen orientierungslos auf einem Meer belangloser Gedanken treiben. Wo überall waren sie gestern gewesen? Sie sah sich die Sohlen ihrer eigenen Schuhe an. Nachdem sie die Staubreste im Profil der in Xi’an getragenen Turnschuhe entdeckt hatte, hatte sie dieselben Schuhe wie am Vortag angezogen. An denen nicht ein blaues Stäubchen zu finden war. Dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Natürlich, gestern Abend hatte es ja diesen Platzregen gegeben. Auf der Suche nach einem Taxi war sie durch die nassen Straßen gerannt. Was da noch an Rückständen an ihren Sohlen gehaftet haben mochte, musste unweigerlich weggespült worden sein. Also, wo waren sie gestern überall gewesen? Sie versuchte sich zu konzentrieren. Sie hatten im Jeep gesessen. Sie waren in der Sektion Eins gewesen. An der Universität… »Mein Gott!«, sagte sie laut. Die beiden blickten sie besorgt an. An der Universität waren sie in dem Restaurierungslabor gewesen, in jenem schmutzigen und staubigen Raum, wo uralte Artefakte restauriert und konserviert wurden. Professor Chang hatte sich noch für die Unordnung entschuldigt. Hier drin restaurieren wir seit Jahrzehnten die antiken Schätze Chinas, hatte er gesagt. Irgendwie haben wir es dabei anscheinend nie für nötig gehalten, unseren Müll wegzuräumen. Auch Professor Yue hatte dort gearbeitet. Und an dessen Hose und Schuhen waren zum ersten Mal Spuren des blauen Staubes gefunden worden. Erst jetzt bemerkte Margaret, dass Xinxin an ihrer Hand zerrte und jammernd ihre Enttäuschung kundtat. Sie ließ die winzigen Schuhe fallen, Xinxin von ihrem Knie gleiten und stand auf, das Gesicht gerötet vor Verwirrung und Aufregung. »Verzeihen Sie mir, Mei Yuan. Bitte sagen Sie Xinxin, dass es mir schrecklich Leid tut, aber ich kann jetzt nicht mit ihr in den Park gehen. Ich komme später noch mal vorbei. Ich muss in die Universität.« Unter den finsteren Blicken der steinernen Löwen, die das Westtor bewachten, rutschte Margaret vom Rücksitz des Taxis. Von den drei riesigen, eisenbeschlagenen Torflügeln zwischen den Pfosten stand lediglich der mittlere offen. Die beiden anderen waren fest geschlossen. Der uniformierte Wachmann beobachtete, wie Margaret auf ihn zukam, und sie fragte sich schon, wie sie ihn wohl davon überzeugen könnte, sie auch ohne Passierschein hineinzulassen.
Doch im Näherkommen erkannte sie, dass es sich um denselben Posten handelte, der sie bereits gestern eingelassen hatte. Er erkannte sie ebenfalls wieder. Möglicherweise erinnerte er sich auch daran, dass sie in Begleitung eines hochrangigen Polizeibeamten gewesen war, denn er winkte sie kommentarlos durch. Sie dankte ihm mit einem Lächeln und glitt wie Alice hinter den Spiegeln aus der einen Welt in eine andere hinüber. Die Gärten, Seen und Spazierwege des Campus lagen praktisch verlassen da. Die Trauerweiden entlang der Ufer ließen in der Hitze, die einem schon am Morgen den Atem raubte, die Köpfe hängen. Gelegentlich radelte gemächlich ein Student vorbei. Margaret überquerte auf einer Steinbrücke einen kleinen Teich und sah hinter den Rasenflächen den teilweise von Bäumen verdeckten, weiß getünchten Pavillon der archäologischen Fakultät. Eigentlich war sie sich sicher, dass der Laborassistent sie gestern am Verwaltungszentrum vorbei und am namenlosen See entlang nach Osten zum Kunstbau geführt hatte, aber hier gabelten sich so viele Wege, dass sie nicht genau wusste, welchen sie einschlagen musste. Nach einer geschlagenen Viertelstunde hatte sie, schon am Rande der Verzweiflung, endlich ihr Ziel gefunden. Hier sahen alle Wege und Pavillons gleich aus. Die beiden verstaubten grauen Ziegelbunker hatte sie hingegen auf Anhieb wiedererkannt. Am Eingang des westlichen Gebäudes war eine Plakette angebracht, die es als biologische Fakultät auswies, also musste das Haus gegenüber der Kunstbau sein, in dem auch die Labors der Archäologen untergebracht waren. Der gestern mit Fahrrädern voll gestellte und von Studenten bevölkerte Innenhof war praktisch leer und gespenstisch still. Die Luft war vom Summen und Brummen der Insekten erfüllt, und Margaret konnte die Vögel in den Bäumen singen hören. Irgendwo in der Ferne rief ein junges Mädchen einen Gruß, und aus noch größerer Distanz antwortete ihr ein junger Mann. Das Gebäude der Biologen schien abgesperrt zu sein. Der Kunstbau wirkte ebenfalls wie ausgestorben, die rostroten Türen waren abweisend geschlossen. Trotzdem stieg Margaret die drei flachen Stufen zum Eingang hinauf und drückte gegen die rechte Hälfte der Tür. Sie war fest verriegelt. Sie drückte gegen den linken Türflügel, der schwerfällig nach innen aufschwang. Zögerlich trat sie ein und tappte langsam über den gefliesten Boden, bis sich ihre Augen an das düstere Licht gewöhnt hatten. Der Korridor, der quer durch das Gebäude führte, war dunkel und fensterlos. Das ferne Sonnenlicht,
das aus der Verglasung beim Haupteingang hereindrang, reichte kaum bis ans andere Ende. Doch etwa auf halbem Weg fiel ein einzelner heller Lichtstrahl durch eine offen stehende Tür, und als Margaret näher kam, erkannte sie, dass es sich um die Tür des Restaurierungslabors handelte, in dem sie und Li mit Professor Chang gesprochen hatten. »Hallo!«, rief sie, wobei der Widerhall auf dem langen Korridor ihre Stimme ungewöhnlich laut klingen ließ. Inzwischen war sie bei dem Labor angelangt und stieß gegen die Tür, die quietschend aufschwang. Durch die Jalousien fielen in schmalen Streifen die Sonnenstrahlen ein und legten sich parallel, wenn auch verzerrt auf die gesamte Einrichtung. »Hallo!«, rief sie erneut. Doch da war niemand. Das Schwert, das Professor Chang restauriert hatte, klemmte noch immer zwischen den Backen des Schraubstocks auf der großen Werkbank in der Mitte des Raumes. Das Zimmer war verschmutzt und so chaotisch, wie sie es in Erinnerung hatte. Sie zog einen kleinen durchsichtigen Plastikbeutel aus ihrer Handtasche, stellte diese dann auf dem Tisch ab und ging in die Hocke, um den Staub auf dem Fußboden zu untersuchen. Hier vor der Werkbank fanden sich nur Sägespäne und eine Art schmutziger Sand. Sie wanderte durch das Zimmer bis zu einer freien Stelle auf dem Boden, die von blauem, pudrigem Staub bedeckt war. Erneut ging sie in die Hocke, um eine Probe durch ihre Finger rieseln zu lassen. Der Staub sah aus und fühlte sich an wie jene Rückstände, die sich in Xi’an in den Rillen ihrer Schuhe angesammelt hatten. Sie schaufelte so viel wie möglich in den Plastikbeutel und stand wieder auf. Ihr Rundgang hatte sie ans entfernte Ende der Werkbank geführt, und von hier aus erkannte sie, dass diese über im Fußboden verankerte Schienen nach vorne in Richtung Tür verschoben worden war. Darunter war eine große, aufgeklappte Luke im Boden zu erkennen, mitsamt einer Holztreppe, die in einer Art von beleuchtetem Keller verschwand. Zum ersten Mal beschlich Margaret ein ungutes Gefühl. Sie näherte sich vorsichtig dem Rand der Luke und spähte forschend in die Tiefe. »Hallo!« Sie erhielt keine Antwort; lediglich eine Schwade kalter, feuchter Luft zog von unten herauf, beinahe wie der muffige, üble Gestank in den Gängen der unterirdischen Stadt. Sie zögerte eine Weile, bevor schließlich ihre Neugier die Oberhand gewann, steckte dann den Plastikbeutel in die Tasche und prüfte vorsichtig, ob die hölzernen Stufen sie tragen würden. Sie
wirkten einigermaßen robust, also machte sie sich vorsichtig an den Abstieg in die darunter liegende quadratische Kammer. Hier waren die Wände nur grob verputzt und wasserfleckig. Von der Decke baumelte eine einsame Glühbirne, deren Stromkabel aus der Kammer in einen Gang mit gewölbter Decke führte, der etwa alle fünfzehn oder zwanzig Meter von einer Lampe erhellt wurde. Das Stahlgitter am Eingang des Ganges stand einen Spaltbreit offen. Sie rief erneut, erhielt aber auch diesmal keine Antwort. Sie war schon versucht sich umzudrehen, wieder ins Labor hinaufzuklettern und in die Wärme und Sicherheit des Sonnenscheins draußen zurückzueilen, als sie die braunen, verkrusteten Schmierflecken auf dem Fußboden entdeckte. Sie bückte sich, um sie genauer in Augenschein zu nehmen. Es war Blut. Altes, graubraun verfärbtes Blut. Schätzungsweise mehrere Wochen alt. Aufblickend erkannte sie, dass die Spur in den Gang hineinführte, so als ob ein blutender Körper hinein- oder herausgeschleift worden sei. Ihr ungutes Gefühl verwandelte sich in Angst. Die klamme Luft drang ihr bis in die Knochen. Trotzdem merkte sie, wie ihre Neugier sie unwiderstehlich in den Tunnel zog, immer der Spur getrockneten Blutes nach. Eine Hand an der Wand, tastete sie sich vorsichtig den Gang entlang. Hier war es so kalt, dass ihr Atem in dicken Wolken kondensierte. In dem feuchten Nebel konnte sie maximal drei oder vier Meter nach vorne blicken. Fast hatte sie das Gefühl, in die Gänge der unterirdischen Stadt zurückversetzt worden zu sein, wo sie sich nun den Weg zum alten Hauptbahnhof bahnen musste. Je weiter sie kam, desto mehr Blut war auf dem rauen Betonboden vergossen worden, woraus sie schloss, dass sie dem Schauplatz des blutigen Geschehens immer näher rückte. Nach einer Weile erkannte sie durch den Nebel, dass sich der Gang zu einer großen gewölbten Kammer öffnete. Ihr Blick wurde magnetisch vom Blut auf dem Boden angezogen. Denn als sie die Kammer betrat, schaute sie auf eine riesige Lache und registrierte zugleich das unverkennbare Spritzmuster des weit geschwungenen Schwertes, mit dem der todbringende Hieb ausgeführt worden war. Dann blickte sie auf und schnappte erschrocken nach Luft, als ihr Blick auf die Reihe von Gestalten fiel, die sie schweigend aus der Dunkelheit heraus musterten. Im selben Moment erloschen alle Lichter, und eine undurchdringliche Schwärze senkte sich über sie.
II Li stand rauchend am Fenster. Sein Geist war wie betäubt, nicht zu gebrauchen, von einer Art mentaler Lähmung befallen. Ein Teil seiner selbst verweigerte ihm einfach jedes Nachdenken: ob über Vögelchens so genanntes Geständnis, über das widersprüchliche Beweismaterial, den Einbrecher, der ihn in Vögelchens Wohnung angegriffen hatte, oder auch Chens Anweisung, den Fall ad acta zu legen. Und am allerwenigsten wollte er über Margaret nachdenken: darüber, dass sie morgen ein für alle Mal abreisen würde, oder am Ende sogar darüber, dass sie auch nur in Erwägung ziehen konnte, Zimmerman zu heiraten. Also füllte er seinen Kopf stattdessen lieber mit Rauch und starrte mit leerem Blick auf die Bäume, die das Gebäude des gesamtchinesischen Verbandes heimgekehrter Auslandschinesen beschatteten. Qian klopfte und streckte den Kopf durch die Tür. »Chef, ich habe da jemanden unten im Vernehmungsraum, mit dem Sie sprechen sollten.« Li machte sich nicht einmal die Mühe, sich umzudrehen und ihn anzusehen. »Ich denke im Augenblick gar nicht daran, mit irgendwem zu sprechen«, erwiderte er. »Ich glaube schon, dass Sie mit diesem Kerl sprechen wollen.« Qian ließ sich nicht abwimmeln. »Es ist Vögelchens Freund, Mond. Derjenige, der ihm für Montagabend kein Alibi geben konnte.« Mond war ein verschrumpelter Gnom mit völlig kahlem Schädel und kleinem, rundem Gesicht. Er trug einen schäbigen grauen Baumwollanzug über einem oben offenen weißen Hemd mit speckigem, abgewetztem Kragen. Mit übereinander geschlagenen Beinen saß er auf dem Stuhl, auf dem gestern noch Vögelchen gesessen und seine Unschuld beteuert hatte. Seine selbst gedrehte Zigarette war bis zu den vom Nikotin fleckig gewordenen Fingern heruntergebrannt. Er war bleich und aufgeregt. »Nun?«, blaffte Li ihn an, sowie er den Vernehmungsraum betrat. Mond schaute ängstlich auf Qian, der ihm zunickte und ihn ermunterte: »Erzählen Sie ihm einfach, was Sie mir erzählt haben.«
Mond wirkte nervös. Er nahm einen letzten Zug von seiner Zigarette, trat sie aus und drehte sich augenblicklich eine neue. Auf diese Weise hatte er einen Vorwand, Li nicht ins Gesicht blicken zu müssen. »Ich habe gehört, was passiert ist«, sagte er. »Ich wünschte nur, ich wäre schon gestern Abend gekommen. Jetzt ist es zu spät.« »Zu spät wofür?« »Ich habe alles durcheinander gebracht. Ich kann es mir gar nicht erklären. Normalerweise haben Vögelchen und ich immer am Dienstagabend Dame gespielt. Nur neulich haben wir unser Treffen einmal auf den Montagabend verlegt, weil mich am Dienstag ein Vetter vom Land besuchen kommen wollte. Ich weiß nicht genau warum, aber irgendwie war ich überzeugt, dass das vorletzte Woche gewesen war. Ich war mir absolut sicher.« Schließlich sah er doch zu Li auf, und seine feuchten Augen flehten um Verständnis. »Ich weiß nicht… ich vergesse in letzter Zeit so viele Dinge. Erst als mein Vetter mich gestern anrief, fiel mir alles wieder ein. Wenn ich nur geahnt hätte, wie wichtig das gewesen wäre…« Ihm versagte die Stimme, und er blickte wieder nach unten auf seine selbst gedrehte Zigarette, um seine Tränen zu verbergen. »Was wollen Sie damit sagen?«, fragte Li. Mond zündete sich die Zigarette an. »Dass wir am vergangenen Montag Dame gespielt haben, genau wie Vögelchen gesagt hat. Unten an der Mauer in Xidan. Bis spät in die Nacht. Danach kam er noch auf ein Bier zu mir nach Hause. Er ist bis in die frühen Morgenstunden geblieben. Was er auch immer getan haben soll, er kann es unmöglich gewesen sein. Ich schwöre es beim Grab meiner Vorfahren.« Oben eilte Qian seinem Vorgesetzten im Korridor hinterher. »Was soll das heißen, dass Sie in der Sache nichts unternehmen wollen?« »Chen will nichts davon wissen.« »Und deshalb ist es richtig?« »Nein, ist es nicht!« Es ärgerte Li, dass Qian, der einige Jahre älter als er selbst, aber vom Rang her sein Untergebener war, vielleicht glaubte, er wäre in irgendeiner Form glücklich darüber. »Monds Alibi bestätigt mir lediglich, was ich bereits längst gewusst habe. Chen wollte schon vorher nichts von meinen Zweifeln wissen, und er wird auch jetzt nichts davon wissen wollen.« Qian sah ihn kopfschüttelnd an. »Und in der Zwischenzeit läuft der Täter immer noch frei herum. Wollen Sie ihn damit etwa
durchkommen lassen?« Li seufzte frustriert. Er wusste, dass Qian Recht hatte. »Nein«, erwiderte er niedergeschlagen. Das würde sein Gerechtigkeitssinn niemals zulassen. Aber das würde bedeuten, dass er sich auf einen Kampf einlassen musste, und im Moment war er sich keineswegs sicher, ob er die nötige Kraft aufbringen könnte. »Li!« Chens Stimme dröhnte vom anderen Ende des Korridors zu ihnen herüber. Sie wandten sich um und sahen den Sektionsvorsteher heraneilen. »Schnappen Sie sich zwei Beamte und fahren Sie raus zum Flughafen!« »Chef«, erwiderte Li müde, »es gibt eine neue Entwicklung im Fall Yuan Tao.« »Sofort, Li!« Chen tat so, als hätte er Lis Worte gar nicht gehört. »Da draußen gibt es einen Notfall.« Li warf Qian einen Blick zu. »Es tut mir Leid, Chef. Ich werde nirgendwohin fahren, bevor wir nicht über den Fall Yuan Tao gesprochen haben.« Chen blieb wie angewurzelt stehen. Diesen direkten Angriff auf seine Autorität konnte er auf keinen Fall durchgehen lassen. Rasch fuhr Li fort: »Es gab ein Missverständnis, was Vögelchens Alibi betrifft. Erinnern Sie sich noch an diesen Kerl, mit dem er angeblich Dame gespielt hat? Der später ausgesagt hat, dass das nicht stimmen würde? Er hat die Wochen verwechselt. Er war eben hier und hat uns eröffnet, ihm sei klar geworden, dass er in der fraglichen Nacht doch mit Vögelchen zusammen war. Vögelchen kann Yuan unmöglich getötet haben.« In Qians Gegenwart konnte Chen diesen Einwand keinesfalls ignorieren. Er dachte einen Augenblick nach, wobei er Li missmutig anblickte. Schließlich kam er zu einem Entschluss. »Wir werden darüber sprechen, wenn Sie vom Flughafen zurück sind.« Lis Frustration kochte über. »Warum zum Teufel sollen wir zum Flughafen rausfahren? Da draußen ist die Flughafenpolizei zuständig.« Mühsam hielt Chen seinen Ärger im Zaum. Ohne die Stimme zu erheben, sagte er: »Eine große, für eine Wanderausstellung in den Vereinigten Staaten bestimmte Ladung von Terrakottakriegern wurde dort heute Morgen im Frachtraum eines Transportflugzeugs verstaut. Dabei kam es zu einem Unfall mit einem der Gabelstapler. Eine der Transportkisten mit einem Krieger fiel aus einer Höhe von sechs Metern auf das Rollfeld und zerbrach, wobei der Inhalt zerschmettert wurde.«
Li runzelte die Stirn. »Das verstehe ich nicht. Was haben denn wir damit zu schaffen?« »In der Kiste waren zwei Krieger«, erklärte Chen. »Ja und?« Der Groschen war noch nicht gefallen. Chen seufzte. »Es hätte eigentlich nur einer drin sein dürfen.« Lis Pendant bei der Flughafenpolizei war ein Mann von mittlerer Größe, der das Haar nach hinten gekämmt und mit duftendem Haaröl an die Kopfhaut gepappt hatte. Der stellvertretende Sektionsvorsteher Wei war um die fünfunddreißig Jahre alt. Er hatte ein weißes Hemd, Jeans und Turnschuhe an, protzte mit drei Ringen an jeder Hand und trug am rechten Handknöchel ein dickes Kettenarmband. Außerdem stank er nach Rasierwasser. Er schenkte Li ein schmieriges Lächeln, reichte ihm die Hand und stellte ihm seine Untergebenen vor, von denen einer Uniform trug. Im Gegenzug machte Li ihn mit Wu und Qian bekannt. Nachdem sie die Formalitäten hinter sich gebracht hatten, ließ Wei die Tür eines Toyota-Kleinbusses aufgleiten, der sie aufs Rollfeld bringen würde. Sie fuhren eine halbe Ewigkeit über das Vorfeld, bis sie die Stelle erreicht hatten, an der die in der Hitze flimmernde Transportmaschine parkte. Hinter ihnen ragten verschwommen das alte und das neue Terminal aus dem Dunst auf. Vor ihnen parkten ein Lastwagen und ein Gabelstapler neben der geöffneten Frachtluke des Flugzeugs. Mehrere Polizeifahrzeuge, mindestens zwei Dutzend uniformierte Beamte und einige Individuen in ziviler Kleidung standen herum. Das Flugzeug war komplett durch ein Band mit gelben und schwarzen Streifen abgesperrt, das sich flatternd in dem stürmisch über die Rollbahn jagenden heißen Wind blähte. Der Kleinbus kam neben der Maschine zum Stehen, die Ermittlungsbeamten aus Peking stiegen hinaus in den Wind, überkletterten die Absperrung und marschierten geradewegs ins Zentrum des Geschehens – das aus einer großen Holzkiste bestand, die durch die Wucht des Aufpralls aufgeplatzt war. Aus den Bruchstücken quollen dicke Büschel von Holzwolle, die vergeblich zum Schutz des Inhalts mit eingepackt worden waren. Die Trümmer lagen in weitem Umkreis verteilt. Scherben von Tonsoldaten, die mehr als zwei Jahrtausende überlebt hatten, nur um auf dem Rollfeld eines Pekinger Flughafens in Stücke geschlagen zu werden. Zwei Köpfe, von denen einer in zwei Hälften gespalten war, lagen deutlich sichtbar herum.
»Wer ist hier der Verantwortliche?«, fragte Li. Ein Mann mittleren Alters in Anzug und mit Sonnenbrille trat vor, um Li die Hand zu schütteln. »Jin Gang«, stellte er sich vor. »Sicherheitschef des Museums der Terrakottaarmee in Xi’an.« »Haben Sie das Verpacken überwacht?« Jin nickte. »Fünf von uns begleiten die Ausstellung. Außer mir noch mein Stellvertreter, ein Archäologe und zwei Forscher. Wir alle waren anwesend, als die Krieger eingepackt worden sind.« »Und in jede Kiste wurde nur ein einziger Krieger gepackt?« »Genau.« »Wie ist es dann möglich, dass sich in der hier zwei befinden?« Jin ging neben der zerschmetterten Kiste in die Hocke und zerrte ein paar Holzplanken aus der Seitenwand. »Sehen Sie selbst«, sagte er. »Das Ding hat einen doppelten Boden. Der überzählige Krieger war bereits drin, während der zweite verpackt wurde. Wir haben alle anderen Kisten überprüft.« Er nickte zu den Stapeln von Kisten hinüber, die etwa zur Hälfte vom Lastwagen abgeladen worden waren. »Es ist bei allen so.« Er schwieg einen kurzen Moment. »Zwei gehen ins Ausland. Höchstwahrscheinlich wäre nur einer wieder zurückgekommen.« Li kauerte sich neben ihn und untersuchte die gesplitterte Transportkiste. Er hob eine kleine Tonscherbe auf und runzelte die Stirn. »Sind die Figuren echt?« Jin sah zu einem älteren Mann hin, der vornübergebeugt dastand und jede Bewegungen mit Argusaugen verfolgte. Der Mann nickte Li zu. »Mein Name ist Yan Shu«, sagte er und streckte Li die Hand entgegen. »Ich bin der leitende Archäologe des Museums. Dies sind allesamt originale Terrakottakrieger, Herr stellvertretender Sektionsvorsteher. Daran kann nicht der Hauch eines Zweifels bestehen.« Li sah hoch in die Gesichter, die ihn umringten und erwartungsvoll anschauten. »Und woher kommen die, verflucht noch mal?« Niemand sagte ein Wort. Der Wind nahm noch an Kraft zu und pfiff jaulend durch das Fahrwerk des über ihnen aufragenden Metallvogels. »Na dann, wer hat diese Kisten hergestellt?« »Ein Verpackungsfirma aus dem Bezirk Haidan in Peking«, antwortete Jin, sich steif erhebend. »Sie wurde allerdings nicht vom Museum, sondern von den Organisatoren der Ausstellung
beauftragt.« Li stand ebenfalls auf. »Und wer sind die Organisatoren?« »Eine amerikanische Firma namens ›Die Kunst des Krieges‹. Sie wurde von den Amerikanern eigens zu dem Zweck gegründet, die Ausstellung zeitgleich mit dem Start der Dokumentarserie zu organisieren.« »Von was für einer Dokumentarserie reden Sie?« Li kam es so vor, als würde er als Einziger in einem Meer von Unwissenheit herumwaten, während alle anderen die Antworten auf seine Fragen längst zu kennen schienen. Er sah Qian an, doch der zuckte bloß mit den Achseln. »Die Kunst des Krieges von Michael Zimmerman«, sagte Jin. »Die Serie kommt nächsten Monat in den Vereinigten Staaten auf die Bildschirme.« Li merkte, wie die Haut auf seinem Gesicht und seinem Hals zu kribbeln begann, und er fing ungeachtet der Hitze an zu frösteln, als wäre eben vor seinen Augen ein Toter aus seinem Grab auferstanden. »Was hat denn Michael Zimmerman mit all dem zu tun?« Jin erklärte es ihm. »Er ist der Organisator der Ausstellung. ›Die Kunst des Krieges‹ ist seine Firma.« Die Zwillingstürme des chinesischen World Trade Centers, wo Michael Zimmerman im zweiundzwanzigsten Stock ein Apartment bewohnte, erhoben sich, das Licht der Herbstsonne reflektierend, über den östlichen Stadtrand. Der Sicherheitschef des Gebäudes hatte den vom Büro des Oberstaatsanwalts ausgestellten Durchsuchungsbefehl mit größter Sorgfalt geprüft, bevor er gemeinsam mit Li, Wu, Qian und mehreren uniformierten Beamten in den Lift nach oben gestiegen war. Die Angestellten des Zimmerservices hatten zuvor bestätigt, dass Michael die Nacht nicht in seinem Apartment verbracht hatte. Doch das wusste Li bereits. Der Sicherheitschef sperrte die Tür auf und öffnete sie zu einem luxuriösen Ambiente, das alles überstieg, was die meisten von Lis Beamten bislang zu Gesicht bekommen oder sich auch nur in ihren wildesten Träumen ausgemalt hatten. Vor ihnen erstreckte sich ein watteweicher Teppichboden in die Tiefen der Wohnung, darauf verteilt erstrahlten eine dreiteilige weiße Couchgarnitur der Spitzenklasse und eine wundervolle Essgarnitur aus Buchenholz mit dazu passendem Kaffeetischchen und einem ebensolchen Sekretär.
Auf einer halbrunden Fernsehtruhe thronte ein riesenhafter Apparat, darunter stand der Videorekorder in einem dafür vorgesehenen Fach. Rund um die Truhe stapelten sich Videokassetten auf dem Teppichboden. Gerahmte Kunstdrucke hingen an den cremefarbenen Wänden, und hinter den vom Boden bis zur Decke reichenden Fenstern breitete sich das spektakuläre Panorama der Stadt aus. Die Fenster waren von geschmackvoll gemusterten Vorhängen gesäumt, die sich bei Bedarf zuziehen ließen, um die mehr als hundert Meter weiter unten gelegene Welt auszublenden, in der ganze Familien in einem einzigen Zimmer hausen mussten. Eine Tür stand einen Spaltbreit offen; sie führte in die mit westlichen Markengeräten ausgestattete Küche, in der es an nichts mangelte, was das Herz begehren mochte. Eine weitere Tür führte in das nach Maß angefertigte Bad, das mit einer in den Boden eingelassenen runden Badewanne und einer separaten Duschkabine aufwartete. Die Wasserhähne waren vergoldet. Das große Schlafzimmer mit den Einbauschränken und dem extrabreiten Bett war direkt mit einem sich anschließenden Ankleideraum verbunden. Ein paar Minuten sahen sich die Kommissare ehrfürchtig schweigend um. Es war schwer zu glauben, dass derartiger Luxus praktisch Haus an Haus neben der vergleichsweisen Armut der Einheimischen existieren konnte. Li fragte sich, was wohl in den Menschen vorgehen musste, die diese Apartments Tag für Tag sauber machten und aufräumten, um nach Feierabend in ihren Siheyuan oder in ihre winzigen Wohnungen in den Sozialbaublocks zurückzukehren, in denen die Heizungen frühestens Mitte November angeschaltet wurden, wenn die Gehwege draußen längst mit Frost überzogen waren. Er drehte sich zu dem Sicherheitschef um und machte ihm klar, dass er draußen warten solle. Als sie unter sich waren, schärfte er seinen Beamten ein: »Wir wissen nicht genau, wonach wir eigentlich suchen, also sehen wir uns alles genau an. Aber seid vorsichtig, wir bewegen uns hier auf diplomatisch explosivem Terrain.« Ein Saxophon lag achtlos hingeworfen auf dem Bett. Im Kleiderschrank hingen ganze Reihen italienischer Maßanzüge und Designerjeans. Auf der Stange darunter standen mehr als ein Dutzend Paar Schuhe. Aus den Schubladen quollen T-Shirts und Boxershorts teurer Marken. Das Schränkchen im Badezimmer enthielt eine erlesene Auswahl bekannter Seifen und Duschgels mit Namen wie Yves Saint Laurent oder Paco Rabanne.
Schon beim Betreten des Apartments hatte Li flüchtig, beinahe unterbewusst einen dezenten Duft in der Luft wahrgenommen. Der Duft war so schwach, dass er nicht sicher war, ihn zu riechen; erst als er ins Badezimmer trat, registrierte er ihn ganz deutlich, sogar über den Geruch der vielen Seifen und Shampoos hinweg. Er verfolgte ihn zurück bis zu einem kleinen braunen Fläschchen mit Schraubverschluss, das in der Ecke des Badezimmerschränkchens stand. Li schraubte den Deckel ab und roch den süßen, durchdringenden Duft des darin befindlichen ätherischen Öls. Ein Blick auf das Etikett wies die Substanz als Patschuli aus. Sofort war ihm klar, dass er genau diesen Geruch in Yuans beiden Wohnungen in der Nase gehabt hatte. Ganz schwach, kaum wahrnehmbar. Und er wusste auch, dass dieses merkwürdige Gefühl von Vertrautheit, das ihn jedes Mal in Zimmermans Gegenwart irritiert hatte, ebenfalls von dem Patschuliduft hergerührt hatte. Nie aufdringlich, dennoch allgegenwärtig, stets gerade noch wahrnehmbar. Er verfluchte sich, weil ihm das nicht früher aufgefallen war. Die Wahrnehmung hatte ihm zwar immer irgendwo in den Tiefen seines Unterbewusstseins Unbehagen bereitet, sich jedoch nie als klarer Gedanke manifestiert. Erst jetzt begriff er, dass Zimmerman sowohl in Yuan Taos Botschaftsunterkunft als auch in dessen heimlicher Zweitwohnung in der Tuan-Jie-Hu-Straße gewesen war. Wahrscheinlich sogar in jener Nacht, als Yuan ermordet worden war. Li drehte sich der Magen um, weil ihm zu seinem Entsetzen klar wurde, dass Margaret eventuell in Gefahr schwebte. Er ging zurück ins Wohnzimmer, wo seine Beamten damit beschäftigt waren, Zimmermans persönliche Habseligkeiten zu sichten. Wu untersuchte, die Sonnenbrille hoch in die Stirn geschoben, gerade die Stapel von Videobändern, die um die Fernsehtruhe herum aufgebaut waren. »Der Kerl muss ein echter Filmfanatiker sein«, sagte er. Li nahm ihm eine der Kassetten aus der Hand und studierte das Etikett. »Das sind Aufnahmemuster«, stellte er fest. »Was soll das sein?« Wu blickte ihn verständnislos an. »VHS-Kopien von den Aufnahmen, die Zimmerman am Drehort gemacht hat. Vermutlich schaut er sie sich jeden Abend an, wenn er heimkommt.« »Falls er heimkommt«, sagte Wu mit hochgezogenen Brauen. Obwohl theoretisch keiner seiner Untergebenen von Zimmermans Beziehung mit Margaret wissen konnte, merkte Li, wie
ihm das Blut ins Gesicht schoss. Doch Wu merkte nichts davon. Er war zu sehr damit beschäftigt, eines der Bänder einzulegen. Schließlich bekam er ein Bild auf den Fernsehschirm, wo als Bauern verkleidete Statisten zu sehen waren, die gerade den Platz vor dem Stelenpavillon in Ding Ling stürmten. Li erkannte die Aufbauten wieder, die er vor zwei Tagen draußen bei den Dreharbeiten gesehen hatte. Ein großes rotbärtiges Gesicht unter einer Baseballkappe schob sich vor die Kamera. »Okay, Schnitt«, sagte das Gesicht, wobei sich der Besitzer des Gesichts mit dem Zeigefinger waagrecht über die Kehle fuhr. Die Kamera schwenkte in einem Rutsch über den Platz und kippte anschließend nach unten, woraufhin das unscharfe Bild eines Fleckchens Erde zu sehen war, bevor der Bildschirm schwarz wurde. Li hatte nicht die geringste Ahnung, was er hier eigentlich zu finden hoffte. Er wusste weder, in was für eine Geschichte Zimmerman da verwickelt war, noch wie tief er verstrickt war. Und er machte sich keine allzu großen Hoffnungen, dass er auf irgendwelche belastenden Indizien stoßen würde. Er trat an den Sekretär. Auf der Schreibfläche stand eine Mini-Stereoanlage, und im Regal lagen ein gutes Dutzend CDs. Er sah sie rasch durch, weil ihn interessierte, was für einen Musikgeschmack Zimmerman wohl hatte. Es waren fast ausschließlich Jazz-CDs, vermischt mit einigen Klassiksammlungen. Verdi, Mozart, Bach. Abgesehen davon gab es eine völlig aus dem Rahmen fallende Sammlung sentimentaler Liebeslieder von Lionel Ritchie. Wie schon so oft rätselte er, was Margaret wohl an diesem Mann gefunden hatte. Schon bei ihrer ersten Begegnung im Teesalon Sanwei hatte Li Zimmerman augenblicklich und instinktiv abgelehnt. Allerdings war zu jenem Zeitpunkt sein Blick auf den Amerikaner durch einen Schleier der Eifersucht verzerrt gewesen, den er weder vertreiben wollte noch vertreiben konnte. Jetzt, da Zimmerman sowohl bei einem Mordfall als auch bei dem versuchten Schmuggel von unersetzlichen Kunstschätzen zu den Verdächtigen zählte, waren Lis Gefühle ihm gegenüber von Kälte und Professionalität geprägt. »Hey, Chef!« Wu riss ihn aus seinen Gedanken. »Sehen Sie sich das mal an.« Er hielt ein Videoband in die Höhe. Li ging zu Wu und nahm es in Augenschein. »Was denken Sie, wie kommt er an ein Überwachungsband der Universität Peking? Und was, bitte sehr, soll die vierte Kammer sein?« Li nahm ihm die Kassette ab und untersuchte sie eingehend. Dem
Etikett nach handelte es sich um ein Aufzeichnungsband des Videoüberwachungssystems der Universität. Handschriftlich waren außerdem die Worte Vierte Kammer und das Datum 14. September darauf vermerkt. Li las das Datum laut vor: »Vierzehnter September… Sagt uns dieses Datum nicht irgendwas?« Wu zuckte mit den Achseln. »Am fünfzehnten September haben wir die Leiche von Professor Yue entdeckt«, sagte Qian. Li gab Wu das Band zurück. »Lassen Sie es laufen«, wies er ihn an. Qian zog den Vorhang des Fensters zu, damit sich die Sonne nicht im Fernseher spiegelte, während sich alle anwesenden Beamten um das Fernsehgerät scharten. Das Bild flackerte und hüpfte, bis eine unscharfe Schwarzweißaufnahme erkennbar wurde. Wegen der schlechten Ausleuchtung war schwer einzuordnen, was sie da eigentlich sahen. Es gab keinen Ton. Im Hintergrund schien eine Reihe finsterer Gestalten regungslos herumzustehen. Doch schon im nächsten Moment kam eine Gestalt ins Blickfeld, die unterhalb der Kamera gleichsam aus dem unteren Rand des Bildschirms herauswuchs. Es war die gebückte Gestalt eines Menschen, der taumelnd von einer hinter ihm ins Bild kommenden, aufrecht gehenden Gestalt geschubst wurde. Als sie beinahe die Mitte des Bildschirms erreicht hatten, zwang die zweite Figur die erste, sich umzudrehen und niederzuknien. »Verdammt«, sagte Wu. »Das ist Yue Shi, Professor Yue. Seht nur, seine Hände sind ihm auf den Rücken gefesselt.« Sie sahen nicht nur das, sondern auch das Schild um den Hals des Professors, und sie konnten klar und deutlich den auf dem Kopf stehenden, durchgestrichenen Namen lesen, Affe, sowie die Zahl Vier darüber. Der andere Mann, dessen Gesicht sie noch immer nicht genau erkennen konnten, schien auf ihn einzureden und sich dabei umzusehen. Schließlieh drehte er sich um, bis er fast direkt in die Kamera blickte. Schon seit die beiden erstmals ins Bild gestolpert waren, hatte Li gewusst, mit wem er es zu tun hatte. Dennoch war der Anblick, wie Yuan Tao sich mit triumphierendem, ja fast hämischem Gesichtsausdruck der Kamera zuwandte, ein Schock. Als Li ihn das letzte Mal gesehen hatte, hatte er tot auf dem Autopsietisch gelegen. Yuan hob irgendetwas an seiner Seite hoch, und dann erkannten sie, dass er in seiner Rechten das Henkersschwert hielt, jene
Bronzenachbildung, die er bei Herrn Mao in Xi’an in Auftrag gegeben hatte. Der Professor unternahm einen hilflosen Versuch, noch einmal auf die Beine zu kommen, doch Yuan stieß ihn wieder nach unten. Unter dem Einfluss des Flunitrazepam war er leicht zu manipulieren. Yuan legte die Hand gegen Yues Hinterkopf und drückte ihn nach unten, dann trat er einen Schritt zurück und baute sich mit gespreizten Beinen ein kleines Stück links hinter seinem Opfer auf. Kurz nahm er mit der Klinge Maß auf dem Nacken des Professors, dann zog er das Schwert in einer einzigen, raschen und routinierten Bewegung hoch über dessen Haupt und ließ es wieder herabsausen, um den Kopf quer über den Fußboden davonkullern zu lassen. In Zimmermans Apartment stockte allen sechs Männern der Atem angesichts des entsetzlichen Anblicks von Yue Shis kopflosem Rumpf, der langsam nach vorne und dann zur Seite kippte, während das Blut aus den durchtrennten Halsschlagadern spritzte. Yuan trat zurück, zog einen Lappen aus der Tasche, wischte damit rasch die Klinge des Schwertes ab und schien sich dann noch einmal nach den aufgereihten, stummen Zeugen in seinem Rücken umzusehen. Li ergriff das Wort. »Kein Wunder, dass sie gewusst haben, wie sie den Mord nachstellen mussten. Sie hatten die ganze Geschichte auf Band.« Einer der Beamten stürzte mit der Hand vor dem Mund ins Badezimmer. »Was macht Yuan denn da?«, fragte Wu mit gedämpfter Stimme. »Was sind das für Gestalten im Hintergrund, zu denen er immer hinsieht?« Li nahm die Fernbedienung und drückte auf den Pausenknopf. Das Bild wackelte einen Moment, bevor das Band anhielt und ein makelloses Standbild zeigte. Li beugte sich nach vorne, um auszumachen, was da im Hintergrund zu sehen war. »Um Himmels willen«, flüsterte er heiser. »Das sind Terrakottakrieger.« Margaret stand bibbernd inmitten der stummen Statuen. Sie war sich keineswegs sicher, ob es die Kälte oder die Angst war, die sie wie Espenlaub zittern ließ. Immer wenn das stecknadelkopfgroße Rotlicht in regelmäßigen Intervallen irgendwo über ihrem Kopf aufblinkte, nahmen die Gesichter ihrer Leidensgenossen einen Augenblick Gestalt an, um sofort wieder in der Dunkelheit zu verschwinden. Doch die Mienen waren kalt und steinern, und die
leblosen Augen starrten in jene Ewigkeit, in die sie vor zweitausendzweihundert Jahren losmarschiert waren. Sie hatte keine Ahnung, wie viele sich hier unten befanden. Sicherlich dutzende. Sie standen in schweigenden Reihen, einer hinter dem anderen, in der Kälte und schauerlichen Dunkelheit dieser unterirdischen Kammer. Sie hatten genug Zeit gehabt, sich daran zu gewöhnen. Im Gegensatz zu Margaret. Unmittelbar nachdem das Licht erloschen war, hatte sie in der Ferne ein metallisches Scheppern gehört und laut gerufen, in der verzweifelten Hoffnung, irgendjemand möge sie hören. Völlig verängstigt hatte sie sich Zentimeter für Zentimeter den Gang entlanggetastet, eine Hand immer an der Wand, während sie mit der anderen in der Dunkelheit herumstocherte. Sie konnte sich nicht entsinnen, sich jemals in einer so undurchdringlichen Dunkelheit befunden zu haben. Die Schwärze schien Form und Substanz anzunehmen und sie vollständig zu umhüllen. Es war erschreckend, verwirrend. Sie hatte sich gefragt, ob man sich wohl so als Blinde fühlte, und für einen kurzen Moment war ihr Bettelmaus in den Sinn gekommen, die unaufhaltsam ihr Augenlicht verloren hatte, zunächst das eine Auge, und dann das andere. Als Bettelmaus ihnen damals die Geschichte von dem roten Sonnenaufgang über dem Gelben Meer erzählt hatte, der die Stadt Quingdao in blutrotes Morgenlicht tauchte, hatte Margaret sich das alles ganz plastisch vorstellen können. Jetzt konnte sie gar nichts mehr sehen, nicht einmal mehr mit ihrem geistigen Auge. Ihre Hand berührte etwas Kaltes und Feuchtes, und sie zog sie mit einem leisen Schrei zurück. Nach einer Schrecksekunde streckte sie die Finger erneut aus und stellte fest, dass sie das kalte Metall des Tores am Ende des Ganges ertastet hatte. Ihre Erleichterung währte nur so lange, bis sie merkte, dass die Tür verschlossen war. Verschlossen und verriegelt. Schlagartig lösten sich alle heimlichen Hoffnungen, man hätte sie nur irrtümlich eingeschlossen, in Luft auf. Ihre Angst verwandelte sich in blankes Entsetzen, und rasch bahnte sie sich ihren Weg zurück in die Kammer, wo die Terrakottasoldaten auf sie warteten, als wäre es ihnen und ihr bestimmt, gemeinsam die Dunkelheit dieses Grauen erregenden Ortes zu ertragen. Erst nach einer Weile war ihr klar geworden, dass jenes rote Blinklicht, das ihr in regelmäßigen Abständen einen flüchtigen Blick auf ihre Gesellschafter gewährte, wahrscheinlich das Lämpchen einer Überwachungskamera war, die über dem Eingang zur Kammer
an der Mauer angebracht war. Ob es wohl eine Infrarotkamera war? Gab es da womöglich jemanden irgendwo an einem Monitor, der sie in der Finsternis sehen konnte, der jede ihrer Bewegungen beobachtete? Allein der Gedanke machte sie krank. Vorsichtig quetschte sie sich zwischen die Krieger, wo sie in die Hocke ging, um sich der Kamera zu entziehen, und sich, die Arme um die Beine geschlungen, zusammenkauerte, um es wenigstens ein bisschen warm zu haben. Ihr war zum Heulen zu Mute. Sie vermochte nicht mal zu schätzen, wie lange sie schon hier unten war. Es kam ihr jedenfalls unerträglich lang vor.
III Li knallte den Hörer auf die Gabel und brüllte: »Wu!« Sofort tauchte Wu im Türrahmen auf. Das gesamte Büro hinter ihm summte und brummte geschäftig wie ein Bienenstock. »Chef?« »Fahren Sie sofort runter ins Büro des Oberstaatsanwalts und holen Sie den Haftbefehl für Zimmerman ab.« »Bin schon unterwegs.« Qian nahm den Platz im Türrahmen ein, den Wu freigemacht hatte. »Kein Mensch weiß, wo Zimmerman steckt, Chef. Er ist weder draußen bei den Dreharbeiten noch im Produktionsbüro. An der amerikanischen Botschaft hat ihn auch niemand gesehen…« Das Telefon auf Lis Schreibtisch läutete. Er schnappte sich den Hörer. »Bin gleich dran«, bellte er hinein und hielt dann mit einer Hand die Sprechmuschel zu. Er machte eine knappe Kopfbewegung zu Qian hin. »Probieren Sie es in der Bar, in der er in der Nacht von Yuans Tod gewesen sein will. Dem Mexican Wave. In der Dongdaqiao Lu, wenn ich mich recht erinnere.« Dann meldete er sich am Telefon. »Stellvertretender Sektionsvorsteher Li.« Hastig klappte er die Mordakte auf, und zwei Blätter Papier flatterten auf den Boden. Er beugte sich vor, um sie aufzuheben. »Hier spricht Qi, Herr stellvertretender Sektionsvorsteher. Vom Zentrum für forensische Beweissicherung. Hoffentlich habe ich Sie nicht aus dem Bett geholt.«
»Was gibt’s?« Li war nicht in der Stimmung für Qis seichten Humor. Er legte die heruntergefallenen Blätter auf den Schreibtisch. »Ich habe hier die Ergebnisse der Tests, um die Dr. Campbell gebeten hatte. Sie wollte, dass ich Sie anrufe.« Li runzelte die Stirn. »Was für Ergebnisse?« Sein Blick fiel auf die bedruckten Blätter, die er eben aufgehoben hatte. Es waren englische Texte, zwei Seiten aus der North California Review of Japanese Sword Arts, die Margaret aus dem Internet heruntergeladen und ausgedruckt hatte. »Es handelt sich um den schwärzlich blauen Staub, den sie mir heute Morgen vorbeigebracht hat. Sie wollte, dass ich einen Vergleich mit den Proben anstelle, die Sie an Professor Yue und in Yuan Taos Botschaftsunterkunft gefunden haben.« Li stand vor einem Rätsel. »Sie hat Ihnen eine Probe vorbeigebracht? Heute Morgen?« »Ja«, sagte Qi. »Und sie stimmen eindeutig überein.« Jetzt war Li ganz bei der Sache. »Hat sie Ihnen erzählt, wo sie den Staub gefunden hat?« »Klar«, erwiderte Qi. »Er stammte aus den Laufrillen der Schuhe, mit denen sie in den Schächten der Terrakottakrieger in Xi’an war.« Doch Li hatte kaum Zeit, diese Nachricht zu verdauen, bevor ihn ein Name aus einem der Blätter auf seinem Schreibtisch förmlich ansprang. Der Name stand einige Absätze unter dem von Yuan auf der Gewinnerliste eines unbedeutenden Tameshi-Giri-Wettbewerbs in San Diego. Eigenartig, dass er ihnen nicht schon früher aufgefallen war. Doch andererseits hatten sie auch nicht danach gesucht. Ihm war speiübel. » Hallo… hallo…?«, vernahm er Qi am anderen Ende der Leitung. »Sind Sie noch dran?« »Ja, sicher.« Lis Kehle war ausgedörrt. Jetzt wusste er, wer Yuan umgebracht hatte. »Ich danke Ihnen, Herr Qi.« Er legte auf und saß einen Moment lang einfach nur da. Tausende von widersprüchlichen Berechnungen schossen ihm durch den Kopf, bevor sich eine davon als Quintessenz durchsetzte, die ihn frösteln ließ. Ihm wurde bewusst, dass das Blatt Papier in seiner Hand zitterte. Unvermittelt sprang er auf, riss die Jacke von der Stuhllehne und stürzte zur Tür. Im Büro der Kommissare rief er Qian zu, er solle ihm das Handy mitgeben. Qian warf es ihm über den Schreibtisch zu, er fing es geschickt auf und befestigte es an seinem Gürtel.
»Haltet mich über alle Entwicklungen auf dem Laufenden«, sagte Li. »Ich werde versuchen, Dr. Campbell zu finden. Ich befürchte, sie könnte in Gefahr sein.« Der Spielplatz war nur mäßig besucht. Ein paar Kleinkinder spielten im Sandkasten, beaufsichtigt von ihren Müttern, die am Rand auf einigen Spielzeugautos herumsaßen, rauchten und schwatzten. Eine Brise rauschte durch die Blätter der umstehenden Bäume und rüttelte an den verlassenen Klettergerüsten. Über den unbewegten Schaukeln und Karussells thronte ein riesiger Donald Duck Auge in Auge mit einem nur unwesentlich kleineren Dinosaurier. Draußen auf dem Houhai-See trieb der warme Wind winzige Wellen über die Wasseroberfläche. Mit wachsender Beklemmung sah Li sich um. Eigentlich hätten Margaret und Xinxin hier sein müssen. Aber es war keine Spur von ihnen zu entdecken. Ein Kiosk in einem winzigen Pavillon am Ufer verkaufte Zigaretten und Erfrischungsgetränke. Drinnen saß die Eigentümerin und blätterte in einer Zeitschrift. Sie schüttelte den Kopf, als Li sie fragte, ob sie eine Yangguizi mit einem kleinen chinesischen Mädchen gesehen hätte. Nein, erklärte sie. Sie hätte schon seit dem frühen Morgen hier gesessen, und ein so ungewöhnliches Paar wäre ihr sicher aufgefallen. Li eilte durch den kleinen Park zurück, vorbei an einem Garten, in dem eine Frau in weißem Kittel einen dicken, bäuchlings auf dem Tisch liegenden Mann mittleren Alters massierte. Rund um ein kreisförmiges Blumenbeet hockten ein paar alte Männer und starrten ins Leere. In ihren Augen flackerte kaum Interesse auf, als Li auf dem Weg zu dem Hutong, wo er den Jeep abgestellt hatte, an ihnen vorbeirannte. Er setzte den Wagen zurück und raste zu Mei Yuans Siheyuan. Sie war überrascht, ihn zu sehen, während er erleichtert war, Xinxin dort anzutreffen. Er sah sich um. »Wo ist Margaret?«, fragte er und erwartete dabei, sie durch die Tür aus einem anderen Zimmer kommen zu sehen. »Sie wollte nicht mit mir in den Park gehen«, schmollte Xinxin. »Dabei hat sie es mir versprochen.« »Sie hat gesagt, sie würde später wiederkommen«, sagte Mei Yuan zu ihr. »Das weißt du genau.« Xinxin verschränkte die Arme. »Ich will nicht mehr warten«, erklärte sie. »Nun, wissen Sie vielleicht, wo sie hingegangen ist?«, fragte Li
ungeduldig. Mei Yuan nickte zu Xinxins Turnschuhen neben der Tür hin. »Sie war ganz außer sich, weil sie irgendein dunkelblaues Pulver an Xinxins Turnschuhen gefunden hatte.« Li bückte sich sofort, um sich die Schuhe anzusehen, und erkannte jenen schwärzlich blauen Keramikstaub wieder, den er sowohl an Professor Yue als auch in der Wohnung von dessen Mörder gefunden hatte. Verwirrt legte er die Stirn in Falten. Das ergab doch alles keinen Sinn. Er schaute zu Mei Yuan auf, doch die zuckte nur mit den Achseln. »Sie hat gesagt, sie müsste dringend in die Universität.«
IV Margaret merkte, wie ihre Finger und Gelenke steif wurden. Inzwischen zitterte sie völlig unkontrolliert, und ihre Unterlippe bebte bei jedem Atemzug. Eine beginnende Unterkühlung, wie sie diagnostizierte. Ihr war jegliches Zeitgefühl abhanden gekommen, doch sie wusste, dass sie bald schläfrig werden und schließlich in einen Dämmerzustand verfallen würde. Irgendwann würde sie schließlich aufhören, sich dagegen zu wehren, und in einen Schlaf hinübergleiten, aus dem es kein Erwachen mehr gäbe. Mit steifen Gliedern schaffte sie es noch einmal aufzustehen und mit den Füßen auf dem Betonboden aufzustampfen. Sie ließ die Arme kreisen, um die Durchblutung in Schwung zu bringen und die lebensnotwendige Wärme zu erzeugen. Anfangs hatte sie sich davor gefürchtet, dass jemand auftauchen könnte. Inzwischen hätte sie sich darüber gefreut. Alles wäre besser, als hier unten in der eisigen Dunkelheit zu sterben, einfach wegzudämmern, ohne wenigstens um ihr Leben kämpfen zu können. Kälte und Dunkelheit waren heimtückische, nicht greifbare Gegner. Auf Dauer konnte man sich gegen sie nicht zur Wehr setzen. Ihre Geduld war endlos – sie würden Margarets Selbsterhaltungstrieb um Längen schlagen. Was für eine Ironie, dass nur wenige Meter über ihrem Kopf die Sonne schien, warm, hell und Leben spendend. Aber es gab keine Möglichkeit, zu ihr zu gelangen oder sie hereinzulassen. Nicht zum ersten Mal war ihr zum Heulen zu Mute, doch sie beherrschte sich.
Tränen würden ihr nicht weiterhelfen. Schon längst hatte sie den Versuch aufgegeben, sich einen Reim auf die ganze Sache zu machen. Ihr Denken und Fühlen war ausschließlich darauf ausgerichtet, am Leben zu bleiben. Zweimal hatte sie sich zum Tor zurückgetastet, getrieben von der Hoffnung, vielleicht doch noch eine Möglichkeit zu entdecken, die Tür aufzubrechen oder das Schloss gewaltsam zu öffnen. Doch Tür wie Schloss waren massiv und durch nichts zu erschüttern. Daraufhin war sie vorsichtig durch die Reihen der Krieger bis ans andere Ende der Kammer getappt. Sie verengte sich dort, und zwei Stufen führten hinunter zum Eingang eines weiteren Tunnels. Kurzzeitig war Hoffnung in ihr aufgeflackert, die aber gleich darauf mit der Entdeckung einer zweiten, ebenfalls fest verschlossenen Tür erlosch. Einen nach dem anderen hatte sie die Krieger gezählt. Es waren siebenundsechzig, achtzehn kniende Bogenschützen eingerechnet. Sie hatte die Gesichtszüge abgetastet, als könnte sie in den Mienen so etwas wie Trost finden. Doch die kalten, harten Leiber fühlten sich eisiger unter ihren Fingern an als sämtliche Leichen, die sie je auf ihrem Seziertisch zerlegt hatte. Mittlerweile merkte sie, wie ihr physisch und auch psychisch die Kontrolle entglitt. Ihre Todesangst verwandelte sich mehr und mehr in Fatalismus. Wie lange konnte man schon in Angst verharren? Wie der Schmerz konnte sich auch die Angst nicht beliebig lange aus sich selbst nähren. Und doch war es die nackte Angst, die ihr wie ein Messer ins Herz schnitt, als sie plötzlich in ein grelles Licht blickte. Das Licht kam aus denselben funzligen Lampen wie zuvor, trotzdem blendete es nach der langen Dunkelheit. Sie kniff die Augen gegen das Licht zusammen, bis ihre Pupillen sich so weit zusammengezogen hatten, dass sie in die Helligkeit blicken und unter Schmerzen ihre Umgebung absuchen konnte. Irgendwie kam ihr die Kammer kleiner vor, als sie es während der Dunkelheit in ihrer Vorstellung gewesen war. Stumm und ausdruckslos standen die Krieger vor ihr, ungerührt vom plötzlichen Licht und vollkommen gleichgültig gegenüber Margarets verzweifelter Lage. Sie hörte in der Ferne ein Klappern an der Metalltür, dann das Schaben des Metalls über den Betonboden. Langsam zog sie sich zwischen die Krieger zurück, als ob die sie beschützen könnten. Leise Schritte hallten durch den Gang. Angestrengt und mit ängstlich angehaltenem Atem spähte sie in die diesige Düsternis, um den
Eindringling erkennen zu können. Hatte sie sich nicht genau das herbeigesehnt? Hatte sie sich nicht eingeredet, dies sei allemal besser, als mutterseelenallein in Kälte und Dunkelheit an Unterkühlung zu sterben? Jetzt war sie sich nicht mehr so sicher. Der Schatten eines Mannes bewegte sich durch den Lichtkegel der Ganglampe unmittelbar vor der Kammer, doch im Dunst blieb er unscharf, gestaltlos und geradezu gespenstisch. Sie wollte schreien, doch sie brachte keinen Laut über die Lippen. Dann betrat die Gestalt die Kammer, sie erkannte Michaels traurig lächelndes Gesicht, und ihr hätten vor Erleichterung fast die Beine nachgegeben. »Michael«, stieß sie hervor. Sein Blick huschte zwischen den dicht gedrängten Reihen der Krieger hin und her, bis er ihr Gesicht erfasst hatte, das bleich und ängstlich zwischen den kräftigen bärtigen Antlitzen ihrer Beschützer hervorleuchtete. Doch ihre Erleichterung währte nur kurz und wich rasch einem tief sitzenden Schauder, der nichts mit der Kälte hier unten zu tun hatte. »Michael, was machst du hier?« Sie war beinahe überrascht, wie ruhig und gelassen ihre Stimme klang. Er schüttelte bedauernd den Kopf und lächelte. »Das sollte ich wohl dich fragen.« Weil er einen Schritt auf sie zu tat, zog sie sich weiter unter die Krieger zurück. »Bleib mir vom Leib!« »Mein Gott, Margaret, du glaubst doch nicht, ich würde dir etwas antun!« Ihm war anzuhören, wie sehr es ihn verletzte, dass sie ihm tatsächlich so etwas zutraute. »Ich liebe dich.« Sie sah ihn an und stellte entsetzt fest, dass er das ernst meinte. »Also, was machst du hier, Michael?«, wiederholte sie ihre Frage. »Ich meine, schließlich wurde Professor Yue hier ermordet, nicht wahr? Genau da, wo du jetzt stehst. Anschließend hast du die Leiche in seine Wohnung gebracht.« Michael blickte auf die eingetrocknete Blutlache zu seinen Füßen. Er nickte bedächtig. »Warum, um Himmels willen?« Er sah wieder auf, und in seinen Augen glitzerte es. »Das ist das Ende der Geschichte. Der einzige Teil, den ich nicht erzählen kann. Zumindest noch nicht.« Margaret bemerkte, dass sie hektisch atmete, fast hyperventilierte. Angst und Panik mischten sich mit Ernüchterung und Enttäuschung, ja sogar Zorn. »Wovon redest du?«
»Von Hu Bos größter Leistung.« Michael schob die Hände in die Hosentaschen und schlenderte mit gesenktem Kopf quer durch die Kammer, als wäre er völlig in Gedanken versunken. Nach einer Weile sah er auf, mit lebendiger, begeisterter Miene. »Dieses Gebäude über uns«, sagte er, »der Kunstbau. Hier war während der Kulturrevolution die archäologische Fakultät untergebracht. Genau hier suchten Hu Bo und etliche seiner Kollegen Zuflucht vor dem Wahnsinn. Hier konnten sie wie hinter Schutzmauern Deckung suchen und in Ruhe abwarten, bis alles vorbei war. 1974 hörten sie dann von einem außergewöhnlichen Fund in Xi’an. Von lebensgroßen, aus Ton gebrannten Kriegern, im Boden vergraben, um das Grab des ersten Kaisers zu bewachen. Ein paar davon waren angeblich vom örtlichen Kulturzentrum ausgegraben und restauriert worden. Doch die Behörden in Peking wüssten noch nichts davon.« Er zog die Hände aus den Taschen und breitete die Arme aus, als wollte er an ihre Fantasie appellieren und in ihr ein Bild von dem heraufbeschwören, was er ihr erzählte. »Kannst du dir vorstellen, wie ihnen zu Mute gewesen sein muss, Margaret? Was sich womöglich als eine der bedeutendsten Entdeckungen des gesamten Jahrhunderts erweisen könnte, war zu einem Zeitpunkt ans Licht gekommen, als die Roten Garden noch immer in China marodierten, als die Museen geplündert und die antiken Schätze und Artefakte des Landes zertrümmert wurden.« Margaret erkannte jetzt, dass er eigentlich nicht sie ansprach, sondern ein imaginäres Publikum. Vermutlich hatte er diese Geschichte tausendmal in seinem Geist einstudiert. Sie warf einen Blick hinauf zur Überwachungskamera und fragte sich, ob diese Galavorstellung wohl für die Nachwelt aufgezeichnet würde. »Hu und zwei seiner Kollegen reisten klammheimlich aus Peking ab und fuhren nach Xi’an, um die Sache persönlich in Augenschein zu nehmen.« Inzwischen ging Michael völlig in seiner Geschichte auf. »Die Berichte stellten sich als wahr heraus. Sie sprachen mit den Leuten vom dortigen Kulturzentrum, mit den Bauern, die damals den Brunnen gegraben hatten, und überzeugten nach ihrer Heimkehr in die Hauptstadt den Dekan der Fakultät, dass sich eine Probegrabung lohnen würde. Dennoch wollten sie nicht viel Aufhebens von der Sache machen, um nicht die Neugier unerwünschter Kreise zu erregen. Und tatsächlich interessierte sich niemand für ihr Vorhaben. Schließlich waren sie bloß ein Haufen alter Männer, die zusammen
mit ein paar angeheuerten Bauern mitten im Nirgendwo Löcher in die Erde buddelten.« Michaels Augen funkelten, und er ballte triumphierend die Faust. »Nur dass diese Löcher sie direkt in einen Hohlraum führten, den das offizielle Ausgrabungsteam später als ›vierte Kammer‹ bezeichnen sollte. Und genau wie die Archäologen, die bald nach ihnen auftauchen sollten, fanden sie den Schacht leer vor. Nichts als Sand und Schlamm.« Er machte eine Kunstpause und lächelte. »Mit Ausnahme einer einzelnen Vorkammer, die gerammelt voll mit Tonsoldaten war. Annähernd einhundertdreißig waren es. Vielleicht hatte man sie hier zwischengelagert, um sie später aufzustellen. Möglicherweise hatten sie auch irgendwelche Mängel und waren deswegen ausgemustert worden. Wir werden es nie erfahren. Jedenfalls waren sich Hu und seine Kollegen über die Bedeutung ihres Fundes im Klaren. Und sie wussten, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis auch den Behörden zu Ohren kommen würde, worauf sie da gestoßen waren.« Michael ging auf seiner Bühne auf und ab, als wende er sich an ein Publikum, das aus ebenjenen Kriegern bestand, über die er gerade sprach. Dabei war sein Blick immer starr auf Margaret gerichtet, als wollte er sie anflehen, seinen Enthusiasmus zu teilen, als wollte er sie um jeden Preis in den Bann seiner Geschichte ziehen, als wollte er ihr klarmachen, was er empfand und wie alles so weit hatte kommen können. »Die Krieger, die sie entdeckt hatten, waren durch den Einsturz der Wände und des Daches schwer beschädigt. Doch vor allem befürchtete Hu Bo, dass es den Roten Garden einfallen könnte, die Krieger als Überbleibsel der ›alten Kultur‹, als Beweis für die Verbrechen der ›imperialistischen Royalisten‹ einzustufen und sie für immer zu zerstören. Also forderten sie einen Bagger an und hoben die gesamte Vorkammer aus, wobei sie Kiste um Kiste mit Erdreich und Bruchstücken der zertrümmerten Krieger füllten. Die Kisten wurden auf Lastwagen nach Peking abtransportiert und in einem Lagerhaus in Haidan deponiert, das der Universität gehörte. Von dort aus wurden sie nacheinander zur Universität gebracht und hier unten in dem Schutzbunker versteckt, den in den Sechzigerjahren die damals dort forschenden Archäologen gegraben hatten.« Michael atmete tief aus und lächelte Margaret an. »Wie du siehst, hatte man damals nur vor, die Krieger der Nachwelt zu erhalten. Doch dann gaben die Behörden zur allgemeinen Überraschung ihren
Segen zu einer offiziellen Ausgrabung, und innerhalb eines Jahres wurden im Schacht Nummer eins tausende von Kriegern zu Tage gefördert. Hu Bo und seine Leute hatten sich mit ihren eigenen guten Absichten ein Schnippchen geschlagen. Das Eingeständnis, dass sie die Krieger aus der vierten Kammer entfernt hatten, hätte ihnen eine Anklage wegen Diebstahls, wenn nicht noch Schlimmeres einbringen können. Also schlossen sie einen Pakt. Sie brachten die nächsten fünfundzwanzig Jahre damit zu, die in Xi’an geborgenen Krieger Stück für Stück wieder zusammenzusetzen, hier unten in diesem Raum, den sie nach einiger Zeit als ihren eigenen vierten Schacht bezeichneten, und oben im Konservierungslabor. Kaum jemand wusste von der Existenz dieser Krieger oder auch nur von der Existenz dieses Schutzkellers. Fast alle, die in den Sechzigerjahren für die Universität verantwortlich gewesen waren, waren den Säuberungen zum Opfer gefallen. Offiziell hat es diesen Keller nie gegeben. Es gibt ihn bis heute nicht. Deshalb war er das perfekte Versteck für die Krieger.« Unwillkürlich und ungeachtet ihrer Situation, ihrer Angst und ihrer Wut hatte Michaels Geschichte Margaret in ihren Bann gezogen. »Was war das für ein Pakt?«, fragte sie. In diesem Moment war Michael klar, dass er sie geködert hatte. »Sie kamen überein, dass derjenige, der die anderen überleben würde, vor seinem Tod die Existenz der Krieger enthüllen sollte, damit sie wieder dem Volk gehören würden und ihren angestammten Platz im vierten Schacht einnehmen könnten, aus dem sie einst entfernt worden waren. Im Jahre 1998 wurde bei Hu Bo, dem letzten noch lebenden Mitglied der Gruppe, Krebs diagnostiziert. Weil er nur noch wenige Wochen zu leben hatte, vertraute er das Geheimnis des vierten Schachts seinem Protegé hier an der Universität an.« »Professor Yue«, sagte Margaret. Michael nickte. Sie sprach weiter: »Sag nichts, den Rest kann ich mir selbst zusammenreimen. Er hat Geld gewittert, nicht wahr? Ich meine, hier unten steht ein Haufen Terrakottakrieger, von dem niemand außer ihm etwas weiß. Wenn er sie außer Landes schaffen könnte, mein lieber Junge, dann wäre er ein gemachter Mann. Wie viel würde einer davon im Westen wohl einbringen?« Michael spreizte die Hände. »Sie sind unbezahlbar, Margaret. Wir sprechen hier über Millionen. Für alle zusammen Zigmillionen,
vielleicht sogar hunderte von Millionen. Und gleichzeitig sind es nicht so viele, dass sie den Markt überschwemmen und den Preis drücken würden. Auf der Welt gibt es dutzende von Geldmagnaten, die schon alles besitzen, Menschen, die unglaubliche Summen locker dafür machen würden, dass ein originaler Terrakottakrieger in ihrer Bibliothek oder in ihrem Arbeitszimmer herumsteht.« »Also scheißt du auf dein ganzes Gefasel von wegen Zauber der Geschichte und archäologischer Wissenschaft, weil du die Chance witterst, schnell einen Haufen Geld zu machen.« Mittlerweile hatte sich Margaret aus der Deckung der riesenhaften Krieger herausgewagt. Sie musste an den Abend denken, als sie Michael in der Residenz des Botschafters kennen gelernt hatte. Aber die Wahrheit an sich ist niemals langweilig – jene einzigartige Mischung aus menschlicher Leidenschaft und Elend, vielleicht sogar Finsternis, die dazu führt, dass ein Verbrechen begangen wird. Nein, dachte sie jetzt, langweilig war das bestimmt nicht. Nur Ekel erregend. Michael schien erschrocken über die Verachtung, die plötzlich in ihrer Stimme mitschwang. »Du verstehst das nicht«, sagte er. »Es war nicht so, wie du denkst. Yue Shi hatte nicht die Möglichkeiten, sie ins Ausland zu schaffen. Als er sich mir anvertraute, wusste ich, dass ich prädestiniert für diese Aufgabe war. Ich hatte bereits Ausstellungen organisiert, und weil ich so bekannt bin, verfüge ich über enormen Einfluss. Außerdem ist es ja nicht so, dass wir sie gestohlen hätten. Es wusste sowieso niemand von ihrer Existenz. Obendrein wären sie in den Händen privater Sammler mindestens ebenso sicher, wenn nicht sicherer als hier. Und was könnte ich nicht alles mit dem Geld bewirken, Margaret. Die Projekte, die ich anschieben könnte, ohne dass ich erst mit dem Hut in der Hand an den Universitäten, bei den Wohltätigkeitsorganisationen und in den Sendeanstalten herumgehen müsste. Überall auf der Welt warten Ausgrabungen auf einen Finanzier.« »Wie edelmütig«, sagte Margaret. »Und dieses Geld, diese Ausgrabungen… die sind schon einen Mord wert, nicht wahr? Dafür kann man schon einige Menschenleben opfern?« Michael schüttelte den Kopf und kam, Verständnis heischend, auf sie zu. »Um Himmels willen, Margaret, die Sache war ganz anders.« »Bleib, wo du bist!«, schrie sie ihn an. Er blieb auf der Stelle stehen, wie erstarrt angesichts der Angst in ihrer Stimme und der
Wut in ihren Augen. Sie war ihm wieder vom Haken gegangen. »Wir hatten das Videoüberwachungssystem installiert«, seufzte er, fast schon resigniert. »Damit keiner von uns Eingeweihten die anderen betrügen konnte.« »Hat sich was mit Ganovenehre, wie?« Er schüttelte den Kopf, ohne auf ihren Seitenhieb einzugehen. »Irgendwann bekam ich einen Anruf vom Laborassistenten oben. Er und der Professor waren dabei gewesen, den stückweisen Transport der Krieger in eine von uns gemietete Werkstatt in Haidan zu organisieren. Der Mann war völlig außer sich. Professor Yue sei ermordet worden, und zwar in der unterirdischen Kammer. Alles sei auf Band aufgezeichnet. Ich eilte sofort her, und wir fanden die enthauptete Leiche dort auf dem Boden.« Er blickte hinunter auf die riesige Lache von getrocknetem und verkrustetem Blut. »Es war klar, dass wir sie wegschaffen mussten, wenn wir nicht die Entdeckung der Krieger riskieren wollten. Also wickelten wir Yue in Decken und Plastikfolie und schafften ihn in seine Wohnung. Es war eine blutige Angelegenheit. Nie im Leben habe ich so viel Blut gesehen.« Er erbleichte, als er sich an den abgetrennten Kopf und den merkwürdig unförmigen enthaupteten Rumpf erinnerte. »Als ich mir anschließend das Videoband ansah, erkannte ich Yuan Tao auf den ersten Blick. Weiß der Teufel, warum der Professor ihn nach hier unten mitgenommen hatte. Vielleicht wollte er sich freikaufen, wollte sich sein Leben zurückkaufen. Wer weiß? Entscheidend ist, dass Yuan Tao die Krieger gesehen hatte. Er wusste nun, dass sie hier waren. Wir konnten uns nicht mehr sicher fühlen.« »Also habt ihr das Band dazu benutzt, die Ermordung des Professors durch Yuan nachzustellen. Es sollte so aussehen, als seien beide von derselben Person getötet worden.« Michael nickte grimmig. »Von den übrigen Morden haben wir erst erfahren, als wir ihn in seiner Wohnung in der Tuan-Jie-HuStraße zur Rede stellten. Dort erzählte er uns, dass er zuvor bereits zwei Menschen getötet hatte.« Margaret schüttelte ungläubig den Kopf. Sie hatte sich eingebildet, Michael zu kennen. Nicht einmal in ihren wildesten Albträumen hätte sie ihm so etwas zugetraut. »Und du hattest keinerlei Gewissensbisse?« »Natürlich hatte ich Gewissensbisse«, protestierte er. »Aber begreif doch, wir hatten keine Wahl. Der Schmuggel von Kunstgegenständen gilt in China als Kapitalverbrechen. Wären wir
den Behörden ins Netz gegangen, hätte man uns hingerichtet. Und unser Mitgefühl für Yuan Tao hielt sich in Grenzen. Schließlich war er ein Mörder. Er hatte gerade drei Menschen umgebracht. Wenn er von der Polizei verhaftet worden wäre, hätte man ihm irgendwo in einem Fußballstadion eine Kugel in den Kopf gejagt.« Seine Logik mochte bestechend sein, doch für Margaret war es immer noch unmöglich, sich in Michael hineinzuversetzen. Sie verdrängte ihre Angst unter einer befremdlich professionellen Distanz. »Woher wusstet ihr, dass das vierte Opfer die Nummer drei bekommen sollte?« Er schüttelte den Kopf. »Davon haben wir bis zum letzten Moment nichts geahnt. Aber in der Wohnung fanden wir außer dem Schwert noch drei Stücke Seidenschnur und drei bereits nummerierte Plakate – eins, zwei, drei. Wir schlossen daraus, dass er von sechs aus runtergezählt hatte.« »Und die Drogen?« »Die waren zusammen mit dem anderen Zeug unter den Dielenbrettern versteckt.« »Und wie habt ihr ihn dazu gebracht, sie zu nehmen?« Michael zuckte mit den Achseln. »Das war merkwürdig. Ich glaube, er hatte begriffen, dass es für ihn keine Rettung mehr gab, und er wirkte fast erleichtert, so als würden wir ihm die Last von den Schultern nehmen, noch weiter morden zu müssen. Das mit dem Wodka hat er selbst vorgeschlagen. Er hat uns erklärt, in Alkohol würde die Droge noch stärker wirken.« »Ist es euch nicht komisch vorgekommen, dass sich der Wodka hellblau verfärbt hat?« Michael sah sie perplex an. »Woher weißt du das?« »Das ist mein Beruf, Michael«, erwiderte Margaret verächtlich. »Habt ihr etwa gedacht, das würde bei der Autopsie nicht auffallen? Habt ihr wirklich geglaubt, er hätte seine Opfer mit einem hellblauen Drink übertölpeln können?« Sie hätte beinahe gelacht. »Er hat uns eine Botschaft hinterlassen. Einen Hinweis. Den wir leider nicht verstanden haben.« Sie dachte einen Augenblick nach. »Und der Spitzname. Wie ist es dazu gekommen?« Michael wirkte verwirrt. »Wir hatten das Schild mit dem Spitznamen um Yues Hals hängen sehen und daraus geschlossen, dass wir auch Yuan eines umhängen sollten.« »Und ihr habt ihm geglaubt, als er euch erzählte, sein Spizname wäre Wühler?«
»Wir hatten keinen Grund, daran zu zweifeln.« Margaret schüttelte frustriert den Kopf. »Wir waren so verdammt blind!«, stieß sie hervor. Wie ging doch gleich der Satz des alten Yifu, den Li immer und immer wieder zitierte? Der Teufel steckt immer im Detail. »Wühler«, sagte sie. »Damit bist du gemeint. Der Archäologe. Noch ein Hinweis, den wir in unserer Verstocktheit übersehen haben.« Sie blickte ihn an. »Und wer hat nun die Drecksarbeit erledigt? Wer hat schließlich mit dem Schwert ausgeholt und dem Mann den Kopf abgeschlagen?« »Ich war das nicht, Margaret. Ich hätte es nie über mich bringen können, so etwas zu tun.« »Nein«, sagte Margaret. »Das Geld hättest du genommen, aber die Drecksarbeit wolltest du nicht erledigen.« Sie schwieg einen Moment. Während sich ihre Gedanken überschlugen, fragte sie: »Und wie kam die Tatwaffe in Vögelchens Wohnung?« Er trat verlegen von einem Bein aufs andere und kratzte mit der Fußspitze auf dem Boden herum. »Auf die eine oder andere Weise hast du mich ständig über den Stand der Ermittlungen auf dem Laufenden gehalten.« Er zuckte mit den Achseln. »Mein Gott, Margaret, du selbst hast mir erzählt, dass er der Hauptverdächtige sei.« Er verstummte kurz. »Und seine Adresse fanden wir unter dem Zeug, das wir aus Yuans Wohnung mitgenommen hatten…« Er blickte auf und sah den Schmerz in ihren Augen. Sie wandte sich ab und begann zu weinen. Sie hatte ihm blind vertraut. So wie sie dem anderen Michael in ihrem Leben vertraut hatte. Und beide hatten sie betrogen. Nie zuvor hatte sie sich so leer gefühlt. Falls sie jetzt sterben müsste, dann wäre sie wenigstens von ihrer eigenen grenzenlosen Dummheit befreit. Im Laufschritt eilte Li über die schattigen Pfade des Universitätsgeländes. Es lag wie ausgestorben in der Hitze des Nachmittags, und die ersten welken Blätter begannen auf der warmen herbstlichen Brise von den Bäumen zu segeln. Der Wachposten am Eingang hatte sich an Margaret erinnern können. Doch sie sei schon am Morgen gekommen, und seither habe er sie nicht gesehen, wie er sagte. Li hatte sein Glück zunächst an der archäologischen Fakultät versucht, doch der Pavillon war abgesperrt und verlassen gewesen. Jetzt folgte er auf der Suche nach dem Kunstbau praktisch Margarets Fußstapfen.
Die Strahlen der Nachmittagssonne fielen schräg über den Hof vor dem grauen Ziegelgebäude, und die Schatten wurden immer länger, je weiter die Sonne dem Horizont entgegenwanderte. Der eine Türflügel stand einen Spaltbreit offen, und als Li die Treppe erklomm, tauchte ein junger Mann aus dem Inneren auf, der beinahe mit ihm zusammenstieß. Es war Wang Jiahong, der mürrische Laborassistent, der sie gestern hierher geführt hatte. Vor Schreck lief das Gesicht unter dem schwarzen Haarschopf rot an. Mit dem Rücken seiner schmutzigen Hand fuhr er sich über die Stirn, um den dünnen Schweißfilm wegzuwischen. »Was zum Teufel suchen Sie denn hier?«, wollte er wissen. In seiner Stimme schwang Selbstvertrauen mit, aber seine Karnickelaugen wirkten verängstigt. »Die Amerikanerin, mit der ich gestern hier war. Haben Sie die gesehen?« Wang schüttelte den Kopf. »Hier?«, fragte er. »Nein, in Shanghai, verdammt noch mal!«, blaffte Li ihn an. »Natürlich hier!« »Nein«, sagte Wang. Mit deutlicher Aufsässigkeit in der Stimme. »Sind Sie sich sicher?« »Natürlich bin ich mir sicher. Außer mir ist niemand hier. Und ich bin schon den ganzen Tag da. Ich wollte gerade absperren. Aber Sie können sich gern selbst umsehen.« Li sah auf die Uhr. Falls sie überhaupt hier gewesen war, musste sie schon längst wieder gegangen sein. »Nein«, sagte er. »Schon in Ordnung.« Wang blieb stehen und sah Li nach, bis dieser auf seinem Rückweg zum Westtor außer Sichtweite war. Schimmernd spiegelten sich die Trauerweiden im Wasser des Namenlos-Sees, dessen Oberfläche von der leichten Brise gekräuselt wurde. Ein Vogel glitt kreischend im Sturzflug über das Wasser, bevor er abdrehte und himmelwärts hoch über die Baumspitzen aufstieg. Li fühlte sich seltsam ernüchtert und nicht weniger besorgt. Wo war Margaret nur hingegangen? Sie war ganz sicher hier gewesen, hatte den Campus aber möglicherweise durch ein anderes Tor verlassen. Er zog ein kleines Notizbuch aus der hinteren Hosentasche, suchte eine Nummer heraus und machte das Handy von seinem Gürtel los. Nervös rief er Mei Yuans Nachbarin an und bat sie nachzusehen, ob die Yangguizi schon wieder aufgetaucht wäre. Nach längerer Wartezeit kam Mei Yuan selbst an den Apparat, um ihm mitzuteilen, dass sie nichts von Margaret gehört oder gesehen habe. Seufzend
setzte Li seinen Rückweg zum Westtor fort. Dort fragte er den Wachmann noch einmal, ob dieser ganz sicher sei, dass er Margaret nicht hatte hinausgehen sehen. Falls sie wieder gegangen wäre, versicherte ihm der Mann, musste sie eines der anderen Tore benutzt haben. Li wollte sich schon abwenden und zu seinem Jeep zurückkehren, als sein Blick auf ein vertrautes Fahrzeug fiel, das auf der anderen Straßenseite abgestellt war, ein Fahrzeug, das ihm erst zwei Tage zuvor neben der Zentrale der Kriminalpolizei im Zentrum aufgefallen war. Das rote Schriftzeichen Shi auf dem Nummernschild erfüllte ihn mit einem unguten Gefühl. Damit stand für ihn fest, dass Margaret noch hier sein musste, und es war klar, dass sie in Lebensgefahr war. Außer Atem und schwitzend langte er wieder beim Kunstbau an. Die Tür stand immer noch einen Spalt offen. Wang hatte sie nicht abgeschlossen, obwohl er genau das behauptet hatte. Vorsichtig schlich Li sich ins Innere und durch den abgedunkelten Korridor bis zur offenen Tür des Konservierungslabors, wo ein Lichtstrahl quer über den Boden des Korridors fiel. Im Näherkommen hörte er Stoff rascheln, und im nächsten Moment verdunkelte ein Schatten den Lichtschein aus dem Türrahmen. Noch bevor er reagieren konnte, hatte Wang sich auf ihn gestürzt und ihn nach hinten gegen die Wand gestoßen. Lis geprellte Rippen schmerzten höllisch, und er rang, für einen Augenblick außer Gefecht gesetzt, keuchend nach Luft. Wang witterte seine Chance und spurtete, wobei seine Turnschuhe auf dem gefliesten Fußboden quietschten, als er den Gang hinunterraste und aus der Tür stürzte. Noch während Li um Atem rang, erwog er kurzzeitig, die Verfolgung aufzunehmen. Doch dann fiel sein Blick durch die offen stehende Tür auf die Werkbank, wo er Margarets Handtasche liegen sah. Margarets Gesicht war tränenüberströmt. »Nichts als Lügen«, sagte sie. »Dieses ganze Gerede, das du mir serviert hast. Und ich habe alles brav geschluckt. Was war ich bloß für eine Idiotin!« Verzerrt hörte sie ihre Stimme durch den Dunst hallen wie den Tadel einer Fremden. Und sie merkte, dass ihr langsam die Kontrolle entglitt. Er packte sie bei den Schultern und schüttelte sie. Sie leistete keinen Widerstand mehr. Eigentlich war es ihr schon fast egal, was mit ihr geschehen würde. »Das ist nicht wahr!«, rief er. »Ich habe alles ehrlich gemeint. Margaret, das musst du mir glauben! Ich liebe
dich. Ich möchte wirklich, dass du mich heiratest.« Sie löste sich aus seinem Griff und sah ihn angewidert an. »Beleidige mich nicht, Michael. Halte mich nicht noch mehr zum Narren.« Er machte keinen Hehl aus seiner Verzweiflung. »Margaret, all das muss kein böses Ende nehmen. Ehrlich nicht. Schon fast die Hälfte der Krieger sind unterwegs außer Landes. Wir wären reich, du und ich. Reicher, als wir es uns je erträumen könnten.« Sie hätte ihm am liebsten ins Gesicht gespuckt. »Du machst mich krank, weißt du das? Du hast mir klargemacht, dass ich dich überhaupt nicht gekannt habe. Und du kennst mich genauso wenig.« Er trat auf sie zu, und sie wich zurück. »Ich habe dir schon einmal gesagt, du sollst mir nicht zu nahe kommen!« »Was glaubst denn du, was ich vorhabe? Dich umbringen?« »Nein. Das wird zweifellos einer deiner Freunde für dich übernehmen.« Ihr Tonfall war ätzend und voller Verachtung. Er schüttelte todtraurig den Kopf. »Ich werde keinesfalls zulassen, dass dir etwas geschieht.« Er streckte ihr die Hand entgegen. »Komm mit mir. Wir steigen in ein Flugzeug und fliegen einfach weg. Die restlichen Krieger lassen wir hier.« Er machte eine Handbewegung zu den Tonsoldaten hin. »Es geht mir nur noch um dich.« »Ach wirklich?«, sagte sie und zog sich dabei noch tiefer zwischen die Reihen von Qins unterirdischen Kriegern zurück. Mit ausgestreckten Armen stieß sie, so fest sie nur konnte, gegen die Figur eines Generals in schwerer Rüstung. Der antike Krieger kippte auf seinem Sockel nach vorn, geriet aus dem Gleichgewicht und krachte vor Michaels Füßen auf den Boden. Michael zuckte zusammen wie unter Schmerzen. »Mein Gott, Margaret! Was machst du da? Diese Figuren sind von unschätzbarem Wert!« »Ich dachte, an denen liegt dir nichts mehr.« Erneut warf sie sich mit aller Macht gegen eine Figur, und ein stehender Bogenschütze teilte das Schicksal seines Generals, Scherben zerborstener Keramik über den Boden verstreuend. Michael versuchte Margaret zu packen, doch sie wich noch weiter zwischen die stummen Gestalten zurück. »Hör auf damit, Margaret. Bitte. Diese Skulpturen haben mehr als zweitausend Jahre überstanden. Sie sind ein Teil des Menschheitserbes. Mach sie nicht kaputt.«
Zum Teil erkannte sie in seiner Aufrichtigkeit jenen Michael wieder, zu dem sie sich so hingezogen gefühlt hatte. Doch sie wusste, dass diese Aufrichtigkeit von Gier und Skrupellosigkeit zerfressen worden war, von jener menschlichen Leidenschaft, von der er bereits bei ihrer ersten Begegnung gesprochen hatte. Seine Sünde wurzelte in Schwäche. Doch die Narben saßen zu tief. Es konnte keine Vergebung geben. »Ich werde mit dem Filmemachen aufhören. Wir gehen nach Amerika. Und von dort aus werde ich die Welt darüber aufklären, was hier geschah, und auch über die Krieger der vierten Kammer. Es spielt keine Rolle, ob sie in einem Museum stehen oder im Arbeitszimmer irgendeines reichen Mannes. Aber wir müssen sie unbedingt bewahren. Um jeden Preis.« Verbittert und betrübt blickte er auf die zertrümmerten Reste der beiden Krieger, die in Scherben überall um ihn herum lagen. »Wie rührend.« Die aus dem Dunst hallende Stimme erschreckte sie beide gleichermaßen. Michael fuhr herum, als Sophie aus dem Schatten des Ganges auftauchte, eine Pistole in der Hand. Ihr Gesicht war bleich, ihre Miene grimmig. »Wie lange bist du schon hier?«, fragte Michael rasch. »Lange genug«, erwiderte Sophie. »Wang hat mich gleich angerufen, nachdem er dir Bescheid gesagt hatte. Darum hatte ich das Vergnügen, deiner kleinen Vorstellung zum größten Teil beiwohnen zu dürfen.« Mit einem herablassenden Lächeln, in dem mehr als eine Spur Verbitterung mitschwang, wandte sie sich an Margaret. »Er ist gut, nicht wahr?« Margaret starrte sie mit einer Mischung aus Angst und Erschrecken an. »Nur, dass er ganz und gar nicht gut ist«, fuhr Sophie fort. »Er hat mich da mit hineingezogen. Kein anderer als er ist zu mir gerannt gekommen und hat mich um Hilfe gebeten. Ich hätte alles für ihn getan, das wusste er genau.« Sie lachte über ihre eigene Dummheit. »Also haben Sie Yuan getötet«, erkannte Margaret. Sophie sah sie kurz an. »Gar nicht schlecht für ein Mädchen, das so aussieht, als wäre es gerade in die zweite Klasse gekommen, wie?« Ihr Lächeln wirkte säuerlich. »Welche Ironie des Schicksals. Ich hatte in Kalifornien sogar einmal zusammen mit Yuan an einem Tameshi-Giri-Wettbewerb teilgenommen. Natürlich konnte er sich nicht an mich erinnern. Ich war in einer anderen Kategorie angetreten. Trotzdem habe ich es fertig gebracht, ihm den Kopf abzuschlagen. Ich habe die ganze Drecksarbeit für Michael erledigt.
Sogar das Schwert für ihn in dieser Wohnung versteckt.« Sie verstummte kurz. »Sie denken, Sie hätten sich zum Narren gemacht? Also, bestimmt nicht so wie ich. Ich habe mir eingebildet, ich könnte ihn dazu bringen, mich so zu lieben, wie ich ihn schon immer geliebt habe. Ich habe euch sogar miteinander bekannt gemacht, damit wir ständig auf dem Laufenden bleiben würden, nachdem ich Dakers davon überzeugt hätte, dass Sie die Autopsie vornehmen sollten.« Sie richtete die Pistole auf Michael und streckte den Arm vor. »Nur, dass sich dieser dämliche Schweinehund bis über beide Ohren in Sie verliebt hat. Und jetzt hält er um Ihre Hand an und will mit Ihnen aus diesem Land verschwinden, während ich hierbleiben und diese ganze Scheiße ausbaden soll.« Tränen traten ihr in die Augen. »Tja, nicht mit mir!« Sie feuerte einen einzigen Schuss ab, der Michaels Kehle durchschlug. Noch während das Krachen des Schusses ohrenbetäubend in Hu Bos geheimer Kammer widerhallte, kippte Michael nach hinten und riss im Fallen mehrere seiner geliebten Krieger mit sich. Mit einem Aufschrei schlug sich Margaret die Hand vor den Mund, als sie das Blut über Michaels Lippen sprudeln und aus seiner Kehle spritzen sah, wo das Geschoss eine seiner beiden Halsschlagadern aufgerissen und die Luftröhre zerfetzt hatte. Sein Blick flackerte in Panik hin und her, bis er, mit der Hand verzweifelt seine zerschmetterte Kehle umklammernd, sein Leben ausgehaucht hatte. Sein Mund klappte auf, als wollte er noch etwas sagen, doch kein Laut kam über seine Lippen. Margaret sah, wie Sophies Schussarm auf sie schwenkte, und registrierte flüchtig, wie sich das Licht in ihren Tränen brach. Dass diese Tränen ihr den Blick trübten, war mit Sicherheit der Grund dafür, dass Sophies zweiter Schuss Margaret verfehlte. Der Kopf des Kriegers neben Margaret zerbarst, und rasiermesserscharfe Splitter schlitzen ihr die Wange auf. Sie fuhr herum und flüchtete, im Weg stehende Tonfiguren umstoßend, tiefer in die Dunkelheit der Kammer hinein. Der nächste Schuss ertönte, und Margaret hörte, wie sich der Kopf eines Kriegers links von ihr explosionsartig in zweitausend Jahre alten Staub verwandelte. Dann warf sie sich bäuchlings auf den schmierigen Boden und krachte dabei heftig auf ihren Ellbogen. Noch während sie unter Schmerzen nach Luft japste, sah sie Sophie bedrohlich über sich aufragen. Dann ertönte bizarrerweise das elektronische Piepsen eines läutenden Telefons. Einen Moment wirkte Sophie vollkommen
verwirrt, dann drehte sie sich um. Li stand etwa drei Meter von ihr entfernt. In der rechten Hand hielt er das Schwert, das Professor Chang gerade restauriert hatte. Mit der linken Hand fummelte er an seinem Gürtel herum, um das Handy abzustellen. Doch dazu war es zu spät. Ein brutales Lächeln erschien auf Sophies Gesicht. Sie feuerte, und Li wurde nach links zur Seite geschleudert, wo er taumelnd mitten in die Trümmer der Krieger stürzte. Tränenblind und starr vor Schreck rappelte sich Margaret wieder auf, ihren Arm umklammernd. Stolpernd floh sie auf den rückwärtigen Tunneleingang zu. Dabei wusste sie, dass das aussichtslos war. Sie wusste, dass die Tür verschlossen war. Und selbst wenn nicht, wie weit würde sie schon kommen, bis Sophie sie eingeholt hätte? Jeden Moment rechnete sie mit einer Kugel in ihrem Rücken, sie betete schon fast darum, aus dieser Hölle erlöst zu werden. Doch die Kugel kam nicht. Stattdessen erreichte sie die Tür und rüttelte daran, als würde das Schloss irgendwann nachgeben, wenn sie nur fest genug daran zog und zerrte. Dann drehte sie sich wieder um und sah, den Rücken gegen das Gitter gepresst, Sophie langsam auf sich zukommen. Ein seltsames, verrücktes und starres Lächeln überzog das Gesicht der jungen Frau. Sie erreichte Margaret und sah ihr sehr lange in die Augen, bevor sie ihr mit voller Wucht den Pistolenlauf über das Gesicht zog. Margaret war wie geblendet durch die Lichtblitze und die Schmerzen. Sie spürte ihre Beine wegknicken und sank zu Boden. Dann nahm sie den Schatten von Sophies Pistole wahr, der über ihr Gesicht hinweghuschte, und erkannte im Aufsehen, dass die Mündung aus nächster Nähe starr auf sie gerichtet war. »Du Hure!«, sagte Sophie und riss im nächsten Moment Mund und Augen auf, als würde sie gerade eine riesige Überraschung erleben. Fast gleichzeitig konnten sie und Margaret beobachten, wie sich die lange Klinge des Bronzeschwerts aus Sophies Brustkorb herausschob. Ein paar Augenblicke hing Sophie daran, als würde sie frei in der Luft schweben, dann wurde das Schwert zurückgezogen, und ihr Körper fiel wie ein Kartenhaus zusammen, wodurch er Margaret den Blick auf Li freigab, der hinter Sophie auf das Schwert gestützt kniete und dessen weißes Hemd von Blut durchtränkt war. Mit einem Aufschrei robbte Margaret zu ihm hin, gerade rechtzeitig, um ihn im Umfallen aufzufangen. Sie stürzte gemeinsam mit ihm zu Boden und bettete seinen Kopf an ihrer Brust. Irgendwie schaffte sie es, sich in eine halb sitzende Position hochzuziehen,
sodass sein Kopf in ihrem Schoß ruhte. Schnell riss sie ihm das Hemd vom Leib, faltete es zu einem dicken Bündel und presste es mit aller Kraft gegen die Wunde oben an seinem Brustkorb. Unter hemmungslos fließenden Tränen wiegte sie ihn hin und her. »Es tut mir so Leid«, flüsterte sie. »Oh, Li Yan, es tut mir so wahnsinnig Leid. Ich habe einen Riesenfehler gemacht.« Seine Lider öffneten sich flatternd, er blickte zu ihr auf und schüttelte kaum wahrnehmbar den Kopf. »Mein Fehler«, sagte er schwach. »Ich war dumm und habe nicht auf mein Herz gehört. Beim nächsten Mal…« Er hustete und zuckte vor Schmerzen zusammen, dann verdrehte er die Augen und schloss sie wieder. Sie schaute zurück durch die Schatten der Krieger und sah Michael tot auf den Trümmern liegen. Armer, dummer Michael. Jetzt war ihr klar, was ihn wirklich verdorben hatte. Es war seine Naivität gewesen, sein Glaube, dass sich, genau wie in seinen Geschichten, alles auf irgendeine Weise ganz von selbst nach Wunsch entwickeln musste. Etwas zu stehlen, von dem niemand wusste, war für ihn kein Diebstahl gewesen. Einen Mann zu töten, der seinerseits andere getötet hatte, war für ihn kein Mord gewesen. Liebe war für ihn etwas gewesen, was man sich mit einem Ring und einem Heiratsantrag sichern konnte. Unvermittelt entsann sie sich ihrer Worte in jener Nacht, die sie zusammen mit Michael in Xi’an verbracht hatte. Sie hatte zu ihm gesagt: Keiner von uns würde die Reise überhaupt antreten, wenn wir zu lange darüber nachdächten, wohin sie uns schließlich führt. Damals hätte sich keiner von ihnen träumen lassen, dass Michael selbst, leblos auf den zerschmetterten Überresten der Krieger der vierten Kammer liegend, auf tragische Weise den Schlussstrich unter Hu Bos Geschichte ziehen würde. Sie sah hinunter auf den in ihren Armen liegenden Li, dessen Atem flach und unregelmäßig ging. Sie hatte ihn immer geliebt. Und sie hatte sich nie etwas anderes gewünscht als die Erwiderung dieser Liebe. »Weißt du, was das bedeutet?«, sagte sie schluchzend. Er öffnete wieder die Augen. »Nein. Was denn?« »Das bedeutet, dass ich deinetwegen schon wieder einen Flug stornieren muss.« Er lächelte. »Du musst doch nicht deinen Flug stornieren, bloß damit du auf meine Beerdigung gehen kannst.« Sie lachte unter Tränen. »Du dummer Junge«, sagte sie. »Du wirst nicht sterben. Das lasse ich auf gar keinen Fall zu. Aber wenn ich nicht da bin, wer sollte dir dann das Essen ins Krankenhaus
bringen?«
Danksagung Viele Menschen haben mir bei den Recherchen für Das rote Zeichen unschätzbare Hilfe geleistet. Meinen tief empfundenen Dank möchte ich insbesondere Dr. Richard H. Ward aussprechen, Professor der Kriminologie und Dekan des College of Criminal Justice an der Sam Houston State University, Texas; Steven C. Campman, MD, vom Armed Forces Institute of Pathology, Washington, D. C; Professor Dai Yisheng, dem ehemaligen Direktor des Vierten Chinesischen Instituts für Fragestellungen polizeilicher Vorgehensweisen; Polizeirat Wu He Ping, Ministerium für öffentliche Sicherheit, Peking; Professor Yu Hongsheng, Generalsekretär der Kommission für juristische Literatur, Peking; Professor He Jiahong, Doktor der Gerichtswissenschaften und Professor für Jura, juristische Fakultät der chinesischen Volksuniversität; Professor Yijun Pi, stellvertretender Direktor des Institutes für Rechtssoziologie und Jugendkriminalität, chinesische Universität für politische Wissenschaften und Jura; Ms. Chai Rui, archäologische Fakultät Peking; Stanley J. Harsha von der Kulturabteilung der amerikanischen Botschaft in Peking; Ms. Zhang Qian von der Fremdsprachenuniversität Xi’an; Mr. Qiang, Direktor des Museums der Terrakottakrieger, Bezirk Lintong, Provinz Shaanxi; Zhao Yi für ihren fantastischen mongolischen Feuertopf; und Shimei Jiang und ihrer Familie in Peking für ihre Freundlichkeit und Gastfreundschaft.