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Band 288 der Bibliothek Suhrkamp 2
Jiří Kolář Das sprechende Bild Poeme – Collagen – Poeme Mit einem Nachwort ...
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SV
Band 288 der Bibliothek Suhrkamp 2
Jiří Kolář Das sprechende Bild Poeme – Collagen – Poeme Mit einem Nachwort von Konrad Balder Schäuffelen
Suhrkamp 3
Auswahl und Übersetzung aus dem Tschechischen von Konrad Balder Schäuffelen und Tamara Kafková Die Gedichte sind entnommenden Werken: Náhodný svědek, Vršovický ezop, Nový epiktet, Básně ticha, Prométheova játra
Erste Auflage: 1971 © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1971. Alle Rechte vorbehalten. Druck: Poeschel & Schulz-Schomburgk, Eschwege. Printed in Germany. Scan by
n maoi 2003
2003/I-1.0
ALLE SCANS VON MAOI UND PÁRDUC SIND NON-PROFIT-SCANS UND NICHT ZUM VERKAUF BESTIMMT.
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I. Aus dem Nachlaß des Herrn A. 1954-1957
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ERFINDUNG DER ZERSTÖRUNG
Wie einem Schulbuben schenkte mir mein Onkel zum Namenstag seinen alten Fotoapparat – Erst mal die Eingeweide angucken! dachte ich und als ich das Monstrum nachher wieder zusammenmontierte und ausprobierte ob Sie's nun glauben oder nicht schoß diese vorsintflutliche Kiste plastische Bilder Eine derart geniale Entdeckung ließ mich begreiflicherweise nicht schlafen Ich nahm die Kamera noch einmal auseinander und das Ergebnis meines nächtlichen Grübelns war die Erfindung der Futurografie eines Gerätes nämlich das akustische farbige und plastische Bilder erzeugte mit beliebig lange sich abspielenden Szenen Pas heißt wenn ich eine Momentaufnahme von irgendeinem von euch gemacht hätte hätte der Apparat im selben Augenblick eine Ansichtskarte produziert auf der sich euer ganzes Leben verfolgen ließe von der Geburt bis zum Tod Und gerade diese Möglichkeit aus der Handfläche bis an die Schwelle der Ewigkeit zu schauen zwang mich das Gerät wieder zu vernichten denn die Wirklichkeit und nicht etwa nur die bloße Vorstellung
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welche Zerstörung eine solche Erfindung für die Menschheit bedeutet hätte konnte ich nicht auf mein Gewissen nehmen
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GEBRAUCHSANWEISUNG
Nimm ein Apollofigürchen eine Schlange geflochten aus Kornblumen Dampferrauch Klatschmohn und Riesengebirgssteigen einen Apfel gefüllt mit Propellern deren Zahl deinem Alter entspricht Tränen von Brot und Salz geweint beim Begräbnis einer Frau vermenge alles mit dem Raunen von Wind und Wogen mit dem Gespräch von Fischen und Wolken mit den Ausmalheften der Pflanzenträume mit den Fibeln der Tierphantasie mit dem Geschrei umsonst vergossenen Blutes mit der Litanei vom Unglück erschlagener Liebe mit dem zerrupften Schleier auf den das Gesicht des Mondes oder einer Sonnenblume abgedruckt ist mit den Gedanken eines alten Mannes der umsonst gelebt hat mit dem Lied eines Kindes das dem Galgen versprochen ist mit dem beim Zerschlagen der dem Krieg geopferten Glocken übriggebliebenen Staub mit den abgewetzten Klingen der Hinrichtungsbeile mit den Alkoholtropfen die von den Lippen des Opfers eines Justizmordes abgewischt wurden mit der Einsamkeit eines Gefangenen und der Freude eines vom Siege berauschten Tyrannen gib dazu das Dreifache einer Mischung aus Dornen Knoten Knuten Essig und Silbermünzen die von Splittern gefrorenen Weines benetzt sind alles balle zu einer Kugel zusammen
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und lese Mauern mitternächtlich unter Sternen eine Seite aus dem Daniel in ihren Schlaf Dann geh und steche dreimal in jedes Haus an dem du vorübergehst reiß aus dem Gehsteig einen bespienen Pflasterstein nimm eine Handvoll verdreckten Asphalt von einer Autobahn was hinter einen Nagel geht kratze von der Haut eines Kandelabers aus dem Innern der Kamine Kanäle Rolläden und Bänke wickle es mit allem ändern in Plakate und wirf es geschlossenen Auges von einer Brücke hinab in den Fluß bei Sonnenaufgang Fliegt dir kein Schwan aus dem Mund mach weiter wie folgt: leg deine rechte Hand in jenes Feuer in dem das Bild dessen verbrennt den du am meisten liebst ist sie genügend verkohlt tauche sie in frisch aufgeworfene Erde und warte bis sie wieder gesund ist nimm jetzt ohne vorher etwas zu berühren eine Feder tunke sie in Milch Honig und Gift und notiere die ersten vernommenen Worte Hörst du das Lied eines Vogels wölbt sich dein Gedicht wie ein Regenbogen jedweder Schurke der es liest erblindet spürst du die Stimme eines Tieres
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wirst du ein Lied erfinden das der Schönheit der Stimme der Leier der Liebe der Nacht zu Grabe läuten wird und die Trommelschläge der Metropole werden für immer nur den Regenwürmern Angst einflößen Gehässige verlieren Sprache und Gehör bei ihrem Dröhnen triffst du ein menschliches Wort wird alles was du schreibst mit Höllensteinen beschwert und mit Fegfeuerrosen besät sein jedes kleinste Korn und Blatt wird Schlüssel sein zum Geheimnis des Lebens und Zeit Schicksal und Tod legen sich dicht an deine Beine
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HÖKERIN UND GÖTTIN
Der Bildhauerei widmete ich mich nach der Rückkehr aus Griechenland Ein Blick auf einen Marmorblock hatte genügt um mich selbst darin zu bestärken daß ich etwas Niegesehenes schaffen würde Glauben Sie mir bei meiner Ehre daß alle Bildnisse der Venus wieviel ihrer die Welt auch tragen mag sei es mit oder ohne Arme nichts als abstoßende Erscheinungen sind im Vergleich zu dem Wunder das unter meinem Meißel entstanden ist – Träumst du oder wachst du? Bist du oder bist du nicht? Wenn nicht der eiskalte Verstand in dir die Oberhand behält wirst du im nächsten Augenblick verrückt werden aus Liebe aus Liebe zu totem Stein! flüsterte mein Blut – Nein, du darfst kein Idiot sein der sich in die eigene Frau verliebt! sagte ich mir und mit tödlicher Willensanstrengung hob ich den Hammer und zersplitterte das Werk Ich weiß nicht welcher Macht ich in dieser Sinnesverwirrung die Kraft verdanke daß ich dem Bildwerk im letzten Augenblick die Maske für einen Abguß herunterriß Ich stieß mit dem Fuß ein Stück des höllischen Gipses in die Ecke und ... jemand klopfte
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Die Putzfrau! Sie kam wie gerufen Ich fiel in einen Sessel zündete mir eine Zigarette an und schlug die Metamorphosen auf Nur so nebenbei hob ich nach einer Minute die Augen Die Alte stand – die Beine wie ein Polizist gespreizt in einer Hand das Staubtuch in der anderen die Maske der vernichteten Statue und probierte sie auf ihrem Gesicht Ein Lächeln spielte um meine Mundwinkel aber dann! Als sie den Gips vom Gesicht nahm stand vor mir ein – Engel in Hauslatschen schmuddeliger Schürze Eimer und Besen neben sich und ein Tuch um den Kopf geschlungen ein Engel der nichts von seiner Anmut wußte! Sofort war mir klar: die Gußform hatte nicht nur die Gesichtszüge der Statue bewahrt sondern sie besaß auch die magische Kraft sie jedermann aufzudrücken Ich führte die Schönheit vor die Tür rief meinen Spaniel setzte ihm die Maske auf die Schnauze und in der nächsten Sekunde stand vor mir ein vierbeiniges Himmelsgeschöpf! Aber was war das? Wird die Mobilmachung ausgerufen?
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Ich sprang ans Fenster – die Straße so weit das Auge reicht von Menschen vollgestopft Um es kurz zu machen: Ganze vierzehn Tage und Nächte stand ich ohne Essen Trinken und Schlaf und legte die Maske meiner Statue den Gesichtern der vorbeiströmenden Frauen an Mit einem Wort: Hökerinnen kamen und fort gingen Göttinnen! Dann verlor ich das Bewußtsein Den Schrecken den ich in Ohnmacht verschlief beschrieben die Zeitungen Eine Million zufriedener Frauen und Mädchen konnte nicht weitere Millionen für die meine Kräfte nicht ausgereicht hatten daran hindern daß ich jetzt mit leeren Händen auf den Trümmern meiner Villa stehe halb lebendig halb tot dankbar nur der Verzweiflung die mich meinen Kopf in die Hände verbergen ließ an denen Staub des schicksalhaften Gipses haftete und meinem Gesicht jene dämonische Leidenschaftlichkeit jene unwiderstehliche Schönheit und jenen göttlichen Edelmut aufdrückte die ich heute noch ausstrahle
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DAS SPRECHENDE BILD
Mein erstes seriöses Werk war das Portrait Seiner Hoheit Ich malte das Bild aus dem Gedächtnis aber so treu daß ich einmal beim Betreten des Ateliers die Hacken zusammenschlug und salutierte Das würde freilich nichts bedeuten hätte ich nicht von der Leinwand Antwort bekommen Gehör und Ahnung täuschen euch nicht, Freunde aus meinen Händen ist tatsächlich ein sprechendes Bild hervorgegangen! Augenblicklich rannte ich nach Hause und führte meinen Vater vor das kleine Wunder Väterchen kannte gut Seine Hoheit und bald entwickelte sich zwischen beiden eine philosophische Diskussion die leider nicht nur fünf Minuten dauerte Seine Hoheit brachte die Rede aufs zarte Geschlecht nahm auf die Zunge was schändlich wäre auf eine Schaufel genommen zu werden sprudelte gottloseste Anekdoten aus sich heraus gegen die das Geplätscher des Herrn de Sade nur zartfühliges Leporello wäre Mein Vater erstarrte zur Salzsäule zog mich nach einer Weile in eine Ecke und sagte: Junge, wenn du nicht am Galgen enden und das Gras von unten wachsen sehen willst dann vernichte das Bild und höre überhaupt auf zu malen denn der erhabene Geist deines Genies
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flößt durch irgend unnatürliche Kraft den Gestalten deiner Werke das zu sprechen ein was sie wirklich im Herzen tragen und nicht das womit sie sich vor aller Welt brüsten Ohne weiter zu überlegen verbrannten wir das Bild samt Staffelei Palette Pinsel und Farben Das Atelier habe ich am nächsten Tag irgendeinem Leonardo vermietet
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MARCO POLO AN HERRN A.
Sehr geehrter Herr und teuerster Freund Noch unerträglichere Lebensbedingungen als die von denen die letzte Nachricht sprach zwangen ein weiteres Mitglied unserer unglaublichen Expedition zur Rückkehr unter euch Lebende Denn dieses Wort kann man auf keinen von uns anwenden die wir vielleicht schon durch das Reich des Todes wandern Könnte ich in einer Rolle toten Filmes mein Herz schicken damit es meine Dankbarkeit für Wohltat und Liebe sage die mir Gelegenheit gab zur Erfüllung einer so heiligen Aufgabe Wir sind jetzt in einem nicht benennbaren Land denn wie sollte man diese Insel inmitten der Wüste nennen vor deren Gefräßigkeit alle Wunder der Technik versagten wo nichts ist außer den Knochen der Felsen und dem in die Haare verbackenen Sand umgössen von blutiger Hitze wie sollte man die Tochter der Polarnacht nennen wo bei neunzehn Grad Frost alles blüht reift singt und die Bewohner nackt existieren? Ob wir es uns heimisch machen konnten und uns einleben bei den Wesen ohne Haut
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bei herzensguten anatomischen Menschen ob wir Rassen befiederter schuppiger oder wie Schlangen sich häutender Menschen kennengelernt haben ob wir Kontinente durchzogen haben die von Blinden bewohnt werden die anstelle der Augen überzählige Ohren hatten mit Ohrmuscheln die das ganze Gesicht entlang der Nase verdeckten die oft besonders bei Weisen bis auf die Brust herabfielen' Ob wir Gebiete durchzogen wo das Leben der Einwohner von Geburt bin ins Greisenalter nur ein einziges Jahr währt durch jenes schöne Land wo sich die Menschen mit Gedanken verständigen Nach unendlicher Wanderung durchs Gebirge zu den in Stein verwünschten Menschen deren Leben im Gegenteil einige Millionen Jahre dauern soll durch Tiefebenen wo sie weder Schlaf noch den Unterschied zwischen Mann und Weib kennen haben wir jetzt das Herz jenes Landes erreicht in dessen furchtbaren Frösten mit Augen besäte Menschen leben
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Je edelmütiger dort ein Wesen desto mehr Augen hat es desto mehr sieht es Stellen Sie sich teurer Freund die schönsten Statuen griechischer Götter vor an deren Gliedern sich Edelsteinaugen öffnen diese ewig frischen und schönen Götter leben nur vom Wasser eines unabsehbaren Sees an dessen Ufern sie wohnen in den Flanken unnahbarer Berge in dessen kristallklare Wellen sie sich legen wenn sie sich hingeben der Liebe oder dem süßen Schaukeln des Ruhens Nachts beim Schein dreier Monde größer als Mühlsteine und Sternen wie Kinderfäuste so tags beim Scheine des Kutschenrades der Sonne setzen sie sich ans Ufer ihrer flüssigen Wiege die Stirn auf den Knien von den Ellbogen umwinkelt schlafen sie für uns Ich weiß nicht wie lange vor unserer Ankunft war an schönster Stelle ein Haus uns bereitet mit aller Bequemlichkeit und seltenen Speisen Wir bewegen uns frei und ungehindert ohne Beachtung der in Gedanken versunkenen Wesen nur Kinder treten bisweilen an uns heran singen in unbekannter Sprache
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und nicht im Gedächtnis zu wahrender Melodie irgend ein Lied sonst aber spielen sie im Sand an der Küste oder in Gärten voll Tieren vom Tiger bis zur zahmen und weisen Taube ... Unsichtbare Menschen die nur ihr Schatten verrät aber auch der bei vielen beseitigt Menschen denen nur das Alter ihre Sichtbarkeit zurückgibt so daß bei Jungen der Umriß des Körpers kaum zu erkennen ist er bei Alten um etwas deutlicher als der Strich eines Diamanten auf kristallenem Glas Diese lebenden Zeichnungen ...
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DIE NACKTE WAHRHEIT
Ehedem ging ich Kamine in der Sahara weiden Nach blödem Gegaukel einer Fata morgana kam ein Schneegestöber und wollte was Warmes zwischen die Zähne Ich griff mir den Äquator fing eine Pyramide und buk sie gefüllt mit Jam Mitten im Schmausen schau ich: Mittag wars und nirgends die Sonne – Hat wieder, das Luder, verschlafen! Ich wühle im Sand – tatsächlich Schrei ihr ins Ohr und jage sie an den Himmel – Jetzt war ein Bad recht! meinte der Schneesturm – Und wo kommt der Wald her? – Kleinigkeit, nimm ein Beil, geh zum Meer zerhack es in Scheiben und bring sie das weitere mach ich Er also stellt sich die Scheiben eine neben die andere pfeift auf den Fingern da kam der Frost und malte so viele Bäume und Blumen daß es nicht nur zum Baden sondern zum Heizen genügte und für die Vase Wolken gabs massig die Kamine weideten zufrieden und als der Schneesturm verschwand hatte ich nichts zu tun Da fiel mir ein einen Elefanten zu nehmen und einen Spatzen daraus zu meißeln Als ich fertig war sagte der Spatz: – Ich schreibe Gedichte und bring es nicht fertig eins großzufüttern
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– Gibst du ihm auch Asphalt mit Zitrone zum Frühstück? – Nein, butterweiche Federn mit Zwiebeln – Da steckt der Fehler, merk dir: Morgens entweder Asphalt Parkett Textilien oder Spielzeug Zum zweiten Frühstück Kandelaber Schreibtische Geschirr oder Kunstgegenstände Zum Mittagessen Modeneuheiten Schaufensterglas ein Stück Lende von Straßenbahn Schiff oder Auto, gut ist auch Flugzeugbrust Als Nachtisch servierst du am besten eine Rotationspresse oder einen gewöhnlichen Pflasterstein auf einer Standarte Zur Brotzeit dürfen weder Gasherd noch Fernsehgerät weder Projektionsapparat noch gefrorene Operationsinstrumente fehlen Na, und zum Abendessen alles was dir in die Hände fällt auf dem Bahnhof in der Fabrik im Büro in der Kaserne, oder aber ein Stück Möbel Fahnenmast Dachrinne Fassade Tribüne Denkmal, kurzum alles was dir gerade unterkommt, vor dem Schlafengehen aber nur Schalter Akkus Rohre Kabel und vor allem Packpapier Ich selbst, wenn ich Appetit habe, steche mir einen Kamin ab und brate ihn auf Uran
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Nadi Leonardo: »AN EINEN UNBEKANNTEN ADRESSATEN«
Sehr geehrter Herr Nachdem ich die Arbeiten all derer die sich Meister und Schöpfer der Dichtkunst wähnen gelesen und abgewogen habe und da Phänomen und Perfektion besagter Kunst sich in nichts unterscheiden von allgemein Bekanntem ist mein ganzes Bestreben ohne einem anderen Abbruch tun zu wollen mir bei Ihnen Gehör zu verschaffen Ihnen meine Geheimnisse zu unterbreiten und sie Ihnen zur angemessenen Zeit zu freier Benützung anzubieten Mein Bemühen soll es auch sein an all den Dingen mit Erfolg zu arbeiten die im Folgenden teilweise aufgezählt seien: 1. Ich vermag äußerst emphatische und hermetische Gedichte zu schreiben leicht memorierbare allgemeinverständliche und gleichzeitig undurchschaubare ich bin genauso geschickt im Abfassen von bis zur Unverständlichkeit simplen Gedichten wie von unverständlich einfachen aus denen weder Wort noch Komma sich entfernen ließe ohne daß nicht beides ihnen fehlen würde ebenso verstehe ich mich auf die Methode Leere und Geistlosigkeit anerkannter Werke zu entlarven
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2. Im Notfall weiß ich Liedertexte zu entwerfen die zum Kampfe aufwiegeln und vom selben Wahrheitsgehalt sind wie sogenannte Natur- oder Gedankenlyrik wie geistliche beschreibende erbauliche alchimistische akademische oder reine Poesie und ich bin firm in unzähligen Spielarten der Liebeslyrik verfertige Fest- und Gelegenheitsgedichte sowie Elegien beherrsche die Schreibweisen manieristischer nichtillusiver mythologischer u. mehrdimensionaler Dichtung und sämtliche damit verwandten Formen 3. Ebenso bin ich fähig eine beliebige Menge von Gedichten mit der überaus vielseitigen Routiniertheit der Exponenten moderner Schulrichtungen zu verfassen ohne deren Geltungsanspruch Schaden zu tun bin ich in der Lage all das zu reproduzieren was Kinder oder Primitive hervorbringen ich fülle die Muster längst klassisch gewordener oder vergessener Formen weiß wie man spottet und wie man verherrlicht vorausgesetzt freilich daß das in Rede gestellte jenes Ereignis jener Mensch jene Tat ausnahmslos der Würde des Wortes entsprechen
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4. Gleichermaßen produziere ich Sprichwörter Sinnsprüche Schlagworte Lieder und Texte die sich Ohr und Gedächtnis einprägen gleichwie Satiren und Epigramme frei nach Wunsch und Erfordernis sowie alle Art Analogien und zur Vertonung geeignete Verse 5. Sollten wir eine Zeitschrift herausgeben bin ich fähig sie zu führen und Kolumnen anzulegen die sich hervorragend eignen als Kampfplatz für jeden beliebig aufgegriffenen Gedanken wie auch als unzerbrechlicher Schild gegen jeden Angriff eine Zeitschrift die unter Anwendung jeder Art bildender Kunst nichts wie Zersetzung stiftet im Feindlager 6. Ferner kann ich einen Verlag gründen und ihn ohne Rücksicht auf irgendwelche Maßregeln leiten kann die Edition von Buchreihen besorgen Tagebücher führen und sowohl extrem fachliche als auch Publikationen allgemeinen Konsums redigieren kann Flugblätter herausgeben Manifeste Monographien von nie dagewesenem Aufwand und Inhalt und in einer der Zeit vorauseilenden Art und Weise einen perfekten Vertrieb
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zur Popularisierung von Gehalt und Ausstattung organisieren 7. Genauso kann ich Novellen schreiben Erzählungen Skizzen Feuilletons fraglos ursprünglichen photographisch treuen wie auch musikalischen und wundersamen Charakters welche auf den Seiten x-beliebiger Zeitschrift oder gelesen von x-beliebigem Publikum vor jeder Kritik vor jeder Konkurrenz bestehen daneben kann ich wirksame wohldurchdachte Texte zu Dokumenten zu Bildern aller Art schaffen insbesondere Einführungen oder Nachworte zu literarischen Werken jeder Art ebenso Ansprachen zu Ausstellungseröff nungen Konzerten Festen Gedenkfeiern Manifestationen Totenehrungen geradeso Aufsätze über Kunstwerke für sich wie auch über ihre Urheber Referate über alle Kulturzweige Redekunst Film und Architektur nicht ausgenommen 8. Weiter falls es sich als nötig erwiese
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schreibe ich Essays Abhandlungen Betrachtungen Analysen und Gedanken in außergewöhnlich schönem Stil rein in der Sprache und völlig verschieden von der gemeinhin benützten 9. Wo Lyrik untunlich wäre komponiere ich erstaunlich wirkungsvolle Epen Zyklen und Gesänge die sich von allen alten oder gebräuchlich neuen unterscheiden mit einem Wort immer nach Art des Sujets unzählig mannigfache Oden zur Feier von Leben und Tod 10. Zur gegebenen Zeit hoffe ich zur vollen Zufriedenheit bestehen zu können im Drama in Manifestentwürfen für Schule und Bewegung im Einrichten von Wortlaboratorien in der Gründung von Lehrstühlen für Poetik in der Erfindung von Themen oder Berichten zu verschiedenstem Gebrauch im Abfassen von Denkschriften Beichten und Korrespondenzen aller Art und in beliebiger Form überdies bin ich bereit alle mögliche Prosa und Poesie für die Jugend
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im Jünglings- oder Mädchenalter anzufertigen sowie Belletristik mit beliebigen einwandfrei effektvollen Verwicklungen auf Wunsch phantastischer oder utopischer Art ganz so wie Prosaarbeiten voller Imagination und Intellekt oder Werke reiner Dichte und Trunkenheit purer Realität oder Träumerei und ich will mich darin messen mit jedermann wer immer es sei ich könnte auch mit einem Roman beginnen der Ihren Herrn Vater zur zentralen Figur hat der ihm zu dauerndem Gedächtnis und Ihrer aufgeklärten Familie zu unsterblichem Ruhm und Ehre gereichte Und sollte jemandem eine der oben angeführten Sachen unmöglich oder undurchführbar erscheinen erbiete ich mich bereitwilligst den Gegenbeweis in Ihren Arbeitsräumen oder an anderem Ihnen genehmen Ort zu führen der ich mich alleruntertänigst und wie ich immer nur kann empfehle als Ihr A.
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II. Gedichte der Stille 1960-1961
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ECHOPORTRÄT
Widerhall halle
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THERMOMETERPORTRÄT
E
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W K Ä L T E
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VERS
berauschender irgendein lästerlicher Vers... bezaubernder irgendein unsterblieher Vers ein strahlender irgendein sündhafter süßer duftender irgendein räuberischer Vers ein verwegener irgendein rauflustiger herzhafter tosender widerspenstiger verheerender grober niederreißender irgendein grausamer Vers irgendein tyrannischer plünderischer irgendein lästerlicher Vers irgendein, dreister Irgendein lästerlicher Vers
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TAGE
tik tik tik tik tik tik tik tik tik tik tik tik tik tik tik tik tik tik tik
tak tak tak tak tak tak tak tak tak tak tak tak ta k tak tak tak tak tak tak
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PAPYRUS
erfläche des Rückens schluchz in die armung der Nacht sitzt ein rußiger Ster wäscht die Füße der Stadt unsichtbare bl t ge Haare und ziehen brennender Adler durchschlug das
fror
Geschrei in die Dornen flicht
Kopf voraus eine schöne Peitsche aus Gran lie und Kobras in einem dränge verschluckt sich vor Lachen
Läuse t aten an auf ein Zeichen das wird Singen
und
reude bis einmal frei un klar auf der Erde
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REVOLUTION DER BUCHSTABEN
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VERGLEICHE
mit deinen Erinnerungen: Den ersten meiner Freunde überfuhr ein Zug der zweite ertrank der dritte erhängte sich die nächsten vier erledigte Tuberkulose der achte fiel vom Baum der neunte blieb im Stollen der zehnte im Hüttenwerk der elfte wurde hingerichtet den zwölften haben sie erschlagen der dreizehnte wurde zu Tode gemartert der vierzehnte liquidiert der fünfzehnte ist gefallen der sechzehnte fuhr sich den Schädel ein der siebzehnte sprang aus dem Fenster der achtzehnte hat sich erschossen der neunzehnte bekam Leukämie der zwanzigste Rückenmarksdarre drei streckte Krebs hin vier ein Infarkt zwei Lungenentzündung der Mutter versagten Herz und Nieren und dem Vater alle seine Kräfte
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VERGLEICHE
mit dir selbst: Alter 47 Größe 176 Gewicht 71 Gestalt vornübergebeugt Gesicht länglich ausdruckslos bartlos Haare dunkel angegraut und dünn Augen graugrün kurzsichtig Nase scharf rot Mund wenig ausgeprägt bitter Kinn geteilt Brust eng Beine mit Knoten ausgebeutelter Venen Füße platt Arme schwach Hände groß stark durchblutet Zähne schlecht oder falsch Rücken krumm Stimme roh Lachen ungestüm Charakter explosiv Gehör spinnwebartig Geruchsinn krankhaft empfindlich Geschmack schlicht Tastempfinden sinnlich Handschrift zierlich Schritt lang liebste Stimmlage: Alt
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liebste Farbe: weiß liebstes Instrument: Klavier von Metallen am liebsten Silber von Steinen Marmor
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KETTE
Ja freilich na ja warum denn nicht weißt du doch selbstverständlich ganz bestimmt ganz gewiß sicher glaub mir doch bombensicher ehrlich wieso denn nicht jau ich lege meine Hand ins Feuer nein nein nein niemals selbstredend Ehrenwort im Leben nicht nein bin ich denn blöd habs schon gesagt nein darauf kannst du Gift nehmen ja
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ERINNERUNG an einen Arbeitslosen, der in Gasthäusern Volkslieder geklatscht hat
Klatschen starkes Klatschen Klatschen Klatschen stürmisches Klatschen Bewegung im Saal Unruhe Unwillenskundgebungen Trampeln Zornesausbrüche plötzliche Beruhigung schwaches Lachen Klatschen fröhliches Lachen kräftiges Klatschen
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wiederum Lachen tobendes Lachen gewaltiges Klatschen Klatschen Schanderufen Grabesstille Ausbruch eines Klatschsturmes eines Klatschgewitters langanhaltendes Klatschen Klatschen Klatschen mitreißendes Klatschen Hochrufe nicht abebbendes Klatschen neue Salven von Hochrufen und weiter ein alles niederschmetterndes Klatschen Klatschen Klatschen Klatschen
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ES DREHT SICH DREHT
Trächtige fohlt öffnet erstickt glückliche versteckt treibt tritt sagen gebären mit allem was hält wartet Würgen immer glückliche kommen als je zuvor Augen glotzen kopfloser ewig Zeit Tod Mund an der Lüge Herde in Blüten Angst Wörter Verrat Verrat Hals
Zeit Tod Mund an der Lüge Herde in Blüten Angst Wörter Verrat Verrat Hals dem Lachen Nacht herrlichere leere entgegen Hoffnung trächtige fohlt öffnet erstickt glückliche versteckt treibt tritt sagen gebären mit allem was hält wartet Würgen
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dem Lachen Nacht herrlichere leere entgegen Hoffnung trächtige fohlt
immer glückliche kommen als je zuvor Augen glotzen kopfloser ewig Zeit undsoweit
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ABENDESSEN
Damit der folgende Text den rechten Eindruck hinterläßt, soll man ihn mit vollem Mund laut lesen.
Ich erwachte in einer Streichholzschachtel betäubt vom Phosphor ... plötzlich ... gepackt mit dem Kopf gerieben ... und fortgeworfen Zweimal trat jemand auf mich ehe ich wieder zu Atem kam aufstand und ging – meine Frau war wieder verheiratet hinter der Tür winselte das Radio – Wer ist draußen? – Mach auf. – Du bists, wo warst du so lange? – In Holz. – Einen Holzwurm hast nicht? – Weiß nicht, nachts höre ich nichts. – Daß dich nur niemand zersägt und verbrennt. – Ich bin noch grün, ich würde nicht brennen. – Laub- oder Nadelholz? – Ahorn – Wirklich? Mein Leben lang wünschte ich mir eine kleine Geige, komm her, willst nicht begossen werden? – Lieber ein Eichhörnchen ins Geäst. – Das gibts hier nicht, aber wenn die Kinder kommen, werden sie dir in die Krone klettern.
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– Wo steckt dein Mann? – Im Kessel. – Was macht er da? – Er kocht sich zum Abendessen, hörst du wie er blubbert? Das ist sein größtes Vergnügen. Blubber, Liebling, blubber, Blubberer, bald bist du weich, Bubbier, blubble, Bubbelchen, bubble, Blubbelchen, blubber, bubbliges Blububbelchen, blubble, blubbel, bubbel, blub, bub, bub, blu blu blu bu bu bu b b b b b
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WARUM BÄUME NICHT FLIEGEN
Würden fliegen sie Eier Bäume könnte Möbel wären eßbar ich ein aus Schrank aus gebratene auf Furnier Essig druckte die auf erschiene Zeitung einem schriebe mit Peitsche
Bäume legten auch legten Eier man essen Möbel machte mir Rippchen einem Salat Stühlen Hobelspäne Sägmehl mit und man Zeitung Beefsteak die auf Beefsteak man der auf
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den schriebe mit Peitsche den führen Leute der führen Leute der ginge endlich Lebendige es
Rücken man der auf Rücken die aus Haut die aus Haut es ins ginge endlich
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SPIELESPIEL
Spiele:
ein kaum wahrnehmbares Lächeln helles Auflachen Freudentränen zunehmende Verbitterung Scham Verstummen ein Sichverbeißen in den Handrücken ein Sichverfinstern Winken Augenzukneifen tiefes Einatmen rasches Augenöffnen ein Sichvergaff en Frösteln ein Wegreißen der Hand Atemanhalten Herumschauen Entspannung Erschütterung Einatmen ein schmerzliches Hinunterwürgen Schluchzen und Entsetzen Lippenschürzen Herabziehen der Mundwinkel Hängenlassen des Kinns tiefes Stirnrunzeln langsame Aufheiterung des Gesichts Senken des Hauptes hilfloses Lachen
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Niesen Ausatmen jähen Spott ein langes wohliges Gähnen zartes Rülpsen Totengleichmut Trauer Erröten
(Wiederhole das Ganze, diesmal schneller. Noch einmal und noch schneller. Weiter, immer schneller. Von vorn, immer noch schneller. Und noch einmal, bis das ganze Spiel in einer Sekundengrimasse verschmilzt.)
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IRGEND GESANG
Es wurde ein Besen geboren aus dem Besen entstand ein Straßenkehrer aus dem Straßenkehrer ein Zuträger aus dem Zuträger Onanie aus der Onanie Dichtung aus der Dichtung Gestank aus dem Gestank Ehre und Ruhm aus Ehre und Ruhm Schwachsinnige aus den Schwachsinnigen Lust am Essen und Kraft aus der Kraft Scheißhaufen aus den Scheißhaufen Diebe aus dem Diebstahl diplomatische Corps aus der Diplomatie Prostitution aus der Prostitution ledige Mütter aus den Müttern
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Söhne aus den Söhnen pověře Mörder aus den Mördern Huren in Ämtern aus den Huren erbliche Stühle aus den Stühlen gekrönte Ochsen aus den Ochsen Tradition aus der Tradition Galgen aus den Galgen Alraunen aus den Alraunen Zitate aus den Zitaten Peitschen aus den Peitschen gekrümmte Rücken aus den Rücken geniale Kinder aus den Kindern Käse aus dem Käse Würmer aus den Würmern Angst
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aus der Angst Gräber aus den Gräbern Stimmen hört ihr nicht?
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UM
17 UHR
Ich ließ mir Flügel wachsen mit meinem linken Lid bedeckte ich mein Geschlecht betrat die nächste Metzgerei hing mich mit dem rechten Nasenloch an einen Haken ließ mich verkaufen rupfen ausnehmen braten aufessen
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verdauen nach meinem Abgehen erstand ich neu sprang auf einem Bein über die Sahara vergewaltigte einen Schwarm von Fleischfliegen die am nächsten Tag einige Millionen Röntgen legten durchsichtige Giraffen Friseursessel Pfauennashörner Rotationsmaschinen buckellose Kamele Fernsehapparate hundertbeinige Pferde Kühlschränke Geweihkarpfen
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Roboter später trennte ich mir meinen Bauch auf riß das Herz heraus horchte ob es schlägt setzte es wieder ein und verschloß mich wieder dann brachte ich den Mond in Rotation entvölkerte Europa süßte und dillte das Meer
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verminderte die Geschwindigkeit des Lichtes auf einen Dezimeter pro Sekunde ließ den Frost unter die Nägel kriechen und verbrannte ihn unterschrieb einen Vertrag mit dem Tod für drei Jahrhunderte (sollen sich die Tiere auffressen) und drehte das Bewußtsein um fünf Jahrtausende zurück
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Das alles krähen schon die Raben von euch auf den Kirchhöfen daß ihr die Schwerkraft nicht kennt Gedanken lest Glas Metall Wände Mist Spinnweben Lebendige Tote durchsetzt zur Schande der Menschheit daß ihr die Mistkäfer mit Intelligenz infiziert
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daß ihr aus Langerweile Raubtiere unsichtbar macht und sie in die Städte schickt daß ihr uns Richtern nur Knochen sichtbar laßt den Staatsmännern Geschwüre Schmutz und Gehirnstroh: Aber antwortet was tatet ihr gestern um 17 Uhr? Antwortet! Gestern um 17 Uhr :
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SAGEN ODER NICHTSAGEN
Stell dir vor jemand schnalzt mit dem Finger und aus dem Boden steigt dein Vater als Fronleichnamsbräutchen verkleidet in leichtem Röckchen ohne Höschen das Gesicht mit Fäkalien beschmiert und einen abgelaufenen Mondausweis auf den Rücken gepinnt Zuerst streut er Röschen aus dann klettert er auf den Tisch und rezitiert: Ich kleines Knöspelein Seide reißt Orden blitzen Medaillen klirren fröhlicher Applaus dröhnt (Unterbrich hier das Lesen und wasch dich oder trink was oder schlafe mit jemandem oder gehe spazieren Holz hacken Kanarienvogel füttern Kaffee kochen oder sonst was) Oder stell dir deine süßeste Geliebte vor
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den Kopf geteert den klapperdürren Körper voller Votzendarstellungen und Toiletteninschriften mit ihrer von Zigaretten versengten Spatzenbrust auf den sich zwanzig Biertrinker erleichtern und wenn du dich verteidigend diesem Häufchen der Verzweiflung stellst hören die Kerle nicht auf sondern messen sich wer höher und genauer in die Augen auf den Mund Dann setz dich schreib ein Gedicht darüber und erwarte den jungen Mann mit dem stumpfen Blick In der Halle holen dich zwei andere ab führen dich hinaus und bringen dich zu der nummernlosen Tür hinter der ein Tisch drei Stühle eine Schreibmaschine und ein Telefon sein wird
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III. Gebrauchsanweisungen 1963-1965
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NAMEN
Setz dich an den Tisch und denke an nichts Nimm einen Kugelschreiber und schreibe quer über einen Bogen Papier einen geliebten Namen Stehe plötzlich auf gehe zur Tür öffne sie heftig warte mit der Hand auf der Klinke schließe sie kehre schweigend zum Tisch zurück lies laut den Namen auf dem Papier Schreibe kreuz und quer weitere Namen auf das Blatt springe auf wirf den Kugelschreiber weg lauf auf den Gang hinaus bleib unter der Wohnungstür stehen und rufe: – Wieder niemand! Kehre in die Wohnung zurück fahre dir mit der Hand übers Gesicht und flüstere: – Wieder alle!
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WO IST ER?
Spanne ein frisches Blatt in die Schreibmaschine und taufe alle Dinge um dich herum mit Namen Zum Beispiel: Karl den Tisch Marie ein Buch usw. Schreibe zu einigen Gegenständen das Geburtsdatum zu anderen den Geburtsort zu weiteren Lebenslauf oder besondere Kennzeichen Mitten in der Arbeit laufe vors Haus schaue aufmerksam in die Runde und frage gen Himmel: – War jemand da? Warte auf eine Antwort Dann werfe enttäuscht die Arme auseinander schau auf die Uhr und sage zu dir selbst: – Es ist dreiviertel fünf wo ist er?
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WER KANN ES SEIN?
Lege dich mitten im Zimmer auf den Boden schließe die Augen und versammle alle Menschen Tiere und Dinge um dich die du kennengelernt und nach denen du dich gesehnt hast Stehe auf stelle dich auf die Zehenspitzen und zähle alle die kommen sollten Höre plötzlich auf trete an die Tür lege dein Ohr dran schaue durchs Schlüsselloch presse dein Ohr an den Boden lege deinen Zeigefinger an die Lippen und deute zur Decke stehe auf lausche mit den Handflächen an den Ohren in Richtung Decke dann fordere mit dem Zeigefinger an den Lippen Ruhe in Richtung Boden endlich schaue dich im Zimmer um und frage: – Jemand kommt, wer kann es sein?
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NIEMAND JEMALS
Zeichne auf den Boden ein Quadrat einen Kreis ein Dreieck und ein Trapez Stelle in die Figuren einen Gebrauchsgegenstand ein Buch ein Gerät in die vierte stelle dich selber Probiere alle sechzehn Kombinationsmöglichkeiten durch dann schalte das Radio ein ziehe dich aus binde den Gegenstand das Buch und das Gerät an deinen nackten Körper schlage dir alle Gedanken aus dem Kopf verharre einige Minuten ruhig und sage dann: – Auf den ersten Blick habe ich dich geliebt... Lausche und nach einer Weile entgegne: – Auf den ersten Blick habe ich dich gehaßt... Lausche und nach einer Weile fahre fort: – Niemand hat dich jemals so geliebt und so gehaßt wie ich
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HULDIGUNG ALLEN FLIEGEN SPINNEN FISCHEN MÄUSEN UND HUNDEN
Warte auf Regen dann kaufe einen Fliegenfänger einen Besen eine Angel eine Mausefalle und ein Halsband Auf dem Heimweg rede kein unnötiges Wort Zu Hause zünde drei Kerzen an alle verschieden groß lege davor einen Gedichtband ein Buch über den Kosmos und ein Buch mit philosophischen Abhandlungen Dann zertrete den Fliegenfänger zerbreche den Besen zerreiße die Angel zerschlage die Falle zerschneide das Halsband und verbrenne alles oder wirf es in die Mülltonne
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VORJÄHRIGER SCHNEE
Besorge dir Schreibmaschinenpapier nimm ein Blatt nach dem anderen und bedecke damit Tisch Stuhl Heizung Boden alles worauf ein Stück Papier liegen kann bis das ganze Zimmer weiß ist Dann lege dich auf einen verbliebenen Fleck bedecke auch dich mit weißem Papier schließe die Augen und ruhe dich in Gedanken an den vorjährigen Schnee ein Weilchen aus
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KOLUMBUS ZU EHREN
Verlange in einem Geschäft oder einer Reparaturannahmestelle für Füllfederhalter jene Papierbögen auf denen die Kunden probieren ob Feder und Kugelschreiber richtig funktionieren und falte daraus mindestens hundert Papierschiffchen Erhältst du keine solchen Kritzelbögen oder schämst du dich danach zu fragen dann falte die Schiffchen aus einem Zeitplan für Schiffs- oder Flugverbindungen Nachts trage etliche Töpfe Bratpfannen oder andere Gefäße ins Badezimmer und fülle sie mit Wasser Dann lasse auch Waschbecken und Badewanne vollaufen setze die Schiffe aufs Wasser und lege dich schlafen Solltest du Lust dazu haben höre dir vorher noch die Nachrichten oder ein bißchen Musik an
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ICH STÖRE
Streue kurz vor Schulschluß einige Handvoll kleiner Münzen vor einer Volksschule aus und gehe weg Im erstbesten Papiergeschäft kaufe ein Schreibheft und schreib es zu Hause voll mit dem ABC mit Rechenaufgaben Diktaten Schönschreibübungen und zuletzt mit der Straf arbeit: hundert Mal Ich störe anstatt aufzupassen! Die Strafarbeit unterschreibe mit den Namen von Vater und Mutter mit Adam und Eva oder den Namen eines anderen Paares Dann spritze den Heftdeckel voll Tinte kritzle auf ihm herum mache ihn schmuddlig und ordne das Heft unter deine Bücher ein
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LIPPEN
Nach Bad und Frühstück mal dir deine Lippen doppelt groß So lasse sie den ganzen Tag bis du zu Nacht ißt und dich schlafen legst
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BRIEF
Leere deinen Briefkasten und alles was dir die Post gebracht hat zerreiße und streue es in alle Winde ohne festgestellt zu haben wer was geschrieben hat Dann schicke allen Freunden Verbänden Redaktionen und Lektoraten mit denen du in Kontakt stehst einen leeren Brief
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FISCH
Einen ganzen Tag lang vom Augenaufschlagen bis zum Augenschließen rede kein einziges Wort ohne jedoch deinen üblichen Tagesablauf zu ändern Am nächsten Tag kauf einen lebenden Fisch und laß ihn im Fluß schwimmen
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CHEMISCHE FORMEL
Bitte das nächstbeste Kind dir sein liebstes Lied zu singen Sag einem Abfallkorb guten Tag gieß ein Parfümfläschchen in den Kanal kauf ein Los schaue nicht auf die Nummer sondern schenk es einer alten Frau und schreibe dreizehn chemische Poesieformeln nieder etwa so: C 51 H6 (Me-i) 2 (F J4 -Ba) 7 (e2a K eY) 21
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REISE
Fortfahren mit leeren Händen fortfahren in eine Stadt in der du niemand kennst und dort drei Tage leben und wenn du Durst hast irgendwo um Wasser bitten und wenn du Hunger hast um Brot anhalten und übernachten wo es sich gerade gibt und jeden Tag neun Leute fragen nach einem Menschen deines Namens deines Schicksals
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TANZ
Tanze als hinge dein Leben davon ab Warte ein Weilchen auf Applaus verbeuge dich lächle warte noch einmal bedanke dich wieder warte noch einmal dränge dich enttäuscht durch die Menge nimm ein Servierbrett biete Speisen an Getränke Zigaretten plaudere in fremden Sprachen beantworte Fragen zeige jemandem die Toilette begrüße jemanden verabschiede dich von jemandem mische dich in eine Debatte Dann nimm ein Stück Leder oder eine Zeitung und fange an Fenster zu putzen
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MIT DEM GESICHT ZUR WAND
Nimm die Bilder von den Wänden rolle die Teppiche zusammen staple die Möbel in der Mitte des Zimmers und decke sie mit Packpapier ab als sollte das Zimmer frisch ausgemalt werden Stelle dich in eine Ecke mit dem Gesicht zur Wand und halte dort so lange als möglich aus
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HAUSMUSEUM
In der Ecke eines leeren Zimmers trage alle Gegenstände zusammen deren du im Hause habhaft werden kannst sei es nun Geschirr Wäsche Werkzeug seien es Bücher oder sonst was und nach und nach eins nach dem ändern so wie dir die Dinge in die Hände kommen hänge sie an den Wänden auf wie das in Museen Schlössern Zeughäusern und Kunsthallen üblich ist
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GEDICHT ODER BILD
Räum ein Zimmer aus mit allem Drum und Dran und signiere an der Türschwelle als würdest du ein Gedicht oder Bild signieren
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STANDBILD
An die Wand eines leeren frischgeweißten Zimmers lehne eine aufgerollte Standarte mit halbverwaschener Inschrift von irgendeiner Prozession Parade oder Manifestation
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AMNESTIE
Aus einem leeren Vogelkäfig hänge eine weiße Fahne heraus
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NACH DEM BEBEN
Schlag die Tür ein zertrümmre die Fenster stürz die Möbel um reiß die Bilder herunter schmeiß mit allem nur möglichen um dich und verwüste alles so gut es geht wie nach einer schrecklichen Explosion oder einem Beben
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EINTRITT FREI
Stelle in einen ausgedienten Schuppen leeren Keller oder eine Garage einen gedeckten Tisch einen Hackklotz in dem ein Beil steckt einen umgestülpten Trog und einen Gänsemastkoben An eine Wand hänge einen Kranz an die zweite ein ausgeweidetes Bild an die dritte einen Mantel an die vierte eine Zeitung am Lesestab
Über den Eingang schreibe EINTRITT FREI
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RÜCKKEHR
Nimm eine Sache die du gefunden oder entwendet hast und tue sie dorthin zurück wo du sie her hast Lauf zum Bahnhof warte die Ankunft eines Zuges ab und geh mit den Reisenden hinaus als wärst du von irgendwo zurückgekehrt
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KÜSSE
Mache jemandem eine Liebeserklärung dann liebt euch Vermerke auf der Reproduktion einer Statue oder eines Aktbildes Ort und Zahl der Küsse die du gegeben und bekommen hast
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WENN
Wenn du von einer Untreue erfährst schreibe einen Liebesbrief zerreiße ihn stecke ihn in eine Flasche und tue dazu in dieser Reihenfolge: sieben Streichholzköpfe eine zerbrochene Rasierklinge einen Ring eine Fahrkarte eine ungültige Banknote ein Stück Wäscheleine Mullbinde Stacheldraht eine Eintrittskarte eine Buchseite Spiegelsplitter einen Sardinenbüchsenschlüssel mit aufgewickeltem Deckel Kaugummi ein Haarknäuel eine ausgedrückte Tube einen Gehaltsstreifen einen Schnuller Autoteilchen ein Stück Schallplatte ein Stück Tonband eine Fotografie mit verliebter Widmung und das so weiter nach deiner Bestimmung
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bis die Flasche voll ist Dann verschließe sie und vergrabe sie auf dem Müllplatz
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WENNWENNWENN
Wenn du ein Unglück siehst mache ein Stranggedicht knüpfe einen Stein daran und wirf es unweit vom Schlachthof ins Wasser
Wenn du auf ein zerstrittenes Liebespaar triffst zerschlage einen Spiegel kaufe ein Buch und wirf es abends im Park weg Wenn du von einem Verbrechen hörst zerbreche drei Messer und tritt sie in die Erde weit draußen im Wald oder in den Feldern
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WAS IMMER DIR EINFÄLLT
Beschrifte mit den verschiedensten Namenszügen die Reproduktion eines Bildes ein Gruppenfoto oder einen Geldschein als handelte es sich um Präsenzoder Zeugenlisten Bekritzle mit den verschiedensten Namenszügen was immer dir einfällt
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HOCHZEITSANZEIGE
Im Gedächtnis in der Geschichte oder in der Literatur ein Liebespaar suchen das starb ohne die Ehe geschlossen zu haben In seinem Namen die Hochzeit anzeigen auf Kärtchen die du drucken läßt und sie an Passanten verteilen am Tage den das Datum deiner Anzeige bestimmt
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MATCH
Mach eine Skizze von dem Weg den der Ball während eines Fußballspiels beschreibt Schreib dazu die Namen der gegnerischen Vereine das Spielergebnis das Datum und die Überschriften der Sportnachrichten
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GRUSS
Geh auf die Straße zieh einen langen Papierschwanz am Mantel hinter dir her ritze die Namen zweier Tiere in einen Baum und verbinde sie durch ein Herz ruf dem Gras einen Gruß übern Zaun und von der Brücke einen Gruß den Fischen aus dem Keller einen Gruß den Dächern aus der Dachluke einen Gruß dem Pflaster und so weiter ganz wie du Lust hast
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NACHTS
Leg dein Ohr auf eine Schiene und lausche lange Auf die andere Schiene leg eine mit Speichel befeuchtete Münze und entferne dich ohne umzuschauen Nachts wenn alles still ist schreibe mit einem Knebel im Mund eine Schmähschrift auf dich selbst ohne etwas zu verschweigen und schicke sie am Morgen deiner Geliebten Mutter Frau oder deinem besten Freund
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SONETT
Nimm einen Roman den du nicht kennst schneide den Buchrücken ab beseitige die Paginierung und mische die Seiten vollkommen durcheinander In dieser Unordnung lies das Buch und schreibe auf vierzehn Zeilen seinen Inhalt
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PARTITUR
Setz dich zuerst eine Aufnahme von vorn dann von rechts dann von links Danach Fingerabdrücke Gewicht Größe Umfang von Hals Brust und Taille Länge von Armen Beinen und Geschlechtsteil Trage alles auf Notenpapier ein wie eine Partitur und setze fort: Namen Wohnsitz Familienstand Geburtsdatum usw. alle bei einem Verhör üblichen Angaben Zuletzt verbinde dir die Augen mit einem Handtuch und trinke aus der Wasserleitung
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T.S.E, ZU EHREN Streiche oder unterstreiche in irgendeiner Zeitschrift die Wörter eines Liedes einer Einleitung eines Gebetes einer Rede einer Proklamierung eines Briefes oder eines Gedichtes
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FRISCH GESTRICHEN
Wähle einen malerischen schwer zugänglichen Aussichtspunkt versperre ihn mit einem Strick und einer der üblichen Anstreicher-Warntafeln: VORSICHT!
FRISCH GESTRICHEN
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VOGELSCHEUCHE
Nagle zwei Latten zu einem Kreuz steck es in einen Ständer zieh ihm ein Hemd an und übers Hemd einen Mantel Als Kopf stülpe einen Topf drauf mit Augenlöchern und als Arme hänge zwei Fliegenfänger dran Die ganze Gestalt schmücke mit klimperndem Zeug und gib ihr im Hause den besten Platz
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ZOLLGEDICHT
Pack deine Koffer mit allem vom Smoking bis zur Zahnbürste als wolltest du eine große Reise antreten Dann lege alles in langer Reihe aus als würdest du eine strenge Zollkontrolle erwarten
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WERK IM ENTSTEHEN
Stelle den Werdegang von sagen wir – Schuhen dar Angefangen bei ihrer fiktiven Existenz in Form von Lederstücken und dem nötigen Kleinmaterial bis zum endgültigen Erzeugnis des fix und fertigen Schuhs
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WAS DU DIR WÜNSCHEN WÜRDEST
Beschreibe die Stelle oder markiere sie auf der Landkarte wo du eine hundert Meter lange Banane niederlegen oder aufrichten möchtest ein ebenso großes Bett oder von gleichen Dimensionen Nadel Zigarettenschachtel Fotoapparat Schlüssel Bügeleisen Meterstab Kanne Birne usw. was du dir wünschen würdest
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HAND
Umfahre deine linke Hand auf festem bedrucktem Papier schneide sie aus steche ein Blindengedicht in die Handfläche und signiere die Rückseite Schiebe die Hand unter der Tür eines Hauses hindurch mit bekritzeltem Verputz das du niemals betreten hast
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TODESANZEIGE
Lasse eine erfundene grüne violette gelbe rote blaue oder weiße Todesanzeige drucken und schicke sie deinen Bekannten Am Tag der Beerdigung ziehe Trauerkleidung an kaufe unterwegs einen Blumenstrauß und lege ihn zur festgesetzten Stunde auf ein vernachlässigtes Grab Den Rest des Tages zieh durch die Stadt und betrinke dich
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FRÜHLINGSGEDICHT
Suche einen Platz wo Kinder Murmel spielen lege in jedes Grübchen eine Pfeife ein kleines Messer eine Münze ein Metallfigürchen oder ein anderes Spielzeug und schütte die Grübchen sorgfältig zu Entferne dich ein Stück rückwärts gehend ein Stück blind ein Stück ein Bein auf dem Randstein das andere auf der Straße ein Stück auf Hacken und Zehenspitzen .............
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KAUF UND LASS LAUFEN
Kauf eine weiße Maus oder eine Eidechse einen Stieglitz ein Meerschweinchen eine Ringelnatter oder ein Eichhörnchen und lasse sie an der Stelle laufen wo jemand ums Leben kam Dann gehe um einen Baum herum um einen Kandelaber eine Ameise ein Auto eine weggeworfene Fahrkarte egal wo herum um so viele Dinge oder Lebewesen jedenfalls als du in deinem Leben verliebt warst
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BERÜHRUNGSPUNKT
Erinnere dich deiner ersten Liebesberührung und nach und nach so wie sie dir widerfuhren wiederhole alle deine Liebeshandlungen Schreibe einen eifersüchtigen Brief und verbrenne ihn Zerreiße deine eigene Fotografie und wirf einen dir geschenkten Gegenstand in den Kanal
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MARSCH
Stelle dich in eine Zimmerecke schließe die Augen zähle bis hundert öffne die Augen und gehe beginne mit dem linken Bein in die gegenüberliegende Ecke so daß dieser Weg ohne daß du dich hinsetzt hinlegst oder die Richtung änderst mindestens eine Stunde dauert Notiere während dieser ganzen Zeit wenigstens in Stichworten alles was dir einfällt oder aus deiner Erinnerung aufsteigt
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NIEMALS MEHR
Steige in eine Straßenbahn oder in einen Omnibus und sei dir des Bebens unter deinen Füßen der Geräusche innen und außen des Lebens um dich herum der Anwesenheit der Anderen genau bewußt denk daran wie oft du so schon gefahren bist wohin woher und mit wem rate was jeder Fahrgast denkt was er ist und was er erlebte was er gern liest und was er träumte irgendwo im Gehirn halte Platz für das was du möchtest daß dir begegnet was dich beunruhigt was du immer vergißt und lausche dabei immer dem Gedanken daran was du machen würdest wenn du wüßtest daß du niemals mehr nach Hause zurückkehrst
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STECKE SCHREIBE INSERIERE
Hinters Fenster steck einen Zettel: Kaufe keine Briefmarken Tausche keine Wohnung Gebe keine Klavierstunden Kein Hund entlaufen ................
Schreib an die Tür: In hundert Jahren zurück Beschäftigte haben keinen Zutritt Bitte stören Verunreinigung wird strafrechtlich nicht verfolgt Auf den Boden spucken Betteln und Hausieren erwünscht ................
Gib ein Inserat auf: Verkaufe Kinderwagen für Achtlinge Suche unintelligenten trinkenden spielenden häßlichen abartigen vorbestraften Mann Entvölkere New York während Sie darauf warten Gratis-Unterricht im An-der-Decke-Laufen ................
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GEDICHT DER STILLE
Lese ein Häufchen Kiesel zusammen und verfasse daraus egal wo Steinchen für Steinchen wie Wort für Wort Reihe auf Reihe wie Vers auf Vers ein anschauliches Gedicht
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ERINNERUNG
Stelle dich mit dem Rücken gegen die Tür dann geh im Zimmer herum dirigiere dabei mit der rechten Hand einen Marsch und mit der linken kratze dich auf allerlei Weise bis du das Haus verläßt Vor dem Eingang verharre eine Weile mit zurückgelegtem Kopf als hättest du Nasenbluten dann gehe auf dem Randstein in die Stadt und zwinkere jedem zu der dich anschaut Vor jedem Lebensmittelgeschäft lüfte den Hut vor einem Ausschank wechsle den Schritt vor dem Konfektionshaus rümpfe die Nase vor dem Schuhgeschäft hinke ein bißchen vor dem Spielzeugladen hüpfe vor einer Telefonzelle halte dir die Ohren zu und so ähnlich weiter bis zum Verdruß
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DREIMAL NICHTS
1. Probier das Märchen aus von der Stadt die ganz mit schwarzem Trauerflor bedeckt ist und verhänge deine ganze Wohnung mit schwarzem Tuch 2. Zeichne mit Kreide die Situation eines Verkehrsunfalls auf den Boden wie es die Verkehrspolizei macht markiere auch die mit Sand zugeschüttete Blutlache 3. Stelle dir Gestalten vor und denk dir für sie Namen aus von Schutzheiligen der Nähmaschinen Traktoren Fernsehapparate Küchenroboter Stechuhren Rechenmaschinen Fördertürme Hochöfen Werkbänke
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LUFTPLASTIK
Stelle dich auf gutbeleuchteten Platz betaste den Luftblock vor dir drehe ihn ein paar Mal herum trete zurück zieh deinen Arbeitsmantel über zünde dir eine Zigarette an schalte das Radio ein nimm das Werkzeug auf und fang an zu hauen Nach einiger Zeit gehe weg und komme mit einem Zahnstocher zwischen den Zähnen und einer Flasche in der Hand zurück und setz deine Arbeit fort Trete etliche Male von der Statue zurück verbessere Details schau plötzlich auf die Uhr lege Hammer und Meißel nieder zünde dir noch eine an gieß dir Wein ein trinke setz dich auf einen Stuhl und betrachte lange wie behext mit dem Glas in der Hand was du gemacht hast
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AUF WIEDERSEHEN
Verschlucke etwas Bitteres streiche deine Hände weiß an und notiere auf Anhieb so viele Wünsche als du Jahre zählst dann nimm ein schwarzes Tuch öffne das Fenster und winke als nähmst du von einer teuren Person Abschied
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ENDE GUT ALLES GUT
Notiere wenigstens mit einem Wort was du von mir denkst:
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IV. Bildgedichte 1962-1970
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Nachwort
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Für die Gewichtsverlagerung von der verbalen zur visuellen Äußerung, wie sie sich heute überall beobachten läßt, sind Werk und Theorie von Jiří Kolář ein Paradebeispiel. Kolář wechselte innerhalb von zehn Jahren, nämlich etwa von 1955 bis 1965, vom tradierten Typus des Prosagedichtes über verschiedene literarische Reduktionsformen zur bildnerischen Collage über. Diese Collagen sind heute in Ausstellungen auf der ganzen Welt zu sehen, doch ist wenig bekannt, daß Kolář jahrzehntelang geschrieben hat (er veröffentlichte mehr als zehn Bücher in der Tschechoslowakei) und daß die Collage für ihn die persönliche Konsequenz eines bewußten Verzichts auf literarische Tätigkeit überhaupt ist. Kolář wurde 1914 im südböhmischen Protivín geboren und verbrachte seine Jugend in der Bergwerks- und Hüttenstadt Kladno. Er wechselte mehrmals den Beruf, war Tischler, Hilfsarbeiter und Kellner. Als er Mitte der dreißiger Jahre zu schreiben begann, wandte sich eine zweite tschechische Surrealisten-Generation gegen ihre ästhetizistischen, orthodoxen Vorgänger. Dem »fast biederen Rokoko-Surrealismus« (Alexej Kusák) eines Nezval stellten die Jungen eine plebejische Optik gegenüber, eine Kunst für den Alltag, eine Kunst der großen Städte. Kolář, der sich 1942 mit den anderen Künstlern dieser Generation in der »Gruppe 42« zusammenschloß, suchte das Material seiner Poesie in dem was er »städtische Folklore« nannte, in Zeitungen, Groschenheften, im Prager Slang und anderen Zivilisationsblüten. Die einzelnen Elemente seiner Dichtung, ob es sich nun um Privates oder
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öffentliches, um Politisches oder Poetisches, um Schönes oder Häßliches, um Alltägliches oder Absurdes handelte, stellte er ohne Rücksicht auf Konvention und ohne ihnen einen hierarchischen Stellenwert zu geben brüsk nebeneinander - das war das Prinzip des Surrealismus und das wurde auch zum Prinzip seiner späteren Collagen. Der schwarze Humor, der aus der extremen Beziehungslosigkeit der heterogenen Bestandteile und ihrem Verhangensein im artifiziellen (und realen!) Verband entspringt, gibt Susan Sontag recht, die vermutet, daß der Surrealismus die äußerste Konsequenz der Idee der Komödie ist, die den ganzen Bereich vom Witz bis zum Schrecken einbezieht. Die Gedichte der Jahre 1954 bis 1957 sind die letzten von Kolář, die der surrealistischen Tradition im engeren Sinne zugehören. Unsere Auswahl ist dem 1966 in Prag erschienenen Band »Vršovický Ezop« (Wrschowitzer Äsop) entnommen. Um 1960 begnügte sich Kolář nicht mehr damit, die disparaten Vorstellungspartikel im diskursiven Duktus formal konventioneller Prosagedichte einander nahe zu bringen (der alles assimilierenden Sprache einverleibt verloren sie Kontrast und Schärfe), sondern er trieb die Vereinzelung bis in das darstellende Substrat, in Grammatik, Syntax und Typographie. Die Realität sollte nicht mehr literarisch gestaltet, sondern aus Elementarteilen sollten abgeschlossene ästhetische Gebilde geschaffen werden, die sich nicht interpretieren ließen, wenn nicht durch ihre nochmalige Perzeption, welche, über den gewohnten linearen Lesevorgang hinaus, auch andere »Lesemöglichkeiten« einschloß, bis hin zur taktilen Wahrnehmung. Kolář war mit diesen Versuchen, wie mit ihm gleichzei-
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tig Literaten in den verschiedensten Ländern, zur konkreten und visuellen Poesie gelangt. Seine eigene Spielart, von ihm »evidente Poesie« genannt, schloß neben den aus Schreibmaschinentypen zusammengesetzten Poemen von vorneherein asemantische und taktil-griffige Tafeln und Objekte mit ein. Es ist die Zeit, in der Kolář, der 1938 schon einmal Collagen im Mozarteum in Prag ausgestellt hatte, seine Produktion von Collagen in Gang bringt, die von dann an nicht mehr abbricht. Die Beispiele visueller und anderer konstruktiver Poesie, die in Teil II zusammengestellt sind, entstammen Manuskripten, die teilweise auch in der ČSSR noch nicht veröffentlicht sind. Dem Dilemma, daß auch die nur auf sich selbst reflektierende, dem Kulturkonsum sich zumindest damals widersetzende experimentierende Dichtung der Abnutzung und der Verdinglichung anheimfällt, gerade, weil sie gegenüber einer sprachlosen Außenwelt nicht transparent ist, hat auch Kolář sich nicht entziehen können. Gleichsam als Affront gegen jede Art von Schreiben hat er in den Jahren 1962 bis 1965 seine Gebrauchsanweisungen entworfen. Diese in fast schludriger Sprache hingeschriebenen Anweisungen sollen nichts anderes sein als Stimulanzien, die eigene Person und die Umwelt neu und anders wahrzunehmen. Worauf es jetzt ankam, lag außerhalb der notgedrungen gedruckt vorliegenden Formulierung: der Angesprochene wäre auch durch ein optisches oder akustisches Signal zu stimulieren. Nach dem Muster der Vorschläge, die praktisch, zumindest aber gedanklich nachvollzogen werden sollen, können eigene Erfindungen und Entdeckungen gemacht werden. Kolář versteht diese Texte als »destatisch«, während er selbst
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das aggressivste Vietnam-Gedicht als statisch empfände. Vietnam-Gedichte, so sagte er, geschehen in Vietnam. Was Kunst noch zu leisten vermag, ist die Auf schließung neuer Erfahrungsbereiche, ist die Einübung differenzierter Wahrnehmungstechniken. Es fällt auf, daß die »Gebrauchsanweisungen« zu einer Zeit entstanden, zu der das happening in Europa eingeführt wurde, ja, einige von ihnen muten geradezu wie Anleitungen zu kleinen, privaten happenings an. Auch der Environment-Gedanke ist im Kern vorhanden: die neue Wahrnehmung findet in einem durch geringe Verschiebung von Perspektive und Funktion veränderten »Raum« statt. Was aber das Detail betrifft: erinnern nicht Gänsemastkoben und Hackbeil im eintrittfreien Raum an Lautréamonts Nähmaschine und Regenschirm auf dem Seziertisch? Womit die Beziehung zwischen happening und Surrealismus angedeutet und auf das unterschwellige Fortwirken des Surrealismus im Werke von Kolář verwiesen sein soll. Mit den Gebrauchsanweisungen, die 1969 in Prag tschechisch erschienen und im vorliegenden Band vollständig enthalten sind, sieht Kolář seine schriftstellerische Arbeit als beendet an. Er produziert seither nurmehr Collagen. Ihre Herkunft vom geschriebenen oder gedruckten Wort verrät sich noch heute darin, daß ein guter Teil der Collagen aus zerschnittenen oder zerrissenen Schriftstücken zusammengesetzt ist. Als Ausgangsmaterial hierfür verwendet Kolář gerne hochsystematisierte Gebrauchsbücher, wie Lexika, Adreß-, Telefon- und Kursbücher. Die bis zur Absurdität gesteigerte »Diskursivität« eines solchen Werkes, in dem der Herstellungs- bzw. Handhabungsvorgang sich vom Anfang des Systems (also etwa des
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Alphabets) mit unumstößlicher Präzision bis zu seinem Ende vorwärtsbewegt, und alles, selbst das Widersprüchlichste, in sich aufsaugt und an unverrückbarer Stelle plaziert, ist von großer Anfälligkeit für Störungen. Strengste Ordnung gerät durch die zergliedernde Hand des Künstlers zu größtem Chaos. Aus dem Widerspruch des ehemaligen autoritären, eindimensionalen Sinnzusammenhangs und der mehrdimensionalen Neuordnung der von ihm übriggebliebenen Trümmer, resultiert in der Collage ein Synthetisches, das die »falsch« zusammengesetzten Fragmente mehr sein läßt, als es ihre ungebrochene Ganzheit war.
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INHALT
I. Aus dem Nachlaß des Herrn A. 1954-1957 Erfindung der Zerstörung 7 Gebrauchsanweisung 9 Hökerin und Göttin 12 Das sprechende Bild 15 Marco Polo an Herrn A. 17 Die nackte Wahrheit 21 Nach Leonardo: »An einen unbekannten Adressaten« 23
II. Gedichte der Stille 1960-1961 Tropfen 31 Wolke der Abkürzungen 32 Fontána 33 Kupka 34 Brancusi 35 Odyssee 36 Fakt 37 Gedicht der Stille 38 Gedicht der Stille 39 Echoporträt 40 Thermometerporträt 41 Vers 42 Huldigung an Klee 43 Tage 44 Papyrus 45 Revolution der Buchstaben 46 Suppe für Hungrige 47 Für die einen 48 Für die anderen 49
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Poetage 50 Poetage 2 51 Poetage 3 52 Vergleiche mit deinen Erinnerungen 53 Vergleiche mit dir selbst 54 Kette 56 Erinnerung 57 Es dreht sich dreht 59 Abendessen 61 Warum Bäume nicht fliegen 63 Spielespiel 65 Irgend Gesang 67 Um 17 Uhr 70 Sagen oder Nichtsagen 76
III. Gebrauchsanweisungen 1963—1965 Namen 81 Wo ist er? 82 Wer kann es sein? 83 Niemand jemals 84 Huldigung allen Fliegen, Spinnen, Fischen, Mäusen und Hunden 85 Vorjähriger Schnee 86 Kolumbus zu Ehren 87 Ich störe 88 Lippen 89 Brief 90 Fis di 91 Chemische Formel 92 Reise 93 Tanz 94 Mit dem Gesicht zur Wand 95 Hausmuseum 96 Gedicht ohne Bild 97
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Standbild 98 Amnestie 99 Nach dem Beben 100 Eintritt frei 101 Rückkehr 102 Küsse 103 Wenn 104 Wennwennwenn 106 Was immer dir einfällt 107 Hochzeitsanzeige 108 Match 109 Gruß 110 Nachts 111 Sonett 112 Partitur 113 T. S. E. zu Ehren 114 Frisch gestrichen 115 Vogelscheuche 116 Zoll gedieht 117 Werk im Entstehen 118 Was du dir wünschen würdest 119 Hand 120 Todesanzeige 121 Frühlingsgedicht 122 Kauf und laß laufen 123 Berührungspunkt 124 Marsch 125 Niemals mehr 126 Stecke schreibe inseriere 127 Gedicht der Stille 128 Erinnerung 129 Dreimal nichts 130 Luftplastik 131 Auf Wiedersehen 132 Ende gut alles gut 133
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IV. Bildgedichte Schmetterlinge 137 Porträt 138 Cvokogramm 139 Venus 140 Evidentes Gedicht 142 Verlorene Venus 143 Bunte Kuh 144 Cvokogramm 145 Destruiertes Gedicht 146 Nachwort 147
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