Iris Johansen
Das Schweigen der Schwäne
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Für Nell Calder hat das Leben keinen S...
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Iris Johansen
Das Schweigen der Schwäne
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Für Nell Calder hat das Leben keinen Sinn mehr. Nach tagelangem Koma erwacht sie in einer Klinik und muß mit dem Alptraum der Gegenwart fertigwerden: Attentäter sind brutal in ihr Haus eingedrungen und haben ihren Mann und ihre kleine Tochter ermordet. Sie selbst ist nach dem Sturz vom Balkon schwer verletzt und entstellt. Doch da tritt Nicholas Tanek in ihr Leben, ein Mann, der Schutz und Sicherheit verspricht. Nur er kann ihr schließlich wieder einen Lebenssinn vermitteln - Rache! Originalausgabe: The Ugly Duckling Aus dem Amerikanischen von Uta Hege 2002 Verlagsgruppe Random House GmbH Einbandgestaltung: Hilden Design, München/J. Wiebel Einbandfoto: Rubber Ball Productions
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Das Buch Für Nell Calder hat das Leben keinen Sinn mehr. Nach tagelangem Koma erwacht sie in einer Klinik und muß mit dem Alptraum der Gegenwart fertig werden: Attentäter sind brutal in ihr Haus eingedrungen und haben ihren Mann und ihre kleine Tochter ermordet. Sie selbst ist nach einem Sturz vom Balkon schwer verletzt und entstellt. Doch da tritt Nicholas Tanek in ihr Leben, ein Mann, der Schutz und Sicherheit verspricht. Nur er kann ihr schließlich wieder einen Lebenssinn vermitteln Rache! Und Nell, die als »häßliches Entlein« stets im Schatten ihres Mannes stand, beginnt mit ihrem neuen, perfekten Gesicht ein anderes Leben. Unermüdlich trainiert sie Geist und Körper, und unerschrocken begibt sie sich schließlich auf die Suche nach den Hintergründen des Anschlags auf ihre Familie. Doch schon bald macht sie eine grausame Entdeckung: Wußte ihr Mann etwa von dem Attentat? Lebt er möglicherweise noch? Und welche Rolle spielt der sympathische Nick Tanek wirklich? Nell sucht nach Antworten, denn für sie steht wieder alles auf dem Spiel: die Wahrheit - und eine neue große Liebe...
Die Autorin Iris Johansen darf sich mit einer Gesamtauflage von über acht Millionen Büchern zu den Bestsellerautorinnen in den USA und Europa zählen. Nach einer steilen Karriere als Autorin von romantischen Liebesromanen ist ihr mit Das Schweigen der Schwäne souverän der Sprung in das Genre des Frauenthrillers gelungen: Der Roman kam in den USA sofort nach Erscheinen auf die New York Times-Bestsellerliste! Iris Johansen lebt in Kennesaw, Georgia.
Prolog Greenbriar, North Carolina »Ich wollte ihn nicht zerbrechen.« Tränen rannen Nells Wangen hinab. »Bitte, Mama. Ich habe ihn in der Hand gehalten, und dann ist er einfach runtergefallen.« »Ich habe dir schon hundertmal gesagt, daß du nicht an meine Sachen gehen sollst. Den Spiegel hat mir dein Vater in Venedig geschenkt.« Ihre Mutter blickte mit zornig zusammengepreßten Lippen auf den zerbrochenen Griff des perlenbesetzten Spiegels. »Er wird nie wieder so sein wie vorher.« »Doch, das wird er. Ich verspreche es.« Sie streckte die Hand nach dem Handspiegel aus. »Der Spiegel ist ja noch heile, nur der Griff ist kaputt. Ich werde ihn kleben, dann sieht er wieder aus wie neu.« »Du hast ihn ruiniert. Was hast du überhaupt in meinem Zimmer gemacht? Ich habe doch deiner Großmutter gesagt, daß sie dich nie hier hereinlassen soll.« »Sie wusste es nicht. Es war nicht ihre Schuld.« Die Schluchzer schnürten ihr die Kehle zu. »Ich bin nur hier reingekommen ich wollte nur sehen -, ich habe diesen Kranz aus Geißblatt vom Zaun gemacht und...« »Das sehe ich.« Ihre Mutter berührte verächtlich die Blumen in Nells Haar. Sie hielt ihr den Spiegel vors Gesicht. »Ist es das, was du sehen wolltest? Wie lächerlich du wirkst? « »Ich dachte, ich sähe... hübsch aus.« »Hübsch? Sieh dich doch nur an. Du bist plump und häßlich und wirst nie etwas anderes sein.« Mama hatte recht. Das Mädchen, das ihr mit geschwollenen und -4-
blutunterlaufenen Augen aus dem Spiegel entgegenblickte, war tatsächlich plump, und die leuchtendgelben Blüten, die Nell so schön gefunden hatte, sahen in ihrem zerzausten braunen Haar schlaff und jämmerlich aus. Indem sie sie trug, verlieh sie selbst den Blumen eine abgrundtiefe Häßlichkeit. »Es tut mir leid, Mama«, flüsterte sie. »War das wirklich nötig, Martha? « Ihre Großmutter trat durch die Tür. »Sie ist erst acht Jahre alt.« »Es ist an der Zeit, daß sie lernt, den Tatsachen ins Auge zu sehen. Sie wird nie etwas anderes sein als eine häßliche, kleine graue Maus, und damit muß sie nun einmal fertig werden, ob es ihr gefällt oder nicht.« »Alle Kinder sind schön«, stellte ihre Großmutter leise fest. »Und wenn sie jetzt noch ein bißchen schlicht aussieht, dann heißt das nicht, daß es immer so bleiben wird.« Abermals schnappte sich ihre Mutter den Spiegel und hielt ihn Nell hin. »Hat sie recht, Nell? Bist du schön? « Nell wandte den Kopf ab, um sich nicht zu sehen. Ihre Mutter drehte sich zu ihrer Großmutter um. »Und ich will nicht, daß du ihr irgendwelche Flausen in den Kopf setzt. Aus einem häßlichen Entlein wird nun einmal nicht über Nacht ein wunderbarer Schwan. Und häßliche Kinder wachsen normalerweise zu häßlichen Erwachsenen heran. Sie wird sich damit zufriedengeben müssen, ordentlich und sauber und gehorsam zu sein, damit man sie akzeptiert.« Sie legte die Hände auf Nells Schultern und sah ihr in die Augen. »Verstehst du mich, Nell? « Sie verstand. Akzeptanz war ein anderes Wort für Liebe aus dem Mund von Mama. Sie würde niemals so schön wie Mama sein, also mußte sie die Liebe der Menschen erwerben, indem sie klaglos ihren Wünschen Folge leistete. Sie nickte ruckartig mit dem Kopf. -5-
Ihre Mutter schnappte sich ihre Aktentasche vom Bett und ging zur Tür. »Ich habe in zwanzig Minuten einen Termin, und wegen dir komme ich jetzt zu spät. Merk dir eins. Ich will nicht, daß du jemals wieder dieses Zimmer betrittst.« Sie bedachte Nells Großmutter mit einem ungeduldigen Blick. »Ich verstehe einfach nicht, weshalb du sie nicht besser im Auge behältst.« Dann war sie fort. Ihre Großmutter streckte ihre Arme nach Nell aus. Sie wollte sie trösten, wollte den Schmerz lindern, den das Kind empfand, und Nell wollte zu ihr gehen, ihr Gesicht an ihrer Schulter vergraben und nichts mehr sehen. Aber zuvor mußte sie noch etwas anderes tun. Sie kehrte zum Ankleidetisch zurück und sammelte vorsichtig die Teile des zerbrochenen Spiegels ein. Sie würde sie so sorgfältig zusammenkleben, daß niemand merkte, daß er je zerbrochen gewesen war. Sie müßte sich die größte Mühe geben, müßte sehr clever sein und sehr geschickt. Weil sie ein häßliches Entlein war. Und weil sich ein häßliches Entlein niemals in einen stolzen Schwan verwandelte.
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1. Kapitel Athen, Griechenland Tanek war schlecht gelaunt. Das erkannte Conner, während er beobachtete, wie Nicholas Tanek die Zollabfertigung verließ. Taneks Miene war reglos, aber Conner kannte ihn lange genug, um seine Körpersprache zu verstehen. Tanek wirkte immer kraftvoll und selbstbewußt, aber die Ungeduld, die er im Augenblick ausstrahlte, war untypisch für ihn. Ich hoffe nur, es ist gut, hatte Tanek zu ihm gesagt. Es war nicht gut, aber es war alles, was Conner besaß. Er schlenderte los und setzte ein angestrengtes Lächeln auf. »Angenehmen Flug gehabt? « »Nein.« Tanek wandte sich dem Ausgang zu. »Ist Reardon im Wagen? « »Ja, er kam gestern abend aus Dublin an.« Er machte eine Pause. »Aber er kann Sie nicht auf die Party begleiten. Mehr als eine Einladung war einfach nicht drin.« »Ich habe gesagt, daß ich zwei Einladungen will.« »Sie wissen nicht, wie schwer es war, überhaupt an eine ranzukommen.« »Ich weiß, daß ich, falls es ein Treffer ist, ohne Rückendeckung bin. Und ich weiß, daß ich Sie dafür bezahle, daß Sie tun, was Ihnen von mir aufgetragen wird.« »Die Party wird zu Ehren von Anton Kavinski gegeben, und die Einladungen wurden schon vor drei Monaten verschickt. Um Gottes willen, er ist der Präsident eines russischen Staates. Es hat mich bereits ein Vermögen gekostet, auch nur eine -7-
Einladung zu kriegen.« Und als sei das noch nicht genug, fügte er eilig hinzu: »Außerdem brauchen Sie Reardon wahrscheinlich gar nicht. Wie ich Ihnen bereits sagte, sind die Informationen vielleicht nicht zutreffend. Unser Mann hat schließlich bloß eine Computermessage im Hauptquartier des Rauschgiftdezernats gefunden, in der nichts weiter stand, als daß diese Party auf der Insel Medas vielleicht ein Treffer ist.« »Außer irgendwelchen Spekulationen der DEA haben Sie nichts? « »Eine Namenliste.« »Was für eine Liste?« »Eine Art Abschußliste, auf der sechs Gäste stehen. Niemand, der sich als Beteiligter identifizieren läßt, außer einem von Kavinskis Leibwächtern und Martin Brenden, dem Mann, der die Party gibt. Ein Name war besonders markiert. Der Name einer Frau.« »Weshalb denken Sie, daß es eine Abschußliste ist? « »Blaue Tinte. Unser Mann hat eine Theorie, derzufolge die Farben, in denen Gardeaux seine Befehle zu Papier bringen läßt, bestimmen, was passiert.« »Eine Theorie?« Taneks Stimme war gefährlich sanft. »Ich bin den ganzen weiten Weg gekommen wegen einer Theorie? « Conner fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. »Sie haben gesagt, ich soll Ihnen alles mitteilen, was sich im Zusammenhang mit Gardeaux rausfinden läßt.« Erleichtert stellte Conner fest, daß die Erwähnung von Philippe Gardeaux Tanek wie erhofft besänftigte. Er hatte gelernt, daß keine Anstrengung zu groß war und keine Aktion zu gering, wenn sie Gardeaux betraf. »Okay, Sie haben recht«, sagte Tanek. »Wer hat die Computermessage geschickt? « Joe Kabler, der Leiter der DEA, hat einen bezahlten Informanten -8-
im Lager von Gardeaux.« »Haben wir den Namen dieses Informanten? « Conner schüttelte den Kopf. »Ich habe es versucht, aber bisher hatte ich mit meinen Bemühungen keinen Erfolg.« »Und was macht Kabler mit dieser Liste? « »Nichts.« Tanek starrte ihn an. »Nichts? « »Kabler denkt, daß es eine Liste von Leuten ist, die bestochen werden sollen.« »Er glaubt also nicht an die Theorie von der tödlichen blauen Tinte? « fragte Tanek mit einem sarkastischen Unterton. Als sie den Mercedes erreichten, atmete Conner erleichtert auf. Sollte doch Reardon mit ihm rumstreiten. Die beiden waren aus demselben Holz geschnitzt. »Reardon hat die Liste bei sich im Wagen.« Eilig öffnete er die Tür des Fonds. »Sie können mit ihm reden, während ich Sie zum Hotel fahre.« »Wie geht's, Cowboy? « Jamie Reardons irischer Akzent stand in offenkundigem Widerspruch zu der gedehnten Sprechweise, die er sich angewöhnt hatte, seit er zum ersten Mal im Westen der USA gewesen war. »Wie ich sehe, hast du deine Stiefel zu Hause gelassen.« Nicholas spürte, wie sich ein Teil seiner Ungeduld legte, als er in den Wagen kletterte. »Ich hätte sie besser mitgebracht. Es geht doch nichts über ein Paar anständiger Stiefel, wenn man jemandem in den Hintern treten will.« »Mir oder Conner? « fragte Jamie. »Wohl eher Conner. Es käme wohl niemandem jemals in den Sinn, mein ehrwürdiges Hinterteil zu beschädigen.« Mit einem nervösen Lachen lenkte Conner den Wagen aus der Parklücke heraus. Jamies Blick fiel auf Conners Hinterkopf, und in seinem langen Gesicht blitzte es boshaft auf. »Aber ich kann mir denken, daß -9-
du mit Conner nicht besonders zufrieden bist. Schließlich hast du ohne guten Grund den langen Flug von Idaho gemacht.« »Ich habe Ihnen gleich gesagt, daß die Sache vielleicht bedeutungslos ist«, sagte Conner. »Ich habe ihm nicht gesagt, daß er kommen soll.« »Aber ebenso wenig haben Sie ihm gesagt, daß er nicht kommen soll«, murmelte Jamie. »Gilt das nicht als stumme Zustimmung, Nick? « »Schon gut. Vergiß es. Jetzt bin ich hier.« Nicholas lehnte sich müde in die Lederpolster zurück. »Und, Jamie, war die Reise umsonst? « »Wahrscheinlich. Es gibt nicht das geringste Anzeichen, daß die DEA die Sache ernst nimmt. Auf jeden Fall vergeudet Kabler keine Steuergelder, um irgendwelche Leute zu bestechen, damit er eine Einladung nach Medas bekommt.« Wieder eine Sackgasse. Himmel, Nicholas war es wirklich leid. »Aber daß du endlich mal wieder die öde Wildnis hinter dir läßt, tut dir bestimmt gut«, stellte Jamie fest. »Jedes Mal, wenn du von dieser Ranch zurückkommst, siehst du John Wayne ein bißchen ähnlicher. Das ist bestimmt nicht gesund.« »John Wayne ist bereits seit ein paar Jahren tot.« »Sag ich ja, das Leben da draußen ist bestimmt nicht gesund.« »Ist es etwa gesund, wenn man sein Leben in einem Pub verbringt? « »Ach, Nick, das wirst du nie verstehen. Irish Pubs sind die kulturellen Zentren des Universums. Poesie und Kunst blühen dort wie Sommerrosen, und die Konversationen...« Mit halb geschlossenen Augen schwelgte er in der Erinnerung. »An anderen Orten reden die Leute, bei mir betreiben sie Konversation.« Nicholas setzte ein schwaches Lächeln auf. »Und das ist ein Unterschied? « -10-
»Ein ebenso großer wie der, ob man das Schicksal der Welt bestimmt oder seinen Kindern ein neues Videospiel kaufen geht.« Er zog eine Braue hoch. »Aber warum vergeude ich meine Zeit damit, dir eine solche Schönheit zu beschreiben. In diesem wilden Idaho redet schließlich niemand außer deinen Ochsen und Rindern mit dir.« »Außer meinen Schafen.« »Was auch immer. Kein Wunder, daß Cowboys den Ruf haben, kräftig und schweigsam zu sein. Ihre Stimmbänder sind vom fehlenden Gebrauch bestimmt ganz verkümmert.« »Sie sind ebenso gebrauchsfähig wie die aller anderen.« Jamie stieß ein verächtliches Schnauben aus. »Die Liste«, warf Conner ein. »Ah, er wünscht, daß sein Ruf nach dir gerechtfertigt wird«, stellte Jamie fest. »Weißt du, er hat furchtbare Angst vor dir.« »Unsinn.« Conner lachte ein wenig zu laut. »Ich habe versucht, ihm zu erklären, daß du nicht mehr im Geschäft bist, aber ich habe das Gefühl, er glaubt mir nicht. Ich hatte gehofft, du hättest deine Cowboystiefel an. Sie sehen so herrlich normal und ungefährlich aus.« »Hör auf, Jamie«, fuhr Nicholas ihn an Jamie grinste vergnügt. »Ich habe doch nur ein bißchen Spaß gemacht.« Dann fügte er mit für Conner unhörbar leiser Stimme hinzu: »Ich mag dieses verschlagene Karnickel nicht. Jedes Mal, wenn er einen Satz macht, weckt er in mir das Verlangen, ihm das Fell über die Ohren zu ziehen.« »Du brauchst ihn nicht zu mögen. Es reicht, daß er einen Mann bei der DEA sitzen hat.« »Auch wenn uns dieser Kerl bisher von keinem allzu großen Nutzen war.« Jamie griff in seine Jackentasche, zog ein zusammengefaltetes Papier heraus und reichte es Nicholas. »Das hier sieht ganz nach einer weiteren Niete aus.« -11-
»Wer gibt diese Party? « fragte Nicholas »Ein Bankier. Martin Brenden, Vizepräsident des Continental Trust. Continental Trust hat es auf Kavinskis Auslandsinvestitionen abgesehen. Brenden hat diesen Palast auf Medas für das Wochenende gemietet und schmeißt Kavinski zu Ehren diese Party.« »Und welche Verbindung gibt es zwischen Brenden und Gardeaux? « »Keine, die sich von uns zurückverfolgen lässt.« »Kavinski? « »Möglich. Nachdem Kavinski zum Präsidenten von Vanask gewählt wurde, hat er sich als bedeutender Mittelsmann sowohl bei offenen als auch bei verdeckten Geschäften entpuppt. Vielleicht hat er Gardeaux beleidigt, indem er ihm Drogenlieferungen nach Vanask verbot.« Er machte eine Pause. »Aber sein Name steht nicht auf der Liste.« »Dann wette ich, hat Kabler mit seiner Version der Dinge recht. Bestechung. Er ist lange genug Leiter des Rauschgiftdezernats, um die Spreu vom Weizen trennen zu können, und außerdem ist er ein gewiefter Hund.« »Heißt das, daß du nicht nach Medas fährst? « Nicholas dachte kur z nach. Wahrscheinlich war es reine Zeitverschwendung, falls es nichts weiter als eine Schmiergeldliste war. Auf der Suche nach dem Nagel zu Gardeaux's Sarg war er inzwischen allzu vielen toten Spuren gefolgt. Aber wenn es eine Abschußliste war, dann wußte vielleicht eins der zukünftigen Opfer etwas, das für ihn von Nutzen war. Außerdem, wenn Gardeaux wollte, daß sie starben, wollte Nicholas sie, verdammt noch mal, lebendig sehen. »Und? « drängte Jamie. »Wie komme ich auf dieses Medas? « -12-
»Die Gäste werden vom Athener Hafen aus mit Booten rübergebracht. Das erste Boot fährt heute abend um acht. Du brauchst nur mit einer Einladung aufzutauchen.« »Ich frage mich, wie viele von Gardeaux's Männern genau wie ich Einladungen gekauft haben.« »Ich habe die Gäste überprüft«, warf Conner ein. »Keiner von ihnen hat sich eingekauft.« »Vielleicht. Gibt es irgendeine andere Möglichkeit, um auf die Insel zu gelangen? « Conner schüttelte den Kopf. »Sie hat eine zerklüftete Felsenküste, und es gibt nur eine einzige Anlegestelle. Medas ist nicht viel größer als eine Briefmarke. In weniger als einer Stunde kommt man um die ganze Insel herum. Außer der Villa, in der die Party stattfinden wird, gibt es nur noch ein paar Nebengebäude.« »Und die Anlegestelle wird von Kavinskis Sicherheitsleuten bewacht«, fügte Jamie hinzu. »Es wirkt nicht gerade wie die ideale Gelegenheit für Gardeaux, sich seiner Feinde zu entledigen.« Er lächelte. »Andererseits wirkte Kaifer auch wie ein unmögliches Ziel, und trotzdem haben wir es geschafft.« »Damals waren wir mager und hungrig auf Beute aus«, stellte Nicholas fest. »Gardeaux hingegen ist ein fetter Kater, der es vorzieht, vor dem Loch zu liegen und zu warten, daß die Maus rausspaziert kommt. Aber ich nehme an, ich fahre trotzdem hin und sehe mir den Laden mal an.« »Ich könnte auch gehen. Oder du schickst jemand anderen hin.« »Nein, ich fahre selbst.« »Warum? « Jamie sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an. »Könnte es vielleicht sein, daß du da draußen in der Wildnis ein wenig rastlos geworden bist? « Gott, ja, er war rastlos. Rastlos und ungeduldig und erfüllt von dem Wunsch, daß die ganze Sache endlich vorüber war. Seinem -13-
Ziel, Gardeaux zur Strecke zu bringen, war er nicht näher als vor einem Jahr. »Du bist es einfach zu sehr gewohnt, am Rande des Abgrunds spazierenzugehen«, stellte Jamie leichthin fest. »Und du wirst nie etwas anderes als mager und hungrig sein, mein Junge. Ich gebe zu, daß mir die Aufregung auch manchmal fehlt.« Er stieß einen Seufzer aus. »Aber unglücklicherweise ist es eine bedauerliche Wahrheit, daß jeder Mensch nur eine begrenzte Anzahl an Konversationen führen kann.« »Das ist mir klar. Aber ich will Gardeaux.« »Wenn du es sagst.« »Ich brauche einen Bericht über sämtliche Namen, die auf der Liste stehen.« »Der liegt bereits auf dem Schreibtisch in deinem Hotelzimmer bereit. Wie du sehen wirst, gibt es zwischen den Namen keinen erkennbaren Zusammenhang.« Nein, Medas würde ein wirres Knäuel aus Widersprüchen und Mutmaßungen und Vielleichts sein. Aber der besonders gekennzeichnete Name auf der Liste, der von Conner erwähnt worden war, war vielleicht bedeutungsvoll. Vielleicht handelte es sich um die Person, die am dringendsten bestochen werden mußte oder aber um das wichtigste Ziel eines Mordanschlags. Auf jeden Fall hatte sie besondere Beachtung verdient. Er faltete den Zettel auseinander, der ihm von Jamie ausgehändigt worden war. Der Name, der ganz oben auf der Liste stand, war nicht nur unterstrichen, sondern obendrein noch eingekreist. Nell Calder. 4. Juni Medas, Griechenland »Mama, ich habe ein Monster gesehen«, verkündete Jill. -14-
»Ach ja, mein Schatz?« Links neben dem Spanischen Flieder schob Nell eine weiße Hyazinthe in die Vase aus chinesischem Porzellan, ehe sie ihr Werk mit schräg gelegtem Kopf musterte. Ja, wunderbar. Sie griff nach einer weiteren Fliederblüte und sah zu Jill hinüber, die im Türrahmen stand. »Wie Pete, den Zauberdrachen?« Jill bedachte sie mit einem empörten Blick. »Nein, der ist ja nicht echt, aber dieses Monster habe ich wirklich gesehen. Ein Menschenmonster. Mit einer langen grauen Nase und solchen Augen.« Sie formte mit Daumen und Zeigefinger einen Kreis, und da er ihr zu klein erschien, benutzte sie auch noch die andere Hand, um zu zeigen, wie groß die Augen gewesen waren. »Und mit einem Buckel.« »Klingt wie ein Elefant.« Noch ein Rittersporn und das Arrangement wäre perfekt. »Oder vielleicht ein Kamel.« »Du hörst mir nicht richtig zu«, jammerte Jill. »Es war ein Menschenmonster, und es lebt in den Höhlen.« »In den Höhlen?« Nells Herz machte einen furchtsamen Satz. Sie vergaß die Blumen und fuhr zu ihrer Tochter herum. »Was hast du dort gemacht? Du weißt, Mr. Brenden hat dir gesagt, daß du nicht in die Höhlen gehen sollst. Der Makler hat ihm gesagt, daß oft das Wasser vom Meer dort eindringt und daß man vo n einer Welle mitgerissen werden kann.« »Ich bin nur ein kleines Stückchen reingegangen.« Selbstgerecht fügte sie hinzu: »Und dann hat Daddy mich gerufen, und ich bin sofort wieder rausgekommen.« »Daddy hat dich mit zu den Höhlen genommen? « Verdammt, warum paßt Richard denn nicht besser auf seine Töchter auf? Wußte er denn nicht, daß es auf einer Insel zahlreiche Gefahren für eine Vierjährige gab? Nell hätte mitgehen sollen, als ein gemeinsamer Strandspaziergang beschlossen worden war. In Gesellschaft von Brendens Clique war Richard immer abgelenkt. Er mußte in jeder Gruppe der Beste sein, der -15-
Charmanteste, der Witzigste, der Cleverste. Was dachte sie da? Sofort wurde Nell von Schuldgefühlen gepackt. Richard brauchte sich keine Mühe zu geben, um der Beste zu sein; der war er sowieso. Für Jill war sie verantwortlich, und sie hätte mitgehen und sich um die Kleine kümmern sollen, statt sich hier zu verkriechen und mit den Blumenarrangements für die Party herumzuspielen. »Du darfst nicht in die Höhlen gehen. Dort ist es gefährlich. Darum hat Daddy dich zurückgerufen.« Jill nickte. »Wegen des Monsters.« »Nein.« Jill war ein sensibles und phantasiebegabtes Kind, und es war besser, wenn sie derartige Phantastereien sofort unterband. Nell kniete sich auf den Aubusson-Teppich und legte die Hände auf Jills Schultern. »Dort war kein Monster. Manchmal sehen Schatten wie Monster aus, vor allem, wenn du an einem Ort bist, der ein bißchen unheimlich ist. Erinnerst du dich noch daran, wie du mitten in der Nacht wach geworden bist und dachtest, unter deinem Bett wäre ein Schwarzer Mann? Und als wir nachgesehen haben, war niemand da.« »Aber da war ein Monster.« Jill setzte eine starrsinnige Miene auf. »Und es hat mich erschreckt.« Einen Augenblick lang war Nell versucht, ihre Tochter weiterhin glauben zu lassen, die Höhle wäre von Monstern bewohnt, denn diese Vorstellung hielte sie sicher von dort fern. Aber sie hatte ihre Tochter noch nie belogen, und sie finge auch jetzt nicht damit an. Sie dürfte Jill eben einfach niemals aus den Augen lassen, solange sie hier auf dieser verfluchten Insel waren. »Schatten«, wiederholte Nell in bestimmtem Ton, und zur Verstärkung fügte sie hinzu: »Hat Daddy das nicht auch gesagt, als du ihm erzählt hast, du hättest ein Monster gesehen? « »Daddy hat nicht zugehört. Er hat gesagt, ich sollte ruhig sein. Er hat sich mit Mrs. Brenden unterhalten.« Jills Augen füllten -16-
sich mit Tränen. »Und du glaubst mir auch nicht.« »Ich glaube dir, aber manchmal...« Sie konnte nicht weitersprechen, solange Jill sie mit einem derart vorwurfsvollen Blick aus ihren braunen Augen maß. Also strich sie ihr sanft den seidigen braunen Pony aus der Stirn. Sein ›Porzellanpüppchen‹ nannte Richard sie wegen ihres glatten, kurz geschnittenen Haars, aber Jill strahlte nichts Zerbrechliches aus. Sie war so robust und so wunderbar amerikanisch, wie es nur ging. »Laß uns morgen in die Höhle gehen. Dann zeigst du mir das Monster, und anschließend verscheuchen wir es.« »Hast du denn keine Angst? « flüsterte Jill. »Hier gibt es nichts, wovor man sich fürchten muß, mein Schatz. Dies ist ein guter Platz für Kinder. Das Meer und der Strand und dieses wunderbare Haus. Du wirst ein tolles Wochenende haben, das verspreche ich dir.« »Aber du nicht.« »Was? « Jill bedachte sie mit einem eigenartig erwachsenen Blick. »Du amüsierst dich nie. Nicht so wie Daddy.« Die Weisheit von Kindern sollte man niemals unterschätzen, dachte Nell erschöpft. »Ich bin ein bißchen schüchtern. Aber daß ich ruhig bin, bedeutet nicht, daß ich mich nicht amüsiere.« Sie umarmte ihr Kind. »Wenn wir beide zusammen sind, amüsieren wir uns doch jedesmal, oder nicht? « »Sicher.« Jill schlang ihre Arme um Nells Hals und schmiegte sich eng an ihre Brust. »Darf ich heute abend auf die Party kommen? Dann hast du jemanden, mit dem du reden kannst.« Jill duftete nach Meer und Sand und nach Nells Lavendelseife, die sie gestern abend für ihr Bad erbettelt hatte. Nell drückte sie einen Augenblick fest an sich, ehe sie sie widerstrebend aus ihren Armen entließ. »Das ist eine Erwachsenenparty. Es würde dir nicht gefallen.« -17-
Ebenso wenig wie ihr. Sie hatte sich an ihre Pflichten als Richards Ehefrau gewöhnt, und normalerweise hielt sie sich stets unauffällig im Hintergrund, aber an diesem Wochenende würde ihr das sicher nicht gelingen. Eine häßliche Frau wie sie würde wie der berühmte wunde Daumen zwischen all den reichen und berühmten Gästen hervorstechen, die Brenden neben Kavinski geladen hatte, damit dieser, geblendet vom Chic der Umgebung, den Vertrag mit Continental Trust unterzeichnete. »Dann bleib hier bei mir«, schlug Jill ihr vor. »Das kann ich nicht.« Sie rümpfte die Nase. »Das würde Daddys Boß nicht gefallen. Dies ist ein sehr wichtiger Abend für Daddy, und wir müssen ihm beide helfen.« Sie sah, wie sich die Miene ihrer Tochter abermals verfinsterte und fügte eilig hinzu: »Aber bevor du schläfst, komme ich mit einem Tablett voller feiner Sachen rauf und mache ein Picknick mit dir.« Sofort hellte sich Jills Gesichtchen wieder auf. »Bringst du auch Wein mit? « fragte sie. »Jean Marc darf jeden Abend zum Essen ein Glas trinken. Seine Mutter sagt, das ist gut für ihn.« Jean Marc war der Sohn der Haushälterin in ihrem Appartement in Paris, und Jill wartete mit immer neuen Geschichten über den Schlingel auf. »Orangensaft.« Und damit es nicht erst zu Protesten kam: »Aber wenn du brav ißt, sehe ich nach, ob ich ein Schokoladeneclair finden kann.« Sie stand auf und zog auch das kleine Mädchen hoch. »Und jetzt ab in die Badewanne mit dir. Ich bringe nur schnell die Blumen nach unten. In zwei Minuten bin ich zurück.« Jill betrachtete die Porzellanvase, und dann sah sie ihre Mutter mit einem strahlenden Lächeln an. »Das ist hübsch, Mama. Sogar noch schöner, als wenn die Blumen im Garten stehen.« Nell war anderer Meinung als sie. Sie fand es immer schade, Blumen zu pflücken, denn es gab nichts Schöneres als einen -18-
Garten, der in voller Blüte stand. Wie der Garten der kleinen Pension, den sie gemalt hatte, als sie im ›William & MaryCollege‹ zur Schule gegangen war. Weicher Nebel und leuchtende Farben und sanftes Vormittagslicht... Diese Erinnerung versetzte ihr einen Stich, und sie scheute davor zurück. Sie hatte keinen Grund, sich in Selbstmitleid zu ergehen. Anders als ihre Eltern hatte Richard ihre Malerei niemals kritisiert. Nach ihrer Hochzeit hatte er sie sogar ermutigt, mit ihrer Arbeit fortzufahren. Sie hatte einfach keine Zeit gehabt. Ihre Rolle als Frau eines ehrgeizigen, jungen leitenden Angestellten füllte jede Stunde des Tages aus. Mit langem Gesicht nahm sie die Vase in die Hand. Wäre sie nicht gezwungen gewesen, den ganzen Nachmittag mit der Gestaltung von Sally Brendens Blumenarrangements zu verbringen, hätte sie die Gelegenheit zum Zeichnen der wunderbaren Steilküste gehabt. Aber das hätte bedeutet, mit den Brendens und Richard an den Strand zu gehen. Sie hätte lächeln und plaudern müssen und Sallys Wohlwollen zu ertragen gehabt. Da erschienen ihr Jills subtile Tyranneien wie eine willkommene Abwechslung von der Gesellschaft dieser Frau. Nell gab Jill einen Kuß. »Leg schon mal deinen Schla fanzug raus und geh nicht auf den Balkon.« »Das hast du mir schon mal gesagt«, erklärte die Kleine in würdevollem Ton. »Ich habe dir auch schon mal gesagt, daß du nicht in die Höhle gehen sollst.« »Das ist etwas anderes.« »Nein, ist es nicht.« Jill ging in Richtung des Badezimmers. »Höhlen sind in Ordnung, aber Balkone mag ich nicht. Mir wird immer schwindlig, wenn ich von ihnen runtergucke.« Dem Himmel war Dank für diesen kleinen Gnadenerweis. Nell -19-
konnte einfach nicht glauben, daß Sally ihnen, einem Paar mit einem kleinen Kind, eine Suite mit einem Balkon gegeben hatte, der auch noch auf die Felsenküste ging. Doch, sie konnte es glauben, denn schließlich hatte Richard Sally vor Jahren einmal erzählt, daß er Balkone liebte, und Sally versuchte immer, ihm gefällig zu sein. Alle Leute versuchten immer, dem Sunnyboy gefällig zu sein. »Du solltest mal die Bootsladung von Sicherheitsmännern sehen, die Kavinski vorausgeschickt hat. Man könnte glatt meinen, er wäre Arafat.« Richard kam wie eine kühle Brise in die Suite geweht. »Hübsch. Bring sie besser gleich runter. Sally sprach davon, daß im Foyer noch kein einziges Blumengesteck zu sehen ist.« »Ich bin gerade erst fertig geworden.« Nell stellte verärgert fest, daß sie sich schon wieder entschuldigte. »Schließlich bin ich kein Profi. Sie hätte wirklich jemanden aus Athen kommen lassen können, der ihr den Blumenschmuck für ihre Party macht.« Er küßte sie auf die Wange. »Aber der wäre sicher nicht so hübsch, wie wenn du ihn machst. Sie sagt immer, was ich doch für ein Glück habe mit einer künstlerisch derart talentierten Frau. Sei so lieb und bring das Zeug schnell nach unten.« Er wandte sich dem Schlafzimmer zu. »Ich muß noch duschen. Kavinski wird jeden Augenblick erwartet, und Martin will uns bei einem Drink miteinander bekannt machen.« »Muß ich dann etwa auch schon runterkommen? Ich dachte, ich käme vielleicht erst zu der Party dazu.« Richard dachte kurz nach, und dann zuckte er mit den Schultern. »Wenn du nicht mitkommen willst, bleib einfach hier. Ich glaube nicht, daß man dich in dem Gedränge vermissen wird.« Erleichterung wallte in ihr auf. Sich während einer Party im Hintergrund zu halten war viel einfacher. Sie wandte sich zum Gehen. »Jill läßt gerade ihr Badewasser ein. Könntest du sie -20-
vielleicht im Auge beha lten, bis ich wieder da bin? « Er lächelte. »Aber sicher doch.« Er trug weiße Shorts und ein legeres Hemd, sein braunes Haar war windzerzaust, und sein schmales Gesicht wies eine gesunde Bräune auf. In einem Smoking oder einem normalen Straßenanzug sah er wunderbar aus, aber sie mochte ihn am liebsten so wie jetzt. In Freizeitkleidung empfand sie ihn als zugänglicher, mehr als Ihren Mann. Er winkte sie fort. »Beeil dich. Sally wartet schon.« Sie nickte und trat widerwillig in den Flur hinaus. Noch ehe sie die geschwungene Marmortreppe hinabstieg, drang bereits Sallys spitze Vogelstimme zu ihr herauf. Sie hatte schon immer gefunden, daß diese Piepsstimme kaum zu einer Frau paßte, die beinahe einen Meter achtzig maß und die die Geschmeidigkeit eines Panthers besaß. Sally Brenden drehte dem Dienstboten, dem ihre Schimpftirade gegolten hatte, den Rücken zu. »Da bist du ja. Wurde auch langsam Zeit.« Sie nahm Nell die Vase aus der Hand und stellte sie auf den Marmortisch, über dem ein kunstvoll vergoldeter Spiegel hing. »Ich hätte gedacht, du wärst ein wenig aufmerksamer und brächtest die Blumen rechtzeitig her. Schließlich ist es nicht so, daß ich nicht bereits genug zu bedenken hätte. Ich muß noch mit dem Kerl, der für das Feuerwerk verantwortlich ist, und mit dem Küchenchef reden, und ich bin noch nicht mal umgezogen. Du weißt, wie wichtig dieser Abend für Martin ist. Also muß alles perfekt sein.« Nell spürte, daß sie errötete. »Tut mir leid, Sally.« »Die Frau eines leitenden Angestellten ist von großer Bedeutung, wenn es um seine Karriere geht. Ohne meine Hilfe hätte es Martin niemals zum Vizepräsidenten gebracht. Es ist ja wohl nicht zuviel verlangt, wenn du ein paar lächerliche Blumengestecke machst, oder? « -21-
Nell hatte diese Tirade schon unzählige Male gehört, und sie verspürte eine gewisse Verärgerung über das Selbstlob dieser Frau, aber sofort hatte sie sich wieder in der Gewalt. »Tut mir leid, Sally«, wiederholte sie. »Kann ich dir sonst noch irgendwie behilflich sein? « Sally winkte mit einer wunderbar manikürten Hand. »Ich habe Madame Gueray zu der Party eingeladen. Sorg dafür, daß sie sich wohlfühlt. Sobald sie irgendwo in der Öffentlichkeit ist, ist sie die Unbeholfenheit in Person.« Elise Gueray war auf Partys noch schüchterner und noch deplazierter als Nell. Es machte ihr nichts aus, daß Sally ihr wie gewöhnlich die Verantwortung für sämtliche Außenseiter übertrug, denn sie betrachtete es als eine durchaus befriedigende Aufgabe, diesen Menschen den Weg zu ebnen und dafür zu sorgen, daß eine Feier nicht allzu schmerzlich für sie war. Sie selbst wäre, weiß Gott, dankbar gewesen, hätte ihr während ihrer ersten Jahre in Europa irgendjemand öffentliche Auftritte leichter gemacht. »Ich verstehe einfach nicht, weshalb Henri Gueray sie überhaupt jemals geheiratet hat.« Sally bedachte Nell mit einem betont arglosen Blick. »Aber schließlich geschieht es ja nur allzuoft, daß mächtige Männer mit duckmäuserischen, unzulänglichen Frauen verheiratet sind.« Ein schneller Stich, und dann wurde das Messer genüßlich in der Wunde herumgedreht. Doch Nell war derartige Spitzen zu gewöhnt, als daß sie Sally die Befriedigung einer Reaktion hätte zuteil werden lassen. »Ich fand sie sehr angenehm.« Mit diesen Worten wandte sie sich um und eilte zur Treppe. »Ich muß zu Jill zurück. Sie muß noch baden und essen.« »Also wirklich, Nell, du solltest dir endlich ein Kindermädchen nehmen.« »Ich kümmere mich gern um sie.« »Aber sie steht euch im Weg. Ich habe gerade erst heute -22-
Nachmittag mit Richard darüber gesprochen, und er ist derselben Meinung wie ich.« Nell sah Sally reglos an. »Hat er das gesagt? « »Natürlich, denn schließlich ist ihm klar, daß du, je höher er in der Firma aufsteigt, immer mehr Aufgaben haben wirst. Sobald wir wieder in Paris sind, werde ich die Agentur kontaktieren, die ich benutzt habe, als Jonathan noch ein kleiner Junge war. Simone hat sich so gut um ihn gekümmert, daß es nie auch nur die geringsten Schwierigkeiten mit ihm gab.« Und nun war Jonathan ein unangenehmer, rebellischer Teenager, der so selten sie möglich aus dem Internat in Massachusetts ins Haus seiner Eltern kam. »Danke, aber soviel habe ich nicht zu tun. Vielleicht, wenn sie etwas älter ist.« »Wenn sich Kavinski überreden läßt, uns seine Auslandsinvestitionen anzuvertrauen, dann wird Richard für das Management zuständig sein. Man wird erwarten, daß du auf seinen Reisen an seiner Seite bist. Ich denke, er hat ganz recht, wenn er ein Kindermädchen will, ehe es unbedingt erforderlich wird.« Sie wandte sich ab und ging in Richtung des Ballsaals davon. Sally tat so, als wäre die Beschäftigung eines Kindermädchens bereits beschlossene Sache, dachte Nell, und Verzweiflung wallte in ihr auf. Sie brächte es nicht über sich, ihre Tochter einer dieser reservierten Frauen auszuliefern, denen sie mit ihren Schützlingen im Park begegnet war. Jill gehörte zu ihr. Wie konnte Richard auch nur darüber nachdenken, ihr das fortzunehmen, was ihr auf der Welt das Wichtigste war? Nein, er dachte bestimmt nicht darüber nach. Jill war alles für sie. Sie täte alles, was er von ihr verlangte, aber er konnte unmöglich fordern, daß... »Laß dich von der alten Ziege bloß nicht ins Bockshorn jagen. Sie will doch nur sehen, wie du dich krümmst.« Nadine Fallon kam die Treppe herab. »Sie stürzt sich immer auf die -23-
Schwächeren. Das ist nun einmal ihre Natur.« »Pst.« Nell blickte über ihre Schulter, aber Sally war nicht mehr zu sehen. Nadine setzte ein Grinsen auf. »Willst du, daß ich ihr in deinem Namen ins Gesicht spucke? « »Ja.« Nell blickte mit gerümpfter Nase in die Richtung, in die die Gastgeberin verschwunden war. »Aber irgendwie wird sie herausfinden, daß du in meinem Auftrag gehandelt hast, und dann wäre Richard wütend auf mich.« Nadines Grinsen legte sich. »Dann laß ihn ruhig ein bißchen wütend sein. Er muß wissen, daß sie dir an Gemeinheit haushoch überlegen ist, also sollte er derjenige sein, der dem Barrakuda ins Auge spuckt.« »Du verstehst mich nicht.« »Nein.« Eingehüllt in eine Wolke aus Opiumparfüm, KarlLagerfeld-Chiffon und rotem Haar, schwebte die schöne, exotische Nadine an Nell vorbei. »Ich habe bereits vor langer Zeit zu Hause in Brooklyn gelernt, daß man zerquetscht wird, wenn man sich nicht zu wehren versteht.« Nadine würde gewiß niemals zerquetscht, dachte Nell. Sie hatte sich aus der Siebten Straße auf die Laufstege der berühmtesten Pariser Designer gekämpft, und immer noch hatte sie ihren alten bodenständigen Humor und ihre alte Dreistigkeit. Sie wurde überall eingeladen, und Nell lief ihr in letzter Zeit immer häufiger über den Weg. Richard nannte sie die ›Designerschaufensterpuppe‹, aber Nell freute sich jedesmal, sie zu sehen. Nadine blickte über ihre Schulter zurück. »Du siehst großartig aus. Hast du ein paar Pfunde weniger? « »Vielleicht.« Nell wußte, daß ihr Aussehen alles andere als großartig war. Sie war noch genauso plump wie vor einem Monat, als sie Nadine zum letzten Mal begegnet war, ihre Hose -24-
war zerknittert, und seit dem Vormittag hatte sie noch nicht einmal zum Kämmen Zeit gehabt. Nadine versuchte lediglich, sie zu trösten, nachdem sie von Sally Brenden auf so boshafte Art kritisiert worden war. Warum nicht? Eine Frau mit Kleidergröße sechs konnte es sich leisten, einer Frau mit Kleidergröße zwölf gegenüber freundlich zu sein. Dieser Gedanke erfüllte sie mit Scham. Freundlichkeit hatte kein Mißtrauen, sondern Wertschätzung verdient. »Ich muß sofort mit Richard sprechen. Wir sehen uns dann nachher auf der Party.« Nadine lächelte und ging winkend davon. Nell flog die Treppe hinauf, wobei sie jeweils zwei Treppenstufen auf einmal nahm, und rannte dann den langen Flur hinab. Im Wohnzimmer war niemand, doch dem fröhlichen Summen entnahm sie, daß Richard im Schlafzimmer war. Sie atmete tief ein, und dann öffnete sie die Tür. »Ich will kein Kindermädchen für Jill.« Richard drehte sich vom Spiegel zu ihr um. »Was? « »Sally sagt, du denkst daran, ein Kindermädchen einzustellen. Aber ich will keins. Wir brauchen keins.« »Warum regst du dich denn so auf? « Er wandte sich wieder dem Spiegel zu und rückte seine Krawatte zurecht. »Das war doch nur so ein Gespräch. Aber es ist nicht gut, wenn man Kinder allzusehr verwöhnt. All unsere Freunde haben jemanden, der ihnen mit den Kindern hilft. Ein Kindermädchen ist so etwas wie ein Statussymbol.« »Du willst also eins.« »Nicht, wenn du es nicht willst.« Er legte die Jacke seines Smokings an. »Was ziehst du heute abend an? « »Ich weiß noch nicht.« Welche Bedeutung hatte es schon, was sie trug? Sie sah sowieso immer unverändert aus. »Ich schätze, das Kleid mit dem blauen Spitzenbesatz.« In ohnmächtiger Wut hatte sie die Fäuste geballt. »Und ich verwöhne Jill nicht.« -25-
»Das blaue Kleid ist gut. Mit dem geschwungenen Ausschnitt sehen deine Schultern wunderbar aus.« Sie durchquerte den Raum und legte ihren Kopf an seine Brust. »Ich will mich selbst um sie kümmern. Du bist so oft unterwegs, und dann leisten wir uns gegenseitig Gesellschaft. Bitte, Richard«, flüsterte sie. Er strich ihr sanft über das Haar. »Ich will doch nur dein Bestes. Du weißt, wie hart ich arbeite, damit du und Jill ein angenehmes Leben habt. Du mußt mir nur ein bißchen dabei helfen, Nell.« Er würde es tun. Das wurde ihr voller Verzweiflung klar. »Ich versuche ja, dir zu helfen.« »Und das tust du auch.« Er schob sie fort und blickte ihr ins Gesicht. »Aber ich brauche noch mehr von dir.« Erregung flackerte über sein Gesicht. »Kavinski ist der Schlüssel zum ganz großen Erfolg, Nell. Seit sechs Jahren warte ich darauf, daß es für mich einen derartigen Durchbruch gibt. Es ist nicht nur das Geld, das mich interessiert, es ist die Macht. Wer weiß, wie weit ich es noch bringe, wenn es klappt.« »Ich werde noch härter arbeiten als bisher. Ich werde alles tun, was du von mir verlangst. Wenn ich nur Jill behalten darf.« »Wir werden morgen darüber sprechen.« Er küsste sie auf die Stirn und wandte sich ab. »Und jetzt gehe ich besser runter. Kavinski kommt bestimmt jeden Augenblick.« Nachdem die Tür hinter ihm ins Schloß gefallen war, starrte sie wie betäubt auf das Holz. Sie würden morgen darüber. sprechen, und er würde sanft sein und bestimmt und ein bißchen traurig, daß er nicht in der Lage war, ihr ihren Wunsch zu erfüllen. Er würde ihr das Gefühl geben, schuldig und zugleich hilflos zu sein, und wenn sie nach Paris zurückkämen, würde er ihr einen Strauß ihrer gelben Lieblingsrosen kaufen und persönlich das Einstellungsgespräch mit dem Kindermädchen führen, damit ihr die Sache nicht noch mehr zu Herzen ging. »Mama, mein Badewasser wird kalt«, sagte Jill in -26-
vorwurfsvollem Ton. Eingehüllt in ein riesiges, rosafarbenes Handtuch stand sie barfuß an der Badezimmertür. »Ach ja? « Nell schluckte, denn die Furcht vor der Trennung von ihrer Tochter schnürte ihr die Kehle zu. Sie würde die kostbare Zeit mit Jill nutzen und nicht mehr darüber nachdenken, was morgen war. Vielleicht bekämen sie ja Kavinskis Gelder nicht. Vielleicht käme Richard ja zu dem Schluß, daß ein Kindermädchen doch nicht erforderlich war. »Dann lassen wir besser heißes Wasser nachlaufen, und dann rein mit dir ins frische Nass.« »Ja.« Jill machte auf dem Absatz kehrt und verschwand im Bad. »Du siehst aus wie eine Prinzessin.« Jill hatte die Arme um die Knie geschlungen und schaukelte vergnügt auf ihrem Bett herum. »Wohl kaum.« Nell schob sie sanft auf die Kissen und zog ihr die Decke bis zum Kinn. »Versuch nicht, wach zu bleiben. Schlaf ein bißchen, und wenn ich mit unserem Picknick komme, wecke ich dich. Eins der Mädchen ist draußen im Wohnzimmer.« Sie zerzauste ihrer Tochter liebevoll das Haar. »Falls du irgendwelche Monster siehst.« »Ich habe es gesehen«, sagte Jill in ernstem Ton. »Tja, aber du siehst es bestimmt kein zweites Mal.« Sie küsste sie auf die Stirn. »Das verspreche ich dir.« Sie hatte bereits die Tür erreicht, als Jill ihr nachrief: »Denk an den Wein.« Lächelnd schloss Nell die Schlafzimmertür. Jill würde bestimmt niemals an Schüchternheit leiden, und auch an Durchsetzungsvermögen mangelte es ihr nicht. Nells Lächeln legte sich, als sie in den Flurspiegel sah. Nur ihre Tochter sah irgend etwas Prinzessinnengleiches in ihr. Sie war beinahe einen Meter siebzig groß, aber statt von stattlicher, -27-
erhabener Schönheit war sie unübersehbar plump. Plump und langweilig und schlicht wie Gras. Ihre Züge waren nichtssagend, und das einzig Auffällige an ihr war die Nase, die, statt in der langweiligen Gleichheit des Rests ihres Gesichts unterzugehen, keck nach oben wies. Selbst ihr kurzes braunes Haar war langweilig. Es hatte dieselbe helle Ahornfarbe wie Jills Schopf, doch ohne dessen kindlichen Glanz. Schlicht. Nun, Jill fand sie hübsch, und das war ihr genug. Nicht, daß Richard sie nicht ebenfalls als attraktiv ansah. Er hatte einmal gesagt, sie erinnere ihn an eine flauschige Steppdecke belastbar, traditionell und schön in ihrer Einfachheit. Sie rümpfte die Nase und ging eilig zur Tür. Wahrscheinlich gab es nicht eine Frau auf der Welt, die nicht lieber ein schimmerndes Seidenlaken gewesen wäre als eine solide Steppdecke für den Alltagsgebrauch. Aber schlichte Frauen hatten einen Vorteil. Niemandem fiel es je auf, ob sie da waren oder nicht. Sie käme nachher also bestimmt problemlos und unbemerkt mit Jills Picknick aus dem Ballsaal hier herauf. Sie stand am oberen Ende der Marmortreppe und blickte auf das Gedränge im Foyer. Musik. Der Duft von Blumen und teuren Parfüms. Gelächter und Konversation. Großer Gott, sie wollte dort nicht hin. Die hohen, mit Schnitzereien versehenen Türen zum Ballsaal standen sperrangelweit auf, und sie sah Richard, der in einer Ecke stand und sich mit einem großen, bärtigen Mann unterhielt. Kavinski? Wahrscheinlich ja. Martin, Sally und Nadine drängten sich ebenfalls um ihn, und Sally blickte geradezu schmachtend zu dem Unbekannten auf. Ihr Blick wanderte durch den Raum, und schließlich entdeckte sie im Schatten der Flügeltüren Madame Gueray. Elise Gueray war eine dünne Mittfünfzigerin, der die verzweifelte Hoffnung -28-
anzusehen war, daß möglichst niemand sie vor den weißen Samttapeten sah. Nell verspürte Mitleid mit ihr. Sie kannte das gefrorene Lächeln und den gehetzten Gesichtsausdruck, denn sie hatte ihn selbst oft genug im Spiegel gesehen. Sie ging die Treppe hinunter. Sollte Richard Kavinski umschmeicheln und den anderen wichtigen Gästen gegenüber seinen Charme versprühen. Ihm behilflich zu sein, indem sie das Elend dieser armen Frau linderte, war mehr nach ihrem Geschmack. »Mon dieu, der Kerl sollte eine Rose zwischen den Zähnen tragen«, murmelte Elise Gueray. »Was? « Nell legte ein Zitronentörtchen aufs Tablett. Sie hatte Jill ein Schokoladeneclair versprochen, aber auf dem ganzen Buffettisch war keins zu sehen. »Sie wissen schon, wie dieser Schwarzenegger in dem Film, in dem er den Spion spielt, der alles, nur nicht fliegen kann.« Sie erinnerte ich vage an den Film und an den riesigen Schwarzenegger, wie er, eine Rose zwischen den Zähnen, einen eleganten Tango schob. »True Lies? « Elise zuckte mit den Schultern. »Ich erinnere mich nie an Titel, aber Schwarzenegger vergißt man nicht so leicht.« Sie nickte in Richtung von jemandem, der am anderen Ende des Raumes stand. »Genauso wenig wie den da. Wissen Sie, wer das ist? « Nell blickte über ihre Schulter. Der Mann, den Elise meinte, hatte weder Schwarzeneggers Größe noch seine Statur, aber sie verstand, worum es Elise ging. Dunkelhaarig, Mitte Dreißig, mit einem Gesicht, das eher eindrucksvoll als schön zu nennen war, und vor allem von offenbar unerschütterlichem Selbstvertrauen. Er geriet bestimmt niemals in eine Situation, die ihn in irgendeiner Weise überforderte. Kein Wunder, daß Elise fasziniert von ihm war. Für Menschen wie sie und Nell war eine derartige Selbstsicherheit ebenso unerreichbar wie -29-
verführerisch. »Ich habe ihn noch nie gesehen. Vielleicht gehört er Kavinskis Gefolge an.« Elise schüttelte den Kopf, und sie hatte recht, dachte Nell. Dieser Fremde gehörte niemals dem Gefolge eines anderen an. »Haben Sie einen solchen Appetit? « Elises Blick fiel auf Nells Tablett, woraufhin diese heftig errötete. »Nein, ich dachte, ich bringe meiner Tochter ein paar Leckereien rauf.« Elise sah sie betroffen an. »Ich wollte keinesfalls...« »Ich weiß.« Nell verzog das Gesicht. »Ich wirke nicht unbedingt unterernährt.« »Sie sehen sehr nett aus«, sagte Elise aufrichtig. »Ich wollte Ihnen keinesfalls wehtun « Nell griente. »Das haben Sie auch nicht. Es ist meine Vorliebe für Schokoladenkuchen, die mir weh tut. Das Zeug ist ebenso tröstlich wie eine warme Decke.« »Brauchen Sie denn Trost, meine Liebe? « »Brauchen wir den nicht alle? « fragte sie ausweichend, ehe sie mit festerer Stimme erwiderte: »Nein, natürlich nicht. Ich habe alles, was ich mir nur wünschen kann.« Dann fügte sie mit sanfter Stimme hinzu: »Falls Sie Zeit haben, würde ich Ihnen morgen gerne meine Tochter vorstellen.« »Das wäre sehr schön.« »Oh, da sind ja die Eclairs. Sie liebt Eclairs.« Nell legte das Törtchen zu den anderen Schätzen auf dem Tablett. »Würden Sie mich bitte entschuldigen? Ich möchte Jill das Essen bringen. Ich habe ihr zwar gesagt, daß sie schlafen soll, aber wahrscheinlich ist sie immer noch wach.« »Aber sicher doch. Ich habe Sie bereits viel zu lange beansprucht. Sie waren sehr freundlich zu mir.« »Unsinn. Es war mir ein Vergnügen. Ich sollte diejenige sein, die sich bei Ihnen bedankt.« Es stimmte. Nachdem sie erst -30-
einmal ihre Schüchternheit überwunden hatte, hatte sich Elise Gueray als humorvolle und kluge Gesprächspartnerin erwiesen, und Nell hatte sich in ihrer Gesellschaft während der letzten paar Stunden sehr wohlgefühlt. Jetzt nahm sie das Tablett. »Wenn ich Sie heute abend nicht mehr sehe, rufe ich Sie morgen nach dem Frühstück an.« Elise nickte, und ihr Blick wanderte zu ihrem Ehemann am anderen Ende des Raums. »Ich bezweifle, ob ich noch hier sein werde, wenn Sie zurückkommen. Henr i will bestimmt bald gehen. Er fand es nur wichtig, Kavinski vorgestellt zu werden.« Mit vor Konzentration gerunzelter Stirn balancierte Nell das schwere Tablett in Richtung der Tür. Kurz hinter dem Ausgang des Ballsaals blieb sie stehen. Der Wein. Ach, warum nicht? Ein paar Schlucke täten Jill nicht weh, die Europäer flößten ihren Babys ständig Rotwein ein. Sie wollte, daß Jill heute abend glücklich war. Sie schob sich in den Ballsaal zurück. Champagner. Der war noch besser als Wein. Während sie ein Glas von einem der von Obern herumgetragenen Tabletts nahm, fiel ihr ihr eigenes Tablett beinahe aus der Hand. Irgendjemand nahm es ihr ab. »Darf ich Ihnen behilflich sein? « Arnold Schwarzenegger. Nein, von nahem betrachtet sah er niemandem ähnlich außer sich selbst. Sehr eindrucksvoll. Mit einem überwältigenden Selbstvertrauen, das sie instinktiv nach einer Fluchtmöglichkeit Ausschau halten ließ. Sie riß ihren Blick von ihm los. »Nein danke.« Sie versuchte, ihm das Tablett abzunehmen, aber er hielt es unerreichbar fern. »Ich bestehe darauf. Es macht mir nicht das geringste aus.« Er schlenderte aus dem Ballsaal, so daß sie ihm nachzueilen gezwungen war. »Wo findet das Rendezvous denn statt? « -31-
»Rendezvous?« Er blickte auf das Tablett. »Offenbar hat er einen gesunden Appetit.« Sie spürte, wie ihr die Hitze in die Wangen stieg. Achtund zwanzig Jahre alt, und immer noch errötete sie. Sie murmelte: »Das ist für meine Tochter gedacht.« Er lächelte. »Dann nehme ich an, daß das Rendezvous in einem Schlafzimmer stattfinden wird, aber Sie kommen niemals mit dem Champagner und dem Tablett die Treppe rauf.« Er durchquerte das Foyer und stieg gemächlich die Treppe hinauf. »Ich bin Nicholas Tanek, und Sie sind...? « »Nell Calder.« Immer noch rannte sie ihm nach. »Aber ich brauche keine Hilfe. Wenn Sie mir bitte...« »Calder? Richard Calders Frau? « Er war überrascht. Sie waren immer überrascht, daß Richard eine Frau hatte wie sie. »Ja.« »Nun, offenbar ist er zu beschäftigt, um Ihnen behilflich zu sein. Gestatten Sie mir also bitte, ihn zu vertreten.« Es war offensichtlich, daß er sich von seinem Vorhaben nicht abbringen ließ. Also ließ sie ihn am besten gewähren. Auf diese Weise würde sie ihn schnellstmöglich wieder los. Sie folgte ihm die Treppe hinauf und merkte, daß sie die geschmeidigen Bewegungen seiner Schultern und seiner Pobacken betrachtete. Beide Körperpartien wiesen straffe Muskeln auf und waren äußerst angenehm anzusehen. »Wie alt ist Ihre Tochter? « Ihr Blick flog schuldbewußt nach oben, doch zu ihrer Erleichterung stellte sie fest, daß er immer noch vor sich sah. »Jill ist fast fünf. Haben Sie Kinder, Mr. Tanek? « Er schüttelte den Kopf. »Wohin?« »Nach rechts.« »Arbeiten Sie auch für den Continental Trust? « -32-
»Nein.« »Was tun Sie dann? « »Nichts. Das heißt - ich kümmere mich um meine Tochter.« Als er nichts erwiderte, fuhr sie fort. »Ich habe zahlreiche gesellschaftliche Verpflichtungen.« »Ich bin sicher, Sie haben viel zu tun.« Aber nicht wie die Frauen in seiner Welt. Die waren sicher alle schlank und talentiert und so selbstbewußt wie er. »Sind Sie Amerikanerin? « Sie nickte. »Ich bin in Raleigh, North Carolina, aufgewachsen.« »Das ist eine Universitätsstadt, nicht wahr? « »Ja, meine Eltern haben an der Universität von Greenbriar unterrichtet. Mein Vater war dort Collegepräsident.« »Das klingt ganz nach einem... sicheren Leben.« Er meinte langweilig, und sie blitzte ihn zornig an. »Ich mag Kleinstädte.« Er blickte über seine Schulter zurück. »Aber das ist natürlich nichts im Vergleich zu dem Leben, das Sie inzwischen führen. Man sagte mir, der europäische Firmensitz des Continental Trust wäre in Paris.« »Ja.« »Und es ist bestimmt angenehm, wenn man Orte wie diesen hier bereist. Luxus kann etwas sehr Wichtiges sein.« »Ach ja? « »Ich habe mich vorhin mit Ihrem Mann unterhalten, und ich habe den Eindruck, ständig in einem Palast zu leben wäre durchaus nach seinem Geschmack.« »Für den Luxus, den wir genießen, hat er hart gearbeitet.« Sie ärgerte sich über dieses seichte Geschwätz. Da er wohl kaum ein ernsthaftes Interesse für Richard oder sie empfand, sprach sie lieber von etwas anderem. »Haben Sie auch etwas mit Banken -33-
zu tun, Mr. Tanek? « »Nein, ich bin pensioniert.« Sie riss verwirrt die Augen auf. »Tatsächlich? Sie sind noch sehr jung.« Er grinste vergnügt. »Ich hatte genug Geld, und darum beschloß ich, nicht darauf zu warten, daß man anläßlich meiner Pensionierung eine Party gibt und mir eine goldene Uhr verleiht. Jetzt besitze ich eine Ranch in Idaho.« Wieder hatte er sie überrascht. Sie hätte niemals gedacht, daß er der Typ Mann wäre, der sich außerhalb einer Großstadt niederließ. »Sie wirken nicht...« »Ich mag die Einsamkeit. Ich bin in Hongkong aufgewachsen, wo ein ziemliches Gedränge herrscht. Als ich die Möglichkeit bekam, mich frei zu entscheiden, habe ich die Wildnis gewählt.« »Tut mir leid. Das geht mich wirklich nichts an.« »Kein Problem. Ich habe nichts zu verbergen.« Mit einem Mal hätte sie gewettet, daß es für ihn eine ganze Menge zu verbergen gab. Er war ein Mann, der alles unter einer glatten Oberfläche verborge n hielt. »Und was für Geschäfte haben Sie vor Ihrer Pensionierung gemacht? « »Ich habe mit Rohstoffen gehandelt.« Er blickte sich um. »Welche Tür? « »Oh, die letzte Tür links.« Eilig ging er den Korridor hinab bis zu ihrer Suite. »Danke. Das war wirklich nicht nötig, aber ich...« Überrascht stellte sie fest, daß er die Tür öffnete und ihr Wohnzimmer betrat. Das griechische Mädchen richtete sich eilig in seinem Sessel auf. »Das ist im Augenblick alles«, sagte Nicholas Tanek auf griechisch zu ihr. »Wenn wir Sie wieder brauchen, rufen wir -34-
Sie.« Das Mädchen verließ die Suite und zog die Tür hinter sich ins Schloß, und Nell starrte ihn verwundert an. Tanek lächelte. »Keine Angst. Ich habe nichts Unanständiges im Sinn.« Er zwinkerte. »Es sei denn, Sie sehen etwas Unanständiges in der Tatsache, daß man einer äußerst langweiligen Party entrinnen will. Ich sah, wie Sie aus der Tür stürzten, und das gab mir eine Entschuldigung, mich dem Treiben für einen Augenblick zu entziehen.« »Mama, hast du mir...« Jill trat aus ihrem Zimmer und starrte Tanek an. »Wer sind Sie? « Er machte eine Verbeugung vor ihr. »Nicholas Tanek. Und du bist Jill? « Sie nickte zögernd mit dem Kopf. »Dann ist das hier für dich.« Schwungvoll präsentierte er ihr das Tablett. »Honigwein und Götterspeise.« »Ich wollte Eclairs.« »Ich glaube, die haben wir auch.« Er trat auf sie zu. »Wo speisen wir? « Jill musterte ihn einen Augenblick, und dann kapitulierte sie. »Mama und ich machen ein Picknick. Ich habe schon eine Decke auf den Fußboden gelegt.« »Hervorragende Idee. Du bist uns offenbar einen Schritt voraus.« Er stellte die Pappteller auf die Decke und sagte über die Schulter: »Sie haben die Servietten vergessen. Also müssen wir improvisieren.« Er verschwand im Bad und kam eine Minute später mit einem Stapel Papiertücher und zwei bestickten Handtüchern zurück. »Darf ich, Madam? « Er legte eins der Handtücher um Jills Hals und knotete es hinten zu. Jill kicherte. Nell versetzte es einen Stich, als sie sah, daß Jill die -35-
Aufmerksamkeit eines Fremden genoß. Dies war ihre Zeit mit ihrer Tochter, und er machte alles kaputt. »Danke, daß Sie mir beim Tragen des Tabletts behilflich gewesen sind, Mr. Tanek«, sagte sie förmlich. »Aber jetzt möchten Sie bestimmt auf die Party zurück.« »Möchte ich das? « Er wandte sich ihr zu, und sein Lächeln schwand. Dann nickte er langsam. »Ja, vielleicht sollte ich wieder nach unten gehen.« Abermals verbeugte er sich vor Jill. »Aber ich werde darauf warten, daß ich Ihr Tablett zurücktragen darf, Madame.« »Machen Sie sich keine Mühe«, sagte Nell. »Das Mädchen kann es morgen früh mitnehmen.« »Ich bestehe darauf. Ich warte einfach im Wohnzimmer. Rufen Sie mich, wenn Sie fertig sind.« Mit diesen Worten schlenderte er aus dem Schlafzimmer in den angrenzenden Raum. »Wer ist das? « flüsterte Jill mit einem Blick in Richtung der halboffenen Tür. »Nur ein Gast.« Es überraschte Nell, daß sich Tanek so schnell geschlagen gab. Nun, ganz aufgegeben hatte er nicht. Es war klar, daß er nicht wieder nach unten wollte, und offenbar hatte er sich ihre Suite als Zufluchtsort ausgesucht. Aber wem wich er wohl aus? Wahrscheinlich einer Frau. Er gehörte zu der Art von Männern, die ständig von Frauen gejagt wurden. Nun, solange er sich zurückhielt und ihr nicht bei ihrem Picknick in die Quere kam, war es ihr egal. »Ich mag ihn«, sagte Jill. Das bezweifelte Nell nicht. Tanek hatte es in wenigen Minuten geschafft, Jill das Gefühl zu geben, eine Kaiserin zu sein. Dann fiel der Blick der Kleinen auf den Kristallkelch, und sofort war Tanek vergessen. »Wein? « »Champagner.« Nell nahm im Schneidersitz auf dem Boden Platz. »Wie du es dir gewünscht hast.« -36-
Jills Gesicht wurde von einem strahlenden Lächeln erhellt. »Du hast daran gedacht.« »Schließlich feiern wir ein Fest.« Sie reichte ihrer Tochter das Glas. »Einen Schluck.« Jill nahm einen großen Schluck und verzog das Gesicht. »Sauer. Aber warm und so schön blubberig.« Sie hob erneut das Glas. »Jean Marc sagt...« Nell entriß ihr den Kelch. »Genug.« »Also gut.« Jill griff nach dem Eclair. »Aber wenn wir ein Fest feiern, brauchen wir auch Musik.« »Stimmt.« Nell kroch zum Nachttisch, griff nach der Spieldose und zog sie auf. Dann stellte sie den Kasten auf die Decke und beobachtete zusammen mit ihrem Kind das auf dem Deckel tanzende Pandabärenpaar. »Das ist viel schöner als das Orchester, das unten spielt.« Jill schob sich näher an ihre Mutter heran, hob ihren Arm und schmiegte sich eng an ihre Brust. Als sie in das Törtchen biß, fielen ein paar Krümel auf Nells blaues Kleid, und Nell wußte, ehe ihre Tochter mit Essen fertig wäre, wären sie beide über und über mit Schokoladenglasur bedeckt. Es war ihr egal. Zur Hölle mit dem Kleid. Sie legte den Arm um den kleinen, warmen Körper ihrer Tochter. Augenblicke wie dieser waren selten und kostbar. Und vielleicht würden sie noch seltener. Nein, das ließe sie nicht zu. Richard irrte sich, und sie mußte ihn davon überzeugen, daß es für Jill wichtig war, mit ihrer Mutter zusammen zu sein. Aber was, wenn ihr das nicht gelang? Dann müßte sie gegen ihn kämpfen. Bei diesem Gedanken wallten Panik und Verzweiflung in ihr auf. Richard gab ihr immer das Gefühl, daß sie unvernünftig und grausam war, wenn sie ihm widersprach. Er war sich immer so sicher, und sie -37-
verspürte niemals etwas anderes als Unsicherheit. Außer wenn es darum ging, ihre Tochter aufzugeben, damit sie einer gesichtslosen Fremden ausgeliefert war. »Du zerquetschst mich«, sagte Jill. Nell lockerte ihre Umarmung, aber sie hielt Jill weiterhin dicht an sich gepreßt. »Tut mir leid.« »Schon gut.« Den Mund voller Eclair rieb sie sich großmütig an Nells Arm. »Hat nicht wehgetan.« Sie hatte keine Wahl. Irgendwie fände sie die Kraft, um gegen Richard zu bestehen. Er war umsonst gekommen, dachte Nicholas entnervt, während er auf die Brandung blickte, die unter ihm gegen die Felsen schlug. Es war unmöglich, daß irgendjemandem etwas an Nell Calders Ermordung lag. Und sicher hatte sie keine engere Beziehung zu Gardeaux als die rehäugige Elfe, die sie im Augenblick mit französischem Gebäck verwöhnte und der offenbar all ihre Liebe galt. Wenn es hier eine Zielperson gab, dann wahrscheinlich Kavinski selbst. Als Oberhaupt eines neuen russischen Staats hatte er die Macht, für Gardeaux entweder eine ergiebige Milchkuh oder ein großes Ärgernis zu sein. Nell Calder hingegen war gewiß niemandem ein Ärgernis. Er hatte die Antworten auf alle Fragen, die er ihr gestellt hatte, bereits gekannt, aber ihre Reaktion hatte ihn interessiert. Er hatte sie den ganzen Abend beobachtet, und eins war klar: sie war eine nette, schüchterne Frau, die selbst inmitten dieser relativ harmlosen Haie unten im Ballsaal vollkommen deplaziert und hilflos war. Er konnte sich nicht vorstellen, daß sie genug Einfluß hatte, um einen Bestechungsversuch wert zu sein, und nie im Leben wäre sie die ebenbürtige Geschäftspartnerin eines Schurken wie Gardeaux. -38-
Es sei denn, sie war mehr, als sie erkennen ließ. Vielleicht. Sie wirkte sanft wie ein Lamm, aber sie hatte den Mut gehabt, ihn aus dem Zimmer ihrer Tochter zu werfen. Irgendwann wehrte sich jeder Mensch, der Kampf mußte nur wichtig genug sein. Und für Nell Calder war es wichtig, mit ihrer Tochter allein zu sein. Nein, die Bedeutung der Liste mußte eine andere sein. Wenn er wieder hinunterginge, hielte er sich besser in Kavinskis Nähe auf. »Auf, auf, auf, in den blauen Himmel hinauf Ab, ab, ab, zu der roten Rose hinab.« Durch die halboffene Tür drang Nells Stimme an sein Ohr. Er hatte Schlaflieder schon immer gemocht, denn sie hatten eine beruhigende Beständigkeit, die es in seinem Leben nicht gab. Seit den Anfängen der Menschheit hatten Mütter für ihre Kinder gesungen, und sie sängen wahrscheinlich noch in tausend Jahren für sie. Das Lied endete in leisem Gelächter und in gemurmelten Worten, die er nicht verstand, und ein paar Minuten später kam sie aus dem Schlafzimmer und schloß hinter sich die Tür. Ihr Gesicht war gerötet, und sie strahlte eine Weichheit wie geschmolzene Butter aus. »Das Schlaflied habe ich vorher noch nie gehört«, sagte er. Sie sah ihn verblüfft an, als hätte sie ganz vergessen, daß er immer noch in ihrem Wohnzimmer saß. »Es ist sehr alt. Meine Großmutter hat es mir immer vorgesungen, als ich selbst noch ein kleines Mädchen war.« »Schläft Ihre Tochter? « »Nein, aber bald. Ich habe ihr noch einmal die Spieluhr aufgezogen, und normalerweise schläft sie über der Musik -39-
immer ein.« »Sie ist ein wunderschönes Kind.« »Ja.« Ein glückliches Lächeln verlieh ihrem eher schlichten Gesicht einen strahlenden Glanz. »Allerdings.« Fasziniert starrte er sie an und stellte fest, daß er sich wünschte, sie behielte dieses Lächeln bei. »Und intelligent? « »Manchmal zu intelligent. Ab und zu geht ihre Phantasie mit ihr durch. Aber sie ist immer vernünftig, und man kann mit ihr...« Sie brach ab, und ihr Eifer legte sich. »Aber das interessiert Sie sicher nicht. Ich habe das Tablett vergessen. Warten Sie, ich hole es.« »Machen Sie sich keine Mühe. Sie würden nur Jill stören. Geben Sie das Tablett einfach morgen früh dem Mädchen mit.« Sie sah ihn ruhig an. »Das habe ich Ihnen vorhin schon gesagt.« Er lächelte. »Vorhin wollte ich nicht auf Sie hören, aber jetzt leuchtet mir Ihr Argument durchaus ein.« »Weil es Ihnen passt.« »Genau.« »Ich muss auch wieder gehen. Ich habe Kavinski noch gar nicht kennen gelernt.« Sie wandte sich zur Tür. »Warten Sie. Ich denke, Sie entfernen lieber erst den Schokoladenfleck von Ihrem Kleid.« »Verdammt.« Mit gerunzelter Stirn blickte sie an sich herab. »Den hatte ich ganz vergessen.« Sie ging in Richtung des Badezimmers. »Gehen Sie nur. Ich versichere Ihnen, daß ich dieses Problem auch ohne Ihre Hilfe lösen kann.« Als er zögerte, warf sie ihm einen spitzen Blick über die Schulter zu. Er hatte keine Entschuldigung mehr, um länger zu bleiben, obgleich diese geringfügige Tatsache nicht weiter von Bedeutung war. -40-
Aber er hatte auch keinen Grund. Er schlug sich schon allzulange durchs Leben, indem er sich auf seinen Geist und seine Intuition verließ. Auch jetzt vertraute er seinem Instinkt, der ihm sagte, daß diese Frau keine wie auch immer geartete Zielperson war. Es wäre besser, er lenkte seine Aufmerksamkeit auf Kavinski um. Er wandte sich zum Gehen. »Ich werde dem Mädchen sagen, daß es zurückkommen soll.« »Danke, sehr freundlich«, sagte sie automatisch, während sie hinter der Badezimmertür verschwand. Das gute Benehmen hatte man ihr offenbar genau wie Loyalität und Sanft mut bereits während der Kindheit beigebracht. Sie war eine nette Frau, und das Wichtigste in ihrem Leben war dieses süße Kind. Die Liste, die er gesehen hatte, schien wieder mal eine Niete gewesen zu sein. Das Mädchen war nirgends zu sehen. Egal, er ginge einfach in den Ballsaal zurück und schickte eine der Bediensteten von unten herauf. Er ging eilig den Korridor entlang und wandte sich der Treppe zu. Schüsse. Sie kamen aus dem Ballsaal herauf. Himmel. Er stürzte die Treppe hinab. Explosionen. Das Feuerwerk, dachte Nell. Sally hatte ihr erzählt, daß es als Krönung des Abends ein Feuerwerk gab. Offenbar hatte sie länger als beabsichtigt bei ihrer Tochter verweilt. Sally wäre darüber bestimmt nicht besonders erfreut. Der Fleck war nicht allzu schlimm. Gott sei Dank, daß es Mineralwasser gab. Sie hatte schon Angst gehabt, sich umziehen -41-
zu müssen. Vorsichtig tupfte sie an der Schokolade herum. Irgendjemand schloß die Wohnzimmertür. Das Mädchen. Wie hieß sie noch? Hera. »Ich bin noch im Bad, aber ich werde gleic h gehen, Hera. Ich habe mir mein Kleid...« Sie blickte auf. Ein Gesicht im Spiegel, blaß, schimmernd, verzerrt. »Was...« Blitzender Stahl, ein sich hebender Arm. Ein Messer. Sie fuhr herum, als das Messer auf sie niederging. Schmerz. Das Messer wurde aus ihrer Schulter gezogen und stach abermals zu. Ein Dieb. »Kein - Schmuck. Bitte.« Abermals traf sie der Dolch, dieses Mal in den Oberarm. Durch die Strumpfmaske hindurch sah sie, wie der Angreifer die Zähne fletschte. Kein Dieb. Es machte ihm Spaß. Entsetzen wallte in ihr auf. Er spielte mit ihr. Er genoß ihren Schmerz und ihre Hilflosigkeit. Das Blut strömte über ihren Arm, und vor lauter Schmerz wurde ihr schlecht. Warum tat er das? Er brachte sie um. Jill. Jill war im Zimmer nebenan. Wenn sie starb, gäbe es niemanden mehr, der ihn davon abhielte, ihr weh zu tun. Erneut riß er das Messer hoch. Sie rammte ihm das Knie in den Unterleib. Er stöhnte vor Schmerz und krümmte sich. Sie schob sich an ihm vorbei. Sein Körper fühlte sich fremd und gummiartig an. Sie stolperte ins Wohnzimmer. Ihre Knie zitterten. Gleich fiele sie hin. -42-
»Hexe.« Er war direkt hinter ihr. Sie brauchte eine Waffe. Keine Waffe im Raum. Sie riß an der Schnur der Lampe auf dem Tisch neben ihr. Sie warf mit der Lampe nach ihm. Er wehrte sie problemlos ab. Er kam immer näher an sie heran. Sie wich vor ihm zurück. Hieß es nicht immer, Schreien wäre die beste Verteidigung? Sie schrie. »Weiter. Niemand wird dich hören.« Er hatte recht. Das Feuerwerk und die Schreie von unten waren zu laut. Sie stand neben der Flügeltür zum Balkon. Sie riß die beigefarbenen Seidenvorhänge ab und warf sie ihm über den Kopf. Sie hörte ihn fluchen und stürzte an ihm vorbei. Fast an ihm vorbei. Er befreite sich gerade rechtzeitig, um ihren Arm zu packen und daran zu ziehen, bis sie in die Knie ging. Wieder hob er das Messer an. Sie fuhr auf und rammte ihm den Kopf in den Bauch. Sein Griff lockerte sich, und sie riß sich los. »Mama.« O Gott, Jill stand an der Schlafzimmertür. »Bleib, wo du bist, Baby.« Der Balkon. Wenn sie ihn auf den Balkon locken könnte, gelänge Jill vielleicht die Flucht. Ihre Faust fuhr nach vorn und traf sein Gesicht. Sie wirbelte herum und rannte auf den Balkon. Er folgte ihr. »Lauf, Jill. Geh zu Daddy.« Jill weinte. Sie wollte sie trösten. »Lauf, Ba...« Das Messer. Der Stich. Der Schmerz. -43-
Kämpf gegen ihn. Ich bin zu schwach. Schlag nach ihm. Tu ihm weh. Gib Jill Zeit zur Flucht. Lauf weg. Wohin? Steinhart und kalt spürte sie die Balustrade in ihrem Kreuz. Sorg dafür, daß er abstürzt. Sorg dafür, daß er über das Geländer fällt. Sie zerrte verzweifelt an seinen Schultern, um ihn umzudrehen. »O nein, du dumme Ziege.« Er riss sich von ihr los und schob sie über die Brüstung hinaus. Sie schrie. Fiel. Starb. Nicholas kämpfte sich zwischen den panisch aus dem Ballsaal flüchtenden Gästen hindurch und packte die an ihm vorbeirennende Sally Brenden am Arm. »Was ist passiert? « »Lassen Sie mich los.« In ihren Augen blitzte nacktes Entsetzen auf. »Wahnsinn. Sie haben sie umgebracht. Wahnsinn.« Seine Hand legte sich fester um ihren Arm. »Wer hat geschossen? « »Woher soll ich das wissen? « Sie fuhr zu einem untersetzten Mann herum, der hinter ihr aus dem Ballsaal kam. »Martin! « Martin Brenden war kreidebleich und schweißüberströmt. »Kavinski liegt am Boden. Genau wie zwei andere. Und ich habe gesehen, wie Richard zusammengebrochen ist. Sie haben Richard umgebracht.« »Wie viele sind es? « fragte Nicholas. »Woher kommen die Schüsse? « -44-
»Von draußen, durch das Fenster. Kavinskis Leibwächter sind hinter ihnen her.« Martin packte den Arm seiner Frau. »Laß uns von hier verschwinden, so schnell es geht.« »Wie konnte das passieren? « fragte Sally wie betäubt. »Meine wunderbare Party...« »Sie werden sie finden.« Er tätschelte beruhigend ihren Arm. »Kavinski hat zwei Männer an der Anlegestelle postiert. Sie kommen niemals von der Insel weg.« »Mein wunderbares Fest...« Während sie sich von ihm fortführen ließ, schob sich Nicholas durch das Gedränge zur Haustür durch. Zwei Männer rannten durch die Nacht. Der dunkle Glanz, den das Mondlicht ihren schlanken Körpern verlieh, verriet, daß es sich um Taucher handelte. Die Richtung, die sie einschlugen, war der Anlegestelle genau entgegengesetzt. Natürlich nicht die Anlegestelle. Gardeaux hatte einen Weg gefunden, auf dem sich diese Falle nach dem erfolgreichen Abschuß der Zielpersonen umgehen ließ. Zielpersonen. Was war mit Nell Calder geschehen? Er machte auf dem Absatz kehrt und rannte in den Palast zurück.
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2. Kapitel »Himmel, gucken Sie nur, wie ihr Gesicht aussieht. Monströs.« Die Stimme gehörte Nadine. Ich habe ein Monster gesehen. Das hatte Jill gesagt. Im Augenblick schien jeder irgendwelche Monster zu sehen. »Verdammt, stehen Sie nicht tatenlos herum. Holen Sie diesen Arzt, der bei Kavinski ist. Sie braucht dringender Hilfe als er.« Richard? Nein, die Stimme war rauher und härter. Ta nek. Seltsam, daß sie seine Stimme sogar in der Dunkelheit zu erkennen schien. Sie versuchte, die Augen zu öffnen. Ja, Tanek. Nicht mehr elegant, sondern in Hemdsärmeln und über und über mit Blut bespritzt. War er verletzt? »Blut...« »Seien Sie leise. Es wird alles gut.« Sein Blick hielt den ihren fest. »Sie werden nicht sterben, das verspreche ich.« Nadine weinte. »Das arme Ding. O Gott, mir wird schlecht.« »Dann gehen Sie woanders hin, und brechen Sie dort«, stellte Tanek mit kalter Stimme fest. »Aber holen Sie erst den Arzt für sie.« Sie schien diejenige zu sein, die verletzt war. Die gefallen war. Die starb. Sollte nicht Richard hier sein, wenn sie starb? Sie wollte Jill sehen. »Jill...« »Pst«, sagte Tanek. »Es wird alles gut.« Etwas stimmte nicht. Nein, alles stimmte nicht. Sie starb, und niemand kümmerte sich -46-
um sie. Nur dieser Fremde, nur Tanek, war hier. »Ich habe es im Fernsehen gesehen«, sagte Jamie Reardon am Telefon. »Offenbar hattest du ganz schön zu tun, Nick. Also war Kavinski die Zielperson? « »Keine Ahnung. Der Leibwächter wurde auch getroffen. Möglich, daß Kavinski eine Art Betriebsunfall war.« »Wie haben sie es geschafft, auf die Insel zu kommen? « »Durch einen Meerwasserkanal, der am anderen Ende der Insel in die Höhlen fließt. Sie sind ein paar Meilen vom Ufer entfernt vor Anker gegangen und haben sich dann mit Taucheranzügen und Sauerstoffflaschen auf den Weg in die Höhlen gemacht. Was haben sie in den Nachrichten gesagt? « »Dass Terroristen aus Kavinskis Land einen Überfall verübt und versucht haben, ihn zu ermorden, und daß dabei fünf Unschuldige ums Leben gekommen sind.« »Vier. Die Frau hat es überlebt. Knapp. Sie wurde von drei Messerstichen getroffen und ist dann vom Balkon gestürzt. Sie ist verdammt übel zugerichtet, und im Augenblick ist sie unterwegs nach Athen ins Krankenhaus. Auf der Party war ein Arzt, der meinte, daß sie wahrscheinlich durchkommen wird, wenn der Schock nicht zuviel für sie ist. Bitte besorg mir umgehend ein Privatflugzeug. Wir bringen sie in die Staaten zurück und lassen sie dort behandeln.« Jamie pfiff leise durch die Zähne. »Das wird Kabler nicht gefallen. Bestimmt will er mit ihr reden.« »Zur Hölle mit Kabler.« »Was ist mit ihren Angehörigen? Stimmen die einer Überführung zu? « »Ihr Ehemann war eins der unschuldigen Opfer. Er ist auf dem Weg ins Leichenschauhaus. Laß dir von Conner falsche Papiere machen, die besagen, daß du ihr Bruder bist, und dann sag -47-
Lieber, daß er das Krankenhaus anrufen soll. Irgendjema nd hier hat bestimmt schon mal was von ihm gehört.« »Warum gerade Lieber?« »Weil das das Logischste ist. Sie sieht aus, als wäre in ihrem Gesicht kein einziger Knochen mehr an seinem Platz.« »Warum wurde Richard Calder umgebracht? Er war nicht auf der Liste.« »Seine vierjährige Tochter stand auch nicht drauf.« »Himmel.« Nicholas schloss die Augen vor dem Bild, das ihn erwartet hatte, als er in die Suite gekommen war. Es half nichts. Egal, ob er die Augen schloss oder sie offen hielt, immer wieder tauchte das Schreckensszenario vor ihm auf. »Ich hab's versaut, Jamie. Ich dachte, es wäre wieder mal ein Flop.« »Da warst du nicht der einzige. Kabler war ebenfalls der Ansicht, daß sich eine Einmischung nicht lohnt.« »Aber ich habe mich eingemischt. Ich war dort. Ich hätte es verhindern können.« »Ganz allein?« »Ich hätte sie warnen können. Sie war ganz vernarrt in das Kind. Vielleicht hätte sie auf mich gehört.« »Oder sie hätte gedacht, du bist verrückt. Das weiß man nicht. Wenn sie tatsächlich irgendwelche Beziehungen zu Gardeaux unterhält, dann trifft allein sie die Schuld.« Er machte eine Pause. »Brauchst du Hilfe, um von der Insel runterzukommen? « »Nicht, wenn ich sofort abfahre. Kabler ist noch nicht da. Ich habe bereits mit den hiesigen Polizisten gesprochen, also kann ich gehen, wenn ich will. Wir treffen uns am Flughafen.« Mit diesen Worten hängte er ein. 5. Juni Minneapolis, Minnesota -48-
Am Flughafen stand ein stirnrunzelnder Joel Lieber mit einem Krankenwagen bereit. »Ich habe dir gesagt, daß ich mit dieser Sache nichts zu tun haben will, Nicholas. Ich bin zu beschäftigt, um mich mit Männern wie Kabler herumzustreiten. Sie mischen sich überall ein - Vorsicht! « Er wandte sich den Sanitätern, die die Trage aus dem Flugzeug hievten, zu. »Keine Erschütterung. Wie oft muß ich euch noch sagen, daß es nicht die geringste Erschütterung geben darf? « Er folgte der Trage zum Krankenwagen und warf über die Schulter zurück: »Fahrt in mein Büro. Sobald ich sie untersucht habe, treffe ich euch dort. Hat sie inzwischen ihr Bewußtsein wiedererlangt? « »Nur einmal, kurz nachdem wir sie gefunden hatten. Die Stichwunden sind nicht tief, aber sie hat einen gebrochenen Arm und ein gebrochenes Schlüsselbein. In der Notaufnahme in Athen haben sie die Brüche gerichtet, aber ich habe gesagt, daß niemand an ihr Gesicht gehen soll.« »Diese ehrenvolle Aufgabe überlaßt ihr also lieber mir«, stellte Joel sarkastisch fest. »Zusammen mit der weniger ehrenvollen Aufgabe, mit Kabler herumzustreiten, der bestimmt nicht so schnell lockerlässt.« »Ich werde dir Kabler vom Leib halten.« »Du meinst, du wirst es versuchen. Er hat mich heute schon zweimal angerufen. Es scheint ganz so, als wäre er nicht allzu glücklich darüber, daß ich euch beim illegalen Transport einer wichtigen Zeugin behilflich gewesen bin.« »Sie braucht dich, Joel.« »Die ganze Welt braucht mich«, seufzte er. »Das ist der Fluch der Brillanz.« Er stieg in den Krankenwagen. »Allerdings bin ich unglücklicherweise nur Supermann, nicht Gott. Ich sage euch später, ob ich ihr helfen kann.« »Ich glaube, der einzige Abschluß, den er nicht hat, ist der in Veterinärmedizin.« Jamies Blick wanderte über die Diplome -49-
und Auszeichnungen an der Wand in Liebers Büro. »Ich frage mich, weshalb er den ausgelassen hat.« »Immerhin kennt er sich gut genug aus, um auch auf diesem Gebiet so etwas sie ein Fachmann zu sein. Als Sam einmal in einer Koyotenfalle gesessen hat, hat er sein Bein wunderbar wieder hingekriegt.« »Du meinst, es gibt Augenblicke, in denen er all diese Speichellecker verläßt und dich Hinterwäldler besucht? « »Selbst Supermann hat all die Streicheleinheiten manchmal satt.« »Aber nicht oft.« Joel Lieber betrat sein Büro, schleuderte seine Aktentasche auf den Tisch und warf sich in den Ledersessel hinter dem großen Tisch. »Anbetung ist die Nahrung, von der ein Genie nun einmal lebt. Ich verschreibe mir täglich eine Überdosis davon, und ich habe den Eindruck, daß es mir durchaus bekommt.« »Das verstehe ich.« Jamie nickte zustimmend mit dem Kopf. »Wie läuft der Pub? « fragte Joel. »Das Geschäft blüht.« »Dann hättest du in Dublin bleiben sollen, statt dich erneut mit Nicholas einzulassen.« »Was wir tun sollten und was wir tatsächlich tun, stimmt leider nur selten überein.« Er lächelte. »Wir sehen ein Problem, eine Herausforderung, und schon stürzen wir uns drauf. Stimmt's nicht, Joel? « Joel verzog das Gesicht. »Ich weiß nicht so recht, ob mich diese spezielle Herausforderung allzusehr reizt.« »Schlimm? « fragte Nicholas. »Ein paar Schnitte reichen da nicht. Sie braucht ein vollkommen neues Gesicht. Den chirurgischen Teil der Erneuerung schaffe ich in einer einzigen Operation, aber dann braucht sie auf jeden Fall psychologische Behandlung und Checkups und - ist euch -50-
klar, wieviel Arbeit das ist? Ich bin für die nächsten zwei Jahre ausgebucht. Ich habe einfach nicht die Zeit dazu.« »Sie braucht dich, Joel.« »Lade mir bloß keine Schuldgefühle auf. Ich kann nicht die Probleme der ganzen Welt lösen, selbst wenn ich das will.« »Ihr Mann und ihr Kind waren unter den Opfern des Überfalls.« »Scheiße« »Sie hat alles verloren. Willst du ihr jetzt auch noch erklären, daß sie für den Rest ihres Lebens mit einer vollkommen grotesken Visage herumlaufen muss? « »Außer mir gibt es noch andere Schönheitschirurgen auf dieser Welt.« »Aber keinen, der so gut ist wie du. Das erzählst du mir bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Und sie hat den besten verdient.« »Ich werde darüber nachdenken.« »Ich habe sie kennengelernt. Sie ist eine sehr nette Frau.« »Verdammt, ich habe gesagt, ich denke darüber nach«, knurrte Joel mit zusammengebissenen Zähnen. »Tu das.« Nicholas stand auf und ging zur Tür. »Ich bringe dir morgen ihr Dossier, und dann können wir uns noch einmal darüber unterhalten. Komm, Jamie, laß uns was essen gehen.« Er machte eine Pause. »Übrigens, wie geht's Tania? « »Gut.« Joel runzelte die Stirn. »Sie wird dich sehen wollen. Ich nehme an, ihr könntet zu uns zum Essen kommen.« »Es fällt mir schwer, eine so warmherzige Einladung auszuschlagen, aber ich glaube, ich muß es trotzdem tun.« Er lächelte »Warum fragst du nicht Tania, ob du Nell Calder helfen sollst oder nicht? « »Zur Hölle mit dir.« Lächelnd schloss Nicholas die Tür. -51-
»Wer ist Tania? « fragte Jamie auf dem Weg hinaus. »Seine Haushälterin. Und außerdem eine gemeinsame Freundin von uns.« Per Knopfdruck rief er einen der Aufzüge herbei. »Wird sie ihn überreden, der Frau zu helfen? « »Ich bezweifle, daß er mit ihr darüber sprechen wird. Tania würde ihm die Hölle heißmachen für den Fall, daß er Nell Calder nicht helfen will. Manchmal hat sie eine etwas anstrengende Art. Außerdem brauchen wir sie nicht. Er kämpft bereits mit sich. Er kommt aus armen Verhältnissen, und es fällt ihm immer noch schwer, das Streben nach Reichtum höher zu bewerten als die Hilfsbereitschaft gegenüber Menschen in Not.« Jamie blickte durch die Glastüren in Liebers luxuriöses Büro zurück. »Es scheint ihm nicht gerade schlecht zu gehen.« »Trotzdem ist er immer noch einen Tag pro Woche unentgeltlich für mißbrauchte Kinder da.« Der Fahrstuhl kam, und sie stiegen ein. »Und es werden bestimmt nicht die Kinder sein, die er vernachlässigt, falls er Nell Calder übernimmt.« »Du könntest ihm genug bieten, um ihm die Sache zu versüßen.« »Noch nicht. Das würde ihn nur beleidigen. Aber sobald er sich dazu durchgerungen hat, sich ihrer anzunehmen, versichere ich dir, daß er mir dafür noch den letzten Cent aus der Nase ziehen wird.« »Du nimmst ganz schön viel auf dich für diese Frau.« »So? « »Du kannst nichts dafür.« »Den Teufel kann ich nicht.« Er schüttelte müde den Kopf. »Und erzähl mir jetzt bloß nicht, daß sie selbst für ihr Schicksal verantwortlich ist, weil sie sich mit Gardeaux eingelassen hat. Das glaube ich nämlich nicht.« »Warum hatte er es dann auf sie abgesehen? « »Keine Ahnung. Das Ganze ergibt einfach keinen Sinn. Obwohl -52-
es irgendeinen Grund geben muss.« Er machte eine Pause. »Sie und das Kind wurden beide mit einem Messer attackiert, obwohl eine Kugel wesentlich schneller und wirksamer gewesen wäre.« »Maritz? « »Wahrscheinlich. Er war ein Seal, ein Frontkämpfer in Südostasien, und er ist der einzige von Gardeaux's Männern, der eine Vorliebe für Messer hat. Offenbar war Nell Calder seine einzige Zielperson. Ihr Mann und die anderen wurden im Ballsaal erschossen, aber auf sie hat er regelrecht Jagd gemacht.« »Sie war die Person, die ganz oben auf der Abschußliste stand.« Jamie nickte. »Was deine Theorie von ihr als unbeteiligtem Unschuldslamm über den Haufen wirft.« »Beweis mir, daß sie nicht das von mir vermutete Unschuldslamm ist. Ich wäre überglücklich, wenn ich herausfände, daß sie mit Gardeaux unter einer Decke steckt. Aber wenn du irgendeine Verbindung zwischen den beiden aufdecken willst, brauchen wir mehr Informationen als das bißchen, was Conner über sie herausgefunden hat. Ich will alles wissen, angefangen mit dem, was sie als Sechsjährige zum Frühstück gegessen hat.« »Und wann soll ich anfangen? « Er hob abwehrend die Hand. »Schon gut. Gleich nach dem Essen, stimmt's? « »Ich kann auch jemand anderen auf sie ansetzen. Es ist eine ganz schöne Drecksarbeit, und ich bin noch nicht mal sicher, daß sie uns Gardeaux auch nur einen Schritt näherbringen wird.« »Tja, im Pub ist im Augenblick nicht allzuviel los. Da kann ich den Auftrag ebensogut selbst erledigen. Sonst noch was? « »Wir brauchen einen Wachmann vor ihrer Tür. Vielleicht ist Gardeaux nicht besonders glücklich darüber, daß sie noch am Leben ist.« Er verzog das Gesicht. »Aber such jemand Unauffälligen aus, sonst kriegt Joel zuviel.« -53-
»Es ist wirklich nicht einfach mit ihm. Diese Mediziner sind einfach zu empfindlich, wenn es um ihr Territorium geht.« Er dachte kurz nach. »Vielleicht ein Krankenpfleger. Ich könnte Phil Johnson in Chicago anrufen.« »Wen auch immer. Nur sorg dafür, daß er morgen früh an Ort und Stelle ist.« »Und was ist mit heute nacht? « »Heute nacht kümmere ich mich um sie.« »Du hast schon im Flugzeug kein Auge zugemacht.« »Und heute nacht wird es genauso sein. Ich werde keinen zweiten Fehler machen, das verspreche ich dir.« Schon wieder Tanek. Er sah anders aus, doch im ersten Augenblick wußte Nell nicht, weshalb. Das grüne Sweatshirt. Er trug keinen Smoking mehr. Und er sah auch nicht mehr wütend und angespannt aus, sondern erschöpft. Das verstand sie. Sie war ebenfalls erschöpft. So erschöpft, daß es ihr kaum gelang, die Augen offen zu halten. Sie hatte das Gefühl, als treibe sie schwerelos dahin... Ach genau, sie lag im Sterben. Falls dies der Tod war, war er nicht allzu schlimm. Sie mußte etwas geflüstert haben, denn er beugte sich über sie. »Sie sterben nicht. Es ist alles gut.« Er verzog das Gesicht. »Tja, vielleicht nicht gut, aber auf jeden Fall sterben Sie nicht. Wir haben Sie in ein Krankenhaus in den Staaten gebracht. Sie haben ein paar gebrochene Knochen, aber nichts, was sich nicht wieder geradebiegen lässt.« Dies war ein vager Trost. Nein, es gab nichts, was er nicht wieder geradezubiegen verstand. Das hatte sie bereits bei ihrer ersten Begegnung mit ihm gewußt. -54-
»Schlafen Sie noch ein bisschen.« Aber das konnte sie nicht. Irgendetwas stimmte nicht. Etwas, das mit dem dunklen Entsetzen in Zusammenhang stand, ehe sie über das Balkongeländer gefallen war. Etwas, das sie fragen mußte. »Jill...« Seine Miene blieb unverändert, aber trotzdem wallte Panik in ihr auf. Ja, irgendetwas stimmte nicht. »Schlafen Sie.« Eilig machte sie die Augen zu. Dunkelheit. Hier konnte sie sich verstecken, verstecken vor der gräßlichen Wahrheit, die hinter Taneks reglosem Gesicht zu spüren gewesen war. Dann trug die Dunkelheit sie fort. »Du ißt meine Suppe nicht«, sagte Tania und setzte sich an den Tisch. »Vielleicht findest du, daß sie deiner unwürdig ist? « Joel Lieber runzelte die Stirn. »Fang nicht damit an. Ich habe einfach keinen Appetit.« »Du arbeitest von Tagesanbruch bis tief in die Nacht, und deine Sekretärin sagt, daß du nur selten zu Mittag ißt. Also mußt du Hunger haben.« Sie begegnete ruhig seinem Blick. »Was bedeutet, daß du denkst, daß meine Suppe deiner nicht würdig ist. Aber ich verstehe nicht, wie du das denken kannst, denn schließlich hast du sie noch nicht einmal probiert.« Er griff nach seinem Löffel, tauchte ihn in die Suppe und führte ihn an seinen Mund. »Köstlich«, knurrte er. »Und jetzt den Rest. Beeil dich, denn sonst wird der Braten vollkommen kalt.« Er legte den Löffel fort. »Hör auf, mich in meinem eigenen Haus herumzukommandieren.« »Warum? Schließlich ist dies der einzige Ort, an dem du überhaupt Befehle entgegennimmst. Du bist ein furchtbar arroganter Mann.« Sie löffelte genüßlich ihre Suppe. »Im -55-
Operationssaal kann man dir deine Arroganz verzeihen, denn wahrscheinlich kennst du dich dort besser als alle anderen aus. Aber hier kenne ich mich am besten aus.« »Egal, worum es auch immer geht. Seit du hier eingezogen bist, hast du mir das Leben zur Hölle gemacht.« Sie lächelte. »Du lügst. Du warst noch nie so zufrieden wie jetzt. Ich versorge dich mit feinem Essen, leihe dir eine mütterliche Schulter, an die du dich anlehnen kannst, und putze dein Haus. Du wärst vollkommen verloren ohne mich.« Ja, das wäre er. »So mütterlich sind deine Schultern nun auch wieder nicht.« Sie waren gerade und kantig und sahen immer aus, als wäre sie unterwegs in einen Kampf. Weiß Gott, sie war Kämpfe gewöhnt. Geboren und aufgewachsen in der Hölle, die Sarajevo geworden war. Nicholas hatte sie vor vier Jahren halb verhungert, verletzt und von Granatsplittern vernarbt zu ihm gebracht. Eine Achtzehnjährige mit den Augen einer alten Frau. »Und außerdem bin ich eine ganze Reihe von Jahren ohne dich zurechtgekommen.« Sie schnaubte verächtlich. »So gut, daß sich Donna von dir hat scheiden lassen, weil sie dich nie zu Gesicht bekam. Ein Mann braucht nicht nur eine Karriere, sondern auch ein Heim. Es ist gut, daß ich rechtzeitig gekommen bin, um dich zu retten.« Abermals schob sie sich einen Löffel Suppe in den Mund. »Das findet Donna auch. Sie denkt, etwas Besseres als ich ist dir noch nie passiert.« »Ich mag es nicht, wenn du dich mit meiner Exfrau gegen mich verschwörst.« »Ich rede mit ihr. Ist das schon eine Verschwörung? « »Ja.« »Ich bin den ganzen Tag alleine hier. Ich muß mein Englisch verbessern, also rede ich mit den Leuten am Tele fon.« Zufrieden fügte sie hinzu: »Mein Englisch wird immer besser. Bald kann ich zur Uni gehen.« -56-
Er sah sie reglos an. »Ach ja? « »Aber keine Angst. Dann bleibe ich trotzdem bei dir. Ich bin sehr glücklich hier.« »Ich habe keine Angst.« Er bedachte sie mit einem finsteren Blick. »Ich wäre froh, wenn ich dich endlich wieder los wäre. Du bist einfach in mein Haus marschiert und hast das Kommando übernommen, ohne mich zu fragen, ob ich das will.« »Mir blieb keine andere Wahl. Wenn ich nicht zu dir gekommen wäre, wärst du alt und sauer geworden wie eine unreife Olive.« »Du bist also hier, um dafür zu sorgen, daß ich so jung und süß bleibe wie bisher? « »Ja.« Sie lächelte. »Junge, das schaffe ich. Das mit der Süße ist schon schwieriger.« Ihr Lächeln war wunderbar. Sie hatte ein kantiges, starkes Gesicht mit breiten, beweglichen Lippen und einem tiefliegenden Augenpaar. Es wurde erst hübsch, wenn sie lächelte, doch dann hatte Joel jedesmal das Gefühl, als mache sie ihm ein besonderes Geschenk. Er hatte ihr ihre Narben genommen, aber dieses Lächeln war ein Gottesgeschenk. Sie sagte ruhig: »Obwohl es bestimmt hilfreich wäre, wenn du mich endlich in dein Bett holen würdest.« Er senkte den Blick und schob sich eilig einen Löffel Suppe in den Mund. »Wie ich dir schon ein paarmal gesagt habe, fange ich mit Teenagern nichts an.« »Ich bin zweiundzwanzig.« »Und ich fast einundvierzig. Zu alt für dich.« »Alter bedeutet nichts. So denken die Menschen nicht mehr.« »Ich schon.« »Ich weiß, und dadurch machst du es mir sehr schwer. Aber laß uns jetzt nicht darüber streiten.« Sie stand auf. »Du bist sowieso schon schlecht gelaunt, woran du bestimmt meiner Suppe die -57-
Schuld geben wirst. Wir werden zu Ende essen, und dann kannst du mir beim Kaffee in der Bibliothek erzählen, was dich bedrückt.« »Mich bedrückt nichts.« »Du weißt genau, daß du dich besser fühlen wirst, wenn du darüber sprichst. Und jetzt hole ich den Braten rein.« Mit diesen Worten verschwand sie hinter der Küchentür. »Trink deinen Kaffee.« Tania hatte sich ihm gegenüber in den großen Chesterfield-Sessel gesetzt, und jetzt zog sie ihre langen Beine unter ihr hübsches Gesäß. »Ich habe ein bißchen Zimt reingemacht. Du wirst es mögen.« »Ich mag keinen süßen Kaffee.« »Zimt ist nicht süß. Und außerdem, woher weißt du das? Ich wette, du hast seit deiner Studentenzeit nichts anderes mehr getrunken als dieses widerliche schwarze Gebräu.« »Das ist nicht widerlich.« Und dann fügte er hinzu: »Außerdem kriege ich von dir ja noch nicht mal mehr koffeinhaltigen Kaffee serviert.« »Den kriegst du ja immer noch im Krankenhaus.« »Ich nehme an, das haben dir deine Spione berichtet. Aber ich trinke immer noch, was ich will.« Er stellte seine Tasse auf den Tisch neben sich. »Und jetzt will ich überhaupt keinen Kaffee. Ich muß noch mal ins Krankenhaus und nach einer Patientin sehen.« »Nach der Patientin, um die du dir solche Sorgen machst, daß es dir auf den Magen schlägt? « »Ich mache mir keine Sorgen.« »Warum fährst du dann noch mal ins Krankenhaus zurück? Ist es eins von den Kindern? « »Nein, es ist eine Frau.« -58-
Statt etwas zu erwidern, wartete sie einfach ab. »Nicholas hat sie hergebracht«, fügte er widerstrebend hinzu. »Nicholas? « Sie richtete sich kerzengerade auf. »Ich dachte mir, daß dich das interessieren würde«, stellte er ein wenig sauertöpfisch fest. »Aber das macht keinen Unterschied. Du kannst mich nicht überreden, diesen Fall zu übernehmen, nur weil Nicholas es will. Der Schaden ist zu groß, als daß ich ihr Gesicht wieder genauso hinbekäme, wie es einmal war. Ich werde sie zu Samplin schicken.« »Ich würde gar nicht erst versuchen, dich zu überreden. Ich bin Nicholas etwas schuldig, aber diese Schuld werde ich selbst begleichen.« Sie runzelte die Stirn. »Wer ist diese Frau? « »Nell Calder. Sie war eins der Opfer des Kavinskimassakers.« »Nein, wer ist sie für Nicholas? « »Du brauchst nicht eifersüchtig zu sein. Ich glaube, er kennt sie kaum.« »Warum sollte ich eifersüchtig sein? « Ihre Überraschung war echt, und Joel atmete erleichtert auf. Gleichzeitig versuchte er, möglichst gleichgültig mit den Schultern zu zucken. »Ihr beide steht einander so nahe wie zwei Erbsen in einer Schote.« »Er hat mir das Leben gerettet und mich zu dir gebracht.« Sie sah ihn nachdenklich an. »Nicholas und ich wollen nichts voneinander als Freundschaft.« »Nicholas tut nur selten etwas umsonst.« »Warum sprichst du so über Nicholas? Du magst ihn doch.« Ja, er mochte ihn. Und gleichzeitig war er rasend eifersüchtig auf den Hund. Mit einem Mal dachte er an eine Szene in Casablanca, in der Ingrid Bergmann wehmütig in Humphrey Bogarts Richtung sah, während Paul Henri nobel und langweilig im Hintergrund saß. Es war ihr egal gewesen, daß Henri ein heroischer Widerstandskämpfer war, die schwarzen Schafe -59-
waren schon immer die interessanteren. »Du verstehst ihn nicht«, sagte Tania. »Er ist nicht so hart, wie er wirkt. Inzwischen steht er auf der anderen Seite.« »Auf der anderen Seite? « »Er hat ein rauhes Leben geführt. Es geschehen Dinge, die dich vernarben und verdrehen, bis du denkst, daß du nie wieder an irgendetwas glaubst, daß es keine Sünde mehr gibt, die du nicht begehen würdest, um zu überleben. Und dann gehst du über diesen Punkt hinaus.« Sie blickte auf ihre Kaffeetasse. »Und wirst wieder ein Mensch.« Sie sprach nicht nur über Nicholas. Sie selbst hatte diese Hölle durchschritten und war auf der anderen Seite wieder aufgetaucht. Am liebsten hätte er die Hand nach ihr ausgestreckt, sie getröstet, ihr gesagt, daß er sie gern hatte und daß sie der wichtigste Mensch in seinem Leben war. Stattdessen nahm er seine Kaffeetasse und nahm einen Schluck. »Er ist gut«, log er. Großartig, Joel. Nicholas rettet ihr das Leben, und du gratulierst ihr zu ihrem Kaffee. Sie sah ihn mit einem strahlenden Lächeln an. »Das habe ich doch gesagt.« »Du sagst mir immer alles mögliche.« »Also, warum will Nicholas, daß du dieser Frau hilfst? « Er zuckte mit den Schultern. »Ich glaube, er denkt, daß er teilweise verantwortlich ist für den Überfall auf sie. Also bringt er sie zu mir, um seine Schuld zu begleichen. Aber darauf lasse ich mich nicht ein.« »Ich glaube doch, daß du dich darauf einlassen wirst. Diese Frau tut dir leid.« »Wie ich schon sagte, ich kann ihr nicht zurückgeben, was sie verloren hat.« »Du kannst ihr Gesicht nicht wieder so herrichten, wie es einmal -60-
war«, sagte sie. »Aber du kannst ihr ein neues Gesicht geben, nicht wahr? « »Ich dachte, du wolltest nicht versuchen, mich zu überreden.« »Das tue ich auch nicht. Es ist allein deine Entscheidung. Aber da du es wahrscheinlich sowieso tun wirst, denke ich, daß du dich selbst herausfordern solltest, damit die Arbeit ein bißchen interessanter wird.« Sie setzte ein spöttisches Lächeln auf. »Hast du noch nie das Bedürfnis verspürt, etwas ganz Eigenes, ganz Neues zu schaffen? « »Nein«, war seine tonlose Erwiderung. »Das wäre dann keine Schönheitsoperation, sondern es käme einem Märchen gleich.« »Aber du brauchst Märchen, Joel. Niemand braucht Märchen mehr als du.« Sie stand auf und nahm ihm seine Kaffeetasse ab. »Du hast diesen Kaffee gehaßt, nicht wahr? « »Nein, obwohl ich...« Er begegnete ihrem Blick. »Ja.« »Aber du hast ihn für mich getrunken.« Sie strich mit ihren Lippen über seine Stirn. »Dafür danke ich dir.« Das Tablett in der Hand verließ sie die Bibliothek. Ohne ihre Gegenwart nahm der Raum etwas Düsteres an. Sie hatte gesagt, ihre Schuld gegenüber Nicholas ginge nur sie alleine etwas an. Das stimmte nicht. Nicholas hatte Tania in sein Leben gebracht. Diese Schuld könnte er niemals zurückbezahlen, selbst wenn ihn der Hund für den Rest seines Lebens mit seinen verwundeten Streunern belieferte. »Zum Teufel mit dem Kerl.« Vielleicht war es wirklich an der Zeit, daß er etwas Eigenes, etwas Neues schuf? »Was machst du denn hier? « -61-
Nicholas blickte auf, als Joel das Krankenzimmer betrat. »Dasselbe könnte ich dich fragen«, sagte er. »Ich gehöre hierher.« »Für gewöhnlich machen Schönheitschirurgen ihre Runden aber nicht abends um elf.« Joel sah sich die Fieberkurve an. »Ist sie zwischendurch aufgewacht? « »Für ein oder zwei Minuten. Sie dachte, sie stirbt.« Er machte eine Pause. »Sie hat nach ihrer Tochter gefragt.« »Weiß sie nicht, daß ihr Mann und ihre Tochter umgekommen sind? « »Noch nicht. Ich dachte, sie hätte im Augenblick genug mit sich selbst zu tun.« »Zu viel. Erst die Operation und dann die psychologische Gewöhnung an ihr neues Gesicht.« Er verzog das Gesicht. »Kommt dann noch der traumatische Verlust ihrer Familie dazu, kann das zu einem Zusammenbruch führen, wenn sie nicht stark genug ist. Was für eine Art Frau ist sie? « »Nicht unbedingt die Stärkste.« Mit einem Mal dachte er an Nell Calders Gesicht, als sie aus dem Zimmer ihrer Tochter gekommen war. »Weich, sanft. Sie war verrückt nach dem Kind. Man sah, daß ihre Welt nur aus ihrer Tochter bestand.« »Na großartig.« Joel fuhr sich müde mit der Hand durch das lockige braune Haar. »Hat sie sonst noch Verwandte? « »Ihre Eltern sind tot.« »Einen Beruf? « »Nein.« »Scheiße.« »Sie hat drei Jahre lang auf dem ›William & Mary-College‹ Kunst studiert. Dann wechselte sie nach Greenbriar, wo sie ein Lehramtsstudium begann. Dort hat sie auch den -62-
Wirtschaftsstudenten Richard Calder kennengelernt. Offenbar war er eine äußerst gute Partie - brillant, charismatisch und ehrgeizig. Drei Wochen, nachdem sie wieder nach Hause gezogen war, hat sie ihn geheiratet und mit dem Studium aufgehört. Ein Jahr später kam dann Jill auf die Welt.« »Warum hat sie das Kunststudium abgebrochen? « Nicholas schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Ich werde später versuchen, die Lücken in ihrem Lebenslauf auszufüllen.« »Es wird nicht leicht werden.« »Aber du nimmst dich ihrer an? « »Vielleicht wü nschst du eines Tages, ich hätte es nicht getan. Die Arbeit, die ich an Tania geleistet habe, war das reinste Kinderspiel im Vergleich zu den chirurgischen Eingriffen, die bei ihr erforderlich sind. Ich denke, am besten bezahlst du mir dafür mein neues Haus am See.« Nicholas verzog das Gesicht. »Vielleicht ein bißchen viel.« »Sie muss spüren, daß irgendetwas nicht stimmt, und wir können es ihr nicht ewig verschweigen. Du wirst ihr wohl oder übel beibringen müssen, daß sie keine Familie mehr hat.« »Und warum fällt ausgerechnet mir diese ehrenvolle Aufgabe zu? « »Ich will nicht, daß sie mich mit dieser Schreckensnachricht identifiziert. Ich muß für sie Hoffnung und ein neues Leben repräsentieren. Sag du es ihr, und dann fahr einfach nach Hause. Sie will dich danach bestimmt erst einmal längere Zeit nicht sehen.« »Einer von uns ist also der brutale Cop und der andere der Freund und Helfer in der Not? « Joel zog die Brauen hoch. »Ich denke, du weißt besser als ich über die Vorgehensweisen der Polizei Bescheid, aber auf jeden Fall hast du die Grundidee erfasst.« Er wurde zusehends besser gelaunt. »Wir können nicht zulassen, daß Supermanns Umhang -63-
Flecken bekommt. Morgen werde ich die Dosis der Beruhigungsmittel senken, damit sie wach genug ist, um zu verstehen, was du ihr zu sagen hast.« »Vielen Dank.« Joels Lächeln schwand. »Sei sanft zu ihr, Nicholas. Es wird ein furchtbarer Schock für sie sein.« Dachte er etwa, er würde ihr wehtun, fragte sich Nicholas, doch dann nickte er. »Nicht, daß es irgend etwas nützen wird. Es wird ihr vollkommen egal sein, ob ich sanft wie Jesus Christus bin, sobald ihr klar wird, was sie da aus meinem Mund zu hören bekommt.« »Ich werde dann später kommen und ihr erneut ein Beruhigungsmittel verpassen.« »Wodurch du ihr ihre Schmerzen nimmst? « »Klar. Schließlich ist es das, was ein Freund und Helfer für gewöhnlich tut. Deshalb habe ich Medizin studiert. Häßlichkeit und Deformationen können dazu führen, daß man ein schmerzerfülltes Leben führt. Und das ändere ich.« Er wandte sich zum Gehen. »Und natürlich tut auch das Geld, das ich damit verdiene, nicht weh.« Er lächelte über die Schulter zurück. »Nun, dir vielleicht. Ja, ich glaube, ich werde dafür sorgen, daß deine Brieftasche um Gnade winseln wird.« Nicholas hörte, wie er pfeifend den Korridor hinunterschlenderte. »Geh ins Bett« Tania stand in der Tür der Bibliothek. »Gleich«, erwiderte Joel ohne aufzusehen. Er betrachtete die Maße, die er auf das ovale Diagramm auf dem Block gekritzelt hatte. Er arbeitete immer erst mit einem Block, ehe er das Bild in den Computer gab. »Jetzt.« Tania trat neben ihn an den Tisch. Sie war barfuß und trug nichts außer einem alten T-Shirt von ihm. Warum sahen -64-
Frauen in Männerkleidern nur so verdammt sexy aus? »Es ist schon nach Mitternacht«, sagte sie. »Du kannst morgen nicht operieren, wenn du nicht schläfst.« »Ich operiere erst morgen nachmittag.« Er schüttelte müde den Kopf. »Und dann muß ich los und Nell Calder erklären, daß sie während der nächsten Monate möglichst reglos im Bett liegen muß. Nett, was? Sie wird viel Zeit haben, um darüber nachzudenken, was mit ihrem Mann und ihrer Tochter geschehen ist.« Sie blickte auf das Oval. »Ist das ihr Gesicht? « »Ich überprüfe die Maße, um zu sehen, was möglich ist. Ich brauche etwas Konkretes, was ich ihr sagen kann. Alles andere wurde ihr genommen. Sie braucht etwas, woran sie sich festhalten kann.« »Und das wirst du ihr geben.« Sie legte die Hand auf seine Schulter und fügte leise hinzu. »Du bist ein guter Mensch, Joel Lieber.« Er beugte sich vor, blickte erneut auf den Block, und erwiderte in knurrigem Ton: »Dann geh jetzt ins Bett, und hör auf, mir auf die Nerven zu gehen. Ich habe zu arbeiten.« »Zwei Stunden.« Sie trat zurück und zog ihre Hand von seiner Schulter. »Dann komme ich wieder und hole dich.« Er hob den Kopf und beobachtete, wie sie zur Tür marschierte. Sie schlenderte niemals, sondern wirkte immer, als wisse sie ganz genau, wohin sie ging. »Ich habe schöne Beine, ja? « Sie lächelte über ihre Schulter zurück. »Das ist Glück. Donna hat gesagt, du wärst ein BeinFetischist.« »Das bin ich nicht. Das habe ich nur zu Donna gesagt, weil ihr Busen so klein wie der eines Jungen war.« Sie schnalzte mißbilligend mit der Zunge. »Du hast nicht damals gelogen, sondern du lügst jetzt.« -65-
Mit diesen Worten verließ sie den Raum, und Joel zwang sich, erneut auf den Block zu sehen. In zwei Stunden käme sie zurück, und dann müßte er bereits in seinem Zimmer sein. Sie hatte etwas Besseres als einen Workaholic verdient, der zweimal so alt war wie sie und der bereits einmal in einer Ehe gescheitert war. Es war besser, wenn er nicht mehr ihre langen Beine oder ihr Lächeln vor sich sah. Ja, sicher. Nun, einen Versuch war es wert. Es war wirklich an der Zeit, daß er etwas Eigenes schuf. Dieses Mal war es nicht Taneks Gesicht. Es war ein junges Gesicht mit breiten Wangenknochen, einer offenbar irgendwann einmal gebrochenen Nase, blauen Augen und einem blonden Bürstenschnitt. »Hi, ich bin Phil Johnson, Mrs. Calder.« »Wer? « »Ihr Krankenpfleger.« Er sah eher wie ein Footballspieler aus, dachte sie. Die weiße Krankenhausjacke spannte über seinen Schultern, deren Muskelspiel deutlich zu sehen war. »Fühlen Sie sich besser? Sie haben die Dosis der Beruhigungsmittel ein bißchen herabgesetzt, so daß Sie hoffentlich etwas weniger benebelt sind.« Tatsächlich dachte sie klarer als zuvor. Zu klar. Eisige Panik kroch in ihr hoch. »Machen Sie sich keine Sorgen wegen der Verbände.« Das Lächeln, mit dem er sie bedachte, schimmerte warm. »Bald sind Sie wieder wie neu. Die Wunden sind nicht schlimm, und für den Rest haben Sie den besten Schönheitschirurgen, den es gibt. Die Leute kommen aus der ganzen Welt, damit Dr. Lieber sie unter sein Messer nimmt.« Er dachte, sie machte sich Sorgen um sich selbst, stellte sie -66-
ungläubig fest. »Meine Tochter...« Sein Lächeln schwand. »Mr. Tanek ist draußen. Er hat mich gebeten, ihn zu holen, wenn Sie wach werden.« Sie erinnerte sich an Taneks reglose Miene, als sie ihn gefragt hatte, was aus Jill geworden war. Ihr Herz klopfte ihr bis zum Hals, und sie hatte das Gefühl zu ersticken, als Tanek den Raum betrat. »Wie fühlen Sie sich? « »Ich habe Angst.« Sie hatte nicht gewußt, daß sie das sagen würde. »Wo ist meine Tochter? « Er setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett. »Erinnern Sie sich an das, was mit Ihnen geschehen ist? « Das Messer, der Schmerz, Jill in der Tür, das Klimpern der Spieluhr, der Sturz. Sie fing zu zittern an. »Wo ist mein Kind? « Er nahm ihre Hand. »Sie wurde in der Nacht, als man Sie angegriffen hat, umgebracht.« Sie fuhr zusammen, denn seine Worte trafen sie wie ein Hieb. Tot. Jill. »Sie lügen. Niemand könnte Jill je etwas zuleide tun.« Die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus. »Sie haben sie gesehen. Sie haben sie kennengelernt. Niemand würde Jill auch nur ein Haar krümmen.« »Sie ist tot.« Und mit rauher Stimme fügte er hinzu: »Ich wünschte bei Gott, ich würde Sie belügen.« Sie glaubte ihm nicht. Richard würde ihr die Wahrheit sagen. »Ich will zu meinem Mann. Ich will Richard sehen.« Er schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid.« Vor Entsetzen wie gelähmt, starrte sie ihn an. »Was sagen Sie da? « flüsterte sie. »Richard war noch nicht einmal in unserer Suite.« »Es gab einen Überfall auf den Ballsaal. Ihr Mann und drei andere wurden getötet. Kavinski wurde verletzt.« -67-
Kavinski war ihr egal. Jill. Richard. Jill. O Gott, Jill... Der Raum begann, sich um sie zu drehen, und dann wurde es dunkel um sie herum. Auf, auf, auf, in den blauen Himmel hinauf. War das Jill, die da sang? Aber er hatte gesagt, Jill wäre tot. Richard wäre tot. Sie war die einzige Überlebende. Ab, ab, ab... Ja, hinab in die Dunkelheit. Vielleicht fände sie Jill ja dort. »Joel, komm verdammt noch mal sofort hierher«, rief Nicho las durch die Tür. »Verdammt, sie ist ohnmächtig geworden.« Mit gerunzelter Stirn betrat Joel den Raum. »Was hast du mit ihr gemacht? « »Nichts, außer ihr zu erzählen, daß sie kein Leben mehr hat. Also kein Grund, weshalb sie sich aufregen sollte.« »Ich nehme an, du hast ihr die Nachricht auf die dir eigene sanfte, diplomatische Art nahe gebracht.« Joel überprüfte ihren Puls. »Tja, jetzt ist es getan. Ich glaube nicht, daß du einen allzu großen Schaden angerichtet hast.« »Verdammt, sie hat das Bewußtsein verloren. Tu doch endlich was.« »Es ist besser, wenn sie von selbst wieder zu sich kommt. Du kannst jetzt gehen. Sie wird dich sowieso nicht sehen wollen, wenn sie wieder bei Bewußtsein ist.« »Das hast du mir schon einmal gesagt.« Nicholas rührte sich nicht, und immer noch starrte er in Nells bandagiertes Gesicht. Ihre Augen... »Keine Angst. Ich will sie auch nicht mehr sehen. Sie gehört ganz dir, Joel.« »Dann lass ihre Hand los und verschwinde von hier.« Er hatte gar nicht gewußt, daß er sie immer noch hielt. Er ließ -68-
ihre Hand sinken und stand auf. »Wir bleiben in Verbindung. Ich hoffe, daß du mich auf dem laufenden hältst.« »Und ich hoffe, daß du mir Kabler abnimmst. Er hat heute morgen schon wieder angerufen.« »Was hast du ihm erzählt? « »Nichts. Ich habe nicht mit ihm geredet. Was denkst du, wofür es Sekretärinnen gibt? « Joel setzte sich auf den Stuhl, von dem Nicholas aufgestanden war. »Aber ich kann nicht zulassen, daß er sie befragt. Das wäre ein zu traumatisches Erlebnis für sie.« Nicholas hatte bereits an Kabler gedacht. Auch er wollte nicht, daß er Nell in die Finger bekam, und Phils Anwesenheit war eine unverbrüchliche Garantie dafür, daß sie ebenso vor Gardeaux in Sicherheit war. »Kannst du sie nicht in deine Klinik nach Woodsdale verlegen? « »Du meinst, damit sie sich nach der Operation dort erholen kann? « »Nein, jetzt. Du kannst sie auch dort operieren.« »Den OP in Woodsdale benutze ich nicht allzu oft.« Nur wenn ein berühmter Filmstar oder ein Staatsoberhaupt vollkommene Ruhe und Anonymität verlangte, griff er auf Woodsdale zurück. Woodsdale verband die Abgeschirmtheit eines Beichtstuhls mit sämtlichen Annehmlichkeiten eines Luxushotels. »Dort käme Kabler nur schwer an sie heran. Deine Sicherheitsleute gehören zu den Besten ihres Fachs.« »Du musst es ja wissen. Schließlich hast du sie alle für mich ausgesucht.« Joel zog nachdenklich die Brauen hoch. »Es wäre unpraktisch. Woodsdale ist über hundert Meilen von hier entfernt.« »Es wäre noch unpraktischer, bekämst du es erneut mit Joe Kabler zu tun.« Er seufzte. »Das bleibt mir unter Umständen trotzdem nicht erspart.« -69-
»Vielleicht doch. Kommt drauf an, was sonst noch alles in seinem Terminkalender steht und wie wichtig sie für ihn ist. Wie schnell kannst du sie verlegen? « »Ich habe nicht gesagt, daß ich sie verlege.« Er zuckte mit den Schultern. »Aber wahrscheinlich wäre es das beste für sie. Ich nehme an, es klappt heute nachmittag.« »Der Krankenpfleger, den ich für sie engagiert habe, geht mit.« Nicholas dachte kurz nach. Nein, Phil mußte noch etwas anderes für ihn tun. »Er wird ihr morgen nach Woodsdale folgen.« »Er ist einer von deinen Leuten? Dafür wirkt er viel zu jung.« Nicholas antwortete nicht direkt. »Er hat die besten Voraussetzungen und hervorragende Referenzen.« »Hoffentlich sind sie auch echt.« Nicholas grinste. »Die meisten ja. Deine Schwestern schienen ihn zu mögen. Wart's nur ab, es wird nicht lange dauern, dann magst du ihn auch.« »Tja, auf jeden Fall ist er besser als dieser Junot, den du für Woodsdale angeheuert hast. Der Kerl sieht wie ein Renaissancemörder aus. Wenn meine Patienten aus der Narkose erwachen, muß ich immer verhindern, daß er in ihre Nähe kommt. Sein Anblick wäre ein zu großer Schock für sie.« Er runzelte die Stirn. »Und er will einfach nicht, daß ich ihn ein bißchen verschönere.« »Armer Joel. Wie frustrierend für dich. Aber Junot ist kein Narr. Manchmal kann es durchaus von Vorteil sein, wenn man so aussieht, wie man auch ist.« Joel sah seinen Freund reglos an. »Trifft das auf ihn denn zu? « »Was für einen Unterschied macht es schon, wenn es so ist? Er erledigt seine Arbeit und hat dir noch nie Schwierigkeiten gemacht. Hat es jemals irgendwelche Probleme gegeben, wenn er in der Nähe war? « »Wohl kaum. Aber die Vorstellung, Kriminelle in meiner Klinik -70-
zu beherbergen, gefällt mir nicht.« »Er ist kein Krimineller.« Nicholas lächelte. »Zumindest nicht mehr. Phil ist doch bestimmt mehr nach deinem Geschmack.« Mit diesen Worten verließ er den Raum und ging in Richtung des Schwesternzimmers, wo Phil gerade mit der Oberschwester plauderte. Derselbe Raum, ein anderes Gesicht. Jill. Jill war nicht da. Eilig klappte Nell die Augen wieder zu. Kehr zurück in die Dunkelheit. »Ich bin Dr. Joel Lieber. Ich weiß, daß Sie einen schweren Schock erlitten haben, aber ich muß mit Ihnen sprechen«, sagte er sanft. »Ich muß Sie möglichst bald operieren, denn nur so erzielen wir die besten Ergebnisse, aber dazu ist Ihr Einverständnis erforderlich.« Warum ging er nicht einfach fort? Er hielt die Dunkelheit von ihr fern. »Sie wollen nicht reden? Also gut, dann hören Sie mir einfach zu. Ihr Gesicht ist übel zugerichtet. Ich könnte versuchen, seine ursprüngliche Gestalt wiederherzustellen, aber dann wäre es immer noch nicht das Gesicht, das Ihnen bisher jeden Morgen im Spiegel begegnet ist. Oder ich gebe Ihnen ein neues, höchstwahrscheinlich attraktiveres Gesicht. Da die Knochen beschädigt sind, wäre dazu nur eine einzige Operation erforderlich. Ich würde durch den Mund gehen, das Skalpell hochschieben und die...« Er unterbrach sich. »Ich erspare Ihnen die Einzelheiten. Ich nehme an, daß sie im Augenblick nicht von Interesse für Sie sind.« Er nahm ihre Hände. »Aber ich bin gut, sehr gut. Vertrauen Sie mir.« Sie antwortete nicht. »Haben Sie vielleicht irgendwelche Vorlieben? Gibt es -71-
irgendjemanden, dem Sie ähnlich sehen möchten? Ich kann nichts versprechen, aber vielleicht kriege ich ja eine flüchtige Ähnlichkeit hin.« Er sprach und sprach. Warum ließ er nicht zu, daß sie einfach wieder in der Dunkelheit versank? »Nell, machen Sie die Augen auf, und hören Sie mir zu. Es ist wichtig.« Nein, das war es nicht. Alles, was ihr jemals wichtig gewesen war, war fort. Aber sein Ton war so zwingend, daß sie die Augen öffnete und ihn anstarrte. Er hatte ein nettes Gesicht. Kantig und stark mit grauen Augen, die kalt wirken müßten, aber denen stattdessen Intelligenz und Mitgefühl anzusehen war. »So ist's besser.« Sein Griff um ihre Hände verstärkte sich. »Haben Sie verstanden, was ich gesagt habe? « »Ja.« »Was soll ich also tun? « »Es ist mir egal. Was immer Sie wollen.« »Sie wollen, daß ich tue, was in meinen Augen das Beste ist? Was, wenn es Ihnen nicht gefällt? Helfen Sie mir.« »Es ist egal«, flüsterte sie. Warum verstand er das denn nicht? »Es ist nicht egal.« Er schüttelte müde den Kopf. »Im Augenblick vielleicht, aber ich hoffe zu Gott, daß es Ihnen später nicht mehr egal sein wird.« Er stand auf. »Ich verlege Sie heute nachmittag in meine Klinik. Und übermorgen operiere ich Sie. Morgen abend werde ich noch einmal nach Ihnen sehen und Ihnen zeigen, was möglich ist.« Sie war bestürzt. Er schien ein netter Mensch zu sein. Zu schade, daß sie ihm nicht helfen konnte. Erleichtert stellte sie fest, daß er sich zum Gehen wandte. Er hatte ihre Hand losgelassen, und sie machte die Augen wieder zu. Nach wenigen Minuten versank sie abermals in einen gnädigen Schlaf. -72-
Dieser Flügel des Krankenhauses war beinahe menschenleer. Genau neun Minuten vor fünf, dachte Phil Johnson, während er den Korridor hinabschlenderte. Eine hübsche Lernschwester kam ihm entgegen. Sie hatte ein frisches Gesicht, dunkle Locken und war mit Sommersprossen geradezu übersät. Sommersprossen hatte er schon immer geliebt. Er lächelte. Sie erwiderte sein Lächeln und blieb stehen. »Haben Sie sich verlaufen? Dies ist der Verwaltungstrakt.« »Ich soll diese Versicherungsformulare abgeben.« »Das Büro hat bereits zu.« Er machte ein langes Gesicht. »Das ist mal wieder typisch für mich. Arbeiten Sie hier? « Sie nickte. »Ich mache gerade mein Praktikum im Archiv.« Sie verzog das Gesicht. »In der Notaufnahme bin ich umgekippt. Der Personalmanager meint, daß ich für Zahlen vielleicht besser geeignet bin als fürs Nähen.« »Man hat's nicht leicht«, stellte er mitfühlend fest, und dann blicke er auf den Aktenordner, den er in den Händen hielt. »Tja, dann schleppe ich halt die Formulare in die Pädiatrie zurück und versuche es morgen noch mal.« Sie zögerte, und dann zuckte sie mit den Schultern. »Ich lasse Sie rein. Sie können den Ordner ja einfach auf Trudas Schreibtisch legen.« »Das wäre super.« Lächelnd beobachtete er, wie sie einen Schlüssel aus der Tasche zog. »Ich bin Phil Johnson.« »Pat Danzig.« Sie öffnete die Tür, machte Licht und nahm ihm den Ordner ab. »Ich lege ihn in Trudas Ablage.« Er beobachtete von der Tür, wie sie ans andere Ende des Zimmers ging. Hübsch, wunderhübsch. Dann kam sie zurück und löschte das Licht. -73-
Er nahm ihr den Schlüssel aus der Hand. »Ich mache das schon.« Er verschloss die Tür und drehte prüfend den Türknauf herum, ehe er ihr den Schlüssel wiedergab. »Vielen Dank, Pat. Ich bringe Sie noch zu Ihrem Wagen.« »Das ist nicht nötig.« Er lächelte. »Oh, doch, es ist mir ein Vergnügen.« Zehn Minuten später winkte er Pat, die in ihrem Honda davonbrauste, bedauernd hinterher. Sie war wirklich süß. Zu schade, daß er nicht lange genug hier wäre für ein Rendezvous. Er machte kehrt und lief über den Parkplatz zurück zum Krankenhaus. Ein paar Minuten später betrat er erneut das Büro und schloß lautlos die Tür. Ohne Licht zu machen, ging er eilig zum Computer hinüber und schaltete ihn an. Der Bildschirm gäbe ihm genug Licht, und sein Schein wäre unter der Tür hindurch nicht zu sehen. Die Tasten des Keyboards unter seinen Fingern waren glatt und vertraut. Allzu vertraut. Es war, als berührte er den Körper einer Geliebten, der jedesmal neu, jedesmal erregend war. An die Arbeit, sagte er sich. Da er das Paßwort nicht kannte, gelangte er erst nach ein paar Minuten in die Datei. Trotzdem keine Herausforderung. Nell Calder. Über ihre Verlegung nach Woodsdale war bereits ein Eintrag erfolgt. Gut. Er löschte den Eintrag, ging zum Aktenschrank und zog die gesamte Papierakte über Nell Calder heraus. Nicht, daß es unbedingt erforderlich gewesen wäre, denn die Akten wurden normalerweise nur selten eingesehen. Die Welt wurde von Computern beherrscht, und ein Büroangestellter gäbe wohl eher einen Computerausdruck heraus, als daß er in den Akten herumwühlte, um anschließend eine Kopie zu erstellen. Aber -74-
Nicholas wollte, daß er ganz sicher ging. Wenn man das Verschwinden der Akte bemerkte, würde bestimmt allgemein angenommen, daß sie falsch abgelegt worden war. Menschen machten Fehler, Computer nicht. Er kehrte an den Computer zurück, gab die erforderlichen Zeilen ein und verließ das Programm. Dann saß er da und starrte auf den leeren grünen Bildschirm, der ihm verführerischer als jede Frau erschien. Da er einmal hier war, wäre es doch sicher nicht schlimm, wenn er kurz in eine der Datenbanken ging, um zu sehen... Seufzend schaltete er den Computer aus. Es wäre schlimm. Weshalb sonst hatte er seinen eigenen Computer verkauft und einen Krankenpflegekurs belegt? Nicholas hatte ihm eine Chance gegeben, und er würde sie sich nicht verderben, indem er gleich der ersten Versuchung erlag. Er stand auf, schob sich die Calder-Akte unter den Arm und ging zur Tür. Vorsichtig löste er das starke, durchsichtige Klebeband, das er über das Schloß geklebt hatte, während Pat mit dem Ordner an Trudas Schreibtisch gegangen war. Es war Glück gewesen, daß sie ihm über den Weg gelaufen war. Andernfalls hätte er die Sammlung an Schlüsseln ausprobieren müssen, mit denen er bewaffnet war, wodurch er Gefahr gelaufen wäre, daß irgendjemand ihn beobachtete. Er wandte sich um und bedachte den Computer mit einem letzten wehmütigen Blick, ehe er den Raum verließ. So schlimm war es nun auch wieder nicht. Schließlich war es nicht so, daß ihm sein Job nicht gefiel. Er mochte Menschen, und ihnen zu helfen gab ihm ein gutes Gefühl. Er hoffte nur, daß er auch Nell Calder eine Hilfe war. Die arme Frau. Sie mußte bis zum Hals in Schwierigkeiten stecken, denn andernfalls hätte Nicholas sich nicht zu einer derartigen Veränderung ihrer Akte veranlaßt gesehen. Um 14.04 Uhr erlag die Patientin ihren Verletzungen. Leichnam -75-
überführt an John Birnbaums Bestattungsinstitut.
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3. Kapitel »Ist sie das? « Tania griff nach dem Photo, das neben der aufgeschlagenen Akte auf Joels Schreibtisch lag. Sie betrachtete es eingehend, und dann nickte sie. »Sie gefällt mir. Ich glaube, sie hat Herz.« »Und wie kommst du zu diesem Schluß? Siehst du es ihren Augen an? « Tania blickte auf Nell Calders große braune Augen und schüttelte den Kopf. »Nein, ihrem Mund. Er sieht... empfindsam aus. Laß den Mund so, wie er ist.« »Für eine perfekte Symmetrie ist er zu groß.« »Symmetrie ist etwas Kaltes. Wenn ich sie wäre, würde ich nicht kalt aussehen wollen.« Da besteht wohl keine Gefahr, dachte Joel. »Ich dachte, ich sollte den perfekten Menschen schaffen? « »Willst du, daß ich gehe? « fragte sie enttäuscht. »Nein.« Er lächelte und zog ihr einen Stuhl an den Tisch. »Du könntest mir helfen, denn sie selbst sagt keinen Ton.« »Arme Frau. Der erste Schmerz ist der schlimmste. Als meine Eltern und mein kleiner Bruder starben, habe ich mir gewünscht, ich wäre ebenfalls tot.« Dies war das erste Mal, daß sie über den Tod ihrer Familie sprach, und er wandte sich zu ihr um. »Sind sie zusammen gestorben? « »Nein. Mein Vater war Soldat. Meine Mutter und mein Bruder wurden ein Jahr später auf der Straße von Heckenschützen erwischt. Sie waren unterwegs, um Wasser für uns zu holen.« Sie betrachtete Nells Bild. »Das schlimmste sind die Einsamkeit und die Hilflosigkeit. Wenn einem alles genommen wird, ist es -77-
schwer, einen Grund zum Weiterleben zu finden.« »Und welchen Grund hast du gefunden? « »Zorn. Ich wollte ihnen auf keinen Fall die Genugtuung geben, mich auch noch umzubringen.« Sie setzte ein angestrengtes Lächeln auf. »Und dann habe ich dich gefunden, und jetzt hat mein Leben wieder einen Sinn.« Um zu verbergen, wie bewegt er war, bemühte er sich eilig um Ironie: »Den Sinn, mich vor den Sünden des Koffeins zu bewahren? « »Unter anderem.« Sie trommelte mit dem Zeigefinger auf dem Photo herum. »Du mußt dafür sorgen, daß ihr Leben ebenfalls wieder einen Sinn bekommt.« »Zuerst muss ich mal dafür sorgen, daß sie wieder ein Gesicht bekommt.« Er ging in das Bildprogramm seines Computers, und auf dem Bildschirm erschien Nells Gesicht. Er griff nach dem Zeichenstift und beugte sich über den Computerpad, der neben dem Bildschirm lag. »Wangenknochen? « »Hoch.« Sein Stift bewegte sich auf dem Pad nach oben, und mit einem Mal wies Nells Bild höhere Wangenknochen auf. »Genug? « »Noch ein bisschen.« Er verschob die Wangenknochen noch ein Stück. »Gut.« Sie runzelte die Stirn. »Und diese Himmelfahrtsnase muß weg. Mir persönlich gefällt sie, aber zu den Wangenknochen paßt sie nicht.« Er löschte die Nase und gab eine zarte römische Nase ein. »In Ordnung? « »Vielleicht. Wir werden sehen.« »Der Mund...« »Den Mund würde ich lassen, wie er ist.« »Dann müssen wir den Kiefer ein wenig kantiger gestalten.« Er -78-
korrigierte das Bild. »Die Augen? « Mit schräg gelegtem Kopf musterte sie das Bild. »Können wir sie vielleicht ein bißchen schräg stellen? So wie bei Sophia Loren? « »Dann muss ich nähen.« »Aber es wäre sehr interessant, ja? « Er retuschierte die Form der Augen, und die Verwandlung war perfekt. Mit einem Mal war auf dem Bildschirm ein kraftvolles, erhabenes und vage exotisches Gesicht zu sehen, dem der breite, bewegliche Mund eine gewisse Verletzlichkeit und Sinnlichkeit verlieh. Es war kein klassisch schönes Gesicht, aber es faszinierte und zog den Betrachter in seinen Bann. »Ein bißchen Sophia Loren, ein bißchen Audrey Hepburn...«, murmelte Tania. »Aber ich denke, die Nase ist noch nicht perfekt.« »Schließlich habe ich sie ihr ja auch ohne deine Zustimmung verpaßt«, stellte er trocken fest. »Sie ist ein wenig zu zart.« Den Blick auf den Bildschirm geheftet, beugte sich Tania nach vorn. »Aber ansonsten haben wir sie schon ganz gut hingekriegt. Dies ist ein Gesicht, das tausend Schiffe vom Stapel laufen lassen wird.« »Wie das von Helena von Troja? Meiner Meinung nach sieht unsere Nell nicht gerade wie eine griechische Göttin aus.« »Ich habe niemals gefunden, daß Helena von Troja wie eine Göttin wirkt. Ich denke, sie hatte einfach ein unvergeßliches Gesicht, das in den Leuten den Wunsch weckte, sie beständig anzusehen. Das ist es, was Nell ebenfalls braucht.« »Und was passiert, nachdem sie von uns dieses Gesicht verpaßt bekomme n hat? « Er wandte sich zu ihr um. »Eine derart dramatische Veränderung kann traumatisch sein.« »Nach allem, was du mir von ihr erzählt hast, ist sie bereits traumatisiert. Ich bezweifle, daß die Verwandlung in Helena von -79-
Troja ihr noch mehr schaden wird. Aber vielleicht hilft sie ihr.« Nach einer kurzen Pause sagte sie: »Wenn sie schon keinen Sinn mehr in ihrem Leben hat, dann hat sie wenigstens eine Waffe. Das ist wichtig für sie.« »Ist das der Grund, warum du dich von mir operieren hast lassen? « Sie nickte. »Mir waren die Narben egal, aber ich wußte, den Menschen um mich herum wären sie nicht egal. Irgendwie mußte ich ja meinen Lebensunterhalt verdienen, und Häßlichkeit schreckt die Menschen ab.« Er lächelte. »Ich nehme an, ich könnte ihr ein ähnliches Aussehen wie dir verleihen. Schließlich ist dein Gesicht gar nicht so schlecht.« »Es ist ein sehr gutes Gesicht, aber wenn ich dich erst mal dazu kriege, zuzugeben, daß du ohne mich nicht mehr leben kannst, wäre eine Doppelgängerin ein Problem. Du bist auch so schon verwirrt genug. Nein, wir werden ihr dieses wunderbare Gesicht geben, damit sie es in Zukunft ein bißchen leichter hat.« Sie nickte in Richtung des Stifts. »Und jetzt laß uns sehen, ob sich die Nase nicht ein bißchen breiter machen lässt.« Am nächsten Abend traf Nicholas Joel, der gerade aus Nells Krankenzimmer kam. »Sag kein Wort«, meinte Joel barsch. Er fuchtelte mit dem Krankenblatt herum. »Die Genehmigung zur Operation.« »Sie hat sie nicht unterschrieben? « »Doch. Ich habe ihr ganz genau erklärt, was ich tun werde. Ich habe ihr ein Computerbild gezeigt, damit sie weiß, wie sie aussehen wird, aber ich bin nicht sicher, ob auch nur ein einziges meiner Worte zu ihr durchgedrungen ist. Es war ihr alles vollkommen egal.« Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Weißt du, daß sie mich, wenn alles vorbei ist, verklagen -80-
kann?« Nicholas schüttelte den Kopf. »Das wird sie nicht tun.« »Woher weißt du das? Sie ist ein Zombie, verdammt.« »Ich verspreche dir, daß ich dich vor sämtlichen rechtlichen oder persönlichen Folgen der Operation bewahren werde.« »Ach, tatsächlich? Kabler hat heute schon wieder angerufen.« »Sag deiner Sekretärin, daß sie ihn beim nächsten Anruf an die Verwaltung von St. Joseph verweisen soll.« »Warum? « »Weil Nell Calder gestern nachmittag gestorben ist.« »Was?« Joel starrte ihn an. »Mein Gott, was hast du getan? « »Nichts, wofür man dir die Schuld geben kann«, beruhigte Nicholas ihn. »Weigere dich einfach weiterhin, mit Kabler zu sprechen. Wenn er dann bei der Verwaltung nachfragt, wird er herausfinden, daß sie an ihren Verletzungen gestorben und an ein Bestattungsinstitut im Ort weitergeleitet worden ist.« »Und wenn er bei dem Bestattungsinstitut anruft? « »Dort gibt es eine Akte über ihre Einäscherung. Morgen wird ihr Nachruf in der Ze itung stehen.« »Als ich gesagt habe, daß du dich um die Sache kümmern sollst, habe ich nicht gemeint - so etwas kannst du doch nicht tun.« »Ich habe es bereits getan.« »Und was meinst du, sagt Nell Calder, wenn sie von ihrem Ableben erfährt? « »Wenn sie sicher ist, kann sie sagen, daß die Berichte über ihr Ableben ein wenig übertrieben waren.« »Sicher? « »Sie war kein Zufallsopfer, sondern eine Zielperson. Und vielleicht ist sie immer noch in Gefahr.« »Himmel. Ich glaube nicht, daß du mir erzählen willst, auf was ich mich da eingelassen habe, oder etwa doch? « -81-
»Ich habe es in Erwägung gezogen, aber das hätte dir die Entscheidung nur unnötig schwer gemacht.« Er lächelte. »Ohne sie am Ende zu beeinflussen, nicht wahr? « »Also hast du mich über ihre Geschichte im dunkeln gelassen, um mir unnötige Sorgen zu ersparen«, stellte Joel sarkastisch fest. »Zum einen deshalb, und zum anderen, um mir selbst deine Gegenargumente zu ersparen. Ist ein fait accompli nicht wesentlich einfacher? « »Nein.« »Doch, natürlich ist es das.« »In der Akte bin ich als der behandelnde Arzt aufgeführt. Ich werde derjenige sein, dem man die Schuld an der Fälschung der Akte gibt.« Nicholas schüttelte den Kopf. »Ich habe das von dir unterschriebene Original der Erlaubnis zu ihrer Verlegung. Wenn du es brauchst, gebe ich es dir.« »Aber nur, wenn es dir in den Kram paßt, nehme ich an.« »Nein.« Nicholas begegnete seinem Blick. »Ich habe dir versprochen, daß ich dich schützen werde. Und ich werde mein Wort halten, Joel.« Joel bedachte ihn mit eine m bösen Blick. Er wußte, daß Nicholas sein Versprechen halten würde, aber seine Methoden gefielen ihm nicht. »Ich mag es nicht, wenn man mich manipuliert.« »Ich habe nicht dich, sondern die Akte manipuliert.« Er warf einen Blick auf die unterschriebene Operationsgenehmigung. »Und im Grunde bist du gar nicht wirklich wütend auf mich, sondern du machst dir Sorgen um deine Patientin. Geht es ihr immer noch nicht besser? « »Sie steht kurz davor, den Verstand zu verlieren«, sagte Joel. »Aber in dieser Beziehung kann ich einfach nichts für sie tun. -82-
Was in aller Welt nützt ihr ein neues Gesicht, wenn sie in eine geschlossene Anstalt eingeliefert werden muss? « »Das werden wir nicht zulassen.« »Worauf du wetten kannst.« Er stach Nicholas seinen Zeigefinger in die Brust. »Aber diese Sache ziehe ich nicht alleine durch. Du fährst nicht nach Idaho zurück, sondern bleibst schön hier, wo ich dich jederzeit erreichen kann. Habe ich mich klar ausgedrückt? « »Sehr klar.« Ein Lächeln flog über sein Gesicht. »Aber du hast doch sicher nichts dagegen, wenn ich ein Hotelzimmer in der Stadt besorge? Ich bin allergisch gegen Krankenhäuser.« »Geh, wohin du willst, solange du nur in Rufbereitschaft bleibst.« Zum Zeichen, daß er sich geschlagen gab, hob Nicholas die Hände in die Luft. »Ich werde tun, was immer du von mir verlangst.« »Ja, sicher.« Ohne ein weiteres Wort wandte sich Joel von ihm ab. Bellevigne, Frankreich »Sie haben es versaut«, sagte Philippe Gardeaux mit sanfter Stimme. »Ich mag es nicht, wenn jemand Fehler macht, Paul.« »Ich hätte nicht gedacht, daß sie sich derart verzweifelt wehrt.« Paul Maritz runzelte die Stirn. »Und außerdem hätte ich nicht gedacht, daß sie den Sturz überlebt.« »Sie hätten sich nicht auf den Sturz vom Balkon verlassen müssen, wenn Sie Ihre Arbeit anständig gemacht hätten. Ein Stich hätte reichen müssen. Aber Sie haben sich mal wieder einen Spaß aus der Sache gemacht, nicht wahr? « »Vielleicht.« Maritz verzog schmollend das Gesicht. -83-
»Und Sie haben das Kind umgebracht. Wie oft muß ich Ihnen noch sagen, daß man Kinder und Tiere stets verschont? Aus irgendeinem Grund erregt ihre Ermordung mehr Ärger als das Abschlachten von hundert Erwachsenen.« »Nachdem ihre Mutter über das Balkongeländer fiel, ist sie mir nachgerannt. Sie hat mich geschlagen.« »Und Ihnen blieb bei der Verteidigung gegen eine Vierjährige keine andere Wahl«, stellte Gardeaux trocken fest. »Vielleicht hätte sie mich wiedererkannt. Schließlich war das nach unserer Begegnung nachmittags in der Höhle schon das zweite Mal, daß sie mich gesehen hat.« »In der Höhle hatten Sie eine Schutzbrille und eine Maske auf«, sagte Gardeaux. »So billige Entschuldigungen mag ich nicht. Geben Sie einfach zu, daß Sie frustriert waren und daß Sie Ihre Wut an irgendwem auslassen mußten, und dann verzeihe ich Ihnen den Fauxpas.« »Ich schätze, ich... vielleicht war ich tatsächlich ein bißchen sauer«, murmelte er. »Also, war das jetzt so schwer? « Gardeaux lehnte sich in seinem Sessel zurück und hob sein Weinglas an den Mund. »Geben Sie einfach Ihre Fehler zu, und schon ist alles gut. Das Kind war ein Fehler, aber so schlimm war er auch wieder nicht. Die Frau wurde in ein Krankenhaus in den Staaten verlegt, und höchstwahrscheinlich kommt sie durch. Falls Sie der Ansicht sind, daß sie Sie erkennt, müssen Sie was dage gen tun.« Er machte eine Pause. »Nicholas Tanek hat sie dorthin gebracht. Ich glaube nicht, daß er zufällig auf Medas war. Was mich annehmen läßt, daß es bei uns einen Spitzel gibt. Denken Sie, Sie könnten diesen Spitzel finden und ihn eliminieren, ohne daß es dabei erneut zu irgendwelchen Fehlern kommt? « Maritz nickte eifrig mit dem Kopf. »Das hoffe ich«, sagte Gardeaux ebenso sanft wie zuvor. »Die ganze Sache ist sehr ärgerlich für mich. Sollten Sie mich ein -84-
zweites Mal enttäuschen, müßte ich einen Weg finden, um meine Verärgerung abzureagieren.« Er gähnte. »Wie glauben Sie, macht sich Ihr Messer wohl im Vergleich mit Pietros Schwert? « Maritz befeuchtete seine Lippen. »Ich würde ihn in tausend Stücke schneiden.« Gardeaux erschauderte. »Handwaffen sind immer so brutal. Das ist der Grund, weshalb ich die Eleganz und Romantik eines Schwerts bevorzuge. Ich denke oft, daß ich vielleicht die Reinkarnation eines Medivi bin. Ich fürchte, für dieses Zeitalter bin ich nicht gemacht.« Er lächelte Maritz an. »Ebensowenig wie Sie. Sie könnten gut einer der Gefolgsmänner von Attila dem Hunnen sein.« Maritz merkte, daß dies eine Beleidigung war, aber er war viel zu erleichtert, um beleidigt zu sein. Er hatte gesehen, was Pietro mit dem letzten Mann gemacht hatte, der auf Gardeaux' Geheiß hin mit ihm konfrontiert worden war. »Ich werde ihn finden.« »Das weiß ich. Ich vertraue Ihnen, Paul. Ich hielt einfach ein kurzes, klärendes Gespräch für angebracht.« »Und Tanek erledige ich ebenfalls.« »Nein! Wie oft muß ich Ihnen noch sagen, daß Tanek nicht angerührt werden darf? « »Er steht Ihnen im Weg«, stellte Maritz sauertöpfisch fest. »Wir haben nichts als Schwierigkeiten mit ihm.« »Und dafür wird er zu gegebener Zeit abserviert. Wenn ich es will. Sie rühren ihn nicht an. Ist das...« »Papa, sieh nur, was Mama mir gegeben hat.« Gardeaux' jüngste Tochter kam auf die Terrasse gerannt und wedelte aufgeregt mit einem Windrädchen herum. »Wenn ich es in die Luft halte, dreht es sich ganz schnell im Kreis.« »Ich verstehe, Jeanne.« Gardeaux nahm die Sechsjährige auf den Schoß. »Und, hat sie René auch eins gegeben? « -85-
»Nein, René hat eine Marionette gekriegt« Sie schmiegte sich enger an seine Brust. »Ist es nicht hübsch, Papa? « »Fast so hübsch wie du, mein Schatz.« Er drehte an dem Windrädche n herum. Das kleine Mädchen hatte schimmerndes braunes Haar und sah ein bißchen wie Nell Calders Tochter aus, dachte Maritz. Aber in seinen Augen sahen alle Kinder ähnlich aus. »Gehen Sie, Paul«, sagte Gardeaux, ohne ihn anzusehen. »Ich habe meiner Frau und meinen Kindern schon zuviel von meiner Zeit gestohlen. Kommen Sie wieder, wenn es etwas Erfreuliches zu berichten gibt.« Maritz nickte. »Bald. Das verspreche ich.« Er rannte die Treppe zum Garten hinab. Gardeaux sah keinen von ihnen gern in seinem Haus. Wahrscheinlich hatte er Angst, sie träfen dort vielleicht auf seine Frau oder seine Kinder und besudelten sie, dachte er erbost. In der Tat hatte er sie nie gern auf Bellevigne außer als Wachmänner, wenn er eins seiner eleganten Feste gab. Aus diesem Grund war Maritz überrascht gewesen, als er nach seiner Rückkehr von Medas auf Gardeaux' Landsitz beordert worden war. Überrascht und erschreckt. Er überquerte die Zugbrücke und blickte zurück auf die Burg. Es gefiel ihm nicht, wenn er sich fürchtete. Er wußte nicht, wann er zum letzten Mal dasselbe panische Entsetzen verspürt hatte wie bei Gardeaux' Telefonanruf. Vielleicht als Kind. Ehe er sein Talent entdeckt hatte, ehe er dem Messer begegnet war. Seitdem hatten andere Menschen Angst vor ihm gehabt. Und hatten immer noch Angst vor ihm. Die Frau hatte Angst vor ihm gehabt. Sie hatte gegen ihn gekämpft, aber ihr Entsetzen hatte sie fast gelähmt. Die Frau. Er würde es noch einmal versuchen, und dieses Mal würde er dafür sorgen, daß Gardeaux ihn wieder mit offenen Armen empfing. -86-
Angewidert stellte er fest, daß er wie alle anderen war. Winselnd kroch er vor Gardeaux aus Angst vor seinem Zorn. Immer noch blickte er zurück. Auf Bellevigne residierte Gardeaux wie ein König auf seiner Burg, und manchmal überlegte Maritz, ob sich dieser König vielleicht stürzen ließ. Ein Schauder rann seinen Rücken hinab, als er sich an Gardeaux' Blick erinnerte, als von Pietro die Rede gewesen war. Allerdings war es nicht Pietro, sondern das Schwert, das das Blut in seinen Adern gefrieren ließ. Mit schnellen Schritten kehrte er zu seinem Wagen zurück. Zuerst würde er sich um den Spitzel kümmern und dann um die Frau. Dann wäre Gardeaux wieder zufrieden mit ihm. »Komm her. Sofort«, herrschte Joel ihn an, und Nicholas zuckte zusammen, als er krachend den Hörer auf die Gabel fallen ließ. Er drehte sich zu Jamie um. »Ich muß nach Woodsdale. Irgendetwas ist passiert.« »Ich dachte, du hättest gesagt, die Operation wäre gut verlaufen«, sagte Jamie. »Inzwischen ist sie über eine Woche her, also is t es ein bißchen spät für einen Rückfall, findest du nicht? « »Vielleicht. Ich weiß es nicht.« Nicholas zog seine Anzugjacke an und klappte die von Jamie angelegte Akte über Nell Calder zu. Er hatte sie gerade lesen wollen, als Joels Anruf dazwischen gekommen war. »Auf jeden Fall muß ich hin. Willst du mit? « »Warum nicht? Ich habe Junot schon lange nicht mehr gesehen.« Jamie stand auf. »Wußtest du, daß ich ihm einen Job als Rausschmeißer in meinem Pub angeboten hatte, nachdem der Verein von dir aufgelöst worden war? « » Großer Fehler.« »Ich habe Junot immer gemocht.« Er trat hinter Nicholas aus dem Hotelzimmer in den Gang hinaus. »Aber in Woodsdale ist -87-
er besser dran. Dort läuft er weniger Gefahr, erneut in irgendwelche Schwierigkeiten zu geraten.« »Das fand ich auch.« Junot empfing sie an dem Tor, durch das man in die unterirdische Garage von Woodsdale kam. Er trug keine Uniform, denn Nicholas hatte Joel erklärt, daß das nicht erforderlich war. »Gib mir den Wagen. Dr. Lieber erwartet dich bereits, Nicholas. Vierter Stock.« Als er Jamie erblickte, lächelte er. »Wie geht's?« »Nicht schlecht. Dachte, ich lasse mich ein bißchen von dir rumführen, solange Nicholas beschäftigt ist.« »Phantastisches Alarmsystem. Du wirst beeindruckt sein. Hier hättest selbst du es nicht leicht.« »Ah, das trifft mich ins Herz. Hast du neuerdings etwa Zweifel an mir? « Nicholas ließ die beiden stehen und ging eilig die Rampe hinab. Der Vordereingang von Woodsdale lag innerhalb des Betonbunkers, der die Tiefgarage war. Vollkommen sicher und diskret, so daß keine der Berühmtheiten, die die Klinik vor einer Schönheitsoperation betrat oder verließ, je zu sehen war. Als er wenige Minuten später in der vierten Etage den Fahrstuhl verließ, wartete Joel bereits auf ihn. »Du bist für sie verantwortlich«, stellte er grimmig fest. »Also tu was für sie.« »Was ist los? « »Das, was die ganze Zeit schon los gewesen ist. Sie zieht sich von Tag zu Tag mehr in ihr Schneckenhaus zurück. Ich habe schon eine ganze Armee von Psychiatern zu ihr geschickt. Ich habe sogar einen Priester geholt. Aber nichts hilft. Sie ißt nicht mehr. Sie spricht nicht mehr. Seit gestern wird sie künstlich ernährt.« -88-
»Willst du damit sagen, daß sie sterben wird? « »Ich denke, sie will sterben, und ihr Willen ist überraschend stark. Obwohl ich sie künstlich am Leben erhalten kann.« Mit einem Mal erinnerte sich Nicholas daran, wie er von Terence angefleht worden war, das Beatmungsgerät abzustellen. »Du schließt sie an keine Maschine an.« »Dann finde du eine Lösung, wie man ihr helfen kann. Ich habe alles in meiner Macht Stehende getan.« Er wies den Korridor hinab. »Dritte Tür links.« Nicholas ging los. »Tania sagt, daß sie einen Sinn für ihr Leben finden muß«, rief Joel ihm nach. »Den ich ihr geben soll.« »Du sollst ihren Lebenswillen wecken, damit meine Arbeit nicht umsonst gewesen ist.« »Meine Methoden gefallen dir vielleicht nicht.« »Es wird mir auch nicht gefallen, wenn sie stirbt oder in die Psychiatrie eingewiesen werden muß«, erwiderte Joel erschöpft. »Solange du diese beiden Möglichkeiten ausschließt, kannst du machen, was du willst. Ich habe weiß Gott alles versucht.« Und Nicholas sollte das Wunder vollbringen, das Joel nicht gelungen war. Großartig. Er öffnete die Tür. Nells Kopf war immer noch bandagiert, und sie sah kleiner und leichter aus als beim letzten Mal. Sie starrte blind geradeaus und gab kein Anzeichen dafür, daß sie bemerkt hatte, daß er hereingekommen war. Einen Sinn. O ja, über dieses Thema wußte er Bescheid. Er gäbe ihrem Leben einen neuen Sinn. Nicholas Tanek. -89-
Sie hatte gedacht, er wäre aus ihrem Leben verschwunden, dachte Nell verwirrt. Sie wollte, daß er ging. Er war derjenige, der ihr gesagt hatte, daß Jill ermordet worden war... Sie versuchte, seine Anwesenheit zu ignorieren. Darin war sie inzwischen sehr gut, aber er war einfach zu stark für sie. Ihr Unbehagen wuchs, und eilig machte sie die Augen zu. »Hören Sie auf, so zu tun, als würden Sie schlafen«, sagte er in kaltem Ton. »Sie schlafen nicht, Sie haben einfach keinen Mumm.« Seine Worte trafen sie. »Gefällt es Ihnen dazuliegen und sich selbst zu bedauern? « Er verstand sie nicht. Sie bedauerte sich nicht. Sie wollte nur, daß man sie in Ruhe ließ. »Das überrascht mich nicht. Sie haben sich Ihr Leben lang immer nur versteckt, statt Ihren Problemen ins Auge zu sehen. Sie wollten Künstlerin werden, und Ihre Eltern haben mit den Fingern geschnippt, und schon haben Sie alles fallenlassen und sind zu ihnen zurückgerannt. Dann hat Ihr Ehemann Sie nach seinen Vorstellungen geformt, und auch ihm gegenüber haben Sie sich nicht zur Wehr gesetzt.« Er sprach von Richard. Wie grausam von ihm. Richard war tot. Man sprach nicht schlecht über jemanden, der nicht mehr am Leben war. »Hat Ihnen irgendjemand erzählt, wie Jill gestorben ist? « Sie riss die Augen auf. »Halten Sie den Mund. Ich will es nicht wissen. Gehen Sie weg.« »Sie wurde erstochen.« Das Messer. O Gott, das Messer. »Es hat ihm Spaß gemacht. Es macht ihm immer Spaß.« Ja, es hatte ihm Spaß gemacht. Sie erinnerte sich an das Lächeln hinter der Maske, als sie von ihm niedergestochen worden war. -90-
»Und er läuft immer noch frei herum. Er hat ihr das Leben genommen, ihr Glück, alles, was Sie für sie geplant hatten. Sie haben zugelassen, daß er ihr alles nimmt.« »Nein! Ich habe versucht, ihn aufzuhalten. Ich habe ihn auf den Balkon gezerrt und...« »Aber sie ist tot, und er läuft frei herum. Er läuft herum und erinnert sich daran, wie er sie getötet hat. Es ist so leicht, ein Kind umzubringen.« »Hören Sie auf.« Seine Worte zerrissen ihr das Herz. Warum ließ er sie nicht end lich in Ruhe? Sie hätte niemals gedacht, daß es so brutale Menschen gab. »Warum tun Sie mir das an? « »Weil es mir egal ist, ob Sie leiden oder nicht. Sie ist tot, und Sie verraten sie. Sie legen sich einfach ins Bett und lassen das alles über sich hinwegrollen, wie Sie es schon immer getan haben. Sie war ein nettes Kind, sie hat etwas Besseres verdient als eine Mutter, die sich noch nicht einmal Gedanken darüber macht, ob der Mann, der sie getötet hat, jemals seine Strafe dafür bekommt.« »Sie ist tot. Nichts, was ich tun kann, würde...« »Entschuldigungen, Ausreden. Haben Sie nicht irgendwann einmal selbst genug davon, sich ständig dem Leben zu entziehen? Nein, ich schätze, nicht.« Er beugte sich vor, und sein Blick bohrte sich regelrecht in sie hinein. »Aber hier ist etwas, woran Sie sich erinnern sollten, während Sie hier liegen und an ihre Tochter denken. Sie ist nicht leicht gestorben. Seine Opfer sterben niemals leicht.« Irgendetwas explodierte in ihr. »Zur Hölle mit Ihnen.« »Aber ich schätze, das ist Ihnen egal. Sie schlafen lieber weiter und denken nicht länger über solche Unannehmlichkeiten nach.« Er stand auf und ging zur Tür. »Nur weiter so. Wahrscheinlich können Sie sowieso nichts tun. Sie haben in Ihrem ganzen Leben noch nie etwas getan.« -91-
Ihre Stimme zitterte vor Wut. »Mein Gott, ich hasse Sie.« Er sah sie reglos an. »Ja, ich weiß.« Dann verließ er den Raum. Ihre Fingernägel vergruben sich in ihren Handballen. Er sollte zurückkommen, damit sie ihn ebenso schlagen könnte wie er sie. Wie grausam er war. Nie zuvor hatte sie einen grausameren Menschen als ihn kennengelernt. Außer dem Monster, von dem Jill getötet worden war. Seine Opfer sterben niemals leicht. Die Worte hatten sie schmerzlicher getroffen als das Messer, von dem Jill getötet worden war. Bisher hatte sie den Gedanken an Jills Leiden, an Jills Sterben stets verdrängt. Sie hatte nur an den Verlust, an die Leere in ihrem Leben gedacht. Jill hätte niemals ein leeres Leben gehabt. Sie war ein Kind gewesen, das von jeder Facette des Lebens begeis tert gewesen war. Sie hätte das Leben mit beiden Händen umarmt. Und um dieses Leben war sie von einem Monster betrogen worden, das hilflose Kinder ermordete. Dieses Wissen krümmte, schmerzte, brannte sie. Er lief frei herum, und Jill war tot. »Nein.« Das ließe sie nicht zu. Sie hatte das Gefühl, als würde durch diesen Gedanken die Vergangenheit, die Gegenwart und auch die Zukunft ausgemerzt. Sie haben in Ihrem ganzen Leben noch nie etwas getan. Das war eine Lüge. Nein, es war wahr. Nun, da es nicht mehr von Bedeutung war, erkannte sie, wie wahr es war. Tu, was ich dir sage, sonst liebe ich dich nicht mehr. Diese unausgesprochene Drohung hatte ständig über ihr geschwebt. Zuerst seitens ihrer Eltern und dann durch Richard, -92-
und aus lauter Angst, diese Liebe zu verlieren, hatte sie stets gehorcht. Aber nun war diese Angst irrelevant, denn zu verlieren gab es für sie nichts mehr. Sie hatte bereits alles verloren, was ihr jemals wichtig gewesen war. Außer der Erinnerung an Jill. Und an den Mann, der ihr Mörder war. »Und? « fragte Joel, als Nicholas das Krankenzimmer verließ. »Ich weiß nicht. Sorg dafür, daß sie eine Weile alleine ist, damit es ein bißchen gärt.« »Was? « »Sie hatte eine offene Wunde, und ich habe ohne Betäubung mit einem glühenden Schürhaken darin herumgebohrt.« »Ich frage lieber gar nicht erst, was du damit meinst.« »Ist auch besser so. Du hättest bestimmt kein Verständnis dafür.« Er ging den Flur in Richtung der Fahrstühle hinab. »Aber ich denke, ich kann erst mal für eine Weile nach Idaho zurück. Es steht außer Frage, daß sie mich jetzt bestimmt nicht mehr sehen will. Ruf mich an, wenn du denkst, daß sie wieder halbwegs normal geworden ist. Ich habe noch ein paar Fragen an sie.« In jener Nacht bekam Nell kein Auge zu. Sie starrte in die Dunkelheit, und wieder und wieder hallten Taneks Worte in ihrem Ohr. Jill. Das Größerwerden, der Schulbeginn, die erste Party, das erste Rendezvous, das erste Kind. So viele erste Male, für die es keine Gelegenheit mehr gab. -93-
Das Monster hatte sie dieser ersten Male beraubt. Hatte sie all dieser Erfahrungen beraubt, hatte sie ihres Lebens beraubt. Nells Verlust war nichts im Vergleich zu dem, was Jill gestohlen worden war. Und sie lag tatenlos hier herum. Mit einmal Mal empfand sie Zorn. Brennenden, zerstörerischen, reinigenden Zorn. Die Kristallvase mit Lilien hätte lächerlich aussehen müssen in den großen Händen des jungen Mannes, der sie in ihr Zimmer trug, aber irgendwie tat sie das nicht. Irgendwo hatte sie ihn schon einmal gesehen, er war bei ihr gewesen in der Zeit der Dunkelheit. Sie suchte nach seinem Namen. »Sie sind Phil Johnson«, sagte sie. Er fuhr zu ihr herum. »He, Sie erinnern sich an mich.« Eilig trat er an ihr Bett. »Wie geht es Ihnen? Kann ich irgend etwas für Sie tun? Möchten Sie vielleicht ein Glas Orangensaft? « Sie schüttelte den Kopf. »Nein, danke. Im Augenblick nicht.« Sie blickte auf ihren Arm und stellte verwundert fest, daß er immer noch eingegipst war. Sie hatte das Gefühl, als wäre es hundert Jahre her, daß sie zum ersten Mal wach geworden war und Tanek neben ihrem Bett hatte sitzen sehen. Tanek. Sie unterdrückte eine Woge heißen Zorns. Tanek war egal. Sie mußte Ruhe bewahren, denn es war wichtig, daß sie einen klaren Kopf behielt. »Wie lange bin ich schon hier? Und wo ist ›hier‹ überhaupt? « »Sie sind seit zehn Tagen in Woodsdale.« »Woodsdale? « Sie erinnerte sich dunkel daran, daß Dr. Lieber gesagt hatte, sie würde in seine Privatklinik verlegt. Phil nickte. »Erinnern Sie sich an die Operation? « Sie tastete an ihrem Gesicht herum. Es lag unter einem dicken Verband. »Dr. Lieber will ihn dranlassen, bis alles vollkommen verheilt -94-
ist. Bei Schönheitsoperationen gibt es immer eine Reihe von blauen Flecken, und er denkt, Sie hätten in letzter Zeit genug Schocks erlitten...« Er unterbrach sich. »Tut mir leid. Ich soll mit Ihnen über nichts reden, was Sie aufregen könnte.« Er verzog das Gesicht. »Und was tue ich? Ich bin einfach ein wenig einfühlsamer Kerl. Soll ich vielleicht lieber gehen? « Sie schüttelte den Kopf. »Ich fühle mich furchtbar schwach. Was meinen Sie, wie lange ich in diesem Bett liegenbleiben muss? « »Da müssen Sie Dr. Lieber fragen. Aber wahrscheinlich würden Sie sich gleich ein bißchen besser fühlen, wenn Sie essen würden.« Er setzte ein verführerisches Lächeln auf. »Diese Schläuche in Ihrem Arm sind bestimmt nicht sonderlich angenehm.« »Ich werde essen«, sagte sie. »Aber erst muß ich mit Dr. Lieber sprechen. Könnten Sie ihn bitten, zu mir zu kommen, sobald er die Zeit dazu hat? « »Aber sicher. Heute morgen ist er im Krankenhaus in der Stadt, aber ich denke, er kommt bald zurück.« Er nickte in Richtung der Blumenvase auf dem Tisch. »Hübsch. Soll ich nachsehen, von wem sie sind? « »Das ist hübsch, Mama«, hatte Jill gesagt. »Sogar noch schöner, als wenn die Blumen im Garten stehen.« Der Schmerz schnürte ihr die Kehle zu, doch tapfer kämpfte sie dagegen an. Sie könnte nicht funktionieren, wenn sie sich derart von ihrem Schmerz blenden ließ. »Alles in Ordnung? « fragte Phil besorgt. »Ja, alles in Ordnung«, sagte sie. »Lesen Sie mir bitte die Karte vor.« »Da steht nur ein Name drauf. Tania Viados. Eine Freundin? « Sie schüttelte den Kopf. »Den Namen habe ich noch nie gehört.« -95-
»Tja, aber offenbar hat sie von Ihnen gehört.« Er steckte die Karte in den Strauß zurück. »Schöne Blumen. Anders als die üblichen Sträuße. Sehen aus, als hätte jemand sie direkt im Urwald gepflückt.« »Das sind Lilien.« Es kostete Nell ungeheure Anstrengung, normal zu sein. Am liebsten hätte sie die Augen zugemacht und weitergeschlafen. Nein, das ließe sie nicht zu. Bishe r klappte es doch sehr gut. Dieser nette Mann, Phil Johnson, schien nicht zu bemerken, wie hohl und oberflächlich ihr Gebaren war. »Ich muß mich bei ihr bedanken... wenn ich herausgefunden habe, wer sie ist.« Phil nickte. »Im St. Josephs Krankenhaus stehen bestimmt noch jede Menge Blumen für Sie. Es dauert nur immer ein bißchen, das Zeug hierher zu schicken.« Er irrte sich. Richard konnte ihr keine Blumen mehr schicken, und auch sonst hatte sie niemanden mehr. »Egal.« Sie musterte ihn. »Sie sehen sehr kräftig aus. Haben Sie mal Football gespielt? « »Ja, bei ›Notre Dame‹.« »Dann wissen Sie doch sicher über Krafttraining Bescheid? « »Ein bisschen.« »Ich hasse es, mich so schwach zu fühlen. Denken Sie, Sie könnten mir irgendein Gerät besorgen, mit dem ich ein bißchen trainieren kann, solange ich hier rumliegen muss? « »Vielleicht später.« Nur mit Mühe verbarg sie ihre Ungeduld. »Ich würde wirklich gern sofort anfangen. Sie können mir ja vielleicht erklären, wie ich anfangen muß. Ich habe nicht die Absicht, mich zu überanstrengen. Ich werde sehr vorsichtig sein.« Er nickte verständnisvoll. »Ich weiß, wie Sie sich fühlen. Wenn ich hier so tatenlos herumliegen müßte, würde ich verrückt. Ich werde Dr. Lieber fragen, ob es in Ordnung ist, wenn Sie ein -96-
bißchen was tun.« »Danke.« Sie sah ihm nach, als er den Raum verließ. Mach nur nicht die Augen zu. Versink nur nicht wieder in der Dunkelheit. Es klappte doch alles ganz gut. Er würde versuchen, ihr zu helfen, und dann hülfe sie sich selbst. Wenn sie sich auf sich selbst verlassen könnte, wäre es einfacher. Ihr Blick fiel auf den Blumenstrauß. Tania Viados. War sie in jener Nacht einer der Partygäste gewesen? Außer an Elise Gueray erinnerte sie sich an niemanden mehr. Die Party. Sie erinnerte sich vage darin, daß Nadine nach ihrem Sturz in der Nähe gewesen war. Was war mit Martin und Sally geschehen? Sie nahm an, sie sollte sich Sorgen machen um sie. Nein, das sollte sie nicht. Sie hatte die beiden nie gemocht, und von nun an war es mit jeder Form der Heuchelei vorbei. Richard war auf der Party umgekommen. Warum stimmte sie diese Tatsache nicht trauriger? Er hätte es verdient, daß sie um ihn trauerte. Aber Jill war tot, und in ihrem Herzen war für die Trauer um irgendjemand anderen kein Platz. »Ich höre, Sie fühlen sich viel besser«, sagte Joel Lieber, als er ihr Zimmer betrat. Lächelnd setzte er sich auf den Stuhl neben dem Bett. »Wurde auch Zeit. Ich habe mir schon richtiggehend Sorgen um Sie gemacht.« Sie glaubte ihm. Sie bezweifelte, daß Joel Lieber jemals etwas sagte, was er nicht ehrlich empfand. »Wie krank bin ich? « »Es heilt alles prächtig. Sie haben einen gebrochenen Arm und ein gebrochenes Schlüsselbein. Die anderen Wunden waren etwas häßlicher, aber ich habe dafür gesorgt, daß man keine Narben sehen wird. In drei Wochen kann der Gips wohl ab.« Sie berührte die Verbände an ihrem Gesicht. »Und die hier? « »Ich habe ein bißchen um die Augen herum genäht, aber die Fäden kann ich wohl innerhalb der nächsten Tage ziehen.« -97-
»Und was ist das hier in meinem Gesicht? Ich spreche so komisch.« »Sie haben eine Klammer, mit der Ihr Kiefer gerichtet wird. Aber das Ding kommt auch bald weg. Sie haben bestimmt noch ein paar blaue Flecken, aber ich könnte die Verbände schon mal abnehmen, damit Sie eine Vorstellung davon bekommen, wie Ihr Gesicht aussehen wird.« »Nein, das brauchen Sie nicht. Ich warte lieber noch. Ich wollte nur wissen, wann ich entlassen werden kann. In einem Monat? « »Vielleicht. Wenn weiterhin alles gut verheilt und Sie tun, was ich Ihnen sage.« »Das werde ich.« Sie holte tief Luft. »Ich frage mich, ob ich vielleicht eine Zeitung bekommen könnte, die am Tag nach... Medas rausgekommen ist? « Sein Lächeln legte sich. »Ich denke nicht, daß das vernünftig wäre. Warten Sie lieber noch ein Weilchen ab.« »Ich habe schon viel zu lange gewartet. Eines Tages muß ich der Wahrheit ja doch ins Auge sehen. Ich verspreche Ihnen, daß es nicht zuviel für mich wird.« Er sah sie aufmerksam an. »Vielleicht haben Sie recht. Also gut, ich werde Ihnen eine Zeitung raussuchen und heraufschicken. Sonst noch was? « »Nein, Sie sind sehr freundlich zu mir, Dr. Lieber.« »Joel«, verbesserte er. »Ich verspreche Ihnen, daß Sie sich keine Sorgen mehr um mich machen müssen, Joel.« »Das mache ich aber«, murmelte er. »Tut mir leid.« Ihr Bedauern war echt. Er schien ein anständiger Kerl zu sein, und er hatte sehr hart gearbeitet, um ihr behilflich zu sein. Unglücklicherweise war er auch ein aufmerksamer Beobachter, dem ihre Unnahbarkeit, die sie hinter ihrer Freundlichkeit zu verstecken versuchte, nicht verborgen blieb. -98-
Nun, sie konnte nichts dagegen tun. »Aber warten Sie es ab, bald geht es mir wieder gut, und dann sind Sie mich los.« »Das hoffe ich.« Er starrte sie einen Augenblick lang an, ehe er sich abwandte und den Raum verließ. Terroristen. Nell ließ die Zeitung sinken und starrte auf die cremefarbengestreifte Tapete an der Wand. Das war logisch. Niemand hätte ein Interesse daran haben können, Richard oder einen der anderen Männer umzubringen, von denen in dem Artikel die Rede war. Ganz offensichtlich hatten sie es auf Kavinski abgesehen. Aber welche Rolle hatte dann sie gespielt? Warum sollte einer der Terroristen sie angreifen, wo sie doch noch nicht einmal in Kavinskis Nähe gewesen war? Jills Ermordung war vielleicht spontan erfolgt, aber dieser Mörder hatte Nell extra in ihrer Suite aufgespürt. »Seine Opfer sterben niemals leicht.« Tanek hatte gesprochen, als wüßte er, wer Jills Mörder war. Und wenn er das Monster kannte, wußte er vielleicht auch, wo es zu finden war. »Wo, zum Teufel, bist du gewesen? « fragte Joel, sobald Nicholas den Telefonhörer aufnahm. »Ich versuche seit einem Monat, dich zu erreichen.« »Ich war im Ausland unterwegs.« Nicholas bückte sich und streichelte Sams Ohr, woraufhin sich der deutsche Schäferhund an seinem Oberschenkel rieb. »Sie will dich sehen«, sagte Joel. »Sofort.« »Das überrascht mich. Wie geht es ihr? « »Sie macht erstaunliche Fortschritte. Sie ißt und führt lange -99-
Gespräche mit Johnson. Sie hat ihn sogar dazu gebracht, ihr ein paar Streckbänder zu besorgen, mit dene n sie jetzt eifrig ihre Beine und ihren gesunden Arm trainiert.« »Warum klingst du dann so erbost? « »Erbost? Ich bin nicht erbost. Große Männer sind niemals erbost.« »Tut mir leid. Warum klingst du dann so besorgt? « »Sie ist zu beherrscht. Zu distanziert.« »Das ist vielleicht das Beste im Augenblick. Wenigstens ist sie gesundheitlich auf dem Weg der Besserung.« »Ihre gesundheitlichen Fortschritte werden allerdings von ihrer zunehmenden Entschlossenheit noch in den Schatten gestellt. Sie erinnert mich an einen Pfeil, der mit großer Zielsicherheit abgeschossen worden ist und der sich nun direkt auf das Auge des Bullen zu bewegt.« »Und wo ist dieses Bullenauge? « »Das ist es, was ich von dir wissen will.« Er machte eine Pause. »Was hast du zu ihr gesagt? « »Ich habe ihrem Leben einen Sinn gegeben.« »Was für einen Sinn? « »Rache.« »Mein Gott.« »Ich musste mit dem arbeiten, was mir zur Verfügung stand. Ich versichere dir, daß ich sie wohl kaum zu neuem Leben erweckt hätte, wenn ich sie angeregt hätte, Neurochirurgin zu werden. Rache war das einzig mögliche Motiv.« »Und was passiert jetzt? « »Jetzt lenkst du sie ab. Aber vielleicht übertreibst du auch. Sie ist eine nette, sanfte Frau. Finde einen Weg, und appelliere an das zarte Wesen, das sie eigentlich ist.« »Ich glaube nicht, daß du weißt, was für ein Wesen sie -100-
eigentlich ist. Auf jeden Fall ist sie nicht die Person, als die du sie mir beschrieben hast. Am Tag, nachdem du uns verlassen hast, hat sie nach einem Zeitungsbericht über Medas gefragt.« »Hat er sie aufgeregt? « »Ja. Johnson sagt, sie wäre blaß gewesen und hätte gezittert wie Espenlaub, aber ansonsten hätte sie sich vollkommen unter Kontrolle gehabt. Anschließend hat sie nach dir gefragt, und seither bittet sie täglich darum, dich zu sehen. Ich glaube, wenn du nicht kommst, steht sie am Tag ihrer Entlassung bei dir vor der Tür.« »Dann komme ich besser zu euch. Sam mag keinen Besuch.« »Was macht sein Bein? « »Stärker als je zuvor.« »Kann passieren. Man bricht jemanden, setzt ihn wieder zusammen, und heraus kommt ein vollkommen neuer Mensch. Ich werde ihr sagen, daß du morgen kommst.« Joels Warnung wäre nicht erforderlich gewesen, denn Nicholas hatte gewußt, welches Risiko er mit seiner Schocktherapie eingegangen war. Nur hatte er keine andere Wahl gehabt. Man konnte nichts ausbrennen, ohne daß es Narben gab. Nic holas legte den Hörer auf und nahm in seinem Ledersessel Platz. Prompt krabbelte Sam an ihm hoch, und er tätschelte ihm geistesabwesend den Rücken, ehe er ihn auf den Teppich schob. Der Hund bedachte ihn mit einem resignierten Blick, rollte sich zusammen und legte den Kopf auf seinen Fuß. Ab, ab, ab... Nein! Mit wild klopfendem Herzen fuhr Nell aus dem Schlaf. Sie hatte geträumt. Nur geträumt. Jill hatte nicht in der Tür gestanden, hatte sie nicht angestarrt... -101-
Sie wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht. O Gott, mach, daß dieser Traum nicht wiederkommt. Ich ertrage es nicht. Mach, daß er nicht wiederkommt.
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4. Kapitel »Sie wollten mich sehen? « Nell blickte auf und entdeckte Tanek in der Tür. Nur mit Mühe unterdrückte sie den plötzlich in ihr aufwallenden Zorn. »Kommen Sie rein«, sagte sie knapp. Er trat an ihr Bett. Er trug Jeans und ein cremefarbenes Sweatshirt. Diese Kleidung sah ebenso natürlich an ihm aus wie der Smoking, in dem er ihr zum ersten Mal begegnet war. Es war immer Tanek, der einem ins Auge stach, niemals das, was er trug. Er setzte sich auf einen Stuhl. »Ich dachte, Sie wären die Verbände inzwischen los.« »Übermorgen. Der Gips ist ab, aber Joel wollte, daß die Naht erst ganz verheilt.« Dann ging sie zum Angriff über. » Sie kennen den Mann, der Jill ermordet hat, nicht wahr? « Er tat gar nicht erst so, als verstünde er sie nicht. »Ich dachte mir bereits, daß Sie mich das fragen würden. Ja, ich glaube, ich weiß, wer er ist.« »Sind Sie ein Terrorist? « Ein Lächeln umspielte seinen Mund. »Wenn ich einer wäre, denken Sie, das gäbe ich zu? « »Nein, aber ich dachte, ich bekäme vielleicht eine Antwort.« Er nickte beifällig. »Sehr gut.« Sein Beifall war ihr egal, an etwas anderem als Antworten war sie nicht interessiert. »Ich glaube nicht, daß es ein Überfall von Terroristen war.« »Tatsächlich? Alle anderen scheinen dieser Ansicht zu sein.« »Ich war nicht im Ballsaal. Welches Interesse hätte ein Terrorist wohl gerade an mir? « Er kniff unmerklich die Augen zusammen. »Ja, welches -103-
Interesse hätte ein Terrorist wohl gerade an Ihnen? « »Ich weiß es nicht.« Sie bedachte ihn mit einem herausfordernden Blick. »Wissen Sie's? « »Vielleicht hat sich Gardeaux von Ihnen auf den Schlips getreten gefühlt.« Sie sah ihn verwundert an. »Gardeaux? Wer ist Gardeaux? « Erst als er aufatmete, merkte sie, wie angespannt er zuvor gewesen war. »Ein höchst unangenehmer Mensch. Ich bin froh, daß Sie ihn nicht kennen.« Offenbar hatte er den Namen nur fallengelassen, um ihre Reaktion darauf zu sehen. Gardeaux. Sie speicherte den Namen in ihrem Gedächtnis ab. »Warum haben Sie darauf bestanden, an jenem Abend mit mir in unsere Suite zu gehen? Wollten Sie sicher gehen, daß der Mörder wußte, wo ich zu finden war? « »Nein, ich denke, er hatte einen vollständigen Plan vom Haus und wußte bereits, ehe er die Insel erreichte, wer in welchem Zimmer war.« Er begegnete ihrem Blick. »Und das letzte, was ich gewollt hätte, wäre, Sie verwundet oder ermordet zu sehen.« Sie musste sich zwingen, fortzusehen. Er wollte, daß sie ihm glaubte, und sein Wille war sehr stark. Aber sie sollte ihm nicht glauben. Sie sollte niemandem trauen, am wenigsten ihm. »Wer hat meine Tochter umgebracht? « »Ich glaube, ein Mann namens Paul Maritz.« »Warum haben Sie das nicht der Polizei gesagt? « »Die geben sich mit der Vorstellung zufrieden, daß es ein gegen Kavinski gerichteter Überfall von Terroristen war.« »Und dieser Maritz ist kein Terrorist? « Er schüttelte den Kopf. »Er arbeitet für Philippe Gardeaux. Aber die Polizei wird ihn wegen des Mordes an Ihrer Tochter nicht behelligen.« Wieder Gardeaux. »Werden Sie mir erzählen, was das alles soll, oder muß ich Ihnen jede Information einzeln aus der Nase -104-
ziehen? « Er lächelte schwach. »Sie machen Ihre Sache so gut, daß ich dachte, ich sollte Sie noch eine Weile weiterfragen lassen. Gardeaux ist ein Verteiler. Er ist die direkte Verbindung zwischen Europa und dem Mittleren Osten. Er gehört zu einer Abteilung des kolumbianischen Drogenkartells, dessen Bosse Ramon Sandeques, Julio Paloma und Miguel Juarez sind.« »Verteiler? « »Er verteilt Drogen an Dealer und Geld an andere Leute, um der Organisation den Weg zu ebnen. Maritz arbeitet für ihn.« »Und Gardeaux hat Maritz auf mich angesetzt? Aber warum auch auf Jill?« »Sie stand ihm im Weg.« Was für ein simpler Satz. Ein Kind stand im Weg, also wurde es umgebracht. »Ist alles in Ordnung? « Er sah sie fragend an, und mit einem Mal war es um ihre Fassung gesehen. »Nein, nichts ist in Ordnung.« Sie blitzte ihn zornig an. »Ich bin wütend und krank, und ich will, daß er stirbt.« »Das dachte ich mir.« »Und Sie sagen, daß noch nicht einmal versucht werden wird, ihn vor Gericht zu stellen? « »Nicht wegen des Mordes an Ihrer Tochter. Vielleicht finden sie einen anderen Grund, um ihn zu verhaften.« »Aber das bezweifeln Sie.« »Gardeaux schützt seine Männer, denn alles andere brächte ihn selbst in Gefahr. Ein Großteil des Geldes, das er verteilt, geht an Polizisten und Richter.« Sie starrte ihn ungläubig an. »Wollen Sie damit etwa sagen, daß er Morde begehen kann, ohne daß es irgendwen interessiert? « »Es interessiert Sie«, sagte er ruhig. »Und es interessiert mich. -105-
Aber wir reden hier über Milliarden von Dollar. Gardeaux braucht nur mit dem Finger zu schnippen, und mit einem Mal hat ein Richter ein Haus an der Riviera und genug Geld, um sich zur Ruhe zu setzen und wie ein König zu leben. Selbst wenn Sie jemanden finden würden, der bereit wäre, Maritz vor Gericht zu stellen, würde Gardeaux dafür sorgen, daß die Geschworene n auf seiner Seite sind.« »Ich kann einfach nicht glauben, daß das wahr sein soll.« »Dann glauben Sie es nicht, aber trotzdem ist es wahr.« Die Gleichgültigkeit seines Tons überzeugte sie. Dies schien kein Überredungsversuch, sondern die Feststellung einer Tatsache zu sein. »Dann meinen Sie also, daß ich Maritz einfach vergessen soll? « »Ich bin nicht verrückt. Das werden Sie niemals tun. Ich bitte Sie nur, mir die Sache zu überlassen. Ich werde dafür sorgen, daß Maritz gemeinsam mit Gardeaux zur Strecke gebracht wird.« »Zur Strecke gebracht? « Tanek lächelte. »Sie werden ihn umbringen«, flüsterte sie. »Bei der erstbesten Gelegenheit. Schockiert Sie das? « »Nein.« Vor Medas hätte es sie schockiert, aber jetzt nicht mehr. »Warum tun Sie das? « »Egal.« »Sie wissen genauestens über mich Bescheid, aber offenbar wollen Sie nicht, daß ich auch nur ansatzweise erfahre, was für ein Mensch Sie sind.« »Genau. Das einzige, was für Sie von Interesse ist, ist, daß ich mich seit über einem Jahr mit der Sache beschäftige, und zwar mit derselben Leidenschaft wie Sie.« »Nein.« Soviel Hass und Leidenschaft, wie sie im Augenblick empfand, gab es auf der ganzen Welt nicht mehr. -106-
»Das sagen Sie, weil Sie im Moment Scheuklappen tragen. Sobald Sie allerdings andere Standpunkte wahrne hmen werden, werden Sie...« »Wo ist er? « »Maritz? Keine Ahnung. Wahrscheinlich hat er unter Gardeaux' Fittichen Schutz gesucht.« »Und wo ist Gardeaux? « »Nein«, stellte Tanek entschieden fest. »Gardeaux und Maritz sind ein Doppelpack, und der gehört alleine mir. Sobald Sie auf Gardeaux' Spielplatz auftauchen, sind Sie eine tote Frau.« »Dann zeigen Sie mir, wie man so etwas macht, ohne daß man dabei stirbt.« »Der einzige Weg, nicht zu sterben, ist der, sich von den beiden fernzuhalten. Sehen sie, Maritz hat als Frontkämpfer in Südostasien gedient. Er kennt mehr Arten zu töten, als Sie zählen können. Gardeaux hat schon Männer umbringen lassen, nur weil sie ihm sanft auf die Zehen getreten sind.« »Aber Sie denken, daß Sie die beiden kriegen können.« »Ich werde sie kriegen.« »Bis jetzt haben Sie sie noch nicht. Warum brauchen Sie so lange dazu? « Sie hatte einen Nerv getroffen, und mit zusammengepreßten Lippen knurrte er: »Weil ich leben will, verdammt. Ich habe nicht die Absicht, Gardeaux zu töten und mir anschließend selbst die Radieschen von unten anzusehen. Das wäre kein Sieg. Ich muß einen Weg finden, auf dem ich ihn zur Strecke bringen kann, ohne...« »Dann verfolgen Sie ihn doch nicht mit derselben Leidenschaft wie ich.« Sie begegnete seinem Blick und fügte schlicht hinzu: »Es ist mir egal, was aus mir wird, nachdem ich ihn getötet habe. Das einzige, was ich will, ist, daß er stirbt.« »Himmel.« -107-
»Also zeigen Sie mir, wie es geht, benutzen Sie mich. Ich werde es für Sie tun.« »Den Teufel werden Sie tun.« Er stand auf und wandte sich zum Gehen. »Halten Sie sich aus der Sache raus.« »Warum sind Sie so wütend auf mich? Wir haben doch beide dasselbe Ziel.« »Verdammt, hören Sie mir zu. Gardeaux hat es auf Sie abgesehen.« Er öffnete die Tür. »Und ich opfere keine lebendige Ziege, nur, weil mir dann vielleicht der Tiger vor die Flinte läuft.« »Warten sie.« »Warum? Ich denke, wir haben alles gesagt.« »Weshalb wissen Sie so viel über mich? « »Ein Freund hat eine Akte über Sie angelegt. Ich mußte wissen, weshalb Sie für Gardeaux von Interesse sind.« »Aber das haben Sie nicht herausgefunden.« Sie zuckte frustriert mit den Schultern. »Wie hätten Sie das auch herausfinden sollen? Es gibt keinen Grund. Das Ganze ergibt einfach keinen Sinn.« »Es gibt einen Grund. Wir kennen ihn nur noch nicht. Aber ich arbeite weiter daran. Darf ich jetzt gehen? « »Nein. Sie haben mir immer noch nicht gesagt, weshalb Sie an jenem Abend darauf bestanden haben, mich zu begleiten.« Sein Gesichtsausdruck veränderte sich nicht, aber mit einem Mal strahlte er eine unmerkliche Anspannung aus. »Weshalb interessiert Sie das? « »Mich interessiert alles. Ich will es wissen.« »Meinen Informationen zufolge waren Sie unter Umständen in irgendeinen Coup verwickelt.« »In was für einen Coup?« »Das wußte ich nicht. Ich kam zu dem Schluß, daß die -108-
Information in Ihrem Fall wertlos war.« »Aber das war sie nicht? « »Nein, verdammt. Sind Sie jetzt zufrieden? Ich habe eine falsche Entscheidung getroffen, und deshalb hat Maritz Sie erwischt.« Sie sah ihn aufmerksam an. »Sie geben sich die Schuld an dem, was geschehen ist. Darum haben Sie sich auch die Mühe gemacht, mich hierher zu verfrachten.« Sein Lächeln war ohne jede Spur von Humor. »Ist es nicht tröstlich zu wissen, daß Ihnen außer Maritz noch ein Sündenbock zur Verfü gung steht? « Es wäre tröstlich, und sie wünschte sich von ganzem Herzen, sie könnte ihn als den Schuldigen an ihrem Elend sehen. »Ich gebe Ihnen nicht die Schuld an dem, was vorgefallen ist. Sie konnten nichts dazu.« Er riss überrascht die Augen auf. »Das ist sehr großzügig von Ihnen.« »O nein. Sie wußten es einfach nicht. Sie waren nicht da, als Maritz kam.« »Aber ich hätte da sein können.« »Ja, das hätten Sie. Wenn Sie sich unbedingt schuldig fühlen wollen, dann tun Sie's ruhig.« Und leidenschaftlich fügte sie hinzu: »Ich will, daß Sie sich schuldig fühlen, denn dann helfen Sie mir vielleicht.« »Vergessen Sie's.« »Das werde ich nicht. Ich werde...« Aber er war nicht mehr da. Ihr Herz klopfte bis zum Hals, und sie spürte, wie ihr Blut pochend durch ihre Adern rann. Er hatte die eisige Hülle der Selbstbeherrschung durchbrochen, von der sie bisher geschützt worden war, aber das war egal. Er wußte, wer Maritz war. Er kannte den Weg zu ihm. Und sie würde eine Möglichkeit finden, um ihn dazu zu bringen, daß er ihr zeigte, wo dieser Weg verlief. -109-
Sie griff nach den elastischen Streckbändern auf dem Nachttisch und schob sich die Schlinge über den linken Fuß. Sie wurde mit jedem Tag kräftiger, denn selbst nachts, wenn sie nicht schlafen konnte, trainierte sie. Seit ihrem ersten Alptraum war der Schlaf nicht länger ihr Freund, sondern ihr Feind. Joel setzte ein durchtriebenes Lächeln auf, als er Nicholas Miene sah. »Du wirkst ein bißchen durcheinander. Habe ich etwa übertrieben? « »Nein«, war die knappe Erwiderung. »Wie gesagt, ich mag ihre Selbstbeherrschung nicht.« »Was? « Er erinnerte sich an die kühle Begrüßung, die ihm durch Nell zuteil geworden war. Aber sobald sie angefangen hatte, ihn anzugreifen, war es um ihre Fassung geschehen, und er hatte nur noch ihre starrsinnige Entschlossenheit und ihren unbeugsamen Willen gesehen. »Dann verfolgen Sie ihn doch nicht mit derselben Leidenschaft wie ich.« O ja, sie bewies Leidenschaft, dieselbe blinde Leidenschaft, von der die Jungfrau von Orleans auf den Scheiterhaufen getrieben worden war. Joel schüttelte den Kopf. »Ich habe gesagt, daß ich...« »Ich habe dich durchaus verstanden, aber ich glaube nicht, daß wir uns darüber allzu große Sorgen machen müssen. Wann entläßt du sie? « »In zwei Wochen.« »Zögere ihre Entlassung noch etwas hinaus.« »Warum? « »Sie ist noch nicht bereit.« Ebenso wenig wie er. Sie würde nicht aufgeben, und er mußte einen Weg finden, wie sie sich abschrecken ließ. »Kannst du ihr nicht erzählen, es gäbe irgendeine unerwartete Komplikation? « -110-
»Nein, ich belüge meine Patienten nie. Sie ist bereits seit fast zwei Monaten hier.« Sein Lächeln enthielt eine Spur Boshaftigkeit. »Was ist los, Nicholas? Schließlich hast du mir erzählt, sie wäre nichts weiter als eine nette, sanfte Frau.« Nicholas war sich nicht sic her, war für eine Frau Nell Calder inzwischen war, aber sie hatte sich derart verändert, daß ihm alles andere als wohl war in seiner Haut. »Vergiß es, Joel. Ohne deine Hilfe schaffe ich es nicht.« »Tut mir leid, aber meinen Ehrenkodex als Arzt breche ich noch nicht einmal für dich.« »Dann belüg sie eben nicht, Ihre Knochen sind immer noch nicht ganz zusammengewachsen. Sag ihr, daß du sie hierbehalten willst, bis alles vollkommen verheilt ist. Schließlich brauchst du ihr Bett im Augenblick für niemand anderen.« Joel dachte nach. »Ich nehme an, das geht.« »War Tania schon bei ihr? « fragte Nicholas. »Noch nicht.« »Dann sorg dafür, daß das so schnell wie möglich passiert.« »Meinst du, der Einfluß einer anderen Frau täte ihr gut? « »Der Einfluss einer anderen Überlebenden täte ihr gut.« Er wandte sich um und winkte Phil zu sich heran. »Paß bloß gut auf sie auf.« Phil tat so, als wäre er verletzt. »Ich kümmere mich um Nell, als wäre sie meine Tochter, Nick.« »Das weiß ich.« Nicholas lächelte. »Aber sorg auch dafür, daß sie uns nicht plötzlich unbemerkt entwischt. O. k.? « Phil nickte. »Ich mag sie. Ich habe ihr erzählt, daß ich am College Informatik studiert habe, und sie ist ehrlich daran interessiert. Sie hat mir schon alle möglichen Fragen über Computer gestellt.« Ihr Interesse an Computern war ein Garant dafür, daß ihr Phils Zuneigung sicher erhalten blieb. »Was für Fragen? « -111-
Phil zuckte mit den Schultern. »Alles mögliche.« Vielleicht hatten ihre Fragen ja keinen verborgenen Sinn. Oder vielleicht hatte sie einfach instinktiv erkannt, wie sich Phils Freundschaft gewinnen ließ. Der Frau, der er auf Medas begegnet war, hätte er eine derartige Umtriebigkeit nicht zugetraut, aber inzwischen war Nell eine unbekannte Größe für ihn. »Sieh einfach zu, daß du immer weißt, was sie tut.« »Das mache ich auch, ohne daß du es mir extra sagst.« Mit diesen Worten kehrte Phil in Nells Zimmer zurück. »Netter Junge«, sagte Joel. »Und ein guter Krankenpfleger dazu.« »Du klingst überrascht. Ich habe dir doch gesagt, daß du ihn mögen wirst.« Doch dann kam er auf sein ursprüngliches Thema zurück. »Du schickst also Tania zu ihr? « »Warum nicht? Sie ist sowieso schon ganz versessen darauf, Nell endlich kennen zu lernen.« Er machte eine Pause. »Du machst dir Sorgen, weil du nicht weißt, was sie nach ihrer Entlassung ohne unseren Schutz anstellen wird. Sie weiß, daß irgendjemand versucht hat, sie umzubringen. Da wird sie doch bestimmt vorsichtig sein.« »Vorsichtig? Ich denke, selbstmörderisch wäre ein passenderes Wort.« »Du weißt, wer versucht hat, sie umzubringen«, sagte Joel, und mit einem Mal riß er die Augen auf. »Hast du es ihr etwa erzählt? « »Es war der berühmte Dominoeffekt. Ich mußte ihr irgendetwas geben. Außerdem hatte sie es verdient, daß ihr jemand den Namen des Mörders ihrer Tochter nannte.« Joel schüttelte den Kopf. »Das war ein Riesenfehler.« »Vielleicht. Ich habe schon öfter Fehler gemacht.« Er wandte sich den Fahrstühlen zu. »Aber im Augenblick ist Schadenbegrenzung das einzige, was ich noch machen kann.« -112-
»Warte. Jemand hat für dich angerufen.« Er suchte in seiner Jackentasche und zog einen Zettel hervor. »Jamie Reardon. Er ist in London und will, daß du dich umgehend mit ihm in Verbindung setzt.« Nicholas nahm den Zettel entgegen. »Bekomme ich den Apparat in deinem Büro? « »Wenn's sein muss.« Joel wies auf eine Tür am unteren Ende des Korridors. »Offenbar bin ich einzig aus dem Grund auf der Welt, um dir von Nutzen zu sein.« »Es freut mich, daß du dein Schicksal endlich akzeptierst«, stellte Nicholas mit regloser Miene fest, während er in Richtung des Büros schlenderte. »Auch wenn es ein bißchen gedauert hat.« Hinter sich hörte er Joels unterdrückten Fluch. Immer noch lächelnd erreichte er Jamie im Brown Hotel. »Hast du was rausgefunden? « »Conner hat den Namen von Kablers Spitze l bei Gardeaux rausgekriegt. Er ist hier in London. Ein gewisser Nigel Simpson, Buchhalter. Soll ich versuchen, ihn dazu zu überreden, daß er in Zukunft nicht nur Kabler, sondern auch uns mit Informationen versorgt? « Erregung wallte in Nicholas auf. »Bist du sicher, daß er derjenige ist, von dem Kabler seine Informationen bekommt? « »Conner sagt, daß er es ist, und das Kaninchen ist viel zu ängstlich, um so etwas mit Bestimmtheit zu sagen, wenn er nicht ganz sicher ist. Wie sieht's aus, soll ich diesen Simpson nun kontaktieren oder nicht? « »Nein, das mache ich lieber selbst. Aber laß ihn nicht aus den Augen, bis ich bei dir bin.« »Kein Problem. Er verbringt die Nacht im Appartement seines Lieblingscallgirls. Ich glaube nicht, daß er sich noch groß bewegen wird.« Jamie kicherte. »Außer natürlich in der Frau. -113-
Ich nehme an, daß sie ihn wohl zu ein bißchen Bewegung animieren wird. Sie ist dafür berühmt, eine ziemlich verrückte Lady zu sein. Ich warte in einem der alten schwarzen RollsRoyce-Taxis am Milford Place Nummer 23 auf dich.« Er seufzte. »Weißt du, man sieht die Dinger immer seltener hier. Stattdessen fahren fast nur noch windschnittige Monstrositäten durch die Stadt, denen jeder Sinn für die Geschichte fehlt. Traurig.« »Sieh zu, daß dir Simpson nicht durch die Lappen geht.« »Das wird er nicht. Habe ich dich jemals enttäuscht? « »Ah, Sie sind wach. Das ist gut.« Nell blickte auf und sah eine große, langbeinige brünette Frau in Jeans, einem Männerhemd mit hochgerollten Ärmeln und einer Lederweste im Türrahmen stehen. Die Fremde lächelte. »Darf ich hereinkommen? Sie kennen mich nicht, aber ich habe das Gefühl, als kenne ich Sie. Ich bin Tania Viados.« Der Name weckte eine Erinnerung in Nell. »Sie haben mir die Blumen geschickt.« Die Frau nickte und trat ein. »Haben sie Ihnen gefallen? Ich habe sie selbst gezüchtet.« Tania Viados hatte einen schwachen Akzent, der in auffallendem Gegensatz zu ihrem durch und durch amerikanischen Auftreten stand. »Sie waren wunderbar, Miss Viados.« »Tania.« Ein Lächeln erhellte ihr Gesicht. »Ich habe das Gefühl, daß wir sehr gute Freundinnen werden, und mein Gefühl hat mich noch niemals getäuscht.« »Ach nein? « »Meine Großmutter war Zigeunerin, und sie hat immer gesagt, ich hätte zwar nicht das zweite Gesicht, aber das zweite Gehör.« -114-
Sie setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett. »Sie hat gesagt, ich nähme die Echos der Seele wahr.« »Wie... interessant.« Tania kicherte. »Sie denken, ich bin verrückt. Das kann ich Ihnen nicht verdenken. Aber es ist wahr.« »Arbeiten Sie hier in der Klinik? « »Nein, ich arbeite für Joel. Ich bin seine Haushälterin.« Sie streckte ihre Beine aus. »Und ehe Sie fragen, er teilt zwar sein Haus, nicht aber sein Bett mit mir.« Nell starrte ihre Besucherin entgeistert an. »Eine solche Frage hätte ich Ihnen niemals gestellt.« »Nein? Dann würde es Sie sicher überraschen, zu erfahren, von wie vielen Menschen mir diese Frage bereits gestellt worden ist.« In ihren Augen blitzte es boshaft auf. »Meistens erzähle ich dann, er täte es, was ihn wahnsinnig macht. Wissen Sie, er ist ein ziemlich altmodischer Kerl.« »Nein, das weiß ich nicht.« Sie nickte. »Während der ersten Wochen bemerkt man nicht allzuviel von dem, was um einen herum geschieht. Man ist zu sehr von seiner Trauer erfüllt. Das habe ich selbst erlebt.« Nell versteifte sich. »Sie sind keine Haushälterin. Sie sind eine von diesen Psychologinnen, die Joel mir ständig schickt. Aber geben Sie sich keine Mühe, ich bin nicht zu einem Gespräch bereit.« »Psychologin?« Tania lächelte amüsiert. »Diese Seelenklempner habe ich noch nie gemocht. Als ich hier lag, hat Joel mir auch ständig irgendwelche Psychiater geschickt, aber ich habe ihm ziemlich schnell klargemacht, wie sinnlos das war.« »Sie waren mal als Patientin hier? « »Ich war ganz schön vernarbt, als ich aus Sarajevo hierher in die Staaten kam, aber Joel hat mich wieder hingekriegt.« Sie grinste. »Und jetzt habe ich die Absicht, ihn hinzukriegen. Er ist -115-
einfach ein Prachtkerl, finden Sie nicht? « Prachtkerl wäre nicht gerade das Wort, das Nell in Verbindung mit Joel Lieber eingefallen wäre, aber sie sagte: »Ich schätze schon. Ich finde ihn sehr nett.« »Er ist mehr als nett. Er hat ein großes Herz, was etwas sehr Seltenes ist. Er ist wie eine Rose. Es ist wunderbar zu sehen, wie...« In diesem Augenblick betrat der Gegenstand ihres Gesprächs den Raum: »Nun, sind Sie für die Enthüllung Ihres neuen Gesichts bereit? « »Ja.« Tania nickte eifrig mit dem Kopf, und Joel bedachte sie mit einem vernichtenden Blick. »Eigentlich habe ich mit der Frage meine Patientin gemeint.« »Ich bin bereit«, sagte Nell. »Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, wenn Tania bei der Abnahme der Verbände zugegen ist. Seit Ihrer Operation hat sie mir keine Ruhe mehr gelassen, denn sie wollte Sie unbedingt sehen.« »Ich finde, daß mein Interesse an Ihnen durchaus berechtigt ist«, stellte Tania fest. »Joel hat mir erlaubt, ihm bei der Kreation Ihres neuen Gesichts behilflich zu sein. Ich habe ihm gesagt, daß er den Mund nicht verändern sollte. Sie haben einen großartigen Mund.« »Danke.« Ein amüsiertes Lächeln huschte über Nells Gesicht. »Aber ich nehme an, Sie haben ihm geraten, dafür zu sorgen, daß vom Rest nichts mehr übrig bleibt.« »Mehr oder weniger.« Joel schüttelte den Kopf: »Tania ist ein wahrhaft taktvoller Mensch.« Entsetzt stellte Nell fest, daß sie tatsächlich lächelte. Ein echtes Lächeln lag auf ihrem Gesicht, anders als die Grimassen, die sie sich aufgezwungen hatte, um den anderen zu beweisen, daß sie -116-
wieder normale Gefühle empfand. Tania sah Nell aufmerksam an. »Schon gut«, sagte sie ruhig. »Sie werden sehen, Lachen ist kein Verrat.« Ehe Nell etwas erwidern konnte, wandte sich Tania an Joel. »Sie findet dich sehr nett, aber sie denkt nicht, daß du eine Rose bist.« Er starrte sie entgeistert an. »Eine Rose? « »Du bist eine Rose. Das weiß ich, seit ich dir zum ersten Mal begegnet bin. Du hast so viele verschiedene Facetten und eine innere Schönheit, die von Tag zu Tag stärker erblüht.« »Oh, mein Gott.« »Natürlich duftest du nicht wie eine Rose. Eher wie ein Eukalyptusbaum, aber ich...« Mit einem »Ich hole einen Rollstuhl« flüchtete er aus dem Raum. Tania stand auf. »Er ist komisch, ja? Es ist seltsam, daß für Männer der Vergleich mit einer Blume nur schwer zu ertragen ist. Ich verstehe nicht, warum sie den Frauen vorbehalten sind.« »Ich muss gestehen, daß mir der Vergleich ebenfalls etwas ungewöhnlich erschien.« Immer noch lächelte sie. »Aber durchaus interessant.« »Joel braucht es, daß man ihn regelmäßig aus der Fassung bringt.« Tania half ihr in ein pinkfarbenes Bettjäckchen und schloß den obersten Knopf. »Brillante Ärzte sind ständige Bewunderung und Lobhudelei gewohnt. Das ist sehr schlecht für sie.« Sie nickte beifällig. »Schön. Alle Bettjäckchen sollten rosafarben sein. Es ist schön, gleich morgens beim Aufwachen etwas Buntes zu sehen. Eine gute Wahl.« »Ich fürchte, das Lob gebührt nicht mir. Das Jäckchen ist einfach hier aufgetaucht.« Tania setzte ein fröhliches Grinsen auf. »Ich habe mich selbst gelobt. Ich habe es ausgesucht.« »Vielleicht dachten Sie, ich sähe wie eine Rose aus? « -117-
»Ah, ein bißchen Humor. Das ist gut.« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, Joel ist meine einzige Rose. Ich werde später beschließen, was...« »Da sind wir wieder.« Gefolgt von dem den Rollstuhl schiebenden Phil kam Joel zurück, doch ehe er sich seiner Patientin zuwandte, bedachte er Tania mit einem strengen Blick. »Glaubst du, daß du dich anständig benehmen kannst? « »Nein.« Tania beobachtete, wie Phil Nell sanft in den Rollstuhl half. »Ich bin viel zu aufgeregt.« »Ach ja? « Ein nachsichtiges Lächeln umspielte Joels Mund. Er liebt sie, dachte Nell mit einem Mal. Die Blicke, die die beiden austauschten, waren warm, lieb und verständnisvoll, als wären sie seit fünfzig Jahren ein Ehepaar. Die Erkenntnis, daß sie und Richard einander niemals so angesehen hatten, versetzte ihr einen Stich. Vielleicht hätten sie ja mit der Zeit... »Auf geht's.« Tania legte eine Decke über Nells Knie und winkte Phil. »Schieben Sie sie schon mal rüber. Wir kommen gleich nach.« »Gefällt es Ihnen? « fragte Tania erwartungsvoll. Nell starrte verwundert die fremde Frau im Spiegel an. »Es gefällt Ihnen nicht.« Tania verzog enttäuscht das Gesicht. »Pst«, sagte Joel. »Gib ihr doch wenigstens eine Chance.« Nell hob die Hände und tastete vorsichtig an ihren Wangen herum. »Mein Gott.« »Wenn es Ihnen nicht gefällt, ist das meine Schuld«, sagte Tania entschuldigend. »Joel hat wunderbare Arbeit geleistet.« »Ja«, stimmte Nell ihr zu. »Eine wunderbare Arbeit. Diese Wangenknochen sind eine Pracht.« Sie merkte, daß sie so unpersönlich sprach, als ginge es um irgendeine Skulptur. Und genauso fühlte sie sich. Das Gesicht, das ihr aus dem Spiegel entgegensah, war ein Kunstwerk, vollkommen faszinierend, -118-
nein... bezaubernd war das bessere Wort. Nur ihre braunen Augen und ihren Mund erkannte sie noch. Nein, das war auch nicht wahr. Durch die unmerkliche Abschrägung wirkten ihre Augen größer und leuchtender. Und ihr Mund sah im Zusammenspiel mit den hohen Wangen und dem kantigen Kiefer überraschend verletzlich und sinnlich aus. Sie berührte ihr Augenlid. »Was haben Sie hier gemacht? So dunkel war es vorher nicht.« »Ein kleiner kosmetischer Eingriff.« Joel verzog das Gesicht. »Tania fand, ein dauerhafter Lidstrich wäre von Vorteil, falls Sie eine begeisterte Schwimmerin sind. Gott bewahre, daß Sie unter Wasser nicht ebenso perfekt aussehen wie an Land.« »Es ist nur eine ganz dünne Linie. Sie sieht vollkommen natürlich aus«, warf Tania eilig ein. »Ich dachte, wenn wir Sie schon ummodeln, dann gleich ganz.« »Ich verstehe.« Die beiden sahen sie erwartungsvoll an. »Ich wirke ziemlich... glamourös. Ich hätte mir niemals träumen lassen...« »Ich habe Ihnen doch das Computerbild gezeigt«, sagte Joel. Sie erinnerte sich nur noch vage an das Vorbereitungsgespräch mit ihm. »Ich hätte nicht gedacht - ich glaube, ich habe gar nicht gedacht.« »Sie werden Zeit brauchen, um sich an Ihr neues Aussehen zu gewöhnen. Falls Sie psychologische Beratung brauchen, werde ich...« Tania stieß ein verächtliches Schnauben aus, doch er ignorierte sie. »Wie gesagt, eine derart drastische Veränderung kann ein wenig traumatisch sein. Vielleicht brauchen Sie Hilfe, um damit zurechtzukommen.« »Danke, nein.« Schließlich erführe ihr Leben durch ihr neues Aussehen keine besondere Veränderung. Plötzlich dachte sie, vor Medas hätte sie vielleicht ganz anders darauf reagiert. Das -119-
Gesicht, das Joel ihr gegeben hatte, war der Stoff, aus dem der Traum jedes häßlichen Entleins war. Schönheit führte automatisch zu Selbstvertrauen, und diese Charaktereigenschaft hatte ihr früher immer gefehlt. Nun nicht mehr. Auch Zorn verlieh einem Menschen ungeahnte Kraft. Sie hatte keinen Zweifel, daß sie in der Lage wäre, alles zur Erfüllung ihrer Rachepläne Erforderliche zu tun. »Obwohl ich wahrscheinlich jedesmal, wenn ich an einem Spiegel vorbeikomme, zweimal hingucken muss.« »Genau wie jeder Mann, selbst wenn er Sie nur auf eine Entfernung von hundert Metern sieht«, stellte Joel trocken fest. »Wahrscheinlich brauchen Sie bald ständig einen Leibwächter, und zwar aus ganz anderen Gründen, als Nicholas denkt.« »Einen Leibwächter? « »Ich nehme an, er hat Phil nicht nur als Krankenpfleger engagiert. Nicholas fühlt sich dafür verantwortlich, daß Ihnen nichts passiert.« Sie runzelte die Stirn. »Phil wurde von Nicholas Tanek eingestellt? « Joel nickte. »Phil hat schon früher für ihn gearbeitet. Bei ihm sind Sie in Sicherheit. Auf diesem Gebiet hat Nicholas noch nie einen Fehler gemacht.« »Und er ist derjenige, der Phil bezahlt? « »Keine Angst, er bezahlt alles, was mit Ihrer Behandlung zusammenhängt.« »O nein. Schicken Sie die Rechnungen bitte an mich.« »Lassen Sie Nicholas bezahlen«, mischte sich Tania ein. »Joel ist ein sehr teurer Chirurg.« »Ich kann es mir leisten. Meine Mutter hat mir etwas Geld vererbt.« Sie sah Tania an. »Sie kennen Tanek? « Tania nickte. »Schon seit Jahren«, sagte sie geistesabwesend, während sie Nells Haare betrachtete. »Morgen müssen wir -120-
unbedingt runter in den Salon. Das Grau stört den Gesamteindruck.« »Was für ein Grau?« Nell wandte sich wieder dem Spiegel zu und erstarrte, als sie die grauen Haare an ihrer linken Schläfe sah. »Hatten Sie die vorher nicht? « fragte Tania ruhig. »Nein.« »Das passiert manchmal. Nachdem meine Tante hatte zusehen müssen, wie man ihren Mann vor ihren Augen ermordete, wurde ihr Haar mit einem Mal schlohweiß.« Sie lächelte. »Aber bei Ihnen ist nur ein dünnes Strähnchen zu sehen. Ich denke, eine leichte Tönung sähe in Ihrem braunen Haar herrlich aus. Das gäbe Ihnen noch den letzten Chic.« »Die graue Strähne ist egal.« »O nein. Ich werde nicht zulassen, daß das von mir kreierte Gesicht einen so dürftigen Rahmen behält.« Sie wandte sich an Joel. »Meinst du, wir können morgen runter in den Frisiersalon?« »Da fragst du mich? Ich dachte, es wäre bereits abgemacht.« Doch dann nickte er. »Ich nehme an, ein Friseurbesuch ist okay.« Tania wandte sich abermals an Nell. »Morgen früh um zehn? Ich mache dann den Termin.« Nell zögerte. Es war nicht gerade ihr dringendster Wunsch, ein paar graue Haare loszuwerden, aber es war klar, daß Tania enttäuscht sein würde, wenn ihre Kreation irgendeinen Makel aufwiese, und Nell mochte die Frau. Was noch ungewöhnlicher war, sie fühlte sich in ihrer Nähe wohl. »Also gut.« »O ja.« Tania strahlte über das ganze Gesicht. »Ich verspreche Ihnen, daß es Ihnen gefallen wird.« »Ihr Taxi, Mr. Simpson.« Jamie öffnete schwungvoll die Tü r. Nigel Simpson runzelte die Stirn. »Ich habe kein Taxi bestellt.« -121-
»Nein, ich glaube, es war eine Dame, die bei uns angerufen hat.« Vielleicht hatte Christine angerufen, während er unter der Dusche gewesen war. Nach ihren Liebesstunden war sie immer sehr fürsorglich, denn sie glaubte daran, daß sich jeder Stich mit Honig versüßen ließ. Er lächelte, als er daran dachte, was für eine aufregende Gespielin sie in der vergangenen Nacht gewesen war. Die Frau war einfach eine Pracht. Er stieg in das Taxi ein. Tanek! Nigels Finger flogen an den Türgriff zurück, doch Tanek legte seine Hand auf seinen Arm. »Nur keine Aufregung«, sagte er sanft. »Wenn ich Gewalt anwenden muß, macht mich das immer sehr unglücklich. Ich habe das Gefühl, Sie erkennen mich. Aber warum? Ich glaube nicht, daß wir uns schon einmal begegnet sind.« Nigel befeuchtete seine Lippen. »Als Sie letztes Jahr hier in London waren, hat man Sie mir gezeigt.« »Wer ist ›man‹? Gardeaux? « »Ich kenne keinen Gardeaux.« »Ich glaube, doch. Jamie, warum machen wir nicht eine kleine Spazierfahrt durch den Park? Vielleicht können wir Mr. Simpson dadurch ja ein bißchen auf die Sprünge helfen.« Jamie nickte und schob sich auf den Fahrersitz. »Ich weiß nicht, was Sie von mir wollen«, sagte Nigel und lachte nervös. »Das Ganze muß eine Verwechslung sein.« »Hat Gardeaux Sie auf mich aufmerksam gemacht? « »Nein. Ich sagte Ihnen doch schon...« Als er Taneks Blick begegnete, verstummte er. Der Kerl saß vollkommen reglos da und sprach leise, fast freundlich mit ihm, aber mit einem Mal wurde Nigel von kaltem Entsetzen gepackt. »Ich weiß nichts. Halten Sie an, ich will hier raus.« -122-
»Ich glaube, Sie sind Buchhalter. Sie müssen sehr wertvoll für Gardeaux... und für Kabler sein.« Nigel erstarrte. »Ich kenne keinen dieser Namen.« »Ich bin sicher, Gardeaux weiß, wer Kabler ist. Angenommen, ich rufe ihn an und erkläre ihm, daß Sie Kablers Spitzel sind.« Nigel schloss die Augen. Es war einfach nicht fair. Bisher war alles so gut gegangen, und jetzt tauchte dieser Bastard auf und machte ihm alles kaputt. »Sie sind ein bißchen blaß«, stellte Tanek fest. »Soll ich das Fenster aufmachen? « »Sie haben keine Beweise.« »Die brauche ich auch nicht. Gardeaux geht bestimmt kein unnötiges Risiko ein, nicht wahr? « Nein, Gardeaux würde lächelnd mit den Schultern zucken, und am nächsten Morgen wäre Nigel ein toter Mann. Er machte die Augen wieder auf. »Was wollen Sie? « »Informationen. Ich will regelmäßige und akkurate Berichte. Ich will alles als erster sehen, und dann werde ich entscheiden, was Kabler bekommt.« »Bilden Sie sich etwa ein, ich wäre der einzige Buchhalter von Gardeaux? Er würde niemals einem einzigen Mann vertrauen. Keiner von uns kriegt je mehr als einzelne Ausschnitte der Geldtransferlisten zu sehen, und das meiste davon ist auch noch kodiert.« »Die Namenliste für Medas war nicht kodiert.« »Aber das, worum es in dieser Liste ging.« »Was war der Grund für den Überfall? « »Alles, was ich wußte, habe ich Kabler geschickt.« »Dann finden Sie mehr heraus. Ich will alles wissen, was es darüber zu wissen gibt.« »Ich kann unmöglich danach fragen. Das wäre ein übermäßiges -123-
Risiko.« »Wissen Sie, Nigel.« Tanek sah sein Gegenüber lächelnd an. »Das ist mir vollkommen egal.« »Es sieht... seltsam aus.« Nell schüttelte den Kopf, und die blaßgoldenen Strähnen schimmerten im Licht des Salons. »Es sieht phantastisch aus«, verbesserte Tania. »Und die Frisur paßt zu Ihnen. Lässig und doch elegant.« Sie drehte sich zu der Friseurin um. »Wunderbar, Bette.« Bette setzte ein zufriedenes Grienen auf. »Es war mir ein Vergnügen. Schließlich hat der Torte nur die richtige Glasur gefehlt. Und jetzt brauchen Sie noch eine neue Garderobe, die zu Ihrem neuen Aussehen passt.« »Stimmt«, pflichtete Tania ihr bei. »Ich fahre gleich morgen mit ihr in die Stadt.« Doch dann runze lte sie die Stirn. »Nein, damit wird Joel nicht einverstanden sein. Nächste Woche ist vielleicht früh genug.« »Wir brauchen nicht extra einkaufen zu gehen«, sagte Nell. »Ich rufe einfach die Haushälterin in meinem Pariser Appartement an und sage ihr, daß sie mir ein paar Kleider schicken soll.« »Das können Sie tun, aber Bette hat recht. Die neue Frau wird erst durch die neue Garderobe komplett.« Die neue Frau. Diese Worte trafen nicht nur auf Nells äußere Hülle zu. In gewisser Weise war sie in Jills und Ric hards Todesnacht ebenfalls gestorben und war wiedergeboren in der schmerzhaften Erkenntnis, daß Jill ermordet worden war. Aber die neue Frau wäre auch mit einer neuen Garderobe nicht komplett; innerlich war sie vollkommen hohl. Nun, vielleicht nicht vollkommen, erkannte sie mit einem Mal. Seit Tania in ihr Leben getreten war, hatte sie wieder so etwas wie Wärme, Belustigung und gar Freude gespürt. »Dränge ich Sie zu sehr? « fragte Tania sie jetzt. »Das ist keine -124-
schlechte, aber eine lästige Angewohnheit von mir.« »Sie sind nicht lästig.« Nell drehte sich zu Bette um. »Was bin ich Ihnen schuldig? « Bette schüttelte den Kopf. »Ich bin von der Klinik angestellt, und von daher nehme ich noch nicht einmal Trinkgeld an.« »Dann danke ich Ihnen.« Nell läche lte. »Sie sind sehr talentiert.« »Ich habe mein Bestes getan, aber wie gesagt, das war nur noch die Glasur. Mit diesem Gesicht wären Sie selbst mit einer Glatze schön.« »Also, machen Sie nun mit mir einen Einkaufsbummel in der Stadt? « fragte Tania, als sie mit ihrem Schützling den Salon verließ. Nell hatte darüber nachgedacht. Vielleicht wäre eine Fahrt in die Stadt keine schlechte Idee. »Wenn Joel es mir erlaubt.« »Gut. Ich werde ihm sagen, daß er alles, was wir kaufen, auf Nicholas' Rechnung setzen soll. Dann erlaubt er uns den kleinen Ausflug ganz bestimmt.« »Warum? Mag Joel Nicholas nicht? « »Doch, aber ihre Beziehung ist äußerst kompliziert. Joel hat ein sehr ausgeprägtes Konkurrenzdenken.« Nell sah sie verwundert an. »Nicholas ist...« Tania zuckte mit den Schultern. »Nicholas.« »Aber Joel ist ein brillanter Chirurg.« »Und Nicholas ist überlebensgroß. Es gibt ein paar Männer, die sehr lange Schatten werfen. Und es gefällt Joel nicht, im Schatten irgendeines anderen Menschen zu stehen.« Plötzlich grinste sie. »Also lebt er seine Verärgerung auf die Weise aus, die ihm am besten gefällt. Daß Sie seine Rechnung selbst bezahlen wollen, ist eine große Enttäuschung für ihn.« Nell wollte ebensowenig in Taneks Schatten stehen. -125-
»Schließlich geht es ja auch um mich.« Tania sah sie an. »Sie mögen ihn nicht.« O nein, sie mochte ihn nicht. Sie mochte es nicht, daß er die Barrieren überwand, die sie errichtet hatte, und sie mochte die Grausamkeit nicht, mit der sie von ihm ins Leben zurückgerissen worden war. Sie mochte es nicht, daß jede Begegnung mit ihm sie an Medas erinnerte. Sie mochte es nicht, daß er sie ausschließen wollte, statt ihr behilflich zu sein. »Ich weiß, daß er Ihr Freund ist, aber mein Fall ist er nicht. Joel ist mir lieber.« Dann wechselte sie das Thema. »Hat diese Klinik auch noch andere Einrichtungen als einen Schönheitssalon? « »Alles vom Thermalbad bis hin zum Fünf-Sterne-Restaurant. Ein paar von Joels Patienten bleiben, bis ihre Narben gänzlich verheilt sind, und sie legen großen Wert auf diesen Komfort. An was haben Sie denn gedacht? « »An einen Fitnessraum.« »Den gibt's, aber ich bezweifle, daß Joel Sie jetzt schon trainieren lassen wird. Er wird abwarten wollen, bis Ihre Knochen ganz zusammengewachsen sind.« »Ich werde mich nicht überanstrengen. Aber ich brauche unbedingt wieder ein bißchen Kraft.« »Die kriegen Sie auch. Warten Sie's nur ab.« Nein, sie wartete nicht mehr ab. Es machte sie wahnsinnig, so schwach und untätig zu sein. Sie wollte für ihren Rachefeldzug bereit sein, und zwar sofort. Sie wiederholte: »Ich werde mich nicht überanstrengen, das verspreche ich.« »Wir werden sehen, was sich machen lässt.« »Morgen? « Tania zog fragend die Brauen hoch. »Ich werde mit Joel sprechen. Vielleicht erlaubt er es ja, wenn ich Sie begleite und dafür sorge, daß Sie vernünftig sind.« »Aber dazu haben Sie bestimmt keine Zeit. Ich möchte Sie nicht -126-
unnötig beanspruchen. Sie haben bereits zu viel für mich getan.« »Das ist keine unnötige Beanspruchung. Es wird mir ein Vergnügen sein. Mir tut ein bißchen Bewegung ebenfalls gut, und die Arbeit als Joels Haushälterin ist schnell erledigt.« Sie kicherte. »Außerdem wird er sich freuen, wenn ich nicht mehr die ganze Zeit herumtelefoniere.« Nell bedachte sie mit einem zweifelnden Blick. »Ehrlich«, sagte Tania. »Aber Sie brauc hen einen Trainingsanzug. Ich kann Ihnen einen leihen, bis wir einkaufen gegangen sind.« Nell schüttelte den Kopf. Tania hatte höchstens Kleidergröße acht. »Der würde mir nicht passen.« »Nun, vielleicht ist er ein bißchen groß, aber das ist kein Problem. Es ist gut, wenn Sportkleidung locker sitzt.« Nell starrte sie verwundert an. »Es sei denn, Sie tragen nicht gerne die Kleider von jemand anderem? « »Doch, doch, aber ich...« »Gut.« Sie hatten die Tür von Nells Krankenzimmer erreicht, und Tania wandte sich an Phil: »Ich habe sie gesund und munter zurückgebracht. Wie gefällt Ihnen ihre neue Frisur? « Phil pfiff bewundernd durch die Zähne. »Alle Achtung, sehr nett.« Zu Nell sagte Tania: »Morgen früh um neun bin ich wieder da, damit ich Ihnen beim Anziehen behilflich sein kann.« Dann ging sie lächelnd und winkend den Flur hinab. »Ich helfe Ihnen wieder ins Bett«, sagte Phil. »Sie müssen müde sein.« Frustriert musste sie sich eingestehen, wie erschöpft sie war. »Danke, aber ich muß lernen, allein zurechtzukommen. Ich kann mich nicht ewig...« -127-
Noch während sie sprach, hatte Phil sie hochgehoben und trug sie zu ihrem Bett. »Aber sicher können Sie das. Sie sind das reinste Federgewicht. Und außerdem werde ich dafür bezahlt.« Er legte sie ins Bett. »Und jetzt machen Sie ein Nickerchen, und dann komme ich mit Ihrem Essen zurück.« Vielleicht ist er ein bißchen groß. Sie sind das reinste Federgewicht. Langsam hob sie den Arm, und der Ärmel ihres Bettjäckchens fiel lose herab. Einen Augenblick lang starrte sie auf ihren Arm. Dann öffnete sie das Jäckchen und preßte das lose Baumwollnachthemd an ihre Brust. Sie hatte mindestens zwanzig Pfund abgenommen, seit sie hierher gekommen war. Blitzdiät, dachte sie voller Verbitterung. Fall von einem Balkon, verlier alles, was dir je von Bedeutung gewesen ist, und du wirst schlank wie ein Reh. All die Jahre hatte sie sich verzweifelt bemüht, ein paar Pfunde zu verlieren, und nun, da es nicht mehr von Bedeutung war, waren sie fort. Aber vielleicht war es ja von Bedeutung. Ohne die Extrapfunde gewönne sie sicher schneller an Kraft. Eitelkeit war unwichtig, aber Kraft war jetzt alles für sie.
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5. Kapitel »Ich bin nicht sicher, ob mir diese Idee gefällt«, sagte Joel nachdenklich zu Tania, während er beobachtete, wie Nell mit Phil den Korridor herunterkam. Und Nicholas wäre bestimmt ebenfalls alles andere als froh.« »Um drei sind wir zurück«, sagte Tania. »Und Phil fährt uns nicht nur in die Stadt, sondern auch noch von Geschäft zu Geschäft. Was soll schon passieren? Es ist doch nur ein kurzer Einkaufsbummel. Er wird Balsam für ihre Seele sein.« »Erzähl das bitte auch Nicholas.« »Das werde ich. Vertrau mir. Dieser kleine Ausflug tut ihr gut.« »Ich glaube nicht, daß ein Einkaufsbummel im Augenblick ihr größtes Anliegen ist.« »Nein, aber er ist ein Teil der Normalität. Und normale Dinge zu tun ist wichtig für sie.« »So wie ihr Krafttraining? « Tania runzelte die Stirn. »Die Art, wie sie trainiert, ist nicht normal. Es ist, als trieb irgendeine unsichtbare Macht sie an. Wenn du es zulassen würdest, wäre sie täglich vierundzwanzig Stunden unten im Fitnessraum.« »Die Bewegung ist nicht schlecht für sie.« Er machte eine Pause. »Aber weißt du, du brauchst dich nicht ständig um sie zu kümmern, wenn du nicht willst. Du bist nicht für sie verantwortlich.« »Ich mag sie, und ich will ihr helfen, wenn ich kann.« Dann fügte sie langsam hinzu: »Ich nehme an, ich erkenne mich selbst in ihr.« »Eine Frau von deiner Sorte genügt mir vollkommen.« Er wandte sich an Nell, die neben sie beide getreten war. -129-
»Übertreiben Sie es nicht. Wenn Sie müde werden, brechen Sie ab und kommen zurück.« »Machen wir.« Er warf ihr eine Rolle Geldscheine zu. »Hier. Ich wußte nicht, wieviel Bargeld Sie noch haben.« Nell sah ihn verwundert an. »Das brauche ich nicht. Ich habe zwar meine Kreditkarten nicht hier, aber ich bin sicher, daß ich nur anzurufen brauche, damit man mir die Unterschriftsbefugnis gibt.« »Es wird einfacher sein, wenn Tania alles auf den Namen der Klinik kauft und wir dann später miteinander abrechnen.« Er öffnete die Tür zum Fond des Wagens. »Und denken Sie dran, dieser Lincoln verwandelt sich um Punkt drei in einen Frosch.« »Hier ist Dayton's. Ich schätze, hier kriegen wir zumindest die gesamte Grundausstattung. Und für ein paar besondere Accessoires klappern wir später die Boutiquen ab.« Während sie aus dem Wagen kletterte, sagte Tania zu Phil: »Geben Sie uns drei Stunden und holen uns um eins wieder ab? « Phil runzelte die Stirn. »Ich glaube, das ist keine gute Idee. Ich denke, es ist besser, ich stelle den Wagen irge ndwo ab und treffe Sie dann.« »O.k. Dann kommen Sie in die Sportartikelabteilung. Dorthin gehen wir zuerst.« Nell folgte Tania in das Kaufhaus, und sofort wurde sie in sanfte Musik, weiches Licht und glitzernde Werbung eingehüllt. »Ich glaube, wir müssen gar nicht mehr woanders hin. Mehr als die Grundausstattung brauche ich wirklich nicht.« »Brauchen und Wollen sind zwei verschiedene Dinge.« Tania betrat die Rolltreppe. »Vielleicht wollen Sie keine - wohin gehen Sie? « »Ich habe noch etwas zu tun. Wir treffen uns dann um eins vor -130-
der Tür.« Nell blickte sich noch einmal kurz um, und dann trat sie eilig durch den Seitenausgang auf die Straße hinaus. Tania war auf halbem Weg die Rolltreppe hinauf, doch sie machte auf dem Absatz kehrt und rannte eilends zurück. »Den Teufel werden Sie tun.« Draußen angekommen, riß Nell die Tür eines Taxis auf. »Zur Hauptstelle der Stadtbücherei.« Gerade als Tania das Kaufhaus verließ, fuhr das Taxi an. »Nell!« Nell verspürte Gewissensbisse. Tania war so freundlich zu ihr, und sie haßte es, sie zu hintergehen. Aber sie war auch Taneks Freundin, und Nell konnte unmöglich riskieren, daß sie ihr in die Quere kam. Zehn Minuten später trat sie entschlossen vor den Empfangstresen der Bücherei. »Man sagte mir, Sie hätten Nexus auf Ihren PCs? « Die Frau hinter dem Tresen blickte sie an. »Ja.« »Ich habe das Programm noch nie benutzt, könnte mir also bitte jemand bei der Suche nach ein paar Informationen behilflich sein? « Die Bibliothekarin schüttelte den Kopf. »Wir stellen unseren Besuchern das Programm zwar zur Verfügung, aber um sie in die Benutzung einzuweisen, haben wir keine Zeit.« Dann fügte sie noch hinzu: »Außerdem erheben wir für jedes Stichwort eine Gebühr.« Nell blickte auf das Namensschild der Frau. Grace Selkirk. »Ich bin natürlich gerne bereit, auch dafür zu bezahlen, daß mir jemand behilflich ist, Mrs. Selkirk.« »Tut mir leid, wir haben keine Zeit, um...« »Ich werde Ihnen helfen.« Nell drehte sich um und sah einen großen, schlaksigen jungen Mann, der sie mit einem freundlichen Lächeln musterte. -131-
»Ralph Dandridge. Ich arbeite hier .« Sie lächelte ebenfalls. »Nell Calder.« Die Bibliothekarin sagte: »Du kennst die Bestimmungen, Ralph.« »Bestimmungen sind dazu da, daß man sie ignoriert.« Ralph wandte sich erneut an Nell. »Wenn Sie sich mit Computern nicht auskennen, ist das Programm ein bißchen verwirrend. Warten Sie, ich führe Sie durch.« »Du hast keine Zeit, Ralph«, mischte sich Grace Selkirk abermals ein. »Ich habe eine andere Arbeit für dich.« »Die erledige ich dann nach der Mittagspause«, sagte Ralph Dandridge ungerührt. »Und meine Pause mache ich jetzt.« Er bedeutete Nell, ihm zu folgen. »Die Computer stehen in der Abteilung nebenan.« »Ich möchte Sie nicht in Schwierigkeiten bringen.« »Kein Problem. Das hier ist nur ein Teilzeitjob. Abends gehe ich aufs College. Außerdem ist Grace eigentlich ganz nett. Sie mag es nur nicht, wenn man sich nicht an ihre eisernen Regeln hält.« »Nun, ich weiß es zu schätzen, daß Sie mir behilflich sind.« Sie lächelte. »Ich weiß nicht, was ich gemacht hätte, wären Sie nicht plötzlich aufgetaucht.« Er starrte sie einen Augenblick lang nachdenklich an, doch dann riß er seinen Blick von ihr fort. »Nun, mal sehen, was ich für Sie tun kann. Nexus ist vor allem ein Informationssystem, über das man in Tausende von Zeitungen und Zeitschriften kommt. Sie brauchen nur ein Stichwort einzugeben, und schon sucht es Ihnen alles raus, was in den letzten zehn Jahren darüber erschienen ist.« »Kann ich auch einfach einen Namen eingeben? « »Sicher. Aber vielleicht müssen Sie sich dann erst durch einen Haufen ähnlicher Namen kämpfen. Wen suchen Sie? « »Paul Maritz.« -132-
Er fand zwei Artikel über einen Paul Maritz und rief sie für sie auf. Einer betraf einen Drehbuchautor, dem ein Preis verliehen worden war, und in dem anderen ging es um einen Feuerwehrmann, der ein Kind gerettet hatte. Keiner der beiden konnte ihr Maritz sein. Eigentlich hatte sie auch nicht erwartet, daß es irgendeine Erwähnung des Mörders gab, aber ein Versuch schadete ja nichts. »Sonst noch was?« »Philippe Gardeaux.« Der Name war ungewöhnlich, und sie bezweifelte, daß sie hier auf dieselben Schwierigkeiten stoßen würde. Was nicht bedeutete, daß die Ausbeute größer wäre als bei dem anderen Kerl. Aber Tanek hatte gesagt, er beginge Verbrechen im großen Stil. Also gab es doch sicher Berichte über Verhaftungen, Gerichtsverfahren... irgendwas. Treffer. Nachdem sie zwei verschiedene Schreibweisen ausprobiert hatten, fanden sie drei Artikel über Philippe Gardeaux. Einen im Time Magazin. Einen in einer Sportzeitung. Einen in der New York Times. »Ganz schön lang. Wollen Sie sie lesen? « fragte Ralph. »Nein. Ich hätte sie gerne ausgedruckt, falls das möglich ist.« »Sicher.« Ralph markierte die Stichworte, unter denen die Artikel gespeichert waren, gab den Druckbefehl ein und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Schreiben Sie einen Artikel über ihn? « »Was? « »Wir haben ziemlich oft irgendwelche Autoren oder Journalisten hier, die das Programm für ihre Recherchen benutzen.« »Vielleicht.« Sie beobachtete das Papier, das aus dem Drucker kam, und als er ihr schließlich den Stapel Blätter aushändigte, sah sie ihn an. »Was bin ich Ihnen schuldig? « -133-
»Nichts. Schließlich habe ich es in meiner Mittagspause gemacht. Es war mir ein Vergnügen.« Sie konnte nicht zulassen, daß er keine Entlohnung für seine Hilfe bekam, denn schließlich waren Collegestudenten für ihren chronischen Geldmangel berühmt. »Das kann ich unmöglich annehmen...« Doch ebensowenig durfte sie seinen Stolz verletzen, indem sie ihn zur Annahme eines Scheins nötigte. Verdammt, sie wollte die Artikel lesen, und zwar jetzt. Sie seufzte. »Nun, haben sie dann vielleicht wenigstens Zeit, um mit mir in ein nahe gelegenes Restaurant zu gehen und dort mit mir Mittag zu essen? « Seine Augen hinter der schildpattgerandeten Brille blitzten begeistert auf. »Und ob.« Sie stopfte die Ausdrucke in die Handtasche und stand auf. »Dann lassen Sie uns gehen. Ich möchte schließlich nicht, daß Sie den Zorn Ihrer Chefin auf sich ziehen, indem Sie zu spät zurückkommen. Gibt es irgendwo hier in der Nähe ein Restaurant? « »Ja.« Er zögerte. »Aber macht es Ihnen etwas aus, mit mir in den Hungry Peasant zu gehen? Er ist nur ein paar Blocks von hier entfernt.« »Ist das Essen besser dort? « »Nein, aber eine Menge von meinen Freunden treiben sich dort herum.« Er grinste. »Und ich möchte, daß sie mich mit Ihnen sehen.« Er wollte mit ihr angeben, als wäre sie irgendeine Trophäe. Offenbar hatte das Gesicht, das ihr von Joel verliehen worden war, diesen netten Jungen dazu bewegt, ihr behilflich zu sein, aber zugleich wurde sie auf ihr Äußeres reduziert. Schönheit schien nicht nur ein Segen zu sein. Aber Ralph sah sie so treuherzig an, und sie schuldete ihm etwas für seine Freundlichkeit, so daß sie in resigniertem Ton sagte: »Also sehen wir uns mal nach einem Plätzchen im Hungry -134-
Peasant um.« Um fünf vor eins kam Nell wieder vor dem Kaufhaus Dayton's an. Tania wartete bereits auf sie, und Nell fuhr zusammen, als sie ihre Miene sah. »Tania, es tut mir leid, aber ich mußte unbedingt...« »Sagen Sie nichts«, fiel ihr Tania ins Wort. »Ich bin so wütend, daß ich Sie am liebsten vor ein Auto stoßen würde.« Sie trat an den Bordstein und winkte. »Da drüben ist Phil. Wir werden darüber reden, wenn wir wieder in der Klinik sind.« Als sie in den Wagen stieg, bedachte Phil sie ebenfalls mit einem vorwurfsvollen Blick. »Das hätten Sie nicht tun sollen, Nell.« »Fahren Sie uns zurück in die Klinik, Phil«, sagte Tania barsch, während sie Nell einer kühlen Musterung unterzog. Dabei war Tania niemals kühl, dachte Nell. Aber wahrsche inlich hatte sie nun genug von ihr. Sie hätte nicht erwartet, daß sie zu einem derartigen Verlustgefühl in der Lage war. Zurück in Woodsdale betrat Tania Nells Zimmer, schlug die Bettdecke zurück und wandte sich dann an Phil. »Ich bin vollkommen ausgetrocknet. Könnten Sie uns vielleicht einen Krug Limonade besorgen? Währenddessen stecke ich Nell schon mal ins Bett.« Phil nickte. »Na klar.« Sobald die Tür hinter ihm ins Schloß gefallen war, wirbelte Tania zu Nell herum. »Ich hoffe, Sie lügen mich nie wieder an.« »Ich habe nicht gelogen.« »Sie haben mich getäuscht, was dasselbe ist.« »Ich nehme an, Sie haben recht. Ich hatte etwas zu erledigen, und ich hatte Angst, Sie wären vielleicht nicht einverstanden.« -135-
»Da haben Sie verdammt recht, ich wäre bestimmt nicht einverstanden gewesen. Joel wollte Sie gar nicht erst aus der Klinik lassen, und ich habe ihn überredet zu erlauben, daß wir einkaufen gehen. Sie haben mich benutzt.« »Ja.« »Warum? Was ist so wichtig, daß Sie deshalb lügen müssen? « »Ich brauchte ein paar wichtige Informationen, und da Ta nek sie mir nicht gegeben hat, habe ich sie mir in der Bücherei besorgt.« »Und das konnten Sie mir nicht erzählen? « »Sie sind eine Freundin von Tanek.« »Das heißt noch lange nicht, daß ich in allen Dingen auf seiner Seite bin. Ist Ihnen vielleicht noch nie der Gedanke gekommen, daß ich auch Ihre Freundin bin? « Nell riss die Augen auf. »Nein«, flüsterte sie. »Nun, so ist es aber. Das erste Mal bin ich zu Ihnen gekommen, weil Nicholas mich darum gebeten hatte, aber danach bin ich gekommen, weil ich Sie mag.« Sie ballte die Fäuste. »Ich weiß, warum Nicholas wollte, daß ich mich um Sie kümmere. Er dachte, daß Sie mich brauchen. Wir haben beide schreckliche Verluste erlitten, und er wollte, daß ich Ihnen zeige, wie gut ein solcher seelischer Schaden verheilen kann. Nun, mein Schaden ist nicht verheilt. Er wird niemals heilen, aber ich habe gelernt, damit zurechtzukommen. Das werden Sie auch.« »Ich komme damit zurecht.« »Nein, Nicholas hat Ihnen eine Karotte hingehalten, und wie ein Esel laufen Sie hinterher. Aber das ist nur ein Ersatz für das wahre Leben. Wenn Sie keine Alpträume mehr haben, dann haben Sie es geschafft, dann kommen Sie damit zurecht.« Als sie Nells überraschte Miene sah, lächelte sie verzerrt. »Meinen Sie etwa, Sie wären die einzige, die jemals von Alpträumen geplagt worden ist? Nachdem meine Mutter und mein Bruder -136-
gestorben waren, bin ich ein Jahr lang jede Nacht schweißgebadet aufgewacht. Und auch jetzt habe ich sie manchmal noch.« Sie machte eine Pause. »Aber ich rede nicht darüber.« »Noch nicht einmal mit Joel? « »Joel würde mir zuhören, und er würde versuchen, mir zu helfen, aber verstehen würde er mich nicht. Er hat so etwas nie erlebt.« Sie sah Nell an. »Aber Sie haben so etwas erlebt. Sie könnten mich verstehen. Ich brauche jemanden, der mich versteht. Ich bin zu Ihnen gekommen, weil ich Sie brauche, nicht, weil Sie mich brauchen.« Sie sagte die Wahrheit, und mit einem Mal wurde Nell von Verzweiflung gepackt. Unwillkürlich wechselte sie zum vertrauten Du. »Ich kann dir nicht helfen. Siehst du das denn nicht? Ich habe nichts mehr, was ich einem anderen Menschen geben kann.« »Doch. Langsam fängst du schon wieder zu leben an«, sagte Tania. »Aber das passiert nicht über Nacht. Es kommt und geht.« Sie lächelte schwach. »Es hat dir nicht gefallen, als ich wütend auf dich war. Das ist ein gutes Zeichen.« »Aber ich würde es wieder tun, wenn ich dächte, daß es nötig ist.« »Weil du den Mann finden willst, der deine Tochter ermordet hat.« »Ich muss ihn finden. Alles andere ist bedeutungslos.« »Es gibt noch andere wichtige Dinge in deinem Leben, auch wenn du das im Augenblick nicht sehen kannst. Vielleicht empfände ich etwas ähnliches wie du, wenn der Heckenschütze, der meine Mutter und meinen Bruder getötet hat, ein Gesicht gehabt hätte.« Müde sagte sie: »Aber keiner der Soldaten hatte ein Gesicht. Sie alle waren nur der gesichtslose Feind.« »Aber ich habe ein Gesicht und sogar einen Namen dazu.« -137-
»Ich weiß. Joel hat mir erzählt, daß Nicholas ihn dir gegeben hat.« Sie zuckte mit den Schultern. »Aber er mußte es wohl tun. Joel war sehr besorgt um dich, und Nicholas wollte dir das Leben retten, darum hat er es dir erzählt.« »Das wusste ich nicht.« Ohne dieses Wissen hatte sie sich wohler gefühlt. »Aber ich bin sicher, er hatte noch einen anderen Grund. Er hat auf mich nicht gerade den Eindruck eines allzu sentimentalen Menschen gemacht. »Sentimental? Nein, aber er hat viel Gefühl. Nicholas ist kein einfacher Mensch, aber wenn er sich einer Sache verschreibt, kann man ihm vertrauen. Ich habe noch nie erlebt, daß er sein Wort gebrochen hat.« Sie schüttelte den Kopf. »Nicholas hat dich hergebracht und versucht, dir zu helfen. Warum also wirst du jedesmal wütend, wenn man über ihn spricht? « »Er steht mir im Weg.« »Dann wirst du feststellen, daß er nicht so leicht zu verrücken ist.« »Aber ich werde es tun. Ich bin anders als du. Ich vergesse nicht. Und meine Träume werden sich erst dann legen, wenn Maritz nicht mehr lebt.« »Gott stehe uns bei.« Tania seufzte. »Nun, versprichst du mir wenigstens, daß du mich nicht noch einmal täuschen wirst? « Nell zögerte, doch dann nickte sie. »Ich wollte es nicht tun. Nur habe ich keinen anderen Weg gesehen.« »Ich nehme an, du wirst mir nicht erzählen, ob du etwas herausgefunden hast? « »Nein, denn dann würdest du zwischen den Fronten stehen. Du bist immer noch Nicholas' Freundin.« Tania starrte sie an. »Und? « »Und meine. Meine Freundin bist du ebenfalls.« Nell lächelte. »Auch wenn ich nicht weiß, warum.« »Dann waren die letzten fünfzehn Minuten und all meine Worte -138-
wohl umsonst.« Tania bot ihr ihre Hand. »Aber ein wenig Bescheidenheit ist vielleicht gar nicht so schlecht. Schließlich ist meine Freundschaft von unbezahlbarem Wert.« Unbehaglich starrte Nell auf Tanias ausgestreckte Hand. Ein Freund war ein Mensch, dem man verpflichtet war. Schritt für Schritt wurde sie aus der Leere zurückgezogen, die für das, was sie tun mußte, vielleicht erforderlich war. Tanias Lächeln schwand, und zögernd sagte sie: »Es fällt mir nicht leicht, dich um deine Freundschaft zu bitten. Aber ich brauche jemanden, der weiß, wie es ist.« Langsam ergriff Nell ihre Hand. Tania blieb noch eine Stunde bei ihr, und dann wurde Nell das Essen gebracht, doch anschließend zog sie endlich die Computerausdrucke hervor. Eine halbe Stunde später ließ sie das letzte Blatt auf die Bettdecke sinken und starrte nachdenklich in die Luft. Keine Verhaftungen, keine Gerichtsverfahren, keine Erwähnung auch nur der geringsten kriminellen Machenschaft. In dem Artikel in der New York Times wurde lediglich erwähnt, daß Philippe Gardeaux in Zusammenhang mit einer Auktion zugunsten der Aidshilfe nach New York gekommen war und einen Picasso gespendet hatte. Es hieß, er wäre ein europäischer Geschäftsmann und Menschenfreund. Der Artikel im Time Magazin war ein wenig ergiebiger. Er handelte von den französischen Weinbauern und von ihrem Kampf für den Erhalt hoher Einfuhrzölle für fremden Wein. In zwei Absätzen war die Rede von Gardeaux, der in Bellevigne auf einer Burg zu Hause war. Er war sechsundvierzig Jahre alt, verheiratet, Vater zweier Kinder und einer der einflußreichsten Weinbauern der Region. Er hatte mit Investitionen in China und Taiwan ein Vermögen gemacht und sich erst vor fünf Jahren -139-
dem Weinanbau zugewandt. In der Sportzeitung ging es nicht um den Weinberg, sondern einzig um das Chateau von Bellevigne, das alljährlich zwischen Weihnachten und Neujahr Austragungsort eines Fechtturnieres war. Als würde die Zeit zurückgedreht, liefen sämtliche Gäste während der ganzen Woche in Renaissancekostümen herum, doch war das Turnier nicht nur als das wichtigste gesellschaftliche Ereignis entlang der Riviera, sondern vor allem als Treffpunkt für Fechtbegeisterte und meisterhafte Schwertkämpfer zu sehen. Der Erlös der Veranstaltung wurde auf verschiedene Wohltätigkeitsvereine verteilt. Am Ende des Artikels wurde noch kurz Gardeaux' unbezahlbare Sammlung antiker Schwerter erwähnt. Menschenfreund, einflußreicher Geschäftsmann, Sammler und Sportsmann obendrein. Nirgends wurden Morde, Drogen oder auch nur Bestechung erwähnt. Nirgends gab es einen Hinweis darauf, daß dieser Mann einen Kerl wie Maritz anheuern würde, damit er eine Frau und ein Kind ermordete. War der in diesen Artikeln beschriebene Mann vielleicht der falsche Gardeaux? Er hat mit Investitionen in China und Taiwan ein Vermögen gemacht. Tanek war in Hongkong aufgewachsen, was im besten Fall eine sehr vage Verbindung war. Sie stopfte die Artikel in ihre Handtasche zurück. Was sie herausgefunden hatte, war nicht genug. Sie konnte sich nicht sicher sein. Ohne Tanek käme sie nicht vom Fleck. Noch eine Minute. Sie stapfte verbissen auf dem Stairclimber herum und atmete durch den Mund, wie es ihr von Phil gezeigt worden war. Sie hatte festgestellt, wenn sie sich von einer Minute zur nächsten -140-
kämpfte, kam sie mit ihrer Erschöpfung besser zurecht, als wenn sie von Anfang an ein unerreichbares Ziel ansteuerte. Ihr Herz klopfte bis zum Hals, und dicke Schweißtropfen rannen ihr über das Gesicht. Noch eine Minute. »Hätten Sie vielleicht einen Augenblick für mich Zeit? Ich hätte ein paar Fragen an Sie.« Der Mann, der in der Tür des Fitneßraums stand, sah weder wie ein Arzt noch wie ein Krankenpfleger aus. Er war klein und untersetzt, und seine grauen Locken schienen einmal hellbraun gewesen zu sein. Er hatte einen grauen Anzug, ein gestreiftes Hemd und Slipper an. Wahrscheinlich irgendwer von der Verwaltung, der sie nach der Begleichung der Rechnung fragen wollte, nun, da sie so kurz vor ihrer Entlassung stand. »Hat es vielleicht noch ein wenig Zeit? Ich habe es fast geschafft.« »Ich beobachte Sie schon seit fünfzehn Minuten, und ich finde, Sie haben jetzt mehr als genug trainiert.« Vielleicht war er doch ein Arzt, und sie wollte nicht, daß er sich bei Joel beschwerte, weil sie mit ihrem Training übertrieb. »Sie haben recht.« Lächelnd stieg sie von dem Gerät. »Aber wenn Sie mit mir sprechen wollen, müssen Sie neben mir hergehen. Phil sagt, daß ich mich nach dem Training immer erst abkühlen muss.« »Ah ja, Phil Johnson. Ich glaube, ich habe ihn vorhin im Flur gesehen.« Er verzog das Gesicht. »Unglücklicherweise hat er mich ebenfalls gesehen, so daß uns wahrscheinlich nicht allzuviel Zeit bleibt für unser Gespräch.« »Oh, sie haben nichts mehr gegen Besuch.« Sie marschierte entschlossenen Schrittes los. »Ich bin schon wieder ziemlich fit.« »Wunderbar.« Er ging ihr nach. »Lieber hat prächtige Arbeit geleistet. Allein anhand Ihres Photos hätte ich Sie unmöglich erkannt.« -141-
»Joel hat Ihnen mein Photo gezeigt? « »Nicht ganz.« Leichtes Unbehagen wallte in ihr auf. Sie verlangsamte ihren Schritt und sah ihn an. »Wer sind Sie? « »Die Frage ist wohl eher, wer sind Sie? » »Nell Calder«, fuhr sie ihn ungeduldig an. »Wenn Sie mein Bild oder meine Akte gesehen haben, wissen Sie das doch ganz genau.« »Ich wusste es nicht, aber ich habe es mir gedacht. Darum habe ich mich in Liebers Heiligtum vorgewagt.« Er sah sich um. »Ziemlich ruhig hier. Hat sich die Frau des Präsidenten tatsächlich hier liften lassen? « »Keine Ahnung. Es ist mir auch egal. Wer sind Sie? « Er setzte ein freundliches Lächeln auf. »Joe Kabler, DEA.« Sie wartete. »Hat Tanek Ihnen etwa nichts von mir erzählt? « »Wir tauschen nur selten vertrauliche Informationen aus. Sind Sie ein Freund von ihm? « »Wir respektieren einander, und wir haben ein paar gemeinsame Ziele. Aber als Freunde bezeichne ich Kriminelle für gewöhnlich nicht.« Sie sah ihn reglos an. »Kriminelle? « »Himmel, offenbar hat er Ihnen wirklich nicht gerade viel erzählt. Was hat er über sich selbst gesagt? « »Dass er pensioniert ist. Daß er mit Rohstoffen gehandelt hat.« Kabler grinste. »Oh, das hat er bestimmt getan. Und zwar mit Rohstoffen ganz besonderer Art. Mit Geheimdokumenten, mit Informationen, mit Kunstgegenständen und allem möglichen anderen Zeug. Er war der Kopf eines Verbrecherrings, der den Behörden in Hongkong jahrelang großes Kopfzerbrechen bereitet hat.« Er zuckte mit den Schultern. »Aber mit Drogen -142-
hatte er nie etwas zu tun, von daher hatte ich es nie auf ihn abgesehen. Übrigens, wo treibt er sich denn im Augenblick gerade herum? « »Keine Ahnung.« Er musterte sie. »Ich glaube, Sie sagen die Wahrheit.« »Warum sollte ich Sie belügen? Er hat eine Ranch in Idaho, vielleicht versuchen Sie es einmal dort.« »Dort habe ich ihn erst vor sechs Monaten besucht. Im Vergleich zu den Sicherheitsvorkehrungen, die er dort getroffen hat, ist das hier der reinste Kinderkram.« Er machte eine kurze Pause. »Außerdem eilt es nicht mehr. Jetzt weiß ich ja wenigstens, daß Tanek Sie nicht erledigt hat.« Trotz der Beiläufigkeit seines Tons bekam Nell bei seinen Worten einen Schock. »Sie dachten, er hätte mich umgebracht?« »Ich habe es bezweifelt, aber bei Tanek weiß man nie.« Er lächelte. »Also dachte ich, ich komme mal her und sehe nach, was hier so vor sich geht. Aber offenbar geht es Ihnen recht gut.« »Sehr gut«, sagte sie geistesabwesend. »Aber warum hatten Sie ihn überhaupt in Verdacht? « »Weil er Nicholas Tanek ist, weil er auf Medas war, ohne daß er dort etwas zu suchen gehabt hätte, und weil er Sie einfach hierher verfrachtet hat, damit ich nicht mit Ihnen sprechen kann.« »Ich wusste nicht, daß Sie mit mir sprechen wollten.« Sie sah ihn nachdenklich an. »Was wissen Sie über Philippe Gardeaux?« »Dasselbe wollte ich Sie fragen.« »Nichts. Außer daß Tanek gesagt hat, der Überfall auf Medas und die Ermordung meiner Tochter und meines Mannes wären auf seinen Befehl hin erfolgt.« Kablers Gesicht wurde weich. »Sie müssen denken, ich bin ein -143-
furchtbar harter Mann. Es tut mir leid, Mrs. Calder. Ich weiß, wie es Ihnen gehen muß. Ich habe selbst drei Kinder.« Er wusste nicht, wie es ihr ging. Seine Kinder lebten noch. »Aber Sie stimmen mir zu, wenn ich denke, daß der Überfall auf das Haus auf Medas nicht das Werk irgendwelcher Terroristen war? « Er zögerte. »Möglicherweise hat Gardeaux mit der Sache zu tun.« »Aber warum sollte er es auf mich abgesehen haben? Ich habe den Mann noch nie in meinem Leben gesehen.« »Sie haben recht, man erkennt keinen Sinn darin. Und wir finden einfach keine Verbindung zwischen Ihnen beiden. Wir sind der Ansicht, daß Sie einfach zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen sind. Wir gehen davon aus, daß der Anschlag gegen Kavinski gerichtet war. Irgendwann hat sich Gardeaux offenbar von ihm auf den Schlips getreten gefühlt. Sie haben ein paar der schönsten Räume des Palastes bewohnt. Vielleicht dachte Gardeaux' Mann, es wäre Kavinskis Suite.« »Aber Kavinski war unten.« »Wahrscheinlich wollte Gardeaux einfach doppelt sicher gehen.« Und mit leiser Stimme fügte er hinzu: »Ich fürchte, Sie waren einfach im Weg.« »Ist dieser Gardeaux der Mann, der die Burg in Bellevigne besitzt? « Er nickte. »Warum unternehmen Sie dann nichts gegen ihn? Wenn Sie wissen, was er treibt, warum halten Sie ihn dann nicht auf? « »Das versuchen wir ja, Mrs. Calder. Aber es ist nicht leicht.« »Niemand scheint auch nur zu wissen, was er für Geschäfte macht.« Und zornig fügte sie hinzu: »Tanek hat gesagt, selbst wenn der Mörder vor Gericht gestellt würde, verließe er den Saal nach der Verhandlung als freier Mann. Ist das wahr? « -144-
Kabler zögerte. »Ich hoffe nicht.« Es war wahr, dachte Nell. Unschuldige Menschen konnten ermordet werden, und die Monster, die sie ermordeten, liefen frei herum, als wäre nichts geschehen. »Ich werde den Kampf gegen ihn niemals aufgeben. Vielleicht ist Ihnen das ja ein schwacher Trost«, fuhr Kabler fort. »Ich kämpfe seit vierundzwanzig Jahren gegen dieses Gesindel an, und wenn es sein muß, kämpfe ich weitere fünfzig Jahre gegen sie.« Kabler war eindeutig ein anständiger, entschlossener Verfechter der Gerechtigkeit, aber das änderte nichts an der Tatsache, daß er diesen Kampf verlor. »Das ist mir kein Trost. Meine Tochter ist tot.« »Und Tanek hat Ihnen versprochen, daß Gardeaux dafür bezahlen wird? « Sie antwortete nicht. »Lassen Sie sich nicht von ihm benutzen. Er würde alles tun, damit er Gardeaux erwischt.« Sie lächelte humorlos, als sie sich daran erinnerte, wie sie Tanek angefleht hatte, genau das zu tun. »Er hat nicht die Absicht, mich in die Sache hineinzuziehen.« Kabler schüttelte den Kopf. »Den Teufel hat er nicht. Tanek würde jeden Dämonen der Hölle benutzen, Hauptsache, er bekäme Gardeaux.« Er reichte ihr eine Karte. »Ich habe gesagt, was zu sagen war. Falls Sie Hilfe brauchen, rufen Sie mich an.« »Danke.« Sie sah ihm nach, wie er den Raum verließ. In der Tür blieb er noch einmal stehen und drehte sich zu ihr um. »Oh, jetzt verstehe ich auch, wie ihm die Fälschung Ihrer Unterlagen im St. Joseph's Krankenhaus gelungen ist. Phil Johnson ist talentiert genug, um in ein Schweizer Nummernkonto einzubrechen, wenn er genug Zeit dazu hat. -145-
Aber fragen Sie Tanek doch einmal, wie er es angestellt hat, daß es in Birnbaums Bestattungsinstitut tatsächlich Dokumente über Ihre Einäscherung gibt.« »Ich muss mit Ihnen reden, Joel«, sagte Nell am Telefon. »Sofort.« »Fühlen Sie sich nicht gut? Wahrscheinlich haben Sie zuviel trainiert. Ich habe Tania ja gesagt, sie sollten...« »Ich fühle mich wunderbar. Aber ich muß Sie sehen.« Mit diesen Worten hängte sie den Hörer ein. Eine Stunde später betrat Joel ihren Raum. »Sie wollten mich sprechen? Stets zu Ihren Diensten, Madam.« »Warum, zum Teufel, steht in meiner Krankendatei in St. Joseph's, ich wäre am 9. Juni gestorben? « »Sie haben es herausgefunden.« Joel stieß einen abgrundtiefen Seufzer aus. »Damit hatte ich nichts zu tun. Nicholas fand, es wäre sicherer für Sie, wenn alle Welt dächte, Sie wären tot.« »Also hat er mich einfach ausgelöscht. Ich kann noch nicht mal mehr meine Kreditkarten benutzen. Ich habe die Bank angerufen, und dort sagte man mir, ich würde als ›verstorben‹ geführt.« Sie starrte ihn an. »Und Sie wußten, daß das passieren könnte. Darum haben Sie mir das Geld gegeben, als wir letzte Woche zum Einkaufen in die Stadt gefahren sind. Sie wollten nicht, daß ich meine Kreditkarte benutze. Wie lange sollte das Ganze bitte laufen, bis mir mal irgendjemand davon erzählt? « »Diese ehrenvolle Aufgabe hätte ich Nicholas überlassen. Ich habe es satt, ständig für den Unsinn geradezustehen, den er verzapft.« Er machte eine Pause. »Wie haben Sie es herausgefunden? « »Ein Mann namens Kabler war heute hier.« »Kabler? Hier?« Er pfiff leise durch die Zähne. »Ich frage mich, -146-
wie er unbemerkt an meinen Sicherheitsleuten vorbeigekommen ist.« »Keine Ahnung. Und es interessiert mich auch nicht. Warum haben Sie bei dieser Sache mitgemacht? Tanek scheint zu denken, daß er sich nicht an irgendwelche Regeln halten muß, aber Ihnen hätte ich etwas mehr Verantwortungsbewußtsein zugetraut.« »Ich habe mitgemacht, weil er recht hatte.« Als sie protestieren wollte, hob er abwehrend die Hand. »Sie waren sehr krank. Ich wollte nicht, daß Kabler Sie belästigt, und Nic holas dachte, Sie wären vielleicht immer noch in Gefahr. Ich hätte vielleicht eine andere Methode gewählt, um Sie zu schützen, aber was er getan hat, war äußerst effektiv.« »O ja, alles, was Tanek tut, scheint äußerst effektiv zu sein. Und was für Formulare muß ich ausfüllen, damit man mich wieder zum Leben erweckt? « »Sind Sie sicher, daß Sie das wollen? « »Natürlich will ich das.« »Vielleicht sind Sie immer noch in Gefahr.« »Ich komme noch nicht einmal an mein Geld, damit ich Sie bezahlen kann.« Er lächelte sie fröhlich an. »Dann lassen Sie Tanek bezahlen. Geschähe ihm ganz recht.« Strecken und Vierteilen geschähe ihm recht. »Ich will nicht von ihm abhängig sein.« »Dann leihe ich Ihnen Geld, bis diese ganze Sache ausgestanden ist.« Ihr Zorn auf ihn legte sich. Sie bezweifelte nicht, daß Tanek allein für ihr »Dahinscheiden« verantwortlich war. Joel war eine ehrliche Haut. Er versuchte nur zu tun, was für sie das Beste war. »Danke, Joel. Aber Sie wissen, daß ich dieses Angebot unmöglich annehmen kann. Ich werde meinen Anwalt anrufen -147-
und versuchen, ihn dazu zu bewegen, mir einen Teil des Geldes auszuzahlen, das mir von meiner Mutter vererbt worden ist.« »Vielleicht denken Sie wenigstens noch ein paar Tage darüber nach? Es besteht kein Grund zur Eile. Vor nächster Woche können Sie sowieso nicht gehen. Ich will noch ein paar Röntgenaufnahmen machen, um zu sehen, ob der Heilungsprozeß Ihrer Knochen meinen Vorstellungen entspricht.« »Ich bin schon seit über drei Monaten hier. Ich dachte, Sie behielten nur Ihre VIP-Patienten hier, bis keine Narbe mehr zu sehen ist.« »Und diejenigen, die nicht wissen, wohin.« Ihr Lächeln schwand. Wohin sollte sie gehen? Sie hatte kein Zuhause mehr. Von nun an wäre ihr Leben von Einsamkeit bestimmt. »Was mich auf etwas bringt. Tania und ich haben uns gestern abend unterhalten, und wir würden uns freuen, wenn Sie nach Ihrer Entlassung aus der Klinik zu uns kommen würden. Auf diese Weise wüßten Sie wenigstens, wohin.« Sie schüttelte den Kopf. »Sie brauchen mich nicht...« »Ich brauche gar nichts.« Joel grinste. »Aber Sie würden Tania beschäftigen, und das wäre wunderbar. Sie macht mir das Leben zur Hölle, wenn sie sich ganz auf mich konzentrieren kann. Von daher wäre ich wirklich dankbar, wenn Sie das Angebot annehmen würden.« Erleichterung wallte in ihr auf. Sie hatte sich bereits davor gefürchtet, in ein unpersönliches Hotelzimmer zu ziehen, bis sie wüßte, wie sich ihr Racheplan erfüllen ließ. »Vielleicht für einen Tag oder so. Vielen Dank.« »Gut. Dann werde ich Tania sagen, daß sie nicht mehr kommen und Sie unnötig bedrängen muß. Wenn sie erst mal anfängt, Ihnen mit einer Bitte in den Ohren zu liegen, dann kriegen Sie -148-
sofort einen Rückfall, das garantiere ich.« Er stand auf. »Und jetzt schlafen Sie ein bißchen. Soll ich Ihnen was verschreiben, oder geht es auch so? « »Es geht auch so.« Schlafmittel führten dazu, daß sie in tiefen Schlaf versank, und tiefer Schlaf brachte immer die Träume zurück. Wenn sie hingegen nur schlummerte, gelang es ihr manchmal, dem Grauen zu entfliehen. Nachdem Joel gegangen war, lag sie noch lange wach in ihrem Bett. Ihr Zorn löste sich langsam auf. Die Neuigkeit, daß sie für tot erklärt worden war, hatte zunächst Empörung in ihr wachgerufen, als hätte Tanek ihr ihren Hintergrund geraubt, die Grundlage des Menschen, der sie war. Oder gab es diese Grundlage vielleicht sowieso nicht mehr? Sie war nicht mehr die Frau, die sie auf Medas, oder das Kind, das sie in North Carolina gewesen war. Sie sollte noch einmal darüber nachdenken, hatte Joel gesagt. Also gut, welche Konsequenzen hatte dieses Täuschungsmanöver für sie? Was war, wenn alle dachten, sie wäre tot? Oberflächlich betrachtet schien es eine Katastrophe zu sein. Sie hätte keine Kreditkarten, keinen Führerschein, keinen Paß. Sie käme nicht an das Geld heran, das ihr von ihrer Mutter hinterlassen worden war und stünde ohne jede Barschaft da. Und persönlich? Auf keinen Fall würde sie von irgendjemandem vermißt. Sie hatte keine Familie mehr, und ihre Freunde aus der Collegezeit hatte sie aufgegeben, als sie Richards Frau geworden war. Von der Zeit an hatte er ihr Leben beherrscht, und für irgendwelche Freundschaften hatte sie keine Zeit mehr gehabt. Beherrscht? Instinktiv scheute sie vor diesem Wort zurück, doch dann zwang sie sich, zurückzukommen und genauer hinzusehen. Von nun an gäbe es keine Lügen und kein Fortlaufen mehr. Es -149-
mochte eine wohlwollende Diktatur gewesen sein, aber Richard hatte ihr Leben beherrscht. Er hatte nicht gewollt, daß sie andere Kontakte knüpfte. Jetzt mochte ihr Alleinsein von Vorteil sein. Sie wäre beweglicher, wenn jeder dächte, sie wäre tot. Und außerdem böte sie wohl kaum noch ein Angriffsziel. Falls sie je ein Angriffsziel gewesen war. Vielleicht hatte Kabler recht, und sie war einfach zur falschen Zeit am falschen Ort aufgetaucht. Nichts anderes ergab einen Sinn. Aber Tanek dachte nicht, daß der Angriff gegen sie ein Zufall gewesen war. Warum sollte sie Tanek glauben, Kabler aber nicht? Kabler war ein respektabler Beamter, wohingegen Tanek offensichtlich ein Krimineller war. Waren Kablers vernünftige Erläuterungen nicht wichtiger als die überwältigende Aura ruhigen Selbstvertrauens, die Tanek umgab? Nein. Wider alle Vernunft wußte sie, daß sie bei Tanek in besseren Händen war. Was interessierte es sie, ob er ein Verbrecher war? Das einzig Wichtige war, daß er in der Lage war, ihr bei der Suche nach Gardeaux und Maritz behilflich zu sein. Vielleicht wäre es sogar von Vorteil für sie, wenn er ein Krimineller war. Tanek waren die Gesetze egal, an die Kabler gebunden war. Er bot ihr das, was Kabler zufolge unmöglich war. Rache für den Mord an Jill. »Kabler war heute hier«, sagte Joel in den Hörer seines Telefons. »Soviel also dazu, daß du ihn mir vom Leib zu halten versprochen hast.« »War er bei Nell? « fragte Nicholas. »Phil zufolge hat er sie im Fitneßraum erwischt. Er hat ihr erzählt, daß sie nicht mehr unter den Lebenden weilt.« »Und wie hat sie darauf reagiert? « -150-
»Sie hat mich in der Luft zerrissen. Und sie will sofort die erforderlichen Formulare haben, damit sie wieder eine von uns Lebenden wird.« »Rede ihr das aus.« »Das machst wohl besser du. Ich hoffe nur, daß du dich auf der Stelle in Bewegung setzt. In drei Tagen entlasse ich sie.« »Ich komme.« »Wie, kein Protest, weil ich sie laufenlassen will? « »Wozu? Ich wußte, eines Tages wäre es soweit. Ich hatte nur gehofft, ihre Entschlossenheit ließe bis dahin etwas nach.« »Dann mach dich auf eine Überraschung gefaßt. Tania sagt, sie tja, vielleicht ist es besser, wenn du es mit eigenen Augen siehst.« Nach einer kurzen Pause fügte er boshaft hinzu: »Übrigens ist dein Junot vielleicht doch nicht unbedingt der geeignete Sicherheitschef für mich. Offensichtlich hat er es noch nicht mal geschafft zu verhindern, daß Kabler unbemerkt die Klinik betritt.« »Ich habe ihm gesagt, daß er Kabler reinlassen soll.« »Was? « »Kabler ist ein cleverer Bursche. Ich hatte mir schon gedacht, daß er die Geschichte von Nells Ableben nicht schlucken würde und daß er darauf kommen würde, daß es eine Verbindung zwischen St. Joseph's und deiner Klinik in Woodsdale gibt. Also habe ich Junot gesagt, daß er ihn nicht aufhalten soll, wenn er eines Tages dort erscheint.« »Warum, verdammt? « »Wir hatten mehr zu verlieren als zu gewinnen. Sie war fit genug, um eine Befragung zu überstehen, und Kabler hat den Instinkt eines Bluthundes. Hat er erst mal eine Spur, dann gibt er nicht eher auf, als bis es für sein Opfer keinen Ausweg mehr gibt. Und indem wir ihn durch Junots Sicherheitskontrolle gelassen haben, haben wir ihm das Gefühl gegeben, daß er alles -151-
unter Kontrolle hat. Er hat Nell gestellt und gekriegt, was er wollte. Ich bin sicher, daß er sie von nun an in Ruhe lassen wird.« »Und was, wenn er beschlossen hätte, sie mitzunehmen? « »Dann hätten Phil und Junot ihn daran gehindert.« Nicho las Ton war sanft. »Natürlich äußerst diskret.« »Natürlich«, pflichtete Joel ihm sarkastisch bei. »Und wahrscheinlich ist dir einfach nicht der Gedanke gekommen, mich in deine Pläne einzuweihen. Schließlich sind es ja nur meine Klinik und mein Sicherheitspersonal.« »Warum hättest du dir unnötige Sorgen machen sollen? Vielleicht wäre er ja gar nicht aufgetaucht. Vielleicht hätte er ja die Geschichte von Nells Tod akzeptiert. Außerdem war Junot am Boden zerstört, weil er so tun mußte, als wäre sein Kontrollsystem lückenhaft. Also nehme ich, edel wie ich nun einmal bin, die ganze Schuld auf mich.« Joel stieß ein verächtliches Schnauben aus. »Und ich weigere mich, mir noch länger anzuhören, wie du die Ehrenhaftigkeit meiner Motive in Zweifel ziehst«, sagte Nicholas. »Ich lege jetzt auf. In drei Tagen bin ich da.«
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6. Kapitel Als Nicholas in der Klinik ankam, war Nell nicht in ihrem Zimmer. »Sie ist im Fitneßraum«, sagte Joel hinter ihm. »Komm, ich bringe dich hin.« Nicholas drehte sich zu ihm um. »Ich dachte, sie würde heute entlassen. Habe ich mich vielleicht im Tag geirrt? « »Ich habe ihr gesagt, daß ich sie erst um die Mittagszeit gehen lasse, und sie vergeudet bestimmt nicht den ganzen Vormittag hier oben, wenn sie trainieren kann. Der Fitneßraum ist nicht mehr so viel benutzt worden, seit die russische Turnerin bei uns war.« Nicholas folgte ihm. »Wie geht es ihr? « »Körperlich könnte sie nicht fitter sein. Und psychisch...« »Ja? « Er zuckte mit den Schultern. »Sie benimmt sich vollkommen normal. Hin und wieder macht sie sogar einen kleinen Scherz. Falls sie depressive Phasen hat, dann behält sie das für sich.« »Sie spricht noch nicht einmal mit Tania darüber, wie es ihr geht? Du hast doch gesagt, die beiden stünden einander sehr nahe? « »Soweit ich weiß, hat sie sich noch nicht einmal ihr anvertraut.« »Du fürchtest also, daß sie alles für sich behält? « »Ganz bestimmt sogar, aber ich kann einfach nichts dagegen tun. Wir müssen eben einfach hoffen, daß sie nicht im falschen Augenblick zusammenbricht.« Er sah Nicholas an. »Aber du hast mein Werk ja noch gar nicht gesehen. Ich denke, es wird dir gefallen.« »Ich weiß, daß es das wird. Bisher war die Arbeit, die du -153-
geleistet hast, immer gut.« »Aber Tania sagt, daß Nell einfach außergewöhnlich geworden ist. Natürlich gratuliert sie mit dieser Feststellung vor allem sich selbst.« Er öffnete die Tür zum Fitneßraum. »Sie hat mir die Blaupause gemacht.« Nell war allein in dem höhlenartigen Raum. Da sie an der Sprossenwand an der gegenüberliegenden Wand mit Klimmzügen beschäftigt war, hatte sie ihnen den Rücken zugewandt. Sie trug weiße Shorts und ein loses Sweatshirt und wirkte größer als in seiner Erinnerung. Nein, nicht größer. Geschmeidiger, schlanker, kräftiger. Sie hatte sie nicht gehört, und er spürte geradezu die Konzentration, mit der sie sich hochzog und dann wieder sinken ließ. »Himmel, ist sie immer so angespannt? « fragte Nicholas im Flüsterton. »Nein, meistens ist sie noch angespannter. Offenbar hat sie heute ihren lockeren Tag.« Joel hob die Stimme. »Nell.« »Sofort«, rief sie zurück. Sie beendete die Übung und ließ sich weich auf den Boden fallen. Dann drehte sie sich um. Nicholas rang nach Luft: »Was für eine höllische Blaupause hat Tania dir denn da aufgeschwatzt? « murmelte er. »Helena von Troja. Unvergeßlich und doch verletzlich.« Er lächelte zufrieden, während er beobachtete, wie Nell sich ihnen näherte. »Ich habe gute Arbeit geleistet, was? « »Gute Arbeit? Vielleicht hast du mit ihr dein erstes Monster kreiert.« »Ich glaube nicht, daß es irgendeine nachteilige Auswirkung auf ihre Psyche hatte. Ganz offenbar bedeutet ihr die Veränderung nicht viel. Tania hat gesagt, sie brauchte ein Gesicht, das ihr neue Türen öffnet.« »Kommt drauf an, was hinter diesen Türen liegt.« Er trat ihr entgegen. »Hallo, Nell. Sie wirken sehr erholt.« -154-
Nell zog ihr Handtuch aus den Shorts und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Ich bin erholt. Und ich werde von Tag zu Tag kräftiger.« Sie wandte sich an Joel. »Sie haben mir gar nicht gesagt, daß er kommt.« »Er will mit Ihnen reden.« Joel lächelte. »Und für heute morgen haben Sie genug getan.« Er machte kehrt und ging zur Tür zurück. »Wir sehen uns dann nach dem Essen.« »Ich wollte auch mit Ihnen reden«, sagte sie, sobald die Tür hinter Joel ins Schloß gefallen war. »Mr. Kabler war hier.« »Ich weiß. Joel hat es mir erzählt. Hat er Sie geärgert? « »Nein, er war sehr höflich. Er hat mir noch nicht einmal besonders viele Fragen gestellt.« Diese Erklärung überraschte Nicholas. »Nein? Das ist eigenartig. Normalerweise gräbt Kabler wie ein Frettchen, wenn er eine Spur zu haben glaubt.« »Er schien sich lediglich vergewissern zu wollen, daß ich nicht von Ihnen ermordet worden bin.« Sie machte eine Pause. »Und außerdem wollte er mich vor Ihnen warnen. Er sagte, Sie wären ein Verbrecher und man könnte Ihnen nicht trauen.« Er zog eine Braue hoch. »Ach ja? « »Es ist mir egal, ob Sie ein Verbrecher sind, aber es ist mir nicht egal, ob ich Ihnen trauen kann. Tania sagt, wenn Sie einem Ihr Wort geben, halten Sie es auch. Tun Sie das? « Er lächelte schwach. »Schreiben Sie mir lieber keine fa lschen Tugenden zu. Ich war schon immer der Ansicht, daß man mit Ehrlichkeit besser fährt.« »Ehrlichkeit? « »Mit meiner Version von Ehrlichkeit. Ich halte mein Wort und befolge die Regeln des laufenden Spiels. Es ist wichtig, daß jeder der Beteiligten weiß, woran er bei mir ist.« »Und woran bin ich bei Ihnen? « Sie begegnete seinem Blick. »Sie sind kein Menschenfreund, und trotzdem haben Sie sich die -155-
Mühe gemacht, mich hierher zu bringen Sie haben sogar versucht, meine Rechnungen zu begleichen. Es würde einen Sinn ergeben, wenn Sie dächten, ich könnte Ihnen von Nutzen sein, aber stattdessen weigern Sie sich, meine Hilfe anzunehmen.« »Ich brauche Ihre Hilfe nicht.« »Tja, aber ich brauche Ihre«, sagte sie geradeheraus. »Vielleicht ist brauchen ein zu starkes Wort. Wenn Sie mir nicht helfen, finde ich einen anderen Weg, aber mit Ihrer Hilfe wäre es einfacher.« Sie ballte die Fäuste. »Ich werde mich nicht wie eine Ziege zur Schlachtbank führen lassen, und ich werde Ihnen auch nicht im Weg sein. Wenn Sie mir trotzdem nicht helfen wollen, erzählen Sie mir, was ich wissen muß. Dann erledige ich den Rest.« Wieder spürte er die gräßliche Anspannung, die von ihr ausging. »Wissen Sie, mit wie vielen Männern sich Gardeaux für gewöhnlich umgibt? « »Ich weiß, daß einer von ihnen Maritz ist.« »Der allein mehr Männer getötet hat, als er selbst noch weiß. Nein, das nehme ich zurück. Er erinnert sich an jeden einzelnen, denn das Töten macht ihm Spaß. Und dann ist da noch Rivil, der seine eigene Mutter getötet hat, nur weil sie ihm verbieten wollte, einer Jugendgang in Rom beizutreten. Ken Brady betrachtet sich selbst als großartigen Liebhaber. Unglücklicherweise vögelt er Frauen nicht nur gern, sondern er tut ihnen auch gerne weh. Gardeaux mußte ein ganz schönes Sümmchen berappen, um ihn davor zu bewahren, daß er für lange Zeit hinter Gittern verschwindet, nachdem er seiner letzten Geliebten die Brustwarzen abgeschnitten hat.« »Versuchen Sie, mich zu schockieren? « »Verdammt, ich versuche, Ihnen klarzumachen, daß die Sache ein paar Nummern zu groß für Sie ist.« »Sie machen mir nur klar, daß Sie Gardeaux und seine Männer -156-
sehr gut kennen. Und, erzählen Sie mir mehr über sie? « Er bedachte sie mit einem verzweifelten Blick. »Nein.« »Dann muss ich es eben alleine tun. Ein paar Dinge über Gardeaux und Bellevigne weiß ich bereits.« »Kabler? « »Nein, ich war in der Stadtbücherei und habe mir über Nexus ein paar Artikel zusammengesucht.« »Darum also haben Sie Phil all die Fragen über Computer gestellt. Er wird enttäuscht sein, wenn er erfährt, daß er von Ihnen nur benutzt worden ist. Er mag Sie.« »Ich mag ihn auch. Aber ich mußte es wissen.« Sie wandte sich zum Gehen. »Ich muß duschen und mich umziehen. Tania holt mich in einer Stunde ab und nimmt mich dann mit zu Joel.« Entlassen. Er war ihr nicht länger von Nutzen, also durfte er gehen. Er stellte fest, daß er eine Mischung aus Verärgerung und Belustigung empfand. Aber so leicht ließ ihn niemand stehen. »Sie ziehen zu Joel? Das hat er mir gar nicht erzählt.« »Nur für ein paar Tage.« Und dann würde sie nach Bellevigne fliegen, wo Maritz sie bestimmt schon erwartete. »Können Sie schießen? « »Nein.« »Können Sie mit einem Messer umgehen? « »Nein.« »Karate? Tae-Kwon-Do? « »Nein.« Mit blitzenden Augen fuhr sie zu ihm herum. »Versuchen Sie, mir das Gefühl zu vermitteln, unzulänglich zu sein? Ich weiß, daß ich unzulänglich bin. Als ich mit Maritz gerungen habe, mußte ich eine gottverdammte Lampe nach ihm werfen. Nie zuvor in meinem Leben habe ich mich derart hilflos gefühlt. Als wir auf dem Balkon gekämpft haben, hat er mich ohne Probleme überwältigt und über die Brüstung gehievt. Aber -157-
jetzt hätte er schon größere Schwierigkeiten damit. Ich werde täglich kräftiger. Und wenn Stärke allein nicht reicht, dann werde ich eben lernen, was ich lernen muss.« »Aber nicht von mir«, stellte er grimmig fest. »Dann finde ich eben jemand anderen.« »Eigentlich wollte ich nicht sagen, daß Sie sich in eine Art EinFrau-Kommando verwandeln sollen. Ich habe lediglich versucht, Ihnen klarzumachen, wie machtlos Sie Gardeaux gegenüber sind.« »Das haben Sie mir klargemacht. Keine Angst, ich werde Sie nicht noch einmal um etwas bitten.« Abermals wandte sie sich ab, doch dann blieb sie stehen. »Außer um eins. Wissen Sie, wo meine Tochter und mein Mann begraben sind? « »Ja, ich glaube, die Mutter Ihres Mannes wollte, daß die sterblichen Überreste an seinen Geburtsort in Des Moines, Iowa, zurückgebracht werden.« »Jill auch? « »Ja. Sie wirken überrascht.« »Edna Calder hat Jill nie geliebt. Richard war ihr Leben, und für jemand anderen gab es darin keinen Platz.« »Noch nicht einmal für Sie? « »Vor allem nicht für mich.« Sie machte eine Pause. »Wissen Sie, auf welchem Friedhof sie...« Sie brach ab und fing noch einmal an. »Ich will die Gräber sehen. Wissen Sie, wo sie sind?« »Ich kann es herausfinden«, sagte er. »Aber ich weiß nicht, ob das eine so gute Idee ist.« »Es ist mir egal, was Sie denken«, entgegnete sie leidenschaftlich. »Das ist allein meine Sache. Ich hatte keine Möglichkeit, mich von ihnen zu verabschieden, und bevor ich irgendetwas anderes mache, muß ich das tun.« Er musterte sie. »Dann tun wir es.« Er wandte sich ab. »Ziehen Sie sich an. Ich werde die Flüge reservieren und Joel sagen, daß -158-
ich Sie morgen früh bei Tania abliefere.« Sie starrte ihn an. Sein plötzliches Einverständnis brachte sie aus dem Gleichgewicht. »Jetzt sofort? « »Des Moines ist nur einen Katzensprung von hier entfernt. Sie haben gesagt, Sie müssen die Gräber sehen.« »Aber Sie brauchen mich nicht zu begleiten.« »Nein, das brauche ich nicht, nicht wahr? « Er ging den Korridor hinauf. »Ich muß noch ein paar Telefonanrufe erledigen. In einer Stunde hole ich Sie ab.« Peaceful Gardens, Friedvolle Gärten. Das verschnörkelte Schild bildete einen Bogen zwischen den steinernen Stützpfeilern links und rechts des Friedhofseingangs. Warum trat man, wenn man auf einen Friedhof kam, immer unter einem Bogen hindurch? fragte sich Nell. Wahrscheinlich, damit man sich an die perlenbesetzte Pforte erinnerte, durch die man angeblich in den Himmel kam. »Alles in Ordnung? « fragte Nicholas, während er den Mietwagen durch das Tor lenkte. »Ja.« Es war eine Lüge. Sie hatte gewußt, daß sie es tun mußte und hatte auf das rechtzeitige Einsetzen einer inneren Taubheit gehofft, die nicht gekommen war. Nun hatte sie das Gefühl, in einem ihrer Alpträume gefangen zu sein. Roh. Gräßlich. Unentrinnbar. Er brachte den Wagen neben dem Pförtnerhäuschen zum Stehen. »Warten Sie hier. Ich bin sofort zurück.« Er würde fragen, wo die Gräber lagen. Jill. Er kam zum Wagen zurück. »Gleich hinter dem Hü gel.« Ein paar Minuten später führte er sie zwischen den Grabreihen hindurch, und vor einem Bronzestein blieb er stehen. »Hier.« Jill Meredith Calder. -159-
Auf, auf, auf , in den blauen Himmel hinauf... Tanek griff nach Nells Ellbogen, als sie zu schwanken begann. »Verdammt, sie ist nicht hier«, sagte er mit zorniger Stimme. »Sie ist in Ihrem Herzen und Ihrer Erinnerung. Das ist Ihre Jill. Sie ist nicht hier.« »Ich weiß.« Sie schluckte. »Sie können mich loslassen. Ich falle nicht um.« Sie straffte die Schultern und ging ein paar Schritte, bis sie vor einem größeren, reicher verzierten Grabstein stand. Richard Andrew Calder. Geliebter Sohn von Edna Calder. Keine Erwähnung von Nell oder Jill. Im Tod hatte Edna ihren Sohn zurückgefordert. Obwohl er für sie niemals wirklich verloren gewesen war. Er hatte niemals wirklich zu Nell gehört. Auf Wiedersehen, Richard. »Ganz schön viele Blumen«, stellte Nicholas fest. Richards Grab war mit Bouquets aus allen nur erdenklichen Blumen überhäuft. Frischen Bouquets. Ihr Blick wanderte zu Jills Grab zurück. Nichts. Zur Hölle mit dir, Edna. Nicholas sah sie an. »Sie scheint keine besonders liebevolle Großmutter gewesen zu sein.« »Sie war nicht ihre Großmutter.« Sie überließe dieser Hexe keinen Anspruch an Jill. »Jill war nicht Richards Tochter.« Sie wandte sich ab und ging davon. Auf Wiedersehen, Jill. Es tut mir leid, daß ich ihr diese Aufgabe überlassen mußte, Baby. Es tut mir alles leid. Himmel, es tut mir so leid... »Ich will, daß sie jede Woche frische Blumen auf ihr Grab bekommt«, sagte sie vehement. »Viele Blumen. Werden Sie dafür sorgen, Tanek? « -160-
»Ja.« »Ich habe im Augenblick nicht viel Geld. Ich muß den Anwalt meiner Mutter kontaktieren und sehen, ob ich...« »Seien Sie still«, sagte er rauh. »Ich habe ja gesagt.« Seine Rauheit war tröstlicher als jede Höflichkeit. Tanek gegenüber mußte sie sich nicht verstellen. Sie bezweifelte, daß er sich überhaupt jemals von ihr täuschen ließ. »Ich will fort von hier. Gibt es heute abend noch einen Flug zurück? « »Ich habe schon zwei Plätze bestellt.« »Ich dachte, Sie hätten gesagt, wir fliegen erst morgen früh zurück? « »Nicht, wenn es mir gelingen sollte, Sie früher von hier fortzubringen. Abschiede machen einen fertig. Deshalb verabschiede ich mich nicht mehr. Ich wußte, daß dieser Besuch ein Fehler war.« »Sie irren sich. Ich mußte es tun.« Langsam wich die Verärgerung aus seinem Gesicht. »Vielleicht«, sagte er erschöpft und öffnete die Autotür. »Was weiß ich? « Sie erreichten Minneapolis nach Mitternacht und wurden vor dem Flughafen abgeho lt. »Jamie Reardon, Nell Calder«, sagte Nicholas. »Danke, daß du uns abholen konntest.« »Es war mir ein Vergnügen.« Sein überraschter Blick haftete an Nells Gesicht. »Ah, Sie sind eine echte Schönheit, nicht wahr? « Sein irischer Akzent war ebenso beruhige nd wie sein zerklüftetes Gesicht. Sie lächelte. »Keine echte Schönheit. Wohl eher Joel Liebers Kreation.« »Trotzdem.« Er lief neben ihnen her. »Wenn Sie in meinen Pub kämen, würden die Jungs sicher zahllose Gedichte auf Sie verfassen.« -161-
»Gedichte? Ich dachte, Poesie wäre eine verlorene Kunst.« »Nicht für die Iren. Sie brauchen uns nur ein bißchen zu inspirieren, und schon kreieren wir Gedichte, die einem zu Herzen gehen.« An Nicholas gewandt sagte er: »Ich habe einen Anruf von unserem Mann in London erhalten. Vielleicht hat er was für uns. Er sagt, daß du dich bei ihm melden sollst.« »Wird gemacht« Nicholas trat auf den Parkplatz hinaus. »Aber erst setzen wir Nell bei Joel Lieber ab.« »Heute abend nicht mehr«, sagte Nell. »Es ist zu spät, und sie rechnen nicht vor morgen früh mit mir. Ich gehe in ein Hotel.« Er nickte. »Wir besorgen Ihnen ein Zimmer in unserem Hotel.« »Egal.« London. Wahrscheinlich sollte sie Tanek nach dem Telefonanruf fragen. Nein, sie war zu erschöpft, und außerdem wäre er bestimmt sowieso zu keiner Auskunft bereit. Inzwischen hatte die Taubheit von ihr Besitz ergriffen, aber nun war es zu spät. »Ihr Hotel ist in Ordnung. Vielen Dank.« Jamie öffnete schwungvoll die Wagentür. »Sie sehen ein bißchen müde aus. Aber keine Angst, in einer Stunde liegen Sie gemütlich in Ihrem Bett.« »Ich bin wirklich müde.« Sie lächelte angestrengt. »Danke, daß Sie uns zu so später Stunde noch abgeholt haben, Mr. Reardon.« »Jamie«, verbesserte er. »Kein Problem. Ich hole Nicholas ab, so oft es mir möglich ist. Er mag keine Taxis. Man weiß schließlich nie, wer hinter dem Steuer sitzt.« Ein kalter Schauder rann Nells Rücken hinab. Wie mußte es sein, in einer Welt zu leben, in der einem jeder Mensch verdächtig war? »Ich verstehe.« Nicholas sah sie an. »Nein, Sie verstehen nicht. Sie haben nicht die geringste Ahnung, wie es ist.« Seine Worte enthielten eine solche nur mühsam gezügelte Wildheit, daß sie überrascht zusammenfuhr. Nur kein Streit. Einen Konflikt ertrüge sie im Augenblick einfach nicht. Sie -162-
lehnte sich in ihrem Sitz zurück und klappte die Augen zu. »Falls es Ihnen nichts ausmacht, unterhalte ich mich im Augenblick lieber nicht.« »Wie höflich Sie doch sind. Gardeaux hat ebenfalls hervorragende Manieren. Zweifellos wird er selbst dann noch die passenden Worte wählen, wenn er Maritz befiehlt, Ihnen an die Gurgel zu gehen.« »Nick, sie sieht nicht gerade so aus, als ob sie...«, setzte Jamie an. »Meinst du nicht, daß das noch warten kann? « »Nein«, erwiderte Nicholas barsch. Sie war ein Feigling. Sie zwang sich, ihn anzusehen. »Sagen Sie nur alles, was Ihnen auf dem Herzen liegt.« Er musterte sie kühl. »Später.« Dann wandte er sich ab und blickte zum Fenster hinaus. Nicholas besorgte ihr ein Zimmer, das drei Türen neben seiner und Jamies Suite gelegen war. Nachdem Jamie seine Tür aufgeschlossen hatte, wandte er sich mit einem Lächeln um. »Schlafen Sie gut. Was mir unglücklicherweise wohl kaum passieren wird. Ich werde die Reime des Gedichts erproben, das ich Ihnen morgen früh vor die Füße legen will.« »Lassen Sie sich von ihm nicht blenden«, sagte Nicholas und schob sie den Flur hinab. »In spätestens zehn Minuten schläft er wie ein Murmeltier.« »Er hat einfach keine Seele«, seufzte Jamie und öffnete die Tür. »Das kommt davon, daß er mit Schafen und anderen rauhen Geschöpfen zusammenlebt.« Nell lächelte. »Gute Nacht, Jamie.« Nicholas schloss die Tür zu ihrem Zimmer auf und trat vor ihr ein. Er machte Licht und drehte am Thermostat der Heizung herum. »Haben Sie etwas gegessen, bevor wir heute mittag -163-
aufgebrochen sind? « »Nein.« Er ging zum Telefon und gab eine Nummer ein. »Gemüsebrühe. Milch. Obst.« Er sah sie an. »Sonst noch was? « »Ich habe keinen Hunger.« »Das ist alles.« Mit einem leicht verzerrten Lächeln hängte er den Hörer ein. »Aber Sie werden alles aufessen. Denn wenn Sie nicht anständig essen, verlieren Sie Kraft. Und Kraft ist doch Ihre neue Religion, nicht wahr? « »Ich werde essen. Gehen Sie jetzt? « »Wenn der Zimmerservice dagewesen ist.« Sie lächelte schwach. »Man weiß schließlich nie, wer den Servierwagen schiebt.« Er antwortete nicht, und sie sah sich in dem großen, luftigen Zimmer um. Grauer Teppich, eine elegante, golden gestreifte Couch, goldene Damastvorhänge vor der Flügeltür zum Balkon. Balkon. Sie hörte, wie Nicholas zischend einatmete. »Ich habe vergessen, daß alle Räume auf dieser Seite mit Balkonen ausgestattet sind. Wollen Sie, daß ich Ihnen ein anderes Zimmer besorge? « O Gott, nach dem Tag, den sie hinter sich gebracht hatte, war sie einfach nicht bereit für eine weitere Erprobung ihrer nervlichen Belastbarkeit. Am liebsten hätte sie sich schluchzend unter dem Bett versteckt. Aber sie konnte sich nicht verstecken. Mit dem Versteckspiel war es ein für alle Male vorbei. »Nein, natürlich nicht.« Sie holte Luft und trat an die gläserne Tür. »Kann man die aufmachen? « »Ja.« »Ich war schon oft in Hotels, in denen die Türen abgeschlossen waren. Ich nehme an, auf diese Weise sollten Unfälle vermieden werden, aber Richard war immer vollkommen außer sich.« Sie -164-
sprach schnell, sprach irgendetwas, um nicht daran zu denken, was sie hinter dieser Tür erwartete. »Er hat die Aussicht, die einem ein Balkon bietet, geliebt. Er sagte, wenn er von einem Balkon runtersähe, bekäme er jedesmal ein regelrechtes Hochgefühl.« »Wahrscheinlich hat er dabei an Peron oder Mussolini gedacht, wie sie dem Pöbel winken, der sich zu ihren Füßen versammelt hat.« »Das ist nicht nett.« »Ich habe auch nicht das Bedürfnis, nett zu sein. Verdammt, bleiben Sie...« Sie öffnete die Tür, und kalter Wind blies ihr ins Gesicht. Nicht wie auf Medas, sagte sie sich. Dieser Balkon war winzig und zweckmäßig, sonst nichts. Auch der Blick hielt dem von Medas nicht stand. Man sah weder Felsen noch eine wogende Brandung unter sich. Sie trat dicht an das hohe Geländer und blickte auf die Lichter und die Autos, die sich tief unter ihr wie Glühwürmchen über die Straßen bewegten, hinab. Zwei Minuten. Sie gäbe sich zwei Minuten, und dann dürfte sie wieder in das Zimmer zurück. Die Spieluhr klimperte... Ab, ab, ab... »Es reicht.« Er packte ihren Arm und zerrte sie in das Zimmer zurück. Dann warf er die Tür ins Schloß und drehte den Schlüssel um. Sie atmete zitternd ein und mußte einen Augenblick warten, um ihrer Stimme einen ruhigen Klang zu verleihen. »Wie gewalttätig Sie doch manchmal sind. Dachten Sie etwa, ich wollte springen? « »Nein, ich denke, Sie haben sich selbst auf die Probe gestellt, um zu sehen, ob Sie in der Lage sind, den Schmerz durchzustehen. Sie mußten sich beweisen, wie stark Sie sind. -165-
Hat der Besuch des Grabes Ihrer Tochter nicht gereicht? Warum halten Sie nicht einfach die Hand in eine offene Flamme und warten ab, was passiert? « Sie lächelte angestrengt. »Ich habe leider keine Flamme da.« »Das ist nicht lustig.« »Nein.« Sie kreuzte die Arme vor der Brust, damit er ihr Zittern nicht sah. »Ich habe mich nicht auf die Probe gestellt. Sie verstehen mich nicht.« »Dann erklären Sie es mir.« »Ich hatte Angst. Ich war noch nie besonders mutig. Aber ich kann es mir nicht mehr leisten, ängstlich zu sein. Der einzige Weg, um seine Angst zu überwinden, ist, der Sache, die man fürchtet, ins Auge zu sehen.« »Haben Sie deshalb die Gräber besucht? « »Nein, das war etwas anderes.« Tut mir leid, Jill. Verzeih mir, Baby. Panik wallte in ihr auf, und sie hatte das Gefühl, als löse sie sich langsam, aber sicher auf. Sie wandte ihm den Rücken zu und sagte eilig: »Ich will, daß Sie jetzt gehen. Ich habe keine Angst vor dem armen Kerl, der den Zimmerservice macht, und ich verspreche Ihnen, ich gehe nicht noch mal auf den Balkon hinaus.« Er legte seine Hände auf ihre Schultern, und obgleich sie erstarrte, drehte er sie zu sich um. »Ich gehe nicht.« Sie starrte blind auf seine Brust. »Bitte«, flüsterte sie. »Schon gut.« Er zog sie in seine Arme. »Sie haben das Gefühl, als wären Sie aus Glas gemacht. Lassen Sie sich gehen. Ich bin nicht wichtig. Ich bin einfach da.« Sie stand stocksteif da und starrte blind geradeaus. Auf, auf, auf... Langsam sank ihr Kopf an seine Brust, und er legte seine Arme -166-
enger um sie. Wie er gesagt hatte, war er einfach da. Und statt Intimität gab er ihr Nähe. Leben. Trost. Sie lehnte lange Zeit an seiner Brust, doch dann zwang sie sich, einen Schritt zurückzugehen. »Ich wollte mich Ihnen nicht aufdrängen. Bitte entschuldigen Sie.« Er lächelte. »Schon wieder dieses vorzügliche Benehmen. Das war eins der ersten Dinge, die mir an Ihnen aufgefallen sind. Haben Sie das von Ihrer Mutter gelernt? « »Nein, meine Mutter war Professorin für Mathematik und hatte viel zuviel zu tun. Eigentlich bin ich bei meiner Großmutter aufgewachsen.« »Und die starb, als Sie dreizehn waren? « Sie war überrascht, doch dann erinnerte sie sich an die Akte, von der zuvor einmal die Rede gewesen war. »Sie haben ein gutes Gedächtnis. Dieser Bericht über mich muß ziemlich vollständig gewesen sein.« »Aber er enthielt nichts darüber, daß Jill nicht Calders Tochter war.« Sie spannte sich automatisch an, doch dann fiel ihr ein, daß es nicht länger von Bedeutung war. Es gab keine Jill mehr, die es zu schützen, keine Eltern mehr, denen es zu gefallen galt. Warum also erzählte sie es ihm nicht ? Alles andere wußte er ja bereits. »Nein, das denke ich mir. Meine Eltern haben diese Tatsache geschickt kaschiert. Sie wollten, daß ich eine Abtreibung vornehmen lasse, und als ich mich weigerte, haben sie sich die größte Mühe gegeben, um der ganzen Sache einen legitimen Anstrich zu verleihen.« »Wer war der Vater? « »Bill Wazinski, ein Kunststudent, dem ich während meiner Zeit auf dem William & Mary-College begegnete.« »Haben Sie ihn geliebt? « Hatte sie ihn geliebt? »Damals habe ich mir eingeredet, daß ich -167-
ihn liebe. Auf jeden Fall habe ich große Lust empfunden mit ihm.« Sie schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich nicht. Wir haben beide das Leben und Sex und all die wunderbaren Bilder geliebt, von denen wir sicher waren, daß sie einst als Meisterwerke gelten würden. Es war das erste Mal, daß ich nicht zu Hause bei meinen Eltern lebte, und die neue Freiheit hat mich geradezu berauscht.« »Und dieser Wazinski war nicht bereit, die Verantwortung für das Kind zu übernehmen? « »Ich habe ihm gar nicht gesagt, daß ic h schwanger war. Es war meine Schuld. Ich hatte ihm erzählt, ich nähme die Pille. Sein Vater war Bergmann in West Virginia, und er konnte das College nur besuchen, weil ihm ein Stipendium bewilligt worden war. Warum hätte ich unser beider Leben kaputtmache n sollen? Sobald ich merkte, daß ich schwanger war, ging ich zu meinen Eltern zurück.« »Eine Abtreibung wäre bestimmt einfacher gewesen.« »Ich wollte nicht. Ich wollte das College zu Ende machen und arbeiten gehen.« Verbittert fügte sie hinzu: »Aber meine Eltern sahen das anders als ich. Eine ledige Mutter war eine Peinlichkeit, mit der sie nicht leben konnten.« »In unserer Zeit? « »Oh, sie haben sich immer eingebildet, Freidenker zu sein. Aber das wichtigste für sie war, daß immer alles nach Plan verlief. Kinder brauchten eine geordnete Familienstruktur. Das Leben mußte immer zivilisiert und wohlgeordnet verlaufen, und ich hatte mich nicht ordnungsgemäß verhalten, indem ich schwanger zu ihnen gekommen war. Ich hätte entweder eine Abtreibung machen lassen sollen oder aber den Vater meines Babys heiraten.« »Aber Jill kam erst im Jahr nach Ihrer Rückkehr nach Greenbriar auf die Welt.« »Sieben Monate. Wie gesagt, meine Eltern haben meinen -168-
Fehltritt geschickt kaschiert. Zwei Monate nach meiner Rückkehr vom College habe ich Richard geheiratet. Er war der Assistent meines Vaters, und er wußte, daß ich schwanger war.« Sie lächelte ohne jeden Humor. »Es blieb nicht aus, daß er es erfuhr. Ich habe ein Riesentheater veranstaltet, und meine Eltern waren es nicht gewohnt, daß ich mich ihnen in irgendeiner Sache widersetze. Er hat dann den rettenden Vorschlag gemacht. Ich könnte das Baby behalten, und er würde mich heiraten und ginge mit mir fort.« »Und was hat er als Gegenleistung bekommen? « »Nichts.« Sie begegnete seinem Blick. »Richard war nicht der berechnende Emporkömmling, als den Sie ihn offenbar sehen. Ich war verzweifelt, und er bot mir seine Hilfe an. Für ihn kam nichts dabei heraus als das Kind eines anderen Mannes und eine Frau, die manchmal peinlich für ihn war. Ich hatte den passenden familiären Hintergrund, aber mein Temperament entsprach sicher nicht den Anforderungen, die man an die Frau eines leitenden Angestellten stellt.« »An dem Abend, als ich Ihnen zum ersten Mal begegnet bin, haben Sie sich doch durcha us geschickt angestellt.« »Unsinn«, widersprach sie ihm voller Ungeduld. »Selbst ein Blinder hätte gesehen, daß ich furchtbar schüchtern und in dieser Gesellschaft so gut aufgehoben wie Godzilla war. Tun Sie doch nicht so, als wüßten Sie das nicht mehr.« Er lächelte. »Ich erinnere mich nur noch an eine sehr nette Frau.« Er machte eine Pause. »Und das faszinierendste Lächeln, das mir je vor die Augen gekommen ist.« Sie sah ihn verwundert an. »Zimmerservice.« Er wandte sich ab und ging zur Tür. Der Zimmerservice kam in Gestalt einer Frau mittleren Alters lateinamerikanischer Abstammung, die mit einem Tablett hereinmarschiert kam, dieses auf den Tisch neben der Flügeltür stellte und lächelnd darauf wartete, daß Nell den Bestellzettel -169-
unterschrieb. »Nicht allzu furchteinflößend«, stellte Nell trocken fest, nachdem die Frau wieder gegangen war. »Das weiß man nie.« Nicholas ging zur Tür. »Schließen Sie ab, und machen Sie außer Jamie oder mir niemandem auf. Ich hole Sie um neun Uhr ab.« Die Tür fiel hinter ihm ins Schloß. Sein plötzlicher Abgang überraschte sie ebenso wie alles andere, was er an diesem Tag getan hatte. »Schließen Sie ab«, sagte Nicholas durch die Tür. Mit einer Spur von Verärgerung ging sie durch den Raum und schob den Riegel vor. »Gut.« Er war nicht mehr da. Sie hörte zwar nicht, daß er ging, aber ebensowenig spürte sie, daß er noch in der Nähe war. Um so besser, daß er sie endlich alleine ließ, sagte sie sich. Sie hatte nicht gewollt, daß er sie heute begleitete. Sie hatte sehen wollen, ob sie das Grauen alleine ertrug. Und auf gar keinen Fall hatte sie vorgehabt, sich ihm anzuvertrauen. Hätte er ihr auch nur das geringste Mitleid entgegengebracht, hätte sie ihn sofort zurückgewiesen, doch stattdessen hatte er sich so unpersönlich und unverwüstlich wie ein Kissen gezeigt. Ein dynamischer Mann wie Nicholas sähe den Vergleich mit einem Kissen bestimmt nicht als Kompliment, dachte sie. Ach, vielleicht war es gar nicht so schlecht, daß das lange Schweigen über ihre Tochter endlich gebrochen war. Als die Worte aus ihr herausgebrochen waren, hatte sie das Gefühl gehabt, als träte sie aus der Dunkelheit in den Sonnenschein hinaus. Sie hatte keine Scham empfunden. Kein Bedürfnis nach Heimlichkeit. Nur Erleichterung. Sie kehrte an den Tisch zurück. Sie hatte keinen Hunger, aber trotzdem äße sie. Dann würde sie duschen, und anschließend -170-
ginge sie ins Bett. Vielleicht schliefe sie, erschöpft wie sie war, ja umgehend ein. Vielleicht träumte sie noch nicht einmal. Entschlossen setzte sie sich, das Gesicht dem Balkon zugewandt, an den Tisch und tauchte den Löffel in die Suppe ein.
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7. Kapitel »Ich habe gefunden, was Sie suchen«, sagte Nigel Simpson, sofort nachdem er an den Apparat gekommen war. »Ich weiß, warum der Überfall auf Medas stattgefunden hat.« »Warum? « fragte Nicholas. »Kommen Sie her, dann sage ich es Ihnen.« Er machte eine Pause. »Und bringen Sie zweihunderttausend Dollar mit, in bar.« »Kein Deal«, war Nicholas barsche Erwiderung. »Ich muß von hier verschwinden. Ich glaube, ich werde beobachtet.« Dann platzte es aus Nigel heraus: »Das ist allein Ihre Schuld. Sie haben mich gezwungen. Ich habe über ein Jahr lang für Kabler gearbeitet, ohne daß mich jemals irgendwer verdächtigt hat. Es ist nicht gerecht, daß ich jetzt alles aufgeben und abhauen muss.« »Die einzige Bezahlung, die Sie von mir bekommen, ist mein Schweigen.« »Ich sage Ihnen doch, ich brauche das Geld, um...« »Jamie hat mir erzählt, Sie hätten ein Konto in der Schweiz, auf dem Ihr Geld von Kabler liegt. Ich bin sicher, das reicht für einen Neuanfang in irgendeinem Tropenparadies.« Sein Gesprächspartner schwieg. »Hunderttausend Dollar, und dafür gebe ich Ihnen die Bücher, die ich für Gardeaux aufbewahre.« »Was nützen die mir schon? Sie haben selbst gesagt, daß er durch die Bücher nicht im geringsten belastet wird.« »Es sei denn, man fügt sie mit Pardeaus Aufzeichnungen zusammen. Dann bekommt man ein vollständiges Bild.« »Wer ist Pardeau? « -172-
»Franòois Pardeau. 412 Rue de Germaine. Mein Pendant in Paris.« Nigels Ton wurde schmeichlerisch. »Sehen Sie, wie kooperativ ich bin? Und das Ganze hat Sie keinen Penny gekostet.« »Vielleicht sind die Aufzeichnungen vollkommen nutzlos für mich. Ich will Gardeaux nicht hinter Gittern sehen.« »Aber Kabler. Vielleicht rede ich also besser mit ihm.« »Versuchen Sie nicht, uns gegeneinander auszuspielen, Simpson. Wenn Sie sofort Geld brauchen, wissen Sie ebensogut wie ich, daß Kabler draußen ist. Es dauert, bis man die Bürokratie so weit hat, daß sie einem Bestechungsgelder in dieser Höhe zahlt.« »Wollen Sie nun die Bücher oder nicht? « »Ich will sie. Für fünfzigtausend, einen falschen Paß und Begleitschutz, bis Sie sicher außer Landes sind. Nehmen Sie das Angebot an, oder lassen Sie's bleiben. Mir egal.« »Das ist nicht genug. Ich sollte...« »Wenn Sie versuchen, sich Ihre Papiere selbst zu besorgen, wird Gardeaux dahinterkommen und Sie zerquetschen.« Simpson schwieg. »Wann? « »Jamie wird einen Tag brauchen, bis er die Papiere hat. Ich fliege morgen früh hier ab und werde um Mitternacht in Ihrer Wohnung sein.« »Nein, kommen Sie nicht hierher. Ich will nicht, daß man mich mit Ihnen zusammen sieht. Werfen Sie übermorgen früh um Punkt zehn das Geld und die Papiere in den Spendenkasten der St. Anthony's Church.« »Ohne vorher die Bücher und die Informationen zu sehen? Ich fürchte, so weit reicht meine Großzügigkeit nun doch nicht.« »In dem Kasten wird der Schlüssel zu einem Schließfach am Bahnhof von Bath liegen. Vertrauen Sie mir.« »Bath ist mit dem Auto über eine Stunde von London entfernt.« -173-
»Es ist das Beste, was ich Ihnen bieten kann. Auf den Londoner Bahnhöfen gibt es wegen der IRA-Bomben keine Schließfächer mehr.« »Wie praktisch.« »Ich bin derjenige, der das ganze Risiko trägt«, kreischte Nigel schrill. »Was, wenn mir jemand folgt? « »Es wird Ihnen jemand folgen. Jamie wird Ihnen von dem Augenblick an, in dem Sie sich das Geld holen, bis zu dem Moment, in dem ich ihm sage, daß das Paket in dem Schließfach sauber ist, auf den Fersen sein. Anschließend schickt er Ihnen einen Mann, der dafür sorgt, daß Sie sicher auf die Reise gehen.« Er hängte ein. »Bücher? « fragte Jamie, der am anderen Ende des Raums in einem Sessel saß. »Simpson hat Todesangst. Er bietet Gardeaux' Bücher und die Informationen über Medas für einen Festpreis und eine sichere Flucht.« »Warum bist du an den Büchern interessiert? « Nicholas zuckte mit den Schultern. »Ich weiß noch nicht, ob ich es bin. Sie sind so etwas wie eine wilde Karte für mich. Um überhaupt zu verstehen, was in Simpsons Büchern steht, brauche ich auch noch die Bücher von Pardeau in Paris.« »Warum bezahlst du dann dafür? « »Manchmal ist eine wilde Karte am Ende so etwas wie ein Trumpf. Weiß Gott, wir waren Gardeaux noch nie so dicht auf den Fersen wie jetzt.« Dann fügte er hinzu: »Außerdem will ich wissen, worum es bei dem Anschlag auf Medas ging.« »Ich nehme an, du willst, daß ich Simpson die Papiere besorge?« Jamie erhob sich und schlenderte seufzend zum Telefon. »Wieder einmal hat mich die praktische Welt eingeholt. Schade. Ich saß gerade so schön gemütlich hier herum -174-
und habe über eine unsterbliche Ode auf die Augen unserer göttlichen Nell nachgedacht.« Joel Liebers Haus erinnerte Nell vage an ein Gebäude von Frank Lloyd Wright, das einmal in einer Zeitschrift beschrieben worden war. Es bestand ganz aus geraden, modernen Linien und Glas und war auf subtile Weise in die Umgebung aus Felsen, Gärten und einem kleinen Wasserfall, der sich in einen funkelnden Bach ergoß, integriert. »Es ist wunderschön«, sagte sie, als sie aus dem Wagen stieg. »Das sollte es auch sein.« Nicholas führte sie zum Vordereingang. »Schließlich wurde es mit Schönheit finanziert.« »Tania sagt, Joel leistet ziemlich viel unentgeltliche Arbeit im Wohlfahrtsbereich.« »Ich kritisiere ihn auch nicht. Ich bin selber ein Kapitalist. Jeder Mensch hat das Recht, die Früchte seiner Arbeit zu genießen.« »Hi, Nicholas. Schön, dich zu sehen.« Nell fuhr überrascht herum und sah, daß Phil den Gartenweg herabgeschlendert kam. Er trug Jeans und ein T-Shirt und hatte ein paar Schößlinge in der Hand. »Was machen Sie denn hier? « Er sah sie mit einem fröhlichen Lächeln an. »Nicholas dachte, ich sollte einfach in der Nähe sein, für den Fall, daß es Ihnen plötzlich wieder schlechter geht. Und solange nichts zu tun ist, läßt mich Dr. Lieber in seinem Garten arbeiten. Als ich noch auf dem College war, habe ich mein Geld als Verkäufer in einer Baumschule verdient. Es ist schön, wieder mal in der Nähe von Blumen zu sein.« Er ging am Ufer des Baches entlang. »Falls Sie mich für irgendetwas brauchen, rufen Sie einfach.« Nell wandte sich an Nicholas. »Sie wissen, daß es mir nicht noch mal schlechter gehen wird.« »Das weiß man nie.« Dann sprach er von etwas anderem. »Joel -175-
hat gesagt, Sie wollten die Formulare haben, um Ihren Totenschein für ungültig erklären zu lassen. Warum haben Sie mir gegenüber nichts davon erwähnt? « »Ich habe es mir anders überlegt.« »Gut. Darf ich fragen, wieso? « »Ich denke, daß es vielleicht ganz praktisch ist. Von nun an werde ich Eve Billings sein. Ich brauche einen Führerschein und einen Paß auf diesen Namen. Kriegen Sie das für mich hin? « »Das wird ein paar Tage dauern.« »Und dann brauche ich noch Geld. Können Sie ein Konto für mich eröffnen und mir etwas überweisen, bis mir wieder mein eigenes Geld zur Verfügung steht? Natürlich kriegen Sie einen Schuldschein von mir dafür.« »Und ob ich den kriege«, sagte er. »Denn vielleicht muß ich ja versuchen, mein Geld aus Ihrem Nachlaß zu bekommen, wenn Sie es weiterhin darauf anlegen, daß man Sie eines Tages um die Ecke bringt.« »Sofort? « »Ich werde noch heute morgen bei Joels Bank ein Konto auf den Namen Eve Billings eröffnen. Die Papiere bekommen Sie dann mit der Post.« »Danke. Kabler hat mich einfach zu problemlos aufgespürt. Muß ich fürchten, daß Maritz meine Spur ebenfalls bis zum Krankenhaus verfolgt? « »Nein.« Seine Stimme drückte absolute Gewißheit aus. Offenbar hatte er die undichte Stelle gestopft. »Und was ist mit Berichten über meine Operation? « »Alle vernichtet, bis auf die Unterlagen, die Joel hier im Haus aufbewahrt. Ich werde ihn bitten, daß er auch die in den Aktenvernichter gibt.« »Gut.« Sie drückte den Klingelknopf. »Ich weiß, ich habe -176-
gesagt, ich würde Sie nicht noch einmal um etwas bitten. Ich verspreche, daß dies tatsächlich die letzte Bitte war. Auf Wiedersehen, Nicholas.« »Klingen Sie doch nicht so endgültig. Wir werden uns wiedersehen. Das heißt, wenn Sie nicht vorher im Leichenschauhaus...« »Da bist du ja.« Tania öffnete die Tür und lächelte breit. »Und Nicholas ebenfalls. Das ist gut. Kommt rein, und seht euch an, welches Wunder ich in Joels Haus bewerkstelligt habe.« »Ein andres Mal. Ich habe es eilig.« Er lächelte Tania an. »Ich muß mein Flugzeug erwischen. Bis dann.« Nell beobachtete, wie er in Richtung des Wagens ging. Dies war das erste Mal gewesen, daß er von einer Reise sprach. London vielleicht? »Komm rein.« Tania zog sie in den Flur. »Ich will dir zeigen, was für...« »Wunder hier vollbracht worden sind«, beendete Nell ihren Satz. »Der Garten ist bereits die reinste Pracht.« »Aber kalt. Joel ist nun mal Chirurg, so daß er eine Vorliebe für klare, strenge Linien hat. Aber drinnen braucht man Wärme. Ich habe ihm gesagt, daß er kein Haus haben kann, das so ordentlich wie einer seiner Schnitte ist.« Sie zerrte ihren Gast ins Wohnzimmer. »Drinnen braucht man Aufregung und Farben.« »Die habt ihr ganz bestimmt.« Die Sessel und Sofas im Raum waren schlicht und modern, aber sie wiesen luxuriöse hellbraune Bezüge auf, und überall lagen burgunderrote, beige- und orangefarbene Kissen herum. Streifen, Blumenmuster und Wandbehänge, die sich hätten beißen müssen, verliehen dem Zimmer ein exotisches und zugleich eigenartig gemütliches Flair. Ein cremefarbener Berberteppich bedeckte den mit Eichenparkett ausgelegten Fußboden, der weich und warm schimmerte. »Es ist wunderbar.« -177-
»Meine Großmutter hat immer gesagt, selbst der härteste Boden würde weich, wenn man nur genug Kissen benutzt.« Tania verzog das Gesicht. »Nun, sie konnte schließlich nicht immer tiefschürfend sein. Aber du mußt zugeben, daß sie recht hatte mit ihrer Theorie.« »Deine Zigeuneroma? « Sie nickte. »Du hättest das Haus sehen sollen, bevor ich kam. Dänisch modern und furchtbar kalt.« Sie tat, als erschaudere sie. »Nicht gut für Joel. Er ist ein Mann, der Wärme nur dann annehmen kann, wenn sie ihm aufgezwungen wird.« Sie lächelte. »Also zwinge ich sie ihm auf.« »Die Einrichtung ist sehr ungewöhnlich. Hast du schon mal an ein Studium als Innenarchitektin gedacht? « Tania schüttelte den Kopf. »Ich fange im Herbst ein Studium an, aber ich habe eher an Literatur gedacht.« Sie ging zur Tür. »Komm, ich zeige dir, welches Zimmer du hast. Es bietet eine schöne Aussicht auf den Wasserfall, und du wirst sehen, wie beruhigend das ist.« Sie rannte eine Wendeltreppe hinauf und riß die Tür zu einem der oben gelegenen Zimmer auf. »Gefällt es dir? « Wieder tauchte Nell in ein Meer von Farben ein. Der Raum wies sämtliche Schattierungen einer sonnigen Herbstlandschaft auf, Gold, Rostfärben und Scharlachrot. Auf dem Bett lag eine Tagesdecke in Jägergrün, und überall standen Messingtöpfe mit Efeu und Kristallvasen mit hohen, stolzen Chrysanthemen herum. Das niedrige Bücherregal wies eine Reihe luxuriös in Leder gebundener Bände auf. »Sehr schön.« »Das dachte ich mir«, stellte Tania zufrieden fest. »Es heißt, daß Blau beruhigt, aber ich dachte mir, daß dir dieser Raum am besten gefällt. Und ich habe Phil extra heute morgen zum Blumenpflücken losgeschickt.« Nell war gerührt. »Da hast du dir aber unnötig viel Mühe gemacht. Aber weißt du, so lange bleibe ich sicher nicht hier.« -178-
»Auf jeden Fall lange genug, um dich wohlzufühlen in meinem Haus«, erwiderte Tania ungerührt. »Und jetzt lasse ich dich allein, damit du dich vor dem Essen noch ein wenig ausruhen und die Kleider aus dem Kleiderschrank anprobieren kannst.« »Was für Kleider? « »Die, die ich bei Dayton's bestellt habe an dem Tag, als du mich so schnöde verlassen hast.« Nell starrte sie verwundert an. »Daß du irgendwelche Kleider bestellt hast, hast du bisher nie erwähnt.« »Hätte ich das etwa tun sollen? « Tania wandte sich zum Gehen. »Ich halte nichts davon, meine Zeit zu verschwenden. Außer auf dich zu warten, hatte ich ja nichts zu tun.« »Aber warum hast du mir nichts davon erzählt? « »Warum hätte ich das tun sollen? Du warst mir gegenüber sehr unfreundlich, und ich wollte, daß du Schuldgefühle deswegen bekamst, statt zu denken, ich käme schließlich auch sehr gut ohne dich zurecht.« Nell merkte, daß sie lächelte, als sich die Tür ihres Zimmers schloß. Tania kam ihr wie eine warme, unerwartete Brise vor. Wenn sie in der Nähe war, wurde man unweigerlich in ihre unbekümmerte Freundlichkeit eingehüllt. Sie blickte auf den Kleiderschrank, beschloß, sich ihre neue Garderobe später anzusehen, und trat ans Fenster. Der Wasserfall war kaum hundert Meter entfernt, und das Plätschern des Wassers war tatsächlich so besänftigend, wie Tania behauptete. Phil kniete neben dem Bach und grub ein Beet mit gelben Rosen um. Richard hatte ihr immer gelbe Rosen geschenkt. Er hatte die kleinen Aufmerksamkeiten gekannt, die einer Frau gefielen und ihr das Gefühl gaben, etwas Besonderes zu sein. Sally hatte ihn verehrt. Aber schließlich hatte so ziemlich jeder Richard verehrt. Und nun war er fort. Warum nur trauerte sie nicht stärker um -179-
ihn? Ihre Trauer um Jill hatte sie derart überwältigt, daß sie nur einen blassen Schatten dieser Trauer empfand, wenn sie daran dachte, daß Richard ebenfalls ermordet worden war. Hatte sie ihn vielleicht nicht geliebt? Hatte sie sich nur eingeredet, daß ihre Dankbarkeit und Abhängigkeit Liebe war? Sie wußte es nicht. Vielleicht hatte Richards Mutter recht gehabt, und sie war es nicht wert, auf seinem Grabstein zu stehen? Sie hatte versucht, Richard die Zuneigung zu geben, die er verdient hatte, aber nur Edna hatte ihn wirklich geliebt. Phil wandte den Kopf und blickte zum Haus, ehe er sich wieder um die Rosenbüsche kümmerte. Offenbar sah er nach, ob sie vielleicht heimlich davongeschlichen war. Er paßte auf, daß sie nicht in ein Gebiet vordrang, das Nicholas als das Seine betrachtete. Aber er brauchte sich keine Sorgen zu machen. Wie Nicholas gesagt hatte, war sie zu dem Kampf gegen Gardeaux und Maritz noch nicht bereit. Sie mußte sich sicher sein, daß sie gewann, wenn sie die Begleichung der Schuld forderte. Sie mußte nachdenken. Bisher hatte sie nur eine vage Vorstellung, aber ehe sie bereit wäre, sich der wohlmeinenden Aufsicht ihrer Retter zu entziehen, brauchte sie einen genauen Plan. Er wurde verfolgt. In Nigel wallte Panik auf. Er blickte hinter sich. Niemand zu sehen. Seine Schritte auf dem Gehweg beschleunigten sich. Nichts zu hören. Vielleicht hatte er sich geirrt. Nein, verdammt, seit er heute abend die Kirche verlassen hatte, spürte er, daß ihm jemand auf den Fersen war. Endlich hatte er Christines Appartement erreicht. Er rannte die Treppe hinauf und klingelte. War da ein Schatten im gegenüberliegenden Hauseingang? -180-
»Ja? « fragte Christine über die Gegensprechanlage. »Laß mich rein. Sofort! « Als endlich der Summer ertönte, stürzte Nigel in den Flur und warf die Tür hinter sich ins Schloß. »Was ist los, mein Schatz? « Christine blickte über das Treppengeländer auf ihn herab, und ihr Mund wurde von ihrem wunderbaren, boshaften Lächeln umspielt. »Bist du so heiß? « »Ja.« Er war heiß gewesen, ehe er festgestellt hatte, daß ihm offenbar jemand auf den Fersen war. Er hatte noch einen Abend mit ihr verbringen wollen, ehe er London verließ. Nun allerdings fragte er sich, ob er sich vielleicht besser irgendwo verkrochen hätte, bis es morgen früh Zeit wäre, abermals zur St. Anthony's Church zu gehen. »Dann komm rauf. Ich habe etwas ganz Besonderes für dich geplant. Ein neues Spielzeug, mit dem ich meinen bösen Jungen bestrafen kann.« Sein Schwanz versteifte sich. Ein neues Spielzeug. Der künstliche Penis, den sie letztes Mal benutzt hatte, hatte ihn fast zerrissen, und er war gekommen wie ein Geysir. Er blickte zur Haustür zurück. Er hatte niemanden gesehen, und falls doch jemand draußen war, wäre es vielleicht besser zu bleiben, als wieder zu gehen. Christines Wohnung war ebenso sicher wie jeder andere Ort. Es gab nur zwei Wohnungen im Haus, und Christine hatte gesagt, der andere Mieter wäre im Ausland unterwegs. »Komm! « befahl Christine. »Trödel nicht rum. Wenn du nicht gleich kommst, bestrafe ich dich.« Erregung überfiel ihn. Es fing an. Bald wäre er vor ihr auf den Knien, verloren in der dunklen Hitze, die bei ihrer Behandlung über ihm zusammenschlug. Eifrig kletterte er die Treppe hinauf. Sie stand oben, nackt bis auf Sandalen mit zehn Zentimeter -181-
hohen Pfennigabsätzen, groß, lüstern, herrisch, wie es ihm gefiel. Sie trat einen Schritt zurück und ging zu ihrer Wohnungstür. »Wie oft muß ich dir noch sagen, daß du mir auf der Stelle gehorchen musst? « »Es tut mir leid. Ich habe eine Bestrafung verdient.« Er folgte ihr in ihr Appartement. »Darf ich es sehen? « »Auf die Knie.« Sofort fiel er vor sie auf die Knie. »Sehr gut.« Sie spreizte die Beine und blickte auf ihn herab. »Was willst du sehen? « »Das Spielzeug. Das neue Spielzeug.« Ihre Hände fuhren in seine Haare und rissen seinen Kopf zurück. Er wurde von heißem Schmerz durchzuckt. »Dann sag schön bitte, bitte, wie es sich gehört.« »Bitte, Herrin, darf ich das Spielzeug sehen? « flüsterte er. »Ist das alles, was du willst? Du willst es nur sehen? Du willst nicht, daß ich es an dir ausprobiere? « »Tut es weh? « »Sehr.« Er zitterte. Beim ersten Mal war er immer so, aber er durfte nicht kommen, ehe sie es ihm gestattete. »Wenn es dir gefällt, dann probier es an mir aus.« »Bist du sicher? « Er nickte. »Also gut.« Ein grausames Lächeln umspielte ihren Mund. »Aber ich habe keine Lust, meine Hände an dir schmutzig zu machen. Also zeigt dir mein Freund das Spielzeug.« »Dein Freund? Außer dir...« Sein Rücken bäumte sich in heißem Schmerz! Himmel, was war das? Ein Brenneisen? Der Schmerz war zu viel, er ertrug ihn nicht. -182-
Er klammerte sich verzweifelt an Christines Hüften fest, doch sie trat einen Schritt zurück, so daß er auf den Teppich fiel. »Zu viel...«, wimmerte er. »Nimm es - weg.« Christine blickte auf jemanden, der hinter ihm stand. »Sie haben versprochen, daß es eine schnelle und saubere Angelegenheit wird, Maritz. Er blutet mir ja den ganzen Teppic h voll.« »Gardeaux wird ihn ersetzen.« »Ich will, daß er endlich von hier verschwindet. Bringen Sie's zu Ende.« »Nein«, wimmerte Nigel. Es war ihm niemand gefolgt. Maritz hatte hier auf ihn gewartet, er hatte gewußt, daß er kam. »Gleich.« »Bringen Sie's auf der Stelle zu Ende, oder ich erzähle Gardeaux, daß Sie es um ein Haar versaut hätten, weil Ihnen Ihr eigenes Vergnügen wichtiger war.« »Hexe.« Aber trotzdem versetzte er Nigel den letzten Stich. Der Schlüssel lag in der Spendenbox. Nicholas starrte ihn einen Augenblick lang an, ehe er ihn in die Jackentasche schob. Er sah wie jeder andere Schlüssel aus. Vielleicht hatte ihm Simpson ja seinen Haustürschlüssel angedreht? Er lege das Päckchen mit dem Geld und den Dokumenten in den Kasten, trat aus der Kirche auf die Straße hinaus, winkte Jamie, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite in dem RollsRoyce-Taxi saß und stieg in seinen Mietwagen. Dann wendete er den Wagen und fuhr nach Bath. »Ich habe die Bücher«, sagte Nicholas in sein Funktelephon. »Vielleicht. Auf jeden Fall sehen sie aus, als wären sie echt, auch wenn ich bisher noch keine Gelegenheit hatte, sie mir -183-
genauer anzusehen. Ich werde sie überprüfen, wenn ich wieder im Flugzeug sitze und auf dem Rückweg in die Staaten bin.« »Das überrascht mich«, sagte Jamie. »Ich dachte, Simpson hätte ein doppeltes Spiel versucht und Angst gekriegt.« »Warum? « »Der Süße hat sich seinen Preis nicht abgeholt.« »Was? « »Er ist nicht in die Kirche gekommen. Was soll ich mit dem Geld machen? Der Spendenkasten wird jeden Abend um acht geleert.« Nicholas dachte darüber nach. Es war kurz vor fünf, und die Chance, daß Simpson mit derartiger Verspätung kam, war sehr gering. Es sei denn, Gardeaux hätte sich eingemischt. Aber wenn Simpson ermordet worden war, warum hatte Nicholas dann die Bücher in der Hand? Er konnte nicht glauben, daß Gardeaux Simpson nicht erst noch über den Verbleib der Bücher ausgequetscht hatte, ehe er gestorben war. Es sei denn, Gardeaux wußte nichts von Simpsons Bücherdeal. Vielleicht hatte er nur herausgefunden, daß er von Simpson an Kabler verkauft worden war. »Hast du mich verstanden? « fragte Jamie. »Ich habe gefragt, was ich mit...« »Ich habe dich verstanden. Warte noch eine Stunde ab. Wenn er bis dahin nicht aufgetaucht ist, hol das Geld und die Papiere aus dem Kasten, und sieh nach, ob er in seiner Wohnung ist.« »Und dann? « »Dann gib ihm noch vierundzwanzig Stunden Zeit. Beobachte sein Appartement, und sag mir Bescheid, wenn du ihn siehst « »Das ist doch Zeitverschwendung. Wir wissen doch beide ganz genau, was aus dem armen Hund geworden ist.« »Vierundzwanzig Stunden. So war es abgemacht.« -184-
»Kaffee, Mr. Tanek? « fragte die Stewardeß. Er lächelte und schüttelte den Kopf. »Vielleicht später.« Nachdem sie weitergegangen war, klappte er das erste der Bücher auf und überflog es kurz. Keiner der aufgeführten Firmennamen war ihm bekannt, wahrscheinlich waren sie kodiert. In jeder Rechnungsspalte wiesen Pfeile auf leere Zeilen hin. Fehlte dort vielleicht das, was in Pardeaus Büchern stand? Selbst wenn er Pardeaus Bücher hätte, brauchte er zum Entziffern der Zahlen wahrscheinlich ein buchhalterisches Genie. Im Augenblick sah er keine Veranlassung, das Risiko einzugehen, Pardeau zu kontaktieren. Zum einen war er sich nicht sicher, daß ihm der Inhalt der Bücher überhaupt von Nutzen war, und zum anderen wußte Gardeaux vielleicht im Augenblick noch nicht, daß Nicholas im Besitz von Simpsons Büchern war, aber er fände es gewiß bald heraus. Von dem Moment an stünde Pardeau unter ständiger Beobachtung, und es wäre das Beste, abzuwarten, bis die Aufmerksamkeit des Gegners nachzulassen begann. Nicholas überflog das zweite Buch, stellte fest, daß es dem ersten sehr ähnlich war, und legte es in seine Aktentasche zurück. Dann zog er den DIN A4-Umschlag hervor, auf dessen Vorderseite der Name Medas geschrieben stand. Er zog die einzelnen Blätter heraus, von denen das erste die Namenliste war, die ihm an jenem Tag von Jamie in Athen ausgehändigt worden war. Er legte es zur Seite und nahm das zweite Blatt. »Himmel.« Mit einem Mal saß er kerzengerade auf seinem Sitz. »Ich muß Nell sehen. Ich will, daß sie von hier verschwindet, Tania.« Tanek betrat den Flur. »Wo ist sie? « »Freut mich ebenfalls, dich zu sehen«, sagte Tania und schloß -185-
hinter ihm die Tür. »Tut mir leid. Wo ist sie? « »Sie ist bereits verschwunden. Einfach weg.« Er wirbelte zu ihr herum. »Weg? Wohin? « Sie schüttelte den Kopf. »Sie hat drei Nächte hier geschlafen, und gestern morgen war sie fort. Sie hat eine Nachricht hinterlassen.« Sie ging zum Tisch und zog die Schublade auf. »Eine sehr nette Nachricht, in der sie sich für unsere Gastfreundschaft bedankt und sagt, daß sie sich bei uns melden wird.« Sie gab ihm den Zettel. »Soweit ich weiß, hat sie kaum Kleider mitgenommen. Nur Tennisschuhe und ein paar Jeans. Also kommt sie bestimmt bald zurück.« »Darauf verlass dich lieber nicht.« Er hatte keine Ahnung, wohin in aller Welt Nell aufgebrochen war. Ihre Nachricht war warm, akribisch höflich und vollkommen uninformativ. »Hat sie mit der Post ein Päckchen gekriegt? « »Vor zwei Tagen.« Die Papiere, die es ihr ermöglichten, sich frei zu bewegen. »Wo ist Phil? « »Im Garten.« Sie runzelte die Stirn. »Aber du darfst ihm nicht die Schuld daran geben, daß sie verschwunden ist. Er ist auch so schon am Boden zerstört.« »Ich gebe ihm die Schuld daran.« Er ging zur Tür. »Aber ich habe nicht vor, ihn deshalb zu erschießen. Vielleicht ist dir das ja ein kleiner Trost. Ich bin gleich wieder da.« Phil war tatsächlich am Boden zerstört, und er sah Nicho las schuldbewußt an, als der sich ihm näherte. »Ich weiß. Ich hab's versaut. Aber ich habe sie die ganze Zeit im Auge behalten. Ich habe sogar im Auto in der Einfahrt geschlafen.« »Wobei geschlafen offenbar das Schlüsselwort ist.« Phil nickte betrübt. »Ich habe nicht damit gerechnet. Sie schien -186-
hier bei Ms. Viados so zufrieden zu sein.« Nicholas hatte ebenfalls nicht damit gerechnet. Nicht so schnell. Er hatte gedacht, um sich von dem traumatischen Friedhofsbesuch zu erholen, brauchte sie ein wenig Zeit. »O. k. Es ist nun mal passiert. Hast du versucht, sie zu finden? « Phil nickte erneut. »Ms. Viados sagt, du hättest bei der First Union Bank ein Konto auf den Namen Eve Billings für sie eingerichtet. Ich habe ihre Spur bis dorthin zurückverfolgt. Sie hat Geld abgehoben und ist damit zum Bahnhof gefahren. Es war ganz leicht. Sie hat ein Gesicht, das man nicht so schnell vergisst.« »Und wohin wollte sie? « »Preston, Minnesota. Dort ist sie ausgestiegen und hat einen Wagen gemietet. Den hat sie dann am O'Hara-Flughafen in Chicago wieder abgegeben. Welchen Flug sie genommen hat, weiß ich noch nicht. Die Reservationszentren rücken die Namen ihrer Kunden nicht gerne heraus, und es würde eine Ewigkeit dauern, wenn ich mich bei jedem Flug einzeln erkundige, ob sie von irgendwem gesehen worden ist.« Er machte eine Pause. »Wenn ich Zugang zu einem Computer hätte, würde ich natürlich eine Möglichkeit finden, die Dateien der Fluggesellschaften anzuzapfen und...« »Sie versucht, uns in die Irre zu führen. Sie benutzt bestimmt einen falschen Namen und bezahlt alles in bar. Gültige Kreditkarten hat sie nicht.« Phil verzog das Gesicht. »Pech.« »Aber sie hat einen Paß.« Er dachte nach. »Vielleicht gibt es einen Weg. Falls sie ein bestimmtes Ziel im Auge hatte, hat sie unter Umständen vom Haus aus telephoniert, um alles vorzubereiten. Oder hatte sie sonst irgendwo Zugang zu einem Telefon? « »Sie und Ms. Viados waren im Supermarkt, aber ich habe sie hingefahren und habe Ihnen die Tüten getragen. Sie hat nirgends -187-
telefoniert.« »Komm.« Entschlossen ging Nicholas zum Haus zurück. »Und? « fragte Tania, die ihnen in der Einfahrt entgegenkam. »Phil braucht einen Computer. Joel hat einen in der Bibliothek, nicht wahr? « »Ja.« Sie bedachte Phil mit einem skeptischen Blick. »Aber er verhätschelt das Ding, als wäre es sein kleiner Lieblingshund. Es gefällt ihm bestimmt nicht, wenn irgendetwas mit seinen Programmen passiert.« »Ich werde gut aufpassen«, versprach Phil mit ernstem Gesicht. »Und ich brauche ihn höchstens dreißig Minuten, länger nicht.« »Joels Computer ist bei ihm in den besten Händen«, sagte Nicholas. »Phil betet nämlich allabendlich vor dem Schrein von Microsoft.« »Von wem? « »Schon gut. Vertrau mir. Joels Programme sind bei ihm in Sicherheit.« Sie zuckte mit den Schultern und führte sie dann zum Haus zurück. »Joels Arbeitszimmer.« Sie nickte in Richtung einer Tür am Ende des Flurs. »Haben Sie mehr als eine Telefonleitung im Haus? « fragte Phil. Tania nickte. »Joels Telefon im Arbeitszimmer und dann noch das Privattelefon.« »Welche Nummern haben die beiden? « Sie ratterte die Zahlen herunter: »Soll ich sie aufschreiben? « »Nein, ich merke sie mir. Ich habe schon immer ein gutes Zahlengedächtnis gehabt.« Und schon eilte er den Flur hinab. »Was hat er vor? « fragte Tania. »Er zapft die Listen der Telefongesellschaft an, um zu sehen, wo Nell angerufen hat, bevor sie verschwunden ist.« »Ist das nicht illegal? « -188-
»Doch.« »Und was ist, wenn sie ihn erwischen? « »Keine Angst. Das hier ist das reinste Kinderspiel für ihn. Phil könnte auch die geheimsten Berichte der CIA einsehen, ohne daß man ihn dabei erwischt.« Dann wandte er sich einem anderen Thema zu. »Ich möchte Nells Zimmer sehen.« »Dort wirst du nichts finden. Ich habe es bereits aufgeräumt.« »Trotzdem will ich es sehen.« Sie führte ihn die Treppe hinauf und öffnete eine Tür. Dann beobachtete sie, wie er sich umsah und den Block neben dem Telefon auf dem Nachttisch unter die Lupe nahm. »Da stand nichts drauf.« Er hielt den Block ins Licht. Immer noch nichts. Dann ging er zum Schrank und öffnete die Tür. »Du sagst, daß sie kein Gepäck mitgenommen hat? « »Nur eine kleine Tasche. Wonach suchst du eigentlich? « Er sah die Kleider durch. »Keine Ahnung.« Er schloss den Schrank und sah sich abermals um. Ein Stapel Zeitschriften lag auf dem Regal neben dem Bett. »Waren die schon alle hier, als sie kam? « »Die Zeitschriften? Die meisten ja. Nell hat nur noch ein paar im Supermarkt dazugekauft.« Er setzte sich auf das Bett und nahm den Stapel in die Hand. »Welche? « »Ich bin nicht sicher. Ich habe sie mir nicht angesehen.« Tania trat neben das Bett und beobachtete, wie er die Zeitschriften durchblätterte. »Die Cosmopolitan ist neu. Die Newsweek auch. Sonst sehe ich keine - was ist los? « »Ich nehme an, die hier ist ebenfalls neu? « Er zog ein dünnes Heftchen unter dem Stapel hervor. »Es ist nicht unbedingt das, was eine normale Gastgeberin ihren Gästen als Bettlektüre zur Verfügung stellt.« -189-
»Soldier of Fortune?« Tania runzelte die Stirn. »Die Zeitschrift habe ich noch nie gesehen. Was für ein Blatt ist denn das? « »Es enthält reizende Artikel über Möglichkeiten, wie man Söldner werden kann. Es ist praktisch die Bibel jedes Überlebenskämpfers und Möchtegern-Söldners in den USA.« »Aber was für ein Interesse hat Nell an solchem Zeug? « Sie riss die Augen auf. »Du denkst, sie ist auf der Suche nach jemandem, den sie anheuern kann? « »Ich habe, verdammt noch mal, keine Ahnung, was sie sucht.« Er blätterte die Zeitschrift Seite für Seite durch auf der Suche nach umgeknickten Ecken oder handschriftlichen Notizen, die ihm verraten würden, welcher Teil des Hefts für sie von Interesse gewesen war. Es fand sich nirgends etwas, bis er zu den Anzeigen am Ende kam. In der Mitte des Blatts gab es einen unmerklichen Knick, als hätte sie es umgeklappt. »Hast du was entdeckt? « frage Tania. »Eine Seite mit mindestens hundert Anzeigen«, sagte er erschöpft. Es waren Privatanzeigen von Söldnern, die ihre Dienste anboten, Soldaten auf der Suche nach alten Kumpanen oder über Waffenverkäufe aller Art. Warum nur hatte dieses verdammte Weib nicht wenigstens eine der Anzeigen eingekreist? »Ich glaube, ich habe etwas gefunden.« Ein Blatt Papier in der Hand, trat Phil durch die Tür. »Bei den Gesprächen auf dem Apparat im Arbeitszimmer gab es nichts Besonderes. Aber diese drei Nummern auf dem Haustelefon kamen mir recht eigenartig vor.« Er gab Nicholas das Blatt. »Sie gehören zu Überlebenstrainingscamps. Eins ist in der Nähe von Denver, Colorado, eins nicht weit von Seattle, Washington, und das letzte in der Nähe von Panama City, Florida.« »Was ist ein Überlebenstrainingscamp? « fragte Tania. »Ein Trainingslager für Leute, die denken, daß Amerika irgendwann Ziel eines Angriffs oder aber ein Polizeistaat wird -190-
und daß sie nur dann überleben können, wenn sie wissen, wie man mit Waffen umgeht und wie man Guerillakriege führ t.« Nicholas fuhr mit dem Finger die betreffende Spalte in der Zeitschrift nach. »Normalerweise werden sie von ehemaligen Söldnern, Frontkämpfern oder irgendwelchen anderen Militärheinis geleitet, die sich ein paar Kröten verdienen, indem sie Wochenendkrie gern zeigen, was man können muß, um ein ganzer Kerl zu sein.« Alle drei Nummern waren auf dem Blatt, aber nichts wies darauf hin, welches der Lager schließlich von ihr ausgewählt worden war. »Welches der Camps hat sie als letztes angerufen, Phil? « »Seattle.« »Denkst du ernsthaft, daß Nell vielleicht in eins dieser Camps gefahren ist? « Tania starrte ihn ungläubig an. »Ja.« »Aber warum? « »Weil sie ein starrsinniges, dämliches Weibsbild ist, das sich nach Kräften bemüht, eines Tages umgebracht zu werden.« Und weil er sein verdammtes Maul aufgemacht und ihr das Gefühl gegeben hatte, der Aufgabe, die sie sich gestellt hatte, nicht gewachsen zu sein. »Ich glaube nicht, daß sie sterben will«, sagte Tania ruhig. »Nicht mehr. Langsam lebt sie wieder auf. Und sie ist bestimmt nicht dämlich. Sie muß einen guten Grund haben für das, was sie tut. Ist es sehr gefährlich für sie? « »Kommt drauf an, wer das Oberkommando in dem Lager hat. In einigen der Camps spielen sie nur Theater, aber andere werden von Fanatikern geleitet, die keine Gewissensbisse haben, wenn die schmerbäuchigen Börsenmakler, die zu ihnen kommen, einen Herzinfarkt kriegen, bevor das sogenannte Härtetraining vorüber ist.« »Wenn das solche Machos sind, dann nehmen sie Nell bestimmt gar nicht erst auf.« -191-
»Wenn sie Glück hat, nicht. Aber dank Joel ist Nell ein regelrechter Leckerbissen für jeden Mann, und vielleicht lassen sie sie aus anderen als den üblichen Gründen zu.« »Um sie zu vergewaltigen? « »Wahrscheinlich.« »Kannst du nicht in diesen Camps anrufen und fragen, ob sie dort gesehen worden ist? « »Die Mitgliedschaft dort wird vertraulich behandelt.« Er bekäme höchstens an Ort und Stelle etwas heraus. Welches Lager hatte sie wohl gewählt? Nell wollte, daß sie sie nicht länger bevormundeten. Seattle war am weitesten entfernt, und die Nummer des dortigen Camps hatte sie als letzte gewählt. »Ich fliege nach Seattle. Phil, du siehst dich mal in Denver um.« Phil nickte. »Soll ich Jamie anrufen und ihm sagen, daß er Panama City übernehmen soll? « »Jamie ist immer noch in London. Aber vielleicht haben wir ja schon mit den ersten beiden Lagern Glück.« Er stand auf und gab Tania einen Kuß auf die Stirn. »Wir bleiben in Verbindung. Wenn sie nicht in Seattle ist, rufe ich an, um zu hören, ob sie sich vielleicht bei dir gemeldet hat.« »Bitte tu das.« Tania folgte ihm aus dem Zimmer und die Treppe hinab. »Ich mache mir große Sorgen um sie, Nicho las.« »Das solltest du auch.«
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8. Kapitel Ocachobi, Florida »Wir nehmen keine Frauen bei uns auf, kleine Dame.« Colonel Carter Randalls knurriger Südstaatenakzent dröhnte unangenehm in Nells Ohren. »Also setzen Sie Ihren kleinen Feministinnenarsch in Bewegung, und verschwinden Sie von hier.« Nell scheuchte die Fliege fort, die, seit sie das Büro betreten hatte, vor ihrem Gesicht herumgeschwirrt war. Sie schwitzte, und die Luftfeuchtigkeit traf sie wie ein Schlag ins Gesicht. Ob der Kerl eine angestellte Klimaanlage wohl als Gefahr für seine männliche Härte betrachtete? »Ich bin keine Feministin. Oder vielleicht doch. Ich weiß nicht mehr, was das ist.« Sie begegnete seinem Blick. »Wissen Sie's? « »O ja, ich weiß es. Wir hatten schon vor Ihnen ein paar von diesen Lesbenweibern hier, die uns angefleht haben, ihnen zu zeigen, wie es ist, ein richtiger Mann zu sein.« »Und, haben Sie es ihnen gezeigt? « Ein gehässiges Lächeln umspielte seinen Mund. »Nein, aber ein paar der Jungs haben ihnen gezeigt, wie es ist, eine richtige Frau zu sein.« Er versuchte, ihr angst zu machen, was ihm auch gelang, aber das durfte er nicht sehen. Er gehörte zu der Art von Mann, die es genoß, andere zittern zu sehen. Mit ruhiger Stimme fragte sie: »Sie haben sie vergewaltigt? « »Das habe ich nicht gesagt, oder? « Er lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Aber wir haben hier in Ocachobi keine Quartiere für Frauen. Sie müßten eine Pritsche in einem der Männerschlafsäle nehmen.« »Dazu bin ich bereit.« -193-
»Das waren diese Lesben auch. Aber bereits nach der ersten Nacht haben sie es sich anders überlegt.« »Das werde ich nicht.« Sie wischte sich die feuchten Hände an der Jeanshose ab. Inzwischen wußte sie nicht mehr genau, schwitzte sie wegen der Hitze oder aus Nervosität? »Warum akzeptieren Sie keine Frauen? Unser Geld ist ebensogut wie das der Männer.« »Aber Euer Rückgrat ist es nicht.« Sein Blick verharrte auf ihren Brüsten. »Wir akzeptieren Frauen... dort, wo sie hingehören. Eine Frau sollte die Dinge tun, von denen sie was versteht.« Nur mit Mühe unterdrückte sie ihre Verärgerung. Es nützte ihr nichts, wenn sie diesem chauvinistischen Bastard zeigte, wie wütend sie war. Aber vielleicht wäre es hilfreich, wenn sie ihn wütend machte, dachte sie mit einem Mal. »Ich habe draußen auf dem Feld all diese großen, starken Männer gesehen, die versucht haben, über die Holzwand zu klettern. Allzu geschickt haben sie sich nicht gerade angestellt. Haben sie vielleicht Angst, eine Frau könnte besser sein? « Er erstarrte. »Dies ist erst die erste Trainingswoche. Am Ende des Monats werden sie drüberkommen wie der Blitz.« »Vielleicht.« Seine Augen blitzten zornig auf. »Wollen Sie damit etwa sagen, ich wäre ein Lügner? « »Ich sage lediglich, daß ich bezweifle, daß ein Mann, der unter seinen Männern noch nicht mal für Disziplin sorgen kann, aus ein paar Weichlingen innerhalb weniger Wochen echte Soldaten macht.« »Hier in Ocachobi herrscht äußerste Disziplin.« »Ach, dann erlauben Sie also, daß die Kerle Frauen vergewaltigen? Das ist keine militärische Disziplin, das ist Barbarei. Was für ein Offizier sind Sie? « Noch ehe er -194-
antworten konnte, fuhr sie fort. »Oder vielleicht sind Sie gar kein Offizier. Haben Sie Ihre Uniform vielleicht in irgendeinem Armeeladen gekauft? « »Ich war ein Colonel bei den Rangern, du Hexe.« »Wann? « schnauzte sie. »Und warum sind Sie nicht mehr bei der Armee und verstecken sich statt dessen hier im Sumpf? Sind Sie inzwischen zu alt und bringen es einfach nicht mehr? « »Ich bin zweiundvierzig Jahre alt, und ich stecke noch jeden Mann in Uniform in die Tasche, wenn ich will«, knurrte er. »Das bezweifle ich nicht. Diese armen Kerle schaffen es ja noch nicht mal, die Wand raufzuklettern. Es gibt Ihnen bestimmt ein ungeheures Überlegenheitsgefühl, zu wissen, daß Sie stärker sind.« »Ich habe nicht die Auszubildenden gemeint, ich habe...« Zornbebend brach er ab. »Sie meinen also, die Holzwand ist leicht? Sie ist zehn Meter hoch. Vielleicht machen Sie es ja besser, kleine Dame.« »Wahrscheinlich. Vielleicht probieren wir es einfach mal aus? Wenn ich es schaffe, nehmen Sie mich dann hier auf? « Sein Lächeln troff vor Boshaftigkeit. »Wenn Sie drüberkommen, nehmen wir Sie mit dem größten Vergnügen auf.« Er stand auf und winkte in Richtung der Tür. »Nach Ihnen.« Sie zeigte ihm nicht, wie erleichtert sie war, als sie hinter ihm die Treppe zum Übungsplatz hinunterstieg. So weit, so gut. Vielleicht. Aus der Nähe betrachtet, sah die Holzwand mit einem Mal viel höher aus, und von den Stiefelabdrücken der Männer, die versucht hatten, das Hindernis zu überwinden, rann eine glitschige Spur herab. Das Gejohle und Gegrinse der Männer ignorierte sie. Sie packte das Seil und begann zu klettern. Sofort merkte sie, daß dies -195-
etwas ganz anderes war, als das Seil zu erklimmen, das an der Decke des Fitneßraums des Krankenhauses befestigt gewesen war. Wenn sie versuchte, ihre Knie zu benutzen, prallte sie mit dem Seil gegen die hölzerne Wand. Es ging nur, wenn sie sich mit den Füßen abstemmte und sich allein mit den Armen höherzog. Anderthalb Meter. Ihre Sohlen glitten an der schlammigen Oberfläche ab, und sie krachte gegen die Wand. Schmerz. Gelächter von den Männern unter ihr. Achte nicht auf sie. Halt dich fest. Laß nicht los. Sie drückte sich von der Wand ab und stemmte erneut die Füße gegen das Holz. Zweieinhalb Meter. Wieder rutschte sie aus. Das rauhe Seil verbrannte ihre Hände, als sie anderthalb Meter schlitterte, ehe sie sich wieder fing. »Keine Angst«, rief Randall spöttisch. »Wenn du fällst, fangen wir dich auf, Süße.« Wieder brachen die Männer in dröhnendes Gelächter aus. Ignorier sie. Das konnte sie. Ignorier den Schmerz. Immer nur einen Schritt. Denk an nichts anderes. Es gab nur das Seil und die Wand. Wieder begann sie zu klettern. Einen Meter rauf. Sie glitt ab und krachte gegen die Wand. Anderthalb Meter rauf. Wie viele Meter noch? Es war egal. Man schaffte alles, wenn man sich von Minute zu Minute weiterarbeitete. Nach zehn dieser quälenden Minuten hatte sie endlich das obere Ende der Wand erreicht und schwang -196-
sich rittlings darauf. Dann blickte sie auf Randall und die Männer herab. Es dauerte einen Augenblick, bis sie wieder zu Atem kam. »Ich habe es geschafft, du Hurensohn. Und jetzt hoffe ich, daß du dein Versprechen hältst.« Sein Lachen verstummte, ebenso wie das der anderen. »Kommen Sie da runter.« »Sie haben mir versprochen, mich zu nehmen, wenn ich es schaffe. Und ein Offizier hält immer sein Wort, nicht wahr? « Er bedachte sie mit eine m kalten Blick. »Also gut, kleine Dame, es wird uns ein Vergnügen sein, Sie in unserer Mitte zu sehen. Morgen rücken wir zum Manöver aus. Das gefällt Ihnen bestimmt.« Was hieß, daß er die Absicht hatte, ihr das Leben zur Hölle zu machen. Sie ließ sich auf der anderen Seite der Holzwand herunter, und als sie unten ankam, wartete er bereits auf sie. »Das hier ist Sergeant George Wilkins. Er wird Ihnen Ihre Ausrüstung geben. Habe ich schon erwähnt, daß ihm Frauen beim Militär ein Dorn im Auge sind? « Sie nickte dem untersetzten, kräftig gebauten Sergeant zu. Wilkins sagte: »Das hätte ein Baby geschafft. Im Vergleich zu den Sümpfen ist diese Holzwand der reinste Klacks.« Mit diesen Worten wandte er sich ab und stapfte davon. »Laufen Sie ihm besser nach«, sagte Randall in geradezu freundlichem Ton. »Und ich an Ihrer Stelle würde mir die Hände verbinden. In den Sümpfen gibt es alle möglichen Pilze und Bakterien. Schließlich wollen wir doch nicht, daß Sie sich irgendwas einfangen, kleine Dame.« Erst jetzt bemerkte sie, daß ihre Handflächen aufgerissen waren und bluteten. Die Wunden allerdings störten sie nicht so sehr wie der herablassende Spitzname, der ihr von ihm verpaßt worden war. »Ich versuche stets, eine Dame zu sein, aber ich bin nicht klein.« Sie wandte sich ab und ging in die Richtung, in die Wilkins verschwunden war. -197-
Als sie dem Sergeanten eine Stunde später in den langen Schlafsaal folgte, senkte sich bedrohliche Stille über den Raum. »Das ist Ihr Bett.« Wilkins wies auf eine Pritsche unter einem der vergitterten Fenster. »Solange Sie hier sind.« Er machte kehrt und ging davon. Sie versuchte, die Männer im Raum zu ignorieren, während sie ihre Kleider und Ausrüstung auf die Pritsche warf. Doch das war leichter gesagt als getan. Die Blicke der Kerle brannten sich wie glühende Eisen in ihr Kreuz. Was machte sie nur hier? überlegte sie, und Verzweiflung wallte in ihr auf. Das Ganze war vollkommen verrückt. Es mußte einen anderen Weg geben, um zu erreichen, was erforderlich war. Ignorier sie. Vielleicht gab es andere Wege, aber keiner war so schnell wie der, der von ihr gewählt worden war. Sie hatte sich einen Plan zurechtgelegt und wich nicht wieder davon ab. Sie sortierte ihre Kleider und wandte sich dann der M16 und der Pistole, die Wilkins ihr gegeben hatte, zu. Mußte sie sie nicht reinigen oder so? In sämtlichen Kriegsfilmen, die sie je gesehen hatte, hatte es eine Szene gegeben, in der irgendein armer Kerl bestraft worden war, weil er sein Gewehr nicht gereinigt hatte. »Kann ich Ihnen helfen? « Sie erstarrte und drehte sich um. Ein Kind. Ein schlaksiger Junge, der höchstens siebzehn war. Seine krumme Nase war mit Sommersprossen bedeckt, und er lächelte sie zögernd, fast schüchtern an. »Ich bin Peter Drake.« Er setzte sich auf ihre Pritsche. »Ich habe beobachtet, wie Sie die Wand raufgeklettert sind. Ich glaube nicht, daß es dem Colonel gefallen hat, daß Sie oben angekommen sind. Mir hat es gefallen. Es gefällt mir, wenn Leute gewinnen.« Sein Lächeln strahlte kindliches Vergnügen aus. Kindlich. Sie starrte ihn an, und mit einem Mal wurde ihr klar, -198-
wie passend diese Bezeichnung war. Großer Gott, Randall mußte ein Teufel sein, wenn er einen Jungen wie ihn in seinem Lager duldete. »Ja? « fragte sie sanft. »Es ist tatsächlich ein schönes Gefühl, wenn man gewinnt.« Er runzelte die Stirn. »Ich habe es nicht geschafft. Der Sergeant war wütend auf mich. Er mag mich nicht.« »Warum gehst du dann nicht fort von hier? « »Mein Daddy will, daß ich hierbleibe. Er war ein Soldat wie Colonel Randall. In der regulären Armee wollten sie mich nicht. Er sagt, dieses Lager macht einen richtigen Mann aus mir.« Ihr wurde schlecht. »Und was sagt deine Mutter dazu? « »Sie ist nicht mehr da«, sagte er vage. »Ich komme aus Selena, Mississippi. Und woher kommen Sie? « »North Carolina. Aber du klingst gar nicht so, als ob du aus dem Süden kämst.« »Ich bin nicht oft dort. Er schickt mich immer auf irgendwelche Schulen.« Er spielte mit der Schnur ihres Rucksacks herum. »Ich glaube, der Colonel mag Sie auch nicht. Warum? « »Weil ich eine Frau bin.« Sie verzog das Gesicht. »Und weil ich die Wand hochgekommen bin.« Er sah sich im Schlafsaal um. »Ein paar von den Männern mögen Sie auch nicht. Colonel Randall war vor ein paar Minuten hier und hat ihnen gesagt, es wäre in Ordnung, wenn sie Ihnen wehtun.« Was sie nicht weiter verwunderte. Er lächelte. »Aber ich werde Ihnen helfen. Ich bin nicht besonders klug, aber ich bin stark.« »Danke, aber ich komme auch allein zurecht.« Seine Miene verfinsterte sich. »Vielleicht denken Sie, ich bin nicht stark genug, weil ich nicht die Wand raufgekommen bin? « -199-
»Das ist es nicht. Ich bin sicher, daß du stark genug bist, um alles zu tun, was du willst.« Immer noch hatte er diesen verletzten Gesichtsausdruck. Sie konnte diesen Jungen unmöglich in ihren Kampf mit einbeziehen, aber sie hatte das Gefühl, als hätte sie einem Welpen einen Tritt versetzt. »Vielleicht könntest du mir helfen, indem du mir was über die Männer hier erzählst. Das wäre sehr wichtig für mich.« »Ich weiß nicht. Sie reden nicht viel mit mir.« »Welche von Ihnen, denkst du, tun mir vielleicht weh? « Sofort nickte er in Richtung eines untersetzten Kerls mit schütterem Haar, der vier Pritschen neben ihr lag. »Scott. Er ist ganz schön fies. Er ist derjenige, der mich Blödmann nennt.« »Sonst noch wer? « »Sanche z.« Er sah sich unbehaglich nach einem kleinen, drahtigen Lateinamerikaner um, der mit einem unangenehmen Grinsen in ihre Richtung starrte, und dann nickte er in Richtung eines blonden Mittzwanzigers. »Blumberg. Sie haben angefangen, mich unter der Dusche zu betatschen, aber als Scott kam, haben sie aufgehört.« »Scott hat sie daran gehindert? « »Nein, aber sie wollten nicht, daß er es weiß.« Er schluckte. »Sie haben gesagt, ich... liefe ihnen ja nicht weg.« Wenn sie schwul waren, dann hätte sie von Sanchez und Blumberg vielleicht nichts zu befürchten. Nein, Vergewaltigung war ein Gewaltverbrechen, kein Verbrechen aus Leidenschaft, und auch vor einem hilflosen Jungen hatten sie nicht haltgemacht. »Ich glaube, du solltest von hier fortgehen, Peter.« Er schüttelte den Kopf. »Das würde Daddy nicht wollen. Er sagt, ich bin zu weich. Er sagt, ich muß lernen, einzustecken.« Einzustecken, daß man ihn mißbrauchte und vergewaltigte? Er mußte gewußt haben, in welche Machohölle Peter hier geraten -200-
würde. Nur mit Mühe unterdrückte sie ihren Zorn. Sie konnte im Augenblick nichts für Peter tun. Vielleicht könnte sie noch nicht einmal etwas für sich selber tun. »Dein Daddy hat Unrecht. Dies ist nicht der richtige Ort für dich. Geh nach Hause.« »Dann würde er mich ja doch zurückschicken.« Und dann fügte er hinzu: »Er will mich nicht.« Verdammt. Das hier kam ihr gerade recht. Das Mitleid, das sie für diesen Jungen empfand, machte es bestimmt nicht leichter für sie. Sie starrte ihn hilflos an, und dann wandte sie sich ab. »Kennst du dich mit Waffen aus? « Seine Miene hellte sich auf. »Sie haben uns gleich am ersten Tag alles mögliche über Gewehre erzählt. Jeden Morgen rücken wir zum Zielschießen aus.« »Und was ist mit der Pistole? « »Darüber weiß ich nicht so viel. Aber ich weiß, wie man sie zusammensetzt und wie man sie lädt.« Sie setzte sich neben ihn auf das Bett. »Zeig es mir.« »Hast du was von ihr gehört? « fragte Tanek, als Tania ans Telefon kam. »Kein Wort. Sie ist also nicht in Seattle? « »Nein, und Phil sagt, in Denver ist sie auch nicht. Offenbar haben wir uns geirrt.« »Meinst du, daß sie vielleicht in Florida ist? « »Gott, ich weiß es nicht.« Er rieb sich den Nacken. »Vielleicht hat sie auch nur eine weitere falsche Spur gelegt. Sie könnte überall sein.« »Was wirst du tun? « »Was schon? Ich fliege in dreißig Minuten nach Florida, und am späten Vormittag müßte ich in Ocachobi sein. Ich schicke Phil zu euch zurück für den Fall, daß sie plötzlich vernünftig wird -201-
und nach Hause kommt.« »Das ist nicht nötig. Ich bin ja hier.« »Es ist nötig«, sagte er grimmig. »Wenn sie auftaucht, laßt sie bloß nicht wieder gehen. Ich muß unbedingt mit ihr reden.« Sie kamen. Nells Muskeln spannten sich unter der Decke an, als sie hörte, wie irgendjemand durch die Dunkelheit zu ihrer Pritsche kam. Seit Stunden wartete sie auf diesen Augenblick. Sie versuchten noch nicht einmal, leise zu sein. Warum sollten sie auch? Niemand würde ihr zur Seite stehen. Außer Peter. Schlaf weiter, Peter. Gib ihnen keinen Grund, dir weh zu tun. Sie kamen näher. Vier Schatten in der Dunkelheit. Wer war der vierte Mann? Es war egal. Sie alle waren der Feind. »Mach das Licht an. Ich will ihr Gesicht sehen, wenn ich ihn ihr reinramme.« Es wurde hell. Scott. Sanchez. Blumberg. Der vierte Mann war schon älter, mit einem Durchschnittsgesicht und schütterem Haar. »Sie ist wach. Guckt nur, Jungs, sie wartet schon auf uns.« Scott trat neben ihr Bett. »Weißt du, es gefällt uns nicht, wenn sich irgendwelche Lesben einbilden, besser als wir zu sein.« »Verschwinden Sie.« »Das können wir nicht. Wir wollen dir doch schließlich zeigen, daß wir ebenfalls gute Kletterer sind. Wir werden dich so oft besteigen, daß du morgen früh O-Beine hast.« Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Und jetzt sei schön still, und tu brav, was wir dir sagen. Wir mögen es nicht, wenn sich Frauen als Soldaten verkleiden. Irgendwie macht uns das gar nicht an. Also zieh dich aus.« -202-
»Lasst sie in Ruhe«, mischte sich Peter ein. Er saß auf dem Rand seiner Pritsche und sah in seiner khakifarbenen Unterwäsche noch zerbrechlicher und linkischer als vorher aus. »Halt's Maul, Blödmann«, sagte Scott, ohne ihn anzusehen. »Ihr dürft ihr nicht wehtun Sie hat euch ja auch nicht wehgetan.« »Ob wir ihr wehtun, liegt ganz bei ihr. Sie braucht nur zu tun, was wir ihr sagen, vielleicht hat sie dann sogar Spaß dabei«, sagte Sanchez. »Verschwinden Sie«, wiederholte Nell. Peter eilte neben ihre Pritsche. »Tut ihr nicht weh.« Er hatte Angst. Sie sah, daß sein Wangenmuskel zuckte und daß seine Hände zitterten. »Geh wieder ins Bett, Peter.« »Vielleicht will der Blödmann seinen Schwanz ja auch mal 'n bisschen nass machen«, sagte Scott. »Nee, dazu ist er nicht Manns genug.« »Sie denken, wenn man eine Frau vergewaltigt, ist man ein ganzer Mann? « fragte sie. »Was ich denke, wirst du gleich sehen.« Er beugte sich zu ihr hinab und riß ihre Decke zurück. Sie hob die Pistole an, die darunter verborgen gewesen war, und richtete sie auf seinen Unterleib. »Ich sehe nur, daß Sie keinen Penis mehr haben werden, wenn Sie sich nicht auf der Stelle verziehen.« »Scheiße.« Instinktiv trat er einen Schritt zurück. »Wir könnten sie einfach überwältigen«, sagte Sanchez. »Wir nehmen ihr die Knarre ab und schieben sie in ihre Möse rein.« »Ja, das könnten Sie tun«, sagte Nell, wobei sie ihrer Stimme einen möglichst ruhigen Klang verlieh. »Warum tun Sie's nicht, Scott? Vielleicht erwische ich Sie ja nicht alle. Natürlich würde -203-
mein erster Schuß Sie zum Eunuchen machen, und der zweite wäre für Sanchez bestimmt. Danach hätte ich es vielleicht ein bißchen eilig und würde größere Ziele nehmen wie Bauch oder Brust.« »Das wird sie nicht tun«, mischte sich Blumberg ein. »Das wäre ja Mord.« »Und Mord ist viel schlimmer als Vergewaltigung.« Nells Griff um die Waffe verstärkte sich. »Aber das sehe ich anders als sie.« »Dafür würden sie dich einbuchten und den Schlüssel wegschmeißen, und du kämst nie wieder aus dem Bau.« »Sie würden es versuchen.« Sie begegnete seinem Blick, und dann sah sie die Männer der Reihe nach an. »Aber ich würde es tun. Ich lasse mir nicht wehtun, und ich lasse mich auch nicht aufhalten. Sie stellen sich mir in den Weg, und das kann ich nicht zulassen. Rührt mich an, und ich niete euch um.« O Gott, sie klang wie eine Schauspielerin in einem schlechten Film. Scott riß die Augen auf, und er flüsterte: »Du bist ja verrückt.« »Kann sein.« Er wich vor ihr zurück. »Du läßt dir doch wohl von dieser Schlampe keine Angst einjagen, oder? « fragte Sanchez ihn. »Auf deinen Schwanz zielt sie ja nicht«, stieß Scott zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Jetzt schon.« Nell lenkte den Lauf ihrer Waffe um. Sanchez blinzelte. »Ihr habt gesagt, es würde ganz einfach«, murmelte der vierte Mann. »Halt's Maul, Glaser«, sagte Scott. »Ihr habt mir nicht gesagt, was für ein rabiates Weib das ist.« Glaser stapfte davon. »Wir kommen später noch mal zurück. Schließlich kann sie ja -204-
nicht die ganze Nacht wach bleiben.« Scott sah Nell mit einem boshaften Lächeln an. »Sobald du die Augen zumachst, sind wir wieder da.« Er streckte die Hand aus und löschte das Licht. Sie atmete tief ein und hatte plötzlich das Gefühl, mutterseelenallein und furchtbar verletzlich zu sein. Noch einmal wurde Scotts Stimme laut. »Hat dich ganz schön fertiggemacht, he? Und du kannst nicht ewig wach bleiben. Außerdem, was willst du machen, wenn wir erst mal in den Sümpfen sind? Denkst du etwa, Wilkins hätte was dagegen, wenn wir uns ein bißchen amüsieren? « »Ich bezweifle, daß Sie noch groß Lust auf eine Vergewaltigung haben werden, wenn wir erst mal den ganzen Tag durch den Schlamm gewatet sind.« Sie hörte einen unterdrückten Fluch. Sie gingen tatsächlich davon, stellte sie erleichtert fest. Es war noch zu früh, um sich zu entspannen, aber die unmittelbare Gefahr war gebannt. Gott, hatte sie eine Angst gehabt. Sie hatte immer noch Angst und lag zitternd in der Dunkelheit. »Ich passe auf Sie auf«, sagte Peter zu ihr. Fast hätte sie vergessen, daß da noch der Junge war. »Nein, schlaf jetzt. Morgen wird ein anstrengender Tag. Da brauchst du deine ganze Kraft.« »Ich passe auf Sie auf«, wiederholte er stur und setzte sich mit gekreuzten Beinen neben ihr Bett. »Peter, bitte...«, aber dann brach sie ab. Sie hatte nicht die Absicht zu schlafen, aber es war klar, daß er sich nicht abweisen ließ. Also gut, in ein paar Stunden wäre die Nacht sowieso vorbei. »Ich hatte ganz schön Angst«, sagte Peter. »Ich auch.« »Das hat man Ihnen aber nicht angemerkt.« -205-
»Dir auch nicht«, log sie. »Nein? « Er klang ehrlich erfreut. »Ich dachte, Scott hätte es gemerkt. Er ist wie mein Daddy. Er kennt sich mit solchen Sachen aus.« »Und dein Vater sagt, daß er sich mit solchen Sachen ebenfalls auskennt? « »Sicher. Er sagt, daß ein Mann seine Schwächen erkennen muß. Er sagt, er wäre nie Bürgermeister von Selena geworden, wenn er nicht seine Schwächen erkannt und überwunden hätte.« Allmählich verabscheute sie den gesichtslosen Kerl, der Peters Vater war. »Dein Vater hätte unmöglich mutiger sein können als du eben. Wenn er dich gesehen hätte, wäre er bestimmt stolz auf dich.« Schweigen. »Nein, er ist nie stolz auf mich. Ich bin nicht klug genug.« Die Einfachheit seiner Antwort weckte abermals schmerzliches Mitleid in ihr. »Tja, ich war jedenfalls stolz auf dich.« »Ja? « fragte er begeistert. »Ich war auf Sie auch stolz.« Und nach einer Pause sagte er: »Das heißt, daß wir Freunde sind, nicht wahr? « Am liebsten hätte sie ihn fortgeschickt. Sie wollte weder seine Hilfe noch die Verantwortung, die er ihr unbewußt für sich übertrug. Er hatte sich den Widerlingen gegenüber auf ihre Seite gestellt, und dafür rächten sie sich sicher später an ihm. Es wäre ihre Schuld, und das wollte sie nicht. Aber um ihn jetzt noch fortzuschicken, war es zu spät. »Ja, das heißt es«, sagte sie. »Und wir haben's ihnen ganz schön gegeben, nicht wahr? « Sie seufzte. »Allerdings.« »Eve Billings? Ich kenne niemanden mit diesem Namen«, sagte Randall in gleichgültigem Ton. »Und außerdem nehmen wir hier in Ocachobi keine Frauen auf, Mr. Tanek.« -206-
Nicholas warf eins der Photos, die Tania ihm gegeben hatte, auf den Tisch. »Vielleicht benutzt sie einen anderen Namen.« »Hübsche Frau.« Randall schob das Photo fort. »Aber trotzdem habe ich sie nicht gesehen.« »Das finde ich seltsam. Sie hat am Flughafen von Panama City einen Wagen gemietet.« Er klappte sein Notebook auf. »Und der hat dasselbe Nummernschild wie der Ford, der hinter Ihrem Büro auf dem Parkplatz steht.« Randalls Lächeln legte sich. »Wir mögen es nicht, wenn irgendwelche Leute bei uns rumschnüffeln.« »Und ich mag es nicht, wenn man mich belügt«, sagte Nicholas sanft. »Wo ist sie, Randall? « »Ich habe doch gesagt, sie ist nicht hier.« Randall machte eine ausholende Handbewegung. »Sehen Sie sich ruhig um. Sie werden sie nicht finden.« »Das wäre Pech... für Sie.« Randall sprang von seinem Sessel auf. »Wollen Sie mir etwa drohen? « »Ich sage nur, daß ich sie zurückhaben will und daß Ihnen die Schwierigkeiten, die ich Ihnen machen werde, wenn Sie sie mir nicht sofort bringen, bestimmt nicht gefallen werden.« »Wir sind Schwierigkeiten gewohnt. Dafür werden die Männer hier ja extra ausgebildet.« »Hören Sie doch mit diesem Schwachsinn auf. Den Behörden in Panama City sind Sie sowieso ein Dorn im Auge, und sie werden sich freuen, wenn ihnen jemand die Möglichkeit gibt, den Laden dichtzumachen.« »Weshalb? « fragte Randall erbost. »Schließlich hat niemand die Kleine auch nur angerührt, verdammt.« »Wegen Entführung.« »Sie ist freiwillig hierhergekommen. Himmel, sie hat sich mir quasi aufgedrängt. Das wird sie Ihnen bestätigen.« -207-
»Trotzdem werde ich überall rumerzählen, Sie hätten sie entführt und einer Gehirnwäsche unterzogen. Über eine solche Geschichte sind die Zeitungen bestimmt mehr als froh.« Nicholas lächelte. »Was meinen Sie? « »Ich meine, daß Sie ein elender Hurensohn sind.« Und dann fragte er in beleidigtem Ton: »Wer ist sie? Ihre Frau? « »Ja«, log Nicholas. »Dann sollten Sie dafür sorge n, daß die Hexe in Zukunft zu Hause bleibt und mir nicht noch mal vor die Füße läuft.« »Sagen Sie mir, wo sie ist, und ich nehme Sie Ihnen gerne wieder ab.« Randall schwieg, und dann umspielte ein boshaftes Lächeln seinen Mund. »Warum nicht? « Er zog die Schublade seines Schreibtisch» auf, nahm eine Landkarte heraus und rollte sie auf. »Sie ist im Manöver. Sie wollte unbedingt beweisen, wie hart sie ist. Ich kann Ihnen nicht sagen, wo sie im Augenblick ist, aber mit Anbruch der Dämmerung wird sie dort zu finden sein.« Er stach mit dem Zeigefinger auf einen Punkt auf der Karte. »Sie kampieren immer an derselben Stelle. Cypress Island. Sie sollten mir dankbar sein. Nach dem heutigen Tag wird sie überglücklich sein, Sie wiederzusehen.« Sein Lächeln wurde breiter. »Aber vielleicht sind Sie nicht ganz so glücklich, sie wiederzusehen, wenn Sie erst mal durch die Sümpfe gewatet sind.« »Einen anderen Zugang gibt es nicht zu der Insel? « »Sie liegt mitten im Sumpf. Die nächste Straße ist zwei Meilen entfernt.« Randall zeigte auf eine Linie auf der Karte. »Sehen Sie? « »Ich sehe, daß Sie ein selbstzufriedenes Arschloch sind.« »Sie können auch hierbleiben und warten, bis sie zurückkommt. Das wird in vier Tagen sein.« Nicholas nahm die Karte und wandte sich zum Gehen. -208-
»Viel Spaß bei der Suche. Und grüßen Sie die kleine Dame von mir.« Allmählich empfand er Randalls Gebaren mehr als ärgerlich. Er blieb stehen. Nein, er hatte keine Zeit. Bedauerlich. Er verließ das Büro. »Trödeln Sie nicht rum, Billings«, sagte Wilkins, während er sich durch das hüfthohe Wasser schob. »Sie fallen zurück. Wir warten nicht.« Nell ignorierte den Seitenhieb. Sie fiel nicht zurück. Hinter ihr kämpften sich noch vier Männer durch den Sumpf. »Jeder, der zurückbleibt, wird den Alligatoren überlassen.« Wieder versuchte er, ihr Angst einzujagen. Hoffentlich sah er nicht, wie erfolgreich er damit war. Vor ein paar Stunden hatte sie eins dieser gräßlichen Biester gesehen. »Ich bleibe bei Ihnen«, flüsterte Peter hinter ihr. »Keine Angst.« Aber sie hatte Angst. Sie hatte Angst, sie war erschöpft, und sie wollte nur noch fort von diesem gespenstischen Ort. Seit fast sieben Stunden quälte sie sich durch das schlammdunkle Wasser voran. Die Riemen ihres Rucksacks schnitten ihr in die Schultern und sie... Neben sich im Wasser nahm sie eine lautlose Bewegung war. Eine Schlange. Gott, sie hatte Schlangen schon immer gehaßt. »Schlafen Sie nicht ein, Billings.« Sie riss ihren Blick von der Bedrohung fort, die sich ihr unter der Wasseroberfläche zu nähern schien, und schob sich weiter voran. Immer nur einen Schritt. Immer nur einen Fuß vor den anderen. Sie würde es schaffen. Irgendwann ging jeder Alptraum einmal vorbei. Nur einer nicht. -209-
Nicholas parkte den Mietwagen am Straßenrand und wühlte in der Tasche auf dem Beifahrersitz herum. Er zog sein Messer und ein weißes Taschentuch heraus, band sich mit dem Taschentuch die Haare aus der Stirn und schob das Messer in den Bund seiner Jeans. Nicht unbedingt die beste Ausrüstung für einen Marsch durch die Sümpfe, aber etwas anderes hatte er nicht. Er stieg aus und blickte schlechtgelaunt auf das gelbe Wasser, das auf der gegenüberliegenden Straßenseite begann. Randalls Karte zufolge kam er mit dem Wagen nicht näher an die Insel heran. Er bückte sich und schnürte seine Tennisschuhe fester zu. Er hätte Glück, wenn er durch den Schlamm und das faulige Wasser käme, ohne daß er einen der Schuhe verlor. Er hatte Sümpfe schon immer gehaßt. Aber natürlich wäre es zuviel verlangt gewesen, daß sich Nell für ein nettes, sauberes Berglager wie das in Washington entschied. Nein, sie mußte sich in die heißen, schlammigen Sümpfe stürzen, wo es zwischen Moskitos, Alligatoren und zweibeinigen Raubtieren wie Randall herumzukriechen galt. Am liebsten hätte er sie erwürgt. Mit knirschenden Zähnen sprang er ins Wasser und machte sich auf den Weg. »Anscheinend haben wir ein kleines Problem.« Wilkins lächelte, als er zu ihnen zurückgewatet kam. »Ich brauche einen Freiwilligen.« Nell sah ihn verschwommen vor sich und verstand kaum noch, was er sagte. »Also? « Sie wartete darauf, daß er sie direkt ansprach, doch dann sah er Peter an. »Du meldest dich doch bestimmt freiwillig, nicht wahr, Drake? Gut. Du bist genau der Richtige für diesen Job. Jung und schnell. Geh an den Kopf der Kolonne.« »Was soll ich tun? « »Wir haben ein kleines Entsorgungsproblem. Vorn ist der Weg versperrt.« -210-
»O. k.« Peter ging los. Sie bedachte den Sergeant mit einem argwöhnischen Blick. Jung und schnell. Warum schnell? Sie eilte Peter nach. Großer Gott. Sie blieb wie angewurzelt stehen. Die Schlange war wie eine farbenfrohe Girlande um den tiefsten Ast der Zypresse drapiert. Ohne sie zu streifen, kämen sie nicht darunter hindurch. »Wollen Sie besser sehen? « fragte Wilkins neben ihr. »Mach die Schlange los, Drake.« »Warten Sie.« Sie befeuchtete ihre Lippen. »Was ist das für eine Schlange? « »Nur eine kleine Milchschlange.« »Warum gehen wir nicht einfach drum herum? « »Gute Soldaten laufen vor Problemen nicht davon. Sie lösen sie.« Milchschlange. Dieser Name rief irgendeine Erinnerung in ihr wach. Es gab eine andere Schlange, die mit der Milchschlange fast identisch war. Nur die Reihenfolge der Streifen war anders. Sie wußte noch, daß ihr von ihrem Großvater einmal ein Reim beigebracht worden war, damit sie wußte, welches die harmlose und welches die giftige Schlange war. Aber sie erinnerte sich weder an die andere Schlange noch an den Reim. »Los, Drake«, wies Wilkins den Jungen an. Korallenschlange. Das Reptil, das der Milchschlange zum Verwechseln ähnlich sah, war die tödliche Korallenschlange. »Stop! « Peter blickte lächelnd über die Schulter zurück. »Keine Angst, ich hatte eine zahme Schlange zu Hause, als ich noch ein kleiner Junge war. Man packt sie einfach hinter dem Kopf, und dann -211-
kann sie einem nichts mehr tun.« »Nicht, Peter. Vielleicht ist sie giftig. Die Milchschlange und die Korallenschlange sehen sehr ähnlich aus.« »Es ist nur eine kleine Milchschlange. Sehen Sie, die goldenen Streifen liegen direkt neben den roten. Das heißt, daß sie harmlos ist.« Wilkins sah Peter mit zusammengekniffenen Augen an. »Los, Junge.« Peter ging in Richtung des Reptils. Rot neben schwarz. Warum nur erinnerte sie sich nicht an den Reim. »Ganz ruhig«, flüsterte Peter der Schlange zu. »Ich tue dir nichts, meine Süße. Ich hänge dich nur woanders hin.« Bei dem fast zärtlichen Klang seiner Stimme rann ihr ein kalter Schauder den Rücken hinab. Bestimmt streichelte er die Schlange gleich noch. Wilkins sah dem Jungen lächelnd zu. Der Sergeant mag mich nicht. Aber Wilkins brächte doch sicher nicht absichtlich ein Kind wie Peter in Gefahr? Auch wenn er ihn noch so sehr verachtete. Vielleicht war die Schlange ja tatsächlich so harmlos, wie er behauptete. Oder vielleicht irrte er sich. Rot auf schwarz... »Nein!« Sie stieß Peter beiseite, machte einen Satz, packte die Schlange hinter dem Kopf und schleuderte sie mit aller Kraft in den Sumpf. Drei Meter von ihr entfernt schlug das Tier auf der Wasseroberfläche auf. »Das hätten Sie nicht tun sollen.« Peter bedachte sie mit einem vorwurfsvollen Blick. »Der Sergeant hat gesagt, daß das meine Aufgabe ist.« -212-
»Sei ruhig«, knurrte sie. Wahrscheinlich war es eine Milchschla nge gewesen, aber sie hatte es einfach nicht geschafft, ruhig zuzusehen. O Gott, ihr wurde schlecht. Immer noch spürte sie die klamme Kälte der Schlangenschuppen auf ihrer Haut. Sie beobachtete benommen, wie sich das Tier behende durch das Wasser von dannen schlängelte. »Der Junge hat recht«, stellte Wilkins mit stoischer Ruhe fest. »Es war nicht Ihre Aufgabe, Billings.« »Sie haben einen Freiwilligen gesucht.« Sie versuchte verzweifelt, nicht allzusehr zu zittern, während sie sich erneut durch das Wasser schob. »Also habe ich mich gemeldet.« »Sie hätten nicht so grob sein müssen«, sagte Peter in vorwurfsvollem Ton, während er sich neben sie schob. »Vielleicht haben Sie ihr wehgetan « War das ein Stück Moos oder eine weitere Schlange auf dem Baum über ihr? Nur Moos. »Tut mir leid.« »Meine Schlange war grün. Nicht so hübsch wie diese hier. Gelb und rot und schwarz - was ist los? « »Nichts.« Das durfte nicht wahr sein. Gerade fiel ihr der Reim wieder ein. Rot auf schwarz, vor Unglück bewahrt's. Rot auf gold, die Schlange dir grollt.
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9. Kapitel Sie erreichten Cypress Island eine Stunde vor Sonnenuntergang. Daß es sich statt um eine Insel eher um eine moosbedeckte Sandbank handelte, war egal. Es war trockener Boden, und Nell fand es wunderbar, als sie aus dem Wasser torkelte. »Hallo«, drang Taneks Stimme an ihr Ohr. Schockiert blieb sie stehen. Er saß unter einer Zypresse auf dem moosüberwachsenen Untergrund. »Ich hoffe, Sie verzeihen mir, wenn ich nicht extra aufstehe. Aber ich bin im Augenblick nicht sonderlich höflich gestimmt. Man könnte sogar sagen, daß ich etwas böse auf Sie bin.« Er war mehr als böse, dachte sie erschreckt. Er war schlammig und naß und extrem schlecht gelaunt. »Was machen Sie denn hier? « »Dasselbe könnte ich Sie fragen.« Wilkins schob sie beiseite. »Anscheinend bin ich nicht der einzige, der im Augenblick keinen Wert auf Höflichkeit legt.« Tanek erhob sich von seinem Platz. »Sie sind? « »Sergeant Ronald Wilkins.« »Nicholas Tanek.« Er nickte in Nells Richtung. »Ich bin gekommen, um die junge Dame abzuholen.« Wilkins runzelte die Stirn. »Hat Randall Sie geschickt? « »Er hat mir gesagt, wo Sie sind.« »Sie steht unter meinem Kommando. Sie geht nirgendwo hin«, sagte Wilkins zu Nells Überraschung. »Ich habe keinen schriftlichen Befehl, sie an Sie zu entlassen.« »Himmel.« -214-
»Ich komme nicht mit«, sagte Nell. Tanek atmete tief ein, und sie meinte beinahe, ihn bis zehn zählen zu sehen. Dann machte er kehrt und stapfte davon. »Ich muß mit Ihnen reden.« »Dazu hat sie jetzt keine Zeit«, Wilkins reckte trotzig das Kinn. »Sie muß mithelfen, das Lager aufzubauen.« Tanek sah ihn an und sagte sanft: »Ich werde mit ihr reden. Also treiben Sie es lieber nicht zu weit.« Wilkins zögerte, und dann zuckte er mit den Schultern. »Reden Sie, soviel Sie wollen, aber Sie geht nirgendwo hin.« Dann wandte er sich ab und bellte: »Scott. Kommen Sie mit.« »Ist alles in Ordnung? « Peter runzelte die Stirn. »Ja«, sagte Nell über die Schulter, während sie Tanek folgte. »Ich bin gleich wieder da.« Sobald sie außer Hörweite waren, fuhr Tanek zu ihr herum. »Das hier ist der reinste Wahnsinn. Was in aller Welt machen Sie hier? « » Es ist notwendig.« »Es ist gefährlich.« »Sie haben gesagt, ich wäre keine Gegnerin für Maritz und Gardeaux.« »Ich weiß, was ich gesagt habe. Und Sie meinen, Sie könnten es mit den beiden aufnehmen, wenn Sie zuvor durch irgendwelche Sümpfe gewatet sind? « »Vielleicht hilft es mir zumindest ein bißchen. Ich lerne eine Menge hier. Gestern zum Beispiel habe ich zum ersten Mal in meinem Leben eine Waffe in der Hand gehabt.« Er bedachte sie mit einem frustrierten Blick. »Sehen Sie sich doch nur einmal an.« Er strich mit seiner Hand über ihre Wange und wischte einen Schlammspritzer fort. »Sie sind tropfnaß, über und über mit Schlamm bedeckt, und Sie fallen jeden Augenblick vor Erschöpfung um.« -215-
»Nein, das werde ich nicht.« Er presste die Lippen zusammen. »Nein, das werden Sie nicht. Sie werden einfach immer weitermachen, bis nichts mehr von Ihnen übrig ist.« »Genau.« Sie starrte ihn an. »Sie wollen mir ja nicht helfen. Also knöpfe ich mir Gardeaux und Maritz eben alleine vor.« Einen Augenblick lang sagte er nichts, und sie spürte seinen Zorn und seine Gereiztheit, als wären sie etwas Lebendiges. »Zur Hölle mit Ihnen«, sagte er leise und wandte sich ab. »Schmeißen Sie das Gewehr und den Rucksack weg. Sie brauchen sie nicht mehr. Sie kommen mit.« »Wie ich schon sagte, ich bleibe hier.« »Ich werde Ihnen helfen, die beiden zu erwischen«, sagte er barsch. »Das ist es doch, was Sie wollen, nicht wahr? « Erregung wallte in ihr auf. »Ja, das ist es, was ich will. Versprechen Sie es? « »O ja, ich werde Ihnen sogar helfen, sich Gardeaux vor die Flinte zu werfen. Dann sind Sie doch sicher froh.« »Allerdings.« Sie ließ das Gewehr von der Schulter gleiten, warf es auf den Boden und streifte dann den Rucksack ab. »Ich bin froh über alles, was mich weiterbringt.« Sie atmete tief ein und bewegte vorsichtig die Schultern, von denen ihr mehr als eine Last genommen worden war. »Gehen wir.« »Was machen Sie da? « Wilkins trat neben sie. »So geht man nicht mit einer Waffe um, Billings.« »Ich gehe.« »Den Teufel werden Sie tun.« »Was kümmert es Sie? Sie wollten mich doch sowieso nicht dabeihaben.« »Das ist ein schlechtes Beispiel für die anderen Männer. Sie haben keinen formellen Entlassungsschein.« -216-
Was für ein Idiot. »Ich gehe.« Sie wandte sich ab, doch er packte ihren Arm. »Typisch Frau. Kaum wird's ein wenig schwierig, hauen Sie ab wie...« »Lassen Sie sie los«, sagte Tanek in ruhigem Ton. Wilkins bedachte ihn mit einem wütenden Blick, und sein Griff um Nells Arm verstärkte sich. »Leck mich doch am Arsch.« Tanek lächelte. »Oh, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie froh es mich macht, daß Sie das gesagt haben. Oder wie froh mich das hier«, er trat vor und versetzte Wilkins' kurzem Nacken einen gezielten Handkantenschlag, »macht.« Wilkins’ Augen quollen hervor, und dann sackte er in die Knie. Nell blickte Tanek an. »Es hat Ihnen Spaß gemacht.« »Und ob.« Er setzte ein raubtiergleiches Lächeln auf. »Das einzige, was mir noch mehr Spaß gemacht hätte, wäre ein Schlag in Ihr Genick gewesen.« Er wandte sich ab und sprang ins Wasser. »Kommen Sie, wir werden Stunden brauchen, bis wir durch diesen Sumpf zum Wagen kommen, und es wird bald dunkel.« »Ich komme.« Sie setzte sich in Bewegung, doch dann blieb sie stehen und blickte über die Schulter zurück. Peter sah ihr in hilfloser Verwirrung nach. In ihrem Leben gab es keinen Platz für ihn. Er wäre nur eine Last. Tanek hatte ihr versprochen, ihr zu helfen, und jetzt brauchte sie nichts und niemanden, der ihr im Wege stand. »Wohin gehen Sie? « fragte Peter. Er wirkte schmerzlich allein. Und hinten auf der Sandbank warteten Scott und die anderen Schweine auf ihn. »Warten Sie «, sagte sie an Tanek gewandt und kehrte zu Peter zurück. »Komm mit.« Er sah sie unsicher an, doch sie nahm seine Hand. »Es wird alles -217-
gut werden. Aber du mußt mitkommen, Peter.« »Das wird meinem Daddy nicht gefallen, nicht wahr? « »Mach dir wegen ihm keine Gedanken. Wir regeln das schon. Du willst doch nicht hierbleiben, oder? « Er schüttelte den Kopf. »Hier ist es nicht schön. Ich will nicht hierbleiben, wenn Sie gehen.« »Dann nimm deinen Rucksack ab, leg dein Gewehr aus der Hand, und komm.« »Der Sergeant hat gesagt, daß wir das Gewehr nie ablegen sollen.« »Nell«, rief Tanek. Sie zerrte an Peters Hand. »Wir müssen jetzt gehen.« Er starrte sie furchtsam an. »Warum nennt er Sie Nell? Sie heißen doch Eve? « »Viele Leute haben mehr als einen Namen.« Mühsam unterdrückte sie ihre Ungeduld. »Wir sind doch Freunde, Peter. Und seinen Freunden muß man vertrauen. Komm mit. Es ist besser für dich.« Ein süßes Lächeln erhellte sein Gesicht. »Freunde. Stimmt, daran hatte ich gar nicht mehr gedacht.« Er legte sein Gewehr auf den Boden und warf den Rucksack fort. »Freunde sollten zusammen sein.« Sie seufzte erleichtert auf und ging zu Tanek zurück. »Er kommt mit.« »Das habe ich mir fast gedacht. Sonst noch wer? « Statt einer Antwort sprang sie ins Wasser. »Komm, Peter. Auf geht's.« Mit gerunzelter Stirn blickte er Tanek hinterher, der sich vor ihnen durch das Wasser schob. »Ist er böse auf mich? « »Nein, das ist einfach seine Art.« Während der ersten anderthalb Stunden kamen sie gut voran, -218-
aber nach Einbruch der Dunkelheit wurden sie zusehends langsamer. Der Sumpf war noch gespenstischer und furchteinflößender als bei Tageslicht. Jedes Plätschern war eine unbekannte Bedrohung, und bei jedem Flügelschlag schreckte sie auf. Nell wandte die Augen von den moosbehangenen Bäumen ab und heftete ihren Blick auf den Schimmer von Taneks weißem Hemd. »Die Straße liegt direkt vor uns«, sagte Tanek über die Schulter zurück, während er eilig aus den Bäumen trat und das Ufer erklomm. »Der Wagen steht nicht weit von ihr.« Sie seufzte erleichtert auf. Sie hatten es fast geschafft. Fast. Als sie und Peter sich ebenfalls aus dem Wasser kämpften, sahen sie Tanek fluchend auf der Straße stehen. »Was ist los? « »Das Auto ist nicht da.« »Es wird doch wohl nicht gestohlen sein? « Er sah sich um. »Nein, der Regenbaum da drüben kommt mir unbekannt vor. Offenbar sind wir im falschen Winkel marschiert.« Er runzelte die Stirn. »Der verdammte Wagen muß irgendwo da drüben sein.« »Sie haben den Wagen verloren? « Sie starrte ihn überrascht an, und er quittierte ihre Frage mit einem finsteren Blick. »Ich habe ihn nicht verloren. Versuchen Sie mal, bei Dunkelheit in diesem Sumpf eine gerade Linie zu ziehen.« Sie brach in lautes Gelächter aus. »Was, zum Teufel, ist daran so lustig? « Sie wusste es nicht. Offenbar war sie zu erschöpft, um noch ganz bei Sinnen zu sein, und seine Empörung und seinen Zorn fand sie über alle Maßen amüsant. »Sie haben einen Fehler -219-
gemacht. Vielleicht sind Sie ja doch nicht Arnold Schwarzenegger. Er hätte sich in einem Sumpf bestimmt nicht verirrt.« »Schwarzenegger?« Er runzelte die Stirn. »Wovon in aller Welt reden Sie? « Er wartete ihre Antwort gar nicht erst ab. »Und außerdem habe ich mich nicht verirrt. Ich habe lediglich einen falschen Winkel eingeschlagen.« Er marschierte die Straße hinab. »Jetzt ist er böse auf Sie«, sagte Peter. »Vielleicht helfen wir ihm besser, das Auto zu finden.« »Vielleicht hast du recht.« Als sie sich erneut in Bewegung setzte, legte sich ihre Belustigung. In ihren Stiefeln quatschte das Wasser, und ihre Kleider hingen ihr bleischwer am Leib. Die Aussicht auf einen Marsch entlang dieser menschenleeren Straße war nicht gerade verführerisch. Über eine Meile weiter nördlich hatten sie schließlich den Wagen erreicht. »Kein Wort«, schnauzte Tanek, während er die Türen öffnete und sich auf den Fahrersitz schob. »Ich bin naß und müde und wütend wie noch nie.« Peter krabbelte auf den Rücksitz. »Ich habe Ihnen doch gesagt, daß er böse ist.« Sie setzte sich auf den Beifahrersitz, und die Versuchung, ihm eine letzte Spitze zu erteilen, war einfach zu groß für sie. »Haben Sie den Schlüssel? « Er erstarrte. »Glauben Sie etwa, ich bin so dämlich und verliere ihn? « »Nun, was den Rückweg zum Wagen betraf, haben Sie...« Als sie seinem Blick begegnete, brach sie ab. »Nein, ich glaube kaum.« Er ließ den Motor an. -220-
»Wohin fahren wir? « »Nach Panama City in ein Motel, das drei Leute nimmt, die aussehen und riechen, als kämen Sie direkt aus einem Abwassertank.« Peter lachte. »Wer ist er? « fragte Tanek Nell. »Ich bin Peter Drake.« »Und das ist Nicholas Tanek, Peter.« Nell kuschelte sich in den Sitz und streckte ihre Beine aus. »Warum versuchst du nicht, ein bißchen zu schlafen? « »Ich habe Hunger.« »Sobald wir in der Stadt sind, essen wir was.« »Hähnchen? « »Wenn du willst.« »Kentucky Fried Chicken? Da ist es am besten.« Nell nickte. »Kentucky Fried Chicken.« Peter lächelte zufrieden und legte sich hin. »Ich weiß noch nicht mal, ob es in Panama City ein Kentucky Fried Chicken gibt«, murmelte Nicholas. »Dann nehmen wir einfach was anderes. Peter ist ein unkompliziertes Kind.« »Wofür alles andere um so komplizierter ist.« »Können wir vielleicht später darüber sprechen? « fragte sie leise. »Es sei denn, Sie haben die Absicht, den Jungen aus dem Auto zu werfen.« Im Rückspiegel sah er auf Peter, der zusammengerollt auf dem Rücksitz eingeschlafen war. »Nein.« »Wilkins gegenüber waren Sie richtig gut. Wie in einem Karatefilm.« »Tae-Kwon-Do.« -221-
»Bringen Sie mir das bei? « »Darüber können wir vielleicht auch später sprechen.« Sie überlegte, ob sie ihn weiter bedrängen sollte, doch dann kam sie zu dem Schluß, daß für einen Tag genug gewonnen war. Sie lehnte den Kopf gegen das Fenster und machte die Augen zu. Das Summen des Motors und die gleitende Bewegung des Wagens hatten etwas Besänftigendes. Zum ersten Mal seit Tagen hatte sie das Gefühl, in Sicherheit zu sein. Sie war beinahe eingeschlafen, als Tanek erneut etwas sagte. »Warum ausgerechnet dieses Höllenloch? « fragte er abrupt. »Ocachobi muß das schlimmste Camp seiner Art in den gesamten Staaten sein. Hatten Sie sich vielleicht eingebildet, es würde so etwas sie ein netter kleiner Urlaub in Florida? « »Nein.« »Warum haben Sie dann nicht das Camp in Denver oder Seattle gewählt? « Sie zögerte. Wahrscheinlich wäre es besser, wenn sie schwieg, denn die Wahrheit gefiele ihm wohl kaum. Trotzdem antwortete sie ihm. »Sie wirkten nicht schrecklich genug.« Er starrte sie ungläubig an. »Ich brauchte Sie«, sagte sie. »Ich mußte Ihnen beweisen, daß ich alles tun würde, um Gardeaux und Maritz zu kriegen.« Einen Auge nblick lang sagte er nichts. »Mein Gott. Eine Falle. Sie wußten, daß ich kommen würde.« »Nein, aber ich habe es gehofft. Ihre Schuldgefühle waren so groß, daß Sie sich ziemliche Mühe gegeben haben, mich zu beschützen. Ich dachte, über einen Alleingang von mir wären Sie sicher nicht allzu erfreut.« »Die Telefonanrufe.« »Kabler hat gesagt, Phil käme fast in jede fremde Computerdatei. Also habe ich eine Spur gelegt.« -222-
»Und sich an einen Ort begeben, der schrecklich genug war, daß mir gar nichts anderes übrigblieb, als Sie zu retten«, sagte er kalt. »Ich mag es nicht, wenn man mich manipuliert, Nell.« »Ich brauchte Sie«, wiederholte sie. »Ich mußte es tun. Und ich durfte mir keine Gedanken darüber machen, ob Ihnen meine Methode gefällt oder nicht.« »Aber vielleicht machen Sie sich ja ein paar Gedanken, wenn ich beschließe, mich jetzt von Ihnen zu verabschieden.« »Das werden Sie nicht tun. Tania sagt, Sie sind ein Mann, der seine Versprechen hält.« »Tania hat auch noch nie versucht, mich zu manipulieren.« Er machte eine Pause. »Und was hätten Sie gemacht, wenn ich nicht gekommen wäre? « »Ich wäre hiergeblieben. Ich hätte die Ausbildung zu Ende gemacht und hätte so viel wie möglich gelernt.« »Und hätten sich vergewaltigen lassen oder wären an Unterkühlung oder Erschöpfung gestorben.« »Ich wäre nicht gestorben.« »Nein, Sie bilden sich ein, unsterblich zu sein.« »Dieses Gespräch ist sinnlos«, sagte sie matt. »Es ist nichts passiert, und ich bin nicht mehr dort. Wir müssen weitermachen. Der einzige Grund, weshalb ich Ihnen die Wahrheit gesagt habe, war der, daß ich unsere Zusammenarbeit nicht auf einer Lüge begründen wollte. Ich hasse Lügen.« Abermals schloss sie die Augen. »Ich werde jetzt ein bißchen schlafen. Wecken Sie mich, wenn wir vor dem Motel sind.« »Aussteigen.« Sie öffnete die Augen und bedachte Tanek mit einem verwirrten Blick. »Was? « Er beugte sich in den Wagen und zog sie auf den Parkplatz -223-
hinaus. »Die Tür zu Ihrem Zimmer ist drei Meter von hier entfernt. Schleppen Sie sich rüber, und brechen Sie dann zusammen.« Um zu sich zu kommen, schüttelte sie den Kopf. »Wo sind wir?« »In einem Best Western Motel.« Er öffnete die Tür ihres Zimmers, schob sie hinein und machte Licht. »Schließen Sie hinter sich ab.« »Peter...« »Sie hatten nur noch zwei Zimmer. Er bleibt bei mir. Wir sind zwei Türen weiter unten.« »Nein, er wird Angst haben. Ich kann nicht...« »Ich lasse Ihren Schützling schon nicht im Stich«, sagte er rauh. »Waschen Sie sich den Schlamm aus dem Gesicht, und dann gehen Sie ins Bett.« »Essen. Ich habe ihm Kentucky...« »Ich habe gesagt, ich kümmere mich um ihn.« Er schlug die Tür hinter sich ins Schloß. Sie starrte wie betäubt auf die Tür, und dann wandte sie sich um. Es war das typische unpersönliche Zimmer eines Motels. Ein Bett, ein Tisch und zwei Stühle vo r dem Fenster, das auf den Parkplatz wies. Das Mobiliar war leicht abgenutzt, und die graue Tagesdecke auf dem Bett sah verblichen, aber sauber aus. Wesentlich sauberer als sie selbst. Sie blickte sehnsüchtig auf das Doppelbett, doch dann stolperte sie durch die Badezimmertür. Nach der heißen Dusche und mit frisch gewaschenem Haar fühlte sie sich wesentlich besser als zuvor. Sie blickte auf den schmutzigen Tarnanzug, der auf dem Boden lag. Sie hatte keine Möglichkeit, ihn zu reinigen und verspürte auch nicht den Wunsch, ihn je wiederzusehen. Sie wusch ihre Unterwäsche, hängte sie über den Handtuchständer, verließ das Bad und -224-
wankte ins Bett. Ihr Haar war immer noch feucht, als ihr Kopf auf das Kissen sank. Ihre Großmutter hätte bestimmt etwas dagegen gehabt. Sie hatte immer gesagt, wenn Nell mit einem nassen Kopf ins Bett ginge, holte sie sich den Tod... Ab, ab, ab. »Jill!« Keine Jill. Nur derselbe Alptraum wie zuvor. Mit tränenüberströmtem Gesicht setzte Nell sich auf. Verdammt, man hätte meinen sollen, zum Träumen wäre sie zu erschöpft. Als sie ins Badezimmer ging und ein Glas Wasser trank, zitterte ihre Hand. Sie sollte wieder ins Bett gehen und versuchen, weiterzuschlafen. Tanek würde ihr helfen, und es wäre besser, sie wäre erholt und ausgeruht. Aber wenn sie wieder einschliefe, käme der Traum zurück. Es würde eine lange Nacht. Am nächsten Morgen um acht klopfte Tanek an die Tür. Sie griff nach dem Bettlaken und schlang es um ihren Körper, ehe sie ihm öffnen ging. »Entzückend.« Er reichte ihr eine Tüte, deren Aufdruck verriet, daß sie aus dem Pelican-Andenkenladen kam. »Aber ich glaube, das hier ist bequemer. Shorts und T-Shirt. Der Andenkenladen unten an der Straße war der einzige, der um diese Zeit geöffnet war.« »Danke.« Sie trat beiseite, um ihn hereinzulassen. »Wo ist Peter? « »Der probiert gerade seine Sachen an.« »Ist alles in Ordnung mit ihm? « -225-
Er nickte. »Er hat geschlafen wie das sprichwörtliche Murmeltier. Und eben hat er ein Dutzend gezuckerte Donuts verdrückt und mit vier Litern Orangensaft nachgespült. Sein Magen ist also das einzige, das vielleicht nicht in Ordnung ist.« Er hielt ihr eine weitere Tüte hin. »Kaffee. Wie trinken Sie ihn?« »Mit Milch. Setzen Sie sich. Ich ziehe mich nur schnell an.« Sie eilte ins Bad, zog die gewaschene Unterwäsche an und machte die Tüte auf. Grüne Gummisandalen. Violette Bermudashorts und ein kurzärmliges lavendelfarbenes T-Shirt mit rosafarbenen Flamingos auf der Brust. Na ja, wenigstens waren die Sachen sauber und weich. Als sie wieder ins Schlafzimmer kam, saß Tanek an dem kleinen Tisch am Fenster und schob ihr einen großen Styroporbecher hin. »Trinken Sie. Wir müssen miteinander reden.« Sie nahm Platz, griff nach dem Becher und sah ihn argwöhnisch an. »Meinen Sie, ohne eine anständige Dosis Koffein ertrage ich das, was Sie mir zu sagen haben, nicht? « »Ich meine, daß Sie etwas brauchen, das Sie weckt. Sie sehen erbärmlich aus. Haben Sie etwa nicht geschlafen? « Sie blickte in ihren Becher. »Ein bisschen.« Und nachdem sie an ihrem Kaffee genippt hatte, sagte sie: »Also reden Sie.« »Wir werden es so machen, wie ich es will. Genau so! Ich werde mein Wort halten und Sie mitmachen lassen, aber ich werde nicht zulassen, daß Sie überstürzt handeln und ich deshalb mein Leben verliere. Ich werde die Pläne machen, und Sie werden genau das tun, was ich Ihnen sage.« »In Ordnung.« Er bedachte sie mit einem überraschten Blick. »Ich bin nicht dumm. Ich weiß, daß es nicht leicht werden wird. Solange ich Ihren Plan nachvollziehen kann, fange ich bestimmt keinen Streit mit Ihnen an.« -226-
»Erstaunlich.« »Aber ich werde nicht zulassen, daß Sie mich ausschließen oder mich hintergehen.« »Ich habe doch gesagt, daß ich Sie nicht ausschließen werde.« Er machte eine Pause. »Falls Sie immer noch mit von der Partie sein wollen, wenn es soweit ist.« »Allerdings.« Sie nippte erneut an ihrem Kaffee. »Und ob ich das will.« »Manchmal verliert ein Vorhaben mit der Zeit...« »Mit der Zeit? « Sie starrte ihn an. »Wovon reden Sie? « »Vor Ende Dezember wird es nichts.« »Dezember? Aber jetzt ist erst September.« »Ich plane bereits seit April.« »Das ist zu spät.« »Es ist der sicherste Weg.« »Dezember.« Was hatte sie bisher über Gardeaux in Erfahrung gebracht? »Das Renaissancefest auf seiner Burg.« »Genau. Die perfekte Gelegenheit zur Infiltration.« »Aber gerade während des Festes wird es dort vor Wachen nur so wimmeln.« »Und eine von denen wird Maritz sein.« Er lächelte. »Wir werden Maritz treffen, Gardeaux und darüber hinaus noch Hunderte von Gästen, was uns eine hervorragende Deckung gibt.« »Das hat auf Medas auch nichts genützt.« Sein Lächeln legte sich. »Nein, aber dieses Mal werden wir wissen, woran wir sind.« Ihre Hand schloss sich fester um den Kaffeebecher. »Ich will nicht warten.« »Wir machen es so, wie ich es will.« -227-
»Verdammt, bis dahin sind es noch über drei Monate.« »Nutzen Sie die Zeit, und bereiten Sie sich vor.« »Wie? « »Das besprechen wir später. Aber Sie können sicher sein, daß Sie nicht noch einmal durch irgendwelche Sümpfe kriechen werden.« Er machte eine Pause. »Und mit Korallenschlangen bekommen Sie es auch nicht noch mal zu tun.« Sie sah ihn reglos an. »Peter hat es Ihnen also erzählt.« »Er hat mir sehr viel über Ihren kurzen Aufenthalt in dem Camp und über das ›Nichts‹, das dort passiert ist, erzählt.« Er stand auf. »Ich habe uns um elf Uhr einen Flug nach Boise gebucht. Mit Tania habe ich gestern abend schon gesprochen, aber jetzt muß ich gehen und noch ein paar andere Telefonate erledigen.« »Boise? « »Wir fliegen nach Boise, und dann nehmen wir eine Maschine nach Lasiter. Meine Ranch liegt fünfzig Meilen nördlich. Ich will Sie an einem Ort haben, wo ich Sie im Auge behalten kann. So etwas wie gestern mache ich bestimmt nicht noch einmal mit, falls Sie beschließen, daß Ihnen meine Vorgehensweise zu langsam ist.« »Und was ist mit Peter? « Er hatte bereits die Tür erreicht, aber er drehte sich noch einmal um. »Was soll mit ihm sein? Er hat ein Zuhause. Er sagt, daß er noch einen Vater hat.« »Sein Vater hat ihn in dieses Camp geschickt. Und vielleicht schickt er ihn wieder dorthin zurück.« »Vielleicht auch nicht. Aber was geht Sie das an? Er wäre uns bei der Ausführung unseres großartigen Racheplans nur im Weg. Und ich dachte, das wäre alles, was für Sie von Bedeutung ist.« »Sie waren lange genug mit ihm zusammen, um zu merken, daß Peter kein normaler Junge ist.« -228-
»Sie meinen, daß er ein wenig zurückgeblieben ist.« »Ich meine, daß er den Verstand eines Kindes hat. Er ist hilflos.« Er sah sie an und wiederholte: »Was geht Sie das an? « Ihre Augen blitzten zornig auf. »Verdammt, es geht mich etwas an. Denken Sie etwa, es macht mir Spaß, für ihn verantwortlich zu sein? Aber so ist es nun mal. Er hat mir geholfen, und ich kann ihn nicht einfach im Stich lassen. Sein Vater will ihn nicht. Er ist der Bürgermeister einer kleinen Stadt in Mississippi, und ich glaube, daß Peter ihm peinlich ist. Ich lasse ihn nicht dorthin zurück.« »Das habe ich mir schon gedacht. Und deshalb habe ich ihm ebenfalls einen Platz im Flugzeug gebucht.« Sie riss die Augen auf. »Tatsächlich? « »Aber ich habe kein Interesse daran, daß man mich wegen Entführung belangt. Peter ist erst siebzehn. Und darum rufe ich jetzt seinen Vater an.« »Denken Sie, Sie können ihn überreden...« »Ich werde ihn überreden. Ich werde ihm erklären, falls er uns irgendwelche Schwierigkeiten macht, liefern wir den Zeitungen eine nette kleine Geschichte über den ehrenwerten Herrn Bürgermeister, der seinen zurückgebliebenen Sohn nach Ocachobi abgeschoben hat. Vielleicht machen wir sogar noch ein paar Photos dazu.« Mit einem sarkastischen Grinsen öffnete er die Tür. »Haben Sie dem Jungen nicht erzählt, wir brächten alles in Ordnung? Und wozu bin ich auf der Welt, wenn nicht, um Ihnen zu Gefallen zu sein? « »Tanek? « »Ja? « »Danke, daß Sie das für mich tun. Ich weiß, daß er Ihnen vielleicht lästig ist.« »Das werde ich nicht zulassen.« Er sah sie nicht an. »Und ich -229-
tue es nicht für Sie. Die meisten Erwachsenen können auf sich selbst aufpassen, aber es macht mich wahnsinnig, wenn jemand Kindern etwas zuleide tut.« »Wie Tania? « »Tania war niemals hilflos, noch nicht einmal, als sie jünger war.« Er sah sie an. »Anders als Jill. Wenn Sie mich gewähren lassen würden, würde ich mir Maritz vorknöpfen und dafür sorgen, dass er sehr langsam stirbt.« Er meinte es ernst, und heiße Freude wallte in ihr auf, als ihr klar wurde, dass er ihr nicht nur aus Schuldbewusstsein half. Er war wütend und empört und wollte Jill rächen, weil es gerecht und richtig war. Sie war nicht allein. Sie schüttelte den Kopf: »Ich muss es selbst tun.« Er nickte und ging. Drei Monate waren eine lange Ze it. Zu lange. Aber sie musste sichergehen. Sie konnte es nicht riskieren, getötet zu werden, ehe Maritz starb. Tanek war ein Teil von Gardeaux' Welt, er kannte die Gefahren, die dort lauerten. Er hätte bestimmt eher gehandelt, wenn er dächte, dass es eine Chance gab. Drei Monate Nutzen Sie die Zeit, und bereiten Sie sich vor. Wenn sie ihn schon nicht überreden konnte, vor Dezember aktiv zu werden, täte sie genau das - sie würde sich vorbereiten, so gut es ging. Vielleicht dachte Tanek, ihre Entschlossenheit ließe in der Wildnis nach. Aber das täte sie nicht. Fünf Minuten später kam Peter in ihren Raum. Er trug khakifarbene Shorts, und sein T-Shirt war mit einem grinsenden Alligator verziert, der eine Braves-Baseballkappe trug. Eine identische Baseballkappe saß keck auf seinem Kopf, und seine blauen Augen blitzten aufgeregt. »Wir fliegen zu Nicholas -230-
Ranch. Hat er Ihnen das schon erzählt? « »Ja.« Er warf sich auf ihr Bett. »Er hat Pferde und Schafe und einen Hund namens Sam.« »Das ist schön.« »Ich habe noch nie einen Hund gehabt.« »Nur eine Schlange.« Er nickte. »Aber Nicholas hat gesagt, dass es auf der Ranch noch andere Hunde gibt. Hunde, die sich um die Schafherden kümmern. Er hat gesagt, Jean wird mir zeigen, wie man die Schafe bewacht.« »Und wer ist Jean?« »Sein Vormann. Jean Etch...« Er unterbrach sich. »Ich weiß nicht mehr genau, wie er heißt. Ich hab's vergessen.« Sie lächelte nachsichtig. »Aber dass sein Hund Sam heißt, weißt du noch.« »Nicht sein Hund, Nicholas Hund. Ein deutscher Schäferhund. Aber der hat mit den Schafen nichts zu tun. Die Collies hüten die Schafe.« Er wusste bereits mehr über Nicholas Privatleben als sie. »Es überrascht mich, dass du nicht auch noch nach den Namen sämtlicher Collies gefragt hast.« »Das habe ich. Aber Nicholas hat gesagt, ich sollte die Klappe halten und schlafen.« Als sie sich an Nicholas gestrige Laune erinnerte, überraschte es sie, dass Peter auch nur eine einzige Frage beantwortet worden war. Oder dass er es überhaupt gewagt hatte, Fragen zu stellen. »Ich bin sicher, das hat er nicht böse gemeint.« »Böse?« Er sah sie verwundert an. »O nein, er war nicht böse, nur müde.« Offensichtlich hatte er Peter gegenüber große Geduld gezeigt. -231-
Eine Eigenschaft, die ihr an Tanek bisher noch nie aufgefallen war. »Und es macht dir nichts aus, nicht mehr nach Hause zurückzugehen? « Sein Lächeln wurde schwächer, und er wandte den Blick von ihr ab. »Nein. Ich bin lieber bei Ihnen und Nicholas.« »Peter... das kann ich dir nicht versprechen. Vielleicht geht es nicht...« Als sie seinen Gesichtsausdruck sah, brach sie ab. »Ich weiß«, sagte er leise. »Vielleicht wollen Sie mich nicht so lange bei sich haben. Schon gut.« »Das habe ich nicht gesagt. Es ist nur alles ein bisschen schwierig im Augenblick. Vielleicht muss ich selbst bald wieder gehen.« »Schon gut«, sagte er erneut. »Alle gehen immer weg. Oder ich werde weggeschickt.« Sie starrte ihn hilflos an. »Aber jetzt doch noch nicht, oder? Ich möchte erst noch die Hunde sehen.« Verdammt. Sie schluckte und wandte sich ab. »Nein, noch lange nicht.« Drei Monate. Zeit war relativ. Eine Zeitspanne, die ihr wie eine Ewigkeit erschien, mochte für Peter wie im Flug vergehen. Sie setzte ein Lächeln auf. »Und vielleicht finden wir ja eine Lösung für dich, selbst wenn ich gehen muss.« »Vielleicht.« Plötzlich kehrte sein Lächeln zurück. »Wie finden Sie meine Kappe und mein T-Shirt? Ich habe Nicholas erzählt, dass ich ein Braves-Fan bin.« »Die Kappe ist einfach großartig, und das T-Shirt ist toll.« Sie wandte sich zur Tür. »Komm, lass uns gucken, was Nicholas macht.« »Was hast du über Simpson rausgefunden? « fragte Nicholas, als Jamie ans Telefon kam. »Er ist immer noch nicht wieder aufgetaucht. Sein Appartement -232-
wurde gründlich durchsucht. Und die Dame seines Herzens hat sich vor zwei Tagen nach Paris abgesetzt.« »Hast du die Kopien der Unterlagen bekommen, die ich dir geschickt habe? « »Gestern.« »Ich möchte, dass du sie überprüfst.« »Die Bücher? Ich dachte, du hättest gesagt, sie wären wertlos ohne...« »Nicht die Bücher, den Medas-Bericht. Wenn er echt ist, dann möchte ich, dass du ein bisschen tiefer gräbst.« »Wirst du Nell erzählen, was du rausgefunden hast? « »Bestimmt nicht.« »Wenn sie dahinter kommt, dass du ihr deine neuesten Erkenntnisse vorenthältst, dann wird sie bestimmt fuchsteufelswild.« Was noch eine deutliche Untertreibung war, aber er konnte nicht riskieren, dass sie vollkommen den Kopf verlor, wenn sie erfuhr, was die Medas-Liste bedeutete. »Forsch einfach noch ein bisschen nach.« Es klopfte an der Tür. »Ich muss los. Wenn du noch irgendwas rausfindest, ruf mich an. Ich bin auf der Ranch.« Er legte auf. »Herein.« Peter und Nell sahen aus, als wären sie geradewegs aus Disney World getürmt. Beide so jung und so verdammt verletzlich, dass er sie am liebsten irgendwo eingesperrt hätte, damit ihnen nichts geschah. In was für einen Schlamassel hatte er sich da nur hineingestürzt? »Auf geht's.« Nell verzog das Gesicht. »Das heißt, wenn man uns in diesem Aufzug ins Flugzeug lässt.« Nicholas' Blick wanderte von schlanken, wohlgeformten Beinen zu einem Paar weicher Brüste, das unter dem weichen T-Shirt deutlich zu sehen war. Mit einem Mal wallte eine wohlbekannte Hitze in ihm auf. -233-
Himmel, nicht jetzt. Nicht bei dieser Frau. Er wandte sich ab und griff nach der Tasche auf seinem Bett. »Oh, ich glaube schon, dass man euch beide an Bord lassen wird.« Er wandte sich zum Gehen. »Aber vielleicht gibt euch die Stewardess noch ein Paar Micky-Maus-Ohren und ein Malbuch, damit euch unterwegs nicht langweilig wird.«
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10. Kapitel »Noch ein Zaun? « fragte Nell, als Ta nek aus dem Jeep stieg und in Richtung des Tores ging. »Das ist schon der dritte. Offenbar haben Sie ein extrem großes Interesse an Sicherheit.« »Ich habe ein extrem großes Interesse an meinem Leben. Aber das hier ist der letzte.« Er öffnete das Schloss mit einem Zahlencode, und das Tor schwang lautlos auf. »Er ist elektrisch geladen und umgibt das Haus und die Stallungen.« Er sah Peter an, der auf dem Rücksitz saß. »Fass nicht an den Zaun, Peter. Sonst kriegst du einen Schlag.« Der Junge runzelte die Stirn. »Tun sich die Hunde an dem Zaun denn nicht weh? « »Sam kennt sich gut genug aus, um den Zaun nicht zu berühren, und das Vieh und die Wirtschaftsgebäude sind auf einem anderen Teil des Grundstücks außerhalb der Zäune untergebracht. Dies hier ist nur das Haupthaus. Die richtige Ranch ist die Bar X. Sie liegt ein paar Meilen nördlich von hier.« »Das ist gut.« Peter wandte den Blick erneut der Umgebung zu. »Es sieht... komisch aus hier.« Nell wusste, was er meinte. In der Ferne ragten die majestätischen Saw-Tooth-Berge auf, aber soweit das Auge reichte, erstreckte sich vor ihnen flaches, kahles Land. Seltsamerweise wirkte die Umgebung nicht öde, sondern sie strahlte irgendetwas aus, was sich nicht in Worte fassen ließ und was einem das Gefühl gab, vielleicht allein, aber nicht einsam zu sein. »Sie haben eine Menge Platz.« »Richtig. Als Kind in Hongkong habe ich immer von viel Platz geträumt. Die ganzen Leute dort hätten mich fast erdrückt.« Ich habe ein extrem großes Interesse an meinem Leben. -235-
Sie musterte Tanek, als dieser wieder in den Wagen stieg. Er hatte ohne besondere Betonung, fast beiläufig gesprochen, doch sie dachte an den Moment am Flughafen, als Reardon ihr erklärt hatte, dass er nicht gerne Taxis nahm. Dass Taneks Leben auf das Überleben ausgerichtet war, war ihr nie stärker aufgefallen als bis zu diesem Augenblick, in dem sie die Festung, die er um sich herum errichtet hatte, sah. »Sie müssen sich hier sehr sicher fühlen«, sagte sie leise. »Sie haben sich unerreichbar gemacht.« »Man ist nie unerreichbar, aber man tut, was man kann.« Er fuhr weiter, drückte auf einen Knopf der Fernbedienung, und hinter ihnen schwang das Tor lautlos wieder zu. »Ich glaube nicht, dass man den Zaun oder das Tor durchbrechen kann, aber ein Hubschrauber mit einem Raketenwerfer käme problemlos an mich heran.« »Raketenwerfer? « Sie lächelte. »Das klingt ein bisschen paranoid.« »Vielleicht. Aber es könnte passieren. Irgendjemand müsste nur entschlossen genug sein. Die südamerikanischen Drogenbarone haben mehr als genug davon.« »Und wie schützen Sie sich vor Angriffen aus der Luft? « Er zuckte mit den Schultern. »Niemand lebt ewig. Wenn mich keine Rakete erwischt, dann vielleicht ein Tornado. Man sieht eben zu, dass man so gut wie möglich versichert ist.« Er sah sie an. »Und man lebt jeden Augenblick, als ob es der letzte wäre.« Er parkte den Jeep vor dem Haus und sprang hinaus. »Michaela.« »Sie brauchen gar nicht so zu schreien. Ich bin hier.« Eine große, dünne Mittvierzigerin kam aus dem Haus. Sie trug Jeans und ein loses einfarbiges Hemd, aber ihre Haltung verlieh den einfachen Kleidern eine damenhafte Eleganz. »Als Sie das Tor geöffnet haben, habe ich die Klingel gehört.« Sie sah erst Nell und dann Peter an. »Sie haben Gäste. Willkommen auf der Ranch.« Ihr Ton strahlte eine fa st fremdländische Förmlichkeit -236-
aus. Nell starrte sie an. Die Frau hatte ein kräftiges, ausdrucksvolles Gesicht, doch ihre Erhabenheit kam der einer ägyptischen Pharaonin gleich. »Dies ist Michaela Etchbarras«, sagte Tanek. »Ich könnte sagen, dass sie meine Haushälterin ist, aber eigentlich ist sie viel mehr. Sie kümmert sich um alles, was im Haus und drumherum passiert.« Er half Nell aus dem Jeep. »Nell Calder. Peter Drake. Sie bleiben eine Weile hier.« »Und Sie? « Als er nickte, sagte sie: »Gut. Sam hat Sie vermisst. Sie sollten sich kein Tier halten, wenn Sie so selten zu Hause sind. Ich lasse ihnen dann jetzt das Essen aus der Küche bringen.« Sie kehrte ins Haus zurück. »Etchbarras«, sagte Peter mit einem Mal. »Das war der Name. Der Name von dem Mann, der die Hütehunde hat.« »Michaela ist mit Jean verheiratet.« Tanek verzog das Gesicht. »Sie lässt sich dazu herab, als meine Haushälterin zu fungieren, wenn er mit den Schafen in den Bergen ist. Sobald er zurückkommt, kehrt sie auf die Bar X zurück und schickt zweimal in der Woche eine ihrer Töchter zum Saubermachen her.« »Wie viele Töchter hat sie denn? « fragte Nell. »Vier.« »Nachdem ich erlebt habe, wie argwöhnisch Sie im Hotel der armen Frau vom Zimmerservice gegenüber waren, überrascht es mich, dass Sie sie auf das Grundstück lassen.« »Sie gehören dazu. Sie sind in keiner Weise gefährlich für mich. Die Etchbarras leben schon seit Anfang dieses Jahrhunderts mit ihren Schafen hier. Sie kamen aus dem spanischen Baskenland und haben sich hier niedergelassen. Die meisten Leute hier in der Umgebung sind Basken. Sie bilden eine eingeschworene -237-
Gemeinde, in der ich der Außenseiter bin.« »Aber Ihnen gehört die Ranch.« »Ach ja? Ich habe sie mit Geld gekauft. Sie haben auf andere Weise dafür bezahlt.« Er presste die Lippen zusammen. »Aber Sie haben recht. Die Ranch gehört mir, und ich werde lernen, hierher zugehören und das festzuhalten, was mein Eigentum ist.« Sein leidenschaftlicher Ton überraschte sie. Dieser Ort war eindeutig mehr als eine Festung für ihn. Nells Blick wanderte zur Tür, hinter der die Haushälterin verschwunden war. Geistesabwesend sagte sie: »Sie hat ein phantastisches Gesicht. Sie ließe sich bestimmt wunderbar porträtieren.« Er zog spöttisch die Brauen hoch. »Lodert da etwa eine sanftere Flamme hinter der fanatischen Brust? Porträtieren? Was für eine Zeitverschwendung.« Sie war selbst überrascht. Seit Medas hatte sie kein einziges Mal an ihre Malerei gedacht. »Es war nur so eine Feststellung. Ich habe nicht gesagt, dass ich sie zeichnen will. Sie haben recht, dazu habe ich keine Zeit.« »Wer weiß.« Sein Blick wanderte zu den Bergen hinauf. »Hier scheint die Zeit langsamer als anderswo zu vergehen. Vielleicht...« In diesem Augenblick wirbelte ein braunbeiger Tornado durch die Eingangstür. Unter dem Druck der Vorderpfoten des deutschen Schäferhunds verlor Tanek beinahe das Gleichgewicht. Er knurrte erbost, doch der Hund quietschte und winselte, und fuhr ihm mit seiner großen Zunge durch das Gesicht. »Sitz, Sam.« Der Hund ignorierte ihn. Tanek seufzte resigniert und kniete sich auf den Boden, wo er für den Hund besser zu erreichen war. »Bringen wir's hinter -238-
uns.« Nell beobachtete verblüfft, wie der Hund aufgeregt um ihn herumsprang und ihm das Gesicht ableckte, als bekäme er nicht genug von ihm. Tanek zog eine Grimasse und hielt sich zum Schutz vor der aufdringlichen Zunge den Arm vor dem Mund. Als er ihrem Blick begegnete, runzelte er die Stirn. »Was hatten Sie denn erwartet? Struppi vielleicht? Ich bin kein Hundetrainer. Der einzige Befehl, dem er gehorcht, ist ›komm fressen‹.« Für gewöhnlich ging eine solche Kraft und ein solches Selbstbewusstsein von Tanek aus, dass sie sich einfach nicht hatte vorstellen können, dass er einem Tier gestattete, in seiner Gegenwart anders als diszipliniert und wohlerzogen zu sein. »Er ist wunderschön.« »Ja.« Tanek zupfte zärtlich an den Ohren des Hundes herum. »Ich mag ihn.« Was offensichtlich war. Nie zuvor hatte sie Tanek derart offen erlebt. »Darf ich ihn streicheln? « fragte Peter. »Später. Er mag keine Fremden.« Was für Nell unvorstellbar war. Der Hund hatte sich inzwischen unterwürfig auf den Rücken gelegt und winselte glückselig, als Tanek ihn zu kraulen begann. Sie trat einen Schritt näher. Sofort war der Hund wieder auf den Beinen und starrte sie mit gefletschten Zähnen an. Schockiert blieb sie stehen. »Schon gut«, sagte Tanek in besänftigendem Ton. »Schon gut, alter Junge.« »Er verhält sich wie ein ausgebildeter Wachhund.« »Das hat ihm das Leben beigebracht.« Er stand auf. »Ich habe ihn halb verhungert am Straßenrand gefunden, als er noch ein kleiner Welpe war. Er vertraut nur sehr wenigen Menschen.« Er -239-
lächelte Peter an. »Lass ihm Zeit, damit er sich an dich gewöhnt.« Peter nickte, aber es war nicht zu übersehen, wie enttäuscht er war. »Ich hatte gehofft, dass er mich mag.« »Das wird er auch.« Er ging zur Tür. »Ich werde Michaela bitten, dass sie dich morgen früh zur Ranch rüberfährt. Die Hütehunde sind wesentlich freundlicher als Sam.« Peters Miene hellte sich auf. »Darf ich dann eine Weile dort bleiben? « Er schüttelte den Kopf. »In ein paar Tagen werden die Männer ins Hochland reiten, um die Schafe für den Winter herunterzuholen.« »Aber wenn sie zurückkommen, vielleicht? « »Wenn Jean einverstanden ist.« Peter wandte sich an Nell und sagte zögernd: »Es ist nicht so, dass ich nicht bei Ihnen bleiben will. Sie sind sehr nett zu mir. Es ist nur...« »Hunde.« Sie lächelte. »Ich weiß, Peter.« »Kommen Sie.« Michaela trat in die Tür. »Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit für Sie. Ich muss Ihnen noch Ihre Zimmer zeigen. In einer Stunde wird es dunkel. Jean kommt heute abend von den Herden zurück, und ich muss nach Hause und sein Abendessen vorbereiten.« Tanek machte eine spöttische Verbeugung. »Wir kommen sofort. Zeigen Sie bitte nur Peter sein Zimmer. Ich führe dann Nell herum. Wir wollen doch nicht, dass Jean unseretwegen auf sein Essen warten muss.« »Das muss er auch nicht. Ihnen habe ich einen Schmortopf in den Ofen gestellt. Bedienen Sie sich einfach selbst.« Mit einem »Komm, Peter« kehrte sie ins Haus zurück, und der Junge trottete folgsam hinterher. Nell wurde von Nicholas direkt ins Wohnzimmer geführt. »Es -240-
ist größer, als es von außen wirkt«, sagte sie. »Irgendwie scheint das Haus ein wenig verschachtelt zu sein.« »Nachdem ich es gekauft habe, habe ich noch angebaut. Ich sagte ja bereits, dass ich Enge nicht mag.« Nell sah sich in dem luftigen, mit hellbraunen Ledersesseln bestückten und einem riesigen steinernen Kamin ausgestatteten Wohnzimmer um. Die Tische waren mit Kupfervasen voll üppiger weißer Blumensträuße bestückt, und in einer Ecke fand sich eine große chinesische Urne, in der ein Bund goldener Chrysanthemen angeordnet war. An den Wänden hätte sie Indianerteppiche oder Cowboyutensilien erwartet, keinesfalls die diversen Gemälde, denen sie sich gegenübersah. Mein Gott, diese Gemälde waren der reinste Traum. Sie trat vor das Bild über dem Kamin. »Delacroix?« »Halten Sie mich etwa für einen solchen Barbaren, dass ich einen Delacroix hier in der Wildnis verstecke, wo niemand außer mir ihn genießen kann? « Sie sah ihn an und erinnerte sich an die Leidenschaft, mit der er erst vor wenigen Minuten erklärt hatte, wie wichtig ihm Besitztum war. »Ja.« Er grinste. »Stimmt. Schätze sind zum Vergnügen derjenigen gedacht, die sie sich nehmen und die an ihnen festzuhalten verstehen.« »Sich nehmen? Haben Sie es etwa...« »Nein, ich habe es nicht geklaut. Ich habe es bei einer Auktion gekauft. Heutzutage halte ich mich immer streng an das Gesetz.« Er führte sie einen langen Flur hinab. »In diesem Flügel gibt es fünf Schlafzimmer mit den dazugehörigen Badezimmern, und in dem anderen Flügel finden Sie ein Arbeitszimmer und einen bescheiden eingerichteten Fitnessraum.« Er öffnete eine Tür. »Dieser Raum gehört Ihnen. Es gibt im ganzen Haus nur einen einzigen Fernsehapparat, und der steht im Arbeitszimmer, aber dafür gibt es Bücher zuhauf. -241-
Ich hoffe, dass es Ihnen hier gefallen wird.« Sie hätte nicht gewusst, was dagegen sprach. Die Einrichtung des Zimmers war schlicht, aber sie strahlte Gemütlichkeit aus. Das Doppelbett war unter der dicken, weißen Daunendecke kaum zu sehen. In der Ecke unter dem Fenster stand ein gepolsterter Schaukelstuhl, und an der gegenüberliegenden Wand befand sich ein Kirschholzregal, das unter zahlreichen Büchern und Pflanzen regelrecht begraben war. »Es ist sehr hübsch. Es überrascht mich, dass Ihre Gäste je wieder gehen.« »Ich habe nur selten Besuch. Dies ist mein Haus. Und ich teile nicht gern.« Sie drehte sich zu ihm um. »Dann sind Sie bestimmt doppelt böse, dass ich hier eingedrungen bin. Aber ich verspreche, Ihnen soweit wie möglich aus dem Weg zu gehen.« »Sie sind hier nicht eingedrungen. Es war meine Entscheidung. Ich habe Sie hierher gebracht.« Er nickte in Richtung einer Tür am anderen Ende des Raums. »Sie wollen sich sicher frisch machen. Dort drüben ist das Bad.« »Was in aller Welt macht er da? « fragte Nell mit einem Blick auf Peter, der in einer Ecke des Raums auf dem Fußboden saß. Er hockte im Schneidersitz und starrte reglos auf Sam, der ein paar Meter von ihm entfernt vor dem Kamin lungerte. »Er erinnert mich an einen Schlangenbeschwörer.« »Seiner Meinung nach sind Sie die Schlangenbeschwörerin«, war Nicholas' trockene Erwiderung. Sie schüttelte den Kopf. »Er war furchtbar böse auf mich. Er dachte, ich hätte die Schlange nicht behutsam genug angefasst.« Doch dann kehrte sie zu ihrem ursprünglichen Thema zurück. »Denkt er etwa, er könnte Sam durch reine Willenskraft dazu bewegen, ihn zu mögen? « »Vielleicht.« Tanek schenkte ihr aus einer Karaffe einen -242-
frischen Kaffee ein. »Es könnte klappen. Hauptsache, sein Wille ist stark genug. Hunde sind sehr sensibel, wenn es um Gefühle geht.« »Er hat Peter während des gesamten Abendessens hindurch ignoriert.« Nicholas lehnte sich gemütlich in seinem Sessel zurück. »Hören Sie auf, sich Sorgen zu machen. Sie können Sam nicht zwingen, ihn zu mögen.« »Ich mache mir keine Sorgen. Ich denke nur, dass er es in seinem Leben vielleicht nicht leicht gehabt hat. Und ein bisschen mit dem Schwanz zu wedeln, täte dem verdammten Hund ja wohl nicht weh.« »Das weiß er nicht. Und es hat sich noch immer bezahlt gemacht, vorsichtig zu sein.« »Er ist genau wie Sie.« Sie sah ihn an. »Mit Ihren elektrischen Zäunen.« Er nickte. »Auch wenn Sie es im Augenblick anders sehen, kann das Leben sehr reizvoll sein. Ich habe nicht die Absicht, auch nur auf eine Minute zu verzichten. Ich werde kämpfen bis zum letzten Atemzug.« Das glaubte sie ihm. Unter seiner kühlen Maske verbarg er eine leidenschaftliche Entschlossenheit, Kraft, Intelligenz und eine Leidenschaft zu Leben. Eine stahlharte Kombination. Sie zwang sich, woanders hinzusehen. »Aber Sie sind bereit, Ihr Leben aufs Spiel zu setzen, um Gardeaux zu erwischen.« »Nicht, wenn es sich vermeiden lässt.« Er führte seine Tasse an seinen Mund. »Ich habe vor zu überleben, während er ins Reich der Toten übergeht.« »Und was, wenn das nicht geht? « »Es geht.« Er machte eine Pause. »Ich werde nicht zulassen, dass Sie mein Leben in Gefahr bringen, nur weil Ihnen das Abwarten lästig ist.« -243-
»Sie verstehen mich nicht. Ich muss es einfach tun. Und das Warten fällt mir sehr schwer.« Sie umklammerte ihre Kaffeetasse. »Meinen Sie etwa, ich wüsste nicht, weshalb ich hier bei Ihnen bin? Sie denken, Sie könnten mich dazu überreden, meine Pläne aufzugeben.« »Das ist eins meiner Anliegen. Das andere ist, Sie davon abzuhalten, mir abermals davonzulaufen, damit ich Ihnen erneut hinterher jagen muss und unter Umständen in irgendeine Falle laufe, die man mir dabei stellt.« »Sie brauchten mir nicht hinterher zujagen.« »Doch.« »Warum? Wie ich schon sagte, Sie sind für das, was auf Medas passiert ist, nicht verantwortlich.« »Wir alle legen die Grenzen unserer Verantwortung selber fest.« »Und ich gehöre in den Bereich Ihrer Verantwortlichkeit? « Er lächelte. »Im Augenblick ja. Obwohl Grenzen durchaus verschiebbar sind.« Sie wollte nicht, dass irgendwer für sie verantwortlich war, vor allem kein Mann wie Tanek. Verantwortung für einen Menschen setzte eine gewisse Nähe voraus. Sie war bereits gezwungen gewesen, Bindungen zu Tania und Peter einzugehen, doch es war unbedingt erforderlich, dass ihr dies mit Tanek nicht geschah. »Das gefällt Ihnen nicht? Aber Sie haben meine Verantwortung für Sie schamlos ausgenutzt, um sicherzugehen, dass ich Ihnen behilflich bin.« Er zog spöttisch eine Braue hoch. »Und den einmal eingeschlagenen Weg müssen Sie nun wohl oder übel weitergehen, Nell.« Zur Hölle mit dem Kerl. Tanek auf Distanz zu halten wäre bestimmt kein Problem für sie. »Ich brauche nichts zu tun, was ich nicht will.« Dann fing sie von etwas anderem an. »Warum wollen Sie, dass Gardeaux stirbt?« -244-
Aller Spott wich aus seinem Gesicht. »Er hat es verdient zu sterben.« »Das ist keine Antwort.« Einen Augenblick lang sagte er nichts. »Aus dem gleichen Grund, aus dem Sie wollen, dass er stirbt. Er hat jemanden getötet, der mir sehr wichtig war.« »Wen?« Wieder dachte sie daran, wie wenig sie über Tanek wusste. »Ihre Frau? Ihr Kind? « Er schüttelte den Kopf. »Einen Freund.« »Er muss ein sehr enger Freund gewesen sein.« Sie spürte, dass er sich abermals vor ihr verschloss. »Sehr eng. Noch Kaffee? « Sie schüttelte den Kopf. Es war klar, dass er nicht bereit war, ihr mehr von sich zu offenbaren. Also versuchte sie es auf eine andere Art. »Erzählen Sie mir etwas über Gardeaux.« »Was wollen Sie wissen? « »Alles, was es zu wissen gibt.« Er lächelte verzerrt. »Ich garantiere Ihnen, dass Sie nicht alles wissen wollen, was es über ihn zu wissen gibt.« »Woher kennen Sie ihn? « »Wir sind uns vor vielen Jahren in Hongkong begegnet. Wir waren damals im selben Geschäft. Obwohl er vielseitiger war.« »Sie meinen, dass Sie beide Kriminelle waren«, sagte sie unverblümt. Er nickte. »Aber mein Netz war begrenzter. Ich fand es besser so.« »Warum? « »Ich habe diese Arbeit nie als mein Lebenswerk betrachtet.« Und ernst fügte er hinzu: »Eigentlich wollte ich Neurochirurg werden.« Sie starrte ihn verwundert an, und er grinste vergnügt. -245-
»Das war nur ein Scherz. Ich wollte genug Geld verdienen und dann aussteigen. Wenn man in dem Geschäft groß rauskommt, tritt automatisch eins von zwei Dingen ein. Entweder mischt man irgendwann im Drogenhandel mit und hat von dem Augenblick an ständig irgendwelche Gesetzeshüter am Hals, oder man gewöhnt sich an die Macht und kommt nicht mehr davon los. Ich fand keine der beiden Aussichten allzu verführerisch, also habe ich dafür gesorgt, dass ich immer schön bescheiden und unauffällig blieb.« »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie jemals bescheiden oder unauffällig sind.« »O doch, das war ich.« Und nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Relativ.« »Aber Gardeaux war weder das eine noch das andere.« »Nein, Gardeaux wollte Gott sein.« Er dachte nach. »Oder vielleicht Cesare Borgia. Das wusste ich nie so genau. Wahrscheinlich Gott. Das Geheimnis, das Borgia umgab, hätte ihm gefallen, aber das Ende des Prinzen war weniger schön.« Nur mühsam unterdrückte sie ihre Ungeduld. »Und wie haben Sie ihn kennen gelernt? « »Es gab da eine Tang-Vase, an der wir beide Interesse hatten, und er sagte mir, ich sollte mich zurückhalten.« »Und was haben Sie getan? « »Ich habe mich zurückgehalten.« Diese Erklärung schockierte sie. »Damit habe ich ein gutes Geschäft gemacht. Er hatte mehr Muskeln als ich, und ein Krieg hätte mich mehr als ein Dutzend Tang-Vasen gekostet.« »Ich verstehe.« Er schüttelte den Kopf. »Nein, das tun Sie nicht. Sie denken, ich hätte es mit ihm aufnehmen sollen. Sie denken, Sie an meiner Stelle hätten einen Grabenkrieg gegen den Hund geführt.« -246-
»Das habe ich nicht gesagt.« »Ich habe bereits vor langer Zeit gelernt, dass man die Konsequenzen jeder Schlacht sorgfältig abwiegen sollte, ehe man sie beginnt. Ich hatte die Absicht, noch ein Vermögen zu verdienen, und außerdem gab es Leute, für die ich verantwortlich war.« »Wie Phil? « »Er gehörte damals dazu.« »Und er arbeitet immer noch für Sie.« »Gelegentlich. Als ich genug Geld hatte, habe ich das Netz aufgelöst. Obwohl ihre Talente auch bei den anderen Organisationen willkommen gewesen wären, kamen ein paar meiner damaligen Partner zu dem Schluss, dass sie kein Interesse daran hatten, zu einem der anderen Vereine zu gehen.« »Also haben Sie ihnen geholfen, ein ne ues Leben zu beginnen.« »Ich konnte sie ja wohl kaum einfach hängen lassen. Sie gehörten in meinen Verantwortungsbereich.« Loyalität. Sie wollte nicht, dass er irgendwelche Eigenschaften hatte, die sie bewunderte. Als sie angefangen hatte, ihn auszufragen, hatte sie einzig an Gardeaux Interesse gehabt, doch nun erfuhr sie mehr über Tanek als über ihn. Es wäre besser, sie kämen auf das ursprüngliche Thema zurück. »Aber Ihre Zurückhaltung hat Ihnen nichts genützt? Trotzdem hat er Ihren Freund umgebracht? « »Das war später.« Er stand auf und streckte sich. »Zeit, ins Bett zu gehen.« Wieder hatte er dicht gemacht, und eilig sagte sie: »Sie haben mir noch nicht annähernd so viel über Gardeaux erzählt, wie ich wissen will.« »Dafür ist später noch Zeit. Schließlich werden Sie lange genug hier bei uns sein.« Sie stand ebenfalls auf. »Trotzdem will ich keine Zeit verlieren, -247-
wenn es nicht unbedingt erforderlich ist.« Sie machte eine Pause. »Offensichtlich haben Sie gute Kontakte. Werden Sie versuchen, für mich herauszufinden, warum Maritz von Gardeaux auf mich angesetzt worden ist? « »Wozu? « »Wozu? Ich muss es wissen, denn ich muss versuchen, den Sinn dieser ganzen Sache zu verstehen. Ich stolpere schon viel zu lange in diesem Alptraum herum.« »Meinen Sie, dass sich Ihr Plan dann ändern wird? « »Nein.« »Dann würde ich sagen, dass das Motiv für den Anschlag unwichtig ist.« »Für mich nicht.« Er sah sie an, ohne etwas zu sagen. Er würde es nicht tun. »Also gut. Fangen Sie dann wenigstens morgen an, mir beizubringen, was Sie mit Wilkins gemacht haben? « »Geben Sie eigentlich niemals auf? « »Wenn ich gewusst hätte, wie ich mich gegen ihn zur Wehr setzen kann, hätte Maritz es nie geschafft, mich über die Balkonbrüstung zu stoßen. Ich wäre in der Lage gewesen, mich zu verteidigen.« Und Jill. Die Worte wurden nicht ausgesprochen, aber trotzdem wusste er, dass es ihr um ihre Tochter ging. Er nickte knapp. »Übermorgen. Morgen muss ich zu Jean auf die Bar X.« Sie bedachte ihn mit einem argwöhnischen Blick. »Und Sie versuchen nicht nur, mich zu vertrösten? « »Das käme mir nie in den Sinn. Ich werde Ihnen alles beibringen, was in Bezug auf Tod und Verderben für Sie von Interesse ist. Aber das wird weniger sein als das, was Ihnen auf -248-
diesem Gebiet von Gardeaux oder Maritz geboten werden kann.« »Es wird reichen.« »Das wird es nicht. Aber selbst wenn, was werden Sie anschließend tun? Man braucht einen bestimmten Charaktertyp, wenn man einen Mord überleben will.« »Es wäre kein Mord«, sagte sie verletzt. »Sehen Sie, Sie scheuen schon jetzt davor zurück.« Und dann wiederholte er: »Mord. Wenn man einem Menschen das Leben nimmt, ist das Mord. Egal, aus welchem Grund. Nette Menschen wie Sie lernen von Kindesbeinen an, dass das etwas Schreckliches ist.« »Nette Menschen haben auch selten dieselben Beweggründe wie ich.« »Das stimmt, und Sie sind auch nicht mehr die Frau, der ich auf Medas begegnet bin. Aber im Grunde Ihres Herzens sind Sie trotzdem dieselbe. Der Wind beugt das Schilfrohr zwar, aber er...« »Schwachsinn.« »Ach ja? Sie wollen hart und kalt sein und alles von sich schieben, aber so geht es einfach nicht. Oh, mit mir ist es ganz einfach, aber was ist mit Tania, und wie sieht's mit Peter aus? « »Das ist etwas anderes. Sie haben mit Maritz und Gardeaux nichts zu tun.« »Aber Sie haben alles mit dem Menschen zu tun, der Sie sind.« »Sie denken, ich schaffe es nicht? Sie irren sich.« »Ich wette, Sie tun es nicht.« Und müde fügte er hinzu: »Und außerdem will ich auch nicht, dass Sie es tun.« Sie schüttelte den Kopf. »Übermorgen. Acht Uhr früh. Ziehen Sie Sportsachen an, und frühstücken Sie nicht.« Mit diesen Worten wandte er sich ab und -249-
verließ den Raum. Er irrte sich, sagte sie sich. Er musste sich irren. Es wäre besser, wenn sie Distanz wahrte zu ihm, aber selbst wenn ihr das nicht gelänge, hielte sie an ihrer Entschlossenheit fest. »Peter.« Sie drehte sich zu dem Jungen um. »Es ist Zeit, ins Bett...« Sam hatte seinen Kopf auf Peters Knie gelegt, und der Junge streichelte seinen Hals. Seine Miene verriet, wie glücklich er war. Es könnte passieren. Hauptsache, sein Wille ist stark genug. Freude überkam sie. Offenbar hatte sich Peter Sams Zuneigung stark genug gewünscht. Und außerdem will ich nicht, dass Sie es tun. Ihr Lächeln legte sich, als sie sich an Taneks Worte erinnerte. Sein Wille war wesentlich stärker als der des Jungen, und er hatte die Absicht, ihr seinen Willen aufzuzwingen, ob es ihr gefiel oder nicht. Nun, sie war nicht Sam. Es würde ihm nichts nützen, denn sie war ebenfalls ein willensstarker Mensch. »Komm, Peter«, sagte sie brüsk. »Zeit ins Bett zu gehen. Sam ist morgen auch noch da.« Tot. Die Frau war tot. Maritz legte zufrieden den Hörer auf. Er hatte nicht versagt. Es hatte ein bisschen gedauert, aber jetzt war die Calder tot. Er konnte Gardeaux berichten, dass die Arbeit erledigt war. Vielleicht. Trotz seiner Zufriedenheit nagte immer noch ein gewisses Unbehagen an ihm. Gardeaux hatte gesagt, er hätte versagt, die Frau käme durch. Und der Kerl irrte sich so gut wie nie. Er stünde wie ein Trottel da, wenn sich herausstellte, dass der -250-
Totenschein der Frau eine Fälschung und dass sie selbst an einen sicheren Ort gebracht worden war. Und Gardeaux hatte Trottel noch nie gemocht. Es würde nichts schaden, wenn er auf Nummer Sicher ging. Er blickte auf den Zettel in seiner Hand. Das Krankenhaus? Zuviel Betrieb. John Birnbaum Bestattungsinstitut. Er schob den Zettel in die Hosentasche und lächelte. »Hier.« Tanek warf ein großes Paket neben Nell auf die Couch. »Ein Geschenk.« Nell blickte verwirrt zu ihm auf. »Ich dachte, Sie wollten auf die Ranch, um Ihren Vormann zu sehen.« »Ich war auf der Ranch. Aber auf dem Rückweg war ich noch kurz in der Stadt. Machen Sie's auf.« Sie nestelte an dem Klebeband herum. »Peter ist noch nicht von der Ranch zurück.« »Jean hat festgestellt, dass er den Jungen mag, und hat ihm erlaubt, ein paar Tage bei ihm zu bleiben. Wenn er sich geschickt anstellt, nimmt Jean ihn vielleicht sogar ins Hochland mit, wenn er die Schafe holt.« »Ist das auch nicht gefährlich für ihn? « »Nein. Er war ganz versessen darauf, drüben zu bleiben. Schließlich hat er Hunde und Schafe dort.« Sie konnte sich vorstellen, wie unwiderstehlich der Vorschlag, auf der Ranch zu bleiben, für Peter gewesen war. Sie zerrte an dem braunen Einwickelpapier herum. Leinwand, Skizzenblock, Stifte und ein Farbkasten. »Was ist das? « »Sie sagten, Sie wollten Michaela malen.« »Das habe ich nicht gesagt.« »Aber Sie wollen es.« -251-
»Ich werde viel zu beschäftigt sein.« Er schnalzte mit den Fingern. »Ah ja, ich hatte ganz vergessen, dass Tod und Verderben das einzige sind, was für Sie von Interesse ist. Nun, ich habe beschlossen, dass ich eine Bezahlung verlange für meinen Unterricht. Ich brauche ein paar Bilder, denn die Wände hier im Haus sind noch zu kahl.« In spöttischem Ton fragte sie: »Zum Beispiel neben dem Delacroix? « »Heimatkunst. Meine Leute, meine Berge, mein Land.« Derselbe Besitzstolz, der ihr bereits gestern an ihm aufgefallen war. Sie stellte die Leinwand ab. »Heuern Sie für diese Arbeit jemand anderen an.« »Ich will Sie. Eine Stunde Tod und Verderben für zwei Stunden an meinen Bildern. Abgemacht? « Sie sah ihn an. »Was soll das werden? Denken Sie, ich mache durch diese halbgare Therapie irgendeine wundersame Wandlung durch? « »Vielleicht. Auf jeden Fall schadet es nichts.« »Ich kann es mir nicht leisten, meine Zeit zu vergeuden.« »Es gab einmal eine Zeit in Ihrem Leben, als die Malerei keine Zeitverschwendung war.« Er begegnete ihrem Blick. »Ich werde mein Versprechen halten. Sie bekommen täglich eine Stunde Unterricht von mir, egal, ob Sie malen oder nicht. Aber der einzige Weg, um mehr zu bekommen, ist, mir zu geben, was ich will.« »Das wird Ihnen nichts nützen.« »Es wird mir auch nicht wehtun « Er lächelte. »Ebenso wenig wie Ihnen, habe ich recht? « Langsam schüttelte sie den Kopf. »Abgemacht? « Warum nicht? Es wäre eine Möglichkeit, das Tempo ihres -252-
Unterrichts zu bestimmen, ohne Tanek erst bitten zu müssen. Sie blickte auf die Leinwand, und langsam stieg leise Freude in ihr auf. Ihr Blick wanderte in Richtung der Küche, in der Michaela mit Essensvorbereitungen beschäftigt war. Dieses wunderbare Gesicht... »Wenn Sie Michaela überreden, sich von mir malen zu lassen...« »Ich würde niemals versuchen, Michaela zu irgendetwas zu überreden. Wenn Sie sie malen wollen, reden Sie am besten selbst mit ihr.« »Ist das auch als Therapie gedacht? « Er lächelte. »Nein. Ich habe einfach furchtbare Angst vor ihr.« In der Dunkelheit sah das Birnbaumsche Bestattungsinstitut wie das kleine Herrenhaus einer Plantage aus. Die drei Säulen an der Vorderfront wurden von einem Strahler erhellt, der in einem der immergrünen Büsche auf der ausgedehnten Rasenfläche verborgen war. Was für eine Verschwendung, dachte Maritz. Ein Herrenhaus für die Verblichenen. Nun, nicht nur für die Verblichenen. Auch für die Bestattungsunternehmer selbst. Schließlich nahmen sie Unsummen dafür, dass sie irgendwelche Leichen in irgendwelche Särge verfrachteten. Verdammte Blutsauger, allesamt. Bei der Beerdigung seines Vaters hatten sie ihm noch den letzten Cent abgeknöpft. Aber Maxwell & Sohn war ein anderes Unternehmen gewesen als das, was er hier vor sich sah. Die Leichenhalle hatte an einer belebten Straße in den Elendsvierteln von Detroit gelegen, und er war zu arm und zu unbedeutend gewesen, um ein bedeutender Kunde zu sein. Man hatte ihn einfach Daniel Maxwell, dem Sohn, überlassen, und er hatte in hilfloser Wut vor dem verpickelten Würstchen gesessen, während ihm dieses noch den letzten Dollar aus der Tasche zog. -253-
Am liebsten hätte er diesem Schwein die Kehle zugedrückt, bis ihm die Augen aus dem Kopf gequollen wären. Die Tür der Leichenhalle öffnete sich, und eine Reihe von Leuten strömte heraus. Mit verschwollenen Augen, leisen Stimmen, erleichtert, die Toten zurückzulassen und wieder zu den Lebenden zu gehen. Auf seiner Uhr war es neun. Jetzt machte die Leichenhalle zu. Er gäbe den Nachzüglern noch fünfzehn Minuten Zeit. Die Trauernden gingen auf den Parkplatz, stiegen in ihre Autos und fuhren davon. Es hatte eine Zeit gegeben, in der er selbst ein Trauernder gewesen war. Er hatte seinen Vater geliebt. Seine Mutter war diejenige gewesen, die hätte sterben sollen, diese widerliche Kuh. Er hatte es nicht gewollt. Er hatte seinen Vater nur leicht angestoßen, und dann war der Alte diese Treppe runtergestürzt. Eigentlich hatte er sie gemeint. Ein junger Mann in einem dunklen Anzug kam aus der Leichenhalle und ging über den Rasen zu dem kleinen Parkplatz, der den Angestellten vorbehalten war. Ein Lehrling des Vampirs? Oder vielleicht hatte Birnbaum ebenfalls einen Sohn. Der Junge sprang pfeifend in ein blaues Oldsmobil, das neben einem schlanken Cadillac-Leichenwagen stand. Einem neuen Leichenwagen, der eine Woche nach der angeblichen Einäscherung der Calder bar bezahlt worden war. Maritz fand diesen Autokauf äußerst interessant. In der Vorhalle gingen die Lichter aus. Maritz wartete, bis das Oldsmobil um die Ecke verschwunden war, ehe er aus seinem Wagen stieg und über die Straße ging. Er klingelte an der Tür. Niemand öffnete. Er klingelte erneut. Er wartete eine Minute und klingelte ein drittes Mal. Die Flurlichter gingen an, und jemand öffnete die Tür. Maritz -254-
wurde in kühle Luft und in den betäubenden, süßlichen Geruch von Blumen eingehüllt. Vor ihm in einem schlichten grauen Anzug stand John Birnbaum, ein leicht untersetzter Mann mit schütterem grauen Haar. »Möchten Sie jetzt noch den Verblichenen sehen? Wir haben bereits geschlossen, tut mir leid.« Maritz schüttelte den Kopf. »Ich habe ein paar Fragen an Sie. Ich weiß, es ist bereits ziemlich spät, aber hätten Sie trotzdem vielleicht noch einen Augenblick Zeit für mich? « Birnbaum zögerte, und Maritz meinte beinahe zu sehen, wie er nachdachte und plötzlich lauter Dollarzeichen vor sich sah. »Haben Sie einen lieben Menschen verloren? « Birnbaum trat zur Seite, Maritz betrat die Eingangshalle und schloss hinter sich die Tür. Er lächelte. »Ja, ich habe einen lieben Menschen verloren. Und genau darum geht es mir.« Nell stand in der Küchentür und sah Michaela beim Backen zu. Mit mehlbestäubten Armen rollte die Haushälterin Teig auf dem Schlachtblock aus. Jede ihrer Bewegungen war behende, elegant und zugleich gezielt. »Was gibt's? « fragte Michaela ohne aufzusehen. Nell fuhr zusammen, und da ihr nichts Besseres einfiel, fragte sie: »Was machen Sie da? « »Plätzchen.« »Die, die wir zum Frühstück gegessen haben, waren einfach wunderbar.« »Ich weiß.« »Sie haben sicher immer viel zu tun.« Michaela nickte. »Es ist sehr freundlich von Ihnen und Ihrem Mann, dass Peter eine Weile auf der Ranch wohnen darf.« -255-
»Er stört uns nicht.« Sie legte den Teigroller zur Seite und fing mit dem Ausschneiden der einzelnen Plätzchen an. »Wenn er uns stören würde, hätten wir ihn nicht genommen. Für Narren hat Jean keine Zeit, aber der Junge ist kein Narr. Er hat den Verstand eines Kindes, und Kinder können Dinge lernen, wenn man sie ihnen ze igt.« Ihre Worte waren so gezielt wie die Bewegungen des Messers im Teig. »Also, was wollen Sie? « »Ihr Gesicht.« Michaela hob den Kopf. »Ich würde sagen, Ihr Gesicht ist gut genug.« »Ich meine... ich würde Sie gerne malen.« Michaela legte die Plätzchen auf ein Blech. »Zum Modellsitzen habe ich keine Zeit.« »Ich könnte Sie zeichnen, während Sie arbeiten. Vielleicht brauche ich Sie am Anfang gar nicht so oft.« Michaela schwieg einen Augenblick. »Sind Sie eine Künstlerin?« »Keine richtige. Ich habe nicht die Zeit dazu. Ich male nur, wenn ich nicht...« Sie brach ab, als ihr klar wurde, dass sie automatisch dieselbe Antwort wie vor Medas gab. Aber eine Jill oder einen Richard, die ihre Zeit beanspruchten, gab es nicht mehr. Diese Erkenntnis versetzte ihr einen schmerzlichen Stich. »Ja, ich bin eine Künstlerin.« Die Worte klangen fremd und einsam für sie. Michaela musterte sie, und dann nickte sie knapp. »Also gut, malen Sie los. Aber stehen Sie mir dabei nicht im Weg herum.« Ehe sie es sich noch einmal anders überlegen konnte, sagte Nell: »Ich hole schnell meinen Skizzenblock.« »Ich werde nicht still stehen bleiben.« »Ich arbeite einfach um Sie herum...« Nach einer Stunde hatte sie immer noch keine Skizze von Michaelas Gesicht zu Papier gebracht. Die Person stand nicht -256-
eine Sekunde ruhig. Die Frau, deren Gesicht die Erhabenheit einer Nofretete aufwies, war ein regelrechter Ausbund an Energie. Nachdem sie mehrere Blätter mit Skizzen des ganzen Gesichts weggeworfen hatte, beschloss Nell, dass es vielleicht besser wäre, nähme sie die verschiedenen Partien einzeln auf. Sie begann mit dem tief liegenden Augenpaar. So war es besser. So bekäme sie es hin. Und vielleicht ergäben die einzelnen Bereiche ja später das ganze Gesicht... »Warum sind Sie hier? « Nell blickte auf. Dies war das erste Mal seit über einer Stunde, dass Michaela sprach. »Ich bin nur zu Besuch.« Michaela schüttelte den Kopf. »Nicholas hat gesagt, Sie blieben den Winter über hier. Das ist kein Besuch.« »Ich werde versuchen, Ihnen nicht zur Last zu fallen.« »Wenn Nicholas Sie hier haben will, dann ist mir ein bisschen Mehrarbeit egal« »Nicholas hat gesagt, Sie und Jean gehörten mehr hierher als er.« »Das tun wir auch, aber allmählich wird auch er ein Teil von diesem Land. Er muss nur noch ein bisschen reifen.« »Reifen? « Michaela zuckte mit den Schultern. »Ich glaube, es fällt ihm schwer, irgendwohin zu gehören, aber genau das ist es, was er will. Wir werden sehen.« »Sie wollen, dass er bleibt? « Sie nickte. »Er versteht uns und lässt uns leben, wie es uns gefällt. Vielleicht ist der nächste Besitzer dümmer oder weniger gelehrig als er.« Nell lächelte. »Und Sie bringen Nicholas die Dinge bei, die man hier wissen muss? « »Natürlich. Er ist nicht schwierig. Er ist intelligent und hat eine -257-
ausgeprägte Willenskraft. Er wird mit der Landschaft verschmelzen, er braucht nur noch ein bisschen Zeit.« »Ich hätte gedacht, Willensstärke hielte einen Menschen von der Verschmelzung ab.« »Dieses Land ist ebenfalls stark. Schwächlinge mag es nicht.« Sie musterte Nell. »Es frisst sie, und dann spuckt es sie wieder aus.« Nells Zeichenstift verharrte reglos in der Luft. »Und Sie denken, dass ich ein Schwächling bin? « »Ich weiß es nicht. Sind Sie's? « »Nein.« »Dann brauchen Sie sich auch keine Sorgen zu machen.« »Sie wollen mich hier nicht haben, stimmt's? « »Es ist mir egal, ob Sie hier sind oder nicht.« Sie zog das Blech mit den Plätzchen aus dem Ofen. »Solange Sie nicht versuchen, Nicholas von hier fortzulocken. Reden Sie mit ihm. Lächeln Sie ihn an. Schlafen Sie mit ihm.« Sie stellte das Blech auf dem Schlachtblock ab. »Aber wenn Sie gehen, lassen Sie ihn hier.« Nell war ehrlich schockiert. »Ich habe nicht die Absicht, mit ihm zu schlafen. Das ist nicht der Grund, weshalb ich hierher gekommen bin.« Michaela zuckte mit den Schultern. »Es wird passieren. Er ist ein Mann, und Sie sind näher als die Frauen in der Stadt.« Sie nahm einen Spatel und löste die Kekse vom Blech. »Und Sie sind der Typ Frau, der das Blut eines Mannes in Wallung geraten lässt.« »Er sieht nicht die Frau in mir.« »Alle Männer sehen als erstes die Frau in der Frau. Das ist ihre erste Reaktion. Erst später sehen sie in uns Menschen, die nicht nur einen Körper haben, sondern auch ein Hirn.« »Und er ist der einzige, der in dieser Angelegenheit etwas zu sagen hat? « -258-
»Sie sehen ihn gerne an. Sie beobachten ihn.« Tat sie das? Verdammt, natürlich sah sie ihn an. Er war ein attraktiver Mann. Aus der Menge in dem überfüllten Ballsaal auf Medas hatte er wie ein Leuchtturm herausgeragt. »Das hat nichts zu bedeuten. Es ist nichts zwischen uns.« »Wenn Sie es sagen.« Die Haushälterin wandte sich ab. »Aber jetzt habe ich keine Zeit mehr zum Reden. Es ist fast Essenszeit. Ich muss dafür sorgen, dass alles rechtzeitig fertig wird.« Nell atmete erleichtert auf. Michaela lag mit ihren Vermutungen vollkommen falsch, aber trotzdem hatte das Gespräch eine beunruhigende Wirkung auf sie gehabt. »Darf ich Ihnen helfen? Ich könnte den Tisch decken.« »Nein.« Michaela öffnete den Schrank und nahm die Teller heraus. »Gehen Sie lieber in den Stall, und sagen Sie Nicholas dass es gleich Essen gibt.« »Gern.« Nell legte ihren Skizzenblock zur Seite und sprang auf. Als sie den Stall betrat, striegelte Nicholas gerade einen braunen Hengst. Von der Tür her rief sie: »Das Essen steht auf dem Tisch.« »Ich komme sofort.« Sie beobachtete, wie er das Tier mit langen, sauberen Strichen bürstete. Egal, was er tat, immer wandte er dieselben kraftvollen und zugleich sparsamen Bewegungen an, dachte sie. Er trug Jeans und ein Sweatshirt und wirkte, als wäre er die Stallarbeit gewöhnt. Hätte sie es nicht besser gewusst, dann hätte sie angenommen, er käme vom Land. Es war schwer, den Tanek von Medas in Verbindung zu bringen mit dem Mann, den sie vor sich sah. Ohne aufzublicken sagte er: »Sie sind sehr ruhig. Was denken Sie? « »Dass Sie das sehr gut machen. Kennen Sie sich mit Pferden -259-
aus? « Er lächelte. »Ich lerne stets dazu. Bevor ich hierher kam, hatte ich außer den Pferden der britischen Großkopferten im Poloclub noch nie ein Pferd aus der Nähe gesehen.« »Sie waren Mitglied eines Poloclubs? « »Wohl kaum. Als Junge habe ich dort in der Küche als Tellerwäscher Geld verdient.« »Ich kann Sie mir nicht als Tellerwäscher vorstellen.« »Nein? Mir kam das bereits wie ein Aufstieg vor. Der Job, den ich vorher hatte, bestand darin, die Fußböden in dem Bordell zu schrubben, in dem meine Mutter gearbeitet hat.« »Oh.« Er blickte über seine Schulter. »Was für ein höflicher, dezenter Kommentar. Habe ich Sie vielleicht in Verlegenheit gebracht? « »Nein, aber ich...« Zu ihrer Verärgerung bemerkte sie, dass sie stotterte. »Es geht mich nichts an. Ich wollte nicht aufdringlich sein.« »Das waren Sie auch nicht. Ich habe meine Mutter kaum gekannt. Ich habe den anderen Huren näher gestanden als ihr. Sie war ein amerikanischer Hippie, der auf der Suche nach der Erleuchtung nach China gekommen war. Unglücklicherweise sah sie nur, wenn sie high war, überhaupt irgendein Licht. Also war sie ständig high. Sie starb an einer Überdosis, als ich sechs Jahre alt war.« »Und wie alt waren Sie, als Sie das Bordell verließen? « Er dachte nach. »Ich glaube, als ich im Poloclub anfing, war ich acht. Und rausgeschmissen haben sie mich mit zwölf.« »Warum? « »Der Koch hatte behauptet, ich hätte drei Dosen Kaviar gestohlen und auf dem Schwarzmarkt verkauft.« »Und, hatten Sie? « -260-
»Nein, er hatte es selbst getan, aber ich war der perfekte Sündenbock für ihn. Es war ziemlich clever von ihm, mir die Schuld in die Schuhe zu schieben.« Sein Ton verriet kühle Objektivität. »Ich war der Schwächste von allen. Ich hatte niemanden, der mich beschützt hätte, und mich selbst beschützen konnte ich ebenfalls nicht.« »Sie scheinen nicht böse darüber zu sein.« »Es ist vorbei. Und es war eine wertvolle Lektion für mich. Ich war nie wieder so schwach, und ich habe gelernt, meinen Besitz zu verteidigen.« »Was passierte dann? Hatten Sie irgendeinen Ort, an den Sie gehen konnten? « »Die Straße.« Er legte die Bürste beiseite und strich dem Tier sanft über das Maul. »Das, was ich dort gelernt habe, war noch wertvoller für mich, aber das interessiert Sie sicher nicht.« Er verließ die Box und schloss den unteren Teil der Tür. »Oder vielleicht doch. Nicht selten ging es dabei um Tod und Verderben und schmutzige Tricks.« Sie konnte sich noch nicht einmal vorstellen, wie das Leben auf der Straße war, zumal für das Kind, das er damals noch gewesen war. Er sah sie an und schüttelte den Kopf. »Jetzt sehen Sie mich genauso wie Peter an. Weich wie Butter.« »Es ist keine Weichheit, wenn man die Misshandlung von Kindern hasst. Sie hassen sie ja selbst.« »Aber ich kann daran denken, ohne vor Mitleid zu schmelzen.« »Ich schmelze nicht.« »Aber fast. Hören Sie, nicht alle Kinder sind wie Jill. Ich war ein harter, unabhängiger, zäher kleiner Bastard mit hässlichen Klauen.« Er begegnete ihrem Blick. »Sie denken, Sie hätten sich verändert, aber Sie sind immer noch zu weich. Weich bedeutet verformbar, und verformbar bedeutet tot.« -261-
»Dann werde ich es überwinden.« Sie wandte sich zum Gehen. »Michaela wird bestimmt böse, wenn ihr Essen kalt wird.« »Das wollen wir doch nicht.« Er ging ebenfalls los. »Wie kommen Sie mit ihr zurecht? « »Ganz gut. Ich darf sie sogar zeichnen«, sie verzog das Gesicht, »solange ich sie nicht bei ihrer Arbeit behindere.« »Was für ein Gefühl ist es? « »Ein gutes.« Sie sah ihn an. »Aber es dient mir nicht als gemütliche, kleine Nische, in der ich mich verkriechen und alles vergessen kann.« »Vielleicht hilft's. Immerhin ist es ein Teil des Gesamtmosaiks.« »Ich habe heute drei Stunden lang Skizzen gemacht. Das bedeutet, dass Sie mir etwas schuldig sind.« Er hielt ihr die Haustür auf und setzte ein spöttisches Lächeln auf. »Das ist also alles, worum es Ihnen geht.« Sie schüttelte den Kopf. Er wies eine seltsame Mischung aus Kälte und Härte und gleichzeitigem Verantwortungsbewusstsein und Gerechtigkeitsstreben auf. Was bei einem Mann mit seinem Hintergrund um so bemerkenswerter war. Aber schließlich war Tanek ein bemerkenswerter Mann. Sie sehen ihn an. Michaelas Worte kamen ihr in den Sinn, und wieder versetzte ihr der Gedanke an Vertraulichkeiten mit Tanek einen Schock. Es war eine dumme Reaktion. Zuzugeben, dass Tanek außergewöhnlich war, hieß noch lange nicht, dass sie versessen darauf war, mit ihm ins Bett zu gehen. In ihrem Leben war kein Platz für Sex mit irgendeinem Mann, und wenn sie noch nicht einmal mit Tanek befreundet sein wollte, dann wollte sie ihn ganz gewiss nicht in ihrem Bett. Er war für sie nur ein Mittel zum Zweck der Rache an Maritz, und so bliebe es auch. Weshalb hatte sie ihn überhaupt nach seiner Vergangenheit gefragt? Je weniger sie über ihn wüsste, um so besser wäre es. -262-
Nein, das war nicht wahr. Sie hatte ihn gefragt, weil sie neugierig gewesen war zu erfahren, aus welchem Material ein Mann wie Tanek bestand. Neugier war ein normaler und akzeptabler Zug. Ihre Neugierde war noch nicht ganz gestillt, und mit einem Mal platzte sie mit einer weiteren Frage heraus: »Der Koch, der für Ihre Entlassung verantwortlich war. Haben Sie ihn jemals wieder gesehen? « »O ja, ich habe ihn wieder gesehen«, sagte Tanek und lächelte.
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11. Kapitel Sie wurde von niemandem verfolgt. Ihre Phantasie ging einfach mit ihr durch, sagte Tania sich. Wahrscheinlich war sie übergeschnappt. Aber als sie in die Einfahrt des Hauses bog, stieg Erleichterung in ihr auf. Sie war zu Hause. In Sicherheit. Sie blieb einen Augenblick sitzen und blickte in den Rückspiegel, doch das einzige vorbeifahrende Fahrzeug war ein Transporter der Tagesstätte, der mit Kindern beladen war. Wusste sie es doch, sie war einfach paranoid. Dies war nicht Sarajevo, sondern Minneapolis. Sie stieg aus dem Wagen, öffnete den Kofferraum und nahm die erste Einkaufstüte heraus. »Lassen Sie mich das tragen.« Sie schreckte auf und wirbelte herum. Phil kam den Weg hinauf. »Habe ich Sie erschreckt? Tut mir leid.« »Ich hatte Sie nicht erwartet.« Phil nahm Tania die Tüte ab, zog die beiden anderen aus dem Kofferraum und schlug den Deckel mit dem Ellbogen zu. »Sie hätten mich rufen sollen.« »Ich dachte, ich käme allein zurecht.« Tania lächelte ihn an und ging dann die Einfahrt zum Haus hinauf. »Außerdem ist das nicht Ihre Aufgabe.« »Ich bin froh, wenn ich beschäftigt bin. Jetzt, wo der Sommer vorbei ist, habe ich im Garten kaum noch was zu tun.« Er verzog das Gesicht. »Ich weiß sowieso nicht, was ich hier noch soll, nun, da Nell mit Nicholas in Idaho ist.« »Sie sind uns eine große Hilfe.« Sie sah ihn nicht an, während sie die Haustür öffnete. »Hat... Nicholas Ihnen aufgetragen, auf mich aufzupassen? « -264-
Er runzelte die Stirn. »Was meinen Sie? Er hat gesagt, dass ich hier warten soll, bis er sich bei mir me ldet, und dass ich ihnen, soweit Sie es wollen, zur Hand gehen soll.« »Aber Sie sollen mir nicht nachlaufen, um aufzupassen, dass mir nichts passiert? « »Nein.« Er sah sie mit zusammengekniffenen Augen an. »Ist irgendetwas passiert? « »Nein.« Sie betrat den Flur und wandte sich in Richtung der Küche. »Wahrscheinlich geht nur meine Phantasie mit mir durch. Ich habe niemanden gesehen. Es war nur so ein Gefühl, als würde ich von irgendjemandem verfolgt. Aber warum sollte mich irgendwer beobachten? « Er sah sie grinsend an. »Wer täte das wohl nicht? « Doch dann wurde er wieder ernst. »Aber es laufen jede Menge Verrückte herum. Man kann nicht vorsichtig genug sein heutzutage. Wie wäre es, wenn ich Sie nächstes Mal bei Ihren Einkäufen begleiten würde? « Sie schüttelte den Kopf. »Dann käme ich mir wie eine Närrin vor. Ich bin sicher, dass dieser Verfolger nur in meiner Einbildung existiert.« »Na und? « Er stellte die Tüten ab. »Dann hätte ich wenigstens was zu tun.« »Mal sehen.« Entschlossen begann sie, ihre Einkäufe in den Schränken zu verstauen. »Aber ich danke Ihnen für das Angebot.« Er zögerte und sah sie nachdenklich an, doch dann wandte er sich zum Gehen. »Sie und Dr. Lieber sind sehr nett zu mir. Es gefällt mir nicht, wenn Sie sich ängstigen. Rufen Sie einfach, falls Ihnen nach Gesellschaft zumute ist.« Lächelnd beobachtete Tania, wie sich die Tür hinter ihm schloss. Während der letzten Wochen war Phil ein Teil ihres Lebens geworden. Gut gelaunt hackte er ihr Holz, wusch ihre -265-
Wagen und brachte ihren Garten in Schuss. Es erfüllte sie mit Freude, wenn er, über eins der Beete gebeugt, zu ihr aufblickte und ihr fröhlich winkend zu verstehen gab, dass alles in Ordnung und dass er bei ihnen durchaus zufrieden war. Ihr Lächeln schwand, als sie eine leere Tüte in den Altpapiereimer warf. Sie hätte nicht gedacht, dass Nicholas Phil bitten würde, sie zu beobachten. Weshalb sollte er? Nell war diejenige, die gefährdet war, und Nell war nicht hier. Dies war Amerika. Hier lauerten keine Heckenschützen in irgendwelchen Ruinen darauf, dass es eine Gelegenheit zum Abschlachten Unschuldiger gab. Aber all die Jahre der Vorsicht hatten ihre Instinkte geschärft. Amerika schien nicht der sichere Hort zu sein, als der es ihr immer erschienen war. Auch hier gab es Bombenterror und Mord. Und sie hatte diese Augen gespürt. Vielleicht sollte sie Phil tatsächlich bitten, sie zu begleiten, wenn sie das Haus verließ. Ja, sicher, dachte sie angewidert. Nächste Woche fing ihr Studium an. Sollte sie den armen Kerl etwa jeden Tag draußen Däumchen drehend herumsitzen lassen, bis ihr Unterricht beendet war, nur weil ihr Instinkt ihr einredete, jemand hätte es auf sie abgesehen? Vielleicht war dies ja auch nur eine Spätfolge dessen, was ihr in Sarajevo widerfahren war. Derartige Erinnerungen und Erfahrungen gruben sich einem Menschen unauslöschlich ins Unterbewusstsein ein. Vielleicht war sie ja nur... Sie schüttelte den Kopf und wandte ihre Gedanken anderen Dingen zu. Sie würde ihre Entscheidung treffen, wenn es soweit war. So hatte sie es immer getan. Wenn es an der Zeit wäre, das Haus zu verlassen, würde sie sehen, ob ihr Phils Begleitung erforderlich schien. Jetzt brauchte sie sich keine Gedanken zu machen. Hier in diesem Haus, in dem sie sich ein gemütliches -266-
Nest geschaffen hatte, war sie in Sicherheit. Sie bildete sich ein, sie wäre in Sicherheit, dachte Maritz. Die Viados war in Liebers Haus und fühlte sich geschützt und unbedroht. Er schob sich tiefer in den Sitz seines Wagens und griff nach dem Big Mac, den er auf dem Weg zum Haus gekauft hatte. Er hatte die Situation im Griff, von ihm wurde das Tempo bestimmt. Sie ohne Unterlass zu beobachten war nicht erforderlich. Nell Calder war im Augenblick nicht im Haus. Aber dass sie dort gewesen war, hatten ihm Liebers Nachbarn erzählt. Zumindest dachte er, dass sie es war. Nell Calder war nicht die Schönheit gewesen, die von den Leuten beschrieben worden war, aber Lieber war ein brillanter Chirurg, und in Nell Calders Krankenhausakte wurde er als ihr behandelnder Arzt geführt. Wozu brauchte man einen plastischen Chirurgen, wenn nicht zur Erlangung eines neuen Gesichts? Er biss in den Big Mac und kaute genüsslich darauf herum. Er müsste zusehen, dass das Calder-Problem bald gelöst würde, aber er war sich sicher, dass ihm das gelang. Wenn sie hier gewesen war, dann wusste wahrscheinlich entweder der Doktor oder seine Haushälterin, wo sie zu finden war. Und was sie wüssten, würden sie ihm erzählen, das war klar. Er hätte schon eher gehandelt, aber Lieber war ein anderes Kaliber als der Inhaber des Bestattungsinstituts. Es wäre nicht leicht, Lieber und Viados verschwinden zu lassen, ohne dass es deshalb einen Aufruhr gab. Also wartete er lieber noch eine Woche oder so, denn vielleicht tauchte die Calder ja von alleine wieder auf. Außerdem machte es ihm Spaß, Tania Viados zu beobachten. Am zweiten Tag hatte er überrascht und erfreut festgestellt, dass sie spürte, dass ihr jemand auf den Fersen war. Er hatte keine Fehler gemacht, aber trotzdem wusste sie, dass man sie -267-
beobachtete. Das erkannte er an ihrer angespannten Haltung, an den eiligen Blicken, die sie über ihre Schulter warf, an der Hölzernheit ihres Schritts. Es war lange her, dass er zum letzten Mal auf Raubzug gewesen war. Gardeaux hatte immer darauf bestanden, dass es schnell und sauber ging. Rein, raus. Er verstand nichts von der Freude an der Jagd, von der Freude an der Furcht des Opfers, die beinahe ebenso berauschend war wie die Tötung selbst. Er verschlang den letzten Bissen seines Big Macs und warf das Einwickelpapier in die Tasche auf dem Beifahrersitz. Er würde noch eine halbe Stunde warten, und dann würde er am Haus vorbeifahren, um herauszufinden, wie sich dort am besten eindringen ließ. Sie führe bestimmt nicht so schnell wieder davon. Das Haus gab ihr ein Gefühl von Sicherheit. Nell prallte hart auf dem Boden auf. »Stehen Sie auf«, sagte Nicholas. »Schnell. Bleiben Sie nie am Boden. Sie sind hilflos, solange Sie am Boden sind.« Schnell? Sie bekam kaum noch Luft, und sich zu bewegen erschien ihr wie ein Ding der Unmöglichkeit. Der ganze Fitnessraum drehte sich um sie. »Stehen Sie auf.« Sie stand auf... wenn auch alles andere als schnell. »Eine Sekunde nach dem Aufprall wären Sie eine tote Frau«, sagte Nicholas und bedeutete ihr, sich ihm abermals zu nähern. »Los.« Sie runzelte die Stirn. »Meinen Sie nicht, es wäre vielleicht sinnvoller, mir zuerst beizubringen, wie ich mich verteidige? « »Nein, zuerst bringe ich Ihnen bei, was Sie tun, wenn Sie am Boden sind. Denn das wird irgendwann passieren, egal, wie gut Sie sind. Sie müssen lernen, sich zu entspannen und knochenlos -268-
zu sein, damit Sie sich nicht verletzen, wenn Sie jemand zu Boden wirft. Und dann müssen Sie sich wegrollen, damit Ihr Gegner Sie nicht noch einmal trifft, und sofort wieder hoch.« »Ich will lernen, wie ich mich gegen einen Angriff zur Wehr setze. Ist das die übliche Methode? « »Wahrscheinlich nicht. Aber ich mache es nun einmal so. Greifen Sie mich an.« Sie griff ihn an. Er warf sie auf die Matte und setzte sich rittlings auf ihren Bauch. »Wenn ich Maritz wäre, würde ich Ihnen meinen Handballen unter die Nase schlagen. Dann brächen die Knochensplitter direkt in Ihr Gehirn.« Sie bedachte ihn mit einem bösen Blick. Er versuchte, ihr das Gefühl zu vermitteln, vollkommen hilflos und unfähig zur Gegenwehr zu sein. »Das täten Sie nicht.« »Denken Sie etwa, er hätte Mitleid mit Ihnen? Vergessen Sie's « »Nein, Sie sagten, Maritz wäre ein Messerfetischist. Wenn er mich schon am Boden hätte, warum sollte er die Gelegenheit nicht nutzen? « Sein Blick verriet Überraschung, doch dann wurde er hart. »So oder so wären Sie eine tote Frau.« »Heute. Aber morgen werde ich bereits besser sein. Und übermorgen noch besser.« Er blickte auf sie herab, und auf seiner Miene spiegelten sich eine Reihe von Gefühlen, die zu benennen sie nicht in der Lage war. »Ich weiß.« Seine Knöchel waren erstaunlich sanft, als er über ihre Wange strich. »Zur Hölle mit Ihnen.« Mit einem Mal wurde ihr seine dominierende Position bewusst, die muskulöse Straffheit seiner Schenkel, die Kraft seiner Hände, mit denen er ihre Handgelenke auf der Matte hielt. Der Geruch von Schweiß und Seife, der ihn umgab, hüllte sie ebenfalls ein. -269-
Es war beunruhigend. Sie wandte den Blick von ihm ab. »Dann lassen Sie mich los, und wir fangen noch mal von vorne an.« Einen Augenblick lang spannten sich seine Beinmuskeln links und rechts ihrer Hüfte an. Dann sprang er hoch, beugte sich zu ihr herab und zog sie neben sich. »Heute nicht.« Sie riss entgeistert die Augen auf. »Was soll das heißen? Wir haben eben erst angefangen.« »Wir haben wesentlich größere Fortschritte gemacht als geplant.« Er wandte sich zum Gehen. »Für heute reicht's.« »Sie haben es mir versprochen. Sie sind es mir schuldig.« Er warf einen Blick über seine Schulter. »Dann schreiben Sie es an. Ich bin sicher, dass Sie genau wissen, wie viel ich Ihnen schuldig bin. Aber jetzt nehmen Sie erst mal ein heißes Bad, damit die Schwellungen zurückgehen. Morgen früh um dieselbe Zeit.« Sie ballte frustriert die Fäuste, als er die Tür hinter sich zufallen ließ. Er hatte ihr das Gefühl gegeben, hilflos zu sein, und dann hatte er sie stehen lassen, ehe sie wieder ein Gefühl für ihre eigene Stärke bekam. Vielleicht war genau das seine Strategie. Vielleicht dachte er, wenn er sie regelmäßig entmutigte und ihr Vorhaben unterminierte, gäbe sie eines Tages auf. Aber sein Abgang war zu abrupt gewesen, und sie vermutete, dass das plötzliche Ende des Unterrichts nicht geplant gewesen war. Es war egal, ob es geplant gewesen war oder nicht. Er war fort, und der Morgen war verloren. Das durfte nicht passieren. Sie würde ihm nachgehen und... Und was? Ihn zurückzerren in den Fitnessraum? Er gäbe bestimmt nicht nach. Sie müsste eben tun, was er gesagt hatte, diesen Tag als verloren abhaken und hoffen, dass er morgen sein Versprechen hielt.
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Eine Stunde später fragte sie sich, ob sie am nächsten Tag überhaupt in der Lage wäre, ihm erneut gegenüberzustehen. Sie glitt in das heiße Wasser und lehnte den Kopf gegen den geschwungenen Wannenrand. Ihre Schultern und Rückenmuskeln schmerzten und wurden mit jeder Minute steifer. Sie hatte einen leuchtend blauen Fleck an der Hüfte, einen auf dem linken Oberschenkel und fünf purpurfarbene Abdrücke auf dem rechten Unterarm, die zeigten, wo sie von ihm angefasst worden war. Niemand konnte behaupten, Tanek drücke einer Frau nicht seinen Stempel auf, dachte sie. Jedes Mal, wenn er sie berührt hatte, hatte er ihr wehgetan. Außer als er ihr mit den Knöcheln seiner Hand über die Wange gefahren war. Das hatte nicht wehgetan. Aber dieser Augenblick der Sanftheit hatte sie stärker aus dem Gleichgewicht gebracht als seine Brutalität. Am besten dächte sie nicht länger darüber nach. Sie schloss die Augen und nahm die Wärme des Wassers in sich auf. Am besten dächte sie nur noch über die Vorbereitung des nächsten Trainings nach. »Fertig? « Tanek winkte sie abermals heran. »Auf geht's.« Sie stand da und sah ihn an. Sein Gesicht verriet keinerlei Gefühl. »Und heute brechen Sie nicht wieder einfach ab? « »Nein. Aber Sie werden sich noch wünschen, ich täte es.« Sie griff ihn an. Er warf sie herum, und krachend schlug sie auf der Matte auf. »Sie sind zu steif. Sie spüren Ihre Knochen noch viel zu stark. Wenn Sie den Boden berühren, rollen Sie sich ab, und springen Sie sofort wieder auf.« Bleib locker, sagte sie sich, während sie sich mühsam hochrappelte. Bleib locker. -271-
Das war leichter gesagt als getan. Wenn man im hohen Bogen durch die Luft segelte, spannte man die Muskeln ebenso natürlich an, wie man atmete. Am Ende der Stunde war sie so schwach, dass ihre Anspannung von selbst verloren ging. Er stand über ihr. »Sollen wir aufhören? « »Nein.« Sie kämpfte sich hoch und blieb schwankend vor ihm stehen. »Noch mal.« Nach weiteren dreißig Minuten Schwerstarbeit hob er sie hoch, trug sie in ihr Zimmer und warf sie auf ihr Bett. »Erinnern Sie mich dran, dass ich Sie nicht noch mal das Tempo des Unterrichts bestimmen lasse. Sie würden sich glatt von mir umbringen lassen, wenn Sie dächten, dass es Sie weiterbringt.« Mit diesen Worten verließ er den Raum. Sie würde sich kurz ausruhen und zwänge sich dann zu einem Bad. Himmel, ihr taten sämtliche Knochen weh. Sie schloss die Augen. Morgen würde sie dran denken, locker zu bleiben, wenn sie zu Boden ging. Morgen würde sie sich abrollen und aufspringen... Etwas Nasskaltes drückte gegen ihre Hand, die über die Bettkante hing, und sie blinzelte. Sam. Offenbar war er Tanek in ihr Schlafzimmer gefolgt und kam nun nicht mehr raus. »Willst du in den Flur? « fragte sie. »Da musst du schon einen Augenblick warten, denn ich kann mich einfach nicht rühren. Ich bin nicht allzu gut in Form.« Der Schäferhund sah sie an, und legte sich neben das Bett. Er akzeptierte ihre Antwort. Offenbar kannte er sich mit Schmerzen aus und bot ihr Trost. Zögernd streckte sie die Hand aus und strich ihm über den Kopf. Am nächsten Tag versteifte sie sich nicht, als er sie auf den Boden warf, doch das Abrollen und das Aufspringen kamen ihr -272-
wie unerreichbare Ziele vor. Einen Tag später rollte sie sich während der ersten Stürze ab, aber irgendwann wurde sie von der Erschöpfung niedergestreckt. Am dritten Tag entspannte sie sich, rollte ab und sprang wieder auf. Sie hatte das Gefühl, als hätte sie ein meisterhaftes Bild gemalt. Allmählich klappte es! »Gut«, sagte Tanek. »Noch mal.« Zwei Tage lang schaffte sie es nicht noch mal, denn er sorgte dafür, dass sie immer härter und schneller zu Boden ging. Sie verbrachte täglich zwei Stunden im Fitnessraum, und wenn sie nicht trainierte, dachte sie darüber nach und bereitete sich geistig und körperlich auf die nächste Begegnung mit Tanek vor. Sie malte, sprach mit Michaela, aß und schlief, aber neben dem Training kam ihr alles andere unwirklich vor. Sie hatte das Gefühl als lebe sie in einem Kokon, in dem es nichts außer der dominanten Gestalt Taneks, dem Fitnessraum und den Stürzen gab. Aber sie gewann an Kraft, Behendigkeit, Schnelligkeit. Bald hätte Tanek keine vollkommene Kontrolle mehr über sie. Tanek hörte das Geräusch leiser Schritte vor seiner Tür. Nell hatte ihr Schlafzimmer verlassen. Wieder hatte sie diesen Traum. Tanek rollte sich auf den Rücken und starrte in die Dunkelheit. Tania hatte ihm von den Alpträumen erzählt, aber davon zu hören und zu sehen, wie Nell um ihr Überleben kämpfte, waren zwei verschiedene Paar Schuh. Er war ihr ein paar Mal unbemerkt gefolgt, hatte ihr tränenüberströmtes Gesicht gesehen und gewusst, dass sie nicht wollte, dass er ihre Schwäche sah. Jedes Mal ging sie ins Wohnzimmer, rollte sich auf der Couch zusammen und betrachtete den Delacroix, oder sie ging ans -273-
Fenster und blickte zu den Bergen auf. Nach ein oder zwei Stunden kehrte sie dann in ihr Schlafzimmer zurück. Schlief sie dann? Wahrscheinlich nicht. Sie wirkte niemals vollkommen ausgeruht, als balanciere sie beständig am Rande des Zusammenbruchs. Doch ihre Erschöpfung nahm ihr nichts von ihrer Ausdauer oder ihrer Entschlossenheit, wenn es um das Training ging. Egal, wie oft er ihr wehtat, es war ihr nie genug. Unter ihrer schönen, zerbrechlichen Oberfläche verbarg sie eine eiserne Willenskraft und einen unbezwingbaren Mut. Wenn sie einen Fehler machte, lernte sie daraus. Egal, wie müde oder wie zerschunden sie war, sie hielt es aus. Sie ertrug seine Härte, seine Brutalität, seine Gleichgültigkeit gegenüber ihrem Schmerz. Er wünschte, sie ginge wieder ins Bett. Am Dienstag hatte sie es endlich geschafft. Die Stürze taten nicht länger weh, sie rollte sich ab und sprang auf die Füße, bereit, sich zu verteidigen. »Himmel, ich glaube, Sie haben es kapiert«, sagte Tanek. »Noch mal.« Er schleuderte sie hart auf den Boden, und sie war wieder auf den Beinen, nur wenige Sekunden, nachdem sie auf der Matte aufgekommen war. »Gut. Jetzt können wir anfangen. Morgen gibt es die erste Lektion in Angriff und Verteidigung.« Ihr Gesicht wurde von einem strahlenden Lächeln erhellt. »Wirklich? « »Es sei denn, es wäre Ihnen lieber, weiter von mir im Fitnessraum herumgeworfen zu werden.« »Ich schätze, das passiert mir sowieso«, war ihre trockene -274-
Erwiderung. »Aber jetzt können Sie sich auf das, was ich Ihnen zeige, konzentrieren, ohne Angst zu haben, dass Ihnen beim Sturz etwas passiert.« Er warf ihr ein Handtuch zu und beobachtete, wie sie sich den Schweiß aus dem Gesicht wischte. »Sie waren sehr gut.« Dies war das erste Lob aus seinem Mund, und warme Freude breitete sich in ihr aus. »Ich war langsam. Ich dachte schon, ich lerne es nie.« »Sie waren schneller als ich.« Er fuhr sich ebenfalls mit einem Handtuch über Gesicht und Hals. »Ich war erst vierzehn und hatte einen ausgeprägten Selbsterhaltungstrieb. Ich habe mich den Stürzen, so gut es ging, widersetzt, und in dem Lagerschuppen, in dem Terence mich unterrichtet hat, gab es keine Matten. Ich hätte mir x- mal fast das Genick gebrochen, bis ich endlich soweit war.« »Terence? « »Terence O'Malley.« Sie meinte beinahe zu sehen, wie er sich abermals vor ihr verschloss. »Und wer war Terence O'Malley? « »Ein Freund.« Seine Stimme war abweisend, aber dieses Mal ignorierte sie seinen Ton. Er wusste alles über sie, und es war an der Zeit, dass sie endlich etwas über ihn erfuhr. »Der Freund, den Gardeaux getötet hat? « »Ja.« Er sah sie an. »Sie haben eine Belohnung verdient. Was hätten Sie gern? « »Eine Belohnung? « wiederholte sie überrascht. »Nichts.« »Sagen Sie's nur. Ich bin ein Verfechter der Theorie, dass ein Schüler besser lernt, wenn es Belohnungen und Strafen gibt.« Trocken fügte er hinzu: »Und Strafen habe ich Ihnen in letzter Zeit genug aufgebrummt.« -275-
»Ich möchte nichts.« Sie dachte kurz nach. »Außer vielleicht...« »Was? « »Was Sie über Maritz gesagt haben...« Sie unterbrach sich. »Als ich am Boden lag. Sie sagten etwas von einem Schlag unter die Nase, der einen Menschen umbringen kann. Könnten Sie mir den beibringen? Jetzt sofort? « Er starrte sie einen Augenblick an, und dann brach er in lautes Gelächter aus. »Keine Pralinen, keine Blumen, keinen Schmuck. Nur eine neue Lektion. Das hätte ich mir denken sollen.« Sein Lächeln schwand. »Schade. Ich hatte gehofft, Sie hätten inzwischen genug von jeder Form der Gewalt. Schließlich übe ich im Augenblick genug Gewalt an Ihnen aus.« Gewalt? Sie hatte Schmerzen und Enttäuschungen verspürt, aber niemals hatte sie das Gefühl gehabt, dass er ihr gegenüber gewalttätig war. Sie hatte immer gewusst, dass er seine Kraft genau dosierte und sie ohne jede Boshaftigkeit behandelte. »Ich glaube, das war keine Gewalt.« »Nein? Für mich hat es sich so angefühlt. Aber ich bin es auch nicht gewohnt, Frauen durch die Gegend zu werfen, die gerade mal halb soviel wiegen wie ich.« Es hatte ihm etwas ausgemacht, merkte sie. Hinter der kühlen Maske hatte er tatsächlich Skrupel gehabt, ihr weh zu tun. »Ich habe Sie darum gebeten.« »Stimmt.« Er trat näher, nahm ihre Hand und hob sie an seine Lippen. »Genau wie Sie mich jetzt darum bitten, Ihnen zu zeigen, wie Sie Maritz mit einem einzigen Schlag töten können.« Er küsste die Innenfläche ihrer Hand. »Mit dieser Hand.« Er hatte sie überrumpelt. Sie starrte ihn an, unfähig woanders hinzusehen. Ihre Handfläche prickelte, und sie war so atemlos, wie sie es bei den Stürzen gewesen war, ehe sie gelernt hatte, wie man schmerzlos zu Boden ging. -276-
»Ist es nicht befriedigender, ein Bild zu malen, als einen Menschen zu töten, Nell? « fragte er leise. Er ließ von ihr ab und ging aus dem Raum. Am nächsten Tag kam Michaela mit zwei großen Kartons von der Ranch. Nell kauerte wie gewöhnlich mit ihrem Skizzenblock auf dem Küchenhocker, als sie die Kartons in der Ecke stehen sah. Sie waren offen und randvoll mit Kleidern gefüllt. »Was ist das? « Michaela blickte auf die Kartons. »Nur ein paar alte Kleider, die ich heute nachmittag nach Lasiter bringen will. Der baskische Wohltätigkeitsverein veranstaltet am Samstag einen Basar. Ich muss die Kartons noch ins Auto laden, aber vorher wollte ich noch nachsehen, ob vielleicht irgendwas genäht werden muss.« Sie zuckte mit den Schultern. »Kinder gehen nun mal nicht sonderlich sorgsam mit ihren Sachen um.« »Kinder? « »Ich habe zwei Enkel. Habe ich Ihnen das noch nicht erzählt? « Michaela als Großmutter. Der Gedanke kam Nell seltsam vor. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, wie diese Frau ein Enkelkind auf ihren Knien schaukelte. »Meine Tochter Sara hat einen Sohn und eine Tochter«, sagte Michaela. »Sechs und acht. Legen Sie den Block weg, und helfen Sie mir, das Zeug ins Auto zu tragen.« Gehorsam legte Nell den Block auf den Schlachtblock und stand auf. »Sie nehmen den hier.« Michaela gab ihr einen der Kartons. »Das Auto steht im Hof.« Sie nahm den anderen Karton und trat durch die Küchentür. Mit grimmiger Miene stapfte Nell hinterher. Statt zur Großmutter eignete sich Michaela eindeutig zum General. Sie konnte sich lebhaft vorstellen, wie sie ihre Kompanie -277-
zusammentrommelte und... Etwas fiel aus dem Karton auf den Boden, und sie blieb stehen. Es war ein Tennisschuh, ein sehr kleiner, roter Tennisschuh. Ein Kinderschuh. Wie oft hatte sie solche Schuhe aufgehoben und in den Schrank geworfen, nachdem sie Jill ins Bett gebracht hatte? Sie hockte reglos vor dem Schuh. Starrte ihn an. Jill. »Beeilen Sie sich, ich muss wieder zu meinem Ofen zurück«, rief Michaela voller Ungeduld. Nell zwang sich, den Schuh aufzuheben. Sie kauerte auf dem Boden, den Schuh in der Hand. Er fühlte sich so gut an, so... vertraut. »O Gott«, flüsterte sie und wiegte sich, den Schuh an die Brust gedrückt, vor und zurück. »Nein... nein... nein...« »Was ist...« Michaela stand in der Tür und zögerte, ehe sie zu Nell hinüberging. »Oh, Sie haben einen Schuh fallen gelassen.« Sie nahm ihn Nell ab und warf ihn in den Karton zurück. »Ich nehme ihn. Gehen Sie und waschen sich das Gesicht. Sie haben einen Fleck auf der Backe.« Sie nahm den Karton und trat in den Hof, und Nell stand langsam auf und ging ins Bad. Kein Fleck. Ihr Gesicht war tränenüberströmt. Wie dämlich. Zusammenzubrechen wegen eines Schuhs. Sie hatte keine Kontrolle über ihre Träume, aber sie hatte gedacht, tagsüber hätte sie sich in der Gewalt, tagsüber wäre sie hart, gegen den Schmerz gefeit. Bliebe es etwa für den Rest ihres Lebens so? »Trödeln Sie nicht rum.« Michaela stand vor der Badezimmertür. »Sie müssen mir noch die Kartoffeln schälen.« Michaela hatte sie noch nie gebeten, ihr bei den Essensvorbereitungen behilflich zu sein. Sie betrachtete die -278-
Küche als ihr persönliches Reich. Sie hatte Nells Augenblick der Schwäche ignoriert, und jetzt versuchte sie, sie zu beschäftigen. Sie war wirklich eine Seele von Mensch. »Ich komme.« Nell öffnete die Tür. »Es tut mir leid, dass ich...« »Dass Sie was? Sie haben sich ungeschickt angestellt und einen Schuh fallen gelassen.« Michaela machte kehrt und ging in die Küche zurück. »Ihr Geschwätz interessiert mich nicht. Kommen Sie lieber endlich, und helfen Sie mir. « »Gut.« Nicholas hielt die Skizze ins Licht. »Sie haben sie getroffen.« Nell schüttelte den Kopf. »Nicht ganz. Es ist verdammt frustrierend, zu versuchen, jemanden zu zeichnen, der ständig durch die Gegend flattert, wie Michaela es tut.« »Michaela flattert nicht. Dazu ist sie nicht graziös genug.« »Wie auch immer.« Nell nahm die Skizze und schob sie in die Mappe zurück. »Aber ich denke, dass ich morgen mit den Ölfarben anfangen kann.« Sie sah ihn an. »Ist das nicht vielleicht einen Bonus wert? « »Nein.« Er kniete sich vor den Kamin und stocherte in den Flammen herum. »Wir trainieren oft genug. Mehr wäre zuviel.« Sie hatte sich gedacht, dass er ihr diese Antwort geben würde, aber der Versuch hatte nicht wehgetan. In der Tat hatte er wahrscheinlich recht. Die Fortschritte, die sie in der vergangenen Woche in den Bereichen Angriff und Verteidigung erzielt hatte, genügten ihr. Aber sie brauchte bestimmt noch eine ganze Weile, bis ihr auch nur ein einziger der Bewegungsabläufe natürlich erschien. »In Ocachobi habe ich nicht gerade viel über Waffen gelernt«, wagte sie sich zögernd vor. »Das ist nicht mein Gebiet, sondern Jamies. Wenn er kommt, können Sie ja versuchen, ihn zu überreden, dass er Ihnen zeigt, -279-
wie man schießt.« »Mit Messern kenne ich mich auch nicht aus.« Er hob den Kopf und sah sie an. »Ich werde Ihnen beibringen, wie man sich gegen einen Angriff mit dem Messer wehrt, aber ich werde ihnen nicht zeigen, wie man eins benutzt. Gegen Maritz hätten Sie sowieso keine Chance. Sie können nicht in drei Monaten lernen, was er sich im Verlauf von Jahren angeeignet hat.« Er stand auf und schenkte ihr einen Kaffee ein. »Sie suchen sich besser eine andere Waffe aus, haben einen verdammt guten Plan oder eben einfach Glück.« »Was ist mit Gardeaux? Was brauchte ich für Gardeaux? « »Gardeaux überlassen Sie mir.« »Das kann ich nicht. Er hat den Befehl gegeben.« Sie hob die Kaffeetasse an den Mund. »Erzählen Sie mir was über Gardeaux.« Er setzte sich vor den Kamin und schlang die Arme um die Knie. »Sie haben mir doch erzählt, Sie hätten sich über ihn kundig gemacht.« »Ich weiß, was Newsweek über ihn weiß. Aber ich will wissen, was Sie über ihn wissen.« »Er ist clever. Er ist vorsichtig. Er will ganz nach oben kommen in der Hierarchie des Drogenkartells.« »Ich dachte, er wäre bereits ein großes Tier.« »Er ist noch einer der niedrigeren Chargen, aber er sitzt auf dem aufsteigenden Ast. Er will neben Sandequez, Juarez und Paloma regieren. Sie haben die wahre Macht, und genau das ist es, was er liebt. Außerdem liebt er Geld und schöne Frauen und hat eine Leidenschaft für seltene, antike Schwerter.« Sie erinnerte sich, dass in einem der Artikel die Rede von einer Schwertsammlung gewesen war. »Leidenschaft? « Er zuckte mit den Schultern. »Leidenschaft. Vielleicht ist sie nur ein Zeichen seiner Sehnsucht nach Macht.« -280-
»Eine Art Pha llussymbol? « Er grinste. »Sozusagen. Obwohl der Vergleich ein bisschen hinkt.« »Er ist verheiratet? « »Seit über zwanzig Jahren, und es hat den Anschein, als bete er seine Frau und ihre beiden gemeinsamen Kinder geradezu an.« Er sah sie an. »Obgleich ihn diese Anbetung nicht davon abhält, eine Geliebte in Paris zu haben.« »Sie wissen, wer seine Geliebte ist? « »Simone Ledeau, ein Model. Aber über sie kommt man nicht an ihn heran, falls Sie das denken. Gardeaux macht seinen Damen immer unmissverständlich klar, was mit ihnen im Fall eines Verrats passiert.« »Wie? « »Wahrscheinlich lädt er sie zu einer der privaten Fechtveranstaltungen ein, die es regelmäßig in dem Theater auf Bellevigne gibt. Wenn er einen Verräter öffentlich bestrafen will, dann zwingt er ihn zu einem Kampf mit einem jungen Fechtmeister, der in seinen Diensten steht.« »Mord? « »Mord. Obwohl der andere Mann immer einen Degen zu seiner Verteidigung ausgehändigt bekommt.« »Und was ist, wenn dieser andere Mann gewinnt? « »Dann darf er gehen, aber Gardeaux' Fechter, Pietro, hat seit über zwei Jahren noch jeden Gegner besiegt. Fechten ist nicht gerade ein Sport, den man in jedem x-beliebigen Fitnessstudio beigebracht bekommt.« »Aber was war vorher? Wenn Pietro erst seit zwei Jahren ungeschlagen ist, dann hat vorher ja wohl offenbar einmal die andere Seite gesiegt.« Plötzlich kam ihr ein Gedanke. »Sie vielleicht? « »Nein.« Er blickte auf seine Hände. »Und der andere hat, -281-
obwohl er gesiegt hat, nicht überlebt.« »Gardeaux lässt also niemanden, den er einmal in seinen Fängen hat, wieder frei? « »O doch.« Mit einem Mal stand er auf. »Ich fahre in die Stadt.« »Jetzt? Aber warum? « fragte sie verblüfft. »Ich habe die Fragen und das ständige Gerede über Gardeaux und Maritz satt.« Er wandte sich zum Gehen. »Ich ersticke noch mal daran.« Ihre Fragen hatten ihn erst zu stören begonnen, als sie auf die Fechtkämpfe zu sprechen gekommen war, und sie sagte leise: »Falls ich Ihnen zu nahe getreten bin, tut es mir leid.« Statt einer Antwort schlug er die Tür hinter sich ins Schloss. Einen Augenblick später hörte sie, wie der Jeep vom Hof auf die Straße donnerte. Sie stand auf, trat ans Fenster und sah dem davonfahrenden Wagen nach. Beim Anblick der Rücklichter empfand sie mit einem Mal ein Gefühl der Einsamkeit. In den letzten Wochen war er oft nachmittags auf die Ranch gefahren, aber dies war das erste Mal, dass er sie abends alleine ließ, um in die Stadt zu fahren. Sie hatte das eigenartige Empfinden, von ihm verlassen worden zu sein. Idiotisch. Um so besser, dass er das gewohnte Muster durchbrach. Sie fühlte sich viel zu wohl in seiner Nähe und empfand einen viel zu großen Genuss, wenn sie abends mit ihm im Wohnzimmer vor dem flackernden Kaminfeuer saß. Er ist ein Mann, und Sie sind näher als die Frauen in der Stadt. Michaelas Worte fielen ihr wieder ein Die Frauen in der Stadt. Natürlich lebte Tanek bestimmt nicht hier in der Wildnis, ohne dass er irgendwo sexuelle Befriedigung fand. Es sollte sie wundern, dass er nicht schon vorher zu einer Frau gefahren war. Zu einer bestimmten Frau? Das ging sie nichts an. Er führte sein Leben, und sie führte das -282-
ihre. Dass sie sich von ihm verlassen fühlte, war demnach ein Ding der Unmöglichkeit. Etwas Weiches strich über ihren Schenkel, und sie sah, dass Sam herangeschlichen gekommen war. »Hallo, alter Junge.« Sie strich ihm sanft über den Kopf. »Er ist weg. Willst du heute vielleicht in meinem Zimmer nächtigen? « Warum sollten sie sich nicht zusammentun? Schließlich hatte er nicht nur sie verlassen, sondern auch seinen Hund. »Mehr«, keuchte Melissa und reckte sich ihm entgegen, damit er tiefer in sie drang. »Ja, so. Hilf mir.« Er schob sich tiefer und tiefer in sie hinein. Er kam zu schnell, brach auf ihr zusammen und erschauderte. Er spürte, wie sie sich anspannte, als sie ebenfalls kam, rollte sich neben sie und schob seinen Arm unter seinen Kopf. Er wusste, er sollte sie an sich ziehen, denn Nähe war etwas, das den meisten Frauen nach dem Akt wichtig war. Er wollte sie nicht halten. Er wollte nicht in ihrer Nähe sein. »Das war schön«, murmelte Melissa und schmiegte sich an seinen Bauch. »Ich bin froh, dass du vorbeigekommen bist, Nicholas.« Er strich ihr über das Haar. Sex war für Melissa immer schön. Melissa Rawlins war wunderbar unkompliziert, erbat wenig für sich und gab einem viel. Sie war vierunddreißig, geschieden, selbständige Immobilienmaklerin, und sie liebte es, ungebunden zu sein. Sie war einfach perfekt für ihn. Aber er wollte nicht bei ihr sein. Sie küsste seine Schulter. »Ich hatte schon Angst, ich würde -283-
dich nicht wieder sehen. Wie ich hörte, hattest du Frauenbesuch auf deiner Ranch. Ist sie immer noch da? « Jetzt an Nell zu denken, gefiel ihm ebenso wenig wie hier zu sein. »Ja.« Melissa kicherte. »Tja, dann ist sie offenbar nicht besonders gut.« Sie streckte die Hand nach ihm aus. »Du hättest mich fast vergewaltigt, ehe ich überhaupt aus meinen Klamotten war.« »Zu einer Vergewaltigung gehört, dass das Opfer nicht einverstanden ist.« Er küsste ihre Schläfe. »Also ist es wohl das falsche Wort.« »Nun, vielleicht habe ich mich nicht vehement genug zur Wehr gesetzt. Ich habe dich vermisst.« Sie streichelte ihn. »Und du hast mich vermisst.« »Natürlich.« Er konnte jetzt unmöglich gehen. Melissa war keine Hure. Er konnte sich nicht einfach nehmen, was er begehrte, und dann gehen. Das entspräche nicht den Regeln. Also gib ihr etwas, du Schwein. Er riss sich zusammen und legte einen Arm um sie. »Es tut mir leid, dass ich grob zu dir war.« »Es hat mir gefallen.« Sie gähnte. »Mir gefällt alles, was du mit mir machst. Auch wenn es heute anders war.« Sie ließ ihn los und schmiegte sich dafür enger an seine Brust. »Macht es dir etwas aus, wenn ich ein kurzes Nickerchen mache? Ich hatte einen saumäßigen Tag.« »Soll ich gehen? « »Nein, ich brauche nur ein bisschen Schlaf.« Sie rieb ihre Wange an seiner Schulter. »Ich weiß, dass du bestimmt bald noch mal willst.« »Es geht darum, was du willst.« »Dann bleib über Nacht. Ich lasse dich bestimmt nicht gleich wieder gehen, nun, da du dich endlich dazu durchgerungen hast, mal wieder vorbeizuscha uen.« Mühsam unterdrückte er seine Ungeduld. Sie hatte das Recht zu -284-
erwarten, dass er blieb. Das hatte er immer getan. »Dann schlaf jetzt. Ich bleibe hier.« »O.k.« Sie schwieg einen Augenblick, doch gerade als er dachte, sie schliefe, fragte sie: »Wer ist diese Frau? « »Eine Freundin.« »Ich wollte nicht neugierig sein«, flüsterte sie. »Ich war einfach... interessiert. Du warst ungewöhnlich hart.« »Das letzte Mal war einfach schon zu lange her.« Er strich ihr mit dem Zeigefinger über den Mund. »Und jetzt sei still und schlaf.« »Du willst nicht über sie reden.« »Da gibt es nichts zu reden.« Nicht nur beim Gedanken an Nell, sondern auch im Gespräch über sie wurde ihm schwer ums Herz. Es hätte ihm gelingen müssen, jeden Gedanken an sie zu verdrängen, indem er sich im Sex verlor. Er hatte Sex schon immer als Mittel der Entspannung benutzt, wenn er aus dem Gleichgewicht geraten war, und im Augenblick war Ausgeglichenheit, weiß Gott, ein Fremdwort für ihn. Es funktionierte nicht. Er wollte nicht hier bei Melissa sein. Er wollte auf der Ranch sein bei Nell, wollte beobachten, wie sie versunken über einer Zeichnung saß oder wie sie die Hand ausstreckte und Sam tätschelte. Vielleicht gab er es besser endlich zu. Er wollte mit ihr ins Bett, wollte sie vögeln, bis ihr Hören und Sehen verging. Aber sie war noch nicht bereit. Vielleicht wäre sie niemals für ihn bereit. Wahrscheinlich wäre das auch besser für sie und ihn. Er hatte lange daran gearbeitet, sein Leben so zu gestalten, wie es ihm angenehm war, und sie brächte alles aus dem Gleichgewicht. Das hieß, sie hatte bereits alles aus dem Gleichgewicht gebracht. Sie war keine Frau, die sich in den Hintergrund drängen und von ihm besuchen ließ, wann es ihm -285-
gefiel. Selbst in ihren ruhigsten Momenten merkte er, dass er sie beobachtete und sich über ihre Verschlossenheit sorgte. Die Lösung war offensichtlich Distanz, aber diese Möglichkeit hatten sie nicht. Sie lebten unter einem Dach, hatten täglich und stündlich miteinander zu tun. Verdammt. »Ist Nicholas noch nicht aus der Stadt zurück? « fragte Michaela. »Nein«, sagte Nell, ohne von ihrem Skizzenblock aufzusehen. »Es ist schon fast dunkel. Normalerweise kommt er immer eher von ihr zurück.« Nell unterdrückte den Impuls zu fragen, wer sie war. »Warum haben Sie ihn gehen lassen? « fragte Michaela jetzt. »Er tut, was er will.« »Sie hätten ihn aufhalten können. Er benutzt sie nur. Wenn Sie ihm nächstes Mal geben, was er will, geht er nicht.« Sie blickte auf. »Was? « »Sie haben mich durchaus verstanden.« »Da bin ich mir nicht so sicher. Ich dachte, Sie wollten, dass ich so schnell wie möglich wieder verschwinde.« »Ich habe es mir anders überlegt. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass ich mich an Sie gewöhnen könnte.« »Vielen Dank.« »Und Sie könnten sich an unser Land gewöhnen. Sie könnten uns helfen, dafür zu sorgen, dass Nicholas hier Wurzeln schlägt.« »Es freut mich, dass ich Ihrer Meinung nach offenbar von Nutzen sein kann.« -286-
»Jetzt sind Sie böse auf mich. Dabei wünsche ich uns allen nur das Beste.« »Das, was Ihrer Meinung nach das Beste ist.« Die Haushälterin lächelte. »Natürlich. Aber ich bin bereit, bestimmte Zugeständnisse zu machen, wenn Sie dann zufriedener sind. Ich werde mich sogar täglich fünfzehn Minuten ruhig hinsetzen, wenn Ihnen das bei Ihrer Malerei weiterhilft.« »Ich bin einfach überwältigt von Ihrer Großzügigkeit.« »Das sollten Sie auch sein.« Michaela ging zur Tür. »Es gefällt mir nämlich nicht, ruhig herumzusitzen, ohne irgendetwas Sinnvolles zu tun.« »Was eine leichte Untertreibung ist.« Nell legte den Skizzenblock beiseite, als sich die Tür hinter Michaela schloss. Die Frau war einfach erstaunlich, vollkommen taub für alles, was ihren Zielen im Wege stand. Aber hatte sie selbst nicht dieselbe Eigenschaft? Entdeckte sie da nicht den Splitter im fremden Auge, ohne den Balken im eigenen zu sehen? Sie stand auf, trat rastlos ans Fenster und blickte hinaus. Der Himmel verdunkelte sich als Zeichen, dass der Abend kam. Sie hatte die Herausforderung der morgendlichen Trainingsstunde im Fitnessraum vermisst. Sie hatte sich an die Routine, an den immer gleichen Rhythmus der Tage gewöhnt. Hatte sich an Tanek gewöhnt, was vollkommen natürlich war und nichts bedeutete. Schließlich hatte sie sich auch an Michaela und Sam gewöhnt. Wo war er nur? Sie erschauderte. Was, wenn er nicht zu einer Frau gefahren war? Michaela sagte, dass er nie so lange bei ihr blieb. Ein Mann, der sich mit Zäunen umgab, war bestimmt in Gefahr, wenn er sie hinter sich ließ. -287-
Mit einem Mal stürzte Sam bellend die Eingangstreppe hinab. Der Jeep! Sie trat ebenfalls vor die Tür und blieb abwartend stehen. Sam schlitterte gefährlich nah an die Räder des Jeeps heran, als dieser in den Hof geschossen kam. Sie lächelte, als sie hörte, wie Tanek fluchend auf die Bremse trat. »Sie kommen spät.« Sie ging die Treppe hinab. »Das Abendessen ist fast fertig. Michaela hätte sich sicher furchtbar aufgeregt, wenn Sie...« Überrascht brach sie ab, als sie Jamie Reardon aus dem Jeep klettern sah. »Hallo.« Tanek kniete neben dem Hund und strich ihm beruhigend über den Kopf. »Ich musste erst noch Jamie vom Flughafen abholen. Er kam erst vor einer Stunde an.« Jamie lächelte. »Nick rief mich heute morgen in Minneapolis an und sagte, ich könnte Ihnen behilflich sein. Obwohl mir der Gedanke, eine reizende junge Dame mit einer tödlichen Waffe zu sehen, zuwider ist, habe ich mich natürlich sofort auf den Weg gemacht.« Er blickte in Richtung der Berge und tat, als erschaudere er. »Sie können sich gar nicht vorstellen, was für ein Opfer das für mich ist.« Waffen. Ihr wurde klar, dass er über Waffen sprach. Erst gestern abend hatte sie Tanek gegenüber ihren Wunsch, Schießen zu lernen, zur Sprache gebracht, doch seine barsche Reaktion hätte sie nicht auf die Idee gebracht, dass er bereit sein würde, diesbezüglich etwas für sie zu tun. »Danke, dass Sie gekommen sind«, sagte sie an Jamie gewandt. Tanek stand auf und trat an die Treppe heran. »Komm, und sieh dir das Haus an, Jamie. Es ist keine solche Bruchbude, wie du wahrscheinlich denkst.« »Unsere Nell hat all die Wochen überlebt«, sagte Jamie. »Das ist ein hervorragendes Zeichen dafür, dass ich es vielleicht -288-
ebenfalls ertragen kann.« Nell folgte den beiden ins Haus, und Jamie drehte sich lächelnd zu ihr um. »Ich wollte mich nicht aufdrängen. Soll ich vielleicht lieber wieder gehen? « »Nein, natürlich nicht. Ich bin nur überrascht«, sagte sie schnell. »Ich hätte nicht erwartet, Sie hier zu sehen.« »Ich auch nicht.« Er verzog das Gesicht. »Aber Nick kann sehr überzeugend sein. Ich verspreche Ihnen, dass ich Sie nicht stören werde. Ich kann sehr zurückhaltend sein.« Aber egal wie zurückhaltend er sich gäbe, wäre doch alles anders als zuvor. Seine Anwesenheit gab ihrem Zusammensein eine neue Note, sie zerstörte die zwischen Nicholas und ihr entstandene Intimität. Was offenbar Nicholas' Ziel gewesen war, sonst hätte er Jamie nicht herbestellt. Er fing an, sich zu langweilen allein mit ihr. Dieser Gedanke versetzte ihr einen Stich, doch dann sagte sie sich, also gut, akzeptier die Veränderung und nutze sie für dich. Sie würde die Zeit nutzen, indem sie ne ue Dinge lernte, Dinge, die Jamie ihr beizubringen in der Lage war. »Sie stören nicht. Ich bin froh, dass Sie gekommen sind.« Zu seinem Bedauern erkannte Maritz, dass er seine Zeit vergeudete. Die Calder käme nicht. Bald würde es Zeit, dass er die Jagd beendete. Schade. Er fühlte sich Tania Viados sehr nahe. Er empfand fast so etwas wie Zuneigung zu ihr. Er hatte sie beobachtet, hatte ihre Furcht kennen gelernt, hatte sie geradezu geschmeckt. Sie hatte ihren Verfolger gespürt, aber nach den ersten Tagen hatte sie sich geweigert zu zeigen, dass sie wusste, dass er in der Nähe war. Sie tat so, als wäre alles ganz normal, und er hatte festgestellt, dass er ihre Zähigkeit bewunderte. Durch ihren Widerstand wurde sein Vergnügen an -289-
der Jagd hundertfach verstärkt. Normalerweise hatte er kein sexuelles Interesse an seinen Opfern, aber in ihrem Fall hatte er mit dem Gedanken an eine Vereinigung vor dem Ende gespielt. Er betrachtete es als eine Art Kompliment, durch das er sie von den anderen Opfern unterschied. Aber diese Auszeichnung würde es erforderlich machen, dass er es während des Nachmittags tat, wenn Lieber außer Haus war. Tagsüber war nur das Mädchen für alles da, und das setzte er schon draußen im Garten außer Gefecht. Jeder unnötige Kampf könnte zu Fehlern führen, und Maritz brauchte Informationen, ehe er sich seines Opfers entledigte. Am liebsten bekäme er sie von Tania, falls sie wusste, was für ihn von Interesse war. Vielleicht würde es eine Weile dauern, bis Tania Viados ihm die gewünschten Informationen gab, dachte er voller Stolz. Sie hatte sich seiner Verfolgung mit erstaunlichem Mut widersetzt. Ja, sie hatte es verdient, dass er sie anders als die anderen behandelte.
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12. Kapitel Jamie beobachtete, wie Nell den Fitnessraum verließ. »Sie ist gut.« »Sie wird es schaffen.« Tanek wischte sich mit einem Handtuch den Schweiß aus dem Gesicht. Jamie grinste. »Aggressiv wie der Teufel. Einmal hätte Sie dich fast zu Fall gebracht.« »Wie gesagt, sie wird es schaffen.« »Es war interessant, dir zuzusehen. Wenn du sonst auf einer Frau liegst, dann tust du das nicht aus...« »Hast du was rausgefunden? « Jamie schüttelte den Kopf. »Ich habe ein paar Hinweise, aber die meisten Spuren hat er verwischt. Es wird noch ein bisschen dauern.« Er machte eine Pause. »Aber ich habe etwas, was dich vielleicht interessiert. Ich habe Phil angerufen, um zu fragen, ob alles in Ordnung ist, und er sagte, vor ein paar Wochen hätte er in der Zeitung gelesen, dass John Birnbaum verschwunden ist.« Birnbaum. Tanek brauchte eine Minute, bis er wusste, von wem die Rede war. Der Leiter des Bestattungsinstituts, den er bestochen hatte, damit er ihm einen falschen Totenschein mit Nells Namen gab. »Irgendein Zusammenhang? « »Von außen betrachtet, nein. Es gibt kein Anzeichen dafür, dass unser Gegne r dahintersteckt. Im Safe fehlte ein größerer Geldbetrag, aber er wurde von jemandem geöffnet, der die Zahlenkombination gekannt haben muss. Und Birnbaums Wagen ist ebenfalls verschwunden. Offenbar hat Birnbaum gerade eine ziemlich hässliche Scheidung hinter sich, so dass er vielleicht einfach vor den Unterhaltsverpflichtungen abgehauen ist.« Er machte eine Pause. »Aber sein Sohn meinte, dass einer der Kiefernholzsärge, die zur Einäscherung benutzt werden, -291-
verschwunden ist.« »Einäscherung. Gardeaux hat scho n immer einen ausgesprochenen Hang zur Ordnung gehabt.« »Und in Minnesota gibt es genügend Seen, in denen man problemlos ein Auto versenken kann.« Jamie zuckte mit den Schultern. »Natürlich sind das alles Hypothesen, und vielleicht stimmt ja einfach die Theorie, dass Birnbaum abgehauen ist.« »Vielleicht aber auch nicht. Aus Sicherheitsgründen sollten wir davon ausgehen, dass Gardeaux oder Maritz dahintersteckt und dass Birnbaum alles gestanden hat. Hast du Phil gesagt, dass er Tania und Joel nicht aus den Augen lassen soll? « »Unnötig. Das macht er auch so. Schließlich ist er kein Vollidiot. Er sagt, ihm wäre nichts Besonderes aufgefallen, aber Tania hätte vor ein paar Wochen einmal erwähnt, sie hätte das Gefühl, als würde sie von irgendjemandem verfolgt. Seitdem hat sie allerdings nichts mehr gesagt.« »Schlecht.« »Das sehe ich anders. In diesem Fall ist es wohl besser, wenn es keine Neuigkeiten gibt.« »Das Haus wurde nicht durchsucht? « Jamie schüttelte den Kopf. »Und sie haben ein ausgezeichnetes Alarmsystem.« »Trotzdem gefällt mir die ganze Sache nicht.« »Du kannst sie ja wohl nicht mit bewaffneten Leibwächtern umgeben, nur, weil etwas passieren könnte.« »Ich habe Joel versprochen, ihn zu beschützen, wenn er mir hilft. Ich habe schon auf Medas einen Fehler gemacht, und das passiert mir kein zweites Mal.« Er dachte nach. »Warum rufst du nicht Phil an und bittest ihn, sich bei uns zu melden, falls irgendetwas...« »Habe ich schon gemacht.« »Natürlich hast du das.« Er verzog das Gesicht. »Tut mir leid.« -292-
»Und ich kehre nach Minneapolis zurück, sobald du mir gestattest, diese Wildnis wieder zu verlassen und meine beachtliche Intelligenz in den Dienst der guten Sache zu stellen, damit wir endlich herausfinden, ob unsere Befürchtungen begründet sind oder nicht.« Soviel zu Abgrenzung und Distanz. Nun, Nicholas hatte es versucht. Es schien Schicksal zu sein. Mist, sagte er sich. Er hatte nur nach einer Entschuldigung gesucht, und hier bot sie sich. »Drei Tage. Bring ihr in der Zeit soviel wie möglich bei. Sie soll nicht merken, dass etwas nicht in Ordnung ist, denn sonst nimmt sie bestimmt den nächsten Flug nach Minneapolis zurück.« Jamie nickte. »In der Zeit kann ich ihr zumindest die Grundlagen beibringen. Der Rest ist sowieso nur Übung.« Er seufzte erleichtert auf. »Ich gebe zu, dass ich froh bin, dass ich nicht länger hier bleiben muss. Hier ist alles zu groß, und die Stille ist mir unheimlich.« »Woher willst du das denn wissen? Seit du angekommen bist, hast du schließlich unaufhörlich irgendwelchen Lärm gemacht.« »Deine Undankbarkeit trifft mich zutiefst.« Er wandte sich zum Gehen. »Ich gehe wieder zu Nell. Sie weiß es wenigstens zu schätzen, dass ich gekommen bin.« Nell verzog das Gesicht. »Schon wieder daneben.« »Aber Sie haben jedes Mal die Scheibe getroffen«, sagte Jamie zu ihr. »Der Rest kommt mit der Zeit.« »Wann? « »Sie sind einfach zu ungeduldig. Sie können wohl kaum erwarten, dass nach nur einem Tag Training jeder Schuss sofort ins Schwarze trifft.« Er trat vor und rückte die Scheibe auf dem Zaun zurecht. »Sie haben einen guten Blick und eine ruhige Hand. Nutzen Sie sie. Konzentrieren Sie sich.« Sie runzelte die Stirn. »Ich konzentriere mich.« -293-
Er grinste. »Dann konzentrieren Sie sich weniger. Vielleicht wollen Sie es einfach zu sehr.« Das war möglich. Sie wollte es mehr als alles andere. Ihr Griff um den Damencolt, den Jamie ihr gegeben hatte, verstärkte sich. »Man sollte meinen, dass ich es allmählich begriffen hätte.« »Nicht jeder ist der geborene Schütze, und ein Mann ist ein größeres Ziel als das Schwarze einer Scheibe. Wenn Sie lernen, aus jeder Position schnell auf die Scheibe zu zielen, reicht das vollkommen aus.« »Ich will nicht mittelmäßig sein, sondern gut.« »Wohl eher perfekt.« Lächelnd nickte sie. »Ja, perfekt.« »Und Sie werden trainieren, bis Sie es sind.« Er seufzte. »Gott bewahre mich vor den Besessenen.« Er nahm ihr die Waffe ab. »Kommen Sie. Wir machen eine Pause und trinken einen Kaffee.« »Ich bin noch nicht müde.« »Aber ich.« Er nahm ihren Arm und führte sie entschlossen über den Hof. »Die frische Luft hier ist eindeutig zu viel für mich. Kein Wunder, dass der liebe Gott die Pubs erfunden hat.« »Ich dachte, das hätte der Mensch getan.« »Das ist ein weit verbreiteter Irrglaube. Nein, ich bin sicher, dass Gott die Pubs geschaffen hat.« Er winkte in Richtung der Ebene und der Berge im Hintergrund. »Nachdem er diese Wildnis verlassen hat.« »Wenn Sie Ihren Pub so vermissen, warum sind Sie dann immer noch hier? « »Weil Nick mich gerufen hat.« Er zuckte mit den Schultern. »Und ich bin selbst ein Besessener. Terence war ein sehr guter Freund von mir.« »Terence O'Malley? « -294-
»Nick hat Ihnen von ihm erzählt? « »Er hat mir erzählt, dass Gardeaux ihn getötet hat. Waren die beiden ebenfalls befreundet? « »Terence war fast so etwas wie ein Vater für Nick. Er hat ihn aus der Gosse geholt. Nick war ein ungebildeter kleiner Wilder, der ständig ums Überleben kämpfte, aber Terence mochte ihn. Er nahm ihn zu sich, päppelte ihn auf und unterrichtete ihn. Was nicht allzu schwierig war. Nick war wissbegierig. Er wollte alles lernen, was man ihm bot. Innerhalb kürzester Zeit hatte er Terence überholt, ging los und nahm sich mehr. Er machte Karriere und zog Terence dabei mit.« Er nickte. »Ebenso wie meine bescheidene Wenigkeit.« »Und was für eine Karriere hat er gemacht? « »Aus der Gosse heraus, und zwar auf die einzig mögliche Art.« »Durch kriminelle Handlungen? « »Etwas anderes kannten wir nicht. Terence und ich waren kleine Fische, wir haben ein bisschen Schmuggel betrieben und hier und da mal was geklaut, aber Nick... Ah, Nick war ein echter Künstler. Er wusste immer, was er wollte und wie er es bekam.« »Und was wollte er.« »Raus. Mit genug Geld, um sicher zu sein, dass er nie wieder dort landen würde, wo er hergekommen war.« »Was ihm offenbar gelungen ist.« Jamie nickte. »Und zugleich versuchte er, uns dasselbe zu ermöglichen. Ich nahm, was er mir gab, und eröffnete meinen Pub, aber Terence war nicht der Typ, der sich ruhig irgendwo niederließ. Er war einfach zu lange dabei gewesen. Er mochte die Aufregung, die ihm sein Leben bot. Als Nick die Ranch kaufte, hat sich Terence wieder auf die Socken gemacht.« »Und? « »Dabei trat er Gardeaux auf die Füße.« Er presste die Lippen zusammen. »Er kam erst zu Nick zurück, als er bereits im -295-
Sterben lag.« »Was war passiert? « »Gardeaux ha tte an ihm ein Exempel statuiert.« Er öffnete die Haustür und trat zurück. »Er hatte die Degenspitze seines Fechters mit einer winzigen Menge einer Colona-Kultur präpariert, was in siebenundneunzig Prozent aller Fälle tödlich ist, und zwar auf eine unvorstellbar grausame Art. Und Nick stand da und musste hilflos mit ansehen, wie Terence starb.« »Colona? Davon habe ich noch nie etwas gehört.« »Es kommt vom Amazonas. Seit sie angefangen haben, den Regenwald abzuholzen, sind dort alle möglichen neuen Krankheiten aufgetaucht. Das Zeug wird nur durch Blut übertragen, so dass es nicht ansteckend ist, aber wenn man es einmal hat, dann treten ganz ähnliche Symptome wie beim Ebola-Virus auf.« Sie erschauderte. Sie hatte in der Zeitung von dieser Krankheit gelesen, die im wahrsten Sinne des Wortes die Organe ihres Opfers fraß. »Ja.« »Das Kartell verfügt über einen Vorrat dieser Viren, um Leute zu beseitigen, die ihnen lästig sind. Und die Drohung hat bisher noch immer funktioniert. Gardeaux erhält regelmäßig Lieferunge n von dem Zeug.« »Teuflisch.« »Allerdings. Lassen Sie sich also gewarnt sein.« Er sah sie an. »Denken Sie etwa, wenn Gardeaux ein leichter Gegner wäre, ginge Nick die Sache so vorsichtig an? « Nein. Es musste furchtbar schmerzlich gewesen sein zuzusehen, wie der Freund langsam und qualvoll zu Grunde gegangen war. »Ich bin immer noch hier, oder vielleicht nicht? Also übe ich mich ja wohl offensichtlich in Geduld.« »Außer wenn Sie nicht ins Schwarze treffen.« Sie lächelte. »Genau.« -296-
»Ich dachte, er bliebe länger hier.« Nell beobachtete enttäuscht, wie der von Michaela gelenkte Jeep mit Jamie auf dem Beifahrersitz auf die Straße fuhr. »Ich habe noch nicht genug gelernt.« »Er hat noch andere Dinge zu tun. Und er meinte, Sie wären gut genug, um selbst weiterzumachen«, sagte Nicholas. »Außerdem ist es hier für seinen Geschmack zu unkultiviert.« »Es ist nicht unkultiviert.« Sie sah zu den Bergen auf. »Es ist einfach.« »Allerdings.« Er sah dem Jeep hinterher, der sich dem ersten Tor näherte. »Gefällt es Ihnen hier? « Darüber hatte sie noch nicht nachgedacht. Bisher war dies für sie lediglich der Ort gewesen, in der sie ihre Arbeit machte, aber unmerklich hatte sie sich an den Frieden und die Behaglichkeit der Umgebung gewöhnt. Sie fühlte sich zu Hause hier. »Ja. Man hat das Gefühl, dass hier alles irgendwie... verwurzelt ist.« »Darum habe ich die Ranch auch gekauft.« Er schwieg einen Augenblick, und dann machte er plötzlich kehrt. »Ziehen Sie Jeans und eine warme Jacke an, und kommen Sie dann in den Stall.« Sie starrte ihn verwundert an. »Warum? « »Können Sie reiten? « »Ich habe schon mal auf einem Pferd gesessen, aber ein Cowgirl bin ich wohl kaum.« »Das brauchen Sie auch nicht zu sein. Schließlich sollen Sie nicht irgendwelche Stiere mit dem Lasso einfangen. Wir reiten nur ins Tafelland am Fuß der Hügel und besuchen Peter und Jean. Ich denke, dass sie inzwischen mit der Herde so weit runtergekommen sind.« »Aber warum besuchen wir sie? « »Weil ich es will.« Mit einem Mal wurde sein Mund von einem -297-
fröhlichen Lächeln umspielt. »Ich habe beschlossen, endlich damit aufzuhören, immer nur langweilig und pflichtbewusst zu sein, und stattdessen zu tun, was mir gefällt. Wollen Sie nicht sehen, wie sich Peter als Schafhirte macht? « »Doch, aber ich - wie lange wird es dauern? « »Am späten Nachmittag werden wir an der Stelle sein, an der sie normalerweise ihr Lager aufschlagen. Wir werden mit ihnen bei der Herde übernachten, und morgen früh reiten wir dann zurück.« Sein Lächeln verriet unverhohlenen Spott. »Früh genug, damit Sie mit Ihrem neuen Spielzeug weiterüben können.« »Ich könnte die Waffe mitnehmen.« »O nein. Dazu sind Sie noch nicht gut genug. Sie könnten ein Schaf treffen oder einen Hund.« »Dann sollte ich vielleicht hier bleiben und...« »Um Gottes willen, wollen Sie nun mit oder nicht? « fragte er entnervt. Sie wollte mit. Sie wollte Jean Etchbarras kennen lernen und Peter wieder sehen. Eine kurze Pause wäre sicher nicht schlimm. Wenn sie zurückkäme, würde sie einfach doppelt so hart an sich arbeiten wie bisher. Sie ging die Treppe hinauf. »Warten Sie auf mich.« Jean Etchbarras war höchstens einen Meter siebzig groß, untersetzt, muskulös, und sein faltiges, rundes Gesicht wurde von einem humorvollen Lächeln erhellt. Hätte sie nicht genau gewusst, dass er der Mann der Haushälterin war, dann hätte Nell ihn mit der statuenhaften Michaela ebenso wenig in Verbindung gebracht wie mit Cleopatra. »Freut mich, Sie kennen zu lernen.« Er strahlte über das ganze Gesicht. »Meine Michaela sagt, Sie sind ein feiner Mensch.« Nell blinzelte. »Ach ja? « -298-
Er nickte und wandte sich dann Tanek zu. »Wir haben ein Schaf an einen Wolf verloren. Aber das ist immer noch ein guter Schnitt.« Tanek lächelte. »Allerdings. Nell wollte Peter sehen. Wo treibt der Junge sich denn rum? « Jean winkte ans andere Ende der Herde. »Dort drüben. Er macht sich wirklich gut.« Peter hatte sie bereits entdeckt, doch obwohl er fröhlich winkte, rührte er sich nicht vom Fleck. »Sehen Sie? Er bewacht die Schafe. Manchmal vergisst er Dinge, aber nach den Schafen zu sehen, vergisst er nie.« Jeans stolzes Lächeln führte dazu, dass sich die Fältchen um seine dunklen Augen herum vertieften. »Er hat sehr schnell gelernt.« »Darf ich zu ihm gehen? « fragte Nell. Jean nickte. »Es ist sowieso Zeit, dass er zum Essen kommt. Sagen Sie ihm, dass er die Hunde zur Bewachung der Herde abstellen und rüberkommen soll.« Nell gab Tanek die Zügel ihres Pferdes und machte sich auf den Weg um die riesige Herde herum. Als sie sich den Tieren näherte, rümpfte sie die Nase. Schafe in der Herde waren eindeutig weder wohlriechend noch duftig weiß. Soviel also zur Mär vom flauschigen Osterlamm. »Sind sie nicht hübsch? « fragte Peter, als sie in Hörweite kam. »Mögen Sie sie etwa nicht? « »Nun, auf alle Fälle magst du sie wohl.« Sie umarmte ihn und trat einen Schritt zurück, um ihn anzusehen. Er war nicht so braun wie Jean, aber er wies eine wesentlich gesündere Gesichtsfarbe auf als zuvor. Er hatte einen abgetragenen Wollponcho, Stiefel und Lederhandschuhe an. Seine Augen blitzten, und er strahlte über das ganze Gesicht. »Ich brauche wohl kaum zu fragen, wie es dir geht.« Er zeigte auf einen schwarzweißen Collie, der ein verirrtes -299-
Lamm umrundete. »Das ist Jonti. Er hütet die Schafe, genau wie ich. Wenn wir nicht auf Wache sind, schlafen wir nachts immer zusammen.« »Wie schön.« Kein Wunder, dass er nach Schafen und Hunden roch. Aber das war egal. Nichts war wichtig, außer der Tatsache, der er glücklich und stolz auf sich war. »Und Jean sagt, wenn Jontis Frau Welpen bekommt, kriege ich einen, und er zeigt mir, wie man einen richtigen Hütehund draus macht.« Das Ganze klang beunruhigend dauerhaft. »Dauert so etwas nicht ziemlich lange? « Sein Lächeln schwand. »Sie denken, dass ich vielleicht wieder gehen muss.« Er schüttelte den Kopf. »Ich gehe nie wieder fort von hier. Jean will auch nicht, dass ich gehe. Er sagt, dass ich ein guter Schäfer bin.« Und mit einfachen Worten fügte er hinzu: »Er sagt, dass ich hierher gehören kann.« Hinter ihren Augen stiegen Tränen auf. »Das ist ja wunderbar.« Sie räusperte sich. »Jean sagt, dass du die Hunde auf die Schafe ansetzen und zum Essen kommen sollst.« Peter nickte und rief mit strenger Stimme: »Aufgepasst, Bess. Aufgepasst, Jonti.« Dann machte er kehrt und folgte ihr. »Ist es hier nicht wunderschön? Sie sollten das Hochland sehen. Es ist ganz grün und weich, und man blickt auf und sieht die Berge direkt über sich, und man kriegt ein bisschen Angst, aber nicht richtig, und...« »Er ist glücklich.« Nell nippte an ihrem Kaffee und blickte über die flackernden Flammen in Richtung vo n Peter, der ihnen gegenüber neben Jean am Lagerfeuer saß. Jean zeigte Peter, wie man schnitzte, und Peter runzelte konzentriert die Stirn. »Ich habe den Eindruck, dass er auf Wolken schwebt.« »Ja.« Taneks Augen folgten ihrem Blick. »Schön.« -300-
»Er will bleiben.« »Dann soll er das tun.« »Vielen Dank.« »Wofür? Schließlich verdient er es sich, hier daheim zu sein. Das Leben als Schäfer ist alles andere als leicht. Es besteht aus Einsamkeit, harter Arbeit, Sonne und Schnee. Ich habe es selbst mal eine Saison lang ausprobiert.« »Warum?« »Ich dachte, dadurch fände ich ein echtes Zuhause hier.« »Und, war es so? « »Es hat geholfen.« »Ein Zuhause, etwas, was Ihnen gehört, scheint Ihnen sehr wichtig zu sein.« Er nickte. »Als Kind hatte ich nichts außer den Kleidern, die ich am Leibe trug, und ich wollte alles haben, was ich sah. Ich nehme an, dieses Bedürfnis hat sich immer noch nicht gelegt.« Sie lächelte. »O nein.« »Aber zumindest haben sich meine Ansprüche geändert.« Er stocherte mit einem Stock im Feuer herum. »Und heute bezahle ich für die Dinge, die ich haben will.« Sie blickte zu den Bergen auf. »Sie lieben diesen Ort.« »Seit dem Augenblick, in dem ich ihn zum ersten Mal gesehen habe. So etwas gibt's.« »Peter geht es ebenso. Er sagt, dass er hierher gehört.« Sie blickte den Jungen an. »Und ich glaube ihm. Er wirkt irgendwie... ganz.« »Ganz? « »Vollendet.« Da Tanek sie immer noch fragend ansah, suchte sie nach einem Vergleich. »Er ist kein hässliches Entlein mehr.« »Er ist ein bisschen brauner, aber ich finde immer noch nicht, -301-
dass er eine Schönheit ist.« »Das habe ich nicht gemeint. Als ich ein kleines Mädchen war, hat meine Großmutter mir erzählt, aus jedem hässlichen Entlein ginge eines Tages ein wunderschöner Schwan hervor.« Sie zuckte mit den Schultern. »Und dann habe ich herausgefunden, dass es doch nicht immer so ist.« »Aus Ihnen ist ja wohl ein prächtiger Schwan geworden.« »Das war ein Wunder. Joels Wunder. Aber inzwischen denke ich, dass vielleicht doch jedes hässliche Entlein die Möglichkeit zur Verwandlung hat. Denn der Schwan steckt zum Teil in einem selbst. Wenn man herausfindet, wer man ist, und seinen inneren Frieden findet, ist das vielleicht ebenfalls als eine Art Wunder anzusehen. Vielleicht brauchen wir nur zu reifen und unsere Selbstzweifel abzulegen, damit alles passt. Vielleicht sind wir...« Sie unterbrach sich und verzog das Gesicht. »Mein Gott, wie tiefschürfend das alles klingt. Warum lachen Sie nicht über mich? « »Weil ich froh bin, wenn Sie mal mit etwas anderem als Medas beschäftigt sind. Also ist Peter jetzt ein vollendeter Schwan? « »Jetzt machen Sie sich doch lustig über mich.« Als er nichts erwiderte, sagte sie: »Vielleicht noch nicht vollendet, aber er hat einen großen Schritt in die richtige Richtung gemacht.« »Er hat sich also in Jean das richtige Vorbild gesucht und läuft ihm nun im Gänsemarsch hinterher? « Er hob abwehrend die Hand. »Tut mir leid, ich konnte der Versuchung nicht widerstehen. All diese Vogelvergleiche verwirren mich. Aber wahrscheinlich haben Sie sogar recht. Sie meinen also, Joel hätte in mehr als einer Beziehung einen Schwan aus Ihnen gemacht? « Sie schüttelte den Kopf. »O nein. Meine Verwandlung ist noch nicht vollendet. Ich bin immer noch... zweigeteilt. Aber ich denke, Sie wissen, wer Sie sind. Genau wie Tania.« Sie sah ihn an und merkte, dass er sie mit verwirrend intensiven Blicken -302-
maß. Eilig wandte sie sich wieder ab. »Tania ist vielleicht ein Schwan, aber bei Ihnen bin ich mir sicher, dass Sie kein Schwan, sondern ein Falke sind.« »Wahrscheinlich.« Sein Ton war ge istesabwesend, und sie spürte, dass er sie immer noch einer intensiven Musterung unterzog. Sie erschauderte, als ein eisiger Windhauch den warmen Kokon des Feuers durchbrach. »Knöpfen Sie Ihre Jacke zu«, sagte er. Sie rührte sich nicht. »Knöpfen Sie sie zu«, wiederholte er. »Hier in den Hügeln wird es abends ziemlich kalt.« Sie dachte daran, seinen Befehl zu ignorieren, aber durch eine derartige Trotzreaktion schnitte sie sich nur ins eigene Fleisch. Sie knöpfte ihre Jacke zu. »Sie brauchen mir nicht zu sagen, was das Beste für mich ist. Ich komme schon geraume Zeit alleine zurecht.« »Aber nicht allzu gut«, stellte er mit barscher Stimme fest. »Sie haben sich immer zum Fußabtreter degradieren lassen. Sie haben ein Studium abgebrochen, das Ihnen wichtig war, Sie haben sich von Ihren Eltern zu einer Ehe mit einem Mann zwingen lassen, dem Sie vollkommen egal waren und dann...« »Sie irren sich.« Seine plötzliche Härte brachte sie aus dem Gleichgewicht. »Richard hat mich gern gehabt. Ich habe ihn betrogen und nicht umgekehrt.« »Das glaube ich nicht. Aber offenbar gelingt es ihm immer noch, Sie zu manipulieren, obwohl...« »Richard ist tot. Hören Sie auf, schlecht über ihn zu reden.« »Den Teufel werde ich tun.« Er drehte den Kopf und sah sie an. »Warum geben Sie nicht endlich zu, dass Sie von dem Schweinehund ausgenutzt worden sind? Er hatte eine süße, wohlerzogene, kleine Frau, die er unterdrücken konnte, wie es -303-
ihm gefiel, eine Frau, die sich ihm nie widersetzte, weil sie voll der Dankbarkeit für ihn war, weil er sich dazu herabgelassen hatte...« »Halten Sie den Mund.« Sie atmete tief ein. »Weshalb interessiert Sie das überhaupt? « »Es interessiert mich, weil ich Sie mag. Weil ich mit Ihnen schlafen will, verdammt.« Vor Überraschung blieb ihr der Mund offen stehen. »Was? « »Sie haben mich genau verstanden.« Seine Worte trafen sie wie ein Schlag. »Oder sollte ich vielleicht eine bodenständigere Bezeichnung dafür verwenden? Wollen Sie es auf chinesisch hören? Oder auf griechisch vielleicht? « »Ich will es überhaupt nicht hören«, stellte sie mit zittriger Stimme fest. »Ich weiß. Aber schließlich habe ich nicht gesagt, dass ich versuchen werde, Sie gewaltsam in mein Bett zu zerren. Ich weiß, dass Sie noch nicht bereit sind für ein solches Experiment.« »Warum fangen Sie dann überhaupt mit diesem Thema an? « »Weil ich es will«, sagte er. »Und weil ich es leid bin, gegen diesen Wunsch anzukämpfen. Und weil es nichts schadet, Sie auf diesen Gedanken zu bringen. Vielleicht habe ich ja früher oder später Glück.« Sie befeuchtete ihre Lippen. »Ich wünschte, Sie hätten nichts gesagt. Das macht die Situation recht unangenehm für mich.« »Willkommen im Club. Schließlich verspüre ich bereits seit geraumer Zeit ein deutliches Unwohlsein, wenn ich in Ihrer Nähe bin. Wie auch jetzt in diesem Moment.« Ihr Blick fiel auf seinen Unterleib, doch eilig wandte sie sich wieder ab. »Tut mir leid. Ich hatte nie die Absicht... Ich wünschte, Sie...« »Ich hätte Sie also weiter den Kopf in den Sand stecken lassen -304-
sollen, damit Sie so tun können, als wüssten Sie nicht genau Bescheid? « fragte er. »So wie Sie es schon seit Wochen tun? « »Ich habe nicht so getan, als wüsste ich nicht Bescheid. Ich wusste es wirklich nicht.« »Oh doch. Das ließ sich wohl kaum übersehen.« »Sie haben Ihre Gefühle gut versteckt.« Er lächelte schief. »So gut nun auch wieder nicht. Schließlich ist es für einen Mann nicht unbedingt leicht, sich nicht anmerken zu lassen, wenn ihn der Anblick einer Frau erregt.« Hatte sie es gewusst und tatsächlich den Kopf in den Sand gesteckt? Vielleicht. Hatte sie Michaelas Rede zurückgewiesen, weil sie gewusst hatte, dass das, was sie sagte, der Wahrheit entsprach? »Dass so etwas passiert, wollte ich nicht.« »Nein. Sex wäre nur störend, nicht wahr? Obgleich wir ihn vielleicht noch irgendwo zwischen Tod und Verderben quetschen könnten.« »Sparen Sie sich Ihre Ironie.« »O nein. Ironie kann etwas sehr Befriedigendes sein. Vielleicht die einzige Befriedigung, die es für mich in Bezug auf Ihre Person jemals gibt.« »Benutzen Sie jemand anderen, wenn Ihnen nach einem verbalen Schlagabtausch zumute ist.« Mit einem Mal kam ihr ein Gedanke. »Heißt das etwa, dass Sie mich nicht mehr unterrichten werden? « Er starrte sie an. »Sie sind einfach unglaublich.« »Und? « »Nein, ich beherrsche meinen Körper, und nicht umgekehrt.« Und leise fügte er hinzu: »Meistens jedenfalls.« »Gut.« Sie stellte ihre Kaffeetasse auf den Boden und legte sich hin. »Dann ist es ja kein Problem.« »Es wäre auch kein Problem, wenn Sie beschließen würden, mit -305-
mir ins Bett zu gehen. Schließlich will ich ja nur ein bisschen Sex. Wir brauchen ja deshalb nicht gleich zu heiraten.« »Sie verstehen mich nicht. Ich bin nicht wie Sie.« Sie biss sich auf die Lippe. »Ich kann nicht einfach - um Himmels willen, in meinem ganzen Leben habe ich nur mit zwei Männern geschlafen.« »Hat es Ihnen gefallen? « »Natürlich hat es das.« »Dann sollten Sie vielleicht noch einen dritten Mann ausprobieren. Sie sagen, Nell Calder ist tot. Warum klammern Sie sich dann an ihren Moralvorstellungen fest? « Er lächelte. »Lassen Sie einfach Eve Billings mit mir schlafen. Sie ist eine lebendige, funktionierende Frau, und ich bin nicht besonders anspruchsvoll.« Sie runzelte die Stirn. »Machen Sie sich nicht lächerlich. Ich wünschte, Sie hätten gar nicht erst von diesem Thema angefange n, denn Ihr Überredungsversuch ist zwecklos.« »Nicht ganz. Zumindest hat er Ihnen deutlich gemacht, dass ich auch noch andere Seiten habe als die des Kampfsportgenies.« Er breitete seine Decke auf dem Boden aus. »Sie werden darüber nachdenken und sich fragen, wie es wohl wäre, mit mir ins Bett zu gehen.« Er legte sich auf den Rücken und machte die Augen zu. »Es wäre phantastisch, Nell. Schließlich bin ich nicht in einem Bordell aufgewachsen, ohne zu lernen, wie man diese Dinge macht.« Ihr wurde heiß, doch instinktiv schreckte sie vor diesem Gefühl zurück. »Als Sie das Bordell verlassen haben, waren Sie gerade mal acht Jahre alt«, stellte sie trocken fest. Er machte ein Auge auf. »Ich war eben frühreif.« Sie schloss die Augen und zog die Decke bis zum Kinn. »Schwachsinn.« »Das werden Sie nie erfahren. Es sei denn, Sie probieren es -306-
einmal aus.« Sie hörte, wie er sich unter seine Decke schob. Schlaf, sagte sie sich. Tanek hatte ihr einen Vorschlag unterbreitet, und sie hatte abgelehnt. Das war alles. Es gab keinen Grund, sich unwohl zu fühlen. Er war ein zivilisierter Mann, und als solcher akzeptierte er ein Nein. Doch zugleich war er es seit frühester Kindheit gewohnt, um alles zu kämpfen, was ihm wichtig war. So leicht gäbe er bestimmt nicht auf. Er würde sie zu nichts zwingen, aber verbal ließe er bestimmt nichts unversucht. Doch Überredungsversuchen konnte man widerstehen. Was man nicht wollte, brauchte man nicht zu tun. Und sie wollte weder die Ablenkung noch die heiße Gedankenlosigkeit, die ein sexuelles Abenteuer bot. Sie wollte kühl und zielgerichtet arbeiten, wollte distanziert sein, losgelöst von der Welt. Sie wandte sich zu Tanek um. Er lag in ihrer Nähe, die Augen geschlossen und eine schlaffe Hand in Richtung des Feuers gestreckt. Eine starke, wohlgeformte, zupackende Hand mit kurz geschnittenen Nägeln. Sie kannte diese Hand. Sie kannte ihre Stärke, ihre tödliche Kraft. Eine gefährliche Hand. Auch wenn sie im Augenblick keine Gefährlichkeit ausstrahlte, sondern reine Kraft... und Männlichkeit. Sie hatte immer gerne Hände gemalt. Sie hatten etwas Magisches. Hände bauten Städte und schufen große Kunstwerke, sie konnten brutal sein oder sanft, Schmerzen bringen oder Leidenschaft. Wie Tanek. Sie hatte das Gefühl, als schmelze sie bereits beim bloßen Anblick der Hand dieses verdammten Kerls. Warum in aller Welt musste ihr das passieren? Warum hatte er ihre Sexualität geweckt? Aber es war noch nicht zu spät. Vielleicht legte sich ihr Verlangen ja wieder, wenn sie sich dazu zwang? Sie machte die Augen wieder zu. Sie roch die immergrünen Büsche und das verbrennende Eichenholz und spürte die Kälte -307-
der Luft. Mit einem Mal nahm sie Geräusche und Düfte der Umgebung sowie die Rauheit der Wolldecke an ihren bloßen Armen überdeutlich war. Nichts hatte sich geändert. Jill war immer noch tot. Ihr Körper hatte nicht das Recht zu dieser Empfindsamkeit. Zur Hölle mit dem Kerl. »Stärker«, sagte Tanek. »Nicht so träge. Wenn ich gewollt hätte, hätte ich Sie heute morgen schon zweimal flachgelegt.« Sie wirbelte herum und trat ihm in den Bauch. Er taumelte rückwärts, doch sofort hatte er sich weit genug erholt, um ihren Arm zu packen, als sie näher kam. Er schleuderte sie auf den Boden und setzte sich rittlings auf ihren Bauch. »Lassen Sie mich hoch«, keuchte sie »Maritz ließe Sie auch nicht wieder hoch.« »Ich war abgelenkt. Das wäre Maritz gegenüber nicht der Fall.« Er stand auf und zog sie auf die Füße. »Und warum sind Sie abgelenkt? « »Ich habe nicht gut geschlafen.« »Das tun Sie doch nie. Sie wandern jede Nacht durchs Haus als wären Sie irgendein Geist.« Sie hatte nicht gewusst, dass ihm ihre nächtliche Unruhe aufgefallen war. »Falls ich Sie gestört habe, tut es mir leid.« »Und ob es mich gestört hat.« Er wandte ihr den Rücken zu. »Nehmen Sie ein Bad, und dann legen Sie sich ein bisschen hin. Ich will Sie wach und rasiermesserscharf beim Training sehen.« So wie er selbst. Seit sie vor zwei Tagen aus den Hügeln zurückgekommen waren, war er rasiermesserscharf und ungewöhnlich gereizt. Sie wusste zwar nicht, was sie erwartet hatte, auf keinen Fall jedoch die barsche Gleichgültigkeit, die er -308-
ihr seither zuteil werden ließ. Nein, Gleichgültigkeit war das falsche Wort, denn ihre Nähe schien ihm ständig bewusst zu sein, und das war ein Teil des Problems. Unter der kühlen, beißenden Oberfläche ließ er sie spüren, wie bewusst ihm ihre Nähe war. Und ihr war seine Nähe bewusst. Stärker als alles andere. »Gehen Sie ins Bett.« Tanek klappte sein Buch zu und stand auf. »Es ist schon spät.« »Gleich. Ich will nur noch diese Skizze fertig machen.« Sie blickte nicht auf. »Gute Nacht.« »Ich dachte, Sie hätten inzwischen sämtliche Skizzen von Michaela gemacht? « »Ein paar mehr tun nicht weh.« Sie spürte seinen Blick, aber immer noch sah sie nicht auf. »Bleiben Sie nicht zu lange auf. Heute morgen waren Sie so groggy, dass das Training die reinste Zeitverschwendung für mich war.« Sie fuhr zusammen. »Ich werde versuchen, Sie nicht noch einmal zu enttäuschen.« »Wenn doch, setze ich das Training für eine Woche aus. Wie gesagt, ich glaube daran, dass Belohnungen und Strafen etwas sehr Sinnvolles sind.« »Sind Sie sicher, dass Sie nicht nur eine Entschuldigung suchen, um mit dem Unterricht aufzuhören? « fragte sie in ruhigem Ton. »Vielleicht. Geben Sie mir lieber keinen Grund.« Als er den Raum verließ, atmete sie erleichtert auf. Wenn er in ihrer Nähe war, fiel es ihr schwer, ihn nicht ständig anzusehen. Der Anblick seines langen, geschmeidigen Körpers, der im Ledersessel lungerte, oder seiner Hand, die die Seiten des Buches umblätterte, störte sie ebenso wie der Duft nach Seife -309-
und Rasierwasser, der ihn umgab. Als sie die letzten Striche des Haaransatzes auf den Bogen warf, merkte sie, dass ihre Hand zitterte. Dieses plötzliche Gefühl der Schwäche war ihr verhasst. Sie wollte nicht wie eine läufige Hündin darauf reagieren, wenn er mit lässigen Schritten durch das Zimmer ging. Das hatte sie bei Richard und selbst bei Bill niemals erlebt. Was in aller Welt war nur los mit ihr? Sie legte den Stift zur Seite und sah die Skizze von Tanek genauer an. Sie hatte gedacht, ihn als Kunstgegenstand zu betrachten hätte vielleicht eine reinigende Wirkung auf sie. Sie hatte ihn so getroffen, wie er war, einschließlich seiner ruhigen Intelligenz, seiner Stärke, der Intensität dessen, was unter der Oberfläche verborgen lag, und des Hauchs von Sinnlichkeit, den der Schwung seiner Lippen verriet... Sinnlichkeit. Wies sein Mund tatsächlich eine gewisse Sinnlichkeit auf oder hatte ihre Besessenheit die Skizze verfärbt? Sie wusste es nicht. Sie wusste nur, dass sie die Sinnlichkeit unve rhohlen und roh vor sich sah. Sie sprang auf und schob den Skizzenblock in die Aktentasche zurück. Ihr war heiß, und ihre Wangen fühlten sich fiebrig an. Wie dumm sie doch war. Es wäre besser gewesen, sie hätte ihn niemals skizziert. Es hatte nichts genützt. Wo war die Selbstbeherrschung, die für sie so wichtig war? Schließlich war sie kein junges Mädchen mehr, das unter unkontrollierbaren Hormonschüben dem ersten Rendezvous entgegenhechelte. Aber die Verletzlichkeit und Unsicherheit, die sie empfand, hätten besser zu diesem jungen Mädchen gepasst. Dabei hatte sie gedacht, diese Phase läge inzwischen längst hinter ihr. Was nützte es einem, in anderen Bereichen des Lebens selbstbewusst zu sein, wenn man sich von einem Mann... Vergiss es. Geh ins Bett. Schlaf. Fang morgen noch mal von vorne an. Aber das war leichter gesagt als getan. Letzte Nacht hatte sie -310-
stundenlang wach in ihrem Bett gelegen und sich danach gesehnt, dass... O nein, heute nacht schliefe sie. Wieder träumte sie. Tanek blieb stehen, als er das leise Wimmern hörte, das durch Nells Schlafzimmertür in den Korridor drang. Sie träumte. Sie litt. Besser, er ginge in sein Zimmer und dächte nicht länger darüber nach. Schließlich passierte es fast jede Nacht. Er konnte ihr nicht helfen, und er wollte es auch nicht. In ihre Träume einzubrechen bedeutete, ihr näher zu kommen, und er war ihr bereits allzunah. Nicht ihre gequälte Seele interessierte ihn, sondern ihr kraftvoller, schöner Leib. Himmel, er ginge jetzt ins Bett und dächte nicht länger an sie. Ab, ab, ab, zu der roten Rose... Nell kämpfte sich aus dem Schlaf, denn nur so entkam sie ihrem Traum. Sie lag zitternd und schluchzend da und starrte blind in die Dunkelheit. Es tut mir leid, Baby. Verzeih mir, Jill. Sie setzte sich auf und zog ihre Pantoffeln an. Sie musste raus aus dem Bett, aus dem Zimmer, aus dem Traum... Musste ins Wohnzimmer, denn dort gab es Platz, Wärme, Helligkeit... Sie ging eilig den dunklen Korridor hinab in Richtung des Lichts, das aus dem Wohnzimmer drang. Dort wäre alles gut. Dort würde sie bleiben, bis sie wieder ruhiger war, und dann -311-
ginge sie ins Bett zurück. Als sie die Tür des Wohnzimmers erreicht hatte, blieb sie plötzlich stehen. »Kommen Sie nur herein.« In einen weißen Morgenmantel gehüllt, saß Tanek auf der Ledercouch vor dem Kamin. »Ich habe Sie bereits erwartet.« »Nein, ich...« flüsterte sie und trat in den Korridor zurück. »Ich wollte nicht - ich werde wieder gehen.« »Damit ich weiter hier herumsitze und mir Sorgen mache um Sie? Warum? Ist es vielleicht effektiver, wenn man alleine über Dinge nachgrübelt, die man nicht ändern kann? « »Ich grüble nicht.« »Den Teufel tun Sie...« Er brach ab und fuhr müde fort: »Tut mir leid. Ich weiß, dass Sie nicht am Grübeln sind. Aber ich. Sie versuchen nur zu überleben. Kommen Sie rein. Dann fahren wir gemeinsam mit unseren Bemühungen fort.« Sie zögerte. Ihre Gefühle für ihn waren bereits so verwirrend, dass sie nicht wollte, dass er sie so verletzlich sah. Er blickte auf und lächelte. »Kommen Sie. Ich beiße nicht.« Sein Ton enthielt keine Schärfe. Keine Bissigkeit. Langsam trat sie näher an ihn heran. »Gut.« Ohne sie noch eines Blickes zu würdigen, wandte er sich wieder dem Feuer zu. Sie kauerte sich auf einen Hocker vor dem Kamin. »Sie brauchen gar nicht so angespannt zu sein. Ich habe nicht vor, mich auf Sie zu stürzen. Weder körperlich noch verbal. Gegenüber Verwundeten verzichte ich für gewöhnlich auf schmutzige Tricks.« »Sie greifen doch nie auf schmutzige Tricks zurück.« »Aber sicher doch. Sie haben mich nur noch nie in einer richtigen Arena erlebt.« Er griff in die Tasche seines Morgenmantels, zog ein Taschentuch heraus und warf es ihr zu. »Wischen Sie sich erst mal das Gesicht ab.« -312-
Sie tupfte an ihren Wangen herum. »Vielen Dank.« Schweigen senkte sich über sie, so dass nur noch das Knistern des Holzes und ihrer beider Atmen zu hören war. Seine stumme Anwesenheit war seltsam tröstlich für sie. Es war besser, als den Dämonen allein gegenüberzustehen. Obgleich er ihre Träume nicht kannte, hielt er die Dämonen von ihr fern. »So kann es einfach nicht weitergehen«, sagte er ruhig, doch sie antwortete nicht. Es gab einfach nichts, was sich auf diese Feststellung antworten ließ. »Tania hat mir von den Träumen erzählt. Manchmal hilft es, wenn man darüber spricht. Wollen Sie mir vielleicht erzählen, um was es in Ihren Träumen geht? « »Nein.« Sie sah ihn an, doch dann zuckte sie mit den Schultern und sagte: »Um Medas.« »Das ist mir klar. Aber worum genau? « »Um Jill«, sagte sie gereizt. »Worum wohl sonst? « »Ich habe Verständnis, wenn jemand leidet. Aber ich habe kein Verständnis, wenn sich jemand quält.« »Jill ist tot, und Maritz läuft immer noch frei herum.« »Das ist keine Qual, sondern Zorn.« Sie fühlte sich in die Ecke gedrängt, doch aushorchen ließe sie sich nicht. »Ich sagte doch bereits, dass ich nicht darüber reden will.« »Ich glaube, das wollen Sie doch. Ich glaube, genau deshalb sind Sie nicht wieder gegangen, obwohl ich hier im Wohnzimmer saß. Was passiert in Ihren Träumen, Nell? « Sie spannte nervös die Finger an. »Was denken Sie wohl, was passiert? « »Kämpfen Sie mit Maritz? « »Ja.« »Und wo ist Jill? « -313-
Sie antwortete nicht. »Ist sie im Schlafzimmer? « »Ich will nicht darüber reden.« »Sind Sie auf dem Balkon? « »Nein.« »Können Sie die Schüsse unten hören? « »Nein, nicht mehr. Ich höre nur noch die Spieluhr.« Ab ab, ab, zu der roten Rose hinab. Warum hörte er bloß nicht auf? Wieder zog er sie in jene dunkel verschwommene Welt zurück. »Wo ist Jill? « Zur Hölle mit ihm, warum hörte er nicht auf. »Wo ist Jill, Nell? « »Sie steht in der Tür«, platzte es aus ihr heraus. »Sie steht weinend in der Tür und beobachtet uns. Ist es das, was Sie wissen wollen? « »Das ist es, was ich wissen will. Warum wollten Sie mir das denn nicht erzählen? « Sie ballte die Fäuste, und ihre Fingernägel gruben sich schmerzhaft in ihre Haut. »Es geht Sie nichts an.« »Warum nicht? « Ab, ab, ab. »Warum nicht, Nell? « »Ich habe geschrien.« Tränen rannen ihr über das Gesicht. »Ich habe nicht nachgedacht... Es heißt immer, dass man schreien soll, wenn man einen Angreife r abschrecken will. Ich habe geschrien, und sie kam aus dem Schlafzimmer gerannt. Es war meine Schuld. Wenn ich nicht geschrien hätte, wäre sie vielleicht im Bett geblieben. Er hätte vielleicht nicht gemerkt, dass außer mir noch jemand im Appartement war. Ihr wäre vielleicht gar nichts passiert.« -314-
»Mein Gott.« Sie schaukelte vor und zurück. »Es war meine Schuld. Sie kam raus, und da hat er sie gesehen.« »Es war nicht Ihre Schuld.« »Doch«, sagte sie voller Hass auf sich selbst. »Haben Sie mich denn nicht gehö rt? Ich habe geschrien.« »Was natürlich in einem Augenblick, in dem ein Mann versucht, einen mit einem Messer abzustechen, eine furchtbare Sünde ist.« »Es war eine Sünde. Sie war meine Tochter. Ich hätte nachdenken sollen. Ich hätte sie beschützen sollen.« Er packte ihre Schultern und schüttelte sie. »Sie haben getan, was Ihrer Meinung nach das richtige war. Maritz hätte sie sowieso entdeckt. Er geht immer sehr sorgfältig vor.« »Vielleicht wusste er ja gar nicht, dass sie da war.« »Er wusste es.« »Nein, ich habe geschrien, und er...« »Hören Sie auf.« Er zog sie in seine Arme und hielt ihren Kopf an seine Schulter gepresst. »Sie haben gesagt, sie hätten die Spieluhr gehört. Also hat er sie auch gehört und wusste ohnehin, dass noch jemand im Nebenzimmer war. Falls nicht, hätte er nachgesehen.« Sie entwand sich seinem Griff und starrte ihn entgeistert an. »Haben Sie daran bisher noch nie gedacht? « Sie schüttelte den Kopf. »Das überrascht mich nicht.« Er strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Ich habe die ganze Zeit überlegt, weshalb Sie sagen, ich hätte an dem, was auf Medas passiert ist, keine Schuld. Jetzt verstehe ich. Sie haben die ganze Zeit über sich selbst als die Schuldige gesehen.« »Das tue ich immer noch. Meinen Sie etwa, nur weil die Spieluhr an war, wäre jetzt alles gut? « -315-
»Nein, denn Sie haben sich immer noch nicht verziehen, dass Sie überlebt haben, während Ihre Tochter gestorben ist.« »Wenn Maritz tot ist, werde ich mir verzeihen.« »Werden Sie das? « »Ich weiß es nicht«, flüsterte sie. »Aber ich hoffe es.« »Ich auch.« Abermals zog er sie in seine Arme und wiegte sie sanft hin und her. »Ich auch.« Sie roch seinen Duft und spürte die Rauheit seines Morgenmantels an ihrem Gesicht, doch statt in Leidenschaft und Hitze hüllte seine Nähe sie in einen goldenen Frieden ein. Lange Zeit verharrte sie reglos an seiner Brust, doch schließlich hob sie den Kopf. »Wenn ich nicht in mein Zimmer gehe und ein bisschen schlafe, hältst du mir morgen wieder meine Trägheit vor.« »Wahrscheinlich.« Er zog sie wieder auf die Couch und schob ihren Kopf an seine Schulter zurück. »Aber darüber solltest du dir Gedanken machen, wenn es soweit ist.« Sie entspannte sich, und erneut senkte sich ein wunderbarer Frieden über sie. Seltsam, dass Tanek, der alles andere als friedlich war, ihr eine solche Ruhe gab. Sie bliebe nur noch ein Weilchen hier, und dann ginge sie... Sie schmiegt sich so vertrauensvoll an mich, als wäre ich ihre Mutter, dachte Tanek einigermaßen missvergnügt. So etwas hatte er nicht geplant. Geplant hatte er ein bisschen Sex bei emotionaler Distanz. Und stattdessen hatte er eine größere Intimität als je zuvor mit einer Frau entdeckt, ohne jeden Sex. Seine eigene Schuld. Nichts und niemand hatte ihm die Rolle der Ersatzmutter aufgedrängt. Außer Nells Verletzlichkeit. Sein Arm tat weh, aber er zog ihn nicht zurück. -316-
Er blickte auf ihre Hand, die schlaff auf seinem Schenkel lag. An den Stellen wo sie ihre Nägel im Handballen vergraben hatte, waren winzige halbmondförmige Abdrücke zu sehen. Während er sanft über einen der Abdrücke strich, dachte er, diese Narben würden eines Tages verblassen, aber die unsichtbaren Narben behielte sie wohl ein Leben lang. Sie waren ebenso hässlich wie seine eigenen, und genau das war es, was sie beide miteinander verband. Sie hob vorsichtig den Kopf und murmelte etwas, was er nicht verstand. »Pst.« Er nahm sie fester in den Arm. Das war es doch, was eine Mutter tat, oder nicht? Sie spendete Trost und hielt die Alpträume fern. Er seufzte. Nein, so etwas hatte er gewiss nicht geplant.
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13. Kapitel Nell öffnete verschlafen die Augen, als sie merkte, dass er ihr Schlafzimmer betrat. »Schon gut. Ich bringe dich nur ins Bett.« Er legte sie vorsichtig auf dem Laken ab und zog ihr die Decke bis zum Kinn. »Schlaf einfach wieder ein.« Sie begegnete dem Blick aus seinen wunderbar hellen Augen, die im Dämmerlicht des Zimmers schimmerten. »Gute Nacht.« »Ruf einfach, wenn du mich brauchst.« »Ich werde dich nicht brauchen. Danke für...« Er war fort. Nein, nicht fort. Immer noch spürte sie seine Nähe... auf eine tröstliche und zugleich sinnliche Art. Wie seltsam, dass eine Verbindung dieser beiden Dinge möglich war. Im Augenblick war der Trost wichtiger als der Sex, doch sie wusste, es wäre nur eine Frage der Zeit, bis sich der Schwerpunkt ihrer Beziehung verlagerte. Aber die Aussicht darauf störte sie nicht mehr. Irgendetwas hatte sich verändert heute nacht. Wie dumm sie gewesen war, sich ihm so lange zu widersetzen, dachte sie. Der Mann, der sie in den Schlaf gewiegt hatte, war bestimmt keine Bedrohung für sie. Und auch Sex war keine Gefahr. Er war kontrollierbar wie alles andere, und die Erleichterung wäre bestimmt gut für sie. Sie würden noch wochenlang zusammen sein, und es wäre sinnlos, machte sie es ihnen beiden unnötig schwer. Morgen nacht würde sie zu ihm gehen. Bei diesem Gedanken wallte Erregung in ihr auf, doch sie unterdrückte sie. Am besten dachte sie nicht länger als nötig darüber nach, und am besten maß sie der Sache keine übermäßige Bedeutung bei. Schließlich ging es nur um Sex. »Sie haben sie noch nicht gefunden? « fragte Gardeaux. »Mein -318-
Gott, was in aller Welt haben Sie überhaupt getan? « Maritz' Griff um den Telefonhörer verstärkte sich. »Ich habe eine Spur. Sie und die Haushälterin dieses Arztes waren ziemlich dick befreundet. Vielleic ht weiß die Haushälterin ja, wo sie ist, oder vielleicht kommt sie sogar zurück. Ich beobachte das Haus rund um die Uhr.« »Sonst tun Sie nichts? « »Ich werde sie kriegen.« »Lebend. Wir brauchen sie lebend. Die Dinge haben sich verändert. Sie könnte der Schlüssel zu allem sein.« »Ich weiß. Ich weiß. Das haben Sie schließlich schon mal gesagt.« »Aber haben Sie auch zugehört? « Bastard. Mit knirschenden Zähnen wiederholte Maritz: »Ich kriege sie.« »Offenbar bekommen Sie dieses kleine Problem nicht so ohne weiteres in den Griff. Soll ich vielleicht jemand anderen schicken? « »Nein.« Mit einem »Ich muss jetzt gehen. Ich melde mich wieder« hängte er ein. Jemand anderen schicken? dachte er erbost. Hatte er etwa soviel Zeit und Mühe investiert, damit jemand anderes die Jagd vollendete? Niemals. Als Nell die Tür öffnete, blickte Tanek von seiner Lektüre auf. »Ja? « Sie blieb reglos stehen und betrachtete ihn. Seine bloßen Schultern und das Dreieck dunkler Haare auf seiner Brust waren in das weiche Licht der Nachttischlampe gehüllt. Offenbar lag er nackt im Bett. Sie atmete tief ein. »Darf ich hereinkommen? « Er klappte das Buch zu. »Willst du reden? « -319-
»Nein.« Sie befeuchtete ihre trockenen Lippen. »Danke.« »Nichts zu danken.« »Ich habe mich gefragt, ob du... ob du immer noch... Ich würde gern mit dir schlafen, falls du nichts dagegen hast.« »Oh, ich habe nichts dagegen. Aber dürfte ich vielleicht fragen, weshalb? « »Ich dachte - die Spannung zwischen uns ist einfach zu groß. Vielleicht löst sie sich auf, wenn wir...« »Oh, dann ist es also als Therapie gedacht? « »Ja. Nein.« Wieder atmete sie tief ein. »Ich habe einfach Lust.« Lächelnd streckte er die Hand nach ihr aus. »Halleluja.« Sie riss sich das Nachthemd vom Leib, stürzte los und tauchte unter der Decke in seine Umarmung ein. »Ich weiß einfach nicht, was ich machen soll«, sagte sie. »Ich hasse es. Ich dachte, ich würde mich nie wieder so unsicher fühlen. Alles schien so klar zu sein.« »Alles ist klar.« Er strich ihr über das Haar. »Wo also liegt das Problem? « »Wo das Problem liegt? Erstens weiß ich nicht, ob ich das Richtige tue. Zweitens habe ich versucht, mir zu sagen, es wäre ein Zeichen von Stärke, mir zu nehmen, was ich will, obwohl es vielleicht ebenso gut ein Zeichen von Schwäche ist. Und drittens habe ich in meinem ganzen Leben nur mit zwei Männern geschlafen, wohingegen du bisher wahrscheinlich mit mindestens zwei Millionen Frauen im Bett gewesen bist.« Er grinste vergnügt. »Nicht ganz.« »Du weißt schon, was ich meine.« »Ja.« Er küsste ihre Schläfe. »Falls du nervös bist, werden wir einfach eine Weile brav nebeneinander liegen und uns auf diese Weise nahe sein.« Sie entspannte sich und lauschte dem regelmäßigen Herzschlag -320-
in seiner Brust. Es war wie gestern nacht, und mit einem Mal hatte sie das Gefühl, in Sicherheit zu sein. »Vielleicht für einen Augenblick.« »Vielleicht gibt es dir ja ein bisschen mehr Selbstvertrauen, wenn ich gestehe, dass ich noch nie mit Helena von Troja im Bett gewesen bin.« »Mit wem? « »Hat Joel dir nicht gesagt, dass er dir ein Gesicht geben wollte, das erinnerungswürdiger als das von Helena von Troja ist? « »Nein.« Sie schwieg einen Moment. »Ist das der Grund, weshalb du bereit bist...« »Bereit ist das falsche Wort. Begierig. Versessen.« »Versuch nicht, mich abzulenken. Du willst mich nur wegen des Gesichts, das Joel mir gegeben hat? « »Ich will dich, weil du Nell Calder bist mit allem, was dazugehört.« »Aber mit der alten Nell Calder hättest du niemals geschlafen. Du hättest sie noch nicht einmal bemerkt.« »Ich habe sie bemerkt. Ich habe das Lächeln bemerkt und die Augen und...« »Aber du hättest kein Verlangen nach ihr verspürt.« Er legte seine Hand unter ihr Kinn und zwang sie, ihn anzusehen. »Was willst du von mir hören? Dass mir Schönheit gefällt? Ja, aber sie ist nicht das einzige, was mir wichtig ist bei einer Frau. Willst du wissen, ob ich dich immer noch begehren würde, wenn du plötzlich wieder die Frau wärst, der ich auf Medas begegnet bin? Ja, denn jetzt kenne ich dich. Ich kenne dein Potential, deine Sturheit, deine Stärke...« Sie verzog das Gesicht. »Sehr sexy.« »Stärke ist sexy. Intelligenz ist sexy. Und diese Eigenschaften hast du schon zu der Zeit besessen, als du noch keine Schönheit warst.« Ein trauriges Lächeln umspielte seinen Mund. »Aber -321-
könntest du jetzt vielleicht aufhören mit den Vergleichen? Bei dem Versuch, euch beide gleichzeitig zu verführen, fühle ich mich regelrecht polygam.« »Tut mir leid, es hat mich einfach interessiert. Der Gedanke ging mir eben durch den Kopf.« Wieder vergrub sie ihr Gesicht an seiner Brust. »Manchmal fühle ich mich, als wäre ich zweigeteilt. Nicht oft. Mein altes Ich verblasst immer mehr.« »Nein, das tut es nicht. Es verschmilzt lediglich mit der Person, die du inzwischen bist.« Er strich mit dem Zeigefinger über ihre Unterlippe. »Ebenso wie ich mit ihr verschmelzen will. Hast du jetzt genug Zeit gehabt? Ich verspreche dir, vorsichtig zu sein.« Mit einem Mal merkte sie, dass sein Herz schneller schlug, und spürte die straffen und angespannten Muskeln unter seiner Haut. Es war ihm schwer gefallen zu warten, aber er hatte ihr die Zeit und die Worte gegeben, die sie brauchte, um für ihn bereit zu sein. Sie hob den Kopf, küsste ihn und flüsterte: »Du brauchst nicht vorsichtig zu sein.« »Los, mach dich fertig«, befahl Tania Joel, als er nach Hause kam. Sie setzte ihm einen fuchsienfarbenen Papphut auf und schob das Gummiband unter seinem Kinn zurecht. Er sah müde aus, was kein gutes Zeichen war. »Heute abend feiern wir.« »Mit Papphüten sehe ich einfach lächerlich aus.« Sie hielt ihn davon ab, sich das Hütchen vom Kopf zu reißen. »Unsinn. Du siehst wunderbar aus. Die Farbe steht dir hervorragend. Sie passt zu deinem Haar.« »Mein Haar ist ja wohl nicht fuchsienrot.« Er blickte auf ihr Kleid aus pfirsichfarbenem Seidenkrepp. »Hübsch. Das Blumenmuster ist schön. Du siehst wie ein Garten aus. Was feiern wir denn? « »Ich habe ein A in meiner Englischprüfung bekommen. Das ist -322-
sehr gut, wenn man bedenkt, was für eine grässliche Sprache das Englische ist.« Sie küsste ihn auf die Wange, schob ihn in Richtung der Treppe und setzte einen grünen Papphut auf. »Ich bin sehr klug, ja? « Er lächelte. »Sehr klug.« »Ich habe Schmorfleisch und Kartoffeln und eine neue Nachspeise mit Zitronensauce gemacht. Extra fettarm für dein Herz. Gesund. Da du dich für so alt hältst, dachte ich, dass du dich sicher darüber freust.« »Ich habe nie behauptet, dass ich alt bin«, sagte er verletzt. »Du bist einfach... jung.« Sie zuckte mit den Schultern und trat durch die Esszimmertür. »Beeil dich.« Sie überprüfte das Blumenarrangement auf dem Tisch, zündete die Kerzen an und ging in die Küche. Als Joel das Esszimmer betrat, kam sie gerade mit der Fleischplatte zurück. »Setz dich. Iß«, sagte sie, froh, dass er immer noch den Papphut trug. Die ganze Mahlzeit über und auch noch während des anschließenden Kaffees im Salon unterhielten sie sich im Plauderton. »Ich habe es gut gemacht. Wunderbar, ja? « Er lächelte. »Wunderbar.« Sie hatte sein Lächeln schon immer geliebt. Vom ersten Moment an, in dem er vor so vielen Jahren in ihr Krankenzimmer gekommen war. »Ich habe dir sogar koffeinierten Kaffee serviert. Du weißt natürlich, dass ich dich zu umgarnen versuche.« »Das habe ich mir gedacht. Du hast also kein A in deinem Test?« »Doch, aber das wusste ich schon vorher. Das war kein besonderer Triumph.« »Warum trage ich dann diesen höchst lächerlichen Hut? « Sie grinste. »Weil er dir gut tut.« Ihr Lächeln schwand, als er -323-
durch das Zimmer ging und aus dem Fenster zu starren begann. »Und wenn du ein bisschen vernünftiger wärst, gäbe es wirklich einen Grund zum Feiern für uns.« Er fuhr zu ihr herum. »Ich hatte einen anstrengenden Tag. Und ich habe wirklich keine Lust, mit dir zu diskutieren. » Du diskutierst ja gar nicht. Aus einer Diskussion ginge ich als Siegerin hervor. Bisher hast du einfach immer ne in gesagt.« »Und heute sage ich abermals nein. Weshalb hast du gedacht, heute abend wäre es anders als sonst? « Sie starrte ihn an und sagte mit zitternder Stimme: »Du bist ein Narr. Du benimmst dich genau wie dieser dämliche Galahad. Warum kannst du nicht einfach wie andere Männer sein? « »Das lässt mein Selbstschutz nicht zu. Ich wäre viel zu unglücklich, wenn du zu dem Schluss kommen würdest, dass ich was ist los? « Er sah sie an. »Du bist ja ganz fertig.« »Natürlich bin ich fertig. Ich habe lange genug versucht, die Sache mit Humor zu nehmen. Jede Minute des Lebens ist so kostbar, und du lässt einfach zu, dass uns die Zeit durch die Finger rinnt.« Sie kreuzte die Arme vor der Brust, damit sie nicht länger zitterten. »Woher willst du wissen...« Sie wandte sich von ihm ab. »Ach, geh weg. Du verstehst einfach nichts. Du bist ein dummer, dummer Mann.« »Ich tue, was meiner Meinung nach das Beste ist, Tania«, sagte er sanft. »Das Leben ist kostbar, und ich lasse nicht zu, dass du es dir verdirbst.« »Geh weg.« Sie starrte blind aus dem Fenster und hielt nur mit Mühe die Tränen zurück. »Tania...« Sie antwortete nicht, und einen Augenblick später hörte sie, wie er das Zimmer verließ. Sie hatte sowieso nicht gedacht, dass sie ihn herumbekäme. Sie hatte es mal wieder vollkommen verpfuscht. Sie hatte sich einen Abend ausgesucht, an dem er -324-
müde nach Hause gekommen war und wahrscheinlich jedes einzelne seiner Lebensjahre schmerzlich empfand. Sie hätte aufhören sollen, als sie das Gesicht gesehen hatte, mit dem er durch die Tür gekommen war. Aber sie hatte nicht aufhören können. Irgendetwas hatte sie zu dem Versuch gedrängt. In den letzten Wochen hatte sie häufiger das Gefühl gehabt, als wäre ihre Zeit begrenzt... Sie starrte in die Dunkelheit hinaus. Sie war verrückt. Er konnte unmöglich da draußen sein. Wenn ja, hätte sie sicher während der letzten Wochen irgendwann einmal etwas bemerkt. Du Bastard, warum verschwindest du nicht von hier? Sicher hatte diese Wahnidee ihre Wurzel in der Vergangenheit. Dort draußen lauerte niemand auf sie. Sie sah hübsch aus mit dem lächerlichen Papphut auf dem Kopf, dachte Maritz, aber ihr angespannter, wachsamer Gesichtsausdruck verriet ihm, dass sie wusste, dass er in der Nähe war. Danke für die Einladung zu deinem Fest, Tania. Ja, ich bin immer noch hier. Sie wandte sich vom Fenster ab, und er legte das russische Fernglas neben sich. Ja, das Haus wäre der einzig mögliche Ort. Sie fühlte sich so sicher dort. Nell wich Nicholas' Angriff aus, trat ihm die Beine weg und machte einen Satz. Inne rhalb des Bruchteils einer Sekunde saß sie rittlings auf seiner Brust. »Ich hab's geschafft«, keuchte sie mit vor Zufriedenheit strahlendem Gesicht. »Ich habe dich tatsächlich flach gelegt! « »Gib nicht so an«, schalt Nicholas, aber sein Lächeln verriet, dass er ebenfalls stolz auf sie war. »Schließlich hast du auch -325-
lange genug dazu gebraucht.« »Aber jetzt habe ich es geschafft.« Sie runzelte in gespielter Wildheit die Stirn. »Du bist mir hilflos ausgeliefert.« »Allerdings.« »Du brauchst gar nicht so herablassend zu sein.« »Wie ich es auch mache, ist es verkehrt. Ich habe mich lediglich an dein Gerede angepasst.« »Gib zu, dass du stolz auf mich bist.« »Und wie.« Sie war so begeistert von ihrem Triumph, dass ihr regelrecht schwindelte »Also, du Verfechter des Systems von Strafe und Lohn. Was bekomme ich für meinen Sieg? « Sein Lächeln vertiefte sich. »Was hättest du denn gern? « »Das Haus. Sam. Die ganze Welt.« »Für einen einzigen Sieg? « »Es war ein großartiger Sieg, ein hervorragender Sieg.« »Stimmt. Aber das Haus und Sam bekommst du nicht. Such dir was anderes aus.« »O.k.« Sie schob sein Sweatshirt hoch und strich mit den Händen über das dunkle Haar auf seiner Brust. »Dann also dich. Hier. Jetzt.« »Himmel, wie aggressiv du geworden bist.« Sie strich mit der Zunge über seine Brustwarze und bemerkte, wie sich sein Puls als Reaktion auf diese Zärtlichkeit beschleunigte. »Jetzt.« Er rührte sich nicht. »Es wäre disziplinlos, den Unterricht zu unterbrechen.« »Ich will meine Belohnung. Schließlich habe ich sie mir verdient.« »Tja, wenn du es so siehst.« Er setzte sich auf, zog sich das Sweatshirt über den Kopf und schleuderte es fort. »Was bleibt -326-
mir da anderes übrig, als deinem Befehl demütig Folge zu leisten? « Sie schnaubte, denn sie hätte angenommen, dass Demut ein Fremdwort für ihn war. Manchmal ging er sanft mit ihr um und manchmal rauh, aber immer entschlossen, beherzt und voller Leidenschaft. Diese fast heidnische Sinnlichkeit hätte sie ihm nicht zugetraut. Ebenso wenig wie sich selbst. Es war, als wären irgendwelche inneren Dämme gebrochen und hätten eine bisher unbekannte Fähigkeit zur Lust in ihr freigesetzt. Mit Richard hatte sie sich immer verpflichtet gefühlt, ihm zu Gefallen zu sein, und mögliche eigene Wünsche hatte sie als ungebührlich unterdrückt. Nic holas gegenüber empfand sie sich als gleichberechtigte Partnerin, mit ihm war Sex ein immer neues erotisches Experiment. »Ich bin froh, dass du einsiehst, dass es in dieser Angelegenheit keine andere Möglichkeit für dich gibt.« Sie zog ihr eigenes Sweatshirt aus, knöpfte ihren Büstenhalter auf, beugte sich über ihn und rieb sich an seiner Haut. Als das weiche Haar auf seiner Brust über ihre Brustwarzen strich, erschauderte sie. »Wie gesagt, solange ich dir hilflos ausgeliefert bin, habe ich wohl kaum eine Wahl.« Mit einem Mal hob er den Kopf, nahm ihre Brust in den Mund und saugte daran. Sie atmete tief ein und streckte die Hände nach ihm aus, aber er hatte sich bereits von ihr gelöst und stand auf, um sich auszuziehen. »Beeil dich«, sagte er, was vollkommen überflüssig war, denn sie zerrte bereits an ihren Kleidern und streute sie in allen Richtungen aus. Dann war er wieder auf der Matte, spreizte ihre Schenkel und schob sich tief in sie hinein. Ihre Fingernägel vergruben sich in seinen Schultern, und er bewegte sich schnell und hart in ihrem Leib. -327-
Mit einem Mal rollte er auf den Rücken, so dass sie auf ihm saß. »Was ist...« Er blitzte sie fröhlich an. »Ich dachte, heute hättest du vielleicht mehr Lust auf eine dominante Position.« Er machte eine ruckhafte Aufwärtsbewegung, und als sie vernehmlich einatmete, lächelte er. »Auf diese Weise kannst du mit mir machen, was du willst.« Er hielt sie fest, so dass sie auch die kleinste Bewegung seiner Hüften deutlich empfand. »So fühlt es sich aber gar nicht an«, keuchte sie. »Wie fühlt es sich denn an? « »Als hätte ich einen Knüppel...« Wieder rang sie nach Luft. »Beweg dich«, flüsterte er. »Reit auf mir. Lass mich dich spüren.« Sie bewegte sich hart, stoßweise, freudig erregt und brach auf ihm zusammen, als mit dem Hö hepunkt die totale Erschöpfung kam. Zitternd und schweißüberströmt klammerte sie sich hilflos an ihm fest, und als sie merkte, dass er lachte, fragte sie: »Was ist so lustig daran? « »Ich weiß nicht, ob ich diese Matte je wieder so ansehen kann wie bisher. Ich schätze, von nun an werde ich jedes Mal, wenn du am Boden liegst, das übermächtige Bedürfnis verspüren, dir die Kleider vom Leib zu reißen.« Er küsste sie. »Wie gesagt, unser Gebaren zeugt von einer eklatanten Disziplinlosigkeit.« Er zog sie auf die Füße. »Komm, lass uns unter die Dusche gehen.« »Ich kann mich nicht mehr bewegen.« Sie lehnte sich an ihn und schlang die Arme um seine Hüfte. Er fühlte sich gut an. Geschmeidig und hart und wunderbar. »Offenbar ist diese Art der Belohnung zuviel für mich. Ich glaube, ich schmelze einfach dahin.« »O nein. Michaela wäre bestimmt nicht bereit, hinterher den -328-
Dreck wegzumachen.« Er hob sie hoch und trug sie aus dem Fitnessraum in sein Bad. Dort angekommen, stellte er sie ab, drehte den Hahn der Dusche auf, zog sie unter den warmen Strahl, trat hinter sie und massierte ihr sanft den Bauch. Was für wunderbare Hände er hatte... sie bekam nie genug davon, sie anzusehen oder zu fühlen, wie er mit ihnen über ihren Körper strich. Sie hatte festgestellt, dass er sehr tastfreudig war. Selbst wenn es nicht um Sex ging, berührte und streichelte er sie, sooft es ging. Hier zu stehen war wunderbar beruhigend, dachte sie verträumt. Sie fühlte sich verhätschelt, liebkost, in Sicherheit. »Ich habe dich letzte Nacht gehört«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Wieder dieser Traum? « Ein winziger Schauder trübte die heitere Freude, die sie empfand. »Ja.« »Eine Zeitlang ist nichts mehr passiert.« Er nagte an ihrem Ohrläppchen herum. »Ich hatte schon gehofft, der Traum hätte sich gelegt.« Sie schüttelte den Kopf »Ich möchte, dass du heute abend zu mir ziehst.« »Was? « Er nahm die Seife und rieb ihre Schultern ab. »Ich möchte, dass du in meinem Bett schläfst. Ich möchte nachts wach werden und die Hand nach dir ausstrecken können.« Sie verstand. »Du willst mich wecken können, wenn ich schlecht träume.« »Unter anderem.« Er fuhr mit der Seife unter ihren Brüsten entlang. »Was ist so schlimm daran? Du verbringst ohnehin den Großteil der Nacht hier bei mir.« Sie wusste nicht, weshalb sie bei dem Gedanken, ganz zu ihm zu ziehen, Unbehagen empfand. Ihn in der Nähe zu haben, damit er sie aus dem Entsetzen ihrer Träume befreite, wäre eine -329-
unglaubliche Erleichterung. Eine zu große Erleichterung. Mit Augenblicken wie diesem wob Nicholas ein Netz aus Leidenschaft und Freude, in dem es viel zu bequem für sie war. Der Traum war eine Qual, aber er erinnerte sie an die Aufgabe, deren Erfüllung noch vor ihr lag. »Nein.« Einen Moment lang stand er reglos hinter ihr, doch dann fuhr seine Hand mit den besänftigenden Bewegungen auf ihrem Körper fort. »Wie du willst. Aber falls du es dir noch anders überlegst, bin ich hier.« Kein Streit. Kein Druck. Alles leicht und mühelos. War ihm klar, dass es genau dieses Verhalten war, das sie noch fester an ihn band? Wahrscheinlich ja, schließlich war er sehr gewitzt. »Du versuchst immer noch, mich davon zu überzeugen, dass es besser ist, Maritz zu vergessen, nicht wahr? « »Natürlich.« Er lachte. »Um das zu erreichen, opfere ich mich sogar deiner Lust. Denkst du etwa, mit dir zu schlafen macht mir Spaß? « Sie entspannte sich. Ehrlichkeit. Es war schön, wenn man Humor und Sex und Ehrlichkeit in einem Paket bekam. Es bestand keine Veranlassung, vor ihm auf der Hut zu sein. »Ja, das denke ich.« Seine Hand glitt über ihren Rücken bis zu ihrem Hals hinauf, und als sich ihre harten Muskeln unter seiner Massage entspannten, hätte sie fast geschnurrt. »Damit hast du verdammt recht«, sagte er vergnügt. »Es freut mich zu sehen, dass dein Gehirn trotz all der Misshandlungen, die dir durch mich in letzter Zeit zuteil geworden sind, offenbar nicht zu Schaden gekommen ist.« »Von Maritz gibt es nicht die geringste Spur«, sagte Jamie. »Ich selbst habe Tania beschattet und ihn nirgends entdeckt.« »Was nicht heißt, dass er nicht auf der Pirsch nach ihr ist«, erwiderte Nicholas. -330-
»Verdammt, nein. Er ist gut, und er hatte schon immer eine besondere Vorliebe für diesen Teil des Geschäfts. Ich werde weiterhin alles im Auge behalten, und außerdem hat Phil die Nummer meines Piepsers in das Liebersche Alarmsystem einprogrammiert. Mehr können wir im Augenblick nicht tun.« Er machte eine Pause. »Ich habe Meldung von Conners aus Athen. Volltreffer.« Nicholas erstarrte. »Die Geschichte ist also wahr? « »Von mehreren Seiten bestätigt und darüber hinaus äußerst detailliert. Ich faxe dir einen ausführlichen Bericht.« »Gut.« »Hast du Nell immer noch nichts von der Sache, erzählt? Junge, damit handelst du dir bestimmt eine Menge Ärger ein.« »Wem sagst du das? Aber jetzt warte ich erst mal auf dein Fax.« Mit diesen Worten hängte Nicholas den Hörer ein. »Vor dem dritten Tor wartet ein Mann. Soll ich ihn reinlassen? « Michaela stand in der Tür des Fitnessraums und blickte missbilligend auf Nell, die bäuchlings unter Tanek auf der Matte lag. »Diese rauhen Spiele gefallen mir nicht. Sie sollten bessere Dinge zu tun haben, als auf dem Boden herumzurollen.« »Was für ein Mann? « Tanek stand auf. »Dieser Kabler. Der, der schon mal hier war.« Nell erstarrte und wandte den Kopf nach Tanek um. »Ist er allein? « fragte er. »Zumindest behauptet er das«, sagte Michaela. »Entscheiden Sie sich. Ich habe zu tun.« »Lassen Sie ihn durch.« Tanek ging zur Tür. »Der Unterricht ist für heute beendet, Nell. Geh duschen, während ich sehe, was er will.« »Nein.« Er blickte über die Schulter zu ihr zurück. -331-
»Ich lasse mich nicht einfach abschieben. Ich habe dir von Anfang an gesagt, dass ich nicht zulasse, dass du irgendwelche Geheimnisse vor mir hast.« »Ich habe wohl kaum irgendwelche Geheimnisse, wenn ich selbst nicht weiß, was der Kerl hier will«, war seine trockene Erwiderung. Sie ging in ihr Zimmer, wusch sich das Gesicht, zog ihr verschwitztes Sweatshirt aus und eine saubere Bluse an. In dem Augenblick, als Kabler in den Hof gefahren kam, trat sie neben Tanek vor die Tür. Die Luft war schneidend kalt, und riesige Schneeflocken fielen vom Himmel herab. »Du hast keinen Mantel an«, sagte Tanek, ohne sie anzusehen. »Würdest du es als hinterhältig ansehen, wenn ich dir vorschlagen würde, wieder ins Haus zu gehen? « »Ich friere nicht.« Kabler stieg aus seine m Wagen aus. »Ihr Haus ist mindestens so gut gesichert wie Fort Knox«, beschwerte er sich. »Hallo, Mrs. Calder. Sind Sie das Gold, das er für sich zu behalten versucht?« Sie nickte mit dem Kopf. »Mr. Kabler.« »Kommen Sie rein, Kabler. Bringen wir's hinter uns.« Tanek ging ins Haus. »Wie geht es Ihnen? « fragte Kabler im Flüsterton, als er an Nell vorüberging. »Gut. Sehe ich etwa nicht so aus? « »Sie sehen einfach umwerfend aus.« Seine Antwort versetzte ihr einen Schock. Seit sie hier war, hatte sie kaum noch über ihr verändertes Aussehen nachgedacht. »Tja, und außerdem bin ich kerngesund und quietschfidel. Wie Sie sehen, hat Nicholas mich nicht in irgendein dunkles Verließ gesteckt. Ist das der Grund, weshalb Sie gekommen sind? « -332-
»Zum Teil.« »Kabler«, rief Tanek. »Ziemlich ungeduldig, der Kerl«, murmelte Kabler und betrat das Haus. Sie folgte ihm und schloss die Tür, damit die Kälte draußen blieb. »Nette Bleibe«, sagte Kabler, als er das Wohnzimmer betrat. »Luxuriös, aber gemütlich. Gefällt mir.« Vor dem Delacroix blieb er stehen. »Neu? « »Nein, Sie haben ihn schon beim letzten Mal gesehen.« Tanek machte eine Pause. »Sie haben sogar eine Bemerkung über das Bild gemacht.« »Allerdings.« Kabler grinste. »In der Tat habe ich nach meinem letzten Besuch sogar überprüft, ob er auf legalem Wege von Ihnen erworben worden ist.« »Warum? Kunstdiebstähle fallen doch gar nicht in Ihr Ressort.« »Ich hatte gehofft, das Bild gäbe mir vielleicht irgendetwas gegen Sie in die Hand. Schließlich weiß man nie, wann man so etwas mal brauchen kann.« Er schüttelte resigniert den Kopf. »Unglücklicherweise musste ich feststellen, dass alles in Ordnung war. Sie sind eine ganz schön harte Nuss, Tanek.« »Warum sind Sie hier? « »Nachdem sie das Krankenhaus verlassen hatte, war Mrs. Calder spur los verschwunden. Und irgendwie dachte ich, nicht der Erdboden, sondern Sie hätten sie vielleicht verschluckt.« Er sah Tanek an. »Weshalb ist sie hier? Wollen Sie sie als Köder verwenden? « »Sie sagten, der Überfall auf mich wäre reiner Zufall gewesen«, warf Nell eilig ein. »Wenn das stimmt, gebe ich für Tanek wohl kaum einen geeigneten Köder ab.« »Wie schnell sie Ihnen zu Hilfe eilt«, sagte Kabler. »Aber Sie hatten schon immer ein außerordentliches Talent, wenn es -333-
darum ging, das Vertrauen der Leute zu gewinnen. Haben Sie vergessen, dass Tanek der Ansicht ist, dass es einen Grund für den Überfall auf Sie gegeben hat, Mrs. Calder? Sagen Sie mir, hat er Ihnen von Nigel Simpson erzählt? « Er lächelte. »Nein. Wie ich sehe, hat er das nicht getan.« »Erzählen Sie es ihr doch selbst.« Tanek sah ihn reglos an. »Offensichtlich sind Sie ja ganz versessen darauf.« »Sie sind ein guter Beobachter. Nigel Simpson war einer von Gardeaux' Buchhaltern, der mir hin und wieder gewisse Informationen zukommen ließ, Mrs. Calder. Aber dann verschwand er plötzlich.« Er schüttelte den Kopf. »Genau zu der Zeit, als unser Mr. Tanek hier in London war. Ein hübscher Zufall, finden Sie nicht? « London. Nell versuchte, sich ihr Entsetzen nicht anmerken zu lassen, als sie sich an den Anruf aus London und an Taneks plötzliche Reise erinnerte. »Denken Sie, ich hätte ihn auch irgendwo hier versteckt? « fragte Tanek. »Nein. Ich denke, der arme Hund wurde wahrscheinlich irgendwo auf dem Grund des Meeres versenkt.« »Von mir? « »Vielleicht.« Kabler zuckte mit den Schultern. »Oder vielleicht haben Sie sich ebenfalls an ihn gehängt und ihn zu auffällig angezapft, so dass Gardeaux zu dem Schluss kam, Simpson würde gefährlich für ihn. Was hat er Ihnen erzählt, Tanek? « »Nichts. Ich habe ihn gar nicht gesehen.« »Ich könnte Sie zum Verhör mitnehmen.« »Dafür gibt es keinen Grund. Das einzige, was Sie wissen, ist, dass ich zur selben Zeit wie er in derselben Stadt gewesen bin.« »Bei Ihnen reicht das vollkommen aus.« Er machte eine Pause. »O.k. Ich kann Sie nicht zwingen. Aber haben Sie das, was Sie herausgefunden haben, wenigstens der jungen Dame hier -334-
mitgeteilt? « »Bisher ist doch wohl gar nicht klar, dass von mir irgendetwas herausgefunden worden ist.« »Warum sonst hätte Reardon wohl herumschnüffeln sollen? « Tanek sah ihn fragend an. »Herumschnüffeln? Wo? « »In Athen.« Nell erschauderte, doch Tanek lächelte. »Griechenland ist wunderschön. Vielleicht hat er einfach ein bisschen Urlaub gebraucht. Haben Sie etwa den weiten Weg hierher gemacht, nur um mir diese Frage zu stellen? « »Nein. Ich glaube, ich kenne die Antwort bereits.« Kabler sah ihn grimmig an. »Ich bin lediglich gekommen, um Ihnen zu sagen, dass Sie mir nicht noch einmal in die Quere kommen sollen, sonst nagele ich Sie fest. Ich habe Simpson gebrauc ht.« »Ich auch.« Tanek ging zur Tür und öffnete sie. »Auf Wiedersehen, Kabler.« Kabler zog die Brauen hoch. »Sie liefern mich einfach der Kälte aus? Was sind Sie doch für ein schlechter Gastgeber. Soll das etwa der Ehrenkodex des Westens sein? « Er trat neben Tanek. »Im Grunde Ihres Herzens sind Sie immer noch ein Gangster, Tanek.« »Das habe ich nie geleugnet. Wir sind nun mal, was wir sind... oder waren.« Kabler sah sich noch einmal um, bis sein Blick auf eine chinesische Vase fiel. »Offenbar hat sich das, was Sie waren, sehr gut bezahlt gemacht. Von der Vase allein könnte ich meine Kinder aufs College schicken.« Mit einem Mal bekam seine Stimme einen verbitterten Klang. »Sie haben einen ziemlich hohen Lebensstandard, nicht wahr? Sie und dieser widerliche Gardeaux. Stört es sie eigentlich nie, dass...« »Auf Wiedersehen, Kabler.« Kabler öffnete den Mund, um noch etwas zu sagen, doch als er -335-
Taneks Blick begegnete, klappte er ihn wieder zu. Er wandte sich an Nell. »Begleiten Sie mich noch zu meinem Wagen? Ich möchte gern ein paar Worte unter vier Augen mit Ihnen wechseln. Das heißt, falls Tanek Sie überhaupt außer Sichtweite lässt.« »Wenn's unbedingt sein muss«, sagte Tanek mit regloser Stimme. »Aber nimm eine Jacke mit, Nell.« Nell nahm sich eine Jacke vom Kleiderständer neben der Tür und folgte Kabler hinaus. Der Schnee fiel dichter und schneller als zuvor, und die Windschutzscheibe von Kablers Wagen war unter der weißen Decke nicht mehr zu sehen. »Ich habe Glück, wenn ich es noch in die Stadt schaffe, bevor ein Schneesturm daraus wird«, murmelte Kabler, während er die Fahrertür öffnete. »Bleiben Sie doch einfach hier.« »Nachdem Tanek mich rausgeworfen hat? Da gehe ich lieber das Risiko eines Schneesturms ein.« »Er ist kein Ungeheuer. Falls die Rückfahrt wirklich gefährlich für Sie wird, überlässt er Ihnen bestimmt ein Zimmer hier im Haus.« »Er ist kein Ungeheuer, aber ebenso wenig ist er wohl als der Inbegriff menschlicher Güte anzusehen.« Müde fügte er hinzu: »Außerdem könnte ich sowieso nicht bleiben. Ich muss nach Washington zurück. Eins meiner Kinder ist krank, und meine Frau kommt auf Dauer nicht allein damit zurecht.« Erst jetzt fiel ihr auf, dass er älter und erschöpfter aussah als an dem Tag, an dem sie ihm zum ersten Mal begegnet war. »Das tut mir leid.« Impulsiv legte sie ihm die Hand auf den Arm. »Ich weiß, dass das schlimmer ist, als selbst krank zu sein. Was fehlt ihm denn? « Er zuckte mit den Schultern. »Vielleicht einfach eine Grippe. Aber offenbar wird er sie einfach nicht mehr los.« -336-
»Ich hoffe, dass es ihm bald besser gehen wird.« »Bestimmt.« Er setzte ein angestrengtes Lächeln auf. »Das haben wir mit den anderen beiden auch schon durchgemacht. Kinder sind härter im Nehmen, als man denkt.« Sie nickte. »Jill hatte einmal eine Lungenentzündung, und zwei Wochen später sprang sie schon wieder putzmunter im Park herum. Es war, als ob...« Sie unterbrach sich. »Er wird es schaffen.« »Sicher. Danke für Ihr Verständnis. Ich schätze, ich brauchte einfach jemanden, der das sagt, was ich im Grunde meines Herzens selber weiß.« Er blickte zum Haus zurück. »Vertrauen Sie ihm nicht. Wer einmal ein Gauner war, bleibt es sein Leben lang.« »Sie irren sich. Menschen ändern sich.« »Er ist nicht wie wir, keiner von ihnen ist wie wir. Können Sie sich vorstellen, dass er außer sich ist vor Sorge um ein krankes Kind? Diese Kerle stapfen durch den Schlamm, und der Schlamm wird hart und lässt nichts mehr durch.« »Das ist nicht wahr.« Er schüttelte den Kopf »Ich erlebe es seit siebenundzwanzig Jahren. Sie sind nicht wie wir.« Er ballte die Faust. »Aber Sie sind die Könige der Erde. Sie haben haufenweise Geld und halten sich an kein Gesetz. Alles, was sie tun, ist nehmen und nehmen und nehmen, bis es nichts mehr zu nehmen gibt.« »War es das, was Sie mir sagen wollten? « »Er hat Sie bereits in der Tasche. Sein Täuschungsmanöver ist ihm gelungen, das war nicht zu übersehen. Aber ich will nicht, dass Ihnen ein Leid widerfährt.« »Mir wird nichts passieren, und er täuscht mich auch nicht. Nicht mehr.« »Warum hat er Ihnen dann nichts von Nigel Simpson erzählt? « »Keine Ahnung. Aber wenn ich ihn darum bitte, wird er es tun.« -337-
Mit zusammengepressten Lippen knurrte er: »Er hat Sie wirklich in der Tasche, nicht wahr? Schlafen Sie mit ihm? « »Das geht Sie wohl kaum etwas an«, war ihre kühle Erwiderung. »Tut mir leid. Sie haben recht. Ich wollte Ihnen nur behilflich sein. Haben Sie meine Karte noch? « »Ja.« »Sie brauchen nur anzurufen, und schon bin ich da.« Er stellte den Motor an. »Aber warten Sie nicht allzu lange, sonst ist es vielleicht zu spät.« Er lenkte den Wagen vom Hof, und sie sah ihm nach. Er hat Sie wirklich in der Tasche, nicht wahr? Er irrte sich. Tanek hatte keinerlei Macht über sie. Er irrte sich in jedem Punkt. Außer vielleicht, wenn es um Nigel Simpson ging. Langsam kehrte sie ins Haus zurück. Nicholas stand mit ausgestreckten Armen vor dem Kamin. »Komm und wärm dich ein bisschen. Du warst ganz schön lange draußen.« Sie zog die Jacke aus und trat neben ihn. »Es schneit sehr heftig. Ich habe ihn gebeten, über Nacht hier zu bleiben.« »Aber das Risiko war ihm zu groß, oder? « »Ich habe ihm gesagt, dass du bestimmt nichts dagegen hättest.« »Obwohl du nicht sicher weißt, dass ich ihn nicht den Wölfen zum Fraß vorgeworfen hätte, nicht wahr? « »Sei nicht albern.« »Du hast recht, ich hätte es nicht getan.« Er lächelte. »Nicht, wenn du ihn gebeten hättest, zu bleiben.« Wäre Kabler ohne ihre Einladung geblieben, hätte er es also vielleicht getan. »Ich mag ihn.« »Ich weiß. Warum auch nicht? Schließlich ist er ein aufrechter, -338-
fürsorglicher Familienvater.« »Aber du magst ihn nicht? « »Er ist ein bisschen zu rechtschaffen für meinen Geschmack. Da ich derjenige bin, der gesteinigt werden soll, empfinde ich wohl kaum große Zuneigung zu dem Menschen, der den ersten Stein in meine Richtung wirft.« »Was ist mit Nigel Simpson passiert? « »Wahrscheinlich das, was Kabler denkt.« Er drehte sich zu ihr um. »Aber wenn du fragst, ob ich es war, dann...« »Das frage ich nicht«, unterbrach sie ihn. »Weil ich deiner Meinung nach ein zu reines Herz habe und unfähig bin, einen solchen Akt der Barbarei zu begehen? « fragte er in spöttischem Ton. »Keine Ahnung. Vielleicht bist du fähig zu einer solchen Tat, aber ich denke nicht - du würdest es nicht tun, außer...« Sie unterbrach sich, und schließlich sagte sie: »Ich glaube einfach nicht, dass du ihn getötet hast.« »Ich habe es auch nicht getan.« »Aber ich will wissen, was er dir verraten hat.« Er schwieg einen Augenblick. »Er hat mir seinen Satz der Gardeauxschen Bücher gegeben und mir den Namen des anderen Buchhalters in Paris genannt, der die andere Hälfte der Bücher hat.« »Sind diese Bücher wertvoll? « »Vielleicht.« »Inwiefern? « »Es ist immer nützlich, wenn man gewisse Informationen hat. Ich habe einen recht schwunghaften Handel mit Informationen betrieben, als ich noch in Hongkong war. Einen Teil der Informationen habe ich weitergegeben, einen Teil an sicheren Orten hinterlegt. Als ich aus dem Geschäft ausgestiegen bin, -339-
habe ich die versteckten Informationen als Lebensversicherung benutzt.« »Als Lebensversicherung? « fragte sie verwirrt. »Im Verlauf der Jahre hatte ich mir zahlreiche Feinde gemacht. Und da ich nicht sicher sein konnte, dass man mich nach meinem Ausstieg aus dem Netz nicht abschießen würde, habe ich einige hochkarätige Informationen über Ramon Sandequez an verschiedenen Orten der Welt versteckt, mit der Anweisung, sie im Fall meines Verschwindens oder meines Ablebens den geeigneten Behörden zu übergeben.« »Wer ist Ramon Sandequez? « »Einer der drei Köpfe des Medellin-Kartells.« Nell erinnerte sich. Paloma, Juarez und Sandequez. Gardeaux' Bosse, die Spitze der Hierarchie. »Sandequez ist ein Mann, mit dem man es sich besser nicht verscherzt, und er ließ verlauten, dass er höchst unglücklich wäre, stieße mir irgendetwas zu.« Erleichterung spiegelte sich in ihrem Gesicht. »Dann bist du also in Sicherheit.« »Solange Sandequez denkt, dass er noch nicht alle versteckten Informationen gefunden hat. Zwei hat er bereits. Und solange er selbst überhaupt noch am Leben ist. Und solange kein Verrückter wie Maritz auf den Gedanken kommt, dass ihm das Risiko egal ist, das er mit meiner Ermordung auf sich nimmt.« »Wäre es nicht vielleicht sicherer für dich, einfach hier zu bleiben, bis Gras über die Sache gewachsen ist? « »Ich soll den Kopf einziehen und hoffen, dass man mich vergisst? « Er schüttelte den Kopf. »Ich treffe bestimmte Sicherheitsvorkehrungen, aber ich bin nicht bereit, mich einzuschränken, nur damit mir nichts passiert. Das ist nicht der Grund, weshalb ich hierher gekommen bin.« Er war hierher gekommen, weil er sich danach sehnte, irgendwo -340-
verwurzelt zu sein. Aber diese neuen Wurzeln waren noch so furchtbar zart. »Sei doch kein Narr«, sagte sie voller Leidenschaft »Du solltest hier bleiben, wo dich niemand sieht. Du liebst diese Ranch. Es gibt also keinen Grund für dich, irgendwo anders hinzugehen.« »O doch.« »Aber der ist das Risiko nicht wert.« Gardeaux. Maritz. Natürlich gab es einen Grund. Was hatte sie denn gedacht? Sie hatte nur daran gedacht, ihn in Sicherheit zu sehen. Schuldgefühle stiegen in ihr hoch. Nähe und Intimität hatten sich in ihr Leben geschlichen und drohten, ihrem Vorhaben im Wege zu stehen. Eilig wandte sie sich von ihm ab. »Ich muss duschen.« »Läufst du vor mir davon? « fragte er in ruhigem Ton. »Nein, ich - ja.« Sie würde ihn nicht belügen. »Ich glaube, ich sollte gehen. Die Dinge werden einfach zu kompliziert.« »Ich dachte mir, dass es soweit kommt«, sagte er. »Zur Hölle mit Kabler.« »Es ist nicht seine Schuld. Es ist einfach...« »Kompliziert«, beendete er ihren Satz in sarkastischem Ton. »Und Kabler hat dabei als Katalysator gedient.« Er streckte die Hände aus und hielt sie an den Schultern fest. »Hör mir zu. Durch seinen Besuch hat sich nichts verändert. Du brauchst nicht davonzulaufen.« Es hatte sich etwas verändert. Einen Augenblick lang hatte sie ihre Aufgabe vergessen aus Sorge um ihn. Und er wusste es. Das erkannte sie an seinem Blick. »Also gut. Ab heute rühre ich dich nicht mehr an«, sagte er. »Es wird wieder sein wie zuvor.« Wie sollte das gehen? Sie hatte sich sowohl körperlich als auch -341-
gefühlsmäßig an ihn gewöhnt. »Du bist noch nicht bereit zu gehen.« Er umfasste ihr Gesicht und flüsterte: »Bleib.« Er küsste sie leicht und sanft, und dann hob er den Kopf. »Siehst du? So unsexuell wie der Kuss eines Bruders. Was ist daran so kompliziert? « Sie lehnte sich an seine Brust. Großer Gott, sie wollte bleiben. Sie musste bleiben. Er hatte recht, sie war nicht bereit zu gehen. Vielleicht würde alles gut, nun, da sie erkannt hatte, was mit ihr geschah. »Also gut. Noch eine Weile.« »Clever.« Seine Erleichterung war ihm anzusehen, doch sie wusste nicht, ob ihre Entscheidung tatsächlich clever war. Im Augenblick wusste sie nichts, außer, dass seine Umarmung voller Kraft und Liebe war und dass sie nirgends sein wollte als bei ihm. »Lass mich los.« »Sofort. Du brauchst mich jetzt.« Sie brauchte ihn. Er kannte sie so gut. Er hatte sie studiert, hatte gelernt, was sie brauchte, was sie wollte, um im Gleichgewicht zu sein. Brauchte sie Trost, so gab er ihr Trost. Wollte sie Sex, so gab er ihr soviel, wie sie ertrug. Er war derjenige, der clever war. Diese Erkenntnis sollte sie ängstigen, doch stattdessen gab sie ihr ein Gefühl von Sicherheit. Schließlich schob sie ihn fort und ging zur Tür. »Wir sehen uns dann beim Abendbrot.« »Genau.« Auf der Schwelle blieb sie stehen, denn mit einem Mal fiel ihr noch eine Frage ein. »Du hast mir gar nicht gesagt, warum Jamie in Griechenland war.« »Er hat Spuren überprüft, die es in der Medas-Sache gab.« »Und, hat er was herausgefunden? « »Das kann man noch nicht sagen.« Sein Gesichtsausdruck wirkte ebenso gleichgültig wie sein Ton. -342-
Zu gleichgültig vielleicht. Sie hatte ihn sofort nach Jamie fragen wollen, doch dann waren sie von Simpson auf Ramon Sandequez gekommen, so dass ihr ihr eigentliches Anliegen entfallen war. Hatte er sie vielleicht absichtlich von dieser Spur abgelenkt? »Sagst du mir auch die Wahrheit? « »Was sonst? « »Die Sache ist mir sehr wichtig«, sagte sie zögernd. »Ich muss dir vertrauen können, Nicholas.« »Das hast du bereits deutlich zum Ausdruck gebracht. Habe ich jemals etwas getan, was dir Anlass gegeben hätte, mir zu misstrauen? « Sie schüttelte den Kopf, und er lächelte. »Dann verschon mich bitte wenigstens für einen Augenblick mit derartigen Verdächtigungen, mein Schatz.« Was für ein wunderbares Lächeln er besaß, freundlich und warm. Sie merkte, dass sie sein Lächeln erwiderte. »Tut mir leid.« Sie machte kehrt, doch als ihr Blick aus dem Fenster fiel, zögerte sie erneut. »Es schneit immer mehr.« Er seufzte. »Und du machst dir Sorgen um Kabler. Soll ich ihm nachfahren und dafür sorgen, dass er sicher in die Stadt zurückgelangt? « »Würdest du das etwa tun? « Sein Angebot überraschte sie. »Wenn du es willst.« Wärme stieg in ihr auf. »Nein, denn die Sorge um dich wäre noch schlimmer für mich.« »Es freut mich, dass du mich offenbar höher bewertest als den ehrenwerten Kabler.« »Vielleicht hört es ja gleich auf zu schneien.« »Das bezweifle ich. Im Wetterbericht haben sie gesagt, dass es entlang der kanadischen Grenze die ganze Woche schneien wird.« Er blickte hinaus in den Sturm weißer Flocken, der gegen das Fenster schlug. »In ein paar Tagen gibt es bestimmt sogar -343-
bei Joel und Tania in Minneapolis den ersten Schnee.«
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14. Kapitel »Brauchen Sie irgendwas aus dem Supermarkt? « Phil stand schnüffelnd in der Küchentür. »Das riecht aber gut. Was kochen Sie denn da? « »Gulasch.« Tania blickt lächelnd über die Schulter zurück. »Ich habe Ihnen eine Portion für das Abendessen reserviert.« »Großartig.« Er trat näher an den Herd heran. »Aber hätten Sie vielleicht jetzt schon einen kleinen Happen für mich? « Trotz seines Alters war er ein Junge geblieben, dachte Tania nachsichtig, als sie den Schöpflöffel in den Topf tauchte und an ihn weiterreichte. Er probierte das Gulasch, schloss die Augen und stieß einen genießerischen Seufzer aus. »Köstlich.« »Ein altes Familienrezept. Meine Großmutter hat es mir gezeigt.« Sie drehte die Hitzezufuhr der Platte herab. »Es ist noch besser, wenn es erst ein paar Stunden gezogen hat.« »Unmöglich.« Phil sah aus dem Fenster. »Es schneit ganz schön. In ein paar Stunden sind die Straßen bestimmt dicht. Ich dachte, Sie brauchten vielleicht Milch oder Brot oder so.« »Milch. Ich habe den letzten Rest beim Frühstück verbraucht.« Sie sah ebenfalls auf die Straße hinaus. »Aber deshalb brauchen Sie nicht extra loszufahren. Draußen ist es bestimmt spiegelglatt.« »Ich muss sowieso los. Ich muss das Auto in die Werkstatt bringen. Irgendetwas stimmt nicht daran.« »Was? « »Keine Ahnung. Vorgestern war noch alles in Ordnung, aber gestern abend fing der Motor plötzlich zu stottern an.« Er zuckte mit den Schultern. »Vielleicht war das Benzin, das ich getankt habe, nicht ganz sauber.« Er wandte sich zum Gehen. -345-
»In ein paar Stunden bin ich wieder da. Kommen Sie mit zur Tür, und stellen Sie die Alarmanlage an, wenn ich draußen bin. Was nützt einem ein Alarmsystem, wenn man es nicht anstellt? Eben bin ich einfach so hier hereinspaziert.« »Ich stelle es immer an. Joel muss es vergessen haben, als er heute morgen zur Arbeit gefahren ist.« Sie folgte ihm in den Flur und drückte den Knopf der Alarmanlage, nachdem er vor die Tür getreten war. Inzwischen schneite es so stark, dass man kaum noch die Hand vor Augen sah. »Widerlich. Müssen Sie wirklich los? « »Ohne mein Auto bin ich nur ein halber Mensch.« Er grinste. »Außerdem bin ich es gewohnt, bei solchem Wetter zu fahren.« Er winkte, während er vorsichtig die vereisten Stufen hinunterging. »Und ich denke an die Milch.« Als er hinter dem dichten Schneeschleier verschwunden war, schloss sie die Tür und machte kehrt, um in die Küche zurückzugehen. Nach ein paar Metern blieb sie stirnrunzelnd stehen. Auf dem Eichenparkett war eine deutliche Wasserlache zu sehen. Normalerweise putzte Phil seine Schuhe immer ab, aber offenbar hatte ihn die entsicherte Alarmanlage tatsächlich aus dem Konzept gebracht. Sie musste sofort ein Handtuch holen und das Wasser aufwischen, ehe es auf dem hübschen Holzboden einen Fleck hinterließ. Sie spürte nicht, dass er in der Nähe war, dachte Maritz enttäuscht. Er beobachtete, wie sie sich bückte und das Wasser aufwischte, das von seinen Schuhen getropft war, als er hinter dem jungen Mann ins Haus geschlichen war. Er hätte es selbst aufgewischt, aber er hatte nicht gewusst, wieviel Zeit ihm bliebe, ehe der Kerl erneut das Haus verließ. Also hatte er einfach die nassen Schuhe ausgezogen, war die Treppe hinaufgerannt und hatte sich hinter dem Geländer versteckt. -346-
Ich bin ganz in deiner Nähe, hübsche Tania. Du brauchst nur den Kopf zu heben, um mich zu sehen. Aber sie hielt den Kopf gesenkt, wischte den Boden zu Ende und kehrte in die Küche zurück. Was an und für sich kein Grund zur Enttäuschung war, denn diese Blindheit hatte er bereits des öfteren erlebt. Die Wachsamkeit der Menschen ließ nach, wenn sie sich an einem Ort befanden, der ihrer Meinung nach sicher war. Aber er hätte gedacht, dass es bei ihr anders war. Vielleicht war es allerdings besser so. Die Überraschung wäre größer und die Furcht intensiver, wenn er mit einem Mal vor ihr stand. Wo sollte er sie nehmen? Er hörte ihr Summen, das aus der Küche drang. Sie schien glücklich zu sein. Die Küche, Grundstein des Familienlebens, Mittelpunkt des Heims. Warum nicht? Langsam ging er die Treppe hinab. Phil drehte das Lenkrad in die Richtung, in die der Wagen glitt und rutschte ohne Probleme auf die Straße hinaus. Er genoss das Gefühl von Kontrolle, das ihm das Lenken eines Fahrzeugs verlieh. Es war fast wie eine Surftour durch das Internet, während der man in Computerprogramme einstieg und sie wieder verließ, während der man in Texte eintauchte und diverse Seiten überflog, bis man etwas fand, was für einen von Interesse war. Ach, hätte er doch soviel Ahnung von Autos wie von Computern, dachte er betrübt. Für die Reparatur des Wagens würde er sicher ein Vermögen los. Aber vielleicht auch nicht. Er hatte in der Acme-Werkstatt einen -347-
Ölwechsel durchführen lassen, und die Jungs dort schienen durchaus in Ordnung zu sein. Während des Ölwechsels war er dort geblieben und hatte ein nettes Gespräch mit Irving Jessup, dem Besitzer geführt, und er... Acme-Autoreparatur. Das Schild auf der hohen Säule war nicht zu übersehen. Vorsichtig bog er in den Hof der Tankstelle ein und stellte den Motor ab. Trotz des widrigen Wetters hatte sich noch ein anderer Autofahrer mit seinem Gefährt hierher gewagt. Wahrscheinlich müsste er ein wenig warten. Aber das war egal. Viel Kundschaft war immer ein Zeichen dafür, dass ein Unternehmen lief. Kein Problem. Er hatte jede Menge Zeit. Tania beschloss, dass es dem Gulasch noch an Pfeffer mangelte. Sie legte den Löffel zur Seite und griff nach der gläsernen Pfeffermühle auf dem Tisch. Phil hatte gesagt, dass das Essen köstlich war, aber er hatte auch nicht das Gulasch ihrer Großmutter probiert. Es stimmte sie immer froh, wenn sie eine Mahlzeit nach einem alten Familienrezept bereitete, denn die Essensdüfte brachten von jenen letzten Jahren ungetrübte Erinnerungen zu ihr zurück. An ihre Großmutter, wie sie am Tisch saß, Kartoffeln schälte und Geschichten aus der alten Zeit erzählte, in der sie noch über Land gefahren war, an ihre Mutter, die mit ihrem Vater von der Arbeit nach Hause kam, lachend und erzählend, wie... »Hallo, Tania. Es ist soweit.« Sie wirbelte herum. In der Küchentür stand ein Mann, ein Messer in der Hand. Er lächelte. Ihr Herz machte einen Satz, und dann erstarrte sie. -348-
Er. Er musste es sein. Er nickte, als hätte sie ihre Gedanken laut formuliert. »Du wusstest, dass ich kommen würde. Du hast auf mich gewartet, nicht wahr? « »Nein«, flüsterte sie. Er sah so gewöhnlich aus, wie ein ganz normaler Mann. Braunes Haar, braune Augen, mittelgroß. Er hätte der Angestellte des Supermarkts sein können oder der Versicherungsvertreter, der letzte Woche da gewesen war. Dies war nicht die gesichtslose Bedrohung, von der sie seit Wochen verfolgt worden war. Aber er hielt das Messer in der Hand. »Das wollen Sie nicht tun.« Sie befeuchtete ihre trockenen Lippen. »Sie kennen mich doch gar nicht. Bis jetzt ist nichts passiert. Sie können immer noch gehen.« »Natürlich kenne ich dich. Niemand kennt dich besser als ich.« Er trat einen Schritt näher an sie heran. »Und ich will es tun. Ich will es schon lange tun.« »Warum? « »Weil du etwas Besonderes bist. Das weiß ich, seit ich dir zum ersten Mal nachgegangen bin.« Die Tür? Nein, er blockierte ihr den Weg, während er näher kam. Sie musste dafür sorge n, dass er weitersprach, während sie überlegte, wie sie ihm am besten entkam. »Warum sind Sie mir gefolgt? « »Wegen der Calder. Ich hatte gehofft, sie käme vielleicht hierher zurück oder riefe wenigstens an.« Er trat noch einen Schritt auf sie zu. »Aber dann wurde mir klar, dass du etwas Besonderes bist, und seither macht mir die Sache richtig Spaß.« »Ich weiß nicht, wo Nell ist.« »Ich dachte mir, dass du das sagst. Aber ich werde herausfinden, -349-
ob du es tatsächlich nicht weißt oder ob du nur so tust.« Er lächelte. »In der Tat hoffe ich, dass du es mir noch lange Zeit nicht sagen wirst. Es wird mir leid tun, wenn ich den Spaß beenden muss.« Die Schublade mit den Schlachtermessern? Bis sie sie erreicht und aufgezogen hätte, stünde er längst neben ihr. »Wer sind Sie? « »Oh, ich habe ganz vergessen, mich vorzustellen. Ich fühle mich dir so nahe, Tania, dass es mir vorkommt, als wären wir schon eine Ewigkeit miteinander bekannt. Ich bin Paul Maritz.« O Gott. Nells Monster war zu ihrem Monster geworden, und es kam mit jeder Minute näher an sie heran. Was sollte sie nur tun? »Ich habe gelogen. Ich weiß, wo sie ist, aber Sie werden es nie erfahren, wenn Sie mich umbringen.« »Wie gesagt, je länger es dauert, um so lieber ist es mir.« Er war kaum noch zwei Meter von ihr entfernt. »Aber wir können darüber reden, wenn ich...« Sie zerbrach die gläserne Pfeffermühle an der Ecke des Tischs, schleuderte ihm den Pfeffer in die Augen und die spitzen Scherben direkt hinterher. Er fluchte und fuchtelte blind mit dem Messer in der Luft herum. Sie griff nach dem Gulaschtopf und kippte ihm den Inhalt ins Gesicht. Er schrie und tastete an seinen verbrannten Wangen herum. Sie rannte an ihm vorbei durch die Tür in den Flur. Fluchend stürzte er hinter ihr her. Sie erreichte die Haustür und fummelte am Schloss herum. Seine Hand fiel auf ihre Schulter und zog sie von der Tür zurück. -350-
Sie stolperte rückwärts gegen die Wand und klammerte sich am Flurtisch fest, ehe sie fiel. »Blöde Kuh.« Tränen rannen über sein rotes, verquollenes Gesicht. »Bildest du dir etwa ein, ich würde dich...« Sie schleuderte eine Messingvase in seine Richtung und rannte zur Tür. Sie drückte die Klinke herunter, schlug auf den Alarmknopf an der Wand und stürzte hinaus. Sie rutschte aus und stolperte die Treppe hinab. An das Eis auf den Stufen hatte sie nicht gedacht. Er kam die Treppe herunter, langsam und vorsichtig, um nicht denselben Fehler zu begehen. Die Alarmsirene heulte, und sie rappelte sich verzweifelt auf. Irgendjemand würde sie sicher hören. Irgendjemand käme ihr zu Hilfe geeilt. Ein stechender Schmerz zuckte durch ihren linken Knöchel, als sie über den Rasen in Richtung der Straße humpelte. »Wohin gehst du, Tania? « rief er hinter ihr. »Zu den Nachbarn? Mit deinem Knöchel kommst du nicht so weit, und bei dem Schneesturm wird dich niemand sehen. Die Wachgesellschaft? Sie sind niemals rechtzeitig hier.« Sie humpelte weiter, als hätte sie nichts gehört. »Ich bin direkt hinter dir.« Halt's Maul, du Schwein. »Gib auf. Du kannst sowieso nichts mehr tun.« Sie hörte seinen schweren Atem an ihrem Ohr. »Du weißt, dass es passieren wird. Du hast es all die Wochen gewusst.« Ihr Knöchel gab nach, und sie fiel hin. Sie rollte sich auf den Rücken und blickte zu ihm auf. »Gut so, Tania.« Er kniete sich neben sie und strich ihr beinahe -351-
zärtlich über das Haar. »So hatte ich es nicht für dich geplant. Ich wollte etwas Hübscheres für dich als dieses Herumgewälze im Schnee. Aber du hast den Alarm ausgelöst, und jetzt muss ich mich beeilen.« »Aber ich habe Ihnen noch nichts von Nell erzählt«, flüsterte sie in verzweifeltem Ton. »Dann erzähl mir jetzt von ihr.« »Sie ist in Florida. Lassen Sie mich gehen, dann erzähle ich...« Er schüttelte den Kopf. »Ich glaube, dass du lügst. So etwas spüre ich. Ich glaube nicht, dass du mir die Wahrheit sagen wirst. Also frage ich wohl besser den Onkel Doktor, wo sie ist.« »Nein! « »Aber du lässt mir keine Wahl.« Seine Finger schlossen sich fester um ihr Haar, und er hob das Messer an ihren Hals. »Ich werde dir nicht so wehtun wie du mir. Ein schneller Stich, und alles ist vorbei.« Sie würde sterben. Denk nach. Bestimmt gab es eine Fluchtmöglichkeit. Sie hatte nicht die Hölle von Sarajevo überlebt, um hier zugrunde zu gehen. Zu ihrem Entsetzen wurde ihr klar, dass es keinen Ausweg gab. Das Messer näherte sich ihrem Hals. Es gab keine Möglichkeit... Jamie Reardon war in seinem Hotel, als sein Piepser zu schrillen begann. Nach zwanzig Minuten hatte er das Haus erreicht. Ein mit Radar versehener Wagen der Wachgesellschaft stand am Straßenrand, aber er war leer. Immer noch heulte die Sirene von der offenen Haustür her. Warum in aller Welt hatte man sie noch nicht abgestellt? Er stieg aus seinem Auto und ging die Einfahrt hinauf. -352-
Den ersten blutigen Fußabdruck sah er am oberen Ende des Wegs. Die dunkle Flüssigkeit war mit Eiskristallen versehen und hob sich leuchtend von der weißen Schneedecke ab. Sein Magen machte einen Satz. O Gott, nein. Blutstropfen bildeten eine Spur im Schnee, und er folgte ihr. Zwei uniformierte Wachmänner standen mit dem Rücken zu ihm auf dem Rasen und blickten auf den Boden. Er wusste, was dort zu sehen war. Er war zu spät. »Ich muss mit Nick reden. Sofort.« »Er ist heute nachmittag auf der Bar X, Jamie.« Nell warf einen Blick auf ihre Uhr. »Aber ich bezweifle, dass Sie ihn dort erreichen können. Wahrscheinlich ist er bereits auf dem Rückweg hierher, aber ich habe keine Ahnung, wie lange er bei diesem Wetter braucht. Soll ich ihm sagen, dass er Sie anrufen soll? « »Ja. Sobald er nach Hause kommt.« »Sind Sie in einem Hotel? « »Nein. Schreiben Sie die Nummer auf.« Sie notierte die Nummer auf dem Block neben dem Telefon. »Was ist los? Kann ich ihm irgendetwas ausrichten? « Schweigen und dann: »Nein.« Sie erstarrte. Sie fühlte sich ebenso ausgeschlossen wie an jenem Abend, als Nicholas von Jamie die verschlüsselte Botschaft bezüglich Nigel Simpson übermittelt worden war. Aber damals hatte ihr Nicholas auch noch nicht versprochen, ihr gegenüber immer offen und ehrlich zu sein. »Ich will wissen, was los ist, Jamie.« »Dann fragen Sie Nick«, sagte Jamie matt. »Er würde mir den Kopf abreißen, wenn ich erzählen würde, worum es geht.« Mit diesen Worten hängte er ein. Sie sank auf den Stuhl neben dem Telefon. Übelkeit überfiel sie. -353-
Die Bedeutung des Gesagten war klar. Sie wurde hintergangen. Nicholas hatte Jamie angewiesen, ihr irgendetwas zu verheimlichen. Wie viele Dinge es wohl gab, die Nicholas vor ihr verbarg? Sie blickte auf die Nummer auf dem Block. Irgendwie erschien sie ihr bekannt. Welche Stadt hatte nur diese Vorwahl... Minneapolis? Sie hatte die Nummer schon einmal gewählt, sie wusste, wessen Anschluss das war. Mit zitternder Hand wählte sie. »Hallo.« »Was machen Sie in Liebers Haus, Jamie? « »Himmel.« »Was machen Sie dort? « Als er nicht antwortete, sagte sie: »Holen Sie mir Tania an den Apparat.« »Das kann ich nicht.« Furcht überfiel sie. »Was soll das heißen, das können Sie nicht...« »Hören Sie zu, ich kann nicht länger mit Ihnen reden. Sagen Sie Nick, dass er mich anrufen soll.« Als er die Verbindung unterbrach, warf sie den Hörer auf die Gabel zurück, sprang hoch und rannte in ihr Schlafzimmer hinauf. Erst knappe acht Stunden später hatte sie das Liebersche Haus erreicht. Gelbes Plastikband. Es war mit gelbem Plastikband abgesperrt. Plastikband, wie man es zur Markierung von Orten verwendete, an denen ein Verbrechen geschehen war, dachte sie, als sie den Taxifahrer bezahlte und aus dem Wagen stieg. Wie oft schon hatte sie dieses gelbe Plastikband in den Abendnachrichten gesehen? Aber dort hatte man immer fremde -354-
Häuser abgesperrt, nicht das Haus, das von Tania zu ihrem Heim erkoren worden war. Vor der Absperrung stand ein stämmiger Polizist, der zu frieren schien. Fast so sehr, wie sie selber fror. »Nell.« Jamie stieg aus einem Wagen, der neben der Einfahrt stand. »Sie hätten nicht kommen sollen«, sagte er sanft. »Genau das hat Nick zu vermeiden versucht.« »Was ist hier passiert? « »Maritz. Er hat Tania verfolgt, um zu sehen, ob Sie vielleicht wiederkommen.« Sie hatte das Gefühl, als hätte er ihr einen Hieb in den Magen versetzt. Es war ihre Schuld. Sie hatte dieses Unglück über Tania gebracht. Sie und Joel hatten nur versucht, ihr zu helfen, und als Dank hatte sie das Monster in ihrer beider Leben gebracht. »Ist sie tot? « Er schüttelte den Kopf. »Sie liegt mit einem gebrochenen Knöchel im Krankenhaus.« Vor Erleichterung zitterten ihr die Knie. »Gott sei Dank.« Sie blickte auf das gelbe Band, und abermals stieg Furcht in ihr auf. »Joel? « »Er war gar nicht hier.« Pause. »Aber Phil. Maritz hatte seinen Wagen manipuliert, und er war damit in der Werkstatt. Der Mechaniker sagte ihm, jemand hätte an einem der Schläuche unter dem Vergaser herumgespielt, worauf er sich den Laster des Tankstellenbesitzers lieh und rechtzeitig zurückkam, um Tania zu retten.« Jamies Mund war nur noch als grimmige schmale Linie zu sehen. »Sich selbst allerdings nicht. Maritz hat ihn umgebracht. Aber sie haben so lange gekämpft, bis die Männer von der Wachgesellschaft hier waren, so dass Maritz verschwinden musste, ehe er Tania fertigmachen konnte.« Phil. Der liebe, freund liche Phil. Tränen stiegen hinter ihren Augen auf, als sie sich daran erinnerte, wie sanft er im -355-
Krankenhaus mit ihr umgegangen war. Mit erstickter Stimme flüsterte sie: »Ich habe ihn sehr gern gehabt.« »Ich auch.« Jamie räusperte sich, aber in seinen Auge n lag ein verräterischer Glanz. »Er war ein großartiger Bursche.« »Ich möchte Tania sehen. Bringen Sie mich hin? « »Darum bin ich hier.« Er nahm ihren Arm und führte sie zum Auto. »Nick sagte mir, dass ich Sie nicht aus den Augen lassen soll, bis er selbst hier sein kann.« »Sie haben mit ihm gesprochen? « »Drei Stunden, nachdem Sie zum Flughafen aufgebrochen waren. Am liebsten hätte er mich... und Sie erwürgt.« »Sie waren bereits hier? Sie wussten, dass Maritz den beiden auf den Fersen war? « Er zuckte mit den Schultern. »Der Inhaber des Bestattungsinstituts war verschwunden. Wir wollten einfach sichergehen, dass Joel und Tania nichts passiert.« »Aber es ist ihnen etwas passiert.« Sie setzte sich auf den Beifahrersitz. »Genau wie Phil.« »Meinen Sie, ich mache mir nicht schon genug Vorwürfe deshalb? « fragte er mit rauher Stimme. »Phil war mein Freund.« »Es ist mir egal, was für Vorwürfe Sie sich machen. Maritz hat Phil umgebracht und versucht, Tania umzubringen, weil er es immer noch auf mich abgesehen hat. Und Nicholas hat es mir nicht erzählt.« »Weil wir wussten, dass Sie dann hierher zurückgekommen wären. Nick wollte nicht, dass Ihnen etwas passiert.« »Mit welchem Recht hat er...« Sie brach ab. Es war sinnlos, mit Jamie zu streiten, während Nick der Schuldige war. »Ich will nicht mehr reden. Bringen Sie mich einfach zu Tania ins Krankenhaus.«
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»Sie liegt im fünften Stock«, sagte Jamie, als der Wagen vor dem Krankenhaus zum Stehen kam. »Soll ich mitkommen? « »Nein.« Sie stieg aus und warf die Tür hinter sich ins Schloss. Joel stand im Flur vor Tanias Zimmertür. »Sie sehen furchtbar aus«, sagte Nell. »Wie geht es Tania? « »Sie hat einen gebrochenen Knöchel, ein paar Schürfwunden und einen Schock«, sagte Joel. »Sie hat zugesehen, wie er Phil erstochen hat.« Ein verbittertes Lächeln umspielte seinen Mund. »Davon abgesehen geht es ihr gut.« »Das Ganze ist meine Schuld.« »Ich war derjenige, der vergessen hat, die Alarmanlage anzustellen, als ich aus dem Haus gegangen bin. Das Schwein ist einfach ins Haus spaziert.« Er schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid, Joel.« »Um ein Haar wäre sie gestorben.« Er bedachte sie mit einem eisigen Blick. »Halten Sie sich von ihr fern. Ich will Sie nicht in ihrer Nähe sehen.« Sie fuhr zusammen. Sie konnte ihm seine Ablehnung nicht verübeln, aber trotzdem tat seine Kälte weh. »Ich verspreche Ihnen, dass ich sie nicht noch einmal besuchen werde, bis das alles vorüber ist. Ich möchte ihr nur sagen, dass - darf ich sie sehen? « Er zuckte mit den Schultern. »Wenn Kabler mit ihr fertig ist.« Sie senkte den Blick. »Kabler ist hier? « »Er kam vor wenigen Minuten. Er sagte, er hätte ein paar Fragen über Maritz an sie.« »Meinen Sie, dass man Maritz erwischen wird? « »Kabler sagt, dass er wahrscheinlich längst außer Landes ist.« »Aber Tania hat ihn gesehen. Wie steht's mit einer Auslieferung? « »Eine Auslieferung ist ja wohl nur dann möglich, wenn man -357-
weiß, wo er ist.« »Er wird zu Gardeaux zurückkehren, damit der ihn beschützt.« Joel schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Ich will nur, dass er nicht noch mal in Tanias Nähe kommt.« »Das will ich auch.« Sie berührte seinen Arm. »Aber nun, da er identifiziert worden ist, traut er sich bestimmt nicht noch mal hierher zurück.« »Nein? Dieser Kerl ist wahnsinnig. Ihm ist alles zuzutrauen. Er hat sie beobachtet, hat sie verfolgt, ist einfach in unser Haus spaziert und...« Er brach ab. »Sagen Sie, was Sie zu sagen haben, und dann verschwinden Sie von hier. Sie hat genug...« »Ich hatte Sie bereits erwartet, Mrs. Calder«, sagte Kabler und schloss die Tür des Krankenzimmers hinter sich. »Wo ist Tanek? « »Ich bin alleine gekommen.« Sie wandte sich an Joel. »Darf ich jetzt hinein? « »Erst sehe ich nach, ob Kabler keinen Schaden angerichtet hat.« Mit diesen Worten betrat Joel das Zimmer, in dem Tania lag. »Das mit dem jungen Phil ist wirklich bedauerlich«, sagte Kabler. »Kannten Sie ihn gut? « »Ja, das heißt nein, ich glaube nicht. Was machen Sie denn hier?« »Seit wir von Birnbaums Verschwinden erfahren hatten, hatte ich ständig einen Mann hier in Minneapolis postiert. Sie erinnern sich doch sicher daran, dass ich schon bei unserer ersten Begegnung neugierig war, zu erfahren, welches seine Rolle in der ganzen Sache war? « Sie lehnte sich an die Wand. »Offenbar hat Ihr Mann die Situation ebenfalls nicht besonders gut im Griff gehabt.« »Sie wussten nicht, dass Maritz hinter Ms. Viados her war? « »Natürlich wusste ich es nicht«, stellte sie hitzig fest. »Denken Sie etwa, ich hätte nichts dagegen unternommen, wenn ich...« -358-
»Schon gut.« Er hob besänftigend die Hand. »Ich habe ja nur gefragt. Da Reardon innerhalb weniger Minuten am Tatort war, scheint Tanek gewusst zu haben, was da vor sich ging.« Er schüttelte den Kopf. »Ich sagte Ihnen ja, dass man ihm nicht trauen kann. Wenn er Ms. Viados als Köder benutzt hat, meinen Sie, dann benutzt er Sie nicht ebenfalls? « »Er hat sie nicht als Köder benutzt.« »Warum hat er es Ihnen dann nicht erzählt? « Als sie nichts erwiderte, schüttelte er verzweifelt den Kopf. »Sie glauben ihm immer noch.« Sie konnte nicht glauben, dass sie derart von Nicholas hintergangen worden war. »Er würde Tania nicht in Gefahr bringen.« »Hat er Ihnen erzählt, was er von Nigel Simpson erfahren hat? « »Ja.« »Nein, das hat er nicht. Wenn er es hätte, wären Sie nicht so ruhig.« Er presste die Lippen zusammen, denn sie wandte sich wortlos ab. »Aber ich lasse nicht zu, dass es noch einmal passiert. Nach Ihrem Gespräch mit Ms. Viados erwarte ich Sie unten im Foyer.« »Warum? « »Ich werde Ihnen beweisen, dass Tanek nicht zu trauen ist. Nicht eine Minute lang.« Er ging den Flur hinunter, und sie sah ihm nach. Sie war wütend auf Nicholas, aber instinktiv verteidigte sie ihn. Was für eine Närrin sie doch war. Sie klammerte sich an ihr Vertrauen, als wäre es der einzige Rettungsanker, den es für sie gab, Nie zuvor hatte sie sich so allein gefühlt. »Sie können jetzt reingehen.« Joel stand in der offenen Zimmertür. »Aber nur für ein paar Minuten. Sie braucht Ruhe.« Vor den weißen Kissen sah Tania furchtbar bleich und zerbrechlich aus. -359-
Ihre Worte allerdings hatten nichts von der für sie typischen rauhen Herzlichkeit eingebüßt. »Sieh mich nicht so an. Mir fehlt nicht viel. Mein Knöchel wächst schon wieder zusammen.« »Ich nehme an, du weißt, wie leid mir die ganze Sache tut.« Nell trat an ihr Bett. »Ich hätte nicht im Traum daran gedacht, dass so etwas passiert. Es hätte mich treffen sollen. Schließlich hatte er es auf mich abgesehen.« »Schmeichel dir lieber nicht allzu sehr. Vielleicht hatte er es zu Anfang auf dich abgesehen, aber dann kam er zu dem Schluss, dass ich ein ganz reizendes Opfer war.« Sie lächelte ohne jeden Humor. »Er denkt, dass ich etwas Besonderes bin. Ist das nicht nett? « »Wie kannst du darüber noch Witze machen? « Tanias Lächeln schwand. »Das ist die einzige Art, auf die ich damit zurechtkomme«, flüsterte sie. »Ich glaube, ich hatte noch nie solche Angst wie in dem Augenblick. Er kam einfach immer näher. Ich konnte nichts dagegen tun. So war es bei dir doch auch, nicht wahr? « Nell nickte, und hinter Tanias Augen stiegen Tränen auf. »Er hat Phil umgebracht.« »Ich weiß.« »Phil hat mich gerettet, und Maritz hat ihn umgebracht. Ich habe einmal einen dieser Horrorfilme über einen ›Schwarzen Mann‹ gesehen, den nur seine Boshaftigkeit am Leben hielt. Egal, was geschah.« Tanias Finger umklammerten Nells Hand mit schmerzliche r Festigkeit. »Er hat einfach einen nach dem anderen umgebracht. In Sarajevo war es anders. Sie hatten keine Gesichter. Maritz hat ein Gesicht. Aber er sieht so gewöhnlich aus wie jeder andere.« »Ich rege dich auf. Vielleicht sollte ich gehen. Joel wird mir den Kopf abreißen, wenn es dir nach meinem Besuch schlechter geht.« -360-
Tania versuchte zu lächeln, aber es war nur ein kläglicher Versuch. »Ja, er ist sehr fürsorglich, nicht wahr? Vielleicht solltest du wirklich gehen. Ich bin im Augenblick keine allzu gute Gesellschafterin. Aber melde dich mal wieder bei mir.« »Das verspreche ich.« Sie beugte sich vor und küsste Tania auf die Wange. »Gute Besserung.« Tania nickte. »Nell.« In der Tür wandte sie sich noch einmal um. , »Sei vorsichtig«, flüsterte Tania. »Er ist wirklich der ›Schwarze Mann‹.« Draußen vor der Tür wartete Tanek auf sie. »Wie geht es ihr? « »Nicht gut«, war Nells kühle Erwiderung. »Was hattest du denn gedacht? Um ein Haar wäre sie erstochen worden, und Phil wurde vor ihren Augen umgebracht.« Sie wandte sich zum Gehen. »Wo willst du hin? « »Jetzt? Ich brauche einen Kaffee. Der Besuch bei Tania war nicht gerade angenehm.« Sie brauchte mehr als einen Kaffee. Sie zitterte, doch das durfte er nicht sehen. Sie wusste, wie gut sich Nicholas auf das Ausnut zen jeder Schwäche verstand. Sie betrat das Wartezimmer und suchte in ihrem Geldbeutel nach einer Münze für den Kaffeeautomat. »Nicht, dass es dich etwas angeht.« »Den Teufel geht es mich nichts an.« Er warf eine Vierteldollarmünze in den Schlitz und beobachtete, wie die schwarze Flüssigkeit in den Pappbecher rann. »Warum hast du nicht gewartet, bis ich zurück war? Ich hätte dich hierher gebracht.« Sie nahm ihm den Becher ab. »Ich konnte ja wohl nicht sicher sein, dass du das tust. Immerhin hast du mir gar nicht erst erzählt, dass Maritz ihr auf den Fersen war.« »Wir wussten es nicht. Nicht mit Sicherheit.« »Aber du warst dir sicher genug, um Jamie herzuschicken.« -361-
»Das war eine reine Vorsichtsmaßnahme. Ich wollte nicht, dass es zu einem zweiten Medas kommt.« Sie nippte an dem schwarzen Kaffee. »Tja, und trotzdem hast du eins gekriegt. Phil ist tot.« Er nickte. »Und was meinst du, wie es mir dabei geht? Schließlich war ich derjenige, der ihn hierher beordert hat.« »Offen gestanden ist es mir egal, wie es dir dabei geht.« Er presste die Lippen zusammen. »Also gut, ich habe dir nicht alles erzählt. Ich wollte nicht, dass du Hals über Kopf hierher zurückgeflogen kommst.« »Diese Entscheidung stand dir nicht zu.« »Aber ich habe sie trotzdem getroffen. Verdammt, ich wollte nicht, dass dir etwas passiert.« »Wenn ich hier gewesen wäre, hätte Maritz es auf mich statt auf Tania abgesehen.« »Genau.« »Und wer hat dich zum Gott ernannt, Nicholas? Mit welchem Recht maßt du dir derartige Entscheidungen an? « »Ich habe getan, was ich tun musste.« »Und ich tue, was ich tun muss.« Sie leerte den Becher, warf ihn in den Papierkorb, verließ das Wartezimmer und ging den Flur in Richtung der Fahrstühle hinab. Er folgte ihr. »Wohin gehst du? « Sie antwortete nicht. »Hör zu. Ich kann verstehen, dass du erregt bist, aber das, was passiert ist, ändert nichts an der Ausgangsposition. Vielleicht ist Maritz inzwischen längst zu Gardeaux zurückgekehrt. Wir sollten weitermachen wie geplant.« Sie drückte auf den Fahrstuhlknopf. »Ich glaube nicht mehr, dass der Plan funktionieren wird. Dazu wäre ein gewisses Maß an Vertrauen erforderlich.« -362-
Er sah sie an. »Vielleicht glaubst du es jetzt nicht, aber du wirst mir wieder vertrauen.« »Ich hoffe, so dumm bin ich nicht.« Sie betrat den Lift, und als er ebenfalls einsteigen wollte, hielt sie ihn zurück. »Nein ich will nicht, dass du mich begleitest.« Er nickte und trat zurück. »O.k., ich verstehe. Du brauchst ein bisschen Zeit für dich.« Seine Reaktion überraschte sie. Dass er so leicht aufgeben würde, hätte sie nicht gedacht. Die Tür schloss sich zwischen ihnen, und sie lehnte sich an die Wand. Sie fühlte sich erschöpft und zerschlagen wie nach einem langen Kampf, und unten wartete noch Kabler auf sie. Als sie den Fahrstuhl verließ, kam Kabler gerade aus dem Geschenkshop heraus. »Mighty Morphin, the Red Ranger«, sagte er, als ihr Blick auf die Tüte in seinen Händen fiel. »Für meinen Sohn. Bei uns zu Hause findet man die Dinger so gut wie nirgendwo.« »Ich glaube nicht, dass Sie mir ein Spielzeug zeigen wollten«, sagte sie. »Ich habe Tanek raufgehen sehen. Was hat er...« »Sie sagten, Sie wollten mir etwas zeigen.« »Nicht hier.« Er nahm ihren Arm und führte sie auf den Parkplatz hinaus. »Sie sehen müde aus. Entspannen Sie sich, und vertrauen Sie mir.« Warum nicht? Sie nahm an, dass ihm zu trauen war. Irgendjemandem musste doch zu trauen sein. Sie stieg in seinen Wagen, lehnte sich im Beifahrersitz zurück und machte die Augen zu. »Ich werde mich ein wenig entspannen, aber Sie tun das besser nicht. Nicholas hat viel zu wenig Widerstand geleistet, als ich gesagt habe, dass ich allein sein will. Ich wette, irgendwo hier in der Nähe treibt sich Jamie Reardon herum. Er ist mit einem grauen Taunus unterwegs.« -363-
»Er ist fünf Autos hinter uns. Aber das ist egal. Gleich hängen wir ihn ab.« »Sie ist mit Kabler zusammen? « Nur mit Mühe unterdrückte Nicholas einen Fluch. »Verlier sie nicht aus den Augen. Was, zum Teufel, hat er mit ihr vor? « »Ich kann sie nicht länger verfolgen. Ich rufe vom Flughafen aus an. Sie haben einen Privatjet bestiegen, der bereits auf dem Rollfeld steht.« »Kannst du rausfinden, wohin sie fliegen? « »Bei einem Charterflug der Drogenbehörde? Dazu brauche ich ein bisschen Zeit. Einfach nachfragen ist da nicht drin.« Nicholas hatte gewusst, dass es nicht ging, aber inzwischen klammerte er sich an jedem Strohhalm fest. Davon abgesehen konnte er sich denken, wohin die Reise ging. Er hätte nur nicht gedacht, dass Kabler zu einer derart verzweifelten Maßnahme griff. »Bin schon unterwegs. Sieh zu, dass du ein Charterflugzeug bekommst, das bei meiner Ankunft aufgetankt und startklar auf der Rollbahn steht.« »Ich glaube, ich weiß, welchen Flug du buchen willst.« »Bakersfield, Kalifornien.« Das große viktorianische Haus lag ein wenig abseits der Straße und war hinter der ausgedehnten Rasenfläche und den turmhohen Eichen kaum zu sehen. Im abendlichen Zwielicht wirkte es zeitlos, elegant und würdevoll. »Los«, sagte Kabler zu Nell. »Ich glaube Ihnen nicht«, flüsterte sie. »Das ist nicht wahr.« Kabler kam um den Wagen herum und öffnete ihr die Tür. »Überzeugen Sie sich selbst.« Langsam stieg Nell die Stufen zu der großen, rund um das Haus verlaufenden Veranda hinauf und klingelte an der Tür. -364-
Durch die aufgemalten Blumen auf der Glastür sah sie kaum die Frau, die die Treppe in den Flur herunterkam. Mit einem Mal wurde die Veranda ins Licht der Kutschenlaterne neben der Tür getaucht, die Frau spähte durch das bemalte Glas hinaus, öffnete und fragte: »Kann ich etwas für Sie tun? « Nell war wie erstarrt. Sie brachte keinen To n heraus. Eine winzige Falte verunzierte die ansonsten perfekte Stirn der Frau. »Haben Sie etwas zu verkaufen? « »Was ist los, Maria? « Ein Mann kam die Treppe herab. Gleich würde sie in Ohnmacht fallen. Nein, gleich würde ihr schlecht. O Gott. O Gott. Der Mann legte der Frau liebevoll den Arm um die Schultern und lächelte. »Was können wir für Sie tun? « »Richard.« Etwas anderes brachte sie nicht heraus. Das Lächeln des Mannes schwand. »Sie irren sich. Offenbar haben Sie das falsche Haus erwischt. Ich bin Noel Tillinger, und das hier ist meine Frau Maria.« Nell schüttelte den Kopf, ebenso sehr um ihn frei zu bekommen wie um die Worte des Mannes zu negieren. »Nein.« Ihr Blick wanderte zu der Frau. »Warum, Nadine? « Mit einem Mal starrte Nadine sie mit zusammengekniffenen Augen an. »Wer...« »Halt du dich aus dieser Sache heraus, Maria. Ich werde schon fertig mit ihr.« »Ich glaube, man hat sie bereits fertig genug gemacht«, sagte Kabler und trat hinter sie. »Und zwar auf eine nicht allzu freundliche Art.« Richard riss die Augen auf. »Kabler? Was in aller Welt machen Sie denn hier? « Kabler ignorierte ihn und wandte sich an Nell. »Ist alles in -365-
Ordnung mit Ihnen, Mrs. Calder? « Nichts war in Ordnung mit ihr. Sie wusste nicht, ob je wieder etwas in Ordnung wäre nach diesem Tag. »Ich habe Ihnen nicht geglaubt.« Richards Blick schwang zu ihr zurück. »Mein Gott. Nell? « »Ich denke, wir gehen besser ins Haus«, schlug Kabler vor. Richard trat zur Seite, ohne auch nur für eine Sekunde von Nell fortzusehen. »Er hat mir gesagt, man hätte dein Gesicht operiert, aber - ich fasse es einfach nicht... Großer Gott, du siehst einfach hinreißend aus.« Fast hätte sie hysterisch gelacht. War ihr verändertes Äußeres alles, worüber nachzudenken er in der Lage war? Kabler schob sie sanft über die Schwelle in den Flur. »Wir sollten nicht länger auf der Veranda herumstehen. Die oberste Regel in einem Zeugenschutzprogramm ist, dass man niemals Aufmerksamkeit erregen darf.« Nadine zwang sich zu einem Lächeln. »Dann kommen Sie vielleicht besser in den Salon.« Sie führte sie aus der Eingangshalle durch eine Bogentür in einen Raum, der mit seinen riesigen Farnen und Palmen und dem dunklen, geschnitzten Holz aussah wie aus einem Edith-Wharton-Roman. Sie wies auf die mit Gobelinkissen versehene Couc h. »Setz dich doch, Nell.« Sie war die perfekte Hausherrin, schön und selbstbewusst wie eh und je. »Warum, Nadine? « »Ich liebe ihn. Als er mich rief, bin ich zu ihm gegangen«, war Nadines schlichte Erwiderung. »Ich wollte nicht, dass das passiert. Ich mochte dich. Niemand wollte, dass dir etwas geschieht.« Nell befeuchtete ihre trockenen Lippen. »Seit wann? « »Wir waren seit über zwei Jahren ein Paar.« Seit über zwei Jahren. Er hatte seit Jahren mit Nadine das Bett -366-
geteilt, und sie hatte nie auch nur den geringsten Verdacht gehegt. Wie clever er doch gewesen war. Oder vielleicht war nicht er clever gewesen, sondern sie dumm. »Warum haben Sie sie hierher gebracht, Kabler? « fragte Richard. »Sie sagten, Sie erführe niemals etwas davon. Sie sagten, niemand erführe jemals etwas davon.« »Ich musste ihr etwas beweisen. Hätte ich es nicht getan hätte sie sich in größte Schwierigkeiten gebracht.« »Und was ist mit mir? « fragte Richard. »Was, wenn sie jemandem davon erzählt? « »Ich bezweifle ernsthaft, dass sie sich den Menschen anvertrauen würde, von denen ihre Tochter ermordet worden ist. Was meinen Sie? « Richard errötete. »Nein, wahrscheinlich nicht«, murmelte er. »Aber trotzdem hätten Sie sie nicht herbringen sollen.« »Ich verstehe das Ganze einfach nicht«, stellte Nell mit heiserer Stimme fest. »Kabler, erklären Sie es mir.« »Der Überfall auf Medas galt Ihrem Ehemann«, sagte Kabler. »Er hatte in seiner Bank eine Zeitlang als Geldwäscher für Gardeaux fungiert. Als sich die Gelegenheit mit Kavinski bot, sagte er Gardeaux, er hätte genug. Nicht sonderlich intelligent. Niemand steigt bei Gardeaux aus, solange der es nicht will. Gardeaux brauchte ihn, also beschloss er, ihm eine Warnung zukommen zu lassen.« »Was für eine Warnung? « »Den Tod seiner Frau. Sie waren das eigentliche Ziel.« »Sie wollten mich töten, um ihn zu bestrafen.« »Was in diesen Kreisen eine nicht unübliche Praxis ist.« »Und Jill? Sollten sie Jill auch umbringen? « fragte sie in leidenschaftlichem Ton. »Das wissen wir nicht. Aber wir denken nein. Es könnte sein, dass Maritz die Ermordung Ihrer Tochter selbst beschlossen hat. -367-
Er ist kein sonderlich stabiler Mensch.« Kein sonderlich stabiler Mensch. Er kam einfach immer näher. Der ›Schwarze Mann‹. »Wenn ich die Zielperson war, warum wurde dann auf Richard geschossen? « Doch dann fand sie die Antwort von allein. »Auf ihn wurde gar nicht geschossen, nicht wahr? Das haben Sie nur vorgetäuscht.« Kabler nickte. »Ein paar Stunden vor der Party fanden wir heraus, dass die Information, die wir über Sie als Zielperson bekommen hatten, richtig war.« Er machte eine Pause. »Aber es gab einen Anhang, in dem auch Calder als Zielperson aufgeführt war. Offenbar hatte Gardeaux herausgefunden, weshalb Calder so bereitwillig seinen beachtlichen Anteil an dem Geldwäschegeschäft sausen ließ. Er hatte einiges für sich abgezweigt und auf einem Schweizer Bankkonto versteckt. Ich hatte nicht mehr viel Zeit, so dass mir nur die Möglichkeit blieb, ein paar Männer auf die Insel zu schicken.« »Warum waren Sie nicht dort, um Jill zu retten? « fragte sie in hitzigem Ton. »Warum waren Sie nicht dort? « Richards Mund wurde von einem spöttischen Lächeln umspielt. »Ja, sagen Sie es ihr. Sagen Sie ihr, was für Sie das Wichtigste war.« Er wandte sich an Nell. »Das ist der Grund, weshalb er dich hergebracht hat. Seine Männer hatten Anweisung, mich zuerst zu kontaktieren, um mir ein Geschäft vorzuschlagen. Meinen Hals und ein neues Leben dafür, dass ich gegen Gardeaux aussage, wenn es soweit ist.« »Ich dachte, wir hätten Zeit«, sagte Kabler an Nell gewandt. »Ich dachte, Sie wären unten im Ballsaal wie alle anderen. Ich hatte extra einen Mann zu Ihrer Bewachung abgestellt.« »Aber Gardeaux zu erwischen, war Ihnen noch wichtiger«, warf Richard ein. »Sie hatten sich sogar einen passenden Plan zurechtgelegt. Sie hatten einen Arzt auf die Insel geschickt, der sich als einer der Gäste ausgab. Ich sollte einen Herzanfall -368-
bekommen und zurück aufs Festland geschafft werden, ehe es zu irgendwelchen Komplikationen kam.« Richard verzog das Gesicht. »Aber Sie haben sich verrechnet, nicht wahr? « »Immerhin haben wir Sie von der Insel runtergeschafft.« »Und mich in dieses verschlafene Nest gesetzt. Ich wollte nach New York.« »Dort war es nicht sicher für Sie.« »Sie hatten mir ein neues Gesicht versprochen. Das hätte es sicher gemacht.« »Alles zu seiner Zeit.« »Verdammt, die ganze Sache ist inzwischen sechs Monate her.« »Halten Sie den Mund, Calder.« Kabler wandte sich erneut an Nell. »Haben Sie jetzt genug gehört? « Zu viel. Lügen. Hässlichkeit. Verrat. Sie wandte sic h zum Gehen. »Nell.« Richard umfasste ihren Arm und hielt sie zurück. »Ich weiß, dass dich die ganze Sache durcheinander gebracht hat, aber es ist von größter Bedeutung, dass niemand erfährt, wo ich bin.« Er hatte sein charmantes Jungenlächeln aufgesetzt, mit dem er immer so mühelos durchs Leben gekommen war. »Lass mich los.« »Ich habe Jill auch geliebt«, sagte er sanft. »Du weißt, dass ich nichts getan hätte, wodurch sie oder du zu Schaden gekommen wäre.« »Lass mich los.« »Nicht ehe du mir versprichst, dass du niemandem meinen Aufenthaltsort verrätst. Du weißt, dass ich recht habe. Es ist nur so, dass...« »Um Gottes willen, lass die arme Frau endlich gehen, Richard«, sagte Nadine. -369-
»Halt den Mund, Nadine«, sagte er, ohne seine Freundin anzusehen. »Das hier geht nur uns beide etwas an. Es ist nicht meine Schuld, dass Jill gestorben ist. Ich war unten. Ich war nicht in der Suite, um sie zu beschützen, so wie du es warst, Nell.« Sie starrte ihn ungläubig an. Wieder einmal versuchte er, sie zu manipulieren, indem er ihr Schuldgefühle vermittelte. Aber warum auch nicht, dachte sie erbost. Schließlich hatte er es seit ihrer Hochzeit immer so gemacht. »Du verdammter Hurensohn.« Er errötete, doch sein Griff um ihren Arm verstärkte sich. »Ich wollte nur weiterkommen. Ich kam einfach zu langsam voran. Immerhin habe ich immer gut für dich und Jill gesorgt.« »Lass mich los«, knurrte sie. »Du weißt, dass ich...« Sie versetzte ihm einen Schlag in den Bauch, und als er sich vor Schmerzen krümmte, krachte ihre Hand auf seinen Nacken herab. Er ging zu Boden, und sie stürzte sich auf ihn und trommelte mit den Fäusten auf ihn ein. Er hatte alles in Gang gesetzt, er war das erste Glied der Kette der Ereignisse, die für Jills Tod verantwortlich war. Ein gut platzierter Hieb, und er wäre tot. Sie hob den Arm. Ein Hieb und... »Nein.« Kabler zerrte sie zurück. »Das wollen Sie nicht tun.« Sie kämpfte verzweifelt gegen ihn an. »Und ob ich es will.« »Aber ich kann es nicht zulassen. Er wird noch als Zeuge gebraucht.« Kabler verzog das Gesicht. »Obwohl ich Sie durchaus verstehen kann.« Sich seinem Griff zu entwinden wäre ihr ein leichtes gewesen, aber dann hätte sie Kabler wehgetan, und das hatte er nicht verdient. Nicht, nachdem er versucht hatte, ihr behilflich zu sein. Sie atmete tief ein. »Sie können mich loslassen. Ich werde ihm nichts tun... zumindest jetzt noch nicht.« Sofort ließ Kabler von ihr ab. -370-
Richard setzte sich mühsam auf und tastete vorsichtig an seinem Bauch herum. »Was, zum Teufel, ist nur mit dir passiert, Nell? « »Du bist mir passiert. Du und Maritz und...« Sie machte auf dem Absatz kehrt. »Wenn Sie ihn noch ganz wollen, dann bringen Sie mich besser von hier weg, Kabler.« »Ich will ihn nicht ganz, aber ich brauche ihn. Wenn ich die Wahl hätte, würde ich ihn mit einem Bus überfahren.« Er nahm ihren Arm, doch sie schüttelte ihn ab und drehte sich noch einmal zu Richard um. »Eins will ich noch wissen. Warum hast du mich geheiratet? « Ein boshaftes Lächeln verzerrte sein Gesicht. »Was meinst du wohl, warum ich ein hässliches, kleines, namenloses Entlein geheiratet habe, das dumm genug war, sich von irgendeinem dahergelaufenen Hinterwäldler ein Kind andrehen zu lassen? Dein Vater hat mir einen fetten Scheck und ein prächtiges Empfehlungsschreiben an Martin Brenden gegeben, darum habe ich es getan.« Er dachte, er hätte sie verletzt, und ahnte nicht, dass er auf diese Weise nur das letzte zarte Band zwischen ihnen zerschnitten hatte, so dass sie endlich vollkommen frei war von ihm. »Das hättest du nicht sagen müssen«, sagte Nadine, während sie ihm vorsichtig auf die Füße half. »Manchmal bist du wirklich ein Schwein, Richard.« Kabler führte Nell sanft aus dem Raum. »Es tut mir leid, dass ich Ihnen das antun musste«, sagte er, während er die Haustür öffnete. »Aber eine andere Möglichkeit, um Ihnen zu beweisen, dass Sie von Tanek die ganze Zeit über angelogen worden sind, hatte ich nicht.« »Er wusste darüber Bescheid? « »Durch Nigel Simpson.« »Wie können Sie da sicher sein? « »Reardon war in Athen und hat mit dem Arzt gesprochen, der -371-
für uns auf Medas Calders Totenschein unterschrieben hat. Er hat herumgeschnüffelt, um herauszufinden, wo Calder von uns hingebracht worden war.« »Nicholas wusste, dass er lebt, und hat es mir nicht erzählt? « »Ich sagte ja, in diesen Kreisen sind alle Kerle gleich.« Auf dem Weg zum Auto blickte er noch einmal zum Haus zurück. »Sie waren ganz schön beeindruckend. Taneks Verdienst? « Sie hörte die Frage kaum. »Warum hat er es mir nicht gesagt? « »Ich schätze, er hatte andere Pläne mit Ihnen, in denen die Ablenkung durch eine Nebensächlichkeit wie einen lebenden Ehemann nicht vorgesehen war.« Wieder sprach er davon, dass sie für Nicholas nichts als ein potentieller Köder war, und zum ersten Mal fragte sie sich, ob er mit dieser Vermutung vielleicht richtig lag. Nicholas war ein äußerst cleverer Mann. Hatte er sie derart manipuliert, dass sie sich nur einbildete, diejenige zu sein, nach deren Willen der Rachefeldzug verlief? So dumm war sie doch sicher nicht, aber... Später. Im Augenblick war sie für derartige Überlegungen viel zu wütend und schockiert. »Kann ich darauf vertrauen, dass Sie niemandem von dieser Angelegenheit erzählen? « fragte Kabler sie. »Ich habe meinen Job aufs Spiel gesetzt, indem ich Sie hierher gebracht habe, und jetzt schicken Sie doch hoffentlich nicht irgendwelche anonymen Mitteilungen über Calders Aufenthaltsort an Gardeaux? « »Weshalb denken Sie, dass Gardeaux überhaupt weiß, dass er noch am Leben ist? « »Reardon ist nicht der einzige, der sich in Griechenland umgesehen hat, und Simpson hatte die Information bestimmt nicht von uns.« Wieder wallte schmerzlicher Zorn in ihr auf. »Ich verspreche, -372-
dass ich Gardeaux keinen Hinweis geben werde.« Und kalt fügte sie hinzu: »Aber ich verspreche nicht, dass ich den Bastard nicht eigenhändig erledige.« »Das hatte ich befürchtet.« Er stieß einen Seufzer aus. »Das heißt, dass ich Calder noch einmal woanders hin...« »Können wir jetzt gehen? « Sie fuhr herum, als sie die Stimme von Nicholas vernahm, der sich ihr von der Straße her näherte. »Sie wollten den Beweis, dass er wusste, was mit Calder ist. Hier haben Sie ihn«, murmelte Kabler an Nell gewandt. »Sie kommen zu spät, Tanek. Ich glaube nicht, dass sie mit Ihnen gehen wird.« »Du hast es gewusst«, flüsterte sie. Bis zu diesem Augenblick war ihr nicht klar gewesen, wie verzweifelt sie sich gewünscht hatte, er hätte ihr nicht auch in dieser Beziehung eine Lüge aufgetischt. »Du hast alles gewusst und mir nichts davon erzählt.« »Irgendwann hätte ich es getan.« »Wann? Nächstes Jahr? In fünf Jahren? « »Wenn es sicher gewesen wäre.« Er sah Kabler an. »Sie mussten sie ja unbedingt hierher bringen, nicht wahr? Sie wissen, dass Calder immer noch eine Zielperson ist, und trotzdem haben Sie sie hergebracht. Sie sollte nicht in seiner Nähe sein.« »Hier in Bakersfield ist er gut versteckt. Sie sollte nicht in Ihrer Nähe sein. Und das weiß sie jetzt. Sie können sie nicht...« Wie von einem gigantischen Fausthieb getroffen ging Nell in die Knie. »Mein Gott.« Auch Nicholas hatte der übermächtige Hieb erwischt, aber jetzt lag er über ihr und schützte sie vor umherfliegendem Geröll. Geröll von wo? überlegte sie verwirrt. Was war passiert? -373-
Dann sah sie über Nicholas' Schulter hinweg das Haus. Das, was vom Haus noch übrig war. Keine Fenster. Keine Veranda. Die südliche Wand war fortgerissen und aus der Ruine stiegen Flammen auf. Flammen, die alles fraßen, was nicht bereits durch die Explosion vernichtet worden war. »Was ist passiert? « fragte sie verwirrt. »Eine Bombe...« Kabler war auf den Knien und blutete aus mehreren Schnittwunden im Gesicht. Die Fäuste geballt, starrte er in hilflosem Zorn auf das Haus zurück. »Verdammt, jetzt haben sie ihn erwischt.« Er sprach von Richard. Richard war im Haus gewesen. Richard war tot. Ebenso wie Nadine. Gerade noch hatte sie mit ihnen gesproche n, und nun waren sie tot. Verschwommen bemerkte sie, dass Nicholas sich erhob und sie auf die Füße zog. »Komm. Wir müssen fort von hier.« Mit schmerzverzerrtem Gesicht hievte auch Kabler sich hoch. »Zur Hölle mit ihnen. Verdammt.« Nicholas packte ihren Arm und zog sie die Straße hinunter dorthin, wo sein Auto stand. »Wo wollen Sie hin? « Kabler eilte ihnen nach. »Fort von hier. Oder wollen Sie, dass man sie auch noch erwischt? « »Vielleicht war es ja gar nicht Gardeaux. Sie sind genau zur richtigen Zeit hier aufgetaucht, finden Sie nicht? Vielleicht waren Sie es ja.« »Das würde Ihnen so passen. Dann gäbe man wenigstens nicht Ihnen die Schuld daran, dass die Kerle wussten, wo Calder zu finden war.« Er sah Kabler an. »Aber Sie denken ja gar nicht, dass ich es war. Sie wissen, dass es ein Fehler war, sie hierher zubringen. Wahrscheinlich stand sie bereits seit ihrer Rückkehr in Liebers Haus unter Beobachtung. Sie sind ihr und Ihnen -374-
hierher gefolgt und haben die Bombe neben der Hauptgasleitung deponiert, während Sie im Haus nett mit Calder geplaudert haben.« »Sie sind uns bestimmt nicht bis hierher gefolgt. Ich habe Anweisung erteilt, dass jeder Flugplan unserer Behörde versiegelt wird.« »Sie wollten Calder. Sie brauchten nur genug Geld zu bieten, damit irgendwer ein Siegel bricht. Das wissen Sie ebenso gut wie ich.« Kabler öffnete den Mund, um zu protestieren, doch dann klappte er ihn wieder zu. »Ja, das weiß ich ebenso gut wie Sie«, sagte er, und mit einem Mal wirkte er wie ein alter, gebrochener Mann. »Nun, erlauben Sie jetzt vielleicht, dass ich sie aus der Gefechtszone bringe, ehe man sie ebenfalls erwischt? « Einen Augenblick lang sagte Kabler nichts, doch dann nickte er. »Verschwinden Sie.« Er wandte sich an Nell: »Ich muss noch ein wenig Schadensbegrenzung betreiben, aber anschließend melde ich mich bei Ihnen. Wenn Sie schlau sind, denken Sie an das, was Sie heute abend hier erlebt haben, und lassen nicht zu, dass er Sie benutzt.« Er blickte auf das brennende Haus zurück. »Sonst sind Sie bald ebenso tot, wie Calder es ist.« »Ich sorge bereits seit fünf Monaten dafür, dass ihr nichts passiert.« Halb zog und halb schob Nicholas Nell zur Beifahrertür. Wie betäubt registrierte sie, dass sich auf der Straße Menschen aus den umliegenden Häusern versammelten. Aus einiger Entfernung drang das Heulen einer Sirene an ihr Ohr. Nicholas öffnete die Tür. »Steig ein.« Sie zögerte und wandte sich noch einmal zu Kabler um. Er starrte nicht länger auf das Haus, sondern hatte sich über die offene Tür seines Wagens gebeugt und sprach eilig in das Autotelefon. -375-
Schadensbegrenzung, hatte er gesagt. Was für eine Begrenzung ließ ein solches Inferno denn zu? Richard und Nadine waren beide tot. Sie stieg ein, und hinter ihr warf Nicholas die Tür ins Schloss.
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15. Kapitel »Alles in Ordnung? « fragte Nicholas ruhig, während er durch die Straßen des Wohngebietes fuhr. Sie antwortete nicht sofort. »Wird Kabler Schwierigkeiten bekommen wegen dieser Sache? « »Vielleicht. Er hat einen großen Fehler gemacht. Aber er hat bei der Behörde eine ziemliche Machtposition. Auf jeden Fall wird er wohl kaum fallengelassen deshalb.« »Es war nicht seine Schuld. Er konnte nicht wissen, dass man uns folgt.« »Ich will nicht über Kabler reden. Er ist mir egal. Wie geht es dir? « »Gut.« Sie umklammerte den Lederriemen ihrer Schultertasche. Sie brauchte etwas, irgendetwas, woran sie sich festhalten konnte, denn sie hatte das Gefühl, regelrecht zuzusehen, wie ihr alles entglitt. »Wo ist Jamie? Ist er mitgekommen? « »Er wartet am Flughafen auf uns.« »Ich steige mit dir in kein Flugzeug ein.« »Himmel, denkst du etwa, ich hätte die Absicht, dich zu entführen? « »Ich weiß nicht, was für Absichten du hast.« »Die einzige Absicht, die ich habe, ist, dich irgendwo hinzubringen, wo du sicher bist.« »Woher soll ich das wissen? Woher soll ich wissen, dass du überhaupt irgendwann einmal die Wahrheit sagst? « Nur mit Mühe unterdrückte er einen Fluch, doch gleichzeitig fuhr er unter eine Laterne an den Straßenrand und stellte den Motor ab. »Also gut. Lass uns reden.« »Ich will nicht reden.« O Gott, sie konnte einfach nicht mehr. -377-
»Sieh mich an.« Sie starrte weiter geradeaus. Er packte ihr Kinn und zwang sie, ihn anzusehen. »Schon gut. Ich werde dich zu nichts zwingen, was du nicht willst.« »Das könntest du auch gar nicht.« »Stimmt, vielleicht hätte ich Schwierigkeiten damit. Ich habe dir einfach zuviel beigebracht.« Sein Finger fuhr sanft über die Linie ihres Kinns. »Aber ich konnte dir nicht beibringen, wie du mit einer Situation wie dieser fertig wirst. Du musst einfach tief einatmen und warten, bis der Schock vorübergeht.« »Was für ein Schock? Der Schock zu sehen, wie zwei Leute in die Luft gehen? Wenn nicht bereits jemand anderes die Bombe gezündet hätte, hätte ich es vielleicht selbst getan. Schließlich ist Richard an allem schuld.« »Sehr hart. Sehr tough.« »Halt den Mund.« Sie zitterte. »Stell den Motor wieder an. Ich habe doch gesagt, dass ich nicht reden will.« Als er versuchte, sie in seine Arme zu ziehen, erstarrte sie. »Lass mich los. Fass mich nicht an.« »Erst, wenn du aufhörst zu zittern.« Sie zog sich auf den Rand ihres Sitzes zurück. »O.k., ich bin ein Lügner, und du traust mir nicht. Also benutz mich. Nimm dir von mir, was du brauchst. Dann müsste doch alles in Ordnung sein.« »Nimm deine Hände weg.« Er ließ die Arme sinken. »Also gut. Sprich. Manchmal hilft es, wenn man spricht.« »Ich will nicht sprechen.« »Erzähl mir von Calder.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich hätte nicht gedacht, dass dich der Tod dieses Schweins -378-
derart aus dem Gleichgewicht bringt.« »Ich habe ihn gehasst«, sagte sie verletzt. »Jill wäre nicht gestorben, wenn er sich nicht mit Gardeaux eingelassen hätte. Ich hätte ihn umgebracht, aber Kabler hat mich zurückgehalten. Ich wollte, dass er stirbt.« »Wolltest du auch, dass sie stirbt? « »Nadine? Nein. Ich weiß nicht. Ich glaube nicht, dass sie... ich weiß es nicht.« »Aber die Entscheidung wurde dir abgenommen.« »Ja.« »Und das macht dir angst, weil es dir das Gefühl gibt, hilflos zu sein. Es wird wieder passieren. Du kannst nicht immer alles kontrollieren. Manchmal bleibt einem nur die Möglichkeit zur Reaktion.« »Mach den Motor an.« »Wohin fahren wir? « »Zum Flughafen.« »Fliegst du mit mir auf die Ranch zurück? « »Das ist ja wohl ein Scherz.« »O nein. Also, was hast du vor? « »Meine Pläne haben sich nicht geändert.« »Aber ich spiele keine Rolle mehr dabei.« »Ich kann dir nicht vertrauen.« »Aber du brauchst mich. Das hat sich nicht geändert. Du lässt zu, dass dein Gefühl deinem Verstand in die Quere kommt.« Er sah sie an. »Also gut, ich habe dich belogen. Eigentlich habe ich dir nur ein paar Dinge verschwiegen, aber das ist ebenso schlimm. Ich habe gelogen. Glaubst du Kabler, wenn er sagt, dass ich dich als Köder benutzen will? « »Ich glaube, dass du zu allem fähig bist.« »Das ist keine Antwort auf meine Frage.« -379-
»Nein.« »Habe ich irgendetwas getan, was für dich gefährlich war? « »Nein.« »Was habe ich dann getan, was so abscheulich war? « »Du hast mich beraubt. Du hast mich ausgeschlossen«, sagte sie in leidenschaftlichem Zorn. »Dies ist mein Leben. Ich hatte das Recht, zu erfahren, dass Richard für alles verantwortlich war und dass er noch lebt. Ich hatte das Recht, zu Tania zu fliegen, um ihr gegen Maritz zur Seite zu stehen.« »Ja.« Er machte eine Pause. »Ich habe dich dieser Rechte beraubt, und wenn nötig, würde ich es wieder tun.« »Und trotzdem erwartest du, dass ich weitermache, als wäre nichts geschehen? « »Nein, ich erwarte, dass du verstehst, dass ich lüge und betrüge, wenn es um deine Sicherheit geht. Und ich erwarte, dass du das erkennst und dich nicht dagegen wehrst. Aber zugleich erwarte ich, dass du mich so benutzt, wie es von Anfang an geplant gewesen ist. Warum auch nicht? Denk einmal in Ruhe darüber nach. Habe ich nicht recht? « Am liebsten hätte sie ihn angeschrien und sich auf ihn gestürzt. Sie wollte nicht in Ruhe nachdenken. Sie fühlte sich einsam und verraten, und sie wollte, dass er dafür litt. »Dies ist mein Terrain. Hier kenne ich mich aus. Hast du durch Calders Tod etwa nichts gelernt? « Sie erschauderte, als sie sich an den letzten Blick auf das flammende Inferno erinnerte. Die Explosion war einfach aus dem Nichts aufgetaucht. Sie wäre nicht im Traum darauf gekommen aber Nicholas hatte sofort gewusst, was geschehen war. Also gut, am besten dächte sie nicht länger über ihren Zorn und ihre Verletzthe it nach. Sie brauchte ihn. Alles andere mochte sich verändert haben, aber an dieser Tatsache kam sie einfach nicht vorbei. -380-
»Ich gehe nicht mit auf die Ranch zurück.« »Das ist mir klar.« »Und ich warte nicht mehr bis Ende des Jahres. Ich fliege umgehend nach Paris.« »Wenn du willst.« Sie bedachte ihn mit einem argwöhnischen Blick. Weshalb nur widersprach er ihr nicht? »Ich werde die Reservierungen vornehmen, sobald wir am Flughafen sind. Hast du etwas dagegen, wenn Jamie uns begleitet? Er könnte sehr hilfreich sein.« »Meinetwegen«, sagte sie. »Gut. Dann entspann dich, und überlass alles mir.« »Das ist das letzte, was ich tun werde. Diesen Fehler mache ich bestimmt kein zweites Mal. Es gibt eine ganze Reihe von Fehlern, die ich nicht noch einmal machen werde. Denk nicht, dass es je wieder so sein wird wie bisher, Nicholas.« »Das brauchst du mir nicht zu sagen.« Er lenkte den Wagen auf die Straße zurück. »Genau wie du bin ich in der Lage zu erkennen, wenn sich etwas verändert hat.« »Wo werden wir wohnen? « fragte Nell, während sie in den dunkelblauen Volkswagen stieg, der von Jamie am Charles-DeGaulle-Flughafen gemietet worden war. »Ich habe eine Wohnung in einem der Außenbezirke der Stadt. Nichts Besonderes, aber sie hat den Vorteil, dass man dort vollkommen ungestört ist. Heute nacht bleiben wir dort.« »Nun, zumindest ist man dort so ungestört, wie es in Paris überhaupt möglich ist.« Jamie kletterte auf den Rücksitz des VWs. »Obwohl man sich besser nicht darauf verlassen sollte, dass Gardeaux von der Wohnung nicht schon längst Wind, bekommen hat.« -381-
»Ich verlasse mich auf gar nichts.« Nicholas lenkte den Wagen vom Parkplatz. »Und darum möchte ich, dass du dich morgen auf die Suche nach einer anderen Bleibe machst. Ich möchte nicht riskieren, dass einer von Gardeaux' Männern Nell entdeckt. Sie wissen, dass sie lebt, aber sie wissen nicht, wie sie aussieht. Das könnte für uns von Vorteil sein.« Sie sah ihn fragend an. »Falls ich mich entschließe, dich in die Höhle des Löwen zu schicken.« Und dann fügte Nicholas hinzu: »Vielleicht tue ich ja doch, was Kabler behauptet hat, und setze dich als Köder ein.« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das wirst du nicht tun.« »Warum denn nicht? Schließlich bist du selbst mehr als bereit, es zu tun.« Er zuckte mit den Schultern. »Aber trotz Kablers Sorge um dich ist dein Wert als Köder ziemlich gesunken. Ich glaube nicht, dass du noch von großer Bedeutung für sie bist.« »Warum nicht? « »Sie hatten dich als Zielperson ausgesucht, um Calder zu treffen. Und beim zweiten Mal hatte Maritz versucht, dich zu finden, weil sie wissen wollten, wo Calder sich versteckt.« »Aber du hast dafür gesorgt, dass ich gar nicht wusste, wo er war, nicht wahr? « stellte sie verbittert fest. »Das wussten sie nicht. Normalerweise weiß eine Frau, wo ihr Ehemann zu finden ist.« »Dann denkst du also, dass sie in Sicherheit ist? « fragte Jamie ihn. »Vielleicht. Zumindest denke ich nicht, dass sie noch auf Gardeaux' Liste steht.« Er sah sie an. »Aber es könnte sein, dass Maritz dich immer noch auf dem Kicker hat. Normalerweise lässt er nicht eher von seinen Opfern ab, bis er sie erledigt hat.« Der ›Schwarze Mann‹. »Ich weiß.« Sie erschauderte. »Aber das könnte ebenfalls von Vorteil für uns sein.« -382-
»Ich glaube, ich sehe mich schon heute nach einer anderen Bleibe um«, sagte Jamie. »Ich setze euch einfach bei der Wohnung ab, nehme den Wagen und gucke, was sich machen lässt.« Nicholas öffnete die Wohnungstür und ließ Nell an sich vorbei. »Sehr hübsch.« Sie sah sich im Wohnzimmer um. Gemütlich, elegant, geräumig. Letzteres war zu erwarten gewesen, denn Nicholas hatte eine Vorliebe für Platz. »Welches ist mein Zimmer? « Nicholas wies auf eine Tür zu seiner Linken. »Aber pack nur das aus, was du heute abend und morgen brauchst. Ich werde Michaela bitten, dir deine Kleider von der Ranch an die Adresse zu schicken, die Jamie dir besorgt.« »In Ordnung.« Sie ging in Richtung der Tür. »Komm in die Küche, wenn du fertig bist. Normalerweise kauft mein Vermieter immer ein paar Lebensmittel für mich ein. Ich mache ein Omelette. Im Flugzeug hast du so gut wie nichts gegessen.« »Ich habe keinen...« Sie unterbrach sich. Sie hatte Hunger, und es wäre sinnlos zu verhungern, nur um Nicholas aus dem Weg zu gehen. »Danke.« »Du musst zusehen, dass du bei Kräften bleibst«, murmelte Nicholas. »Schließlich kommt das Spiel jetzt erst in Gang.« Sie ignorierte seine Ironie, trug ihre Tasche in ihr Schlafzimmer und stellte sie auf das Bett. Himmel, im Augenblick hatte sie wirklich nicht sonderlich viel Kraft. Die Anstrengung, nicht die Nerven zu verlieren, zehrte an ihr. Sie ging ins Bad und wusch sich das Gesicht. Seltsam, sie sah überhaupt nicht so ausgebrannt aus, wie sie sich empfand. Das Gesicht, das ihr aus dem Spiegel entgegenblickte, war blass und ein bisschen spitz, aber immer noch strahlte es dieselbe Schönheit aus, die ihm von Joel vor so vielen Monaten verliehen -383-
worden war. Joel. Die Erinnerung an die Verbitterung, mit der er ihr im Krankenhaus begegnet war, versetzte ihr einen Stich. Nicht, dass sie ihm sein Verhalten übel nahm. Er war außer sich vor Sorge um Tania, die ihretwegen beinahe gestorben war. Aber falls Nicholas recht hatte und Nell nicht länger auf Gardeaux' Liste stand, dann müsste auch Tania sicher sein. Sie hoffte es. Sie trocknete sich das Gesicht ab und kehrte in die Küche zurück. »Schenk den Kaffee ein, und setz dich.« Nicholas nahm zwei Teller aus dem Schrank. »Das Essen ist gleich soweit.« Sie füllte zwei Kaffeetassen und trug sie zum Tresen in der Mitte des Raums. Nicholas stellte die Omelettes auf die Theke und nahm auf dem Hocker ihr gegenüber Platz. »Bon Appetit.« Sie nahm ihre Gabel und schob sich einen Bissen in den Mund. Das Omelette war mit Pilzen und Käse gefüllt und schmeckte überraschend gut. »Lecker. Hast du während deiner Zeit als Küchenjunge in Hongkong kochen gele rnt? « »So gut es ging. Omelettes sind leicht.« Er fing ebenfalls an zu essen. »Was wirst du jetzt tun? « »Ich knöpfe mir Maritz vor.« »Verdammt, dazu brauchst du ja wohl einen Plan.« »Ich weiß. Aber bisher hatte ich noch keine Zeit, um darüber nachzudenken.« »Wenn ich dir meinen Plan auseinandersetze, hörst du mir dann zu? « »Nicht, wenn ich dann noch länger warten muss.« Sein Griff um die Gabel verstärkte sich. »Es ist nicht viel mehr als ein Monat, verdammt.« Sie schwieg. -384-
»Hör zu, Gardeaux ist ein sehr vorsichtiger Mann, aber er hat eine besondere Leidenschaft für Schwerter. Was meinst du, täte er, damit er das Schwert von Karl dem Großen bekommt? « »Von Karl dem Großen? « Irgendwann einmal hatte sie die Waffe in irgendeinem Museum gesehen. »Willst du es etwa stehlen? « Er schüttelte den Kopf. »Aber ich werde Gardeaux erzählen, ich hätte es geraubt und gegen eine Fälschung ausgetauscht.« »Das glaubt er dir nie.« »Warum nicht? « Er lächelte. »Schließlich weiß er, dass ich so etwas schon einmal gemacht habe.« »Tatsächlich? « Sie starrte ihn an. »Tja, kein Schwert.« Er trank einen Schluck von seinem Kaffee. »Aber das Prinzip ist das gleiche. Ich habe einen Schwertmacher in Toledo mit der Anfertigung eines Duplikats beauftragt, und seit April ist er dabei. Ich werde Gardeaux Photos schicken und ihm anbieten, dass sich einer seiner Experten das Schwert ansehen kann, ehe er es bekommt. Ohne chemische Tests wird kein Unterschied zum Original erkennbar sein. Ich glaube nicht, dass er der Versuchung widerstehen kann, mich allein zu treffen, um das Schwert mit eigenen Augen zu sehen.« »Weiß er denn nicht, dass du ihn umbringen willst? « »Doch.« »Dann wäre er ein Narr, wenn er sich auf ein derartiges Treffen einlassen würde.« »Nicht, solange er mich auf seinem eigenen Grund und Boden trifft, in seiner Burg, auf der es von Gästen und seinen eigenen Leuten nur so wimmelt.« »Und dann bringt er dich um.« »Nicht, wenn es sich vermeiden lässt. Denn dann wären seine Geschäftspartner sehr böse auf ihn.« Er sprach von Sandequez, den er als seine Lebensversicherung -385-
betrachtete. »Trotzdem ist es gefährlich.« »Aber es könnte gehen... wenn du mir nicht dazwischenfunkst.« »Was ist mit Maritz? « Er zögerte. »Ich nehme an, er wurde inzwischen von Bellevigne verbannt. Das Risiko, ihn nach dem fehlgeschlagenen Angriff auf Tania weiter dort herumlaufen zu lassen, geht Gardeaux bestimmt nicht ein.« Sie starrte ihn an. »Und wo ist er dann? « »Ich werde Jamie bitten, sich ein bisschen umzuhören. Vielleicht findet er ja raus, was aus Maritz geworden ist.« »Du wusstest, dass ich dachte, Maritz wäre hier.« »Vielleicht ist er das ja auch. Ich bin nur nicht sicher.« Er leerte seine Tasse. »Und du warst diejenige, die gesagt hat, dass sie nach Paris fliegen will.« »Ohne Maritz habe ich kein Interesse an Gardeaux.« »Dann werden wir versuchen, ihn für dich zu finden.« »Ich lasse mich nicht länger hinhalten, Nicholas. Ich will ihn jetzt.« »Ich hätte gedacht, ein wenig Intelligenz traust du mir zu. Etwas so Geschmackloses, wie dich abermals hinzuhalten, käme mir nie in den Sinn.« Er lehnte sich auf seinem Hocker zurück. »Ich nehme an, du weigerst dich immer noch zu warten? « »Ich habe keinen Grund dazu.« »O doch. Es wäre sicherer für dich.« »Du hast mir erzählt, Gardeaux würde alles tun, damit du nicht getötet wirst.« »Stimmt. Außer, er würde selbst mit dem Tod bedroht. Aber Sandequez' schützende Hand erstreckt sich nicht über dich.« Sie schob ihren Hocker zurück und stand auf. »Ich habe bereits zu lange gewartet. Finde Maritz für mich, sonst gehe ich los und -386-
finde ihn selbst.« Sie verließ die Küche und kehrte geradewegs in ihr Schlafzimmer zurück. Die ständigen Auseinandersetzungen mit ihm waren einfach zuviel für sie. Seine Argumente waren durchdacht, aber es war an der Zeit, dass alles ein Ende fand. Um sie herum war alles in Bewegung geraten, nichts war mehr, wie es einmal gewesen war. Schwarz war weiß. Weiß war schwarz. Alles war anders. Es dauerte bereits viel zu lang. Sie hielt es nicht länger aus. Sie nahm eine heiße Dusche und versuchte, Tania im Krankenhaus zu erreichen, doch dort sagte man ihr, dass Ms. Viados bereits entlassen worden war. Also rief sie bei ihr zu Hause an. »Wie fühlst du dich? « fragte sie, als Tania an den Hörer kam... »Was macht dein Knöchel? « »Er nervt. Ich humpele mit einem Stock herum wie eine alte Frau. Wo bist du? « »In Paris.« Tania schwieg, doch dann fragte sie: »Ist Maritz dort? « »Keine Ahnung. Nicholas sagt, dass er vielleicht nicht auf Bellevigne ist, weil er wegen des verpatzten Anschlags auf dich bei Gardeaux zur persona non grata geworden ist. Vielleicht muss ich ihn einfach dazu bewegen, dass er von selbst zu mir kommt.« Sie verzog das Gesicht. »Was nicht unbedingt leicht werden wird. Nicholas meint, er hätte vielleicht gar kein Interesse mehr an mir, weil meine Bedeutung als Zielperson zurückgegangen ist.« »Gott sei Dank.« Doch nach einer Pause fragte Tania: »Warum? « Bei der Erinnerung an das brennende viktorianische Haus umklammerte Nell den Telefonhörer so stark, dass das Weiß ihrer Knöchel zu sehen war. »Das erzä hle ich dir ein anderes Mal. Wir ziehen morgen um, aber ich rufe dich sobald wie -387-
möglich wieder an.« »Morgen nicht.« Mit einem Mal bekam Tanias Stimme einen heiseren Klang. »Morgen ist Phils Beerdigung. Er wird in der Heimatstadt seiner Eltern in Indiana begraben, und wir kommen erst spät abends zurück.« »Bist du auch fit genug, um an der Beerdigung teilzunehmen? Phil würde es verstehen, wenn du zu Hause bleiben würdest.« »Er hat mich gerettet. Er hat sein Leben für mich gegeben. Natürlich bin ich fit genug.« Es war eine dumme Frage gewesen, dachte Nell. Wenn es anders nicht gegangen wäre, hätte sie sich auf Händen und Knien kriechend hingeschleppt. »Paß auf dich auf. Und grüß Joel von mir.« »Nell«, setzte Tania zögernd an. »Sei bitte nicht böse auf ihn, weil er so wütend auf dich gewesen ist. Er wird darüber hinwegkommen. Im Augenblick schlägt er wie ein Wilder um sich, weil er sich die Schuld an der ganzen Sache gibt.« »Ich bin nicht böse auf ihn. Er hat recht. Ich war diejenige, die es hätte treffen sollen, nicht du.« Und dann fügte sie hinzu: »Wir sind so schnell hierher geflogen, dass ich keine Gelegenheit mehr hatte, Blumen für Phil zu besorgen. Kannst du das bitte für mich tun? « »Sobald unser Gespräch beendet ist.« »Also jetzt. Ich lasse dich lieber noch ein wenig ruhen. Auf Wiedersehen, Tania.« Tania legte den Hörer auf und wandte sich an Joel. »Sie ist in Paris.« » Gut. Soll ich ihr vielleicht noch ein Ticket nach Timbuktu schicken? « »Du bist unfair. Nell konnte nichts dazu.« »Na und? Habe ich gesagt, dass ich fair sein will? Ich bin außer -388-
mir vor Zorn.« »Auf dich selbst, weil du vergessen hast, die Alarmanlage anzustellen. Aber das werfe ich dir nicht vor.« »Das solltest du aber«, stellte er hitzig fest. »Es war eine schändliche Nachlässigkeit von mir.« »Du wusstest nicht, dass mich jemand verfolgt. Ich wusste es selber nicht. Es war schließlich nur ein Gefühl.« »Das du mir verschwiegen hast.« »Du bist ein vielbeschäftigter Mann. Hätte ich etwa deine Zeit mit etwas vergeuden sollen, was vielleicht reine Einbildung war? « »Ja.« Sie schüttelte den Kopf. »Verdammt, um ein Haar wärst du gestorben.« »Und seitdem sorgst du wie eine Glucke für mich. Du sagst sämtliche Termine ab und lässt mich nicht mal alleine ins Badezimmer gehen.« Sie lächelte. »Was mir wirklich peinlich ist.« »Es sollte dir nicht peinlich sein. Schließlich bin ich Arzt.« Er stand auf und durchquerte den Raum. »Und als dein Arzt sage ich dir, dass es Zeit ist, ins Bett zu gehen.« Er nahm sie in die Arme und trug sie zum Fuß der Treppe. »Keine Widerrede.« »Keine Angst. Dazu bin ich viel zu schlapp.« Sie vergrub ihr Gesicht an seiner Schulter, als er die Treppe hinaufzusteigen begann. »Seltsam, dass ein schweres Herz den Körper müde macht. Der arme Junge war...« »Denk nicht darüber nach.« »Ich denke über nichts anderes mehr nach. Etwas so Böses...« Er legte sie auf ihr Bett und zog ihr die Decke bis zum Kinn. »Etwas so Böses wird dir nie wieder begegnen«, versprach er in leidenschaftlichem Ton. -389-
Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Weil du es von mir fernhältst, indem du all deine Termine verpasst und mich ins Badezimmer trägst? « Er setzte sich auf die Bettkante und nahm ihre Hand. »Ich weiß, dass ich nicht Tanek bin«, setzte er zögernd an. »Ich bin Paul Henried, nicht Humphrey Bogart, aber ich verspreche, dass ich nicht zulassen werde, dass dir je wieder ein Leid widerfährt.« »Wovon redest du da? Wer ist Paul Henried? « »Casablanca. Der Film. Egal.« Er strich ihr das Haar aus dem Gesicht. »Aber du sollst wissen, dass ich dafür sorgen werde, dass du für den Rest deines Lebens in Sicherheit bist.« Sie sah ihn reglos an. »Ich glaube, dass du mir da etwas sehr Wichtiges sagen willst. Aber du stellst es ziemlich unbeholfen an. Willst du mir vielleicht sagen, dass du mich nicht länger aus irgendwelc hen edlen Beweggründen heraus aus deinem Leben verbannen willst? « »Allerdings. Wahrscheinlich bin ich ein Schwein, weil ich...« »Pst.« Sie legte ihm die Finger auf die Lippen. »Verdirb es nicht wieder. Sag mir die Worte, die ich hören will.« »Ich liebe dich.« »Oh, das weiß ich. Sag mir auch den Rest.« »Ich will, dass du mit mir lebst. Ich will nicht, dass du mich jemals wieder verlässt.« »Gut. Und? « »Willst du mich heiraten? « Ein glückliches Lächeln erhellte ihr Gesicht. »Es wird mir ein Vergnügen sein.« Sie zog ihn zu sich herab. »Genau wie dir. Das verspreche ich, Joel. Ich werde dafür sorgen, dass du glücklich bist.« »Das tust du bereits.« Er hielt sie dicht an sich gepresst und murmelte: »Ich weiß nicht, warum du mich willst, aber ich stehe dir gern zur Verfügung.« -390-
Sie küsste ihn übermütig auf den Mund. »Deine Bescheidenheit musst du unbedingt beibehalten. Ich finde, dass sie eine sehr gute Sache ist.« Ihr Lächeln schwand. »Aber du hast einen sehr ungünstigen Zeitpunkt für deinen Antrag gewählt. Ich habe so lange versucht, dich dazu zu bewegen, mit mir ins Bett zu gehen, und jetzt...« »Jetzt bist du krank. Ich käme nie...« »Mein Knöchel ist mir egal, aber es wäre nicht passend. Schließlich trauern wir um einen guten Freund.« Er nickte und küsste sie sanft auf die Wange. »Ich werde dich jetzt verlassen und nach dem Abendessen sehen.« Sie schüttelte den Kopf. »Das wirst du nicht tun. Dies ist ein besonderer Augenblick für uns. Du wirst hier bei mir bleiben, und wir werden einander festhalten und einander unsere Gedanken erzählen.« Sie rutschte auf die andere Seite des Bettes, zog ihn neben sich und schmiegte sich an seine Brust. »Siehst du, das ist auch gut, nicht wahr? « Seine Stimme war rauh. »Ja, das ist gut.« »Und wenn uns die Worte ausgehen, stellen wir den Fernseher an.« »Den Fernseher? « wiederholte er überrascht. »Und den Videorecorder.« Sie küsste seinen Hals. »Und du wirst die Casablanca-Kassette holen. Schließlich muss ich sehen, ob mir dieser Paul Henried gefällt.« »Ich will, dass Sie von hier verschwinden, Maritz«, sagte Gardeaux. »Seit Medas haben Sie immer nur kläglich versagt.« Er trat ans Sideboard und schenkte sich Wein in ein Glas. »Und dann machen Sie alles noch schlimmer, indem Sie hierher kommen, obwohl Ihnen Ihr Erscheinen auf Bellevigne ausdrücklich untersagt worden ist.« Maritz errötete. »Ich musste Sie sprechen. Auf meine Anrufe -391-
haben Sie ja nicht reagiert.« »Das hätte Ihnen etwas sagen müssen.« »Ich brauche Ihren Schutz. Die Polizei ist hinter mir her. Tania Viados hat mich gesehen. Sie weiß, wer ich bin.« »Weil Sie versagt haben. Aber Versager brauche ich nicht.« »Ich kann Ihnen immer noch nützlich sein. Hätten Sie mir nicht befohlen, das Land zu verlassen, hätte ich Richard Calder für Sie fertiggemacht. Dafür hätten sie keinen Fremden gebraucht.« »Doch. Ich musste sicher sein. Ihnen kann ich nicht mehr vertrauen, Maritz.« »Ich brauche nur noch mal zurückzufliegen und Tania Viados zu erwischen. Dann gibt es keine Zeugin mehr.« »Sie werden noch nicht mal in ihre Nähe gehen. Das Risiko, dass man Sie erwischt, ist viel zu groß. Und Sie wissen zuviel. Sie werden hier in Frankreich bleiben und sich unsichtbar machen.« »Und Sie sagen mir Bescheid, wenn es wieder sicher für mich ist? « »Vielleicht. Am besten melden Sie sich regelmäßig bei mir.« Er lügt, dachte Maritz. Für wie dumm hielt dieser arrogante Bastard ihn? Er würde sich verstecken, und dann würde eines Tages jemand bei ihm auftauchen und ihn erledigen, so dass Gardeaux weiterhin in Sicherheit war. »Ich brauche Geld.« Gardeaux sah ihn schweigend an. »Das ist keine Bitte. Sie schulden es mir.« »Ich bezahle nur für Erfolge, nicht, wenn eine Sache danebengeht.« »Ich arbeite seit sechs Jahren für sie. Es war einfach Pech, dass dieser Auftrag danebengegangen ist.« »Ich habe keine Arbeit für Sie.« »Die Calder läuft immer noch frei herum.« -392-
»Sie hat keine Bedeutung mehr für mich.« Er suchte verzweifelt nach einer anderen Zielperson. »Dann Tanek. Rivil sagte mir, er wäre gestern in Paris gelandet. Ich werde mir Tanek schnappen.« »Ich sagte Ihne n bereits, niemand krümmt ihm auch nur ein Haar.« »Sie hassen ihn. Es ergibt einfach keinen Sinn. Also lassen Sie mich ihn erledigen.« »Es ergibt einen Sinn... zumindest im Augenblick. Er steht unter besonderem Schutz.« Gardeaux lächelte. »Aber vielleicht wird dieser Schutz, noch während wir miteinander reden, bedeutungslos.« »Ich kann warten. Nur geben Sie mir diesen Job.« »Ich werde darüber nachdenken.« Gardeaux schlenderte zur Tür und öffnete sie. »Geben Sie Braceau Ihre Adresse, und warten Sie auf meinen Anruf.« Oder auf einen Besucher mit einer Schlinge für meinen Hals, dachte Maritz säuerlich. Er ging zur Tür. »Mache ich.« Hinter ihm fiel die Tür mit einem Knall ins Schloss. Gardeaux war mit ihm fertig, und er war ein toter Mann. Nichts war klarer als das. Aber er würde sich nicht einfach hinsetzen und darauf warten, bis man ihn ermordete. Er brauchte nur irgendetwas zu tun, wodurch er vor Gardeaux' Augen wieder Gnade fand, dann käme er noch einmal mit heiler Haut davon. Er würde sich verstecken, aber Braceau riefe er bestimmt nicht an. Stattdessen dächte er lieber darüber nach, wie er noch zu retten war. »Ein Anruf auf der Privatleitung, Monsieur Gardeaux.« Henri Braceau lächelte. »Medellin.« Gardeaux nahm ihm den Hörer ab. »Alles klar? « »Alles klar.« -393-
»Irgendwelche Probleme? « »Es hat wie am Schnürchen geklappt.« Gardeaux legte den Hörer auf, und Braceau sah ihn fragend an. »Rufen Sie Rivil an. Sagen Sie ihm, dass er die Sache, die ich mit ihm besprochen habe, in Angriff nehmen soll. Sofort.« »Es war eine nette Beerdigung.« Joel öffnete die Tür und machte Licht im Flur. »Phils Eltern scheinen sehr angenehme Leute zu sein.« »Es gibt keine netten Beerdigungen.« Tania humpelte so schnell wie möglich ins Haus, wobei sie es vermied, in Richtung der schneebedeckten Rasenfläche zu sehen. Die gelbe Absperrung war verschwunden, nicht aber die Erinnerung an den leuchtend roten Fleck. »Eine Beerdigung ist so grässlich wie die andere.« »Du weißt, was ich gemeint habe«, sagte Joel. »Tut mir leid. Ich wollte nicht so heftig sein.« Sie hinkte zum Fenster und sah hinaus. »Es war ein schwerer Tag.« »Für mich auch. Setz dich hin, und ruh dich ein wenig aus. Ich mache uns einen Kaffee, der tut uns sicher gut.« Statt sich zu setzen, starrte sie weiter auf den Schnee hinaus, wo sie aus Furcht vor Maritz' Messer wie gelähmt gekauert hatte, während Phil gestorben war... »Hier.« Joel kam ins Wohnzimmer zurück und hielt ihr eine Tasse hin. Offenbar hatte sie länger aus dem Fenster gestarrt, als ihr bewusst gewesen war. Sie nahm ihm die Tasse ab. »Du bist weiß wie die Wand«, stellte Joel fest. »Du hättest nicht mitkommen sollen. Es war zuviel für dich.« »Der Kerl läuft immer noch frei herum«, flüsterte sie. »Er kann dir nichts mehr tun. Sie denken, dass er längst außer Landes ist.« »Nell ist sich nicht sicher, wo er ist. Sie sagt, dass sie sich, damit man ihn erwischt, vielleicht als Lockvogel zur Verfügung stellen -394-
muss.« »Diese Dinge überlässt sie wohl besser der Polizei.« »Gegen Monster wie ihn kann die Polizei nichts tun. Er wird immer weiter morden, bis...« »Er ist kein übernatürlicher Dämon, Tania. Er ist ein Mensch.« Er war ein Dämon. Joel verstand sie nicht. Aber Nell. Nell hatte ihm ebenfalls gegenübergestanden und seine Kraft gespürt. Sie wandte sich erneut dem Fenster zu. »Ich hasse ihn.« Er trat hinter sie. »Phil war ein feiner Kerl.« »Nicht nur, weil er Phil ermordet hat. Er hat mir angst gemacht Ich dache, ich hätte schon vorher in meinem Leben Angst gehabt, aber so war es noch nie.« Sie erschauderte. »Ich habe immer noch Angst.« »Willst du fort von hier? Wir könnten das Haus verkaufen und woanders hingehen.« »Ich soll mich für den Rest meines Lebens verstecken? Das würde ihm gefallen. Das wäre wie ein Sieg für ihn.« »Was willst du dann tun? « Tania hatte das Gefühl, als hätte die winterliche Kälte von draußen mit einem Mal auch das Wohnzimmer erfasst. Um nicht zu zittern, kreuzte sie die Arme vor der Brust. »Ich weiß es nicht.« Nach einer Pause fügte sie hinzu: »Nell ist sich nicht sicher, dass Maritz auf sie als Lockvogel reagieren wird.« Er sah sie reglos an. »Der Verlauf dieses Gesprächs gefällt mir nicht.« »Auf mich reagiert er auf jeden Fall.« »Nein.« »Nell war nichts weiter als ein Job für ihn, aber die Jagd auf mich hat etwas Persönliches für ihn gehabt. Du hättest sein Gesicht sehen sollen, als ihm klar wurde, dass er keine Zeit mehr hatte, um mich zu töten, als der Sicherheitsdienst endlich -395-
kam. Eine frustriertere Miene habe ich noch nie gesehen.« Sie setzte ein verbittertes Lächeln auf. »Oh, ja, auf mich würde er reagieren, das ist klar.« Joel drehte sie gewaltsam zu sich um. »Nein.« »Es gefällt mir nicht, Angst zu haben. Solange ich ihn fürchte, hat er mich in seiner Gewalt.« »O nein. Du bietest dich nicht als Lockvogel an. Ich werde dich nicht aus den Augen lassen, bis die Sache ausgestanden ist.« »Und was ist, wenn er untertaucht? Dann kann ich für den Rest meines Lebens keinen Schritt mehr machen, ohne ständig das Gefühl zu haben, dass er mich erneut verfolgt.« Ihre Miene wurde hart. »Er wird nicht gewinnen, Joel. Das lasse ich einfach nicht zu.« »Um Gottes willen, das ist doch kein Spiel.« »Für ihn war es das.« Er zog sie eng an seine Brust »Sei still. Ich will dich nicht verlieren. Hast du mich gehört? Du gehst nirgendwo hin.« Sie entspannte sich. Ja, Joel, behalt mich hier. Sorge dafür, dass die Kälte geht, und gib mir Sicherheit. Lass mich nicht fort von hier. Der Unterschlupf, den Jamie für sie fand, war ein kleines Häuschen direkt am Meer. Es stand auf einer hohen Klippe, von der aus das Wasser und die mit Findlingen übersäte Küste zu überblicken war. »Macht es dir etwas aus? « fragte Nicholas. »Wahrscheinlich hat Jamie einfach nicht darüber nachgedacht.« Jamie brach in überraschtes und zugleich verlegenes Murmeln aus. »Nein.« Und tatsächlich, hier auf dieser windgepeitschten Klippe zu stehen, machte ihr nichts aus. Es war etwas -396-
vollkommen anderes als der geschützte Balkon auf Medas, mit dem sich für sie eine solch grausige Erinnerung verband. Vielleicht war aber auch einfach genug Zeit vergangen, so dass sie den alten Schmerz weniger deutlich empfand. Sie drehte sich um und betrat das bescheidene Haus. Es war sauber und in gemütlichem, wenn auch bescheidenem Stil möbliert. Jamie folgte ihr. »Ich bin ein Idiot. Können Sie mir noch einmal verzeihen? « »Da gibt es nichts zu verzeihen. Das Häuschen ist sehr hübsch.« »Nun, ich hoffe, dass es Ihnen gefällt, denn Sie müssen die frische Seeluft ein paar Tage alleine genießen. Nick und ich müssen noch einmal nach Paris.« Sie fuhr zu ihm herum. »Warum? « »Wegen Gardeaux' Buchhalter Pardeau. Nick will sehen, was sich in Bezug auf ihn unternehmen lässt.« Man kann nicht hoch genug versichert sein, hatte Nicholas gesagt. »Und was ist mit Maritz? « »Wenn wir dort sind, zapfen wir gleich mal ein paar Quellen an«, sagte Nicholas, der im Türrahmen stand. »Hier bist du in Sicherheit. Es gibt niemanden, der dich erkennen könnte, und Jamie hat dafür gesorgt, dass niemand erfährt, wo du bist. Für den Notfall liegt auf dem Tisch ein Zettel mit der Nummer des Autotelefons.« »Warum kann ich nicht mitkommen? « »Aus demselben Grund, aus dem du hierher umgezogen bist. Ich will nicht, dass dich irgendjemand erkennt. Sobald wir mit unseren Nachforschungen anfangen, wird Gardeaux erfahren, dass wir in Paris sind. Wenn man dich mit mir zusammen sieht, wird er zu dem Schluss kommen, dass du Nell Calder bist, und unser Trumpf wäre verspielt. Kapiert? « »Ja«, sagte sie »Und wann kommt ihr zurück? « »In ein, zwei Tagen. Kann ich mich darauf verlassen, dass du -397-
das Haus nicht verlässt? « »Was hätte ich denn davon, zu gehen, solange ich nicht weiß, wo Maritz ist? « »Versprich es mir.« »Ich werde hier bleiben. Zufrieden? « Sein Mund wurde von einem verzerrten Lächeln umspielt, »Nein. Ich habe vergessen, wie es ist, zufrieden zu sein.« Dann wandte er sich ab. »Los, Jamie, lass uns gehen.« »Passt auf euch auf«, entfuhr es ihr, und Nicholas sah sie mit hochgezogenen Brauen an. »Ist deine Besorgnis etwa ein Zeichen dafür, dass du mir verziehen hast? « »Nein, aber ich habe noch nie behauptet, dass ich will, dass dir etwas passiert.« »Tja, dafür sollte ich wahrscheinlich schon mal dankbar sein.« Sie ging zur Tür und sah ihnen nach. Der Volkswagen ratterte die gewundene Straße hinab, und nach wenigen Minuten war er fort. Sie war allein. Die Einsamkeit wäre bestimmt gut für sie, sagte sie sich. Sie gäbe ihr Gelegenheit, darüber nachzudenken, was zu unternehmen sei. Es war Monate her, dass sie zum letzten Mal wirklich allein gewesen war. Die ganze Zeit über war Nicholas in ihrer Nähe gewesen, hatte mit ihr gesprochen, sie unterrichtet, sie geliebt... Nein, er hatte sie nicht geliebt, er hatte das Bett mit ihr geteilt. Keiner von ihnen beiden hatte jemals das Wort Liebe erwähnt. Auch wenn ihr ihrer beider Zusammensein manchmal wie Liebe erschienen war. Weshalb sie dankbar sein musste, dass diese Beziehung beendet war. Sie und Nicholas waren so verschieden wie Tag und Nacht. Er hatte ihr eindeutig zu verstehen gegeben, dass er ihr Miteinander als unverbindliches Vergnügen betrachtete, dass an -398-
eine Zukunft mit einem Mann wie ihm nicht zu denken war. Hatte sie gerade das Wort Zukunft gedacht? Zum ersten Mal wurde ihr klar, dass es für sie auch noch andere Dinge als Maritz gab. War dies ein Anzeichen dafür, dass sie am Genesen war? Vielleicht. Es war noch zu früh, um es genau zu sagen, aber falls sie tatsächlich auf dem Weg der Besserung war, so verdankte sie dies nicht nur der Zeit, sondern ebenso Nicholas. Er hatte sie belogen, hatte ihr wehgetan, hatte sie geheilt. Infolge all dieser Dinge dachte sie sehr häufig über ihn nach. Dabei wäre es wesentlich sicherer, sähe sie ihn nur als das Mittel zum Zweck, das er zu Beginn für sie war.
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16. Kapitel »Pardeau hat Todesangst«, sagte Jamie, als er vor der Rue de Germaine 412 wieder in den Wagen stieg. »Also wird es bestimmt nicht leicht mit ihm.« »Geld? « fragte Nicholas. Er ließ den Wagen an und fuhr die Straße in Richtung Seine hinab. »Er ist versucht, aber er hat gehört, was aus Simpson geworden ist. Er sagt, Gardeaux weiß, dass ich Kontakt zu ihm aufgenommen habe, und er will nicht, dass ich noch mal in seine Wohnung komme.« Er schüttelte den Kopf. »Als ich das letzte Mal mit ihm sprach, dachte ich, ich hätte ihn in der Tasche, aber irgendetwas ist passiert. Er ist total nervös.« »Und das heißt? « Jamie zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht genau. Er hat nur gesagt, dass er die Bücher im Augenblick auf keinen Fall rausgeben kann. Egal, wo er sich verstecken würde, gäbe Gardeaux die Suche nach ihm niemals auf.« »Was ist denn daran neu? « Doch dann beantwortete Nicholas sich die Frage selbst. »Er hat irgendwelche Informationen erhalten, mit denen er Gardeaux noch mehr schaden kann als durch die bloße Enthüllung seiner geschäftlichen Transaktionen.« »Das denke ich auch.« Jamie lächelte. »Aber eine Information habe ich ihm abkaufen können, die vielleicht von Interesse für dich ist. Vor zwei Tagen erhielt Pardeau Anweisung, das Maritz-Konto zu löschen. Gardeaux sagte, dass er nicht länger auf der Gehaltsliste steht.« Gardeaux hatte also seinen schlimmsten Dämonen in die Finsternis zurückgeschickt. Oder vielleicht hatte er das Maritzsche Konto nicht nur zahlenmäßig gelöscht. Nein, Maritz -400-
war kein Intellektueller, aber er verfügte über Schläue und Instinkt. Bestimmt war er untergetaucht, da ginge Nicholas jede Wette ein. »Ich will wissen, wo...« »Wir werden verfolgt«, unterbrach Jamie ihn. »Zwei Wagen hinter uns.« Nicholas erstarrte, als er in den Rückspiegel sah. Er sah die beiden Scheinwerfer, aber in der Dunkelheit erkannte er weder das Fabrikat noch die Farbe des Wagens. »Seit wann? « »Seit wir Pardeaus Wohnung verlassen haben. Ein dunkelgrüner Mercedes. Er kam aus einer Parkbucht einen halben Häuserblock hinter uns.« »Einer von Pardeaus Beschattern? « »Vielleicht. Aber warum sollte er dann seinen Posten aufgeben, nur um uns hinterherzufahren? « Dafür gab es keinen Grund. Es sei denn, Pardeau hätte recht gehabt und Gardeaux hätte darauf gewartet, dass Jamie erneut zu ihm kam. Gardeaux wusste immer gern über ihn Bescheid und hatte ihm bereits des öfteren Verfolger auf den Hals geschickt. Normalerweise war es ihm egal, aber nun, da er hatte, weshalb er gekommen war, wollte er zu Nell zurück. »Versuchen wir, sie abzuhängen? « fragte Jamie ihn. Nicholas nickte. »Hier kennen sie sich besser aus als wir, aber in den Hügeln außerhalb der Stadt gibt es jede Menge Seitenstraßen, in denen man untertauchen kann.« Er trat aufs Gaspedal. »Mal sehen, ob sich nicht eine solche Straße finden lässt.« Ungefähr fünf Meilen außerhalb der Stadt wurde ihm klar, dass ihn der Mercedes nicht beschattete. Er verfolgte ihn. Der Mercedes war praktisch hinter ihnen und näherte sich ihnen mit Höchstgeschwindigkeit. Mit einem Mal krachte er in ihre hintere Stoßstange hinein. -401-
»Himmel.« »Keine besonders günstige Stelle«, stellte Jamie grimmig fest, während er die Umgebung musterte. »Wenn wir hier irgendwo von der Straße gedrängt werden, gibt es nichts außer einem mindestens siebzig Meter langen Abhang unter uns. Wo in aller Welt sind diese verdammten Seitenstraßen? « Wieder krachte der Mercedes von hinten in sie hinein. Nicholas trat das Gaspedal noch tiefer durch, und der Volkswagen machte einen Satz. »Das schaffst du nie«, war Jamies Kommentar. »Der Mercedes hat viel mehr PS. Ganz zu schweigen davon, dass er eine Karosserie wie ein Panzer hat.« »Ich weiß.« Ihre Angreifer gingen gezielt und mit tödlicher Absicht vor. Verdammt, so etwas hatte er nicht eingeplant. Der Mercedes überholte sie, wodurch ihnen auch die letzte Fluchtmöglichkeit genommen war. Nicholas könnte ihn noch ein paar Mal abwehren, aber am Ende ginge es unvermeidbar den Abhang hinab. Also gut. Wenn sie schon von der Straße abkämen, dann besser an einem Ort, für den er sich selbst entschied. »Mach deinen Sicherheitsgurt ab.« Jamie öffnete den Verschluss. Die vordere Stoßstange des Mercedes rammte die Seite des VW. Der Volkswagen kam ins Schleudern, und nur mit Mühe wich Nicholas noch einmal dem Abgrund aus. Jamie fluchte und rieb sich die Schläfe, als sein Kopf das Seitenfenster traf. »Wenn du das noch öfter machst, lege ich den Gurt lieber wieder an.« »Nicht, wenn du lebend hier rauskommen willst. Wir werden den Abhang runterstürzen.« »Das hatte ich mir fast gedacht. Wo? « »In der nächsten Kurve. Dort ist es nicht ganz so steil. Ich lenke -402-
den Wagen an den Straßenrand, und dann springen wir raus. Leg deine Hand schon mal auf den Türgriff. Ich werde versuchen, das Tempo so weit wie möglich zu verlangsamen, aber sie werden direkt hinter uns sein, und ich will nicht, dass sie merken, dass wir nicht mehr im Wagen sind.« Die Kurve kam in Sicht. Nicholas trat das Gaspedal bis zum Boden durch, der Wagen machte einen Satz, und der Mercedes fiel ein paar Meter zurück. »Ich weiß nicht, ob das eine so gute Idee ist«, murmelte Jamie, während er beobachtete, wie Nicholas seinen Sicherheitsgurt öffnete. »Ich auch nicht.« Sie fuhren um die Kurve herum, er trat krachend auf die Bremse, und der Wagen schleuderte herum. »Jetzt weiß ich, dass es keine gute Idee war«, stieß Jamie aus. Nicholas riss das Lenkrad herum und riss am Griff der Fahrertür. »Spring! « Der Volkswagen rutschte von der Straße, polterte den Abhang hinab, und der erste Aufprall schleuderte Nicholas aus der offenen Tür heraus. Soviel zum Springen... Er rang nach Luft, denn der Sturz hatte ihm den Atem geraubt. Gleichzeitig kullerte er die Böschung hinab. Wo bloß Jamie war? Er sah die Scheinwerfer des Volkswagens, der immer noch Richtung Abgrund rumpelte, streckte die Hand aus und umklammerte verzweifelt einen Busch. Sein Blick wanderte zur Straße hinauf. Er sah die Lichter des Mercedes, der am Rand des Abgrundes stand. Drei Männer blickten in die Tiefe herab. -403-
Auf den Wagen oder auf ihn? In der Dunkelheit war er bestimmt nicht zu sehen, also blickten sie offenbar dem Volkswagen hinterher, der unten ihm Tal zum Stehen kam. Würden sie hinunterklettern und nachsehen, ob ihr Anschlag gelungen war? Aus der Mündung einer automatischen Waffe drangen unübersehbare Funken heraus. Das Geräusch der Kugeln allerdings ging unter in der Explosion des Wagens unter ihm, der sofort in Flammen stand. Sehr sauber. Mission erfüllt. Würden sie trotzdem nachsehen gehen? Nein, sie kehrten zum Mercedes zurück. Doch nicht sauber. Faul. Gott sei Dank. Ein paar Minuten später waren die Scheinwerfer des gegnerischen Wagens nicht mehr zu sehen. Was in aller Welt war mit Jamie passiert? »Nick? « Erleichterung überflutete ihn. Jamie hing irgendwo über ihm. »Hier.« Nicholas ließ den Busch los und machte sich auf den Weg den Abhang hinauf. »Ist alles in Ordnung mit dir? « »Meine rechte Seite tut höllisch weh. Und mit dir? « »Ich lebe noch. Das hätte ich vor zehn Minuten nicht gedacht.« »Hättest du das mal eher gesagt.« Jamie lag unter einer überhängenden Gesteinsformation kaum vier Meter unterhalb des Straßenrands. Nicholas schob sich neben ihn. »Ich wollte dich nicht entmutigen. Warst du nah genug, um zu sehen, wer die Kerle waren? « »Den mit dem Gewehr habe ich erkannt. Rivil.« Einer von Gardeaux' Killern, einer der besten, dem man niemals -404-
eine so banale Aufgabe wie die Überwachung eines rangniedrigen Buchhalters übertrug. Er hatte nur einen einzigen Aufgabenbereich. »Ich glaube, du steckst in Schwierigkeiten, Nicholas«, stellte Jamie trocken fest. Mit einem Mal war Nell hellwach und von Panik erfüllt. Irgendjemand war im Haus. Die Geräusche in der Küche waren leise und verstohlen, doch ihr war klar, dass jemand durch das Zimmer schlich. Maritz? Wie sollte er wissen, wo sie zu finden war? Tania hätte es nicht überrascht, dass er sie fand. »Der Schwarze Mann‹. Nell griff nach dem Damencolt, der auf dem Nachttisch lag. Sie stand auf und glitt zur Tür. Er bewegte sich immer noch. Kam er etwa zur Schlafzimmertür? Das Abwarten ertrug sie nicht. Sie legte die Finger fester um den Colt, riss die Tür auf und knipste die Deckenlampe an. Nicholas. Er stand am Waschbecken, und sein Gesicht war über und über mit Blut bedeckt. »Würde es dir etwas ausmachen, die Waffe woandershin zu richten? Ich habe immer noch kein allzu großes Vertrauen in deine Zielsicherheit.« Er öffnete den Wasserhahn. »Ich wollte dich nicht wecken, aber ich nehme an...« »Was ist passiert? « »Wir wurden von der Straße gedrängt.« Er spritzte sich Wasser -405-
ins Gesicht. »Ich fürchte, dass die Mietwagenfirma einen neuen Volkswagen kaufen muss.« »Jamie? « »Ich glaube, er ist o.k., Er hat sich die Rippen geprellt. Ich habe einen Wagen angehalten und ihn zum Röntgen ins nächste Krankenhaus geschafft.« »Warum, zum Teufel, haben sie dich nicht auch dabehalten? Du siehst aus, als brauchtest du einen neuen Kopf.« »Ich wollte hierher zurück. Es war eine total verrückte Nacht. Es hätte nicht passieren dürfen. Ich wo llte sichergehen, dass sie nicht wissen, wo du bist.« »Sie? « flüsterte Nell. »Gardeaux? « »Jamie hat einen seiner Männer, Rivil, erkannt. Ich weiß nicht, wer sonst noch in dem Wagen saß.« »Setz dich, und lass mich deinen Kopf ansehen.« »Mach dir keine Mühe. Ich bin es gewohnt, mich selbst zusammenzuflicken, wenn so etwas passiert.« »Oh. Falls etwas genäht werden muss, gebe ich dir also einfach mein Nähetui.« »Es ist nett von dir, sarkastisch zu sein, nachdem ich extra hierher geeilt bin, um...« »Setz dich.« Sie durchquerte den Raum und schob ihn auf einen Stuhl am Tisch. »Lass mich die Wunden wenigstens ordentlich reinigen.« Sie füllte eine Schüssel mit Wasser und kam mit einem Geschirrtuch zu ihm zurück. »Wenn der Wagen zerstört ist, wie hast du es dann bis hierher geschafft? « »Ich habe einen Bauern gebeten, mich mitzunehmen.« Als sie anfing, das Blut von seinem Gesicht zu waschen, fügte er hinzu: »Das ist nicht nötig. Ich bin nicht sonderlich schwer verletzt.« »Du hast recht. Es ist nichts weiter«, sagte sie und betupfte die Schnittwunde an seinem Haaransatz. Himmel, ihre Hände zitterten. »Wahrscheinlich blutest du einfach ziemlich schnell.« -406-
»Es ist überhaupt kein Blut. Auf dem Weg hierher habe ich eine Flasche Ketchup gekauft. Terence hat immer gesagt, dass man sich das Mitgefühl einer Frau am besten mit ein bisschen Blut erkauft.« »Da hat er sich geirrt. Du tust mir kein bisschen leid.« »Und ob. Du bist bleicher als ich.« Er lächelte. »Es funktioniert einfach jedes Mal.« Übelkeit wallte in ihr auf, und sie hatte das Gefühl, als bekäme sie kaum noch Luft. »Offensichtlich brauchst du meine Hilfe tatsächlich nicht.« Sie warf das Geschirrtuch auf den Tisch. »Und ich brauche ein bisschen frische Luft.« Sie knallte die Tür hinter sich ins Schloss, blieb stehen und atmete tief ein. Die schneidend kalte Luft tat wirklich gut. »Wenn du kein Blut sehen kannst, hast du dir den falschen Ort ausgesucht.« Nicholas trat hinter sie, und sie wich einen Schritt zurück. »Ich brauchte nur ein bisschen Luft. Es macht mir nichts aus, Blut zu sehen.« »Na, dann hast du mich eben aber ganz schön hinters Licht geführt.« »Ich dachte, du wärst vor Gardeaux in Sicherheit.« »Anscheinend habe ich mich geirrt.« »Warum haben sie dich angegriffen. Was ist mit deiner wunderbaren Lebensversicherung passiert? « »Vielleicht wurde sie von jemandem gekündigt.« »Du meinst, Sandequez ist tot.« »Das wäre zumindest eine logische Schlussfolgerung.« »Warum lässt dich das so kalt? Gardeaux hat heute nacht versucht, dich umzubringen.« Sie ging ein paar Schritte. »Und er wird es wieder versuchen, nicht wahr? « »So oft er die Gelegenheit dazu bekommt.« -407-
»Du wirst nie wieder sicher sein.« »Das heißt es nicht unbedingt. Es heißt lediglich, dass ich vorsichtig sein muss, bis es mir gelingt, meine Position wieder zu festigen.« »Wenn du lange genug lebst, um das zu tun.« »Stimmt. Diese Voraussetzung muss natürlich erfüllt sein, damit mir das gelingt.« »Hör auf zu grinsen«, fuhr sie ihn an. »Ich sehe nicht, was an dieser Sache lustig ist.« »Ich auch nicht. Aber du bist so ernst, dass es für uns beide reicht.« Am liebsten hätte sie ihm einen Schlag versetzt. »Stimmt. Du denkst, dass man jede Minute seines Lebens soweit wie möglich genießen sollte. Verdammt, ist dir nicht klar, dass soeben all deine verdammten Schutzwälle eingerissen worden sind und dass sie jetzt einfach über dich hinwegrollen werden? « Er sah sie nachdenklich an. »Mir ist klar, dass dich der Gedanke an mein Ableben aus der Fassung bringt. Das gefällt mir.« Ihr gefiel es nicht. Sie wollte nicht die Panik empfinden, die beim Anblick von Nicholas' blutverschmiertem Gesicht über sie hereingebrochen war. »Was wirst du jetzt tun? « »Dasselbe wie zuvor. Aber ich werde vorsichtiger sein.« »Du solltest noch nicht einmal im selben Land sein wie er.« Sie wandte den Blick von ihm ab. »Es ist nicht - ich bin dir nicht böse - wenn du die Sache nicht mehr durchziehen willst.« Sein Lächeln schwand. »Hast du vergessen, dass ich die Sache nicht angefangen habe, um dir behilflich zu sein? Und ich habe bestimmt nicht die Absicht, mich jetzt kampflos zurückzuziehen.« Sie wusste nicht, ob sie angesichts dieser Erwiderung mehr Angst oder mehr Erleichterung empfand. »Ich wollte nur, dass du es weißt.« Und nach einer Pause fügte sie hinzu: »Natürlich -408-
würdest du nicht...« »Nell«, unterbrach er sie ruhig. »Es wird alles gut werden. Allerdings ist im Augenblick eine gewisse Schadensbegrenzung erforderlich.« Schadensbegrenzung. Das hatte auch Kabler beim Anblick des brennenden Hauses gesagt. Tod und Zerstörung und die allseits beliebte Schadensbegrenzung - um etwas anderes ging es nicht. »Wie du meinst. « Sie befeuchtete ihre trockenen Lippen. »Aber unter den gegebenen Umständen sollten wir wohl nicht so schnell vorgehen, wie ich es wollte. Am besten warten wir wahrscheinlich Silvester ab.« Sein Gesicht wurde von einem Lächeln erhellt. »Wenn es das ist, was du willst.« »Nein.« Sie wandte ihm den Rücken zu und kehrte zum Haus zurück. »Es ist das, was wir tun müssen, damit du nicht von ihm ermordet wirst.« Am nächsten Morgen tauchte Jamie bei ihnen auf. Die frischen Croissants gab er Nell und die ebenfalls mitgebrachte Zeitung warf er vor Nicholas auf den Tisch. »Ich sagte ja bereits, dass du in Schwierigkeiten bist.« »Sandequez? « »Tod wie ein Sargnagel. Er wurde von der kolumbianischen Antidrogenbrigade auf seiner Hazienda in den Bergen erwischt. Sie haben das gesamte Terrain dem Erdboden gleichgemacht.« »Wann? « »Ungefähr drei Stunden, bevor ich aus Pardeaus Wohnung gekommen bin. Da es erst nach acht Stunden die erste öffentliche Meldung gab, würde ich sagen, dass Gardeaux Vorabinformationen gehabt haben muss.« »Oder vielleicht stammen die Informationen sogar von ihm. Sandequez war gut bewacht. Die Polizei hat seit Jahren -409-
versucht, ihn zu erwischen.« Jamie pfiff durch die Zähne. »Du meinst, Gardeaux hat Sandequez den Behörden ans Messer geliefert. Himmel, was für ein widerlicher Kerl.« »Warum sollte er das tun? « mischte Nell sich ein. »Hast du nicht gesagt, Sandequez wäre einer der Männer, für die Gardeaux tätig ist? « »Ja, aber ich bin Gardeaux bereits seit langer Zeit ein Dorn im Auge, und es könnte sein, dass ihm Sandequez Abgang in mehr als einer Beziehung nützlich ist.« Jamie nickte. »Vielleicht klettert er auf diese Weise die Karriereleiter noch ein bisschen weiter rauf. Außerdem hatte die kolumbianische Regierung eine Belohnung in Höhe von fünf Millionen Dollar auf Sandequez' Ergreifung ausgesetzt. Dieses Sümmchen macht sich auf einem von Gardeaux' Schweizer Konten bestimmt nicht schlecht.« Und an Nicholas gewandt, fragte er: »Du denkst also, dass er den kolumbianischen Behörden einen Tipp gegeben hat? « »Vielleicht.« Nicholas zuckte mit den Schultern. »Aber das ist eine rein akademische Frage. Sandequez ist tot, und das bedeutet, dass ich mich, bis wir bereit sind, mit Nell versteckt halten muss.« Nell versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie erleichtert sie war. »Eine solch vernünftige Entscheidung hätte ich dir gar nicht zugetraut.« Sie trug die Croissants zum Mikrowellenherd und schob sie hinein. »Aber ich habe nicht die Absicht, mich versteckt zu halten. Wie du bereits selbst gesagt hast, gibt es hier niemanden, der mich erkennen kann.« Sie spürte Nicholas' Blick. »Dürfte ich vielleicht fragen, was du zu tun gedenkst? « »Ich will zurück nach Paris.« »Und was willst du dort tun? « -410-
»Arbeiten.« »Wo? « »Ich weiß noch nicht genau. Das musst du mir schon sagen.« Sie drehte sich zu ihm um. »Für welche Modelagentur arbeitet die Geliebte von Gardeaux? « »Chez Molambre.« Nicholas sah sie an. »Was hast du vor? « »Ich muss unbedingt auf das Renaissancefest. Ich bezweifle, dass Gardeaux mir eine Einladung schicken wird, und eine zu stehlen oder zu fälschen wäre zu riskant. In dem NewsweekArtikel stand, dass auf dem Fest alljährlich eine Modenschau geboten wird. Jacques Demoit entwirft eine spezielle Kollektion, und es ist so gut wie sicher, dass Gardeaux ihn bitten wird, die Models aus der Agentur seiner Geliebten zu nehmen.« » Stimmt.« »Und du hast die Absicht, dich bei dieser Agentur zu bewerben.« Jamie lächelte. »Sie sind wirklich ein cleveres Mädchen. Wir hätten sie schon früher brauchen können, Nick.« »Du hast keine Erfahrung«, sagte dieser an Nell gewandt. »Ich habe schon ein Dutzend Modenschauen besucht. Ich werde einfach so tun, als wäre ich vom Fach.« Sie drehte sich zu Jamie um. »Falls Sie mir die Empfehlungsschreiben fälschen und Photos für meine Mappe machen können.« »Ich kenne einen vertrauenswürdigen Photographen in Nizza. Aber ich brauche drei Tage Zeit.« »Die Sache gefällt mir nicht«, warf Nicholas ein. »Das habe ich auch nicht erwartet.« Sie sah ihn an. »Aber werden die mich überhaupt nehmen? Was meinst du? « »Du weißt ganz genau, dass sie dich nehmen werden.« Er setzte ein grimmiges Lächeln auf. »Wer nähme Helena von Troja wohl nicht? « »Gut. Ich denke auch, dass es funktionieren wird. Und außerdem gefällt mir die Idee. Irgendwie erscheint sie mir... -411-
gerecht.« »Gerecht? « Jamie sah sie fragend an. »Sie meint, dass sie ihr außergewöhnliches Gesicht Maritz und Gardeaux verdankt und dass es nur fair ist, wenn sie es sich für ihre Rachepläne zunutze macht.« Sie hätte wissen sollen, dass Nicholas sie genau verstand. Nicholas kannte sie so gut. Zu gut. Sie nahm die Croissants aus dem Ofen und legte sie auf den Tisch. »Ich bin nicht so groß und so dünn wie die meisten Models. Sie müssen dafür sorgen, dass die Empfehlungsschreiben hervorragend sind, Jamie.« »Vertrauen Sie mir. Außerdem werden sie sich derart in Ihr Gesicht verlieben, dass der Rest bestimmt niemandem auffallen wird.« »Wir werden sehen.« Sie wünschte sich, sie hätte Jamies Zuversicht. »Offenbar denkst du schon eine ganze Weile darüber nach«, sagte Nicholas in ruhigem Ton. »Du hast mich zwei Tage lang allein gelassen. Was hätte ich denn deiner Meinung nach tun sollen? Däumchen drehen? « »Gott bewahre.« Er stand auf und ging zur Tür. »Aber erinnere mich daran, dafür zu sorgen, dass du nie wieder alleine bist.« Das Schwert Karls des Großen wurde am nächsten Morgen von einem dunkelhaarigen jungen Mann gebracht. Er schien kaum älter als Peter zu sein, aber er trug eine schwarze Lederjacke, kam auf einem Motorrad angebraust, und sein Lächeln verriet, dass er größtes Selbstvertrauen besaß. Mit einer Verbeugung hielt er Nicholas das lederne Päckchen hin. »Hier, Señor. Die schönste Arbeit, die von meinem Vater jemals angefertigt worden ist.« »Danke, Tomas.« Als Nicholas bemerkte, dass Tomas statt zu gehen wie gebannt in Nells Richtung sah, stellte er die beiden -412-
einander zähneknirschend vor: »Tomas Armandariz, Eve Billings.« Tomas' Lächeln wurde noch strahlender als zuvor. »Ich bin auch ein großer Künstler. Eines Tages werde ich sehr berühmt.« »Das ist schön«, sagte sie geistesabwesend, während sie hinter Nicholas das Haus betrat. Der Junge folgte ihr. »Ich habe selbst viel an dem Schwert gemacht.« Nicholas zog das Schwert aus der Lederscheide heraus. »Mein Vater hat gesagt, als Lohn für meine Arbeit darf ich für ein paar Tage nach Paris.« Tomas sah Nell mit einem betörenden Lächeln an. »Ich nehme an, Sie haben keine Lust, mit mir...« »Auf Wiedersehen, Tomas«, sagte Nicholas, ohne von dem Schwert aufzusehen. Tomas schien ihn nicht zu hören. »Ich war eine Weile an der Sorbonne, und ich kenne viele Cafes, in denen...« Nicholas wies mit der Spitze des Schwerts auf den Jungen. »Auf Wiedersehen.« Tomas blinzelte und schob sich rückwärts in Richtung der Tür. Was Nell ihm nicht verübelte. Diesen Nicholas hatte sie erst einmal gesehen. In dem Camp in Florida, als Sergeant Wilkins von ihm niedergeschlagen worden war. Tomas sah ihn ängstlich an. »Es war nur ein Scherz, Señor Tanek.« »Das dachte ich mir.« Nicholas lächelte sanft. »Sag deinem Vater, dass ich mit dem Schwert sehr zufrieden bin. Und jetzt musst du sicher nach Paris zurück, nicht wahr? « »Ja, ja. Sofort.« Er stürzte aus dem Haus. »Du hättest ihm keine Angst einjagen müssen«, hielt Nell Nicholas vor. »Ich hätte nur nein sagen müssen.« -413-
»Er war, anmaßend.« Wieder blickte er auf den Griff des Schwerts. »Und er hat mich geärgert.« Ohne noch etwas zu dem Thema zu sagen, blickte sie ebenfalls auf das Schwert. Das echte Schwert hatte sie nur ein einziges Mal gesehen, aber sie hatte den Eindruck, dass diese Fälschung dem Original erstaunlich ähnlich sah. »Ist es gut genug? « Er nickte. »Ein wahres Kunstwerk.« »Du willst es immer noch benutzen? « »Nun, da Sandequez nicht mehr lebt, ist es im wahrsten Sinne des Wortes die einzige Waffe, die mir noch bleibt.« »Du begibst dich geradewegs in die Höhle des Löwen.« Sie zögerte. »Wenn ich unentdeckt nach Bellevigne komme, warum bleibst du dann nicht einfach hier und überlässt die Sache mir? « Er sah sie abwartend an, und sie fuhr eilig fort. »Das wäre nur vernünftig. Vergiss das Schwert. Du würdest sofort erkannt und kämst nie mehr lebend dort heraus.« »Ist dir schon mal der Gedanke gekommen, dass du versuchst, mich auszuschließen? « fragte er ruhig. »Dass du mich beraubst? « Es waren dieselben Worte, mit denen sie ihm gegenübergetreten war. »Das ist etwas anderes.« »Es ist immer etwas anderes, wenn man eine Sache auf sich selbst bezieht.« Er lächelte. »Ich verstehe dich sehr gut. Aber hast du dir auch schon überlegt, warum ich so entschlossen war, dich auf der Ranch zu behalten, wo dir nichts passieren kann? « »Du bist eben ein arroganter Kerl und denkst, dass du der einzige bist, der...« »Ich denke, du weißt, dass das niemals der Grund gewesen ist.« Er sah sie an. »Aber vielleicht steckst du den Kopf lieber noch ein Weilchen in den Sand.« Sie ballte die Fäuste. »Es gefällt mir einfach nicht.« »Ich weiß. Aber du wirst dich daran gewöhnen müssen. Das -414-
musste ich auch.« Er konzentrierte sich wieder auf das Schwert. »Und außerdem habe ich immer noch ein paar Trümpfe im Ärmel, damit die Situation nicht außer Kontrolle gerät.« »Schadensbegrenzung? « »Genau.« Er nahm einen Stapel Photos aus einer Schublade, verglich diese mit dem Schwert und murmelte: »Eine erstaunliche Arbeit.« Offensichtlich sah er ihr Gespräch als beendet an, so dass sie sich zum Gehen wand. »Maritz wird nicht auf Bellevigne sein.« Sie fuhr zu ihm herum. »Weißt du das genau? « Er nickte. »Gardeaux hat ihn aus seinen Diensten entlassen, so dass uns nichts anderes übrig bleibt, als diese Sache einzeln anzugehen. Zuerst einmal konzentrieren wir uns auf Gardeaux, und dann überlegen wir, was mit Maritz passieren soll.« Enttäuschung mischte sich in ihre Furcht und ihre Frustration. »Aber finden wir ihn auch? « »Wir werden ihn finden.« Er hielt eine Photographie des Griffs neben den tatsächlichen Griff. »Wenn du erst mal in Paris bist, bleibst du bitte dort, bis wir startklar sind.« »Warum? « »Hierher zu kommen wäre zu gefährlich. Wenn du Eve Billings sein willst, sei Eve Billings. Freunde dich mit den anderen Models an. Kein geheimnisvolles Verschwinden an den Wochenenden. Verbring deine freie Zeit in Paris.« »Ich verstehe.« Sie verspürte ein eigenartiges Verlustgefühl, aber natürlich hatte er recht. Sie hatte sich dafür entschieden, nach Paris zu gehen, und nun gab es kein Zurück. »Aber wir müssen noch Pläne machen.« »Nicht, ehe ich nicht mit Gardeaux gesprochen und herausgefunden habe, wie die Dinge stehen. Ich werde dich an dem Abend, bevor du nach Bellevigne fährst, in deinem -415-
Appartement aufsuchen. Bis dahin kein Kontakt, es sei denn, dass es irgendeinen Notfall gibt.« »Klingt vernünftig.« Sie setzte ein zaghaftes Lächeln auf. »Morgen fährst du mit Jamie nach Nizza, damit sein Bekannter die Photos macht. Und dann geht es direkt weiter nach Paris. Jamie hat bereits ein kleines Appartement in der Nähe der Sorbonne für dich gemietet. Nichts Besonderes.« »Jamie ist ein sehr umsichtiger Mann.« »Du ahnst gar nicht, wie umsichtig er ist.« Er hatte recht. Das Leben dieser beiden Männer und vor allem ihrer beider Vergangenheit waren ihr fremd. Die Nähe, die sie zu den beiden empfand, würde sich legen, sobald die Sache erledigt war. »Passt du auf dich auf? « Die Frage platzte einfach aus ihr heraus, und er blickte lächelnd auf. »Inwiefern? Meinst du, die Seemöwen könnten gefährlich sein? Willst du mich vielleicht auf die Ranch zurückverfrachten? « Ja, das wollte sie, und dann schlösse sie alle Tore hinter ihm ab. Und er wusste es. »Bei all der Umweltverschmutzung heutzutage weiß man nie, mit was für Bakterien Seemöwen belastet sind«, sagte sie leichthin. »Und jetzt gehe ich und packe mein Zeug.« Das Schwert war verführerisch wie Sirenengesang. Gardeaux betrachtete die Farbphotos durch ein Vergrößerungsglas. Falls es eine Fälschung war, dann war sie brillant. Aber vielleicht war es echt. Tanek war sehr talentiert, wenn es um die Aneignung wertvoller Dinge ging. Vor Erregung zitterte seine Hand. Das Schwert eines Eroberers. Vielleicht des größten Eroberers, der je über diese Erde -416-
gewandelt war. Genau dieses Gefühl hatte Tanek eingeplant. Er wurde manipuliert. Das Schwert Karls des Großen. Wäre Tanek allen Ernstes so dreist und böte ihm eine Fälschung an? Es war eine Falle. Er wollte seinen Tod. Auch Karl dem Großen hatten viele Männer nach dem Leben getrachtet, aber mit seiner Kraft und seinem Verstand hatte er sich all diesen armen Narren gegenüber unbesiegbar gezeigt. Genau wie er, Gardeaux, Tanek gege nüber unbesiegbar war. Sein Zeigefinger strich sanft über den Schwertgriff auf der Photographie. Es war unglaublich. Es war wunderbar. Es gehörte ihm. »Tut mir leid, Mademoiselle, aber wir haben keine Verwendung für Sie.« Pierre Molambre klopfte mit dem Zeigefinger auf der geöffneten Mappe herum. »Diese Photos sind sehr beeindruckend, aber wir beschäftigen nur Models für den LaufSteg, und diesen Anforderungen genügen Sie nicht.« »Sie meinen, ich bin nicht groß genug? « »Mit einem Meter achtundsechzig? Ihnen fehlen Kraft und Ausstrahlung. Sie brauchen Ausstrahlung, um Kleider vorzuführen. Für die New Yorker Laufstege sind Sie vielleicht gut genug, aber den Ansprüchen unserer Designer genügen Sie Wohl kaum.« Er zuckte mit den Schultern. »Bleiben Sie bei Photos. In dem Bereich sage ich Ihnen eine großartige Zukunft voraus.« »Es gibt nur eine begrenzte Anzahl von Zeitschriften. Ich muss beides machen, wenn ich nicht verhungern will.« Er klappte die Mappe zu und hielt sie ihr hin. »Wie gesagt, tut -417-
mir sehr leid.« Sein Ton war endgültig, also stand sie auf und steckte ihre Mappe wieder ein. »Guten Tag, Monsieur Molambre.« Sie war gegen eine Wand gerannt. Also gut, ginge sie eben drum herum. »Und was kann ich für Sie tun, Mademoiselle Billings? « fragte Celine Dumoit in gleichgültigem Ton. Nun, auf etwas anderes als Gleichgültigkeit hatte sich Nell nicht gefasst gemacht. Jacques Dumoit war einer der führenden Designer der Welt. Diese Menschen handelten mit Schönheit, benutzten sie, entsorgten sie, wenn sie schwand. »Ich muss mit Ihrem Mann sprechen, Madame.« Die Frau nahm eine drohende Haltung an. »Das ist nicht möglich. Ich leite diesen Salon, also sprechen Sie mit mir. Alle Welt will immer mit Jacques sprechen, dabei ist er ein vielbeschäftigter Mensch. Mein Mann stellt gerade eine Sonderkollektion zusammen.« »Für das Renaissancefest, ich weiß. Ich möchte, dass er mich dort als Model benutzt.« »Er nimmt immer nur Models von Chez Molambre. Bewerben Sie sich dort.« »Das habe ich getan, aber sie wollen mich nicht. Sie sagen, ich hätte keine Ausstrahlung.« Madame Dumoit sah sie genauer an. »Sie haben durchaus eine gewisse Ausstrahlung, aber darum geht es nicht.« »Ich brauche diesen Job.« »Und das soll mich beeinflussen? « Nell bezweifelte, dass irgendein menschliches Bedürfnis je Einfluss hatte auf den Eisberg, dem sie gegenübersaß. »Ich versuche, hier in Europa als Model Fuß zu fassen. Und das -418-
Renaissancefest wäre der perfekte Einstieg für mich.« »Genau wie für tausend andere Models hier in Paris.« »Ihr Mann greift für diese spezielle Kollektion immer Renaissanceeinflüsse auf. Da bin ich genau die Richtige.« »Weshalb glauben Sie das? « »Stecken Sie mich in ein Kleid, und lassen Sie ihn selbst beurteilen.« »Wir haben bereits sämtliche Models, die wir brauchen.« Sie zögerte, doch dann nickte sie. »Aber Ihr Gesicht hat tatsächlich etwas Ungewöhnliches, und René möchte immer, dass Monsieur Gardeaux zufrieden ist. Mal gucken, wie Sie in Nummer acht aussehen.« Nummer acht stellte sich als ein prächtiges burgunderrotes Kleid mit langen schmalen Ärmeln und einem viereckigen Ausschnitt heraus. Es war eine sehr kleine Größe, und die Taille war so eng, dass Nell kaum noch Luft bekam. »Sie sind entsetzlich fett«, sagte Celine Dumoit. Sie drückte Nell eine perlengesäumte Haube aufs Haar, trat einen Schritt zurück und musterte sie mit schräg gelegtem Kopf. »Aber auf jeden Fall haben Sie was.« Sie wandte sich an einen großen Mann, der den Raum betrat. »Ah, Jacques, da bist du ja.« »Was gibt's«, fragte Jacques Dumoit in ärgerlichem Ton. »Ich bin sehr beschäftigt, Celine.« »Ich weiß, mein Lieber.« Sie wies auf Nell. »Was hältst du von ihr? « »Fett. Sie muss mindestens zehn Pfund verlieren, wenn sie bei der Show mitmachen will.« »Dann meinst du also, dass sie gehen wird? « fragte Celine. »Natürlich wird sie gehen. Entzückend. Die typische Kurtisane aus der Renaissance. Ihr Gesicht sieht aus wie von da Vinci gemalt. Darf ich jetzt vielleicht wieder gehen? « -419-
»Natürlich, mein Schatz. Ich verspreche, dass ich dich nicht noch einmal stören werde.« »Gib ihr außerdem noch das grüne Kleid.« Er marschierte bereits wieder aus dem Raum. »Und sorg dafür, dass sie diesen grässlichen Speck verliert.« »Ja, Jacques.« Sie wandte sich wieder an Nell. »Geben Sie der Empfangsdame Ihre Telefonnummer. Sie kommen zu jeder Anprobe, zu der man Sie bestellt, und wenn Sie auch nur eine einzige verpassen, sind Sie draußen.« »Ja, Madame.« »Und in zwei Wochen haben Sie abgespeckt.« »Ja, Madame.« »Sie sollten dankbar sein. Wir geben Ihnen eine große Chance.« »Ich bin sehr dankbar, Madame Dumoit.« »Natürlich werden Sie in diesem Fall für Ihre Dienste nicht bezahlt. Sie sollten diejenige sein, die uns bezahlt.« Himmel, nicht nur ein Eisberg, sondern noch ein Geizkragen dazu. »Ich bin sehr dankbar«, wiederholte Nell. Mit einem zufriedenen Nicken verließ Celine Dumoit den Raum. Als die Garderobiere die Knöpfe des Kleids öffnete, drehte sich Nell zum Spiegel um und betrachtete das Gesicht, das ihr den Besuch auf Bellevigne ermöglichte. Renaissancekurtisane war ebenso gut wie Helena von Troja. Sie hatte der Frau die Wahrheit gesagt. Sie war dankbar. Allerdings nicht ihr, sondern Joel. »Tanek, wie schön, von Ihnen zu hören«, sagte Gardeaux. »Ja, Rivil hat mir bereits ausgerichtet, wie begeistert Sie sind. Sie haben die Photos gesehen? « -420-
»Wunderbarer Köder, aber natürlich bin ich nicht dumm genug, mir einzubilden, das Schwert wäre tatsächlich echt.« »Das werden Sie nicht wissen, solange Sie es nicht persönlich unter die Lupe nehmen. Eigentlich hatte ich mich bereit erklären wollen, es einem Ihrer Experten zur Untersuchung zu überlassen, aber jetzt glaube ich, dass jeder Kontakt zu Ihnen meiner Gesundheit abträglich ist.« »Sie haben von der Sache mit Sandequez gehört? Traurig.« »Kommt auf die Position an, aus der man es sieht.« »Meine Position ist sehr sicher. Ihre hingegen ist wohl eher prekär.« Und nach einer Pause fügte er hinzu: »Ich will Sie nicht auf meinem Fest, Tanek. Wählen Sie einen anderen Ort und eine andere Zeit.« »Vielleicht hätten Sie mich dazu überreden können, hätten Sie meine Position nicht derart prekär gemacht. Ich werde warten, bis ich mit einigen Ihrer Gäste in den Hof gelangen kann. Ich will Leute um mich herum, so dass es peinlich für Sie würde, wollten Sie versuchen, mich zu eliminieren.« »Aber Sie haben mit mir genau das gleiche vor.« Gardeaux verstummte, doch dann sagte er. »Sie machen sich ganz schön Mühe wegen O'Malley, Tanek. Dabei war er es gar nicht wert.« »Und ob.« »Da bin ich anderer Ansicht. Der Mann war nicht im mindesten interessant. Nun, Sie hingegen haben einen recht hohen Unterhaltungswert. Pietro wird fasziniert von Ihnen sein.« »Ich werde dafür sorgen, dass er dazu keine Gelegenheit bekommt. Ich spiele Ihr Spiel nämlich nicht mit.« »O doch, das werden Sie.« »Wollen Sie das Schwert oder nicht? « »Ich rufe Sie zurück. Geben Sie mir Ihre Nummer.« »Ich rufe Sie wieder an.« Tanek hängte ein und drehte sich zu Jamie um. »Er will es. Hätten wir ihm nicht den Mund wässrig -421-
gemacht, ließe er sich auf keine Verhandlung ein.« Jamie blickte auf das Schwert. »Es ist wirklich eine wunderschöne Waffe. Aber das Risiko ist sie ja wohl nicht wert.« »Gardeaux denkt, dass sie es ist«, widersprach Tanek. »Gott sei Dank.« Endlich war ein Ende in Sicht. Noch etwas mehr als ein Monat, und all die Warterei, all die Frustration wäre vorbei. »Was soll ich als nächstes tun? « fragte Jamie ihn. »Bleib hier im Haus für den Fall, dass Nell anruft. Aber solange es keine Schwierigkeiten gibt, halt dich von ihr fern. Dein Gesicht ist ebenso bekannt wie meins. Ich werde versuchen, dich anzurufen und dir eine Nummer zu geben, unter der du mich erreichen kannst.« »Du kommst nicht zurück? « Er schüttelte den Kopf. »Ich verlasse Paris morgen früh mit dem erstmöglichen Flug.«
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17. Kapitel 8. Dezember Paris »Nein, Tania, das lasse ich nicht zu.« Nells Finger legten sich fester um den Hörer des Telefons. »Bleib zu Hause, wo du sicher bist.« »Aber Maritz hat dafür gesorgt, dass ich weiß, dass ich nirgends sicher bin, noch nicht einmal daheim«, widersprach Tania. »Diese beruhigende Gewissheit hat er zerstört.« »Ich werde dich nicht als Köder benutzen. Wofür hältst du mich? « »Ich bitte dich nicht darum, es zu tun, sondern ich teile dir meine Entscheidung mit. Du kannst mir helfen oder nicht die Entscheidung liegt ganz bei dir.« »Du weißt, dass ich dich nicht im Stich lassen würde, aber, Tania - tu es nicht. Ich würde es mir nie verzeihen, täte er dir abermals etwas an.« »Ich tue es nicht für dich. Ich tue es für mich.« »Was sagt Joel dazu? « »Dass ich wahnsinnig bin, dass er mich nicht gehen lässt, dass er sich Maritz persönlich an die Fersen heften wird.« »Er hat recht. Du bist wahnsinnig.« »Nein. Maritz ist derjenige, der wahnsinnig ist. Ich bin ganz normal. Ich werde nicht zulassen, dass er mein Leben beherrscht.« Tania machte eine Pause. »Ich muss es tun, Nell. Ich habe ebenso wenig eine Wahl wie du. Und statt länger mit dir herumzustreiten, lege ich jetzt auf.« »Warte. Wann kommst du hierher? « »Das wirst du erfahren, sobald es soweit ist.« -423-
23. Dezember Marseilles Sie war zu ihm zurückgekehrt. Und sie sah so glücklich aus. Maritz betrachtete das Bild, das ihm von der ersten Seite der Pariser Zeitung ins Auge sprang. Tania trug einen weißen Anzug und blickte mit einem strahlenden Lächeln zu Joel Lieber auf. Aber das war normal - alle Bräute sahen mit strahlendem Lächeln zu ihren frischgebackenen Ehemännern auf. Er überflog die Bildunterschrift. Joel Lieber, weltbekannter Chirurg, und die ehemalige Tania Viados, verbringen den ersten Teil ihrer Hochzeitsreise in Paris. Von hier aus geht es weiter nach Cannes, wo die Suite des Carleton Hotels bis Neujahr für sie reserviert worden ist. Er hatte gedacht, mit seinem Glück wäre es vorbei. Doch völlig unvermittelt kam die hübsche Tania wieder in sein Leben spaziert, und wenn er diese lästige Zeugin beseitigte, nähme Gardeaux ihn vielleicht wieder in Gnaden auf. Aber diese Überlegung war nicht der Grund für die Erregung, die er empfand. Was ihn erregte, war, dass die Jagd von neuem begann. Jamie pfiff leise durch die Zähne, als er den Artikel sah. Nick wäre darüber ganz gewiss nicht erfreut. Er wünschte sich, er hätte irgendeine Verbindung zu ihm. Vor zwei Tagen hatte er versucht, ihn zu erreichen, aber Nick war weitergezogen, so dass er unter der Nummer, die er ihm gegeben hatte, nicht mehr zu -424-
erreichen war. Also wählte er die Nummer von Nell. »Haben Sie die Zeitung gelesen? « »Ja. Ich freue mich sehr für sie. Ist sie nicht wunderschön? « »Was macht sie hier? « »In der Zeitung steht, dass sie auf Hochzeitsreise ist.« »Sie hat es Ihnen also nicht gesagt? « »Als wir das letzte Mal miteinander geredet haben, hat sie nichts von der Hochzeit gesagt.« »Sie dürfen Sie nicht treffen. Joel ist ein viel zu bekannter Mann.« »Ich weiß, aber ich hatte sowieso nicht vor, sie zu sehen.« Nach einer Pause fragte sie: »Wie geht es Nicholas? « »Gut.« Um nicht weiter über ihn sprechen zu müssen, wandte er sich einem anderen Thema zu. »Und wie gefällt Ihnen Ihr neuer Beruf? « »Langweilig bis dorthinaus.« »Nun, übermorgen ist Weihnachten. Es dauert ja nicht mehr lang.« Er schwieg, doch dann sagte er: »Es gefällt mir nicht, dass Tania hier in Frankreich ist.« »Mir auch nicht. Aber dagegen lässt sich wohl kaum etwas tun.« Nell legte den Hörer auf und schüttelte den Kopf. Sie hatte nicht gelogen, aber wie Nicholas einmal gesagt hatte, war das Verschweigen einer Sache nicht weniger schlimm. Das Bild in der Zeitung hatte sie zu Tode erschreckt. Dass Tania eine derart verwegene Einladung aussprechen würde, hätte sie nicht gedacht. Sie hatte dem Bastard sogar ihre Adresse mitgeteilt. Wie der klingelte das Telefon. »War ich auf dem Bild nicht wunderschön? « fragte Tania sie. -425-
»Der Anzug ist von Armani. Joel hat in New York einen Zwischenstop gemacht und mir Unmengen neuer Kleider gekauft.« »Wunderbar. Dass ihr heiraten würdet, hast du mir ga r nicht erzählt.« »Joel hat darauf bestanden, mich vor der Reise hierher zu heiraten. Er scheint zu denken, dass er mich dadurch in irgendeiner Weise unter Kontrolle hat.« Nell hörte ein Stöhnen im Hintergrund und dann Tanias abgewandte Stimme, die sagte: »Stimmt doch, Joel.« »Wo seid ihr im Augenblick? « »Im Carleton. Sehr elegant. Wusstest du schon, dass das Hotel eine beliebte Bleibe zahlreicher Filmstars ist? « »Du klingst glücklich.« »Euphorisch. Aber nicht so glücklich wie Joel. Was nur angemessen ist. Ich habe schließlich nichts weiter als einen reizbaren, alternden Arzt abgekriegt. Er hingegen hat mich.« Sie kicherte. »Ich muss auflegen. Ich glaube, er bereitet sich auf einen Angriff vor. Ich melde mich wieder bei dir.« Sie würde Nell Bescheid geben, wenn Maritz auf der Bildfläche erschien. Nell hatte nicht den geringsten Zweifel daran, dass dieser letzte Satz der einzig wichtige Teil ihrer Unterhaltung gewesen war. Aber Tania hatte wunderbar glücklich geklungen, dachte Nell. So glücklich, dass die dunkle Wolke, die über ihr hing, an Bedeutung verlor. Tania wusste, wie man jeden Augenblick des Lebens genoss. Genau wie Nicholas. In den drei Wochen, seit sie nach Paris gekommen war, hatte sie nichts von ihm gehört, und offenbar hatte er es unnötig gefunden, mit ihr zu sprechen, als sie von Jamie angerufen worden war. -426-
Nun, was hätte er auch sagen sollen? Schließlich warteten sie beide auf den großen Tag. In neun Tagen wäre es endlich soweit. »Sollen wir auswärts essen, damit ich mich mit einem meiner neuen Kleider brüsten kann? « fragte Tania Joel nach dem Telefongespräch mit Nell. »Ich denke, das Rosafarbene wäre gut. Ich werde so wunderbar aussehen, dass die Ober bestimmt denken, ich wäre eine berühmte Schauspielerin.« »Wenn du willst.« Er beobachtete, wie sie durch das Zimmer ging und die Flügeltüren zum Balkon öffnete. »Wie geht es Nell? « »Ich habe ihr keine Gelegenheit gegeben, von sich zu erzählen. Ich liebe das rosafarbene Kleid. Ich liebe dieses Hotel.« Sie atmete tief ein. »Ich liebe das Meer.« Sie blickte über die Schulter zurück. »Und ich liebe dich.« »Großartig. Ich komme also auf deiner Liste zuletzt.« Er folgte ihr auf den Balkon und zog sie an seine Brust. »Ich finde, ich hätte wenigstens vor dem rosafarbenen Kleid Erwähnung verdient.« »Aber dann hättest du nichts mehr, um das es sich zu bemühen lohnt.« Sie schmiegte sich enger in seinen Arm. »Und schließlich möchte ich nicht, dass du kein Ziel mehr im Leben hast.« »Ich habe ein Ziel.« Er vergrub sein Gesicht in ihrem Haar. »Dafür zu sorgen, dass du dich nicht umbringen lässt.« Sie schlang die Arme um seinen Hals. Er liebte sie. Was ein Segen war. Aber er durfte nicht in die Sache hineingezogen werden, und es würde schwer werden, dafür zu sorgen, dass er unbeteiligt blieb. »Rede nicht davon. Vielleicht taucht er ja gar nicht auf.« Sie küsste ihn auf die Wange. »Und jetzt musst du mich leidenschaftlich lieben und mich davon überzeugen, dass -427-
ich dich mehr liebe als das rosafarbene Kleid.« 27. Dezember »Ich erwarte Sie auf dem Fest, Tanek«, sagte Gardeaux. »Aber natürlich kommen Sie nicht ohne das Schwert.« »Auf keinen Fall.« »Das ist gut. Denn ehe ich es nicht gesehen habe, kommen Sie nicht durch die Tür.« »Sie durchsuchen Ihre Gäste an der Haustür nach Schwertern? Klingt, als wären Sie der Sheriff einer alten Westernstadt.« »Ich durchsuche nur Sie.« »Sie können es vor allen Gästen sehen. Aber in die Hand kriegen Sie es nicht.« »Sie fuchteln mir also vor vierhundert Gästen mit einem unbezahlbaren, gestohlenen Schwert vor der Nase herum? « »Sagen Sie einfach, es wäre eine hervorragende Kopie. Niemand wird auf den Gedanken kommen, dass es echt ist. Schließlich haben Sie einen tadellosen Ruf.« »Und wie wollen Sie mich daran hindern, es Ihnen einfach abzunehmen? « »Falls Sie es versuchen, bringe ich Sie vor dem Premierminister und all den anderen Leuten, die Sie mit Ihrer angeblichen Ehrenhaftigkeit zu beeindrucken versuchen, in Verlegenheit, indem ich offen sage, was für ein Schweinehund Sie sind.« Schweigen. »Wissen Sie, Tanek, ich glaube nicht, dass Ihnen das gelingen wird. Sie überschätzen sich, und so etwas gehört bestraft. Ich habe beschlossen, dass Ihnen das gleiche Ende zusteht wie Ihrem Freund O'Malley. Erinnern Sie sich noch daran, wie er gelitten hat? « Das vergäße er nie. »Wir sehen uns dann in ein paar Tagen. Um -428-
elf.« Er legte den Hörer auf und drehte sich zu Jamie um. »Es ist abgemacht.« »Ich hoffe nur, du weißt, was du tust.« »Das hoffe ich auch.« Gardeaux saß da und starrte auf das Telefon. Er sollte sich keine Gedanken machen, denn schließlich hatte er alle Trümpfe in der Hand. Aber Tanek war besessen, und wenn es ihm nicht gelänge, Gardeaux vollständig zu zerstören, würde er zumindest soviel Schaden anrichten, wie ihm möglich war. Seine Drohung, ihn vor seinen versammelten Gästen in Verlegenheit zu bringen, hatte gewirkt. Gardeaux hatte sich hier auf Bellevigne als mächtiger Ehrenmann etabliert. Wenn Tanek beschloss, ihn zu demaskieren, fügte er ihm dadurch vielleicht nicht wiedergutzumachenden Schaden zu. Unsinn. Wenn sein Plan aufging, hätte er Tanek beiseite geschafft, ehe diesem auch nur ein einziger Ton über die Lippen kam. Wenn nicht, könnte er immer noch lachen und behaupten, Tanek hätte sich diese Anschuldigungen nur ausgedacht. Könnte sagen, Tanek wäre betrunken oder verrückt. Aber Tanek war ein sehr glaubwürdiger Mann, und selbst der geringste Hinweis auf seine Tätigkeit wäre den paranoiden Bastarden in Medellin wahrscheinlich bereits zuviel. Sie würden sagen, er hätte auf ihre Kosten seinen Leidenschaften gefrönt. Als Aushängeschild des Unternehmens konnte er es sich nicht leisten, dass seine blütenweiße Weste auch nur den kleinsten Fleck bekam. Er müsste sich schützen. Er müsste dafür sorgen, dass sein Ruf durch Taneks möglichen Auftritt keinen Schaden nahm. Er nahm den Telefonhörer in die Hand und drückte eilig auf den -429-
Nummerntasten herum. 28. Dezember »Schau mal, Joel. Ist das nicht ein wunderbares Tuch? « fragte Tania ihren Mann. Das Seidentuch mit den ägyptischen Druckmotiven hing im Schaufenster einer kleinen Boutique. »Ich mag ägyptische Dinge. Sie sind von einer dauerhaften Eleganz.« »Wenn wir nicht in fünf Minuten im Restaurant sind, verfällt unsere Tischreservierung.« Joel lächelte. »Du hast vor jedem Geschäft in dieser Straße Halt gemacht und mir nicht erlaubt, dir auch nur ein einziges Teil zu kaufen.« »Ich brauche die Dinge nicht zu besitzen. Sie mir anzusehen ist bereits ein großer Spaß.« Sie hakte sich bei ihm ein. »Ich glaube, im alten Ägypten wärst du sehr gut zurechtgekommen. Sie wussten eine Menge über Chirurgie.« »Ich ziehe moderne Instrumente und Medikamente vor.« »Zugegeben, eine Hirnoperation ohne eine vernünftige Narkose stelle ich mir nicht gerade angenehm vor, aber...« Als sie sich unterbrach, sah Joel sie fragend an. »Aber was? « Sie lächelte. »Ich denke, das Tuch hätte ich wirklich gern. Würdest du es mir kaufen? Ich möchte mir noch die Taschen im Schaufenster nebenan ansehen.« Joel schüttelte resigniert den Kopf. »Wir kommen niemals rechtzeitig in das Restaurant.« »O doch. Bis wir dort sind, schaue ich mir kein einziges Schaufenster mehr an, das verspreche ich.« »Nichts als leere Versprechungen.« Trotzdem betrat er die Boutique. Tanias Lächeln schwand. -430-
Er war hier, und er beobachtete sie. Kein Zweifel. All ihre Instinkte waren hellwach, und sie beginge gewiss nicht den Fehler, noch einmal zu bezweifeln, dass das, was sie empfand, richtig war. Sie warf einen Blick über die Schulter, obwohl sie nicht damit rechnete, ihn zu sehen. In diesen Dingen war Maritz ein Genie. Aber es gefiel ihm, zu wissen, dass sie seine Nähe empfand. Er mochte es, wenn ihr der Schweiß ausbrach, wenn sie sich fürchtete. Sie vollführte einen schwierigen Balanceakt. Sie musste dafür sorgen, dass Maritz sein Vergnügen bekam, ohne dass Joel merkte, dass er auf der Bildfläche erschienen war. Also trat sie vor das Schaufenster des Lederwarengeschäfts und sah sich die dort ausgestellten Taschen an. Abermals warf sie einen eiligen Blick über die Schulter zurück. Gefällt dir das, du Schwein? Ich hoffe, es macht dir Spaß. Aber dieses Mal geht die Sache anders aus. »Du machst mir angst«, sagte Nell. »Dazu besteht noch keine Veranlassung. Ich bin vorsichtig, und er scheint nicht in Eile zu sein. Er will es genießen«, sagte Tania. »Hast du irgendeinen Ort, an den ich ihn locken kann? « »Das Häusche n am Meer, das Jamie gemietet hat. Es liegt ziemlich einsam und wäre für Maritz sehr verführerisch. Im Augenblick wird es noch von Jamie und Nicholas bewohnt, aber die beiden verschwinden bald.« Sie gab Tania die Adresse und eine kurze Wegbeschreibung durch. »Bist du sicher, dass es Maritz ist? Schließlich hast du ihn nicht gesehen.« »Ich bin sicher. Ich brauche ihn nicht zu sehen. Wir stehen einander näher als siamesische Zwillinge. Ich rufe dich an, wenn er bereit ist, ins Netz zu gehen.« -431-
»Übermorgen fahre ich nach Bellevigne raus.« »Stimmt, es ist ja fast Silvester. Frohes Neues Jahr.« 30. Dezember Paris »Du bist dünner geworden«, sagte Nicholas, als sie ihm öffnete. »Warst du krank? « Sie schüttelte den Kopf. »Madame Dumoit fand mich ›entsetzlich fett‹, und wenn ich nicht abgespeckt hätte, hätte sie mich wohl noch vor der Modeschau geschasst. Sie hätte mich mal vor Medas sehen sollen.« Er sah wie immer aus - hart, fit, wie aus Stahl gemacht. Er zog eine Braue hoch. »Darf ich hereinkommen? « »Oh, natürlich.« Eilig ließ sie ihn an sich vorbei. Sie hatte ihn angestarrt, als hätte sie noch nie einen Mann gesehen. »Ich war nicht sicher, ob du tatsächlich kommst.« Er legte seine Jacke ab und warf sie über einen Stuhl. »Ich sagte doch, dass ich kommen würde.« »Das ist einen Monat her.« »Wir hatten beide viel zu tun. Aber ich kann ja wohl kaum zulassen, dass du dich ohne einen Plan nach Bellevigne begibst.« Abermals zog er eine Braue hoch. »Hättest du vielleicht einen Kaffee für mich? « »Bereits gemacht.« Sie ging in die Kochnische und schenkte den Kaffee ein. »Hast du was von der Ranch gehört? « »Ich habe letzte Woche mit Michaela telefoniert. Peter geht es gut. Er wohnt jetzt ständig auf der Bar X. Ich habe Michaela gesagt, dass sie ihn von dir grüßen soll.« »Und Jamie? « »Dem geht's gut.« »Ist er immer noch in dem Häuschen am Meer? « -432-
»Nein, er ist mit mir nach Paris gekommen. Er wohnt im Intercontinental Hotel.« Sie hielt ihm seine Tasse hin. »Fährt er mit dir nach Bellevigne raus? « Er schüttelte den Kopf. »Das ist mit Gardeaux nicht abgemacht. Ich fahre alleine hin.« Er nickte ihr zu. »Abgesehen von Ihnen, Madame.« Er nahm den Kaffee, trug ihn ins Wohnzimmer und blickte in den Kamin. »Gas? « Als sie nickte, bückte er sich und drückte auf den Knopf »So ist's besser. Ich hasse feuchte, kühle Abende.« Wieder nickte sie. Was war nur los mit ihr? Wie unter Zwang sah sie ihn ununterbrochen an. »Setz dich doch.« Sie nahm ihre Tasse und folgte ihm zum Sofa vor dem Kamin. Sie wusste, was los war mit ihr. Sie hatte ihn vermisst. Gott, wie hatte sie ihn vermisst! »Jamie hat mir erzählt, Tania wäre hier.« Sie erstarrte. »Nicht in Paris.« »Du hast sie also nicht gesehen? « »Wohl kaum. Schließlich stand in der Zeitung, dass sie auf Hochzeitsreise ist.« Er musterte sie, und instinktiv spannte sie sich an. Bereits des öfteren hatte sie das Gefühl gehabt, als könnte er ihre Gedanken lesen, doch jetzt durfte er das auf keinen Fall. Er wandte sich einem anderen Thema zu. »Wann ist Dumoits Modenschau? « Sie versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie erleichtert sie darüber war. »Um ein Uhr mittags. Wir werden morgen früh nach Bellevigne gebracht. Nach der Show sollen wir uns unter die Gäste mischen und Dumoits Kleider zeigen.« »Den ganzen Tag über? « Sie nickte. »Und abends ziehen wir uns für die Party extra noch -433-
mal um.« »Gut.« Er kniete sich vor den Kamin, nahm ein zusammengefaltetes Blatt Papier aus der Jackentasche und breitete es auf dem Fußboden aus. »Dies hier ist der Grundriss von Bellevigne.« Er wies auf den Grundriss in der Mitte des detaillierten Plans. »Das ist das Haupthaus, in dem ein Großteil der Aktivitäten während des Festes stattfinden wird. Ich werde um elf Uhr abends kommen, so dass es bestimmt bereits hoch hergehen wird.« Er zeigte auf ein langes Rechteck auf einer Seite des Plans. »Und dies hier ist das private Auditorium, in dem Gardeaux die Fechtduelle austragen lässt. Das letzte ist um drei Uhr nachmittags, und die Preise werden um sechs Uhr verteilt, so dass abends niemand mehr dort sein wird.« Das Auditorium. Furcht stieg in ihr auf, als sie sich an Jamies Geschichte von dem tödlichen Virus erinnerte, mit dem Gardeaux als Teil seiner makabren Rache die Spitzen der Schwerter oder Degen präparieren ließ. Sie sah Nicholas ins Gesicht. »Warum erzählst du mir von dem Auditorium? « »Weil Gardeaux mich dorthin bringen lassen wird.« Fast hätte sie ihre Kaffeetasse umgekippt. »Nein.« »Doch«, sagte er ruhig. »Es ist der einzige Ort, an dem mein Plan funktionieren wird. Wenn er meinen Köder schluckt, dann wird er mich irgendwo hinbringen, wo keine unliebsamen Zeugen in der Nähe sind.« »Er wird dich in eine Falle locken.« »Ich glaube, dass ich dafür ganz gut gewappnet bin. Gardeaux wird sichergehen, dass ich unbewaffnet bin, also möchte ich, dass du irgendwann am frühen Abend ins Auditorium schleichst und diese.44er Magnum unter Platz A 15 versteckst.« Er zog die Waffe aus der Tasche und gab sie ihr. »Das ist die erste Reihe entlang des Mittelgangs.« »Du glaubst, dass du ganz gut gewappnet bist? Was willst du tun? « -434-
»Ich werde Gardeaux in eine Situation manövrieren, in der ich ihn fertigmachen kann.« »Wie das? « »Wenn ich erst mal im Auditorium bin, muss ich improvisieren. Aber das habe ich schon öfter gemacht.« »Er wird dich umbringen.« Nicholas lächelte. »Wir wussten die ganze Zeit über, dass diese Möglichkeit besteht, nicht wahr? Aber ich glaube nicht, dass das passieren wird. Nicht, wenn du mir hilfst.« »Deinem Freund O'Malley ist es passiert.« »Nell, eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Hilf mir.« Er hatte sich entschieden. »Ist das alles, was ich machen soll? « fragte sie in gereiztem Ton. Er wies auf eine andere Stelle des Plans. »Die Zugbrücke. Sie wird bewacht, aber ich bezweifle, dass sie hochgezogen sein wird, denn schließlich herrscht am Abend des Fests ein ständ iges Kommen und Gehen. Du musst zusehen, dass die Wachen vor elf Uhr fünfundvierzig verschwunden sind. Denn um elf Uhr fünfundvierzig brauche ich dich hier am Sicherungskasten ungefähr fünf Meter links von dieser Tür.« Er wies auf die Südseite des Auditoriums. »Ich möchte, dass du die Lichter im Auditorium löschst und dann wie der Teufel in Richtung der Zugbrücke rennst. In dem Wald auf der anderen Seite des Grabens wartet Jamie mit dem Wagen auf dich. Und ich werde direkt hinter dir sein.« »Vielleicht.« Er ignorierte ihren Kommentar. »Wahrscheinlich postiert Gardeaux eine Wache außerhalb des Auditoriums. Vielleicht musst du diesen Wachposten erledigen, ehe du zur Südtür gelangst. Versuch, so leise wie möglich zu sein, denn ansonsten bin ich ein toter Mann. Wie sieht's aus, ist dir das Verantwortung genug? « -435-
»Zumindest ist es mehr, als ich erwartet hätte.« Vor allem mehr, als sie mit einem Mal gedanklich bewältigte. »Ich hätte dich als größeren Egoisten eingeschätzt.« »Ich bin ein Egoist. Schließlich übernehme ich Gardeaux.« Er sah sie an. »Und es überrascht mich, dass du noch nicht einmal um dieses Vorrecht zu kämpfen versuchst.« Sie schüttelte den Kopf. »Er muss sterben, und ich muss dabei mitwirken, aber es reicht mir, dir behilflich zu sein. Er ist mir... fremd. Ich habe ihn noch nie gesehen, habe noch nie seine Stimme gehört. Ich weiß, dass er ebensoviel oder vielleicht noch mehr Schuld als Maritz hat, aber er ist einfach nicht lebendig für mich. Nicht so lebendig wie für dich.« Sie presste die Lippen zusammen. »Aber versuch nicht, mich um Maritz zu betrügen.« »Eins nach dem anderen.« »Weichst du mir etwa aus? « »Allerdings. Ich will nicht an Maritz denken. Und außerdem gefällt es mir ganz und gar nicht, dass ich dir all diese Aufgaben übertragen muss.« »Ach nein? Denkst du vielleicht, ich schaffe es nicht? « »Wenn ich dächte, dass du es nicht schaffst, hätte ich dir ein Schlafmittel in den Kaffee getan und dich bis übermorgen eingesperrt.« Er lächelte. »Du bist clever, und du bist gut, und Jamie hat recht. Wir hätten dich schon in den alten Tagen gut gebrauchen können.« Sein Lächeln schwand. »Aber das heißt nicht, dass ich dich auch nur im Umkreis von hundert Meilen von Bellevigne sehen will.« »Ich habe das Recht, dort zu sein.« »Stimmt.« Er zwinkerte ihr zu. »Aber trotzdem rate ich dir, dass du deine Kaffeetasse gut im Auge behältst.« Sie entspannte sich und lächelte ihn ebenfalls an. »Das werde ich tun.« »Tja, aber vielleicht nicht die ganze Zeit.« Er nahm ihr die Tasse -436-
ab und stellte sie auf den Herd zurück. »Denn irgendwie ist sie ein bisschen im Weg.« Langsam zog er sie an seine Brust und flüsterte: »O. k? « Mehr als o.k., lustvoll. Tröstlich. Daheim. Sie schlang die Arme um seinen Hals. »O. k.« »Irgendwie ist es viel zu leicht. Vielleicht sollte ich öfter gehen.« Er küsste sie. »Oder spendest du lediglich einem in den Kampf ziehenden Soldaten ein wenig Trost? « »Sei still«, flüsterte sie. »Schließlich ziehe ich ebenfalls in den Kampf.« Sie brauchte seine Nähe. Sie brauchte ihn. Sie lehnte sich zurück und knöpfte ihre Bluse auf. »Ich finde, ich habe mindestens soviel Trost verdient wie du.« »Nicht hier.« Er zog sie hoch. »Wo ist dein Schlafzimmer? Ich weigere mich, vor einem Kamin verführt zu werden. Das käme mir denn doch zu feldlagermäßig vor.« Er zog sich an, ein verschwommener, blasser Schatten im Vordämmerungsgrau des Raums. »Sei vorsichtig«, flüsterte sie. »Ich habe extra versucht, dich nicht zu wecken.« Er setzte sich auf das Bett. »Nell, warum? « Sie nahm seine Hand. »Wie gesagt, ich brauchte ein wenig Trost.« »Du hast mehr gegeben als genommen heute nacht. Wo sind all dein Zorn und dein Ärger hin? « »Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich dich vermisst habe. Ich glaube, im Augenblick denke ich nicht besonders klar.« »Tja, dann steckst du den Kopf offenbar immer noch in den Sand.« Er strich ihr sanft über das Haar. »Aber vielleicht denkst du klarer, als du glaubst. Manchmal ist es das Beste, wenn man einfach seinem Instinkt vertraut.« Er lächelte. »Auf jeden Fall hatten wir auf diese Weise eine Menge Spaß.« -437-
Ihr Griff um seine Hand verstärkte sich. »Es ist kein guter Plan, Nicholas. Es gibt zu vieles, was schief gehen kann.« »Einen besseren Plan oder einen besseren Zeitpunkt gibt es nicht. Außerdem bin ich es einfach leid. Dieser Widerling Gardeaux, der wie ein fetter Kater auf seiner Burg herumlungert macht mich einfach krank. Ich bin es leid, an Terence zu denken und daran, wie sinnlos sein Tod gewesen ist. Ich bin es leid, ständig in Sorge um dich zu sein. Ich will die Sache hinter mich bringen und zurück auf die Ranch.« Er küsste sie auf die Stirn. »Ich gebe dir zum letzten Mal die Möglichkeit, auszusteigen, Nell. Ist dir deine Rache all das tatsächlich wert? « »Was für ein Augenblick, um mir diese Frage zu stellen. Aber du kennst die Antwort sowieso.« »Trotzdem frage ich dich.« »Du bietest mir einen Ausweg an. Aber ich will keinen.« Sie begegnete seinem Blick. »Sie haben meine Tochter umgebracht, mit Absicht und voller Boshaftigkeit. Sie haben ihr das Leben genommen, als wäre es nichts wert, und sie sind damit durchgekommen. Sie werden immer weiter unschuldige Menschen verletzen und töten, solange sie...« Sie brach ab. »Nein, ich tue es nicht, weil ich fürchte, dass sie jemand anderem etwas tun. So edel bin ich nicht. Ich tue es wegen Jill. Ich habe es die ganze Zeit über wegen Jill getan.« »Also gut, dass du dich so entscheiden würdest, dachte ich mir. Aber falls du feststellst, dass es nicht nach Plan verläuft, dann nimmst du die Beine in die Hand und rennst. Hast du mich verstanden? « »Ja.« »Aber du hast nicht die Absicht, es tatsächlich zu tun. Also drücke ich mich vielleicht besser anders aus. Wenn du auf Bellevigne ums Leben kommst, werden Gardeaux und Maritz überleben, so dass niemand jemals für Jills Tod zur Rechenschaft gezogen wird.« -438-
Als er sah, dass sie schmerzlich zusammenfuhr, erhob er sich. »Ich dachte mir, dass du dieses Argument verstehen würdest.« Er ging zur Tür. »Also dann, viertel vor zwölf. Komm ja nicht zu spät.«
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18. Kapitel Silvester 22.30 Uhr Gardeaux sah wie ein freundlicher Politiker aus, von schlanker Statur, mit einem reifen Gesicht und prachtvoll gekleidet in seinem grüngoldenen Renaissancekostüm. Mit einem liebenswürdigen Lächeln blickte er auf seine Frau hinab, ohne die Horden einflussreicher Leute überhaupt wahrzunehme n, von denen er umgeben war. Charmant. Bei seinem Anblick hätte Nell niemals gedacht, dass am anderen Ende des Raumes seine Geliebte stand oder dass er ein Kindermörder war. »Was starren Sie so dumm? « zischte Madame Dumoit. »Wir haben Sie nicht hierher gebracht, damit Sie in der Ecke stehen und glotzen. Bewegen Sie sich. Zeigen Sie den Leuten Jacques' Kreation.« »Tut mir leid, Madame.« Nell stellte ihr Weinglas auf das Tablett, das ein Kellner durch die Gegend trug und tauchte in die Menge ein. In ihrem Re naissancekleid passte sie hervorragend in die kostümierte Gästeschar. Es herrschte ein solches Gedränge, dass es ihr sicher problemlos gelänge, innerhalb von Sekunden verloren zu gehen, ohne dass es irgendjemand sah. Noch fünfundzwanzig Minuten, und Nicholas wäre hier. Im Ballsaal herrschten eine geradezu unerträgliche Hitze und ein ohrenbetäubender Lärm. Wieder beobachtete sie Gardeaux. Wieder sah sie den Kindermörder an. Wie konnte er nur so freundlich lächeln, während er beabsichtigte, innerhalb der nächsten Stunde -440-
abermals einen Mord zu begehen - dieses Mal an Nicholas? O Gott, sie hatte furchtbare Angst. Gardeaux wandte sich von seiner Gattin ab, streckte die Hand aus und setzte ein freundliches Lächeln auf. Ein Mann näherte sich ihm. Ein kleiner Mann, der sich in seinem schwarzen Smoking nicht unbedingt wohlzufühlen schien. Nell erstarrte vor Schreck. Kabler? Kabler lächelte ebenfalls. Er ergriff Gardeaux' Hand, schüttelte sie und machte eine scherzhafte Bemerkung, woraufhin ihm der Gastgeber fröhlich auf den Rücken schlug. Kabler? Kabler hasste diesen Kerl. Kabler war ganz gewiss nicht hier. Doch, er war hier, und er behandelte Gardeaux, als wäre dieser sein bester Freund. Aber er war Polizist. Wahrscheinlich führte er verdeckte Ermittlungen durch. Sie schob sich näher an die beiden Männer heran. Gardeaux machte Kabler mit seiner Frau bekannt. Sein guter Freund, Joe Kabler, Leiter der Antidrogenbehörde der USA. Er wusste, wer Kabler war. Kabler, sein guter Freund. Mit Geld ließ sich beinahe jeder kaufen, hatte Nicholas gesagt. Sie hätte nicht gedacht, dass auch Kabler käuflich war. Er lächelte und murmelte irgendetwas über ein hübsches Fest und wie sehr er sich gefreut habe, dass er eingeladen worden sei. Dann wanderte sein Blick wie beiläufig durch den Raum. O ja, es war eindeutig, dass er einer von Gardeaux' Männern war. Und er kannte sie. Ihr Herz machte einen furchtsamen Satz. Weshalb stand sie immer noch hier herum? Sie machte kehrt und wandte sich zum -441-
Gehen. Hatte er sie bereits entdeckt? Sie wagte nicht, über die Schulter zu sehen. Wahrscheinlich hatte er höchstens ihren Hinterkopf und ihr Profil gesehen. Höchstens? Das wäre genug. Sie hatten Stunden miteinander verbracht Sie stürzte durch die Tür ins Foyer. Bitte. Hoffentlich hatte er sie nicht gesehen. Sie eilte die Treppe in den Hof hinab und wagte einen Blick zurück. Kabler schob sich mit grimmiger Miene durch die Gästeschar im Flur, erreichte sie, als sie auf der untersten Stufe stand, und drehte sie unsanft zu sich herum. »Lassen Sie mich los.« Sie starrte ihn zornig an. »Hier stehen überall Leute herum. Ich schreie.« »Das tun Sie nicht. Schließlich wollen Sie nicht alles kaputtmachen, weshalb Sie hergekommen sind. Ich habe Sie davor gewarnt, sich mit Tanek einzulassen. Sehen Sie nur, was er Ihne n angetan hat.« Seine Stimme war schmerzerfüllt. »Ich möchte Ihnen nicht wehtun. Geben Sie's auf. Ich kann immer noch dafür sorgen, dass Ihnen nichts passiert.« »Indem Sie bei Ihrem Freund Gardeaux ein gutes Wort für mich einlegen? « fragte sie in verbittertem Ton. »Dieser Widerling ist nicht mein Freund, und was ich zu sagen hätte, wäre ihm egal, wenn er erst einmal wüsste, wer Sie sind.« »Sie haben es ihm nicht gesagt? « »Ich habe gesagt, ich dächte, ich hätte jemand Bekannten gesehen. Ich will nicht, dass Sie sterben, Nell. Aber Tanek ist mir egal. Er ist genauso ein Schwein wie die anderen.« »Und was sind Sie? « Er fuhr zusammen, als hätte sie ihm einen Schlag versetzt. »Ich -442-
kann einfach nicht mehr. Ich habe zu lange gegen diese Kerle angekämpft. Als ich damals aus Idaho nach Hause kam, wartete wieder mal einer von Gardeaux' Männern auf mich. Genau wie der Arzt meines Sohnes. Mein Sohn hat Leukämie. Er hat die beste Behandlung verdient, und jetzt kann ich sie ihm geben. Sie sind einfach unschlagbar. Sie haben zuviel Geld und zuviel Macht. Niemand kommt gegen sie an.« »Also haben Sie die Seite gewechselt. Wieviel bezahlt er Ihnen, Kabler? « »Genug. Endlich kann ich meiner Frau ein paar der Dinge schenken, die sie schon lange verdient hat. Meine Kinder werden auf gute Schulen gehen, so dass ihnen später alle Möglichkeiten offen stehen. Ich werde ihnen alles geben können, was das Herz begehrt.« »Wie schön für Sie. Ich habe kein Kind. Gardeaux hat es umgebracht.« »Aber Sie leben. Und ich will, dass es so bleibt. Sie sind nicht wie sie.« »Bin ich vielleicht wie Sie? « Er nickte. »Es ist egal, was mit ihnen passierte. Calder und die Frau waren mir egal. Sie waren ebenso schmutzig wie Gardeaux.« Sie starrte ihn entgeistert an. Die Verbindung zwischen ihm und der Explosion hatte sie bisher noch nicht hergestellt. »Sie haben sie umgebracht? « Er schüttelte den Kopf. »Ich habe Gardeaux nur gesagt, wo er sie finden kann. Er wollte, dass ich Sie dorthin bringe, um später behaupten zu können, man wäre mir gefolgt.« Er setzte ein schmerzliches Lächeln auf. »Meine Position ist sehr wertvoll für sie, und er wollte nicht, dass mein Job in irgendeiner Weise gefährdet wird.« »Sie haben mich benutzt. Sie haben genau das getan, was -443-
Nicholas von Ihnen vorgeworfen worden ist.« »Sie hatten ein Recht zu erfahren, dass Calder noch am Leben war.« »Und wie erklären Sie Ihre Anwesenheit hier auf dem Fest? Ihre Leute wissen über Gardeaux Bescheid.« »Ich versuche lediglich, Informationen zu bekommen. Ich mache nur meine Arbeit.« Er blickte über seine Schulter zurück. »Wir stehen schon zu lange hier herum. Tanek wird jeden Augenblick auftauchen, und ich will nicht, dass Sie in der Nähe sind, wenn es passiert.« »Sie werden Gardeaux bei Nicholas' Ermordung behilflich sein.« »Das brauche ich gar nicht. Das ist nicht der Grund, weshalb ich gekommen bin. Gardeaux wollte, dass ich komme und ihm die Hand schüttele, um einem möglichen Schaden vorzubeugen, den Nicholas seinem Ruf zuzufügen versucht.« Er nahm ihren Arm. »Ich bringe Sie auf mein Zimmer und bleibe mit Ihnen dort. Wenn alles vorbei ist, können Sie gehen.« Wenn alles vorbei war. Wenn Nicholas ermordet war. »Was, wenn ich mich weigere, mitzugehen? « »Dann muss ich Gardeaux erzählen, wer Sie sind. Und dann bringt er Sie ebenso wie Tanek um.« Mit sanfter Stimme sagte er: »Aber das möchte ich nicht, Nell. Ich möchte, dass Sie mit heiler Haut aus dieser Sache herauskommen. Also, kommen Sie? « Er bluffte nicht. Er würde Gardeaux sagen, wer sie war. Er wollte sie retten, aber eher ließe er sie sterben, als dass er seine Beziehung zu dem Gangster gefährdete. »Also gut.« Mit einem Satz war er neben ihr, nahm ihren Ellbogen und kehrte mit ihr ins Haus zurück. »Ich habe eine Waffe unter der Jacke dieses Affenkostüms. Dachte, es interessiert Sie vielleicht.« Er führte sie die Treppe -444-
hinauf. »Lächeln Sie«, murmelte er. Sie blickte auf die Standuhr neben der Ballsaaltür und klammerte sich panisch am Geländer fest. Fünf vor elf. 23.10 Uhr Vier Leute stiegen aus der Limousine, als sie im Hof zum Stehen kam. Zwei Männer im Smoking und zwei Frauen, deren üppige Renaissancekleider man unter den Samtumhängen kaum sah. Fröhliches Geplauder und Gelächter wurden laut. Die perfekte Gelegenheit für Nicholas, der aus dem Schatten der Bäume kam, eilig über die Zugbrücke ging und im Gefolge der vier Gäste den Hof betrat. »Ah, Tanek, da sind Sie ja.« Gardeaux trat auf die Vordertreppe hinaus und sah niemanden außer Tanek an. »Ich erwarte Sie bereits.« Nicholas blieb stehen und trat dann näher an die Gästegruppe heran. »Parties konnte ich noch nie widerstehen.« »Ich fürchte, diese Party wird kein allzu großer Genuss für Sie.« Er winkte mit der Hand, und die Gruppe der vier anderen Gäste teilte sich wie das Rote Meer. »Offenbar haben Sie niemanden vorausgeschickt.« Die vier Personen, denen er sich angeschlossen hatte, eilten zu der Limousine zurück. »Ihre Leute? « »Offensichtlich. Hatten Sie etwa gedacht, mit einem so billigen Trick kämen Sie durch? Sie haben mir Ihre genaue Ankunftszeit genannt, und ich brauchte nur diese kleine Falle aufzustellen. Ich konnte ja wohl kaum zulassen, dass Sie in meinen Ballsaal spazieren. Vielleicht hätten Sie mich bei Ihrem Auftritt in Verlegenheit gebracht.« Er blickte über die Schulter zurück. »Rivil, wir werden Mr. Tanek ins Auditorium begleiten. Sie -445-
erinnern sich an Rivil, Tanek? « »Wie hätte ich ihn je vergessen sollen? « Nicholas beobachtete, wie Rivil die Treppe herunterkam. »Er hat einen ziemlichen Eindruck auf mich gemacht.« Hinter Rivil kam ein kleiner Mann die Stufen herab. Marple, ein boshafter Kerl, der für seine hervorragenden Reflexe berühmt und für seine Fähigkeiten mit dem Würgeisen berüchtigt war. »Kein besonders schönes Wortspiel«, sagte Gardeaux. »Aber es freut mich, dass Sie nicht allzu erschüttert sind. Es macht die Dinge interessanter, wenn Sie nicht so schnell den Mut verlieren.« Sein Blick fiel auf das in Leder gehüllte Schwert, das Nicholas trug, und in seinem Blick flackerte eine gewisse Erregung auf. »Ist es das? « Als Nicholas nickte, eilte Gardeaux die Stufen hinab und nahm ihm die Waffe ab. »All der Ärger für nichts und wieder nichts. Sie haben nachgelassen, Tanek.« Er begann, das Schwert auszuwickeln. »Schafft ihn vom Hof.« »Angenommen, ich habe keine Lust, mitzugehen? « fragte Nicholas. »Dann versetzt Ihnen Rivil einen Schlag auf den Kopf und trägt Sie, wohin ich will.« Gardeaux wandte sich zum Gehen. »So einfach ist das.« Er kannte Nicholas gut genug, um zu wissen, dass dieser sich nicht in sinnlose Gefechte verwickeln ließ, und so bedeutete er Rivil und Marple, seinem Gast zu zeigen, wie es ins Auditorium ging. 23.20 Uhr Im Auditorium angekommen, riss Gardeaux das Schwert aus der Lederscheide und hielt es ins Licht. »Göttlich«, flüsterte er. »Wunderbar. Ich spüre geradezu seine Kraft.« Er strich liebevoll mit der Hand über das Metall, ehe er den -446-
langen Gang in Richtung der Bühne und des Laufstegs hinunterschlenderte. »Bringt ihn her. Sie haben mein Auditorium noch nie gesehen, nicht wahr? Heute nachmittag haben hier die größten Fechtmeister Europas gegeneinander gekämpft. Außer Pietro. Obwohl er wahrscheinlich besser als sie alle ist.« Vor dem Laufsteg blieb er stehen und wies auf den großen, schlanken Fechter, der dort stand. »Darf ich Ihnen Pietro Danielo vorstellen? « In dem weißen Fechtanzug und hinter der Drahtmaske wirkte der Mann so anonym wie ein Roboter. »Ich wünsche mir schon seit langer Zeit, Sie beide gegeneinander kämpfen zu sehen.« Er bot Nicholas das Schwert. »Ich überlasse Ihnen sogar die Waffe des Eroberers. Vielleicht bringt sie Ihnen ja Glück.« Nicholas ignorierte das Schwert. »Ich kämpfe nicht mit ihm. Ich werde Sie nicht unterhalten, Gardeaux.« »Pietro, kommen Sie her.« Der Fechter sprang vom Laufsteg und trat mit gezückter Waffe zu Gardeaux und Nicholas. Rivil und Marple wichen furchtsam vor ihm zurück. »Zeigen Sie Tanek Ihr Schwert. In letzter Zeit hat er sein Interesse an Fechtwaffen entdeckt.« Pietro zielte mit dem Schwert in Richtung von Nicholas' Brust. »Sehen Sie sich die Spitze an, Tanek.« Die stählerne Spitze schimmerte feucht im starken Deckenlicht. »Colona. Als ich erfuhr, dass Sie kommen, habe ich einen neuen Vorrat in Medellin bestellt. Pietro braucht Ihnen nur einen winzigen Kratzer zuzufügen, und schon ist es zu spät. Erinnern Sie sich daran, wie klein O'Malleys Wunde war? Aber nur zu Anfang, nicht wahr? Kurze Zeit später formte sich eine winzige Blase um den Kratzer herum. Und als er starb, sah sein Körper wie eine einzige Masse von Blasen und Wunden aus. Der Virus hat ihn von innen gefressen, bis nichts mehr übrig war.« -447-
Nicholas starrte wie gebannt auf die Spitze des Schwerts. »Ich erinnere mich.« »Wenn Pietro Ihnen jetzt die Haut aufschlitzt, haben Sie keine Chance. Also nehmen Sie das Schwert. Es ist eine Waffe. Sie sind ein cleverer Mann. Nutzen Sie die Gelegenheit.« »Und wenn ich gewinne, richten Rivil und Marple eine Waffe auf mich und versetzen mir dann einen Stich mit Pietros Schwert.« »Ich habe nicht gesagt, dass dies die beste Gelegenheit Ihres Lebens ist.« »Und Sie sitzen da wie Gott und sehen zu, wie Ihr Wille geschieht.« »Etwas Aufregenderes gibt es einfach nicht«, sagte Gardeaux und hielt Tanek erneut die von ihm mitgebrachte Waffe hin. »Nehmen Sie sie.« Pietro schob sein Schwert noch ein bisschen näher an Nicholas' Brust heran. »Nehmen Sie sie«, wiederholte Gardeaux in sanftem Ton. Die Sache ging zu schnell, dachte Nicholas. Noch fünfundzwanzig Minuten, bis der Raum endlich im Dunkeln lag. »So wollen Sie ja wohl nicht sterben«, sagte Gardeaux. Mit einem Mal sah Nicholas Terence vor sich, wie er, sich vor Schmerzen windend, gestorben war, und er trat einen Schritt zurück. »Nein, das will ich nicht.« Er nahm die von Gardeaux gebotene Waffe, machte kehrt und sprang auf den Laufsteg hinauf. »Bringen wir's hinter uns.« 21.35 Uhr Nell riss die Samtvorhänge vor dem Fenster auf. Im Auditorium waren sämtliche Lampen an. -448-
Ihre Hand vergrub sich im Vorhangstoff. Dort unten war Nicholas. Gardeaux hatte ihn dorthin gebracht, um ihn zu töten. »Kommen Sie vom Fenster weg«, sagte Kabler vom anderen Ende des Raums, und sie fuhr zu ihm herum. »Das können Sie nicht tun. Er ist dort unten. Wissen Sie, was man ihm dort antun wird? « »Nach Einzelheiten habe ich nicht gefragt.« Er sah sie an. »Es tut mir leid, aber Sie scheinen ein wenig verzweifelt zu sein. Ich fürchte, dass ich ein paar Sicherheitsvorkehrungen treffen muss.« Er zog eine Waffe aus dem Holster und zielte damit auf sie. »Und jetzt kommen Sie zurück und setzen sich. Ich bin nicht wie Calder - ich weiß über Ihre Fähigkeiten Bescheid. Mich überraschen Sie nicht.« »Sie sind also ernsthaft bereit, mich eigenhändig umzubringen?« »Nicht, wenn es sich vermeiden lässt.« »Aber Sie würden es tun. Macht Sie das nicht zu einem ebensolchen Widerling wie Gardeaux? « Sein Mund war ein schmaler, zorniger Strich. »Ich werde nie so sein wie er.« »Das werden Sie, wenn Sie mich umbringen.« Sie ging in Richtung der Tür. »Aber ich glaube nicht, dass Sie es tun.« »Bleiben Sie hier.« »Vielleicht lassen Sie zu, dass Gardeaux mich umbringt, aber Sie selbst werden es nicht tun. Wir sind einander ähnlich, wir sind nicht wie sie.« Sie spielte mit seiner Vernunft. »Sie könnten es niemals vor sich rechtfertigen, brächten Sie mich um.« »Bleiben Sie stehen. Ich kann Sie nicht gehen lassen.« Sie konnte nicht stehen bleiben. Sie war von panischer Angst um Nicholas erfüllt. Als ihre Hand den Türgriff umklammerte, murmelte er einen Fluch und warf sich quer durch den Raum. Gleichzeitig fuhr sie herum und versetzte ihm einen gezielten Tritt in den Unterleib. -449-
Mit einem Schrei kippte er nach vorn. Ein zweiter Tritt in die Lenden und ein Handkantenschlag in sein Genick führten dazu, dass er bewegungsunfähig, aber immer noch nicht bewusstlos war. Doch sie musste dafür sorgen, dass er ihr nicht erneut in die Quere kam. Also nahm sie die Waffe, die er bereits beim ersten Tritt hatte fallen lassen, und hieb ihm den Knauf auf den Kopf. Endlich klappte er die Augen zu. Sie öffnete die Tür und rannte den Korridor und die Treppe hinab. Ihr Blick flog auf die Uhr. O Gott, zehn vor zwölf. Keine Zeit, um den Wachmann vor dem Auditorium aus dem Verkehr zu ziehen. Keine Zeit, um die Lichter zu löschen und Nicholas die Dunkelheit zu geben, ohne die er sicher nicht entkam. Sie kam zu spät. 23.51 Uhr Wo, zum Teufel, steckte sie? Pietro sprang auf ihn zu, berührte ihn beinahe mit der Spitze seines Schwerts und tänzelte davon. Der Fechter spielte nur mit ihm. Er lieferte Gardeaux eine unterhaltsame Show. Während der letzten zehn Minuten hätte er ihm die Spitze des Schwerts mindestens ein Dutzend Mal problemlos in die Haut stechen können, denn Nichola s fühlte sich unbeholfen wie ein Bär, der eine Waffe in der Tatze schwang. Ihm blieb nichts anderes übrig, als Pietros Angriffen auszuweichen, so gut es ging, damit dieser ihn hoffentlich nicht traf. Er warf einen Blick auf die Uhr an der Wand. Acht Minuten vor zwölf. -450-
Er warf einen Blick auf Gardeaux, der in der ersten Reihe saß. »Und, werden Sie müde, Tanek? « fragte dieser ihn. Nicholas blockte Pietros Angriff ab und wich vorsichtig zurück. »Ich hätte gedacht, dass Sie kräftiger sind«, rief Gardeaux. »Pietro kann stundenlang weitermachen, wenn er will.« Sieben Minuten vor zwölf. Da er nicht länger warten konnte, senkte er sein Schwert. »Geben Sie etwa auf? Ich bin enttäuscht. Ich hätte gedacht...« Nicholas hob das Schwert und warf es wie einen Speer in Richtung seines Angreifers. Der Mann schrie, als die Waffe in seinen Oberschenkel fuhr und ihn zu Boden warf. Nicholas sprang vom Laufsteg und hetzte in Richtung des Sitzes, unter dem hoffentlich seine Waffe lag. Eine Kugel zischte dicht an seinem Kopf vorbei. »Halt ihn auf. Aber erschieß ihn nicht, du Narr.« Nein, Gardeaux verzichtete gewiss nicht auf den Genuss, ihn leiden zu sehen. Er griff unter den Sitz und zerrte die Magnum hervor. Ehe er allerdings die Waffe auch nur anheben konnte, hatten sie ihn erreicht. Rivil griff ihn an und trat ihm die Pistole aus der Hand. Gardeaux stand vor ihm und lächelte. Wahrscheinlich hatte er angesichts von Terences Hilflosigkeit ebenso gelächelt, dachte Nicholas, und eine Woge des Hasses überflutete ihn. »Sie Hurensohn.« Er fuhr auf und versetzte Gardeaux einen Schlag ins Gesicht. Rivil trat Nicholas in den Bauch, und Marple schlug ihm den Knauf seiner Waffe gegen den Kopf, so dass er benommen zu Boden ging. Gardeaux' Gesicht war über ihm. Seine Lippe war aufgerissen und blutete, und sein Lächeln hatte sich gelegt. »Holt mir Pietros Schwert.« -451-
Während Rivil in Richtung der Bühne ging, versuchte Nicholas, sich zu erheben, doch Gardeaux stellte ihm einen Fuß auf die Brust. »Fühlen Sie sich hilflos, Tanek? Haben Sie solche Angs t, dass Sie am liebsten kotzen würden? « Rivil reichte ihm Pietros Schwert. »Aber das ist noch nichts im Vergleich zu dem, was Sie in ein oder zwei Tagen erwartet.« Das Schwert zielte auf die Stelle oberhalb von Nicholas' Schulter. »Nicht zu tief. Schließlich will ich, dass Ihr Tod schön langsam kommt.« Nicholas sah die Spitze des Schwerts aufblitzen, als sie sich seiner Schulter näherte, und dann trieb Gardeaux die Waffe wenige Millimeter in ihn hinein. Nicholas biss die Zähne aufeinander, damit ihm kein lauter Schmerzensschrei entfuhr, und Gardeaux zog das Schwert wieder aus ihm heraus. Warmes Blut strömte aus seiner Schulter, und Nicholas machte die Augen zu. »Frohes Neues Jahr.« Gardeaux wirbelte herum. Zahlreiche Menschen strömten durch die Tür des Auditoriums, und er starrte sie verwundert an. Dann kam auch noch das Orchester herein und bewegte sich unter den Klängen eines bekannten Neujahrsliedes auf die Bühne zu. »Was in aller Welt hat das zu bedeuten? « Konfetti wirbelte durch die Luft und Knallfrösche brachen los. »Frohes Neues Jahr! « »Mein Gott, da ist der Premierminister«, Gardeaux blickte auf Nicholas hinab. »Rivil, schaffen Sie ihn hier raus! Durch die Hintertür. Sie haben ihn noch nicht gesehen.« Vorsichtig reinigte er Pietros Schwert und schob es unter einen Sitz. Dann zog er ein Taschentuch hervor und tupfte an seiner Lippe herum. »Marple, das Schwert von Karl dem Großen liegt noch auf dem -452-
Laufsteg. Sagen Sie Pietro, dass er es holen soll, ehe einer dieser Narren drüber stolpert.« Er setzte ein Lächeln auf und ging in Richtung der Gäste davon. Rivil zog Nicholas auf die Füße und zerrte ihn zur Hintertür, doch mit einem Mal trat ihm Nell in den Weg. »Ich kümmere mich um ihn.« Als er versuchte, sie zur Seite zu schieben, wiederholte sie: »Ich kümmere mich um ihn«, und zog eine Waffe aus den Falten ihres Kleids. Ihre Stimme zitterte. »Lassen Sie ihn los, Sie Schwein.« Mit einem Schulterzucken ließ Rivil von Nicholas ab. »Nehmen Sie ihn. Gardeaux hat nur gesagt, dass er ihn hier nicht mehr sehen will. Er ist fertig mit ihm. Es wird ihm egal sein, wer ihn jetzt übernimmt.« Er ging in Richtung der Gästeschar davon, von der Gardeaux inzwischen umgeben war. Sie legte ihren Arm um Nicholas' Brustkorb, schlang seinen Arm um ihre Schulter und sagte: »Stütz dich auf mich, so gut es geht.« »Das muss ich wohl. Ich fühle mich nämlich nicht allzu gut.« »Es tut mir leid«, flüsterte sie, und Tränen strömten über ihr Gesicht. »Ich habe versucht - Kabler - ich konnte nicht...« »Ich bin zu benommen, um zu verstehen, was du da sagst. Am besten erklärst du es mir später noch einmal.« Er blickte über seine Schulter zurück. »Aber was in aller Welt machen die ganzen Leute hier? « Sie öffnete die Tür. »Ich war zu spät«, sagte sie in gehetztem Ton. »Ich wusste nicht, wie ich die Wache vor der Tür des Auditoriums ablenken sollte, um rechtzeitig bei dir zu sein. Also bin ich zum Orchester gerannt und habe über das Mikrophon verkündet, dass Gardeaux das neue Jahr dort begrüßen will, wo die Athleten ihre größten Triumphe gefeiert haben. Die Menge hat den Wachposten einfach überrannt. Etwas anderes fiel mir nicht ein.« -453-
»Gut.« »Es war nicht gut«, widersprach sie ihm. »Ich war zu spät. Sie haben dir wehgetan. Wie schlimm ist es? « »Ein Schlag auf den Kopf und ein Schwertstich in die Schulter.« Sie rang nach Luft. Schwertstich. Mit was für einem Schwert?« »Einem sehr üblen. Dem von Pietro. Ich glaube, du schaffst mich besser in ein Krankenhaus.« »O Gott.« Er wurde mit jeder Minute benommener. »Bring mich einfach zu Jamie. O. k.? « Sie nickte und half ihm über den Hof. Als sie die Zugbrücke erreichten, sahen die Wachposten noch nicht einmal auf. »Du hast gesagt, ich müsste sie loswerden«, sagte sie. »Sie interessieren sich nicht für uns.« »Ebenso wenig wie Gardeaux.« Ihr Griff um seinen Brustkorb verstärkte sich. »Zur Hölle mit ihm.« Sein Anblick schmerzte sie, und am liebsten hätte er sie getröstet, doch im Augenblick konnte er es nicht. Später. Später nähme er sie in den Arm und hielte sie, so fest es ging. Die Notaufnahme des Krankenha uses war hoffnungslos überfüllt, und Dr. Minot, der verantwortliche Arzt, war nicht in der Stimmung, um auf Nicholas Forderungen einzugehen. »Die Wunde ist nicht tief, Monsieur. Wir werden Ihnen ein paar Antibiotika und eine Tetanusspritze geben. Eine Blutuntersuchung ist nicht erforderlich.« » Machen Sie trotzdem eine «, bat Nicholas. » Sie wissen, wie wir Hypochonder sind.« »Für solche Sachen haben wir keine Zeit. Wenn Sie wollen, schicken wir eine Blutprobe ins Labor. In ein, zwei Tagen haben -454-
wir dann die Ergebnisse.« »Ich brauche sie aber jetzt.« »Unmöglich. Ich kann nicht...« Nell trat vor, bis sie nur noch wenige Zentimeter vor dem Doktor stand. »Sie werden es tun.« Ihre Augen blitzten ihn zornig an. »Und zwar nicht morgen, sondern jetzt.« Der junge Arzt trat unwillkürlich einen Schritt zurück, doch dann sah er sie mit einem gezwungenen Lächeln an. »Aber natürlich, einer so wunderbaren Frau wie ihnen schlägt wohl kaum jemand jemals eine Bitte ab.« »Wie lange wird es dauern? « »Fünf Minuten. Länger nicht.« Er zog sich eilig zurück, und Nicholas sah sie mit einem müden Lächeln an. »Was hättest du mit ihm gemacht, wenn er sich nicht bereit erklärt hätte, sich die Blutprobe anzusehen? « »Das, was erforderlich gewesen wäre. Vielleicht hätte ich mit ihm geschlafen, vielleicht hätte ich ihn aber auch umgebracht.« Sie setzte sich auf die Kante seines Betts. »Wie fühlst du dich? « »Beschützt.« »Auf Bellevigne habe ich dich nicht besonders gut beschützt.« »So etwas kann passieren. Schließlich hattest du nicht mit Kabler gerechnet. Ebenso wenig wie ich. Wo ist Jamie? « »Sitzt immer noch im Wartezimmer herum. Sie haben nur einem von uns erlaubt, mit dir zu gehen. Wird Minot sagen können, wie schlimm es ist? « Er nickte. »Die Mikroben sehen ziemlich eigenartig aus. Unter einem Mikroskop entdeckt man sie auf jeden Fall.« »Und was machen wir dann? « Er wich ihrer Frage aus. »Wir sollten die Mikroben erst zählen, wenn es soweit ist...« »Halt den Mund.« Ihre Stimme zitterte. »Wag es ja nicht, -455-
darüber Witze zu machen.« »In Ordnung.« Er lächelte. »Warten wir es einfach ab.« Statt nach fünf Minuten kam der Arzt natürlich erst nach einer Viertelstunde zurück, und als er den Raum betrat, runzelte er bedenklich die Stirn. »Na also. Alles vollkommen normal. Die Blutuntersuchung war die reinste Zeitverschwendung. Ich hoffe, dass Sie jetzt zufrieden sind.« Nell starrte ihn verwundert an. »Vollkommen normal? « fragte Nicholas. »Allerdings.« Mit einem »Gott sei Dank« sank Nicholas in die Kissen zurück. »Und jetzt verschreibe ich Ihnen ein paar Antibiotika und ein leichtes Beruhigungsmittel wegen möglicher...« »Ich brauche ein Telefon«, sagte Nicholas und setzte sich wieder auf. »Hier gibt es keins.« »Sie können eins benutzen, nachdem ich...« Nach einem Blick auf Nell sagte der Arzt: »Ich sage der Schwester, dass sie eins bringen soll«, und verließ fluchtartig den Raum. »Wie ist das möglich? « flüsterte Nell. »Ein Wunder? « »Kein Wunder«, widersprach Nicholas, schnappte sich den Hörer des Telefons, das ihm gebracht worden war, und wählte die Nummer von Gardeaux. »Viel simpler als das.« Als Nicholas mit Gardeaux verbunden wurde, war dieser nach wie vor im Auditorium. Die Party war immer noch in vollem Schwung. »Würden Sie mich bitte entschuldigen? « fragte Gardeaux, als sich einer seiner Angestellten mit dem tragbaren Telefon näherte. »Jemand, der so spät noch anruft, braucht vielleicht Hilfe.« »Oder einen weiteren Drink«, lachte der Premierminister -456-
vergnügt. »Sagen Sie ihm einfach, dass er auf die Party kommen soll. Sie haben den besten Wein, den es in ganz Frankreich gibt.« Gardeaux lächelte und zog sich in eine ruhige Ecke zurück. Er hätte den Anruf ignorieren können, aber das Vergnügen, mit Tanek zu sprechen, nähme er sich nicht. »Was gibt's? « fragte er. »Kommt allmählich Panik in Ihnen auf? Aber alles Flehen der Welt nützt Ihnen nichts. Sie wissen, dass es kein Gegenmittel gibt.« »Ich wollte Ihnen nur sagen, dass das Schwert von Karl dem Großen eine Fälschung ist.« Vor Zorn wurde Gardeaux siedendheiß. »Das würden Sie selbst dann sagen, wenn es echt wäre.« »Es wurde von Hernando Armandariz in Toledo gemacht. Prüfen Sie es nach.« Gardeaux nahm einen beruhigenden Atemzug. »Das Schwert ist egal. Ich habe gewonnen. Sie sind ein toter Mann. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen wollen, ich muss zu meinen Gästen zurück.« »Ich will Sie nicht länger aufhalten. Ich wollte Ihnen nur sagen, dass morgen früh ein Kurier aus dem Krankenhaus ›Unsre Liebe Frau‹ zu Ihnen kommen wird.« Er machte eine Pause. »Und dass Sie vielleicht mal in den Spiegel sehen sollten.« Mit diesen Worten hängte er ein. Gardeaux blickte mit gerunzelter Stirn auf das Telefon. Die Bedeutung von Taneks Worten war ihm nicht klar. Natürlich würde er in keinen Spiegel sehen. Sollte er sich wegen dem, was er getan hatte, vielleicht als eine Art Monster sehen? Er war der Sieger dieses Duells. Es gab also keinen Grund, weshalb... Sein Bild im Badezimmerspiegel sah wie immer aus. Es war das Bild eines erfolgreichen, mächtigen Mannes, eines Eroberers. -457-
Gerade als er sich abwenden wollte, fuhr er allerdings noch einmal herum. Nicholas hatte ihm mit seinem Fausthieb die Lippe aufgerissen, und nun fiel das Licht geradewegs auf diesen Schnitt. Als Gardeaux die winzigen Bläschen in der Umgebung der Wunde sah, entfuhr ihm ein erbärmlicher Schrei. »Colona?« Nell schüttelte verwundert den Kopf, während sie Nicholas vor dem Krankenhaus in den Wagen half. »Gardeaux hat Colona? Das ist vollkommen verrückt. Ich verstehe überhaupt nichts mehr.« »Es hat also funktioniert? « Jamie, der auf dem Fahrersitz saß, drehte sich zu ihnen um, und sein Gesicht wurde von einem fröhlichen Lächeln erhellt. »Du hast den Bastard tatsächlich zur Strecke gebracht? « »Ganz bestimmt.« Nicholas lehnte sich auf seinem Sitz zurück. »Wir werden es morgen überprüfen, aber ich wette, er ist im Augenblick auf dem Weg ins nächste Krankenhaus.« »Wie das? « fragte Nell. Nicholas nahm sein Taschentuch und zog vorsichtig den Siegelring von seinem Mittelfinger. »Eine moderne Version des Giftrings, wie er in der Renaissance gang und gäbe war. Ich fand ihn passend, denn schließlich hat Gardeaux eine Vorliebe für diese Zeit.« Er legte den Ring in das Taschentuch und band die vier Ecken zusammen, ehe er das Päckchen in den Aschenbecher des Wagens schob. »Bei Druck öffnet sich die Initiale in der Mitte und gibt eine kleine Menge des Giftes frei.« Nell erschauderte, als ihr klar wurde, dass Nicholas den Ring die ganze Zeit über getragen hatte, als er in die Kämpfe mit Gardeaux' Männern verwickelt gewesen war. »Ich habe schon aufgepasst.« Wieder einmal wusste Nicho las, was ihr durch den Kopf gegangen war. -458-
»Du hast Glück gehabt«, sagte sie. »Aber woher hattest du das Gift? « »Von dort, woher auch Gardeaux es bezieht. Aus Medellin. Von Paloma und Juarez.« Paloma und Juarez. Sandequez' Partner im Drogenkartell. »Sie haben dir das Gift gegeben, damit du einen ihrer eigenen Männer zur Strecke bringst? « »Nicht sofort. Ich habe zwei Wochen lang wie auf glühenden Kohlen in Medellin gesessen und darauf gewartet, dass sie sich entscheiden. Es hätte auch anders ausgehen können. Erst heute abend, also in letzter Minute, wurde klar, dass ich von ihnen nicht betrogen worden bin.« Abermals lehnte er sich müde in seinem Sitz zurück. »Es fiel alles auseinander, und ich musste etwas tun. Ich dachte, dass Sandequez' Tod vielleicht der Schlüssel zu allem war. Also bin ich nach Paris gefahren und habe Pardeau ein bisschen unter Druck gesetzt. Er war derjenige der Buch führte über die Belohnung, die von der kolumbianischen Drogenbehörde an Gardeaux bezahlt worden war, also habe ich ihm erklärt, ich wäre unterwegs nach Medellin, und entweder bekäme er es mit Gardeaux oder aber mit dem gesamten kolumbianischen Drogenkartell zu tun. Am Ende hat er mir die Bücher gegeben.« »Und du hast sie Paloma und Juarez gebracht als Beweis, dass Gardeaux für Sandequez' Ermordung verantwortlich war.« »Was ihnen ganz und gar nicht gefallen hat. Eintracht ist ihnen das Wichtigste, denn nur durch sie ist ihr Leben garantiert. Wenn Gardeaux für Sandequez' Tod verantwortlich war, wer hätte sagen können, ob er nicht weiter am bestehenden Machtgefüge sägen würde, indem er sie einen nach dem anderen erledigte. Andererseits gilt es als schlechte Politik, wenn man eine Lücke in den eigenen Reihen eingesteht, und Gardeaux war ein ziemlich wertvoller Mann für sie. Von daher bestand durchaus die Möglichkeit, dass sie das Risiko eingehen würden, -459-
ihn bei der Stange zu halten.« »Aber sie kamen zu dem Schluss, dass es besser wäre, einen Verräter wie ihn los zu sein? « »Ich sagte, ich würde die Angelegenheit für sie bereinigen. Wenn Gardeaux von einem Außenseiter getötet würde, wäre ihr größtes Problem gelöst, und nach zwei Wochen gaben sie mir endlich grünes Licht. Gardeaux hatte eine neue Sendung Colona bestellt, und sie wollten dafür sorgen, dass er statt des Serums irgendeine harmlose Flüssigkeit bekam. Mich hingegen haben sie mit dem Giftring und den besten Wünschen auf den Weg geschickt.« »Warum hast du mir nichts davon erzählt? « fragte Nell erbost. »Weil ich nicht sicher war, dass es stimmte. Immerhin bestand durchaus die Möglichkeit, dass sie mich ebenfalls in den Tod schicken wollten, dass sie das Serum nicht ausgetauscht hatten und dass der Ring gar kein Colona enthielt. Oder dass nicht nur der Ring, sondern auch Pietros Schwert vergiftet war. Auf diese Weise wären sie uns beide los gewesen. Es gab einfach zu viele Unwägbarkeiten, um sicher zu sein.« »Und warum habe ich die Waffe versteckt, wenn du bereits mit dem Ring ausgestattet warst? « »Als zusätzliche Sicherheit. Ich wusste, dass Gardeaux' Männer mich nicht in seine Nähe lassen würden. Darum wollte ich, dass du die Lichter löschst. Ich dachte, dann käme ich vielleicht nahe genug an ihn heran.« Doch diese Chance hatte er gar nicht erst gehabt. »Ich habe es einfach nicht rechtzeitig geschafft.« »Immerhin hatte ich ja noch die Waffe, die von dir unter dem Sitz versteckt worden war. Nur weil ich mit der Magnum herumgefuchtelt habe, kam er überhaupt nahe genug an mich heran.« Er schüttelte den Kopf. »Fast hätte ich es nicht geschafft.« -460-
»Aber du hast es geschafft«, mischte sich Jamie ein. »Und was kommt als nächstes? Meinst du, dass Gardeaux dir irgendwelche Killer auf den Hals hetzen wird? « »In spätestens vierundzwanzig Stunden wird ihn nichts mehr interessieren außer ihm selbst.« »Wohin fahren wir? Zum Haus? « »Nein«, sagte Nell. »Ich will nach Paris zurück.« Nicholas nickte. »Warum nicht? Jamie, ich will, dass du Pardeau für ein, zwei Tage in Sicherheit bringst, bis wir bezüglich Gardeaux' Zustands sicher sind. Ich habe ihm versprochen, dass ihm nichts passiert.« »Aber natürlich schützen wir sämtliche Schweine und Idioten, die es in unserer Mitte gibt«, sagte Nell in erbostem Ton. Jamie bedachte sie mit einem vorsichtigen Blick und ließ den Motor an. »Bist du sehr böse auf mich? « fragte Nicholas leise, und als Nell nicht reagierte, schloss er die Augen. »Dann ruhe ich mich vielleicht besser aus, damit ich wieder bei Kräften bin, wenn das große Gefecht beginnt. Weck mich, wenn wir in Paris angekommen sind.« Nell warf die Tür ihres Appartements hinter sich ins Schloss. »Geh ins Bett. Ich gehe in die Apotheke und hole dir deine Medizin.« »Das ist nicht erforderlich.« »O doch. Oder meinst du vielleicht, dass ich dazu auch nicht in der Lage bin? « »Also gut, mach deinem Ärger Luft«, seufzte Nicholas. »Du hättest mich dir helfen lassen sollen.« »Das habe ich getan.« »Du hättest mir von dem Colona erzählen sollen. Du hättest -461-
mich einbeziehen können.« »Ja, das hätte ich.« »Statt dessen lässt du mich im dunkeln tappen, während du...«, sie unterbrach sich und fuhr müde fort: »Vielleicht hattest du recht. Noch nicht einmal das bisschen, was ich tun sollte, habe ich richtig gemacht. Um ein Haar hätten sie dich umgebracht.« »Du hast getan, was du konntest.« »Aber es war nicht genug. Ich hätte Kabler schneller ausschalten sollen. Ich hätte rechtzeitig im Auditorium sein sollen, um das Licht auszumachen.« Abermals brach sie in Tränen aus. »Ich habe dich im Stich gelassen, verdammt.« »Das hast du nie getan. Schließlich bist du nicht Superfrau. So etwas passiert«, sagte er rauh, trat auf sie zu und nahm sie in den Arm. »Und der Grund, weshalb ich dir nichts von dem Colona erzählt habe, war, dass ich nicht wollte, dass du auch nur in die Nähe dieses Zeugs gelangst. Ich habe gesehen, was aus Terence geworden ist. Der Gedanke, dass du damit in Berührung kommen könntest, war einfach unerträglich für mich.« »Also bist du lieber selbst das Risiko eingegangen, das mit dem Gift verbunden war. Was meinst du, wie es mir ging, als du mir erzählt hast, dass die Wunde...« »Wie ging es dir, Nell? « »Du weißt genau, wie es mir ging.« »Ich will, dass du es mir sagst, Nell. Sag es mir nur ein einziges Mal.« »Ich fühlte mich schuldig, ich hatte Angst und...« »Du wolltest mich nicht verlieren.« »Also gut, ich wollte dich nicht verlieren.« »Warum? « »Weil ich mich an dich gewöhnt habe, weil du...« »Warum? « -462-
»Weil ich dich liebe, verdammt.« Sie vergrub ihr Gesicht an seiner Brust. »Und weil es weh tut. Ich wollte nicht, dass das passiert. Es hätte nicht passieren dürfen. Ich habe so dagegen angekämpft. Du bist der letzte Mensch - du mit deinen verdammten Schutzzäunen um dich herum. Du wirst sterben, genau wie Jill gestorben ist. Aber den Gedanken, dass so etwas noch einmal passiert, ertrage ich nicht.« »Wir alle sterben. Ich kann dir nicht versprechen, dass ich ewig leben werde.« Er nahm sie fester in den Arm. »Aber ich kann dir versprechen, dass ich dich lieben werde, solange ich am Leben bin.« »Das reicht nicht. Das will ich nicht. Verstehst du mich? « Sie schob ihn fort. »Ach, geh doch ins Bett. Ich will dich nicht mehr sehen. Ich hole dir jetzt deine Medizin.« Sie schnappte sich ihre Handtasche vom Tisch und ging zur Tür. »Und es bedeutet nicht - ich komme schon darüber hinweg.« »Darauf verlass dich lieber nicht.« Er lächelte. »Ich denke, am besten akzeptieren wir es und machen das Beste draus.« Sie warf die Tür hinter sich ins Schloss und wischte sich die Tränen mit dem Handrücken aus dem Gesicht. Akzeptieren? Sie konnte es nicht akzeptieren. Es hatte ihr das Herz zerrissen, Nicholas verwundet zu sehen und zu denken, dass er vielleicht starb. All der Schmerz, von dem sie nach Jills Tod beinahe zerstört worden war, war mit Macht zurückgekehrt und hatte gedroht, sie zu überwältigen. Sie hielt es einfach nicht aus. Sie konnte es nicht akzeptieren, jetzt und auch in Zukunft nicht.
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19. Kapitel 2.Januar Paris »Gardeaux liegt seit gestern im Krankenhaus«, sagte Jamie, als er mit einer Zeitung in der Hand das Appartement betrat. »Er leidet an einer nicht genannten Krankheit, und sein Zustand scheint kritisch zu sein.« Er grinste. »Wie traurig, nachdem sein Renaissancefest ein derart erinnerungswürdiger Erfolg gewesen ist.« »Und was ist mit Kabler? « Jamie zuckte mit den Schultern: »Er wird mit keinem Wort erwähnt. Ich wette, er ist bereits wieder nach Washington unterwegs und überlegt, wie er seinen Arsch retten kann.« »Er muss wissen, was mit Gardeaux passiert ist. Kann er dir deshalb etwas anhängen? « fragte Nell Nicholas. »Er wäre ein Narr, wenn er das jetzt noch versuchen würde. Schließlich sind Pardeaus Bücher in meinem Besitz, und in ihnen wird er eindeutig als Zahlungsempfänger genannt.« »Eine weitere Lebensversicherung? « »Zusammen mit Simpsons Büchern die beste, die es gibt.« »Und Kabler macht einfach beim DEA weiter wie bisher? « »Er ist ein cleverer Bursche. Ich bezweifle, dass sie jemals erfahren werden, dass er die Seite gewechselt hat. Vielleicht wird er eines Tages mit einer goldenen Uhr für besondere Treue zum Unternehmen in Pension geschickt.« Nell schüttelte den Kopf. »Man kann nicht alles haben«, sagte Nicholas ruhig. »Ich kann ihn nicht zur Strecke bringen. Sein Schweigen ist wichtig für uns.« -464-
»Aber vielleicht kriegen wir Maritz«, mischte sich Jamie ein. »Wie ich gehört habe, soll er in Südfrankreich sein. Auf jeden Fall wurde er in Monte Carlo gesehen.« Nell drehte sich zu ihm um. »Wann? « »Vor ein paar Tagen. Aber ich überprüfe die Sache noch.« »Und dann geben Sie mir Bescheid? « Nicholas sah sie fragend an. »Du wirkst nicht sonderlich aufgeregt.« »Mein Aufregungspotential ist erschöpft«, kam ihre trockene Erwiderung. »In den letzten paar Tagen hatte ich schließlich mehr als genug davon.« Sie stand auf und ging zum Schrank. »Wobei mir einfällt, dass ich Dumoit noch sein Kleid zurückbringen muss. Celine hat schon dreimal auf meinen Anrufbeantworter gesprochen. Offenbar ist sie bereits im Begriff, die Polizei zu verständigen.« Sie nahm das zerknitterte, blutbefleckte Kleid heraus und verzog das Gesicht. »Aber das macht sie bestimmt sowieso, wenn sie sieht, dass das Prachtstück von mir ruiniert worden ist.« Sie legte sich das Kleid über den Arm, nahm ihre Handtasche und ging zur Tür. »In ein paar Stunden bin ich zurück.« »Er ist nicht in Monte Carlo. Er ist hier«, sagte Tania mit flacher Stimme, als sich Nell telefonisch bei ihr erkundigte. »Aber wir sind nicht weit von Monte Carlo entfernt, und Joel und ich haben einen Tag dort verbracht.« »Und er ist euch dorthin gefolgt.« »Er folgt uns überallhin. Allmählich wird er nervös... und unvorsichtig. Gestern habe ich ihn gesehen.« »Wo? « »Auf der Uferpromenade. Nur eine Sekunde lang. Sein Spiegelbild tauchte in einem Schaufenster auf.« »Von der Sache mit Gardeaux hast du gehört? « -465-
»Allerdings. Ist er wirklich krank? Ich hätte etwas anderes erwartet.« »Aber Nicholas ist eben immer für eine Überraschung gut.« Und nach einer Pause fragte Nell: »Ist es bald soweit? « »Sehr bald. Ich will nur sicher sein, dass er bereit ist, zuzuschlagen. Ich rufe dich an. Am besten hältst du dich immer in der Nähe deines Appartements auf.« »Das ging aber schnell«, sagte Nicholas, als sie die Wohnungstür öffnete. »Ja.« Sie hatte nur schnell mit Tania telefoniert, einen Wagen gemietet und ihn in der Nähe des Appartements abgestellt. Bald. Bald wäre es soweit. »Hat sie sich sehr aufgeregt? « fragte Nicholas »Wer? Oh, Madame Dumoit? « »Wer sonst? « Die Frage klang beiläufig, aber sie verfluchte sich, weil sie nicht wachsamer gewesen war. Nicholas war schließlich ein aufmerksamer Beobachter, dem auch der kleinste Patzer nicht verborgen blieb. Also lächelte sie. »Sie war außer sich. Sie sagt, dass sie mich dafür fertigmachen wird und dass man mich nirgends mehr als Model engagieren wird.« »Wie bedauerlich. Dann machst du dich wohl besser schon mal auf eine Karriere als Schafzüchterin gefasst.« Nells Lächeln schwand. »Schon gut. Reg dich nicht auf. Reden wir nicht mehr davon.« Er stand auf. »Warum gehen wir nicht ein bisschen aus? Wir waren noch nie zusammen in einem Restaurant. Wäre bestimmt sehr nett.« Am besten hältst du dich immer in der Nähe des Appartements auf -466-
Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin müde. Ich würde lieber zu Hause essen. Unten an der Straße ist ein Geschäft. Könntest du vielleicht gehen und uns irgendetwas heraufholen? « Er sah sie mit hochgezogenen Brauen an. »Was immer du willst.« Bald wäre es soweit. Maritz war in ihrer Suite gewesen. Tania blickte auf ihren Schmuckkasten. Sie hatte ihn auf den Ankleidetisch gestellt, und nun stand er auf der Ablage im Bad. Der weiße Anzug von Armani, den sie auf dem Bild in der Zeitung getragen haue, war aus dem Schrank genommen worden und hing nun über einem Stuhl. Er war hier gewesen, und er wollte, dass sie es erfuhr. Er war bereit. 4. Januar 7 Uhr Als das Telefon klingelte, war Nell innerhalb von Sekunden aus dem Bett und ins Wohnzimmer gestürzt. »Heute«, sagte Tania. »Um sechs Uhr heute abend fahre ich zu dem Häuschen am Meer. Ich denke, gegen acht bin ich dort. Komm bloß nicht zu spät.« »Bestimmt nicht.« Auf Bellevigne war sie zu spät gekommen, und dafür hätte sie beinahe mit Nicholas' Tod bezahlt. Dieses Mal ließe sie sich bestimmt nicht aufhalten, das schwor sie sich. »Aber wenn du ihn aus der Reserve gelockt hast, gehört er mir.« »Mal sehen.« »O nein. Er gehört mir. Du hast deinen Teil der Abmachung erfüllt. Du bist raus.« »Es gefällt mir nicht, dass...« -467-
»Er hat meine Tochter umgebraucht.« Tania schwieg. »Also gut, ich bin raus.« Mit diesen Worten hängte sie ein, und Nell kehrte ins Bett zurück. »Wer war es? « fragte Nicholas, doch sie antwortete nicht. Sie hatte ihn schon einmal belogen, und einmal war mehr als genug. »Verwählt? « Sie nickte und schmiegte sich an seine Schulter. Er glaubte nicht ernsthaft, dass sich jemand verwählt hatte, aber er bot ihr einen Ausweg an. Er hatte einen Verdacht, aber er zwänge sie niemals dazu, ihn einzuweihen. Das war nicht sein Stil. Er würde sie beobachten und darauf warten, dass er von selber herausfand, worum es ging. »Ich würde dich gerne lieben, Nicholas«, flüsterte sie. »Wenn du nichts dagegen hast.« »Das hast du, als du zum ersten Mal zu mir kamst, auch gesagt.« Er drehte sich zu ihr um und nahm sie in den Arm. »Ich habe bestimmt nichts dagegen. Und ich werde nie etwas dagegen haben. Weder jetzt«, er küsste sie, »noch in den nächsten fünfzig Jahren. Ich stehe Ihnen stets zu Diensten, Madame.« Sie schlang ihre Arme um seinen Rücken. »Das heißt, wenn du mir nicht vorher den Brustkorb zerquetschst.« »Ich liebe dich, Nicholas.« »Ich weiß, dass du das tust.« Er warf die Decke fort und schob sich über sie. »Schon gut. Ich weiß...« 18 Uhr 35 »Sie fährt Richtung Süden«, sagte Jamie. »Verlier sie nicht aus den Augen. Ich bin direkt hinter dir.« Nicholas legte den Hörer auf und stürzte aus dem Appartement. -468-
Er hatte gewusst, dass der Grund, den Nell ihm genannt hatte, als sie die Wohnung verließ, nur ein Vorwand gewesen war, und er hatte sich sehr zurückhalten müssen, um sie nicht hier festzuhalten, wo sie sicher war. Richtung Süden. Richtung Monte Carlo vielleicht? Er stieg in seinen Wagen und lenkte ihn eilig aus der Lücke heraus. Wer in aller Welt wusste, wohin ihre Reise ging? Aber wohin auch immer sie fuhr, sie hatte es gewiss auf Maritz abgesehen, und bei diesem Gedanken empfand Nicholas eine Todesangst um sie. 18 Uhr 50 Die hübsche Tania hatte genug von der Jagd. Ihr braunes Haar flatterte in der Brise, als sie mit ihrem roten Triumphcabriolet über die Autobahn donnerte. Sie war allein. Maritz verlor sie nie aus den Augen, aber ebenso wenig überholte er sie. Sie wusste auch so, dass er in ihrer Nähe war. Sie wusste, dass es kein Entrinnen gab. Sie wusste, dass dies der Augenblick ihres Todes war. Freude überkam ihn, als er sich an die Heftigkeit ihrer Gegenwehr erinnerte. Und dieses Mal würde es noch interessanter werden, denn sie war sich der Gefahr, in der sie schwebte, deutlich bewusst. Hübsche Tania, bitte halt bald an. »Sie fährt in Richtung des Hauses«, sagte Jamie, als Nicholas über das Autotelefon mit ihm sprach. »Vielleicht ist ja alles in -469-
Ordnung, Nick.« Nichts war in Ordnung, das wusste er genau. Wenn sie zu dem Häuschen fuhr, dann, weil Maritz dort zu finden war. »Soll ich direkt hinfahren? « fragte Jamie seinen Freund. Ja. Fahr hin, halt sie auf, rette sie. »Nick? « Er atmete tief ein. »Nein. Stell den Wagen am Fuß des Hügels ab, und warte auf mich.« 19 Uhr 55 Es war bereits dunkel, als Nell den Wagen hinter das Häuschen fuhr. Nirgends brannte Licht. Nirgends war ein anderer Wagen zu sehen. Heute abend kam sie nicht zu spät. Sie stieg aus, ging eilig um das Haus herum, schloss die Haustür auf, legte ihren Damencolt auf die Stufe und drehte das Licht über der Veranda an. Der Mond schien hell, aber sie wollte jeden Vorteil nutzen, der sich ihr bot. Sie spazierte an den Rand der Klippe, blickte auf die Brandung hinab, atmete ein paar Mal tief ein und lockerte ihre Schultermuskulatur. Sie hätte gedacht, sie wäre ängstlich oder zornig oder nervös. Stattdessen war sie von einem Gefühl der Unvermeidbarkeit und von ruhiger Zielstrebigkeit erfüllt. Maritz käme hierher. Und einzig für diesen Augenblick hatte sie so hart gearbeitet und so unerbittlich trainiert. Als sie die Lichter eines näher kommenden Wagens sah, spannte sie sich an. Sie konnte nicht sicher sein, ob es Tania war. -470-
Schließlich hielt das kleine rote Cabriolet vor der Eingangstür, und Tania stieg aus. »Ist er hinter dir? « fragte Nell. Tania blickte über die Schulter zurück. »Da drüben.« Ein Wagen schraubte sich langsam, fast gemächlich die Anhöhe herauf. »Geh ins Haus. Die Tür ist auf.« Tania zögerte. »Ich will dich nicht alleine lassen. Hast du eine Waffe mitgebracht? « »Sie liegt auf der Treppe.« »Und was nützt sie dir dort? « »Wenn ich ihn nicht fertigmache, musst du es tun.« »Um Gottes willen, steck die Waffe ein.« Sie schüttelte den Kopf. »Das ginge zu schnell. Er hat es Jill auch nicht leicht gemacht. Ich will ihm wehtun. Ich will, dass er weiß, dass er sterben wird.« Tania ging zur Tür, hob die Waffe auf und warf sie hinüber zu Nell. »Nimm sie. Sonst gehe ich nicht ins Haus.« Nell nahm den Colt, denn für einen Streit hatte sie im Augenblick keine Zeit. Die Scheinwerfer des Wagens waren nur noch wenige Meter von ihr entfernt. »Beeil dich.« Tania rannte ins Haus, und mit einem Mal wurde Nell von einem grellen Lichtkegel erfasst. »Wo ist Tania? « Maritz. Er stand in der Dunkelheit, aber nie im Leben vergäße sie seine Stimme, denn ihr Widerhall wurde in jedem ihrer Alpträume laut. »Tania ist im Haus, und Sie werden nicht noch einmal in ihre Nähe gehen.« Er näherte sich ihr, und sein Blick wanderte von ihren Tennisschuhen und ihren Jeans zu der Waffe in ihrer Hand. »Sie -471-
hat den Bullen Bescheid gesagt? Ich bin ziemlich enttäuscht.« »Ich bin nicht von der Polizei. Sie kennen mich, Maritz.« Er sah sie genauer an. »O nein - das heißt - Calder? Die CalderFrau? « »Ich wusste, dass es Ihnen wieder einfallen würde.« »Da hat Lieber aber ganze Arbeit geleistet. Sie sollten mir dankbar sein.« Heißer Zorn wallte in ihr auf. »Ihnen dankbar sein? Dafür, dass Sie meine Tochter ermordet haben? « »An das Kind habe ich gar nicht mehr gedacht.« Er sagte die Wahrheit. Es hatte ihm so wenig bedeutet, dass er vergessen hatte, dass Jill von ihm ermordet worden war. Er ging weiter auf sie zu. »Aber jetzt erinnere ich mich. Sie hat geheult und wollte zu Ihnen auf den Balkon.« »Halten Sie den Mund.« »Sie hatte mich bereits in der Höhle gesehen. Ich sagte Gardeaux, ich hätte Angst gehabt, dass sie mich wieder erkennt. Aber das war gelogen. Ein Kind umzubringen ist etwas Besonderes. Sie sind weich, und sie haben eine solche Angst, dass man es geradezu schmecken kann.« Die Hand, in der sie die Waffe hielt, zitterte. Sie wusste, dass er genau das beabsichtigte. Er machte ihre Beherrschung zunichte, brachte sie mit Worten um. »Ich habe einmal zugestochen, aber das war nicht genug. Sie war zu...« Er machte einen Satz, riss ihr mit einer Hand die Waffe fort und versetzte ihr mit der anderen Hand einen Schlag ins Gesicht. Sie ging zu Boden. Er warf sich über sie und starrte sie mit boshaften Augen an. »Wollen Sie denn nicht wissen, wie sie geschrien hat, als ich...« Ihre Faust traf seinen Mund, sie rollte sich zur Seite und warf -472-
ihn ab. Das Licht des Mondes spiegelte sich auf der Klinge in seiner Hand. Das Messer. Sie sprang auf die Füße und wich vor ihm zurück. Erinnerungen stiegen in ihr hoch. Medas. Ich bin hilflos. Tun Sie mir nicht weh. Tun Sie Jill nicht weh. Warum hört er nur nicht auf? »Sie können mich nicht aufhalten.« Maritz näherte sich ihr. »Sie haben es damals nicht geschafft, und ebenso wenig schaffen Sie es jetzt.« Der ›Schwarze Mann‹. Er kam einfach immer näher auf sie zu. »Na los«, murmelte Maritz. »Wollen Sie nicht hören, wie ich das kleine Mädchen erstochen habe? Wie lange es gedauert hat?« »Nein«, flüsterte sie erstickt. »Kein Mumm. Sie sind immer noch dasselbe angstschlotternde, schniefende Weib. Sie haben ein neues Gesicht, aber sonst sind Sie die alte geblieben. In weniger als einer Minute habe ich Sie fertiggemacht und bin zu Tania unterwegs.« Die Worte ernüchterten sie, als hätte er ihr einen Schwall Eiswasser ins Gesicht gekippt. Tania wäre hier das Opfer. Nicht Jill. Dies war nicht Medas, und sie war nicht mehr dieselbe Frau. »Den Teufel werden Sie tun.« Sie wirbelte herum und versetzte ihm einen Tritt in den Bauch. Er stöhnte vor Schmerzen auf und beugte sich nach vorn, doch ehe sie einen zweiten Tritt platzieren konnte, hatte er sich erholt und machte einen Satz zurück. Sie folgte ihm. »Sie werden Tania nicht töten. Sie werden nie wieder jemanden töten.« -473-
»Gut «. Er lächelte. »Kämpfen Sie gegen mich.« Sie trat nach seinem Arm, und das Messer flog in hohem Bogen durch die Luft. Fluchend bückte er sich, und immer noch folgte sie ihm. Er griff nach dem Messer, richtete sich wieder auf und hieb mit tödlicher Genauigkeit auf sie ein. Stechender Schmerz durchfuhr sie. Ihr Oberarm... Er kam näher, immer näher, und immer noch wurde sein Mund von einem widerlichen Grinsen umspielt. Sie wich zurück und kämpfte gegen die Schmerzen an. Sie stand am Rand der Klippe, und er kam unaufhaltsam auf sie zu. Unter ihr krachte die Brandung gegen den Fels. Medas. Nein, nie wieder würde es wie auf Medas sein. Sie wartete. »Sind Sie bereit? « flüsterte er. »Er kommt. Hören Sie, dass er Ihnen etwas ins Ohr flüstert? « Der Tod. Er sprach über den Tod. »O ja, ich bin bereit.« Er machte einen Satz auf sie zu, doch sie trat zur Seite und verdrehte ihm den Arm, in dem er das Messer hielt. Ihr Handballen fuhr hoch, krachte ihm unter die Nase, zerschmetterte die Knochen und schob die Splitter in sein Hirn. Er schwankte und taumelte rückwärts über den Klippenrand. Sie trat einen Schritt näher an den Abgrund heran und beobachtete, wie sein Körper auf den Felsen aufschlug und dann in den Wellen versank. Ab, ab, ab... Sie sank zu Boden. Ich habe es geschafft, Jill. Baby, es ist vorbei. -474-
»Nell.« Wie benommen erkannte sie, dass es Nicholas war, der nach ihr rief. »Er ist tot.« Er nahm sie in die Arme und zog sie an seine Brust. »Ich weiß. Ich habe es gesehen.« »Einen Augenblick lang dachte ich schon, ich...« Sie blickte ihn an. »Du hast es gesehen? « Seine Stimme war rauh. »Allerdings, und ich hoffe, dass ich so etwas nie wieder durchmachen muss.« »Du hast es gesehen und dich nicht eingemischt? « »Du hast dir große Mühe gegeben, um dafür zu sorgen, dass dir niemand in die Quere kommt. Ich wusste, du hättest es mir niemals verziehen, wenn du von mir um Maritz betrogen worden wärst.« Er machte eine Pause. »Aber um ein Haar hätte ich mich trotzdem eingemischt.« »Ich musste es alleine tun, Nicholas.« »Ich weiß.« Er trat einen Schritt zurück und sah auf ihren Arm. »Er blutet nicht mehr, aber wir gehen besser ins Haus und verbinden ihn.« In diesem Augenblick trat Tania auf sie beide zu. »Haben wir es geschafft? « fragte sie in ruhigem Ton. Nell blickte in Richtung der Klippe zurück. »Wir haben es geschafft.« Als Joel mit finsterer Miene aus der Notaufnahme kam, sah Tania ihn seufzend an. Sie hatte gewusst, dass er außer ich sein würde vor Zorn über ihre Eigenmächtigkeit. »Ist mit ihrem Arm alles in Ordnung? « fragte sie. »Ja. Aber sie hat ein bisschen Blut verloren, und deshalb behalten sie sie über Nacht im Krankenhaus.« -475-
»Willst du dich von mir scheiden lassen? « »Ich denke darüber nach.« »Das darfst du nicht tun. Deine Exfrau hat mir alles über Unterhaltszahlungen erzählt, und ich bin sicher, dass ich noch mehr erzielen könnte als sie. Du würdest als Bettler enden.« »Ich bin nicht in der Stimmung für irgendwelche Scherze.« »Ich musste es tun, Joel.« Sie trat auf ihn zu, legte ihren Kopf an seine Brust und flüsterte: »Ich weiß, dass du mich beschützen wolltest, aber das konnte ich nicht zulassen. Du bist mir viel zu wichtig. Aber ich verspreche, dass du den nächsten Straßenräuber erschlagen darfst, der mir zu nahe kommt. Wenn es sein muss, mache ich mich sogar auf die Suche nach einem. Wie ich hörte, werden sie im Central Park zur Ansicht ausgestellt. Vielleicht sollten wir in New York zwischenlanden und...« Als er leise lachte, blickte sie zu ihm auf. Gut. Der Sturm hatte sich gelegt. »Hältst du das etwa für keine gute Idee? « »Du würdest es ernsthaft tun, nicht wahr? « Er sah sie an. »Ich komme damit einfach nicht zurecht. So etwas darf nie wieder passieren, Tania, versprich es mir.« »Ich verspreche es. Aber ich war zu keinem Zeitpunkt wirklich in Gefahr.« Auf sein verächtliches Schnauben hin lächelte sie: »Wirklich nicht. Ich war nur Paul Henried. Wenn jemand Humphrey Bogart war, dann Nell.« Nicholas setzte sich auf den Stuhl neben Nells Bett und ergriff ihre Hand. »Wie fühlst du dich? « Sie wusste, damit war nicht nur ihr körperliches Befinden gemeint, und sie schüttelte den Kopf. »Friedlich. Taub. Leer. Ich weiß es nicht genau.« »Joel hat deinen Arm wunderbar genäht. Es bleibt bestimmt noch nicht einmal eine Narbe zurück.« -476-
» Gut.« »Ich habe für morgen zwei Plätze im Flugzeug reserviert. Ich bringe dich auf die Ranch zurück.« Sie schüttelte den Kopf. »Wenn du willst, bleiben wir auch gern noch eine Weile hier.« Himmel, was sie jetzt zu sagen hatte, fiel ihr wirklich schwer. »Bitte flieg allein auf die Ranch zurück.« Er sah sie reglos an. »Ohne dich? « Sie nickte heftig mit dem Kopf. »Ich brauche ein bisschen Zeit für mich.« »Wieviel Zeit genau? « »Ich weiß nicht. Ich weiß nicht genau. Im Augenblick bin ich vollkommen verwirrt.« »Aber doch sicher nicht so verwirrt dass du nicht mehr weißt, dass du mich liebst? « »Nicholas, ich habe Angst«, flüsterte sie. »Dass ich nicht ewig leben werde? Das ist allerdings ein Problem, das sich nicht so einfach lösen lässt.« Er strich ihr sanft über das Gesicht. »Also musst du dir überlegen, ob dir die Zeit, die wir zusammen haben werden, genügt.« »Das ist leichter gesagt als getan. Was, wenn ich mich falsch entscheide? Das wäre immerhin eine Möglichkeit.« Sie machte eine Pause. »Erinnerst du dich noch an das, was ich über die Schritte gesagt habe, die Menschen machen müssen, damit sie eines Tages vollständig sind? Damals habe ich dir erklärt, ich käme mir verkrüppelt, zersplittert vor. Und so geht es mir immer noch.« »Da kann ich dir nicht helfen.« »Du kannst mich behüten, aber helfen kannst du mir tatsächlich nicht. Das muss ich schon alleine tun.« Er setzte ein schiefes Lächeln auf. »Also gehst du fort, um dich -477-
in einen Schwan zu verwandeln? « »Ich gehe fort, um gesund und erwachsen zu werden und mein Leben wieder auf die Reihe zu bekommen.« »Was wirst du tun? « »Malen, arbeiten, mit Menschen reden. Was immer erforderlich ist.« »Und mich schließt du dabei aus? « »Im Augenblick ja.« »Aber wenn du dein Leben auf der Re ihe hast, kommst du auf die Ranch zurück? « »Wenn du mich dann noch haben willst.« »Himmel, und ob ich dich dann noch will.« Er stand auf und sah sie an. »Ich gebe dir den Platz, den du brauchst, aber ich verspreche dir nicht, dass ich nicht eines Tages auftauchen werde, um dich endlich nach Hause zu holen.« Er gab ihr einen eiligen, harten Kuss. »Sieh bloß zu, dass es nicht zu lange dauert, verdammt.« Als er sie verließ, blickte sie ihm mit tränenverhangenen Augen hinterher. Am liebsten hätte sie ihn zurückgerufen, hätte ihm gesagt, dass sie morgen mit ihm das Flugzeug besteigen würde, um sich nie wieder umzudrehen. Aber das würde sie nicht tun. Sie würde ihn nicht betrügen, indem sie ihm weniger als einen ganzen Menschen gab. Und ebenso wenig betröge sie sich selbst.
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Epilog »Draußen steht jemand vor dem Tor«, sagte Michaela, und Nicholas blickte von seiner Lektüre auf. »Wer? Peter? Jean sollte ihn rüberbringen, damit er mir Jontis Welpen zeigen kann.« »Die beiden sind es nicht.« Sie wandte sich ab. »Sehen Sie am besten selber nach.« »Warum sollte ich das tun? Warum lassen Sie denjenigen, wer auch immer es ist, nicht einfach durch? « Mit einem Mal wurde er des selbstzufriedenen Grinsens auf der ansonsten so reglosen Miene seiner Haushälterin gewahr, so dass er sich langsam erhob. Er trat vor die Tür und schirmte seine Augen mit der Hand gegen die herbstliche Sonne ab. Sie stand an der Gegensprechanlage des Tors, in Jeans, einem karierten Hemd und mit dem vertrauten goldenen Schimmer in ihrem Haar. Er ging die Stufen hinab und hatte das Gefühl, als dauerte der Weg bis zum Tor eine Ewigkeit. Dort angekommen, blieb er stehen und starrte sie wortlos an. Himmel, sie war wunderschön. Wunderschön, kraftvoll und frei. »Du hast dir mächtig viel Zeit gelassen. Über ein Jahr.« »Ich kapiere eben nicht allzuschnell. Hat eine Weile gedauert, bis ich alles auf die Reihe bekam.« Er sah sie fragend an. »Und jetzt bist du ein vollkommener Schwan? « »Allerdings.« Ein strahlendes Lächeln erhellte ihr Gesicht. »Und jetzt mach endlich auf, damit ich reinkommen kann.«
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