Seewölfe 127 1
Roy Palmer 1.
„Shanghai“, sagte Vinicio de Romaes. Seine Augen verengten sich ein wenig, und er ließ ei...
16 downloads
787 Views
343KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Seewölfe 127 1
Roy Palmer 1.
„Shanghai“, sagte Vinicio de Romaes. Seine Augen verengten sich ein wenig, und er ließ einen prüfenden Blick über das bunte, lärmende Durcheinander des Hafens gleiten. „Hier schlagen wir reiche Beute“, erklärte er überzeugt. Er war ein großer, stämmig gebauter Mann mit leicht schütterem, ungepflegtem Haar und Zügen, die in ihrer Härte und Verbissenheit nicht nur auf reiche Lebenserfahrung, sondern auch auf eine gehörige Portion Hinterhältigkeit und Brutalität schließen ließen. Der kantige Schnitt seines Gesichts verstärkte diesen Ausdruck noch. „Entern wir ein Schiff, oder dringen wir in ein Haus reicher Leute ein und plündern es aus?“ wollte Nakamura, der Mann aus Zipangu, wissen. „Das überlassen wir mehr oder weniger dem Zufall“, erwiderte der Portugiese mit dünnem Lächeln. Er sprach chinesisch und beherrschte die fremden Vokabeln fast in Vollkommenheit. Mit seiner Schiffsbesatzung, einem durcheinander gewürfelten Haufen wüster Kerle, hatte er sich auf diese Art der Verständigung geeinigt. Nur wenige von ihnen konnten ein paar Worte Portugiesisch. Vinicio de Romaes trug die einfache Kleidung eines chinesischen Händlers und dazu einen Tellerhut auf dem Kopf. In dieser Maskierung hatte er und fünf seiner Männer sich vom Unterlauf des Jangtsekiang bis hierher, in die große Stadt, gepirscht — obwohl sie riskierten, nie wieder zu ihrem Schiff zurückzukehren. Hier würde man sie nicht nur jagen, wenn man sie bei einer strafwürdigen Tat ertappte, hier faßte man sie auch. Sie saßen in einem geräumigen Sampan, den sie von Bord ihrer Galeone abgefiert hatten: de Romaes, Nakamura, Raga, der Malaie, ein Chinese, ein Mongole — und Fong-Ch’ang, der ehemalige Schiffbrüchige, den die Piraten nach einem Sturm oberhalb von Xiapu aus der See gefischt hatten.
Das Schwert des Henkers
Er hatte bei ihnen auf der Galeone die Drecksarbeit erledigen müssen, denn natürlich hatten de Romaes und seine Kerle ihn nicht aus purer Menschenfreundlichkeit vor dem Ertrinken bewahrt. Rasch hatten sie sich davon überzeugt, daß er weder Wertsachen bei sich trug noch den Weg zu Reichtümern kannte — er war ein armer Tropf im wahrsten Sinn des Wortes, und nach dieser Feststellung war er ihnen als Aufklarer und Diener gerade noch gut genug gewesen. Fong-Ch’ang, ein geknechteter, erniedrigter Mann, war offenbar einem Schicksal erlegen, das ihn immer tiefer ins Unheil trieb. Stumm, mit leicht gesenktem Haupt, so stand er im Heck des Sampans und wriggte auf die Kaimauern Shanghais zu. Die Galeone der Piraten lag in einer geschützten Bucht des Jangtsekiang hinter weit überhängendem Gestrüpp versteckt. Während der Nacht hatte sich de Romaes mit seinem Schiff den Strom hinaufgetastet. Ein günstiger Wind und auflaufendes Wasser des Gelben Meeres hatten ihnen genügend Fahrt verliehen. Sie waren der Aufmerksamkeit der Wachtposten entgangen, die auch bei Dunkelheit am Südufer des großen Flusses lagerten und die Stadt gegen Freibeuter und andere Eindringlinge absicherten. Lange hatte Vinicio de Romaes geplant, verworfen, neu konzipiert, ehe er sich an die Verwirklichung dieses Vorhabens herangetraut hatte. Bisher hatte nur einer gewagt, in Shanghai einen Schlag zu landen: Khai Wang, die „Geißel des Gelben Meeres“. Noch heute sprach man in allen Provinzen des Reiches der Mitte davon, wie er mit seiner Dschunke Fei Yen, der „Fliegenden Schwalbe“, den Hafen überfallen und im Handstreich Beute gerissen hatte. De Romaes, der Khai Wang kannte und achtete, wollte es dem chinesischen Seeräuber nicht gleichtun und den Hafen befeuern. Das Kopieren lag dem Portugiesen von Natur aus nicht, außerdem hatte er seine eigene Taktik und seine Tricks.
Roy Palmer
Seewölfe 127 2
Jetzt, da er sich bis an die Stadt herangeschlichen hatte, schienen alle Widrigkeiten überwunden zu sein. De Romaes blieb trotzdem auf der Hut. Bei aller Euphorie — es bestand immer noch die Möglichkeit, daß sie angehalten und kontrolliert wurden. Sie drangen mit dem Sampan in das Gewimmel von Schiffen und Booten ein, in das schier unermüdliche Auf und Ab, das Gebaren redseliger, von Wohnboot zu Wohnboot debattierender und feilschender Menschen. So aufmerksam der Piratenführer auch zur Kaimauer spähte, es löste sich von dort aus kein Wasserfahrzeug mit Soldaten an Bord, die auf ihn zuhielten und ihm einen Strich durch seine Rechnung zogen. Unvermittelt hatte de Romaes das Gefühl, irgendetwas Ungewöhnliches könne in Shanghai geschehen sein. Etwas, das die Aufmerksamkeit der Menschen uneingeschränkt in Anspruch nahm und von ihm und seinen fünf Gefährten ablenkte. Niemand hielt sie auf. Umso besser, dachte er, blieb aber trotzdem mißtrauisch. Wenn man ihn und seine Spießgesellen erkannte, wenn sie gestellt und gefangengenommen wurden —dann konnten sie alle Hoffnungen aufgeben. Das Todesurteil war ihnen sicher. Für all das, was sie während der vergangenen Jahre verbrochen hatten, gab es nur den einen Richterspruch: Tod durch das Schwert des Henkers. Tuscheporträts, die man vor einiger Zeit sowohl von Vinicio de Romaes als auch von den meisten seiner Kumpane gezeichnet hatte, waren vervielfältigt und durch berittene Boten in alle Provinzen des großen Reiches verteilt worden. Steckbriefe, Reispapier, Buchdruck, hervorragende Kommunikationswege - all diese Errungenschaften der hochentwickelten chinesischen Kultur verdammte de Romaes, denn sie behinderten ihn und engten seinen Aktionsspielraum ein.
Das Schwert des Henkers
De Romaes war ein kaltblütiger, skrupelloser Pirat. Er wurde nicht nur von den Chinesen, sondern auch von seinen eigenen Landsleuten verfolgt. Er war ein ehemaliger portugiesischer Soldat, ein Meuterer und Fahnenflüchtiger, der mit seiner Horde überfiel, was ihm vor die Geschützrohre geriet: chinesische, japanische, portugiesische, spanische Schiffe. De Romaes wandte sich um und grinste den Mann am Riemen an. „Fong“, sagte er. „Du erhältst heute noch deine große Bewährungsprobe, ich versichere es dir. Du hast gesagt, du willst in unsere Reihen aufgenommen und voll anerkannt werden. Nun, ich gebe dir die Chance dazu. Du hast eine Reihe von Prüfungen zu bestehen, aber wenn du deine Sache gut erledigst, bist du einer von uns.“ „Ein echter Pirat“, fügte Nakamura hinzu. „Ja“, antwortete Fong, mehr nicht. „Du bist nicht sehr gesprächig“, sagte Raga mit verschlagener Miene. Langsam hatte er sich auf seiner Ducht umgedreht und fixierte nun den hageren, hochgewachsenen Chinesen im Heck des Bootes. „Die Taten zählen“, erwiderte FongCh’ang ruhig. „Nicht die Reden.“ Vinicio de Romaes entblößte seine weißen Zahnreihen. „Mit anderen Worten, du hältst mich für einen Schwätzer. Und die anderen auch, oder?“ „Das habe ich nicht gesagt.“ Raga schob sich auf Fong zu und verhielt dicht vor ihm. Plötzlich zog er aus seinem Ischang den Kris, den malaiischen Krummdolch, hervor und hielt Fong die Spitze dicht vor, die Kehle. „Ich warne dich“, zischte er. „Gib acht. Wenn du uns etwa täuschen willst und auf eine Gelegenheit zum Türmen wartest, dann steche ich dich nieder, Freundchen.“ „Ich werde nichts dergleichen tun“, entgegnete Fong mit fester Stimme. De Romaes lachte leise auf und zog sich die Tellermütze etwas tiefer in die Stirn. Von den Booten, an denen sie mit dem Sampan vorbeiglitten, blickten vereinzelt Männer, Frauen und Kinder herüber.
Seewölfe 127 3
Roy Palmer
„Laß ihn, Raga“, sagte der Portugiese. „Er weiß sowieso, daß er uns nicht hinters Licht führen kann. Es wäre sein Ende, und er hängt am Leben, trotz allem.“ Fong nickte, erwiderte aber nichts. Es war nicht das erste Mal, daß er sich so unterwürfig zeigte und beteuerte, nichts gegen seine Bezwinger im Schilde zu führen. Er hatte schon auf einer Dschunke dienen müssen, einem kleinen Küstensegler, dessen Seeleute ihn in den Gassen von Xiapu überwältigt und dann entführt hatten. Immer wieder hatte er dann auf einen glücklichen Zufall gehofft, der ihm aus der Patsche half - und dieser war eingetreten, nur nicht ganz so, wie er ihn sich vorgestellt hatte. Ein Sturm hatte die Dschunke vernichtet, und die Besatzung war umgekommen. Nur Fong-Ch’ang war als einziger von de Romaes gerettet worden - und vom Regen in die Traufe geraten. Ich werde fliehen, dachte Fong immer wieder, ich werde alles tun, um diesen Unmenschen zu entgehen. Lieber sterbe ich, als mich noch länger von ihnen mißhandeln zu lassen. * Der Seewolf stand auf dem Achterdeck der „Isabella VIII.“ und hatte die Arme auf den Rücken gelegt. Es war fast eine Verlegenheitsgeste, denn im Augenblick wußte er nicht, was er unternehmen sollte– wirklich nicht. Er sandte einen langen, forschenden Blick über den Hafen und die Stadt und blinzelte, als die grellen Sonnenstrahlen ihm in die Augen stachen. Es war der neunte September 1584, früher Vormittag im Hafen von Shanghai, und Philip Hasard Killigrew hatte das Gefühl, wieder genau dort angelangt zu sein, wo er schon in Xiapu, dem verdammten Xiapu, gelandet war. Ihm klangen noch die Worte des Dolmetschers in den Ohren, der ihnen sofort nach ihrer Landung an der großen Holzpier auseinandergesetzt hatte, was der Würdenträger aus der Sänfte öffentlich
Das Schwert des Henkers
verkündet hatte: der schwarze Segler sei konfisziert – namens der Regierung – die „Yang kuei tzu“, die fremden Teufel, hätten nichts mehr an Bord von „Eiliger Drache über den Wassern“ zu suchen, dürften vorläufig aber noch bleiben, gnädigerweise, bis alles geklärt sei! Da nutzte auch das Fluchen von Carberry nichts, daran änderte auch die Drohung von Thorfin Njal nichts, er werde hier ganz groß aufräumen. Der Wikinger, wie immer in seine rauchgrauen Felle gekleidet und mit seinem unvermeidlichen Kupferhelm angetan, hatte den schwarzen Segler verlassen und war zur Beratung neben Hasard aufs Achterdeck der „Isabella“ getreten. „Feine Begrüßung, das“, sagte er noch einmal. „Aber diesmal lernen mich die Gelbmänner kennen, diesmal laß ich mir nichts bieten. Kleinholz mach ich aus diesem Shanghai, bei Odin und seinen Wölfen ...“ „Thorfin“, erwiderte Hasard. „Hör doch auf. So kommen wir überhaupt nicht weiter.“ „Willst du etwa einen Rückzieher …“ „Nein“, unterbrach ihn der Seewolf. „Nur wie ein blindwütiger Narr werde ich mich nicht aufführen.“ „Narr? Was? Meinst du etwa, ich ...“ „Mister Njal“, sagte Hasard scharf. „Gerade du solltest dich zurückhalten, denn du und deine Männer vom schwarzen Schiff, ihr habt im Moment die geringere Bewegungsfreiheit. Wenn jemand SiriTong finden und zurückholen kann, dann sind wir Seewölfe es.“ „Nun mach aber mal einen Punkt.“ Der Wikinger ächzte. Hasard wies auf die Menschenmenge. Sie hatte sich auf dem Kai zusammengeballt, ein tuschelnder, schnatternder, ständig in Aufruhr befindlicher Haufen. Männer und Frauen und ein paar Halbwüchsige, die die „fremden Teufel“ wie Wundertiere beäugten. „Sie warten nur darauf, daß wir loslegen“, sagte der Seewolf. „Sekunden später wäre hier die Hölle los, aber wir hätten von
Roy Palmer
Seewölfe 127 4
vornherein den schlechteren Stand, weil das Überraschungsmoment nicht auf unserer Seite ist. Nein, den Gefallen tun wir ihnen nicht.“ Thorfin Njal stemmte die mächtigen Fäuste in die Seiten und gab einen grollenden Laut von sich. Er konnte kaum noch an sich halten, das war ihm deutlich anzusehen. „So. Und was unternehmen wir stattdessen? Was, frage ich?“ Hasard ließ die Frage vorerst unbeantwortet. Sein Blick schweifte wieder über den Hafen. Shanghai - der Wangpufluß war hier, gut acht Meilen vor seiner Mündung in den Jangtsekiang, beinahe eine halbe Meile breit. Dschunken kreuzten auf dem milchigen, von lehmigen Streifen durchwebten Wasser, Fährboote segelten fast unaufhörlich von einem Ufer zum anderen, und Sampans schaukelten auf den kleinen Wellen, immer wieder die Sampans, die aus der fernöstlichen Kulisse nicht fortzudenken waren. Shanghai war ein malerischer Hafen, der allen fremd und unheimlich anmutenden Zauber des Gelben Reiches offenbarte. Keiner vermochte sich diesem Zauber zu entziehen, auch Hasard nicht. Boote, beladen mit Blumen, glitten soeben an der „Isabella“ und dem schwarzen Segler vorbei, und ein Hauch von Lotosduft schien herüberzuwehen. Während die Seewölfe und die Crew des schwarzen Schiffes auf Oberdeck standen und berieten, wuchs die Menschentraube auf dem Kai. Sie schob sich näher heran und umringte die großen Schiffe. Alles palaverte, gestikulierte, wollte teilhaben an dem Abenteuer, das die Fremden zu verkörpern schienen. . Und immer noch standen die Soldaten in ihren grünseidenen Gewändern da. Die Armbrüste hielten sie im Anschlag. Hinter ihnen, auf dem Kai, war das stetige Hin und Her, das fortwährende Bewegen von Lasten, die Mühsal der Kulis, die Reissäcke und andere Bündel auf den Schultern schleppten oder Frachtgut auf Einradschiebekarren geladen hatten und sich damit abplagten.
Das Schwert des Henkers
Der Trubel wogte in den Gassen des Hafenviertels, und dort, in einigem Abstand, gewahrte der Seewolf auch Rikschas, die von eilfertigen kleinen Männern gezogen wurden. Fein herausgeputzte Männer und chinesische Modedamen blickten von den Sitzbänken aus herüber. Sie hielten farbige Sonnenschirme aus Ölpapier. Thorfin Njal wies auf die Soldaten mit den Armbrüsten. In seinem Innern gärte die Wut über die Tat Khai Wangs, diesen einmalig dreisten nächtlichen Überfall, mit dem er die Rote Korsarin von Bord des schwarzen Seglers geholt hatte. Es war der Gipfel der Ungeheuerlichkeit gewesen, und in seiner Ohnmacht suchte der Nordmann nach einer Möglichkeit, den aufgestauten Zorn irgendwie abzulassen. Die Soldaten biedere Kerle mit finsteren Gesichtern schienen da das richtige Zielobjekt zu sein. „Seht euch die Hunde an“, grollte der bärtige Riese. „Einmal mit der Faust dazwischen, einmal nur mit einem einzigen Geschütz zur Stadt ‘rüberlangen, und sie haben kapiert, wer hier der Stärkere ist.“ Ben Brighton war zu ihnen getreten. „Langsam, langsam“, sagte er zu dem Wikinger. „Das wollten wir in Xiapu auch, aber dann haben wir es uns anders überlegt. Da war es letztlich besser, die Ohren anzulegen und sich ruhig zu verhalten, Thorfin. Es hat uns mehr eingebracht.“ Hasard hörte nur mit halbem Ohr hin. Er schaute über die Kopfbedeckungen der Soldaten - schwarze Lederkappen mit bunten Federbüschen - und suchte nach dem Würdenträger, der sie gleich nach ihrem Eintreffen dermaßen verdonnert hatte. Das Gewimmel der Kulis fächerte für einen Moment auf, und nun sah der Seewolf den Mann. Er raffte gerade die Schöße seiner reich bestickten, bodenlangen Gewänder und schickte sich an, sich wieder in seine Sänfte zu setzen. Der Dolmetscher wieselte hinter ihm her, die Diener öffneten die Vorhänge der Sänfte.
Roy Palmer
Seewölfe 127 5
„In Xiapu war ich nicht dabei“, versetzte der Wikinger gerade. „Darum kann ich mir kein Urteil erlauben. Aber wenn ich mit von der Partie gewesen wäre ...“ Hasard drehte sich zu ihm um. „Was wäre dann geschehen, mein Freund? Siri-Tong und du — hättet ihr dort auch so unüberlegt gehandelt wie in der Teufelssee und später?“ „Bei Wotan und allen Göttern, trägst du uns das immer noch nach, Mann?“ „Nein. Ich will dich nur zum Nachdenken zwingen. Ich bin genauso wütend wie du und um Siri-Tong nicht weniger besorgt. Aber wir müssen hier erst einmal abwägen, was wir für Chancen haben, bevor wir etwas unternehmen.“ „Was hast du vor?“ „Ich will Mit diesem Mandarin reden.“ „Mit dem aufgeblasenen Gockel?“ rief der Wikinger. „Den würde ich am liebsten mitsamt seiner verdammten Sänfte ins Wasser befördern.“ Carberry war gleichfalls auf dem Achterdeck erschienen. Er tat ein paar Schritte auf die Männer zu, blieb stehen und reckte sein Rammkinn vor. „Du hast recht, Thorfin. Sir, ich bitte um den Befehl, den Zopfheini aus seinem Tragekasten rütteln zu dürfen.“ „Abgelehnt“, erwiderte der Seewolf. „Ben, gib dem Mandarin bitte ein Zeichen, er wird es schon verstehen.“ Er trag dicht vor den Nordmann und den Profos hin. „Und ihr zwei haltet jetzt mal die Luft an und hört mir gut zu, klar?“ „Aye, Sir“, sagte Carberry. Er kannte seinen Kapitän und wußte, daß der Punkt erreicht war, an dem der Seewolf das Herumdiskutieren satt hatte. „Bei einer sofortigen Blitzaktion stehen unsere Chancen für den Sieg eins zu hundert“, sagte Hasard. „Seht euch doch die Kriegsdschunken an, die hier im Hafen vertäut liegen. Ich bin sicher, daß sie bereits klar zum Gefecht sind. Wir würden scheitern, ganz abgesehen davon, daß mir hier auch zu viele Unbeteiligte herumlaufen, die verletzt oder getötet werden könnten. Auch das läuft mir gegen den Strich, aber in erster Linie müßt ihr
Das Schwert des Henkers
einsehen: eine einzige Unbesonnenheit genügt, und wir sehen Siri-Tong nicht mehr wieder. Erst einmal müssen wir Zeit gewinnen.“ „Der Mandarin wartet“, meldete Ben Brighton. Hasard nickte, nahm dabei aber den Blick nicht von Thorfin Njal. Carberry zu bremsen, war keine große Schwierigkeit, denn als Hüter der Borddisziplin tat der narbengesichtige Stockmeister natürlich nichts, was sein Kapitän nicht akzeptierte. Aber der Wikinger, der sah immer noch so aus, als würde er jeden Augenblick explodieren. Hinter seiner drohend umwölkten Stirn arbeitete es unaufhörlich. Schließlich aber glätteten sich seine Züge etwas. „Gut“, sagte er. „Ich sehe ein, daß wir hier mit Gewalt nichts erreichen. Wir müssen verhandeln. Und vor allem — wie kriegen wir sonst heraus, wo Siri-Tong steckt und was mit ihr geschieht?“ „Danke, Thorfin“, entgegnete Hasard. „Ich wollte nur, daß du es wirklich einsiehst. Wir verstehen uns also.“ „Bei Odin, ja.“ Hasard wandte sich zum Gehen. Ben Brighton war neben ihm und meinte: „Du solltest das Schiff nicht allein verlassen. Sie könnten dich festnehmen und entführen — und wir stünden völlig machtlos da.“ „Ich gehe allein. Das schindet mehr Eindruck, Ben.“ „Und ,Flüssiges Licht’?“ „Der Mandarin hat selbst seinen Dolmetscher. Ich will, daß das Mädchen vorläufig nicht gesehen wird, denn das könnte nur verfänglich für uns werden.“ Ben zuckte mit den Schultern. ..Wie du meinst. Aber wir halten uns bereit, sofort an Land zu stürmen, wenn dir etwas passiert.“ Hasard verließ das Achterdeck, erklomm auf der Kuhl die Laufplanke, die das Schiff mit der Pier verband und schritt an Land. Sein Blick war auf die Menschenmenge gerichtet. Das Schnattern und Gestikulieren ebbte ein wenig ab und wurde zu einer Art aufgeregtem Gebrummel.
Roy Palmer
Seewölfe 127 6
Nein, „Flüssiges Licht im beginnenden Sommer“ durfte in Shanghai noch nicht in Erscheinung treten. Hasard hatte sie im Achterkastell versteckt, denn trotz der Tatsache, daß sie sich als chinesischen Schiffsjungen verkleidet hatte, war es nicht ausgeschlossen, daß der Mandarin oder einer seiner Begleiter sie erkannte. sobald sie auf dem Oberdeck erschien. Ch’ing-chao Li-Hsia, wie ..Flüssiges Licht“ in ihrer Muttersprache hieß, hatte in Xiapu dem Flußgott Ho Po geopfert werden sollen. Die Bevölkerung hatte sich damit vor der Pest schützen wollen. Offiziell war der Brauch zwar von der Regierung verboten worden, aber es gab immer wieder Menschen, die darauf zurückgriffen. „Flüssiges Licht“ befürchtete nun, daß man sie in Xiapu als vermißt gemeldet hatte und der unplanmäßige Abschluß der Opferfahrt auf dem Floß bekanntgeworden war. Die Leute, die sie auf das Floß gefesselt hatten, mußten jetzt befürchten, denunziert zu werden. Sie konnten daher erklärt haben, „Flüssiges Licht“ sei von zu Hause weggelaufen - ohne das Ritualopfer mit einer Silbe zu erwähnen, Wenn es von „Flüssiges Licht“ eine Tuschezeichnung gab, wurde jetzt wahrscheinlich in allen chinesischen Provinzen nach ihr gefahndet. Hasard mußte also darauf achten, dass man auf das Mädchen nicht aufmerksam wurde. Im übrigen hielt er es schon für verfänglich genug, daß sie, die „fremden Teufel“, einen Schiffsjungen an Bord hatten, der sich bei genauerem Betrachten als hübsches kleines Chinesenmädchen entpuppen mußte. Hasard steuerte über die Pier auf die Menschentraube zu. Sie versperrte ihm den Weg zum Kai. Grünseiden gekleidete Soldaten hatten jetzt eine Kette gebildet und hielten die Meute Neugieriger davon ah, zu nahe auf die Schiffe zuzutreten, aber dennoch war die gesamte Pier nach wie vor belagert, und es schien keinen Durchlaß zu geben. Hasard fixierte die Soldaten - sie trafen keine Anstalten, ihn aufzuhalten. Entweder
Das Schwert des Henkers
hatte der Mandarin ihnen die Anweisung gegeben, den Kapitän der großen Dreimast-Galeone passieren zu lassen, oder sie hatten überhaupt keinen entsprechenden Befehl und waren im Augenblick zu verdutzt, um eine eigene Initiative zu ergreifen. Soldaten waren im allgemeinen keine großen geistigen Leuchten, und in China schätzte man sie nicht sonderlich. Ein Sprichwort sagte: aus gutem Eisen schmiedet man keinen Nagel, ein guter Mensch wird nicht Soldat. Unverdrossen hielt der Seewolf auf die Masse zu. Er maß diese Gesichter mit festem Blick, fragende, unverhohlen neugierige und argwöhnische Gesichter mit weit aufgerissenen Mandelaugen und teils offenen Mündern. Das Murmeln der Menge war nur noch ein Summen. Das Gestikulieren setzte fast ganz aus. Hasards Auftritt beeindruckte. Die Bewohner von Shanghai begriffen, daß er ein sehr mutiger Mann war, denn wie leicht konnte man ihn angreifen und aus purem Fremdenhaß über ihn herfallen. Sie wichen vor ihm zurück. Hasard schritt durch die Lücke, die sich vor ihm öffnete. Er marschierte an Soldaten und Zivilisten vorbei und sah nun wieder den Mandarin, den Würdenträger, der sich inzwischen in seiner Sänfte niedergelassen hatte. Die Diener hielten die Vorhänge immer noch geöffnet, und so konnte der Seewolf das Erstaunen in den Zügen des Mandarins erkennen. Chinesen waren Meister in der Kunst der Beherrschung des Mienenspiels, aber in diesem Moment konnte er seine Verblüffung wirklich nicht verbergen. 2. Nakamura hatte einen Liegeplatz erspäht. Fong-Ch’ang hatte den Sampan durch ein Gewirr von Booten bugsiert und an eine langgestreckte, ziemlich wacklige Pier herangewriggt. Rasch hatte de Romaes das Fahrzeug vertäuen lassen. Der Mongole blieb als Wachtposten zurück. De Romaes führte seinen kleinen Trupp zum Kai.
Roy Palmer
Seewölfe 127 7
Raga, der Malaie, hielt sich stets dicht hinter Fong. Er paßte auf ihn auf. Fong bemerkte es natürlich. Er wußte, daß es keinen Sinn hatte, plötzlich nach links oder rechts auszubrechen und davonzulaufen. Bevor er irgendwo im Hafenviertel untertauchen konnte, hätten Raga und die anderen ihn eingeholt. Ihn niederzustechen und in einem dunklen Gassenwinkel liegenzulassen. wäre das Werk von Sekunden. Kein Mensch würde eingreifen, um ihn, Fong-Ch’ang, zu retten. So schnell verging das Leben — wie das Licht einer Kerze, an deren Docht man zwei befeuchtete Finger schnell zusammenpreßt. Fong glaubte, eine eiskalte Hand auf seinem Rücken zu spüren. Nein, sagte er sich, nein, so geht es nicht. Vinicio de Romaes hatte sehr eingehend die Kriegsdschunken betrachtet, die an Piers vertäut im Hafen lagen oder draußen auf der Flußreede ankerten. Jetzt blieb er abrupt stehen. „Da vorn“, sagte er. „Seht euch das an.“ „Ein Menschenauflauf“, stellte Nakamura fest. „Was der wohl zu bedeuten hat? Wir meiden ihn am besten.“ Der Portugiese spähte aus schmalen Augen zu der großen hölzernen Pier. „Augenblick! Da liegt ein Segler vertäut, der europäischer Bauart zu sein scheint. Eine Galeone mit auffallend flachen Decks und sehr hohen Masten.“ „Ein Portugiesener“, meinte der chinesische Pirat. „Aber das Heck und das Achterkastell sind gar nicht so reich verziert“, sagte der Japaner. „Merkwürdig ...“ De Romaes verzog die Lippen zu einem Grinsen. „Nein, die Galeonen, die meine Landsleute konstruieren, sind anders beschaffen. Der Kahn dort scheint mir aus einem nördlicheren europäischen Land zu stammen. Vielleicht aus Frankreich. Vielleicht aus England. Das wäre ein Ereignis. Und das andere Schiff — der Viermaster? Ist das nicht eine merkwürdige Mischung aus Galeone und Dschunke?“
Das Schwert des Henkers
„Der schwarze Segler“, murmelte Raga. „Zusammen mit einer dreimastigen Galeone. Hat Khai Wang nicht diese beiden Schiffe gejagt?“ De Romaes fuhr sich mit der Hand übers Kinn. „Richtig, Raga. Ausgezeichnet. Jetzt geht mir langsam ein Licht auf. Khai Wang hatte sich meines Wissens mit Li-Cheng, dem Kapitän des Drachenschiffes, zusammengetan, um die Rote Korsarin und den Seewolf abzufangen, die aus der Neuen Welt über die Südsee bis hierher vordrangen.“ „Siri-Tong, die Rote Korsarin“, sagte der Chinese. „Eine schwere Schuld lastet auf ihr, die Kunde davon geht durch das ganze Land. Man wird ihr den Prozeß eröffnen, falls man sie fängt.“ „Das soll uns nicht kratzen“, erwiderte de Romaes gedämpft. „Aber erinnert ihr euch an die Dschunke, die unser Ausguck heute nacht gesichtet hat - bevor wir in den Jangtsekiang gelaufen sind?“ Raga antwortete: „Genau zu erkennen war sie nicht, aber es könnte Fei Yen, Khai Wangs Schiff, gewesen sein. Die Bordwache hat es nicht gewagt, der Dschunke zu signalisieren, denn es hätte sich ja genauso gut um ein Kriegsschiff handeln können.“ „Hätte, hätte“, meinte der Portugiese nachdenklich. „Khai Wang wird es natürlich nie wagen, Shanghai anzulaufen. Er hat es einmal getan, aber inzwischen ist er mit seiner Fei Yen bekannt wie ein bunter Hund. Immerhin, er scheint vor der Küste herumzupirschen, und das ist bezeichnend. Da könnte ein Zusammenhang bestehen.“ „Ich begreife dich nicht“, sagte Nakamura. „Wir sehen uns die Schiffe genauer an“, erklärte Vinicio de Romaes. „Wenn es sich tatsächlich um ,Eiliger Drache’ und die legendäre ‚Isabella’ handelt, müssen wir zupacken. Ich habe gehört, daß beide Schiffe randvoll mit Gold, Silber und anderen Kostbarkeiten sein sollen. Das ist ein gefundenes Fressen für uns. Los, gehen wir. Wir mischen uns unter die Leute. Zieht euch die Hüte tief genug ins Gesicht, damit uns keiner erkennt.“
Roy Palmer
Seewölfe 127 8
Auch Fong-Ch’ang folgte dieser Aufforderung. Als sie weiterschritten, hielt er den Blick fast ständig auf den Boden gerichtet. So geschah es, daß er erst richtig begriff, als sie in der Menschentraube eingekeilt standen und mühsam versuchten, etwas von den Vorgängen an Bord der Schiffe, auf der großen hölzernen Pier und am Kai aufzufassen. Jener Dreimaster mit der fortschrittlichen Bauweise, dem Ruderhaus auf dem Quarterdeck - erst jetzt erkannte Fong ihn wieder! De Romaes hatte den Namen „Isabella“ genannt, aber Fong hatte nicht gewußt, daß das Schiff, das einige Meilen querab von seinem Dorf zu ihm gestoßen war, als er die Todesdschunke geführt hatte, so hieß! Und erst in diesem Augenblick gelang es Fong, den Kopf ein wenig zu heben, zwischen den Neugierigen hindurchzuschauen und einen Blick auf die Sänfte des Kuan, des Mandarins, zu erhaschen. Der Fremdländer, der da so mutig und gefaßt auf die Sänfte zutrat - es war Philip Hasard! Diesen Namen hatte er Fong zugerufen, und Fong hatte den seinen zurückgeschrien, bevor er die Dschunke in Brand gesetzt hatte. Wenig später hatte dieser Philip Hasard mit zwei Helfern ihm, Fong, das Leben gerettet. Fong hatte in Xiapu versucht, sich für diesen kühnen Mann einzusetzen, doch es war ihm nicht gelungen. Bai Liang, dieser gemeine Hund, hatte ihn in eine Falle gelockt, Fong war verschleppt und auf die Küstendschunke gebracht worden. Und jetzt dieses Wiedersehen, aber unter was für Voraussetzungen! De Romaes war neben Fong und zischte ihm zu: „Siehst du den schwarzhaarigen Burschen? Das kann nur er sein - der Seewolf! Philip Hasard Killigrew. Sein Ruf eilt .ihm voraus.“ „Woher stammt er?“ „Aus England.“ Fong beobachtete, wie der Seewolf vor der Sänfte verharrte. Er kreuzte die Arme vor
Das Schwert des Henkers
der Brust, legte die Hände gegen die Schultern und neigte den Kopf. „So ein Kriecher“, raunte Nakamura. „Jetzt bekundet er seine Hochachtung durch den Kotau, obwohl er dem Kuan, diesem arroganten Bastard, am liebsten die Faust ins Gesicht schlagen würde. Wie es aussieht, sind die ,Yang kuei tzu` hier nicht gerade in Ehren aufgenommen worden.“ Er wies mit dem Kopf zu den Soldaten hinüber, die mit den Armbrüsten im Anschlag auf Pier und Kai standen. „Still“, zischte de Romaes. Fong-Ch’ang sah zum Seewolf und dachte: nicht den Kotau, Philip Hasard, er ist eine Geste der Unterwürfigkeit und damit deiner nicht würdig, tu’s nicht! * Hasard blickte dem Mandarin ins Gesicht. Wahrscheinlich war er ein Kuan des fünften Grades, vielleicht sogar des vierten, auf jeden Fall mehr als jener Lu Hsün in Xiapu, der so gewichtige Reden geschwungen und sich selbst mehr Bedeutung verliehen hatte, als er in Wirklichkeit hatte. Schon Lu Hsün hatte Hasard vorschreiben wollen, wie er seine Ehrerbietung zu beweisen hätte: durch den Kotau. Im Gesicht des Kuans aus der Sänfte las Hasard jetzt das gleiche Verlangen. Und diesem Burschen schien der Gruß dienstgradmäßig eher zuzustehen als dem dicken Lu Hsün, der Seewolf sah es ein. Trotzdem: er warf sich nicht auf die Knie, berührte den Boden nicht mit der Stirn. Nur eine leichte Verbeugung deutete er an. Dann schaute er den Dolmetscher an. „Ich bitte den großen Kuan um eine kurze Unterredung.“ Der Übersetzer wandte sich katzbuckelnd an seinen Vorgesetzten und verdeutlichte ihm, was Hasard soeben auf portugiesisch verlangt hatte. Der Mandarin antwortete mit hoher, fast piepsiger Stimme. „Ja“, wandte sich der Dolmetscher an Hasard — ebenfalls auf portugiesisch. Spanisch beherrschte in diesem riesigen
Roy Palmer
Seewölfe 127 9
Reich offenbar niemand, von Englisch ganz zu schweigen. „Der Kuan gewährt Euch gönnerhaft die große Ehre, sich mit ihm zu unterhalten.“ „Ich weiß das sehr zu schätzen“, erwiderte Hasard. „Und ich danke dem Herrn Mandarin für seine Großzügigkeit.“ Der sprachkundige Chinese übertrug auch dies, und diesmal unternahm der Mandarin eine wohlwollende, ermunternde Geste zu Hasard hin. „Ich möchte nur einmal erzählen, was wir bisher im Land des Großen Chan, im Reich der Mitte, erlebt haben“, fuhr Hasard nun fort. „Wir sind nicht gut behandelt worden, das muß ich ehrlich sagen, obwohl wir uns nicht feindselig verhalten haben. Im Gegenteil, wir haben alles getan, um unsere Friedfertigkeit unter Beweis zu stellen. Aber vergebens. Li-Cheng, der Kapitän des Drachenschiffes, und Khai Wang, der Seeräuber, haben sich als erste gegen uns gewandt und die Mumie des Mandarins vom schwarzen Schiff geraubt. Aber damit nicht genug ...“ Weiter gelangte er vorläufig nicht. Der Gesichtsausdruck des Dolmetschers hatte sich verändert. Er dreht den Kopf ruckartig, wandte sein Gesicht dem Mandarin zu und redete schnatternd auf ihn ein. Der Kuan zog die Augenbrauen hoch und stieß ein verhaltenes „S-ss-a-a“ durch die Zähne aus. Hasard kannte diesen Laut bereits: bei den Chinesen war er Ausdruck höchster Verwunderung. In den Gesichtern des Mandarins und seiner Untertanen spiegelte sich in diesen Augenblicken alles Erstaunen der Welt, und auch durch die Reihen der Zuschauer lief ein Raunen der Überraschung. Die Nahestehenden hatten mitgehört, was der Dolmetscher seinem Herrn verdeutlicht hatte. Die Nachricht über den Raub der Mumie und über Khai Wang, den gefürchteten Schlagetot zur See, machte die Runde. Hasard hob einfach die Hand. Nur so konnte er sich erneut Gehör verschaffen. „Damit nicht genug“, nahm er den Faden wieder auf. „Ich bin noch lange
Das Schwert des Henkers
nicht am Ende angelangt. Südlich von Xiapu wurden wir angegriffen. Wir hatten das schwarze Schiff, unseren Verbündeten, aus den Augen verloren und beschlossen, uns der Orientierung halber der Küste zu nähern - da lösten sich Schiffe und Boote vom Ufer eines Dorfes und begannen, auf uns zu feuern.“ Der Seewolf verstand es, die Begebenheit mit der Pestdschunke und deren Rudergänger, dem Mann mit der Ledermaske, bildhaft zu schildern. Er ahnte nicht, daß jener Geheimnisvolle in diesem Moment keine zehn Schritte von ihm entfernt stand und wie gebannt den Übersetzungen des Mandarin-Begleiters lauschte. Hasard sprach von den Ereignissen in Xiapu, dann wieder von Khai Wang, der die Rote Korsarin von Bord des schwarzen Seglers entführt hatte. Durch Helfer, mutmaßlich an Bord einer Gemüsedschunke, hatte er sie anschließend nach Shanghai schaffen lassen. In alle diese Schilderungen packte Hasard viel Pathos und eine leise, unterschwellig mitklingende Anklage hinein. Die Geschichte mit „Flüssiges Licht im beginnenden Sommer“ erwähnte er wohlweislich aber nicht, eben weil es des Mädchens wegen neuen Ärger geben konnte. Am Schluß seines Berichtes sagte er: „Ich weiß, daß es zu optimistisch, vielleicht geradezu vermessen ist, aber ich hoffe doch endlich auf ein bißchen Gerechtigkeit in einem Land, dessen Bewohner von ungewöhnlicher Bildung und Umsicht sein sollen. Ich würde es sehr bedauern, wenn ich mich getäuscht hätte.“ Er griff in die Wamstasche und zog das Schreiben daraus hervor, das er in Xiapu von dem dicken Lu Hsün erhalten hatte. Mit Lu Hsün hatte der Seewolf eigentlich noch ein Hühnchen zu rupfen, denn dieser schlitzohrige Bursche hatte ihm kein Empfehlungsschreiben ausstellen lassen, sondern etwas ganz anderes. Ursprünglich hatte es in dem Dokument aus feinem Reispapier nämlich geheißen:
Roy Palmer
Seewölfe 127 10
„Dieses Schiff und sein Kapitän sind immer wieder zu versteuern, sobald sie einen Hafen des Reiches der Mitte anlaufen. Die ,Yang kuei tzu’, die fremden Teufel, sind dumm und gutgläubig, und sie bezahlen mit Gold, Silber, Perlen und Schmuck. Man kann sie ausnehmen wie die Gänse, wenn man ihnen nur erzählt, daß es üblich sei, mit der Kumscha großzügig umzugehen.“ „Flüssiges Licht“ hatte Hasard das Schriftstück Wort für Wort übersetzt. Es war ihr sichtlich peinlich gewesen. Der Seewolf und seine Crew hatten große Lust verspürt, nach Xiapu zurückzukehren und dem dicken Lu Hsün, dessen Astrologen und den anderen Schergen und Hofschranzen einen Denkzettel zu verpassen, aber das hatte der Verlauf der Ereignisse dann nicht mehr zugelassen. Das Mädchen Ch’ing-chao Li-Hsia hatte Hasard auch erklärt, was Kumscha bedeutete. Darunter verstand man in China Reisegeld beziehungsweise Zehr- oder Schmiergeld. Lu Hsün und seine Vertrauten waren zur Genüge geschmiert worden, sie hatten ganze Goldbarren von der „Isabella“ geschleppt. Aber Hasard hatte keine Lust, in jedem chinesischen Hafen den gleichen Zirkus veranstalten zu müssen. „Flüssiges Licht im beginnenden Sommer“, die sich ihrer Landsleute schämte, hatte das Schreiben etwas geändert. Sie verstand es großartig, mit Tusche und Pinsel umzugehen und kannte auch die meisten der vielen tausend Schriftzeichen, die hier schon ein Schüler von zwölf, dreizehn Jahren beherrschen mußte. Viele dieser Zeichen ähnelten sich derart, daß schon ein kleiner Tupfer oder Strich genügte, um den Sinn grundlegend zu verdrehen. So war es auch beim gesprochenen Chinesisch: je nach der Betonung hatte ein Wort drei, vier Bedeutungen. Das „Empfehlungsschreiben“ des Lu Hsün lautete nun sinngemäß, daß der Kapitän der „Isabella VIII.“ in keinem Hafen mehr Kumscha zu zahlen habe. Er habe mitgeholfen, die Pest zu unterdrücken und
Das Schwert des Henkers
dabei sein Leben riskiert - was im Hinblick auf das Abenteuer mit der Todesdschunke ja auch stimmte. Man möge ihn allenthalben respektierlich behandeln, so hieß es weiter in dem Schriftstück, nicht wie einen Portugiesener, denn seine Mission würde das Wohlwollen des Großen Chan finden. Hasard reichte das Dokument dem Mandarin und deutete dabei wieder eine Verneigung an. Der Kuan schwitzte ein bißchen. Er tupfte sich zuerst die Perlen von der Stirn, und zwar mit einem großen und weichen weißen Tuch. Ein Diener hatte ihm dieses Tuch gereicht, ein anderer nahm es nun wieder entgegen, ein dritter griff nach Hasards Schreiben. Der Mandarin warf einen unwilligen Blick auf die Menschenmenge. Die war inzwischen noch näher vorgerückt, bildete eine Art Kessel um die Sänfte und setzte den Kuan, den Dolmetscher, die Diener und den Seewolf praktisch gefangen. Der Mandarin winkte den grünberockten Soldaten herrisch zu. Sie hoben ihre Armbrüste und Lanzen, drangen entschlossen gegen die Neugierigen vor und drückten sie nach allen Seiten zurück. Ein untersetzter Mann fiel dabei von der Pier ins Wasser. Er verlor seine Tellermütze, stieß drei, vier schrille Rufe aus und zappelte verzweifelt in den lehmbraunen Fluten. Offensichtlich konnte er nicht schwimmen und sich nicht einmal wie ein Hund mit der Nase über Wasser halten. Zwei Männer mußten ihn packen, sonst wäre er einen Yard von der Pier entfernt kläglich ertrunken. Hämisches Lachen drang von der „Isabella“ und dem schwarzen Schiff herüber, als der pudelnasse Chinese wieder auf der Pier stand. Die Soldaten und die Zivilisten blickten zwar gleichermaßen drohend zu den Seglern, aber das konnte die Crews von Hasard und Siri-Tong nicht im geringsten stören. Sie lachten, so lange es ihnen paßte. Und Hasard unternahm nichts, um sie zu bremsen. Er sah nur den Mandarin an,
Roy Palmer
Seewölfe 127 11
lächelte ein bißchen, hob die Schultern und ließ sie wieder sinken. Der Kuan ließ wieder seine hohe, dünne Stimme erklingen. Der Dolmetscher schwieg, aber Hasard begriff auch so, daß es sich um eine neue Anordnung handelte. Ein großer Chinese trat hinter der Sänfte hervor. Vorher war er dem Seewolf nicht weiter aufgefallen, doch jetzt lenkte er nicht nur Hasards Augenmerk auf sich, sondern auch die verdutzte Aufmerksamkeit von Ben, Thorfin und den anderen Männern an Bord der Schiffe. Der große Chinese schwenkte eine Art Kessel aus auf Hochglanz poliertem Metall. Zweifellos handelte es sich um einen bronzenen Behälter. Nur was er barg, blieb vorerst ein Geheimnis. Der Diener schwang den Kessel wie wild hin und her und verbreitete damit herb riechende Dämpfe. Der Mandarin verfolgte die Bestrebungen seines Untertanen mit skeptischer Miene und rümpfte noch die Nase, als er Hasards Schreiben in die Finger nahm. Allmählich glätteten sich seine Züge aber, und er atmete ruhig und regelmäßig. Hasard wandte sich an den Dolmetscher und wies auf den Kesselschwenker. „Was ist das für ein Zeug? Weihrauch?“ fragte er. Das Wort Weihrauch war ihm nur auf spanisch bekannt, aber er hoffte, daß die portugiesische Bezeichnung dafür genauso oder zumindest ähnlich klang. „Weihrauch?“ Der Übersetzter runzelte die Stirn. „Nein. In dem Gefäß befinden sich glimmende Sandelhölzer. Der Diener schreitet damit umher, damit der Herr Mandarin von den üblen Gerüchen des Hafens und des Volks verschont bleibt. Versteht Ihr?“ „Wie?“ Hasard war ein wenig verwirrt, faßte sich aber sofort wieder. „Ach so – natürlich.“ Er schaute zu dem großen Chinesen und beobachtete, wie ernst der Mann seine Aufgabe nahm. Insgeheim taufte Hasard ihn den „Gestankbeweihräucherer“. Auffallend war, daß die dicht gedrängt stehenden Gaffer ihm Aufmerksamkeit zollten, aber keineswegs über ihn lachten. Glimmende
Das Schwert des Henkers
Sandelhölzer zu schwenken, schien hierzulande nicht nur eine seriöse Angelegenheit, sondern sogar eine Art Privileg zu sein. Der Kuan hatte das Schreiben aufmerksam studiert, zeigte sich jedoch nicht sonderlich beeindruckt. Hasard las aber in seinen Augen, daß sich ein gewisser Gemütswandel mit ihm vollzogen hatte. Der allgewaltige Würdenträger ließ sich wieder sein großes Tuch reichen, tupfte sich von neuem die Stirn ab und fing zu reden an. Der Dolmetscher mühte sich redlich ab. seine Worte simultan ins Portugiesische zu übertragen. „An der Beschlagnahme von ‚Eiliger Drache über den Wassern’ läßt sich nichts ändern“, teilte er dem Seewolf mit. „Vorerst jedenfalls nicht. Die Mannschaften der beiden Schiffe sind, uns jedoch willkommen, sie dürfen sich überall frei bewegen, solange sie nicht auffallen. Das heißt, sie dürfen weder übermäßig viel Reiswein trinken noch randalieren, während der Ruhestunden laut singen oder sich in der Öffentlichkeit unzüchtig aufführen.“ Hasard war ein wenig belustigt, aber er zeigte es nicht. Der Kuan war doch sichtlich freundlicher geworden, und dem konnte er nur mit noch ausgesuchterer Höflichkeit begegnen. Hasard nickte ihm also verstehend zu. Der Mandarin nickte auch und sprach weiter. Der Dolmetscher wisperte .unausgesetzt portugiesisch, und die ganze Zeit über hastete der große Chinese mit dem bronzenen Sandelholzkessel eilfertig auf und ab. „In ein paar Tagen gibt es sicherlich eine Lösung für die Situation“, fuhr der Mandarin aus seiner Sänfte heraus fort. „Fremde, in eurem eigenen Interesse wendet in Shanghai keine Gewalt an.“ „Das verspreche ich“, erwiderte Hasard. „An meinen guten Vorsätzen hat sich nichts geändert. Aber ich muß wissen, wo die Rote Korsarin steckt - Siri-Tong.“ „Das ist uns nicht bekannt“, sagte der Mandarin. Ob er mit diesem „uns“ nun die gesamte Obrigkeit von Shanghai meinte
Roy Palmer
Seewölfe 127 12
oder sich des Pluralis majestatis bediente, war dem Seewolf nicht ganz klar. „Ich werde sie suchen“, sagte er. „Dem steht nichts im Wege“, entgegnete der Kuan. „Ihr könnt nach ihr Ausschau halten, ganz nach Belieben.“ Er blickte Hasard wohlwollend an, dann verlor er sich wieder in einer Aufzählung dessen, was man in Shanghai tun dürfe und was nicht. In die Menschenmenge geriet Bewegung. Hasard schaute sich um und sah den Wikinger.. Thorfin Njal stapfte durch eine Bresche, die man ihm aufgrund seiner wuchtigen Gestalt und seines drohenden Blickes geöffnet hatte. Er verharrte, blickte zu dem wandernden Bronzekesselmann und schüttelte das Haupt. Einen Moment war er ratlos Und kratzte sich an seinem Kupferhelm. Der „Gestankbeweihräucherer“ blieb dicht vor ihm stehen und schwenkte das Rauch fächelnde Gefäß vor seinem bärtigen Gesicht hin und her. Thorfin verzog zunächst keine Miene. Als die Sandelholzdünste ihm aber in die Nase drangen und sich beizend in seine Atemwege schlichen, nieste und hustete er gleichzeitig. Das klang wie ein aufziehendes Gewitter. Viele Zivilisten und auch ein paar Soldaten wichen zurück und starrten entgeistert auf dieses bellende, röhrende Phänomen. „Thorfin“, sagte Hasard. „Was ist denn? Du wärst besser an Bord geblieben:’ „Ich habe nicht genau verstanden, was geredet worden ist“, versetzte der Nordmann. „Aber da wurde auch der Name unseres Kapitäns erwähnt. Ich schätze, ich habe ein Recht darauf, zu erfahren, was mit Siri-Tong geschehen ist.“ „Das weiß keiner“, sagte Hasard. Thorfin musterte den Mandarin so’ freundlich wie ein Walroß, das seinen Harem bedroht sieht. Er gab sich wirkliche Mühe, nett und ansprechbar zu erscheinen, aber so recht wollte ihm das nicht gelingen. „Und er glaubt wirklich, damit kann er uns abspeisen?“ sagte er. „Er soll doch mal seinen Gehirnkasten richtig ausquetschen,
Das Schwert des Henkers
vielleicht fällt ihm dann ein, ob er die Rote Korsarin während der letzten Stunden nicht doch zufällig gesehen hat.“ Der Kuan hatte sich ein wenig vorgebeugt und sah den Wikinger mit unverhohlener Neugierde an. Richtig ungeniert betrachtete er ihn von oben bis unten. Rauchgraue Felle, ein Topf aus Kupfer auf dem Haupt und dazwischen eine Bartwüste mit rötlicher, knolliger Nase, blitzenden Augen und grimmig verzogenem Mund so ein Exemplar der Gattung Mensch hatte man in Shanghai wirklich noch nicht gesehen. Hasard leitete die Frage des Wikingers an den Dolmetscher weiter, und der übersetzte sie prompt. Der Kuan lauschte mit hochgezogenen Augenbrauen und erwiderte: „Nein. Wir können uns einer solchen Frau nicht entsinnen. Aber wir lassen wieder von uns hören.“ Damit zog er sich vollends in seine Sänfte zurück. Die Vorhänge glitten zu. Sechs Diener packten zu, hoben sie hoch und trugen sie davon. Der große Chinese mit dem Bronzebehältnis brachte sich mit einer Behändigkeit, die ihm kaum jemand zutraute, an die Spitze der Träger, schwenkte wieder seinen Kessel und sorgte für Sandelholzduft, Platz und Respekt. Das Volk wich auseinander, vollführte den Kotau und verneigte sich immer wieder. Die Sänfte mit dem Mandarin entzog sich den Blicken von Hasard und Thorfin Njal, und auch die Crews auf den Schiffen konnten den Würdenträger nicht mehr sehen. Nur Dan O’Flynn, der seinen Posten im Großmars der „Isabella“ innehatte, sah die Sänfte noch im Gewirr der Menschen, Karren, Rikschas untertauchen und in einer Gasse verschwinden. Dan blickte zu dem Affen Arwenack. Der Schimpanse hatte sich vor die Segeltuchverkleidung gekauert und kratzte sich schon seit einiger Zeit am Kopf. Das tat er immer, wenn die Stimmung an Bord gedrückt war. Und sogar Sir John, der Papagei, spürte irgendwie, daß es dicken Verdruß gab.
Seewölfe 127 13
Roy Palmer
„Was meinst du, ob wir den Knaben jemals wiedersehen?“ fragte Dan O’Flynn. Arwenack legte sein Affengesicht in beide Hände, stülpte die breite Unterlippe vor und gab einen gottergebenen Seufzer von sich. 3. Nicht nur Vinicio de Romaes, Nakamura, Raga und der chinesische Pirat hatten aufgeschnappt, was Philip Hasard Killigrew und der Mandarin gesprochen hatten - auch Fong-Ch’ang hatte jedes Wort verstanden. Als der Seewolf über die Ereignisse vor dem Pestdorf berichtet hatte, hatte es Fong das Herz zusammengekrampft. Hätte er diesen Seewolf doch damals anders empfangen! Er, Fang, der ehemalige Vorsitzende des Dorfrates, hätte es gekonnt - und doch waren ihm die Hände gebunden gewesen. Im Grunde hatten die Männer seines Dorfes die Fremden nur verscheuchen und vor dem schwarzen Tod bewahren wollen. Aber gleichzeitig hatten Philip Hasard und seine Freunde einen ganz falschen Eindruck davon erhalten, was Gastfreundschaft im Reich der Mitte bedeutet. Fong hatte mit dem Gedanken gespielt, einfach vor die Sänfte des Kuans zu treten. Er hätte alles versucht, um dem Seewolf noch mehr Achtung zu verschaffen, aber es war fraglich, ob man ihm Glauben geschenkt hätte. Wer kannte Fong-Ch’ang denn schon hier in Shanghai? Von einem ehrenwerten Mann wurden keine Tuschezeichnungen angefertigt und in alle Provinzen getragen - so verfuhr man nur mit Verbrechern und Fremden. Leider kannte hier niemand Fongs Gesicht, und so bestand wenig Aussicht, daß er bei dem Mandarin überhaupt Gehör fand. Und noch etwas: Raga, der Malaie, bewachte ihn nach wie vor. Fong wußte, wie schnell dieser Kerl mit dem Kris war. Auch wenn er den Krummdolch unter dem Ischang versteckt hielt, er würde ihn jederzeit so schnell zücken, daß er ihn Fong in den Leib rammen konnte.
Das Schwert des Henkers
An Flucht war immer noch nicht zu denken. Vinicio de Romaes drehte sich zu ihnen um. Ein triumphierendes Grinsen lag auf seinem Gesicht. „Ausgezeichnet“, raunte er ihnen zu. „Meine Ahnungen haben sich bestätigt, wir haben es mit dem Seewolf zu tun. Ich weiß jetzt alles, auch, welcher Zusammenhang zwischen Khai Wang und Shanghai besteht. Hierher hat er die Rote Korsarin also schaffen lassen.“ „Das glaubst du wirklich?“ fragte der Japaner. „Aber sicher doch“, sagte de Romaes verschlagen. „Doch das soll uns nicht weiter interessieren. Von mir aus kann das Weib verrecken. Ich bin nur auf die Schätze in den Frachträumen der Schiffe scharf.“ Er schaute kurz zur „Isabella“ und zum schwarzen Segler und wandte sich dann wieder seinen Kumpanen zu. „Ich wette meinen Kopf, daß sich das ganze Zeug noch auf den Schiffen befindet. Wir müssen uns zumindest einen Teil von diesem Reichtum unter den Nagel reißen.“ „Wie?” fragte Raga. „Wir sind zu sechst“, flüsterte der Chinese. „Aber selbst, wenn wir den Mongolen mitnehmen und unseren Sampan unbewacht lassen würden — gegen die Seewölfe und Siri-Tongs Piraten könnten wir nichts ausrichten.“ „Richtig, und Verstärkung können wir auch nicht holen“, sagte der Portugiese. „Das würde auffallen, und wie. Wir müssen schon froh sein, daß wir in einem Moment der Unaufmerksamkeit bis in den Hafen gelangt sind. Nutzen wir es aus.“ „Aber wie, wie?“ fragte der Malaie wieder. „Wir greifen diese Hunde nicht offen an“, zischte de Romaes. „Wir wären ja wahnsinnig, wenn wir’s tun würden. Vielmehr gehen wir mit List vor. Um die Burschen zu überrumpeln, werde ich mir einen großartigen Trick einfallen lassen. Von jetzt an beobachten wir die zwei Schiffe pausenlos, und ich lege mir meine Taktik zurecht.“ Er sah zu Fong. „Deine Chance kommt auch bald, keine Sorge, Fong-Ch’ang.“
Seewölfe 127 14
Roy Palmer
„Er fiebert schon, uns seinen Mut und seine Gerissenheit zu beweisen“, sagte Nakamura höhnisch. „Seht ihn euch an, er kann kaum noch stillstehen.“ „Ich werde euch beweisen, daß ich keine Angst habe und mehr kann, als ihr mir zutraut“, erwiderte Fong. Auch jetzt, nach so vielen Entbehrungen und Erniedrigungen, schwang noch etwas wie Würde in seinen Worten mit — etwas, das Menschen wie de Romaes und seine Spießgesellen nie erlangen würden. Der Malaie schwieg. Er blickte Fong aber von der Seite an und gab ihm dadurch zu verstehen, daß er begriffen zu haben glaubte, wie dieser Satz auszulegen war. * Siri-Tong saß in ihrem Verlies, hatte die Beine von sich gestreckt, ließ die Arme schlaff herabhängen und lehnte den Hinterkopf gegen zwei Bambusstangen. Noch immer fühlte sie sich benommen Die Nacht war ein Dahindämmern voll düsterer, deprimierender Fragen gewesen, von Schwüle durchsetzt. Auch jetzt rührte kein Windhauch die stickige, übelriechende Luft auf, denn es gab keine Fenster, keine Türen, die einen lauen Durchzug gestatteten. Dieser Kerker schien der Vorhof zur Hölle zu sein. In der vergangenen Nacht hatten die Kerle, die im Auftrag des Häschers Khai Wang handelten, ihr Werk vollbracht. Sie hatten Siri-Tong von der Gemüsedschunke in die Innenstadt geschleppt und in das unterirdische Gefängnis geworfen. Die Kavernen von Shanghai - das waren Löcher mit jeweils über hundert Gefangenen, in die sich außer den Aufsehern kein Sterblicher freiwillig hineintraute. Siri-Tong öffnete die Augen. Zum erstenmal nahm sie ihre Umgebung bewußt wahr. Sie saß in einem Käfig aus starken Bambusstangen. Von außen war die Tür durch ein starkes Schloß gesichert - nein, sinnlos, auch nur an ein Aufbrechen dieses Riegels und ein Entweichen zu denken.
Das Schwert des Henkers
Rundum standen und hingen die anderen Käfige mit jeweils einem Gefangenen darin: Käfige, die gegen die Feuchtigkeit schwitzenden Wände gerückt worden waren, Käfige, die sich im Zentrum der Höhle aneinanderreihten, Käfige, die von schweren Eisenketten herabbaumelten. Knisternde Kienspäne und Fackeln erhellten die Kavernen. Zuckendes Licht warf gespenstische Muster auf die Wände. Und um die Korsarin herum war die Hölle los. Das blieb nicht allein auf die dumpfe Atmosphäre beschränkt, die Luft, in der man kaum zu atmen vermochte, die Schwermut, die das Alleinsein und die Verzweiflung hervorriefen. Immer wieder erhob sich das Lärmen der aufsässigsten Gefangenen wie ein Orkan. Sie schrien, rüttelten an den Bambusstäben, verlangten freigelassen zu werden, beteuerten ihre Unschuld. Andere jammerten und klagten. Es war ein vielstimmiges Lamento, das von den Wänden als Echo zurückkehrte und an Siri-Tongs Nerven zerrte. Unter halb gesenkten Lidern hindurch blickte sie auf die Eingesperrten. Zum Großteil waren es Männer. Nur zwei oder drei Frauen erkannte sie im Halbdunkel des Hintergrundes. Zwischen den Brüllenden und Jammernden sah sie hin und wieder auch stumm dahockende Gestalten, Ausgemergelte, Resignierte, die als Pol völligen menschlichen Elends mehr ihr Mitleid erregten als die Randalierer. Siri-Tong wandte den Kopf, weil sie unter einem Gewölbebogen eine Bewegung wahrgenommen hatte. Die Aufseher rückten an. Sie waren glatzköpfige Eunuchen, die ihren Dienst mit der einzigen Grundvoraussetzung versahen, die dem Leben unter Wölfen standzuhalten schien: mit Brutalität. Die Luft war stickig zum Erbrechen, die Eunuchen schwitzten. Sie waren zu sechstdrei begannen jetzt damit, den Gefangenen jeweils eine Schale Reis und eine Schale Wasser in die Bambuszellen zu schieben.
Roy Palmer
Seewölfe 127 15
Die anderen drei schritten zwischen den Käfigreihen auf und ab und schwangen lange Peitschen. Ein Eunuch näherte sich Siri-Tongs Käfig. Er senkte ein wenig den Kopf, musterte sie aus kleinen, flinken Augen und entblößte die Zähne. „Du bist die Neue“, sagte er mit fistelnder Stimme. „Ich gebe dir gleich einen guten Rat. Spiel hier nicht verrückt. Verhalte dich ruhig, dann wird dir auch nichts passieren.“ Die Korsarin zog die Knie an den Leib, umspannte sie mit den Händen und taxierte den Kerl mit einem kalten Blick. Wenn sie es geschickt anstellte, konnte sie einiges von ihm erfahren. „Willst du mir drohen, Eunuch?“ fragte sie lauernd. Himmel, wenn sie ihren aufwallenden Hassgefühlen nachgegeben hätte, dann hätte sie jetzt versucht, ihm die Fingernägel durchs Gesicht zu ziehen. Aber noch beherrschte sie sich. „Ich heiße Schao“, erwiderte er leise. „Und ich rate dir, dich gut mit mir zu stellen.“ Er war fett wie ein großer, behäbiger Frosch. „Du scheinst ja eine Menge Ratschläge auf Lager zu haben“, sagte sie mit unverhohlenem Spott. „Sieh doch.“ Er wies auf seine glatzköpfigen, stiernackigen Kameraden, die jetzt mit ihren Peitschen auf die größten Schreier unter den Gefangenen einhieben. Sie verstanden es geradezu meisterhaft, zwischen den Bambusstäben der Käfige hindurchzuprügeln und ihre Opfer jedesmal zu treffen. Das Gebrüll der Sträflinge ebbte zu einem allgemeinen Stöhnen und Wimmern ab. „Nein, Hiebe will ich nicht beziehen“, sagte die Korsarin mit erzwungener Ruhe. „Ich werde brav sein, Schao.“ Er grinste. „Da, das ist deine Tagesration.“ Er schob ihr eine Schale Reis und eine Schale Wasser in den Käfig. „Sehr großzügig werden die Gefangenen hier behandelt“, sagte Siri-Tong. „Ich werde wohl aufpassen müssen, daß ich nicht an Gewicht zunehme, Schao.“ „Ja, sieh doch mich an“, entgegnete er. Sein Grinsen wurde immer breiter. Aber
Das Schwert des Henkers
sehr schnell sanken seine Mundwinkel nach unten, als die schöne schwarzhaarige Frau sich erhob und auf ihn zuschnellte — katzengewandt, mit glühender Wut in den Augen. „Schab“, zischte sie. „Ich werde dich reich belohnen, wenn du mir hilfst. Ich muß hier heraus.“ Seine Miene wurde steinern, er wich einen Schritt zurück und tastete mit der Hand nach der Peitsche, die zusammengerollt in seinem Leibgurt steckte. „Hör auf. Sag so was nie wieder. Es wäre mein Tod, wenn ich dir zur Freiheit verhelfen würde.“ „Niemand braucht es zu merken, daß du ...“ „Hör auf.“ „Hast du Angst vor den anderen Aufsehern?“ Sie klammerte sich an den Stäben fest und ließ ihn nicht aus den Augen. „Schao, ich werde dich nicht verraten. Du brauchst heute nacht nur meine Käfigtür zu öffnen, das ist alles.“ „Niemals“, raunte er aufgebracht. „Sei jetzt still. Ich weiß, wer du bist—nicht irgendwer, eine Hure oder ein kleiner Dieb. dem keiner große Beachtung schenkt. Alle schauen auf dich.“ Siri-Tong spähte nach allen Seiten, und zum erstenmal wurde ihr bewußt, daß nicht nur sie die anderen beäugte — auch die Mitgefangenen und die anderen Aufseher verfolgten, was sie tat. Das Blut stieg ihr heiß zu Kopf. „Wer bin ich denn?“ fragte sie den Glatzkopf, um ihn noch bei sich festzuhalten. „Siri-Tong. Die Rote Korsarin.“ „Was wirft man mir vor?“ „Das weißt du. Jedem ist es bekannt.“ Sie überlegte. Hatte es Zweck, diesem Eunuchen etwas vorzuschwindeln? Kaum. Li-Cheng, der Kapitän des Drachenschiffes, und Hung-wan, der alte Chronist, hatten ja sicher dafür gesorgt, daß es überall bekannt wurde, was die blutjunge Siri-Tong vor ihrem Verschwinden aus dem Reich der Mitte alles angerichtet hatte. Und derartige Nachrichten pflegten sich hierzulande außerordentlich schnell zu verbreiten — zum Erstaunen der Europäer. Sämtliche
Roy Palmer
Seewölfe 127 16
Provinzen waren mit einem gut funktionierenden Nachrichtennetz überzogen. Es gab Tausende von kleinen Zuträgern, da wurde geschmiert, geflüstert und ganz genau zwischen Gerüchten und Wahrheit unterschieden. Tausend Augen sahen selbst in der finstersten Nacht. Nein, alles Lügen brachte ihr nichts ein. Ganz Shanghai wußte inzwischen unter Garantie, daß sie in den Kerkerhöhlen steckte — und was man ihr anlastete. „Ich streite nichts ab“, flüsterte sie. „Aber ich bin trotzdem unschuldig, Schao.“ „Darüber habe ich nicht zu entscheiden.“ „Wann findet mein Prozeß statt?“ „Du fragst mich zuviel“, erwiderte er ungeduldig. Immer wieder huschten seine Augen nach links und nach rechts. „Und ich habe mich schon viel zu lange bei dir aufgehalten.“ In einer Höhlenecke erhob sich wieder Geschrei. Die drei peitschenbewehrten Eunuchen rückten auf die betreffenden Käfige zu, wieder knallten ihre Peitschen. Alles sah auf die Szene, und die Rote Korsarin hatte Gelegenheit, Schab noch rasch ein paar Fragen zu stellen. „Werde ich lange auf meine Gerichtsverhandlung warten müssen?“ Er sah sie etwas unglücklich an, antwortete dann aber doch. „Im allgemeinen geht so eine Aburteilung sehr rasch, erstaunlich rasch.“ „Die Gefangenen in den Käfigen —was sind das für Leute?“ „Diebe, Räuber, Betrüger, Schnapphähne, Huren und Zuhälter, alles, was du willst“, wisperte Schao. „Und die in den hängenden Käfigen?“ wollte sie wissen. „Das sind die ehrenwerten Leute von Shanghai.“ „Wie bitte?“ Sie hob erstaunt die Augenbrauen. „Ja, du hast schon richtig verstanden. Diese Männer haben ihre Steuern nicht entrichten können.“ „Und dafür büßen sie nun?“ „Sie warten auch noch auf ihren Prozeß“, flüsterte der Eunuch. „Die meisten werden
Das Schwert des Henkers
zur Fronarbeit an der großen Mauer verurteilt, meistens für ein halbes Jahr. Und die Richter — die lassen sich nicht erweichen, nicht durch Flehen und nicht durch Geld. Sie sind unbestechlich.“ Siri-Tong beugte sich so weit vor, daß ihr Gesicht zwischen zwei Bambusstäbe geriet. „Schao, sei kein Dummkopf. Was man von den Richtern sagt, braucht für dich noch lange nicht zu gelten. Da du über mich Bescheid weißt, mußt du auch einen Begriff davon haben, welche Reichtümer ich auf meinem Schiff gehortet habe. Gold, Silber, Juwelen — ein Teil davon könnte dein werden.“ Schab schob sich wieder auf sie zu. Seine Schweinsaugen glitzerten ein bißchen, sein Gesicht war schweißbedeckt, seine Lippen feucht. „Ich könnte alle Schätze der Welt nicht genießen, weil man mich in Stücke schneiden würde. Da bleibe ich lieber das, was ich bin. Und jetzt schweig.“ Er tat zwei, drei Schritte zurück, riß die Peitsche aus dem Gurt, rollte sie aus und hieb damit zu. Siri-Tong blieb in ihrem Käfig hocken, ohne mit der Wimper zu zucken. Die Peitsche wischte dicht vor der Käfigtür vorbei, das Ende traf fast ihr Gesicht. „Ruhe!“ schrillte Schaos Fistelstimme. „Hier wird nicht geschwafelt, verstanden?“ Er fluchte, schritt weiter und drosch mit der Peitsche in Bambuszellen, deren Insassen lediglich höhnisch dreinblickten oder ihm durch Gebärden bedeuteten, was sie von ihm hielten. Er peitschte“ traf aber nur ein paarmal. Siri-Tong wußte genau, warum er sich so verhielt. Es waren Gesten zum reinen Selbstschutz, denn die anderen Eunuchen hatten ein waches Auge auf Schao. Jeder bespitzelte hier jeden. Schao hatte sich Siri-Tong gegenüber gutwillig, fast nachgiebig gezeigt, und das mußte er durch sein übertrieben wildes Auftreten jetzt wieder vertuschen. Siri-Tong setzte sich hin und lehnte sich wieder mit dem Rücken gegen die Gitterstäbe. Und wenn Schao tausendmal so etwas wie Sympathie für sie hegte, sie brauchte sich
Seewölfe 127 17
Roy Palmer
keinen Illusionen hinzugeben. Er hatte viel zuviel Angst vor den Mitwächtern und vor seinen Oberen. Helfen würde er ihr nicht. Siri-Tong dachte angestrengt nach. Hasard! Wo steckte er jetzt? Hatte er ihr nicht erzählt, daß er einmal Gefangener der Spanier gewesen sei — in Cadiz? Wie hatte er sich dort, im Gefängnis, verhalten? Wie hatte er es fertiggebracht, sich zu befreien? Er hatte es ihr geschildert, aber es fiel ihr nicht mehr ein. Egal, dachte sie, du mußt deinen eigenen Weg finden, nur auf dich selbst kannst du dich hier verlassen. Sie war härter geworden. Ihre Verzweiflung unterdrückte sie mit aller Macht, immer wieder verschaffte sie sich durch verschiedene Erwägungen Mut. Doch mitunter drängten sich ihr die Erinnerungen auf. Sie dachte an ihre Mutter, die in dieser Stadt lebte. Siri-Tong hatte die alte Frau besuchen wollen, alles, alles hatte ganz anders laufen sollen. Sie haderte mit sich selbst, weil ihre sämtlichen Pläne geplatzt waren. Wie Seifenblasen. Ihr Haß auf Khai Wang verging nicht. Im Gegenteil. Immer neue Steigerungen erfuhr die grenzenlose Vergeltungssucht. Sie malte sich aus, was sie tun und wie sie diesen Hund vor die Klinge fordern würde, wenn sie jemals wieder freikam. Diese Erwägungen verdrängten den dunklen Gedanken an den bevorstehenden Prozeß. Und so verging schleppend langsam der erste Tag. * Nach der denkwürdigen Unterredung zwischen Hasard und dem Mandarin hatte sich der Wikinger zunächst wieder auf das schwarze Schiff hinüberbegeben, um seine Männer von dem Ausgang des Gesprächs zu unterrichten. Jetzt, um die Mittagsstunde, kehrte er auf die „Isabella VIII.“ zurück und trat dem Seewolf auf dem Achterdeck mit der
Das Schwert des Henkers
gleichen zornigen, bärbeißigen Miene wie am frühen Morgen entgegen. „Bei Odin, seinem achtbeinigen Roß und den Wölfen Geri und Freki, so kann das nicht weitergehen“, begann er. „Schön, wir werden nicht weiter behelligt, aber das ist auch alles. Die Soldaten sind immer noch da. Anscheinend werden sie alle acht Glasen abgelöst.“ „Richtig“, erwiderte Hasard ruhig. „Aber der Kuan hatte auch nicht versprochen, daß er die Grünröcke abziehen würde.“ Thorfin Njal sah seinen Verbündeten betroffen an. Hasard schüttelte den Kopf. „Nein, Thorfin, du kannst beruhigt sein, ich halte es nicht mit den Chinesen. Ich wollte nur erst ein bißchen Zeit verstreichen lassen, um unsere Bewacher in Sicherheit zu wiegen. Ich habe eine kleine Versammlung anberaumt. Eigentlich ist es noch ein bißchen früh, aber wir können auch jetzt schon anfangen. Komm, wir gehen in meine Kammer.“ Thorfin Njal folgte dem Seewolf ins Achterkastell der Galeone. Zu seiner Überraschung hatten sich in der Kapitänskammer bereits Ben Brighton, Ferris Tucker, Big Old Shane, der alte und der junge O’Flynn sowie Smoky, der Decksälteste, eingefunden — und Ch’ingchao Li-Hsia, das Mädchen. Sie saß in einer Ecke auf der Koje und hatte die Hände auf die Knie gelegt. Den Kopf hielt sie erhoben, den Oberkörper leicht vorgebeugt. Gespannt schaute sie zu den Männern. Ihre Augen schimmerten leicht. Für sie war es eine große Ehre, bei dieser Unterredung dabei sein zu dürfen. Sie hatte sich jetzt auch die Haare kurzgeschnitten, wie der Nordmann feststellte. So fiel sie auf Oberdeck noch weniger auf und gliederte sich nahezu perfekt in die Crew ein. Da sie auch Seemannskleidung erhalten hatte, ähnelte sie äußerlich fast Bill, dem englischen Schiffsjungen. Und doch, für einen echten „Moses“. wirkte sie viel zu zerbrechlich. Zart wie eine Lotosblüte, dachte der Wikinger. Er blieb hinter dem Seewolf stehen und kratzte an seinem
Roy Palmer
Seewölfe 127 18
Kupferhelm. Wotan, dachte er, seit wann verzapfst du denn einen so karierten Kram, Thorfin? Ferris Tucker saß auf einem Stuhl neben dem Kapitänspult. Er hatte ein Bein übergeschlagen und die Arme verschränkt. „Wikinger, hör mit dem Kratzen auf, verdammt“, sagte er. „Und schließ bitte die Tür.“ „Da erscheint noch jemand“, erwiderte Njal. Er unterbrach seine Kratztätigkeit, schaute in den Gang und sah eine wuchtige Gestalt, die sich schweren Schrittes näherte. „Carberry“, sagte er. „Na, dann wären wir ja vollzählig.“ Der Profos stiefelte auf ihn zu, verharrte neben ihm und drückte die Tür selbst zu. Er begrüßte den Wikinger auf die übliche freundliche Art. „Na, was willst du denn hier, du behelmter Nordpolaffe?“ Hasard war hinter sein Pult getreten. Er blieb stehen und stützte die gespreizten Finger auf die Tischplatte. „Ich habe euch beauftragt, nach einer Lösung zu suchen“, sagte er. „Ich schätze, ihr hattet genug Zeit, und ich würde jetzt gern eure Vorschläge hören.“ Sie wollten sich von ihren Sitzgelegenheiten erheben, aber er bedeutete ihnen, auf den Plätzen zu bleiben. Die Männer blickten zu Ben Brighton, und der Bootsmann und erste Offizier der „Isabella“ ergriff das Wort. „Ehrlich gesagt, wir wissen auch nicht, wie es weitergehen soll. Wo sollen wir nach SiriTong suchen? Flüssiges Licht meint, es gäbe Tausende von Verstecken in einer Stadt wie dieser.“ „Ist das alles?“ fragte Hasard ziemlich ungehalten. Ben räusperte sich, dann fuhr er fort: „Wir nehmen an, daß man Siri-Tong an einen anderen Platz bringt, sobald wir ihren Aufenthaltsort entdeckt haben. Das ist das Problem. Wir fallen hier zu sehr auf, man wird uns überall und ständig im Auge behalten.“ „Das weise ich nicht von der Hand“, entgegnete der Seewolf. „Aber willst du
Das Schwert des Henkers
damit sagen, daß wir hier sitzenbleiben und Däumchen drehen sollen?“ „Nein. Wir hätten da schon einen Vorschlag ...“ „Heraus damit“, sagte Hasard. „Holla“, mischte sich jetzt der Wikinger ein. „Was ist das hier? Ein Komplott? Erledigt ihr jetzt alles allein? Warum werden wir Männer vom schwarzen Schiff nicht beteiligt?“ Der Seewolf streifte ihn mit einem funkelnden Blick. „Und wie war das, als ihr plötzlich auf und davon segeltet? Wurden wir da etwa um Rat gefragt?“ Der Wikinger schwieg. Hasard schaute zu Ben Brighton, Ben wies auf „Flüssiges Licht“, und das Mädchen rutschte in einem Anflug von Verlegenheit auf der Koje hin und her. „Ich würde in der Stadt nicht auffallen“, sagte sie auf portugiesisch. „Wenn ich heimlich das Schiff verlassen könnte. würde ich mich unter die Menschen mischen und ganz bestimmt herauskriegen, wo die Korsarin ist.“ „Ohne daß wir dabei das Nachsehen haben und Siri-Tong woandershin verschleppt wird“, meinte Big Old Shane. „Ach?“ Hasard sah ihn an. „Und wenn Flüssiges Licht nun etwas zustößt?“ „Sie wird auf sich aufpassen“, erwiderte Ferris Tucker. „Sie ist ein kluges Kind.“ „Feine Helden seid ihr mir“, sagte Hasard. „Ein kleines Mädchen wollt ihr also vorschicken, um die Kastanien aus dem Feuer holen zu lassen. Und dafür habt ihr fast zwei Stunden gebraucht — um euch das auszudenken? Hölle und Teufel, was für ein Verein seid ihr geworden!“ „Augenblick mal“, trumpfte Old Donegal Daniel O’Flynn auf. „So klein ist das Mädchen nun auch wieder nicht. Und was die Kastanien betrifft — die klauben wir schon selber aus dem Feuer. Sie soll ja nur auskundschaften, was los ist. Und überhaupt: wenn du uns nicht dauernd bremsen würdest, wären wir schon längst über die Gelbmänner hergefallen, das schwöre ich dir!“ Der Seewolf lächelte jetzt. „Gut so, das genügt. Ich wollte mich nur mal
Roy Palmer
Seewölfe 127 19
vergewissern, ob der alte Kampfgeist noch da ist.“ „Und ob!“ brüllte Carberry. „Arwenack !“ Dan hielt sich die Ohren zu. „Mein Gott, wir sind doch nicht taub, Profos. Geh auf die Heckgalerie, wenn du schreien mußt.“ Thorfin Njal legte dem wackeren Profos die Hand auf die Schulter. „Was ficht dich an, Edwin?“ „Was mich anficht? Dreinschlagen würde ich gern — und Siri-Tong befreien“, bellte der Profos mit kaum gedrosselter Lautstärke zurück. „Mann, ich hab eine Wut im Bauch, ich könnte den Großmast aus dem Kielschwein reißen ...“ Ch’ing-chao Li-Hsia schaute ratlos drein. Hasard lachte auf, trat hinter dem Pult hervor und schritt auf sie zu. „Kümmre dich nicht um die beiden“, erklärte er auf portugiesisch. „Ehrlich gesagt, ich habe auch schon daran gedacht, dich loszuschicken, aber zuerst wollte ich mal sehen, ob diese Kommission hier keinen anderen Weg findet. Offenbar gibt es keinen.“ „Flüssiges Licht“ strahlte über das ganze Gesicht und klatschte in die Hände. „Wunderbar! Ich werde meine Sache gut machen. Ich verspreche es dir.“ Er hob die Hand. „Halt! Was du mir versprechen mußt, ist, daß du auf dich achtgibst. Wenn dir etwas zustoßen würde, würde ich mir ewig Vorwürfe machen. Dann wäre alles aus, und auch Siri-Tong wäre verloren.“ Das Mädchen besaß ein erstaunliches Mienenspiel. Es wurde von Impulsivität und einem Rest kindlichem Gemüt gelenkt. Eben noch hatte sie gestrahlt, jetzt starrte sie den großen schwarzhaarigen Mann in jähem Entsetzen an. „Nein — nur das nicht“, stammelte sie. „Siehst du“, sagte Hasard. „Du begreifst selbst, daß deine persönliche Sicherheit über alles geht. Also verhalte dich dementsprechend. Du hast keine einfache Aufgabe vor dir.“ „Aber ich traue sie mir zu.“ „Kehre um, wenn du bedroht wirst oder sonst irgendwelche Schwierigkeiten auftreten.“
Das Schwert des Henkers
„Ja, hoher Herr.“ „Ferris.“ „Sir?“ „Du gibst ,Flüssiges Licht’ ungeprägte Silberstücke mit. Einige davon spaltest du in der Mitte. Damit hat. sie ein Zahlungsmittel, das beliebt ist und überall angenommen wird.“ „Aye, aye, Sir.“ Der röthaarige Schiffszimmermann erhob sich, drückte sich an Carberry und dem Wikinger vorbei und verließ die Kapitänskammer. Hasard setzte sich neben das Mädchen. „Versuche also herauszufinden, was mit Siri-Tong passiert ist, und zum zweiten, wo Siri-Tongs Mutter lebt. Wenn wir gar nicht mehr weiter wissen, kann sie uns vielleicht ein paar brauchbare Tipps geben, wie wir uns in Shanghai am besten bewegen.“ „Ja, hoher Herr.“ Thorfin Njal stemmte die Fäuste in die Seiten. „Mit anderen Worten, ihr habt also doch alles von euch aus beschlossen. Ohne uns anzuhören. Was sind das für neue Methoden?“ „Diese Methoden habt ihr uns ja gründlich vorexerziert“, antwortete der Seewolf hart. „Nun, Flüssiges Lieht fährt auf der ,Isabella’ und untersteht praktisch meinem Kommando, solange sie nicht endgültig an Land zurückkehrt. Die Entscheidung, ob sie nun geht, lag letztlich bei mir. Ich habe dich also in keiner Weise vor vollendete Tatsachen gestellt.“ „Merkwürdig, trotzdem habe ich den Eindruck“, brummelte der Nordmann. „Wir Männer vom schwarzen Segler sind dazu verdonnert, auf dem Schiff zu bleiben, weil es beschlagnahmt ist. Der Mandarin hat zwar gesagt, wir dürfen uns in der Stadt bewegen, aber wir sind nicht so frei wie ihr. Und was ist, wenn wir einen Schlag gegen die Zopfmänner zu führen haben?“ „Dann müßt ihr euch zurückhalten“, erwiderte Hasard. Thorfin schlug sich mit der rechten Faust in die geöffnete Linke. „Hab ich’s mir doch gedacht. Bei allen Göttern, das ist eine Schweinerei!“
Seewölfe 127 20
Roy Palmer 4.
Immer wieder stießen neue Neugierige zu dem Pulk, der die Schiffe umlagerte. Die Menge bevölkerte auch in den frühen Nachmittagsstunden fast die gesamte Pier. Sie drängelte, schob und keilte die „fremden Teufel“ ein. Die grünbekittelten Soldaten zeigten kein großes Interesse mehr daran, die Schar zurückzudrücken. So war es schon ein kleines Wunder, daß die Gaffer nicht auch noch die Laufstege passierten und sich an Bord der „Isabella VIII.“ und des schwarzen Schiffes begaben. Schließlich waren Neugierde und Dreistigkeit durchaus imstande, den nötigen Respekt zu untergraben, ja, sie bewältigten manchmal sogar die Angst. Ein paar junge Burschen probierten es bereits. Sie setzten ihre Füße auf die Gangway der „Isabella“ und wippten darauf herum. Jemand rief ihnen etwas Aufmunterndes zu, und etwas weiter hinten in der Menge schwenkten Mädchen bunte Tücher. Das stachelte die Burschen noch mehr an. Sie schoben sich weiter vor. Drüben, auf dem Laufsteg von „Eiliger Drache über den Wassern“, hatten sich jetzt Nachahmer eingefunden. Sie tasteten sich voran, verhielten, kicherten und arbeiteten sich weiter vor. Wie mochte es wohl an Bord des Drei- und des Viermasters aussehen und zugehen? Die tollsten Gerüchte waren verbreitet worden. Die „Yang kuei tzu“ aßen und tranken nicht, saßen und standen nur herum und schienen keine Nahrung zu benötigen. Einige von ihnen schienen von der Sonne schwarzgebrannt zu sein, anderen fehlten die Hände oder die Beine. Wie es den Anschein hatte, war dem Fellgekleideten vom schwarzen Schiff der Kupfertopf auf dem mächtigen Schädel festgewachsen! Der Fellgekleidete stand plötzlich hinter dem Schanzkleid der Kuhl. Er war vorhin von der „Isabella“ zurückgekehrt und dann auf „Eiliger Drache“ verschwunden, keiner hatte ihn mehr gesehen. Jetzt befanden sich
Das Schwert des Henkers
vier Kerle in seiner Gesellschaft, die so ähnlich aussahen wie er. Nur der eine hatte ein auffallend langes, spitzes Gesicht. Wegen dieser Besonderheit wurde er der Stör genannt —`aber das konnten die Chinesen natürlich nicht wissen. Auch war ihnen nicht bekannt, daß die drei anderen Nordmänner Eike, Arne und Oleg hießen. Und ebenso wenig war ihnen geläufig, daß das riesige Schwert, das Thorfin Njal jetzt aus der Scheide riß, von dem bärtigen Riesen liebevoll „sein Messer“ getauft worden war. „Gewalt wollen wir nicht anwenden“, sagte der Wikinger grimmig. „Das haben wir versprochen.“ „Ja, das haben wir versprochen“, echote der Stör. Er hatte sich die scheußliche Angewohnheit, Thorfin Njal jeweils den letzten Satz nachzuplappern, immer noch nicht abgewöhnt. Thorfin Njal achtete aber nicht darauf, er war viel zu aufgebracht, um solchen Kleinigkeiten Aufmerksamkeit zu schenken. Oleg reichte ihm einen Schleifstein, und Thorfin fing jetzt an, wie ein Besessener damit die Klinge seines „Messers“ zu wetzen. Das schabte und klirrte nur so, und die aufdringlichen Chinesen wichen unwillkürlich ein Stück zurück. Arne und Eike luden Pulver in die trichterförmigen Läufe zweier Tromblons. Die Tromblons, auch Blunderbüchsen genannt, richteten besonders im Nahkampf Verheerendes an, man konnte damit „Decks leerräumen“. Eike und Arne füllten. gehacktes Blei in die Mündungen, stopften nach—und die Gaffer räumten die Laufplanke nun ganz. „Wir kontrollieren nur unsere Waffen und bringen sie auf Vordermann“, stieß Thorfin Njal grollend hervor. „Kommt doch her und seht euch das an. Na los.“ Er setzte einen Fuß auf die Gangway, winkte und brüllte: „Kommt ‘rüber, wir laden euch zu einer Freudenfeier ein!“ Oleg und der Stör grinsten genauso breit wie Arne und Eike. Oleg und der Stör beschäftigten sich mit einem der schweren
Roy Palmer
Seewölfe 127 21
25-Pfünder auf Oberdeck. Sie tätschelten ihm das mächtige Bronzerohr, versorgten das Geschütz wie spielerisch mit Pulver, hoben eine Kugel an, wiesen sie vor und beförderten sie in den Lauf. Fachmännisch preßte Oleg mit einem Ansetzer Kabelgarn in das Rohr und stopfte die Kugel fest. „Irgendetwas müssen wir ja tun“, sagte Thorfin Njal. „Das Leben an Bord eines Seglers ist stinklangweilig, wenn der Kahn in einem Hafen festliegt, glaubt es mir, Kameraden.“ Die Chinesen äugten mit offenen Mündern zu ihm und seinen Landsleuten und stolperten noch ein Stück zurück. Die Gangway war sozusagen tabu geworden, keiner wollte sie mehr betreten. Und bei der „Isabella“? Batuti hatte das Vordeck verlassen, war wie selbstverständlich auf die Laufplanke geklettert und hatte ganz fürchterlich mit den Augen zu rollen begonnen. Er hatte die Zunge herausgestreckt und wie verrückt gestikuliert. Sofort war der pierwärts gelagerte Teil der Gangway wie leergefegt gewesen. Die mutigen jungen Burschen, die sich auf die „Isabella“ wagen wollten, schienen plötzlich weitaus Wichtigeres zu tun zu haben. Jedenfalls räumten sie nicht nur die Planke, sondern gleich auch die hölzerne Pier. Auch der Kutscher, Old O’Flynn, Matt Davies und Jeff Bowie traten neben Batuti, dem schwarzen Herkules aus Gambia, in volle Aktion. Der Kutscher fuchtelte mit einem seiner großen Fleischmesser aus der Kombüse. Old Donegal schnallte kurzerhand sein Holzbein ab und zeigte es den staunenden Zopfleuten. Matt Davies reckte seine Eisenhakenhand. Plötzlich rutschte sie ihm aus. Matt hieb aufs Schanzkleid, hobelte einen dicken Span ab und riß die Prothese wieder hoch. Jeff Bowie gestikulierte ebenfalls demonstrativ mit seinem Haken. Zuletzt tauchten auch noch Arwenack, der Schimpanse, und Sir John, der karmesinrote Ara, auf. Und all das machte einen nachhaltigen Eindruck auf die Zuschauermasse.
Das Schwert des Henkers
Ob sie Batuti nun für einen schwarzen Teufel oder für ein Monster hielten, blieb dahingestellt. Auf jeden Fall mußten die Bewohner Shanghais ziemlich sicher sein, daß die „Yang kuei tzu“ nicht ganz klar im Oberstübchen waren. Das ließ die Sache erst richtig spannend werden. So manchem Neugierigen lief ein kalter Schauer über den Rücken. Die meisten blieben, um weitere Irrsinnstaten der fremden Teufel abzuwarten. * Das ganze Theater hatte nur einem Zweck gedient: Ch’ing-chao Li-Hsin zu einem unbemerkten Abgang zu verhelfen. Während die Zuschauer auf der Pier wie hypnotisiert. die Vorstellungen verfolgt hatten, die ihnen die fünf Wikinger und die fünf Seewölfe boten, hatte Hasard an Steuerbord der „Isabella“ ein Beiboot abfieren lassen. „Flüssiges Licht“ war ungesehen an der Jakobsleiter abgeentert, desgleichen Blacky und Dan O’Flynn. Unten angelangt, hatten Blacky und Dan das Boot von der Bordwand der Galeone abgestoßen und zu den Riemen gegriffen. „Flüssiges Licht“ hatte die Ruderpinne übernommen. Sie hatten sich entfernt, ohne daß es auch nur ein Gaffer auf der Pier zur Kenntnis genommen hatte. Die Jolle der „Isabella“ hatte sich in ein Gewirr von Sampans geschoben. Das Mädchen hatte die Ruderpinne festgezurrt, dann, ganz plötzlich, war sie von der Heckducht verschwunden gewesen. Wie zufällig fand Ch’ing-chao Li-Hsia sich an Bord eines leeren Sampans wieder. Sie wechselte auf ein Nachbarboot über, arbeitete sich immer weiter auf die Kaimauer zu, und wenig später, als sie sich unter die Menschen mischte, ahnte keiner, daß sie von Bord des großen Dreimasters kam. Niemand beachtete sie. Fast vergnügt verfolgte sie vom Kai aus, wie Dan und Blacky mit dem Beiboot zur „Isabella“ zurückkehrten.
Roy Palmer
Seewölfe 127 22
Niemand würde in „Flüssiges Licht im beginnenden Sommer“ die Kundschafterin des Seewolfs vermuten. Niemand? Aus einem sicheren Unterschlupf hatten fünf Augenpaare beobachtet, wie das Mädchen gelandet war. „Flüssiges Licht“ wäre wohl nicht so unbeschwert durch die Gassen des Hafenviertels gewandert, wenn sie davon auch nur etwas vermutet hätte. Sie wich dem Einradkarren eines Händlers aus und konnte gerade noch rechtzeitig vor einer heranrollenden Rikscha davoneilen, dann war sie vorn Kai herunter und drang in das schier verfilzt wirkende Getümmel aus Leibern, Farben, Gerüchen und Geschnatter ein. Hier mußte sie sich erst selbst zurechtfinden — hier war das Leben anders, vehementer, vielschichtiger als in Xiapu. Händler priesen ihre Ware in monotonem Singsang an, jeder in einer anderen Stimmlage. Stets hatten sie ein waches Auge auf die Bettler, die an den Hausmauern hockten. Scheinbar harmlos, konnten sie sich in einem für sie günstigen Augenblick in Diebe verwandeln. Beim Einlaufen der „Isabella“ und des schwarzen Schiffes in den Hafen, so hatte „Flüssiges Licht“ vernommen, war einem Gemüseverkäufer der halbe Karren leer geräumt worden, denn er war so dumm gewesen, zu den Schiffen zu starren. In einer Ecke umlagerten viele Kinder, aber auch Erwachsene, einen Geschichtenerzähler, der aus einem Märchenbuch vorlas. Ein paar Schritte weiter warf ein Wahrsager Steine auf ein Brett und erkannte aus ihrer Stellung die Zukunft seiner Kunden. Vor einem großen Geschäft wurden bunte Lampions für das bevorstehende Mondkuchenfest feilgeboten: „Flüssiges Licht“ bahnte sich einen Weg und überlegte dabei, an wen sie sich wenden sollte. Und wenn der Mandarin aus der Sänfte es auch beteuert hatte, daß Siri-Tong nicht den Behörden übergeben worden sei, daß er sie nicht gesehen hätte — sie konnte doch in den Kerker geworfen worden sein.
Das Schwert des Henkers
Hasard hatte dem Mädchen Ch’ing-chao aufgetragen, sich zuerst nach dem Gefängnis der Stadt zu erkundigen, das war das sicherste. „Flüssiges Licht“ beschloß, sich bei einem der Lebensmittelhändler zu erkundigen. Sie steuerte die Gasse an, aus der die heftigste Geruchsmischung drang. Hier wurde auf der Straße geschlachtet, gekocht, gegessen und gelebt, und die chinesische Küche zeigte ihre Geheimnisse öffentlich vor. Es roch nach gekochten Speisen, nach Fisch, Kopra, Asche, Blut, frisch abgezogener Schlangenhaut, Räucherstäbchen, nach Curry und anderen Gewürzen — manchmal angenehm, manchmal zu aufdringlich, beinah unausstehlich. Das Hafenviertel hatte einen schlechten Atem, und ein deftiger Hauch davon wehte zu den Kais und Piers hinüber. Der Kuan hatte also doch gar nicht so unrecht gehabt, als er seinen großen Diener mit dem Sandelholzkessel vorausgeschickt hatte. Ch’ing-chao ordnete sich in den Menschenstrom ein, der sich unablässig durch die Mitte der Gasse wälzte. Sie sah Frösche, Schlangen, Schildkröten, Krokodile, Fische, Enten und Hühner. Die Tiere harrten in Bambuskäfigen aller Größen ihrer lukullischen Bestimmung. Die geschlachteten Tiere wurden hier gleich gerupft oder gehäutet und in schmackhafte Gerichte verwandelt. Für das Hundert-Tage-Ei, das in Körben feilgeboten wurde, war eine besondere Zubereitung nicht vonnöten — wer den Gestank ertrug, der konnte es so schlürfen. Das Mädchen lächelte. Sie mußte daran denken, was wohl die Männer der „Isabella“ sagen würden, wenn sie solch ein Ei vorgesetzt erhielten. In China war es eine Spezialität, aber im fernen Europa rief allein der Anblick eines verfaulten Eis mit rotem Dotter Übelkeit hervor. Es gab unzählige Geschäfte, die in kleinen Räumen eingerichtet waren, dicht an dicht, Flur an Flur. „Flüssiges Licht“ sah einen Holzschnitzer, der einen Buddha
Roy Palmer
Seewölfe 127 23
anfertigte, einen Nudelmann, aus dessen handbetriebener Maschine die Nudeln wie Barthaare flossen. An einer Ecke hockte ein Schriftkundiger, der gegen Reis- oder Papiergeld lange Briefe in chinesischen Schriftzeichen verfaßte. Ch’ing-chao verspürte plötzlich Hunger. Sie beschloß, das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden. Sie betrat einen winzigen Laden, in dem Frühlingsrollen gebacken wurden, Teigtaschen mit einem Gemisch aus Sojabohnenkeimen, Bambussprößlingen, Fleisch und Gewürzen darin. Es herrschte reger Andrang. Aber der Bäcker war ein flinker Mann, er fertigte die Kundschaft rasch ab, und bald war die Reihe an Ch’ing-chao. Sie bestellte sich zwei Frühlingsrollen. Der Bäcker reichte sie ihr auf einem Stück rauhem Papier, und das Mädchen wollte mit einer halben ungeprägten Münze bezahlen und dann gleich nach dem Kerker fragen. „Ich habe eine Bitte“, begann sie. In diesem Augenblick legte sich ihr von hinten eine Hand auf den Arm. „Nicht doch“, sagte eine sanfte, angenehme Stimme hinter ihrem Rücken. „Das übernehme ich schon für dich, mein Junge.“ „Flüssiges Licht“ wandte sich überrascht um. Hinter ihr stand, von anderen Kunden umringt, ein gutgekleideter, höflich lächelnder Mann. An den wertvollen Seidenstickereien auf seinem Gewand, seinem gepflegten Bart und allen anderen Details seines Äußeren erkannte sie, daß er ein sehr wohlhabender Mann sein mußte. Er hielt ihre Hand mit der halben ungeprägten Münze fest; beugte sich etwas vor und reichte über ihre Schulter weg dem Frühlingsrollenmann ein Stück Papiergeld. „Das — das kann ich nicht annehmen“, stammelte Ch’ing-chao. „Du mußt”, entgegnete der Gutgekleidete. „Der Bäcker ist mein Freund.“ Das Mädchen blickte verwirrt zu dem Mann hinter dem Ladentisch, und dieser grinste verständnisinnig. Die Blicke, die
Das Schwert des Henkers
sich einige Kunden zuwarfen, registrierte Ch’ing-chao nicht. „Und nun zu deiner Bitte“, sagte der gütige Spender. „Sprich dich nur aus - was hast du auf dem Herzen?“ „Ich - möchte zum Gefängnis“, flüsterte das Mädchen nach einigem Überlegen. „Oh, zum Gefängnis.“ Der Gutgekleidete schaute sie halb überrascht, halb amüsiert an. „Hast du denn etwas ausgefressen?“ „Nein, das nicht. Ich möchte dort -einen guten Freund besuchen“, erwiderte sie. Sie fragte sich, ob sie das Richtige tat. War es nicht ein Fehler, sich diesem Wildfremden anzuvertrauen? Er legte ihr freundlich die Hand auf die Schulter. „Wie heißt du denn eigentlich, Junge?“ „Ching“, sagte sie. „Und ich bin der ehrenwerte Lim. Deiner Kleidung nach bist du ein Schiffsjunge ...“ „Ja, ich fahre auf einer Gemüsedschunke“, schwindelte sie. Er nickte. „Siehst du, das habe ich mir gedacht. Weißt du, ich bin ein bedeutender Schiffsbauer, ich habe eine der größten Werften in Shanghai. Früher bin ich jedoch zur See gefahren, und ich helfe manchmal Seeleuten und Schiffsjungen, die neu in der Stadt sind und sich nicht zurechtfinden.“ „Flüssiges Licht“ betrachtete den ehrenwerten Lim aufmerksam. Was er sagte, erschien ihr ehrlich gesprochen. Sie beschloß, sich ihm anzuvertrauen. „Ich wäre Euch dankbar, wenn Ihr mir den Weg zum Kerker zeigen würdet“, sagte sie. Er zog sie behutsam vom Ladentisch fort und hakte sie unter. „Gehen wir. Vielleicht kann ich dir sogar den Weg zu deinem Freund öffnen. Die Wärter der Kavernen sind rauhe Kerle, die keinen Menschen hereinlassen, wenn er keinen Passierschein vorweisen kann. Ich habe aber Einfluß. Mein Wort läßt Barrieren schmelzen.“ Die letzten Sätze sprach er. als sie sich bereits im Freien befanden und die Gasse entlang weitergingen. Möglich, daß er etwas von sich eingenommen war, auf jeden Fall aber gelangte Ch’ing-chao in seiner Nähe eher zum Ziel als allein.
Roy Palmer
Seewölfe 127 24
Dies sagte sie sich immer wieder, während sie das Gewirr von Gassen durchquerten und schließlich eine feinere Gegend erreichten. Hier war der Lärm des Hafenviertels verebbt, und die vielen Gerüchte drangen nicht bis hierher vor. Hier flanierten beleibte, fein herausgeputzte Bürger und Modedamen mit hochgesteckten Frisuren und phantastischen Gewändern, schön wie Paradiesvögel. „Warum benutzt Ihr keine Sänfte?“ fragte Ch’ing-chao. Der ehrenwerte Lim lächelte geheimnisvoll. „Ich mische mich gern unters Volk, um meine Studien zu treiben. Aber ich tue es so unauffällig wie möglich. Komm.“ Vor einem großen Haus mit zwei Stockwerken blieb er stehen, drehte sich zu ihr um und winkte ihr zu. „Ich zeige dir mein Haus. Es wird dir gefallen.“ „Aber ich - ich muß an Bord meiner Dschunke zurück“, erwiderte sie etwas zu hastig. „Ich habe nicht mehr viel Zeit. meinen Freund zu besuchen und wäre froh, wenn wir ...“ Lim unterbrach sie. „Ich muß nur meiner Dienerschaft ein paar Anweisungen geben, das ist alles.“ Der Ausdruck seiner Miene veränderte sich ein bißchen, seine Freundlichkeit schien wie weggewischt zu sein, aber nur für einen Moment. Danach lächelte er wieder. Ch’ing-chao bemerkte nichts und zuckte nur mit den Schultern. „Meinetwegen. Aber ich weiß nicht, ob ich in diesem Aufzug ein so feines Haus betreten darf.“ Etwas rat- und hilflos zupfte sie an ihrer groben Kleidung herum. Der ehrenwerte Lim hatte die Tür aufgesperrt. „Bereite dir deswegen keine Sorgen“, erwiderte er. „Jeder Gast, und sei er auch noch so arm, ist bei mir herzlich willkommen.“ Wenig später schritten sie durch eine Flucht von großen, traumhaft schön ausgestatteten Zimmern. Lim schien es als selbstverständlich anzusehen, ihr freundschaftlich den Arm um die Schulter zu schlingen. So traten sie auf eine
Das Schwert des Henkers
Terrasse hinaus, und er wies mit ausschweifender Gebärde auf den gepflegten Park. Über einen Teich, auf dessen Oberfläche sich Lotosblätter ausbreiteten, spannte sich eine Marmorbrücke. Sie führte zu einem von künstlichen Grotten, Glyzinien und Bambusgebüschen umgebenen Pavillon. „Wo ist Eure Dienerschaft?“ fragte sie ihn. „Dort. Sie säubert den Pavillon.“ „Und Eure Frau?“ „Ich bin unverheiratet.“ Er führte sie über die Brücke unter das Vordach des Pavillons. „Flüssiges Licht“ sah niemanden und vernahm keine Geräusche, die auf die Aktivitäten des Hauspersonals schließen ließen. Diesmal erwachte offenes Mißtrauen in ihr. Sie drehte sich zu dem ehrenwerten Lim um und wollte etwas sagen. Aber er hatte schon bemerkt, daß sich ihre Haltung verändert hatte. Plötzlich flackerte es in seinen Augen auf. Er packte sie und stieß sie in den Pavillon. Sie schrie auf, strauchelte und fiel auf dem Flur hin. * Die Angst durchflutete ihren Körper und griff nach ihrem Herzen.’ Ch’ing-chao drehte sich um, richtete sich halb auf und blickte voll Entsetzen auf den gut gekleideten Mann. Er ging auf sie zu. „Alles, was ich dir über mich erzählt habe, ist wahr“, sagte er. „Aber ich bin nicht der selbstlose Wohltäter, für den du mich gehalten hast. Für alles, was ich tue, erwarte ich eine kleine Gegenleistung.“ „Gegenleistung?“ wiederholte sie verstört. Sie stand vom Boden auf und spürte, wie ihre Hände bebten und ihre Knie weich wurden. „Ching“, :sagte er höhnisch. „Du hast mich angelogen, das ist nicht dein richtiger Name. Meinst du im Ernst, ich habe dich nicht durchschaut? Schiffsjunge ist gut ...“ Er war bei ihr, bückte sich und wollte sie packen. Ch’ing-chao stieß einen gellenden
Roy Palmer
Seewölfe 127 25
Schrei aus, wich zurück und sprang in ein Zimmer, das rechter Hand lag. Das Zimmer hatte keine Fenster. Und es existierte auch keine Verbindungstür, durch die sie in einen Nebenraum gelangen konnte. „Flüssiges Licht“ wirbelte herum, verharrte für eine Sekunde und ging dann langsam rückwärts, während Lim, der Ehrenwerte, mit siegessicherer Miene auf sie zurückte. Sie saß in der Falle. „Schrei“, sagte er. „Hier hört dich doch keiner. Die Wände meines kleinen Liebespavillons sind gut abgedichtet. Und die Nachbarbauten liegen außerdem zu weit entfernt.“ „Was wollt Ihr von mir?“ „Du hast dich als Junge verkleidet, aber du hättest auch deine Stimme verstellen müssen“, sagte er. Ein genießerischer Ausdruck erschien auf seinem Gesicht, und er sah weder ehrenwert noch angenehm aus. „Ich habe einen Blick für so etwas, verstehst du? Und ich finde, du siehst mit deinen kurzen Haaren und diesen unmöglichen Kleidern irgendwie verlockend aus.“ Sie hatte die Wand erreicht und preßte sich mit dem Rücken dagegen. „Nein, Lim. Haltet an Euch. Macht Euch nicht unglücklich. Ich habe ein Messer.“ Er lachte auf. „Tatsächlich? Zeig es mir doch.“ Sie duckte sich ein wenig. „Bleib stehen, du Hund. Ich werde mich wehren, und zwar mit Händen und Füßen und Zähnen, mit allem, was mir zur Verfügung steht.“ „Ha, jetzt wird sie ausfallend und frech, die Kleine“, sagte er. Er tat noch einen Schritt auf sie zu. „Aber die Dreistigkeit treibe ich dir aus. Übrigens hat es vor Jahren in dieser Stadt ein Mädchen gegeben, das sich auch als Schiffsjunge verkleidet hatte und auf Schiffen anheuerte. Eine gewisse SiriTong. Ein sagenhaft hübsches Weib, aber auch ein Satansbraten.“ Ch’ing-chao spürte, wie ihr das Herz bis in den Hals hinauf klopfte. Aber auch in diesem Moment vergaß sie nicht ihre Mission. „Siri-Tong? Die Korsarin?“
Das Schwert des Henkers
„Ja. Jetzt sitzt sie im Kerker. Letzte Nacht ist sie dort eingeliefert worden. Wenn wir nachher hingehen, um deinen Freund zu besuchen, kannst du sie bestaunen“, fuhr Lim fort. „Bildest du dir ein, in ihren Fußtapfen wandeln zu können? Laß besser die Finger davon, du machst dich unglücklich. Auf Seeräuber wartet das Henkersschwert.“ Er rückte rasch auf sie zu. Sie konnte sich ihm nicht entziehen. Seine Hände umklammerten ihre Arme, sein Gesicht war dicht vor dem ihren, er hatte ein widerwärtiges Grinsen aufgesetzt. „Nun zeig mir mal, was du zu bieten hast“, sagte er. „Los, stell dich nicht so zimperlich an, du kleines Luder.“ Er zerrte an ihrem Hemd, während er mit einer Hand immer noch ihren Arm festhielt. Ch’ing-chao keuchte, schrie, kratzte und biß, aber es nutzte ihr nichts. Lim riß ihr das Hemd auf und tastete im Ausschnitt nach ihren Brüsten. Sein Mund suchte ihre Lippen, er wollte sie gewaltsam küssen. In diesem Augenblick war eine Bewegung unter dem Türpfosten. „Flüssiges Licht“ nahm sie nur schemenhaft wahr, doch die Gestalt, die auf sie und Lim zuhuschte, war Wirklichkeit — sehr konkret sogar. Lim fühlte sich an seinem Gewand gepackt. Mit einem unwilligen, gereizten Laut fuhr er herum. Das Mädchen hielt er dabei immer noch am Arm fest, aber er ließ sie endgültig los, als der erste Faustschlag gegen seine Wange fuhr. „Was fällt Euch ein“, stieß Lim entsetzt aus. Der Fremde, ein hagerer, hochgewachsener Mann mit leicht fliehender Stirn, schütterem Haar und großen, klugen Augen — dieser Fremde ließ sich auf nichts ein. Und er kannte kein Pardon. Er rammte seine Faust gegen Lims Brust, ergriff den Taumelnden, zog ihn bis in die Mitte des Pavillonraums, dann hieb er erneut auf ihn ein. Lim stellte einen lächerlichen Versuch an, sich zu wehren.
Roy Palmer
Seewölfe 127 26
„Schlag dich“, zischte der Fremde. ..Zeig, daß du es mit Leuten aufnehmen kannst, die dir ebenbürtig sind!“ Lim hob die Fäuste und schoß eine Rechte auf das Gesicht des Mannes ab. Aber wie durch einen Spuk wurde seine Faust zur Seite gewischt, und plötzlich waren wieder die Fäuste des Gegners da, diese unbarmherzigen Fäuste, deren Knöchel auf Lim eintrommelten und seinen Stolz, seine wilde Gier, seine Selbstsicherheit zerschlugen. „Flüssiges Licht im beginnenden Sommer“ hatte mit einem trockenen Schluchzer ihr Hemd vor der Brust zusammengerafft. Jetzt hatte sie sich halbwegs wieder in der Gewalt. Sie atmete ein paarmal tief durch, knöpfte ihr Hemd zu und rückte auf Lim zu. Sie wollte mithelfen, dem Kerl zu geben, was er verdient hatte. Aber das war nicht mehr nötig. Der Fremde holte weit aus und landete einen Schlag an Lims Kinn, der den Schiffbauer von, den Füßen hob. Wie ein gefällter Baum fiel Lim auf den Rücken. Er gab noch einen tiefen, seufzenden Laut von sich, dann war er still und regte sich nicht mehr. „Allmächtiger“, hauchte Ch’ing-chao. „Er ist doch nicht etwa ...“ Der Fremde kniete sich neben den „ehrenwerten Um“ hin, beugte sich über ihn und lauschte an seiner Brust. „Tot?“ sagte er dann. „Nein. In ein oder zwei Stunden kommt er wieder zu sich. Dieser elende Hund. Verdammt sei, wer sich an wehrlosen Mädchen vergreift.“ „Du hast also gesehen, daß ich kein Junge bin?“ erwiderte sie peinlich berührt und senkte den Kopf. „Wer bist du?“ fragte er sie, und sie sagte es ihm. Nur erwähnte sie nicht, daß sie von der „Isabella VIII.“ kam —und welchen Auftrag sie verfolgte. „Ich heiße Fong-Ch’ang“, sagte er. „Ich war in dem Laden des Frühlingsrollenbäckers, als Lim dich ansprach. Da ahnte ich, was er von dir wollte. Ich bin euch gefolgt. Ich habe auch gehört, wie du in dem Laden vom Kerker gesprochen hast.“
Das Schwert des Henkers
„Wie dumm ich gewesen bin“, flüsterte sie. „Wem kann ich jetzt noch vertrauen?“ „Mir“, sagte Fong. „Ich werde dich nicht anrühren und dich nicht hintergehen. Komm, laß uns zusammen den Kerker suchen.“ Er wußte, daß er dieses Versprechen halten würde. Für ihn bedeutete es soviel wie ein Schwur. Gut, Vinicio de Romaes hatte gesehen, wie das Mädchen von der „Isabella“ an Land gesetzt worden war. Und er hatte ihn, Fong, losgeschickt, damit er sich „bewährte“. Die Probe bestand darin, daß Fong sich an „Flüssiges Licht“ heranpirschen und ihr Vertrauen erwerben sollte. Später sollte er durch sie an Bord der Galeone gelangen - an Bord des schatzgeladenen Schiffes der Seewölfe. Raga, der Malaie, hielt sich ständig hinter Fong. Er beschattete ihn, ohne sich selbst sehen zu lassen. Er war ein Meister in diesen Dingen, und er konnte seinen Kris fünfzig Schritte weit schleudern, ohne das Ziel zu verfehlen. Trotzdem. Fong-Ch’ang war bereit, sein Leben zu geben, wenn er diesem Mädchen und dem Kapitän Killigrew nur irgendwie helfen konnte. 5. Die restlichen Stunden des Tages waren rasch verflogen, und auch die Nacht verging an Bord der „Isabella“ und des schwarzen Schiffes verhältnismäßig schnell. Wachen mußten eingeteilt werden. Hasard und Thorfin Njal waren ständig auf der Hut vor Überraschungen. Die Neugierigen waren inzwischen bis auf ein paar ganz Hartnäckige verschwunden, und die beiden Kapitäne ließen auch auf der großen hölzernen Pier Wachtposten patrouillieren, um vor Repressalien sicher zu sein. Der Wikinger suchte die „Isabella“ vorläufig nicht mehr auf. Er war regelrecht eingeschnappt, weil Hasard ihn an den Beratungen nur oberflächlich beteiligt
Roy Palmer
Seewölfe 127 27
hatte und weil die Siri-Tong-Crew sich so passiv wie möglich verhalten sollte. „Er begreift einfach nicht, daß das nur zu seinem Besten und zum Vorteil der ganzen Mannschaft ist“, sagte Hasard, als er in der Nacht bei Ben Brighton und Ferris Tucker auf dem Achterdeck stand und zur Stadt hinüberblickte. „Je weniger ruppig er sich hier aufführt, desto weniger wird er behelligt. Das gilt auch für die Zukunft.“ „Wenn es eine Zukunft gibt“, erwiderte der Schiffszimmermann. „Unkst du jetzt schon wie der alte O’Flynn?“ „Nein, Hasard. Ich sehe nur ein bißchen schwarz.“ „Warten wir Ch’ing-chao Rückkehr ab.“ „Sicher“, meinte Ben. „Und in Thorfins bronzenen Nordmannschädel klopfen wir es schon noch hinein, was hier gut und richtig ist. Er kann doch nicht für ewig auf stur schalten.“ Hasard lächelte. „Natürlich nicht. Im übrigen muß er sich damit abfinden, daß er sich aus allem heraushalten muß. Ich weiche nicht von meinem Standpunkt ab.“ Ben und Ferris sahen sich an. Damit hatte der Seewolf nun ganz klar zum Ausdruck gebracht, daß er das Oberkommando übernommen hatte. Vorläufig hatten sich der Wikinger und seine Crew zumindest bedingt unterzuordnen. Ben und Ferris konnten ihrem Kapitän dieses rigorose Verhalten wahrhaftig nicht verübeln. Siri-Tong hatte auch in der Zeit ihres gemeinsamen Segelns und Kämpfens ihre völlige Eigenständigkeit bewahrt - und meistens getan, was sie wollte. Sie war eine harte, unnachgiebige Korsarin, die weder Tod noch Teufel fürchtete, sie stand auf eigenen Füßen, klammerte sich an niemanden und hielt eine Mannschaft wilder Kerle im Zaum. Ihr Verhältnis zu Hasard änderte nichts an dieser Autonomie. Und der Seewolf selbst hatte nie Einwände gegen ihr manchmal starrsinniges Verhalten erhoben, jedenfalls so lange nicht, wie er die gemeinsamen Vorhaben nicht gefährdet gesehen hatte. Aber auch eine Frau wie Siri-Tong war nicht unfehlbar.
Das Schwert des Henkers
Zumindest bei ihrem Eintreffen in China hätte sie an das hohe Risiko denken müssen, das sie einging. Hasard kreidete dies sowohl ihr als auch dem Wikinger an, der Miteigner des schwarzen Seglers war: es war falsch gewesen, sich allein an Khai Wangs Fersen zu heften, völlig auf eigene Faust zu handeln und die „Isabella“ einfach abzuhängen. Vor der Bucht, an der die Korsarin von Khai Wang und dessen Männern entführt worden war, hatte der Seewolf es Thorfin Njal vorgehalten. Und jetzt, hier, wollte Hasard ganz einfach nicht, daß wieder etwas schiefging. Er baute alle erdenklichen Sicherheitsmaßnahmen in seine Berechnungen ein, tastete sich voran - um dann, im entscheidenden Augenblick, loszuschlagen. Die Crew wußte es, stellte keine Fragen und verhielt sich ruhig und abwartend. Die Stunden, die auf die Nacht folgten, verstrichen quälend langsam. Hasard wurde ungeduldig, bemühte sich aber, es nicht zu zeigen. Dennoch begriffen seine Männer, wie ihm zumute war. Er hielt sich von jetzt an unausgesetzt auf dem Achterdeck der Galeone auf. Sie lasen seiner Miene und seinem Verhalten ab, daß er sich um „Flüssiges Licht im beginnenden Sommer“ sorgte. * Sie waren -wieder da. Siri-Tong hörte es, bevor sie sie sah: Sie hatten in der Nachbarhöhle, dort, wo sich der Aufgang aus grob behauenen Steinstufen befand, die Holzbohlentür geöffnet. Ein paar schwache Streifen Licht stachen bis in die Kaverne, in der der Käfig der Korsarin stand - und sie, die glatzköpfigen Eunuchen, begannen sofort, auf die lamentierenden, fluchenden und jammernden Gefangenen einzuschlagen. Es schien an jedem Vormittag das gleiche zu sein. Gestern, am frühen Nachmittag, war SiriTong von einem Trupp Wächtern abgeholt worden. Sie hatte die Nachbarhöhle kennengelernt, den Treppenaufgang, der in
Roy Palmer
Seewölfe 127 28
ein flaches, langgestrecktes Gebäude mündete - dann das Gerichtsgebäude, das’ sich gleich nebenan befand. Dort hatte der Prozeß gegen sie begonnen. Eine simple Bestandsaufnahme hatte als Einleitung herhalten müssen. Und schon hier hatte Siri-Tong begriffen, was für eine haarsträubende, ungeheuerliche Farce man in Szene gesetzt hatte, um sie zu vernichten. Sie hatte sich von ihrem Platz erhoben und den Ankläger unterbrochen. Als er sie angeschrien hatte, hatte sie ihn beschimpft und bedroht. Das hatte ihr wenig eingebracht. Zweimal war sie verwarnt worden. Beim drittenmal hatten die Eunuchen sie gepackt und zurück in ihre Kaverne, in die stickige Feuchtigkeit, in ihren Käfig getrieben. Sie waren unsanft mit ihr umgesprungen. Nur Schao hielt sich in punkto Brutalität immer noch zurück. Woran das lag, wußte sie nicht. Einmal hatte sie überlegt, ob er sein Eunuchendasein wohl nur vortäuschte. Es gab auch normalbeschaffene Männer, die fett und glatzköpfig waren. Empfand er eine Leidenschaft für sie? Aber nein, das konnte nicht sein. Die Wärter des Gefängnisses wurden sorgsam ausgewählt und entsprechenden Untersuchungen unterzogen. Sie traten in die Kaverne, und wieder sorgte der halbe Trupp für Ruhe und Ordnung in den Bambuskäfigen, während die zweite Hälfte die erbärmliche Tagesration austeilte: eine Schale Reis und eine Schale Wasser pro Häftling. Schao näherte sich ihr. Sie hatte es nicht anders erwartet. Er sah sich nach allen Seiten um, dann stellte er ihr die beiden Schälchen in den Käfig. Er tat das etwa so, als verabreiche er einem teuren, jedoch bissigen Haustier seine Nahrung. „Gestern bist du sehr dumm gewesen“, raunte er ihr zu. „Ich hatte dich gewarnt.“ „Ich habe erst oben im Gerichtssaal zu protestieren begonnen, Schao“, erwiderte sie mit mühsam erzwungener Ruhe. „Irgendjemand hat es darauf abgesehen, sämtliche Dinge in totalen Unsinn zu verdrehen. Alle sind gegen mich. Aber das
Das Schwert des Henkers
lasse ich mir nicht gefallen. Keine Angst, hier unten verhalte ich mich ruhig. Welchen Sinn hat es, wenn ich hier schreie?“ „Ja, das frage ich mich auch.“ „Hast du es dir überlegt, Schao?“ „Was?“ Er zog sich ein bisschen zurück und schien zu erbleichen, aber genau konnte sie es in dem zuckenden Fackellicht nicht erkennen. „Fang nicht wieder davon an.“ „Wie lange wird mein Prozeß dauern, Schao?“ „Wohl drei Tage.“ „Drei? Woher weißt du das so genau?“ Er druckste herum und wollte es ihr nicht sagen. Siri-Tong hatte keine Gelegenheit mehr, auf ihn einzureden. Die anderen Eunuchen schoben sich näher heran und warfen ihrem Kameraden argwöhnische Blicke zu. Schao peitschte wieder ziemlich wahllos hin und her, und diesmal mußte Siri-Tong ausweichen, sonst wäre sie von der langen Gerte getroffen worden. Wütend blickte die Korsarin den Kerlen nach. Sie beendeten ihr geschmackloses Zeremoniell und gingen. Wenig später setzte das Lärmen der Mitgefangenen wieder ein. Manchmal hielt Siri-Tong sich die Ohren zu, manchmal ergab sie sich der tosenden Wirklichkeit. Nur eins tat sie nicht: sie resignierte nicht. Niemals, nein, niemals würde sie apathisch da hocken wie andere Sträflinge. Keiner konnte ihren Widerstand brechen. Erbost griff sie nach den Gitterstäben und rüttelte daran. Sie verspürte Lust, mit den Fäusten dagegen zu hämmern. Jetzt begriff sie, was die anderen zum Schreien verleitete. Noch ein paar Tage, vielleicht nur zwei, dachte sie, und auch du bist reif. Gegen Mittag — sie konnte die Zeit nur schätzen — marschierten sechs Eunuchen in die Grotte. Schao war auch mit von der Partie. Sofort wußte Siri-Tong, daß die Parade ihr galt. Sie schien zur Zeit der einzige Häftling zu sein, dem der Prozeß gemacht wurde. Mehr noch, sie hatte den Eindruck gewonnen, daß alle anderen
Roy Palmer
Seewölfe 127 29
Strafsachen zurückgestellt worden waren — ihretwegen. Die Eunuchen traten mit langen Peitschen und mit Bambusgerten auf sie zu. „Sei vernünftig“, sagte der größte von ihnen. „Wir holen dich ab und bringen dich nach oben, aber du unternimmst keinen Fluchtversuch.“ Sie musterte ihn voller Spott. „Welche Chance hätte ich denn — bei der Bewachung?“ Wortlos öffnete Schao das Türchen des Käfigs. Siri-Tong mußte sich bücken, um ins Freie zu klettern. Ihre Kleidung war rauh und ungefüge, aber dennoch waren die berückenden Proportionen ihres Körpers darunter zu erkennen. Die Eunuchen hatten für diese Formen keinerlei Interesse, wohl aber die männlichen Mitgefangenen. Sie starrten Siri-Tong mit unverhohlener Gier an, als sie an ihnen vorbeiging. Einige ließen anzügliche Bemerkungen fallen. Ein Mann griff durch die Bambusstäbe nach ihr und sagte dabei etwas Gemeines. Schao hieb ihm mit der Bambusgerte auf die Finger. Siri-Tong empfand Wut und glühenden Haß, und die Erinnerung an die Demütigungen, die sie an Bord von Fei Yen, Khai Wangs „Fliegender Schwalbe“, erfahren hatte, stieg wieder in ihr auf. Sie verspürte Lust, einem ihrer Bewacher die Peitsche zu entreißen und damit gleichermaßen auf die Wärter wie auf die Kerkerinsassen einzudreschen, aber wieder beherrschte sie sich. Sie schritt aus der Kaverne in die vordere Höhle und steuerte auf die Holzbohlentür zu. Kurz darauf, auf der grob gehauenen Treppe, hatte Schao Gelegenheit, ihr ein paar Worte zuzuflüstern. „Ich habe gehört, daß am Tor des Kerkers Leute nach dir gefragt haben.“ „Wer denn? Fremdländer?“ „Nein, zwei Chinesen.“ Siri-Tongs Hoffnung, die Freunde könnten erschienen sein, um ihr zu helfen, sank sofort wieder. Sie warf Schao einen Seitenblick zu, in dem eine einzige Frage lag: wer nur, wer?
Das Schwert des Henkers
Sie schritt schneller nach oben. Die anderen Eunuchen hatten einige Schwierigkeiten, mitzuhalten, nur Schao war neben ihr. Er keuchte und wisperte: „Sie haben ihre Namen nicht genannt. Ein Mädchen und ein Mann. Natürlich sind sie abgewiesen worden. Aber es könnte sein, daß sie unter den Prozeßbesuchern sind.“ Siri-Tong atmete tief durch. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, welcher Chinese auch nur ein entferntes Interesse an ihr und der Gerichtsverhandlung haben konnte. Aber ein Hoffnungsschimmer blieb doch in ihr zurück. Sie blieb unwillkürlich stehen und senkte die Lider. Die Aufseher waren hinter und neben ihr. Einer ließ die Peitsche schnalzen. „Weiter“, herrschte er sie mit seiner Fistelstimme an. „Wir haben keine Zeit zu verlieren.“ Jawohl - Unpünktlichkeit wurde hier wie überall im Reich der Mitte, sogar in den Amtsstuben, mit der Prügelstrafe geahndet. Kein Wunder also, daß die Eunuchen sie zu äußerster Eile antrieben. Siri-Tong ging über den großen Innenhof, der die Gefängnisbauten mit dem Gerichtshaus verband. Linker Hand strebte ein Säulengang auf den Bau zu. Seine Öffnungen waren mit schweren Eisengittern verriegelt, die bis ganz nach oben an die gemauerten Bogen reichten. Hinter dem Gitter drängten sich die Neugierigen - Männer und Frauen, die als Zuschauer zum Prozeß zugelassen waren. Die Korsarin blickte zu ihnen hinüber. Sie kniff die Augen zusammen, um die Gesichter genau zu erkennen. Der schwache Hoffnungsschimmer in ihr drohte zu ersticken. Keins dieser Gesichter hatte sie jemals zuvor gesehen. Ein Schiffsjunge in grober Kattunkleidung fiel ihr auf -aber Schao hatte ja von einem Mann und einem Mädchen gesprochen. Was sollte also dieser Junge mit dem erwähnten Besuch zu tun haben? Rechter Hand des Hofes erhob sich das einzige Tor des großen Hofes. Es war mit einem gewaltigen Holztor gleichsam verrammelt, zusätzliche Eisen- und Bronzestreben stützten das Tor gegen den
Roy Palmer
Seewölfe 127 30
Boden ab, so daß wahrscheinlich auch der größte Rammbock die Verriegelungen nicht hätte brechen können. Doch genau in diesem Moment rollte von einem Nebenbau des Gerichtshauses aus ein Ochsenkarren auf das Tor zu. Der Mann auf dem Kutschbock trug ein blaues Hemd und eine weiße, kurze Hose, auf dem Kopf hatte er eine Tellermütze. Der Karren schwenkte ein Stück herum. SiriTong sah, daß die Ladefläche leer war. Vielleicht, dachte sie erbittert, hatte der Karren den Reis geladen, mit dem hier tagtäglich die Gefangenen gemästet werden. Sie ging über den sonnendurchglänzten Hof und gewahrte aus den Augenwinkeln, wie zwei dicke Eunuchen auf das Tor zueilten. Sie hantierten an der Verriegelung und winkten den Ochsenkarren heran. Mit dem endgültigen Öffnen warteten sie aber noch. Natürlich hatten sie strikte Anweisungen, etwaige Gefangene erst den Hof passieren zu lassen. Siri-Tong betrat die Kühle des Gerichtshauses, ihre Augen mußten sich jetzt auf die Dunkelheit einstellen. Sie verhielt wieder, zwinkerte ein paarmal mit den Lidern und wandte sich wie zufällig um. Das Tor schwang auf. Beide Flügel mußten die Eunuchen zurückziehen, um den Karren ins Freie zu lassen. Ziemlich träge ließ der Kutschbockmann eine Peitsche auf die Widerriste der knochigen Büffel niederklatschen, und ebenso lässig zogen die Tiere das Gefährt wieder an. Siri-Tong verwandelte sich in eine fauchende Pantherkatze. Ungefähr diesen Eindruck mußten die sechs Eunuchen jedenfalls von ihr haben, denn plötzlich wirbelte sie um die Körperachse, riß an der ausgerollten Peitsche des ihr am nächsten stehenden Wärters, zerrte ihn blitzschnell zu Boden, rollte sich selbst mit geradezu unglaublicher Gewandtheit ab, schoß wieder hoch und drosch auf sie ein. Sie schrien durcheinander. Schao wollte auf sie zustürmen, stolperte aber über einen
Das Schwert des Henkers
Kameraden, der sich gerade vor einem niederausenden Hieb duckte. Schao landete schwer auf seinem mächtigen Bauch. Er gab einen merkwürdigen Laut von sich, eine Art Quieken. Siri-Tong raste aus dem Gebäude, war auf dem Hof und hetzte dem Karren nach. Sie überblickte die Distanz zwischen dem Bau und dem Tor in Sekundenschnelle, federte vom Boden hoch und war auf der Ladefläche des Karrens, bevor der Mann auf dem Kutschbock und die zwei Eunuchen überhaupt richtig begriffen, was geschah. Mit einem schräg geführten Schlag räumte sie den Mann vom Bock. Er schrie, streckte die Hände von sich und verlor seine Gerte. Er landete auf allen vieren im Staub des Hofes. Die Eunuchen schrien wie verrückt. Die Zuschauer hinter den Gittern des Säulenganges kreischten und brüllten durcheinander, in den Gebäuden wurden überall Fenster und Türen aufgestoßen, Eunuchen und grünberockte Soldaten stürmten ins Freie. Im Nu war der Teufel los. Siri-Tong griff nach den Zügeln der Büffel, hob die Peitsche — und genau in diesem Moment blieben die Tiere stehen. Etwas Eiskaltes lief über ihren Rücken. Sie hieb mit der Peitsche zu, aber das nutzte ihr nichts. Störrisch verharrten die Vierbeiner. Offenbar gehorchten sie nur einem Kommando — dem ihres Herrn. Diesen Punkt hatte die Korsarin bei ihrem rasch gefaßten Fluchtplan nicht bedacht. Sie sprang vom Bock und wollte über die Rücken der Büffel weg ins Freie jagen, doch jetzt waren die Eunuchen und Soldaten heran. Siri-Tong vollbrachte ihre akrobatische Leistung nur noch im Ansatz. Sie hörte etwas heranpfeifen — den Strang einer langen Peitsche — und wollte sich im Springen ducken, aber die Peitsche traf sie schon vorher. Siedend heiß schnitt es über ihren Rücken. Sie hatte das Gefühl, in der Mitte ihres Körpers durchgetrennt zu werden, verlor das Gleichgewicht und stürzte nach links.
Seewölfe 127 31
Roy Palmer
Das Geschrei waberte in ihren Ohren, und nur instinktiv nahm sie noch’ wahr, wie sich allem zum Hohn der Ochsenkarren nun doch in Bewegung setzte. Knarrend ruckte er an. Sie mußte robben, um sich vor dem linken Rad in Sicherheit zu bringen. Dabei kroch sie genau in das Prasseln der Peitschen und Gerten hinein. Flammenkobolde tanzten heulend über ihren Leib. Sie preßte die Hände gegen den Kopf, lag einfach nur noch da und ließ es über sich ergehen. Die keifenden Eunuchen hörten mit dem Prügeln auf. Sie hoben sie hoch und trugen sie so, wie sie war, in den Gerichtssaal. Das Tor schloß sich hinter dem davonrollenden Ochsenkarren. Der Kutscher hatte den Bock wieder erklommen. Er war heilfroh, den Schauplatz der Handlung verlassen zu können. Ganz so ungeschoren kamen die Torhüter nicht davon. Ihnen und auch den anderen Eunuchen drohte eine Strafe, weil sie nicht aufmerksam genug gewesen waren. * Kurz vor Einbruch der Abenddämmerung enterte Dan O’Flynn aus dem Großmars ab, obwohl die Wachablösung später war. Im Laufschritt suchte er das Achterdeck auf. Hasard hatte sich kaum von hier fortgerührt und war innerlich immer unruhiger geworden. Es fiel ihm jetzt schwer, sich zu beherrschen. „Wir können aufatmen“, sagte Dan O’Flynn. „Sie ist wieder da. ‚Flüssiges Licht’ steht ungefähr eine Drittelmeile weiter flußaufwärts auf einer Pier und hat mir ein Zeichen gegeben.“ Hasard trat an die Five-Rail. In seinem Gesicht arbeitete es. „Ein Glück. Ich hätte mir wirklich die schlimmsten Vorwürfe gemacht, wenn sie nicht wieder aufgetaucht wäre. Warten wir die Dämmerung ab. Dann holen wir sie und passen wieder auf, daß uns niemand beobachtet.“ „Da wäre eine Kleinigkeit, Sir.“
Das Schwert des Henkers
„Und zwar?“ „Das Mädchen ist nicht allein. Zwei Männer sind bei ihr. Der Kleidung nach handelt es sich um Chinesen. Nein, das ist keine Einbildung, ich habe ganz klar unter den Leuten unterscheiden können, die sich auf der Pier bewegen. Die beiden scheinen tatsächlich zu ihr zu gehören.“ Der Seewolf verengte die Augen zu Schlitzen. „Du meinst, sie wird von ihnen bedroht? Haben sie sie in der Gewalt?“ „Nein, das glaube ich nicht. Im Gegenteil. Sie hat sich ganz angeregt mit ihnen unterhalten.“ „Dann brauchen wir wahrscheinlich von den beiden nichts Arges zu befürchten“, erwiderte Hasard. „Ich halte Ch’ing-chao für klug genug, sich nicht irgendwelchen verschlagenen Typen anzuvertrauen. Ich. schätze, sie bringt die zwei Männer mit, weil sie für uns als Informanten von Bedeutung sind.“ Eine halbe Stunde später setzte sich das Beiboot von der „Isabella“ aus in Fahrt. Carberry, Gary Andrews, Al Conroy und Jeff Bowie befanden sich diesmal an Bord. Gary, Al und Jeff bedienten jeweils zwei Riemen. Der Profos saß auf der Heckducht und hielt die Ruderpinne. Argwöhnisch betrachtete er die beiden Männer, die nur als schattenhafte Konturen neben dem Mädchen auf der Pier zu erkennen waren. Wenig später, als die drei auf den Bootsduchten saßen, radebrechte Ed Carberry auf portugiesisch: „Sind die auch sauber, Flüssiges Licht?“ „Oh“, sagte das Mädchen. „Sie stinken ganz bestimmt nicht.“ Gary, Al und Jeff grinsten sich eins. Der Profos verzog brummelnd den Mund. „So war das nicht gemeint. Ich will wissen, ob wir den Burschen trauen können.“ „Sie sind gute Freunde“, versicherte ihm das Mädchen. „Aber ich berichte am besten, wenn wir auf dem Schiff sind, sonst muß ich alles zweimal erzählen.“ Sie erreichten die „Isabella“, enterten auf und begaben sich zum Seewolf, während andere Männer das Boot hochhievten und binnenbords holten. Hasard bat alle Achterdecksleute, Smoky, den Profos,
Roy Palmer
Seewölfe 127 32
„Flüssiges Licht“ und die beiden Fremden in seine Kammer. Soeben trafen auch Thorfin Njal, der Boston-Mann und Juan vom schwarzen Schiff ein. Der Wikinger hatte es aufgegeben, den Beleidigten zu spielen. Rasch hatte er eingesehen, daß ein solches Benehmen seiner nicht würdig war und es ihm außerdem nichts einbrachte. Im Schein der flink entzündeten Öllampen und Talglichter stellte Ch’ing-chao ihre Begleiter vor. Sie wies auf den hageren Mann. „Das ist Fong.“ Sie sagte es auf portugiesisch. Hasard stand vor seinem Pult und streckte die Hand aus. „Willkommen an Bord der ,Isabella’.“ Fong? Merkwürdig, diesen Namen hatte er irgendwo schon einmal gehört. Wo nur? „Fong — und weiter?“ fragte er. „Fong-Ch’ang“, erwiderte Fong selbst. Er verstand zwar die Worte des Seewolfs nicht, begriff aber, um was es ging. Er schaute ihn unentwegt an, flehte ihn innerlich an, doch um Himmels willen zu begreifen. Damals, vor dem Dorf der Pestverseuchten, hatten sie sich von Bord zu Bord ihrer Schiffe gesehen, aber. Fong hatte die Ledermaske getragen, die ihn gegen den Hauch des Todes schützen sollte. So konnte ihn Philip Hasard nicht aufgrund seiner Züge wiedererkennen. Und sagen konnte Fong ihm nicht, daß sie sich bereits kannten. Das hätte sofort das Mißtrauen des Malaien geweckt, und bevor Fong ausreichende Erklärungen gegeben hätte, hätte dieser Hund zugestochen — mit seinem höllischen Kris. „Fong hat mir aus der Patsche geholfen“, sagte das Mädchen. „Später haben wir diesen anderen Mann getroffen, der Fong kennt und sich uns als Führer angeboten hat. Er heißt Raga, ist Malaie, kennt sich in der Stadt aber sehr gut aus. Fong stammt nicht von hier.“ Wer immer Raga erzählt haben mochte, wie der Weg zum Kerker zu finden war — Raga hatte ihn Fong und Ch’ing-chao tatsächlich weisen können, obwohl auch er zuvor noch nicht in der Stadt gewesen war. Er hatte nur in dem Laden des Frühlingsrollenbäckers gehört, wie
Das Schwert des Henkers
„Flüssiges Licht“ von dem Gefängnis gesprochen hatte. Daraufhin hatte er rasch seine Erkundigungen eingezogen, während Fong-Ch’ang das Mädchen vor dem Zugriff des „ehrenwerten“ Lim bewahrt hatte. Lim hatte die Torheit begangen, sich seiner Sache zu sicher zu fühlen und sein Haus und den Pavillon von innen nicht abzuschließen. Hasard schüttelte auch Raga die Hand. Fong überlief ein Gefühl des Abscheus, als er es sah, aber er beherrschte sich meisterhaft. Hasard gab Ferris einen Wink. Ferris rief Bill, den Schiffsjungen, herein, und Bill servierte Rotwein in den besten Gläsern, die der Seewolf zu bieten hatte. Nach dem Umtrunk begann „Flüssiges Licht“ zu berichten. Zuerst erzählte sie die wenig rühmliche Episode mit Lim, dem Schiffbauer. Thorfin Njal und Carberry beschlossen daraufhin, sofort abzurücken und dem Kerl noch mal die Jacke vollzuhauen, aber Hasard bremste sie. „Er hat seine Abreibung erhalten“, sagte Hasard. „Und wir haben jetzt Wichtigeres zu tun. Wir müssen Siri-Tong finden und nach Möglichkeit herauspauken. Weiter, Ch’ing-chao.“ Das Mädchen sagte in fast fehlerfreiem Portugiesisch: „Wenigstens eins hat der Schuft mir verraten. Daß nämlich SiriTong tatsächlich im Kerker steckt. In der Nähe des Hauses trafen Fong und ich auf Raga. Wir sprachen ihn an, und er war bereit, uns gegen ein kleines Entgelt zum Gefängnis von Shanghai zu führen. Für die zwei ungeprägten Münzen, die ich ihm zahlte, brachte er uns hin und zeigte uns den Weg zu den Torwachen. Dort wurden wir abgewiesen. Wir kamen jedoch noch rechtzeitig, um an dem ersten Verhandlungstag gegen die Rote Korsarin teilzunehmen.“ „Was?“ sagte der Seewolf verdutzt. „Ihr wart im Gerichtssaal?“ „Ja, denn es wird nicht unter Ausschluß der Öffentlichkeit getagt. Der Malaie mußte allerdings draußen bleiben, denn allen Ausländern ist der Zutritt versagt“,
Roy Palmer
Seewölfe 127 33
entgegnete das Mädchen. „So haben wir also Siri-Tong gesehen.“ „Wie geht es ihr?“ fragte Thorfin Njal. „Bei Odin, ich hoffe, daß sie wohlauf ist, sonst ...“ „Sie ist schön und stolz“, sagte „Flüssiges Licht“. Ihre Augen glänzten plötzlich. „Noch nie in meinem Leben habe ich eine so mutige Frau gesehen. Sie hat das Gericht und die Anklage bezichtigt, zu lügen und falsche Zeugenaussagen zu benutzen. Zweimal wurde sie verwarnt, dann brachte man sie hinaus, zurück in die Kavernen.“ „Kavernen?“ fragte Ben Brighton. „Die Höhlen, die als Kerker dienen. Sie liegen unweit des Gerichtsgebäudes“, sagte das Mädchen. „Aber nun weiter, wenn ihr gestattet. Wir verließen das Gerichtshaus und trachteten noch einmal, irgendwie in das Gefängnis zu gelangen - unmöglich. Entmutigt gingen wir durch die Viertel, bis wir schließlich vom Hunger übermannt wurden. Wir aßen. Der Malaie trennte sich von uns, versprach aber, wieder zu uns zu stoßen. Ich war froh, daß wenigstens Fong als Beschützer bei mir blieb.“ „Ja. Er hat sich sehr uneigennützig benommen“, sagte Hasard mit einem langen Blick auf den Chinesen. „Die ganze Nacht über hörten wir. uns um, wo wohl Siri-Tongs Mutter leben könnte. Wir kriegten nur heraus, daß sie irgendwo im Viertel der Wohnboote einen Sampan hat. Fong und ich ruhten uns ein wenig aus, später erschien plötzlich wieder der Malaie, wie durch ein Wunder.“ „Wie durch ein Wunder“, murmelte Ben Brighton. „Interessant.“ „Raga erklärte, er könne uns zu den Wohnbooten von Shanghai führen“, fuhr „Flüssiges Licht im beginnenden Sommer“ fort. „Ich dankte ihm, wollte aber wieder zu dem Gefängnis und zum Gerichtshaus, um zu sehen, was aus der Roten Korsarin geworden sei. Wieder war nicht einmal auf den Innenhof zu kommen, aber wir warteten stundenlang an den Gitterstäben eines Säulenganges, der zum Gerichtsgebäude führt. Unsere Geduld wurde belohnt. Nach der Mittagsstunde
Das Schwert des Henkers
brachten sechs Eunuchen Siri-Tong. Und dann -dann geschah das Entsetzliche.“ Die Stimme des Mädchens begann zu wanken. Sie hatte plötzlich Schwierigkeiten, sich in der Gewalt zu behalten. Thorfin Njal, Carberry, Ben Brighton, Ferris Tucker und Shane waren von ihren Stühlen aufgesprungen. Hasards Finger umspannen die Armlehnen seiner Sitzgelegenheit, daß das Weiße an seinen Knöcheln hervortrat. „Spann uns nicht auf die Folter“, sagte er heiser. „Was ist passiert? Das Schlimmste?“ Ch’ing-chao schüttelte den Kopf. Dann schilderte sie den Ausbruchsversuch der Korsarin. Am Ende konnte sie den wie gebannt lauschenden Männern auseinandersetzen, was sich im Gerichtssaal ereignet hatte. „Siri-Tong saß aufrecht da, und es war ihr nicht anzusehen, daß sie geschlagen worden war. Nichts kann sie zerstören. Wieder warf sie dem Gericht vor, parteiisch und ungerecht zu sein. Wieder wurde sie vorzeitig abgeführt. Diesmal befahl man, ihr Ketten anzulegen.“ „Bastarde“, sagte Thorfin Njal. „Das werden sie büßen. Alle Mann. Thor wird sie kraft seines Messers zerspringen lassen, diese Lümmel des Himmels!“ „Wie lange wird der Prozeß wohl noch dauern?“ fragte der Seewolf. „Flüssiges Licht“ zuckte mit den Schultern. „Das weiß ich nicht.“ „Was fragt er?“ sagte Fong-Ch’ang. Das Mädchen übersetzte Hasards Worte, und Fong erwiderte: „So bitter es auch klingt, ich fühle in meinem Herzen, daß ich die Wahrheit sagen muß. Der Prozeß wird drei Tage dauern - bis morgen also noch, denn vermutlich gibt es ein Todesurteil. Laß mich erklären, Ch’ing-chao: Schwere Vergehen werden mit Verbannung bestraft - an die Grenzen der Heimatprovinz oder zum Bau an der Großen Mauer. Schwerste Verbrechen werden bei uns mit dem Tode geahndet.“ „Nein“, entfuhr es dem Mädchen. „O nein, bitte nicht ...“
Roy Palmer
Seewölfe 127 34
„Bei allem, was man Siri-Tong vorwirft, habe ich kaum noch die Hoffnung, daß der Richterspruch milder ausfällt“, fuhr Fong fort. „Ich sage dies nicht, um den Kapitän Killigrew und seine Männer unnötig zu quälen. Ich sage es, damit sie sich darauf einstellen können.“ Ch’ing-chao übersetzte seine Worte stockend. Hasards Miene verhärtete sich, er ließ Fong nicht mehr aus den Augen. „Er soll weiterreden und alle Details preisgeben, die ihm über ähnliche Prozesse bekannt sind“, sagte er. Fong lauschte den Erläuterungen des Mädchens, dann entgegnete er: „Die Hinrichtung findet öffentlich statt. Jedes Todesurteil muß jedoch -so schreibt es das Gesetz vor - an drei Tagen überprüft werden. Der Richter darf in dieser Zeit kein Fleisch essen und muß auf Musik sowie jegliche andere Art, der Unterhaltung verzichten, damit ihm seine Pflicht immer gegenwärtig ist.“ Ch’ing-chao dolmetschte wieder. „Woher weiß er das alles genau?“ fragte Ben Brighton. Fong erwiderte: „Ich habe mir selbst einiges Wissen angeeignet. Ich wollte einmal Vorsitzender eines Dorfrates werden, bin aber gescheitert.“ Die Wahrheit sah etwas anders aus, aber Fong verschwieg sie bewußt, um den Malaien nicht noch mißtrauischer werden zu lassen. „In Ordnung“, sagte der Seewolf. „Morgen findet demnach also die letzte Überprüfung beziehungsweise Sitzung im Gerichtssaal statt.“ Carberry schlug sich mit der Faust auf den Oberschenkel. „Dann unternehmen wir doch eine Befreiungsaktion!“ „Wir warten noch“, sagte der Seewolf ruhig. Thorfin Njal konnte sich nicht zurückhalten. „Wie lange noch - bis es zu spät ist?“ „Nein!“ Die Stimme des Seewolfs klang ungewöhnlich scharf. „Aber noch können wir nichts unternehmen, noch sind uns die Hände gebunden. Zweifelst du vielleicht daran, daß ich die nötigen Fähigkeiten zur
Das Schwert des Henkers
Beurteilung unserer Lage besitze, Mister Njal?“ „Nein - Sir.“ „Hast du Siri-Tongs Mutter besuchen können?“ fragte Hasard das Mädchen. „Nein. Offen gestanden, es war mir daran gelegen, immer wieder nach der Roten Korsarin zu schauen. Und dann hat mir die Zeit gefehlt, zum Viertel der Wohnboote zu gehen. Ich mußte zu euch zurück, weil ich euch in Sorge um mich wußte.“ „Du hast dich richtig verhalten“, erwiderte er. „Und ich danke dir, Flüssiges Licht. Du hast dich tapfer und umsichtig benommen. Das werde ich dir nie vergessen.“ Sie senkte den Blick, so verlegen wurde sie. „Wenn du meine Dienste wieder benötigst“, sagte sie leise. „Ich stehe dir und deinen Männern jederzeit zur Seite.“ „Ich muß dich beim Wort nehmen“, antwortete der Seewolf. „Wir fahren noch heute nacht in das Wohnboot-viertel. Ich brauche dich als Dolmetscherin. Du siehst schon, du bist unentbehrlich.“ Er sah zu Fong und Raga. „Ihr seid natürlich auch mit von der Partie. Ihr seid unsere Führer.“ Der Malaie hatte Mühe, sein wildes Triumphgefühl zu verbergen. 6. Eine Stunde später pullten sie in dem größten Beiboot der „Isabella“ den Wangpufluß hinunter - Hasard, Ben Brighton, Fong-Ch’ang, Raga und das Mädchen. Natürlich hatte Thorfin Njal sie begleiten wollen, und auch die anderen Männer des schwarzen Schiffes und der „Isabella“ hatten sich als Freiwillige gemeldet, aber der Seewolf hatte ihr Anerbieten konsequent abgelehnt. Jeder Einspruch war sinnlos gewesen. Je mehr Männer sie waren, desto eher fielen sie auf. Allein das Boot mußte einige Aufmerksamkeit erregen, aber Hasard hatte bewußt darauf verzichtet, einen Sampan zu leihen. Letztlich hätte er sich damit noch mehr Neugierde eingehandelt. Ein winziger Fluß, oder besser, ein großer Bach mündete im Westen in den Wangpufluß. Raga gab ein Zeichen.
Roy Palmer
Seewölfe 127 35
Hasard, Ben, Fong und der Malaie lenkten in den Bachlauf hinein. Sie hatten alle vier die Plätze auf den mittleren Duchten eingenommen und pullten. Ch’ing-chao saß achtern und hielt die Ruderpinne. Sie drückte sie herum und gab dem Boot noch mehr Linksdrall. Sicher glitt das Gefährt in den Nebenlauf. Hasard wollte wissen, wie der Bach hieß, und Raga antwortete: „Tsu-Tsao.“ Die Strömung des Tsu-Tsao-Baches war nur schwach. Sie hatten keine Mühe, sich dagegenzustemmen und sich aufwärts zu arbeiten. Das Wasser War eine trübe Brühe, wie im Mondlicht zu erkennen war. Gerüche aller Arten drangen zu ihnen herüber. Das Wasserwohngebiet von Shanghai konnte nicht mehr weit sein. Alle Relikte menschlichen Seins wurden in den Tsu-Tsao entlassen. „Glaubst du wirklich, daß die Mutter von Siri-Tong uns weiterhelfen kann?“ fragte das Mädchen. Hasard saß ihr genau gegenüber, er hatte zuerst Raga, dann Ben Brighton und FongCh’ang hinter sich. „Kaum“, erwiderte er. „Vor allen Dingen will ich sehen, ob es ihr gut geht.“ „Hoher Herr, das glaube ich kaum. Fong hat mir anvertraut, daß es hier in Shanghai nicht anders zugeht als in Xiapu. Es ist in jeder chinesischen Provinz gleich: Der einzelne ist von der Familie untrennbar. Es ist eine Konsequenz der Sippeneinteilung.“ „Ich verstehe“, entgegnete Hasard. „Und somit ist die ganze Familie Strafen unterworfen, wenn ein Mitglied etwas ausgefressen hat.“ „Ja, und die Strafen sind entsprechend dem Grad der Verwandtschaft mit dem Hauptangeklagten unterschiedlich.“ „Ch’ing-chao - wir werden der Frau helfen. Deswegen will ich zu ihr.“ Das Wasserwohngebiet kündigte seinen Beginn durch den einsetzenden Verkehr kleiner und großer Boote an. Es waren ärmliche Fahrzeuge, und die Menschen darauf waren ausnahmslos in Lumpen gehüllt. Sie winkten herüber, boten Fisch, Schlangen, Kröten und andere Eßwaren feil, aber auch Lampions und billige
Das Schwert des Henkers
Schmuckstücke. Einige drängten sich immer näher heran. Das war der Tsu-Tsao-Bach also ein echtes Elendsviertel. Hasard spürte, wie sich ein tiefes Mitgefühl in ihm ausbreitete. Er war kein richtiger Außenseiter mehr. Durch Siri-Tong und auch durch die Anwesenheit des Mädchens Ch’ing-chao Li-Hsia hatte er eine wirkliche Beziehung zu dem chinesischen Volk gefunden. Gleichzeitig spürte er Gefahr in seinem Nacken. Absichtlich hatte er sich auf diese Ducht gesetzt. Er wollte den Malaien provozieren. Er ahnte, daß dieser Bursche etwas gegen ihn plante. Hasard ging ein hohes Risiko ein, aber er wußte, daß es der einzige Weg war, um die Dinge an ihren entscheidenden Punkt zu führen. Sampans schoben sich auf das Beiboot der „Isabella“ zu. Auf einem davon, einem besonders großen, standen vier Männer, die die Tellermützen auffallend tief in die Stirn gezogen hatten. „Mädchen“, sagte der Seewolf nicht besonders laut. „Halte die Augen offen, aber so unauffällig wie möglich. Ich muß wissen, was die Kameraden in meinem Rücken unternehmen. Nein, antworte nicht. Tu, was ich dir sage.“ Fong und Raga konnten seine Worte nicht verstehen, weil sie ja des Portugiesischen nicht mächtig waren. „Flüssiges Licht“ verkrampfte ihre kleine Hand um die Ruderpinne, aber sie gab sich redlich Mühe, ihre Anspannung nicht zu zeigen. Plötzlich aber leuchtete etwas in ihren hübschen Augen auf — und Hasard wandte den Kopf. Der Malaie hatte den einen Riemen losgelassen und fuhr mit der Hand an die Hüfte — dorthin, wo er seinen Kris sorgfältig unter dem Ischang versteckt trug. Im selben Augenblick lehnte sich FongCh’ang vor. Er griff an Ben Brightons Gurt. Ehe Hasards Bootsmann es sich versah, hatten Fongs flinke Finger ihm das Messer aus dem Gürtel gerissen. „Flüssiges Licht“ stieß einen erstickten Laut aus.
Roy Palmer
Seewölfe 127 36
Hasard wollte den Malaien packen, aber der hatte seinen Kris mit unglaublicher Schnelligkeit gezogen und zischte die wenigen Worte Portugiesisch, die er von Vinicio de Romaes gelernt hatte. „Halt, oder du stirbst!“ „Raga, nicht!“ rief Fong. Ben Brighton wollte herumfahren, aber der rasende Verlauf der Dinge bremste auch seine Aktion. Fong schoß hoch und hob das Messer. Raga stieß auf chinesisch „Verräter“ aus. Raga wollte sich mit dem Krummdolch gegen den Chinesen wenden, doch in diesem Moment schleuderte Fong Ben Brightons Messer. Die Klinge grub sich in Ragas Brust. Der Malaie gab einen gurgelnden Laut von sich, wollte den Kris doch noch werfen, und zwar auf Fong, aber diesmal handelte der Seewolf. Er riß den Malaien zu sich heran, packte seinen Arm und drehte ihn um. Er brauchte keine Kraft anzuwenden, denn der Arm und der gesamte Körper des Kerls erschlafften bereits. Sterbend sank Raga in Hasards Arme. Der Kris polterte zwischen die Duchten. „Dort“, stieß Fong-Ch’ang aus. „Der Sampan! Vorsicht!“ „‘runter, Mädchen“, befahl Hasard der kleinen Chinesin. Er duckte sich selbst und ließ von Raga ab. Das Beiboot schwankte. Hasard griff zwischen die Duchten, packte den Kris und drehte sich ruckartig nach rechts. Der fremde Sampan glitt heran. In einer atemschnellen Wahrnehmung sah der Seewolf, wie die vier mit den Tellermützen Waffen h en. Es waren Armbrüste und Pfeil und Bogen, lautlose Waffen, die keine Ordnungshüter auf den Plan riefen. Hasard schleuderte den Kris. Er raste auf schätzungsweise einen Yard Distanz über die Fläche des Tsu-Tsao-Baches, erreichte den großen Sampan und zischte haarscharf an Vinicio de Romaes vorbei. Die krumme Klinge traf den Mongolen und blieb in dessen Schulter stecken. Die Kerle waren irritiert. De Romaes feuerte seine Armbrust ab, aber er war in seiner Zielsicherheit erheblich
Das Schwert des Henkers
beeinträchtigt. Der Pfeil saß zu tief und blieb in der Bordwand des „Isabella“Bootes stecken. Nakamura und der chinesische Pirat schossen ebenfalls ihre Pfeile ab, aber auch die verfehlten ihr Ziel um Zollbreite. Fong-Ch’ang pullte wie ein Besessener. Hasard zückte seinen Dolch, und Ben Brighton beugte sich über den toten Malaien und zog ihm kaltblütig das Messer aus der Herzwunde. Hasard und Ben rissen die Messer beinahe gleichzeitig hoch und warfen sie den Gegnern mit voller Wucht entgegen. Der Chinese auf dem Sampan legte’ gerade einen neuen Pfeil auf seine Armbrust. Hasards Messer unterbrach ihn in seiner Tätigkeit. Der Chinese taumelte zurück, ließ die Armbrust fallen und hakte mit dem einen Fuß hinter das Dollbord des Sampans. Er kippte hintenüber und schlug, das Messer im Hals, in die lehmigen Fluten des Baches. Bens Messer huschte haarscharf an Nakamura, dem Japaner, vorbei. Fong pullte und pullte und brachte Distanz zwischen die Parteien. Kleinere Sampans schoben sich vor das Beiboot der „Isabella“. Die Insassen gestikulierten und schrien irgendetwas zu dem Sampan der Piraten hinüber. Vinicio de Romaes wollte das Boot des Seewolfs verfolgen, aber es hatte sich unvermittelt seinem Blick entzogen. Die Sampans mit den aufgebrachten Chinesen des Elendsviertels drängten sich auf nunmehr bedrohliche Weise an den Portugiesen heran. Wer der Kampfszene nahe gewesen war, hatte alles bis in die kleinsten Einzelheiten verfolgt. Nicht wenige Männer und Frauen waren durch die fliegenden Pfeile und Messer in Lebensgefahr geraten - und sie rückten nun an, um sich bei dem Portugiesen, der eindeutig der Angreifer gewesen war, zu „bedanken“. Sie griffen zu Messern und Knüppeln. De Romaes schaute sich gehetzt um. Der Chinese war tot, der Mongole an der Schulter verletzt.
Seewölfe 127 37
Roy Palmer
„Fort“, rief de Romaes Nakamura zu. „Wir müssen hier weg und uns irgendwo verstecken.“ Der Japaner hatte bereits den Riemen ergriffen und wriggte wie der Teufel los. Geschickt wendete er den Sampan, und dann hielt er in aller Hast auf den Wangpufluß zu. Er gewann Abstand zu den vergeltungssüchtigen Verfolgern. Sie steuerten noch eine Weile hinter den Piraten her, aber dann ließen sie ab und kehrten in ihr Viertel zurück. De Romaes, der Japaner und der Mongole durften aufatmen. „Fong-Ch’ang“, flüsterte Nakamura voll Haß. „Er hat alles vereitelt. Es ist seine Schuld, daß wir den Seewolf nicht geschnappt haben.“ „Das wird er mir büßen“, sagte Vinicio de Romaes. „Ich bringe ihn um, aber nicht schnell, sondern sehr, sehr langsam - und wenn es das letzte ist, was ich tue.“ * Das Treiben auf dem Tsu-Tsao-Bach deckte das Geschehen zu. Lärm und Bootsgewimmel schienen alles Erlebte gleichsam zu schlucken und im Nichts aufgehen zu lassen. Fong-Ch’ang war über die Duchten des Beibootes nach achtern gekrochen und hatte den toten Malaien außenbords befördert, ehe Hasard ihn daran hatte hindern können. So war auch der letzte sichtbare Beweis des kurzen, unheimlichen Intermezzos mit der Strömung verschwunden. „Eine Bestie verdient kein Begräbnis“, sagte Fong. „Irgendwann, irgendwo wird seine Leiche ans Ufer gespült, aber es kräht kein Hahn danach. Und ihr Seewölfe könnt euch in Sicherheit fühlen, denn kein Bewohner dieses Viertels hat ein Interesse daran, euch etwa zu denunzieren.“ „Fong“, sagte Hasard. „Ich danke dir. Ich war nicht sicher, ob du bei dem Komplott wirklich mitmischtest, aber du hast jetzt überzeugend bewiesen, auf wessen Seite du stehst.“ Das Mädchen übersetzte. „Komplott?“ stieß Fong verwundert aus. „Du wußtest also ...“
Das Schwert des Henkers
„Ich habe es geahnt. Und ich habe mich extra auf diese Ducht hier gesetzt, um den Malaien herauszufordern. Er konnte nicht mehr anders, er mußte handeln.“ „Was für einen Mut du hast“, sagte Fong. Es klang ehrfürchtig. Hasard hatte sich neben der erschütterten Ch’ing-chao niedergelassen, während Ben Brighton und Fong sich wieder auf die Duchten gesetzt hatten und pullten. Hasard lächelte. „Übrigens habe ich dich doch erkannt, Fong - schon in meiner Kammer auf der ‚Isabella’. Dein voller Name und deine Stimme haben mir die Wahrheit über dich gesagt. Du bist der Ledermaskenmann, den wir mit seinem Boot von der brennenden Dschunke losgeschnitten haben.“ Ch’ing-chao dolmetschte wieder, und Fong stieß einen Laut der Überraschung aus. Ergriffen packte er Hasards Hand und drückte sie. „Ich habe es dem Malaien angesehen, daß er ein Halunke war“, fuhr der Seewolf fort. „Aber ich bemerkte auch, daß du von ihm beobachtet und versteckt bedroht wurdest. Ich wollte lieber abwarten, um dich nicht in Lebensgefahr zu bringen. Ich unterrichtete Ben Brighton, dann fuhren wir mit unserem Boot los.“ Fong antwortete: „Ich sollte Ch’ing-chaos Vertrauen gewinnen und mich an Bord der ‚Isabella’ schleichen. Flüssiges Licht, du wirst mir deswegen vergeben, ich konnte nicht anders. Meine Bewährungsprobe lautete, zusammen mit Raga eine günstige Gelegenheit abzupassen und dann den Seewolf gefangen zu nehmen. Mit ihm als Geisel hätten wir das Schiff ungestört ausplündern können und Zug um Zug Gold, Silber und Juwelen zur Galeone von de Romaes bringen können.“ Er erzählte nun alles - über die Piratenbande, über sein Schicksal und über das, was sich seinerzeit in seinem Dorf abgespielt hatte. „Eine Zeitlang war ich nicht froh darüber, daß mich die Pest verschonte“, beendete er seinen Bericht. „Heute aber weiß ich, daß es sich wieder zu leben lohnt.“
Seewölfe 127 38
Roy Palmer *
Mühsam fragten sie sich zu Siri-Tongs Mutter durch. Ihre Behausung befand sich im Zentrum des Elendsviertels. Hier lebten nur bettelarme Menschen, die keine Steuern in Form von Seide, Silber, Hanf und Tuch zahlen konnten und daher niemals irgendwelche Privilegien genießen würden. Nie würde sich ihnen die Gelegenheit bieten, etwas Besseres als Tsu-Tsao zu sehen und zu erleben, denn das Dasein, in das eine unheilvolle Bestimmung sie gestoßen hatte, war ein höllischer Kreislauf, aus dem es kein Entrinnen gab. Eine unübersehbare Zahl von kleinen schmutzigen Sampans dümpelte im TsuTsao auf den Wellen. Unrat und Wasserratten schienen im Kampf mit den Fluten zu liegen, um sie endgültig aus dem Bachlauf zu drücken - so zahlreich nahmen sich hier Abfall und Getier aus. Und doch blühte zwischen den Wohnbooten vereinzelt Lotos. Es war ein Hohn, eine groteske Laune der Natur. Kein Lufthauch von See oder Land her bewegte die üble, stickige Luft. Ch’ingchao schüttelte sich vor Abscheu und schien auf ihrer Ducht in sich zusammenzukriechen, so zuwider war ihr das alles. Von allen Seiten schoben sich die Boote um Hasards Jolle zusammen. Chinesenkinder drängten sich zusammen und starrten auf die beiden Landsleute und die beiden Fremden. Sie streckten ihnen magere Hände entgegen und bettelten. „Verfluchtes Elend“, sagte Ben Brighton. „Diese armen Teufel, verdammt noch mal. Da krampft sich einem ja das Herz zusammen.“ Wortlos zückte Hasard einen Beutel mit ungeprägten Silbermünzen. Er öffnete ihn, griff hinein und verteilte fast zwei Drittel des Inhalts. Die Kinder klaubten ihm die Münzen aus den Händen, betrachteten sie fassungslos, einige von ihnen balgten sich. Etwas später erreichten sie den Sampan von Siri-Tongs Mutter.
Das Schwert des Henkers
Zuerst dachte Hasard, es befände sich niemand an Bord. Nichts regte sich, als er überenterte und unter den zeltähnlichen Aufbau blickte. Dann aber erschien Ch’ing-chao Li-Hsia an seiner Seite und begann zu sprechen. Ihre Worte bewirkten ein kleines Wunder. Siri-Tongs Mutter zeigte sich und zündete ein kleines Talglicht an. Sie war eine alte, runzlige Frau. Ihr Gesicht war erbärmlich abgemagert, die faltige, ledrige Haut spannte sich über den hervortretenden Knochen. Hasard war zutiefst betroffen. Hier offenbarte sich, was der Fluch der Sippenhaft war. Die Alte hauste unter erbarmungswürdigen Umständen und konnte sich kaum noch am Leben halten. „Geht fort“, sagte sie. „Ich will niemanden sehen. Was habe ich euch getan, daß ihr mich mitten in der Nacht stören müßt?“ „Hört mich an“, erwiderte „Flüssiges Licht“ behutsam. „Ihr dürft mich und meine Freunde nicht wegstoßen. Wir haben Euch Grüße zu übermitteln. Von dem liebsten Menschen, den Ihr auf Erden habt.“ Die Alte schaute hoch. Ein schwacher Glanz tauchte in ihren Pupillen auf. „Halte mich nicht zum Narren, ich flehe dich an, Kind ...“ „Es ist mein voller Ernst“, beharrte das Mädchen. „Siri-Tong“, flüsterte die Alte. „Siri-Tong läßt ausrichten, daß sie wohlauf ist“, sagte nun der Seewolf. Er spürte einen Kloß in seiner Kehle, und das Schwindeln fiel ihm schwer. Aber nie war eine Notlüge angebrachter gewesen als hier — denn wenn er der alten Frau die Wahrheit sagte, konnte es ihr Tod sein. Ben Brighton saß drüben im Boot der „Isabella“ und blickte ziemlich betreten und ratlos drein. Fong hockte neben ihm auf der Ducht. „Siri-Tong hat mich beauftragt, ihrer Mutter Geld zu überbringen“, fuhr Hasard fort. „Sie will, daß ihre Mutter nicht länger in Armut leben muß, und bald kommt auch sie, um —um die Mutter endlich wieder in
Roy Palmer
Seewölfe 127 39
die Arme zu schließen.“ Hasard räusperte sich. „Übersetze bitte, Flüssiges Licht.“ Die alte Frau lauschte dem Mädchen und begann zu weinen. Aber unter Tränen stieß sie hervor: „Ich bin glücklich, denn das habe ich nicht mehr für möglich gehalten. In meinen kühnsten Träumen habe ich mir nicht auszumalen gewagt, daß ich meine Tochter eines Tages wiedersehen würde. O, ich bin glücklich ...“ Hasard überreichte ihr zwei Lederbeutel mit Silbermünzen — nicht zuviel, aber doch genug, daß sie sich nicht mehr um ihre Existenz zu sorgen brauchte. „Habt Dank“, wisperte die Alte. „Wie kann ich das jemals wiedergutmachen?“ „Ihr braucht Euch niemandem verpflichtet zu fühlen“, entgegnete der Seewolf. „Dies ist ein Geschenk Eurer Tochter. Nur gebt acht und laßt niemanden wissen, daß ihr das Silber besitzt.“ Sie lächelte. Zum erstenmal seit seinem Eintreffen sah er sie lächeln. „Ich weiß meinen Schatz zu hüten“, sagte sie leise. „Und ich kann schweigen.“ „Ich weiß jetzt, daß Ihr eine weise Frau seid.“ Hasard sagte es, ohne ihr schmeicheln zu wollen. Sie sah ihn offen an. „Wo ist meine SiriTong? Erzählt, rückhaltlos. Ich muß alles über sie wissen.“ „Mit dem Geld könnt Ihr nun in eine bessere Gegend ziehen“, sagte Hasard. „Auch das soll ich Euch von ihr ausrichten.“ „Ihr weicht mir aus“, erwiderte die alte Frau gedämpft. „Warum? Wer seid Ihr?“ „Man nennt mich den Seewolf“, gab Hasard ihr über „Flüssiges Licht“ zu verstehen. „Mein richtiger Name ist Philip Hasard Killigrew, und meine Heimat ist England.“ „England, wo liegt das?“ „In der Alten Welt. In Europa.“ „Davon habe ich gehört. Aber warum sagt Ihr mir nicht die Wahrheit über Siri-Tong? Ist ihr etwas zugestoßen?“ Hasard schüttelte den Kopf. „Keineswegs. Die volle- Wahrheit ist, daß Ihr wahrscheinlich noch einige Zeit auf SiriTong warten müßt. Sie ist auf dem Weg
Das Schwert des Henkers
nach China, aber bis sie hier eintrifft, dauert es vielleicht noch ein halbes Jahr.“ „Ich habe Jahre hier ausgehalten”, entgegnete die Mutter nicht ohne Bitterkeit. „Was bedeuten da schon sechs Monate, Seewolf? Aber wo ist meine Tochter - wo?“ „Wir haben uns in der Neuen Welt getroffen und angefreundet. Dann bin ich mit meinem Schiff, der ‚Isabella’, als erster durch die Südsee gesegelt, um hierher zu finden. Ich bin aber sicher, daß Siri-Tong mir folgt.“ „Neue Welt, Südsee“, murmelte die alte Frau ratlos. „Die Dinge scheinen im Wandel zu sein. Neue Horizonte öffnen sich. Die alten Menschen müssen rasch hinzulernen, und die jungen brechen zu abenteuerlichen Taten auf. Ist es so, Seewolf?“ „Ja. Aber bereitet Euch keine Sorgen. Weder darüber noch über die Ankunft Eurer Tochter. Es wird alles gut werden.“ „Merkwürdig“, wisperte sie. „Ich habe volles Vertrauen zu Euch. Setzt Euch doch. Kann ich Euch etwas anbieten? Einen Tee vielleicht? Wartet, ich bereite schnell etwas zu ...“ „Danke“, sagte Hasard. „Ich werde auf meinem Schiff erwartet. Ich kann die Mannschaft und meinen Segler nicht allzu lange unbeaufsichtigt lassen. Das müßt Ihr verstehen.“ „Selbstverständlich.“ Sie reichte ihm die Hand, als auch er die Rechte ausstreckte, und ganz gegen die Gewohnheit der Chinesen drückte sie ihm die Hand. Hasard sprach ihr noch einmal aufmunternd zu, drehte sich dann um und verließ in Begleitung von Ch’ing-chao den Sampan. Mit gemischten Gefühlen ruderten sie zur „Isabella“ zurück. Sie hielten nach de Romaes und seinen Kerlen Ausschau, konnten sie aber nicht mehr entdecken, weder auf dem Bach Tsu-Tsao noch auf dem Wangpufluß. Hasard dachte unausgesetzt an die alte Frau. Hätte er sie beim Wort genommen, wäre es höchst peinlich für sie ausgegangen, denn er war überzeugt, daß sie weder Tee noch sonst etwas zum
Seewölfe 127 40
Roy Palmer
Anbieten an Bord ihres Sampans gehabt hatte. 7. Am Morgen stellte Schao der Korsarin weder die Schale mit Reis noch das Wasser in den Bambuskäfig. Er würdigte sie keines Blickes. Die anderen Eunuchen sahen zu ihr herüber, als wollten sie sie steinigen. Einer, der größte, schritt vorbei und schlug ein paarmal mit der Peitsche nach ihr. Sie wich ihm aber so geschickt aus, daß er sie kein einziges Mal traf. Am Mittag erschien Schao als erster der Eunuchen in der Kaverne, schob sich gleich auf Siri-Tong zu und stierte sie aus blutunterlaufenen Augen an. „Von mir hast du keine Rücksichtnahme mehr zu erwarten“, zischte er. „Wir Aufseher sind bestraft worden, weil du einen Fluchtversuch unternehmen konntest.“ „Fast ist er mir gelungen, wolltest du doch wohl sagen.“ „Du Satansbraten. Wir erhalten für einen Monat keinen Lohn.“ „Du kannst noch froh sein, daß du nicht die Prügelstrafe erhalten hast, Schao“, sagte sie. Er zückte seine Peitsche. „Ich könnte dich totschlagen!“ „Nur zu“, forderte sie ihn kaltblütig auf. „Aber mach dich auf etwas gefaßt. Ich werde deine Peitsche packen und sie dir entreißen.“ Sie sah ihn so eisig und drohend an, daß er es tatsächlich nicht wagte, die Rute gegen sie zu heben. Wenig später erschienen auch die anderen glatzköpfigen Eunuchen. Sie sperrten ihren Käfig auf. Siri-Tong schlüpfte ins Freie. „Keiner rührt mich an“, sagte sie schneidend. „Ich warne euch. Ich sorge dafür, daß ihr noch mehr Ärger kriegt, wenn ihr auf mich einschlagt.“ „Du Hure!“ kreischte der größte Eunuch. „Du glaubst, uns Befehle geben zu können?“ „Ja!“ schrie sie zurück. „Faßt mich nicht an, dann gehe ich freiwillig in den Gerichtssaal.“ Sie sah auch ihm in die
Das Schwert des Henkers
Augen, wieder so bohrend und haßerfüllt, daß auch er sich zurückhielt. Siri-Tong schritt durch die Gefängnishöhle. Die Stimmung unter den Mithäftlingen hatte sich grundlegend geändert. Sie riefen ihr keine Unanständigkeiten mehr zu, sie ergriffen jetzt Partei für sie und erklärten sich offen mit ihr solidarisch. „Siri-Tong!“ „hallte es durch die Kaverne. „Es lebe die Rote Korsarin! Diese Frau hat mehr Mut als wir alle zusammen!“ Ihr spektakulärer Befreiungsversuch vom Vortag hatte sich herumgesprochen. Auch hier, im Kerker, funktionierte das Verständigungssystem. Auf ihre Art zollten die Mitinsassen ihr jetzt ihren Respekt. Die Männer rüttelten an den Stäben ihrer Käfige, hieben gegen und schleuderten die Reis- und Wasserschalen auf die Wärter. Die drei, vier Frauen in den hintersten Verliesen keiften in den schrillsten Tonlagen. Die angesehenen Bürger, die ihre Steuern nicht bezahlen konnten, schwenkten ihre hängenden Käfige hin und her und brüllten mit den anderen um die Wette. Plötzlich war der Teufel los, in einem Maß wie nie zuvor. Die Eunuchen schlugen um sich. Sie mußten Verstärkung anfordern und hatten trotzdem alle Hände voll zu tun, die verrückt spielenden Gefangenen zur Räson zu bringen. Siri-Tong schritt derweil mit erhobenem Kopf die Steintreppe hinauf. Sie trat auf den Hof, überquerte ihn, schaute nach links und sah zwischen den vielen Besuchern wieder den Schiffsjungen vom Vortag. Auch diesmal fiel er ihr auf. Diese feinen, fast edlen Züge . Viel zu zerbrechlich für einen Schiffsjungen, dachte sie. Ohne Verzögerungen begab die Korsarin sich in den Gerichtssaal. Sie verbeugte sich nicht, trat bis in die Mitte des großen Gevierts und blieb vor dem breiten Pult der Richter stehen. Die Menschenmenge wurde eingelassen und sofort zum Schweigen gebracht. Nach
Roy Palmer
Seewölfe 127 41
Erledigung der üblichen Formalitäten nahm der Prozeß seinen Lauf. Siri-Tong stand drei Richtern gegenüber, und sie fragte sich, ob sie die Vorschriften strikt eingehalten hatten: drei Tage lang kein Fleisch, keine Musik, keinerlei Unterhaltung. Heute war der dritte und letzte Verhandlungstag. Ab morgen durften sie wieder schwelgen. Sie blickte über die Schulter auf die Zuschauer. In der dritten Sitzreihe von vorn entdeckte sie den Schiffsjungen. Der Mann, in dessen Begleitung sie ihn schon am Vortag gesehen hatte, war auch wieder neben ihm. Ein hagerer, hochgewachsener Typ mit schütterem Haar und leicht fliehender Stirn. Hatte Schao, der Eunuche, sich vielleicht getäuscht, als er von einem Mädchen und einem Mann gesprochen hatte, die nach ihr, Siri-Tong, gefragt hatten? Zu weiteren Überlegungen in dieser Richtung blieben der Korsarin keine Zeit. Noch einmal faßten die Richter jetzt zusammen, wie schon am ersten Tag, und ein Schreiber hielt alles Gesagte mit flink hingeworfenen Tuschezeichen auf Reispapier fest. „Plünderung von alten Kaisergräbern“, sagte der Gerichtsvorsitzende. Er trug ein weites Gewand aus roter Seide, und seine Kopfbedeckung war ein schwarzes Käppchen, unter dem der lange Zopf hervorschaute. „Eine ruchlose Tat. Die Angeklagte hat keine Ehrfurcht vor den toten Ahnen gezeigt, hat in einer Grabanlage den aus kostbaren Steinen dargestellten Himmel geraubt, die Apparate zerstört, die Quecksilbermeere und -flüsse bewegten, und sogar die Kerzen gestohlen, die die Grabgewölbe erleuchteten und deren Brenndauer auf tausend Jahre berechnet war.“ Siri-Tong hob beide Hände. Es klirrte und rasselte, denn auf das Geheiß der Richter hin hatten die Eunuchen ihr am Vortag Ketten angelegt. Nur die Füße hatten sie ihr nicht zusammengebunden, damit. sie laufen konnte. Narren! dächte sie.
Das Schwert des Henkers
Laut rief sie: „Einspruch! Ich wurde von dem grausamen Kapitän der Dschunke dazu gezwungen, zu diesem Verbrechen zu schweigen! Gegen meinen Willen wurde ich mitschuldig, denn was der Kapitän tat, Wurde auch der Mannschaft angelastet ...“ „Schweig, Angeklagte!“ schrie sie der eine Beisitzer an. „Einspruch ist nicht erlaubt!“ rief der Vorsitzende. „Wenn du dich weiter so dreist benimmst, urteilen wir dich ohne Begründung ab.“ „Tut doch, was ihr wollt“, sagte sie kalt. „Jeder Versuch, einen Gegenbeweis zu erbringen, ist ja doch sinnlos. Und ich soll Respekt vor euch zeigen? Daß ich nicht lache.“ „Schweig!“ forderte der Beisitzer sie von neuem auf. Siri-Tong fixierte ihn stumm. Sie wäre gern auf ihn zugestürmt und hätte ihm die Ketten über den Rücken gezogen, aber dazu waren die Ketten zu kurz. Straff und ohne herunterbaumelnde Enden umspannten sie ihre Handgelenke. Die Eunuchen hatten sie wohl in weiser Voraussicht so stramm angebracht. Der Vorsitzende sprach weiter. „Dann die zweite Ungeheuerlichkeit der Angeklagten - der Mord an einem ehrenwerten Mann ...“ „So ehrenwert vielleicht wie Lim?“ fragte auf der dritten Zuschauerbank „Flüssiges Licht“ ihren Begleiter Fong-Ch’ang. Sie hatte etwas zu laut geredet. Der Gerichtsvorsitzende hieb mit der flachen Hand auf sein Pult. Siri-Tong wandte sich kurz um und streifte das Gesicht des vermeintlichen Schiffsjungen wieder mit einem Blick. Diese weichen Züge, dachte sie, gehören die wirklich einem Jungen? Allmählich dämmerte es ihr. „Als Fei-Lin die Angeklagte ehelichen wollte und die Verlobung bereits gefeiert worden war, tötete Siri-Tong den Bedauernswerten, indem sie ihn schlug und so zu Sturz brachte, daß er auf einen Bambustisch fiel und sich das Genick brach“, fuhr der Vorsitzende fort.
Roy Palmer
Seewölfe 127 42
1575 nach europäischer Zeitrechnung, überlegte Siri-Tong, acht Jahre liegt das jetzt zurück, aber es wird nie verjähren, nie. Alle Unschuldsbeteuerungen nutzten nichts, und du hast dir damals den Haß der Sippe Fei-Lins zugezogen, den gnadenlosen Haß, der dich in alle Ewigkeit verfolgt. Fei-Lins zwei Brüder warten auch heute noch auf dich. Deshalb bist du damals in der Nacht fortgeschlichen und hast auf einem portugiesischen Handelssegler als Matrose angeheuert. Ihre Mutter hatte gewollt, daß sie Fei-Lin heiratete, aber sie hatte den ekelhaften Kerl nicht ausstehen können. Sein Sturz auf den Bambustisch jedoch war ein Unfall gewesen. Sie hatte ihn sich vom Leib halten, ihn aber nicht umbringen wollen. „Schuldig“, sagte der Vorsitzende. „Schuldig in allen Punkten der Anklage. Der Grabräuberei und des Mordes überführt, außerdem der erwiesenen Piraterie.“ „Die Zeugenaussagen sind falsch!“ schrie die Korsarin. „Angeklagte, ich verwarne dich“, sagte der Vorsitzende. „Untersteh dich, noch weitere Äußerungen von dir zu geben, sonst lasse ich dich ganz in Ketten legen.“ „Diese Verhandlung ist ein lächerliches Schmierenstück!“ rief Siri-Tong außer sich vor Zorn. „Angeklagte!“ Der Vorsitzende hieb mit der flachen Hand aufs Pult, daß es knallte. Die Eunuchen rückten auf die Korsarin zu. Sie schwieg. „Das Volk erhebe sich zur Verkündung des Urteils“, sagte der Vorsitzende. „Die Beisitzer, der Vertreter der Anklage, der Schreiber und die Türwächter ebenfalls.“ Es scharrte und raschelte, als alle Anwesenden sich erhoben, auf der Stelle traten und sich die Gewänder zurechtstrichen. „Das Urteil-, sagte der Gerichtsvorsitzende mit schwingender Stimme. „Die Angeklagte ist des Todes. Sie wird auf einem öffentlichen Platz durch Köpfen hingerichtet. Das Urteil wird morgen vollstreckt. Das ist alles. Die Verhandlung ist geschlossen, das Volk räume den Saal,
Das Schwert des Henkers
die Angeklagte werde zurück in den Kerker geführt.“ Scheinbar gelassen nahm die Korsarin den vernichtenden Richterspruch hin. Sie trat auf die Eunuchen zu, mit hängendem Kopf und offenbar innerlich zerbrochen. Dann aber verwandelte sie sich wieder in den wirbelnden Panther vom Vortag. Sie drehte sich halb und rammte einem Eunuchen den Ellbogen in die Magenpartie. Er krümmte sich und stöhnte auf. Ehe die anderen sie greifen konnten, hatte Siri-Tong ihm die Bambusgerte entrissen. Trotz der Eisenfesseln konnte sie sie umklammern und heben. Sie stürmte zwischen den zeternden Eunuchen hindurch auf das Richterpult zu. Soeben hatten sich der Rotbemäntelte und seine Beisitzer erhoben. Der Schreiber wich entsetzt vor der Korsarin zurück. „Hunde!“ schrie sie. Mit einem Satz war sie auf dem Pult, flankte ganz darüber hinweg, war neben den völlig verdatterten Richtern und hieb mit der Gerte auf sie ein. „Das ist für eure bodenlose Ungerechtigkeit!“ rief sie. „Ihr werdet euch an mich erinnern, bis an das Ende eurer Tage, das schwöre ich euch!“ Aufruhr wogte durch den Saal. Die Eunuchen rückten von zwei Seiten auf das Pult zu, andere Aufseher drängten die Besucher ins Freie, damit sie an diesem Epilog nicht teilhaben konnten. Siri-Tong tobte und kämpfte gegen ihre Bewacher. Eine Welle der Wut und Empörung brandete ihr entgegen. Sie hatte es nicht nur gewagt, gegen ihre Bewacher vorzugehen, sie hatte sich auch erdreistet, die drei Richter, diese ehrenwerten Persönlichkeiten, zu züchtigen. Zwei-, dreimal hieb sie noch um sich, dann hatten die Eunuchen ihr die Gerte entrissen. Siri-Tong strauchelte und fiel hin. Sie drehte sich auf den Bauch und erwartete, daß sie nun auf ihr herumtrampeln würden, aber der Schrei des Vorsitzenden gellte dazwischen. „Führt sie ab!“ rief er. „Dies ist ihre letzte ruchlose Tat gewesen. Sie hat dadurch bewiesen, daß sie wirklich schuldig ist!“
Seewölfe 127 43
Roy Palmer *
Ch’ing-chao Li-Hsia war zutiefst erschüttert. Als sie im Freien stand, mußte sie sich gegen die Mauer des Gerichtsgebäudes lehnen, weil ihr schwindlig wurde. „Tod durch das Schwert“, flüsterte sie immer wieder. „Das kann doch nicht wahr sein.“ „Komm“, sagte Fong-Ch’ang. „Wir müssen sofort den Seewolf benachrichtigen. Es hat keinen Zweck, wenn wir hier herumstehen.“ Sie nickte, atmete tief durch und stieß sich von der Mauer ab. Fong ergriff ihre Hand. Zuerst schritten sie nur schnell aus. Etwas später, als das Hafenviertel in Sicht war, liefen sie beide. „Flüssiges Licht“ ließ Fongs Hand los. Die Eile, die Sorge um die Rote Korsarin trieben sie jetzt schneller voran als Fong. Als sie der Gasse der Lebensmittelhändler nahe war, aus der die vielen Gerüche herüberwehten, drehte sie sich nach Fong um. Er war verschwunden. „Fong“, stammelte sie. „Wo bist du?“ Sekundenlang war sie hin und her gerissen. Sie wußte nicht, ob sie weiter in Richtung Hafen oder dorthin zurücklaufen sollte, woher sie gekommen war. Sie hoffte, daß Fong-Ch’ang jeden Moment erscheinen würde, aber sie wartete vergebens auf ihn. Sie hastete ein Stück zurück und blickte sich nach allen Seiten um. Von Fong keine Spur. Sie geriet an eine Gasse, deren Inneres auch im Nachmittagslicht stockfinster dalag. Sie wollte nach Fong rufen, sah aber in diesem Moment eine Gestalt, die sich aus dem Dunkel löste und auf sie zusteuerte. Sie erkannte den Mann wieder. Es war der, der in der Nacht mit Vinicio de Romaes, dem Chinesen und dem Mongolen auf dem großen Sampan gestanden und auf Hasard, Ben, Fong und sie geschossen hatte — Nakamura, der Japaner. „Nein!“ stieß sie hervor. Sie wirbelte herum, nahm Reißaus und lief klopfenden
Das Schwert des Henkers
Herzens und mit weich werdenden Knien davon. Einmal drohte sie, zu stolpern, aber sie fing sich rechtzeitig wieder und hetzte weiter. Ihr Laufen hatte die Leichtfüßigkeit einer Gazelle, und zweifellos war es nur das, was sie vor dem Zugriff des Japaners schützte. Sie gelangte in die Straße der Lebensmittelhändler, durchquerte das Hafenviertel und sah die Piers vor sich auftauchen. Majestätisch ragten die Masten der „Isabella“ und des schwarzen Schiffes auf. Ch’ingchao Li-Hsia rannte weiter, ohne das Tempo zu verringern. Sie verspürte Seitenstiche, biß aber die Zähne zusammen. Erst an Bord der „Isabella“ fühlte sie sich sicher. * Siri-Tong lag auf der Seite. Durch die Bambusstäbe ihres Käfigs hindurch blickte sie auf den Eunuchen Schao. Er wanderte ruhelos und gereizt vor ihrem Verlies auf und ab. Die Peitsche hielt er schlagbereit, obwohl die Korsarin jetzt an Händen und Füßen mit Ketten gefesselt war und sich weiß Gott nicht mehr regen konnte. „Sag mir nur eins, Schao“, raunte sie ihm zu. „Still“, zischte er. „Was für ein Narr bin ich doch gewesen, überhaupt mit dir zu sprechen.“ „Die beiden, die vorgestern am Tor nach mir gefragt haben ...“ „Du sollst schweigen, hab ich gesagt!“ „Ein Mann und ein Mädchen, aber das Mädchen trug die Kleidung eines Schiffsjungen, nicht wahr?“ „Ich weiß es nicht.“ „Wie hat der Posten sie da als Mädchen erkennen können?“ „An der Stimme“, stieß Schao aus. „Und an den Wölbungen unter ihrem Hemd ...“ „Ja, natürlich. Danke, Schao.“ Er blieb verdutzt stehen und starrte sie an. Am liebsten hätte er sich die Zunge abgebissen, weil er sich doch verplappert hatte.
Roy Palmer
Seewölfe 127 44
Siri-Tong lag so, daß sie den breiten, wuchtig gebauten Mann erkennen konnte, der durch die vordere Kaverne in das Fackellicht der zweiten getreten war. Er war glatzköpfig und trug, soweit sie feststellen konnte, einen langen Oberlippenbart. Langsam ging er auf ihren Käfig zu. „Wer ist das?“ fragte sie leise. „Auch ein Eunuch?“ „O nein“, sagte Schao entsetzt. „Beleidige ihn nur nicht. Das ist dein Henker.“ Sie verzog spöttisch die Lippen. „Himmel, da muß ich mich natürlich gut mit ihm stellen.“ Der wuchtige Mann verharrte dicht vor ihrem Käfig. Schao warnte: „Vorsicht, Herr, dieses Weib ist gemeingefährlich.“ „Ruhig“, erwiderte der Scharfrichter. „Ich weiß mit Kanaillen umzugehen. Es ist mein Metier. Euch hat sie zum Narren halten können, Eunuch, aber vor mir hat sie einen heiligen Respekt, denn ich bin der letzte Mensch, dem sie sich offenbaren wird.“ Er betrachtete die Korsarin lange. „Mein Name ist Wei Tan. Ich hoffe, mein Schwert wird morgen scharf genug sein, um dir das Haupt sofort vom Rumpf zu trennen. Es würde mir leid tun, zweimal zuschlagen zu müssen.“ „Du mußt ein sehr gefühlvoller Mensch sein, Bastard“, sagte sie. Wei Tan grinste. „Ja, ich bedaure es, dich ins Jenseits befördern zu müssen, Kanaille.“ Siri-Tong bäumte sich auf und begann regelrecht zu rasen. „Gib mir dein elendes Schwert!“ schrie sie. „Dann wirst du schon sehen, wessen Kopf als erster rollt!“ Wei Tan lachte nur. Er verstummte aber, als die Mitgefangenen der Roten Korsarin wieder ihren lauten Protest erhoben: Da wurde gebrüllt und gerüttelt, mit Näpfen geworfen und gespuckt. Wei Tan stieß Schao an und sagte: „Eunuch, ruf die Wachen. Bringt diese Drecksbande zum Verstummen.“ Er drehte sich um und ging davon.
Das Schwert des Henkers
Siri-Tongs letzte, schlaflose Nacht brach an. 8. Nach dem atemlosen Bericht des Mädchens war Hasard auf Umwegen mit Dan, Blacky und Gary Andrews an Land gegangen und hatte lange nach FongCh’ang gesucht. Der Chinese blieb jedoch verschwunden, und auch den Japaner Nakamura entdeckten sie nirgends - von Vinicio de Romaes oder dem Mongolen ganz zu schweigen. „So leid es mir um Fong tut“, sagte der Seewolf. „Ich glaube, wir müssen ihn abschreiben.“ „Du hattest ihn gewarnt“, erwiderte Dan O’Flynn. „Trotzdem ging er zum Prozeß.“ „Er wollte Flüssiges Licht beschützen. Und wir konnten ihn nicht begleiten, wir wären wieder aufgefallen, außerdem konnten wir nicht in den Gerichtssaal.“ Hasard hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. _Wir können nichts mehr für Fong tun. Gehen wir jetzt an die Vorbereitungen für morgen.“ Es wurmte ihn mächtig, der Entführung Fongs hilflos gegenüberzustehen. Aber die Tatsachen ließen ihm keine andere Wahl. In der Nacht hatten sie sich mit Ch’ingchaos Hilfe Tellermützen und chinesische Kleidung beschafft. Alles war im Schutz der Dunkelheit und mit äußerster Behutsamkeit abgewickelt worden, um ja die grünberockten Soldaten nicht mißtrauisch zu stimmen, die immer noch die Schiffe bewachten. Jetzt, gegen Mittag, wanderten Hasard und Dan O’Flynn der Hinrichtungsstätte entgegen. Sie schwitzten ein wenig unter ihren Tellermützen, ertrugen es aber geduldig. Die Mützen tief in die Stirn gezogen und mit kurzen Kulihosen und weitärmeligen Kulihemden angetan, schritten sie dem einsetzenden Trommelwirbel nach. „Flüssiges Licht“ hatte Zeit und Ort der Hinrichtung noch in der Nacht genau herausbringen können. Ein kleiner Beutel Silbermünzen, der sehr rasch den Besitzer
Roy Palmer
Seewölfe 127 45
gewechselt hatte, hatte den Seewölfen das erforderliche Schweigen des Informanten zugesichert. Der Richtplatz lag erhöht - keine hundert Yards vom Tsu-Tsao-Bach entfernt, und zwar an dessen Unterlauf, dort, wo das Elendsviertel der Wohnboote noch nicht begann. Eine Gasse trennte Hasard und den jungen O’Flynn noch von ihrem Ziel. Die Gasse öffnete sich und gab den Blick auf eine imposante Menschenmenge frei. Die beiden Männer verschafften sich mit sanftem Druck Platz und arbeiteten sich bis zum Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit vor. Dort stand er also, der Podest, auf dem Siri-Tongs Leben ein jähes Ende finden sollte! Hasard spürte das Blut heiß in seinem Inneren wallen. In seinem Schädel begann es bedenklich zu pochen. Wieder mußte er schwer an sich halten, um nicht sofort für das zu sorgen, was die Crew „Zustand“ zu nennen pflegte. Schon mehrere Verbrecher hatten hier ihr Leben lassen müssen. Das hatten sie in der Nacht ebenfalls von ihrem Informanten erfahren. Was die Umstehenden tuschelten, konnten weder Hasard noch Dan verstehen. Chinesisch war ihnen ein Buch mit sieben Siegeln. Hasard hatte das Mädchen aber nicht mitnehmen wollen, weil das Ganze zu gefährlich für sie war. Lieber nahm er es in Kauf, in Sachen Sprache wie der bekannte Ochs vorm Berge zu stehen. Ein verabscheuungswürdiges Zeremoniell hatte eingesetzt. Trommler rührten ihre Instrumente und kündigten das Nahen der Hinrichtung an, aber etwas entfernt, inmitten der Masse, rissen Gaukler ihre Possen, teilten Spieler ihre Steinchen aus, boten findige Händler Frühlingsrollen, Hundert-Tage-Eier, Schwalbennester und andere mehr oder weniger fragwürdige Spezialitäten an. Andere Verkäufer zeigten Rasseln, Ketten und bunte Armbänder herum. Es war der reinste Jahrmarkt. Dan schaute Hasard von der Seite an, unter dem Schirm seiner Tellermütze vorbei. Größere Verachtung und Wut auf die
Das Schwert des Henkers
Schaulustigen hätten in keinem Blick liegen können. Hasard hoffte nur, daß Siri-Tongs Mutter nicht auch durch den Auflauf angelockt worden war. Er hielt Ausschau, konnte sie jedoch nicht entdecken. Das Volksfest nahm seinen Lauf. Die Menschen waren völlig fasziniert und vergaßen ihre Umwelt. Fong-Ch’ang hatte schon über das Mädchen darauf hingewiesen, welche Bedeutung eine solche Hinrichtung im Reich der Mitte hatte. Ein Gong ertönte. Hasard und Dan wandten die Gesichter dem Podest zu, und ruckartig drehten sich auch alle anderen Zuschauer um. Zwei Würdenträger, mit allen Ehrenzeichen chinesischer Amtswürde versehene Männer, erschienen. Sie blieben vor dem Podest stehen. Diener reichten ihnen Schriftrollen, die Würdenträger öffneten sie und lasen daraus vor, während sogenannte „Gestankbeweihräucherer“ mit dampfenden Sandelholzkesseln auf und ab stolzierten. Hasard ahnte, welchen Inhalt die Rollen hatten — Anklage und Urteilsspruch. Das Volk murmelte zustimmend. * Siri-Tong wußte nun endlich, welche Funktion die Büffelkarren vom Gefängnishof hatten. Die Heckklappe sauste nach unten, zwei Eunuchen winkten ihr zu und riefen: „Los, ‘runter mit dir!“ Siri-Tong rappelte sich mühsam auf, fiel auf der Ladefläche hin und kroch bis zum Heck. „Mit den Fußketten kann ich nicht laufen“, sagte sie. „Ihr müßt mich tragen.“ „Das könnte dir so passen“, erwiderte Schao. „Es ist unter der Würde einer Todgeweihten, nicht selbst zu ihrer Hinrichtung zu marschieren.“ Er öffnete das Schloß ihrer Fußketten. In kürzester Zeit hatte er sich zu dem bösartigsten Bewacher entwickelt. Die Repressalien, die er zu erdulden gehabt hatte, wälzte er jetzt auf sie ab. Er stieß sie
Roy Palmer
Seewölfe 127 46
an, ließ die Peitsche knallen und trieb sie von der Ladefläche aus auf seine Begleiter zu. Siri-Tong blieb stehen und fuhr herum. Sie sprang ihn frontal an und zog ihm die Fingernägel durchs Gesicht. Er heulte auf und wollte sie irgendwie abwimmeln, schaffte es aber nicht. Sie war keine fauchende Pantherkatze mehr, sie gebärdete sich wie eine Tigerin. Zwei bärenstarke Eunuchen mußten anrücken, um sie von Schao zu lösen. Aber die Korsarin kämpfte weiter — mit dem Mut der Verzweiflung. Sie kratzte, trat, schlug und biß derart um sich, daß die Glatzköpfe sie nur schwer zu bändigen vermochten. Einmal gelang es ihr, sich wieder loszureißen. Sie lief. Die Menge wich wie eine breiige Substanz vor ihr zurück, die Bresche klaffte immer weiter auf, und SiriTong lief, lief, lief, die Verfolger auf den Fersen. Plötzlich streckte sich ein Fuß aus der Menge vor. Siri-Tong sah ihn nicht mehr rechtzeitig. Sie strauchelte darüber und stürzte. Fluchend packten sie die Eunuchen und hielten sie fest. Die Henkersknechte führten sie auf den Podest zu. Die Menge pfiff und johlte. „Verdammt sollt ihr alle sein“, stieß SiriTong aus. „Mein Fluch trifft euch, denn ihr alle wißt genau, welches Unrecht hier geschieht.“ Trommeln dröhnten, ein tiefer Gongschlag rollte über den Platz. Siri-Tong ließ sich fallen und sträubte sich mit allen Mitteln gegen das grausame Schicksal. Die Henkersknechte mußten sie fast an den Haaren zum Richtplatz zerren. Endlich hatten sie es geschafft. Sie zwangen die Korsarin auf den Podest und nötigten sie, sich hinzuknien. Sie tat es, aber dann sprang sie hoch, schlug auf den einen Kerl ein und konnte ihn so lange traktieren, daß er schließlich umkippte. Ein gewaltiges Raunen lief durch die Menge. So etwas hatte Shanghai noch nicht erlebt — eine Frau, die sich derart zur Wehr setzte.
Das Schwert des Henkers
Die Eunuchen rückten zu viert auf SiriTong los, hielten sie fest und zwangen sie erneut in die Knie. Der Gong klang zum drittenmal auf, und Wei Tan erschien. Der Henker schritt mit nacktem Oberkörper auf den Podest. Er hatte sich mit Öl eingerieben. Seine Brust glänzte im Sonnenlicht, sein Gesicht schimmerte und verlieh ihm zusammen mit dem lang herabhängenden Bart etwas Diabolisches. Er nahm das gebogene Richtschwert aus der Hand eines Dieners entgegen. Rasch hob er es mit der rechten Hand hoch, daß es in der Sonne blinkte. Er legte die Fingerkuppen der linken Hand gegen die Klinge und grinste. Die Masse johlte und geriet in Euphorie. Wei Tan blickte zu den Würdenträgern, zu den hohen Mandarinen und schaute über die Menge hinweg. Das Publikum war komplett, die Vorstellung konnte beginnen. Niemand ahnte, daß zwei Seewölfe in der vordersten Reihe der Neugierigen standen. Niemand wußte, daß unten, im Bach TsuTsao, ein Beiboot der „Isabella“ schaukelte. Keinem war bekannt, daß Thorfin Njal mit einem Spektiv vom Großmars des schwarzen Schiffes aus herüberblicken konnte, daß er ständig Angst hatte, es könne etwas schiefgehen daß er sich vor Wut den Kupferhelm vom Schädel riß. Um der Freundschaft willen hatte der Seewolf ihm auferlegt, nicht einzugreifen. Tat er es, würden er und seine Crew Shanghai nicht mehr lebend verlassen. So waren der Wikinger und die anderen von „Eiliger Drache über den Wassern“ auch diesmal zu ohnmächtiger Passivität verurteilt. Die Crew hing in den Wanten und starrte zum Richtplatz hoch. Trommelwirbel setzte ein. Hasards und Dans Nerven waren zum Zerreißen gespannt, aber sie wagten beide nicht, daran zu denken, wie wohl der Roten Korsarin zumute sein mochte. *
Roy Palmer
Seewölfe 127 47
Siri-Tong kniete jetzt erschöpft. Sie war völlig ausgelaugt, atmete schwer und sammelte neue Kräfte, um noch einmal aufzuspringen. Schweiß bedeckte ihr Gesicht. Sie zitterte, aber mehr aus Wut als aus Todesangst. Sie hatte sich immer ersehnt, kämpfend zu sterben nicht, von einem Kerl wie Wei Tan geköpft zu werden. Im heftigsten Widerstreit ihrer Gefühle blickte sie mit zusammengepreßten Lippen nach links - und sah wie durch einen Schleier die vorderste Reihe der Neugierige». Plötzlich durchzuckte sie ein freudiger Schreck. Ein Ruck lief durch ihren Körper. Du phantasierst, sagte sie sich, das kann nicht wahr sein Und doch war es kein Trugbild. Unter zwei Tellermützen zwinkerten ihr da Augen entgegen, ein eisblaues Paar darunter, Hasard! Und Dan O’Flynn grinste ein bißchen, um ihr ein Zeichen zu geben. Wilde Hoffnungsdurchströmte sie. Dann aber packte sie wieder die Verzweiflung, Wie wollte der Seewolf jetzt noch etwas unternehmen? Zu spät, dachte sie, aber wenigstens bist du in den letzten Minuten meines Lebens bei mir, Hasard, ganz in meiner Nähe. Nein, ich werde dich durch keinen Ausruf verraten! Du wirst unbehelligt wieder gehen können... Sie versuchte noch einmal, aufzuspringen, doch die Eunuchen hielten sie mit eiserner Gewalt fest. Wei Tan hob das Krummschwert und sagte: „Wenn du jetzt wieder aufstehst, trifft mein Schwert dich in der Mitte deines Körpers.“ Die Eunuchen ließen Siri-Tong los und wichen von ihr zurück. Sie kniete reglos. Wei Tan, der Koloß von einem Henker, war bereit zum tödlichen Schlag. Doch dann, urplötzlich, überstürzten sich die Ereignisse in unvorhergesehener Weise. Einer der hohen Mandarine gab dem Scharfrichter das Zeichen, und von diesem Augenblick an geschah alles fast gleichzeitig.
Das Schwert des Henkers
Ein armlanger Pfeil steckte plötzlich tief im Hals des Henkers. Wei Tan taumelte. Nie würde er erfahren, daß ein graubärtiger Riese namens Big Old Shane diesen Pfeil mit ungeheurer Präzision vom Boot auf dem Tsu-Tsao aus abgeschossen hatte. Wei Tan stieß einen gurgelnden Laut aus. Das Richtschwert entglitt seiner Hand. Siri-Tong federte hoch und entging der fallenden Klinge um Haaresbreite. Wei Tan griff sich an den Hals und brach zusammen. Im Hafen brüllte und grollte es los. Gewaltige Explosionen trieben Feuer und Rauch von den Piers hoch. Eine halbe Pier flog in Stücken durch die Luft, und es regnete Trümmer. An einer anderen Stelle wirbelte eine Gemüsedschunke in die Luft. Ein Splitterregen wehte über die Hafenanlagen und prasselte auf die Menge nieder. Schreiend liefen die Männer und Frauen auseinander. Panik setzte ein, die Gaffer traten sich gegenseitig um und rannte sich über den Haufen. Hasard und Dan stürmten auf den Podest zu. In der Nacht hatten sie gemeinsam mit anderen Seewölfen heimlich Pulverfässer an Land geschafft und sorgsam versteckt. Al Conroy hatte sie so präpariert, daß ein einziger Funke genügte, um sie binnen Sekunden in die Luft fliegen zu lassen. Und für diesen Funken hatte Al, Hasards Waffenexperte, jetzt gesorgt. Es heulte und zischte auf dem Hinrichtungsplatz, ein buntes, siedendes Feuer ergoß sich über die Stätte. Siri-Tong versetzte dem einen Henkersknecht einen Tritt, ehe er sie packen konnte. Sie wirbelte herum und sah Schao auf sich zustürmen. Blitzartig bückte sie sich, raffte das Henkersschwert auf und schleuderte es dem Eunuchen entgegen. Schao wollte ein Messer werfen, aber das Schwert ereilte ihn, traf seine Hüfte und brachte ihn zu Fall. Die Korsarin federte mit einem Hechtsprung vom Podest. Hasard und Dan waren neben ihr, sprangen mit, und gemeinsam landeten sie mitten in der auseinanderflutenden Menschenmenge.
Seewölfe 127 48
Roy Palmer
Soldaten versuchten einzugreifen. Doch durch die Masse raste plötzlich der „Verrückte“, ein wildgewordener Neger namens Batuti, der mit seinem Morgenstern brüllend alles zusammenschlug, was sich ihm in den Weg stellte. Hasard und Dan hieben ebenfalls um sich. Sie droschen auf Köpfe ein, rissen Chinesen um, wirbelten ein paar Gegner durch die Luft, trieben eine Bresche in das Gewirr. Siri-Tong kämpfte mit. Immer noch donnerten im Hafen Explosionen. Hasard, Dan und die Korsarin stürzten vom Platz in die Gasse, die zum Hafen führte. Sie hatten sich an die Spitze der rasenden Menge gesetzt. Hinter ihnen heulte, brüllte und gellte es. Die Menschen von Shanghai bewegten sich als lebendige Lawine auf die grünberockten Soldaten zu. Al Conroy, Ferris Tucker und Ed Carberry hatten sich an Land versteckt. Jetzt griffen auch sie von den Seiten an. Sie mähten alles nieder, was ihnen in die Quere geriet. Für Hasard, Dan und Siri-Tong gab es eine neue Bresche, einen Durchschlupf – und die Menge Schaulustiger kollidierte mit dem von der Pier heranlaufenden Soldatentrupp. Im Ausguck des schwarzen Schiffes tobte der Wikinger dermaßen herum, daß fast der ganze Topp abbrach. * Big Old Shane war wie der Leibhaftige mit seinem Boot zur „Isabella“ zurückgepullt. Er enterte auf, das Boot wurde hochgehievt, und Ben Brighton hatte sämtliche Segel setzen lassen.
Das Schwert des Henkers
Die „Isabella“ zerrte an den Leinen und drängte auf den Wangpufluß hinaus. Sie hatte den ablandigen Wind von schräg achtern. Hasard, Dan, Siri-Tong, Al, Ferris und Carberry rasten über die Pier auf die Gangway zu und huschten hinüber. An den Geschützen der Kuhl standen einige der Seewölfe. „Kappt die Leinen!“ schrie der Seewolf. Ein paar Soldaten im Grünkittel stürmten heran, aber wieder explodierte eine Serie von Pulverfässern. Al Conroy hatte sie mit besonders langen Lunten versehen. Smoky kappte das letzte Tau, das die „Isabella“ noch an der Pier hielt. Die Galeone glitt auf den Fluß hinaus. Ein Teil der Pier flog hinter ihr in die Luft und mit ihr ein Pulk Soldaten. Im Hafen war der Teufel los, und so gelangte die „Isabella“ nahezu ungesehen aufs offene Meer hinaus. Nur eine Kriegsdschunke hatte sich von einer zerfetzten Pier gelöst und nahm die Verfolgung auf. Erste Brandsätze fackelten hinter den Seewölfen her, explodierten jedoch Weit hinter ihr und richteten keinen Schaden an. Thorfin Njal, der mit dem schwarzen Segler in Shanghai bleiben sollte, stand aufrecht im Großmars und grinste sich eins in sein wildes Bartgestrüpp. „Bei Odin, Seewolf, das lob ich mir“, sagte er mit leuchtenden Augen. „Hasard in voller Aktion, wie in alten Zeiten — und die Rote Korsarin frei. Wir haben gewonnen!“ Er wandte seinen mächtigen Kopf und blickte auf die lodernden Hafenanlagen hinunter. „Und ihr habt euch mit dem Feuergruß verabschiedet wie, bei Wotan, wie eine Horde zorniger Götter.“
ENDE