Livak findet einfach keine Ruhe. Die Siedlung im Süden, gegründet von den ersten Kolonisten Einarinns, muss zurückerobe...
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Livak findet einfach keine Ruhe. Die Siedlung im Süden, gegründet von den ersten Kolonisten Einarinns, muss zurückerobert werden. Doch das kann erst gelingen, wenn das erste Schiff der Saison vom Festland eintrifft. Livak ahnt nicht, dass dieses Schiff niemals ankommen wird. Die lebenswichtige Handelsroute zum Reich Tormalin ist alles andere als sicher. Auf der See lauert eine geheimnisvolle Gefahr, welche Livaks Kolonie weit stärker bedroht, als es zunächst scheint ...
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Juliet E. McKenna
DAS SCHWERT DES ASSASSINEN Roman Ins Deutsche übertragen von Irmhild Seeland
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BASTEI LÜBBE TASCHENBUCH Band 20 552 1. Auflage: November 2006
Bastei Lübbe Taschenbücher in der Verlagsgruppe Lübbe Originaltitel: Assassin's Edge (Part 1) © 2002 by Juliet E. McKenna © für die deutschsprachige Ausgabe 2006 by Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch Gladbach, Lektorat: Gerhard Arth/Ruggero Leo Titelillustration: Geoff Taylor Umschlaggestaltung: Bianca Sebastian Satz: SatzKonzept, Düsseldorf Druck und Verarbeitung: Maury Imprimeur, Frankreich Printed in France ISBN 13: 978-3-404-20552-3 (ab 01.01.2007) ISBN 10: 3-404-20552-9
Sie finden uns im Internet unter www.luebbe.de www.bastei.de
Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.
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Für Marion und Michael, Corinne und Helen, Rae und, in liebevollem Gedenken, für George. So viel Unterstützung, auf so vielfältige Art und Weise, so viele Jahre lang.
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Danksagungen
Die Wahrheit verträgt Wiederholungen, daher also wieder einmal mein Dank an Steve, Mike, Sue, Helen, Robin, Lisa, Penny und Rachel, für ihre Ideen, ihre Kritik, ihre Ermutigung und ihre Nachsicht mit überlangen Buchausleihen. Über ihre weiteren Beiträge hinaus gebührt Liz besondere Erwähnung als ständig hilfsbereite Fachfrau für Pflanzen, so wie es Louise für die medizinischen Dinge ist. Ich danke dir, Tanaqui, für deine Fotos, die mir sehr nützlich waren und die ich sehr schätze. Angus, dir danke ich dafür, dass du mich an Otricks Ring erinnert hast. Mein Hilfsnetzwerk entwickelt sich weiter, und Gill und Mike haben sich immer wieder als wahre Freunde erwiesen. Wie immer stehe ich in Ernies und Bettys Schuld für ihre Hilfe, trotz der Tyrannei eines Arbeitsalltags den Haushalt am Laufen zu halten. Ich könnte mir keine besseren Kollegen wünschen als die bei Orbit, sowohl im Verkauf, in der Öffentlichkeitsarbeit als auch vor allem im Lektorat. Mein herzlichster Dank gilt Tim, Simon, Ben undjulie, Kirsteen, Adrian, Richard, Bob und Nigel. Mir fehlt leider der Platz, alle Buchhändler aufzuzählen, die mich mit ihrer Professionalität beeindruckten, geschweige denn all die Leser, die mir mit ein paar lobenden Worten Freude schenkten, sei es persönlich oder in einer Buchbesprechung. Das soll aber keineswegs heißen, dass ich ihnen nicht dankbar bin, denn das bin ich ganz gewiss. Schließlich möchte ich noch all den Kuratoren und Aufsehern von Museen, herrschaftlichen Landsitzen und verschiede6
nen Schlössern danken, die mir meine Fragen beantwortet haben, mich mit faszinierenden Zusatzinformationen versorgten und eher gespannt als verblüfft waren, wenn ich erklärte, was ich eigentlich mache.
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Kapitel 1
Schreiben der Präfektur der Universität zu Col an alle Mentoren und Gelehrten der Hochschule Die Festtage zum Ende jeder Jahreszeit sind traditionsgemäß eine Zeit, in der diese Universität Besucher anderer Stätten der Gelehrsamkeit willkommen heißt. Wir sind es gewohnt, mit aller Höflichkeit und jedem Luxus, der uns durch den ausgedehnten Handel dieser Stadt ermöglicht wird, diesen unseren Beitrag zu dem Handel beizutragen, der Cols Lebensblut ist. Studenten wie Professoren mischen sich mit Besuchern und Stadtbevölkerung und erweitern so ihren Horizont. Dementsprechend werden die Präfekten dieser Universität keine Wiederholung der Ereignisse dulden, die das jüngste FrühlingsÄquinoktium entehrt hat. Weil wir unser Leben dem Studium widmen, müssen wir uns Müßiggang vorwerfen lassen und werden getadelt für unser vermeintliches Versagen, irgendetwas von greifbarem Wert für den ungebildeten Geist zu produzieren. Wir stehen über solchen Anfechtungen, sicher in dem Wissen, dass unser Lernen all das überdauern wird, was Händler und Architekten, Handwerker und ihre Gilden erreichen. Doch all diese Toleranz wird nichtig, wenn Studenten, Gelehrte und sogar einige Mentoren von der Wache in Eisen gelegt werden, weil sie sich mit Besuchern von Vanams Universität in Tavernen prügeln, die von gemeinen Hafenarbeitern besucht werden. Schlimmer noch, jetzt geht das Gerücht, dass diese Streitigkeiten nicht um Geld gingen, geschäftliche Dinge oder 8
keiten nicht um Geld gingen, geschäftliche Dinge oder die Gunst einer Dame, sondern um Gegenstände des Gelehrtentums. Diese Universität ist zu einem Objekt der Lächerlichkeit in der Bevölkerung geworden. Die Präfektur betrachtet dies als ein schlimmeres Vergehen als all den Schaden, der rings um die Stadt angerichtet wird. Zerbrochene Fenster, Türen und Weinflaschen lassen sich mit Gold ersetzen. Hat ein Ruf erst einmal Flecken bekommen, wird er womöglich nie wieder seinen alten Glanz zurückgewinnen. Damit sich so etwas nie wieder ereignet, schlägt die Präfektur zur unmittelbaren Beachtung der Mentoren und Gelehrten und der umsichtigen Anleitung der Studenten das Folgende vor: Zu leugnen, dass Temar D'Alsennin derjenige ist, der er zu sein behauptet, ist genauso irrational wie sich zu weigern, die Berichte über seine Wiederbelebung und die seiner Leute durch die Beauftragten des Erzmagus Planir von Hadrumal anzuerkennen. Es ist gleichsam unsinnig zu behaupten, dass dies alles falsch und im Dienste einer allumfassenden, dabei aber merkwürdig verschwommenen Verschwörung sei, in die der Erzmagus, die Mentoren von Vanam und sogar Kaiser Tadriol persönlich verwickelt seien. Solche Torheiten fügen dem Ruf unserer Universität unermesslichen Schaden zu. Jedoch, und ungeachtet der maßlosen Arroganz gewisser Gelehrter aus Vanam, wird die Rückkehr von Temar D'Alsennin nach Tormalin nicht einmal ein Hundertstel aller Fragen darüber beantworten, warum das Alte Reich nun zusammenbrach. Er kann uns nicht sagen, warum die Entthronung von Nemith dem Tollkühnen und Letzten das Chaos mehr beschleunigte als ein geordneter Übergang zu einem neuen Kaiser und einer neuen Dynastie. D'Alsennins Versuch, seine Kolonie zu finden, hat 9
nichts mit diesen Ereignissen zu tun. Es war ein kleineres Unterfangen, verglichen mit anderen Unternehmungen, in denen das Alte Reich tätig war, vor allem die letztendlich fruchtlose Eroberung von Gidesta. Dass diese Kolonie für die Fürstenversammlung nur von geringer oder gar keiner Bedeutung war, ist klar. Statt Hilfsmittel zu schicken, um D'Alsennin zu helfen, berichten die Annalen darüber, dass jedes Haus seine Anstrengungen darauf verwandte, sezessionistische Revolten in Caladhria und opportunistische Aufstände in Ensaimin zu unterdrücken. D'Alsennin kann nur einen eingeschränkten Bericht aus seiner Pespektive als junger und unerfahrener Junker eines niederen Hauses liefern, das sich schon längst von den Ratschlüssen der Mächtigen distanziert hatte. Er hatte bereits das Meer nach Kel Ar'Ayen überquert, ehe die letzten, entscheidenden Jahre von Nemiths Herrschaft begannen, und war bereits lange Zeit durch Zauberei ohne Bewusstsein, ehe die gewalttätigste Periode des Krieges zwischen den Häusern Aleonne und Modrical begann. Auch wenn seine Erinnerungen vielleicht ein paar interessante Schlaglichter auf diese wichtigen Ereignisse werfen, sind sie doch im größeren Zusammenhang der bewährten Geschichtsschreibung unbedeutend. Gewiss, es ist wahrscheinlich, dass der bislang nur teilweise erklärte Rückgang der Verwendung von Zauberkraft zum Zusammenbruch des Reiches beigetragen hat. Die Bedeutung eines solchen Schlages abzuwägen, zusätzlich zu den überlieferten Hungersnöten, dem Unfrieden in der Bevölkerung und dem wiederholten Auftreten der verheerenden Krustenpocken, wird sich sicherlich zu einem fruchtbaren Studiengebiet entwickeln. Desgleichen muss jetzt eine gründliche Untersuchung der Rolle dieser Zauberkraft in der Herrschaft des Alten Reiches erfolgen. 10
Wir aus Col sollten keine Zeit verschwenden, solche Untersuchungen anzugehen. Wir sollten uns nicht von den Prahlereien Vanams abhalten lassen, dass die Beziehung ihrer Mentoren zu Planirs Expeditionen nach Kel Ar'Ayen ihren Gelehrten einen uneinholbaren Vorsprung in solchen Studien verleihen würde. Col ist der Haupthafen für Reisende von und nach Hadrumal. Wir sollten unsere übliche Zurückhaltung gegenüber der Zauberei aufgeben und Magier einladen, sich in unseren Hallen zu erfrischen und an unseren Debatten teilzunehmen. Es könnte nützlich sein, unsere Alchimisten zu ermuntern, brieflichen Kontakt mit diesen Zauberern aufzunehmen, die die Eigenschaften dernatürlichen Elemente studieren. Diese unsere Universität wurde von den Gelehrten gegründet, die während des Chaos alles, was sie konnten, aus der brennenden antiken Bibliothek dieser Stadt retteten. Jetzt wissen wir, dass diese Tempel Zentren der Zauberkunstlehre im Alten Reich waren. Alle hiesigen Gelehrten und Mentoren müssen in unseren eigenen Archiven nach solch wertvoller, verborgener Kunde fahnden. Wir haben mehr reisende Gelehrte als Vanam, und viele unterrichten mittlerweile die Söhne und Töchter tormalinischer Häuser ebenso wie die Sprösslinge lescarischer Herzöge und caladhrischer Barone. All diese Archive könnten unschätzbares Material für weitere Studien liefern, und diese Präfektur wird ein Schreiben aufsetzen, um die Hilfe all derer zu gewährleisten, die berechtigt sind, den silbernen Ring unserer Universität zu tragen. Statt Zeit und Mühe auf fruchtlose Versuche zu verschwenden, die Überlegenheit dieser Universität über die Vanams durch Faustschläge zu beweisen, ist es die Pflicht eines jeden Mentors, Gelehrten und Studenten, unseren Vorrang durch die unübersehbare Autorität unserer Gelehrsamkeit zu beweisen. 11
Vithrancel, Kellarin, 15. Nachfrühling, im Vierten Jahr Tadriols des Vorsorglichen
Als ich erwachte, hatte ich keine Ahnung, wo ich war. Ein Klirren hatte mich aufgeschreckt, und die gemurmelten Verwünschungen, die darauf folgten, schickten meine schlafumnebelten Gedanken zurück ins Haus meiner Kindheit, doch als ich die Augen aufschlug, wirkte nichts vertraut. Grelles Tageslicht fiel ungehindert durch eine Tür in einer gänzlich unerwarteten Wand. Und wo wir schon dabei waren, wann hatte ich zuletzt geschlafen und so achtlos die Schlafzimmertür offen gelassen? Der Wachzustand verscheuchte die Nebel des Schlafes. Ich war nicht wieder in Ensaimin, wenngleich jemand da draußen etwas in der Sprache meiner Kindheit murmelte. Ich war eine halbe Weltreise davon entfernt, jenseits eines Meeres, von dem die meisten Menschen schwören würden, es sei nicht zu überqueren. Dies hier war Vithrancel, die neu benannte erste Siedlung Kellarins, eine Kolonie, die nach einem Jahr beharrlicher Schufterei, um der Wildnis den Lebensunterhalt abzuringen, noch immer ihr Selbstvertrauen suchte. Nun, was auch immer da draußen vor sich ging, es konnte ohne mich passieren. Ich würde höchstens für einen ausgewachsenen Aufstand aus dem Bett steigen. Ich drehte mich um, zog mir das Laken um die Schultern und schmiegte meine Wange wieder in das weiche Daunenkissen, dick und plustrig von meiner Ausbeute der festtäglichen Schlachterei von Hennen und Gänsen. Wie viele Tage ich wohl noch bis zu den Ell12
bogen in Hühnereingeweiden stecken musste, bis ich ein ganzes Federbett zusammenhatte? Nein, es hatte keinen Zweck, ich war wach. Seufzend setzte ich mich auf und strich mir das Haar aus den Augen, um mich in dem kleinen Zimmer umzuschauen. Ich hatte schon in besseren, aus Stein gebauten Gasthäusern geschlafen, mit groben Läufern, die das Scharren von Stiefeln auf blank gescheuerten Bodendielen dämpften, mit Wandbehängen, die Durchzug verhindern sollten, und ebenso ausgefallenen Preisen, ganz zu schweigen von den Extra-Kupferstücken, um die NachttopfLeerer und Zimmermädchen bei Laune zu halten. Ich hatte allerdings auch schon in schlimmeren geschlafen, heruntergekommenen Spelunken, wo man das Bett mit Fremden teilte und von Glück sagen konnte, wenn man nichts Schlimmeres als ihr Ungeziefer auflas. Der übelste Gasthof war immer noch besser als eine frostige Nacht unter einem Bogen in der Markthalle, nachdem ich den Wachmann mit meinem letzten Kupferstück bestochen hatte wegzuschauen. Ich öffnete die Fensterläden, um die helle Vormittagssonne hereinzulassen. Nein, ich würde mich nicht über ein warmes, sauberes Zimmer beschweren, dessen Fußboden frisch mit den ersten Frühlingskräutern bestreut war. Der Wind war kühl auf meiner Haut, und ich suchte unter den Kleidern und dem Krimskrams auf meiner schönen neuen Kleiderpresse nach einem sauberen Hemd. Ryshad hatte sie für mich gekauft, nachdem er drei Tage lang seine Künste mit Senkblei, Hammer und Meißel an einen Zimmermann in der Nähe verhökert hatte. Mein Geliebter hatte sich zwar gegen das Handwerk seines Vaters entschieden, aber seine Lektionen hatte er nicht verlernt. Ich sollte wirklich aufräumen, dachte ich, während ich auf 13
seiner alten Reisetruhe saß und meine Hosen anzog. Das helle Leder eines frisch gebundenen Buches zog meinen Blick auf sich in dem Durcheinander auf der Presse. Es war eine Sammlung alter Lieder, die ich im vergangenen Jahr gefunden hatte, voller Hinweise auf uralte Magie. In einer optimistischen Ballade für Kinder hätte darin auch ein Zauber gestanden, mit dem man Geister für die Hausarbeit hätte herbeirufen können. Ich lächelte, nicht zum ersten Mal, bei der Vorstellung. Andererseits warnten zahlreiche dunklere Gedichte vor der Torheit, sich mit unsichtbaren Mächten einzulassen, da der Unkluge sonst den Zorn der Zauberwesen auf sich ziehe. Ich bin zu alt, um an Fremde ohne Fehl und Tadel zu glauben, die sich in blaugraue Bewohner des Schattenreiches verwandeln und sich gegen jene wenden, die sie entehrten, aber ich hatte noch andere Gründe, einige der verlockenderen Versprechen der Zauberkunst zu meiden. Wenn ich Äthertricks benutzte, um die Gedanken eines Gegners zu lesen oder um vorherzusehen, wie ihre Runen fallen, würde ich Kräfte abstumpfen, die mich durch mehr Gefahren gesteuert hatten, als Ryshad ahnte. Klirrende Geräusche draußen zogen mich stattdessen zum Fenster. Eine kräftige Frau in praktischem braunem Rock bückte sich, um Tonscherben aufzulesen, die auf dem Pfad verstreut lagen, der zwischen dem verwahrlosten Gemüsegarten und dem etwas ordentlicheren Gehege verlief. Eine dunkle Flüssigkeit tränkte die Erde. »Etwas fallen gelassen, Zigrida?« Ich stützte die Ellbogen auf die Fensterbank. Sie richtete sich auf und sah sich um, wer mit ihr gesprochen hatte, wobei sie sich eine Hand an ihrem Kleid abwischte. Ich winkte. »Guten Morgen, Livak!« Ein Lächeln zerknitterte freundlich 14
ihr verwittertes Gesicht. »Den Verlust trägt Deglain.« Sie schnüffelte vorsichtig an dem Eimer, in den sie die anderen Stücke gelegt hatte. »Riecht wie der Fusel, den Peyt und seine Kumpel brauen.« Ich runzelte die Stirn. »Es sieht Deg nicht ähnlich, betrunken nach Hause zu kommen, jedenfalls nicht um diese Zeit.« »Hat schlimmer geflucht als die Hölle und dann auch noch einen guten Topf zerschmissen.« Zigridas Stimme wurde dunkel vor Missbilligung. »Aber er ist letzten Endes nur ein Söldner.« »Aber nicht wie Peyt«, widersprach ich. Zugegeben, Deglain war nach Kellarin gekommen und hatte sich dafür bezahlen lassen, sein Schwert in jeden zu pieken, der der Kolonie Böses wollte, aber nach mehr als einem Jahr hatte er Fähigkeiten wieder entdeckt, die er in längst vergangenen Jugendtagen erlernt hatte, und die Hälfte der Kolonisten kannte ihn einfach als den Blechschmied. Zigrida grunzte, während sie eine Strähne grauen Haares unter das Tuch stopfte, das sie um den Kopf gebunden hatte. »Ich kann keine Scherben mehr sehen.« »Es kommen ja auch nicht gerade viele Hufe vorbei, die hineintreten könnten«, sagte ich. »Das ist nicht der Punkt, mein Mädchen.« Zigrida sah zu mir hoch, beschattete warme, braune Augen mit einer altersfleckigen, abgearbeiteten Hand, die die Spitze, mit der ihr Tuch gesäumt war, mit einem Hauch Frivolität streifte. »Es wird Zeit, dass du aus dem Bett kommst, du Schlafmütze. Du kannst einen Eimer Wasser holen, um das hier wegzuspülen.« Sie scharrte mit einem kräftigten Stiefel über den feuchten Boden, ehe sie zu dem immer weiter zurückweichenden Wald blickte, der die Siedlung umgab. »Ich möchte lieber nicht wissen, was der Ge15
ruch nach starkem Schnaps aus diesem Wildwald locken könnte.« Ich grinste. »Sofort, Herrin.« Ich werde mir Zigridas Tadel gefallen lassen, solange ein Zwinkern in ihren Augen ihr Geschimpfe Lügen straft, und außerdem, wenn ich ihr einen Gefallen tue, habe ich immer etwas bei ihr gut. Das Aufräumen konnte warten. Ich zog die Laken über der Matratze glatt, wischte ein paar Haare auf den Boden, helles Kastanienrot von mir, schwarz gelocktes von Ryshad. Unser Bett war eine solide Konstruktion aus sauber zusammengefügtem Holz, das mit goldenem Bienenwachs poliert und mit ordentlichen Hanfseilen bespannt war. Ryshad hatte nicht die Absicht, auf einem klumpigen Strohsack zu schlafen oder einem Klappbett, das man aus einer Bank falten konnte. Niedere Dienstboten schliefen auf solchen Dingen, aber keine Männer, die zur Beförderung ausgewählt worden waren unter all jenen, die sich dem Sieur D'Olbriot verschworen hatten, einem der reichsten und einflussreichsten aller tormalinischer Fürsten. Dann betrachtete ich recht zweifelnd die Laken. Die Matratze duftete noch immer nach dem Bettstroh, das in den goldenen Tagen des Herbstes gesammelt worden war, doch das Laken hatte eine Wäsche nötig, wenn nicht heute, dann jedenfalls bald. Ich hatte ein hübsches Waschhaus hinter dem Haus, doch den Tag damit zu verbringen, das Feuer zu schüren, um Wasser in dem Kupferkessel zum Kochen zu bringen und die Laken mit einem Stock in der Lauge herumzurühren, war nicht gerade spannend. Ehe ich hierher kam, war Wäsche immer die Angelegenheit anderer gewesen, da ich von Gasthaus zu Gasthaus zog und mir mit Spielen und gelegentlich auch weniger ehrbaren Unternehmungen meinen Lebensunterhalt verdiente. 16
Ich zog das oberste Laken von der Decke und ließ es auf die arg mitgenommene Truhe am Fuß des Bettes fallen. Ryshad verstaute seine Habseligkeiten darin mit einer Ordentlichkeit, zu der ihn zehn Jahre oder mehr Kasernenleben gedrillt hatten. Er verdiente eine Kleiderpresse wie die meine, entschied ich. Ryshads Hilfe hatte Kerse zu einer besseren Werkstatt verholfen als jedem anderen Holzarbeiter der Kolonie. Alle versuchten sich jetzt an Tischlerarbeiten, da sie nun auch Zeit für andere Dinge außer Balken und Trägern hatten. Jetzt, da aufgrund der Frühlings-Tagundnachtgleiche die Schifffahrtssaison eröffnet worden war, musste Kerse den Markt für so feine Arbeiten in Betracht ziehen, quer durch die Länder, die einst das Tormalinreich gebildet hatten. Ich erkannte Qualität, wenn ich sie sah. Zu meiner Kinderzeit, die noch weiter weg schien als die Länder, die wir hinter uns gelassen hatten, war ich ein Hausmädchen gewesen, das kostbare Stücke polierte, die nicht einmal mit einem Fünftel der Kunst gefertigt waren wie unser neues Bett. Aber Zigrida hatte mich gebeten, Wasser zu holen. Das tat ich besser, ehe ich an die Wäsche dachte. Ich ließ die Laken und ging die enge Treppe hinunter, die in eine Ecke der Küche führte, die die Hälfte unseres kleinen Fachwerkhauses einnahm. Mit dem Messer, das ich mit dem Wams gestern Abend auf einen Hocker gelegt hatte, schnitt ich mir eine Scheibe von dem Schinken ab, der am Schornstein hing, und genoss den Hauch von Wacholder und Wildrose, die zum Räuchern verwendet worden waren. Kauend machte ich mich in der winzigen Spülküche, die Ryshad von der Küche abgetrennt hatte, auf die Suche nach einem Eimer. Ich ignorierte den Krug Leichtbier, das in dem steinernen Becken, das mein Liebster so sorgfältig 17
gearbeitet hatte, kühl gestellt war. Wenn ich zum Brunnen gehen wollte, musste mir Wasser reichen. Bier war ohnehin nie die erste Wahl für mein Frühstück, und auch Ryshads nicht, doch im Verlauf des Winters waren unsere Weinvorräte aus Tormalin zur Neige gegangen. Als ich die Küchentür öffnete und über das provisorische Pflaster ging, das Ryshad gelegt hatte, um uns trockenen Fußes zum Tor zu bringen, kam ein Mädchen zu Deglains Haus auf der anderen Seite des Pfades gerannt. Es entsprach genau unserem eigenen, der noch frische weiße Kalkputz leuchtete in der Sonne über den Latten und dem Verputz, den soliden Wänden des Holzgerüstes. Es war interessant gewesen, beim Bau zuzusehen, Ryshad hatte mir genau erklärt, wie das Gewicht eines Teils ein anderes stützte, das wiederum einen Zug auf etwas anderes ausübte, jedenfalls hielt die Spannung das ganze Haus zusammen. Der butterblumengelbe Schal über dem Kopf des Mädchens ließ mich einen Moment innehalten, doch dann erkannte ich das Mädchen. »Catrice! Ist alles in Ordnung?« Sie beachtete mich nicht, sondern hämmerte an Deglains Tür. Deg öffnete, zuerst nur einen Spaltbreit. Als er Catrice sah, riss er sie weit auf und versuchte, seine Arme um das Mädchen zu schlingen. Sie verhinderte eine Umarmung, indem sie ihn kräftig zurückstieß. »Du stinkst!« Degs Antwort hatte nicht die schneidende Deutlichkeit von Catrices Wut, daher konnte ich seine Worte nicht verstehen, aber seine blinzelnden Augen und die unrasierte Unordnung waren auch so beredt genug. »Ich schlafe nicht im Bett eines Mannes, der halb angezogen 18
und voll besoffen hineinfällt«, rief sie schrill. Die Hysterie verschärfte ihren Ton. »Meinst du, ihre Mutter weiß, dass sie hier ist?« Zigrida kam zu dem Zaun auf ihrer Seite der präzise ausgerichteten Gasse, die unsere beiden Besitztümer voneinander trennte. Da wir einen ganzen Kontinent hatten, auf dem wir uns ausbreiten konnten, gab es nicht dieses Gezänk um Grenzen, das die kunterbunten Siedlungen in Ensaimins dicht besiedelten Städten verpestete. »Sie wird nicht gerade begeistert sein, wenn sie es herausfindet«, bemerkte ich. Catrice war die einzige, heißgeliebte Tochter einer der Tormalinfamilien aus dem Süden, die im Jahr zuvor hergekommen waren, um in diesem ungezähmten Land ein neues Leben zu beginnen. Meiner Meinung nach neigten sie immer noch dazu, sich etwas zu wichtig zu nehmen. Zigrida stammte aus dem Norden, nahe der Grenze zu Lescar, und war daher erheblich bodenständiger. Was immer Deg auch zu seinen Gunsten zu sagen hatte, war genug, um Catrice zu lautem Weinen zu bringen. Sie leistete keinen Widerstand, als er sie in eine linkische Umarmung zog und ungeschickt mit dem Zipfel ihres Schals ihre Tränen abwischte. Zigrida sah zu, wie das Paar nach drinnen verschwand. »Meinst du, da kocht etwas hoch?« »Vielleicht, vielleicht auch nicht«, sagte ich achselzuckend. »Wir sollten bereit sein, Öl auf die Wogen zu gießen.« Im Allgemeinen kamen die Kolonisten und die Söldner, die angeheuert waren, um sie zu verteidigen, ganz gut miteinander klar, aber es hatte auch ein paar peinliche Situationen gegeben. Die Söhne und Töchter einfacher Freibauern fanden die lockere und 19
freie Einstellung der Soldaten oft zu anziehend, und das schadete dem Seelenfrieden ihrer Eltern. »Willst du nach dem Truppenkommandanten schicken?«, fragte Zigrida. »Vielleicht.« Mit Halice, die gegenwärtig den Söldnern vorstand, war ich seit Jahren befreundet, und ich war ihr inoffizieller Hilfssheriff, wenn ich nichts Besseres zu tun hatte. »Hast du Ryshad heute Morgen gesehen?« Ich hatte mir angewöhnt, weiterzuschlafen, wenn Ryshad im Morgengrauen aufstand, um sich einem seiner unzähligen Projekte in Vithrancel zu widmen. »Dieser Werdel kam als Erstes. Sie werden wohl bei den Tongruben sein.« Zigridas Tonfall war herzlich. Sie mochte Ryshad. Ich lächelte auch. Ich war mehr als zufrieden mit einem Fachwerkhaus, so sind schließlich vier Fünftel aller Städte in Ensaimin gebaut, aber Ryshad hielt Holzhäuser nur für ein Provisorium. Ehe die letzte Herbst-Tagundnachtgleiche den Schiffsverkehr zum Erliegen brachte, hatte er den Sohn eines Ziegelmachers angeheuert, den seine Steinmetz-Brüder in Zyoutessela kannten, und ließ die Hälfte aller Männer der Kolonie nach Ton graben gegen das Versprechen eines Anteils an Ziegeln und Dachpfannen. Sobald die wenigen Fröste von Kellarins mildem Winter vorbei waren, hatte Ryshad jeden daran erinnert, dass er versprochen hatte, beim Bau eines Trockenschuppens zu helfen, während Werdel den abgelagerten Lehm formte und verstrich, um seinen neuen Brennofen erfolgreich auszuprobieren. Völlig begeistert hatte mein Liebster mich in den vergangenen paar Nächten in den Schlaf gelangweilt mit seinen Erläuterungen, wie man ungelöschten Kalk zu Mörtel verarbeitete. Ich schwang meinen Eimer müßig an dem Seilgriff. »Hast du 20
heute Morgen zufällig Brot gebacken?« Zigrida hatte einen Mehlfleck auf den farbenprächtig gestickten Blumen, die den Saum ihres schlichten grünen Mieders schmückten. »Was geht dich das an?« Sie legte den Kopf schief. Ich wog den Eimer. »Wasser für dich heute, als Gegenleistung für einen Laib oder so?« Zigrida lachte. »Frisches Brot kostet dich mehr als ein paar Eimer.« Ein Stirnrunzeln vertiefte ihre Augenfältchen, als sie die Lippen schürzte. »Du kannst mir einen Nachmittag lang im Garten zur Hand gehen und bei den Beerenstöcken helfen.« Ich schüttelte den Kopf in gespielter Entrüstung. »Du bist aber ein harter Brocken.« »Dann musst du eben selber backen, mein Kind.« Ihr Lächeln zauberte mehrere Jahrzehnte von ihren lachenden Augen. Ich machte eine kapitulierende Handbewegung. »Ich hole Wasser, und dann komme ich wegen des Brotes.« Zigrida nickte und verschwand in ihrer Tür. Ich marschierte zu dem nahe gelegenen Felsvorsprung, der reichlich sauberes Wasser aus einer von Kellarins zahlreichen Quellen bot. Es war ein schöner Spaziergang. Halcarions Segen verlieh der Baumgruppe um den Quellbrunnen eine üppig duftende Blüte, sobald die Winterhexe ihre Wache beendet hatte. Maewelin hatte nicht mit der Macht der Mondjungfer über Spätfröste oder plötzliche Unwetter gestritten, und selbst Menschen, die kaum ein Gebet an die beiden Göttinnen über die Lippen brachten, hatten beim kürzlichen Äquinoktium all die traditionellen Dankesriten gefeiert. Als der Winter alle im Hause hielt, um Ausbesserungsarbeiten durchzuführen, wurde ein breites steinernes Becken um die Quelle gebaut, sodass ich nicht lange warten musste, bis ich 21
meinen Eimer neben geschäftigen Hausfrauen und weniger eifrigen jungen Mädchen, die von ihren Müttern geschickt worden waren, ins Wasser tauchen konnte. Ich hatte Mitgefühl mit den verdrossenen Gesichtern; ich hatte etwa im gleichen Alter Heim und Herd verlassen, auf der Flucht vor der Plackerei im Dienste anderer, deren Launen und Bosheit man ausgeliefert war. Aber ich hatte nicht über meine Aufgaben geschmollt, als ich noch das unzuverlässigste Hausmädchen meiner Mutter gewesen war. Ich hatte jede Gelegenheit wahrgenommen, aus dem Haus zu kommen, mehr über das Leben zu lernen und jede Münze einzustecken, die ich mit einem Lächeln oder einem Scherz verdienen konnte. »Guten Morgen, Livak.« Eine der geschäftigen Frauen nickte beifällig zu meinem randvollen Eimer. »Doch endlich Waschtag, oder?« Sofort sträubten sich mir die Nackenhaare. »Nicht, dass ich wüsste, Midda. Sag mir, du hast nicht zufällig gehört, wer sich als Wäscherin selbstständig macht, oder?« Midda sah mich verblüft an. »Nein.« »Naja«, meinte ich achselzuckend. »Trotzdem, wenn du sie triffst, sag ihr, dass ich an jedem Markttag mit einem großen Bündel auf ihrer Matte stehe.« Ich lächelte, aber Midda runzelte die Stirn bei dem Gedanken, dass etwas vor sich ging, das noch nicht an ihre Ohren gedrungen war. Wenn sie anfing, ihre Klatschtanten zu befragen, würde eine der Frauen sich vielleicht mit etwas Glück veranlasst sehen, ihre eigenen Waschzuber aufzustellen, um meiner mythischen Möchtegern-Waschfrau zuvorzukommen. Nichtsdestoweniger musste ich natürlich einen Weg finden, um jemanden dafür zu bezahlen, dass er meine Wäsche machte. 22
Ich war ein wenig beschämt, während ich auf dem Rückweg den Eimer schwang, um zu sehen, wie weit ich ihn neigen konnte, ohne Wasser zu verschütten. Ein beträchtlicher Anteil des wenigen Bargelds, das die Kolonie ihr Eigen nennen konnte, ruhte in einer Truhe unter unseren Schlafzimmerdielen, aber davon hatte ich herzlich wenig. Arbeit war die eigentliche Währung in Kellarin, und es waren Ryshads Fähigkeilen, die für das Guthaben in unserem Kontobuch sorgten und es mir ermöglichten, die hübschesten Teller aus den Töpfereien oder die weichsten Decken direkt vom Webstuhl zu kaufen. Nicht, dass ich nicht über eigene Talente verfügte, aber hier waren sie recht wenig zu gebrauchen. Ich konnte normalerweise ein freundliches Spiel Runen finden oder jemanden, der gern eine Partie Weißer Rabe gegen meine Waldvögel spielte, um einen Abend zu verbringen, aber diese genügsamen Handwerker und Bauern hatten nicht die Angewohnheit, Wetten auf ihr Glück mit den Schicksalsstäben abzuschließen, und, nach der ersten halben Jahreszeit, waren sie auch kaum noch bereit, dagegen zu wetten, dass ich ihren Raben vom Spielbrett fegte. Ich hob den Eimer und schöpfte ein bisschen Wasser für mich. Halcarion rette mich, aber ich würde die gesamte Geldkassette hergeben für einen anständigen Schlauch Wein. Und ich war nicht die Einzige, dachte ich trocken, die Wasser und Bier gründlich satt hatte. Was für Früchte Zigridas Stöcke nach meiner ungebildeten Pflege auch trugen, sie waren nicht für Kuchen gedacht, so viel hatte sie mir verraten. Aber Obstliköre würden es nie mit der samtigen Verlockung eines Roten aus Angove oder der aromatischen Frische eines weißen Ferls aufnehmen können. Dieser müßige Gedanke führte zu einem anderen, der mich 23
ruckartig stehen bleiben ließ. Die Nachfrühlingswinde würden schon bald Schiffe bringen, und sie würden mit Sicherheit Köstlichkeiten und allerlei Tand mit sich führen, um die Kolonisten zu verlocken, ebenso wie lebensnotwendige Dinge, die wir noch nicht selbst herstellen konnten. Händler aus Tormalin würden Geld verlangen und nicht etwa unberechenbare Versprechen auf Arbeit im Tauschverfahren. Wenn mir etwas einfiel, dass Leute wie Midda darüber nachgrübelten, bekam ich vielleicht noch mehr Leute zusammen, die mein Geld im Tausch gegen ihren Schweiß nahmen. Und Händler in einem Hafen ohne die üblichen Vergnügungen waren wahrscheinlich nur zu begierig auf ein nettes Spiel Runen. Es brauchte schon mehr als einen Winter Müßiggang, um meine Finger so steif werden zu lassen, dass ich Kaufleute aus Zyoutessela nicht um ihre Börse erleichtern konnte. Meine Laune wurde bei dieser neuen Idee immer besser. Diese Schiffe führten mit Sicherheit auch Wein mit sich. Wenn ich so viel aufbrachte, wie ich nur konnte, hätte ich etwas Besseres im Tausch gegen Waren und Dienstleistungen als die Plackerei, die ich jetzt annahm, und ich würde auch nicht nur auf meinem Hintern sitzen und von Ryshads Arbeit leben. Das wollte ich hier in Kellarin genauso wenig, wie ich sein Geld genommen und mich zu Hause seine Hure hätte schimpfen lassen. Dieselben Schiffe konnten für mich Briefe mit zurück nach Tormalin nehmen. Ich überlegte, wie ich sie zu den weiter entfernten Handelsstädten Relshaz und Peorle bringen lassen konnte. Als Eingeschworener D'Olbriots hatte Ryshad das Recht gehabt, die Kaiserliche Depesche zu benutzen, und ich fragte, ob sie wohl auch mal inoffizielle Korrespondenz von Männern, die aus dem Dienst ihres Fürsten ausgeschieden waren, beför24
derten. Ich hatte Freunde an den richtigen Stellen, die eine ganze Schiffsladung Wein und Schnaps über das Meer schicken konnten, und jedes Fass würde meinen Namen als Brandzeichen tragen. Wenn ich nun die Frau wurde, an die sich die ganze Kolonie um Wein wandte, wohin könnte das führen? Marschierende Füße hinter mir unterbrachen diese Gedanken. Midda und ihre Freunde stoben auseinander wie Hennen im Hühnerhof, die Schürzen flatterten, die Röcke wurden gelupft, damit nur ja kein unachtsamer Soldat auf ihren Saum trat. Nicht dass Ryshad diesen Haufen Soldaten genannt hätte, und selbst Halice hätte zugegeben, dass sie kaum einen Söldnerslohn wert waren. Ich beschleunigte meine Schritte ein wenig, als der unrasierte Haufen an mir vorbeitrampelte, um sich mit der üblichen ziellosen Bosheit einer Gruppe Betrunkener vor Deglains Tür zu versammeln. »Deg! Hey, Deg, wir waren noch gar nicht fertig mit unserem Spiel!« Eine Stimme erkannte ich, und das war eine, die ich nicht mochte. Peyt hatte die Anspielung nicht verstanden, als Halice ihm im vergangenen Herbst angeboten hatte, ihn auszuzahlen, und ihm nahe legte, sich nach einem gewinnträchtigeren Krieg umzusehen, wie so viele andere Söldner es getan hatten, nachdem die Kolonie ein ganzes Jahr lang unbehelligt geblieben war. Die meisten Krieger, die geblieben waren, hatten ihre alten Berufe wieder aufgenommen wie Deglain oder legten ihre ungeübten Hände an beim Jagen und Futtersuchen im Wald, dem Entrinden gefällter Bäume für die Gerber oder dem Schleppen des Holzes dorthin, wo das nächste Haus gebaut wurde. Es gab schließlich mehr als genug Arbeit. Aber ich konnte mich nicht 25
entsinnen, dass Peyt und seine Kumpel auch nur einen Finger rührten, abgesehen davon, dass sie widerwillig mit Knüppeln auf fliehende Ratten eingeprügelt hatten, als die Garben von den neuen, dem Wald abgerungenen Feldern, zum Dreschen gebracht wurden. Trotz ihrer angeblichen Schwertkünste, hatten sie sich im Nachherbst bei der blutigen Auswahl der Schweine, Schafe und Rinder gedrückt, für die nicht genügend Futter da war, um sie durch den Winter zu bringen. Ryshad hatte seiner Verachtung für Peyt mehr als einmal beißend Ausdruck verliehen, indem er ihn mit den fetten schwarzen Egeln verglich, die in den Sümpfen des Ostens lauerten. Die einzige Arbeit, die ich ihn seit Jahresbeginn hatte verrichten sehen, nachdem Ryshad Temar klar gemacht hatte, dass Vithrancel sehr gut ohne Rudel herrenloser Hunde auskommen konnte, war das Ertränken einiger junger Hunde, die zu schwächlich waren, um einen Herrn zu finden. Ich erreichte meine eigene Pforte und verriegelte sie sorgfältig hinter mir. Ich lauschte dem anschwellenden Gemurmel, aus dem ich die Gossensprachen von Toremal bis hin zum Großen Wald heraushörte. Die Tür gegenüber flog auf. »Macht die Klappe zu, ehe ich es für euch tue!«, bellte Deglain unüberhörbar, ehe seine Stimme in einem Durcheinander von anderen, teils beruhigenden, teils aufstachelnden, unterging. »Niemand will hier Ärger!«, sagte ein unwahrscheinlicher Optimist. »Peyt sagt ja nur, wie er es sieht.« Dieser Einwurf troff nur so vor boshafter Erwartung. »Für mich sieht das Mädel ziemlich abgegriffen aus.« Der ungleichmäßige Ring von Männern weitete sich, um 26
Platz für zwei Gestalten zu machen, die einander jetzt umkreisten. »Ich würd mir auch eine Scheibe von ihrem Schinken abschneiden«, stimmte jemand mit dem deplatzierten Ernst des wahrhaft Betrunkenen zu. Ich lehnte mich über den Zaun, so wie eine zunehmende Zahl von Leuten aus den umliegenden Häusern. »Ihre Schenkel stehen so offen wie ein Tor an einem windigen Tag.« Der Sprecher wich keinen Zoll vor Deglain zurück und grinste hässlich, während er sich demonstrativ zwischen die Beine griff. Er war langgliedrig, und sein kantiges Gesicht unter den zurückgestrichenen, fettigen schwarzen Locken zierten die Bartstoppeln mehrerer Tage. Seine roten, bestickten Kleider waren einmal teuer gewesen, aber ein hartes Leben und noch schlimmere Tischmanieren hatten sie ausgebeult und Flecken darauf hinterlassen. »Ich bin nicht der Einzige, der ihre Löckchen gekrault hat.« Mit einem gackernden Lachen rief einer den alten Söldnertrinkspruch: »Auf lose Weiber und feste Stiefel!« »Du bist ein verlogener Bastard, Peyt.« Deglain machte einen Schritt auf ihn zu, und Peyt wich zurück. Deglain war ein paar Fingerbreit kleiner, aber breiter in den Schultern. Außerdem hatte er reichlich Muskeln unter der Fettschicht, die er sich im Laufe eines langen, müßigen Winters zugelegt hatte. Er trug nur ein Hemd und braune Hosen, und der leichte Wind drückte das feine Gewebe an seinen massigen Oberkörper. Sein derbes Gesicht war zu einem finsteren Grollen verzogen, die dichten Augenbrauen verschwanden fast in seinem widerspenstigen braunen Haar. »Sie ist diejenige, die den Bastard trägt, und du bist ein Idiot, 27
wenn du ihn dir anhängen lässt«, provozierte ihn Peyt. »Aber du kannst dich gerne mit meinen Hinterlassenschaften abgeben, wenn du das verkraftest.« »Ich lasse dich Pferdeäpfel fressen, wenn du solche Lügen verbreitest!« Einer von Catrices Brüdern drängte sich durch die Menge, das Gesicht dunkelrot vor Wut. Er schien nur aus jugendlich langen Armen und Beinen zu bestehen, wie ein Reiher auf Stelzen. Einer von Peyts Kumpeln stellte ihm ein Bein, und der Junge ging unter höhnischem Gelächter zu Boden. Aber Glane war nicht allein gekommen, und ein wütender Bursche hieb dem Mann mit geschickter Faust brutal in die Nieren. Einige Kolonisten schauten sich allmählich Söldnertricks »Bei Saedrins ab. Steinen!« Der Mann knickte in den Knien ein und kam erstaunlich langsam wieder hoch. Als er sah, dass Peyt abgelenkt war, brachte Deglain einen Aufwärtshaken an, der kräftig genug war, um dem Söldner die Zähne zu lockern. Doch das reichte nicht aus, um ihn zu Boden zu schicken. Das ordentliche Leben unter den Kolonisten hatte Deglain vergessen lassen, wie hart und schnell ein Söldner kämpft, und er wich einen Atemzug zu langsam zurück. Peyt landete einen raschen, instinktiven Hieb in seinen Magen, und mit einem Laut, halb Stöhnen, halb Fluchen, klappte Deglain zusammen. »Geh wieder zu deinen Hämmerchen zurück«, höhnte Peyt. »Du kämpfst wie eine Katze mit Handschuhen.« Er sah sich nach seinen schmeichlerischen Kumpanen um, aber er hatte sich zu früh gefreut. Deglain rammte Peyt eine Schulter wie ein Ochse in die mageren Rippen, sodass er auf den Hintern fiel. »Wenn ich einen so nutzlosen Hund hätte wie dich, würde ich ihn aufhängen.« Er hielt seinen Peiniger am Boden festge28
nagelt, um ihm ein paar anständige Hiebe zu verpassen, dann zerrten ihn zwei andere weg, wobei sie brutal Fäuste und Stiefel zu Hilfe nahmen. »Ich trete dich so in den Arsch, dass dir die Zähne wackeln!« Peyt war wieder auf den Beinen. Unverwüstlichkeit war die eine Eigenschaft der Söldner, die er auch besaß. Blut rann ihm aus einer aufgeplatzten Braue, als er sich übel fluchend auf Deglain stürzte. Der große Mann behauptete sich gegenüber Peyts Anhängern, zu beiden Seiten von ihm stand ein Mann, um ihm zu helfen, gekleidet in die schlichten Hosen und die altmodischen Wämser der Kolonisten. So wie mehr Söldner herbeikamen, um Peyt zu unterstützen, so kamen Männer, die eigentlich nur hatten zuschauen wollen, und stellten sich auf Deglains Seite, damit er nicht unterlegen war. Sanfte Stöße, um Angriffe abzuwehren, wurden als direkte Attacken von den Söldnern aufgefasst, für die Kämpfen so natürlich war wie Atmen. Als sie merkten, dass ihre Verteidigungsversuche nur gewalttätige Vergeltung hervorriefen, ließen die Kolonisten bald jede Zurückhaltung vergessen. »Willst du nicht Halice holen?« Zigrida stand in ihrer Tür und blickte missbilligend auf das um sich greifende Gemenge. »Lass uns erst mal sehen, wie sich das entwickelt.« Ich lehnte mich an den Zaun, der die sprießenden Nesseln in unserem Garten durchaus vor diesen trampelnden Stiefeln schützen würde. Die schmucken Rüben meiner Nachbarn waren gleichfalls mit Weidengeflecht und Hecken geschützt, damit sie nicht von Tieren abgefressen wurden, die sich aus den Wäldern heranschlichen. »Söldner.« Zigridas Verachtung war vernichtend. »Kämpfen 29
mit genauso wenig Grund wie Katzen auf den Straßen.« Ich hielt den Mund. Prügeleien waren keineswegs ungewöhnlich in den Söldnerlagern, durch die ich im Laufe der Jahre gekommen war, vor allem am Ende eines langen und langweiligen Winters, wenn sich die Männer auf die Gefahren und Gewinne der Kämpfe einer neuen Jahreszeit einstellten. Halice würde sich nicht allzu sehr sorgen, solange niemand ernsthaft verletzt wurde. Zwar zeigten Hemden und Wämser reichlich Blutflecken, aber niemand lag am Boden, wo Stiefel Rippen zersplittern und innere Organe verletzen konnten. Einige waren in Ringkämpfe zu zweit verwickelt, stemmten die Füße in den Boden, ehe sie sich vorwärts stürzten und versuchten, dem Gegner die Beine wegzuziehen. Ich sah zwei Männer wie einen fallen, da keiner den anderen loslassen wollte. Sie krabbelten im Dreck voneinander weg, einer hielt dem anderen die Hand hin und zog ihn aus Glanes Reichweite, der seinen eigenen Kampf bestritt. Soweit ich sehen konnte, war er nicht der einzige Kolonist, der dankbar für die Gelegenheit war, zuzuschlagen, um die eingebildeten und bewussten Beleidigungen heimzuzahlen, die sich über die vergangenen Jahreszeiten angestaut hatten. Als der wirbelnde Kampf das Paar in meine Richtung fegte, erkannte ich den Söldner, den Glane mit einem Hagel blitzschneller Hiebe strafte, ungeachtet der Blessuren, die er sich selbst zuzog. Der Junge würde diese Lektion auf die harte Tour lernen. Sein Opfer war ein stämmiger Raufbold namens Tavie, dem aus der aufgeplatzten Unterlippe Blut auf das schmutzige Hemd tropfte. Ein Winter voller Müßiggang hatte ihm einen Bauch eingetragen wie einer Frau kurz vor der Niederkunft, und er zahlte einen hohen Preis für diese Faulheit. Dann sah 30
ich, wie Tavie beschloss, die Chancen auszugleichen, und nach einem Dolch an seinem Gürtel griff. »Oh nein, mein Freund!« Ich schnippte mit den Fingern in Zigridas Richtung, wandte aber die Augen nicht von dem fetten Söldner. Mit erhobenem Messer rückte er dem unglücklichen Glane auf den Pelz, der wenigstens so viel Verstand hatte, sich so schnell zurückzuziehen, wie es die Menschenmenge ringsum erlaubte. Der Zufall wollte es, dass er in meine Richtung geschoben wurde. Ich hob einen der Steine von dem Haufen auf, die ich im vergangenen Herbst in einem ungewohnten Anfall von Arbeitswut aus unserem angeblichen Gemüsegarten gegraben hatte. Ich wog den Stein in der Hand, er war hart und schwer, und eine scharfe Kante bohrte sich in meine Handfläche. Halice ist diejenige, die groß und schwer genug ist, um an der Seite von Männern ein Schwert zu nehmen und sie für ihren Spott büßen zu lassen. Ich habe weder die Fähigkeiten noch die Lust dazu, also habe ich einen guten Wurfarm kultiviert. Was ich jetzt brauchte, war die Chance, Tavie zu treffen, ohne einem anderen Dummkopf, der im Weg stand, den Schädel einzuschlagen, und vor allen Dingen, ehe Tavie Gelegenheit hatte, an Glane heranzukommen. Ich sah meine Chance und ergriff sie. Der Stein traf Tavie genau an seinem Messerarm. Die Ablenkung verschaffte Glane eine Sekunde, um seine nachlassenden Kräfte und seine Nerven zu sammeln. Es war selbst über dem ganzen Aufruhr ringsum deutlich zu hören, wie seine Faust seitlich an den Schädel des Söldners krachte, und ich zuckte zusammen. Es war Glanes Pech, dass er Tavie in Peyt hineinschubste. Das Schicksal hatte den großen Söldner vorübergehend von Deglain weggespült. Wütend drehte er sich nun herum, um zu 31
sehen, wer ihm gerade einen Mann vor die Füße geworfen hatte. »Kämpfst wohl um die Ehre deiner Schwester?« Ein raubtierhaftes Grinsen krümmte Peyts Lippen, als er Glane höhnisch ansah. »Vergebliche Mühe!« »Wenn du deine dreckige Hand an meine Schwester legst, schlage ich sie dir ab!« Glanes kieksende Stimme verriet seine Jugend. Er war noch so jung, um dumm genug zu sein, sich umbringen zu lassen, griff in seinen Arbeitsgürtel und zog sein unzureichendes Messer. Peyt trat zurück, aber nur gerade so weit, um den längeren, schärferen Dolch aufzuheben, den Tavie hatte fallen lassen. »Ich sag dir was, ich dreh dich auch mal am Spieß, wenn ich dir ein bisschen Bescheidenheit eingeprügelt habe, um zu sehen, wie du dich im Vergleich zu deiner Schwester machst, was? Wie wär's, wenn ich dir diesen Austernbrecher in deinen haarlosen Arsch ramme, wenn ich damit fertig bin?« Ich wusste, dass Peyt keine Vorliebe für Knaben hatte, aber die Drohung brachte den Burschen aus der Fassung, genau wie Peyt beabsichtigt hatte. Er ließ sich in die Hockstellung des geübten Messerkämpfers fallen. Ich konnte sehen, dass Glanes Hand zitterte. Er stand mit dem Rücken zu mir, und unser Zaun verwehrte ihm einen weiteren Rückzug. Er versuchte sich davonzuschieben. Peyt stürzte vor, und dann war ich an der Reihe. Mein Eimer Wasser traf den Söldner voll ins Gesicht. Die Kälte und der Schock ließen ihn einen Augenblick verwirrt nach Luft japsen, sein überraschter Schrei war so rau, dass jeder erstarrte, jetzt, da die erste Welle der Begeisterung am Blutvergießen verebbte. »Glane!«, fauchte ich bissig. »Steck das Messer weg und 32
mach, dass du nach Hause kommst!« Als wohlerzogener Junge sorgte die Gewohnheit, der Stimme einer älteren Frau zu gehorchen, dafür, dass er schon auf dem Absatz kehrtmachte, ehe er sich wieder an seine männliche Pflicht erinnerte und sich stattdessen hinter Deglain versteckte. Seines Zieles beraubt, wandte sich Peyt mit einem hässlichen Gesichtsausdruck zu mir, nachdem er sich die feuchten Haare aus den Augen gewischt hatte. »Livak! Du pockenverpestete Schlampe!« »Auch dir einen schönen guten Morgen.« Ich lächelte ihn an. »Wie ich sah, hattest du noch nicht gebadet, also dachte ich, ich spare dir die Mühe, selbst Wasser zu holen.« Er stieß drohend mit dem Finger nach mir. »Das gibt noch Ärger, du Hexe.« »Ich glaube nicht, dass du das wirklich willst«, versicherte ich ihm noch immer lächelnd. Der Zaun war so hoch, dass Peyt sich hätte darüber schwingen müssen, um mich zu kriegen, und ich wäre im Haus und hätte die Tür verriegelt, ehe er auch nur einen Fuß auf den Zaun gesetzt hätte. »Und wer sollte mich aufhalten?« Peyt machte drohend einen Schritt auf mich zu. Alle anderen hatten ihr Handgemenge unterbrochen, um dieser neuen Belustigung zuzusehen. »Wo ist dein Mann? Soll ich dir mal den Kittel zerreißen, um dir beizubringen, dass dein Platz auf dem Rücken ist, mit den Beinen in der Luft?« »Rühr sie an, und ich lass dich deine eigenen Eier fressen«, knurrte Deglain, doch Peyts Kumpel bildeten eine feste Barriere zwischen ihm und mir. Ich sah an Peyt vorbei und lächelte. »Trotzdem, danke, Deg, aber Peyt muss lernen, dass Größe allein keine Rolle spielt.« 33
Peyts finsterer Blick verwandelte sich in ein unangenehmes Grinsen, da ihm genauso wie allen anderen klar war, dass er mich um mindestens einen Kopfüberragte. »Und ob es das tut, du dreckige Hure.« Ich schüttelte den Kopf und reizte ihn mit gespielter Enttäuschung. »Wann wirst du es je lernen, Peyt?« Er war nun auf einen Schritt an den Zaun herangekommen, das Gesicht angespannt wie ein Fuchs, der eine Maus gesehen hat. »Was lernen?« Ich machte einen Schritt zurück, um ihn weiter zu locken. »Welche Frauen zu mehr gut sind, als das Ziehen in deinen Hosen zu erleichtern. Wir können auf uns selbst aufpassen.« »Du willst es mit mir aufnehmen?« Er stieß ein bellendes Lachen aus. »Das ist ja Gold wert!« Dann schlug ihm Halice hart auf den Hinterkopf. Ehe er sich weit genug erholen konnte, um auch nur daran zu denken, sein Messer zu ziehen, hatte sie sein strähniges schwarzes Haar gepackt und riss ihm den Kopf nach hinten, um ihn mit dem anderen Arm gekonnt in einen Würgegriff zu nehmen. Da sie ungefähr so groß war wie er und breitere Schultern hatte, machte es ihr keine Schwierigkeiten, ihn festzuhalten. »Nein, aber ich setze darauf, dass Halice es jeden Tag von der Sonnwende bis zur Tagundnachtgleiche mit dir aufnimmt«, erklärte ich Peyt. Die Wut in seinen Augen wurde kurz zu Panik und dann zu bitterer Leere, als Halice ihn bewusstlos würgte. Zigridas Enkel schaute mit großen Augen atemlos hinter ihr hervor, und ich zwinkerte dem Kind zu, das zurück zu seiner Großmutter huschte. Halice ließ den schlaffen, besinnungslosen Peyt zu Boden gleiten. »Werft ihn auf sein Bett, und wenn er aufwacht – falls er aufwacht –, kann er zu mir kommen und 34
sich seine Strafe für diesen kleinen Unsinn abholen.« Sie drehte sich um und musterte finster die zwielichtige Menge. Es war keiner darunter, der ihre Autorität infrage stellte. »Wenn ihr ihn weggeschafft habt, geht zum Fluss und sagt Minare, dass ich euch geschickt habe. Wenn ihr so wenig zu tun habt, dass ihr euch so dämlich benehmt, könnt ihr euch dort nützlich machen. Bewegt euch!« Ihre Worte lösten einen überstürzten Rückzug bei den Söldnern aus. Peyt wurde von zwei seiner Kumpane halb geschleppt, halb gezerrt. Halice wandte ihren sengenden Blick nun den Kolonisten zu, der Ausdruck ihrer harten, dunklen Augen war nicht zu deuten. »Habt ihr auch nichts Besseres zu tun?« Sie bückte sich, um Peyts Dolch aufzuheben, und warf ihn mir zu. Ich pflückte das Messer aus der Luft und warf es müßig ein paarmal wieder hoch. Das sollte die Leute daran erinnern, dass ich nicht nur ein dummes kleines Mädchen war, das Ryshad das Bett wärmte. Plötzlich fielen jedem mindestens zehn Dinge ein, die dringend seine Aufmerksamkeit erforderten, und alles machte sich davon. »Halice ...« Deglain trat vor und rieb sich die geschundenen Knöchel in der Handfläche. Die Bissspuren auf seinem Unterarm waren deutlich zu sehen. Glane war hinter ihm. Auf Wange und Stirn bildeten sich dunkle Blutergüsse. »Ich sehe euch später.« Halice ließ eine Drohung in diesem Versprechen anklingen und fixierte Deglain mit ihrem Blick, bis dieser die Augen abwandte. Er straffte die Schultern und schob Glane zu seinem Haus, wo Catrice auf der Schwelle wartete, den dottergelben Schal an das tränenüberströmte Gesicht gepresst. Halice fuhr sich mit der Hand über das dunkelblonde Haar, 35
das sie so kurz geschoren trug wie jeder Soldat. Jetzt, da nur ich es sehen konnte, wurden ihre rauen Züge freundlicher. »Ich kann genauso gut ein frühes Mittagessen nehmen, wenn ich schon mal hier bin. Du kannst mir erzählen, worum es eigentlich ging, während wir essen.«
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Die Inselstadt Hadrumal 15. Nachfrühling
»Ob es wohl viele solcher Auseinandersetzungen zwischen Söldnern und Kolonisten gibt?« Der Sprecher war ein drahtiger Mann mit nachdenklichen braunen Augen und einem rötlichen, kurz gestutzten Bart. Sein spärliches sandfarbenes Haar war so kurz geschoren, dass es beinahe unsichtbar war. Er war jung, obgleich er beinahe kahl war, ungefähr im selben Alter wie sein Kamerad, der noch seinen vollen Schopf schwarzer Haare hatte, die ihm bis auf die Schultern reichen würden, wenn er das Lederband abnahm, mit dem er sie zusammenhielt. Beide Männer waren von sehniger Gestalt, aber damit endete die Ähnlichkeit auch schon. Der dunkelhaarige Mann hatte einen fahlen Teint und war deutlich größer als sein Freund, auf dessen heller Haut Sommersprossen zu sehen waren, als sie aus dem Schatten eines Eingangs in die frühe Morgensonne hinaustraten. »Livak und Halice scheinen alles gut im Griff zu haben.« Forsch und selbstbewusst steckte er die Hände in die Taschen seines grasgrünen Wamses, ein Kleidungsstück, das entschieden lässiger in Stoff und Schnitt war als das nüchterne hellbraune Leder des anderen. »Livak hat einen scharfen Verstand«, meinte der blonde Mann nachdenklich. »Wie fandest du Halice, als du mit ihr unterwegs warst?« »Sie ist ebenso schlau wie unansehnlich.« Der größere Mann lächelte. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass es Ärger mit die37
sen Söldnern gibt, aber wir können es von mir aus erwähnen, falls unser geschätzter Erzmagus eine Entschuldigung dafür braucht, dass Hadrumal Vertreter nach Kellarin geschickt hat.« Seinem Tonfall nach hielt er das nun wirklich nicht für nötig. Die beiden Männer bogen um die lang gezogene Kurve von Hadrumals Hauptstraße und gingen durch einen alten Torbogen aus verwittertem Stein in einem Turm, der sich dunkel vor dem ruhigen, im ersten Licht des Tages noch fahlen Himmel abzeichnete. Ihre Schritte hallten laut auf dem Steinpflaster, und sie überquerten einen Hof, in dem die meisten Fenster noch fest verschlossen waren, da ihre Mit-Zauberer sich noch nicht rührten, um einen neuen Tag mit dem uralten Studium der Magie zu verbringen. Der Schwarzhaarige öffnete die eisenbeschlagene Tür zu einem dunklen Treppenaufgang. Ein einziges Fenster hoch oben warf schräge Lichtstrahlen auf die eichenen Stufen, und beide hielten inne, um ihre Augen an das Dämmerlicht zu gewöhnen. Mit offensichtlicher Vorfreude, die ihre Schritte beflügelte, stiegen sie hinauf. Als der blonde Mann knapp an die Tür oben klopfte, tauschten die zwei ein Grinsen. »Herein.« Die Einladung klang so barsch, dass beide gleichermaßen erstaunt dreinsahen. Der dunkelhaarige Mann öffnete die Tür. »Erzmagus.« »Shiv.« Der Mann im Zimmer wandte ihnen den Rücken und stand vor einem Tisch, auf dem sich Bücher und Dokumente stapelten. Er drehte sich um und begrüßte sie mit einem knappen Nicken. »Usara. Was kann ich für euch tun?« »Wir dachten, wir laden dich ein, mit uns zu frühstücken.« Shivs Worte verklangen unsicher. »Erwartest du jemanden?« Usara konnte sein Erstaunen über 38
die formelle Robe des Erzmagiers nicht verhehlen, ein kostbares Kleidungsstück aus Seide, so dunkel und schimmernd wie ein Rabenflügel, auf dessen Vorderteil mattschwarz geheimnisvolle Symbole gestickt waren. Planirs Haar war so schwarz wie sein Gewand, bis auf einen Hauch von Grau an den Schläfen. »Wie du siehst«, erwiderte der Erzmagier kurz angebunden. Shiv lächelte zögernd. »Wir wollten über Kellarin reden.« »Was ist damit?« Planir machte einen ordentlichen Stapel aus den kleinen Bänden, die er aus seinem Bücherstapel gezogen hatte. »Dieses Jahr wird dort viel passieren«, begann Shiv ziemlich lahm. »Die Kolonie sollte seit vergangenem Herbst expandieren, und jetzt, da das Äquinoktium vorbei ist, wird sie nichts mehr zurückhalten können.« »Ein ganzer neuer Kontinent wartet darauf, entdeckt zu werden«, warf Usara ein. »Hadrumal kann vielfältige Hilfe anbieten. Zauberei wird die Erforschung schneller und sicherer machen.« »Meint ihr Zauberei im Allgemeinen oder euch beide im Besonderen?« Planir richtete seine umschatteten grauen Augen auf Usara. Das frühe Licht, das durch die schmalen Fenster fiel, ließ sein glatt rasiertes Gesicht kantig erscheinen. »Du weißt, dass wir ein Interesse an Kellarin haben, Erzmagus«, sagte der Jüngere langsam. »Jedes Schiff, das die Ozeanüberquerung wagt, braucht einen Zauberer an Bord«, meinte Shiv achselzuckend. »Das können genauso gut wir sein wie jeder andere.« »Mit Verlaub, da möchte ich widersprechen«, sagte Planir mit einem Anflug von Humor. »Das ist eine Aufgabe, die sich ideal für Magier eignet, die gerade ihre Lehre hinter sich haben und eine Lektion in den Unterschieden zwischen den gelernten The39
orien und der praktischen Anwendung von Magie brauchen.« »Wir könnten von Kellarin aus das Wetter für sie beobachten«, schlug Usara vor. »Unsere eigene Erfahrung mit dem Meer und den Küstenströmungen nutzen, um ihnen zu helfen.« »Meinst du nicht, deine Pflichten hier sind wichtiger?« Das schwache Lächeln schwand von Planirs Gesicht. »Es ist üblich, für seine Lehrzeit zu bezahlen, indem man sein Wissen weitergibt, abwechselnd mit seinen Jahrgangskollegen. Wie steht es mit deinen eigenen Lehrlingen?« Usara sah den Erzmagier unsicher an. »Ich denke, wir haben ihnen alles beigebracht, was wir können. Das Äquinoktium bedeutet immer, dass die Lehrlinge zu neuen Meistern weiterziehen, also dachten wir, wir wären frei ...« »Habt ihr einmal überlegt, wer seine Lehrlinge vielleicht an euch weiterreichen will? Herion hat bereits zwei junge Frauen erwähnt, von denen er glaubt, dass sie von eurer Hilfe profitieren könnten, 'Sar.« Planir deutete auf die lang gestreckten Dächer von Hadrumals Häusern, die durch das Fenster zu sehen waren, die hohen Türme und bescheideneren, niedrigeren Gebäude. »Ihr habt beide jetzt denselben Rang im Rat, seid geachtet in den Hallen. Mehr als ein Magus ist an euren Ideen interessiert, gemeinschaftliche Magie zu praktizieren.« Usara machte den Mund auf, doch Planir schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab. »Glaubst du denn, du hättest alles gelernt, was Hadrumal dich lehren kann? Ich kann mich nicht erinnern, dass Shannet dich als Schüler entlassen hätte, Shiv.« Er fixierte den dunkelhaarigen Magier mit einem strengen Blick. »Was hält sie von deinen Plänen? Ich nehme doch an, du hast mit ihr darüber gesprochen?« »Nein«, erwiderte Shiv langsam. »Sie hasst jede Erwähnung 40
von Kellarin, wie du sehr wohl weißt.« »Weil Viltred, ihre Jugendliebe, dort starb und Otrick, ihr Freund im Alter, sterbend von dort zurückkehrte.« Planirs Augen waren steinhart unter den geschwungenen schwarzen Brauen. »Daran musst du mich nicht erinnern«, gab Shiv gekränkt zurück. »Nicht?« Planirs Stimme war kalt. »Sind denn die Gefahren, die für sie so fatal waren, verschwunden?« »Die Elietimm haben seit über einem Jahr nichts mehr gegen die Kolonie unternommen«, sagte Shiv fest. »Aber die Möglichkeit bleibt natürlich. Umso mehr ein Grund, Magier dorthin zu schicken, die mehr im Ärmel haben als die Fähigkeit, ein Feuer über Nacht in Gang zu halten oder den besten Platz für einen Brunnen zu suchen«, betonte Usara. »Sie haben im Norden im vergangenen Jahr genug Unheil angerichtet, wie ihr besser wisst als jeder andere.« Der Erzmagier verschränkte langsam die Arme vor der Brust. »Auch wenn Ihr ihre Pläne erfolgreich durchkreuzt habt, 'Sar, glaube ich nicht, dass sie die Hoffnung aufgegeben haben, sich mit dem Bergvolk zu verbünden. Wenn Ihr in Kellarin seid, könnte es uns ernstlich auf dem falschen Fuß erwischen, wenn wir plötzlich feststellen müssten, dass wir die Kontakte, die ihr beim Waldvolk und in den Festungen in den Bergen geknüpft habt, brauchen.« »Wann immer wir eine Bedrohung durch die Elietimm abgewehrt haben, haben sie etwas anderes versucht, nicht dasselbe noch einmal. Seit Ryshad ihre Verschwörung aufgedeckt hat, ist auf dem Archipel nicht eine Spur von ihnen zu entdecken.« Shiv machte einen Schritt nach vorn. »Und das Bergvolk wird 41
auf der Hut sein, das kann sich doch jeder Dummkopf denken. Die Elietimm werden wieder nach Süden blicken. Lehrlinge werden kaum in der Lage sein, die Kolonie zu verteidigen, wenn sie angreifen. Wenn wir dort sind, wissen wir, womit wir es zu tun haben und wie man am besten dagegen kämpft.« »Haltet ihr sie nun für eine Bedrohung oder nicht?« Planir sah verwirrt aus. »Du hast gerade gesagt, dass seit über einem Jahr nichts von ihnen zu hören ist. Vielleicht solltest du deine Argumente zu Ende durchdenken, ehe wir weiter darüber diskutieren?« Shiv errötete, sagte aber nichts. »Kellarin hat Söldner und eigene Magie, vergesst das nicht.« Planir lächelte dünn. »Jedenfalls sind der tormalinische Kaiser und ich zu einer, sagen wir, Vereinbarung über Kellarin gekommen. Er lässt der Kolonie ihre Unabhängigkeit, solange Hadrumal dasselbe tut.« Usara sah ihn verblüfft an. »Ich verstehe nicht, wie wir beide eine Bedrohung dafür darstellen könnten.« »Deine Bescheidenheit steht dir wohl an, 'Sar.« Planirs Ton wurde eine Spur wärmer. »Denk einmal an den Ruf, den du in Toremal genießt, als der Magier, der die Elietimm im letzten Jahr fast ganz allein aus den Bergen vertrieben hat. Natürlich war eine solche Macht und solche Tapferkeit nur zu erwarten von einem der Zauberer, die das verlorene Land Kellarin im Sommer zuvor wieder entdeckten und der mit mächtigen Magiern wie dem bewundernswerten Shiv kämpfte, um dessen Volk zu verteidigen, selbst bis zum Tode des edlen Viltred.« »Ich glaube nicht, dass Sarkasmus hier angebracht ist«, sagte Shiv spitz. »Verzeiht, ich wollte nicht spotten.« Planir sah trotz der frü42
hen Stunde müde aus. »Ich schätze es, dass ihr ein Interesse an Kellarin habt und eine enge Beziehung zu seinem Volk, aber ihr könnt auch von hier aus ein Auge auf sie haben.« Er warf einen Blick auf Shiv, der vergeblich versuchte, unschuldig dreinzublicken. »Und erzählt mir nicht, ihr hättet sie nicht mit Weitsicht beobachtet, weil ich euch doch nicht glauben würde. Nein, macht euch darum keine Sorgen. Soweit es mich angeht, könnt ihr so viel Weitsicht anwenden, wie ihr wollt, und wenn von den Eisinseln Ärger zu kommen droht, könnt ihr Kellarin alle Hilfe geben, die ihr wollt. Der Kaiser wird sich zu sehr darüber freuen, um deswegen Theater zu machen, und der Erste sein, der darüber jubelt, dass ElietimmSchiffe durch magisches Feuer bis zur Wasserlinie herunterbrennen oder wie Ratten in einem Fass ersäuft werden durch einen heraufbeschworenen Sturm.« »Ich freue mich über deine Zuversicht, aber wir haben nicht viel Erfolg gegen die Hexer der Elietimm vorzuweisen«, sagte Shiv bitter. »Wärt ihr dann hier nicht sicherer?«, fragte Planir. »Du hast dir schon wieder selbst widersprochen, Shiv.« »Wir haben noch kaum weitere Fortschritte erzielt, die Äthermagie zu verstehen.« Usaras Enttäuschung war offenkundig. »Ich muss mit denjenigen in Kellarin arbeiten, die sich damit auskennen, wenn ich das Wenige verstehen soll, was wir im Laufe des Winters gelernt haben, und wenn ich je herausfinden soll, wie Zauberkunst mit Zauberei zusammenhängt. Vielleicht begreifen wir sogar, wie die beiden Arten von Magie zusammenwirken können statt sich gegenseitig zu unterdrücken.« »Eine Hoffnung, der ich jedes Mal vor dem Rat Ausdruck verleihe, wenn irgendein Skeptiker den Wert deiner Studien in43
frage stellt.« Planir hob fragend eine Augenbraue. »Du machst doch sicher bessere Fortschritte, wenn du von zwanzig Generationen des Lernens umgeben bist, die hier in Hadrumals Bibliotheken dokumentiert sind, als wenn du versuchst, deine Studien zu verfolgen, während du gleichzeitig Schiffe von gefährlichen Strömungen fern halten und Erzadern für die Kolonie aufspüren musst?« »Ich muss meine Theorien mit der Demoiselle Guinalle durchsprechen«, beharrte Usara. »Sie ist schließlich die führende Meisterin.« »Ah ja, Guinalle.« Planir senkte langsam den Kopf. »Aber was ist mit Aritane, 'Sar? Sie kann nicht mehr zurück zu ihrem Volk in den Bergen. Diese Sheltya, die ihr Wissen für sich behalten, sie werden annehmen – und zu Recht –, dass sie euch alles gesagt hat, was sie weiß über ihre alte Äthermagie. Du hast mir gesagt, es bedeute ihren Tod, falls die Sheltya sie je in die Finger bekämen.« »In Hadrumal ist sie sicher aufgehoben«, sagte Shiv wegwerfend. Planir richtete seinen strengen Blick auf Usara. »Du hast dich oft genug bei mir darüber beklagt, dass sie dir nicht genügend Respekt zollt, 'Sar. Du hörst doch all die Argumente, dass Zauberkunst nichts weiter ist als eine Art Magie zweiter Klasse, nicht wert, von Hadrumal zur Kenntnis genommen zu werden. Willst du Aritane damit allein lassen?« »Dann kann sie ja mit uns nach Kellarin kommen.« Usara wirkte inzwischen ausgesprochen erbittert. »Du hast es geschafft, sie dazu zu überreden?« Planir war erstaunt. »Ich hatte es so verstanden, dass sie selbst ihr Exil in Hadrumal für lebenslänglich hält. Es ist der einzige Ort, an dem 44
sie sich vor den Sheltya verbergen kann, die sie mit Zauberkunst jagen wollen, nicht wahr?« »Ich bin sicher, Guinalle könnte sie in Kellarin beschützen«, sagte Usara steif, doch seine Miene strafte ihn Lügen. »Meinst du nicht, die uralte Verwandtschaft ihres Volkes mit den Elietimm wird sie dort noch weniger willkommen machen als hier, unter Kolonisten, die so schrecklich durch deren Hände gelitten haben?«, wagte Planir sich vor. Er runzelte die Stirn. »Und natürlich, wenn Elietimm-Hexer ein neues Ziel für ihren Hass suchen, wie du annimmst, Shiv, und zum Beispiel Hadrumal angreifen sollten, dann müssen wir feststellen, dass sowohl Guinalle als auch Aritane, die einzigen beiden mit echtem Wissen über solche Magie und, was noch wichtiger ist, mit Wissen, wie man ihr begegnet, auf der anderen Seite des Ozeans sitzen.« »Warum machst du so viele Schwierigkeiten, Erzmagus?«, fragte Shiv rundheraus. »Warum habt ihr beide nicht alle Folgen eures Handelns durchdacht?«, fauchte Planir zurück. »Habe ich euch denn nicht besser gelehrt? Ist diese Idee ganz und gar eure eigene? Hat irgendjemand sie euch vorgeschlagen? Troanna zum Beispiel?« »Ich höre nicht auf Troanna«, erwiderte Shiv im selben Atemzug, wie auch Usara protestierte. »Ich bin dein Schüler, Planir, niemandes anderer.« »Wie kommt es dann, dass dieser Plan euch so blind gegenüber weiterführenden Überlegungen macht?«, sagte Planir abrupt. »Sag mir, 'Sar, ist dein Wunsch, Guinalle zu sehen, rein akademischer Natur? Hast du deine romantische Neigung zu der Dame aufgegeben?« »Nein, aber das beeinträchtigt meine Pflichten gegenüber Hadrumal nicht.« Usara errötete heftig unter seinem Bart. »Nicht 45
mehr, als du von deiner Beziehung mit Larissa beeinträchtigt wirst.« »Ich glaube, darüber reden wir lieber ein andermal«, sagte Shiv hastig. Er packte Usara am Ärmel. »Wie du sagst, Erzmagus, es gibt noch andere Aspekte, die wir noch genauer betrachten sollten.« Er drängte Usara durch die Tür und schloss sie rasch, als der blonde Zauberer sich mit sichtbarer Verärgerung freimachte. Sie stiegen in stummer Gereiztheit die Treppe hinunter. »Was sollte das alles?«, platzte Usara heraus, als sie auf dem Hof standen. »Ich weiß, dass er in der letzten Zeit etwas aufbrausend ist, aber das war einfach unmöglich!« »Vielleicht haben wir einfach den falschen Moment erwischt«, sagte Shiv zweifelnd. »Er sah hundemüde aus. Was meinst du, was ihn dazu bringt, Mitternachtskerzen abzubrennen? Larissa?« Usara schüttelte den Kopf. »Sie verbringt längst nicht mehr so viel Zeit mit ihm. Wie ich höre, regt sie der Klatsch zu sehr auf.« »Was hat sie denn erwartet, wenn sie sich von Planir in sein Bett locken lässt?«, war Shivs wenig mitfühlende Reaktion. »Sie ist schließlich sein Lehrling.« »Er hat sie wirklich gern«, beharrte Usara. »Aber sie lenkt ihn von seinen Aufgaben ab und ist niemand, mit dem er sie teilen könnte. Er muss Otrick vermissen.« Shivs Stimme klang traurig, als er durch das Schattenmuster trottete, das von einem bleigefassten Fensterrahmen geworfen wurde, derjetzt weit offen stand, um die Morgenluft hereinzulassen. »Das tun wir alle«, seufzte Usara. »Und mit wem soll Planir jetzt reden, wo der alte Pirat tot ist?« 46
»Pered glaubt, Planir hat sich nicht genügend Zeit gelassen, um um Otrick zu trauern«, bemerkte Shiv. Er schnitt eine Grimasse. »Ich gewinne den Abwasch bis zum nächsten Markttag. Pered hat mit mir gewettet, dass Planir uns nicht einfach so gehen lässt.« Usara warf einen Blick zurück auf das hohe Fenster des Erzmagiers. »Vielleicht hätten wir ihm den ganzen Plan verraten sollen.« Seine Worte verloren sich in Unsicherheit. »Wir waren übereingekommen, dass wir es eins nach dem anderen machen«, sagte Shiv entschieden. »Und überhaupt, wer, glaubst du, besucht ihn noch vor dem Frühstück? Vielleicht war er deshalb in so widerborstiger Laune.« Sie gingen durch das Tor und verfielen in Schweigen, während ein paar gähnende Lehrlinge ihren Weg kreuzten. Usara ging voraus zu den weniger erhabenen Gebäuden der Hauptstraße, wo Hadrumals Händler sich langsam auf die weltlicheren Beschäftigungen des Tages vorbereiteten. »Was hältst du von Brot und Käse?« Shiv deutete mit dem Kinn auf einen kleinen Laden, dessen stabile Fensterläden jetzt heruntergelassen waren und eine Art Theke bildeten, die mit Krügen voll Wasser und Wein und Körben mit frisch gebackenen Brötchen aus einer nahe gelegenen Bäckerei beladen waren. »Es kann ja nicht schaden, mal eine Stunde lang oder so zu sehen, wer da kommt und geht«, stimmte Usara zu.
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Vithrancel, Kellarin 15. Nachfrühling
»Wenn du etwas anderes zu trinken möchtest, müssen wir deinen Keller plündern.« Ich stellte den Krug Bier vor Halice auf den Tisch. Sie holte irdene Becher aus dem Schrank und schenkte ein. »Wie kommst du auf die Idee, ich hätte noch Wein?« »Weil ich dich besser kenne als deine eigene Mutter.« An der Vordertür klopfte es, und ich fragte mich, wer hier so förmlich war. Wir befanden uns im Wohnraum, der zu klein war, um die Bezeichnung Salon zu verdienen, obwohl das Haus immerhin über eine separate Küche verfügte. »Herein.« Die Tür ging auf, und Zigridas Enkel Tedin trat ein. »Mit Grüßen von Großmama, es ist ein Brot für das Mittagessen der Truppenkommandantin.« »Sag ihr vielen Dank.« Halice lächelte den Jungen an, der ihr kaum bis zum Gürtel reichte. »Du hast dich heute Morgen gut gehalten. Du hast kühlen Kopf bewahrt und bist schnell gerannt.« Tedin senkte den Kopf, strahlte freudig, wobei er eine Zahnlücke sehen ließ, legte das Brot auf den Tisch und huschte davon. »Was hat dein Mann in der Speisekammer?«, fragte Halice, als der Junge die Tür hinter sich zuzog. Ich ging nachschauen. Da ihm sehr wohl klar war, dass man mir noch nicht einmal zutrauen konnte, Erbsen auszuhülsen, war Ryshad für unsere Mahlzeiten und Vorräte zuständig. »Hier 48
ist ein frischer Käse.« Ich schnüffelte vorsichtig an dem feuchten Baumwollbeutel, der an dem Haken hing. »Hammel und Zwiebelkuchen und ein paar eingelegte Pilze.« Ryshad musste jemandem einen bedeutenden Dienst erwiesen haben, um so kostbare Reste der Wintervorräte einer Hausfrau dafür zu erhalten. Ich spähte zweifelnd auf das Etikett eines kleinen Steingutgefäßes, das mit gewachstem Tuch und Kordel verschlossen war. »Eingelegte Geißkleeknospen?« »Die habe ich seit meiner Kindheit nicht mehr gesehen.« Halice kam herbei, um das Essen zum Tisch zu tragen. »Die alten Frauen machten sie, um sie in Drianons Schrein zu opfern.« »Ryshad hätte sie nicht in die Speisekammer gelegt, wenn man sie nicht essen könnte.« Ich zuckte die Schultern und schnitt Brot. Halice öffnete das Gefäß und kostete, ehe sie beifällig nickte und mehr herausnahm. »Was will Minare Peyts Kumpane tun lassen, um sich ihr Brot zu verdienen?«, fragte ich, den Mund voll herzhafter Hammelpastete. »Im Fluss Fischfallen aufstellen.« Halice grinste. »Wenn sie einen Nachmittag bis zu den Eiern im kalten Wasser gestanden haben, sollte das ihr Mütchen kühlen.« Ich kostete eine der Geißkleeknospen, fand sie mildaromatisch und eine Spur bitter, gar nicht so schlecht. »Was hast du mit Peyt vor?« Halice strich weichen, weißen Käse auf ein Stück Brot. »Er wird flussaufwärts nach Edisgesset gehen.« Mit vollem Mund stolperte sie über den Namen, den die Kolonisten der Minensiedlung in den Bergen gegeben hatten. »Er kann eine Jahreszeit lang für die Kohlenbrenner Handlangerdienste tun.« »Werden sie genug Erz zum Verhütten haben in diesem Som49
Sommer?«, fragte ich. »Sie haben die Minen schon eine Weile vor dem Äquinoktium geöffnet«, sagte Halice mit Nachdruck. »Und je eher wir Metall bekommen, umso besser für den Handel. Pelze und Holz zu verschiffen ist schön und gut, aber eine solche Ladung nimmt verdammt viel Platz weg für das, was sie wert ist.« »Die richtigen Pelze können ihr Gewicht in Gold wert sein. Genauso wie hübsche Federn für die Fächer der Damen in Tormalin.« Nach einem Besuch zu Hause im vergangenen Sommer hatte Ryshad lauter Ideen ausgebrütet, wie man Vögel mit bunten Schwanzfedern fangen konnte. »Hmm.« Halice machte eine Geste mit ihrem Messer, während sie schluckte. »Ich möchte gern ein paar von diesen Raupen finden, die Seide machen. Wenn Kellarin das Monopol von Aldabreshi brechen könnte, hätten wir für den Rest unseres Lebens ausgesorgt.« »Wenn man wenns essen könnte, gäbe es keine Bettler.« Ich nahm einen langen Schluck Bier. »Ich überlege, ob ich mein Glück im Weinhandel versuche. Glaubst du, Charoleia wäre interessiert? Ob sie wohl immer noch in Relshaz ist?« »Sie hat da überwintert.« Halice widmete sich ihrer Mahlzeit. »Ich weiß nicht, zu welchem Frühlingsmarkt sie wollte, nach Col oder Peorle, und man kann nie wissen, was sie danach vorhat.« »Hoffentlich hören wir von einem frühen Schiff von ihr.« Charoleia würde zweifellos Reisende auf dem Heimweg kreuz und quer durch die Länder bezaubern, die einst das TormalinReich gebildet hatten, um sie um ihre Beute von den Äquinoktium-Märkten der großen Städte zu erleichtern. Ich dachte ein bisschen reumütig an all die Spiele, die ohne mich vonstatten 50
gegangen waren. Halices Gedanken weilten noch in Kellarin. »Hattest du gedacht, dich als ordentlicher Weinhändler mit einem eigenen Lagerhaus niederzulassen, oder wolltest du einfach nur Aufträge entgegennehmen und die Verpflichtung, sie abzuwickeln?« »Darüber hatte ich noch gar nicht nachgedacht.« Ich nahm mir einen Apfel aus der Schale auf dem Tisch. »Dann denk nach und stell deine Steine auf das Brett, ehe jemand anders auf dieselbe Idee kommt«, befahl Halice streng. »Es ist eine viel zu gute Idee, um sie sich entgehen zu lassen. Mein Keller ist so trocken wie ein Besoffener am Morgen. Und wo wir gerade von Besoffenen reden, ist Peyt wirklich um Catrice herumscharwenzelt?« »Ich habe keine Ahnung, wo sie vor der Sonnwende ihre Unterröcke hat schwingen lassen.« Ich schälte den Apfel, der schon runzlig von der Lagerung war und unter der ledrigen Haut ganz mürbe, aber noch süß in der Erinnerung an die Sommersonne des vergangenen Jahres. »Seit es Vorfrühling geworden ist, ist sie mit Deglain zusammen. Das kann ich beschwören.« Der Winter hatte herzlich wenig Zerstreuung geboten, außer die Nachbarn im Auge zu behalten. Halice sah nachdenklich drein. »Also ist es sein Kind.« »Es sei denn, Peyt hat sie in einer dunklen Ecke geschnappt und wollte ein Nein nicht hinnehmen.« Ich bot Halice die Hälfte des Apfels an. Halice schüttelte den Kopf. »Er besteht nur aus Mundwerk und Haaröl, aber das würde er nicht riskieren. Nicht, wenn er keine Fluchtmöglichkeit hat außer dem Wald. Er weiß, dass ich jeden Mann für eine Vergewaltigung bis aufs Blut auspeitschen würde.« Sie schnitt sich noch ein Stück Pastete ab. »Wer hat 51
den ersten Schlag getan?« »Deglain«, gab ich widerstrebend zu. »Aber Peyt hatte es auf eine Prügelei angelegt. Deg wollte einfach nur seinen Kater ausschlafen.« »Raeponins Waage unterscheidet nicht zwischen Blei und Gold.« Halice schnitt ein Gesicht. »Die Söldnerregeln lauten, dass derjenige, der anfängt, die schwere Bestrafung erhält, auch wenn es nur geringfügig ist.« »Willst du Deg etwa nach Edisgesset schicken?« Ich fand, wir sollten versuchen, die Waage des Gottes der Gerechtigkeit zu beeinflussen. »Ist er immer noch Söldner? Er arbeitet schon seit Ende letzten Jahres als Handwerker.« Halice kratzte sich den Kopf. »Ich gerbe Peyt den Arsch, wenn ich seine Läuse aufgegabelt habe«, murmelte sie. »Das ist eine gute Frage. Falls er sein Los für immer mit der Kolonie teilen will, dann ist er D'Alsennins Problem.« »Er wird bald genug mit einer Kolonisten-Familie verbunden sein, wenn Catrices Mutter da ein Wörtchen mitzureden hat«, betonte ich. Halice kicherte. »Ich hätte nie gedacht, dass ich sehen würde, wie Deglain mit einem Kupferstab angetrieben wird.« »Er wird nicht der Einzige sein, zur Sonnenwende«, vermutete ich. Halice deutete mit einem Kopfnicken auf meine kastanienbraunen Haare, die mir über den Kragen fielen. »Du hast wohl vor, einen Hochzeitszopf auf Drianons Altar zu legen, oder?« Ich lachte verächtlich. »Was glaubst du wohl?« »Was glaubt Ryshad?«, entgegnete sie mit dem direkten Blick einer engen Freundin, die sich solche Freiheiten erlauben durfte. 52
»Spar dir den Atem, um deine Suppe zu kühlen«, erklärte ich entschieden. »Denk lieber an etwas anderes. Die Grenze zwischen einem kämpfenden Mann und einem Kolonisten wird mit jedem Kampf und jeder Jahreszeit verwaschener. Wir sollten Regeln aufstellen, ehe es wirklich so weit ist.« Was viel interessanter wäre, als Wäsche zu waschen. Halice nickte. »Wir wollen sehen, dass wir D'Alsennin lange genug festhalten können, um das durchzusprechen. Es wird Zeit, dass dieser Bursche seine Verantwortung übernimmt«, setzte sie mit Vergnügen hinzu. Wir beendeten unsere Mahlzeit, und ich mied Halices amüsierten Blick, als ich pflichtbewusst den Tisch abräumte und das Geschirr abwusch. Ich würde es zwar nur zugeben, wenn man mir ein Messer an die Kehle hielt, vor allem meiner Hausfrauenmutter gegenüber, aber um die Wahrheit zu sagen, ich hatte eigentlich nichts gegen solche notwendigen Aufgaben. Und Ryshad hatte genug Verstand, um nicht die ständigen frischen Laken und das makellose Haus zu erwarten, dem seine Mutter jeden wachen Moment widmete. Ich hielt das immer noch für Zeitverschwendung, selbst jetzt noch, als die neue Erfahrung, so viel freie Zeit zu haben, verblasste. Draußen ermutigte die großzügige Sonne Kellarins ordentliche Reihen von Sämlingen in den Gärten, die von einem Regenschauer in der Nacht zuvor lebhaft grün waren. Ich atmete zufrieden die frische Luft ein, die viel besser war als der Gestank der Abwassergräben, der selbst die besten Städte plagt. Fachwerkhäuser waren in alle Richtungen über die hügelige Landschaft verstreut, ein paar hatten bereits Anbauten, um Platz für den Familienzuwachs zu schaffen. Es war reichlich Platz für solche Erweiterungen, und jedes Grundstück war be53
wusst so bemessen, dass es Platz bot für einen Schweinekoben und einen Hühnerstall sowie einen anständigen Küchengarten. Nicht, dass solche Großzügigkeit mir viel bedeutete, wo ich schließlich in einer Stadt aufgewachsen war, in die Obst und Gemüse auf den Karren der Straßenhändler kamen. »Du solltest deine Pflanzen einsetzen«, stellte Halice fest. Trotz all der Jahre mit dem Schwert an der Seite war sie immer noch Tochter eines Kleinbauern aus dem Grenzdistrikt, wo das Hügelland zu arm ist, als dass Lescar, Caladhria oder Dalasor sich darum scherten, wer nun Anspruch darauf hatte. »Und mir die Fingernägel schmutzig machen?«, spottete ich. »Ich werde mal sehen, wer bereit ist, ein bisschen Schweiß zu verwetten. Einen Tag lang meinen Gemüsegarten umzugraben müsste doch für jemanden ein ordentlicher Einsatz sein.« Jemanden, der Geld ausgeben wollte, wenn die ersten Schiffe kommen. Ziegen waren auf dem allgemeinen Weideplatz angepflockt, der von Pfaden gesäumt war, die allmählich die Breite und Dauerhaftigkeit von Straßen annahmen. Wir kamen an einem Burschen vorbei, der versuchte, einen Pflock in den Boden zu schlagen, während sein Tier ihn boshaft mit den Hörnern stieß. »Peyt ist weniger von Nutzen als dieser Bock«, sagte ich, »und er stinkt noch schlimmer. Kannst du ihn nicht einfach nach Tormalin zurückschicken?« Halice lachte. »Peyt könnte schon nützlich sein. Zum Beispiel zwischen mir und einem Eisländer.« Die Kälte, die mich schaudern ließ, hatte nichts mit den knuffigen weißen Wolken zu tun, die sich vor die Sonne schoben. »Wir haben nicht allzu viele gute Kämpfer übrig, nicht seit Arest seine Truppe nach Lescar gebracht hat.« Ich fragte mich, 54
welcher der ständig miteinander Krieg führenden Herzöge das Gold und das Glück hatte, sich seine Dienste zu sichern. »Wir werden vertraute Gesichter wiedersehen, ehe die Segelsaison halb um ist.« Halice war unbesorgt. »Allin sagt, in der zweiten Hälfte des Winters grassierte überall in Lescar das Lagerfieber.« »Lessay sollte klug genug sein, um sich davon fern zu halten.« Aber Arests Leutnant hatte sich trotzdem dafür entschieden, im letzten Sommer zu gehen. Land mag ja wertvoll sein, sagte er bei seinem Abschiedstrunk, und zugegeben, man kann es nicht stehlen oder kaputtmachen, aber es ist verdammt schwierig, ein Feld für Bier oder eine willige Hure auszugeben. Dem konnte ich nicht widersprechen. x Liebenswürdig wechselte Halice Höflichkeiten mit Kolonisten, die eifrig in ihren knospenden Gärten arbeiteten, und traf zahlreiche Bekannte, die ihren Geschäften nachgingen. Sie war auf dem Dorf aufgewachsen, wo jeder jeden kannte. Ich dagegen klaute, wenn ich mich in die Ecke gedrängt sah, und eilte dann rasch weiter. Ich war als Tochter einer Dienerin in Vanam aufgewachsen, inmitten dieser geschäftigsten aller Städte, wo meine Mutter für sich alleine blieb, und das nicht nur, um die mitleidigen Blicke derjenigen zu meiden, die auf eine unverheiratete Frau mit dem Nachlass eines fahrenden Sängers an den Rockzipfeln herabsahen. Ich lächelte und plauderte, fand es aber immer noch beunruhigend, so ohne Weiteres von Leuten erkannt zu werden, die ich kaum als Nachbarn betrachtete. Nachdem ich ein halbes Leben damit verbracht hatte, darauf zu achten, unauffällig zu bleiben, war das eine unangenehme Folge meines Lebens mit Ryshad. Er hatte der Hälfte dieser Leute bei Arbeiten an ihren 55
Häusern geholfen und mit dem Rest in seiner inoffiziellen Eigenschaft als Temar D'Alsennins zweiter Mann zu tun gehabt. Ich musste noch einen behutsamen Weg finden, diesen Leuten beizubringen, dass sie dadurch keine Ansprüche auf mich hatten. Schließlich erreichten wir den breiten Fluss, der sich durch die weite, fruchtbare Ebene zwischen den Hügeln und dem Meer wand. In der breiten Flussmündung sah ich undeutlich die massige Form der Distel, Kellarins größtes Schiff, das sicher vor Anker lag, während die Besatzung es für die erste Reise übers Meer bereitmachen würde, sobald die Laderäume voll waren mit Waren, um Kellarins Kredit zu Hause zu erhöhen. Näher am Ufer stachen die nackten Rippen halb fertiger Schiffe aus den Gezeitendocks, die im Jahr zuvor aus dem Schlamm gegraben worden waren. Halices Blick folgte dem meinen. »Unsere eigenen Karavellen sollten noch die Küsten befahren, ehe der Sommer um ist.« »Glaubst du, dass die Elietimm dieses Jahr noch einmal ihr Glück versuchen werden?« Es machte mir nichts aus, dass sie meine Besorgnis heraushören konnte. »Es sind schließlich keine Hunde, die ihre Lektion gelernt haben aus der Tracht Prügel, die wir ihnen verabreicht haben.« »Wir nehmen es mit jedem auf, der Ärger sucht.« Halice schien sich auf die Aussicht zu freuen. »Peyt und seine Kumpane werden sich schon gut schlagen, wenn sie die Wahl haben, entweder zu kämpfen oder sich den Schädel einschlagen zu lassen, und ich habe D'Alsennin gesagt, dass ich alle Burschen aus der Kolonie drillen werde, die genug Verstand haben, ein Schwert zu schwingen, ohne sich selbst den Kopf abzuschlagen.« 56
Ich wusste genau, dass Ryshad diese Idee nicht besonders gefiel, weil er fürchtete, die Burschen könnten ihre Loyalität zwischen D'Alsennin und dem Söldnerleben teilen. Nun, das war nicht mein Problem, und überhaupt hatte ich ernstere Sorgen. »Was ist mit Elietimm-Magie? Schwerter kommen nicht besonders gut dagegen an.« »Pfeile und Bolzen schießen einen Hexer genauso tot wie jeden anderen.« Halice blickte auf das Meer hinaus. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Guinalle und die junge Allin ihre schwarzen Schiffe unbemerkt herankommen lassen. Hoffen wir auf das Beste, während wir für das Schlimmste planen. Mit Saedrins Gnade müssen all diese Schiffe nichts weiter tun als beobachten.« Halice drehte sich um und folgte dem Pfad, der flussaufwärts zu Temars neu erbauter Residenz führte. Eine Frau ging an uns vorbei, ihre langen Röcke fegten über das Gras. Um ihren Kopf hatte sie dekorativ ein Tuch geschlungen. Ich sah ihr nach. »Das ist Catrices Mutter.« Die Frau winkte zu einem der Boote, die im ruhigen Wasser des Flusses ihren Geschäften nachgingen. »Auf dem Weg zu Guinalle, würde ich sagen. Wollen mal sehen, was die Demoiselle zu alldem sagt, ehe wir uns D'Alsennin vorknöpfen.« Halice pfiff durchdringend auf zwei Fingern, und ein Söldner namens Larn drehte sein Boot prompt in unsere Richtung. Er stammte aus dem Seengebiet von Ensaimin und verdiente zurzeit sein Brot damit, Fährdienste flussauf- und abwärts anzubieten. »Soll ich warten?« Er zeigte gegenüber Halice Ehrerbietung, wie alle vernünftigen Söldner. Sie schüttelte den Kopf. »Wir sehen schon zu, wie wir zu57
rückkommen.« Ich stieg vorsichtig ins Boot, das zwar größer als die Nussschale war, die mit Catrices Mutter über die Flussmündung glitt, aber für meinen Geschmack immer noch nicht allzu sicher. »Du solltest wirklich schwimmen lernen«, meinte Halice. Ich streckte ihr die Zunge heraus. »Das ist kaum eine lebensnotwendige Fähigkeit für eine fahrende Spielerin.« Vanam ist so weit weg vom Meer, wie es in den einstigen Provinzen des tormalinischen Reiches überhaupt möglich ist. Ich setzte mich und hielt mich unauffällig an der Ducht fest. Als Larn sich in die Riemen legte, musterte ich das andere Ufer. Die alles überwuchernde Vegetation war über den Winter abgestorben und musste die Steinruinen wieder neu erobern. Das legte den Verfall von Kellarins erster Kolonie besonders bloß, gegründet schon Generationen bevor man an Vithrancel auch nur gedacht hatte. Die Kolonisten und die Söldner trennte mehr als nur Einstellungen und Prioritäten. Temar D'Alsennin und seine hoffnungsvollen Anhänger hatten vor erstaunlichen dreißig Generationen das Meer überquert und den letzten Tagen von Tormalins Altem Reich den Rücken gekehrt. Nach ihren sehnsüchtigen Erinnerungen war es für die ersten Jahre ein reines Paradies gewesen, aber dann hatten sie den ersten fatalen Angriff der Elietimm erlebt, den Vorfahren derselben Eisländer, die in den vergangenen Jahren beide Seiten des Ozeans heimgesucht hatten. Diejenigen der frühen Siedler, die nicht ermordet worden waren, flohen flussaufwärts und versteckten sich in Höhlen, die man auf der Suche nach Erzen entdeckt hatte. Uralte Magie hatte sie alle in einem todesähnlichen Schlaf gefangen 58
gehalten, bis die Neugier und die Duldung des Erzmagiers die unglaubliche Wahrheit ans Licht gebracht hatte, die so viele Jahre verloren gewesen war, dank des Chaos, das auf den Tod von Nemith dem Letzten folgte. Ich war mit Vergnügen Zeuge der Verwirrung von Hadrumals eingebildeten Zauberern gewesen, als sich herausstellte, dass die alte Magie von Tormalin nichts mit ihrer eigenen Beherrschung von Luft, Erde, Feuer und Wasser zu tun hatte. Es hatte mich gereizt zu entdecken, dass man dieselben Ätherzauber durch die alten Lieder des Waldvolkes bewirken konnte, dessen Blut auch in meinen Adern rann, dank meines fahrenden Vaters, der seine Zuneigung meiner Mutter schenkte. Die andere Seite der Medaille war jedoch, dass diese Zauberkunst in der Lage gewesen war, die Kolonisten hilflos und untot in den Schatten zwischen dieser Welt und der nächsten gefangen zu halten, und das sandte mir kalte Schauer über den Rücken. Außerdem war da noch Ryshads Misstrauen gegenüber der Zauberkunst. Ich wollte nicht riskieren, ihn zu verlieren. Ich merkte, dass ich geistesabwesend den Ring, den er mir geschenkt hatte, um den Finger drehte. Wie immer waren Halices Gedanken auf unmittelbar praktische Dinge gerichtet. »Warum ist Ryshad so wild darauf, Ziegelsteine zu machen? Gibt es hier nicht genug Steine, um ihn glücklich zu machen?« Sie deutete mit dem Kinn auf die hellen Abhänge, die die altersfleckigen Steinmetzarbeiten begrenzten. Abgesehen davon, den Ort als Steinbruch zu nutzen, hatten die meisten Kolonisten keine Verwendung für diese unangenehmen Erinnerungen an verlorene Jahre, in denen sie bewusstlos unter einem Zauber gelegen hatten. »Nicht solange er und Temar darauf bestehen, dass jeder59
manns Abtritt steingefasst ist«, erklärte ich. »Hast du all die Lagerhäuser, Markthallen und Werkstätten gesehen, die sie planen?« Sie hatten mir die Zeichnungen gezeigt, bis ins kleinste Detail. Jeder Sockel sollte mit Stein eingefasst werden, und gedeckt werden sollte mit allen Ziegeln, die Werdel nur fertigen konnte. Vithrancels Vergangenheit würde seine Zukunft untermauern, wenn D'Alsennin die Führung übernahm bei der Aufgabe, sich dem Hier und Jetzt zuzuwenden statt der längst verlorenen Vergangenheit. Ich stieg am anderen Ufer vorsichtig aus Larns Boot. In Hosen und Stiefeln holten wir Catrices Mutter mühelos ein, deren Schritte durch ihre Unterröcke behindert wurden, die unter ihren Röcken raschelten. Eine hohe Halle erschien hinter einer Biegung des Kiesweges, der an einer frisch reparierten Mauer entlanglief, ein scharfer Kontrast zu den verfallenen Ruinen zu beiden Seiten. Diese vom Zahn der Zeit zernagte Behausung war einst von dem längst verstorbenen Messire Den Rannion erbaut worden, der die Kolonisten zu ihrem unglückseligen Unternehmen eingeladen hatte. Es war ihre erste Zuflucht gewesen in jener verwirrten Jahreszeit, als Planir sie wiedererweckt hatte. Wir hatten alle mit dem Rücken zu diesen Wänden gekämpft, Söldner, Magier und alte Tormaliner gleichermaßen, als die Elietimm angegriffen hatten, fest entschlossen, alle Rivalen im Anspruch auf dieses Land zu töten. Guinalle, oder förmlicher Demoiselle Tor Priminale, hatte sich trotz der Hexereien der Elietimm mit ihrer lebensrettenden Zauberkunst in dem alten Wohnhaus um die Verwundeten gekümmert. Als die Leidenden entweder gestorben waren oder sich erholt hatten, hatte Guinalle still und leise das Anwesen mit einem neuen Dach versehen und die 60
Einfassungsmauer sichern lassen. Niemand hatte seitdem Erfolg mit dem Vorschlag gehabt, die höchstgeborene überlebende Adlige der ursprünglichen Kolonie möge auf die andere Flussseite ziehen, was zumindest den Gestank köchelnder Arzneien von uns anderen fern gehalten hätte. Da ich eine Apotheke nur als Kunde betrat und nicht als Anhänger der Herstellungsverfahren, hatte ich keine Ahnung gehabt, wie ätzend die Verarbeitung von Waid war. »Du kannst das Reden übernehmen«, sagte ich zu Halice. Halice schüttelte den Kopf. »Du kannst ihr nicht um Ryshads willen für alle Zeiten Vorwürfe machen.« »Tue ich auch nicht«, sagte ich empört. Halice warf mir einen skeptischen Blick zu. »Ein Blinder im Nebel sieht doch, wie sehr er der Zauberkunst misstraut.« »Ich habe mehr als die Hälfte der Gelehrten in Vanam abgeklappert, um verloren gegangene Äthermagie wieder auszugraben«, protestierte ich. »Ich habe im letzten Jahr reichlich Wissen aus dem Wald und von den Bergen mitgebracht.« »Du bist gegenüber Guinalle noch immer kühl wegen dem, was mit Ryshad passiert ist«, sagte Halice sanft. Mein wegwerfendes Schnauben hörte sich unverbindlicher an, als ich beabsichtigt hatte. Drianon sei meine Zeugin, gelegentlich ertappte ich mich dabei, wie ich Ryshad beim Schlafen beobachtete und mich fragte, ob eine Spur der Hexerei, die ihn im Bann gehalten hatte, noch da war. Die Körper der Kolonisten hatte man in der Höhle von Edisgesset versiegelt, als Guinalle den Zauber wirkte, der ihr wahres Selbst, die eigentliche Essenz ihres Lebens, in Ringe, Schmuck, und, wie in Temar D'Alsennins Fall, in sein Schwert einschloss. Diese lebenswichtigen Dinge waren nach Toremal zurückgeschickt worden, um 61
Hilfe herbeizuholen, aber die wenigen, die der Zerstörung von Kel Ar'Ayen entgangen waren, fanden das Reich in den Wirren der Anarchie vor. Rettung war nie gekommen. Ich wusste nicht, wie Körper und Bewusstsein voneinander getrennt worden waren. Der Gedanke an das, was Guinalle Höhere Zauberkunst nannte, verursachte mir eine Gänsehaut. Schließlich – und die Gelehrten von Vanam stritten noch immer mit Hadrumals Zauberern über das Warum – hatten diese schlafenden Bewusstseine die Träume derjenigen heimgesucht, die durch Zufall oder die Laune eines Gottes in den Besitz der Artefakte gelangt waren. Die ersten Hinweise auf das wahre Schicksal der verlorenen Kolonie waren aus den Widersprüchen und Übertreibungen der Legenden entsprungen. Aber Planir der Schwarze, der berühmte Erzmagus von Hadrumal, war kein Mann, der die Dinge dem Zufall oder auch Saedrin überließ. Er hatte dafür gesorgt, dass Ryshad Temar D'Alsennins Schwert bekam, in der Hoffnung, dass die Ähnlichkeiten zwischen den beiden Männern ein Band schmieden würde, das über die Schatten hinwegreichte und die Antworten brachte, die Planir suchte. Es hatte geklappt, sozusagen, aber ich fand noch immer, dass die Art und Weise, wie Ryshads Körper von Temars suchendem Geist besessen gewesen war, ein viel zu hoher Preis war. Doch nur Dummköpfe streiten über Karten, die schon ausgespielt sind. Alle Runen waren eingesammelt und erneut geworfen worden, und ich hatte vor, aus meinem und Ryshads Glück das Beste zu machen. Wir folgten Catrices Mutter durch das dunkle, fleckige Tor, das jetzt mit hellem, frischem Holz verstärkt war. Im Hof des alten Gebäudes herrschte Geschäftigkeit, Guinalle war nicht 62
allein auf dieser Seite des Flusses. Steinmetze reinigten Steine, die aus den Ruinen stammten, andere Männer studierten einen Plan, mit Pflöcken und Schnur zum Abmessen in der Hand. Ich erinnerte mich, dass Ryshad einen Brennofen erwähnt hatte, den er hier in der Nähe haben wollte, um Kies zu Kalk zu brennen für seinen kostbaren Mörtel. Die wütende Matrone ignorierte jedermann, als sie in die große Halle stürmte. »Demoiselle, Demoiselle, einen Moment Eurer Zeit, bitte.« Wir folgten ihr, und ich rümpfte die Nase über einen schwachen Geruch nach Farbe. Als ich hochschaute, sah ich, dass das Dach seit meinem letzten Besuch neu verschalt und mit den Malerarbeiten begonnen worden war. Die erste schon fertige fromme Szene zeigte Saedrin, der an der Tür zur Anderwelt seine Schlüssel sortierte, während Poldrion seine Fähre mit neuen Toten über den Fluss stakte, der durch die Schatten fließt. Ich sah mich nach Guinalle um und entdeckte sie an einem langen Tisch, der mit einem streng riechenden Durcheinander von Grünzeug bedeckt war, hier und dort von frühen Blumen in Blau und Gelb unterbrochen. Sie war ein bisschen kleiner als ich und hatte eine hübsche Figur mit einer schlanken Taille über runden Hüften und einen Busen, der die Blicke der Männer auf sich zog. Sie trug dasselbe grobe Tuch, das Spuren ihrer Arbeit zeigte, wie die anderen Frauen, doch die goldene Kette, die sie um die Taille trug, war ein Zeichen ihres Ranges, an der die Schlüssel der Hausherrin, ein Messer und ein kleiner Beutel hingen. Die Frauen, die die Kräuter zum sofortigen Gebrauch sortierten oder sie zum Trocknen bündelten, sahen neugierig zu Catrices Mutter auf. Das geschäftige Summen ihrer Unterhal63
tung nahm einen fragenden Ton an. »Frau Cheven.« Guinalle führte die rotgesichtige Matrone in einen Seitengang, wo Schirme aus Weidengeflecht Nischen abteilten, sodass zumindest eine Illusion von Privatatmosphäre entstand. Ich schenkte den neugierigen Frauen ein sonniges Lächeln, während sich Halice mit strenger Miene gegen den Türpfosten lehnte, was die Meisten veranlasste, sich wieder um ihre Einweichgläser und Tinkturenfläschchen zu kümmern. »Einer dieser dreckigen ...« Catrices Mutter suchte nach Worten, um ihre Verachtung auszudrücken, ihr tormalinischer Akzent wurde durch ihre Erregung verstärkt und hallte von den Steinwänden wider. »Er nennt mein Mädchen eine Dirne, sagt, sie geht mit jedem ins Bett, der will, und behauptet, das Kind sei von ihm.« Wut erstickte ihre Worte, bis sie abrupt von ihr abfiel, ihr plumpes Gesicht schlaff wurde und sie den Tränen nahe war. »Beruhigt Euch!« Guinalle sah an Frau Cheven vorbei, während sie sie auf einen Stuhl drängte. »Truppenkommandantin Halice ist hier, und ich denke, in derselben Angelegenheit.« Sie winkte uns mit unbewusster Autorität heran. Halice ging ohne Eile hinüber, ich folgte ihr. »Frau Cheven, Demoiselle Tor Priminale.« Sie verbeugte sich, und Guinalle deutete aus alter Gewohnheit einen Knicks an. »Ich habe Euch rechtzeitig vor Peyt gewarnt. Er will Deglain Ärger machen, und Catrice zu verleumden war das Beste, was ihm dazu einfiel. Es hat eine Schlägerei gegeben ...« Halice hob die Hand, um Frau Chevens undeutlichen Protest abzuschneiden. »Peyt ging als Zweiter daraus hervor, und er wird meine scharfe Zunge zu hören bekommen ebenso wie seine gerechte Strafe. Ich wollte mit Euch über Deg sprechen, Demoiselle.« Sie sah Guinalle an. 64
»Hätte ich ihn in Lescar für die Truppe angeheuert, würde ich ihn auspeitschen lassen, wenn er es mit einem Mädchen gegen dessen Willen getrieben hätte. Wenn sie aber wollte und ein Kind erwartete, hätte ich ihn ausgezahlt und ihm jede Folter durch Poldrions Dämonen versprochen, wenn ich je herausbekäme, dass er sie verlassen hätte. Aber ich werde ihn trotzdem zur Rechenschaft ziehen, dafür, dass er den ersten Schlag bei einer Prügelei getan hat.« »Aber wir sind hier nicht in Lescar«, vervollständigte Guinalle Halices unausgesprochenen Gedanken. »Deglain ist ein guter Mann, der sich nicht prügeln würde, wenn man ihn nicht provoziert.« Frau Cheven wirkte besorgt. »Ich und ihr Vater, wir freuen uns, dass Catrice mit ihm zusammen ist. Sie haben davon gesprochen, am kommenden Sonnwendfest zu heiraten. Früher, das heißt, wenn wir noch an den alten Bräuchen festhielten, wären sie längst einander versprochen.« »Deglain arbeitet seit Ende des vergangenen Jahres als Blechschmied«, betonte Halice. »Fällt er dann heute noch unter meine Rechtsprechung? Meiner Ansicht nach nicht.« Guinalle setzte sich. »Nein, das glaube ich auch nicht.« »Ich will nicht, dass Peyt eine Ausrede hat, um weiter Unfrieden zwischen Söldnern und Kolonisten zu stiften. Mir scheint, jetzt ist eine gute Zeit, um ein paar Regeln festzulegen, wie weit genau D'Alsennin das Sagen hat und wo meine Autorität beginnt.« Halice musterte Guinalles herzförmiges Gesicht, ehe sie sich mit fester Zusicherung an Frau Cheven wandte. »Aber Peyt fällt definitiv unter meine Peitsche, und ich werde dafür sorgen, dass er sie zu spüren bekommt. Er wird Catrices Namen nicht noch einmal beschmutzen.« 65
»Das beantwortet doch Eure Klage, nicht wahr?« Guinalle fuhr geistesabwesend mit der Hand über die kastanienbraunen Flechten, die auf ihrem Kopf aufgerollt waren, und ich bemerkte grüne Flecken auf ihren damenhaft weichen, kleinen Händen und Schmutz unter den sorgfältig geschnittenen Nägeln. Die Gewohnheit, jedem von edler Geburt zu gehorchen, ließ die ältere Frau aufstehen. »Ich glaube schon.« »Schickt Catrice zu mir.« Guinalle lächelte beruhigend. »Ich werde mir ansehen, wie weit das Baby ist.« »Das wäre sehr freundlich, Demoiselle.« Frau Cheven wirkte erleichtert. »Da es doch ihr erstes ist – nun, manche Dinge fragt ein Mädchen nicht seine Mutter.« Sie warf einen Blick auf Halice und mich und wurde rot, als sie zum Abschied vor Guinalle knickste. »Haben Frauen im alten Reich eigentlich nie Hosen getragen?« Ich sah ihr belustigt nach. »Nicht dass ich wüsste«, erwiderte Guinalle mit einem Lächeln, das zu knapp war, um ihre haselnussbraunen Augen zu erreichen. »Kann Zauberkunst dir sagen, ob Deg wirklich der Vater ist?«, fragte Halice unverblümt. »Ich bekomme vielleicht ein Gefühl dafür.« Guinalle zögerte. »Spielt es eine Rolle, wenn er Catrice liebt und das Kind anerkennt?« »Ich möchte nur gern vorgewarnt sein, falls es Peyts Nase hat.« Halice sah streng drein. »Ich schicke ihn erst mal über das Meer zurück, ehe Catrices Zeit gekommen ist.« »Was fast mit Sicherheit Vorherbst sein wird.« Guinalles offenes Gesicht zeigte einen Anflug von Erschöpfung. »Noch eine. Drianon allein weiß, wo wir genug Frauenmantel finden sol66
len.« Sie sah zu dem langen Tisch, an dem ihre Frauen immer noch sorgfältig Kräuter sortierten und dabei flüsterten und verstohlene Blicke in unsere Richtung warfen. »Ich frage mich, wie im Winter überhaupt etwas geschafft wurde, wenn so viele Kinder zwischen Heu und Ernte erwartet werden.« Ich konnte nicht entscheiden, ob das nun eher nach Missbilligung oder Neid klang. Egal, Geburtshilfe war nicht mein Ding, und ich würde doppelt sichergehen, indem ich selbst ein paar Kräuter sammelte, sobald die Halcarions-Schlinge auf dieser Seite des Ozeans zu blühen anfing. Halice hatte noch andere Sorgen. »Wir müssen D'Alsennin –« Sie brach ab, als zwei Männer mit streitlustiger Miene in die Halle eilten und Guinalle grüßten. »Demoiselle ...« »Herrin ...« Einer war ein Kolonist, den ich zu erkennen glaubte, der andere ein Handwerker, der im vergangenen Jahr hergekommen war, nachdem D'Alsennin nach Toremal gesegelt war, um einige Dinge mit Kaiser Tadriol zu klären und neue Siedler mit benötigten Kenntnissen anzuwerben. »Es sind die Ferkel«, begann einer. »Ich zahle mit einem Anteil, wenn es geschlachtet ist«, protestierte der andere. Auf seinen tormalinischen Singsang hatte bereits die alte Aussprache und die verschiedenen Söldnerakzente abgefärbt, die sich in die Sprache Kellarins mischten. »Es sind zehn Stück im Wurf«, wandte sich der erste Mann an Guinalle. »Meine Frau und ich können gar nicht so viel Wurst essen! Wir brauchen Feuerholz. Er hat es bis zur Dachrinne gestapelt ...« »Und ich habe bei jedem Axthieb Schweiß vergossen«, pro67
testierte der Handwerker. »Und Estles Eber hat schließlich die Arbeit bei deiner Sau getan, nicht du!« »Ich sprach gerade mit der Demoiselle.« Halices Stimme hatte einen unheilvollen Unterton, und beide Männer traten einen Schritt zurück. Der Kolonist drehte seine Kappe ungelenk in seinen großen Pranken. »Verzeihung, Frau ...« Er schluckte das Wort Frau gerade noch herunter, als Halice ihn finster ansah. »Wenn du willst, dass D'Alsennin seine Autorität über Deglain geltend macht, Truppenkommandantin, dann mach das mit ihm aus.« Guinalle stand auf und strich ihr schlichtes Kleid glatt. »Ich habe hier mehr als genug zu tun.« »Das sehe ich.« Halice runzelte die Stirn, und die streitenden Männer wichen noch einen Schritt zurück, doch ich glaubte nicht, dass ihre Verärgerung den beiden galt. »Hast du schon Adepten ausgebildet, die deine Pflichten mit übernehmen können?« Guinalle versteifte sich. »Im Winter konnten wir einige Studien durchführen, doch die Zeit ist beschränkt, wo es so viel zu tun gibt.« »Und es geht immer schneller und einfacher, wenn du die Sachen selbst erledigst, als es jemand anderem zu zeigen. Warum das Risiko eingehen, dass sie etwas falsch machen?« Halices Stimme war fest, aber nicht ohne Mitgefühl. Sie sah mit einem seltenen Lächeln auf Guinalle herunter. »Was ja ganz schön und gut ist, aber man muss die Menschen durch ihre eigenen Fehler lernen lassen.« »Es ist meine Sache zu beurteilen, wie ich am besten in Zauberkunst ausbilde.« Guinalle reckte das Kinn, ihre Miene zeigte frostigen Hochmut. »Hast und Klugheit schließen einander oft 68
aus, vor allem, wenn wir uns nicht einmal den kleinsten Fehler leisten können. Guten Tag.« Guinalle nickte zum Abschied brüsk und fegte dann zurück zu ihren wartenden Frauen und ließ die Männer mit ihrem Streit verständnislos blickend zurück. Halice marschierte aus dem Saal, und ich folgte ihr. Ich sah, dass sie geistesabwesend über den Schenkel rieb, den sie sich vor ein paar Jahren gebrochen hatte. Guinalles Künste mit der Heilkraft der Zauberkunst hatten Halice ein Leben als Krüppel erspart, und Halice war jemand, der seine Schulden immer bezahlte, ob die Edeldame nun ihre Hilfe wollte oder nicht. »Das Mädchen braucht ein bisschen mehr Zeit für sich selbst und sollte viel mehr von anderen verlangen. Ich kann mich nicht erinnern, wann wir uns das letzte Mal unterhalten hätten, ohne dass uns jemand unterbrach, damit sie über einen Tauschhandel urteilt, einen Streit schlichtet oder zu irgendeiner Nebensächlichkeit ihren Rat gibt.« Halice schoss mir einen finsteren Blick zu. »Da war nicht einer von den Schülern, die sie angeblich ausbildet, mit am Tisch.« »Guck mich nicht so an«, warnte ich sie. »Meine Tricks mit den Waldzaubern gehören nur zur Niederen Zauberkunst, und mehr interessiert mich auch nicht.« Dass Guinalle ihre Verachtung für solche niedere Magie kaum verhehlen konnte, trug nicht gerade dazu bei, dass ich sie ins Herz schloss. »Du könntest die Höhere Zauberkunst lernen«, meinte Halice herausfordernd. »Du hast durchaus Eignung für Zauberei gezeigt.« »Ich will nicht«, sagte ich rundheraus. »Du meinst, Ryshad will nicht, dass du willst«, entgegnete Halice. 69
»Wann hab ich mich wohl das letzte Mal hinter dem Willen eines Mannes versteckt?«, höhnte ich. Ryshad hatte mir nicht gesagt, dass er nicht wollte, dass ich Zauberkunst bei Guinalle studierte. Er würde es wahrscheinlich auch nicht tun, selbst wenn ich damit anfing. Aber es würde ihm trotzdem nicht gefallen, und das reichte, um die Waage zugunsten meiner eigenen Bedenken zu senken, selbst wenn ich neugierig war zu erfahren, wie Guinalle ihre Zauber wirkte ohne die Lieder, die der einzige mir bekannte Weg waren, Athermagie auszuüben. So neugierig war ich aber auch wieder nicht. Tricks, um Feuer zu entzünden oder Fußspuren zu löschen, sind ganz schön, aber ich wusste besser als die Meisten, wie Zauberkunst auch in die Köpfe von Menschen dringen, sie sogar umbringen konnte, ohne auch nur eine Spur zu hinterlassen. Ich konnte die Menschen an einer Hand abzählen, denen ich trotz dieser Macht vertraute, selbst wenn sie die besten Absichten hatten. Halice blickte finster. »D'Alsennin kann auch ein bisschen Zauberkunst, oder? Er sollte sich ein bisschen mehr ins Zeug legen.« Ich hätte wetten können, wer ihm das sagen würde. Was sicher interessanter war, als zu Hause die Wäsche zu machen. Ein neuer Gedanke kam mir. »Sutal wird wahrscheinlich zurückkommen, falls Lessay auch kommt. Sie könnte Guinalle einiges abnehmen.« Halice nickte widerwillig. »Wir könnten trotzdem einen ordentlichen Arzt brauchen.« Wir fuhren mit einem Plattbodenschiff über den Fluss zurück, das gerettete Steinmetzarbeiten transportierte, und ich kletterte dankbar am Anleger an Land, der ersten richtigen Landestelle in Vithrancel. Ich entdeckte Werdel unter den Män70
nern, die Steine aufschichteten, sodass sie keine Gefahr liefen, überflutet zu werden. Ich winkte ihm zu. »Wo ist Rysh?« Er stemmte die staubigen Hände in die Hüften. »Hat D'Alsennin mit zu den Trockenschuppen genommen.« ... Ich sah Halice an. »Willst du zu ihnen gehen?« Halice betrachtete die Gebäude, die Vithrancel endlich das Aussehen einer richtigen Stadt verliehen. Kolonisten und Söldnerhatten gemeinsam Schutzplanen an alte Überreste von Mauern und Dächern genagelt, ein unzureichender Schutz gegen den ersten ungewissen Winter. Volle acht Jahreszeiten später wurden die letzten dieser Provisorien abgerissen, als neue Gebäude ihren festen Standort beanspruchten und wir sogar einen unregelmäßigen Platz bekamen, den die Leute Marktplatz nannten. Ein Brauer hatte unter allgemeiner Zustimmung das erste Grundstück erworben, und sein solides Haus bot nun Kellarins einzige Schänke, in der ich gelegentlich ein paar Leute, die dort ihren Durst stillen wollten, für ein freundschaftliches Spiel finden konnte. Das lang gestreckte Gebäude daneben beherbergte Webstühle, die zwanglos sowohl von Männern und Frauen benutzt wurden, die damit umgehen konnten, und ich sah die übliche Menschenmenge mit Wolle zum Tausch gegen Garn oder fertiges Tuch vor der Tür. Der Lagerboden darüber diente als Lager für die Färber und Walker, die ihre stinkende Arbeit weiter flussabwärts betrieben. Halice blickte düster auf ein eindrucksvolles Gebäude am einen Ende des Marktplatzes. Es hatte eindeutig etwas Gebieterisches an sich, mit einem Dach, das ordentlich mit Ziegeln gedeckt war statt mit Holzschindeln und dessen Mauern von seinen Altersflecken freigeschrubbt worden waren. Ein Tupfen 71
Hellgrün auf himmelblauem Grund hing verschämt an einer Schlinge und wartete auf Temars Rückkehr, um zum vordersten Giebel gehisst zu werden. Wenn ein hilfreicher Wind das Banner straffte, würde es ein Muster aus drei einander überlappenden Steineichenblättern zeigen. »Es ist ja schön und gut, dass Temar seine Flagge heraushängt, aber wenn jeder, der etwas auf dem Herzen hat, sieht, dass er sowieso nie da ist, gehen alle zu Guinalle. Was wir wollen, ist ein bisschen Magie, damit der Bursche jeden Morgen mit dem Hintern auf seinem Stuhl sitzen bleibt«, sagte Halice mit einem Funkeln in den Augen. »Ob mit Zauberkunst oder Magie, ist mir egal.« Ich kicherte. »Shiv tut dir vielleicht den Gefallen. Schauen wir mal, was es gibt, solange wir warten.« Ich deutete auf die große Halle links von Temars Residenz. Sie war rasch zu einem Tausch- und Handelszentrum sowohl für die Kolonisten als auch für die Söldner geworden. Vielleicht fand ich etwas, für das es sich lohnte, einige von Ryshads Ziegelsteinen zu versprechen.
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Die Inselstadt Hadrumal 15. Nachfrühling
»Herdmeister, Flutmeisterin.« Eine verblüffte Dienerin knickste vor dem untersetzten Mann, der in den Innenhof fegte. Er gönnte ihr ein hoheitsvolles Winken mit dem langen Ärmel seiner Samtrobe. Die Frau neben ihm ignorierte das Mädchen und rauschte direkt über die Steinplatten zu Planirs Tür, unnachgiebige Entschlossenheit auf dem verwitterten Gesicht. Sie hielt die Tür mit sichtlicher Ungeduld für ihren Begleiter auf, sagte jedoch nichts, während sie mit eiligen Schritten die Stufen erklomm. Der Mann klopfte mit seiner dicken Hand an Planirs Tür, an drei Fingern schimmerten dunkel Rubinringe. »Herein.« Planir saß in einem hochlehnigen, bequem gepolsterten Sessel vor dem leeren Kamin, ein Buch in einer Hand, einen Becher mit Fruchtsaft in der anderen. Auf einem kleinen Tisch neben ihm stand ein Teller mit Krümeln. »Troanna, Kalion, bitte bedient euch. Ich habe Kümmelbrot und Morgenbrötchen. Etwas zu trinken?« Er erhob sich. Kalion, rot im Gesicht von der Anstrengung des Treppensteigens, strahlte den großzügig gedeckten Tisch an. Er stopfte sich ein Kissen in den Rücken, als er sich setzte, und knöpfte den hohen Kragen seines scharlachroten Gewandes auf, dessen Samt frisch gebürstet war. »Danke, Erzmagus, ein wenig Pflaumenlikör, mit viel Wasser«, setzte er hastig hinzu. »Nur ein Glas Wasser, wenn ich bitten darf.« Troanna nahm ohne zu lächeln in einem steifen Stuhl Platz, ohne den golden glänzenden, noch ofenwarmen Brötchen einen Blick zu schen73
ken, die aufgeschnitten auf dicke, süße Sahne und die Konfitüren in ihren Kristallschälchen warteten. Als Kalion sich eifrig einen Teller füllte, glättete sie den Rock ihres smaragdgrünen Kleides im caladhrischen Stil, den die meisten Frauen Hadrumals bevorzugten. Troannas Kleid war ebenso streng wie ihre Miene, ohne die geringste, sonst übliche Stickerei, um die Strenge zu mildern. Ihre haselnussbraunen Augen studierten Planir mit einer Intelligenz, die deutlich machte, dass sie mehr war als eine zahnlückige Matrone, die sich mit der Rundlichkeit des mittleren Alters und ergrauendem Haar abfand. »Wir sind gekommen, um über die Ernennung eines neuen Wolkenmeisters zu sprechen.« »Oder einer Wolkenmeisterin.« Kalion sah mit plötzlicher Aufmerksamkeit vom Frühstückstisch auf. »Erzmagus, hast du die Schlussfolgerungen gesehen, die Velindre aus ihrer Reise rund um das Kap der Winde im letzten Sommer gezogen hat? Sie erweist sich als extrem talentiert.« »Ich hatte noch nicht das Vergnügen, ihre Aufzeichnungen zu lesen.« Planir lächelte, als er an einer kostbar eingelegten Anrichte die Getränke einschenkte. Er deutete mit der Hand auf die Bücher, die sich höher als Troannas Kopf auf dem Lesepult stapelten. »Meine Zeit wird von so vielen Dingen beansprucht.« »Du solltest dir Zeit nehmen, um über alle Kandidaten nachzudenken«, sagte Troanna unbeeindruckt, die Hände im Schoß verschränkt. »Eine solche Verzögerung sorgt für Gerede in den Hallen«, warnte Kalion, während er mit gleichmäßigen Strichen Pflaumenmus auf seinem Brot verteilte. »Ich prüfe jeden Kandidaten gründlich.« Planir deutete auf das Buch, das er beiseite gelegt hatte. »Das ist Rafrids Abhand74
lung über das Zusammenwirken der südlichen Seewinde und der Winterwinde aus den nördlichen Bergen.« Er reichte Troanna einen Kristallbecher und stellte eine Karaffe mit Wasser und einen Becher mit dunkelrotem Likör neben Kalion. »Falls Rafrid den Ehrgeiz hat, Wolkenmeister zu werden, hätte er nicht den Vorsitz von Hiwans Halle annehmen dürfen.« Kalion unterstrich seine Worte mit einem Stich eines leeren Sahnelöffels. »Meister oder Meisterin, wir brauchen jemanden, der das ordentliche Studium des Elementes koordiniert«, beharrte Troanna. »Ganz recht.« Kalion goss ein wenig Wasser in den Likör. »Erzmagus, was soll ich tun, wenn ein Lehrling mit einer Frage kommt, die eigentlich an einen Wolkenmeister weitergeleitet werden müsste?« »Deine Talente mit der Luft sind wohl bekannt.« Planir nahm seinen Platz wieder ein, legte die Ellbogen auf die Armlehnen und verschränkte die Finger. Sein Gesicht war liebenswürdig. »Ich denke, ihr beide könnt solche Fragen beantworten.« »Das ist keine Antwort, und das weißt du auch.« Troannas Erwiderung war knapp. »Wer hierher kommt, um seine Affinität zu erforschen, verdient Anleitung von den führenden Fachleuten in jedem einzelnen Element.« »Da gebe ich dir Recht.« Planirs Miene war jetzt ernster. »Deswegen will ich eine solche wichtige Entscheidung auch nicht überstürzen.« »Alles, was dir die Verzögerung einträgt, ist Schmutz und lange Fingernägel«, gab Troanna zurück. Kalion nahm beiläufig noch ein Brötchen. »Es wäre durchaus angemessen, wenn du zwei oder drei Kandidaten für den Rat 75
nominieren und um eine Abstimmung bitten würdest. Es gibt reichlich Präzedenzfälle für solche Ernennungen.« »Der Rat wird Rafrid nicht wählen«, warnte Troanna. »Er kann nicht gleichzeitig Wolkenmeister sein und einer Halle vorstehen.« Kalion lachte gekünstelt. »Man kann nicht mit dem Hasen laufen und mit den Hunden bellen.« Planir sah ihn an, ohne zu lächeln. »Willst du mir etwas sagen?« Troanna blieb ungerührt von der Kühle in der Stimme des Erzmagiers. »Du sagst, du bist so beschäftigt? Vielleicht solltest du einige Pflichten ruhen lassen. Lass den Rat einen neuen Steinmeister wählen, gleichzeitig mit dem neuen Wolkenmeister, den wir brauchen.« »Oder Meisterin«, warf Kalion ein. Planir zuckte wegwerfend mit den Achseln. »Ich bin kaum der erste Erzmagus, der gleichzeitig Elementmeister ist.« »Früher oder später haben sie alle das geringere Amt aufgegeben«, sagte Troanna rundheraus. »Ich dachte, du hättest den Verstand, diese Notwendigkeit früher einzusehen, Planir.« »Erzmagus, natürlich warst du in den letzten Jahren vor allem damit beschäftigt, Hadrumal durch die Unruhen der weiten Welt zu steuern.« Kalions Aufrichtigkeit wurde durch die Sahne an seinem plumpen Kinn nicht beeinträchtigt. »Es hat nichts mit deinen Fähigkeiten zu tun, aber kannst du ehrlich behaupten, dass du Zeit hättest, die Ideen eines Lehrlings zur Bindekraft von Stein zu beurteilen?« »Was, wenn diese Elietimm mit ihren seltsamen Hexereien wieder auftauchen?«, unterbrach Troanna ihn gnadenlos. »Kann Hadrumal unbeteiligt bleiben, wenn sie Tormalin oder Kellarin 76
wieder bedrohen? Zu dir als Erzmagus werden Kaiser Tadriol, die Herzöge von Lescar, das caladhrische Parlament und sonstwer in Panik angerannt kommen und um deine Hilfe bitten.« »Und was, wenn sie Hadrumal selbst angreifen?« Kalions rötliche Wangen erbleichten, und die qualvolle Erinnerung spiegelte sich in seinen Augen. »Wir haben ihren Abscheu vor Zauberei gesehen. Du brauchst ein vollständiges Netz von Elementmeistern zur Unterstützung, um die erforderliche Magie zu wirken, die sie aufhalten kann.« »Ich glaube kaum, dass es so weit kommen wird.« Planir nahm seinen Fruchtsaft und nippte unbekümmert daran. »Nein?« Troannas Skepsis war ätzend. »Otrick war mein Freund, und diese Zauberkunst hat seinen Geist getötet. Ich kann das nicht vergessen. Und ich will auch nicht bei anderen lebenden Toten wachen, weil du in Diskussionen über Vereinbarungen mit Schülern verstrickt warst, als du gebraucht wurtlest, um jemanden zu verteidigen.« »Lass die Elietimm einmal beiseite, Erzmagus.« Kalion vergaß zu essen und stützte die Ellbogen auf den Tisch. »Selbst ohne sie werden deine Pflichten als Erzmagus mit jeder Jahreszeit mehr, so weit ich sehen kann. Hadrumal ist verpflichtet, diesen Menschen in Kellarin zu helfen. Sie brauchen unsere Magie, um über das Meer zu segeln, ganz zu schweigen von anderen Dingen. Du hast Einladungen an jeden Zauberer in Solura ausgesprochen, der vielleicht hier studieren möchte. Du hast davon gesprochen, Usaras Entdeckung über Magiegeborenheit bei dem Berg- und Waldvolk nachzugehen. Mentor Tonin versucht, die Geheimnisse der Zauberkunst zu lüften, und Vanams Gelehrte sind hier zu Gast, während unsere Magier zu ihren Universitä77
ten reisen. Das Tempo wird kaum nachlassen. Wir bitten dich nur darum, dass du in Betracht ziehst, einige deiner weniger wichtigen Aufgaben abzutreten.« »Vielleicht.« Eine Falte erschien zwischen Planirs fein gezeichneten schwarzen Augenbrauen. »Ich wäre ein Dummkopf, wenn ich meine Brötchen anbrennen ließe, nur weil ich niemand anders an den Herd lassen wollte, nicht wahr? Falls Hadrumal einen neuen Steinmeister braucht, ist Usara der Kandidat, der sich anbietet.« Troanna kniff misstrauisch die Augen zusammen. »Was hat er in letzter Zeit an Hingabe an das ordentliche Studium der Magie gezeigt?« »Er und Shiv haben sich darum gekümmert, wie Magier in kleineren Kombinationen als einem vollen Nexus zusammenarbeiten können«, gab Planir zurück. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass er große Fortschritte gemacht haben kann, wenn er den ganzen letzten Sommer damit verbracht hat, mit Hinz und Kunz aus den Hinterwäldern des Festlandes herumzuziehen.« Kalion lehnte sich zurück und verschränkte die Arme über seinem beachtlichen Bauch. »Und dabei nicht einmal Hadrumal bei irgendjemandem von Einfluss vertreten hat.« »Dann hat er den Winter mit dem verzweifelten Versuch verschwendet, Ätherwissen aus dieser Sammlung alter Waldlieder zu picken und aus den Mythen, die dieses Bergmädel, das er hierher verschleppt hat, sich aus den Fingern saugt.« Troanna war voller Verachtung. »Mentor Tonin kann ja gern solche intellektuelle Neugier dulden, aber es ist kaum das Betätigungsfeld von Zauberern.« »Du würdest also nicht gern selbst über etwas Zauberkunst 78
verfügen, um den Elietimm zu begegnen?«, fragte Planir sanft. »Ich würde schon, wenn es nur eine Spur davon gäbe, Erzmagus.« Kalion wirkte aufrichtig betrübt. »Aber da steckt nichts weiter hinter den einfachsten Tricks, oder?« Troanna sah ihn ernst an. »Wir tun besser daran, einen Ätherangriff mit erprobter und gesicherter Magie zu beantworten, die von einem ganzen Nexus von Elementmeistern gewirkt wird.« »Es gibt noch andere Kandidaten für den Steinmeister außer Usara.« Kalion ließ die Flutmeisterin kaum aussprechen. »Galen untersucht die fundamentalen Annahmen, die unser Verständnis des Elementes Erde untermauern.« »Davon wusste ich nichts.« Der Erzmagier schüttelte nachdenklich den Kopf. »Aber er hat keine Diskussion in Gang gebracht, von der ich wüsste, und ich halte mich bei solchen Dingen auf dem Laufenden, da die Erde meine eigene Affinität ist. Kalion, du solltest Galen einen Tipp geben, dass er seine Schlussfolgerungen veröffentlichen soll, sonst denken die Leute, er ist nur gut für den neuesten Klatsch.« In Planirs beiläufiger Liebenswürdigkeit steckte ein Widerhaken. »Usara ist noch viel zu jung, um bei den älteren Magiern einen guten Stand zu haben«, sagte Troanna abschließend. »Er hat nicht die Erfahrung, um die Vorrangstellung in seinem Element zu beanspruchen, egal wie sein jüngster Ruf als Abenteurer sein mag.« »Während Galen so lange in Kalions Schatten gestanden hat, dass er überhaupt keinen eigenen Ruf hat.« Planir begegnete Troannas strengem Blick gelassen. »Wer würde ihm zutrauen, dass er Mitgefühl für die Verwirrungen eines heranwachsenden Lehrlings hat oder die notwendige Diplomatie aufbringt, wenn 79
zwei Magier über einen Lehrling streiten? Um Meister zu sein, braucht es mehr als Studium, das solltet ihr besser wissen als jeder andere.« Er sprang auf, durchquerte den Raum und stellte sich ans Fenster. »Es gibt keinen offensichtlichen Kandidaten für den Wolkenmeister – oder eine -meisterin –, genauso wenig wie für den Steinmeister. Sicher, ich könnte dem Rat eine Hand voll vorschlagen, aber glaubt ihr, sie könnten sich auf einen einigen? Ich nicht – und ich will ganz bestimmt nicht, dass Hadrumal sich in Fraktionen aufspaltet, die sich gegenseitig übel nachreden, wenn, wie du so richtig sagst, Troanna, wir auf Bedrohungen von außen gefasst sein müssen. Die Elietimm haben sich seit ihrem gescheiterten Versuch, eine Revolte in den Bergen anzuzetteln, ruhig verhalten, aber wir dürfen in unserer Wachsamkeit noch nicht nachlassen. Kalion, deine Hoffnungen auf größeren Einfluss auf dem Festland werden vielleicht endlich wahr mit dieser neuen Vereinbarung, die wir mit Tadriol über Kellarin getroffen haben. Auch nur der Anschein von Uneinigkeit unter uns könnte all die Arbeit zunichte machen, die du geleistet hast, um die Menschen von Hadrumals Möglichkeiten, ihnen zu helfen, zu überzeugen. Es braucht niemals viel, um das Misstrauen und die falschen Informationen wiederzubeleben, die den Ruf der Zauberei auf dem Festland plagen.« »Viele Wenn und Aber sind keine Entschuldigung für Untätigkeit, Planir.« Troanna war keineswegs beeindruckt. »Die Situation ist unerträglich, und als Erzmagier ist es deine Pflicht, sie zu ändern.« Kalions fleischiges Gesicht legte sich in unzufriedene Falten. »Und zwar schnell.« 80
»Sei rasch mit der Peitsche, und dein Pferd kann stolpern«, warnte Planir. »Ich bin sicher, der beste Kandidat wird mit der Zeit schon in Erscheinung treten.« Troanna schnaubte. »Oder du suchst so lange, dass du einen passenden übersiehst. Lieber einen Esel reiten, der dich trägt, als ein Pferd, das ständig bockt.« »Ich werde morgen ein Sprichwort im Tausch gegen dieses haben«, lächelte Planir. Troanna stand auf. »Das ist keine Angelegenheit, mit der man leichtfertig umgehen sollte.« Sie sah Kalion an, und der untersetzte Magier erhob sich zögerlich. Sie drängte ihn aus dem Zimmer, und keiner der Magier sagte etwas, ehe sie die Tür nachdrücklich geschlossen hatte. Planir betrachtete die schlichten Eichenpaneele noch einen langen Moment, ehe er sein Gewand nachlässig über die Lehne seines Stuhls hängte. Eine Müdigkeit, die nicht zu der frühen Stunde passen wollte, grub tiefe Linien in sein Gesicht, als die Erregung jetzt abklang. Er ging zum Fenster und sah hinunter auf Kalion und Troanna, die unter dem Torbogen verschwanden. Er streckte die Hand aus und musterte den großen Diamantring, Zeichen seines Amtes. Die Sonne funkelte auf den Facetten des Steines, der eingefasst war von Smaragd, Bernstein, Rubin und Saphir, den alten Zeichen der Elemente der Zauberei. An dem Finger daneben trug er einen gehämmerten Silberreif. Welche Verzierung er ehedem gehabt haben mochte, sie war längst unkenntlich geworden. Der Erzmagus ballte die Fäuste und schloss die grauen Augen in einer Grimasse von Bedauern und Enttäuschung. Die Gläser, die Kalion und Troanna benutzt hatten, begannen sacht 81
zu zittern, ein schwaches Klirren auf dem Tisch. Die Reste des Pflaumenlikörs brachen plötzlich in Flammen aus, während das unberührte Wasser in dem größeren Glas zu sieden begann, bis es brodelnd kochte. Der geriffelte Kelch des Likörglases fiel in sich zusammen, der lange Stiel knickte ein. Das Wasserglas sank daneben, leer bis auf eine Spur flüchtigen Dampfes, der breite Fuß zerfloss zu einer formlosen Pfütze. Das polierte Holz darunter schimmerte unbeeinträchtigt. »Kindisch«, tadelte Planir sich selbst, ehe er die Augen mit einem boshaften Grinsen wieder öffnete. »Aber befriedigend.« Er warf das nun wieder kalte und festgewordene Glas in den Ascheimer neben dem Kamin, zog ein abgetragenes Wams hinter der Tür hervor und warf es sich über die Schultern, während er mit leichten Schritten rasch die Treppe hinunterging.
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Vithrancel Kellarin 15. Nachfrühling
»Warum sind die Leute immer so wild darauf, dir Geschenke zu machen?« Ich folgte Halice aus der Tauschhalle. »An meiner Schönheit kann es nicht liegen, also muss es mein Charme sein.« Halice hielt mir den kleinen, mit Minzeblättern ausgelegten Weidenkorb hin. Ich nahm eine klebrige Süßigkeit und deutete auf Temars Residenz. »Seine Hoheit ist zurück.« Die leuchtende Flagge flatterte fröhlich. »Dann wollen wir mal sehen, was er zu sagen hat.« Halice schürzte die Lippen. »Benimm dich«, warnte ich mit gespieltem Ernst. »Ich? Wo ich bei der Herzogin von Marlier gedient habe?« Halice spielte die Empörte. »Und die entlassen wurde, weil sie ihrer frechen Tochter eins übergezogen hat«, betonte ich. »Sie hatte es verdient«, lachte Halice. Wir bogen in eine schmale Straße ein, die zwischen der Tauschhalle und Temars Residenz verlief. In dieser dröhnten immer noch Hammer und Säge bei der oft unterbrochenen und langwierigen Aufgabe, es der Würde eines Sieurs angemessen auszugestalten. Zwei Burschen, kaum älter als Tedin, saßen in einer Türöffnung und hämmerten pflichtschuldig gebrauchte Nägel gerade. Einer zog ein paar aus den vom Regen ausgewaschenen Schindeln zu seinen Füßen. Das unterbrochene Muster unter dem Schutt und die Säulenstümpfe, die in die neuen Stei83
ne der Wände zu beiden Seiten eingelassen waren, waren die einzigen Überreste der großen Halle, die einst hier gestanden hatte. Doch das Dach war schon lange eingestürzt, und die mächtigen Mauern boten nur wenige Hinweise, und so hatten die Kolonisten sie nur als Richtschnur für die neuen Gebäude genommen, die um die Hülle der alten Halle errichtet wurden. Wir kamen an Schnitzereien vorbei, die der Regen im Lauf der Jahrhunderte unkenntlich gewaschen hatte. Die eine elegante Tür, die über Kopfhöhe überlebt hatte, bildete nun den Eingang zu Temars Privatgemächern im hinteren Teil des hohen Gebäudes. Halice stieß die Tür ohne Aufhebens auf. Sobald die Zimmerleute die Empfangsräume, das Archiv und die Privatsalons ausgestattet hatten, die für den Rang, den der Kaiser ihm zuerkannt hatte, notwendig waren, konnte Temar dies vielleicht in eine angemessene Behausung für die Dienerschaft des Sieurs D'Alsennin umwandeln, aber für den Augenblick war das untere Geschoss schmucklos mit groben Stellwänden an einem Ende, die nur unzureichend eine Küche und ein Privatzimmer für Temar darüber abtrennten, das durch eine einfache Holztreppe zu erreichen war. Temar und Ryshad standen hinter einem langen Tisch und steckten mit ein paar anderen die Köpfe über Zeichnungen zusammen. »Meister Grethist ist mit einem Hochseeschiff bis zu diesem Wasserfall gekommen.« Temar stieß mit seinem langen Finger darauf. »Mit Segelbooten könnten wir noch weiter forschen.« Also planten sie wieder eine Expedition. Falls Ryshad mitging, konnte ich vielleicht auch dabei sein. Ein Sommer in Vithrancel ohne ihn war keine besonders reizvolle Vorstellung. »Der Transport über dieses Gelände wird eine ganz schöne 84
Plage.« Eine schwarzhaarige, ruhige Frau, in selbstgewebter Tunika über ungefärbten Röcken, fuhr mit einem abgebrochenen Fingernagel eine Linie entlang. »Das ist viel zerklüfteter als der Hang auf dieser Seite.« Sie sah uns entgegen. »Rosarn.« Halice grüßte sie mit einem vertraulichen Nicken. Die gemütliche Erscheinung der Frau täuschte, Rosarn war schon länger Söldner als jeder andere außer Halice, und sobald Temar ein Wort sagte, würde sie in Stiefel und Lederhosen steigen und Dolche in die Scheiden an Hüfte und Taille stecken, bereit, sich ihren Weg durch Dickichte zu schlagen, die selbst ein Eichhörnchen lieber umgehen würde. Die Hälfte der Truppenkommandanten in Lescar wandten sich an sie, wenn sie eine feindliche Position ausgespäht oder ein mögliches Vorrücken ausgekundschaftet haben wollten. Sie war spezialisiert auf Aufgaben, die flinke Füße erforderten und gleichzeitig den Verstand, schnelle Schlüsse zu ziehen. »Wie weit bist du gekommen, Vas?« Ryshad, die Liebe, wenn schon nicht meines Lebens, dann aber gewiss die der vergangenen drei Jahre, strich sich abwesend die schwarzen Locken zurück. »Zum Herbstäquinoktium bis hier.« Vaspret deutete mit einem dicken Finger auf das Pergament. Er war stämmig, wettergegerbt, hatte schlechte Manieren und eine vielfach gebrochene Nase. Er war als einer der ersten Abenteurer nach Kel Ar'Ayen gekommen und hatte die ersten Erkundungsfahrten an die Küsten des Kontinents mit dem längst verstorbenen Meister Grethist unternommen. »Um Vahil Den Rannions Route nachzuverfolgen, sollten wir wirklich die Höhlen nutzen.« Was sie auch vorhatten, Rosarn freute sich offenbar darauf. Ich hatte sie mehr als einmal sagen 85
hören, dass ein ganzer Kontinent, den man erforschen konnte, ohne einen lescarischen Pfeil im Bauch zu riskieren, wie ein Geschenk Talagrins sei. Temar war von Natur aus hellhäutig, und die Frühlingssonne hatte seine Winterblässe noch nicht vertrieben, aber ich sah ihn trotzdem erbleichen. Ryshad sah Rosarn scharf an, und ein Schatten verdunkelte seine goldgefleckten braunen Augen. Dann sah er mich und lächelte, und seine Zuneigung milderte die strengen Linien seines langen Kinns und der breiten Stirn. Ich lächelte zurück, und die kleineren Missstimmungen des heutigen Tages verschwanden wie der Morgennebel über dem Fluss. »Wir suchen einen Landweg, der die zwei Flüsse verbindet«, sagte D'Alsennin mit etwas zu viel Nachdruck. Er suchte nach einer anderen Karte. »Wir können kaum Karren oder Maultiere durch die Höhlen bringen, selbst wenn die Route, die Vahil nahm, noch immer passierbar ist, durch ein Wunder von Misaens Gnaden.« Und du würdest dich lieber ganz allein angreifenden Elietimm stellen, als Zeit ohne Tageslicht zu verbringen, mein Freund. Ich hatte keine Ahnung, ob es Temar gewesen war, der ursprünglich Angst vor der Dunkelheit gehabt hatte, oder Ryshad in irgendeiner Kindheitsecke seines Geistes. Vielleicht war es ein Widerhall der Gefangenschaft in Edisgessets sonnenlosen Höhlen, die sie beide erlitten hatten, gefangen in den Netzen der Zauberkunst. Wie auch immer, beide Männer teilten nun eine anhaltende Angst vor geschlossenen Räumen, und ich wachte oft auf, weil die Schlafzimmertür offen stand, da Ryshad nicht bei geschlossener Tür schlafen konnte. Aber Ryshad war mehr als zehn Jahre älter als Temar. Er biss 86
die Zähne zusammen und kämpfte sichtlich sein Unbehagen nieder. »Besteht die Möglichkeit, dass die fehlenden Artefakte in den Höhlen verloren gingen, ehe Vahil die Schiffe erreichte?« Vahil Den Rannion, Temars Freund aus Kindertagen und nun seit über zwanzig Generationen Asche in seiner Urne, hatte die Aufgabe übernommen, den schlafenden Geist von Kellarins Volk außer Reichweite der gierigen Elietimm zu schaffen. Er hatte einen Weg durch die Höhlen gefunden, die sich durch das höhere Gelände zwischen Vithrancels Fluss und einem anderen zogen, der zu einer zweiten Siedlung im Süden floss, die gerade erst gegründet worden war, als der Elietimm-Abschaum angriff. Ich hätte keinen Bleipfennig auf ihn gesetzt, aber gegen alle Chancen hatte es Vahil über das Meer geschafft, nur um festzustellen, dass das Reich rings um Nemith den Wertlosen zusammenbrach. Alle Adelshäuser waren zu sehr damit beschäftigt gewesen, ihre eigene Haut zu retten, um auch nur einen Gedanken an eine Kolonie zu verschwenden, die schon vor rund einem Jahr so gut wie abgeschrieben worden war. Und so waren die Schätze zerstreut worden und ihr wahrer Wert all die langen Jahre unentdeckt geblieben. Dann hatten Magier, die Alchimisten an der Universität von Vanam konsultierten, Planirs Neugier mit Geschichten von bizarren Träumen geweckt, die Gelehrte aus den Tagen vor dem Chaos geplagt hatten. Seit er aufgeweckt worden war und feststellen musste, dass man von ihm erwartete, die Kolonie zu führen, hatte Temar alles darangesetzt, so viel wie möglich wieder zu beschaffen, und selbst den Kaiser von Tormalin gedrängt, ihm zu helfen, aber es gab immer noch einige Schläfer, die bewusstlos in der riesigen Leere der Höhle lagen, die die Kolonisten so lange geschützt hatte. Guinalle besuchte sie zu jeder Sonnwende und 87
jedem Äquinoktium und suchte in ihren Büchern nach Hinweisen, wie sie sie ohne die Artefakte aufwecken konnte, die sie in den Zauber banden. »Ich denke schon, dass es möglich ist«, gab Temar widerstrebend zu, die eisblauen Augen beschattet wie die eines Habichts unter schmalen Brauen. Sein Haar war ebenso schwarz wie Ryshads, aber fein und glatt, kurz geschnitten wie das eines Soldaten. »Wir sollten jemanden zum Suchen hinschicken«, sagte Ryshad entschieden. Seine Entschlossenheit, die verlorenen Artefakte zu finden, stand der Temars in nichts nach. Das war der eine Punkt in der Entscheidung des Sieurs D'Olbriot gewesen, ihn aus seinem eingeschworenen Dienst zu entlassen, nachdem er gesehen hatte, wie Ryshads Sinn für Loyalität ihn immer mehr zwischen den Interessen D'Alsennins und denen D'Olbriots hin- und hergerissen hatte. Temars eckiges Gesicht leuchtete auf bei dieser erleichternden Idee. »Guinalle könnte einen Zauber ersinnen, um alles aufzufinden, was in der Höhle einen Zauber hält.« »Warum verbesserst du deine eigenen Fähigkeiten in Zauberkunst nicht, anstatt dich immer auf sie zu verlassen?«, fragte Halice scharf. Temar sah sie erstaunt an. »Ich habe wohl kaum Zeit, um Zauberkunst zu studieren.« »Ein Sieur entscheidet, womit er seine Zeit verbringt.« Halice schnippte die Ecke einer Karte zurück, die über die Tischkante hing. »Was ist es jetzt? Küsten kartieren? Nach Metallen schürfen?« »Einen Weg nach Hafreinsaur zu finden«, verteidigte sich Temar. Hellauf begeistert, als der Kaiser Kellarins Unabhängig88
keit erklärt hatte, war es eine seiner ersten und seitdem sehr wenigen Handlungen als Sieur gewesen, die Siedlungen zu Ehren der ursprünglichen Gründer zu benennen: Vithrancel nach Ancel Den Rannion, Hafreinsaur nach Hafrein Den Fellaemion. Er hatte auch einen solchen Namen für die Minensiedlung gewollt, aber das war fehlgeschlagen angesichts der Söldner, denen die althochtormalinische Bezeichnung der Kolonisten für ihre Höhlenzuflucht nicht recht über die Lippen wollte. Der Kompromiss, den Edisgesset bildete, war inzwischen fest etabliert. Halice warf ihm einen Blick zu, der jeden Söldner in sich hätte zusammensinken lassen. »Ich kann dir zehn Männer nennen, die den Job genauso gut erledigen wie du.« Temar fuhr sich mit der Hand über den Mund. »Meinst du, ich sollte lieber etwas anderes tun?« »Verbring mehr Zeit in und um Vithrancel«, erklärte Halice unverblümt. »Übernimm einiges von der Kleinarbeit, die Guinalle von Sonnenaufgang bis -untergang aufreibt. Alle Augenblicke fragt jemand sie um Rat, weil du nie da bist. Sie hätte mehr als genug zu tun, wenn sie nur an Zauberkunst arbeitete und sich um die ganzen Dummköpfe, die krank werden oder sich verletzen, kümmerte, da sie darauf besteht, sich um alle Pflanzen und Tiere persönlich zu kümmern, wenn sie nur die Gelegenheit dazu bekommt. Sie ist der Erschöpfung nahe, und es ist das willige Pferd, das zu Tode geschuftet wird, mein Freund.« »Wir reden später darüber.« Rosarn rollte knisternd ihre Karten zusammen. »Ich werde sehen, was für Fortschritte die Bootsbauer inzwischen gemacht haben.« »Ich glaube ...« 89
Rosarn wischte Temars Entrüstung mit einem entschuldigenden Lächeln beiseite und nahm Vaspret auf dem Weg zur Tür mit. Ungeachtet der Tatsache, dass Tadriol der Kluge, als Fünfter dieses Hauses Kaiser von Toremal, Temar zum Sieur D'Alsennin, Fürst dieses Hauses und Herrscher über Kellarin erklärt hatte, gehorchte Rosarn zuerst und vor allen Dingen ihrer Truppenkommandantin. Temar setzte sich ans Kopfende des Tisches und straffte die Schultern. Da ihm so rasch keine Entgegnung einfiel, hob er in einer herrschaftlichen Geste die Hand. Bridele, eine junge Frau, die vor dem ersten Untergang Kellarins verwitwet war, eilte mit einem Tablett voller Gläser und einem Krug herbei. Temar hatte jedenfalls Dienstboten, auch wenn sonst niemand welche hatte. Ryshad und ich räumten einen Platz zwischen den Pergamenten frei, und sie schenkte verdächtig hellen Wein für uns alle ein. Halice wartete nicht die Aufforderung ab, sich zu setzen, doch Ryshad wartete auf D'Alsennins Nicken. »Natürlich werde ich Guinalle helfen«, sagte Temar steif. »Sie braucht nur zu fragen.« »Kannst du dir das vorstellen?« Halices entwaffnendes Grinsen erhellte ihre groben Züge. »Und ihrer noblen Pflichten verlustig gehen, ganz zu schweigen von ihrem Stolz? Geh das kleinere Problem an. Da du so viel weg bist, gewöhnen sich die Leute an, zu Guinalle zu laufen. Du musst die Menschen wissen lassen, dass sie zu dir kommen können.« »Guinalle hat keinen wirklich fähigen Schüler, der ihr etwas von der Last abnehmen kann, oder?«, bemerkte Ryshad in bewusst neutralem Ton. »Ich habe keine Zeit, Zauberkunst zu studieren«, wiederholte Temar, leicht errötend. 90
Ryshad und ich wechselten einen Blick. Es war nicht nur Stolz, der dafür sorgte, dass Guinalle mit ihrer Meinung so hinter dem Berg hielt und Temar jede Gelegenheit ergriff, loszuziehen und Kellarin zu erforschen und es ihr zu überlassen, Vithrancel zu regieren. Sie hatten eine kurze leidenschaftliche Beziehung gehabt, ehe die Hoffnungen der Kolonie ruiniert wurden, und wie es unerfahrene Liebende so oft tun, hatten sie sich gegenseitig durch ihre Trennung schwer verletzt. »Das haben wohl nicht viele Leute hier«, bemerkte ich in demselben leichten Tonfall wie Ryshad. »Nicht bei der Hingabe, die Guinalle von ihnen verlangt.« Ich konnte mir nicht Vorstellen, dass ich die Einzige war, deren allgemeine Neugier auf Zauberkunst bei dem rigorosen Studium abgeflaut war, das die Demoiselle von potenziellen Schülern verlangte. »Vielleicht sollten wir sehen, ob Demoiselle Tor Arrial bereit ist, aus Toremal zurückzukehren«, schlug Ryshad vor. »Du kannst sie gerne fragen, aber erwarte das nicht von mir«, sagte Temar rundheraus. »Es braucht mehr, als dass Tadriol mich zu ihrem Sieur erklärt, ehe ich versuche, das Sagen über Avila zu haben.« Die Demoiselle Tor Arrial war eine Furcht erregende ältere Adelsdame, die Temar schon kannte, als er noch ein unreifer Bursche war, und sie ließ ihn das selten vergessen. Ich sah Ryshad an. »Avila leistet wertvolle Dienste, wo sie ist, schickt uns Neuigkeiten aus Tormalin und stellt sicher, dass wir anständige Waren bekommen, nicht den Ausschuss aus den Hafenlagern.« Und wenn sie in Tormalin ein neues Leben führte, hieß das, dass sie die Verluste durch Kellarins Zerstörung ein wenig hinter sich lassen konnte. »Wenn sie nicht dort ist mit ihrer Zauberkunst, haben wir 91
keine Möglichkeit, dem Kaiser eine Nachricht zukommen zu lassen.« Temar wirkte entschlossen. »Ich rufe sie nicht zurück.« Niemand wollte dem widersprechen. Falls die Elietimm je wieder auftauchten, brauchten wir unbedingt eine Möglichkeit, rasch Verstärkung zu rufen. Halice nickte. »Aber wo finden wir mehr Leute mit ätherischen Fähigkeiten?« Ich hatte eine Idee. »Was ist mit diesen Gelehrten aus Vanam, die Guinalle letzten Sommer besuchten und so viel über verlorene Ätherlehren wissen wollten? Sie hatten jetzt den ganzen Winter Zeit, um das Wissen zu studieren, das wir im vergangenen Jahr in den Bergen und im Wald gefunden haben. Sie müssen doch inzwischen ein paar fähige Leute darin haben?« Selbst vor diesen jüngsten Erweiterungen ihres Wissens waren Mentor Tonin und seine Gelehrten genügend bewandert in Zauberkunst gewesen, um die Zauber in Edisgessets Höhle zu brechen. So hatten wir Guinalle und Temar überhaupt geweckt. »Wie wäre es damit, noch ein paar Zauberer anzuwerben?«, überlegte Ryshad. »Wen auch immer Hadrumal mit den ersten Schiffen schickt, er ist vielleicht bereit, eine Jahreszeit zu bleiben.« »Wann können wir mit den Schiffen rechnen?« Ich sah die anderen an. »Ich bat Guinalle, es von Avila in Erfahrung zu bringen.« Temar schaffte es nicht ganz, Haltung zu bewahren, als er Halices entgeisterten Blick auffing. »Du bist genauso schlimm wie alle anderen.« »Allin könnte mit beliebig vielen Magiern in Toremal Kontakt aufnehmen, um das herauszufinden«, sagte Ryshad mit Nachdruck. 92
»Und wo ist sie dann?«, wollte Halice wissen. »Sie hilft Werdel bei einigen Modifikationen an seinem Brennofen«, gab Ryshad ein wenig verlegen zu. Halice schnippte mit den Fingern vor Brideles blondem Sohn herum, der Temar als allzeit eifriger Page diente. »Geh und such Lady Allin.« Der Bursche grinste sie an und machte sich davon. Ich nippte an meinem Wein, der so stark verdünnt war, dass er praktisch nach gar nichts mehr schmeckte, und verzog das Gesicht. »Bridele kann dir einen Tee machen«, bot Temar an. »Aus den letzten Staubkörnern ihrer Kräuterdosen?«, fragte ich. »Oder aus unbekannten Kräutern? Vielen Dank, aber ich möchte mich nicht vergiften.« Zumindest ein kürzlicher Todesfall war darauf zurückzuführen, dass ein Verrückter sich eine rasche Überfahrt auf Poldrions Fähre verschafft hatte, weil er vergeblich versucht hatte, seine Tees zu strecken. Ich sah, dass Temar einen harten Zug um den Mund bekam. Obwohl Maewelin über den Winter nur sehr wenig Tribut von Kellarin gefordert hatte, traf Temar jeder einzelne Verlust hart. »Gibt es Neues aus Edisgesset? Sind die Bergarbeiter bereit, mit dem Schmelzen zu beginnen?« Er war erfolgreich abgelenkt. »So bald wie möglich.« »Was habt ihr mit dem Kupfer vor?«, fragte ich. »Mit Toremal tauschen.« Temar sah verblüfft drein, dann lächelte er. »Gegen Teekräuter und anständigen Wein, vielleicht.« »Wir brauchen Eisen.« Ryshad war es ernst. »Wir haben keine Spur von Eisenstein gefunden, und unsere Schmiede verwenden jedes rostige Kettenstück, das sie finden können.« »Geld würde den Handel mit Toremal vereinfachen.« Ryshad sah mich mit hochgezogener Augenbraue an, aber ich erwiderte 93
den Blick voller Unschuld. »Und fertiges Kupfer hier könnte auch nicht schaden. Es würde dir und Guinalle die Verhandlungen und alles weitere ersparen.« »Zum Münzprägen braucht man Fachleute.« Temar runzelte die Stirn. »Ich kenne jemanden, der das kann«, bot ich an. »Wenn es sich für ihn lohnt, wird er übers Meer kommen.« »Dieser Gidestaner mit den angeknabberten Ohren?« Halice fiel der Name wieder ein. »Kewin?« Temar wählte seine Worte sorgfältig. »Ich glaube kaum, dass es der Kaiser wohlwollend aufnähme, wenn wir uns Freiheiten mit seiner Währung erlaubten.« Ich sah ihn entrüstet an. »Ich rede doch nicht von Fälschung. Was wäre mit deinem eigenen Kopf auf ein paar Pfennigen?« »Das wäre eine gute Darstellung von Unabhängigkeit.« Unter Ryshads Belustigung lag Ernsthaftigkeit. »Kellarin muss auf seinen eigenen Füßen stehen.« Temar sah ihn zweifelnd an. Eine der Eigenschaften, die ihn so liebenswert machten, war das Fehlen der üblichen Arroganz, wie sie oft mit adligem Blut einhergeht. Halice und ich waren uns einig darüber, nicht zuzulassen, dass er welche entwickelte. Ryshad andererseits wollte sehen, dass Temar Kellarin mit sehr viel mehr Nachdruck seinen Stempel aufdrückte. »Es wäre sicher sinnvoll, darüber nachzudenken.« Ich sah, wie Temar einen verstohlenen Blick auf seine Karten warf. »Wenn du diesen Höhlen folgen willst, warum versuchst du nicht, ob Hadrumal dir helfen kann? Shiv könnte den Flüssen folgen, und Usara müsste jede Höhlung finden, von einem Kaninchenloch angefangen.« Ich war mit Usara durch die wilden Berge und den Wald gereist und hatte gesehen, wie die 94
Erfahrung den Horizont des Magiers über den engen Blickwinkel Hadrumals erweiterte. »Eine gute Idee.« Ryshad griff nach dem Pergament, das er heimlich studiert hatte. »Zwei Maulesel vor dem Pflug sind besser als einer.« »Vielleicht.« Temars aristokratische Höflichkeit konnte keinen von uns täuschen. Er hatte die jugendliche Torheit der Eifersucht noch nicht hinter sich gelassen, weil Usara ein Interesse an Guinalle zeigte. »Wenn wir noch mehr Magier wollen, dann sollten wir die beiden einladen.« Ich wusste, dass Halice dasselbe dachte wie ich. In ihrer selbstbeherrschten Art hatte Guinalle Anzeichen dafür gezeigt, dass sie Usaras Aufmerksamkeit schätzte. Ein freundlicher Zauberer, der nur zu gut die Forderungen und Enttäuschungen der magischen Künste kannte, brachte vielleicht das sture Mädchen dazu, ihre eigenen Grenzen einzugestehen. »Wo bleibt Jemet?«, fauchte Temar und nippte an seinem traurig schwachen Wein. Ich ertappte Ryshad dabei, wie er den jüngeren Mann voll Mitgefühl ansah. Ich war nicht so duldsam. Zugegeben, Temar hatte ein hartes Stück Arbeit vor sich, um einen Erfolg aus Kellarin zu machen, aber ich fragte mich, ob mein Geliebter nicht ein wenig zu sehr dazu neigte, im Zweifelsfalle für den jungen Adligen zu entscheiden. Das Geräusch der Tür unterbrach die unbehagliche Stille, und Allin eilte hinter Jemet, dem Pagen, herein. Von allen Zauberern, die ich getroffen hatte, seit ich durch ein Missgeschick auf Shiv gestoßen war, was mir mehr Ärger eingetragen hatte, als ich mir hatte vorstellen können, war Allin diejenige, die am 95
wenigsten der Fantasie eines Balladensängers von Ensaimin entsprach. Sie war keine gertenschlanke Magierin, die alle mit ihrer atemberaubenden Schönheit fesselte, mit ihren blitzschnellen Kräften alle Männer betörte und sie im gleichen Atemzug so in Schrecken versetzte, dass sie ihre Männlichkeit verloren. Allin war klein, pummelig und so unscheinbar, dass Halice neben ihr ganz passabel aussah, und sie wurde oft wenig anziehend rot. Jetzt, da sie außer Atem war, war sie geradezu tiefrot. »Setz dich.« Ich bot ihr meinen Hocker und den wässrigen Wein an. Ich mochte Allin, und ihre Bereitwilligkeit, ihre Fähigkeiten, ob nun magischer oder praktischer Art, mit allen zu teilen, hatte ihr viele Freunde in Kellarin eingebracht. Nicht dass sie sich dessen bewusst war. Als jüngstes Kind einer alten Familie grenzte ihre Bescheidenheit ans Lächerliche, und Temar war nicht der Einzige, der entschlossen war, dafür zu sorgen, dass dieses Magier-Mädchen lernte, sich ebenso hoch einzuschätzen, wie andere Menschen es taten. »Wie kann ich helfen?« Ihre hektische Farbe verblasste, als sie den Wein trank. »Könntest du dich mit Casuel in Verbindung setzen?«, bat Temar höflich. »Um zu sehen, ob er weiß, wann wir die ersten Schiffe erwarten können?« Allin wandte sich an den erwartungsvollen Jemet. »Eine Kerze, wenn du so gut sein wolltest, und einen Spiegel.« Der Bursche huschte davon, um die Hilfsmittel für Allins Zauber zu holen, und stand dann mit lebhaften blauen Augen neben Temar. Allin schnippte mit ihren Fingern, sodass die Kerze sich mit zauberhafter Flamme entzündete, und fing behutsam das unna96
türlich rötliche Licht in dem Spiegel ein. Sie führte ihre Zauberei mit weit weniger Zeremoniell aus als die meisten Magier, denen ich das zweifelhafte Vergnügen hatte zu begegnen, aber selbst diese unspektakuläre Darstellung versetzte Jemet in schweigende Andacht, während Bridele verstohlen aus der Küchentür lugte. Die erst kürzlich eingetroffenen Handwerker zogen sich immer noch verlegen zurück, wenn Magie ausgeübt wurde, aber die ursprünglichen Kolonisten hatten zu einer Zeit gelebt, in der Zauberkunst eine bereitwillig anerkannte Kunst war. Sie machten keinen Unterschied zwischen Guinalles ätherischen Zaubern, die sie zu ihrem Vorteil wirkte, und den unterschiedlichen Fähigkeiten der Magiegeborenen. Soweit es sie anbetraf, bedeutete Magie in jeder Form, dass Kellarin nie wieder ungeschützt und unfähig, Hilfe herbeizurufen, Angriffe der Elietimm erleiden musste. Das rötliche Glühen auf dem Metall schrumpfte zu einem stecknadelkopfgroßen Punkt von solch gleißender Helligkeit, dass es den Augen wehtat, dann breitete es sich wieder in Wellen über den Spiegel aus, wie Wein das Licht einfängt, wenn man das Glas schwenkt. Konzentration verlieh Allins schlichtem Gesicht Würde, als das Glühen zu einem brennenden Kreis entlang des Randes verblasste und der Spiegel eine MiniaturSzene abbildete. Wir sahen ein elegant eingerichtetes Schlafzimmer, in dem eine vertraute Gestalt hastig in ihre Hosen stieg. »Guten Morgen, Casuel«. sagte Allin höflich. »Was ist denn so wichtig, dass es nicht bis nach dem Frühstück Zeit hätte?« Casuel fingerte an seinen Knöpfen herum, ehe er sich über das zerzauste braune Haar fuhr, das noch nicht mit Pomade in modische Wellen gelegt war. 97
»Junker D'Evoir.« Temar stellte sich neben Allin und neigte den Kopf in einer wohlerzogenen Verbeugung. »Ich bitte um Verzeihung. Hier bei uns ist es schon später am Tag.« Er sprach mit der aristokratischen Präzision, die Casuel immer als geziemenden Respekt auffasste, aber ich hatte eigentlich den Eindruck, dass dies D'Alsennins Art war, seine Gereiztheit über die anmaßende Art des Zauberers zu verbergen. »Sieur D'Alsennin.« Casuels Ton wandelte sich abrupt von brüsk zu schmeichlerisch. Temars Haus war zwar im Chaos untergegangen, aber wenn der Kaiser erklärte, dass es wieder erstanden war, reichte das aus, damit Cas kriecherisch wurde. »Jeder andere in Toremal hat inzwischen sein Frühstück längst beendet.« Ryshads Murmeln war nur für meine Ohren bestimmt, als er sich hinter mich stellte und seine starken Arme um mich schlang. Ich lehnte den Kopf zurück und flüsterte: »Seit wann ist unser Cas Junker D'Evoir?« In denselben Balladen, in denen Allins Erscheinung ebenso reizvoll wie ihre Persönlichkeit gewesen wäre, hätte Casuels allumfassendes Wissen über die fragmentarische Geschichte des Alten Reiches die Rolle der obskuren Lehre gehabt, mit deren Hilfe allein eine Prinzessin gerettet oder einem König wieder zu seinem Thron verholfen werden konnte. Tatsächlich kreiste sein ganzes Gelehrtentum ausschließlich darum zu beweisen, dass seine Kaufmannsfamilie einen Anspruch auf einen alten Adelstitel hatte. Dann hatte Planir sein Wissen für seine eigenen mysteriösen Zwecke benutzt, und Cas hatte unabsichtlich geholfen, das Volk von Kellarin zu retten. »Temar hat ihm dabei geholfen, die fehlenden Zweige in seinem Familienstammbaum zu finden.« Ryshad deutete mit dem 98
Kinn auf das Abbild. »Kaiserliche Gewährung der Insignien zur Sonnwende, und jetzt ist er Planirs Verbindungsmann zu Tadriol und offizielles Rohr für jeden Fürsten, der mit Kellarin in Kontakt treten will.« Also war Cas mit alldem Zugang zu den Großen und Mächtigen Toremals belohnt worden, den sich sein versnobtes Herz nur wünschen konnte. »Wir müssen wissen, wann wir die ersten Schiffe aus Bremilayne oder Zyoutessela erwarten können«, erklärte Temar, während Allin irgendwie Casuels Gesicht im Spiegel näher heranholte. »Aber das erste müsste inzwischen angekommen sein.« Casuel fummelte an einer geschmacklosen vergoldeten Fischbrosche herum, mit der er den Spitzenkragen seines Seidenhemdes feststeckte. »Dann würde ich wohl kaum fragen«, sagte Temar höflicher, als ich es fertig gebracht hätte. »Es hat am zwölften Vorfrühling Segel gesetzt«, beharrte Casuel. Es gab eine Pause, während wir alle im Geiste die Tage und die Phasen des größeren und kleineren Mondes berechneten. »Das ist aber sehr früh.« Ryshad zog zweifelnd die Augenbrauen zusammen. Da er in der südlichen Hafenstadt Zyoutessela aufgewachsen war, wusste er mehr über die Launen der Jahreszeiten als der Rest von uns. »Vor allem, wenn man weder einen Magier noch einen Ätherkundigen an Bord hat, der mit den Meereswinden und -strömungen fertig werden kann.« Casuels gut geschnittenes Gesicht verzog sich unschön vor unangenehmer Befriedigung. »Ich verstehe nicht«, sagte Temar scharf. 99
»Das Schiff wurde mit Den-Harkeil-Gold ausgerüstet«, begann Casuel pedantisch. »Avila sagte mir, dass das vereinbart sei«, unterbrach Temar ihn. »Der Sieur Den Harkeil hat seine Schreiber auf jedes Archiv losgelassen, zu dem er sich Zugang verschaffen kann.« Casuel wirkte vorübergehend neidisch. »Sie haben jeden Pergamentfetzen ausgegraben, auf dem etwas über Den Fellaemions Reisen steht, und der Sieur ist überzeugt, dass es möglich sein muss, das Meer auch ohne magische Hilfe zu überqueren. In den Geschichten über Nemith den Seefahrer wird Magie nirgends erwähnt.« »Weil niemand mit einem Funken Verstand in jenen Tagen auch nur daran gedacht hätte, sich aufs offene Meer zu wagen, ohne einen Adepten an Bord«, sagte Temar gepresst. »Wie kommt Messire Den Harkeil auf die Idee, sowohl Planir als auch die Demoiselle Tor Priminale zu ignorieren, wenn die sagen, ein Schiff braucht einen Magier oder einen Zauberkunstadepten oder im Idealfall beide?«, fragte Halice verächtlich. »Er glaubt, dass Inseln mitten im Meer das verborgene Geheimnis sind, das Den Fellaemion in die Lage versetzte, Kellarin zu erreichen«, sagte Casuel zögernd. Temar biss sich auf die Lippe. »Suthyfer?« Es war ein Zeichen seiner Besorgnis, dass er die Umgangsbezeichnung der Söldner für die Inseln gebrauchte und nicht das hübsche Garascisel, den Namen, den er verfügt hatte. »Ist das möglich?« Ryshad blickte von Temar zu Allin, die unbehaglich dreinblickte. »Ist das Schiff zu Schaden gekommen?« 100
»Ich weiß nicht.« Temar kaute gedankenverloren an einem Fingerknöchel. »Nur weil etwas nicht getan wurde, heißt das noch nicht, dass es nicht sein kann.« Halice hatte andere Sorgen. »Schiffe sind heute stabiler als zu den Zeiten von Den Fellaemion.« Ryshad wirkte besorgt. »Die Seeleute sind es mehr gewohnt, das Meer zu befahren, weil der Handel bis hinauf nach Inglis so zugenommen hat.« »Die Hälfte der Adelshäuser in Tormalin will auch ein Stück vom Kuchen des Handels mit Kellarin«, betonte ich. »Sie werden ihre eigenen Kolonisten abladen, ohne dir auch nur die Hand zu küssen, wenn sie damit durchkommen.« Allin schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Wolkenmeister Otrick selbst sagte, es wäre unmöglich, das Meer ohne Hilfe zu überqueren.« »Hat er das auch noch gesagt, nachdem er von Suthyfer erfahren hat?« Halice studierte eine Karte. »Wenn ein Schiff die Inseln erreichen könnte, dort Trinkwasser an Bord nehmen, sich an den richtigen Sternen orientieren und die Sonne von festem Land aus beobachten könnte, wäre es für den zweiten Teil der Reise gut gerüstet.« Sie sah Allin an. »Hat Otrick das in seine Berechnungen mit einbezogen?« »Ich weiß es nicht«, stammelte Allin in plötzlichem Selbstzweifel. »Der Kaiser hat verkündet, dass jede Gewährung von Land mein Siegel tragen muss«, beharrte Temar, doch er sah besorgt aus. »Wir sollen die Leute zurück ins Meer werfen, wenn ihr Fürst sie mit dem Versprechen auf ein neues Leben hierher geschickt hat?«, sagte Ryshad verdrießlich. 101
»Und Tadriol segelt höchstpersönlich die Küste rauf und runter, um sicherzustellen, dass seine Erlasse befolgt werden, ja?«, warf ich ein. Halice deutete mit Nachdruck auf Temar. »Was ist mit Leuten, die tormalinische Gesetze nicht anerkennen? Der Hunger nach Land ist Antrieb für die Lescari-Kriege seit ich weiß nicht wann.« »Lasst uns keinen Ärger herbeireden.« Temar blickte finster. »Wenn das Schiff verloren geht ...« »... dann suchen wir am besten nach dem Wrack oder nach Überlebenden«, beendete Ryshad den Gedanken. »Könntest du uns sagen, wo die Strömungen sie hätten hintragen können?« Temar sah Allin fragend an. »Die Seebarsch wird ihr Schicksal finden.« Casuel übertönte sie mit aufreizender Herablassung. »Naldeth ist an Bord. Ich warnte ihn, dass Den Harkeils Überheblichkeit zweifellos in eine Katastrophe führen würde.« »Die Seebarsch? Den Castevins Schiff ist ausgelaufen?« Temar bedeutete allen anderen zu schweigen. »Wann können wir es erwarten?« Casuel wirkte leicht beleidigt. »Sie sind am 37. Vorfrühling aufgebrochen.« »Kurz bevor der größere Mond voll war.« Ryshad kniff die Augen zu einem Schlitz zusammen. »Sie müssten irgendwann in den nächsten zehn Tagen landen.« »Dass der kleinere Mond momentan nicht zu sehen ist, dürfte kein Problem sein, wenn sie einen Magier an Bord haben.« Halice nahm ihre eigenen Berechnungen vor. Allin schien sich nicht so sicher. »Naldeth hat eine Affinität zu Feuer, nicht zu Luft oder Wasser.« 102
»Parrail ist ebenfalls an Bord.« Mich juckte es in den Fingern, Casuel eine runterzuhauen wegen seiner Überheblichkeit. »Einer von Mentor Tonins Schülern. Er beherrscht genügend Zauberkunst, um helfen zu können.« »Danke für diese Neuigkeiten Junker D'Evoir, und für deine Zeit. Wir wollen dich, nicht länger aufhalten.« Temar nickte Allin zu, die die Kerze prosaisch auspustete. Casuels servile Abschiedsworte vergingen wie die blaue Rauchfahne, die von dem Docht aufstieg. Temar fuhr sich mit der Hand durch das kurz geschnittene Haar, sodass es wild zu Berge stand, seine blauen Augen blickten gehetzt. »Dastennin möge mir vergeben, aber ich könnte fast hoffen, dass Den Harkeils Schiff untergegangen ist.« Er rief den Meeresgott nicht aus Gewohnheit oder Heuchelei an. »Sie kannten das Risiko, das sie eingingen.« Halice neigte ebenso wenig zu Mitleid wie ich. »Torheit erweist sich früher oder später im Allgemeinen als Kapitalverbrechen.« Ryshad entfernte sich von mir und ging zu der halb fertigen Karte der Küste zwischen Vithrancel und Hafreinsaur. »Wo würden sie wohl an Land gehen, wenn sie ihre eigene Fahne aufpflanzen wollen?« Halice entwand die Karte seinen Händen. »Wir können nur raten, bis das eine oder andere Schiff auftaucht. Wir sollten uns besser organisieren, damit wir bereit sind für jede mögliche Herausforderung. Temar, wenn du anfängst, dich Sieur zu nennen, wird es Zeit, dass du anfängst, deine Verfügungen umzusetzen. Dann müssen wir aber wissen, worauf sie hinauslaufen.« Sie grinste. »Weswegen ich eigentlich hergekommen bin. Wirst du von meinen Jungs Lehnstreue verlangen, wenn sie sich mit Koloniefamilien zusammentun? Werden sie die Beschränkung 103
bekommen, die sie brauchen, wenn du es tust?« »Wer hat denn das aufgebracht?« Ryshad hockte sich mit lebhaftem Blick auf die Tischkante. Er kannte den Wert der Disziplin unter den kämpfenden Truppen und hatte mehr als einmal vorgeschlagen, es sei an der Zeit, dass Temar Männer auf seinen eigenen Dienst einschwor nach Art von Messire D'Olbriots Miliz. Temar mied das Thema immer und behauptete, er verstünde nichts von den Bräuchen, die sich in den unsicheren Tagen des Chaos entwickelt hatten. Ich saß auf Ryshads verlassenem Hocker und zog mein Messer aus dem Gürtel, um mir müßig damit die Fingernägel zu säubern, während Halice ihm von Deg und Catrice berichtete. Temar dachte scharf nach und schlug vor, einige der alten Bräuche wiederzubeleben, auf die sich sein Großvater verlassen hatte. Ryshad riet zu ein paar Anpassungen im Licht der größeren Unabhängigkeit, die tormalinische Fürsten ihren Lehnsleuten heutzutage gewährten. Halice stimmte zähneknirschend ein paar Veränderungen zu, die er für den raubeinigen Strafkatalog, mit dem sie ihre Söldner disziplinieren wollte, vorschlug. Selbst Allin steuerte wagemutig ein paar zögernde Bemerkungen über Hadrumals paralleles System von Einfluss und Macht bei. Das Einzige, was mich je an Justiz interessiert hat, ist, mich schön da herauszuhalten. In einigen Städten bedeutet das, ehrlich zu spielen, auf meine Manieren zu achten und auf Halcarion zu vertrauen, dass ich Glück hatte. An anderen Orten heißt das jede Chance zu nutzen, die sich bietet, und mir selbst welche zu verschaffen. Manchmal muss man einem schnellen Pferd trauen, das einen aus der Schusslinie bringt, wenn ein Dummkopf mit einem leeren Geldbeutel nach der Wache ruft. 104
Ich säuberte meine Nägel und fragte mich, ob es nicht doch interessanter wäre, nach Hause zu gehen und das Bettzeug zu waschen.
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Kapitel 2
An Cadan Lench, Präfekt und Mentor der Universität zu Col, Von Aust Gildoman, Registrator des Magistrats von Relshaz Lieber Cad, du hattest mich gebeten, Ausschau zu halten nach interessanten Neuigkeiten über Äthermagie hierzulande. Ich glaube zwar nicht so recht, dass dies als interessant gilt, aber ich dachte, du möchtest gerne wissen, welch hohe Wogen die Gefühle mancher Leute schlagen können. Dein Freund, Aust Warnung an alle vernünftigen Menschen im Angesicht des Neuen Aberglaubens von der Gesellschaft der Nichtakademiker von Relshaz Jeder klar denkende Mensch freut sich darüber, dass diese Generation die Falschheiten und Mythen hinter sich gelassen hat, die unsere Vorväter so belastet haben. Der schädliche Einfluss der Zauberei über die Angstlichen ist endlich beseitigt, so wie der boshafte Zugriff der Religion auf die Leichtgläubigen gebrochen ist. Jetzt müssen wir uns gegen heimtückische neue Fabeln erheben und sehen uns angegriffen von einer bedrohlichen Kombination der übelsten Elemente von Magie und Dogma. Äthermagie, auch Zauberkunst genannt, wird als Antwort 106
auf jedes Ungemach verbreitet, das die Nutzlosen befällt. Sie soll den Müßiggängern Brot bringen, denen beistehen, die unter ihrer eigenen Zügellosigkeit leiden, und den Unzulänglichen unverdienten Reichtum gewähren. Wenn man auch nur an die Hälfle der Macht, die dieser alten Lehre zugeschrieben wird, glaubte, könnte Zauberkunst selbst die Monde vom Himmel holen. Es verlangt nur wenig vernünfiiges Denken, um zu sehen, dass solche Hoffnungen nicht mehr Wert sind als das Silber des Mondscheins, das sich im Straßengraben spiegelt. Die wenigen, die überhaupt etwas über diese angeblichen Zauber wissen, befinden sich so weit weg von unseren Küsten, wie sie von tormalinischem Adel entfernt sind. Welche geringen Vorteile aus ihrer Kunde sich auch ergeben mögen, diese werden mit Sicherheit für Menschen reserviert sein, die von Rang und hoher Geburt sind. Der Allgemeinheit werden lediglich verstümmelte Zaubertricks geboten, kaum verstanden von Priestern, die begierig die Einfältigen mit den tröstenden Täuschungen der Frömmigkeit einfangen wollen. Solcher Torheit muss mit dem Beharren auf das Studium des Fassbaren begegnet werden. Erinnert jeden Freund, der durch Lügen und Halbversprechen verlockt wird, an die erwiesenen Vorteile, die sich aus den Fortschritten in jedem Feld der Naturphilosophie ergeben. Wir dürfen nicht zu jenen naiven Tagen zurückkehren, als das Studium der Verhältnisse das Reich der Mystiker allein statt objektiver Menschen war, als Anatomen gemieden wurden, weil sie unbefugt in Poldrions Privilegien eingriffen, und Alchemisten und Apotheker für ihre Mühen nur Verachtung ernteten. Wir wollen uns auf die Vorteile freuen, die wir durch die rigorose Anwendung des Intellekts gewinnen, um den Reichtum der belebten Welt zu erklären und die Ge107
heimnisse von Tod und Krankheit zu lüften, den Kreislauf der Himmel und der Jahreszeiten zu kartieren und die unzähligen anderen Fragen zu beantworten. Magie, gleich welcher Natur, verspricht unverdienten Erfolg, aber wir wollen nie den hohen Preis vergessen, der in der Vergangenheit gezahlt werden musste, wenn man solchen Verlockungen nachgab. Kein vernünftiger Student der Geschichte wird leugnen, dass das Chaos, welches das Alte Reich verschlungen hat, weniger umfassend in seiner Zerstörunggewesen wäre, hätten nicht unwissende Herrscher die Macht gewissenloser Magier in ihrem rücksichtslosen Aufstiegsstreben angerufen. Bösartige Magie brachte Unglück über jedes Land von den Küsten Tormalins bis zum Großen Wald jenseits von Ensaimin. Die Erneuerung konnte erst beginnen, als die unmoralische Zauberei von unseren Küsten vertrieben war, ins Exil auf jene Insel, auf der die Magiegeborenen bis zum heutigen Tage lauern. Die Zauberkunst bietet vielleicht nicht solche dramatischen Verzerrungen von Luft und Erde, aber ihre heimtückische Bedrohung ist nicht weniger verhängnisvoll. Denkt an die Aussage dieses Temar D'Alsennin, der kürzlich in Toremal gefeiert wurde. Er spricht von Zaubern, die jeden Aspekt der Herrschaft durchdringen. Ihre falschen Versprechungen ermutigten das Alte Reich, sich immer weiter auszudehnen und sich dabei auf die zerbrechlichen Stränge der Zauberkunst zu verlassen, die alles zusammenhalten sollten. Es steckte kein Verständnis hinter dieser Magie. Durch die Verwendung von Zaubern anstatt ehrlicher Waffen, um einen Feind anzugreifen, zerstörten D'Alsennins unwissende Zauberer die Brücke unter sich selbst ebenso wie unter ihren Feinden. Als ein Faden durchgeschlagen war, 108
riffelte sich das Netz der Zauberkunst im ganzen Reich auf. Die Saat des Chaos war ausgebracht, um durch das Feuer und Wasser unvorsichtiger Magier zu voller Blüte gebracht zu werden. D 'Alsennin schreibt der Äthermagie seine Errettung und die seines Volkes zu, ohne anzuerkennen, dass ebendiese Zauberei sie alle mehr als vierundzwanzig Generationen lang bewusstlos unter der Erde gefangen hielt. Das war keine Errettung, sondern nur die feige Hinauszögerung eines schlimmen Tages. Welcher vernünftige Mensch würde ein solches Schicksal einem ehrlichen Tod vorziehen? Hört nicht auf jene, die euch versichern, dass spätere Generationen von Zauberern sowohl über Weisheit als auch Urteilsfähigkeit verfügen. Bleibt wachsam, damit fehlgeleitete Rührseligkeit über diese archaische Zauberkunst niemanden dazu verführt zu denken, Magie gleichwelcher Natur hätte in unseren erleuchteten Zeiten etwas zu sagen.
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Suthyfer, Westlicher Zugang 18. Nachfrühling
Die Inseln erhoben sich erschreckend abrupt aus dem endlosen Ozean, scharfe Kämme, die aus dem Wasser ragten. In kürzerer Entfernung sah man baumbestandene Hügel, die sich trotzig unter den unendlich blauen Himmel kauerten, steile Bollwerke unter dicht gedrängten Rücken, die nur widerstrebend dem allumfassenden Meer einen Hauch von Strand überließen. Das Meer entsprach dieser Knauserigkeit mit einem kümmerlichen Band aus Gischt, mageren Wellen, die lustlose weiße Wogen in die Höhe schoben, ehe sie sich wieder in die funkelnden Tiefen zurückzogen. Kein Anzeichen von Riffen bedrohte das Schiff, das die kleineren Inselchen mied und auf die schmale Enge zuhielt, die zwischen zwei smaragdgrünen Vorsprüngen gerade noch sichtbar war. Unbehindert dahintreibende Wolken warfen Licht und Schatten auf ruheloses Wasser, das bereits vor flüchtigen Schatten schimmerte, wie Fische, die vor neugierigen Blicken davonschossen. Die Insel voraus bot ein leidenschaftsloses Mosaik aus Grüntönen, unbeeinträchtigt von dem steten Wind, der das sich rasch nähernde Schiff ans Ufer trug. Robuste Bäume trugen gedecktere Farbtöne unter den üppigen Tönen von neuem Wachstum und Unterholz, reglose Muster, die von dem dunklen, bemoosten Rücken der hohen Gipfel eingerahmt wurden. Der Wind drehte, und die feuchten, erdigen Düfte übertönten für kurze Zeit das beißende Salz des Seewindes, und die Schreie der Seevögel durchdrangen das Knirschen und Knattern von 110
Rigg und Segeln. »Ich werde so froh sein, wenn wir landen!« »Das kommt wohl von Herzen, Parrail.« Der Mann, der sich an die Reling des Schiffes klammerte, begrüßte den neu Angekommenen mit einem schwachen Lächeln. »Naldeth, guten Tag.« »Seid gegrüßt, meine Herren, aber macht den Weg frei.« Ein Seemann eilte geschickt barfüßig über das schwankende Deck, trotz seines ärmellosen Hemdes und der zerissenen knielangen Hosen ungerührt von dem kalten Wind. »Könnt Ihr nicht mit dem Rest der Passagiere unter Deck bleiben?« Er wartete nicht auf eine Antwort, ehe er die leiterartigen Taue hinaufkletterte, die von der Reling zum Krähennest führten, an dem der obere Teil des Mastes fest mit dem unteren Stück verbunden war. Parrail sah Naldeth besorgt an. »Ich glaub, das wage ich nicht.« »Hier rüber.« Naldeth ging voran zu einem Stapel sicher verschnürter Ladung. Er blickte misstrauisch zu den Seeleuten, die geschickt die cremeweißen Segel neu einstellten, die sich an dem hohen, rahgetakelten Groß- und Vormast der Seebarsch blähten. »Noch immer keine Seebeine?« »Es handelt sich weniger um meine Beine als um meinen Magen.« Parrail setzte sich zögernd und hob den Kopf, um an den ganzen Tauen und Seilzügen vorbeizusehen. »Es ist besser, wenn ich den Horizont sehen kann. Das hat mir einer der Seeleute gesagt.« »Ich tue, was ich kann, damit das Schiff aufrecht bleibt«, sagte Naldeth leichthin. Parrail brachte ein schwaches Lächeln zustande. »Ich danke Euch, Meister Magus.« 111
»Es ist mir ein Vergnügen, Meister Gelehrter.« Naldeth machte den komischen Versuch einer Verbeugung im Sitzen. Er lehnte sich gegen das verhüllte Bündel Leinwand, hinter dem sich das Beiboot des Schiffes verbarg, und gähnte ausgiebig, ehe er sich umsah. Lebhaftigkeit und Intelligenz verliehen dem ansonsten unscheinbaren Gesicht Charakter. »Diese Reise hat mich gelehrt, wie viel ich über das Wirken des Wassers noch nicht weiß, aber die Winde waren günstig, deshalb glaube ich nicht, dass wir allzu viel Zeit verloren haben.« »Dastennin sei Dank.« Parrails Inbrunst hatte wenig mit Verehrung für den Meeresgott zu tun. Er war ungefähr im gleichen Alter wie der Magier, doch der Gelehrte sah trotzdem entschieden jünger aus, dank seiner Stupsnase, den jungenhaften Zügen und dem drahtigen braunen Haar, das vom Wind zerzaust war. Naldeth klopfte müßig mit einem Fuß auf die dicht aneinander gefügten Eichenplanken. »Meister Gede sagte, wir sollten uns vor Anker legen und zum Mittagessen ans Ufer gehen.« Er lachte. »Ich nehme an, du wolltest kein Frühstück?« Parrail holte tief Luft. »Nein, danke, und ich würde auch lieber nicht vom Essen reden.« Er zupfte geistesabwesend an den Verschlussbändern seines einfachen Leinenhemdes, das er unter einem schlichten Wams aus grobem Tuch trug. »Tut mir Leid.« Naldeth blickte zu dem Heckaufbau des Schiffes hinauf, wo der Kapitän und die Offiziere entschlossen im Kreis vor dem lateingetakelten Achtermast standen. Sie trennten sich, jeder glitt geschickt die leiterartige Treppe hinunter, um sich der ihm zugeteilten Aufgabe zu widmen. Der Kapitän blieb zurück und spähte voraus, während er mit dem Steuermann redete, dessen kräftige Hände die Pinne umschlossen, die das große Ruder des Schiffes bewegte. Der Kapitän war 112
hoch gewachsen, das silbergraue Haar stand in Kontrast zu den noch immer schwarzen Augenbrauen, die fast zusammenstießen in dem finsteren Blick, den jahrelanges Spähen gegen Sonne und Wind in sein wettergegerbtes Gesicht eingegraben hatten. Er trug weiche Halbstiefel und lange Hosen aus einfachem blauem Tuch, darüber ein bequem weit geschnittenes Hemd, ganz ähnlich denen, wie sie Zauberer und Gelehrte trugen. Während Naldeth sich für das Lederwams entschieden hatte, das auch die Hälfte der Besatzung trug, bewahrte der Kapitän seinen Rang mit einem ärmellosen Mantel aus warmer grauer Wolle, den er mit einem Lederriemen mit schöner Messingschnalle zusammenhielt, in dem Werkzeuge steckten. »Heißt nun nur diese Insel Suthyfer oder die ganze Gruppe?«, fragte Parrail mehr um der Ablenkung willen als um einer Antwort. Naldeth antwortete trotzdem. »Ich glaube, die ganze Gruppe. Ich denke nicht, dass die einzelnen Inseln überhaupt schon benannt sind. Ich bin mir nicht sicher, ob überhaupt schon mal jemand hier gelandet ist, um sie ordentlich zu erforschen.« Seine haselnussbraunen Augen leuchteten vor Neugier, weil die ständig näher rückende größte Insel nun direkt voraus lag. »Aber wer es auch tut, sollte wenigstens einen Felsbrocken nach sich selbst benennen, was meinst du? Das wäre doch was.« »Möchtest du das gern?«, fragte Parrail. Naldeth war sichtlich perplex. »Nein, ich will nach Kellarin.« Parrail zögerte. »Als wir das letzte Mal da waren, schienst du nicht sonderlich gut auf die Kolonie zu sprechen zu sein.« »Ich war froh, als ich sie hinter mir ließ.« Ein Stirnrunzeln verdunkelte Naldeths fröhliches Gesicht. »Ich hatte noch nie gesehen, wie Menschen getötet wurden. Ich meine, Menschen 113
sterben zwar, ja? Poldrion wirft die Runen, aber wenn es Menschen sind, die du kennst ...« Er schwieg einen Augenblick, sein Gesicht wirkte verwundbar. »Es tut mir Leid. Ich weiß, du hast auch Freunde verloren.« »Ich will Kellarin um seiner selbst willen helfen.« Parrails unbedachte Erwiderung war zwar kein Tadel, doch Naldeths rasche Entgegnung kam einer Rechtfertigung gleich. »Ich hatte so viel getan, wie ich konnte, oder nicht? Ich dachte, ich brächte am besten das, was ich gelernt hatte, zurück nach Hadrumal. Der Erzmagus und die anderen Zauberer sind lange vor mir aufgebrochen.« Aber Parrails sanfte braune Augen blickten nach innen auf lange zurückliegenden Kummer. Eine verlegene Stimmung hing zwischen den beiden jungen Männern, als die aufmunternden oder warnenden Rufe der Seeleute über das Schiff hallten. Die Hügel kamen näher. Manöver mit Tauen und Rigg wurden von gebellten Befehlen vom Achterdeck unterstrichen und dem Knattern gehorsamer Leinwand. Die Enge zwischen der Hauptinsel und der kleineren Nachbarinsel wob ein silbernes Band zwischen den grünen Ufern. Weiße Vögel schossen auf die Seebarsch zu, kreisten über ihrem Kielwasser und stießen laute, neugierige Schreie aus. »Wann bist du nach Vanam zurückgegangen?« Naldeths Frage enthielt den Hauch einer Anschuldigung. Parrail riss seine Gedanken in die Gegenwart zurück. »Im Vorherbst letztes Jahr, kurz nachdem du abgereist warst. Wir waren rechtzeitig zum Äquinoktium in Zyoutessela, und ich war mitten im Vorwinter wieder in Vanam. Ich habe geschworen, nie mehr einen Fuß auf ein Schiff zu setzen.« Er schauderte, ehe seine Miene sich wieder aufhellte. »Aber Mentor Tonin 114
hat mich überredet. Ich nehme an, du bist auch auf dem Weg, um dich mit Demoiselle Guinalle zu beraten? Ich hörte, dass Usara und diese Frau mit dem Waldblut, Livak, sich auf die Suche nach Ätherwissen gemacht haben. Hat er wirklich einen Zauberkunstkundigen aus den Bergen nach Hadrumal gebracht?« »Ja, eine Frau namens Aritane, aber ich habe damit nichts zu tun.« Naldeth wirkte überrascht. »Ich helfe nur dabei, dieses Schiff auf Kurs zu halten. Ich möchte gern sehen, was es in Kellarin zu tun gibt. Ich habe eine Affinität zu Feuer, und wie ich höre, planen die Bergarbeiter von Edisgesset, in diesem Jahr mit dem Feinen anzufangen.« Er grinste. »Aber du darfst die Demoiselle gern umwerben, wenn du willst.« »Ich habe nicht die Absicht, jemanden zu umwerben.« Parrail versuchte, seine Verärgerung mit Würde zu überdecken. »Ich dachte, du arbeitest auf Befehl des Erzmagiers.« »Erst wenn ich einer der letzten drei Magier bin, die noch auf den Beinen sind, und die Elietimm-Hexer jeden anderen aus dem Spiel geworfen haben. In Hadrumal bin ich nichts weiter als ein kleiner Fisch in einem vollen Teich.« Die Enttäuschung ließ Naldeths lässige Antwort gezwungen klingen. Parrail nickte. »Ich weiß, was du meinst.« »Ich dachte, in Kellarin könnte ich größere Spritzer machen.« Naldeths gesprächige Natur gewann die Oberhand über den Impuls, verschwiegen zu sein. »Es ist ja schön und gut, endlos über Theorie und Vermutungen zu debattieren, aber es ist auch schön, wenn einfache Leute sich über deine Hilfe freuen und dich nicht anstarren, als hättest du zwei Köpfe, wenn du dich erbietest, ihnen das nasse Holz anzuzünden.« Er hätte noch mehr gesagt, aber die Rufe der Seeleute wur115
den drängender. Meister Gede bellte ein plötzliches Kommando, und die Seebarsch schwang unter Segelgeknatter herum und schoss in den Sund. Das kabbelige Wasser des offenen Meeres wich ruhigeren Gewässern zwischen den beiden Inseln, spiegelglatt, wo sie die strahlende Sonne reflektierten, kristallklar in den Höhlungen eines Riffs, dessen dunkle Grate unter der Oberfläche gerade noch sichtbar waren. Naldeth beäugte die vorbeieilenden Seeleute wachsam, ehe er Parreil an die Reling drängte. »Wir wollen uns diesen Ort mal ansehen!« Das Schiff folgte der Biegung des Ufers an einem vorspringenden Kliff vorbei. Unter einer Senke in den Hügeln ein Stück voraus bot eine kiesige Landzunge einen ruhigen Ankerplatz. Das Ufer der kleineren Insel war zerklüftet und barg kleine Buchten, hinter denen das Land in grünen Wellen anstieg. Parrail schnüffelte. »Wird da Fleisch geräuchert?« »Sie haben es geschafft!« Erstaunt deutete Naldeth auf ein Schiff, das auf dem Strand lag, die Masten schief, da die ablaufende Flut ihm den Halt nahm. Es hatte den gleichen lang gestreckten Rumpf wie die Seebarsch, geeignet für offene Küstengewässer, mit Rahsegeln an Vor- und Großmast, flachem Bugund Heckaufbau nach neuestem Stil und mit einer umlaufenden Brüstung, die niedrig war, um das Beladen und Löschen des geräumigen Laderaums zu erleichtern. »Den Harkeils Schiff?« Parrail kniff die Augen zusammen, sah aber keine Flaggen. »Kann ich nicht sagen.« Naldeth schüttelte den Kopf, sichtlich verärgert. »Nur weil die hier Glück hatten, heißt das noch lange nicht, dass andere das auch haben.« Parrail suchte einen besseren Blickwinkel. »Vielleicht ist es 116
ein Schiff aus Kellarin?« »Segel ho!« Als sie bei dem Ruf aufsahen, sahen sie den Ausguck im Krähennest nach achtern deuten. »Noch ein Schiff?«, wunderte sich Naldeth laut. »Meister Magus, Meister Gelehrter!« Der heisere Ruf des Kapitäns ließ sie zum Achterdeck eilen. »Hat einer von euch von anderen Schiffen gewusst?«, verlangte Meister Gede zu wissen, als Naldeth bei ihm ankam. »Niemand hat mich informiert.« Naldeth schüttelte den Kopf. »Nichts aus Bremilayne?« Gede spähte nach achtern, um den Neuankömmling zu identifizieren. Das Schiff war etwa um ein Viertel länger als die Seebarsch, mit denselben lang gestreckten Linien, und trug eine gewaltige Segelfläche, ausgelegt auf Geschwindigkeit und Angriff. Vor- und Achtermast trugen je drei Segel im Gegensatz zu den zweien der Seebarsch, wobei die Klüversegel und die zwei lateingetakelten Besanmasten auf dem Achterdeck noch nicht mitgezählt waren. Feine Schnitzereien schmückten Reling und Dollbord, und die Galeonsfigur am Bug war in Form eines bedrohlichen Hais geschnitzt. Als es näher kam, war der dick gemalte Name darunter deutlich zu lesen: Dornhai. »Meister Parrail?« »Ich habe nichts gehört, aber Zauberkunst funktioniert nicht immer über das Meer hinweg«, erläuterte Parrail hastig seine Antwort. »Achtung, Segel voraus!« Gede schätzte die Geschwindigkeit des sich rasch von hinten nähernden Schiffes ab, ehe er nach vorn sah, wo ein zweites Schiff aus der Deckung hinter einer Biegung der Küste auftauchte. Das neue Schiff hätte nach denselben Plänen gebaut sein können wie die Dornhai, doch ein strengerer Schiffszim117
merer hatte die schlichte Reling entworfen, die Krähennest und Decksaufbauten umgab. Der Bug war schmucklos bis auf einen Messingspieß und den geschnitzten und schwarz gemalten Namen Stachelrochen. »Bei Dasts Zähnen, das ist eine gottverdammte Falle!«, fauchte Gede. »Wir können kaum steuern, so langsam, wie wir sind«, zischte der Steuermann und bewegte probehalber seine Pinne mit ledergegerbter Hand. »Alle Segel setzen!«, bellte Gede. »Zauberer, mach uns Wind!« »Flagge achteraus!« Der Ausguck klammerte sich in gefährlichem Winkel ans Stag. Als die Dornhai ein leuchtend rotes Banner am Großmast hisste, antwortete die Stachelrochen mit demselben Zeichen. »Das ist kein tormalinisches Wappen«, sagte Parrail zweifelnd. »Wer hisst schon Schlangenflaggen?« »Piraten«, sagte der Kapitän voller Abscheu. Er kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen, um den Kurs der Stachelrochen abzuschätzen, die ihnen offenbar den Weg abschneiden wollte. Naldeth wandte den Blick nicht von einem Funken blauen Lichtes, den er zwischen seinen Händen hielt. Er nahm die Hände etwas weiter auseinander, und das Licht schwoll an zu einer schimmernden Kugel, azurblau, durchwoben mit einer gleißenden Helligkeit, die dem Auge wehtat. »So schnell du kannst, Zauberer.« Der Steuermann blickte über die Schulter, als die Segel der Dornhai ihnen das bisschen Wind nahmen, auf das die Seebarsch zwischen den Inseln hoffen konnte. Der Ausguck schrie vor Angst und Wut auf, als ein Hagel von Pfeilen auf die Segel der Seebarsch niederging. Mehrere 118
Seeleute schrien auf, sie bluteten an Armen oder Beinen. Ein Unglücklicher schlug dumpf auf dem Deck auf, schreiend zerrte er an einem Pfeil, der ihm aus dem Bauch ragte. Parrail riss Naldeth von den Füßen. Dem Magier blieb seine Verwünschung im Halse stecken, als er die glänzenden Pfeilspitzen sah, die sich tief in die Planken bohrten, wo er gerade noch gestanden hatte. Meister Gede zerrte den Steuermann unter den unzureichenden Schutz der Heckreling. Der Mann erstickte an seinem eigenen Blut, ein Pfeil steckte tief in seiner Brust. Schockiert zerstob Naldeths Magie in ungezielten schwächlichen Windstößen. Meister Gede kauerte auf einem Knie neben der Pinne, den anderen Fuß fest verankert, mit ruhiger Hand. »Wir brauchen Wind, Meister Magus.« »Kannst du sie mit Wasser aufhalten?« Parrails Stimme zitterte. »Das ist zu gegensätzlich.« Naldeth mühte sich, die Hände ruhig zu halten, als ein schwaches saphirblaues Glühen die Luft zwischen ihnen überzog. Er hatte es schon einmal geschafft, ermahnte er sich. Wenn er jemals an Kalion oder Otrick herankommen wollte, musste er mit Herausforderungen wie diesen fertig werden. Falls er so lange lebte. Ein zweiter tödlicher Hagel von Pfeilen kam aus der Takelage des verfolgenden Schiffes. »Sie suchen nach magischem Licht!« Parrail kauerte im Heck und versuchte dem Steuermann zu helfen. »Verdammt!« Schiere Macht barst aus Naldeths Händen. Im letzten Moment gelang es ihm, sie den Großmast hochzujagen, und die Seebarsch machte einen Satz, als sich die Segel plötzlich blähten und das Schiff durchs Wasser zerrten. 119
»Achtung, Felsen!« Ein Seemann hoch auf dem Fockmast deutete drängend zu einer Seite. »Achtung, Boote!« Der Schrei kam aus der Schiffsmitte, wo panische Seeleute voraus und nach achtern zeigten. Eine Flotille von Langbooten schoss aus den verborgenen Buchten der kleineren Insel, wo sie auf der Lauer gelegen und auf das Signal der Stachelrochen gewartet hatten. Parrail riskierte einen Blick über die Heckreling und sah ein zweites hungriges Rudel beiderseits der Dornhai auftauchen. Schwitzende Ruderer legten sich in die Riemen, die Boote waren voller mit Schwertern bewaffneter Seeräuber. In jedem Bug schwang ein Mann bedrohlich einen Enterhaken. Naldeths Gesicht verzerrte sich, als er darum kämpfte, die heftigen Windströmungen zu beherrschen, die an ihm rissen. Lebhafte magische Funken umwirbelten ihn, doch endlich blähte ein beständiger Wind die Segel der Seebarsch. Die Piraten achtern stießen Verwünschungen aus, als das Schiff davonzog, da der magische Wind stärker war als die hart kämpfenden Männer an den Rudern. Von vorn ertönten einen Augenblick später Warnrufe unter dem Bug, die in dem Splittern von Holz ertranken. Gede schüttelte den Kopf in Richtung Naldeth. »Aufhören, sonst rammen wir sie!« Die Stachelrochen lag direkt voraus, längs der Reling hingen die Piraten. Ihr Kapitän steuerte direkt in den Kurs der Seebarsch, voller Zuversicht, dass sein schwerer Rumpf dem Aufprall widerstehen würde. »Was soll ich tun?« Naldeth war wie gelähmt vor Unschlüssigkeit. »Hilf mir, sie zu wenden!« Gede mühte sich, sein Schiff an 120
dem Heck der räuberischen Piraten vorbeizusteuern. Parrail kauerte unter der Reling und versuchte, die Wunde des Steuermanns zu stillen. »Zistra feydra en al dret.« Seine Stimme bebte, als er versuchte, den Zauber zu wirken. Der Steuermann hustete hellrotes Blut und tat einen tiefen schaudernden Atemzug, ehe er unter Parrails Händen erschlaffte. Längsseits des Schiffes krachte es dumpf. Die Langboote hatten die Seebarsch erreicht. Piraten warfen ihre Enterhaken mit geübter Präzision, und für jedes Tau, das ein verzweifelter Seemann kappte, gruben sich zwei andere mit Eisenklauen durch das Gewicht der Männer, die von unten herauf kletterten tief ins Holz. Die Piraten schwärmten über die Reling. Ihre Segeltuchjacken waren mit Pech getränkt, um die wenigen Klingen abzuwehren, die die Seeleute aufbringen konnten. Sobald sie an Deck waren, zogen die Seeräuber mit jeder Hand Kurzschwerter oder Dolche, deren Hefte mit bronzenen Noppen besetzt waren, um brutal zuschlagen zu können, wenn im dichten Gedränge kein Platz mehr war, um eine Klinge zu benutzen. »Zistrafeydra en ...« Parrail blieb sein Zauber im Hals stecken, als ein Enterhaken über die Reling geflogen kam und einen Seemann traf, der am Niedergang zum Achterdeck stand. Der Mann schrie auf, als rasiermesserscharfe Spitzen ihm Gesicht und Brust aufschlitzten. Reiner Instinkt ließ loderndes Feuer in Naldeths ausgestreckten Händen entstehen. Er schleuderte es dem ersten Piraten ins Gesicht, der neben dem Schreienden seinen Fuß an Deck setzte. Dunkelrot vor Magie wickelten die Flammen den Piraten ein wie ein brüllender Hochofen. Sein Haar entflammte blitzartig, dann wurde der nackte Skalp schwarz und klaffte auf, das Gesicht darunter verzerrte sich in entsetztem Schock. Das rohe 121
Fleisch qualmte einen Atemzug lang, ehe das verzehrende Feuer den stummen Schrei des Mannes in das starre Grinsen eines Totenschädels verwandelte. Er fiel zu Boden, mit verkohltem Kopf und nackten Knochen, die Arme versengt und voller Blasen, die gestiefelten Beine unversehrt. Funken ergriffen das Pech in seiner rauchenden Jacke, und das magische Feuer leckte gierig über das Deck, ohne es dabei auch nur zu versengen. Es sprang auf den Enterhaken, zerschmolz ihn zu einem formlosen Klumpen, ehe es das Tau verzehrte, auf der Suche nach frischen Opfern in dem Boot unten. Unsichtbare Schreie erklangen über dem ohrenbetäubenden Getöse des wütenden Kampfes an Bord. »Zauberer, hierher!« Meister Gede deutete auf ein neues Segel. Ein gaffelgetakeltes Schiff, flink und manövrierfähig, schoss über den Ankergrund. Es hatte kaum zwei Drittel der Länge der Seebarsch, der einzige Mast trug dreieckige Vorsegel, die am Bugspriet und wieder zurück geführt wurden, um die Segel killen zu lassen und das Schiff um die eigene Achse zu drehen. Das viereckige Toppsegel sowie das Stagsegel am Großmast trieben das Schiff voran, und eine grellrote Flagge wehte von der Mastspitze, mit einer sich windenden schwarzen Schlange darauf. Völlig außer sich, schnappte Naldeth nach der aufgewühlten Luft ringsum, doch ein Hagel von Wurfschrot schlug ihn grün und blau. Er wob verzweifelt einen zerbrechlichen Schild, doch es war zu spät, Meister Gede lag am Boden und blutete aus einer Platzwunde am Kopf, und die Seebarsch trieb ohne seine führende Hand verloren dahin. Parrail hatte sich übergeben, kämpfte sich jetzt aber auf Knien und Händen auf den Kapitän zu. Tränen rannen dem 122
Gelehrten übers Gesicht, doch er biss die Zähne zusammen und bewegte die Lippen in den gemessenen Silben eines Zaubers. Naldeth starrte wild nach mittschiffs, wo die Besatzung mit den Piraten focht, die von allen Seiten an Bord schwärmten. Gedes Bootsmann ging unter einer zischenden Klinge zu Boden, der Schiffszimmerer neben ihm versuchte sich mit einem Belegnagel zu verteidigen, während er gleichzeitig die andere Hand seinem gestürzten Kameraden hinstreckte. Der Pirat hackte sie ihm vom Arm und hob die Waffe für den Todesstreich, doch der Seemann, der zuerst gefallen war, trat mit seinem letzten Atemzug noch einmal aus. Der einhändige Seemann zerschmetterte dem Piraten mit seinem massiven Stück Eichenholz das Gesicht zu blutigem Brei, doch ein weiterer Seeräuber hieb ihn nieder und trampelte, um Halt zu finden, gleichermaßen auf Freund und Feind herum. »Nis tal eld arfen.« Parrail wischte sich Galle vom Kinn. Er kniete neben Meister Gede, aber seine Augen waren auf den mörderischen Piraten unter ihm gerichtet. Der Mann schrie und schlug die Hände vors Gesicht, das Schwert vergessen, während er kehrtmachte und sich die Augen rieb. »Ich habe ihn!«, jubelte Naldeth. Er zog einen Lichtstrahl aus dem Wirrwarr von grauen und weißen Wolken über ihm und versengte den Mann zu Tode, doch ein blaues Echo seiner Magie zuckte um ihn und zog mehrere Pfeile an. Schlimmer noch, die Piraten unten setzten sich gemeinsam zum Achterdeck hin in Bewegung. Parrail zerrte den Magier an der Tunika. Er holte tief Luft und sprach dann sehr sorgfältig eine Beschwörung. Naldeth war einfach wie gelähmt vor Angst, bis er sah, dass die Piraten, die ihm ans Leder wollten, stehen geblieben waren, verwirrt wie ein 123
Rudel Spürhunde, das seine Fährte verloren hatte. Die Gesichter, die dem Achterdeck zugewandt waren, schienen direkt durch ihn hindurchzusehen. Parrails Augen wirkten hohl vor Bestürzung. »Was machen wir jetzt?« »Halt fest.« Naldeth hielt ihm eine zitternde Hand entgegen und hoffte, dass er seine plötzliche Eingebung umsetzen konnte. Parrail griff danach wie ein Ertrinkender. »Aber Meister Gede ...« Zu spät. Eine blaue Kraftspirale fesselte seine Arme an die Seiten, seine Füße verließen das Deck einen Augenblick lang, bevor er in die Dunkelheit stürzte. Parrail stöhnte vor Übelkeit, als sein malträtierter Magen sich wieder entleeren wollte. Dann merkte er, dass sie in der Dämmerung unter Deck waren. Panische Stimmen erklangen in dem großen Raum, in dem diejenigen, die auf ein Leben in Kellarin hofften, die langen Tage auf See inmitten ihrer Hängematten und den Truhen mit ihren kostbaren Habseligkeiten verbracht hatten. »Was ist los?«, fragte ein Mann. »Piraten!«, antwortete Naldeth voller Angst. »Sie bringen alle um!« Die Bestürzung, die dies hervorrief, drohte in reine Hysterie umzuschlagen, doch wenige Augenblicke später verfiel alles in Schweigen, als eine Luke am anderen Ende des Decks zu den weißen und verängstigten Gesichtern geöffnet wurde. »Raus!« Ein dunkler Gidestaner winkte mit einem blutbefleckten Handschuh. Der unglückliche Junge am Fuße der Leiter blickte Hilfe suchend um sich, doch alle senkten den Blick. 124
»Raus, alle miteinander!«, rief der Gidestaner drohend. Der Junge kletterte langsam die Leiter hinauf und jaulte auf, als er fast oben war und unerwartete Hände ihn förmlich durch die Luke rissen. »Und der Rest auch!« Das bisschen Geduld, das der Gidestaner hatte, war offenbar erschöpft. Ein anderer wurde halb geschoben, halb die Leiter hinaufgedrängt, und andere folgten. Eine Woge von Menschen spülte Naldeth und Parrail näher an den Strahl erbarmungslosen Tageslichtes, umgeben von angstvollem Gewimmer und abgehackten, furchtsamen Atemzügen. »Keine Magie und keine Zauber.« Parrail grub schmerzhaft seine Fingernägel in Naldeths Arm, als der Zauberer den Mund öffnete. »Wir müssen lange genug am Leben bleiben, um Hadrumal oder sonst wen zu benachrichtigen.« Die beiden wurden zur Leiter gedrängt und hatten keine andere Wahl als zu klettern, erst Parrail, dicht hinter ihm Naldeth. Sie krabbelten an Deck, raue Hände schubsten sie zu der reglosen Menge, die sich um den Großmast scharte. Die einfachen Leute mit den ehrlichen Gesichtern von Handwerkern oder Bauern kauerten sich zusammen und beobachteten, wie die Piraten gleichgültig die Leichen der Erschlagenen über Bord warfen. Parrail erkannte den Segelmacher des Schiffes, den Steuermann und einen Bauern aus Dalasor, an dessen Namen er sich nicht erinnern konnte. Einige starrten mit weit aufgerissenen Augen zum Vorschiff, wo ein Pirat mit nacktem Oberkörper die verbliebenen Seeleute fesselte. Einige wehrten sich gegen die Piraten, die sie festhielten, doch die Meisten gehorchten mürrisch. Einem Mann jedoch gelang es, sich zu befreien. Er schlug wild um sich, schickte 125
einen zu Boden und trat dem nächsten in die Leisten, wobei er eine unverständliche Verwünschung ausstieß. Der Trotz erstarb auf seinen Lippen, als der barbrüstige Mann ihm den Hinterkopf mit einer Eisenstange zerschmetterte. Er packte in das blutdurchtränkte lockige Haar und hielt den Toten hoch, um Seeleute wie Passagiere gleichermaßen zu warnen. »So geht's jedem, der Ärger macht!« Naldeth wurde übel beim Anblick des verformten Kopfes, der weißen Knochen, die aus grauer Masse und Blut ragten. Er schluckte schwer, und sein Entsetzen verblasste unerwartet angesichts verzweifelter Stille, als er sich zwang, seine Lage zu überdenken. Zumindest waren er und Parrail weitgehend so gekleidet wie die anderen Passagiere. Zum ersten Mal seit seiner Kindheit schickte er ein Dankgebet an Saedrin. Die schicken Gewänder und leuchtenden Farben, die in Hadrumal modisch waren, hätten ihn hier sofort als Magier verraten. Als die widerstandslosen Seeleute nun gefesselt waren, gingen die Piraten zwischen den Gefangenen umher, schnitten Messer und Börsen von Gürteln, rissen die wenigen Schmuckstücke, die sichtbar waren, von Hälsen und Handgelenken und warfen die gesamte Beute in einen schlichten Weidenkorb, der einst eine Hausfrau auf den Markt begleitet hatte. »Deine Ringe.« Einer deutete mit einem blutigen Messer und einem boshaften Grinsen auf dem unterernährten Gesicht auf die goldberingten Finger eines Freibauern. »Nimm sie ab, sonst schneid ich sie ab.« Naldeth leistete keinen Widerstand, als grobe Hände sein Wams und seine Hosentaschen durchwühlten und seine Geldbörse von der Kordel gerissen wurde, an dem er sie unter dem Hemd trug. Dann griff der Mann mit dem Rattengesicht nach 126
Parrails Hand. »Der Ring«, befahl der Seeräuber. Parrails verschreckter Gesichtsausdruck unterschied sich kaum von dem der anderen, doch Naldeth sah den zusätzlichen Schmerz in den Augen des Gelehrten, als er das silberne Emblem Vanams herausgab, das mühsam verdiente Symbol langer Jahre des Studiums und der Selbstverleugnung. Dadurch abgelenkt, merkte der Magier erst langsam, warum alle anderen plötzlich schwiegen. Alle Piraten standen aufrecht Und bereit, das Gesicht der gegenüberliegenden Reling zugewandt. Naldeth sah den Mast des Schiffes, dem er nicht mit Magie hatte schaden können. Die Schlangenfahne wehte spöttisch im Wind. Ein Mann, größer als alle, die Naldeth je gesehen hatte, kletterte mit einer Geschmeidigkeit über die Reling, die seine Massigkeit Lügen strafte. Die Piraten stießen ein lautes Jubeln aus, trampelten mit den Stiefeln und stießen die Klingen aneinander in rauer Feier. Der hoch gewachsene Mann machte eine hoheitsvolle Handbewegung als Gruß an die Menschen auf dem Vorschiff, und Naldeth merkte, dass ihm der kleine Finger an der Schwerthand fehlte. Er hatte schwarzes, gelocktes Haar, so lang, dass es ihm bis über die Schultern gefallen wäre, hätte er es nicht zu einem straffen Knoten gebunden. Die Schultern wirkten breit genug, um jede Last zu tragen, doch der Mann war gekleidet wie ein Edelmann, der sich nie die Hände schmutzig zu machen brauchte. Als er sich umdrehte, um seine Anerkennung mit den Piraten zu teilen, sah Naldeth, wie ein erfreutes Lächeln die Fältchen vertiefte, die sich um seine Augen zogen. Er war ein Mann in der Blüte seines Lebens, mit weißen Zähnen und einem ordent127
lich gestutzten Bart, der nur einen Hauch von Grau aufwies. »Gut gemacht, Jungs. Und jetzt, schsch.« Seine Stimme war tragend und volltönend und passte gut zu seiner fassförmigen Brust. Der Pirat ging auf die verschreckten Kolonisten zu. Achtlos stieß er mit seinen polierten Stiefeln einen blutigen Leichnam beiseite. »Guten Tag euch allen.« Er verbeugte sich tief mit demonstrativer Höflichkeit. »Ich heiße Muredarch, und ich bin der Anführer dieser –« Er lächelte wild. »Wir sind Piraten. Ihr seid Gefangene, wenngleich ihr da noch eine Wahl habt. Wir nehmen alles, was wir auf diesem Schiff finden, an uns. Da habt ihr keine Wahl.« Er grinste über die erstickten Proteste. »Aber wir teilen gerecht, weil das die Art und Weise ist, wie wir in meiner Flotte handeln. Wenn ihr einen Anteil wollt, müsst ihr mir nur Treue schwören und tun, was ich sage, bis ich etwas anderes sage. Wenn ihr eine Begabung für unser Leben zeigt, werdet ihr feststellen, dass es sich auszahlt. Herkunft zählt bei uns nichts, Können jedoch viel.« Er fuhr sich lässig mit der Hand über die meerblaue Tunika aus besticktem Samt mit silbernem Gürtel, der Wind zauste die Batistärmel seines Hemdes. »Ich verspreche kein langes Leben, aber bei allem, was heilig ist, es ist ein lustiges Leben, so lange es dauert. Wir nehmen uns unser Vergnügen ebenso ohne Umschweife wie wir plündern«, fuhr er fröhlich fort. »Wein, Weiber, gutes Essen, und wenn ihr verletzt seid, sorgen wir dafür, dass sich ein Arzt um euch kümmert und ihr gut behandelt werdet. Falls ihr kampfunfähig werdet, lassen wir euch nicht fallen, es gibt immer genug zu tun, wofür man kein Schwert braucht. Wenn ihr mir genug Beute eingebracht habt, um dafür zu bezahlen, dass ich euer Leben schone, seid ihr frei zu gehen, 128
mit allem, was ihr euch zusammengespart habt. Aber die Meisten bleiben und werden noch reicher.« Seine untergebenen Piraten, die an seinen Lippen hingen, lachten, doch Naldeth hörte echte Fröhlichkeit, nicht die erwartete Speichelleckerei, und das bereitete ihm noch mehr Sorgen. »Ihr Damen könnt für uns arbeiten, wie es euch beliebt.« Muredarch wandte sich mit ernstem Gesicht an eine Mutter, die ihre Tochter umklammerte, die gerade zu einem jungen Mädchen erblühte. »Kein Mann wird euch gegen euren Willen nehmen, ohne dafür kastriert zu werden. Gewährt eure Gunst und lasst euch dafür bezahlen, oder verdient euren Lebensunterhalt mit Kochen, Waschen und Krankenpflege.« Er zuckte die Achseln. »Oder ihr leistet euren Eid mit den Männern, schreibt euch in die Rolle ein und verdient euren eigenen Anteil. Wo ist Otalin?« Die Piraten stimmten beifällige Rufe an, als einer aus dem blutbesprenkelten Quartett auf dem Vorschiff vortrat. »Wir verbannen Frauen nicht ans Feuer und an den Spinnrocken, wenn sie dafür nichts übrig haben.« Otalin rief den gefesselten Seeleuten höhnisch etwas zu und bewies ihre Weiblichkeit, indem sie Wams und Hemd aufriss, um ihre Brüste zu entblößen. Naldeth kam zu dem Schluss, dass es die unerotischste Zurschaustellung war, die er je gesehen hatte. Muredarch klatschte in die Hände, worauf sofort Stille eintrat. »Jeder, der die Flotte in Gefahr bringt, stirbt dafür. Jeder, der einen Streit an Bord anzettelt, hängt dafür«, sagte er mit ruhiger Drohung. »Ihr könnt eine Fehde an Land blutig beilegen, solange ihr niemanden anders mit hineinzieht. Wenn ihr nach unseren Regeln leben könnt, werdet ihr mehr Gold verdienen, als ihr euch je erträumt habt. Wenn nicht, nehmen wir 129
den Preis für euer Leben in Form von Arbeit, aber ich warne euch, das ist der längste Weg, um sich die Freiheit zu verdienen. Der schnellste Weg hinaus ist, nicht zu arbeiten, denn dann bekommt ihr nichts zu essen und sterbt früh genug. Wenn das eure Entscheidung ist, so sei es. Ihr habt bis zum Sonnenaufgang Zeit, darüber nachzudenken, und dann will ich von jedem Einzelnen eine Entscheidung.« Er drehte sich um und nickte den Piraten auf dem Achterschiff zu. »Bringt ihn her.« Naldeth hörte, wie Parrail scharf die Luft einzog, als Meister Gede die Leiter zum Deck hinuntergestoßen wurde. Er stürzte schwer, sein graues Haar war dunkel von verkrustetem Blut. Otalin sprang leichtfüßig neben ihn und riss ihn auf die Füße. Der Kapitän war blass, die Augen verschwollen, die Arme auf dem Rücken gefesselt. Er wirkte zittrig, doch entschlossen. »Guten Tag, Kapitän«, Muredarch neigte den Kopf, als Gleichgestellter. »Ich nehme an, du verstehst, dass du von jetzt ab zu meiner Flotte gehörst?« Er wartete nicht auf eine Antwort. »Ein Kapitän sollte immer bei seinem Schiff bleiben, nicht wahr? Ich tue immer mein Bestes, um dafür zu sorgen. Also musst du eine Entscheidung treffen.« »Pirat werden und ehrliche Menschen berauben?«, knurrte Gede mit Verachtung. »Niemals.« »Ich sagte, ihr habt bis morgen früh Zeit für eure Entscheidung.« Muredarch zeigte wieder sein wildes Lächeln. »Nein, ich muss dich noch etwas anderes fragen. Wer ist der Zauberer?« Gede starrte Muredarch mit ausdrucksloser Miene an. »Wer ist der Zauberer?«, wiederholte Muredarch, sanft und giftig. »Gib ihn auf. Er hat dir nicht viel Gutes eingebracht, oder?« 130
Naldeth hörte sein Herz so laut in seinem Kopf pochen, dass es ihn fast taub machte. Er konnte nicht mehr atmen, und seine Eingeweide verkrampften sich vor Angst. Gede schwieg weiter, die Augen nur auf den Piratenhäuptling gerichtet. Naldeth begriff, dass er nicht wagte, woanders hinzusehen, aus Angst, sich zu verraten. Betäubt vor Schock, wünschte er, er könne die Augen von dem abstoßenden Anblick wenden, doch er traute sich nicht, sich umzudrehen, um nicht dem anklagenden Blick eines anderen zu begegnen, einen Finger zu sehen, der auf ihn deutete und ihn damit diesem Rohling auslieferte. Seine Gedanken lösten sich in Elend und Entsetzen auf. Muredarch musterte Gede gespannt. »Nein, du wirst ihn nicht verraten, oder? Nicht ohne ein bisschen Überredungskunst. Aber ich halte mein Wort. Ich lasse dich bei deinem Schiff bleiben.« Die Piraten lachten, und Naldeth sah die raue Erwartung auf ihren Gesichtern. Otalin schubste Gede auf den Großmast zu, und die Passagiere wichen beunruhigt auseinander. Muredarch zog lässig einen der Dolche, die in seinem silberbeschlagenen Gürtel steckten, und der barbrüstige Mann sprang vom Vordeck hinunter. Er trug einen Hammer und scharfe Eisenspitzen, die so lang waren wie ein Unterarm. Muredarch schnitt Gedes Fesseln durch, doch zwei Piraten standen schon bereit, um seine Hände zu packen. Ihr Anführer trat beiseite, während die beiden Gedes Arme auf den Rücken bogen, hinter dem Mast zusammenführten und die Hände flach gegen das Holz legten. Auf Muredarchs Nicken hin trieb der Barbrüstige einen langen Bolzen durch Gedes Hand und nagelte ihn so an den Mast. Der Kapitän konnte nicht verhindern, dass sich ihm ein 131
Schmerzensschrei entrang. »Dast verfluche deine Saat!« Muredarch blieb ungerührt. »Zeig mir den Zauberer.« Gede schüttelte den Kopf und biss sich so hart auf die Lippen, dass ihm Blut übers Kinn rann. Muredarch nickte, und der zweite Bolzen wurde festgenagelt. Gedes Schrei wurde begleitet von Schluchzen und Stöhnen ringsum. »Zeig mir den Zauberer.« Doch Gede schwieg. Trotz des gequälten Murmelns um ihn herum gab Naldeth keinen Laut von sich. Er hätte es nicht einmal tun können, um sein Leben zu retten. Der Piratenhäuptling schüttelte bedauernd den Kopf, als Gede das Kinn auf die Brust sank. Er griff mit starken Fingern in das Haar des Seemanns und riss ihm den Kopf hoch. »Bis morgen.« Er wandte Gede den Rücken zu und ging ohne Eile zur Reling. »Bringt sie ans Ufer.« Er selbst sprang auf sein gaffelgetakeltes Schiff. Sobald Muredarch von Bord war, gerieten die Piraten in Bewegung und trieben die samt und sonders eingeschüchterten Passagiere mit Belegnägeln und der flachen Seite ihrer Klingen zusammen. Parrail erwischte Naldeth am Ellbogen und drängte den schockierten Magier vorwärts. Ein älterer Mann mit den fleckigen Händen eines Färbers warf ihnen unter zusammengezogenen Brauen einen furchtsamen Blick zu. Der Gelehrte musste selbst seine Angst herunterschlucken, den bitteren Geschmack im Mund, Schlund und Magen von Säure verätzt. Diese Leute würden sie doch gewiss nicht an diese Folterknechte verraten, nicht, wenn die Magie vielleicht ihre einzige Rettung war? Er senkte den Blick und konzentrierte sich darauf, sich mit der Menge zu bewegen, Naldeth in Bewegung zu hal132
ten, voller Angst, dass einer von ihnen beiden etwas tun könnte, um unwillkommene Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Die Piraten zählten ihre Gefangenen einfach in die wartenden Langboote ab wie Schafe. Der pockennarbige Rohling, der das Kommando führte, duldete keine Verzögerung. Die Frau mit der Tochter hielt an der Strickleiter inne, die vom Schiff hing, und auf sein Nicken hin schwangen zwei stämmige Seeräuber sie mitsamt der Leiter über Bord, wo sie wimmernd hängen blieb. Der Mann, der unten wartete, lachte, bis ihr kreisender Schuh ihn ins Gesicht traf. »Pass auf, was du tust, du tollpatschige Kuh!« Er griff in ihre Röcke und zerrte sie herunter, wobei hörbar Stoff zerriss. Wenn ein weiterer Pirat im Boot sie nicht am Arm gefasst hätte, wäre die Frau in das dunkle Wasser gefallen, aber sie war zu verängstigt, um zu merken, dass er sie nur retten wollte, und riss sich mit einem Schreckensschrei los. Der Mann lachte mit echtem Humor. »Meine Dame, ich will Euch gar nicht auf meinem Kerbholz.« »Nicht mal, wenn ich die Wahl hätte.« Der Pirat, der sich das geschundene Gesicht rieb, blickte zu den Beinen der Tochter hoch, die hilflos über ihm baumelte. Er packte sie an der Wade, und die Seeräuber oben ließen das Mädchen fallen. Der unten stehende Mann fuhr mit seiner rauen Hand an ihren Strümpfen hoch und unter ihre Röcke, während er sie mit dem anderen Arm um die Taille fasste. Das Mädchen versteifte sich in seiner Umarmung, und in ihrer Panik spie sie dem Piraten voll ins Gesicht. »Wie kannst du es wagen!« »Verzeihung, Gnädigste.« Er nahm seine Hände betont langsam weg, ein laszives Grinsen auf dem Gesicht. »Komm zu mir, 133
wenn du deine Meinung änderst.« Parrail und Naldeth wurden gegen die Reling geschoben. Der Gelehrte trat dem Magier hart gegen den Knöchel und sah, wie sich die Wahrnehmung von Schmerz durch den Schock brannte, der die Augen des Zauberers verschleierte. Parrail nickte zu der Strickleiter hin, und zu seiner Erleichterung brachte Naldeth es fertig, sich zum Langboot hinunterzuhangeln. Parrail packte mit zitternden Fingern die Sprossen, seine Nägel gruben sich in das geteerte Seil, und er versuchte, so schnell wie möglich nach unten zu gelangen, nicht so sehr aus Angst, er könne fallen, sondern vor den Folgen, wenn er es tat. »Das ist deine Ladung!« Der Pirat, auf dessen unrasierter Wange noch immer der Speichel glänzte, winkte dem Boot zu und befahl seine Männer an die Ruder. »Vorwärts!« Die Passagiere kauerten sich auf der mittleren Ruderbank zusammen, die Mutter schluchzte an der Brust ihrer Tochter. Naldeth starrte noch immer vor sich hin, ohne etwas zu sehen, doch Parrail drehte sich um und versuchte herauszubekommen, wohin sie gebracht wurden. Er sah eine grobe Einfriedung aus frischen Holzstämmen ein Stück landeinwärts. Die Stämme trugen noch ihre Borke, und frische Axtspuren leuchteten hell an den zugespitzten Enden. Eine Reihe von einfachen Hütten, Schuppen und Zelten war über die kurz gemähte Wiese verteilt, zwischen dem kiesigen Strand und dem dichten Unterholz, das sich über das hügelige Land zog. Die zurückkehrenden Piraten fachten Feuer an, Kessel und Töpfe baumelten über den Flammen. Die wenigen, die am Ufer verborgen geblieben waren, kamen aus dem Gebüsch und hinter der Palisade hervor, Glückwünsche wehten über das ruhige Wasser der Ankerbucht. Die Sonne schien warm, ein 134
leichter Wind wehte, und die Inseln sahen fruchtbar und einladend aus. Parrail fühlte sich von aller Welt verlassen. Das Boot kam knirschend auf der kiesigen Landzunge zum Stillstand. »Alle Mann raus, und zwar flott!« Als sie über die Bordwand kletterten und in dem knietiefen Wasser stolperten, riskierte Parrail einen Blick nach allen Seiten in der Hoffnung, eine Fluchtmöglichkeit zu entdecken. Er war nicht der Einzige. »Ihr könnt nirgendwo hin, bedaure.« Der spöttische Pirat sah ihn gar nicht an, aber trotzdem wurde Parrail rot, gedemütigt von dem höhnischen Gelächter mehrerer Kerle, die am Ufer warteten. »Für heute Nacht kommt ihr ins Lager.« Ein dicklicher Mann mit glatt rasiertem Schädel, der in scharfem Kontrast zu seinem geflochtenen braunen Bart stand, trat vor. Er war nicht wie ein Räuber gekleidet, sondern trug helle Lederhosen und ein Wams von einem Schnitt und einer Qualität, wie Parrail sie auf jeder Straße in Vanam erwartet hätte. »Leistet uns morgen früh euren Eid, dass ihr euch uns anschließen wollt, dann könnt ihr euch selbst ein Fleckchen suchen.« Er deutete mit weit ausholender Geste auf das zusammengewürfelte Lager. Parrail schob Naldeth in die Mitte ihrer Gruppe, während sie widerstandslos zur Palisade trabten. Der Gelehrte hoffte, dass man die graue Verzweiflung, die sich auf dem Gesicht des Zauberers zeigte, für die Niederlage hielt, die auch die anderen bedrückte. Ihre Häscher schienen darauf bedacht zu sein, solche Schwermut zu zerstreuen. »Muredarch ist ein toller Anführer«, versuchte es ein muskulöser junger Mann, der unter seinem ärmellosen, bis zur Taille aufgeschnürten Hemd sonnengebräunt war. »Ihr solltet über 135
sein Angebot nachdenken. Es ist die beste Chance auf wirklichen Reichtum für unsereins auf dieser Seite von Saedrins Tür.« »Es ist ein gutes Leben«, stimmte sein Kamerad zu und klopfte auf die Verzierungen aus Gold und Emaille an dem teuren Schwertgehänge, in dem sein Schwert steckte. Er schwenkte mit der anderen Hand fröhlich einen Krug Wein in der hellen Sonne, die das Unglück der Gefangenen verhöhnte. Parrail fragte sich, woher der Wein gekommen war und wer wohl dafür gestorben war. Sie erreichten die Palisade und wurden grob durch die rohen Tore gestoßen. Parrail hatte Mühe, Tränen der Niedergeschlagenheit zu unterdrücken, als er hörte, wie der schwere Riegel draußen wieder vorgeschoben wurde. Er wischte sie sich zornig aus den Augen und packte Naldeth. Der Zauberer sah ihn betäubt an, und Parrail schüttelte ihn heftig, ehe er ihn in den schmalen Schatten zog, den der Wehrgang warf, der ihren wenigen Bewachern einen Überblick bot. »Wir müssen Nachrichten schicken.« Er bebte vor Angst, dass jemand sein drängendes Flüstern hören könnte. Ohne zu begreifen, versuchte Naldeth eine Antwort zu finden, aber es kam keine. Parrail merkte, wie die ersten Funken von Zorn versuchten, über seine Angst und Übelkeit die Oberhand zu gewinnen. »Wir sind die Einzigen, die um Hilfe rufen können.« Naldeth schauderte und fuhr sich mit zitternder Hand über den Mund. »Wer?«, krächzte er. Parrail leckte sich die trockenen Lippen. »Hadrumal?« Die großen Magier hatten Mentor Tonin und seine Gelehrten schon zuvor verteidigt, Planir, Otrick und Kalion verfügten über mächtige Magie, um Kellarins Feinde schreiend in die Flucht zu schlagen. Das schien so weit weg und so lange her zu sein, 136
verglichen mit seiner gegenwärtigen misslichen Lage. Ein bisschen Leben kehrte in Naldeths Gesicht zurück. »Ich muss eine Flamme beschwören, wenn ich mit irgendwem Verbindung aufnehmen soll.« Er sah sich um. »Und ich brauche etwas Glänzendes, aus Metall.« Parrail sah sich ebenfalls um. »Sie haben niemandem auch nur eine Haarnadel gelassen.« »Und auch kein Feuer.« Naldeth schauderte. »Es wird eine kalte Nacht.« »Jede Flamme wird dich als Magier verraten.« Parrail wünschte, er hätte das nicht gesagt, als er die erstickende Furcht sah, die drohte, Naldeths mühsam wiedergewonnene Fassung erneut zu erschüttern. »Denk, Mann! Was willst du tun?« Der Zauberer tat einen tiefen, schaudernden Atemzug. »Kannst du es nicht mit Zauberkunst versuchen?« Parrail schlang die Arme um seinen schmerzenden Bauch. »Ich kann es versuchen, aber was ist, wenn mich jemand hört?« Er sah zu den anderen Gefangenen hin, die alle in ihrem eigenen Unglück versunken waren, einige klammerten sich aneinander, andere waren allein und verlassen in ihrem Schock. »Glaubst du, sie würden uns verraten?«, fragte Naldeth mit hohler Stimme. »Meister Gede hat es nicht getan.« Parrails Stimme brach. »Er ist noch nicht tot – und wir auch nicht.« Naldeth packte den Gelehrten in einem ungeschickten Trostversuch an der Schulter. »Mir ist gerade etwas eingefallen. Ich kann doch Luft weben, um deine Sprüche zu verbergen, oder?« Parrail brachte ein schwaches Lächeln zu Stande. »Wir wollen mal sehen, wen ich erreichen kann.« 137
Er ging zu dem spärlichen Schutz hinüber, den ein Pfosten unter dem Wehrgang bot, und setzte sich mit dem Gesicht zu der Palisade. Naldeth ließ sich neben ihm nieder, mit gebeugten Knien, die Füße flach ins niedergetrampelte Gras gestellt. Die Ellbogen ruhten auf seinen Knien, Kopf und Hände hingen Scheinbar schlaff herab. Nur Parrail konnte die äußerste Konzentration erkennen, die den Magier starr hielt. Dies war nicht die rechte Zeit, dass ihm auch nur ein Funken seines magischen Lichtes entglitt. »Wenn ...« Die Stille, die dieser tastenden Frage folgte, bedeutete dem Gelehrten, dass er jetzt seinen eigenen Zauber versuchen konnte. Parrail zwang sich, tief und langsam zu atmen, sich auf die Erinnerung an Vanams Universitätsviertel zu konzentrieren und die Wirklichkeit dieses Piratennestes zu verbannen. Er stellte sich die Hörsäle vor, in denen gelehrte Männer den Studenten ihre Theorien in Vorträgen und praktischer Darstellung vermittelten, die staubigen Bibliotheken, in denen längst verstorbene Rivalen Schulter an Schulter in den dichten Reihen der Bücher standen. Mit einer Sehnsucht, die ihm das Herz zerriss, konzentrierte er seine Gedanken auf das voll gestopfte Haus, in dem Mentor Tonin seine Begeisterung für die lang vergessene Weisheit der Alten mit seinen Studenten teilte, gewissenhaft in der Unterweisung selbst derjenigen, die er nur um der dicken Geldbörse ihrer Väter willen annahm, deren Gold aber das Dach über den Köpfen derer sicherte, die zwar ärmer, aber fleißig waren wie Parrail. Er murmelte lautlos die Wörter des Zaubers, der seine Worte zu Tonin tragen sollte, aber er spürte nichts. Das Bild vor seinem geistigen Auge war so steif und unempfänglich wie eine gemalte Wandverkleidung. Er versuchte es noch einmal, aber er 138
fühlte nichts von dem Schauer, an den er sich von seinen früheren Anwendungen der Zauberkunst her erinnerte. Wo war die lebhafte Verbindung, das wundersame Gefühl, den Äther zu berühren, der alles Lebendige verband, die Gedanken, die zu Gedanken sprachen, frei von den Fesseln der Entfernung oder Unterschiede? Vanam war so unerreichbar wie die Sonne, die hoch und ungerührt über ihnen stand. Machte er etwas falsch?, überlegte Parrail. Doch er hatte diese Zauberkunst mit Mentor Tonin ausgeübt, noch bevor er dem Gelehrten geholfen hatte, die Schläfer von Kellarin zu wecken. Er hatte umso wirkungsvoller damit gearbeitet, nachdem Demoiselle Guinalle ihm die scheinbaren Widersprüche in ihrer Kunst erklärt und die gegensätzlichen Sprüche entwirrt hatte, die ihre Versuche bei den Zaubern behindert hatten. Eine hoffnungslose Sehnsucht ergriff Parrail. Er war so begierig darauf gewesen, die Entdeckungen dieses Winters mit Guinalle zu teilen, vor allem auch diejenigen, die in Liebeslieder verwoben waren, die er ihr hätte vorsingen können. Vielleicht sollte er diese ältere, schlichtere Form der Zauberkunst verwenden. Parrail schloss die Augen, um die lautlose Melodie in seinem Kopf besser hören zu können. Wie war noch das Lied, mit dem Trimon Halcarion gerufen hatte, als er verirrt in den Tiefen des Waldes umherwanderte, und die Mondjungfer anrief, dass sie die Sterne entzünde, um ihn nach Hause zu geleiten? Würde es wirken, ungehört gesungen in der Stille der Elemente, die ihn umgab? Konnte er Ton und Rhythmus halten? Er war noch nie ein guter Sänger gewesen. Entschlossenheit packte Parrail, als er jede Faser seines Seins auf die mythische Ballade konzentrierte.
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Alt und böse, die dunklen Schatten, ihn zu fangen und zu binden. Trimon sang zur Harfe, dass seine Liebste möge ihn finden. Driath al' ar toral, fria men del ard endal Cariol vas arjerd, ni mel as mistarfal. Es war das Jalquezan, das den Zauber enthielt, nicht wahr? Die unverständlichen Refrains der Lieder des Waldvolkes wirkten ihre längst vergessene Zauberkunst. Parrail sang in stummer Entschlossenheit, verwob seine kostbaren Erinnerungen an Guinalle mit jeder Nuance der Verzweiflung und der Sehnsucht des reisenden Gottes nach der fernen Göttin der Jungfräulichkeit und des Geheimnisvollen. Der Rhythmus des Liedes pulsierte in seinem Blut, wärmte ihn von Kopf bis Fuß in einem Hochgefühl, das an Ekstase grenzte. Er keuchte auf, und das Entzücken verflog. »Nun?« Naldeth ließ seinen Zauber los und sah Parrail mit der Spannung eines Verzweifelten an. Ein Schauer überlief Parrail, und es dauerte einen Augenblick, ehe er sprechen konnte. »Ich weiß es nicht«, musste er gestehen. Ein Schatten fiel über die beiden, und sie sahen schuldbewusst drein. Erleichtert erkannten sie den Freibauern, der geistesabwesend seine ringlosen Finger rang. »Und was wollt ihr beiden sagen, wenn sie uns morgen früh holen kommen?«
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Vithrancel, Kellarin 18. Nachfrühling
»Messire D'Olbriot schätzt diese offenen Versammlungen nicht besonders, oder?« Ich sah mich in dem sich rasch füllenden Saal um. Die Tür hatte sich kaum geschlossen, ehe ein Neugieriger sie wieder öffnete. Ich musste zugeben, dass Temars neuer Empfangssaal beeindruckend war. Ryshad hatte die vergangenen paar Tage damit verbracht, Leute dazu zu überreden zu helfen, und sie waren energisch zu Werke gegangen. Die hölzerne Wandverkleidung, an der ich lehnte, brauchte zwar noch Farbe oder Lack, aber es war eine beträchtliche Verbesserung der vorherigen Situation, als jedermann zwischen die Tische und Regale der Markthalle gequetscht wurde. »Kein Sieur schätzt das heutzutage.« Ryshad zählte Köpfe. »Dies ist die alte Art und Weise, an die Temar sich erinnert, wie sein Großvater die Dinge gehandhabt hat. Es hat seine Vorteile; das caladhrische Parlament ist offen für alle, und die Hälfte der lescarischen Herzöge hält ihre Versammlungen im Freien ab.« Als Eingeschworener D'Olbriots hatte Ryshad Tormalin kreuz und quer bereist, und dazu noch die Hälfte der angrenzenden Länder. »Vereinbarungen hinter geschlossenen Türen lassen Gerüchte über Vertauensbrüche herumspringen wie Frösche im Frühling.« Er kratzte sich an einer Narbe am Arm, Zeichen solcher Gerüchte, die im vorigen Sommer in Toremal fast den Tod für ihn und Temar bedeutet hatten. »Kann er dafür sorgen, dass es nicht in einen Schreikampf ausartet? Was, wenn alle versuchen, gleichzeitig zu reden?« Ich 141
sah zu der Empore, auf der Temar in einem hochlehnigen Stuhl saß, dessen Armlehnen mit gezähnten Steineichenblättern verziert waren. Er trug ein Wams mit Ärmeln im Kellarin-Stil statt der prunkvollen Kleider aus Toremal, die er, wie ich wusste, irgendwo in eine Truhe gestopft hatte. Es war trotzdem ein elegantes Kleidungsstück, Bridele musste die halbe Nacht bei Kerzenschein daran gesessen haben, die grünen Blätter auf die graue Seide zu sticken. Neben ihm saß Guinalle auf einem schlichteren Stuhl, der reich mit braunrotem Leder gepolstert war. Die Farbe passte gut zu ihrem rauchblauen Kleid, das weder alt noch modern geschnitten war, sondern so gearbeitet war, dass es gleichzeitig ihrer Figur schmeichelte und ein Minimum an kostbarem Damast verschlang. Ein bescheidener Spitzenbesatz verbarg den tiefen Ausschnitt, und zierliche Diamanten glitzerten unter der schimmernden Fülle ihres offenen Haares. Die beiden waren tief in das erste Gespräch versunken, das ich sie seit der Tagundnachtgleiche hatte führen sehen. »Was, wenn Guinalle einen anderen Standpunkt einnimmt als er?«, fragte ich Ryshad. »Sie werden alle Streitigkeiten auf später vertagen. Sie sind beide in höfischen Häusern aufgewachsen, sie wissen, wie wichtig ihr Auftreten ist.« Wir beschlagnahmten zwei der Hocker, die rings um den Saal aufgestellt waren, und Ryshad streckte die langen Beine vor sich aus. »Sie wissen, dass Kellarin nur mit gutem Willen läuft. Keiner wird das mit einem öffentlichen Zank aufs Spiel setzen.« Ich fragte mich, ob Temar zu schätzen wusste, wie viel von diesem guten Willen von Ryshads Talenten abhing. Als Mann D'Olbriots hatte er oft eine Gruppe zerstrittener Männer einen müssen, eine Aufgabe mit einem Scherz und einem Lachen 142
erledigt, seine Autorität mit stählerner Stimme unterstrichen, und wenn nötig auch mit Stahl in den Händen. Er hatte dasselbe für D'Alsennin getan, seit wir hier waren. Mein Liebster betrachtete Guinalle mit einem leisen Lächeln. »Hat sie dir erzählt, dass im Alten Reich mithilfe von Zauberkunst jeder an die Kandare gelegt wurde, der sich vor Gericht nicht angemessen benahm?« Das hatte sie nicht, und ich war mit dieser Vorstellung nicht ganz glücklich. Ich musterte die Menge, in denen ich einige angespannte Gesichter unter vielen schlicht neugierigen entdeckte. »Wer kommt als Erstes?« »Im Augenblick gilt, wer zuerst kommt, wird zuerst gehört.« Ryshad sah mit leichter Ungeduld zu D'Alsennin hin. »Ich hab Temar doch gesagt, es wäre besser, wenn die Leute ihre Angelegenheit erst seinem Stellvertreter darlegen, ehe die Versammlung zusammenkommt, und sie wissen zu lassen, dass sie der Wichtigkeit nach angehört werden.« »Aber das übernimmst du nicht?« Ich hoffte, deutlich ausgedrückt zu haben, dass ich ein Nein erwartete. »Ich bin kein Schreiber«, sagte Ryshad mit Nachdruck. »Es wird Zeit, dass der junge Albarn auch ein paar Aufgaben des Ranges übernimmt, den er so eifrig beansprucht.« Während Ryshad sprach, erschien Albarn Den Domesin durch eine Tür in der rückwärtigen Wand auf der Empore. Dieser Spross alten tormalinischen Adels hatte gewiss den kaiserlichen Erlass begrüßt, dass die wenigen noch existierenden Adelsgeschlechter Kellarins fortan als Nebenlinien des Stammhauses D'Alsennin betrachtet werden sollten. Vielleicht konnte ihm mal jemand sagen, dass Tadriol lediglich die Fallstricke der Rechtmäßigkeiten überlisten wollte, die drohten, Temar zu er143
sticken, als gekränkte und opportunistische Sieurs uralte Ansprüche und Scheinklagen vor Toremals Gerichtshof geschleppt hatten. Albarn ließ sich an einem Tisch seitlich auf der Empore nieder, wo ein makelloses Protokollbuch aufgeschlagen neben einem Sortiment an Federn und Tinte lag. Er sah nicht allzu begeistert aus, dafür, dass er so sehr darauf bedacht war, als Temars designierter Nachfolger anerkannt zu werden. »Armer Junge, muss selbst mitschreiben, statt diese Aufgabe Kopisten zu übertragen«, sagte ich leicht spöttisch. »Aber schließlich, wer ernten will, muss auch säen.« »Ich kann mich nicht erinnern, dass du viel gesät hättest.« Ryshad warf mir einen fragenden Blick zu. »Aber ich bin heute Morgen über Fras gestolpert, der unseren Garten zerwühlte. Wie kommt das?« »Er ist mit einem Satz Runen genauso geschickt wie mit dieser Hacke.« Ich spreizte ungerührt die Hände. »Er wird das schon machen.« Außerdem hatte ich die Bettwäsche gewaschen, also hatte ich das Gefühl, mir ein bisschen Unterhaltung für heute verdient zu haben. Halice schritt durch die Menge und zog sich einen Stuhl heran. »Wie lange müssen wir hier untätig auf unserem Hintern sitzen?« »Wir warten auf ihr Zeichen.« Auf der Empore unterstrich Guinalle gerade ihre Worte zu Temar mit scharfen Gesten. »Was hält sie von dieser Vorstellung?« »Ein vernünftiger Brauch, längst überfällig zu nutzen.« Halice grinste. »Falls wir sie dazu bringen können, jeden wegzuschicken, der sie außerhalb dieser Sitzungen belästigt, lernt sie vielleicht, sich ein wenig zu entspannen.« 144
Ryshad legte mir eine Hand auf den Schenkel, um mich zum Schweigen zu bringen. »Hier kommt der alte Hammel, um das Eis zu brechen.« Die Menge wurde ruhig, als ein weißhaariger Mann nach vorn trat, vor Albarn höflich eine Verbeugung andeutete, ehe er sich vor Temar und Guinalle aufbaute. »Meine Verehrung, Messire, Demoiselle.« »Meister Drage.« Temar neigte den Kopf, und Guinalle schenkte ihm ein höfliches Lächeln. Er hüstelte. »Es geht um diese Landverleihungen. Ich frage mich, ob wir sie nicht ein wenig gerechter gestalten könnten. Zu Hause hatten wir Land in verschiedenen Teilen eines Grundbesitzes, hier eine Wiese, da einen Acker, an unterschiedlichen Stellen, sodass niemand nur Sumpf oder steiniges Gelände abbekam.« Temar nickte. »Aber hier gibt es genügend Land, damit jeder guten Boden bekommt.« »Und was ist mit Hagel oder Unwetter?« Drage sprach mit dem Selbstvertrauen, das Alter und Erfahrung verleiht. »Larasion sei gesegnet, wir haben hier ein recht mildes Klima, aber wenn die ganzen Früchte eines Mannes auf einem Feld stehen, könnte jedes Unglück seine Ernte ruinieren.« Zustimmendes Gemurmel unterstützte ihn, aber ich konnte auch ein paar streitlustige Gesichter sehen, die entschlossen waren, dies abzustreiten. Freibauern, die frisch aus Tormalin kamen, wussten gern genau, wo ihre Grenzen verliefen und welche Rechte sie genau hatten, um sie zu verstärken. Temar beugte sich zur Seite, um sich mit Guinalle zu beraten, ehe er Meister Drage antwortete. »Du hast da eine berechtigte Sorge vorgetragen, und ich denke mir, dass andere sie mit 145
dir teilen. Aber genauso ziehen es viele Leute vor, dass ihr Landanteil aus einem Stück besteht. Wir schlagen vor, dass jeder, der ein Teil seines Grundbesitzes mit einem anderen tauschen möchte, sich morgen in der Handelshalle einfindet. Wir können den Tausch offiziell beurkunden ...« Guinalles Schrei kam wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Sie kam taumelnd auf die Füße, schüttelte den Kopf wie ein von Hornissen geplagtes Pferd, ihre Haare flogen, und sie griff sich an die Schläfen. Temar konnte sie kaum auffangen, als sie ohnmächtig wurde, und fiel auf die Knie, sodass es einen dumpfen Aufprall auf der Empore gab, der in der Stille widerhallte. Ryshad ignorierte mit seinen langen Beinen die Stufen und sprang mit zwei Schritten auf die Empore. Halice war dicht hinter uns. »Atmet sie?«, fragte ich. Ihr Gesicht war geisterhaft bleich und schlaff, die Lippen blutleer. Temar riss die Spitzen ab, die mit einer silbernen Saphirbrosche an ihren Schultern befestigt waren. »Ihr Herz rast.« Das konnten wir an dem Puls in ihrer Halsbeuge sehen. Ryshad nahm sie auf die Arme. »Hinten hinaus.« Halice half ihm auf die Füße. »Sorg dafür, dass sie hier bleiben.« Ich hielt Temar zurück und schob ihn dann wieder zu seinem Sessel vor die offene Bestürzung unten im Saal. »Mach weiter, sonst gehen noch vor Sonnenuntergang Gerüchte um, dass sie tot ist und verbrannt wird.« Halice hielt die Hintertür für Ryshad auf. Sie winkte mich mit einem Kopfnicken heran. »Wir sagen Bescheid, sobald wir wissen, was los ist.« 146
Temar riss sich sichtlich zusammen und wandte sich an das erstaunte Publikum. »Wie es scheint, ist die Demoiselle plötzlich erkrankt.« Seine Stimme wurde kräftiger. »Aber sie wäre die Letzte, die unnötiges Aufhebens erwartet, und die Erste, die uns drängt fortzufahren.« Das stimmte zwar, aber der Gedanke trug wenig dazu bei, mich zu beruhigen, als ich die Tür hinter mir schloss. Ryshad stand stirnrunzelnd mitten in Temars Wohnhalle. Die Wände waren noch nackt, aber Bridele tat ihr Bestes, um den Raum gemütlicher zu machen. Hochlehnige Sitzbänke flankierten den großen Kamin. Auch wenn sie nicht zusammenpassten, sie waren gut gearbeitet und mit leinenbezogenen Kissen bestückt, auf denen die Stickereien der Haushälterin leuchteten. Halice warf die Kissen auf den Boden und wühlte in der Truhe unter der Bank nach einer Decke. »Livak, die Frau soll uns einen anständigen Wein bringen.« Ich lief los und hämmerte an die Küchentür. Bridele öffnete sie verblüfft. »Demoiselle Guinalle ist erkrankt«, erklärte ich rasch. »Hol Wein oder weißen Brandy, falls Temar welchen versteckt hat.« Als sie davonhuschte, suchte ich in der voll gestopften Kaminecke nach Anmachholz. Ryshad legte Guinalle sanft nieder. »Rührt sie sich?« »Kaum«, sagte Halice und rieb die zarten Handgelenke der Edelfrau zwischen ihren eigenen muskulösen Fingern. »Habt ihr was von einer ansteckenden Krankheit gehört?« Wir alle sahen einander an und waren froh, nur Kopfschütteln zu sehen. Drianon beschütze uns vor einem weiteren Ausbruch des Fiebers, durch das Tedin verwaiste und in der Obhut seiner Großmutter aufwuchs, dachte ich. Vor allem, wenn wir 147
uns diesmal nicht auf Guinalle verlassen konnten, um die Ansteckungsgefahr einzudämmen. Ryshad zog die Schnalle ihres Kettengürtels auf. »Wo sind denn die Schnüre an diesem verdammten Kleid?« »Unter dem Arm.« Ich zeigte darauf, ehe ich an den Herd zurückkehrte. »Talmia megrala eldrinfres.« Eine Flamme loderte zwischen den Zweigen auf, und ich fütterte sie mit größeren Hölzern. Guinalle mochte zwar solch Niedere Zauberkunst verhöhnen, doch sie konnte nicht leugnen, dass sie nützlich war. Ich sah eine Feder durch das Leinen eines Kissens pieken, und in Gedanken daran, wie meine Mutter mit einem leichtfertigen Hausmädchen umzugehen pflegte, pflückte ich sie heraus. »Dahin.« Ryshad bedeutete Bridele, das Tablett auf den niedrigen Tisch zwischen die Bänke zu stellen. Guinalle stöhnte, es war ein tiefer Laut heftigen Schmerzes. Er kniete neben ihr nieder. »Kannst du uns sagen, was los ist?« Er sagte nicht, dass alles gut werden würde, seine dunklen Augen suchten ihre blasse Haut nach Spuren eines Ausschlages oder eines anderen bösen Zeichens ab. Ryshads Schwester war an einer Fleckenkrankheit gestorben, und Halice und ich hatten Leute gekannt, die morgens froh und munter und in der Abenddämmerung tot waren. Halice strich Guinalle das unordentliche Haar aus dem Gesicht und fühlte ihre Stirn, ob sie Fieber hatte. Das Mädchen spürte sie atmen und riss verängstigt die braunen Augen auf, wie jemand, der gerade aus einem Albtraum erwacht. Sie versuchte, sich aufzurichten, doch Halice hielt sie zurück. Ich goss ihr einen Becher dunkelroten Wein ein und stellte mich neben Ryshad. Guinalles Augen waren beunruhigend in die Ferne gerichtet. 148
»Parrail?« »Was ist mit ihm?«, fragte Halice. »Hat er Schwierigkeiten?«, wollte Ryshad wissen. Sie schien taub gegenüber ihren Fragen zu sein. Ich zündete die Feder an und wedelte mit dem qualmenden Rest vor ihrer Nase herum. Guinalle hustete wegen des beißenden Rauches, und ihr empörter Blick richtete sich auf mich. »Parrail steckt in einer sehr schlimmen Lage!« Sie setzte sich auf, ein Hauch Farbe kehrte auf ihre Lippen und Wangen zurück und nahm ihr die Totenblässe. Ich reichte ihr den Wein. »Ist es das Schiff?« »Er ist völlig verängstigt.« Die Demoiselle atmete schaudernd ein. »Es ist ein Wunder, dass er überhaupt Zauberkunst anwenden konnte!« »Kannst du uns sagen, wo er ist?« Ryshad stand auf, in dem Bemühen, sie nicht zu sehr zu bedrängen. »An Land oder auf See?«, erweiterte ich die Frage. Guinalle leerte den Becher Wein, ehe sie antwortete. »An Land, denke ich, aber nicht auf Kellarin. Oder vielleicht nicht. Ich spürte, dass das Meer seinen Zauber behinderte.« Sie setzte den Becher ab und verschränkte die Finger so fest im Schoß, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. »Unwetter auf See kommen schnell und heftig.« Ryshad war seine Besorgnis deutlich anzumerken. »Vor allem, wenn sie landen wollen. Kannst du ihn selbst mit Zauberkunst erreichen?« Guinalles zähe Selbstbeherrschung kehrte zurück. »Gib mir einen Augenblick.« Ich hockte mit Halice auf dem niedrigen Tisch und versuchte, nicht allzu ungeduldig zu werden. 149
Guinalle setzte sich auf die Kante der Bank, glättete ihren Rock und holte tief und langsam Luft. Sie warf einen verwunderten Blick auf ihren zerrissenen Spitzenbesatz, ehe sie die Hände langsam unter ihrer Brust faltete. Sie schloss die Augen und sprach mit gemessener Ruhe. »Lartaralen marfordas, ay enamirras tel. Parrail endalaia veratal sedas ar mornal.« Ihr schrilles Quieken ließ uns alle aufspringen, und Halices Griff nach ihrem nicht vorhandenen Schwert stieß Tablett und Gläser klirrend zu Boden. »Was ist?« Ryshad wappnete sich zum Handeln. »Er fürchtet um sein Leben.« Guinalle zitterte wie jemand ohne Mantel mitten im Winter. »Vor dem Meer?« Ich erinnerte mich, dass der Bursche genauso ein schlechter Seemann war wie ich. »Er ist nicht allein. Er fürchtet auch um die Menschen, die bei ihm sind.« Guinalle runzelte die Stirn, ihr Blick wurde dunkel und richtete sich nach innen. Die Demoiselle hob eine Hand, und ich sah die Spuren in ihrer Handfläche, wo sich ihre Nägel eingegraben hatten. »Er ist umgeben von gefährlichen Männern, Dieben und Mördern.« »Elietimm?« Ryshad sah mordlustig drein. »Nein«, antwortete Guinalle langsam. »Ich spüre nichts von ihnen.« »Kannst du mit Parrail reden?« Ryshad hätte vor Ungeduld beinahe mit dem Fuß aufgestampft. »Er ist vor Angst außer sich.« Guinalle schüttelte aufgewühlt den Kopf. »Er wird mich nicht hören, und wenn ich mit Zauberkunst durch seine Augen blicken soll ...« Ich wartete nicht auf ihre Erklärung. »Wir müssen es mit 150
Weitsicht versuchen. Ich suche Allin und beruhige Temar«, setzte ich mit einem Lächeln zu Guinalle hinzu. Die Verlegenheit, als ihr klar wurde, dass sie in aller Öffentlichkeit zusammengebrochen war, ließ auch den letzten Rest ihrer Blässe verschwinden, und so gedemütigt wirkte sie erstaunlich jung. Ich überließ sie Ryshad und Halice und schlüpfte verstohlen durch die Hintertür in der Empfangshalle auf die Empore. Albarn hatte den Kopf gesenkt und kritztelte schnell, und Temar sah aus, als hätte er es bisher glatt über die Bühne gebracht, auf die Anfragen an seine Autorität als Sieur zu antworten. »Wenn man einem Schrein ein Opfer bringt, dann bleibt es auch da.« Eine Frau mit der Figur einer Holzpuppe stand vor Temar, die Hände in die Hüften gestemmt. »Frau Beidan, Ihr habt Eure Ansicht dargelegt. Jetzt lasst bitte Frau Treda sagen, was sie zu sagen hat!« Ich war beeindruckt von Temars Strenge. Sein Stuhl verbarg die zweite Frau vor mir, aber nach ihrem Akzent zu urteilen, war sie eine der ursprünglichen Kolonisten. »Ich weiß nichts über das Leben jenseits des Ozeans heutzutage, aber wir halten uns an ältere Bräuche.« Sie bemühte sich offensichtlich um einen versöhnlichen Ton. »Wenn ich Drianon als Dankesgabe einen Kochtopf schenke, erwarte ich, dass die Göttin einen Bedürftigen zu ihrem Schrein führt, der ihn dort findet. Ich erwarte nicht, dass er bis in alle Ewigkeit da Staub ansetzt.« »Ein Kochtopf ist keine fromme Gabe ...« »Danke.« Temar schnitt Fau Beidans Spott ab. »Erhebt jemand Anspruch auf die Verantwortung für den Schrein? Ist jemand willens, die Priesterschaft zu übernehmen?« Ich sah, wie die Leute einander verwirrt und widerstrebend 151
ansahen. Priesterschaften und Bruderschaften für die Erhaltung von Schreinen waren seit ungezählten Generationen Erbsache auf der anderen Seite des Ozeans, aber hier gab es eine solche Tradition nicht. Als alle damit beschäftigt waren, unsicher vor sich hin zu murmeln, trat ich an Temars Seite. »Guinalle ist in Ordnung, sie war nur ohnmächtig.« Das beruhigte ihn, wenn ich auch nicht sicher war, ob es gänzlich der Wahrheit entsprach. »Parrail ist irgendwie in Schwierigkeiten und hat mit Zauberkunst um Hilfe gerufen. Es hat sie völlig überrascht, und er ist nicht allzu geschickt, und das hat es noch schlimmer gemacht.« Ich bemerkte, dass Leute eifrig näher kamen, um zuzuhören, und überlegte, wie viel schlechte Nachrichten sie verdauen konnten, damit ihnen ihre Fantasie nicht noch schlimmere lieferte. »Was für Schwierigkeiten?« Temar richtete seine hellen blauen Augen auf mich. Ich hatte nicht vor, Vermutungen zu äußern, mit all den Ohren ringsum. »Wir brauchen Allin, damit sie uns mit Weitsicht hilft. Weißt du, wo sie ist?« »Bei Meister Shenred.« Ich klopfte Temar auf die Schulter. »Du machst deine Sache gut. Weiter so.« Temar gestattete sich eine frustrierte Grimasse, ehe ich mich wieder aus der Hintertür schob. Ich hörte, wie er mit gespannter Besonnenheit wieder zu dem vorliegenden Fall zurückkehrte. »Wir sollten eine Bruderschaft einrichten, die solche Praktiken für den Schrein festlegt. Jeder, der darin dienen möchte, sollte seinen Namen Albarn nennen, und dann kann das Los entscheiden. Wer einen anderen Ritus vorzieht, kann seinen eigenen Schrein gründen.« 152
In Temars Residenz wischte Bridele den Boden, und Halice kümmerte sich um das Feuer, während Guinalle wie erstarrt auf der Bank saß. Ryshad sah von Temars Karten auf, die er studierte, und schenkte mir ein knappes Lächeln. »Hast du eine Ahnung, wo Shenred ist?«, fragte ich ihn. Er überlegte einen Augenblick. »Versuchs mal auf dem Schlachtergelände.« Ich eilte die gepflasterte Straße hinunter, lief flussabwärts an dem kleinen Hügel vorbei, der den Anblick und die Geräusche der blutigeren Seite der Arbeit eines Meisterschiachters abschirmte. Allin war beim Hängelager, eine Schürze über ihrem Kleid, die Ärmel hochgekrempelt, und testete mit einer Hand vorsichtig einen Bottich mit Salzlauge. »Es ist alles eine Frage der Verdunstung«, sagte sie ernsthaft. »Da Wasser im Gegensatz zu meiner Feueraffinität steht, ist es ein heikles Gleichgewicht.« »Tut mir Leid, dich zu stören, aber D'Alsennin braucht ein bisschen magische Arbeit.« Ich lächelte kurz. Shenred seufzte. »Dann geh lieber, Mädel.« »Ich bin zurück, so schnell ich kann«, entschuldigte sich Allin ernst. »Es wird schon nicht verderben, Mädel.« Er lächelte sie an. »Dazu ist Salzlauge nun mal da.« Ich schlug ein rasches Tempo an, um uns so schnell wie möglich außer Hörweite zu bringen. »Wie gut kennst du Parrail? Gut genug, um ihn mit Weitsicht zu suchen?« »Ich glaube nicht.« Neugier folgte auf Allins aufrichtiges Bedauern. »Warum?« »Er ist in Schwierigkeiten, und wir müssen wissen, wie schlimm es ist«, erklärte ich rundheraus. »Naldeth ist auf demselben Schiff, nicht wahr?« Sie trocknete 153
sich die Hände an der Schürze ab. »Ich kenne ihn und seinen Bruder.« »Dann suchst du eben ihn mit Weitsicht.« Wir kehrten so schnell in Temars Residenz zurück, wie wir es ohne unnötiges Aufsehen zu erregen riskieren konnten. Allin streifte die Schürze ab, als wir eintraten. »Haben wir – gut, danke.« Ryshad füllte bereits eine breite Silberschale aus einem hübsch glasierten Krug, während Halice eine bunte Sammlung von Flaschen auf dem Tisch ergänzte. »Wir haben alle Tinten und Öle für dich bereitgestellt, die Bridele finden konnte.« Allin wählte rasch eine Phiole mit grünem Öl und Kräuterzweigen darin aus. Sie entkorkte sie vorsichtig und ließ ein paar Tropfen auf die Wasseroberfläche fallen. »Ich kann das Bild vielleicht nicht lange aufrechterhalten«, warnte sie. Das lebhafte Grün des Öls verschwand, als es sich auf dem Wasser verteilte, ein Hauch von Thymian hing in der Luft. Allin legte die Hände um den Rand der Schale und reckte resolut das Kinn. Ich stellte mich mit Ryshad auf eine Seite, Halice und Guinalle stellten sich auf die andere. Wir versuchten, die Magierin nicht einzuengen, aber wir waren neugierig, was ihre Magie uns enthüllen würde. Der unsichtbare Ölfilm schimmerte, als ob Sonnenlicht darauf spielte. Der grüngoldene Glanz verdickte sich, strahlende Fäden fielen durch das Wasser, breiteten sich aus und lösten sich auf, bis die Farbe die ganze Schale füllte. Es vertiefte sich zu einem Grasgrün, dann zu moosiger Dunkelheit, und dann, ganz schwach zuerst, erschien ein Bild auf der glatten Oberfläche. »Nicht am Tisch wackeln.« Allin konzentrierte sich auf die Schale, die Zungenspitze zwischen den Zähnen. 154
»Ist das das Schiff?« Ich sah ein Hochseeschiff auf einem Kiesstrand an Suthyfers bestem Ankergrund. »Das ist das von Den Harkeil.« Ryshad deutete auf den geschnitzten Widderkopf am Heck. Halice guckte finster. »Kaum in der Lage zu segeln.« Die Magie zeigte uns, wo die Planken vom Rumpf des Schiffes gerissen worden waren, sodass es zerfetzt wirkte wie der Kadaver eines toten Tieres. »Wofür brauchen sie das Holz?« Als ich mich das fragte, schickte Allin ihren Zauber auf die Suche ans Ufer. Wir sahen rohe Hütten, die auf der Wiese verstreut waren, einige Zelte und andere aus Lukendeckeln und Türen zusammengeschusterte Unterkünfte. Kisten und Truhen waren unter einfachen Netzen gestapelt, die mit Taljen oder Blöcken beschwert waren. »Wer ist das?« Halice legte vorsichtig die Hände auf den Rücken, als sie sich vorbeugte, um die kleinen Gestalten zu mustern, von denen einige, barfuß und hemdsärmelig, zielstrebig wirkten, während andere, in Stiefeln und Umhängen, müßig wirkten. »Piraten«, sagte Ryshad kalt. »Abschaum des Meeres.« »Wo ist Parrail?« Guinalles Augen wanderten von dem Abbild zu Allin und zurück, Enttäuschung und Sorge jagten sich auf ihrer Miene. »Ich suche nach Naldeth.« Allins Stimme war gepresst vor Konzentration. Es war, als ob wir auf dem Rücken eines Seevogels über das Lager flogen. Der Zauber trug uns zum Rand des Gestrüpps, das am Waldrand stand, und wir sahen eine roh gezimmerte Palisade unter uns. »Die machen nicht nur Halt, um Wasser zu bunkern«, mur155
melte Halice. Ryshad blickte finster drein. »Wer ist da drinnen?« Zugespitzte Hölzer und das schwere Tor waren kein Hindernis für Allins Magie. Wir sahen die niedergeschlagenen Gefangenen drinnen. »Das ist er.« Ich hatte Naldeth seit dem Vorjahr nicht mehr gesehen, aber ein Spieler braucht ein gutes Gedächtnis für Gesichter. »Parrail.« Guinalle verbarg ihr Gesicht in den Händen, die Augen dunkel vor Elend. »Allin, kannst du uns noch einmal den Ankerplatz zeigen? Mit Blick nach Norden.« Die Magierin nickte auf Ryshads Bitte hin, und das rasch wechselnde Bild verursachte mir Übelkeit. »Das ist ihr Schiff.« Er nickte. »Die Seebarsch.« Wir sahen ein zweites Schiff im Sund vor Anker liegen. »Das nehmen sie nicht auseinander, um das Holz anderweitig zu verwerten«, bemerkte ich. »Sie plündern die Ladung.« Halice deutete auf die beladenen Langboote, die auf dem Weg zum Ufer waren. »Aber Kellarin braucht diese Dinge«, sagte Guinalle schmerzerfüllt. »Und die Piraten brauchen das Schiff.« Halice deutete auf ein rotes Banner, das an der Spitze des Großmastes flatterte. »Mit den ganzen Kanalratten als Besatzung haben sie garantiert keine Hemmungen, die ursprüngliche Besatzung umzubringen.« Ryshad machte ein finsteres Gesicht, als das Ruder eines Langbootes einen treibenden Leichnam beiseite stieß. Halice zischte, als eine Barkasse mit schlankem Rumpf und einem einzigen Deck im Sund erschien, gefolgt von zwei größeren Schiffen, die nach Bauart und Rigg auf Geschwindigkeit 156
ausgelegt waren. Alle drei hatten die rote Flagge mit der schwarzen Schlangenlinie am Mast. »Das ist eine gottverdammte Flotte.« »Tut mir Leid«, keuchte Allin, als das Abbild sich abrupt in nichts auflöste. »Wir haben genug gesehen«, beruhigte Ryshad sie. »Ich hole D'Alsennin.« Während er auf dem Absatz kehrtmachte, blieb der Rest von uns in nachdenklichem Schweigen stehen. Halice sah Allin an. »Könntest du Verbindung mit Naldeth aufnehmen?« »Damit jeder weiß, dass er ein Zauberer ist?« Ich sah sie skeptisch an. Die heimlicheren Wege der Zauberkunst hatten durchaus Vorteile. Halice schnitt eine Grimasse. »Was ihn im Handumdrehen umbringen könnte.« »Kannst du ihn nicht da herausholen?«, fragte ich Allin. Shivs Zauberei hatte mich mehr als einmal aus einer Gefängniszelle befreit. »Nicht ohne einen Nexus«, sagte die Magierin traurig. »Nicht über eine solche Entfernung.« »Die Elietimm haben mithilfe von Zauberkunst Menschen über große Entfernungen transportiert.« Halice sah Guinalle an. »Könntest du ...« »Ich kann mich nicht auf die Kraft des Äthers über eine solche Entfernung verlassen, nicht über Wasser hinweg.« Die beiden Magiekundigen sahen sich bedauernd an. »Dann müssen wir es eben auf althergebrachte Weise tun«, sagte ich munter. »Piraten?« Temar hastete herein, auf seinem Gesicht malte 157
sich der Schock ab. »Sie halten Suthyfer besetzt, wenn wir nicht etwas unternehmen, um sie von dort zu vertreiben.« Halice holte sich die Karte, die Ryshad studiert hatte. »Wie schnell können wir Segel setzen?« Temar stützte die Hände auf den Tisch. Halice sah auf. »Du hast doch wohl nicht vor, allein zu gehen?« Temar schob entschlossen das Kinn vor. »Wir haben die Distel und außerdem die Küstenschiffe und genügend Männer, die wir mit Schwertern ausrüsten können.« »Bauern und Handwerker.« Halice steckte die Daumen in den Gürtel neben die Schnulle. »Gegen Piraten brauchen wir geübte Schwertfechter, mein Freund.« »Ich führte meine Kohorte ...« Ryshad übertönte Temars hitzige Empörung. »Zugegeben, die Distel ist größer als die Piratenschiffe, die wir bis jetzt gesehen haben, aber sie ist auch schwerer, höher und langsamer. Sie werden uns umzingeln, wenn wir nicht aufpassen.« »Die Küstenschiffe sind wendiger.« Aber Temar sah schon nicht mehr so selbstsicher drein. Ryshad deutete auf die Wasserschale. »Nicht wendiger als die Seebarsch, und die haben sie auch gekapert.« »Wir brauchen ein ganzes Söldnerkorps«, erklärte Halice entschieden. »Wie lange dauert so etwas?«, fragte Ryshad. »Wenn diese Kerle eine halbe Jahreszeit haben, um sich einzunisten, bekommen wir sie nie da raus. Schnelligkeit ist genauso wichtig wie eine druckvolle Reaktion.« »Kannst du mit kampffähigen Männern besetzte Schiffe her158
beirufen?«, fragte Halice. »Ja«, erwiderte Ryshad. »Sobald Allin Casuel gebeten hat, D'Olbriot von der Gefahr zu berichten, in der wir schweben.« »Casuel kann Briefe an alle Korpskommandanten schicken, die mir einen Gefallen schuldig sind«, entgegnete Halice. »Er kann die Kaiserliche Depesche nutzen.« »Nein.« Temar war fast so blass, wie Guinalle es gewesen war. »Ich werde nicht zu D'Olbriot rennen wie ein Kind, das seine Lektion nicht gelernt hat. Und ich werde Kellarin auch nicht noch tiefer in jemandes Schuld stellen, weder in die tormalinischer Fürsten noch Söldner, nicht solange ich nicht mit dem Rücken auf Saedrins Schwelle stehe.« Halice und Ryshad drehten sich zu ihm um wie die beiden Flügel einer Doppeltür. »Wir rufen die Bergarbeiter aus Edisgesset her.« Temar hob trotzig das Kinn. »Und wo bekommen wir genügend Schwerter für alle her?«, fragte Halice herausfordernd. Ich hob zögernd die Hand. »Wenn du alle Bergarbeiter hierher holst, wer bewacht dann die Gefangenen in den Minen?« Das brachte alle zum Schweigen. »Sie haben alle Straferlass erhalten. Keiner stellt eine Bedrohung dar.« Guinalles Stimme bebte. Ryshad, Halice und Temar mieden bewusst den Blick der anderen. Zu meiner Freude hatten sie begriffen, dass jetzt nicht die Zeit war, diesen Streitpunkt wieder aufzunehmen. Allin hatte solche Bedenken nicht. »Sie sind hergekommen, um alle zu töten. Es sind Eisländer!« »Sie haben sich ergeben, sobald ihre Anführer tot waren«, beharrte Guinalle. 159
Was stimmte, und Saedrin vergebe mir, was verdammt lästig gewesen war. Da sie keine Aussicht auf Lösegeld von den Elietimm sah, war Halice dafür gewesen, sie auf der Stelle zu töten, und Ryshad hätte das verdiente Hinrichtung unter Kriegsbedingungen genannt, aber Temar hatte vor noch mehr Blutvergießen zurückgescheut. Also waren die schweigenden, mürrischen Gefangenen flussaufwärts geschickt worden, um unter den wachsamen Blicken der Bergarbeiter, die ein hartes entbehrungsreiches Leben gewohnt waren, nach Erz zu graben. Unfälle und Krankheiten forderten hohe Verluste unter ihnen, so weit ich gehört hatte, wenn auch nicht schnell genug, um Halice zufrieden zu stellen. Guinalle dagegen protestierte jedes Mal gegen eine solche Behandlung, wenn sie Edisgesset besuchte, um sich wegen der noch immer in der Höhle reglos Schlafenden das Hirn zu zermartern. Temar tat sein Bestes, um beide Angelegenheiten zu ignorieren, indem er sich nur selten flussaufwärts blicken ließ. »D'Olbriot kann alle Hilfe schicken, die du brauchst«, erklärte Ryshad Temar fest. »Und wenn du dir Sorgen machst, dann in seiner Schuld zu stehen, wende dich an Tadriol. Er ist dein Oberherr, du hast Anspruch auf seine Hilfe.« »Was seine Oberhoheit in der Theorie wie in der Praxis deutlich macht«, gab Temar zurück. »Falls tormalinisches Blut für Kellarin vergossen wird, wird die Hälfte der Sieurs, die uns letztes Jahr hier abschütteln wollten, darauf bestehen, dass Tadriol einen Teil unseres Landes beansprucht, und anbieten, dass ihre eigenen Leute es für ihn verteidigen.« »Wir können ein paar Söldnerkorps genauso schnell herholen wie kaiserliche Kohorten«, warf Halice ein. »Sobald sie ausgezahlt sind, ist es dann auch erledigt.« 160
»Ausgezahlt womit?« Temar hob gereizt die Hände. »Wenn sie nicht sowieso Gold verlangen, werden wir Männern Land überlassen müssen, die keine Ahnung haben, wie man es bestellt, und auch keinerlei Interesse daran.« »Warum überhaupt riskieren, dass jemand stirbt oder verwundet wird?«, sagte Guinalle aufgebracht. »Zauberkunst und Element-Magie können zusammen ein Schiff sicher über den Ozean bringen, ohne dass es in Suthyfer anlegen muss.« »Sei nicht so dumm.« Temar machte keinen Versuch, seinen Spott zu verbergen. »Dann hätten sie uns im Würgegriff.« »Niemand würde die Überfahrt riskieren, wenn am Wege Piraten auf der Lauer liegen«, sagte Halice etwas höflicher. »Auch wenn sie nicht zwischendurch an Land müssen.« »Die Bedrohung würde unseren ganzen Handel zum Erliegen bringen.« Ryshad sah Temar an. »Und von dieser Basis aus können sie die gesamte Meeresküste ausplündern. Wenn der Handel mit Inglis von ihrer Gnade abhängt, wird der Kaiser handeln, ob nun mit oder ohne dein Einverständnis. Falls tormalinische Kohorten Fuß auf Suthyfer setzen, dann sollten sie es zu deinen Bedingungen tun, nicht zu Tadriols.« »Und deswegen brauchst du Söldner.« Halice schlug sich mit einer Pergamentrolle gegen ihren Stiefel. »Bezahl sie mit der Beute der Piraten.« »Nein!«, widersprach Guinalle. »Dann wären wir nicht besser als diese Diebe!« Ich hatte genug davon. »Was ist mit Hadrumal? Geld bedeutet nicht besonders viel für Zauberer, die mit Händen voll Feuer um sich werfen oder Leute mit Blitzen aufspießen. Jedes große Schiff wird sinken, wenn Magie es voll Wasser laufen lässt.« Ich hatte mein Bestes getan, um mich den größten Teil meines 161
Lebens von Magie fern zu halten, aber seit ich mich widerstrebend in solche Dinge verwickelt hatte, hatte ich gelernt, ihren Nutzen zur rechten Zeit am rechten Ort zu schätzen. »Was wird der Erzmagus dafür verlangen?«, fragte Temar herausfordernd. »Wenn du mit Tadriol brechen willst, reicht es aus, Planir ins Spiel zu bringen«, sagte Halice mit Nachdruck. »Das Misstrauen Tormalins gegenüber dem Ehrgeiz der Magie wird einen Höhepunkt erreichen.« »Das könnte Kellarins Handel genauso schaden wie die Piraten«, sagte Ryshad zögernd. »Ich glaube nicht, dass Planir helfen könnte.« Allins leise Worte blieben beinahe ungehört, doch Temar hielt inne und sah sie an. »Sprich weiter.« Sie wurde rosa. »Offensichtlich könnte er seine Magie benutzen, aber ich glaube, dass er das nicht will, dass er Hadrumal nicht aufgrund seiner Autorität als Erzmagus ins Spiel bringen will. Der Rat ist ohnehin schon äußerst gespalten darüber, ob sich die Zauberei in weltliche Angelegenheiten einmischen sollte oder nicht ...« Ryshad wehrte Temars empörten Ausruf ab. »Wieso?« »Gegen die Elietimm zu kämpfen war eine Sache«, sagte Allin mit einem entschuldigenden Blick zu Guinalle. »Sie sind eine magische Bedrohung, aber Piraten sind eben nur Piraten. Planir steht unter Druck, einen neuen Wolkenmeister zu ernennen ...« »Und solche Dinge sind ja so viel wichtiger als Leben oder Tod für Kellarin«, unterbrach Temar bissig. Obwohl sein Zorn sich nicht gegen sie richtete, wurde Allin tiefrot und senkte den Kopf so weit, dass wir nur noch ihre aufgerollten Flechten sehen konnten. Ich versprach mir selbst, 162
dass ich schon bald Temar begreiflich machen würde, dass das Mädchen diesen unsensiblen Klotz heimlich verehrte. »Aber was ist mit Parrail?« Guinalles Kummer machte Zorn Platz. »Wir wollen uns die Gegend mal ansehen.« Halice rollte ihr Pergament auf dem Tisch aus. »Wir können wenigstens mal sehen, wie viel Truppen wir bräuchten«, sagte Ryshad zu Temar. Ich sah mir die drei Köpfe an, die sich eng über die Karte beugten. Wenn Halice schon stur wie ein alter Ochse war, gaben Temar und Ryshad ein passendes Paar ab, das genauso dickköpfig war. Ihre Beratung würde noch eine Weile dauern. Guinalle funkelte Temars ungerührten Rücken wütend an und stapfte davon, um sich wieder auf die Bank vor dem Feuer zu setzen. Ich tippte Allin auf die Schulter, sodass sie aufsah. »Planir kann doch nicht tatsächlich ein Auge auf alles haben, was ein Zauberer tut, oder?« Allin sah mich verwirrt an. »Wie meinst du das?« »Wenn wir Magier hätten, die uns helfen, ohne dass Planir unbedingt davon wüsste, so könnte ihn auch niemand dafür tadeln, und wir könnten vielleicht einen rascheren Weg durch das Ganze finden, als Schwerter hinzuschicken.« Ich warf einen Blick auf Ryshad, der eindeutig versuchte, Halice und Temar davon abzuhalten, sich ernsthaft zu streiten. Ich würde nie seinen oder Halices Geschmack am Kampf teilen, und wenn Magie das Risiko verkleinern konnte, dass sich meine Freunde von einem Piratenschwert aufspießen ließen, dann würde ich alles tun, damit die Runen zu meinen Gunsten fielen. »Ich werde mein Bestes tun«, stammelte Allin. 163
»Ich bitte dich ja nicht darum, es allein mit ihnen aufzunehmen!« Ich war vor Entrüstung lauter geworden, als ich beabsichtigt hatte, und fing einen neugierigen Blick von Ryshad auf. »Lass uns ein bisschen an die frische Luft gehen.« Wir traten auf die gepflasterte Straße. Ich wagte es nicht zurückzuschauen und überlegte, wie viel Zeit uns blieb, bis Ryshad kam, um herauszufinden, was ich vorhatte. »Kannst du mit Shiv Kontakt aufnehmen?«, fragte ich Allin. »Bist du nicht zu müde?« »Nicht für etwas, wofür ich Feuer brauche.« Sie gestattete sich ein kleines Lächeln. »Er hat Recht, weißt du, Shiv, meine ich. Je mehr Magie ich wirke, desto stärker werde ich.« Ich merkte, dass einige der Leute, die zu Temars Versammlung gekommen waren, uns vom Ende der Straße her mit lebhafter Neugier beobachteten. Ich lächelte sie sanft an und wandte mich dann um und führte Allin in die löblichen Anfänge eines Küchengartens, den Bridele hinter der Halle angelegt hatte. »Wo können wir ein bisschen Ruhe und Frieden finden, damit du arbeiten kannst?«, überlegte ich. »Der Schrein?«, schlug Allin vor. »Niemand wird uns bei unseren Gebeten stören.« »Gute Idee.« Es würde eine Weile dauern, bis Ryshad auf die Idee kam, mich dort zu suchen. Ich ging voran zu dem Heiligtum, das die älteren Frauen der Kolonie hinter dem Marktplatz Drianon geweiht hatten. Das kleine steinerne Gebäude stand in einem kleinen Garten, in dem nicht ein Unkräutchen zwischen den üppigen Blumen zu sehen war. Die Tür war bereits mit Bändern und Tuchfetzen gespickt, die als Zeichen für eine von der Göttin erbetene Gunst daran gepinnt waren. Ich hatte auch schon überlegt, das zu tun, nur als Hinweis, dass die Schiffe, 164
die diesen Sommer kommen sollten, gerne hoffnungsvolle junge Mädchen mitbringen konnten, die bereit waren, sich ihren Platz in diesem neuen Leben als Mädchen für alles zu verdienen. Aber das würde nicht geschehen, nicht ehe wir diese Piraten losgeworden waren. Drinnen waren die Wände frei von den dicht gedrängten Reihen von Bestattungsurnen, wie wir sie in Ensaimin gesehen hätten, und ich für mein Teil war froh darüber. In der Mitte stand eine Statue von Drianon, deren Eleganz nicht so recht zu der Schlichtheit des Schreins passte. Das hatte Temar im letzten Sommer veranlasst. Er hatte die Hälfte der Bildhauer in Tormalin aufgesucht, bis er sich für einen entschied, den er sowohl für gut als auch fromm genug hielt, um die reife Schönheit der Erntekönigin darzustellen, deren ernstes und reifes Gesicht von Weizen gekrönt war und aus deren zusammengelegten Händen die Früchte des Herbstes quollen. Ein paar Opfer lagen zu ihren in Sandalen steckenden Füßen, vor allem die kleinen Dinge des Alltags, die Frau Beidans Gefühle so beleidigt hatten. Ein Granathalsband lag dort, das mehr zu der bewussten Zurschaustellung von Frömmigkeit passte, wie sie heutzutage üblich war, und ich fragte mich, was wohl nötig war, damit ich das dringende Bedürfnis verspürte, mir Drianon gewogen zu machen. Ich verwarf die Idee, als Allin einen polierten Zinnteller aufhob. »Einen Fidibus, bitte.« Ich reichte ihr ein Holzstäbchen aus einer Kiste neben dem Weihrauchbrenner und sah der Magierin zu, wie sie mit Flamme und Metall arbeitete. »Shiv?« Ich stellte mich neben die Magierin. »Shiv, ich bin es, Livak.« Ich sah in den gleißenden Kreis, der ein Loch in den Zinn 165
brannte, und sah den Zauberer friedlich an seinem Küchentisch sitzen. »Wem oder was verdanke ich denn das Vergnügen?« Shiv wirkte belustigt, und sein Liebhaber Pered hob freundlich grüßend die Hand. Allin zeigte ihre Grübchen und winkte ein wenig, sodass sie fast ihre Ponyfransen versengt hätte. »Kein Vergnügen«, sagte ich grimmig. »Wir brauchen deine Hilfe. Piraten haben sich auf Suthyfer niedergelassen, und sie haben schon zwei Schiffe dieses Jahr gekapert. Schau es dir selbst mit Weitsicht an.« Shiv sah sie zweifelnd an. »Planir ...« Ich unterbrach ihn rüde. »Ich will nicht zu Planir gehen. Allin führt tausend Gründe an, warum er nicht helfen will. Ich will dich und Usara, wenn er bereit ist.« Allin ergriff das Wort. »Jeder andere, der helfen könnte, wird als Lohn ein Stück von Kellarin wollen, oder sie werden darüber debattieren, ob sie sich einmischen sollen oder nicht, bis Poldrion jeden hier zu sich geholt hat.« Shiv lehnte sich zurück und versuchte Worte zu finden für etwas, das ihm Sorgen bereitete. »Du schuldest mir noch was, Shiv«, warnte ich ihn. »Du und Usara. Ihr habt mich schließlich dazu erzwungen, für Planir zu arbeiten, und seitdem habt ihr euren Schuldenberg noch vergrößert.« Ich lächelte gerade genug, damit Shiv wusste, dass ich alle Gewinnrunen in der Hand hielt. »Ich kündige hiermit deinen Kredit.« Allin kicherte und die Flamme des Fidibusses flackerte. »Darni hat dir die Daumenschrauben angelegt, nicht ich«, wandte Shiv ein. »Außerdem habe ich deine Haut oft genug gerettet, um das Konto auszugleichen.« 166
»Wer hat dich in einem Stück von den Eisinseln geschafft?«, fragte ich herausfordernd. »Wer hat Lord Finvar dazu gebracht, dieses ranzige alte Buch herauszurücken, das du so dringend brauchtest?« »Was soll ich denn eigentlich tun?«, fragte Shiv. »Außer zu riskieren, dass ich mir Planirs Zorn zuziehe.« »Naldeth und Parrail sind Gefangene«, erklärte ich Shiv offen. Damit hatte ich seine Aufmerksamkeit und auch die Pereds. »Gemeinsam mit der Besatzung und den Passagieren und wer sonst noch auf diesen Schiffen war. Diese Schiffe sind außerdem voller Dinge, die Kellarin braucht.« »Das wirst du nicht alles zurückbekommen, nur meine und 'Sars Hilfe«, sagte Shiv unbestreitbar richtig. »Darum wird gekämpft werden müssen. Wir können uns zu euch versetzen und unsere Magie einsetzen«, bot er an. »Und mich«, setzte Allin sofort hinzu. »Ryshad, Halice und Temar streiten sich im Augenblick darüber, wie sie am besten vorgehen sollten«, gab ich zu. »Aber Kellarin hat kaum die Männer dafür.« Ich dachte über das Problem nach. Wenn Shiv sagte, Magie allein würde es nicht tun, dann musste ich ihm glauben, egal wie viele Balladen etwas anderes behaupteten. Nun, wir brauchten mindestens noch eine Schiffsladung. »Ihr könntet dort helfen, nicht wahr? Ein Schiff von der anderen Seite des Ozeans herbringen und den Amboss spielen, wenn Temars Männer loshämmern?« »Söldner anwerben?« Ich konnte selbst durch den Zauber sehen, dass Shiv skeptisch war. »Woher?« »Bremilayne, Zyoutessela, wo immer ihr die Küste gut genug kennt, um euch selbst mit Magie hinzubringen. Es gibt immer Seeleute, die in den Häfen herumhängen und sich für einen 167
Kampf anheuern lassen, wenn du ihnen nur genug Geld bietest«, sagte ich drängend. »Und wenn ihr dann dabei seid, wird die ganze Sache erheblich schneller aus und vorbei sein. Je schneller wir handeln können, umso weniger Menschen werden an Poldrions Fähre Schlange stehen müssen.« »Ich werde es mir mit Weitsicht anschauen und sehen, was ich davon halte«, versuchte Shiv, Zeit zu gewinnen. Ich fand, ich hätte ihn für den Augenblick genug gedrängt. »Sag Usara, es wäre eine großartige Möglichkeit, Guinalle zu beeindrucken. Die meisten Verehrer tauchen nur mit einem Strauß Blumen oder ein paar Bändern auf.« Pered lachte, und ich hauchte ihm einen Kuss zu. Ich mochte Pered. »Ich werde mich bei Sonnenuntergang, unserem Sonnenuntergang, bei Allin melden.« Shiv sah immer noch sehr ernst aus und brach den Zauber mit einem Fingerschnipsen. Ich sah Allin an. »Das behalten wir aber im Augenblick für uns, ja?«
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Die Inselstadt Hadrumal 18. Nachfrühling
»Aufgespießt wie eine Ratte an einem Zaunpfosten«, sagte Shiv mit Abscheu, doch als er die große Tonschale berührte, die er für Weitsicht verwendete, zitterte seine Hand nicht. »Ich glaube nicht, dass er tot ist.« Usara sah aus, als wäre ihm übel, und er hielt sich an den Aufschlägen seines schlichten braunen Gewandes fest. Die Zauberer befanden sich in Shivs ordentlich aufgeräumter Küche, in der jede Pfanne an ihrem Haken über dem großen Herd hing, Teller und Schalen sich auf einem Regal unter dem Fenster stapelten. »Das könnte Tage dauern.« Pered fuhr sich mit den stumpfen Fingern seiner Hand durch die dunkelblonden Locken. »Du wolltest doch eine hieb- und stichfeste Ausrede, um nach Kellarin gehen zu können, nicht wahr?« Er hängte schwungvoll einen Kessel über die glühende Mitte des langsam brennenden Feuers und wählte ein Gewürzglas aus der bunten Mischung auf einem Bord. »Sei vorsichtig mit deinen Wünschen, denn sie könnten erfüllt werden«, sagte Shiv ohne Humor. »Er kann es uns doch jetzt bestimmt nicht mehr verbieten, oder?« Usara fuhr abwesend mit dem Finger die körnigen Linien nach, die jahrelanges Schrubben in der Tischplatte hinterlassen hatten. »Wir wollen mal fragen.« Shiv löste seinen Zauber auf. Er rollte die Ärmel seines blattgrünen Hemdes wieder herunter und 169
schloss sie bedächtig und akkurat mit silbernen Manschettenknöpfen. »Pass auf, dass Planir dich nicht in eine Kröte verwandelt«, warnte Pered leichthin, als er das tintige Wasser aus der Schale in den steinernen Ausguss schüttete. Shiv blieb stehen und hob einen leichten Umhang auf, der auf einem Stuhl lag. »'Sar wird schon einen Eimer finden, um mich nach Hause zu tragen, wenn er es doch tut.« Usara grinste und winkte zum Abschied. Er folgte Shiv durch das Vorderzimmer des schmalen Hauses, aus dem eine eisenbeschlagene Tür auf die unauffällige Straße führte. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite befanden sich Reihenhäuser, die genauso aussahen wie Shivs, auf den Kopfsteinen dazwischen lagen Häufchen von Schmutz, die stolze Hausfrauen vom Gehweg gefegt hatten. Ein eifriger Jugendlicher kauerte dort, wo die Nebenstraße auf die Hochstraße mündete, und bot seine Dienste als Feger an. Shiv warf dem Burschen ein Kupferstück zu, wartete aber nicht ab, bis er seinen Besen schwang. Er ging rasch durch die Buden und Stände, die in der Mitte der größeren Straße aufgebaut waren, ohne auf die Händler zu achten, die ihre Waren anpriesen. Usara scheuchte einen Gassenjungen weg, der ihm einen Korb voll Fisch anbot. »Wie wollen wir das Spiel spielen?«, fragte er. »Nach Gehör.« Shiv umrundete einen Karren, auf dem sich große runde, dunkelgelb gewachste Käselaibe türmten. Er verlangsamte seine Schritte nicht, als sie den Markt hinter sich ließen und den sanften Hügel hinaufstiegen, auf dem sich die Hallen, die das Herz Hadrumals bildeten, befanden. Kleinere 170
Wohngebäude säumten ihren Weg, jedes Geschoss sprang eine Armeslänge weiter vor als das darunter. Es waren die Heime und Werkstätten der Lebensmittelhändler, Flickschuster, Tuchhändler und Schneider und all der anderen, die diese Zuflucht der Zauberei mit den weltlichen Notwendigkeiten des Lebens versorgten. »'Sar!« Der Magier drehte sich um, um zu sehen, wer sie da gegrüßt hatte. »Planir, wir waren gerade auf dem Weg zu dir!« »Ich dachte, ich mache ein paar Besorgungen, um mir den Staub der Archive aus der Kehle zu spülen.« Der Erzmagier stopfte ein paar kleine, in Papier gewickelte und gut versiegelte Päckchen in eine Tasche seines Wamses, dessen ursprünglich reiches Purpurrot zu einem Mitternachtsblau verblasst und dessen Samt an einigen Stellen abgewetzt war. Shiv legte den Kopf schief und sah Planir prüfend an. »Es gibt Neues aus Kellarin.« »Schlimme Neuigkeiten«, betonte Usara. Planir hob eine Augenbraue. »Lasst uns woanders darüber reden, wo es nicht ganz so belebt ist.« Er ging voran zu einem schmalen Tor, das in den dunklen Schatten der hohen Häuser zu beiden Seiten fast unsichtbar war. Planir berührte das Schloss und öffnete es mit einem leisen Knirschen. Er schob Shiv und Usara hindurch, ehe er es mit einem weiteren Hauch von Magie und einem Lächeln wieder verschluss. »Wir wollen ja nicht, dass sich Kinder oder Tiere hier vergiften.« Bäume standen entlang der Mauern, die den Garten umschlossen, der durch niedrige Hecken und Mäuerchen in Viertel und Achtel geteilt wurde. Jedes Beet war mit Kräutern und 171
Blumen bepflanzt, einige davon langstielig, andere mit kurzen Stängeln, stumpfes Grün und leuchtende Farben durcheinander. Am anderen Ende des Medizingartens gewährte ein zweites Tor Zugang zu einem kleinen Obstgarten, in dem Bienen im Sonnenschein zwischen den Blüten herumsummten. Zu Kopf steigende Düfte kamen und gingen mit der unbeständigen Brise, die erfrischend war, nach dem trockenen Staub der Steine auf der Hochstraße. »Setzen wir uns doch«, sagte Planir liebenswürdig. »Piraten sind auf Suthyfer gelandet, diesen Inseln mitten im Meer«, begann Shiv rundheraus. Usara sah sich um, aber es war niemand anders zwischen den ordentlichen Reihen methodisch gekennzeichneter Pflanzen. »Es ist mehr als ein Schiff und eine bedrohliche Anzahl von Männern.« Shiv deutete auf den klaren Teich in der Mitte des Gartens. »Mach dir selbst ein Bild.« Planir schüttelte den Kopf und ging langsam auf eine Steinbank zu, die in einer von duftenden Ranken überwucherten Laube stand. »Nein, nein, ich vertraue euch, euch beiden.« »Und was willst du jetzt tun?«, fragte Shiv. »Sie haben bereits zwei Schiffe gekapert, die auf dem Weg nach Kellarin waren.« Usara machte ein finsteres Gesicht. »Haben die Besatzung und Passagiere versklavt.« »Aus denen, die sie noch nicht getötet haben«, setzte Shiv hinzu. »Den Kapitän haben sie an seinen eigenen Mast genagelt.« Planir zuckte zusammen, dann runzelte er die Stirn. »Warum tun sie so etwas?« Er setzte sich. »Naldeth und Parrail waren beide an Bord des Schiffes, das 172
gekapert wurde.« Usara hockte sich auf die Kante der Bank. »Noch leben sie.« Shiv verlagerte sein Gewicht von einem Bein aufs andere. »Aber wer weiß, wie lange noch.« »Was sollen wir tun?«, fragte Usara drängend und sah zwischen Shiv und Planir hin und her. Planir pflückte eine Kamille aus einem Holztrog. »Hat Naldeth mit euch Kontakt aufgenommen?« »Nein, aber ich glaube auch nicht, dass er das jetzt könnte.« In Usaras Stimme schwang ein leiser Tadel mit. »Also hat D'Alsennin euch benachrichtigt? Mit Allins Hilfe?« Planir schnupperte den schwachen Apfelduft des gepflückten Krauts. Shivs Stiefel knirschten auf dem Kies, und er verschränkte die Arme. »Livak hat Allin gebeten, uns zu benachrichtigen.« Planir schürzte nachdenklich die Lippen. »Also ist es keine förmliche Bitte um Hadrumals Hilfe. Wissen wir, was D'Alsennin vorhat?« »Sie reden davon, Männer aufzustellen und Schiffe auszurüsten«, antwortete Usara langsam. »Aber du siehst doch sicher die Komplikationen, die sich daraus ergeben«, drängte Shiv. »Söldner ...« »Es ist eine heikle Situation.« Planir nickte. »Wie alles, was Kellarin betrifft.« Er warf die Kamillenblüte zur Seite. »Ich danke euch für die Warnung. Sobald D'Alsennin um meine Hilfe bittet, werde ich mich mit Cas in Verbindung setzen. Ich bin nicht sicher, wie viel Abdrift der Kaiser uns zugesteht, aber wir tun, was wir können, immer vorausgesetzt, der Rat erhebt nicht allzu viele Einwände.« Shiv und Usara starrten ihn mit offenem Mund an. »Aber Naldeth ist einer unserer eigenen Leute!« Usara sprang 173
auf die Füße. »Und Hadrumals Name wird in Vanam verflucht werden, wenn Parrail stirbt.« »Die Mentoren wissen ebenso wie jeder andere, dass eine Reise nach Kellarin mit gewissen Risiken verbunden ist«, sagte Planir kurz angebunden. »Mit Stürmen und Havarien vielleicht.« Shiv sah streitlustig über Usaras Schulter. »Aber nicht damit, Piraten in die Hände zufallen.« »Wir können zu einer Lösung beitragen, mit dem geringsten Blutvergießen«, drängte Usara. »Vielleicht.« Planir sah zu den beiden aufgebrachten Zauberern auf. »Wir können so viel tun, nicht wahr? Uns einmischen, und wenn wir damit drohen, rohe Zauberei anzuwenden, kann uns kein Fürst und keine Macht vom Festland zügeln, wenn wir beschließen, sie nicht zu beachten.« Er lächelte. »Aber dieses Gespräch haben wir schon einmal geführt, mehr als einmal.« Shiv war gar nicht amüsiert. »Ja, Erzmagus, und ich für mein Teil bin es leid.« »Was nutzt Macht, wenn sie nicht genutzt wird?« Usara war fast genauso angriffslustig wie Shiv. »Oje, ihr verhaltet euch, als würdet ihr Kalion und seine Ideen unterstützen.« Planirs Stimme wurde merklich kühler. »Ich hatte ja keine Ahnung.« »Verzeihung, aber das stimmt nicht, und das weißt du auch.« Usara schluckte nur mit Mühe seine Empörung hinunter. »Kalion will von den Reichen und Mächtigen umschwärmt und bewundert werden und dass sie ihm an den Lippen hängen und nur tun, was er sagt«, sagte Shiv verächtlich. »Wir wollen doch nur Leben retten, das unmittelbar bedroht ist!« »Es handelt sich um Piraten, Shiv«, sagte Planir geduldig. 174
»Sie sind eine schwärende Wunde an Tormalins Meeresflanken, und ja, sie könnten ein ernsthaftes Problem für D'Alsennin werden. Aber sie sind nichts Neues. Die Sieurs, die an der Küste sitzen, haben seit Generationen die Küste von Strandräubern und Piraten gesäubert. Das ist keine plötzliche Katastrophe, bei der der Erzmagus Tadriols Hals retten muss. Wenn Hadrumal ohne Rechtfertigung handelt, wird das nur wieder die alten Vorurteile gegen Magie aufrühren, und die düsteren Balladen über zauberische Arroganz werden wieder die Runde durch alle Kneipen von Inglis bis zum Kap der Winde machen.« »Was tun wir denn, um dieser Ignoranz zu begegnen?«, fragte Shiv herausfordernd. »Es ist ja ganz schön zu sagen, dass wir uns nicht mit dem Festland einlassen, wenn es nicht gerade eine Sache auf Leben und Tod ist und ein Herrscher auf den Knien angerutscht kommt und uns anfleht, aber wo bringt uns das langfristig hin?« Usara drückte sich etwas gemäßigter aus. »Wenn die Allgemeinheit Magie immer nur als eine rare Hilfsquelle für die Mächtigen erlebt, ist es kein Wunder, dass sie dagegen ist.« »Magier üben Tag für Tag Zauberei im ganzen Alten Reich aus.« Planir klang ungerührt. »Lehrlinge gehen zu Beginn jeder Jahreszeit wieder nach Hause zurück.« »Aber sie gehen nicht zurück, um Wissen über Magie zu verbreiten«, entgegnete Usara. »Die Meisten sind nur unsere Isolation hier leid oder finden, dass ein Leben des Studierens nicht mehr viel Reiz hat, sobald sie ihre Affinität genügend zu beherrschen gelernt haben, um keine Gefahr für sich und andere darzustellen.« »Es ist ja gerade Furcht, die sie überhaupt hierher führt«, nickte Shiv. »Oder sie hierher schickt, dank uralter Vorurteile. 175
Wie viele von denen, die hier weggehen, wenden je mehr als ein paar Tricks an, um sich das Leben zu erleichtern oder die Einfältigen zu beeindrucken?« »Wäre dir nicht auch lieber, es würden magiegeborene Töchter und Söhne nach Hadrumal geschickt, die begierig sind, nützliche Fähigkeiten zu lernen?«, flehte Usara. »In dem Wissen, dass sie zu Hause willkommen geheißen und für das, was sie tun können, geschätzt werden?« »Ich erinnere mich nicht, je von Magiern gehört zu haben, die am Wegesrand hungern.« Planir pflückte eine weitere Kamille. »Selbst der geringste Zauberer kann sich sein Brot mit seiner Magie verdienen.« »Wenn ihr Fell dick genug ist, um mit den abfälligen Bemerkungen fertig zu werden, wie ich sie mir im letzten Jahr in Ensaimin anhören musste«, sagte Usara erregt. »Und den Hohn der Rationalisten«, fauchte Shiv. »Ich weiß nicht, was schlimmer ist. Ensaimin, Caladhria und der Rest mit seiner leichtgläubigen Angst vor Geschichten vom Chaos, in denen jeder Zauberer eine Bedrohung ist, oder die so genannten vorwärts denkenden Rationalisten, die sagen, Magie ist genauso wichtig wie überholte Frömmigkeit bei ihrer Suche nach befcrbaren Erklärungen für den Lauf der Welt.« Planir lächelte über Shivs Empörung. »Selbst der engstirnigste Naturphilosoph oder holzköpfigste Rationalist kann nicht die Realität von elementalem Feuer leugnen, das ihm die Zehen versengt.« Er wandte sich an Usara. »Und die Wiederentdeckung der Zauberkunst sollte ihren Hohn auf die Religion zunichte machen. Wie viel altes Wissen hast du in den Tempeln von Col und Relshaz ausgegraben?« »Mehr als ich erwartet hatte, aber der größte Teil ist seit dem 176
Chaos verloren gegangen, dank Ignoranz und Vorurteilen.« Usara sah Planir fest an. »Wollen wir tatenlos zusehen, wie Hadrumals Wissen auch durch Würmer und Zerfall verloren geht? Die Zauberei dahinwelkt, unbeachtet?« »Sieh dir Aritanes Volk in den Bergen an«, forderte ihn Shiv mit ausgestreckter Hand auf. »Ihre Zauberer, die Sheltya, sie weigern sich zu handeln, damit das Bergvolk nicht von seinem lind, seinen Wäldern, seinen Minen vertrieben wird – und sie verlieren mit jedem Schritt und jeder Generation an Achtung.« »So wie ich Aritanes Erklärung verstanden habe, halten sich die Sheltya zurück, weil ätherische Kräfte in der Vergangenheit schändlich missbraucht wurden von jenen Clans, die ins Meer getrieben und später die Elietimm wurden. Du hast die Tyrannei der Zauberkunst auf den Eisinseln doch am eigenen Leib erfahren.« Planirs graue Augen leuchteten herausfordernd. »Als die Elietimm ihre Hilfe anboten und das Bergvolk seine Chance ergriff, hat die brutale Hexerei der Elietimm sie an den Rand eines Krieges mit den Städten des Tieflandes gebracht und die unschuldigen Sheltya noch weiter in Misskredit gebracht.« »Es muss doch einen Mittelweg zwischen Nichtgebrauch und Missbrauch geben«, beharrte Shiv. »Sieh dir Kellarin an. Vor dem Chaos war Äthermagie Teil des Alltagslebens. Die Kolonisten haben keine Angst vor Magie gleich welcher Schattierung oder Natur.« »Kommen wir nicht ziemlich vom Thema ab?« Planir stand auf. »Was hat das alles mit den Piraten zu tun?« Die beiden Magier zögerten. »Unsere Hilfe in Vithrancel würde den tormalinischen Kaufleuten zeigen, dass Zauberer jedem helfen, nicht nur den Reichen und Mächtigen«, sagte Shiv langsam. »Und den Händlern 177
aus Dalasor, wer auch immer diese Nachricht mit nach Hause nimmt.« »Ich glaube, Guinalle und Allin arbeiten so viel zusammen, wie sie können.« Usara sah hoffnungsvoll drein. »Zu sehen, wie ihre Fähigkeiten einander ergänzen, könnte für Hadrumal sehr wertvoll sein.« »Das ist etwas, was vor den Rat gehört.« Die Miene des Erzmagiers war nicht zu deuten. »Was, wenn ihr keinen Erfolg habt?« Shiv und Usara sahen ihn unsicher an. »Wenn ihr nach einer Jahreszeit bis zur Erschöpfung ausgelaugt seid von belanglosen Aufgaben in Kellarin?« Planir winkte lässig mit der Hand. »Ich kann mir nicht einmal vorstellen, dass selbst der gelangweilteste Lehrling euch begleitet, nur um dauernd Töpfe zu reparieren. Was gibt es dort, was unsere fähigeren Magier interessieren könnte? Werden wir sehen, wie die exklusive Magie von Hadrumals Meistern krankes Vieh verwöhnt oder einen Stolleneinbruch behebt, nur weil ein Idiot geglaubt hat, die Magie könne ihm die Kosten von Stützbalken sparen? Was, wenn eine Katastrophe über Kellarin hereinbricht und ihr dieser nicht gewachsen seid? Und die andere Seite der Medaille ist, was, wenn ihr tatsächlich eine Katastrophe abwendet und alle glauben, ihr würdet sie in Zukunft vor jeder Gefahr, Von einem Schnitt im Finger angefangen, bewahren? Vielleicht ist es nicht die Angst vor dem Versagen, das die Sheltya zügelt, sondern die Angst vor den Folgen des Erfolgs.« Planir deutete fragend mit einem Finger auf Usara, ehe er sich an Shiv wandte. »Wie genau stellst du dir vor, die Inseln von diesen Piraten zu befreien? Wie willst du nach Suthyfer kommen? Keiner von euch ist schon da gewesen, also braucht 178
ihr ein Schiff. Wo wollt ihr das finden? Die Macht, über Wind und Wellen zu gebieten, ist ja sehr schön, aber ihr braucht trotzdem Hände, die Segel reffen und Leinen belegen oder was Seeleute eben so tun. Sie werden es nicht Naldeth zuliebe tun oder in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft für die Zauberei. Habt ihr genug Gold, um sie anzuheuern?« »Wir treiben schon etwas auf«, sagte Shiv ärgerlich. »Wir wollen helfen, Naldeth, Parrail und jeden anderen armen Kerl zu retten, der es schafft, am Leben zu bleiben. Haben wir deine Erlaubnis zu gehen?« Planir musterte prüfend einen gut manikürten Fingernagel. »Nein.« Usara sah ihn aufmerksam an. »Du verbietest es uns?« »Oh, nein.« Planir sah auf. »Als Erzmagus ist es meine Pflicht, gefährlichen Ehrgeiz zu zügeln, aber ich vertraue euch, euch beiden.« »Also können wir gehen?«, fragte Shiv leicht verwirrt. »Das liegt ganz bei euch.« Planir lächelte. »Wie ich schon sagte, jeder kann eine Überfahrt nach Kellarin buchen, auf eigenes Risiko, versteht sich.« Planir stand auf, und die beiden Magier erhoben sich ebenfalls, als der Erzmagus davonging. »Schließt das Tor hinter euch.« Er verschwand zwischen den hohen Häusern. »Also gehen wir?« Shiv sah Usara an. »Er hat nicht gesagt, wir dürften nicht.« Der blonde Zauberer kratzte sich den Bart. Shiv holte tief Luft. »Also dann. Wo finden wir ein Schiff?« »Zyoutessela?«, schlug Usara vor. Er sah aus, als hätte er Zweifel. »Hast du schon oft in Häfen herumgehangen?« »Lass uns ein Problem nach dem anderen angehen.« Shiv 179
wirkte reumütig, als sie den Garten verließen. »Ich muss es erst Pered sagen, ehe wir etwas anderes tun.« Sie gingen schweigend durch das geschäftige vormittägliche Treiben Hadrumals. »Was ist denn da los?« Usaras Überraschung, als sie um die letzte Ecke bogen, riss Shiv unvermittelt aus seinen Gedanken. Er sah mit halb offenem Mund zu, wie zwei alles andere als geschickte Burschen ein Bett durch die schmale Tür seines Hauses manövrierten. Pered erschien gerade, als die beiden Magier an der Tür ankamen. Er trat beiseite, um einem grauhaarigen Mann Platz zu machen, der ihm harte Goldmünzen in die Hand zählte. »Und da ist dein Glück zurück.« Pered suchte in einer Tasche und reichte dem Mann einen Silberpfennig. »Morgen, Shiv.« Der grauhaarige Mann nickte, ehe er seiner Erwerbung drei Türen weiter folgte. »Meister Wryen.« Shiv folgte Pered ins Haus, Usara lief ausgesprochen neugierig hinterher. Das Vorderzimmer wurde noch immer beherrscht von der breiten, schrägen Fläche von Pereds Kopierpult, doch neue Bänder hielten alle Pergamente nun in ordentlichen Bündeln zusammen, jedes Arbeitsstadium von den ersten schwachen Linien, die für Feder und Tinte gezogen waren, bis zu leuchtenden Illustrationen, denen nur noch der letzte Hauch Gold fehlte. Pered nahm einen schmalen Holzkasten aus einer kleinen Truhe voller farbiger Flaschen und begann, Federn hineinzulegen. »Ich habe dir doch gesagt, wenn du das nächste Mal eine Reise für Planir oder sonst wen unternimmst, würde ich nicht wieder zurückbleiben.« Seine Stimme war liebevoll. Usara senkte den Kopf, um ein Lächeln zu verbergen. 180
»Wir reisen nicht gerade auf Planirs Anweisung«, gab Shiv zu. »Umso besser.« Pered legte behutsam den Deckel auf seine Federn. »Ihr redet schon lange genug über eurem Tee davon, auf eigene Faust loszuziehen.« Er ginste über ihre schuldbewussten Gesichter. »Ich konnte alles über eure Pläne mit anhören, der Zauberei zu ihrem Recht zu verhelfen, wenn ich hier drin gearbeitet habe.« Ein Klopfen an der Tür ersparte es Shiv, eine Antwort zu finden. Pered öffnete, und eine dünne Frau stand davor, die mit lebhaftem Interesse hereinspähte und ihren hellbraunen, über den Kopf geschlungenen Schal mit nervösen Fingern zurechtzupfte. »Dann reist ihr also ab?« »Ganz recht, Abiah.« Pered führte die Hausfrau in die Küche. »Du kannst dir aussuchen, was du an Wäsche oder Geschirr möchtest, gegen Geld, bar auf den Tisch.« »Nach Col wollt ihr, nicht wahr?« Die Frau sah Pered an. »Du hast dort eine Schwester, oder?« Ihre Augen leuchteten, als sie die exotische Auswahl an Gewürzgläsern sah. »Das willst du doch nicht alles mitschleppen. Und die würden sich hübsch in meinem Salon machen.« »Oh, ein paar Gewürze können wir schon mitnehmen.« Pereds Stimme war freundlich, aber er stellte sich schützend vor seine Sammlung. »Die Miete ist für das erste Vierteljahr bezahlt.« Abiah schüttelte den Kopf, während sie gleichzeitig interessiert eine Aufstellung der Küche vornahm. »Müssen ja dringende Geschäfte sein, die dich abberufen und dem alten Bari so viel Profit überlassen. Er wird jemand anderen hier drin haben, noch ehe die 181
Asche im Herd kalt ist, das weißt du.« Pered war gefeit gegen die Einladung, sich ihr anzuvertrauen. »Wenn er das tut, dann sag ihm, er soll die Miete, die er mir noch schuldet, an meine Schwester schicken.« Abiah lachte. »Das werde ich. Am besten schreibst du mir ihre Adresse auf.« »Sag Bari, ich kann ihn im Auge behalten, egal wo ich bin«, setzte Shiv hinzu. Abiah sah aus, als wäre sie nicht sicher, ob das ein Scherz war. »Ich tue mein Bestes, um dafür zu sorgen, dass er euch nicht Unrecht tut.« Sie umarmte Pered rasch. »Ich hoffe nur, wir bekommen genauso nette Nachbarn, wie ihr es gewesen seid. Wisst ihr, meine Tochter heiratet zur Sonnwende. Sie hat nicht viel in ihrer Truhe, also werde ich ihr etwas besorgen, wenn es euch recht ist.« Sie umarmte Pered erneut, doch Shiv trat geschickt aus ihrer Reichweite, sodass sie sich mit einem Abschiedswinken zufrieden geben musste. Pered führte sie durch das Haus und schloss die Vordertür hinter ihr. Er drehte sich um. »Du brauchst gar nicht zu lachen, 'Sar. Die halbe Halle wird wissen wollen, warum du deine Sachen packst.« Usara stellte ein kleines Porträt ab, das er von Pereds Schreibpult genommen hatte. »Dann gehen wir also für immer.« Pered sah erst ihn, dann Shiv an. »Du hast doch nicht ernsthaft geglaubt, dass du zurückkommst? Nicht nach alldem, was gesagt worden ist?«
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Suthyfer, Fellaemions Landeplatz 19. Nachfrühling
»Bist du wach?« »Ich habe kaum geschlafen.« Naldeth richtete sich auf. Er war zerzaust und hatte Ringe unter den Augen. »Was ist los?« »Essen, nehme ich an.« Parrail saß zerknittert und schmutzig unter dem Schutz des Palisadenumganges. Er schlang die Arme um die Knie, als das schwere Tor gerade weit genug aufschwang, um drei Männer und eine Frau mit einem schweren Korb hindurchzulassen. Naldeth sah aus, als wäre ihm übel. »Ich habe keinen Hunger.« Parrails Miene finsterer Entschlossenheit passte nicht recht zu seinem jungenhaften Gesicht. »Wir müssen uns unsere Kräfte erhalten, wenn wir hier herauswollen.« »Wie sollen wir das machen?« Naldeth sah sich hastig um, für den Fall, dass jemand seine unvorsichtige, verzweifelte Frage mit angehört hatte, doch alle anderen bildeten bereits eine mürrische Schlange. Parrail kam mit einem weichen Laib Brot unter dem Arm zurück, die Hände voll beladen mit einem Stück gelbem Käse und einer saftigen Fleischkeule. »Das ist das, was sie geräuchert haben. Irgendein Waldtier.« »Hässlich wie 'ne Jungfrau, aber schmackhaft«, bemerkte eine Stimme über ihnen. Verblüfft hoben sie die Köpfe und sahen einen Piraten auf der Brüstung. Er nickte ihnen einen freundlichen Gruß zu. »Es geht uns gar nicht so schlecht.« Naldeth und Parrail tauschten einen wachsamen Blick und 183
widmeten sich ihrer Mahlzeit. »Ihr beiden mit euren zarten Händen und den neuen Kleidern, ich schätze mal, ihr leidet nicht oft Hunger.« Der Pirat hob die Stimme und lenkte den Blick von drei Burschen auf sich, die ein Stück entfernt von den Magiern saßen. »Schließt euch Muredarch an, und das Knurren eines leeren Magens wird zu einer bloßen Erinnerung, das schwöre ich euch.« »Wo kommst du her?«, fragte Parrail neugierig. »Ich?« Der Pirat lehnte sich gegen die gespaltene Borke der Palisade. »Aus einem Dorf namens Gostrand, drei Tagesmärsche von Inglis aus den Dalas hinauf, dort, wo die Hügel hoch genug werden, dass man bei Überschwemmungen trockene Füße behält.« »Dann bist du weit weg von zu Hause.« Das war nicht der Gidestaner, der sie am Tag zuvor aus dem Laderaum gezerrt hatte, stellte Naldeth fest. »Und fünfzigmal reicher, als ich auf meinem Totenbett wäre, wenn ich dort geblieben wäre. Jeder Mann aus Muredarchs Besatzung bekommt den vollen Gegenwert für seine Arbeit.« Der Pirat warf den drei jungen Männern einen weiteren bedeutungsvollen Blick zu. »Ich hatte genug davon, mir den Rücken krumm zu arbeiten für den Hungerlohn, den ein in Seide gekleideter Bastard in Inglis für ein Jahr Graben angemessen hielt, und dann zusehen zu müssen, wie er zehn Goldstücke für jeden Silberpfennig, den er mir gezahlt hatte, bekam, wenn er es entlang der Küste verkaufte.« Plötzliche Unruhe übertönte seine Worte, gebellte Befehle, gehorsame Antworten, und der dumpfe Aufprall und das Knirschen von Kisten und Ballen draußen vor der Palisade. Parrail stieß Naldeth an und deutete auf eine Leiter, die ein weiterer 184
Pirat fest in den zertrampelten Boden rammte, sodass die Gefangenen auf den Umgang klettern konnten. Naldeth blickte den Gelehrten zweifelnd an, folgte ihm aber hinauf. Die erbeutete Ladung der Seebarsch war unter groben Schutzdächern aus Segeltuch und Holzpfählen auf dem freien Gelände vor der Palisade aufgestapelt. Muredarch musterte die Beute und schlenderte in einem dunkelroten Leinenhemd und schwarzen Hosen herum, um seine Hüfte schlangen sich goldene Ketten, die in der Sonne glänzten. Eine dunkelhaarige Frau in einem mattgrünen Kleid ging hinter ihm, ein großes Kontobuch auf dem Arm, eine gespitzte Feder in der Hand. Muredarchs Pfiff war im ganzen Lager deutlich zu hören und rief Frauen und Piraten zusammen, die bei ihren Zelten und Hütten ihrer Arbeit nachgingen. »Kannst du hören, was er sagt?«, fragte Parrail Naldeth leise. Naldeth schüttelte den Kopf. »Es ist alles aufgeschrieben, damit es keinen Streit gibt«, sagte der Pirat beifällig. »Die, die beim letzten Mal die letzten Lose gezogen haben, treten zuerst vor.« Ein Mann und eine Frau warteten auf Muredarchs Nicken, ehe sie einen Ballen Tuch und ein Fass nahmen. Die Frau in Grün notierte etwas in ihrem Kontobuch, als der Mann das schwere Fass vorsichtig davonrollte, seine Gefährtin balancierte den Stoff auf ihrer Schulter. Beide strahlten. Der nächste Mann sprach erst mit Muredarch, ehe er mit einer schweren Truhe davonzog, deren Seilgriffe sich unter dem Gewicht des Inhalts bogen. »Das sind die Werkzeuge meines Onkels«, sagte ein junger Bursche düster. »Und meine Lehre geht mit ihnen dahin.« »Leiste deinen Eid gegenüber Muredarch, und verdien dir et185
was, wogegen du sie eintauschen kannst.« Noch ein Pirat kam herbei, ein finsterer Geselle mit Narben auf den Unterarmen, von denen einige längst verheilt, andere noch frisch waren. »Ausbildung bei deinem Onkel? Hier gibt es keine Meister, mein Junge, die alles Geld einheimsen und dir noch nicht mal die Hälfte von dem Lohn gönnen, den sie dir versprochen haben. Ich würde jedenfalls nicht mehr für den Tageslohn eines Gesellen arbeiten.« Er lachte und wedelte mit einer beringten Hand, deren schmutzige Fingernägel den Eindruck schmälerten. »Ich verdiene dreimal so viel in der Hälfte der Zeit!« »Du musst aus Tormalin stammen, deinem Akzent nach«, bemerkte Naldeth vorsichtig. Der Pirat sah ihn an. »Aus Savorgan. Was interessiert dich das?« Naldeth zuckte die Achseln. »Nur so, einfach um sich zu unterhalten.« Der Pirat drehte sich wieder zu dem Lehrling um. »Hast du schon deine Antwort für Muredarch?« Der Junge wirkte ängstlich. »Ich bin mir noch nicht sicher.« »Du wirst gefragt, sobald die Beute verteilt ist.« Der Pirat deutete auf die geduldige Menschengruppe, die mit Eimern und Kannen wartete, während Fässer mit eingesalzenem Fisch und getrockneten Erbsen verteilt wurden. Die Frau in Grün hatte sich zu einem Piraten mit sandfarbenem Haar gesellt, der eine Reihe kleiner Flaschen und Flakons öffnete. Er kostete vorsichtig aus einem, ehe er es hochhielt. »Grünes Öl.« Eine Frau hob die Hand und eilte nach vorn, um es zu nehmen. Gewürzessig und Senföl wurden mit ähnlicher Lebhaftigkeit beansprucht, doch die Frau in Grün winkte einen Mann beiseite, der ein Glas mit Arzneiöl haben wollte. Der blonde 186
Pirat spülte sich den Mund mit Wasser aus einem Schlauch an seinem Gürtel und spie aus, ehe er mit seiner Verkostung fortfuhr. »Wer ist sie denn?« Naldeth beobachtete, wie sich eine wachsende Auswahl an Gewürzen und Luxusgütern vor den Füßen der Frau stapelte. »Ingella.« Der Pirat mit den Narben war wachsam. »Muredarchs Frau.« Die Frau sah sich um und rief einem grauhaarigen Mann in den Fetzen einer Seemannshose etwas zu. Seine Füße waren nackt, Peitschennarben zogen sich im Zickzack über seinen nackten Rücken. Er zuckte zusammen, als ob er einen Schlag erwartete, als die Frau auf ihre neuen Besitztümer deutete. »Das ist dein Los, wenn du den Eid nicht leistest«, bemerkte der Pirat mit freundlicher Anteilnahme. »Jedermanns Sklave und niemandes Freund.« Parrail zupfte Naldeth am Ärmel, und sie stahlen sich entlang des Umgangs davon. »Was hast du vor?« »Schwören, denke ich«, wisperte der Magier unbehaglich. Parrail erblasste unter dem Schmutz auf seinem Gesicht. »Es macht dir nichts aus, einen Meineid zu leisten?« »Ich glaube nicht, dass Raeponin es mir vorwerfen wird.« Naldeths kläglicher Versuch eines Lächelns scheiterte. Ein neuer Ausbruch von Unruhe zog die Aufmerksamkeit auf sich. Ein untersetzter Pirat zerrte einen Jugendlichen vom Ufer herbei. Der Junge versuchte, seine aufgeschnürten Hosen festzuhalten, doch er verlor sie aus dem Griff und stolperte, als sie ihm auf die Knöchel rutschten. Er wurde trotzdem weitergezerrt, sein nackter Hintern leuchtete hell in der Sonne, durch die Demütigung brannte sein Gesicht tiefrot. 187
Sein Häscher ließ ihn vor Muredarch fallen, seine Miene sprach beredt von seiner Empörung, auch wenn der böige Wind ihm die Worte vom Mund riss. Muredarch hörte aufmerksam zu und drehte den Jungen dann mit der Stiefelspitze um, beugte sich vor und redete mit dem zusammengekauerten Burschen. »Welche Hand wird es wohl sein?«, kicherte der tormalinische Pirat. »Was hat er denn getan?«, fragte Parrail. »Am falschen Ort geschissen.« Der Pirat sog verächtlich die Luft durch die Zähne. »Muredarch sagt, niemand darf den Sund verunreinigen. Entweder du lässt die Hosen runter, wo die Flut die Felsen reinigt, oder du bekommst das da.« Ein massiger Mann kam herbei. Er trug kein Hemd unter seiner Lederweste und schwang eine fünfschwänzige Peitsche. Parrail erkannte in ihm den Piraten, der Gede an seinen eigenen Mast genagelt hatte, und zuckte zusammen, als man dem Jungen das Hemd abstreifte und ihn an einen Pfahl band, der unten am Wasser stand. Muredarch hielt eine Hand hoch, sodass es alle sehen konnten. Es war die vierfingrige Hand, was ein allgemeines beifälliges Gemurmel auslöste. Der tormalinische Pirat nickte. »Das wird ihm eine Lektion erteilen, ohne ihn zu verkrüppeln.« Doch der Mann mit der Peitsche ging trotzdem energisch zu Werke, die Widerhaken der Peitsche zerfetzten dem Jungen die Haut, Blut spritzte in alle Richtungen. Naldeth und Parrail wandten sich ab, ihnen war übel, aber sie sahen, dass mehr Piraten gekommen waren, um scheinbar müßig mit den Gefangenen zu plaudern. »Glaubst du, viele werden Piraten, nur um sich anziehen zu können wie ein Zuhälter am Markttag?« Der Magier sah einen 188
kahlköpfigen Piraten an, der ein unpassend spitzenbesetztes Hemd anhatte und auf ein sanft wirkendes Mädchen zuging. Parrail beobachtete, wie der Pirat ausholende Gesten machte, zweifellos schilderte er ihr alle möglichen Vorteile. Obwohl er dauernd lächelte, hatte er nicht vor, das Mädchen entkommen zu lassen, und fuhr ihr mit seinen groben Fingern durch das Haar und über die Wangen. »Muredarch hat gesagt, Vergewaltigung wäre verboten.« Parrail sah entsetzt zu, wie die schwächlichen Proteste des Mädchens nachließen. Sie stand stumm vor Elend da, als der Pirat besitzergreifend einen Arm um sie legte. »Ein Mädchen festzuhalten und ihr die Röcke zu zerreißen, vielleicht.« Naldeth rieb die Hände aneinander, als ob ihm die Finger wehtaten. »Einem jungen Küken so viel Angst einzujagen, dass es die Beine breit macht, scheint erlaubt zu sein.« Eine Schiffsglocke ertönte, und die Piraten, die sich leutselig innerhalb der Palisade unterhielten, schlugen abrupt einen neuen Kurs ein. »Die Leiter runter!«, befahl der Tormaliner auf dem Umgang, und seine scharfe Miene duldete keinen Widerspruch. Naldeth und Parrail gehorchten hastig und eilten in den Hintergrund des Gefangenenhäufchens, als das Tor weit aufschwang. Muredarch stand in der Mitte, mit einem Willkommenslächeln auf dem Gesicht und seiner einschüchternden Größe. Scharfäugige Helfer standen streng zu seinen Seiten. »Du zuerst!« Er rief einen Mann mittleren Alters auf, der nervös sein Taschentuch in den Händen knetete. »Ich bin nur ein Müller, Euer Ehren«, stammelte er. Muredarch nickte. »Und jetzt haben wir Weizen, dank eures 189
Schiffes. Willst du ihn für uns mahlen? Ich habe Appetit auf frisches Brot nach anderthalb Jahreszeiten mit Zwieback.« Das Gesicht des Müllers legte sich verwirrt in Falten. »Ich weiß einfach nicht, was das Beste ist ...« »Nimm dir alle Zeit, die du brauchst.« Muredarch legte beruhigend eine Hand auf die Schulter des in sich zusammengesunkenen Mannes, ehe er einem groben Kerl mit flachem Gesicht und Tätowierungen auf dem ganzen Arm zunickte. »In der Zwischenzeit kannst du anfangen, deine Schulden zu begleichen.« Der tätowierte Pirat hielt den Müller fest, während der Mann, der denjungen ausgepeitscht hatte, ihm Mantel, Hemd, Socken und Stiefel auszog. Der Tätowierte knotete einen dicken Lederriemen fest um den Hals des Müllers und führte ihn daran wie an einem Halsband davon. »Wenn du den Weizen nicht mahlen willst, kannst du die Säcke schleppen, alter Narr.« »Lass es mich wissen, wenn du deine Entscheidung getroffen hast«, rief Muredarch freundlich, ehe er auf den nächsten Mann deutete, der ihm ins Auge fiel. Der ehemalige Seemann neigte den Kopf in einer hastigen Verbeugung. »Ich schwöre, aber ich mache keine Überfälle.« »Gut gesprochen«, sagte Muredarch in einem seltsam förmlichen Tonfall. Er richtete sich zu voller Höhe auf. »Schwörst du, mir in allen Dingen Gehorsam zu leisten, alle so Eingeschworenen als deine Brüder und Schwestern im Schwüre zu behandeln? Legst du dein Schicksal in meine Hände nach dem Gelöbnis, auf das wir alle vertrauen?« »Ja.« Der Seemann brachte ein ersticktes Flüstern zu Stande. »Das schwöre ich«, soufflierte der Peitschenmann mit einem wütenden Blick. »Das schwöre ich.« 190
Muredarch sah seinen neuen Rekruten einen Moment lang nachdenklich an. »Geh zu Ingella. Setz deine Unterschrift oder deinen Daumenabdruck unter deinen Namen in der Stammrolle, dann teilt sie dir deinen Platz zu.« Die Nächsten leisteten alle den Schwur, einige mit sichtlichem Widerstreben, zwei Frauen beharrten voller Angst stammelnd darauf, dass sie bei keiner Piraterie mitmachen würden. Muredarch behandelte beide mit ausgesuchter Höflichkeit. Die wenigen Widerspenstigen wurden ausgezogen und entweder zu einer Arbeit geschleppt oder hinter die Palisade geworfen. Naldeth und Parrail sahen bedrückt zu, wie Piraten kamen und sich aus dem Haufen von Kleidern und Stiefeln bedienten, die im Angebot waren. Einige der Lehrlinge, die Muredarch ihren Eid mit verdächtiger Begeisterung geleistet hatten, taten es ihnen nach. »Schwörst du, mir in allen Dingen Gehorsam zu leisten, alle so Eingeschworenen als deine Brüder und Schwestern im Schwüre zu behandeln? Legst du dein Schicksal in meine Hände nach dem Gelöbnis, auf das wir alle vertrauen?« Muredarch lächelte die Frau an, die am Vortag beinahe ins Wasser gefallen wäre. »Das sch...« Sie brach ab und schluckte. »Das schwö...« Die Frau hustete, ihr Gesicht verfärbte sich rot vor Luftmangel. Sie fiel auf Hände und Knie und rang nach Luft, während Muredarch ungerührt auf sie hinabsah. »Mama!« Ihre Tochter schrie und wäre zu ihr gerannt, doch der tätowierte Pirat schnappte sie und legte ihr eine große Hand über den Mund. Die Frau brach zusammen, schnaufte wie ein verwundetes Tier, ihre Lippen wurden tödlich blau. 191
Die übrigen Gefangenen standen wie erstarrt vor Schock, doch nur wenige der Piraten, Männer wie Frauen, schenkten ihr mehr als ein flüchtiges, bedauerndes Kopfschütteln. Parrails Augen waren vor Entsetzen weit aufgerissen, als er Naldeth anstieß. »Zauberkunst«, sagte er lautlos. Naldeth zitterte, seine Fäuste waren geballt, Schweißperlen standen ihm auf der Stirn. »Es ist ihre eigene Schuld«, erklärte Muredarch im Unterhaltungston. »Sie versuchte, den Eid zu leisten, ohne es wirklich ernst zu meinen. Oh, hatte ich das nicht gesagt? Wir dulden hier keine Falschheit. Versucht es, und ihr werdet sterben wie diese arme Närrin. Denkt daran, ehe ihr euch entscheidet.« Er lächelte der Tochter der Toten zu, die der tätowierte Pirat losließ, damit sie sich über der Toten das Herz aus dem Leib schluchzen konnte. Anschließend leisteten die Gefangenen ihren Eid oder weigerten sich schnell und verängstigt, und schließlich gab es kein Entkommen mehr für Parrail und Naldeth. »Ich kann dir nicht schwören.« Der Gelehrte kam zitternd Muredarchs Frage zuvor. Der Piratenanführer musterte den Gelehrten mit gnadenlosem Blick von Kopf bis Fuß. »Vielleicht möchtest du es dir nochmal überlegen. Ingella hat gesagt, sie brauche einen Schreiber.« Er nickte, und Parrail wurde dem Tätowierten und dem Peitschenmann übergeben. Sie streiften ihm unsanft die Kleider ab und schleuderten ihn in den dunklen Schatten der Brüstung, wo schon die anderen Gefangenen kauerten. Er war kaum wieder zu Atem gekommen, als Naldeth auf dem zertrampelten Gras neben ihm landete. Der Magier zuckte zusammen und schob den Lederkragen von dem Striemen, den 192
er an seinem Hals eingegraben hatte. »Der Bastard hat mir keine Chance gegeben, aufzustehen.« »Auf die Füße mit euch.« Der Tätowierte musterte die kauernden Gefangenen. »Ihr seid namenlos und ohne Freunde, und das werdet ihr auch bleiben, wenn ihr nicht Muredarch schwört. Ihr führt jeden Befehl aus, der euch gegeben wird, dann bekommt ihr zu essen. Keine Arbeit, kein Essen. So, jetzt könnt ihr anfangen, indem ihr Feuerholz sammelt.« Parrail streckte die Hand auf, um Naldeth aufzuhelfen, doch ein Stock schlug ihm heftig die Hand weg. »Wenn er nicht aufstehen kann, kann er hier sitzen bleiben, bis er verhungert.« Es war der gidestanische Pirat, und in seinen Augen lag nichts Freundliches mehr. Parrail wich zurück und umklammerte seinen Arm. Naldeth sah in wachsamem Schweigen zu, bis der Gidestaner zu der Tochter der toten Frau kam, die vergebens versuchte, ihre Blöße mit ihrem zerrissenen Kleid zu bedecken. Der Handabdruck, des Tätowierten in ihrem Gesicht war noch immer deutlich zu erkennen. »Wenn sie Zauberkunst verwenden, müssen wir es Guinalle wissen lassen«, wisperte der Zauberer Parrail drängend zu. Das Gesicht des Gelehrten war angespannt vor Schmerz. »Ich versuche es heute Nacht.« Er zuckte zusammen. »Aber ich glaube, der Bastard hat mir das Handgelenk gebrochen.«
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Kapitel 3
An Keran Tonin, Mentor an der Universität zu Vanam, von Rumex Dort, Archivar des Hauses Den Castevin, Toremal. Dies ist alles, was ich an jüngeren Berichten über Piraten finden konnte, aber wir sind in solche Dinge auch nur selten verwickelt. Ich frage mal herum und sehe zu, was ich dir sonst noch kopieren lassen kann. Wenn du das nächste Mal auf der Durchreise hier bist, kannst du mir etwas zu trinken spendieren und mir erklären, worum es eigentlich geht. Protokoll des Herbstäquinoktium-Gerichts, abgehalten in Chanaul im zweiten Jahr Tadriols des Fürsorglichen Vorsitz: Junker Burdel Den Gennael, Justiziar unter dem Kaiserlichen Siegel; beglaubigt durch Pächter der Häuser Den Hefeken, Den Fisce und Tor Inshol, die durch Los bestimmt wurden. Zusammenfassung der Fälle mit Bezug auf maritime Angelegenheiten, die vor Gericht gebracht und durch die entsprechend bestimmten Personen als ordentlich behandelt beglaubigt wurden. Der Kapitän des Schiffes Strandschnecke wurde vor Gericht gestellt, nachdem er von Schiffen Den Fisces am 35. Nachsommer unter dem Verdacht der Piraterie aufgebracht wurde. Der Kapitän weigert sich, seinen Namen zu nennen, und auch von der Besatzung ist er trotz der lang andauernden beengten Ver194
hältnisse nicht in Erfahrung zu bringen. Drei Namen sind für den Mann angegeben worden, aber keiner kann als verlässlich betrachtet werden. Das Schiff enthielt Waren, die nachweislich im Hafen von Schwarzenfels gestohlen wurden und aus dem Wrack der Scherwasser geraubt wurden, einem Schiff im Besitze Tor Inshols, das auf den Klippen unter dem Austernfelsen zerschellte. Kapitän und Besatzung werden als Diebe verurteilt zu einem Brandzeichen auf der rechten Hand und zur Auspeitschung im Hafen von Schwarzenfels, auf dass alle Schiffsführer ihre Gesichter kennen lernen und sie in Zukunft meiden. Wer einen rechtmäßigen Anspruch auf ihre Waren erheben kann, möge sie von Den Gennaels Schiffswrackverwalter einfordern. Alle übrigen Güter werden dem Schrein Dastennins überstellt, auf dass die Bruderschaft sie zu Gunsten der Witwen und Waisen von Seeleuten verwendet. Malbis Cultram wurde von Den Hefekens Rechtspfleger vor Gericht gebracht, seine Verhaftung erfolgte, nachdem unabhängig voneinander drei Anklagen wegen seiner Beteiligung an Piraterie vorgebracht wurden. Seidenstoffe, Weine und kostbare Gewürze wurden in seinen Kellern gefunden, doch Cultram kann weder Rechnungen dafür vorlegen noch Handelspartner nennen als Beweis für sein Anrecht auf diese Waren. Er behauptet, er hätte sie für seinen eigenen Bedarf gekauft, kann aber weder Handel noch Beruf nachweisen, um die Geldmengen zu rechtfertigen, die in seinen Kassetten gefunden wurden, noch eine so überreiche Menge an Luxusgütern. Zeugen aus Schwarzenfels, die getrennt befragt wurden, haben Cultrams Umgang mit allgemein bekannten Piraten bestätigt. Eine Reihe von Karten der Küstengewässer, gezeichnet von der Lotsenakademie von 195
Zyoutessela, wurden unter seinen Privatpapieren gefunden. Cultram war nie an der Akademie eingeschrieben, und der Besitz dieser Karten ist daher ungesetzlich. Weiterhin hat der Lotsenmeister seine eidesstattliche Erklärung geschickt, dass diese besonderen Karten dem Steuermann der Schlangenstern ausgehändigt wurden. Dieses Schiff Den Rannions ging im zehnten Jahr Tadriols des Fürsorglichen an die Piraten verloren, wobei alle an Bord dem Schwert übergeben wurden, bis auf einige wenige, die durch Zufall und Saedrins Gnade überlebten. Einer dieser Seeleute, Evadin Tarl, wurde vor Gericht gebeten und identifizierte Cultram als einen jener Piraten. Cultram wird verurteilt, zur Sonnenwende in Ketten im Hafen von Kalaven gehängt zu werden. Sein Leichnam wird zur besseren Erhaltung geteert, zur dauerhaften Mahnung an alle, die versucht sind, seinem Beispiel zu folgen. Kemish Dosin stand aus freiem Willen vor Gericht, um den wiederholten Anschuldigungen durch seinen Nachbarn Rumek Starn, er, Dosin, habe die Angewohnheit, mit Piraten zu segeln, entgegenzutreten. Dosin wohnt in Savorgan und verfügt über keine besonderen Fähigkeiten, nachdem er seine Lehre bei einem Zimmermann vor einigen Jahren abgebrochen hat. Sein früherer Lehrherr will ihm kein Zeugnis ausstellen. Vorgeladene Zeugen stimmten darin überein, dass Dosin gelegentlich als Hilfskraft auf Flussbooten arbeitet, bestreiten aber, dass er je auf einem Hochseeschiff gesegelt ist. Die Hafenmeister in Kalaven, Schwarzenfels und Zyoutessela können ihn auf keiner Besatzungsliste finden. Starn konnte keinerlei Beweise außer seinen unbewiesenen Anschuldigungen vorbringen. Dosin berief sich auf den Eigentümer der Schänke Zur Schwarzen Ratte, der 196
Starns beträchtliche Wettschulden an Dosin bestätigte. Die Anklage wird also fallen gelassen, und Starn wird bis spätestens zur Sonnenwende eine Strafe von fünfundzwanzig Kronen an den Raeponin-Schrein in Savorgan zahlen. Sollte er das unterlassen, wird er für die Dauer der Festtage an den Pranger gestellt. Fulme Astar, in letzter Zeit Apotheker von Tannat, stand vor Gericht auf Beharren des Sieurs Den Sacoriz, dass in diesen Protokollen festgehalten werden möge, dass er das Reich in seinen jetzigen Grenzen für immer verlassen wird. Den Sacoriz verlangt sonst eine Erklärung für Astars Anwesenheit auf dem Piratenschiff Hundsmuschel, das am 7. Vorherbst von Schiffen Den Hefekens aufgebracht wurde, nachdem sie Zeuge eines unprovozierten Angriffs auf das Handelsschiff Sturmschwalbe aus Inglis waren. Das Gericht bestätigt, dass die Besatzung zwar nach blutigem Kampf gefangen genommen und rechtmäßig an der Rahe aufgeknüpft wurde, es aber keinen Beweis dafür gibt, dass Astaran dem Überfall teilgenommen hat. Den Hefekens Kapitän tat also Recht daran, ihn an die Gerichtsbarkeit Den Sacorizes zu überstellen, da er früher einmal Lehnsmann dieses Hauses gewesen war. Eine ausführliche Befragung hat Astars Behauptung, er wäre auf der Straße in Tannat von den Piraten entführt worden, um ihnen medizinische Hilfe zu leisten, nicht bestätigen können. Er unterlag an Bord keinen Einschränkungen, es gibt keine Hinweise darauf, dass er schlecht behandelt oder gezwungen wurde. Den Sacorizes Rechtspfleger hat auch Zeugen dafür, dass Astars Frau sich oft bei der Wache beklagt hat, dass er sowohl ihr als auch den Kindern gegenüber gewalttätig wurde. Die Untersuchungen zum Tod eines Kindes 197
an einer Überdosis Laudanum sind noch nicht zufrieden stellend abgeschlossen. Astar wird aufgefordert, Tormalin zu verlassen, noch ehe die jetzige Jahreszeit um ist, mit nicht mehr Besitz, als er in seinen Händen tragen kann, und nur den Kleidern, die er am Leibe trägt. Das Gericht akzeptiert seinen Einspruch und wird ihn nicht weiter verfolgen. Sollte er zurückkehren, ist sein Leben verwirkt, und derjenige, der es ihm nimmt, kann sich an Den Sacoriz um die angemessene Belohnung wenden.
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Vithrancel, Kellarin 20. Nachfrühling
»Sorg dafür, dass jeder Stein genau da ist, wo du ihn haben willst, ehe du deinen entscheidenden Zug machst.« Ich zog meine Wacholderdrossel über Temars teures Spielbrett, um Allins weißen Raben aus dem Schutz der kleinen Marmorbäume zu zwingen. Eine Kreischeule aus Achat versperrte die Zuflucht zu einem Gebüsch, und dahinter lagen Nebelkrähen auf der Lauer. Wir spielten am Tisch in D'Alsennins Residenz. Alle anderen bereiteten sich auf die Expedition vor, auf der Temar beharrte. Ryshad und Halice hatten zähneknirschend zugestimmt, da keiner von beiden seinen Willen durchsetzen konnte. Allin seufzte. »Naldeth war so nett zu mir, als ich zuerst nach Hadrumal kam, er und sein Bruder. Glaubst du, ich sollte mich mit Gedart in Verbindung setzen?« Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück. »'Sar wird ihn bestimmt informieren.« Vielleicht hatte er es getan, aber das war nicht meine Sorge. Ich wollte nicht, dass Allin sich verausgabte, nicht, wenn sie unsere einzige Quelle der Zauberei war. Ich hatte gesehen, wie Shiv und Usara nach zu viel Elementmagie praktisch besinnungslos wurden, und das Mädchen hatte den größten Teil des gestrigen Tages damit verbracht, Vaspret mit Weitsicht zu helfen, eine genaue Karte von Suthyfer zu zeichnen. Halice war fast unerträglich selbstgefällig gewesen, als Allin ein viertes Piratenschiff entdeckt hatte, auch wenn es nur ein gaffelgetakelter Einmaster war. 199
Allin studierte das Brettspiel ohne Anzeichen dafür, dass sie die Ausweichmöglichkeit sah, die ich ihr gelassen hatte. »Zu sehen, wie dieser Mann geschlagen wurde ...« Sie schauderte. »Halb nackt jemandes Gefangener zu sein ist wahrlich kein Spaß«, gab ich zu. Das wusste ich als kalte, harte Tatsache. »Aber sie bekommen zu essen, und das Wetter kann nur besser werden. Und so Saedrin will, wird es nicht mehr allzu lange dauern.« Allin nickte, sah aber immer noch elend aus, als Guinalle die Tür zu der gepflasterten Gasse öffnete. »Wo ist Halice?« »Spricht mit den Arbeitern der Kupfermine.« Ich deutete in Richtung der Empfangshalle. »Zusammen mit Temar und Rysh. Sie brauchen bestimmt nicht mehr lang.« Sie diskutierten darüber, wie viele Männer sie aus Edisgesset abziehen konnten, ohne die Minen der Gefahr auszusetzen, dass die gefangenen Elietimm dort eine Revolte anzettelten. »Hat Halice ihre Söldner zusammen?«, fragte Guinalle. Ich nickte. »Halice und ich haben Deglain und seine Freunde davon überzeugt, dass sie – egal welche Berufe sie wieder ausüben – immer noch unter Halices Befehl stehen.« Und zwar im Laufe einiger langer Abende in der Kneipe. Ryshad war im Bett gewesen, als ich letzte Nacht nach Hause kam, und schon auf und davon, ehe ich heute Morgen aufgewacht war. »Peyt war bei mir und erklärte mir, dass seine Männer der Meinung sind, ihr Dienst ende an den Küsten von Kellarin.« Guinalles Mund verzog sich vor Missbilligung. »Er sagt, er geht nicht nach Suthyfer.« »Halice wird ihn schon davon überzeugen, dass er sich irrt«, beruhigte ich sie. Halice würde sich über eine Gelegenheit freuen, dem öligen Unruhestifter klar zu machen, dass er falsch lag. 200
»Warte mit uns.« Allin bot Guinalle die Platte mit Törtchen an, die Bridele uns hingestellt hatte. Guinalle nahm widerstrebend eins. »Ich hoffe, Temar besteht nicht darauf, alle außer den Kranken und Lahmen mitzunehmen. Die Piraten zu vertreiben hat nicht viel Sinn, wenn Kellarin dabei vernichtet wird, während er kämpft.« »Hast du mit der Diadem Kontakt aufgenommen?«, fragte Allin plötzlich drängend. Guinalle nickte. »Meister Heled war nicht gerade begeistert, aber Emelan ist zuversichtlich, dass er das Schiff um jede Gefahr herumsteuern kann. Was ist mit der Sturmwind?« Allin nahm ein Törtchen und knabberte daran. »Braull lässt sie von der Strömung nach Süden tragen und biegt dann ab nach Hafreinsaur.« »Ein langer Weg«, meinte ich. »Lang, aber sicherer.« Allin zuckte die Achseln. »Und wenn Braull an Bord ist, mangelt es ihnen nicht an Trinkwasser.« »Ein Vorteil von Schiffen, die einen Magier an Bord haben statt eines Zauberkunstadepten«, erkannte Guinalle reumütig an. Trotzdem schien ein Gespräch über Magie ihre Stimmung zu verbessern. »Konntest du Parrail schon erreichen?«, fragte ich gleichmütig. »Nein.« Guinalle glättete ihre bereits makellosen Flechten. »Ich dachte, ich könnte vergangene Nacht vielleicht seine Träume erreichen, aber die Verbindung brach zusammen.« Sie rückte das Armband an ihrem Handgelenk zurecht. »Er schlief kaum tief genug, um zu träumen.« »Das ist ja nicht verwunderlich«, sagte ich. »Und sagt nichts über deine Kunst aus«, tröstete Allin ernst. 201
»Vielleicht.« Guinalle lächelte gepresst. »Die Entfernung über das Wasser ist das größte Problem, das und dieser ganze Kummer, der den Äther stört.« »Wie das?«, fragte Allin stirnrunzelnd. Sie war immer daran interessiert, mehr über die Wirkungsweise der Zauberkunst zu lernen, fasziniert von der Vorstellung, dass Guinalle irgendwie den gemeinsamen, unbewussten Willen und den Glauben anderer Menschen nutzte. »Es wird vielleicht einfacher, wenn Meister Gede stirbt.« Ich sah erstaunt, wie die normalerweise durch nichts aus der Fassung zu bringende Guinalle schamrot wurde. »Seine Schmerzen sind wirklich schrecklich und stören den Äther. Der Kummer seiner Leute über seine Leiden überlagert ihre Gedanken.« »Es muss so ähnlich sein, als wollte man Wolkenmagie inmitten eines Regengusses wirken.« Allin nickte mit einem Verständnis, das ich nicht teilen konnte. Guinalle warf einen Blick in meine Richtung. »Stell dir vor, eine Melodie zu singen, während jemand dir in die Ohren brüllt.« Tränen stiegen Allin in die dunklen Augen. »Gede war heute Morgen noch am Leben, als ich mit Weitsicht nachschaute.« »Der zentrale Gedanke, der ihn alles ertragen lässt, ist Naldeth zu schützen«, sagte Guinalle traurig. Ich dachte darüber nach, was Halice mir bei einem vertraulichen Glas weißem Schnaps in der Nacht zuvor erzählt hatte. Interne Informationen waren notwendig für einen Anschlag mit verhältnismäßig wenig Männern, die eine so gut zu verteidigende Position angriffen. Jeder Magier, der mit Naldeth Kontakt aufnahm, würde ihn mit seiner Magie verraten, sodass unsere einzige Hoffnung war, mit Parrail über den Äther spre202
chen zu können. Ich betrachtete die kleine weiße Raben-Figur und wählte meine nächsten Worte sorgfältig. »Könnte einer von euch Meister Gede erlösen und in Poldrions Obhut übergeben?« Ich würde nicht zulassen, dass die, die ich liebte, sich in eine Gefahr begaben, die ich verringern konnte, nicht wenn es irgendetwas gab, was ich dafür tun konnte. »Ich kann gar nichts tun.« Allin war schockiert, wie die gut erzogene Tochter eines bäuerlichen lescarischen Haushaltes, die sich noch die traditionelle Frömmigkeit bewahrte. Guinalle sah mich an, und ich begegnete ihrem Blick, ohne zu blinzeln. Sie hielt sich an den alten Glauben, der längst ins Reich der Mythen und Balladen verbannt war, aber ihre Ausbildung in der Zauberkunst des Heilens bedeutete, dass sie oft genug mit Kranken und Sterbenden arbeitete. »Er wird ohnehin in ein, zwei Tagen tot sein.« »Verlangt Ostrin, dass der Tod eine sinnlose Qual ist?« Ich hatte Söldnerärzte gesehen, die routinemäßig den Gott des Heilens und der Gastfreundschaft anriefen, wenn sie einem hoffnungslosen Fall einen letzten Trank gaben, um sicherzustellen, dass Saedrin nicht ungeduldig mit den Schlüsseln klappernd warten musste. Etwas in Guinalles Augen sagte mir, dass sie so etwas auch schon getan hatte. »Wenn ich tatsächlich dort wäre, könnte ich ihm vielleicht Erleichterung verschaffen.« Ich blickte auf das Spielbrett und stellte mir vor, dass ich den Raben spielte anstelle von Allin. Einen Gegner herauszufordern, die Seiten zu tauschen ist in einer Kneipe immer ein guter Trick, so lange er wettet, dass du aus der hoffnungslosen Position heraus, in die du ihn gezwungen hast, verlierst. Das hatte mir die Taschen oft genug gefüllt, und wichtiger noch, es lehrt 203
dich, dass es immer mehr Möglichkeiten gibt, als auf den ersten Blick erkennbar sind. »Guinalle, hast du je versucht, Zauberkunst auf jemanden anzuwenden, den du nur durch Weitsicht siehst?« Die Demoiselle schüttelte den Kopf. »Usara hat es vorgeschlagen, aber ich habe es noch nie versucht.« Allin wirkte unsicher. »Zauberkunst und Elementmagie schließen einander so oft aus –« »Du könntest Meister Gede einige Schmerzen ersparen«, gab ich ihr zu verstehen. »Was den Äther genügend klären könnte, dass ich Parrail erreichen kann.« Guinalle sah mich mit zusammengekniffenen Augen an, und ich fragte mich, ob sie Zauberkunst benutzte, um meine Gedanken zu lesen. »Also schön. Allin, versuchst du es für mich mit Weitsicht?« Allin war verunsichert, aber zu sehr daran gewöhnt zu tun, was man ihr sagte, um aufzubegehren. Ich hatte immer noch die Absicht, ihr mehr Rückgrat beizubringen, aber im Augenblick war ich froh, dass das Magiermädel so fügsam war. »Natürlich, Demoiselle.« Sie ging zum anderen Ende des Tisches, auf dem Wasser, Schale, Tinte und Öle nun ständig bereitstanden. Sie brauchte nicht lange, um ein Bild von Meister Gede zu rufen, mit aschgrauem Gesicht, zur Seite gefallenem Kopf und aufgerissenem Mund, entweder weil er nach Atem rang oder vor Durst. Seine Augen waren offen, blickten aber unbestimmt und trübe. Schwarzes Blut zog sich von seinen angenagelten Händen über das Holz des Mastes. Frischeres Blut floss, wenn er sich durch Müdigkeit oder einen Krampf unfreiwillig bewegte und so seine Qualen noch verschlimmerte. »Erbarmen ist eine Pflicht vom Höchsten zum Niedrigsten«, 204
murmelte Guinalle vor sich hin mit plötzlicher Entschlossenheit. »Ferat asa ny, elar memren feldar. Ostrin agralfre, talat memren tor.« Der Rhythmus des Liedes erinnerte mich an ein Klagelied, das mein Vater, der Minnesänger, über dem toten Kind einer meiner Tanten gespielt hatte. Eine Welle lief plötzlich über die Oberfläche der Schale, obwohl niemand sie berührt hatte. Auf einmal verschwand das Bild des gemarterten Seemanns. »Es tut mir Leid.« Allin sah gespannt in die Schale. »Irgendetwas hat der Magie entgegengewirkt.« Guinalle sah verzweifelt aus, doch einen Moment später hatte sie ihre gewohnte Fassung wiedergewonnen und derartige Verletzlichkeit abgewehrt. »Es hat nicht geklappt. So viel habe ich gespürt.« Ich fühlte mich verspätet schuldig, weil ich so etwas von ihr verlangt hatte. »Du hast dein Bestes getan.« Gleichzeitig war ich furchtbar enttäuscht. Die Tür zur Empfangshalle ging auf, und Temar, Ryshad und Halice traten ein, bereit, einen neuen Streit zu beginnen. »Wir haben gerade mal eine knappe Kampftruppe.« Halice schnitt Temars Protest mit einer brüsken Handbewegung ab. »Wie sollen wir Suthyfer von den Flanken angreifen, wenn wir nicht mehr größere Schiffe haben?« Ich hob die Hand. »Ich weiß, wo wir noch eins herbekommen können.« Zumindest eine Sache hatte ich heute erreicht. Halice sah mich interessiert an, Temar mit plötzlicher Hoffnung und Ryshad mit liebevoller Skepsis. »Shiv und Usara sind in Zyoutessela«, erklärte ich. »Sie haben sich heute Morgen bei Allin gemeldet.« »Ich habe ihnen von Naldeth erzählt. Sie bestanden darauf zu 205
helfen.« Sie wurde kaum rot bei dieser Ausschmückung der Wahrheit. Temar lächelte sie erfreut an. »Wie viele Männer können sie mitbringen? Was rät uns Planir?« »Würdest du für uns mit ihnen Kontakt aufnehmen?«, drängte Ryshad. Halice nickte. »Falls du dich von gestern schon erholt hast.« Allin nahm ein bisschen Farbe an, doch hoffentlich hielten die anderen das für Schüchternheit und nicht für Schuldbewusstsein. Man hatte ihr befohlen, mindestens bis heute Mittag keine Magie mehr zu wirken, aber sie war es, die darauf bestanden hatte, ausgeruht genug zu sein, um herauszufinden, was Shiv und 'Sar vorhatten. Halice und ich traten zurück, damit die Magierin nach dem breiten Silbersiegel und dem Kerzenhalter, den wir aus Temars Schlafzimmer entwendet hatten, greifen konnte. »Oh, wenn ich nur eine Hand voll Magier hätte, um ein paar gute Korps zu vereinigen«, bemerkte Halice leise, als Allin ihren Zauber sprach. »Dann könnte ich den lescarischen Thron dem Herzog übergeben, der mir das höchste Angebot macht.« »Wie ist es deiner Ansicht nach den alten tormalinischen Kohorten gelungen, Caladhrias Armeen so vernichtend zu schlagen?«, fragte Temar unerwartet. »Wenn du deine Truppen mit magischer Hilfe koordinieren kannst, ist das genauso gut, als hättest du noch einmal halb so viele.« »Und das werden wir auch brauchen, wenn wir aus diesem Kampf siegreich hervorgehen wollen«, betonte Ryshad. »Und genau deswegen wird jedem Möchtegern-Adepten die moralische Verpflichtung der Zauberkunst eingedrillt.« Guinalle richtete ihre scharfe Kritik gegen Temar. 206
»Shiv? Ich bin es, Allin.« Sie lächelte in den Spiegel. »Wie läuft es?« Der Zauber zeigte uns Shiv und Usara in einem holzvertäfelten Raum, der mit schlichter Eleganz möbliert war. Das Licht hatte diesen durchscheinenden Glanz, der entsteht, wenn man über Wasser schaut. »Wo seid ihr?«, fragte Ryshad. »An der Küste«, antwortete Usara. »In einem Gasthaus namens Greifengarten.« Ryshad pfiff belustigt. »Immer noch nur das Beste für Planirs Leute.« Das ockerfarbig getönte Abbild im Spiegel zitterte kurz, der breite Rand, der es umgab, zog sich zusammen. »Allin?« Temar legte ihr eine Hand auf die Schulter. Sie nickte. »Shiv und Usara verstärken nur den Zauber.« Das Bild wurde wieder klar, und Shivs Stimme klang nicht mehr so blechern. »Rysh, was ist die beste Möglichkeit, hier ein Schiff anzuheuern?« »Versuch es beim Hafenmeister«, riet Ryshad. Shiv schnitt eine Grimasse. »Er sagt, alle sind entweder bereits auf See oder kurz davor, für jemand anderen die Segel zu setzen.« »Dann mach die Runde in den Hafenkneipen, und such nach einem Kapitän, der leicht verdrießlich aussieht. Mach ihm ein besseres Angebot als das, was er hat.« Ryshad zögerte einen Moment. »Aber ihr müsst schon Bares auf den Tisch legen, nicht nur das Versprechen auf einen Anteil bei der späteren Verteilung.« Shiv und Usara wechselten einen Blick, der keine Worte brauchte, um verstanden zu werden. 207
Ryshad ließ die Fingerknöchel knacken. »Es gibt einen Geldverleiher namens Renthuan, der von der Werkstatt eines Goldschmiedes in der Winkelstraße aus arbeitet, auf der am Golf gelegenen Seite der Stadt. Sag ihm, ich hätte dich geschickt, um Kitrias Mitgift zu holen.« Da Ryshads einzige Schwester schon längst als Asche in ihrer Urne lag, war das ein nützliches Passwort. »Ich werde dir jeden Pfennig erstatten«, versicherte Temar Ryshad steif. Das solltest du auch besser, dachte ich insgeheim. Das musste das Gold sein, das Zeichen der Wertschätzung D'Olbriots für Ryshad war, ungeachtet der pragmatischen Einstellung, die den Sieur veranlasst hatte, ihn von seinem Eid zu entbinden. »Ihr braucht einen Kapitän, der nicht zimperlich ist, wenn ihr seinen Laderaum mit Männern statt mit Waren beladet«, riet Halice. »Und der euch diese Hafenratten auftreiben kann.« »Aber passt auf, dass man euch nicht unter dem Verdacht verhaftet, ihr wolltet Piraterie betreiben«, sagte Ryshad hastig. »Wir wollen auch nicht, dass irgendetwas davon dem Kaiser zu Ohren kommt.« Temar beugte sich näher zum Spiegel und sprach leise und verschwörerisch. »Oder einem der Eingeschworenen oder Erwiesenen«, setzte Ryshad hinzu. »Vergesst nicht, dass Zyoutessela D'Olbriots Stadt ist.« »Warst du schon oft in Häfen, Shiv?«, fragte ich. »Nein.« Er wirkte entrüstet. »Ich weiß nicht, warum mich das dauernd jemand fragt.« Temar sah Ryshad an. »Kennst du jemanden, der ihnen helfen könnte?« Ryshad schüttelte den Kopf. »Nicht, wenn ich gleichzeitig si208
chergehen will, dass D'Olbriot nichts davon mitbekommt.« »Ich bin mir keineswegs sicher, dass sie das schaffen«, murmelte Halice mir zu. »Nicht, ohne dass man ihnen die Kehle durchschneidet. Sie brauchen dich oder mich da drüben.« »Aber wir werden hier gebraucht.« Ich überlegte, wer noch sowohl die notwendigen Fähigkeiten als auch die Bereitschaft haben könnte, uns zu helfen. »Hat Charoleia erwähnt, wo Sorgrad und ‘Gren den Winter verbringen wollten?« Halice schüttelte den Kopf. »Nach dem, was ich zuletzt gehört habe, waren sie in Solura. Selbst die Kaiserliche Depesche hat es nicht geschafft, ihnen so rechtzeitig einen Brief zuzustellen, dass es noch etwas genutzt hätte.« Entweder wurden Allins Künste besser, oder Usara hatte ungewöhnlich scharfe Ohren. »Ich könnte mich bei Sorgrad melden.« Er sah aus wie ein Ertrinkender, der eine Rettungsleine erspäht hatte. »Könntet ihr sie auf magische Weise zu euch holen?«, fragte ich. »Wahrscheinlich.« Shiv sah nachdenklich drein. »Wenn wir zusammenarbeiten.« »Was sind das für Leute?«, fragte Temar Ryshad. »Söldner, unter anderem.« Ryshad warf mir einen fragenden Blick zu. »Ich habe sie noch nicht kennen gelernt, aber Halice und Livak sprechen in den höchsten Tönen von ihnen.« Er legte mir den Arm um die Schulter. Ich legte meinen Arm um seine Taille und verbarg mein Gesicht für einen Augenblick an seiner Brust. Der Trost dieser Umarmung half mir, das schlechte Gewissen zu beruhigen, das ich wegen meiner Bitte an Guinalle hatte. Außerdem konnte ich so Halices Blick entgehen. Ich hatte eine brennende Frage auf ihrem Gesicht gesehen, 209
die ich noch nicht beantworten wollte. Halice wandte sich wieder Shiv zu. »Sieh zu, ob du etwas über Piraten mit Schlangenflagge herausfinden kannst, ohne dass man dir die Kehle durchschneidet.« Temar drückte Allins Schulter. »Du wirst müde. Das reicht für jetzt.« Shiv nickte. »Ich melde mich, sobald wir Kontakt mit Sorgrad hatten.« Er machte eine Geste, und die Verbindung über die endlosen Meilen brach zusammen, und der Spiegel war nur noch ein leerer Kreis. Halice wandte sich an mich. »Wie will er sich bei Sorgrad melden? Ich dachte, Zauberer könnten nur mit anderen Magiern reden?« Ich zuckte die Schultern. »Letzten Sommer stellte sich heraus, dass Sorgrad magiegeboren ist.« Halice blieb der Mund offen stehen, dann verdunkelte Zorn ihr Gesicht. »Du hast mir nichts davon gesagt!« »War nicht meine Sache, es dir zu erzählen«, gab ich zurück. »Nimm dir Sorgrad vor, wenn du Streit willst.« Halice schüttelte den Kopf. »Wenn ich an all die Male denke, wo ich einen Zauberer hätte gebrauchen können ...« Wie ich hatte sie Magier immer als etwas betrachtet, von dem man sich besser fern hielt, aber seit wir in Kellarins Angelegenheiten verwickelt waren, hatte sie ihren Nutzen schätzen gelernt. »Bring Magie in die lescarischen Kriege, und du würdest weiter nicht mehr tun, als jeden zweiten Herzog gegen den zu vereinen, für den du gerade gekämpft hast«, betonte Ryshad. »Was zumindest dazu beitragen könnte, ihre verfluchten Kriege zu beenden.« Er grinste, doch Halice blickte noch immer verdrießlich. 210
»Sorgrad hätte dir nichts genutzt«, sagte ich unverblümt. »Er hatte keine richtige Ausbildung. Seine Magiegeborenheit war schuld daran, dass er aus den Bergen vertrieben wurde, deswegen ist sie für ihn nie etwas anderes als ein Bannfluch gewesen.« Wenn wir im Tiefland schon zurückhaltend gegenüber Zauberern waren, war das nichts im Vergleich zu dem Abscheu, den das Bergvolk unter der Führung ihrer Sheltya empfand. Nachdem ich das mit eigenen Augen gesehen hatte, wunderte es mich nicht mehr, dass Sorgrad sein Leben lang seine unerwünschte Affinität unterdrückt hatte. »Wir haben dringendere Sorgen, als untereinander zu streiten.« Temar sprach mit erstaunlicher Autorität. »In den Kohorten hat man uns beigebracht, dass wir so viel wie möglich über unsere Feinde lernen sollten. Wer könnte uns mehr über diese Piraten erzählen?« »Wenn wir uns nur noch an Otrick wenden könnten«, seufzte ich. Der verwegene und von allen vermisste Wolkenmeister hatte die Wirkung der Winde studiert, in dem er sein Leben lang mit jedem, der bereit war, ihn mitzunehmen, über die Meere gesegelt war. Das waren mehr als einmal auch Piraten gewesen. »Velindre hat den größten Teil des letzten Jahres damit verbracht, an der Küste entlangzusegeln«, sagte Allin zögernd. »Sie treibt sich wohl in den raueren Ecken der Häfen herum, was?« Das amüsierte mich. Nach unserer kurzen Bekanntschaft gehörte Velindre zu den Magiern, die eine gelassene Unnahbarkeit zur Schau trugen. Temar sah Allin besorgt an. »Du darfst dich nicht verausgaben.« Allin legte ihre kleinen, weichen Finger über seine langen, 211
von der Arbeit abgehärteten. »Ich bin in Ordnung, wirklich. Schließlich ist es Feuermagie, und Shiv hat Recht, weißt du. Je mehr Magie ich wirke, desto mehr kann ich bewerkstelligen.« Ich sah, wie Guinalle mit undeutbarer Miene Temar und Allin betrachtete. »Sie ist in Hadrumal.« Allin stellte eine neue Kerze auf und entzündete sie mit einem Fingerschnipsen. »Ich glaube wirklich, sie macht sich Hoffnungen darauf, zur Wolkenmeisterin gewählt zu werden.« Wenn sie sich dabei irrte, machte sich die Magierin eine Menge Arbeit für nichts. Allins Zauber fand Velindre in einer Bibliothek vor, wo sie an einem großen Tisch saß, der mit aufgeschlagenen Büchern in zwei oder drei Schichten bedeckt war. »Allin?« Velindre klang nicht gerade hocherfreut und zog ein riesiges Pergament über die krakelige und verblasste Handschrift, die sie gerade studierte. »Hallo, Velindre.« Ich hörte die Nervosität in Allins Stimme. »Der Sieur D'Alsennin braucht deine Hilfe.« »Welche Art von Hilfe?« Das Gesicht der blonden Zauberin hob sich blass von den Eichenregalen ab, die mit altersdunklen Büchern beladen waren. »Du bist vertrauter mit der Meeresküste als jeder andere, den wir kennen«, sagte Temar höflich. »Wir mussten feststellen, dass Piraten in Suthyfer gelandet sind, und haben überlegt, ob du vielleicht etwas über sie weißt.« Velindre wirkte auf der Hut. »Vielleicht.« »Der Anführer hat eine dunkelrote Flagge mit einer Schlange darauf«, erzählte Temar. »Er ist dunkel, außergewöhnlich groß gewachsen und trägt einen Bart.« Velindre hob die hellen Brauen. »Das klingt nach einem 212
Schurken namens Muredarch.« Ryshad drückte mich fester an sich, und wir beide machten unwillkürlich einen Schritt näher. »Er war ein Freibeuter, der von Inglis aus operierte«, begann Velindre. Temar sah Ryshad um eine Erklärung bittend an. »Händler spielen entweder nach den Regeln von Inglis, oder sie handeln eben nicht«, sagte er voll Verachtung. »Die Gildenmeister loben Belohnungen aus für Schiffe, die ihre Tarife ignorieren oder aus gesperrten Häfen auslaufen. Die Freibeuter fahren ihnen nach.« »Die Meisten kapern auch jedes ehrbare Schiff, das mit ihnen in Konflikt gerät«, sagte Velindre. Ryshad nickte ernst. »Sie verkaufen die Ladung an Händler, die keine Fragen stellen, oder an Sieurs, die die Waren als von ihren eigenen Gütern stammend deklarieren. Und wo ist dieser Muredarch in letzter Zeit gewesen?« »In Regin, glaube ich«, sagte Velindre achselzuckend. Temar war nicht der Einzige, der Ryshad um Antwort heischend ansah. »Der südlichste Teil des Golfes und ein wahres Schlangennest«, erklärte er. »Piraten wissen, dass Schiffe jedes gesetzestreuen Hauses sie nicht um das Kap der Winde herum verfolgen. Sie selbst riskieren es, wenn die Alternative ist, in Ketten im Hafen aufgehängt zu werden. Wenn sie in Regin sicher landen, können sie alle Beweise an die Bewohner des Archipels verkaufen.« »Ehe sie wieder fröhlich die Golfküste hinaufsegeln mit einer unschuldigen Schiffsladung von aldabreshischen Gewürzen, Seidenstoffen und Edelsteinen«, schloss Velindre. »Warum ist dieser Muredarch in Suthyfer?«, überlegte ich. 213
»Er ist stinkwütend auf Inglis«, meinte Velindre. »Er hatte einen Gildenbrief, der ein Schiff Den Lajans verdammte, aber nachdem Muredarch Segel gesetzt hatte, kaufte der Sieur die Beute frei.« »Also wurde Muredarch nicht bezahlt?«, vermutete Ryshad. »Schlimmer«, erwiderte Velindre. »Er brachte das Schiff auf, verkaufte die Ladung in Schwarzenfels, und dann fuhr er nach Inglis und versuchte, für die Besatzung ein Lösegeld von Den Lajan zu erpressen. Die Gildenmeister wiesen die Beute zurück und forderten ihn auf, Den Lajans Verluste aus eigener Tasche wieder gutzumachen. Er weigerte sich, und daraufhin setzten sie ein Kopfgeld auf ihn und sein Schiff aus.« »Also versucht jeder andere Pirat, sein Fell an seinen eigenen Mast zu nageln«, spekulierte Ryshad. Velindre schüttelte den Kopf. »Keineswegs. Niemand will ihn anrühren. Er ist klug und weiß, wie man sich sowohl Loyalität als auch Achtung erwirbt. Selbst wenn Inglis das Kopfgeld so erhöhen würde, um einen verzweifelten Kapitän in Versuchung zu führen, würde seine Besatzung aus Angst vor den Folgen meutern. Für jede Geschichte über Muredarchs Tapferkeit und Kühnheit gibt es zwei über seine Unbarmherzigkeit.« »Woher stammt er?« Ich hatte schon mehr als einmal Fingerzeige auf die Schwächen eines Mannes in seiner Herkunft gefunden. »Es machen mindestens ein Dutzend Geschichten die Runde.« Velindre zählte an den Fingern mit den so gar nicht zu ihr passenden abgekauten Nägeln ab. »Unehelicher Sohn eines Adelshauses. Einer der beiden Söhne eines Gildenmeisters aus Inglis, der gleichzeitig legal Handel und Piraterie betreibt. Verarmter Häuptling irgendwelcher dalasorischer Nomaden, der 214
sich auf das Meer flüchtete, um seinen Feinden zu entgehen. Das sind noch die am wenigsten abwegigen Versionen.« »Wo er herkommt, ist nicht so wichtig, wohl aber, wo er jetzt ist«, sagte Temar entschieden. »Frau Magierin, wir würden gerne ...« »Bedaure, Junker, Verzeihung, Messire, aber ich bleibe in Hadrumal.« Velindre wandte sich an Allin. »Hier eröffnen sich alle denkbaren Möglichkeiten. Du hast unter Meister Kalion studiert, und sein Einfluss scheint zu wachsen. Troanna bringt den Rat ebenfalls dazu, sich ihrer Sichtweise anzuschließen. Wir könnten bald nicht nur einen neuen Wolkenmeister, sondern auch einen neuen Steinmeister bekommen.« Fantasierte ich nur, oder bekamen Velindres Augen einen nachdenklichen Ausdruck? »Allin, du weißt nicht zufällig, wie es Usara geht, oder?« Das Strahlen des magischen Kreises wurde schwächer. »Tut mir Leid«, keuchte Allin. »Ich bin zu erschöpft.« Der Glanz flammte noch einen Augenblick auf, wurde dann stumpf und blendete Velindres fragende Miene aus. »Ich bin nicht wirklich müde.« Allin sah schuldbewusst zu Temar auf. »Aber ich will Shiv und 'Sar nicht in Schwierigkeiten bringen. Meinst du, sie hat mir geglaubt?« »Also weiß Hadrumal gar nicht, was sie vorhaben?« Ryshad sah mich auf eine Weise an, die eher ein Verhör als Bettgeflüster zur Schlafenszeit verhieß. Ich lächelte ihn ungeniert an. »Ich denke, der Erzmagus weiß ebenso gut, was hinter seinem Rücken vor sich geht wie unter seiner Nase. Das hat er immer schon getan.« Ryshad hob fragend eine Augenbraue. »Wenn wir ihn nicht in Temars Angelegenheiten hineinzie215
hen, kann der dicke Schurke Kalion sein Interesse an Kellarin nicht als Knüppel verwenden, um ihn damit zu schlagen.« Es gelang mir, vollkommen vernünftig zu klingen. Ich lächelte Ryshad wieder an und bekam ein widerstrebendes Grinsen zurück, das mein Herz erleichterte.
216
Zyoutessela, Tormalin 20. Nachfrühling
Shiv blickte unbehaglich über das schneeweiße Tischtuch. »Willst du die beiden wirklich dabeihaben?« »Zeig mir eine Alternative«, schlug Usara vor. »Wir hatten kein Glück damit, ein Schiff mit ehrbaren Männern anzuheuern.« »Also verhandeln wir mit zweien, von denen wir genau wissen, dass sie nicht ehrbar sind?« Shiv zog eine Grimasse. »Die mit Ryshads Geld schneller verschwinden könnten, als Butter in der Sonne schmilzt.« »Ich gehe lieber dieses Risiko ein, als irgendwo in einer Hafengasse niedergestochen zu werden«, sagte Usara rundheraus. »Jedenfalls würden sie weder Livak noch Halice verraten.« »Du bist schließlich mit ihnen unterwegs gewesen.« Shiv wirkte noch immer nicht überzeugt. »Ich mochte sie.« Pered sprach aus der Ecke, wo er einen Lederbeutel mit Flaschen und Pinseln aus einer messingbeschlagenen Truhe voll stopfte. »Ich gebe zu, sie waren charmante Hausgäste, aber ich habe Geschichten von Livak gehört, wobei sich mir fast die Haare gekräuselt hätten.« Shiv fuhr sich mit der Hand über seine vollkommen glatten Haare. »Und sie sind wie Livak, sie tun nichts, ohne zu fragen, was dabei für sie herausspringt. Was haben wir ihnen zu bieten?« »Sorgrad mag ja behaupten, er wolle nicht in seiner Magie unterwiesen werden, aber Livak hat angedeutet, dass er genau 217
danach in Solura gesucht hat.« Usaras Augen blickten in die Ferne. »Weißt du, dass er eine doppelte Affinität besitzt?« Shiv nickte. »Was die Vergeudung noch größer macht, wenn er nicht ausgebildet wird.« »Denk es mal durch«, sagte Usara ungeduldig. »Sorgrad ist auf Feuer und Luft eingestellt. Das heißt, wir drei haben zusammen alle vier Elemente.« »Glaubst du ernsthaft, wir könnten mit einem unausgebildeten Mann aus den Bergen einen Nexus bilden?« Shiv mochte es nicht glauben. »Vielleicht keinen Nexus«, gab Usara zu. »Aber es ist eine Chance zu sehen, wie wir unsere Elemente gemeinsam nutzen können, die wir in Hadrumal nie bekommen werden, nicht ohne dass jemand hinrennt und es Kalion oder Troanna erzählt.« »Vielleicht.« Shiv trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte, um mit einem entschlossenen Wirbel aufzuhören. »Wenn man ein Feuer plant, bringt man den Topf dadurch noch nicht zum Kochen. Du solltest vielleicht mit Sorgrad Kontakt aufnehmen und sehen, was er davon hält.« Pered schlang sich den Riemen seines Rucksackes über die Schulter. »Ich verdiene noch ein paar Kerzen für euch.« Er nahm die Hand, die Shiv ihm entgegenhielt. »Lass mich so bald wie möglich wissen, wann wir abreisen. Ein paar Porträts in Öl würden erheblich mehr einbringen als Skizzen in Tusche und Aquarellfarben.« Er drückte Shivs Finger und ging mit federndem Schritt durch die Tür. Usara sah ihm verlegen nach. »Wir haben doch genug Geld für solche Dinge.« »Er malt oder zeichnet nicht um des Geldes willen.« Shiv 218
lachte. »Das ist nur eine gute Ausrede. Er würde sein letztes Kupferstück für Pergament oder Zeichenkohle ausgeben, ehe er auch nur an Brot denkt.« Usara rieb sich energisch die Hände. »Wollen mal sehen, ob wir Sorgrad finden können.« Er griff nach einem kleinen Reisespiegel. »Hol mir eine Kerze, ja?« Doch die Tür öffnete sich erneut, ehe Shiv nach dem Behälter auf dem Kaminsims gegriffen hatte. »Seht mal, wen ich auf der Treppe getroffen habe«, verkündete Pered. »Larissa.« Shivs Gruß war gerade noch höflich. Usara starrte sie mit offenem Mund an. »Was machst du denn hier?« »Guten Tag, euch beiden.« Larissa nahm in dem Stuhl Platz, von dem Shiv gerade aufgestanden war, und zupfte ihren schlichten lavendelblauen Rock über ihren Stiefeln zurecht. Sie schnürte ihren kurzen grauen Reisemantel auf und ließ ihn fallen. Darunter kam ein zugeknöpftes, hochgeschlossenes Mieder über einem langärmeligen Kleid zum Vorschein. Trotz ihrer schlichten Kleidung strahlte die Magierin eine unbewusste Sinnlichkeit aus. Pered zog geistesabwesend Zeichenutensilien aus seiner Tasche. »Wem oder was verdanken wir das Vergnügen?«, fragte Shiv kurz angebunden. Ein Hauch Farbe legte sich auf Larissas kräftige Wangenknochen. »Ich möchte mit nach Kellarin kommen.« Da kein Stuhl mehr frei war, setzte sich Shiv auf den reich bestickten Bettüberwurf. »Hat Planir dich geschickt?« »Nein.« Larissa mied seinen Blick, als sie ihren dicken, kastanienbraunen Zopf über die Schulter zurückwarf. 219
»Woher wusstest du dann, dass wir hier sind?«, fragte Usara sanft. »Planir sagte mir, ihr wolltet nach Vithrancel segeln.« Eine Spur von Trotz schwang in Larissas Worten mit. »Ihr musstet also entweder hier sein oder in Bremilayne. Ich verfüge schließlich über Weitsicht.« »Und wir sollen glauben, dass Planir nicht jeden deiner Schritte beobachtet?«, fragte Shiv bissig. »Shiwalan!«, mahnte Pered. »Warum sollte er?«, fuhr Larissa den schlanken Zauberer an. »Ich habe doch kein echtes Talent, das sein Interesse verdient, heißt es nicht so? Eine doppelte Affinität, aber nicht mal die halbe Kunstfertigkeit. Wie sonst wäre ich bis in den Rat aufgestiegen, wenn ich nicht den Bettwärmer für den Erzmagier gespielt hätte? Von welchem Nutzen könnte ich dort schon sein, außer alles weiterzugeben, was ich zwischen Planirs Bettvorhängen erfahre?« Bitterkeit überwog ihren Sarkasmus. »Oder vielleicht gehört ihr zu denen, die glauben, ich hätte durchaus ein Talent, wenn schon nicht für Magie, dann aber, mit dem richtigen Mann zu schlafen und seine Geheimnisse zu erfahren, wenn ich seine Lust befriedigt habe? Gehört ihr zu denen, die glauben, ich spiele ein größeres Spiel, und wartet ihr nur darauf, dass ich ihn an Kalion oder Troanna verrate?« Sie winkte spöttisch mit der Hand. Usara fuhr sich mit der Hand über den Bart. »Wie ich sehe, bist du auf dem neuesten Stand, was den Tratsch angeht.« »Es gibt genug Leute, die meinen, ich müsste wirklich wissen, was man so über mich sagt.« Die Kränkung milderte Larissas Verärgerung. »Nicht, dass sie das auch so sehen, versteht sich.« Pered sah 220
mit einem bedeutungsvollen Blick zu Shiv von seiner Skizze auf. »Und sie verteidigen dich, wirklich.« »Du bist die Schülerin des Erzmagus, und du schläfst in seinem Bett«, sagte Shiv zögernd. »Wer in den Staub bläst, dem brennen die Augen.« »Hast du dich noch nie verliebt, Shiv?« Ein leises Zittern erschütterte Larissas Fassung. »Doch, natürlich.« Pereds Tonfall duldete keinen Widerspruch. Usara räusperte sich und durchbrach damit das spröde Schweigen. »Warum genau willst du mit uns kommen?« Larissa schniefte unelegant. »Wenn ich ein verliebter Dummkopf bin, dann behauptet der Klatsch das Gleiche von Planir. Oder mit Kalions Worten, er ist ein wollüstiger Dummkopf, was die Sache einfacher macht, und wie der Herdmeister es gerne mag. Troanna scheint es einfach aus Prinzip zu missbilligen, was bei einer Frau, die zweimal verheiratet war und Drianon weiß, wie viele Kinder hat, ein starkes Stück ist.« Larissa sah Usara unglücklich an. »Auf wen du auch hörst, ich unterminiere Planir. Diese Schlampe Ely hat angedeutet, dass er keinen neuen Wolkenmeister ernennt, bis er nicht irgendeine Scharade zusammenbrauen kann, um meine Ernennung zu stützen. Ihr zufolge würde er seine eigenen Fähigkeiten nutzen, um meine Unzulänglichkeit vor dem Rat zu verbergen.« »Das ist doch lächerlich.« Shiv war schockiert. »Wenn ich das Gleichgewicht zu Ungunsten des Ezmagiers beeinflusse, dann muss ich mich von ihm fern halten.« Larissas Stimme wurde kräftiger. »Ich werde meine Fähigkeiten mit etwas beweisen, das nicht einmal Kalion und seine Speichellecker abstreiten können. Ihr wollt erforschen, wie Magier auf 221
weniger formelle Weise als in einem Nexus zusammenarbeiten können. Ich habe eine doppelte Affinität, ich kann euch Einblicke geben.« »Das ist nicht ganz der Grund, warum wir hier sind.« Usara kratzte sich den Bart. »Piraten haben Suthyfer besetzt, diese Inseln auf dem Seeweg nach Hadrumal. Wir wollen D'Alsennin helfen, sie zu vertreiben.« »Dann kann ich auch helfen«, sagte Larissa prompt. »Der Erzmagier will nicht, dass es so aussieht, als ob Hadrumal dabei eine Rolle spielt«, sagte Shiv fest. »Der Kaiser würde das beispielsweise nicht dulden. Wenn du mit uns kommst, zieht das Planir mit hinein.« »Niemand in Toremal weiß, dass ich mit Planir das Bett teile«, höhnte Larissa. »Aber jeder in Hadrumal weiß es«, betonte Shiv. »Kalion wird der Erste sein, der diesen saftigen Klatsch weitergibt, wenn er glaubt, es würde Planir bei den einflussreichen Häusern in Misskredit bringen.« »Gewiss ist es an dem Sieur D'Alsennin zu entscheiden, ob er meine Hilfe wünscht«, sagte Larissa trotzig. »Frag ihn.« »Ich bin mir nicht sicher ...«, begann Usara zögernd. »Wenn du gerade erst eingetroffen bist, brauchst du ein Zimmer.« Pered trat vor, um einer energischen Unterbrechung von Shiv zuvorzukommen. »Wollen wir mal sehen, ob wir hier etwas für dich finden?« »Eine gute Idee.« Larissa nahm sein gewandtes Angebot eines würdevollen Rückzugs dankbar an. »Wir können später weiterreden.« Shiv schloss die Tür mit Nachdruck, seine grünen Augen funkelten empört. »Das ist eine Komplikation, auf die wir gut 222
verzichten könnten!« »Tut sie dir denn nicht Leid?« Usara tat sie offenbar Leid. »Es ist ihre eigene Schuld.« Aber Shivs Urteil war nur halbherzig. »Findest du, Planir sollte wie ein soluranischer Eremit leben, nur weil Zauberer lieber über die Liebschaften des Erzmagiers klatschen, als sich ihren Studien zu widmen?«, entgegnete Usara. »Wir können sie nicht mitnehmen, 'Sar!« Shiv hob abwehrend die Hände. »Willst du ihr sagen, dass sie nicht mitkommen kann?«, fragte Usara herausfordernd. Shiv schürzte die Lippen. »Wir könnten doch einfach ohne sie aufbrechen? Sie war noch nie in Kellarin oder Suthyfer, also kann sie sich auch nicht dorthin versetzen.« Usara nahm den silbernen Spiegel in die Hand. »Lass uns einfach so schnell wie möglich aufbrechen. Das heißt, wir brauchen Sorgrads Hilfe, auch wenn wir Larissas nicht wollen.« »Das bedeutet, zwischen zwei faulen Äpfeln zu wählen«, grollte Shiv. »Hör auf zu jammern, und reich mir eine Kerze.« Shiv gehorchte, und Usara zündete sie mit einer lässigen Handbewegung an. »Vergiss nicht, wir wollen Kellarin helfen und nicht untereinander streiten.« Shiv schluckte eine Erwiderung herunter. »Kannst du die ganze Entfernung bis Solura überbrücken?« »Wenn nicht, musst du sie per Weitsicht suchen.« Der bärtige Magier konzentrierte sich auf seinen Zauber. Im nächsten Augenblick leuchtete der Spiegel mit einem bernsteinfarbenen Gleißen auf, sodass Usara zurückfuhr. »Sorgrad, ich bin es.« 223
Shiv stand neben Usara und sah die beiden vertrauten Gestalten, die vor dem Zauber zurückwichen, der so unerwartet neben ihnen aufgetaucht war. Sie kauerten in einem Graben neben einem Hohlweg und hatten beide das weiche blonde Haar und die strahlend blauen Augen des echten Bergvolkes. Der Erste, der vorsichtig in die magische Leere spähte, war etwas stämmiger als sein Bruder, doch auf den ersten Blick sahen sie sich ähnlich genug, um als Zwillinge durchzugehen. »'Sar?« Sorgrads anfängliches Misstrauen verwandelte sich in ein breites Lächeln. »Was treibst du so?« Er wischte ein paar welke Blätter von seiner Decke und setzte sich mit gekreuzten Beinen darauf. »So sieht die Kontaktaufnahme also von der anderen Seite her aus, was?« ‘Gren ließ sich plötzlich erheitert neben seinem Bruder nieder. »Hast du mal jemanden dabei erwischt, wie er mit seiner Dame zugange war? Oder der eines anderen?« »Wir haben Nachrichten von Livak«, begann Usara ohne Umschweife. »Piraten sind auf jenen Inseln mitten im Meer gelandet, die Schiffe auf dem Weg nach Kellarin als Zwischenstation nutzen.« »Ich erinnere mich an die Karten.« Sorgrads azurblaue Augen sahen ihn scharf an. Dann wurden sie hart. »Ich bin sicher, Planir hat einen schlauen Plan, um sie zu versenken.« »Piraten?« ‘Gren versuchte neugierig in den Zauber zu pieken, doch Sorgrad hieb ihm auf die Finger. »Planir sagt, es geht ihn nichts an und Hadrumal auch nicht«, sagte Shiv bissig. »Ryshad und Halice rekrutieren eine Truppe aus Kellarin, und wir sind in Zyoutessela und versuchen dasselbe.« Usara war genauso direkt wie der Mann aus den Bergen. »Livak sagt, du 224
könntest uns helfen.« »Zyoutessela?« Sorgrad stieß seinem grinsenden Bruder einen Ellbogen in die Rippen, um einer Bemerkung zuvorzukommen. »Kenne ich nicht, aber Häfen sind so ziemlich überall gleich, Col, Peorle, wo auch immer.« Er runzelte die Stirn. »Wir sind auf der falschen Seite von Lagontar.« »Wir suchen uns eine Mitfahrgelegenheit nach Nestarhafen und nehmen dort ein Schiff nach Col.« ‘Gren war schon dabei, seine Decke mit einem Lederriemen zusammenzubinden, und wühlte unter den Blättern nach einem zerschrammten Lederrucksack. »Von Col nach Attar, dann über den Golf von Lescar. Wir können nicht schnell genug bei euch sein, um euch von Nutzen zu sein.« Sorgrad schüttelte den Kopf. »Aber ich kann euch ein paar Tipps geben, wie ihr verhindert, dass ihr ausgeraubt werdet.« »Wir können Livak und Halice nicht im Stich lassen.« ‘Gren wirkte störrisch. »Und warum sollten sie die ganze Beute allein bekommen?« »Ein interessanter Punkt.« Sorgrad lächelte. »Selbst ein Rat sollte ein bisschen Silber wert sein.« »Ihr würdet uns nicht nur um Livaks willen helfen?« Shiv sah enttäuscht aus. »Du solltest dich als Schauspieler versuchen, Zauberer«, lachte Sorgrad. »Livak wäre die Erste, die mir die Hölle heiß machte, wenn ich nicht nach einem fairen Preis frage.« Usara zuckte die Achseln. »D'Alsennin kann euch einen Anteil von der Beute geben, die die Piraten haben.« »Wir müssen sie aber selbst durchsehen«, verlangte ‘Gren. Die Zauberer sahen einander an. »Wenn Halice einverstanden 225
ist«, sagte Usara vorsichtig. »Aber wir wollen mehr von euch als nur einen Rat. Wir wollen euch herbringen, damit ihr selbst was tut.« Shiv beugte sich näher zu dem Spiegel. »Sorgrad, wie viel Element-Magie hast du in Solura gelernt?« Sorgrads Miene verfinsterte sich. »Nicht genug, dass es mir diese Reise wert ist.« »Hast du eine Ahnung, wie du dich selbst an einen anderen Ort versetzen kannst?«, fragte Usara. »Der Zauber ist eng mit der Luftaffinität verbunden«, versicherte Shiv. »Du müsstest es wenigstens versuchen können.« »Schweine können versuchen zu pfeifen, aber sie sind trotzdem nicht dafür geschaffen.« Sorgrad schüttelte widerspenstig den Kopf. »Dann holen wir euch selbst her.« Shiv wischte sich gedankenlos die Hände an der Hose ab. »Wenn du mich ins Meer fallen lässt, Zauberer, dann werde ich nicht eher ertrinken, als bis ich dafür gesorgt habe, dass es dir Leid tut.« ‘Gren wirkte misstrauisch und dementsprechend drohend. »Sorgrad, ich weiß, dass du eine Kerzenflamme heraufbeschwören kannst. Du kannst die Verbindung stabil halten, um uns zu helfen.« Usara legte den Spiegel auf den Tisch, und Shiv setzte sich eilig ihm gegenüber. »Wie?«, fragte Sorgrad widerwillig interessiert. Da der Spiegel nun flach lag, gestattete sich Usara einen skeptischen Blick auf den anderen Magier. Shiv reagierte nicht, sondern konzentrierte sich stattdessen auf den Spiegel. »Du musst nur das Spiegelbild aufrechterhalten.« 226
Der Zauber wurde schwächer, und Sorgrens wachsame Stimme nahm ein metallisches Echo an. »So?« »Das reicht«, versicherte Usara ihm. »Wenn wir verdammt schnell arbeiten«, setzte er leise zu Shiv hinzu. Er legte die Hände auf den Tisch und holte tief Luft, während er blicklos auf das weiße Tischtuch starrte. Als er dann seine Hände in gegenläufigen Kreisen bewegte, blieb eine blaue Linie auf dem Tuch zurück, wie die Erinnerung an einen blauen Himmel hinter dünnen Wolken. Usara hob die Hände und hielt sie wie eine Schale vor sich, in der er eine anschwellende Kugel aus schieferblauem magischem Licht hielt. Die Kugel wuchs und wurde dabei blasser, von Schieferblau über Indigo bis zu dem sanften Goldton des Himmels an einem Sommerabend. Das Eierschalenblau spülte über die Zauberer hinweg und verschwand jenseits der Grenzen des Zimmers. Shiv hatte die Augen fest geschlossen, während er mit ausgestreckten Armen seine Handflächen aneinander presste. Er spreizte die Finger, und ein türkises Strahlen wob ein Netz zwischen seine Hände. Flüchtig, wie ein Blitz aus heiterem Himmel, war es wieder verschwunden, fast ehe man es sehen konnte. Der Magier runzelte die Stirn, und neue Lichtstrahlen erschienen, doch immer noch nicht greifbarer als ein Spinnengewebe, das im Mondlicht glitzert. Shiv holte tief Luft, und das Flechtwerk der Macht verstärkte sich zu Ultramarin. Er zog seine Hände mit unendlicher Vorsicht weiter auseinander, und die magischen Strahlen wurden dicker und verdrehten sich, die Fäden rissen und verbanden sich wieder, wickelten sich zu einer aufwärts gerichteten Spirale. Während das Netz größer wurde, wurde es gleichzeitig auch dünner und blasser. Es erreichte das Fenster und entfloh. 227
»Sollte hier irgendwas passieren?« ‘Grens interessierte Stimme drang aus dem Silberspiegel. »Sag du es mir«, erwiderte Sorgrad knapp. Usaras Kopf sank in Richtung Tisch, und Shiv wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. »Mist!« »Also sollen wir doch einer Kutsche winken?« In Sorgrads Spott klang leise Enttäuschung an. »Es ist zu weit«, keuchte Usara. »Wenn wir außerhalb unserer eigenen Affinitäten greifen.« »Wir hätten sie beinahe gehabt.« Shiv beugte die Finger und guckte finster. »Wir hätten wenigstens einen schaffen müssen.« »Wir gehen entweder zusammen oder gar nicht, Zauberer.« Sorgrads gedämpfte Stimme ließ keinen Widerspruch zu. Usara sah Shiv an. »Mit Larissas Hilfe könnten wir es schaffen.« Shiv stöhnte. »Das ist nicht dein Ernst?« »Weißt du einen anderen Weg?« Usara wischte sich schwache Spuren der Macht von den Händen. »Außer die Kaiserliche Depesche zu bitten, Casuel in eine Kiste zu packen und hinzuschicken?« Shiv rieb sich die Schläfen. »Ich weiß nicht, wer mehr Ärger machen würde.« »Wir müssen etwas tun«, fuhr Usara ihn an. »Sonst können wir genauso gut mit eingezogenem Schwanz zurück zu Planir gehen.« »Larissa kann uns helfen, sie herzubringen.« Shiv klang ganz entschieden nicht begeistert. »Das wird ihr gewisse Einblicke in kombinierte Affinitäten geben, mit denen sie vor Kalions Kumpeln angeben kann. Aber wir nehmen sie nicht mit nach Suthyfer, einverstanden?« 228
»Ich weiß ja nicht, ob es euch interessiert, aber ich kann euch kaum noch sehen.« Sorgrads verdrossene Stimme wurde rasch schwächer. Usara machte eine Geste, und der schwankende Zauber stabilisierte sich. »Wir brauchen die Hilfe eines weiteren Magiers, um euch herzuholen. Bleibt in der Nähe, dann finden wir euch schon, wenn wir euch brauchen.« »Kannst du dir nicht vorstellen, dass wir unsere eigenen Pläne für den heutigen Tag hatten?«, fragte ‘Grens ferne Stimme herausfordernd. Sorgrads Antwort war zu gedämpft, um sie hören zu können, und dann brach die Verbindung in glitzernde Fragmente auseinander, die in dem Spiegel versanken. »Verdammt!« Usara löschte die Kerze mit zorniger Hand. »Komm schon.« Shiv war schon auf dem Weg zur Tür. »Sie können noch nicht weit gekommen sein.« Pered und Larissa waren die einzigen Menschen in dem großen Raum, der den größten Teil des Erdgeschosses des Gasthauses einnahm. Zu groß für einen Salon, zu hell und freundlich für einen Schankraum, boten die sauber geschrubbten Tische und die Stühle mit den Sprossenlehnen sowohl Gemütlichkeit für zwei als auch eine fröhliche Runde für größere Gesellschaften. Vorhänge flatterten vor den offenen Fenstern in dem frischen Meereswind, der den Geruch des Weins und der Zecherei vom Vorabend aus den Ecken fegte. Larissa und Pered saßen vor dem großen Kamin, zwischen sich auf dem Tisch ein Tablett. Pered maß gekonnt Kräuter in eine mit einem Scharnier versehene Kugel aus Silbergeflecht, klappte sie zu und ließ sie in einen schönen Keramikbecher fallen. »Tee?«, bot er an, als Shiv näher kam. »Es ist eine hiesige Mischung, recht dezent, wenn auch ein bisschen viel Lindenblüten drin sind.« 229
»Ja, bitte.« Shiv setzte sich. »Larissa.« Er zögerte, als ein Mädchen in Schürze einen Krug mit heißem Wasser aus dem Kessel brachte, der über dem Feuer hing. »Wir brauchen deine Hilfe bei einem Zauber.« Usara zog sich einen Stuhl von einem Nachbartisch heran und setzte sich rittlings darauf. Shiv wartete, bis das Mädchen weitere Becher gebracht hatte. »Aber bitte überleg danach noch einmal, ob du mit uns segeln willst. Diese ganze Reise verspricht, extrem gefährlich zu werden.« Larissa blickte in ihren Becher und bewegte die Metallkugel mit den dampfenden Kräutern mit einem Löffel hin und her. Ihre haselnussbraunen Augen waren gerötet, und sie umklammerte ein Taschentuch, das Shiv als Pereds erkannte. »Wofür braucht ihr mich?« »Für eine Translokation.« Usara wandte den Kopf, um zu sehen, ob das Mädchen außer Hörweite war. »Wir müssen zwei Leute aus Solura herholen.« »Solura?« Larissa sah verblüfft auf. »Aus West-Solura«, erläuterte Shiv und goss kaltes Wasser in den Tee, den Pered ihm reichte. »Das ist immer noch eine verdammt große Entfernung.« Larissa zog nachdenklich die Nase kraus. »Wir brauchen so viel Luft um uns herum wie nur möglich, irgndwo im Freien, am besten in großer Höhe.« Pered reichte Usara ein Kristallgefäß mit Honig, als der bärtige Magier nach einem Schluck das Gesicht verzog. »Ihr könntet eine Kutsche bis oberhalb des Bootsweges nehmen. Jedermann geht wegen der Aussicht hin.« »Solange wir eine einigermaßen geschützte Ecke finden kön230
nen.« Usara sah ihn an. Pered nickte. »Es gibt da einen Statuenpark seitlich des Platzes auf dem eigentlichen Kamm. Die Sieurs Den Dies und Tor Das haben ihn sich jede Menge Geld kosten lassen, damit man auf sie aufmerksam wird, ohne zu begreifen, dass niemand mehr einen Gedanken an sie verschwendet, wenn sie erst mal eine Generation lang tot sind.« Shiv grinste. »Hast du mittlerweile alles in Hadrumal gezeichnet?« »Mindestens drei Mal«, versicherte Pered. »Dann gehen wir, ja?« Usara stand auf. Larissa leerte ihren Becher und blickte Shiv erwartungsvoll an, der seufzte und seinen halb vollen Becher absetzte. Die helle Sonne draußen schien so warm, dass Larissa ihren Fächer in Bewegung setzte und sich den hohen Kragen aufknöpfte. Eingehüllt in Seide und Lagen von Musselin statt Wolle, fegten die Damen des südlichen Tormalin vorbei, in eleganten vielfältigen Schnitten statt der förmlichen Gewänder aus Hadrumal. »Hier!« Pered hob eine Hand, als eine Mietkutsche eine Schar kichernder Mädchen auf der anderen Straßenseite vor einem Hutmacher absetzte. »Zum Aussichtspunkt, bitte«, befahl er dem Kutscher. Usara half Larissa hinein, die sich neben Shiv setzte, der schweigend aus dem Fenster sah. Der Klang eisenbeschlagener Räder auf Pflastersteinen erfüllte die Kutsche. »Ich frage mich, ob Ryshads Familie ein paar davon gebaut hat«, überlegte Pered, als die Läden und Gaststätten des Kaufmannsviertels größeren Wohnhäusern Platz machten, eingesunkene Dächer aus rötlichen Dachziegeln über weißverputzten 231
Mauern im Schatten duftend blühender Bäume. Stabile Mauern umgaben solche Wohnsitze, gelegentlich stand ein Tor offen und erlaubte einen Blick auf den geschäftigen Haushalt dahinter. Auf dem gepflasterten Weg beiderseits der Straße lieferten tüchtige Dienstboten Säcke und Fässer ab, Arbeiter schleppten Werkzeuge und Material. Kindermädchen sammelten die Kleinen ein, die freudestrahlend sicher vor rumpelnden Karren und Kutschen herumsprangen, während Dienerjunge Leute begleiteten, die mürrisch wirkten bei der Aussicht auf Schule, und Dienstmädchen ungeduldig die Anstandsdamen spielen mussten. Usara beobachtete aus dem Fenster die Stadt. »Ryshads Brüder leben auf der anderen Seite des Isthmus, nicht wahr?«, sagte er schließlich. »Jedenfalls, diese Häuser sind bestimmt fünf oder sechs Generationen alt und stammen aus einer Zeit, ehe der Handel mit Inglis wirklich Geld brachte. Was meinst du, wann sie gebaut wurden, Shiv? Unter Aleonne dem Galanten oder Inshol dem Kurzen?« Shiv antwortete nicht. Larissa musterte wieder ihre Hände, und so tauschten Pered und Usara ein Achselzucken und schwiegen. Die Pferde lehnten sich ins Geschirr, um die Kutsche die Straße hinaufzuziehen, die sich immer höher zu dem Pass schlängelte, der eine tiefe Klamm in die zackigen Berge nördlich und südlich des Isthmus schnitt. Die Häuser waren kleiner gebaut und standen dichter beisammen, und die Pflastersteine wichen festgestampfter Erde. Jede Häuserfront besaß drei oder vier Fensterreihen und dazu noch Giebelfenster unter den braunen und ockerfarbenen Dachziegeln. Hinter einem hoch beladenen Zugpferd kam ein Mädchen mit einem dunkelroten Fä232
cher hervorgeeilt und erschreckte ein Reitpferd, das empört wieherte, während es scheute und dabei ihr Kutschgespann aufschreckte. Das Geschimpfe des Kutschers und die trotzigen Erwiderungen des Mädchens verliehen dem Gemurmel und dem geschäftigen Gesumm ringsum eine scharfe Note. In der Kutsche herrschte weiter Schweigen. »Hier sind wir«, verkündete Pered mit entschlossener Fröhlichkeit, als die Kutsche anhielt. Er bezahlte den Kutscher, als Usara ausstieg und Larissa höflich die Hand reichte. Sie winkte sie mit einem gepressten Lächeln beiseite. »Wo sind wir hier nun?« Shiv musterte den großen Platz, der aus dem Gestein gehauen worden war, um die Kuppe des Passes abzuflachen. Zu beiden Seiten fielen zerklüftete Felswände steil zum Meer hinab, unterbrochen von tückischen Geröllhängen und Platten sowie widerspenstigen Kräutern und Blumen, die sich in die spärliche, sonnengedörrte Erde krallten. »Die Fürsten, die die Straße bauten, um die zwei Häfen miteinander zu verbinden, haben dafür gesorgt, dass der Kaiser ihnen die Gebühren dafür auf alle Zeiten überließ. Und hier werden sie kassiert.« Pered deutete mit dem Kinn auf ein paar schwere Wagen, die auf den gepflasterten Platz rumpelten, nachdem sie gerade von der breiten Straße gekommen waren, die zu dem von hier aus nicht zu sehenden Hafen des größeren, älteren Teiles der Stadt führte, der an den ruhigeren Wassern des Golfes lag und nicht an den unsicheren Strömungen des Ozeans. Galeeren, die wenig größer als Kinderspielzeuge wirkten, sprenkelten das leuchtend blaue Wasser, das sich bis zum Horizont erstreckte. Usara sah zu, wie ein Livrierter mit dem Abzeichen eines tormalinischen Fürsten zu dem Kutscher eines beladenen Karrens 233
schlenderte. Er zog ein Abzeichen hervor, das ihm ein Nicken eintrug, doch diejenigen, die nach ihm kamen, wurden zu einer langen Reihe von Wassertrögen unter windgebeugten Bäumen gewunken. »Es muss die Kosten wert sein, wenn man die Zeit und die Risiken einer Reise rund um das Kap einsparen kann.« »Passt auf!« Pered zog Larissa zur Seite, als schwer arbeitende Pferde hinter ihr schnaubten, mit bebenden Flanken, nachdem der Kutscher die Zügel locker ließ. »Ferd, bring die Urkunde zu Den Rannions Schreiber! Nun mach schon, Junge!« Ein Kind sprang von der Ladefläche des Wagens und rannte davon, während der Kutscher sein widerstrebendes Gespann zu einem freien Platz neben einer. Gruppe von Männern lenkte, die die Ladung, die sie gerade heraufgebracht hatten, auf zwei Wagen verteilten, die ungeduldig auf Waren aus Caladhria, Lescar und anderen fernen Ländern warteten. Shiv betrachtete die Geschäftigkeit ringsum. »Sie müssen die Kosten für die Straße schon zehnmal wieder raushaben.« »Eher hundertmal«, vermutete Pered. »Aber ein Sieur findet immer Bedarf für mehr Geld.« Er nickte zu der Abteilung bewaffneter Männer, die sich am Fuße einer massiven DastenninStatue entspannten. Gekrönt mit Seetang, lief das Gewand des Meeresgottes in schäumende Gischt um seine Füße herum aus, seine verwitterten Bronzehände waren grün vor Alter und in einer segnenden Geste zu beiden Meeren ausgestreckt. Larissa schloss die Augen und wandte ihr angespanntes Gesicht der ständigen Brise zu. »Ich habe das Gefühl, hier könnte ich den Himmel berühren.« »Es ist ein großartiger Platz, um mit Luft zu arbeiten«, gab Usara in hoffnungsvoller Erwartung zu. »Selbst ich kann das spüren.« 234
Shiv wandte sich an Pered. »Magie im Freien auszuüben verstößt nicht direkt gegen das Gesetz des Kaisers, aber ich möchte auch nicht gern mit Den Rannions Eingeschworenen darüber diskutieren. Du sagtest, es gäbe hier oben auch abgeschiedenere Ecken?« »Hier lang.« Pered ging voraus zu einem mächtigen Turm auf der Südseite des Platzes. Mit seiner breiten Grundfläche aus dicht zusammengefügten Steinen, die fugenlos aus dem Felsen darunter entsprangen, sah er aus wie ein wundersamer Baum aus lebendem Stein. »War Sieur Den Rannion nicht einer der ursprünglichen Gönner der Kolonie von Kellarin?«, fragte Larissa und deutete auf die Männer, auf deren kupferfarbenen Wämsern das Abzeichen mit dem silbernen Adlerkopf leuchtete und die die Tür des Turmes mit gekreuzten Lanzen schützten. »Das war sein Bruder, Messire Ancel.« Shiv blickte zu dem breiten Balkon hoch, der sich um den schlanken Mittelteil des Turmes zog. »Die gegenwärtigen Sieurs sind keine Freunde von Temar.« Aufgeregte Stimmen drangen über den großen Platz, entzückt über die Aussicht. Oben, an der Stelle, an der der Turm von einem massiv gebauten Wachraum gekrönt wurde, hielten Eingeschworene Wacht nach Ost und West. Ein großer Adler spreizte seine breiten Schwingen über ihnen aus, für alle Ewigkeit im Fluge erstarrt. Larissa legte den Kopf schief. »Wenn ihr Magier mit den richtigen Affinitäten zur Zusammenarbeit überredet, könnten wir Schiffe sehr wohl sicher um das Kap der Winde herumführen. Dann müsste D'Alsennin nicht für das Privileg dieses Unsinns zahlen, die Schiffe über den Isthmus zu befördern.« 235
»Ich bin nicht sicher, ob Temar den Kaiser so vor den Kopf stoßen will.« Shiv winkte einen hoffnungsvollen Burschen weg, der auf einem Tablett Süßigkeiten anbot. »Wohin gehen wir?« Larissa wirkte unsicher, als Pered Usara zu der Schlange gut gekleideter Kaufleute und bescheidener Stadtleute führte, die daraufwarteten, Zugang zu dem berühmten Turm und seinem Balkon zu erhalten, sei es mit Empfehlungsschreiben oder dem schlichteren Hilfsmittel einiger klug verteilter Münzen. Lächelnde Lakaien boten ihnen Wein und Tee unter einer Markise an, die im ständigen Wind flatterte. »Ich weiß nicht genau.« Shiv beschleunigte seine Schritte, und Larissa eilte neben ihm her. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand ein größeres Denkmal baut als das Den Rannions«, sagte Pered gerade zu Usara. »Aber das heißt nicht, dass sie es nicht versuchen.« Er deutete mit der Hand auf die bunte Sammlung von Gedenksteinen und -skulpturen, die planlos auf dem unregelmäßigen Gelände zwischen dem mächtigen Turm und der zerklüfteten Bergflanke dahinter verstreut waren. Shiv hob die Augenbraue über die unverhohlene Lobrede auf einen längst verstorbenen Tor Leoril, die auf einer massiven Marmorurne eingraviert war. »Du sagtest, wir könnten eine abgeschiedene Ecke finden?« »Hier entlang.« Pered führte die Magier durch Denkmäler, die von nichts sagend funktionell bis rundweg bizarr reichten. Sie kamen an einem lebensgroßen Granitbullen vorbei, der wütend auf seinem Sockel scharrte, und erreichten einen mächtigen bronzenen Drachen, dessen Grünspan wie Aussatz wirkte und der gegen seine Ketten ankämpfte, die von einem Halskragen zu metallenen Pfosten führten, die in den Boden eingelas236
sen waren. Seine schlagenden Flügel warfen tiefen Schatten über ein Wesen, halb Fisch, halb Hund, das ungerührt auf einem Berg aus Muschelschalen hockte, die aus einem einzigen Block Marmor herausgeschnitten waren. Dahinter lag ein freier Platz, der vor Blicken und neugierigen Augen auf dem Turmbalkon gut abgeschirmt war. Shiv nickte beifällig. »Wir sollten uns beeilen.« »Ich halte Wache.« Pered setzte sich scheinbar müßig ein Stück entfernt von dem Drachen hin und holte Zeichenkohle und Pergament aus einer Tasche. Usara unterdrückte ein Lächeln. Shiv sah Larissa fragend an, die sich wappnete und ihre Hände ausstreckte, die ihre Anspannung durch ein leichtes Zittern verrieten. Usara vervollständigte das Dreieck, und alle drei Magier konzentrierten sich auf die leere Luft vor ihnen. Das einzige Geräusch war das leise Schaben, wenn Pered zeichnete. »Mein Lieber«, sagte Shiv freundlich. »Es wäre einfacher ohne Ablenkung.« »Verzeihung.« Es raschelte entschuldigend, dann war Pered still. Larissas Blick hatte nicht gewankt. Sie konzentrierte sich auf einen blauen Schimmer, der genau mitten zwischen ihnen erschien. Der Faden Zauberlicht hatte kaum Haaresbreite, war jedoch in seiner saphirblauen Intensität verblüffend. Ein schwaches Lächeln umspielte Larissas volle Lippen, als sich die Magie teilte, sich wieder und wieder verdoppelte. Die Fäden verschwammen und flatterten in dem seltsamen Wind, der um die Magier wehte. »Usara?«, forderte sie ihn auf. Usara beschwor gewissenhaft einen graublauen Dunst aus 237
dem Gestein zu ihren Füßen herauf. Er schwebte kaum sichtbar wie die Erinnerung an einen Nebel vor ihnen. Er wurde immer dichter, als er näher an Larissas Himmelszauber kam, die kühle Farbe wurde in ihren Bann gezogen wie Rauch in einen Schornstein und verwandelte sich zu einem strahlenden Blau. »Wir schaffen es, Shiv«, keuchte er freudig. Türkises Licht sammelte sich unter den tanzenden Lichttentakeln, Wellen mit strahlendem Rand. Aquamarinfarbene Wellen türmten sich auf und vereinten sich mit Larissas Magie, stießen mit dem sonnenbeglänzten Blau zusammen. Funken aus weißem Licht ließen den grünen Schimmer von Shivs Arbeit zu derselben saphirblauen Klarheit verblassen. Der Wind, der um die Denkmäler spielte, tanzte um die miteinander verbundenen Hände der Zauberer, was sich zu nahe heranwagte, wurde in den Zauber hineingezogen. Mit einer Plötzlichkeit, die Pered eine Verwünschung entriss, brachen zwei Gestalten durch die unmöglich schmale Linie des Zaubers. Die Magie verflog mit dem Wind wie die Bruchstücke eines Traumes. »Ich bin es!« Pered wich hastig vor dem gezogenen Dolch in Sorgrads Hand zurück. Sorgren war irgendwie gestolpert, als er durch den Zauber kam. Er rollte sich am Boden wie ein Jahrmarktsartist und war sofort wieder auf den Beinen. »Autsch.« Er grinste, als er sein Messer wegsteckte. »Den Zauber musst du auch lernen, 'Grad.« Pered sah mit großen Augen an ihm vorbei zu Shiv. »Das war unglaublich.« Er schüttelte den Kopf. »Wie könnte ich jemals diese Farben malen?« Sorgrad warf sein Messer in die Luft und fing es wieder auf. Dann betrachtete er Larissa. »Meine Dame.« Seine Stimme klang 238
warm vor Bewunderung. »Dies ist Larissa.« Usara überlegte, wie er sie am besten vorstellte. »Planirs ...« »Schülerin.« Larissa streckte die Hand aus. Sorgrad verbeugte sich tief und streifte sie mit den Lippen. ‘Gren begnügte sich damit, sie mit unverhohlener Anerkennung anzugrinsen. Er zupfte an seinem Kragen, um sein verknautschtes Hemd zu richten, und etwas klimperte in einer Tasche seines ziemlich mitgenommenen Wamses. »Wovor seid ihr denn weggelaufen?« Shiv sah den jüngeren Mann aus den Bergen stirnrunzelnd an. »Wachleute.« Sorgrad hielt zwei Rucksäcke in der linken Hand und warf einen seinem jüngeren Bruder zu. Im Gegensatz zu ‘Grens ramponiertem Äußeren war sein Hemd sauber, die silbernen Knöpfe an seinem Wams waren glänzend poliert und seine Stiefel gut geölt. ‘Grens Haar war lang und mit einem Lederstreifen im Nacken zusammengebunden. Sorgrads Haar war ordentlich geschnitten und mit einem Hauch von teurem Öl zurückgekämmt. »Was wollte die Wache?«, fragte Usara, ehe er es sich verbeißen konnte. »Da war dieser Goldschmied«, begann ‘Gren mit einem fröhlichen Lächeln. »Wir verfügen nicht alle über Planirs bodenlose Goldsäcke.« Sorgrad nahm eine Hand voll silberner Ketten aus einer Tasche und verstaute sie in seinem Rucksack. Er sah Shiv offen an. »Arbeitet Planir für sein Geld, oder macht er es selbst?« ‘Gren stand neben Larissa. Er hob sich hell gegen ihre dunklen Farben ab, und seine himmelblauen Augen blickten aufmunternd. »Alchimisten gehen nach Hadrumal, oder? Man sagt, sie suchen 239
magische Hilfe, um aus einfachen Metallen kostbare zu machen.« »Wollen wir uns auf den Weg machen?«, schlug Pered vor und bot Larissa seinen Arm. ‘Gren bummelte auf ihrer anderen Seite entlang. Die anderen folgten mit ein paar Schritten Abstand. »Dann wollen wir mal nach einem Schiff suchen«, sagte Sorgrad. »Hat ja keinen Sinn, es aufzuschieben, nicht, wenn ein Kampf bevorsteht.« »Wir haben es bei dem Hafenmeister und den Maklern sämtlicher Fürsten probiert«, sagte Usara düster. »Ich werde schon jemanden finden, der einsieht, dass es vernünftig ist, euer Geld zu nehmen.« Sorgrads Zuversicht enthielt einen drohenden Unterton. Pered drehte sich um und beschattete die Augen mit einer Hand. »Gehen wir ganz bis zum Hafen runter?« Sorgrad schüttelte den Kopf. »Die beiden brauchen nur still zu sitzen, reich auszusehen und die Klappe zu halten.« »Seid ihr in einem anständigen Gasthaus untergebracht?« ‘Gren lächelte Larissa liebenswürdig an. »Dann warten wir dort auf sie.« »Larissa ist eigentlich mehr als nur Planirs Schülerin«, murmelte Shiv Sorgrad zu. »Ich sehe ihn hier nirgends.« Der Hochländer zuckte die Achseln. »Deine Wahl: Entweder du riskierst, dass ‘Gren sich ein Stück von Planirs Kuchen abschneidet, oder du schleppst ihn in einen Hafen, nachdem eure Magie gerade seine Hoffnungen auf eine gute Prügelei zunichte gemacht hat.« »Pered achtet schon darauf, dass alles schicklich bleibt«, meinte Usara. 240
»Solange er nicht versucht herauszufinden, wie man einen Zauber malt«, sagte Shiv stirnrunzelnd. »Na schön, suchen wir zwei Kutschen.« Pered pfiff bereits zwei heran, und ‘Gren half Larissa in die erste mit ausgesuchter Höflichkeit, die nicht recht zu seinen schmutzigen Kleidern passen wollte. »Irgendwo in die Nähe der Lotsenakademie, bitte.« Usara unterdrückte seine Bedenken und folgte Sorgrad und Shiv in das zweite Gefährt. Der Kutscher trieb sein Pferd mit einem Peitschenhieb an. Am Fuße des Gipfels angekommen, rumpelten sie durch Straßen voller Menschen, die sich ganz dem Kaufen und Verkaufen widmeten, was beide Hälften Zyoutesselas reich machte. Nach einiger Zeit räusperte sich Usara. »Sorgrad, wie lief es in Solura?« Die Kutsche schwankte um eine Ecke, ehe Sorgrad voller Abscheu den Kopf schüttelte. »Alles was Gilmarten mir erzählt hatte, stimmte. Jeder Magiegeborene muss bei einem anderen Zauberer in die Lehre gehen, und jeder Meistermagier ist auf den einen oder anderen Baron eingeschworen. Die besten, die ich gefunden habe, waren aufrichtige Wohltäter, die sich verzweifelt bemühten, mich bei irgendjemandem aus ihrem Kreis unterzubringen. Die schlimmsten waren sture Bastarde, die mich einsperrten und nach dem örtlichen Vorsteher riefen, um mich als unausgebildeten Magier zu brandmarken.« »Du bist ihnen offensichtlich entkommen.« Shiv sah ihn prüfend an. »Mit Magie?« »Dietriche und ‘Grens Talent dafür, Schädel einzuschlagen«, sagte Sorgrad humorlos. »Wir könnten dir ein paar Dinge zeigen«, sagte Usara mit 241
aufgesetzter Beiläufigkeit. »Nur so viel, dass du Livak und Halice helfen kannst«, fügte Shiv hinzu. »Nett von euch, mir das anzubieten.« Sorgrad lächelte zufrieden. »Das sollte eine Bedingung für meine Mitarbeit werden.« »Ich dachte, wir hätten uns bereits über den Preis geeinigt«, sagte Shiv leicht empört. »Das war ‘Grens Preis«, versicherte Sorgrad ihm ernsthaft. Usara lachte. »Es ist nicht mehr weit. Was machen wir, wenn wir im Hafen sind?« »Wir suchen eine passende Taverne, wo ihr beiden schön still sitzt, reich ausseht und euch nicht einmal die Nase putzt wie ein Zauberer. In der Art von Taverne, die wir suchen, bedeutet das sonst, dass Messer angeflogen kommen.« »Also suchen wir unsere eigene Piratenbesatzung?«, vermutete Shiv. Sorgrad lächelte. »Nein, wir suchen ein Schiff. Ich mache mich auf die Suche nach der Besatzung, wenn es dunkel wird, und ich nehme ‘Gren mit, weil ich wahrscheinlich mit Freibeutern verhandeln werde. Wenn es zu einem Kampf kommt, habe ich lieber ihn im Rücken, wenn es euch recht ist.« »Wir können uns Ärger vom Leib halten«, protestierte Shiv. »Ihr werdet gar nicht erst so weit kommen«, entgegnete Sorgrad. »Wenn wir dabei erwischt werden, wie wir bei einer Prügelei Magie anwenden, wird das schneller bei D'Olbriot ankommen als Bienen beim Honig«, erläuterte Usara Shiv mit Nachdruck. »Was hat D'Olbriot in diesem Spiel für Karten?« Sorgrad sah von Usara zu Shiv und wieder zurück. »Ich denke, es ist Zeit, dass ihr mir erzählt, was eigentlich los ist. Fangen wir damit 242
an, dass ihr zwei in Hadrumal schwänzt?« Oft von Shiv unterbrochen, berichtete Usara während der ganzen Fahrt durch die Reihen der schmutzigen, billigen Häuser, die zwischen den großzügigen Landsitzen der Kaufmannsklasse und dem sich unnachgiebig ausbreitenden Hafendistrikt eingeklemmt waren. Hohe Lagerhäuser säumten die Straßen mit fensterlosen Mauern und Türen, die von innen verriegelt waren. Sie kamen an dem mehrfach erweiterten Gebäude vorbei, in dem Schiffseigner und Kapitäne dafür bezahlten, dass ihre Steuermänner und Lotsen die Geheimnisse der Meeresküste, ihrer Winde und Strömungen kennen lernten. Der Kutscher hielt auf einem kleinen Platz, dem der feuchte Geruch der ablaufenden Flut anhaftete, und hämmerte auf das Dach. »Weiter fahre ich nicht.« Shiv stand neben Sorgrad, während Usara den Kutscher bezahlte. »Wo fangen wir an?«, überlegte er laut. Sorgrad deutete mit dem Kinn auf einen Mann, der frisch gekochte Krabben aus einem blubbernden Topf über einem kleinen Kohlenbecken verkaufte. »Hat einer von euch ein Gefäß bei sich?« Keiner der Zauberer hatte eins, also musste jeder für den missgestalteten Ausschuss aus einem Brennofen zahlen, um eine dampfende Portion zu erhalten. Sorgrad zog einen silbernen Becher auf kurzem Fuß aus einer Tasche und wechselte ein paar Worte mit dem Krabbenverkäufer, als dieser ihn füllte. Sorgrad nickte den Magiern zu und führte sie davon, während er eine Krabbe zwischen die Zähne klemmte, um ihr den Kopf abzureißen, ehe er den Rest verspeiste. »Unser Freund sagt, es gibt hier einen Kapitän, der von einem Kaufmann auf dem Trockenen sitzen gelassen wird und dessen Gläubiger ihm 243
jeden Tag die Türen einrennen können.« »Das hat er dir für den Preis von drei Portionen Krabben erzählt?« Die Schwierigkeit, eine mit nur einer Hand und den Zähnen zu pulen, konnte nicht die Tatsache verbergen, dass Shiv beeindruckt war. Sorgrad zuckte die Achseln. »Ich sagte ihm, es wäre zehnmal so viel Wert, wenn sich herausstellte, dass es stimmt.« Usara leckte sich einen verbrannten Finger. Er hielt eine Hand über seine Krabben, die sofort aufhörten zu dampfen. »Wo finden wir diesen Kapitän?« »In einer Kneipe, die Mond und Rechen heißt, also passt auf, wo ihr hintretet«, warnte Sorgrad. »Und wenn du noch einmal Magie benutzt, 'Sar, dann brech ich dir die Finger.« Er führte sie eine abstoßende Gasse entlang, die zwischen einem verbarrikadierten Lagerhaus und einem von einer hohen, mit Glassplittern gekrönten Mauer umgebenen Hof hindurchführte. Nach ein paar Biegungen kamen sie zu einem Kai. Sorgrad grüßte einen Mann, der einen beladenen Schlitten auf eisernen Kufen über die glitschigen Pflastersteine zog. Der Hafenarbeiter wies ihnen mit einem Kopfnicken die Richtung, ohne zu lächeln. »Da lang.« Sorgrad ging voraus zu einer Kneipe, deren verbeultes Schild einen Mann zeigte, der unter dem geheimnisvollen Licht des kleineren Vollmondes einen Rechen durch seichtes Wasser zog. Das Gebäude sah achtbarer aus, als Shiv erwartet hatte, und er legte die Hand an die Tür, die bereits einen Spalt offen stand. Ein Messer bohrte sich dumpf in das Holz, knapp einen Fingerbreit von seiner Hand entfernt. »Nein, hier entlang.« Sorgrad steckte sein Messer wieder ein und deutete auf eine Gasse neben der Taverne. 244
Die Zauberer taten, wie ihnen geheißen. Aus den Schatten heraus spähte Sorgrad einen Augenblick, ehe er auf einen großen Mann deutete. »Was glaubt ihr wohl, was der hier macht?« Er war ungefähr so groß wie Shiv, aber anderthalbmal so breit in den Schultern, seine Muskeln wurden durch ein eng geschnittenes Hemd aus verblichenem rotem Leinen betont, das er unter einem gegürteten Wams trug. Er war tief in ein Gespräch mit einem Mann versunken, der Bündel von Kleidern, Körbe voll Flaschen und Kisten voll angestoßenem Obst einem Burschen hinunterreichte, der in einem breiten, flach gehenden Ruderboot stand, das an einem der dicken Pfähle am Kai vertäut war. Der Händler hielt inne, um die Hochseeschiffe zu betrachten, die sicher in den geschwungenen Armen des Hafens lagen, umgeben von Booten wie seinem eigenen, die versuchten, die Besatzungen dazu zu verführen, sich für ein paar Kleinigkeiten von ihrem Geld zu trennen. »Darni!« Shiv tobte. »Planir vertraut uns also, ja?« »Er hat sich den Bart abrasiert«, bemerkte Sorgrad beifällig. »Geht so besser als Tormaliner durch, schätze ich.« Mit dem schwarzen Haar und seiner dunklen Hautfarbe hatte der große Mann für gleichgültige Passanten gewiss mehr als eine flüchtige Ähnlichkeit mit einem Tormaliner. »Vielleicht hat er etwas vor, was mit uns gar nichts zu tun hat«, vermutete Usara zweifelnd. »Selbst wenn er sich als Söldner verdingt, ist Darni irgendwie in Planirs Machenschaften verwickelt«, sagte Shiv finster. »Können wir ihn irgendwie loswerden?«, überlegte Usara. »Wollt ihr es euch wirklich mit Hadrumal verderben?« Sorgrad sah überrascht aus, dann dachte er über die Aufgabe nach. »Ich kann ihm irgendwo in einem Hinterhof ein Messer in den 245
Rücken stoßen, aber ich nehme es nicht mit einem Kerl von der Größe bei hellem Tageslicht auf. Dann haben wir zum Beispiel eine Truppe von Eingeschworenen am Hals, die uns den Spaß verderben.« »Ich meinte doch nicht, ihn zu töten«, protestierte Usara entsetzt. »Was meinst du, was er vorhat?« Shiv sah zu, wie eine Frau kam, um zu sehen, mit wem der Händler sich unterhielt. Sie war groß und kräftig, mit unmöglich gefärbten Haaren und angemalt wie eine Kinderpuppe. Ein paar andere Frauen lungerten in der Nähe herum, in tief ausgeschnittenen Kleidern und mit nackten Beinen unter den schmutzigen Röcken. Sie flankierten zwei unterernährte Mädchen, von denen das ältere dem jüngeren die Handgelenke fest zusammenhielt. Darni wandte sich an sie, mit knappen Gesten und einschüchternder Miene. Die Puffmutter hatte offensichtlich schon mit solchen Typen zu tun gehabt und schüttelte unbeeindruckt den Kopf. Darni machte auf dem Absatz kehrt und marschierte weiter. Der Händler und die Puffmutter sahen ihm voll Groll nach. »Wartet hier.« Sorgrad schoss über das Pflaster und wurde von der Frau mit einem habgierigen Blick begrüßt. Sie Wechselten ein paar Worte, und Sorgrad kehrte zu den beiden Zauberern, mit der jüngsten Hure, die man losgelassen hatte, zurück. »Was glaubst du, wofür er sie haben will?«, fragte Usara beunruhigt, als er sah, wie Sorgrad beschützend seinen Arm um die dünne Taille des Mädchens legte. »Ich lass dir von Pered ein Bild zeichnen.« Shiv war ziemlich verblüfft. Sorgrad führte das Mädchen in die Gasse. »Wie viel Geld 246
habt ihr dabei?«, fragte er die Magier. »Wie bitte?« Usara sah ihn verständnislos an, doch Shiv griff schon nach seiner Börse, die er klugerweise in seine Hosen gestopft hatte. Sorgrad knöpfte sein Hemd auf und zog mehrere Gold- und Silberketten über seinen Kopf. »Schau mal, ich habe der alten Ziege gesagt, wir wären drei, also müsstest du genügend Zeit haben, um wegzulaufen, ehe sie dich suchen kommt.« Er nahm die Geldstücke, die Shiv ihm hinhielt, und drückte sie dem Mädchen in die zitternden Hände. Ihre Gelenke waren blau verfärbt. »Nimm das Geld, um die Fahrt auf einem Händlerkarren bis zur anderen Seite des Passes zu bezahlen, ehe es dunkel wird.« Er stopfte ihr den Schmuck zwischen die mageren Brüste mit einer unpersönlichen Geste. »Verkauf das, ehe du dich selbst verkaufst, Küken.« Sie sah ihn mit großen, hoffnungslosen Augen an. »Mein Pa ist letztes Jahr ertrunken, und die Ruhr hat das Baby und Mama geholt. Meine Tante hat die Kleinen zu sich genommen, aber ...« »In der Winkelstraße gibt es einen Goldschmied«, sagte Usara, dem plötzlich etwas einfiel. »Frag dort nach einem Mann namens Renthuan. Sag ihm, Ryshad Tathel will, dass er dir hilft.« Ein Hoffnungsfunke erhellte das ängstliche Gesicht des Mädchens. »Ja, ihr Herren.« Sie machte kehrt und rannte die Gasse entlang, weg von den Hafenkais, und drückte mit den Fäusten das Geld an ihre knochige Brust. Sorgrad sah ihr kopfschüttelnd nach. »Sich bei Seeleuten als Hure zu verdingen ist doch nichts für Kinder.« Shiv sah Usara an. »Wenn du sie zu seinem Geldverleiher schickst, ist das Ryshads gutem Ruf nicht gerade nützlich.« 247
»Sollen wir gehen, ehe die dicke Madam da kommt und fragt, was wir mit ihr gemacht haben?« Usara blickte ängstlich zu der Puffmutter hinüber, die glücklicherweise mit einer Hand voll frisch angekommener Seeleute beschäftigt war. »Hat sie irgendetwas darüber gesagt, was Darni wollte?« »Er sucht nach einem Mädchen, von dem er glaubt, dass sie eine Fahrt über das Meer buchen will. Der Beschreibung nach ist er hinter Larissa her.« Sorgrad beobachtete die Frau, die intensiv Verhandlungen führte. »Jetzt, rasch.« Weder Shiv noch Usara zögerten, als Sorgrad sie aus der Gasse und ungesehen den Kai hinunterführte. Er ging an der ersten Kneipe hinter dem Mond und Rechen vorbei, drängte die Magier jedoch in die nächste, einen säuerlich muffenden, baufälligen Schuppen. »Hier rüber.« Er ging voran an einer Gruppe Männer vorbei, die darauf warteten, dass ihnen die Heuer ausgezahlt wurde, entsprechend der Zahlen, die mit Kreide auf ihren breitkrempigen Hüten oder der linken Schulter ihrer dunklen Lederwämser standen. Ein stämmiger Mann mit einem Knüppel stand bereit, um jeden abzuschrecken, der sich vielleicht mehr als seinen Anteil aus der Geldtruhe holen wollte. »Ich finde, wir sollten Darni einen Platz in dem Spiel anbieten«, verkündete Sorgrad. Shiv lehnte sich gegen einen Pfeiler. »Livak kann ihn nicht leiden.« »Livak versucht auch nicht, eine Besatzung aufzutreiben, die bereit ist, gegen Piraten zu kämpfen mit nur zwei Tanzlehrern als Sicherheit.« Sorgrad grinste Shiv an. »Außerdem nimmt Livak die Runen, wie sie fallen, genau wie ich. Darni ist groß und furchteinflößend, und er kann mit einem Schwert umgehen. Wir haben in den Bergen recht gut zusammengearbeitet, 248
und das zählt eine ganze Menge.« »Wenn sich Planir genug Sorgen um Larissa macht, um ihr Darni hinterherzuschicken, sollten wir ihn besser wissen lassen, dass sie in Sicherheit ist.« Usara merkte gerade, dass er in einer klebrigen Bierpfütze stand, und sah voll Abscheu auf den Boden. Shiv schürzte die Lippen. »Meinst du, er ist hier, um sie nach Hadrumal zurückzuschleppen?« »Vielleicht«, sagte Usara zurückhaltend. »Wenn wir ein hübsches Ding wie sie mit auf unsere Reise nehmen, wird sie ihren eigenen Wachhund brauchen«, betonte Sorgrad. »Sonst spielt ‘Gren ihren Ritter und schlitzt jedem die Kehle auf, der ihr zu nahe kommt.« »Darni ist kein Dummkopf.« Shiv sah Usara an. »Er wird uns eher früher als später finden. Wollen wir das Gespräch dann nicht lieber nach unseren Bedingungen führen als nach seinen?« Usara nickte. »Vielleicht lässt er durchblicken, was Planir von unserer kleinen Expedition hält.« »Dann suchen wir ihn.« Sorgrad war schon auf dem Weg zur Tür. Shiv schnitt eine Grimasse. »Wie wir uns auch drehen und wenden, es gibt immer neue Komplikationen.« Er deutete mit dem Finger auf Usara. »Das kannst du Livak sagen.«
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Suthyfer, Südliche Zufahrt 44. Nachfrühling
Für jemanden, der das Meer so verabscheut wie ich, verbrachte ich entschieden zu viel Zeit auf Schiffen. »Ist dir immer noch übel?« Der Schiffszimmermann ging an mir vorbei, während ich an der Reling der Stranddistel lehnte. »Nein, aber trotzdem danke.« Ich blickte zum Krähennest hinauf, wo mehrere Seeleute genauso scharf Acht gaben wie ich. »Irgendein Zeichen von der Seetang oder der Goldelritze?« Lemmell zuckte die Achseln. »Du erfährst es zusammen mit allen anderen.« Er stellte sich neben mich und strich mit einer Hand über die Reling wie ein Mann, der seinen Lieblingshund streichelt. Er liebte dieses Schiff und war immer eifrig dabei, mir seine Vorzüge zu erläutern und jedem, der zuhören wollte, zu erklären, dass die Stranddistel über ein Viertel länger war als das größte der Piratenschiffe, ganz zu schweigen davon, dass sie anderthalbmal so breit war. Stimmt, gab dann Haut, der Segelmacher, zu, und wir haben eine größere Segelfläche und ein besseres Rigg. Ich war mir nicht sicher, ob sie das Schiff wirklich besser kannten als jeder andere oder ob sie nur hoffnungslos voreingenommen waren. Kapitäne kamen und gingen je nach Laune der Eigner, und Besatzungen wurden immer nur für eine Seereise angeheuert, aber wie ich gelernt hatte, blieben Bootsmann, Steuermann, Schiffszimmerer und Segelmacher bei einem Schiff, von der Kiellegung bis es entweder ein Wrack war oder vermoderte. Einige hatten sogar ihre Frauen und Familien in ihren nur von Segeltuchplanen abgeschirmten Kabinen auf 250
den unteren Decks, aber Temar hatte das auf dieser Reise untersagt. »Mach dir keine Sorgen wegen der Piraten, Mädel«, fuhr Lemmell fort. »Wir haben ein hohes Freibord und ein steiles Vorschiff, das schwer zu entern ist, und das Achterdeck gibt D'Alsennin den besten Überblick bei jedem Kampf.« Als der Zimmermann weiterging, blickte ich zum Achterdeck, doch D'Alsennin war nicht dort. Er war unten auf dem Hauptdeck und kam zu mir herüber, als er mich sah. »Was meinst du, wie lange dauert es noch?« Ich blickte über das Meer, das ruhig in der Stille des frühen Morgens lag. Irgendwo, gerade außer Sicht, lagen die Inseln, die wir zurückerobern wollten. Irgendwo unter dem gesichtslosen Mantel aus Wald schlichen die Söldner Kellarins in mörderischer Absicht herum. Lautlos wie ein Eichhörnchen, das seine Nüsse nicht teilen will, würden sie sich mit Ryshad auf einer der Landspitzen, Halice auf einer anderen, an die Wachposten heranschleichen, die Allins Weitsicht uns verraten hatte. Irgendwo lauerten zwei von Kellarins Küstenschiffen in einer Bucht, in die sie unter der spärlichen Deckung einer mondhellen Nacht und jeder Tarnung aus Magie und Zauberkunst gelaufen waren, die Allin und Guinalle hervorbringen konnten. Dastennin, Halcarion und alle anderen Götter mochten gewähren, dass die Schiffe uns unsere Leute zurückbringen würden. »Nicht mehr lange.« Ich sprach mit mehr Hoffnung als Überzeugung. »Wir werden dafür sorgen, dass es diesen Schuften Leid tut je auf den Gedanken gekommen zu sein, Suthyfer zu beanspruchen«, murmelte Temar. Kellariner, die noch in den geräumigen Unterdecks der Stranddistel schliefen, würden dabei helfen. 251
Ich sah zur Sonne auf, die so früh am Tage noch immer groß und sanft golden schien. »Es dauert, solange es dauert.« Das hätte Ryshad geantwortet und Halice auch, aber sie sollten sich besser beeilen, wenn wir unseren Angriff starten wollten, während die Piraten noch vom Schlaf benommen waren. Das Deck schwankte unter meinen Füßen, als die Stranddistel eine langsame Wende machte. Die Wasserlilie und die Seestern taten dasselbe, die quadratischen Segel am Großmast eingerollt wie bei der Stranddistel, verließen sie sich nur auf die dreieckigen Segel an den stämmigen Achtermasten, um ihre Kreise zu drehen. Ich hoffte inständig, dass alle Seeleute an den richtigen Leinen zogen, damit wir nicht zusammenstießen, während wir auf dem gleichen Fleckchen Meer auf der Stelle traten. »Ich hätte auch gehen sollen«, murmelte Temar frustriert. »Das ist etwas ganz anderes als über die dalasorische Ebene mit einer halben Kaiserlichen Armee im Rücken zu fegen«, betonte ich. »Wie Ryshad und Halice nicht müde werden zu wiederholen, mit ihrem ganzen Gerede von Anschleichen und Zuschlagen und Angreifen und Zurückweichen.« Ich antwortete nur mit einem nichts sagenden Laut. Es war klar, dass Temar immer noch brummig war, weil man ihn von dem Spaß ausgeschlossen hatte, doch Ryshad und Halice waren eisern geblieben. Die tormalinischen Kriege herrschaftlicher Eroberung in jenen vorgeschichtlichen Tagen waren eine ganz andere Sache gewesen als die gemeinen Bürgerkriege, die die schwärende Wunde Lescars bildeten. Hier war schmutziger Kampf gefordert. Trotzdem gefiel es mir genauso wenig, untätig an Bord he252
rumzusitzen wie D'Alsennin. Diese Untätigkeit war umso schwerer zu ertragen nach den endlosen hektischen Tagen, seit Parrail Alarm geschlagen hatte. Jeder von uns hatte Freibauern, Bergarbeiter und Handwerker aufgestachelt, ihre Werkzeuge und ihre Wut zu mörderischen Klingen zu schärfen. Halice und ich hatten jeden Söldner dazu gebracht, den Rost von seinem Schwert zu kratzen und sich auf seine alte Geschicklichkeit zu besinnen, Proviant zu beschaffen. Temar drehte sich zum Achterdeck und den Türen um, die zu den rückwärtig gelegenen Kajüten unter dem erhöhten Deck führten. »Vielleicht weiß Allin etwas Neues. Guinalle kann Parrail vielleicht erreichen, wenn nicht mehr so viel Wasser dazwischen liegt.« »Wir lassen sie schlafen«, sagte ich fest. Wenn ich meinen Freunden schon nicht mit einer Waffe in der Hand helfen konnte, konnte ich doch wenigstens sicherstellen, dass die magischen Reserven dieser Expedition sorgfältig verwaltet wurden. Guinalle ging es auf einem Schiff noch schlechter als mir, und die Belastung, Zauberkunst auszuüben, während sie auf dem Wasser war, hatte ihr Kopfschmerzen eingetragen, die ihr den Schädel zu spalten schienen. Allin war nicht so sehr müde, doch ansehen zu müssen, wie die Gefangenen der Piraten täglich geschlagen und gedemütigt wurden und in ihrem Dreck lagen, bedrückte sie sehr. Nachdem wir uns den Rücken krumm geschuftet hatten, um Vithrancels Schiffe unter Segel zu bringen, mussten wir nun seit drei frustrierenden Tagen von den Inseln fern bleiben, um auf Shivs und Usaras Schiff zu warten, das die längere Seereise von Toremal aus machen musste, selbst wenn Zauberei ihm einen Weg durch die Wellen bahnte und seine Segel mit magiegeborenem Wind füllte. 253
Temar starrte finster auf die geschlossene Tür. »Ich möchte wissen, wie Shivs Männer vorankommen.« »Sorgrad und ‘Gren kämpfen schon mehr Jahre, als du überhaupt lebst.« Saedrins Fluch, das klang ja dank meiner eigenen Besorgnis eher herablassend als beruhigend. Die Runen können immer falsch fallen, ganz gleich, welches Geschick meine Freunde auch darin hatten, sie einzuschätzen. »Na, dann komm schon.« Temar nahm sich die Zeit zu lächeln und neugierigen Seeleuten beruhigend zuzuwinken, wie es Edelleute immer zu tun scheinen, ganz gleich, wie schnell ihnen der Boden unter den Füßen wegsackt. Ich klopfte kurz zweimal an die Tür. »Herein.« Allin klang nachdenklich und traurig, aber das war besser als schiere Qual. Sie saß an einem Tisch, der von den Balken der Decke hing. Die Schlingerleiste und ein feuchtes Tuch hielten ihre Weitsichtschale an ihrem Platz, aber Pfützen verblassender Strahlen verrieten, wo verzaubertes Wasser über den Rand geschwappt war. »So viel zu meinem Versuch, dafür zu sorgen, dass du dich ausruhst«, tadelte ich. Beim nächsten Mal würde ich alles aus der Kajüte entfernen, das sie für ihre Magie verwenden konnte. Aber dann würde sie wahrscheinlich wieder mit dem Wasserfass weitermachen, das zur Erfrischung der Matrosen an Deck stand. Sie hatte damit erst aufgehört, als sie merkte, dass niemand mehr daraus trinken wollte, auch wenn sie nichts anderes benutzte als Zitronenöl. »Wie geht es im Norden?« Temar verschränkte abwesend die Hände ineinander. »Es ist alles vorbei, bis auf den Kummer.« Geisterhafte Spiegelbilder verwandelten Allins ernstes Gesicht in eine Maske aus Licht und Schatten. 254
Licht und Schatten. Ich blickte in die Schale und sah eine dreieckige Bucht zwischen zwei Ausläufern aus brüchigem grauem Fels, wo selbst die genügsamsten Pflanzen durch den vereinten Angriff von Wind und Wellen nicht mehr gediehen. Temars Banner flatterte auf dem Dach einer recht großen, wenn auch grob gezimmerten Hütte unter einem Felsvorsprung. Leichen lagen zwischen den Stümpfen einer vor kurzem gefällten Baumgruppe. »Kellarins Gesetze gelten zumindest auf dieser Insel«, sagte Temar zufrieden. »Es ist ein Anfang«, stimmte ich ihm zu. Und zwar ein wichtiger; Shiv hatte per Weitsicht einen ansehnlichen Vorposten von Piraten auf diesem zerklüfteten Eiland nördlich von Suthyfers westlichster Insel entdeckt. Allin sah auf. »Wenn ihr möchtet, dass ich mit Usara Kontakt aufnehme, muss ich die Weitsicht aufgeben.« Ein Glitzern verriet den Kummer, der in ihren Augen stand. »Verschwende deine Tränen nicht auf dieses Ungeziefer«, sagte Temar ernst, nahm sie aber trotzdem zum Trost in die Arme. Ich versuchte, vertraute Züge unter den anonymen Gestalten zu erkennen, die die Toten ausplünderten, und erblickte einen blonden Schopf, der sich über die Hand eines Toten beugte. Das war doch ‘Gren? Ich beugte mich tiefer, sprang jedoch fluchend zurück, als plötzlich eine Feuersbrunst auf einer Seite der Bucht aufloderte. Gegen ihren Willen musste Allin lächeln. »Ist das dein Freund Sorgrad?« Ich sah ganz deutlich einen blonden Mann, der sich betont lässig die Hände am Feuer wärmte. »Das ist er, und so wie es 255
aussieht, verbrennt er gerade Langboote.« Er wirkte klein in der Miniaturwelt der Schale, vor allem, weil er neben einer massigen Gestalt stand, die nur Darni sein konnte. Ich empfand immer noch einen leichten Groll, als ich den großen Krieger sah. Ich wäre nicht hier, wenn er mich nicht gezwungen hätte, für Planir zu arbeiten. Ich hatte nichts weiter gewollt, als dem Bastard ein kostbares Stück aus Silber zu verkaufen, ehe dessen unangenehmer Eigentümer merkte, dass es fehlte, aber Darni hatte es erkannt, und meine Zusammenarbeit war der Preis dafür gewesen, dass ich nicht in Ketten landete. Trotzdem, mahnte ich mich, wenn die Runen umgekehrt gefallen wären, hätte ich Ryshad nie kennen gelernt. Also war ich im Vorteil, oder? »Niemand entkommen?« Temars Stimme klang gepresst vor Sorge. Wenn doch, wäre unser Unternehmen nicht gerade gescheitert, würde aber sehr viel gefährlicher werden. Um uns in die Höhle dieses Piratenhauptmanns zu wagen, mussten wir von beiden Enden dieses wichtigen Sundes angreifen, der die beiden Hauptinseln Suthyfers voneinander trennte. Wir mussten sicher sein, dass nichts hinter uns lauerte, um uns in den Rücken zu fallen. »Niemand ist davongekommen.« Allin machte eine Geste, und ihr Zauber schoss rückwärts über das Wasser und zeigte die gekenterte Pinnasse der Piraten, auf deren flachem Rumpf Seepocken und grüner Algenbewuchs zu sehen waren. Das Wrack war dem Spott der Matrosen an Deck eines großen Dreimasters preisgegeben, der sich der weiten Bucht näherte. »Das muss die Malstrom sein«, keuchte Temar. »Da ist Ryshads Geld ja gut angelegt«, bemerkte ich. Shiv 256
und Usara hatten ein Schiff gefunden, das von der Länge her leicht mit dem der Seeräuber mithalten konnte, aber schwerer gebaut war, mit höheren Seiten und Aufbauten, jedoch genauso für das Segeln hoch am Wind geriggt. Während wir zusahen, ging es in sicherer Entfernung von den drei Mastspitzen der Pinasse, die sich nun tief in den hellen Sand bohrten, und dem Durcheinander von nassem Tauwerk und Segeln an nutzlosen Rahen vor Anker. Leichen trieben zwischen namenlosem Treibgut umher, und der Strand war schmutzigrot vom Blut der wenigen, die es bis zum Ufer geschafft hatten. »Wessen Werk war das?«, fragte Temar voll Bewunderung. Ich für mein Teil war nicht besonders scharf darauf zu sehen, wie leicht ein Schiff umgeworfen werden konnte. »Larissas und Shivs.« Allin blickte in die Schale. »Ich wünschte, ich hätte solche Kräfte.« »Wenn du mit deinem eigenen Element arbeitest, hast du sie.« Guinalle lag auf einer der Pritschen der Kabine und hatte ein feuchtes Tuch auf der Stirn. Ich hatte geglaubt, sie schliefe. »Fühlst du dich besser?« Temars Augen blieben auf die Weitsichtschale gerichet. »Nein«, erwiderte Guinalle knapp. »Kann ich dir irgendetwas holen?« Ich war froh über die Ablenkung. So wie das Bild in der Schale asynchron zu den Bewegungen des Schiffes schwankte, wurde mir entschieden übel. Guinalle schüttelte kaum merklich den Kopf, die Lippen fest zusammengepresst. »Ich wünschte, du würdest etwas von Halices Gebräu versuchen.« Es heißt zwar, dass man einen lahmen Hund, der knurrt, in Ruhe lassen soll, aber mein Liebster brauchte dieses sturköpfige Mädchen vielleicht noch auf den Beinen, bereit zur Jagd. 257
Ich sah Temar an. »Shiv hat mich mal mit Zauberei von Seekrankheit geheilt. Wenn wir uns treffen, kann er Guinalle damit behandeln.« Die Demoiselle wedelte ungeduldig mit der Hand, was zumindest bewies, dass sie nicht völlig außer Gefahr war. »Hast du irgendetwas von Parrail gespürt?« Ich fragte mich, ob Temars neutraler Tonfall seine eigene Gereiztheit über Guinalle verbarg. So mitfühlend ich wegen ihrer Seekrankheit war, fand ich ihr Verhalten doch zunehmend aufreizender. Guinalle schwang die Beine von der Pritsche und setzte sich auf, um das Tuch vorsichtig in einen Deckelbecher zu tauchen. »Er hat sich den Arm verletzt. Wie schlimm, kann ich nicht sagen.« »Also stehen die Chancen, dass ihr zusammen Zauberkunst ausübt, nicht besser, als wenn ich versuchte, ein Spiel Rabe gegen Livak zu gewinnen.« Temars reuiger Versuch zu scherzen geriet flacher als meine Backversuche. Guinalle errötete lebhaft. »Ich habe mein Bestes getan ...« »Hast du eine Ahnung, ob Naldeth verletzt ist?« Allin unterbrach sie entweder aus gehöriger Taktlosigkeit oder aus genau dem Gegenteil. Guinalle zügelte sichtlich ihre Gefühle. »Ich habe nichts davon gespürt.« »Es sollte keine Rolle spielen.« Temar klopfte Allin auf die Schulter. »Schon bald sind sie bei uns, sodass wir alle Wunden heilen können.« Allin sah gereizt zu Temar auf. »Wenn Zauberer Schmerzen haben oder im Delirium sind, haben sie oft Schwierigkeiten, ihren Einfluss auf ihr Element zu beherrschen. Sie wirken dann Magie, ohne es zu wollen. Das ist der Grund, weshalb Planir 258
überhaupt angefangen hat, sich mit soluranischen Heiltraditionen zu beschäftigen.« Die auf Fragmenten von Ätherwissen beruhten. Was den Erzmagus erst auf die Spur der Zauberkunst und letztendlich auf die der verlorenen Kolonie Kellarin führte. Ich überlegte, ob Planir sich wie ein Mann zur Sonnwendkirmes fühlte, der feststellen musste, dass sich sein Wetteinsatz in einer erfolgreichen Serie auf der Rennbahn wieder und wieder verdoppelte. Oder kannte der Erzmagier den hohlen Aberglauben, dass man den Spieltisch verlassen sollte, wenn sich die Verluste so häuften, dass selbst die ungeborenen Enkel zu verschulden drohten? »Während wir, die wir Zauberkunst verwenden, völlig unfähig sind, Zauber zu wirken, wenn Schmerzen uns ablenken«, bemerkte Guinalle mürrisch. »Wenn um ihn herum alles in Flammen ausbricht, verrät sich Naldeth sofort als Magier.« Ich würde glatt genug Beute verwetten, um selbst ‘Grens Herz glücklich zu machen, dass es für den Zauberer danach übel aussah. »Je eher Shiv und Usara sie dort herausholen können, umso besser«, sagte Allin inbrünstig. »Wir müssen nur nahe genug herankommen«, stimmte Temar zu. Von draußen klangen eilige Schritte. »Messire!« Temar schaffte es nur deshalb vor mir zur Tür, weil ich auf der falschen Seite des Tisches stand. »Sie sind auf dem Rückweg.« Der Seemann grinste von einem Ohr zum anderen. Temar und ich rannten zur Reling, um es mit eigenen Augen zu sehen. Die Seetang und die Goldelritze arbeiteten sich tatsächlich auf uns zu. Wegen günstiger Winde brauchten sie 259
keine Hilfe von Zaubern, doch der Gezeitenstrom wendete sich bereits gegen sie. D'Alsennins Banner flatterte an den Mastspitzen, und an der Reling der Schiffe standen jubelnde Männer. »Wie weit trägt Lärm über das Wasser?«, fragte ich Temar plötzlich besorgt. »Der Wind steht für uns günstig«, versicherte er mir mit jungenhaftem Grinsen. Ich verbarg meine Ungeduld besser als er, aber trotzdem hatte ich das Gefühl, es dauerte eine halbe Ewigkeit, ehe die Seetang äußerst behutsam längsseits ging. Die Besatzung der Stranddistel hängte aus Stroh gefertigte Fender über die Reling, und die Matrosen auf dem Deck der Seetang unter uns halfen mit Bootshaken, damit wir nicht zu hart zusammenstießen. Die Schiffe trafen sich mit einem sanften Kuss, und Kletternetze und Leitern wurden von der Stranddistel hinuntergeworfen. Ich sah von der Höhe der drei Decks hinunter, wie unser Schiff das andere überragte. »Ryshad!« Temar sah ihn und winkte heftig. Er stopfte das ölige rote Tuch, mit dem er sein Schwert geputzt hatte, in seinen Gürtel, schob das Schwert in die Scheide und kletterte zu uns herauf. Er beugte sich für einen Moment über die Reling, um mich zu küssen, ehe er sich an Bord schwang. »Wir waren über ihnen, ehe sie überhaupt etwas merkten.« Ryhsad grinste, mit modernden Blättern und grünem Schleim bedeckt. Ein dunkler Fleck auf seinen hellbraunen Hosen war wahrscheinlich Blut, die rostroten Flecken auf seinen Ärmeln ganz bestimmt. »Sie haben kaum Wache gehalten«, bekräftigte Vaspret hinter ihm. »Alle waren hübsch gemütlich in einem Nest im Wald.« Er holte aus einer Tasche eine gewachste Drahtgarrotte und be260
gann sie zu entwirren. »Keine dieser Ratten ist entkommen«, sagte Ryshad, ehe Temar fragen konnte. »Ihr habt keine Gefangenen gemacht.« Guinalle stand mit anklagender Miene in der Kajütentür. Temar unterdrückte ein gereiztes Schnauben, aber Ryshad sah der Edelfrau gelassen in die Augen. »Nein, aber wir haben Verwundete, die dankbar wären, wenn du dich um sie kümmern würdest.« Einigen Söldnern und Söldnerinnen mit blutigen Verbänden um Arme oder Beine wurde an Bord der Stranddistel geholfen. »Hier kommt die Goldelritze.« Allin war ebenfalls an Deck gekommen und deutete auf Halices Schiff. Die Stranddistel machte einen Satz, als es weniger präzise längsseits ging, und Halice kletterte bereits an einem Seil empor, ohne sich um die Lücke zu scheren, die noch zwischen dem kleineren Schiff und der Stranddistel klaffte. »Wie viele sind entkommen?«, fragte Ryshad. »Eine Hand voll, vielleicht noch mehr«, knurrte Halice, bitter wie Aloe. »Irgend so ein verdammter Jagdausflug, der auf dem Heimweg getrödelt hat, aber sie waren immerhin schlau genug, die Beine in die Hand zu nehmen, als sie begriffen, was vor sich ging.« »Wir haben sie verfolgt«, protestierte Rosarn, deren Gesicht angespannt vor Ärger war. »Es war ein schwieriger Angriff«, versuchte Temar zu trösten, doch Halices Miene kam einem Hohnlächeln gefährlich nahe. »Selbst wenn sie das Gelände kennen, kommen sie im Wald langsamer voran als wir auf dem Wasser.« Ryshad durchdachte die Auswirkungen. »Wir haben keine Spur von Leuchtfeuern 261
gesehen, also dürften sie keinen Alarm schlagen, ehe wir angreifen können.« »Wir sind ohnehin festgelegt, egal was sie tun. Die Flut ändert bereits die Richtung.« Halice war entschlossen, jeden Vorteil aus den Mondphasen zu ziehen. Da der größere Mond voll und der kleinere halb voll war, würde die Flut bis zum Doppelvollmond gegen Ende des Vorsommers nicht mehr so stark sein. »Sieur D'Alsennin, wen kann ich haben, um meine Truppe zu verstärken?« Die Verwundeten der Goldelritze kamen an Bord. Als Temar hastig die Liste derjenigen hervorholte, die sich für vom Pech verfolgt hielten, weil sie bei dem ersten Angriff nicht dabei waren, knöpfte Guinalle die Manschetten ihres grauen Kleides auf und schob sich die Ärmel bis zum Ellbogen hoch. »Komm, Allin.« Die Frauen eilten zu einem Mann, der sich in stummer Qual wand, während er die Hände auf eine scheußliche Bauchwunde presste, den Kopf gegen das Brett zurückgelehnt, auf das man ihn gebunden hatte. Ryshad sah ihnen nach. »Ich wünschte wirklich, Shiv hätte einen Arzt auftreiben können«, murmelte er. Ich umarmte ihn heftig. Sein Hemd roch nach uralten Bäumen und Holzrauch. Er drückte mir einen Kuss aufs Haar. »Haben sie die Wachinsel schon eingenommen?« Ich nickte, griff an sein Kinn und hörte, wie seine Zähne aufeinander schlugen. »Entschuldige. Ja, Allin hat sie gerade beobachtet.« Ich zupfte an dem roten Tuch in seinem Gürtel. »Was ist das?« »Ein Geschenk für dich.« Er zog es mit einem fiesen Grinsen heraus. »Die Schlange des Wachpostens.« »Bist du sicher, dass du nicht aus einer Piratenfamilie stammst?«, neckte ich ihn. »Du scheinst so wild darauf zu sein 262
wie eine Katze auf Sahne.« »Ich tue nur, wozu ich ausgebildet wurde.« Er zog mich an sich für einen langen Kuss, der eine schlaflose Nacht versprach, sobald wir die Gelegenheit dazu haben würden. »Sei bloß vorsichtig.« Ich sah ihm tief in die samtbraunen Augen. »Das werde ich.« Er sah mich an und hielt mich einen herzerwärmenden Augenblick ganz fest. »Und du auch.« »Mir kann nicht viel passieren, wenn ich das Kindermädchen für Allin und Ihre Hoheit spiele«, sagte ich bissig. »Du bist die beste Frau für den Job.« Ryshad gestand mir mit seinem Lächeln meinen Frust zu. Ein gellender Pfiff von Halice rief ihn zu ihr. Sie wechselten ein paar Worte, ehe sie auf ihre jeweiligen Schiffe zurückkehrten. Temar hielt Ryshad auf, der nach einem Moment zögernd nickte. D'Alsennin lief über das Deck und verschwand über die Längsseite, entschlossen, in eins der anderen Küstenboote zu gelangen. Im Gegensatz zu mir sah er nicht, wie Ryshad resigniert den Kopf schüttelte. »Livak!« Allin winkte mir. Sie lag auf den Knien neben einem Verwundeten, eine grobe Schürze unbestimmter Herkunft schützte ihr Kleid. Sie tupfte Blut von einem verkrusteten Riss auf seiner Brust und hielt nur inne, um mir sein zerrissenes und fleckiges Hemd zuzuwerfen. »Sieh, was du davon noch retten kannst.« Ich zog ein Messer, um das, was von dem Stoff noch sauber war, in Streifen zu schneiden. Die Stranddistel schwankte unter mir, als unsere wiedervereinte Flotille geradewegs in den Sund zwischen den Inseln fuhr. Der Gezeitenstrom trug uns schnell voran, während ich nur glücklicherweise leichte Wunden säu263
berte und verband, verstauchte Knöchel und blutige Fingerknöchel bandagierte und auf Guinalles Befehl und Allins höfliche Bitten hin Dinge holte. Das lescarische Magiermädchen zeigte, was sie an der Seite ihrer Mutter in dem kriegsgeschüttelten Herzogtum Carluse gelernt hatte. Sie murmelte beruhigend, während Guinalle mit einer steten Litanei leiser Beschwörungen arbeitete. Ich wette, das Alte Reich schuldete einen Gutteil seiner Eroberungen der Fähigkeit seiner Adepten, Verluste mit Hilfe von Zauberkunst in Grenzen zu halten. Der Großteil der Ätherkunde hatte sich auf den Ostrin-Schrein in Bremilayne konzentriert, zu einer Zeit, als der Gott sich noch mehr ums Heilen als um Gastfreundschaft sorgte. Ich hatte kein Problem damit, nicht wenn Guinalles Kunst bedeutete, dass mehr unserer Leute unbeschadet wieder nach Hause kamen. Der Sund wurde schmaler, das Land zu beiden Seiten rückte näher zusammen, die Hügel lehnten sich näher ans Ufer. Die Bäume waren höher als unser Mast, und hier und da hing ein dunkler Felsvorsprung drohend über uns. Die Matrosen im Krähennest der Stranddistel hielten nach allen Richtungen Ausschau nach Anzeichen des Feindes. Späher im Bug richteten den Blick auf das überschattete Wasser und gaben Acht auf Riffe und Klippen. Die Seetang und die Goldelrituglitten verstohlen in unserem Kielwasser, ihre Schwesterschiffe Seestern und Wasserlilie nicht weit hinter ihnen. »Allin, wir sind fast da.« Ich zählte die Landmarken ab, die wir entlang des Meeresarmes mit Weitsicht ausgemacht hatten. »Ich bin so weit.« Sie wollte ihre blutverschmierte Schürze abnehmen. »Nein, lass sie an«, sagte ich. Es war zwar keine großartige Verkleidung, aber sie verhinderte vielleicht, dass der Feind die 264
Magierin unter dem einfachen Volk an Deck herausfand. »Wie gut kannst du von hier aus sehen?« Allin runzelte die Stirn. »Nicht sehr gut.« »Versuch es, wenn du dich auf die Stufen zum Achterdeck stellst.« Ich wollte zwar nicht unbedingt, dass sie gut sichtbar auf der Achterkajüte stand, aber, bei Drianon, das Mädchen war nun mal so kurz geraten. Guinalle befahl den Leichtverletzten, die am schlimmsten Verwundeten unter Deck zu tragen. Ihr Gesicht war grimmig, aber ihre Hände waren ruhig, als sie sie über dem geflochtenen Drahtgürtel um ihre Taille verschränkte. »Schiff voraus!« Nach einer Schrecksekunde eilten alle an die ihnen zugeteilten Aufgaben. Temar, Ryshad und Halice waren diesen Plan immer wieder durchgegangen, und wenn jemand seine Pflicht nicht tat, würde ich persönlich dafür sorgen, dass er sich vor Saedrin dafür verantwortete. Die erste der Signalflaggen, ein schräges rotes Kreuz auf weißem Grund, wurde gehisst, die Leine summte wie eine zornige Hornisse. Die vier Küstenschiffe fächerten sich hinter der Stranddistel auf und versperrten den Seeweg. Als wir um Felsen herumsegelten, die schon lange von einer verwitterten Klippe ins Meer gestürzt waren, sah ich das erste der Piratenschiffe mit der dunkelroten Flagge, über die sich eine schwarze Schlange wand. Der Hai am Bug unter dem Bugspriet verriet, dass es sich um die Dornhai handelte, und sie wirkte beängstigend eindrucksvoll in diesen engen Gewässern. Das Deck war bis auf die tatendurstigen Kämpfer von Kellarin leer. Guinalle gesellte sich an der Tür zur Achterkajüte zu mir, während Allin auf den breiten Stufen der leiterartigen Treppe zum Achterdeck kauerte. Die Zauberin hatte die Augen 265
mit brennender Entschlossenheit auf das langsam näher kommende Schiff gerichtet. Langboote schwärmten hinter der Dornhai hervor, jedes voll beladen mit Piraten, deren Waffen im Sonnenlicht glitzerten. Die Ruder tauchten tief ins Wasser, weil die Ruderer gegen den Gezeitenstrom ankämpfen mussten. »Behutsam«, murmelte Guinalle. »Ich weiß.« Allins Aufmerksamkeit war ganz auf das Schiff der Seeräuber konzentriert. Ich hielt mich bereit, ich wusste nur nicht genau, wofür. Ich hatte nichts zu sagen und nichts zu tun. Die Langboote der Dornhai schwärmten aus wie ein Rudel Wölfe, das einen unglücklichen Hirsch umkreist, aber unsere Flottille war mit Bedacht so platziert, dass die Piraten an einer der schmälsten Stellen des Sundes nicht an uns vorbeikonnten. Dann machte das vorderste Langboot plötzlich einen Satz, als ob es auf einen Felsen im dunklen Wasser aufgelaufen wäre. Der Steuermann schimpfte die Männer aus, deren Protest in Alarmrufen unterging, als das Boot erneut erbebte, doch ohne jedes Knirschen von Holz auf Stein. Das dahinter liegende Boot hielt ruckartig an, während ein Langboot auf der anderen Seite so heftig hin und her schwankte, dass das Dollbord im Wasser lag. Einige versuchten ans Ufer zu gelangen, als das Boot sank, ein paar verschwanden, als das Gewicht von Waffen und Boot sie unter das glatte Wasser zog. Wieder andere hatten Pech, als sie Hilfe bei ihren Kameraden suchten. Hände, die nach oben griffen, wurden getreten, klammernde Finger von Schwertknäufen zerschmettert. Drei oder vier Männer erreichten gemeinsam ein Langboot, aber bei dem Versuch, alle zugleich an Bord zu klettern, brachten sie es zum Kentern, sodass alle in einem Durcheinander aus Schreien und Verwünschungen wieder ins 266
Wasser fielen. »Sie erledigen Shivs Job für ihn.« Ich versuchte etwas hinter dem Piratenschiff zu erkennen, aber es war unmöglich, klare Sicht zu bekommen. Es spielte keine Rolle, nicht, solange es uns gelang, ihre ganze Aufmerksamkeit nach vorn zu ziehen. Allin war immer noch mit der Dornhai beschäftigt. Einige Seeleute warfen Seile und Netze über die Bordwand und riefen den im Wasser zappelnden Männern etwas zu. Noch mehr Besatzungsmitglieder waren in der Takelage und versuchten, Segel zu setzen, doch die Leinwand schlug zurück, wurde von widrigen Winden hierhin und dorthin gerissen, Taue entglitten Händen, Wogen brachen sich in alle Richtungen. Wir segelten mit einem leichten Wind, der gerade stark genug war, um uns voranzubringen, doch die Piraten fanden sich von einem ganz privaten Sturm angegriffen. Mit einem Krachen wie von einem Donnerschlag rissen die dicken grauen Taue, die den Mast abspannten. Eins traf einen Mann, der schreiend aufs Deck fiel, wie eine Peitsche. Ein weiterer Pirat wurde in der Takelage davon gefangen und erdrosselt, als er den Halt verlor. Als immer mehr Taue rissen, schwangen die massiven hölzernen Blöcke und Taljen herum wie Morgensterne und zerschmetterten Knochen und Fleisch. Die Seeräuber ließen jeden Gedanken ans Segelsetzen fallen und klammerten sich wie Poldrions Dämonen an Masten, die jetzt wie wild schwankten und bedrohlich ächzten. »Da!«, rief Guinalle im selben Moment, als ein weiterer Ruf von oben ertönte und die zweite Signalflagge hochschoss, ein goldenes Kreuz auf rotem Grund. Die Piraten schickten ihr zweites Schiff ins Rennen. »Fertig, Allin?« Ich stellte mich neben sie. Die Stachelrochen 267
kam vorsichtig näher und versuchte den unnatürlichen Böen auszuweichen, die ihr Schwesterschiff plagten. Allin musterte die Masten und die Aufbauten auf den beiden feindlichen Schiffen. Als ich das erste bösartige Sirren eines Pfeiles hörte, schoss ihre Hand nach vorn. Feuerzungen flammten in der Luft, als Pfeile in Brand gerieten und der beißende Gestank verbrannter Federn in der stillen Luft hing, während die metallenen Spitzen zischend und dampfend ins Meer tauchten. »Armbrüste«, warnte ich sie, als ein Bolzen dumpf in den Großmast der Stranddistel einschlug. Ich dachte kurz an Temar und hoffte, dass er genügend Verstand besessen hatte, den Kopf unten zu behalten. Allin verschränkte die Finger fest ineinander. Die Männer auf unserem Schiff duckten sich, als die Bolzen, die von ihrem Ziel abgelenkt wurden, trotzdem noch hart genug herunterprasselten, um Schaden anzurichten. Einer schlitterte rot glühend über das Deck auf uns zu und hinterließ einen schwarzverkohlten Streifen. Zauberei oder auch nur der Zufall wehte ein ganzes Bündel brennender Pfeile zurück in die Segel der Dornhai. »Komm schon, Allin«, ermunterte ich sie. »Du weißt, was du zu tun hast.« Ihr rundliches Gesicht verzog sich vor Kummer, aber das schwere, salzverkrustete Segeltuch ging in Flammen auf wie Spinnweben in einer Kerze. Fetzen lodernden Feuers fielen herab und setzten andere Segel in Brand. Flammen leckten über die Takelage, wie sich Feuer an einer Ölspur entlangfrisst. Rahen krachten und loderten auf, und die eisernen Krampen, die den oberen Teil des Großmastes zusammenhielten, schmolzen 268
in dem Inferno, das einmal das Krähennest gewesen war. Klumpen von geschmolzenem Metall fielen herab und töteten Männer auf der Stelle, und dann kippte der ganze Mast um, gefällt wie der mächtige Baum, der er einst in einem fernen Wald gewesen war. Er stürzte mit lautem Getöse nach hinten, zerschlug den Achtermast, und der Boden des Achteraufbaus verschwand unter einem mörderischen Hagel aus Holz und Segeltuch. Ein präzise gelenkter Sturm umhüllte nun die Stachelrochen, und das Geschrei auf dem Schiff wurde nun drängender, als die Seetang und die Goldelritze auf den Kieselstrand zuhielten, auf den die geplünderte Seeanemone und Den Harkeils Barke gezogen worden waren. Die Wasserlilie und die Seestern gaben der Stranddistel solide Rückendeckung, Vithrancels Schützen waren bereit, jedes noch verbliebene Langboot aufzuhalten, das sich zurück zum Landeplatz kämpfen wollte. Die Dornhai brannte mit wütendem Fauchen, und da die Stachelrochen hilflos war, trieben die Piratenschiffe auseinander. Ich glaubte, so etwas wie einen Hitzeschwaden hinter ihnen zu sehen, der die Luft flimmern ließ. Egal. Ich hatte unmittelbarere Sorgen, als die Goldelritze und die Seetang sich anschickten, Ryshad und Halices Truppen an Land abzusetzen, um gegen die Piraten zu kämpfen. Eine beeindruckende Truppe scharte sich zwischen Hütten und Palisaden zusammen, die mit dem Blut und den Tränen ihrer unglücklichen Gefangenen gebaut worden waren. Allin holte entschlossen Luft, und magisches Feuer sprang von der Dornhai auf die Stachelrochen über. Die Masten fingen Feuer wie Bäume bei einem Waldbrand, und die Besatzung sprang verzweifelt ins Wasser, einige von ihnen selbst schon 269
lichterloh brennend. »Nein!« Guinalle war aschgrau vor Entsetzen. »Das ist eine Schlacht.« Im Glauben, sie würde ohnmächtig, griff ich nach ihrem Arm. »Sie haben Zauberkunst, werte Dame, sie haben Zauberkunst! Ich weiß nicht, wer, aber sie benutzen sie, um zu töten.« Zu meinem Erstaunen hallte Parrails panische Stimme in meinem Kopf wider. »Jeder, der einen falschen Eid leistet, erstickt daran. Sie versuchen, unsere Magier zu finden, ich kann sie suchen hören. Sie werden jeden Zauberer töten, der ihnen in die Finger fällt.« Er stammelte, und seine Qual versengte mich, als hätte ich mich verbrüht. »Hör auf mit deiner Magie!«, schrie ich Allin zu. »Sofort!« Wir konnten nicht zulassen, dass sie durch feindliche Hexerei zu einer lebenden Toten wurde. Sie starrte mich verwirrt an. »Sie suchen dich mit Äthermagie«, keuchte Guinalle. Selbst Allins tiefe Röte verblasste bei diesen Worten. »Wir müssen die anderen warnen.« Ich sah an der inzwischen hell brennenden Stachelrochen vorbei, konnte aber immer noch kaum mehr sehen als einen schimmernden Dunst. »Wie?« Wir hatten Signalflaggen für alle möglichen Fälle vereinbart, aber wer hätte damit rechnen können? »Ich rufe Usara.« Allin fand einen Fetzen Verbandmull in ihrer Schürzentasche und nahm eine verbeulte Metallschale, die Wundsalbe enthalten hatte. »Dann bist du zu angreifbar«, wandte ich ein. »Wir können sie mit Zauberkunst ausrüsten.« Guinalles Gesicht war wie aus Stein gemeißelt, und sie packte meine Hand. »Mach mir nur einfach alles nach. Denk daran, wie wir gegen 270
Kramisak zusammen Zauberkunst ausgeübt haben.« Usara hat diese Theorie, dass der Glaube der Schlüssel zur Äthermagie ist. Ich schob entschlossen alle Zweifel von mir und rief mir stattdessen lebhaft in Erinnerung, wie Guinalle schon einmal die Bannsprüche dieses Hexers gebrochen hatte, als die Elietimm angegriffen hatten. Sie hatte vorgesungen, ich hatte nachgesungen, und wir hatten die Bösartigkeit dieses Schurken mit seiner eigenen umhüllt, sodass Ryhsad und Temar ihn in Stücke hauen konnten. »Tur atrial es ryal andal zer, fes amal tur ryal summer.« Die archaischen Worte waren praktisch bedeutungslos, aber die Melodie und der Rhythmus waren mir so vertraut wie das Atmen. Lag es an meinem Waldblut, oder war es einfach nur eine Erinnerung an meine ferne Kindheit, als mein wandernder Sängervater mich in einem Giebelzimmer in den Schlaf gesungen hatte? Ich hörte Allin, gedämpft wie in Nebel gehüllt und ein gutes Stück entfernt. »Parrail sagt, die Piraten haben Zauberkunst. Wir müssen unsere Zauber beenden.« Als sie sprach, fühlte ich, wie etwas an mir vorbeirauschte, aber ich konnte nichts sehen. Guinalle verstärkte ihren Griff, bis meine Finger langsam taub wurden. Sie starrte direkt durch mich hindurch und wiederholte ihren Singsang mit allem Nachdruck. Ich merkte, dass ich zitterte vor diesem nicht zu beherrschenden Schaudern, das die Alten den Windhauch von Poldrions Mantel nennen. Ich hielt Guinalles Hand so fest wie sie meine. Ich musste einfach glauben, dass sie dies tun konnte, sonst waren wir beide verloren. Wenn dies alles war, das zwischen den Zauberern und Äthermagie stand und ihnen den Verstand aus den Köpfen sengte, dann würde ich weitersingen, 271
bis mir die Zunge verdorrte. Allin brüllte Befehle, und ich hörte rings um mich hastige Geschäftigkeit, aber ich konnte die Augen nicht von Guinalles Gesicht wenden. Dann löste sich die junge Edelfrau auf und hing vor mir in der Luft wie ein Schatten. Ich blinzelte, und da war Guinalle wieder, aber die Kajütentür hinter ihr, das Deckshaus achtern, Allin, alles andere war so ungreifbar wie Rauch. Alles verblasste zu einem Nebel aus konturlosem Grau, die Stranddistel und alle an Bord nur noch eine Täuschung meiner Augen wie die Erinnerung an eine Kerzenflamme, die in einem verdunkelten Raum erlosch. Ich biss mir auf die Lippe und hatte den metallischen Geschmack von Blut im Mund. Ich konnte Allin noch immer rufen hören. Ich konnte noch immer den ranzigen Schweiß meiner eigenen Angst riechen und das Knistern der brennenden Dornhai hören. Ich konnte das Deck unter meinen Füßen spüren und Guinalles schraubstockartigen Griff um meine Hände. Ich stellte mir ihr Gesicht vor, jede Einzelheit ihres Kleides. Sie hatte mich in diese Sache hineingezogen, und möge Drianon mir beistehen, sie würde mich auch wieder herausholen. Farben entstanden an den Rändern des grauen Nebels, verflüchtigten sich, wenn ich versuchte, sie anzusehen, aber bald gewannen sie an Intensität und Tiefe. Umrisse tauchten auf, zuerst schwer erkennbar, da meine wahre Umgebung alles, was ich sah, wie ein Schatten aus Poldrions Reich überlagerte. Wir waren innerhalb des Gefangenenlagers. Ich wollte meine Hände von Guinalle losreißen, doch sie hielt mich fest. »Wir sind hier nichts weiter als Schatten.« Ihre Worte hallten ungesprochen in meinem Kopf, und ich erinnerte mich, einmal geschworen zu haben, dass ich mich lieber vergewaltigen lassen 272
würde, als dieses teuflische Eindringen eines anderen Willens in meinen Kopf jemals wieder zu spüren. Ein Trupp von Piraten riss die Tore auf, Schwerter und Knüppel schwingend. Zwei Gefangene, die zu nah beim Eingang waren, wurden auf die Füße gerissen, ihre Arme grausam auf den Rücken verdreht. Der Rest wich zurück, zu verängstigt, um vor den Piraten Spießruten zu laufen, gebrochen an Geist ebenso wie körperlich, ihre Kleidung in Fetzen. Ich versuchte, Parrail oder Naldeth in dem zerschundenen und schmutzigen Haufen zu erkennen. Drei Neuankömmlinge rasten in die Palisade hinein, zwei Männer und eine Frau, nicht allzu groß und alle ungefähr in Temars oder Guinalles Alter. Die Frau trug einen moosgrünen Rock, die Männer hellbraune Hosen, und alle waren blond genug, um mit Sorgrad verwandt sein zu können. Alle trugen Hemden, die bis zum Hals geschnürt waren, doch ich sah trotzdem den unverkennbaren Schimmer von Silber darunter. Die einzigen Ätherzauberer, die Halsschmuck trugen, waren ... »Elietimm.« Guinalles Hass dröhnte in meinem Kopf. Der erste Mann schlug seine groben Hände um den Kopf eines Gefangenen, und der wand sich in dem unnachgiebigen Griff. Ich konnte seine Schreie nicht hören, aber sein Schmerz durchdrang Guinalles Zauber, und ich spürte ihn wie einen Schlag auf den Hinterkopf. Der Hexer ließ den Mann los und packte den nächsten mit derselben Wildheit. Der Mann zuckte in einem heftigen Krampf, und wieder traf mich sein Schmerz, doch der Elietimm warf ihn in verblüfftem Zorn beiseite. Die Frau bellte einen Befehl, und die Piraten rückten näher. Die Gefangenen liefen vergeblich voll Entsetzen auseinander wie Schafe in einem Pferch, die gerade einen Wolf in ihrer 273
Mitte entdeckt haben. Ein Bursche lief zum Tor, doch zwei Piraten rangen ihn zu Boden. Als er ihn in dem erstickenden Schlamm festsitzen sah, legte der zweite Elietimm eine Hand auf das strähnige Haar des Jungen. Nach einem zornigen Kopfschütteln schnappte sich der Hexer einen Knüppel von einem der Piraten und zerschmetterte dem Jungen in brutaler Enttäuschung den Schädel. Ich konnte Naldeth und Parrail sehen. Beide versuchten so viele Leute zwischen sich und den suchenden Elietimm zu bringen wie nur möglich, aber das versuchten auch alle anderen. Es war, als beobachte man eine Schar Gänse, die von einem Rudel Hunde gejagt wurden. Während die Gefangenen gegeneinander kämpften, stolperten die schwächeren davon, leichte Beute für die wartenden Piraten. Da seine angeborene Sanftheit ihn verriet, wurde Parrail schon bald zum Opfer. Ein Pirat, dessen Nase von einer Krankheit zerfressen war, zerrte ihn zu der wartenden Elietimm-Hexe. Der Gelehrte war verdreckt, ohne Hemd, seine Rippen traten hervor, und blaue Flecke sprachen von der täglichen Brutalität. Parrail stolperte, aber der Seeräuber ließ ihn nicht wieder auf die Füße kommen, sondern schleifte ihn über den schmutzigen Boden. Er warf Parrail mit dem Gesicht voran vor die Frau hin, kniete sich auf seine Beine und hielt ihm die Hände auf dem Rücken fest. Parrail drehte und wand seinen Kopf in dem vergeblichen Versuch, der prüfenden Berührung der Frau zu entkommen. Zu meiner unaussprechlichen Freude verzerrte Schmerz ihr Gesicht, sobald sie die Hand an ihn legte, aber ihr Schrei brachte nur ihre Mithexer herbei. »Wer bist du? Woher kommst du? Zu wem sprichst du?« Ich spreche kein Elietimm, aber ich hörte ihre heiseren Fra274
gen in meinem Kopf, alle Stimmen durcheinander. »Das sage ich nicht.« Parrail wappnete sich mit Trotz. »Wer hat dich unterwiesen?« Angst und Hass färbten die Fragen der Elietimm, aber seine Zauberkunst bohrte sich in Parrail wie ein Messer. Wie ein flüchtiger Blick auf die Seite eines Buches, das geöffnet und rasch wieder geschlossen wird, sah ich Mentor Tonin, Parrails Lehrer im fernen Vanam. »Du kannst dich uns nicht widersetzen.« Boshafte Genugtuung färbte die gemeinsamen Gedanken der Elietimm. Dieser Moment der Einheit verging, und alle drei attackierten den Gelehrten mit gnadenlosen Fragen. »Wer bist du?« »Wo sind deine Freunde?« »Wer hat Muredarch verraten?« Können wir denn gar nichts tun? Ich wollte Guinalle an den Schultern rütteln, darauf bestehen, dass sie den armen Jungen hier herausholte, etwas tat, irgendetwas – aber was geschah, wenn ich diese Schurken auf unsere Lauscherei aufmerksam machte? Die Angst um mich selbst schnürte mir ebenso die Kehle zu wie die Angst um Parrail. Farbloses Feuer erhellte die Schatten für eine Sekunde mit Wirklichkeit, die ferne Palisade verblasste, während ich die Stranddistel deutlicher sah. Mein Handgelenk schmerzte abscheulich, als wäre es mir gebrochen worden, obwohl ich wusste, dass nicht ich verletzt war. »Verflucht sollen sie sein!« Guinalles bittere Worte banden mich wieder fester an ihren Willen. Jetzt sah ich die Palisade wieder deutlicher, sah, wie der brutale Pirat Parrails verfärbten Unterarm hierhin und dorthin verdrehte. Der junge Mann 275
schluchzte und schlug mit dem Kopf auf den Boden, Tränen rannen ihm aus den zusammengekniffenen Augen. Alle drei Elietimm drängten sich um den jungen Mann, wie Bussarde, die nicht einmal darauf warten können, dass ihre Beute stirbt. Der Pirat krabbelte davon, sichtlich verängstigt durch diese zierlich gebauten Fremden. Parrail rollte sich zu einem hilflosen Ball zusammen und hielt seinen verletzten Arm, die Knie angezogen, den Kopf gesenkt, sein Widerstand so zwecklos wie der eines Kaninchens. Die Elietimm fassten sich bei den Händen, und genauso deutlich wie sie sahen Guinalle und ich Parrails Leben bloßgelegt. Liebevoll gehegte Erinnerungen flatterten an mir vorbei wie farbige Seiten aus dem Lieblingsbilderbuch eines Kindes und verstreuten sich auf dem gleichgültigen Boden. Er war ein geliebtes Kind gewesen, umso mehr, als Kinderkrankheiten zu viele seiner Brüder und Schwestern in Poldrions sanfte Obhut getrieben hatten. Sein Vater, ein bescheidener Schreiber eines Handelshauses, hatte geknausert und gespart, um seinen viel versprechenden Sohn nach Vanam zu schicken, die Mutter hatte sich die Tränen abgewischt und sich damit getröstet, dass ein solches Opfer zum Wohle ihres Lieblings war. Parrail war weder ein fauler noch ein reicher Student gewesen und hatte Besorgungen für wohlhabendere Gelehrte gemacht, um sich durchzubringen, aber selbst dann hatte er oft gehungert, wenn eine verlockende Schriftrolle oder ein Pergament ihm die Börse geleert hatte. Mentor Tonin hatte sich für den jungen Gelehrten erwärmt, hatte sein Zutrauen in seine Fähigkeiten gestärkt und ihn angespornt, Bedeutungsfetzen aus dem Gewirr von Aberglauben und verstümmelten Litaneien zu klauben, die alles waren, was das Chaos von der Ätherkunde noch übrig gelassen 276
hatte. Die Elietimm zerfetzten solche Erinnerungen, auf der verzweifelten Suche nach dem, was Parrail vielleicht wusste und sie nicht. Der sengende Schmerz in seinem gebrochenen Arm nahm ihm alle Kraft, und er lag hilflos da, ohne Widerstand zu leisten. Sie prüften kühl seine Erinnerungen an seinen ersten Besuch in Kellarin. Sie sahen ihn nervös und aufgeregt in Meister Tonins Gruppe, fasziniert davon, wie seine trockenen theoretischen Studien in Fleisch und Blut Gestalt annahmen, ehe sie von den Angriffen der Elietimm in Angst und Schrecken versetzt wurden. Da seine Freunde und Magier tot waren, war Parrail der wahrscheinlichste Kandidat dafür gewesen, die schlafenden Kolonisten mit Erfolg wiederzubeleben. Er reiste zu der verborgenen Höhle von Edisgesset und überwand mit stählerner Entschlossenheit seine Selbstzweifel. Zu meiner Überraschung erhaschte ich den flüchtigen Eindruck, dass Parrail Angst vor mir gehabt hatte, aber diese Angst verschwand wie Rauch im brennenden Licht seiner Verehrung für Guinalle. Seine Verwunderung über ihre Schönheit rief ihr schlafendes Gesicht vor uns alle, erstarrt in der Dämmerung der Höhle, als Parrail sie zum ersten Mal gesehen hatte. Dieses erste Entzücken vertiefte sich zu einer anhaltenden Bewunderung, in der er jedes ihrer Worte als Gnade empfand, jede ihrer Taten als Beweis für ihren Edelmut und ihre Tugend sah. Selbst seine Rückkehr nach Vanam hatte diese Verehrung nicht erschüttert, und als die Gelegenheit kam zurückzukehren, färbte Parrails Verlangen, seiner Dame zu Diensten zu sein, jeden seiner Gedanken, alles, was er tat. Ich war wütend, abgestoßen, empört, als ob ich den armen Burschen zur Belustigung eines Pöbels entblößt gesehen hätte. 277
Der Kopf der Elietimm-Frau fuhr hoch, und sie starrte mir direkt in die Augen. »Darige, Moin!« Die Hexe konnte uns beide sehen, ohne Frage, ihre Augen bohrten sich durch den Zauberschleier, in den Guinalle uns gehüllt hatte. Sie ließen von Parrail ab und kamen auf uns zu. »Guinalle?« Gewiss sah sie die Gefahr doch genauso deutlich wie ich? »Ihr besudelt den Äther mit eurer Berührung.« Guinalles Verachtung kam wie ein Peitschenhieb, und das Trio der Elietimm fuhr zurück. »Ich sollte euch dieses verdorbene Wissen aus euren Hirnen sengen. Was für eine verdrehte Lehre glaubt ihr, gegen mich anwenden zu können?« Sie hob die Hand, ein gegenstandsloser Geist, doch die Elietimm stolperten rückwärts, als ob sie einen mythischen Krieger vor sich hatten, mit blitzendem Schwert und glänzender Rüstung. Einer der Männer, den die Frau Darige genannt hatte, stolperte über Parrail. Schnell wie ein zubeißender Fuchs packte er den Haarschopf des jungen Mannes. »Wenn wir dich auch nicht berühren können, er ist in unserer Hand.« Er trat Parrail heftig in die Lenden. Der zweite Mann, Moin, trat Parrail auf das gebrochene Handgelenk. Der Gelehrte reagierte kaum, und ich fühlte, wie Guinalles Sorge meine eigenen Befürchtungen widerspiegelte. Diese abscheuliche Welt der Illusion flackerte um mich herum. Der Hexer Moin lächelte mit katzenhafter Genugtuung. »Seid ihr stark genug, um eure Magie im Angesicht seiner Schmerzen aufrechtzuerhalten?« »Yalda!« Darige wandte seine Augen nicht von Guinalle, 278
während er die Frau nach vorn winkte. Sie nahm den Knüppel des Piraten, und mit einem boshaften Ginsen ließ sie das massive Eichenholz auf Parrails Schädel niedersausen. Blut strömte ihm aus Nase und Ohren. Wieder schlug sie mit aller Kraft zu, und noch einmal, während Darige ihm zwischen die Beine und Moin mit seinen genagelten Stiefeln in seinen bloßen Rücken trat. Die letzten Qualen des unschuldigen Jungen verblassten wie ein Traum, aber ich wusste, dies war kein Albtraum, selbst als das Deck der Stranddistel wieder fest und beruhigend um mich herum war. Guinalle verbarg das Gesicht in ihren zitternden Händen und floh in die Achterkajüte, von Schluchzern geschüttelt. Allin hatte die Augen vor Erstaunen weit aufgerissen. »Was ist passiert?« »Sie haben Elietimm-Hexer«, erklärte ich. »Wir müssen hier weg.« Ich merkte, dass ich schweißgebadet war, mein Hemd dunkle Flecken aufwies und mir die Hose an den Beinen klebte. Der Wind ließ mich frösteln, doch ich war innerlich bereits kalt wie Eis. »Wir sind bereits unterwegs.« Allin deutete auf die schwarzgelb-karierte Flagge, die das Signal zum Rückzug gab. Die Seetang und die Goldelritze kamen auf uns zu, die Piraten, die fröhlich jeden an Bord umgebracht hätten, blieben enttäuscht auf dem Kies des Landeplatzes zurück. »Wir haben nicht genug Männer zum Kämpfen, um ihnen ohne Zauberei zu helfen.« Die Seeleute der Stranddistel gaben sich alle Mühe, um uns an den rauchenden Wracks der Dornhai und der Stachelrochen vorbeizubringen. Die Mahlstrom drehte sich in dem breiteren Sund hinter den brennenden Rümpfen, für alle gut sichtbar, 279
nun, da ihre magische Tarnkappe fallen gelassen worden war aus Angst vor einem Ätherangriff auf Shiv, 'Sar und Larissa. So viel zu unserem Plan, ihnen nahe genug zu kommen, um die Gefangenen aufzunehmen, mit Hilfe ihres neugewonnenen Selbstvertrauens bei der Benutzung des Elementes Luft. Vithrancels Flottille schloss hinter uns auf, als wir nach Norden durch den Sund flohen, jeden Vorteil von Wind und Gezeiten ausnutzend, unsere Hoffnungen zerschlagen hinter uns lassend. »Was ist mit Parrail und Naldeth?«, fragte Allin mit zitternder Stimme. »Parrail ist tot«, antwortete ich grimmig. »Was ist mit Naldeth?«, fragte sie voll Angst. »Ich weiß es nicht.« Obwohl ich mir sein Schicksal denken konnte, wenn er sich selbst verriet.
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Kapitel 4
An Cadan Lench, Präfekt, von Sul Gavial, Bibliothekar Es ist ja gut und schön, dass du mich und meine Mitarbeiter bittest, kistenweise Krempel zu durchsuchen, den unsere Vorfahren zu faul waren wegzuwerfen, aber hast du eine Ahnung, was für eine undankbare Aufgabe das ist? Was nicht bis zur Unleserlichkeit verblasst ist, ist entweder von Mäusen zernagt oder wimmelt von Käfern. Dieses fromme Geschwafel ist die einzige Kostbarkeit aus den Annalen, die von einem Priester im ersten Jahr der Herrschaft Nemiths des Letzten zusammengetragen wurden. Willkommen in Ostrins Schrein Es freut mich zu hören, dass du dich unserer Familie von Adepten anschließen und den Hauch von Cols gefeierten Harmonien mit in unsere Liturgien bringen wirst. Du wirst ebenso mit Akolythen von den großen Tempeln in Relshaz und Draximal zusammentreffen wie mit einigen von den unzähligen kleineren Schreinen in Caladhria und darüber hinaus. Wir stammen aus allen gesellschaftlichen Schichten, von den niederen Namen, die nur eine einzige Halle ihr Eigen nennen, in der sowohl der Sieur als auch seine Lehnsleute wohnen, bis zu den hohen Privilegien, die die mächtigsten Fürsten des Rates genießen. Unterschiede sind in unserer isolierten Zuflucht ohne Bedeutung. In der Gastfreundschaft, zu der Ostrins Gnade uns ein281
dringlich ermahnt, heißen wir alle als Gleiche willkommen. Komm an diesen einsamen Ort voll Demut, wo dein Geist frei ist von allen Ablenkungen, die der Rang mit sich bringt, und du kannst alles lernen, was wir dich lehren können. Studiere die Lehre der Zauberkunst mit Fleiß und Frömmigkeit, und du wirst mit verdoppelter Fähigkeit zurückkehren, um dem zu dienen, dem deine Treue gilt, sowie denen, die durch Geburt oder durch Eid aus eigenem Entschluss deinem Haus gegenüber loyal sind. Wir versuchen, die Heilkünste zu vervollkommnen, Ostrin zu ehren, dem wir uns vor allen anderen verschworen haben. Unter Drianons leitender Hand wachen wir über jene, die die gefährliche Reise von der Anderwelt in die unsere durch einen Mutterleib unternehmen. Im Laufe des Jahres lernen wir, Larasions Versprechen von Sturm und Sonne zu deuten, und indem wir Drianon anflehen, können wir die Fruchtbarkeit mehren, mit der sie die Erde segnet. Erreiche die Disziplin, deinen Geist von den sichtbaren zu den unsichtbaren Dingen zu erheben, und suche Arimelins Hilfe, um mit jenen zu sprechen, die weit entfernt sind. Unter Halcarions Obhut kannst du auf den unendlichen Pfaden wandeln, die die Monds kennzeichnen. So wie die Götter den Lohn der Macht gewähren, so verlangen sie im Gegenzug auch feierliche Pflichten. So wie diejenigen, die über dir stehen, in ihrem Bereich die Gerichtsbarkeit abhalten, wirst du schwören, Raeponinfür die Wahrheit einzustehen, die du einer stummen Zunge oder einem unwilligen Geist entlockst. Deine Aufrichtigkeit wird nie ernsthafter auf die Probe gestellt werden wie zu den Zeiten, in denen du jenen Trost spendest, die in Poldrions Obhut übergehen. Es wird dir auferlegt werden, die Angst der Sterbenden zu lindern, wenn ihr Leben einer Prüfung durch Saedrin unterzogen wird. 282
Wir können zu Recht zufrieden sein und selbst einen gewissen Stolz empfinden in der Ausübung unserer Zauberkunst, aber wir dürfen nie vergessen, dass solche Künste, wie wir sie beherrschen, nur durch die Gnade der Götter gewährt werden, die wir ehren, wie es ihnen zusteht. In ihrem Dienst sind wir von diesem Schrein verpflichtet, die Arroganz all jener zu beschneiden, die versucht sind, die Kunde zu missbrauchen, die wir ihnen anvertrauen.
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Suthyfer, die nördliche Wachinsel 1. Vorsommer
Ich wanderte zur anderen Seite der Bucht und blickte aufs Meer hinaus. Weiße Schaumkronen glitzerten auf dem geheimnisvollen Wasser, das wie schwarze Seide unter dem klaren, silbernen Licht des größeren Mondes lag. Er wanderte über den wolkenlosen Nachthimmel, ein vollkommener Kreis, eingerahmt von einem zarten Hof. Der kleinere Bruder hing knapp über dem Horizont, sein Gesicht halb verborgen wie von einem leicht gelüfteten Schleier, ein bescheidener Diener dieser blassen Schönheit, der darauf wartete, dass er selbst an der Reihe war, am Himmel zu tanzen. Der Seewind brachte einen frischen, reinigenden Duft mit sich, hin und wieder überlagert von der Süße einer unbekannten Blüte, die unsichtbar in der Dunkelheit des unberührten Waldes wuchs, der dieses bislang unberührte Fleckchen Erde einhüllte. Das rhythmische Klatschen der Wellen auf dem Sand beruhigte wie das Schaukeln einer Wiege ein zorniges Kind, während die leisen Stimmen hinter mir gelassen klangen. Ich drehte einen flachen Stein immer wieder zwischen meinen Fingern. »Schön, nicht wahr?« Pered gesellte sich zu mir. »Hmm.« Ich gab nur ein unverbindliches Geräusch von mir. »Was ist los?« Er war nicht aufdringlich, sondern bot mir nur ein freundliches Ohr. Ich hatte schon vorher bemerkt, dass er dafür ein Talent hatte. Ich räusperte mich. »Hat dir Shiv je von Geris erzählt?« Der sanfte, vertrauensvolle Geris. Ich hatte nie Gelegenheit gehabt, 284
ihm zu erklären, dass es nur ein netter Flirt und flüchtige Lust waren, die mich in seinem Bett hatten landen lassen, und nicht die hochfliegende Romanze, die er sich vorstellte. »Der Gelehrte aus Vanam.« Pered nickte ernst. »Die Elietimm haben ihn getötet.« »Genauso wie Parrail.« Wenigstens gelang es mir, nicht zu weinen. »Nein, schlimmer. Sie folterten ihn.« Mein plötzlicher Zorn erstaunte mich. Geris hatte nichts weiter getan, als uraltes Wissen für Planir auszugraben, begleitet von Shiv und Darni, die ihm Ärger vom Hals halten sollten. Wie konnte das zu einer Entführung durch die Elietimm führen, zu einem Tod, verstümmelt und gemartert, unschuldige Illusionen so brutal zerschmettert? »Es wird Zeit, dafür zu sorgen, dass dieser Abschaum nicht mehr Mord und Elend bringt, wann es ihm passt.« Ich warf den Stein über das Wasser, um meine Wut abzulassen. Er schlug silberne Funken aus der Schwärze, einmal, zweimal, insgesamt sechsmal. »Ein toller Trick.« Pered blickte suchend vor seine Füße. »Willst du noch einen?« »Nein, aber vielen Dank.« Ich würde den Rest meiner Wut festhalten. Deren Hitze war besser als die kalte Leere in meiner Brust, wenn ich an all die dachte, die durch die Hände der Elietimm den Tod gefunden hatten. »Wolltest du etwas?« Als ich mich zu Pered wandte, musste ich eingestehen, dass der Lärm hinter mir keine beruhigenden Alltagsgeräusche waren. Auf dieser Seite der Bucht war die zwielichtige Besatzung, die Sorgrad für Shiv angeheuert hatte, noch immer dabei, den Proviant aus den geheimen Lagern im Wald und in den Felsen zu verteilen, die Rosarn und Vaspret aufgespürt hatten. Vithrancels Söldner hatten die Beute längst unter sich aufgeteilt 285
und lagerten nun um ihre Feuer am anderen Ende des Sandstrandes. In zwanglosen Gruppen dazwischen verteilten sich die einfachen Männer aus Kellarin, die hier geblieben waren, nachdem die Stranddistel, die Wasserlilie und die Seestern hastig aus erbeuteten Lagern mit Proviant versorgt und ausgeschickt worden waren, um auf dem langen Weg zum Südende des Sundes gegen Wind und Flut zu kämpfen. Wir mussten diesen Zugang sperren, ehe die Piraten irgendwie zu einem seetüchtigen Schiff kamen und zu fliehen versuchten. »Es ist schon nach Mitternacht.« Pered schauderte, obwohl es nicht besonders kalt war. Ich warf ihm einen Blick zu. »Hättest wohl nie gedacht, dass du den Tag bereuen würdest, an dem du nicht magiegeboren warst?« »Wie ist es?« Er suchte nach dem richtigen Wort. »Wenn man für Zauberkunst benutzt wird?« Mir lief eine Gänsehaut über den Rücken vor Abscheu, aber ich versuchte, ihn zu unterdrücken. Einen Elietimm-Hexer im Kopf zu haben war schlimmer als eine Vergewaltigung – und ich wusste genügend über Frauen, denen Gewalt angetan worden war, um das behaupten zu können. Wie sollte ich beschreiben, wie ich für Guinalles Bedarf benutzt worden war? So wie der Kauf und Verkauf eines gleichgültigen Körpers für eine Börse voll Silber? »Es ist gar nicht so schlimm«, sagte ich lässig. »Ich würde trotzdem lieber darauf verzichten.« Pereds normalerweise unbekümmerter Blick war überschattet, und das lag nicht nur an der dunklen Nacht. »Aber ich nehme an, wir haben keine Wahl.« »Aufzuhören, weil man gerade eine Pechsträhne hat, garan286
tiert dir Verluste«, sagte ich leichthin. »Weiterzuspielen ist die einzige Möglichkeit, gut abzuschneiden.« »Selbst wenn jemand den Einsatz verdoppelt?« Ein ohrenbetäubender Pfiff ersparte mir, darauf eine Antwort finden zu müssen. Ich sah ‘Gren, der mir zuwinkte, ohne sich um die finsteren Blicke derer zu scheren, die er aus dem Schlaf gerissen hatte. »Zeit zu gehen«, sagte ich aufmunternd zu Pered. Wir gingen über den verkohlten und fleckigen Sand, wo man hastig eine Grube für die Toten ausgehoben hatte, die für den Seelenfrieden aller zu viele Krabben und Fliegen anzogen. Wir bahnten uns einen Weg durch schnarchende Deckenhaufen und umgedrehte Stiefel, bis wir zu der rohen Holzhütte kamen, die die Seeräuber freundlicherweise für uns gebaut hatten. Ich ertappte Darni dabei, wie er uns aus dem wirksamen Schutz einer Ölplane beobachtete, doch ich ignorierte ihn. Seine beißende Einmischung war das Letzte, was ich jetzt wollte. ‘Gren stand an der Tür, seine Augen funkelten vor Erwartung, das blonde Haar wirkte in dem Dämmerlicht fast farblos. »Sie sagt, inzwischen sollten alle eingeschlafen sein.« »Dem würde ich nicht widersprechen.« Usara kam gähnend herbei, und wir alle gingen hinein. Guinalle stand an einem Brett, das vom Wrack der Pinasse geborgen und auf zwei hastig gezimmerte Böcke gelegt worden war. Ryshad und Temar verteilten Hocker. Die Hütte roch dumpf nach frischem Holz mit einem moschusaitigen Unterton nach abgestandenem Schweiß. Lampen warfen Schatten über Dinge, die die Piraten weggeworfen hatten. Ich hoffte, die Piraten waren zu tot, um sie zurückhaben zu wollen. Die scharfe Hitze von brennendem Öl biss mir in die Kehle. 287
Guinalle sah auf. »Lasst uns anfangen.« Ich setzte mich neben Ryshad, Temar und Pered saßen auf der anderen Seite des Tisches. Alle wirkten unterschiedlich zurückhaltend, bis auf ‘Gren, dessen begeisterter Blick auf die Edelfrau gerichtet war, die am Kopf des Tisches stand. »Wir müssen so viel wie möglich über diese Elietimm herausfinden, ohne dass sie es merken. Die beste Möglichkeit dazu ist, ihre Träume zu durchstreifen. Dazu brauche ich eine Kraft im Äther, die ich einfach nicht aufbringen kann, nicht wenn ringsum das Meer ist und ohne die üblichen Hilfsmittel der Schreine.« Abgesehen von diesen etwas überflüssigen Erklärungen war Guinalle so beherrscht wie immer, ohne jede Spur von der Hysterie, die sie vor einiger Zeit geschüttelt hatte. »Wenn ihr mir alle helft, sollten wir es schaffen.« Das hoffte ich inständig. In Vithrancel schuf der friedliche Glaube von Frau Cheven, Meister Drage und all den anderen eine solide Grundlage für Guinalles Zauber. Hier draußen hatte sie es vor allem mit Söldnern und Seeleuten zu tun, die gerade so hoch am Wind segelten, um nicht selbst als Piraten gehängt zu werden. In beiden Gruppen hatte ich herzlich wenig Frömmigkeit gesehen. »Livak kennt sich in den unteren Graden der Zauberkunst ein bisschen aus, und sie hat ihre Waldinstinkte. Ryshad sollte etwas von deiner Ausbildung mitbekommen haben, Temar, dank der Zauberkunst, die euch verband.« Guinalle schenkte D'Alsennin ein Lächeln, das ihn offensichtlich erstaunte. Ich griff unter dem Tisch nach Ryshads Hand. Nur ich kannte den vollen Umfang des Grauens, das er empfunden hatte, als Temars eingekerkerter Geist sich aus den Fesseln des Zaubers befreit und blindlings gekämpft hatte, um Ryshads Körper zu 288
übernehmen. Guinalle fuhr fort. Vielleicht legte sie das alles für Usara dar, wohl eher aber, um uns anderen Zuversicht einzuflößen. »Ich bin mir noch nicht sicher, wie, aber es lässt sich nicht leugnen, dass Sorgren in der Vergangenheit sowohl gegen die Attacken der Sheltya als auch der Elietimm immun war.« »Niemand guckt in meinen Kopf, ohne um Erlaubnis zu fragen«, meinte ‘Gren achselzuckend. »Und ich bin nur hier, um die Zahl zu vervollständigen, oder?« Pereds scherzhafte Bemerkung klang ein wenig gezwungen. Guinalle sah ihn fest an. »Du bist Künstler, du siehst hinter das Unmittelbare und Gegenständliche. Das ist genau die Empfindsamkeit, die von einem Adepten verlangt wird. Konzentrier dich einfach darauf, es mir nachzutun.« Sie setzte sich und hielt ihre Hände Temar und Ryshad hin, und wir bildeten einen Kreis. Ryshads kräftiger Griff hielt meine linke Hand, und ‘Grens raue Finger drückten aufmunternd meine Messerhand. Ich warf ihm mit schmalen Augen eine stumme Warnung zu, doch er antwortete nur mit einem fröhlichen Zwinkern. Temar und Pered blickten gebannt auf Guinalle, die die Augen geschlossen hatte. Temar tat es ihr nach, und einen Augenblick später auch Ryshad. Ich überlegte es mir, brachte es aber nicht fertig. Guinalle hielt den Atem an und öffnete die Augen. Schuldbewusst klappte ich meine zu. »Tut mir Leid, Ryshad.« Guinalle schüttelte den Kopf. »Dein Misstrauen gegenüber der Zauberkunst ist zu stark.« Ryshads Miene verriet sekundenlang Verdruss. Er ließ Guinalles Hand los, ehe er auf meine einen Kuss drückte. »Es tut 289
mir Leid, ihr alle.« »Du kannst mit mir aufpassen, ob etwas schiefgeht.« Usara stand an der Tür und beobachtete Guinalle aufmerksam. »Und was tun wir, wenn?«, hörte ich Ryshad leise murmeln, als er zu dem Magier ging. »Lasst uns weitermachen, ja?« Temar reckte das Kinn und streckte fordernd die Hände aus. ‘Gren und ich verschoben unsere Hocker, um den Kreis enger zu schließen. Guinalle begann einen leisen Singsang, sobald ihre Hand die meine berührte, und die rohe Hütte verblasste um mich herum, so wie es die Stranddistel getan hatte. Die anderen waren noch ziemlich deutlich zu sehen, aber alles außerhalb unserer verbundenen Hände war so verschwommen wie Rauch. Dieses Mal sah ich keinen neuen Ort, sondern ein Gesicht. Es hing in der Luft zwischen uns, reglos und ausdruckslos schlaff im Schlaf. Es war die Frau, Yalda, der silberne Anhänger, der sie als Hexe unter den Elietimm auswies, leuchtete an ihrem Hals. Guinalle schlug die Augen auf. »Konzentriert euch auf sie.« In einer Ecke meines Verstandes konnte ich den ersten Gesang noch hören, der uns mit seinen Rhythmen verband, doch Guinalle trennte irgendwie ihre Gedanken in mehrere unterschiedliche Stränge, jeden mit seinem eigenen Ziel. War das das Geheimnis der Höheren Zauberkunst, fragte ich mich, nicht komplizierter, als den Fall der Runen zu behalten und gleichzeitig den nächsten Einsatz eines Gegners abzuschätzen und dabei Ausschau nach der Stadtwache zu halten? Ich war trotzdem noch nicht sicher, ob ich diese Höhere Zauberkunst lernen wollte. Gefühle wirbelten um unseren Kreis. Pered stellte sich die Frau in dem Oval eines Miniaturrahmens 290
vor und betrachtete Einzelheiten, die er malen konnte, wie die zunehmenden Fältchen in den Augenwinkeln. ‘Gren verglich sie nicht allzu schmeichelhaft mit einem goldhaarigen Tanzmädchen, das er kannte, und ich tat mein Bestes, um seine Vermutungen darüber zu ignorieren, wie es wohl unter Yaldas Nachthemd aussah. Temar sah in ihr nur eine Feindin und war entschlossen, ihr jedes Wissen zu entreißen, das uns helfen konnte. All das war zu erwarten. Was mich beunruhigte, war Guinalle, die sorgfältig ihren Hass verbarg und den schlafenden Geist des Mädchens mit einem heimtückischen Zauber einlullte, den sie ausweitete, um in diesem Netz zuerst Moin und dann den jüngeren Darige zu verstricken. Hier war nichts von der Brutalität zu spüren, die die Elietimm bei Parrail angewandt hatten, aber ich wusste ohne Zweifel, dass Guinalle sie für mehr als nur den Mord an ihm zahlen lassen konnte, wenn sie sich rächen wollte. Ich machte mir im Geiste eine Notiz, dass ich niemals gegen die Demoiselle um Geld oder Gefälligkeiten spielen würde, und dann überlegte ich, ob alle anderen jetzt wussten, was ich dachte. Guinalle begann einen neuen Zaubergesang, der in Ton und Tempo ganz anders war, und neue Bilder hingen in der leeren Luft. Die fließenden, verzerrten Gestalten waren nichts, verglichen mit der Lebendigkeit von Weitsicht oder magischer Verbindung. Ich fragte mich, was Ryshad und Usara wohl sahen. Die Bilder formten sich langsam zu einer grauen Steinfestung auf einem Hügel oberhalb eines Hafens, der scharf in eine karge, dünenübersäte Küstenlinie einschnitt. Ich konnte nicht anders, als scharf die Luft einzuziehen, als ich den Ort erkannte, an dem Ryshad, Shiv und ich gefangen gehalten worden waren, 291
geschnappt bei unserem fruchtlosen Versuch, den armen Geris zu retten. Ich, Ryshad, Shiv und Aiten. Aiten war auch ein Todesfall, den wir diesem Abschaum verdankten. »Weck sie nicht mit deinem Zorn«, tadelte mich Guinalle lautlos. Das Bild verschob sich und zeigte uns den Garten innerhalb der Festung. Er war genauso, wie ich ihn in Erinnerung hatte, kein reiner Lustgarten, sondern dicht bepflanzt mit lebenswichtigen Früchten, während in den Gewächshäusern auf allen Seiten Pflanzen gezogen wurden, die das raue Klima nicht vertrugen. Die Kälte, die ich fühlte, hatte nichts mit den kalten Winden des hohen Nordens zu tun. Reine Angst ließ mir die Haare zu Berge stehen, aber zu meiner Überraschung merkte ich, dass es nicht meine eigene Angst war. Ein weißhaariger Mann arbeitete an einer Kletterpflanze, schnitt ungebärdige Sprösslinge dicht über dem Boden ab und band widerspenstige Ranken in die festen Grenzen eines Spaliers. Dies war der Schuft, der das ganze Durcheinander der letzten Jahre in Gang gesetzt hatte. Dies war der Mann, der Elietimm-Spione nach Tormalin und darüber hinaus geschickt hatte. Sie hatten geraubt und gemordet mithilfe dieser Zauberkunst, der Jagd nach den Artefakten, die ihren Herrn in die Lage versetzen würden, jeden zu töten, der sich ihm entgegenstellen würde, wenn er Kellarins fruchtbares Land an sich riss. Ich spürte, wie Temar seine eigene Wut unterdrückte, und versuchte meinen Hass zu bändigen, aber unser Abscheu war ein stummer Unterton unter der durchdringenden Sorge aller drei schlafender Hexer. Sie sahen sich ihm genauso ausgeliefert wie die geistlose Rankpflanze. Sie durften nichts wollen außer seinem Geheiß, damit ihre Fähigkeiten und Kenntnisse der Zauberkunst unter seiner Führung wachsen und gedeihen konnten. 292
Unter diesen Gedanken verbarg sich ein schmerzliches Bewusstsein. Jede Abweichung von seinem Willen würde grausam bestraft, ihre Freiheit beschnitten und die jedes Menschen, den sie liebten, der ihr Schicksal für jede schlimme Übertretung mit ihnen teilte. »Ilkehan«, keuchte Guinalle mit Genugtuung. »Jetzt haben wir seinen Namen.« Wir hatten ihn einfach den Eismann genannt, als wir seine Gefangenen waren. Er hatte zu seinem totenbleichen Haar gepasst, dem fleischlosen, gnadenlosen Gesicht und seiner berechnenden Brutalität, tödlich und gleichgültig wie die bitterste Winterkälte. Gesichter flackerten über unser Gesichtsfeld wie Erinnerungen, die einem entgleiten. Ein Baby, zu klein, um zu erkennen, ob Mädchen oder Junge, kam und ging, fast ehe wir es merkten, aber wir alle spürten eine Woge väterlicher Liebe von dem schlafenden Moin ausgehen. Ein Paar, nach Maßstäben der Eisländer schon älter, weckte die Sohnesliebe bei Darige, die selbst mich berührte, die ich ohne Bedauern solche Bande hinter mir gelassen hatte. Das Mädchen Yalda hütete ihre Verehrung für einen Krieger mit fassförmigem Brustkasten, der Sorgrad nicht unähnlich sah und dessen lederne Rüstung mit Rangabzeichen beschlagen war. »Er ist der Vater von diesem Mistkerl Eresken«, bemerkte ‘Gren mit Interesse. »Wer?«, fragte Temar stirnrunzelnd. »Der Krieger?« Ich war genauso verblüfft. »Dieser Ilkehan.« Als ‘Gren seinen Namen nannte, sahen wir den Eismann wieder. Er sprach zu niedergebeugten Elietimm zwischen verstreuten, armseligen Hütten, die in Lumpen geklei293
det daraufwarteten, dass Ilkehans wohlgenährte Handlanger ihnen Getreide austeilten. Wir konnten ihren Hunger nicht spüren, wohl aber ihre Ängstlichkeit. Auf beiden Seiten standen schwarzlivrierte Truppen bereit, falls es zu Unruhen kam. »Wer ist jetzt Eresken?« Temar war seine Verzweiflung anzuhören. »Der Elietimm-Hexer, der im letzten Jahr versucht hat, das Bergvolk zum Krieg aufzuhetzen.« Pered brachte genügend Selbstvertrauen auf, um sich unserem stummen Gespräch anzuschließen. »Derjenige, der Aritane von den Sheltya weggelockt hat.« Sie war nur allzu bereit gewesen, Ereskens Versprechungen zu glauben, dass Zauberkunst das zahlreiche und offenkundige Unrecht wieder gutmachen konnte, das das Bergvolk erlitten hatte, als Generationen von Tiefländern sich auf ihrem Land breit gemacht hatten. Ich persönlich wäre misstrauisch gewesen, in Anbetracht der Tatsache, dass Eresken offen zugab, dass er von einer Bande abstammte, die vor langer Zeit wegen des schlimmsten Verbrechens aus den Bergen vertrieben worden war, nämlich Zauberei für ihre eigenen Bedürfnisse verwendet zu haben. Aber ich hatte nicht unter den Enttäuschungen von Aritanes zölibatärem Leben gelitten und unter der Kandare, an die die Sheltya freiwillig ihre eigene so genannte Magie legten. Das Bild wechselte plötzlich. Wir sahen Ereskens Gesicht, kalt und gut aussehend, und dann eine grausige Maske aus Blut, mit halb durchgehacktem Hals. »Ich dachte, es wäre am sichersten, ihm den Kopf abzuschlagen«, erklärte ‘Gren liebenswürdig. Eresken verschwand, um die Strafe anzutreten, die Poldrions Dämonen für ihn bereithielten. Dann sahen wir einen weiteren 294
Elietimm-Hexer, denjenigen, der Ryshads Tod im Sinn hatte, mithilfe der Verschwörung, durch die Ryshad während der Gefahren des Aldabreshi-Archipels versklavt wurde um D'Alsennins Schwertes willen, das er trug. Temar kannte seinen Namen. »Kramisak.« Blitzartig sah ich, wie Ryshads Schwert den Streitkolben des Schurken beiseite fegte und ihm die Kehle durchschnitt, als ihrer beider Suche nach den verlorenen Kolonisten sie aufeinander treffen ließ. »Ilkehan hat drei geschickt, weil einer allein zu verwundbar ist.« Guinalle nickte vor sich hin. »Aber sie sind nicht so stark, wie die beiden anderen waren.« Auch wenn Temars Zauberkunst noch ungenügend war, sie zeigte ihm etwas, das dem Rest von uns verborgen blieb. Ich zuckte verständnislos die Achseln wie Pered und ‘Gren. »Er behält so viel Wissen für sich.« Guinalle blickte nachdenklich drein, während sie in den ausdruckslosen, schlafenden Gesichtern las. »Er hat keinen Stärkeren, den er schicken könnte.« »Warum kommt dieser große Mann nicht selbst?« ‘Grens Augen funkelten in seinem immer gleich bleibenden Hang zu kämpfen. »Das liegt nicht in seiner Natur.« Als Temar sprach, sahen wir Ilkehan in dem Arbeitszimmer, wo ich wenigstens die Landkarten und andere Aufzeichnungen hatte stehlen können, ehe wir von den Eisinseln entkommen waren. Mit der Feder in der Hand machte er Notizen auf einer Tabelle. Dieser Schurke war ein Ränkeschmied, ein Verschwörer, der den Tod anderer Menschen plante, aber sich selten selbst die Hände schmutzig machte. Es brauchte keine Magie, um mir das zu sagen. »Andere Sorgen halten ihn zu Hause fest.« Guinalles Worte 295
brachten das Bild so abrupt durcheinander, dass wir alle zusammenzuckten. Dieses Schlachten hatte nichts mit dem Kampfgetümmel zu tun, das wir heute erlebt hatten, aber die schattenhaften Elietimm waren gewiss tot. Zwei Armeen standen sich auf einem öden Kiesstrand gegenüber, hinter ihnen lagen zersprungene Felsen über eine weite Ebene aus verblichenem Gras verstreut, die dahinter liegenden kahlen Höhen trugen noch immer hartnäckig ihre winterlichen Schneekappen. Kriegsboote wühlten das flache grau-grüne Meer auf, während sie sich gegenseitig zu Tode hackten. Wir konnten die kalte Gischt und den schneidenden Wind nicht spüren, den trügerischen Sand unter unseren Füßen, wohl aber die aufgewühlten Gefühle, die rings um uns tobten. In seiner Panik, dass man ihm die Eingeweide herausriss, stürzte sich ein Mann auf einen anderen, um ihm den Bauch aufzuschlitzen. Wut loderte so heftig in einem jungen Mann, dass jeder, der seinem Schwert zu nahe kam, sein Blut vergoss, um seinen Zorn zu ertränken. Ilkehans Männer waren in das schwarze Leder gekleidet, das wir kannten und verabscheuten, während ihre Gegner ein stumpfes Braun trugen. »Ist das nun echt oder nur Fantasie?« Temar musterte die Äthervision prüfend. »Schwer zu sagen«, murmelte Guinalle. »Aber das da ist Moin.« Wir sahen ihn auf einer dürren Landzunge stehen. Uniformiert wie ein Soldat, den funkelnden Anhänger um den Hals, hob er eine Hand, und die braun gekleideten Gestalten begannen wie Mispeln von einem erfrorenen Baum zu fallen, mit klaffenden Wunden im Gesicht und auf der Brust, aus denen es rot herausrann wie aus reifen Früchten, der einzige Farbtupfer 296
in der farblosen Landschaft. Auf Moins Uniform wuchsen neue Abzeichen, und sein Anhänger verwandelte sich in Gold. Wir sahen wieder Eresken, neben Ilkehan, dann verschwamm sein Gesicht und wurde zu Moins. »Unser Junge möchte befördert werden«, bemerkte ‘Gren. »Also ist er derjenige, auf den wir aufpassen müssen?« Ich fühlte, wie Temar sich selbst einen frühen Tod für diesen Mann versprach. Guinalle schüttelte langsam den Kopf. »Er ist nur derjenige, dessen Gedanken am dichtesten an der Oberfläche sind.« Ich bemerkte, dass Yalda sich im Schlaf hin- und herwälzte. »Was passiert, wenn sie aufwacht?« Noch während ich fragte, spürte ich Pereds Unruhe und eine verdrehte Vorfreude von ‘Gren. In einem Ekel erregenden Augenblick erfuhr ich, wie Eresken umgekommen war. Wie es schien, war es keineswegs so einfach, aus ‘Grens Kopf herauszukommen wie hinein. Der Hochländer war begierig darauf zu versuchen, einen weiteren eindringenden Hexer in den Wahnsinn und in den Tod zu treiben, indem er die uneingeschränkte Kraft eines Geistes nutzte, der fröhlich und ungetrübt von einem Gewissen war. Guinalle warf ‘Gren einen leicht angewiderten Blick zu, ehe sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf die schlafenden Elietimm richtete. »Ich will nur sehen, was sie über diesen Piraten wissen.« Sie lockte Erinnerungen aus ihren Träumen, wie ein Musiker seiner Lyra Töne entlockt. Wir sahen einen weiten Hafen, geschützt von einer großen Landzunge, die Zuflucht bot vor den wilden Felsen und den Wellen vor Toremals Meeresküste. Eine Stadt breitete sich hinter bewachsenen Dünen aus, und Ruderboote brachten Menschen und Waren vom Ufer zu den vor 297
Anker liegenden Schiffen und zurück. »Kalaven.« Pered war erstaunt. »Wir haben dort Halt gemacht, ehe wir nach Suthyfer aufbrachen.« »Sorgrad fand dort ein paar gute Matrosen«, bemerkte ‘Gren. »Muredarch auch.« Guinalle verstärkte Yaldas Erinnerung an einen überraschend hoch gewachsenen Mann mit drahtigem schwarzem Haar und leicht wilden Zügen in einem ansonsten gut aussehenden Gesicht, wenn man sich den struppigen Bart und die von Alter und Enttäuschung hervorgerufenen Krähenfüße wegdachte, die seine Augen umrahmten. Damals hatte er eine Pechsträhne, seine Hosen waren schmutzig, das Hemd fleckig und die Stiefel schlecht geflickt. Er unterhielt sich mit Darige. »So viel dazu, dass Kaiser Tadriol jeden Elietimm-Spion ausräuchert.« Ich hatte schon immer meine Zweifel daran gehabt, als Ryshad von der fruchtlosen Verfolgung von Gerüchten und Verdachten erzählte, nachdem sein Fürst ihn auf die Jagd nach den Dieben geschickt hatte, die einen jüngeren Sohn des Hauses für ein Erbstück, einen Ring, niedergestochen hatten. Er hatte erst später erfahren, dass es sich um ein Artefakt aus Kellarin handelte, als sich sein Weg mit meinem, Darnis und Shivs kreuzte. »Guinalle«, warnte Temar. »Na schön.« Sie presste die Lippen enttäuscht aufeinander, ehe sie die Luft beruhigte und leer werden ließ mit einer fröhlichen Melodie. Die schlafenden Gesichter verschwanden, und ich merkte unvermittelt, dass mein Hals und meine Schultern steif waren und sich heftige Kopfschmerzen ankündigten. »Ich brauche frische Luft.« Pered erhob sich unsicher, und Ryshad öffnete prompt die Tür. 298
»Ich hätte lieber was zu trinken.« Selbst ‘Gren wirkte etwas verunsichert, und das war so selten wie eine mondlose Nacht. Ich legte meine Stirn gegen die Handflächen und spürte, wie Ryshads starke Finger meine Schultern massierten. »Und was hast du gesehen?« Ryshad brauchte einen Augenblick für die Antwort. »Farben, Formen, nichts, aus dem ich schlau wurde. 'Sar konnte nicht mal das sehen.« »Noch ein Beispiel, dass Zauberkunst und Elementmagie nicht zusammenpassen?« Ich rieb mir vorsichtig mit den Fingerspitzen über die Schläfen und spähte zu Ryshad hoch. »Was jetzt?« »'Sar ist los, um die anderen zu holen. Alles in Ordnung?« Sein Grinsen verhieß Ärger für jeden, wenn es nicht so sein sollte. Ich nickte vorsichtig. »Wird schon wieder.« Er kniete sich hin und zog mich an sich. Ich lehnte meinen Kopf an seine Schulter und dachte ernsthaft daran, schlafen zu gehen und den anderen alles Weitere zu überlassen, zumindest bis zum Morgen. »Wo ist Allin?« Ich schlug die Augen auf und sah Temar, der sich mit den Händen über das Gesicht fuhr. »Bei dem Rest der Magiegeborenen. Sie wollten darüber diskutieren, was für Zauberei sie wagen können, ohne einen Angriff der Elietimm zu riskieren.« Ryshad stand auf und zog mich hoch, ehe er sich setzte. Ich setzte mich auf seinen Schoß und legte die Arme um seine Schultern. »Usara hat gesagt, dass Aritane ihm im Laufe des Winters geholfen hat, gewisse Verteidigungsstrategien zu entwickeln.« Guinalles Stimme klang erschöpft. 299
Wir saßen eine Weile schweigend da, bis Halice die Tür auftrat, um einen unhandlichen Korb voller Flaschen hereinzuschleppen. »Wenn ihr fertig seid, lasst hören, was ihr erfahren habt, und einen Plan machen.« Wir zuckten alle zusammen bei dem Klirren von Glas, bis auf ‘Gren, der sofort munter wurde. »Das geht am besten mit einem Glas in der Hand.« Er nahm sich eine dickbäuchige Flasche mit einem dicken Wachspfropfen. Halice verteilte eine bunte Mischung verschiedener Weine. »Also, was habt ihr erfahren?« Als Temar erklärt hatte, was niemanden groß überraschte, dass unser alter Feind die treibende Kraft hinter den Piraten war, kamen auch die Zauberer hinzu. Shiv hatte einen Arm um Pered gelegt, seine Augen suchten nach dem leisesten Anzeichen dafür, dass Zauberkunst seinem Geliebten wehgetan hatte. Usara versuchte, der weitgehend schweigenden Guinalle mit kühler Höflichkeit ein Glas Wein aufzudrängen. Er hatte es sogar fertig gebracht, irgendwo einen goldgefassten silbernen Becher aufzutreiben. »Können wir Naldeth da herausholen?«, fragte Allin. Sie war die ganze Zeit mit dem Schicksal des Magiers beschäftigt, seit wir ihn zurücklassen mussten. »Er ist einer von euch, nicht wahr?« Sorgrad hatte ‘Gren geholfen, den Tisch auf eine Seite des Raumes zu schieben, und nun saßen die beiden Brüder mit den Beinen baumelnd darauf. Er nahm einen kräftigen Schluck hellen Branntwein. »Guinalle?« Temar reichte Allin seine hellgrüne Flasche mit caladhrischem Weißen, und sie nahm einen vorsichtigen Schluck. »Ich glaube, wir sollten es nicht wagen, ihn zu kontaktieren.« 300
Die Demoiselle seufzte mit beredter Enttäuschung, ehe sie alle Magiegeborenen ansah. »Es ist besser, wenn ihr eure Magie auf Dinge in Reichweite beschränkt, auf etwas, das ihr sehen könnt. Die Elietimm dürften euch nicht angreifen können, solange ihr nicht jemanden sucht, der weiter weg ist, als ihr mit euren Sinnen wahrnehmen könnt.« »Heißt das, wir können noch immer mit Feuer und Blitz Piraten aus dem Wasser sprengen?« Sorgrad blinzelte Larissa zu, die ein Stück entfernt von Shiv und Pered stand, schweigend und wachsam. Sie lächelte scheu zurück. »Was nützlich sein wird«, bemerkte Ryshad trocken und nahm den Rotwein, den Halice ihm anbot. Sorgrad warf ihm einen rätselhaften Blick zu, den Ryshad mit gleicher Unerschütterlichkeit erwiderte. Bei allem, was vor sich ging, hatten sie noch keine richtige Gelegenheit gehabt, sich gegenseitig einzuschätzen, aber das würde nun bald erfolgen. Ich nahm Ryshad die Flasche ab und trank einen Schluck Sitalcan, dessen anregende Schärfe die Müdigkeit vertrieb, die mir das Hirn vernebelte. Ich musste sicherstellen, dass ich meine Sinne beisammenhatte, um meine ältesten Freunde und meine neueste Liebe davon abzuhalten, sich über ihre unbestrittenen Verschiedenheiten die Köpfe einzuschlagen. Ich erwartete nicht, dass sie einander mochten, aber ich hoffte, dass sie zumindest gegenseitig ihre Talente respektierten. Halice hatte andere Sorgen. »Wir werden diese Piraten nicht los, solange sie Äthermagie zur Unterstützung haben.« »Wir haben auch Äthermagie, die wir gegen sie einsetzen können.« Usara lächelte Guinalle an, aber wir konnten alle die Sorge in seinen Augen sehen. »Seid ihr sicher, dass ihr gegen diese drei gefeit seid? Wir 301
sind kaum ausgebildet genug, um euch zu helfen.« Temar deutete einen Kreis an, der mich, ‘Gren und Pered einschloss. »Usara, könnte man diese Sheltya dazu bringen, uns zu helfen?« »Aritane?« Guinalle schüttelte bedauernd den Kopf. »Selbst wenn sie bereit wäre, die Zuflucht Hadrumals zu verlassen, glaube ich nicht, dass sie den Verrat Ereskens an ihr und ihrem Volk schon verarbeitet hat. Das allein würde sie schon sehr verwundbar machen.« »Also müssen wir uns um verflixt viel mehr als nur Piraten Gedanken machen.« Ryshad ließ nachdenklich den Wein in der Flasche kreisen. »Was will Ilkehan mit Suthyfer?« »Wenn die Elietimm diese Inseln beherrschen, ist das wie ein Messer an Vithrancels Kehle und allen tormalinischen Seehäfen«, sagte Halice finster. Aus irgendeinem Grund musste ich an den Eisländer denken, wie er seine Kletterpflanze schnitt. Ich erinnerte mich daran, wie meine Mutter einen ständigen Krieg gegen Knöterich geführt hatte, der die Frechheit besaß, immer wieder zwischen den Kräutern und Blumen aufzutauchen, die sie auf dem Fleckchen zog, das ihr der wohlhabende Kaufmann, dem das große Haus gehörte, zugestanden hatte. Jedes Mal, wenn meine Mutter dachte, sie hätte ihn besiegt, tauchte wieder ein Stängel mit munteren kleinen Blättern auf, gekrönt von rot geränderten weißen Blüten, die sie zu verspotten schienen. Als kleines Mädchen mit dicken Beinen hatte ich verständnislos einen ganzen langen Nachmittag gespielt, während mein Vater, auf einem seiner seltenen und herbeigesehnten Besuche, sorgfältig jeden geschätzten Goldlack und jedes Stiefmütterchen, jeden hölzernen Spross einer Schattenblume mit ihren ledrigen grünen Blättern ausgrub. Er legte sie alle behutsam in den feuchten 302
Schatten, ehe er jede einzelne Wurzel dieses verfluchten Knöterichs ausgrub und jedem hartnäckigen Wurzelstückchen bis zu seinem Ende folgte. Ich sah sein verschwörerisches Grinsen vor mir, wenn er sich flach auf die dunkle Erde legte, um so weit zu greifen, wie er nur konnte, wie die Erde sein kupferfarbenes Haar sprenkelte und sein Gesicht schmutzig machte. Da ich es ihm in den normalerweise verbotenen Freuden von Graben und Dreck gleichtat, war ich zu der Zeit, als wir fertig waren, genauso schmutzig wie er, aber wenigstens hatte meine Mutter nie wieder Knöterich gesehen. »Wir müssen Ilkehan loswerden.« Es war leicht, eine so gewichtige Idee in Worte zu kleiden. Genauso leicht, wie die Hand voll Runen zu werfen, die entweder dein Glück bedeuten oder dir den Hals brechen können. »Alles führt immer wieder zu ihm zurück.« »Was meinst du mit ›wir‹?« Ryshad neigte den Kopf, als er mich ansah, und ich wusste, dass er begriff. »Kellarin könnte nie eine Armee aufbringen, um gegen die Elietimm zu kämpfen.« Temar begriff offensichtlich nicht. »Würde der Kaiser um deinetwillen in den Krieg ziehen? Könnte er die Schiffe und Männer aufbringen?« »Hör auf, mit deinen Kohorten zu denken«, tadelte Sorgrad. »Ich glaube nicht, dass wir riskieren können, den Kaiser in diese Sache zu verwickeln«, sagte Ryshad langsam. »Er ist recht gut aus dem Durcheinander im letzten Sommer herausgekommen, aber die Sieurs der führenden Häuser werden ihn weiterhin scharf beobachten, ob er übertriebene Unabhängigkeit an den Tag legt.« Temars unerwartete Ankunft hatte ernsthaft das komplizierte Spiel von Gewicht und Gegengewicht, das die Fürsten Toremals miteinander spielten, durcheinander gebracht, 303
und der Kaiser musste eine Gratwanderung unternehmen, um sie einerseits in Schach zu halten und andererseits davon abzuhalten, dass sie sich gegen ihn statt D'Alsennin wandten. »Oberherr oder nicht, Tadriol herrscht mit Zustimmung der Sieurs. Sie werden nicht gerade begeistert zusehen, wenn er ohne Weiteres Leute tötet, die ihn ärgern.« Halice rieb gedankenvoll mit den Fingern über den weiten Hals der Flasche, die sie in der Hand hielt. Es verursachte ein leise quietschendes Geräusch. »Jedenfalls, mit einem Messerrücken lässt sich ein Ei sauberer aufklopfen als mit einem kopfgroßen Stein.« »Ein Messer ist genau das, was du brauchst«, sagte ‘Gren begeistert. »Ein Überfall, um dem Schurken die Kehle durchzuschneiden, macht diesem ganzen Unsinn ein Ende.« »Wenn man es richtig anstellt, kann man praktisch jeden umbringen«, stellte Sorgrad fest, ehe er plötzlich grinste. »Warum glaubt ihr, dass eure Adligen so viel Geld für Eingeschworene und Söldner ausgeben?« »Ein Attentat?« Temar sah ihn erstaunt an. »Das ist aber nicht gerade ehrenvoll.« Guinalle öffnete den Mund und schloss ihn wieder, ohne etwas zu sagen. »Wir sind Söldner«, betonte Halice sanft. »Ehrbarkeit zahlt sich im Allgemeinen nicht aus.« »Es wäre eine Hinrichtung«, berichtigte Ryshad Temar streng. »Dieser Mann hat zahllose Leben auf dem Gewissen, selbst wenn andere Hände die Schwerter auf seinen Befehl hin schwangen.« »Parrail«, fauchte Halice mit plötzlichem Zorn. »Geris«, sagte ich knapp. »Aiten.« Ryshads Nasenflügel bebten, während er versuchte, 304
seine Wut und seinen Kummer zu beherrschen, von dem ich wusste, dass sie immer irgendwo in einer Ecke seines Verstandes lauerten. Aiten war viele Jahre lang sein Freund gewesen, eingeschworen auf D'Olbriot, an Ryshads Seite, als sie sich auf die Jagd nach demjenigen machten, der den jungen Junker des Hauses für tot hatte liegen lassen. Wir waren den Inseln der Elietimm nur knapp entronnen, als Ilkehans Hexereien ihm seinen Verstand geraubt hatten und ihm auftrugen, uns alle zu töten. Ich hauchte einen Kuss auf Ryshads Stirn und fühlte, wie er seine Arme um meine Taille schlang. In den innigen Gesprächen, die Liebende sich für unruhige Nächte aufsparen, hatte Ryshad mir erzählt, dass er Rache geschworen hatte, um der Eide willen, die sie gemeinsam geleistet hatten. Ich würde nicht versuchen, es ihm auszureden, nicht, wo ich selbst Ilkehan ein gerüttelt Maß an Rache schuldete, weil ich die Einzige gewesen war, der er die Möglichkeit gelassen hatte, den armen Aiten zu töten, ehe er uns andere alle umbrachte. Konnte ich sein Blut mit Ilkehans Blut von meinen Händen waschen? »Was ist mit den fehlenden Artefakten? Könnte Ilkehan sie haben?« Guinalle sah erschüttert aus. Ich dachte daran, was Halice mir über ihre Besuche zur Tagundnachtgleiche und zur Sonnwende in der Höhle von Edisgesset erzählt hatte, ihre bekümmerten Gebete, wenn sie Weihrauch für Arimelin vor dem Altar verbrannte, den sie dort hatte aufstellen lassen. »Gut möglich.« Usara blickte nachdenklich drein. »Und wir wollen auf jeden Fall diese letzten Schläfer wiedererwecken, jetzt, wo die Gefahr, die du ihnen erspart hast, vorbei ist.« Er lächelte Guinalle an, aber wie immer war sie zu mitgenommen vor Reue über ihre gegenwärtige Zwangslage, um stolz darauf 305
zu sein, dass sie diese Menschen vor einem blutigen Tod in ferner Vergangenheit gerettet hatte. Wenn 'Sars Worte auch bei Guinalle keine Saite zum Klingen brachten, so auf jeden Fall bei Ryshad. »Wir wenden nur seine eigenen Gepflogenheiten auf ihn selbst an«, sagte er nachdrücklich. »Er tötet heimtückisch, für seine eigenen Zwecke, ohne Rücksicht auf Unschuldige. Die Gerechtigkeit wird unser Handeln gegen seines in Raeponins Waagschale ausbalancieren.« »Die Verbrechen dieses Mannes würden ihn vor jedem Gericht von Toremal bis zur Hauptstadt von Solura verurteilen«, sagte Shiv der Form halber. »Wie schlägst du vor, diese zusammenfassende Gerechtigkeit anzuwenden?« Ryshad und ich sahen ihn an und erkannten, dass der Magier bereits wusste, was wir dachten. »Wir sind die Einzigen, die den Grundriss seiner Festung kennen«, erklärte ich zögernd. »Du bist der einzige Magier, der dort gewesen ist, der uns alle dorthin transportieren kann«, setzte Ryshad mit einem entschuldigenden Blick auf Pered hinzu. Der Künstler biss die Zähne zusammen, blass unter seinen Sommersprossen, aber er sagte nichts. »Dann kommen wir auch mit.« Sorgrads Tonfall duldete keinen Widerspruch. Er stieß mit einem Finger nach Ryshad. »Du wirst unser Mädchen nicht in die Schlangengrube irgendeines Hexers schleppen, ohne dass wir zu ihrer Unterstützung dabei sind.« »Kein Eingeschworener hat jemals einen guten Attentäter abgegeben.« ‘Gren nahm einen tüchtigen Schluck aus seiner Flasche. »Habt zu viel Ehre in euch, aber das ist euer Problem. Mir ist es egal, wen ich umbringe.« 306
»Das habe ich gehört«, erwiderte Ryshad verbindlich. Sorgrad warf ihm noch einen abschätzenden Blick zu, ehe er sich an Temar wandte. »Wir haben mit Ilkehan noch eine Rechnung offen für die Toten des Hochlandes, die Ereskens Ränke und Betrügereien auf dem Gewissen haben.« Er grinste raubtierhaft. »Was haltet ihr davon, wenn wir einfach hinmarschieren, sagen, dass wir Eresken letzten Sommer kennen gelernt haben, und ihm ein neues Bündnis vorschlagen? Wir könnten Ilkehan das Herz aus dem Leib schneiden und in einem halben Tag fertig sein.« »Hast du kein Interesse daran, lebend da herauszukommen?« Halice stellte ihre Flasche klirrend auf den Tisch. »Wenn ...« »Nein«, sagte Ryshad entschieden. »Wenn wir das tun, dann nur eine Hand voll. Wenn wir mehr sind, können wir genauso gut eine Flotte schicken mit Signalhörnern und Flaggen.« »Ihr habt es auch immer noch mit Muredarch zu tun«, erklärte ich Halice. »Er wird kaum die Hände hochnehmen, nur weil seine Haushexer plötzlich ihren Herrn verloren haben.« »Ich kann es ohne deine Hilfe nicht mit diesen Piraten aufnehmen, Halice«, sagte Temar hastig. »Wir können mit ihnen sofort fertig werden, solange keine Bedrohung durch Zauberkunst besteht.« Sie sah ein wenig besänftigt aus. »Wird der Tod Ilkehans diese drei Hexer ausschalten?« »Guinalle?« Usara hatte den Blick nicht von ihr gewendet. »Ich glaube schon.« Die Edelfrau sah auf und fuhr mit aufgesetzter Neutralität fort. »Falls sein Tod öffentlich ist, bestätigtes allgemeines Wissen ist und so schnell wie möglich so weit wie möglich verbreitet wird. Ein schändlicher Tod, etwas Groteskes oder Demütigendes, wird alle Ehrfurcht, die er auslöst, auflö307
sen.« Ihre Stimme war kalt. »Seine Macht gründet sich mehr auf Furcht als auf wirkliche Verehrung, deshalb wird sein Tod seine Adepten auf wenig mehr als Treibsand zurücklassen.« Ryshad hob fragend eine Augenbraue in meine Richtung, und ich zuckte die Achseln. Ich hatte mehr an einen vergifteten Dolch im Rücken des Schurken gedacht und anschließende heimliche Flucht. »Sollen wir ihm den Kopf abschlagen?« Sorgrad und ‘Gren dagegen tauschten Flaschen und Ideen mit verschwörerischer Freude. »Und ihn auf einen Pfahl stecken, damit alle es sehen können?« »Nach allem, was wir wissen, hat Ilkehan eine herausragende Stellung unter den Clans der Elietimm inne.« Usara sah wieder nachdenklich aus. »Wenn wir ihn von der Spitze herunterholen können, könnte es gut sein, dass die anderen mehr Interesse daran haben, sich über die Beute zu streiten, als uns anzugreifen.« »Vor allem, wenn wir klar gemacht haben, dass es so einen hässlichen Tod nach sich zieht, wenn man sich gegen Kellarin stellt«, stimmte Sorgrad mit Begeisterung zu. »Männer wie Ilkehan behaupten ihre Macht gern, indem sie jedes Blümchen abhacken, das höher wächst als der Rest«, sagte Ryshad langsam. »Was eine Münze mit zwei Seiten ist.« Ich sah die mögliche Schwäche in Ilkehans Rüstung ebenso deutlich wie Ryshad. »Jetzt, wo Kramisak und Eresken tot sind, hat er keinen logischen Nachfolger.« »Bestimmt nicht, wenn wir die drei hier töten.« Temar wirkte entschlossen. »Ich bin für eine wahrscheinliche Lösung, ohne auf zusätzli308
che Belohnung zu setzen. Wenn wir Ilkehan töten, sollte das Muredarchs Hexer führerlos hinterlassen, und damit sollte uns genügend Zeit bleiben, mit dem Rest dieses Abschaums fertig zu werden.« Halice sah Guinalle an, die zur Bestätigung zögernd nickte. Ich reichte Ryshad den Wein zurück. »Wir sahen seine Soldaten wieder gegen diese Leute in den braunen Uniformen kämpfen.« »Der andere Pöbel, der sich hierher schleicht, um zu stehlen und Schreine zu plündern.« Ryshad schürzte nachdenklich die Lippen. »Wir haben nie herausgefunden, was sie eigentlich wollten, oder?« »Dann lasst es uns herausfinden, solange wir hier sind«, schlug ‘Gren entgegenkommend vor. »Das ist hier keine Handelsreise.« Sorgrad warf seinem Bruder einen vernichtenden Blick zu. »Aber wir könnten vielleicht einen Verbündeten finden, einen sicheren Hafen, solange wir hier sind.« Er hob die Augenbrauen und sah Ryshad an, der langsam nickte. Ich war erleichtert zu sehen, dass die beiden vorsichtig die Kriegsweisheit des jeweils anderen anerkannten. »Was sagen wir denn Planir?«, fragte Usara abrupt. »Warum sollten wir ihm überhaupt etwas sagen?«, entgegnete Shiv. »Er hat deutlich genug gemacht, dass wir auf uns allein gestellt sind.« »Aber das war, ehe wir wussten, dass Ilkehan in die Sache verwickelt ist«, protestierte Usara. »Er sagte, wir hätten freie Hand, um für Kellarin zu handeln, wie wir es für richtig hielten.« Shiv schüttelte den Kopf. »Jedenfalls, der Erzmagier von Hadrumal kann es sich ebenso wenig leisten, mit Schnellhinrichtungen in Verbindung gebracht zu 309
werden wie der Kaiser von Tormalin.« In seiner Stimme lag beißender Sarkasmus. »Wir werden ihm nichts sagen«, erklärte Sorgrad mit Unschuldsmiene. »Nicht, solange er nicht etwas für uns dabei springen lässt.« ‘Gren hob in gespieltem Ernst den Finger. »Planir hätte nichts dagegen«, sagte Larissa trotzig aus ihrer Ecke. »Er würde nicht davor zurückschrecken, ein solches Urteil an jedem Zauberer zu vollstrecken, dessen Missbrauch der Magie wahrlich den Tod verdiente.« »Er hat diesen Irren Azazir gehen lassen.« Shiv warf Pered einen skeptischen Seitenblick zu. »Du weißt nicht die Hälfte dessen, was Planir tut, um Hadrumal gut ausbalanciert zu halten, Shiv.« Larissa starrte ihn finster an. »Die Zauberei wäre in einem prekären Zustand ohne ihn.« »Das weiß ich nicht, aber ich weiß auch nicht viel über Zauberei.« Sorgrad sprang von dem Tisch und lächelte Larissa strahlend an. »Wenn ich Shiv auf dieser Reise überhaupt von Nutzen sein soll, meine liebe Magierin, dann könnte ich ein wenig mehr Unterweisung von dir brauchen, ehe wir aufbrechen.« »Livak!« Guinalle hörte auf, ihre Hände zu betrachten, um meine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. »Ich sollte dich besser in Zauberkunst unterrichten, nur um sicherzugehen, dass du alles eindeutig verstanden hast.« »Na schön.« Es war nicht gerade eine besonders reizvolle Aussicht. »Dann wollen wir etwas schlafen und morgen die Steine aufs Brett setzen.« Halice fing an, die Flaschen einzusammeln, und 310
bedeutete Pered, ihr die Tür zu öffnen. Ich sah Ryshad an. »Selbst die Niedere Zauberkunst könnte irgendwie unseren Hals retten.« »Allerdings. Wir wollen auf jeden Fall jeden nur möglichen Pfeil in unserem Köcher.« Er küsste mich, ehe er mich auf die Füße stellte und selbst aufstand. »Schlafen wir an Bord oder an Land?« »An Land, bitte«, sagte ich leidenschaftlich. »Ich hole uns ein paar Decken.« Ryshad schob Shiv und Pered hinaus, der große Magier blickte noch immer finster. Sorgrad folgte ihnen und geleitete Larissa mit schmeichelhafter Höflichkeit hinaus, ‘Gren marschierte fröhlich hinterdrein. »Wäre er auch so bewundernswert begierig zu lernen, wenn die Magierin nicht eine solche Schönheit wäre?« Temar wanderte mit missbilligender Miene vorbei. »Was hat dich denn daran interessiert, Zauberkunst bei Guinalle zu studieren, damals?« Ich lächelte gerade genug, um meinen Worten die Schärfe zu nehmen. Ich war sicher, dass Sorgrads Ehrgeiz sich vor allem darauf richtete, Larissa an die Wäsche zu gehen, aber keiner darf meine Freunde kritisieren außer mir. Naja, außer mir und Halice. Temar wurde rot. »Es ist schon spät. Wir sehen uns morgen früh.« Allin sprang von dem Hocker auf, wo sie die ganze Zeit unbemerkt gesessen hatte, und eilte ihm nach. »Gute Nacht.« Ich überließ es Usara, Guinalle Trost zu spenden, um den sie selbst nie gebeten hätte, und ging gähnend hinaus. Ich fand Ryshad an der Stelle, wo die zertrampelten Pflanzen rings um die Hütte dem groben Sand wichen. Er hatte einen Arm voll Decken dabei, und wir machten es uns in einer abgeschiedenen Mulde gemütlich. 311
Er legte sich auf den Rücken und streckte einen Arm aus. Ich kuschelte mich in seine Arme, und er hielt mich fest. »Tun wir das Richtige?«, fragte ich. Kühne Pläne, geschmiedet mit Verbündeten, denen man traute, und einem ermutigenden Getränk in der Hand, müssen auch im kalten Licht der Morgendämmerung der Überprüfung standhalten, wenn sie nicht zu einer Katastrophe führen sollten. Ich zählte fünf hallende Herzschläge in seiner Brust, ehe er antwortete. »Ich wüsste nicht, was wir sonst tun könnten.« »Oh, das ist ja sehr beruhigend«, brummte ich. »Nein, so habe ich das nicht gemeint.« Ryshad rutschte ein wenig hin und her, sodass er beide Arme um mich legen konnte. »Wir müssen diese Piraten von den Inseln verjagen, und wir brauchen Magie, Zauberei, um das zu tun. Wir dürfen Shiv und 'Sar und die anderen keinem Risiko aussetzen, wenn diese Elietimm sie mithilfe von Zauberkunst zu lebenden Toten machen können. Trotz all ihrer Kunst neigt Guinalle sicher nicht dazu, Menschen mit Zauberkunst anzugreifen, und ehrlich gesagt, ich zweifle daran, dass sie wüsste, wie sie es anstellen sollte, selbst wenn es zu einem richtigen Kampf käme. Es ist einfach nicht ihre Sache. Also hast du Recht. Wir müssen den Eismann töten. Wir haben gesehen, dass er überall Ärger zu machen versucht, diesmal sind es Piraten, letztes Jahr war es in den Bergen, davor auf dem Archipel. Kellarin wird nie in Sicherheit sein, solange es ihn gibt. So einfach ist das.« »Einfach«, wiederholte ich. »Das hoffe ich jedenfalls.« »Wir sind das letzte Mal lebend herausgekommen, nicht wahr?« Ryshad küsste mein Haar. »Und wir wussten nicht, was auf uns zukam, und wir hatten auch keine Magie zu Hilfe, nicht nachdem Shiv diesen Schlag auf den Kopf bekommen hatte.« 312
Ich sah ihm ins Gesicht, das in der Dunkelheit hell leuchtete. »Geris oder Aiten sind nicht heil herausgekommen.« »Geris hatte keinen Funken Aggressivität im Leib, nach dem, was du mir erzählt hast, und er war auch nicht misstrauisch.« Ryshad räusperte sich. »Also hatte er nie eine Chance. Ait, der arme Kerl, hatte einfach nur verdammtes Pech.« Er seufzte. »Aber er sagte immer, wenn der Morgen deine Todesrunen wirft, kannst du nichts dagegen tun.« »Ich ziehe es vor, mein Glück selbst in die Hand zu nehmen«, murmelte ich. Ryshad zog mich an sich. »Wir wissen, womit wir es zu tun haben, und wir haben Shiv, Sorgrad und ‘Gren zur Unterstützung.« »Ja.« Ich hob den Kopf, um seine stopplige Wange zu küssen. »Du musst dich rasieren.« »Morgen«, gähnte er. »Und jetzt schlaf.« Da ich nichts anderes tun konnte, schlief ich ein.
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Shernasekke, Inseln der Elietimm 2. Vorsommer
Nachdem alle zugestimmt hatten, dass Ilkehan sterben musste, erwachten wir zu einem Tag unermüdlicher Aktivitäten, die irgendwie unglaublich langweilig waren. Als wir zwischen Larissa und Allin standen und Usara und Shiv diskutierten, wer als Zentrum ihres magischen Nexus dienen sollte, war ich nur noch erleichtert, dass wir endlich aufbrachen. Das war, ehe mir wieder einfiel, wie abscheulich es sich anfühlte, durch Zauberei meilenweit durch die Gegend geworfen zu werden. Ich kann gar nicht beschreiben, wie tröstlich der Kies unter meinen Stiefeln knirschte. Ich stampfte mit den Füßen und hörte das Geräusch erneut. Nach ein paar tiefen Atemzügen hatte sich mein Magen beruhigt, und das schmerzhafte Klingen in meinen Ohren war vergangen und hatte einem leisen Meeresrauschen Platz gemacht. Ich rieb mir die Augen, um die gelben Blitze zu vertreiben, die mir die Sicht raubten. »Alles in Ordnung mit dir?« Ryshad hielt mich besorgt fest. »Fast«, sagte ich leicht gereizt. »Dir scheint es ja gut zu gehen.« Er grinste mitfühlend. »Ich werde ja auch nicht seekrank.« Ich sah mich nach den anderen um. »Wie fühlst du dich?« »Gut«, sagte Sorgrad abwesend, tief in Gedanken versunken. Ich brachte ein schwaches Lächeln zustande. »Wie lange brauchst du, um den Trick herauszukriegen?« »Lass mir Zeit«, zwinkerte Sorgrad. »Versuch nicht, dich an einen anderen Ort zu versetzen, 314
wenn 'Sar oder ich nicht in der Nähe sind«, bat ihn Shiv ernsthaft. »Nicht, bis du es wirklich heraushast. Mit einer doppelten Affinität endest du sonst ...« »Warum warten wir hier, bis jemand kommt und uns die Kehle durchschneidet?«, fragte ‘Gren ungeduldig. Ryshad sah sich auf dem felsigen Ufer um. »Suchen wir erst mal Deckung.« Davon gab es herzlich wenig. Dunkles Geröll war über dem Sand verstreut, der die Farbe von Holzasche hatte, die grauen Wellen schwappten an das flache Ufer. Haufen von stinkendem Tang hatten sich zwischen den Steinen verkeilt und tarnten Mulden und Gruben, sodass man bis zu den Knien einsank, wenn man nicht aufpasste. Draußen auf dem Meer ließ der spätnachmittägliche Nebel die Grenze zwischen Himmel und Wasser verschwimmen. Soweit ich das sagen konnte, hätte man da draußen ein Dutzend Schiffe verstecken können. Wir mussten von diesem so offen liegenden Strand verschwinden. Ryshad ging auf einen Pfad zu, der von menschlichen oder tierischen Füßen getrampelt worden war und wo die Kieselsteine sich unter einem scharfen Überhang sammelten, auf dem staubiges grünes Gras wuchs. Wir alle spähten vorsichtig hinüber und sahen ausgedehntes, mit Sträuchern durchsetztes Grasland, das sich bis zu einem steilen Kamm aus zerklüftetem Gestein zog. Noch größere Höhen dahinter waren stumpf und kahl und trugen selbst in der ersten Sommerhälfte eine weiße Haube, die nur Schnee sein konnte. Man hatte das Gefühl, dass diese tristen Inseln eine halbe Welt von der Üppigkeit Suthyfers entfernt waren, auch wen Temars Karten etwas anderes behaupteten. »Kommt dir das bekannt vor?« Sorgrad schob den Sack zu315
recht, den er über seiner linken Schulter trug. »Ja.« Ich hätte jedem ins Gesicht gelacht, der mir gesagt hätte, ich würde auf diese Inseln zurückkommen. Aber hier war ich, und schlimmer noch, es war meine eigene gottverdammte Idee gewesen. »Ziemlich dicht dran, Shiv.« Ryshad grinste den Magier an, dessen Lächeln seine Erleichterung verriet. »Kommt schon.« ‘Gren war bereits auf das Steilufer geklettert und spähte mit gezücktem Dolch in alle Richtungen. »Wir müssen in diese Richtung.« Shiv hatte eine Karte, dank Pered, der den ganzen Morgen gewissenhaft mit Feder und Tinte gearbeitet hatte, während wir drei unser Gedächtnis nach jeder Einzelheit unseres früheren Besuches durchkämmten. »Das Dorf ist dort drüben, also Kapuzen hoch.« Ryshad und ich gehorchten, während sich Sorgrad demonstrativ mit der Hand über den blonden Schopf fuhr. »Versuch so auszusehen, als gehörten wir hierher, ‘Gren.« »Für den Augenblick«, kicherte ‘Gren erwartungsfroh. »Wir brauchen ja nicht so nahe zu kommen, dass jemand anfängt zu überlegen.« Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es hier viele Rotschöpfe gab, und es sollte auch niemand sehen, dass wir bewaffnet waren, ganz zu schweigen von Ryshads und Shivs dunkler Hautfarbe. Wir gingen los, und als wir aus dem beißenden Wind heraus waren, sah ich, dass der Sommer die wenigen verkrüppelten Bäume mit Blättern übersät hatte. »Hier gibt es kaum genug Futter für einen genügsamen Esel«, sagte ich unbehaglich zu Ryshad. »Wir hätten mehr Proviant mitbringen sollen.« »Wenn wir zu viel schleppen, wird man nur auf uns aufmerksam.« Er musterte weiterhin die flache Ebene. 316
»Keine Sorge«, Sorgrad lächelte. »Wir werden geehrte Gäste sein und noch vor dem Abend angemessen bewirtet werden.« »Was war das?« ‘Gren blieb stehen, und wir alle hielten inne. Ich hörte ein leises Kratzen und etwas, das eine warnende Stimme sein konnte, gedämpft und unverständlich. »Wo kommt das her?« Ein Schauer lief mir über den Rücken. Sorgrad ließ sich auf die Knie fallen, und wir machten es ihm nach. »Was machst du da?«, fragte er erstaunt. »Dasselbe wie du«, antwortete ich gereizt. »Wieso?« Er nickte zu einem Loch in der Grasnarbe. »Was auch immer das Geräusch macht, ist dort unten.« »Bisschen eng für ein hungriges Kaninchen.« Ryshad erhob sich und klopfte sich feinen Staub von den Hosen. »Ich glaube nicht, dass wir uns Sorgen machen müssen.« Vorsichtige Belustigung linderte die Spannung, die in der Luft lag. »Ich frage mich, was das ist.« ‘Gren kniete nieder und streckte die Hand in den Bau. »Etwas, das dir die Finger abbeißen und dich mit schwärenden Stümpfen zurücklassen kann?«, schlug ich vor. »Lass es einfach in Ruhe.« »Da kommt jemand.« Shiv steckte seine Karte in die Brusttasche seines Wamses. Wir sahen eine einzelne Gestalt, die sorgfältig die größeren Steine wegnahm, die als Tor in einer der niedrigen Mauern dienten, die dieses unfruchtbare Hinterland unterteilten. »Bewegt euch.« Ryshad schlug ein Tempo an, das gerade schnell genug war, um zielstrebig zu wirken, aber nicht so eilig, dass es Aufmerksamkeit erregte. Mein Blickfeld war durch die Kapuze so eingeschränkt, dass 317
ich die Gestalt nicht mehr sehen konnte, was mich kribbelig machte. »Was macht er?« »Nichts. Geht einfach weiter.« Sorgrad führte uns zu einem Einschnitt in dem schartigen Hügel. ‘Gren scherte sich nicht um den schmalen Pfad, sondern zertrampelte rücksichtslos die wenigen Blumen, die in dem struppigen Gras vor sich hin kümmerten, und abgeknickte Kräuter verströmten für kurze Zeit ihren süßen Duft. »Halt Ausschau nach Ziegen«, warnte ich ihn. »Beim letzten Mal konnten wir uns kaum bewegen, ohne über die verflixten Viecher zu stolpern.« »Lass mich mal die Karte sehen, Shiv.« Sorgrad duckte sich in eine geschützte Senke zwischen zwei großen Felsbrocken, die wie abgebrochene Zähne aus dem Gras ragten. Ryshad und ich hielten je eine Ecke der Karte auf dem von Flechten bewachsenen Stein fest. »Wir müssen nach Norden.« Ich fuhr eine Linie auf dem Pergament nach. »So umgehen wir das Dorf in weitem Bogen.« Ryshad stieß nachdrücklich mit dem Finger darauf. Shiv fuhr mit dem Daumennagel über eine dünne blaue Linie und eine dunklere, braune. »Sobald wir über diesen Fluss sind, folgen wir der Straße landeinwärts.« Sorgrad sah ihn zweifelnd an. »Folgen wir ihr, oder beschatten wir sie? Ich habe keine Lust, Erklärungen abzugeben, falls wir jemandem begegnen, der neugierig ist.« Ryshad schüttelte den Kopf. »Wir ziehen mehr Aufmerksamkeit auf uns, wenn wir abseits der Straße sind als auf der Straße.« »Wir müssen ohnehin die Straße nehmen. Wo sie durch die 318
Berge führt, ist sonst meist nur nackter Fels und Geröll.« Ich hielt Sorgrads Blick fest, bis er zu dem Schluss kam, dass ich die Wahrheit sagte und mich nicht nur hinter Ryshad stellte. »Gehen wir endlich«, beschwerte sich ‘Gren. Wir überquerten den Kamm und stiegen auf der anderen Seite hinunter. Weitere Steinmauern zogen trockene Linien über das kurz geschnittene Gras. Dunkle matschige Flecken waren die einzigen Spuren von Ziegen, und ich überlegte, wo sie wohl stecken mochten, als ich beinahe kopfüber in einen Graben gestolpert wäre, der von binsenartigem Gras verborgen war. »Pass auf, wo du hintrittst.« Ryshad packte meine Hand, und wir. stiegen vorsichtig über das dunkle braune Wasser. »Ich kann Essen riechen.« ‘Gren blickte zu den fernen Dächern des Dorfes, das wir umgingen. Bläulicher Rauch stieg von ein paar gedrungenen Schornsteinen auf. »Auf diese Entfernung?«, spottete ich. »Das bildest du dir ein.« »Wenn wir erst da sind, wirst du dir mehr Appetit geholt haben«, sagte Sorgrad streng. »Was ist, wenn der Mann mit den braunen Soldaten uns nicht helfen will?«, fragte ‘Gren nachdenklich. »Töten wir ihn dann auch?« Sorgrad zuckte die Achseln. »Kommt drauf an, was er sagt, schätze ich.« Die beiden gingen voran, um unseren Weg auszukundschaften. Ryshad und Shiv waren ein Stück hinter mir. »Was hat sich Usara eigentlich dabei gedacht, mit den beiden zu reisen?«, hörte ich Ryshad den Magier fragen. »Sorgrad ist der, den man zur Vernunft bringen muss«, antwortete Shiv mit leisem Unterton. »‘Gren interessiert sich nur 319
für trinken, essen, kämpfen und hübsche Mädchen, egal in welcher Kombination. Solange er glaubt, dass das ein oder andere dabei herausspringt, wird er alles mitmachen, was sein Bruder ihm sagt.« Ich lächelte in mich hinein und beschleunigte meine Schritte, damit ich Sorgrad und ‘Gren im Auge behielt. Verhältnismäßig gut geschützt zwischen dem Hügelkamm und der Hochebene, wuchs das Gras hier dichter, war weicher unter den Füßen und mit glockenförmigen blauen Blumen gesprenkelt, die auf zierlichen Stängeln schwankten. Etwas robustere weiße Blumen blühten um Tuffs von gefiederten, ledrigen grünen Blättern, die von roten Blüten gekrönt waren, die ein Geheimnis in ihren Blütenblättern bargen. Ich fragte mich wieder, wo all die Ziegen hingekommen waren, dass so viele schöne Blüten ungefressen blieben. ‘Gren wurde es bald langweilig, hierhin und dorthin zu spähen wie ein schlecht ausgebildeter Jagdhund, und er gesellte sich zu mir. »Gar nicht so übel hier.« »Dann versuch es mal im Winter«, erwiderte ich. Wir waren ganz zu Beginn der Jahreszeit hier gewesen, und das war ziemlich schlimm gewesen. »Verzärtelter Tiefländer«, tadelte er. »Ich und 'Grad, wir sind ein härteres Leben gewohnt.« »Ein hartes Leben, das auf Gedeih und Verderb von der Laune eines Ilkehan und seiner Handlanger abhängt?«, fragte ich. ‘Gren war unbekümmert. »Dem machen wir ein Ende.« Ich wollte ihn schon fragen, welche Omen er gesehen hatte, als ein scharfer Pfiff von Sorgrad dafür sorgte, dass Ryshad und Shiv zu uns aufschlossen. Wir trafen ihn auf der Kuppe einer Anhöhe, kurz vor dem Fluss. Er hatte sich auf einem Felsklotz 320
niedergelassen, der stete Wind zauste ihm das feine blonde Haar, und er suchte etwas in einer Tasche. »Aprikosen?« Sorgrad hielt uns einen kleinen Waschlederbeutel hin. Ich nahm einen klebrigen Klumpen der getrockneten goldenen Früchte und steckte die andere Hand in den Gürtel. »Was ist los?« »Da drüben.« Sorgrad deutete lässig auf das Land, das sich zum Fluss hinunterzog. Der Fluss war hier so schmal, dass man ihn mit Trittsteinen überqueren konnte, und verbreiterte sich unterhalb von uns zu einer Mündung mit Sandbänken und glitzernden Kanälen. Schwarze, weiße und gefleckte Vögel wateten dort herum und pickten nach Würrnem in den Flachstellen, dunklere Vögel kreisten über ihnen am Himmel. »Da.« Ryshad deutete mit dem Finger, als ein großes, dreieckiges Netz plötzlich hoch- und herumgerissen wurde, knapp hinter einem kleinen, mit gelb blühenden Ähren bewachsenen Hügel. »Hinter was ist der denn her?«, wunderte sich Shiv. »Die da.« Ich deutete auf einen kräftigen Vogel mit kurzen Flügeln, ganz schwarz bis auf einen weißen Bauch und einen komischen Schopf roter und gelber Federn hinter jedem Auge. »Seht mal, er hat einen.« Der Jäger hatte allerdings einen aus einer kleinen Schar, die gerade landen wollte, in seinem Netz. Der Rest landete weniger ungeschickt, als ich es von so plump wirkenden Vögeln erwartet hatte, und verschwand in Erdbauten. Ich lachte. »Die haben auch diese Geräusche gemacht.« ‘Gren studierte das Lager des Jägers. »Was machen wir mit ihm?« 321
»Wir gehen dort entlang und lassen ihn in Ruhe«, sagte Ryshad entschieden und deutete auf die Trittsteine. »Wirklich?«, fragte ‘Gren mich und seinen Bruder. »Es besteht kein Grund, ihn zu töten, es sei denn, er verfolgt uns«, sagte ich zu Sorgrad. Er zuckte die Achseln. »Ist schon recht.« Das genügte, um ‘Gren zu den Trittsteinen zu schicken. Sie waren schlüpfrig, grün bewachsen, und Shiv eilte an mir vorbei. »Warte einen Augenblick, ‘Gren.« Die Algen begannen zu dampfen, wechselten beim Trocknen von einem schimmernden Smaragdgrün zu einem stumpfen Grün und beim Verdorren weiter zu Braun, und der endlose Wind trug die zarten Krümel davon. Sorgrad sah angespannt zu, während ‘Gren flussabwärts blickte, um den Jäger weiterhin im Auge zu behalten. »Er würde ihn auf der Stelle töten, nicht wahr?« Unter Ryshads Abscheu verbarg sich Sorge. »Ohne mit der Wimper zu zucken.« »Dadurch ist er uns überlegen.« Ich zuckte die Achseln. »Das hat ihm und mir mehr als einmal das Leben gerettet. Glaub mir, bei so einem Unternehmen bin ich lieber mit ihm als ohne ihn.« »Ich weiß, dass er dein Freund ist, aber ich möchte ihn nicht unter meinem Befehl haben«, sagte Ryshad langsam. »Ich verlange ja auch nicht von dir, dass du ihn magst, und davon abgesehen, würde er auch nie unter deinem Befehl dienen«, sagte ich meinem gut gedrillten Liebsten nachdrücklich. »Er ist allerdings ein Söldner, und er begreift die Notwendigkeit von Disziplin in einem Kampf. Halice würde sich weniger nicht gefallen lassen.« »Solange ihm klar ist, dass das bei mir nicht so ist«, murmel322
te Ryshad, als wir zum Fluss hinuntergingen und ohne Zwischenfall hinübergelangten. Sobald wir alle auf der anderen Seite waren, richtete ‘Gren seine ganze Aufmerksamkeit voraus, der Vogeljäger war vergessen, wie ich erwartet hatte. Auf beiden Seiten erhoben sich Hügel, während wir der Straße landeinwärts folgten. Wir alle hielten Ausschau nach anderen Reisenden, aber als der Tag in den Abend überging, war noch immer niemand aus der einen oder anderen Richtung gekommen. Ich begann mich zu entspannen, bis mir das mit einem Stirnrunzeln auffiel. »Wo stecken denn bloß alle?« Ich wandte mich zu Ryshad und Shiv um, die wieder die Nachhut bildeten. »Wie oft mussten wir uns beim letzten Mal verstecken?« Shiv nickte in Richtung der struppigen Gebüsche entlang des Weges, deren gemeine Dornen zurzeit von dichtem Blätterwerk und den Rosetten rosa überhauchter Blüten verborgen waren. »Nicht mal Ziegenköttel da zum Reintreten, hm?«, meinte Ryshad stirnrunzelnd. Mir fiel auf, dass noch etwas anderes nicht stimmte. »Gab es hier nicht Pfähle, die den Weg markierten?« »Was ist los?« Sorgrad und ‘Gren machten kehrt und kamen zu uns zurück. ‘Gren schlug nach etwas, das um sein Gesicht herumsummte, während ich erklärte. »Verdammte Mücken.« Shiv betrachtete das flache Gelände, wo der Pass, dem die Straße folgte, sich ein wenig verbreiterte. »Sie kommen von dort drüben.« Als ob er ein Signal gegeben hätte, kam eine Wolke der kleinen Blutsauger auf uns zugeschwirrt. »Muss ihre Jahreszeit sein.« Ich verzog das Gesicht. »Beeilt euch, dann lassen wir sie hinter uns«, drängte Ryshad. 323
Shiv musterte noch immer den torfigen Streifen neben der Straße. »Die Menschen hier sind bereit zu töten, um von diesen Felsen hier wegzukommen, weil es so wenig anständiges Land gibt, ist das richtig?« Er deutete auf tiefe Einschnitte im Torf. »Warum lassen sie dann diese Gräben zuwachsen? Dies ist brauchbares Land, wenn man es trockenlegt.« Für mich sah es nicht mal halbwegs brauchbar aus, aber ich glaubte Shiv. Er war in den Kevil-Mooren von Caladhria aufgewachsen, und größere Sümpfe gibt es kaum. »Livak, ich habe deine Säulen gefunden«, rief Sorgrad. »Und hier.« ‘Gren war noch ein Stück weiter als sein Bruder und spähte in den Graben, der neben der Straße verlief. Wir gingen zu ihnen und sahen dunkle Steine, die zerbrochen und fleckig von dem Schlamm waren, der sich um sie sammelte. »Was ist das?« Sorgrad sprang in den Graben, um das näher zu untersuchen, und fuhr mit dem Finger tiefe Meißelspuren nach, die einander überlappende Linien in einem eingemeißelten Quadrat verbargen. »Das war so etwas wie das Wappen eines Clans.« Ryshad musterte die Säule, vor der ‘Gren stand. »Diese hier ist auch verunstaltet.« Shiv zischte vor Enttäuschung. »Usara wüsste vielleicht, wie man aus dem Stein etwas lesen kann.« »Wir haben den falschen Zauberer mitgebracht.« ‘Gren war bereit, einen Scherz darüber zu machen, aber niemandem war nach Lachen zumute. Ich sah die Straße, deren Leere allmählich beklemmend wirkte, hinauf und hinunter. »Gehen wir weiter.« Ich befahl mir, mir nicht allzu viel auszumalen, aber ich hielt trotzdem die Hand 324
am Dolch. »Hier.« Ryshad reichte mir ein paar lange, ölhaltig aussehende Blätter. »Reib dich damit ab. Das hält die Mücken fern.« Sorgrad begann sofort damit, den Straßenrand abzusuchen, bis er eine kleinere, behaarte Pflanze fand. »Die hier sind besser.« Ich lächelte sie beide an und rieb mir mit Sorgrads Grünzeug die Handgelenke und mit Ryshads den Hals ein. Je eher die beiden begriffen, dass ich nicht die Absicht hatte, zwischen ihnen zu wählen, und mich auch niemand dazu bringen konnte, umso besser würden wir miteinander auskommen. Wichtiger war jedoch, dass die Mücken mich danach in Ruhe ließen, ob nun dank einer oder zweier Pflanzen. Das war eine Erleichterung, weil ‘Gren nun nicht auf die Idee kommen konnte, meine Stiche zu zählen und zuzuordnen, nur um zu sehen, wer sich mehr ärgerte, mein Liebhaber oder sein Bruder. Ryshad und Shiv erhöhten das Tempo mit ihren längeren Beinen, bis wir Kleineren halb im Dauerlauf trabten. Niemand beklagte sich, und wir kamen gut voran, bis wir einen steilen Vorsprung aus grauem Fels erreichten, der unser Ziel verbarg. Sorgrad erkannte es auch, er braucht nie mehr als einen Blick auf eine Karte. »Wer geht zuerst?« ‘Gren machte einen Schritt nach vorn, die Augen glänzend vor Erwartung. Ryshad sah mich und Shiv an und nickte Sorgrad dann zu. »Nur ein kurzer Blick, und dann kommt ihr sofort zurück.« »Schön sitzen bleiben, mein Mädchen.« Sorgrad zwinkerte mir zu, und die beiden verschwanden um den Vorsprung herum. »Ich kann nichts hören.« Ryshad legte den Kopf schief. Ich lauschte. »Vögel, Wind.« Aber keine Stimmen, kein Ge325
räusch von Werkzeugen oder die Geschäftigkeit, die wir beim letzten Mal gesehen hatten. Shiv rieb sich die Hände. »Soll ich ...?« Sorgrads Pfiff unterbrach ihn, und wir eilten um die Biegung der Straße. Ich hielt meinen Dolch bereit, Ryshad hatte sein Schwert halb gezogen. »Was in Saedrins Namen ist denn hier passiert?«, rief ich. »Dasts Zähne!« Ryshads Schwert fuhr zischend aus der Scheide. »Ich glaube nicht, dass wir hier irgendwelche Verbündete finden.« Shiv betrachtete das Bild in der Senke zwischen den blumenübersäten Hügeln. Die Straße wurde gesäumt von kleinen Häusern, einige standen verstreut auf der Wiese dahinter. Selbst eingedenk der Tatsache, dass die Elietimm im Allgemeinen eher klein waren, hatte ich schon früher gedacht, dass diese Leute riskierten, sich die Schädel an ihren Deckenbalken anzustoßen. Jetzt erkannte ich, dass die Fußböden der Häuser mit den niedrigen Dächern tatsächlich gut eine halbe Spanne tiefer gegraben waren als der Boden ringsum. Ich konnte das sehen, weil jedes Dach heruntergerissen worden war, die Mauern schutzlos den rauen Winden und dem Wetter ausgesetzt waren. Die Häuser sahen aus, als wären sie alle nach dem gleichen Muster gebaut: ein fensterloser, steingepflasterter Raum an einem Ende; in der Mauer, die ihn von einem größeren, dahinter liegenden Raum abtrennte, war so etwas wie ein Mühlstein eingelassen. Der größere Raum hatte Fenster und einen gefliesten Boden, eine offene Feuerstelle, geschützt von einem aufrecht stehenden Stein, der den Durchzug von den Türen nach vorn und den weiteren Räumen abhalten sollte. Lehmböden und Anbinderinge darin 326
ließen auf Viehställe schließen, und schließlich folgte ein Vorratsraum, der in einem kreisförmigen Arrangement aus übereinander geschichteten Steinen über einem Feuerloch endete. Das konnte ein Kornspeicher sein, ein Brauhaus, eine Waschgrube oder eine andere häusliche Notwendigkeit, doch es waren keinerlei Werkzeuge oder Gegenstände vorhanden, die einen Hinweis darauflieferten. »Seht euch mal nach Hinweisen um, was hier geschehen ist«, befahl Ryshad. »Und behaltet immer einen der anderen im Auge.« »Lasst uns nicht zu viel durcheinander bringen«, setzte ich hinzu. »Man darf nicht merken, dass wir hier waren.« Ryshad nickte, das Schwert bereit, während er die Straße hinunterging, Shiv an seiner Seite. Sorgrad schlug sich auf die andere Seite, die Klinge in der Hand. Ich schätzte, dass es das Sicherste war, wenn ich bei ‘Gren blieb. »Nichts.« Er stocherte mit seinem Messer in dem feuchten Durcheinander eines teilweise verbrannten Strohdaches. »Wer immer das getan hat, hat den ganzen Ort geräumt.« »Nicht ganz.« Ich blickte in ein Haus ein Stück weiter den Weg entlang. Der Hauptraum war schwarz vor Ruß und Holzkohle, wo Holz aufgestapelt und verbrannt worden war. »Wie viele Bäume hast du gesehen, die groß genug waren, um Dachbalken daraus zu machen? Das ist, als würde man hier einen Stapel Münzen schmelzen.« »Also wollte irgendwer seinen Standpunkt deutlich machen.« ‘Gren warf einen Stein nach etwas, das durch den Schlamm des tiefen Grabens huschte, der das Haus von der Straße trennte. »Aber hier ist nichts, was uns sagen könnte, was oder wer.« Ich blickte die zerstörten Häuser an. Vögel, die ungefähr die 327
Farbe und die Größe von Nebelkrähen hatten, bauten ihre Nester auf den eingerissenen Mauern und plünderten das zerstreute Stroh und Gras, das einst die Dächer bedeckt hatte. Ihr Krächzen unterstrich die leere Stille. »Sehen wir mal, was die anderen gefunden haben.« Wir liefen den Weg hinunter zu Ryshad, der vor etwas stand, das die Festung dieser Siedlung gewesen war. Er streckte mir die Hand entgegen. »Glaubst du, du kannst da noch mal hineingehen?« »Wenn du mich schubst, ja.« Das war ein Scherz. Als wir auf der Suche nach Geris herkamen, war die Mauer um dieses beeindruckende Haus aus strengem grauem Stein deutlich höher gewesen als ich. Jetzt konnte ich über die Blöcke steigen, die das Fundament bildeten. »Nicht einen Stein haben sie auf dem anderen gelassen«, murmelte Shiv mit belegter Stimme. »Wie in einer traurigen Ballade«, gab ich ihm Recht. Aber dies war keine gemütliche Geschichte, um einen langen Winterabend zu vertreiben. »Mal sehen, ob hier noch jemand lebt.« Ich machte einen vorsichtigen Schritt über die niedergerissene Mauer, das Messer in der Hand. Ryshad umkreiste langsam das Gebäude vom ehemaligen Wachhaus aus, während Shiv auf die gegenüberliegende Ecke zuhielt. Sorgrad und ‘Gren schwärmten aus, um die andere Seite des Geländes zu erkunden. »Hatten wir das nicht für eine Schmiede gehalten?« Shiv blieb stehen und betrachtete durcheinander liegende Steine, die von Feuer geschwärzt waren. Innerhalb der Mauer hatte es eine ganze Reihe von Gebäuden gegeben, als wir damals dagesessen und spioniert hatten. »Und das müsste dann die Mühle sein.« Ich trat gegen den 328
letzten verkohlten Balken eines Gewirrs von Dachsparren. »Irgendjemand wollte, dass dieses Haus unwiderruflich niedergerissen wurde.« Ryshad wanderte vorsichtig durch die Trümmer, wo die gesamte Vorderfront des Hauses eingerissen worden war, die Seiten- und die Rückwand nur noch gebrochene Umrisse, die kaum hüfthoch waren. »Hier bin ich das letzte Mal hereingekommen, wo das Fenster war.« Ich trat durch die Leere oberhalb der Steine. Zerbrochene Holzrahmen und Hornsplitter waren auf einem Boden verstreut, der mit Äxten zerhackt und aufgebrochen war. Die niedrigen Stümpfe der inneren Wände schützten durchweichte Haufen grauer Asche, die schwarze Flecken auf den hellen Fliesen hinterließen. Ich schob mit dem Stiefel ein Stück Holz beiseite, und darunter kam ein leuchtend weißer Umriss zum Vorschein. »Ich würde sagen, seit der Katastrophe ist niemand mehr hier gewesen.« »Aber was war das für eine Katastrophe?«, wunderte sich Shiv. »Oder wer«, sagte Ryshad grimmig. Ich konnte es mir denken. Auf diesen Fußböden hatten Teppiche gelegen, es hatte schön gewebte Wandbehänge gegeben, polierte Steintische. Eine Familie hatte hier gelebt und noch viele andere innerhalb des Geländes und in dem Dorf dahinter, und sie hatten ein für diese steinige Gegend gutes Leben geführt. Jetzt war niemand mehr da, nur noch Ungeziefer, das in den Abflüssen lauerte, und die nistenden Vögel, die ihre Küken in einer stillen Ecke aufzogen. Wohin waren die Menschen ausgeflogen? Oder hatte man sie wie die fetten kleinen Vögel am Flussufer eingefangen? Ryshads Gedanken folgten derselben Spur. »Ich kann keine Toten finden, nicht mal Knochen«, sagte er, als er zu mir kam. 329
»Ist das nun gut oder schlecht?« Shiv war sich nicht sicher, und ich hatte keine Antwort. Ryshad sah auf. »Wo ist Sorgrad? Oder ‘Gren, wenn wir schon dabei sind.« »Du hast nur befohlen, irgendeinen im Auge zu behalten«, erinnerte ich ihn. »Ich wette, sie können einander sehen.« Ich pfiff auf den Fingern den Pfiff, den wir drei schon seit mehr Jahren benutzten, als ich denken konnte. Zwei blonde Schöpfe erschienen über einem Kamm hinter der zerstörten Festung, und Sorgrad winkte uns. »Kommt mal her.« »Nach was wolltet ihr denn da oben suchen?« Zu meiner Erleichterung war Ryshads Tonfall milde. »Ziegenscheiße«, antwortete ‘Gren fröhlich. »Fang eine Ziege, sie meckert, schon kommt jemand angelaufen. Wir wollen Antworten ...« Ich bedeutete ihm zu schweigen. »Was haltet ihr davon?«, fragte Sorgrad, als wir die Anhöhe erklommen hatten. Auf unserem Erkundungsgang waren wir nicht hier entlanggekommen, und so hatten wir den Steinkreis nicht gesehen, den die Brüder gefunden hatten. Das war eine Schande, denn er musste ein eindrucksvoller Anblick gewesen sein, ehe die Quersteine heruntergefallen waren. »Das hier zu zerstören war keine leichte Aufgabe«, meinte Ryshad. Ich brauchte kein Steinmetz zu sein, um das zu erkennen. Jeder Stein musste etwa doppelt so hoch gewesen sein wie ich, massive blaugraue Steine, grob in Form gehauen und mit einem Trick aufgerichtet, den ich mir nicht mal vorstellen konnte. Die 330
gewaltigen Steinfinger waren der innerste Kreis von zahlreichen Ringen aus Gräben und Wällen gewesen. Sobald wir die Anhöhe verlassen hatten, war dies der höchste Punkt auf einer ausgedehnten Grasfläche, die in moosbewachsene Senken und ein paar struppige Gebüsche überging. Ich konnte nichts weiter sehen, bis die Ebene mit den gedämpften Farben der fernen Berge verschwamm. »Wozu diente dieser Ort?« ‘Gren hatte einen Fuß auf einen der umgestürzten Megalithen gesetzt wie ein Jäger, der seine Beute feiert. Zersplitterte Holzstücke und ein abgerissenes Stück geflochtenes Tau lagen achtlos in der Nähe. Vielleicht hatten die Zerstörer damit die Riesensteine zu Fall gebracht. »Wir haben schon mal einen gefunden. Das war ein Begräbniskreis.« Ryshad runzelte die Nase in unbewusster Abscheu. Sorgren kauerte sich nieder und zog beiläufig einen Fingerknochen aus der Erde einer Vertiefung, in der ein Stein gestanden hatte. »Nach Sheltya-Lehre haben die Knochen von Menschen Verbindung mit ihrem Land, und ich glaube nicht, dass diese Alyatimm da anders denken.« Er benutzte den alten Hochland-Namen für die ins Exil Gegangenen. »Ihr Tiefländer seid ja dafür, eure Toten zu verbrennen, aber die Knochen zu nehmen und zu zerstören bedeutet in den Bergen eine Entweihung, eine Kriegshandlung an den Toten.« Ryshad nickte. »Leg das Haus deines Rivalen in Trümmer und grabe seine Vorfahren aus, und niemand wird deinen Sieg abstreiten.« »Falls dies etwas war, was hierzulande als Schrein gilt, wäre es dann nicht eine sehr wirksame Methode, die Magie deines Feindes zu vernichten?« Ich konnte mir nicht vorstellen, dass jemand noch viel Zutrauen zu dem Anführer der braun Unifor331
mierten hatte, selbst angenommen, dass er noch nicht tot war. Sorgrad blickte finster. »Hier werden wir keine Verbündeten finden.« Ich hatte schon das Gleiche gedacht. Trotzdem, ermahnte ich mich streng, wir hatten schließlich Shiv, und das bedeutete Magie, auf die wir bauen konnten, solange er sie herbeirufen konnte, ohne selbst angegriffen zu werden. Außerdem waren wir beim letzten Mal auch ohne Magie hier herausgekommen, dank Ryshads Stärke. Was das anging, ich hatte schon öfter in einer Klemme gesteckt, wenn ich mit Sorgrad und ‘Gren einen riskanten Betrug ausgeheckt hatte. Das hier war nicht anders. Wir hatten unseren Plan, wir würden tun, weshalb wir hergekommen waren, und dann würden wir wieder gehen. Warum brauchten wir noch jemand anders? »Keine Chance auf ein Abendessen«, grummelte ‘Gren. »Oder auf ein Schlupfloch.« Ryshad machte ein finsteres Gesicht. »Irgendwer kommt noch immer her.« Shiv wanderte um den Steinkreis, blieb hier und dort stehen und stocherte in dem Graben herum, der die geheiligte Einfriedung von dem profanen Gelände ringsum trennte. Er deutete auf einen viereckigen Stein, der an einer Seite innerhalb des Kreises stand. »‘Gren, beobachte die Umgebung.« Ich folgte Ryshad, um uns das näher anzusehen, und die Brüder kamen uns nach. Der Stein war ungefähr so hoch wie ein Esstisch in einem Bauernhaus und vielleicht anderthalbmal so lang. In die Oberfläche waren verschlungene Kreise eingeritzt, einige hatten schmale Vertiefungen in der Mitte mit steilen Rändern und waren regengefüllt. Nach dem Gras zu urteilen, das dicht ringsum wuchs, war er von den Zerstörern unberührt geblieben. 332
Ich steckte einen langen Grashalm in eine der Vertiefungen. »Ungefähr eine Handspanne tief.« ‘Gren pustete die grobe Nachahmung eines Bootes aus einem Stückchen Holz und einem trockenen, zusammengerollten Blatt über das Wasser. »Was ist das?« Sorgrad nahm seinen Dolch zu Hilfe und fischte einen tropfnassen Fetzen aus einer anderen becherförmigen Vertiefung. »Die Soluraner sind groß darin, an ihren heiligen Stätten Opfergaben darzubringen.« »Ein Gebet, um ein Schiff sicher übers Meer zu bringen, würde hier wohl mehr Sinn machen.« Ryshad stieß das kleine Boot mit dem Finger an. »Es ist noch nicht lange hier.« Sorgrad wrang das Wasser aus dem nassen Lumpen. »Vielleicht ein Zeichen für ein Baby, von jemandem, der sich eins wünscht, oder dass ein Neugeborenes gesund bleibt?« Mit Bändern war das grobe Tuch zu einer unverkennbar gewickelten Form gebunden. Ryshad ging davon, um den nächsten umgestürzten Stein zu untersuchen. »Was meinst du, wann ist das passiert?« Er wandte sich an Shiv, der seine Runde um den Graben beendet hatte. Der Magier hielt inne. »Weit vor dem letzten Winter.« »Trotzdem kommt immer noch jemand her.« Sorgrad ließ das Babypüppchen in seine Vertiefung zurückfallen. »Loyalität ist schwerer umzubringen als Menschen«, gab ich ihm Recht. Ryshad sah uns an. »Wer auch immer hierher kommt, könnte gut ein paar Antworten für uns haben.« »Und keinen Grund, Ilkehan zu lieben, falls er es war, der das getan hat.« Ich sah auf die Verwüstung um uns her. »Lasst uns eine Falle stellen.« Ryshad winkte uns. »Wir ver333
stecken uns in dem Graben, gut verteilt, bis derjenige, der da kommt, um ein Opfer darzubringen, ganz drinnen ist.« »Und wenn niemand kommt? Das könnte Tage dauern«, wandte ‘Gren herausfordernd ein. »Wie lange wollen wir warten?« »Bis es dunkel wird?«, schlug Ryshad gleichmütig vor. »Für uns ist es ohnehin sicherer, bei Nacht weiterzugehen.« »Wohin?«, entgegnete ‘Gren. »Und es dauert lange, bis die Nacht kommt, mein Freund, so weit im Norden zu dieser Jahreszeit.« »Halt den Mund, ‘Gren.« Sorgrad sah Shiv an. »Falls wir jemanden schnappen, wollen wir nicht, dass er um Hilfe ruft und uns Ärger macht. Was kannst du dagegen tun?« Shiv fuhr sich mit den langen Fingern durchs Haar und sah ihn nachdenklich an. »Ich will innerhalb des Kreises keine Magie wirken, so viel ist sicher, aber ich kann ihn in Stille einhüllen.« Sorgrad nickte. »Innerhalb der Steine sollte besser kein Spruch wirken. Zwei Leute, die feststellen, dass sie sich gegenseitig nicht hören können, werden sich bestimmt darüber wundern.« »Das ist es nicht.« Shiv schüttelte den Kopf. »Als wir das letzte Mal hier waren, gab es so eine Art ätherischen Schutz, der losging wie eine Tempelglocke, als ich gerade anfing, Magie herbeizurufen.« »Ich kann einen Zauber singen, um uns zu verbergen.« Ich zog ein gefaltetes Pergament aus meiner Gürteltasche. Während Pered jede Einzelheit auf Shivs Landkarte eingetragen hatte, hatte ich anscheinend sinnlose Worte aus den Balladen des Waldvolkes geklaubt und abgeschrieben, deren Verse etwas von 334
Verzauberung sangen. Guinalle hatte darauf beharrt, und in Anbetracht der Umstände hatte ich nicht widersprechen wollen. Außerdem war ich diejenige, die Recht gehabt hatte, als ich darauf bestand, dass sich in den Weisen, die in seliger Unwissenheit von Barden wie meinem Vater gesungen wurden, Ätherwissen verbarg. Das gab mir sicherlich das Recht, die Zauberkunst meiner Vorfahren zu benutzen. Sorgrad schnippte spöttisch mit einem Finger gegen das Pergament. »Meinst du, es funktioniert?« Ich streckte ihm die Zunge heraus. »Besser als deine Magie, du Zauberlehrling.« »Lasst uns anfangen.« Ryshad winkte Shiv. »Wir beide einander gegenüber?« »Ich habe Durst«, sagte ‘Gren plötzlich. »Wo ist das nächste trinkbare Wasser?« »Wo ist dein Wasserschlauch?« Ryshad war seine Gereiztheit anzuhören. »Leer.« ‘Gren wedelte aufreizend damit herum. »Füll ihn im Graben«, sagte Shiv kurz angebunden. »Ich kann dafür sorgen, dass es dich nicht vergiftet.« ‘Gren wollte schon etwas einwenden, und ich konnte ihm deshalb keinen Vorwurf machen, als eine Bewegung weit entfernt meine Aufmerksamkeit auf sich zog. »Da drüben ist etwas.« Das beendete das Gezänk, und wir alle duckten uns in den Graben. Ich spähte vorsichtig hinaus, sodass mein Kopf kaum über den Rand lugte. »Das ist Rauch.« Graue Rauchfahnen stiegen teilnahmslos in die Luft und verloren sich vor dem bleigrauen Himmel. Der Wind trug unvorsichtige Rufe zu uns, und ich konnte Gestalten zwischen den 335
Buckeln des unebenen Geländes erkennen. »Irgendwer macht Feuer.« Ryshad erhob sich vorsichtig auf die Hände, um besser sehen zu können. Der Rauch war inzwischen eine deutliche Linie geworden, die über das Grasland zog. »Ich glaube nicht, dass sie hierher kommen.« Ich begann trotzdem leise meinen Zauber des Verbergens zu singen. »Was machen sie da?«, fragte sich Sorgrad, frustriert, weil er nichts sehen konnte. Wir sahen zu, wie die Männer langsam näher kamen, und ich erkannte, dass einige Netze hatten und vor denen ausschwärmten, die schwach glimmende Fackeln trugen. »Sie räuchern etwas aus.« Die dichten Grasbüschel brannten träge mit viel Rauch, aber ohne nennenswerte Flammen. Durch das feuchte Moos in unserem Graben waren wir vor jedem ernsthaften Feuer sicher, aber geräuchert zu werden wie ein caladhrischer Schinken wurde immer wahrscheinlicher. Der drehende Wind trug übel riechenden Rauch zu uns, der in Augen und Kehle brannte. »Da kommt jemand.« Ryshad warf sich flach auf den Bauch. Ich konzentrierte mich auf den Zauber des Verbergens, während ich beobachtete, wie eine Einzelgestalt hinter den Feuerlegern zurückfiel, die auf einen kleinen Pass in den fernen Hügeln zuhielten. Etwas Langschwänziges, Rotpelziges sprang fast unter den Stiefeln des Mannes auf, aber er achtete nicht darauf, als es davonstob. Seine ganze Aufmerksamkeit schien auf Flucht gerichtet, während er auf die umgestürzten Steine zulief. »‘Gren, Shiv, auf die gegenüberliegende Seite. Sorgrad, du nimmst diese Seite.« Ryshad erteilte seine Befehle, und niemand widersprach. Wir verteilten uns in dem Graben, ich zwischen Sorgrad und Ryshad, was mir sehr gut passte. Während ich 336
dahockte und wartete und dabei die ganze Zeit versuchte, unterdrückt meinen Zauber zu singen, überlegte ich, ob ich meinen Dolch gegen eine Hand voll Wurfpfeile tauschen sollte. In meiner Gürteltasche steckte eine kleine Phiole mit Gift, eine dicke Paste in einem stabilen Glas, das mit Wachs und Blei versiegelt und in Leder eingenäht war. Ich entschloss mich, die Tasche loszubinden, sodass die Pfeile zur Hand waren, falls ich sie brauchte. Ich ließ das Gift unberührt. Wir brauchten diesen Mann gesund, wenn er uns Rede und Antwort stehen sollte, und er würde kaum reden können, wenn ihm Schaum vor dem Mund stand. Außerdem wollte ich dieses Gift aufbewahren für die Klinge, die Ilkehans Bosheit ein Ende setzen würde. Wenn sich die Gelegenheit ergab, würde ich mit Freuden sehen, wie er entehrt wurde, wenn das Guinalles Rat war, aber vor allem wollte ich ihn tot sehen. Tot, mit der kleinstmöglichen Chance, dass er sein Schicksal kommen sah oder eine Gelegenheit hatte, es abzuwenden. Ryshad konnte das Gerechtigkeit nennen, wenn er wollte, und vielleicht würde Raeponin ihm zustimmen. Ich wollte Rache, schneller und unmittelbarer. »Wir lassen ihn ganz in den Kreis kommen.« Ryshad machte sich im Graben sprungbereit. Ich machte mich so klein ich konnte, ganz auf meinen Gesang konzentriert. Der Eisländer blickte nicht einmal in meine Richtung. Seine Gedanken waren ganz auf den Stein mit den Vertiefungen gerichtet und darauf, das zu tun, was ihn hierher geführt hatte. Er war stämmig, trug ein grobgewebtes Hemd und eine Tunika, die nicht viel mehr war als ein gefaltetes Stück Stoff, das an den Seiten zusammengenäht war. Er war so blond wie Sorgrad und ‘Gren, doch sein Haar war gröber, mehr wie trockenes Gras als gesponnener Flachs. Eine glimmende Fackel hing schlaff in 337
einer Hand, und ich hoffte, dass der Idiot nicht versehentlich das vergilbte, trockene Gras ringsumher in Brand steckte. »Jetzt«, rief Ryshad im selben Atemzug, wie Sorgrad einen Pfiff ausstieß, und wir alle sprangen auf, um unsere Beute einzukreisen. »Wenn du wegläufst, bringen wir dich um.« ‘Gren machte einen Schritt nach vorn und hielt dem Mann sein eklig scharfes Kurzschwert vor die Augen. »Schrei, und niemand wird dich hören.« Sorgrad hielt sein eigenes Schwert gesenkt, seine Stimme klang anders als die seines Bruders, eher besänftigend. Unser Gefangener schien sie recht gut zu verstehen, trotz all der Generationen, seit sich ihre Blutlinien getrennt hatten. Ereskens Eskapaden im Hochland hatten uns gezeigt, dass die Sprachen des Bergvolkes und der Elietimm immer noch untereinander verständlich waren. Shiv und Ryshad schwiegen, aber sie brauchten keine Sprache, um dem Mann einen Kampf zu versprechen, falls er irgendwelche Dummheiten machte. Er sah sie misstrauisch an, ehe er mir einen scharfen Blick zuwarf. Ich erwiderte ihn so drohend, wie ich nur konnte. Der Mann ließ die Schultern sinken, aber das war nur ein Täuschungsmanöver. Er wirbelte zu mir herum und schwang seine Fackel, sodass plötzlich Flammen auf dem glimmenden Pech aufloderten, und stieß mir das Ding voll ins Gesicht. Ich duckte mich zu einer Seite und riss mein Messer hoch, um ihm den Arm aufzuschlitzen. Ryshad und Sorgrad waren von hinten schon fast auf ihm, und ich wollte ihn nur so weit verwunden, dass er innehielt. Es war sein Pech, dass er immer noch versuchte, mir mit seiner Fackel den Kopf abzureißen. Er 338
schlug damit abwärts, gerade als mein Messer nach oben fuhr, und der Stahl drang ihm geradewegs durchs Handgelenk. Ich fühlte, wie es zwischen den kleinen Knochen knirschte, und hielt fest. Er wich zurück, riss mir dabei den Dolchgriff aus der Hand, und die brennende Fackel fiel ihm aus den gefühllosen Fingern. Ich riss den Arm hoch, um sie abzuwehren, doch sie traf mich trotzdem heftig. »Livak!« Ryshad sah entsetzt auf, während er und Sorgrad den Mann auf dem Boden festhielten. »Schon gut.« Ich rieb mir eine schmerzhafte Beule, aber das war mir lieber, als für den Rest meines Lebens von Narben gezeichnet zu sein. Das geschmolzene Pech war schon kalt und hart gewesen, ehe es mich traf. »Danke, Shiv.« »War mir ein Vergnügen.« Der Magier grinste und trat die Fackel in den Graben, wo sie mit einem schweren Plumps landete. »So viel zum Thema keine Magie innerhalb des Kreises«, bemerkte Sorgrad leichthin. »Was hattest du da von ätherischem Schutz gesagt?« Während Shiv zuerst verärgert und dann verwirrt dreinblickte, packte ‘Gren den Elietimm am Kragen. »Lasst uns unsere Beute außer Sicht schaffen.« Die drei schleppten ihn rückwärts hinter sich her, seine Fersen zogen Linien in das Gras, weil er sich vergeblich mühte, sich festzustemmen. Shiv und ich folgten ihnen, als sie ihn gegen den Stein mit den Vertiefungen drückten. Ryshad presste ihm die Schultern gerade so weit zurück, dass sein Rückgrat unangenehm gegen den harten Stein gedrückt wurde. ‘Gren hielt den Arm, in dem immer noch der Dolch steckte, ohne auf 339
das Blut zu achten, das ihm über die Finger rann. Sorgrad baute sich vor dem Mann auf, Shiv auf der einen, ich auf der anderen Seite. »Ich nehme an, dein Leben ist ohnehin verwirkt, weil du hierher gekommen bist, erst recht, weil du Gaben zurücklassen wolltest.« Sorgrad sprach im Unterhaltungston, während er die Taschen des Mannes durchsuchte und ein besticktes Band fand, das zu einer komplizierten Schleife geschlungen war. »Und nicht nur dein Leben, könnte ich mir vorstellen.« Die Augen des Mannes zuckten wild von einem zum anderen, verzweifelt auf der Suche nach einem Funken Hoffnung. Shiv wirkte überzeugend bedrohlich, mit leicht zusammengezogenen schwarzen Brauen. Unser Gefangener brauchte nicht zu wissen, dass er keine Ahnung hatte, wovon Sorgrad redete. Ich konnte wenigstens so viel verstehen, dass ich einfachen Gesprächen folgen konnte, aber Ryshad war genauso im Nachteil wie Shiv, weil er die Bergsprache nicht verstand. »Lasst uns weitermachen«, sagte ‘Gren mit fröhlicher Bosheit. »Ehe seine Freunde nach ihm suchen.« »Soll ich einen Wahrheitszauber versuchen?«, fragte ich Sorgrad in dem schnellen Umgangstormalin, das in Ensaimin überall gesprochen wird. »Im Augenblick nicht.« Sorgrad wechselte wieder zur Bergsprache. »Du kannst von Glück sagen, dass wir keine Freunde von Ilkehan sind.« Der Gefangene versteifte sich bei diesem Namen. »Erzähl uns, was passiert ist, hier und da drüben«, forderte Sorgrad ihn auf. Der Mann zuckte zusammen, als sein Blick auf den Dolch fiel, der noch immer in seinem Arm steckte. Sein Ärmel war blutdurchtränkt. Er machte entschlossen den Mund 340
zu. Sorgrad nickte mir zu, und ich rasselte die flüssigen Silben eines Spruches herunter, der einen Lügner stimmlos machte, bis er sich für die Wahrheit entschied. Panik flackerte in den Augen des Gefangenen auf, als er sah, dass wir uns auch auf Zauberkunst stützen konnten, und ich lächelte ihn herzlich an. Innerlich war ich entsetzt darüber, wie leicht ich ihn verängstigt hatte. Die Zauberkunst der Elietimm war eine stärkere Waffe als Stahl für ehrgeizige Männer wie Ilkehan. Kein Wunder, dass die Sheltya so resolut darüber wachten, dass niemand aus ihrer Mitte sich von der Macht verführen ließ, die in ihrer Magie lag. »Was ist geschehen?«, fragte Sorgrad erneut. »Ilkehan hat letztes Jahr angegriffen«, keuchte der Mann bitter. »Ashernan hat den vollen Preis für seine Torheit bezahlt, Ilkehan herauszufordern. Als Evadesekke fiel, wurden wir umzingelt. Rettasekke wäre uns vielleicht zu Hilfe gekommen, aber Ashernan hatte den Waffenstillstand entehrt. Olret hielt seine eigenen Grenzen gegen Ilkehan, wollte sie aber nicht überschreiten.« Verzweiflung schmerzte ihn mehr als seine Wunde. »Sein Haus ist verbrannt, seine Linie in Vergangenheit und Zukunft von der Erde getilgt. Wir sind nicht mehr sein Volk, wir haben keinen Hargeard mehr.« Wir bemühten uns redlich, so zu tun, als ob wir verstünden, was er da sagte. Dann ließ ihn Verwirrung zusammen mit seinem Schmerz die Stirn runzeln. »Seid ihr von Rettasekke? Niemand sonst stellt sich gegen Ilkehan. Oder hält eine Sekke im Osten noch aus?« Sorgrad nickte ‘Gren zu. »Wir sind Anyatimm. Unsere Gefährten hier sind aus Tren Ar'Dryen.« 341
Der alte Name für das Bergvolk, die die Vorväter der Elietimm vertrieben hatten, bedeutete für diesen Mann nicht mehr als der alte Name für die Länder im Westen des Ozeans. Verzweiflung erstickte den flüchtigen Hoffnungsschimmer, der über seine kantigen Züge gehuscht war. »Dann bringt ihr uns nur Krieg und euch den Tod.« Sorgrad dachte darüber nach. »Wir sollten also diesen Ilkehan nicht herausfordern?« »Er ist ein Ungeheuer.« Hass verstärkte den Akzent des Mannes. »Er stellt Armeen auf, denen niemand widerstehen kann, und unterstützt sie mit der stärksten Magie dieser Inseln. Als er Evadesekke einnahm, hat er seine eigenen Toten genommen und sie als Brücken über die Sümpfe um die Zitadelle gelegt. Er geht einen Waffenstillstand auf einer heiligen Insel ein und bricht ihn noch am selben Tag. Er hat keine Ehre, aber er behandelt alle freundlich, die still halten, wenn er sich als ihr Oberherr erklärt. Viele unterwerfen sich lieber, als dass sie seinen Zorn riskieren.« Jetzt verzerrte sich das Gesicht unseres Gefangenen vor Ungewissheit. »Er nimmt für sich die Gnade der Mutter in Anspruch, dass ihr Segen in seinem Hargeard wohnt. Er schwört, er sei das Schwert des Schöpfers, geschmiedet in den Feuern dieser Zeit voller Prüfungen. Viele glauben ihm, wie sollten sie auch nicht?« Er meinte das ernsthaft als Frage, aber Sorgrad schwieg, sein Gesicht so sanft wie immer, wenn er darauf wartete, dass ein Gegner die Runen verriet, die er in der Hand hielt. Unser Gefangener schüttelte fieberhaft den Kopf. »Die Berge sprechen mit den Zungen aus Flammen und zerstören Ilkehans Feinde in Strömen aus Eis und Feuer. Wer zaudert, muss hungern und hat keine Wahl, als vor ihm auf die Knie zu fallen, wenn er nicht 342
untergehen will. Er wird Oberherr sein, ob es nun alle wollen oder niemand. Wenn ihr keine Freunde von Ilkehan seid, dann seid ihr sein Feind. Etwas anderes lässt er nicht zu.« Unser Gefangener schwieg. »Also hat Ilkehan Ashernan getötet und herrscht nun über dessen Land?« Sorgrad lächelte verständnisvoll. »Wenn du seine Herrschaft akzeptierst, kannst du im Grunde so weiterleben wie bisher.« Ich erklärte Ryshad und Shiv, die beide inzwischen sichtlich frustriert waren, alles, soweit ich es verstanden hatte. »Also willst du dich nicht mit ihm anlegen. Du denkst sogar, du hättest jetzt schon zu viel gesagt.« Der Gefangene stand reglos und beobachtete Sorgrad misstrauisch. »Ich bringe ihn dazu, mehr zu reden«, bot ‘Gren zuvorkommend an. Er tat so, als wollte er meinen Dolch in der Wunde des Mannes herumdrehen. »Nein.« Ryshad starrte ihn finster an. ‘Gren zuckte die Achseln und zog das Messer mit einer raschen Bewegung heraus. Unser Gefangener rang nach Luft, plötzlich wurden ihm die Knie weich, und das Blut strömte aus der Wunde. ‘Gren drehte das Messer um und schnitt dem Mann in einer einzigen Bewegung die Kehle durch. Er war tot, ehe sein Blut seinen letzten Atemzug erstickte. »Mist!« Ryshad ließ los, und der Tote fiel vornüber ins trockene Gras. ‘Gren kauerte sich nieder und stach mein Messer in den Boden, um es zu säubern. »Das müsste mal geschärft werden, Mädchen.« Er reichte mir missbilligend den Dolch. »Warum hast du das getan?« Shiv war schockiert, Ryshad grollte. 343
‘Gren sah ihn verwirrt an. »Er hatte alles gesagt, was er sagen würde.« Sorgrad war klugerweise einen Schritt zur Seite gegangen, um keine Blutspritzer abzubekommen. »Ihr habt ihn gehört, er war Ilkehans Mann, ob nun freiwillig oder nicht. Wir konnten nicht riskieren, dass er versuchte, sich lieb Kind zu machen, indem er uns verriet.« Dagegen konnte Shiv nichts einwenden, obwohl er das seiner Miene nach gern getan hätte. Ich sah Ryshad mit stummer Bitte an. »Selbst wenn er den Mund gehalten hätte, um seine eigene Haut zu retten, hätte seine Wunde dafür gesorgt, dass die Leute an einem Ort wie diesem Fragen stellen. Dann hätten Ilkehans Adepten ihm die Antworten aus dem Kopf gezogen, ob er uns nun verraten wollte oder nicht.« »Das stimmt allerdings.« Ryshad sah trotzdem noch immer finster drein. »Aber es ist ein feiger Trick, einem Mann die Kehle durchzuschneiden, wenn er nicht damit rechnet.« »Dann ist es aber einfacher«, sagte ‘Gren unerschütterlich. »Sei still.« Es gefiel mir genauso wenig, hier zu streiten, wie es mir gefiel, von den umgestürzten Steinen eingekreist zu sein. »Es wäre vielleicht besser gewesen, ihn nicht hier zu töten, falls dies so eine Art Schrein ist.« »Es ist geschehen, also gehen wir weiter«, verkündete Sorgrad. »Wir wollten hiernach einem Verbündeten Ausschau halten, aber dieser Ashernan ist mindestens genauso tot wie der Hammelbraten vom letzten Jahr. Falls dieser Olret noch immer gegen Ilkehan aushält, würde ich vorschlagen, wir suchen ihn.« Er wandte sich an Shiv. »Wohin?« Der Magier zog langsam seine Karte hervor. »Wenn wir hier 344
sind, ist das die Insel mit Ilkehans Festung.« Er deutete auf eine lang gestreckte, breite Insel mit einer unterbrochenen Kette von Bergen, die sich über sie zog. Ein Fluss schnitt tief in die zentrale Ebene ein. »Kehannasekke.« Sorgrad nickte ungeduldig. »Also, wo ist dieser Olret?« »Rettasekke?« Ich deutete mit dem Finger darauf. ‘Gren betrachtete zweifelnd die Inseln, die in dem großen Stück Meer zwischen uns und der Chance auf einen Verbündeten verstreut lagen. »Wie kommen wir dahin?« »Du sagst, es gibt Furten und Wege über die Sandbänke und Untiefen?« Sorgrad hob fragend eine Augenbraue in meine Richtung. »Wenn wir bei Nacht reisen, müssen wir langsam und vorsichtig sein.« Ryshad lachte ohne jeden Humor. »Ich nehme an, dass ihr beiden genauso gut mit einem Boot umgehen könnt wie Livak?« »Im Hochland gibt es dafür nicht viel Bedarf, mein Freund.« ‘Grens Tonfall war schneidend. Ryshad lächelte ihn an. »Ich bin am Meer in Zyoutessela aufgewachsen, und Shiv stammt aus Kevil. Wir stehlen ein Boot.« »Es ist einfacher, uns von anderen Leuten fern zu halten, wenn wir auf dem Wasser sind.« Ich sah Sorgrad bittend an. »Und es wäre schneller.« »Schon recht.« Die Vorstellung behagte Sorgrad ebenso wenig wie mir. Ryshad betrachtete den Leichnam mit kaum verhohlenem Missfallen. »Wir können ihn nicht hier liegen lassen, bis man Zeter und Mordio hinter uns herschreit.« 345
»Wir haben kein Material für einen Scheiterhaufen, und außerdem wird Rauch Leute anlocken, die nach dem Feuer sehen wollen.« Ich überlegte, was wir tun konnten. Falls Saedrin meinen Anteil an dem Tod dieses Unglücklichen aufschrieb bis zu dem Tag, an dem ich ihm Rede und Antwort stehen musste, würde es mir keine Pluspunkte einbringen, wenn wir den Leichnam respektlos behandelten. »Sein Schatten wird dir nicht dafür danken, wenn du seine Gebeine verbrennst, du unwissender Tiefländer«, tadelte Sorgrad mich. »Sie sollten dort liegen, wo sein Glauben war, trotz all dieses Terrors von Ilkehan.« Auf sein Nicken hin half ‘Gren ihm, den Toten zu einem der Löcher neben einem heruntergefallenen Querstein zu tragen. »Lasst mich.« Shiv breitete seine Hände aus, und die Erde, fest gebacken von über einem Jahr Regen und Sonne, zerkrümelte in frisch umgegrabene Erde und floss über und um den Leichnam. Es zuckte und ruckte in einer ekligen Parodie des Lebens, als der Erdboden sich unter ihm bewegte und der Tote bald nicht mehr zu sehen war. Sorgrad murmelte etwas, das vage nach einem Gebet in der Bergsprache klang, aber zu altertümlich war, als dass ich es verstehen konnte. Ungerührt blickte ‘Gren in die Grube. »Der Schöpfer kann seine Knochen behalten, bis die Mutter seinen Geist wieder zu sich nimmt.« Er benutzte dieselben Begriffe wie der Elietimm. »Misaen und Maewelin?«, riet ich. Diese beiden Götter hatten dem alten Bergvolk genügt, und selbst heutzutage scherte sich das Hochland kaum um den Rest des Pantheons. Shiv holte tief Luft und konzentrierte sich weiter auf die Grube. Die Erde sank ein, glättete sich an den Rändern des 346
Loches und war bald schon so fest, als wäre sie nie angerührt worden. »Nette Arbeit, Shiv«, sagte Ryshad anerkennend von der anderen Seite dieses frischen Grabes. »Und jetzt lass uns gehen und ein Boot klauen.«
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Suthyfer, Wachinsel 3. Vorsommer
Halice kam über den Strand marschiert, die frühe Morgensonne warf einen langen Schatten hinter ihr. »Du übst dich doch nicht in Weitsicht, oder?« Sie schaute in die Pfütze, die die ablaufende Flut glitzernd in den ausgewaschenen Felsen zurückgelassen hatte. »Nein, nein«, versicherte Usara. Er wischte sich den Sand von den Händen. »Obwohl Guinalle glaubt, dass die Arbeit mit einer natürlichen Pfütze es für die Elietimm-Hexer schwieriger machen würde, mich aufzuspüren.« Halice wirkte nicht überzeugt. »Ich dachte, ihr braucht dafür antike Silberschalen und kostbare Tinten.« »Heckenzauberer und Scharlatane können nicht ohne das arbeiten«, erklärte Usara ihr belustigt. »Und zugegeben, Tinte oder Öl macht es leichter, aber ich kann in allem weitsehen.« Halice sah Guinalle an, die sich gegen die Morgenkühle in einen weichen grauen Umhang gehüllt hatte. »Kannst du mit Zauberkunst sehen, wie sie zurechtkommen?« »Ich halte es für das Beste, sie in Ruhe zu lassen«, sagte Guinalle ohne Gefühlsregung. »Shiv wollte sie zu einem Ort bringen, der ein gutes Stück außerhalb von Ilkehans Domäne liegt. Falls irgendein unglücklicher Zufall diesen Hexern mein Interesse an der Gegend zeigt, könnte ihm gerade das den Grund liefern, nachschauen zu gehen.« »Das lohnt das Risiko nicht«, sagte Usara fest. »Für niemanden.« 348
»Du hattest doch nicht das leise Gefühl, dass dieser Ilkehan etwas von ihrer Ankunft gemerkt hat, oder?« Halice blickte über das ruhige Meer, das kaum von einer leichten Welle gekräuselt wurde, vergoldet von der Sonne, die riesig und orange über den Horizont stieg. Die Flut hatte die meisten Kampfspuren fortgewaschen. »Keinen Verdacht.« Guinalle warf ebenso einen Blick nach Norden und Osten zu den nicht zu sehenden Eisinseln. »Leute wie er verdächtigen alles und jeden, und das in jedem wachen Moment«, sagte Halice mürrisch. »Nur so vermeiden sie ein Messer im Rücken.« »Sie haben doch Shiv«, betonte Usara. »Er kann sich an Zauberer von hier bis Hadrumal wenden, falls Ilkehan ihnen an den Kragen will.« »Trotzdem könnte er als sabbernder Idiot enden.« Halice stemmte die Hände in die Hüften. »Nicht, wenn er vorsichtig ist, und das wird er sein«, beharrte Usara. »Und jetzt, da wir zusammengearbeitet haben, braucht es nur mich, Larissa und Allin, um sie zurückzubringen. Wir brauchen nicht einmal Shiv für den Nexus.« »Ilkehan kann Magiern auf diese Entfernung nichts antun, nicht wenn Zauberkunst sie schützt«, setzte Guinalle hinzu. »Solange er nicht irgendwie seine Adepten dazu bringt, ihm zu helfen.« Halice blickte finster zu den Hauptinseln von Suthyfer, die sich hinter dem dunkelblauen Wasser versteckten. »Der beste Weg, dafür zu sorgen, dass Ilkehan nicht merkt, dass ganz in der Nähe Feinde sind, ist, seine Aufmerksamkeit auf den Kampf seiner Leute hier zu richten.« Usara nickte Guinalle zu. »Wir haben schon besprochen, wie wir das am besten bewerkstelligen. Hast du Lust, ein bisschen Magie auszuüben, 349
Halice?« »Ich?«, fragte die Söldnerin verblüfft. »Du kannst doch eine Melodie halten, oder?«, fragte Usara unschuldig. »Einen Marsch singen oder mit einer Schiffsbesatzung einen Shanty?« Guinalle hatte ein Buch in der Hand. Ihre Finger hoben sich blass gegen die altersdunkle Patina uralten Leders ab. Die Blattvergoldung, die einst den Rücken verziert hatte, war längst zu einem unentzifferbaren Schatten verblichen. »Die Zauberkunst in diesen Liedern ist alt, aber nichtsdestoweniger wirksam.« »Was habt ihr vor?« Halice war gegen ihren Willen fasziniert. »Die Piraten haben noch ein seetüchtiges Schiff übrig. Es ist nur eine Slup, aber sie könnte aufs offene Meer durchbrechen«, erwiderte die Edelfrau gelassen. »Wir besprechen gerade, wie wir sie am besten davon abbringen.« Halice schaute wieder übers Meer. »Die Stranddistel, die Wasserlilie und die Seestern verhindern eine Flucht nach Süden. Die anderen drei Schiffe halten hier oben Wacht.« Usara hob die Augenbrauen. »Wären sechs Schiffe im Norden und Süden besser? Vielleicht sogar neun?« Halice verschränkte die Arme und legte den Kopf schief. »Wie?« Usaras Grinsen wurde breiter. »Äther-Illusionen.« »Ich bin sicher, das Jalquezan in der Ballade von Garidar und seinen hundert Schafen erschafft Spiegelbilder, um einen Feind zu verwirren.« Selbst Guinalle konnte sich, müde, wie sie war, ein Lächeln nicht verkneifen. Halice nickte, runzelte aber einen Augenblick später die Stirn. »Es besteht nicht die Möglichkeit, dass diese Hexer uns 350
zum Narren halten mit irgendeiner Zauberkunstmaskerade? Dass sie euch etwas zeigen, was ihr sehen wollt, während gleichzeitig Muredarchs Kerle sich durch den Sund anschleichen?« »Keine Chance.« Guinalle schüttelte den Kopf. »Das ist ein Vorteil der Äther-Fernschau gegenüber der Weitsicht.« »Bist du sicher?« Halice war es offenbar nicht. Ein neuer Gedanke kam ihr. »Falls ihr eine Illusion von ihnen durchschauen könnt, wieso können sie dann nicht auch einfach unseren Trick durchschauen?« Guinalle sah sie beleidigt an. »Weil ich dafür sorge, dass sie es nicht tun.« Usara mischte sich ein. »Halice, bitte, glaub uns, dass wir auf unserem Gebiet genauso kompetent sind wie du auf deinem.« »Natürlich.« Ein reuiges Lächeln erhellte die ernste Miene der Söldnerin, und sie verbeugte sich mit gespielter Feierlichkeit. »Ich bitte um Verzeihung, gnädige Frau Magierin, verehrter Magier. So, und wie funktioniert das nun?« Guinalle hielt das Buch hoch. »Wir überzeugen auf jedem Schiff einen Mann, dass dies sie schützen wird, und dann kann er die anderen mitreißen beim Singen während der Arbeit.« »Dann braucht ihr die Bootsmänner. Sie lieben ihre Schiffe mehr als ihre Geliebten.« Halice streckte ihre muskulösen Arme vor ihre breiten Schultern und schnitt eine Grimasse. »Schön, dann haben wir mystische Schiffe sowie hölzerne, um diesen Hafenratten den Weg zu versperren. Als Nächstes müssen wir einen Plan schmieden, um ihr Rattenloch anzugreifen.« Usara beobachtete Guinalle, die blass geworden war. »Wir müssen bereit zum Handeln sein, sobald Ilkehan stirbt«, sagte er sanft. 351
»Ich wünschte, ich wüsste, wie lange sie dafür brauchen.« Halice blickte wieder aufs Meer hinaus. »Je eher wir angreifen können, desto weniger Zeit hat Muredarchs Bande, um sich zu verschanzen. Andererseits, je mehr wir Temars Heumacher und Sorgrads Hafenkehrer drillen können, desto eher wird das, was wir da haben, einer Truppe ähneln. Nun, damit kann ich jedenfalls anfangen. Lasst mich wissen, was eure Fernschau euch zeigt.« Magier und Adelsfrau sahen Halice nach, die über den Strand wanderte, Schlafenden auf die Füße trat, verärgert Decken wegzog von blinzelnden Gesichtern, die entsetzt waren, als sie feststellten, wie früh es noch war. »Ihr alle, Stiefel anziehen. Wollen mal sehen, ob ihr mit diesen Waffen wirklich so gut seid, wie ihr immer prahlt. Sobald wir Nachricht erhalten, will ich, dass ihr durch diese Piraten fahrt wie die Krätze durch einen Billigpuff!« Usara lächelte, ehe er wieder ernst wurde. »Sollen wir den Kapitän der Mahlstrom fragen, wann der beste Zeitpunkt ist, mit den anderen Schiffen Kontakt aufzunehmen?« Guinalle antwortete nicht, und als der Magier sie anschaute, um nach dem Grund zu sehen, sah er die Verzweiflung in ihren Augen. Er streckte ihr impulsiv die Hand entgegen, aber sie tat so, als sehe sie sie nicht, sondern drückte das alte Liederbuch an ihre Brust wie einen Talisman. Usara wandte den Blick ab und steckte die Hände in den geflochtenen Lederriemen, den er um die Taille trug. Er zögerte, eher er mit einstudierter Beiläufigkeit fortfuhr. »Du sprachst davon, diesen Hexern den Verstand auszutreiben?« Guinalle schloss die Augen, ehe sie mit entschlossener Fassung antwortete. »Die Frage ist, welche Geisteskraft sollte ich 352
zuerst stören?« Verwirrung verdrängte die leichte Verletztheit in Usaras Augen. »Wie bitte?« Guinalle sah ihn an, jetzt war es an ihr, verwirrt zu sein. »Was meinst du?« »Du sprichst von Geisteskräften?« Usara breitete verständnislos die Hände aus. »Das verstehe ich nicht.« »Ich kann mich nicht entscheiden, welche der fünf Kräfte ich zuerst versuchen soll zu unterwandern«, sagte Guinalle langsam. »Fünf?«, fragte Usara mit lebhafter Neugier. »Willst du jetzt alles wiederholen, was ich sage?« Belustigung belebte Guinalles müdes Gesicht. »Bitte erklär mir das«, bat Usara. »Das Gerede von fünf Geisteskräften bedeutet für mich gar nichts.« »Das war das Erste, was ich im Schrein Ostrins gelernt habe. Der geringste Adept hätte das gewusst, ehe ...« Guinalle verschluckte den Rest. »Schön. Es gibt fünf Geisteskräfte, die zusammen den Geist bilden, jedenfalls hat man es mich so gelehrt. Die allgemeine Kraft, das ist die tägliche Intelligenz, die wir im Leben benutzen.« Sie stopfte sich das Liederbuch unter einen Arm und hielt eine ringlose Hand mit abgespreizten Fingern hoch. »Die Vorstellungskraft, die praktische Ideen entwickelt. Die Fantasie, die grenzenlosen Ideen die Zügel schießen lässt. Das Gedächtnis, das Vermögen, sich zu erinnern.« Guinalle klappte den kleinen Finger um und betrachtete die Faust, die sie gemacht hatte, ehe sie die Hand wieder öffnete, als ob sie etwas freilasse. »Zauberkunst bedeutet, dass ein stärkerer und disziplinierterer Wille an den Geisteskräften anderer wirkt. Das hat Aritane euch doch bestimmt erzählt? Du sagtest, du hättest 353
den ganzen Winter über mit ihr gearbeitet.« Usara schüttelte langsam den Kopf. »In der Tradition der Sheltya gibt es nichts Derartiges. Sie vergleichen ihre wahre Magie mit den vier Winden der Runen: Ruhe, Sturm, dem kalten, trockenen Nordwind und dem warmen, feuchten Wind aus dem Süden.« Er seufzte enttäuscht. »Wir müssen wirklich Zeit finden, um uns hinzusetzen und deine anfänglichen Unterweisungen durchzugehen. Wenn wir Entsprechungen zwischen Äther- und Elementmagie finden wollen ...« »Ich fürchte, das muss noch warten.« Guinalle deutete auf die Hütte der Piraten. Temar kam auf sie zu und bahnte sich einen Weg zwischen Männern, die hastig ein zusammengesuchtes Frühstück zubereiteten. »Usara, Allin braucht deine Hilfe.« Er deutete mit der Hand auf die rohe Hütte. »Hat sie etwas von Shiv gehört?« Usara war sofort hellwach. »Nein, nein«, beruhigte Temar ihn. »Allin denkt darüber nach, wie man den Piraten das Leben schwerer machen kann. Sie hat sich überlegt, ob ihr beiden nicht eure Feueraffinität und eure Macht über die Erde verbinden könntet, um die Brunnen und Quellen rings um ihr Lager auszutrocknen.« Usara rieb sich den Bart. »Eine interessante Idee.« »Versucht, ob ihr es schafft«, schlug Guinalle vor. »Das kann bis nach dem Frühstück warten.« Der Magier sah sie an. »Ich könnte etwas zu essen vertragen.« »Gleich.« Sie sah ihm nicht in die Augen, sondern aufs Meer hinaus. »Halice wollte, dass ich bis zu den Schiffen im Süden weitsehe. Temar kann mir einen Moment dabei helfen. Das wird mich auch beruhigen.« Usara sah aus, als würde er gern widersprechen, beließ es a354
ber dabei, Temar einen warnenden Blick zuzuwerfen. »Aber macht nicht zu lange.« Temar sah ihm nach. »Worum ging es dabei?« »Um nichts.« Guinalle wurde rot und streckte Temar eine Hand entgegen. »Hilfst du mir?« In ihrer Stimme lag etwas, dass Temar sich unbehaglich fühlte. Er spähte über das Lager. »Ich sehe Pered dort drüben. Wir besorgen dir erst einmal ein Frühstück, und dann können wir dir beide helfen.« »Halice lässt Pered den ganzen Tag Karten zeichnen.« Guinalle griff nach Temars Hand. »Wir beide können das allein schaffen. Wir haben es früher schon getan.« »Als wir für Den Fellaemion flussaufwärts spähten?« Bei der Erinnerung musste Temar lachen. »Ich wollte sagen, ich hätte das Gefühl, das wäre schon ewig her, aber das ist es ja auch, oder?« »Für mich nicht.« Guinalle verstärkte ihren Griff. Temar stieß hervor: »Ich glaube nicht, dass das klug ist.« »Lass mich doch mal töricht sein, nur für ein Weilchen.« Guinalle schloss die Augen. »Ich möchte mich an etwas erinnern, das besser ist als all dieser Unfrieden.« Erinnerungen hüllten Temar in Frieden und Zufriedenheit ein. Hoch auf einem Hügel über einer unregelmäßig geformten Bucht bot der vollkommene Kreis einer liebevoll geschichteten Bruchsteinmauer Zuflucht vor dem schlimmsten Wetter, das vom Meer heranstürmen konnte. Auf der Landseite, von den vorherrschenden Winden abgewandt, stand ein Tor offen und hieß alle willkommen, die an diesem fernen Ort nach Wissen suchten. Der Pfad zum Tor kreuzte die Linien abgerundeter Fliesen, mit denen die Röhren abgedeckt waren, die das Wasser 355
von einem weiter bergauf gelegenen Brunnenhaus heranführten. Innerhalb der Mauer umgab ein ordendich bearbeiteter Garten jedes der bescheidenen runden Häuser unter ihrem konischen Dach aus Schieferplatten. In der Mitte standen drei größere viereckige Gebäude mit steilem Dach und größeren Fenstern, durch die Licht auf die Adepten fiel, da jetzt, wo die Winterstürme vorbei waren, die Fensterläden abgenommen worden waren. Guinalles Erinnerung tauchte diese Zuflucht in wehmütiges Sonnenlicht. Sie verharrte auf dem einfachen Haus, das sie mit zwei anderen Mädchen geteilt hatte, alle glücklich darüber, den komplizierten Förmlichkeiten der adligen Etikette und den Kleidervorschriften zu entgehen. Im Geiste wanderte sie zu der Bibliothek, wo ihre sich entwickelnde Begabung für Zauberkunst ihr Lob eintrug und nicht ihre Abstammung und Herkunft. Ihre durchdringende Trauer um ihre sanften, lang verstorbenen Lehrer brannte Temar in den Augen. »Ich war so glücklich dort«, sagte sie leise. »Du würdest Bremilayne nicht wiedererkennen«, begann er aufmunternd. »Als ich letztes Jahr dort war ...« »Ich will es gar nicht wissen.« Guinalles Griff war jetzt schmerzhaft. »Wünschst du dir nicht, es könnte alles wieder so sein, wie es war?« Ein Strom von Erinnerungen spülte über Temar hinweg. Eine Balkendecke geschmückt mit grünen Zweigen, ein großes Feuer, das im Kamin prasselte, Seidenstoffe, Juwelen, die im Kerzenschein funkelten, während Ballkleider über den strohbestreuten Boden fegten, Matronen ebenso gewandt wie ihre schlanken Nichten und Töchter. Ihre Partner waren genauso fröhlich gekleidet, goldene und silberne Knöpfe glänzten an 356
Westen und Jacken, die aus schimmerndem Brokat gewebt waren. Flügeltüren öffneten sich in einen großen Saal, in dem Tische gedeckt waren mit jeder Köstlichkeit und Verlockung, die ein Adelshaus aufbringen konnte. Gelächter hallte lautlos in Temars Kopf wider, schwebte über einer fröhlichen Mischung aus Feiern und Flirts, eingerahmt von frommem Dank an Poldrion dafür, dass wieder ein Jahr sicher vergangen war. »Feiertage sind auch nicht mehr so, wie du sie in Erinnerung hast.« Temar versuchte, seine eigenen Erinnerungen an die Sommersonnwende einzublenden, die er in Toremal verbracht hatte. Es war vergebliche Mühe. Guinalle hielt stur an ihrer Erinnerung fest, und sie war wesentlich geschickter darin als er. Temar biss die Zähne zusammen und beschwor das Aufregende und das Hochgefühl der lebhaften, sonnendurchglühten Stadt Toremal herauf. Er rief sich sein Erstaunen über die ausgedehnten Stadtteile zurück, die die alte, ummauerte Stadt, die sie gekannt hatten, zwergenhaft wirken ließen; über die eleganten Paläste, die sich alte und neue Sieurs hatten bauen lassen und die die Stadt mit allem Kunsthandwerk umrahmten, das man mit Gold kaufen konnte. »Die Welt hat sich weitergedreht, Guinalle. Du solltest kommen und es dir selbst ansehen.« »Was ansehen?« Hinter der Maske von Guinalles erbarmungsloser Selbstbeherrschung spürte Temar ihre Trauer um ihre Familie, die schon so lange tot war, Wut auf das Haus, das so lange vergessen war und sie dann enteignet hatte. »Es hat keinen Zweck, um das zu jammern, was verloren ist.« Temar tat sein Bestes, um sein Unbehagen zu unterdrücken, und versuchte stattdessen, Guinalle sehen zu lassen, wie sein eigener Kummer und seine Wut ihren Lauf genommen hatten. »Wir müssen nach vorn schauen, nicht zurück. Tormalin wurde 357
aus den Ruinen des Chaos neu erbaut, wir tun dasselbe für Kellarin.« Wenn das Volk von Kellarin keinen Platz mehr in diesem neuen Tormalin hatte, bei all seiner Hoffnung auf Saedrins Gnade, würde Temar ihm ein neues Heim bauen, eine neue Macht jenseits des Meeres errichten. »Ist es das, worauf wir uns freuen sollen?« Guinalles leise Stimme klang gepresst. »Eine Verhöhnung der Kolonie, die wir geplant hatten, erbaut auf der Barmherzigkeit dieser Sieurs, die deine veränderte, neue Welt beherrschen? Oh, ich habe es versucht, Temar, ich habe es wirklich versucht. Ich verbringe meine Tage damit, Bauchschmerzen zu heilen und Wunden zu verbinden, während die Leute mir kleinliche Streitereien über Schmutzflecken oder stinkende Tiere zutragen. Soll das mein Leben sein? Ich war eine Prinzessin. Tor Priminale war ein Name, der Vorrang in jeder Gesellschaft hatte, geehrt dafür, riesige Ländereien zu bewirtschaften und Tausende von Pächtern zu haben.« »Dem du den Rücken zugewandt hast, wenn ich mich recht entsinne.« Temar hatte Mühe, einen leichten Ton beizubehalten. Er wollte sie nicht in einen hysterischen Anfall treiben, aber, verdammt, Guinalle durfte mit diesem Unsinn nicht davonkommen. »Ich verzichtete auf meinen Rang, um die Kunst der Zauberei zu studieren. Schülerin Larasions, Adeptin Ostrins: Das bedeutet heute nichts mehr«, antwortete Guinalle bekümmert. »Ich kann nicht einmal mehr wieder Anspruch auf meinen eigenen Namen erheben, ich werde einfach an ein Haus weitergereicht, das schon fast ausgestorben war, als wir aufbrachen.« »Dank der Krustenpocken«, sagte Temar kalt. »Diese Seuche und mein Großvater haben mir schon sehr jung eine harte Lek358
tion erteilt, Guinalle. Ich konnte den ganzen Tag und die ganze Nacht heulen und wehklagen, aber mein Vater würde mich in der Anderwelt nicht hören. Keine Brüder oder Schwestern konnten über Saedrins Schwelle zurückkehren, um mich zu trösten. Ich konnte nichts weiter tun, als mit dem Leben zu ringen, das mir gewährt war, um ihr Gedächtnis zu ehren.« »Es ist nur so, dass ich sie alle so vermisse: Vahil, Eisire, den Sieur Den Rannion, seine Mätresse, all die anderen, die niedergemacht wurden in ihrem Blut.« Guinalles spröde Streitlust bröckelte, und eine einzige Träne rann ihr aus den braunen Augen, dunklen Teichen des Unglücks. »Mein Onkel, Den Fellaemion, war ein Synonym für Kühnheit und Erfolg. Er hatte solche Hoffnungen, solche Pläne, aber er sagte mir immer, wenn alles fehlschlüge, führen wir einfach nach Hause. Und wohin gehen wir jetzt? Wohin gehören wir?« Sie lachte bitter. »Du sagst, es hat sich so viel verändert. Aber nicht alles. Wir fliehen vor bösen Eindringlingen und verbergen jeden, der entkommt unter Zaubern, da es nicht mehr als eine Jahreszeit dauern kann, bis Hilfe kommt. Aber wir wachen auf und finden uns verdammt zu einem Leben, in dem jeder, den wir kannten und liebten, längst tot ist, aber dieselben üblen Schurken versuchen noch immer, uns zu töten! Dann muss ich erfahren, dass meine Zauber das Gleichgewicht des Äthers so gestört haben, dass Adepten auf der anderen Seite des Reiches in Verwirrung gestürzt wurden. Und als dieses letzte Hilfsmittel vernichtet war, zerstörte das Chaos unsere Welt, Temar, und es war alles meine Schuld!« »Es ist nicht deine Schuld.« Temar wählte seine Worte mit äußerster Sorgfalt. »Ich weiß, wie schwierig das ist, Guinalle. Ich habe genau dasselbe gedacht, in der Stille der Nacht, und 359
geweint, weil ich keine Antworten hatte, aus reinem Elend. Jedenfalls hat Nemith mehr dazu beigetragen, das Reich zu stürzen, als du je könntest. Du weißt, wie er war.« Er brach ab. »Aber wir leben, und wo Leben ist, muss Hoffnung sein, und wie sehr die Welt sich auch verändert haben mag, wir können noch immer nach Wärme und Beistand suchen, um unsere Wunden zu heilen.« »Können wir?« Guinalle nahm Temars Hände und hielt sie fest. Lebhaft wie ein Wachtraum, erinnerte er sich an sein Begehren, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte, wie nervös er sich bewusst war, dass sie nicht leicht zu erobern wäre wie so viele, die seine vergängliche Leidenschaft in seiner sorglosen Jugend erregt hatten. Die Erinnerung eilte durch seine gewissenhafte Werbung und verweilte auf seiner erstaunten Freude darüber, als sie seinen Kuss akzeptierte, seine behutsamen Umarmungen gestattete und sogar zu mehr ermutigte. »Oh, nicht, Guinalle.« Er versuchte, seine Verlegenheit zu verbergen, aber er spürte, wie ihm die Wangen brannten. »Könnten wir uns nicht gegenseitig ein wenig Trost spenden?«, fragte sie trotzig. »Du hast es gerade nötig, über die Ethik der Zauberkunst zu reden, wenn du dich so benehmen willst!«, sagte Temar verärgert. »Du wolltest doch alles mit mir teilen.« Guinalle tadelte ihn mit einer Erinnerung daran, wie er ihre Nacktheit auf einer verschwiegenen Lichtung entdeckt hatte. »Du wolltest mich heiraten.« »Du hast diese Ehre abgelehnt, Demoiselle«, gab Temar verletzt zurück. Aber die Wunde war nicht mehr so empfindlich 360
wie einst, stellte er mit einiger Überraschung fest. »Jedenfalls hattest du Recht, wir hätten nie mehr als Freunde sein sollen.« Der bissige Hauch von Guinalles unverhohlener Eifersucht überraschte ihn. »Was hat dir Allin denn je getan?« »Oh, nicht mehr als jeder andere Magier. Sie hat nur meine Zauberkunst als eine seltsame Zauberei aus einem vergessenen Zeitalter abgetan, die gut genug zum Heilen ist, aber keine Herausforderung für ihre grobe und grelle Magie.« Da sie durch Zauberkunst verbunden waren, konnte Guinalles Sarkasmus ihre Kränkung nicht verbergen. Temar merkte, dass er nicht gewillt war, Mitgefühl zu empfinden. »Du übertreibst, und das weißt du auch. Usara hat sich den Schädel zermartert, um einen Weg zu finden, wie sich Äthermagie und Zauberkunst verbinden können. Er hat nichts als Respekt für dein Wissen. Bei Saedrins Steinen, Guinalle, Zauberkunst kann einen Zauberer um den Verstand bringen! Verschafft dir das nicht genug Überlegenheit?« »Sobald Usara ausgearbeitet hat, wie er sich gegen solche Dinge verteidigen kann, wie viel Interesse wird er dann noch an mir haben?« Temar sah, dass sie ganz durcheinander über ihre Gefühle für den Magier war. »Wag es nicht, mich zu bemitleiden!«, fauchte sie und ließ seine Hände los. »Wir können nicht zurück, keiner von uns, Guinalle.« Temar rieb sich die Flecken, die ihre Fingerspitzen hinterlassen hatten. »Ich mache das nicht mehr mit dir, nie wieder.« Er schluckte und blickte unwillkürlich über den Strand. Söldner, Freibauern und Seeleute gingen ungerührt ihrer Arbeit nach, während er knietief in schmerzlichen Gefühlen watete. »Wir wollen uns auf 361
das konzentrieren, was anliegt, ja? Debatten über Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft sind vollkommen sinnlos, wenn wir durch die Hände dieser Piraten oder ihrer Elietimm-Freunde tot daliegen.« Einen angespannten Augenblick lang wunderte er sich, ob Guinalle weinen würde, davonstürmen oder ihm ins Gesicht schlagen. Stattdessen gewann ihre gewohnte Selbstbeherrschung die Oberhand, und sie hielt ihm die Hand hin. »Halice wird wissen wollen, was die Weitsicht uns gezeigt hat.« »Temar überlegte ernsthaft, ob er die Hand nicht nehmen sollte. Dann dachte er daran, was ihn seine Vergrämtheit in der Vergangenheit schon gekostet hatte. Er hatte seine Ätherstudien abgebrochen, um es Guinalle heimzuzahlen, dass sie seine jugendliche Liebe zurückgewiesen hatte, zum Beispiel. Wenn er das nicht getan hätte, könnte er jetzt diese Weitsicht allein durchführen. Wenn er wirklich diese Menschen als ihr Sieur führen wollte, musste er wissen, was ihr Feind tat. Temar biss die Zähne zusammen, nahm Guinalles Hand und versuchte, jede Abwehr aufzubringen, die sie ihn gelehrt hatte, falls ihre Gefühle wieder die Oberhand über sie gewannen. Aber Guinalle hatte ihrem eigenen inneren Aufruhr den Rücken gekehrt. Ihr suchender Geist erhob sich hoch über die Inseln von Suthyfer, gerichtet auf den Widerhall von Hoffnungen und Wünschen, die durch den unsichtbaren Äther wisperten. Ihre Zielstrebigkeit führte sie zur Wasserlilie, auf der Hauptmann und Besatzung aufmerksam Wache hielten. Guinalle wob ihre unzähligen Gedanken in eine Vision des leeren Meeres zwischen den Landzungen, die den Sund zwischen den Inseln markierten und wo das Sonnenlicht glitzernd auf dem Wasser tanzte. Temar sah die Stranddistel beruhigend groß im 362
Wasser liegen, die leuchtend rote Farbe verblasst zu einem matten Korallenrot. Die Banner an den Mastspitzen unterstrichen die Entschlossenheit des Schiffes, jedem Piraten den Weg zu versperren. Die Seestern zog ein Stück entfernt große Kreise im Wasser, Gischt krönte die gekräuselte Oberfläche, während das kleinere Schiff sicherstellte, dass kein Pirat in den verborgenen Buchten der Küste auf der Lauer lag. Ihr Kapitän stand am Fockmast, breitbeinig, wachsam und eins mit seinem Schiff und seinen Leuten. »Sieht alles recht gut aus«, sagte Temar erleichtert. »Wir wollen sehen, was sie sonst noch vorhaben.« Guinalle klang, als ob ihre eiserne Disziplin nie auch nur im Geringeten erschüttert gewesen wäre und schon gar nicht einen Riss bekommen hätte, durch den ihre Verletzlichkeit sichtbar wurde. Temar dankte insgeheim Ostrin für seine lang verstorbenen Adepten und die Art und Weise, wie sie Guinalle ausgebildet hatten, dann zuckte er zusammen, als der schrille Missklang rund um das Lager der Piraten wie eine Alarmglocke in seinem Kopf dröhnte. »Kannst du Naldeth finden?« Das würde Allin ihn bestimmt fragen. »Ich wage es nicht, so nahe heranzugehen.« Guinalle hielt sich aufrecht, der Kiesstrand war eine ferne Vision. »Ihre Zauberkunst zeigt herzlich wenig Feinheiten, aber selbst sie würden mich spüren, wenn ich näher komme. Ich wage es nicht, sie zu ihm zu führen.« »Das da ist ihre Slup, die gerade Segel setzt und startklar gemacht wird.« Temar schloss die Augen, um das Bild, das sich in seinem Kopf bildete, besser studieren zu können. »Sie haben irgendwas vor.« »Er weiß noch nicht genau, womit er es zu tun hat.« Guinalle 363
sah teilnahmslos zu, wie Muredarch zum Ufer ging. »Aber vorher kann er noch keine Pläne machen.« »Wir haben es hier nicht mit einem Idioten zu tun.« Temar brauchte keine Zauberkunst, um das zu wissen. »Sie kommen nach Norden.« Als Guinalle sprach, stieg Muredarch in ein arg mitgenommenes Langboot, dessen Löcher mit hellem, frischem Holz hastig ausgebessert worden waren. Die Ruderer stießen das Boot in das tiefere Wasser des Kanals. »Seine Hexer haben ihm gesagt, dass wir hier sind.« »Was machen sie denn?«, fragte sich Temar stirnrunzelnd. »Sie warten auf Anweisungen.« Genugtuung färbte Guinalles Gedanken. »Wie es scheint, ermutigt Ilkehan keine Eigeninitiative.« Temar sah zu, wie die Piraten die Slup gegen den Wind zu schieben versuchten, den Larissa behutsam aus der Brise des offenen Meeres spann. »Er wird Verhandlungen anbieten.« Guinalle ließ Temars Hand los. Er schug die Augen auf. »Das sollten wir besser Halice sagen.« Die Reaktion der Korpskommandantin kam unverzüglich und kompromisslos. »Vaspret! Seetang der Dulse ein Zeichen! Sie muss sich so schnell wie möglich auf den Weg machen. Ros! Ruf deine Truppe zusammen, und bereitet euch auf alles vor. Dieser Muredarch will reden.« »Ich komme auch mit.« Temar packte Halice am Ärmel. Sie sah ihn nachdenklich an. »Na schön. Darni! Du übernimmst hier das Kommando. Ich weiß zwar nicht, wie sie hier etwas versuchen sollten, aber das heißt ja nicht, dass sie es nicht tun.« 364
Die Söldner gerieten in Bewegung und ließen Temar und Guinalle zurück, die einander ängstlich ansahen. Usara und Allin kamen aus der Hütte. »Was soll der ganze Aufruhr?«, fragte das Magiermädchen besorgt. »Muredarch segelt los, um mit uns zu verhandeln«, erwiderte Guinalle mit fester Stimme. Usara sah sie aufmerksam an. »Vermutest du eine Täuschung dahinter?« Guinalle runzelte die Stirn. »Ich glaube nicht.« »Ich würde deine Anwesenheit schätzen.« Temar sah von Allin zu Usara. »Euer beider. Nur für den Fall.« »Du wirst mich brauchen.« Larissa war unbemerkt herangekommen und stand ein paar Schritte entfernt. Temar war unsicher. »Das wird Darni nicht gefallen.« »Darni ist nicht mein Kindermädchen«, fauchte Larissa. »Nein, ich meine, dann hat er keinen Magier mehr, wenn er einen braucht oder wenn wir ihm eine Nachricht zukommen lassen müssen.« »Jeder Magier kann sich mit Darni in Verbindung setzen«, sagte Larissa rasch. »Er hat eine Affinität, nur ist sie zu schwach, um von Nutzen zu sein.« Damit erwischte sie Temar auf dem falschen Fuß. Ehe ihm noch etwas einfallen wollte, sagte Allin: »Es ist schon gut. Ich bleibe hier.« Temar fand, dass beide Aussichten ihn nicht gerade entzückten, Allin in eine mögliche Gefahr zu bringen oder sie hier zu lassen, wo unvorhergesehener Ärger über sie hereinbrechen konnte. »Es ist besser, wenn du Larissa mitnimmst«, fuhr Allin fort. 365
»Schließlich ist die Luft ihr Element.« »Na schön«, stimmte er widerwillig zu. »Kommt schon!« Halice wartete bei einem Langboot am Ufer. »Wir wollen den Bastard erwarten. Er soll wissen, dass wir jede seiner Bewegungen bereits kennen.« Temar eilte über den Strand, flankiert von Usara und Larissa. Er schaffte es, sich nicht nach Allin umzudrehen, ehe sie an Bord der Seetang waren. Dann sah er sie dicht neben Darnis beruhigend massiger Gestalt. »Er wird schon auf sie aufpassen.« Usara stand neben ihm an der Reling. »Und sie auf ihn, zweifellos.« Temar drehte sich um und sah zum Achterdeck, wo Larissa bei dem Steuermann stand, unverhohlenen Triumph im Gesicht, während sie die Arme hob und ein Geflecht saphirblauer Macht beschwor, das die Segel blähte. »Was will sie eigentlich beweisen, 'Sar?« »Ich bin mir nicht sicher.« Der Magier hielt inne. »Ich glaube, sie weiß es selbst nicht genau.« Was immer auch Larissa antrieb, Temar musste ihre Fähigkeiten anerkennen, als ihre Zauberei die Seetang so schnell durch die Wellen schob, dass es unter dem Bug schäumte. Als die Piraten mühsam ihr träges Schiff durch den ganzen Sund geschleppt hatten, wartete die Seetang schon so lange, dass Halice sichtlich ungeduldig wurde. »Endlich«, murmelte sie, als der Ausguck der erwartungsvollen Versammlung auf dem Achterdeck Bescheid gab. »Sie sehen erschöpft aus«, stellte Temar zufrieden fest. Larissa kicherte mit strahlenden Augen. »Soll ich die Brise ein wenig lockern?« »Kannst du sie einkreisen?«, fragte Temar. »Sicherstellen, 366
dass sie keine Chance haben zu entwischen?« »Oh, ja«, sagte Larissa selbstbewusst. »Dämpfe dein Zauberlicht«, sagte Usara plötzlich. »Er weiß, dass wir Magie haben, aber nicht unbedingt, wer die Magier sind.« Larissa errötete und tat, wie ihr geheißen. »Temar.« Halice deutete mit dem Kinn auf die Schlangenfahne der Piraten, die am Mast der Slup auf Halbmast gesetzt wurde. »Zeit, den Sieur zu spielen, so gut du kannst.« Temar holte tief Luft, als die Söldnerin ihn die Stufen zum Hauptdeck hinunterführte. Usara folgte ihm zur Seite des Schiffes, während der Steuermann auf Halices Nicken hin die Seetang geschickt näher an die Piraten legte. Aber nicht zu nah. Nicht in Reichweite eines Enterhakens. »Das ist das Spielzeug eines reichen Mannes«, bemerkte der Bootsmann der Seetang. Er deutete auf die vergoldeten Schnitzereien am Heck der Slup, das Bleiglas in den Fenstern der einzigen, engen Kajüte. Das darüber liegende Achterdeck war kaum groß genug, dass der Steuermann Platz hatte, die Pinne zu bewegen, doch es war geschmückt mit zwei auf Hochglanz polierten Lampen und einem geschnitzten Delfin, der an der Heckreling entlangsprang. Auch unter dem Bugspriet sprang ein Delfin herum. »Wen er wohl umgebracht hat, um da ranzukommen«, murmelte Temar. Er holte tief Luft, um seinen Magen zu beruhigen. Jetzt war nicht die Zeit, seekrank zu werden. Muredarch stand mittschiffs am Seitschwert, das hochgezogen oder abgelassen werden konnte, um den Tiefgang des Schiffes den Gewässern anzupassen. Er winkte Temar herrschaftlich zu, sodass die Sonne blaues Feuer von seinen Diamantringen aufblitzen ließ. 367
»Gekleidet wie für eine Audienz bei Tadriol, was?« Usara lehnte an der Reling und musterte seinem Feind. »Er hat mit Sicherheit an Reichtum gewonnen, seit er diese Hexer in Kalaven kennen gelernt hat«, sagte Temar. »Was ist?« Er sah, wie der Zauberer vor Konzentration die Stirn runzelte, und das trug nicht dazu bei, seine Nervosität zu beruhigen. »Ich sorge dafür, dass das Wasser gegen Larissas Zauber arbeitet.« Usara richtete seine Aufmerksamkeit weiter auf das Wasser. »Nur damit sie auf keinen Fall irgendwo ohne unsere Erlaubnis hingehen.« Guinalle erschien an Temars Seite. »Kein Elietimm an Bord.« »Gut zu wissen.« Wenn Temar auch nicht damit gerechnet hatte. »Junker«, rief Muredarch. »Ich biete Euch Verhandlungen an. Bitte an Bord kommen zu dürfen.« »Nein!« Temars Antwort kam einen halben Atemzug vor einem ablehnenden Chor auf der Seetang. »Ihr werdet den Sieur D'Alsennin mit gebührender Höflichkeit ansprechen«, bellte Halice. »Messire.« Muredarch knickte in der Hüfte ab, und die spärliche Besatzung der Slup tat es ihm nach. Temar war sicher, dass er verspottet wurde, und Zorn vertrieb die Unruhe in seinem Magen. »Kannst du einen Wahrheitszauber für mich wirken?«, murmelte Temar Guinalle zu. »Nur kurz.« Sie nickte und trat einen Schritt zurück, wobei sie leise einen Zauber vor sich hin sprach. »Das ist nah genug«, warnte Halice vom Deckshaus her, als das Piratenschiff beinahe in Reichweite der Balken kam, die den Anker der Seetang abstützten. »Also, Messire D'Alsennin, was kann ich für Euch tun?« Muredarch stand auf. Seine kräftigen Beine steckten in 368
redarch stand auf. Seine kräftigen Beine steckten in schwarzem Tuch und polierten Stiefeln, und er stand breitbeinig da und hielt mühelos auf den schwankenden Planken das Gleichgewicht. »Ihr wolltet verhandeln.« Temar legte die Hände leicht auf die Reling. »Es ist an Euch, mir etwas anzubieten, nicht wahr?« »Ich habe das Gefühl, ich sollte mich erst einmal erklären.« Muredarchs resonante Stimme hallte gut hörbar über das Wasser. Der Mann konnte sich wahrscheinlich sogar in einem Hurrikan verständlich machen, dachte Temar. »Ihr haltet mich zweifelsohne für einen Piraten.« Muredarch hob eine Hand, obwohl niemand auf der Seetang widersprach. »Nun, vielleicht. In meiner Jugend, ja, da streunte ich unter den freien Händlern, aber das ist vorbei. Kaperbriefe, Kopfgeld und so weiter, das ist das Spiel eines jungen Mannes, und meine grauen Haare könnt ihr sicherlich auch von dort aus sehen, nicht wahr?« Sein bescheidenes Lachen forderte sie auf, es ihm gleichzutun. Temars Miene blieb steinern, Usara stand ungerührt neben ihm, Guinalles Ausdruck war nicht zu deuten. Der Pirat musterte ihre Gesichter und blickte dann zu Halice, die hoch auf dem Achterdeck stand. Seine Miene verhärtete sich, und Temar drehte sich um und sah, dass die Söldnerkommandantin sich keine Mühe gab, ihren Abscheu zu verbergen, während sie höhnisch auf den Piraten hinuntersah. »Ich suche nach einer neuen Rolle für mich, etwas, das besser zu meinen Jahren und meiner Erfahrung passt«, fuhr Muredarch im Unterhaltungston fort. »Diese Inseln gehören niemandem, und ich hätte Lust, mich hier niederzulassen.« Er lächelte liebenswürdig, ehe er mit der ersten Andeutung einer Drohung hinzusetzte: »Ihr könnt mir kein Gesetz von Euch zeigen, das 369
hier gilt, ebenso wenig wie Tadriol.« Temar ging nicht darauf ein. Halice mochte nicht viel von seiner Ausbildung bei den Kaiserlichen Kohorten halten, aber selbst er wusste es besser, als einen Kampf auf hoffnungslosem Grund anzufangen. »Und was genau schwebt Euch vor?« Muredarchs Lächeln wurde mit seiner wachsenden Zuversicht breiter. »Ihr werdet Handel über das Meer treiben wollen, wenn Ihr Eure Kolonie auf die Beine gestellt habt. Ich könnte eine schöne Frischwasserstation für Euch hier betreiben, einen Platz, wo man Ladungen vielleicht kaufen und verkaufen kann. Das würde die Reise für alle Beteiligten verkürzen. Sicher wäre das einen Anteil an dem Gewinn wert, den Ihr einstreichen würdet? Guter Ankerplatz, sicheres Lagern und die richtigen Männer, um zu gewährleisten, dass jeder ehrlich bleibt, das wäre für die meisten Kaufleute, die ich kenne, ein reizvolles Angebot.« »Ich finde, es ist ein bemerkenswertes Angebot von einem Piraten, der unsere Schiffe überfällt«, erwiderte Temar mit kalter Höflichkeit. »Und wenn ich nun einwilligte, Eure Schiffe in Ruhe zu lassen? Ihr stört mich nicht, ich störe Euch nicht. Nein, wartet, ich kann noch mehr für Euch tun.« Ein vertraulicher Ton schlich sich in Muredarchs Stimme. »Ihr werdet in ein paar Jahren ein mächtiger Rivale Inglis' sein, wenn Ihr klug seid. Das wird ihnen nicht gefallen, oder? Es wird Kaperbriefe für Eure Schiffe geben, sie werden schon einen Grund dafür finden. Falls ich aber nun hier säße, mit ein paar guten Schiffen zur Verfügung, könnte ich aus den Jägern Gejagte machen. Wenn ich den Inglis-Handel auf Euer Nicken hin verkürze, könnte ich Eure Märkte genau dann verbessern, wenn Ihr es braucht.« 370
»Ich glaube nicht«, sagte Temar kalt. »Ihr wisst, was man um Inglis herum sagt, nicht wahr? Und in Kalaven und Schwarzenfels?« Muredarch forderte ihn mit vorgerecktem Kinn heraus. »Dass Ihr ein ungebildeter Bursche seid, der ein Zipfelchen eines riesigen Landes festhält, mit Gold in den Flüssen, das man nur herauszuholen braucht, und Edelsteinen im Ufersand. Sie sagen, Land und Reichtümer gehören dem, der es sich nimmt, jedem, der den Mut hat, das Meer zu überqueren. Was wollt Ihr tun, wenn Schiffe an Eurer Küste landen und die Leute sich eine eigene Stadt bauen? Ich könnte alldem Einhalt gebieten, ehe es beginnt, und niemand wird mich als Schwächling abschreiben.« Die Drohung in seinen letzten Worten war unmissverständlich. Temar entgegnete ebenso eindringlich: »Warum sollte ich Euch irgendetwas gewähren, wenn Ihr die Waren meiner Kolonie gestohlen habt und unschuldige Menschen als Sklaven haltet?« »Ihr habt vielleicht Nerven!«, lachte Muredarch. »Ihr wollt diese Leute zurück? Sie bauen gerade meine Handelsstadt für mich.« Seine Miene wurde verschlagen. »Nun, vielleicht ist das ein Tausch, über den wir diskutieren können. Ich brauche Seil, Segeltuch und Pech für den Anfang.« »Ihr missversteht mich«, sagte Temar kalt. »Ihr gebt Eure Gefangenen heraus und Eure Beute, und dann überlege ich mir, ob ich Euch am Leben lasse anstatt Euch für Eure Verbrechen zu hängen und den Krähen zum Fraß vorzusetzen.« »Es gibt Nerven, und es gibt Torheit, mein Freund.« Muredarch sah Temar finster an. »Glaubt nicht, Ihr habt hier das Ruder in der Hand. Was bringt Euch auf die Idee, Ihr könntet mich aufhalten?« 371
»Die Verhandlung ist beendet.« Temar wandte sich an Halice und versuchte, das herrschaftliche Gebaren seines längst verstorbenen Großvaters nachzuahmen. Sie nickte und drehte sich zum Steuermann. »Ihr seid jung und dumm, Junge«, brüllte Muredarch wütend. »Eine Schande, dass Ihr es nicht mehr erleben werdet, wie sehr Ihr falsch lagt.« So schnell wie die Schlange auf seinem Banner zuckte seine Hand zurück, und er schleuderte ein Messer auf Temar. Die kleine Klinge flog kraftvoll und gerade, ehe ein Windstoß sie plötzlich nach oben hob. Als sie ins Wasser fiel, sahen alle, wie die Klinge sich krümmte, verbogen von unsichtbaren Händen, ehe sie in den Tiefen verschwand. Temar schüttelte langsam den Kopf. »Ihr vergesst, dass ich andere Vorteile habe, die Eure Erfahrung und Jahre aufwiegen. Ihr seid genauso ein Gefangener hier wie die Unglücklichen, die Ihr entführt habt. Glaubt nicht, Euer kleines Schiff könnte sich an unserer Blockade vorbeischleichen.« Er machte eine verächtliche Handbewegung auf die Slup, die kaum zwei Drittel so lang und breit war wie die Seetang. »Das würdet Ihr tun, nicht wahr?« Muredarch klang interessiert. »Davonlaufen und Eure Männer ungerührt dem Tod überlassen? Nein, mein Junge, ich gehe hier weg mit allen meinen Männern und Euren Waren, und zwar dann, wenn ich es will.« Der Pirat wirkte nicht im Mindesten beunruhigt. »Ich verfüge auch über Magie, mein Junge.« »Wir segeln.« Temar winkte Halice. Die Seetang schoss vorwärts und entfernte sich von dem Einmaster. Temar eilte aufs Achterdeck, um den Piraten weiterhin sehen zu können. »Ihr dürft kein Zauberlicht sehen lassen«, sagte er besorgt, als Usara sich zu Larissa stellte und ein unerbittlicher Seegang sich auf372
baute, um Muredarch zurück zwischen die Inseln zu treiben. Die Magier sahen einander belustigt an. »Nein, wir passen schon auf«, versicherte Larissa. »Ich wünschte, ich wüsste, dass ich eine Magie in Gang setzen und es einfach dabei belassen könnte.« Guinalle sah zu, wie die Wogen die Slup durch den Sund trieben. »Es ist nicht so einfach, wie es ausschaut«, betonte Usara. »Und ein unbewachter Zauber kann ein Chaos verursachen, glaub mir. Azazir ...« »Magische Theorien können warten.« Halice tippte ihm auf die Schulter. »Und was machen wir jetzt, Messire?« »Er wird die Dinge nicht auf sich beruhen lassen, oder?« Temar kaute an einem Daumennagel. »Wir sorgen dafür, dass er nirgendwo hinkann, und warten ab, womit er das nächste Mal ankommt?« Er sah sie fragend an. »Er glaubt auf jeden Fall, dass du irgendetwas für die Gefangenen im Tausch anbietest«, sagte Guinalle langsam. »Können wir namentlich nach Naldeth fragen?«, fragte Larissa voller Hoffnung. »Nicht, ohne dass Muredarch jeden Preis, den er auf seinen Kopf setzt, verdoppelt«, erklärte Halice scharf. »Ich würde mit ihm überhaupt keinen Handel abschließen, über niemanden«, sagte Guinalle mit offenkundigem Unbehagen. »Er hat nicht die Absicht, sein Wort in irgendeiner Hinsicht zu halten.« »Um das herauszufinden, brauche ich keine Zauberkunst«, sagte Temar, ohne zu überlegen. Er lächelte sie hastig an, doch Guinalle war zu beschäftigt, um es zu bemerken. »Er ist ein reiner Opportunist«, fuhr sie fort. »Kein Dummkopf und auch nicht unüberlegt impulsiv, also dürfen wir nicht den 373
Fehler machen, das zu glauben. Er kann vorausplanen, und das in großem Maßstab, er ist entschlossen, sich selbst zum Herrscher über ein Lehen von einigen Freihändlern auf diesen Inseln zu machen. Er ist zuversichtlich, dass er es schafft. Aber das ist alles, was er vorhat. Er sieht sich zum Beispiel nicht als Herrscher von Kellarin, sondern nur, dass er es umsichtig plündert.« »Wo passen die Elietimm in seine Pläne?«, wollte Temar wissen. »Er hat keine wirkliche Ahnung, womit er es da zu tun hat.« Überraschung und Sorge lagen in Guinalles Antwort. »Er sieht sie als sein Werkzeug und glaubt, dass sie seinen Plänen gegenüber völlig loyal sind.« Sie lächelte freudlos. »Dafür haben sie gesorgt. Soweit Muredarch weiß, ist Ilkehan der Alleinherrscher einer anderen Inselgruppe, der Handelsschiffe und die dalasorische Küste ausraubt genau wie er selbst, nur erfolgreicher darin, im Verborgenen zu bleiben. Er sieht ihn als ebenbürtig und möglichen Verbündeten darin, einen möglichst großen Teil des Seehandels unter Kontrolle zu bringen.« »Und was tun wir jetzt?« Temar sah von Usara zu Halice und zurück. Für Halice schien das keine Frage zu sein. »Wir halten sie fest, bis Ilkehan tot ist. Und dann gehen wir und töten die Meisten von ihnen.« »Können wir nicht ein paar Dinge verhandeln?«, flehte Guinalle. »Nicht genug, um ein Schiff seetüchtig zu machen, aber so viel, um wenigstens ein paar Menschen sicher da herauszuholen.« »Das ist keine Partie Rabe«, warnte Halice. »Versuch nicht zu schlau zu sein, wir haben es hier mit echtem Leben und Tod zu 374
tun.« »Wir wollen doch, dass er sich auf uns konzentriert, nicht wahr?« Temar sah sie an. »Selbst mit der Hilfe dieses anderen Elietimm-Führers wird es Zeit brauchen, bis Livak und Ryshad Ilkehans Festung erreichen. Dann müssen sie einen Weg finden, ihn zu töten. Wenn wir ihn am Reden halten, können wir diesen Piraten vielleicht aus dem Gleichgewicht bringen. Dann wird unser endgültiger Angriff umso wirksamer, wenn wir sie auf dem falschen Fuß erwischen.« Halice nickte mit funkelnden Augen. »Ein guter Punkt für jemanden, der bei den Kaiserlichen Kohorten ausgebildet wurde.« »Wenn Muredarch sich auf uns und unsere Handlungen konzentriert, werden diese Hexer dasselbe tun«, sagte Usara ernst zu Guinalle, die noch immer erregt wirkte. »Das dürfte Ilkehans Aufmerksamkeit nach Süden lenken und die Chance verringern, dass er einen Angriff in der Nähe erwartet. Möchtest du dich setzen? Shiv hat mir gezeigt, wie er Livak geholfen hat ...« Aber die Adelsfrau schüttelte seine Hand ab, stellte sich ganz ins Heck der Seetang und schaute über die Wogen nach Suthyfer. »Komm, 'Sar.« Temar duckte sich, als das Besansegel sich über ihm unter Knattern von Segeltuch und Tauwerk entrollte. »Wir fahren zurück zu unserer Insel und überlegen uns, wie wir Muredarch am besten das Leben schwer machen, ja?«
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Kapitel 5
Überlegungen zu den Alten Völkern vorgestellt bei der Antiquarischen Gesellschaft von Selerima von Gamar Tilot, Gelehrter der Universität zu Col Als Studenten der Geschichte in unseren verschiedenen Graden sind wir angehalten, die alten Völker unserer Länder als etwas Gesondertes zu betrachten, da eine unüberwindliche Kluft der Zeit ihr Leben von dem unseren trennt und sie so zu etwas Unbekanntem macht. Warum müssen sie so ganz anders sein als wir? Ich behaupte, dass diese Völker genauso leicht zu verstehen sind wie der Herr, der hier in diesem Saal neben Ihnen sitzt. Also denken Sie über die Frage einmal nach. Das alte Waldvolk ist durch die Balladen der wandernden Minnesänger und die Geschichten bekannt, die wir unseren Kindern erzählen. Wir unterhalten uns mit Sagen von Einhörnern und Greifen, mit Mythen, in denen Frauen aus Bäumen geboren werden und überirdische Stimmen in dunklen und geheiligten Hainen zu hören sind. Wir stellen uns die Menschen, die mit solchen Wundern leben, unschuldig wie Kinder vor, frei von Besitz, fröhlich in Romanzen, die nicht durch Heirat oder Siedlungen verkompliziert werden. Ein solches ideales Leben ist ein Wunder, das sich unserer Kenntnis entzieht. Aber wer singt uns diese Lieder vor? Natürlich wandernde Barden, die aus dem Wald kommen und dasselbe rote Haar haben, wie es in jedem Refrain besungen wird. Sie lassen ihre Familien im Wald zurück, wo sie nicht in träger Muße leben, 376
sondern in den bescheidenen Umständen wie alle, die unter Wurzeln und Zweigen nach Nahrung suchen müssen. Barden, die die Romanzen von Viyenne oder Lareal singen, bejubeln kein verlorenes Ideal, sondern erbitten lediglich Geld, um ihre Kinder zu kleiden und ihre Bäuche mit Brot zu füllen. Ihre Lieder sind keine mystische Geschichte, sondern müßige Unterhaltung, um ihre Leute von ihrer eigenen kalten und hungrigen Existenz abzulenken. Sehen Sie sich in Ihrer Stadt um, und Sie werden viele kupferrote Schöpfe sehen. Über die Generationen hinweg haben viele Männer dem Wald abgeschworen für die praktischen Bequemlichkeiten eines gesicherten Lebens und Handelns. Das Waldvolk ist kein Musterbeispiel für ein edleres Zeitalter, es sind Eure Händler, Eure Diener. Wir alle sorgen uns um unsere Kinder, unseren Wohlstand und die Nachwelt. Wer sich dazu hingezogen fühlt, verehrt dieselben Götter. Warum sollten wir denken, dass es nicht immer so war? Man kann schließlich einen Baum anhand seiner Früchte bestimmen, und der Apfel fällt nie weit vom Stamm. Denken Sie an das Bergvolk. Lesen Sie die Sagen, die in den Bibliotheken von Vanam und Inglis aufbewahrt werden, und Sie sehen ein Volk, das so fremd und abweisend ist wie die Gipfel von Gidesta. Unverständliche Mythen erzählen von Männern, so unnachgiebig wie Stein, gefährlich wie Drachen, die angeblich in diesen Gipfeln hausen sollen. Gelehrte nicken weise über das rave Klima, das die Menschen so rau macht. Die Minenarbeiter und Fallensteller in den Hügeln und Wäldern nördlich des Dalas würden über eine solche eigenwillige Unwissenheit nur lachen. Wo haben die Städte des nördlichen Ensaimin ihre bekannten Fähigkeiten im Schmelzen und Schmieden erworben, wenn nicht bei den zahllosen Söhnen mit Bergblut, die sich in sanfterer 377
Umgebung niedergelassen und dort geheiratet haben, ganz zufrieden mit ihrem Schicksal? Es kann keine so großen Unterschiede zwischen uns geben, wenn sie nicht diejenigen trennen, die das ehrbare Ehebett miteinander teilen. Geschichten von alten Kriegen unter den schneebedeckten Gipfeln mögen einem einen Schauer über den Rücken jagen, wenn sie am Kamin erzählt werden, aber die Wahrheit ist, dass das Bergvolk genauso familiengebunden und genauso wenig eine Bedrohung darstellt wie das Messer, das Sie benutzen, um bei Tisch Ihr Fleisch zu schneiden. Was aber ist mit dem Volk der Ebene? Das ist das größte Geheimnis von allen, so wird es jedenfalls in den Ecken gemunkelt. Wir sehen keine Spur von ihm, betrachten nur ehrfürchtig die Erdwälle, die ihre heiligen Stätten umgeben, mächtige Grabhügel, die sie über ihren verehrten Toten errichten. Herren wie Sie graben darin und wundern sich über Kupfertöpfe und Äxte. Warum wurden sie begraben? Glaubten sie wirklich, dass solche Besitztümer mit auf Poldrions Fähre genommen werden dürfen? Jede Entdeckung wirft mehr Fragen auf als Kieselsteine. Die mit Erde bedeckten Knochen können nicht sprechen, also denken wir uns Antworten für die schweigenden Schädel aus. Genau wie Kinder Ungeheuer aus ihrer Angst und den Schatten erschaffen, die das Kerzenlicht wirft, so weben wir die Dunkelheit der Unwissenheit in die Mythen des Zaubervolkes, den Herren eines Reiches jenseits des Regenbogens, den Herrschern der friedlichen Länder aus Wasserwiesen und Meeresstrand, das Volk der Ebenen verschwunden im Dämmerlicht, wohin wir ihm nicht folgen können. Nichts kann weiter entfernt von der Wahrheit sein, genauso wie kein Volk uns näher stehen könnte. Die Wiesenfurten von 378
Dalasor mögen weit weg und unheimlich sein, doch die prosaischen Pflüge von Caladhria und Ensaimin fördern bei jeder Frühjahrsaussaat Kupferringe und Broschen zu Tage. Wir leben zwischen den alten Behausungen des Ebenenvolkes, wir können sie nur deshalb nicht sehen, weil unsere Scheunen und Häuser, Straßen und Schreine auf ihren Überresten erbaut sind. Wir können die Abkömmlinge dieses alten Volkes nicht sehen, wie wir die des Waldes und der Berge sehen können, weil diejenigen, die auf den Ebenen geboren wurden, wir selbst sind. Wie wir für ungezählte Generationen auf diesen weiten, fruchtbaren Ländern gelebt haben, so haben wir unsere primitive Lebensweise und Überzeugungen hinter uns gelassen und uns mit der Zivilisation vermählt, die die tormalinischen Kaiser aus dem Osten mitbrachten. Wie Kette und Schuss in einem Tuch, so haben wir die Überlegenheit, die wir heute genießen, zusammengewebt, wie das heranwachsende Kind sein Spielzeug beiseite legt und die Werkzeuge des Erwachsenen zur Hand nimmt. Das Bergvolk ist unserer Führung gefolgt, und mit der Zeit wird auch das Waldvolk von seiner liebenswerten Muße ablassen und seine Lektionen lernen.
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Insel der Elietimm 5. Vorsommer
»Pass auf, da kommt geschmolzenes Eis herunter.« Shiv sah über die Schulter zurück. Er saß im Bug des Bootes, das wir gestohlen hatten. Es bestand aus einem mit Fell bespannten Lattengerüst. Er schüttelte Meerwasser von seiner weißen, runzligen Hand. »Verdammt, ist das kalt.« Hinter mir saß Ryshad am Steuer, er hatte die lange Pinne unter den Arm geklemmt und hielt sie mit beiden Händen fest. Er spähte mit zusammengekniffenen Augen zu dem milchigen Strom, der über den dunkelgrauen Strand floss und das grünliche Wasser der Meerenge aufhellte. »Legt euch in die Riemen.« Sorgrad und ‘Gren tauschten einen meuternden Blick, doch beide packten ihre Ruder mit frischer Energie. Ich lächelte sie aufmunternd an und tat mein Bestes, um meine Füße aus der Pfütze im Rumpf zu halten. Mein Rücken tat weh von dem Sitzen auf der harten Bank, und der unablässige Wind drang schneidend durch mein Wams. Ich schauderte und begann mir die Arme zu reiben, um mich ein bisschen aufzuwärmen. »Sitz still«, befahl Sorgrad knapp. »Mir ist kalt«, gab ich zurück. »Du kannst nirgends hin, und es gibt nichts zu tun. Dir wird nur noch kälter, wenn du da herumrutschst«, sagte er streng. »Wer hat mehr Zeit in den Bergen verbracht, du oder ich?« »Achte nur darauf, dass deine Hände und Füße in Bewegung bleiben«, riet Ryshad. »Du willst schließlich keine Frostbeulen an Fingern und Zehen haben.« 380
Ich sah, wie Sorgrad ihn deswegen finster anblickte, aber er konnte wohl nicht abstreiten, dass es ein guter Rat war, auch wenn er es noch so gern getan hätte. »Du könntest natürlich auch selbst mal rudern«, sagte ‘Gren, während er sich hart in die Riemen legte. »Das würde dich schnell aufwärmen.« Er jedenfalls schimmerte rosig. »Ich will nicht das Risiko eingehen, auf Grund zu laufen«, sagte Shiv leicht alarmiert. »Hier sind überall Sandbänke«, spottete ‘Gren. »Das wäre kein Problem.« Jedenfalls gab es keine der bösartigen Klippen, die uns bedroht hatten wie gemeine Klauen, als wir um die unangenehm exponierte Küste von Shernasekke herumfuhren. »Das Risiko wollen wir nicht eingehen«, schlug Ryshad vor. Sorgrad sagte nichts, sondern schoss ‘Gren nur einen warnenden Blick zu. »Also sitz weiter da wie eine kleine Edelfrau auf einer Vergnügungsfahrt«, brummte ‘Gren. Wenn er schon keinen Spaß haben durfte, dann auch kein anderer. Ich wollte mich nicht schuldig fühlen, weil ich weder die Kraft noch das Gewicht hatte, um es mit dem Ruderschlag von einem der anderen aufzunehmen. Ich hatte es mit beiden Brüdern versucht, und niemand konnte etwas gegen Ryshads Entscheidung einwenden, dass ich aufhören sollte, nachdem wir so unerwartet vom Kurs abgekommen waren. »Kräftig, jetzt!« Ryshad legte sein ganzes Gewicht ins Ruder, und die Brüder beugten sich über ihre Riemen und zogen sie zurück, während sie zischend die Luft ausstießen. Nach der Konzentration auf Shivs Gesicht zu schließen, trug er auch seinen Teil mit Magie dazu bei. Ich konnte nichts weiter tun als mich festhalten, als das leichte Boot schwankte und bockte. Am 381
Ufer stürzte ein Wildbach, der feinen weißen Sand mit sich führte, über einen Berghang, auf dem eine dichte Ascheschicht lag. Er zog einen dicken Streifen über den dunklen Sand, brach abrupt auf dem helleren Grau des Strandes an der Stelle ab, an der große Felsblöcke, deren scharfe Kanten noch nicht verwittert waren, verstreut lagen wie ein zufälliger Wurf von Fingerknöchelchen. Helle Finger ragten aus dem dunklen Wasser, doch die gemeinsamen Anstrengungen aller führten uns sicher daran vorbei. »'Sar würde zu gern einen Feuerberg brennen sehen«, meinte Shiv und blickte auf den Berg, der sich hoch über der sanft hügeligen Insel erhob, an der wir gerade vorbeikamen. Der zerklüftete Gipfel war von einem gelbstichigen Grau und stieß dünne Wölkchen aus, die sich an die höchsten Gipfelzacken klammerten. Nein, keine Wolken, sondern Rauch oder Dampf, immer wieder erneuert, um den ständigen Winden zu trotzen. Ich fragte mich, ob Misaen wohl auf ein Mischlingsmädchen wie mich hören würde, wenn ich ihn bäte, sein Feuer doch bitte schön so lange zurückzuhalten, bis wir diesen entnervenden Ort verlassen hatten. »Seht mal, das ist alles Gestein, das in jüngster Zeit ausgespuckt wurde.« Shiv deutete auf eine formlose Masse aus schwarzem Stein, die auf dem Strand lag und eine weiße Staubschicht hatte. »Es war so heiß, dass es ein Fass voll Salz aus dem Meer gekocht hat, ehe es erlosch.« Er lächelte bei der Vorstellung. Ich beschloss, dass mir Land lieber war, das den Anstand hatte, so zu bleiben, wie es geschaffen worden war. »Livak, setz die Kapuze auf.« Ryshad warf mir einen Kuss zu, als ich mich umdrehte und sah, dass auch er seinen Kopf bedeckte. Ich hätte ihm geantwortet, aber nach dem dritten Tag 382
deckte. Ich hätte ihm geantwortet, aber nach dem dritten Tag rauer Winde und einer Sonne, die sich durch die wiederkehrenden Nebel brannte, waren meine Lippen schmerzhaft aufgerissen. Wir hatten einen mühsamen Umweg genommen, um eine lang gestreckte, niedrige, mit Gras bewachsene Insel zwischen uns und Ilkehans abweisendem, berggekröntem Herrschaftsgebiet zu bringen. Unser kleines Boot kroch schmerzhaft langsam an einem felsigen Inselchen in der Mitte eines trügerischen Gebietes aus Dünen und Gras vorbei. Ein stämmiger Wachturm stand auf dem spärlichen festen Untergrund, die Mauern, die ihn umgaben, waren fleckig und an mehreren Stellen eingestürzt. Kleine Gestalten reparierten sie mit neuen, helleren Steinen, und einige hielten inne und sahen in unsere Richtung. Sorgrad zwinkerte mir zu. »Wenn wir sie in Ruhe lassen, lassen sie uns auch in Ruhe.« Aber die Bauarbeiter an der Festung waren nicht die Einzigen, die uns aus dem flachen Wasser zwischen den äußeren Elietimm-Inseln und dem offenen Meer kommen sahen. Um das Lehnsgebiet dieses geheimnisvollen Olret zu erreichen, mussten wir durch die inneren Kanäle navigieren, die sich zwischen öden grauen Inseln wanden, eingerahmt von Salzwiesen, die gleichermaßen Verwandtschaft mit Land und Meer beanspruchten. Wir sahen Männer, Frauen und Kinder, die bis zu den Knien im Dreck standen und nach etwas gruben, was immer der Sand widerstrebend auch hergeben mochte. Watvögel, schwarz und weiß mit gelben oder roten Flecken, hüpften in gieriger Erwartung herum. »Warum konnten wir nicht ein Boot mit einem gottverdammten Segel stehlen?«, grunzte Sorgrad, als eine unsichtbare 383
Strömung unsere Fahrt verlangsamte. »Warum nimmst du nicht ein Ruder, wenn du Tormaliner alles über Boote weißt?« Ein Keuchen unterstrich ‘Grens Worte, während er Ryshad einen missmutigen Blick zuwarf. »Ich wette, sogar ich könnte steuern, wenn ich einen Zauberer hätte, der das Wasser unter dem Hintern dieses Dings glättet.« »Das nennt man Bootsrumpf, ‘Gren«, grinste ich. »Hat dein Kerl dich zum Experten gemacht?«, begann er. »Wir müssen bald landen«, unterbrach Shiv und drehte sich, um seine Karte von dem neugierigen Wind fern zu halten. »Leichter gesagt als getan«, meinte Ryshad mit einer Grimasse. Ich musterte die Küste von Rettasekke, die in einem Bogen vor uns lag. Schwarze Felssäulen stiegen in Stufen übereinander an und boten niemandem Halt, der größer als ein Seevogel war. Kreischende Horden davon hockten auf jedem Sims und ließen etwas Weißes, das weder Salz noch Schnee war, über die Klippen fallen. Die Sonne kam plötzlich hervor und ließ die nassen Felsen in allen Regenbogenfarben glitzern. Die Farben verschwanden, und als ich aufsah, breitete sich eine gesprenkelte Wolke über den Himmel aus. »Wir müssen bald Schutz suchen«, stellte Ryshad fest. »Ehe die Nacht hereinbricht, habe ich die Absicht, als geehrter Gast am Kamin dieses Olret zu sitzen, mit einem Drink in der einen und einem Stück Fleisch in der anderen Hand«, sagte Sorgrad fest entschlossen. »Für mich ein Drink und ein williges Mädchen«, kicherte ‘Gren. »Du behältst deine Finger schön bei dir«, tadelte ich meinen unbezähmbaren Freund. »Wenn du die falschen Strümpfe an384
fasst, könnte das Auspeitschen oder Schlimmeres bedeuten.« »Wenn du hier Mist baust, kannst du das ja Halice erklären«, setzte Sorgrad hinzu. Das war eine der wenigen Überlegungen, die selbst ‘Gren einmal nachdenken ließen. »Lasst es uns dort drüben versuchen.« Ryshad deutete auf ein steiles Stück bunten Kiesstrand unter einem grasbewachsenen Streifen, der die scharfkantigen, schwarzen Säulen unterbrach. »Endlich wieder festen Boden unter den Füßen«, murmelte ich inbrünstig. »Habe ich schon erwähnt, dass der gefährlichste Teil einer Seereise darin besteht, wieder an Land zu kommen?«, sagte Ryshad in lockerem Tonfall. Ich drehte mich um und streckte ihm die Zunge raus, während Sorgrad und ‘Gren kicherten. »So schnell ihr könnt.« Shiv konzentrierte sich mit aller Kraft. »Wir müssen sofort über die Wasserlinie kommen.« Sorgrad und ‘Gren erhöhten die Ruderschläge. Ich hielt mich an meiner Sitzbank fest und verließ mich auf Ryshads feste Hand am Steuer. Als wir näher kamen, konnte ich die lang gestreckte Kieszunge sehen, die eine natürliche Rampe ins tiefere Wasser bildete. In dem Augenblick, in dem der Rumpf auf den Steinen schabte, sprang Shiv heraus und platschte mit einer Fangleine über der Schulter durch das kalte Wasser. Sorgrad und ‘Gren warfen ihre Ruder ins Boot, sprangen über die Seiten und halfen ihm, das Boot auf den Strand zu ziehen. Ryshad war am Heck und schob von hinten. Ich blieb, wo ich war, bis das Boot endgültig fest lag. »Wäre es der Dame nun recht, an Land zu kommen?« Ryshad machte eine schwungvolle Verbeugung und bot mir grinsend seine Hand. Ich reichte ihm seinen Rucksack und warf den anderen ihre 385
Habseligkeiten zu, ehe ich zimperlich aus dem Boot stieg. »Diese Stiefel sind neu. Ich will keine Salzflecken auf dem Leder haben.« Shiv fuhr sich mit der Hand über seine durchnässten Hosen, auf denen trockene Flecken erschienen. »Ich dachte, du hättest mehr Zutrauen zu meiner Magie«, sagte er mit gespieltem Kummer. »Wann wirst du so nützliche Sprüche lernen wie den da?«, fragte ‘Gren seinen Bruder, während er versuchte, Wasser aus dem Saum seines Wamses zu wringen. Sorgrad machte die Augen schmal, und Dampf begann aus seinen eigenen Kleidern zu steigen. ‘Gren blieb der Mund offen stehen. »Vorsichtig«, warnte Shiv. »Du wärst nicht der erste Zauberlehrling, der sich selbst in Brand setzt.« »Hat Larissa auch gesagt.« Einen Augenblick später atmete Sorgrad mit einem triumphierenden Grinsen aus. »Was hältst du davon?« Ich fuhr mit den Fingern über seine Hemdmanschetten. »Gerade richtig bügeltrocken.« »Such mir einen schönen flachen Stein, und ich versuche ihn anzuheizen.« Er grinste mich an. »Ich will hier ja nicht ständig den Feldwebel spielen, aber wir dürfen keine Zeit vergeuden«, sagte Ryshad mit Nachdruck. »Ich hasse es, nass zu sein«, entgegnete ‘Gren. »Lass mich mal.« Shiv trieb mit einer raschen Geste das Wasser aus ‘Grens Kleidern. »Lasst uns das Boot verstecken.« »Ich habe nicht vor, noch irgendwo anders hinzurudern«, erklärte ‘Gren bestimmt. »Ich halte mir immer gern alle Möglichkeiten offen.« Sorgrad 386
ging, um Ryshad zu helfen, und ich half ebenfalls. Wir klemmten das Boot zwischen zwei zersplitterte schwarze Säulen und beschwerten es mit ein paar großen Steinen. »Falls wir getrennt werden, ist das hier unser Treffpunkt.« Ryshad verstaute die Ruder ordentlich unter der Ruderbank. Alle nickten zustimmend, während Shiv seine Karte studierte. »Hier lang.« Gehorsam folgten wir ihm einen steilen Hügel hinauf, der wie ein umgedrehtes Boot geformt war, wobei das stumpfe Heck von den kahlen Klippen gebildet wurde. Es war eine mühsame Kletterei, aber der Kamm bot uns einen guten Blick über die Meerenge, die diese Insel von Ilkehans Gebiet trennte. Eine Reihe von Felsen wand sich zwischen den sandigen Kanälen hindurch, die größeren waren von unverkennbaren Steinhügeln gekrönt, die sie als Besitz kennzeichneten, sowie einem kaum sichtbaren unterhalb eines kleinen, aber wehrhaften Forts. Ilkehans Insel dahinter war im Nebel verborgen. »Das muss Rettasekke sein.« Shiv steckte die zusammengefaltete Karte ein, und wir blickten auf einen fruchtbaren Streifen Land, auf dem verstreut ein paar Häuser standen, umgeben von ordentlichen Steinmauern, und in der Ferne eine etwas größere Ansiedlung. »Das ist der Besitz eines Clanführers, ja?« ‘Gren wirkte keineswegs beeindruckt. »Und was halten sie für ihren Reichtum? Steine?« Falls ja, hatte dieser Olret reichlich davon. Jenseits des schmalen Streifens sorgfältig gepflegten Landes bohrte sich schon bald Grau durch die dünne Grasdecke. Felsen und Vorsprünge liefen landeinwärts, immer größer und massiger, vereinten sich zu abschreckenden Simsen und stiegen dann abrupt 387
zu den Bergen im Herzen dieser Insel an. Einige Hänge waren grau und schwarz gesprenkelt wie Kaninchenfell, andere trugen graue Streifen auf Schwarz wie eine Hauskatze, und die vereinzelten struppigen Büsche trugen nur wenig dazu bei, die harsche Landschaft zu mildern. »Da sind deine Ziegen«, sagte Sorgrad und deutete mit dem Finger, als eine Biegung unseres Weges uns einen weiteren Ausblick auf das Grasland erlaubte. Es war ein Bild emsiger Geschäftigkeit. Eine massive, radartige Konstruktion war aus den allgegenwärtigen grauen Steinen erbaut worden, eine Lücke im Rand ließ eine protestierende Herde von Ziegen ein, scheinbar alle, die auf der Insel vorhanden waren. Männer trieben die Tiere zwischen Mauern, die zu hoch zum Überspringen waren, in die Mitte, wo die Achse dieses seltsamen Rades hingepasst hätte. Andere Inselbewohner sortierten die Ziegen irgendwie und schoben sie in die keilförmigen Pferche, die von den Mauern gebildet wurden, die die Speichen darstellten. »Was tun sie da?«, fragte ich. Ryshad reichte mir das Fernglas, das er benutzt hatte, und ich sah, wie Männer die widerspenstigen Tiere zum Stillhalten zwangen, damit Frauen geschickt orange, schwarze und grüne Fäden durch Löcher in ihren Schlappohren fädeln konnten. »Zicklein zum Abendessen?«, schlug ‘Gren hoffnungsvoll vor. »Versuchen wir vorbeizukommen, ohne dass uns jemand fragt, was wir wollen«, sagte Ryshad. Ich glaube nicht, dass jemand gefragt hätte, auch wenn wir von einer Schauspieltruppe komplett mit Flöten und Trommeln begleitet worden wären. Einerseits bezweifelte ich, dass sie uns über dem ohrenbetäubenden wütenden Gemecker und den 388
Verwünschungen über die Hörner eines Bockes oder die rasiermesserscharfen Hufe einer Geiß überhaupt hören konnten. Es war eine Wohltat, den Aufruhr hinter uns zu lassen, als wir uns der Siedlung am anderen Ende des Streifens nutzbaren Landes näherten. »Das ist wohl der Begräbniskreis, denke ich.« Shiv deutete auf eine Einfriedung, die erheblich größer war als diejenige, die wir zerstört gesehen hatten. Hier waren die Steine offenbar zu handlichen Blöcken gespalten worden, denn er bestand aus einem Doppelring aus rechteckigen Steinen, die präzise Kante auf Kante zusammengefügt worden waren, eine Barriere, die keinerlei Graben dahinter benötigte. Zwei rötlich-gelbe Monolithen rahmten den einzigen Zugang zu dem massiven Kreis ein, und drinnen standen weitere allein oder zu zweit ohne ein auf den ersten Blick erkennbares Muster. »Ich habe noch nie Steine von dieser Farbe gesehen«, meinte Ryshad stirnrunzelnd. »Wollt ihr hineingehen, nur ihr beiden?« Shiv sah Ryshad fragend an. Er nickte. »Das war unser Plan. Soweit ich sehen kann, besteht kein Anlass, ihn zu ändern.« Das stellte Sorgrad zufrieden, und wir alle betrachteten, was vor uns lag. Lang gestreckte, niedrige Häuser lagen verstreut zwischen dem Grabkreis und einem eindrucksvollen Burgfried, der vier Blocks im Quadrat maß und vier Stockwerke hoch war, umgeben von einer soliden Mauer. Jenseits davon lag eine lange Reihe von Gebäuden, die sowohl ein Obergeschoss hatten als auch steinerne Schindeln auf den Dächern statt der Bündel groben Pflanzenmaterials, mit denen die kleineren Häuser gedeckt waren. Weitere lagen auf der anderen Seite des Bergfrieds 389
und seiner Lagerhäuser verstreut, und die Siedlung endete in einer Reihe offener Ziegenhütten. Dahinter staute ein überraschend massiger Damm einen kümmerlichen Bach zu einem großen Teich auf. »Ist ja kaum groß genug, um hinüberzuspucken.« Das war ‘Grens üblicher Ensaimin-Ausdruck für die armseligeren Dörfer, die wir im Laufe der Jahre zu Gesicht bekommen hatten. »Nur wenn du den Wind richtig einfängst.« Aber ich musste zugeben, dass es nicht sehr eindrucksvoll war. »Der Wind wäre kein Problem.« Die Vorstellung ließ ‘Gren erschaudern, und er hatte Recht. Die ganze Siedlung war jedem Wetter ausgesetzt, das die Meerenge hochgefegt kam, was zweifellos der Grund war, weshalb die Strohdächer der kleineren Häuser mit Netzen versehen und mit großen Steinen beschwert waren. Ryshad jedoch gefiel der Ort. »Auch wenn das nicht der einzige Landeplatz an diesem Küstenstreifen ist, verhindert der Teich doch, dass irgendjemand über diese Landzunge kommt.« »Niemand schleicht sich an Olret heran«, gab Sorgrad zu. »Nicht bei so viel offenem Land zwischen den Häusern und den Stellen, die Deckung bieten.« »Wenn wir hier noch länger herumstehen, wird man uns entdecken«, warnte Shiv. Sicher waren viele Leute zu sehen, aber glücklicherweise sahen die Meisten zu beschäftigt aus, um in unsere Richtung zu blicken. Zwischen dem Burgfried und dem Meer lag ein großes offenes Gelände, über das Männer Fässer zu und von großen Trögen rollten, an denen Frauen standen. Junge Burschen schleppten Körbe, die bis zum Rand mit dem unverkennbar silbrigen Glanz von Fischen gefüllt waren, von langen Schup390
pen auf steinernen Anlegern herbei, die weit ins Wasser ragten und an deren Ende vertäute Boote auf den Wellen tanzten. Die Sonne kam wieder heraus, glitzerte auf dem Wasser und ließ die gierigen Seevögel, die darüber kreisten, leuchtend weiß erscheinen. Die Vögel kreischten und schossen hin und her, um den Steinen auszuweichen, die kleine Kinder nach ihnen warfen, um sie von den Gestellen mit trocknendem Stockfisch zu verscheuchen. Frühere Fänge waren aufgestapelt wie Brennholz und mit passenden flachen Steinen beschwert. Ryshad nahm verstohlen eine Musterung vor. »Lasst euch zu dem Verantwortlichen bringen, wer das auch ist«, befahl er Sorgrad und schob sein Fernglas zusammen. »Wir warten da drüben.« Er deutete auf ein paar dunkelgrüne Flecken eines Gewächses, das zwischen dem nächsten Haus und dem Grabkreis angebaut wurde. Die Pflanzen sahen kümmerlich und durstig aus, boten aber mehr Deckung als alles andere, das wir sehen konnten. Sorgrad nickte, und die beiden trabten davon, geradewegs auf den Burgfried zu. Wir anderen drei umgingen den Steinkreis und benutzten seine dicken Mauern, um uns so gut wie möglich außer Sicht zu halten. »Wird alles gut gehen?«, überlegte Shiv, als wir die Brüder aus den Augen verloren. Ryshad antwortete nicht, also blieb es mir überlassen, ihn zu beruhigen. »Sorgrad ist schon früher in feindliche Lager eingedrungen. Halice vertraut ihm oft die Verhandlung über sicheres Geleit oder den Austausch von Verwundeten an oder Geiseln gegen Lebensmittel. Glaub mir, wenn er will, kann er jeden von allem überzeugen.« »Ich mache mir nicht um Sorgrad sorgen.« Ryshads Ton war 391
eher besorgt als beißend. »Was, wenn diese Leute Zauberkunst benutzen, um herauszufinden, ob er die Wahrheit sagt?« »Wir sind gekommen, um einen Verbündeten gegen Ilkehan zu suchen«, betonte Shiv. »Das ist die Wahrheit.« »Und was ist mit ‘Gren?«, beharrte Ryshad. »Was Sorgrad ihm sagt, wird er auch beschließen zu glauben.« Ich duckte mich hinter einen Haufen nicht gerade appetitlicher Pflanzen; die innerhalb einer Steinmauer wuchsen, die kaum kniehoch war und etwas umgab, was entschieden übel roch. »Dasts Zähne, was ist das für ein Gestank?« Ryshad und Shiv kamen zu mir und kauerten sich wegen ihrer Größe ungelenker zusammen. »Seetang.« Shiv unterdrückte ein Husten und spähte über das Mäuerchen. »Und Kies, die Essensreste von einem halben Jahr und etwas, das aussieht wie eine tote Ziege.« Ich rutschte herum, bis ich auf dem Bauch lag und einen guten Blick an den Pflanzen vorbei auf die Festung hatte. In grobes Zeug in Gelb- und Brauntönen gekleidete Elietimm schwärmten zwischen den Gebäuden herum, und hier waren mehr Blondschöpfe versammelt, als ich irgendwo sonst gesehen hatte außer weit weg in den Bergen. ‘Gren und Sorgrad waren nirgends zu sehen. Ich wollte gerade einen Seufzer ausstoßen, als der Gestank auf der anderen Seite der mickrigen Mauer mich innehalten ließ und ich stattdessen lieber an meiner wunden Lippe nagte. Ryshad saß mit dem Rücken zu den stinkenden Pflanzen und spähte landeinwärts, während Shiv hinter ihm kauerte und den Weg beobachtete, auf dem wir gekommen waren. Ich schloss eine stille Wette mit mir selbst ab und gewann, 392
als der schlaksige Magier sich endlich beklagte: »Ich kriege noch einen Krampf hier.« »Steh auf!« Aber es war nicht Ryshad, der das sagte. Welche Zauber dieses alte Liederbuch auch bieten mochte, die Mythen des Waldes und die Sagen der Berge schwiegen beharrlich darüber, was den Elietimm ihre irritierende Fähigkeit verlieh, einfach aus der Luft zu erscheinen. Da wir am Boden hockten, waren wir nicht in der Position, dem älteren Eisländer zu trotzen, der uns finster anblickte, nicht, da eine Hand voll jüngerer Männer hinter ihm standen, die mit hässlichen Streitkolben aus Holz und Eisen bewaffnet waren. Alle trugen eine stahlgraue, mit Kupfernägeln beschlagene Lederuniform. Wir kamen mit so viel Würde auf die Beine, wie wir nur aufbringen konnten. »Wir warten auf unsere Freunde«, sagte ich deutlich in Bergsprache. Ein dünnes Lächeln zerfurchte das verwitterte Gesicht des alten Mannes. »Ihr werdet sie bald treffen.« Ich übersetzte, und Ryshad streckte höflich die Hand aus, um anzuzeigen, dass unser neuer Bekannter uns vorausgehen sollte. Das tat er auch, und seine Handlanger folgten uns, die Streitäxte lässig über die Schultern gelegt, aber mit ernsten Gesichtern. »Was jetzt?«, fragte Shiv leise. »Sehen, wie es weitergeht.« Mir fiel sonst nichts anderes ein. »Sie nehmen uns die Waffen nicht ab«, betonte Ryshad, »und sie fesseln uns nicht.« Er ging auf den Ballen, die Hände angespannt, und beobachtete aufmerksam die Position und den Schritt eines jeden Mannes. Wir wurden an Menschen vorbeigeführt, die noch in einem überwältigenden Gestank nach Fischeingeweiden arbeiteten, 393
und durch das Haupttor der äußeren Mauer des Burgfrieds. Wachen in derselben Lederuniform senkten respektvoll den Kopf vor unserem Führer. Schlachten der Elietimm mussten eine bemerkenswert einfache Angelegenheit sein, überlegte ich, da man jeden Feind so leicht an seiner Kleidung identifizieren konnte. In den chaotischen Bürgerkriegen Lescars konnte man von Glück sagen, wenn alle auf der eigenen Seite dasselbe Banner hatten oder wenigstens die Hälfte davon sich an das Passwort erinnerte. Mehr als eine Schlacht hatte sich in Verwirrung aufgelöst, wenn beide Seiten dieselbe Wiesenblume zu ihrem Feldzeichen auserkoren hatten und als Schlachtruf Saedrins Gnade für sich in Anspruch nahmen. Solche müßigen Betrachtungen hielten meine Angst in Schach, als wir durch einen geschäftigen Hof geführt wurden, wo eine wartende Menge uns mit Neugier und Misstrauen beäugte. Unser Führer ignorierte sie und führte uns eine steile Treppe hinauf zu einer Flügeltür aus alter, eisenbeschlagener Eiche. Auf sein Nicken hin öffnete ein weiterer graulederner Krieger einen Flügel und ließ uns ein. Die hallende Leere der großen Halle nahm nach meiner raschen Schätzung den größten Teil des Erdgeschosses ein. Helle Steinplatten waren blank gefegt unter einer kunstvoll gewölbten Decke. Sie ruhte auf dicken Säulen aus poliertem rötlichen Stein, die in die grauen Mauern eingelassen waren. Trübes Glas in hohen, schmalen Fenstern dämpfte das gleißende Sonnenlicht, aber wir alle wussten, dass Glasscheiben, über die selbst ein Bauer aus Ensaimin spotten würde, hier auf diesen kargen Inseln Wohlstand und Status bedeuteten. Schwere Vorhänge aus weicher, beiger Wolle mit leuchtenden geometrischen Mustern in gedämpftem Grün und sanftem Orange hingen am an394
deren Ende, wo ein flacher Holzboden den Eindruck einer Empore vermittelte. »Etwas zu trinken?« ‘Gren hielt uns mit breitem Grinsen seinen Becher entgegen. Er und Sorgrad saßen auf Hockern an einem Ende eines langen Tisches, der so alt und oft poliert war, dass er fast schwarz wirkte. Ein Elietimm in einem gut geschnittenen grauen Mantel über einer Tunika und Hosen von guter Qualität stand neben ihnen, auf seinem rundlichen Gesicht lag Belustigung. Er war ebenso blond wie Sorgrad, wenn sein zurückweichendes Haar auch eher kraus war, aber seine Augen waren dunkel, wie ich es schon mehr als einmal bei diesen Inselbewohnern bemerkt hatte. »Diejenigen, die sich versteckt hatten«, bellte der alte Mann, der uns hergebracht hatte, während er sich gleichzeitig tief vor seinem Herrn verbeugte. Sorgrad stellte seinen Becher behutsam neben eine Reihe kleiner Platten auf dem Tisch. »Ich habe erklärt, dass wir keine Gastfreundschaft beanspruchen wollten, ehe wir uns nicht bekannt gemacht hatten«, sagte er gewandt. »Herr von Rettasekke, ich bürge für Ryshad, eingeschworen auf einen jener Fürsten des Festlandes, die Ilkehan überfallen hat.« Als Nächstes deutete er mit einer höflichen Handbewegung auf mich. »Livak wird für das Waldvolk sprechen, das durch die Hand Ereskens im vergangenen Sommer gelitten hat, während unser Freund Shiwalan aus Caladhria stammt. Die Menschen des Tieflandes wurden durch Ereskens Verrat fast zu einem Krieg mit dem Hochland gedrängt, und das ist sein Anliegen.« Alles davon war zwar wahr, wenn auch nicht die ganze Wahrheit, falls jemand gerade irgendwo einen Zauber murmelte, um Sorgrads Wahrheitsliebe zu testen. Er wandte sich an 395
unseren Gastgeber. »Dies ist Olret, der uns liebenswürdigerweise den Schutz seines Hauses für die Dauer des althergebrachten Reisewaffenstillstandes angeboten hat.« Sorgrad lächelte nett ausgewogen zwischen Bescheidenheit und Selbstsicherheit. »So können wir feststellen, dass unsere beiden Völker sich nicht so sehr voneinander unterscheiden, trotz der vielen Generationen zwischen uns.« Der Reisewaffenstillstand der Berge dauerte drei Tage und drei Nächte, und ich fragte mich, ob das bedeutete, dass uns für diesen Zeitraum Ätherneugier erspart bliebe. Als ich versuchte, dies Sorgrad irgendwie anzudeuten, dröhnte es derart an der Tür, dass ich aufsprang. Ich war nicht die Einzige, und ich sah, dass Olret hinter vorgehaltener Hand höflich ein Lächeln unterdrückte, als dieses herrische Signal wiederholt wurde. Er sagte etwas zu Sorgrad, das ich nicht verstand. Irgendwo sah irgendwer zu, vielleicht hinter einem der bodenlangen Vorhänge, weil die Lakaien unverzüglich aus einer Seitentür erschienen, mit Hockern für uns alle. Dienstmädchen eilten mit weiteren Schalen mit Leckereien herbei und schleppten Tonkrüge mit hellem Schnaps heran, dazu Trinkbecher, für die einige Ziegen ihre Hörner hatten opfern müssen. Ein flachshaariges Mädchen goss mir großzügig ein, und ich nippte vorsichtig. Das Zeug war mild, glitt sanft durch die Kehle und schmeckte unverkennbar nach Kümmel. Es hinterließ lange, träge Linien, während ich den kleinen Becher lässig in einer Hand schwenkte. Zu viel davon, und unser Gastgeber würde keine Zauberkunst mehr brauchen, dann würden wir alle unsere geheimsten Gedanken unserem neuen besten Freund anvertrauen. 396
Andererseits war es wahrscheinlich eine Beleidigung, nicht zu trinken. Ich nahm einen nicht zu identifizierenden fingerlangen Streifen Fleisch von einer Platte. Es schmeckte nicht schlecht, kräftig nach Wild unter einem sanften Rauchgeschmack, aber ich hätte nicht sagen können, ob es Fisch, Fleisch oder Geflügel war. Was es auch war, es war salzig, also ausgezeichnet, um Durst zu fördern. Die großen Türen gingen auf, und die Menge aus dem Hof strömte herein, mit respektvoll gesenkten Köpfen. Unser Gastgeber ging zu einem hohen Sessel, der kunstvoll aus dunklem Holz und hellem Bein gearbeitet und mit offenherzigen, alten Symbolen geschnitzt war. Shiv räusperte sich, und ich sah ihn an, neugierig, ob er eins dieser Symbole erkannte. Der Magier blickte bedeutungsvoll auf meinen Becher, als er mit der Hand gleichmütig über seinen eigenen fuhr. Ich hielt mein Getränk zur Seite, während ich nach etwas griff, was, wie ich fieberhaft hoffte, ein Stückchen Käse war. Shivs Hand berührte die meine, als er Ryshad ein Schälchen mit kleinen roten Beeren anbot. Als ich einen Schluck aus meinem Becher nahm, um den unerwartet beißenden Geschmack des Käses loszuwerden, stellte ich fest, dass der starke Schnaps so abgemildert worden war, dass er verträglich wurde. Der Mann, der uns in diesen gut mit Ködern versehenen Pferch geführt hatte, war wieder da. Er stand am Rande des Holzbodens und hielt einen langen Stab, der aus einem einzigen, gewaltigen Knochenstück bestand, um dessen kunstvoll geschnitzte Spitze einige verlockende Juwelen eingelassen waren. Er stieß damit auf die Holzdielen, und die Menge schob sich gehorsam herum, bis eine Reihe Männer nach vorn kamen, die alle einen Lederbeutel trugen. 397
»Macht weiter.« Olret sah ungerührt zu, wie die Männer einzeln vortraten, um ihre Gaben auf den langen Tisch zu leeren. Es waren Vogelschnäbel. Der Tod von zahlreichen Nebelkrähen und einiger Raben war damit bewiesen. Mein Waldblut gefror, mein Vater hatte mir immer gesagt, dass es Unglück bringe, einen Raben zu töten. Ich erkannte auch den gelben gekrümmten Raubvogelschnabel eines Adlers. Offenbar verehrte hier niemand Drianon. Die Männer, die vorgetreten waren, musterten die verschiedenen Haufen, und die, die weniger fleißig gewesen waren, zogen sich zurück. Damit blieben ungefähr die Hälfte übrig, die erwartungsvoll und selbstgefällig dreinschauten, als der Mann mit dem Knochenstab an ihrer Reihe entlangwanderte und jedem Einzelnen einen verzierten Lederbeutel anbot. Mit gespannten Gesichtern zog jeder ein Horn heraus, das er so hielt, dass der Mann mit dem Stab es sehen konnte. Er wandte sich der Menge zu, und ich bekam genug von seiner Erklärung mit, um zu lernen, dass drei verschiedene Rechte gewährt wurden. »Treibholz ohne Werkzeugspuren auf den Fessands.« »Bearbeitetes Holz, das am Arnamlee ans Ufer gespült wird.« »Gestrandete Meerestiere vom Schwarzarm bis zur Mauyaspitze.« Olret sah Sorgrad erwartungsvoll an, als das Ritual abgeschlossen war. Der Hochländer verbeugte sich höflich. »Jene, die dein Land vor Raubtieren schützen, teilen sich den Reichtum des Meeres, den der Zufall an Land spült.« Olret lächelte zufrieden. »Ilkehan behält solche Güter alle für sich.« Seine Worte waren weit zu hören, und ein Schauder der Angst und Missbilligung lief durch die Versammlung. 398
Der beinerne Stab donnerte wieder auf den Boden, und die Menge teilte sich wie eine Schar Ziegen, als Olrets graulivrierte Helfer eine Hand voll Männer vor ihn zerrten. Jeder trug nur ein schmutziges Hemd, die Hände waren vor dem Bauch gefesselt. Für wie aufgeklärt sich Olret im Vergleich zu Ilkehan auch hielt, seine Gefangenen erlitten die üblichen Brutalitäten. Die Augen des einen waren fast zugeschwollen, während das Haar eines anderen dunkelbraun verklumpt war vor geronnenem Blut. Jeder Gefangene wurde einzeln nach vorn gezerrt, und Olret verkündete mit ausdrucksloser Miene das Urteil. Falls es hier so etwas gab wie eine Gerichtsverhandlung, musste sie schon früher stattgefunden haben. »Weiß.« Das Gesicht des Mannes verlor alle Hoffnung. »Grün.« Irgendjemand im Hintergrund schluchzte erleichtert auf. »Weiß.« Aus irgendeinem Grund schien das eine Erleichterung für den Mann zu sein. »Rot.« Das verursachte eine gewisse Unruhe auf der anderen Seite des Saales, was dazu führte, dass die Wachen hinstapften und einen strampelnden Jugendlichen so schnell hinausschleppten, dass seine Füße kaum den Boden berührten. »Weiß.« Das letzte Urteil enttäuschte jemanden, aber er hatte genug Verstand, um nach einem unwillkürlichen Ausruf den Mund zu halten. Der Mann entließ die Zuschauer mit einem Schwenk seines Knochenstabes, und die Menge zerstreute sich so rasch, wie sie sich versammelt hatte. »Er arbeitet sehr viel schneller als Temar«, flüsterte ich Ryshad zu. 399
Die großen Türen schlossen sich und ließen uns allein mit unserem Gastgeber in dem riesigen Saal. Allein, abgesehen von dem, der hinter den Vorhängen Wache hielt. Natürlich trugen wir alle noch unsere Waffen, und ich ermahnte mich, den Mann nicht von vornherein wegen schlichter Vorsicht zu verurteilen. Er erhob sich von seinem beeindruckenden Stuhl und zog sich einen Hocker heran, dann bediente er sich aus den Schüsseln. »Was hatten diese Männer getan?« Ich beherrschte die Bergsprache so weit, dass ich das fragen konnte, doch Olret ignorierte mich und wandte sich an Sorgrad. »Wendet ihr noch immer die drei Exile im Land der Anyatimm an?« »Ich weiß nicht, was du damit meinst.« Sorgrad sah ehrlich verblüfft aus. Olret schien leicht enttäuscht zu sein. »Das rote Exil ist das vom Leben selbst. Ein solcher Mann wird von den Klippen gestoßen. Das grüne Exil ist von Heim und Herd, aber der Mann mag Schutz innerhalb der Sekke finden, und seine Freunde dürfen ihn mit Essen und Trinken vor dem Tode bewahren. Das weiße Exil ist von der Sekke und ihren Menschen. Ein solcher Mensch muss vor Einbruch der Nacht unser Land verlassen, und niemand darf ihm auch nur die geringste Hilfe geben.« Olrets höfliches Lächeln wurde ein wenig gezwungen. »Das war das Exil, das die alten Anyatimm unseren Vorvätern auferlegten. Wir flohen nach Norden und Osten über das Eis und glaubten kaum daran, dass wir dieses Land finden würden, inmitten der kalten See. Dann schmolz Misaen den Pfad frei, und wie viele meinten, ließ er uns aus einem bestimmten Grund hier.« 400
Shiv und Ryshad wurden sichtlich frustrierter, während ich versuchte, gleichzeitig zuzuhören und zu übersetzen. Olret wartete, bis ich fertig war, ehe er uns alle überraschte. »Verzeiht mir. Ich kenne eure Sprache nur durch das geschriebene Wort und spreche sie nur schlecht.« »Dann seid Ihr mir gegenüber im Vorteil, mein Herr.« Ryshad sprach langsam mit der Höflichkeit langer Übung, die er im Dienste seines Sieurs gelernt hatte. »Ihr seid es, der unsere Unwissenheit verzeihen muss.« »Darf ich fragen, wie es kommt, dass Ihr unsere Sprache kennt?« Shiv lächelte, aber ich konnte sehen, dass er dasselbe dachte wie wir anderen. Jetzt mussten wir jedes Wort auf die Goldwaage legen, selbst unter uns. »Ich habe eure Küsten besucht.« Olret konnte seine Genugtuung kaum verbergen, dass er uns mit dieser Neuigkeit in Erstaunen versetzte. »Nicht oft und niemals für lange, aber wir treiben seit langem Handel mit den Leuten des Graslandes.« Ein Schauer überlief mich. »Das Volk der Ebenen?«, fragte ich sanft. »Genau.« Olret hatte keine Probleme, den tormalinischen Ausdruck für das letzte der drei alten Völker zu erkennen. »Einige wenige Auserwählte haben diese Überfahrten gemacht, den Schatten getrotzt, die die Meere unsicher machen, obwohl ein schlimmes Schicksal die Unwürdigen erwartet, die sich selbst in Gefahr bringen.« »Ich habe noch nie von solchen Besuchern gehört.« Ryshad verbarg seine Skepsis hinter einer geübt ausdruckslosen Miene. »Wir halten uns nicht lange auf«, versicherte Olret. »Die Männer des Graslandes legen Flüche auf die, die durch Überwintern ihr Willkommen überstrapazieren, also erlauben wir 401
keinem Schiff zu landen. Zu viele kehren zurück nur mit stinkenden Leichen beladen, hergetragen von den Seeschatten.« Konnte es denn immer noch Reste des alten Ebenenvolkes in der Weite des Nordens geben? Die tormalinische Geschichte erzählte uns, dass sie alle vertrieben worden waren oder in die hochnäsigen Abkömmlinge ihrer Provinzen Dalasor und Gidesta eingeheiratet hatten. Andererseits hatte ich einige kennen gelernt, die von den wandernden Hirten dieses endlosen Graslandes vertrieben worden waren und sich wie ich am Rande des Gesetzes herumdrückten. Viele von ihnen hatten die scharfen Züge, die dunkle Hautfarbe und die schlanke Gestalt, die die Legende dem verlorenen Volk der Ebenen zuschrieb. Außerdem gaben viele der Hirtenclans noch immer die traditionelle Abneigung gegenüber der tormalinischen Herrschaft weiter, und das konnte gut der Grund dafür sein, dass sie über sporadische Besucher Stillschweigen bewahrten, die etwas mitbrachten, was es wert war einzuhandeln. Ich fragte mich, was das wohl sein konnte. Olret sprach wieder mit Sorgrad. »Verzeiht mir, aber ihr werdet kein Willkommen finden, wenn ihr meinem armen Volk Schwierigkeiten bringt. Wir haben in den letzten drei Jahren genug gelitten.« »Die Berge haben gebrannt?« Sorgrad war ganz beflissene Besorgnis. Olret nickte düster. »Zuerst hat der Schöpfer vor zwei Jahren Funken von seiner Schmiede geschlagen. Anfangs hofften wir, das Gericht der Mutter wäre endlich über Ilkehan gekommen, aber alle Inseln wurden erschüttert oder gespalten. Fische wurden tot aus den Tiefen des Meeres angeschwemmt. Ziegen erstickten an der Asche oder starben später, vergiftet durch ihr 402
Futter. Ganze Familien kamen im Schlaf um, als üble Luft die am niedrigsten gelegenen Senken erfüllte.« »Dann wissen wir Eure Großzügigkeit umso mehr zu schätzen«, sagte Shiv ernst. Ich nahm noch ein Stück von dem geräucherten Fleisch und eine Scheibe Fladenbrot und mied Shivs Blick. Es waren Planir, Kalion und ein paar andere Magier, die die Berge hier in der Gegend zum Ausbruch gebracht hatten, damit Ilkehan etwas zum Nachdenken hatte außer Jagd auf uns zu machen, als wir aus seinen Klauen flohen. Es sah aus, als hätte der Erzmagier etwas angezettelt, das sehr viel weiter reichte, als er beabsichtigt hatte. Olret brachte ein schiefes Lächeln zu Stande. »Wir suchten, was die Gnade der Mutter uns zeigte. Es gab Rüben, die praktisch in der Erde gekocht waren, für die Hungrigen. Da so viele Tiere tot waren, hatten wir Futter übrig, das wir auf die heiße Asche streuen konnten.« Er sah, dass wir alle darüber verblüfft waren, und beeilte sich zu erklären. »Es fördert neues Wachstum, so dass sich das Land so schnell wie möglich erholen kann.« Seine Miene wurde wieder ernst. »Aber viele sind an Nahrungsmangel gestorben in den vergangenen zwei Jahren, und Ilkehan fällt über die schwächeren Inseln her, wie ein Rabe einer ausgehungerten Herde folgt. Er häuft Ärger um Ärger auf sie, ehe er das Land mit Waffengewalt beansprucht und behauptet, die Leute wollten das so. Dann gibt er den Hungernden gerade so viel zu essen, dass sie am Leben bleiben und arbeiten können, aber zu hungrig sind, um noch Kraftreserven zu haben, sich ihm zu widersetzen.« »Ist es so auf der westlichsten Insel geschehen?«, fragte ich höflich. 403
Ryshad sah, dass Olret mich wieder ignorierte, und stellte selbst eine Frage. »Habt Ihr denn keinen Oberherrscher oder einen Verbund aus Gleichgestellten Ilkehans, der gegen solche Eroberungen eintreten könnte?« Olret versteifte sich, als hätte man ihn beleidigt, ehe er sich mit einem gezwungenen Lächeln an Sorgrad wandte. »Unterwerfen sich die Anyatimm heute einem König?« »Nie«, erwiderte Sorgrad heftig, einen halben Atemzug vor ‘Gren. »Jeder Clan regelt seine eigenen Angelegenheiten und ist niemandem Rechenschaft schuldig außer seinem eigenen Blut.« »Und alle, die gemeinsames Blut haben, arbeiten zusammen für das Allgemeinwohl?« Olret lächelte zufrieden, als Sorgrad und ‘Gren nickten. »Genauso ist es bei unseren Clans.« Was ja alles ganz schön und gut und in den Bergen nördlich von Gidesta auch absolut notwendig war, wo der nächste Nachbar bei gutem Wetter zehn Tagesmärsche über raues Gelände entfernt war und dreißig bei schlechtem Wetter. Alle hielten zusammen wegen dieses schlechten Wetters, weil sie riskierten, das verirrte Schaf zu werden, das den Tod fand, wenn sie es nicht taten. Ich war mir nicht sicher, wie gut diese Idee hier funktionieren würde, wo jeder mit jedem auf diesen kärglichen Inseln auf Tuchfühlung war. »Wie werden eure Anführer gewählt?« Olret ignorierte mich erneut. »Was ist Ilkehan für euch?«, fragte er Sorgrad abrupt. »Ein Feind«, erwiderte dieser schlicht. »Für uns alle.« ‘Gren ergriff unerwartet das Wort. »Nach unseren Gesetzen verdient er den Tod ebenso wie nach euren, wenn das der Preis dafür ist, jenseits des Meeres zu überwintern.« Olret sah ihn mit scharfer Neugier an. »Wie meinst du das?« 404
»Eresken war Ilkehans Sohn?« ‘Gren quittierte Olrets Nicken mit einem zufriedenen Lächeln. »Ich habe es von Eresken selbst, dass seine Mutter eine Sklavin aus dem Grasland war und dass Ilkehan sie schwängerte, als er dort überwinterte.« Die Hoffnung in Olrets dunklen Augen erlosch rasch. »Was ist schon eine weitere Missetat zu all den bekannten Verbrechen Ilkehans? Glaubt ihr nicht, wir hätten Schulter an Schulter gestanden und wären gegen ihn marschiert, wenn wir könnten?« »Warum könnt Ihr nicht?«, fragte Ryshad vorsichtig. »Er zieht die wahre Magie aus jedem Hargeard und übt sie aus wie niemand seit den Zeiten der Drachen. Wir anderen haben keine Kraft mehr, in Sicherheit über das Meer zu fahren, und selbst wenn wir es versuchten, benutzt Ilkehan seine dunklen Riten, um uns zu finden und unsere Schiffe zu versenken.« Bitterkeit drohte Olret zu ersticken. »Ich weiß nicht, woher er dieses Wissen hat. Er tötet jeden, der ins Reich der Zauberei blickt, abgesehen von den Memmen, die vor ihm kriechen und seine Geheimnisse lernen, bis er sie ausschickt, um seine Feinde zum Tode zu verfluchen. Glaubt ihr nicht, wir hätten ihn aus seiner Festung auf die Felsen geworfen, um ihn zu zerschmettern, wenn wir nur könnten? Er ist gegen jeden Angriff gefeit. Wir könnten unsere Toten aufhäufen, bis wir seine Brustwehr erreichten, und er würde lachend zusehen, wenn uns die Peitsche seiner Magie tötete.« »Habt ihr schon einmal überlegt, einen einzelnen Mann auszuschicken, um ihn zu töten?«, fragte Sorgrad. »Einer könnte der Aufmerksamkeit entgehen, die eine ganze Armee auf sich zieht.« Olret schüttelte den Kopf. »Ilkehan tötet jeden Fremden, der 405
sein Gebiet erreicht, für den Fall, dass es ein Spion ist. Als ob ich einen Mann dem Wagnis aussetzte, den Fluch der Mutter auf sich zu laden, so etwas zu verlangen, nur um in Ilkehans Gebiet einzudringen.« »Was ist ein Hargeard?«, wollte ‘Gren wissen, der sich die Beerensamen zwischen den Zähnen herauspulte. »Das wisst ihr nicht?« Olret sah gleichzeitig misstrauisch und verwirrt aus. »Wir kennen den Begriff nicht«, sagte Sorgrad gewandt. »In unserer Sprache nennen wir es wahrscheinlich anders.« »Der Hargeard ist sowohl der Mutter als auch dem Schöpfer heilig«, sagte Olret vorsichtig. »Wo wir unsere Vorfahren zur Ruhe betten, damit die wahre Lehre unserer Vergangenheit sich an unsere Zukunft bindet.« Sorgrad nickte beruhigend. »Bei uns werden solche Riten in den Tyakar-Höhlen durchgeführt.« Das sagte mir gar nichts, aber stimmte Olret sichtlich milder. »Wir benutzen die Steine des Schöpfers.« Weil jeder, der einen Toten in diesen vor sich hin köchelnden Bergen begrub, wahrscheinlich am nächsten Tag seinen verehrten Ahnen gut gegart und tranchierbereit vorfinden würde. Ich fand, dass das besser ungesagt blieb, und versuchte eine der Beeren, bevor ‘Gren sich einen ungerechten Anteil einverleiben konnte. »Wir haben Hoffnung, Ilkehan für seine Verbrechen zahlen zu lassen.« Sorgrad hatte entschieden, dass wir nun genug Zeit damit verbracht hatten, die Figuren hin und her zu schieben und die anderen Spieler einzuschätzen. Es wurde Zeit, die Runen zu werfen und zu sehen, wer gewinnen würde. Er sah Olret in die Augen. »Wir sind gekommen, um ihn zu töten.« 406
Ein Hoffnungsfunke flackerte wieder in Olrets Augen auf, und diesmal brannte er schon heller. »Bei eurem Glauben an die Mutter?« »Bei den Gebeinen meiner Soke.« Sorgrad sprach mit tödlichem Ernst. Olret wich ein wenig zurück. »Aber er hat Kräfte, denen niemand widerstehen kann.« Das ärgerte ihn wirklich. »Ich habe Eresken getötet«, meldete sich ‘Gren. »Wir haben das Wissen des Waldvolkes, um uns zu schützen«, setzte Sorgrad mit einem Nicken in meine Richtung hinzu. Olret schenkte mir kaum einen Blick, seine ganze Aufmerksamkeit galt Sorgrad. Wenn wir ihn an einem Spieltisch gehabt hätten, wäre er anschließend ohne Hosen und Stiefel abgezogen, so deutlich malten sich seine Gefühle auf seinem Gesicht ab. Er wollte verzweifelt glauben, dass wir ihn von seinem verhassten Feind befreien konnten, aber jedes Gramm Verstand ließ die Waage zum Unglauben neigen. »Wir sind auf unser eigenes Risiko hin gekommen, nicht, um Gefahr über die Unschuldigen zu bringen.« Ryshad sprach mit seiner üblichen gemessenen Höflichkeit. Er hatte Olret richtig eingeschätzt, merkte ich, als der Elietimm daraufhin mit Erleichterung reagierte. »Aber falls Ilkehan abgelenkt würde, falls ein Täuschungsmanöver seine Aufmerksamkeit fesselte, während wir in sein Land eindringen, dann würden sich unsere Erfolgsaussichten sehr verbessern.« »Gibt es nicht eine Beleidigung, eine Plünderung Ilkehans, die ihr rächen wollt?«, fragte Sorgrad beiläufig. »Wir brauchen nicht zu wissen, wo oder wie, aber wenn wir wüssten, wann ihr handeln wollt, könnten wir die Überfahrt machen, während Ilkehan in eine andere Richtung schaut.« 407
Es wirkte auf Olret verlockend, aber dann schüttelte er abrupt den Kopf. »Wenn man euch dabei schnappte, wie ihr von meinem Land zu Ilkehans übersetzt, hätte er seinen Grund, um Tod über uns alle zu bringen.« »Also machen wir einen Umweg und kommen von der Insel eines anderen.« ‘Gren sah darin überhaupt kein Problem. »Vielleicht.« Olret kniff die Augen zusammen, was ihm etwas Zwielichtiges verlieh. Ich schätzte, es gab jemanden, um den es ihm nicht Leid tun würde, wenn er in Ilkehans Schusslinie geriet. »Lasst mich darüber nachdenken. In der Zwischenzeit heiße ich euch als meine Gäste willkommen, wenn ich auch fürchte, dass wir zu viel zu tun haben, um euch groß zu unterhalten. Die Mutter schickt zu dieser Jahreszeit ihre Früchte und fordert von uns, alles zu sammeln, was wir nur können, um über die grauen Tage des Winters zu kommen. Also vertreibt eure Reisemüdigkeit mit einem Bad, und dann werden wir euch ein Festmahl bieten, so gut wir nur können, und dazu Musik. Maedror!« Olret sprach ein wenig zu hastig und mit zu viel gezwungener Freundlichkeit, aber für den Augenblick gab ich mich damit zufrieden, sauber und trocken zu werden und mir den Magen zu füllen. Der Mann mit dem Stab erschien, sobald Olret nach ihm rief, und wir folgten ihm pflichtschuldig zum ersten Stock des Burgfriedes. Das Gebäude hatte eine Treppe an jedem Ende, die durch einen Flur miteinander verbunden waren, von dem aus nach beiden Seiten Zimmer abgingen. Ich wurde in ein Kabäuschen geführt, das kaum groß genug für das Bett war, auf dem eine Decke lag, die in sämtlichen Schattierungen der hiesigen Ziegenfelle gewebt war. Das sollte offenbar zur Wahrung meiner Tugend dienen, da die anderen eine größere Kammer 408
bekamen, die sie sich teilten. Dienstmädchen huschten hin und her mit Eimern voll heißem Wasser, während Lakaien Badezuber herbeischleppten. Sie brachten es weitgehend fertig, die sorgsam ausdruckslosen Mienen von Dienern zu bewahren, die von unerwarteten Gästen unterbrochen worden waren, doch ein Mädchen verriet sich durch ängstliche Blicke auf die Treppe, die zu den höheren Stockwerken führte. Ich vermutete, dass sie da oben Pflichten hatte, die noch beendet werden mussten, unabhängig von anderen Dingen, die man ihr auftrug. Solche Dinge gehörten zu den vielen Ungerechtigkeiten, die meinen Entschluss gegen ein Leben im Dienste für andere gefestigt hatten. Das Bad war eine Wonne. Durch und durch wieder warm zu sein war ein absolutes Entzücken, und genauso wie die duftenden Seifen hatte ein aufmerksamer Geist ein Töpfchen mit einer gelben Salbe auf die winzige Kommode neben dem schmalen Bett gestellt. Sie besänftigte meine gesprungenen Lippen und meine rissigen Hände wundervoll. Ich rieb mir meine Haut gerade zum zweiten Mal ein, als es an der Tür klopfte. »Livak?« Es war Ryshad. »Komm rein.« Er schloss die Tür, lehnte sich dagegen und lächelte mit offensichtlicher Freude über meine Nacktheit. Frisch rasiert, die schwarzen Locken noch feucht an den Ohren, trug er saubere Hosen und ein Hemd, bei dem er sich nicht mit Zuschnüren aufgehalten hatte. »Was machen die anderen?« Ich setzte mich auf und schlang die Arme um meine Knie. »Ich habe die Glücksrune gezogen, also ist Shiv erst jetzt mit Baden dran. Sorgrad und ‘Gren streiten sich darüber, wer das eine schicke Wams anziehen darf, das sie haben.« Ryshad hielt 409
mir ein Handtuch hin, und ich trat in seine Umarmung. Er hielt mich fest und küsste mich so drängend, dass mein eigenes Begehren geweckt wurde. »Soll ich die Tür abschließen?« »Es gibt keinen Schlüssel.« Ich küsste ihn wieder und fuhr ihm mit meiner freien Hand durch die Haare. »Aber darum könnte ich mich kümmern.« Ich ließ das Handtuch achtlos zu Boden fallen. »Es könnte Gerede geben, wenn jemand ausprobiert, ob die Tür verschlossen ist.« Ryshad bückte sich, um mir den Nacken zu küssen, und ich erschauerte vor köstlicher Vorfreude, als sein Atem mich kitzelte. Er nahm meine Brüste in seine Hände, und ich spürte, dass jemand auch ihm eine Salbe gegen raue Hände gegeben hatte. »Sollen wir die Kommode davor stellen?«, schlug ich vor, als ich mich wieder konzentrieren konnte. »Gute Idee.« Er gab mir einen beifälligen Klaps auf den Hintern. Ich hatte die Decken schon aufgeschlagen, ehe Ryshad die Tür blockiert hatte, und er riss mich in einem Hagel von Küssen, Zärtlichkeiten und Lachen von den Füßen. Ich zog ihm das Hemd über den Kopf, er strampelte sich die Hosen von den Beinen, und wir verloren uns unter den weichen Wolldecken. Falls ich das Bad schon für Entzücken gehalten hatte, hatte ich mich geirrt. Es war mir egal, ob Olret Spione auf uns angesetzt hatte. Sie hätten ohnehin nichts weiter erfahren, als wie vollständig wir zwei eins werden konnten, wenn es nur uns beide gab, offen füreinander, gebend, nachgebend. Keine Unterschiede in Erziehung und Erfahrung konnten sich zwischen uns stellen, Verschiedenheiten in Haltung oder Erwartung uns nicht 410
entfernen, Freunde oder Loyalitäten uns nicht trennen. Wir bewegten uns in instinktiver Harmonie, genossen mit allen Sinnen die Berührungen und Küsse, erlebten zusammen die größtmögliche Intimität, und ich wusste ohne jeden Zweifel, dass ich Ryshad liebte und er mich. In diesem schlichtesten aller Momente spielte nichts anderes eine Rolle. Wir lagen eng umschlungen, unser Atem ging wieder ruhiger, und Ryshad lächelte, während ich ihm eine Locke aus der Stirn schob, die nun feucht vor Schweiß war. Es klopfte einmal um Verzeihung heischend leise an der Tür. »Wenn ihr fertig seid, wir sind unten eingeladen, noch mehr zu essen.« Ich lächelte über die kaum verhohlene Belustigung in Sorgrads Stimme. »Wir kommen in ein paar Minuten.«
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Suthyfer, Wachinsel 5. Vorsommer
»Temar!« Allin winkte von der Tür der Hütte her. »Endlich«, keuchte Temar. »Entschuldigt mich, Meister Jevon.« Der Kapitän der Seetang sah ihn erwartungsvoll an. »Kommen die Piraten?« »Wollen wir es hoffen«, sagte Temar inbrünstig. Er ging rasch den Strand entlang und sah, wie Halice eine hitzige Diskussion mit dem Bootsmann der Mahlstrom beendete und zur Hütte eilte. Also war er nicht der Einzige, der von den Tagen angespannter Langeweile frustriert war. Nervosität plagte Temar. Wie würde Muredarchs neue Herausforderung aussehen? Konnte er es damit aufnehmen? »Was gibt es?« Nach dem hellen Sonnenschein draußen blinzelte er in der dämmrigen Hütte. Sie war noch immer stickig und bedrückend, obwohl er einige von Kellarins Zimmerleuten damit beauftragt hatte, Fenster in die Wände zu hauen und Läden anzubringen. Larissa und Allin flankierten Usara, der Guinalle aufmerksam ansah. »Muredarch hat gerade mit der Slup Segel gesetzt. Er segelt nach Norden.« Die Demoiselle war in dem schummrigen Licht blass, dunkle Ringe lagen unter ihren müden Augen. »Sie haben einen Gefangenen aus der Palisade gebracht, aber er war mit einem Sack vermummt. Ich kann nicht sagen, wer es ist, da die Elietimm den Ort abschirmen.« 412
Temara sah Usara an. »Diese Hexer setzen dir doch nicht so zu, dass du die Blockade nicht aufrechterhalten kannst?« »Solange wir in direktem Sichtkontakt arbeiten, sind wir vor ihnen sicher«, beruhigte Usara ihn. »Die Winde sind immer noch gegen Muredarch, egal aus welcher Richtung er versucht hierher zu eilen«, sagte Larissa keck. »Diese Elietimm arbeiten immer nur zusammen, was ihre Reichweite beschränkt.« Guinalles Ton machte ihre Verachtung deutlich. »Wenn sie zu nahe kommen, warne ich unsere Magier, dass sie aufhören sollen.« Halice runzelte die Stirn. »Das ist ja alles ganz schön und gut, solange sie so dumm bleiben. Was ist, wenn sie anfangen, einzeln zu arbeiten?« »Einzeln sind sie für mich verwundbar.« Guinalle klang nicht, als ob sie diese Aussicht freute. »Dann gehen wir und sehen nach, was Muredarch anzubieten hat«, schlug Temar vor. Alle gingen zur Tür, Guinalle am zögerlichsten. Temar eilte voraus, um Darni zu warnen, was bevorstand. »Und Larissa bleibt dieses Mal bei dir«, schloss er und reagierte bewusst nicht, als er den Protest der Magierin hinter sich hörte. Darnis Antwort übertönte, was Usara zu ihr sagte. »Das ist mir nur recht.« Der große Mann grinste wild, ehe er einen mächtigen Rülpser ausstieß. »Hoch mit euch! Das erste Korps übernimmt die Wache! Das zweite Korps nutzt die Zeit für Schwertübungen. Wenn diese Schurken meinen, sie könnten herkommen, begrüßt ihr sie mit dem Schwert in der Hand!« Halices Söldner bildeten den Kern des ersten Koprs, zusammen mit denjenigen von Sorgrads Rekruten, deren Fähigkeiten 413
ihren oft vagen Behauptungen über ihre Kampferfahrungen entsprachen. Deglain und Minare führten je eine Abteilung zu den Landspitzen, die gefechtsklar waren mit guten Aussichtspunkten auf Bäumen und vorbereiteten Leuchtfeuern. Das zweite Korps versammelte sich mit eifrigen Gesichtern am Strand. Kellarins Männer waren entschlossen, es den Seeleuten zu zeigen, die wiederum unbedingt Halices Meinung über ihre Fähigkeiten verbessern wollten. Als die Besatzung der Seetang die Segel hisste, beobachtete Temar mit wachsendem Stolz, wie seine Männer hieben, schlugen, stachen und parierten. »Was meinst du?«, fragte er Halice, als sie sich zu ihm stellte. »Ich will, dass sie verdammt viel mehr Übung haben, ehe es losgeht.« Halice schaute nach Suthyfer hinüber. »Und ich will wissen, welchen Ansporn Muredarch heute glaubt gefunden zu haben.« Temar sah zum Achterdeck hinauf, wo Usara und Allin tief ins Gespräch mit Guinalle versunken waren. »Was meinst du, wie lange hält die Demoiselle noch durch?«, fragte er Halice leise. »Schwer zu sagen«, gab die Söldnerin offen zu. »Sie hat einen eisernen Willen, so viel ist sicher, aber ein harter Schlag kann auch Eisen zerschmettern. Es hängt davon ab, ob sie gegossen oder geschmiedet ist.« Das beruhigte Temar herzlich wenig, aber während er sie heimlich beobachtete, stellte er ermutigt fest, dass ein Teil der Anspannung von ihr abzufallen schien, als sie mit Usara über was auch immer sprach. Die Seetang segelte weiter und signalisierte mit Flaggen der sie umkreisenden Mahlstrom, dass dies eher eine ungeplante Fahrt als die erwartete Ablösung war. Während das größere 414
Schiff sich auf eine längere Wartezeit einrichtete, segelten sie zur Einfahrt in den Sund zwischen den Inseln. Eine Weile später kam Muredarchs sich plagendes Schiff langsam in Sicht. »Habe die Ehre, Messire!«, grüßte der Pirat Temar liebenswürdig. Temar neigte als Antwort knapp den Kopf. »Was wollt Ihr?« »Was ich vorher auch wollte.« Muredarch stand hoch im Bug des Schiffes, in seinen üblichen feinen Kleidern. »Taue, Segel, Nägel und Bolzen.« »Dieses Gespräch hatten wir schon.« Temar versuchte zu erkennen, wen Muredarchs Männer da auf dem Deck des Einmasters festhielten. »Dieses Mal habe ich etwas, von dem ich weiß, dass Ihr es wollt.« Muredarch nickte seinen Untergebenen zu, und ein untersetzter, bärtiger Mann riss einen widerstandslosen Gefangenen hoch. »Er sollte barhäuptig vor seinem Sieur stehen, Greik«, sagte Muredarch scheinbar tadelnd. Der Pirat zog den Sack vom Kopf des Gefangenen. Temar hatte Mühe, keine Miene zu verziehen und mit ruhiger Stimme zu antworten, als Naldeth enthüllt wurde. »Ich will alle meine Leute auf einmal, nicht immer nur einen.« Naldeth war bleich vor Angst unter blauen Flecken und Dreck, und an einem Arm hatte er eine schwärende, dunkelrote Wunde. Er trug nichts außer ein paar zerfetzten Hosen, die mit einem Streifen Tuch gehalten wurden, seine nackten Füße waren zerschnitten und geschwollen. Temar drehte sich der Magen um, als er sah, wie der Zauberer vor Angst zusammenzuckte, als der Pirat Greik eine unerwartete Bewegung machte. »Einige wollt Ihr mehr als andere.« Muredarch nickte einem 415
anderen Mann zu, der einen Eimer über die Reling leerte. Blut und Eingeweide schwammen auf dem sanft gekräuselten Wasser. »Meine Freunde aus dem Norden wollen, dass wir diesen Knaben an sie übergeben«, fuhr Muredarch im Unterhaltungston fort. »Scheint, er ist einer eurer Magiegeborenen.« »Ach wirklich?« Temars Versuch zu bluffen war bestenfalls kläglich. »Jeder, den ich nicht brandmarken kann, ist von Zauberei berührt«, fauchte Muredarch, ehe er seine Fassung wiedergewann. »Meine Freunde aus dem Norden sind ganz scharf darauf, ihm mit ihren Hexereien den Kopf von innen nach außen zu kehren, aber ich dachte, Ihr würdet Euren Jungen vielleicht gerne gegen ein paar Zugeständnisse eintauschen.« Er nickte dem Mann mit dem Bart zu, der prompt Naldeth in die Nieren schlug. Als die Knie des Magiers nachgaben, knotete der Pirat ein Seil fest um seine Brust. »Wir wollen mal sehen, wie hoch Ihr Eure Freunde schätzt.« Muredarchs Stimme war seidenweich vor Drohung, und er trat beiseite, als Greik Naldeth auf das kleine Achterdeck zerrte. Ein zweiter Seemann kippte einen ekligen Eimer voll Blut und Knochen ins Meer. Temar sah unter dem Bug der Slup dreieckige Rückenflossen durch das Wasser gleiten, aber es waren nicht die Delfine, die sich an den Abfällen des Schiffes gütlich taten. »Haie«, grollte Halice an Temars Seite. »Ich hatte schon gehört, dass dies ein Spiel der übelsten Piraten sei.« Dunkle Schatten glitten unter der Wasseroberfläche dahin und verschwanden nur, um im Schatten der Schiffe wieder aufzutauchen. Ihre blaugrauen Rückenflossen durchbrachen die Wellen, einige hatten schwarze, andere weiße Spitzen. »Ich will nichts weiter, als ein Schiff wieder instand setzen 416
und Euer Siegel darauf, dass mein Gesetz auf diesen Inseln gilt.« Muredarch sprach mit dem vernünftigen Gebaren eines friedfertigen Mannes. »Ich kann Euch und euren Leuten von beträchtlichem Nutzen sein.« Temar räusperte sich. »Es ist nicht an mir, die Herrschaft über diese Inseln zu gewähren.« Muredarch lehnte sich gegen die Bugreling, als Greik das eine Ende des Taus losknüpfte, mit dem Naldeth gefesselt war. »Ihr habt das Ohr des Kaisers, Ihr habt Freunde an hohen Stellen in Hadrumal. Wenn Euer Wort mich unterstützt, werden sie den Fall der Runen nicht in Frage stellen.« »Ihr habt eine übertriebene Vorstellung von meiner Bedeutung«, sagte Temar kalt. »Weder Kaiser Tadriol noch Erzmagus Planir werden mein Dekret in dieser Sache akzeptieren.« Muredarch schüttelte den Kopf. »Aber dein Mann hier, der so verzweifelt bemüht ist, uns davon zu überzeugen, dass er weniger wert ist als der Dreck unter meinen Schuhen, er sagt, sowohl Kaiser als auch Erzmagus haben Euch Euch selbst überlassen und werden nicht angerannt kommen, um ihn oder jemand anderen zu retten. Nun, sie können sich kaum beschweren, wenn Ihr über Land und Handel so verfügt, wie Ihr es für angemessen haltet. Vor allem, wenn Ihr dazu gezwungen werdet.« Temar starrte Muredarch an, entschlossen, Naldeths Blick zu vermeiden. »Wir lassen uns nicht von Abschaum wie Euch einschüchtern.« »Dann haben wir ein Problem. Oder besser gesagt, Euer Freund hier hat ein Problem.« Muredarch betrachtete den bebenden Zauberer, den Kopf auf eine Seite gelegt. »Ist nicht genug Blut an ihm dran, Greik.« Der bärtige Mann drängte Naldeth zu Muredarch, der mit 417
langsamer, bewusster Bosheit sein Messer zog und damit rote Linien auf Naldeths nackter Brust zeichnete. Der Magier wand sich in dem vergeblichen Versuch, der Tortur zu entgehen, doch der bärtige Pirat hielt ihn fest. »Auch wenn sich Planir nicht in Kellarins Angelegenheiten mischt, tue einem aus Hadrumal etwas Böses und, bei Saedrins Schlüsseln, dann wird er sich in deine Angelegenheiten mischen!«, brüllte Temar wütend. Auf Muredarchs Nicken hin drehte Greik Naldeth um, sodass jeder an Bord der Seetang den großen Buchstaben M sehen konnte, der in den Magier geritzt war, mit schwungvollen Schnörkeln an jedem Strich. »Ich kann ihn zwar nicht brandmarken, aber ritzen.« Muredarch schüttelte den Kopf. »Wenn mir das nur schon früher eingefallen wäre. Aber dann hätten wir Euren Zauberer nie entdeckt. Aus jedem Fehler entsteht auch etwas Gutes, sagte mein Vater immer.« »Du schwachköpfiger Sohn einer pockenzerfressenen Hure«, rief Halice. »Wenn du deinen Vater kennst, dann nur, weil er der Laufbursche einer Puffmutter war.« Muredarch ignorierte sie. »Wollen wir jetzt mit einem hohen Gebot beginnen, und ich lasse immer etwas nach für jeden Mund voll, den Ihr von Eurem Mann verliert? Nein. Lasst uns mal sehen, ob Ihr den Schneid habt, um hohe Einsätze zu spielen, Junge. Gebt mir, was ich will, und Ihr bekommt ihn ganz zurück. Haltet aus, und der Preis steigt.« »Ich spiele mit Euch keine Spiele.« Temar wandte sich von der Reling ab und blickte in die entsetzten Gesichter von Usara und Allin. Guinalle stand zwischen ihnen, ihr Gesicht kreidebleich und die Augen wie Höhlen in einem Totenschädel. Ein verzweifelter Schrei und ein Platschen ließ Temar wieder 418
herumfahren. Greik hatte Naldeth über Bord geworfen, und der Zauberer versuchte verzweifelt, Wasser zu treten, blickte wild um sich, die Hände suchten nach einem Halt an den rauen Planken des Schiffes, sodass neue Kratzer noch mehr Blut ins Wasser entließen. Räuberische Finnen glitten in langen, neugierigen Bögen auf ihn zu. Greik lachte, als Muredarch an dem Seil riss, das unter Naldeths Armen befestigt war, und griff dann selbst mit zu. »Ruhig«, warnte Muredarch. Der Rest der Piraten balancierte das Gleichgewicht der Slup aus, in jedem Gesicht war zu lesen, dass sie dieses Spiel schon öfter gesehen hatten. Eine gekerbte Rückenflosse flog geradewegs wie ein Pfeil auf den zappelnden Magier zu. Sie verschwand unter Wasser, und Naldeths Schrei war ein ansteigender Ton purer Qual, abgeschnitten von einem keuchenden Gurgeln, als etwas ihn in das aufgewühlte Wasser zog. Mehr Finnen glitten in einem immer enger werdenden Kreis heran. »Zieht!« Muredarch war so konzentriert wie ein Fischer, der eine Angel in einem stillen Teich auswirft. Er riss an dem Seil, und die beiden fischten Naldeth regelrecht aus dem Meer. Der Magier hing schlaff in dem Seil, Wasser tropfte von seinem weißen Körper, rotes Blut quoll aus dem zerfetzten Stumpf, wo ein Bein knapp unterhalb des Knies abgebissen worden war. Eine suchende Schnauze durchbrach die Wasseroberfläche, schwarze Augen wie Jettsteine in dem stumpfen grauen Kopf, das klaffende Maul gesäumt von Zähnen, die schrecklicher waren als die mörderischste Menschenfalle. Der Hai sank zurück ins Wasser, den blassen Bauch für einen Moment nach oben gedreht, ehe er in den Tiefen verschwand. Ein Pfeil, ohne Erlaubnis von einem Besatzungsmitglied der Seetang geschos419
sen, traf das Wasser und schwamm nutzlos davon. Naldeth begann zu husten und Salzwasser zu spucken. Greik griff nach ihm und riss ihn hoch, und der Magier klammerte sich an die Bugreling, sein verbliebener Fuß strampelte in der Luft. Zu Temars Erstaunen band Muredarch rasch eine Aderpresse um Naldeths blutenden Schenkel. »Das können wir noch eine Weile so weitermachen, Junge«, sagte der Pirat zuversichtlich. »Naja, kommt darauf an, wie geschickt Greik mit dem Seil umgeht. Wir hatten schon mal einen, der den Verlust beider Arme und Beine überlebt hat, nicht wahr, Jungs?« Er tätschelte dem Zauberer das nasse und verfilzte Haar, während die Besatzung der Slup gehorsam kicherte. Halice packte Temars Unterarm. »Gib mir den Befehl, und ich spicke diesen Bastard so mit Pfeilen, dass sie kein Holz mehr für seinen Scheiterhaufen brauchen!« »Können wir sie alle töten?« Temar reckte das Kinn. »Und wer übernimmt den Platz dieser Kloakenratte? Höchstwahrscheinlich einer von Ilkehans Hexern. Wollen wir den Einsatz wirklich so hoch treiben?« »Wir wollen doch, dass er in diese Richtung blickt, oder?« Halice ließ sich nicht ablenken. Temar konnte hören, wie Usara und Allin eindringlich mit Guinalle flüsterten. Waren sie ebenso abgestoßen wie er selbst von dem, was er tat? »Kein Gebot?« Muredarch seufzte mit gespieltem Bedauern. »Dann ist wieder Zeit für ein kleines Bad.« Greik stieß den unglücklichen Magier von der Reling, ungeachtet seiner Angstschreie. »Dann mach, so schnell du kannst!« Guinalle lehnte sich zu420
rück, das Gesicht verzerrt vor Konzentration, während Allin und Usara nach vorn an die Reling der Seetang traten. Ein Donnerschlag aus dem klaren blauen Himmel brachte Muredarch zum Schweigen, als ein Blitz neben Naldeths Kopf ins Wasser schlug. Immer wieder wurde das Wasser von gleißendem Licht getroffen, das die Haie vertrieb. Muredarch hob seinen blutigen Dolch gegen Temar, doch seine Worte gingen in den Alarmrufen unter, als das Meer sich unter dem Piratenschiff aufbäumte. Muredarch klammerte sich an die Heckreling, das Gesicht hässlich verzerrt, nur um wenige Momente später zurückzuweichen, als ein goldener Blitzstrahl das Holz zersplitterte und das Tau durchtrennte, mit dem Naldeth festgebunden war. Die polierten Lampen explodierten, Glasscherben zerschnitten Muredarch Gesicht und Hände. Ein Pirat taumelte schreiend ins Wasser, doch obwohl die Haie geflohen waren, warf ihm niemand ein Seil zu. »Allin, rasch!«, keuchte Guinalle, als Naldeths bewusstloser Körper auf einem Schwaden trüben Lichtes aus dem Wasser gehoben wurde. Usara war noch immer mit den Piraten beschäftigt, ein krachender Donnerschlag zerschmetterte den Mast der Slup und explodierte in Lichtdolche, die die flatternden Segel zerfetzten. »Versenkt die Hunde!« Halice hob eine Hand zu den Bogenschützen, die an der Reling der Seetang standen und auf ihr Signal warteten. Usaras Gesicht verzerrte sich vor Konzentration. Magiegefärbter Nebel wie blutige Spinnweben stieg von dem feindlichen Meer auf und verdichtete sich um die Piraten, die mit wachsender Panik auf Seilschlingen einhieben, die sich um ihre Arme und Köpfe wanden. Die Magie löste sich zwar bei Berüh421
rung auf, aber die drohenden Tentakel erschienen einen Augenblick später erneut. Die Piraten schrien vor Angst. »Aufhören, ihr alle!«, schrie Guinalle. Die Edelfrau presste die Hände an die Schläfen, mit geschlossenen Augen und weißem Gesicht. Naldeth fiel bewusstlos mit einem dumpfen Aufprall aufs Deck der Seetang. »Kann mir einer mal helfen?« Allin war neben ihm auf den Knien und brach sich die Fingernägel an der festgezurrten Aderpresse. Sein geschwollener Schenkel war dunkel vor Blut, ein grausiger Kontrast zu seinem bleichen, geschundenen Körper. »Ein Schuss! Lasst sie büßen!« Halice senkte die Hand. Pfeile zischten durch die Luft, und die Piraten fluchten und schrien, wenn die Spitzen ihr Ziel fanden. »Wenn wir keine Segel haben, dann werden wir verdammt noch mal rudern! Holt die Riemen raus!« Muredarch war zwischen seinen Männern und warf einen Toten über Bord, ehe er selbst nach einem langen Ruder griff. »So, Sieur aus Tormalin, so also ehrt Ihr einen Waffenstillstand!« Muredarch stand furchtlos auf. »Ihr müsst noch viel lernen, Bursche, wenn Ihr wollt, dass man Vertrauen zu Euch hat!« Die langen Ruder waren ausgeteilt, und die Piraten mühten sich, außer Schussweite zu kommen. »Ihr habt das Vertrauen zuerst gebrochen!« Temars Wut gewann die Oberhand, ehe er merkte, dass er klang wie ein schmollendes Kind. Muredarch lachte spöttisch. »Ich habe eine ganze Festung voller Sklaven, und das Meer ist voller Haie. Wollen doch mal sehen, wer dieses Spiel zuerst leid ist!« Er wandte Temar den Rücken zu, um seinen Männern, die schwitzend auf die Meer422
enge zwischen den Inseln zuruderten, zu helfen und sie zu ermuntern. »Könnt ihr es versenken?«, fragte Halice Usara. »Nicht, wenn Muredarchs Hexer bereit sind zuzuschlagen.« Usara warf einen Blick zu Guinalle, die mit zusammengepressten Lippen nickte. »Wir müssen ihn an Land bringen.« Allin sah zu Temar auf. Sie hatte den Stumpf von Naldeths Bein über ihren Schoß gelegt und verband das zerfetzte Fleisch mit Leinenstreifen, die sie aus einem Hemd gerissen hatte. Knochensplitter behinderten sie, Blut lief ihr zwischen den Fingern hindurch und befleckte ihre Ärmel. Guinalle sank auf die Knie, um Naldeths Kopf in ihren Schoß zu betten. »Ich kann uns Wind machen«, schlug Usara vor. Guinalle öffnete für einen Moment die Augen. »Nein. Sie suchen uns mit allem, was sie zur Verfügung haben.« »Zurück«, winkte Temar dem Kapitän der Seetang zu. »So schnell Ihr könnt.« Usara starrte finster hinter den verschwundenen Piraten her. »Ich könnte dieses Nest voll Ungeziefer mit allen magischen Qualen ausmerzen, die mir nur einfallen.« »Hilf uns ihn hochzuheben«, verlangte Allin. »Vorsichtig. Pass auf, das Bein muss oben bleiben.« Guinalle hielt den Kopf, Temar und Usara trugen Naldeth in die Achterkabine, Allin achtete auf das verwundete Bein und den verbliebenen Fuß. Trotz aller Vorsicht erwischte sie unverhofft ein Rollen des Schiffes, sodass Naldeth zusammenzuckte und mit zusammengebissenen Zähnen aufstöhnte. »In die Koje mit ihm.« Usara und Temar legten Naldeth nieder, und Allin begann, die Stoffstreifen abzuwickeln, die bereits 423
blutdurchtränkt waren, um die offene Wunde zu untersuchen. »Wir müssen die Blutung stoppen, und das heißt Ausbrennen«, sagte sie rundheraus. »Ich wage es nicht, Magie zu verwenden, da er magiegeboren ist und solche Schmerzen hat. Ich muss es mit heißem Eisen machen.« Der widerwärtig süßliche Gestank nach Blut füllte rasch die übervolle Kabine. Temar merkte, dass ihm schlecht wurde, und schluckte hart. Danach fühlte er sich gleichzeitig leer und übel, sein Mund war ausgetrocknet. Die Kabine verdunkelte sich, als Halice im Türrahmen erschien. »Darum kümmere ich mich«, sagte sie grimmig. »Wirst du das denn können?« Temar nahm die blutigen Verbände, die Allin ihm hinhielt, und fragte sich, was er damit tun sollte. »Ich meine, wenn sie ihn nicht brandmarken konnten.« Allin streichelte Naldeths Stirn. »Geh und such alles, was den Schmerz lindern könnte: Tahn, Thassin, Schnaps. Frag alle Seeleute.« »Lass mich das machen.« Usara folgte Halice aus der Kabine. Temar wäre auch gegangen, aber Naldeth wand sich plötzlich in der Koje. »Halt ihn fest«, schrie Allin alarmiert, und Temar drückte die Schultern des Magiers zurück auf die Laken. Naldeths Augen blieben geschlossen, die Lippen waren von den zusammengebissenen Zähnen zurückgezogen, abgehackte Atemzüge rasselten in seiner Kehle. An seinem Hals war der schnelle und unregelmäßige Pulsschlag deutlich zu erkennen. Temar hielt ihn fest und erwartete jeden Moment eine Hitze, die ihm die Hände versengte. »Apfelschnaps.« Usara erschien in der Tür und hielt eine dunkle Flasche hoch, die in einen Lederbeutel eingenäht war. »Benutz den Schnaps, um die Wunde zu reinigen«, sagte Gui424
nalle von der Ecke her, in der sie stand. Ihre Augen nahmen nichts wahr, während sie ihre Zauberkunst ausübte. »Es nützt nichts gegen die Blutung, wenn er ihn trinkt.« Sie sah Usara an. »Die Hexer versuchen, Muredarchs Absichten zu lesen. Wenn wir uns zurückziehen, haben sie kein Interesse mehr daran, uns zu belästigen. Du könntest uns schnell nach Hause bringen, mit ein bisschen Magie, nur gerade rings um das Schiff. Aber ich kann nicht für euch Wache halten«, warnte sie mit großen Augen, »nicht, wenn ich Naldeth helfe, den Schmerz des Ausbrennens zu ertragen.« »Usara kennt ein paar grundlegende Abwehrmaßnahmen gegen Zauberkunst.« Allin konzentrierte sich noch immer auf Naldeths Stumpf, ihre Finger drückten zu, um die Blutung zu stoppen. Temar ging näher zur Tür und ergriff die Gelegenheit, ein paar Atemzüge lang frischere Luft zu schnappen, als Usara wieder ging. Guinalle legte eine sanfte Hand auf Naldeths Stirn. »Konzentriere dich auf meine Berührung, auf meine Stimme. Ich trage dich von dem Schmerz weg.« Der gepeinigte Zauberer zuckte zusammen, aber Guinalle beharrte mit sanften, unausweichlichen Händen, beugte sich dicht zu ihm, um ihre Zauber zu wispern. Naldeth unterdrückte ein Schluchzen tief in der Kehle, seine Augen rollten unter den flackernden Lidern hin und her. Allmählich ging sein mühsamer Atem langsamer, die Anspannung seines Körpers ließ nach. Temar sah Tränen über Allins Gesicht rinnen. Sie schniefte gereizt und versuchte, sich das Gesicht an der Schulter trocken zu reiben. Temar suchte in seiner Tasche nach einem Taschentuch und trocknete ihr das Gesicht. Als sie ihm dankte, fiel ihm auf, wie erstaunlich liebreizend ihr Lächeln sein konnte. 425
»Passt auf eure Rücken auf.« Halice hielt die Kabinen tür auf, als der Schiffszimmermann der Seetang mit dick gepolsterten Lederhandschuhen ein kleines Kohlenbecken hereintrug. Sein Lehrling folgte ihm und schleppte eine schwere Schieferplatte. »Stell es hier ab.« Der Schiffbauer richtete das Becken aus, als er es auf den Schiefer setzte. »Ich weiß nicht, was für Eisen Ihr wollt, Herrin, also habe ich Euch eine ganze Auswahl mitgebracht.« Der Bursche legte verschiedene Zangen, eine Brechstange und ein einfaches Stück Eisen in die glühende Holzkohle. Allin zog einen Handschuh an, den der Lehrling ihr hinhielt. Als sie die Eisenstange aus den Kohlen nahm, glühte das Ende in einer weißen Hitze, die das Becken nie hätte erbringen können. »Halt sein Bein für mich fest«, bat sie Temar. Temar biss sich auf die Lippe und kniete nieder, um Naldeths Schenkel so ruhig zu halten, wie er konnte. Rasch deckte Allin das gemarterte Fleisch auf. Frisches Blut floss aus der Ruine aus zerfetzter Haut, zerbissenen Muskeln und zerschmetterten Knochen. Temar musste das Gesicht abwenden. Er hatte genügend Verwundungen auf dem Schlachtfeld gesehen, aber das hier war schlimmer. Ein Mensch, der von einem geistlosen Meerestier so zugerichtet worden war. Allin beugte sich näher heran und hielt die dicke Stange so graziös wie eine feine Feder beim Schreiben eines Manuskripts. Naldeth wimmerte, und Temar fühlte, wie sich das Bein unter seinen Händen verkrampfte. So dicht bei Guinalle und bei allem, was sie verband, spürte er, wie sie jeden Impuls bekämpfte, der dem Magier zuschrie, sich von dieser Folter loszureißen. Der Gestank brennenden Fleisches stieg Temar in die Nase und brannte in seinen Augen, aber er konnte sich nicht abwenden, 426
wenn er nicht Allin behindern, nicht in Naldeths Augen sehen wollte. »Fast geschafft«, murmelte Allin. Die zweite Anwendung des Eisens dauerte nur einen Augenblick, doch der Gestank war ebenso schlimm. Als Temar fühlte, wie Naldeth schlaff in die Bewusstlosigkeit sank, konnte er nicht anders, als sich die Hand vor den Mund zu schlagen. »Er hat die Besinnung verloren.« Guinalle versuchte aufzustehen, aber ihre Knie gaben nach, und sie wäre gefallen, hätte Temar sie nicht aufgefangen. Sie begann zu würgen, was sie beide überraschte. »Draußen.« Temar fasste sie um die Taille. »Komm.« Allin, der der Schweiß auf der Stirn stand, fuhr entschlossen damit fort, Naldeths Stumpf mit frischen Tüchern zu verbinden. »Noch nicht.« Temar merkte, dass ihm das Hemd am Rücken klebte, als er Guinalle halb führte, halb auf das Deck zerrte. Die Edelfrau war aschgrau, aber die salzige Luft verhinderte, dass sie sich übergeben musste. »Das kommt davon, Zauberkunst auf dem Wasser zu wirken«, sagte sie schwach. »Ich brauche nur einen Augenblick, ehe ich zurückgehe.« »Wird er sterben?« Temar zog tief die frische Luft in seine Lungen, und seine Übelkeit verging. »Im Augenblick nicht.« Guinalle glättete mit zitternden Fingern ihre Flechten. »Dann wirst du keinen Heilzauber an ihm mehr ausführen, bis wir sicher an Land sind«, befahl Temar ihr direkt. »Du verlangst dir zu viel ab.« »Wer könnte es denn sonst tun?« Guinalle starrte ihn finster 427
an. »Um gegen die Hexer der Elietimm zu kämpfen, niemanden«, gab Temar zurück. »Und deswegen gestatte ich nicht, dass du dich damit verausgabst, dich um Naldeth zu kümmern. Seeleute und Söldner haben früher auch Beine verloren und haben es ohne Ätherheilung überlebt. Ich bin sicher, dass Halice und Meister Jevon wissen, was zu tun ist.« »Du willst es mir nicht gestatten?« Die Wut verlieh Guinalles bleichen Wangen einen roten Schimmer. »Wie willst du mich denn aufhalten? Welches Recht hast du, mir Befehle zu erteilen, wenn der arme Junge durch deine Herzlosigkeit sein Bein überhaupt erst verloren hat?« »Durch mich?« Temar starrte sie mit offenem Mund an. »Du hättest ihn sicher und ganz haben können!« Guinalle stieß einen anklagenden Finger in Temars Brust. »Um ein paar Nägel und etwas Segeltuch willen!« »Und das wäre dann das Ende gewesen?« Temar verschränkte die Arme, damit er Guinalles Hand nicht wegschlug. »Sei doch nicht so dumm! Wenn du einem solchen Kerl einmal nachgibst, kommt er wieder und verlangt zwei- und dreimal so viel.« »Welchen Preis hat denn das Leben eines Menschen?«, schrie Guinalle. »Mit welchem Preis würde Muredarch sich wohl zufrieden geben, wenn er mich erst einmal in die Flucht gejagt hat?«, entgegnete Temar zornig. »Er will diese Inseln für sich haben, und Kellarin kann ihm gestohlen bleiben. Wir stellen uns jetzt gegen ihn, oder er wird uns ausbluten und auf unsere leere Hülle spucken.« »Es war für uns alle ein harter Tag.« Usaras Hand schloss sich überraschend um Temars Arm. »Warum verschiebt ihr diese 428
Diskussion nicht auf ein andermal, irgendwo, wo es nicht so öffentlich ist?« Trotz seiner friedlichen Worte war die Stimme des Zauberers gepresst vor Ärger. Guinalle wurde tiefdunkelrot, wandte ihr Gesicht dem Meer zu, den Rücken steif vor Empörung. Temar holte tief Luft. »Was hast du da?« Usara trug eine wilde Mischung aus Gläsern und Flaschen in einem ausgefransten Weidenkorb. »Die Hälfte der Seeleute scheint ein von einem Schrein sanktioniertes Allheilmittel in der Seekiste zu haben oder eine Salbe mit dem Siegel des Kaiserlichen Apothekers.« Guinalle sah über ihre Schulter. »Weißt du, was da drin ist?« Usara zuckte die Achseln. »Nicht wirklich.« »Ich werde sehen, was Allin und ich darüber herausfinden.« Guinalle nahm ohne Zögern den Korb. Usara wollte ihr in die Kabine folgen, doch Temar hielt ihn am Arm fest. »Ich habe nicht damit angefangen. Es war Guinalle.« Jetzt höre ich mich schon wieder an wie ein jammerndes Kind, dachte Temar verärgert. »Was hat das damit zu tun?« Usara war unversöhnlich. »Du bist unser Anführer, und du solltest ein Beispiel geben.« »Durch meine Weigerung, einer Erpressung nachzugeben?« Erkannte denn niemand seine unmögliche Lage? Temar schüttelte den Kopf. »Egal. Ich mache mir Sorgen um Guinalle.« Usaras Verärgerung machte müder Besorgnis Platz. »Das tun wir beide, aber sie beharrt darauf, dass alles in Ordnung ist.« Temar wedelte frustriert mit der Hand. »Sie ist wie eine Lyra, die jemand zu hoch gestimmt hat. Eine Weile bekommen wir vielleicht schöne Musik zu hören, aber sie könnte ohne Vorwarnung zerspringen, und dann haben wir gar keine Saiten 429
mehr auf unserem Bogen.« »Ich glaube, dieser Vergleich bezieht sich eher auf Waffen als auf Musikinstrumente.« Usara versuchte mit herzlich wenig Erfolg, einen leichten Ton anzuschlagen. »Adepten werden ausgebildet, um ihre Gefühle von ihren Zaubereien zu trennen. Guinalle ist deshalb so gut in Zauberkunst, weil sie sich so gut von ihren Gefühlen fern halten kann.« Temar zögerte. »Aber früher hat sie sich gestattet, Vergnügen zu empfinden, sich zu entspannen, an einem Tanz zu erfreuen, einem Flirt, genau wie jedes andere Mädchen.« Er sah den Zauberer scharf an. »Bewunderst du sie?« »Sie hat meine höchste Wertschätzung«, sagte Usara unbeholfen. »Sie hat einen bemerkenswerten Verstand.« »Glaub mir, sie ist genauso viel Frau wie Intellekt«, sagte Temar inbrünstig. »Aber sie hat das vergessen, und das macht die Dinge schlimmer. Du bist wahrscheinlich der einzige Mensch, der sie daran erinnern kann, der sie so beruhigen kann, dass sie sich ordentlich entspannt.« Er warf dem Zauberer einen bedeutungsvollen Blick zu. »Soll ich sie etwa in eine passende Koje schubsen, damit sie bessere Laune bekommt?« Usara war hin- und hergerissen zwischen Ungläubigkeit und Empörung. Temar wurde dunkelrot, blieb aber bei seinem Standpunkt. »Wenn es nötig ist. Und sag mir nicht, dass du nicht willst.« »Ich sage dir, dass dich das nicht das Geringste angeht.« Usara rieb sich den Bart. »Und ich halte dir für deinen kolossalen Mangel an Takt die Belastungen des Tages zugute. Und da wir gerade schon so offen reden, Messire, darf ich vorschlagen, dass du dich um deine eigenen Angelegenheiten kümmerst?« Er machte auf dem Absatz kehrt und verschwand in der Achterka430
jüte, ehe Temar antworten konnte. Das hätte besser laufen können, dachte Temar düster. Nein, verdammt noch mal, jemand musste zu Guinalle durchdringen, und Usara war der richtige Mann dafür. Er überlegte, ob er zu Halice auf dem Vordeck gehen sollte, wo sie mit Meister Jevon sprach. Würde sie ihm gratulieren, weil er Muredarch die Stirn geboten hatte, oder würde sie ihm die Schuld an Naldeths Verstümmelung geben? War sie einfach nur wütend auf ihn, weil er nicht alle Piraten auf der Stelle getötet hatte, Verhandlungen hin oder her? Wie viele solcher Schandtaten hatte Raeponin wohl auf Halices Kerbholz versammelt, wenn sie einst ihre Rechnung bei Saedrin begleichen musste?, fragte sich Temar mürrisch. Vielleicht war es anders, wenn man Söldner war. Die Seetang fuhr weiter und schnitt durch die hohen Wellen, die von dem endlosen Ozean hereinspülten. Das Schiff rollte, als der Steuermann den Kurs änderte, um auf den Wellen zu reiten. Temar starrte auf das Wasser, das sich hob und senkte, erfasste jede Einzelheit von windzersprühter Gischt, jedes Glitzern und jeden Schatten von Sonnenlicht auf dem intensiven Blau. Wie fanden die Vögel, die so fröhlich auf den verschwindenden Kämmen ritten, in dieser riesigen Leere Fische? Schliefen sie auf dem Wasser, oder flogen sie für die Nacht an Land? Hatte schon jemals jemand diese Vögel gesehen, außer den wenigen Menschen, die diese Inseln hier mitten im Ozean entdeckt hatten? Nein, entschied er, er wollte nicht über Suthyfer nachdenken. Er hatte Guinalle gesagt, dass sie ihre Probleme für eine Weile verdrängen musste, also war es das Mindeste, was er tun konnte, seinem eigenen Rat zu folgen. Aber wie sollte er eine Antwort auf Muredarchs Drohung finden? Ziehe nie gegen einen 431
stärkeren Mann am Seil, hatte sein Großvater immer gesagt. Ein leiser Schritt neben ihm riss Temar aus seinen fruchtlosen Überlegungen. Es war Allin, ihr schlichtes braunes Kleid war voller Blutflecken und Wasser, auf einem Ärmel hatte sie einen Schmierfleck von einer Salbe. Ihr rundes Gesicht war traurig, ihre braunen Augen blickten verletzlich, und ihre herabgezogenen Mundwinkel bebten. »Werde ich gebraucht?«, fragte Temar und wappnete sich. Allin schüttelte den Kopf und schwieg einen Augenblick, ehe sie antwortete. »Nein, Guinalle und Usara sitzen bei Naldeth.« Sie brachte ein schiefes Lächeln zu Stande. »Sie diskutieren über Theorien der Magie, und da dachte ich, ich schnappe lieber frische Luft.« »Theorien der Magie?« Die Magierin nickte. »Usara fiel eine uralte Abhandlung ein, die behauptet, Elementaffinität sei eine Erweiterung der fünf physischen Sinne in die unsichtbaren Reiche der Natur. Sie versuchen zu entscheiden, ob es Entsprechungen zwischen dieser Doktrin und der Doktrin der fünf Verstandeszustände gibt, die laut Guinalle der Zauberkunst zugrunde liegen. Er hatte immer die Vorstellung, dass es ein fundamentales Gleichgewicht geben muss, das allem zugrunde liegt.« Sie klang skeptisch. »Guinalle muss sich ausruhen und nicht ihr Gehirn mit Räseln martern«, sagte Temar erregt. Allins kurzes Auflachen überraschte ihn. »Ich glaube, für die beiden ist eine kleine intellektuelle Debatte eine willkommene Ablenkung von der blutigen Wirklichkeit, mit der wir es zu tun haben.« Dann sollten sie gern dabei bleiben, dachte Temar. »Wie geht 432
es Naldeth?« Allin sog scharf die Luft ein und nahm die Schultern zurück. »Bewusstlos, aber die Blutung hat aufgehört.« »Er verdankt dir sein Leben.« Temar versuchte sie zu trösten. »Für den Augenblick.« Allin presste die Lippen zu einer unglücklichen Linie zusammen, Tränen stiegen ihr in die Augen. »Es besteht alles nur aus Fetzen und Klumpen von Haut und Fleisch, das grün verfaulen wird, und das wird ihn in ein paar Tagen umbringen. Wir müssen den Rest seines Beins abnehmen, irgendwo in der Mitte des Oberschenkels, und genug Haut finden, um den Stumpf zu verschließen.« Sie bemühte sich, nicht zu weinen. »Aber er hat schon so viel Blut verloren, ich weiß nicht, ob er das überlebt. Aber wenn wir es hinauszögern, riskieren wir, dass die Wunde anfängt zu eitern.« Temar wusste nicht, was er sagen sollte, deshalb zog er sie nur an sich und hielt sie fest, eine Wange an ihr seidenweiches Haar gedrückt. »Wenn wir ihn nur nach Hadrumal schaffen könnten«, schluchzte Allin. »Aber Guinalle sagt, die Hexer werden auf der Lauer liegen, und dann wären wir alle in Gefahr, am meisten Naldeth. Was soll ich nur Planir sagen, wenn er stirbt?« »Warum sollte er dir dafür die Schuld geben?« Temar fummelte ungeschickt nach seinem Taschentuch, um Allin die Tränen vom Gesicht zu wischen. »Ich bin derjenige, der die Schuld trägt, weil er Muredarch getrotzt hat!« Allin sah zu ihm auf, ihre roten Augen weit aufgerissen. »Du hättest ihm doch nicht nachgeben können!« »Danke.« Temar küsste sie geistesabwesend auf die Stirn. »Ich hoffe nur, dass wenigstens ein paar andere deiner Meinung sind.« Allins Arme schlangen sich in stummer Unterstützung 433
um seine Taille und wärmten ihn. »Ich spiele dieses Spiel nicht noch einmal.« Halices Ankunft überraschte sie beide. Allin wollte sich lösen, aber Temar hielt sie fest, und so blieb sie in seinen Armen. »Muredarch glaubt vielleicht, er habe alle Runen in der Hand, aber ich habe vor, ihm den Spaß zu verderben.« Halice sah so gefährlich aus, wie Temar sie noch nie gesehen hatte. »Er kann uns nicht quälen, indem er Gefangene tötet, wenn wir sie ihm wegnehmen.« »Du kannst nicht angreifen, während wir noch immer darauf warten, dass Ryshad und Livak Ilkehan töten.« Temar schaffte es mühsam, es wie eine Aussage und nicht wie eine Frage klingen zu lassen. »Ich spreche von einem Überfall auf diese verdammte Festung, die sie da haben.« Halices Gesicht war hart und verschlagen. »Wir lassen die Gefangenen frei und bringen sie in den Wald. Dann haben Muredarch und seine verdammten Hexer etwas Neues, worüber sie sich Sorgen machen können, während wir darauf warten, dass ‘Gren seinen Spaß hat.« Temar stellte fest, dass er nie richtig verstanden hatte, welche Eigenschaften Halice unter den Söldnern Lescars so herausragend machte ...
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