Jan de Leeuw
Das Schweigen der Eulen
Aus dem Niederländischen von Rolf Erdorf
Gerstenberg Verlag
Die Übersetzung d...
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Jan de Leeuw
Das Schweigen der Eulen
Aus dem Niederländischen von Rolf Erdorf
Gerstenberg Verlag
Die Übersetzung dieses Buches wurde gefördert vom Flämischen Literaturfonds (Vlaams Fonds voor de Letteren – www.vfl.be) Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Die Originalausgabe erschien erstmals 2004 unter dem Titel »Vederland« bei Davidsfonds Uitgeverij NV, Belgium Copyright © 2004, Jan de Leeuw und Davidsfonds Uitgeverij NV, Blijde-Inkomststraat 79-81, 3000 Leuven, Belgium Deutsche Ausgabe Copyright © 2006 Gerstenberg Verlag, Hildesheim Alle Rechte vorbehalten Umschlag von Gerda Raidt Satz: Fotosatz Ressemann, Hochstadt Druck und Bindung: Ebner & Spiegel, Ulm Printed in Germany www.gerstenberg-verlag.de ISBN 978-3-8067-5107-9
Hinter dem eher unscheinbaren Cover verbirgt sich ein außerordentliches Debüt des (noch) unbekannten belgischen Autors (Jahrgang ‘68). Arnoud, fast 14, verbringt den Sommer 1996 unfreiwillig im kleinen flämischen Heimatdorf seiner Großeltern. Die Oma ist gestorben und er soll seinem Vater dabei helfen, die Beerdigung vorzubereiten und das Haus zu entrümpeln. Eine lästige Sache für Arnoud, der feststellt, dass er kaum etwas über seine Großeltern weiß. Alles wird anders, als er in der Dorfkirche eine Gedenktafel mit dem Namen seines Großvaters entdeckt. Arnoud erfahrt, dass sein Opa während der Besatzungszeit zusammen mit 9 anderen Männern von den Deutschen exekutiert wurde. Dann entdeckt Arnoud das Testament seiner Großmutter, die ihm merkwürdigerweise alle ihre Bilder vermacht hat. Arnoud fängt an zu forschen und kommt einer tragischen Familiengeschichte auf die Spur…
The past is another country: they do things differently there. The Go-Between, L. P. Hartley
Dieses Buch ist für meine Eltern, die mir das Leben, Liebe und gesundes Gemüse gaben.
Meine Großmutter
Meine Großmutter starb im unvergesslichen Sommer 1996. Ich fand es schlimm für meinen Vater, der es zu dieser Zeit ohnehin nicht leicht hatte. Aber es war vorherzusehen gewesen. Sie war eine alte Frau, und alte Frauen sterben nun mal. Das ist der Lauf der Welt, dachte ich damals. Junge Leute leben und alte Leute sterben, und das hält die Welt im Gleichgewicht. Ich war dreizehn, was wusste ich schon. Ich kannte sie nicht gut genug, um tatsächlich zu trauern. Seit Jahren hatte sie mit meinem Vater im Streit gelegen, und ich konnte mich kaum mehr daran erinnern, wie sie aussah. Auf seinem Schreibtisch standen zwei Fotos von ihr, zwischen denen von Freunden, die nicht mehr zu Besuch kamen, und Bekannten, die wir mieden. Aber die Fotos halfen mir nicht viel weiter. Auf der ersten Aufnahme war sie eine noch junge Frau mit Locken, die gerade vom Fahrrad gestiegen war, irgendwo auf einem Feldweg. Sie lächelte ein wenig spöttisch, als hätte sie Mitleid mit dem Fotografen gehabt. Auf dem nächsten Foto war sie ein Stück älter. Ihre Haare waren zu einem Knoten zusammengezwungen und mit Eisenkämmen gebändigt. Sie blickte mich mit strengen schwarzen Augen an. Und das Lächeln war verschwunden. Keine von beiden ähnelte der Großmutter aus meiner Erinnerung. Diese Frauen hatten die Zeit gefunden, sich in Pose zu setzen, und meine Großmutter war die seltenen Male, die wir sie besucht hatten, immerfort in Bewegung gewesen. Sie verschob Tische und Stühle, harkte im Garten, wienerte Treppenstufen, klopfte Matten aus oder zog mich mit zum
Pflaumenpflücken, die sie stundenlang kochte, um sie später in dicke Weckgläser zu löffeln. Und selbst abends, wenn sie und mein Vater ihren Kaffee tranken, saß sie nicht still. Von dem Tisch aus, unter dem ich vorübergehend mein Lager aufgeschlagen hatte, schaute ich zu, wie sie einen Korb mit löchrigen Strümpfen und ihr Nähkästchen zum Vorschein brachte. Meine Mutter warf löchrige Socken einfach in den Müll, aber meine Großmutter nahm ein Holzei, steckte das in den Socken, suchte das Loch und begann zu stopfen. An dieses Ei erinnere ich mich noch gut, fast besser als an meine Großmutter. Ich wollte es festhalten, es in den Händen spüren. Ich wollte es haben. Es war so glatt und geheimnisvoll. Was wohl aus so einem Stopfei hervorkam, wenn man es lange genug ausbrütete? Ich wagte nicht zu fragen, sondern schaute nur mit großen Augen zu, wie sie mit jedem Stich das Loch verkleinerte und das Ei mehr und mehr in der Socke einsperrte, bis es vollkommen vom Garn begraben war. Sie war eine eigentümliche Frau, meine Großmutter, die Kaffee trank in einer Insel aus gestopften Strümpfen. Und sie war alt. Mein Vater kam mir schon so alt vor. Er war einundvierzig, als ich geboren wurde. Manchmal standen wir in irgendeinem Geschäft und irgendwelche Kunden fragten mich, ob ich mit meinem Großvater unterwegs sei. Ich schrumpfte jedes Mal zusammen, aber mein Vater strahlte. Nein, sagte er dann, das ist mein Sohn! Als hätte er mit einundvierzig noch eine schwere Prüfung durchstanden, einen Marathon gelaufen oder den Nordpol überquert. Na ja, wer meine Mutter kannte…
War mein Vater alt, dann war meine Großmutter steinalt. Und mager. Wenn sie aufs Fahrrad stieg, um Milch beim Bauern zu
holen, konnte man meinen, der Wind würde sie jeden Augenblick fortpusten. Und sie roch. Nicht, dass sie gestunken hätte, aber sie hatte so einen Geruch an sich, etwas muffig, genau wie das Haus. Ein Geruch von Kaffee und Erde und Bohnerwachs. Und etwas anderem, das ich bisher nur in ihrem Haus gerochen habe. Ehrlich gesagt, fürchtete ich mich vor ihr. Ich war davon überzeugt, dass sie eine Hexe war. Mal ehrlich: eine merkwürdig riechende alte Frau allein in einem großen Haus, die Schränke voll mit Einmachgläsern, aus denen einen die Obstsorten wie Schrumpfköpfe anstarrten. Schon weniger hätte einen denken lassen, dass sie an Sommerabenden mitsamt Besen und allem zum Hexentanz auf irgendeinen kahlen Berg flog. Alles Unfug natürlich. Meine Großmutter hatte wenig Geduld mit Leuten, die abergläubisch waren. Ein Tag blieb mir mit mehr als nur ein paar unzusammenhängenden Fetzen in Erinnerung. An diesem Tag hatten mein Vater und ich uns früh nach Deemstervelde, dem Dorf, in dem sie wohnte, auf den Weg gemacht. Im Auto wurde mir schlecht, und als wir endlich ankamen, glühte ich vor Fieber. Mein beunruhigter Vater bestand darauf, einen Arzt zu holen, aber meine Großmutter wollte nichts davon wissen. Das Dorf hatte keinen Arzt. Und es sei Unsinn, wegen eines bisschen Fiebers jemanden aus der Stadt kommen zu lassen. Sie trug mich die Treppen hinauf in ein kleines weißes Zimmer. Ich weiß noch, wie wütend ich auf diese Frau war, die mit meinem Vater sprach wie mit einem Kind und die mich dort in diesem Zimmer würde sterben lassen, ohne Hilfe, ohne Arzt, ohne meine Mutter. Sie legte mich auf das Bett, und ich musste mich vornüberbeugen. Tat das weh? Und das hier? Ja, alles tat weh. Ich starb. Sah sie das denn nicht?
»Es ist nicht schlimm«, behauptete sie. »Alles wird gut.« Sie ließ mich allein zurück, und ich weinte. Aber kurz darauf brachte sie mir ein Glas warme Milch, in der seltsame Sachen schwammen. Fledermausaugen und Salamanderfuße wahrscheinlich. Sie konnte mich nicht schnell genug unter die Erde bringen. »Das schmeckt mir nicht«, wagte ich noch zu sagen. »Trink es trotzdem.« Und ich trank. Das Letzte, woran ich mich erinnerte, war ihre Hand auf meiner Stirn. Es war schon Nachmittag, als ich aufwachte. Das Fieber war weg. Durch das Fenster hörte ich meinen Vater sprechen. Ich konnte aufstehen, blieb aber liegen und sah mich in aller Ruhe im Zimmer um. An der Wand hing ein gemaltes Bild mit einer Obstschale, und je länger ich es betrachtete, desto hungriger wurde ich. Außer dieser widerwärtigen Milch hatte ich den ganzen Tag noch nichts zu mir genommen. Über meinem Bett hing noch ein Bild: Gewitterwolken über einem Schloss. Inmitten dieser düsteren Landschaft ergoss sich ein gelbliches Licht aus den Turmfenstern in den Schlossteich und glitt wie eine dicke Schlage, wie ein stumpfer Blitz durch das aufgepeitschte Wasser. Der Sturm, der sich in der Luft ankündigte, war im Teich schon losgebrochen. In die Ecke des Bildes hatte jemand IM 1942 gemalt. IM? Irma Meert war der Name meiner Großmutter. Ich hatte nicht gewusst, dass sie malte. Dieses Schloss hatte sie bestimmt von ihrem Besen herab gesehen. Ich richtete mich auf, um es besser betrachten zu können, und stieß dabei das Milchglas um. Der Lärm brachte sie nach oben.
»Unser schöner Schläfer ist wach«, meinte meine Großmutter lachend, während sie vorsichtig die Glasscherben aufhob. Es war ein echtes Lachen gewesen. Und jetzt, jetzt war sie tot, und ich würde sie nie Wiedersehen.
Das Begräbnis
Am Tag der Beerdigung waren wir schon unbarmherzig früh unterwegs, um nur nicht zu spät zu kommen. Mein Vater erklärte mir, wie ich mich während der Totenmesse zu benehmen hätte. Ich hörte nur halb zu, ich schaute auf die fremden Felder und Wälder, die vorbeiflogen. Von der Strecke ist mir nichts im Gedächtnis geblieben. Er merkte, dass ich nicht bei der Sache war. »Wenn du dich unsicher fühlst, sieh zu mir. Tu einfach, was ich tue.« Er wirkte plötzlich sehr alt, so in seinem schwarzen Anzug. Die Mütter ließen in letzter Zeit zu wünschen übrig. Meine war weggelaufen, seine gestorben. Wir Männer hatten es wahrlich nicht leicht. Mein Vater schien schon eine Zeit lang nicht mehr gut zu schlafen. Was, wenn er in der Kirche einnickte und von seinem Sitz rutschte? Sollte ich das dann auch nachmachen? Wir fuhren schweigend weiter. An anderen Tagen hätte er mir etwas über die Strecke erzählt, von römischen Heerstraßen und weshalb manche Bäume zu einer Seite hin überhingen. Oder er hätte sich über den Müll auf der Standspur geärgert. Aber jetzt blieb er stumm. Ich versuchte, ihn etwas abzulenken, und erzählte, was ich von meinem letzten Besuch noch behalten hatte: das weiße Zimmer, die beruhigenden Stimmen. »Beruhigende Stimmen, pah! Harte Worte sind da gefallen, Arnoud, während du dalagst und schliefst. Deine Großmutter war keine einfache Frau. Für Mitleid hatte sie keine Zeit, weder für sich noch für andere. An diesem Tag hat sie uns aus dem Haus geworfen.«
»Hattet ihr euch gestritten?« »Nein, deine Großmutter streitet sich nicht. Stritt sich nicht. Aber sie hatte so ihre Vorstellungen, wie ich mein Leben zu fuhren hätte. Ach, du kannst es ruhig wissen: Sie fand, ich solle mich von deiner Mutter trennen und nicht mein Leben an sie vergeuden. Gut gemeint natürlich, aber ich war zu alt, um mir von meiner Mutter Vorschriften machen zu lassen. Und ich hoffte immer noch, deine Mutter und ich würden uns aussöhnen. Dass das nur eine Frage der Geduld war. Irgendwann würden wir wieder eine glückliche Familie sein. Ich hätte es besser wissen müssen. Wenn die ›Touren‹ deiner Mutter bis nach Deemstervelde drangen, ein Dorf, das der übrigen Welt fünfzig Jahre hinterherhinkt, dann…« Er seufzte. ›»Solange du bei der Frau bleibst, will ich nichts mehr mit dir zu tun haben.‹ Das waren ihre letzten Worte. Ich habe dich ins Auto getragen und bin fortgefahren. Ohne mich umzusehen.« Er starrte wieder auf die Fahrbahn.
Meine Großmutter hatte Recht gehabt. Meine Mutter fand immer neue Methoden, immer neue Männer, um meinen Vater unglücklich zu machen. Trotzdem war er nie nach Deemstervelde zurückgekehrt. Und jetzt war sie tot. Eine Nachbarin hatte sie im Garten gefunden, zwischen den Gänsen. Wir verließen die Autobahn und rumpelten durch die Felder. Eine eichengesäumte Straße, die mir bekannt vorkam. Die Äste griffen über unseren Köpfen ineinander und bildeten einen Tunnel, durch den die Sonne Goldmünzen fallen ließ. Wir näherten uns Deemstervelde. Man sah es schon von weitem daliegen: ein paar Häuser und in der Mitte eine Kirche. Mit dem Auto war man im Nu daran vorbei. Aber mein Vater parkte auf dem Dorfplatz, und kurz
darauf stand ich neben ihm im Kirchenportal und schüttelte Unbekannten die Hände. Und was für Hände. Knorrige Hände, runzlige Hände, stumpfe Hände mit fehlenden Fingern, halbe Klauen. Jeden Augenblick konnte mir jemand einen Eisenhaken in die Hand drücken. Das ganze Dorf schien über siebzig zu sein. Meine Großmutter war alt gewesen, also war es nicht so abwegig, dass all ihre Bekannten auch auf die achtzig zugingen. Aber das hatte ich zu der Zeit noch nicht begriffen, und während ich das vierzigste oder fünfzigste Skelett brav anlächelte, beschlich mich der starke Verdacht, Deemstervelde könnte ein Freiluftaltenheim sein. Und alle starrten sie mich an. Oder bildete ich mir das nur ein? Der Tag war ohnehin schon so unwirklich, ich in meinem unbequemen schwarzen Anzug, der höflich der Prozession von verfallenen Gesichtern zunickte, die lachend ihre leeren Münder oder dritten Zähne entblößten. Sie begrüßten meinen Vater, murmelten ihm ihr Beileid, kamen zu mir gehumpelt und schwiegen. Und sie glotzten. Erst dann gaben sie mir die Hand und murmelten mir ihr Beileid. Hatten sie hier seit Jahren kein Kind mehr gesehen? War das hier ein Dorf für Alte, für geriatrische Vampire, die von Kinderblut lebten, und war ich, ihre dumme Beute, einfach so zum Händeschütteln in ihrer Mitte aufgetaucht, ohne zu ahnen, was mir bevorstand? Oder stand mein Hosenstall offen? Ich wagte sie nicht mehr anzuschauen aus Angst, so sehr zu erröten, dass mir der Kopf platzte, und senkte stattdessen den Blick auf meine blank geputzten schwarzen Schuhe. Aber das half kaum etwas. Außerdem sah ich jetzt ihre Hände nicht mehr auf mich zukommen. Also starrte ich über ihre Schultern hinweg und konzentrierte mich auf eine Gedenktafel an der Kirchenwand.
IN MEMORIAM FÜR UNSERE GEFALLENEN AM 15TEN JUNI 1942 WURDEN DIESE MÄNNER FEIGE VON DEN DEUTSCHEN EXEKUTIERT. LHERMITTE PIERRE BAUSSE MAURICE DE VEIRMAN GUSTAAF DE VRIENDT ARNOUD HEYVAERT THEOFIEL LEFÈVRE LOUIS MAJEUR LEONARD SCHOONJANS JULES VAN DE VEIRRE CESAR VAN KELST EMIL
De Vriendt Arnoud! Das war ich. Da stand mein Name. Mir wurde leicht schwindelig. Ich hätte am Morgen besser frühstücken sollen. Ich sah noch mal hin. Ja, da stand ich, zwischen neun weiteren Exekutierten. Das Händeschütteln ging weiter. Wie viele Alte konnte man in diese Kirche zwängen? Endlich waren alle drinnen, und es konnte beginnen. Der Sarg lag auf einem Karren, den der Begräbnisunternehmer vor sich her schob. Die Räder waren unter einem Tuch verborgen, sodass es aussah, als schwebte der Sarg zum Altar. Der Karren allerdings hatte schon bessere Zeiten gekannt, denn er quietschte bei jeder Bewegung. Schritt. Schritt. Quietsch. Schritt. Schritt. Quietsch. So zogen
wir schleppend in die Kirche ein. Die Alten in den Nebenschiffen blickten ernst. Für sie war das Ganze überhaupt nicht lustig.
Von dem Gottesdienst selbst erinnere ich wenig. Ich stand auf, wenn mein Vater aufstand, ich setzte mich, wenn er sich setzte. Ich versuchte traurig auszusehen, was nicht so schwer war. Die vergangenen Monate waren nicht die fröhlichsten gewesen. Ich schaute mich heimlich um, betrachtete die Bilder von Pestkranken und in Stücke gehackten Säuglingen. Mir gegenüber stand die Skulptur eines Mannes mit einem blutenden Herzen. Sein Finger zeigte genau auf mich. Was wusste er von mir? Was hatte ich verbrochen? Mitten im Gottesdienst entstand eine Unruhe. Sie kam von hinten in der Kirche, und Reihe um Reihe drehten sich die Köpfe um. »Was gibt es?«, flüsterte der Mann, der hinter mir saß. »Robert ist gekommen!«, flüsterte sein Nachbar so laut zurück, dass die ganze Kirche es hören konnte. Ich wusste nicht, wer Robert war, aber alle Übrigen in der Kirche anscheinend schon. Man hatte den Mann eindeutig nicht erwartet, und dem Priester entglitt die Aufmerksamkeit seiner Herde. Ich schaute zu meinem Vater, aber der war in seine eigene Welt versunken. Ich versuchte, noch etwas von dem Mann hinter mir aufzuschnappen, aber außer einigen Körpergasen gab der nichts mehr von sich. Die Aufregung in der Kirche hielt sich bis zur Predigt. Dann wandten die verlorenen Schafe ihre verwitterten Gesichter wieder dem Priester zu. Jetzt kam nämlich der persönliche Teil, sozusagen das Hauptgericht der Messe.
»Liebe Gemeinde«, begann der Priester, »wir alle haben Irma gut gekannt.« Ich nicht, dachte ich. In dieser Kirche voll mit Fremden kannte ich, der Enkel, sie am allerwenigsten. Es gab andere Leute, die ihren Tod mehr betrauerten, die mehr Recht auf diesen Ehrentrauerplatz hatten, auf dem ich jetzt saß. Der Priester erzählte, wie sie immer im Dorf gewohnt und dass sie nach dem Tod ihres Mannes ganz allein den Sohn großgezogen habe. Dass sie eine gute Nachbarin gewesen sei, immer bereit zu helfen, eine Christin im wahrsten Sinne des Wortes. Sie sei keine gewesen, die ihren Glauben nur in der Kirche gelebt habe, sondern sie habe ihn auch im täglichen Leben umgesetzt. Sein eigenes Kind aus dem Haus werfen, dachte ich, ist das christlich? Die Mehrzahl der Frauen schluchzte jetzt vor sich hin, und auch mein Vater hatte zu kämpfen. Dachte er an seine Jugend oder an die letzten Worte meiner Großmutter? Verübelte er es ihr, dass sie sich all die Jahre nicht mehr gesehen hatten? Oder meiner Mutter? Oder sich selbst? Kurz darauf war der Gottesdienst vorbei. Meine Großmutter wurde, wie alle toten Gemeindemitglieder in den vergangenen fünfhundert Jahren, auf dem die Kirche umgebenden Friedhof beerdigt. Wir gingen über Grabplatten, die wie Pflastersteine auf dem Boden lagen, mit Totenköpfen wie auf Piratenflaggen, und strömten zwischen schief weggesunkenen Grabsteinen, Plastikblumen und vergilbten Fotos hin zu einem offenen Grab, wo wir mit einer Weihwasserbürste ein Kreuz über den Sarg schlugen. Es war für die Dorfbewohner nicht leicht, mitsamt Gehhilfen und Rollstühlen bis zur Grube zu kommen. Zum Glück erwies sich der Begräbnisunternehmer als echter Profi, sonst hätte das Grab ein paarmal die falsche alte Frau in sich aufgenommen.
Ich schaute auf den Stein. Und das Herz stand mir still. ARNOUD DE VRIENDT 1917-1942 Da stand wieder mein Name. Das Foto des jungen Mannes auf dem Grabstein war vom Regen ziemlich verwischt, aber ich sah die Ähnlichkeit. Er glich meinem Vater, als der beim Militärdienst gewesen war. Dieser Arnoud de Vriendt, das war natürlich mein Großvater. Das war der Mann von der Gedenktafel in der Kirche. Mein Vater hatte mir irgendwann erzählt, er sei im Krieg ums Leben gekommen. Aber viel mehr wusste ich nicht. Mein Vater erzählte selten etwas aus seiner Jugend. Er hatte das Dorf und seine Vergangenheit hinter sich gelassen, seit er zum Studieren in die Stadt gezogen war. 1917-1942. Fünfundzwanzig Jahre alt war mein Großvater geworden. Was würde er sagen, jetzt, wo sie seine Frau neben ihn legten, die schon fast achtzig war? Was hatten sie sich noch zu sagen, dieser Fünfundzwanzigjährige und diese Frau, die den Krieg überlebt, einen Mann auf dem Mond, Bikinis und Computer gesehen, die Beatles und sogar den Punk noch mitgemacht hatte? Ihr Name stand auch schon auf dem Stein. IRMA MEERT 1919Es musste nur noch das Sterbejahr eingemeißelt werden. Jeden Sonntag, wenn sie an dem Grab vorbeigegangen war, hatte sie ihren Namen auf dem Grabstein gesehen. Was war dann in ihr vorgegangen? Viel Zeit zum Nachdenken hatte ich nicht. Ein alter Mann mit dickem grauen Haar bahnte sich einen Weg durch die
murmelnde Menge, die verstummte, als er vor dem Grab stand. War er so breit oder war sein Anzug zu klein? Es schien, als könne er jeden Moment aus seiner Kleidung platzen: ein grauer Koloss. Das musste Robert sein. Er nahm die Bürste, schlug ein Kreuz, klopfte meinem Vater auf die Schulter und betrachtete mich unangenehm lange. Alle Blicke folgten ihm, als er über den Friedhof davonhinkte und in ein großes schwarzes Auto stieg. Das war ein Rolls! Eigenartige Freunde hatte meine Großmutter. Die hatte der Priester in seiner Predigt über die Nächstenliebe nicht erwähnt.
Nach dem Begräbnis zogen wir in den kleinen Saal gegenüber der Kirche. Deemstervelde ließ sich den Schnaps und den Kaffee auf Kosten meines Vaters gut schmecken. Ab und zu kam jemand zu mir und meinte, wie schlimm es doch sei und was für eine gute Frau meine Großmutter gewesen war. Manche hatten Tränen in den Augen, und ich kam mir vor wie ein Betrüger. Ich war all dieses Mitleid nicht wert. Als ein freundlicher alter Mann mir beibringen wollte, wie man Billard spielt, sagte ich dankend nein. Ich musste hier fort. Ich nahm ein Käsebrötchen von einer Platte und ging nach draußen. Das Dorf war schnell erkundet. Es gab einen Gemischtwarenladen – ohne Kunden, die saßen jetzt alle in unserem Saal – und ein Bekleidungsgeschäft, dessen neueste Kollektion noch aus der Mitte der fünfziger Jahre stammte. Das war es auch schon. In der Mitte des kleinen Dorfplatzes stand eine Reiterstatue. Der hatte Deemstervelde irgendwann befreit oder erobert oder war an dieser Stelle vielleicht auch nur betrunken vom Pferd gefallen. Ich hätte meine Neugier befriedigen können, indem ich die Straße überquerte – kein gefährliches Unterfangen in diesem Dorf, wo alles, was nicht
von einem Pferd gezogen wurde, noch eine Sehenswürdigkeit war –, aber ich wollte mir das Foto meines Großvaters noch mal in Ruhe ansehen. In der Kirche wurden die Teppiche aufgerollt, und auch auf dem Friedhof war man noch bei der Arbeit. Die Grube wurde zugeschaufelt. Ich wollte nicht stören und setzte mich auf einen Grabstein in der Sonne. Maria Goegebuerhe, 1768-1834, würde es mir bestimmt verzeihen. Es war so ruhig hier. Einige Stimmen aus dem Saal wehten herüber, das war alles. Keine Autobahn, kein Verkehr. Und Stimmen hinter der Hecke. Zwei Frauen unterhielten sich über – wie konnte es anders sein – die Beerdigung. »Das ist die Nächste, die das Zeitliche gesegnet hat. Hätte ich nicht erwartet. Ich dachte, sie würde länger durchhalten. Du weißt, nie einen Tag krank.« »Von einem Tag auf den andern. Würde ich mir auch so wünschen.« »Wer würde das nicht?« Ich lugte durch die Hecke. Sie saßen auf einer Bank mit dem Rücken zu mir, noch in Schwarz gekleidet und mit mehr Gold um Hälse und Finger, als man in der Gruft eines Pharao vermuten würde. Sie schienen noch nicht bereit für einen kurzen, schmerzlosen Tod. Die Linke, eine alte Frau mit einem Gesicht voller Runzeln, holte das Totenbildchen meiner Großmutter hervor. »Sie hat’s nicht leicht gehabt.« »Nein.« Die andere, die mit ihrer Pelzmütze ein wenig an einen dicken alten Russen erinnerte, seufzte. »Wen hat’s noch übrig?« »Agnes. Philomène. Und uns beide. Das war’s.« »Die letzten Witwen von Deemstervelde.« »Und sie.«
»Sie?« »Sie. Madame. Die Baroness.« »Die? Die überlebt uns alle. Unkraut vergeht nicht.« »Dass sie es wagt, Robert zu schicken. Einfach schamlos.« »Ist vielleicht aus eigenem Antrieb gekommen.« »Hm.« Der Russe dachte sich offenbar sein Teil dazu. »Hast du den Kleinen gesehen?« »Unglaublich.« »Aufs Haar genau Arnoud.« Sie redeten von mir! »Wie kann er ihm nur so ähneln?« »Hoffentlich nicht im Charakter.« »So arg war er nun auch wieder nicht.« »Stimmt, Césarine, ich hatte es schon vergessen, du bist ihm ja auch hinterhergelaufen.« »Clothilde Levèvre! Ich bin nie jemandem hinterhergelaufen!« »Geh schon, Césarine, ich bin alt, aber nicht blöd. Ich war doch dabei, auf dem Fest vom Musikverein. Ich hab euch gesehen!« »Was du wieder redest. Das ist mehr als fünfzig Jahre her! Das wird sonst wer gewesen sein, möcht ich meinen. Ich kann mich an all das nicht mehr so gut erinnern.« »Du brauchst dich nicht zu schämen. Wir sind ihm alle nachgelaufen. So ein schönes Mannsbild. Und dass Irma damit auf und davon ist.« »Ja, und wir wissen alle, weshalb.« »Über die Toten nur Gutes.« Sie schwiegen wieder. Für immer, jedenfalls machte es diesen Eindruck. Mein Großvater musste der Romeo des Dorfes gewesen sein, wenn diese Frauen nach all den Jahren immer noch so von ihm sprachen. Er hatte Eindruck gemacht auf die Damen, so viel
war klar. Und ich ähnelte ihm sehr, fanden sie. Eine gute Neuigkeit, oder? Nur schade, das aus dem Mund von zwei steinalten halb blinden Frauen zu hören. Sie hatten Robert erwähnt. Und ich hatte den Namen schon irgendwo gehört. Er war auch ein de Vriendt, ein Großonkel von mir oder so ähnlich. Auch mit ihm hatte meine Großmutter im Streit gelegen, meinte ich mich zu erinnern. Ihre Nächstenliebe hatte Grenzen gekannt, das jedenfalls war klar. Aber was scherte mich die Vergangenheit? Die Beerdigung war vorbei. Wir konnten weg. Ich ging zurück in den Saal und suchte meinen Vater, ich wollte diesen albernen schwarzen Anzug ausziehen und nach Hause. Die Ferien hatten gerade angefangen. Ich wollte keine Zeit vertrödeln.
Er stand allein am Tresen. »Sind alle schon fort?« Er warf mir einen Blick zu, den ich leider nur zu gut kannte. »Arnoud, Junge. Ich hab hier noch zu tun. Ich muss noch Papiere in Ordnung bringen und das Haus leer räumen. Und was mache ich mit den Gänsen, wer kümmert sich vorläufig um den Garten und wo soll ich mit all den Kleidern und Möbeln hin?« Wo genau wollte er mit mir hin? »Ich hatte gedacht, weil ja ohnehin Ferien sind und wir noch nichts geplant hatten…« »Und was ist mit Frankreich?« »… noch nichts Endgültiges geplant hatten, dass wir hier vielleicht einen Monat bleiben könnten. Ferien auf dem Lande, das machen viele Leute in letzter Zeit. Das ist schick.« Ferien? Hier? Zwischen diesen Leuten? War das sein Ernst? »Du kannst mir helfen. Ich habe genug zu tun die nächsten Tage.«
Was sollte ich dazu sagen? Es war nicht gerade der beste Augenblick, meinem Vater zu widersprechen. Dazu waren seine Augen etwas zu rot und zu feucht. Ich konnte ihn ja verstehen. Er wollte nicht zurück in unsere Wohnung in der Stadt. Aber einen ganzen Monat! Hier! Ich hatte schon jetzt alles Sehenswerte gesehen. Wie lange konnte man alte Frauen begaffen, die einen mit ihren dritten Zähnen anfletschten? »Und wann wollen wir wieder herkommen?« »Wir bleiben.« »Und meine Klamotten? Und meine anderen Sachen?« »Ich habe ein paar Sachen zum Anziehen mitgenommen. Und übermorgen fahre ich noch mal nach Hause und hole noch mehr.« Er hatte es also schon länger geplant. Mir blieb keine Wahl. Ich würde meine Ferien in Deemstervelde verbringen. Hurra.
Ich erbe ein Ei
Am nächsten Morgen wachte ich in einem fremden Bett auf. Wo waren der Wecker und mein Schreibtisch? Wieso war es draußen so still? Wo war ich? Dann sah ich die Bilder an der Wand. Natürlich. Die Beerdigung. Deemstervelde. Das Haus meiner Großmutter. Als ich in die Küche kam, hatte mein Vater das Frühstück schon fertig. Pfannkuchen. Hin und wieder musterte er mich, während wir aßen. Würde ich ihn verfluchen, nachdem er mich hier begraben hatte? Würde ich schmollen? Stand ihm ein schwieriger Monat mit seinem schwierigen Sohn bevor? Ich wusste es selbst nicht so recht. »Die Pfannkuchen schmecken sonderbar. Nicht schlecht. Anders.« »Gänseeier.« Aha. Ich schaute mich in der Küche um, während ich aß. Wie hatte er hier auch nur ein Ei kochen können? In der Ecke stand ein großer Feuerherd und neben der Tür ein Schrank mit Geschirr und Besteck. Das war auch schon alles. Kein Wasserhahn, kein Geschirrspüler, kein Spülbecken, noch nicht mal ein Kühlschrank! Mein Vater ging in einen Verschlag neben der Küche. Ich hörte Lärm, ging hinterher und sah meinen Vater pumpen. Pumpen! Da stand eine Pumpe, eine Pumpe aus schwarzem Eisen. Mit einem Schwengel, den mein Vater auf und ab bewegte, und
einer Tülle, aus der Wasser kam. Was hatte ich verbrochen, dass man mich zur Strafe ins Mittelalter katapultiert hatte? Mein Vater goss das Wasser in einen Kessel und stellte ihn auf das Feuer. »Gleich können wir uns waschen.« Es war tatsächlich sein Ernst.
»Wir werden es Zimmer für Zimmer angehen. Ich glaube, wir fangen am besten im Schlafzimmer an. Säcke für die Kleidung liegen schon bereit. Was brauchbar aussieht, kommt in die grünen Säcke, alles Übrige in die schwarzen. Ich versuche inzwischen, etwas Ordnung in ihre Papiere zu bringen.« Während mein Vater die Gänse fütterte, ging ich ins Schlafzimmer meiner Großmutter und zog die Vorhänge auf. Draußen war Sommer. Und ich hockte hier drinnen zwischen den Kleidern einer alten Frau. Ich sah meinen Vater unter den Obstbäumen hinter dem Blumengarten, umringt von hungrigen Gänsen. Wenigstens einer, der sich zu amüsieren schien. Er schloss das Holzgatter und blieb einen Moment im Gemüsegarten stehen. Ja, dieses Haus und dieser Garten gehörten jetzt ihm. Was, wenn er sich entschied, hierher zu ziehen? Nicht daran denken. Sondern loslegen! Je schneller ich das Zeug hier ausmistete, desto schneller konnten wir wieder weg.
Als mein Vater nach oben kam, lag das Bett schon unter Kleidern und Mänteln begraben. Die Arbeit war weniger schlimm als erwartet. Jeder Schrank, jede Schublade brachte eine neue Überraschung. Eine Schachtel war voll mit Broschen und Ohrringen, eine andere mit Hüten, die ich gern einmal vor dem Spiegel im Kleiderschrank ausprobiert hätte. Aber mit
meinem Vater im Zimmer war das wohl keine gute Idee. Er hatte es auch so schon schwer genug. »Am liebsten würde ich hier sämtliche Türen verriegeln und alles genau so lassen, wie es ist. Kein gutes Gefühl, so im Leben von jemand anderem herumzuwühlen«, hatte er angesichts des nicht enden wollenden Stroms von Briefen, Rechnungen, Quittungen, Listen und Adressbüchlein geseufzt, der aus den Schränken hervorquoll. Meine Großmutter hatte über alles Buch geführt. Und mein Vater, der leider ihre Gründlichkeit geerbt hatte, las jedes Papier. Wir kamen gut voran, bis mein Vater einen kleinen Rollschreibtisch öffnete und dort auf einer grünen Schreibunterlage zwei Briefumschläge liegen sah. Ich stellte mich neben ihn. Testament von Irma de Vriendt-Meert stand auf dem einen und auf dem anderen sein Name: Henri de Vriendt. Mein Vater nahm die Umschläge in die Hand und starrte eine Zeit lang auf die Schrift. Zuletzt gab ich ihm einen Schubs. »Pa.« Er öffnete das Testament. Ich las über seine Schulter hinweg mit: Deemstervelde, den 23. Mai 1994 Ich, Irma de Vriendt-Meert, Witwe von Arnoud de Vriendt, wohnhaft Zannekin 2, Deemstervelde, mache heute bei klarem Bewusstsein und aus freiem Willen mein Testament. Ich werde am heutigen Tag 75, und in diesem Alter ist es an der Zeit, dass ein Mensch seine Angelegenheiten in Ordnung bringt. Meinem Sohn, Henri de Vriendt, hinterlasse ich das Haus und alles an Hausrat und Inventar, zusammen mit dem Geld der beiden Sparkonten. Das eine ist, wie ich hoffe, ausreichend, um die Beerdigung zu bezahlen. Sollte noch Geld von diesem Konto übrig bleiben, dann hätte ich gern, dass in
der Kirche von Deemstervelde eine Reihe von Messen für mein Seelenheil gelesen werden. Man weiß nie, wozu es gut ist. Meinem Enkelsohn Arnoud de Vriendt hinterlasse ich meine Gemälde. Und meinen Nähkasten. Auf Ehre und Gewissen Irma de Vriendt-Meert
Das hatte sie zwei Jahre vor ihrem Tod geschrieben. Hatte sie die Briefe die ganze Zeit auf ihrem Schreibtisch liegen lassen? Das war mindestens so makaber wie der Grabstein mit ihrem schon eingemeißelten Namen. Mein Vater ging mit dem anderen Brief aus dem Zimmer. Er wollte mich nicht als Zeugen. Er hatte Angst vor dem, was sie ihm nach ihrem Tod noch zu sagen hatte. Und er hatte Recht. Eine eigenartige Frau, das war sie gewesen. Sie hätte überhaupt kein Testament zu hinterlassen brauchen. Mein Vater war ihr einziger Sohn. Und was sollte ich mit einem Nähkasten? Dieser letzte Satz sah aus, als hätte sie ihn später noch hinzugeschrieben. Es klingelte an der Tür. Ich ging hinunter und öffnete – wem sonst – einer alten Frau. »Du bist der Enkel, stimmt’s?« Sie ging an mir vorbei, durch den Flur in die Küche. »Weißt du, wo das Putzzeug steht?« Ich schaute sie an. »Lass gut sein. Werd’s schon finden.« Sie begann, in dem Pumpverschlag zu hantieren, und kam mit Bürsten und Eimern zurück. »Was ist? Hast wohl noch nie jemanden putzen gesehen?« »Meine Großmutter ist nicht da. Sie ist gestorben.«
»Ja, das weiß ich, Bursch. Sonst wär ich auch nicht hier. Irma hätte nie eine andere Frau in ihrem Haus geduldet. Nur über meine Leiche, hat sie immer gesagt.« Ich starrte sie immer noch an. »Hat dein Vater dir nicht gesagt, dass ich putzen komm? Nein? Wird wohl genug anderes um die Ohren haben. Er hat mich gestern im Saal gefragt. Wo ihr jetzt doch ‘ne Weile bleibt, muss jemand das Loch hier sauber halten. Und ich verlang nicht viel. Paula Lhermitte. Gut und preiswert.« Sie war alt, mindestens sechzig. Kein Alter, um noch als Putzfrau bei anderen zu arbeiten, aber als sie anfing, die Küche unter Wasser zu setzen, zog ich mich schnell zurück. Ich hatte mich heute schon gewaschen, vielen Dank. Ich ging wieder nach oben, auf der Suche nach meinem Vater. Aber der war so in seinen Brief vertieft, dass er gar nicht merkte, wie ich ins Zimmer kam. Also schlich ich vorsichtig wieder weg. Mir blieb Zeit genug, ihn nach einer Erklärung wegen der Putzfrau zu fragen. Oben im Treppenhaus hing ein Gemälde. Tote Fische auf einer Platte. Ich war jetzt der stolze Erbe von diesem und allen anderen Bildern im Haus. Was sie wohl wert waren? Genug, dass ich mir eine Zugfahrkarte nach Hause kaufen konnte? Aber es fuhr noch nicht einmal eine Bahn durch Deemstervelde. Ich rieb den Staub von dem Bild. IM 1942. Ich kannte mich mit Kunst nicht aus, aber selbst ich sah, dass das hier keine Van Goghs waren. Es wirkte alles wie in großer Hast hingepinselt. Ich ging ins Wohnzimmer, wo der zweite Teil meines Erbes stand: der Nähkasten. Was hatte sie dazu getrieben, mir gerade das Ding zu vererben? Ich gebe zu: Als ich es öffnete, hatte ich alles Mögliche erwartet, Golddukaten oder eine Schatzkarte. Aber ich sah lediglich Nadeln, Garn, Knöpfe. Doch der Nähkasten hatte verschiedene Einsätze. Ich
hob den ersten heraus und fand einen Brief mit meinem Namen. Zwar keine Dukaten, aber wer wusste, was in dem Briefstand. Ich hob den nächsten Einsatz heraus und sah etwas zwischen Stoffbändern liegen. Ein Ei. Es war das Holzei, auf dem sie ihre Strümpfe gestopft hatte, das Ei, das ich damals so gern hätte haben wollen. Sie hatte es gewusst. Sie hatte es nicht vergessen. »Na, fängst du jetzt an zu sticken?« Paula stand im Wohnzimmer. Ich klappte den Nähkasten zu.
Der Brief einer toten Frau
Ich ging in mein Zimmer, neugierig, was in dem Brief stand. Waren es großmütterliche Ratschläge? »Putz dir die Zähne und sei höflich, wenn du antwortest. Sonst komme ich und spuke.« Oder waren es ihre Hexenrezepte? Ich riss den Briefumschlag auf, und heraus rutschten zehn Bögen Papier. Auf beiden Seiten beschrieben. Das konnte ja was werden. Hallo Enkelsohn, ich bin wahrscheinlich tot, wenn du das hier liest. Komisch, aber wahr. Das hier war der Brief einer Toten. Mich beschlich das Gefühl, beobachtet zu werden, und ich schaute einmal durchs Zimmer. Aber ich war allein, was sonst. Sie war tot. Ich hatte ihren Sarg gestern in der Erde verschwinden sehen. Ich sollte mich nicht so haben. Es war nicht merkwürdiger, als ein Buch von einem toten Schriftsteller zu lesen. Oder? Es war, als hätte sie meine Gedanken gelesen. Das ist sehr merkwürdig. Auch für mich. Ich kann nur schwer glauben, dass ich irgendwann einmal sterben werde. Ich habe heute, an meinem fünfundsiebzigsten Geburtstag, mein Testament gemacht. Du wirst denken, dass man sich in diesem Alter mit dem Gedanken versöhnt hat, eines Tages nicht mehr zu sein. Aber das ist nicht so. Ich habe viele Leute gehen sehen, mit eigenen Augen sterben sehen, und doch kann ich nur schwer glauben, dass auch ich einmal gehen muss. Mein
Körper ist verbraucht, doch mein Geist kommt mir unsterblich vor. Denkst du nicht auch, du wärest unsterblich, Arnoud? Oder dass der Tod noch weit weg ist? Nun, glaub weiter daran, Enkelsohn. Weshalb sich mit dem Tod aufhalten? Das macht einen nur traurig. Aber heute muss ich innehalten und nachdenken, erst recht nach meinem Besuch beim Arzt. Es kann jeden Augenblick passieren, meint er. Es ist mein Herz und das ist schon mein ganzes Leben hindurch ein unzuverlässiges Organ gewesen. Ich habe das Gefühl, keine Zeit mehr verlieren zu dürfen. Dieser Brief, den ich schon jahrelang im Kopf habe, muss endlich geschrieben werden. Natürlich hätte ich es lieber noch etwas hinausgezögert. Ich habe Angst, du könntest noch zu jung sein, um zu verstehen, was ich dir erzählen will. Du bist zehn, während ich das hier schreibe, und noch nicht reif für die Bekenntnisse einer alten Frau. Aber vielleicht halte ich doch noch etwas länger durch, als der Arzt meint. Ich hoffe es für uns beide. Und, Arnoud, ich bitte dich: Was immer du tust und wie schlimm ich es auch finde, ein Geheimnis zwischen dich und deinen Vater zu schieben, zeig ihm niemals diesen Brief. Was, Arnoud, habe ich jemandem, den ich kaum kenne, so dringend zu erzählen? Dass es mir Leid tut, dass wir uns nie kennen gelernt haben? Ja, gewiss. Ich finde es sehr schlimm, dass mein Enkel für mich ein Fremder ist. Das ist eines der wenigen Dinge, die ich deinem Vater übel nehme. Und das hat natürlich mit dem anderen zu tun, das ich ihm verüble: deiner Mutter. Aber wenn ich will, dass du weiterliest und diesen Brief nicht auf der Stelle zerreißt, dann schweige ich besser über diese Frau. Schlimm ist nur, dass sie mir nicht nur den einzigen Sohn, sondern auch meinen einzigen Enkelsohn genommen hat.
Aber genug davon. Ich habe keine Lust, an meinem Geburtstag einsam vor mich hin zu weinen. Die Tränen, die keiner sieht, sind die traurigsten. Ich möchte von deinem Erbe sprechen. Ich habe gerade mein Testament gemacht. Und darin steht, dass ich auf Ehre und Gewissen und bei vollem Verstand mein Haus und mein Geld deinem Vater hinterlasse. Und natürlich gehört sich das so. Selbst nach unserem Streit, als ich nur noch über Gerüchte von seinem Leben erfuhr, habe ich nie daran gedacht, ihn zu enterben. Er ist mein einziger Sohn. Es ist schade, dass die Hälfte in die Hände deiner Mutter fällt, aber daran ist nun mal nichts zu ändern. Aber dir hinterlasse ich etwas anderes. Endlich. Wir kamen zum interessanten Teil. Ich sehe nichts Gutes in dieser Welt. Das ist das Privileg einer alten Frau. Ich habe so lange an diese Welt geglaubt, aber es wird immer nur schlimmer. Ich sehe keine Liebe mehr, keine Freude. Vielleicht ist das nicht wirklich so. Diese Zeit wird sich nicht so sehr von früher unterscheiden. Es liegt wahrscheinlich an mir. Mit dem Alter wächst dir eine Haut über die Augen und du siehst die Welt verhangen. Als ich jung war, dachten die Alten auch, alles würde immer schlechter, und deren Eltern haben das Gleiche gedacht und so weiter, bis hin zu Adam und Eva. Und doch habe ich wenig Vertrauen in die Zukunft. Die Leute verlieren ihre Eigenart. Sie wissen nicht mehr, wer sie sind, und was macht es dann noch für einen Unterschied, wohin sie gehen. Ich möchte dich behüten, Arnoud, vor diesem hemmungslosen, reglosen Umhertreiben. Du weißt noch weniger als andere, woher du kommst. Wie solltest du auch,
wenn selbst dein Vater nicht weiß, was sich vor seiner Geburt abgespielt hat. Er ist einer der Entwurzelten, der Umherirrenden. Aus ihm ist ein guter Mann geworden. Aber das hat er nicht mir zu verdanken. Und deine Mutter, was für eine Geschichte konnte sie dir mitgeben. Das arme Wesen weiß abends nicht mehr, wo sie morgens den Kopf gelassen hat. Die eigene Herkunft ist nicht immer leicht zu ertragen. Deshalb hoffe ich, ich halte es noch eine Weile aus, trotz der düsteren Vorhersagen des Arztes, bis du ein Alter erreicht hast, in dem dich deine Geschichte nicht mehr verwirrt. Aber welches Alter könnte das sein? Dein Großvater war einer der klügsten Leute, die ich gekannt habe, und doch wurde seine Habsucht ihm zum Verhängnis. Soll ich hoffen, noch dreißig, fünfzig Jahre zu leben, bis du weise genug bist, mit der Wahrheit umzugehen? Nein, ich muss dir einfach vertrauen. Und natürlich schreibe ich das hier mehr für mich als für dich. Wieso fällt es mir dann so schwer, einen Anfang zu finden? Weil ich nicht weiß, wo ich anfangen soll. Eigentlich müsste ich erzählen, was für eine ich war, wie und wo ich aufgewachsen bin, was ich gedacht und was ich geträumt habe. Wenn ich dir erzählen will, wer du bist, dann musst du doch wissen, wer ich war, oder? Aber dieses Mädchen von damals ist vor so langer Zeit verschwunden. Ich kenne es nicht mehr. Und ich war nichts Besonderes. Ich war ein Mädchen wie alle. Erst als ich deinen Großvater kennen lernte, da wurde ich jemand. Also müsste ich dir erzählen, wer dein Großvater war. Aber das ist eine noch schwerere Aufgabe. Und ich möchte diesen
Brief heute fertig schreiben. Ich habe Angst, dass ich ihn nie zu Ende bringe, wenn ich mir jetzt einen Aufschub gestatte. Ich blätterte kurz durch die Seiten, die folgten. Offenbar hatte sie noch einiges auf dem Herzen. Aber dass sie mir einen Schatz hinterließ, das wurde mit jeder Seite unwahrscheinlicher. Kein schlechtes Wort über die Toten, sagt man. Nun, das wird mir schwer fallen. Denn es kommen mir wenig gute Worte in den Sinn, wenn ich, wie jeden Tag, an deinen Großvater denke. Schändlich, nicht wahr, dass ich, seine Frau, seine Witwe, sein Andenken besudele. Aber nicht immer lieben Frauen ihren Mann. Das kann ich dir versichern für den Fall, dass du das wider Erwarten noch nicht wissen solltest. Es ist seltsam, wie ein Mann und eine Frau, die sich vor Gott und der Welt ewige Liebe geschworen haben, sich nach ein paar Jahren gegenseitig in der Luft zerreißen könnten. Manchmal denke ich, das ist der Hochmut, der vor dem Fall kommt. Wieso müssen all die Paare es in die Welt hinausschreien? Wie können sie sich dermaßen sicher sein? So weit ist es mit deinem Großvater und mir nie gekommen. Ich habe ihn nie gehasst. Dazu kannte ich ihn nicht gut genug. Aber habe ich ihn je gern gehabt? Und hatte er mich gern? Da stehen sie auf dem Papier, die beiden wichtigsten Fragen meines Lebens. Du denkst wahrscheinlich, ich sollte wenigstens eine davon beantworten können. Habe ich je, in meinen jungen Jahren, deinen Großvater gern gehabt? Oder ist es zu lange her, als dass ich es noch in mir wachrufen könnte? Nein. Ich erinnere mich mit Mühe an das, was ich gestern gegessen habe, aber ich weiß noch genau, wie alles zuging,
damals vor fünfzig und mehr Jahren. Auf ein schlechtes Gedächtnis kann ich mich nicht berufen. Dein Großvater war übrigens keiner, den man leicht vergaß. Und das nicht nur deshalb, weil er so eine Erscheinung war. Denn das war er, eine außergewöhnliche Erscheinung. Ich dachte an die tratschenden Frauen auf dem Friedhof. Die hatten meinen Großvater auch schon so ausnehmend gefunden. Es war auch nicht, weil er stark war. Oder klug. Oder schnell. Das war er alles. Aber da war noch mehr. Dein Großvater war eigen. Er war besonders. Er war größer, schien gegenwärtiger als die anderen Männer, die ich kannte. Er war zu groß für unser Dorf. In seiner Nähe verkehren hieß vor einer heißen Ofentür zu stehen oder einem Platzregen oder einem Sturmwind trotzen zu müssen. Er war kein Mann, eher eine Naturgewalt. Ich erinnere mich noch gut an das erste Mal als ich ihn sah. Ich war acht Jahre alt, aber der Tag hat sich mir ins Gedächtnis gegraben. Es war ein strenger Winter. Die Tongruben in der Umgebung froren zu und verwandelten sich in Schlittschuhparadiese. Alle Kinder des Dorfes waren auf dem Eis zu finden. Manche hatten Schlittschuhe, andere versuchten, auf ihren Holzschuhen zu schlittern. Wie es schon seit Tausenden von Jahren war und wahrscheinlich auch noch in Tausenden von Jahren sein wird, falls sich die Welt nicht völligverändert, taten die Jungs mutig und taten die Mädchen, als würden sie das nicht bemerken. In die Mitte von einer der Eisflächen hatten die Jungs ein Loch gehackt und versuchten, wie Eskimos darin zu angeln. Das klappte natürlich nicht, weil es, wie sie selbst wussten, in den Tongruben keine Fische gab. Sie wurden es schnell leid
und versuchten, sich stattdessen gegenseitig in das Loch zu stoßen. Als ihnen auch das zu langweilig wurde, rief Jules Schoonjans, sie könnten doch besser eines der Mädchen als Köder benutzen. Natürlich stoben wir alle lachend und kreischend davon. Nur Louisa de Rekel rutschte aus. Die Jungs fassten sie an einem Bein und schleiften sie johlend zu dem Eisloch. Sie schrie und schrie, aber wir alle blieben in sicherer Entfernung. Wir dachten nicht, dass die Jungs es so weit treiben würden. Louisa hatte Todesangst. Sie wehrte sich, biss und trat so wild um sich, dass sie sie zuletzt losließen. Leider verlor sie das Gleichgewicht, und wir alle sahen sie wie in Zeitlupe schreiend über das Eis rutschen und mit einem Plumps im Wasser landen. Sie ging unter und tauchte nicht mehr auf. Die Mädchen schrien. Die Jungs schauten sich gegenseitig an. Sie hatten noch mehr Angst als wir. Was hatten sie getan? Sie wichen zurück, drehten sich um, rannten in alle Richtungen, bloß weg von dem Loch. Louisa hatte es gegeben. Aber dann kam wie ein Romanheld dein Großvater zu Pferd aufs Eis geritten. Er war zwölf, aber groß für sein Alter. Er kam von der Baronie, wo er und sein Bruder in den Ställen arbeiteten. Pferde dürfen nicht den ganzen Winter im Stall stehen, und Arnoud war gerade dabei, eines der Tiere in der frischen Luft zu bewegen, als er den Lärm bemerkte. Beim Eisloch stieg er ab, band ein Seil an die Zügel seines Pferdes, wickelte sich das andere Ende ums Handgelenk und tauchte ins Wasser. Wir hielten den Atem an. Wie lange konnte man in dem kalten Wasser herumschwimmen? Endlich tauchte er auf. Mit Louisa. Wir standen da und gafften ihn an, während er versuchte, aus dem Eisloch zu
kommen. Wir wurden erst wieder lebendig, als er schon tropfnass auf dem Eis stand. Die Mädchen begleiteten Louisa nach Hause. Sie lebte noch, aber ihre Zähne klapperten wie Kastagnetten. Ich blieb stehen und sah, wie Arnoud zu den Jungs lief. Ich weiß nicht, was er zu ihnen sagte, aber plötzlich lag Jules Schoonjans auf dem Eis. Arnoud hatte ihn niedergeschlagen und zerrte ihn am Kragen zu dem Loch. Jules rief und flehte, aber keiner trat zwischen die beiden. Einen Meter vor dem Loch blieb Arnoud stehen. Er rief Jules etwas zu. Der nickte und stand auf. Er begann sich auszuziehen. Arnoud zog ebenfalls seine nassen Sachen aus. Und da standen sie, zwei nackte Jungs auf dem Eis. Dein Großvater, der nackte Held. Nur kurz. Dann zog er sich Jules’ Sachen an und ritt fort. Der nackte Jules ließ Arnouds nasse Sachen wohlweislich liegen und wickelte sich stattdessen in die Westen und Schals der anderen Jungs. Ich weiß nicht, was es war, was von ihm ausging, eine Art Spannung, Willenskraft oder Elektrizität, aber er sprühte nur so davon. Alle Mädchen träumten von ihm. Aber nicht eine von ihnen dachte daran, etwas mit ihm anzufangen. Man fängt auch nichts mit dem Blitz an oder mit einem wilden Stier. Du starrst, der Mund klappt dir auf, du bist vorübergehend nicht mehr von dieser Welt, aber dann nimmst du deinen Korb oder dein Fahrrad und scherst dich weiter. Wir sahen ihn selten im Dorf, denn seine Familie lebte auf der Baronie. Sie sorgte dort für die Pferde und Wagen. Er hielt sich auch abseits von den anderen Jungen. Man dachte, er würde sich für etwas Besseres halten, als wir es waren. Das konnte durchaus sein, denn er war der Liebling des Barons, der selbst keine Söhne hatte. Er wurde nicht wie sein Bruder
Robert für den Umgang mit Pferden herangezogen. Er hatte Aussichten. Er war nicht für Bauerntöchter bestimmt. Und auch nicht für eine Fleischerstochter wie mich, mit einer schlechten Haut und schiefen Zähnen. Ich war schon froh, dass sein Bruder mich bemerkte. Das war nahe genug am Blitz. Das also war dieser Robert, der die Beerdigung gestört hatte. Er war der Bruder meines Großvaters. Und offenbar auch ein früherer Liebhaber meiner Großmutter. Kein Wunder, dass die Kirchgänger so gemurmelt hatten. Ja, deine Großmutter hatte in ihren jungen Jahren mehrere Männer. Ich kann es selbst nicht glauben. Ich könnte nicht sagen, was sie in mir sahen. Hübsch war ich nicht und fröhlich noch weniger. Ich habe nie gewusst, was so fröhlich sein soll an diesem Leben. Zwei Freier in einem Leben, es könnte schlimmer sein. Es war nicht so wie jetzt, wo sie sofort mit Sachen anfangen, an die wir selbst nach der Heirat noch nicht dachten. Mir tut die heutige Jugend aufrichtig leid. Es geht alles so schnell. Ihnen fehlt die Zeit, Kind zu sein, und erwachsen werden sie ohnehin nie. Aber damit brauche ich dich nicht zu langweilen. Ich muss weiter mit meiner Geschichte, mit meinem Leben. Ja bitte, nur zu. Robert mochte meinen Ernst. Und er war eine gute Wahl. Er ähnelte seinem Bruder. Auch er war stark und schön. Vielleicht nicht so klug, aber dafür hatte man keine Angst, ihn anzufassen. Ich jedenfalls nicht. Ich glaubte nicht, ein Sakrileg zu begehen, wenn ich ihm mit den Fingern durchs Haar fuhr. Ich glaubte nicht, durch sein Strahlen blind zu werden, wenn ich die Augen zu ihm aufschlug.
Robert war ein schönes Mannsbild und genug für Frauenträume. Das erste Mal, als er mich zum Kutschhaus mitnahm, wo die Familie wohnte, wurde ich freundlich empfangen. Aber alle Aufmerksamkeit galt an diesem Tag dem ältesten Sohn, der gerade sein Studium beendet hatte und im Triumph ins Dorf zurückkehrte. Als ich ihn sah, wusste ich wieder, was für ein außergewöhnlicher Mann er war. Das Zimmer leuchtete auf, als er hereintrat. Aber nicht im Traum hätte ich daran gedacht…Ich war schon froh, in seiner Nähe zu sein. Eventuell seine Schwägerin zu werden. Ein Teil seiner Familie zu sein. Viele Leute im Dorf meinen, ich hätte mit seinem Bruder angebandelt, um an Arnoud heranzukommen. Aber das ist eine Lüge. Ich hatte Robert gern. Nicht, dass mein Herz geschmolzen wäre, wenn er mich ansah. Aber er war gut zu mir. Dein Großvater war immer der Held des Dorfes gewesen, aber jetzt war er es doppelt und dreifach. Er war der einzige Mann in Deemstervelde, der ein Diplom hatte. Er war ein Mann aus der Stadt und doch einer von uns. Wir waren stolz. Es war, als ob auch wir plötzlich etwas bedeuteten. Als ob wir zum ersten Mal mehr waren als ein Staubkorn auf dem Globus. Und wir prophezeiten ihm große Taten. Arnoud war allem gewachsen, dachten wir, und wer mochte wissen, wo es ihn noch hinführte. Vielleicht wurde er der erste Deemstervelder in der Politik, vielleicht sogar Gouverneur? Alles war möglich für deinen Großvater. Aber ach. Die Feierstimmung kippte rasch. Es ging gleich zu Anfang daneben. Bei einem Empfang auf dem Schloss bekam er Streit mit dem Baron, der den größten Teil seines Studiums bezahlt hatte.
Im Dorf wurde alles Mögliche geflüstert. Arnoud habe um Geld gebeten. Der Baron habe um Geld gebeten. Man behauptete, die Tochter, Clara, habe etwas damit zu tun. War seine Ausbildung ihre Mitgift? Arnoud selbst schwieg wie ein Grab. Aber er wurde aus dem Schloss gewiesen und war mit einem Schlag um seine größte Stütze ärmer. Und um einen mächtigen Feind reicher. Er wurde nicht nur vom Schloss verbannt, sondern er durfte auch das Kutschhaus nicht mehr betreten. Der Baron hatte es verboten. Das bedeutete, dass er seine Familie nicht mehr besuchen konnte. Arnoud war es nicht gewohnt, etwas nicht zu dürfen, etwas nicht zu können. Er bekam immer seinen Willen. Entsprechend wild machte ihn das Verbot des Barons. Die Leute im Dorf rieten ihm fortzugehen. Er solle sich besser in der Stadt eine Arbeit suchen, Karriere machen und dem Baron die Zeit geben, sich zu besinnen. Aber Arnoud war dickköpfig und hing weiter im Dorf herum. Und als er hörte, dass sein Vater ernsthaft krank war, ging er doch hinunter zum Kutschhaus, wo sein Bruder, aus Furcht um seine Anstellung und vor dem Baron, ihn zurückzuhalten versuchte. Es endete in einem Kampf zwischen beiden Brüdern, und Arnoud bekam das Gefühl, das Glück, das ihn immer umstrahlt hatte, könnte ihn im Stich gelassen haben. Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er sich unsicher und verletzlich. Hätte ich sonst je eine Chance gehabt? Denn ich sah Arnoud jetzt regelmäßig. Er kam häufig bei uns vorbei, um zu hören, wie es seinem Vater ging. Ich war Roberts Freundin und durfte hinunter zum Kutschhaus und Neues in Erfahrung bringen. Ich wurde eine Art Botschafterin zwischen beiden Lagern. Und vom einen kam das andere.
Als er mir einen Heiratsantrag machte, war ich das glücklichste Mädchen der Welt. Es tat mir leid für Robert. Aber das Herz kann man nicht zwingen. Trifft dich der Blitz, dann hast du keine Wahl. War es Liebe? Ich habe mich oft gefragt, wie mein Leben mit Robert verlaufen wäre. Aber das sind eitle Fragen. Arnoud machte mir einen Antrag, und ich sagte ja. Das ging ja wirklich schnell. Auf der einen Seite war sie noch bei Robert, und hier war sie schon fast mit meinem Großvater verheiratet. Ich sah nach, ob Seiten fehlten. Nein. Damals regelte man solche Sachen offenbar anders. Aber dann dachte ich an meine Mutter und daran, was sie sich in letzter Zeit so alles geleistet hatte. Die Zeiten hatten sich doch nicht so sehr verändert. Das Dorf verstand es nicht. Ihr Held, der die Welt erobern sollte, blieb in Deemstervelde hängen, wurde dort sogar Volksschullehrer und verlobte sich mit der Fleischerstochter. Er, der jede hätte haben können, gab sich mit einer nicht allzu hübschen, viel zu ernsten Frau zufrieden. Was steckte dahinter? War es ihr Geld, das ihn anzog? Meine Eltern hörten die Gerüchte früher als ich, aber ihr Argwohn hielt nicht lange stand. Er bezauberte sie, genau wie alle andern. Sie schienen verliebter zu sein als ich, empfanden es als Ehre, ihn in der Familie zu haben. Und das nicht nur, weil er Ingenieur war. Man spürte, dass er alles, was er anfasste, zu einem guten Ende bringen würde. Er war jetzt Volksschullehrer, aber das war vorübergehend. Er war zu Höherem bestimmt. Und ich ließ mich von der Begeisterung anstechen, und der Tratsch perlte an mir ab.
Aber ich hätte ihn auch geheiratet, wenn sich meine Eltern gesträubt hätten. Da mochte das ganze Dorf Kopf stehen. Denn er war einer der ganz wenigen im Dorf, die mich ernst nahmen, mich und meinen Traum vom Malen. Als Kind schon wollte ich nichts lieber als zeichnen und malen. Meine ersten Zeichnungen machte ich mit dem Blut von Schweinen und Kühen im Schlachthaus meines Vaters. Ich brauchte keine Puppen oder sonstiges Spielzeug, nur Bleistifte und Farben. Hast du auch so etwas, Arnoud, etwas, wo du die Dinge loswirst, die du andern nicht erzählen kannst, noch nicht einmal dir selbst? Etwas, das größer ist als du? Ich hoffe es. Je älter ich wurde, desto weniger Gnade fand mein Maltraum bei meinen Eltern. Besonders, als ich von einer Ausbildung anfing. Das war ganz und gar unmöglich. Ich würde mir die Flausen wohl aus dem Kopf schlagen, wenn ich einmal verheiratet war und anfing, an Kinder zu denken. Malen war nichts für eine Frau. Wenn ich mahn wollte, dann konnte ich die Ställe neu anpinseln. Aber ich blieb trotzig. »Wartet nur, bis ich verheiratet bin!«, rief ich. Dann würde ich mein eigener Herr sein. Dann hatten sie mir nichts mehr zu verbieten. Ich musste nur einen Mann finden, der meine Talente zu schätzen wusste. »In Deemstervelde?«, lachten meine Eltern. Sie machten sich keine Sorgen. Selbst Robert, der sehr nachgiebig war, meinte, diese Träume würden in der Wirklichkeit schnell verfliegen. Und dann kam Arnoud. Er war nicht nur tolerant, er ermunterte mich sogar. Was ihn anging, könnte ich in der Stadt Unterricht nehmen. Und Arnoud war nicht einfach jemand. Er hatte studiert, er kannte berühmte Leute, er verstand etwas von Kunst, zumindest dachte ich das. Und
genau dieser Mann würde mir die Chance geben zu malen. Wie hätte ich ihn nicht heiraten können? Dass er aussah wie ein griechischer Gott, war ein zusätzliches Geschenk. Jetzt, nachdem ich mehr als genug Zeit zum Nachdenken gehabt habe, glaube ich, er hätte mich nie gehen lassen. Was er mir vor der Hochzeit versprach, hätte er mir danach mit Leichtigkeit verbieten können. Denn danach konnte ich nicht mehr fort. Aber sicher wissen werde ich es nie. Wir heirateten im Krieg, und zu dem Zeitpunkt konnte von Zeichenunterricht keine Rede sein. Und als er starb, war ich schon mit deinem Vater schwanger und hatte Mühe genug, zu überleben. Aber das wusste ich noch nicht. Damals war dieser Mann ein Geschenk des Himmels. Doch so viel Glück konnte nicht von Dauer sein. Zuerst waren da die eifersüchtigen Frauen aus dem Dorf, die nicht verstanden, weshalb er sich die Fleischerstochter mit den schlechten Zähnen und dem eigensinnigen Maltraum ausgesucht hatte. Dieser Tratsch ließ mich kalt. Ich konnte nicht glauben, dass jemand mich heiratete, nur um seinem Bruder eins auszuwischen, wie die Hälfte des Dorfs behauptete. Ich wusste natürlich, dass die Brüder nach wie vor im Streit lagen. Aber sollte jemand so weit gehen in seiner Rache, in seinem Wunsch, den Bruder zu demütigen, dass er gleich dessen Freundin heiratete. Ich Raubte auch nicht, dass er mich heiratete, weil er noch eine Rechnung mit einer anderen Frau zu begleichen hatte. Niemand wies Arnoud de Vriendt ab. Selbst die Tochter des Barons nicht, wie man flüsterte. Nein, es war nicht der Tratsch, der mich an der Ehe zweifeln ließ. Es war Arnoud selbst. Es fasste mich zwar an, aber ich hatte nie das Gefühl, dass es ihm viel bedeutete, ja, meine Mädchenhand lag etwas verloren in seinen großen Händen, und er streichelte sie sanft. Aber sah er auch, dass es meine
Hand war? Würde er den Unterschied zu der Hand eines anderen Mädchens bemerken? Hatte er mich reiflich gewogen und entschieden, dass ich die rechte Frau war, nicht zu hässlich, nicht zu dumm, nicht zu arm, nicht zu faul, eine gut erzogene, treue, gehorsame Frau? Und mittlerweile brachte er Blumen mit oder ein Kilo Zucker, das er irgendwie geschmuggelt hatte. Und mittlerweile waren meine Eltern mehr und mehr von ihm eingenommen. Und mittlerweile rückte unsere Hochzeit näher. Was hätte ich tun können? Was sagen? Dass ich ihn nicht heiraten wollte? Doch, das wollte ich. Ich wollte nichts lieber als immer bei ihm sein. Hätte ich sagen können, er sei nicht aufmerksam zu mir? Doch, das war er. Meine Eltern hatten schon Angst, er würde mich zu sehr verwöhnen. Hätte ich sagen können, dass er mich nicht schätzte, nicht achtete als seine Frau? Aber wenn wir einmal verheiratet waren, durfte ich doch Zeichenunterricht nehmen? Was wollte ich? Dass er mich bemerkte. Mich! Er konnte seinen Zucker und seine Nylonstrümpfe behalten, wenn er mir nur ab und zu etwas Zeichenpapier mitbrachte. Er sollte nicht immer von unserer Aussteuer und dem neuen Haus reden, sondern von dem, was ihn beschäftigte, wovon er träumte und was er vom Leben wollte. Und ich wollte, dass auch er, und sei es nur ein einziges Mal, mich das fragte. Aber war ich nicht die glücklichste Frau der Welt? Heiratete ich nicht den schönsten und begehrtesten Mann im Dorf? Was hatte ich eigentlich zu klagen? Also klagte ich nicht. Sondern fragte mich selbst, was mir fehlte. Nach der Trauung zogen wir in ein viel zu großes Haus am Ende der Dorfchaussee. Wir hatten keine Nachbarn, die uns bespitzeln konnten, aber dafür einen Garten, in dem ich arbeiten sollte, bis die Zimmer mit unseren Kindern gefüllt sein
würden. Denn dein Großvater wollte viele Kinder. Und da wohnte ich dann, mit einem Mann, den ich mit jedem Tag ein Stück weniger kannte. Ich malte ab und zu, aber ich hatte nicht den Eindruck, gut voranzukommen. Ich nahm an einem Fernkurs teil. So weit war es mit mir gekommen. Ein Fernkurs im Zeichnen! Ich dachte an die Bilder, die sie mir hinterlassen hatte. Es war ihnen anzusehen. Die Gerüchte, die ich vor meiner Hochzeit wie lästige Fliegen verscheucht hatte, kamen wieder angeschwirrt. Diesmal ließen sie sich nicht so leicht vertreiben. Es war Krieg, aber dein Großvater lief immer noch genauso untadelig und gepflegt herum wie sonst. Woher nahm er das Geld für die neuen Anzüge, die goldene Uhr, die Lederschuhe? Und warum zog es ihn so oft in die Stadt? Er behauptete, er würde schmuggeln, und brachte in der Tat Zitronen, Honig und Damenunterwäsche mit, aber wie er an das Zeug kam, blieb ein Geheimnis. Verdiente er derartig viel Geld mit seiner Schmuggelei? Oder lud er uns von Tag zu Tag mehr Schulden auf? Und die Tochter des Barons, die ich im Jahr zuvor noch mit einem Lachen beiseite geschoben hatte – denn lag nicht seine Hand in meiner? –, spukte mir wieder im Kopf herum. Wieso musste er so piekfein aussehen? Wollte er immer noch Eindruck auf sie machen? Besuchte er sie noch? Eine misstrauische Frau hat keinen Stolz. An den langen einsamen Tagen im Haus durchsuchte ich seine Taschen und seinen Schreibtisch. Zuletzt fand ich das, was ich finden wollte: Briefe einer Frau. Schamlose Briefe. Ich wusste nicht sicher, ob die Tochter des Barons sie geschrieben hatte. Aber es machte keinen Unterschied. Die
Frage war, weshalb er derartige Briefe auch nach seiner Hochzeit noch aufhob. Falls sie überhaupt vor seiner Hochzeit geschrieben worden waren. Und ich konnte nicht fort. Was hätte ich sagen sollen? Mein Mann läuft mir zu gut gekleidet herum. Er hebt Briefe in seinem Schreibtisch auf. Und ich war schwanger. Ich muss aufhören, Arnoud. Es wird dunkel, und ich sehe nur noch mit Mühe, was ich schreibe. Und der Arzt hat mir gesagt, ich soll es ruhig angehen lassen. »Versuchen Sie, an fröhliche Dinge zu denken«, hat er ohne mit der Wimper zu zucken zu mir gesagt, fünf Minuten nachdem er mein Todesurteil aus seinen Papieren verlesen hatte. Was für fröhliche Dinge sollte ich mir ausdenken? Ich bin eine alte Frau am Rande des Todes. Ich bin eine einsame Frau mit einem Sohn, der mir ausweicht, und einem Enkelsohn, den ich kaum kenne. Und wenn ich mich heute noch weiter in diese Vergangenheit stürze, ist die Gefahr groß, dass ich diesen Brief nicht überlebe. Es waren harte Zeiten. Und sie haben eine alte Frau aus mir gemacht. Du hast ein Recht darauf, zu erfahren, was wirklich geschah, Arnoud. Ich bin die Einzige, die weiß, was geschehen ist, damals vor zweiundfünfzig Jahren. Und ich möchte, dass du es erfährst. Aber das wird ein andermal sein. Es ist noch Zeit. Es muss noch Zeit sein.
Unterm Dach
Was war das nur für ein Brief? Ich konnte mir keinen Reim darauf machen. War meine Großmutter tatsächlich bei klarem Verstand gewesen, wie sie in ihrem Testament behauptet hatte? Oder hatte ihr mehr als nur das Herz zu schaffen gemacht? Sie hinterlässt mir einen Nähkasten und vergisst, ihn mit all ihrem Gold und Schmuck zu füllen. Auch für eine Schatzkarte reicht es nicht, nur für einen Brief aus dem Totenreich, in dem sie mir schreibt, sie hätte eine unglückliche Ehe mit meinem Großvater gehabt. Oder so ähnlich. Und dass sie mir die Fortsetzung noch erzählen würde, falls sie nicht schon vorher tot umfiel. Sie hatte mich gebeten, meinem Vater nichts von diesem Brief zu sagen, was ich auch nicht vorhatte. Er brauchte nicht zu wissen, dass seine Eltern miteinander nicht glücklich gewesen waren. Dass sein Vater ein Blitz und ein Ofen war. Dass er vielleicht eine Affäre mit einer Baroness gehabt hatte. Mein Vater hatte andere Dinge um die Ohren. Ich legte den Brief in den Nähkasten zurück und schob den unter mein Bett. Mein Vater arbeitete an diesem Tag nicht mehr. Er blieb lange auf seinem Zimmer. Sein Brief hatte ihn ganz offenkundig beeindruckt. Zuletzt kam er doch nach unten geschlichen, wo er zusammen mit Paula Lhermitte Kaffee trank und von meiner Großmutter erzählte. Ich ließ die beiden sitzen und erkundete das Haus. Es war ein großes Haus mit nicht weniger als vier Schlafzimmern, aber ohne Bad und ohne anständige Küche. Und die Toilette war draußen. Vier Schlafzimmer für eine Frau
allein. Hatte sie sich jeden Tag in ein anderes Bett gelegt? »Heute Abend nehme ich das rote Zimmer, ich möchte rote Träume«? Nein, natürlich nicht. Wahrscheinlich hatte sie einmal im Monat überall Staub gewischt und danach die Türen wieder abgeschlossen. Was soll man anderes anfangen in einem Haus ohne Fernseher, in einem Dorf ohne Leben? Seinem Enkelsohn merkwürdige Briefe schreiben. Abstauben. Putzen. Ein Zimmer hatte einen Erker, der auf den Garten hinausging. Darin standen ein paar alte Sessel, eine Leselampe und ein Fußbänkchen, nahe an den Kamin gerückt. Hier hatte sie wahrscheinlich gesessen und genäht. In einem Schrank stand sogar ein altes Radio. Ich drehte einen großen Knopf an. Nichts. Was hatte ich erwartet? Radio London? Eine Rede von Adolf Hitler? Aber ganz allmählich glühte ein grünes Auge auf. Unglaublich. Dieses Radio musste erst warm werden. Der Ton, der schließlich aus ihm drang, schien tatsächlich aus einer anderen Zeit zu stammen. Es pfiff und knackte, und die in irgendeine politische Diskussion verwickelten Stimmen wehten ab und zu davon. Hier hatte sie also gesessen, meine Großmutter, all die Jahre. Allein mit ihren bitteren Erinnerungen. Man hätte meinen können, sie hätte sich lieber zur Straßenseite hin gesetzt, um etwas Bewegung zu sehen. Nur: Was bewegte sich noch in diesem Dorf? Ich schaltete das Radio ab und ging hoch zum Dachboden. Hier gab es weniger Gerümpel als erwartet. Zwei Kleiderschränke mit Wintersachen, ein paar alte Möbel und einen Schubkarren, wahrhaftig! Wie war der die ganzen Treppen hinaufgekommen? In einem Stapel eingestaubter Kartons befanden sich Spielsachen und ein paar Schulzeugnisse meines Vaters. Ich konnte es nicht lassen,
einen Blick darauf zu werfen. Große Enttäuschung: Er war im Gegensatz zu seinem Sohn tatsächlich ein guter Schüler gewesen. Unter einer Plane lag ein Haufen gemalter Bilder. Mein Erbe. Ich betrachtete eins nach dem andern: die Blumen, die Landschaften und die schlafende Katze. Was sollte ich mit dem Kram? Im Garten verbrennen, das schien mir noch die beste Lösung. Ein Gemälde war das Porträt eines jungen Mannes. Ich wusste sofort, wer es war. Und nicht, weil er so sehr dem Foto auf seinem Grabstein glich, sondern weil er mir ähnlich war. Er hatte einen Schnurrbart, womit ich mich noch nicht herumschlagen musste. Und seine Augen waren zu. Aber das hier war mein Großvater. Und das hier war ich. Der Mann auf dem Porträt war ein Stück älter, aber ich sah dennoch die Ähnlichkeit und verstand jetzt, weshalb das Dorf mich so angegafft hatte. Ich war der Doppelgänger meines Großvaters. Er wirkte sehr traurig. War das meine Zukunft? Ich schob das Bild wieder zwischen die andern. Ich hatte keine Lust, mich zehn Jahre älter und hundert Jahre trauriger zu sehen. Anzünden den Krempel, und den Nähkasten obenauf. Wer kann schon von sich sagen, er hätte mit dreizehn sein Erbe in Flammen aufgehen lassen? Das zeugte vielleicht nicht gerade von Respekt den Wünschen meiner Großmutter gegenüber. Aber ich war wütend auf sie. Konnte sie uns nicht in Ruhe lassen? Musste sie ausgerechnet jetzt sterben, wo mein Vater schon Probleme genug hatte und die Ferien gerade anfingen? Das kleine Dachfenster war eingerostet, aber nach einigem Drücken ging es auf. Ich steckte den Kopf durch die Lukenöffnung und sah den Garten. Dahinter lagen die Felder. Und dahinter Wälder.
Hier und da ein vereinzeltes Gehöft. Noch nicht mal ein anderes Dorf. Keine Schnellstraßen. Deemstervelde: das Ende der Welt.
Die Baronie oder Das schlafende Haus
Am nächsten Tag schien sich mein Vater etwas von seinem Brief erholt zu haben. »Los, die Arbeit wartet. Das Haus muss leer sein, wenn wir es verkaufen wollen.« Im Schlafzimmer meiner Großmutter ging es zunächst flott voran, aber eine der Abstellkammern war voll gestopft mit Kram, und je später es wurde, desto weniger taten wir. Meinem Vater fiel es schwer, Sachen wegzuwerfen. Alles war behaftet mit einer Geschichte, einer Erinnerung, dem Geruch seiner Jugend. Er erzählte mir etwas von früher, und ich nickte. Über den Brief schwieg er sich aus. Und von Paula begann er erst, als ich ihn fragte, wieso wir uns eine Putzfrau in ein Haus holten, das wir ohnehin leer räumten. Sie sei selbst auf ihn zugekommen, sagte er, am Nachmittag nach der Beerdigung. Er lächelte. »Man möchte es nicht meinen, aber sie war früher wirklich ein schönes Mädchen. Das schönste Mädchen im Dorf, fand ich. Es gab eine Zeit, da bin ich ihr… Kurz und gut, geheiratet hat sie Paul Lhermitte.« Paul und Paula. Was Menschen sich so gegenseitig antun. »Ich habe nie verstanden, was sie an ihm fand. Na ja, Lhermitte hatte Geld und ein Motorrad. Er konnte ihr Sachen kaufen. Früher jedenfalls. Jetzt hat er alles versoffen. Paula hat mir rundheraus gesagt, sie könne das Geld gut gebrauchen. Und ab und zu müsse sie mal aus dem Haus. So wie ich ihren Mann auf der Beerdigung erlebt habe, kann ich das gut verstehen.«
Ich hatte schon befürchtet, die Einstellung einer Putzfrau würde auch bedeuten, dass wir uns hier für längere Zeit niederließen. Aber offenbar war Paula eine verwelkte Jugendliebe. Ich konnte erleichtert aufatmen. Bis er fortfuhr. »Ihre Enkelin wohnt zurzeit bei ihr. Sie bringt sie morgen mit, dann hast du jemanden zum Spielen.« Jemanden zum Spielen! Für wie alt hielt er mich eigentlich? Für sechs? Dabei hatte ich Freunde, leider wohnten die auf einem anderen Planeten, in einer Stadt voll mit Transportmitteln, die nicht von Pferden gezogen wurden. Ich brauchte nicht irgendein dummes Kind, das mir wie ein Hündchen hinterherlief. Ich hatte nicht vor, die halben Ferien hindurch den Babysitter zu spielen. Es wurde Zeit, dass ich mein Schicksal selbst in die Hände nahm.
Am nächsten Tag hatte ich auch schon einen Plan. Während mein Vater die Gänse futterte, schmuggelte ich das Fahrrad meiner Großmutter auf die Straße, steckte ein paar Äpfel und ein Buch in die Gepäcktaschen und war längst zum Dorf hinaus, als er meine Nachricht fand. Er würde es verstehen. Das hier waren schließlich auch meine Ferien. Es war ein schöner Morgen. Hier und da hingen ein paar Wölkchen über den Feldern, aber gegen Mittag hatten sie sich verflüchtigt und nur den blauen Himmel zurückgelassen. Ein perfekter Tag für ein Abenteuer. Ich hatte mir keine Route zurechtgelegt. Wo konnte man schon hin, wenn man am Rand der Welt lebte? Aufpassen, dass ich nicht zu weit radelte und runterfiel, das war meine größte Sorge. Es gab auch nur eine richtige Straße durchs Dorf. Die
Wege, die zu einem Gehöft oder Feld führten, ließ ich links liegen. Ich musste nirgendwo hin. Nach einer Viertelstunde sah ich ein Schild: Tongruben Da hatte mein Großvater seine erste Heldentat vollbracht. Auf dem Rückweg würde ich mal nachschauen. Jetzt war ich zu faul, vom Rad zu steigen, und hatte auch zu viel zum Nachdenken. Mein Vater hatte etwas vor, das spürte ich. Der Kram, der immer noch nicht aufgeräumt war, die Sachen, die er vor der Beerdigung ins Auto gepackt hatte, selbst die Post, die jetzt an der Adresse meiner Großmutter ankam, das alles bedeutete nichts Gutes. Natürlich würde er nicht hierher ziehen, wenn ich es nicht wollte. Wir waren ja nur noch zu zweit jetzt. Mein Einverständnis war also wichtig. Deshalb ging das Aufräumen so langsam. Das hier war so was wie eine Probezeit. Er hoffte, ich würde mich hier eingewöhnen und nach und nach auch die guten Seiten von Deemstervelde sehen. Aber wie gern ich meinen Vater auch hatte, das ging zu weit. Das war ja alles schön und gut für Siebzigjährige, aber sogar für die konnte ein Dorf ohne viele Geschäfte, ohne öffentliche Verkehrsmittel und ohne Krankenhaus in der Nähe nicht wirklich das Paradies sein. Ich jedenfalls wollte mein altes Leben zurück. Ich fuhr an einer langen Rosenhecke vorbei. Der Duft stieg mir in die Nase. So schlimm ist es doch nicht, wollten die Rosen mir sagen. Es riecht hier besser als in der Stadt. Aber Düfte sind nicht alles.
Ich war an dem eisernen Gatter mitten in der Hecke vorbeigeradelt, doch ein Schimmer von dem, was dahinter lag, ließ mich anhalten. Ich sah ein Schloss mit einem Teich davor. Es war kein richtiges Schloss mit Zinnen, von denen Ritter purzeln, sondern eher ein großes Haus mit zwei runden Türmen links und rechts. Eine breite Treppe führte vom Teich zu einer Terrasse. Ich kannte dieses Schloss. Es hing an der Wand meines Schlafzimmers. Meine Großmutter hatte es gemalt. Es war so still im Garten. Noch nicht einmal das Wasser kräuselte sich. Der Teich war aus dunklem Glas, und der Garten schien zu schlafen. Kein Fisch, keine Fliege regte sich. Lebte hier überhaupt jemand? Ich versuchte das Tor zu öffnen, aber das war abgeschlossen. Mich durch die Hecke zu zwängen, wäre nicht sehr klug gewesen. Die Rosen hatten sich überall mit den Büschen vermischt, und das alles roch zwar wunderbar in der Sommerwärme, aber die Dornen würden mir die Haut zerfetzen. Und das war nur gut so, ich sollte besser nicht in fremde Gärten eindringen. Aber angenommen, dass hier wirklich keiner mehr wohnte. Das wäre was. Ein Schloss ganz für mich allein. Ich stieg wieder auf mein Rad. Und dann sah ich das Loch in der Hecke. Es war ein kleines Loch, wahrscheinlich von Katzen gemacht, aber ich war klein für mein Alter. Ich könnte es versuchen. Es war dumm. Man würde mich umgehend vom Gelände jagen. Pitbulls würden mich zerfleischen, die Polizei würde die Überreste meinem Vater übergeben, und der könnte sich an sein zweites Begräbnis in dieser Woche machen. Aber ich hörte keine Bluthunde bellen. Das Haus war still.
Hier war das Abenteuer, das ich am Morgen gesucht hatte. Das Schloss schien mich zu rufen. Ich konnte nicht widerstehen. Was sollte mir schon passieren? Ich zwängte mich durch die Hecke. Ich war drinnen! Vorsichtig ging ich zum Teich. Vom Haus aus konnte man mich gut sehen. Es gab keinen Schutz, keinen Baum oder Busch, hinter dem ich mich verstecken konnte. Trotzdem stürmten keine Hunde oder schießwütigen Jagdaufseher auf mich los.
Und jetzt? Ich stand am Teich, aber für einen Kopfsprung hinein war das Wasser zu schmutzig. Ich konnte zurück zur Hecke, und damit wäre das Abenteuer zu Ende. Aber ich mochte nicht einfach so umkehren. Etwas in dem Schloss zog mich hinein. Wahrscheinlich war es Neugierde, aber dazu kam das Geheimnisvolle, das mich schon an dem Gemälde fasziniert hatte. Was sollte mir schon passieren? Ich konnte immer noch behaupten, mich verirrt zu haben. Wenn jetzt jemand auftauchte, würde ich ihn unschuldig anschauen: »Ach bitte, wissen Sie, wie ich nach Deemstervelde zurückkomme?« Ich ging den Teich entlang zum Schloss. Alles schien durch die Hitze wie erschlagen. Eine Katze lag mit dem Kopf zwischen den ausgestreckten Pfoten und regte sich auch dann nicht, als ich über sie hinwegstieg. Lag auf diesem Garten ein Fluch? Wie lange würde es dauern, bevor auch ich ein Opfer dieses Zaubers wurde und auf dem Rasen einschlief? Ich stand unten an den Treppen. Und konnte nicht anders. Ich ging hinauf. Die Glastüren standen offen. Ich konnte einfach so hinein.
In einen Garten einzudringen, ist eines. Man weiß, dass man es nicht darf, aber irgendwie wird es trotzdem von einem erwartet. Was wäre man für ein Junge, täte man das nicht? Aber ein Haus, das ist eine andere Geschichte. Nur Diebe laufen ungebeten in anderer Leute Häusern herum. Sollte ich etwas rufen? »Hallo? Ist hier jemand?« Ich rief es im Stillen. Spazieren verirrte kleine Jungen einfach so in ein fremdes Wohnzimmer? Ich tat es. Niemand. »Hallo?« Ich stand in einem großen Raum mit offenem Kamin. An der Wand hing ein Bild von einem Mann in einer alten Tracht. Sessel, Bücherregale, aber kein Leben. Keine Menschenseele. Ich öffnete eine Tür und kam in einen Flur. Ich horchte. Nichts. Ich ging den Flur entlang und öffnete ein paar Türen, schlich durch Zimmer, die in weitere Zimmer führten. Hier unten war niemand. Ich kam zu einer großen Holztreppe mit einem gewundenen Geländer. »Hallo?« Ich stieg die Treppe hinauf, immer höher. Oben gab es noch mehr Zimmer. Ich öffnete willkürlich eine Tür und stand in einem dunklen Raum. Ich wäre fast weitergegangen, als ich etwas auf dem Bett liegen sah. Nein, nicht etwas: jemanden. Eine kleine Gestalt mit langen Haaren. Ich wollte weg, konnte es aber nicht. Mir ging alles Mögliche durch den Kopf.
Das hier war nicht echt. Hier in diesem toten Gemäuer lag eine tote Frau. Ich musste weg, die Polizei benachrichtigen. Vielleicht befand sich der Mörder ja noch im Haus. Aber ich sah kein Blut. War sie wirklich tot? War es nicht vielmehr wie in dem Märchen, in dem die Prinzessin im Turmzimmer auf ihren Prinzen wartet? Sollte ich zu dem Bett und sie wach küssen? Lächerlich. Ich kannte sie noch nicht mal. Und was sollte ich mit einer Prinzessin? Sie meinem Vater schenken? Fragen für später. Nicht mein Vater, sondern ich war durch die Rosenhecke gekrochen. Mein Verstand rief, dass ich mich besser davonmachen sollte, dass ich in ein fremdes Haus eingedrungen war und jetzt noch ohne Probleme fortkonnte. Aber hatte ich in der zurückliegenden Stunde auf meinen Verstand gehört? Etwas anderes zwang mich vorwärts. Die Prinzessin war nicht tot. Ich hörte sie atmen. Ziemlich laut. Sie schnarchte sogar ein bisschen. Das war beruhigend. Sie lag mit dem Gesicht zur Wand. Ich schlich näher, leise, wollte sie nicht stören. Aber dann… Es geschah alles so schnell. Ich stieß mit dem Fuß gegen einen der Bettpfosten. Mehr durch die Erschütterung als durch den Lärm schreckte sie hoch und drehte sich zu mir um. O mein Gott. Eine Hexe, ein Besen starrte mich an, eine Teufelin aus der Hölle mit einem dunklen Loch, wo ihr Mund zu sein hatte. Ich konnte mich nicht bewegen. Sie hatte mich verzaubert. Meine Füße versagten mir jeden Dienst. Ich sah, wie sie ihren schwarzen Mund aufsperrte. »Arnoud!«, zischte sie.
Der Zauber war gebrochen. Ich fand meine Füße wieder, drehte mich um und stürmte die Treppen hinab, durch die Zimmer und Flure, durch den Garten, nur schnell, schnell. Ein Fenster öffnete sich, ich hörte sie rufen, würde ich es schaffen, wo war noch gleich das Loch in der Hecke, endlich, ich zwängte mich hindurch, es war mir egal, dass die Dornen sich mir ins Fleisch bohrten und Löcher in mein Hemd rissen. Ich sprang auf mein Rad und fuhr so schnell ich konnte davon.
Väter sind eigentümliche Wesen. Meinen kannte ich schon ein Leben lang, und immer noch wusste ich nicht, wie er reagieren würde. Er war nicht einmal wütend geworden, als ich zurückkam. »Du hast Recht«, hatte er gesagt. »Es sind deine Ferien. Ich kann dich nicht die ganze Zeit in diesem Haus einsperren.« Keine Predigt über Vertrauen und getroffene Verabredungen. Keine langatmige Ausführung über den Nutzen von Arbeit und über Dankbarkeit. Nur eine Bemerkung, dass ich ihm vorher Bescheid hätte geben sollen, dann hätte die Putzfrau ihre Enkelin nicht umsonst mitschleppen brauchen. Wieso hatte ich es ihm nicht einfach gesagt? War er denn so ein Ungeheuer? Eine Predigt ging mir immer zu einem Ohr hinein und zum andern hinaus. Und in letzter Zeit war ich gegen Brüllen und Toben immun geworden. Nur dieser enttäuschte Blick meines Vaters funktionierte nach wie vor. Nun ja, er kannte mich schon mein Leben lang, und anscheinend hatte er besser aufgepasst als ich. Und natürlich versprach ich ihm, nicht mehr einfach so zu verschwinden, ohne ihn erst davon in Kenntnis zu setzen. Ich sah meinen Zettel, der noch auf dem Küchentisch lag. Die Schreibfehler hatte er mit roter Tinte eingekreist.
Die alte Frau ließ mich nicht los. Ich sah wieder das Loch, wo ein Mund hätte sein müssen. Kein Wunder, dass ich davongelaufen war. Aber je mehr ich darüber nachdachte, desto alberner kam ich mir im Nachhinein vor. Was war denn schon passiert? Ich war in ein Haus eingedrungen und hatte eine alte Frau bei ihrem Mittagsschlaf überrascht. Das war alles. Ich selbst hatte mir mit meinen verzauberten Gärten und Prinzessinnen Angst eingejagt. Das arme Wesen hatte sich wahrscheinlich mehr gefürchtet als ich. Ich stellte mir vor, wie es sein musste, aufzuwachen und einen Fremden in seinem Schlafzimmer vorzufinden. Vielleicht hatte sie meinetwegen eine Herzattacke bekommen. Vielleicht hatte ich jetzt einen Menschen auf dem Gewissen. Aber sie hatte das Fenster geöffnet. Leute mit Herzattacken stolpern nicht ans Fenster. Die greifen sich an die Brust und schneiden merkwürdige Gesichter. Und hatte sie wirklich meinen Namen gerufen? »Arnoud!«, hatte ich gehört. Aber vielleicht war es auch »Nicht so laut!« gewesen, was ja auch angebracht war. Oder hatte sie gerufen: »Get out!« Oder war es einfach ein Schrei, der nichts bedeutete: »Aaaauuuuhhht!«
In diese Richtung würde ich die nächsten Tage nicht mehr radeln. Aber ich hatte schon andere Pläne. Während des Essens fragte ich meinen Vater, was genau diese Tongruben in der Umgebung waren. Er war in einer guten Stimmung. Vielleicht lag es am Essen, das diesmal nicht aus Gänseeiern bestand, sondern aus Kartoffeln mit Gemüse und einem Rindersteak. Vielleicht lag es an Paula, die das Essen gekocht hatte.
»Die Tongruben? Früher hat es hier in der Gegend Ziegeleien gegeben. Die haben den Ton aus der Erde gegraben und daraus Ziegelsteine gebrannt. Die Fabriken sind längst geschlossen, das waren sie schon vor meiner Geburt. Und aus den Gruben sind Baggerseen geworden, mit Schilf und kleinen Stichlingen. Als Kind bin ich dort manchmal schwimmen gegangen, aber die Zeiten haben sich geändert. Wahrscheinlich sind sie jetzt voller Müll. Ich erinnere mich vage, dass vor ein paar Jahren ein Kind ertrunken ist. Seitdem gilt dort Betreten verboten.« Er schaute mich an. »Hast du gehört, Arnoud? Betreten verboten.« Klar hatte ich ihn gehört. Betreten verboten.
Die Tongruben
Am nächsten Tag fuhr mein Vater in die Stadt, und ich sputete mich in den kleinen Dorfladen. Ich wollte dort etwas Proviant einkaufen und dann weiter zu den Tongruben radeln. Ich stand noch unentschlossen vor dem Regal mit Süßigkeiten, als zwei Frauen ins Geschäft spaziert kamen. Die eine fragte nach Honig. Der Verkäufer hatte ihn nicht im Regal, wollte aber gern in seinem Lager nachsehen. Sobald er verschwunden war, begannen die Frauen zu flüstern. Ich hörte den Namen Paula und schlich näher. »Die hat auch kein Gras darüber wachsen lassen.« »Irma ist noch nicht kalt, und sie macht sich schon an den Sohn ran.« »Wie man hört, kocht sie da auch.« »Sie sieht sich schon als die neue Madam.« »Dabei ist ihrer noch nicht mal tot.« »So wie der die letzte Zeit säuft, wird es nicht mehr lange dauern.« »Das hofft sie seit Jahren.« »Sie kann nichts dafür. Es liegt in der Familie. Ihre Mutter war nicht viel besser. Und dann die Tochter: Gerade erst siebzehn und schon schwanger.« »Ich habe gehört, sie hätte eine ›Arbeit‹ in Brüssel. Antoine hat sie da mal auf und ab gehen sehen.« »Und was hatte Antoine da zu suchen?« »Und dieses Enkelkind ist um kein Haar besser. Vierzehn und alle Tage unterwegs. Und zwar nicht nur tagsüber. Weißt du, wem die die Tür einrennt? Diesem Kerl mit den Vögeln.« »Ja, mit Vögeleien kennt so einer sich aus.«
Sie lachten beide. Es war ein kleines Lachen, ein »Ha«, das sie aus ihren Lungen pressten, so als steckte in ihren Leibern ein kleiner gefangener Seehund, der kurz mal seufzte. »Die Schwierigkeiten herausfordern, so nenne ich das.« »Nun ja, wer wird sie zurückhalten? Paula hat dafür jetzt keine Zeit. Die hat anderes zu tun.« »Sie will nicht, dass das Gör ihr in die Karten schaut, das ist es!« In dem Augenblick kam der Verkäufer zurück. »Ich sagte gerade zu Godelieve, dass Paula bei de Vriendt arbeitet. Meint ihr, die ziehen hierher?« »Fragt den Jungen doch selbst«, sagte der Verkäufer. Ich tauchte mit dem Kopf über dem Süßigkeitenregal auf, und drei Gesichter gafften mich an. Gab es ein Entrinnen? Sechs Augen funkelten im Dunkel des Ladens. Zum Weglaufen war es zu spät. Aber so leicht würde der Feind mich nicht zum Reden bekommen. Ich ging zur Kasse. Legte eine Tüte Drops und eine Packung Nüsse vor mich hin. »Ich glaube, das stimmt so!« Ich packte das Geld auf den Tresen und ging fort, bevor sie etwas sagen konnten. Paula hatte es auf meinen Vater abgesehen, wenn ich dem Dorf glauben konnte. Verlorene Liebesmüh. Vielleicht war sie irgendwann das schönste Mädchen im Dorf gewesen, aber die Tage waren längst verflossen. Ich fuhr in die Felder, weg von Paula und ihrer Enkelin, weg von Kerlen mit Vögeln und allem Dorftratsch. Das Wetter war prächtig. Man hätte denken können, die Bauern würden jetzt mit Freuden auf dem Land arbeiten, aber ich sah keine Seele. Das Getreide stand unbeweglich, ein gefrorenes gelbes Meer. Die Landschaft kam mir vor wie ein gigantisches Bühnenbild, durch das ich radelte. Ich hatte Lust, von der Straße direkt ins Korn einzubiegen und zu sehen, was hinter den Feldern lag, hinter der bemalten Leinwand, aber natürlich tat ich das nicht. Ich hatte keine Lust,
von einem wütenden Bauern mit Mistgabel verfolgt zu werden. Die alte Frau in dem verwunschenen Schloss war schlimm genug gewesen. Bei dem Schild mit den Tongruben schlängelte sich ein schmaler Weg zwischen den Feldern hindurch. Dem folgte ich, bis ich zu einem Stacheldrahtzaun kam. Dort hing wieder ein Schild: Privatgelände Zutritt verboten Dann hätten sie ihren Zaun eben besser instand halten sollen. Ich ließ mein Fahrrad stehen und kroch ohne Mühe unter dem Draht hindurch. Hier wuchs kein Getreide mehr, sondern nur Unkraut, das höher wurde, je weiter ich ging. Ich musste mir einen Weg durch Brennnesseln hauen und mich durch Gestrüpp zwängen. Brombeerdornen hakten sich an meiner Kleidung fest. Diese Wildnis war effektiver als Stacheldraht, aber ich gab nicht auf. Wenn es so schwierig war, dorthin zu kommen, dann war es die Mühe wohl auch wert. Das war es nicht, entdeckte ich, als ich die Gruben endlich erblickte. Vor mir lag kein Teich, in dem ich schwimmen konnte, sondern ein mehrere Meter tiefes Loch, mit schmutzigem Wasser auf dem Boden und überwuchert von Gestrüpp. Meine Fantasie war wieder mal mit mir durchgegangen. Mitten in dem Loch ragte das Wrack eines alten Lasters aus dem Wasser. Ich hielt mich an dem Gestrüpp fest und stieg vorsichtig hinunter. Vielleicht konnte ich Tunnels in die Böschung graben und mir eine echte unterirdische Burg bauen. Möbel und Bretter gab es genügend in dem großen Haus meiner Großmutter. Eine Höhle unter der Erde, das hatte doch was.
Keiner würde mich hier finden. Ich könnte ein Feuer machen und einen selbst gefangenen Fisch grillen. Dann hörte ich etwas. Eine Ratte? Für diese Viecher war in meiner unterirdischen Burg kein Platz. Ich warf einen Stein ins Wasser. Die Entengrütze wich einen Moment zur Seite, aber ich sah keine Horde von Ratten davonrennen und auch keinen riesenhaften grünen Schwanz, der sich noch schnell in eine Höhle zurückzog. Alles schien sicher. Ich stieg weiter hinab, bis ich am Wasser stand. Es war still hier. Ich hörte nichts mehr von dem, was oben geschah. Ich sah, wie ein Wölkchen über den Rand des Lochs glitt und träge vorbeischwebte. Als es sich vor die Sonne schob, wurde es im Loch dunkel und kalt. Viel zu erleben gab es hier nicht. Ich zog ein paar Steine aus dem Lehm und grub ein Loch. Der Lehm war feucht und schwer. Mit einem Spaten würde es leichter gehen. Und mit anderen Klamotten, denn ich war schon jetzt lehmbeschmiert. Und dann hörte ich wieder etwas. Ich stand reglos. Nichts. Alles klang hier lauter durch den Widerhall. Vielleicht war etwas Lehm ins Wasser geglitten, oder eine Maus hockte irgendwo und wartete bangen Herzens, dass ich wieder hinaufkletterte. Es musste nichts bedeuten. Aber plötzlich wurde mir klar, dass ich hier allein war, weit weg von der bewohnten Welt. Und ich fühlte mich immer weniger wohl in meiner Haut. Ich blickte über die Schulter. Jetzt schien sich sogar das Gestrüpp zu bewegen. Mir reichte es. Auf einmal wollte ich schnellstmöglich wieder weg.
Ich setzte einen Fuß auf die Böschung, bereit für die Kletterpartie nach oben, als ich fühlte, wie hinter mir ein Schemen aus dem Gestrüpp sprang und mir eine Waffe ins Kreuz drückte. Ich stand still, soweit das möglich war mit Füßen, die mehr als einen Meter auseinander standen. Ich bekam keine Luft mehr, und das Herz schlug mir buchstäblich bis zum Hals. War das ein Revolver in meinem Rücken? Wer war der Kerl und was würde er mir tun, hier in diesem Loch, wo man meine Leiche nie finden würde? Ich dachte an den anderen Jungen, der ertrunken war. Ja, ertrunken, das dachten alle. Ermordet hatte man ihn, hier in diesem Loch. Der andere bewegte sich. Die Gruselgeschichten, die ich daheim in meinem Bett so gern gelesen hatte, die Fernsehbilder mit Äxten und Kettensägen, verzerrten Clownsgesichtern, begrabenen Kindern, das alles stand mir plötzlich vor Augen. Und es wurde noch schlimmer, denn ich fühlte, dass ich das Gleichgewicht verlor. Meine Arme flogen in alle Richtungen. Ich griff wild in die Luft und spürte einen Halt. Ich bekam den Arm meines Mörders zu fassen. Ich wollte ihn wieder loslassen, aber mein Körper war anderer Meinung, und zusammen mit meinem Angreifer stürzte ich in das brackige Wasser.
REBECCA
Ein geheimnisvolles Kästchen
Die Wolken kippten weg. Ich sah Luftblasen, einen Schemen im Wasser, ein zappelndes Wesen neben mir. Ich schnappte nach Luft, schluckte einen Mund voll brackiger Brühe, kam endlich hoch, prustete, watete, kroch ans Ufer und zog mich an einem Busch hinaus. Weg, ich musste hier weg. Mein Verfolger lag noch im Wasser und fluchte. »Sieh nur, was du angerichtet hast! Wenn sie tot sind, dann bringe ich dich um!« Die Stimme! Ich drehte mich um. Mein Angreifer war kein Mann. Es war ein Mädchen, ein sehr nasses Mädchen, das nach einem Holzkasten langte, der zwischen der Entengrütze schwamm. Sie fischte ihn aus dem Wasser und hielt ihn sich ans Ohr. »Sie leben noch.« Gut, dann konnte sie das mit dem Umbringen vorläufig sein lassen. Sie kam durch das Wasser auf mich zugewatet. »Was stehst du so da? Hier, nimm!« Sie gab mir den Kasten, sodass sie die Hände frei hatte. Ich spürte, dass sich in dem Kasten etwas bewegte. Tatsächlich, »sie« lebten noch. »Und? Was tust du hier?«, rief sie, während sie aus dem Wasser kraxelte. Sie hatte mich bedroht. Sie hatte mich angebrüllt. Sie war kleiner als ich. Ich schubste sie zurück ins Wasser.
Als sie zum zweiten Mal herauskroch, glaubte ich einen Moment, sie würde mir an die Gurgel gehen. »Gib mir den Kasten.« Ich gab ihn ihr. Sie kletterte nach oben, ohne sich einmal umzudrehen. Als ich etwas zu mir gekommen war, folgte ich. Ich hoffte, sie würde nicht mehr da sein. Ich wusste nicht, wer oder was sie war, und ich brauchte es auch nicht zu wissen. Ich wusste nur, dass mir kalt wurde in meinem nassen Zeug und dass ich schnell wieder nach Hause musste, bevor mein Vater zurückkam. Ein Glück. Sie war weg. Und mein Fahrrad auch, sah ich kurze Zeit später. Dieses kleine… Wie kam ich jetzt nach Hause? Dann sah ich Spuren im Getreide. Die waren vor einer Stunde noch nicht da gewesen. Offenbar war sie mit meinem Rad quer durch das Feld spaziert. Vielleicht konnte ich sie noch einholen. Ich folgte den Spuren. Manchmal führten sie nach rechts, manchmal nach links, manchmal teilten sie sich, und manchmal hatte ich das Gefühl, im Kreis zu laufen. Ich ging eine Viertelstunde lang durch das Feld und gab es dann auf. Sie war mit meinem Rad längst über alle Berge. Und ich hatte eine Menge zu erklären, wenn ich mit meinen nassen, schmutzigen Sachen nach Hause kam. Dann hörte ich ein Kichern. Ich ließ die Pfade Pfade sein und ging geradewegs auf das Geräusch zu. »Endlich! Ich dachte schon, du brauchst ein paar Monate, um hierher zu finden.« Da war sie, die Diebin. Sie hatte eine Stelle im Getreide platt gedrückt, und das Rad lag neben ihr. Aber das fiel mir erst später auf. Denn sie selbst lag auf dem Bauch. Ohne Kleidung.
Die hatte sie ein Stück weiter zum Trocknen ausgebreitet. »Na? Willst du die nassen Sachen anlassen?« Ich hätte mein Rad nehmen und gehen können. Ich hätte meine Sachen auf den Sträuchern am Wasserloch trocknen können. Ich hätte ihr einmal so richtig sagen können, was ich von ihr und ihren kriminellen Praktiken hielt. Ich hätte eine Menge Dinge tun können. Aber ich ging ins Korn und machte mir meine eigene Stelle. Mit einem Meter Getreide als Wand zwischen uns fühlte ich mich etwas wohler in meiner Haut. Ich zog mich aus. Ich zweifelte noch, aber dann kam auch die Unterhose an die Reihe. Sie konnte mich ja nicht sehen. »Was hattest du eigentlich bei der Grube zu suchen?« Sie klang plötzlich ein ganzes Stück freundlicher. »Nichts. Nur so. Mich umsehen.« »Du bist nicht von hier, oder?« »Nein.« Ich hatte keine Lust, ihr die ganze Geschichte zu erzählen. Meine Großmutter tot, meine Mutter fort, mein Vater in Trauer, das viel zu große Haus. Blabla. »Und woher kommst du?« »Aus der Stadt. Und du?« »Aus Deemstervelde.« Kinder in Deemstervelde. Also wurden doch nicht alle von den alten Vampiren ausgesaugt. Aber sie war kein Kind mehr. Das hatte ich gerade noch sehen können, bevor ich puterrot ins Getreide wegtauchte. Sie war älter als ich. Vierzehn? Fünfzehn? »Wie heißt du?« »Rebecca. Aber alle sagen Becky.« Becky. Becky mit den langen schwarzen Haaren. Ich lag auf dem Rücken und das Getreide unter mir fühlte sich eigentlich ganz weich an. Es war gut, nicht mehr in den nassen Sachen zu stecken. Ich hatte die Augen geschlossen,
aber ich sah die Sonne durch die Lider wie einen roten Ball. Immer wenn ich den Kopf bewegte, sah ich Sterne, orangerote und grüne Streifen, Feuerwerk. »Und du? Wie heißt du?«, fragte sie. Was für einen Namen sollte ich mir aussuchen? Conrad hatte mir immer schon gefallen, und Bastiaan. »Sebastiaan. Aber alle nennen mich Bas.« Sie schwieg. Eine Weile hörte ich nichts. Nur die Vögel im Getreide. »Was hast du da in der Grube gemacht, Becky?« »Das darf ich nicht verraten.« Sie wartete, aber ich biss nicht an. »Es ist ein großes Geheimnis.« Ja, ja. Klar doch. Der Boden dieses schmutzigen Lochs war voller Geheimnisse. Aber was machte sie hier eigentlich? Und was steckte in dem Kasten? »Dein Kasten, das ist bestimmt auch ein Geheimnis, oder?« »Ja. Aber das kannst du schnell herausbekommen.« »Tatsächlich?« »Ja. Du musst nur etwas dafür tun.« »Was denn?« »Ach, vergiss es. Du traust dich ja doch nicht.« »Wer sagt das?« »Ich sage das.« Ihre Stimme klang auf einmal ein Stück lauter, als würde sie neben mir stehen. Ich öffnete die Augen, und da stand sie auch, wieder angezogen und mit dem Kasten in der Hand. Ich schoss schnell in meine nasse Hose. »Doch, du bist ein Waghals, das sehe ich auf den ersten Blick.« »Was soll ich tun?« Ich versuchte, nicht rot zu werden. »Siehst du den Schieber hier? Ich öffne ihn ein Stück. Nicht zu weit. Gerade genug, um ihn hineinzustecken.«
»Hineinzustecken?« Mir ging alles Mögliche durch den Kopf. »Du darfst dir aussuchen, welchen Finger du nimmst. Es muss auch nicht lang sein. Fünf Sekunden sind genug.« Meinen Finger. In der Kiste war etwas Lebendiges. Aber wie schlimm konnte es sein? Ich hatte mich heute schon ängstlich genug gezeigt. »Gib her.« »Vorsichtig.« Langsam schob sie den Schieber zurück. Ich sah nichts. Steckte meinen Finger hinein. Eins. Zwei. Drei. Autsch. Ich zog meine Hand zurück. »Damit wären wir quitt«, rief sie und lief weg. »Hättest mich eben nicht schubsen dürfen.« Blut tropfte von meinem Finger. Etwas hatte mich gebissen. Und zwar fest. »Au! Das tut wirklich weh! Was hast du da in dem Kasten?« Sie drehte sich noch mal um. »Etwas Bissiges natürlich. Du hast auch nicht viel auf dem Kasten, Sebastiaan-aber-meine-Freunde-nennen-mich-Bas. Sei froh, dass ich deine Klamotten nicht mitgenommen habe. Ich hätte dich gerne nackt nach Hause spazieren sehen. Aber ich bin einfach zu lieb. Bis morgen.« Sie und zu lieb? Ich zog rasch meine feuchten Sachen an und ging zu der Stelle, wo sie gelegen hatte. Natürlich war sie fort. Bis morgen? Was hatte sie damit gemeint?
Frühe Vögel
Mein Vater kam erst am Abend nach Hause. Er hatte unsere halbe Wohnungseinrichtung dabei. Kleidung, Musik, seine Werkzeugkiste, all das kam aus seinem Koffer gepurzelt. Sogar mein Fahrrad hatte er noch ins Auto bekommen. Ein Glück, denn das Rad meiner Großmutter hatte die Deutschen noch erlebt, und man brauchte Vorkriegsbeine, um damit voranzukommen. Und ich vergaß manchmal, dass es ein Damenrad war, sodass ich morgens wie ein Idiot mein Bein über eine nicht existierende Stange schwang oder mich beim Radeln mal eben auf die nicht existierende Stange setzte und dabei unerwartet in der Hocke landete, falls ich nicht schon vorher mit dem Kinn auf den Lenker geknallt war. Lebensgefährlich waren sie, solche Damenräder. Ich freute mich über mein Fahrrad, aber nicht darüber, dass mein Vater so viel mit hierher gebracht hatte. Hatte er doch vor, länger zu bleiben, wie die Leute im Dorf glaubten? Am nächsten Morgen saß er mit einer Tasse dampfendem Kaffee und seinem Laptop im Garten. »Sonne, Ruhe, Grün. Das ist das wahre Leben.« Ich schaute ihn an. Da saß er und grinste, ein paar Knöterichblätter im Haar. Ich konnte ihm nicht ganz Unrecht geben. Es gab Schlimmeres, als in einem Garten voller Amseln zu frühstücken, neben sich ein paar Comics, die mein Vater, der gar so schlecht nicht war, ungebeten mitgebracht hatte. »Erzähl mal, was hast du angestellt?«
Ich konnte mich auf etwas gefasst machen, wenn er herausbekam, dass ich trotz seines Verbots zu den Tongruben gefahren war. Aber wie sollte er das je in Erfahrung bringen? Ich hatte am Abend zuvor meine schmutzigen Sachen in einem Eimer Wasser eingeweicht, und damit war das Beweismaterial so gut wie vernichtet. Solange keiner meinem Vater erzählte, dass man mich zum Dorf hinaus hatte radeln sehen, war alles in Ordnung. »Ach, alles und noch was. Ich bin im Garten gewesen und im Geschäft. Und gelesen habe ich.« Mein Vater sah mich über seinen Laptop hinweg an. Mein plötzlicher Leseanfall wirkte verdächtig. Es klingelte, und ich sprang schnell auf. Ich wollte gehen und aufmachen, fort von seinem durchdringenden Blick. Aber meine Eile war überflüssig, denn sie stand schon in der Tür: Paula. Mein Vater musste ihr einen Haustürschlüssel gegeben haben, überlegte ich später. Jetzt konnte ich nur auf das Mädchen starren, das neben ihr herging. »Ach, Paula! Du bist früh dran!«, rief mein Vater. »Ja, früher Vogel fängt den Wurm. So heißt es doch.« Die Amseln im Gras hoben die Köpfe. »Und du hast Hilfe mitgebracht, sehe ich.« Mein Vater lächelte das Mädchen an, das zurücklächelte und auf mich zukam. »Guten Tag, Herr de Vriendt. Und das hier ist sicher Bas.« Da stand sie. Meine Angreiferin. Die nackt Daliegende. Die Fahrraddiebin. Mit ihrem gefährlichen Kasten. Rebecca. »Bas? Nein, Arnoud heißt er. Arnoud, das ist Rebecca, Paulas Enkeltochter.« »Aber alle sagen Becky.« Ihre Augen funkelten.
»Bis morgen«, hatte sie gesagt. Sie hatte also schon gewusst, wer ich war. Ihr war klar gewesen, dass ich log, und trotzdem hatte sie mich weiterplappern lassen. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Mein Vater und ihre Großmutter starrten uns an. Was erwarteten sie? Dass ich einen Diener machte? Am liebsten hätte ich mich umgedreht und sie und ihr doofes Lächeln einfach stehen lassen. Aber ich durfte nicht zeigen, dass ich sie kannte. Mein Vater durfte nicht wissen, dass ich mit ihr in der Tongrube gewesen war. »Zeig Becky doch mal den Garten, Arnoud.« Ich drehte mich um. Und Becky folgte. »Ich habe ihn schon mal höflicher erlebt«, hörte ich meinen Vater noch sagen. »Das ist das Alter, das wächst sich aus«, meinte Paula lachend. Ich sagte kein Wort, aber das schien Rebecca nichts auszumachen. »Soso, das ist der Obstgarten.« Sie schaute sich ruhig um. »Und das hier sind die Gänse?« War sie am Ende blind? Natürlich waren das hier die Gänse. Aber wenn sie dachte, ich würde auch nur ein Wort an sie verschwenden… Sie bückte sich, pflückte vorsichtig einen Grashalm, der noch nass vom Tau war. Sie nahm ihn zwischen Daumen und Zeigefinger. Ein Tautropfen glitt langsam nach unten, blieb an der Spitze des Halms hängen und funkelte wie ein Diamant, ehe er auf ihrem Schuh zerplatzte. Sie warf den Halm den Gänsen zu. »Wie geht es deinem Finger?« Sie sagte es leise, als wäre die Frage ernst gemeint. Ich zuckte mit den Achseln. »Gut.«
Wir gingen weiter. Sie schwieg jetzt auch. Wir beobachteten die Gänse, die uns hungrig zum anderen Ende des Rasens folgten. »Magst du Vögel?«, fragte sie. Mochte ich Vögel? »Wieso fragst du das?« »Ach«, sagte sie, »ich habe mich nur gefragt, ob du Lust hast, Vögeln zu helfen.« Womit? Bei den Hausaufgaben? Matz der Spatz fängt pro Stunde drei Würmer. Amsel Hansel fängt ein Drittel weniger als Matzspatz. Wie viel Würmer fangen beide gemeinsam mehr als Paula Lhermitte, falls diese eine Stunde früher als sie aufsteht? »Was meinst du mit helfen?« »Hast du heute schon was vor? Sonst zeige ich dir, worum es geht.« Natürlich hätte ich sagen müssen, dass ich jede Menge vorhatte. Oder dass ich mit ihr nirgendwohin wollte. Und was die dämlichen Vögel anging… Aber ich hatte keine Pläne. Und ich war neugierig. Erst dieser Kasten und jetzt dieses geheimnisvolle »ich zeige es dir«. Wir gingen zurück zum Haus, und ich sagte zu meinem Vater, wir würden ein Stück mit dem Rad fahren. Paula warf ihm ein vielsagendes Lächeln zu. »Na, siehst du«, sollte das wohl heißen. Sie saßen immer noch am Gartentisch und tranken in aller Ruhe Kaffee. Paula mochte zwar früh auf sein, aber davon allein wurde das Haus auch nicht sauberer. Vielleicht glaubte sie, auf ihre Art vielleicht doch noch einen Wurm zu fangen. Aber da kannte ich meinen Vater besser.
Der Turm
Rebecca radelte durch das Dorf, und ich folgte ihr wie ein dummes Gänseküken der Mutter. Mir war, als ob wir Runden drehten und das Dorf erst hinter uns zu lassen vermochten, nachdem auch das letzte alte Hutzelweib uns hinter ihren Gardinen hatte vorbeikommen sehen, aber endlich schlugen wir uns in die Felder. Und hier kannte ich mich erst recht nicht mehr aus. Das Getreide stand schon so hoch, dass ich kaum mehr darüber hinwegsehen konnte, und die Wege, über die wir holperten, waren wie schmale Gänge in einem lebenden Labyrinth. Meistens teilten sie sich am Ende eines Feldes, und manchmal nahmen wir die linke, manchmal die rechte Abzweigung, bis ich gar nicht mehr wusste, wo ich war. Vielleicht war das ihre Absicht, und sie hatte wieder etwas mit mir vor. Ich spürte immer noch ein Pochen in meinem Finger. »Magst du Vögel?«, hatte sie gefragt. Ich hatte erwartet, sie würde mir ein Nest mit Blaumeisen zeigen, aber nicht, dass sie mich durch das halbe gottverlassene Flandern führte. Wahrscheinlich verschwand sie demnächst in einem Feldweg und ließ mich mitten im Nirgendwo zurück. Nur noch ihr Gelächter würde ich hören, bis dann die Geier über meinem Kopf kreisten. Auf einem Hügel machten wir Halt. Zu unseren Füßen lagen die Felder wie ein gelbes Meer, und aus ihrer Mitte ragte ein großer schwarzer Turm, als würde die Erde einen dicken schwarzen Finger durch ihren Getreidepelz in die Luft strecken. »Fertig? Gut, los gehts.«
Ehe ich wusste, was geschah, hatte Rebecca sich schon abgestoßen und sauste den Hang hinunter. Ich rief, sie solle bremsen, vorsichtig sein, aber sie trat stattdessen in die Pedale, um noch schneller zu werden. Ich konnte nur noch zusehen, wie sie kreischend und lachend den Weg runterbretterte. Rebhühner flogen aufgeschreckt aus den Feldern, nichts als bunte Panik. Sie kam ohne zu stürzen unten an, ließ sich ausrollen, stand und drehte sich um. Ich hatte keine Wahl. Ich schloss die Augen und stieß mich ab. Mit geschlossenen Augen Rad zu fahren ist nicht vernünftig, und so öffnete ich sie schnell wieder und sah die Felder an mir vorbeisausen. Ein Sturz, und… Nicht daran denken, sondern weiter. Das Herz schlug mir bis zum Hals. Alles rüttelte und klapperte. O nein, das hier ist schrecklich, ich will runter, und nein, das hier ist wild und soll noch nicht aufhören. Der Wind in meinen Ohren, der Weg, der streifenweise unter meinem Vorderrad verschwand. Und dann auf einmal war ich unten. War es vorbei? War es schon vorbei? Rebecca wartete einen Moment und fuhr dann weiter zum Turm. Ich folgte brav. Der Turm war bewohnt. Hemden an einer Wäscheleine wehten im Wind, fröhliche tanzende Gespenster in allen möglichen Farben. Rebecca tauchte unter der Wäsche weg und lehnte ihr Rad gegen den Turm. Offenbar fühlte sie sich hier daheim. »Titus!« »Ich komme!« Ein junger Mann trat mit einer Schüssel Wasser in den Händen nach draußen. Er trug einen Overall, aber kein Hemd,
und ging zu einem Tisch, auf dem ein Spiegel in der Sonne glitzerte, daneben lagen ein Rasierpinsel und ein Rasiermesser. »Becky, du bist früh heute.« Er nahm Platz und seifte sich einen weißen Schaumbart. »Früh? Es ist fast zehn. Ein normaler Mensch hat schon einen halben Tag Arbeit hinter sich.« »Ein normaler Mensch legt sich auch nicht erst um vier Uhr nachts aufs Ohr.« Das Messer zog Spuren in den Schaum. Er spülte es in dem Wasser ab und zog eine neue Spur. Schab. Platsch. Schab. Platsch. »Hast du mir etwas mitgebracht?« »Sie sind noch in den Fahrradtaschen.« Rebecca drehte sich um. Der Mann wischte sich den Schaum vom Kinn und zog ein Hemd über, frisch von der Leine. So einfach ging das. »Nun fühle ich mich schon ein Stück munterer.« Er wischte sich die Hand trocken und hielt sie mir hin. »Rebeccas Freunde sind auch meine Freunde. Titus de Wit.« Ich Rebeccas Freund? Was sollte ich dazu sagen? »Arnoud de Vriendt.« »De Vriendt? Bist du ein Verwandter von Irma?« »Das ist seine Großmutter.« Rebecca war wieder da, in der Hand hielt sie den berühmten Kasten. »Der Enkel? Ich habe viel von deinen Großeltern gehört.« Ich nicht. »Komm, sie hat Hunger.« Wir folgten Titus in den Turm. Dort war es dunkel. Efeu erstickte die schmalen Fenster, und das wenige Licht kam von einem Computerbildschirm. Wir kletterten eine wacklige Leiter hinauf nach oben, wo durch schmale Schlitze in den Wänden etwas mehr Licht ins Innere drang. »Schau mal, wie gut sie aussieht.«
Ein Teil dieses Raums war mit Maschendraht abgeteilt und bildete so einen riesigen Käfig. Und in dem Käfig hockte eine Eule. Rebecca ging zu ihr und steckte einen Finger durch das Maschengitter. »Ich habe sie gefunden«, sagte sie zu mir. Ich war froh, dass das Biest in einem Käfig hockte. Es hatte einen scharfen Schnabel, und mit jedem Schritt, den ich näher kam, reckte und plusterte es sich und sah mich mit großen Augen an. »Sie hat Angst.« Na klar, sie hat Angst. »Ich habe sie gerettet. Sie gehört mir«, sagte Rebecca. »Rebecca, zum tausendsten Mal, eine Eule ist kein Wellensittich. Sie ist ein wildes Tier. Sie gehört niemandem.« »Aber ich habe sie gefunden. Ohne mich wäre sie tot.« Titus wandte sich zu mir. »Wenn du je eine junge Eule findest, Arnoud, dann lass sie, wo sie ist.« Ich nickte. Ich hatte nicht das geringste Bedürfnis, so ein Biest anzufassen. »Meistens sind es Tiere, die gerade aus dem Nest kommen und noch von den Eltern versorgt werden. Du tust ihnen keinen Gefallen, wenn du sie mitnimmst.« »Rebecca hätte sie also besser dalassen sollen?«, fragte ich so unschuldig ich konnte. »Nein. Becky kennt sich da genau aus. Das hier war ein verletztes Tier.« Er zog einen dicken Handschuh an und trat in den Käfig. Die Eule pickte ängstlich in den Handschuh, ließ sich aber doch fassen. »Wahrscheinlich hat es sie aus dem Nest geweht. Hier, das linke Bein war gebrochen. Als Becky sie fand, war der blanke Knochen zu sehen. Das ist natürlich etwas anderes als ein
bettelnder Vogel, dem sonst nichts fehlt. Becky hat gut daran getan, sie hierher zu bringen.« Rebecca streckte mir die Zunge heraus. »Sie muss lange dort gehockt haben, denn die Wunde war dunkelgrün. Der Wundbrand hatte schon eingesetzt.« Titus wickelte den Verband ab. »Siehst du, die Farbe ist wieder normal.« Wir standen jetzt alle drei im Käfig. Rebecca schob mich ständig zur Seite, um nur ja nahe an dem Vogel zu sein. »Weißt du noch, Becky, was wir getan haben, um die Wunde zu säubern?« Becky schaute Titus mit einem Blick an, den sie wahrscheinlich von ihrer Großmutter gelernt hatte. Dummer Mann, natürlich weiß ich das noch. Dann leierte sie es aber doch brav herunter: »Zuerst haben wir die Federn vom Bein gerupft.« »Und weshalb, Becky?« Das klang ja wie eine Prüfung. »Die Löcher, in denen die Federn steckten, machen die Haut aufnahmefähiger.« »Aufnahmefähiger für was?« »Für das Schöllkraut, das wir auf das Bein gestrichen haben. Der Saft von dieser Pflanze enthält Al… Alkoli…« »Alkaloide«, half Titus. »Als Zweites haben wir das Bein mit einem feuchten Salzverband umwickelt und mit einem trockenen Verband abgedeckt. Das Salz zieht den Schmutz aus der Wunde.« Wovon redeten diese Leute? Titus befühlte das Bein. »Alles in Ordnung. Ich denke, sie ist so weit, sich ihr eigenes Futter zu fangen.« Titus winkte uns aus dem Käfig und ließ dann die Eule los. »Und, Becky, hast du sie?«
Rebecca hielt den geheimnisvollen Kasten in die Höhe. »Frisch von heute früh«, sagte sie. »Gestern war sie zu langsam und sie sind entkommen. Aber sie hatte es auch nicht erwartet. Ich habe das Gefühl, dass sie heute eine bessere Leistung zeigt.« Rebecca gab Titus den Kasten. Er stellte ihn auf den Boden, schob den Schieber etwas zurück und verließ dann auch den Käfig. Ich beobachtete die Kiste. Endlich würde’ ich erfahren, was darin war. Zuerst geschah nichts. Dann sah ich eine Bewegung. Der graue Kopf einer Maus schaute kurz hervor, zog sich aber schnell wieder zurück. Die Eule drehte den Kopf leicht nach links, nur ganz leicht. Das war alles. Eine Minute später kam ein schwarzes Köpfchen zum Vorschein. »Wie viele sind es?« Rebecca hielt zwei Finger in die Höhe. Es dauerte eine Ewigkeit, aber schließlich wagte sich das graue Mäuschen doch aus der Kiste hervor. Es äugte behutsam umher und schnupperte erst, wo es denn jetzt wieder gelandet war, nach den bangen Stunden in dem dunklen Kasten. Ich sah seine Schnurrhaare zittern. Die Luft schien rein. Schnell hüpfte es aus dem Kasten und trippelte auf die dunkelste Ecke des Käfigs zu. Schnell, aber nicht schnell genug. Die Eule war so lautlos von ihrer Stange geflogen, dass auch ich sie nicht gehört hatte. Ihre Flügel hingen einen Augenblick wie ein Schatten über der Maus, sie landete, und das war es. Eine Sekunde später saß sie wieder auf der Stange, ihre Beute im Schnabel. Die Maus bewegte sich noch, aber die Eule riss sie mühelos mit Klauen und Schnabel in Stücke und verschlang sie anschließend mit Haut und Haar. Ich kletterte die Leiter hinunter. Ich musste nicht mit ansehen, wie auch die zweite Maus zerfetzt wurde.
Im unteren Zimmer hing eine große Umgebungskarte mit Deemstervelde genau in der Mitte. Die große Straße, die durchs Dorf führte, war klar zu erkennen. Auch die Tongruben waren verzeichnet, und sogar das Schloss fand ich nach einigem Suchen wieder. Auf dem Tisch stand ein tragbarer Kassettenrekorder. Ich versuchte, eine Kassette in dem grünen Licht zu entziffern. Asioflammeus. Klassische Musik? Ich drückte auf Play, und der Turm füllte sich mit einem eigenartigen Lärm. Das hier war keine Musik, sondern die Geräuschkulisse eines anderen Planeten. Ich hörte etwas quaken und zischeln, dann ein Fauchen wie von einer wütenden Katze und ein Knacken, als würde ein Zweig brechen. »Neugierig auf den Lockruf der Sumpfohreule?« Die beiden kamen nach unten. »Sie hat die zweite Maus auch erwischt«, rief Rebecca. »Das bedeutet, sie findet sich wieder zurecht. Nicht mehr lange, und wir können sie freilassen«, sagte Titus. »Vielleicht sollten wir noch etwas warten. Ihr Bein ist immer noch nicht ganz gesund.« »Nein, Rebecca, wir dürfen sie nicht länger als nötig hier behalten. Sie soll sich nicht zu sehr an Menschen gewöhnen. Du weißt, was manche Bauern mit Eulen tun.« »Was denn?«, fragte ich. »Manche Bauern glauben, dass eine Eule, die man an das Scheunentor nagelt, Unglück abwehrt.« »Sie nageln eine tote Eule ans Scheunentor?« »Nein«, sagte Titus. »Leider ist das Tier nicht tot, wenn sie es annageln.« Eulen fressen Mäuse. Menschen nageln Eulen an. Wer oder was jagt Menschen? Es müsste ein Wesen geben, das sich ab
und zu einen von uns herausgreift und in der Luft zerreißt, während die anderen zusehen. »Es passiert selten. Die Bauern von heute sind nicht mehr die Bauern von früher. Eulen sind Mäusefänger, das mögen die Bauern. Weißt du, dass ein brütendes Eulenpärchen pro Jahr siebenundachtzig Kilo an Nahrung verschlingt? Und der größte Teil davon besteht aus Mäusen. Fünfzig Kilo Mäuse. Das sind eine ganze Menge.« »Sind Sie ein Eulenspezialist?« »Hat Rebecca dir nicht erzählt, was ich tue?« Jemand aus Deemstervelde, der ungefragt Erklärungen abgab? In welcher Welt lebte dieser Mann? »Ich bin Ornithologe, und mein Spezialgebiet sind Eulen. Deemstervelde ist ein idealer Ort dafür. Hier grenzen verschiedenartige Landschaften dicht aneinander. Und die ziehen verschiedene Eulenarten an. Ich versuche herauszufinden, welche Arten hier herumfliegen, wo sie brüten und wie viele Junge sie aufziehen.« Womit die Leute sich so beschäftigten… Ich schaute mir den Raum etwas genauer an. Ein trauriger Laden. Und es stank hier. »Wohnen Sie hier?« »Ich habe ein Zimmer im Dorf, aber ich bin so häufig nachts unterwegs, dass es ab und zu einfacher ist, hier zu schlafen. Mein gesamtes Material steht hier. Ich habe ein Feldbett oben im Turm, und das geht ganz gut, solange ich nicht wachgeregnet werde. Es schläft sich angenehm unter den Sternen. Du musst es mal ausprobieren.« Plötzlich fiel mir wieder ein, was ich im Geschäft gehört hatte. »Schläfst du nachts auch manchmal unter den Sternen, Rebecca?«
Die beiden warfen sich einen Blick zu. Titus sprach als Erster. »Nein, kleine Mädchen sollten sich nachts nicht auf offener Flur aufhalten.« Wie wahr. Er zeigte auf den Kassettenrekorder. »Will man wissen, ob Eulen in der Nähe sind, dann sucht man nach ihrem Gewölle. Oder man spielt eine Kassette ab. Wenn eine Eule eine andere hört, reagiert sie darauf. Sofern sie in der Nähe ist. Was meinst du, Becky? Fragen wir ihn, ob er mitkommt?« Rebecca biss sich auf die Lippen. »Morgen Abend mache ich meine Runde mit dem Tonband«, sagte Titus. »Wenn du Lust hast, dabei zu sein…« Aber ja doch. Gab es etwas Schöneres, als im Dunkeln durch die Felder zu stolpern, und das noch mit einem Kassettenrekorder voller Eulenrufe? Andererseits… es konnte auch interessant werden. Und Rebecca wollte die nächtliche Runde so gern mit Titus allein unternehmen. Konnte ich ihr das gönnen? Ich schaute kurz auf meinen immer noch schmerzenden Finger und dann auf Titus. »Ich würde sehr gern mitkommen. Ich muss aber vorher noch meinen Vater fragen.« »Natürlich. Wir gehen um neun Uhr von hier aus los. Wenn du den Weg nicht weißt, holt Becky dich bestimmt ab.« Aber Rebecca war wütend nach draußen gerannt.
Mein Großvater, der Held
Die Zustimmung meines Vaters zu bekommen, war nicht schwer. Der freute sich, dass ich mich endlich für sein Dorf interessierte. Für das Dorf, die Natur oder eine Aktivität, das war sich gleich, solange ich überhaupt Interesse an etwas zeigte und ihn ruhig arbeiten ließ. Ich musste allerdings vor Mitternacht zu Hause sein. Und ich sollte ihm am nächsten Tag noch beim Ausräumen helfen. Ich müsse begreifen, dass die Ferien nicht nur zum Abhängen und Herumradeln da seien. »Was hältst du von dem großen Abstellraum?«, fragte er. Den hatten wir bisher umgangen. Mit gutem Grund, denn er war voll gestellt mit Gerümpel. Was war in meine Großmutter gefahren? Alte Sessel, Gartenmöbel, Kinderbetten, kaputtes Spielzeug, vierzig Jahre alte Tageszeitungen, die einem in den Händen zerfielen, Spinnräder, rostige Sensen, Kerzenleuchter, Blumentöpfe, Teekannen, Mäusefallen, Schelllackplatten, Dachziegel, Teppiche, Kartons voll mit verschimmelten Schuhen, Heiligenfiguren aus Gips, staubige Spiegel, alles war bis hinauf unter die Decke gestapelt. »Am besten räumen wir ihn nach und nach leer, sonst steht am Ende das ganze Haus voll mit den Sachen«, sagte mein Vater. »Am besten ist, wir nageln die Tür zu und verkaufen das Haus so«, sagte ich. Mein Vater dachte nach. »Nein, wenn schon, dann nageln wir besser gleich die Haustür zu.« Sieh mal an. Er konnte ja schon wieder über sich lachen. Der Gedanke, das Haus zu vernageln, tat ihm offenbar gut. Er
wirkte weniger unglücklich als in den zurückliegenden Tagen. Er stand früher auf, und wenn ich schlafen ging, blieb er nicht mehr mit einer Flasche Wein und einem ungelesenen Buch neben sich im Wohnzimmer sitzen. Manchmal hatte er sogar den Mut, seine Arbeit beiseite zu legen und in den Garten zu gehen oder ins Dorf, wo jeder ihn kannte.
Wir schleppten ein paar Teppiche nach unten, trugen sie in den Garten und rollten sie dort einen nach dem anderen aus. Es sah aus wie ein Parkplatz für eilige Fakire. Eilige und arme Fakire, denn die Teppiche waren allesamt fadenscheinig. Die Farben waren verblasst, sie hatten überall Löcher, und sie stanken. Wieso hatte meine Großmutter sie nicht längst selbst weggeworfen? Hatte man ihr den Mann, ungeliebt oder nicht, zu früh weggenommen und hatte sie sich deshalb an alles geklammert, was ihr geblieben war? Ich schaute kurz zu meinem Vater. Er war guter Stimmung. Es war den Versuch wert. »Pa, wie ist Großvater gestorben?« »Wie er gestorben ist? Habe ich dir das nie erzählt?« Nein, das hatte er mir nie erzählt. Er war ein Deemstervelder, wie sehr er sich auch bemühen mochte, das zu vergessen, und spontane Bekenntnisse waren nicht seine stärkste Seite. Er setzte sich auf einen der Teppiche und drehte sich seine zweite Zigarette. Er gönnte sich fünf pro Tag. Und meistens drehte, zupfte und leckte er in äußerster Konzentration, so als würde das Rauchen dadurch länger dauern. »Es ist keine schöne Geschichte. Aber du bist kein Kind mehr.« Er warf mir einen kurzen Blick zu. »Besser, du setzt dich ebenfalls hin.«
Er klopfte auf den Teppich, und der Staub brachte uns beide zum Husten. Die fertig gedrehte Zigarette legte er neben sich. Die war zu gut, um sie während des Erzählens zu rauchen. »Ich habe mir die Bruchstücke selbst zusammenpuzzeln müssen, denn ich war noch nicht geboren, als es passiert ist, und deine Großmutter wollte nie darüber reden, genauso wenig wie die Leute im Dorf. Es war Juni 1940, mitten im Krieg. Die Deutschen hatten das Land besetzt. Es wurde auch noch an anderen Orten gekämpft: in Afrika, in Russland, im Mittelmeergebiet. Aber Belgien war deutsch. Nicht alle waren mit der Besatzung einverstanden. Es gab bewaffneten Widerstand, besonders in den Städten. Auf dem Land protestierte man auch, allerdings anders. Man warf keine Bomben und schmuggelte keine Flugblätter. Dafür war man fauler und schlampiger, als die Deutschen es sich erhofft hatten. Pferde, die abgegeben werden mussten, verschwanden auf geheimnisvolle Weise. Kühe brachen aus den Ställen aus und wurden nie mehr wiedergefunden. Scheunen von deutschfreundlichen Bauern standen plötzlich in Flammen. Derartige Dinge. Zufälle, denen wohlmeinende Bauernhände ein wenig nachgeholfen hatten. Und das Land war in diesen Kriegsjahren reicher als die Stadt. Hier fand man noch Fleisch und Eier und Kartoffeln. Manchmal kamen die Städter zu Fuß hierher und bettelten um ein paar Erdäpfel. Keine Bettler, sondern ganz normale Leute, die kein Essen mehr bezahlen konnten. Im Juni 42, vor auf den Tag genau vierundfünfzig Jahren, fuhr abends ein deutscher Konvoi durchs Dorf. Kein großer Konvoi, sondern nur ein einziger Laster, begleitet von einem Personenwagen. Zum Übernachten legten die Deutschen einen Halt im Schloss des Barons ein, nicht weit vom Dorf entfernt.« Das Schloss!
»Der Baron hielt es mit den Deutschen. Er und seine Familie waren für die Besetzung Belgiens. Die Deutschen konnten sich eines guten Empfangs sicher sein, mit schmackhaftem Essen, Musik und weichen Betten. Das war besser als eine frostige Kaserne. Wahrscheinlich sind sie deshalb über Deemstervelde gefahren. Was sonst hatten sie in dieser Gegend verloren? Ich hoffe, sie haben gut geschlafen, denn für einige von ihnen war es das letzte Mal. Frühmorgens wurde der Transport ein Stück weiter im Wald überfallen. Ein paar Deutsche wurden erschossen, und der Lastwagen wurde gestohlen. Deutsche zu töten, war unvernünftig. Die Repressalien folgten schnell. Schon am selben Morgen kam die Wehrmacht ins Dorf gefahren. Sie brachten die ersten zehn Männer, die ihnen über den Weg liefen, zum Platz vor der Kirche. Diese Leute hatten nichts mit dem Überfall zu schaffen gehabt. Aber das war den Deutschen gleich. Die tatsächlichen Schuldigen, also diejenigen, die den Überfall begangen hatten, bekamen bis um zwölf Uhr mittags Zeit, sich zu melden. Anderenfalls würden diese zehn Männer erschossen. Einer der zehn war dein Großvater. Versuch dir mal vorzustellen, wie es gewesen sein muss, da auf dem Platz zu stehen und die Blicke des ganzen Dorfes auf dich gerichtet zu sehen. Deine Frau, deine Kinder und deine Eltern stehen da und schauen dich an und können nichts tun. Und es wird zehn Uhr. Und es wird elf Uhr. Und niemand taucht auf und meldet sich. Du folgst den Zeigern der Kirchturmuhr. Und es wird immer später. Und das ist das Ende deines Lebens. Um Viertel vor zwölf, als immer noch keiner aufgetaucht ist, tritt dein Großvater aus der Reihe. ›Ich bin es gewesen‹, sagt er, ›ich habe den Transport überfallen.‹ Plötzlich ist alles still auf dem Platz. Keiner hat das von deinem Großvater erwartet. Er ist der Schulmeister im Dorf
und nicht der Typ, der Konvois überfällt. Vor gar nicht langer Zeit hat er geheiratet, und seine Frau erwartet ihr erstes Kind. Das alles kann nur eins bedeuten: Dein Großvater will die Schuld auf sich nehmen und so die übrigen neun Männer retten. Aber die Deutschen sind nicht dumm. Sie fragen ihn, wo der Lastwagen ist. ›Tut mir leid‹, sagt mein Vater, ›das kann ich nicht sagen.‹ Ein Mann, den er noch nie gesehen habe und von dem er nur einen Decknamen wisse, sei mit dem Lastwagen weggefahren. Man glaubt ihm nicht und schleppt ihn zum Kommandanten, einem gewissen Broch, der ihn verhört. Mit wem hat er das Attentat geplant? Wie sind sie vorgegangen? Wo ist der Lastwagen? Aber mein Vater schweigt. Weil er mit nichts herausrückt, denken die Deutschen, sie könnten es vielleicht aus ihm herausprügeln. Darüber hat man mir nie viel erzählt, aber dass sie nicht sanft mit ihm umgesprungen sind, habe ich verstanden. Sie schlagen ihm mit ihren Gewehrkolben ins Gesicht, bis es ein blutiger Brei ist. Deine Großmutter sieht bei alledem zu. Das ganze Dorf sieht bei alledem zu. Und immer noch schweigt mein Vater. Die Deutschen glauben auch nicht, dass er etwas weiß. Dieser Mann will einfach nur Zeit gewinnen. ›Wenn du an dem Überfall beteiligt warst‹, sagt Broch, ›dann weißt du auch, was für ein Transport es war. Wenn du weißt, was sie geladen hatten, gehen die anderen frei aus. Dann beschäftigen wir uns nur noch mit dir. Und dann wirst du reden. Weißt du es aber nicht, dann…‹ ›Das sage ich nur Ihnen‹, sagt mein Vater. Das Dorf hält den Atem an. Falls er es weiß oder auch nur errät, muss er dran glauben. Aber dann kommen die anderen ungestraft davon. Mein Vater murmelt etwas. Das Sprechen fällt ihm schwer. Sein Mund ist zerschlagen. Broch beugt sich zu ihm, um ihn besser zu verstehen, und mein Vater springt mit letzter Kraft vor, in der Hand ein Messer, das er die ganze
Zeit bei sich getragen hat. Er versucht, den Kommandanten zu verletzen. Aber er ist zu schwach. Broch kann ihn beiseite schieben. Und einer der Deutschen schießt ihn nieder. Mein Vater liegt tot zu Füßen des Kommandanten. Der schaut noch nicht einmal nach unten, sondern hinauf zur Kirchturmuhr. Es ist zehn nach zwölf. Er gibt seinen Männern ein Zeichen, und die schießen die neun anderen Männer nieder. Einfach so.« Mein Vater zündete sich seine Zigarette an. »In einer Minute war alles vorbei. Zehn Leben… pffft, weg!« Er stieß Rauch aus. »Ich verstehe, weshalb deine Großmutter darüber nicht hat reden wollen. Keiner im Dorf ist scharf darauf, dir diese Geschichte zu erzählen. Ich habe mich lange gefragt, weshalb. Es hätte doch jedem passieren können. Aber ich glaube, sie alle fühlten sich schuldig. Sie alle sind dagestanden und haben nichts getan.« »Was hätten sie denn tun können?« »Natürlich nichts. Und doch sind zehn ihrer Nachbarn und Freunde erschossen worden, und sie haben nichts dagegen unternommen. Deshalb reden sie nicht gern vom Krieg. Aber dein Großvater wird hier im Dorf ein wenig als Held betrachtet. Gottlob ist sein Angriff auf den Kommandanten nicht geglückt, denn dann hätten sie vielleicht das ganze Dorf dem Erdboden gleichgemacht. Es war eine Heldentat ohne Ergebnis.« »Und das war alles? Die Schuldigen wurden nie gefasst? Und die Deutschen nie vor ein Gericht gestellt?« »Broch ist während der Ardennenoffensive umgekommen. Und im Krieg sind noch andere Dinge passiert. Deemstervelde war nur eine kleine Wunde. Die Wut des Dorfes hat sich gegen den Baron und dessen Familie gerichtet. Beliebt waren sie auch vorher nicht gewesen, aber jetzt brauchten sie sich im Dorf gar nicht mehr sehen zu lassen. Ihr Heu wurde
angezündet, manchmal auch ein Stall. Keiner wollte mehr auf dem Schloss arbeiten, und ohne Personal verfiel es zusehends. Nach dem Krieg verschwand der Baron eine Zeit lang ins Gefängnis. Der Frau Baronin und ihrer Tochter schnitt man auf dem Platz die Haare ab, wo ein paar Jahre zuvor die Männer erschossen worden waren. Es hat ihnen nicht viel geschadet. Haare wachsen schnell.« »Und der Transport?« »Die Leute aus dem Widerstand werden wissen, wo der abgeblieben ist, aber derartige Dinge bringt man nicht leicht in Erfahrung. Man könnte sagen, dass durch ihre Schuld hier zehn Männer umgekommen sind. Die Deutschen spielten das Spiel einfach mit. Ein Angriff rief einen Gegenangriff hervor. Der Widerstand wusste das.«
Während mein Vater erzählte, fiel mir das Gespräch der beiden alten Frauen auf dem Friedhof wieder ein. Und dass sie es wagt, Robert zu schicken, hatte die eine gesagt. Diese »sie« war die Baroness. Und Robert war der Onkel meines Vaters. Wieso arbeitete und wohnte Robert auf dem Schloss, wenn der Baron ein Freund der Deutschen gewesen war und nach Meinung des Dorfes verantwortlich für den Tod seines Bruders? War das der Grund für den Streit zwischen ihm und meiner Großmutter?
Mein Vater wuschelte mir durch das Haar. »Mach nicht so ein nachdenkliches Gesicht. Das alles ist Vorvergangenheit. Zerbrich dir darüber nicht den Kopf.« Aber genau das tat ich jetzt. Und nachdem er endlich etwas preisgegeben hatte, musste ich die Gelegenheit nutzen.
»Pa, da war ein Mann auf der Beerdigung, Robert.« »Robert!« Er lachte. »Möchtest du sämtliche Familiendramen an einem Tag zu hören bekommen? Woher kommen denn auf einmal all diese Fragen? Alles, um nicht arbeiten zu müssen, was?« Ich zuckte mit den Schultern. »Robert«, seufzte mein Vater, »das ist eine andere Geschichte. Eine, von der ich noch viel weniger weiß. Deine Großmutter war eine hartnäckige Frau, auch in ihren Fehden. Was zwischen den beiden vorgefallen ist, weiß niemand und wird auch nie jemand wissen. Deine Großmutter wird es uns nicht mehr erzählen. Und Onkel Robert kenne ich kaum. Er kam nie zu uns nach Hause. Nach dem Krieg waren das Dorf und die Baronie zwei feindliche Lager.« Seine Zigarette war aufgeraucht. Und wir rollten die Teppiche wieder zusammen. »Vielleicht sollte ich ihn einmal besuchen. Er gehört immerhin zur Verwandtschaft. Und er war auf der Beerdigung. Aber ich habe keine Lust, in alten Wunden herumzustochern. Außerdem ist alles schon so lange her. Ich hatte früher so viele Fragen. Wieso ist Vater nach vorn getreten? Wieso hat niemand eingegriffen? Wo steckten die wirklichen Schuldigen? Hatte es Sinn, sich den Deutschen auszuliefern? Hätte es die zehn Mann gerettet oder waren zehn Bauern nach Meinung des Widerstands ein billiger Preis für einen Laster mit Munition? Haben sie von dem Ultimatum der Deutschen zu spät erfahren? Was hatte mein Vater vorgehabt? Wieso hatte er ein Messer dabei? Aber wenn man doch keine Antworten bekommt, lässt man das Fragen besser sein. Ich hätte gern gewusst, wie es ist, mit einem Vater aufzuwachsen, aber das werde ich auch nie erfahren. Obwohl…« Er schaute mich an.
»Da kann ich ja dich fragen. Wie ist es, einen Vater zu haben?« Ich hörte mit dem Teppicheaufrollen auf und hustete den Staub aus meinem Mund. »Anstrengend, so viel ist sicher.« Er konnte darüber lachen. Aber während wir weiterarbeiteten, gingen auch in mir noch Fragen um. Wer war mein Großvater denn nun? Ein Kriegsheld, wie mein Vater ihn sah, oder der arrogante Teufel, als den ihn meine Großmutter beschrieb? Mein Vater fragte sich, weshalb der unschuldige Dorfschullehrer mit einem Messer in der Tasche herumlief. Aber meine Großmutter, die mit einem eigensinnigen Schmuggler verheiratet war, hatte sich ganz andere Dinge gefragt. Unter anderem, wie viel Krempel sie in ein einziges Zimmer gestopft bekam.
Auf Eulenjagd
Am Abend der Eulenjagd gab mein Vater mir ein paar Käsebrote mit. »Man weiß nie. Eulenzählen macht vielleicht hungrig.« Wir hatten den ganzen Tag durchgearbeitet. Einen Teil des Hausrats hatten wir im Garten verbrannt, aber was uns noch brauchbar erschien, wurde für einen noch näher zu bestimmenden guten Zweck beiseite gestellt. Wem genau mit wackligen Nachtschränkchen und einer wurmstichigen Holzwiege gedient war, darüber mochte sich mein Vater den Kopf zerbrechen. Die Arbeit war nicht nur hart, sondern auch unangenehm. Mein Vater warf mit jeder Schaukel, mit jeder Tapetenrolle auch einen Teil seiner Jugend fort. Trotzdem sah er nicht müde aus. Er wirkte im Gegenteil begeistert, als ich am Abend das Haus verließ. Hatte er irgendwas vor? »Du weißt: vor zwölf zu Hause sein. Ich habe keine Lust, die halbe Nacht vor Unruhe wach zu liegen.« Er fragte nicht, ob Rebecca mitkam. Er fragte nicht, wer denn dieser Titus sei. Er fragte nicht, wo genau ich hinging, mitten in der Nacht. Natürlich musste er mich nicht bevormunden. Ich war alt genug. Ich war vorsichtig genug. Und trotzdem: Ein bisschen besorgt hätte er ruhig sein dürfen.
Titus hatte mir am Tag zuvor den Weg ins Dorf gezeigt. Es war ganz einfach. Rebecca hatte mich ganz umsonst durch ein Gewirr von Feldern und Wegen gelotst. Nein, nicht ganz
umsonst. Ihre Absicht war gewesen, dass ich niemals allein zurückfinden würde. So eine Hexe. Das Dorf ging sanft ins Land über. Ein paar Häuser wagten sich noch ins Grün, aber nach zwei Minuten hatte ich die letzten Scheunen hinter mir gelassen und radelte durch die Felder. Es war hier so still wie am Tag zuvor. Die Weiden entlang der Bäche rieben sich träge an dem warmen Wind, und auch das Getreide wogte träge mit ihnen mit. Um mich herum wimmelte es von Mäusen und Rebhühnern, und in den Bäumen tummelten sich Ameisen und Würmer und Spechte. Doch ich hörte kein Leben, sondern nur mein Fahrrad. Und wieder überkam mich das Gefühl, dass das hier eine Kulisse war, dass ich durch eine unwirkliche Welt fuhr. Hatte die Stadt mich verdorben? Brauchte ich Häuser und Straßen und Mauern, damit ich nicht ausuferte, immer dünner wurde, bis am Ende nichts mehr von mir übrig blieb? Und war mein Vater das genaue Gegenteil? Hatte er sich gefangen gefühlt in der Stadt und kam erst hier zur Ruhe?
Rebecca stand am Turm und wartete auf mich. »Du kommst spät.« »Ja.« Titus trat nach draußen. »Becky hatte dich schon aufgegeben. Sie ist so ungeduldig, fast wäre sie ohne dich losgezogen. Wie steht’s? Hast du Lust?« »Wie könnte ich mir das entgehen lassen?« Rebecca hängte mir eine schwere Tasche um. »Wo du schon da bist, darfst du auch die Technik tragen.« Wir machten uns auf den Weg. Titus radelte vorneweg und erklärte dabei, was wir im Einzelnen vorhatten.
»Jede Eule hat ihr eigenes Territorium. Die Bauern meinen, das Land hier gehöre ihnen, aber die Eulen glauben dasselbe. Waldohreulen haben ein Territorium von beachtlichen zehn Quadratkilometern. Und in das darf sich keine andere Eule hineinwagen. Eine Eule fühlt sich im eigenen Revier stark, und ein eventueller Eindringling wird in den meisten Fällen weichen müssen.« »Und wenn sie zu mehreren Eulen kommen?« »Eine Besatzungsarmee?« Titus lachte. »Das wäre mir was. Aber Eulen bilden keine Gruppen wie Spatzen und Stare. Eine Eule duldet keine anderen Eulen in ihrem Revier. Also wird sie reagieren, wenn sie die Kassette hört.« »Heißt das, sie greift uns an?« »Nein, das tut sie erst, wenn du ihrem Nest zu nahe kommst.« Er hielt an und wischte sich eine Haarlocke aus der Stirn. Ich sah zwei rote Striemen, die in seinen Haaren verschwanden. »Ein Souvenir von einer etwas zu unvorsichtigen Beringung. Meine eigene Schuld. Und gefährlicher für die Eulen als für mich. Wenn die Eltern zu häufig gestört werden, besteht die Gefahr, dass sie das Nest aufgeben. Dann lassen sie ihre Eier zurück, oder auch ihre Jungen verhungern.« Ich sah sie dasitzen in ihrem Nest, wartend auf Eltern, die nie mehr wiederkamen. Ich wusste, wie sie sich fühlten.
Wir hielten am Rand eines Feldes, und Titus half uns über den Zaun. »Die Waldohreulen sind leicht zu zählen, denn im Winter ziehen sie zu Schlafgemeinschaften zusammen. Aber wir sind wegen einer anderen Eulenart hier: dem Waldkauz. Wir glauben, dass er von anderen Eulenarten verdrängt wird. Und hier wurde er seit vielen Jahren nicht mehr gesehen. Aber…«,
flüsterte Titus plötzlich, »ich meine, ich hätte ihn im Frühjahr rufen hören.« Offenbar waren das wichtige Neuigkeiten, ein Drama in Eulenland. Rebecca schaute Titus mit großen Augen an. »Ende März hab ich ihn eines Abends gehört: Uuhu-uhu-u. Vielleicht kennt ihr den Ruf aus Gruselfilmen, da wird er gerne eingesetzt, wenn eine Leiche aus ihrem Sarg kriecht oder wenn Menschen ängstlich durch den verwilderten Garten eines Landhauses schleichen.« Der ideale Soundtrack für Deemstervelde, wenn ich es recht verstand. »Vielleicht war er nur auf dem Durchflug, aber diese Gegend hier ist für einen Waldkauz ideal. Das Stück Wald da vorn ist einigermaßen licht, und es gibt dort jede Menge Kaninchen. Und um den Rübenacker hier, in den Grasböschungen, wimmelt es vor Mäusen. Falls hier ein Waldkauzpärchen ist, dann haben sie irgendwo hier ihr Nest. Aber wir dürfen nicht zu viel erwarten. Ich habe den Ruf nur einmal gehört. Vielleicht habe ich es mir auch nur eingebildet. Ich hätte so gern einen Waldkauz hier in dem Gebiet.« Hier waren wir also, kämpften uns zu dritt durch einen Acker und suchten einen Vogel, den es womöglich gar nicht gab. Wir kamen zum Ende des Feldes. Eine Hecke und ein Bach trennten uns vom Wald. Ich gab Titus den Rekorder. Er kontrollierte die Kassette. »Ab jetzt wird nicht mehr geredet.« Die Sonne war untergegangen, aber Nacht war es noch nicht. Das Licht hatte einigen Goldstaub zurückgelassen, der uns umwirbelte. Der Himmel war blau, wurde aber allmählich dunkler, tiefblau, blauschwarz, schwarz. Wo die Sonne untergegangen war, glühten rote und violette Wolken. Man hörte nichts. Keine Menschen. Keine Vögel.
Ich brauchte mich nur auf den Boden zu legen, um das Herz der Erde pochen zu hören. Und dann spielte Titus die Kassette ab. »Uuhu-hu.« Der Ruf wehte über das Land. Ich war froh, dass ich hier in der Dämmerung nicht allein war. Es hörte sich wirklich gruselig an. Und alt. Ein Klang älter als die Schelllackschallplatten meiner Großmutter. Ein Klang, als ob es ihn schon gegeben hätte, lange bevor hier Menschen herumliefen. »Uh. Uh.« Wir lauschten. Nichts. Der Vogel war ausgeflogen. Titus spulte das Band zurück, und wir gingen weiter, versuchten es an einer anderen Stelle. »Uuhu-hu.« Es wurde dunkel und kalt auf dem Feld, und Wind kam auf. Alle Mäuse um uns herum lagen jetzt bestimmt zitternd in ihren Höhlen. Plötzlich hörten wir etwas. Titus drehte die Lautstärke herunter. Wir bekamen Antwort. Titus sagte nichts. Er bewegte sich kaum, aber ich sah, dass er am liebsten getanzt und gebrüllt hätte, hier mitten im Rübenacker. Er hatte seine Eule gefunden. Er schaltete das Gerät aus. »Hört zu«, flüsterte er, als ob wir das nicht schon die ganze Zeit getan hätten. Es war jetzt sehr klar. Die Eule hatte uns gehört und war deswegen einigermaßen ungehalten. Von einer anderen Seite des Waldes kam ein neuer Ruf. »Kuwitt. Kuwitt.« »Das ist das Weibchen.«
Es war traurig, die Rufe dieser unsichtbaren Eulen mit anzuhören. Der Eulenmann und sein Weibchen kamen einem so allein vor zwischen all den Bäumen. Titus und Rebecca waren hin und weg. Sie fanden es fantastisch. Mir war einfach nur kalt. Wie oft konnte man sich dasselbe »Uhu« anhören? Zum Glück hörten die Eulen nach einer Weile auf, und wir konnten weg. »Was ist mit den Jungen? Wolltest du die nicht suchen?«, fragte ich Titus. »Nicht, wenn die Eltern aktiv sind, so wie jetzt. Frühmorgens ist die Gelegenheit günstiger. Es ist unklug, sich nachts mit drei Leuten durch den Wald zu schlagen.« »Zu zweit wäre vielleicht auch gegangen«, versetzte Rebecca bissig. Wir fuhren schweigend zum Turm zurück.
Ein Kuss
Titus wollte uns ins Dorf begleiten, und ich hätte nichts dagegen gehabt. Draußen auf dem Feld war es jetzt stockduster, und von den Straßenlaternen funktionierte allenfalls die Hälfte, sodass man immer nur kurz in einer Insel aus Licht fuhr und dann wieder in die Dunkelheit eintauchte. Aber Rebecca winkte ab. Glaubte er wirklich, wir seien Kinder, die Angst im Dunkeln hätten? Klar, wenn Arnoud eine Begleitung brauchte, einen, der ihn am Händchen hielt… Also fuhren wir zu zweit los. Rebecca hatte den ganzen Abend kaum ein Wort gesagt, aber jetzt war sie nicht mehr aufzuhalten. Ich dachte erst, sie hätte vielleicht doch Angst im Dunkeln. Aber das war es nicht. Ob ich Titus nicht großartig fand? Das wollte sie wissen. Fand ich einen erwachsenen Mann großartig, der mit einem Kassettenrekorder voller Eulenrufe durch die Äcker zog? Doch, eigentlich fand ich das schon besser, als jeden Tag im Büro zu hocken. Nicht großartig. Bloß besser. Aber das wollte Rebecca nicht hören. »Einfach unglaublich, wie die Eulen reagiert haben. Ich würde gern das Nest sehen.« Ich hatte keine Schwestern und ging auf eine Jungenschule, das heißt, viel wusste ich nicht von Mädchen. Aber ich meinte doch mitbekommen zu haben, dass sie nicht auf Mäuse und Eulen standen und man normalerweise sehr viel Mühe hatte, sie nachts auf einen dunklen Acker oder in den Wald zu locken. Und hier war Rebecca, die gern ein Eulennest sehen wollte.
Das also machte das Dorf aus jungen Leuten. »Ich habe schon andere Nächte erlebt.« Hier machte sie eine kurze Pause, damit ich staunen konnte, wie erfahren sie doch in derartigen Ausflügen war. Ich schwieg. Wir fuhren gerade leicht bergauf. »Ich glaube, ich bin mittlerweile schon zwanzig Mal mit Titus draußen gewesen. Diesmal hatten wir Glück mit dem Wetter, aber manchmal mussten wir durch strömenden Regen. Und Eulen fliegen nicht gern im Regen. Einmal im letzten Winter war mir so kalt, ich dachte wirklich, ich würde erfrieren. Aber Titus hat mich mit in seinen Mantel eingeknöpft, bis mir wieder wärmer war.« »Kennst du Titus schon lange?« »Schon drei Jahre. Ich sehe ihn immer nur in den Ferien, klar. Aber ich lese viel über Eulen, und jedes Jahr darf ich etwas mehr tun. Diesen Sommer darf ich mitkommen und die Jungen beringen, hat er versprochen.« »Heißt das, du kommst jede Ferien ins Dorf?« »Ja. Jede Ferien. Sie nutzt jeden Tag, den sie mich los sein kann. Zum Glück wohnen wir zu weit weg, sonst säße ich auch noch die Wochenenden hier. ›Du hast dich nie nach mir umgedreht, also kannst du das Versäumte bei deiner Enkeltochter nachholen‹, hat sie mal zu Paula gesagt. Es muss die Wahrheit gewesen sein, denn Paula hat ausnahmsweise geschwiegen.« »Deine Mutter hat das gesagt?« »Ja. Ich bin nur neugierig, mit wem sie das Versäumte nachholt. Ich jedenfalls werde meine Kinder niemals ihr überlassen.« Sie drehte sich kurz zu mir um. »Ehrlich gesagt, bin ich lieber hier als zu Hause. Kein Alkohol, keine… Es ist hier ruhiger. Paula ist zwar auch nicht
immer einfach, aber hier kann ich wenigstens tun, was ich will. Zu Hause werde ich manchmal verrückt.« Wir fuhren in den Wald. »Willst du dich später auch um Eulen kümmern?« »Ich würde es gern. Aber ich weiß nicht, ob ich klug genug bin. Und ob genug Geld da sein wird. Paula sagt, sie hätte etwas beiseite gelegt, um mein Studium zu bezahlen, aber ich glaube nicht, dass Ornithologie auf ihrem Wunschzettel steht. Sekretärin, das darf ich werden. Und einen guten Job beim Staat, davon spricht sie die ganze Zeit.« »Es ist also nicht nur Titus.« »Was?« Falsche Bemerkung. Themenwechsel, Arnoud. »Nennst du deine Großmutter immer Paula?« »Sie will es so. Sie sei noch zu jung, um Großmutter zu sein, meint sie. Gibt es sonst noch was, das du wissen willst?« Ich war ja schon ruhig.
Ich hatte meinem Vater versprochen, vor zwölf Uhr zurück zu sein. Aber Rebecca bestand darauf, dass ich sie nach Hause brachte. Ich verstand sie nicht. Von Titus ließ sie sich nicht begleiten, obwohl sie doch jedes Wort, das von seinen Lippen kam, in sich aufnahm und wie einen Schatz hütete. Aber ich, den sie so offensichtlich hatte loswerden wollen, ich sollte sie bis vor die Haustür bringen. Wovor hatte sie Angst? Oder mochte sie mich doch lieber, als ich dachte? Wir hielten vor einem Haus mit Vorgärtchen. Im Innern brannte Licht. Ihre Großmutter war noch wach. Sie drückte die Gartenpforte mit dem Fahrrad auf, drehte sich aber nochmals um.
»Tschüs Arnoud. Bis morgen.« Sie rief es ziemlich laut, und die Tür ging auf. Paulas Gesicht erschien und schaute mich wütend an. Rebecca bückte sich, gab mir einen Kuss und huschte hinein. »Ach. Sieh mal an. Der Herr ist endlich zu Hause! Weißt du eigentlich, wie spät es ist?« Mein Vater war auch noch auf. »Halb eins. Ich dachte, wir hatten eine Verabredung?« »Rebecca wollte, dass ich sie nach Hause bringe.« Das hatte nur fünf Minuten gedauert, aber es war den Versuch wert. Und mein Vater fiel darauf herein. »Rebecca, soso. Und wenn Rebecca in den Fluss springt, dann springst du hinterher, oder?« »Ich konnte sie doch nicht allein fahren lassen.« »Dich rausreden, ja. Sieh zu, dass du in dein Bett kommst. Wir unterhalten uns morgen darüber.« Ich folgte meinem Vater die Treppe hinauf und hörte ihn brummend ins Bett gehen. Er war so fröhlich gewesen, als ich losfuhr. Was hatte er inzwischen erlebt? Vielleicht nichts. Das Leben. Und was hatte ich erlebt? Vielleicht nichts. Meinen ersten Kuss.
Unter dem Kirchturm
Ich wachte in meiner weißen Kammer auf und roch den Speck, den mein Vater unten briet. Ob er noch böse war? Die Frage beschäftigte mich nicht wirklich. Anscheinend hatte ich angenehm geträumt, denn ich fühlte mich gut. Deemstervelde war offenbar doch spannender, als ich gedacht hatte. Ich bekam Post von meiner toten Großmutter, in der sie erzählte, sie hätte ihren Mann, den Kriegshelden und meinen Doppelgänger, nicht so sehr gemocht. Alte Nazihexen in Schlössern kannten meinen Namen. Ich war der Erbe eines Nähkästchens. Es wimmelte hier vor Eulen. Und es gab Rebecca. Die war noch das Allerseltsamste in diesem allerseltsamsten Dorf. Als ich sie das erste Mal sah, in der Tongrube und klatschnass, war sie mir ein Stück jünger vorgekommen als ich. Im Getreide dagegen und ohne Kleider hatte sie viel älter gewirkt. Schade, dass ich nicht etwas besser hingeschaut hatte. Jedenfalls tat sie die ganze Zeit so, als wäre ich noch ein Kind. Sie mit ihrem Eulenwissen. Und mit ihrem superklugen Titus. Und gerade als ich meinte, das war’s, ich habe verstanden, du findest mich zu jung, da besteht sie darauf, dass ich sie nach Hause begleite. Und küsst mich. Ich hatte es überhaupt nicht erwartet, war zurückgewichen, als sie sich zu mir beugte, und ihre Lippen, die sonst auf meiner Wange gelandet wären, hatten halb meine Lippen berührt. Oder war das kein Zufall? Und sie hatte sich nicht geschämt, hatte es vor den Augen ihrer Großmutter getan.
Ich befühlte meine Wange. Aber während ich die Treppe hinunterging, sank auch meine Laune ein wenig. Sie war überhaupt nicht freundlich gewesen auf dem Rückweg. Und wenn sie mir einen Kuss hätte geben wollen, dann hätte sie das doch auch an einem anderen Ort tun können. Ich wollte nicht zu viel darüber nachdenken. Aber was hatten die Frauen in dem Geschäft behauptet? Und dieses Enkelkind ist um kein Haar besser. Vierzehn und jeden Tag unterwegs. Und nicht nur tagsüber. Weißt du, wem die die Tür einrennt? Diesem Kerl mit den Vögeln. Ja, mit Vögeleien kennt so einer sich aus.
Sie hatten von Rebecca gesprochen, das verstand ich jetzt. War Rebecca eine dieser Frauen, die an jedem Mann interessiert sind? Ich wusste, dass man das hinter meinem Rücken von meiner Mutter behauptete. Aber dann hätte sie sich doch nicht in dem Augenblick verabschiedet, als Paula uns sah? Es schien, als hätte sie gewollt, dass Paula uns sah. Wollte sie ihre Großmutter schockieren? Ich aß meine Eier und schwieg. Wusste Paula überhaupt, dass wir bei Titus gewesen waren? Allmählich dämmerte es mir. Die Leute im Dorf tratschten über sie und Titus. Er war ein erwachsener Mann. Es gehörte sich nicht, dass sie sich so oft in seiner Nähe herumtrieb. Erst recht nicht mit vierzehn Jahren. Erst recht nicht als Tochter einer Mutter wie der ihren. Vielleicht hatte Paula ihr verboten, sich noch länger mit Titus zu treffen? Wie sollte sie dann aus dem Haus kommen? Was für Ausreden konnte sie sich ausdenken? »Magst du Vögel?«, hatte sie gefragt.
Was kümmerte es sie, was ich mochte oder nicht? Eins fügte sich zum andern. Die überflüssige Fahrt durch die Straßen im Dorf, sodass ganz Deemstervelde sehen konnte, dass sie mit mir unterwegs war und nicht mit Titus. Der viel zu komplizierte Weg durch die Felder bis zum Turm, damit ich den bloß nicht auf eigene Faust fand. Die Bitte, sie bis zur Haustür zu begleiten. Der Kuss. Ich war ein dummer Junge, den sie vor ihren Karren spannen konnte, wenn es ihr passte. Doch das war jetzt vorbei. Sollte sie sehen, wie sie zurechtkam. Sie konnte sich sonst jemanden suchen, um zu ihrem großartigen Titus zu kommen. Mein Vater hatte noch nicht ein Wort zu mir gesagt. Gut so. Dann konnte er mir auch nichts befehlen oder verbieten. Sollte er doch allein hier ausmisten. Ich war fort.
Ich hatte vor, den ganzen Tag Rad zu fahren, ganz gleich, wohin, aber als ich am Kirchplatz vorbeikam, standen da eine Menge Leute und schauten in die Luft. Ich folgte den Blicken und sah einen großen Kran, der einen Korb mit zwei Männern in die Höhe fuhr. Ein dritter Mann hing aus dem Kirchturm und half ihnen, eine Holzkiste in das Turminnere zu ziehen. Es war Titus. Er verschwand mit der Kiste im Turm, und die anderen Männer stiegen weiter gen Himmel, bis hinauf zu dem Wetterhahn. Ich fragte einen der Umstehenden, was da passierte. »Der Hahn ist ausgeleiert, heißt es. Verrostet. Irgendwann wird er angeblich noch jemandem auf den Kopf fallen. Aber dem Hahn fehlt rein gar nichts. Das wird man sehen, wenn sie damit unten sind. Geschäftemacherei, das ist es.«
»Und die Kiste, die sie da ins Innere gezogen haben, was war das?« »Wer kann das wissen, Bursche? Nichts als dummes Zeug. Ach ja.« Ich schob mich weiter zwischen den Leuten durch, in der Hoffnung, jemand anderer würde mehr wissen. Ein Stück weiter unterhielten sich zwei Männer angeregt. »Schon seit Jahren sage ich, er ist eine Gefahr. Ich kann ihn von meinem Fenster aus beobachten. Das war kein Drehen mehr. Der wackelte. Ich sage, jeden Moment kann der runterkommen, aber hört irgendwer auf mich? Nein, erst muss ein Stein runterfallen und einen erschlagen, ehe sie kommen. Ein Bauer mehr oder weniger, deswegen liegt von denen doch keiner wach. Je weniger Bauern, desto weniger Zuschüsse müssen sie zahlen. Betonieren, das tun die doch am allerliebsten. Alles zubetonieren und Straßen bauen, damit lässt sich nämlich noch Geld verdienen!« »Und die Kiste, was ist das?« Aber sie hörten nicht zu. Ich beobachtete mit ihnen, wie die Männer den Hahn in Decken wickelten, mit Klebeband verpflasterten und ihn anschließend fest vertäuten. Einer von ihnen flexte anschließend den Fuß durch, und die Funken sprühten im Bogen wie ein Feuerwerk. Erst als ich jemanden sagen hörte: »Sieh an, der Eulerich ist auch wieder dabei«, da schaute ich zur Kirchentür und sah Titus davongehen. Ich zwängte mich durch die Menge. »Titus!« »Hallo Arnoud! Gut nach Hause gekommen gestern?« Er ging zu seinem Auto. »Was war denn in der Kirche los?«
»Sie setzen einen neuen Hahn auf den Turm. Und ich habe die Gelegenheit genutzt und einen Nistkasten in den Turm gehängt.« Er rieb sich die staubigen Hände. »Hier hat anscheinend immer eine Eule gehaust. Aber irgendwann im Krieg ist sie verschwunden, und nie wieder wurden hier Junge ausgebrütet. Ich kann es mir nicht recht erklären, denn der Ort ist einfach ideal. Mit einem Nistkasten könnte ich vielleicht ein Pärchen dazu bringen, hier zu brüten. Als ich hörte, dass der Hahn ersetzt werden sollte, wollte ich mir die Gelegenheit nicht entgehen lassen. Die Gemeinde war willens, und der Herr Pastor war es auch. So hat er weniger Mäuse in seiner Kirche.« Er zeigte auf eine Kiste auf der Rückbank. »Ich will noch ein paar in der Gegend um Deemstervelde aufhängen. Hast du Lust mitzukommen?« »Kommt Rebecca auch mit?« »Ich habe sie heute noch nicht gesehen.« Ein Ausflug mit Titus ohne Rebecca! Ich versuchte, mir ihr Gesicht vorzustellen, wenn ich ihr erzählte, ich hätte den Nachmittag mit Titus verbracht: mit Titus im Auto, mit Titus auf dem Bauernhof, mit Titus in den Ställen. Ich stieg ein.
Klinken putzen
»Als Erstes fahren wir nach Koevoorde. Bist du da schon mal gewesen?« Nein, wie spannend. Ein neues Bauernkaff. »Ich kenne dort einen der Bauern, Alfons Mussche. Der war letztes Jahr bereit, einen Nistkasten bei sich aufzustellen. Hoffen wir, dass er seine Meinung nicht geändert hat.« »Bauen die Eulen sich nicht selbst ein Nest?« »Schleiereulen? Nein. Wenn sie ein dunkles Loch finden, sind sie schon zufrieden. Meistens liegen die Eier zwischen einem Haufen aus platt getretenem Gewölle.« Igitt. »Früher hausten sie viel in Kirchen, aber in letzter Zeit dichtet man die Schalllöcher ab, damit die Tauben draußen bleiben. Und die Eule muss woanders hin. Bauernhöfe, Ställe, Schulen, Schornsteine, sie hausen überall. Aber das sind nicht immer ideale Nistplätze. Zu viel Lärm, zu viel Bewegung kann die Eltern stören. Viele Junge fallen zu Boden, bevor sie fliegen können. Deshalb ist es gut, wenn sie einen Kasten finden, am besten einen mit einem Rohr, durch das die Eltern müssen. Das Rohr schreckt andere Vögel ab, die sonst auch gern in so einen trockenen, warmen Kasten wollen, und es sorgt dafür, dass die Jungen nicht herausfallen.« Wir fuhren über einen holprigen Feldweg mit tiefen Treckerspuren. Titus’ Stimme klang zittrig durch die Erschütterungen. »Und ein Nest im Freien kann gefährlich sein. Wenn es zu kalt ist oder wenn zu viel Schnee liegt, bleiben die Mäuse in ihren Höhlen, und dann kann eine Eule verhungern. Aber in
einem Stall, wo es auch im Winter einigermaßen warm ist, hat sie bessere Chancen. Manche Bauern wollen keinen Nistkasten in ihren Ställen. Sie befürchten, es könnte zusätzliche Arbeit bedeuten oder ich würde zu oft auf ihren Hof kommen und ihnen die Zeit stehlen. Oder zu viele Dinge sehen, die ich nicht sehen soll. Deshalb hoffe ich, dass Mussche sich noch an das erinnert, was er mir auf dem vergangenen Jahrmarkt versprochen hat. Und ich habe dich dabei. Wer würde es wagen, Arnoud de Vriendt etwas abzuschlagen?« Da hatten wir das schon wieder. Meine Kriegsvergangenheit. Wenn das so weiterging, marschierte ich demnächst noch mit den Veteranen in einer Prozession.
Wir bogen in einen Hof ein. Zutritt auf eigene Gefahr stand auf einem Schild neben dem Zaun. Ich schaute mich vorsichtig um, als wir ausstiegen, aber nichts Gefährliches kam auf uns losgestürmt. Oder es müsste der Mann in dem blauen Overall sein, der mit einer Mistgabel in der Hand aus den Ställen kam. Sein Gesicht war übersät mit Runzeln, als hätte ihn irgendwer zerknittert und hinterher nicht wieder richtig glatt gestrichen. »Ah, Herr Mussche, ich komme mit dem Möbel.« Er sah uns erstaunt an. »Mit dem Möbel? Ich hab kein Möbel bestellt. Ich will kein Möbel. Ich brauche kein Möbel. Maria!« Titus wollte erklären, bekam aber nicht die Gelegenheit. »Maria!« Eine Frau kam aus dem Haus gelaufen.
»Was ist?« »Sie sind hier mit dem Möbel.« »Ein Möbel? Was für ein Möbel?« »Hast du kein Möbel bestellt?« Maria wischte sich die Hände an der Kittelschürze ab. Sie zögerte. »Nein. Ich hab Möbel genug. Neue Matratzen fürs Bett, die könnten wir mal gebrauchen. Aber ein Möbel, davon hab ich nichts, Fons.« Titus versuchte, sie zu unterbrechen. »Herr Mussche hat mir auf dem Jahrmarkt…« »Ah, Fons. Also doch für dich. Wird mir wieder was sein, du auf dem Jahrmarkt mit deinem besoffenen Kopp.« Mussche schaute seine Frau an. »Ich hab es für dich gekauft, das Möbel.« »Für mich?« »Ja, ich dachte, ein schönes Möbel für uns, Maria.« »Aber Fons, das hättest du nicht tun sollen. Na denn, merci. Das trifft sich gut. Kisten und Kästen hat ein Mensch nie zu viel. Zeigt mal her, euer Möbel.« Wir drehten uns alle zum Auto um, auf dessen Rückbank verschämt ein Nistkasten aufleuchtete. »Herr Mussche, es geht eigentlich um die Sache mit… mit dem Nistkasten für die Eulen.« Mussche und seine Frau wandten sich zu Titus. Der wusste einen Moment lang nicht, was er sagen sollte. Mussche schaute zu seiner Frau. Und zwinkerte. Sie fing an zu lachen. »Das Ding kann oben in die Scheune«, sagte Mussche. Ich hörte Frau Mussche noch lachen, als sie schon im Haus war. Zutritt auf eigene Gefahr. Nun verstand ich das Schild schon besser.
Titus und ich holten den Kasten aus dem Auto und folgten dem Bauern in den kühlen, dunklen Stall. Der kletterte auf eine Leiter und nahm uns den Kasten ab. »Was meint ihr? Hier unter dem Firstbalken?« »Perfekt«, sagte Titus. »Es ist dunkel, trocken und nur ein paar Meter vom Flugloch entfernt.« Ich sah nur die Kehrseiten der beiden Männer, die mit Brettern und Hämmern auf den Strohballen balancierten. »Arnoud, hältst du mal?« »Arnoud?« Herr Mussche drehte sich zu mir um. »Doch nicht der Enkelsohn von Irma?« Ich nickte. »Ah, du bist Arnoud. Tja, tut mir leid wegen deiner Großmutter. War ne gestrenge Madam.« Was sollte man auf so etwas antworten? Darüber lernte man nichts in der Schule. Permutationen und Konjugationen in Fülle, aber etwas, das einem half, wenn man wie mit Stummheit geschlagen und mit einem Nistkasten beladen dastand, durfte man sich selbst ausdenken. Zum Glück schickte Titus mich zum Wagen, das Holzrohr holen. Es war still auf dem Hof. In der Mitte stand eine Pumpe. Ich ging daran vorbei, roch die Geranien, die Frau Mussche dort gepflanzt hatte. Und ich weiß nicht, warum, aber ich war auf einmal glücklich. Einfach so, ohne Grund. Der Mensch ist ein merkwürdiges Wesen. Als ich mit dem Rohr zurückging, kam Frau Mussche nach draußen. »Kommt gleich noch was trinken, wenn ihr fertig seid.« Und schon war sie wieder verschwunden. In der Scheune sah ich zunächst nichts. Grüne Flecken schwebten vor meinen Augen, und ich wäre fast in den Kartoffelkeller gepurzelt, schaffte es dann aber doch noch mit
meinem Rohr nach oben. Der Kasten hing schon an seinem Platz. »Und jetzt der finishing touch.« Titus holte eine Papiertüte aus seiner Jackentasche. Mehrere Gewölle. Er zerkrümelte sie auf dem Boden des Kastens. »So. Jetzt noch das Rohr angebracht, und wir wären so weit. Und dann heißt es hoffen, dass eine Eule ihn annimmt. Brüten werden sie dieses Jahr nicht mehr, aber es ist gut, wenn sie wissen, dass es hier einen Platz für sie gibt.« »Ich habe meinen Vater noch auf sie schießen sehen«, sagte Herr Mussche, als wir wieder unten standen und uns das Stroh von der Kleidung klopften. »Und ich hänge jetzt ein Nest in meine Scheune, um so ein Tier anzulocken. Und du, bist du auch so eulenbesessen?« Er musterte mich. Was sollte ich sagen? Ja, Titus, es gibt nichts Interessanteres auf dieser Welt als Eulen. Nein, Herr Mussche, ein normaler Mensch gibt sich mit so etwas nicht ab. Wie passten diese beiden Antworten in einen Satz? »Frau Mussche hat gefragt, ob wir noch was trinken wollen.« »Hat Frau Mussche das gefragt? Frau Mussche spuckt ziemlich große Töne in jüngster Zeit. Erst das Möbel. Und dann das. Also werden wir doch mal nachsehen, nicht wahr.« Wir gingen um das Haus herum und traten in die Küche. Das Gespräch ging über Tiere und die Anlage von Fluren mit Wassergräben, und ich konnte mich in Ruhe umsehen. Die Tür zum Wohnzimmer stand offen, und ich sah tatsächlich viele Möbel und Schränke mit Glastüren. Und überall Fotos von alten Leuten in merkwürdigen Anzügen. Ich nahm vorsichtig einen Spekulatius von einer Schale und starrte auf die Muster
der Bodenfliesen. Hier saßen wir, an einem schönen Sommertag. Und keiner schien es eilig zu haben. Und dann fing es an. »Ihr müsst mal bei den Laureynsens nachsehen. Vielleicht wollen die auch einen Kasten.« »Das mache ich bestimmt«, sagte Titus. »Ich hatte vor, heute noch bei de Laet vorbeizufahren, und bei Bayens. Bei van Langenhove würde ich auch noch gerne einen aufhängen, und auf der Baronie auch.« »Auf der Baronie?« »Ja, dem Schloss, das…« »Ja, ich weiß. Aber ich würde das an eurer Stelle nicht tun. Man wird es euch nicht in Dank abnehmen.« »Es ist aber ein idealer Ort«, sagte Titus. »Ihr müsst es selbst wissen.« Herr Mussche stand auf und verließ die Küche. »Besser, ihr geht nicht zur Baroness«, sagte Frau Mussche, als ihr Mann fort war. »Nach all den Jahren? Es geht doch nur darum, einen Nistkasten aufzustellen.« »Ich würde es nicht tun.« Frau Mussche lachte nicht mehr. »Ich werde noch mal darüber nachdenken. Danke für den Kaffee. Komm, Arnoud, wir müssen.« »Arnoud? Ist das…?« »Ja.« Ja, ja, das war ich. Arnoud. Besser, ich ließ mir gleich ein TShirt bedrucken: »Enkelsohn des Kriegshelden«. »Und Ihr wollt ihn mitnehmen in die Baronie?« »Sie wird ihn nicht auffressen.« »Da bin ich mir nicht so sicher.« Sie fasste mich am Arm.
»Geh nicht zur Baroness, Junge. Sie ist ein schlechter Mensch. Sie hat deinem Großvater genug Leid zugefügt. Du sollst nicht auch noch unter ihr leiden.«
Die Eule von Deemstervelde
Wir saßen wieder im Auto. »Und, Arnoud? Hast du Lust, noch ein paar Kästen aufzuhängen? Oder reicht dir der eine?« Ich konnte nicht länger an mich halten. »Titus, was ist eigentlich mit der Baroness? Was hat sie mit meinem Großvater zu schaffen?« »Tja, so genau weiß ich das nicht. Die Leute hier sind Auswärtigen gegenüber meist recht schweigsam. Aber manchmal habe ich doch etwas aufgeschnappt.« Er schwieg kurz. Als würde er überlegen, wie viel er mir erzählen konnte. »Weißt du, wie dein Großvater gestorben ist?« »Die Deutschen haben ihn im Krieg erschossen, ihn und noch ein paar andere Leute aus dem Dorf. Jedenfalls sagt das mein Vater.« »Und weißt du auch, weshalb sie das getan haben?« »Als Reaktion auf einen Überfall, sagt er. Er sagt, sie hätten die ersten zehn Mann, denen sie begegnet sind, aufgegriffen und auf den Platz gebracht.« »Das stimmt so ungefähr. Aber nicht ganz. Ich bin letzte Woche wegen des Nistkastens beim Pastor gewesen, und von ihm weiß ich, dass in dem Turm immer eine Schleiereule gehaust hat. Aber eines Tages war sie verschwunden, und nie wieder hat man eine Eule im Turm gesehen. Natürlich hat man in Deemstervelde eine abergläubische Erklärung dafür. Und seltsamerweise schien auch der Herr Pastor dafür anfällig zu sein. Ich solle mir nicht zu viel von dem Kasten versprechen, meinte er. Es sei vergebliche Mühe. Ihm zufolge ist die Eule
am selben Tag weggeflogen, als dein Großvater füsiliert wurde. Man hat die Männer hier auf dem Platz erschossen, und der Lärm soll die Eule im Turm aufgeschreckt haben, und sie soll davongeflogen sein. Glaubt man den Leuten in Deemstervelde, dann wird erst wieder eine Eule zurückkehren, wenn der letzte Schuldige an den Morden gestorben ist. Für die Leute im Dorf ist auch klar, wer das ist: die Baroness.« »Aber wieso?« »Die Deutschen haben zehn Leute gefasst, aber sie haben es nicht willkürlich getan. Die ersten neun Männer, die das Unglück hatten, den Deutschen zu begegnen, wurden tatsächlich einfach so vom Acker oder von der Straße geholt. Aber dein Großvater lief nicht draußen herum. Der unterrichtete zu diesem Zeitpunkt in seiner kleinen Schule. Und doch fuhren die Deutschen durch das ganze Dorf, bis sie dort waren. Sie sind in die Schule eingefallen und haben ihn vor den erschrockenen Augen seiner Schüler aus der Klasse gezerrt.« Davon hatte mein Vater mir nichts erzählt. »Die Deutschen sind aus der Stadt gekommen. Die kannten hier niemanden. Deemstervelde ist ein Dörfchen von der Größe einer Briefmarke, das brachte sie nicht um den Schlaf. Und doch kannten sie deinen Großvater beim Namen.« Titus bremste. Auf der Straße stand eine Kuh. Sie glotzte uns traurig an und bekam erst dann Beine, als Titus aussteigen wollte. »Von wo ist die denn ausgebrochen?« Ausgebrochen? Entwischt? Renn, Kuh, renn. Hinein in die weite Welt! »Ich werde mal im Dorf herumtelefonieren. Das Tier kann hier nicht einfach so herumlaufen.« Er war jetzt mit seinen Gedanken bei der Kuh. Noch ein Augenblick, und er war wieder bei seinen Eulen. Besser, ich hakte noch mal nach.
»Wieso gerade ihn, Titus?« »Wer kann das wissen? Arnoud de Vriendt gehörte nicht zum Widerstand. Jedenfalls wurde nach dem Krieg nichts Entsprechendes festgestellt. Mit dem Überfall auf den Konvoi hatte er nichts zu tun. Man glaubt, dass es einen persönlichen Grund gegeben hat, ihn festzunehmen. Dass jemand ihn lieber tot als lebend gesehen hat. Und dieser Jemand war der Baron. So jedenfalls denkt man im Dorf darüber.« »Und wieso?« »Das weiß ich nicht genau. Es hat mit der Tochter des Barons zu tun, die immer noch dort im Schloss wohnt. Aber wenn man hier über die Baroness redet, wird es dermaßen verwirrend, dass ich den Erzählungen kaum mehr folgen kann. Irgendetwas muss zwischen der Baroness und deinem Großvater gewesen sein. Das ist alles, was ich mit Sicherheit weiß.« Mein Großvater und die Baroness. Was muss man tun, um jemanden so zu hassen, dass man seinen Tod wünscht? Sich nicht mehr leiden können vielleicht. Ich dachte an meine Eltern. Hasste die Baroness einen Mann dermaßen, dass sie sogar dessen Enkelkind Leid zufügen würde? Nach all den Jahren? Aber nach all den Jahren hasste auch das Dorf sie noch unvermindert. Man vergaß nicht so leicht, hier in Deemstervelde. Ich hätte gern für einen Tag die Deutschen wiedergehabt, allerdings mit mir als Kommandanten. Ich würde die Dorfbewohner auf dem Platz zusammentreiben und sie zwingen, mir zu erzählen, was genau sich hier zugetragen hatte, vor all den Jahren. Weshalb war mein Großvater aus der Reihe getreten? Was hatte er Broch ins Ohr geflüstert? Was hatte er mit der Baroness zu schaffen? Wer waren die wirklichen Schuldigen? Weshalb können Männer und Frauen sich nicht leiden, obwohl sie das doch gegenüber Gott und
Gesetz geschworen haben? Gesteht, bevor die Turmuhr zwölf schlägt, sonst… Aber ich würde es selbst tun müssen. Ich würde vorsichtig in der dunklen Vergangenheit schweigsamer Leute herumtasten müssen, würde versuchen müssen, hier und da etwas aufzuschnappen und dann zu erraten, was ich gefunden hatte. Ich würde auf der Lauer liegen müssen nach jedem Wort, jeder Geste, die sie verriet.
»Fährst du noch zur Baroness?«, fragte ich. »Ich weiß es nicht. Ich habe keine Lust, mich der Hasskampagne des Dorfes anzuschließen. Selbst wenn sie oder ihr Vater irgendwann etwas Fürchterliches getan haben: Es ist mehr als fünfzig Jahre her. Ich glaube, fünfzig Jahre sind genug, um eine Verfehlung zu überwinden. Und ich muss ehrlich sagen, dass ich neugierig bin auf diese Baroness. Andererseits bin ich auf den guten Willen und die Mitarbeit der Bauern angewiesen. Ich kann meine Eulen nicht in Gefahr bringen. Und ein Besuch bei der Baroness könnte für mein Programm den Todesstoß bedeuten. Also denke ich, ich werde meine Neugierde und meinen Stolz beiseite schieben und die bösartige Baroness vorläufig nicht mit meinem Besuch beehren.« Wir kamen ins Dorf. »Arnoud, darf ich dich um etwas bitten? Wenn du Rebecca siehst, erinnerst du sie bitte daran, dass unsere verletzte Eule heute noch nichts gefressen hat? Es ist ihre Aufgabe, für sie zu sorgen, und sie hat sich heute noch nicht blicken lassen.« »Möchtest du, dass ich zu Rebecca gehe?« »Wenn es geht, ja. Vielleicht hat sie es vergessen.« Rebecca, die vergaß, zum Turm zu radeln? Das glaubte ich nicht.
Aber ich würde gehen, denn dann konnte ich ihr gleich erzählen, wie enttäuscht Titus von ihr war, weil sie eine verletzte Eule vor Hunger umkommen ließ, und dass sie eine Fahrt durch die Umgebung verpasst hatte.
Im Hause Lhermitte
Ich klingelte bei Rebecca, aber Paula öffnete die Tür. »Was willst du?« Sie klang, als hätte sie gerade auf einem Kilo Zitronen herumgekaut. Ich lächelte mein wärmstes Lächeln, mein entwaffnendes Lächeln à la »Ich bin’s, der unschuldige und höfliche Arnoud!«, aber die eisige Miene schmolz nicht. »Ich komme wegen Rebecca.« »Rebecca darf nicht aus dem Haus.« Sie schlug die Tür wieder zu. Offenbar kam man bei der Familie Lhermitte nicht so einfach hinein. Und auch nicht so einfach heraus. Aber ich konnte diese Eule doch nicht verhungern lassen. Ich musste etwas finden, dem Paula Gehör schenkte. Und mir fiel nur eine einzige Sache ein. Ich klingelte nochmals. Es dauerte einen Moment, und ich dachte schon, sie würde nicht mehr aufmachen. Aber dann streckte sie doch wieder den Kopf nach draußen. »Stehst du immer noch da?« So aus der Nähe sah ich die Falten unter der Wimperntusche nur allzu deutlich. Ein Teil ihres Lidschattens, oder was immer es war, bildete Klümpchen in ihren Augenwinkeln. Ihr Lippenstift befand sich neben und um ihre Lippen, so als hätte sie einen Schminkkurs für Clowns besucht. Spuren davon waren sogar auf ihren Zähnen, und mit diesen roten Zähnen wirkte sie noch blutrünstiger und bösartiger. »Schlag es dir aus dem Kopf. Sie kommt die nächste Zeit nicht mehr vor die Tür.«
Das war der Moment, meinen Trumpf auszuspielen. »Mein Vater will wissen, ob…« Ich bekam nicht die Gelegenheit, meinen Satz zu beenden. »Ah, dein Vater. Dein Vater will mal was. Dein Vater weiß nicht, was er will, sag ihm das von mir. Und sag ihm auch, dass, wenn er etwas zu sagen hat, er selbst kommen und es mir sagen soll. Männer, alles dasselbe. Und du« – sie deutete mit ihrem Hexenfinger auf mich – »du und der Eulenkerl, ihr sollt meine Enkelin in Ruhe lassen. Hast du das gehört?« Die ganze Straße hatte es gehört. Die Tür schlug wieder zu. Und da stand ich. Offenbar hatten mein Vater und Paula Streit. Und ich hatte so die Vermutung, dass es dabei nicht ums Saubermachen ging. Während ich noch unschlüssig vor der Tür stand, wurde etwas aus dem Fenster geworfen. Es verfehlte meinen Kopf nur um ein Haar. Waren sie völlig verrückt geworden in diesem Haus? »Ich bin schon weg!«, rief ich. Sie brauchten mich nicht auch noch mit Geschossen zu bombardieren. Auf dem Boden lag eine Haarbürste. Versuchten sie, mir etwas mitzuteilen? Stimmte etwas mit meiner Frisur nicht? An der Bürste hing ein Zettel. »In einer halben Stunde im Garten«, las ich. Offenbar hatte Rebecca die Klingel gehört. Alles gut und schön, aber wie kam ich in den Garten? Ich radelte langsam fort, bis man mich vom Haus aus nicht mehr sehen konnte. Zwischen Rebeccas Haus und dem der Nachbarn entdeckte ich eine schmale Gasse. Sie war völlig zugewuchert, aber das konnte vielleicht die Lösung sein. Ich hielt ein paar Meter weiter und schaute mich um. Kein Mensch auf der Straße. Ich wendete mein Rad, fuhr in den Stieg hinein, und die Welt ging unter.
Es war kein Stieg, sondern ein gänzlich überwucherter kleiner Bach, in den ich mitsamt Fahrrad stürzte, mich überschlug, über den Lenker flog und mitten im Dreck landete. So lag ich da, bis ich langsam wieder zu Sinnen kam. Alles tat weh: meine Beine, noch teilweise um das Fahrrad geschlungen, mein Kopf, mein Rücken, meine aufgerissenen Hände. Welchen Schmutz ich in den Mund bekommen hatte, daran wollte ich gar nicht denken. Stattdessen rappelte ich mich mühsam hoch. Ich war triefnass. Schon wieder. Aber zum Glück hatte ich mir nichts gebrochen. Ich ließ das Fahrrad liegen und hinkte durch Gestrüpp und Brennnesseln. Ein Dutzend Meter weiter kletterte ich die Böschung hinauf und stieß gegen eine weiße Mauer, die viel zu hoch für mich war. Mein Vater hatte mich schon ein paar Mal beruhigen müssen: Er hätte seine Wachstumsschübe auch erst spät gehabt. Das käme schon noch. Und wenn nicht, dann könnte ich immer noch in den Zirkus, das wäre doch auch kein schlechtes Leben. Mein Vater meinte manchmal, er wäre witzig. Aber bisher war der Wachstumsschub ausgeblieben, und ich ging weiter in der Hoffnung, dass es ein Stück weiter ein Loch im Bretterzaun gab, aber Paula kümmerte sich besser um ihren Garten als um ihr Gesicht. Hier bröckelte nichts, und nichts war übermalt. Zum Glück wuchs ein kleiner Holunderbaum über den Bach. Ich stieß mich von ein paar Ästen ab, ergriff die Kante des Zauns und zog mich hoch. Mein Auge schweifte über den Gemüsegarten. Die Bohnenstangen entzogen mich eventuellen Blicken aus dem Haus. Perfekt. Ich kletterte über den Zaun und sprang in den Garten. Autsch. Als ich landete, durchzuckte mich ein brennender Schmerz vom Fuß bis in den Nacken. Ich hatte mir vorhin doch mehr wehgetan, als ich dachte.
Ich wartete. Was tat ich hier eigentlich, außer in meinen nassen Sachen zu frieren? Jetzt mit Titus auszupacken, machte keinen Sinn. Wenn Rebecca Hausarrest hatte, wollte ich sie nicht ganz unglücklich machen. Und nass und nach Bach stinkend, wie ich war, machte ich auch keinen besonders triumphalen Eindruck. Die halbe Stunde dauerte lang, und ich war fast erfroren, als Rebecca endlich aus dem Haus kam. »Psst, Arnoud, wo steckst du?« »Hier«, flüsterte ich zurück. Sie hatte einen Eimer dabei und machte sich ein Stück von mir entfernt ans Erbsenpflücken. »Weshalb darfst du nicht aus dem Haus?« »Ich bin gestern zu spät zurückgekommen, und Paula hat mich bei euch zu Hause gesucht. Hat dein Vater dir nichts erzählt?« Nein. »Offenbar hat er etwas gesagt, das ihr nicht gefiel. Und ich darf es jetzt ausbaden.« »Titus hat sich schon gefragt, wo du bleibst.« »Stimmt das?« Die Wut war plötzlich aus ihrer Stimme verschwunden. »Ja. Er rechnet damit, dass du dich um die Eule kümmerst.« »Ich weiß. Ich habe den ganzen Tag an nichts anderes gedacht. Hier.« Sie holte ihre Kiste aus dem Eimer. »Ich habe im Haus ein paar Fallen stehen.« Wieso wunderte mich das nicht? Sie schob die Kiste ein Stück in meine Richtung. »Nimm sie später, wenn ich im Haus bin. Es könnte sein, dass sie mich beobachtet.« »Was soll ich damit?« »Gehen und die Eule füttern natürlich!«
Natürlich. Wie konnte ich so dumm sein? Ich war doch der Bote von Titus und der Laufbursche von Rebecca, der Stellvertreter meines Vaters, der Enkel meines Großvaters, der Aufhänger von Nistkästen, der Eulenversorger, die Schießscheibe für Haarbürsten, der Bächetaucher, der Mäuseträger. Alle brauchten mich nur zu kommandieren. »Arnoud?« Ich schwieg. Sie würde mich ernsthaft anflehen müssen, ehe ich heute noch zum Turm radelte. »Arnoud?« »Ja?« »Bist du das, der so stinkt? Besser, du nimmst vorher ein Bad, sonst erschreckst du die Eule noch.« Das hatte noch gefehlt. Ich brach mir fast das Genick, um bis hierher in den Garten vorzudringen, und bekam ich auch nur ein Dankeschön für meine Mühe? Es reichte mir. Ich riss eine Bohnenstange aus der Erde und haute sie auf ihrem Kopf in Stücke. Anschließend band ich die strampelnde Großmutter an mein Fahrrad und fuhr zu dem Turm, den ich mitsamt allen Eulen anzündete. Das hätte ich tun können. Aber natürlich blieb ich einfach hinter den Bohnenstangen sitzen. Es war mein Kopf, auf den es Stöcke hagelte, so jedenfalls fühlte er sich an. Dieser Sturz hatte mir nicht gut getan. »Und sagst du Titus bitte, dass es mir Leid tut, aber dass ich morgen auch nicht kommen kann? Und fragst du ihn auch, ob er noch etwas wartet, bevor er die Eule freilässt? Ich würde gern dabei sein.« »Noch etwas?« Sollte ich ihm nicht auch gleich einen Heiratsantrag übermitteln? »Sag ihm, dass ich nicht weiß, wann ich wieder nach draußen darf, aber dass es nicht so lange dauern wird. Sie hat mich nicht gern im Haus, ich gehe ihr dann auf die Nerven. Arnoud,
vergisst du es auch nicht? Wirst du es ihm sagen? Und wirst du vorsichtig mit meiner Eule sein?« Was dachte sie denn? Dass ich ein Kind war? »Nein, ich werde es nicht vergessen. Meinst du, ich kann mir nicht mehr als eine Sache merken? Für wen hältst du mich?« »Für einen, der nicht allzu frisch riecht.« Ich hörte sie kichern hinter ihrem Erbsenstrauch. Wo sind die Nazis, wenn man sie einmal braucht? »Ich muss ins Haus. Sie wird sich fragen, wo ich bleibe. Und im Garten möchte ich sie nicht haben, da würde sie schnell Unrat wittern.« Und wieder kicherte sie. »Ja, ja, schon gut. Es ist euer Bach, der so stinkt.« »Arnoud, nicht vergessen, ja? Und danke.« Und weg war sie. Danke. Damit durfte ich mich begnügen. Ich fühlte, wie sich die Mäuse bewegten, als ich die Kiste unter meinem Hemd verstaute. Arme Viecher. Einfach so in Rebeccas Falle getappt.
Ein offener Käfig
Gern hätte ich mir etwas anderes angezogen. Aber wenn mein Vater mich sah, würde er eine Erklärung verlangen. Und darauf hatte ich keine Lust. Also saß ich wieder mal nass auf dem Fahrrad. Trotz der brennenden Sonne wurde mir nicht warm. Nur mein Kopf glühte. Wenn dieser Tag doch erst hinter mir lag! Beim Turm war weit und breit kein Titus. Offenbar machte der immer noch seine Runde mit den Nistkästen. Ich hinkte die Treppe hinauf. Mir flimmerte es vor den Augen. Außer den paar Eiern am Morgen und dem einen Spekulatius bei Frau Mussche hatte ich heute noch nichts gegessen. Aber fragte jemand danach, ob ich Hunger hatte? Nein. Solange die Eule nur zu fressen bekam. Die Eule dürfen wir bitte, bitte nicht vergessen. Ich ging zum Käfig. »Hör zu, Eule. Wir treffen eine Verabredung. Ich komme in den Käfig, und du bleibst brav sitzen. Eine Bewegung, und ich bin fort, und du kannst auf deine Mäuse pfeifen. Ich will deinen scharfen Schnabel nicht in meiner Nähe haben. Verstanden?« Sie blinzelte. Das reichte mir als Zustimmung. Ich trat in den Käfig, stellte die Kiste auf den Boden. »Hört zu, Mäuse, jetzt kommt meine Verabredung mit euch. Ihr kommt erst nach draußen, wenn ich aus dem Turm bin. Ich brauche eure Eingeweide nicht zu sehen. Und ein guter Rat: Haut im selben Moment ab. Dann schafft es ja vielleicht eine von euch. Verstanden?«
Ich hörte nicht einen Mucks. »Und du, Eule, versuchst… Eule? Eule?« Wohin war das Biest verschwunden? Ich sah mich im Käfig um. Nichts. Sie war entwischt. O nein, nicht doch. Nein. Rebecca bringt mich um! Ich rannte herum, suchte zwischen den Dachbalken. Sie hockte hier irgendwo und belauerte mich. Griffen Eulen auch Menschen an? Ich hätte Titus besser zuhören sollen. Ich dachte an die roten Striemen auf seiner Stirn, sah wieder, wie dieser scharfe Schnabel mühelos eine Maus in Stücke riss. Hilfe. Ich war noch zu jung, um mit so einem weißen Stock durchs Leben zu müssen. Außerdem schmerzte mein Fuß immer heftiger. Je mehr ich mich umsah, desto schwindeliger wurde mir. Der ganze Raum drehte sich. Ruhig bleiben, Arnoud. Ich brauchte die Eule nicht einzufangen. Es war eine Frage der Geduld. Irgendwann krochen die Mäuse aus der Kiste, die Eule flog auf sie los, ich konnte die Käfigtür zuwerfen, und alles war wieder in Ordnung. Keiner brauchte je zu wissen, dass die Eule für eine Weile ausgerissen war. Ich schlich zu der Käfigtür und kniete mich hin, um meinen Fuß etwas zu schonen. Jetzt brauchte ich nur noch zu warten, bis bei einer der beiden Mäuse der Hunger über die Angst siegte. Während ich so auf dem Boden kauerte, musste ich Rebecca Recht geben. Ich duftete in der Tat nicht sonderlich frisch. Eine Ratte hätte der vertraute Geruch längst aus ihrem Gully gelockt. Aber Mäuse sind ängstliche Tiere. Die Sonne füllte das Zimmer mit rotem Licht. Ich starrte so lange auf die Kiste, bis ich sie irgendwann nicht mehr sah. Die Konturen rutschten weg, schossen in sämtliche Richtungen. Es dämmerte schon wieder. Schwarze Wolkenfetzen schoben sich
vor meine Augen. Ich schloss sie und sah die Kiste auf meiner Netzhaut. Ich hatte solche Lust zu schlafen. Als ich die Augen wieder öffnete, schien sich nichts verändert zu haben. Bis ich den Umriss einer Eule sah, nicht wie erhofft im Käfig, sondern sich schwarz abzeichnend vor dem Spalt in der Außenwand. Der Körper blieb unbewegt, nur der Kopf drehte sich langsam, bis die Augen mich ansahen. »Nicht!« Ich sprang hoch, was ungefähr das Dümmste war, das ich in dieser Situation tun konnte. Ein Flackern, ein Aufleuchten weißer Federn. Und die Eule war fort. Ich sah sie fliegen, der Sonne entgegen. Rebecca würde mich umbringen. Nun ja, ich hatte mir alle Mühe gegeben. Und so eine Katastrophe war es auch wieder nicht, überlegte ich, während ich sie über die Felder davonfliegen sah. Immerhin war sie geheilt. Flieg, Tier, flieg in die Freiheit. Amüsier dich. Friss eine Maus für mich mit. Und dann sah ich einen Vogel aus den Feldern aufsteigen. Einen schwarzen Vogel, gefolgt von einem zweiten. Und einem dritten. Einer nach dem andern tauchten sie aus dem Feld auf, bis sie eine Wolke aus schwarzen Vögeln bildeten, ein Geschwader, das aus dem Getreide aufstieg und auf meine Eule zusteuerte. Die Eule hörte sie kommen und flog höher, aber die Vögel verfolgten sie. Sie jagten sie, griffen sie an. Die Eule machte einen Schwenk, doch die Wolke schwenkte mit. Ich hörte das aufgeregte Zwitschern bis in den Turm. Die Eule versuchte noch zu steigen, taumelte dann aber nach unten und verschwand irgendwo im Feld, der Schwarm im Sturzflug hinterher.
Was hatte ich dem armen Tier angetan? Ich lief hinunter, griff mein Fahrrad. Mein Fuß tat richtig böse weh, als ich in die Pedale trat, aber daran durfte ich jetzt nicht denken. Ich fuhr in die Richtung, wo ich die Eule hatte stürzen sehen. In den Feldern war es schwieriger festzustellen, wo genau sie gelandet war. Das Vogelgezwitscher schien von allen Seiten zu kommen. Rechts von mir klang es ein wenig lauter. Also fuhr ich dorthin. Und nochmals nach rechts. Und dann nach links. Ich hätte den Kassettenrekorder mitnehmen sollen, fiel mir zu spät ein. Die Eule hätte auf das Rufen einer anderen Eule reagiert. Oder hätte das die anderen Vögel nur noch wütender gemacht? Eines der Felder war ganz voller Vögel. Lag sie dort? Ich ließ mein Fahrrad stehen und verschwand ins Getreide. Autsch, der verdammte Fuß. Beim ersten Schritt, den ich machte, durchfuhr mich der Schmerz bis hoch in die Schultern. Also Vorsicht. Ich stolperte weiter, wollte etwas rufen, aber eine Eule ist kein Hund. Und mein Fuß wurde immer schwerer, als würde ich einen zehn Kilo schweren Schuh mit mir schleppen. Immer wenn ich irgendwohin kam, wo ich die Vögel gehört hatte, waren sie schon verschwunden und hatten sich ein Stück weiter niedergelassen. Sie neckten mich, lachten mich aus. Mein Kopf fühlte sich schwer und leicht zugleich an. Nach jedem schmerzenden Schritt sah ich nur Getreide, immer wackliger, wild wogendes Korn, aber keine Eule. Die Sonne ging allmählich unter, und alles wurde rot. Das ganze Land war in blutrotes Licht getaucht. Es hatte keinen Sinn, weiterzusuchen. Es hatte keinen Sinn. Wie war ich hierher gekommen? Was tat ich hier? Ich wollte nach Hause. Sollten die Vögel doch lachen.
Ich machte kehrt, wollte zurück. Das hier war doch der Rückweg? Ich war doch von hier gekommen? Hier, wo die Halme so platt getreten waren? Ich brauchte nur den von mir selbst gemachten Pfad zurückzugehen. Zurückzustolpern. War ich so tief ins Feld vorgedrungen? Eigentlich müsste ich doch jetzt schon draußen sein? Ich hatte auch noch ein ganzes Stück zu radeln. Ich wollte mich ins Korn legen, in meinen stinkenden Klamotten, und auf die Nacht warten. Bei der Ernte würden sie mich schon finden. Eine von ihren großen Maschinen würde mich erfassen und in einen Ballen Stroh pressen. Ich würde hoch oben auf dem Heuboden landen, unter mir eine Wasserpumpe mit Geranien. Aber die Eule würde mich belauern. Ich sah schon jetzt ihr großes rotes Auge, das sengend hoch über mir am Himmel stand. Das Auge suchte mich. Es starrte. Einen Moment noch, und es stürzte sich auf mich. Das Auge. Uh. Schu-hu. Ich hörte es jetzt. Schu-hu. Eine Eule. Eine junge Eule. Allein im Nest. Schu-huu. Ich folgte den Spuren, den beiden Spuren auf der Stirn. Wo das Getreide aufhörte, strömte ein grauer Bach. Ich ließ mich fallen. Das Wasser war hart. Hart wie Holz. Ein Holzkasten. Was sollte ich damit? Ein Bett, das wollte ich, und für immer schlafen. Aber das hier war ein Bett voll Federn, voll weißer Vogeldaunen, die mich zuschneiten. Und in dem Schnee schimmerten plötzlich diese roten Zähne, diese hochgezogenen Lippen. Es war ein Tier, und es biss mir in den Fuß, schleifte mich hinab in die Erde. Draußen brannte die Sonne, grün und rot. Hier, in der Höhle in meinem Kopf, war es dunkel. Und so ruhig. Ich hörte ein leises Brummen. Ein Wolf! Ich lag auf dem Bauch eines Wolfes, spürte seine Wärme auf meinen Kiefern, wogte mit auf dem Meer seiner
Atmung. Er brummte leise. Grrrmmm. Leise und dann immer lauter. Lauter. Lauter. Bis das Brummen aufhörte. Stimmen. »Leg ihn ins Auto.« Sie war da. Sanft hob sie mich auf und betrachtete mich mit silbernen Augen, Naziaugen. Ich streckte die Arme nach ihr aus. »Du darfst mich nie mehr verlassen. Versprich es, Mama.« »Ich verspreche es.« Sie strich mir die Haare aus den Augen. Wie alt sie geworden war, ohne uns. »Alles wird gut.« Ich wusste es. »Alles wird gut, Arnoud. Alles wird gut.«
DIE BARONIN
Ein Traum
»Eine Zigarre?« »Nein danke.« Ich saß in einem Salon, den ich vage von irgendwoher kannte, in einem viel zu großen Schlafrock und schob die Zigarrenschachtel, die man mir hinhielt, sanft beiseite. – »Es sind die von dir Bevorzugten. Du hast immer einen teuren Geschmack gehabt. Du hast die guten Dinge des Lebens immer geschätzt.« Die Vorhänge waren zugezogen, aber überall auf Schränken und Tischen standen Kerzen, und trotz der Hitze brannte in dem offenen Kamin ein Feuer. Die Frau, die zu mir sprach, saß kerzengerade in einem Sessel. Sie war mager, hatte lange, dürre Arme und trug an jedem Finger mehrere Ringe. Ihre Nägel waren lang und rot. Sie hatte eine scharfe Nase, und ihre Augen waren silberne Streifen unter großen durchäderten Lidern. »Was hast du nur ausgefressen? Mariette hat deine Kleidung schon zweimal gewaschen, und der Gestank ist immer noch nicht raus.« Was ich ausgefressen hatte? Ich erinnerte mich noch an die Eule, die ich vom Turm aus über die Felder hatte fliegen sehen. Ich sah mich in einem Getreidefeld unter einer roten Sonne inmitten von einem Schwarm lachender Vögel. Und dann war meine Mutter aufgetaucht. »Das Herz blieb mir stehen, als ich dich so daliegen sah. Ich dachte, du wärest tot. So viel Blut. Aber zum Glück war es nur
eine blutige Nase. Und du hast noch geatmet. Robert und ich haben dich so vorsichtig wir konnten ins Auto getragen. Du sahst so zerbrechlich aus. Und hungrig. Ich hatte nur etwas kandiertes Obst im Auto, und das habe ich Stück für Stück an dich verfüttert, bis wir zu Hause waren. Erinnerst du dich noch daran? Nein? Ich musste etwas tun. Und der Arzt hat gemeint, der ganze Zucker sei genau das Richtige für dich gewesen.« Ich erinnerte mich undeutlich an einen Mann, der mir mit einer Taschenlampe in die Augen geleuchtet hatte. Aber das war später. Da lag ich schon in einem Bett. »Wie fühlst du dich jetzt?« Verwirrt. Alles kam und ging in Fetzen. Mein Fuß tat weh. Aber der Schmerz kam von weit her, als würde jemand im Hintergrund herumquengeln. Es war angenehm, hier so im Kerzenschein zu sitzen. Im Kamin knackte ein Holzscheit. Der dicke Schlafrock war ein Kokon aus Wärme. Ich nahm einen Schluck von dem Glas Milch, das neben mir stand, und fühlte die Glut im ganzen Körper. »Nicht zu müde?« Nein, wollte ich sagen, aber ich war zu müde, um den Mund aufzumachen. »Du müsstest eigentlich im Bett liegen, aber ich wollte dich noch einmal ohne Blut auf den Lippen sehen und mit Pupillen anstatt nur dem Weißen in den Augenhöhlen. Sonst bekomme ich noch böse Träume.« Es war mir alles einerlei. Wenn ich mich nur nicht zu bewegen brauchte. Sie griff nach einem Stock, der gegen ihren Sessel lehnte, und erhob sich mühsam. Sie kam auf mich zu. Sie stand zwischen mir und dem Licht, und ein Teil von mir wurde hellwach. Achtung. Gefahr. Das hier war das Haus, in das ich neulich eingedrungen war. Das hier war die Baroness.
Das hier war die schlechte Frau. Was würde sie mir antun? Aber mein Körper reagierte nicht. Ich konnte nur die Augen bewegen. Hatte sie mich betäubt? War irgendetwas in der Milch? Ihre Hand huschte aus dem Dunkel zu mir hin, die Ringe blitzten wie Messer, die Finger, rote Haken, griffen nach meinen Augen. Ich versuchte noch, mich zu entziehen. Ihre Finger berührten meine Haut. Ich fühlte die kalten Ringe auf ihr brennen. »Ich sollte dich schlafen lassen. Du brauchst viel Schlaf, meint der Arzt. Aber ich kann dich noch nicht gehen lassen. Noch nicht. Ich habe so lange auf dich gewartet. Und als ich dich daliegen sah, tot, dachte ich… Was da in mir vorging, kann ich nicht beschreiben. Ich habe dich nie tot gesehen, wie die andern. Und doch so oft. Arnoud. Arnoud. Deine Leiche stand jeden Abend an meinem Bett. Dein Blut tropfte auf meine Laken.« Sie hinkte wieder zu einem Sessel. »Ich kann nicht glauben, dass du hier vor mir sitzt. Nach all den Jahren. Ich habe schließlich nicht mehr zu schlafen gewagt, aus Angst vor meinen Träumen. Am Anfang kamst du jede Nacht. Erinnerst du dich? Jede Nacht. Kein Wunder, dass ich krank geworden bin. Aber mit den Jahren wurden deine Besuche weniger. Es dauerte mitunter Wochen, Monate, bis ich dich wiedersah. Ich war fast froh, als du nicht mehr kamst, als du mich endlich in Ruhe ließest und ich allein mit meinen Tränen blieb. Und gerade als ich annahm, du hättest mich verlassen und ich könnte in Ruhe sterben, da tauchst du wieder auf. Nach all den Jahren stehst du neben meinem Bett. Ich hatte dich nicht mehr erwartet. Du bliebst nur ganz kurz, ich rief deinen Namen, und
du warst wieder fort. Das warst du doch, Arnoud? Du standest doch vorige Woche in meinem Zimmer?« »Da war eine Hexe«, murmelte ich. »Eine Hexe?« »Ja, eine Hexe mit einem gähnenden Loch, da, wo ihr Mund war.« Hatte ich das sagen dürfen? Zu spät. Sie lachte. »Mach mal die Augen zu.« Gern. Es war hier so ruhig. Ab und zu hörte ich ein Holzscheit knacken. Das Zimmer roch nach Harz. Es lag unter Wasser. Es war die Kajüte eines Schiffs, das sanft über die Wellen glitt. Ich fühlte den Schlaf kommen. »Du darfst sie wieder aufmachen.« Ich öffnete die Augen, und da saß die Hexe. An ihrem schuppigen Schädel klebte eine Strähne langen grauen Haars. Mitten in ihrem Gesicht gähnte ein Loch, und in ihrem Schoß lag ein schwarzes Monster mit wilden Zähnen, bereit, mich anzuspringen. Was hatte sie mit der Baroness gemacht? Sie hatten mich verraten. Das Schiff hatte mich in die Unterwelt gebracht, zu unterseeischen Grotten, und hier saß ich, in der Höhle der Meereshexe. »War das die alte Frau, die du gesehen hast?« Die Stimme war anders und doch auch dieselbe. »Mach die Augen wieder zu.« Aber das konnte ich nicht. Ich konnte den Blick nicht von ihr wenden. Wenn ich die Augen schloss, war ich tot. Ich musste wach bleiben. Ihre Bewegungen verfolgen. So schwer es mir auch fiel. »Arnoud, mach die Augen zu.« Ich konnte nicht.
»Gut, dann nicht.« Die Hexe griff wieder nach dem Monster in ihrem Schoß. Sie pflückte die Zähne aus seinem Maul, ließ sie einen Moment lang im Kerzenlicht erstrahlen und schob sie sich anschließend in den Mund. Sie schüttelte das Monster zu einer Perücke zurecht und zog sich diese sorgfältig über ihr graues Haar. Und da saß die Baroness. »Jetzt siehst du, was ich geworden bin, Arnoud. Jetzt siehst du, was die Zeit mit mir gemacht hat. Du bist entkommen. Du bist jung geblieben. Aber ich bin eine alte Frau.« Sie stand wieder auf. »Ich schicke dir Robert. Er wird dich ins Bett tragen.« Sie legte noch kurz die Hände auf meinen Kopf und verließ dann das Zimmer.
Auf der Baronie
Als ich die Augen aufschlug, lag ich in einem großen Bett mit Baldachin und Vorhängen. Es war nicht leicht, herauszukommen. Ich hatte überall Muskelkater, und mein Fuß wog zwanzig Kilo. Was hatte ich gestern ausgefressen? Und vor allem: Wer war mit meiner Kleidung durchgebrannt? Ich wickelte mich in ein Bettlaken und hinkte durchs Zimmer. Und blieb stehen, als ich mich in einem Spiegel sah. Sieh einer an. Junge Tiger hatten mein Gesicht benutzt, um ihre Krallen zu schärfen. Einer von ihnen hatte mir auch ein blaues Auge verpasst. Ich hinkte weiter, sah durch das Fenster Wasserlilien auf einem grünen Weiher. Ich erwartete jeden Augenblick ein Regiment von Rittern, die mit wehenden Federbüschen auf den Helmen durch das Tor geritten kamen. Dann ging die Tür auf, und der Wind erfasste mein Betttuch. Es flog hinaus und wehte davon. Die Frau, die hereinkam, legte meine Kleidung aufs Bett. »Das Frühstück ist fertig. Robert wird Sie in einer Viertelstunde abholen.« Sie betrachtete mich von Kopf bis Fuß und verließ lächelnd das Zimmer. Was für eine Art aufzuwachen, lahm, entstellt und nackt. Aber »Frühstück« klang gut. Neben dem Bett standen eine Waschschüssel und ein Krug mit Wasser. Ich sollte mich wohl besser etwas frisch machen, wenn man mich zum Frühstück erwartete. Das kalte Wasser brannte in den Wunden, weckte dafür aber mein bisschen Hirn. Ich erinnerte mich an den Sturz von
meinem Fahrrad. Die entkommene Eule. Ich wusste wieder, wo ich war: in der Baronie.
Ein paar Minuten später stand Robert im Zimmer. »Du darfst mit dem Fuß nicht auftreten. Hier, lass mich mal.« Er mochte zwar alt sein, aber er hob mich mühelos hoch. Das hier war der Onkel meines Vaters. Er hatte meine Großeltern gut gekannt. Ich hatte so viele Fragen an ihn. Aber er ließ mir nicht die Gelegenheit. »Du hast Glück. Sie ist klar heute.« »Wer?« »Die Baroness. An manchen Tagen ist sie nicht so lebendig. Du weißt schon: verwirrt. Die Zeit läuft anders für sie. Ereignisse, Menschen von früher sind ihr wichtiger als das, was gerade geschieht. Aber heute ist sie gut bei Verstand. Es ist ein Wunder, denn es wurde von Jahr zu Jahr schlimmer. Wir dachten, sie würde ganz still erlöschen. Und vorige Woche wurde sie plötzlich klar. Als hätte sie jemand aus ihrem hundertjährigen Schlaf geweckt. Die ganze Woche war sie lebhaft. Wir dachten, sie ist wieder im Lot. Aber gestern Abend, als wir dich neben der Straße fanden, hat sie den Faden wieder gänzlich verloren. Heute ist sie wieder gut beieinander. Aber ich denke, wir müssen es von Tag zu Tag angehen.« Und dann standen wir auch schon im Esszimmer. Die Baroness saß an einer langen Tafel. »Setz ihn hierher, Robert.« Sie deutete mit ihrem Stock auf einen Stuhl an der Ecke der Tafel, nahe bei ihr. War das vernünftig? Ihr Stock hatte einen silbernen Wolfskopf als Knauf, und von dort, wo sie saß, konnte sie mir damit mühelos den Schädel einschlagen. Ich war machtlos, ein kleiner lahmer Junge in einem großen
Schloss. Ich musste schlau sein, wollte ich hier herauskommen. Da hieß es nachdenken bei jedem Wort, jeder Geste. »Hast du gut geschlafen?« Ich schenkte ihr mein liebstes Lächeln. »Ja, danke sehr.« »Das ist gut. Der Arzt wird zufrieden sein.« Das also war die Baroness. Ich konnte sie jetzt besser betrachten. Sie war eine gepflegte Erscheinung, ziemlich mager. Böse oder gewalttätig sah sie nicht aus. Und doch hatte ich das Gefühl, als könne sie jeden Augenblick ihre Maske herunterreißen und ein faulender, von Würmern wimmelnder Kadaver würde mich angrinsen. Höfliche Konversation. Schnell. Aber worüber spricht man mit einer alten Frau in einem Nazischloss und mit einem Stock, der in Wirklichkeit eine Waffe ist? »Vielen Dank für die Übernachtung. Es war ein weiches Bett.« Konnte man mit einer Baronin über Betten reden? Offenbar doch. »Es ist ein berühmtes Bett. Margaretha von Parma hat schon darin geschlafen.« Na los, Arnoud. Zeit für die Konfrontation. »Frau Baroness, wie lange bin ich hier schon?« »Du bist hier erst einen Tag, Arnoud. Und ich würde mich freuen, wenn du Clara zu mir sagst. Frau Baroness, das ist so ein gewaltiger Brocken.« Und sie kaute schon so auf ihren großen Zähnen herum. Weshalb hatte sie so große Zähne? Damit sie mir besser zulächeln konnte. »Clara?« »Ja, nur zu.«
Tja. Wie sollte ich das angehen? Die Baroness lässt mich übernachten und mir ein Frühstück servieren, und das ist alles sehr freundlich und nächstenlieb, aber weshalb wache ich nicht in meinem eigenen Bett auf und vom Geruch des angebrannten Toasts, den mir mein Vater macht? Wusste mein Vater eigentlich, wo ich war? Wusste irgendwer, wo ich war? Die Worte von Frau Mussche tönten viel zu laut in meinem Kopf. Die Baroness sei eine schlechte Frau, die mir Leid zufügen wolle. Das hatte mir in der sicheren Bauernküche wenig Angst gemacht. Aber hier, mit der Baroness in Knüppelweite, lagen die Dinge anders. Sie hatte einen Arzt erwähnt, also wusste doch jemand außerhalb des Schlosses, wo ich mich befand. Aber woher wusste ich, dass dieser Arzt nicht mit zum Komplott gehörte? Vielleicht durfte er meine verstümmelte Leiche aus dem Verlies fischen, nachdem die Baroness mit mir fertig war. Vielleicht war er gar kein richtiger Arzt. Und was war dieser bittere Geschmack in meinem Gelee? Ich konnte ein Käsemesser nehmen und mich verteidigen, aber ihre Augen ruhten ununterbrochen auf mir. »Kommt mein Vater mich bald holen?« »Möchtest du schon fort?« »Er wird sich Sorgen machen.« »Dein Vater weiß nicht, dass du hier bist.« Sie sagt es selbst! Sie gibt es zu! Ich sitze hier gefangen. O Gott, lass mich hier raus. Das kann doch nicht sein, nicht in diesem Jahrhundert, aber ja doch, man hört immerzu davon, Kinder verschwinden am laufenden Band. O bitte, lass es nicht wahr sein, wo bin ich hineingeraten, wieso ich, was habe ich dir getan, wieso musste ich auch dieser dummen Eule nachstellen! Es ist alles Rebeccas Schuld, es ist alles meine Schuld, lass mich hier raus, und ich mache es wieder gut, ich verspreche es, jeden Tag zur Kirche, na ja, nicht jeden Tag,
aber doch, ich werde brav sein und nicht mehr lügen, und ich weiß, dass ich dich schon um vieles gebeten habe, aber das darfst du alles streichen, ich muss nicht fliegen können, und ob meine Mutter wiederkommt, das sehen wir noch, aber ich will nicht sterben, nicht hier, nicht jetzt, ich bin noch so jung. »Er ist nicht zu Hause.« Lügen. Lügen. Glaubte sie wirklich, ich fiele darauf herein? »Robert ist gestern Abend noch zu eurem Haus gefahren, aber es war niemand da. Die Tür war nicht abgeschlossen. Und auf dem Küchentisch lag diese Nachricht.« Sie holte einen Briefumschlag aus ihrem Ärmel. Ich erkannte auf der Rückseite das Gekritzel meines Vaters. Arnoud, Notfall. Bin in die Stadt, vielleicht für ein paar Tage. (Wollte dich mitnehmen, aber wo steckst du die ganze Zeit?) Selber Schuld. Paula wird dir (mit saurer Miene) etwas zu Essen bringen. Ich rufe dich heute Abend an. Benimm dich. Kuss. Pa. Mit welchen Drohungen hatten sie meinen Vater so weit bekommen, dass er das schrieb? Ich sah ihn am Küchentisch sitzen, eine Pistole im Nacken und die Stirn voller Schweißperlen. Ich las es ein paarmal hintereinander, auf der Suche nach einer verborgenen Botschaft, die ich aber nicht fand. Es klang glaubwürdig. Und es war seine Handschrift.
Was wohl passiert war? Ein Notfall. Schlimm genug, um mich, seinen einzigen Sohn, in den Händen von Paula Lhermitte zurückzulassen. War etwas mit meiner Mutter? Er hatte gestern Abend wahrscheinlich hundert Mal angerufen. Und ich hatte nicht abgenommen. Was hatte er sich gedacht? Wie viel Sorgen machte er sich jetzt? »Haben Sie ein Telefon?« »Ja, natürlich.« Ich erwartete, dass sie mich durch ein Labyrinth von dunklen Zimmern führen würde, um irgendwo so ein unter einer Staubschicht begrabenes Bakelitungetüm hervorzuholen, doch sie schob mir ein Handy hin. Ich wählte unsere Nummer in der Stadt, hörte aber nur den Anrufbeantworter. »Pa, ich bin’s, Arnoud. Ich bin bei der Baroness. Ich hatte einen kleinen Unfall. Nichts Ernstes. Ich bin in guten Händen.« Ich schenkte der Baroness ein Lächeln, und sie lächelte mit ihren Wolfszähnen zurück. »Wenn ich noch nicht zu Hause bin, kannst du dann hier anrufen? Die Nummer ist…« Die Baroness gab mir eine Nummer. Die richtige, hoffte ich. »Du siehst«, sagte sie, als ich ihr das Telefon zurückgab, »du brauchst noch nicht nach Hause.« War das nicht praktisch für sie? »Aber ich kann doch nicht hier bleiben?« »Weshalb nicht? Zu Hause ist niemand, der sich um dich kümmert. Und dem Arzt zufolge musst du viel ruhen und dich möglichst wenig bewegen, und hier bist du mehr als willkommen.« Sie nahm meine Hand in ihre Hände.
»Ich glaube nicht an Zufälle, Arnoud. Ich glaube, dass alles einen Grund hat. Und es ist kein Zufall, dass ich diejenige bin, die dich gefunden hat. Ich glaube, es musste so sein.«
Jetzt, wo mein Vater wusste, wo ich steckte, war ich etwas beruhigt. Und das Leben in der Baronie erschien mir so schlecht noch nicht. Es gab Dienstmädchen, die ich kommandieren konnte, einen Mann, der mich überallhin trug. Gepflegte Mahlzeiten. Ein weiches Bett. Ein Prinzendasein. Und was erwartete mich zu Hause? Die schweigsamen Nachbarn, die leider nicht so schweigsame Paula und ihre Enkelin, die mir den Kopf waschen würde wegen der entflohenen Eule. Mein Kopf war noch nicht ganz in Ordnung, und mit dem stechenden Schmerz im Fuß konnte ich vorläufig nicht Rad fahren, sogar noch nicht einmal gehen. Ich verdiente es, einmal versorgt zu werden. Ich hatte mich genug abgerackert. Sollten sie nur kommen mit ihrem frisch gepressten Orangensaft und ihrem Mitleid. Und dann war da noch die Baroness. Die hatte meinen Großvater gekannt. Was sie mir wohl noch alles erzählen konnte? Ja, ich wollte hier ruhig noch eine Weile bleiben. Besser, als mutterseelenallein in meinem Bett zu liegen und an einem trockenen Brotkanten zu nagen. »Aber ich werde Ihnen zur Last fallen. Sie kennen mich ja gar nicht.« Wie erhofft tat sie meine Bemerkung mit einer Handbewegung ab. »Du fällst mir überhaupt nicht zur Last. Wenn du wüsstest, wie lange ich hierauf gewartet habe. Und wenn du glaubst, wir würden uns noch nicht gut kennen, nun, dann werden wir
daran schnell etwas ändern. Aber jetzt musst du dich ausruhen.« Ein Dienstmädchen kam herein und räumte den Tisch ab. »Mariette, würdest du Robert bitten, dass er Arnoud wieder nach oben trägt.« »Sehr wohl, Madame.« »Aber ich bin noch überhaupt nicht müde.« »Der Arzt hat gesagt, du sollst dich ausruhen. Und ruhen wirst du. Ich möchte nicht, dass dein Vater denkt, wir würden nicht gut für dich sorgen. Je mehr Ruhe du hast, desto schneller wirst du wieder gesund. Es ist schon schlimm genug, dass ich dich zum Frühstück herunterkommen lasse. Aber heute Mittag reden wir weiter.«
Robert deckte mich zu. »Schlaf gut, du Boxer«, sagte er und berührte mit der Faust mein Kinn. »Robert, du warst auf dem Begräbnis meiner Großmutter.« »Ja.« »Kanntest du sie gut?« »Ziemlich gut. Als ich noch jung war. Aber wie du siehst, ist das lange her.« Er seufzte. »Nur manchmal kommt es einem nicht so lange vor. Aber das sind Dinge von vor deiner Zeit. Alte Geschichten. Daran solltest du nicht denken. Schlaf lieber.« Er verließ das Zimmer, und da lag ich, in dem großen Bett, am helllichten Tag, in dem Schloss der bösen Hexe. Ich würde hier niemals schlafen können.
Es war schon Mittag vorbei, als Mariette mich weckte. »Die Baroness erwartet dich.« Noch halb benommen schlüpfte ich in meine Sachen, und kurz darauf trug mich Robert in den Garten. Es war ein großer Garten. Zwischen den Bäumen sah ich Ställe und Scheunen. Robert setzte mich an einen kleinen Gartentisch inmitten von Rosen. Er schob einen Sonnenschirm zwischen mich und die Sonne und ließ mich bei der Baroness zurück. Sie saß auch unter einem Sonnenschirm, in einem schwarzen Rock bis unter die Knie und einer schwarzen Bluse mit Diamantbrosche. Es war ein Salamander. Immer noch besser als ein Hakenkreuz. Sie trug einen Hut mit breitem Rand, der die obere Hälfte ihres Gesichts im Schatten ließ, sodass ich lediglich ihren roten Mund sah. Mir wurde schon warm, aber sie schien nicht einen Tropfen zu transpirieren. »Sieh mal, was für ein schöner Tag, Arnoud. Fast die Mühe wert, dafür am Leben zu bleiben.« Der Himmel war wolkenlos blau. Die Rosen waren voller Schmetterlinge und dufteten fast ebenso gut wie die Schokoladenkekse, die in der Sonne schwitzten. »Es sind Tage wie diese, die mir durch die Nächte helfen.« Ich leckte die Schokolade von den Fingern und nickte. »Es sind Tage wie diese, die mich wieder jung machen, die mich mitnehmen zu den Sommertagen von früher, sodass ich einen Moment lang diesen alten Körper vergesse. Ein gutes Gedächtnis ist die einzige Chance auf eine ewige Jugend. Ein Duft, ein Gesicht…«, ihr Blick wechselte von den Rosen zu mir, »und plötzlich schwenkt eine Tür auf, und du betrittst die Vergangenheit. Schau dich gut um, Arnoud. Das hier sind die Schätze, von denen du später zehren musst. Stopf dir den Kopf voll mit Erinnerungen, möchte ich sagen, aber so funktioniert
es natürlich nicht. Du kannst dir leider nicht aussuchen, was du mitnimmst. Wichtige Momente entgleiten dir, und die trivialen Dinge schleppst du siebzig Jahre mit dir herum. Ich sehe immer noch die Warze auf dem Kinn meiner Gouvernante, während die Länder Afrikas, die sie mir mit so viel Mühe eingebläut hat, längst aus meinem Hirn entschwunden sind. Es ist nicht immer Unsinn, der hängen bleibt. Manchmal sind es Kälte und Düsterkeit und einsame Nächte, Bruchstücke einer Vergangenheit, die ich nur an Tagen wie diesem ertrage. Warme Sommertage… Weißt du, dass ich deinen Großvater ermordet habe?« Ich verschluckte mich an einem Krümel. »Natürlich nicht mit meinen eigenen Händen. Und doch. Er ist durch meine Schuld gestorben, durch meine Schuld. Durch meine große Schuld. Und deshalb bist du hier, Arnoud.« Wollte sie auch den Enkelsohn einen Kopf kürzer machen? War das hier mein letzter Schokokeks? »Um mir Vergebung zu schenken. Damit ich ruhig sterben kann. Ich habe so viel getan, um Vergebung zu finden, so viel gebüßt, so viel Wut auf mich genommen, so viel zurückbezahlt. Aber nichts ist genug. Nichts kann ihn zufrieden stellen. Er kommt einfach immer wieder. Ich spüre seine Augen noch immer im Dunkeln. Er verfolgt mich noch immer.« Ihre Hand schob sich hoch zum Hals. Der Salamander kroch mit. »Vielleicht geht er weg, wenn du mir vergibst, Arnoud. Vielleicht genügt das. Es kann nicht anders sein. Weshalb sonst bist du hier? Weshalb habe ich dich gefunden und kein anderer?« Sie stieß einen Seufzer aus. »Armer Junge. Du weißt nicht, wovon ich rede. Und ich sollte dir auch nicht zur Last fallen mit meinem
Altweibergeschwätz. Ich sollte die Vergangenheit besser ruhen lassen.« »Nein!« Ich verstand kaum die Hälfte von dem, was sie da faselte, aber ich verstand wohl, dass sie meinen Großvater gut gekannt hatte. Und dass sie darauf brannte, die Vergangenheit wieder aufzurühren. »Nein, Clara, ich will es wissen.« Sie biss sich auf die Lippen, als ich ihren Namen aussprach, und strich danach ihren Rock glatt.
Die Baroness erzählt. Und erzählt. Und erzählt
»Ich weiß nicht recht, wo ich anfangen soll. Es ist so lange her. Und es gibt so viel zu erzählen, denn ich möchte, dass du es verstehst. Siehst du das Gebäude dort?« Ich folgte den Ringen. »Das ist das Kutschhaus. Dort ist dein Großvater aufgewachsen. Als ich ein kleines Mädchen war, vor hunderttausend Jahren, lebten wir noch in einer Pferdewelt. Hier auf dem Schloss standen die Ställe voll. Es gab Pferde für die Jagd, Pferde für die Kutschen, Pferde für den Pflug. Cesar de Vriendt, Arnouds Vater und dein Urgroßvater, war der Stallmeister. Er wusste alles über Pferde. Aber er war auch vernarrt in alles, was mit Mechanik zu tun hatte. Das war sein Glück, denn die Zeit der Pferde ging ihrem Ende zu. Das 19. Jahrhundert wurde das Jahrhundert des Automobils. Und mein Vater war ein ebensolcher Autonarr und somit oft im Kutschhaus anzutreffen, und ich kleines Mädchen schlich manchmal mit ihm mit. Es war wärmer dort als in unserem Haus. Und damit meine ich nicht nur die Raumtemperatur. Deine Urgroßmutter war eine warmherzige Frau, die immer etwas kochte oder wusch und mich nie wegschickte, wenn ich ihr auf die Finger schaute, sondern mich manchmal in ihre Arbeit einbezog. Du weißt nicht, wie viel Befriedigung es dir verschafft, wenn du ein Hemd auf einem Waschbrett ganz und gar sauber geschrubbt hast. Es ist schwere Arbeit, aber du siehst wenigstens, was du getan hast. Und das konnte man von meinen Erdkunde- oder Klavierstunden nicht behaupten. Wahrscheinlich, weil ich es darin auch nicht weit brachte. Und
es war nicht nur deine Urgroßmutter, die mich ins Kutschhaus lockte.« »Hör mich einer an«, meinte sie lachend. »Deine Urgroßmutter. Was denkst du jetzt: Wovon redet die nur? Am Ende erzählt sie mir noch, wie sie mit Napoleon getanzt oder bei Kaiser Nero auf dem Schoß gesessen hat. Es würde mich selbst nicht wundern, so alt fühle ich mich. Meine Jugend war eine andere Welt. Selbst hier auf dem Schloss, wo sich so gut wie nichts geändert hat, komme ich mir vor wie die einzige Überlebende eines untergegangenen Landes. Ich werde dir nie ganz erklären können, wie es war. Nun gut. Ein Teil der Anziehungskraft des Kutschhauses lag in den Kindern. Denn die gab es auf dem Schloss nicht. Kannst du dir das vorstellen? Ich als kleines Mädchen, allein zwischen dem ganzen Personal. Ich war ein Mäuschen inmitten eines Pferderennens. All die großen Wesen gingen über mich hinweg, und ich musste zwischen ihren Beinen hindurchschlüpfen. Ab und zu kam mal jemand zum Spielen. Ich wurde dann zusammen mit einem anderen Mädchen ins Spielzimmer gesetzt, während sich unsere Gouvernanten beim Tee die schlechten Seiten ihrer jeweiligen Herrschaften aufzählten. Von uns wurde erwartet, dass wir in der Nähe blieben und nicht riefen, rannten oder lachten. Vergnüglich war das nicht. Also schlich ich, sooft ich konnte, zum Kutschhaus. Dein Großvater und sein Bruder Robert waren nur ein paar Jahre älter als ich. Und Jungs. Es war das Paradies.« Sie lachte wieder. »Ich hatte damals zwei Zöpfe, auf die ich sehr stolz war. Es waren auch lange Zöpfe. Und dein Großvater, der es wahrscheinlich leid war, mich wie einen Schatten hinter sich her zu schleppen, fragte mich eines Tages, ob ich Lust hätte, Indianer zu spielen. Ich dummes Gör freute mich so, dass er mit mir spielen wollte. Hätte er mich gefragt, ob ich mit ihm
zum Nordpol wollte, dann hätte ich auch genickt. Er erzählte mir, dass ein guter Indianer nie klagt, sondern ohne einen Mucks die schlimmsten Schmerzen erträgt. Ich biss mir schon auf die Lippen, dachte, er würde mich zwicken oder kitzeln, doch er band mich mit meinen Zöpfen an einen Baum und ließ mich dort stehen. Nach einer Weile wollte ich um Hilfe rufen, aber so etwas tat ein echter Indianer nicht. Ich habe da einen ganzen Nachmittag lang gestanden. Zum Glück kam sein Bruder irgendwann vorbei. Als er zu Ende gelacht hatte, band er mich los, gegen meinen Willen. Ich wollte nicht erlöst werden. Ich wollte hier festgebunden bleiben, bis Arnoud mich erlöste. Er sollte wissen, dass ich nicht gerufen, nicht geweint hatte. Aber dann stünde ich jetzt noch da. Ich kam mit beiden Brüdern gut zurecht. Und Robert konnte am besten küssen. Aber es hat nie einen Zweifel gegeben, für wen mein Herz schlug. Robert war ein besserer Dieb, merkte ich, als ich mithalf, die Eier unter den Hühnern meines Vaters wegzustehlen. Aber Arnoud konnte am weitesten damit werfen und traf auch genau das, was er wollte. Robert schlug sich mit den Jungs aus dem Dorf und gewann auch meistens gegen sie. Aber Arnoud brauchte sich erst gar nicht zu schlagen. Vor ihm hatten sie Respekt, ohne dass er überhaupt eine Faust ausstreckte. Es war Arnoud, der alles über Autos wusste, noch mehr als sein Vater. Es war Arnoud, dem mein Vater erlaubte, bei der Jagd mit dabei zu sein. Und als ich die Geschichte von dem Stalljungen las, der nach allerlei Prüfungen die Prinzessin heiratete und König des Reiches wurde, da sah ich Arnoud vor mir. Und ich war natürlich die Prinzessin.« Ich betrachtete sie, sah unter diesem Hut nur ihren Mund, der sich zu einem Lächeln verzog. Sie wusste, was ich dachte.
Diese alte, runzlige Frau eine Prinzessin… Nun ja, sagte das Lächeln, auch ich war einmal jung. »Weshalb erzähle ich das? Ist es wichtig? Aber du sollst wissen, wer genau dein Großvater war. Du ähnelst ihm so sehr. Vom Äußeren her zumindest. Aber ich hoffe für dich, du gleichst ihm nicht von innen. Ich glaube, im Innern war er ganz aus Eisen.«
Stand nicht ungefähr dasselbe in dem Brief meiner Großmutter? Ihr war es auch wichtig gewesen, dass ich wusste, wer mein Großvater gewesen war. Aber je mehr ich über diesen Mann erzählen hörte, desto weniger wusste ich. Ich dachte an das Bild auf dem Dachboden, den Mann mit den geschlossenen Augen, den Jungen, der unter dem Eis geschwommen war, der mit einem Messer auf einen deutschen General losging. Der Mann aus Eisen. Ich konnte noch nicht wieder klar denken und nahm noch einen Schokokeks.
»Er traute sich auf die wildesten Pferde. Und Auto fuhr er schon als Kind. Manchmal widersprach er meinem Vater, und das wagte sonst niemand. Einmal schoss er einen Wilderer nieder, der schon ein paar Monate durch die Wälder der Baronie gestreift war. Der Mann musste drei Monate lang das Bett hüten. Arnoud war damals erst elf. Und er war schlau, dein Großvater. Er wusste nicht nur alles über Pferde und Motoren, er kannte auch die Hauptstädte der Länder, die ich zur Verzweiflung meiner Gouvernante immer wieder vergaß. Er studierte jede Zeitung, die mein Vater am Tag zuvor durchgeblättert hatte. Er war gut in der Schule. Er hatte nicht vor, Stallmeister zu werden wie sein Vater und der Vater
seines Vaters. Er hatte Ambitionen. Und ich hatte lediglich Gefühle. Als wir älter wurden, konnte ich weniger oft ins Kutschhaus. Das geziemte sich für eine junge Dame nicht. Wir trafen uns heimlich. Wir kletterten dann in einen Baum, schauten über die Felder und sahen den Bauern beim Pflügen zu. Und er erzählte mir von seinen Träumen. Er wollte die Welt sehen. Er wollte mehr als Deemstervelde. Ich wollte nur eine einzige Sache.« Sie betrachtete die weißen Hände in ihrem Schoß. »Es ist mehr als sechzig Jahre her. Weshalb empfinde ich es dann immer noch so stark? Es ist ungerecht. Ich wusste, was ich wollte, sollte es aber nie bekommen. Ich war die Tochter eines Barons. Ich hatte Verpflichtungen. Man erwartete mehr von mir als ein paar Töne auf dem Klavier und dazu einige Hauptstädte. Ich sollte mir mein Dasein verdienen. Man hatte mich sorgfältig für den Heiratsmarkt herangezogen, und es wurde Zeit, dass ich einen guten Bieter fand. Dieses ganze Herumstreunen auf dem Landgut und dieser Umgang mit den Bediensteten behagten meiner Mutter nicht. Sie machte kurzen Prozess mit meinen Träumen und zog mit mir nach Brüssel, wo das beste Material quasi auf der Straße lag. In dieser Zeit quoll die Stadt über von Steinkohle-, Stahl- und Textilbaronen und deren heiratsfähigen Söhnen. Es gab nur zwei Probleme. Die Söhne waren nicht an mir interessiert und ich nicht an ihnen. Ich war nicht mädchenhaft genug, denke ich. Und ich kann es jetzt wohl sagen, nach all den Jahren: Ich war nicht hübsch genug. Ich war nicht viel dicker als heute, und in jenen Tagen durfte ein Mädchen ruhig etwas rundlicher sein, hier« – sie deutete auf den Salamander – »und an den Hüften. Aber wie sehr mich meine Mutter auch in Korsetts zwang und wie eine Wurst einschnürte, sie bissen nicht an. Und meine Haltung war wenig hilfreich. Die Männer hatten
zwar Geld oder benahmen sich zumindest so, als hätten sie welches, aber konnten sie ein Pferd von seinen Koliken befreien, eine Gangschaltung reparieren oder in weniger als einer Viertelstunde vom Kirchplatz zum Schloss laufen? Ihre Welt vermochte mich nicht lange zu fesseln, und als meine Mutter sah, dass ich mir keine Mühe gab, kehrten wir nach Deemstervelde zurück. Sie dachte, nach dem rauschenden Brüssel würde ich die Öde des Landguts nicht lange ertragen und mich entsprechend bessern. Ich musste mich zwicken, um nicht laut loszujubeln. Zurück nach Deemstervelde, das war alles, was ich wollte. Aber als ich nach Hause kam, war Arnoud verschwunden. Er wohnte jetzt in der Stadt und hatte dort ein Ingenieurstudium aufgenommen. Meine Enttäuschung schlug in Hoffnung um, als ich hörte, dass mein Vater einen Teil der Studienkosten bezahlte. Er war nicht freigebig mit Geld. Wenn er Arnoud unterstützte, dann deshalb, weil er etwas mit ihm vorhatte. Ich brauchte lediglich meine wenigen Anbeter zu entmutigen, bis Arnoud sein Diplom hatte, und die Lösung würde sich meinen Eltern ganz von allein anbieten. Ich war so naiv.« Sie seufzte und pflückte eine Rose vom Strauch. Ich folgte ihren knochigen Fingern, die über die Blätter glitten und um das Herz der Rose kreisten. »Meine Eltern beschlossen, ihre dickköpfige Tochter nach Deutschland zu schicken. Sie hatten dort Freunde. Es war eine Kombination aus Strafe und Markterweiterung. Man gab mir zu verstehen, dass ich besser nicht mit leeren Händen zurückkam. Ich bettelte und flehte. Wieso konnten sie mich nicht einfach hier im Schloss bleiben lassen? War es denn so schlimm, nicht zu heiraten und eine alte Jungfer zu werden? Ich würde immer bei ihnen bleiben. Sie im Alter versorgen. Aber alles Flehen half nichts, und ich wurde nach Berlin geschickt. Es war 1937. Deutschland bereitete sich auf den
Krieg vor. Sogar ich konnte das spüren, ich, die doch so wenig von Politik wusste. Die Feste und Bälle waren wilder als in Brüssel. Dieses Land schäumte vor Energie. Dieses Land ging irgendwohin. Diese Leute hatten ein Ziel. Ich wusste nicht, was das Ziel war, aber ihre Leidenschaftlichkeit steckte auch mich an. Bis ich die andere Seite sah: die öffentlichen Demütigungen, die Bücherverbrennungen, die aufhetzenden Reden, die Gewalt auf der Straße. Ich brauche es dir nicht zu erzählen; du weißt, was sie taten. Und alle wussten es. Auch damals schon. Dinge geschahen, die nicht sein durften, schreckliche Dinge. Aber das wog nichts gegen den Rausch und die glorreiche Zukunft, der dieses Land entgegenging. Auf dem deutschen Heiratsmarkt hatte ich auch keinen Erfolg. Was hatten sie denn erwartet? Ich sprach mit Mühe ein paar Worte Deutsch, und die Baroness von Deemstervelde war in Berlin ein noch kleinerer Fisch als in Brüssel. In Deutschland stolperte man nur so über die Baronessen. Und hatte man in Brüssel eine Mode, so hatte man hier ein Ideal. Hier wusste man, wie eine Frau auszusehen hatte: blond und breit. Und ich war keins von beidem. Also hasste ich die Deutschen. Ich hasste ihre Selbstsicherheit. Ich hasste ihre Aufzüge und Paraden. Ich hasste ihren Führer. Ich war froh, als meine Eltern einsahen, dass es mit mir dort in Berlin nichts wurde, und ich zurück durfte. Aber zu Hause war es nicht viel besser. Meine Eltern waren dem Deutschlandfieber verfallen. Eine Zeit lang konnte ich nichts Falsches tun, denn ich hatte ein Jahr in dem von ihnen vergötterten Land gelebt. Ich musste ihnen alles erzählen. Bis ich von der Gewalt und der Zensur anfing. Davon wollten sie nichts hören. Und die Juden, hatten die es nicht verdient? Ich schwieg, hatte keine Lust, jeden Tag im Streit zu leben. Hatte, kurz gesagt, nicht viel Lust, überhaupt zu leben.
Manchmal ging ich noch zum Kutschhaus, aber die Wärme hatte sich verflüchtigt. Arnoud war in der Großstadt, sein Vater hatte Lungenprobleme, und Robert, der einen Teil seiner Aufgaben übernommen hatte, war in letzter Zeit häufig im Dorf zu finden. Man sagte, er habe dort ein Mädchen, eine gewisse Irma. Und inzwischen annektierte Deutschland das Sudetenland, danach kam der ›Anschluss‹ Österreichs. Und jedes Mal wurde auf dem Schloss gefeiert. Mich stellte man dabei jungen Männern vor, die ihre Höflichkeitsfloskeln herunterbeteten, um möglichst schnell mit meinem Vater reden zu können, und mich am Fenster zurückließen, in dem sich der Mond langsam über die Bäume erhob. Alle waren davon überzeugt, dass große Dinge bevorstanden. Dass wir uns am Vorabend einer neuen Welt befanden. Auch ich wartete. Und endlich kam der große Tag, der Tag, an dem Arnoud sein Studium abschloss. Das ganze Dorf fieberte mit ihm. Ob er es schaffte? In diesen Tagen wohnte ich fast im Kutschhaus. Seine Mutter und ich steckten uns gegenseitig an mit unserer Angst, unserer Hoffnung. So vieles hing für ihn und für sie davon ab. Und für mich. Dann kam das Telegramm. Das erste Telegramm, das jemals im Kutschhaus eintraf. Schon das war fast ebenso unglaublich wie sein Inhalt: Arnoud hatte bestanden. Wie hatten wir je daran zweifeln können? Alles, was er anfing, brachte er zu einem guten Ende. Alles, was er wollte, bekam er.« Sie roch an der Rose. Aber er bekam nicht alles, was er wollte. Im Dorf wurde gefeiert, als er zurückkam, und im Schloss wurde er mit ganz großen Paukenschlägen empfangen. Der Baron hätte sich auch für den eigenen Sohn nicht mehr ins Zeug legen können. Aber er hatte keinen Sohn. Noch nicht. Ich war leicht hysterisch in jenen Tagen. Meine Wangen hatten etwas Farbe, und ich war
fast schön, wie ich eines der Dienstmädchen sagen hörte. Es waren die schönsten Tage meines Lebens. Und das Fest hatte alles, was ein Fest haben musste. Das Essen war gut, Getränke gab es im Überfluss, und die Gäste, zum großen Teil Freunde und Bekannte Arnouds, wurden, nachdem sie ihre anfängliche Schüchternheit abgelegt hatten, mit ihren Lobesbezeigungen immer lauter. Mein Vater war zufrieden. Arnoud hatte ihn nicht enttäuscht. Und als ich beide im Büro meines Vaters verschwinden sah, wusste ich, dass dort über mein Leben entschieden wurde. Ich versuchte zu beten, aber mir fiel kein einziger Heiliger ein. Ich konnte nicht mehr denken. Leute sprachen mit mir und lächelten, aber ihre Worte flogen an mir vorbei. Mein Blick wich nicht von der Tür, und das Herz schlug mir bis zum Hals. Es dauerte nicht lang, und doch kam es mir vor wie eine Stunde. Ich hörte die Stimmen, noch bevor die anderen Gäste etwas merkten. Und es war klar, dass die Unterredung nicht gut verlief. Ich hörte meinen Vater, sein Toben übertönte den Festlärm. ›Ist das der Dank?‹ Die Gespräche verstummten. Die Bürotür flog auf, und Arnoud stand im Salon. Er war leichenblass. Seine Mutter stieß einen Schrei aus, aber er schaute nicht hoch, ging durch die Terrassentür in den Garten und verschwand. ›Das Fest ist vorbei!‹, rief mein Vater wütend. Und das Fest war vorbei. Im Dorf wurde wochenlang von nichts anderem geredet. Manche behaupteten, Arnoud habe den Baron um ein großes Darlehen gebeten, um sich in eine Firma einzukaufen oder um in den Kongo zu gehen und dort eine Mine zu betreiben. Andere flüsterten, man habe von meiner Hochzeit gesprochen. Aber dem Dorf zufolge hatte nicht Arnoud um meine Hand angehalten, zur großen Wut meines Vaters. Es sei mein Vater gewesen, der mich
gewissermaßen im Gegenzug für das gezahlte Studiengeld an ihn loswerden wollte. Es war eine unglaubliche Geschichte, der man nur zu gern Glauben schenkte. Und Arnoud selbst schwieg. Letztlich stand nur eines fest, nämlich dass er nicht mehr willkommen war; nicht im Schloss und nicht im Kutschhaus. Aus dem vielversprechenden war der verlorene Sohn geworden. Er hatte dem Baron Schande bereitet, ihm seine Güte mit Undank gelohnt. Er hatte zu hoch hinausgewollt und war abgestürzt. Ich dachte, ich würde ihn nie Wiedersehen. Er hatte jetzt keinen Grund mehr, sich länger in Deemstervelde herumzutreiben. Er konnte oder durfte seine Eltern nicht mehr im Kutschhaus besuchen. Das war der Moment, um hinaus in die weite Welt zu ziehen. Mit seinem Diplom konnte er überall anfangen. Doch er blieb. Er wurde, zur großen Entrüstung meines Vaters, Schulmeister im Dorf. Mein Vater versuchte, ihn wegzubekommen, aber politisch lagen die Karten nicht so gut. Papas Partei war zu diesem Zeitpunkt nicht an der Regierung, und Arnoud hatte während seines Studiums ebenfalls mächtige Freunde gewonnen. Und er blieb. Nicht, dass mich das sehr viel weitergebracht hätte. Ich hatte Hausarrest. Und auf dem Schloss hörte auch das Feiern auf. Die politische Lage wurde zu grimmig. Und Arnouds Vater wurde krank. Ich schlich manchmal zum Kutschhaus. Es war die einzige Möglichkeit, etwas von Arnoud zu hören. Es ging ihm gut. Er war trotz oder vielleicht auch gerade wegen der Tatsache, dass er beim Baron in Ungnade gefallen war, nach wie vor beliebt. Man nahm ihm sein Diplom nicht übel, und die Stadt hatte ihn offenbar kaum verändert. Die Dorfbewohner hatten ihm ihre Kinder anvertraut. An einem kalten Frühlingstag saßen wir im Kutschhaus, als ich einen vertrauten Schritt vernahm. Arnoud hatte gehört, dass sein Vater nicht mehr lange zu leben hatte, und kehrte zum
Elternhaus zurück. Das Verbot des Barons konnte ihn nicht daran hindern. Aber Robert schon. Der wollte keine Schwierigkeiten. Seine Mutter und ich schlichen zum Fenster und sahen, wie sich die Brüder gegenüberstanden. Sie fasste meine Hand. Sie wollte nach draußen, ihren Sohn umarmen, ihn ins Haus und zu seinem Vater zerren. Aber sie wagte es nicht. Wir hörten die Brüder streiten. »Du kommst nicht ins Haus, Arnoud. Wenn du nur einen Fuß hineinsetzt, müssen wir ausziehen, und Vater ist zu schwach für einen Umzug.« »Lass mich hinein, Bruder.« Aber Robert versperrte die Tür. »Du machst nichts als Probleme, Arnoud. Denk doch ein einziges Mal nicht nur an dich!« Arnouds Faust schoss vor, und Robert stürzte zu Boden. Ihre Mutter schrie, lief nach draußen und kniete bei ihrem Sohn. Ich folgte. Arnoud wollte hereinkommen, aber ich stand in der Türöffnung. Seine Mutter zog ihn an der Hose, weinte und schrie. Ihr Mann lag sterbend im Wohnzimmer, und ihre Söhne prügelten sich vor ihren Augen. Arnoud riss sich los und zeigte auf seinen Bruder, der noch am Boden lag. ›Du…‹, sagte er. Er warf noch einen kurzen Blick auf mich, drehte sich um und ging. Ich half Robert auf, und wir gingen zusammen ins Haus. Zwei Tage später starb sein Vater. Zwei Monate später brach der Krieg aus. »Madame.« Ich erschrak. Mariette stand mit einem Tablett mit Brötchen im Garten. »Darf ich Ihnen noch etwas Tee bringen?« »Nein danke.« Die Baroness sah mich unter ihrem Hut hervor an. »Ich habe Arnoud genug gelangweilt. Bitte Robert, dass er ihn wieder ins Bett trägt.« »Nein!«
»Nein?« Ich sah es schon vor mir: Mein Vater würde heute Abend kommen und mich holen. Ich würde die ersten Tage nicht mehr zur Baronie kommen können, und diese alte Frau oder ihr Gedächtnis würden inzwischen den Geist aufgeben. Und ich würde nie erfahren, was mit meinem Großvater geschehen war. »Du kannst gehen, Mariette.« »Madame.« Mariette verschwand. »Geht es, Arnoud? Bist du nicht zu müde?« Doch. Die Hitze machte mir zu schaffen. Es kostete mich manchmal Mühe, ihrer Erzählung zu folgen. Aber die Brötchen halfen.
»Der Krieg brach aus. Meine Eltern standen nicht wirklich hinter dem Einmarsch in Belgien. Aber sie waren davon überzeugt, dass die Schönheitsfehler im Lauf der Besatzung ausgebügelt würden und dass es letztlich allen zugute käme. Die deutschen Militärs hatten sich zuvorkommend verhalten. Die Deutschen waren höflich, gebildet und diszipliniert. Wir konnten noch eine Menge von ihnen lernen. Es war keine Katastrophe, Teil des großdeutschen Reichs zu sein. Die Gastfreundschaft im Schloss sprach sich schnell herum, und für meine Eltern war das keine schlechte Sache. Das Einvernehmen mit dem Dorf dagegen schwand von Tag zu Tag. Und ich, die ihre Begeisterung für die Deutschen nicht teilte, wurde ihr größter Trumpf. Hatte ich während meines Aufenthalts die Sprache Goethes und Wagners nicht fließend sprechen gelernt? Kannte ich nicht das Künstlerleben in Berlin? War ich nicht ein heiratsfähiges ›Fräulein‹? Zum Glück hatte ich in Brüssel nicht allzu schnell angebissen, fand
meine Mutter plötzlich. Denn jetzt war ich frei. Jetzt war ich frei. Ich ertappte mich bei fürchterlichen Gedanken, Fantasien, für die ich mich schämte. Ich hoffte den Tod meiner Eltern herbei. Ich bat Gott um Vergebung für solche Gedanken, aber sie kamen immer wieder. Sie brauchten gar nicht zu sterben, sie mussten einfach nur verschwinden. Aber das war zu viel verlangt. Sie blieben am Leben. Ich blieb am Leben. Bis ich die Neuigkeit hörte. Arnoud de Vriendt würde heiraten. Und Irma Meert war die Glückliche. Irma Meert! Das musste ein Irrtum sein. Das Dienstmädchen, das mir die Sache etwas zu begierig erzählt hatte, musste es falsch aufgeschnappt haben. Irma Meert war die Liebste von Robert de Vriendt, seinem Bruder. Ich ging zum Kutschhaus, wollte von Robert selbst hören, dass es Unsinn war. Denn das hier war glasklarer Unsinn. Weshalb pochte mein Herz dann so? Im Kutschhaus war niemand, aber ich hörte Axthiebe ein Stück weiter im Wald. Ich folgte dem Lärm und sah Robert, der eine tote Eiche in Stücke zerhackte. Sein Hemd hing an einem Zweig, und sein entblößter Oberkörper troff vor Schweiß. Die nackte Haut, das weiße Fleisch und die Raserei, mit der er auf den Baum einschlug, verrieten mir genug. Ich wollte mich umdrehen, aber dann sah er mich. Kein Gruß, kein Lächeln. Er schlug seine Axt so fest in das Holz, dass sie zersplitterte. Ich lief fort. Mein Herz im Wald schlug lauter als die Axthiebe. Es stimmte also. Das Dorf hatte noch nicht allen Geschmack aus der Affäre mit dem Baron gesogen, da warf Arnoud ihm schon wieder einen fetten Knochen hin. Er hatte seinem Bruder die Liebste ausgespannt. Sie verübelten es ihm noch nicht einmal. Obwohl Robert ihnen Leid tat. Aber so war es nun einmal in der Welt.
Der Stärkere nahm sich, was ihm beliebte. Und die Frau, die so mir nichts, dir nichts von einem Bruder zum anderen turteln konnte, wurde nicht als die Hure angesehen, die sie war. Man fand, sie habe die richtige Entscheidung getroffen. Arnoud würde es weiter bringen!« Sie sprach über meine Großmutter. Über die Mutter meines Vaters. Ich hätte aufspringen und meine Familie verteidigen müssen. Doch es war so heiß. Und ich wollte das Ende hören. Falls ihre Geschichte überhaupt ein Ende hatte. »Die Meerts waren die Metzger im Dorf. Sie hatten Geld, wie alle Metzger. Das hieß, Irma hatte Geld. War das der Trumpf? Oder tat er es nur, um seinen Bruder zu demütigen? War es Rache? Würde er aus Rache sein Leben wegwerfen? Ich wollte ihn sprechen, aus seinem eigenen Mund hören, dass er diese… Irma leiden mochte, dass sie die Frau war, mit der er sein Leben teilen wollte. Aber wie sollte ich das anstellen? Er kam nicht mehr zum Schloss, und ich konnte nicht einfach so ins Dorf spazieren. Ich würde Dreckklumpen oder Mist oder Schlimmeres an den Kopf bekommen. Für das Dorf war ich eine Hure der Deutschen. War es das? Glaubte er wirklich, ich würde mich von den deutschen Offizieren befingern lassen, die manchmal im Schloss übernachteten? Wer wusste, was man im Dorf über mich erzählte? Oder war er es leid, zu warten und auf etwas zu hoffen, woraus nichts werden konnte? Er war ein Mann. Das Leben ging weiter. Er war keine Frau. Er war es nicht gewohnt zu warten.« Blatt für Blatt riss sie die Rose in Stücke. »Die Verlobung dauerte sechs Monate. Arnoud hätte die Heirat eher gewollt, fand es aber unschicklich, so schnell nach dem Tod seines Vaters ein Fest zu geben. Und in den sechs
Monaten hörte ich mehr an Neuigkeiten, als mir lieb war. Irma Meert war nicht einfach nur eine Metzgerstocher mit rotem Gesicht, nein. Sie hatte Talente. Sie wollte in die Stadt, auf die Akademie. Anscheinend konnte sie zeichnen und malen. Von wem sie das wohl hatte? Nicht von ihrem dicken Vater, der nur dann einen Bleistift in seine massigen Wurstfinger nahm, wenn es etwas zusammenzurechnen gab. Nicht von ihrer Mutter, die mit Mühe ihren Namen schreiben konnte. Jetzt hätte sie noch zu viel im Geschäft zu tun, aber einmal verheiratet, würde sie studieren. Arnoud bestand darauf. Natürlich hatte er diese wundersamen Talente bei seiner Verlobten entdeckt. Arnoud würde doch nicht einfach eine Metzgerstocher heiraten. Nein, er heiratete die neue Rubens, die neue Bruegel. Im Schloss war man natürlich nicht auf der Höhe. Arnoud de Vriendt existierte nicht mehr und konnte somit auch nicht heiraten. Als Robert ins Schloss kam, um sich für die Hochzeitsfeier einen freien Tag zu erbitten, war er so klug, sich irgendeine Entschuldigung auszudenken. Mein Vater hätte ihn sonst niemals gehen lassen. Aber ich hielt ihn in einem der Flure zurück. Ich verstand ihn nicht. War er denn zur Hochzeit eingeladen? Und würde er hingehen? Aber sie hatten ihren Streit beigelegt. Er sei eingeladen. Sie seien schließlich Brüder. ›Aber, aber… Irma?‹ Ich solle nicht alles glauben, was man erzählte, meinte er. Er und Irma seien nicht füreinander geschaffen. Sie hätten unterschiedliche Wünsche, unterschiedliche Träume. Ich dachte an die Axt im Wald. Den Schweiß. Die Wut. Seinen nackten Körper. Wie konnte er sich so schnell in alles fügen? Und Arnoud? War der glücklich? Robert legte seine Hand auf meine Schulter. ›Sehr glücklich, Clara.‹
Mein Vater kam auf den Flur, und Robert zog seine Hand zurück. Ich ging auf mein Zimmer und saß vor dem Fenster, wie ich es alle Tage tat, all diese geradewegs aus der Hölle kommenden Frühlingstage, und schaute zu den Bäumen. Dahinter lag Deemstervelde. Dort lief und lachte mein Herz, mein Leben. Und ich saß hier, eine leere Muschel. Und wie jeden Tag schmiedete ich wilde Pläne. Ich würde davonlaufen. Aber wohin konnte ich denn gehen? Es war Krieg. Überall suchten Leute Arbeit und etwas zu Essen. Wovon sollte ich leben? Von Klavierstunden? Wo würde ich Eltern finden, die so taub waren, dass sie mir ihre Kinder anvertrauten? Ich würde arm und unglücklich sein. Jetzt war ich reich und unglücklich. Und das war doch ein Unterschied, wie klein auch immer. Ich bräuchte ja auch nicht fortzulaufen. Ich könnte während der Hochzeitsmesse auftauchen. Ich würde die Kirche betreten, und die Flammen meiner Liebe würden jeden Widerstand versengen. Er würde seine Metzgerstocher stehen lassen, dort vor dem Altar, und mich in seine Arme schließen und mir vor dem ganzen Dorf seine Liebe gestehen. Unsinn. Aber ich musste etwas tun. Ich mochte ihn noch so krampfhaft festhalten, aber mit jedem Tag zerrann mir mein Traum ein Stück mehr zwischen den Fingern. Ich schrieb ihm einen Brief. Ich erröte noch immer, nach all den Jahren. Was ich da alles hineingeschrieben habe. Es wäre auch in einem Satz zu sagen gewesen. Aber es wurde ein langer Brief. Ich schrieb die ganze Nacht hindurch. Es fühlte sich nicht an, als ob ich selbst schrieb. Die Feder bewegte sich wie von allein, die Blätter füllten sich wie im Traum. Als es Tag wurde, raffte ich die Papiere zusammen, steckte sie in einen Umschlag und kroch aus dem Fenster. Ich traute der Post nicht. Ich wollte den Brief selbst unter seiner Tür hindurchschieben. Ich wusste, wo er wohnte. Natürlich wusste ich, wo er wohnte.
Ich war noch nie zuvor so früh durch die Felder gegangen. Der Tau zu meinen Füßen funkelte und machte meine Röcke nass. Ich wäre am liebsten immerzu weitergewandert, nie angekommen, nie zurückgekehrt. Aber hier und da war schon ein Bauer auf, und die Zeit drängte. Und dann stand ich vor seiner Tür. Ich hatte gehofft, befürchtet, er würde sie öffnen. Gehofft, er würde spüren, dass ich davor stand. Mein wild hämmerndes Herz würde ihn wecken. Ich schob den Brief hinein, legte das Ohr an das Holz und hörte nichts. Was hatte ich denn erwartet? Jetzt, wo ich hier stand im Licht des aufkommenden Tages, begriff ich, wie dumm ich war. Der Brief würde nichts ändern. Ich war immer noch die Tochter des Barons. Aber der Brief lag auf der anderen Seite der Tür. Er ließ sich nicht mehr herausfischen. Die Sonne ging rot auf, als ich zum Schloss zurückging. Es würde ein schöner Tag werden. Ich wartete und wartete. Was sonst konnte ich tun? Aber ich hörte nichts von ihm. Es war, als hätte ich den Brief bis zum Rand der Welt geworfen, hinein in die kalte Dunkelheit. Und am Tag der Hochzeit gab ich es auf.« Sie hatte jetzt alle Blätter von der Rose gepflückt. Ihre Finger umklammerten den Stängel. Ein Dorn stach sie blutig, aber sie schien es nicht zu spüren. »Gab ich ihn an diesem Tag wirklich auf, Arnoud? Dann hatte ich die Leere in meinem Leben unterschätzt. Die Dienstmädchen, meine Eltern und die Gäste, die manchmal ins Schloss kamen, waren keine echten Menschen. Ich hatte Angst, sie zu berühren, Angst, zu fühlen, wie kalt ihr Blut war, Angst, ihre Leiber könnten zu Staub und Asche verpulvern. Ich wusste, dass ich ihn nicht aufgegeben hatte, als ich hörte, dass Irma guter Hoffnung war und sein Glück mich vor Schmerz wild werden ließ. Es schnitt mir in die Haut, kerbte Verwünschungen in sie. Ich wünschte jetzt nicht nur seiner
Frau, sondern auch seinem ungeborenen Kind einen schnellen Tod. Wie tief war ich gesunken? Und von wem hörte ich diese Neuigkeit? Von Robert, den ich in diesen Tagen immer öfter besuchte, ja geradezu verfolgte. Bis ich merkte, dass meine Besuche im Kutschhaus nicht unbemerkt blieben. Man flüsterte, dass ich nach dem Ältesten jetzt auch den jüngeren Bruder ins Unglück stürzen wolle. Die Deutschen seien mir nicht genug. Ich nutze meinen Einfluss und mein Geld, um den jungen Stallmeister zu verführen. Ich würde ihn zu den unmöglichsten Zeiten aufsuchen, spärlich bekleidet. Welcher Mann aus Fleisch und Blut könne dem lange widerstehen? Ich hätte den Kontakt zu Robert einschränken können. Aber ich tat es nicht. Ich dachte an Arnoud. Wie würde er reagieren? Machte es ihm nichts aus, wenn er hörte, sein Bruder werde gar zu intim mit der Tochter des Barons? Und zu hören bekam er es. Der Tratsch erreichte sogar meinen Vater, und er rief mich zu sich. Ob es stimme, dass ich bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit ins Kutschhaus rannte? Ja. Es stimme. Und wenn schon? Es habe nichts zu bedeuten. Glaube er seiner Tochter nicht? Die Frage sei nicht, was er glaube, sondern was die Welt glaube. Ich würde mich von jetzt an benehmen. Keine Spaziergänge mehr ohne Begleitung. Ich antwortete, ich sei doch kein Kind mehr, sondern dreiundzwanzig. Dann werde es Zeit, dass ich mich wie eine erwachsene Frau benehme. Und ich bekäme die Gelegenheit, zu zeigen, dass ich wisse, was man von mir erwartete, denn am Abend sei Friedrich Kesserling im Schloss eingeladen. Ich rannte wütend davon. Im Lauf des Tages hörte ich, dass mein Vater Robert entlassen hatte. Das war eine ganz und gar unwirkliche Nachricht. Schon Jahre, Jahrhunderte stand die Familie de Vriendt im Dienst des
Schlosses. Weder schwere Zeiten noch finanzielle Probleme noch Arnouds Arroganz hatten vermocht, sie zu vertreiben. Aber durch üble Nachrede gelang es in wenigen Wochen. Durch üble Nachrede und eine ungehorsame Tochter. Robert und seine Mutter bekamen zwei Wochen Zeit, das Kutschhaus zu verlassen. Und du musst wissen: Es war mitten im Krieg. Es war nicht leicht, eine andere Anstellung zu finden. Die Wahrscheinlichkeit war groß, dass Robert sich Arbeit in Deutschland würde suchen müssen.« Sie wischte die Rosenblätter von ihrem Schoß. »Am selben Abend bogen ein Automobil und ein Lastwagen in die Schlossallee ein. In dem Auto saßen Kommandant Friedrich Kesserling und ein gewisser Doktor Haberstock, Direktor des Bayerischen Staatsmuseums. Kesserling war ein hohes Tier, reich und verwitwet. Mehr sei nicht nötig, fand meine Mutter. Dass er den Charme einer Ratte hatte, war Nebensache. Das beste Geschirr kam auf den Tisch. An diesem Abend saß ich zwischen ihm und dem Doktor. Ich fühlte die Augen meines Vaters auf mir. Würde ich ihm, wie beim letzten Mal, Schande bereiten und nicht ein Wort zu seinen Gästen sagen? Ich las in seiner Miene, dass ich das nicht mehr riskieren durfte. Aber er konnte beruhigt sein. Ich kramte mein liebstes Lächeln, mein bestes Deutsch und meine interessiertesten Blicke hervor. Um mich voller Begeisterung dem armen Doktor Haberstock zuzuwenden. Ich würde Kesserling verschmähen. Das war meine Rache. Was genau war die Arbeit des Herrn Haberstock? War er wirklich ein Kunstkenner, ein Kritiker für das Reich? Wie interessant. Und was führte ihn so weit fort von seinem schönen Bayern? Ich spürte, dass Kesserling trotz der Konversation mit meinem Vater kein Wort von unserem Gespräch entging. Und es war nicht nur der Mangel an Aufmerksamkeit seitens eines Fräuleins, der ihn störte. Es war
die Richtung, die dieses Gespräch nahm. Doktor Haberstock, durch mein Lächeln und den Wein in Fahrt gekommen, erzählte mehr, als Kesserling lieb war. Gerade hatte er mir anvertraut, dass sie auf dem Weg nach Frankreich seien, um dort einige außergewöhnliche Kunstwerke abzuholen, als der Kommandant uns unterbrach. ›Fräulein Clara, Sie kannten in Berlin doch die Offenbachs? Das sind gute Freunde des Doktors.‹ Kesserling schenkte mir ein Lächeln, ich lächelte freundlich zurück, und das Gespräch nahm, wie er gehofft hatte, eine andere Wendung. Aber alle am Tisch wussten jetzt, was die Herren vorhatten. Seit Kriegsbeginn hatten die Deutschen auf alle möglichen Arten die Museen der eroberten Länder leer geraubt. Jüdische Kunst verschwand als Erstes im Maul des Deutschen Reiches, aber mit jeder neuen Verordnung und jedem neuen Erlass wanderte auch immer mehr nicht-jüdische Kunst nach Deutschland, wo sie meistens in den Privatsammlungen der Parteibonzen verschwand. Dass Kesserling und Haberstock eigens nach Frankreich geschickt wurden, bedeutete, dass die Kunstwerke auf ihrem Wunschzettel tatsächlich von außergewöhnlichem Wert waren oder dass die Beschlagnahmung nicht ganz offiziell verlief oder beides. Diese beiden Männer waren Räuber. Höfliche, kunstliebende Räuber, die ihre Beute leider an ihren Oberen abtreten mussten. Oder steckte noch mehr dahinter? Ich witterte Geheimnisse. Doktor Haberstock ging ganz in seinen Berliner Erinnerungen auf, und ich lächelte und hatte Zeit zum Nachdenken. Ich hasste diese Männer nicht. Den Hass sparte ich mir für meine Eltern auf. Aber ich verabscheute sie und ihr überlegenes Gehabe sowie die Art, in der sie zu Frauen
sprachen, so als würden wir einen Satz erst dann verstehen, nachdem sie ihn in ein Kompliment verpackt hatten. Es schien mir eine gute Idee zu sein, ihren Raubzug zu vereiteln. Die Kunst war mir gleichgültig. Die Deutschen zu sabotieren ebenfalls. Was machte es für einen Unterschied, ob Goebbels seine Madonna mit Kind in Empfang nahm oder nicht? Der Krieg würde damit nicht gewonnen werden. Und es würde mich auch nicht glücklich machen, dafür war ich innerlich schon zu tot. Meinetwegen hätte jetzt eine Bombe mitten auf unserer Tafel zerplatzen und uns in die Ewigkeit katapultieren können. Ich sah es schon vor mir: ein kurzes Auflachen meinerseits beim Anblick der verstörten, panischen Blicke in den feisten Gesichtern, und dann nichts mehr. Aber ich war noch nicht ganz gestorben. Ich wollte etwas tun, etwas von meiner Wut, meinem Unglück in Taten umsetzen. Ich hätte so gern das selbstsichere Lächeln von Kesserlings Gesicht geschlagen. Aber junge Mädchen schlagen keine Kommandanten der Besatzungsarmee. Sie entschuldigen sich kurz nach dem Essen, stehlen eine Flasche Wein und statten den Fahrern und dem Bewacher des Konvois, die in der Garage Karten spielen, einen Besuch ab. Ich war willkommen, besonders als sie merkten, dass ich Deutsch sprach, und noch mehr, als ich ihnen die Flasche gab. Ich fragte, ob alles nach ihren Wünschen sei. Das hier seien die besseren Aufträge, erzählten sie. Mit Kesserling landeten sie selten in einer Kaserne. Er wisse, wie man ein besseres Unterkommen auftat. Und das hier sei sowieso ein Luxusauftrag. Ein paar Tage fahren, ein bisschen be- und entladen in Bayonne, eine Nacht in Paris und wieder nach Hause. Be- und entladen?
»Kunst zu transportieren, ist das nicht etwas ganz Besonderes?« Aber sie hätten lieber Alkohol oder Fleisch in ihrem Lastwagen gehabt. Und die Bilder, mit denen sie jetzt herumfuhren, seien die Leinwand nicht wert, auf die sie gemalt waren. ›So hässlich?‹ Dreck sei es. Degenerierte Kunst von weibischen, kranken Männern. Dass jemand dafür Geld, viel Geld ausgeben wolle, übersteige ihre Vorstellungskraft. Ich nickte, ich wusste genug. ›Habt ihr eigentlich schon gegessen?‹ Ja, sie hätten schon gegessen. Sie dankten mir. Es tue gut, so empfangen zu werden. Sie hatten die Karten schon wieder ausgeteilt, als ich die Garage verließ. Ich kannte noch nicht einmal ihre Namen. Mein Vater, der schon geglaubt hatte, ich würde nicht mehr auftauchen, war erleichtert, als ich wieder ins Zimmer trat, und fast zufrieden, als ich meine kühle Haltung Kesserling gegenüber aufgab. Das war die fügsame Tochter, die er haben wollte. Ich nickte und lächelte das eventuelle Misstrauen der Herren beiseite und schenkte ihnen echten Kaffee ein. Aber nach einer Weile hatte ich genug davon, zu strahlen, während Kesserling die Triumphe an der Ostfront aufzählte und das Genie seines Führers pries. Als die Uhr zwölf schlug, entschuldigte ich mich und entkam. Mein Lächeln blieb auf der Treppe zurück, keine Sekunde zu früh. Hätte ich jetzt nicht damit aufgehört, dann wäre dieses verkrampfte Lächeln auf meinem Gesicht stehen geblieben. Ich ging in mein Zimmer. Es war keine Zeit zu verlieren. ›Be-und entladen‹, hatten die Soldaten gesagt. Ich wusste nun, was Kesserling und sein Doktor vorhatten. Sie schmuggelten nicht nur auf halb legale Weise ein Kunstwerk aus Frankreich
heraus, sie schmuggelten auch einige Kunstwerke nach Frankreich hinein. Nicht um den Ruhm und die Ehre des Führers zu mehren, sondern für ihr eigenes Bankkonto. In Deutschland waren alle Bilder, die nicht Hitlers Billigung hatten, vernichtet worden. Die Expressionisten und die Kubisten waren sämtlich auf dem Scheiterhaufen gelandet. Auch Haberstock musste sein Bayerisches Museum von all dieser entarteten Kunst gesäubert haben. Aber wahrscheinlich hatte er zuvor etliche Werke unterschlagen. Und jetzt, auf Mission für Führer und Reich, war der ideale Augenblick angebrochen, diese verbotenen Bilder in Frankreich zu verkaufen. Es wimmelte dort von amerikanischen Kunsthändlern, die goldene Geschäfte witterten. Ich war ziemlich sicher, dass niemand etwas von diesem kleinen Konvoi ahnte. Die Route über Deemstervelde, die kleine Begleitung, das Hin und Her mit entarteter Kunst, das alles waren Zeichen, dass es sich hier um eine illegale Aktion handelte. Das hier waren Diebe. Und Diebe bestehlen, das erst war das perfekte Verbrechen. Wo sollten sie sich beschweren? Bei ihrem geliebten Führer? Die Gemälde im Lastwagen bedeuteten Geld. Und Geld bedeutete Unabhängigkeit. Unabhängigkeit von meinen Eltern, von ihren Plänen und Wünschen. Und ich kannte noch ein paar Leute, die das Geld gut gebrauchen konnten; Leute, die durch meine Schuld entlassen worden waren. Ich schlich nach draußen, ging durch die Nacht zum Kutschhaus. Die Rufe der Eulen hätten mich warnen müssen. ›Unheil‹, riefen sie, ›kehr um!‹ Doch ich hastete weiter, klopfte an Roberts Fenster, und er kam heraus, noch halb benommen vom Schlaf. Was er wohl dachte, als ich da so außer Atem vor ihm stand? Dachte er,
dass ich endlich schwach geworden war, dass ich mich ihm anbot? Ich belehrte ihn rasch eines Besseren. Informierte ihn über den Konvoi auf dem Schloss und erzählte ihm von den gestohlenen Gemälden. Wenn die abhanden kämen, würde kein Hahn danach krähen. Die Bilder existierten offiziell nicht einmal mehr. Es gab keinen Besitzer. Das hier könnte der ideale Diebstahl werden. Er war nicht überzeugt. Was solle er mit den Bildern anfangen? Essen könne er sie nicht. Er habe keine Ahnung von Kunst, wisse nicht, wo er die Bilder verkaufen solle. Oder sei ich in der Welt der Hehlerei und des Schmuggels zu Hause? Nein, ich hatte auch keine Ahnung, wohin wir mit den Kunstwerken sollten. Aber das waren Sorgen für später. Im Schloss war Platz genug, um ein paar Leinwände zu verstecken. Wir brauchten sie nicht gleich zu veräußern. Und wie gedächte ich, die Bilder in die Hände zu bekommen? ›Wir überfallen sie morgen früh im Wald.‹ Jetzt war Robert wach. ›Wir?‹ Dächte ich, er sei so verrückt, jedem meiner verrückten Einfälle zuzustimmen? Dass er einfach so, ohne nachzudenken und sich zu beratschlagen, einen Konvoi überfiel? Und dächte ich, er würde mich auf so eine gefährliche Tour mitnehmen? Dächte ich wirklich, er würde eine Frau in einen Überfall hineinziehen? ›Was erzählst du ihnen, wenn sie dich morgen früh nicht in deinem Zimmer finden? Hast du darüber schon mal nachgedacht? Nein, natürlich nicht.‹ Ich hatte verstanden. Ich war eine Frau. Frauen überfallen keine Konvois, so zart wie sie sind. ›Hast du denn einen besseren Plan?‹
Er dachte lange nach, während ich verschämt wartete. Zurechtgewiesen, als dumm beschimpft, lachte ich im Innern. Denn er drehte sich nicht wütend um, er schickte mich nicht höhnisch nach Hause zurück. Er dachte nach. Er überlegte. Er plante. ›Wie spät brechen sie morgen früh auf?‹ ›Früh. Sie frühstücken um halb sechs. Sie wollen gegen Mittag in Frankreich sein.‹ ›Das heißt also halb sieben im Wald. Gut, dann ist es noch dunkel.‹ Er schaute mich kurz an. ›Was hältst du davon, wenn wir drei uns die Beute teilen?‹ ›An wen denkst du?‹ Aber ich wusste es, noch bevor er seinen Namen aussprach. Seinen geliebten Bruder. Seinen Helden. Ohne den er nicht einen Finger rührte. Auf dessen Hirn und Wagemut er zählte. Fiel es mir schwer, Arnoud in die Sache hineinzuziehen? Fiel es mir schwer, mein Herz, meine Seele in meine Pläne, in mein Leben einzubeziehen? Fiel es mir schwer, Geheimnisse mit ihm zu teilen, mit ihm als Verschwörerin durch die Welt zu gehen, mein Schicksal in seine Hände zu legen, sein Schicksal in meiner Hand zu wissen? Fiel es mir schwer, mich nachts und im Dunkeln mit ihm zu verabreden, verbunden in Angst, in Abenteuer? Nein. Das alles fiel mir nicht schwer. ›Gut. Dann gehe ich jetzt zu ihm.‹ ›Und ich?‹ ›Du gehst zurück ins Schloss. Du sorgst dafür, dass dich niemand bemerkt. Und morgen früh tust du, was du immer tust.‹ ›Ist das alles?‹ Das war alles. Keine nächtlichen Abenteuer für mich, keine auf Kesserlings Rattenvisage gerichteten Gewehre, keine
gebrüllten Befehle, keine Spannung und kein Triumph, während ich mit einem Lastwagen mit etlichen Millionen davonfuhr. Das war Männersache. Ich durfte mich trollen. Aber es machte mir wenig aus. Arnoud war wieder in meinem Leben. Ich kletterte durchs Fenster ins Haus, schlüpfte ins Bett und zog die Decke in dem vergeblichen Versuch über mich, wieder warm zu werden. Ich tat in dieser Nacht kein Auge zu. Um sechs Uhr schlich ich ans Fenster, hörte, wie sich Haberstock draußen auf dem Treppenabsatz bei meinem Vater für dessen Gastfreundschaft bedankte. Kesserling wusste selbst an diesem kalten Morgen mit einem Kompliment aufzuwarten. Er behauptete, meine Mutter und ihre charmante Tochter hätten ihm für einen Moment das Gefühl gegeben, zu Hause zu sein. Das Fräulein Clara habe so viel Anmut und einen allerliebsten Berliner Zungenschlag. Sie werde irgendwann eine gute Ehefrau abgeben. Mein Vater hörte schon die Hochzeitsglocken. Ich sah unsere Rattenkinder mit ineinander verflochtenen Schwänzen in ihrer Wiege liegen. Niemals. Dann noch lieber ins Kloster. Die Autos verschwanden durch das Schlosstor. Ich wollte hinterher. Ich wollte es erleben. Ich wollte ihn sehen. Aber Robert hatte Recht. Ich durfte keine Aufmerksamkeit erregen. Also blieb ich liegen, hörte die Autos wegfahren und dann nichts mehr, nur die ersten Vögel. Das war meine Heldentat. Dass ich keinen Mucks gab. Sondern mit einem Buch im Bett lag, hundertmal dieselbe Seite betrachtete, ohne zu wissen, was ich las, und die Zeiger der Uhr mit meinen Blicken voranschob. Und dann hörte ich die Schüsse und konnte nicht länger im Bett bleiben. Mein Vater war nicht erstaunt, als ich ihm am Frühstückstisch Gesellschaft leistete. ›Hast du die Schüsse auch gehört?‹
Es zu leugnen, wäre dumm gewesen. Ich ging zum Fenster. In der Dämmerung war ich die Erste, die den Fahrer des Lastwagens durch den Garten stolpern sah. Fünf Minuten später war das gesamte Schloss in Aufruhr. Der Konvoi sei überfallen worden, der Doktor verwundet. Der Kommandant sei tot, meinte der Fahrer. Er müsse telefonieren. Und jemand müsse die Verwundeten holen. Mein Vater fragte ihn, was genau ihnen zugestoßen sei. Im Wald habe ein Baum auf dem Weg gelegen. Beide Fahrer seien ausgestiegen und hätten versucht, den Baum beiseite zu schleppen, als sie den Lastwagen starten hörten. Sie seien zurückgerannt, aber zu spät. Der Lastwagen habe gedreht und sei davongerast. Sie hätten ihm hinterhergegafft, aber der Kommandant, der mit Haberstock im Auto sitzen geblieben sei, habe die Verfolgung aufgenommen. Er habe auf den Lastwagen geschossen, aber die Männer im Laderaum des Lasters hätten das Feuer erwidert. Der Fahrer, Albrecht, habe gesehen, wie das Auto des Kommandanten plötzlich von der Straße geraten und an einem Baum zum Stehen gekommen sei. Sie seien hingelaufen. Der Kommandant sei tot, der Doktor verletzt, wahrscheinlich durch den Aufprall gegen den Baum. Albrecht sei zurück zur Baronie gerannt. Mein Vater wurde kreidebleich. ›Clara, schick jemanden zu Robert. Sag ihm, er soll den Doktor mit einem der Wagen holen.‹ Und er nahm Albrecht mit in sein Büro, wo das Telefon stand. Ich ging natürlich selbst zum Kutschhaus. Robert würde noch nicht zurück sein, und ich musste Zeit gewinnen. Doch Robert war schon da. Er war euphorisch. Arnoud sei mit dem Lastwagen auf und davon. Er habe noch eine Stunde Zeit, ihn zu verstecken, bevor er in seine Schule müsse. Die Deutschen hätten sie zunächst verfolgt, es dann aber aufgegeben. Es sei perfekt gelaufen. Bis ich ihm erzählte, dass er einen
Kommandanten erschossen hatte. Und dass der Fahrer des Lastwagens in diesem Augenblick telefonisch Verstärkung aus der Stadt anforderte. Ihm blieb nichts anderes, als in den Wald zurückzukehren und dort die Männer, die er eine Stunde zuvor überfallen hatte, ins Schloss zu bringen und dabei zu hoffen, dass ihn keiner erkannte. ›Tot?‹, hörte ich ihn nur murmeln. Ich ging wieder nach Hause. Worauf hatte ich mich da eingelassen? Was hatte ich angezettelt? Ein Mann war tot, ein anderer verletzt. Ich hasste Kesserling. Wieso hatte er sich totschießen lassen? Wieso musste er Arnoud in Gefahr bringen? Kesserling hätte einen Weg gefunden, den Überfall zu vertuschen, aber weil er tot war und der Doktor verletzt, hatten die Soldaten natürlich Alarm geschlagen. Einen toten Deutschen, so etwas wollte man nicht vor der Haustür haben. Ein toter Deutscher bedeutete ein von Besatzern und Verhören überschwemmtes Deemstervelde. Es bedeutete, dass man das umliegende Land auf der Suche nach dem Lastwagen umdrehen würde. Es wäre besser gewesen, ich hätte Kesserling mit eigenen Händen erwürgt.« Ihre knochigen Finger verkrampften sich in ihrem Schoß zu Klauen. »Oder noch besser, ich hätte meine Wut, meine Enttäuschung im Leben niemals in Taten umgesetzt. Wenn ich schon jemanden erwürgen wollte, weshalb dann nicht Irma Meert oder meinen Vater oder Arnoud de Vriendt, der die Ursache war von so viel Schmerz? Hätte ich die Zeit zurückdrehen können… Aber das ist eine Fantasie, der du nie stattgeben darfst, Arnoud. Erst recht nicht als alter Mensch. Du hast nur eine Chance in diesem Leben. Jeder Tag, den du lebst, ist der letzte seiner Art. Du bekommst keine Probezeit. Es muss gleich beim ersten Mal hinhauen. Tut es das nicht, dann lass los. Leb weiter. Schau dich nicht um.«
Es war ein eigenartiger Rat, besonders von jemandem, der schon einen halben Tag lang von nichts anderem geredet hatte als von der Vergangenheit. »Meine Mutter war von all der Aufregung aufgewacht, und mein Vater schickte mich ins Frühstückszimmer, um sie zu beruhigen. Sie litt Todesängste. Und ausnahmsweise hatte sie diesmal nicht Unrecht. Sie kannte die Deutschen besser als ich. Sie befürchtete Exekutionen. Kesserling hatte seinen letzten Tag auf dem Schloss verbracht. Er war noch keinen Kilometer von ihrer Haustür entfernt erschossen worden. Wenn die Deutschen Geiseln nahmen, würden sie sie dann verschonen? Sie hatten den Besatzern niemals auch nur einen Stein in den Weg gelegt. Würde man das berücksichtigen? Haberstock musste schnellstmöglich wieder ins Schloss gebracht werden. Er konnte ein gutes Wort für sie alle einlegen. Wenn der dumme Doktor nur bei Bewusstsein war. Sie würde ihn eigenhändig pflegen. Keiner würde ihre Loyalität anzweifeln können. Mir war es völlig gleichgültig. Sollten die Deutschen doch kommen. Sollten sie doch durchs Esszimmer marschieren. Je mehr Radau sie machten, je mehr Beistelltische und Meißner Porzellan sie zerstörten, desto lieber war es mir. Ich war bereit. Ich würde nicht mit der Wimper zucken, wenn sie mich nach draußen schleiften. Aber je mehr ich meiner Mutter zuhörte, desto weniger sicher war ich mir meines Heldenmuts. Das Warten dauerte lang. Ich hatte Angst, nicht nur um die Brüder, sondern auch um mich. Ich hatte Erzählungen aufgeschnappt von Verhören, von Hunger, Schmerz, Folterungen und ekelhaften, schmutzigen Zellen. Wie lange würde ich es in so einer Zelle aushalten? Wieso tauchte Robert nicht auf?
Schließlich sah ich sie kommen. Robert hatte nicht das Auto genommen, sondern einen großen Pferdekarren, der Platz genug bot, den Doktor liegend zu transportieren. Zusammen mit dem durchgefrorenen Chauffeur und dem Wachmann trug er Haberstock ins Schloss. Meine Mutter folgte ihnen unter Gejammer. Als der Doktor in hysterische Frauenhände übergeben war und die Soldaten in die Küche verschwanden, um sich am Feuer und mit einem klaren Genever von dem Schock zu erholen, wendete Robert den Karren. Mein Vater hielt ihn zurück. »Robert, wo willst du hin?« Ich ging nach draußen, blieb neben meinen Vater stehen. Er nahm meine Hand. Das hatte er seit mehr als zehn Jahren nicht getan. Es war verrückt. Ich hatte solche Angst in diesem Augenblick. Alles Mögliche konnte passieren. Was hatten die Deutschen vor? Und weshalb hielt mein Vater Robert zurück? Vermutete er etwas? Und mitten in dieser Angst war ich froh, ein Mädchen, das auf der Schlosstreppe stand, Hand in Hand mit ihrem Vater. Robert drehte sich um. »Ich wollte den umgestürzten Baum von der Straße ziehen. Es darf nicht noch ein Unglück geben.« »Du hast Recht. Tu das.« Wir schauten ihm kurz nach, während er mit seinen Pferden davonfuhr. »Robert ist ein guter Arbeiter. Selbst jetzt, wo er schon fast nicht mehr da ist, tut er, was er zu tun hat, ohne dass man es ihm zu sagen braucht. Es ist schade, dass er gehen muss.« Mein Vater ließ meine Hand los. Ihm fiel plötzlich ein, weshalb er Robert entlassen hatte. Und ich wurde wieder eine erwachsene, zu erwachsene Frau.
Robert hatte das Schlosstor noch nicht hinter sich gelassen, da rückte schon die Verstärkung aus der Stadt an. Mein Vater wollte sie zu Haberstock bringen, aber sie zeigten wenig Interesse für den armen Doktor. Sie wollten Albrecht sprechen. Allein. Die Anwesenheit meines Vaters war unerwünscht. Sie blieben eine halbe Stunde. Ich wartete auf meine Festnahme. Aber keiner fragte nach Robert. Keiner schleifte mich an den Haaren durch den Flur. Wenn es Arnoud gelang, den Laster eine Zeit lang zu verstecken, dann war noch nichts verloren. Nein, dann waren wir noch mal davongekommen. Das dachte ich damals. Die Deutschen fuhren mit großem Getöse davon, und ich wagte wieder zu atmen. Als wir uns alle in der Eingangshalle versammelten, konnte ich sogar Mitleid für Albrecht aufbringen, der nach dem Interview mit seinen Vorgesetzten leichenblass wirkte. Er und seine Kumpanen hatten sich schnellstmöglich bei der Kommandantur zu melden. Das schöne Leben mit Kesserling war vorbei. ›Das bedeutet Ostfront. Ich weiß es.‹ Meine Mutter hatte von der Treppe aus alles mitgehört und kam jetzt nach unten. Sie wollte wissen, was mit dem Doktor zu geschehen habe. Vor einer Stunde noch hatte sie sich an ihm festgeklammert. Da war er die Garantie dafür gewesen, dass sie deutschfreundlich war und keine Saboteurin. Aber nachdem seine Rolle ausgespielt war, wollte sie ihn loswerden. Albrecht meinte, ein Militärarzt werde uns noch am selben Tag besuchen und feststellen, ob der Doktor transportfähig sei. ›Das heißt, er kann hier noch Wochen liegen?‹ Die Stimme meiner Mutter klang schrill. Albrecht zuckte mit den Schultern. Was scherte ihn der Doktor? Was scherte ihn die Panik meiner Mutter? Er spürte schon jetzt durch seine Uniform die Kälte vor Stalingrad.
Und was scherte mich Albrecht? Ich wollte fort aus diesem Irrenhaus. Ich wollte ins Dorf und zu Arnoud. Ich wollte wissen, wie er davongekommen war. Wollte mich in seine Arme stürzen. Aber wann hatte ich das nicht gewollt?«
»Madame, das Essen ist serviert.« Wir schraken beide hoch. Es dauerte etwas, ehe die Baroness wieder ins Hier und Jetzt zurückfand. »Du hast einen Krümel, hier.« Und sie wischte ihn weg. »Habe ich dich den ganzen Mittag über in der Hitze sitzen lassen? Was wird der Arzt dazu sagen? Komm.« Sie nahm ihren Stock und stemmte sich damit hoch. Ich wollte sie stützen, aber sie wedelte mich mit der Hand weg. »Du hast viel Geduld mit mir, Arnoud.« Wir gingen zu Tisch. Ich war neugierig, was man auf einer Baronie so alles aß, aber es waren neue Kartoffeln mit Möhren. Ein Glück. Ich hatte mich schon mit Hummerzangen und Kaviarlöffeln hantieren gesehen. »Und Sie wussten nicht, was im Dorf vor sich ging?« »Nicht, bis es zu spät war.« Wir aßen in Stille weiter. Ich hatte so viele Fragen. Oder besser: Ich hätte so viele haben sollen, aber mein Hirn funktionierte noch nicht so, wie es sollte. »Und die Bilder?« »Nach der Exekution war das die geringste meiner Sorgen. Ich brauchte kein Geld mehr, keine Freiheit. Wohin sollte ich? Der Krieg war überall. Ich wollte nicht mehr fort aus Deemstervelde. Ich wollte nichts mehr. Ich wurde krank. Die Ärzte meinten, es sei Unterernährung, doch es war keine Unterernährung. Es war der Tod, der in mich gekrochen war. Robert hatte zwar gesucht, aber der Wald war größer damals, und die Tongruben waren tiefer. Und so viel Zeit zum Suchen
blieb ihm nicht. Er und seine Mutter mussten sich auf den Umzug vorbereiten. Mein Vater, doch kein völliger Unmensch, hatte in der Nähe von Brüssel eine Arbeit für ihn gefunden. Der Lastwagen ist nie wieder aufgetaucht. Und drei Jahre später war der Krieg vorbei, und ich hatte andere Dinge um die Ohren. Mein Vater wanderte nach dem Krieg ins Gefängnis. Als er entlassen wurde, zog er nach Österreich und kam dort bei einem Zugunglück ums Leben. Meine Mutter starb einige Jahre später an Krebs. Ich hatte sie all die Jahre hindurch also nicht umsonst verflucht. Und die Bilder, die sind längst zu Staub und Asche verfallen. Ist das nicht irrwitzig? Dass dieser Überfall letztendlich zu nichts geführt hat? So viel Angst, so viel Leid, so viele Tote. Für nichts. War es meine Habsucht, die all diese Menschen in den Tod getrieben hat? Ich denke nicht. Es war meine Liebe zu deinem Großvater. Ich wollte ein Teil seines Lebens werden. Ich wollte mich einmischen, wo ich nicht erwünscht war. Nun, ich habe meine Lektion gelernt. Und jetzt musst du schlafen.« Sie erhob sich mühsam. Ich widersprach ihr nicht. Ich war todmüde.
Unterricht im Vergessen
»He, Schlafmütze!« Ich öffnete die Augen. Mein Vater saß neben meinem Bett. Ich freute mich so, ihn zu sehen, dass ich fast beide Arme nach ihm ausgestreckt hätte. Aber ich war keine sechs mehr. Er würde mich nicht mehr aus dem Bett reißen, über die Schulter werfen und unter Bärengebrumm ins Badezimmer tragen. Ich war zu alt geworden. »Dich kann man auch keinen Moment allein lassen. Ich denke, du bist erwachsen genug, dir dein eigenes Butterbrot zurechtzumachen, und fünf Minuten später liegst du schon mit Erschöpfungserscheinungen und einem Sonnenstich auf der Straße. Wie bringst du das bloß fertig?« »Naturtalent.« »Tut es noch weh?« Tat es noch weh? Mein Fuß fühlte sich überhaupt nicht so an, wie er sollte, aber solange ich ihn nicht zu sehr bewegte, ging es. Mein Kopf war nicht allzu klar, aber das war er nie, wenn ich aufstand. »Was ist passiert, Arnoud?« »Zu viel, um es im Einzelnen zu erzählen. Wieso musstest du eigentlich weg, Pa?« »Zu viel, um es im Einzelnen zu erzählen.« Zu schmerzlich, wusste ich, als ich sein verdüstertes Gesicht sah. Er wollte lieber nicht davon sprechen, und das konnte nur eines bedeuten. »Ist irgendwas mit Mama?« »Bist du jetzt auch noch unter die Hellseher gegangen?« Irgendwas war also mit meiner Mutter.
»Nicht doch, bleib liegen. Es ist nicht schlimm. Nicht so schlimm jedenfalls wie dein Zustand. Sie hat einen Autounfall gehabt, ist aber noch mal mit dem Schrecken davongekommen. Und mit einem gehörigen Bußgeld.« Meine Mutter in einen Autounfall verwickelt. Ich schaute meinem Vater in die Augen. Verschwieg er mir etwas? War mit ihr wirklich alles in Ordnung? Aber bei solchen Sachen log er nicht. Und natürlich hatte sie ihn erst angerufen, als sie in Schwierigkeiten steckte. Und natürlich hatte er gleich alles stehen und liegen lassen. Aber immerhin hatten sie sich nach all den Monaten wieder mal gesehen. »Sie hat dich angerufen.« »Nein, es war die Polizei. Wir sind immer noch verheiratet. Ich bin immer noch mitverantwortlich für das, was sie anstellt.« Es hatte also nichts zu bedeuten. Sie hatte ihn nicht um Hilfe gebeten. »Wie geht es ihr?« »Sehr gut, hat sie jedenfalls gestern behauptet. Sie bräuchte keine Hilfe, erst recht nicht von mir. Ich hoffe, sie denkt heute genauso, nachdem sie wieder nüchtern ist. Falls sie wieder nüchtern ist. Und kapiert, dass sie keinen Führerschein mehr besitzt.« Es fiel ihm schwer, mir diese Dinge zu sagen. Aber er konnte auch nicht lügen, das verbot ihm eines seiner ungeschriebenen Gesetze in Sachen Vertrauen. Also wechselte er das Thema. Wie immer. »Und wie bist du hierher gekommen? Sieh dich doch einer daliegen wie ein kleiner Prinz.« »Ich bin mit dem Fahrrad gestürzt, und die Baroness hat mich gefunden.« »Mit dem Fahrrad gestürzt? Das muss aber ein heftiger Sturz gewesen sein. Dein Rad lag fünfhundert Meter von der Straße
entfernt. Kein Wunder, dass du eine halbe Gehirnerschütterung davongetragen hast.« »Ja, ich erinnere mich an kaum mehr etwas.« »Das habe ich mir schon gedacht. Ein schwerer Sturz kann sehr praktisch sein. Bestimmt erinnerst du dich nur noch an das, woran du dich erinnern willst?« Und wieso auch nicht? Wieso sollte ich mich mit unangenehmen Erinnerungen unglücklich und zum Sklaven meines Gedächtnisses machen? Nach den Ferien würde ich versuchen, es meinen Lehrern zu erklären. Auf Erinnern wurde einfach viel zu viel Wert gelegt. Vergessen schien mir mindestens genauso wichtig zu sein. Ich sah mich schon in dem neu eingeführten Vergessunterricht sitzen. »Wer weiß noch, womit wir vorige Woche aufgehört haben? Niemand? Sehr gut!« Ich würde alle um Längen schlagen. »Du brauchst jetzt nichts zu erzählen. Ruh dich noch ein wenig aus, dich und dein schwaches Köpfchen. Wir bleiben zum Mittagessen auf der Baronie, und dann bringe ich dich nach Hause. Schluss mit dem Luxusleben und den Dienstmädchen zum Herumkommandieren. Ich möchte nicht, dass du hier auf falsche Gedanken kommst.« Er stand auf, wollte gehen, kam aber zurück und schloss mich ziemlich grob in die Arme. Ich spürte, wie sich eine Rippe oder zwei gefährlich bogen, ließ ihn aber gewähren. Zuletzt ließ er mich los und ging. Meine Mutter hatte einen Autounfall, und ich lag am selben Abend blutend irgendwo auf der Straße. War das Zufall? Oder hatte sie mich rufen hören, spürte sie, dass mir etwas zugestoßen war und ich sie brauchte? Unsinn. Sie war betrunken gegen irgendwas gefahren. Ich brauchte sie schon so lange und sie war die ganze Zeit nicht zurückgekommen.
Mein Vater trug mich ein paar Stunden später in den Garten und setzte mich auf einen Stuhl. Alles, was auf dem Tisch stand, sah so kühl aus: frisches Brot, Gurkensalat mit Tomaten, ein Nudelsalat, eine in der Sonne schwitzende Karaffe mit Wasser. Mein Vater und die Baronin tranken Weißwein. Ich hörte mir ihr höfliches Gefasel an. Mein Vater bedankte sich bei der Baroness für ihre Gastfreundschaft und entschuldigte sich für die Umstände, die sein Sohn ihr bereitet habe. Die Baroness wiederum entschuldigte sich dafür, dass sie dem armen Jungen (Hallo, ich bin hier, ich sitze zusammen mit euch am Tisch!) zu wenig Ruhe gegönnt habe und dass es eine Freude für sie gewesen sei, wieder etwas junges Leben um sich zu sehen. Und wie wohlerzogen er sei, und so erwachsen! »Arnoud und erwachsen? Sind Sie sicher, dass wir ein und denselben Jungen meinen? Der Schlag auf seinen Kopf muss doch härter gewesen sein, als ich angenommen habe.« Sie lachten beide, und ich lachte mich grün, so mit meinem Mund voll Gurkensalat. »Sie und Ihre Frau sind bestimmt stolz auf so einen Sohn.« Wusste sie nicht, dass meine Eltern nicht mehr zusammenlebten? Hatte sie es vergessen? Das war vielleicht der große Nachteil meiner Vergesstheorie. Andere Leute vergaßen vielleicht nicht im selben Tempo wie man selbst. Und dann stand man plötzlich da und lachte, mitten auf einer Beerdigung. Ich wusste, dass die Baroness nicht immer gleich klar im Kopf war, aber auch heute machte sie keinen verwirrten Eindruck. »Das sind wir auch.« »Und mein Beileid zum Tod Ihrer Mutter. Sie war eine außergewöhnliche Frau.« Hatte sie vergessen, was sie mir am Tag zuvor hier in diesem Garten erzählt hatte? An dem Tag, als meine Großmutter starb,
hatte sie wahrscheinlich einen Freudentanz aufgeführt, mit oder ohne Krückstock. »Danke.« »Und Arnoud ist ganz sein Großvater. Sie hätten Brüder sein können.« »Ich höre das öfter. Ich selbst wüsste es nicht. Ich war noch nicht geboren, als mein Vater starb. Kannten Sie ihn gut?« »Hat Ihre Mutter nie davon erzählt?« »Meine Mutter sprach wenig von früher. Man dürfe nicht in der Vergangenheit stecken bleiben, fand sie. Auch im Dorf sprach man wenig über meinen Vater. Wahrscheinlich meinten alle, es sei zu schmerzhaft für mich. Und mit sieben kam ich ins Internat. Das war eine Welt für sich, und Deemstervelde war plötzlich weit weg. Übrigens, meine Verwandtschaft, das waren die Meerts. Da kamen alle Geschenke für mich her«, fügte er lachend hinzu. Die Baroness lachte nicht. Sie konnte nicht verstehen, dass dieser Mann, der Sohn Arnoud de Vriendts, so wenig Interesse für seinen Vater aufbrachte. »Aber Sie haben Ihren Sohn Arnoud genannt.« »Das war eine Idee meiner Mutter. Wäre es nach mir gegangen, dann säßen wir jetzt mit einem Alexander am Tisch.« Alexander. Alex. Sander. Lex de Vriendt. Angenehm. Nein, keine neuen Namen mehr. Rebecca hatte mir das abgewöhnt. Die Baroness stand plötzlich auf. »Ich muss jetzt ruhen. Eine alte Frau, Sie verstehen.« Mein Vater war ebenfalls aufgestanden. »Herr de Vriendt, es ist vielleicht eine befremdliche Bitte, aber würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn Arnoud ab und an zu Besuch käme?« »Etwas ausmachen? Nein, sofern er…« »Sofern Arnoud es selbst möchte, natürlich.«
Ich wischte mir etwas Majonäse vom Kinn. Ich sah den Blick der Baroness. Es war der Blick einer Eule, die auf eine Maus wartet. Sollte ich dankend ablehnen oder ihr Angebot annehmen? Sie hatte meinen Großvater in den Tod getrieben und suchte jetzt Vergebung. Was konnte ich sagen? Doch nur ja, oder? »Das freut mich sehr. Er sorgt dafür, dass ich mich zwanzig, dreißig Jahre jünger fühle.« »Wenn Sie ihn nur nicht zu sehr verwöhnen.« »Das zu versprechen, fällt mir schwer.«
Mein Vater trug mich zum Auto. »Merkwürdige Freunde, die du neuerdings kennen lernst, Arnoud. Wie hast du das nur wieder hingekriegt?« Ach, ist gar nicht so schwer. Ich bin halb betäubt und dadurch ein guter Zuhörer. Ich bin die Reinkarnation einer toten Liebe. Ganz normale Dinge, du weißt schon. Aber ich zuckte nur mit den Schultern. »Die Baroness besuchen, möchtest du das überhaupt? Ich weiß, dass du nicht gern zu fremden Leuten gehst. Wenn du lieber nicht hingehen willst, dann bekommen wir das schon geregelt.« »Nein, ich möchte schon.« Ich hatte noch eine Menge Fragen, die ich der Baroness stellen wollte. Und jetzt auf dem Nachhauseweg fielen mir Rebecca und Titus wieder ein. Die würden nicht sehr erfreut sein über ihre entflohene Eule. Aber dank meiner Kontakte konnten sie auf der Baronie ein paar Nistkästen aufhängen. Vielleicht würde das helfen, den Verlust zu verschmerzen.
IRMA
Das Krankenzimmer
Wieder zu Hause, musste ich auf der Stelle ins Bett. Mein Vater wollte nicht, dass ich herumlief, bevor nicht ein Arzt sich meinen Fuß angeschaut hatte. Also lag ich wieder in diesem weißen Zimmer, umgeben von den Gemälden meiner Großmutter. Ich starrte auf ihre Obstschale, bis sie mir vor den Augen tanzte. Zum Glück hatte sie nicht auch noch Zeichenunterricht in der Stadt genommen. Es wäre schade um das Geld und die Mühe gewesen. Jetzt hatte sie wenigstens den Traum retten können, einmal eine große Malerin geworden zu sein, wenn sie nicht für einen kleinen Sohn hätte aufkommen müssen. Hielten Kinder ihre Eltern immer von deren Träumen ab? Meiner Mutter war es nicht schwer gefallen, ihren Sohn zurückzulassen… Aber hatte ich meine Vergessvorsätze schon vergessen? Jetzt hieß es schnell an etwas anderes denken. Die Geschichte der Baroness bot mir Stoff genug dazu. Sie hatte meinen Großvater gern gehabt, so viel war klar. Sie hatte die Briefe geschrieben, die meine Großmutter gefunden hatte, aber zwischen ihnen hatte sich nie etwas abgespielt. Meine Großmutter war ganz umsonst so misstrauisch gewesen. Der Tod meines Großvaters erschien mir jetzt weniger geheimnisumwittert. Er war keineswegs der naive Schulmeister gewesen, der sich für die Dorfbewohner geopfert hatte, wie mein Vater glaubte. Ein Widerstandskämpfer war er auch nicht. Nein, er hatte die Deutschen des Geldes wegen beraubt.
Ich könnte ihn ausgraben und ihm durch die Augenhöhlen in den Schädel gucken, aber selbst dann würde ich ihm nicht wirklich in den Kopf schauen können. Ich konnte nur raten, was ihn wirklich angetrieben hatte. Vielleicht eine Form verkappter Vaterlandsliebe oder der Drang nach Abenteuer, nach Spannung. Vielleicht hatte er den Baron in Gefahr bringen, ihm wegen des immer noch ungelösten Streits ein Bein stellen wollen. Die Baroness dagegen machte sich weis, er habe es getan, um ihr durch Raub und Geheimniskrämerei näher zu sein. Meine Großmutter wiederum sprach von Lederschuhen und goldenen Uhren. Das Geld wird sicher auch eine Rolle gespielt haben. Es war mein Großvater, der den Lastwagen gefahren hatte. Es war mein Großvater, der wusste, wo die Beute versteckt war. Es war mein Großvater, der seine Freunde und Bekannten hätte retten können. Und es nicht tat. War er jetzt ein Held oder ein Mörder? Hatte er befürchtet, man würde ihn foltern, bis er am Ende seinen Bruder und die Baroness verriet? Hatte er beschlossen, neun Menschen zu opfern, nur um zwei zu retten? Ich dachte an die beiden Mäuse, die Rebecca an die Eule verfuttert hatte. Offenbar war ein Leben dem anderen nicht gleich. Aber weshalb hatte er dann die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt? Er hätte sich brav mit den andern totschießen lassen können, ohne Gefahr zu laufen, sie könnten ihn zum Reden bringen. Aber wenn ich der Baroness glaubte, dann war mein Großvater keiner, der etwas brav über sich ergehen ließ. Wusste meine Großmutter von alledem? Hatte sie sich die ganze Nacht über von einer Seite auf die andere gewälzt? Oder war sie morgens in einem leeren Bett aufgewacht, um ein paar Stunden später ohnmächtig zuzusehen, wie sie ihren Mann auf dem Dorfplatz erschossen? Sie konnte ich nicht mehr fragen. Aber Robert, der wusste mehr.
Ich verstand, weshalb die Baroness im Schloss geblieben war und dem Hass im Dorf die Stirn geboten hatte. Sie würde meinen Großvater nicht verlassen, auch den Toten nicht. Aber weshalb war Robert zurückgekehrt? Um die Beute zu suchen? Weil er von der Baronie nicht ablassen konnte? Oder von der Baroness? Mir schwindelte, und das nicht nur, weil ich mich noch von einer halben Gehirnerschütterung erholte. Denn es blieben so viele Fragen. So viele Was und Warum und Wer und Wo, dass ich nicht mehr schlau daraus wurde. Titus zufolge war mein Großvater nicht einfach nur zufällig festgenommen worden. Jemand hatte den Deutschen seinen Namen ins Ohr geflüstert. War es der Baron gewesen, wie man im Dorf meinte? Oder war es Robert, der die Deutschen noch hatte sprechen können, bevor sie in Deemstervelde aufkreuzten? Hatte er gemeint, nach all den Jahren im Schatten seines Bruders sei jetzt seine Stunde der Rache gekommen? Ich hatte mir vorgenommen, mir das Leben einfacher zu machen und unangenehme Dinge zu vergessen. Die Streitereien der zurückliegenden Monate? Weggeblasen, zum Fenster hinaus. Rebecca, die mich wie ein kleines Kind behandelte? Lappalien, die ich mir aus dem Kopf schüttelte. Deemstervelde? Wo lag das noch mal? Das wäre sehr einfach. Aber selbst wenn ich mir beibringen konnte zu vergessen – und trotz meines mangelhaften Gedächtnisses war ich mir dessen gar nicht so sicher –, blieb immer noch etwas und nagte an mir. Ich war neugierig. Ich war der dumme Junge, der seinen Finger in einen Kasten steckte, auch wenn er dabei gebissen wurde. Vergessen war eine Sache, aber ich wüsste gern erstmal alles, bevor ich es vergaß. Geheimnisse waren mir zuwider. Ich hasste es, wenn mir Leute etwas verschwiegen. Und dass es noch so vieles gab, das ich nicht wusste, machte mich nervös.
Ich wollte hinaus, etwas unternehmen. Und alles, was ich durfte, war im Bett bleiben und auf den Arzt warten. Eine Stunde später ließ mein Vater jemanden ins Zimmer. »Hallo Rebecca.« Sie sah… schön aus. Mit einem kurzen Röckchen und Damenschuhen. War das Lippenstift? Dann kam sie damit besser zurecht als ihre Großmutter. Sie hatte mir auch etwas mitgebracht. Das große Eulenbuch, las ich. Ich hätte es wissen müssen. Aus Höflichkeit blätterte ich etwas darin herum. Bunte Bilder. Große Buchstaben. Das hier war ein Buch für Kinder. Für wie alt hielt sie mich? »Es war mein allererstes Eulenbuch. Es ist gut für Anfänger. Es steht viel drin.« Anfänger. »Gehört es dir?« »Ja, aber du darfst es haben. Ich kann es inzwischen so gut wie auswendig.« Na klar doch. Das zweite Buch hatte Titus selbst geschrieben. Populationsschwankungen und sich veränderndes Biotop: Eine Fortsetzung zu Asio Otus. Auf die erste Seite hatte er eine Eule gezeichnet, die mir in einer Sprechblase gute Besserung wünschte. Sonst keine Abbildungen und keine Fotos. Nur Tabellen und Grafiken und sehr viel Text. »Danke. Das wäre wirklich nicht nötig gewesen.« Ich meinte es wörtlich. Rebecca stand vor dem Bild mit dem Schloss. »Und, wie war es bei der Baroness?« War sie deswegen gekommen? Hatte ihre Großmutter sie geschickt, damit sie mich aushorchte? Ich hatte nicht vor, ihr viel zu erzählen.
»Gut. Alle waren sehr freundlich.« Sie ging umher, schaute kurz aus dem Fenster und drehte sich dann zu mir. »Du musst im Bettchen bleiben, sagt dein Vater.« »Bis der Arzt kommt.« »Aha, dann bist du in meiner Macht.« Sie kam mit zu Klauen gekrümmten Händen auf mich zu. »Ich darf nicht auftreten mit dem Fuß. Aber gelähmt bin ich deshalb nicht!« »Du darfst nicht auftreten mit dem Fuß? Armer Junge. Soll Rebecca sich um dich kümmern? Du weißt, ich kann gebrochene Füße heilen!« »Lass nur. Sonst rupfst du mich am Ende noch.« »Da ist noch nicht viel zu rupfen.« Sie setzte sich aufs Bett. »Aber du riechst schon besser als beim letzten Mal.« Hatte sie erwartet, dass ich jetzt lachte? »Was ist eigentlich passiert, Arnoud? Den Kasten hat Titus gefunden, aber die Mäuse waren weg. Und die Eule ist ausgeflogen. Hast du sie entkommen lassen?« Hier kam sie, die gefürchtete Frage. Ich konnte mich nicht drücken. Lügen half nicht, also erzählte ich, wie ich die Mäuse in eine Ecke gesetzt hatte und die Eule in der Zwischenzeit ausgerissen war. »Ist sie gut geflogen? Hast du sehen können, wohin sie flog?« Ich hatte erwartet, dass sie mich verfluchen, mich eventuell aus dem Bett zerren und die Treppe hinunterschleifen würde. Aber sie wollte nur wissen, ob ihre Eule es geschafft hatte. Ich berichtete, wie die Vögel aus dem Feld aufgestiegen waren und ich der Eule nachgefahren war, sie aber nicht gefunden hatte. »Mach dir deswegen keine Sorgen. Eine Sumpfohreule wird tagsüber von anderen Vögeln nicht geduldet. Aber sie wagen
es auch nicht, sie anzugreifen. Es bleibt bei Drohgebärden.« Und sie tippte auf Das große Eulenbuch. Mach dir keine Sorgen. Als hätte ich auch nur eine Sekunde an die Eule gedacht. »Wärst du nicht hinaus zu der Eule gefahren, dann wäre dir nichts passiert. Also ist es eigentlich meine Schuld, dass du hier liegst.« So hatte ich noch nicht darüber nachgedacht. »Dazu kommt natürlich, dass du so schlecht Rad fahren kannst.« Sie stand wieder auf. »Und Paula lässt dich wieder vor die Tür?« »Sie hatte mir eine Woche Hausarrest gegeben. Aber so lange hält sie es nicht mit mir aus. Erst recht nicht, seit mein Großvater den ganzen Tag daheim ist und ihr überallhin folgt. Es macht sie verrückt. Sie war ohnehin schon außer Fassung, als du an dem Abend nicht nach Hause kamst. Du hättest sie sehen sollen. Dein Vater hatte sie gebeten, dir etwas zu Essen zu bringen, aber um halb zehn warst du immer noch nicht da. Sie war sehr beunruhigt. Sie hat die ganze Zeit über geschimpft, zuerst auf dich, dann auf deinen Vater, der mir nichts, dir nichts verschwand und seinen Sohn sich selbst überließ. Ohne eine Telefonnummer zu hinterlassen. Sie konnte ihn noch nicht einmal anrufen. Sie war außer sich. Und dann rief sie mich nach unten. Ob ich wüsste, wo du steckst. Aber ich dachte, du wärst bei Titus. Und auf Titus war sie ohnehin schon wütend genug. Ich hab nicht geglaubt, dass dir etwas zugestoßen war. Sonst hätte ich etwas gesagt, Arnoud.« Deshalb war sie so freundlich. Deshalb bekam ich keine Vorwürfe um die Ohren gehauen. Sie hatte verschwiegen, dass ich zum Turm gefahren war, und fühlte sich schuldig.
»Wenn ich gewusst hätte, dass du bewusstlos auf der Straße lagst, hätte ich bestimmt etwas gesagt. Aber jetzt ist ja wieder alles in Ordnung.« Ich schwieg. Blätterte in dem Buch. Tabellen und Zahlen. Histogramm der Entfernung zum nächstgelegenen nach 1988 besetzten Waldohreulenterritorium (Aarne-Thompson 410) Was sollte ich ihrer Meinung nach mit so einem Buch? Wenn das ihre Form von Schweigegeld war, dann war sie nicht so schlau, wie sie glaubte.
Sie ging, als der Arzt kam. Er drückte an meinem Fuß, schien mir mit einer Leuchte in die Augen und prophezeite, ich würde nach zwei weiteren Tagen Ruhe so gut wie genesen sein. Ich musste ihm allerdings versprechen, nicht zu oft aufzustehen und keinesfalls mit meinem Fuß aufzutreten. Sonst müsse er mir doch einen Schnellverband anlegen. Nachdem er fort war, harrte ich auf meinen dritten Besuch. Der nicht kam. Vielleicht hätte ich sie auch nicht erwarten sollen. Sie hatte kein Auto mehr und musste sich selbst von einem Unfall erholen. Abends kam mein Vater ins Zimmer. Er habe mich nicht stören wollen, behauptete er. Aber meine Mutter habe angerufen. Sie sei besorgt gewesen, aber er habe sie beruhigt. Sie wünsche mir rasch gute Besserung. Sie würde so schnell wie möglich vorbeischauen. Ich hatte den ganzen Tag lang kein Telefon gehört. Aber ich schwieg.
Robert
Am nächsten Tag fand ich, dass ich lange genug im Bett gelegen hatte. Ich war gefangen in diesem kleinen Zimmer. Weshalb fing es nicht an zu regnen? In anderen Sommern ersoff man sozusagen, aber diesmal wollte die Sonne gar nicht aufhören zu strahlen. Was hatte ich denen da oben getan? Mein Vater schleppte wieder Hausrat und Möbel. Ich hörte ihn fluchen, wenn irgendein Schrank sich heimtückisch mit einem Bein an der Treppe verhakte und es ablehnte, sich zu bewegen. Ich wollte aufstehen. Helfen. Alles war besser, als hier liegen zu bleiben. Aber mein Vater wollte von Hilfe nichts wissen. »Was willst du unten tun? Mir im Weg sitzen? Nein, bleib lieber liegen. Hoffentlich kannst du dich morgen oder übermorgen wieder richtig bewegen.« »Gibt es denn nichts, was ich tun kann?« »Mich weiterarbeiten lassen. Noch einen Tag, Arnoud. Morgen sehen wir weiter.« Also hing ich gelangweilt aus dem Fenster und betrachtete die Wolken, Fahnen aus Puderzucker, die sich langsam auf einer großen blauen Zunge auflösten. Wenn mein Vater einen Moment lang mit seinem Gebrumm und Geschleppe aufhörte, wurde es so still, dass ich die Bienen im Garten summen hörte, rein in die Blüte, raus aus der Blüte. Im Obstgarten brach ein Schwarm von Staren in Gelächter aus. Sie warteten darauf, dass die Kirschen reiften. Und hinter dem Garten verlief ein Weg, auf dem ich noch nie jemanden gesehen hatte. Wie hatte meine Großmutter hier ihr ganzes Leben verbringen können? Das Malen hatte sie wohlweislich
drangegeben, aber was hatte sie stattdessen getan? Man konnte doch nicht winters wie sommers Strümpfe stopfen? Hatte sie jeden Tag wie eine Verrückte in ihrem Obstgarten herumgebrüllt, bis die Stare davonflogen? Die ganze Mühe für nichts. Die Kirschen in diesem Jahr fielen an die Vögel. Ich blätterte durch Das große Eulenbuch. Irgendeinem Indianerstamm zufolge schlief die Eule tagsüber. Nachts flog sie aus, um die Dinge schön und die Erde glücklich zu machen. Aber sie glaubten auch, dass bald jemand starb, wenn man nachts ihren Ruf vernahm. Dann hatten die Eulen aus Deemstervelde sich 1942 wahrscheinlich die Lungen aus dem Leib geschrien. Hatten sie meinen Großvater aufgeschreckt, als der sich hier aus diesem Haus schlich und seinem Bruder folgte, hinein in die Nacht und hinein in den Tod? Ich hatte genug von diesem Zimmer und stolperte die Treppe hinunter. Mein Vater war von meiner Anwesenheit nicht begeistert. Aber ich wollte nicht mehr nach oben, und er wollte mich aus dem Weg haben, also beschlossen wir, mich zusammen mit einem Stapel Comics und einem Liegestuhl im hinteren Gartenteil zu entsorgen. Ein Stapel hundertmal gelesener Comics würde mich nicht den ganzen Tag lang ruhig halten. Aber alles war besser als mein Schlafzimmer. Also verzog ich mich auf ein Stück Wiese zwischen dem Gemüsegarten und ein paar eingestürzten Ställen. Die Stare im Kirschbaum begriffen schnell, dass ich keine Bedrohung für sie war. Vor einem Jahr wäre das hier für mich das Paradies gewesen. Was hätte ich mir nicht alles ausgedacht zwischen den verwilderten Sträuchern oder in dem Obstgarten, wo jetzt schon Pflaumen reiften. Ich hätte mir ein ganzes Königreich gebaut, mit unterirdischen Gängen und Fallgruben. Aber aus irgendeinem Grund war das inzwischen vorbei. Auch die Idee
von einem Lager in den Tongruben war nur etwas gewesen, um mich zu beschäftigen. Die Ferien schienen noch eine Ewigkeit zu dauern. Und doch dachte ich schon an später. Ich musste in eine neue Schule. Wie das wohl wurde? Alle behaupteten, es würde ein Stück schwieriger werden. Vorbei mit dem Faulenzen. Vorbei das schöne Leben. Als wäre das hier ein schönes Leben. Mein Vater wollte es noch nicht wahrhaben, aber meine Mutter würde nie mehr zurückkommen. Ich dachte an unser letztes Weihnachten. Am Nachmittag hatte der Feinkostladen einen Berg Essen geliefert. Leider war meine Mutter selbst nicht aufgetaucht. Mein Vater hatte bis abends um zehn gewartet, aber als sie nicht nach Hause kam, wärmte er schließlich die Suppe auf. Wir saßen gerade bei Tisch, als sie anrief. Ich rannte zum Telefon. War ihr etwas zugestoßen? Es war viel zu laut im Hintergrund, um zu verstehen, was sie erzählte. Es war, als ob sie mitten zwischen lauter lachenden und schreienden Leuten stand. Ich fragte sie, wann sie nach Hause käme, aber sie hörte mich nicht. Sie schrie, ich solle mich amüsieren und das Leben genießen. Ich konnte ihr nicht recht folgen. Alles Weitere war Gebrabbel und Gelächter. Dann war die Leitung tot. Mein Vater fragte noch nicht mal, was sie gesagt hatte. Er brach sich ein Stück Brot ab und begann, seine Suppe zu löffeln. Meine Großeltern hatten es auch nicht leicht gehabt. Und die Baroness auch nicht. Wer waren diese glücklichen Leute, die man immer wieder in den Reklamen sah, wie sie lächelnd um den Frühstückstisch saßen? Gab es sie überhaupt? Oder log man mir etwas vor und es gab gar kein Glück, sondern lediglich Momente, in denen man vergaß, unglücklich zu sein?
Figuren in Schweineblut für meine Großmutter. Goldene Uhren und Lederschuhe für meinen Großvater. Eulen für Titus. Vielleicht waren die Leute deshalb immer so begeistert, wenn sie vom Krieg sprachen. Es sei eine harte Zeit gewesen, behaupteten sie, aber ich glaubte ihnen nicht. Ihre Augen funkelten zu sehr. Sie wollten gar nicht davon aufhören. Im Krieg war es gestattet, sich nicht glücklich zu fühlen. Es gab keine Verpflichtung, lächelnd durchs Leben zu hüpfen. Glücklichsein war nicht die Norm, allenfalls eine Draufgabe. Zum Beispiel die Baroness. Es waren die unglücklichsten Jahre ihres Lebens gewesen. Ihre große Liebe wurde durch ihre Schuld erschossen. Und doch konnte sie einfach nicht davon aufhören. Titus schien glücklich zu sein. Er hatte aber auch weder Frau noch Kinder. Oder ließ ihn gerade das unglücklich sein? Und war Rebecca glücklich? Vielleicht solange sie in Deemstervelde war. Ich jedenfalls hatte ihr Leben nicht glücklicher gemacht. Und sie meines? Ich stolperte etwas in der großen Scheune herum. Sie war bis auf einige Farbtöpfe und Besen leer. Hinter dem Stall ging ein Weg, breit genug für ein Auto. Ich klemmte mir einen der Besen als Krücke unter den Arm, um meinen Fuß etwas zu schonen, und folgte dem Weg, neugierig, wohin er mich führte. Ich versprach mir, nicht zu weit zu humpeln. Ich konnte nicht immer auf Baronessen zählen, die mich auflasen. Der Weg führte in einem kleinen Bogen auf die Straße. Sollte ich zurückgehen, an der Haustür klingeln und mich an dem erstaunten Gesicht meines Vaters freuen, wenn er mir öffnete? Ziemlich albern. Der arme Mann glaubte, ich würde brav in Oma Ducks Armen ruhen. Ich setzte mich. Es war hier so still. Ich konnte immer noch nicht fassen, wie ruhig es hier war. Mit ein wenig Glück hörte
man, wie sich Leute im nächsten Dorf stritten. Mir gegenüber, in einem Feld zwischen zwei Häusern, bewegte sich das Gras. Ich sah ganz kurz zwei Kaninchenohren. Ein Sprung, ein weiß aufblitzender Stummelschwanz, und es war weg, aufgeschreckt von einem Auto, das ins Dorf gefahren kam. Sie konnte es nicht sein. Sie hatte ihr Auto zu Klump gefahren. Ich stand auf und sah den Rolls. Kamen sie mich holen? Und ich war nicht da! Ich hinkte jetzt doch nach Hause, aber das Auto holte mich ein und hielt an. Es war Robert. »He Arnoud, bist du unter die Straßenfeger gegangen?« Ich schaute auf den Besen in meinen Händen. »Kommst du mich holen, Robert?« »Nein, heute nicht. Ich habe die Baroness gerade in der Stadt abgesetzt. Aber soll ich dich mitnehmen?« Bis zum Haus, zehn Meter weiter? Warum nicht? Ich setzte mich neben ihn. Aber ich stieg nicht aus, als wir vor der Tür hielten. Ich hatte einige Fragen an ihn. »Wie geht es der Baroness?« »Sehr gut eigentlich. Sie hat sich sehr verändert in den letzten Tagen. Früher hat es Monate gegeben, in denen sie ihr Zimmer nicht verließ. Aber letzte Woche schrak sie plötzlich aus dem Schlaf auf und schrie das ganze Schloss zusammen. Es ist so weit, dachten wir, ihr Herz versagt. Aber es war eher hier oben.« Robert zeigte der Deutlichkeit halber auf seine Stirn. »Sie hatte ihn wieder gesehen. Er sei ihr erschienen, rief sie immer wieder. Ich wusste nicht mal, dass sie gläubig war. Wir versuchten, sie zu beruhigen. Sie sei noch nicht richtig wach. Es sei ein Traum. Sie dürfe sich nicht so aufregen. Aber sie war nicht mehr ins Bett zu bekommen. Und seit dem Tag ist sie ziemlich frisch geblieben. Und wir konnten es ausbaden. Das gute Leben war mit einem Schlag vorbei. Na ja, es wurde
auch Zeit, dass sie uns wieder etwas mehr auf die Finger schaut. Und sie geht wieder vor die Tür. Nach diesem Nachmittag, wo sie den Herrn gesehen hat, sind wir jeden Tag ausgefahren, rings ums Dorf und durch die Felder. Zum Glück für dich. Hätte sie nicht plötzlich ihre Erscheinungen und ihre Krise bekommen, wären wir niemals dort vorbeigekommen. Dann lägst du da immer noch.« Aber das interessierte mich alles nicht. »Kommst du noch kurz mit hinein, Robert?« »Nein danke, ich muss weiter.« »Du bist böse auf uns, oder? Wir sind doch Verwandte.« Er drehte sich zu mir um und musterte mich eingehend. »Böse auf dich? Aber Arnoud, natürlich nicht. Und wie kann ich böse auf deinen Vater sein? Ich kenne ihn überhaupt nicht.« »Und bist du böse auf meine Großmutter?« Er seufzte. »Nein, ich bin nicht böse. Nicht mehr. Eigentlich auch nie gewesen. Es war eher umgekehrt. Deine Großmutter wollte mich nicht mehr sehen. Aber das ist eine lange Geschichte. Und jetzt muss ich wirklich fort.« Er beugte sich über mich, zog an der Klinke, und die Tür schwang auf. Aber ich blieb sitzen. »Du konntest doch nichts dafür?« »Wofür?« »Dass sie meinen Großvater erschossen haben.« Er hatte die Frage gehört, aber er reagierte nicht. Es war unhöflich, ihn weiter auszufragen, aber ich konnte es nicht lassen. »Hast du die Bilder nie gefunden? Bist du deshalb zurückgekommen?« »Bilder? Was hat die Baroness dir alles erzählt?«
»Also…« »Sie ist eine alte Frau, Arnoud. Sie weiß ab und zu nicht mehr, was sie sagt. Das hast du doch selbst gemerkt. Du musst nicht alles glauben, was sie redet.« »Es ist nicht nur die Baroness.« »Wer denn sonst noch? Paula Lhermitte? Wenn du auf das Weib hörst, bist du nicht sehr gescheit, Arnoud de Vriendt.« Ich hatte noch so viele Fragen. Aber Robert war nicht Clara. Die war nicht zu stoppen, und Robert war nicht in Gang zu kriegen. »Robert, weißt du, was mein Großvater im Krieg in der Stadt gemacht hat? Woher er seine Lederschuhe hatte?« »Aber Arnoud, Junge, was redest du denn da alles? Das sind Dinge von vor mehr als fünfzig Jahren. Da warst du noch nicht mal geboren. Dein Vater war noch nicht mal geboren. Das ist jetzt doch nicht mehr wichtig. Und außerdem, glaubst du nicht, dass mich das mehr angeht als dich? Dass du einen halben Tag lang den Fantasien der Baroness zugehört hast, heißt noch längst nicht, dass es auch deine Angelegenheiten sind. Wahrscheinlich hat sie von deinem Großvater gesprochen. Wie unglaublich er gewesen sei. Wenn sie wüsste, wie der von ihr dachte… Aber das braucht sie nicht zu wissen. Hörst du, Arnoud? Das ist Erwachsenenkram. Darüber brauchst du dir nicht den Kopf zu zerbrechen.« Erwachsenenkram. Sag doch gleich, dass ich ein Kind bin und zu dumm, um diese Dinge zu verstehen. »Meine Großmutter hat meinen Großvater nie gern gehabt. Sie hätte dich heiraten sollen.« Ich beobachtete ihn aus den Augenwinkeln. War das angekommen? Ja. Das saß. »Wie kommst du darauf?« »Sie hat es mir selbst geschrieben.« Nicht ganz die Wahrheit, aber ich musste es versuchen.
»Sie hat es dir selbst…? Deine Großmutter hat hier fünfzig Jahre gewohnt, Arnoud. Weniger als fünf Kilometer von mir entfernt. Hätte sie mir das nicht eher selbst gesagt oder geschrieben?« »Hast du je etwas zu ihr gesagt?« Es war natürlich nur eine Vermutung, dass Robert meine Großmutter gern gehabt hatte, selbst dann noch, nachdem sie seinen Bruder geheiratet hatte. So wie die Baroness meinen Großvater auch noch gern gehabt hatte. Vielleicht nicht so fanatisch, aber ich dachte an sein Gesicht auf der Beerdigung. Der Mann war fix und fertig gewesen. Daran hatte ich gestern gedacht. Dass man Leute auch dann noch gern haben konnte, wenn sie einen nicht mehr leiden mochten. Ich brauchte mir nur meinen Vater anzusehen. Es ist ungerecht, und doch ist es so. Robert hatte der Baroness gesagt, meine Großmutter und mein Großvater hätten besser zueinander gepasst. Vielleicht hatte er das ja auch geglaubt. Vielleicht hatte er ganz bewusst auf sie verzichtet. Und vielleicht hatte meine Großmutter ihm genau das nicht verziehen. Vielleicht war das noch schlimmer gewesen als der Tod ihres Mannes. Das waren viele Vielleicht, aber den Versuch war es wert. »Was möchtest du hören, Arnoud? Dass ich wegen Irma zurückgekommen bin? Und wenn es so wäre? Wäre damit etwas gelöst? Sie ist tot. Sie ist fort. Lass die Dinge ruhen. Ich weiß nicht, weshalb du dich damit beschäftigst, aber ich bitte dich, rühre nicht darin herum. Schau dir das Dorf an. Es hat sich zu lange blind gestarrt an den Exekutionen. Die Leute hängen in der Vergangenheit fest. Es ist, als hätte der Krieg nie aufgehört. Nicht für sie, nicht für die Baroness und nicht für mich. Das Dorf wird uns nie verzeihen, und weshalb? Weil sie Dickschädel sind, verliebt in ihren eigenen Groll, ihr eigenes Elend.«
Ich stieg aus. »Tut mir leid, Robert, aber so viele Dinge sind ungelöst, Fragen, die…« »Ich werde der Baroness sagen, dass es dir wieder besser geht. Ein ganzes Stück besser.« Und er fuhr davon.
Das Nähkästchen
Am Nachmittag regnete es. Ich ließ mich aufs Bett fallen. Hier lag ich wieder. Hoffentlich nicht mehr für lange. Mein Vater hatte schon ziemlich viel leer geräumt. Draußen im Regen standen genug Möbel, um zwei Häuser damit zu füllen. Mein Zimmer hatte er in Ruhe gelassen, aber viel befand sich ja auch nicht darin. Ein Bett, ein Nachtschrank, ein Teppich, eine Lampe, ein Gemälde, das Nähkästchen. Ich zog es zu mir her, holte den Brief daraus hervor und las ihn nochmals, aber klarer wurde mir dadurch nichts. Gerade als es spannend wurde, brach ihre Geschichte ab. Ich war mir fast sicher, dass sie noch von der Exekution und vom letzten Tag meines Großvaters hatte erzählen wollen. Sie hatte mir eine Fortsetzung versprochen. Wieso war sie nie mehr dazu gekommen? Den Brief hatte sie zwei Jahre vor ihrem Tod geschrieben. Da hätte sie doch Zeit genug gehabt, ihre Bekenntnisse abzuschließen? Vielleicht gab es noch einen zweiten Brief, den sie irgendwo hier im Haus versteckt hatte, an einem Ort, wo ich ihn schneller finden würde als mein Vater. Nur, wo war das? Sie hatte mir einen Haufen wertloser Gemälde hinterlassen. Vielleicht hatte sie den Brief zwischen ihnen versteckt? Ich drehte das Bild mit der Obstschale um. Nichts. Kein zweiter Brief aus dem Totenreich. Vielleicht gab es ihn ja auch gar nicht. Oder musste ich wieder auf den Dachboden? Und dann, dann fiel Licht in die Dunkelheit, die mein Kopf meistens ist. Sie hatte mir auch das Nähkästchen hinterlassen. Und ich hatte es nie bis auf den Grund untersucht. Beim ersten Mal hatte Paula mich gestört, und nach dem Lesen des ersten
Briefs war ich zu verwirrt gewesen, um noch klar denken zu können. Ich kippte den Inhalt des Kästchens auf das Bett. Und da, zwischen Nadeln und Stopfgarn, lag der zweite Brief. Sie hatte ihn nicht versteckt. Sondern nur ihren dummen Enkelsohn überschätzt. Meine Finger zitterten, als ich den Umschlag aufriss. Hallo Arnoud, wir sind einen Monat weiter, und ich lebe noch. Naja, so schnell wird es nicht gehen, wenn ich dem Arzt glauben darf. Die Frage ist natürlich, ob ich das soll, Ärzten glauben. Ich habe Zeit gehabt, nachzudenken und zu überlegen, ob ich weiterschreibe. Wäre es nicht besser, die Dinge auf sich beruhen zu lassen. Aber das kann ich nicht. Du sollst deine Wurzeln kennen, und ich habe auch noch etwas zu beichten. Ja, vielleicht ist das hier eine Beichte. Immerhin sterbe ich, und da ist es gut, mit einem reinen Seelchen aufzusteigen, heißt es. Eine Frau muss schon merkwürdig sein, wenn sie bei ihrem eigenen Enkelsohn zur Beichte geht. Welche Erinnerungen wurden mir beim letzten Mal zu viel? Natürlich die aus jener fatalen Nacht, die alles veränderte. In dieser Nacht stand Robert bei uns im Schlafzimmer. Er wollte Arnoud sprechen. Ich wollte aufstehen, aber er hielt mich zurück. Kein Lärm, kein Licht, keine Betriebsamkeit, kein Kaffee. Es wäre besser, wenn ich liegen bliebe. Sie schlichen in die Küche. Und ich lag da und fragte mich, was wohl so wichtig war, dass es nicht bis zum Morgen warten konnte. So wichtig, dass Robert, der uns noch nie in dem neuen Haus besucht hatte, plötzlich bis in unser Schlafzimmer vordrang? Ging es um Schmugglerware? Oder hatte er eine Nachricht von der Baronie? Und weshalb wurde ich außen vor
gehalten? Das hier war mein Haus, mein Mann, mein Leben! Aber wie konnte ich nur auf diese Idee kommen? Das hier war nicht mein Haus, und mein Mann war ein Fremder, und mein Leben, wann hatte das jemals mir gehört? Aber wenn sie glaubten, ich würde einfach so hier liegen bleiben, dann kannten mich beide schlecht. Ich kroch aus dem Bett und versteckte mich hinter der Küchentür. »Clara wird auf uns warten.« Das war das Erste, was ich Robert sagen hörte. Clara. Die Baroness. Sie redeten von ihr. Sie wartete. Auf meinen Mann, was sonst. Ihr ganzes Leben lang hatte sie nichts anderes getan. Wie eine Spinne in ihrem Netz aus Goldfäden hatte sie ihn gelockt. Und wenn sie rief, dann kam er. Konnte ich ihm Unrecht geben? Was hatte ich ihm zu bieten? Ich war dumm und lästig. Aber trug ich nicht sein Kind in mir? Ich hätte in die Küche stürmen müssen. Eine Szene machen. Ein Küchenmesser nehmen. Hinterher weiß man immer, was man hätte tun müssen. Doch ich kroch wieder ins Bett und hörte, wie er nach oben kam, sich ankleidete und sich noch kurz zu mir umdrehte. Ich tat, als würde ich schlafen. Als sie fort waren, stand ich auf. Was sollte ich noch in diesem Bett? Mir war schlecht. Und nicht nur, weil ein Kind von ihm in mir wuchs. Sie braucht ihn nur zu rufen, und er rennt hin. Mitten in der Nacht. Und ich, was bin ich? Eine schwangere Kuh. Das dachte ich damals. Vielleicht gab es eine andere Erklärung, aber dann hätten sie mir die ruhig sagen dürfen. »Clara wird auf uns warten.« Nun, Irma würde nicht auf sie warten. Mir reichte es. Mich würde er nicht mehr finden, wenn er von der Baronie
zurückkam. Die Briefe, die mysteriösen Fahrten in die Stadt, der Tratsch, das alles hatte ich ertragen. Aber jetzt war das Maß voll. Ich packte in aller Eile einen Koffer. Ich ging fort. Nicht zu meinen Eltern, das wäre zu einfach. Er brauchte nur zwei Straßen weiter zu gehen und mich zurückfordern, und sie hätten mich ihm nur allzu gern wieder mitgegeben. Nein, es war soweit. Ich ging in die Stadt. Wie ich dort überleben sollte, ob ich dort mitten im Krieg Arbeit finden würde, das waren Sorgen für später. Ich konnte nicht klar denken. Ich war zu wütend. Ich wollte weg, weg aus dem Haus, weg von dem Mann, der mich hier gefangen hielt. Hielt er mich nur gefangen, dann hätte ich zumindest gespürt, dass er mich haben wollte. Wut hielt mich wach. Ich band den Koffer auf mein Fahrrad und zog die Tür mit einem solchen Knall hinter mir zu, dass ich glaubte, das ganze Dorf käme nach draußen gerannt. Hatte ich gehofft, er würde zurückkommen und mich mit dem Koffer in der Hand erwischen? Aber er kam nicht zurück. Er kam nie mehr zurück. Ich sprang aufs Rad. Es war noch dunkel, als ich fortfuhr, fort von Deemstervelde. Am Ende der Straße hörte ich Schüsse. Wilderer, dachte ich noch. So viele Menschen hatten Hunger in dieser Zeit. Man wilderte, wo immer sich die Gelegenheit bot. Und beim Baron zu wildern, war ein Akt der Vaterlandsliebe. Meinetwegen konnte die gesamte Baronie in Flammen aufgehen. Es ist ein ganzes Stück bis in die Stadt, aber meine Wut war mir in die Beine gefahren, und ich trat in die Pedale, bis mir wieder schlecht wurde und ich kurz absteigen musste. Und während ich über einen Bach gebogen dastand, beschlichen mich erste Zweifel. Was machte ich hier? Wohin wollte ich?
Ich hatte Geld für eine Woche. Vielleicht. Was war mit meinen Lebensmittelkarten? Wo würde ich schlafen? Hoffte ich nicht, dass er nach mir suchen würde? War das nicht der einzige Grund, weshalb ich fortfuhr? Was würde ich tun, wenn er mich nicht holen kam? Wenn ich nicht schnell Arbeit fand in der Stadt, und es gab keine Arbeit, für schwangere Frauen erst recht nicht, dann würde ich mit hängenden Ohren zurückmüssen. Meine Eltern würden mir kein Geld schicken. Nicht nach der Schande. Würde ich betteln müssen, um wieder nach Hause zu dürfen? Niemals. Und ich trat fester in die Pedale. Aber dann dachte ich an mein Kind. Was sollte aus ihm werden? Ich war eine Mutter. Ich hatte Verantwortung. Was, wenn ich nie mehr zurückkonnte, meine Familie nie mehr wiedersah? Wäre es nicht besser, umzukehren, solange es noch ging, ohne die Schande? Und dann traten meine Füße langsamer. Und so gelangte ich mehr schlecht als recht in die Stadt. Es gab keinen Verkehr zu der Zeit. Ich fuhr da allein durch den Morgennebel. Bis ich Autos hörte. Zwei deutsche Lastwagen kamen mir entgegen. In einem Umkreis von fünf Kilometern gab es niemanden außer mir, eine Frau ohne Begleitung und mit einem Koffer auf dem Fahrradgepäckträger. Was konnte ich anderes sein als eine Schmugglerin? Sie hielten mich an. »Papiere!« Zum Glück hatte ich die mitgenommen. Es war ein Reflex in jenen Tagen. Eher als meine Papiere hätte ich meinen Rock vergessen. Ich musste den Koffer öffnen, und einer der Deutschen durchwühlte das, was ich in der Eile zusammengerafft hatte: etwas Kleidung und Unterwäsche, Kinderstrümpfe, die ich gestrickt hatte. Misstrauisch befingerte
er das Malzeug, das ich eingepackt hatte. Ich ließ es über mich ergehen. » Wohin fährst du?« Ich versuchte, ihm in meinem besten Deutsch zu erklären, dass ich in die Stadt fuhr, aber sie wollten ganz genau wissen, wohin. Aber das wusste ich doch selbst nicht! Ich hatte mich auf dem Fahrrad die ganze Zeit über dasselbe gefragt. Er bohrte weiter. Und ich wollte es an jemanden loswerden, so sehr ich mich auch dafür schämte. »Ich verlasse meinen Mann.« Ich spürte, wie ich unter dem Blick des Soldaten errötete. Er war noch jünger als ich. Weshalb, wollte er wissen. Gehörte das auch zum Verhör? Konnte ich ihm erzählen, dass mein Mann mich einfach übersah? Dass er nicht schlug oder schrie oder tobte, aber dass ich das lieber gehabt hätte als sein nichtssagendes Lächeln? Wie sollte ich ihm das in meinem besten Deutsch erklären? »Er hat eine andere Frau«, brachte ich am Ende heraus. Das war es doch, weswegen ich hier in aller Frühe herumradelte, oder? »Ein hübsches Mädchen wie dich?« Ja, ein hübsches Mädchen wie ich konnte ihren Mann nicht halten. Er hatte ihr nie gehört. Er schaute nochmals in meine Papiere. »De Vriendt. Der Freund, nicht?« Ich nickte. »Der Schulmeister?« Ja, er war Dorfschulmeister. Und Schmuggler. Und Ehebrecher. Aber das stand noch nicht in meinen Papieren. Er gab sie mir wieder. »Weinen Sie nicht mehr.«
Da erst merkte ich, dass ich weinte. Wie lange schon? Schon bevor mich die Deutschen angehalten hatten? Oder erst als ich ihnen gestand, dass ich meinen Mann verließ? Er rief den anderen etwas zu, sprang ins Auto, und sie fuhren weiter. Und ich stand allein am Straßenrand, mit einem Koffer, aus dem meine Kleider eins nach dem anderen herausflatterten. Es war verrückt, aber ich fühlte mich besser, als ich wieder auf dem Fahrrad saß. Ich verließ meinen Mann. Er hatte eine andere Frau. Das war nichts, worauf ich stolz sein konnte. Aber wenigstens hatte man mir geglaubt. Machte es etwas aus, dass mir ein junger Mann geglaubt hatte, ein gut aussehender junger Mann, der mich voll Mitleid ansah? Der mich »hübsch« gefunden hatte? Sagten sie das nicht zu jedem Mädchen, dem sie begegneten? War ich so dumm, dass die paar freundlichen Worte mich glücklich machen konnten, mitten in meinem Elend? War es so weit gekommen, dass ich von den Worten fremder Männer zehren musste? Warum hatte Arnoud mir nie gesagt, ich sei schön. Er war mein Mann. Ich hätte ihm geglaubt. »Weinen Sie nicht.« Nein, ich würde nicht mehr weinen. Ich würde ihm endlich sagen, was mir seit Monaten den Schlaf raubte und was ich nicht einmal mir selbst gegenüber hatte zugeben können. Es wurde eine lange Rede, da in meinem Kopf. Ich vergaß nichts. Er würde alles auf einmal zu hören bekommen. Das Unrecht, das er mir angetan hatte. Meine Liebe. Meine Vorwürfe. Zum Glück war außer mir niemand auf der Straße. Ich muss wie eine Verrückte ausgesehen haben, murmelnd, rufend, allein auf meinem Rad.
Aber dann war alles raus. Die Wut verebbte und machte anderen Gedanken Platz. Wohin fuhren diese Deutschen so schnell? Was hatten sie in Deemstervelde zu suchen? Und ich dachte wieder an die Schüsse. Das waren keine Wilderer gewesen. Irgendwas war geschehen. Etwas mit Arnoud. Nun, er hatte es verdient. Aber ich fuhr immer langsamer. Zuletzt blieb ich stehen. Was tat ich da? Ich musste zurück. Ich hatte einen langen Weg vor mir. Und ich hatte Angst. Mehr Angst als beim Wegfahren. Je näher ich dem Dorf kam, desto mehr wuchs die Angst. Ich sah niemanden auf den Feldern. Wo waren alle? Ich fuhr durch leere Straßen, und auch unser Haus wirkte wie tot. Ich ging hinein. »Arnoud?« Das Haus war leer. Vielleicht war er noch nicht zurück von seinen nächtlichen Abenteuern und ahnte nicht, dass ich ihn verlassen hatte. Mit etwas Glück hatte er mich überhaupt nicht vermisst. Ich schleppte meinen Koffer die Treppen hinauf, öffnete die Tür zum Schlafzimmer, und es verschlug mir den Atem. Das ganze Schlafzimmer stand voller Gemälde. Ich ging staunend umher, schaute von einem Bild zum andern. Zuerst dachte ich, er hätte das hierfür mich getan. Das hier wäre seine Art, es gutzumachen. Das hier wäre das Geschenk, auf das ich schon so lange wartete. Arnoud hätte endlich begriffen, was mir wichtig war. Die Bilder waren fantastisch. Gewagt. Und unbezahlbar. Ich schaute nach den Signaturen. Klee. Kollwitz. Bracque. Munch. Picasso.
Mit Malerei kannte ich mich ein wenig aus. Das hier schienen mir keine Fälschungen zu sein. Aber eine Fälschung wirkt natürlich immer echt. Was hatte Arnoud vor? War das seine Schmugglerware? Denn so allmählich gab ich die Vorstellung eines Geschenks an mich auf. Keine Blumen, kein Brief. Die Bilder waren nicht für mich bestimmt. Hier war irgendetwas anderes im Busch. Ich musste Arnoud finden. Wo war er? Wo war das ganze Dorf? Ich radelte zu meinen Eltern, aber die Metzgerei war zu. Alle Geschäfte waren zu. Was war passiert? Ich fand sie auf dem Platz vor der Kirche. Das ganze Dorf war zusammengeströmt. Sie drehten sich um, als sie mich sahen, riefen Dinge, die ich nicht verstand. Die Worte bedeuteten nichts. Ich hörte sie nicht, das Blut pochte zu laut in meinen Ohren. Hier und da sah ich Frauen weinen. Eine Frau, Louisa Schoonjans, saß auf dem Boden, hatte ihr Kind im Arm und schrie mir etwas zu, aber ich hörte die Schreie nicht, ich sah nur ihren sich bewegenden Mund. Etwas zwang mich nach vorn. Manche Leute wollten mich zurückhalten. Andere wichen zur Seite. Und ich ging weiter, hatte zu große Angst zum Denken. Meine Mutter hatte mich gesehen und kam mir entgegen, aber ich ging weiter zur Mitte des Platzes. Ich fühlte, dass ich es sehen musste, noch bevor ich es begriff. Und da stand Arnoud. Er lebte noch. Erst als ich ihn sah, hörte ich die Menge. Es war, als wäre ich aus der Stille des Wassers in einer Lärmhölle aufgetaucht. Manche riefen den Deutschen Verwünschungen zu, andere flehten, weinten. Es war meine Mutter, die mir erzählte, was los war. Am Morgen habe es einen Überfall auf einen deutschen Konvoi gegeben. Einer der Offiziere sei getötet worden. Die Deutschen hätten zehn Männer festgenommen.
Hier in Deemstervelde. Weil der Überfall in der Nähe stattgefunden habe. Die Deutschen hätten den Attentätern bis zwölf Uhr Zeit gegeben. Wenn sie sich nicht stellten, würden diese Männer hier exekutiert. »Sie haben Arnoud, Irma.« Ich sah ihn dastehen, zwischen all den Leuten, die ich seit Jahren kannte, Pierre Lhermitte und Maurice Bausse, siebzig Jahre und ganz zusammengeschrumpft, ein wandelndes Fragezeichen, und Theofiel Heyvaert mit seinen schlechten Lungen, und Leonard, gerade erst sechzehn, und Cesar van de Veirre, der immer beim Kartenspiel schummelte, und Jules Schoonsjans, soeben Vater geworden, und mein Arnoud, mein Arnoud. Es war Viertel vor zwölf. Meine Mutter fragte mich, wo ich die ganze Zeit gesteckt hätte. Sie hätte mich überall gesucht. Ich wimmelte sie ab. Ich brauchte Platz zum Atmen, Platz zum Denken. Ich wusste sofort, wer den Konvoi überfallen hatte. Er war also doch nicht bei der Baroness gewesen. Ich hatte es falsch verstanden. Ich hatte ihn falsch eingeschätzt. Er hatte noch eine Viertelstunde zu leben. Und ich hätte ihn beinahe im Stich gelassen. Warum schwieg er? Die Bilder waren es nicht wert. Fürchtete er, man würde ihn trotzdem erschießen? Ich konnte das hier nicht zulassen. Ich musste etwas tun. Ohne nachzudenken, ging ich nach vorn. Und er sah mich. Er sah, wie ich mich vordrängte. Zum ersten Mal in seinem Leben sah er mich. Er schüttelte den Kopf. Versuchte, mir etwas klar zu machen. Aber was? Wollte er mich warnen? Zu spät, Arnoud. Als er sah, dass ich nicht stehen blieb, sondern weiterging, sprang er auf. Und gestand. Plötzlich war es totenstill auf dem Platz.
Arnoud wird nach vorne gezerrt, bis zum Kommandanten. Er muss sagen, wer er ist, weshalb er den Konvoi überfallen hat, wer seine Handlanger sind. Er sieht sich noch einmal um. Sieht die Deemstervelder, die ihn mit neuer Hoffnung angaffen. Er sieht mich. Er könne nicht sagen, wer ihm geholfen habe. Wer die anderen gewesen seien, wisse er nicht. Sie seien maskiert gewesen. Das ist Unsinn, und die Deutschen wissen es. Sie haben keine Lust, Zeit zu verlieren. Wenn er etwas wisse, dann solle er es besser sagen. Sonst habe er den Mund zu halten. Mit Hirngespinsten gäben sie sich nicht ab. Wo sei der Lastwagen jetzt? Mit wem habe er das Attentat vorbereitet? Woher habe er von dem Transport gewusst? Arnoud schweigt. Ein Soldat rammt ihm sein Gewehr in den Magen. Ein anderer… Dein Großvater gibt nichts preis. Er springt auf den Kommandanten zu, mit einem Messer, das er in der Tasche trägt. Es ist ein Kartoffelmesser, keine Mordwaffe. Trotzdem wird er, wie er wahrscheinlich gehofft hatte, niedergeschossen, bevor sie etwas aus ihm herausbekommen. Kurz darauf werden die neun anderen erschossen. Die Deutschen fuhren weg. Die Leichen wurden auf einen Karren gelegt und Haus für Haus abgeliefert. Es war eine unbeschreibliche Szene, der Karren mit den zehn Leichen und dahinter das ganze Dorf, weinend, fluchend. Wir wohnten am weitesten vom Kirchplatz entfernt, und die Prozession war entsprechend ausgedünnt, als man Arnoud hineintrug. Meine Mutter wollte ihn hinauf ins Schlafzimmer bringen, aber das verhinderte ich. Da standen die Bilder.
Mein Vater mischte sich ein. Es gehöre sich nicht. Aber ich war nicht in der Stimmung, mir widersprechen zu lassen. Es war das erste Mal, dass ich nicht auf das hörte, was meine Eltern und das Dorf verlangten. Er musste unten bleiben. Es sei leichter, ihn hier aufzubahren, behauptete ich. Und ich würde es allein tun. Ich bräuchte keine Hilfe, auch nicht die meiner Mutter. Der Herr Pastor machte seine Runde, aber eine solche Katastrophe hatte das Dorf noch nie heimgesucht, und es würde noch eine Weile dauern, ehe er hier auftauchte. Aber mein Vater meinte, er könne nicht auf dem Küchentisch liegen bleiben. Es war unglaublich. Vor einer Stunde waren zehn Männer kaltblütig erschossen worden. Wir hatten die Leichen durchs Dorf gefahren. Und hier stand ich in meiner Küche und stritt mich mit meinem Vater darüber, was möglich war und was nicht. Hatte er nicht gesehen, dass in dieser Welt alles möglich war? Mein Vater ließ sich zuletzt noch bereden, aber meine Mutter wollte nicht fort. Sie hatte Arnoud bei der Hand gefasst und hörte nicht auf zu weinen. Lass mich dir helfen, flehte sie. Und dann schaute sie wieder zu Arnoud, in das zu Brei geschlagene Gesicht, die Blutergüsse, das eine Auge, das sich nicht schließen lassen wollte. Seine Kleidung war blutdurchtränkt. Er, der immer so ordentlich gewesen war. Ich ließ sie in der Küche zurück und ging nach oben. Sie würde mir nicht folgen. Sie hatte keine Kraft mehr für die Treppen. Die Bilder standen immer noch im Schlafzimmer. Es war also kein Traum gewesen. Mein Mann hatte tatsächlich den Konvoi überfallen. Er hatte den Mut, die Torheit besessen, seine Beute hierher zu bringen, mir ins Haus zu schleppen. Wollte er uns
allesamt umbringen? Hatte er nicht nachgedacht? Hatte er keinen besseren Ort finden können? Ich hatte keine Zeit, zu trauern oder wütend zu werden. Die Bilder mussten so schnell wie möglich verschwinden. Ich schleppte sie in eine Abstellkammer, versteckte sie hinter dem Bettzeug und ein paar Stühlen und brachte das Schlafzimmer in Ordnung. Wenn sie ihn jetzt noch nach oben tragen wollten, dann bitte. Als ich nach unten kam, sah ich, dass meine Mutter ihm das Hemd ausgezogen hatte und seine Wunden wusch. Je mehr sie wusch, desto mehr blutete es. Das war doch nicht möglich. Hatten sie Christus nicht mit einem Speer gepiekst, um zukontrollieren, ob er schon tot war? Aber mein Mann blutete. Einen Moment lang dachte ich, die Schüsse seien nicht tödlich gewesen. Aber dann sah ich es. Meine Mutter wusch ihn mit warmem Wasser. »Haben die ganzen Jahre zwischen den toten Schweinen dich nichts gelehrt? Er wird es nicht mehr spüren.« Sie schaute mich an. Wie konnte ich solche Dinge sagen? Sie hatte gerade ihren Schwiegersohn verloren und ich den Mann, den Vater meines ungeborenen Kindes. Wie konnte ich so hart sein? Aber sie goss das Wasser in das Pumpbecken, wo es rot abfloss, und pumpte kaltes Wasser. Ich nahm ihr den Schwamm aus der Hand. Ich würde den Rest schon erledigen. Sie könne gehen. Zuerst weigerte sie sich, aber als sie sah, dass ich entschlossen war, sie zur Tür hinauszuschieben, gab sie nach. Sie würde am Abend wiederkommen. Geh irgendwo anders mit deinem Kummer hausieren, dachte ich, als sie ging, kleiner, als ich sie je gesehen hatte. Sie hatte Recht. Ich war hart. Aber ich hatte zu viel zu tun. Als Erstes meinen toten Mann aufbahren. Das Waschen ging schnell. Ich rieb ihm nicht hundertmal über die Finger, ich prägte mir seinen Körper
nicht ein. Er hatte mich verlassen, so endgültig wie er nur konnte. Er hatte Diebesgut in unserem Haus versteckt und mich und sein Kind in Gefahr gebracht. Aber das war offenbar nicht wichtig. Wir waren offenbar nicht wichtig. Und jetzt war er fort. Und ließ mich mit meinem Leben zurück. Ich wollte nicht zu viel nachdenken. Die Wut hielt mich auf den Beinen. Ich hatte keine andere Wahl, als wütend zu bleiben, bis alles hinter mir lag. Ich ging wieder in die Abstellkammer. Selbst wenn man aus Versehen die Tür auf stieß, sah man die Bilder nicht. Und wenn schon? Wer würde denken, dass es gestohlene Bilder waren? Aber sie mussten fort, so schnell wie möglich. Verbrennen konnte ich sie nicht. Es war warm, und ein Feuer hätte Verdacht entstehen lassen, erst recht mit einem Toten im Haus, den man möglichst kühl halten musste. Erst als ich meinen Koffer wieder auspackte und mein Malzeug sah, wusste ich, was ich zu tun hatte. Ich würde sie übermalen. Es war alles so unwirklich. Meine Mutter stand viel zu schnell wieder an meiner Tür, und ich schaute zu, wie sie die Spiegelbedeckte, wie sie Kerzen aus ihrer Tasche nahm und sie um den Tisch postierte. Die Flammen waren im Tageslicht nur mit Mühe zu sehen. Sie holte ihren Rosenkranz aus der Schürze und wollte, dass ich mich neben sie setzte. Und ich hatte keine Energie mehr, gegen sie anzugehen. Ich war so müde. Ich schloss die Augen. Schloss die Augen vor meinem toten Mann und sah ihn wieder, da auf dem Platz. Ich sah wieder, wie er mich angeschaut hatte. Was hatte er mir sagen wollen? Weshalb war er aufgesprungen? Um mich von etwas abzuhalten? Wen wollte er beschützen? Mich und das Kind in mir? Befürchtete er, die Deutschen würden mich festnehmen, wenn
sie die Bilder in unserem Haus fanden? Hatte er sich meinetwegen geopfert? Oder seines Bruders wegen? »Clara wird auf uns warten.« Oder ihretwegen? Wissen werde ich es nie. Abends, als alle aus dem Haus waren, die Verwandten, die Nachbarn, meine Mitwitwen mit ihrem Kummer, der so groß war, dass sie ihn allein nicht tragen konnten, holte ich die Bilder aus der Abstellkammer. In einer Nacht übermalte ich sie alle. Mit wundem Herzen, denn manche waren so schön, so stark. Es waren Werke wirklicher Maler. Ich hatte selten so eigenartige Gemälde gesehen. Manche waren in der Tat abstoßend, mit verzerrten Gesichtern und formlosen Leibern. Aber sah der Mensch in Wirklichkeit nicht so aus? Andere Bilder waren atemberaubend. Auf dem ersten war der Schemen eines roten Pferdes auf einer Weide zu sehen. Es war eine Flamme, ein bebender, wilder Traum in Dunkelgrün. Man spürte die Leidenschaft des Malers für das Leben, für diese ungreifbare, schöne, grausame Sache. Ich übermalte es. Malte ein gebratenes Huhn. Es war Gotteslästerung, aber es war die Zeit für Gotteslästerungen. Und nach dem ersten Bild ging es bei den anderen schon leichter. Es war eine lange Nacht. Ich brauchte Licht zum Malen, also trug ich die Kerzen hinauf. Und während mein Mann da im Dunkeln lag, übermalte ich diese teuren Werke mit Banalitäten: Fische, Apfelsinen, Trauben. Erst beim vierten Bild wurde mir klar, dass ich keine willkürlichen Motive malte, sondern von meinem Magen geleitet wurde. Es war Jahre her, dass ich Trauben geschmeckt hatte, und hier, mitten in meinem Elend,
erschienen sie auf der Leinwand, zusammen mit anderem Obst und frischem Fisch. Ich wollte es mir selbst nicht noch schwerer machen und malte Clowns, Puppen, Spinnräder. Um fünf Uhr in der Frühe war ich fast fertig. Ich brachte die Kerzen zurück auf ihren Platz und stellte das letzte Gemälde, ein Haus irgendwo in der Provence, das vor Licht und Intensität zitterte, in der Küche auf. Ich betrachtete Arnoud. Da lag er, der große Mann. Seine Augen waren geschlossen, und seine Kraft war dahin. Ich würde nie erfahren, was er gedacht hatte. Ich würde nie seine Hand spüren, die mich umfasste, als würde sie mich brauchen. Ich malte ihn. Die Kerzen konnten den üblen Geruch im Zimmer nicht verdecken, aber ich ließ mich nicht nervös machen. Ich war eine Fleischerstochter. Ich hatte genug totes Fleisch in meinem Leben gerochen. Und dann war ich fertig. Ich öffnete die Fenster, um den Geruch von Tod und Farbe aus dem Haus zu lassen, und wartete auf meine Mutter. Es war noch dunkel, als sie kam. Ich muss sehr schlecht ausgesehen haben im Kerzenschein, denn sie zwang mich, mich schlafen zu legen. »Los. Geh und schlaf ein paar Stunden. Es werden noch lange Tage. Und es ist nicht gut für das Kind.« Das Kind. Um das Kind war sie besorgt, fetzt, wo ich aussah wie eine Witwe, war mir mein Ungehorsam vom Tag zuvor vergeben. Ich war zu müde, um mich zu widersetzen. Und es war so lange her, dass mich jemand zärtlich in den Arm genommen hatte. »Kindchen, mein Kindchen.«
Ich ging nach oben, bevor wir beide noch zu weinen anfingen. Am nächsten Tag verliefen die Vorbereitungen für das Begräbnis in großer Unordnung. Das Dorf hatte zehn Beerdigungen gleichzeitig zu regeln. Und über alles wurde gestritten. Wie viel würde es kosten? Wer würde was bezahlen? Ich überließ diese Dinge meinen Eltern und war mit allem einverstanden. Vielleicht war es der Schlafmangel, aber nach ein paar Stunden hier im Haus hätte ich schreien mögen. Während einer Diskussion über den Sarg schlich ich mich fort und ging in den Garten, möglichst weit weg von allem. Ich wollte etwas in der Sonne sitzen, aber die Hitze wurde mir zu viel. Ich ging in die Scheune und schloss die Tür. Ich wollte alles ausschließen. Die Stimmen. Die Gerüche. Hier im Dunkel hörte ich nur ein paar Amseln. Ich drehte mich um und sah im Dämmerlicht einen Lastwagen. Es war der Lastwagen der Deutschen. War er verrückt geworden, mein Mann? Dass er nicht nur die Bilder in unserem Haus ablud, sondern auch noch den Laster in unserer Scheune parkte? Ich war so wütend, dass ich fast ins Haus gerannt wäre, um ihm ins Gesicht zu schlagen. Der Laderaum war leer. Ich fühlte die scharfen Ränder, wo Kugeln das Metall durchbohrt hatten, kroch hinter das Steuer und tastete alles ab. Keine Schlüssel. Ich ging nach draußen. Zum Glück hatten die Reifen nicht allzu viele Spuren im Gras hinterlassen. »Irma.« Diese Stimme. Ich drehte mich um. Nein. Es war nur Robert. »Ich bin hier mit Mutter. Sie sitzt in der Küche.« »Robert, ich…«
»Irma. Was soll ich sagen? Ich hätte nicht kommen und ihn holen dürfen. Wir hatten nie geglaubt, dass es Tote geben würde. Alles ist verkehrt gelaufen. So vollkommen verkehrt.« Er sah müde aus. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Es ist alles meine Schuld.« Er erzählte mir, er habe über die Tochter des Barons herausbekommen, dass am nächsten Morgen eine Ladung gestohlener Gemälde durch den Wald gefahren würde. Es sei die ideale Gelegenheit gewesen, mit einem Schlag genug Geld zu verdienen, um nicht der Sklave der Herren bleiben zu müssen. Sondern sein eigener Herr zu sein, seine eigene Werkstatt aufzumachen. Aber allein habe er es nicht gekonnt. Arnoud sei der Einzige gewesen, dem er vertrauen konnte. Und Arnoud sei einverstanden gewesen. Das Geld habe ihn angesprochen. Und die Spannung. Und die Tochter, dachte ich. Aber ich schwieg. Sie hätten einen Baum über die Straße gelegt und gewartet. Wie erwartet sei zuerst das Auto des örtlichen Kommandanten gekommen. Es habe gehalten. Der Lastwagen habe gehalten. Die Männer seien ausgestiegen. Alles sei wie geplant verlaufen. Zu einfach. Arnoud habe schon hinter dem Steuer gesessen, bevor die Deutschen etwas ahnten. Aber dann sei es schief gelaufen. Einer der Deutschen habe schneller als erwartet das Auto gewendet und die Verfolgung aufgenommen. Einen zweiten Baum hätten sie beim Wegfahren umreißen und so das Auto einschließen wollen, aber der Baum sei nicht richtig gefallen, das Auto habe noch daran vorbeigekonnt und der Mann hinter dem Steuer jetzt auch auf sie zu schießen begonnen. Und Robert, der hinten im Lastwagen saß, sei nichts anderes übrig geblieben, als zurückzuschießen.
Das Auto sei irgendwann vom Weggeraten. Arnoud habe seinen Bruder in der Nähe der Baronie abgesetzt und sei weitergefahren. »Ich wusste nicht, dass ich jemanden getroffen hatte. Erst recht nicht, dass er tot war. Aber das ist nicht das Schlimmste. Irma, ich habe keine Ahnung, wohin er mit dem Laster gefahren ist! Das musst du mir glauben!« Der Lastwagen stand keine fünfzig Meter von ihm entfernt. Aber das erzählte ich ihm nicht. » Weshalb sollte ich dir nicht glauben?« »Vielleicht denkst du, ich möchte die Beute für mich allein behalten. Aber ich schwöre dir, ich brauche das Geld nicht. Ich will es nicht, solange ich damit auch nur irgendetwas wiedergutmachen kann.« Robert wusste also nicht, wo der Lastwagen war. Wusste nichts von den Bildern. Er kam auf mich zu. »Irma, ich…« »Ich habe dich nicht auf dem Platz gesehen, Robert.« »Nein, der Baron bat mich, die Deutschen abzuholen. Ich habe es erst erfahren, als alles vorbei war. Zum Glück hat auch Mutter es nicht zu sehen brauchen.« » Und was weiß Mutter?« »Noch nichts!« Er rief es laut. »Ich konnte es ihr nicht erzählen. Sie würde es mir nie verzeihen. Nicht, dass ich das nicht verdient hätte. Es ist alles meine Schuld. Aber wenn deine Eltern wissen, dass ich Arnoud aus dem Bett geholt habe, dann…« Deshalb war er mir im Garten entgegengekommen. Hatte ich den Mund aufgemacht? Ich konnte ihn beruhigen. »Sie wissen es nicht. Ich habe es ihnen nicht erzählt.« »Nein?« Diese Hoffnung in seiner Stimme.
»Nein.« Ich konnte ihm nicht sagen, dass die Bilder im Schlafzimmer mir den Mund verschlossen hatten. Neun meiner Nachbarn waren erschossen worden. Mein Mann war die Ursache ihres Todes gewesen. Wollte ich, dass das Dorf das erfuhr? Ich war so müde. Und es geschah so viel. Ich war erstaunt, dass ich noch denken konnte. Aber irgendwie funktionierte mein Hirn doch noch. Robert würde den Mund halten. Jetzt kam es darauf an, selbst nichts preiszugeben. Denn die Wahrheit würde mir das Leben im Dorf nicht leichter machen. Und ihre Rache würde nicht lange auf sich warten lassen. Es würde nicht lange dauern, und die Deutschen stünden an meiner Tür. Und die würden meinen Bildern mehr Aufmerksamkeit schenken, als sie verdienten. Und kurz danach auch mir. Ob schwanger oder nicht, sie würden mich zusammen mit den Kunstwerken in ihren Lastwagen verfrachten, und ich hätte das Dorf zum letzten Mal gesehen. Ich zog auch Robert nicht ins Vertrauen. Es war ein Reflex. Über den Wert der Bilder dachte ich in diesen Tagen nicht nach. Loswerden wollte ich sie, so schnell wie möglich. Ich hatte Angst vor Hausdurchsuchungen. Robert konnte sie später abholen, wenn alles etwas abgeflaut war. Er hatte sie verdient. Er hatte sie teuer genug bezahlt. Meine erste Sorge war das Auto. Ich ging zusammen mit Robert ins Haus zurück. Er entschuldigte sich immer wieder und nahm wieder und wieder die Schuld auf sich. Ich hätte Mitleid mit ihm haben müssen. Aber bevor wir ins Haus kamen, hielt er mich zurück und… vielleicht war es Einbildung, aber seine Hand blieb zu lange auf meiner Schulter liegen. Er wollte etwas sagen, doch ich wandte mich ab. Ich wollte nicht hören, was er zu sagen hatte. Sein Bruder war noch nicht kalt.
In der Küche flog mir seine Mutter um den Hals. Meine Mutter floss schon dahin, als sie nur die ersten Schluchzer hörte. Ich ließ die beiden stehen und ging in die Waschecke. Wir hatten Arnoud in einen seiner schönsten Anzüge gesteckt. Die Kleidung, die er bei der Exekution getragen hatte, lag auf einem Haufen im Wäschekorb. Ich tastete in seinen Hosentaschen und hörte sie klimpern, noch bevor ich sie zufassen bekam: die Schlüssel. In dieser Nacht lud ich mein Fahrrad in den Lastwagen. Zum Glück war Robert immer der Meinung gewesen, die Frau eines Automechanikers müsse selbst auch Autofahren können. Es erstaunte mich, dass ich noch etwas von seinen Lektionen im Gedächtnis hatte, denn in meiner Erinnerung waren wir zum Fahren nie gekommen. Als ich hinter dem Steuer saß, war alles zum Glück wieder da. Der Lärm, den der Laster beim Starten machte, muss das gesamte Dorf aufgeweckt haben. Aber es gab eine nächtliche Ausgangssperre, und die noch lebenden Deemstervelder hatten Angst, aus ihren Häusern zu kommen. Ich überlegte, den Lastwagen im Schlosspark abzustellen, aber zu meinem Leidwesen durfte ich die Aufmerksamkeit nicht zu sehr auf die Baronie lenken. Also fuhr ich ihn in eine der Tongruben. Ich habe ihn noch nicht einmal versinken sehen. Es wird Abend, Arnoud, und ich habe mich müde geschrieben. So viele Seiten. Ich unterscheide mich also doch nicht so sehr von dieser verrückten Baroness, die deinen Großvater mit Briefen bombardierte. Die Bilder sind für dich. Ich habe Robert nie erzählt, dass ich sie hatte, auch nicht, als er nach dem Krieg nach Deemstervelde zurückkehrte und die Gegend nach ihnen umpflügte. Ich denke, er hat schließlich begriffen, dass ich mehr wusste. Aber er war hier nicht mehr willkommen.
Offenbar konnte ich ihm den Mord an meinem Mann doch nicht so leicht vergeben. Und er drang nicht in mich. Er hatte Angst vor mir. Angst vor dem, was ich wusste. Angst vor dem, was ich einem Dorf erzählen konnte, das seinen Hass wie einen Orden vor sich hertrug. Einem Dorf, das dem Baron und seiner Familie nie verziehen hatte. Einem Dorf, das nicht verstand, dass Robert wieder auf der Baronie arbeitete, jetzt unter dem alles sehenden Auge der Tochter. Der Tratsch über ihn und die Baroness, fast schon vergessen, wurde abgestaubt. Es stimmte also doch, dass sie vom einen Bruder zum anderen gewechselt war. Für Deemstervelde war die Baronie der Vorhof zur Hölle. Jeder, der auch nur etwas mit dem Haus oder der Familie zu schaffen hatte, den hatte die schwarze Hand des Teufels berührt. Und Robert, mochte er es anfangs auch noch so sehr mit Freundlichkeit versuchen und mochten seine Familienbande mit dem Dorfhelden noch so eng sein, wurde ausgestoßen. Er war nicht mehr willkommen. Abermals, und diesmal für immer, hatte sein Bruder ihn ins Abseits gedrängt. Er hätte den Mund auftun können. Er hätte erzählen können, dass der eine Mann, der die neun anderen vielleicht hätte retten können, gerade ihr angebeteter Held war. Doch er schwieg wohlweislich und suchte weiter nach seinem Schatz. Dein Vater wurde groß, und ich hatte alle Hände voll zu tun. Die Nacht der Gemälde hatte mich endgültig von meinem Künstlertraum geheilt. Ich hatte die Werke echter Künstler in den Händen gehalten und begriffen, dass ich nie in ihre Fußstapfen würde treten können. Ich würde nie ein Niveau erreichen, das imstande war, mich zu befriedigen. Während ich mit jedem Pinselstrich wieder etwas von meiner Mittelmäßigkeit über ihr Talent
malte, übermalte ich auch meine Träume. Mein letztes Bild war das Totenbildnis deines Großvaters. Es tut ihm keine Ehre an. Aber so soll es auch sein. Er hat es verdient, durch meine amateurhaften Hände verwurstet zu werden. Schließlich war er es gewesen, der mich mit seiner gespielten Begeisterung belogen hatte, der vor meiner Nase immer die Kunstakademie als Köder hatte baumeln lassen und mich unzufrieden hielt mit meinem Schicksal. Und ich war so dumm gewesen, ihm zu glauben. Das verüble ich ihm noch am meisten. Dass er… Nun ja, er ist tot, und über die Toten nur Gutes. So beschloss ich, deinen Vater großzuziehen. Nicht mit Bitterkeit, sondern mit Schweigsamkeit. Ich brauchte auch nicht zu lügen. Sein Vater hatte immer seine Pflicht getan. Er war ein gut aussehender, intelligenter Mann gewesen, ein Kriegsheld. Und dieses Bild von ihm wollte auch ich an deinen Vater weitergeben. Das bedeutete allerdings, dass ich ihm nie die Herkunft der Gemälde würde beichten können. Aber es ist gelungen. Aus deinem Vater ist ein guter Mensch geworden. Nur hat er von seinem Vater den Hang zu den falschen Frauen geerbt. Ich habe mein Bestes getan, die Katastrophe, die seine Ehe ist, zu verhindern, aber er ist genauso dickköpfig wie seine Eltern. Und eine schlechte Ehe ist nicht das Ende der Welt. Sieh dir an, was daraus hervorgegangen ist: du, Arnoud. Die Bilder sind für dich. Du kannst damit tun, was du willst. Sie sind viel Geld wert, so viel habe ich herausbekommen. Sei vorsichtig. Ich weiß nicht, wie genau es um die Rechte gestohlener Gemälde steht. Sie waren im Besitz eines Museums, das während des Krieges bombardiert worden ist. Aber der deutsche Staat kann sie zurückfordern.
Tu, als hättest du eines entdeckt, und sieh dann, wie die Deutschen die Sache angehen. Falls du nicht genügend dafür bekommst, dann keine Panik. Derartige Funde sind wie ein Kadaver in der Wüste. Ehe du dich versiehst, kreisen über dir die Geier. Du wirst genug Angebote von Privatsammlern erhalten, die vermuten, dass es da noch mehr zu »entdecken« gibt, und du wirst verstehen, dass man für gestohlene Ware nie das volle Pfund verlangen kann. Aber unterm Strich wird es viel Geld sein. Bist du schockiert, mein Enkelsohn, dass ich dich zu kriminellen Handlungen anstifte? Zu Recht. Ich bin es selbst ein wenig, und ich bin kaum noch zu schockieren. Ich habe gesehen, wie mein Mann und neun andere einfach so erschossen wurden. Aber gerade weil so viele Menschen ihretwegen umgekommen sind, will ich den Deutschen die Bilder nicht zurückgeben. Habe ich sie nicht verdient? Habe ich sie nicht mit meinem Leben, meiner Seele bezahlt? Und da soll ich sie einfach so zurückgeben, nach allem, was geschehen ist, damit sie irgendwo in irgend so einem Alpenmuseum landen, wo Leute gelangweilt an ihnen vorbeispazieren, wenn sie das Skifahren leid sind? Es gibt Gemälde genug auf der Welt. Ein Menschenleben reicht nicht, sie alle zu sehen. Dem Museum werden sie nicht fehlen. Es weiß noch nicht einmal etwas von ihrer Existenz. Aber du weißt davon, Arnoud. Du bist der Erbe. Wenn ich sie dir nicht gebe, dann war alles umsonst. Das nächtliche Malen. Mein toter Mann auf dem Küchentisch. Die Gedenkplatte in der Kirche. Umsonst. Das darf doch nicht sein. Verbrenn diesen Brief und warte mit dem Verkauf der Bilder, bis du alt genug bist, um sicher zu sein, dass du alles in der Hand hast. So. Das war’s. Das musste ich an dich loswerden. Die Bilder bedeuten eine Zukunft. Du wirst nicht betteln müssen, um
etwas zu erreichen. Du wirst nicht von anderen abhängig sein, wenn du ein Studium aufnehmen oder die Welt sehen möchtest. Falls du vernünftig genug bist, gut mit dem Geld umzugehen. Ich will dir nicht den Weg in deinen Untergang weisen. Naja, vielleicht liest du diesen Brief nie. Aber ich habe ihn geschrieben. Das ist das Wichtigste, wichtiger als die Bilder und das Geld. Ich habe erzählen können, was ich die ganze Zeit hindurch verschwiegen habe. All die Jahre habe ich mich gefragt, was ihm durch den Kopf gegangen ist. Ob er sich meinetwegen geopfert hat. Ob ihm an mir lag. Ich habe viel zu viel Zeit für diese Fragen geopfert, weiß ich jetzt. Chancen an mir vorübergehen lassen. Es war ein einsames Leben. Aber trotzdem kein schlechtes, denke ich. Es hätte anders sein können. Aber dafür ist es jetzt zu spät. Lerne von den Irrtümern deiner Großeltern. Im letzten Monat hatte ich Angst, diesen Brief zu beenden. Nicht weil die Gefühle mir zu viel werden könnten. Die habe ich unter Kontrolle. Ich habe die Ereignisse nicht einen Tag aus meinem Hirn bannen können. Aber ich hatte Angst, ich könnte so lange geschwiegen haben, dass ich in dem Augenblick, wenn ich das letzte Wort schreibe, tot umfalle. Als könnte damit meine Aufgabe zu Ende sein. Als würde eine Last von mir abfallen, ein Stein von mir rollen und ich davonschweben. Aber ehrlich gesagt, empfinde ich gar nicht mehr so viel. Es bedeutet alles nichts mehr. Die Spieler sind tot, der Text ist aufgesagt und verflogen. Ein paar Worte auf Papier, das ist alles, was übrig bleibt. Sorge gut für deinen Vater. Und bete für deine Großmutter. Lass es dir gut gehen, Arnoud. Gott segne dich. Irma de Vriendt-Meert
Die Eulen würgen es aus
Die Liebe ist ein seltsam Ding. Und hat der Familie de Vriendt wenig Freude gebracht. Mein Großvater war sogar daran gestorben. Er starb lieber, als dass er seine Liebe verraten hätte. Um die Baroness zu retten, dachte meine Großmutter. Um meine Großmutter zu retten, dachte die Baroness. Die Leute waren ein ganzes Stück romantischer gewesen, früher. Ich sah mich noch nicht um der Liebe willen sterben. Selbst mein Vater mit seinem Kummer sprang nicht in den Kanal, sondern rauchte weiter brav seine fünf Zigaretten am Tag. Heldenmut war offenbar nicht erblich. Obwohl… In den Kanal springen war einfach. Jeden Tag unglücklich weiterleben war schon schwieriger. Tat er es für mich? Wollte er mich nicht allein zurücklassen? Und gäbe er am Ende vielleicht doch sein Leben, um mich zu retten? Die Antwort auf diese Frage würde ich hoffentlich nie erfahren. Aber die Sache brachte mich zum Nachdenken. Vielleicht hatte sich mein Großvater nicht für seine Frauen geopfert, sondern für seinen ungeborenen Sohn. Mir blieb gerade noch Zeit, die Papiere in das Nähkästchen zu stecken und Nadeln, Garn und das Ei zusammenzusuchen, bevor mein Vater im Zimmer stand. »Ich habe Arbeit für dich in der Küche. Los, beweg deinen faulen Hintern!« Auch beim Erbsenpulen hat man Zeit zum Nachdenken.
Ein paar Dinge gab es noch, die ich nicht recht verstand. Aber was ich verstand, war, dass dieses Haus angefüllt war mit Meisterwerken. Und die gehörten mir. Ich war reich. Reich. Fühlte ich mich reich? Ich fühlte vor allem die Anwesenheit meiner Großmutter. Hier hatte sie gewohnt. Allein. Sie hatte ihren einzigen Sohn ins Pensionat geschickt, weg von Deemstervelde. Aber auch weg von sich. Ich hatte irgendwann einmal gelesen, dass man früher beim Tod von Königen – oder waren es Pharaonen? – deren Frauen mit ins Grab einmauerte. Lebendig begrub. Hatten diese Frauen sich nicht gewehrt? War ihnen niemand zu Hilfe gekommen? Ich sah sie wegradeln mit dem Koffer auf dem Gepäckträger, weg von diesem Haus. Um am selben Tag noch zurückzukehren. Ihre Flucht war schon zu Ende gewesen, bevor sie richtig angefangen hatte. Deshalb habe sie mir die Bilder hinterlassen, behauptete sie. Damit ich niemals ein Gefangener sein würde. Aber ich fühlte mich nicht gefangen. Mein Fuß war zwar noch nicht ganz in Ordnung, aber ich konnte gehen, wohin ich wollte. Und meine Großmutter hatte sich bestimmte Dinge lediglich weisgemacht. Sie hätte in die Stadt ziehen können, wenn sie das wirklich gewollt hätte. Aber wäre sie dadurch freier geworden? Meine Eltern wohnten hundert Kilometer auseinander. Aber selbst wenn es hunderttausend wären, wäre mein Vater dann von meiner Mutter erlöst? Konnte Geld helfen? Konnte ich ihm ein Gemälde schenken, damit er von ihr loskam? Und wollte ich das überhaupt? Ich würde das auf den Haufen an Fragen packen, die ich irgendwann lösen würde, wenn ich älter war. Ich schoss eine Erbse weg und traf einen Christus aus Gips, der einen Finger in die Luft hielt, als wolle er wissen, woher der Wind kam. Viele seiner Freunde sollen ja auch Fischer gewesen sein.
Eine Stunde später bekam ich Besuch von Titus und Rebecca. Sie hatten ein Geschenk für mich dabei: zehn Kilo Eulengewölle. Titus hatte angerufen und gefragt, wie es mir ging. Mein Vater hatte gesagt, ich würde mich langweilen, und Titus hatte die ideale Lösung gefunden. Würde es nicht sehr kurzweilig für mich sein, einen Nachmittag lang in dem, was seine Eulen ausgewürgt hatten, nach Mäusezehen zu stochern? Mein Vater fand die Idee großartig. Nur wollte er das Zeug nicht im Haus haben. Also wurde der Küchentisch in den Garten gestellt. Ich sah Titus und meinen Vater kämpfen, um das Ungetüm nach draußen zu kriegen. War das derselbe Küchentisch, auf dem mein toter Großvater gelegen hatte? Hatte meine Großmutter jeden Tag an ihm gesessen? Das Haus fühlte sich anders an nach dem Brief. Die Scheune im Garten hatte irgendwann einen deutschen Lastwagen verborgen. Und überall an den Wänden hingen Millionen. Meine Großmutter war nicht mehr die Strümpfe stopfende Hexe, die mir warme Milch aufdrängte. Dieses Haus war ein bisschen zu meinem geworden. Als hätte es ein Herz, das ich erst jetzt schlagen hörte. Nicht, dass ich für immer hier hätte wohnen wollen, ich war ja nicht verrückt. Vater wollte mich in den Garten tragen, aber die zwanzig Meter konnte ich auch gehen. Rebecca hatte schon genug Spaß gehabt, als sie mir die Papiertüten mit dem Eulengewölle gezeigt hatte. Da saßen wir also, im Schatten einer Kastanie, die mit ihren großen grünen Händen über unseren Köpfen winkte. Ich bekam zwei Pinzetten und einen Lappen und durfte anfangen. Trotz des Geruchs war es keine unangenehme Arbeit. Man wusste sicher, dass man etwas fand. In jedem der Bälle steckten irgendwelche Knochen. Es kam darauf an, herauszufinden, von welchen Tieren sie stammten. Rebecca
und ich hatten ein kleines Handbuch vor uns liegen, in dem wir nachschauen konnten, ob wir nun ein Bein einer Zwergspitzmaus oder den Unterkiefer einer roten Wühlmaus vor uns hatten. Zweifelsfälle hielten wir Titus unter die Nase, der sie nahezu blindlings einordnen konnte. Ich fragte ihn, ob er noch an den Nistkästen für das Schloss interessiert sei. Da könne ich ihm helfen. Ich würde die Baroness fragen, sobald ich sie das nächste Mal sah. »Würdest du das für mich tun?«, fragte er. Und schon legte er wieder los, erzählte ausführlich, wie wichtig dies für seine Forschungen sei. Vögel waren sein Leben, so viel war klar. Ich fragte ihn, wie er eigentlich Eulenspezialist geworden sei. Er schaute von der Waage hoch, auf der er, aus welchem Grund auch immer, jedes Gewölle genauestens wog. »Das ist eine lange Geschichte.« Nur zu. Titus fing an zu erzählen. Rebecca war ganz Ohr. Ich hörte nur halb hin. Eulen auf dem Dachboden. Kinderängste. Athen. Ein Freund seines Vaters. Nächtliches Abenteuer. »Als ich zum ersten Mal so ein Tier in den Händen hatte und dieses kleine Herz klopfen spürte, da gab es keinen Zweifel mehr.« Rebecca schluckte alles, was er sagte. Sie schaute mit offenem Mund zu ihrem Helden. Was war so besonders an ihm? Empfand auch er den Druck eines Familiengeheimnisses auf seinen zugegebenermaßen breiten Schultern? Ich glaubte nicht. Er hatte sich nicht mit Todesverachtung in ein fremdes Schloss geschlichen. Er war nicht im Besitz von mehr als zwanzig unbezahlbaren Kunstwerken. Wer war hier der Held? Ich jedenfalls nicht. Mir jagte schon der Schrei von einem Kassettenrekorder einen Schrecken ein. Ich ließ eine halb
kranke Eule entwischen. Ich wagte nicht, meinem Vater schwierige Fragen zu stellen. Ich wagte nicht, an meine Mutter zu denken, aus Angst, dann nur noch zu weinen. Nein, ich war kein Held. Und die Füsilierten von Deemstervelde waren es auch nicht gewesen. Sie hatten brav ihren Tod abgewartet. Und mein Großvater? Der Eistaucher, der Unerschrockene, der Blitz? Wieso war er mit all seinen Schwierigkeiten doch in Deemstervelde hängen geblieben? Wenn ich den Geschichten glauben durfte, war er ein kleiner Napoleon gewesen. Nun, er hatte nicht viel aus seinem kurzen Leben gemacht. Titus war seinem Herzen gefolgt, gegen den Wunsch seiner Eltern. Dabei gab es in dieser Welt doch so viele wichtige Dinge zu tun: hungrige Menschen ernähren, reich werden, Häuser bauen, Seehunde retten, Gesetze machen, Krieg fuhren, Handel treiben, Bäume beschneiden, Kinder großziehen, Geburtstage feiern, Sprachen lernen, Brände löschen. Und er machte sich nichts aus alledem. Lasst die Welt sich drehen, dachte er. Und lasst mich meine Eulengewölle wiegen. Machte ihn das zum Helden? Und was war meine Großmutter, die ihre Träume aufgab und ihren Sohn mit ihren einsamen Halbwahrheiten großzog? »Bereut habe ich es nie«, hörte ich Titus sagen, während er das Gewicht des soundsovielten Gewölles notierte. Ich schaute auf den Küchentisch. Es war ein kleines MäuseAuschwitz. Ich rührte ein wenig in den Brocken vor mir und sah etwas, das ich nicht sogleich einordnen konnte. Es war weder ein Käferflügel noch ein Stück Muschel. Ich kratzte den Schmutz so gut es ging weg. Es war ein Vogelring. Ich zeigte ihn Titus. Wahrscheinlich hatte die Eule eine Taube zu fassen bekommen. Aber Titus polierte den Ring noch mit etwas Spucke. Der Held.
»Es ist einer von meinen Ringen.« »Von einer Eule?« »Ja. Aus welchem Gewölle kommt er?« Er wühlte in dem Haufen und fischte einen Schädel aus dem Dreck. »Hatte ich mir schon gedacht. Ein Steinkauz.« »Eulen fressen andere Eulen?«, fragte ich. »Leider ja.« »Wie furchtbar.« »Menschen sind nicht viel besser.« Wir schauten jetzt alle drei auf meinen Vater, der mit einer Karaffe Limonade und einem Bier für Titus vor uns stand und lächelte. »Menschenhirn ist eine Delikatesse. Wenigstens erzählt man sich das.« Er setzte sich zu uns an den Tisch. »Es gibt viele Zeugnisse von Menschen, die während einer Belagerung ihre Toten verspeisten. Und manchmal beschränkten sie sich nicht auf die Toten. Flavius Josephus erzählt in seinen Jüdischen Altertümern, während der Belagerung Jerusalems habe in der Stadt ein solcher Hunger geherrscht, dass Mütter ihre eigenen Kinder verspeisten.« Mein Vater war in seinem Element. Wenn man ihn so hörte, wirkte er wie eine wandelnde Enzyklopädie des Kannibalismus. Und während er erzählte, steckte er sich die Mäuseschädelchen auf die Finger, sodass sie aussahen wie Stockpuppen. Ab und zu trommelte er damit auf den Tisch. Andere Väter redeten über Fußball oder ihr Geld oder den Mangel daran. Mein Vater erzählte von Menschen, die Ratten aßen. An einem anderen Ort hätte ich mich dafür geschämt, aber hier, so neben Titus und Rebecca, war eigentlich nichts Verrücktes an ihm. Er wusste sehr viel. Und zum ersten Mal kam mir das nicht vor wie etwas, wofür ich mich schämen
musste. Wieso konnte meine Mutter ihn nicht so sehen, wie er hier saß, mit seinen Zitaten und Beispielen und Fingern voller Schädel? – Gut, die Schädel vielleicht nicht. Ach, ich machte mir selbst etwas vor. Es würde nicht helfen. Sie käme auch dann nicht wieder. Dazu amüsierte sie sich viel zu gut mit Männern, die über Fußball redeten oder ihren Skiurlaub oder ihre Aktien. Mein Vater hatte keine Chance. Wäre es nicht besser, er bliebe hier im Dorf, wo er kein Fremder war? Und gerade als ich mich mit dem Unvermeidlichen abgefunden hatte, gerade als ich beschlossen hatte, falls es dann doch sein musste, in diesem Dorf zu bleiben und ein Deemstervelder zu werden, meine Einkäufe mit einem Hundekarren zu erledigen, nie mehr einen Zahnarzt zu besuchen und vor einer Toilette mit fließendem Wasser davonzulaufen, kam mein Vater mit seinen Neuigkeiten. »Aber was reden wir hier und an so einem schönen Tag über so ein morbides Thema?« »Ja, und in einem so schönen Garten, Herr de Vriendt.« »Das sollten wir ausnutzen. In der Stadt haben wir keinen Garten. Und unsere Tage hier sind gezählt.« »Was!?« Ich hatte etwas zu laut gerufen. »Gerade hat der Makler angerufen. Das Haus ist verkauft.« Einfach so. Ohne mir etwas zu sagen. Konnte er das nicht nur mit mir besprechen? Nein. Er musste die Bombe platzen lassen, wenn Fremde dabei waren. Und meine Pläne, die waren unwichtig. Aber wusste er denn überhaupt, dass ich hier noch so viel zu tun hatte? Ich musste noch herausfinden, ob meine Eule überlebt hatte. Und den neuen Wetterhahn hatte ich noch nicht gesehen. Und der Baroness hatte ich versprochen, sie nochmals zu besuchen. Und die Nistkästen musste ich noch anbringen. Und dann gab es noch Robert. Und Rebecca. Ich konnte nicht einfach so weg.
»Arnoud wird froh sein.« Er nahm meine Hand, und die Mäusezähne bissen sich in ihr fest. »Ich wusste nicht, dass du von hier fortwolltest«, sagte Titus. »Ach, es war schon schlimm genug, dass wir einen ganzen Monat bleiben mussten«, sagte mein Vater. »Was für ein Drama er deswegen gemacht hat! Und jetzt, wo er nicht gut zu Fuß ist, ist es besser, wenn wir schnell fahren. Er langweilt sich hier. Außerdem haben wir hier nichts mehr verloren. Die meisten Zimmer sind entrümpelt. Und was nicht versteigert werden kann, landet im Container. Ich finde es schade, das alles hier zurückzulassen, aber ich sehe mich hier nicht wohnen. Ich bin zu lange fort gewesen. Ich habe anderswo Wurzeln geschlagen, und ich bin zu alt, um noch mal verpflanzt zu werden. Nein, wir fahren nächste Woche zurück.« Aber deine Wurzeln sind hier, Papa. Das hier ist das Haus, in dem du aufgewachsen bist, wo du geboren bist. Deine Eltern und deren Eltern stammen aus diesem Dorf. Bedeutet das denn nichts? »Arnoud sieht aber nicht so aus, als würde er sich freuen.« Alle drei schauten auf mich. »Es ist mein Fuß«, log ich. Wir arbeiteten weiter, bis alles Gewölle untersucht war. Mein Vater erzählte derweil, eine junge Familie mit Kindern hätte das Haus gekauft. Ein Haus mit so vielen Zimmern und einem großen Garten sei für einen großen Haushalt ideal. Wann hatten diese Leute das Haus besichtigt? Während ich bei der Baroness war? Während ich schlief? Wieso entging mir immer alles? Mein Vater fragte Titus und Rebecca, ob sie zum Essen blieben. Aber was für einen Sinn machte es, dass ich diese Leute näher kennen lernte? Wir fuhren nächste Woche weg.
Wir räumten den Tisch ab und aßen draußen. Mein Vater blühte vollkommen auf als Gastgeber. Er machte sogar einen Salat, und wir bekamen alle Wein. »Zur Feier, weil wir das Haus verkauft haben. Und kein Wort zu deiner Großmutter!« Er zwinkerte Rebecca zu, während er einschenkte. Sie waren ausgelassen. Es war nicht nur der Wein. Es waren der Garten und die Sonne, die allmählich unterging. Es war ein unerwartetes Fest. Mein Vater war wie ausgehungert, und damit meine ich nicht das Essen. Es war lange her, dass er mit jemandem gesprochen hatte, der ihn verstand, der nicht die Augenbrauen hochzog, wenn er etwas auf Latein murmelte oder einen Scherz machte, für den man zwanzig Jahre studiert haben musste. Und Titus war genauso begeistert, ein vernünftiges Gespräch führen zu können. Und Rebecca, saß die nicht weniger als einen Meter von ihrem Abgott entfernt? Und ich? Es wurde schließlich so dunkel, dass das Haus in der Dämmerung verschwand. Ich sah nur die Gesichter um mich herum, lachend und redend im Kerzenschein. Mein Vater hatte schon ein paarmal besorgt in meine Richtung geschaut. »Du bist so still, Arnoud. Hast du Schmerzen?« Nein. Ich hatte keine Schmerzen. Jedenfalls nicht da, wo ich sie erwartet hätte.
Das Abschiedsfest
Mein letzter Tag in Deemstervelde sollte ebenso denkwürdig werden wie der erste. Und ebenso unbequem. Das hatte viel mit meiner Kleidung zu tun. Es war viel zu heiß für einen Anzug. Und unglaublich, aber wahr, ich war in diesem einen Monat gewachsen. Die Ärmel meines Jacketts waren fünf Zentimeter zu kurz, mein Hemd spannte, und ich spürte die größer werdenden Schwitzflecken unter den Achseln. Mein Vater fühlte sich nicht weniger unwohl als ich. Aber wir konnten unbesorgt sein. Niemand schaute auf uns, als wir in die Kirche traten. Alle Blicke gingen zu der alten Frau, die sich willig vom Sohn und Enkelsohn des Arnoud de Vriendt stützen ließ. Wie viele Jahre war es her, dass sich die Baroness im Dorf gezeigt hatte? Irgendwann einmal war sie frühmorgens durchs Dorf geschlichen und hatte meinem Großvater einen Brief durch den Türschlitz geworfen. Aber da war mein Vater noch nicht einmal geboren. Und hier war sie wieder. Nach mehr als fünfzig Jahren. Es hätte mich nicht verwundert, wenn die Kirchgänger plötzlich wie ein Mann aufgesprungen wären und sie attackiert, bespuckt oder zumindest ausgebuht hätten. Sie hatten sie die ganze Zeit hindurch mehr gehasst als den Teufel, zu frühen Frost und Steuererhöhungen zusammengenommen. Und jetzt kam sie einfach so in die Kirche. Aber niemand sprang auf.
Sie flüsterten untereinander. Ein Glück. Hätten sie nichts gesagt, dann hätte ich überhaupt nicht mehr gewusst, was in diesem Dorf vor sich ging. Aber es blieb beim Flüstern. Die Baroness wurde von mir und meinem Vater flankiert. Wir waren die letzten Sprosse der Familie de Vriendt. Wenn wir ihr verzeihen konnten, dann müsste das Dorf ebenfalls dazu in der Lage sein. Ich glaube noch nicht einmal, dass wir ihre Beschützer waren. Nein, viel simpler: Die Leute waren zu erstaunt, um zu reagieren. Keiner hatte sie hier je wieder erwartet. Sie war schon so lange nicht mehr im Dorf erschienen, dass die meisten Leute sie noch nie gesehen hatten. Sie war schon unwirklich. Eine Legende, das war sie: die böse Frau vom Schloss, die schwarze Hexe, die in seidenen Nazifahnen schlief und mit Judenhaut bespannte Schirmlampen auf ihrem Klavier stehen hatte. Die Leute aus dem Dorf waren zu erstaunt und auch ein wenig geschmeichelt, den Mythos endlich in ihrer Mitte zu sehen. Natürlich waren das Vermutungen, mit denen ich mir nachträglich den Kopf zerbrach. In dem Augenblick schämte ich mich nur wegen meiner zu klein gewordenen Jacke und war zugleich erleichtert, dass wir nicht von einer johlenden Menge aus der Kirche geworfen wurden. Ich war auf die Idee gekommen, als mein Vater von einem Abschiedsfest für das Dorf anfing. Doch, ich war dafür. Sogar die Sonntagsmesse würde ich überleben. Aber sollten wir die Baroness nicht auch einladen? So konnten wir ihre Gastfreundschaft ein wenig belohnen. Mein Vater fand die Idee ausgezeichnet. Ich hatte nichts anderes erwartet. Es war die Baroness gewesen, die sich nur schwer überzeugen ließ. Wir gingen nach vorn, und die Köpfe drehten sich mit uns mit wie träge Dominosteine, bis wir die Baroness neben
Mariette setzten. Als das Dorf zur Kommunion ging, wurde es noch spannender. Ich sah, wie die Leute demütig die Augen schlossen, um den Leib Christi zu empfangen, und wie sie fünf Sekunden später ungeniert die Baroness anstarrten, während sie an ihr vorbeimarschierten. Ich hoffte, ihr Inneres und ihre Herzen würden all das Lügen strafen, was auf ihren Gesichtern zu lesen war, denn sonst war das Beugen all dieser arthritischen Knie für die Katz gewesen. Die Baroness sah sie einen nach dem andern an. Sie hatte Mariettes Hand in ihrem Schoß und drückte sie jedes Mal, wenn wieder ein Deemstervelder sie angaffte, aber sie verzog keine Miene. Nach der Messe zockelten wir bei prächtigem Sommersonnenschein zum Festsaal. Jetzt kam der schwierigste Teil. Ich wagte nicht, mich umzuschauen. Hassten sie die Baroness wirklich, dann würden sie uns nicht folgen. Dann würden wir da gemütlich zu dritt sitzen. Aber folgten sie nicht, dann beleidigten sie nicht nur die Baroness, sondern auch den Sohn und Enkelsohn von Arnoud und Irma de Vriendt. Und dann konnten sie auf das ganze gute Essen und Trinken pfeifen. Mein Vater hatte einen Partyservice aus der Stadt beauftragt, und die Leute im Dorf hatten mit steigender Verwunderung die Wagen in Deemstervelde einfahren sehen. Die Düfte waren bis in die Kirche gedrungen. Würden sie dem widerstehen? Mein Vater war sich keines Bösen bewusst. Wenigstens tat er so. Wir kamen an Paula und Rebecca vorbei. »Ach, Paula, ich hab richtig Lust. Und auch einen Bärenhunger!« Er schenkte ihr ein Lächeln. Das Dorf hing an ihren Lippen. Was würde sie sagen? Was würde sie tun?
Paula war nicht die beliebteste Frau im Dorf. Aber sie war eine Lhermitte, die Schwiegertochter eines der Erschießungsopfer. Wie sie reagierte, war wichtig. Ich sah, wie sich ihr Mund verzog. In der Kirche hing ein Bild, auf dem sich Engel und Teufel bekämpften. Der Himmel war lauter unirdisches Licht, aber am Grund des Gemäldes war es dunkel wie die Nacht. Und in der Mitte herrschte das Chaos. Wer gewinnen würde, war noch unklar. Paulas Gesicht, geschminkt von Hieronymus Bosch persönlich, war ein ebensolches Schlachtfeld. Es war ein schwerer, aber kurzer Kampf. Die Gelegenheit, am Arm meines Vaters, der immerhin eine Baroness am anderen Arm führte, in den herrlich duftenden Festsaal einzuziehen, einer Königin oder Ehrenbürgerin des Dorfes gleich, war zu schön, um sie sich entgehen zu lassen. Zu meiner Erleichterung folgte der Rest des Dorfes, zwar murrend, aber auch neugierig. Das Essen würde sie nicht enttäuschen.
Das Brandopfer
Nach einer halben Stunde schlich ich mich nach draußen. Ich hatte noch etwas zu tun. Aber auf dem Dorfplatz zog mich jemand am Ärmel. Rebecca. Kam sie, um sich zu verabschieden? Dann hatte ich sie immer noch nicht durchschaut. »Da.« Sie zeigte nach oben. Im Sonnenlicht glänzte auf dem Kirchturm der neue Wetterhahn. »Den habe ich gestern schon gesehen.« »Nein, du Dummkopf. Warte.« Wir starrten in den Himmel. Sie hielt noch immer meinen Arm fest. Und dann sah ich sie. Oder ihn. Eine Eule. Ich hatte genug im Großen Eulenbuch geblättert, um zu wissen, dass das eine Schleiereule war. Sie kam aus dem Turm geflogen. »Sie hat den Nistkasten kontrolliert.« Ich hätte wissen können, dass es wieder um Eulen ging. Was schert mich der dumme Vogel? Wir fahren am Nachmittag zurück in die Stadt. Für immer. Und alles, was sie mir sagen will, ist, dass Titus Recht hat. Und fantastisch ist. Denn das ist es. Sie freut sich nicht, weil eine Eule gekommen ist und den Kirchturm gecheckt hat. Na ja, vielleicht ein wenig. Aber es bestätigt nochmals, was für ein guter Eulenmann Titus doch ist. Ich riss mich los. Sie kam hinter mir her. »Wohin gehst du?« Ich zuckte mit den Schultern. »He, du Stoffel! Ich hab dich was gefragt.« »Ich muss noch was wegräumen.«
»Merkwürdig. Alles ist schon fort mit dem Umzugswagen, sagt Paula.« Sie wusste wie immer viel zu viel. »Nicht alles.« »Vielleicht kann ich helfen?« Wir gingen durch die verlassenen Straßen. Das Haus war leer. Es war eigenartig, durch die kahlen Zimmer zum Garten zu gehen. Selbst Rebecca fühlte sich plötzlich unbehaglich. Es war, als sähe ich das Haus nackt, und das war mir peinlich. Nur Leute, die ein Haus gut kennen, sollten es so sehen dürfen, wie es dann dasteht: verletzlich und ein klein wenig lächerlich. Wir waren Durchreisende gewesen, Nomaden, die hier kurz ihre Zelte aufgeschlagen hatten. Seine wahre Bewohnerin war fort. Und das empfand ich jetzt zum ersten Mal so. Aber es war auch das erste Mal, dass sie mir fehlen konnte. Dieser vage Schemen aus meiner Vergangenheit bedeutete mir nach wie vor nicht viel. Aber die Frau aus dem Brief, die kannte ich. Das war meine Großmutter. Ich ging zur Scheune. »Was ist das?« Rebecca hob eines der Bilder hoch. »Meine Großmutter hat sie gemalt, als sie jung war. Sie gehören jetzt mir. Ich habe sie geerbt.« »Sie muss dich gern gehabt haben.« Ihrer Stimme war nicht zu entnehmen, ob sie spottete. »Ja, das glaube ich auch.« »Hier, halt mal.« Ich drückte ihr ein paar Bilder in die Hand, nahm selbst auch drei und ging zum Garten. Sie stolperte hinter mir her. »Was willst du damit?« Ich ging zurück in die Scheune, nahm die Zeitungen und Streichhölzer, die ich am Tag zuvor dort versteckt hatte. »Arnoud? Was hast du vor?« Das zu erraten, war doch nun wirklich nicht schwer.
Wieder im Garten zündete ich die Zeitungen an und warf das erste Gemälde darauf. Rebecca wollte es noch wegziehen, blieb dann aber doch stehen und schaute zu. Es brannte schnell. Hatte ich erwartet, die beiden Kätzchen würden als Erste wegbrennen, sich zusammenrollen und ein großes Kunstwerk enthüllen, einem Moment nur, ehe die Flammen alles verzehrten? Dann hatte ich falsch gelegen. Die Leinwand fasste unverzüglich Feuer und war innerhalb von fünf Sekunden verbrannt. Nur der Holzrahmen, auf den das Leinen genagelt war, brauchte etwas länger. Sie hielt mich zurück, als ich nach dem zweiten Bild griff. »Was soll das? Du kannst sie vielleicht noch verkaufen.« »Für Geld, Rebecca?« »Nein, für Bohnen. Natürlich für Geld!« »Also, ich brauche das Geld nicht.« Ich hatte es nicht gut durchdacht. Ich habe selten etwas gut durchdacht. Meine Großmutter hatte gehofft, ich würde älter, würde klüger sein zu dem Zeitpunkt, zu dem ich den Brief las. Das war nicht der Fall. Wenn ich es recht verstand, dann waren eine Menge Leute für diese Bilder gestorben. Mein Großvater beispielsweise, und neun unschuldige Menschen. Die er hätte retten können. Aber dann hätte er seinen Bruder, die Baroness und seine Frau in Gefahr gebracht. Ich kannte meinen Großvater nicht. Er war schon tot, ehe mein Vater geboren wurde. Ich hatte nur gehört, was andere Leute von ihm dachten, und das war alles zusammengenommen dann doch recht wenig. Die Baroness hatte ihr Leben um meinen Großvater herum gebaut, und als er wegfiel, brach sie zusammen. Man sollte meinen, sie hätte ihn gut gekannt. Aber sie hatte nur sich in seinen Augen gesehen. Und meine Großmutter, die doch mit dem Mann verheiratet gewesen war, sah sich nicht in seinen Augen und war deshalb
wütend und schwanger davongeradelt. Und damit wusste ich immer noch nicht, wer er gewesen war. Aber ich vermutete, mein Großvater hätte wenig Scheu davor gehabt, andere Menschen zu opfern. Er hätte sich um jeden Preis gerettet. Auf Kosten der Baroness. Auf Kosten seiner Frau. Ja, sogar auf Kosten seines Bruders. Aber nicht auf Kosten seines Kindes. Das Kind war sein eigen Fleisch und Blut. In dem Eulenbuch stand auch eine Geschichte von dem Phönix. Von denen gibt es nur ein einziges Tier auf der Welt. Wenn es spürt, dass es sterben wird, baut es einen kleinen Scheiterhaufen und verbrennt sich selbst, um kurz darauf verjüngt und frisch seiner eigenen Asche zu entsteigen. Vor fünfzig Jahren waren zehn Menschen geopfert worden, nicht der Bruderliebe, nicht der Frauenliebe und bestimmt nicht der Vaterlandsliebe wegen, sondern wegen der kleinen Version des Arnoud de Vriendt. Einem ungeborenen Kind. Meinem Vater. Und natürlich aus Geldgier. Das jedenfalls vermutete ich. Und meine Großmutter vermutete es. Deshalb hatte sie gewollt, dass mein Vater nichts von seiner Vergangenheit erfuhr. Sie wollte nicht, dass er sich für das Dorf verantwortlich fühlte, und hatte nicht ihm, sondern mir die Gemälde vermacht. Damit ich damit tat, was ich wollte. Also verbrannte ich sie, töricht und jung wie ich war. Ich hätte die Bilder verkaufen können. Hätte mein Gewissen zu sehr genagt, dann hätte ich einen Teil des Geldes halt für einen guten Zweck gespendet. Gute Zwecke gab es genug. Ich hätte mit dem Geld beispielsweise etwas im Dorf tun können. Oder die Bilder behalten. Sorgfältig Schicht für Schicht das Gekleckse meiner Großmutter entfernen und den Rest meines Lebens zwischen unbezahlbaren Meisterwerken wohnen
können. Ich hätte die Bilder ihren rechtmäßigen Eigentümern zurückgeben und Tausende von Menschen mit den Neuzugängen glücklich machen können.
In einem Punkt hatte meine Großmutter Recht: Mein Vater durfte niemals die Wahrheit erfahren. Er hatte schon genug um die Ohren. So wie es jetzt aussah, schien er nicht mehr zu wissen, wohin sein Weg ging. Das Leerräumen seines Elternhauses und der Besuch in Deemstervelde hatten ihm gut getan. Aber jetzt, wo wir in unsere Stadtwohnung zurückkehrten, spürte ich ihn wieder ruhelos werden und verwirrt. Er stand auf einer Brücke, die plötzlich vor seinen Füßen wegbrach. Er konnte nicht mehr vorwärts. Sollte ich ihm auch noch seine Vergangenheit nehmen? Dann konnte er nicht mal mehr rückwärts. Dann stand er da, mein alter Vater, auf einem übrig gebliebenen Pfeiler, einem wackligen Rest der Brücke, mitten in einem tosenden Fluss. Na so was, ich wurde noch poetisch. Das Verbrennen von Kunst bringt womöglich das Beste in einem Menschen zum Vorschein. Ich konnte nirgendwohin mit den Gemälden, solange mein Vater lebte. Und ich hatte keine Lust, auf seinen Tod zu warten. So wollte ich mein Leben nicht leben. Also warf ich ein zweites Bild auf den Haufen. Durch das Knacken hörte ich nur entfernt Rebeccas Schrei. Da ging die Kanne mit Milch. Und da gingen die fauligen Fische. Und da flogen die Trauben. Man hört manchmal von Leuten, die sich ihre Zigarre mit Tausendern anzünden. Als Kind mit meinem bisschen an Taschengeld hatte ich das fürchterlich gefunden. Wussten sie denn nicht, was Geld wert war und wie viel Gutes man damit tun konnte? Es brauchte ja gar nicht für mich zu sein. Aber
wenigstens sollten sie es einem Armen geben, anstatt es in unangebrachter Überheblichkeit zu verbrennen. Und später hörte ich, dass manche Künstler seltene, einzigartige Stücke kauften und vernichteten. Ein Chinese hatte eine Stradivari in Stücke geschlagen und nannte das Kunst. Und mir hatte das Herz stillgestanden. Wie konnten Menschen so etwas tun? Und hier stand ich und war ein größerer Künstler als dieser Chinese, denn ich hielt meine Vernichtungsaktion noch nicht mal auf Video fest. Niemand war Zeuge meiner Taten. Nur die erschrockenen Augen Rebeccas folgten mir, während ich aus der Scheune die restlichen Bilder herbeischleppte. Es waren ihre Augen, die mich stark machten. Wie viel hätte ich ihrer Meinung nach für das Zeugs bekommen? Ein paar lumpige Scheine vielleicht. Und sie guckte so schon erschrocken. Würde sie ohnmächtig werden, wenn ich ihr erzählte, dass wir hier Millionen verheizten? Rebecca war infiziert vom Geld, genau wie ihre Großmutter. Genau wie mein Großvater, der dafür Menschen erschossen hatte. Wie die Baroness, die ihr Leben nie zu leben gewagt hatte, aus Angst, von ihren Eltern und damit von ihrem Geld getrennt zu werden. Wie meine Großmutter, die wie eine Glucke, wie ein Drache aus dem Märchen auf ihren Bildern gehockt hatte. Wie Robert, der auf der Suche nach den Bildern wiedergekommen und wieder in sein altes Leben zurückgefallen war. Und war ich dagegen immun? Jetzt wagte ich noch, das hier zu tun: die größte Heldentat, die Deemstervelde je erlebt hatte. Vergesst das Tauchen nach dummen Kindern in eisigen Teichen. Vergesst das Überfallen deutscher Konvois und das Attackieren eines Kommandanten mit einem Kartoffelmesser.
Hier stand ich, Arnoud de Vriendt, und mit jedem Bild katapultierte ich mich selbst weiter und weiter ins Heldentum hinein. Aber später, wie schlimm würde ich das hier später einmal finden? Würde ich mich selbst vor den Kopf schlagen, gefangen in irgendeinem Job, den ich hasste und nur deshalb ertrug, weil ich das Geld brauchte? Würde ich dann auf diesen schönen Sommertag zurückblicken, an dem ich ein Luxusleben in Flammen hatte aufgehen lassen? Ich hoffte nicht. Ich hoffte, ich würde immer hinter dieser Tat stehen können und nie irgendetwas bereuen. Aber vielleicht war das eine eitle Hoffnung. Ich habe es schon gesagt, ich durchdenke Dinge niemals gut. Rebecca hatte ihren Rettungsplan aufgegeben. Sie starrte auf die Gemälde, die kurz aufleuchteten und dann schwarz versengten, und begann jetzt selbst, alles Mögliche auf das Feuer zu werfen: Zweige, Papier, und nach einem vorsichtigen Blick in meine Richtung auch ein Bild. Ihr wurde warm und sie knöpfte ihre Bluse auf. Sie trug einen schwarzen BH. Sie merkte nicht einmal, dass ich guckte, so sehr war sie im Bann des Feuers. Es schien, als könne sie jeden Augenblick hineinspringen und mitten in den Flammen tanzen. Waren es die Luftbewegungen über dem Feuer oder begann sie, sich sanft zu wiegen? Die Scheune war fast leer. Ich schaute mich in ihr um. Kein schlechter Ort für einen Nistkasten. Ich nahm die letzten beiden Bilder und das Nähkästchen. Ich drehte es in meinen Händen. Sollte ich es aufheben? Nein. Ich holte das Holzei heraus, mit dem meine Großmutter Strümpfe gestopft hatte, steckte es in die Hosentasche und warf das Kästchen ins Feuer. »Darf ich das hier behalten?«
Rebecca hatte das Bild des Schlosses in den Händen. Ich schüttelte den Kopf. »Bitte. Du willst es doch ohnehin verbrennen.« Ja. Wieso nicht? Sie würde nie erfahren, dass sich unter diesem Bild ein Haufen Geld verbarg. Nein. Sie hätte sich eben ein anderes Andenken aussuchen müssen. Ich nahm es ihr aus der Hand, und es flog auf den Haufen. »Du bist wirklich seltsam.« Ein Bild hatte ich noch. Noch eins. Es war der Kopf meines Großvaters. Mit geschlossenen Augen. Tot. Gemalt bei Kerzenschein. Sollte ich irgendwann sicher wissen, was in diesem Kopf herumspukte, als er aus der Reihe trat, an jenem 15. Juni 1942? Das jedenfalls kam nicht auf den Scheiterhaufen. Und es würde auch nie verschwinden, um irgendeinen Klee oder Picasso ans Licht zu holen. »Das hier ist mein Großvater. Das nehme ich mit.« »In die Stadt?« »Ja.« »Kommt ihr noch mal wieder?« »Ich glaube nicht. Wir haben hier nichts mehr verloren.« Ich schaute auf das Feuer. Es schonte sich selbst nicht. Alles musste in einer einzigen Flamme verbrennen. Besser einmal wild aufgelodert als endlos langsam verglühen, schien es zu denken. »Das ist schade.« Ach. Ich drehte mich nicht zu ihr um. Wartete, bis sie fortfuhr. »Paula wird die ersten Wochen nicht zu genießen sein. Sie hatte ein Auge auf deinen Vater geworfen.« Paula. Paula wird nicht zu genießen sein.
»Tja, nicht sehr klug von ihr. Sie ist verheiratet. Und mein Vater auch.« »Das hat sie noch nie abgehalten.« »Aber meinen Vater schon.« »Mach dir nur keine Illusionen. Männer sind alle gleich, sagt sie. Wenn Paula etwas will, dann geschieht es.« Ich sah Paula wieder vor mir, wie sie mich von ihrer Haustürschwelle zu verscheuchen suchte, mit der verklebten Schminke und den roten Zähnen. Ich dachte an meine Mutter. Tag und Nacht. Im Vergleich zu ihr war Paula eine Hexe. Mein Vater müsste verrückt sein. »Ich denke, deine Großmutter lügt sich selbst etwas vor.« »Glaub das nicht. Es war schon fast so weit, meinte sie, an dem Abend, als wir zusammen mit Titus nach dem Waldkauz gesucht haben. Aber leider musste sie früh zurück, um mich ins Haus zu lassen. Kein Wunder, dass sie so wütend war, als ich zu spät heimkam. Sie war umsonst von euch weggegangen.« »Ich glaube dir kein Wort.« »Ist sie nicht gut genug für deinen Vater? Denkst du das? Bring eine Frau und einen Mann lang genug zusammen, und es passiert.« Sie kam um das Feuer auf mich zu. Machte sich nicht mehr die Mühe, ihre Bluse geschlossen zu halten. »Glaubst du, dein Vater wäre besser als andere Männer?« Das Feuer knisterte. Funken, kleine Kometen, die sanft erloschen, schwebten durch die Luft und um ihr Gesicht. »Denkst du, du wärst besser?« Tag und Nacht. »Dann sieh mal da.« Sie zeigte auf meine Hose. Ich tastete in meinen Taschen. Es war das Ei. Ich holte es hervor. Rebecca musste lachen.
»Ein Ei. Du bist wirklich ein seltsamer Junge, Arnoud.« Ich betrachtete das Ei, das da so gut in meiner Hand lag. Sollte ich es doch verbrennen? Als Kind hatte ich davon geträumt, es auszubrüten und zu sehen, was daraus hervorkäme. Ein Holzvogel? Jetzt war der Augenblick. Ich könnte es ins Feuer werfen und abwarten. Ein Phönix, emporsteigend aus seiner eigenen Asche. Ich steckte es wieder ein. Irgendwann. Irgendwo anders.
»Was um Gottes willen tut ihr da?« Rebecca knöpfte sich die Bluse zu. Mein Vater stand im Garten. »Nichts. Die letzten Reste. Wir wollen doch nichts zurücklassen.« »Nein.« Er schaute zu Rebecca. Dann zu mir. »Bist du fertig?« Ich hob das Bild meines Großvaters auf. Spürte das Ei in meiner Hosentasche. Ja, ich war fertig.