Das Unendliche Land - Erstes Buch
Das Unendliche Land - Erstes Buch von Ernst Hamman
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Das Unendliche Land - Erstes Buch
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Erstes Buch: Die vier Prinzessinnen Prinzessin Alessandra stand auf der höchsten Zinne des Weißen Palastes. Es war Frühling des Jahres 1242. Ein kalter morgendlicher Windstoß fuhr durch ihre kostbaren Kleider und ließ sie frösteln. Sie war noch sehr jung, fast noch ein verträumtes Mädchen, und sie sehnte sich in die unbekannte Zauberwelt der himmelhohen Berge, die sie von hier oben aus schemenhaft am nordwestlichen Horizont erkennen konnte. Dort lag das Schwarze Königreich, das drohende, unzugängliche Gebirge, das von seinem Herrscher das Unendliche Land genannt wurde. So viele unheimliche Geschichten erzählte man sich über dieses Land und seinen König. Unvorstellbar grausam sollte er sein, schlimmer noch als Tartanos, der vor vielen Generationen die Welt entvölkert hatte. Doch noch nie hatte Alessandra jemanden getroffen, der darüber aus eigener Erfahrung hätte berichten können. Waren das alles nur Lügen, mit denen die Mütter im Weißen Königreich ihren Kindern Angst machen wollten, wenn sie nicht brav waren? Oder stimmte vielleicht das Gerücht, daß er alle seine Untertanen getötet und aufgefressen hatte? Alessandra war die zweitjüngste der vier Töchter von König Heinrich, den man meist den Weißen König nannte. Sie seufzte leise und hoffte, der Wind möge ihre Gedanken und Hoffnungen irgendwohin tragen, wo sie jemand hören würde. Das Land zu ihren Füßen war reich und verwöhnt. Die Böden waren fruchtbar, das Klima warm, und so hatte seit langer Zeit niemand mehr ernstlich Hunger leiden müssen. Ihr Vater war in zahllosen Schlachten und Kriegen erfolgreich gewesen und hatte jedem Feind die Stirn geboten. Doch jetzt war er alt und der Opfer, die es gekostet hatte, müde, und man erzählte sich, daß er seine vier Töchter an die Fürsten der Nachbarreiche verheiraten wollte, um einen dauerhaften Frieden zu besiegeln. Alessandra dachte mit Schaudern daran, auf diese Weise an einen Unbekannten verschachert zu werden. Wieder schweiften ihre Gedanken zum Unendliche Land, das für sie zum Symbol für Freiheit geworden war. Warum trug es diesen seltsamen Namen, wo es doch viel kleiner war als etwa das Weiße Königreich? Und warum war von dort aus seit Menschengedenken eigentlich nie ein Angriff auf ihr Reich erfolgt? Wenn der Schwarze König wirklich so grausam war ... sie wußte, eines Tages, vielleicht schon sehr bald, würde sie vor ihm stehen und ihn fragen. Sie war schon oft aus dem Palast ausgerissen, geflohen vor den Sticheleien und kleinen Intrigen ihrer Schwestern und dem Unverständnis, das der Palast ihr entgegenbrachte. Sie war wild, eine Reiterin und Kriegerin, und das gehörte sich schließlich nicht für eine zarte, schöne Prinzessin. Niemand hatte sie je wirklich schlecht behandelt, im Gegenteil. Vor allem ihr Vater versuchte, Verständnis und Liebe für sie aufzubringen, doch da draußen, allein auf dem Rücken eines dahinfliegenden Pferdes, fühlte sie sich um so vieles wohler und freier. Die Etikette am Hof kam ihr abwechselnd drückend und lächerlich vor, und sie versuchte ihr zu entfliehen, wann immer sich eine Gelegenheit dazu bot. Ihre Hand strich über ihren weiten Reifrock, und ein Lächeln stahl sich auf ihre vollen Lippen, als sie den Knauf des Schwertes fühlte, das sie unter dem Rock trug. Wenn das ihre Zofe gewußt hätte! Und ihr Schwert war alles andere als ein Spielzeug. »Oh, Goldene Königin!«, rief sie in den blauen Himmel, »welches ist mein Weg. Was soll ich tun?« Ihre Mutter, die schon vor vielen Jahren gestorben war, hatte ihr und ihren Schwestern oft die Legende von der Goldenen Königin erzählt, die eines Tages herabsteigen und die Menschen erlösen würde. Die
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Bewohner des Weißen Landes waren wohlhabend und satt, aber dennoch - hatte nicht im Grunde jeder irgendwo einen geheimen Wunsch, dessen Erfüllung er herbeisehnte?
1. Teil - Erstes Kapitel - Das Turnier »Hast Du schon gehört, Ornella?« »Was, Schwester?« »Vater möchte uns endlich unter die Haube bringen. Er hat Boten in alle Fürstentümer und Königreiche gesandt, um die tapfersten Prinzen zu finden. Ach, Schwester, ist das nicht aufregend?« Ornella, die älteste der vier Prinzessinnen, schüttelte unwillig ihren Kopf. Ihre dicken schwarzen Zöpfe flogen dabei heftig umher. »Sei doch nicht so kindisch.« Ihre Stimme bekam den üblichen, leicht ironischen Tonfall, mit dem sie mit ihrer jüngsten Schwester zu reden pflegte. »Meine kleine Simona. Du benimmst dich wie ein kleines Mädchen. Aber du bist ja auch noch eins, hi hi.« »Was!«, rief die jüngste der Prinzessinnen in gespielter Empörung. »Ich bin schon 16 Jahre alt.« Und schnippisch fügte sie hinzu: »Noch jung genug fürs Heiraten.« »Oh, Du! Und außerdem bist Du erst 15, wenn mich nicht alles täuscht!« Ornella schnappte sich ein Kissen und warf es nach ihrer Schwester, doch die wich spielerisch aus. »Fang mich doch, wenn du kannst! Na los, fang mich!« Sie stürzte nach dem Kissen, riß es empor und warf es zurück. Mit einer gleichgültigen Geste fing Ornella es wieder auf. Wahrhaftig, mit ihren 22 Jahren war sie doch schon viel zu alt für solche Streiche. Daß sie selbst damit angefangen hatte, störte sie dabei nicht. Mit einer eleganten Bewegung erhob sie sich von der Liege, strich ihren samtenen, reich verzierten Rock glatt und schritt leichtfüßig über den Mosaikboden, dessen abstrakte, verwinkelte Muster immer schon die Phantasie der vier Mädchen beschäftigt hatte. »Ornella! Warte, wohin willst du denn so schnell?« »Zum Majordomus, Dummchen. Wenn einer etwas weiß, dann Vaters rechte Hand.« Sie spürte die bewundernden Blicke Simonas in ihrem Rücken, als sie zu dem großen Holzportal schritt, das den Thronsaal von der riesigen Vorhalle trennte, auf deren anderer Seite es zu den
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Regierungsräumen ging, dem Reich Adalberts. Adalbert, der Majordomus des Weißen Reiches, war ein alter, kluger und herzensguter Mann, der die vier Prinzessinnen über alles liebte, obwohl er die Schwächen einer jeden von ihnen genau kannte: den Ehrgeiz Ornellas, Olivias Leichtfertigkeit, die Verschlossenheit Alessandras und den unbekümmerten Leichtsinn Simonas. Mit dem üblichen und unvermeidlichen Quietschen öffnete sich das Portal. Wie oft schon hatte Adalbert die Zimmerleute damit beauftragt, die Zapfen einzuschmieren. Doch genutzt hatte es nie. Und wie oft schon hatten sich die Prinzessinnen heimlich des Nachts in den Thronsaal schleichen wollen und versucht, das Portal ganz langsam und leise zu öffnen. Doch es hatte sie jedesmal verraten. Nur Alessandra kannte, so erzählten sich die Soldaten der Nachtwache, das Geheimnis, das Portal lautlos zu öffnen. Überhaupt: Alessandra, die Geheimnisvolle. Sie ließ niemanden wirklich an sich heran. Nur ihrer Erzieherin hatte sie vertraut, aber die war vor fünf Jahre gestorben. Überall konnte man der jungen Prinzessin begegnen, meist an Plätzen, an denen sich Prinzessinnen normalerweise nicht aufzuhalten pflegten: in den Ställen oder in der Küche, wo sie manchmal die Gänse vor dem Kochtopf rettete. Oder Gott bewahre - beim Waffenschmied! Kraftvoll, fast wütend, stemmte Ornella das schwere Portal auf, doch kaum war sie draußen, veränderte sich ihre Haltung unter den Augen der Soldaten und Beamten, die immer irgend etwas in der Vorhalle zu tun hatten. Mit geschmeidigen Bewegungen schwebte sie hinüber zu dem anderen Treppenaufgang, und Simona folgte ihr wie ein junger, verspielter Hund seinem Herrchen. Mit einem entrückten Lächeln folgen die Blicke der Diener und Beamten der ältesten Prinzessin. Sie war wunderschön, unerreichbar für jeden von ihnen, eine echte zukünftige Königin. Ornella würdigte die Beamten keines Blickes und lief flink die Treppe hinauf. Doch als sie Adalbert sah, das verwandelte sich ihr arrogant schmollender Mund in ein strahlendes Lächeln. Der gute alte Onkel Adalbert - was wären sie alle ohne ihn? »Na, Prinzessin Ornella, und die kleine Simona!« Adalberts faltiger Mund verzog sich zu einem warmen Lächeln. »Onkel Adalbert, stimmt es, daß Vater Boten überall ins Reich ausgesandt hat, um Prinzen einzuladen, die uns heiraten sollen?«, fragte Simona etwas außer Atem. Ornella ließ ihrer Schwester den Vortritt bei der Informationsbeschaffung, schließlich wollte sie ja nicht als neugierig dastehen. »Ja, und nicht nur in unser Reich, auch noch viel weiter, in das Reich Karls, das Große Reich im Osten, das Blaue Land, und in viele kleine Fürstentümer und Grafschaften. Niemand kennt sie wirklich alle, aber alle werden kommen, um um Eure Hand anzuhalten. Sogar die Imperatrice von der Sonneninsel hat ihr Kommen angesagt. Es wird das größte gesellschaftliche Ereignis seit Jahrzehnten!« »Will die alte Schachtel von der Sonneninsel etwa eine von uns heiraten?«, platzte Simona heraus, doch dann errötete sie unter dem strafenden Blick Ornellas. Adalbert sah auch die Erregung und gespannte Erwartung Ornellas auf dieses Ereignis, obwohl sie ihre Gefühle gut zu verbergen wußte. Aber er kannte sie viel zu lange. Ein warmes Lächeln überzog erneut seine Lippen, ein Lächeln, daß tief aus seinem
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Herzen kam. Und ebenso wurde es erwidert, denn die vier Prinzessinnen liebten und verehrten ihn zutiefst. »In wenigen Wochen schon ist es soweit. Es wird ein Turnier geben. Nur die vier Stärksten und Tapfersten werden euch heiraten dürfen!«, verkundete er salbungsvoll. Dann seufzte er. »Vielleicht geht ihr dann fort und ...« »Nein!«, unterbrach Simona ihn erschrocken. »Wir bleiben für immer hier.« Sie sah Ornella auffordern an: »Komm, wir erzählen es Olivia und Alessandra.« * »Was will unser Vater tun?« rief Alessandra ungläubig, als Simona in ihrem Gemach erschien und ihr von dem berichtete, was Adalbert ihr bestätigt hatte. Die Gerüchte stimmten also! Lautlos war Ornella ihr gefolgt. Nun warf sie ihrer zweitjüngsten Schwester einen fast verächtlichen Blick zu. »Spiel doch nicht die kleine Unschuld! Wir wissen es doch schon seit Monaten. Alle wissen es.« »Ich konnte es nicht glauben«, erwiderte Alessandra entrüstet. »Und ich will es nicht glauben. Er kann uns doch nicht wie auf einem Viehmarkt an den Meistbietenden verkaufen.« »Was weißt Du schon vom Heiraten, Pferdchen?« Ornella hatte Alessandra schon vor vielen Jahren, als beide noch klein waren, diese Spitznamen gegeben, weil sie schon damals so gut reiten konnte. Wenn das verschlossene Mädchen Kummer hatte, dann schwang es sich aufs Pferd und kehrte manches Mal tagelang nicht zurück. Oft schon hatte der König sie suchen lassen und sie nach ihrer Rückkehr für's Ausreißen bestraft. Erreicht hatte er damit natürlich gar nichts. Und wo sie sich dabei immer herumtrieb, das hatte auch nie einer herausgefunden. »Ich heirate nie!« rief Alessandra trotzig. »Aber warum denn nicht?«, fragte Simona mit schüchterner Stimme. »Weil mich sowieso niemand liebt«, erwiderte sie trotzig. Sie sprang auf und lief auf die Tür zu. »Wohin willst Du denn?« »Zu Vater. Ich... er kann das nicht tun.« »Aber willst Du denn nicht,« rief Simona ihr nach, »daß Dein Gemahl einst König wird?« Ornella gab ihr einen Rippenstoß. »Still. Das versteht sie doch sowieso nicht.« »Ich verstehe es sehr gut«, rief Alessandra erregt zurück. »Du würdest doch alles tun, daß Dein Mann der neue Weiße König wird, Ornella!« Mit diesen Worten rannte sie hinaus. Sie lief aber nicht zu den Gemächern ihres Vaters, sondern hinab in die Stallungen. Simona und Ornella schauten ihr nach, traurig
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die eine, zufrieden die andere. * In gestrecktem Galopp jagte Alessandra aus dem Schloß hinaus und die Rampe herab, die den Burggraben überspannte, und durch das Wachhaus hinaus auf den Weg, die in den inneren, von einer mächtigen Mauer umgebenen Teil der Hauptstadt führte. Die Hufe ihrer goldbraunen Vollblutstute flogen über den Boden, und wenn zu dieser Stunde gerade Markt gewesen wäre, dann hätten einige Leute sich sehr schnell in Sicherheit bringen müssen. So aber stoben nur ein paar schnatternde Gänse davon, um sich gleich wieder zu beruhigen und dem davongaloppierenden Pferd neugierig nachzusehen. Oben aber, auf einer der Zinnen des Weißen Schlosses, stand König Heinrich und sah seiner Tochter traurig und kopfschüttelnd nach. Was mochte nur in ihrem Kopf vorgehen? Lange blickte er herab und seufzte dabei leise. Ornella und Simona traten an seine Seite, schweigend, aber er bemerkte ihre Anwesenheit dennoch. »Herr Vater«, begann die Älteste, »wollt Ihr wirklich zulassen, daß Pferdchen nach der Hochzeit Königin werden soll?« Der König drehte sich langsam um. Immer noch sah er das goldbraune Pferd und darauf seine Tochter, deren langes, kastanienbraunes Haar ihr wild um den Kopf wirbelte, vor seinem inneren Auge, obwohl sie inzwischen längst seinen Blicken entschwunden war. Lange und intensiv musterte er seine älteste Tochter, und es war Ornella anzusehen, daß sie sich unter diesem strengen Blick nicht sehr behaglich fühlte. »Ich liebe alle meine Töchter gleich. Und wer von euch Königin wird, ist noch nicht entschieden. Und jetzt will ich nichts mehr davon hören!« Ornella zog sich schmollend zurück, und Simona folgte ihr, wie immer. Der König seufzte. Er mußte einen Entschluß fassen. Lange, zu lange, hatte er seinen Töchtern ihren Willen gelassen, aber nun, wo es ans Heiraten ging und vielleicht die Existenz des Reiches auf dem Spiel stand, konnte und durfte er keine Rücksicht mehr nehmen. Entschlossen wandte er sich um, stapfte die Wendeltreppe hinab, und begab sich in die Vorhalle. Dort ließ er den Rittmeister antreten. * Hinter Alessandra bleib das Weiße Schloß zurück. Sie hatte nie einen Blick gehabt für die strahlende Pracht dieses wuchtigen und zugleich prunkvollen Gebäudes, dessen leuchtend weiße Marmormauern und -türme unter allen Schlössern der großen Herrscher nicht ihresgleichen hatten. Wenn sie aus dem Schloß floh, hatte sie es stets im Rücken, und wenn sie zurückkehrte, dann meist mit gesenktem Kopf und einer Eskorte, so daß sie andere Dinge im Kopf hatte, als die Pracht zu bewundern, die ihr Ururgroßvater vor vielen, vielen Jahren hatte erbauen lassen. Schon damals war das weiße Königreich sehr wohlhabend gewesen. Schwalbe, ihre Stute und das schnellste Pferd im ganzen großen königlichen Stall, fühlte genau die Stimmung ihrer Herrin, und flog nur so über die Straßen und Felder. Querfeldein ging der pfeilschnelle
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Ritt, und wenn Schwalbe einen breiten Bach übersprungen hatte, dann warf sie übermütig den Kopf nach hinten, wieherte begeistert und galoppierte noch schneller weiter, immer weiter, nach Nordwesten, weg vom Weißen Schloß, dem Herzen des Reiches. Vorbei ging es an blühenden Feldern, an fetten Schaf- und Rinderherden, an kleinen, sauberen Dörfchen und Weilern, an kristallklaren Seen, an denen Menschen mit Netzen Fische fingen. Die größten dieser Fische, daß wußte die Prinzessin, gingen direkt in die königliche Küche. Die Bauern, Hirten, Fischer, die Kinder auf den Gassen, blickten der jungen Prinzessin lange nach, wenn sie an ihnen vorbeigaloppierte. Sie wußten, daß die anmutige junge Frau oft aus dem Schloß floh, und schüttelten verständnislos die Köpfe. Wenn einer in so einem märchenhaften Schloß bei einem so gütigen König wohnen durfte, wie konnte er dann den Wunsch verspüren zu fliehen? »Da seht, die junge Prinzessin.« »Ja, ist sie nicht undankbar? Ihr Vater ist so ein gütiger Mensch.« »Aber sie war ja schon immer etwas seltsam.« Das war es, was die Leute hinter ihr her sprachen. Doch Alessandra kümmerte es nicht. Sie war es gewohnt, von niemandem verstanden zu werden. In ihren Augen hatte es auch noch niemand wirklich versucht. Vielleicht zog es sie deshalb nach Nordwesten, zum Schwarzen Königreich, dem geheinmisvollen Unendliche Land. In ihrer Phantasie war es ein Zauberreich, in dem sie eines Tages ... was genau, wußte sie auch nicht, aber wenn sie aus dem Palast ausrückte, dann meist in diese Richtung. Bisher hatte sie noch nie die Grenze erreicht, geschweige denn überschritten, doch auf ihren vielen Ritten war sie oft schon nahe an das Unendliche Land herangekommen. Sie wußte, daß sie es merken würde, wenn sie dort war. Denn je näher sie auf ihrem Ritt dem Schwarzen Land kam, umso unwirtlicher wurde die Landschaft, die sie durchritt. Das Gelände stieg langsam an und es wurde kälter. Die Bauern hier mußten härter für ihr Auskommen arbeiten als die im Süden und Osten des Weißen Reiches, es regnete unregelmäßiger, der Boden wurde unfruchtbarer, die Dörfer und Gehöfte seltener. Auf der Karte, die im Arbeitszimmer Adalberts hing, war die Grenze zwischen dem Weißen und dem Schwarzen Reich eine sauber gezeichnete Linie, aber in Wahrheit lag dazwischen ein Streifen Niemandsland, in dem schon lange keiner mehr wohnte - außer vielleicht ein paar Räuber und Gnome - und den auch niemand wollte. Und so ritt die junge Prinzessin dahin. Langsam senkte sich die Abenddämmerung herab. Hier, einen guten Tagesritt vom Weißen Schloß entfernt, war das Land bereits hügelig, und seltsamerweise dauerte die Dämmerung hier viel länger als Zuhause. Die tiefstehende Sonne blendete die junge Frau und ließ ihr Haar wie dunkelrotes Feuer aufleuchten. Längst schon ließ sie Schwalbe nicht mehr galoppieren, und nun verlangsamte sie das Tempo abermals. Sie kannte die Gegend. Nicht weit entfernt stand ein verlassenes, schon halb eingefallenes Häuschen. Wer hier früher einmal gewohnt hatte, wußte sie nicht, aber es war nicht das erste Mal, daß sie hier übernachtete. Es war Anfang Mai und auch Nachts schon recht warm - immerhin hatte sie hier auch mache Winternacht verbringen müssen, fast ohne Proviant meistens. Doch inzwischen hatte sie gelernt,
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und hatte stets einen Notvorrat dabei. »Eine richtige Vagabundin bin ich geworden«, sagte sie schmunzelnd zu sich selbst. Sie stieg ab. Schwalbe schritt neben ihr her, und sie liebkoste ihr Pferd und streichelte Schwalbes Hals. Manchmal meinte sie, die Tiere seien ihre einzigen wahren Freunde. Sie konnten ihre Gefühle nicht verbergen und hatten nie Hintergedanken - ganz anders als die Menschen, die mit allem, was sie taten, immer etwas bezwecken wollten. »Dort, hinter der Biegung - da ist es«, flüsterte sie Schwalbe zu und wies auf die riesige, alte Erle, die die Wegbiegung markierte. Der Weg, auf dem sie schritten, wurde kaum noch benutzt. Früher war er gepflastert gewesen, aber im Laufe der Zeit waren die meisten Pflastersteine verschwunden. Der sandige, helle Boden war wieder zum Vorschein gekommen und federte nun angenehm unter ihren Schritten. Das Haus, eigentlich war es nur noch eine Ruine, stand noch genauso unberührt, wie sie es beim letzten Mal verlassen hatte. Wie lange war das nun her? Sie erinnerte sich nicht mehr so genau. Am Hof lief immer alles seinen gewohnten Gang und man verlor allmählich das Zeitgefühl. Eine tiefe Traurigkeit überkam die junge Prinzessin, als sie an ihre Schwestern und ihren Vater dachte. Warum konnte sie nicht genauso dazugehören? Warum war sie anders, warum konnte sie niemand verstehen? Schwalbe spürte die Niedergeschlagenheit ihrer Herrin und stupste sie aufmunternd an, und das brachte sie tatsächlich in eine bessere Stimmung. Sie umarmte den Hals ihres großen Pferdes. »Du bist wirklich meine beste Freundin.« Kurz darauf stand sie vor dem halb heruntergebrochenen Eingang, während Schwalbe sich draußen selbst Futter suchte. In der Umgebung gab es genug davon. Später würde sie dann wieder zu ihr in die Hütte kommen, und sie würden gemeinsam, eng aneinandergekuschelt und sich gegenseitig wärmend, die Nacht verbringen. Sie trat ungehindert ein - eine Tür gab es schon lange nicht mehr - und sah sich um. Offenbar war niemand hier gewesen seit ihrem letzten Besuch. Aus ihrer Tasche holte sie etwas zu Essen und ihre Wasserflasche. Damit bereitete sie sich ein ziemlich unkönigliches, aber durchaus sättigendes Abendessen. Dann steckte sie sich auf dem Heu aus und döste ein. Nur als Schwalbe hereinkam und sich zu ihr legte, wachte sie noch mal kurz auf. * Es war fast noch dunkel, als Alessandra erwachte. Sie schlug die Decke beiseite, dann kroch sie leise von Schwalbe weg, stand auf und ging zu dem kleinen Bach, der einige Meter hinter dem verlassenen Haus murmelnd dahinfloß. Dichter Nebel stand über der zugewucherten Wiese, und im Wald, der gleich hinter dem Bach begann, herrschte noch tiefe Finsternis. Alessandra fröstelte ein wenig. Doch dann verscheuchte sie alle unerfreulichen Gedanken. Sie füllte ihre Feldflasche und trank. Das Wasser war kalt und erfrischend, es schmeckte viel besser als das Brunnenwasser, das man bei Hofe bekam.
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Erschrocken blickte sie auf, als sie ein raschelndes Geräusch am Waldrand hörte, aber es war nur ein Hase, der noch etwas verschlafen nach seinem Frühstück suchte. Etwas verstohlen blickte Alessandra sich um. Sie wußte, daß außer ein paar Tieren niemand hier war - wahrscheinlich seit Jahren nicht hiergewesen war. Und doch ... Langsam, Stück für Stück, zog sie ihre Kleider aus und legte sie sorgfältig ins hohe Gras. Und dann sprang sie entschlossen in den Bach. Das eiskalte Wasser schien ihre Haut aufzuspießen, aber nur für einen Augenblick, dann fühlte es sich herrlich erfrischend an. Alessandra wusch sich gründlich, nur ihre Haare ließ sie trocken. Dann stieg sie wieder ans Ufer. Wie eine weiße Elfe schien ihr makelloser Körper über dem Gras und den Farnen zu schweben. Alessandra schloß die Augen und ließ sich von den ersten Strahlen der Morgensonne langsam trocknen. Kurz darauf erschien Schwalbe neben ihr und stillte ihren Durst. »Heute, meine Freundin«, sagte Alessandra entschlossen, »werden wir es tun. Ja! Heute werden wir die Grenze überschreiten.« Es war ihr, als blicke Schwalbe sie mißbilligend an. Doch sie spürte eine überwältigende Neugier und Zuversicht. Das Schwarze Königreich! Es war so geheimnisvoll. Vielleicht gab es dort Dinge, die sie bei sich nie finden konnte. Vielleicht fand sie dort, was sie immer gesucht hatte, was auch immer es war. Die Prinzessin war jedenfalls zum Äußersten entschlossen. Mochte es so gefährlich sein, wie es wollte. Sie ritt bis Mittag, dann stieß sie auf einen Hof. Es war niemand da, aber er war nicht verlassen. Die Bewohner waren wohl auf dem Feld. Alessandra klopfte an die Tür und trat schließlich ein, als sich auch auf ihr Rufen hin niemand meldete. »Hallo?« Immer noch antwortete keiner. Sie ging wieder hinaus zum Brunnen und schöpfte Wasser für sich und Schwalbe. »He, Ihr!« Sie hatte niemanden kommen hören. Doch nun trat ein kräftiger junger Mann hinter dem Haus hervor. In seiner Hand hatte er eine Heugabel, die, wenn es sein mußte, eine gefährliche Waffe abgab. Doch als er die junge Frau sah, ließ er sie wieder sinken und lehnte sie dann an die Wand. »Wer seid Ihr?«, fragte er neugierig. »Ich bin Prinzessin Alessandra, die Tochter des Königs.« Der Bauer zeigte sich wenig beeindruckt. Vielleicht glaubte er ihr auch nicht. Schweigend blickte er die Prinzessin an. »Sag, lebst Du allein hier?« fragte sie ihn schließlich.
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»Nein, ich habe eine Frau und zwei Söhne, aber die sind alle auf dem Feld. Es ist kein gutes Auskommen hier.« »Ja. Das Schwarze Königreich ist schon nahe. Dort will ich hin!«, verkündete die Prinzessin entschlossen. Der Mann zuckte zusammen. »Was, Ihr wollt dort hin? Freiwillig?« »Ja, Bauer. Und nun gib mir und meinem Pferd zu essen. Ich bezahle dich dafür.« Wortlos drehte der Mann sich um und ging davon. Einige Minuten später kam er mit seiner kleinen Familie wieder. Im Gegensatz zu ihm war die Bäuerin, eine junge Frau mit zu Zöpfen geflochtenem blonden Haar, geradezu unterwürfig. Sie kniete vor Alessandra und küßte ihr Kleid. »Herrin, was wir haben gehört Euch.« »Unsinn, gute Frau. Ich werde euch alles bezahlen. Aber jetzt bin ich sehr hungrig.« »Sofort. Ich werde Euch sofort etwas bringen, Herrin.« Sie wollte noch etwas sagen, doch dann senkte sie den Blick und verschwand ins Haus. Alessandra drehte sich nach dem Bauern um. »Hast du auch etwas für mein Pferd?« Wortlos nahm er Schwalbe beim Zaumzeug und führte sie hinter's Haus. Alessandra trat ein und setzte sich an den großen Tisch. Sie begann eine Unterhaltung mit der Frau, doch dann trat der Bauer ein, und das Gespräch, das sowieso etwas gezwungen war, erstarb wieder. Schweigend aß die Prinzessin. Es war ein einfaches Essen, daß die junge Bäuerin ihr mit den entsprechenden Entschuldigungen servierte, aber Alessandra stellte erstaunt fest, daß sie ihr einen silbernen Teller hingestellt hatte und sie mit silbernem Besteck aß. Sogar hier, nahe dem Schwarzen Reich, waren die Bauern nicht arm. Und das Essen schmeckte vorzüglich. »Sagt, Ihr guten Leute. Das Schwarze Königreich ...« »Herrin,« unterbrach die Bäuerin sie ängstlich, »bitte - geht nicht dort hin.« Alessandra sah die Angst in den Augen der jungen Frau, eine fast abergläubische Furcht. Auch die Miene des Mannes war abweisend. Er mißbilligte ihren Entschluß zutiefst, sagte aber nichts. Vielleicht wußte er, daß seine Worte sowieso umsonst sein würden. »Warum nennt sein König es das Unendliche Land?« Aber sie bekam keine Antwort mehr. Wortlos und verschüchtert deckte die Bäuerin den Tisch ab. Die
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beiden Burschen waren sowieso wieder auf's Feld gegangen. Alessandra seufzte ergeben, holte aus ihrer Tasche einen Silberkreuzer, legte ihn auf den Tisch und verließ das Haus. Warum, so fragte sie sich zum ungezählten Mal, können die Leute nicht verstehen, was mich bewegt? Warum bin ich immer so einsam? Selbst diese einfachen Leute hier ... es ist immer alles so kompliziert. * Am Abend überquerte sie die Grenze. Normalerweise waren es drei Tagesritte, aber weil Schwalbe ein sehr schnelles und ausdauerndes Pferd war, war sie nun schon einen Tag früher angekommen. Sie hielt an und sah sich um. Die Landschaft war nicht mehr nur hügelig, sie war bergig geworden. Es war kalt, viel kälter als am vorigen Abend. Der Weg war bis zur Grenze noch relativ gepflegt gewesen, und Alessandra fragte sich, wer ihn hier draußen wohl instandhielt. Die Grenze war deutlich zu erkennen, obwohl es außer der Straße keinerlei Hinweis auf menschliche Tätigkeit gab: Kein Zollhaus, keine Station, keine Grenztafeln. Aber wie mit dem Lineal gezogen änderte sich die Vegetation: die aufgelockerten Waldinseln gingen übergangslos in dichten, abweisenden, düsteren Tannenwald über. Aus dem Weg wurde schlagartig eine schmale Sandpiste. Nun, da sie hier war, kamen ihr erstmals Zweifel am Sinn ihrer Reise. Sie war von Zuhause geflohen, hierher, aber was sollte sie jetzt tun? Seit dem Mittag war sie auf kein Haus, keinen Hof und erst recht keine Ortschaft mehr gestoßen. Vielleicht gab es entlang der Hauptstraße noch ein paar Siedlungen, aber entlang dieses abseits gelegenen Weges hatte sie nicht mal bestellte Äcker oder Weiden gesehen. Nachdenklich blickte sie in den dunklen Wald hinüber, dessen Saum von der tiefstehenden Sonne grell angestrahlt und doch nicht heller wurde. Fast schien es, als würden die Bäume das orangene Licht aufsaugen und in Finsternis verwandeln. Sicher, das Schwarze Königreich war klein. Wäre es im Flachland gewesen, hätte man es auch mit einem durchschnittlichen Pferd in einem oder eineinhalb Tagen durchqueren können. Aber in der Gebirgslandschaft wurden die Entfernungen schwieriger zu überwinden. Alessandra wußte nicht, ob hier überhaupt jemand lebte, und wenn ja, wo. ... hat alle seine Untertanen aufgefressen ... Gewaltsam drängte die Prinzessin diese Gedanken zurück. Sie sah sich um. Die Landschaft war unübersichtlich, sie kannte keinen Weg, wußte nur gerüchteweise, daß die Hauptstadt dieses kalten Landes ungefähr in dessen Mitte lag, wo das felsige Gebirge in eine kleine Hochebene mündete, rings herum umgeben von himmelhohen Bergen. Dort wollte sie hin. Aber wie es aussah, mußte sie erst Mal im Freien übernachten. Sie sah Schwalbe fragend an, aber wenn sie eine Antwort erwartet hatte, dann bekam sie keine. Die Stute tänzelte nervös hin und her, ihre Ohren spielten aufgeregt. Alessandra atmete tief durch und stieg ab. Noch war sie auf heimatlichem Boden ...
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Angst? Ja, sie hatte Angst, aber tief verborgen in ihrem Innern. Am Sattel war ihr Schwert befestigt, wegen dem sich das halbe Königreich das Maul zerriß. Eine Frau, die mit dem Schwert kämpfte unmöglich. Sie machte es los und schnallte es sich um die Taille. Mit Schwalbe an ihrer Seite verließ sie nun den Weg und ging in den dunklen Wald hinein, um dort irgendwo vielleicht einen geschützten Platz zum Übernachten zu finden. Beim Überqueren der Grenze zögerte sie kurz, doch es geschah nichts. Alles blieb still. Nach kurzer Zeit erreichte sie eine Lichtung, durch die sogar ein kleiner Bach floß. Ganz langsam wurde es dunkel, und sie begann damit, Holz zu sammeln, um ein Feuer anzuzünden. Dann bildete sie einen Kreis aus Steinen, die überall herumlagen, legte das Holz, das ziemlich trocken war, hinein, und hatte es nach kurzer Zeit entzündet. Die lodernden Flammen beruhigten sie etwas, und sie sah zu Schwalbe hinüber, die übernervös am Rande der Lichtung herumschlich. Plötzlich raschelte etwas im Unterholz. Mit einem fast panischen Aufwiehern jagte die Stute in blinder Angst davon, und Alessandra wäre ihr fast gefolgt, besann sich aber im letzten Moment darauf, sich der Gefahr zu stellen, was immer es auch sein mochte. Mit verkniffenen Augen, die Hand am Schwertknauf, suchte sie den Waldrand ab. Da! Ein riesiger Schatten, der durch das Halbdunkel schoß, wieder das Knistern von trockenem Laub - ein Tier? Und dann sah sie ihn. Es war ein riesiger Wolf, der langsam auf sie zukam. Mit einem entschlossenen Ruck zog sie ihr Schwert, entschlossen, bis zum Letzten um ihr Leben zu kämpfen. »Also, wenn ich du wäre, würde ich das nicht tun«, sagte da der Wolf zu ihr. Er war etwa fünf Meter vor ihr stehengeblieben und musterte sie furchtlos. Alessandra war so überrascht, daß sie das Schwert sinken ließ. Doch dann riß sie es wieder hoch. Ein verzauberter Wolf - vielleicht verhexte er ja auch sie! »Bleib stehen!« »Weißt du nicht, daß Fremde im Wald des Schwarzen Königs keine Tiere töten dürfen?« Der Wolf, es war wirklich ein riesiges Exemplar, sah sie aus seinen hellblauen Augen spöttisch an. Fast schien es ihr, als wollte er ihr damit sagen, daß sie hier auch mit ihrem Schwert nichts ausrichten konnte denn sie war ja im Schwarzen Reich. Langsam entspannte sich die Prinzessin etwas, und musterte den Wolf nun genauer. Im Schein der Flammen hinter ihr schien sein Fell fast lebendig, warf bizarre Schatten und schien manchmal von einer schimmernden weißen Aura umgeben. Er hatte sich inzwischen auf die Hinterläufe gesetzt, aber Alessandra wußte, daß er blitzschnell wieder aufspringen und sich auf sie stürzen konnte. Sie warf ihm einen mißtrauischen Blick zu, den er mit einem eigenartigen, halb amüsierten, halb nachdenklichen Blick erwiderte. »Wer bist du eigentlich, fremde Menschenfrau?« fragte der Wolf.
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»Ich, äh, ich bin A ... äh, Sandra, eine Bauerstochter.« Der Wolf lachte kurz auf und Alessandra spürte, wie sie errötete. Sie konnte hervorragend reiten und war auch eine gute Kämpferin, aber beim Anlügen von Wölfen scheiterte sie offenbar kläglich. »Wieso willst du das wissen?«, fragte sie ärgerlich zurück. »Wer bist du denn überhaupt?« »Ich habe keinen Namen. Nenne mich den Schwarzen Wolf, wenn du willst. Ich diene meinem Herrn, dem König des Unendlichen Landes. Und nun sag mir, wer du bist und was du willst, sonst ...« Seine blauen Augen funkelten geheimnisvoll. Alessandra entschloß sich gewissermaßen zur Flucht nach vorn: »Nun gut, Schwarzer Wolf. Ich bin Alessandra, die Tochter des Weißen Königs. Aber was ich hier will,« fügte sie mit resignierender Stimme hinzu, »weiß ich auch ... nicht ... mehr«. Ihr Blick wandte sich ab und schweifte in die Ferne. »Von dir haben wir hier schon gehört, Prinzessin. Ich dachte mir gleich, daß das nur du sein kannst. Aber ich will dir nichts böses tun. Vielleicht kann ich dir sogar helfen. Und vielleicht kannst du auch meinem Herrn helfen.« Alessandra blickte den großen Wolf erstaunt und fragend an. Sie öffnete den Mund zu einer Frage, brachte dann aber doch nichts heraus. Die Vorstellung, daß der Schwarze König ein menschliches Wesen sei, das ab und zu der Hilfe bedürfe, das war ihr noch nie in den Sinn gekommen. Der Wolf erhob sich und trabte langsam auf sie zu. Er hatte nun nichts bedrohliches mehr an sich, trotz seiner Größe. Sogar Schwalbe war zurückgekehrt und äugte mißtrauisch zu dem Raubtier herüber. Der Wolf setzte sich neben Alessandra und schmiegte sich an sie. Der jungen Frau stockte der Atem, aber nicht vor Angst, sondern vor Freude und Rührung. Noch nie hatte sie sich so geborgen und verstanden gefühlt wie jetzt, in diesem Moment. Das Schwarze Königreich, das finstere Reich des Bösen? Nein, es war ein märchenhaftes Zauberreich, in dem Tiere sprechen konnten und besser waren als die Menschen in ihrem Land. Und dann brach all der Kummer der vielen Jahre aus ihr heraus. Schluchzend umarmte sie den Wolf und weinte sich an seiner flauschigen Schulter aus. Sie klagte ihm ihr ganzes Leid, und er hörte geduldig zu und leckte ab und zu mit seiner rauhen Zunge ihre Tränen ab. * Es war schon tief in der Nacht. Schwalbe war in einen unruhigen Schlaf gesunken, schreckte aber bei jedem unerwarteten Geräusch auf. Im Hintergrund, nahe dem inzwischen fast heruntergebrannen Feuer, hörte das Pferd das monotone Murmeln ihrer Herrin, die sich immer noch mit dem Wolf unterhielt. Doch was war das plötzlich wieder für ein Geräusch? Aufmerksam lauschte die Stute in die Nacht hinaus. War das nicht Hufgetrappel? Pferde, Reiter? Ja, ganz deutlich! Auch Alessandra und der Schwarze Wolf waren nun aufmerksam geworden. »Wer ist das?« hauchte die Prinzessin.
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»Es sind, so fürchte ich, Weiße Ritter. Sie sind gekommen, um dich zu holen. Sie werden wohl von der Straße aus das Feuer gesehen haben. Wir sind hier noch sehr nahe an der Grenze.« Er warf ihr einen letzte Blick aus seinen leuchtenden Augen zu, die auch jetzt, mitten in der Nacht ihre hellblaue Farbe nicht verloren hatten, dann sprang er mit einem gewaltigen Satz auf und verschwand in die Dunkelheit. »Leb' wohl, Prinzessin. Ich kann im Moment nichts für dich tun. Auf Wiedersehen - vielleicht!« »Nein, bleib hier! Hilf mir doch!« Und dann kamen sie. Es war tatsächlich die Garde des Rittmeisters. Die Soldaten umkreisten sie mit ihren Pferden, dann hob sie einer von ihnen auf und setzte sie hinter sich auf's Pferd. Ein anderer fing Schwalbe ein, was aber ganz leicht war, denn die Stute war froh, auf dieses Abenteuer überstanden zu haben und wieder unter vertrauten Menschen zu sein. Alessandra wollte weinen, doch sie hatte keine Tränen mehr. Auf der ganzen Rückreise, die bis zum Abend des dritten Tages dauerte, sagte sie kein Wort, und wurde auch von den Weißen Soldaten nicht angesprochen. Und dann ritten sie in die große Vorhalle ein. Eine resolute alte Zofe namens Emilie nahm die erschöpfte Prinzessin in Empfang. »So, Prinzesschen. Dein Vater hat dich mir anvertraut. Von jetzt an ist es vorbei mit den Extratouren. Bald kommst du sowieso unter die Haube. Besser, du gewöhnst dich schon mal dran. Übrigens: dein Vater will dich sehen.« Sie musterte Alessandra von oben bis unten. Das Mädchen war schmutzig, müde und erschöpft. »Erst mal bekommst du ein Bad. Und dann geht es ab in den Audienzsaal.« Sie lachte entschlossen, faßte Alessandra fest am Arm und zog sie mit sich. * Eine Stunde später, es war schon spät am Abend, trat sie vor ihren Vater hin und kniete vor seinem Thron nieder. Der Weiße König warf ihr einen langen Blick zu und seufzte leise. Wieviele Seufzer hatte ihn seine zweitjüngste Tochter schon gekostet? Neben dem König stand Adalbert, und weiter im Hintergrund hatte sich Emilie mit ihrer cremefarbenen Mütze aufgebaut. Der Weiße König musterte Alessandra streng, dann sagte er: »Du darfst dich erheben, meine Tochter.« Langsam und müde stand Alessandra auf. »Nun, hast du mir nichts zu sagen?«
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Sie schüttelte nur langsam den Kopf. »Wo bist du gewesen?« »Das wißt ihr doch, Majestät.« Quietschend ging die Türe auf. Olivia, die zweitälteste Prinzessin, trat leise ein. Aber niemand kümmerte sich im Moment darum. »Ich habe dich gefragt, und ich will eine Antwort.« »Ich war im Unendlichen Land.« »Was! Unendliches Land, wenn ich diesen Unsinn schon höre. Es ist das Schwarze Königreich, und wer dort hingeht, geht in sein Verderben!« »Aber Vater, es ...« »Schweig! Du sprichst nur, wenn du gefragt wirst. Was stellst du dir eigentlich vor? Von dir kann das zukünftige Schicksal dieses Königreiches abhängen. Und du benimmst dich immer noch wie ein ungezogenes Kind. Das hört ab heute auf. Du verläßt das Schloß nicht mehr ohne die Erlaubnis von mir oder Adalbert, hast du verstanden?« »Ja, Majestät«, hauchte sie. »Und du wirst dich auf deine zukünftigen gesellschaftlichen Verpflichtungen vorbereiten. Und dazu gehört weder Reiten noch Schwertkampf. So etwas ist für eine Prinzessin einfach unmöglich. Emilie und noch ein paar Andere werden dir alles beibringen, was du wissen mußt. Und sie werden ein sehr wachsame Auge auf dich haben.« Er stand auf, ging auf sie zu und strich mit der Hand über ihr Haar. »Meine Tochter. Deine Kindheit ist vorbei. Niemand will dir etwas böses, aber du hast nun mal eine große Verantwortung und Verpflichtung, auch gegenüber unserem Volk.« Sie dachte daran, daß doch Ornella unbedingt Königin werden wollte, und daß sie selbst somit überhaupt keine Verpflichtungen hatte. Sie selbst wollte nämlich auf keinen Fall die Weiße Königin werden. Doch sie schwieg, weil sie spürte, daß ihr Vater keinen Widerspruch mehr duldete. »Ich werde Euch gehorchen.« »Ja, so ist es brav. Und jetzt geh schlafen. Du mußt todmüde sein von dem langen und anstrengenden Ritt.« Sie nickte nur, dann zog sie sich zurück. Als sie draußen war, ließ der Weiße König sich vom Rittmeister genau berichten was dieser erlebt hatte. Vor allem interessierte er sich für das Schwarze Königreich. Doch gerade dort hatten sich die Soldaten
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nur sehr kurz aufgehalten und konnten kaum etwas vortragen. Schließlich hatten sie die Prinzessin ja schon dicht hinter der Grenze aufgegriffen. »Ich denke, mein lieber Adalbert,« meinte der König anschließend zu seinem Majordomus, »wir sollten diese Ecke unseres Reiches etwas besser im Auge behalten.« »Nun, König, bisher gab es dort noch nie Schwierigkeiten. Seit Jahrzehnten gibt es keinen Kontakt mehr dort hin, und nie wurde vom Schwarzen Reich aus ein Überfall auf unser Land oder ein anderes ausgeführt. Vielleicht lebt dort überhaupt niemand mehr.« »Ja, ich weiß, ich weiß. Aber ich habe so ein Gefühl, verstehst Du? In naher Zukunft droht uns von dort Unheil. Verflixt, ich weiß es einfach.« Er sprang auf. »Rittmeister! Ihr und der Majordomus bekommen hiermit den Auftrag, den alten Grenzposten an der Hauptstraße wieder instandzusetzen und mit ein paar Mann zu besetzen. Sie sollen auch die Umgebung im Auge behalten. Und wenn dort etwas geschieht, will ich es sofort wissen.« »Zu Befehl, mein König«, antwortete der junge Rittmeister. Auch Adalbert bestätigte die Order, obwohl er das dunkle Gefühl seines Königs nicht teilen konnte. Aber wer weiß - sicher ist sicher, dachte er sich. Sie trafen sich in Ornellas Raum: Simona, Olivia und Ornella selbst. Sie saßen auf der Bettkante, Ornella hatte es sich auf dem Bett gemütlich gemacht, und Olivia berichtete, was sie im Audienzsaal mitbekommen hatte. »Also, wenn ihr mich fragt, ich kann mir nicht vorstellen, daß sie sich so schnell geändert hat«, meinte Olivia schließlich. »Sie hat zwar Gehorsam gelobt, aber morgen ist das bestimmt schon wieder vergessen.« Die anderen stimmten ihr zu. »Wenn ich bedenke, daß sie vielleicht die neue Herrscherin wird...«, meinte Ornella kopfschüttelnd. »Das wäre ja - undenkbar«, stimmte Simona ihr zu. »Pah, ihr.« Olivia sah Ornella trotzig an. »Jeder weiß doch, daß du unbedingt Königin werden willst. Aber an uns denkst du dabei überhaupt nicht.« »Ist das wahr?«, fragte Simona erstaunt. Offenbar war ihr dieser Gedanke noch nie gekommen. »Na und«, erwiderte die Älteste trotzig. »Wen würdest Du denn als Königin vorschlagen. Pferdchen vielleicht?« »Nein, aber...« »Oder Dich vielleicht!« Sie durchbohrte Simona geradezu mit ihren vernichtenden Blicken, und die fühlte sich darunter ganz klein und häßlich und brachte keinen Ton mehr hervor. »Na also«, resümierte Ornella zufrieden. Sie schüttelte ob so viel Ignoranz den Kopf. »Überlegen wir uns lieber, wie wir es anstellen, daß Pferdchen nicht Königin wird.«
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Sie beratschlagten bis in den frühen Morgen, und es waren nicht sehr freundliche Gedanken, die sie entwickelten. »Warum verhelfen wir ihr nicht zur Flucht? Wenn sie für immer im Schwarzen Königreich verschwindet, dann sind wir sie los«, schlug Olivia schließlich vor. »Nein. Sie ist doch unsere Schwester«, protestierte Simona. »Außerdem würden die Soldaten sie sowieso wieder fangen, jetzt, wo sie die Grenze wieder bewachen. Aber... der Gedanke ist gar nicht so dumm. Selbst wenn sie wieder zurückgebracht wird, dann verliert unser Vater das Vertrauen, und sie darf nicht Königen werden.« »Ja, Ornella. So könnten wir das machen.« * Der Plan scheiterte dennoch. Alessandra floh nämlich nicht. Zur großen Überraschung aller am Hof fügte sie sich in den Befehl ihres Vaters. Sie tat, was ihr geheißen wurde, sie lernte die höfischen Umgangs formen der anderen Reiche, sie las die Briefe, mit denen die Fürstensöhne ihre Teilnahme am Turnier annoncierten, sie gehorchte jeder Anweisung Emilies. Doch sie sprach nie ein Wort, außer, wenn sie direkt angesprochen wurde. * Anfang Juli trafen die ersten Ritter und Fürsten am Weißen Hof ein. Es war eine Pracht, wie man sie selbst in dieser wohlhabenden Stadt selten gesehen hatte. Alles war auf den Beinen, alle Häuser wurden geschmückt und Blumen ausgestreut, dabei sollte das Turnier erst in einem Monat stattfinden. Doch da es das größte Fest seit Menschengedenken werden würde, begann man mit dem Feiern recht frühzeitig. Die Teilnehmer des Turniers kamen mit prächtigem Gefolge und kostbaren Geschenken. Ihre Rüstungen glänzten silbern oder golden und waren mit prächtigen bunten Federn geschmückt. Die Pferde waren die schönsten, die sie in ihren Heimatländern hatten finden können, und das Gefolge bestand aus den tapfersten Kämpfern ihrer Reiche. Der Erste war Prinz Sofrejan, der einzige Sohn der Imperatrice Beata. Er war 25 Jahre alt und ein stattlicher, stolzer Mann mit wachem Blick und einem scharf geschnittenen schwarzen Bart. Er ritt auf einem riesigen weißen Pferd, das über und über mit kostbaren Tüchern, Gold und Juwelen behängt war, und hatte in seinem Gefolge nicht weniger als 100 Ritter in goldenen Rüstungen. Dazu exotische Tiere, bunte Vögel, sogar einen Elefanten, und die erlesensten Speisen und Gewürze aus den geheimnisvollen Ländern jenseits des Ostens und Westens, mit denen sein Inselreich Handel trieb. Auf den prunkvollen Wagen führte er die Schätze mit, die als Hochzeitsgeschenke dienen sollten. Allein die Wagen waren jeder für sich ein Vermögen wert, ganz zu schweigen von ihrem Inhalt, den allerdings vorerst niemand zu sehen bekam. Jedermann wußte, daß die Imperatrice der Sonneninsel reich war, sehr reich sogar, aber daß sie über solch märchenhafte Schätze verfügte, daß hatte nicht mal der König Heinrich erwartet. Mit diesem Auftakt war er mehr als zufrieden, und das auch noch aus einem anderen Grund: Die Sonneninsel lag inmitten eines riesigen Sees, in den weit im Südwesten der Fluß Siina floß und aus dem er am anderen Ende auch wieder herauskam. Dieser Fluß war auch über weite Strecken die Südgrenze
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des Weißen Reiches, was wiederum bedeutete, daß die Sonneninsel direkt an das Reich grenzte. Wenn Prinz Sofrejan der neue Weiße König wurde, dann wurden die beiden Reiche vereinigt, und sein Land würde eine wahre Perle hinzugewinnen. Denn daß die Hauptstadt auch weiterhin hier bleiben würde und nicht etwa auf die Sonneninsel verlegt wurde, daß würde er sich schon rechtzeitig ausbedingen. Es hatte auch mit der Sonneninsel im Laufe der Zeit Kriege gegeben, und auch diese würde durch eine Hochzeit für immer beigelegt werden. Denn wenn die Sonneninsel in ihrer Pracht auch vom Ufer aus deutlich zu sehen war, so war sie doch militärisch praktisch uneinnehmbar. Ein diplomatischer Sieg wäre ein ungeheurer Triumph. * Der Prinz ließ sein Lager auf dem zugewiesenen Platz vor der Weißen Hauptstadt aufschlagen. Viele Menschen waren damit beschäftigt, die großen, bunten Zelte aufzustellen und das Gefolge und die Tiere zu verköstigen. Mit einer kleinen Eskorte ritt Sofrejan schließlich in die Weiße Stadt hinein, mit sich die Geschenke führend, die er bei seinem Antrittsbesuch dem König und seinen Töchtern überbringen wollte. Das Volk auf den Straßen jubelte ihm zu, und er ließ von seinen Rittern Goldmünzen in die Menge werfen. Die Leute waren begeistert und ließen den stolzen und schönen Prinzen vielmals hochleben. Hoch erhobenen Hauptes ritt er die mit einem roten Teppich ausgelegte Rampe zum Schloß hinauf und stieg erst in der Vorhalle ab, wo sofort dienstfertige Lakaien hinzusprangen und ihm und seinen Rittern das Pferde abnahmen. Andere nahmen die Schatztruhen mit den Geschenken auf und trugen sie dem Prinzen hinterher, als er den von zahlreichen Kerzen beleuchteten Thronsaal betrat und, gefolgt von seiner Eskorte, dem Weißen König seiner Referenz erwies. Wie es sich gehörte, trat er vor den goldenen Thron und kniete nieder. »Mein lieber Prinz Sofrejan, bitte erhebt Euch.« Der König nickte ihm huldvoll zu und warf einen vielsagenden Blick auf seine vier Töchter, die alle versammelt waren und neben dem Thron standen. Die Prinzessinnen waren auf das entzückendste zurechtgemacht, und jeder, der sie sah, war einfach hingerissen von ihrer Schönheit. Nicht anders ging es dem Sohn der Imperatrice. Er musterte eine jede von ihnen lange und mit großem Gefallen, und die Blicke wurden voller Sympathie erwidert, ausgenommen Alessandra. Sie wirkte so abwesend und verschlossen wie immer in den letzten Wochen. Ornella und Olivia, die sich die kompliziertesten Ränke ausgedacht hatten, sahen es zufrieden. Das Problem ihrer Konkurrentin, so schien es, erledigte sich von ganz allein. Umso mehr mußte nun eine auf die andere aufpassen, und bei diesem stattlichen und mächtigen Prinzen würden sie sofort anfangen. Während Sofrejans Lakaien die Truhen öffneten und dem König und den Prinzessinnen Gold, Elfenbein und die kostbarsten Juwelen entgegequollen, flirteten Ornella und Olivia mit dem Prinzen. Obwohl sie wegen der Distanz von fast zehn Schritten kein Wort wechseln konnten, entfalteten sie beide darin eine wahre Meisterschaft. Simona beobachtete es staunend, Alessandra verächtlich. Sie war fest entschlossen, dieses Spielchen nicht mitzumachen. Schließlich öffnete Prinz Sofrejan persönlich die letzte Truhe. Es war eine recht kleine, aber über und
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über mit Silber und Smaragden beschlagene Eichenschatulle, in ihrem Inneren mit dunkelrotem Samt ausgekleidet. Und darin steckten vier Ringe. Aber es waren keine gewöhnlichen Ringe. Der Prinz überreichte jeder Prinzessinnen persönlich einen davon, und bei diesem Anblick stockte sogar den verwöhnten Prinzessinnen der Atem und sie bekamen glänzende Augen. Sprachlos blickte Ornella den Prinzen an, als er ihr den Ring präsentierte, dann ihre linke Hand ergriff und ihn an ihren Finger steckte. Ebenso erging es Olivia. Nie hatten sie eine solche Kostbarkeit gesehen. Die Ringe waren Raubkatzen nachempfunden und mit einer solchen Liebe zum Detail gefertigt, daß man glauben konnte, sie seien verzauberte echte Katzen. Ornella hatte einen Löwenring bekommen. Dessen sandbraunes Fell bestand aus zahllosen winzigen Kristallen, die in dem Gold, aus dem der Körper war, eingelassen waren. Die Krallen an den Pfoten waren aus glasklaren Diamanten, von Meisterhand in Form geschliffen. Prinzessin Ornella verstand etwas von Schmuck und Juwelen. Dieser Ring war mehr wert als so manches Fürstentum. Und es war nur einer von vieren. Der Prinz wandte sich schließlich Alessandra und Simona zu, aber man sah ihm deutlich an, daß er es nur noch aus Höflichkeit tat. Sein Interesse war von den beiden älteren Schwestern gefangen, und er schwor sich, das Turnier zu gewinnen, koste es, was es wolle. »Übrigens, verehrter Weißer König. Ich darf Euch ankündigen, daß auch meine Mutter dem Turnier beiwohnen wird. Sie wird aber erst kurz vor dem Beginn hier eintreffen, da sie noch wichtige Staatsgeschäfte zu erledigen hat.« »Natürlich, natürlich, mein lieber Prinz. Es ist uns allen eine große Ehre und mir eine ganz besondere Freude, Eure Mutter hier begrüßen zu dürfen.« Mit keiner Miene verriet er, daß er die Alte am liebsten zum Teufel gewünscht hätte. Aber wenn alles gut ging - und dem konnte man ja etwas nachhelfen - dann würde sich dieses leidige Problem auf elegante Art erledigen. Zufrieden lächelnd ließ er sich wieder in seinen Thron sinken. »Wenn es Euch recht ist, Majestät, dann möchte ich morgen den Turnierplatz besichtigen.« »Aber gern, aber gern. Ich werde Euch persönlich einweisen, mein lieber Prinz.« * Zwei Tage später traf die Gesandtschaft des Blauen Landes ein. Einen größeren Kontrast zum Prunk des Prinzen der Sonneninsel hätte man sich kaum vorstellen können. Nicht, daß die Leute aus dem Eisgebirge arm waren, ganz und gar nicht. Sie lebten dort vom Fallenstellen und der Jagd auf Bären, Wölfe und Biber, und verkauften die Felle der Tiere in die ganze bekannte Welt. Nein, reich waren sie durchaus, aber es waren die übelsten und unkultiviertesten Bauerntrampel, die man sich im Weißen Reich nur vorstellen konnte. Sie aßen mit den Fingern, rissen mit bloßen Händen Stücke aus dem Braten, und wenn es ihnen geschmeckt hatte, dann ließen sie es alle Anwesenden mit einem lauten Rülpser wissen. Kurz gesagt: einfach unmögliche Leute. Ihr Anführer, Erich der Bärentöter, der schon mal mit bloßen Händen einen Bären erwürgt haben sollte, traf mit einer Begleitung von 20 seiner furchterregend aussehenden Männer ein. Alle trugen sie Tierfelle über ihren Lederrüstungen und Helme mit Hörnern daran. Doch keiner, der sie sah, wagte darüber zu
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lachen. Die Eisleute waren für ihre Kraft und ihren Jähzorn berüchtigt. Und beeidnruckend war sie schon. Auch sie hatten dem König und den Prinzessinnen kostbare Geschenke mitgebracht, und der König fragte sich, wo diese Bauernlümmel diese Schätze wohl her haben mochten. Immerhin erregte Erich der Bärentöter die ungeteilte Aufmerksamkeit Simonas. Sie war von diesem wilden Mann mit seinem dunkelblonden Zöpfen und dem mächtigen Schnurrbart zutiefst fasziniert. »Was, wenn er dich wirklich heiratet?«, zischte Alessandra ihr zwischendurch zu. »Willst du wirklich mit diesem ... diesem Mannsbild in das Blaue Land gehen?« »Oh ja«, hauchte Simona mit glänzenden Augen zurück. Alessandra verdrehte nur die Augen und hoffte, daß dieser Kerl nicht siegen würde. Sicher, er war bärenstark, aber im Turnier kam es ebenso auf Geschicklichkeit und die Einhaltung der strengen Regeln an. Und da traute sie diesem Burschen nun doch nicht so viel zu. Nach der Audienz trabten die Eisleute wieder zu ihrem Lager, wobei auch sie unterwegs Gold und Silber unters Volk warfen. Von da an waren sie willkommen. In der gleichen Nacht kam der Zug der Wüstenleute an, die man auch Karawanenherren nannte und viel Handel mit der Sonneninsel trieben. Es waren exotisch, fast märchenhaft wirkende Menschen mit schmalen Hakennasen und olivbrauner Haut, und ihr Fürst, den man wegen seines Schleiers nicht richtig zu sehen bekam, war der auffälligste von allen. Er ritt ein großen hellbraunes Pferd, während sein Gefolge, fast 100 Wüstennomaden, auf Kamelen ritt. Weitere 200 Kamele bildeten den Troß, und am nächsten Tag, als der Weiße König den Karawanenfürsten empfing, präsentierten sie eine Pracht und eine solche Fülle an kostbarsten Geschenken, daß sie sogar fast den Prinzen von der Sonneninsel damit übertrumpft hätten. Nach der Audienz luden sie die ganze Hauptstadt in ihr Lager ein und gaben ein Festmahl, wie es die meisten Bürger noch nie gesehen hatten, und vom dem sie noch ihren Kindern und Enkeln erzählen sollten. Und so trafen im Laufe der nächsten Wochen Gesandtschaft um Gesandtschaft ein: Der junge König Arlus, Herrscher des Torriner Landes im Osten, Ritter Stephan, der Vertreter der Lagunenkönigin, deren Sohn wegen einer Erkrankung nicht persönlich erscheinen konnte, die beiden Söhne des Königs Karl aus dem Norden, der ein wahrhaft riesiges Reich besaß, daß sich von der Steppe der Nomaden im Westen bis hinter das Eisgebirge im Osten erstreckte, Prinzen, Herzöge und Barone aus den Freien Städten und den vielen kleinen und großen Grafschaften und Reichen, und - nur eine Woche vor dem offiziellen Beginn des Turniers - Nuitor, der älteste Sohn des Königs von Arcadia-Land. Einst, vor vier Generationen, waren Arcadia und das Weiße Königreich noch ein einziges großes, mächtiges und gefürchtetes Reich gewesen, bis dann Heinrichs Urgroßvater das Land unter seinen zwei Söhnen Giancano und Cordo aufgeteilt hatte. Seitdem hatte es einen nie enden wollenden Konflikt um die Erbfolge und gegenseitige Ansprüche gegeben, und in zahllosen Kriegen waren auch viele Städte abgefallen und hatten bisher nicht dauerhaft zurückerobert werden können, weil beide Parteien etwa gleich stark waren und dem anderen die reichen Städte niemals gegönnt hätte. Vor allem die Perle im Osten des ehemaligen Reiches am Fluß Siina, die vornehme und reiche Stadt Gel-Almanaum, war damals verlorengegangen. Um sie hatte es in den folgenden Jahren die heftigsten Kämpfe gegeben, bis
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sich beide Seiten irgendwann stillschweigend geeinigt hatten, ihren verzehrenden Krieg einschlafen zu lassen. Wenn die beiden Reiche sich nun wieder vereinigen könnten, würden all diese Territorien an den Weißen König zurückfallen. Doch da auch die Prinzen der abgefallenen Städte das nur zu gut wußten und es bestimmt nicht hinnehmen würden, wünschte der Weiße König sich, er hätte seinen Urgroßneffen nicht einladen müssen. Was, wenn Nuitor hier von einem Spion aus diesen Städten vergiftet wurde, damit er nicht heiraten konnte? Dieser diplomatischen Katastrophe würde der nächste Krieg auf den Fuß folgen. Wahrscheinlich war Nuitor auch deshalb so spät erschienen. Trotz des frohen Anlasses bleib die Politik also schwierig. Eine Vereinigung mit der Sonneninsel, die im übrigen schon immer unabhängig gewesen war, wäre um vieles leichter zu bewerkstelligen. Ach ja, die Imperatrice. Wo sie wohl steckte? Vielleicht hatte sie den Termin ja vergessen * »Langweilig« war gar kein Ausdruck für den Dienst an der Grenze zum Unendlichen Land. Wenn hier mal ein Vogel zwitscherte, dann war das schon eine kleine Sensation. Vier Soldaten hatte Adalbert hierhin, ans Ende der Welt abkommandieren lassen. Ab und zu flogen Brieftauben zum Schloß, und einmal alle zwei oder drei Wochen kam ein Bote und brachte sie wieder zurück. Er erzählte dann von den Vorbereitungen zu dem Turnier und den nicht enden wollenden Festen, und wenn die Soldaten ihn hörten, dann hätten sie ihren rechter Arm darum gegeben, jetzt dabei sein zu dürfen. Aber Befehl war Befehl. Und der Rittmeister hatte schon so manchen auspeitschen oder gar köpfen lassen, der sich etwas hatte zuschulden kommen lassen. Also ließ man sich halt erzählen, was zu Hause so passierte. Und als der Schwarze König die Grenze überschritt, merkte es keiner. * Es war tief in der Nacht. Alle vier Soldaten schliefen, obwohl eigentlich immer einer Wache halten mußte. Doch auch wenn einer mitten auf der Straße gestanden hätte, hätte er die drei Wölfe, die lautlos durch das Unterholz glitten, nicht bemerken können. Einige Kilometer hinter dem Posten huschten die Wölfe schließlich auf die Straße. Und dann verwandelten sie sich. Der eine, ein besonders großer Wolf mit hellblauen Augen, verwandelte sich in den Schwarzen König. Der zweite, der ein rotbraunes Fell trug und tiefblaue Augen hatte, verwandelte sich in einen Drachen. Und der dritte wurde zu einem großen, schwarzen Pferd. Der Mond spiegelte sich in der Schwarzen Rüstung des Königs. Der Drachen, ein Wesen, wie es noch nie ein Mensch zu Gesicht bekommen hatte, sprang auf die Rüstung und verwandelte sich in ein Bild, das nun auf dem Brustpanzer prangte. Auf diese Weise würde er die Reise zum Weißen Schloß mitmachen. Der Schwarze König überprüfte seine Rüstung und den Sitz seines Schwertes, dann bestieg er sein Pferd, und fast geisterhaft lautlos setzte es sich in Bewegung.
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* »Noch drei Tage. Ich halte das einfach nicht mehr aus!« »Du mußt aber, meine liebe Olivia«, schnurrte Ornella ihr mit einem selbstgefälligen Lächeln ins Ohr. Die älteste der Prinzessinnen war ob der zahlreichen Prinzen, die ihr heftig und unermüdlich den Hof machten, bester Laune. »Sag, Ornella, welcher gefällt dir am besten?« Seit Wochen schon kannten die drei Schwestern kein anderes Gesprächsthema. Aber seltsamerweise schien Alessandra, die sich nie daran beteiligte, die einzige zu sein, die sich wirklich darüber im klaren war, was da auf sie zukam. Sie würden verheiratet, eine würde Weiße Königin, und die drei anderen würden ihren Ehemännern auf ihre Schlösser folgen. Sicher, Simona schwärmte immer noch von ihrem Erich und verbrachte viel Zeit bei ihm. Alessandra hatte sie mal bei einem Besuch begleitet. Der Eismann war eigentlich gar nicht so übel, aber daheim in seinem Zelt aus Tierfellen im schneebedeckten Hochgebirge konnte er Simona einfach nicht das bieten, was sie von Zuhause gewohnt war. Aber vielleicht war sie ja jung genug, um sich daran zu gewöhnen. Eigentlich brauchte Alessandra sich um ihre jüngste Schwester keine Sorgen zu machen. Sie liebte Erich wirklich. Es war ihre erste große Liebe, und sie waren oft zusammen in der Stadt oder im Lager, wo der Blaue König seiner jungen Verehrerin Kunststücke vorführte. Er verfügte nicht nur über Bärenkräfte, sondern war auch sehr geschickt mit dem Schwert. Und er konnte Bälle jonglieren - fünf Stück zugleich. Das war bei den Kindern der Weißen Stadt die Sensation. Als er aber dann die Bälle durch Äxte ersetzte, da stieg sein Ruhm beim Jungvolk ins Grenzenlose. Wenn Erich nun aber nicht unter den ersten vier Siegern war, dann würde Simona kurzerhand an einen anderen Prinzen oder Grafen verschachert. Alessandra hatte sie darauf angesprochen, aber das war das letzte, was das junge Mädchen hören wollte. Sie hatte trotzig geantwortet, daß sie in diesem Fall sogar mit ihrem Geliebten fliehen würde. Alessandra hatte das für sich behalten, aber es hatte ihr zu denken gegeben. Und sie selbst? Mit jedem Tag fand sie diesen Zirkus abstoßender. Ihre Verschlossenheit hatte nicht wenige der Prinzen fasziniert, und sie schwänzelten ständig um sie herum. Es waren schmierige Karrieristen dabei, harmlose Träumer und auch nette Burschen, aber Alessandra konnte auf alle verzichten. Ja! Sie konnte es nicht länger hinausschieben. Sie würde zu ihrem Vater gehen und ihm sagen, daß sie keinen dieser Edelleute heiraten würde, um nichts in der Welt. Sie hatte gar nicht bemerkt, wie spät es schon geworden war. Nebenan war das Gespräch ihrer Schwestern leiser geworden, und sie erinnerte sich, daß die große Turmuhr vor kurzem Elf Uhr nachts geschlagen hatte. Aber wenn sie es jetzt nicht tat, dann würde sie sich nie mehr trauen. Ruckartig erhob sie sich. Am Anfang hatte Emilie jeden ihrer Schritt verfolgt, aber da sie sich stets gefügt hatte, konnte sie sich inzwischen wenigstens zeitweise wieder frei und unbeobachtet bewegen. Leise schlich sie die Treppen herunter, durchquerte vorsichtig die Vorhalle, in der auch um diese Zeit oft noch was los war, und drückte geräuschlos die Tür zum Audienzsaal auf. Sie wußte tatsächlich als einzige, wie man es machen mußte, damit sie nicht quietschte.
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Hastig schlüpfte sie durch den Spalt und schloß die Tür ebenso leise. Vorsichtig sah sie sich um. Zum Glück stand der Thron so, daß man sich in den Saal schleichen konnte, ohne von dort direkt gesehen zu werden. Alessandras Blick fiel auf das in einer Ecke aufgehängte Bildnis König Cordos, des legendären Königs von Arcadia-Land, der vor über 100 Jahren spurlos verschwunden sein sollte. Wenn das Bild ihm auch nur ein wenig ähnelte, dann mußte er wirklich eine beeindruckende Persönlichkeit gewesen sein. Und - er war eigentlich sogar mit ihr verwandt. Ihr Urgroßvater Giancano und König Cordo waren Brüder gewesen. Oft malte Alessandra sich in ihren Tagträumen aus, wie sie diesen beeindruckenden Mann traf und seinen weisen Ratschlägen lauschte. Schon glitten ihre Gedanken wieder zu ihm, doch da hielt sie inne. Jemand redete mit eindringlicher Stimme mit ihrem Vater. Es war die Stimme einer Frau, eine Stimme, die sie kannte, aber woher? Einen Moment lang mußte sie an ihre Mutter denken, aber ... Es mußte viele Jahre her sein, daß sie diese Stimme zuletzt gehört hatte. Geduckt schlich sie hinter eine Säule und sah sich um. Es waren nur zwei Menschen anwesend, wenn man die Frau als Mensch bezeichnen konnte, denn es war niemand anderes als die Hexe Elysiss, der Schutzgeist des Weißen Reiches. Alessandra stockte der Atem, als sie vernahm, was die Hexe ihrem Vater offenbarte. Heinrich sagte gerade mit heiserer Stimme: »...kann ich doch nicht tun. Was Ihr verlangt, Mistress Elysiss, ist unmöglich.« »Und doch mußt du es tun. Wenn das Turnier stattfindet, wird es eine furchtbare Katastrophe geben und ich weiß nicht, ob ich dein Reich dann noch schützen kann.« »Aber warum nur? Warum? Bitte, Elysiss. Ich tue alles, was du willst, aber sage mir, welches Unheil uns bevorsteht.« »Es tut mir leid, Majestät, aber das kann und darf ich nicht.« Sie wandte sich zu der Marmorsäule um, hinter der sich Alessandra verkrochen hatte. Wußte sie, daß sie heimlich hier war? Aber sie sagte nichts und blickte dann den König wieder an. »Eins noch, König, und höre gut zu: Der Schwarze König wird dich aufsuchen, wenn das Turnier beginnt. Aber du darfst nicht die Waffen gegen ihn erheben, sonst ist alles verloren.« Langsam wurde sie durchsichtig, bis sie schließlich ganz verschwunden war. »Neiiiiin!!! Mistress Elysiss! Nein, bleibe hier. Ich befehle es dir!« Der König brüllte seine ganze Verzweiflung hinaus. »Nein«, murmelte er schließlich. »Ich kann das Turnier nicht absagen. Ich kann es nicht.« Grübelnd und brütend bleib er auf seinem Thron sitzen. Erst kurz vor Morgengrauen fiel er in einen alptraumerfüllten, unruhigen Schlaf. * Alessandra war entsetzt über das, was sie gehört hatte. Und wie noch nie in ihrem Leben vermißte sie
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einen Menschen, mit dem sie über alles hätte reden können. In ihrer Verwirrung lief sie ziellos im Schloß umher und landete schließlich im Stall, wo sie sich neben Schwalbe ins Heu warf und hemmungslos zu schluchzen begann, bis auch sie die Müdigkeit schließlich übermannte. * Es war Sonntag, der 2. August 1242, ein strahlender Sommertag. Kein Wölkchen war am Himmel zu sehen, und schon am frühen Morgen war es angenehm warm. Heute Nachmittag würde das Turnier beginnen. Über 50 Ritter, Prinzen und Edelleute waren angetreten, die vier Prinzessinnen zu gewinnen. König Heinrich hatte seiner Wache befohlen, auf jedes ungewöhnliche Ereignis zu achten und ihm sofort zu berichten. Er hatte nicht erklärt, was er erwartete, aber die Art und Weise, wie er es seinen Leuten und dem Majordomus eingeschärft hatte, hatte keinen Zweifel daran gelassen, daß er es bitter ernst meinte, so ernst, wie noch nie in seinem Leben. Aber alles war in bester Ordnung. Auftragsgemäß war Nuitor vergiftet worden - nicht ernstes, in ein paar Tagen würde er wieder auf den Beinen sein, nur war dann das Turnier vorbei und die Prinzessinnen verheiratet. Auf Drängen Simonas hatte er Erich dem Bärentöter ein paar Tips gegeben und ihm dafür das Versprechen abgenommen, nur Vierter zu werden. Sicher - es war Wahnsinn, die kleine Simona an diesen Bauernlümmel zu vergeben, aber erstens hatte sie es unbedingt so gewollt, und zweitens konnte man ja später noch etwas daran ändern. Mit Sofrejan, dem Prinzen der Sonneninsel, dessen Mutter zum Glück immer noch nicht aufgetaucht war, war man einig geworden, daß er das Turnier gewinnen sollte. Und die anderen Prinzen, die seine Schatzkammer mit den prächtigsten und erlesensten Kostbarkeiten gefüllt hatten, ahnten von nichts. Wie gesagt, alles war bestens geregelt. Da kam atemlos eine der Torwachen angerannt. »Laßt mich durch. Ich habe Befehl des Königs.« »Laßt den Mann sofort durch«, befahl der Weiße König mit durchdringender Stimme. Seine gute Laune schlug in schlecht verborgenen Nervosität um. »Nun? Rede! Was ist?« Er fingerte an seinem Schwert herum, während er den Boten lauernd ansah. »Wir wissen es noch nicht. Von Süden nähert sich eine große Staubwolke der Stadt.« »Was? Eine Staubwolke. Und...« »Herr!«, rief eine andere Wache, die gerade herbeigeeilt kam. »Es ist der Troß der Imperatrice der Sonneninsel.« Dem König fiel ein Stein vom Herzen. Wenn das alles war! Natürlich - die Alte war mit einem so pompösen Aufgebot anmarschiert, daß sie sich in einer Staubwolke verhüllte. Sehr gut, er würde ihr gutes Aussehen nach dieser langen und anstrengenden Reise loben, während sie sich den Dreck aus den Haaren schüttelte. Welch ein Spaß. Unwillkürlich mußte er lachen, und seine Untertanen, die seine Nervosität der letzten zwei Tage sehr wohl gespürt hatten, fielen erleichtert ein.
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* Imperatrice Beata hatte sich tatsächlich selbst übertroffen. Hundert Elefanten, zehn Giraffen und Nashörner und zweihundert Ritter auf feurigen Rössern bildeten ihr Gefolge und bewachten die Geschenke, die sie dem Weißen König und seinen Töchtern zu überbringen gedachte. Zwar haßte sie ihn genauso innig wie er sie, aber wenn es eine Möglichkeit gab, ihn mit haushoch übertriebener Großzügigkeit zu demütigen, dann ließ sie sich das gerne etwa kosten. Außerdem, so wie es aussah, würde der Schatz ja in der Familie bleiben. Sie war natürlich über die Machenschaften, die der Weiße König eingefädelt hatte, bestens informiert, und hatte sie ihrerseits unterstützt, denn auch sie versprach sich von dieser Hochzeit eine gute Partie. Immerhin schickte sie ihren Sohn, und der Weiße König nur seine Tochter. Wer würde also nachher das Sagen haben? Während der Zug sich langsam und würdevoll der Weißen Stadt näherte, eilten ihm die Gefolgsleute ihres Sohnes Prinz Sofrejan entgegen und reinigten die Tiere und Menschen vom Schmutz der Reise. Mit grimmigem Gesicht sah der Weiße König diesem Treiben von Weitem zu. Die Alte war wirklich mit allem Wassern gewaschen. Wenn sie durch das Stadttor ritt, würde man sich in ihrem federgeschmückten Prunkhelm spiegeln können. Naja, dachte der König sich, wenn's nicht schlimmer wird. Das ganze Volk strömte zum Südrand der Stadt, um der Imperatrice entgegenzujubeln. Auch die Wachen verließen überall ihre Posten, um dem Spektakel zuzusehen. Erst, als der Rittmeister das bemerkte, scheuchte er sie wieder zurück. Und so sah niemand, wirklich niemand unter den Tausenden von Menschen, die zu dieser Zeit in der Weißen Hauptstadt weilten, wer etwa gleichzeitig von Norden kommend in die Stadt einritt - allein und ohne Gefolge. Aber vielleicht wollte der Besucher auch noch gar nicht gesehen werden. Doch - einen Beobachter gab es, genauer gesagt eine Beobachterin: Elysiss. Sie hatte seit ihrer Prophezeiung die Stadt nicht mehr verlassen. Und als sie das Nahen des Schwarzen Königs spürte, da stellte sie sich ihm in den Weg. Die Beschützerin des Weißen Reiches stand in ihren leuchtenden, wallenden Kleidern kurz hinter dem nördliche Tor mitten auf der breiten, mit weißem Marmor gepflasterten Straße. Das Licht der Morgensonne ließ die weißen, blitzblank geputzten Häuser leuchten, und ihr Licht brach sich auf ihren strahlenden Kleidern. Der Schwarze König auf seinem Roß kam langsam näher, dann ließ er es direkt im Torbogen anhalten. Die beiden sahen sich lange an. Die Hexe Elysiss war schon viele hundert Jahre alt, sah aber aus wie eine junge Frau in den besten Jahren. Sie hatte silberweißes Haar und war von exotischer Anmut und Schönheit, doch ihr Blick war fest und unbeugsam. Wenn es sein mußte, konnte sie mit ihrer Magie hart und wirkungsvoll kämpfen, vor allen Dingen hier, auf ihrem eigenen Terrain. Der Schwarze König hingegen war wirklich fast so jung, wie er aussah. Ein unvoreingenommener Beobachter hätte ihn auf Mitte oder Ende Zwanzig geschätzt, tatsächlich war er 33. Nur seine Augen ... wer sie sah, war davon verwirrt und irritiert. Sie waren von einem hellen Blau, und sein Blick war eine so
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eigenartige Mischung aus Spott, Amüsiertheit und Nachdenklichkeit, wie man sie bei keinem anderen Menschen je gesehen hatte. Die beiden Mächtigen musterten sich lange Zeit schweigend. Dann beugte sich der Schwarze König etwas zu der Hexe herab und sagte mit sanfter und doch entschlossener Stimme: »Ich komme in Frieden.« »Und doch wirst Du Verzweiflung und Tod bringen. Geh! Ich bitte dich.« »Und wenn ich es nicht tue? Ich wurde nicht eingeladen, aber mit keinem der hier Anwesenden führe ich Krieg.« »Wenn du trotzdem in die Stadt reitest, kann ich dich nicht daran hindern, Schwarzer König. Und ich weiß, daß es dir nichts bedeutet, wenn die Sterblichen untereinander sich in blutigen Kriegen abschlachten. Aber wenn du meiner Bitte Folge leistest und wieder gehst, dann hast du einen Wunsch frei.« Langsam stieg der Schwarze König von seinem Pferd herab. Seine Bewegungen waren kraftvoll und kontrolliert. Man sah ihm seine Kraft und Geschicklichkeit sehr wohl an. Mit einem fast arroganten Lächeln ging er auf Elysiss zu und umrundete sie langsam. Die Hexe ließ es geschehen, und drehte sich nicht einmal um, als der König des Unendlichen Landes genau in ihrem Rücken stehenblieb. Dann ging er weiter, bis er wieder vor ihr stand. »Ich bin noch nicht vielen Menschen begegnet, die Eindruck auf mich gemacht hätten.« Er machte eine Pause und sprach dann weiter: »Wesen wie Dich gibt es im Unendlichen Land nicht. Das heißt, eigentlich doch, aber nur zwei.« Er blickte auf das Drachenbild auf seiner Rüstung. Während des Rittes waren ihm viele Menschen begegnet, doch wenn sie ihn sahen, sahen sie nur den Drachen an. Er war so ungewöhnlich, daß die meisten ihn in allen Einzelheiten beschreiben konnten, aber nicht einmal hätten sagen können, ob der Träger der Rüstung ein Mann oder eine Frau gewesen war. Der Drachen hatte helle Haut, fast wie ein Mensch, unnatürlich tiefblaue Augen und langes schwarzes Haar! Er saß auf seinen Hinterbeinen, die Flügel halb um den Körper zusammengefaltet, die Krallen der Vordertatzen fast verdeckt. Aus seinen Nüstern kräuselten sich zwei Rauchfahnen. Seine Haut war nicht geschuppt, sondern glatt. Und das Bild auf dem Brustpanzer wirkte so realistisch, daß man meinen konnte, der Drachen könnte jeden Moment herabspringen und lebendig werden. Vielleicht ahnte nur die Hexe Elysiss, daß dies tatsächlich geschehen konnte. Mit großen Augen blickte sie den Schwarzen König an. Ihr Atem ging auf einmal schneller und eine seltsame Erregung erfaßte sie. »Einen Wunsch ...«, wiederholte der Schwarze König mit fast hypnotisierender Stimme. Die Worte des Mannes lösten den seltsamen Bann wieder. Elysiss' Kopf zuckte ein ganz kleines Stück zurück, was der König mit einem ironischen Lächeln quittierte, das sich aber auch nur ganz kurz über
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seine Lippen flog. Die Hexe mußte zugeben, daß sie noch selten von jemandem so fasziniert gewesen war. »Weißt du«, sprach der Schwarze König weiter, »warum man mein Königreich das Unendliche Land nennt?« »Ich weiß es.« »Dann weißt du auch, daß ich schon alles habe: Unvorstellbare Reichtümer und große Macht. Du kannst mir nichts geben, was ich nicht schon besitze. Aber ich werde deiner Bitte auch ohne Gegenleistung teilweise folgen und auf eine Art und Weise dem Turnier zusehen, daß mich niemand erkennt. Ich verwandele ...« »Halt! Wer da?« brüllte plötzlich eine andere Stimme. Erschrocken fuhr Elysiss herum. Doch es war zu spät. Der Ruf der Wache hatte schon viele Leute aufgeschreckt, die nun neugierig herübersahen. Doch es genügte eine halbe Sekunde, um jedermann klarzumachen, wer da gerade dabei war, die Stadt zu betreten. »Es tut mir leid, Hexe Elysiss. Weder Du noch ich vermochten das Schicksal aufzuhalten!« Wortlos, mit unendlich traurigem Gesicht, löste die Zauberin sich vor seinen Blicken auf und verschwand. Und dann waren schon die Wachen da und umringten den Schwarzen König mit ihren Schwertern und Lanzen. * Der Zug der Imperatrice hatte inzwischen die Stadt erreicht. Wie es sich gebührte, war der größte Teil des Trosses draußen, auf dem Platz des Prinzen geblieben, nur relativ wenige Reiter und zwei Elefanten ritten in die prächtig geschmückte Stadt ein. Trotz der Hitze und Trockenheit, die jetzt im August herrschte, blühten überall bunten Blumen, alle Straßen und die Fenster der Häuser waren geschmückt, und die Mädchen hatten sich Blumengebinde ins Haar geflochten. Nicht nur die vier Prinzessinnen sollten bei diesem Fest verheiratet werden. Vor dem Wachhaus ließ die Imperatrice ihren Elefanten abknien. Einer der Diener eilte mit einer vergoldeten Treppe herbei, über welche die Herrscherin der Sonneninsel herabschwebte. König Heinrich, der am oberen Ende der Rampe stand, musterte sie mit breitestem Lächeln. Früher war Beata eine große Schönheit gewesen, aber ihre Arroganz, ihre Bosheit und auch das Alter hatten deutliche Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen, die auch durch die geschickt aufgetragene Schminke nicht mehr überdeckt werden konnten. »Meine verehrteste Imperatrice!« rief er so freundlich, wie er konnte. Doch weiter kam er nicht. Ein Schatten fiel über ihn und alle Anwesenden. Ruckartig drehte er sich um. Die Wachen schleppten den Schwarzen König herbei. Der Weiße König glaubte, sein Herz müsse stehenbleiben. Es war, als verfinstere sich der Tag.
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Beata schrie hysterisch auf und stürzte dem König des Unendlichen Landes entgegen. »Was willst du hier, du Dämon?«, kreischte sie. In höchster Erregung fuhr sie herum. »Wer hat den eingeladen? Wir reisen sofort wieder ab!« Ein Tumult brach aus. Hysterisch schrie die Imperatrice den Weißen König an. Ihre Garde fuchtelte nervös mit den Waffen herum und die Weißen Soldaten hielten zitternd ihre Lanzen an die Kehle des Zauberers gedrückt. Sie hatten den Schwarzen König in Ketten gelegt, doch als diese durch den Körper des Mannes wie durch Luft hindurchfielen und klirrend am Boden landeten, war es mit der Beherrschung der Soldaten vorbei. Sie warfen ihre Lanzen und Schwerter weg und rannten schreiend davon. Ruhig, mit seinem unnachahmlichen, ironischen Lächeln, ging der Schwarze König auf die Imperatrice zu. »Wie konnte der Weiße König nur so naiv sein, eine Hexe wie dich hierher einzuladen.« Beata war verstummt. Ihr Gesicht war weiß wie der Tod, nur ihre Augen funkelten bösartig. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können, als der Schwarze König fortfuhr: »Oder bist du mir böse, weil ich deine Kristallkugel, mit der du mir immer nachspioniert hast, endlich zerstören konnte?« Er ließ die Frau, die in den wenigen Augenblicken um Jahre gealtert war, stehen und wandte sich dem Weißen König zu: »Ich möchte dem Turnier als Zuschauer beiwohnen. Das könnt ihr mir doch nicht abschlagen, oder?« Ein langer, eigenartiger Blick traf den Weißen König und ließ ihn bis ins Innerste erschaudern. Mit einem mal bekam er keine Luft mehr. Niemand bemerkte, wie oben, am Ende der Rampe, das riesige Portal einen Spalt weit aufgedrückt wurde und die vier Prinzessinnen, die der König zum Empfang der Imperatrice in den Audienzsaal geschickt hatte, hervorstürmten. Neben ihrem Vater erst hielten sie an und drängten sich wie verschreckte Welpen ängstlich aneinander. Und dann trafen sich die Blicke von Ornella und dem Schwarzen König, und von diesem Moment an wußte die Prinzessin, daß sie nie einen anderen Mann als diesen würde lieben und heiraten können. Hitze und Kälte durchzuckten sie gleichzeitig und ihr Atem stockte. Wie festgesaugt hingen ihre Blicke an dem Zauberer. Alessandra, die neben ihr stand, die Hände zu Fäusten geballt, bereit, auch ohne ihr Schwert sich auf den Fremden zu stürzen, bekam wie im Traum mit, was mit ihrer Schwester geschah. Sie spürte geradezu den Stromstoß, der Ornella durchzuckt hatte, als der König des Unendlichen Landes sie angesehen hatte. Vergessen war der Wunsch der Ältesten, Königin zu werden. Nein, nur zu diesem Mann wollte sie gehören, und wenn sie dazu persönlich durch die Hölle gehen mußte. Dann sah der Schwarze König Alessandra an, und das Mädchen glaubte, zu Feuer und Eis gleichzeitig zu werden. Dieser Blick, diese hellblauen Augen, dieser Gesichtsausdruck - es war kein anderer als der Schwarze Wolf. Der Wolf des Zauberwaldes, an dessen Schulter sie sich ausgeweint hatte! Aber ... Seltsamerweise empfand sie für den Schwarzen König keine Liebe, dafür aber ein Gefühl der Vertrautheit und Verbundenheit, wie sie es noch nie zuvor in ihrem Leben gefühlt hatte. Ein Schwindel erfaßte sie.
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Erst die Stimme ihres Vaters brachte sie zurück in die Realität. Die Wache war unter dem persönlichen Kommando des Rittmeisters zurückgekehrt und drängte den Schwarzen König nun mit heftiger Gewalt weg vom Weißen König, seinen Töchtern und der Imperatrice, und führten ihn ab. Der ließ es ohne Widerstand mit sich geschehen. Die Herrscherin der Sonneninsel war inzwischen vor Wut, Scham und Erregung so knallrot geworden, daß man in einem weniger ernsten Moment hätte wetten können, sie würde im nächsten Augenblick zerplatzen. Tränen der Wut und Empörung liefen ihr die faltigen Wangen herab, aber sie beherrschte sich mit unvorstellbarer Konzentration, stieg wortlos, wenn auch vor Erregung und Haß zitternd, auf ihren Elefanten und ritt davon. Minuten später, der Weiße König hatte sich immer noch nicht von seinem Schrecken erholt, hörte man ihre Stimme vom Lagerplatz. Der Platz war mehrere Kilometer weg und lag hinter zahlreichen Häusern und der Stadtmauer. Dennoch konnte man vor dem Palast jedes Wort verstehen. Nie hatte der König jemanden so schreien hören. Keine halbe Stunde später war das Feld leer. * Zitternd ließ der König sich in seinen Thron fallen. Seine Töchter waren bei ihm, zumindest körperlich. Ornella war allerdings im Moment nicht ansprechbar, und auch Alessandra war mit ihren Gedanken weit, weit weg. Simona und Olivia waren völlig verstört und verängstigt. Olivia, weil sie den Schwarzen König fürchtete, und Simona, weil sie nicht verstand, warum alle anderen so panisch reagiert hatten. Der Fremde hatte doch gar nichts getan. Aber allein durch sein Erscheinen hatte er großen Unheil gesät. Er mußte wirklich böse bis ins Innerste sein, denn er hatte alle verhext, obwohl er doch so gut aussah. »Majestät!« Der Majordomus und an seiner Seite der Rittmeister und der Kerkermeister stürmten in den Saal. »König, vergebt uns, aber der Schwarze König - er ist geflohen.« »Ja, er ist einfach verschwunden. Wir haben ihn in die sicherste Zelle gesperrt, die wir haben. Aber als wir wieder nach ihm sahen, war er weg. Er hat sich in Luft aufgelöst.« »Seien wir froh, daß er weg ist«, bekräftigte Adalbert. Der König war grau im Gesicht geworden. Auch der Tag war grau geworden. Die bunten Blumen draußen auf den Straßen - sie schienen ihre Farbenpracht verloren zu haben. Aus der Freude war schlecht verhüllte Angst geworden. Doch da besann der König sich auf seine Position. Er durfte jetzt nicht aufgeben. Er mußte seinem Volk ein leuchtendes Vorbild sein. Und war nicht das Böse, wenn schon nicht besiegt, so doch zumindest erst mal vertrieben worden? Der Weiße König holte tief Luft, erhob sich mit eine energischen Bewegung und verkündete mit fester Stimme: »Das Turnier findet statt wie geplant.«
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Allerdings ohne Prinz Sofrejan. Ohne die lohnende Aussicht auf eine Vereinigung mit der Sonneninsel. Warum nur hatte das passieren müssen? Womit hatte er diesen Schicksalsschlag verdient? Daß der Schwarze König nicht die geringsten Anstalten zu einer Grausamkeit gemacht hatte, das spielte im Bewußtsein aller Beteiligten keinerlei Rolle, mit drei Ausnahmen: Elysiss und den Prinzessinnen Alessandra und Ornella. Langsam beruhigte sich der Weiße König wieder etwas. Daß das erst der Anfang gewesen war, konnte er nicht ahnen. Doch die nächste Katastrophe näherte sich schon seinem Palast. Es war Prinz Nuitor, der von vier Sklaven auf einer Sänfte die Rampe zur Vorhalle heraufgetragen wurde. * Jemand, der nichts davon verstand, hätte vielleicht meinen können, daß königliche Turniere sportliche Wettkämpfe waren, bei denen es um die Ehre, den Sieg und die Trophäe ging, und bei denen der beste Ritter gewann. Doch dem war ganz und gar nicht so. Ein Turnier war im Grunde ein streng ritualisiertes gesellschaftliches und auch diplomatisches Ereignis auf höchster Ebene, bei dem das Ergebnis mehr oder weniger schon vorher feststand. Der Veranstalter hatte es durch zahlreiche Manipulationen in der Hand, wer gewann, und wer schon gleich am Anfang ausschied. Er gab zum Beispiel die Waffen aus. Der vorgesehene Sieger erhielt die beste Lanze, der Verlierer eine, die man vorher so präpariert hatte, daß sie beim ersten Stoß abbrach. Natürlich hätte ein Teilnehmer darauf bestehen können, seine eigene Lanze zu benutzen. Damit hätte er aber dem König vor aller Öffentlichkeit zu verstehen gegeben, daß er ihm nicht traute. Eine solche Demütigung wäre fast einer Kriegserklärung gleichgekommen. Das Aus-dem-Verkehr-Ziehen von Kandidaten, die man nicht so einfach mit solchen Tricks am Gewinnen hindern konnte, war ebenfalls eine allgemein anerkannte Praxis, wenn auch natürlich nie jemand offen darüber sprach. Es verstand sich einfach von selbst. Selbstverständlich durfte dem Kandidaten nichts ernstliches geschehen, er mußte nur für ein paar Tage plötzlich erkranken oder etwas in dieser Art. Daß der Kandidat über so etwas nicht sehr erfreut war, war auch klar, aber meistens fügte er sich in die hohe Politik. Doch diesmal nicht. * »Majestät! Prinz Nuitor.« Der Weiße König wurde blaß. Sollte das heißen ... Die Türe öffnete sich langsam und mit einem enervierenden Quietschen, da gar kein Ende nehmen wollte. Endlich trat der Prinz des Arcadia-Landes ein, eskortiert von seinen vier Sklaven, allesamt schwer bewaffnete, fuchrterregende Krieger. Man sah Nuitor an, daß er ziemlich schwach auf den Beinen war, sein Gesicht war von unnatürlicher Blässe, und kalter Schweiß stand auf seiner Stirn. Trotzdem trat er aus eigener Kraft vor den König hin und sagte mit hastiger und heiserer, aber dennoch wild entschlossener Stimme: »Majestät. Auf mich wurde ein Giftanschlag ausgeübt und ich ersuche Euch als Veranstalter dieses Turniers, mir umgehend den Schuldigen zu bringen, damit er bei uns zu Hause hingerichtet werden kann. Ich bin sicher, daß Spione des Schwarzen Königs dabei ihre Hände im Spiel hatten.«
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Der Weiße König wußte, daß sein Urgroßneffe ganz genau wußte, wer den Anschlag in Wirklichkeit angeordnet hatte, und daß die Erwähnung des Schwarzen Königs nur als Vorwand diente. Seine Forderung nach Hinrichtung war praktisch so gut wie eine offene Kriegserklärung. Aber selbst das genügte dem Prinzen noch nicht. Erregt fuhr er fort: »Solltet ihr mir den Schuldigen nicht bis zum Abend übergeben haben, bedeutet das Krieg. Außerdem verlange ich, daß das Turnier ausgesetzt wird, bis ich wieder im Vollbesitz meiner Kräfte bin.« Er wartete keine Antwort ab, sondern drehte sich brüsk um und verließ dann, gestützt auf einen seiner Krieger, den Audienzsaal. Von draußen hörte man den Lärm von der Straße und dem Marktplatz hereinschallen. Die Leute waren aufgeregt, fast hysterisch, und verlangten, ihren König zu sehen. »Was soll ich nur tun?«, fragte er verzweifelt in Richtung Adalberts, der einige Schritte neben ihm stand. »Blast das Turnier ab. Der Schwarze König hat es verflucht, es kann nun nicht mehr stattfinden.« »Und die Geschenke, die Schätze? Und meine Töchter?« Verzweifelt ließ er den Kopf sinken. Da trat der Rittmeister vor ihn hin und sagte mit seiner festen, schneidenden Stimme: »Majestät, laßt mich das machen.« Als Rittmeister war Reimund von Walldorff der Chef der Palastgarde, der Polizei der Hauptstadt und auch der Grenzposten. Er war ein Schrank von einem Mann, sehr ehrgeizig, oft grob und verletzend zu seinen Leuten, aber der heimliche oder offene Schwarm eines jeden Mädchens der Weißen Hauptstadt. Er hatte stechend blaue Augen, wildes, rotblondes Haar, manchmal trug er einen Bart, wie es ihm gerade gefiel, und er hatte Bärenkräfte. Als kleiner Junge schon hatte er sich mit jedem Burschen, der ihm dumm daherkam, geprügelt und meistens gewonnen. Allerdings hinkte er seit dieser Zeit ein bißchen. Nicht viel, man sah es nur, wenn man darauf achtete. Bei einer seiner Schlägereien war er von hinten niedergeschlagen worden und war so unglücklich gestürzt, daß er sich das linke Bein mehrmals gebrochen hatte. Doch das hatte ihn nicht an einer steilen Karriere bei der königlichen Garde gehindert, der er seinen ganzen Ehrgeiz gewidmet hatte. Deshalb war er auch noch nicht verheiratet, obwohl er schon über Dreißig war. Für ein Mannsbild seines Kalibers ziemlich ungewöhnlich. Doch er sagte immer: »Wenn ich ein Weib will, dann kriege ich es auch. Wozu heiraten?« Aber er war nicht nur ein Schläger, sondern auch ein heller Kopf, ein hervorragender Organisator und ein ergebener Diener seines Königs. Und jetzt, in dieser verzweifelten Stunde, wollte er glänzen und sich bewähren. Als erstes ließ er im Rekordtempo seine Männer antanzen. »So, ihr Burschen, jetzt wird mal ordentlich rangeklotzt. Du! Du nimmst dir vier Soldaten und treibst den Pöbel vom Schloß weg.« »Zu Befehl!«
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»Du, Hans! Du machst mit deinen Leuten den Turnierplatz dicht. Das Fest fällt aus, klar?« »Aber ...« »Quatsch nicht, beweg deinen Hintern, und zwar 'n bißchen plötzlich!« »Sehr wohl, Herr!« »Und ihr zwei Figuren kommt mit mir. Ich Werde den Höflingelchen eine Ansage machen. Ach ja. Das wichtigste hätte ich beinahe vergessen. Eberhard! Du schwingst deinen Arsch auf's Pferd und schaffst mir die vier Schwachköpfe von der Schwarzen Grenze hierher. Und wenn sie nicht in vier Tagen hier antanzen, dann komme ich mit dem Teufel persönlich und hole sie. Los, Abmarsch! So! Und wer noch übrig ist, besetzt die Posten und die Stadtmauer. Wenn irgendwo Unruhe ausbricht, werden die Leute auseinandergetrieben. Los, bewegt euch gefälligst!« Dann stapfte er los. * Ziemlich verschüchtert saßen Ornella, Olivia, Alessandra und Simona in Olivias Zimmer. Ornella war noch immer geistig ziemlich abwesend, aber immerhin wieder ansprechbar. Sie saß auf einem Kissen am Fenster und blickte hinaus ins Leere - nach Nordwesten, wohin auch Alessandra oft ihre Blicke und Gedanken hatte schweifen lassen. Olivia lag bäuchlings auf dem Bett, den Kopf auf die Hände gestützt, und wippte mit den Beinen. Sie war schockiert und gleichzeitig verärgert über den Verlauf der Dinge. Was hätte es für ein schönes Fest werden können! Gedankenverloren spielte sie mit dem Ring, den der so eilig abgereiste Prinz Sofrejan ihr geschenkt hatte. Was für ein Mann! Daß er quasi Ornella zugeschachert worden war, naja. Vielleicht... Aber dieser verfluchte Schwarze König hatte alles verdorben. Es hatte nur ein Gutes: Sofrejan war jetzt immer noch zu haben. Alessandra war mit ihren Gedanken ähnlich weit weg wie Ornella. Sie ließ die Frage nicht los, ob der Schwarze Wolf nicht in Wirklichkeit der Schwarze König gewesen sein könnte. Wieder und wieder rief sie sich das Gesicht des Schwarzen Königs in die Erinnerung, als sein Blick den ihren gekreuzt hatte. Sie schüttelte den Kopf, aber das half ihr auch nicht, ihre Gedanken zu klären. »Also, ich halte es hier nicht mehr aus«, rief Simona entschlossen. »Der Rittmeister hat das Turnier abgesagt, und mein Erich ist schon dabei aufzubrechen. Ich... ich muß zu ihm!« Entschlossen sprang sie auf, doch keine ihrer Schwestern reagierte. Das machte sie unsicher, denn sie hatte mit heftigem Widerspruch gerechnet, doch dann faßte sie Mut und verließ das Zimmer. Sie lief hastig die Wendeltreppe hinab, durch die Vorhalle und zum Schloß hinaus. Ihre Füße flogen nur so über das Pflaster bei dem Gedanken, der König der Eisleute könnte schon weg sein, doch dann rannte sie durch das Stadttor auf das Lagerfeld und sah noch alle die Zelte aus Bärenfellen da stehen, wo sie in den vergangenen Wochen immer gestanden hatten. »Erich, Erich!« rief sie und stürmte in sein Zelt.
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Der König des Blauen Landes sah sie überrascht an, doch dann lächelte er sie freundlich an und nahm sie in seine starken Arme. »Wenigstens unsere Verbindung soll von dem Fluch verschont bleiben, den der Schwarze König über dieses Land gelegt hat«, meinte er schließlich. »Wenn du es willst, werde ich noch heute deinen Vater um deine Hand bitten.« Der jungen Prinzessin stiegen die Tränen der Freude in die Augen, als sie ihm »ja« zuhauchte. Und dann küßten sie sich lange und innig. »Also, Mädelchen. Gehen wir.« Erich war eben kein Mann langer Worte. Draußen vor dem Zelt aber stand Olivia. Sie zerrte ihre Schwester beiseite, als sie hinaustrat, und zischte ihr zu: »Bist du verrückt, an so einem Tag ans Heiraten zu denken. Und wie stellst du dir das vor? Bei diesem Wilden! Du kannst doch nicht mit ihm nach wilden Tieren jagen. Hast du schon mal daran gedacht, daß du in Zukunft deine Kleider selbst waschen mußt. Und kochen. Und Tiere schlachten und ausnehmen.« Sie verzog vor Ekel das Gesicht. Simona aber riß sich los und flüchtete zurück zu ihrem Geliebten. Doch dann sah sie ihn fragend an: »Ist das wahr? Muß ich wirklich Bären fangen.« Erich sah sie lange an, doch dann platzte es geradezu aus ihm heraus: ein schallendes Gelächter, und Simona konnte nicht anders, mit ihrer hohen Stimme fiel sie ein, und sie lachten, bis ihnen die Bäuche weh taten. Dann nahm Erich die junge Prinzessin an der Hand und marschierte mit ihr zum Schloß. Die Wachen ließen die beiden passieren, da sie keine anderslautenden Instruktionen hatten. Und so trat Erich der Bärentöter vor den gramgebeugten Weißen König hin und rief mit seiner lauten Stimme: »Majestät, hiermit halte ich offiziell um die Hand Eurer Tochter Simona an. Sie ist auch damit einverstanden, und die Hochzeit soll noch heute stattfinden.« Der Weiße König sah die beiden an, als wären sie geradewegs der Klapsmühle entsprungen. Die Wachen schielten schon nervös zu ihren Waffen, doch unternahmen noch nichts. »Simona, du gehst sofort auf dein Zimmer. Auf der Stelle. Und Ihr, Erich, verlaßt sofort mein Schloß!« brüllte er außer sich. Die beiden Verliebten waren wie vor den Kopf gestoßen. Und mit dem, was nun folgte, setzte der Weiße König seinem schwärzesten Tag sozusagen das Sahnehäubchen auf. Erich schnappte sich mit der Linken die Prinzessin, mit der Rechten riß er sein Schwert aus der Scheide, dann stürmte er zur Tür hinaus. Die Wachen, die sich ihm in den Weg stellen wollten, warf er einfach zur Seite. Mit Riesenschritten ging es die Rampe hinunter. Am Wachhaus angekommen hieb er mit einem einzigen Schlag einen Ritter vom Pferd, schwang sich selbst darauf, die Prinzessin immer noch unter dem Arm, und galoppierte zur Stadt hinaus. Mit brüllenden Rufen alarmierte Erich seine Leute. Sie rafften ihre wichtigsten Habseligkeiten zusammen, vergaßen auch das Gold nicht, zündeten dann die Zelte an, schwangen sich auf ihre Pferd und waren so
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schnell auf und davon, daß die nachrückende Garde nur noch eine Staubwolke sah. * Rittmeister Reimund ließ sie durch das ganze Reich jagen, aber schon nach einem halben Tag hatten seine Leute die Spur verloren. Die Fallensteller hatten sich in die dichten Wälder abgesetzt, wo sie so leicht niemand finden und verfolgen konnte. Und so wurde nicht Ornella, sondern die junge Simona Königin. Zwar nicht die Weiße, aber immerhin die Blaue. Denn als der Trupp Erichs nach zwei Wochen wilder Flucht und Verfolgung durch den überaus hartnäckigen Rittmeister im Eisland eintraf, wo sie in Sicherheit waren, da bestelle der Bärentöter im ersten besten seiner Hüttendörfer, die sie passierten, den Dorfvorsteher, um die Hochzeit zu schließen. Und oh Wunder, die blutjunge Königin wurde der ausgemachte Liebling dieses rauhen Volkes, von allen verehrt und geliebt. Ihr fröhliches, unkompliziertes Wesen ließ ihr alle Herze zufliegen. Und als sie Erich das erste Mal mit auf die Jagd nahm, da erlegte sie zwar keinen Bären, aber immerhin ein Reh. Sie weidete es persönlich unter Erichs Anleitung aus, briet es ihren Leuten am Spieß, und dieses einfache Essen, serviert auf grob zurechtgeschnitzten Holzbrettern an einem rauchenden Lagerfeuer inmitten einer Märchenlandschaft aus Eis und Schnee, war das leckerste, daß sie je in ihrem Leben gegessen hatte. * Über die Kriegserklärung, die ihr Vater ihrem Gemahl schickte, war sie sehr traurig, doch Erich beruhigte sie: zu weit entfernt war das Blaue Land vom Weißen Königreich, als daß eine echte Gefahr bestanden hätte. Im Grunde war es nichts als eine diplomatische Formalität, mit der der Weiße König sein Gesicht wahren wollte.
1. Teil - Zweites Kapitel - Die Schwarze Königin Vergangenheit: etwa 12 Jahre früher. Der Mann hieß Schogan Liss, aber sein späterer Herr sollte ihn meist Numero rufen. Er war Lehrer für Militärstrategie und Organisation an der berühmten Stragegenschule von Siinabal, trug den Titel eines Strategen, und als er seinen ersten Mord beging, war er 41 Jahre alt. Es war dunkel geworden, und der Mond spiegelte sich im Siina-Fluß, der an dieser Stelle an die 500 Meter breit war. Wenn man genau hinsah, konnte man drüben, am anderen Ufer, die Silhouette der Fischerboote erkennen, die der Weiße König seinen Untertanen dort einst geschenkt hatte, damit sie ihm immer frischen Fisch liefern konnten. Doch für solche Dinge hatte der Mann, der, in einen dunklen Umhang gehüllt, die Uferstraße entlangschlich, keine Zeit.
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Aus den Hafenkneipen erscholl Lärm, Musik und lautes Gelächter. Die Leute hatten Grund zum Feiern. Eine große Karawane der Wüstennomaden war heute eingetroffen und die Waren wurden nun hier umgeschlagen. Dies bedeutete eine sehr profitables Geschäft für alle, die daran beteiligt waren. Und die Bürger Siinabals hatten dafür gesorgt, daß keiner der Ihren zu kurz kam. Seit die Stadt im schon ewig dauernden Erbfolgestreit zwischen dem Weißen Königreich und Arcadia-Land ihr Unabhängigkeit endgültig hatte sichern können, hielten die Bürger zusammen wie Pech und Schwefel. Schogan Liss haßte diese Leute, die in seinen Augen kleinkarierten Krämer waren. Er war zwar hier geboren, damals, als Siinabal zeitweilig zu Arcadia-Land gehört hatte. Dann aber, noch als halbes Kind, war er fortgegangen und in den Dienst des Königs Karl aus dem Norden getreten, und erst vor wenigen Jahren wieder in seine Heimatstadt zurückgekehrt. Er hatte gehofft, durch die Unabhängigkeit wäre die Stadt auch weltoffener geworden. In gewissen Sinne war sie das auch: Es kamen mehr Fremde hierher als früher. Siinabal war der ideale Handelsplatz, wenn man von Westen kam und den Weg bis zur Freien Stadt Gel-Almanaum scheute, die knapp zwei Tagesritte flußabwärts lag. Trotzdem gefiel es Schogan Liss hier nicht; die Leute waren immer noch die gleichen kleinkarierten Spießer. Nur seine Arbeit machte ihm Spaß. Er analysierte vergangene Schlachten und ergründete, warum der eine gewonnen und der andere verloren hatte. Und dieses Wissen brachte er dann seinen Schülern bei. Es waren junge Männer aus allen Reichen darunter, Einheimische natürlich kaum, denn die Stadt war viel zu klein, um eine nennenswerte eigene Armee zu unterhalten. Aber ihre Militärschule war weithin berühmt. Die Karawane, die heute eingetroffen war, hatte auch unter seinen Schülern Anlaß zu einer spontanen Feier erweckt. Dabei war reichlich Wein und Bier geflossen, nur Liss hatte, wie immer, nichts getrunken. Der Alkohol hatte die jungen angehenden Offiziere gesprächig gemacht, und sie hatten angefangen, mit ihrer Herkunft zu prahlen. In der Tat waren die meisten von ihnen Edelleute, einige hatten sogar königliches Blut in ihren Adern. So hatte Schogan Liss mitbekommen, daß Graf Marmat, ein Leutnantsanwärter, in seiner Stadtwohnung eine beachtliche Summe Geld aufbewahrte, aus der er seinen nicht eben bescheidenen Lebensunterhalt in Siinabal bestritt. Da hatte der Stratege beschlossen, dieses Geld an sich zu bringen und sich damit irgendwo ein neues Leben aufzubauen. Er entwarf einen sicheren Plan - so sicher, daß er schließlich scheitern mußte. Nach dem Unterricht waren die Männer, wie üblich, in den bekannten Wirtshäusern am Hafen verschwunden. Liss hatte beschlossen, die Abwesenheit Marmats von seiner Wohnung nicht auszunutzen, denn die Eingangstüre würde verschlossen sein, und Erfahrung als Einbrecher besaß er nicht. Wenn der Graf aber zurück kam, irgendwann tief in der Nacht, dann würde er betrunken sein und die Tür sicherlich nicht mehr hinter sich abschließen. Er würde in sein Bett fallen, falls er es überhaupt soweit schaffte, und bis zum Morgen schlafen. Zeit genug für Liss, die Wohnung zu durchsuchen, das Geld zu stehlen und damit für immer zu verschwinden. Und so verfolgte er den Grafen heimlich bei seiner Kneipentour, lauerte ihm auf und folgte ihm schließlich, als er kurz vor Mitternacht in Richtung seines Hauses torkelte. Doch er war nicht allein. Zwei seiner Mitschüler waren bei ihm. Verärgert sah Liss, wie sie zielsicher auf die Wohnung des einen von ihnen zusteuerten, die gleich um die Ecke lag. Es war klar, daß Graf Marmat heute nicht mehr nach Hause kommen würde. Der Stratege unterdrückte einen Fluch. Als militärischer Berater war er in der Theorie eine anerkannte Koryphäe, doch in der Praxis drohte er nun zu scheitern und das machte ihn wütend. Wütend und damit unvorsichtig. Er folgte den Dreien bis zu ihrer Wohnung und wartete dann ab, bis er nichts mehr hörte.
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Hastig sah er sich um. In keinem der Häuser brannte mehr Licht. Die Straße, in der er sich befand, führte geradewegs hinunter zum Hafen, und man konnte das leise Plätschern und Murmeln des Flusses hören, wenn es so still war wie jetzt. Nur der Mond spiegelte sich auf den Wellen, die die pechschwarze Oberfläche des träge dahinfließenden Wassers kräuselten. Liss zuckte zusammen, als irgendwo eine Tür knallte und ein Betrunkener sich mit lauter Stimme von seinen Zechkumpanen verabschiedete. Dann war es wieder ruhig. Seine Hände waren eiskalt und zitterten ein bißchen. Entschlossen umfaßte er den Griff des Dolches, den er mitgenommen hatte. Das beruhigte ihn etwas. Dann huschte er auf die Eingangstüre zu und drückte sie vorsichtig auf. Er atmete erleichtert auf, als sie lautlos nach innen schwang. Er schlüpfte hindurch, schloß sie wieder, und tastete durch die Dunkelheit an der Wand entlang, bis er auf die Treppe stieß. So leise wie möglich schlich er hinauf. Allmählich gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit, und er konnte sich besser orientieren. Im zweiten Stock führten zwei Türen vom Korridor in zwei Wohnungen. In der einen wohnte vielleicht der Eigentümer des Hauses, in der Wohnung nach vorne, zur Straße hin, sein Schüler. Auch diese Tür war nicht abgeschlossen. Vorsichtig drückte Liss sie auf. Fast bleib sein Herz stehen, als ihm helles Licht entgegenfiel. Aber es war nur eine Kerze, die zu löschen vergessen worden war. Sie war sowieso schon fast heruntergebrannt und würde bald von selbst ausgehen. Um so besser. Die drei Offiziersanwärter schliefen nämlich tief und fest. Die bekam so schnell keiner mehr wach. Ihr lautes Schnarchen machte den Strategen noch nervöser. »Kein Wunder, daß ihr so schlecht im Unterricht seid«, zischte Liss ihnen verächtlich zu. Ja, er würde es schaffen und als reicher Mann woanders ein neues Leben anfangen. Nie wieder würde er sich mit solchem blasierten Pack herumärgern müssen. »Idioten wie Euch zu unterrichten, ist wahrhaftig Perlen vor sie Säue geworfen.« Der ganze Haß, den er so lange in sich getragen hatte, brach aus ihm hervor und er verfluchte sein Schicksal und die, die seiner Ansicht nach daran Schuld waren. Als die Tür leise aufschwang, hörte er es nicht. »Ruhig jetzt, Schogan«, flüsterte er zu sich selbst. »Mit denen rechne ich später ab. Ich werde sie alle vernichten. Alle vernichten!« Er wandte sich Graf Marmat zu und wollte ihm den Schlüssel von seinem Gürtel, an dem er hing, herunterschneiden, als ihm der Beutel mit Golddublonen auffiel, der direkt daneben hing. Er schnitt auch diesen ab und steckte ihn ein. Die anderen mußten doch auch Geld bei sich haben. Er beugte sich über den nächsten, fand den Goldbeutel und nahm ihn an sich. Dann sah er sich nach dem Dritten um. Sein Blick streifte die Tür, und als er den kleinen Jungen darin stehen sah, der ihn schon wer weiß wie lange beobachtet hatte, da blieb ihn fast das Herz stehen. Was danach geschah, daran konnte er sich nicht mehr so genau erinnern. Er stieß einen erstickten Laut aus und warf sich auf das Kind. Was er getan hatte, wußte er nicht mehr, aber plötzlich war alles voller Blut, und der Junge brach polternd auf dem Boden zusammen. Irgendwo wurde ein Tür geöffnet und ein Name gerufen, aber Schogan Liss war bereits die Treppe heruntergestürmt. Gerade, als er ins Freie trat, ertönte oben der Schrei, ein gellender Schrei, der sofort die halbe Straße aufweckte.
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In blinder Panik floh der Stratege, immer mehr in die Enge getrieben, bis ihm schließlich durch den Fluß die Flucht aus Siinabal gelang. Es graute schon der nächste Morgen, als er völlig erschöpft am anderen Ufer zusammenbrach. Hier war das Weiße Königreich, aber in Sicherheit war er noch lange nicht. Im Gegenteil. Beide Seiten buhlten stets um die Gunst der unabhängigen Städte, und die Weiße Garde würde sich daher alle Mühe geben, einen flüchtigen Verbrecher zu fangen und den Richtern Siinabals zu übergeben. Wie das Urteil lauten würde, das war dem Strategen klar: Tod durch Scheiterhaufen, vorher wahrscheinlich noch Folter. Mit letzter Kraft floh er ins Unterholz. Später überfiel er eine alte Kräuterfrau und nahm ihr das Essen weg. Dann versteckte er sich wieder in den Wäldern. Er wandte sich nach Nordwesten, sein Ziel war das Schwarze Königreich. Dieses Land war eine Legende, und wenn es für einen wie ihn Erlösung oder ewige Verdammnis gab, dann dort. Und so floh er weiter, wich Dörfern aus, überfiel des Nachts einzeln stehende Bauernhäuser, tötete manchmal die Bewohner, wenn sie Widerstand leisteten, und bewegte sich auf vielen verschlungenen und dunklen Pfaden auf das Schwarze Reich zu. Einmal wurde er fast von einer Patrouille gefangen. Es war Nacht und er fühlte sich sicher. Vor ihm lag ein großer Bauernhof, den er schon den ganzen Tag beobachtet hatte. Er hatte nur vier Bewohner gezählt, darunter einen sehr alten Mann und zwei Kinder. Und mit dem Bauern, der keinen sehr kräftigen Eindruck gemacht hatte, würde er schon fertig werden. Der Wald reichte bis dicht an den Hof heran, so konnte Schogan unentdeckt bis fast an das Wohnhaus gelangen. Doch irgend etwas warnte ihn, etwas war nicht so, wie es sein sollte. Die Pferde! Er hörte deutlich das Scharren ihrer Hufe im Stall und das Klirren des Zaumzeugs. Und es waren viele. Nein, nur weg von hier! »Da, Leutnant von Walldorff. Da läuft einer!« »Los, du verdammter Penner, mach' endlich das Tor auf! Wenn er entwischt, dann reiß ich euch den Arsch auf, verlaßt euch drauf!« Aber da war Schogan schon im dichten Unterholz verschwunden. Zum Glück hatten sie keine Bluthunde dabei. Die Soldaten suchten ihn die ganze Nacht, und die schneidende Stimme des Reiter-Leutnants, der ihm diese Falle gestellt hatte, würde er nie vergessen. Solche Schüler hätte er sich in Siinabal gewünscht. Aber sie fanden ihn trotzdem nicht. * Es war kurz nach dem ersten Schnee, als er das Unendliche Land erreichte. Er war stark abgemagert, aber er hatte gelernt, Hunger und Strapazen zu ertragen. Ein langer, struppiger Bart verdeckte sein Gesicht, sein Kleider, die er vor einigen Wochen einem Handelsreisenden geraubt hatte, waren ihm zu klein und starrten vor Dreck. So stapfte er durch den Schnee, immer die Grenze vor Augen, hinter der sich sein Schicksal erfüllen mußte, so oder so.
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Und dann überschritt er sie, diese nirgends markierte und doch für Jeden fühlbare Grenze, die das Weiße Königreich vom Unendlichen Land trennte. Unmittelbar dahinter brach er zusammen. Aber keine Ohnmacht erlöste ihn. Er lag einfach nur so da, im Schnee, der wie ein weißer, dünner Flaum das Land in der Nacht weiß gefärbt hatte, und starrte mit weit geöffneten Augen ins Nichts. Langsam kroch die Kälte in ihm hoch. Wie lange er so da lag, wußte er nicht. Und nur unbewußt registrierte er, was um ihn herum vorging. Tiere und Vögel, die er noch nie gesehen hatte und nur aus Büchern kannte, streunten hier frei herum und suchten sich ihre Nahrung. Es waren auch Raubtiere dabei, große scheue Wildkatzen und sogar ein prächtiger Luchs, doch aus irgend einem Grund mieden sie den langsam erstarrenden Menschen. Bunte Vögel flatterten in den dunklen Ästen der Nadelbäume umher und hackten unter der Rinde nach Larven. Liss erinnerte sich, daß er im Weißen Land hauptsächlich Hasen, Ratten und Mäuse gesehen hatte, also Tiere, die sich in der näheren oder weiteren Umgebung menschlicher Siedlungen und Äcker wohl fühlten. Hier jedoch war die Natur völlig wild und unberührt. Ein schöner Ort, um zu sterben. Auch für jemanden wie ihn, denn er war sich durchaus darüber im Klaren, daß er große Schuld auf sich geladen und den Tod verdient hatte. Dann brach die Nacht herein. Schogan Liss fühlte nun die Kälte nicht mehr, aber er wußte, daß er am nächsten Morgen nicht mehr aufwachen würde. Ruhe und Frieden begannen, sein Herz auszufüllen. Wieder schlich sich ein Tier durch das Unterholz auf die Lichtung zu, an deren anderem Rand er lag. Es war ein Wolf, ein riesiger, schwarzer Wolf mit hellblauen Augen, dessen Fell im Mondlicht manchmal seltsam licht schimmerte. Langsam kam der Wolf auf ihn zu, und plötzlich konnte Schogan sich wieder etwas bewegen. Floß ihm von den dunklen Mächten neue Kraft zu? Sollte er noch nicht sterben? Der Wolf setzte sich vor ihn und wartete, bis Schogan sich ebenfalls in eine sitzende Position gebracht hatte. Er sah den halb erfrorenen Mann mit einem fast spöttischen Blick an, und Schogan fühlte eine Ergriffenheit, wie nie zuvor in seinem Leben, obwohl er keine Ahnung hatte, was eigentlich geschah. »Wer bist du?«, fragte der Wolf mit ruhiger Stimme. Zunächst brachte Liss nur ein Krächzen heraus und er versuchte, sich zu erinnern, wann er überhaupt das letzte Mal ein Wort gesprochen hatte. War es nicht in der Militärschule gewesen? Nein, auch unterwegs hatte er manchmal zu den Leuten, die er in seine Gewalt gebracht hatte, gesprochen, wenn sie da noch am Leben gewesen waren. Er holte tief Luft und fühlte auf einmal wieder die Kälte dieser Winternacht. »Ich bin Schogan Liss. Ich bin Strategielehrer, Dieb und mehrfacher Mörder.« Und dann brach die ganze Geschichte aus ihm heraus. Der Wolf besaß schon damals die Fähigkeit, Menschen, die eine große Last trugen, zum Sprechen zu bringen. Die halbe Nacht erzählte Schogan die Geschichte seines Lebens, und als er geendet hatte, da war er bereit für den Tod oder für ein neues Leben.
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Der Schwarze Wolf hatte ihm die ganze Zeit schweigend und aufmerksam zugehört. Nun blickte er dem Mann lange und tief in die Augen. »Du bist hier willkommen, denn du hast aus deinen Fehlern gelernt. Wenn du bereit bist, mit all deiner Kraft meinem Herren zu dienen, dann darfst du bleiben und er wird sich um dich kümmern. Wo nicht, werde ich dich sogleich verlassen, und du wirst hier sterben, in Frieden und Stille.« »Ich schwöre bei allem, was mir noch geblieben ist, daß ich deinem Herren dienen und auch mein Leben für ihn geben werde, wann immer er es verlangt.« »Dann folge mir!« Schogan Liss ging davon aus, daß der Schwarze König diesen Wolf geschickt hatte. Doch er irrte sich. Noch regierte dessen Vater, und noch war seine Stunde nicht gekommen. Doch er bereitete sich darauf vor. * Seit dem so katastrophal gescheiterten Turnier waren einige Tage vergangen. Die Menschen im Weißen Königreich hatten sich von dem Schrecken wieder erholt, und die Ritter, die beim Turnier hatten kämpfen wollen, waren unverrichteter Dinge nach Hause zurückgekehrt. Wenigstens hatte die meisten von ihnen trotz ihrer Enttäuschung Verständnis dafür, daß das Turnier wegen des Fluches hatte abgesagt werden müssen, und waren ohne großes Murrern abgezogen. Doch für den Weißen König war es noch lange nicht vorbei. Weiteres Ungemach näherte sich dem Palast in Form eines Boten aus Arcadia-Land. Es war nur ein einzelner Reiter. In der einen Hand hielt er die Fahne seines Königs, in der anderen eine versiegelte Pergamentrolle. Es war nicht schwer zu erraten, was ihr Inhalt war. Der Reiter wurde in die Hauptstadt eingelassen. Ohne zu zögern ritt er durch die Straßen geradewegs auf den Palast zu. Vor dem Wachhaus stieg er ab. Ein Lakai sprang herbei und kümmerte sich um das Pferd, dem man den langen und strapaziösen Ritt ansah. Der Bote warf dem Stallburschen eine Münze zu, dann marschierte er entschlossen die Rampe herauf. Wäre der Rittmeister nicht persönlich hinter der geflüchteten Prinzessin Simona her gewesen, dann hätte der arcadische Bote wohl nicht so leicht eintreten können. So aber wagte es keiner der Wachen, ihn abzuweisen. Sie kündigten ihn beim Weißen König an, und dem blieb nichts anderes übrig, als ihn zu empfangen. Der König saß auf seinem reich verzierten Thron, als der Bote eintrat. Er trat vor den Weißen König hin, verbeugte sich höflich und übergab dem König dann das Schreiben seines Herrn. Zum Schluß sagte er: »Es wurde mir aufgetragen, sofort wieder abzureisen und nicht auf Antwort zu warten. Verzeiht mir, Majestät, aber ich bitte um die Erlaubnis, mich entfernen zu dürfen.« Schicksalsergeben winkte der König ihm zu. Der Bote verließ den Audienzsaal, nahm sein Pferd und ritt wieder davon. Aufgeregt erbrach der Weiße König das Siegel und öffnete die Rolle. Doch schon die schwarze
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Umrandung des Schreibens zeigte ihm, daß es sich um die Kriegserklärung handelte. »Ihr dürft jetzt nicht verzweifeln, Majestät«, versuchte Adalbert ihn zu trösten. »Wir haben schon oft mit Arcadia-Land Krieg geführt.« »Aber diesmal, das fühle ich, steht der Kampf unter keinem guten Stern.« Er schüttelte den Kopf. Wäre doch nur die Hexe Elysiss dagewesen, um ihm einen Rat zu geben. Am Abend traf ein Bote von Rittmeister von Walldorff ein. Er konnte nur berichten, daß der Suchtrupp die Spur der Eisleute im dichten Wald wieder einmal verloren hatte, daß er aber nicht ans Aufgeben dachte. Und dann kam noch jemand. Wie vier arme Sünder schlichen sich die Posten, die an der Schwarzen Grenze Wache hätten halten sollen, ins Schloß. Sie erwarteten, vom Rittmeister bestraft zu werden, doch als der König erfuhr, daß sie da waren, befahl er sie persönlich zu sich. »Durch euer schändliches Versagen habt ihr größtes Unheil in meinem Land zu verantworten!« Er ließ ihnen keine Gelegenheit, sich zu verteidigen. Die Sache war klar und entschieden. »Ihr alle habt eure Pflichten auf das schlimmste verletzt. Das unbemerkte Eindringen des Schwarzen Königs hat meinem Volk und der Krone schlimmsten Schaden zugefügt. Dafür gibt es nur eine Strafe, den Tod!« Alles Betteln und Flehen um Gnade half nichts. Schon am anderen Tag ließ der König die vier Unglücklichen zum Schafott führen. Das Fallbeil war auf dem großen Marktplatz am Fuße des Aufganges zum Schloß aufgebaut worden. Alles Volk der Hauptstadt hatte sich versammelt, um zuzusehen, wie die Schuldigen an ihrem Unglück ihrer gerechten Strafe zugeführt wurden. Der General stand neben dem Schafott und kommandierte die Hinrichtung. Oben, auf der Rampe, standen der König, der Majordomus und die drei übriggebliebenen Prinzessinnen. Die vier Posten waren bis auf die Unterwäsche entkleidet und gefesselt worden. Man hatte sie neben dem Fallbeil antreten lassen, wo sie von schwer bewaffneten Soldaten bewacht wurden. »Volk des weißen Landes«, erhob nun der General seine Stimme. »Durch die Unachtsamkeit dieser vier Männer, die auf das übelste ihre Pflicht vernachlässigt haben, konnte der Schwarze König in unser Land eindringen und seinen Fluch über unseren König und uns alle bringen. Laßt uns beten, daß diese Strafe den Bann wieder bricht und die Götter versöhnt.« Dann wandte er sich den Vieren zu: »Seid ihr bereit, eure gerechte Strafe entgegenzunehmen?« Er wartete die Antwort nicht ab und befahl: »Führt den ersten hinauf.« Lanzen senkten sich und trieben den Mann vor sich her. Ohne Gegenwehr stieg er die Treppe hinauf und
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kniete sich vor dem Holzblock hin, auf dem er nun gleich seinen Kopf verlieren sollte. Trommelwirbel setzt ein, der Henker zog die schwere Klinge am Gerüst nach oben, Zug um Zug. Dann gab der General einen Wink, und Stille kehrte ein. Den entscheidenden Befehl mußt der König geben. Alle Augen waren jetzt auf ihn gerichtet. Schon hob er die Hand, da begann vor ihm, die Luft zu flimmern, blaue Funken tanzten für einen Moment in der Luft, und die leuchtende Gestalt einer Frau erschien vor ihm und dem ganzen Volk - Mistress Elysiss. »Halte ein, König! Diese Männer sind unschuldig. Der Schwarze König hatte sich in einen Wolf verwandelt, als er die Grenze überquerte, tief im Wald. Sie konnten ihn gar nicht finden. Laß sie frei.« »Hexe Elysiss, Beschützerin unseres Reiches. Warum hast du uns diesmal nicht geholfen?« »Auch ich vermag das Schicksal nicht aufzuhalten. Aber Du, König, kannst es. Handle jetzt klug und weise, dann kannst Du das Verderben abwenden.« »Aber was soll ich tun? Meine jüngste Tochter wurde entführt und deswegen sind wir mit dem Blauen Königreich im Krieg, zwei weitere meiner Töchter sind vom Schwarzen König verhext worden. ArcadiaLand hat uns den Krieg erklärt, und die Imperatrice der Sonneninsel ist kurz davor. Alle Fürsten und Könige sind zutiefst erzürnt, und über meinem Reich liegt der Fluch des Schwarzen Königs. Es gibt jetzt auch keinen Nachfolger für mich. Was kann ich noch tun?« Aus seiner Stimme klang die Verzweiflung. Die Hexe lächelte ihn seltsam und unergründlich an. »Ich könnte es dir sagen, aber ich befürchte, daß dies alles noch viel schlimmer machen würde.« »Oh nein, sag es mir. Ich tue alles, was du verlangst. Ich schwöre es.« Atemlos lauschte das Volk, lauschten die Prinzessinnen den Worten der Hexe. »König, schwöre nicht. Du weißt, daß ich manchmal die Zukunft sehen kann, und heute sehe ich, daß du deinen Schwur brechen wirst, noch bevor du dein Schloß wieder betrittst.« »Niemals, Mistress Elysiss. So sage mir doch, was ich tun soll.« Wieder lächelte die Hexe. Es war ein kraftloses, sehnsüchtiges Lächeln, so als ob sie etwas verloren hatte und nie wiederfinden konnte. »Nun gut, wie du es wünschst. So höre also: Es wird alles gut, wenn du akzeptierst, daß der Schwarze König nicht dein Feind ist.« Ein Aufschrei der Empörung ging über den Platz. Der König wurde rot vor Zorn und griff nach seinem Schwert. Die Wachen wollten sich auf die Hexe stürzen, aber sie löste sich vor ihren Augen auf. »Ja, geh nur, du falsche Schlange. Verflucht seist du, Verräterin. Ersaufen sollst du in dem Sumpf, aus der du einst entsprungen bist, du verdammte Hexe«, schrie der König außer sich. Wild fuchtelte er mit seinem Schwert herum, doch der Feind war nicht mehr da. »Von nun an wird jeder getötet, der den Namen dieser Hexe in meiner Gegenwart ausspricht. Und nun
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richtet diese vier Verbrecher hin!« Damit hatte der König auch seinen letzten Freund verloren. Er war allein, und sein Reich stand auf verlorenem Posten, die Menschen waren verunsichert und wegen des Fluchs verzweifelt. Wenn man ihnen gesagt hätte, daß es gar keinen Fluch gab, hätten sie es nicht geglaubt, denn es kann manchmal sehr schwer sein, jemanden von etwas zu überzeugen, was er nicht glauben will. Der Weiße König gab den Befehl, sofort zum Krieg gegen Arcadia-Land zu rüsten. * Alessandra erwachte aus einem unruhigen Schlaf. Irgend etwas hatte sie geweckt, vielleicht nur ein Gefühl. Oder war es der Schwarze Wolf gewesen, der ihr im Traum erschienen war und sie gewarnt hatte? Es war tief in der Nacht, aber der Mond spendete ein dünnes, fahles, geisterhaftes Licht. Man konnte nur die Umrisse der Dinge erkennen, und hinter jeder Ecke schienen sich unheimliche Schatten zu tummeln. Alessandra erhob sich lautlos aus ihrem Bett und schlich zur Tür, die nur angelehnt war. Draußen raschelte es leise. Entschlossen zog sie die Türe auf und blickte in das erschrockene Gesicht Ornellas, das durch den Kerzenschein im Gang beleuchtet wurde. »Schwester, was tust du hier?«, zischte sie. »Laß mich, Pferdechen. Ich gehe zu ihm!« Alessandra brauchte nicht zu fragen, zu wem ihre älteste Schwester gehen wollte. Sie blickte an Ornella herab. »Barfuß? Im Schlafanzug?« Trotzig warf Ornella den Kopf zurück, und ihre dicken, schwarzen Zöpfe tanzten um ihre Schultern. »Ich würde auch auf Knie zu ihm rutschen, wenn es sein muß«, zischte sie erregt zurück. Ihre Stimme klang irgendwie verzweifelt. »So sehr liebst du ihn. Wie ist das nur möglich?« »Ich ... ich weiß es nicht. Aber ... ich weiß nur, daß ich ihn liebe. Mehr als alles andere. Und nur das zählt noch für mich.« »Wie willst du denn da hinkommen? Der General hat die Grenzposten verstärkt. Überall werden Soldaten ausgehoben. Sie würden uns doch nie durchlassen. Und wenn Vater erfährt, wohin du unterwegs bist, dann ... Sogar mit unserer Beschützerin, der guten Hexe Elysiss, hat er sich deswegen überworfen.« »Deswegen fliehe ich ja. Ich kann hier nicht mehr atmen. Ich spüre es in meinem Herzen: ER ist kein schlechter Mensch.«
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»Du hast recht, auch ich empfinde so«, bestätigte Alessandra überzeugt. »Liebst du ihn etwa auch?«, fragte Ornella lauernd. »Nein. Komm.« Sie nahm Ornellas Hand und zog sie in ihr Zimmer. Ornella hockte sich auf das Bett, und Alessandra kniete sich ihr gegenüber auf die andere Seite, dann rutschte sie noch ein Stück näher, so daß ihre Gesichter sich fast berührten. Beide fühlten auf einmal eine seltsame Verbundenheit zueinander, wie sie sie nie zuvor gekannt hatten. In der Dunkelheit des Zimmers konnten sie einander fast nicht sehen, doch sie spürten die Gegenwart der anderen dafür umso stärker. »Ich habe noch nie jemandem erzählt, was ich auf meiner letzten Flucht erlebt habe. Ich war im schwarzen Königreich«, flüsterte sie Ornella ins Ohr. Und auf ihren Wangen fühlte sie die Hitze der Erregung, die ihre Schwerster bei diesen Worten durchfuhr. »Dort traf ich auf einen riesigen schwarzen Wolf, der zu mir gesprochen hat.« Sie ergriff Ornellas Arm und hielt ihn fest. »Ja, wir haben uns die halbe Nacht unterhalten, und ich habe mich in sein Fell gekuschelt und ihm von meiner Einsamkeit erzählt. Und dann haben mich die Soldaten gefangen und zurück gebracht.« Sie seufzte. »Und dieser Wolf, ich glaube, es war in Wirklichkeit der Schwarze König. Diese Augen ... ich kann diesen Blick nicht vergessen.« Ornella öffnete die Lippen, doch dann sagte sie nichts und fuhr mit aller Zärtlichkeit mit ihrer Hand über die Haare und das Gesicht ihrer Schwester. Sie küßte ihre Stirn. Nach all diesen Jahren waren sie nun durch ein unsichtbares, aber unzerreißbares Band miteinander verbunden. Aber waren sie das nicht im Grunde schon immer gewesen? »Oh, Schwester, geliebte Schwester. Was soll nur aus uns werden?« Eine Zeitlang saßen sie einfach nur so da in der Dunkelheit, und jede hing ihren Gedanken nach. »Ich werde dich hinführen«, sagte Alessandra schließlich. »Zusammen können wir es schaffen. Ich kenne den Weg. Aber es wird ein schwerer Ritt.« »Ich würde alles auf mich nehmen, IHN wiederzusehen.« »Dann zieh dich an und pack deine Sachen zusammen. Und vergiß nichts. So schnell kommst du nicht mehr hierher zurück.« Ornella erhob sich und schlich sich leise aus Alessandras Zimmer. Nebenan lag Olivia hellwach in ihrem Bett und rang mit sich selbst. Sollte sie sagen, sie habe geschlafen und die Fliehenden nicht gehört? Oder sollte sie die Wachen rufen, jetzt gleich und sofort? War Ornella von diesem Schwarzen Dämon verzaubert worden? Er hatte sie alle angesehen, aber sie selbst hatte nichts gespürt. Vielleicht liebte die arme Ornella ihn wirklich. Aber er hatte ihr Land ins Unglück gestürzt. Und während sie noch mit sich kämpfte, hörte sie unten leises Wiehern und das Scharren von Pferdehufen. Irgendwie war sie froh, daß ihr die Entscheidung abgenommen worden war. Doch dann dachte sie daran, daß sie jetzt schon ihre zweite Schwester verlor. Sie vergrub ihr Gesicht im Kissen.
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So leise es ging, führten Alessandra und Ornella ihre Pferde heraus. Die Tiere schienen zu spüren, daß viel auf dem Spiel stand, und bewegten sich so leise, wie es ging. Doch leider ließ es sich nicht vermeiden, daß ihre Hufeisen auf dem Pflaster des Vorplatzes deutlich zu hören waren. Und noch vor dem Verlassen des Platzes wurden die beiden Frauen von einem Posten gestoppt. »Halt, wer da?« »Wir sind es, Prinzessin Ornella und Prinzessin Alessandra. Wir haben Nachricht von unserer entführten Schwester und müssen sofort aufbrechen.« Der Soldat ließ die beiden passieren, was den Mädchen fast wie ein Wunder vorkam. Daß einer diese faustdicke Lüge glauben würde, hatten sie nie ernsthaft vermutet. Mutig geworden, bestiegen sie ihre Pferde und ritten den Rest des Weges bis zum nördlichen Stadttor. Dieses war natürlich verschlossen und bewacht. »Öffnet im Namen des Königs.« »Wer da? Oh, die Prinzessinnen. Ich werden meinem Hauptmann Meldung machen.« »Meldung kannst du später machen«, zischte Ornella der Wache zu, während Alessandra sich möglichst unauffällig vom Pferd schwang und sich geduckt von hinten an den Soldaten heranschlich. Und während er noch mit Ornella lamentierte, zog die Prinzessin ihm mit dem Knauf ihres Schwertes kräftig eins über den Schädel. »Schnell jetzt!« »He, was ist denn da vorne los?« »Alessandra, um Himmels Willen, beeil' dich.« Mit der Kraft der Verzweiflung zerrte Alessandra an dem massiven Tor, und endlich schwang es auf. »Da will einer fliehen. Wache! Holt doch endlich die Wache!« Es waren aufgeregte Stimmen in der Nacht, und sie kamen schnell näher. Zwei Posten mit Laternen kamen um die Ecke gerannt, doch da hatte sich Alessandra schon wieder in ihren Sattel geschwungen, und die beiden Frauen galoppierte los, was das Zeug hielt. Im Moment waren sie erst mal in Sicherheit, doch jetzt war die halbe Stadt alarmiert. In wenigen Minuten würde ihnen die erste Patrouille folgen. Daher ritten die Beiden nicht nach Norden, sondern in weitem Bogen querfeldei nach Osten um die Stadt, bis sie die Hauptstraße nach Gel-Almanaum erreichten. Hier würde man sie so schnell nicht suchen. Sie galoppierten die halbe Nacht durch und brachten eine beachtliche Strecke zwischen sich und ihre Verfolger, die sie wahrscheinlich im Nordwesten vermuteten. Dann verließen sie die Straße und ritten langsam durch einen tiefen Wald. Die Pferde waren erschöpft, und als der Morgen graute, da machten
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sie endlich Rast und schliefen ein. »Ich denke, wir müssen erst mal rausfinden, wo wir sind«, meinte Ornella zu ihrer Schwester, nachdem sie gegen Mittag wieder erwacht waren und ein verspätetes Frühstück aus ihrem Proviant zu sich genommen hatten. »Irgendwo im Osten. Aber das ist nicht so wichtig. Von nun an halten wir uns möglichst genau nach Norden, dann sehen wir in ein paar Tagen zu unserer Linken im Westen das Schwarze Gebirge. Man kann es eigentlich nicht verfehlen.« Ornella sah ihre Schwester skeptisch an. Sie war noch nie allein so weit von Zuhause fortgeritten. »Ich hoffe, du behälst recht, Pferdchen.« Diesmal sprach sie es nicht spöttisch, sondern fast bewundernd aus. »Aber natürlich, große Schwester.« Sie lachten beide, obwohl sie immer noch ziemlich müde und vom langen Nachtritt erschöpft waren. Doch sie mußten weiter. Sie ritten in der Nacht und versteckten sich am Tag. Da sie meist über Pfade und Waldwege ritten und sich von den Hauptstraßen fernhielten, und es nördlich der Hauptstadt auch nicht so viele größere Ansiedlungen gab, begegneten sie nur wenigen Menschen. Und schon nach ein paar Tagen hätten sie auch niemand mehr als die Prinzessinnen erkannt. Gelegenheiten zu baden und ihre Kleider zu waschen gab es nämlich unterwegs nicht viele. Und als auch noch die Vorräte ausgingen und sie gezwungen waren, von Beeren und Pflanzen zu leben, die sie unterwegs fanden oder auf den Äckern stahlen, da verging ihnen endgültig die gute Laune. Nach knapp einer Woche wurde das Gelände uneben und leicht hügelig. Doch von den Schwarzen Bergen war weit und breit nichts zu sehen. »Mist«, schimpfte Ornella. »Hmm?« »Meine Schuhe. Jetzt sind sie endgültig hin.« »Das sind ja auch keine richtigen Schuhe wie meine, sondern nur diese Palast-Pantoffeln. Daß die keine Woche auf einer harten Tour aushalten würden, hätte ich dir gleich sagen können.« Wütend schleuderte Ornella die auseinandergefallenen Stoffpantoffeln ins Unterholz. »So, so. Und kannst du mir auch sagen, woher ich hier neue bekommen soll?« Alessandra antwortete mit einem vielsagenden Grinsen. Doch im Laufe der nächsten Tage entdeckte Ornella, daß sie mit dem, was ihr die Natur so mitgegeben hatte, besser zurecht kam, als sie je vermutete hatte.
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Einige Tage später. »Alessandra. Ich habe solchen Hunger. Warum läßt du mich nicht in das Dorf gehen, an dem wir gestern Nacht vorbeigeritten sind. Dort gibt es bestimmt was. Geld haben wir doch genug.« »Das kommt überhaupt nicht in Frage. Du bist wohl verrückt. Unser Vater läßt uns doch bestimmt immer noch überall suchen.« »Aber ich habe Hunger. Und uns erkennt sowieso keiner mehr.« Sie blickte auf ihre schmutzigen, staubbedeckten Füße herab, dann streckte sie einen Alessandra entgegen und zeigte darauf. »Hier sieh! Sieht so eine Prinzessin aus? Jeder wird mich für eine Bauersfrau halten. Oder noch was schlimmeres.« »Zwei junge Frauen mit Pferd. Wie viele davon, glaubst du, sind wohl im Moment im Reich allein unterwegs? Nein, nein. Wie sind viel zu auffällig.« »Dann gehe ich eben alleine und zu Fuß, und du paßt auf die Pferde auf. Ich muß endlich mal wie der was richtiges essen. Bitte!« »Also gut.« Alessandra seufzte ergeben. »Und bring mir was mit. Und sei vorsichtig.« Kurz darauf betrat Ornella die Straße, die durch den Wald zu dem kleinen Dorf führte. Den Beutel mit Silber- und Goldmünzen hatte sie bei Alessandra zurückgelassen und nur ein bißchen Kleingeld mit genommen, denn eine zerlumpte Frau wie sie wäre mit dem vielen Geld zu sehr aufgefallen. Die Straße war nicht befestigt, und der von der Sonne gewärmte Sandboden fühlte sich unter ihren Fußsohlen weich und angenehm an. In Gedanken weilte sie im Schwarzen Reich. Sie stellte sich vor, wie sie ihm - IHM! - entgegentreten würde. Was würde er sagen, wenn er sie so vor sich sah? Sie war so tief in Gedanken versunken, daß sie den sich von hinten nahenden Wagen erst hörte, als der Bauer, der ihn fuhr, sie anrief: »He da!« Zu Tode erschrocken fuhr sie herum. Doch der Mann machte nicht die geringsten Anstalten, etwas gegen sie zu unternehmen. Im Gegenteil: »Willst du mitfahren? Ich kann dich ein Stück mitnehmen, bis ins Dorf.« Ornella atmete erleichtert auf. »Danke. Dort will ich auch hin. Ihr seid sehr freundlich, Herr.« Sie stieg auf, und dabei hatte der Bauer Gelegenheit, sie näher zu betrachten. »So schöne Frauen wie dich sieht man hier nur selten allein unterwegs.« Ornella holte in Gedanken tief Luft. Sie mußte sich jetzt ganz schnell eine Geschichte ausdenken, die ihr dieser Mann auch glauben würde. Doch da sie in solchen Sachen eigentlich, wie ihr nun wieder einfiel, sehr geübt war, sollte es doch möglich sein, diesen Bauerntrampel um den kleinen Finger zu wickeln.
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Nein, der hatte nicht das Format, sie aufzuhalten. »Ich kann nicht darüber reden. Ich darf es nicht. Eigentlich dürfte ich gar nicht hier sein.« Sie unterstrich ihre fast geflüsterten Worte mit einem schmachtenden Augenaufschlag und ließ ihre Wangen leicht erröten. Der Bauer ließ sein Gespann wieder anfahren, dann sah er sie fragend an. Neugier und Mitleid spiegelten sich in seinem Gesicht. Ornella schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe schon zu viel gesagt.« »Woher kommst du denn?« »Von weit her, aus dem Osten.« »Von der Stadt Trok?« Trok war die letzte große Stadt des Weißen Königreiches vor der Grenze zum Botha-Land, das nordöstlich an das Reich angrenzte. Wer ins Blaue Land reiste, der konnte es zum Beispiel durch das Botha-Fürstentum tun. Ebenso gab es eine gut ausgebaute Straße zum Reich Karls. »Trok? Äh, ja. Ja, so ist es!« Sie sagte es absichtlich so, daß es wie eine Lüge klang. Und so ging das Gespräch eine Zeitlang hin und her. Sie erfuhr eine Menge von dem Bauern und tat so, als würde sie ihm nach und nach ihr großes Geheimnis anvertrauen: Daß sie dem Blauen Volk entstammte und vom König Erich bei dessen Flucht zurückgelassen worden war, weil sie ihn geliebt hatte und sich mit seiner Verbindung zur Weißen Prinzessin Simona nicht hatte abfinden können, nun aber von Reue erfaßt zu ihren Leuten zurückkehren wollte. Als sie vom Bauern erfuhr, daß inzwischen Krieg zwischen dem Weißen und dem Blauen Reich herrschte, da tat sie zutiefst erschrocken und flehte ihn an, sie nicht zu verraten. »Bitte, Herr! Seid gnädig. Ich bin keine Feindin.« »Keine Angst, schönes Kind. Auf den guten alten Josef kannst du dich verlassen.« Er strahlte Ornella mit seinem Lückengebiß an. Ja, es war für ihn Ehrensache, der armen verlorengegangenen Schönen zu helfen. Kurz darauf fuhren sie ins Dorf ein. Der Bauer lud sie ins Wirtshaus ein und stellte sie als entfernte Verwandte vor, die zu Besuch hatte kommen wollen, aber nur knapp den Räubern, die hier ihr Unwesen trieben, entkommen war. Später, nachdem sie gegessen und Vorräte eingepackt hatte, verabschiedete sie sich von Josef: »Ich danke Euch tausendmal für Eure Hilfe. Ich werde Euch das nie vergessen.« Dann hauchte sie ihm einen Kuß auf die Stirn und lief davon.
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Am späten Nachmittag fand sie Alessandra wieder und erzählte ihr, wie es ihr ergangen war. Und die Bewunderung, die sie ihr wegen ihrer klugen List zollte, machte Ornella ein bißchen stolz. »Hier, sieh! Die Vorräte. Und ich habe noch nicht mal was bezahlen müssen.« Sie seufzte. »Fast habe ich ein schlechtes Gewissen. Josef war so nett zu mir.« »Ein schlechtes Gewissen? Du? Das ist ja was ganz neues«, wunderte sich Alessandra. »Ja. Stimmt.« »Dann hat der Schwarze König dich wirklich verändert. Und nicht zu deinem Nachteil, Ornella.« Sie lächelte versonnen, als Alessandra seinen Namen aussprach. Dann seufzte sie wieder. »Wann werden wir endlich dort sein?« * »Herr! Vergebt mir die Störung. Aber eine weiße Gans fliegt auf das Schloß zu.« Aufgeregt war der Wachposten, der auf dem höchsten Turm des Schwarzen Schlosses Wache gehalten hatte, in die Kammer gestürmt, die der Schwarze König zu bewohnen pflegte, wenn er in seinem Schloß weilte. Der König sah seinen Soldaten, einen der wenigen, die es überhaupt im Schwarzen Reich gab, fragend an. Doch dann erhob er sich von seinem Schreibtisch und ging gemessenen Schrittes hinunter in den weiten Hof, den die Schwarzen Mauern umschlossen. Den Posten hatte er wieder auf den Turm geschickt. Als der König nach oben blickte, sah er die weiße Gans schon ganz nahe. Sie zog eine elegante Schleife, verschwand kurz aus seinem Blickfeld und erschien dann wieder dicht über einer der Mauerkronen. Langsam senkte sie sich herab und landete weich vor den Füßen des Königs. Es war niemand anderes als die Hexe Elysiss, die diesen Weg gewählt hatte, um den Schwarzen König auf dem schnellsten Wege zu erreichen. »Ich grüße dich, Herrscher des Unendlichen Landes«, quakte sie. Sie hatte anscheinend nicht vor, sich in ihre menschliche Gestalt zurückzuverwandeln. »Sei auch du gegrüßt, Stella.« Wenn eine Gans je entgeistert dreingeschaut hatte, dann tat es diese jetzt. »Du kennst meinen wahren Namen!« »Sicher.« »Aber ... Niemand darf ihn kennen. Wenn er dreimal hintereinander ausgesprochen wird ...« »Keine Angst. In meinem Reich bist du sicher.«
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Die weiße Gans beruhigte sich wieder etwas. »Du hast mich also erkannt, obwohl ich in dieser Gestalt erschienen bin und mich in deinem Reich nicht zurückverwandeln kann?« »Ich kann das für dich übernehmen.« »Nein, es ist nicht notwendig. Ich fliege bald wieder zurück. Finstere Dinge gehen im Weißen Königreich vor sich. Aber deswegen bin ich nicht gekommen. He, was machst du da?« Der Schwarze König hatte sich die Gans geschnappt. Jetzt hielt er sich fest und streichelte ihr über den Kopf. »Du nutzt aus, daß ich mich nicht zurückverwandeln kann.« »Stimmt genau.« Er lachte freundlich, während sich die Gans mit Strampeln und Flügelschlagen befreite. Schließlich ließ er sie los, und sie glitt wieder zu Boden. »Laß den Unsinn und hör zu. Die Prinzessinnen Ornella und Alessandra sind hierher unterwegs. Wie es scheint, hast du Ornella ganz schön den Kopf verdreht.« Sie quakte aufgeregt. »Sie sind nach Norden geflohen und werden bald an der Grenze des Troll-Landes entlangziehen. Schütze sie, wenn du kannst. Du weißt, wie gefährlich es dort für Sterbliche ist.« »Das Troll-Land. Hmm. Ich werde ihnen einen Boten schicken, der sie sicher geleitet. Aber was hast du damit gemeint, ich hätte der niedlichen kleinen Ornella den Kopf verdreht. Soll das etwa heißen ...?« »Ja. Ganz genau das heißt es. Sie liebt dich, und deshalb kommt sie. Prinzessin Alessandra ist nur mitgekommen, weil sie es allein nicht schaffen würde.« »Da sehe ich aber ein gewaltiges Problem auf mich zukommen.« Nachdenklich blickte er an der Palast mauer hoch. »Ja, ich auch. Aber das, quack, quack, gönne ich dir. Wer hat dich schließlich geheißen, auf das Turnier zu kommen, hmm?« Sie schlug heftig mit den Flügeln, erhob sich wieder in die Lüfte und verschwand mit schnellem Flug in Richtung des Weißen Königreiches. Und wer weiß - wahrscheinlich war sie sogar froh, wieder aus dem Unendlichen Land verschwinden zu können. * Die Flucht der beiden Prinzessinnen ging weiter. Meist waren die Ritte zwar anstrengend, aber ruhig und ungefährlich. Doch es gab auch kritische Situationen. »Es ist so kalt hier«, flüsterte Ornella. »Ja, richtig unheimlich.«
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»Wo sind wir überhaupt?« Alessandra zuckte die Schultern. Schweigend ritten sie weiter. Der Wald lichtete sich mehr und mehr, dann ritten sie auf eine seltsame Wegkreuzung. Erschrocken sah sich Alessandra um. »Bloß schnell weg von hier!« »Aber wieso?« »Spürst du es nicht.« »Was? Die Kälte?« »Diese unheimliche ... eins zwei drei ...« Alessandra deutete der Reihe nach auf die Wege, die sich hier trafen. »Sieben! Oh mein Gott. Das muß das Reich der Hexe des Achten Weges sein. Los, Schwalbe!« Sie gab ihrer Stute die Sporen, und Schwalbe flog nur so davon. Ornella blieb nichts übrig, als hinterherzujagen. Später, als sie wieder ruhiger ritten, fragte Ornella ihre Schwester, was plötzlich in sie gefahren war. Alessandra sah sie ernst an, dann antwortete sie: »Ich habe manchmal von Bauern die Geschichte der Hexe des Achten Weges erzählt bekommen. Niemand weiß, wo ihr Reich ist, aber es soll eine Kreuzung von sieben Wegen sein, irgendwo tief im Wald. Und hinter dem achten Weg, dem Weg, den niemand sehen und betreten kann, lauert die Hexe. Wen sie dorthin holt, der kehrt nie wieder zurück.« »Du meinst ...« Ornella war etwas blaß geworden. Alessandra nickte. »Man erzählt sich, sie frißt ihre Opfer auf und läßt die Knochen in der Sonne bleichen. Gut, daß wir schnell davongeritten sind.« Sie ritten weiter. Tage vergingen, fast eine weitere Woche. Die Vorräte gingen wieder zu Ende. In den Wäldern gab es zum Glück Beeren und Pilze, aber es war natürlich nur ein Notbehelf. Ornella klagte nie, und Alessandra kannte dieses karge Leben, doch beide wären froh gewesen, endlich am Ziel zu sein. Fast zwei Wochen dauerte die Flucht nun schon, als sie endlich auf einen Grenzstein des Fürstentums Ganda stießen. Diese kleine Reich lag eingequetscht zwischen dem großen Land Karls im Norden und dem Weißen Königreich im Süden. Im Osten grenzte es an das Fürstentum Botha, und im Westen lag das Unendliche Land, dazwischen aber ein Gebiet, in dem angeblich Trolle, Zauberer und Unholde lebten, und das keinem Fürsten oder König gehörte. Niemand betrat das Troll-Land, das neblig, sumpfig und gefährlich war, jemals freiwillig, doch die Prinzessinnen mußten es durchqueren, wenn sie nicht an der Nordgrenze des Weißen Königreiches entlangreiten wollten, was wegen der Grenzpatrouillen, die es dort neuerdings wieder gab, nicht ratsam war. »Nach Westen also«, sagte Alessandra zu ihrer Schwester. »Wollen wir nicht vorher dort hinten etwas essen?« Sie zeigte auf eine kleine Stadt, die auf einem Hügel hinter der gandaischen Grenze lag.
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»Hmm. Seit dem verpatzten Turnier haben wir nicht gerade ein gutes Verhältnis mit dem Fürstentum.« »Aber wir habe auch keinen Krieg. Und es ist außerhalb des Weißen Landes. Man sucht uns dort also nicht.« Sie blickte an sich herab und mußte fast gegen ihren Willen schmunzeln, als sie sich so völlig unherrschaftlich sah: »Allmählich gewöhne ich mich an's Barfußreiten, aber ich kann dem Schwarzen König doch nicht so entgegentreten.« »Du willst dort einen Einkaufsbummel machen!« Alessandra lachte glockenhell auf. Sie fand diese Vorstellung urkomisch. »Was ist daran so lustig?«, fragte Ornella ärgerlich. »Wir sehen beide aus wie Bettlerinnen.« »Wir sind Flüchtlinge! Wir können doch nicht einfach dort herumspazieren und ...« Sie schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Jetzt sind wir schon zwei Wochen unterwegs. Willst du, daß jetzt noch was schiefgeht. Komm, bringen wir den Rest des Weges endlich hinter uns!« Wieder ritten sie meist durch die Wälder, manchmal aber auch über die Straßen von Ganda. Einige davon führten auf jener Seite dicht an der Grenze entlang. Einmal, als sie gerade den Rücken eines Hügels überquerten, von dem aus sie eine gute Sicht ins Umland hatten, sahen sie in weiter Ferne, auf der anderen Seite der Grenze, eine Schwadron Weißer Soldaten. Sie versteckten sich und warteten, bis die Ritter wieder verschwanden. Sie ritten bis tief in die Nacht nahe der Grenze entlang. Der Mond war als schmale Sichel aufgegangen und spendete nur wenig Licht. In ein paar Tagen würde Neumond sein. Die beiden Frauen konnten das hügelige Land und die großen Felsbrocken, die hier herumlagen, nur schemenhaft erkennen. Plötzlich hörten sie ein Geräusch. Schritte, ein Schleifen, dann ergriff eine Hand Ornellas Bein und riß sie vom Pferd. Sie schrie, und voller Panik galoppierte ihr Pferd in die Nacht davon. Zwei Männer mit Fackeln stürzten hinter einem Felsen hervor und stellten sich Alessandra in den Weg, während der dritte Ornella am Boden festhielt. »Ganz ruhig, Mädchen. Wenn ihr genügend Geld hast und wir uns ein bißchen mit euch amüsiert haben, lassen wir euch wieder laufen, ha ha ha.« Doch bei Alessandra waren sie an die Falsche geraten. Überrascht wichen die beiden zurück, als die Prinzessin ihr Schwert zückte und mit Schwalbe in vollem Galopp auf die beiden Räuber zustürmte. Die Stute bewies dabei großen Mut, denn sie zeigte keinerlei Angst vor den Fackeln. Alessandra teilte einige Hiebe aus und einer der Räuber stieß einen gellenden Schrei aus, ließ die Fackel fallen und rannte davon. Der andere war so überrascht, daß er gar nichts mehr tat, doch der dritte, der Ornella unter sich hatte, riß ein Messer hervor und schrie: »Ich murkse das Flittchen ab, und dich auch, du verdammte ...« Alessandra sprang vom Pferd und stürmte auf den Räuber los. »Na los, du Feigling. Kämpfe gefälligst gegen jemanden, der sich wehren kann!« Mit einem gekonnt geführten Schwertstreich trennte sie ihn die Hand mit dem Messer vom Arm. Das letzte, was sie von dem Räuber sah war das maßlose Erstaunen in seinem Gesicht, dann hatte sie
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Ornella hochgerissen. Zusammen stürzten sie auf Schwalbe zu und sprangen in den Sattel, dann flohen sie in die Dunkelheit. Erst in der Morgendämmerung fanden sie Ornellas Pferd wieder. Vorsichtig setzten sie ihre Flucht fort, entschlossen, sich durch nichts mehr aufhalten zu lassen. Zwei Tage darauf erreichten sie die Westgrenze des Fürstentums. Hier begann das Land der Trolle. Man sagte, daß sie einen Menschen nur anzusehen brauchten, dann versteinerte er oder verwandelte sich in ein Kröte. »Wir müssen uns ein bißchen nördlich halten, dann kommen wir auf dem kürzesten Weg ins Schwarze Königreich«, meinte Alessandra. »Hmm«, antwortete Ornella nur. Plötzlich wurden die Pferde unruhig. Nervös tänzelten sie hin und her und konnten von den beiden Prinzessinnen nur noch mühsam gebändigt werden. Und dann sagte jemand, den sie noch nicht sehen konnten, weil er noch hinter den Bäumen versteckt war: »Seid ihr die beiden Weißen Prinzessinnen Ornella und Alessandra?« Den beiden Mädchen rutschte förmlich das Herz in die Hose beziehungsweise in's Kleid. Doch Alessandra faßte sich schnell wieder. Entschlossen riß sie ihr Schwert aus der Scheide, sprang vom Pferd und rief: »Wer immer du auch bist, zeig dich!« Gesagt, getan. »Hier bin ich. Du kannst mich Keck nennen.« Aus dem Wald war ein junger Wolf hervorgetrabt, der sich nun furchtlos vor Alessandra hinsetzte und sie schwanzwedelnd ansah. »Ein sprechender Wolf«, staunte Ornella. Sie kannte so etwas bisher nur aus Märchen. Und aus der Geschichte, die ihr ihre Schwester erzählt hatte. »Ja. Da heißt, eigentlich bin ich ein kleiner Junge. Der Großvater des heutigen Schwarzen Königs hat mich vor langer Zeit verzaubert, weil ich böse gewesen bin. Aber jetzt hat der König mich geschickt, um euch zu suchen. Die Hexe Elysiss hat ihm erzählt, daß ihr zu ihm wollt, und wo ihr zu finden seid. Und jetzt habe ich euch gefunden. Das freut mich. Vielleicht verwandelt er mich dann wieder zurück. Aber eigentlich bin ich inzwischen ganz gerne ein Wolf. Kommt jetzt. Ich zeige euch den Weg.« Fröhlich sprang er auf, lief um die beiden Prinzessinnen herum und strich an Ornellas nackten Beinen entlang, was diese zuerst etwas erschreckte. Aber dann gefiel es ihr, denn Keck hatte ein sehr dichtes und weiches Fell. Sie streichelte ihn, und davon war Keck ganz begeistert. »Wenn ich bei euch bin«, plaperte er weiter, »werden die Trolle es nicht wagen, euch etwas zu tun. Sie haben Angst vor dem Schwarzen König.« Seiner Stimme war anzumerken, daß er darauf sehr stolz war. Das Land wurde sumpfig und unheimlich. Das Schwarze Königreich war kalt und irgendwie unnahbar,
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aber wild und schön. Aber das Troll-Land war schrecklich. Dichte gelbe Nebelschwaden durchzogen es und verdüsterten selbst jetzt, mitten im Hochsommer, die Sonne. Es war nicht einmal kalt, aber über dem Land lag eine düstere, dämonische Stimmung. Überall waren faulige Bäche, tiefe, schlammige Seen, Sümpfe, aus denen blubbernd stinkende Gase emporstiegen, und dazu das unheimliche Kichern und Wispern der seltsamen Geschöpfe, die hier lebten, die man aber niemals zu Gesicht bekam. Nachts hörte man grauenvolle Schreie, aber auch ihre Urheber blieben unsichtbar. Wenigstens begegneten ihnen keine Trolle. Vielleicht fürchteten sie wirklich den Abgesandten des Schwarzen Königs und wichen ihnen aus. »Der Großvater der Schwarzen Königs - ihr wißt schon, der, der mich verzaubert hat - er hat viele böse Menschen in Unholde und Trolle verwandelt und hierher verbannt. Der jetzige König hat das, glaube ich, noch nie gemacht. Aber er könnte es, ganz bestimmt! Jawoll!« Keck nickte eifrig und ließ seine Ohren spielen. Ornella lächelte zu ihm herab. »Es ist nicht schwer zu erraten, warum man dich 'Keck' genannt hat, du vorlauter Bursche«, sagte sie schmulnzelnd. Der junge Wolf machte eine Luftsprung, dann schoß er nach vorn, verschwand hinter einem Sumpfgrasballen, und als er wieder auftauchte, hielt er eine fette Kröte in seinem Fang. Es knackte, als er zubiß, dann verschlang er sie in einem Stück. »Schleimig, aber sättigend«, sagte er belehrend. »Soll ich euch auch ein paar fangen?« Die beiden Mädchen schüttelten entsetzt den Kopf. »Sag mal, Ornella, warum willst du eigentlich zu meinem Herren?« Die Prinzessin war von dieser unvermittelten Frage überrascht, obwohl sie seit Wochen eigentlich an nichts anderes mehr denken konnte. Etwas entgeistert sah sie Keck an. Alessandra antwortete für sie: »Ganz einfach, mein bepelzter Freund. Sie hat sich unsterblich in ihn verliebt.« Keck erschrak sichtlich. Er sah sie lange und traurig an, sagte aber nichts. Und die beiden Prinzessinnen wagten auch nicht zu fragen, was sein seltsames Verhalten zu bedeuten hatte. Nach zwei langen Tagen und einer schaurigen Nacht dazwischen erreichten sie endlich die Schwarze Grenze. Auch hier stand kein Grenzstein, kein Zeichen, doch der Verlauf der Grenze war deutlich zu erkennen, wie eine Linie inmitten der Natur, die das Troll-Land vom Schwarzen Königreich schied. Die Pflanzen waren andere: im Sumpf kleine, verkrüppelte Bäumchen, giftige Schleimpilze und gelbes Schilfgras, im Schwarzen Reich hingegen dunkle, hohe und majestätische Nadelbäume mit hellen, grasund blumenbewachsenen Lichtungen dazwischen. »Wir sind da.« Es waren die ersten Worte, die Keck seit Stunden gesagt hatte. »Kommt weiter. Noch vor dem Abend
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erreichen wir die Östliche Hauptstraße, und die führt uns in die Stadt Sydur. Dort muß ich euch verlassen, aber ihr werden noch vor der Nacht da sein.« Hatten die beiden Prinzessinnen im Troll-Land die Pferde meist führen müssen, weil der Boden schwammig und trügerisch gewesen war, so konnten sie jetzt wieder durchgehend reiten. Das Unterholz war so dünn, daß sie selbst im tiefen Wald nicht abzusteigen brauchten. Keck lief in seinem ausdauernden Wolfstrab vor ihnen her, und tatsächlich erreichten sie nach etwa drei Stunden eine relativ breite und gut ausgebaute Straße. »Ihr müßt nun nach rechts weiter. Lebt wohl, ihr beiden.« »Leb wohl, lieber Keck!« rief Alessandra ihm nach. Ornella hingegen achtete kaum darauf. Irgend etwas beschäftigte sie. »Naja«, meinte Alessandra, nachdem sie ihre Schwester angesprochen, aber keine Antwort bekommen hatte. »Dann mal los. Auf nach Sydur!« * In der Nacht zuvor. Wondja, der Bürgermeister Sydurs, war nach einem langen, anstrengenden Tag endlich zu Bett gegangen. In wenigen Tagen würde Schogan Liss eintreffen und von ihm die diesjährigen Zahlen zur Ernteschätzung verlangen, aber einige seiner Leute waren krank, und so war er mit dem Auftrag im Rückstand. Bis tief in die Nacht hatte er gearbeitet und auch seine Leute nicht geschont, nun aber wollte er endlich die verdiente Ruhe finden. Er blies die Kerze aus, doch es blieb hell, so daß er dachte, sein Atem hätte die Flamme verfehlt, und sie würde noch brennen. Verschlafen wandte er seinen Kopf erneut der Kerze zu, doch sie war aus. Mit einem Schlag war er hellwach. Das Licht kam von einem funkelnden Blitz, der über die Decke und die Wände seiner Kammer huschte. Dann löste sich die geisterhafte Erscheinung und zog sich in der Mitte des Raumes zusammen. Sie formte eine, wenn auch nur undeutlich erkennbare, menschliche Kontur. Wondja sank vor dem leuchtenden Schemen auf die Knie: »Herr. Euer ergebener Diener steht zu eurer Verfügung.« So höre, Bürgermeister. Die Stimme sprach direkt in seinen Kopf. Niemand sonst hätte sie vernehmen können. Morgen gegen Abend werden zwei Frauen in Sydur eintreffen. Es sind zwei Prinzessinnen aus dem Weißen Reich. Sie sind meine besonderen Gäste. Du sorgst für ihre Verpflegung und eine angemessene Unterkunft für die kommende Nacht. Dann schickst du sie ins Schwarze Schloß. »Ja, mein König und Gebieter. Es wird alles zu Eurer Zufriedenheit geschehen!« *
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»Schwester, was hast du nur?« Ornella blickte überrascht auf: »Ich ... nichts. Hmm. Ich weiß nicht, irgendwie so ein komisches Gefühl.« Schweigend ritten die beiden Frauen über die recht breite Straße. Sie schlängelte sich an den Flanken hoher, oft schneebedeckter Berge entlang, einmal führte sie sogar durch einen Tunnel, der einen endlos hohen, schier unüberwindlichen Berg durchstieß. Manchmal, wenn das Gelände ebener war, zweigten kleine Straßen nach recht oder links ab. Wahrscheinlich führten sie zu Dörfern in der Nähe. Doch zu Gesicht bekamen die beiden Frauen keines. Dieser Landstrich war offenbar nur sehr dünn besiedelt. Nur einmal kamen sie an einem verlassenen und halb eingefallenen Bauernhaus vorbei. Die tiefstehende Sonne projizierte seltsame und verzerrte Schatten über seine Wände und den Boden. »Wie weit mag es noch sein bis Sydur?«, fragte Ornella. Sie fror, denn es wurde immer kälter, je näher die Nacht bevorstand. Im Weißen Königreich war jetzt Hochsommer. Aber hier ... »Keck sagte, daß wir vor Einbruch der Nacht da sein würden. Da sieh doch!« Sie ließ Schwalbe ein Stück galoppieren, um eine bessere Aussicht zu bekommen. Ornella folgte ihr. Vor den Reiterinnen öffnete sich ein weites, fast kreisrundes Tal, eingerahmt von hohen Bergen. Es war ein märchenhaftes Land, das sich da vor ihren Augen erstreckte. Dunkle Bäume, grüne, von klaren Bächen durchzogene Wiesen, Felder, die in den letzte Strahlen der untergehenden Sonne golden leuchteten, und in der Mitte des Tals eine kleine, saubere Stadt aus dunklen Fachwerkhäusern. Keine Mauer umgab sie, sie lag offen vor jedem, der sie fand. Das ganze wurde umrahmt von himmelhohen weißen Bergen, und es gab wohl nur wenige Möglichkeiten, dieses schöne Tal zu betreten. »Ist das nicht ein wunderschöner Anblick?« meinte Ornella zu ihrer Schwester. Langsam ritten sie weiter, den Weg hinunter. Keine von ihnen hätte so etwas im Unendlichen Land erwartet. Doch es kam noch besser. Als sie sich der Stadt näherten, hörten sie plötzlich Musik. Zuerst trug der leichte Wind nur wenige und ganz leise Töne an ihre Ohren, doch dann, als sie die ersten Häuser erreichten, wurde die Melodie deutlicher. Fragend sahen sich die beiden Prinzessinnen an, dann stiegen sie ab, ließen die Pferde am Ortsrand zurück und gingen zu Fuß weiter. Zum wiederholten Male blickte Ornella an sich herab und seufzte. Schmutzig und zerlumpt, wie sie war, sah sie so vollkommen unköniglich aus und wollte doch vor ihrem Geliebten einen guten Eindruck machen. Alessandra gab ihr einen Rippenstoß und zog sie dann sachte weiter. Die Musik, die da zu ihnen hinüberschwebte, war wunderschön, und sie schien aus der Mitte des Städtchens zu kommen. Vom Paß aus hatten die beiden Frauen erkennen können, daß sich dort ein offener Platz befand. Offenbar fand dort ein Konzert statt. Leise, um niemanden zu stören, gingen sie den Klängen entgegen. Die Straßen waren ungewöhnlich sauber, auch die Häuser waren gepflegt, in vielen Fenstern standen Blumen. Allerdings sahen die beiden Frauen auch Fenster, die mit schwarzen Vorhängen umrahmt waren. Dort mußte wohl kurzem jemand gestorben sein.
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Die Musik wurde lauter und klarer, und dann öffnete sich vor ihnen der zentrale Platz. In seiner Mitte stand ein Brunnen. Ein steinerner Drachen spie unablässig einen kräftigen, klaren Wasserstrahl in das Bassin, in dem sich einige kleine Fische tummelten. Davor hatte man Stühle und Notenständer aufgebaut, und rings um den Platz saßen die Bewohner Sydurs auf einfachen Bänken und lauschten ergriffen den wunderschönen Klängen. Auch Alessandra und Ornella blieben wie verzaubert stehen. Das Orchester bestand offensichtlich aus den Dorfbewohnern und Bauern, die hier und in der Umgebung lebten. Sie trugen einfache Kleider, viele der Frauen waren sogar barfuß, doch ihre Instrumente, Geigen, Flöten, sogar eine kleine Harfe, waren blitzblank und in tadellosem Zustand. Man sah ihnen an, daß sie liebevoll gepflegt wurden. Und welch herrliche Klänge diese einfachen Leute ihnen zu entlocken vermochten! Die Musik war stellenweise traurig, dann wieder wild und ausdrucksvoll, und jeder, der sie hörte, vergaß, wo er war, und tauchte ein in ein wunderbares goldenes Land aus Klängen und Träumen. Auch die Spieler gingen völlig in ihrer Musik auf. Voller Konzentration und Ergriffenheit verzauberten sie das Publikum. Alessandra und Ornella sahen sich staunend an, doch dann konnten sie nur noch den wundervollen Klängen lauschen. Nach einiger Zeit, niemand konnte sagen, wieviel, ging der Satz zu Ende. Die letzten leisen Töne verstummten, schwebten davon in die samtene Nacht, die sich mittlerweile über das Tal gesenkt hatte. Eine junge Frau trat vor und bestieg das kleine Podest. »Ich glaube, ich kenne das Stück«, flüsterte Ornella ihrer Schwester zu. »Es stammt von einem Komponisten namens Franz Bruch aus dem Land der Lagunenkönigin. Als ich noch klein war, wurde es mal bei uns aufgeführt. Jetzt kommt, glaube ich, eine ziemlich schwierige Arie oder so was.« Die Sängerin holte tief Luft. Zufällig streifte ihr Blick nach oben und sie sah die beiden Fremden am Eingang des Platzes stehen. Sie erstarrte. Für einen Augenblick schien die Zeit stillzustehen, dann flogen alle Köpfe herum. Ornella und Alessandra standen von einer Sekunde zur anderen im Mittelpunkt des mißtrauischen Interesses. Erregte Stimmen wurden laut. »Fremde. Es sind Fremde in der Stadt.« »Wie kommen sie hierher? Wer sind sie?« »Ja, was wollen sie?« An eine Fortsetzung des Konzerts war im Moment natürlich nicht zu denken. Doch da gebot die energische Geste eines älteren Mannes den aufgeregten Menschen Einhalt. Sofort schwiegen alle. Der Mann erhob sich langsam. Man sah ihm an, daß er mit vielen Gebrechen zu kämpfen hatte. Das kalte Klima und die oft armselige und ungenügende Kleidung im Schwarzen Land ließen die Menschen
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früh altern. Langsam, auf einen Stock gestützt, ging der Mann auf die Prinzessinnen zu. Verwundert musterte er sie. Sein Gesicht war nicht unfreundlich, aber verschlossen. Schließlich sagte er: »Mein Herr und Gebieter, der Schwarze König, hat mir angekündigt, daß heute Nacht zwei Prinzessinnen aus dem Weißen Königreich hier eintreffen sollen.« Voller Wachsamkeit und Unsicherheit wanderte sein Blick zwischen den beiden Frauen hin und her. »Aber ihr seht nicht aus wie Prinzessinnen. Wo sind eure königlichen Kleider? Und eure Pferde?« »Der Schwarze König!« rief Ornella begeistert. »Sag, wo ist er?« Alessandra hatte, im Gegensatz zu ihrer Schwester, auch die mißtrauischen Fragen des Mannes, der offenbar der Bürgermeister war, gehört. Sie gab Ornella einen Stoß und sagte dann mit ruhiger Stimme: »Unsere Pferde haben wir am Eingang der Stadt zurückgelassen, weil wir euer Konzert nicht stören wollten. Und unsere königlichen Kleider - nun, wir haben sie immer noch an. Jedenfalls das, was nach drei Wochen in der Wildnis noch davon übrig ist. Und hier, sieh! So etwas tragen nur Könige.« Und sie hielt dem Mann den kostbaren Ring hin, den sie vor dem Turnier von Prinz Sofrejan geschenkt bekommen hatte, und den sie seit dem immer getragen hatte - genau wie ihre Schwestern. Es war ein Tiger aus Gold und Titan mit Augen aus Smaragden und Krallen aus Diamanten, der sich in Form eines Ringes um den Finger der Prinzessin schmiegte. Wie bei den anderen Ringen auch, so war hier jedes noch so kleine Detail von dem Künstler akribisch umgesetzt worden: Das flammende Muster des Tigerfells, der majestätische Ausdruck des Raubtiergesichtes, die funkelnden Augen. Niemals vorher in ihrem Leben hatte Alessandra einen solch unvergleichlich schönen und kostbaren Ring gesehen und ihn deswegen praktisch nie abgelegt. Auch Ornella trug ihren Ring, die perfekte Nachbildung eines Löwen, dem selbst ein Laie seinen ungeheuren Wert sofort ansah. Als der Bürgermeister dies sah, da wußte er, daß er die wirklichen Prinzessinnen vor sich hatte, kniete vor ihnen nieder und küßte die Säume ihrer Kleider. Als die Sydurier das sahen, knieten auch sie. »Hoheiten. Wir alle stehen zu eurer Verfügung. Befehlt, wir werden alles tun, um Euren Aufenthalt hier unvergeßlich zu machen.« »Erhebt euch, bitte. Wir danken euch und eurem Herrn für die Gastfreundschaft. Aber unvergeßlich ist unser Aufenthalt in Sydur jetzt schon durch euer herrliches Konzert. Nie haben wir so eine schöne Musik gehört. Und wir wünschen, daß das Stück fortgeführt wird. Und danach führt uns ins Gasthaus. Wir haben eine sehr lange und gefahrvolle Reise hinter uns.« »Wie man sieht«, fügte Ornella noch spitz hinzu, mit den Händen den Staub aus ihrem zerrissenen Kleid klopfend. Man brachte den beiden Prinzessinnen in aller Eile bequeme Stühle aus dem Rathaus, außerdem ein paar Decken, da es inzwischen sehr kalt geworden war. Und dann nahmen die Musiker wieder Platz, auch das Publikum setzte sich wieder auf seine Bänke, und die Sängerin trat auf das Podest.
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Leise erklangen die ersten Töne der Geigen, und als die klare, wundervolle Stimme der Sängerin - einem einfachen Bauernmädchen - die Nacht erfüllte, da tauchten sie alle wieder ein in dieses goldene Land der Musik und der Phantasie. Es war spät in der Nacht, als die Prinzessinnen ihr ausgiebiges Essen beendeten. Sie waren todmüde und gleichzeitig euphorisch glücklich. Nach der gefahrvollen und entbehrungsreichen Flucht waren sie hier wie im Märchenland empfangen worden. Der Bürgermeister wies ihnen persönlich die besten Gemächer zu, die es in Sydur gab, und die beiden Frauen schliefen sofort ein und erwachten erst spät am nächsten Tag. Vor den Zimmern warteten bereits adrett gekleidete Zofen, die Bürgermeister Wondja den Prinzessinnen zur Seite gestellt hatte. Ornella und Alessandra badeten zunächst ausgiebig - das erste ordentliche und vor allem heiße Bad seit drei Wochen - dann zogen sie die neuen Kleider an. Der Himmel mochte wissen, woher Wondja über Nacht die feinen Sachen bekommen hatte. Auch neue Schuhe für Ornella hatte man nicht vergessen. Glücklich strahlend erschienen die beiden dann unten im Speisesaal des Gemeindehauses, in dem sie auch untergebracht worden waren. Es war das größte Gebäude Sydurs, vielleicht von ein paar Scheunen abgesehen. Ornella und Alessandra spürten, daß die Leute, die hier unten versammelt waren - die meisten arbeiteten hier normalerweise - bedrückt waren. Sie erkundigten sich bei einem der Beamten nach dem Grund, während eine Magd ihnen ihr Frühstück brachte. »Der Reichs-Zahlenmeister kommt bereits heute. Eigentlich hatten wir ihn erst Anfang nächster Woche erwartet, und wir sind mit den Schätzungen sowieso schon im Rückstand.« »Der Reichs-Zahlenmeister?« fragte Ornella. Von so einem Mann hatte sie noch nie gehört. Im Weißen Reich gab es jedenfalls keinen. Vielleicht der hiesige Majordomus? Sie warf dem Mann einen fragenden Blick zu. »Schogan Liss. Er ist direkt dem Schwarzen König unterstellt und hat umfassende Befehlsgewalt über alle Bürgermeister und Dorfvorsteher im Land.« »Schogan Liss, hmm. Der Name kommt mir doch irgendwie bekannt vor«, murmelte Alessandra. Auch Ornella dachte angestrengt nach. »Doch, ja. Das war vor ... ich weiß nicht. Ich war damals fast noch ein Kind. Ja, und ich war in diesen Wachpostenführer verknallt.« »In Leutnant Reimund von Walldorff, der jetzt Rittmeister ist, ja. So ein unmöglicher Typ, ein Angeber und ... Olivia, Simona und ich haben dich damals für völlig verrückt gehalten.« Ornella kicherte. »Das stimmt. Aber damals fand ich ihn einfach toll. Ja, und er hat mir von einem Mörder und Menschenfresser namens Schogan Liss erzählt, der aus Gel-Almanaum geflohen sei und sich bei uns verstecken sollte. Reimund war damals an der Jagd beteiligt und hätte ihn sogar um ein Haar erwischt.«
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»Und jetzt ist er hier?«, meinte Alessandra fragend. »Das überrascht mich nicht.« Dafür fing sie sich einen strafenden Blick Ornellas ein. Der Stadtbeamte, der ihnen von Liss erzählt hatte, meinte dazu: »Wir wissen nicht viel über den Zahlenmeister, aber er ist vor zehn Jahren zum ersten Mal hier aufgetaucht. Offenbar hat ihn unser Herr und Gebieter zuvor in seine Dienste genommen. Aber auch bei uns erzählt man sich, daß er...« Der Bürgermeister trat ein, gestützt auf seinen Stock. Hinter ihm betrat ein Mann den Raum, der alle Blicke wie magisch auf sich zog. Er hatte kalte, hellbraune Augen, einen sezierenden Blick und eine Haltung, die jedem klarmachte, daß er vor ihm nur ein Lakai war. Er trug eine randlose Brille und einen dünnen Oberlippenbart. Die Prinzessinnen schätzten sein Alter auf etwa 50. Als Liss sie durchdringend und gleichzeitig analysierend ansah, erwiderte Alessandra seinen Blick fest und gelassen. Und Ornella ließ ihn spüren, daß sie die Herrin und er nur der Diener war - sie konnte das immer noch perfekt. »Wer sind die beiden da?«, fragte er mit leiser, aber eindringlicher Stimme den Bürgermeister. »Herr, es sind Gäste unseres Gebieters, des Schwarzen Königs. Es sind zwei Hoheiten aus dem Weißen Königreich, Prinzessin Ornella und Prinzessin Alessandra.« Der Blick, der ihn daraufhin traf, ließ in Wondja den dringenden Wunsch aufkommen, ganz klein zu werden und in einer Bodenritze verschwinden zu können. »So, so. Wenn es wirklich Prinzessinnen und Gäste meines Gebieters sind, warum weiß ich dann nichts davon?« »Willst du damit behaupten, wir wären jemand anderes?«, fragte Ornella mit schneidender Stimme. »Oder zweifelst du an dem Befehl, den der Bürgermeister vom Schwarzen König persönlich bekommen hat?« Von diesem Moment an ignorierte Liss die Anwesenheit der beiden Prinzessinnen völlig. Er ging über sie hinweg, als seien sie gar nicht vorhanden. »Was für ein widerlicher Mann«, meinte Alessandra zu ihrer Schwester, als sie kurz darauf das Stadthaus verlassen hatten. Sie gingen die Straße herunter zu dem Stall, in dem man ihre Pferde untergebracht hatte. Als sie an einem Haus vorbeikamen, dessen Fenster allesamt mit schwarzen Vorhängen abgedunkelt waren, öffnete sich in diesem Moment die Eingangstüre, und eine junge Frau trat heraus. Ornella und Alessandra erkannten die Sängerin des vorigen Abends, die mit ihrer schönen Stimme eine so wunderbare Arie gesungen hatte. Als die junge Frau der beiden Hoheiten ansichtig wurde, erschrak sie und kniete dann vor ihnen nieder. »Du brauchst nicht vor uns zu knien. Wir sind hier nur Gäste für kurze Zeit. Sag, ist in diesem Haus jemand gestorben?« »Ja, Herrin. Es ist ... war das Haus meines Bruders.« Es war ihr anzusehen, daß sie nur mühsam die Tränen zurückhielt. Ornella und Alessandra fragten nicht weiter und ließen sie gehen. Es war offenbar ein Charakteristikum des Unendlichen Landes, daß Schönheit und Tod hier eng beieinander lagen. Die Stadt Sydur selbst war
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ein gutes Beispiel dafür: Eingebettet in einem fruchtbaren Tal, aber umgeben von Bergen im ewigen Eis, wo niemand leben konnte und die wahrscheinlich jedem den Tod brachten, der versuchte, sie zu bezwingen. Kurz darauf kam ihnen ein Stallbursche mit ihren Pferden entgegen. Auch er kniete vor ihnen nieder. Was im Weißen Reich nur noch bei feierlichen Anlässen bei Hof praktiziert wurde - hier war es für jedermann selbstverständlich. »Danke, mein Junge. Hier.« Ornella warf ihm eine Kupfermünze zu. Der Junge bekam große Augen. Wahrscheinlich hatte er noch nie soviel Geld auf einmal in der Hand gehabt. Dabei war diese Münze bei ihnen Zuhause kaum einen Laib Brot wert. Mit ihren Pferden kehrten sie zum Stadthaus zurück, wo der Zahlenmeister gerade dabei war, sämtliche Beamten der Stadt antanzen zu lassen und zusammenzustauchen. Rasch begaben sie sich in ihre Zimmer, packten ihre paar Habseligkeiten zusammen und gingen dann wieder herunter, um sich vom Bürgermeister zu verabschieden. Dieser war heilfroh, Liss für ein paar Minuten entkommen zu sein. Er wies den Prinzessinnen den Weg und verabschiedete sich mit überschwenglicher Freundlichkeit. Eine Bezahlung der erwiesener Dienste lehnte er entschieden ab. Und so verließen Ornella und Alessandra Sydur in Richtung Westen. Nach den Worten Wondjas sollten sie noch vor dem Abend das Schwarze Schloß erreichen. * Der Weiße König schien um Jahre gealtert, als der Rittmeister ihm das erste Mal wieder gegenübertrat. »Majestät. Wir haben die Eisleute und Eure Tochter wochenlang verfolgt, aber irgendwann ihre Spur verloren. Ich bedauere das zutiefst. Wenn ihr es befehlt, werden wir ins Blaue Land reiten und sie dort suchen.« Der Weiße König schüttelte den Kopf. Er machte einen abwesenden Eindruck. »Mein lieber Rittmeister von Walldorff. Ich weiß Eure Kühnheit und Ausdauer zu schätzen. Aber wenn es Euch nicht gelungen ist, meine Tochter zurückzuholen, dann hätte es auch kein anderer geschafft. Doch die schlimmste Nachricht kennt ihr noch gar nicht. Auch Ornella und Alessandra sind verschwunden. Wahrscheinlich sind sie ins schwarze Königreich gefloh... geritten.« Der Weiße König rang sichtlich mit den Tränen. Für ihn war es ein unbegreiflicher Verrat. »Ich habe«, fuhr er dann fort, »bereits Befehl gegeben, die Schwarze Grenze zu sichern und ständig Patrouille zu reiten. Vergeblich. Die Prinzessinnen sind verschwunden. Seit drei Wochen nun schon. Sie sind wahrscheinlich längst am Ziel.« Der König zog Olivia, die mit versteinerter Miene neben ihm stand, zu sich heran. »Sie ist mir als einzige noch geblieben. Wenn ich auch sie an den Feind verlieren würde, es würde mir das Herz brechen. Was habe ich nur getan, daß sich alle von uns abgewendet haben, sogar Mistress Elysiss, unsere Schutzherrin!« »Es könnte auch sein, Majestät, daß sie einer Patrouille der Arcadier in die Hände gefallen sind. Wir hatten mehrmals Zusammenstöße mit ihren Soldaten. Sie sind ungewöhnlich schnell in unser Gebiet
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eingefallen und machen schon den ganzen Süden und Osten bis nach Trok hinauf unsicher.« »Das wäre weniger schändlich, als wenn sie zum Schwarzen König gegangen wären.« »Aber die Arcadier würden mit ihnen wahrscheinlich kurzen Prozeß machen.« Reimund fuhr mit der flachen Hand über den Hals. »Auch das wäre besser als dieser schändliche und unbegreifliche Verrat.« »Aber Majestät«, unterbrach ihn nun mit sanfter Stimme Adalbert, der links neben dem Thron stand. »Es ist doch ganz offensichtlich, daß der Schwarze König eure Töchter verhext hat. Sie sind nicht aus freiem Willen fortgegangen. Ihr dürft sie nicht verurteilen. Wenn wir sie gefunden haben, werden unsere Hofzauberer den Bann schon brechen können.« Der Weiße König seufzte. »Unsere Hof- und Hobbyzauberer«, murmelte er so leise, daß nur Olivia es hören konnte. Der General meldete sich zu Wort: »Majestät. Das wichtigste ist es jetzt, den Feind zu stellen und zu besiegen. Wir haben bereits dreitausend Mann unter Waffen, die nur darauf warten, den frechen Arcadiern entgegenzutreten und sie aus unserem Land zu werfen.« »Da wäre ich mir nicht so sicher«, unterbrach ihn von Walldorff. »Das sind doch alles Bauerntrampel, die zum ersten Mal in ihrem Leben ein Schwert in die Hand bekommen. Wenn die Arcadier ausgebildete Soldaten haben, dann treiben sie die zu Paaren.« »Steht es denn wirklich so schlimm?«, fragte der Weiße König. »Naja«, antwortete der Rittmeister. »Ich habe knapp zweihundert Leute unter mir, aber das sind alles harte Burschen. Gute Leute.« »Und Ihr, General?« »Ausgebildete Soldaten haben wir nur etwa 500. Der Rest übt sich gerade im Gebrauch der Waffen. Wir werden die kurze Ausbildung durch Tapferkeit und Mut ausgleichen.« Reimund von Walldorff sagte nichts dazu, aber es war ihm anzusehen, was er von diesem markigen Sprüchen hielt. * Das Schwarze Schloß. Tiefer, dunkler Wald, bestehend aus riesigen, uralten Tannen, reichte bis fast an die schwarzen Mauern dieser riesigen Burg. Davor duckten sich ein paar Häuser und eine kleine Kirche, aber mehr als 100 Menschen wohnten hier sicher nicht. Allerdings konnte man von außen nur schwer abschätzen, was sich im Innern des Schlosses abspielte. Man hätte dort womöglich eine halbe Armee verstecken können. Düster, drohend und unnahbar ragte das Schwarze Schloß vor der Kulisse himmelhoher, scheebedeckter
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Berge vor den Reisenden auf. Es befand sich fast genau in der Mitte des Schwarzen Reiches. Wäre das Land so eben gewesen wie das Weiße Königreich, wäre die Grenze von hier aus kaum einen Tagesritt entfernt gewesen. Doch durch das unwegsame Land war ein Fortkommen viel schwieriger. Die einzige Ausnahme stellte die Nord-Süd-Verbindung dar, die von der Grenze des Königs Karl im Norden bis an die Weiße Grenze im Süden führte, und im Sommer in einem oder zwei Tagen bewältigt werden konnte. Doch der Rest des Schwarzen Landes war nur schwer erreichbar. Langsam ritten Alessandra und Ornella näher an das Schloß heran. Neugierige Gesichter erschienen in den Fenstern der Häuschen, verschwanden aber sofort, wenn die Prinzessinnen hinschauten. Aus einem der Schloßtore kamen vier Ritter in schwarzen Rüstungen herausgeritten. Sie hielten vor den beiden Frauen an. »Wenn ihr die Weißen Prinzessinnen seid, dann folget mir«, rief ihnen der Anführer zu. Wortlos machten sie kehrt, und ritten den Prinzessinnen voran zurück ins Innere des Schlosses. Dort stieg der Anführer ab und bedeutete den Frauen, es ihm gleichzutun. Die drei anderen Ritter verschwanden durch ein großes Tor in einen anderen Bereich der Burg. Ein Stallbursche kam herbeigerannt und nahm die Pferde an sich. Der Ritter ging nun voran, auf eine kleine, mit Drachen und Totenköpfen verzierte Eisentüre zu, die zu einer steilen Wendeltreppe eines Aufstiegsturms führte. Mit schweren Schritten stapfte er die Treppe hoch. Beklommen folgten ihm die Prinzessinnen. Im zweiten Stockwerk verließ der Ritter das Treppenhaus und wies auf einen langen, mit Fackeln beleuchteten Gang, an dessen Ende eine große, zweigeteilte Tür von zwei Soldaten bewacht wurde. Wortlos wies er darauf, dann drehte er sich um und zog sich zurück. Eng aneinandergedrängt gingen Alessandra und Ornella auf die Tür zu. Ihre Herzen schlugen heftig. Die Wachen, schwer gepanzerte Ritter, deren Gesichter hinter ihren Visieren unsichtbar blieben, zogen lautlos die beiden Türflügel auf. Die Prinzessinnen traten ein. An einem langen Tisch auf einem Stuhl aus nachtschwarzem Holz saß, mit dem Rücken zur Tür, der Schwarze König. Als er hörte, wie die beiden Frauen eintraten, erhob er sich langsam und drehte sich um. Aus einer dunklen Nische, vielleicht dem Zugang zu weiteren Gemächern, trat lautlos eine Frau an seine Seite. * Zehn Jahre zuvor. Es war keine drei Monate her, daß der Schwarze König seinen Vater begraben und seine Nachfolge angetreten hatte. Sáltaris, der alte Schwarze König, war eines natürlichen Todes gestorben, was für einen Schwarzen König sehr ungewöhnlich war. Die meisten Herrscher aus dieser Linie, die das Unendliche Land seit nunmehr 1011 Jahren regierten, waren mächtige Zauberer gewesen, viele von ihnen unsterblich. Kaum einer war einfach so abgetreten. Meist verschwanden sie irgendwann unter mysteriösen Umständen, wenn sie Mächte beschworen, die sie nicht mehr beherrschen konnten. Auch der Großvater des jetzigen Schwarzen Königs war ein Zauberer gewesen, einer der mächtigsten, berühmtesten, aber auch grausamsten der Linie. Vor knapp 30 Jahren war auch er verschwunden, und mit ihm alle Bewohner eines ganzen Dorfes. Noch heute erzählte man sich, daß die verlorenen Seelen
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dort des Nachts umgingen. Sein Sohn hatte dann den Thron bestiegen. Er war ein Idealist und Träumer, und er hatte alles anders und besser machen wollen. Er hatte sogar auf die Schwarze Macht und die Unsterblichkeit verzichtet. Aber er war einer der schwächsten und unbedeutendsten Könige geworden. Und nur zwei herausragende Ereignisse verband man noch mit seinem Namen: erstens das tausendjährige Reichsjubiläum, das durch Zufall gerade in seine Regierungszeit gefallen war, und zweitens den Beginn der Westerschließung. Westlich der Grenzen des Schwarzen Reiches setzte sich das Hochgebirge nämlich noch ein gutes Stück fort, und dieses Land wurde seit Menschengedenken von niemandem beansprucht. Der Vater hatte vorgehabt, es seinem Reich hinzuzufügen. Doch eine unüberwindliche Gebirgskette trennte es vom Reichsgebiet. Deshalb allein war es noch immer herrenlos. Daher hatte der König den Befehl gegeben, die Berge an zwei Stellen mit großen Tunneln zu durchstoßen. Nun, nach über zehn Jahren härtester Knochenarbeit, war das Werk erst zu einen Fünftel oder Viertel fertig. Die Arbeiter steckten mitten im Berg und schufteten in Dunkelheit, Kälte und schlechter Luft Tag für Tag. Und so würde es noch Jahrzehnte weitergehen. Doch der neue Schwarze König - Thoran war sein Name - war entschlossen, die dunklen und die lichten Mächte zu beschwören, das Ende der Bauarbeiten als junger Mann zu erleben und dann die Einverleibung des Westlandes durchzuführen. Nun hatte er den Thron geerbt, viel früher, als er sich das vorgestellt hatte. Er war gerade 23, jung und unerfahren, und berauscht von der Macht, über die er nun gebot. Er hatte es sich in den Kopf gesetzt zu heiraten, und seine Wahl war auf ein schönes junges Mädchen namens Isini gefallen, dessen Vater als Rittmeister in seiner kleinen Garde diente. Es interessierte ihn nicht, daß weder die junge Frau noch ihr Vater diese Verbindung wollten. Das Mädchen ertrug seine Nähe schweigend, und er genoß es, sie damit zu demütigen und ihr seine Macht zu demonstrieren. Doch da sie sich nicht fügte, wurde er ungeduldig und beschloß, den Vater ermorden zu lassen, um den Widerstand der Frau zu brechen. Der Mann, der den Mord begehen sollte, weilte seit gut zwei Jahren im Reich. Es war ein intelligenter, aber düsterer Mann, der wegen eines Mordes aus der Stadt Gel-Almanaum geflohen war. Thoran hatte seine Fähigkeiten erkannt und seinen Vater überredet, den Flüchtling nicht zu verbannen, sondern ihn im Dorf am Fuß der Schwarzen Burg wohnen zu lassen. Zusammen hatten er und Schogan Liss dann Pläne ausgearbeitet, wie das Reich am besten zu verwalten wäre. Schogan hatte auch hier seine überragenden mathematischen und organisatorischen Kenntnisse eingebracht, was ihm seitens seines neuen Herrn den Spitznamen Numero eingebracht hatte. Doch jetzt hatte der neue Schwarze König einen Spezialauftrag. Eines Nachts schlichen er und Schogan in das Quartier der Wache. Mit einem Zauber verhinderte Thoran, daß die anderen Wachen aufwachten. Dann gab er Schogan den Dolch, und dieser stieß ihn dem Rittmeister tief ins Herz. Mit dieser Bluttat war er für immer seinem Herrn und Gebieter verbunden. Doch den eigentlichen Zweck erfüllte der Mord nicht. Der Schwarze König wurde nun zwar nicht nur von Isini, sondern auch von allen anderen seiner Untertanen gefürchtet, denn wenn er sich dieser Bluttat
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auch nicht öffentlich rühmte, so stritt er sie auch nicht ab, und jeder wußte, was er getan hatte oder zumindest hatte tun lassen. Niemand konnte oder wollte ihn dafür zur Rechenschaft ziehen. Niemand, außer Isini. Sie heiratete ihren Peiniger, aber niemals sprach sie auch nur ein einziges Wort mit ihm. Sie schlief mit ihm, wenn er es verlangte, doch niemals berührte oder küßte sie ihn freiwillig. Mit der Zeit bereute Thoran seine Tat. Das schlechte Gewissen wegen des kaltblütigen Mordes quälte ihnzwar nicht. Wer die dunklen Mächte benutzte und beschwor, für den besaßen die moralischen Kategorien der Sterblichen keine Bedeutung. Es reute ihn deshalb, weil er einsehen mußte, einen Fehler gemacht zu haben. Er hatte ein unschuldiges Wesen ins Unglück gestürzt und dabei überhaupt nichts gewonnen. Denn so sehr er Isini auch quälte und demütigte, sie brach nicht, sie sprach nicht, und sie fügte sich nicht in ihr Schicksal. Jahre später ließ er von ihr ab. Er peinigte sie nicht länger, auch wenn er wußte, daß sie ihm das nicht danken würde. Und irgendwann vergaß er sie. Sie verließ das Schloß nie, sie begegneten sich oft auf den dunklen Gängen, aber der König hatte sie aus seinen Gedanken gestrichen, sie war zu einer Art lebendem Inventar geworden, so wie die Türen, die Fackeln, die Wachposten. Und dann landete die Weiße Gans in seinem Exerzierhof und teilte ihm mit, daß eine Frau zu ihm unterwegs war, die ihn über alles liebte und ihn unbedingt heiraten wollte. * »Ja, das ist meine Geschichte.« Ornella starrte Thoran mit weit aufgerissenen Augen entgeistert und verzweifelt an. Alessandra faßte sich schneller und musterte Isini, die wie ein Geist neben dem Schwarzen König stand. Sie wirkte irgendwie durchsichtig, fast so, als wäre sie gar nicht da. Ihr Gesicht mußte früher sehr hübsch gewesen sein, doch nun war es verhärmt und von tiefem Leid entstellt. Nur in ihren dunklen Augen schein so etwas wie ein seltsames, düsteres Feuer zu brennen. Mit seinem unnachahmlichen spöttischen Lächeln ging Thoran auf Ornella zu. Die Prinzessin wich vor ihm zurück, dann schlug sie die Hände vor dem Gesicht zusammen und begann hemmungslos zu schluchzen. Alessandra nahm sie in die Arme. Dann zischte sie den Schwarzen König wütend an: »Wie konntet Ihr der Armen das antun! Reicht es nicht, daß ihr das Leben dieser Frau zerstört habt?« Sie zeigte auf Isini. »Ich habe Euch für einen guten Menschen gehalten, aber in Wahrheit seid ihr grausam und gefühllos.« Entschlossen zog sie das Schwert und richtete es gegen Thoran, während sie rief: »Und ich werde nicht zulassen, daß Ihr auch Ornellas Leben zerstört. Eher sterbe ich selbst.« Der Schwarze König blickte sie lange und nachdenklich an. Doch Alessandras Blick senkte sich nicht. Sie war zu allem entschlossen. Da tat der Schwarze König etwas unerwartete. Er drehte sich um, sprang auf den Tisch und rief: »Hexe Elysiss. Wenn dein Versprechen noch gilt und ich einen Wunsch frei habe, dann komm jetzt und hilf mir! Hörst du, Elysiss!« Langsam wandte er sich wieder den Prinzessinnen zu. Mit einem gewaltigen Satz sprang er vom Tisch
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und landete nur zwei Meter vor ihnen. Ornella bekam es nicht mit, sie war immer noch in tiefer Verzweiflung versunken. Doch Alessandra riß ihr Schwert erneut empor und zielte mit der Spitze auf den Hals Thorans. Plötzlich zuckte ein Fünkchen über den Tisch, daraus wurde ein heller Schein, dann ein greller Blitz, und daraus trat die Schutzherrin des Weißen Königreiches hervor. »Schwarzer König. Du hast mich um Hilfe gebeten. Nun, hier bin ich.« Der Schwarze König drehte sich zu ihr um. Die beiden Mächtigen verständigten sich ohne Worte, nur mit Blicken. Die Hexe schwebte vom Tisch herunter und ging auf die Prinzessinnen zu. »Habt keine Angst.« Sie umfaßte sanft die Hand Alessandras, und das Schwert fiel zu Boden. Dann berührte sie auch Ornella. Überrascht blickte die Prinzessin hoch, und als sie Mistress Elysiss erkannte, da faßte sie wieder ein bißchen Mut. Die Hexe blickte den Mädchen tief in die Augen dann fragte sie: »Vertraut ihr mir?« Sie nickten beide, Alessandra allerdings etwas zögernd. Elysiss sagte: »Alles wird gut werden. Habt keine Angst. Kommt.« Mit einer Handbewegung befahl der Schwarze König dem Holz im Kamin, sich zu entzünden. Das Feuer strahlte Licht, Wärme und Geborgenheit aus. Aus den Augenwinkeln sah Alessandra, wie die leeren Ritterrüstungen neugierig ihre Visisere zu ihnen hindrehten, als stecke ein klein wenig Leben in ihnen. Sie setzten sich alle sechs vor dem Kamin auf die auf dem Boden ausgebreiteten Felle. Sogar Isini setzte sich dazu. »Ich danke dir, Elysiss. Wenn du nicht gekommen wärst, wäre dasselbe passiert wie im Weißen Königreich. Ich wollte es nicht ins Unglück stürzen. Es geschah, weil in den Menschen zu viele Vorurteile wüten. Wenn sie mich sehen, können sie nicht mehr klar denken, nicht mehr frei entscheiden. Und das wäre beinahe auch hier passiert. Aber - « und nun blickte er Ornella, Alessandra und Isini an, »ich bin entschlossen, alles zum Guten zu wenden. Ja, ich habe Isinis Leben zerstört, aber ich will es wiedergutmachen, wenn ich kann!« Er nahm die Hand seiner Frau. »Isini. Ich habe dich wirklich einmal geliebt. Aber nun ist deine Zeit an meiner Seite zu Ende. Du bist frei und kannst gehen, wohin du willst. Und du hast einen Wunsch frei. Ich kann dir märchenhafte Schätze geben, mit denen du in der Fremde ein glückliches und sorgenfreies Leben führen kannst. Ich kann die auch deine Jugend und deine Schönheit zurückgeben, die Jahre in meinem Schloß, die für dich verloren waren. Alles, was du willst.« Zum ersten Mal seit zehn Jahren nun öffnete die Frau nun ihren Mund, um zu sprechen. Ihre Stimme klang dünn und heiser, aber darauf achtete keiner. »Und wenn ich wünschte, deine Frau zu bleiben, damit du die Frau, die dich liebt nicht bekommen kannst, und du all die Qualen erleiden mußt, die du mir zugefügt hast?« Wenn allerdings jemand geglaubt hatte, der Schwarze König hätte sich von dieser Drohung beeindruckt gezeigt, so war er im Irrtum. Doch er schwieg zunächst und ließ seine Frau weitersprechen.
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»Aber du hast recht. Ich habe nur einen Wunsch: Daß all das Böse, das du mir und meinem Vater zugefügt hast, wieder rückgängig gemacht wird und ich mit ihm in Frieden leben kann wie vorher.« Thoran schüttelte den Kopf: »Das liegt außerhalb meiner Macht. Tote kann ich nicht zurückholen.« Isini seufzte, und Tränen liefen ihre Wangen herunter. Die ersten Tränen seit zehn Jahren. Ornella, die neben ihr saß, faßte sie sanft am Arm, doch die Schwarze Königin zog den Arm zurück. Der Schwarze König blickte sie mit seinem spöttischen, distanzierten Lächeln an, und in diesem Moment wußte die Frau, daß er seine Taten niemals wirklich bereuen würde, daß er nicht die Spur eines schlechten Gewissens hatte, und daß sie selbst nur noch eines wollte: So weit weg vom Unendlichen Land zu sein, wie nur möglich. Sie blickte ihrem Gemahl tief in die Augen, und darin erschien ein Adler, ein mächtiger, freier, unabhängiger Raubvogel, der nur den Himmel als Grenze und die Luft als sein Reich kannte. Und ihre Arme verwandelten sich in Schwingen, ihr Mund in einen Schnabel, Federn wuchsen ihr am ganzen Körper, und als die Verzauberung beendet war, da erhob sie sich in die Luft, schoß mit zusammengelegten Flügel aus einem der schmalen Fenster hinaus und verschwand mit einem befreiten Adler-Schrei in den Wolken. Schweigend hing jeder der fünf Übriggebliebenen seinen Gedanken nach. Elysiss ergriff als erste wieder das Wort: »Ich glaube, du brauchst mich nun nicht mehr, nach dieser BlitzScheidung.« Sie warf Thoran ein ironisches Lächeln zu. »Vielleicht doch. Als Trauzeugin.« Ornellas Kopf zuckte hoch. Erst entgeistert, dann begeistert blickte sie Thoran an, versank geradezu in seinen hellblauen Augen, so wie er in ihren schönen, großen, dunklen Augen. Mehrmals setzte Ornella zum Sprechen an, doch dann kam ihr Alessandra zuvor: »Schwester, weißt du, was du da tust?« Sie faßte sie an den Schultern und blickte sie warnend an. »Ist dir das Schicksal Isinis keine Warnung und Abschreckung?« Aber Ornella schüttelte den Kopf. »Nein, Schwester, ich liebe ihn. So wie er ist. Und ich liebe auch das Böse in ihm.« Wieder wanderten ihre Augen zu denen des Schwarzen Königs. Alessandra wußte, daß sie Ornella nicht umstimmen konnte. Sie liebte den Schwarzen König, während Isini ihn abgrundtief gehaßt hatte. Somit war ihr Schicksal keineswegs besiegelt. Im Gegenteil, vielleicht konnte sie sogar einen anderen Menschen aus ihm machen. Ihr Blick kreuzte sich mit dem der Hexe, und die Zuversicht, die die Zauberin ausstrahlte, übertrug sich auf die junge Prinzessin. Mit einem Ruck erhob sich Thoran. »Ich habe nie viel Zeit mit Gerede verschwendet. Wenn du willst, meine Bestgeliebte, dann heiraten wir sofort. Jetzt, auf der Stelle! Mein Vater hat für seine Hochzeit unten im Dorf damals extra eine kleine Kapelle errichten lassen, und ein Priester ist auf meinen Befehl jederzeit bereit.« »Ja, mein Bestgeliebter«, hauchte sie ihm zurück, dann umarmten und küßten sie sich leidenschaftlich.
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Alessandra betrachtete es mit Skepsis. Aber war dieser Mann nicht auch der Schwarze Wolf gewesen, dem sie so sehr vertraut hatte? War er ein guter oder ein böser Mensch? Ihr Blick streifte Elysiss, die langsam den Kopf schüttelte und dabei sanft lächelte. Der Schwarze König - vielleicht war er den Menschen deshalb so unheimlich, weil er in keine Kategorie paßte, er sich nicht mit normalen Maßstäben messen ließ. Sein Reich war wie ein Abbild seiner selbst: Schönheit, unermeßliches Leid und großes Glück lagen Seite an Seite. Was Ornella daraus machte, lag nun allein in ihren Händen. Der Schwarze König ließ den Priester antreten, während Ornella von einer Dienerin ihr Zimmer gezeigt bekam, wo sie sich noch ein bißchen auf die Trauung vorbereiten konnte. Etwa eine Stunde später trafen sie sich wieder im Thronsaal, dann ging der Schwarze König voran, die Treppe hinab, über den Innenhof und durch das Nordtor hinaus in das Dörfchen. Irgendwo bimmelte mit dünnem, hellen Klang eine Glocke. Alessandra hatte nie ein verloreneres und gleichzeitig rührenderes Glockenläuten gehört als dieses. Ihre Stimmung war seltsam, sie fühlte sich wie in einem Traum, aus dem sie eigentlich in der nächsten Sekunde erwachen mußte. Konnte es tatsächlich wahr sein, daß ihre Schwester, die immer so hochfahrend und eitel gewesen war, in fünf Minuten den Schwarzen König heiraten und sich ihm demutsvoll hingeben würde? Und daß der Schutzgeist des Weißen Reiches dem Schwarzen König als Trauzeugin dienen würde? Sie schüttelte den Kopf, aber die Realität wich nicht. Es war kein Traum. Tatsache war vielmehr, daß ihre Schwester ein anderer Mensch geworden war. Ihr aller Leben hatte sich in so kurzer Zeit tiefgreifend geändert. Aus Frieden und dem leichten Leben am Weißen Hof waren Trauer und Krieg geworden, doch aus dieser Asche wuchsen neue Pflanzen. Ornellas Hochzeit, Simona ... bestimmt war auch Simona glücklich. Alessandra wurde klar, daß sie Ornella, die sie in den letzten drei Wochen so sehr lieben gelernt hatte, nach dieser Trauung so bald nicht mehr wiedersehen würde. Und daher nahm sie sich fest vor, nicht sofort ins Weiße Schloß zurückzukehren, sondern statt dessen Simona im Eisland zu besuchen. Ja, sie vermißte ihr altes, unbeschwertes Leben und die Menschen, die es bestimmt hatten und die Art, wie sie in den Tag hatten leben können, ohne Sorgen, ohne Verantwortung. Ornella würde jetzt die Schwarze Königin werden, Herrin über ein schönes, aber kaltes und oftmals düsteres Land, in dem Freude, Glück und Tod so schrecklich dicht zusammenlagen. Sie ergriff die Hand Ornellas und drückte sie ganz fest, und ihre Schwester drückte auch ihre Hand inniglich. Dann betraten sie die Kapelle. Im Innern sah es anders aus, als Alessandra es erwartet hatte. Der Priester, ein alter Mann mit einem beeindruckenden weißen Bart und warmen, gütigen Augen, hatte alle Wände mit zahllosen Kerzen erleuchtet. Es war ein wunderschöner, märchenhafter Anblick. Jeder Lufthauch ließ die Flammen im Gleichtakt hin- und herflackern, und das warme Licht, das sie ausstrahlten, drang in die Herzen der beiden Prinzessinnen ein und erleuchtete sie. Ob Hexe Elysiss dies auch so empfand, konnte man natürlich nicht sagen, und erst recht rätselhaft blieben die Gedanken und Gefühle des Schwarzen Königs. Doch dann sah Alessandra, als Thoran Ornella zu sich heranzog, wie er sich ein Tränchen aus dem Auge wischte. Dieser Mann würde ihr wohl immer ein Rätsel bleiben. Sein Charakter war so schillernd und vielschichtig, daß er normalen Sterblichen
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unergründlich bleiben mußte. Der Priester trat vor das Brautpaar hin. Der Duft von Weihrauch, den er aus einem reich verzierten Gefäß in die Luft schwankte, erfüllte die Kapelle - wahrscheinlich das erste Mal seit Jahrzehnten. »Willst du, Thoran aus dem Stamm Caair, diese Frau, Ornella aus dem Haus der Weißen Könige, zu Deiner dir rechtmäßig angetrauten Gemahlin nehmen?« »Ja. Ich will es. Und ich gelobe Dir, meine Bestgeliebte, meinen Schutz, meine Ehrerbietung und meine ewige Liebe. Und diesmal«, fügte er hinzu, »weiß ich, wovon ich spreche.« »Und willst Du, Prinzessin Ornella, diesen Mann als deinen dir rechtmäßig angetrauten Gemahl nehmen, ihm immer gehorchen und ihn lieben und ehren?« »Ja. Ich will es mehr als alles andere auf der Welt. Und ich gelobe dir, mein Gemahl und König, meinen Rat, meine Ehrerbietung und meine flammende Liebe für ewig und alle Zeiten.« »So sei es. Und so erkläre ich Eure zu Mann und Frau. Die Trauzeugen mögen Euch nun die Ringe geben, mit denen ihr diesen Bund besiegelt.« Ornella hatte ihren Löwenring an den rechten Ringfinger gesteckt, so daß der Schwarze König ihr nun seinen Ring, den Elysiss ihm hinhielt, an den linken Ringfinger stecken konnte. Dann nahm sie den Ring, den Alessandra als ihre Trauzeugin ihr reichte, und steckte ihn Thoran an den Finger. »Die Brautleute dürfen sich jetzt küssen.« Ornella sank in Thorans Arme, er zog sie fest und doch zärtlich an sich, und sie küßten sich lange und innig. Alessandra mußte sich ein paar Tränen aus den Augen wischen, und die Hexe Elysiss lächelte zufrieden. * Der Schwarze König hatte die Hexe wieder in eine Gans verwandelt und sie war davongeflogen, zurück ins Weiße Reich, wo sie versuchen wollte, die schlimmsten Auswirkungen des Krieges zu verhindern. Auch für Alessandra nahte nun die Stunde des Abschieds. Doch da trat der Schwarze König, begleitet von der Schwarzen Königin, zu ihr hin und sagte: »Bevor du gehst, will ich dir und deiner Schwester ein kostbares Geschenk machen. Gebt mir die Ringe, die ihr von Sofrejan bekommen habt!« Alessandra blickte ihn fragend an, doch dann streifte sie ihren Tigerring ab und gab ihn ihm. Auch den Löwenring Ornellas nahm er an sich. Wortlos verschwand er damit in den Tiefen seines Schlosses. Allmählich wurde es draußen dunkel. Da der König immer noch nicht zurück war, beschloß Alessandra, bei ihrer Schwester zu übernachten und erst am nächsten Morgen aufzubrechen. Beim Schein einer Fackel saßen sie zusammen in dem großen Zimmer, daß nun Ornellas war, und redeten. Plötzlich sah Alessandra auf: »Was war das?« Ein geisterhafter grüner Schein war über die Wände gehuscht. Ein seltsames Zischen und Knistern
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erfüllte zeitweise die Luft, dann war es wieder verschwunden. »Ich weiß nicht«, flüsterte Ornella. »Ich glaube, es kam von da.« Sie wies auf die Außenwand, die von einigen verglasten Fenstern durchbrochen war. Neugierig gingen die Frauen näher an die Fenster, doch sie mußten ziemlich den Hals verrenken, um die Quelle des Leuchtens zu erkennen, das seitlich über ihrem Zimmer sein mußte. Von dort zuckten immer wieder grüne und blaue Blitze durch die Nacht und erhellten kurzzeitig die hohen Tannen unter dem Turm, tauchten mit ihrer Kraft die nächtliche Landschaft in flackerndes, unheimliches Licht. Dann sickerte tiefrotes Licht an der Wand des Turmes herab und verschwand wieder ins Nichts. Und dann ertönte ein furchtbarer, grauenvoller Schrei. Die Prinzessin und die Königin zuckten zusammen, das Herz schlug ihnen bis um Hals, aber es geschah nichts weiter, und der Schrei wiederholte sich nicht. Auch die Blitze erstarben. Stille und Dunkelheit senkten sich wieder über das Schwarze Schloß und das Land. Die Nacht war klar und kalt, und die zahllosen Sterne funkelten und leuchteten hier im Gebirge so intensiv, wie man es im Tiefland des Weißen Königreiches nie zu sehen bekam. Schritte. Draußen, vor der Tür. Jemand näherte sich, dann wurde die Tür langsam geöffnet. Der Schwarze König trat ein. Er schien verändert, müde, aber irgendwie energiegeladen. Einmal, bei einer raschen Bewegung, zuckte ein kleiner blauer Blitz über sein schwarzes Gewand. Er trat auf die beiden Schwestern zu, die sich scheu aneinanderdrückten, dann legte er die beiden Ringe auf einen kleinen, runden Tisch vor ihnen. Das spöttische und zugleich nachdenkliche Lächeln, da so typisch für ihn war, huschte über seine Lippen, dann verwandelte es sich in ein triumphierendes Grinsen. »Hier.« Er wies auf die Ringe. Sie schienen unverändert, sahen aus wie vorher. Vertrauensvoll griff Ornella nach ihrem Löwenring und zog ihn an. Es war nichts zu spüren, der Ring schien nichts als ein ganz gewöhnlicher, wenngleich äußerst kostbarer Ring zu sein. Alessandra folgte dem Beispiel ihrer Schwester. Auch ihr Tiger-Ring schien völlig normal. »Wenn ihr in großer Gefahr seid oder in großer Not, dann könnt ihr mit diesen Ringen miteinander sprechen, wo immer ihr euch auch aufhaltet«, eröffnete ihnen der Schwarze König. »Und noch eins. Nur, wer würdig ist, kann diese Ringe sehen. So kann sie euch niemals jemand wegnehmen.« Er drehte sich um und ging schweigend hinaus. Ornella kämpfte mit sich, ob sie ihm folgen oder lieber bei Alessandra bleiben sollte. »Geh nur zu ihm«, ermunterte sie Alessandra. »Du bist jetzt seine Frau, und selbst wenn er die Mächte des Teufels beschwört, mußt du zu ihm stehen.« »Oder die Mächte des Lichts. Aber dies, meine geliebte Schwester, ist das letzte Mal für vielleicht sehr lange Zeit, daß wir uns sehen. Ich verlasse dich jetzt nicht.« Der nächste Morgen war hell und warm - ungewöhnlich für dieses Land.
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Der Schwarze König, Ornella, seine Königin und Alessandra nahmen zusammen ein ausgezeichnetes Frühstück. Dann gingen sie hinunter in den Innenhof, wo die Prinzessin Schwalbe entgegennahm. Die Stute begrüßte ihre Herrin freudig. Alessandra drehte sich zu ihrer Schwester um und beide fielen sich in die Arme. Lange und innig drückten sie sich aneinander, und Ornella vergoß einige Tränen, bevor sie sich wieder trennten. Dann trat der Schwarze König auf die Prinzessin zu, ergriff ihre Hand und zog sie sanft zu sich hin. Zärtlich streichelte er ihr über das kastanienbraune Haar, dann küßte er sie auf die Stirn und sagte: »Ich danke dir, daß du meine Bestgeliebte sicher zu mir gebracht hast. Wann immer du Schutz oder Hilfe brauchst oder einfach nur deine Schwester besuchen willst, bist du uns willkommen.« Er klatschte in die Hände, und zwei Ritter in voller Rüstung auf stolzen Pferden kamen herangeritten. »Sie werden dich bis zur Grenze eskortieren. Sie kennen jeden Pfad und jede Abkürzung durch die Berge. Mit ihnen erreichst du das Weiße Land noch vor Sonnenuntergang.« Mit diesen Worten hob er die junge Prinzessin auf ihr Pferd. Die Ritter ritten voran, und Alessandra folgte ihnen. Noch lange winkte sie Ornella und dem Schwarzen König zu, bis sie hinter einer Wegbiegung verschwand.
2. Teil - Drittes Kapitel - Der König von Arcadia Niemand vermochte später zu sagen, warum Alessandra sich für den Weg zu ihrer Schwester durch das Weiße Königreich entschieden hatte. Die nördliche Route durch das Land des großen Königs Karl hätte sie auf kürzerem und auch sichererem Weg in das Blaue Land geführt. Und doch wählte sie den Weg im Süden. Eine Entscheidung, die schicksalhafte Folgen haben sollte. Die beiden schweigsamen Ritter, die der Schwarze König ihr als Eskorte mitgegeben hatte, führten sie in raschem Tempo durch geheime Wege und Abkürzungen - einmal sogar einen Tunnel - innerhalb von nur sieben Stunden an die Grenze. Es war noch Tag, als sie sie erreichten. Einer der Ritter wandte sich an sie: »Die Hauptstraße trifft etwa 10.000 Schritt in westlicher Richtung auf die Grenze. Dort hat Euer Vater den Grenzposten verstärkt. Aber hier könnt Ihr unentdeckt passieren, Hoheit.« Es war in der Tat nur ein besserer Wildwechsel, der an dieser Stelle aus dem Unendlichen Land herausführte. »Aber seid trotzdem vorsichtig, Prinzessin«, sagte der andere Ritter. »Es gibt jetzt viele Patrouillen entlang der Grenze. Laßt Euch nicht fassen.« »Keine Angst. Und danke euch beiden.« Sie winkten ihr zum Abschied zu, dann wendeten die Ritter ihre Pferde um und verschwanden fast lautlos
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wieder im tiefen Wald. Alessandra atmete tief durch, dann ließ auch sie ihre Stute lostraben. Viele Gedanken gingen ihr durch den Kopf, während sie nahe der Grenze Richtung Osten ritt. Sie hatte eine weite Reise vor sich. Östlich des Schwarzen Reiches kam das Troll-Land, dahinter die Fürstentümer Ganda und Botha. Wer weiß, vielleicht waren sie bereits im Krieg mit ihrem Vater. Bei diesem Gedanken bekam sie ein schlechtes Gewissen. Durfte sie ihren Vater jetzt, in dieser schweren Zeit, so lange allein lassen? Aber sie würde Kunde von Simona mitbringen, und das war ihr sehr wichtig. Sie mußte unbedingt wissen, ob es ihrer kleinen Schwester gutging. Wenn sie das Fürstentum Botha erreicht hatte, mußte sie nach Nordosten abbiegen und praktisch das ganze Land durchqueren, bis sie dann auf das Blaue Land stieß. Wie würde man sie dort empfangen? Schließlich hatte ihr Vater König Erich den Krieg erklärt. Sie seufzte. Schwalbe wieherte leise, wie um sie aufzumuntern. Die Landschaft veränderte sich langsam. Der dunkle Wald des Schwarzen Königreiches war hinter der Grenze abrupt in buschiges Heideland übergegangen, wo jetzt, im Spätsommer, überall die zahllosen lila Blüten des Heidekrauts blühten. Unzählige Bienen, Hummeln und leuchtende Schmetterlinge suchten sie auf und tranken ihre winzige Portion Nektar. Weiter vorn, genau in der Richtung, in die Alessandra ritt, begann ein Birkenwald, der weiter im Innern ziemlich dicht und unwegsam erschien. Aber bisher waren sie und Ornella noch überall durchgekommen. Gedankenverloren spielte sie mit ihrem Tigerring. Dabei dachte sie an Ornella und Simona. Der Ring ... Wenn sie Thoran Simonas Ring brachte, vielleicht konnte er ihn dann auch verhexen, so daß sie alle drei miteinander sprechen konnten. Bisher hatte sie es noch nicht ausprobiert, und der Schwarze König hatte ja auch gesagt, daß es nur in Notfällen funktionierte, aber es war dennoch beruhigend, diese Möglichkeit zu haben. Es wurde langsam dunkel, und sie suchte sich eine einigermaßen geschützte Stelle am Waldrand zum Übernachten. Die Nächte waren immer noch sehr warm, und der inzwischen wieder zunehmende Mond spendete ein wenig Licht. In eine Decke gehüllt und an Schwalbe geschmiegt, schlief Alessandra ein. * Als sie am anderen Morgen aufwachte, war Schwalbe bereits unterwegs, um sich Futter zu suchen. Die Prinzessin holte sich etwas aus ihrer Satteltasche. Später kam die Stute zurück, und sie ritten tiefer in den Birkenwald hinein, Richtung Osten. Der Vormittag verlief ereignislos, lediglich einmal begegnete Alessandra einem einsamen Wanderer, der ihr entgegen kam. Dem Aussehen nach war es vermutlich ein Schafhirte, der von nirgendwo kam und nach irgendwo wollte. Sie grüßten sich stumm, er erkannte sie offenbar nicht, dann zog jeder seines Weges.
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Am Mittag machte sie auf einer großen, mit Blaubeeren und Himbeersträuchern bewachsenen Lichtung Rast. Nach dem Essen saß sie wieder auf und ritt ein Stück weiter, doch da wurde Schwalbe plötzlich nervös. Alessandra hielt an und lauschte. Waren da nicht Stimmen? Doch! Noch eine gute Strecke entfernt, aber sie kamen näher. Und dann vernahm sie das leise Klirren von Rüstungen und Waffen, dazu das Schnauben mehrerer Pferde. Eine Patrouille ihres Vaters! Aufmerksam sah sie sich um, und dann sah sie die Reiter am anderen Rand der Lichtung. Vorsichtig, um nicht gehört zu werden, ließ sie Schwalbe antraben, dann galoppieren. Doch sie hatte Pech: Einer der Soldaten sah sie zwischen den lichten Bäumen verschwinden. Mit lautem Rufen alarmierte er die anderen, und augenblicklich begann die Jagd. Alessandra hörte die aufgeregten Stimmen der Männer und das Wiehern und Schnauben der Pferde schon ziemlich dicht hinter sich. Der Lärm, mit dem die Reiter durch das Unterholz brachen, kam immer näher, und Alessandra mußte nun, da sie ohnehin entdeckt war, jede Vorsicht aufgeben und in vollem Galopp fliehen. Schwalbe konnte einen guten Vorsprung herausholen, doch da näherten sich weitere Reiter von Süden. Offenbar waren sie ausgeschwenkt, um ihr den Weg abzuschneiden. »Also gut«, rief sie zu sich selbst, »dann eben nach Norden durch das Troll-Land.« Die Verfolgung zog sich den ganzen Nachmittag hin. Immer wieder fanden die Soldaten Alessandras Spur, außerdem hatten einigen von ihnen mittlerweile auch Verstärkung geholt. Offenbar waren entlang der Grenze inzwischen zahlreiche Posten und Wachtstationen errichtet worden. Die tiefstehende Sonne im Rücken, floh Alessandra nach Norden in das Niemandsland, wo der Legende nach Unholde und Kobolde hausten. Einen Weg gab es längst nicht mehr, Schwalbe galoppierte über sumpfige Wiesen und trügerische Moore. Mehr als einmal verlor das Pferd den sicheren Boden unter den Hufen und versuchte halb schwimmend, halb laufend, wieder festes Land zu erreichen. Irgendwann blieb auch der Prinzessin nichts anderes übrig, als abzusteigen und selbst zu laufen oder manchmal auch zu schwimmen. Sie war bis auf die Haut durchnäßt mit der braunen, modrigen Brühe, durch die sie sich hatte durchkämpfen müssen, und noch immer waren ihr wahrscheinlich die Soldaten auf den Fersen. Es waren ziemlich viele gewesen, und sie schienen wild entschlossen zu sein, das ganze Gebiet abzukämmen. Offenbar hatte ihr Vater oder der Rittmeister ihnen eindeutige Befehle erteilt. Sie kletterte schließlich auf einen Baum, den höchsten, der in dieser nebligen Sumpflandschaft wuchs, und schaute sich um. Tatsächlich sah sie ein gutes Stück zurück vier Soldaten, die allerdings nicht mehr so genau wußten, wo sie sie noch suchen sollten. Plötzlich zuckte einer der Ritter zusammen. Alessandra konnte es nicht genau erkennen, aber es sah aus, als sei er von einem Pfeil getroffen worden. Dann tauchten aus einem Wasserloch neben den Männern mehrere zottige Gestalten auf und warfen ein Netz über die Soldaten. Zwei konnten jedoch entkommen und flohen in wilder Panik. Der dritte, es war derjenige, der von dem Pfeil getroffen worden war, fiel vom Pferd, der vierte jedoch zog sein Schwert und hieb das Netz, das ihn gefangen hielt, entzwei. Dann drang er auf die unheimlichen Gestalten ein, die sich jedoch heftig wehrten. Das mußten Trolle sein, auch wenn die Prinzessin ihre fratzenhaften Gesichter nicht genau erkennen konnte. Alessandra kletterte, so schnell sie konnte, von ihrem Baum herunter. »Schnell, Schwalbe. Lauf, was du kannst«, rief sie, nachdem sie sich in den Sattel geschwungen hatte. »Wir müssen dem Ritter helfen.«
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Doch sie sah den armen Mann nie wieder. Als sie an der Stelle des Überfalls ankam, fand sie nur noch die Spuren des Kampfes. Aber von den Trollen, den beiden Rittern und ihren Pferden fehlte jede Spur. Alessandra beschloß, zu dem hohen Baum zurückzukehren und in seinen Ästen zu übernachten. Sie hoffte, daß es dort sicherer war. Denn trotz allem hatte sie nicht vor, sich von ihrem Plan abbringen zu lassen und sich den Soldaten ihres Vaters zu stellen. Jetzt noch nicht. Es wurde überraschend schnell dunkel, und Alessandra erreichte den Baum im Licht der letzten Sonnenstrahlen. Sie hoffte, daß die Unholde und Gnome an Pferden nicht interessiert waren, denn schließlich konnte sie Schwalbe nicht mit auf dem Baum nehmen. Doch ihre Stute schien keine Angst zu empfinden. In aller Ruhe begann sie, nach Gras und Kräutern zu suchen. Alessandra hüllte sich fröstelnd in ihre Decke und versuchte, eine einigermaßen bequeme Stellung in einer großen Astgabel zu finden. Sie versuchte zu schlafen, doch in diesem unheimlichen Land gelang ihr das erst nach einiger Zeit. Mit einer Hand am Knauf ihres Schwertes döste sie endlich ein, doch ein grauenhafter Schrei ließ sie wieder emporfahren. Hätte sie sich nicht in letzter Sekunde daran erinnert, daß sie auf einem Baum saß, wäre sie heruntergefallen. Mit pochendem Herzen, die Sinne bis zum Zerreißen gespannt, spähte sie angestrengt in die Dunkelheit. Da! Ein geisterhaftes, fahles Leuchten zuckte über den blubbernden Sumpf, erlosch dann jedoch wieder. Danach war nichts zu hören außer dem Zirpen von Insekten und dem gelegentlichen traurigen Quaken einiger Frösche. Sie starrte hinauf in den Himmel, doch Sterne waren nicht zu sehen. Der Himmel war von eigenartiger, grauer Farbe, und war deutlich zu sehen. Seltsamerweise spendete er kein Licht. Die Landschaft am Boden war in tiefe Schwärze gehüllt. Nur die Konturen einiger Bäume zeichneten sich dagegen ab. Es dauerte lange, bis die Prinzessin wieder einschlief. Doch lange ließ der Sumpf sie nicht schlafen. Ein seltsames Kichern und Flüstern weckte sie erneut. Stimmen! Dann das erschrockene Wiehern Schwalbes. Schon war die Prinzessin drauf und dran, mit gezogenem Schwert herunterzuspringen, doch da beruhigte sich der Sumpf wieder. Die Stimmen verschwanden, das unmenschliche Kichern erstarb, und die Frösche begannen wieder ihr aufdringliches Konzert. Für kurze Zeit rissen die grauen Wolken auf und ließen die Mondsichel hindurchscheinen, und bei ihrem Anblick faßte Alessandra neuen Mut. Wieder schlief sie ein. Und wieder riß sie ein lautes Geräusch aus dem unruhigen Schlaf. Es war Donner gewesen. Alessandra riß die Augen auf und merkte, daß sie durch und durch naß war. Es regnete in Strömen. Blitze durchzuckten die Nacht, aber die meisten entluden sich zwischen den Wolken und ließen sie geisterhaft leuchten. Dazu kam der krachende Donner, der sich am Boden brach und ihn erbeben ließ. Es war immer noch mitten in der Nacht, und Alessandra war müde und erschöpft. Dazu kam nun die Nässe und diese eigenartige, saugende Kälte. Zitternd stieg sie vom Baum herunter, um nach Schwalbe zu sehen, da ging ein gewaltiger Blitz dicht neben ihr in den Boden. Ein Stromschlag ließ ihren Körper sich aufbäumen. Das unglaublich grelle Licht blendete sie, doch vorher enthüllte es für den Bruchteil eines Atemzuges eine grausige Gestalt, ein riesiges, gehörntes Monstrum, das nahe dem Baum stand und zu ihr hinüberzublicken schien. Ein Donnerschlag von ungeheurer Stärke fegte Alessandra von den Füßen und sie schrie vor Angst und Schmerz. Dann war der Blitz entladen und tiefste Dunkelheit senkte sich über das Land. Mit weit aufgerissenen
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Augen versuchte Alessandra, irgend etwas zu erkennen, das Monstrum auszumachen, das der Blitz nur für einen kurzen Augenblick aus dem Schattenreich geschält hatte, doch die Helligkeit war zu groß gewesen. Verzweifelt fragte die Prinzessin sich, ob sie für immer ihr Augenlicht verloren hatte. Mit dem Mut der Verzweiflung sprang sie wieder auf, rutschte mit ihren zittrigen Gliedern auf dem glitschigen Untergrund aus, stürzte hin, rappelte sich wieder empor, riß ihr Schwert aus der Scheide und drang zu der Stelle vor, an der sie das Ungeheuer gesehen hatte. Mit der linken Hand ertastete sie sich den Weg, doch dann blieb sie mit einem Fuß in einem Sumpfloch stecken und fiel wieder hin. Das Schwert entglitt ihr, und sie strampelte in wilder Panik, um sich zu befreien. Das Loch schien sie festhalten zu wollen, doch irgendwann gelang es ihr, freizukommen. Sie sprang auf und wollte davonrennen, aber wohin? Wieder zuckte ein Blitz über die Wolken. Alessandra sah es. Eine Welle des Glücks darüber, daß sie nicht erblindet war, durchströmte sie, und sie sank an der Stelle, an der sie gerade stand, auf den Boden, dann legte sie sich einfach hin und wartete ergeben auf das, was noch kommen sollte. Schlimmer konnte es nicht mehr werden. * Es kam der nächste Tag. Es regnete immer noch, aber es war wenigstens wieder hell. Alessandra wäre wohl noch nicht so früh von selbst erwacht, aber Schwalbe weckte sie. Die Prinzessin zuckte zusammen und war schlagartig wach, doch dann beruhigte sie sich. Doch dann verspürte sie nur noch den Wunsch, so schnell wie möglich aus diesem Albtraumland zu entkommen. Sie erhob sich und sah sich um. Es roch plötzlich nach Schwefel. Der Sumpf blubberte unheimlich, und das Quaken der Frösche klang traurig. »Ah, da hängt ja meine Tasche.« Sie war in der Nacht ein gutes Stück von ihrem Schlafbaum davongerannt und hatte unterwegs in einem Krüppelbaum ihre Satteltasche verloren, wo sie nun an einem Ast baumelte. »Und da liegt ja auch mein Schwert.« Sie nahm es auf, wischte vorsichtig den Matsch von der scharfen Klinge ab und schob es wieder in die Scheide. Langsam sah sie sich um. Das Monster! Wo war es geblieben? Was hatte sie da überhaupt gesehen? Es war... irgendwo dort drüben? Sie drehte sich in die Richtung, in der sie in der Nacht die Albtraumgestalt gesehen hatte, was auch immer es gewesen sein mochte. Wahrscheinlich nur ein Baum mit ... Ihr Herz blieb einen Moment stehen, die Zeit eines Augenblicks dehnte sich zur Ewigkeit. Das Monster es stand da! Mit seinen schwarzen Augen blickte es sie an, dann durchlief es ein Beben, und es begann, auf die Prinzessin zuzustapfen. Alessandra konnte sich um keinen Millimeter bewegen, als das grauenvolle Ungeheuer auf sie zukam, sie packte und hochhob, als wiege sie nur soviel wie eine Feder. Kein Schrei entwand sich ihren Lippen, ihr Körper war wie aus Eis, erstarrt, abgestorben, nicht mehr der ihre. Das gehörnte Ungeheuer sprang mit einem gewaltigen Satz in ein finsteres Wasserloch und tauchte darin
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unter. Nun würde sie ertrinken, aber irgendwie berührte sie das nicht mehr. Das Grauen war zuviel. Doch dann - sie konnte nicht sagen, wieviel Zeit verstrichen war - fand sie sich auf trockenem Boden wieder. Ihre Beine lagen immer noch halb im Wasser. Sie wälzte sich mühsam herum und kroch dann weiter das Ufer hinauf. In ihrem Blickfeld erschienen zwei Füße, mit zottigem Fell bewachsen und mit Krallen statt Zehennägeln. Alessandras Blick wanderte nach oben, den Leib der Kreatur hinauf. Aber wenn sie erwartet hatte, das Ungeheuer zu sehen, das sie entführt hatte, dann wurde sie enttäuscht. Dies hier war mit Sicherheit kein Dämon, sondern ein Unhold. Struppiges Fell bedeckte seinen über zwei Meter großen Körper, aber er trug auch Reste einer Kleidung: Ein zerrissenes, ehemals weißes Hemd und eine speckige Lederhose mit großen Rissen und Löchern, die so dreckig war, daß sie wahrscheinlich von selbst stand. Der Unhold hatte keinen Hals, sein massiger Kopf mit nur einem großen Auge in der Mitte der Stirn wuchs ihm direkt aus dem Rumpf. Er hatte unglaublich breite Schultern und war vermutlich sehr stark. Seine Arme hingen ihm bis zu den Kniekehlen herunter, in der einen Hand hielt er ein langes Messer. Jetzt öffnete er den Mund: »Harlengart fort. Ich dich zu Tonka bringen«, murmelte er mit tiefer, schlecht verständlicher Stimme. Alessandra sah in seinem breiten Maul pflastersteinartige Zähne und eine plumpe, dunkelfarbene Zunge. Mit der freien Hand griff der Unhold nach ihr und zog sie auf die Beine. Dann stieß er sie vor sich her. Alessandra stolperte die aus bemoostem Kies und Schotter bestehende Uferböschung hinauf. Es kam ihr wie ein Wunder vor, daß sie überhaupt noch laufen konnte, nach allem, was sie in letzter Zeit hatte durch machen müssen. Mit den Händen wischte sie Wurzeln beiseite, die von oben herabhingen. Als ihr klar wurde, daß Wurzeln normalerweise nicht aus dem Himmel herunterwachsen, blickte sie erstaunt nach oben. Aber da war gar kein Himmel, sondern die lehmige Decke einer Höhle. Und diese wurde von zahlreichen Wurzeln durchstoßen. Also befand sie sich unter der Erde. Aber woher kam dann das Licht? Sie blieb stehen und sah sich um. Der Unhold war davon so überrascht, daß er gegen sie prallte und sie dabei fast umwarf. »Paß doch auf«, rief sie ihm ärgerlich zu. Er reagierte nicht darauf und stieß sie weiter vor sich her. Nun sah die Prinzessin, woher das Licht kam: In zahlreichen Nischen dieses unterirdischen Ganges wuchsen leuchtende Pilze, und ihr teils gelbliches, teils bläuliches Licht erzeugte soviel Helligkeit wie die Sonne an einem trüben Nachmittag im Wald. »Wer bist du eigentlich?«, fragte Alessandra den Unhold. Er sah zwar zum Fürchten aus, schien aber relativ harmlos zu sein. Doch er antwortete nicht. Nach einigen Dutzend Metern weitete sich der Tunnel zu einer unterirdischen Halle. Sie wurde nicht nur von Pilzen, sondern auch von Fackeln erleuchtet. An ihrem Ende stand ein mächtiger Thron aus massivem schwarzen Granit. Von der Halle zweigten zahlreiche Gänge in alle Richtungen einschließlich oben und unten ab. Die Decke wurde gebildet aus Wurzeln, gelegentlich ragten auch ganze Stämme heraus und verschwanden unten im Boden. An den Wänden hingen merkwürdige Waffen und unidentifizierbare Gegenstände, außerdem die Geweihe seltsamer Tiere und mehrere menschliche
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Skelette. Einige davon waren sogar noch in ihre Kleider gehüllt. Auch ein offensichtlich königlicher Mantel war an der Wand in einem Holzrahmen befestigt, allerdings ohne menschliche Überreste darin. Staunend erkannte Alessandra das Wappen des Arcadia-Landes. Da der Unhold sie nicht mehr weiter trieb, konnte sie sich ausgiebig umsehen. An eine Stelle stapelten sich Schatzkisten, davor lagen Perlenketten, Ringe und Goldschmuck und sogar eine zerbeulte Krone achtlos herum. Schädel dienten als Kerzenhalter und Öllampen. Der Unhold stand hinter ihr im Eingang der Höhle, aus der sie gekommen waren, und starrte stumpfsinnig vor sich hin. Ab und zu sah er sich um, als warte er auf etwas. Oder jemanden. Alessandra war sich darüber im klaren, welches Schicksal ihr hier zugedacht worden war. Sie Skelette sprachen eine deutliche Sprache. Doch merkwürdigerweise verspürte sie keine Angst. Denn jetzt kannte sie die Gefahr und konnte ihr entgegentreten. Halb unbewußt tastete ihre Hand nach dem Schwert und sie war überrascht, daß sie es noch hatte. Ein krächzendes Geräusch ließ sie herumfahren. Ein seltsames, scheußlich anzusehendes Wesen, ein Troll, trat aus einem der Tunnels heraus, gefolgt von einem halben Dutzend weiterer Kreaturen. Der Troll kam auf sie zugesprungen und rief dann mit seiner häßlichen, krächzenden Stimme: »Ich bin Tonka, die Rechte Hand von Fürst Harlengart. Bis der Fürst zurückkehrt, werden wir dich einsperren.« »Was habt ihr mit mir vor?« wollte Alessandra wissen. »Du wirst in die Sammlung des Höllenfürsten einverleibt. Komm. Komm. Ich zeige sie dir.« Ein stolzes Grinsen glitt über seine schmalen Lippen, dann packte er Alessandra am Arm und zerrte sie mit sich. Es ging durch die Halle hindurch bis zu dem Holzrahmen mit dem Königskleid. Alessandra sah, daß dahinter ein Gang tiefer in das Höhlenlabyrinth führte, den sie vom Eingang aus nicht hatte erkennen können. »Harlengart, der Fürst der Hölle, sammelt seit Urzeiten Könige und Prinzessinnen«, erklärte der Troll mit seiner schrillen Stimme. »Und vor Kurzem hat er einen Zauber entdeckt, mit dem er die Körper und das Leben der Menschen erhalten kann.« Ein schrilles, irres Lachen ließ Alessandra zusammenfahren. »Das Leben, das Geheimnis des Lebens! Ja, er kennt es!« Der Troll zog sie weiter in den Tunnel, der sich nach kurzer Zeit in eine kleine Halle erweiterte. Dort hatte jemand etwa ein Dutzend großer, massiver Steinplatten oder -altäre aufgebaut, jede etwa ein mal zwei Meter groß und einen halben Meter hoch. Am Ende der Halle stand eine weitere Platte, die im Licht der Fackeln seltsam schimmerte. Als Alessandra näher heranging, sah sie, daß diese Platte nicht wie die anderen aus Stein, sondern aus purem Gold war. Allerdings waren alle diese Platten leer, bis auf zwei. Auf einer, nahe dem Eingang, lag ein Skelett, die zweite war von einer Glashaube überspannt. »Da, sieh. Sieh!«, krächzte Tonka und zeigte auf die goldene Platte. »Die hat Harlengart der Mächtige für
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die Goldene Königin gemacht. Nur für sie gemacht!« Er gab ein schrilles Krächzen von sich. »Die Goldene Königin?«, wunderte sich Alessandra. »Aber die gibt es doch nur im Märchen!« »Märchen! Nein, nein. Kein Märchen.« Der Troll lachte kreischend. »Harlengart der Meister weiß, es gibt sie wirklich. Es gibt sie. In der Tat! Wirklich.« Alessandra war verwirrt, doch sie hatte keine Zeit, darüber weiter nachzudenken. Der Troll sprang wieder zurück zu der Platte, die mit Glas geschützt war. »Sieh! Sieh hier. Hier! Das ist König Cordo aus Arcadia-Land. Harlengart, der Geniale, hat ihn zu sich gelockt und ihn dann hier konserviert. Sieht er nicht wunderschön aus?« Die Krallenhand des Trolls streichelte über die Glashaube. »König Cordo?« Sie war wie elektrisiert. »Aber der ist seit über hundert Jahren tot. Oder genauer gesagt: Vermißt.« Tonka gab wieder sein gräßliches, kreischendes Lachen von sich: »Nein. Er ist tot und lebt doch. Und wann immer mein Herrscher es will, kann er ihn aufwecken und mit ihm spielen. Tot und lebendig, ja!« Zitternd vor Aufregung trat Alessandra nun näher an die Glashaube heran und betrachtete den König genauer. Es war ein stattlicher Mann, etwa Mitte dreißig, und er sah genauso aus, wie auf dem Bild im Thronsaal ihres Vaters. So hatte sie ihn sich immer vorgestellt. Auch jetzt noch waren seine Gesichtszüge sanft und doch majestätisch. Die Prinzessin fragte sich, wie er wohl als Mensch gewesen war. Man erzählte sich von ihm immer noch die tollsten Geschichten: Er habe sagenhaften Mut und große Kraft besessen. Er habe jeden feindliche Ritter besiegt und sogar Drachen herausgefordert. Gleichzeitig sollte er ein weiser und gütiger König gewesen sein. Nun, wo Alessandra ihn sah, hielt sie das alles für wahr. Dann wurde ihr klar, daß sie bald neben ihm liegen würde, ebenfalls unter einer Glashaube und als Spielzeug dieses grauenvollen Ungeheuers, das sie oben entführt hatte. Nur einen Augenblick später bestätigte Tonka diesen Gedanken. »Harlengart. Harlengart, er holt den Zauber. Und dann«, krächzte der Troll, »dann wir er auch dich konservieren.« Er begann zu kreischen und tanzte wild um die Prinzessin herum. So weit sind wir noch lange nicht, Freundchen, dachte sie sich. Mit einer fließenden Bewegung riß sie Ihr Schwert heraus und hieb den Troll mitten durch. Dieser sackte in sich zusammen, ohne noch einen Laut von sich zu geben. Alessandra zog sich den Tiger-Ring vom Finger und rief: »Schwester! Wenn du mich hörst, dann hilf mir.« * Die Sonne schien durch die seltsamen Muster der bunten Glasfenster und zauberte leuchtende Ornamente auf den Fußboden des Bücherzimmers. An einem großen, schweren Eichentisch saß Ornella mit einer Zofe, und studierte einen Grundriß des Schwarzen Schlosses. Immer wieder ließ sie sich die Bedeutung der einzelnen Räume erklären. Das Schwarze Schloß war fast doppelt so groß wie das Weiße, hatte allerdings auch einen großen Innenhof und einige weitere, kleine Terassen, die das
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Bauwerk interessant, aber auch sehr unübersichtlich machten. »Und hier, sagtest du, geht es in den Weinkeller, nicht?« »Ja, Herrin.« Die Zofe war eine Frau aus dem Dörfchen, etwas älter als Ornella, aber auch verheiratet. Sie hieß Clara. Thoran hatte alle als Dienerinnen in Frage kommenden Frauen einbestellt, und Ornella hatte sich einige als Zofen aussuchen können. Alle diese Frauen waren etwas scheu und recht schweigsam, aber sehr nett und ihrer neuen Herrin treu ergeben. »Hmm. Den Weinkeller sollte ich mal besichtigen.« Sie warf der Dienerin ein Lächeln zu und freute sich, als sie es etwas schüchtern erwiderte. »Nanu, was ist das?« Mit einem metallischen Geräusch war ihr Löwen-Ring vom Finger gerutscht und auf den Tisch gefallen. Sie wollte ihn aufheben, doch der Ring entrollte sich zu einem winzigen, aber kompletten Löwen. Der Löwe schüttelte sich und sagte dann: »Königin! Deine Schwester braucht deine Hilfe.« Sprachlos vor Erstaunen starrte sie den winzigen, metallenen Löwen an. Clara war aufgesprungen und versteckte sich nun, zitternd vor Angst, halb hinter Ornella. Alles, was mit Magie zu tun hatte, flößte den Bewohnern des Schwarzen Königreiches eine panische Angst ein. »Oh, mein Gott, Alessandra! Sag, wo ist sie? Wie kann ich ihr helfen?« »Der Höllenbaron Harlengart hat sie gefangengenommen und will sie konservieren. Ja, sie soll als lebende Tote für alle Ewigkeit ihm gehören. Als Spielzeug! Wenn du sie retten willst, mußt du dich beeilen. Harlengart ist nur für kurze Zeit weg, um den Zauber zu holen.« Mit diesen Worten rollte der Löwe sich wieder zusammen und war nur noch ein ganz normaler Ring. Hastig steckte Ornella ihn sich an den Finger, dann sprang sie auf und rannte durch das Schloß zum Thronsaal. »Mein Bestgeliebter! Der Ring hat zu mir gesprochen. Alessandra ist in großer Gefahr.« Sie berichtete in aller Eile, was sie erfahren hatte. Der Schwarze König erhob sich. »Es wird Zeit, daß ich mit dieser Brut mal abrechne.« Er wandte sich Ornella zu. Seine Stimme war ruhig. Fast zu ruhig - gefährlich. »Du bist jetzt die Schwarze Königin und es wird Zeit, daß ich dich in einige deiner Pflichten einführe.« Dann stürmte er im Laufschritt aus dem Saal hinaus, und Ornella rannte hinter ihm her. Es ging durch dunkle Korridore - manche waren so finster, daß die Königin sich an den Wänden entlangtasten mußte und nur den Schritten ihres Mannes folgen konnte - dann eine Wendeltreppe hinab. Manchmal wurde es wieder heller, doch irgendwann gab es gar keine Fackeln und Kerzen mehr, und die beiden liefen durch absolute Finsternis. Dennoch schien Thoran genau zu wissen, wohin er wollte. An keiner Stelle zögerte er auch nur eine Sekunde, und es war für Ornella schwer, ihm zu folgen.
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»Halt!« »Wo sind wir?« »Bereits tief unter der Erde.« Ornella streckte die Hände aus uns tastete sich vorwärts, aber da war überall eine massive, grob zugehauene Wand. Doch dann spürte sie eine seltsame Kraft, die von ihrem Mann ausging und sich in der Wand entlud. Blaue Blitze und Funken zuckten durch die Luft und verteilten sich auf dem Fels. Sie tauchten die Gesichter der beiden Menschen in geisterhaftes Licht. Dann wurde es wieder finster, doch mit einem Mal spürte die Königin einen warmen Luftzug auf ihrem Gesicht. Sie hörte, wie ihr Gemahl voranschritt, dorthin, wo eben noch die Wand gewesen war. Sie tastete die Stelle ab, doch da war nichts mehr. Thoran ergriff ihre Hand und zog sie mit sich durch die Dunkelheit. »Mein Bestgeliebter, was geschieht hier?«, fragte sie ängstlich. »Wir holen uns Unterstützung. Du wirst jetzt den Bewacher des Unendlichen Landes kennenlernen.« Es wurde wieder etwas heller. Ein rötliches Glühen lag in der Luft. Es wurde auch merklich wärmer. Ornellas Augen hatten sich inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt, so daß sie vage den Höhlengang erkennen konnte, durch den sie und ihr Mann schritten. An einigen Stellen schimmerte die Wand metallisch, aber das tiefrote Licht verhinderte, daß sie das Material erkennen konnte. Sie fragte den Schwarzen König danach. »Es ist Gold, meine Bestgeliebte. Hier unten gibt es mehr Gold, als sich irgend jemand vorstellen kann. Aber es ist so gut wie unmöglich, es zu bergen. Außerdem bedenke: Wenn es alles heraufgeholt würde, hätte es keinen Wert mehr in der Welt der Menschen. Später werde ich dir alles erklären. Aber jetzt mache dich bereit, Gawron gegenüberzutreten!« Ein Schauder lief Ornella den Rücken herab, als sie den Namen hörte. Wenig später, es war noch etwas heller geworden, zweigte ein Gang vom Hauptkorridor ab. Wie tief dieser noch in die Erde führte, vermochte sie nicht zu sagen, denn Thoran zog sie in den Seitengang. »Gawron! Du wirst gebraucht!«, rief er mit befehlender Stimme. Als dann dicht vor ihnen wie aus dem Nichts zwei tiefblaue Augen aufglühten, stieß Ornella einen leisen Schrei aus. »Mach etwas Licht und zeige dich deiner neuen Herrin, mein Kleiner.« Aus dem Maul des Drachen fuhr ein Flammenstrahl gegen die Decke und erleuchtete für einen Moment seine Ruhestätte. Er hatte helle, fast weiße und glatte Haut und nicht etwa Schuppen, wie man es bei einem Drachen
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erwartete. Seine Augen waren von einem intensiven Blau, und er hatte schwarze Haare auf seinem Drachenkopf. Nie in ihrem Leben hatte Ornella etwas ähnliches ... doch! Die Rüstung. Der Drachen auf der Rüstung! Damals, bei dem Turnier. Jetzt fiel es ihr wieder ein. Bevor Thorans Blick den ihren getroffen hatte, bevor sie sich in ihn verliebt hatte, da hatte sie Gelegenheit gehabt, die Rüstung und diesen ungewöhnlichen, daraufgemalten Drachen zu studieren. Kein Zweifel, es war das Bild Gawrons gewesen. Oder? Nein, es war Gawron selbst gewesen, der sich in ein Bild verwandelt hatte. Sie wußte nicht, woher sie das auf einmal wußte, aber sie war sich dessen sicher. »Nun, meine Bestgeliebte. Befiehl ihm. Er wird dir gehorchen wie mir.« Erstaunt sah sie den Schwarzen König an, dann wieder den Drachen. Irgendwie gefiel ihr dieses Wesen auf einmal. Ja, sie fand es überaus sympathisch. Langsam, vorsichtig streckte sie eine Hand aus, ging auf den Drachen zu und berührte ihn. Er fühlte sich weich und warm an, seine Haut war so wie die eines Menschen. Sie spürte geradezu den spöttischen Blick ihres Gemahls in ihrem Rücken, dann sage er: »Der Schein trügt. Seine Haut ist hart wie Stahl, und er ist fast unverwundbar.« Sanft strich Ornella dem Drachen über das Gesicht und die samtenen schwarzen Haare. Gawron sah sie eigenartig an, dann streckte er seine gespaltene Zunge hervor und fuhr zärtlich über Ornellas Gesicht. Sie schluckte gerührt. »Bitte, lieber Drachen. Meine Schwester ist in großer Not. Kannst du ihr helfen?« »Sage mir, was ich tun soll, Gebieterin und Freundin.« »Freundin«, echote der Schwarze König. »Noch nie hat er einen Menschen so genannt. Ich muß sagen, meine Bestgeliebte, du überraschst mich und ich bin sehr stolz auf dich. Ich werde jetzt gehen und die Armee sammeln. Gawron wird dich nach draußen führen. Wie treffen uns in einer halben Stunde im Exerzierhof.« Ornella sah ihren Gatten im rötliche Zwielicht verschwinden, dann erklärte sie dem Drachen, in welch mißlicher Lage sich ihre Schwester befand. Gawron antwortete: »Der Höllenbaron lebt schon seit vielen Jahrhunderten und seine Macht ist in all der Zeit immer mehr gewachsen. Nun hat er offenbar das Geheimnis des Lebens entdeckt. Es wird wirklich Zeit, daß mein Gebieter gegen ihn einschreitet. Komm, meine Gebieterin und Freundin. Setze dich auf meinen Rücken. Wir werden fliegen.« Der Flug durch das Höhlenlabyrinth war mehr als abenteuerlich. Mit unglaublicher Geschwindigkeit schoß der Drachen durch die engen, meist stockdunklen Tunnels und Gänge, und mehr als einmal glaubte Ornella, daß ihr letztes Stündlein geschlagen hätte. Doch plötzlich durchbrachen sie eine Wand, die in Wirklichkeit nur aus Luft bestand, und waren im Freien. Unter sich sah die Schwarze Königin die hohen Tannen, die das Schloß umgaben. Der Drachen zog eine Schleife und flog zum Schloß zurück, Dann landete er sanft wie eine Feder im Innenhof, wo der Schwarze König bereits mit etwa 20 berittenen Soldaten bereitstand.
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Er befahl ihnen abzusitzen. Dann wandte es sich an Ornella: »Du kannst nicht mit uns kommen, meine Bestgeliebte. Es wird sehr gefährlich werden, und du kannst weder mit dem Schwert, noch mit Magie kämpfen.« Sie wollte widersprechen, doch sie sah ein, daß er Recht hatte. Hätte sie doch nur auch, wie Alessandra, den Kampf mit der Waffe gelernt und nicht nur den mit spitzen Worten. Thoran schien ihre Gedanken zu erraten, denn er fügte hinzu: »Die Magie mußt du aber sowieso lernen. Das gehört zu deinen Pflichten als Landesherrin. Wenn ich zurück bin, werde ich beginnen, dich darin einzuweisen. Und was den Kampf mit Waffen angeht: auch darin solltest du dich üben.« Dann drehte er sich zu seinen Soldaten und ihren Pferden um. Wieder ging diese Kraft von ihm aus, und er murmelte in beschwörendem Tonfall: »Ich befehle eurer Materie, sich in Falken zu verwandeln. Ich befehle es euch.« Und sie begannen zu schrumpfen und sich mit Federn zu überziehen. Schnäbel wuchsen ihnen, ihre eisernen Stiefel wurden zu Vogelkrallen, und am Ende hatten sie sich in Falken verwandelt. Die Pferde wurden zu Enten, die ebenfalls zu den sehr schnellen Vögeln zählen. Dann vollzog Thoran den Zauber an sich selbst. Zusammen mit Gawron erhoben sie sich in die Lüfte und schossen davon. In wenigen Minuten schon würden sie das Troll-Land erreicht haben. Dann galt es, das Versteck Harlengarts zu finden. Ornella sah dem Vogelschwarm und dem ihn begleitenden Drachen nach, bis er hinter der Mauerkrone aus ihrem Blick entschwunden war. Gedankenverloren drehte sie ihren Löwen-Ring hin und her. Hoffentlich ging alles gut. * Der Schwarze König kannte ungefähr die Stelle, an der Harlengart sein unterirdisches Reich hatte. Er, seine Soldaten, die Pferde und der Drachen landeten in der Umgebung dieser Stelle, und er verwandelte alle wieder zurück. Gawron hatte den Flug ohnehin in seiner richtigen Gestalt mitgemacht. »Wartet. Ich will versuchen, seine Anwesenheit zu spüren.« Doch das erwies sich als unnötig. Plötzlich sahen sie sich umzingelt von Dutzenden Trollen und Unholden, die sich mit bestialischem Gebrüll auf sie stürzten. * Alessandra seufzte. Ob die Nachricht ihre Schwester wohl erreicht hatte? Ihr Ring jedenfalls hatte keinerlei Reaktion gezeigt. Sollte sie sich nun verstecken, oder versuchen zu entkommen, solange Harlengart fort war? Aufmerksam lauschte sie in den Gang hinein, aber wie es schien, war sie allein. Keine der scheußlichen Kreaturen war ihnen gefolgt. Vorsichtig schlich sie sich zurück und spähte dann hinter dem Holzrahmen mit dem Kleid Cordos hervor. Zwei Kobolde standen am anderen Ende der Halle und redeten auf den Unhold ein, der sie hierhergebracht hatte. Sie dachte daran, sie in den Gang zu locken und dort auszuschalten. Doch wieviele dieser Bestien gab es hier unten? Wenn Harlengart wirklich der Baron der Hölle war, dann hatte er bestimmt viele Untertanen. Mehr, als sie mit ihrem Schwert besiegen konnte. Und wo der Ausgang lag,
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wußte sie auch nicht. Doch da kam ihr eine Idee. Sie legte das Schwert beiseite, taumelte dann aus dem Gang hervor und rief mit stöhnender Stimme: »Kommt schnell. Hilfe. Es ist was passiert.« Dann zog sie sich rasch zurück, nahm ihr Schwert fest in die Hand und spähte durch die Ritzen des Holzrahmens, was die drei taten. Zuerst kamen die beiden Trolle herbeigehüpft, aufgeregt schnatternd und kreischend. Als sie dicht vor dem verdeckten Eingang waren, sprang die Prinzessin hervor und hieb erst den einen, und dann den anderen, der vor Schreck wie erstarrt war, nieder. Dann stürzte sie sich auf den Unhold, hielt ihm das Schwert an die Stelle, wo sie die Kehle vermutete und rief: »Und du zeigst mir jetzt sofort den Ausgang, Freundchen, sonst geht es dir wie den beiden da!« Der Unhold starrte sie aus seinem einzigen Auge an und sie befürchtete schon, er würde einfach da stehen bleiben und gar nichts tun, doch da drehte er sich um und stapfte mit schwerfälligen Schritten auf einen der Tunnels los. »Beeil dich«, trieb Alessandra ihn an, und sie verschwanden gerade noch rechtzeitig in der Röhre, bevor andere Trolle und Gnome in den Thronsaal kamen. Als diese die beiden Toten sahen, erhoben sie ein fürchterliches Geschrei und der Unhold blieb verwirrt stehen. Alessandra trieb ihn mit ihrem Schwert entschlossen weiter, doch es ging ihr viel zu langsam. Schließlich ließ sie den Unhold einfach stehen und floh alleine weiter. Unterwegs begegneten ihr seltsame Kreaturen, doch sie wurde nur einmal angegriffen. Nur - den Ausgang fand sie nicht. Über zwei Stunden irrte sie durch die lehmigen Gänge dieses unterirdischen Labyrinthes. Verzweifelt ließ sie sich schließlich an einer Wand in die Hocke herabsinken. »He, Prinzessin. He! Der Ausgang ist doch direkt über dir.« Sie fuhr herum. »Wer spricht da.« »Ich, ich!« Der Kopf eines seltsamen Wesens schaute schräg über ihr aus der Wand. »Hier. Komm.« Es zog sich in sein Loch zurück und verschwand darin, und dann fielen Sonnenstrahlen daraus in den Gang. Das Wesen hatte also die Wahrheit gesagt. Alessandra steckte ihr Schwert ein, dann kletterte sie die lehmige, nachgiebige Wand hoch, erweiterte das Loch und schob sich robbend heraus. Neben ihr stand der Gnom und grinste sie zufrieden an. Ihr wurde schwarz vor den Augen und sie erkannte schemenhaft, wie er wuchs und sich in einen Riesen verwandelte. Hörner sprossen ihm aus dem Kopf, und dann sagte er mit dröhnender Stimme: »Da bin ich ja gerade rechtzeitig zurückgekommen!« »Nicht ganz«, zischte es hinter ihm. Harlengart fuhr herum, und auch Alessandra sprang auf.
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Ohne einen Moment zu zögern, warf sich der Baron der Hölle auf den Drachen, doch dieser sprang in die Luft und umkreiste das Ungeheuer. Mit heftigen Flammenstrahlen hielt er ihn auf Distanz, doch sie schienen ihm nicht viel anhaben zu können. Harlengart wehrte sich nun mit heftigen Blitzen, die er dem Drachen entgegenschleuderte und denen dieser geschickt auswich. In einem günstigen Moment, als der Höllenbaron ihr den Rücken zuwandte, sprang Alessandra hinzu und versuchte, ihm mit aller Kraft ihr Schwert zwischen die Rippen zu stoßen. Doch es konnte die Haut des Ungeheuers nicht einmal ritzen und brach ab. »So wirst du ihn, fürchte ich, nicht besiegen«, sagte da eine vertraute Stimme von hinten. Der Schwarze König war auf seinem Roß erschienen und wandte sich nun Harlengart zu. Blaue Blitze und eine seltsame, unheimliche Kraft flossen von ihm auf den Höllenbaron zu, während er gleichzeitig von der anderen Seite aus durch Gawron heftig angegriffen wurde. Der Baron der Hölle stöhnte auf. Er schien etwas zu schrumpfen, dann lösten sich grelle Funken von ihm und fuhren in die Bäume ringsum. Nur der Schwarze König und der Drachen wurden nicht getroffen. Es war, als schütze sie eine übermächtige Kraft. »Ahhhh. Zur Hölle mit dir, Thoran von Caair«, röhrte Harlengart. Er riß eine Baum aus und fegte mit einer blitzschnellen Bewegung den Schwarzen König aus dem Sattel. Mit diesem Angriff hatte der nicht gerechnet, und für einen Moment war er wehrlos. Trotz der heftigen Attacken Gawrons hob Harlengart eine seiner gewaltigen Fäuste und sammelte darin einen Blitz, der den Schwarzen König zerschmettern würde. Mit einem urgewaltigen Schrei schmetterte er die geballte Energie auf den Schwarzen König, doch einen Moment früher hatte sich Alessandra über ihn geworfen und zur Seite gerollt. Der Blitz hinterließ ein riesiges Loch, in dem das Wasser sprudelnd zischte und kochte. »Danke«, rief Thoran hastig, dann sprang er wieder auf und erstarrte. Sein Körper wurde in gelbes Licht getaucht, bis er nur noch daraus zu bestehen schien, dann entlud sie die Energie auf den Höllenbaron. Wäre dieser voll davon getroffen worden, wäre sicher nichts von ihm übriggeblieben. Doch in letzter Sekunde hatte er sich zur Seite geworfen und war nur gestreift worden. Dennoch schrie er gepeinigt auf, und sein grauenvolles Brüllen erfüllte die Sumpflandschaft weithin. Einen Moment später war er verschwunden. Nein, er hatte sich in ein urtümliches Flugwesen aus den frühen Tagen der Schöpfung verwandelt und floh nun mit unglaublicher Geschwindigkeit in die Wolken. Gawron verfolgte ihn, konnte ihn aber nicht mehr einholen. Enttäuscht kehrte er wenig später zu seinem Herrn zurück. Auch die Ritter hatten sich dort versammelt. Vier von ihnen waren verwundet, einer tot. Aber sie hatten zahllose Trolle und Gnome getötet und den Rest in alle Winde getrieben. »Schade, daß er uns entkommen ist«, meinte Thoran. »Denn ich fürchte, das war nicht unsere letzte Begegnung. Diesmal war die Überraschung auf unserer Seite. Aber beim nächsten Mal ...« Er blickte Gawron an: »Wir müssen vorsichtig sein.« Der hellrosa Drachen nickte. Dann wandten sie sich Alessandra zu. Etwas verlegen erwiderte die Prinzessin den Blick. Doch dann ging sie auf den Schwarzen König zu und sagte: »Ich danke dir zutiefst, daß du gekommen bist, um mich zu retten.« Sie sah auf und fügte hinzu: »Ich danke euch allen für eure Tapferkeit und euren Mut.«
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»Was wolltest du denn hier in dieser gräßlichen Gegend?«, wollte der Schwarze König wissen. Alessandra erzählte ihm, wie sie in diese Lage gekommen war. Sie berichtete auch von König Cordo, doch der Schwarze König wagte sich nicht daran, Harlengarts komplizierten Zauber zu brechen. Zu leicht hätte es für den Arcadier das endgültige Ende bedeuten können. »Tja, vor Trollen bist du erst mal sicher. Bis die sich von ihrem Schrecken erholt haben, wird es eine Zeitlang dauern. Und ihr Gebieter ist über alle Berge. Du kannst also deinen Weg von nun an gefahrlos fortsetzen. Und wir reiten zurück und räuchern jedes Troll-Nest aus, das wir unterwegs finden.« »Nochmals danke. Und richte meiner Schwester schöne Grüße aus.« Irgendwoher hatte der Schwarze König ihr Pferd herbeigeholt oder -gezaubert. Nun übergab er es ihr, hob sie darauf und ließ es loslaufen. Er sah der Prinzessin nach, bis sie seinen Blicken entschwunden war. Dann begruben sie den toten Soldaten. * Es war Oktober geworden. Doch das machte keinen großen Unterschied, denn in den Bergen des Blauen Königreiches von König Erich dem Bärentöter lag immer Schnee, selbst im Hochsommer. Irgendwie schafften es ein paar Bäume trotzdem zu wachsen, und unten in den Tälern blühten sogar saftige, bunte Wiesen. Es lebten nur wenige Menschen in diesem Land, und sie betrieben auch kaum Ackerbau. Für niedere Bauernarbeit war das Blaue Volk zu stolz. Hier ging man lieber auf Bärenjagd, und wenn die scheuen Räuber gerade nicht auffindbar waren, begnügte man sich auch mit Wölfen, Bibern oder Blaufüchsen. Besonders diese brachten auf den Märkten der benachbarten Reiche wegen ihrer Pelze einen hohen Preis, und dieses Jahr war die Saison nicht schlecht gewesen. Die ersten tastenden Sonnenstrahlen fielen durch das lichte Dach der Bäume auf die Hüttenstadt, die dem Blauen König in diesem Sommer als Hauptstadt diente. Wenn die Gegend abgegrast war, würde er die Hütten woanders aufbauen lassen und dort auf die Jagd gehen. Quietschend öffnete sich eine Tür und ein kräftiger, halbnackter Mann mit einem mächtigen Schnurrbart sprang heraus. Er holte tief Luft, und als er sie wieder ausstieß, dampfte sie in der morgentlichen Kälte. Dann rannte er durch den Schnee auf den kleinen Fluß zu und sprang in das eisige Wasser. Wild plantschte er darin herum, brüllte und trommelte sich mit den Fäusten auf die Brust. Simona, die Blaue Königin, tauchte im Türrahmen auf, ebenfalls ziemlich dünn bekleidet für die eisige Kälte des Morgens. Als ihr ein kalter Windstoß ins Gesicht blies, überlegte sie kurz, ob sie das Bad nicht lieber verschieben sollte. Doch dann spurtete auch sie los und hopste neben ihrem Mann in den Eisbach. Sie tollten umher, bespritzen sich mit Wasser, und bald gesellten sich weitere Männer und Frauen zu ihnen und veranstalteten ein wildes, ausgelassenes Badevergnügen. Die Fische flohen entsetzt, die Vögel sahen von ihren Ansitzen den Treiben verständnislos zu, und die Hunde der Jäger, die sich in ihrer Freude und Begeisterung zu nah ans Wasser wagten, wurden gnadenlos naßgespritzt und jaulten empört auf. Nachdem sich alle etwas ausgetobt hatten, liefen sie in ihre Hütten zurück und trockneten sich wieder ab.
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Dann wurde Holz geholt und Feuer für ein kräftiges Jägerfrühstück bereitet. Erich und Simona, immerhin König und Königin, mußten allerdings ihr Feuer nicht selbst machen. Auch bei den Eismännern gab es Diener und Lakaien, die sich im übrigen nicht an den morgentlichen Eisbädern beteiligten und daher immer etwas blaß und kränklich aussahen. Die beiden schrubbten und rubbelten sich gegenseitig trocken. »Weißt du, daß letzte Woche mein Geburtstag war?«, fragt Simona später beim Frühstück. Erich brummte irgend etwas unverständliches, während er ein Stück Fleisch von einer gebratenen Keule riß. Nachdem er es hinuntergeschluckt hatte, fügte er hinzu: »So was schönes wie Sofrejan kann ich dir sowieso nicht bieten, Wölfchen.« »Aber Bärchen, es geht doch gar nicht um den Wert«, dozierte »Wölfchen« Simona, »sondern es muß vom Herzen kommen.« »Hmm«, brummte Erich, und dann nochmal »grmmm.« »Hast du gestern den violetten Eisvogel gesehen?« fragte die Königin. »Blauen Eisvogel. Hab' schon seit Monaten keinen mehr gesehen. Sind ziemlich selten geworden. Bringen 'ne Menge Kohle in Gel-Almanaum oder Siinabal, aber hier scheint schon alles abgegrast zu sein. Schade.« »Ja, er hatte soooo ein schönes Gefieder. Vor allem die großen, prächtigen Schwanzfedern! Nicht mal Zuhause hatten wir so schöne Vögel. So tolle Farben... Ich frage mich, woher sie diesen metallischen Glanz bekommen.« »Keine Ahnung. Was soll's auch? Sie haben ihn halt, auch ohne daß wir wissen, wieso und wozu. Wahrscheinlich machen sie's wie bei uns: um die Weiber zu beeindrucken.« Er lachte dröhnend. Simona langte über den Tisch nach Erichs Hand und drückte sie zärtlich. Er gab ein zufriedenes Knurren von sich. Dann sagte er: »Deinen Schwestern würden die Haare zu Berge stehen, wenn sie dich jetzt so sehen könnten, Wölfchen. Hier, bei den Wilden.« Er grinste sie an, und sie gab ihm ein liebevolles, warmes Lächeln zurück. »Ach, Wölfchen, ich liebe dich. Du bist so süß und putzig.« »Putzig? Oh, du... Ich bin eine Königin, jawohl. Und Königinnen sind nicht putzig.« Doch dann mußte auch sie lachen, und die Männer und Frauen an dem großen Tisch fielen ein. »Was hast du heute vor?« erkundigte Simona sich nach dem Frühstück. »Naja. Ein paar Burschen kontrollieren die Fallen, aber ich muß heute und morgen Gericht halten. Du hast sicher die Leute gesehen, die seit vorgestern hier nach und nach eingetrudelt sind. Sie sind gekommen wegen Streitereien, und ich als ihr König werde sie entscheiden. Und wer mir blöd kommt, der kriegt eine auf's Dach.« Zur Bekräftigung hieb er mit der Faust auf den Tisch, daß es krachte. Dann stand er auf, ging zu seinem Lager, wo eine große, schwere Holztruhe stand, öffnete sie und
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kramte seine Krone hervor. »Oh«, brummte er dabei, zog noch etwas heraus, hielt es aber versteckt. »Das hätte ich ja beinahe ganz vergessen.« Neugierig schaute Simona zu ihm hinüber. Er kam zurück, hielt aber eine Hand hinter dem Rücken. »Rat' mal, was ich hier habe.« »Für mich?« »Hmmm.« Simona bekam ganz leuchtende Augen. »Also, äh, ähm, was könnte es nur sein. Ein ... äh, oder vielleicht eine ...« Irgendwann dauerte es Erich zu lange und er holte seine Hand hervor und zeigte seinem Wölfchen den Inhalt. »Oh,« hauchte Simona. »Ein ausgestopfter violetter Eisvogel. Und ganz für mich allein.« Mit einem Juchzer sprang sie auf und fiel Erich um den Hals. Er konnte sich ihrer Begeisterung kaum erwehren, und die Anwesenden grölten vor Begeisterung. Von Anfang an hatte Simona mit ihrem offenen und spontanen Wesen die Herzen dieser rauhen Burschen im Sturm erobert, und mit jedem Tag wurde sie beliebter. »Oh, Erich, mein geliebtes Bärchen. Danke, tausend Dank. Nein, ist der hübsch!« Nach etlichen weiteren schmatzenden Küssen ließ sie wieder von ihm ab. Sie strich über das metallisch schimmernde Gefieder, dann hielt sie sich den Vogel hinter den Kopf, so daß seine prächtigen Schwanzfedern hinter ihrem Haupt emporragten. »Na, wie steht mir das?« »Vorsicht, Wölfchen. Eine Feder ist schon herausgefallen.« »Oooo.« »Steck' sie dir doch ins Haar.« »Nein, die hebe ich so auf.« Während Simona für den Vogel einen guten Platz suchte, rückte Erich würdevoll seine Krone zurecht, dann schritt er an das Ende der Tafel und sagte mit lauter Stimme: »Dann wollen wir mal mit dem Gerichtstag beginnen. Den Tisch abräumen! Und dann laßt die ersten Streithähne herein.« Der Gerichtstag war für den König anstrengend und für die Königin unheimlich spannend. Er versuchte, so gerecht und unparteiisch wie möglich zu urteilen und fragte oft seine Frau und seine Freunde um Rat, denn die wenigsten Fälle waren klar und einfach zu lösen. Gegen Mittag wurde die Verhandlung unterbrochen, am Nachmittag dann ging es weiter. Irgendwann brummte Erich: »Wenn das so weitergeht, dann werden es drei oder vier Tage, bis die alle durch sind. Und dann noch die, die noch Zeugen auftreiben müssen. Oh je.«
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»Wir können uns ja abwechseln«, schlug Simona vor. »Hmm. Ich weiß nicht. Du hast noch zu wenig Erfahrung. Vielleicht beim nächsten Mal. Weißt du, Simona« - immer, wenn er sie bei ihrem richtigen Namen nannte, meinte er es ernst - »man kann viel falsch machen und viel Porzellan zerschlagen, auch wenn man es gar nicht merkt. Aber die Leute vergessen das nicht. Glaub' mir, es ist ein schwieriges Geschäft.« Es wurde tiefe Nacht, bis der letzte Fall des Tages entschieden war. Dann gab es ein kräftiges Abendessen, ein paar Männer kühlten noch im Fluß ihr Mütchen, manche warfen auch ihre Frauen hinein, nackt, wenn's ging, was natürlich eine wilde Wasserschlacht zu Folge hatte, dann gingen alle schlafen. * Am nächsten Morgen schliefen die Jäger länger als sonst. Müde und verschlafen schlichen sie dann aus ihren Hütten, doch das eisige Wasser weckte sehr schnell ihre Lebensgeister. Nach wenigen Minuten waren alle im oder am Wasser versammelt und lieferten sich eine begeisterte Schneeballschlacht. Keiner bemerkte zunächst den Reiter auf dem edlen, hellbraunen Roß, der hinter den Bäumen auftauchte und sich neugierig dem Ort des Gekreisches und Geplansches näherte. Eigentlich war es auch kein Reiter, sondern eine Reiterin, auch wenn man das unter den dicken Decken und Fellen nicht auf Anhieb sehen konnte. »He!«, rief einer der Männer, und richtete sich im Fluß auf, woraufhin er sofort mit einer Salve aus Schneebällen eingedeckt wurde. Da er nur eine Art Fell-Unterhose trug, verwandelte er sich rasch in einen Schneemann. »Hört doch mal auf«, brüllte er und zeigte auf die Reiterin. »Das ist keiner von uns.« »Stimmt«, antwortete diese ihm. Abrupt endete das eisige Badevergnügen. Teils neugierig, teils mißtrauisch blickten die Männer und Frauen hinüber. Diejenigen, die gar nichts anhatten, also die besonders mutigen, bedeckten unwillkürlich ihre Blöße mit den Händen. Schließlich war man ja jetzt nicht mehr unter sich. Die Reiterin schlug ihre Kapuze zurück: »Ich suche meine Schwester. Man hat mir ge...« »Alessandra!« rief da Simona begeistert dazwischen. Die Prinzessin sprang vom Pferd herab und lief Simona entgegen, die nun aus dem Wasser aus sie zustürmte. »Oh, mein Gott, Simona. Du bist ja fast nackt!« »Alessandra, meine Schwester!« In der Tat ging die Blaue Königin beim Baden mit gutem Beispiel voran und trug nur einen sehr knappen Rock.
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Alessandra traute ihren Augen kaum, als ihre Schwester, triefend naß vom eisigen Wasser und mit Schnee in den Haaren, durch den hier fast knietiefen Schnee auf sie zugestürmt kam. Simona umarmte Alessandra stürmisch, dann rief sie: »Warum kommst du nicht auch ins Wasser? Es macht so viel Spaß.« »Oh, du Kindskopf,« antwortete die Prinzessin. »Du wirst dir den Tod holen!« »Unsinn! Das ist gesund. Keiner hier ist krank oder erkältet. Es härtet ab.« Sie nickte begeistert. Alessandra war erstaunt. Nicht nur Ornella war ein anderer Mensch geworden, offenbar hatte Erich das mit seiner Simona auch geschafft. »Aber schämst du dich denn nicht. Unbekleidet, vor all den Männern?« »Die sind alle verheiratet. Außerdem sind sie ja auch fast nackt. Und glaubst du, die hätten noch nie ein Frau ohne Kleider gesehen?« Die Sitten und Gebräuche im Blauen Königreich unterschieden sich von denen daheim offenbar in einigen wesentlichen Punkten. »Wenn ich das Vater erzähle, dann fällt er in Ohnmacht.« Mit Schwalbe überquerte Alessandra den Fluß an einer provisorischen Holzbrücke, während Simona hindurchschwamm, nicht ohne zu versuchen, ihre Schwester naßzuspritzen. Dann begleitete sie Alessandra in die königliche Hütte. Der Badespaß war vorbei und die Männer und Frauen gingen nun alle in ihre Häuser zurück, um sich zu trocknen und anzuziehen. Dann erschienen sie alle nach und nach beim Blauen König, denn dieser Besuch war natürlich ungeheuer spannend. Ehrensache, daß der Gerichtstag ausfiel; auch die Leute, die extra deswegen angereist waren, um Recht zu suchen, hörten natürlich lieber die Geschichten, die die Schwester ihrer Königin über ihre Abenteuer zu berichten hatte. Und es waren geradezu unglaubliche Geschichten über den Schwarzen König, Drachen und Kobolde. Spät am Abend nahm Alessandra ihre Schwester beiseite und sagte leise zu ihr: »Ich wollte dir noch was sagen, was die anderen nicht unbedingt zu wissen brauchen. Es geht nur dich, mich und den Schwarzen König etwas an.« »Den Schwarzen König? Ich wüßte nicht, was ich mit dem zu schaffen hätte«, erwiderte Simona mißtrauisch. »Sprich nicht so abfällig über ihn. Er hat mir immerhin das Leben gerettet. Ich habe euch nicht erzählt, wie ich ihn damals gerufen habe, als der Troll-König mich gefangenhielt.« »Gerufen? Stimmt. Woher wußte er, daß du in Gefahr warst?« »Dadurch«, sagte sie, und hielt Simona den Tiger-Ring hin.
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»Durch den Ring? Aber der ist doch von Prinz Sofrejan. Wieso...« »Wenn du mich ausreden ließest, würde ich es dir ja sagen. Also. Zu seiner Vermählung mit Ornella hat Thoran mir und ihr ein Geschenk gemacht, das wirklich unvergleichlich ist!« Simona schielte zu ihrem violetten Eisvogel hinüber, unterbrach Alessandra aber nicht. »Er hat Ornellas und meinen Ring verzaubert, so daß wir uns verständigen können, wenn eine von uns in Not ist. Auf diese Weise habe ich durch Ornella den Schwarzen König zu mir rufen können.« Sie schwieg einen Moment und sagte dann leise und mit feierlichem Tonfall: »Und ich will, daß auch du und Olivia mit uns sprechen können, wenn ihr in großer Gefahr seid. Deswegen möchte ich deinen Ring dem Schwarzen König bringen, damit er ihn in diese magischen Kette einschmiedet.« Simona sah Alessandra lange und ernst an, dann zog sie schweigend ihren Gepardenring vom Finger und übergab in ihrer Schwester. »Vielleicht hast du Recht. Ich kenne den Schwarzen König wirklich nicht. Aber wenn es stimmt, was du sagst, daß Ornella mit ihm so glücklich ist wie ich mit Erich, dann vertraue ich ihm.« Alessandra küßte sie auf die Stirn und sagte: »Schwester, ich hab' dich ganz furchtbar lieb.« »Ich dich auch, Schwester.« Simonas Augen blitzten auf, dann sagte sie: »Ich hab' auch was für dich. Hier.« Sie holte die große, blauviolett schillernde Feder des Eisvogels hervor, die am Tag zuvor ausgefallen war. »Nimm sie, und wenn du sie betrachtest, denke immer an mich und an Erich.« * Einige Wochen zuvor. »Mutter, was tust du da?« fragte Prinz Sofrejan aufgeregt. Überall in den Städten der Sonneninsel wurden Soldaten ausgehoben und Pferde und Schiffe beschlagnahmt. »Wir sind im Krieg gegen diesen Verräter im Norden, den Weißen König. Und was soll diese dumme Frage überhaupt? Du weißt doch genau, was ich tue. Ich leite die Mobilmachung persönlich!« »Aber wir haben ihnen doch nicht mal den Krieg erklärt.« »Stimmt, du naiver Dummkopf.« Sie stöhnte gequält auf und murmelte zu sich selbst: »Womit habe ich einen so einfältigen Sohn verdient.« Zu Sofrejan sagte sie: »Natürlich habe ich ihnen keine offizielle Kriegserklärung gesandt. Wir beteiligen uns mit Waffen, Soldaten und vor allem Geld am Feldzug der Arcadier. Das ist viel sicherer für uns, denn so hat der Weiße König nichts gegen uns in der Hand. Wir sind ja neutral, und wenn er uns trotzdem angreift, setzt er sich vor aller Welt ins Unrecht. Und dem würden die anderen Fürsten und Könige nicht tatenlos zusehen. Du siehst, wir können nur gewinnen!« »Aber Mutter, das ist unehrenhaft.« »Träumer! Was glaubst du, wie die Sonneninsel so lange ihre Unabhängigkeit erhalten konnte? Nur
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durch geschickte Politik. Übrigens: Du wirst den Feldzug unserer arcadischen Freunde offiziell als Beobachter mitmachen. Das heißt, du hast in Wirklichkeit das Oberkommando unserer Truppen. Das hat mir König Starrus zugesichert.« »Und hast du auch vor, dich an der Unterwerfung der freien Städte am Fluß zu beteiligen?« »Wenn Starrus das verlangt, und ich schätze, das wird er, dann müssen wir wohl mit einmarschieren.« »Warum willst du überhaupt gegen den Weißen König Krieg führen? Was können wir dabei gewinnen?« Die Imperatrice sah ihn lange und durchdringend an, aber der Prinz hielt ihrem fast drohenden Blick stand. »Was wir gewinnen können? Alles, mein lieber Sohn. Alles! Und nun geh, und melde dich bei General Karuman. Er ist der Militärbotschafter von Arcadia-Land und überwacht unsere Vorbereitungen.« Etwas verwirrt und ziemlich unzufrieden verließ der Prinz den Sonnenpalast und ging die Hauptstraße hinunter zur arcadischen Botschaft. Die Straße, wie viele andere auf der Sonneninsel, war mit breiten Platten aus rosa Marmor gepflastert, und ganze Heerscharen von Sklaven waren ständig nur damit beschäftigt, sie zu säubern und zu polieren. Aus dem gleichen Material waren der Palast, zahlreiche Villen in und um die Hauptstadt, und mittlerweile sogar etliche der Hafengebäude rings um die Insel. Wenn morgens und abends die Sonne tief stand und die Insel beleuchtete, erglänzte sie in einer fast überirdischen Schönheit. Von daher hatte sie auch den Namen Sonneninsel. Diese Pracht hatte das Vermögen mehrere Generationen gekostet, und doch waren sowohl die Herrscher als auch die einfachen Bürger immer reich gewesen. So reich, daß sie stete ihre Unabhängigkeit hatten erkaufen können. Prinz Sofrejan betrat die Botschaft und ließ sich vom General empfangen. * »Seid ihr endlich fertig, ihr Tagediebinnen?«, herrschte die Imperatrice ihre Hofhexen an. »Ja, eure Majestät. Soeben fertig geworden. Seht!«, antworteten diese unterwürfig. Beata hatte schon mehr als eine ihrer Hexen hinrichten oder heimlich vergiften lassen, wenn sie nicht zufrieden war. Ihr oberstes Ziel aber, nicht mehr altern und keine Sterbliche mehr sein zu müssen, hatte sie nicht erreicht. Sie wußte, daß nur der Schwarze König dieses Geheimnis kannte, und deswegen haßte sie ihn inbrünstig. Die Hofhexen hatten ihr vor vielen Jahren eine magische Kugel gegeben, mit der sie den Schwarzen König hatte beobachten können. Doch dann hatte der es gemerkt und die Kugel mit seinem Zauber zerstört. Nun hatte die Imperatrice eine neue Kristallkugel anfertigen lassen. Doch den Schwarzen König wollte sie diesmal nicht bespitzeln, das war ihr zu gefährlich. Nein, der Weiße König war ihr Ziel. Er war für sie der Schlüssel, denn daß sie Thoran von Caair sein Geheimnis nicht entreißen konnte, wußte sie. Es gab aber noch einen anderen Weg. Die Kerzen erhellten die Gruft nur notdürftig. Früher, noch in den barbarischen Zeiten, war hier ein
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heidnischer Friedhof gewesen, nun lag er über zwanzig Meter unter dem Palast und diente der Imperatrice als Zauberwerkstatt. Denn die dunklen Kräfte erfüllten noch immer diesen Ort. Nur hier funktionierte auch die Kugel. Manchmal kamen die Schatten der Toten aus den Gemäuern und sahen zu, doch niemand hatte je mit ihnen sprechen können. Aber sie mußten es sein, denen diese finstere Halle ihre Kraft verdankte. Mit feierlichen, magischen Bewegungen beschwor die Imperatrice die Kraft der Kugel, während die Hexen um sie herum tanzten und seltsame Kräuter und Gewürze zerrieben und in die Luft bliesen. Betäubende Dämpfe stiegen aus den glühenden Kohlebecken auf, und ihre Glut warf bizarre Schatten an die Wände. Mit weit aufgerissenen Augen starrte Beata in die Kugel. Ihr Atem ging stoßweise, als sie sich mit aller Macht konzentrierte. Und dann erschien das Bild des Weißen Schlosses im Kristall. Erst undeutlich, dann aber immer klarer. »Ja. Jaaaa. Komm. Komm! Und jetzt, zeig mir den Weißen König. Ich befehle es dir!« Ein Gesicht erschien in der Kugel. Zuerst dachte sie, es sei König Heinrich, doch dann erkannte sie es und schrie vor Wut auf. Es war Elysiss. Und dann wuchs ihre Gestalt in der Kugel, wurde größer und größer, und einen Moment lang bannte sie den Blick Beatas mit ihren Augen. Dann explodierte der Kristall mit unglaublicher Wucht und zersprang in tausend Splitter, die wie Geschosse durch den Raum sprühten. Einer von ihnen traf die Imperatrice ins rechte Auge. Auch zwei der Hexen wurde getroffen und starben sofort an ihrem eigenen bösen Zauber. Gellend schrie Beata auf und hielt sich die Hand vor das Auge, doch es war zu spät. Schreiend und tobend vor Wut und Schmerz zerstörte sie alles, was sich ihr in den Weg stellte. Die umgeworfenen Kohleleuchter entfachten zahlreiche Brände, zwischen denen die Imperatrice wie eine Teufelin tobte. Ihre Züge hatten nichts menschliches mehr an sich, und das Blut lief ihr über das Gesicht. Doch endlich verließen sie die Kräfte, und sie schleppte sich mit letzter Anstrengung hinaus, zurück in ihre Gemächer, wo die Zofen sie fanden. »Dafür werde ich dich töten, Elysiss!«, murmelte sie noch, bevor die Ohnmacht sie überfiel. * Prinz Sofrejan ahnte noch nichts vom Schicksal seiner Mutter, als General Karuman ihn in die Lage einwies. Sofrejan wußte, daß die Imperatrice sich mit schwarzer Magie befaßte, hatte das aber nie sehr ernst genommen, denn viel war dabei scheinbar nicht herausgekommen. Und so lauschte er gespannt den Ausführungen des Generals. »Der Anschlag auf seine Hoheit, den Prinzen Nuitor, kam für meinen Herren, König Starrus, nicht wirklich überraschend«, erklärte der arcadische General, »denn die allgemeine Lage ließ erwarten, daß unser Feind König Heinrich eine Verbindung zwischen dem Prinzen und einer seiner Töchter ablehnen und statt dessen euch, Prinz Sofrejan, den Vorzug geben würde. Daher waren wir auch rechtzeitig auf - sagen wir mal - Verwicklungen vorbereitet.« Er lächelte selbstgefällig.
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Es gefiel Sofrejan überhaupt nicht, was er da zu hören bekam. Die Rolle, die ihm in diesem Kuhhandel zugedacht war, fand er unter seiner Würde. Nur - leider mußte er das tun, was seine Mutter von ihm verlangte. Sie war eine äußerst resolute und durchsetzungsfähige Herrscherin, auch gegenüber ihrem einzigen Sohn und Nachfolger auf dem Sonnenthron. Sofrejan bedauerte es oft, daß seine zwei Schwestern schon so früh gestorben waren. Er konnte sich noch an sie erinnern und wünschte, sie wären noch bei ihm, denn gemeinsam ließ sie dieses Leben sicherlich leichter ertragen. Nicht, daß es ihm schlecht gegangen wäre, aber im Grunde war er nur das Objekt der Geschäfte und Intrigen seiner Mutter. Eigentlich hätte er auch gerne Prinzessin Ornella oder Olivia geheiratet. Beide waren sehr hübsch und sympathisch. Daß er nun ausgerechnet gegen ihren Vater Krieg führen mußte, noch dazu einen Krieg, dessen Zweck er keineswegs einsah, das paßte ihm gar nicht. »Unsere Truppen waren also vorbereitet«, fuhr General Karuman fort, »und stießen rasch ins feindliche Land vor. Zur Zeit halten wir einen breiten Streifen im Südosten des feindlichen Reiches, außerdem stören wir die gesamten Verbindungen zwischen der Hauptstadt und den Städten am Siina-Fluß. Die feindliche Mobilisierung wird dadurch stark behindert, was wiederum uns und Eurer Mutter zugute kommt, Prinz Sofrejan.« »So, so«, murmelte dieser. Der General fuhr fort, Truppenstärken, Aufmarschpläne und bereits stattgefundene Schlachten vorzutragen. Schließlich kam er auf die Unterstützung durch die Imperatrice zu sprechen: »Ihre Hoheit, die Imperatrice, hat uns 1000 Soldaten, 2000 Pferde und die riesige Summe von fünfzigtausend Golddublonen zugesagt. Ein Teil des Geldes wurde bereits nach Tansir, unserer Hauptstadt, verbracht, den Rest sowie die Soldaten und die Ausrüstung bitte ich nun Euch zu übernehmen und direkt nach GelGabal zu verlegen.« Gel-Gabal war die Nachbarstadt Gel-Almanaums. Sie gehörte zum Weißen Königreich und war von arcadischen Truppen erobert und besetzt worden. Nun diente sie als arcadisches Truppenhauptquartier. Zur Zeit war die kleine Stadt eine riesige Garnison, und täglich starteten von hier aus Expeditionen gegen die Soldaten des Weißen Königs. Gel-Almanaum war bisher verschont worden, aber Sofrejan war sich darüber im klaren, daß König Starrus diese reiche und mächtige Stadt einkassieren würde, sobald er den Weißen König besiegt hatte. »Tausend Soldaten«, staunte Sofrejan. »Woher hat meine Mutter so viele Truppen? Sogar der Weiße König hat nur knapp Tausend.« »Jetzt nicht mehr. Auch der Feind läßt mobilisieren. Ihr müßt Euch also beeilen, Hoheit.« »Sehr wohl«, antwortete der Prinz. »Wie meine Mutter befiehlt.« Ein polternder Lärm unterbrach die Unterredung. Ein Bote aus dem Palast stürmte zur Tür herein und rief: »Majestät. Eure Mutter. Sie hatte einen schweren Unfall und« - er holte keuchend Atem - »es geht ihr schlecht. Kommt! Rasch!« Unwillkürlich dachte Prinz Sofrejan daran, daß er nicht in den Krieg zu ziehen brauchte, wenn seine
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Mutter nun überraschend starb, doch sogleich schämte er sich dafür. Neben dem Boten galoppierte er zum Palast zurück. Er fand seine Mutter bewußtlos. Sie sah furchtbar aus. Sie war umringt von zahlreichen Ärzten, doch sie konnten nicht viel für sie tun. Ihr rechtes Auge war unwiederbringlich verloren. »Was ist geschehen?« fragte der Prinz, doch es dauerte eine Zeitlang, bis er die drei überlebenden Hexen fand und verhören konnte. Er bestand darauf, die Gruft persönlich zu besichtigen, und er war entsetzt, was sich ihm darbot. Es waren nicht einmal die Zerstörungen, die seine Mutter noch angerichtet hatte: Alles lag in Trümmern. Nein, es war die Düsternis und das Grauen dieses Ortes, die sich auch auf ihn übertrugen. »Und hier hat meine Mutter ihre Zauberkunststückchen ausprobiert?« »Ja, Herr!« Wortlos verließ er den ehemaligen und nun unterirdischen Friedhof. Im Palast ließ er seinen Majordomus antreten: »Ich befehle, daß diese Gruft zugeschüttet und dann der Eingang zugemauert wird.« »Aber Herr. Eure Mutter ...« »Sofort! Keine Widerrede!« »Wie ihr befehlt, Herr.« * Doch um den Krieg kam er nicht herum. Seine Mutter erholte sich wieder. Zwar wurde sie nicht wieder richtig gesund, aber ihr Haß gegen das Weiße Königreich war dafür umso stärker. Wegen der versiegelten Gruft verlor sie kein einziges Wort. Ende September traf der Prinz mit seinen 1000 Soldaten in Gel-Gabal ein. Und der arcadische Oberbefehlshaber, König Starrus persönlich, haßte das Weiße Königreich ebenso sehr, wie seine Mutter es tat. * »He du!«, rief der Schwarze König. Die Angesprochene, eine Palastdienerin, blieb abrupt stehen, drehte sich ihrem Herrscher zu und kniete dann ergeben nieder. »Du heißt Anica, nicht wahr?« »Ja, Herr.« Es war wahrscheinlich das erste Mal, daß der Schwarze König sich für den Namen einer seiner Dienerinnen interessierte. Aber er wußte, daß sie zu den Frauen gehörte, mit denen sich seine Bestgeliebte gut verstand. Und da sie sich mit allen Menschen, Tieren und Drachen im Schwarzen
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Schloß gut verstand, hatte Thoran beschlossen, daß seine Lakaien eigentlich nicht nur lebendes Inventar, sondern echte Menschen waren. Daher die Frage nach ihrem Namen. »Erhebe dich. Und sage mir, wo meine Frau ist.« »Sie befindet sich, glaube ich, im südöstlichen Innenhof, Herr.« »Danke.« Der südöstliche Innenhof war eigentlich mehr eine Art überbauter Balkon, eingekeilt zwischen Türmen und Außenwänden diverser Palastanlagen. Er lag in über 30 Metern Höhe, war nach vorne offen, und man hatte eine herrliche Aussicht über die dunklen Tannen hinweg auf die Landschaft ringsum, bevor einem die hohen, schneebedeckten Berge den Blick verstellten. Nur durch ein paar schmale Einschnitte und Pässe konnte man weiter sehen, tief hinab in die Ebene des Weißen Königreiches. Dies war auch der Grund, warum die Schwarze Königin oft hierher kam. Sie saß dann einfach nur so da und ließ ihre Blicke und Gedanken in die Ferne schweifen, in ihre Heimat vielleicht. Manchmal fütterte sie die Vögel, manchmal ließ sie sich von einer Dienerin das lange, schwarze Haar kämmen und zu Zöpfen flechten. Die Wände des Innenhofs waren über und über von Efeu bewachsen, die niedrige Steinbrüstung gab weichen, dunkelgrünen Moospolstern einen Platz zum Leben. Obwohl morgens eine Zeitlang die Sonne direkt hineinschien, war der Innenhof ein dunkler, geheimnisvoller, fast märchenhaft verwunschener Platz. Königin Ornella war gerne hier in der halbdunklen Stille, hoch über dem Wald und dem Land ringsum. Als der Schwarze König über eine der schmalen Treppenaufstiege den Balkon betrat, saß seine Frau auf der Brüstung und blickte nach Südosten, dorthin, wo vier Tagesritte entfernt das Weiße Schloß stehen mußte. Sie lächelte beim Eintreffen ihres Gemahls, obwohl dieser sich fast lautlos genähert hatte, dann wandte sie langsam den Kopf und sah ihn mit ihren großen, schwarzen Augen versonnen an. Ihr Lächeln vertiefte sich. Ein Gefühl des Glücks und der Zufriedenheit ergriff den Schwarzen König. Seine Frau sah wunderschön aus, wie sie da so saß, ein bißchen einsam und verloren auf dem verwitterten, von Moos dunkelgrün gefärbten Balkon. Sie trug ein dunkelbraunes, knielanges Kleid, samtene Palastschuhe an ihren schmalen Füßen, und ihr Haar wurde durch einen goldenen Reif zusammengehalten. Die Blicke des Schwarzen Königs gingen an ihren bloßen, geschmeidigen Unterschenkeln hoch, über die tuchbedeckten, kraftvollen Oberschenkel zum weiblich geformten Körper, über ihre kleinen, straffen Brüste den Schwanenhals hinauf, und versanken in ihren unergründlichen Augen. Trotzdem brachte er noch sein unnachahmliches, halb spöttisches, halb nachdenkliches Lächeln zustande. Sie erwiderte es voller Wärme und Zuneigung. Ihre Nasenflügel bebten leicht. Langsam ging er zu ihr hinüber und setzte sich dann schweigend ihr gegenüber an das andere Ende der Brüstung. Sie senkte den Blick, dann schaute sie wieder hinaus in die Landschaft, während er weiterhin ihren wunderschönen, begehrenswerten, weiblichen Körper musterte. »Du errötest ja, meine Bestgeliebte«, flüsterte er ihr leise zu. Sie stand auf, ging auf ihn zu, schlang ihre Arme um ihn und küßte ihn, während er durch ihr Haar strich.
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Seine Blicke schweiften nach Südosten. »Vermißt du deinen Vater und deine Schwestern?« Sie seufzte. »Du darfst es ruhig zugeben, auch wenn du nun mir gehörst. Immerhin ist es ja deine Familie.« »Ja. Ich vermisse sie sehr. Auch meine Vater. Verzeih mir.« Er zog sie zu sich herunter. »Ich habe dir nichts zu verzeihen. Und ich hege auch keinen Groll gegen deinen Vater. Ich hoffe nur, daß er eines Tages Vernunft annimmt.« Sanft streichelte er ihr Gesicht. »Oh, mein Bestgeliebter«, hauchte Ornella. »Wenn ich dir nur sagen könnte, wie sehr ich die liebe.« »Auch ich empfinde so, meine Bestgeliebte. Komm. Küß mich.« * Später standen sie auf. Thoran sagte: »Ich habe dich gesucht, weil ich vorhabe, dich als Königin im Reich einzuführen. Dafür werden wir alle wichtigeren Städte und Ortschaften besuchen. Hmm, viele davon werde selbst ich zum ersten Mal sehen. In ein paar Tagen geht's los. Aber vorher will ich dir noch etwas zeigen.« Er zog sie an der Hand mit sich durch den kleinen Durchlaß ins innere des Schwarzen Schlosses. Dann ging es hinauf, durch finstere, geheimnisvolle Gänge und steile Treppen, bis unter das Dach des höchsten Turmes. Es war ein runder Raum, von dem aus man in alle Richtungen hinaussehen konnte. Es gab zahlreiche große Fenster, und sie waren alle verglast. So blieben Wind und Wetter selbst hier oben draußen. Der Turm überragte alle Gebäude des Schlosses und alle Bäume im Wald, und von hier aus konnte man sogar durch Bergpässe hindurchsehen, die für den südöstlichen Innenhof zu hoch waren. »Eine Etage tiefer habe ich immer einen Posten, der die Umgebung beobachtet. Aber hier, ganz oben, kommt außer mir normalerweise niemand hin.« »Was ist das?«, fragte Ornella und wies auf eine messingfarbene Röhre, die auf einem dreibeinigen Gestell drehbar gelagert war. Außer diesem Ding und einem Hocker gab es in diesem Raum nur noch ein Regal mit ein paar Büchern, Karten und Papieren. Ansonsten war er leer. »Die Pläne zu dieser Konstruktion hat Numero aus Siinabal mitgebracht. Es ist eine neue Erfindung aus dem Land hinter dem Osten, wie man sich erzählt. Es ist ein Vergrößerungsrohr, mit dem man ferne Dinge ganz nah sehen kann. Hier. Du mußt dort hineinsehen. Und dann richtest du das andere, große Ende auf einen Punkt ganz weit weg.« Ornella versuchte es. Zunächst sah sie gar nichts, doch nachdem der Schwarze König das Fernrohr eingestellt hatte und sie wieder hindurchblicken ließ, gab sie einen überraschten Ruf von sich. »Aber - das ist ja wie Zauberei. Der Baum ... als ob er direkt vor mir stünde!«
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Thoran lächelte. Er ließ Ornella eine Zeitlang herumprobieren, was sie mit großer Begeisterung tat. Sie betrachtete die fernen Bäume, die Berge die kleinen Weiler. »Da, ein Falke. Was für ein schöner Vogel!« Thoran sah seiner Frau lächelnd zu. Er erinnerte sich an seine eigene Begeisterung, nachdem ihm Schogan Liss zum ersten Mal dieses Fernrohr präsentiert hatte. Dann sagte er: »Wahrscheinlich hast du dir noch nie Gedanken darüber gemacht, warum das Schwarze Schloß gerade an dieser Stelle erbaut worden ist - damals. Und heute weiß es auch keiner mehr, außer den Schwarzen Königen und vielleicht Gawron.« Ornella sah ihn überrascht und neugierig an. »Es ist nämlich so: Von keinem anderen Punkt im Schwarzen Königreich, ausgenommen die Berggipfel selbst, hat man einen besseren Überblick über die gesamte Landschaft. Im Norden kannst du bis tief in das Reich Karls blicken, im Osten bis nach Ganda, und wenn das Wetter sehr gut ist, sieht man im Südosten ganz in der Ferne das Weiße Schloß!« »Mein Schloß!« rief sie voller Begeisterung. »Ja. Heute haben wir eine besonders klare Luft. Vielleicht haben wir Glück. Warte mal, mal sehen, ob ich es ausmachen kann.« Er trat an das Fernrohr heran und begann dann, den Horizont im Süden und Osten abzusuchen. »Aha. Da ist es ja. Sieh!« Vorsichtig führte Ornella ihr Auge an das Okular. »Ja, rief sie begeistert. Das ist es. Wie klein es doch ist von hier aus. So winzig.« Doch dann stieß sie dagegen und verlor das Schloß aus dem Bild. »Oh. Ärgerlich!« »Macht nichts. Du kannst es ja selbst mal suchen.« Tatsächlich fand die Königin es nach kurzer Zeit wieder. Der Schwarze König sagte: »Wenn du traurig bist und Heimweh hast, dann kannst du hier herkommen und das Weiße Schloß suchen. Allerdings - wenn auch nur ein paar Wolken am Himmel sind, bleibt es dahinter unsichtbar. Es ist sehr weit entfernt.« »Oh, mein Bestgeliebter«, sagte Ornella begeistert, »ich danke dir. Du bist so lieb und aufmerksam.« Der Schwarze König ließ seine Frau dann allein. Ornella beschäftigte sich bis zum Einbruch der Dunkelheit intensiv mit dem Fernrohr und studierte auch die Dörfer und Städte im Schwarzen Königreich, die sie von hier aus sehen konnte. Es waren allerdings nicht viele, das Land war ja nur sehr dünn besiedelt. Später, beim Abendessen, trafen sie sich wieder, und Ornella fragte den König, warum es im Schwarzen Königreich viel weniger Städte gab als bei ihr Zuhause.
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»Du hast Recht. Es liegt nicht daran, daß sie hinter den Bergen versteckt liegen, sondern es leben tatsächlich viel weniger Menschen in meinem Reich als anderswo.« Er überlegte eine Zeitlang, dann sagte er: »Ich glaube, daß du als Schwarze Königin darüber Bescheid wissen solltest, warum wir Schwarzen Könige das so halten. Komm!« »Wohin?« »In den Wald.« »In den Wald? Jetzt? Es ist schon Nacht.« »Für unseren Ausflug genau die richtige Zeit. Vielleicht begegnen wir dabei auch deinem Freund Keck.« »Oh, Keck! Sag, ist er wirklich ein verzauberter kleiner Junge?« »Ja, stimmt. In meinen Wäldern leben viele Menschen als Wölfe. Sie altern nicht, können sich dafür aber auch nicht vermehren. Nur ab und zu stirbt einer bei einem Unfall. Aber natürlich gibt es auch richtige Wölfe. Die können natürlich nicht sprechen und sind sehr scheu.« Sie traten aus einem Seiteneingang ins Freie hinaus. Eine Straße führte hier an der Schloßmauer entlang, und unmittelbar dahinter begann der dunkle Wald. Die beiden gingen ein Stück weit hinein, dann drehte sich der Schwarze König zu Ornella um und sagte: »Du wirst jetzt das Unendliche Land aus einer ganz neuen Perspektive kennenlernen. Und ich glaube, du wirst es danach mit anderen Augen sehen.« Funken begannen, seinen Körper zu umspielen. Sie wanderten seine Arme hoch und sprühten dann auf die Königin über. Ihr wurde kurz schwindlig, und als sie wieder klar sehen konnte, war ihr Gemahl verschwunden. An seiner Stelle stand da ein großer, schwarzer Wolf mit hellblauen Augen. Die Umgebung hatte sich verändert, alle Bäume schienen viel höher zu sein als eben noch. »Nanu, was ist passiert?« Der Schwarze Wolf grinste sie mit einem wölfischen, spöttischen Lächeln an. Sie streckte ihre Hand nach dem Wolf aus, doch statt dessen erschien eine Pfote in ihrem Blickfeld. Irritiert wandte sie den Kopf. Da war auf einmal ein buschiger Schwanz, der aufgeregt hin und her wedelte. Und was war aus ihren Beinen geworden? »Du bist wirklich ein ganz entzückendes Wolfsmädchen geworden, meine Bestgeliebte!« Es dauerte etwas, bis Ornella klar wurde, was passiert war. »Oh«, hauchte sie dann. Probeweise setzte sie eine Pfote vor die andere. Sie machte einen leichten, anmutigen Schritt, dann begann sie, aufgeregt hin und herzutänzeln. Neugierig vergrub sie ihre Schnauze in dem dichten, weichen und warmen Fell ihres Mannes und sog seinen Duft ein. Dann knabste sie an seinem Ohr und sprang übermütig einen Satz zurück, als der Schwarze Wolf wild den Kopf schüttelte.
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Sie lächelte ihn auf Wolfsart an, dann tänzelte sie auf ihn zu und schmiegte sich an ihn. Sein Körper war weich, geschmeidig und gleichzeitig kraftvoll, und sie genoß diese Berührung. »Komm!«, rief sie übermütig, dann sprang sie davon. Thoran war etwas überrascht, doch dann jagte er Ornella hinterher. Es bereitete den beiden keinerlei Mühe, sich im dunklen Unterholz zu orientieren und sich geräuschlos fortzubewegen. Wie Schatten huschten sie über den sandigen Waldboden durch die Nacht. Ornella sah diese Welt nun wirklich mit anderen Augen denn als Mensch. Ihr Gehör war jetzt viel schärfer, sie vernahm sogar das ganz leise Rauschen des Fluges der Waldeule, das Trippeln der winzigen Füßchen der Mäuse und das kaum wahrnehmbare Prasseln der Beine der Tausendfüßer. Mit ihrer Nase roch sie die Spuren der Tiere, auch wenn sie schon vor Stunden hier vorbeigekommen waren. Erst jetzt, als Wölfin, fühlte sie das ganze Leben, das in den dunklen Tannenwäldern des Schwarzen Reiches existierte. Es waren viele majestätische und seltene Tiere darunter, aber auch die Asseln und die kleinen Ameisen in ihren Wohnburgen waren Teil der natürlichen Balance, die alles Leben miteinander verband. Jedes noch so unbedeutend erscheinende Leben hatte seinen Platz. Voller Erregung und Neugier streifte sie durch den dunklen, ihr nun auf einmal so seltsam vertrauten Wald. Als sie in der Ferne das Heulen eines anderen Wolfsrudels vernahm, wollte sie einstimmen, doch eine in wilder Flucht vorbeistürmende Reh-Herde lenkte sie wieder ab. Spielerisch verfolgte sie die anmutigen Tiere, doch als eines von ihnen über eine Wurzel stolperte und das Gleichgewicht verlor, da war sie mit einem Satz über ihm und schnappte zu. Es war ein sehr junger Rehbock. Ornella war erstaunt über sich selbst, doch dann riß sie die Beute und fraß sich richtig satt. Der Schwarze Wolf stand etwas abseits und ließ ihr den Vortritt, dann machte auch er sich über die Jagdbeute seiner Königin her. »Unglaublich!«, rief Ornella begeistert. »Daß ich das getan habe!« Ausgelassen sprang sie hin und her. »Weißt du, meine Bestgeliebte«, sagte Thoran irgendwann, »ich mag die Menschen nicht. Nur wenige von ihnen. Aber ich liebe dieses wilde Land. Das ist der Grund, warum es im Schwarzen Reich nur so wenige menschliche Bewohner gibt, und warum sie so arm sind. Wären sie wohlhabend, würden sie sich ausbreiten und vermehren und all das hier ihren Bedürfnissen anpassen. Dann würden sie sich mit Gott verwechseln und den Respekt vor der Natur verlieren. All das Schöne, Wilde und auch das uns Grausam erscheinende in dieser Natur würde für immer ausgelöscht. So aber sterben viele von ihnen schon als Kinder, und der Rest fürchtet diese wilde Natur und auch mich. Das Gleichgewicht bleibt gewahrt, seit über tausend Jahren nun schon. Bei euch führt ihr statt dessen endlose Kriege um Dinge, die ihr anderen weggenommen habt und die die anderen euch nun wieder nehmen wollen. Hier gibt es nichts, was jemand einem anderen genommen hat, und deshalb hat seit Menschengedenken keine feindliche Armee mehr das Unendliche Land betreten. Das heißt, inzwischen gibt es doch etwas, und ich halte jede Wette, daß es Soldaten in mein Land ziehen wird, wie das Feuer die Fliegen.« »Was? Sag es mir.«
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»Dich.« »Ich? Aber ...« »Mein Schwiegervater, der Weiße König, wird der Meinung sein, ich hätte dich geraubt, und ich bin sicher, daß er dich mit Gewalt zurückholen wird, sobald er die Gelegenheit dazu hat.« Ornella schwieg betroffen. Sie spürte, daß der Schwarze Wolf Recht hatte. »Dann habe ich also das Gleichgewicht des Schwarzen Königreiches gestört.« »Ja. Aber mach dir deswegen keine Gedanken. Damit werde ich ohne weiteres fertig. Meine Macht ist groß genug, um meine Vorstellungen auch gegen erhebliche Widerstände durchzusetzen. Es ist ja nicht so, daß die Menschen im Unendlichen Land nicht nach Wohlstand streben würden. Und im Gegensatz zu den Tieren im Wald könnten sie es sehr wohl schaffen. Aber dank der Arbeit von Numero weiß ich immer, wo ich welche Ressourcen abziehen muß, um die Balance zu erhalten. So bleiben sie immer in Armut. Vielleicht ist das der tiefere Grund, warum man mich grausam nennt. Aber ich bin der unerschütterlichen Ansicht, daß die Alternative auf lange Sicht viel schlimmer ist. Auch dein Vater wird das Gleichgewicht nicht zerstören können, dafür werde ich sorgen.« Seine Stimme klang entschlossen. »Oh, mein Bestgeliebter. Bitte vernichte meinen Vater nicht.« »Keine Angst. Ich habe nichts gegen ihn. Aber wenn er kommen sollte, werde ich ihm eine Lektion erteilen. Vielleicht hilft mir Elysiss wieder dabei. Ich habe sie in letzter Zeit sehr zu schätzen gelernt.« »Liebst du sie?« rutschte es Ornella unwillkürlich heraus. Im nächsten Moment hätte sie sich dafür am liebsten in die Zunge gebissen. Verlegen senkte sie den Kopf und zog den buschigen Schwanz ein. »Es tut mir leid«, flüsterte sie, »ich wollte nicht ... was für ein blöde Frage.« Der Schwarze Wolf stupste sie mit seiner Schnauze an der Schulter, dann leckte er ihr über das Gesicht. »Du bist eifersüchtig. Wie süß!« »Oh!«, flötete Ornella in gespielter Empörung, dann sprangen beide aneinander hoch und balgten sich wie verspielte Welpen. Später, es war schon fast früher Morgen, zogen sie sich unter eine dichte Hecke zurück. Ornella rollte sich zusammen und steckte ihren Kopf unter ihren flauschigen Schwanz. Der Schwarze Wolf schmiegte sich zärtlich an sie. »Ich glaube, mein Bestgeliebter«, sagte sie mit schläfriger Stimme, »es wird mir nicht leichtfallen, das Gleichgewicht bewahren zu helfen, wenn dafür so viele Menschen leiden müssen.« »Ich weiß. Aber vielleicht kann ich dich doch noch überzeugen. Denke mal an die Pest-Epidemie, die vor knapp siebzig Jahren viele Reiche im Süden betroffen hat. Weiß du, wie viele Menschen im Unendlichen Land daran gestorben sind?« »Hmm?« »Kein einziger. Das Gleichgewicht ist nach den Maßstäben der Sterblichen vielleicht grausam und
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unmenschlich, aber es schützt alles Leben, auch das der Menschen selbst. Außerdem sind meine Untertanen nicht unglücklicher als anderswo.« »Stimmt. Du hast Recht. Ich habe es in Sydur gemerkt. Aber jetzt laß uns schlafen.« Zärtlich biß sie in das Nackenfell des Schwarzen Wolfes, dann kuschelten sie sich zusammen und schliefen ein. * Am anderen Morgen wurde die Königin von wärmenden Sonnenstrahlen geweckt. Der Schwarze Wolf war verschwunden, und sie wollte auf ihre vier Pfoten aufspringen, um ihn zu suchen. Es gelang ihr aber nicht ganz, und sie verlor das Gleichgewicht. »Hoppla. Ach so, ich bin wieder ein Mensch«, rief sie zu sich selbst. Es war im ersten Moment ungewohnt, zweibeinig die Balance zu halten. Auf vier Pfoten lief man viel sicherer. Doch nach einem kurzen Moment hatte sie sich wieder daran gewöhnt. Sie zog ihre weichen Schuhe aus, steckte sie unter den Gürtel und schlich dann leise durch das lichte Unterholz. Viele Vögel hatten sich auf der nahen Lichtung versammelt und balgten sich um die Brombeeren, die dort wuchsen. Ornella wollte sie nicht stören, darum blieb sie in der Deckung eines großen Baumes stehen und sah sich um. Weiter drüben hörte sie ein Plätschern und Prusten. Die Vögel ließen sich davon nicht stören, doch die Königin vermutete, daß ihr Mann sich dort gerade wusch. Sie glitt mit anmutigen Bewegungen, die sie nicht erst als Wölfin gelernt hatte, durch den Wald, bis sie den Schwarzen König sah. Er kniete mit unbekleidetem Oberkörper vor einem klaren Bach und schüttete sich gerade Wasser über seine Haare. »Guten Morgen, mein Bestgeliebter«, flötete Ornella ihm zu, dann setzte sie sich neben ihn und tauchte ihre Füße in das kalte, erfrischende Wasser. »Hallo, meine Bestgeliebte. Na, hast du die Nacht gut überstanden?« »Es war wie im Märchen. Einfach unbeschreiblich. Du hattest Recht, und ich glaube, als Herrin dieses Landes muß ich noch viel lernen.« »Stimmt. Aber das hat Zeit. Hier kennen wir keine Hektik. Alles fließt in seinem natürlichen Rhythmus.« Nachdem er sich abgetrocknet und wieder angezogen hatte, wanderten sie zum Schwarzen Schloß zurück, das sie am frühen Nachmittag erreichten. Einer der Diener kam ihnen im Exerzierhof entgegen und berichtete, daß die Vorbereitungen für die Rundreise durch das Königreich wie geplant vorankamen. * Alessandra blieb noch einige Tage im Blauen Königreich. Sie nahm an den Gerichtstagen teil, und abends, um die Lagerfeuer versammelt, lauschten sie und Simona den Erzählungen der alten Jäger und ihrer Heldentaten. Erich gab zum x-ten Mal die Geschichte zum Besten, wie er seinen ersten Bären mit bloßen Händen getötet hatte. Und auch Alessandra mußte oft ihre abenteuerliche Reise vortragen. Was sie über den Schwarzen König berichtete, ließ viele nachdenklich werden. *
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Einmal gingen Simona und Alessandra auf die Jagd. Zu Fuß, bewaffnet mit Pfeil und Bogen, pirschten sie durch den weißen, tief verschneiten Wald. Überall kreuzten Wildfährten ihren Weg und es war geradezu ein Kinderspiel, ihnen zu folgen. Simona streckte die Hand aus und wies einen Abhang hinunter: »Da unten ist ein See. Die Rehe und Elche kommen oft zum Trinken hinunter.« »Gut«, flüsterte Alessandra zurück. »Dann sehen wir uns mal da um.« Vorsichtig stiegen sie den Talkessel hinab, jede Deckung nutzend, um nicht ihre mögliche Jagdbeute frühzeitig zu verscheuchen. Als sie unten ankamen, erwartete sie allerdings eine Überraschung: Der See war zugefroren. Nur an einigen Stellen hatten größere Tiere mit ihren Hufen noch Löcher freigehalten. Im Moment allerdings waren keine zu sehen. Simona meinte leise: »Weit können sie noch nicht sein. Wenn wir ein bißchen ...« »Warte mal. Was ist das?« »Hmmm?« Alessandra zeigte auf einen kleinen Schneehügel auf dem Eis nahe dem Seerand. Neugierig ging sie darauf zu. Prüfend setzte sie dann ihren Fuß auf das Eis, aber es hielt problemlos. Vor dem Schneehaufen hockte sie sich nieder und begann dann, den Schnee wegzuräumen. »Nanu?« Darunter kam etwas Schwarzes zum Vorschein. Alessandra erkannte Federn. Nach und nach schälte sich heraus, was sich dort verborgen hatte: Eine Gans mit tiefschwarzem Gefieder. »Schon tiefgefroren«, meinte Simona zufrieden. »Die gibt einen guten Braten.« »Warte, sie hat sich gerade bewegt.« »Macht nichts. Ich habe ein Messer dabei.« Flink lief Simona über das Eis. Da hob die schwarze Gans ihren Kopf und blickte Alessandra mit seltsamen Augen an. Etwas hilflos flatterte sie mit den Flügeln. Alessandra sah bestürzt, daß die Füße der Gans eingefroren waren. »Nein!«, rief sie Simona zu. Nie hätte sie es übers Herz gebracht, dieses Tier zu töten. »Gib mir das Messer. Ich befreie sie!« Simona war über diesen plötzlichen Sinneswandel nicht sehr überrascht, sie kannte ihre Schwester lange genug. Wortlos reichte sie ihr das Messer. Alessandra begann damit, das Eis wegzuhacken, und hatte nach einigen Minuten das gefangene Tier herausgeholt. Voller Dankbarkeit blickte es seine Retterin an, dann hob die Gans den Kopf und küßte mit ihrer Schnabelspitze Alessandras Stirn. Die Prinzessin war tief gerührt, auch Simona dachte nun nicht mehr daran, diese Gans zu braten. Die Gans schlug mit den Flügeln, erst vorsichtig, dann immer kraftvoller, erhob sich schließlich in die Lüfte und flog schnell wie der Blitz davon. Die beiden Schwestern sahen sich nachdenklich an.
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»Jagen wir woanders«, meinte Simona schließlich. * Schließlich, es war bereits Ende Oktober, verabschiedete Alessandra sich von Simona, dem Blauen König und seinen Leuten. Der Abschied fiel ihr sichtlich schwer, doch nachdem sie nun schon so lange von Zuhause fort war, zog es sie doch mit aller Macht dorthin zurück. Wie mochte es wohl Olivia gehen? Und ihrem Vater? »Wenn du heim kommst«, sagte Simona zum Abschied, »dann sag Vater, daß ich ihn liebe und vermisse. Er soll nicht Krieg führen gegen Erich und sein Land.« »Keine Angst, ich werde es ihm ausrichten. Bestimmt ist sein Groll inzwischen verraucht. Auf Wiedersehen, liebe Schwester. Bald komme ich wieder und bringe dir den Ring zurück.« »Auf Wiedersehen.« Das ganze Dorf war zum Abschied zusammengekommen und winkte der Weißen Prinzessin nach, bis sie und Schwalbe hinter den dichten Bäumen verschwunden waren. * Alessandra durchquerte das Blaue Land innerhalb weniger Tage und wurde überall, wo sie rastete, herzlich aufgenommen. Dann überschritt sie die Grenze zum Fürstentum Botha-Land. Hier begegneten ihr die Menschen mit Mißtrauen, ja oft sogar mit Feindseligkeit, dennoch passierte sie auch dieses Gebiet sicher und unbehelligt. In der zweiten Oktoberwoche - es wurde nachts bereits recht kühl - sah sie in weiter Ferne den Grenzposten des Weißen Königreiches. Freudig galoppierte sie darauf zu, doch das Wachhäuschen wirkte seltsam verlassen. Als sie näherkam, sah sie bestürzt, daß es ausgebrannt war. War der Krieg gegen Arcadia-Land schon so weit nach Norden vorgedrungen? Sie stieg ab und durchsuchte die Überreste der Station. Sie fand niemanden, aber dann stieß sie auf eine verschlossene Tür. Davor lagen halb verbrannte Stühle und Tische, vielleicht hatten die arcadischen Soldaten den Raum deshalb übersehen. Jedenfalls gelang es der Prinzessin, die Tür aufzubrechen. Der Raum dahinter war mit stickigem Rauch erfüllt, aber ansonsten völlig unversehrt. Alessandra wedelte den Rauch weg und bekam große Augen, als sie erkannte, was sie da gefunden hatte: Die Waffenkammer. Blitzblank poliert hing eine Rüstung neben der anderen. Davor standen, fein säuberlich aufgereiht, kostbare Schwerter, Pfeil und Bogen und andere Waffen. Ein Schwert brauchte die Prinzessin nicht, denn sie hatte ihr eigenes immer dabei. Die Rüstungen hingegen waren ein Geschenk des Himmels. Alessandra probierte eine nach der anderen an und entschied sich schließlich für eine besonders widerstandsfähige aus Eisen. Kein Schwert würde den massiven und doch überraschend leichten Brustpanzer durchdringen können. Zuletzt nahm sie einen drohend aussehenden Helm, steckte die violette Feder darauf, die sie von Simona bekommen hatte, und kehrte zu ihrem Pferd zurück.
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Sie ritt noch einmal um die Station. Hinter dem Haus waren zwei frische Gräber, ein Weißes und ein arcadisches. Aber wo waren die Soldaten? Von ihnen fehlte jede Spur. Entweder waren sie sehr hastig geflohen, oder ... Alessandra wollte das gar nicht zu Ende denken. Sie klappte das Visier hoch, dann gab sie Schwalbe die Sporen. Vorsichtig und wachsam ritt sie die breite Straße entlang ins nächste Dorf. Auch hier fand sie zunächst niemanden, aber sie spürte, daß hier Menschen waren und sich nur versteckten. »He, hallo! Ihr braucht keine Angst vor mir zu haben. Ich bin es, Prinzessin Alessandra! Kommt doch heraus.« Sie nahm den Helm ab, und ihre rotbraunen Haare fielen wallend über den eisernen Panzer. In der Tat öffneten sich kurz darauf einige Türen, und mit Knüppeln und Sensen bewaffnete Bauern traten daraus hervor. Als sie sahen, daß es tatsächlich ihre Prinzessin war, und daß ihr keine feindlichen Soldaten gefolgt waren, stellten sie die Waffen beiseite und hießen Alessandra erleichtert willkommen. »Es ist furchtbar, Hoheit«, berichtete einer, wahrscheinlich der Dorfvorsteher. »Die Arcadier haben die Felder verwüstet und das ganze Vieh mitgenommen. Wir können von Glück sagen, daß wir am Leben gelassen wurden. Aber wovon sollen wir uns nun im Winter ernähren? Was sollen wir essen? Sie haben alles mitgenommen. Es wird eine Hungersnot geben.« »Ja, es bleibt nur eins«, warf eine Frau ein, »wir müssen in der Hauptstadt Schutz und Obdach suchen. Der König muß uns helfen.« »Dann ziehen wir zusammen dorthin, denn auch ich will zurück ins Weiße Schloß«, antwortete die Prinzessin. »Wir können uns vielleicht gegenseitig schützen!« Und so versammelte sie alle Dorfbewohner, ließ sie sich mit Sensen und Heugabeln bewaffnen und alles, was sie noch brauchen konnten mitnehmen, dann zogen sie los. Das erste Zwischenziel war die Provinzhauptstadt Trok. Trok lag von dem Dorf nur einen halben Tagesmarsch entfernt, doch mit den Frauen, Kindern und Alten verzögerte sich der Zug, so daß sie tief in der Nacht schließlich doch auf freiem Feld rasten und sich für die Nachtruhe vorbereiten mußten. Die Prinzessin ritt noch ein letztes Mal auf Schwalbe um das primitive Lager herum und schaute sich aufmerksam um, ob sie nicht Anzeichen der feindlichen Armee entdecken konnte. Doch sie sah statt dessen etwas anderes. »Was ist das?« rief sie und deutete auf den Horizont, der in unheimlichem Licht rötlich glühte. »Das kann doch nicht die Abenddämmerung sein. Es ist fast Mitternacht.« »Nein, Herrin. Genau dort liegt Trok.« »Aber ...« »Sie haben sie angesteckt. Was Ihr seht, ist der Widerschein der brennenden Stadt!« Alessandra erschrak. Vor ihrem geistigen Auge sah sie das Inferno. Es wurde in diesen Sekunden klar, daß sie zum ersten Mal in ihrem Leben wirkliches Leid, Hunger, Krieg und Tod kennenlernte. Tausende, wenn nicht Zehntausende waren davon betroffen, allein hier, in der Nordost-Provinz. Ihre Kehle schnürte sich zusammen.
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Und dann kamen die ersten Flüchtlinge. Elende Gestalten, die ihre wenige, halb verkohlte Habe durch die Nacht schleppten, weg von der sterbenden Stadt, weg von dem erbarmungslosen Feind. Mütter trugen ihre Kinder auf dem Arm. Viele schrieen, andere waren so erschöpft, daß sie nicht mehr schreien konnten. Alessandra war erschüttert, als sie die Verzweiflung in den Augen dieser Menschen sah, deren Gesichter oft noch schwarz vom Ruß und der Asche ihrer niedergebrannten Häuser waren. Viele hatten Brandwunden und stöhnten vor Schmerzen. Die Prinzessin fragte sich, sie diese Menschen es überhaupt bis hierher geschafft hatten. Auch Soldaten waren unter den Flüchtenden. Die Prinzessin ritt den Verzweifelten entgegen und stoppte vor einem der Soldaten. Sie nahm all ihre Entschlossenheit zusammen, denn sie spürte, daß es jetzt auf sie alleine ankam. Mit fester und entschlossener Stimme sagte sie: »Ich bin Prinzessin Alessandra, und ich befehle dir einzuhalten und mir zu berichten.« Sie hielt eine Fackel in ihrer Hand und sah genau in das stumpfe, leere Gesicht des Soldaten. Sie erschrak, als sie die Resignation erkannte. Wie hatte es nur soweit kommen können? »Da gibt es nichts zu berichten, Prinzessin.« Er spuckte das letzte Wort förmlich aus. »Wir wurden besiegt, das ist alles.« Dann ging er einfach weiter und ließ sich nicht mehr aufhalten. Es war offensichtlich, daß er dem Weißen Königshaus die Schuld an dem Elend und der Niederlage gab. Die Menschen im Weißen Land waren diese Härte nicht mehr gewöhnt. Zu lange hatte es Frieden und Wohlstand gegeben. Jetzt traf es sie völlig schutzlos und unvorbereitet. Alessandra erschreckte vor allem, daß auch die Soldaten davon betroffen waren. Sie schnappte sich den nächsten Soldaten. »Wer ist in Trok der Kommandeur?« »Oberst Lukasch. Das heißt, er war es. Wer sein Nachfolger wurde, wißt Ihr bestimmt besser als ...« Der Rest ging in einem unverständlichen Murmeln unter. Alessandra sah ein, daß sie im Moment nichts mehr ausrichten konnte, und zog sich auf das Feld mit den Dorfbewohnern zurück. Den Bauern hatten sich inzwischen zahlreiche Flüchtlinge hinzugesellt. Die Prinzessin bestimmte ein paar Verantwortliche, dann ließ sie Nachtwachen einteilen, schließlich schickte sie die Übrigen zum Schlafen und tat dann dasselbe. Das Stöhnen der Verwundeten hielt sie noch lange wach, doch schließlich schlief sie doch noch ein. * Am nächsten Morgen wachte sie früh auf. Sie hatte unruhig geschlafen und schlecht geträumt, und das war bestimmt nicht die Schuld der Rüstung gewesen, die sie nicht gewagt hatte auszuziehen. Sie weckte nach und nach die Männer und ließ sie Wasser von einem nahen Bach herbeibringen. Dann wurden einige der Vorräte verteilt, so daß jeder immerhin etwas im Magen hatte. Zuletzt ließ sie alle wehrfähigen Männer antreten. Sie ritt vor sie hin. Ihre dunkelbraune, eiserne Rüstung glänzte im Schein der aufgehenden Sonne, und die Feder auf ihrem Helm funkelte in einem strahlenden Violett, das bald einige Berühmtheit erlangen sollte. Sie hielt ihr glänzendes Schwert hoch in die Luft und rief mit entschlossener Stimme: »Untertanen des Weißen Königs! Ich werde nach Trok reiten und versuchen, den Feind von dort zu vertreiben. Wer sich mir anschließen will, soll sich bewaffnen und mir folgen. Wer hat genug Mut, dem Feind entschlossen entgegenzutreten und ihn für seine Grausamkeit bezahlen zu lassen?«
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Anscheinend hatte sie den richtigen Tonfall getroffen. Die Gesichter der Männer zeigten erst Überraschung, dann hellten sie sich auf und schließlich rief einer: »Ich, Prinzessin.« Weitere Stimmen fielen ein. Es meldeten sich schließlich ausnahmslos alle freiwillig. Manch einer sagte, es sei eine Schande für die Weiße Armee, daß eine Frau mehr Mut und Geschick im Krieg beweise als die Soldaten. Alessandra sah das auch so, doch darauf konnte sie jetzt keine Rücksicht nehmen. Hier und jetzt mußte sie kämpfen und ihren Mann stehen, und sie war wild entschlossen, genau das zu tun. Mit leuchtenden Augen folgten die Bauern, Bürger und versprengten Soldaten ihrer neuen Anführerin. * Die Arcadier hatten Trok niedergebrannt, waren aber noch mit Plündern beschäftigt, als der Alarm sie überraschte. Alessandra ließ die völlig offen vor ihr liegende Stadt kurzerhand stürmen. Wie ein Racheengel stürzte sie sich auf den Feind, gefolgt von schlecht bewaffneten, aber zu allem entschlossenen Männern. Die völlig überraschten Arcadier leisteten kaum ernsthaften Widerstand. Es kam zu schrecklichen Szenen der Rache, viele feindliche Soldaten wurden mit Holzknüppeln und Dreschen niedergemacht, und nur wenige überlebten den Sturm. Doch endlich gelang es der Prinzessin, dem Gemetzel Einhalt zu gebieten: »Diese Leute sind jetzt unsere Gefangenen und wir brauchen sie vielleicht als Geiseln. Ich verbiete euch, sie weiter zu töten und zu quälen.« Und ihrem Befehl wurde sofort gefolgt. Vor ihrer kühnen Prinzessin wahrten die Bauern eisern Disziplin. Die Kunde von der mutigen Weißen Prinzessin, die die Provinzhauptstadt vom Feind zurückerobert hatte, machte schnell die Runde, und viele der Flüchtlinge strömten in den folgenden Tagen zurück. Alessandra ließ Trok nun in aller Eile befestigen. Alle arbeitsfähigen Männer und Frauen mußten schanzen. Bald schon zog sich ein tiefer Graben rings um die Stadt, verstärkt von einer Mauer, teils aus Holz, teils aus Steinen. Für den Fall weiterer Brände wurden überall Wasservorräte angelegt. Dann organisierte Alessandra die Soldaten neu. Ohne Rücksicht auf bisherigen Dienstgrad wurden die Fähigsten, Mutigsten und Intelligentesten zu Führern ernannt. Sie bekamen die uneingeschränkte Gewalt über ihre Soldaten, trugen aber auch die ganze Verantwortung. Die Menschen faßten neuen Mut. * Doch die Arcadier und die mit ihnen verbündeten Sonneninsel-Soldaten gaben Alessandra nur drei Wochen, dann rückten sie mit einer riesigen Armee an. Die Prinzessin stand auf einem der hohen Wachttürme. Sie trug, wie fast immer in letzter Zeit, ihre eiserne, im Sonnenlicht dunkelbraun schimmernde Rüstung und ihren Helm mit der blauvioletten Feder. Sorgenvoll blickte sie dem anrückenden feindlichen Troß entgegen. Wie sollte sie sich gegen diese vielen Soldaten verteidigen? Aber dann formierte sich in ihrem Kopf ein kühner Plan. Sie ließ die Arcadier weiter beobachten, wie sie sich vor der Stadt zusammenzogen, während sie ihre Generäle zu sich rief. »Wir werden nicht warten, bis sie uns aushungern und dann überrennen. Wir greifen noch heute Nacht mit aller Kraft an. Laßt eure Leute jetzt ausruhen und sich für die Schlacht vorbereiten. Außerdem sollen sie bereits jetzt für eine bestimmte Stelle eingeteilt werden und sie sich von den Türmen aus ansehen, damit sie sich später in der Dunkelheit zurechtfinden.« Die Generäle sahen sich überrascht und erstaunt an, doch sie erkannten schließlich, daß dies
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wahrscheinlich die einzige Chance war, die sie angesichts dieser Übermacht überhaupt hatten. Und so wurde es dann auch gemacht. Bis zum Abend geschah nichts weiter. Die Arcadier begannen unterdessen damit, ihre Zelte aufzuschlagen und provisorische Barrikaden zu errichten. Die Späher in Trok meldeten Alessandra, daß sie beobachtet hatten, daß sich die feindliche Armee aus zwei Gruppen zusammensetzte: etwa 1500 arcadische Soldaten, aber auch ein Kontingent von über 200 Kriegern von der Sonneninsel, die etwas abseits des arcadischen Lagers Stellung bezogen hatten. »Mit denen werden wir Schwierigkeiten bekommen, Prinzessin«, meinte einer der Posten. »Sie haben saubere Abwehrstellungen bezogen, außerdem scheinen sie sich auch nicht zu betrinken.« »Und die Arcadier selbst?« »Die feiern jetzt schon ihre Niederlage«, sagte der Soldat ironisch, »und zwar mit viel Bier und Wein.« Als die Nacht hereinbrach, zündeten die Arcadier große Lagerfeuer an und feierten noch ausgiebiger ihren bevorstehenden Sieg. Spät in der Nacht zogen sie sich in ihre Zelte zurück und ließen nur ein paar Wachen stehen, aber die waren wahrscheinlich auch betrunken. Anders sah es im Lager der Sonneninsel-Soldaten aus. Hier hatte der Kommandeur die Disziplin gehalten, und auch jetzt, tief in der Nacht, hörte man die klingenden Schritte der Patrouillen in ihren Rüstungen. Doch das viel größere Lager der Arcadier bewachten sie nicht. Es lag im Prinzip schutzlos von Alessandras Kriegern. Nun kam die große Stunde der Prinzessin. Sie schickte die geschicktesten Männer aus, die sich in der Dunkelheit zum Lager der Arcadier schlichen und dort völlig lautlos die Wachen ausschalteten. Dann blies sie zum Angriff. Mit den wenigen Pferden, die es in Trok noch gab, stürmte die Kavallerie voran, an ihrer Spitze die Prinzessin selbst, gefolgt von zu allem entschlossenen Fußsoldaten, teilweise nur mit Knüppeln bewaffnet, aber bereit, bis zum Tod zu kämpfen. Doch das war nicht nötig. Die Arcadier erlitten eine der schmählichsten Niederlagen ihrer Geschichte. Über 1000 Soldaten wurden fast ohne Gegenwehr gefangengenommen. Die gesamte Ausrüstung, die Pferde, der Proviant und die Zelte fielen den Weißen Soldaten und ihrer Anführerin in die Hände. Ganz anders sah die Situation bei den Sonneninsel-Leuten aus. Sie waren sofort alarmiert und fielen dann von der anderen Seite ins Lager der Arcadier ein, wo sie den Weißen Soldaten eine wilde Abwehrschlacht lieferten. Viele Arcadier konnten dadurch entkommen, flohen aber in wilder Panik, während vom bereits eroberten Teil des arcadischen Lagers her die Prinzessin mit den letzten Reserven herbei ritt und in einem wilden Kampf den Sieg errang. Als der Kommandeur der Sonnen-Leute seine Niederlage gegen die Übermacht der Weißen Kämpfer absehen konnte, befahl er die Flucht, und bedauerlicherweise waren die Weißen wegen des Tumultes bei den Arcadiern nicht in der Lage, sie aufzuhalten. Dennoch war es ein überwältigender Sieg. Und Alessandra wurde gefeiert wie eine Heilige. Der Jubel kannte kein Ende, und die Kunde verbreitete sich in Windeseile über das ganze Land und darüber hinaus. Und in der Tat wagten sich nie wieder während dieses Krieges arcadische Soldaten oder ihre Verbündeten so weit in den Norden des Weißen Königreiches.
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* Als Alessandra ihren Aufbruch bekanntgab, herrschte in Trok große Aufregung, fast Bestürzung, doch die Prinzessin beruhigte die Menschen: »Ihr habt jetzt fähige Soldaten und Generäle hier, und ihr wißt jetzt, wie man sich verteidigen kann. Ich aber muß nun endlich zu meinem Vater zurückkehren. Er braucht mich dringend. Denn auch die Hauptstadt wird bedroht. Lebt wohl, meine lieben Freunde.« Und so ritt sie, begleitet von eines Eskorte von 20 Rittern, in Richtung des Weißen Schlosses los. Überall, wo sie vorbeikamen, zeigten sich noch die Spuren schwerer Kämpfe. Beim Einrücken hatten die Arcadier alles geplündert, und als sie fliehen mußten, den Rest angezündet. In Trok hatte Alessandra genügend Männer zur Verteidigung gehabt, doch weiter im Süden hatte der Weiße König bereits zu viele Männer abgezogen, um die Grenze am Siina-Fluß zu schützen, denn auch dort griffen die Arcadier heftig an. Das hatte natürlich zur Folge, daß für die Verteidigung im Landesinnern zu wenig Menschen zur Verfügung standen. Und der Preis für diese Entscheidung war sehr hoch: Das ganze Land im Osten war verwüstet und niedergebrannt. Die Prinzessin und ihre Soldaten näherten sich einen kleinen Stadt, aus der noch Rauch aufstieg. Schon wollte sie zu Hilfe eilen, als plötzlich über die Felder zu ihrer Linken ein großer Trupp feindlicher Soldaten herangaloppiert kam. An den Wappen und Fahnen erkannte sie, daß es Krieger von der Sonneninsel waren, wahrscheinlich die, die ihr vor Trok entkommen waren. Rasch überlegte sie: Der Kommandeur dieser Abteilung, dessen Namen sie leider nicht erfahren hatte, schien ein schlauer und gefährlicher Mann zu sein. Also hatte er vermutlich einen Hinterhalt für sie gelegt. Etwa 30 Reiter kamen von Links auf sie zugestürmt, rechts war ein dichter Wald. Steckten dort die übrigen? Es konnten weit über 100 sein. »Nach links. Zum Angriff!« schrie sie entschlossen. Doch als sie den Sonneninsel-Soldaten entgegenstürmte sah sie, daß sie allein war. Nur einer der Ritter hatte ihren Befehl befolgt, wenn auch wahrscheinlich nicht verstanden. Die anderen waren nach rechts in den vermeintlich sicheren Wald galoppiert. Als daraus tatsächlich ein großer Trupp feindlicher Ritter hervorgaloppiert kam, ergriff Panik und Verwirrung die Weißen Ritter, und sie wurden von der feindlichen Übermacht niedergemacht. Trotzdem war die Prinzessin wild entschlossen, ihre Haut so teuer wie möglich zu verkaufen. Aber der feindlichen fünfzehnfachen Übermacht erlag sie schließlich doch, und mußte sich mit ihrem Getreuen geschlagen geben. Sie war ohne größere Verletzungen geblieben, aber der Ritter, die sie begleitet hatte, war gefallen. Die Sonneninsel-Soldaten brachten sie zu den anderen Rittern ihrer Eskorte, von denen noch 8 übrig waren. Die anderen waren tot oder geflohen. Vor Scham und Verlegenheit wagten sie nicht, die Prinzessin auch nur anzusehen, und einer zog sein Messer und tötete sich selbst, weil er die Schande nicht mehr ertragen konnte. Alessandra hatte nicht viel Zeit, über dieses tragische Schicksal erschüttert zu sein, denn da trat der feindliche Kommandeur auf sie zu. »Das ist also die Weiße Prinzessin Alessandra, die wie ein Mann kämpft. Hmm. Stimmt nicht. Du kämpfst wie zehn Löwen, und wenn deine Leute nicht so unglaublich dumm und undiszipliniert gewesen wären, wären sie jetzt frei und am Leben. Naja, Glück für mich. Und Pech für dich. Ich werde dich nach GelAlmanaum bringen und den Arcadiern übergeben, und die werden dich zweifellos hinrichten. Die halbe Welt hat über sie gelacht, als du sie vor Trok einkassiert hast. Ich fand das allerdings nicht so lustig und
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ich warne dich: Wenn du hier Schwierigkeiten machst, dann kommst du gar nicht mehr lebend in GelAlmanaum an.« Und so wie er es sagte, war der Prinzessin klar, daß er es tödlich ernst meinte. Dann trat er näher zu ihr hin und zog die blaue Feder von ihrem Helm. Mit einem zufriedenen Lächeln steckte er sie ein. In Ketten gefesselt und an ein Pferd gebunden mußte Alessandra schließlich zu Fuß den bitteren Weg in die Gefangenschaft antreten. * Die Sonne brannte heiß vom Himmel. In der Nacht zuvor hatte es schon leichten Frost gegeben, aber jetzt schien sich der Sommer noch einmal mit aller Kraft zurückzumelden. Seit ihrer Gefangennahme hatte man der Prinzessin und ihren Rittern weder etwas zu essen noch zu trinken gegeben. Durst quälte die Gefangenen, und als der Kommandeur einmal an ihnen vorbeiritt, rief ihm Alessandra mir heiserer Stimme zu: »Behandelt Ihr Eure Gefangenen immer so? Gebt uns gefälligst etwas Wasser.« Der Befehlshaber sah sie von seinem Pferd herab lange mit seinem seltsamen, unergründlichen Blick an, dann beugte er sich zu ihr herab und sagte mit leiser, ausdrucksloser Stimme: »Nein.« In der Nacht rasteten sie am Rande eines Waldes. Völlig erschöpft waren die Prinzessin und ihre ehemalige Eskorte auf dem Acker zusammengebrochen. Die Soldaten der Sonneninsel ketteten sie trotzdem an Bäumen fest, dann schlugen sie ihre Zelte auf, machten kleine, gut getarnte Feuer und brieten sich ihr Abendessen. Die ganze Zeit patrouillierten einige von ihnen in der Gegend umher und kein Weißer Soldat wäre ihnen entgangen. Wieder bekamen Alessandra und ihre Leute nichts zu essen und zu trinken. Offenbar wollte der feindliche Kommandeur sich auf diese Weise an ihnen rächen. Alessandra wollte gar nicht daran denken, was ihnen noch alles bevorstehen könnte. Ob sie Gel-Almanaum lebend erreichten, war unter diesen Umständen mehr als fraglich. Trotz ihres Durstes fiel sie schließlich in einen erschöpften Schlaf. Mitten in der Nacht jedoch wurde sie unsanft geweckt. Zuerst wußte sie nicht, wo sie war. Etwas nasses lief ihr über das Gesicht. Dann wurde ihr klar, daß jemand ihr mit einer Kelle Wasser ins Gesicht schüttete. »Psst.« »Wer...?« »Leise. Wenn du ein bißchen nett zu mir bist, dann bekommst du so viel davon, wie du willst. Weißt du, ich kann nämlich auch nett sein.« Es war einer der Soldaten, vielleicht die Nachtwache »Verschwinde, du Bastard.« Sie verpaßte dem in der Dunkelheit nur schemenhaft Sichtbaren einen kräftigen Tritt, so daß dieser gepeinigt aufschrie.
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»Na warte, du verdammtes Flittchen! Das wirst du mir büßen. Du hältst dich...« Er kam nicht mehr dazu, den Satz zu vollenden. Hinter ihm war der Kommandeur aufgetaucht. Als er sein Schwert aus der Scheide zog, verstummte der Soldat erschrocken. »Kommandeur de Roqueville! Ich, äh, wollte nur ... ahhh!« Dann hörte Alessandra seinen Körper schwer auf der Erde aufprallen. Der Prinzessin hallte noch der Todesschrei des Mannes in den Ohren, als kurz darauf aufgeregt weitere Soldaten herbei eilten. Mit ruhiger, unbeteiligter Stimme sagte der Kommandeur: »Grabt eine Grube, schmeißt ihn rein und stellt ein Kreuz drauf.« Dann ging er davon. Lange konnte Alessandra nicht einschlafen, und diesmal nicht, weil sie der Durst quälte. Es graute schon der Morgen, als sie aufgeregte Stimmen aus dem unruhigen Schlaf rissen. Hastig sattelten die Soldaten ihre Pferde, dann wurde die ungerührte Stimme des Kommandeurs vernehmbar: »Das schaffen wir nicht mehr. Sie sind schon zu nahe. Wir müssen kämpfen. Aber wir werden gewinnen. Kommt mit.« Leider verstand die Prinzessin nichts von den weiteren Anordnungen, aber sie war sich sicher, daß der Sonneninsel-Befehlshaber nicht aus Spaß gesagt hatte, er werde gewinnen. Kurz darauf war das wilde Galoppieren zahlreicher Pferde zu hören, dann das Aufeinanderprallen von Schwertern und der Lärm einer Schlacht. Kurz darauf zogen sich die Sonneninsel-Soldaten rasch, aber in geordneter Formation zurück, hart bestürmt von Weißen Soldaten. Sie zogen genau an den Bäumen vorbei, an denen sie und ihre ehemalige Eskorte gefesselt waren. Bei ihrem Anblick vergaßen die Weißen Ritter für einen Augenblick den Feind, der ohnehin floh, und stürzten von ihren Pferden, um die Prinzessin zu befreien. Und da erkannte Alessandra den Plan des feindlichen Kommandeurs. Er nutzte den Moment der Unaufmerksamkeit gnadenlos aus und stürzte sich mit den restlichen Soldaten, die er in einem Hinterhalt verborgen hatte, auf die abgesessenen und damit fast schutzlosen Weißen Soldaten. Es entbrannte eine wilde, erbarmungslose Schlacht. Immerhin waren die Weißen Soldaten in der Überzahl, und es gelang ihnen auch, die Prinzessin zu befreien, aber in Sicherheit waren sie noch lange nicht. Viele waren schon gefallen, doch der Rest hatte sich gerade von seiner Überraschung erholt, als die Sonneninsel-Ritter den Befehl zur Flucht bekamen. Sie flohen so rasch, daß die Weißen Ritter sie nicht einholen konnten. Die Bilanz dieser Schlacht sah für die Weißen Soldaten nicht sehr gut aus. Sie hatten die Befreiung der Prinzessin mit hohen Verlusten erkaufen müssen, während der Feind sich fast ohne Verluste hatte absetzen können. Und Alessandra vermutete, daß er wiederkommen würde. Sie wollte den Weißen Oberst, der sie befreit hatte, warnen, doch der bestand darauf, daß sie sich zunächst stärkte. Ein tödlicher Fehler, denn in diesem Moment griffen die Soldaten der Imperatrice tatsächlich erneut von zwei Seiten an. Wieder entflammte ein wildes, gnadenloses Gemetzel. Auch Alessandra kämpfte trotz ihrer Erschöpfung mit großer Verbissenheit, wurde dann aber von einem Pferdehuf am Kopf getroffen und brach ohnmächtig zusammen. *
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Die Einführungsreise Ornellas durch das Schwarze Königreich war ein großer Erfolg. Überall begegneten ihr die Menschen mit Ehrfurcht, aber auch natürlicher Offenheit. Außer dem Schwarzen Königspaar, das in einer tiefschwarzen, mit Silberornamenten verzierten vierspännigen Kutsche reiste, nahmen an der Rundreise noch einige Lakaien, vier von Schogans Leuten und vier Eskortesoldaten teil. Die Männer Numeros führten eine Menge Instrumente und seltsames Material in verschlossenen Kisten mit sich und taten auch sonst sehr geheimnisvoll. Zunächst war das Königspaar in den Nordosten des Landes gefahren, hatten die kleinen Siedlungen an der Quelle und dem Oberlauf des Uva-Flusses besucht und war dann nach Süden abgebogen. Am Fluß hatte Ornella besonders der Chongoon-See gefallen, aus dem der Uva entsprang. Es war ein wilder, einsamer Bergsee in einem großartigen Naturpanorama, und nur ein paar Schafzüchter und Bergbauern wohnten hier. Der Uva war hier oben auch noch ungezähmt. Über zahllose Stromschnellen und Wasserfälle stürzte er aus dem Gebirge hinab in die weite Ebene, die den Süden des Reiches Karls markierte. Dort floß er dann ruhig und langsam und war auch als Wasserstraße stark genutzt. Die nächste größere Stadt auf der Rundreise war Sydur, wo man sich noch lebhaft an den ersten Aufenthalt Ornellas erinnerte, und der Königin zu Ehren wieder ein Konzert gab, von dem nicht nur diese zutiefst ergriffen war. Ornella erkundigte sich nach dem Schicksal der jungen Sängerin, deren Bruder gestorben war. Als sie erfuhr, daß man sie aus ihrem Haus vertreiben wollte, weil sie die Schulden der Familie nicht mehr allein bezahlen konnte, verbot sie dies und ließ die Schuld streichen. Der Gläubiger war schließlich ihr eigener Ehemann, der Schwarze König, und der hatte nichts dagegen, daß seine Bestgeliebte den Leuten ein wenig half. * Geographisch dicht neben Sydur, aber durch eine unüberwindliche Gebirgskette getrennt und daher zwei Tagesreisen entfernt, lag die kleine Stadt Marlus, die als Zwischenhandelsplatz für den gesamten Südosten diente. Da allerdings die Bewohner des Schwarzen Königreiches im wesentlichen Selbstversorger waren, war auch das Handelsvolumen gering und Marlus entsprechend unbedeutend. Es lag ziemlich genau auf der Verbindungslinie zwischen dem Weißen und dem Schwarzen Schloß und war daher von dort aus mit dem Fernrohr leicht zu finden, im Gegensatz zu Sydur, das sich hinter seinen Kesselbergen gut versteckte. Das Königspaar hielt sich einen Tag in Marlus auf, und der Schwarze König nahm eine kleine Volkszählung vor. Die Leute Numeros nutzten die Zeit für irgendwelche Vermessungen. Ständig waren sie mit ihren Instrumenten unterwegs und notierten endlose Zahlenkolonnen, aber außer ihnen selbst schien keiner so recht zu wissen, was sie eigentlich taten. Von Marlus aus ging die Reise hinab ins wesentlich tiefer gelegene Vorgebirge, durch welches auch, noch etwas weiter im Süden, die Weiße Grenze verlief. Kurz vor dieser Grenze, die höchst selten ein Bewohner des Schwarzen Königreiches je überschritt, lag die verschlafene Stadt Nieder-Wies. Hier blieb das Königspaar mehrere Tage und sammelte einen Siedler-Treck um sich. Ornella wunderte sich, wieso die Reise nun mit so vielen Begleitern fortgesetzt werden sollte. Der Schwarze König antwortete ihr: »Mit diesen Leuten beginnen wir die West-Kolonisation. Vor einem Jahr schon habe ich Numero befohlen, aus allen Städten und Dörfern hier im Süden abkömmliche Leute zusammenzustellen, die auf der Westseite des großen Kettengebirges angesiedelt werden sollen. Jetzt ist es soweit. Und wir werden sie persönlich ans Ziel bringen.« Stolz klang aus seiner Stimme. Anscheinend bedeutete ihm dieses Projekt sehr viel.
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»Aber die beiden Tunnels durch das Gebirge sind doch noch lange nicht fertig!« »Ja, aber wenn drüben auch Leute wohnen, können wir von beiden Seiten aus graben. Und davon abgesehen kann man dieses Land ja sehr wohl erreichen. Nur führt der Zugang entweder oben herum durch das Reich Karls oder im Süden durch Niemandsland. Ich werde nun die Grenze ausdehnen und den Westen und seinen südlichen Zugang dem Schwarzen Reich hinzufügen.« Im Laufe der folgenden Woche versammelten sich über tausend Menschen: Männer, Frauen, Kinder, mit Vieh, Saatgut und Vorräten für den Winter, der allerdings im Westen bei weitem nicht so streng sein sollte wie im Kernland. Westlich von Marlus entstand vorübergehend eine zweite Stadt, eine kurzlebige Zeltund Hüttenstadt, in der die neuen Siedler auf den Tag des Aufbruchs warteten. Während auch der König darauf wartete, daß endlich die letzten der einbefohlenen Siedler sich meldeten, ließ er sich von seinen Grenzsoldaten - es waren allerdings im gesamten Gebiet nur 9 Stück - über die Lage auf der anderen Seite berichten, denn das Weiße Königreich begann nur einen kurzen Fußmarsch von Nieder-Wies entfernt. »In den letzten Wochen und Monaten«, so berichtete der Hauptmann, »hat der Weiße König seine Grenzsoldaten zunächst auf über 100 Mann verstärkt, die ständig patrouilliert haben. Sie haben auch die alten Stationen erneuert und Wege angelegt. Aber dann, vor ein oder zwei Wochen, wurden die meisten wieder abgezogen. Im Moment scheint es dort nur noch etwa 20 Soldaten zu geben. Warum, konnten wir nicht herausfinden.« »Wahrscheinlich hat er Probleme mit den Arcadiern bekommen. Wohin sind sie denn verschwunden?« »Majestät, es gibt nur die eine Hauptstraße, und die führt von der Grenze aus nach Südosten. Alle Soldaten sind von dort gekommen und dorthin auch wieder abgeritten.« »Stimmt eigentlich. Auf jeden Fall behaltet ihr die Grenze weiter im Auge und schickt mir regelmäßige Berichte. Ich bin sicher, sobald mein Schwiegervater mit den Arcadiern fertiggeworden ist, wird er hier etwas unternehmen.« »Ihr meint, er will einen Krieg führen, Majestät?« rief der Soldat entsetzt. Er war sich über die Zahlenverhältnisse der beiden Armeen sehr wohl im klaren. »Keine Angst. Darum kümmere ich mich persönlich, wenn es soweit ist. Ich muß nur rechtzeitig informiert werden.« Dem Hauptmann fiel sichtlich ein Stein vom Herzen und zackig bestätigte er den Befehl. * Einige Tage später war es dann soweit: Der größte Zug, den es seit Menschengedenken im Schwarzen Königreich gegeben hatte, setzte sich in Bewegung. Eine ganze Stadt war aufgebrochen, um neues, und wie man hörte, fruchtbares Land zu kultivieren. Dem Zug voran rollte lautlos die Schwarze Kutsche mit dem Königspaar.
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»Ob es eine gute Idee ist, so kurz vor dem Winter mit dieser Besiedlung zu beginnen?«, fragte Ornella. Thoran lächelte sein spöttisch-nachdenkliches Lächeln, dann antwortete er nach langem Schweigen: »Und das ist nicht die einzige Schwierigkeit. Der Westen ist bis zur Fertigstellung der Tunnels kaum zu erreichen. Die Siedler werden sich womöglich selbständig machen. Wir müssen sie gut im Auge behalten. Deswegen habe ich vor, den Ausgangspunkt an einem ganz bestimmten Ort zu errichten. Hier, sieh!« Er entrollte eine Karte des Schwarzen Königreiches, auf dem alle wichtigen Berge, Hauptstraßen und Ortschaften eingetragen waren. »Vom Ausschau-Turm des Schlosses kann man in insgesamt fünf Richtungen über unsere Grenzen hinausschauen: Nach Nordosten und Ost-Nordost ins Reich Karls, und nach Südost und Ost-Südost in das Weiße Reich. Und dann gibt es hier, im Südwesten, noch eine ganz schmale Lücke, durch die man in die Steppe und bis in die Wüste Algora sehen kann. Genau auf dieser Sichtlinie liegt auch die Oase Coor, die man bei besonders klarem Wetter ganz in der Ferne erahnt. Genau auf dieser Linie werde ich eine Stadt gründen, und sie soll Udor heißen. Hier!« Er tippte mit seinem Finger auf einen Punkt mitten im Vorgebirge, bereits weit hinter der jetzigen Schwarzen Grenze. »Das Gebiet wird hier in Südwesten bis an den Siina-Fluß ausgedehnt. Es hat mich, ehrlich gesagt, schon immer gewundert, warum das nicht bereits dein Vater gemacht hat. Seltsamerweise hört das Weiße Land kurz vor der Quelle der Siina auf. Nun gut, jetzt werden wir es statt dessen in Besitz nehmen. Und weiter im Norden werden wir dann eine Stadt anlegen, von der aus die Arbeiten an den Tunnels von der anderen Seite aus begonnen werden. Ich denke, wir nennen diese Stadt Alessandria.« »Alessandria«, wiederholte Ornella andächtig. Sie war gerührt. »Ja. Aber um auf das zurückzukommen, was du vorhin erwähntest, meine Bestgeliebte: Ich habe es deswegen so eilig, weil ich zugetragen bekommen habe, daß sich auch König Karl für dieses Land interessiert. Es grenzt über eine Strecke von drei Tagesreisen an sein Land, und es ihm zuzufügen, wären nur ein Federstrich auf einer Landkarte. Ich will ihm zuvorkommen.« »Aber wenn er merkt, daß er zu spät gekommen ist, was wird er dann tun?« »Nichts. Der Süden seines Landes ist kaum besiedelt. Er wird keinen Streit anfangen wegen eines Streifens Land, mit dem er im Grunde sowieso nichts anfangen kann. Aber das gilt auch umgekehrt: Wenn er es zuerst hat, habe ich das Nachsehen. Deshalb diese Eile.« Vier Tage später erreichte der Zug die Stelle, an der die Stadt Udor gegründet werden sollte. Der Platz lag mitten in schon recht flachen Vorgebirge, und es war hier bereits deutlich wärmer als weiter im Osten. Der Boden war fruchtbar, und überall standen große, gutgewachsene Bäume, aus deren Holz die neue Stadt gebaut werden konnte. Der König ließ die ersten Zelte und Hütten errichten, während er höchst selbst Vermessungen vornahm. Nachdem es ihm gelungen war, das Schwarze Schloß anzuvisieren, gab er sein endgültiges Einverständnis. Selbstverständlich wußte außer ihm selbst, der Königin und Schogan Liss keiner, daß die Stadt von Schwarzen Schloß aus jederzeit sichtbar war. Dieses Geheimnis behielt der Schwarze König wohlweislich für sich. Noch am selben Abend bestieg er sein Pferd und ritt mit Ornella und vier Soldaten in raschem Galopp
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nach Süden. Ornella fragte sich, wie er in dieser Finsternis seinen Weg fand, denn die dünne Mondsichel und die funkelnden Sterne gaben kaum Licht. Irgendwann hörte sie in der Ferne ein Murmeln und Plätschern von Wasser. »Die Quelle des Siina-Flusses«, sagte der Schwarze König, der inzwischen angehalten hatte und abgestiegen war. »Hier tritt er aus dem Berg. Und hier setzte ich den neuen Grenzstein.« Er holte einen mit Ornamenten und Wappen reich verzierten Stein aus seiner Satteltasche und vergrub ihn zur Hälfte im Boden. In einer seltsamen, magischen Zeremonie, die bis zum Morgengrauen andauerte, nahm er dann das Land in Besitz. Dann ritten sie weiter nach Nordwesten, wo Thoran die Zeremonie mit einem weiteren Grenzstein wiederholte. Erst am Mittag machten sie sich auf den Weg zurück nach Udor. Alle, vielleicht der Schwarze König ausgenommen, waren todmüde. Ornella, die sich noch einmal umdrehte, sah, daß nun auch hier mitten durch die Natur eine deutlich sichtbare Grenze lief, die das Schwarze Königreich vom Niemandsland dahinter schied. Am Abend kehrten sie nach Udor zurück und ruhten sich erst mal aus. Tags darauf befahl der König die Errichtung eines Beobachtungspostens an der neuen Grenze, der ständig von einem oder zwei Mann besetzt sein mußte. Extra dafür hatte er auch schon Soldaten mitgebracht. Es war alles sehr gut organisiert. Auch die Stadt Udor selbst bekam einen mit einigen Soldaten besetzten Posten. Von Udor aus zog dann der Rest des Trecks, noch etwa 300 Menschen, weiter nach Norden und errichteten nach zwei Tagesreisen eine weitere Siedlung, die in einer feierlichen Zeremonie auf den Namen Alessandria getauft wurde. In der Nacht wiederholte der Schwarze König die magische Zeremonie der Grenzsetzung, diesmal an der neuen Grenze zum Reich Karls. Das Schwarze Königspaar blieb etwa eine Woche in Alessandria, dann brachen sie mit einigen Arbeitern und Ingenieuren auf, um die Westseite des Großen Kettengebirges zu erkunden. Die Ingenieure vermaßen die Position, an welcher der Tunnel von der anderen Seite herauskommen mußte. Dort wurde nun ebenfalls mit Grabungsarbeiten begonnen, so daß sich in einigen Jahren die beiden Röhren in der Mitte des himmelhohen Berges treffen mußten. Ornella staunte darüber, daß man den Weg des Tunnels durch den Berg überhaupt so genau berechnen konnte, aber die Ingenieure waren sich ihrer Sache sicher. »Und was ist mit dem Tunnel im Norden?«, fragte sie den König. »Vorläufig nichts. Ich werde lediglich ein paar Grenzmarkierungen setzten. Zur Zeit haben wir nicht genügend Leute, um dort oben eine Stadt zu gründen und graben zu lassen. In ein oder zwei Jahren erst kann ich damit anfangen.« Sie verließen die neue Baustelle, und der Schwarze König steuerte erneut die vorgeschobene Grenze an und markierte sie mit magischen und verzauberten Steinen und Pfählen. Schließlich erreichten sie den nördlichsten Zipfel ihres neuen Gebietes, und noch immer versperrte das Kettengebirge den Weg nach Osten. Wenn sie es nördlich umgehen wollten, mußten sie durch das
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Gebiet Karls. Thoran beschloß, es zu riskieren, und tatsächlich begegneten sie auf der ganzen, knapp einen Tag dauernden Reise keinem anderen Menschen. Karls Reich war riesig und zu weiten Teilen praktisch menschenleer. Fast direkt auf dem Rückweg lag auf der Ostseite des Kettengebirges der Eingang zum Nordtunnel. Der Schwarze König, mittlerweile nur noch in Begleitung seiner Frau und zweier Diener, beschloß, die Baustelle zu besichtigen. Als sie ankamen, sahen sie nicht sehr viel, außer einem riesigen Steinhaufen, einer armseligen Hütte und einem unauffälligen Brunnen. Einige Meter dahinter ragte fast senkrecht die Felswand auf, und an ihrem Grund war ein schwarzes Loch, das in den Berg führte. Thoran und Ornella nahmen sich eine Fackel und gingen hinein. »Wieviele Leute arbeiten hier?« »Ungefähr zehn in zwei Schichten. In der Hütte schläft immer die Hälfte, die andere ist im Berg. Leider fallen oft Leute aus, weil sie in der schlechten Luft und durch die schwere Arbeit krank werden.« »Was sind das für Leute?« »Diebe, säumige Schuldner, so was in der Art. Es gibt hier kaum Verbrechen, aber wenn einer sich was größeres zu Schulden kommen läßt, dann landet er meist hier.« Allmählich gewöhnten sich ihre Augen an das trübe Licht. In der Ferne hörten sie nun auch das Hämmern und Klopfen, mit dem dem Berg Stückchen für Stücken des Weges abgerungen wurde. Das Gestein war äußerst hart und die Arbeit dementsprechend schwer. Dann näherte sich dem Königspaar ein Rumpeln. »Das ist wohl der Wagen, mit dem sie die Steine ins Freie schaffen.« Die Karre kam in Sicht. Als der Mann, der sie schob, seinen König erkannt, da erstarrte er, dann viel er demütig auf die Knie und begann, unverständliche Worte zu stammeln. Doch den Schwarzen König interessierte das nicht. Er befahl dem Mann, mit seiner Arbeit fortzufahren. Ornella begleitete ihn dann schweigend tiefer in den Berg. Und dann trafen sie auf die übrigen Arbeiter. Es waren drei, und auch sie fielen vor dem König und der Königin in den Staub. »Wo ist der fünfte?« »Tot, Herr. Vorgestern haben wir ihn begraben.« »Hmm. Es wird ewig dauern, bis der Tunnel fertig ist. Naja, ich werde euch Ersatz schicken lassen, sofern sich einer findet.« Schweigend verließen sie dann den Berg wieder. Erst draußen konnte die Königin wieder frei atmen. »Wer hier arbeitet, kommt nicht mehr zurück, nicht wahr?« »Stimmt. Aber leider gräbt sich der Tunnel nicht von selbst. Komm jetzt. Laß uns diesen öden Ort verlassen.« Und so kehrte der Schwarze König nach einer anstrengenden, aber sehr erfolgreichen Reise
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schließlich Anfang November in sein Schloß zurück. Dort hatte es bereits geschneit, und es würde ein harter Winter werden. Aber im Schwarzen Königreich war jeder Winter hart. * »Und! Wo ist sie denn nun?« fragte Prinz Sofrejan. Der Bote, der vor ihm niederkniete, antwortete: »Herr, Euer Kommandeur Ralph de Roqueville hat die Prinzessin sofort nach seinem Eintreffen in Gel-Almanaum an die Arcadier überstellt. Sie ist jetzt auf dem Weg nach der Hauptstadt Tansir, wo man sie zweifellos sogleich hinrichten wird.« Der Prinz glaubte, sich verhört zu haben. »Was! Das darf doch nicht wahr sein. Dieser ...« Er zerknirschte den Fluch zwischen seinen Zähnen. Aufgrund des schlechten Gesundheitszustandes seiner Mutter war er kurzzeitig zur Sonneninsel zurückgekehrt, und genau in die Zeit seiner Abwesenheit fiel die Gefangennahme der Weißen Prinzessin. Sofrejan kochte vor Wut. Dieser Krieg war ihm sowieso zuwider, und jetzt sollte eine Frau, gegen die er nicht das geringste hatte, die er sogar für ihren Mut bewunderte, hingerichtet werden, obwohl er es hätte verhindern können, wenn er es rechtzeitig erfahren hätte. Wütend trommelte er mit den Fäusten auf dem Tisch herum. Der Bote zog den Kopf noch tiefer ein und hoffte, der Zorn seines Herren möge ihn verschonen. Doch er hätte sich keine Sorgen zu machen brauchen. Sofrejans Zorn galt allein seinem ehrgeizigen Kommandeur, der, wie es schien, den Arcadiern treuer ergeben war als ihm, denn sonst hätte er ihn vor der Auslieferung der Prinzessin erst konsultiert. Schließlich war die Weiße Prinzessin nicht irgend eine x-beliebige Kriegsgefangene. Die Sache war hoch politisch, und de Roqueville mußte sich darüber völlig im klaren gewesen sein. Nur die Ruhe, sagte Sofrejan sich. Den Kerl werde ich mir greifen. Es war klar, daß er diesen außerordentlich fähigen Kommandeur nicht einfach an die Arcadier verkaufen durfte, denn dann hätte er sich ein hübsches Kuckucksei gelegt. Es mußte doch eine elegante Art geben, ihn aus dem Verkehr zu ziehen. Ihm kam da eine Idee. Er wandte sich an den Boten und befahl ihm: »Du reitest auf dem schnellsten Wege zurück nach Gel-Almanaum und teilst de Roqueville mit, er habe sich zum persönlichen Rapport hierher einzufinden. Und zwar umgehend!« »Zu Befehl, Euer Majestät.« Nur, daß der Prinz nicht im Traum daran dachte, hier auf den Kommandeur zu warten. Im Gegenteil: er würde ihn warten lassen. Monatelang, wenn es sein mußte. Er gab, nachdem der Bote übergesetzt hatte und davongeritten war, die Anweisung, den Kommandeur in der Hauptstadt zu empfangen und solange festzuhalten, bis er wieder zurück war. Er fügte hinzu, daß er in einer äußerst wichtigen Mission nach Tansir reisen mußte, die sich aber über etliche Wochen hinziehen konnte. Solange durfte Kommandeur de Roqueville die Sonneninsel auf keinen Fall verlassen. Der einzige Unsicherheitsfaktor war seine Mutter. Wenn sie sich erholte und wieder die Zügel in die Hand nahm, dann würde es schwierig werden, die Sonneninsel aus dem Krieg herauszuhalten. Doch wie es aussah, drohte von dort keine Gefahr. Sicher, die Alte war zäh, aber es ging ihr von Tag zu Tag schlechter. Er würde ihr keine Träne nachweinen, wenn sie gestorben war.
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Dann bereitete er seine Abreise nach Tansir vor. Er war entschlossen, die Hinrichtung der Prinzessin zu verhindern. Es war nur die Frage, ob er rechtzeitig ankam. Denn so, wie der Bote es berichtet hatte, würde König Starrus, der zur Zeit in seiner Hauptstadt weilte, mit seiner Feindin, die ihm so große Schwierigkeiten und Blamagen bereitet hatte, kurzen Prozeß machen. * Sie hatten Alessandra ihrer herrschaftliche Kleider beraubt, sie in Lumpen gehüllt und in einen Käfig gesperrt. Der Käfig stand auf einem großen Wagen und wurde vor den Augen aller Leute mit großer Eskorte quer durch Arcadia-Land nach Tansir gefahren. Und wenn der Treck ein Dorf oder eine Stadt passierte, dann bewarfen die Menschen ihre gefangene Feindin mir faulen Eiern und Tomaten und spuckten auf sie. Sie bekam nichts zu essen und zu wenig Wasser, so daß sie nach wenigen Tagen mehr einer armseligen, halbverhungerten Bettlerin glich als einer Prinzessin. Aber nicht alle Menschen, denen sie unterwegs begegnete, empfanden nur Haß. Am dritten Tag ihrer Reise hielt der Zug, wie immer, am Mittag an. Sie waren in einer Stadt, deren Namen Alessandra nicht kannte, und die Soldaten und Knechte begaben sich in die Wirtshäuser, um sich für den weiteren Weg zu stärken. Alessandra stieg der Duft gebratenen Fleisches in die Nase, der von der Küche eines der Wirtshäuser zu ihrem Karren herüberzog, und das Wasser lief ihr im Munde zusammen. Doch kein Mensch dachte auch nur im Traum daran, ihr etwas zu Essen zu bringen. Ihre sehnsüchtigen Blicke ruhten auf dem Wirtshaus, als sie plötzlich das Gefühl hatte, beobachtet zu werden. Sie sah sich um, doch auf den ersten Blick sah sie nichts auffälliges. Die üblichen Bettler und Hausierer hatten sich bei dem Zug eingefunden und feilschten jetzt mit den Soldaten. Einige Leute, darunter viele Frauen und Kinder, musterten ganz ungeniert die Gefangene, tuschelten und zeigten mit Fingern auf sie. Aber das war es nicht. Eine seltsame Unruhe ergriff die Prinzessin, und sie musterte den Platz, auf dem der Troß haltgemacht hatte, genauer. Ihr Blick streifte über eine seltsame Gestalt mit völlig vermummtem Gesicht. Sie konnte die Augen nicht sehen, vielleicht hatte der Fremde gar keine mehr und hatte deshalb sein Gesicht verhüllt. Aber ...? Da erhob sich die Gestalt plötzlich mit einer kraftvollen und entschlossenen Bewegung, die gar nicht zu einem blinden Bettler gepaßt hätte. Langsam ging der Mann - Alessandra war sich nun sicher, daß sich unter den schwarzen Tüchern ein Mann verbarg - auf sie zu. Wenn er den anderen Schaulustigen zu nahe kam, wichen diese wie elektrisiert zurück und starrten den Schwarzverhüllten mit schreckgeweiteten Augen an. Langsam kam der Mann näher, doch Alessandra empfand keinerlei Furcht. »Wer bist du?«, frage sie freundlich. Doch der Mann sprach nicht. Statt dessen zog er ein ansehnliches Stück Brot und getrocknete Wurst aus der Tasche und steckte es ihr in dem Käfig. »He da!« brüllte eine der Wachen. »Das Füttern der Gefangenen ist verboten, verdammmich!« Er ergriff seine Hellebarde und stürmte auf den Mann zu. Dieser drehte sich langsam dem Soldaten zu und damit gleichzeitig von Alessandra weg, so daß sie nicht sehen konnte, was genau er tat. Das heißt, sie sah sehr wohl, was er tat, er zog nämlich das Tuch von seinem Gesicht, aber die Prinzessin konnte nur
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seinen Hinterkopf sehen. Was der Soldat zu sehen bekam, blieb ihr also verborgen, aber die Wirkung war durchschlagend. Der Soldat blieb wie vom Donner gerührt stehen. Die Hellebarde fiel ihm aus der Hand, dann schlug er die Hände vor seinem Gesicht zusammen, gab einen halb erstickten Schrei von sich und stolperte rückwärts davon. Mit vor Überraschung weit aufgerissenen Augen verfolgte Alessandra dieses merkwürdige Ereignis. Irritiert schüttelte sie den Kopf und wandte sich wieder dem Schwarzverhüllten zu, doch - er war nicht mehr da! Nirgends konnte sie ihn sehen. Es war, als habe ihn der Erdboden verschluckt. Aber das Brot war noch da. Nach einer Zeit begann die Prinzessin, es zu essen, und es schmeckte ausgezeichnet. Es war für längere Zeit das letzte, was man ihr zu Essen gab. * Eines Nachts rasteten sie auf dem Platz einer großen Stadt. Es regnete, und Alessandra konnte wenigstens ihren schlimmsten Durst stillen. Doch dann fing es an zu schneien, und ihre nassen Kleider sogen jede Wärme aus ihrem Körper. Die Prinzessin war krank, erschöpft und verzweifelt. Am schlimmsten war der Haß, den ihr die arcadischen Bürger entgegenbrachten. Ihr abgemagerter Körper sank zitternd vor Kälte in sich zusammen und sie hoffte, am nächsten Morgen nicht mehr aufwachen zu müssen. Doch plötzlich wurde es hell um sie. Die Kälte wich, und ein warmes Licht erfüllte das Innere des Käfigs. Im Nu waren ihre Kleider wieder trocken. Aus der Helligkeit trat Elysiss hervor, warf ihr einen warmen Blick zu und legte eine wärmende Decke um sie. »Mehr kann ich nicht für dich tun, mein Kind. Nur einen Rat habe ich noch: Benutze den Ring.« Dann verschwand sie wieder, und das Licht und die Wärme mit ihr. Der Ring! Natürlich. Den hatte sie ganz vergessen. Die Arcadier hatten ihr zwar den Ring Simonas weg genommen, aber ihren eigenen nicht, denn nur Würdige konnten ihn sehen, und die Soldateska war bestimmt nicht würdig. Vorsichtig schaute Alessandra sich um, aber alle schliefen schon. So zog sie den Tigerring vom Finger und sprach zu ihm: »Schwester. Wenn du mich hören kannst, dann wisse, daß die Arcadier mich gefangengenommen haben und bald hinrichten wollen. Bitte, hilf mir, wenn du kannst.« Wie beim letzten Mal, so erfolgte auch jetzt keine Antwort. Doch Ornella hatte sie gehört. Allerdings hatte es einen weiteren, unerwarteten Zeugen gegeben. * Die Schwarze Königin schlief allein in ihren Gemächern, als sie durch eine Bewegung auf ihrer Brust geweckt wurde. »Was ...?« murmelte sie verschlafen. »Psst. Ich bin's, Isini!«, zischte es in der Dunkelheit. Sie schreckte hoch. Es war stockfinster, alle Fackeln waren gelöscht, die Kerzen längst
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heruntergebrannt. »Isini?« Ihre Hände ertasteten einen großen, von Federn bedeckten Körper, der auf ihrer Brust ruhte. »Isini! Du?«, rief sie ungläubig. Das konnte doch nicht sein! »Ja. Ich bin's wirklich. Ich bin immer noch ein Adler. Ich bin gekommen, um euch zu warnen.« »Uns?« »Ja. Dich und Thoran.« »Warte. Ich hole ihn.« »Nein. Ich ... ich glaube nicht, daß ich seine Nähe ertragen würde.« »Aber warum willst du ihn dann warnen?« »Frage nicht. Sage ihm, der Baron der Hölle hat neue Kräfte gesammelt und ist angetreten, ihn zu vernichten.« In diesem Moment begann Ornellas Löwenring zu leuchten. Durch den Schein konnte sie jetzt auch den Adler erkennen. »Was ist das?«, fragte Isini und schlug unruhig mit ihren majestätischen Schwingen. Ornella stieß aufgeregt den Vogel von ihrer Brust und starrte auf den Ring, der von ihrem Finger gefallen und auf der Bettdecke gelandet war. »Meine Schwester. Alessandra!«, flüsterte sie erregt. Der Ring entrollte sich, wurde zu einem winzigen Löwen und sprang auf der Bettdecke umher auf die Königin zu: »Ornella, deine Schwester ist von den Arcadiern gefangengenommen worden. Sie bringen sie nach Tansir, wo sie sie hinrichten wollen!« Dann erlosch das Licht und der Ring kehrte an Ornellas Finger zurück. Sie hob den Adler hoch, setze ihn neben sich auf das Bett und zündete dann eine Kerze an. »Ich danke dir, Isini. Aber ich muß sofort meinem Bestgeliebten Bescheid sagen.« »Wem?« »Meinem Gemahl, den Schwarzen König.« »Wie hast du ihn genannt?« »Mein Bestgeliebter.« Erstaunt sah Isini Ornella an. »Bestgeliebter ... du liebst ihn wirklich?«
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»Mehr als alles andere auf der Welt. Du tust mir so leid, Isini. Welch eine Chance hast du ungenutzt verstreichen lassen.« Da kullerte eine Träne über den Schnabel des Vogels. Dann schwang sich Isini wortlos in die Luft und flog pfeilschnell aus einem der Fenster hinaus in die Nacht. Ornella sah Isini nach, aber nicht lange. Dann sprang sie auf und rannte in das Gemach ihres Mannes. Sie rüttelte ihn wach und rief: »Isini ist bei mir gewesen. Sie hat uns vor einem Angriff Harlengarts gewarnt. Aber auch Alessandra braucht unsere Hilfe. Die Arcadier wollen sie hinrichten.« »Isini?« »Ja. Sie kam zu mir geflogen, weckte mich und sagte dann, der Baron der Hölle habe neue Kräfte gesammelt und wolle dich vernichten. Aber wie sollen wir meiner Schwester helfen, wenn wir uns gegen Harlengart verteidigen müssen? Hoffentlich haben wir genug Zeit.« »Genau das haben wir wegen Harlengart nicht.« Er überlegte, dann sagte er: »Alessandras einzige Hoffnung ist im Moment Elysiss. Ich hingegen muß das Schloß sichern. Und du, du weckst Gawron! Das Tor wird sich vor dir öffnen, soviel Magie besitzt du bereits. Beeile dich jetzt.« Ornella wollte noch etwas sagen, doch dann lief sie davon, hinunter zum Eingang in das unterirdische Labyrinth. Blitze umzuckten das Schwarze Schloß und schälten für Sekundenbruchteile seine Konturen aus der Nacht. Ein Bote aus dem Schloß eilte durch das kleine Dorf an seinem Fuß und weckte die Bewohner: Sie sollten so schnell wie möglich fliehen und erst zurückkehren, wenn der Kampf zwischen ihrem König und dem Höllenritter entschieden sei. Langsam fing das Schwarze Schloß an zu glühen, aber es war ein kaltes Licht, das schon in kurzem Abstand wieder in der Dunkelheit versickerte. In seinem Zaubersaal stand der Schwarze König und beschwor die magischen Kräfte und die finsteren Mächte. Unheimliche Schatten huschten durch die Gewölbe und hinterließen ihre geisterhaften Spuren auf den Wänden. Seltsames Geflüster erfüllte den Raum, gezischelt in uralter Sprache, die nur noch Wenige verstanden. Eine gewaltige Säule aus kaltem Feuer stieg aus einem eisernen Kessel empor, Blitze und verzerrte Gesichter tauchten für einen Moment darin auf. Die Kraft dieses Objekts war auch für den Schwarzen König kaum zu bändigen, doch er schaffte es, die Kräfte des Unheils in die Mauern seines Schlosses zu lenken, um dem Baron der Hölle eine Falle zu schaffen, in der er verderben sollte. Dann betraten die Schwarze Königin und der Drachen Gawron die Halle. Unheimlich erschienen ihre Gestalten in dem geisterhaften, flackernden Licht. Glühende Funken stoben von dem Feuer auf und schufen für kurze Zeit einen Bogen heißer Energie. Wo er auftraf, öffnete sich die Unterwelt und zeigte wie in einem magischen Spiegel den Baron der Hölle. »Auch das wird dich nicht retten, Schwarzer König«, brüllte es hervor, bevor sich das Tor wieder schloß und die Erscheinung verschwand. »Ohne Isinis Warnung hätte er uns alle vernichten können«, brüllte Thoran durch das Brodeln und Tosen der Energien. »Mein Bestgeliebter, was tust du da?«, schrie Ornella ihm zu. Weder sie noch der Drachen konnten zu
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ihm gelangen, denn eine Mauer aus magischer Urkraft trennte sie. Die Mauer wurde milchig, während sie plötzlich eine unheimliche Kälte ausstrahlte. Selbst das Feuer erlosch in wenigen Sekunden. Alles erstarrte zu Eis. Dann hob sich das dämonische Gebilde und drang ebenfalls in das Gemäuer des Schlosses ein. Und von einem Augenblick zum anderen herrschte gespenstische Stille. Mit leisen, knackenden Geräuschen entspannten sich die aufgeheizten und dann tiefgekühlten Instrumente. Der Rauhreif auf dem Boden verschwand wieder, die kleinen Eiszapfen fielen von den Fratzen und Totenköpfen, mit denen die Säulen und Wände verziert waren, herab und schmolzen. »Jetzt sind wir bereit«, sagte Thoran mit unnatürlich ruhiger Stimme. »Und wenn er heute Nacht nicht kommt?«, knurrte Gawron. »Er wird kommen, dafür habe ich gesorgt. Du hältst dich bereit, ihn zu überfallen, wenn er seine Aufmerksamkeit ganz auf mich gerichtet hat.« »Und ich?«, fragte Ornella. »Hier. Komm mit.« Er ging zu einem steinernen Schrank und öffnete lautlos die schweren Türen. In seinem Inneren hingen mehrere Rüstungen. Thoran nahm zwei davon heraus. »Eine ist für mich, eine für dich.« »Aber die ist mir zu groß.« »Nein, wenn du sie anziehst, wird sie dir passen. Sie passen jedem Träger, der sie beherrschen kann.« Er streifte sich seine über, und Ornella tat es ihm gleich. »Sie würde selbst Gawron passen, aber er braucht keine. Ich ...« Doch in diesem Moment ging es los. Ein Troll erschien wie aus dem Nichts, und begann, in der Halle umherzutoben und alles zu zerschlagen, was er erreichen konnte. Gawron tötete ihn mit einem Feuerstrahl. Doch dann erschienen überall im Schwarzen Schloß weitere Trolle und Unholde. Sie fielen über die Palastwache her und steckten alles in Brand, was sie erreichen konnten. Die wenigen Menschen konnten nicht gleichzeitig gegen die Ungeheuer kämpfen und löschen, doch die Feuer erloschen von selbst und eine unirdische Kälte drang plötzlich aus den Wänden hervor. In Panik flohen die Trolle, doch für die meisten war es zu spät. Sie froren am Boden fest, erstarrten zu Eissäulen und zersprangen dann in tausend Splitter. Doch das war erst der Anfang. Über dem Schloß zog sich in Sekundenschnelle ein furchtbares Gewitter zusammen. Und dann schoß Blitz auf Blitz in die Gemäuer und löschte die schützende Kälte aus. Neue Trolle tauchten für kurze Zeit auf, doch sie hatten keine Macht mehr und verschwanden wieder ins Schattenreich. Thoran, Gawron und Ornella stürmten aus der magischen Halle hinaus. Der Schwarze König und die Königin liefen hinab zum Exerzierhof, denn nur hier würde der Baron der Hölle erscheinen. Währenddessen legte sich der hellhäutige Drachen in einen Hinterhalt. Sein Schwanz peitschte vor Aufregung. Draußen regnete es inzwischen. Unvorstellbare Wassermassen stürzten vom Himmel, eingehüllt in flammende Blitze, die viele von ihnen noch in der Luft verdampften. Ohrenbetäubender Donner dröhnte
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über dem Schloß und ließ die Mauern erbeben. Und dann begann auch die Erde zu zittern. »Jetzt!« Thoran riß sein Schwert heraus, als sich vor ihm die Erde spaltete und Harlengart daraus hervorschoß. Der Höllenbaron wurde von dem Angriff überrascht. Blitze spritzten auf, und er fuhr herum und stieß ein urweltliches Brüllen aus. Ornella hatte einen Bogen mit magischen Pfeilen bekommen, doch durch die Wasserwand konnte sie das Ziel kaum erahnen. Und näher heran wagte sie sich nicht. Nur schwer war der Kampf zwischen ihrem Mann und dem riesigen Dämon zu erkennen. Sie sprang auf, legte eine Pfeil ein, spannte den Bogen und schoß. Keinen Moment zu früh. Harlengart hatte mit seinen unglaublich kraftvollen Hieben Thoran das Schwert aus der Hand geschlagen und hieb jetzt auf ihn ein. Der Schwarze König verteidigte sich mit seinen Zauberkräften, doch auch gegen die ging der Höllenbaron an. Als ihn der Pfeil traf, ließ er einen Moment vom Schwarzen König ab und warf sich herum. Doch da griff ihn Thoran erneut mit dem Schwert an. Er schleuderte es mit aller Kraft, und es drang tief in den Leib des Königs der Trolle. Doch noch war dieser lange nicht geschlagen. Aus der Erdspalte kamen weitere Dämonen gekrochen und wollten sich auf die beiden Menschen stürzen. Nun mußte Gawron eingreifen. Die Lage wurde immer bedrohlicher. Harlengart riß sich das Schwert heraus, zerbrach es und schleuderte es davon. Dann baute er sich vor Thoran auf. »Stirb denn«, brüllte der Höllenbaron röhrend und holte zum letzten, entscheidenden Schlag aus. Doch der Schwarze König sagte nur: »Jetzt.« Und die in den Mauern seines Schlosses gespeicherte Energie schoß herab und hüllte Harlengart ein in einen Vorhang aus Flammen, Tod und Verderben. Der Höllenbaron brüllte auf, er schleuderte Blitz und Donner, Wände zerbarsten und die Luft kochte, doch selbst seine Kräfte reichten nicht, der geballten Macht des Schwarzen Königs zu widerstehen. Seine Bewegungen unter den roten, lodernden Flammen wurden langsamer, dann stürzte er zu Boden. Blitz und Regen hörten schlagartig auf, das Loch im Boden schloß sich und Gawron tötete die letzten Dämonen. Und in diesem Moment war die Kraft des Schwarzen Schlosses erschöpft. Der Feuervorhang erlosch und gab den Blick frei auf den mit letzter Kraft um Atem ringenden Troll-König. »Du... du hast gesiegt«, röchelte er. »Jetzt töte mich.« Sein Kopf fiel vornüber und seine Hörner trafen funkensprühend auf das zerstörte, teilweise geschmolzene und wieder erstarrte Pflaster. Der Schwarze König hob die Faust, um mit einem letzten Energiestoß die Existenz des Höllenbarons für immer und alle Zeiten zu beenden, doch da rief Ornella: »Warte! Ich habe eine Idee.« Etwas verwirrt sah Thoran sie an und ließ die Faust sinken. »Wenn er schwört, sich nie wieder gegen uns zu wenden, dann schenke ihm das Leben als Gegenleistung für zwei Aufgaben, die er lösen muß.« Harlengart gab ein gequältes Stöhnen von sich, dann hob er den Kopf und blickte Ornella aus trüben Augen an. Kleine Rauchwölkchen kringelten sich aus seinen Nasenlöchern. Der Schwarze König fragte: »Und welche Aufgaben?« »Erstens soll er mit seiner Kraft den nördliche Tunnel durch das Kettengebirge zu Ende graben. Aber vorher muß er uns helfen, Alessandra zu retten.«
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Erstaunt sah der Schwarze König seine Bestgeliebte an, dann nickte er anerkennend. »Nun, Harlengart. Schwörst du?« »Ja«, röchelte dieser. Finster blickte er zum Schwarzen König und seiner Frau auf. »Ich gebe euch mein Unehrenwort. Und ich will alles tun, was ihr verlangt.« »Dann hör gut zu«, sagte die Königin und trat auf ihn zu. * Einige Wochen zuvor im Weißen Schloß. »Vater, ich muß mit Euch sprechen.« »Nicht jetzt, Olivia. Du weißt doch, daß ich in den Krieg ziehen werde. Mein Pferd ist bereits gesattelt und meine tapferen Soldaten erwarten ihren König, der sie in die siegreiche Schlacht führen wird.« »Wie Ihr befehlt«, flüsterte die junge Frau bedrückt. Seit der Flucht Alessandras und Ornellas drückte Olivia die schwere Schuld, ihrem Vater das nicht erspart zu haben, obwohl sie es vermocht hätte. Als er erfahren hatte, daß zwei seiner Töchter zum Schwarzen König geflohen waren, hatte es ihm fast das Herz gebrochen. Er war um Jahre gealtert, und als Adalbert Olivia erzählt hatte, daß der König sich persönlich den Feldzug gegen die Arcadier stürzen wollte, war sie fassungslos und voller Sorge gewesen. Hätte sie nur diese Flucht verhindert! Wenn ihre Schwestern schon so verantwortungslos waren, ihren Vater in dieser schweren Stunde alleinzulassen, dann hätte sie wenigstens alles tun müssen, diesem Wahnsinn Einhalt zu gebieten. Ständig kreisten ihre Gedanken um diese schicksalhafte Nacht, als sie heimlich Zeugin der Flucht geworden war. Ja, sie war sich sicher, daß sie Ornella und Alessandra davon hätte abbringen können. Oder doch nicht? War Ornella nicht von dem Schwarzen König verhext worden? Und Alessandra? Olivia litt unter diesen Gedanken, sie aß kaum noch und schlief schlecht. Ihr Vater bemerkte wohl, daß mit dem Mädchen etwas nicht stimmte, aber er hatte im Moment ganz andere Sorgen. Die Soldaten der Imperatrice hatten sich mit den Arcadiern verbündet. Dabei hatte Beata aber eine offene Kriegserklärung unterlassen, so daß auch kein offener Angriff auf die Verräter stattfinden konnte. Im Gegenzug waren aber die feindlichen Truppen bereits tief ins Weiße Königreich vorgestoßen. Täglich trafen Flüchtlinge in der Hauptstadt ein, die alles verloren hatten und nun praktisch als Bettler leben mußten. Es war zwar die Pflicht des Weißen Königs, seinen Untertanen in dieser schweren Zeit beizustehen, aber wer sollte dann die Schlachten gewinnen? Wenigstens hatte der General inzwischen an die 5000 Soldaten ausgehoben und trainiert. Mit ihnen gedachte er sich noch am heutigen Tage dem frechen Feind entgegenzuwerfen. Der Weiße König gab Olivia einen Kuß auf die Wange, dann eilte er in die Vorhalle. Dort zog er seine Rüstung an, schnallte sein Schwert fest, das Schwert seiner Familie, das - wie man sich erzählte - schon über 1000 Feinden den Tod gebracht hatte, bestieg sein Pferd und ritt mit erhobener Faust die Rampe
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hinunter. Seine Soldaten jubelten ihm zu, er gab ihnen neue Hoffnung. Mit versteinertem Blick starrte Olivia hinter ihm her. Adalbert trat an seine Seite. Auch er trug in diesen Zeiten eine schwere Verantwortung, oblag ihm doch die Versorgung der Soldaten und der Vertriebenen mit dem Lebensnotwendigsten. Doch er hatte immer ein freundliches Wort für die junge Prinzessin übrig. »Was bedrückt dich denn so sehr, mein Kind?« fragte er sie mit sanfter Stimme. Olivia rang mit den Tränen, wollte sich an Adalberts Brust werfen und nur noch weinen, doch sie konnte es nicht. »Nichts, Onkel Adalbert«, flüsterte sie statt dessen und lief dann davon. Der Majordomus sah ihr kopfschüttelnd nach. Doch da kamen schon wieder seine Beamten auf ihn zugestürmt und brachten die neuesten Nachrichten und Zahlen, und die waren allesamt nicht sehr erfreulich. Die Arcadier hatten etwa ein Zehntel des Weißen Landes besetzt, darunter fast das gesamte Gebiet am Fluß. Handel war nun sehr gefährlich. Im Osten waren sie an der Grenze weit nach Norden vorgestoßen, es waren schon Flüchtlinge aus Trok eingetroffen, obwohl die Stadt noch nicht erobert war. Aber angeblich war das nur eine Frage der Zeit. Und wo die Arcadier und die mit ihnen verbündeten Sonneninsel-Leute nur durchgezogen waren, ohne das Land gleich zu besetzen, da hatten sie alles niedergebrannt, die Ernte gestohlen oder auch verbrannt und das Vieh mitgenommen. Hunger und Verzweiflung machte sich in ihrem Gefolge breit. »Ich hoffe«, seufzte der Majordomus, »daß unser König einen Sieg heimbringt.« Vom Fenster seines Arbeitszimmers sah er dem Zug der Weißen Ritter nach, wie sie durch die Straßen der Stadt ritten, dann durch das östliche Tor, um schließlich in der Ferne zu verschwinden. * Der Weiße König stellte die feindlichen Truppen bei einen unbedeutenden Dorf in der Nähe der Provinzhauptstadt Meriad im Südosten. Die Arcadier hatten Stellung bezogen, um von dort aus direkt gegen die Weiße Hauptstadt vorzustoßen. Dies wollte der König unter allen Umständen verhindern. Seine Armee war der feindlichen zahlenmäßig überlegen, und so gelang es ihm nach langen und schweren Kämpfen, die sich über fast eine Woche hinzogen, die arcadischen Soldaten nach Osten abzudrängen und zu zerstreuen. Doch seine eigenen Verluste waren auch sehr hoch, und als die Arcadier Verstärkung durch ein Bataillon Sonneninsel-Soldaten unter eine überaus fähigen Kommandeur bekamen, da konnte der Weiße König nicht mehr standhalten. Zwar war die Gefahr eines direkten Angriffs auf die Hauptstadt erst einmal abgewendet, doch die Feinde schlugen ihn und stießen wieder nach Norden vor. Etwa zeitgleich mit der Rückkehr der Weißen Armee erreichte die Nachricht vom Fall und der Vernichtung Troks die Weiße Hauptstadt. Die Straßen waren voller zerlumpter Gestalten, Männer, Frauen und Kinder, viele in erbärmlichem Zustand. Auf Karren wurden die Toten hinausgefahren und beerdigt. Durch das östliche Stadttor ritt der Weiße König mit seinem Gefolge wieder in die Stadt ein. Die Menschen erkannten ihn, doch ihre leeren Blicke ließen den König erschaudern. So kannte er seine Untertanen nicht. Bisher hatten sie stets im Wohlstand gelebt, Hunger und Krankheiten waren so gut wie unbekannt gewesen. Der Einfall der
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Arcadier hatte das Land völlig unvorbereitet getroffen und zutiefst erschüttert. »Hoch lebe der König«, rief einer der Elenden, doch niemand stimmte ein. Stumm erreichte der Zug den Palast. Schweigend stieg der Weiße König von seinem Pferd herab. Wieviele Feinde hatte er diesmal im Kampf Mann gegen Mann getötet? Keinen einzigen. Es war einfach nicht mehr zu leugnen: Er war für das Kriegführen zu alt. Aber wem sollte er diese Verantwortung, die letztendlich über das Wohl und Wehe des ganzen Landes entschied, überlassen? Trok war gefallen, seine Armee hatte keinen geeigneten Führer. Nur noch ihn. Sicher - da war noch der alte General. Er hatte sich schon in vielen Schlachten bewährt, war aber noch älter als er selbst. War das der richtige Nachfolger? Der Weiße König ging mit schleppenden Schritten die Treppe zu den Arbeitsräumen des Majordomus hinauf, doch als er von oben die Stimme seiner Tochter hörte, hielt er inne. * Kurz nach dem Abmarsch ihres Vaters war Olivia schwer krank geworden. Doch auch die Fieberträume brachten ihr keine Erleichterung, im Gegenteil. Sie schwor sich, ihrem Vater ihren vermeintlichen Verrat zu gestehen, sobald er wieder zurück war. Von den Ereignissen des Feldzuges bekam sie in ihren Fieberanfällen fast nichts mit, auch nicht, daß ihr Vater schließlich wieder auf dem Rückweg war. In den Wochen, die der Kriegszug gedauert hatte, wurde sie von Emilie liebevoll gepflegt und kam schließlich auch wieder auf die Beine. Doch ihr schlechtes Gewissen, das sie sich eingeredet hatte, ließ ihr keine Ruhe. Und so suchte sie schließlich den Majordomus auf, denn er war vielleicht der einzige Anwesende, dem sie wirklich vertrauen konnte. »Es ist alles meine Schuld«, flüsterte sie mit tonloser Stimme, nachdem sie den Majordomus aufgesucht und dieser seine Leute aus dem Büro herausgeschickt hatte. Adalbert unterbrach sie nicht und sah sie auffordernd an. Er war froh, daß die Prinzessin nun endlich bereit war, ihre schwere Bürde jemandem zu offenbaren. »In der Nacht, als Olivia und Alessandra flohen, war ich wach und habe alles mit angehört. Ich hätte sie aufhalten müssen, aber ich habe es nicht getan und ...« Sie schluchzte, dann fuhr sie mit heiserer Stimme fort: »... und das hat Vater fast das Herz gebrochen. Oh, Onkel Adalbert, es ist allein meine Schuld. Wenn ich sie nur überredet hätte vernünftig zu sein und zu bleiben.« Weinend fiel sie Adalbert in die Arme, und der streichelte ihr sanft über den Kopf. »Du hättest sie bestimmt nicht überreden können, meine kleine Olivia. Ich bin ...« Er unterbrach sich und sah erschrocken auf. In der Tür stand der König. Er sah schlecht aus, sein Gesicht war eingefallen und in seinen Augen flackerte ein ungesundes Licht. Olivia fuhr herum, dann warf sie sich vor ihren Vater auf den Boden und rief: »Oh, Vater, das habe ich nicht gewollt. Bestraft mich, tötet mich, wenn ihr wollt, aber ich habe es nicht mit Absicht getan. Bitte, verzeiht mir, Vater.« Der Weiße König sah sie lange an, dann murmelte er: »Du Verräterin. Ich verachte dich zutiefst. Wie hatte ich gehofft, daß mir wenigstens eine meiner Töchter bleiben würde. Aber du hast mit den anderen
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gemeinsame Sache gemachte. Ich werde...« »Aber Majestät«, wagte der Majordomus ihn zu unterbrechen, »sie ist doch eure Tochter. Ihr müßt ihr ihre jugendliche Unerfahrenheit verzeihen.« »Schweig!«, donnerte der König und zückte sein Schwert. Dann brüllte er: »Wache. Werft diese Frau in das finsterste Verließ. Sie ist nicht mehr meine Tochter.« Entsetzt blickte Adalbert dem König nach. Dieser verließ auf dem kürzesten Wege das Schloß, sammelte seine Soldaten und ritt erneut gegen den Feind. Es war ein Akt der Verzweiflung. * Olivia wußte nicht, wieviele Tage sie schon hier unten verbracht hatte. Zweimal am Tag schob ihr die Wache ein Tablett mit ein paar Scheiben Brot und einer kleinen Kanne Wasser in die Zelle, aber es war der Prinzessin egal. Sie hatte mit ihrem Leben abgeschlossen. Oft aß sie nicht mal das wenige, was man ihr noch zugestanden hatte, und gab das Tablett unberührt wieder zurück. Während ihre Schwester Alessandra sich entschlossen gegen ihren Tod in der Gefangenschaft der Arcadier stemmte, hatte sie sich aufgegeben. Die Zelle war kalt, feucht und dunkel. Es gab oben ein kleines, vergittertes Fenster, das nach draußen führte, aber es wies in den düstersten Winkel einer engen, finsteren, halb eingestürzten Gasse am Rande des Palastes. Olivia hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, ihr Gefängnis zu erkunden, denn dann hätte sie festgestellt, daß die große Pfütze in der anderen Ecke gar keinen Boden hatte. Vielleicht ging es von dort aus in die Kanalisation, doch das interessierte sie nicht. Sie saß nur auf ihrer Bank und wartete auf das Ende. Allerdings wollte sich das doch nicht so schnell einstellen, wie sie es gehofft hatte. * Irgendwann wurde wieder einmal mit lautem Knarren das Türchen geöffnet, durch das ihr die Wache ihr Essen hereinschob. Olivia stand auf, doch dann überfiel sie die Schwäche und sie stolperte, fiel hin und rollte halb unter die Bank, auf der sie sonst saß und auch schlief. Müde und kraftlos wollte sie sich wieder hochstemmen, doch da berührte ihre Hand etwas hartes, metallenes. Sie hob es auf und hielt es gegen das Fenster, das immerhin genügend Licht spendete, um sie erkennen zu lassen, was sie da gefunden hatte: Ein uraltes, halb verrostetes Messer. Wie lange es schon da gelegen hatte? Vielleicht Jahrzehnte. Diese Zelle war schon seit Ewigkeiten nicht mehr benutzt worden. Das heiß, doch, vor ein paar Monaten für kurze Zeit. Den Schwarzen König hatten sie hier eingesperrt, doch der war kurz darauf spurlos verschwunden. Der Schwarze König: Der Dämon, der sie alle ins Unglück gestürzt hatte. Verflucht sollte sein Name sein. Mit einem entschlossenen Ruck stieß Olivia sich das Messer in die Pulsadern ihres linken Armes. Und mit dem Blut quoll auch ihr Leben aus ihrem entkräfteten Körper und verteilte sich über den steinernen Boden. *
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Wieder fiel die Rückkehr des Weißen Königs mit einer wichtigen Nachricht aus Trok zusammen. Völlig überraschend hatte Prinzessin Alessandra dem frechen Feind eine schmachvolle, verheerende Niederlage zugefügt. Und da auch der Weiße König erfolgreich gekämpft und den Sonneninsel-Leuten einen beachtlichen Schatz und zahlreiches Kriegsmaterial hatte abnehmen können, war er bester Laune. Offenbar hatte sich das Glück nun doch noch zu seinen Gunsten gewendet. Doch kaum im Schloß, erreichte ihn eine beunruhigende Nachricht. Die Gefangene hatte schon seit drei Tagen ihr Essen nicht mehr angerührt. Der Weiße König kniff die Lippen zusammen. Alessandra hatte in Norden wie eine Löwin gegen die Arcadier gefochten. Konnte es sein, daß er ein paar Dinge ganz falsch eingeschätzt hatte? »Gebt mir eine Fackel und kommt mit«, befahl er dem Kerkermeister. Im Laufschritt eilten sie durch die verwinkelten Gänge und Verließe des Palastkerkers. Der König erinnerte sich, daß er zuletzt als kleiner Junge hier unten gewesen war und sich fast zu Tode gefürchtet hatte. Endlich erreichten sie die letzte Tür. Der König stieß sie auf und hielt seine Fackel vor sich. Und dann sah er das braune, getrocknete Blut, das fast den ganzen Boden bedeckte. Olivia fand er nicht. Er hatte das Gefühl, innerlich zu Eis erstarren zu müssen. Er durchsuchte die ganze Zelle, was angesichts ihrer geringen Größe die Sache eines Blickes war. Aber nirgends war auch nur die Spur eines Menschen. Olivia, sei sie nun tot oder nicht, konnte sich doch nicht einfach in Luft aufgelöst haben! Er drehte sich zu den Wächtern um, die ebenso sprachlos waren wie er und rief: »Geht. Laßt mich allein. Bitte.« Dann setzte er sich auf die Pritsche, und als er sicher war, daß sich kein Mensch mehr in seiner Nähe befand, versenkte er sein Gesicht in seine kräftigen Hände und begann zu schluchzen. Was hatte er getan? Was hatte nur getan? Wie hatte er so blind und so grausam sein können? Simona - sie liebte ihren Mann, und wie hatte er reagiert? Er hatte sie erst jagen lassen und ihnen dann eine Kriegserklärung nachgeschickt. Es war wie ein Fluch, den er den beiden auferlegt hatte. Und warum? Und Elysiss. Du mußt akzeptieren, daß der Schwarze König nicht dein Feind ist. Und hatte sie nicht vorhergesehen, wie er darauf reagieren würde, obwohl er ihr geschworen hatte, auf ihren Rat zu hören? Galt das Ehrenwort eines Weißen Königs jetzt nichts mehr? Nicht der Schwarze König hatte sein Land verflucht, er selbst war es gewesen. Und nun hatte er auch noch seine letzte Tochter ins Verderben gestoßen. Allerdings hatte er im Gegensatz zu Olivia nicht vor, sich nun aufzugeben. Im Gegenteil: Die Reue entfachte neue Kräfte in ihm. Er wollte alles zum Guten wenden. Er stürmte aus der Zelle, durch den Palast auf die höchste Zinne seines strahlenden, marmorgeschmückten Schlosses und rief mit lauter Stimme: »Elysiss, bitte vergib mir. Ich weiß, daß ich schwer gesündigt habe, Elysiss, aber sei nicht so grausam, wie ich selbst es in meiner Blindheit war. Wenn du mich bestrafen willst, dann tu es. Ich werde
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jedes Urteil akzeptieren. Aber hilf meinen Volk - deinem Volk.« Mit leiser Stimme fügte er hinzu: »Ich weiß, daß mein Ehrenwort nichts mehr wert ist, aber wenn doch, dann verspreche ich, daß ich jede Strafe, die du mir auferlegst, annehmen werde, Elysiss. Bitte, sprich doch zu mir.« Er blieb lange oben auf dem Turm, doch die Schützerin des Weißen Reiches sprach nicht. Schließlich ging er wieder hinab und befahl allen Leuten, nach einer Spur seiner Tochter zu suchen. Dann ging er langsam und in großer Sorge in sein Gemach. Und dort erwartete ihn Elysiss. Ein sanftes Lächeln lag auf ihren vollen Lippen, und als der König dies sah, faßte er neue Hoffnung. »Hab keine Sorge, König. Alles wird sich zum Guten wenden, wenn du es nur willst. Und Prinzessin Olivia wirst du schon bald gesund und munter wiedersehen.« Und mit diesen Worten wurde sie durchsichtig und war kurz darauf verschwunden. Nur ihr warmes Lächeln schien noch einen Augenblick länger in der Luft zu hängen. »Adalbert! General! Wo seid ihr?« Kurz darauf standen sie beiden vor ihm: »Majestät?« »Ich befehle, daß noch heute Nacht ein Bote zum Blauen Königreich aufbricht und die Kriegserklärung widerruft. Und was meine Tochter Simona angeht, so hat sie meinen Segen für die Ehe mit dem Mann, den sie liebt.« Die Erleichterung war den beiden Angesprochenen deutlich anzusehen: »Wie ihr befehlt, Majestät.« Und der Majordomus fügte hinzu: »Eine sehr weise und großmütige Entscheidung.« * Olivia kämpfte gegen die Schwäche, die sie immer wieder in die Ohnmacht zurückfallen lassen wollte. Irgendwann schaffte sie es, kurzzeitig die Augen zu öffnen, aber sie sah nur verschwommene, halbdunkle Bilder, dann schlief sie wieder ein. Sie träumte wirre Dinge von seltsamen Tieren, die wie Menschen sprachen, dann wieder von ihren Schwestern und ihrem Vater. Irgendwann später, vielleicht waren inzwischen Tage vergangen, erwachte sie wieder. Jemand flößte ihr Milch ein, warme Milch mit Honig. Sie entspannte sich ein wenig und lächelte mit geschlossenen Augen, doch dann verließen sie ihre Kräfte wieder und erneut umfing sie der Schlaf, und die merkwürdigen Träume und Stimmen kamen zurück. Noch später erwachte sie erneut. Sie fühlte sich nun sogar relativ kräftig. Wie ein Schlag durchzuckte sie die Erkenntnis, daß sie eigentlich tot sein sollte. Sie riß die Augen auf, aber es war dunkel. Nur ein ganz schwacher Schimmer ließ eine Art Türöffnung erahnen, sonst war alles in Finsternis verhüllt. Mit der rechten Hand fuhr sie tastend sie über den linken Unterarm. Die Stelle, wo sie sich das Messer hineingestoßen hatte, war mit einem Tuch verbunden. Probeweise wollte sie die Hand bewegen, doch ein stechender Schmerz hinderte sie daran. Vielleicht war das aber auch ein gutes Zeichen, daß der Heilungsprozeß im Gange war.
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Dann fiel ihr ein, daß sie eigentlich keine Ahnung hatte, wo sie sich befand. In ihren Gemächern jedenfalls nicht. Dazu war schon allein die Unterlage, auf der sie lag, zu grobschlächtig. »Na, endlich aufgewacht?«, fiepte eine helle Stimme aus der Dunkelheit ihr zu. »Wo bin ich?«, flüsterte sie. Sie wollte sich aufrichten, aber zwei Hände drückten sie auf das Bett - oder was immer das war - zurück. »Du bist im Reich der Kanalratte. Und die Kanalratte bin ich«, kicherte die Stimme, die jetzt ganz aus ihrer Nähe kam. Ein paar borstenartige Haare strichen über ihre Backen und kitzelten sie. »Hast du Hunger?«, fragte die Stimme leise. Dann drückte sich eine warme, feuchte Schnauze gegen ihre Lippen und flößte ihr honigsüße Milch ein. »Hmm«, schnurrte Olivia zufrieden und leckte sich die Lippen. »Ich glaube, ich träume immer noch.« »Ganz und gar nicht, meine kleine Prinzessin. Ich habe dich gerettet, weil du dir unvorsichtigerweise das Leben nehmen wolltest. Ja, die Kanalratte weiß alles. Niemand kennt die Kanalratte, aber sie weiß alles, jawoll.« Olivia beschloß, sich zunächst mal keine Gedanken über ihren seltsamen Retter zu machen. Sie war in Sicherheit, und das allein zählte jetzt erst mal. »Danke, mein unbekannter Freund, daß du mich gerettet hast. Aber verbessert hat sich meine Situation dadurch leider nicht.« »Oh, sag' so was nicht!«, piepste die Stimme. »Es ist alles eine Frage der Perspektive. Sie mich an, und beschwere ich mich vielleicht?« »Ich kann dich ja nicht sehen.« »Wieso nicht?« »Weil es dunkel ist.« »Ach so. Ihr Menschen könnt ja nichts sehen im Dunkeln.« »Was...?« »Warte. Ich werde dir Licht machen. Aber erschrick nicht, wenn du mich siehst.« »Moment, ich ....« Olivia richtete sich nun doch auf und tastete nach dem seltsamen Wesen. Schließlich fand ihre Hand etwas weiches und warmes, eine Art Fell. Sanft streichelte sie darüber, und die Kanalratte gab ein schnurrendes Geräusch von sich. »Ich habe keine Angst vor dir«, beruhigte die Prinzessin ihren Retter.
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»Nun gut.« Er entzündete eine Kerze und daran eine Fackel. Und während er das tat, schälte sich im flackernden, warmen Licht seine Gestalt aus der Dunkelheit. Olivia hatte nie zuvor ein so seltsames Wesen gesehen. Es hatte den Kopf und die Gestalt einer Ratte, lief aber auf zwei Beinen. Es hatte ein weiches, struppiges Fell und große, rötlich schimmernde Augen, mit denen es offenbar auch im Dunkeln sehen konnte. An der Spitze seiner Schnauze trug es lange Schnurrhaare. Ohne Furcht musterte die Prinzessin die Kanalratte, und diese betrachtete ebenso neugierig die Prinzessin. Schließlich lächelte diese, und auch die Kanalratte verzog ihre Lefzen zu einer Art Lächeln und entblößte dabei eine Reihe langer, spitzer und gefährlich aussehender Zähne. »Du bist lieb. Warum nennst du dich Kanalratte?« »Weil ich in den Abwasserkanälen unter der Weißen Hauptstadt leben muß. Eigentlich bin ich ein Mensch, glaube ich, aber aus irgendeinem Grund wurde meine Familie verhext oder verflucht, und das Resultat bin ich. Sie wollten mich damals auch töten, indem sie mich in einen Abwasserschacht warfen, aber ich habe überlebt. Seit dem lebe ich hier unten, aber manchmal komme ich in der Nacht hinauf und beobachte die Menschen, wie sie schlafen. Und manchmal stehle ich ihnen etwas, was ich brauchen kann.« »Du Ärmster. Weiß du, wer deine Familie verflucht hat? War es der Schwarze König?« »Nein. Der war sehr nett zu mir, als er vor ein paar Monaten in der Zelle war, in die man auch dich eingesperrt hatte. Er wollte mich sogar mit in sein Reich nehmen, aber ich habe mich schon so an dieses Leben hier unter dem Weißen Palast gewöhnt, unter dem schönen Weißen Palast ... « Er seufzte leise, dann sagte er: »Ich glaube, es war die Hexe von der Sonneninsel. Sie ist ein sehr böser Mensch und eine Zauberin, aber zum Glück hat sie nur geringe Macht und kann nicht viel Schaden anrichten. Es ist schon so lange her ... ich kann mich nur noch sehr dunkel an alles erinnern.« »Setz dich doch zu mir«, forderte Olivia die Kanalratte auf. »Hast du auch einen richtigen Namen. Ich meine, 'Kanalratte' ist doch kein Name.« »Nein, sonst habe ich keine Namen. Niemand hat mir nie einen gegeben.« Er fiepte traurig. »Ich habe schon Gold und Juwelen gefunden hier unten, aber trotzdem bin ich so arm dran, daß ich keinen Namen habe.« Mit seinen großen, rotbraunen Augen sah er Olivia traurig an. »Ich kann dir ja einen geben. Ich bin immerhin die Tochter des Königs.« »Du? Ja, oh, das wäre so lieb von dir. Ja, wenn du mir einen schönen Namen geben würdest ... das wäre toll, ein richtiger Name. Nur für mich allein.« »Such' dir einen aus.« »Hmm, wie wäre es mit, äh... oder, ähm, ich weiß nicht. Welchen soll ich wählen?« »Wie wäre es mit Tom?«
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»Oh, Tom! Ja, ein hübscher Name. Der gefällt mir. Er paßt auch zu mir. Danke, Prinzessin. Tausend Dank!« »Sag einfach Olivia zu mir, Tom.« »In Ordnung, Prinzessin. Mach' ich.« Sie mußten beide lachen. »Übrigens, Prinzessin, äh, Olivia. Der König sucht dich schon überall. Er hat dir verziehen und will dich zurückhaben.« »Er hat ...« Sie schluckte gerührt. Eine Zentnerlast fiel von ihr ab. »Ja, ja! Außerdem hast du doch gar nichts böses getan. Nur dein Vater war so wütend, dabei war es nicht deine Schuld. Aber er hat inzwischen eingesehen, daß er dir großes Unrecht getan hat. Komm, ich bringe dich ins Schloß zurück.« Er zog sie hoch, doch Olivia wehrte ab und sagte: »Aber was wird dann aus dir? Du mußt nicht für immer hier unten bleiben.« »Was soll die Kanalratte bei den Menschen? Mich will doch keiner.« »Hm, ich weiß nicht. Aber ich möchte dir so gerne helfen.« »Laß nur, Olivia, ich komme hier schon zurecht. Aber wenn du ab und zu etwas Honig oder Schokolade in die Zelle stellen könntest...« Er fuhr sich mit seiner langen Zunge genießerisch über die Schnauze. »Klar, Ehrensache.« »Prima. Dann komm jetzt.« * Der Gefangenenzug mit Alessandra näherte sich Tansir. Eine Tagesreise fehlte noch, als am Abend mit großem Aufgebot König Starrus und sein in der Hauptstadt verbliebener Sohn, Prinz Nordus, eintrafen. Alessandra hatte erwartet, daß sie sofort »besichtigt« werden sollte, doch statt dessen verschwanden die Hoheiten im Kommandeurszelt und verließen es in dieser Nacht nicht mehr. Am nächsten Morgen jedoch wurde sie unsanft geweckt. Ein paar grobschlächtige Knechte zerrten sie aus dem Wagen, dann wurde sie mit kaltem Wasser übergossen und bekam ein paar einigermaßen saubere Kleider. »Damit du nicht so stinkst, wenn du vor den König trittst«, sagte einer der Knechte gehässig. Dann wurde sie ergriffen. Die Kerle schubsten sie vor sich her und stießen sie in das große Zelt.
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»Knie nieder vor dem König«, wurde sie angeherrscht, als sie vor dem Thron stand, auf dem mit selbstzufriedener Miene König Starrus saß. »Pah, ich bin eine Prinzessin und nicht gewohnt, vor jemandem zu knien«, gab sie patzig zurück. König Starrus machte ein Zeichen, und die Knechte stießen sie zu Boden. »So, so, eine Prinzessin«, hörte sie Nordus sagen, der sich auf einem prächtigen Stuhl neben dem Thron seines Vaters flegelte. »Prinzessinnen liegen normalerweise nicht auf dem dreckigen Fußboden herum, nicht wahr, Vater?« Alle brachen in ein brüllendes Gelächter aus. Alessandra erhob sich und funkelte den arroganten Prinzen wütend an. Dann rief sie: »Ich hatte geglaubt, Ihr als Prinz seid etwas besser erzogen als Eure dummen Soldaten, die nicht zu wissen scheinen, wie man eine Prinzessin behandelt. Aber ich habe mich wohl geirrt.« Nordus quittierte es mit einem blasierten Lächeln, dann antwortete er: »Da Ihr ohnehin übermorgen hingerichtet werdet, will ich Euch Eure Frechheit für dieses Mal nachsehen.« Er blickte seinen Vater an, und dieser wandte sich nun selbst an Alessandra: »Man sagt, unsere Niederlage bei Trok sei allein auf deine Kriegskünste zurückzuführen. Wenn ich mir dich so ansehe, kann ich das kaum glauben.« »Dann glaubt es eben nicht. Und was meine Hinrichtung angeht, so muß ich Euch beide warnen: Ihr könntet Euren Entschluß schnell bereuen. Außerdem habt ihr nicht das Recht, eine Prinzessin einfach so hinzurichten.« Prinz Nordus wollte etwas sagen, doch der König fuhr sie mit scharfer Stimme an: »Wie kannst du in deiner Lage es wagen, mir zu drohen! Ich sollte dich für deine Unverschämtheit auspeitschen lassen.« »Na wenn schon. Noch viel schlimmeres, als ich bisher ohnehin schon habe ertragen müssen, könnt Ihr mir nicht mehr antun. Nur meinen Glauben an die Ehre und den Edelmut aller Hoheiten habe ich inzwischen verloren. Mein Vater...« sie wandte sich den Versammelten zu, »ist immer ehrenhaft, weise und großmütig gewesen. Aber euer König ist ein Schurke, ein gemeiner ...« Sie kam nicht dazu, den Satz zu vollenden, denn einer der Soldaten schlug sie nieder. Dann wurde sie hinausgeschleift und wieder in den Wagen gesperrt. * Am folgenden Tag erreichten sie die Hauptstadt von Arcadia-Land. Tansir war auch im Herbst eine wunderschöne Stadt. Sie lag an der Nordspitze einer ausgedehnten, flachen Bucht des warmen Octavius-Meeres, das für ein mildes, ausgeglichenes Klima sorgte, und mit seinen Handelsrouten dem Arcadia-Land beträchtlichen Reichtum beschert hatte. Wie in der Weißen Hauptstadt, so waren auch in Tansir viele Gebäude mit weißem Marmor verkleidet oder sogar ganz daraus erbaut. Die Straßen waren weite, offene Alleen, gesäumt von Palmen, exotischen Blüten und tropischen Bäumen, deren Früchte von jedermann geerntet werden durfte. Aber das meiste fraßen die Affen und die großen, bunten Vögel, die sich hier wie Zuhause fühlten.
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Die Rückkehr des Königs mit einer wichtigen Gefangenen wurde gebührend gefeiert, trotz der Niederlagen, die die Armeen des Königs in letzter Zeit hatten hinnehmen müssen. Schließlich hatte es auch Siege gegeben, und jetzt hatte man eine der Töchter des Weißen Königs in der Hand. Morgen sollte sie hingerichtet werden, auf dem großen Platz vor dem königlichen Palast. Und daß Starrus es bitter ernst meinte, konnte jeder sehen, der auch nur einen Blick auf den Platz warf: Die Handwerker waren gerade dabei, das Schafott aufzubauen. Der Zug des Königs zog quer durch ganz Tansir, denn der königliche Palast, auf dessen Vorplatz der Käfig mit der Gefangenen in dieser Nacht ausgestellt werden sollte, lag ganz im Süden, direkt am Meer. Die Bevölkerung jubelte dem König und seinem stolzen Sohn Nordus zu, denn der Krieg und die Plünderungen im Weißen Land hatten den Arcadiern einigen Reichtum beschert. Man hatte Starrus gefragt, warum er die gefangene Prinzessin nicht gegen ein hohes Lösegeld wieder herausgeben, sondern statt dessen unbedingt hinrichten wollte. Dafür gab es mehrere Gründe. Zum einen wollte sich das ganze Königshaus für die Demütigung, die der Weiße König dem Prinzen Nuitor beim Turnier zugefügt hatte, rächen. Außerdem war König Starrus sehr wohl darüber informiert, wer allein seine Soldaten vor Trok besiegt hatte. Prinzessin Alessandra war ihm zu gefährlich. Sie mußte unbedingt beseitigt werden. Und sie war ihm und Nordus mit ihrer temperamentvollen, unabhängigen Art zutiefst unsympathisch. Keiner würde ihr auch nur eine Träne nachweinen. Der Troß hielt auf dem großen, weißen Platz vor dem märchenhaften Palast an, den noch der Ururgroßvater Alessandras hatte bauen lassen. Der Käfig wurde abgeladen und zur allgemeinen Besichtigung freigegeben. Für Alessandra war es die Hölle. Die ganze Nacht hindurch liefen die Bürger Tansirs um ihren Käfig herum und beschimpften sie. Der König hatte zwar verboten, sie mit Steinen zu bewerfen, denn er wollte nicht, daß sie vor ihrer Hinrichtung starb, aber das war auch das einzig gute an ihrer Situation. Jedesmal, wenn sie einschlief, wurde sie sogleich von den Soldaten mit Stichen ihrer Lanzen wieder geweckt. Und natürlich bekam sie immer noch nichts zu Essen oder Trinken. Aber das spielte jetzt wohl keine große Rolle mehr. Dennoch war sie tief in ihrem Innern voller Hoffnung, seit ihr Elysiss erschienen war. Sie wußte, daß sie gerettet werden würde. Sie sollte Recht behalten, aber die Art und Weise, wie es geschehen würde, sollte sie überraschen. * Der Morgen graute, dann erhob sich eine goldene Sonne über dem östlichen Horizont und tauchte den Platz vor dem Palast in mildes Herbstlicht. Eine Kompanie Soldaten marschierte auf, Stühle und Bänke wurden aufgestellt, später kamen andere Hofbedienstete und brachten den Thron des Königs heraus. Neben diesen stellten sie weitere prächtige Sessel für den Prinzen und die Würdenträger des Reiches. Nach und nach versammelten sich Dutzende von Hofbeamten auf dem Platz. Dann ließ man das gemeine Volk ein, das hinter einer Absperrung dem Schauspiel beiwohnen durfte. Alessandra dachte an ihren Vater. Sie fragte sich, wann dort zu letzten Mal eine Hinrichtung stattgefunden hatte. Es fiel ihr keine ein, doch dann erinnerte sie sich, daß sie unterwegs irgendwo gehört hatte, daß kürzlich vier Grenzsoldaten hingerichtet worden waren, kurz nach dem Turnier. Ob dort auch das Volk wie bei einem Jahrmarkt zusammengeströmt war? War eine Hinrichtung denn eine
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Volksbelustigung? Handelten so Könige? Ihr Vater hatte die Vier aus Verzweiflung und zur Abschreckung köpfen lassen, doch König Starrus tat es aus purem Hochmut und Verachtung. Und so schien auch das arcadische Volk zu empfinden. Es war schon spät am Vormittag, als sich Prinz Nordus in Begleitung seiner zwei Schwestern zur Besichtigung der Gefangenen begab. Diesen Auftritt hätte Alessandra gerne vermieden, doch sie war hilflos. Die Prinzessinnen musterten sie mit einem Blick, den man normalerweise für Kakerlaken und schleimige Würmer reservierte. Dagegen war der triumphierende Hochmut in den Augen von Nordus geradezu gnädig. Die Prinzessinnen, beide sehr hübsch und elegant, tuschelten unentwegt miteinander, zeigten auf Alessandra, betrachteten sie mit angewiderten Blicken und kicherten dann einander wieder zu. Alessandra versuchte, es mit möglichst gleichmütiger Miene über sich ergehen zu lassen, doch diese Blicke trafen ihre Seele im Innersten. Sie atmete auf, als die Drei schließlich das Interesse verloren und in den Palast zurückgingen. Und dann kam endlich der König. Würdevoll schritt er die breiten Stufen der Palasttreppe hinunter. Hinter ihm folgte sein Sohn in einem prächtigen Gewand, dann kamen hohe Beamte, Generäle und die Prinzessinnen. Gemessenen Schrittes ging Starrus auf seinen Thron zu und nahm umständlich darauf Platz. Die Menge verstummte erwartungsvoll. König Starrus setzte zum Sprechen an, doch er verstummte wieder, als er Hufgetrappel vernahm. Vom nördlichen Rand des Platzes näherte sich in gestrecktem Galopp ein Apfelschimmel mit einem elegant gekleideten Reiter darauf. In Panik stürzte die Menge auseinander und machte dem Reiter den Weg durch ihre Mitte frei. Das Pferd übersprang mühelos die Absperrung und ließ sich auch von den herbeieilenden Soldaten nicht beirren. Erst kurz vor dem Thron hielt der Reiter an und sprang herab. König Starrus hatte keine Miene verzogen, sein Sohn allerdings war ziemlich nervös geworden. Doch jetzt beruhigte er sich schnell wieder. Starrus erhob sich: »Ich grüße Euch, Prinz Sofrejan. Es freut mich, daß Ihr extra die weite Reise gemacht habt, um dieser außergewöhnlichen Hinrichtung beizuwohnen.« »Entschuldigt bitte mein unangemeldetes Erscheinen und seid auch Ihr gegrüßt, König Starrus. Aber ich bin keineswegs gekommen, um mir eine Hinrichtung anzusehen, sondern ich verlange, daß Prinzessin Alessandra am Leben bleibt und mir ausgehändigt wird.« Alessandra, deren Käfig nur wenige Schritte entfernt stand, war wie vom Donner gerührt. Nun drehte sich Prinz Sofrejan zu ihr hin und warf ihr ein aufmunterndes Lächeln zu. Auf dem Platz herrschte eisiges Schweigen. Eine Stecknadel hätte man fallen hören können. Starrus zog seine Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und sagte mit mühsam beherrschter Stimme: »Prinz Sofrejan. Die Gefangene hat unserem gemeinsamen Heer große Schande bereitet, und dafür wird sie jetzt hingerichtet!«
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Prinz Nordus sprang auf und rief unbeherrscht: »Wie könnt ihr es überhaupt wagen, so mit meinem Vater zu sprechen? Ihr vergeßt wohl, daß Ihr Euch in unserem Land befindet. Hier gelten nur unsere Gesetzte, und das sind die Gesetzte meines Vaters.« »Und ihr vergeßt, daß meine Leute die Prinzessin gefangengenommen haben. Nur durch ein Mißverständnis ist sie überhaupt in Euren Besitz gelangt. Wenn Ihr sie tötet, könnt Ihr nicht mehr mit meiner Unterstützung in diesem Krieg rechnen!« Das war eine Ungeheuerlichkeit. Alessandra bewunderte den Mut und die Entschlossenheit dieses Mannes, den sie nicht mal näher kannte. Sicher, er hatte damals, vor dem Turnier, heftig mit Ornella und Olivia geflirtet, und er war als heißer Kandidat für den Turniersieg gehandelt worden, aber warum stellte es sich nun ganz allein König Starrus entgegen? Bisher hatte sie den Prinzen immer für einen schwachen, bedeutungslosen Schönling gehalten. Aber offenbar hatte er auch andere Seiten. »Heißt das«, fragte Starrus zurück, »daß Eure Mutter tot ist und Ihr jetzt den Oberbefehl über Eure Soldaten habt?« »Nein, die Imperatrice lebt. Noch. Aber da sie sehr krank ist, habe ich de facto sehr wohl den Oberbefehl über unsere Leute«, er machte eine Kunstpause, »und unser Geld. Ich sage es noch einmal: Prinzessin Alessandra wurde von meinen Leuten gefangengenommen und ich verlange sie zurück.« »Ist das Euer letzte Wort?« »Ja!« »Nun denn, Sofrejan«, sagte König Starrus. »Meine Soldaten sind sehr wohl ohne die Hilfe der Piraten von der Sonneninsel in der Lage, gegen den Weißen König zu gewinnen, wo er doch schon Frauen als seine Generäle einsetzen muß.« Gelächter brandete auf, doch es erstarb gleich darauf wieder, als der König weitersprach: »Betrachtet das Bündnis hiermit als gekündigt. Und noch etwas: Nur Eurer Mutter zuliebe lasse ich Euch unbehelligt mein Land verlassen. Und nun verschwindet!« Sofrejan blickte König Starrus nachdenklich und überrascht an. Das Gespräch war völlig anders verlaufen, als er es sich vorgestellt hatte. Bisher hatte Starrus immer als vernünftiger Mann und kühler Rechner gegolten. Daß er jetzt wegen einer Gefangenen das Bündnis mit der Sonneninsel hinwarf, daß ihm so viele Vorteile gebracht hatte, das hätte der Prinz nie erwartet. Alessandra zu retten war jetzt unmöglich, aber er hatte immerhin für sich erreicht, daß er aus dem Krieg draußen war. Das sparte ihm ein riesiges Vermögen und zahllose Menschenleben. Er wandte sich seinem Pferd zu, doch da hörte er König Starrus sagen: »Äh, wartet, Prinz. Wolltet Ihr nicht der Hinrichtung beiwohnen?« Entgeistert fuhr Sofrejan herum: »Seid ihr verrückt geworden?« Doch der König gab seine Soldaten einen Wink. Sofrejan langte nach seinem Schwert, doch er sah, daß er gegen die Überzahl keine Chance gehabt hätte. Also setzte er sich auf den Stuhl, den der König eilig heranschaffen ließ, und verfiel in dumpfes Grübeln. »Nun denn. Liebe Untertanen!« König Starrus hatte sich erhoben und sprach zu seinem Volk. »Heute ist
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ein große Tag für Arcadia-Land. Mit der Hinrichtung der Weißen Prinzessin können wir endlich die Demütigung rächen, die ihr ruchloser Vater unserem geliebte Prinzen Nuitor beim großen Turnier beigebracht hat.« Prinz Sofrejan zuckte zusammen. Das war es also! Es ging um die verdammte Ehre dieses nutzlosen Prinzen. Seine Mutter hätte das vorher gewußt, und er erkannte schmerzlich, wie unerfahren es immer noch war, trotz seiner 25 Jahre. Er hatte mehr Porzellan zerschlagen, als er überhaupt gemerkt hatte, und er konnte von Glück sagen, wenn Starrus ihn überhaupt wieder lebend gehen ließ. Alessandra zu retten war damit völlig aussichtslos geworden. Aber er war es seiner Ehre schuldig gewesen, mochte es nun ausgehen, wie es wollte. Starrus sprach weiter: »Auch das Komplott, daß er mit dem Schwarzen König gegen alle anderen Majestäten eingegangen ist, wird nun gebührend gerächt werden, denn...« »Haltet ein!«, rief da plötzlich eine durchdringende Stimme vom Rande des Platzes. »Ich, Euer König, befehle es Euch!« Auf einem Schimmel saß ein Mann, dessen Bild in Arcadia-Land jedes Kind kannte, dessen überlebensgroßes Porträt im Thronsaal des arcadischen (und auch des Weißen) Königs hing, der im Land eine Legende war: König Cordo. Neben ihm, etwas im Hintergrund, saß auf einem schwarzen Pferd ein in eine schwarze Rüstung gekleideter Mann, dessen entschlossener Blick nichts Gutes verhieß. Auf seiner Rüstung prangte das Bild eines fast weißen Drachens mit blauen Augen und schwarzen Haaren. Doch diesmal starrten die Leute nicht den ungewöhnlichen Drachen an, sondern ihren legendären König, der von den Toten zurückgekehrt sein mußte. Alessandra erkannte den König ebenfalls sofort. Als sie ihn zuletzt gesehen hatte, hatte er unter einer Glasglocke in der Höhle Harlengarts gelegen und einen totenähnlichen Schlaf geschlafen. Wie hatte es ihr Schwager, der Schwarze König, wohl fertiggebracht, ihn nun doch dem Höllenbaron wegzunehmen und ihn wieder zum Leben zu erwecken? Während König Cordo langsam durch die in Ehrfurcht erstarrte Menge auf König Starrus zuritt, stieg der Schwarze König vom Pferd und begab sich unauffällig zum Käfig, den er mit einem kleinen Zauber mühelos öffnete. Nur Prinz Sofrejan schien das zu bemerken, alle anderen waren ganz auf Cordo fixiert. Der Schwarze König half Alessandra aus dem Käfig. Flüsternd unterhielt er sich dann mit ihr: »Du siehst gar nicht so gut aus, Mädchen.« Er schenkte ihr einen seiner üblichen spöttisch-ironischen Blicke. »Das macht nichts. Ich danke dir, daß du mich wieder gerettet hast. Wie kann ich das jemals vergelten?« »Weißt du, wenn ein Freund seinem Freund hilft, dann steht dieser trotzdem nicht in seiner Schuld. Außerdem: Du hast mir meine Bestgeliebte gebracht, und dafür bin ich dir auf ewig dankbar. Ornella ist so eine wunderbare Frau.« Er zog einen Lederbeutel mit Wasser hervor und gab Alessandra zu trinken. Dann beobachteten sie, was sich zwischen den Königen Cordo und Starrus abspielte. Sie wurden Augenzeugen des Beginns einer großen Tragödie, die sehr weite Kreise ziehen sollte. König Cordo war vor Starrus hingetreten und hatte mit befehlender Stimme den Thron verlangt.
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Starrus hatte ihn wie einen Geist angestarrt, und noch immer rang er um seine Fassung. Mit bebender Stimme rief er: »Wer seid Ihr, daß Ihr dieses wagt?« Auch Prinz Nordus war aufgesprungen und rief: »Hier gibt es nur einen rechtmäßigen König: Meinen Vater. Ihr seid ein Betrüger!« Unruhe brach aus. Doch wie ein Fels in der Brandung trotzte König Cordo dem Tumult. Das gab einigen Soldaten ihren Mut zurück. Sie hatten erkannt, auf welcher Seite sie zu stehen hatten, nämlich auf der ihres legendären, seit 100 Jahren verschollenen Königs Cordo. Prinz Sofrejan, der als einziger keine Ahnung hatte, was los war, nutzte das Durcheinander, sprang auf und lief zum Käfig. Doch als er erkannte, wer da neben Alessandra stand, griff er unwillkürlich zu seinem Schwert. Alessandra rief: »Nein, Prinz Sofrejan, wartet!« Der Schwarze König machte eine Handbewegung, und das Schwert des Sonneninsel-Prinzen schoß von allein aus der Scheide und landete in der ausgestreckten Hand Thorans. »Wenn du dein ungläubiges Gesicht jetzt sehen könntest, Sofrejan«, rief er übermütig. Noch immer achtete keiner auf die drei. »Hier, nimm das Schwert wieder, und nimm auch Alessandra mit. Und beeile dich, bevor die merken, was los ist.« Er reichte das Schwert dem völlig verdutzten Sofrejan, der es automatisch ergriff und wegsteckte. Dann schob er Alessandra zu ihm hin, winkte ihr noch mal kurz zu und lief dann unbemerkt am Rande des Platzes entlang zu seinem Pferd zurück. Da die Lage auf dem Platz weiterhin kritisch war, stieg er zwar auf, ritt aber nicht weg, sondern beobachtete weiter. Anders hingegen Sofrejan. Er hatte sich rasch von seiner Überraschung erholt, schnappte sich Alessandra, hievte sie auf sein Pferd, das er den völlig mit anderen Dingen beschäftigten Wachen leicht abnehmen konnte, schwang sich selbst darauf und wollte davongaloppieren, doch die Prinzessin sprang wieder herab und lief auf Cordo und Starrus zu, Sofrejan hinter sich herziehend. Dieser kam sich ganz schön blöd vor, denn im Grunde wußte er immer noch nicht, was hier eigentlich gespielt wurde, wer der seltsame Mann war, der behauptete, ein seit 100 Jahren verschollener König zu sein, und warum Alessandra sich auf einmal nicht mehr retten lassen wollte. Vom Rand des Platzes aus beobachtete der Schwarze König die überraschende Wendung. Wenn Alessandra in dieser Situation leichtsinnigerweise damit herausplatzen sollte, wer König Cordo gerettet hatte, dann hatte dieser verspielt. Denn der legendär schlechte Ruf, den sich die Könige des Unendlichen Landes zugelegt hatten, würde wahrscheinlich stärker sein als die kniefällige Verehrung, welche die Arcadier ihrem Alten König entgegenbrachten. Starrus, Cordo und Nordus waren in ein heftiges Wortgefecht verwickelt, bei dem jedoch Cordo völlig ruhig und souverän blieb, während Starrus und sein Sohn wild brüllten und gestikulierten. Die Soldaten ihrerseits taten nicht das geringste, um ihrem bisherigen König helfend beizustehen. Sie waren dem Charisma Cordos erlegen. Als plötzlich eine helle, energische Frauenstimme erscholl, schwiegen die Drei überrascht. Alessandra baute sich vor ihnen auf, dann blitzte sie Starrus an: »Du behauptest, König Cordo sei ein Betrüger, weil er vor 100 Jahren verschwunden ist. Sieh ihn dir doch an und vergleiche ihn mit dem Bild in deinem Thronsaal. Diese Ähnlichkeit ist nicht gespielt. Es ist wirklich euer Alter König. Der Baron der Hölle, Harlengart, hat ihn gefangengenommen und 100 Jahre lang konserviert. Ich habe ihn dort unten selbst
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gesehen. Und nun hat er sich befreit und ist zurückgekehrt, um seinen ihm rechtmäßig zustehenden Thron zu übernehmen.« Erleichtert lehnte sich der Schwarze König im Sattel zurück. Alessandra hatte sich richtig verhalten. Aber der eigentliche Zweck seiner Mission war noch nicht erfüllt. Er war nicht gekommen, um König Cordo zu irgendwelchen Rechten zu verhelfen, sondern, weil er auf diese Weise Alessandra elegant und unauffällig retten konnte. Statt dessen debattierte sie nun mit den Männern herum, die sie am liebsten geköpft hätten und das wahrscheinlich immer noch vorhatten. War das nun Mut oder Leichtsinn? Aufmerksam beobachtete er den weiteren Fortgang der Entwicklung. König Cordo war nun ebenfalls vorgetreten und rief in die Menge: »Die Prinzessin sagt die Wahrheit. Nach 100 Jahren in der Gefangenschaft Harlengarts konnte ich mich endlich befreien und zu meinem Volk zurückkehren. Und was sehe ich: daß eine unschuldige Geisel kaltblütig hingerichtet werden soll. Es ist eine Schande für das Land aller ehrlichen Arcadier.« Jetzt brüllten Starrus und Nordus gleichzeitig los und versuchten, sich vor dem Volk, daß noch vor wenigen Augenblicken voll auf ihrer Seite gewesen war, zu rechtfertigen, aber niemand hörte noch auf sie. Cordo ließ die beiden einfach stehen, und sie blieben da und redeten weiterhin verzweifelt auf eine ständig abnehmende Zahl von Zuhörern ein. Währenddessen befahl Cordo, das Schafott sofort abzureißen, was auch umgehend geschah, allerdings unter dem Protestgeschrei von Starrus und Nordus. »Komm, mein Kind«, sagte Cordo dann zu Alessandra, und sie folgte ihm in den Palast. Dabei sah sie ihn die ganze Zeit mit leuchtenden Augen an. Der Alte König fand sich sofort zurecht, schließlich war es einst seine Residenz gewesen, und vieles davon hatte noch sein Vater erbaut, was seit dem nicht mehr verändert worden war. Er seufzte leise. Dann rechnete er kurz nach und fand, daß das nun schon an die 140 Jahre her war. Dabei hatte er als kleiner Junge noch selbst den Abschluß der Bauarbeiten mit angesehen. Und dann hatte sein Vater das große Reich unter seinen zwei Söhnen Cordo und Giancano aufgeteilt. Der Norden war zum Weißen Reich geworden, den Süden nannte man fortan Arcadia-Land. * Wie selbstverständlich nahm er auf dem Thron des Königs Platz. Er befahl, Alessandra das Gemach der Königin zuzuweisen und ihr jeden Wunsch zu erfüllen. Denn der Schwarze König hatte Cordo keineswegs im Unklaren darüber gelassen, wem er seine Entdeckung und damit den Anstoß zu seiner Rettung zu verdanken hatte. Er schuldete Alessandra und Ornella viel. Über die Rolle des unheimlichen Schwarzen Königs machte er sich dabei nicht allzu viele Gedanken. Er ließ seine Diener antreten. »Und jetzt führt mir diesen Starrus, meinen eigensinnigen Enkel, vor.« Doch dazu kam es nicht mehr. Starrus und sein Sohn lamentierten und drohten den immer weniger werdenden Zuhörern. Doch dann, wie auf Verabredung, schwiegen sie beide und sahen sich an. Ein bitterer Zug hatte sich um Nordus' Mund gelegt, und Starrus sah nicht viel freundlicher aus. Sie sahen sich um und bekamen noch mit, wie Cordo durch das prächtige Portal im Innern ihres (ehemaligen) Palastes verschwand.
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Wieder sahen sich die beiden an, und ohne viel Worte war ihnen klar, was sie jetzt zu tun hatten. Entschlossen drehten sie sich um und marschierten durch einen Seiteneingang in den Palast. Nordus begab sich sofort in die Schatzkammer und raffte alles zusammen, was er tragen konnte. Starrus suchte mittlerweile ein paar Diener zusammen, von deren Ergebenheit er auch jetzt noch überzeugt war. Alles ging sehr schnell. Die Diener trugen einen großen Teil des Staatsschatzes, darunter die gesamte Kriegskasse der Imperatrice, in die königliche Kutsche. Kaum waren das Gold, die Prinzessinnen und Nordus zugestiegen, gab Starrus den Befehl zum Aufbruch. Ihr Ziel war Gel-Gabal, das derzeitige Truppenhauptquartier. Als König Cordo nach ihnen schicken ließ, waren sie bereits aus der Hauptstadt heraus. Mit größtmöglichem Tempo ging es dann nach Norden. Unterwegs erzählten sie jedermann, daß ein übler Betrüger sich als der legendäre König Cordo ausgab und mit Gewalt den Thron an sich gerissen hatte. Der erste Stein für einen Bürgerkrieg war gelegt. Und in Gel-Gabal wollten sie die Armee sammeln und gegen Cordo kämpfen. Und wer weiß, vielleicht unterstützte sie ja auch noch die Imperatrice Beata? Aufmerksam beobachtete der Schwarze König die überhastete Abreise seines Kollegen und seiner Familie. Ihm war klar, was wahrscheinlich dabei herauskommen würde. Und das bedeutete, daß er in Zukunft noch öfters auf Alessandra würde aufpassen müssen. Für den Moment aber war sie in Sicherheit. Nur eines gab es noch zu erledigen. * »Pech gehabt, alter Soldat. Leider wieder verloren!« »Nenn' mich nicht Soldat, du Würstchen. Ich bin Hauptmann, verstehst du?« Zu fünft saßen sie an einem klapprigen Eichentisch in der Ecke einer Kaschemme und würfelten um Geld. Gerade hatte der Hauptmann seinen letzten Sold durchgebracht. Wütend knurrte er sein Gegenüber an, vor dem sich ein ganz beachtlicher Geldhaufen auftürmte. »Zeig mal die Würfel her.« Er grabschte sie sich, konnte aber keinen Betrug feststellen. »Na gut, aber was sagt ihr dazu?« Er zog einen Ring aus einer seiner speckigen Taschen und warf ihn auf den Tisch. Die vier anderen bekamen große Augen, als sie sich den Ring genauer ansahen. »Woher hast du den?« »Der hat der gefangenen Prinzessin Alessandra gehört. Ich habe ihn ihr persönlich abgenommen.« Er zeigte auf den Geldhaufen vor dem anderen Mann. »Den Ring gegen das alles.« »Den Ring gegen dein Leben«, erscholl plötzlich eine durchdringende Stimme hinter ihm. Erschrocken fuhr er herum. Er kannte den Fremden nicht, der ihn so unverschämt angesprochen hatte, aber keiner durfte ihm blöd kommen. Wütend riß er sein rostiges Schwert heraus, mit dem er schon viele Feinde niedergemacht hatte. Er holte aus und hieb auf den Fremden ein. Doch das Eisen drang durch ihn hindurch, als wäre er gar nicht vorhanden. In der Kneipe war es plötzlich sehr still.
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Wie wild hieb der Soldat jetzt auf den Fremden ein, doch er traf nichts, nur Luft. Unbeeindruckt ging der andere auf ihn zu, durch ihn hindurch und ergriff den Ring. »Wie du schon sagtest: Er gehört Prinzessin Alessandra.« Eigentlich war es Simonas Ring, den Alessandra nur bei sich getragen hatte. Ihr eigener Ring war verzaubert und damit für alle Fremden unsichtbar. Doch Thoran hielt es nicht für nötig, den Soldaten diese Feinheiten zu erklären. Er warf dem Dieb noch einen glühenden Blick zu, den dieser nie in seinem Leben vergessen sollte. Und dann verschwand er vor den Augen der versammelten Mannschaft. »Das war der Schwarze König«, flüsterte einer. Ein paar Männer bekreuzigten sich, doch nach und nach beruhigten sie sich wieder. Nur der Hauptmann fand in dieser Nacht keinen Schlaf. * Einen Tag später trat Prinz Sofrejan vor König Cordo und Alessandra hin und sagte: »Majestät, Prinzessin. Ich muß jetzt nach Hause aufbrechen. Wenn Ihr wollt, kann ich Prinzessin Alessandra bis zur Sonneninsel eskortieren.« »Ein weiser Entschluß, Prinz Sofrejan«, antwortete König Cordo mit seiner tiefen, angenehmen Stimme. »Die Bürger der Hauptstadt stehen treu auf meiner Seite, aber draußen in der Provinz regt sich bereits der Ungeist, den Starrus und sein Sohn säen. Es wird bald nicht mehr sicher sein. Ihr müßt Euch beeilen. Und das gilt auch für Euch, hochverehrte Alessandra. Ich werde euch einige meiner Soldaten als Schutz bis zur Grenze zuteilen. Außerdem wird Euch ein Bote begleiten, der eine Nachricht an meinen Großneffen, den Weißen König, überbringen soll.« Alessandra sah den jungen Alten König lange und intensiv an. Dann nickte sie zögernd, denn sie sah sehr wohl die Gefahr, die durch Starrus heraufbeschworen wurde. »Ich danke Euch für die Gastfreundschaft, König Cordo. Wir werden uns bald wiedersehen, das verspreche ich. Aber Ihr habt recht: Die Zeiten werden schon wieder unsicherer. Also werden wir noch heute aufbrechen.« Sie seufzte leise und ihre Augen begannen so seltsam zu schimmern. Rasch wandte sie sich ab. Wieder einmal hatte Sofrejan das Gefühl, etwas nicht mitbekommen zu haben. Wieso sollten sie sich noch für Starrus und seine finsteren Machenschaften interessieren? Die Leute aus der Provinz würden genauso zu Cordo überlaufen wie die Menschen der Hauptstadt es getan hatten. Aber wie auch immer, er war froh, wenn er wieder Zuhause war. Oder? Ihm kam da gerade eine interessante Idee. Warum ritt er nicht gleich mit zum Weißen Schloß und machte offiziell Frieden mit dem Weißen König. Dann würde er auch Olivia wiedersehen - Ornella war ja leider inzwischen vergeben. Er hatte es kaum glauben können, als Alessandra ihm gestern Abend die Geschichte erzählt hatte. Offenbar hatte er sowohl Ornella als auch den Schwarzen König falsch eingeschätzt. Aber da ihm das oft so ging und er es gewöhnt war, machte er sich darüber keine allzu großen Gedanken und nahm es einfach hin. Auf jeden Fall war die süße kleine Olivia noch frei. War das nicht eine günstige Gelegenheit? Wenig später schon verabschiedete er sich von König Cordo. Es entging ihm nicht, daß der Abschied Alessandras vom Alten König wesentlich herzlicher ausfiel, als es zwischen Respektspersonen üblich war. Wahrscheinlich empfanden sie etwas füreinander, obwohl sie es vor sich selbst vielleicht noch gar nicht eingestanden hatten. Auf jeden Fall hatte König Cordo nach besten Kräften Sorge dafür getragen, daß sie die Weiße Hauptstadt sicher erreichten, indem er ihnen 50 Ritter als Eskorte mitgab. Das war eine beachtliche Streitmacht, und Sofrejan würde unterwegs froh sein, sie zu haben.
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Auf dem Weg passierten sie zahlreiche klein Städte und Dörfer, und je weiter sie sich von Tansir entfernten, desto unfreundlicher wurden sie empfangen. Das Gift, daß König Starrus ausgebreitet hatte, wirkte bereits. Prinz Sofrejan nahm es mit Erstaunen zur Kenntnis. Er unterhielt sich mit Alessandra darüber, die die Lage von Anfang an völlig richtig eingeschätzt hatte. Um die Leute für sich zu gewinnen, wäre das persönliche Erscheinen Cordos nötig gewesen. Die 50 Ritter wirkten zwar auch ziemlich überzeugend, und in mehr als einer Stadt konnten sie den Ausschlag für die Partei Cordos geben, doch das würde auf Dauer nicht genügen. Schlimmer: In ein paar Tagen, wenn Starrus mit seiner Kutsche und all dem Geld im Truppenhauptquartier angekommen war, würde es erst richtig losgehen. Ihr rascher Aufbruch war eine weise Entscheidung gewesen und er bewunderte Alessandra wegen ihres klaren Verstandes. Oft glitten während der langen Ritte seine Blicke über ihre funkelnde Rüstung und ihr kastanienbraunes, langes Haar, das im Wind flatterte. Trotzdem verspürte er nicht den Wusch, sie zu besitzen. Olivia wäre viel eher sein Fall gewesen. Er hoffte, daß seine Bitten beim Weißen König auf fruchtbaren Boden fielen. Alessandras Gedanken weilten meist bei Cordo. Er war genau so, wie sie ihn sich als kleines Mädchen immer vorgestellt hatte, wenn sie im Audienzsaal ihres Vaters sein Bildnis betrachtet hatte: Stark und gütig. Und majestätisch schön. Irgendwann riß Sofrejan sie aus ihren Gedanken: »Der Siina-Fluß. Die Grenze.« »Dann trennen sich unsere Wege hier, Prinz«, antwortete Alessandra. »Äh, nein. Ich habe mich entschlossen, Eurem verehrten Herrn Vater einen diplomatischen Besuch abzustatten.« Alessandras Miene hellte sich auf. Sie war doch recht froh, den Rest des Weges, immerhin noch zwei bis drei Tagesreisen, nicht allein mit Cordos Boten machen zu müssen. Die Ritter der Eskorte würden sowieso nicht weiter mitkommen, sondern hier umkehren und nach Tansir zurückkehren. König Cordo brauchte sie bestimmt. Sofrejan meinte noch: »Außerdem ist es gar kein so großer Umweg. Die Sonneninsel liegt ja von hier aus genau im Westen, und die Weiße Hauptstadt in westnordwestlicher Richtung.« Alessandra nickte ihm aufmunternd zu, dann meinte sie: »Dann müssen wir nur noch eine Fähre oder eine Brücke finden.« »Siinabal ist nicht weit. Dort gibt es sogar zwei Brücken. Allerdings kosten beide eine Maut.« »Bei euch ist die Passage zur Sonneninsel auch nicht umsonst«, meinte Alessandra spitz. Und so ritten sie schließlich zu dritt nach Siinabal ein. Die Stadt war im Krieg bisher neutral geblieben, so daß sie keine Schwierigkeiten bekamen. Sofrejan zahlte an der Brücke das Geld, dann führten sie die Pferde über die hölzerne Konstruktion auf die nördliche Seite des Flusses. Hinter der Stadtgrenze begann das Weiße Königreich. »Auch Siinabal hat mal zum Weißen Reich gehört«, meinte Prinz Sofrejan, als sie die Stadt verließen.
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»Aber das ist schon lang her. Seit der Zeit kurz nach König Cordo...« Unwillkürlich schweiften Alessandras Gedanken zu Cordo ab. Sofrejan lächelte versonnen und sagte nichts. * »Die Weiße Hauptstadt!« Alessandra sagte es voller Stolz und wies mit der ausgestreckten Hand auf die leuchtende Silhouette der prächtigen Stadt, die sich in der Ferne abzeichnete. »Wir werden hier übernachten und sind dann morgen Vormittag Zuhause. Endlich!« »Ihr wart wirklich lange unterwegs und habt viele unglaubliche Abenteuer erlebt, Prinzessin.« »Ja.« Ich Blick verlor sich in weiten Fernen, als sie an diese lange Reise zurückdachte. Mehr als einmal hatte ihr Leben auf des Messers Schneide gestanden. Doch sie hatte viele neue Freunde gefunden. »Und es sind unruhige Zeiten«, spann Sofrejan den Faden fort. »Eigentlich ist es unwahrscheinlich, daß allein das Auftauchen des Schwarzen Königs beim Turnier all das ausgelöst haben soll. Die Probleme muß es schon vorher gegeben haben.« Alessandra sah ihn fragend an. Darüber hatte sie sich noch nie Gedanken gemacht. Sie zuckte mit den Schultern. Dann ritten sie den Hügel hinab in das kleine Dörfchen am Wegesrand, suchten sich einen einigermaßen akzeptablen Schlafplatz und richteten sich für die Nacht ein. Die Bauern boten ihnen die herrschaftlichsten Betten an, die sie hatten, aber Alessandra begnügte sich mit einer warmen Scheune. Gemessen an dem, was sie schon erlebt hatte, war das bereits der reinste Luxus. Und Sofrejan schloß sich ihr ohne zu zögern an, worüber sie sich etwas wunderte. Auch diese Seite hatte sie an ihm noch nie zuvor bemerkt. Aber er war nicht der verweichlichte Dummkopf, für den ihn viele gehalten hatten. Cordos Bote hingegen entschwand in eine Gaststätte. »Was wohl aus Schwalbe geworden ist?«, meinte Alessandra kurz vor dem Einschlafen, nachdem sie beim Bauern ein kräftiges Abendessen bekommen hatten. »Schwalbe?« »Meine Stute. Ein hervorragendes Pferd. Eure Leute, die mich gefangengenommen haben, haben es mir weggenommen. Sie war für mich fast wie eine Freundin.« »Wenn ich wieder Zuhause bin, werde ich mich darum kümmern. Vielleicht ist es noch im Besitz meiner Soldaten. Und wenn mein Kommandeur Ralph de Roqueville es bei König Cordo abgeliefert hat, werdet Ihr es wohl ebenfalls zurückbekommen können.« »Ich habe Cordo bereits darum gebeten. Hoffen wir das beste.« * Am nächste Morgen brachen sie zeitig auf, denn alle drei waren ungeduldig und brannten darauf, ihr Ziel endlich zu erreichen. Sie trieben ihre Pferde an, und diese folgten willig. Sie schienen das nahe Ziel zu spüren. Und dann tauchte die Weiße Hauptstadt zum ersten Mal wieder hinter dem Horizont einer Hügelkette auf. Diesmal blieb sie sichtbar - das Wahrzeichen einer großen Dynastie. Langsam rückte sie
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näher, während die Stunden verrannen. Und dann ritten sie endlich durch das südliche Stadttor ein. Voller Vorfreude und gespannter Erwartung sah Alessandra sich um. Doch wie hatte sich die Stadt verändert, seit sie aufgebrochen war! Die Straßen waren immer noch voller Flüchtlinge, obwohl viele bereits wieder abgezogen waren. Die verwüsteten Städte und Felder, vor allem im Osten, und der bevorstehende Winter hinderten allzu viele an der Heimkehr. Krieg und Hunger hatten die Hauptstadt gezeichnet. Doch als die Menge Alessandra erkannte, kannte der Jubel keine Grenzen. Für die Menschen war die tapfere Prinzessin eine Heldin. Mit Sofrejan und dem Boten konnten die meisten Leute nichts anfangen, aber das tat der Freude keinen Abbruch. »Vater, Herr Vater. Alessandra ist zurückgekehrt!« Mit vor Aufregung geröteten Wangen stürmte Prinzessin Olivia in den Audienzsaal. Längst waren ihre Wunden verheilt, auch die ihrer Seele. Der Weiße König, der gerade lustlos über Landkarten gebrütet hatte, fuhr auf und blickte seine Tochter entgeistert an: »Was sagst du da. Alessandra!« »Ja, Herr Vater. Sie ist es wirklich. Mit einer prächtigen Rüstung und zwei Männern als Begleitung zieht sie durch die Straßen auf den Palast zu. Und einer der Männer ist Prinz Sofrejan!« Ihr Gesicht bekam einen verträumten Ausdruck. Auch des Königs Blicke verklärten sich, als er an seine Tochter dachte. Wie sehr er sie vermißt hatte, wurde ihm erst jetzt klar. Ohne weiter zu überlegen, stürmte er auf das schwere Portal zu, riß es unter lärmendem Quietschen auf, rannte durch die Vorhalle und dann die Rampe hinunter. Und dann bog Alessandra auf ihrem stolzen Roß um die Ecke. Ihre Blicke trafen sich, und einen Moment lang stand die Welt still. Sie sahen sich einfach nur an, und in die Augen des Weißen Königs traten ein paar Freudentränen. Und dann kam hinter dem Weißen König Olivia aus dem Palast gestürmt und rief: »Alessandra! Schwester. Du bist zurück!« Und dann fielen sich alle drei weinend in die Arme. Auch Prinz Sofrejan, der etwas abseits noch auf seinem Pferd saß, konnte die Tränen der Freude und Rührung nicht unterdrücken. Und Alessandra war froh, daß sie nicht, wie sie heimlich befürchtet hatte, für ihr langes Fortbleiben ausgeschimpft wurde. »Oh, meine Tochter. Wie sehr hast du uns allen gefehlt! Aber kommt doch erst mal hinein. Und Ihr, Prinz Sofrejan, seid natürlich auch eingeladen, und auch der arcadische Bote. Heute laß' ich mir die Freude von nichts und niemandem verderben.« Der König orderte in der Küche ein königliches Essen. Während dessen begaben sich die Fünf in den Audienzsaal und setzten sich an einen der großen, prächtig geschnitzten Tische. Es gab so viel zu erzählen. Zuerst mußte Alessandra von ihren Abenteuer berichten. Als sie schilderte, wie Ornella den Schwarzen
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König geheiratet hatte, verdüsterte sich die Miene der Weißen Königs, doch Alessandra beruhigte ihn: »Vater, es ist nicht so, wie Ihr glaubt. Ornella liebt ihn über alles, und ihre Liebe wird aufrichtig erwidert. Der Schwarze König ist kein Teufel. Mir hat er allein zweimal das Leben gerettet.« Dann fuhr sie mit ihrem Bericht fort und unterbrach ihn auch nicht bei dem wahrhaft fürstlichen Mittagessen, das die Hofbediensteten auftischten. Temperamentvoll und oft mit vollem Mund schilderte sie ihre haarsträubenden Erlebnisse in den leuchtendsten Farben. Dann kam Prinz Sofrejan an die Reihe. Wie zufällig saß er neben Prinzessin Olivia, und die beiden turtelten schon die ganze Zeit heftig miteinander. »Nun, Majestät«, begann der Prinz der Sonneninsel, »da meine Mutter sehr krank ist, obliegen mir die Amtsgeschäfte meines Reiches. Und ich muß Euch sagen, daß ich an einer Fortsetzung des Krieges gegen Euer Reich in keinster Weise interessiert bin und diesen Entschluß meiner Mutter auch nie befürwortet habe. Ich habe das Bündnis zwischen der Sonneninsel und König Starrus bereits gekündigt, und auch mit König Cordo habe ich Neutralität vereinbart.« Er sah den Weißen König auffordernd an, doch dieser wandte seinen Blick satt dessen auf Olivia, die verlegen zu Boden schaute. Sofrejan faßte sich also ein Herz, erhob sich, atmete tief ein und sagte: »Und, äh, hiermit bitte ich Euch um die Hand Eurer Tochter Olivia.« Olivias Wangen waren vor Erregung feuerrot und ihre Augen glühten schier. Alessandra lächelte still in sich hinein. So ähnlich hatte Ornella den Schwarzen König angesehen. »Aber gern«, antwortete der Weiße König huldvoll. »Sehr gerne willige ich in diese Verbindung ein, die sowohl Eurem, als auch meinem Land von Nutzen sein soll. Und natürlich zu allererst meiner geliebten Tochter.« »Oh, Vater!«, brachte diese nur heraus. König Heinrich konnte zwar manchmal furchtbar stur sein, aber er hatte ein gutes Herz. Später kam auch König Cordos Bote noch dazu, seine Mission zu erfüllen. Im Grunde ersuchte der Alte König lediglich um Neutralität bei der Auseinandersetzung mit König Starrus. Den Krieg Starrus' gegen das Weiße Königreich wollte er außerdem unverzüglich beenden. »Hmm, das klingt doch hervorragend, nicht wahr?«, meinte der Weiße König. »Und Starrus wird wohl nicht an zwei Fronten gleichzeitig kämpfen können. Ich denke, ich werde Cordo sogar unterstützen.« Der Weiße König konnte nicht ahnen, daß diese fast beiläufig getroffene Entscheidung sein Reich in die größten Schwierigkeiten bringen, zahllose Menschen ins Unglück stürzen und sogar ein Ungeheuer auf den Plan rufen sollte. * Doch zunächst gab es noch ein anderes Problem. Spät am Abend setzte er sich noch mit Prinz Sofrejan zusammen. »Mein lieber zukünftiger Schwiegersohn. Ihr wißt, ich bin nicht mehr der jüngste. Tja, und wenn ich mich dereinst zur letzte Ruhe bette, dann ist dieser Thron verwaist. Daher bitte ich Euch, Euer Reich mit dem meinen zu vereinigen und
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es als König zu regieren, sobald Eure Vermählung mit meiner Tochter stattgefunden hat.« Der Prinz war ob dieses wahrhaft königlichen Angebotes sprachlos. Viele Gedanken schwirrten ihm durch den Kopf, aber eins war klar: Dieses Vorhaben widersprach leider vollkommen der Staatsräson seines Landes. Und damit war es Jahrhunderte lang bestens gefahren. Die Sonneninsel war immer reich gewesen, aber nicht so mächtig und wichtig, daß jemand sich der großen Mühe unterzogen hatte, sie erobern zu wollen. Wenn sie jetzt Teil des Weißen Reiches wurde, bot sie eine ungleich größere Angriffsfläche im Feld des ewigen Machtkampfes der Fürstentümer und Königreiche. Was seine Mutter dazu sagen würde, interessierte ihn hingegen nicht sonderlich. Für ihn hatte sie abgedankt. Aber andererseits: Konnte und durfte er den Weißen König enttäuschen? Aber ihm blieb ja immer noch Alessandra. Wenn sie Cordo heiratete, dann würde das Alte Reich wieder erstehen - war das nicht viel verlockender? Er sprach mit dem Weißen König darüber, erntete aber nicht viel Verständnis für seine Bedenken. Sein zukünftiger Schwiegervater hatte fest mit seiner Zustimmung gerechnet, denn wer würde schon ein ganzes Reich als Geschenk ausschlagen? Der Weiße König war sehr enttäuscht, auch wenn er es so gut als möglich verbarg. Sie verblieben so, daß Prinz Sofrejan sich erst am Tage der Hochzeit entscheiden mußte. Zuerst aber wollte dieser zur Sonneninsel zurückkehren, um dort einige Dinge zu regeln. Anschließend, in wenigen Wochen, sollte dann in der Weißen Hauptstadt die Hochzeit stattfinden. * Am anderen Tag übergab der Weiße König Cordos Boten eine Nachricht, in der er seinem Großonkel seine Unterstützung im Kampf gegen Starrus zusicherte. Er ließ den Beschluß auch öffentlich verkünden und erhielt von allen Menschen jubelnden Beifall. Man war gewiß, mit dem verhaßten Starrus jetzt abrechnen zu können. Dann machte sich der Bote auf den gefährlichen Weg zurück. Prinz Sofrejan blieb noch einen Tag länger, dann brach auch er auf, versprach Olivia aber, so bald als möglich wieder zurück zu sein. * Alessandra stand neben Olivia auf der Turmspitze und sah Prinz Sofrejan auf seinem Pferd in der Ferne verschwinden. Eine Taube umkreiste den Turm und setzte sich dann neben die beiden jungen Frauen auf die steinernen Zinnen. Alessandra fiel sie als erste auf. Die Taube war auffällig dunkel, fast schwarz, und sie blickte die Prinzessin mit seltsamen, orangeroten Augen an. Dann öffnete sie den Schnabel und sagte mit gurrender Stimme: »Prinzessin. Der Schwarze König schickt mich, um dir zu sagen, daß er den Ring Simonas in Sicherheit gebracht und in die Kette eingefügt hat. Wenn Prinzessin Olivia es wünscht, muß sie oder jemand anderes auch ihren Ring ins Schwarze Schloß bringen.« Damit erhob sie sich wieder in die Lüfte und flog pfeilschnell davon. Olivia blickte Alessandra ziemlich entgeistert an. Sie hatte noch nie ein sprechendes Tier gesehen. Für Alessandra hingegen war das inzwischen nichts ungewöhnliches mehr. Sie sagte: »Der Schwarze König hat meinen Ring, den mir damals beim Turnier Prinz Sofrejan geschenkt hat, und den von Ornella
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verzaubert. Wenn eine von uns in großer Not ist, kann sie damit die Schwester zu Hilfe rufen. Auch Simonas Ring, den ich an mich genommen hatte, als ich sie besuchte, ist jetzt verzaubert. Irgendwann muß ich ihn ihr bringen.« Sie lächelte Olivia aufmunternd an. »Jetzt mach doch nicht so ein entgeistertes Gesicht. Ach ja, und Thoran sagte auch, daß nur Würdige den verzauberten Ring überhaupt sehen können. Deshalb haben ihn mir die arcadischen Soldaten auch nicht wegnehmen können.« Olivia öffnete den Mund, sagte aber nichts. Ihr Gesicht war voller Zweifel, doch dann fiel ihr offenbar etwas ein: »Wer ist Thoran?« »Thoran? Der Schwarze König. Er heißt Thoran von Caair. Wußtest du das nicht?« »Ich hatte keine Ahnung, daß er überhaupt einen Namen hat. Seltsam. Ist es nicht unglaublich, daß unsere Schwester mit einem Mann verheiratet ist, über den niemand etwas genaues weiß, und den jeder für einen Teufel hält? Ich muß ihn unbedingt kennenlernen.« »Aber nicht jetzt. Mein Bedarf an Ausflügen ist erst mal erschöpft.« »Da glaube ich«, sagte Olivia lachend. Später betrachtete sie nachdenklich ihren Pantherring. Sollte es tatsächlich möglich sein, ihn mit magischen Fähigkeiten auszustatten? * In den Blauen Bergen brach der Winter herein. Unten in der weiten Ebene, in der sich das Weiße Königreich, das Arcadia-Land und viele andere erstreckten, herrschte noch der goldene Herbst, aber im Blauen Land klirrten wieder überall Eis und Schnee. Gestern war ein Bote des Weißen Königs angekommen und hatte die Kriegserklärung annulliert und Simona den ehelichen Segen ihres Vaters überbracht. Jetzt lag die junge Königin in ihrer warmen Hütte, eingekuschelt in warme Tierfelle. Neben ihr schlief Erich. Simona musterte sein edles Gesicht, das jetzt, im Schlaf, dem eines kleinen Kindes glich. Unter der Decke fuhr sie mit der Hand über ihren Bauch und dachte zärtlich an das neue Leben, das darin heranwuchs. Sie war sehr, sehr glücklich.
3. Teil - Viertes Kapitel - Basilisk Winter 1242 »Da werden wir wohnen. Ist es nicht hübsch?« Wie immer, so wagte Gabriele auch jetzt nicht, ihrem Mann zu widersprechen, denn in so einem Fall konnte er manchmal unberechenbar reagieren. Aber fast wäre es ihr trotzdem herausgerutscht, was für
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eine erbärmliche Bruchbude die Reichsbehörden ihnen da zugewiesen hatten. »Ein bißchen saubermachen, etwas neue Farbe ...«, sagte der Zikadenmann, »... dann fühlen wir uns gleich wie Zuhause.« Gabriele lächelte gezwungen. Was bleib ihr auch anderes übrig? Ihr Mann hatte das Angebot angenommen - ohne sie zu fragen, natürlich - und jetzt waren sie eben hier. Es war Grenzland, man konnte die Blauen Berge von hier aus manchmal am südöstlichen Horizont sehen, bei gutem Wetter, aber das war selten. Meist war es kalt und regnerisch. »Also, da ... das ist jetzt unser Heim. Freut ihr euch nicht?« fragte der Zikadenmann. Seine Stimme hatte etwas lauerndes. Gabriele und die zwei Kinder nickten heftig und quälten sich ein Lächeln ab. In Wirklichkeit waren sie zutiefst enttäuscht. Die Siedlung bestand aus kaum mehr als einigen uralten Bretterbuden, matschigen Wegen, dazu jeden Tag Nieselregen, die Strapazen der Anreise auf holprigen Karren durch völlig verwahrlostes Land ... Sie kamen aus Karolingia, der zweitgrößten Stadt im Reich Karls III; sie waren Großstädter und die Annehmlichkeiten der Stadt gewöhnt. Aber hier, am Rande der Welt, gab es nichts davon. »Dann wollen wir mal reingehen! Drinnen ist es bestimmt noch gemütlicher.« Der Zikadenmann öffnete die quietschende Tür und trat ein. Gabriele und die Kinder schnappten sich die Koffer und Säcke und folgten ihm ins düstere Innere. Gabriele kannte ihren Mann. Sie spürte, daß er sich hier wohlfühlen würde. Aber für sie und die Kinder würde es die Hölle werden. In Karolingia hatte sie ihre Freundinnen gehabt, bei denen sie sich hatte ausweinen können, wenn ihr Mann sie wieder geschlagen hatte. Aber all das lag nun viele Tagesritte weit weg. Die junge, ehemals sehr schöne Frau fühlte instinktiv, daß sie ihre alte Welt nie wiedersehen würde. »Ja! Ist es nicht herrlich hier? Das alles gehört uns. Die Kolonialbeamten des Königs waren wirklich sehr großzügig.« Sehr großzügig, dachte Gabriele, uns mit einer mindestens hundert Jahre alten Bruchbude abzuspeisen in einem Landstrich, den seit ebenso langer Zeit keiner haben will. Früher hatte dieses Gebiet mal zu irgend einem anderen Königreich gehört und davor noch zu einem anderen, aber das war schon ewig her. Dann hatte man es in einem Kompromiß-Frieden dem Fürstentum Botha zugeschlagen, als externes Verwaltungsgebiet oder so was, vielleicht auch einen Teil dem Barbaren Erich, aber jetzt war irgendein verrückter Kolonialbeamter des Königs Karl III auf die Idee gekommen, es mit Reichsuntertanen zu besiedeln. Dabei brachte diese öde Land keinem einen Nutzen. Deshalb hatte es auch keiner haben wollen. Nur die Fallensteller hatten hier ab und zu gejagt, und das würden sie auch sicher weiter tun. »He, Gabriele. Das wird mein Zimmer. Ein hübscher Blick auf die Straße!« Natürlich. Und ich und die Kinder dürfen unter dem halb eingestürzten Dach hausen, wo es reinregnet, dachte die verhärmte Frau verbittert. Chorus Fröhlichkeit bereitete ihr fast körperliches Unbehagen. Die Stimmungen ihres Mannes konnten sehr schnell umschlagen.
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»Ah, und da ist ja die Küche. Ich habe einen Bärenhunger!« Gabriele wußte, was nun von ihr erwartet wurde. Wenigstens hatte das Kolonialamt ihnen genügend Vorräte für die erste Zeit mitgegeben. Sie begann auszupacken, während Choru, den alle aus irgendeinem Grund den Zikadenmann nannten, sich weiter im Haus umsah. »Hier gibt es ja sogar einen Keller!« Sie rief ihre Kinder herbei, als sie in einem Schrank, dessen morsche Türen halb herausgebrochen waren, einen Besen und einen Eimer fand, und forderte sie auf, mit dem Saubermachen anzufangen. Die beiden hätten am liebsten zu Weinen angefangen. Nicht, weil sie putzen sollten, sondern aus Heimweh. Auch sie hatten alle Freunde und Spielkameraden zurücklassen müssen, ihre ganze vertraute Umgebung. Aus dem Keller tönte dumpf die Stimme ihres Mannes hervor: »Schick mir mal den Johann, er soll hier mal die Spinnweben wegmachen.« Johann war ihr Sohn, 10 Jahre alt. Seine um zwei Jahre jüngere Schwester hieß Helene. Sie war gerade dabei, zusammen mit ihrer Mutter die Küche einigermaßen aufzuräumen. »Kommt ihr da oben zurecht? Wo bleibt Johann, diese faule Stück! Dem werde ich... ah, da bist du ja endlich. Los, mach schon ... da... u ... und vergiß die Regale nicht. Nanu, was ist das für ein Ding? Und da liegt noch mehr Zeug herum. Los, gib mir mal den Lappen. Und steh nicht so blöd herum.« Vor dem Haus lag etwas Feuerholz, und Gabriele holte es herein. Es war schon so alt und verrottet, daß es unter ihren Fingern zerbröselte, aber brennen würde es dafür umso besser. Wenigstens ein Lichtblick, denn Choru würde nicht ewig mit dem Essen warten wollen. Der Herd war uralt und verrostet, aber immerhin noch funktionsfähig. Nervös fummelte Gabriele einige Töpfe und das Geschirr aus den Säcken und Taschen heraus. Helene stand ihr dauernd im Weg herum, und sie scheuchte sie auf den Dachboden, der nur über eine halb zerfallene Leiter zu erreichen war. Es war ein Wunder, daß das Mädchen sich dabei nicht den Hals brach. »Mann, was liegen hier für tolle Sachen herum?«. Dumpf tönte die Stimme ihres Mannes aus dem Keller hervor. Johann kam mit einem Eimer voller Schutt herauf. Er blickte seine Mutter fragend an, und sie schickte ihn hinters Haus, um den Eimer zu leeren. Tolle Sachen - wahrscheinlich war es nur verstaubter Schrott. Aber für so was hatte sich der Zikadenmann schon immer besonders interessiert. Es wurde still. Offenbar hatte Choru im Keller etwas gefunden, was ihn für eine Weile beschäftigte. Im Herd loderte mittlerweile ein munteres Feuer und vertrieb die Kälte und Feuchtigkeit. Zum ersten Mal fühlte sich Gabriele etwas heimisch. Sie stellte Wasser auf die Platte. Es knirschte verdächtig. Hoffentlich hielt der Herd. Sie schickte die Kinder hinaus, um weiteres Holz zu suchen. Das Kolonialamt hatte hier Vorarbeit geleistet, auch wenn sie im Grunde Pioniere waren. Es gab eine Art Lager mit Artikeln des täglichen Bedarfs, das in den ersten Monaten die Bevölkerung versorgen sollte. Die meisten der neuen Siedler waren Bauern, Choru allerdings arbeitete als Buchhalter oder so was. Gabriele hatte sich nie sonderlich dafür interessiert, und ihr Mann sprach auch nicht von sich aus über seine Arbeit. Im Grunde war sie froh, wenn er fort war. Er hatte manchmal etwas unheimliches an sich, und mehr als einmal hatte
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die junge Frau sich schon gefragt, warum sie diesen Mann überhaupt geheiratet hatte. Einige Zeit später ertönte von unten wieder seine Stimme: »Was macht das Essen? Warte, ich glaube, ich komme mal rauf.« Gabriele drehte sich hastig um und stieß dabei an den Topf mit dem mittlerweile fast kochenden Wasser. Irgend ein Teil des rostigen Herdes zerbrach, der Topf rutschte weg und ergoß seinen Inhalt über ihre Beine. Gabriele schrie gellend auf. Choru kam die Leiter heraufgeschossen, und als er die Misere sah, begann er hemmungslos zu fluchen. Trotz ihrer furchtbaren Schmerzen versuchte Gabriele, ihn zu beruhigen, aber er schrie: »Für diese Schlamperei werde ich das Kolonialamt anzeigen. Jawohl. Und du mußt sofort zu einem Arzt! Oh, mein Gott!« Er zerrte sie mit sich, und sie wurde vor Schmerzen fast besinnungslos. Sie bekam kaum mit, wie der Zikadenmann das halbe Dorf zusammenrief und dabei wie ein Irrer herumtobte. Schließlich fand sich ein Arzt, der ihr eine Salbe auf ihre verbrühten Beine strich und sie verband. Die ganze Zeit standen Johann und Helene weinend hinter ihr. Gabriele versuchte irgendwie, sie zu trösten. Schließlich schickte der Arzt sie nach Hause. An der Seite ihres Mannes, der sie stützte, schaffte sie es auch irgendwie. Erschöpft, zitternd und am Ende ihrer Kräfte ließ sie sich dort auf einen Stuhl fallen. Der Zikadenmann sagte: »Da wären wir wieder. Jetzt ist ja wohl alles soweit wieder in Ordnung. Tut es noch weh? Und beeile dich mit dem Essen.« In diesem Moment hätte sie ihn umbringen können. Sie wußte nicht, wie sie es schaffte, an diesem Abend noch zu kochen, aber irgendwann ließ der Zikadenmann sie in Ruhe und legte sich hin. Gabriele fand keinen Schlaf, sie weinte vor Schmerzen. * Der Schnee fiel in dicken, wattigen Flocken vom Himmel, als Prinz Sofrejan das imperiale Fährboot verließ, das ihn über den Sonnensee transportiert hatte. Er war nur drei Wochen fort gewesen, aber in der Zwischenzeit war der Winter hereingebrochen - früh in diesem Jahr. Die Eskorte empfing den Prinzen und fuhr ihn mit einer prächtigen goldenen Kutsche durch die im Schnee funkelnde Stadt zum Palast. Unterwegs erkundigte er sich nach dem Befinden seiner Mutter, doch die Höflinge drucksten herum und wollten oder konnten keine klare Auskunft geben. Kaum angekommen, sprang Sofrejan heraus und eilte in die Gemächer der Imperatrice. Die Wachen an dem schweren Portal ließen ihn wortlos ein, doch seine Mutter war nicht da. Im Grunde hatte er es auch gar nicht anders erwartet. »Wo ist meine Mutter?«, fuhr er dennoch die Soldaten an. »Mein Prinz, sie können Euch keine Auskunft geben«, erscholl da die Stimme des Palastverwalters den langen Gang herab. Atemlos kam Mayer, der kleine, hektische, wieselflinke Mann herangelaufen. Diese schnelle Fortbewegungsart war normalerweise weit unter seiner Würde und strengte ihn deshalb ersichtlich an. »Niemand weiß, wo sich Eure Mutter die meiste Zeit aufhält.«
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»Was soll das heißen?« Sofrejan verstand kein Wort. »Zu den ungewöhnlichsten Zeiten, meist mitten in der Nacht, verläßt die Imperatrice ihre Gemächer und verschwindet dann irgendwo im Palast. Keiner weiß, was sie tut oder wann sie zurückkommt.« Sofrejan dachte nach, und es kam ihm ein schlimmer Verdacht. Doch er behielt ihn erst mal für sich. Streng musterte er den Verwalter: »Du hast deine Pflichten vernachlässigt! Meine Mutter ist krank und darf nicht unbeaufsichtigt bleiben. Wenn ihr was passiert, wird dein Kopf rollen. Ich hoffe, ich habe mich deutlich genug ausgedrückt.« Der kleine Mann nickte eifrig und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Diensteifrig und unterwürfig versicherte er dem Prinzen, daß er die Imperatrice von nun an ständig beobachten lassen würde. »Gut, und nun werde ich mich in den Thronsaal begeben, wo ich den Kommandeur de Roqueville erwarte.« »Herr. Der Kommandeur ist vor zwei Wochen abgereist.« Sofrejan, der gerade davongehen wollte, blieb wie vom Donner gerührt stehen. »Majestät«, fuhr der Verwalter fort, »leider sind mir die genauen Details nicht bekannt, aber ich weiß, daß er zuletzt mit dem Militärgesandten der Arcadier gesprochen hat. Danach setzte er über den See und verschwand. Soweit ich gehört habe, hatte er nur wenig Gepäck und auch keinen Begleiter.« Schlagartig wurde es Sofrejan klar, daß eine Menge Dinge passierten, über die er gar nichts oder viel zu spät erfuhr. Das mußte sich ändern. Seine mit allen Wassern gewaschene Mutter hatte immer alle Fäden in der Hand gehabt. Und wenn er die Sonneninsel durch stürmische Zeiten führen sollte, dann mußte er das auch. Da war der bevorstehende Bürgerkrieg zwischen Starrus und Cordo. Außerdem stand seine Hochzeit bevor. Und seine Mutter ... daran wollte er lieber gar nicht so genau denken. »Sag General Karuman, ich erwarte ihn umgehend.« Er ist ja hoffentlich nicht auch überraschend verschwunden, fügte er in Gedanken hinzu. General Karuman war der Militärbotschafter der Arcadier. Aber Sofrejan wollte nicht nur herausfinden, was de Roqueville vorhatte, sondern auch, ob Karuman auf der Seite von Starrus oder Cordo stand. Nachdenklich schritt der Prinz dann in den Thronsaal. Was er brauchte, war ein Informationssystem, das ihn immer über alles wichtige auf dem Laufenden hielt. Das Problem war nur, daß er sich bisher nie mit solchen Dingen befaßt hatte. Eigentlich hatte er ziemlich in den Tag hinein gelebt und alles der straffen und überaus energischen Hand seiner Mutter überlassen. Doch jetzt lastete die ganze Aufgabe auf einmal auf seinen Schultern. Und er kannte keinen auf der Sonneninsel, dem er eine solche Aufgabe hätte anvertrauen können. Das Angebot des Weißen Königs kam ihm in den Sinn: Die Vereinigung ihrer beiden Reiche. Der Weiße König hatte viel Erfahrung und gute Leute, auf die er nach der Hochzeit mit Olivia als neuer Weißer König, der er dann sein würde, zurückgreifen konnte. Trotzdem stand sein Entschluß fest, das Angebot abzulehnen. Es wurde Zeit, daß er die Männer kennenlernte, derer seine Mutter sich bedient hatte. Später, er hatte mittlerweile im Thronsaal mit dem Studium geschäftlicher Unterlagen begonnen, wurde ihm General Karuman annonciert.
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Sofrejan bot ihm einen Platz und Tee an. Dann begann er: »Ich habe gehört, mein so unerwartet abgereister Kommandeur de Roqueville hat Euch den Grund seines Aufbruchs mitgeteilt. Bei uns war er leider nicht so gesprächig.« Daß der arcadische General wirklich in seinem Gespräch mit de Roqueville etwas über dessen Motive erfahren hatte, war reine Vermutung. Sofrejan wollte den General damit ein bißchen aus der Reserve locken, doch Karuman war viel zu erfahren, um darauf hereinzufallen, aber auch zu höflich, um es seinem Gesprächspartner direkt zu zeigen. Also bleib er bei Unverbindlichkeiten: »Wir hatten in der Tat ein Gespräch, aber es war leider nur von kurzer Dauer, denn de Roqueville hatte es ziemlich eilig. Ich glaube, er hatte von den Schwierigkeiten König Starrus' gehört, und wollte sich nach Gel-Gabal begeben. Was er dort genau zu tun gedenkt, weiß nur er allein.« »So. Schade, ich hatte gehofft, ihr wüßtet etwas über ... naja. Ich hatte ihm schließlich befohlen, hier zu bleiben und auf weitere Anweisungen zu warten.« »Ach?« Sofrejan entging der verächtliche Ton in diesem Wort nicht. Offenbar hielt Karuman nichts von einem Befehlshaber, dem die Soldaten nach Lust und Laune davonlaufen konnten. »Und das heißt«, fuhr der Prinz zornig fort, »daß er sich der Befehlsverweigerung schuldig gemacht hat.« Karuman sagte nichts dazu. Schließlich hatte er es gewußt. Und de Roquevilles Motive kannte er ebenfalls. Doch er hatte nicht vor, den jungen Prinzen darüber in Kenntnis zu setzen. Sollte er es doch alleine herausfinden, wenn er so schlau war. »Nach Gel-Gabal, sagtet Ihr. Wahrscheinlich wird er sich in die Dienste von Starrus stellen«, vermutete Sofrejan, nachdem er vergeblich auf eine Antwort Karumans gewartet hatte. Gut kombiniert, aber es war wohl nicht schwer, darauf zu kommen, dachte der General sich, sagte aber wiederum nichts und zog nur in gespielter Überraschung seine Augenbraue hoch. Schließlich bemerkte er: »Der Tee ist hervorragend.« Also gut, Freundchen, wir können es auch so machen, dachte Sofrejan. »Es ist sehr bedauerlich, daß ich so einen qualifizierten Mann nun wohl an Starrus verliere, aber der braucht jetzt wohl jeden Mann gegen diesen Cordo.« »Man hört, mein Prinz, Ihr hattet schon Gelegenheit, diesen Cordo näher kennenzulernen.« Sofrejan wunderte sich, wie der General das so schnell erfahren hatte. Offenbar verfügte er über das, was er noch aufbauen mußte: einen Informationsdienst und gute Spitzel. Natürlich schickt Arcadia seinen besten Mann zur Sonneninsel. Wir sind wichtig ... »De Roqueville hat gegen meine Absicht Prinzessin Alessandra an Starrus ausgeliefert. Ich habe sie zurückgeholt, denn ich möchte mich, wie Ihr wohl wißt, aus dem Krieg heraushalten.« Bei diesen Worten wurde ihm durch das Verhalten des Generals schlagartig klar, daß er und Karuman praktisch Gegner waren: Seine Mutter hatte den Arcadiern Waffen und Geld gegeben, und er drehte den Hahn nun wieder zu. Damit war auch klar, daß Karuman auf der Seite von Starrus stand.
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Sofrejan beendete das Gespräch. Es war zwar nicht so verlaufen, wie er erhofft hatte, aber er hatte doch irgendwie alles erfahren, was er hatte wissen wollen. Mit ein paar höflichen Floskeln komplimentierte er den Militärgesandten hinaus, dann ließ er einen Schreiber kommen und das Ablöseschreiben für Karuman verfassen. Diesem aalglatten Mann mußte er so schnell wie möglich von seiner Insel vertreiben. Es stellte sich nur die Frage, an wen er das Schreiben adressieren sollte: Starrus oder Cordo? Er entschied sich für Cordo. Das würde für Karuman eine zusätzliche Demütigung bedeuten. * Sofrejan arbeitete bis tief in die Nacht. Immer wieder ließ er Experten und Beamte antreten und fragte sie aus über Handelsverträge, Umfang und Leistungskraft seiner Flotte, den Standort der ausgeliehenen Soldaten und so weiter. Es gab so unglaublich viel zu tun. Erst nach Mitternacht ging er erschöpft, aber mit sich zufrieden ins Bett. Doch bevor er seine Gemächer erreichte, traf er seine Mutter. Sie stand plötzlich neben ihm und musterte ihn mit eigenartigem Blick. Ihr rechtes Auge war durch eines aus Glas ersetzt worden, doch in ihm schien ein unheimliches Feuer zu brennen. Sie war, seit er sie das letzte Mal gesehen hatte, um viele Jahre gealtert. Schlohweißes, dünnes Haar hing ihr wirr um den Kopf, die Lippen waren eingefallen und das verbliebene Auge lag tief in der Höhle. Dennoch schien in ihr ein düsteres Feuer zu brennen, das sie trotz ihres Zustandes am Leben hielt. Mit heiserer Stimme krächzte sie: »Wie man sieht, hat die Sonneninsel jetzt eine neuen Herrscher. Ungewöhnlich. wenn man bedenkt, daß der alte noch am Leben ist.« Sofrejan wollte etwas erwidern, aber Beata schnitt ihm das Wort ab: »Aber das interessiert mich nicht mehr. Ich habe wichtigeres zu tun. Ich kann dir nur raten, dich nicht in meine Angelegenheiten einzumischen. Hier!« Ihr Auge blitzte tückisch auf, als sie einen Sack hervorholte, den sie bisher hinter ihrem Rücken verborgen gehalten hatte. Sie langte hinein, und Sofrejan glaubte, das Blut müsse in seinen Adern gerinnen, als er den abgetrennten Kopf sah, den seine Mutter aus dem Sack herausholte. Es war das Gesicht eines der Palast-Lakaien, Sofrejan kannte ihn flüchtig. Sein Gesicht war noch im Tode ein Ausdruck des Grauens und sein Mund war zu einem stummen Schrei geöffnet. Beata sagte: »So geht es jedem, den du hinter mir herschickst als Spitzel!« Sie ließ den Kopf fallen, dann schlurfte sie in einen Seitengang. Kurz darauf waren ihre Schritte nicht mehr zu hören. Sofrejan faßte sich ein Herz und sah nach, aber die Imperatrice war wie vom Erdboden verschluckt. Sofort ließ er den Palastverwalter und die Wache antreten und erklärte ihnen ohne viel Umschweife die Lage. Er befahl, seine Mutter sofort festzunehmen, wenn das ohne Risiko möglich war. Denn daß es auch gefährlich sein konnte, das hatte er mehr als deutlich vorgeführt bekommen. * In den nächsten Tagen hatte der Prinz viel Arbeit. Fast kam ihm der nahende Hochzeitstermin mit Olivia ungelegen und er spielte schon mit dem Gedanken, die Hochzeit auf der Sonneninsel stattfinden zu lassen, um sich die Reise zu sparen. Doch dann dachte er an den Soldaten, den sie in der vorigen Nacht aufgefunden hatten. Er war nicht tot, aber er hatte den Verstand verloren. Offenbar war er der ehemaligen Imperatrice begegnet. Und das letzte, was Sofrejan wollte war, daß seine Mutter Olivia etwas antat. Er würde sie also im Weißen Schloß heiraten und dort lassen, bis sich die Lage beruhigt hatte.
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Im Lauf der folgenden Woche wurde Beata des öfteren gesehen, wie sie seltsame Dinge in ihrem Sack herumtrug. Niemand wußte, woher sie kam, was das für Sachen waren und wohin sie damit verschwand, aber man ließ sie in Ruhe, und sie tat keinem mehr was. Schließlich unterbrach Sofrejan seine Amtsgeschäfte. Es war soweit alles zu seiner Zufriedenheit geregelt: General Karuman war abberufen worden, einige Handelsverträge waren günstig verlängert worden, die Vorräte für den Winter waren unter Dach und Fach, die Soldaten seiner Mutter waren aus den Heer von König Starrus zurückgezogen worden, König Cordo hatte ihm einen großen Teil der Kriegskasse zurückerstattet und seine Mutter machte keine Schwierigkeiten mehr. Jetzt konnte er ans Heiraten denken. * Choru hatte ein paar Tage frei gehabt, um sich in seinem neuen Haus einzurichten. Gabriele ging es nicht gut, aber dafür interessierte sich der Zikadenmann nicht, seit er das BUCH gefunden hatte: das Buch des Unendlichen Landes. Es war ein sehr altes Buch, vielleicht schon über tausend Jahre alt. Er hatte es durch Zufall gefunden, als er etwas auf eines der Kellerregale hatte stellen wollen und dieses zusammengebrochen war. Die Wand dahinter war ebenfalls morsch, und aus Neugier hatte er ein paar Steine entfernt. Als er auf Metall gestoßen war, war sein Jagdtrieb erwacht. Er hatte so lange gegraben, bis er die metallene Truhe aus der Wand geholt hatte, wo sie vor urdenklichen Zeiten jemand versteckt haben mußte. Eigentlich verdankte er es nur der wechselvollen Geschichte dieses Landstrichs, daß nicht schon lange vor ihm jemand die Wand erneuert und die Truhe dabei gefunden hatte. Über Jahrhunderte hinweg war dieser öde Landstreifen umkämpft gewesen, kaum jemand hatte hier länger als ein paar Jahre leben können, wenn überhaupt. Das Interesse der diversen Herrscher an diesem Landstrich mutete seltsam an, wenn man bedachte, daß er praktisch völlig wertlos war. Dazu kam noch, daß Naturkatastrophen und die Pest hier immer besonders hart gewütet hatten. Sein Haus war bestimmt auch schon weit über 100 Jahre alt, und der Keller wohl noch viel älter. Hinter der Truhe fand Choru ein Skelett, doch es interessierte ihn nicht weiter. Die Truhe leistete hartnäckigen Widerstand. Er hätte sie zum Schmied bringen können, doch er wollte nicht, daß irgend jemand erfuhr, daß er in seinem Keller etwas Geheimnisvolles gefunden hatte. Vielleicht waren ja kostbare Juwelen darin. In seiner Phantasie sah er sich schon in alten Goldmünzen baden. Hätte der Zikadenmann gewußt, was sich wirklich darin befand, hätte er sogar seine Frau und die Kinder aus dem Haus geworfen, um sicherzugehen. Er brauchte volle drei Tage, bis der Deckel endlich nachgab. Atemlos vor Spannung öffnete Ellis die Kiste. Das Innere mußte früher mit Samt ausgekleidet gewesen sein, doch dieser war größtenteils zu Staub und Fetzen zerfallen. Übrig waren noch ein Buch mit Seiten aus echtem Leder, die die Jahrhunderte praktisch unverändert überstanden hatten, und ein relativ unscheinbarer Ring mit einem tiefschwarzen Stein. Choru zitterte vor Aufregung. Das Buch mußte noch aus der Alten Zeit stammen. Ganz egal, was darin stand, allein das machte es unglaublich wertvoll. Nie in seinem Leben hatte Choru auch nur von weitem jemals ein Buch aus der Zeit vor Tartanos gesehen, auch nicht im Museum. Von damals war nicht übrig geblieben.
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Der Zikadenmann atmete tief durch, dann nahm er mit zitternden Fingern das Buch heraus und legte es erst mal vorsichtig auf den Tisch. Dann griff er nach dem Ring mit diesem geheimnisvollen Stein. Als Choru den Ring berührte, war es ihm, als erhielte er einen leichten elektrischen Schlag. Erschrocken ließ er ihn fallen, doch als nichts weiter geschah, hob er ihn wieder auf. Er betrachtete den Ring genauer und sah, daß er doch erheblich kostbarer war, als er zunächst gedacht hatte. Der Ring war zweifellos aus purem Gold. Aus was der tiefschwarze Stein bestand, konnte er nicht sagen. So eine völlige Schwärze hatte er noch bei keinem Mineral gesehen. Choru hielt die Oberfläche direkt neben eine Kerze, aber es spiegelte sich nicht der leiseste Schimmer. Im Gegenteil, der Ring schien das Licht geradezu aufzusaugen. Der Ring war recht groß. Wenn er ihn sich ansteckte, würde er zweifellos von seinem Finger rutschen, wenn er ihn nicht festhielt. Dennoch zog er ihn an und gab einen gellenden Schrei von sich, als es plötzlich rings um ihn herum dunkel wurde. Nicht der geringste Lichtstrahl war in der abgründigen Schwärze zu sehen, und voller Panik riß Choru den Ring wieder vom Finger. Und plötzlich war alles wieder wie vorher. Fassungslos betrachtete er den Ring und steckte ihn sich erneut an. Wieder wurde es finster um ihn. Er hörte, wie jemand die Kellerleiter herabkletterte und rief: »Vater! Was ist los. Wo seid Ihr? Herr Vater.« Dann hörte er Schritte. Es war sein Sohn, der den Keller absuchte, nachdem er geschrien hatte. Aber wieso sah er ihn nicht? Er saß doch deutlich sichtbar am ... sichtbar! Schlagartig wurden ihm zwei Dinge klar. Erstens: Der Ring machte ihn unsichtbar, und zweitens: Das war auch der Grund, warum es um ihn herum so unglaublich dunkel wurde. Wenn alles Licht um ihn herum abgelenkt wurde, so daß er für seine Umgebung unsichtbar wurde, dann erreichte natürlich auch kein Licht mehr seine Augen. Aber er konnte noch hören, fühlen und riechen. Nach einiger Zeit verschwand sein Sohn wieder nach oben und rannte aufgeregt zu seiner Mutter. Choru zog mit vor Erregung zitternden Fingern den Ring ab und betrachtete ihn lange. Ihm wurde nach und nach klar, was für eine Macht ihm damit in die Hände gefallen war. Und passen tat der Ring nun auch. Er hatte sich genau der Größe seines Fingers angeschmiegt. Wem er wohl früher gehört hatte? Es mußte ein Riese gewesen sein. Choru stieg dann ebenfalls hinauf in die Wohnstube und speiste seine Familie mit ein paar dünnen Erklärungen ab. Sie gaben sich damit zufrieden, denn sie waren es nicht gewohnt, viele Fragen zustellen. Der Zikadenmann überlegte unruhig, wo er diesen unglaublichen Ring verstecken konnte. Wo war er wirklich sicher? Schließlich hängte er ihn sich mit einer Kette um den Hals. Die ganze Nacht fand er keinen Schlaf. Mehr als einmal ging er mitten in der Nacht hinaus, um den Ring auszuprobieren. Mit lautem Schreien weckte er die Nachbarn und hörte dann zu, wie sie nach ihm auf der Straße suchten, ihn aber nicht finden konnten, obwohl er direkt vor ihnen stand. Daß er dabei auch nichts sehen konnte, störte ihn kaum. Vor seinem inneren Auge spielten sich die Szenen dafür umso lebhafter ab. * Choru wußte es nicht und würde es vielleicht auch nie erfahren: Der Ring der Finsternis war nicht für Sterbliche gemacht. Manchmal aber kamen welche auf die Welt, die für die Werkzeuge des Bösen, wie
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dieser Ring eines war, eine natürliche Affinität besaßen. Der Zikadenmann war einer dieser Menschen. Die Unsterblichen glichen die Finsternis der Unsichtbarkeit mit ihren übernatürlichen Kräften aus, doch Choru Ellis schaffte das auf seine Weise ebenfalls. Und die Welt sollte erfahren, welches Grauen von Menschen wie ihm ausgehen konnte, wenn sie in den Besitz der falschen Gegenstände kamen. * Erst am nächsten Morgen übermannte Ellis der Schlaf, doch von Alpträumen gepeitscht wachte er immer wieder auf. Es waren wirre Träume von Dämonen, die in dem schwarzen Stein wohnten und ihn holen wollten. In einem anderen Traum betrat er eine riesige Höhle und wurde dort zu Stein. Nur eins träumte er nicht: daß jemand seinen Ring stehlen wollte. Gabriele war froh, daß sie an diesem Tag weitgehend Ruhe vor Choru hatte. Auch an den folgenden Tagen sollte es so bleiben. Einmal am Tag kam der Arzt vorbei, wechselte die Verbände und trug neue Salbe aus. Doch das linke Bein, welches stärker verbrüht worden war als das rechte, hatte sich entzündet, und die arme Frau konnte sich vor Schmerzen kaum bewegen. Choru bekam davon nichts mit, aber er verlangte auch nichts weiter von ihr. Um das Essen kümmerten sich die Kinder. Was sie nicht wußten war, was den Zikadenmann so beschäftigte: Es war das BUCH aus der Truhe, das zweite Werkzeug der Dunklen Mächte, die irgendein Dämon hier mitten in der Wildnis von Urzeiten versteckt haben mochte. Das BUCH war in einer sehr alten und kaum verständlichen Sprache geschrieben. Choru verstand nur das Wenigste und rätselte über den vielen unbekannte Zeichen und Buchstaben. Als Beamter hatte er wenigstens schon mal von diesen Dingen gehört, doch um den Text in moderne Sprache zu übersetzen, brauchte er einen Experten. Aber es war dem Zikadenmann klar, daß er das BUCH niemandem anvertrauen konnte. Vielleicht stand etwas über den Ring darin. Und da waren diese seltsamen Karten und das uralte Symbol für Gold. Es kam ziemlich oft vor. Das Jagdfieber hatte den Zikadenmann gepackt. Obwohl er kaum etwas in dem BUCH lesen konnte, brachte er es nicht fertig, es wieder aus der Hand zu legen. Mühsam, Zeichen für Zeichen, kämpfte er sich durch den Text. Das Zeichen für Gold war in einem der Kapitel oftmals kombiniert mit einem anderen Zeichen, das Ellis kannte: dem für König oder Königin. Offenbar ging es hier um die sagenhafte Goldene Königin. Der Zikadenmann rätselte herum, was sie mit dem Goldland zu tun hatte. Vielleicht wohnte sie da. Es war schon zu ärgerlich, daß er den Text kaum entziffern konnte. Er beschloß jedenfalls, daß er dieser Frau vielleicht besser aus dem Weg gehen sollte, wenn er sie traf. Denn er hatte nicht vor, das Gold, daß er sich erhoffte, mit jemandem zu teilen. Mit niemandem, auch nicht mit den sagenhaftesten Märchengestalten. Nein, keine Menschenseele durfte je dieses Buch zu sehen bekommen! Sein wahrer Wert bestand nicht in seinem sagenhaften Alter, sondern in dem, was darin geschrieben stand. Und Choru brauchte auf jeden Fall eine Art Wörterbuch. * Es sollte fast zwei Jahre dauern, bis er das Buch übersetzt hatte. Doch als er es hatte, nahm das Unheil unaufhaltsam seinen Gang. *
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»Vater, Vater! Ein Bote von Prinz Sofrejan ist soeben in die Stadt eingeritten. Jetzt kann es bestimmt nicht mehr lange dauern, bis auch er kommt.« Olivia war vor Aufregung völlig aus dem Häuschen. Seit der Abreise Sofrejans fieberte sie seiner Rückkehr und der Hochzeit entgegen. Der Weiße König versuchte, sie etwas zu beruhigen: »Sicher, mein Kind, sicher. Aber ich fürchte, Geduld mußt du noch lernen.« »Oh, Vater, wenn er doch nur schon hier wäre.« »Wer? Der Bote oder der Prinz?« Olivia sah ihren Vater irritiert an, doch dann erwiderte sie sein schelmisches Lächeln. Wenig später wurde mit Trompetenklängen der imperiale Bote angekündigt. Der Weiße König fragte sich, warum man den Herrscher der kleinen Sonneninsel Imperator nannte. Er wußte es nicht, es war eben schon immer so gewesen. Er rückte die Krone zurecht und setzte sich möglichst würdevoll in seinen weißen Thron. Dann stießen die Hoflakaien mit gewaltigem Quietschen das Portal auf. »Wenn ich bei Elysiss mal einen Wunsch frei habe, dann werde ich mir wünschen, daß dieses gräßliche Quietschen aufhört«, murmelte der Weiße König zu sich selbst. Dann betrat der Bote der Sonneninsel den Thronsaal. In der einen Hand trug er das imperiale Banner, in der anderen eine Art Lederköcher, aus dem er nun ein Schriftstück hervorzog. Nach einer formvollendeten Begrüßung kam er zur Sache: »Majestät. Im Auftrag meines Gebieters, des regierenden Prinzen Sofrejan von der Sonneninsel habe ich dieses Schreiben zu verlesen. Wenn Ihr gestattet...« »Nur zu.« Der Weiße König nickte ihm huldvoll zu. »An den erlauchten König Heinrich, den Herrscher des Weißen Landes, und seine liebreizende Tochter, die Prinzessin Olivia. Majestät. Hiermit erlauben wir uns in aller Form, um die Hand Eurer Prinzessin anzuhalten. Die Hochzeit soll stattfinden am dritten Tage von heute. Wir bedauern es außerordentlich, das großzügige Angebot Eurer Majestät zur Vereinigung unserer beiden Reiche nicht annehmen zu können und hoffen, daß dies der Hochzeit nicht im Wege steht. Des weiteren annoncieren wir unser Eintreffen in Eurer Hauptstadt für den morgigen Tag. Gezeichnet Sofrejan, Prinzregent der Sonneninsel.« Der Weiße König verbarg seine Enttäuschung über die Absage Sofrejans, was seine Nachfolge anging, denn um nichts anderes ging es ihm ja bei dem Vereinigungsangebot. Und es hieß weiter, daß Sofrejan statt dessen Olivia mit sich auf die Sonneninsel nehmen würde und er somit die dritte Tochter verlor. Doch das war wohl sein Schicksal. Irgendwie würde er es schon schaffen. Immerhin blieb ihm ja noch Alessandra. Olivia hingegen interessierte die hohe Politik überhaupt nicht. Sie war glücklich, ihren Geliebten bald wiederzusehen. »Vielen Dank, mein lieber Bote. Wenn ihr zurückreitet, dann gebe ich Euch eine Ritter-Eskorte mit, die
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den Prinzen sicher durch mein Gebiet geleiten wird.« »So soll es geschehen, Majestät. Ich bedanke mich im Namen meines Herrschers für Eure Gastfreundschaft.« Und nachdem man den Boten verpflegt und ihm ein neues Pferd gegeben hatte, ritt er mit 50 Soldaten unter der persönlichen Führung des Rittmeisters von Walldorff seinem Prinzen entgegen, der bereits unterwegs war. Seufzend ließ sich der Weiße König in einem Stuhl im Büro Adalberts nieder. Ihm gegenüber saß der Majordomus, und in der Tür lehnte Alessandra, die ihrem Vater gefolgt war, als sie ihn sorgenvoll durch die Vorhalle hatte gehen sehen. »Ach, Adalbert. Jetzt verliere ich schon die dritte meiner Töchter, und es ist noch immer kein Nachfolger für mich in Sicht. Wer soll das Reich führen, wenn ich mal nicht mehr da bin?« »Nun, mein König, wenn ich einen Vorschlag machen dürfte?« »Du weißt doch, daß du mir alles sagen darfst. Das war schon immer so, mein getreuer Adalbert.« Der Majordomus lächelte warmherzig, dann sagte er: »Habt Ihr schon mal darüber nachgedacht, daß das Reich statt von einem König auch von einer Königin regiert werden könnte?« Hatte er nicht. Diese Idee war für ihn völlig neu und überraschend. Mit großen Augen starrte er den Majordomus an. »Und wen hast du dabei im Sinn, Onkel Adalbert?«, fragte Alessandra dazwischen. »Dich!«, antwortete er frei heraus, und nun war es an der Prinzessin, perplex dreinzuschauen. Dann blickte der Weiße König seine Tochter an, und schließlich beide den Majordomus. »Ja, ja, du Teufelskerl!«, rief der Weiße König begeistert. »Das ist die Idee!« »Aber ...« wehrte Alessandra ab. Sie als Weiße Königin? »Wir müssen es ja nicht heute entscheiden«, beruhigte Adalbert sie. »Mein liebes Kind, es wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird.« Nachdenklich verließ Alessandra den Verwaltungsflügel. Der Weiße König hingegen war in Hochstimmung, obwohl es dafür kaum einen Grund gab. Denn wie Adalbert völlig richtig bemerkt hatte: Es war noch überhaupt nichts entschieden. * Spät am Abend saßen Olivia und Alessandra auf dem Bett zusammen. Im Zimmer waren die Kerzen bis auf eine heruntergebrannt, und im Halbdunkel sahen sich die beiden jungen Frauen mit großen Augen an. »Du wirst jetzt bald heiraten und fortgehen.« Alessandras Stimme klang sehr traurig. »Ich glaube, ich spüre jetzt zum ersten Mal richtig, daß unsere unbeschwerte Kindheit vorüber ist. Simona, Ornella, jetzt
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Du. Und ich soll vielleicht die Weiße Königin werden.« Olivia zeigte Erstaunen, sagte aber nichts. Sie sah Alessandra fragend an. »Ja, Adalbert hat es Vater heute vorgeschlagen. Weil Sofrejan dich mit sich nehmen will, statt hier König zu werden. Oh, Schwester, ich vermisse dich jetzt schon.« Sie lachte etwas gequält: »Ist das nicht albern?« Olivia öffnete die Lippen zu einer Erwiderung, doch dann streichelte sie Alessandra über das Haar und zog den Kopf ihrer kleinen Schwester an ihre Brust. Sie fühlte ihre Tränen und flüsterte: »Alessandra. Du weinst ja.« Olivia war zutiefst gerührt. So kannte sie ihre Schwester überhaupt nicht, ihre trotzige, eigensinnige, tapfere Schwester. »Wein' doch nicht, sonst muß ich auch anfangen. Dabei werde ich in drei Tagen meinen Schatz heiraten.« Sie seufzte. »Frauen dürfen eben manchmal weinen«, flüsterte Alessandra leise. »Zum Glück.« * Es war nicht so wie damals beim Turnier. Sofrejan hatte nur ein paar Diener dabei und er brachte auch nicht viele Geschenke. Doch alle betrachteten das als selbstverständlich, und Olivia war es sowieso völlig egal. Sofrejan war noch nicht richtig vom Pferd herunter, da war sie ihm schon um den Hals gefallen. Dann waren sie in ihrem Zimmer verschwunden, und nur mühsam hatte der Prinz seine Verlobte nach ein paar Stunden davon überzeugen können, daß er vor dem Ja-Wort noch einiges zu erledigen hatte. Zum Beispiel eine Unterredung mit dem Weißen König. Selbst bei einer Bauerhochzeit gab es vorher einiges auszuhandeln. Und dies hier war die Vermählung zweier der wichtigsten Herrscherhäuser ... * Heinrich erneuerte sein Angebot zur Vereinigung seines Reiches mit der Sonneninsel, doch Sofrejan erklärte, daß er nicht derjenige Imperator sein wollte, der eine ewige Tradition brach. Eine Tradition zudem, mit der die Sonneninsel immer gut gefahren war, wie ihr Reichtum bewies. Der Weiße König nahm es schließlich mit einem letzten Seufzer hin. Dann gingen sie die Einzelheiten der Trauung durch, die in der Weißen Kirche stattfinden sollte. Es war zwar kein großes Fest geplant, denn immerhin waren noch zahllose Flüchtlinge in der Stadt, aber einen feierlichen Abend für alle würde es schon geben. Sofrejan sicherte dem Weißen König seine Unterstützung beim Wiederaufbau des vom Krieg zerstörten Ostens zu und bat dafür um Hilfe bei seinen eigenen Problemen: Dem Aufbau eines Geheimdienstes und der internationalen Diplomatie. Der Weiße König, dem die Wichtigkeit solcher Dinge wohlvertraut war, ließ Gerald Markow, einen seiner
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besten Geheimdienst-Männer kommen und teilte ihn Sofrejan zur Unterstützung zu. Dann unterhielten sie sich über Cordo und Starrus. Der Weiße König war durch Alessandra in allen Einzelheiten über die Rückkehr Cordos informiert. Vor allem wußte er, welche Rolle der Schwarze König dabei gespielt hatte. Er brachte es Sofrejan schonend bei. Immerhin war ja auch eine seiner Töchter mit dem Schwarzen König verheiratet, und wie man hörte, war sie glücklich dort. Sofrejan wollte das nicht so recht glauben, und er nahm sich vor, den Schwarzen König eines Tages zu besuchen, um sich selbst ein Bild zu machen. Er hatte ihn ja nur kurz kennengelernt und keinen klaren Eindruck von ihm gewinnen können. Nur eine gewisse geheimnisvolle Faszination war geblieben. »Tja, das Auftauchen Cordos hat mehr Probleme erzeugt als gelöst«, meinte der Weiße König schließlich. »Aber ich bin sicher,« fuhr er fort, »daß er mit meiner Unterstützung bald mit diesem Widerling Starrus aufgeräumt haben wird.« »Ach, Ihr unterstützt Cordo ganz offen? Das wußte ich gar nicht«, antwortete Sofrejan überrascht. »Doch, doch. Kein Problem. Mit Starrus habe ich noch ein Hühnchen zu rupfen. Seht Euch nur mal in der Stadt um: Alles voller Flüchtlinge, die wegen der verbrannten Felder und Städte nicht wissen, wie sie über den Winter kommen sollen. Dafür werde ich Starrus bestrafen, und wenn ich selbst noch mal ins Feld ziehen muß!« »Ich glaube auch nicht, daß Starrus seinen Thron zurückerobern kann. Aber Ihr sagtet, der Schwarze König hätte ihn aus der Konservierung des Barons der Hölle befreit. Warum eigentlich?« »Nun, Alessandra hat mir berichtet, daß sein Ziel eigentlich war, ihre Hinrichtung zu verhindern.« »Aber das hätte er mit seinen Zauberkräften doch leicht gekonnt. Warum dieser Aufwand?« »Weil er genau das nicht wollte, nämlich hingehen und mit seinen magischen Kräften eine Weiße Prinzessin retten. Alessandra sagte, er wollte seinen schlechten Ruf nicht verlieren.« Sofrejan blickte den Weißen König an, als habe er den Verstand verloren. »So, so«, sagte er schließlich kopfschüttelnd. Den Schwarzen König als guten Menschen konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen. * Am Abend des übernächsten Tages fand die Trauung statt. Eine feierliche Stimmung war an diesem Wintertag in der Weißen Hauptstadt eingekehrt. Schnee bedeckte die Straßen und Häuser, und ließ sie in der Abendsonne wie aus Zuckerguß aussehen. Alles wirkte sauber, und eine fast heilige Stille senkte sich über die Stadt, als der Weiße König, gefolgt vom Prinz Sofrejan und Prinzessin Olivia den Palast verließ und durch die Straßen zur Kirche ging. Hinter ihnen kam Prinzessin Alessandra als Olivias Trauzeugin, Mayer, der Palastverwalter Sofrejans, als dessen Trauzeuge, dann der Majordomus, Rittmeister von Walldorff, der General und die hohen Beamten des Weißen Reiches.
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In vielen Seitenstraßen hatte man Feuer entzündet, über denen Hirsche, Ochsen, Hasen, Hühner und Schweine gegrillt wurden, und ihr Duft zog durch die hereinbrechende Winternacht und gab ihr etwas märchenhaftes. Voller stummer Ergriffenheit sahen die Menschen, oft selbst nur in Lumpen gekleidet, dem königlichen Brautpaar hinterher, wie es in seinen golden funkelnden Gewändern majestätisch durch die Straßen ging. Die Älteren erinnerten sich noch an die Hochzeit des Weißen Königs mit der Weißen Königin, einer sanften und wunderschönen Frau. Damals hatte das Volk jubelnd auf den Straßen getanzt, heute herrschte eine andächtige, heilige Stille. Die temperamentvolle Olivia, der junge Wildfang Alessandra sie waren wie ausgewechselt. Engelsgleich schwebten sie durch die Märchenstadt und brachten den Herzen der vom Krieg gezeichneten Menschen Ruhe und Frieden. Plötzlich das Hufgetrappel zweier Pferde, dann der Aufprall von zwei Stiefelpaaren auf dem Pflaster. Viele Augen flogen herum, doch diesmal geriet seltsamerweise niemand in Panik, keiner schrie auf beim Anblick des Schwarzen Königs und der Schwarzen Königin. In dieser Märchennacht ging selbst von diesen beiden Frieden aus, zumal jeder Prinzessin Ornella erkannte. Langsam, mit gemessenen Schritten, seine Bestgeliebte an seiner Seite, bahnte sich Thoran seinen Weg durch die Menge, die bereitwillig vor ihm zurückwich. Jetzt wurde auch der Weiße König und sein Zug aufmerksam. Heinrich bekam große Augen. Er hatte seine Tochter seit vielen Monaten nicht mehr gesehen. Und nun war sie auf einmal da, zusammen mit ihrem unheimlichen Mann. »Ornella!« rief Alessandra, als sie ihre Schwester sah. Sie löste sich aus der Prozession, rannte auf ihre älteste Schwester zu und fiel ihr lachend und weinend zugleich in die Arme. Keine drei Schritte hinter ihr kam Olivia, ebenso glücklich. Etwas abseits stand der Schwarze König, seine Würde wahrend, doch damit war es vorbei, als Alessandra auch ihn stürmisch umarmte und ihn auf die Wangen küßte. »Thoran, Schwester! Wie freue ich mich, euch zu sehen.« Der Schwarze König lächelte sie unergründlich an, dann kehrten Alessandra und Olivia in die Prozession zurück. Thoran und Ornella traten dem königlichen Zug ebenfalls bei. Sofrejan warf seinem zukünftigen Schwippschwager einen mißtrauischen Blick zu, sagte aber nichts. Denn die Freude Olivias zumindest über das Erscheinen ihrer Schwester Ornella und die Begeisterung, mit der Alessandra den Schwarzen König begrüßt hatte, verhießen eigentlich nur Gutes. Wie es schien, würde die Hochzeit trotz dieses unangemeldeten Besuches harmonisch und friedlich verlaufen. In der Kirche war es hell erleuchtet. Überall brannten Fackeln und Kerzen, und an den Wänden standen Jungen und Mädchen in weißen Gewändern Spalier und warfen Blumen auf das Hochzeitspaar. Aber auch das geschah mit feierlichem Schweigen. Nur ihre Augen leuchteten vor Freude. Dann ertönte leise die große Reichsorgel und füllte die Kirche und die angrenzenden Straßen und Plätze mit ihrem getragenen, feierlichen Ton. Schließlich traten Sofrejan und Olivia vor den Priester. »Prinz Sofrejan, zukünftiger Imperator der Sonneninsel! Und du, Weiße Prinzessin Olivia. Ihr seid heute hier zusammengekommen, um in den heiligen Stand der Ehe zu treten. Wie es Tradition ist, sollt Ihr Euch das, was Euch am wichtigsten ist, geloben, wenn Ihr Euch über die Schwere und Tragweite Eures
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Entschlusses im klaren seid.« Auffordernd blickte er den Prinzen an. »Meine geliebte Olivia. Ich schwöre, dich immer zu lieben und zu beschützen vor allem Schmutzigen und Bösen, bis an das Ende meiner Tage.« Und Olivia antwortete mit leiser, aber fester Stimme: »Mein über alles geliebter Sofrejan. Ich gelobe dir meinen Rat, meine Ehrerbietung und meine flammende Liebe auf ewig.« Alessandra erinnerte sich, daß Ornella bei ihrer Hochzeit mit Thoran fast dieselben Worte verwandt hatte, und warf ihrer ältesten Schwester einen wissenden Blick zu, den diese leise lächelnd erwiderte. Der Priester fuhr fort: »Da Ihr Euch nun über Euren Entschluß im Klaren seid, vereinige ich Euch hiermit im heiligen Stand der Ehe, bis daß der Tod Euch scheidet!« Und dann brach der Jubel los. Es wurde ein rauschendes Fest, das die Bewohner der Weißen Stadt in dieser Nacht auf ihren Straßen und Plätzen feierten. An Schlaf dachte keiner, es wurde gegessen und getanzt, und mitten unter ihnen das frischvermählte Paar, der Weiße König, der Schwarze König mit seiner Königin und Prinzessin Alessandra. »Hier!« Thoran, neben dem einige Plätze freigeblieben waren, war aufgestanden und zu Alessandra hinübergegangen. Er hatte etwas aus einer Tasche hervorgeholt und überreichte es nun der Prinzessin, die sich gerade angeregt mit Ornella und Olivia unterhielt. »Oh, Simonas Ring!« »Ja. Ich habe ihn in die Kette eingefügt. Gib ihn deiner jüngsten Schwester, wenn du sie wieder siehst!« Sein Blick richtete sich nun auf Olivia. »Kennst du die Bedeutung dieser Kette, Olivia?« Scheu erwiderte Olivia den Blick Thorans. »Ja«, sagte sie, unsicher den Tisch vor sich anstarrend. »Wenn du willst, kann ich auch deinen Ring noch einfügen. Ihr werdet bald weit voneinander getrennt sein. Die Ringe helfen euch in Zeiten der Not, einander zu Hilfe zu rufen.« Olivia wandte nun den Kopf dem Schwarzen König zu und blickte ihn schüchtern und vorsichtig an. Erstaunt registrierte sie, daß Ornella aufgestanden war und sich nun zärtlich an den Schwarzen König schmiegte. Irgendwie gab ihr das etwas Mut. Entschlossen zog sie ihren Pantherring vom Finger und reichte ihn ihm. Der Schwarze König nahm ihn entgegen, lächelte der frischgebackenen Prinzessin der Sonneninsel aufmunternd zu und steckte den Ring ein. »Ich denke, ich sollte jetzt wieder gehen, nachdem ich Gelegenheit hatte, zumindest den größten Teil meiner angeheirateten Verwandtschaft kennenzulernen.« »Oh, bleib doch noch«, rief Alessandra enttäuscht, aber Thoran schüttelte den Kopf. Dann meinte er: »Aber meine Bestgeliebte kann noch ein paar Tage bleiben, wenn sie möchte.« Er blickte Ornella an, und ihre großen schwarzen Augen leuchteten vor Freude auf.
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»Nun denn.« Er küßte seine Frau lange und inniglich, dann verabschiedete er sich von den anderen, teils herzlich, wie bei Alessandra, teils eher reserviert. Schließlich bestieg er sein schwarzes Pferd, ritt aus der Stadt und wurde kurz darauf von der Dunkelheit verschluckt. »Vater, was hast du?« fragte Alessandra, als sie den Weißen König nachdenklich an seiner Tafel sehen sah. Es war schon sehr spät, fast schon früher Morgen. Die Feuer waren heruntergebrannt, aber immer noch drehten sich an den Spießen große Fleischstücke. Alessandra ging zu ihm hinüber und schlang ihre Arme um seinen Hals. »Ist es wegen Thoran?« flüsterte sie in sein Ohr. »Hmm? Nein. Aber ich frage mich, warum Elysiss heute nicht gekommen ist. Ich mache mir Sorgen. Ich hätte meinen Schwiegersohn fragen sollen. Leider ist es mir erst zu spät eingefallen.« Er brummte unwillig vor sich hin. »Stimmt. Mir ist es gar nicht aufgefallen, aber du hast recht. Ich werde Ornella bitten, Thoran zu fragen, wenn sie wieder im Schwarzen Schloß ist.« »Sage Ornella doch bitte, sie soll mal zu mir rüber kommen.« »Gern, Vater.« Etwas scheu trat kurz darauf trat die Schwarze Königin vor den Weißen König hin. Offensichtlich hatte sie ein schlechtes Gewissen. Die Ereignisse damals waren turbulent und zum großen Teil sehr unerfreulich gewesen, und sie hatte eine gewisse Mitschuld daran. König Heinrich musterte seine Tochter lange und eingehend. Olivia hatte sich verändert. Fast als einzige der anwesenden Frauen trug sie keinen Rock, sondern einen schwarzen Hosenanzug aus einem Material, das der Weiße König nicht kannte, eine Art mattglänzendes Leder. Der Anzug stand ihr hervorragend. Er umschmiegte ihren weiblichen Körper sehr eng, war aber so elastisch, daß sie darin jede Bewegungsfreiheit hatte. Die tiefschwarzen Haare hatte sie zu zwei Zöpfen geflochten, die rechts und links über ihre Schultern fielen. Die dunklen Augen bildeten einen reizvollen Kontrast zur alabasterweißen Haut ihres Gesichts und ihren blutroten Lippen. Der Weiße König fand, daß seine älteste Tochter unglaublich gut aussah. Ihre Gesichtszüge strahlten die königliche Ruhe und Würde aus, die er sich von seinem Geschlecht immer gewünscht hatte, egal, ob es sich um männliche oder weibliche Angehörige handelte. Er lächelte Ornella an und streckte eine Hand nach ihr aus: »Meine liebe Tochter. Komm, setzt dich doch mal zu mir. So. Mein Gott, wenn mir einer gesagt hätte, daß ich mal der Schwiegervater des Schwarzen Königs werden würde ... Du bist zu einer wunderschönen und stolzen Frau herangewachsen. Ich mache mir Sorgen, ob du in den richtigen Händen bist, mußt du wissen.« Ornella öffnete den Mund zu einer Antwort, doch dann überlegte sie es sich anders. Ein versonnenes Lächeln umspielte ihre vollen Lippen. Schließlich gurrte sie: »Das kann dir bald dein Enkel erzählen!« * Der Abschied war schwer und tränenreich. Ornella kehrte ins Unendliche Land zurück, und Sofrejan
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nahm seine Frau mit zur Sonneninsel, die selbst jetzt, im Winter, Licht und Helligkeit auszustrahlen schien. Seine Mutter war in letzter Zeit kaum noch in Erscheinung getreten, und er wollte natürlich von seiner Geliebten nicht getrennt sein. Zurück blieben Alessandra und der Weiße König. * Alessandra besuchte bald darauf Simona und überbrachte ihr ihren Gepardenring. Dabei erfuhr sie, daß Simona ebenfalls Mutterfreuden entgegensah. Mit dieser erfreulichen Nachricht kehrte sie zu ihrem Vater zurück, der sich wegen dieser Reise mitten im Winter große Sorgen gemacht hatte. Aber es verlief alles glatt, und die Prinzessin, die mittlerweile offen als neue Weiße Königin gehandelt wurde, kehrte gesund und munter ins Weiße Schloß zurück. Aber noch jemand anderes hatte sich den Winter zum Reisen ausgesucht. * Wenn man sich die große Karte, die im Arbeitszimmer des Majordomus Adalbert hing, ansah, dann fiel einem ein recht kleines, grob rautenförmiges Landstück mit Namen »Herzogtum Rolfes« auf, das östlich der Sonneninsel begann, südlich an das Weiße Königreich und westlich an Arcadia-Land grenzte. Auf der Karte war auch eine Süd- und eine Westgrenze dieses Herzogtums eingezeichnet, aber das entsprach nicht der Realität. Wo die Macht von Herzog Rolfes II endete, wußte nicht mal er selbst. Irgendwo kam die letzte Stadt, dann das letzte Dörfchen, dann der letzte Hof, und dann begann irgendwo dahinter die herrenlose Steppe, das südliche Ödland. Vor nicht einmal hundert Jahren waren Nomaden aus den Wüsten und Halbwüsten im fernen Westen mit ihren Herden in diese bis dahin praktisch unbewohnte Gegend gekommen und hatten sich niedergelassen. Ihr Anführer war noch Viehtreiber und Stammeshäuptling gewesen, sein Sohn nannte sich dann schon Herzog Rolfes I, und dessen Sohn führte den Titel Herzog geradezu mit heiliger Inbrunst. Doch in den Augen des übrigen Hochadels waren sie immer noch stinkende Ziegenhirten. * Es war Ende Januar des Jahren 1243, und ein eisiger Wind pfiff über das vereiste Land. Er jagte Schneeböen vor sich her und trieb den fünf einsamen Reitern, die tief eingehüllt in ihre Mäntel auf ihren Pferden saßen, die Tränen in die Augen. Das Land war flach und offen, aber die tiefhängenden grauen Winterwolken verhinderten, daß man mehr als ein paar hundert Meter weit sehen konnte. Zum Glück wußte der Führer, wohin die Gruppe zu reiten hatte, und die Pferde, kleine, pummelige Steppentiere mit dichtem, struppigem Fell, kannten den Weg ebenfalls. Die vier anderen Reiter waren Kommandeur de Roqueville, einer seiner Stellvertreter, König Starrus und sein Sohn Nuitor. Und sie waren auf dem Weg zu Herzog Rolfes II. Stunde um Stunde quälten sie sich durch den eisigen Wind. Ihre Hände waren schon gefühllos, als sie endlich ein Zeltlager der Rolfes-Leute erreichten. Starrus hatte Geld dabei, viel Geld sogar, und da die Bewohner des Herzogtums nicht gerade reich waren, hätte man sie auch dann einquartiert, wenn der Führer nicht einer der Ihren gewesen wäre.
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* Sie übernachteten also in einem zugigen Zelt, und am nächsten Tag ging es weiter, weiter durch Sturm, Eis und Schnee. Das ging fünf Tage lang so, und jeder der vier Fremden wünschte sich in jeder Sekunde, er hätte sich nicht darauf eingelassen: auf den kühnen Plan von König Starrus, mit dem er Cordo in die Knie zwingen wollte. Doch am Mittag des fünften Tages erreichten sie endlich Stomol, die herzögliche Hauptstadt. Außer dem Führer, der vorausritt, um sie bei seinem Herzog anzukündigen, hatten sich alle unter einer Hauptstadt etwas anderes vorgestellt als ein besseres Hüttendorf mit ein paar Steinbaracken, doch sie hüteten sich, abfällige Bemerkungen zu machen, obwohl sie die Stadt und ihre armseligen Bewohner voller Verachtung und Herablassung betrachteten. Doch sie brauchten Rolfes II. Und sie würden seine Hilfe bekommen, denn Starrus wußte, was der Herzog mehr als alles andere begehrte. Bald darauf kehrte der Führer wieder zurück. Er war einer der zahllosen Söhne des Herzogs, die dieser mit seinen Frauen, deren Zofen, den Zimmermädchen, Köchinnen, Sklavinnen und jeder anderen erreichbaren Frau gezeugt hatte. Wegen seiner Verwandtschaft mit dem Herrscher hatte er auch keine Schwierigkeiten gehabt, beim Herzog vorzusprechen. Nun trat er zu den Vieren, die inzwischen in einem großen, gut geheizten Zelt untergekommen waren, in dem Essen und Getränke angeboten wurde, und sagte: »Mein Vater ist im Moment leider zu beschäftigt für eine Audienz, aber er hat heute Abend einen wichtigen Termin verschoben, extra, um Euch anzuhören.« Nuitor preßte ob dieser Unverschämtheiten die Kiefer vor Wut so fest zusammen, daß es knackte. Mitten im Winter hatte dieser Hirte, der sich Herzog nannte, nichts, aber auch rein gar nichts zu tun, es sein denn, er amüsierte sich gerade mit einer seiner Gespielinnen. Statt dessen behandelte er den mächtigen arcadischen König wie einen Bittsteller. Starrus warf seinem Sohn, der offensichtlich genauso dachte, einen warnenden Blick zu. Er war entschlossen, mit Rolfes wegen dieser Demütigung abzurechnen, nachdem er Cordo erledigt hatte. Aber erst dann. Der Kommandeur, den er kürzlich eingekauft hatte, den besten der ganzen Sonneninsel-Armee übrigens, hatte hingegen keine Miene verzogen, ebensowenig wie sein Stellvertreter. De Roqueville war ein Mann, den so gut wie nichts aus der Ruhe brachte und der alle schlechten Eigenschaften der Menschen kannte, so daß er nie unangenehm überrascht werden konnte. Dazu war er ein eiskalter, berechnender, oft grausamer Draufgänger und genialer Taktiker. Und natürlich der Mann, der sich in der Augen von Starrus ewigen Ruhm damit erworben hatte, daß er Prinzessin Alessandra gefangengenommen hatte. »Danke«, erwiderte Starrus knapp und so frostig, wie es gerade noch ging. Dann wandte er sich demonstrativ wieder seinem Essen zu. Das Essen war hier wirklich der einzige Lichtblick. Diese Bauerntrampel verstanden zu kochen. Später setzten sie sich zu ein paar Kartenspielern an einen Tisch und vertrieben sich die Zeit bis zum Abend. Dabei glänzte vor allem de Roqueville durch besonderes Geschick und nahm einen der RolfesLeute nach dem anderen aus. Selbst Starrus und Nuitor mußten an ihn zahlen, und der Kommandeur dachte gar nicht daran, auf seinen neuen Herrn und dessen Sohn besondere Rücksicht zu nehmen. Davon abgesehen besaß Starrus mehr, als dieser Soldat je in seinem Leben haben würde, es machte ihm also nichts aus. Auch Nuitor ertrug es mit Fassung, doch er beobachtete de Roqueville genau und wurde im Laufe des Abends immer besser.
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Dann trat Rolfes' Sohn an ihren Tisch und sagte mit salbungsvoller Stimme: »Der Herzog läßt jetzt bitten.« Nuitor wollte sich schon erheben, doch Starrus hielt ihn am Arm fest und drückte ihn auf seinen Stuhl zurück. Er blickte den anderen nur kurz an und sagte: »Teile er seinem Vater mit, daß wir gerade eine Glückssträhne haben und diese auszunutzen gedenken. Wir kommen dann etwas später.« Der Junge stand wie vom Donner gerührt da, dann drehte er sich verstört um und lief wieder hinaus. Etwas später - schließlich wollten sie es nicht übertreiben - folgten Starrus und seine Begleiter. Der König von Arcadia-Land war neugierig, wie der Herzog sie nun empfangen würde. Es war eigentlich alles möglich: Er konnte wegen der Mißachtung seiner Person tief beleidigt sein, oder vielleicht bewunderte er Starrus gerade wegen seiner Arroganz und königlichen Unnahbarkeit. Und so war es auch, obwohl Rolfes II es nicht sofort offen zeigte. Starrus wußte, daß dem sogenannten Herzog seine niedere Abstammung nachhing und er sich nichts sehnlicher wünschte, als vom alten Hochadel als Seinesgleichen anerkannt zu werden. Genau damit wollte Starrus ihn locken, denn die Krieger des Herzog waren tapfere und zähe Soldaten, die für ihr Land schon so manchen aussichtslos erscheinende Schlacht herumgerissen hatten. Genau der richtige Menschenschlag, um mit den fanatisierten Anhängern Cordos fertigzuwerden. Nach einer mehr als langatmigen Begrüßung, die der Herzog wohl für besonders vornehm hielt, kamen er und Starrus dann zur Sache. Während dessen sah sich de Roqueville im Thronsaal um. Selten hatte er so viel wertlosen Krempel und scheußlichen Kitsch an einer Stelle versammelt gesehen. Offenbar hatte man diesen Hirten allen Schrott angedreht, den man woanders nicht mehr verkaufen konnte, und sie hatten in ihrer Naivität geglaubt, es sei besonders alt und wertvoll. Dann wandte der Kommandeur seine Aufmerksamkeit wieder den zähen Verhandlungen zu. Die Wünsche von Starrus waren einfach: So viele Soldaten wie möglich. Dafür bot er zunächst Geld, lockte dann aber auch, indem er durchblicken ließ, daß er eine seiner Töchter an einen der Söhne von Rolfes verheiraten könnte. Damit würde der Ziegenhirte in den alten Hochadel aufrücken, und wenn schon nicht er selbst, dann wenigstens sein Sohn. Doch irgendwie schien Rolfes das zu Kopf gestiegen zu sein, denn er verlangte mehr. Er wollte selbst König werden. Und so war sogar der kaltblütige de Roqueville überrascht, als Starrus schließlich umschwenkte und sagte: »Wenn Eure Soldaten gegen Cordo und seinen Verbündeten, den Weißen König siegen, dann werdet Ihr die Weiße Krone erhalten.« Die Weiße Krone war DAS Symbol schlechthin für königliche Herrlichkeit, die anerkannteste und begehrteste Krone von allen. De Roqueville verstand zwar, daß Prinz Sofrejan sie abgelehnt hatte, aber das war eine Ausnahme. Und noch eines war allen Anwesenden außer dem Herzog klar: Daß er die Krone niemals bekommen würde. Starrus hätte ihm sonst was versprochen, und der Bauer glaubte alles. Das bedeutete, daß de Roqueville als designierter Oberbefehlshaber der gesamten arcadischen Armee und der herzöglichen Hilfstruppen sich schon jetzt, in dieser Sekunde darauf einzurichten hatte, die Soldaten des Herzogs nach getaner Arbeit loszuwerden. Und zwar für immer. Schon in der Aufstellung der ersten Schlachtordnung war zu berücksichtigen, daß ganz am Ende, vielleicht erst nach Jahren, die Hirten beseitigt werden mußten. Und ihr dämlicher Herzog am besten gleich als erster. De Roquevilles Augen leuchteten. Dies war die Art von Herausforderung, die er so liebte. Die Aussicht auf die Weiße Krone hatte bei Rolfes II jedes Maß verlorengehen lassen. Er versprach
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Starrus alle wehrfähigen Männer seines gesamten Reiches, alle Pferde, Geld, so viel er brauchte, Frauen für ihn und seine Leute, was der König zumindest für sich selbst entschieden ablehnte, kurz: er stellte praktisch sein gesamtes Reich Starrus zur Verfügung. Und Starrus griff zu. Er blieb zusammen mit de Roqueville in Stomol und befahl die sofortige Mobilisierung, während er seinen Sohn und den Adjutanten nach Gel-Gabal zurückschickte, um dort den Einsatz der Herzöglichen zu planen und für einen sofortigen Angriff zu rüsten. Denn kein Mensch in Arcadia-Land oder im Weißen Königreich rechnete mit einem Angriff mitten im Winter. * Anfang März wäre es soweit gewesen, doch Rolfes II war zu ungeduldig. Er drängte schon Wochen vorher auf einen sofortigen Aufbruch der bereits mobilisierten Soldaten. Weder Starrus noch de Roqueville sahen darin einen Sinn, bis dem gerissenen Arcadier eine Idee kam. Er nahm de Roqueville zur Seite und raunte ihm zu: »Warum lassen wir den alten Schwachkopf nicht die Sonneninsel erobern?« »Brillant, Majestät«, antwortete der Kommandeur nur, denn er verstand den Plan sofort: Seit Jahrhunderten hatte kein Feind mehr die Sonneninsel erobern können, und dem militärischen Dilettanten Rolfes II würde es erst Recht nicht gelingen. Aber hier konnte er sein Mütchen kühlen, was bei einer sich endlos hinziehenden Belagerung von ganz allein passieren würde. Und während dieser Zeit konnte er Starrus nicht stören oder kontrollieren. Für Rolfes winkte hingegen der blendende Glanz des imperialen Throns. Daß er ihn nicht bekommen würde, daran verschwendete der langsam größenwahnsinnig werdende Herzog keinen Gedanken. De Roqueville fügte hinzu: »Wir müssen auf diesen Ziegentreiber gut aufpassen. Allmählich wird er uns gefährlicher als der Feind. Mit der Sonneninsel müssen wir ihn so lange wie möglich beschäftigen. Ich habe da ein paar Ideen.« »Sehr gut. Ich sage es ja immer, mein lieber Roqueville: Unter Sofrejan war Euer Talent verschwendet.« Der Kommandeur gab ihm recht. Er war zwar gegen Schmeicheleien ziemlich immun, aber er wußte genau, daß es weit und breit kaum einen besseren Taktiker gab als ihn. Nur gegen die Weiße Prinzessin Alessandra wäre er gerne einmal wieder angetreten. Sie hatte sich als würdige Gegnerin gezeigt. Er nahm sich vor, seine Feldzüge so zu organisieren, daß es eines Tages dazu kommen konnte. Sicher war das aber nicht, denn normalerweise zogen Frauen nun mal nicht in den Krieg. * Und so begann Anfang Februar ein ziemlich chaotischer Zug der Leute des Herzogs nach Nordosten. An ihrer Spitze ritt Rolfes II persönlich. Im Laufe mehrerer Tage zogen sie sich am Südufer des Sonnensees zusammen und begannen mit dem Ansturm beziehungsweise dem, was sich Rolfes darunter vorstellte. Denn als er erst einmal da war, hatte er keine Idee, wie er die Insel erobern sollte. In seiner Phantasie war er immer als strahlender Sieger durch die Straßen der Sonneninsel gezogen und alle hatten das Haupt vor ihm beugen müssen, vor ihm, den sie zuvor noch verspottet hatten. Nun, an Spott fehlte es auch jetzt nicht. Trotz seiner geringen militärischen Erfahrung war es nämlich für Sofrejan ein Kinderspiel, sich die Rolfes-Leute vom Hals zu halten, die nicht mal über Schiffe verfügten. Und die wackeligen Flöße, die sie in aller Eile zusammenzimmerten, wurden von den geübten und disziplinierten Soldaten und Matrosen Sofrejans meist noch an Land abgefackelt, der Rest auf dem Wasser versenkt. Und so geschah das, was sich Starrus und de Roqueville erhofft hatten. Sie waren in Stomol zurück
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geblieben, mit allen herzöglichen Vollmachten, und plünderten systematisch die kriegswichtigen Ressourcen des Landes für sich selbst aus, während der Herzog weit weg verzweifelt und ohnmächtig um seine Ehre focht. Ende März schickte Starrus den Kommandeur mit neuen Befehlen zu Nordus und Nuitor nach Gel-Gabal. Vor der Stadt, die die Arcadier schon zu Beginn des Krieges besetzt hatten und seit dem als ihr Truppenhauptquartier im Feindesland nutzten, hatten sich inzwischen Weiße Soldaten zusammengezogen. Starrus wollte einen Zweifrontenkrieg vermeiden und hielt es für günstig, diese Stellung zu räumen, um sich in einer Alles-oder-Nichts-Entscheidung mit König Cordo zu messen. Die Weißen sollten ihm dabei nach Möglichkeit nicht in die Quere kommen. Eine Woche später zog er an der Spitze eines fast 15.000 Mann starken Heeres von Stomol aus gegen seine eigene (ehemalige) Hauptstadt Tansir, während von Norden her seine Söhne und de Roqueville mit weiteren 6.000 Soldaten gegen die Stadt zogen, in der nun Cordo regierte. * Übellaunig saß Rolfes II in seinem prächtigen Zelt und brütete dumpf vor sich hin. Aber es führte kein Weg an der Einsicht vorbei, daß der gerade Weg zum Triumph nicht gangbar war. Und lange genug hatte dieser nichtsnutzige Prinz Sofrejan ihn und seine tapferen Männer zum Narren gehalten. Oh, Sofrejan! In den blühendsten Farben malte Rolfes sich aus, was er mit dem Prinzen machen würde, wenn er ihn erst mal hatte. Darüber vergingen weitere Stunden, während seine Männer am Ufer des Flusses entlangzogen, um die Schiffe der Sonneninsel anzugreifen, wann immer sich die Gelegenheit bot. Daß sich eigentlich so eine Gelegenheit seit Kriegsbeginn noch nie geboten hatte, war mehr als ärgerlich für den Herzog. So ein Pech, daß der Feind nicht so dumm war, wie er ihn gerne gehabt hätte. Da kam einer seiner Soldaten in das Zelt gestürmt. »Verzeiht mir, Vater!« rief er mit zitternder Stimme, »aber es ist etwas unglaubliches passiert.« Rolfes II zuckte zusammen. »Ja?« fragte er erwartungsvoll, weil er davon ausging, daß sie endlich einen Sieg errungen hatten und seines Sohnes Stimme vor Ehrfurcht vor seiner Kriegskunst zitterte. Doch er wurde enttäuscht. »Wir ... wir kamen gerade von einer Patrouille vom See«, stammelte der junge Offizier, »da trat uns ein Ungeheuer in den Weg und tötete die meisten meiner Männer. Alle bis auf mich und noch zwei andere wurden versteinert und zerfielen vor unseren Augen zu Staub!« Rolfes sah seinen Sohn an, als habe er den Verstand verloren. Der rang sichtlich um Fassung, und brachte die Geschichte dann noch ein zweites Mal hervor. Da wurde der Herzog wütend. Er verprügelte den hirnlosen Burschen und jagte ihn aus dem Zelt. Doch schon bald sollte er wieder an das Vorkommnis erinnert werden. * Auf einem weiten, jetzt am Ende des Winters brachliegenden Feld, trafen die Armeen von Cordo und Starrus aufeinander. Die Könige kommandierten die Schlacht persönlich. Die zahlenmäßige Überlegenheit, mit der Starrus seinen Widersacher völlig überraschte, machten Cordos Leute durch besonderen Mut wieder wett. Lange stand der Kampf auf der Kippe: die arcadischen Soldaten Starrus' waren nicht begeistert darüber, ihre Brüder zu töten, die zufällig auf der anderen Seite unter Cordo kämpften, und die herzöglichen Leih-Soldaten waren zwar harte Burschen, die keine Gnade kannten,
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aber sie waren katastrophal ausgebildet und unerfahren. Aber de Roqueville verheizte sie gnadenlos, und so gelang es ihm schließlich, nach langen Stunden die Schlacht zu seinen Gunsten zu entscheiden. Mitten in der Nacht zogen sich die besiegten Kämpfer Cordos zurück, allerdings nicht in heilloser Flucht, sondern geordnet, so daß Starrus und seine Leute ihnen nicht den Rest geben konnten. Trotzdem ließ de Roqueville schnellst möglich nachrücken, und am anderen Morgen hatte sich die Frontlinie bereits bis auf Sichtweite der Hauptstadt genähert. Starrus ließ verkünden, daß er die Stadt grausam und unnachgiebig bestrafen würde, wenn sie weiterhin mit dem Verräter Cordo kollaborierte, sie aber schonen wollte, wenn sie sich sofort ergab. Daraufhin tat Cordo etwas sehr edles und - von Seiten Starrus' - unerwartetes: Er befreite die Tansirer von ihrem Konflikt und zog sich mit seinen Getreuen, immerhin noch an die 5.000 Soldaten und Freiwillige aus Tansir, aus der Hauptstadt zurück. Starrus ließ seinen Sohn Nordus die Hauptstadt umgehend besetzen, hielt aber Wort: es wurde nur mit denen abgerechnet, die sich besonders innig mit Cordo kompromittiert hatten. Die zahllosen kleinen Mitläufer ließ man unbehelligt. Was nun folgte, war der lange Zug Cordos durch Arcadia-Land nach Norden. Er war entschlossen, das Wort des Weißen Königs einzulösen, der ihm Hilfe angeboten hatte. Doch dazu mußte er erst mal ins Weiße Königreich kommen. Die feindliche Übermacht war ihm stets dicht auf den Fersen. Aber auch Starrus hatte Probleme, allerdings von einer Art, auf die Cordo als echter Ritter nie gekommen wäre. * »Majestät.« »Ah, Roqueville. Was neues von Cordos Truppe?« »Ich hörte,« sagte der Kommandeur, ohne auf die Frage des Königs einzugehen, »daß Ihr plant, Cordo durch Rolfes den Weg nach Norden verlegen zu lassen.« »Richtig. Er muß inzwischen eingesehen haben, daß er an der Sonneninsel nichts ausrichten kann. Und seine Truppen stehen günstig. Wenn er es nicht tut, dann wird Cordo über den Fluß ins Weiße Königreich entkommen. Dann haben wir die auch noch auf dem Hals. Außerdem besteht ja die Möglichkeit, daß Rolfes im Kampf gegen Cordo fällt. Die Bauerntölpel, die wir unter uns haben, sind ja inzwischen recht ordentliche Soldaten geworden, aber die vor der Sonneninsel haben in den letzten zwei Monaten praktisch keinen echten Einsatz gehabt. Die wissen kaum, an welcher Stelle man ein Schwert anfaßt. Mit denen hat Cordo leichtes Spiel, verliert aber eine Menge Zeit.« »Nun, mein König«, antwortete der Kommandeur, »ich fürchte, daß der Ziegenhirte sich nicht darauf einlassen wird. Die Sonneninsel ist inzwischen zu einer Art Besessenheit für ihn geworden, weil er nicht den geringsten Erfolg hat. Stellt Euch vor, jetzt baut er sogar Schiffe. Der ganze Siina-Fluß lacht darüber. Diese Kerle haben ja nicht mal schwimmfähige Flöße zustande gebracht. Und diese neuen Schiffchen wird Sofrejan schnell brandsaniert haben. Ich denken, wir müssen uns wohl oder übel allein um Cordo kümmern und mit Rolfes danach abrechnen.«
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»Hmm.« Starrus dachte einen Moment lang nach. »Ärgerlich. Könnte sein, daß Ihr Recht habt. Aber wie auch immer: Ich habe bereits einen Boten an den Möchtegern-Herzog geschickt. Mal sehen, was er antwortet.« Die Antwort sollte mehr als überraschend werden. * Der Mann stand mitten auf der Straße. Es war eine der Straßen, die die herzöglichen Soldaten mehr oder weniger aus Langeweile gebaut hatten, und die direkt zum Sonnensee hinunterführte. Ein Trupp Soldaten marschierte in ziemlich chaotischer Ordnung die sanfte Neigung hinab und geradewegs auf den seltsamen Mann zu, der keine Anstalten machte zur Seite zu treten. Als die Soldaten näher kamen, sahen sie, daß der Fremde völlig vermummt war. Sein Gesicht war mit zerlumpten schwarzen Tüchern bedeckt, und nur an der Figur und Größe konnte man erkennen, daß es überhaupt ein Mann war. »Aus dem Weg«, brüllte der Feldwebel, der den Zug anführte. Doch statt dessen hob der Fremde seine Hände vor das Gesicht und begann, die Verbände und Tücher abzuwickeln. Den Soldaten wurde es irgendwie mulmig zumute. Hatte man nicht von einem Ungeheuer gehört, daß schon öfters Soldaten überfallen und versteinert hatte? Der Kerl sah zwar nicht wie ein Ungeheuer aus, aber wer konnte da sicher sein, solange man nicht sein Gesicht gesehen hatte. Unwillkürlich gingen die Soldaten langsamer und drängten sich enger zusammen. Nur der Feldwebel spielte den Mutigen und trat dem Fremden, der sich jetzt nur noch ein großes Tuch mit der Hand vorhielt, mit gezücktem Schwert entgegen. Er holte tief Luft, um den unverschämten Kerl zusammenzuscheißen, doch da ließ dieser das Tuch sinken. Der Feldwebel sah ihn an - und erstarrte in einem Atemzug zu Stein. Dann zerbröckelte er vor den Augen seiner Soldaten zu feinem, weißem Staub, der langsam davonwehte. Der Fremde zog sich das Tuch wieder vor das Gesicht. Man konnte seine Augen nicht mehr sehen, doch die Soldaten fühlten seine grauenvollen Blicke immer noch auf sich ruhen. Da sagte der Mann mit ruhiger Stimme: »Ich lasse euch am Leben, damit ihr jedem erzählt, wozu der Basilisk fähig ist. Und jetzt rennt um euer Leben.« Und sie rannten. Sie rannten und rannten, bis sie in Rolfes' Lager ankamen. Und die Panik, die sie verbreiteten, konnte zunächst nicht mal der Herzog selbst in den Griff bekommen, obwohl er einen Tobsuchtsanfall bekam. Doch die Soldaten, die ihren Feldwebel zu Staub hatten zerfallen sehen, nahmen ihren tobenden Herzog kaum wahr. Vielleicht war es das, was ihren Aussagen die Glaubwürdigkeit verlieh. Jedenfalls blieb Rolfes II am Ende nichts übrig, als die Geschichte ebenfalls zu glauben, was gar nicht so einfach war für jemanden, der sie für baren Unsinn hielt! Er ordnete auf jeden Fall an, den Fremden sofort zu töten, sobald man seiner gewahr wurde.
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* In den folgenden Wochen tötete das Ungeheuer mehrere Soldaten, stets unter zahlreichen Zeugen, als lege es besonderen Wert darauf, daß man seinen Namen überall kennenlernte. Es war Ende März, als wieder einmal eine Schar aufgebrachter Soldaten ins Lager stürmte. In der Nacht waren einige ihrer Kameraden nahe am See versteinert worden, und jetzt verlangten sie von ihrem Kriegsherren eine Entscheidung. Sie riefen vor dem Zelt den Namen des Herzogs, doch niemand antwortete. Schließlich faßte einer der Soldaten, es war ein Sohn des Herzogs, Mut und ging hinein. Kurz darauf kam er wieder heraus, bleich wie der Tod und an allen Gliedern zitternd. Er sagte nichts. Auf die fragenden Blicke der Soldaten hin schüttelte er nur den Kopf. Tot! Der Herzog war ebenfalls versteinert worden. Da zerbrach die Armee Rolfes so schnell, wie sie entstanden war. Die Leute waren einfach plötzlich keine Soldaten mehr, sondern wieder Zivilisten. Sie nahmen ihre Sachen auf und machten sich auf den Weg nach Hause. Und waren da nicht auch die Felder zu bestellen? Für diesen albernen Krieg hatten sie jetzt wirklich keine Zeit mehr. * »Dann ist es also wahr!« Olivia sah ihren Mann, den Prinzen, voller Furcht an. Sofrejan war eine Zeitlang im Zelt Rolfes des Zweiten verschwunden gewesen. Die abrückenden Soldaten des Herzogs hatten es einfach stehen lassen. Keiner von ihnen hatte gewagt, es nochmals zu betreten. »Ja. Er ist versteinert und zerbrochen. Aber man kann ihn noch erkennen.« Sofrejan schluckte. Sein Gesicht war grau. »Wer kann das getan haben?« Olivias Augen waren dunkel vor Furcht. Sofrejan sah sie kurz an und schüttelte dann den Kopf. Er kannte nur diese Gerüchte über ... »Ich!« Das Prinzenpaar und die zwei Soldaten, die sie als Begleitung dabei hatten, fuhren herum. »Laßt eure Waffen stecken«, sagte der vermummte Fremde mit ruhiger Stimme zu den Soldaten. »Ich habe nicht vor, euch etwas zu tun.« Langsam ging er auf Olivia zu, die sich eng an ihren Mann drückte. »Sage deinem Vater, daß er in höchster Not auf meine Hilfe zählen kann. Aber wenn er mich ruft, wird er einen hohen Preis zahlen müssen.« Dann drehte sich der Basilisk um und verschwand wieder zwischen den Bäumen. *
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Olivia war sichtlich erleichtert, als sie wieder Inselboden unter den Füßen hatte. Hier fühlte sie sich sicher und geborgen. Fragend sah sie ihren Mann an: »Was - bei allen Göttern - war das? Was kann er gemeint haben? Was hat mein Vater mit ihm zu tun?« »Ich habe während der Überfahrt darüber nachgedacht. Der Fremde hat uns gegen Rolfes geholfen. Und wenn Cordo deinen Vater um Soldaten bittet und Starrus gegen ihn gewinnt, dann brauchen wir wieder Hilfe. Die Hilfe eines Dämons vielleicht.« »Oh, nein.« »Ich fürchte, um deinen Schwager, den Schwarzen König zu zitieren: Das Schicksal vermögen wir nicht aufzuhalten. Aber vielleicht können wir uns darauf vorbereiten.« »Soll das heißen, wir ...« »Ruhe, nur die Ruhe. Noch wissen wir ja gar nicht, was der Basilisk will. Dich und mich jedenfalls nicht, denn uns hätte er ja vorhin ohne weiteres töten können.« Olivia traten die Tränen in die Augen: »Wie kannst du nur so ruhig über diese schrecklichen Dinge reden?« Aber Sofrejan schüttelte nur den Kopf. »Komm jetzt, Mädchen. Ich habe noch eine Idee. Wenn ich meine Mutter finde, werde ich sie fragen, was sie über den Basilisken weiß.« »Deine Mutter?« Sofrejan nickte. * Später durchsuchte er das Schloß. Stundenlang lief er durch die finsterste Winkel und suchte alle bekannten Geheimgänge ab, aber er fand seine Mutter erst, als sie sich finden lassen wollte. Es war schon tief in der Nacht. In einer dunkeln Nische trat sie von hinten an ihn heran und raunte: »Der Basilisk, wie?« Anscheinend wußte sie schon genau Bescheid. Sie fuhr fort: »Ja, über den könnte ich dir eine Menge erzählen. Ein Wunder, daß er dich am Leben gelassen hat.« Sie kicherte häßlich, und ihr Glasauge funkelte dabei unheimlich. Dann fuhr sie fort: »Der Großvater des Schwarzen Königs - er war einer der größten Zauberer - hat den Basilisken verflucht. Vor langer Zeit ist das geschehen, und seitdem irrt er durch die Welt und versucht zu sterben. Aber er ist unsterblich und sein Fluch verhindert, daß er jemals glücklich werden kann, weil er so grauenvoll aussieht. Jeder, der ihn ansieht, versteinert. Es ist die härteste Strafe, von der ich je gehört habe, daß sie einem Sterblichen auferlegt worden ist.« Wieder ertönte das meckernde Lachen. »Mutter. Was kann er gemeint haben mit dem hohen Preis?« »Jetzt, wo die nackte Angst dich treibt, erinnerst du dich wieder an deine arme, alte Mutter, Narr.« Sie kicherte irre. »Das habe ich dir doch gerade gesagt: Entweder sucht er den Tod, aber das ist ganz und gar unmöglich. Jedenfalls solange der Fluch nicht gebrochen ist. Oder er versucht, den Fluch zu lösen.
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Zittere vor der Stunde, an der er seine Forderung stellt!« »Aber was ist es? Sag es mir, bitte.« »Die Hand einer Jungfrau, natürlich, du armer Tor. Nur die wahre Liebe einer Frau kann ihn erlösen. Aber welche Frau könnte so ein Monster lieben?« Das Kichern der Alten wurde zu einem grauenvollen Lachen. »Ich bewundere den alten Schwarzen König aufrichtig. Es ist ganz klar, was der Basilisk verlangen wird: Die Hand von Prinzessin Alessandra. Schade, daß ich nicht dabei sein kann, wenn er sie nimmt.« * Sofrejan saß in seinem Gemach und zermarterte sich den Kopf über das, was er gehört und gesehen hatte. Für ihn ergab es keinen Sinn: Wenn der Basilisk den Weißen König zwingen wollte, ihm seine Tochter auszuliefern, warum tötete er dann seine Feinde und stellte nicht einfach seine Forderungen? Er hatte so viel Macht, daß man sie hätte erfüllen müssen. Es klopfte, aber er registrierte es nicht bewußt. Kurz darauf ging die Tür auf und Olivia trat vorsichtig ins Zimmer. Sie trug nur ein kurzes Nachthemd. Offenbar hatte sie schon geschlafen, denn ihre Haare waren zerzaust und ihre Augen müde. Dennoch fand der Prinz, daß seine Frau noch nie so reizend ausgesehen hatte. Er empfand das starke Bedürfnis, sie in seine Arme zu nehmen und zu beschützen. Lange sahen sie sich schweigend an, dann ging Olivia zu ihrem Mann hinüber und setzte sich neben ihn auf das Ledersofa. Sofrejans Blick saugte sich fest an den geschmeidigen Bewegungen Olivias, an dem Spiel ihrer Muskeln, daß ja kaum von Kleidern verhüllt war, an den knackigen Brüsten, die sich unter dem fast durchsichtigen Stoff deutlich abzeichneten, und heißes Begehren flammte in ihm auf. Er schlang einen Arm um ihre schmale Taille und zog sie mit einem Ruck fest an sich. »Sofrejan, was ist? Was hast du herausgefunden? Hast du deine Mutter gesprochen?« flüsterte sie in sein Ohr. Ihre Lippen spielten bei diesen Worten mit seinem Ohrläppchen, was sein Verlangen nur noch mehr anheizte. »Ja«, antwortete der Prinz und fuhr mit den Fingern durch Olivias festes, rotbraunes Haar. »Aber frag nicht weiter. Es ist zu schrecklich. Am liebsten würde ich es wieder vergessen.« Olivia schmiegte sich noch enger an ihren Mann und zog die Beine unter sich. »Aber ich bin doch deine Frau. Erinnerst du dich nicht mehr, was ich dir bei unserer Hochzeit gelobt habe: meinen Rat.« Sofrejan holte tief Luft, dann sagt er: »Nun gut. Meine Mutter hat mir erzählt, daß der Mann, den man Basilisk nennt, von einem früheren Schwarzen König verflucht worden ist. Und um den Fluch zu brechen, braucht er die Liebe einer Frau. Meine Mutter meint, die Frau, die er dafür auserkoren hat, sei Alessandra.« Olivia sagte lange Zeit nichts. Sofrejan fühlte ihr Herz heftig pochen, und fürchtete schon, der Schock sei zu viel für sie gewesen. Da warf sie mit einer entschlossenen Bewegung den Kopf herum, sah ihrem Mann fest in die Augen und sagte: »Küß mich.«
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* Sofrejan erwachte am nächsten Morgen durch das Licht der ersten Sonnenstrahlen. Dem grauenvollen Tag war eine wunderbare Nacht gefolgt, dank seiner Frau. Er hatte gar nicht gewußt, was alles in ihr steckte. Sie verfügte über einen wachen Verstand und großen Mut, aber auch über Zärtlichkeit und feurige Liebe. Um nichts in der Welt hätte er sie wieder hergegeben. Er fragte sich einen Moment lang, was er wohl tun würde, wenn der Dämon Olivia verlangen würde. Er wußte es nicht, aber es würde mit Sicherheit zu einer Katastrophe kommen. * Nach dem Frühstück beschlossen er und Olivia, dem Weißen König eine Warnung zu senden. Mehr konnten sie im Moment nicht tun. * »Tot! Aber ...« »Wiederhole das!« Die Stimme de Roquevilles duldete keinen Widerspruch. Und während König Starrus ziemlich fassungslos auf seinem Thron hockte, berichtete der Bote nochmals, was sich vor dem Sonnensee zugetragen hatte: Daß der Herzog tot war und seine Armee nicht mehr existierte. »Danke, Bote. Du darfst jetzt gehen.« »Zu Befehl, mein Kommandeur!« antwortete der Reiter zackig und verließ das Zelt. De Roqueville wandte sich Starrus zu: »Das paßt ja besser, als ich je zu hoffen gewagt hätte.« »Was?«, rief Starrus verwirrt. »Versteht Ihr denn nicht, Roqueville? Der Tod dieses Hirten interessiert mich nicht, aber die Art, wie es passiert ist, macht mir graue Haare! Verdammt.« »Wenn dieser Bursche hier auftauchen sollte, werden wir schon mit ihm fertig. Verlasst Euch auf mich, Majestät.« »Ich glaube, Ihr überschätzt Euch diesmal. Aber ihr habt Recht: Wir lösen das Problem erst, wenn es aktuell wird. Vielleicht sehen wir diesen Basilisken nie wieder.« »Dann können wir uns ja wieder Cordo zuwenden. Er ist inzwischen, wie wir es befürchtet haben, auf Weißes Gebiet entkommen, und der Weiße König hat ihm jetzt ganz offiziell Hilfe zugesagt. Die ersten Soldaten sollen schon in Marsch gesetzt worden sein. Seht her. Laut meinen Informationen stehen die Feinde etwa dort.« Er rollte eine Karte aus und wies auf eine Stelle nahe dem Siina-Fluß. Später kam auch noch Nuitor hinzu, und zu dritt planten sie nun den Feldzug gegen Cordo und den Weißen König. * »Bitte, Vater. Ich muß Cordo einfach wiedersehen.« Alessandra sprach mit eindringlicher Stimme auf den
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Weißen König ein, nachdem ein Bote des Alten arcadischen Königs eingetroffen war und die Nachricht überbracht hatte, daß dieser auf Weißem Gebiet Zuflucht gesucht hatte und König Heinrich um Hilfe bat. Außerdem hatte der Bote Schwalbe mitgebracht, und das hatte Alessandras Unternehmungslust erst recht geweckt. Schließlich stimmte der Weiße König dem Plan seiner Tochter zu, wenn auch nur schweren Herzens. »Aber vergiß nicht, daß unterwegs überall Gefahren lauern können.« »Aber Vater. Cordo ist doch bereits auf unserem Land. Wo sollen da Gefahren herkommen. Ich nehme einfach ein paar Männer der königlichen Garde mit, dann ...« Ein Fanfarenstoß ließ den Rest von Alessandras Satz im Lärm untergehen. Dann erscholl eine laute Stimme: »Ein Bote seiner Majestät, des Prinzregenten der Sonneninsel, Prinz Sofrejan, ist soeben eingetroffen mit wichtigen Neuigkeiten für seine Majestät, den Weißen König und seine Tochter, die Prinzessin Alessandra.« Alessandra und ihr Vater blickten sich verwundert an: »Neuigkeiten für dich und mich? Von der Sonneninsel?« »Ja, sonderbar. Führt den Boten sofort herein!« Kurz darauf betrat ein ziemlich erschöpft aussehender Ritter den Thronsaal. Man sah im an, daß er den langen Ritt ohne viel Rast zurückgelegt hatte. »Man bringe dem Boten etwas zu Trinken und eine Stärkung!«, befahl der Weiße König. »Danke Majestät, aber meine Botschaft ist sehr wichtig. Ich bitte daher darum, Euch und die Prinzessin allein sprechen zu dürfen.« Ein Lakai reichte dem Ritter einen Krug mit erfrischendem Saft, den dieser ein einem Zug leerte. »Sorge er auch dafür, daß mein Pferd gut versorgt wird!« Der Lakai nickte eifrig und verschwand hastig. »Nun, denn«, sagte der Weiße König, »wenn es so wichtig und geheim ist, dann gehen wir ins Kabinett.« * Das Kabinett war ein relativ schmaler, aber hoher Raum, der sich dem Audienzsaal anschloß. Er hatte zwei Zugänge. Man gelangte vom Audienzsaal über ein paar Treppen durch eine versteckt liegende, meist verschlossene Tür hinein, außerdem gab es noch eine weitere Tür, die direkt ins Freie vor dem Palast führte. Doch nur Adalbert und der König besaß für diese Tür den Schlüssel, und Alessandra hatte sie noch nie offen gesehen. Das Kabinett war an den Wänden mit hohen Regalen versehen, die mit Büchern, Landkarten, einigen ausgestopften Tieren und seltsamen Geräten vollgestopft waren. An den freien Stellen an der Wand hingen weitere Karten und Pläne, außerdem ein Relief, daß das Weiße Königreich zu einer Zeit zeigte, als Arcadia-Land noch dazugehört hatte. Obwohl das Kabinett nur selten benutzt wurde, hatte der Weiße König doch bestimmt, daß es regelmäßig saubergemacht und abgestaubt werden sollte. Daher sah man ihm nicht an, daß sich nicht oft Menschen
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darin aufhielten. Alessandra war in ihrem ganzen Leben bestimmt nicht mehr als dreimal hier drin gewesen, und sie freute sich, daß die Besprechung in diesem Zimmer stattfinden sollte, in den durch die hohen Mosaikglasfenster immer ein warmes, anheimelndes Licht fiel. Nachdem der Weiße König, die Prinzessin und der Bote Platz genommen hatten, begann dieser mit seinem Bericht. Er trug vor, daß die Belagerung der Sonneninsel durch den Tod des Herzogs beendet worden war, dann kam er auf die näheren Umstände dieses Todes zu sprechen: »Es ist in der Tat zweifelsfrei bewiesen, daß Herzog Rolfes II keines natürlichen Todes gestorben ist. Er wurde auf grauenhafte Weise ermordet, und mein Herr ist der Ansicht, daß von dem Mörder eine große Bedrohung für Euer Land ausgeht.« »Wie das?« fragte der Weiße König ungläubig. »Der Mörder ist ein Monstrum, das von dem Schwarzen König, der der Großvater des jetzigen Schwarzen Königs war, mit einem schrecklichen Fluch belegt worden sein soll. Sein Aussehen soll so grauenvoll sein, daß jeder, der ihn anblickt, sofort zu Stein erstarrt. Genau dies ist auch Herzog Rolfes II passiert. Prinz Sofrejan hat persönlich die steinernen Überreste des Herzogs gesehen, die seine Männer zurückgelassen haben.« »Das heißt«, fragte Alessandra ungläubig dazwischen, »daß dieser Basilisk das feindliche Heer ganz alleine vertrieben hat?« »So ist, es, Prinzessin.« Das stimmte zwar nicht ganz - das Heer war nach dem Tod des Herzogs einfach zerfallen - aber im Prinzip lief es auf dasselbe hinaus. »Schön und gut,« meinte Alessandra, »aber warum sollte ich unbedingt an dieser Besprechung teilnehmen? Das, was Ihr bisher berichtet habt, hätte auch unseren General und den Majordomus interessiert.« »Ihr habt Recht, Hoheit. Das, was ich bisher berichtet habe. Aber das schlimmste kommt noch, seid gefaßt. Mein Herr und Gebieter befragte daraufhin seine Mutter über den Basilisken. Sie erzählte ihm von dem Fluch und, daß er versuchen wird, ihn zu brechen. Und nur mit der Liebe einer Jungfrau kann das geschehen. Die Imperatrice war sich sicher, daß Ihr, Prinzessin, die Auserwählte des Ungeheuers seid.« Alessandra schreckte zurück. Ungläubig starrte sie den Boten an. Lange schwebten seine drohenden Worte im Raum. »Aber das kann nicht sein«, rief der Weiße König, und fügte dann murmelnd hinzu: »Die alte Prophezeiung sagt doch ...« Aber niemand schien seine Worte zu hören. »Ich muß sofort Thoran aufsuchen«, sagte Alessandra entschlossen. Der Weiße König zuckte zusammen. »Wenn das stimmt, was Sofrejan herausgefunden hat,« sagte er dann mit entschlossener Stimme, »dann mußt du das in der Tat, meine Tochter.« Er wandte sich an den
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Boten: »Ihr könnt Euch in meinem Schloß aufhalten, solange Ihr wollt. Wenn Ihr dann zu Prinz Sofrejan zurückkehrt, dann teilt ihm meinen aufrichtigen Dank für seine Warnung mit.« »Danke, Majestät. Wenn Ihr gestattet, werde ich morgen aufbrechen.« * Es war eigentlich das erste Mal, daß Alessandra mit Billigung ihres Vaters ins Schwarze Königreich ritt. Einst hatten alle den Schwarzen König gefürchtet und verflucht, jetzt war er plötzlich ihre Hoffnung geworden. Die Prinzessin wurde begleitet von einer Eskorte aus vier Rittern, doch es kam unterwegs zu keinen Zwischenfällen. Arcadische Soldaten hatten sich noch nie so weit nach Westen gewagt. Sie ritten zügig und erreichten am Abend des zweiten Tages die Schwarze Grenze, die sich - wie schon früher - deutlich in der Landschaft abzeichnete. Im Gegensatz zu ihren bisherigen Ausflügen hatte Alessandra diesmal keinen abgelegenen Seitenweg, sondern die Hauptstraße benutzt. Sie war erst kürzlich wieder instandgesetzt worden, und das Grenzhäuschen war mit mehreren Soldaten bemannt. »Hier trenne sich unsere Wege,« sagte Alessandra bestimmt. »Ich reite allein ins Schwarze Königreich. Ihr werdet hier auf meine Rückkehr warten. In wenigen Tagen bin ich wieder zurück.« »Aber Hoheit, wollt Ihr mitten in der Nacht durch das Gebirge reiten?« »Zumindest noch ein Stück weit. Entlang der Hauptstraße kann man sich nicht verlaufen. Gleich hinter der Grenze kommt das Dorf Nieder-Wies, und noch vor dem Gebirgsaufstieg kommt eine weitere kleine Ortschaft. Dorthin werde ich heute noch reiten. Die Zeit wird mir knapp.« »Wie ihr befehlt, Prinzessin.« Die Soldaten kannten natürlich nicht den wahren Grund für diese Reise, aber sie waren solche Extratouren der Prinzessin gewöhnt und fügten sich ihrem Befehl. Und so überquerte Alessandra kurz vor Sonnenuntergang die Grenze. Sie ritt durch Nieder-Wies, ohne anzuhalten oder aufgehalten zu werden. Drei Stunden später erreichte sie Ober-Wies am Fuß des Hochgebirges. Dort fand sie ein Nachtlager. Die Schwester der Schwarzen Königin war immer willkommen. In aller Frühe brach sie dann am folgenden Morgen wieder auf, und am Nachmittag kam endlich das Schwarze Schloß in Sichtweite. Es war ein anstrengen der Ritt über die Gebirgspässe und Serpentinen gewesen, doch Schwalbe hatte sich tapfer gehalten und die schwierige Strecke ohne zu ermüden zurückgelegt. Außerdem kannte Alessandra inzwischen die eine oder andere Abkürzung. Jetzt, in Sichtweite des düster und drohend wirkenden Schwarzen Schlosses, verlangsamte Alessandra die Gangart ihrer Stute unwillkürlich. Obwohl sie mit Thoran sehr gut befreundet war, näherte sie sich dem dunklem Schloß nur mit einer gewissen Scheu. Vielleicht lag es am Basilisken. Er hatte ihr die Grenze zwischen dem Reich der Sterblichen und dem der Zauberer und Dämonen deutlich aufgezeigt. Und Thoran gehörte nun mal zu den größten Zauberern. Die Prinzessin umrundete das Schloß, denn der einzige Eingang, der meist offenstand, war an der
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Nordseite, wo auch die Häuser der kleinen Stadt und die Kapelle standen. Die Prinzessin ritt durch das Städtchen, das kaum diesen Namen verdiente. Sie sah keinen Menschen, aber das war normal. Das große Tor zum Schwarzen Innenhof stand offen, und Alessandra ritt hinein. »Hallo? Ich bin es, Alessandra. Ist niemand hier?« Aber keiner antwortete. Alessandra stieg ab, öffnete eine der Türen, die ins Innere des Schlosses führten - sie kannte sich ja einigermaßen aus - und suchte den Weg in den Thronsaal. Wenn Thoran anwesend war, dann war hier die Wahrscheinlichkeit am größten, ihn zu treffen. Durch dunkle, kaum beleuchtete Gänge und Treppenaufgänge ertastete die Prinzessin sich den Weg, soweit sie sich daran erinnerte. Schließlich stand sie vor einem großen Portal, dessen schwarze Umrisse sich im düsteren Licht gerade noch für Alessandras Augen abzeichneten. Ihre Fingerspitzen fühlen, daß es aus Holz war, und sie konnte auch die eingeschnitzten Figuren und Ornamente ertasten, die den Eingang zum Thronsaal wiesen. Sie drückte gegen die Flügel, und mit einem schauerlichen Quietschen fuhren sie auf. Innen war es warm und hell erleuchtet. Der Schwarze König saß an einem langen Tisch, neben ihm der widerliche Schogan Liss, und studierten irgendwelche Unterlagen. Beide drehten sich langsam und gemessen herum, als sie die Türe sich öffnen hörten. Thorans Gesicht erhellte sich in dem gleichen Maße, in dem sich Schogans Gesicht verdüsterte. Er war über diese Störung offenbar nicht sehr glücklich. Der Schwarze König gab ihm einen Wink, und er verließ den großen Raum wortlos, mit einer Kerze in der Hand. »Meine Schwägerin Alessandra. Mit dir hätte ich jetzt wirklich nicht gerechnet.« Er zog an einer Schnur, und irgendwo bimmelte ein Glöckchen. »Ich hoffe, ich störe nicht.« »Nein. Es ist das Privileg des Adels, Herr über die eigene Zeit zu sein. Nur Knechte arbeiten nach der Uhr. Komm, setz dich doch.« Wieder wurde das Portal quietschend aufgestoßen, und eine Zofe erschien. »Herr?« Der Schwarze König wandte sich an Alessandra: »Was zu Essen und zu Trinken?« Sie nickte heftig, und er befahl der Zofe, etwas herbeizuholen. »Ach, und sage der Königin Bescheid, daß ihre Schwester überraschend eingetroffen ist.« Dann wandte er sich wieder zu Alessandra. Er kam direkt zur Sache: »Was gibt's?« »Warte, bis Ornella da ist. Sie soll es auch wissen. Bis dahin, erzähl' mir doch, wie es euch geht. Übrigens, daß ihr zu Olivias Hochzeit gekommen seit, das war wirklich eine tolle Überraschung.« »Olivia. Richtig, der Ring. Warte, ich hole ihn, dann kannst du ihn ihr bei nächster Gelegenheit geben. Er ist nämlich fertig.« Er verschwand durch irgendeine Tür und ließ Alessandra allein. Kurz darauf kam die Zofe zurück, gefolgt von einem Küchenjungen. Sie brachten ein köstliches Abendessen für drei Personen. Alessandra setzte sich an die Tafel, wollte aber erst auf die Rückkehr des Schwarzen Königs warten. Da ging die Türe erneut auf, und Ornella kam hereingelaufen. »Alessandra! Ich konnte es kaum glauben, als mir gesagt wurde, daß du da bist!«
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Alessandra sprang auf, und sie fielen sich in die Arme und begrüßten sich stürmisch. Kurz darauf kam auch Thoran zurück, und übergab Alessandra Olivias Pantherring. Dann setzten sie sich an die Tafel und aßen erst mal. »Auch dein Pferd wird versorgt. Ich habe es angeordnet«, meinte zwischendurch der Schwarze König. »Es freut mich, daß du es wiederhast.« »Schwalbe?« fragte Ornella dazwischen. »Ja, Schwalbe. König Cordo hat sie bei sich gefunden und mir mit seinem Boten bringen lassen. Eigentlich wollte ich ihn aufsuchen, aber ... es ist was dazwischengekommen.« »Was?« »Das erzähle ich euch nach dem Essen.« Der Rest des Abendessens wurde schweigend eingenommen, dann setzten sich alle drei vor den Kamin, dessen lodernde Flammen eine gemütliche Atmosphäre schufen. Der Schwarze König und seine Frau blickten Alessandra erwartungsvoll an. »Tja, es gibt schlechte Neuigkeiten. Zumindest, wenn das stimmt, was Sofrejans Bote vor wenigen Tagen meinem Vater und mir berichtet hat. Ihr wißt vielleicht, daß Herzog Rolfes II die Sonneninsel belagert hat.« »Belagert - so kann man das auch nennen«, bemerkte Thoran sarkastisch. »Naja, aber er wurde ermordet. Von einem Ungeheuer!«, rief sie aufgeregt. »Einem Wesen namens Basilisk, das so schrecklich aussieht, daß jeder zu Stein erstarrt, der es ansieht. Sofrejan hat persönlich die Überreste von Herzog Rolfes gesehen, und sie waren versteinert. Und dann hat er seine Mutter gefragt, was sie über diesen Basilisken weiß. Sie soll gesagt haben, daß dein Großvater«, sie sah dabei Thoran an, »diesen Mann verflucht und zu dem Monstrum gemacht hat, das er jetzt ist. Und die Imperatrice hat auch gesagt, daß der Basilisk jetzt versucht, den Fluch zu brechen, und daß er dazu die Liebe einer Jungfrau erlangen muß.« Erregt war sie aufgesprungen und gestikulierte temperamentvoll. Die unerschütterliche Ruhe Thorans brachte sie noch zusätzlich aus der Fassung. »Und sie hat bestimmt gesagt, daß damit nur du gemeint sein kannst«, ergänzte der Schwarze König, als Alessandra eine kurze Pause machte. Ornella fuhr zusammen und sah abwechselnd ihren Mann und ihre Schwester entsetzt an. Der Schwarze König fuhr ungerührt fort: »Es stimmt. Ich habe in den Schwarzen Büchern über diesen Burschen gelesen. Eigentlich hat er gar nichts so schlimmes verbrochen. Er war ein Idealist und Träumer, aber er hat sich den Falschen herausgesucht, um die Welt zu verbessern. Mein Großvater hatte gerade ein paar neue Zaubersprüche entdeckt, und da kam ihm dieser wichtigtuerische kleine Grafensohn gerade recht.« Auch Ornella war bei diesen Worte aufgesprungen. Im Temperament waren sich die vier Schwestern alle sehr ähnlich. »Aber stimmt es«, fragte sie erregt, »daß er Alessandra will? Das kann doch nur ein Witz sein. Sag, daß es nicht stimmt, Thoran.«
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»Keine Ahnung. Könnte schon sein. Klar stimmt es. Und wenn, werde ich bestimmt nichts dagegen unternehmen.« Ornella starrte ihren Mann fassungslos an. Alessandra war nicht minder überrascht. »WAS?« »Ich werde versuchen, euch die Gründe zu erläutern. Ja, es stimmt wahrscheinlich, was die Hexe von der Sonneninsel prophezeit hat: Daß er sich von Alessandra Erlösung erhofft. Denn er weiß - und das ist auch meine Meinung - daß sie die einzige ist, die dazu in der Lage ist. Keine andere Frau, die ich je kennengelernt habe oder mir vorstellen kann, hätte sonst dafür genügend Mut und, äh, wie soll ich sagen, Alessandra weiß im entscheidenden Moment, was zu tun ist.« »Ja, aber ...« Ornella setzte sich wieder hin. Verwirrt sah sie ihren Mann an, dann ihre Schwester. »Warte, Ornella. Wir Schwarzen Könige sind immer mächtige Zauberer gewesen, aber auch wir können das Schicksal nicht aufhalten. Als der junge Graf in den Basilisken verwandelt wurde, da wurde ihm prophezeit, daß dereinst eine Prinzessin ihn erlösen würde. Wenn Alessandra diese Prinzessin ist, dann wird es so geschehen.« Er sah seine Schwägerin mit seinem unverkennbaren, halb spöttischen, halb nachdenklichen Blick lange an, dann sagte er zu ihr: »Vielleicht ist das Schicksal hart und grausam zu dir, aber es bleibt dir trotzdem nicht erspart, es anzunehmen. Es tut mir leid, aber ich kann dir nicht helfen. Aber ...« er dehnte seinen Worte lange aus »... aber wahrscheinlich wäre das auch gar nicht notwendig.« Alessandra senkte den Blick, doch Ornella war nicht bereit, so schnell aufzugeben. Sie sprang wieder auf und faßte ihren Mann am Arm und schüttelte ihn: »Das kann doch nicht dein letztes Wort sein. Willst du ernsthaft riskieren, daß meine Schwester beim Anblick dieses Ungeheuers versteinert?« »Ersten kann ich nichts dagegen tun, zweitens ist er kein Ungeheuer, sondern ein Fluchbeladener. Und drittens versteinert nicht jeder, der ihn ansieht. Er kann diese Kraft bewußt steuern. Wenn er Alessandra wirklich haben will, dann hat sie zumindest in dieser Hinsicht nichts zu befürchten.« Er stand nun auch auf, wandte sich an seine Schwägerin, legte seine Hand unter ihr Kinn und drückte sachte ihren Kopf hoch, bis sie ihm genau in die hellblauen Augen sah: »Wenn du ihn siehst, dann sei auf eine Überraschung gefaßt.« »Du machst einem wirklich Mut«, sagte sie mit einem gekünstelten Lachen, wobei sie die Tränen mühsam unterdrückte. »Du bist mit großen Hoffnungen und Erwartungen zu mir gekommen, du junges, unerfahrenes Ding. Lerne, daß die Enttäuschung umso größer ist, je größer die Erwartungen sind.« »Ich werde das nicht zulassen«, rief Ornella feurig. Sie kam mehr und mehr in Fahrt, und das Verhalten ihres Mannes versetzte sie in helle Empörung. »Wenn es sein muß, werde ich Alessandra hier verstecken, bis alles vorbei ist.« Sie sah ihren Mann kämpferisch an, und erwartete, seinen Widerspruch niederzumachen. Umso überraschter war sie, als er einfach antwortete: »Gut.« Dann warf er Ornella ein spöttisches Lächeln zu, daß sie vollends aus der Fassung brachte. Damit wandte er sich um und verließ den Raum.
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* Ornella nahm ihre Schwester mit in ihre Gemächer, wo sie noch lange redeten, hauptsächlich über die Gefahr, in der Alessandra nun offenbar schwebte. Aber später wechselten sie die Themen und sprachen auch über Olivias Ehe und die Nachfolge des Weißen Königs. Ornella war nicht allzu überrascht, als Alessandra ihr sagte, daß sie als Weiße Königin gehandelt wurde. »Ich wünsche dir von ganzem Herzen«, meinte sie dann, »daß du einen Mann findest, den du ebenso lieben kannst, wie ich den meinen.« Erst spät in der Nacht fanden beide Schlaf. * »Wo ist sie?«, fauchte Ornella ihren Mann an. Der lag noch im Bett und wälzte sich träge zu seiner aufgebrachten Frau herum. Doch dann glitt ihm wieder dieses spöttisch-ironische Lächeln auf die Lippen. Ornella kannte diesen Ausdruck: »Ich nehme an, du willst damit andeuten, daß Alessandra fort ist.« »Genau. Ich habe dir doch gesagt, daß ich das Schicksal nicht aufzuhalten vermag. Sie ist gegangen, um sich dem ihren zu stellen. Ich habe damit übrigens nicht das geringste zu tun, außer, daß ich wußte, daß so etwas ähnliches geschehen mußte.« »Dann werde ich ihnen nachreiten und ihr helfen.« Thoran blickte sie an. Er blickte sie einfach nur an, sehr lange und ernst, und Ornellas Entschlossenheit schwand wie Schnee in der Sonne. Mit hängenden Schultern schlich sie davon, doch der Schwarze König schwang sich aus dem Bett, lief ihr nach und faßte sie sanft am Arm. »Sei ohne Sorge. Alessandra wird nichts passieren.« * Mutlos und voller Zweifel ritt Alessandra zurück zur Weißen Grenze, wo die Eskorte sie schon sehnlichst erwartete. Das Mißtrauen gegen den Schwarzen König und das Unendliche Land war immer noch sehr groß. Alessandra ritt den Weg, den sie inzwischen gut kannte, langsam einher, doch sie machte kaum Rast und erreichte den Grenzposten tief in der Nacht. Dort endlich fiel sie erschöpft in ein Bett und schlief sogleich ein. Alpträume erfüllten ihren Schlaf, doch als sie spät am anderen Morgen erwachte, war sie trotzdem recht frisch und gut erholt. Die Frühlingssonne schien vom Himmel und tauschte das Land in ein frisches, optimistisches Licht. Alessandra und ihre Ritter versorgten sich noch mit Reiseproviant, dann brachen sie auf. Unterwegs erreichte sie die Nachricht, daß arcadische Truppen im Süden des Landes gesichtet worden seien, wo sie König Cordo abfangen wollten, was ihnen jedoch nicht gelungen war. Der Alte König sei entkommen und befinde sich auf dem Weg zur Weißen Hauptstadt. Immerhin, dachte Alessandra, hatten die beiden Reiche noch zusammengehört, als Cordo ein Kind war. Es war unvorstellbar. Wie würde die Welt wohl in hundert Jahren aussehen? Cordo war eine
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Märchengestalt, und daß er sich in der modernen Welt so gut zurechtfand, grenzte nach Meinung der Prinzessin ans Wunderbare. Man erzählte sich auch schon die Geschichte von der Belagerung Tansirs durch den üblen Starrus, der gedroht hatte, die Bewohner zu bestrafen. Nur ein wahrer Edelmann wie Cordo war in der Lage gewesen freiwillig abzuziehen, also auf einen eigenen Vorteil zu verzichten, um seinen Untertanen Leid zu ersparen. Viele Menschen bewunderten ihn dafür. Nicht nur in Aracadia-Land war Cordo eine Sagengestalt. Zwei Tage später erreichte die Weiße Prinzessin mit ihrem Trupp sicher und wohlbehalten die Weiße Hauptstadt. Auf dem Weg hatten sie viele Bauern auf ihren Feldern gesehen. Das war ein gutes Zeichen, denn es versprach eine reiche Ernte, und die konnte gerade der vom Krieg verheerte Osten gut gebrauchen. Adalbert hatte schon die entsprechenden Anweisungen herausgegeben und auf Kosten der Krone extra Saatgut importieren lassen. Der Handel war hauptsächlich über die Sonneninsel abgewickelt worden, nicht zuletzt deshalb, weil Sofrejan in diesem Fall auf die sonst fälligen Zölle verzichtet hatte. Trotz seiner Weigerung, die Weiße Krone zu übernehmen, schien er sich mit dem Weißen Reich eng verbunden zu fühlen. * »Na, mein Kind, was hast du erfahren?«, fragte sie ihr Vater nach der Begrüßung. Alessandra vermißte das Leben, das ihre drei Schwestern ins Weiße Schloß gebracht hatten. Jetzt war sie mit ihrem Vater allein. Sie seufzte: »Thoran hat gesagt, es sei mein Schicksal, den Basilisken zu erlösen. Er kann mir dabei nicht helfen.« »Was! Das glaube ich nicht. Er ist doch ein mächtiger Zauberer.« »Er hat aber recht, fürchte ich. Ich werde in wenigen Tagen zu König Cordo aufbrechen. Und wenn ich unterwegs diesem Ungeheuer begegne ... ich kann nur beten, daß es mich tatsächlich nicht töten will.« »Das werde ich auf keinen Fall zulassen. Wenn der Schwarze König dir nicht hilft, der Weiße König wird es. Ich habe bereits meine Soldaten ausschwärmen lassen, um den Dämon zu vernichten. Sei also beruhigt. Hier kann dir nichts geschehen.« Alessandra war alles andere als beruhigt. Sie fühlte, daß es nicht so einfach abgehen würde. Aber ihr Vater hatte recht: Jetzt draußen herumzureiten hieße, das Schicksal herauszufordern. Der Weiße König fuhr fort: »Ich habe König Cordo übrigens 200 Ritter zur Unterstützung geschickt, an der Spitze unser bewährter General. Sie haben den Feind bereits gestellt und ihm eine große Niederlage beigebracht. Bald wirst du König Cordo hier persönlich empfangen können.« Alessandra vernahm es erleichtert. Endlich konnte sie wieder ein bißchen lächeln. Vielleicht erlaubte es das Schicksal, daß sie Cordo noch einmal sah, bevor sie ... * Starrus' Truppen waren den Siina-Fluß aufwärts gezogen und hatten nahe der Stadt Allera Stellung
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bezogen, wo sie die Soldaten des Weißen Königs erwarteten, deren Nahen ihnen ihre Kundschafter angekündigt hatten. Allera lag nordwestlich der arcadischen Grenze, nicht weit vom Fluß entfernt, war aber weder ein Fischerdorf noch ein Handelshafen. Auf dem anderen Ufer war bereits herzögliches Gebiet, allerdings praktisch unbewohntes, und diese armselige Nachbarschaft strahlte auch auf die ganze Region hier im Weißen Land aus. Erst noch weiter im Westen, näher zur Sonneninsel hin, wurde es wieder zivilisierter und besser erschlossen. Allera hatte aber in den Augen des arcadischen Königs einige Vorteile: Es war nicht befestigt. Die Gegend war leicht hügelig und daher geeignet für Hinterhalte. Außerdem konnte man sich zur Not über den nahen Fluß absetzen. Starrus hatte dazu sicherheitshalber die Flöße herbeischaffen lassen, die Rolfes und seine Leute am Südufer des Sonnensees zurückgelassen hatten. * »Es sind mindestens 500 der Ritter von Cordo und 200 Weiße, Majestät«, berichtete einer der Späher. Starrus wünschte sich de Roqueville herbei. Doch der war mit einer anderen, möglicherweise kriegsentscheidenden Mission beauftragt. Im Grunde war er - Starrus - hier nur ein Lockvogel, der mit ein paar Mann möglichst viele feindliche Soldaten binden sollte. Und das würde er jetzt tun. »Wie weit noch?« »Höchstens eine Stunde zu Pferde.« »Das heißt, im Galopp maximal eine halbe. Gut. Wir gehen vor wie befohlen.« Der Soldat bestätigte. Zusammen mit dem König trat er aus dem Kommandeurszelt heraus und gab das Zeichen. Die arcadischen Soldaten, nicht mehr als 200, und weitere etwa 200 Herzögliche, verließen ihre Stellungen im Laufschritt. Sie trugen Fackeln und hatten den Befehl, Allera in Brand zu stecken, sobald eine nennenswerte Weiße Armee zum Angriff heranrückte. Die Einwohner der kleinen Stadt waren ohnehin längst geflohen, aber wenn sie noch dagewesen wären, hätte Starrus trotzdem keine Sekunde gezögert. Er wollte, daß die Weißen unter Druck gerieten, denn das würde sie unvorsichtig machen. Und er hatte ein paar hübsche Überraschungen für sie bereit. Seine Soldaten hatten die nahe Stadt inzwischen erreicht und zündeten jedes erreichbare Haus an. Starrus beobachtete inzwischen von einem Hügel aus die Weißen Soldaten. Als diese die Rauchfahnen sahen, fielen sie sofort in Galopp und stürmten auf die brennende Stadt zu. Starrus lachte lautlos. Es war eine sinnlose Reaktion. Zu retten gab es nichts mehr, dafür waren sie bei ihrem Eintreffen völlig er schöpft. Starrus ließ die arcadischen Soldaten sich zurückziehen. Die Herzöglichen jedoch schlichen sich weiter vor. Dort hatte Starrus Fallgruben ausheben lassen. Einige Minuten später erreichten die ersten Weißen Vorauskommandos den Stadtrand, und nicht wenige von ihnen landeten in den Löchern. Die übrigen waren dadurch völlig verwirrt und in Unordnung gebracht, so daß die herzöglichen Soldaten leichtes Spiel zu haben glaubten. Doch die Weißen waren tapfere Soldaten und wehrten die nicht gerade sehr
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professionell kämpfenden Herzöglichen in schweren Kämpfen ab. Starrus sah es mit Unmut. Es war ein Fehler gewesen, an dieser entscheidenden Stelle keine arcadischen Soldaten einzusetzen. Diese hätten wahrscheinlich gesiegt und dem Feind damit eine wichtige, vielleicht schon entscheidende Niederlage beigebracht. Er ärgerte sich über sich selbst, denn es war sein Plan gewesen, seine Leute zu schonen. Erreicht hatte letzten Endes das Gegenteil. Er gab den Befehl, die Flöße bereitzumachen. Einige Minuten später erreichte der Rest der Weißen Soldaten den Stadtrand. Starrus sah den General des Weißen Königs, einen sehr erfahrenen Kämpfer und guten Strategen. Und da die Weißen fast 2:1 in der Überzahl waren, war diese Schlacht so gut wie entschieden. Immerhin, der Hauptzweck war erreicht, nämlich von der Operation weiter im Norden abzulenken. Im Laufe der nächsten Stunden drängten die Weißen die Soldaten von Starrus zum Fluß, wo diese sich schließlich absetzten. Doch nur zum Schein. »Wir lassen uns ein Stück flußabwärts treiben«, befahl Starrus, nachdem die siegreichen Weißen außer Sicht waren, »dann gehen wir wieder auf Weißem Gebiet an Land und machen einen Gewaltmarsch bis etwa zehn Kilometer östlich der Weißen Hauptstadt. Dort werden wir dringend gebraucht.« Es war Nachmittag, als die Arcadier und die etwa 150 überlebenden Herzöglichen wieder auf Weißem Territorium landeten. Und dann begann der lange Marsch, der die Streitmacht in knapp zwei Tagen fast ohne Pausen zur entscheidenden Stelle brachte. * 1000 plus 6000 gegen unsere 11000. Gar nicht schlecht. Aber es ist ihr Land, und daher sind sie im Vorteil. De Roqueville analysierte die Lage sachlich und emotionslos. Er wußte, daß er siegen würde. Der Weiße König hatte auf die Schnelle nur 1000 Mann zusammengebracht. Offenbar hatte er die Stärke der arcadischen Invasionsarmee unterschätzt. Das feindliche Rückgrat bildeten also die zu allem entschlossenen Männer Cordos. Sie waren dem Alten König bedingungslos ergeben. Er - de Roqueville selbst hatte 8000 arcadische und 3000 herzögliche Soldaten unter sich. Die Versorgung dieser Männer war nicht einfach, daher hatte er auf eine rasche Entscheidung gedrängt. Im Grunde ging es in diesem Krieg nicht um die Niederwerfung des Weißen Landes. Die Beseitigung Cordos war das Hauptziel. Doch Nordus und Nuitor hatten bereits durchblicken lassen, daß sie sich den Weißen Thron nicht entgehen lassen würden, wenn er ihnen ohnehin in die Hände fiel. De Roqueville hielt es allerdings für fraglich, ob ihnen eine schnelle Eroberung der Weißen Hauptstadt gelingen würde. Eine lange Belagerung war jedenfalls sinnlos, denn das hätte dem Land Zeit gegeben, seine Kräfte zu sammeln und die Arcadier zu besiegen. Im Grunde verdankten er und Starrus es nur der Naivität des Weißen Königs, daß sie soweit gekommen waren. In der Geschwindigkeit lag das Geheimnis. Und im richtigen Zeitplan des Angriffs. Das arcadische Heer war fast bis auf Sichtweite an die Weiße Hauptstadt herangerückt. Jetzt näherte sich das Weiße Heer von Westen, und das Heer Cordos von Süden, um die vermeintliche Bedrohung der Hauptstadt abzuwenden. Eine ideale Konstellation, um sie einzeln zu besiegen. Doch de Roqueville hatte eine bessere Idee. Er ging davon aus, daß die anderen die wahre Stärke seiner Armee nicht genau kannten. Um sie weiter zu täuschen, ließ er seine Soldaten sich beim Anblick des herannahenden
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Feindes zurückziehen, wobei er so vorging, daß immer nur ein Teil für die Weißen sichtbar war, so daß ihre Späher und Kundschafter seine wahre Stärke nicht herausbringen konnten. So ging das Spielchen mit Rückzug und Nachrücken bis zum Abend. Die Armee des Weißen Königs hatte sich mit der Cordos problemlos vereinigt und stoppte den Marsch nun, um für die Nacht zu rasten. Sie fühlten sich sicher, und diesen Vorteil gedachte de Roqueville zu nutzen. Seine Leute hätten nach den harten Märschen eine ruhige Nacht auch bitter nötig gehabt, doch statt dessen würden sie kämpfen müssen. Sorgfältig beobachtete er den Zug der feindlichen Armee, als ihm plötzlich ein Ritter in dunkelbrauner Rüstung, die in der Abendsonne glänzte und funkelte, auffiel. Der Ritter hatte sein Visier heruntergeklappt und ritt ganz vorne mit. Ab und zu gab er den anderen Zeichen und Befehle, die der Kommandeur natürlich wegen der großen Entfernung nicht verstehen konnte. Aber er kannte die Rüstung und ihren Träger, auch wenn die violette Eisvogelfeder fehlte: Es war niemand anderes als die Weiße Prinzessin Alessandra. Damit war sein Plan, die vereinigte Armee in der Nacht zu überfallen, zum Scheitern verurteilt, denn diese Idee hatte zuerst die Prinzessin selbst vor Trok erfolgreich durchgeführt, und auf ihren eigenen Trick würde sie niemals hereinfallen. Er hätte sich ärgern können: Eine Chance absichtlich vergeben, die andere aus der Hand genommen. Statt dessen empfand er tiefe Befriedigung. Es würde ein würdiger und interessanter Kampf werden. »Kommandeur! Wann greifen wir endlich an?« hörte er da eine bekannte Stimme hinter sich. Es war Nordus, der eitle, aber fähige arcadische Prinz. Allerdings hatte Starrus seinen Söhnen klargemacht, daß de Roqueville den alleinigen Oberbefehl über alle Operationen hatte, und daß auch sie ihm untergeordnet waren. Langsam drehte sich der Kommandeur um, dann streckte er die Hand aus und wies auf den Ritter in der dunkelbraunen Rüstung: »Seht Ihr diesen Soldaten im Rang eines Weißen Generals? Es ist Prinzessin Alessandra. Damit ist der Plan eines nächtlichen Überraschungsangriffs gescheitert.« Immerhin sah Nordus das ein, auch wenn er mit dieser Wendung ziemlich unzufrieden war. De Roqueville befürchtete, daß er von dieser Seite Schwierigkeiten bekommen würde. Außerdem mußte er sich einen neuen Plan zurechtlegen. Nach kurzem Nachdenken kam ihm eine diabolische Idee. Ungeduldig wartete er den Einbruch der Nacht ab. Wie er erwartet hatte, hatten Cordo und die Prinzessin zahlreiche Wachen aufstellen lassen, und sie waren auch nicht betrunken, wie damals die arcadischen Soldaten vor Trok. Doch genau das war Alessandras Fehler. Sie war sich sicher, gegen einen Nachtangriff gerüstet zu sein. Das aber würde sich noch zeigen. Der Kommandeur schickte den ersten Trupp los, kaum daß sich drüben die Meisten zur Ruhe begeben hatten. Die Reiter stürmten mit wildem Getöse auf das Lager zu, schossen ein paar Pfeile ab, warfen ein paar Fackeln und verschwanden dann wieder in der Nacht. Das ganze Lager der Vereinigten war in heller Aufruhr. De Roqueville lächelte zufrieden. Er sah gerade zu vor seinem inneren Auge, wie die schöne Prinzessin vor ihren Rittern auf- und abging und ihnen die Gefahren eines nächtlichen Überfalls in den blühendsten Farben schilderte. Dementsprechend waren sie nun auch am Rande einer Panik. Es dauerte fast zwei Stunden, bis sich das Lager wieder beruhigte. De
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Roqueville wußte, daß er selbst in dieser Nacht nur wenig Schlaf finden würde, denn kaum war drüben wieder alles ruhig, schickte er die nächste Schwadron los. Diese durchbrachen nun sogar die äußeren Verteidigungslinien, wurden dann aber von den Wachen und den rasch geweckten Rittern abgewehrt. Wieder verging eine Stunde, die der Kommandeur diesmal selbst zum Schlafen nutzte. Dann wiederholte er das Spiel. Und so ging es noch dreimal in dieser Nacht. Und als der Morgen graute und die Weißen mit den Nerven am Ende waren, da begann der echte Angriff. Er endete mit einer schweren Niederlage der Vereinigten, die sich daraufhin mit größter Geschwindigkeit in Richtung zur Weißen Hauptstadt zurückzogen. Doch da näherte sich von Süden die kleine Armee des Starrus. Der alte Haudegen hatte es gerade noch rechtzeitig geschafft. Seine Männer waren erschöpft, doch sie wußten, um was es ging, was auf dem Spiel stand, und warfen sich mit todesmutiger Entschlossenheit der Vereinigten Armee entgegen, die dadurch kurzzeitig völlig aus dem Gleichgewicht geriet. Doch irgendwie schaffte es die Prinzessin, ihre Leute wieder zu ordnen. Die Soldaten von Starrus vorn, die riesige Armee de Roquevilles hinter sich, kämpften die Weißen und Cordos Leute mit dem Mut der Verzweiflung. Die Reihen der Vorhut de Roquevilles schwankten, und einigen Vereinigten wäre sicher der Durchbruch gelungen, doch damit hätten sie die anderen im Stich gelassen, denen sie den Rücken frei halten mußten, und so blieben sie und schlugen weiter Lücken in die Reihen der Arcadier. Von seinem Hügel aus beobachtete de Roqueville vor allem den Kampf, den die Weiße Prinzessin dem Trupp Nuitors lieferte, der ganz vorne kämpfte. Hätte die vereinigte Armee mehr solcher mutigen und klugen Kämpfer gehabt, wäre ihr womöglich der Sieg gelungen. * Alessandra sah sich umzingelt. Nur noch wenige ihrer Ritter waren an ihrer Seite, und die Reiter Nuitors stürmte mit wilder Entschlossenheit auf sie ein. Offenbar hatte der Prinz seine Gegnerin erkannt, denn sonst wäre diese Wildheit kaum erklärlich gewesen. Alessandra schrie einen Befehl, und dank ihrer hohen, weittragenden Stimme hörte sie jeder. Sie befahl einen Ausfall nach Westen, um den dortigen Soldaten die Flucht durch die schon stark geschwächten Linien Starrus' zu ermöglichen. Die Rösser preschten davon, da wurde Schwalbe von einem Pfeil getroffen und sackte unter ihr zusammen. Mit einem verzweifelten Aufschrei stürzte sie zu Boden. Und da waren auch schon die Ritter Nuitors mit ihren silbern glänzenden Rüstungen über ihr und entwanden ihr das Schwert. Zahlreiche Lanzen und Schwertspitzen waren auf ihren Hals gerichtet. Dann zerrten sie sie wieder auf die Beine. Langsam kam Nuitor auf sie zugeritten, dann stieg er ab und zog seinen Helm ab. Alessandras Helm hatte man ihr schon vorher vom Kopf gerissen, und nun fielen ihr ihre langen rotbraunen Haare über ihre eiserne, dunkel schimmernde Rüstung. Nuitor, den der Weiße König damals beim Turnier aus dem Verkehr gezogen hatte, was er und sein Vater Starrus ihnen nie verziehen hatte, zog sein Schwert aus der Scheide. Es war braun von daran haftenden Blut zahlloser gefallener Feinde. Er hob es hoch und setzte es dann der Prinzessin an die Kehle. »Na los. Tötet mich schon«, zischte sie verzweifelt und trotzig. Nuitor sah sie mit einem seltsamen Blick an. Lange verweilten seine Augen auf ihr, dann ließ er das Schwert wieder sinken.
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»Töte sie!« rief da Nordus, der gerade herangestürmt kam. »Verräter. Töte sie.« Nuitor sagte nichts, aber er stellte sich so vor Alessandra, daß Nordus sie nicht mit einem Pfeil erledigen konnte. »Paß auf, was du sagst, Bruder.« Nordus wollte gerade zu einer geharnischten Antwort ansetzten, als irgend etwas passierte. Die Ritter, die hinter Alessandra standen, ließen plötzlich ihre Waffen fallen. * Cordo und Starrus sahen einander fast gleichzeitig. Die Lage war verworren: Starrus' Leute waren nur wenige und zudem erschöpft durch den langen Marsch vom Fluß herauf. Andererseits waren Cordos Leute auf der Flucht vor de Roqueville, der ihnen dicht auf den Fersen war. Obwohl die beiden arcadischen Könige auf ihren prächtigen Streitrössern sich nur von weitem sahen, schien es doch in diesem Moment die stillschweigende Absprache zu geben, hier und jetzt die Entscheidung zu suchen. Jeder gab seinen Rittern den Befehl, den Feind sofort anzugreifen. Mit Feuereifer stürmten die beiden Trupps aufeinander los, die Könige ganz vorn. Wild fielen die feindlichen Heere übereinander her, und Starrus kämpfte gegen Cordo Mann gegen Mann. Eisen prallte auf Eisen, während rings herum die Soldaten versuchten, ihren jeweiligen König zu schützen. Doch das Durcheinander war zu groß. Hätte Cordo jetzt den Befehl zum sofortigen Rückzug gegeben, hätte er leicht mit fast allen seinen Rittern entkommen können. Doch er wollte Starrus, so wie Starrus ihn wollte. Mit einem unglaublich kräftigen Hieb seines langen Schwertes hob Cordo seinen Gegner aus dem Sattel. Starrus' Schwert zerbrach dabei, und er krachte mit dem Rücken auf den Boden. Sein in Panik davongaloppieren des Pferd streifte mit einem Huf auch noch den Brustpanzer des gestürzten Königs und schleuderte ihn zur Seite. Gepeinigt stöhnte der Arcadier auf, doch im Grunde war es Glück im Unglück: An der Stelle, an der er eben noch gelegen hatte, bohrte sich die Lanze Cordos in den Grund. Der Alte König sah, daß er seinen Gegner zwar verfehlt hatte, dieser aber im Moment wehrlos war. Er sprang vom Pferd und stürzte sich auf Starrus. Dicht vor ihm holte er mit seinem mächtigen Schwert aus, um dem am Boden Liegenden den Rest zu geben, da schleuderte Starrus mit aller Kraft das Griffstück seines Schwertes mit dem Stumpf der Klinge gegen Cordo. Das vorne zersplitterte Eisen durchdrang mit der Wucht des Wurfes den ledernen Bauchpanzer Cordos und bohrte sich tief in seine Eingeweide. Mit einem Aufschrei ließ der Alte König sein Schwert fallen und griff sich verzweifelt an den Unterleib, aus dem nun Starrus' Schwertgriff ragte. Starrus nutzte seine Chance sofort, rollte sich ab, ergriff Cordos Schwert, sprang auf und streckte seinen verhaßten Rivalen nieder. Dann sah er sich triumphierend um. Doch niemand hatte es bemerkt. Jedenfalls im ersten Moment nicht. Doch dann verbreitete sich die Kunde vom Tod Cordos wie ein Lauffeuer durch die Reihen. Die Soldaten der Vereinigten Armee flohen nun in wilder Panik. Nur ein Wunder konnte sie jetzt noch vor dem Untergang retten. Und das Wunder geschah. Es kam in Gestalt des Weißen Generals mit seinen Leuten, die in harten Märschen Starrus dicht auf den Fersen den ganzen Weg vom Siina-Fluß herauf gefolgt waren. Auch sie
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hörten vom Tod Cordos, doch das brachte den alten General nicht aus der Fassung. Wütend ließ er seine Leute den Trupp von Starrus und den mittlerweile herangerückten Teil der Ritter de Roquevilles angreifen und verhinderte so die Gefangennahme der Weißen Armee. Doch seine eigenen Leute wurden mehr und mehr umzingelt, denn jetzt kam nach und nach die gesamte riesige Armee des Kommandeurs heran. Der General und seine Leute wehrten sich verzweifelt, und während etwas weiter nördlich die Reste der vereinigten Armee sich zur Weißen Hauptstadt absetzen konnten, sah der Weiße General mit seinen Rittern und denen Cordos, die unter ihm fochten, seinem Untergang entgegen. Starrus ließ keine Gnade walten und tötete jeden Arcadier, der auf der Seite Cordos gekämpft hatte. Die Weißen Soldaten wollte er gefangennehmen lassen, doch diese kämpften Seite an Seite mit ihren arcadischen Waffenbrüdern bis zum Tod. Zum Schluß fiel auch der alte General. Nun lag die Weiße Hauptstadt praktisch offen vor dem alten und neuen arcadischen König. Und wieder rettete ein Wunder die Weißen. Nur, daß es diesmal ein finsteres Wunder war. * Die arcadischen Soldaten ließen ihre Waffen fallen und rannten schreiend davon, zumindest die, die nicht versteinerten. Nordus, Nuitor und Alessandra wirbelten herum. Und da stand er: der Basilisk. Das Ungeheuer, das Menschen allein durch seinen Anblick zu einer Statue werden lassen konnte. Er hatte das schwarze Tuch wieder vor das Gesicht gezogen und ging langsam auf die Drei zu. Alessandra musterte den Unheimlichen mit einer Mischung aus Faszination und Abscheu. Doch irgendwie ... plötzlich erkannte sie ihn: Sie war diesem Wesen schon einmal begegnet. »Ihr?«, rief sie fragend. Sie hatte ihn erkannt, den Schwarzvermummten, der ihr, als sie als Gefangene der Arcadier auf dem Weg nach Tansir war, zu Essen und zu Trinken gegeben hatte. Der Basilisk nickte leicht. Dann wandte er sich den beiden arcadischen Prinzen zu, die jetzt bereits vor Angst und Entsetzten so erstarrt waren, daß sie sich nicht mehr rühren konnten. Dann nahm der Basilisk seine Maske ab und fixierte die beiden Unglücklichen. Die unheimliche Kraft seiner Augen faßte nach ihnen. »Nein!«, rief da Alessandra verzweifelt. »Bitte, laßt sie leben. Ich bin es doch, die Ihr wollt.« Der Basilisk wandte sich nun frontal der Prinzessin zu, und zum ersten Mal sah sie sein Gesicht deutlich und in allen Einzelheiten. Sie war zutiefst erschüttert. Die Augen waren die eines Raubtieres, einer Schlange, mit geschlitzten Pupillen, in denen sich die Abgründe der Hölle widerzuspiegeln schienen. Auch das Gebiß war der Fang eines wilden Tieres, mit spitzen Reißzähnen. In scharfem Kontrast dazu stand der Rest des Gesichtes, der vollkommen menschlich war. Das ging sogar soweit, daß man den Basilisken für einen ganz normalen Mann halten konnte, wenn er Mund und Augen schloß. Nicht zuletzt dieser Kontrast zwischen menschlichen und dämonischen Zügen verwandelte das Gesicht in die Fratze einer Bestie.
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Alessandra glaubte bei diesem Anblick, ihr Herz müsse stehenbleiben. Ihr Blick verlor sich in den abgründigen Augen des Ungeheuers, und die Zeit schien einzufrieren. »Zu spät«, sagte die Stimme des Basilisken in ihre Trance hinein. Als entfernt plötzlich Fanfaren ertönten, zuckte sie zusammen und kehrte in die Realität zurück. Zwei Herolde der Armee von König Starrus galoppierten durch das inzwischen fast verwaiste Schlachtfeld und riefen: »Cordo ist gefallen. Lang lebe der rechtmäßige König Starrus. Cordo, der Verräter, ist tot.« Als Alessandra dies vernahm, schwanden ihr endgültig die Sinne. * Sie wußte zuerst nicht, wo sie war, als sie langsam das Bewußtsein wiedererlangte. Was für ein gräßlicher Alptraum war das nur gewesen! Ihr geliebter Cordo tot, Schwalbe von einem Pfeil dahingestreckt, und dann diese Bestie ... Sie schlug die Augen auf und sah vor sich den sandigen, blutdurchtränkten Boden, und als sie das sah, da durchzuckte sie wie ein Blitzschlag die Erkenntnis, das es keineswegs nur ein Alptraum gewesen war. Langsam richtete sie sich auf. In einiger Entfernung sah sie den zu Stein erstarrten Nordus. Von Nuitor fehlte hingegen jede Spur. Und auch der Dämon war im Moment nicht zu sehen. Vor ihrem inneren Auge erschien Cordo. Ihr letzter Wunsch, ihn noch einmal zu sehen, war in Erfüllung gegangen. Noch am Morgen hatte jeder seinen Teil der vereinigten Armee übernommen, doch dann waren sie im Verlauf der sehr schweren Kämpfe getrennt worden. Und jetzt ... jetzt war er tot. Die Prinzessin schluchzte. Erst jetzt wurde ihr bewußt, wie sehr sie ihn geliebt hatte. Von weit her hörte sie das Getrappel zahlloser Hufe und die charakteristischen Geräusche, die eine große Armee in rascher Bewegung machte. Doch es interessierte sie nicht mehr. In ihr war jedes Gefühl abgestorben. * Als de Roqueville den Basilisken aus dem Unterholz auftauchen und auf die beiden Prinzen und ihre Gefangene zugehen sah, da sagte ihm sein nüchtern analysierender Verstand, daß er die Schlacht verloren hatte. Aber was machte das? Das Kriegsziel war erreicht. Doch dann sah er von seinem Hügel aus, wie Nordus und Nuitor von dem Dämon getötet wurden, während die Weiße Prinzessin dem Basilisken in den Arm fiel, allerdings zu spät. Warum Nuitor ihr nach ihrer Niederlage das Leben geschenkt hatte und sie nun anscheinend versuchte, seins zu retten, wußte er nicht. Er wußte nur, daß dieser Feldzug anders verlaufen war, als er sich das gedacht hatte. Kurz darauf galoppierten Boten des siegreichen Königs Starrus nahe an Alessandra und dem Basilisken vorbei und riefen ihnen die Nachricht vom Tode Cordos entgegen. Offenbar erkannten sie den Basilisken nicht, denn sie galoppierten weiter, und es sah nicht nach einer panischen Flucht aus. Der Kommandeur sah, wie die Prinzessin zusammenbrach. Offenbar war die Nachricht zuviel für sie gewesen. Der Basilisk ließ sie liegen und wandte sich dann gegen die arcadische Armee, die jetzt nachrückte. De Roqueville wollte schon zum Rückzug blasen, als er zu seiner Überraschung sah, wie sich Prinz Nuitor erhob, kurz umsah, und dann davon lief.
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De Roqueville schickte ein paar Boten aus, die Nuitor einsammeln und Starrus mitteilen sollten, daß die Armee sich zurückziehen mußte. Dann räumte auch er sein Feldherrenzelt auf dem Hügel. Er nahm sich vor, mehr über den Basilisken herauszufinden, denn Niederlagen nahm der ehrgeizige Mann niemals einfach so hin. Nur jetzt, das wußte er, mußte er sich erst einmal fügen und das Weite suchen. * Und so zog sich die arcadische Armee nach Südosten zurück, in das Lager Gel-Gabal. Der Rückzug erfolgte geordnet, doch die eben noch vorhandene Siegeszuversicht der stolzen Ritter war Nervosität und Enttäuschung gewichen. Nur die finstere Entschlossenheit ihres Kommandeurs gab den Soldaten zu denken. * Alessandra wartete auf die Rückkehr ihres neuen Herren. Denn daß sie der Preis für die Befreiung des Weißen Landes sein würde, daran zweifelte sie nicht mehr im geringsten. Sie wußte nicht, wieviel Zeit verstrichen war, als der Basilisk schließlich zurückkehrte. Sein Gesicht war wieder verhüllt. Wortlos näherte er sich der Weißen Prinzessin. Er faßte sie am Arm und zog sie hoch. Dann gingen sie schweigend den untergehenden Sonne entgegen, dort, wo die Weiße Hauptstadt lag. Auch unterwegs sprachen sie kein Wort. Alessandra nahm nur wenig von dem wahr, was um sie herum vorging. Und was im Kopf des Basilisken vor sich ging, vermochte sowieso keiner zu sagen. Zwei Stunden nach Sonnenuntergang erreichten sie das prächtige östliche Stadttor. Es war geschlossen und von mehreren Gardisten des Rittmeisters bewacht. Doch als sie die Prinzessin sahen, ließen sie sie und den vermummten Fremden ein. * Ein Bote verkündete dem Weißen König die Rückkehr seiner Tochter und eines in Schwarz verhüllten Fremden. Der König wußte, um wen es sich dabei handelte. Seine Angst vor dem Dämon hielt sich die Waage mit der Erleichterung, daß wenigstens seine Tochter vom Schlachtfeld zurückgekehrt war. Denn die Bilanz dieses Tages war grauenvoll. Der gute, alte General war gefallen. Cordo, seine große Hoffnung, war von Starrus getötet worden. Der Angriff auf die Hauptstadt war zwar abgewehrt worden, aber um welchen Preis! Und Starrus war mit zumindest einem seiner Söhne und dem gefährlichen de Roqueville unbehelligt abgerückt. Der Krieg gegen Arcadia konnte noch jahrelang weitergehen. Und die vielen Gefallenen auf seiner Seite! Zu viele tapfere Ritter hatten den Tod gefunden. Sicher, er hatte den entkommenen Arcadiern aus der vereinigten Armee Asyl gewährt, denn er wußte, daß Starrus jeden von ihnen töten ließ, dessen er habhaft wurde. Sie, immerhin noch weit über 3000 Mann, bildeten eine beachtliche Streitmacht, und wenn er die Militärmaschinerie seines Reiches richtig hochlaufen ließ, hatte er mehr als genug Soldaten, um die Arcadier aus seinem Land zu werfen. Doch die Sieger dieses Tages hießen Starrus und Basilisk, und das warf lange Schatten in die Zukunft. Der Basilisk ... Im Palast wurde es still, als der Verhüllte, die Prinzessin hinter sich herziehend, die Rampe hinaufging.
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Schritt für Schritt, in aller Ruhe und Gelassenheit, wie es schien, näherte sich das Böse dem Herzen des Reiches, dem Thronsaal. Und dann ging die Tür auf. Das Quietschen erfüllte den totenstillen Raum für einen Moment, dann trat der Basilisk ein. Doch richtig erschrak der Weiße König beim Anblick seiner Tochter. Mit welchen Feuereifer war sie am Morgen noch in die Schlacht gezogen, weil der General, sein zuverlässigster Kämpfer, im Süden König Starrus verfolgte. Und wie kam sie jetzt zurück! Ihre Haltung war gebeugt, ihr Gang schleppend, ihre Augen leer und ausdruckslos auf den Boden gerichtet. »Oh mein Gott. Kind!« Alessandra hob kurz den Kopf und sah ihren Vater an. Er erschauderte unter diesen Augen. Und dann der Unheimliche, der ein Stück neben ihr stand und unter seinem schwarzen Tuch den Raum und die Anwesenden durchdringend zu mustern schien. Genau konnte man das nicht erkennen. Wo war jetzt Elysiss? Nie hätte der König sie dringender gebraucht als jetzt, in dieser verzweifelten Stunde. Selbst den Schwarzen König hätte er willkommen geheißen, doch auch der war so fern. Er hatte sich sogar mit einer faulen Ausrede geweigert, seiner Schwägerin Alessandra zu helfen. Und nun sollte sie diese Bestie heiraten und - ja, der Basilisk würde dann König werden! Ein Monstrum auf dem Weißen Thron. Der Weiße König war entschlossen, eher zu sterben, als das zuzulassen. Aber was konnte er tun? Der Basilisk war unverwundbar. Und mit seinem tödlichen Blick verfügte er über eine Waffe, mit der er gerade eine ganze Armee in die Flucht geschlagen hatte. Jetzt verstand der Weiße König, warum Alessandra diesen Blick hatte. Sie hatte resigniert. Der Tod ihres geliebten Cordo und das Schicksal, das sie erwartete, hatte sie gebrochen. »Sprecht!«, hörte der König sich selbst zu dem Basilisken sagen. »Weißer König. Ihr wißt, daß ich Eure Stadt und Euer Land vor dem Feind bewahrt habe. Als Belohnung dafür verlange ich nichts als die Hand Eurer Tochter Prinzessin Alessandra.« Stille. Die Worte waren ausgesprochen, aber der Weiße König wußte keine Antwort. Niemand wußte eine. Da hob Alessandra die Augen und flüsterte mit dünner Stimme: »Um des Friedens und unseres Reiches Willen bin ich einverstanden.« »Tochter!« »Dann laßt uns sofort einen Termin für die Hochzeit festlegen. Sie soll schon Morgen stattfinden!«, rief der Basilisk. »Zeigt mir nun unser Gemach.« »Wartet. Zuerst will ich wenigsten euer Gesicht sehen«, unterbrach ihn der Weiße König. »Nun gut.« Alle im Saal hielten den Atem an, als der Basilisk die Tücher von seinem Gesicht nahm. Einige fielen in Ohnmacht, andere stießen unterdrückte Entsetzensschreie aus. Der König war erschüttert. Er konnte die Tränen der Verzweiflung nicht länger zurückhalten und vergrub sein Gesicht in den Händen. *
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Es war einmal ein alter Graf namens von Aulendorff. Dieser Graf hatte einen Sohn, einen schönen, jungen Heißsporn, der sich in jeden Streit einmischte und es immer besser wußte. Dabei war er aber charmant und intelligent, so daß ihn im Grunde jeder in dem kleinen Land, daß der Graf als Lehen des Großen Königs bekommen hatte, mochte. Der alte Graf holte die besten Lehrer aus fernen Ländern herbei, um seinen Sohn erziehen zu lassen, denn er war sein einziges Kind. Er würde das Lehen erben und sollte es gut und weise verwalten. Als der junge Graf achtzehn Jahre alt war, da sagte ihm sein Vater: »Sohn, ziehe in die Welt hinaus und lerne aus dem, was dir dort begegnet. Und wenn zwei Jahre vergangen sind, dann kehre zurück auf den Thron Derer von Aulendorff.« Und so setzte sich der schöne junge Graf auf sein prächtiges Pferd und ritt davon. Viele Länder und Menschen lernte er kennen, doch überall sprach man vom Unendlichen Land, dem finsteren Schwarzen Königreich, das von seinem grausamen König gepeinigt und ausgesaugt wurde. Und so beschloß der junge, unerfahrene Graf, das Schwarze Königreich aufzusuchen, um den finsteren König zur Umkehr zu bewegen, denn er wollte den armen Menschen dort helfen. Er ritt viele Tage und Nächte, und dann sah er die Schwarze Grenze vor sich. Und als er sie sah, da wußte er, daß er kein gewöhnliches Land betrat, denn wo sonst gab es eine Grenze, die zwar nirgends markiert war, aber sich in der wilden Natur so deutlich abhob? In der ersten Nach begegnete ihm ein sprechender Wolf, doch er tötete ihn in seiner Angst. Dann erreichte er eine Stadt, die ihre Bewohner Sydur nannten. Niemand hieß ihn dort willkommen. Die eingeschüchterte Bevölkerung empfing ihn voller Mißtrauen und war froh, als er am anderen Tag wieder abreiste. Sie warnten ihn, flehten ihn an, das Unendliche Land so schnell wie möglich wieder zu verlassen. Doch statt dessen zog der junge Graf weiter in das Land hinein. Am Abend des übernächsten Tages erreichte er das Schwarze Schloß. Davor standen ein paar Häuser. Der Graf stieg vom Pferd und klopfte an die erste Tür. Kaum hatte er geklopft, da wurde sie aufgerissen. Darunter stand ein Mann, wie ihn der junge Graf noch nie gesehen hatte. Er war ganz in Schwarz gekleidet, aber seine Haare waren hellblond und die Augen hellblau. Auf dem Kopf trug er eine fremdartig anmutende Krone. Und auf seinen Lippen lag ein eigenartiges, halb spöttisches, halb verächtliches Lächeln. Der Graf hatte keine Zweifel, daß es der Schwarze König war, der ihn hier so überraschend empfangen hatte. Da trat ein grausamer Zug in die Augen des Schwarzen Königs, und er sagte: »Ich will verdammt sein, wenn ich dich von hier weggehen lasse, ohne dir eine Lektion zu erteilen, die du niemals vergessen wirst. Dazu hat dein Alter dich doch ausgeschickt, nicht wahr? Nun, hier kannst du was fürs Leben lernen. Die Lektion lautet: Mische dich nie in Angelegenheiten, die dich nichts angehen.« Und er verwandelte den armen jungen Grafensohn in das schreckliche Monster, das man von da an nur noch Basilisk nannte. Zuletzt sagte er: »Ewig wirst du leben und Furcht und Schrecken verbreiten. Jeder, der dich sieht, wird zu Stein werden, und alle werden dich hassen und fürchten. Niemals sollst du die Liebe einer Frau erlangen können, die allein den Bann brechen kann. Das ist meine Strafe für dich.« Und mit seinem typischem spöttisch-arroganten Lächeln schickte er den Unglücklichen fort und verbannte ihn aus seinem Reich und gleichzeitig aus der Gemeinschaft aller Menschen. Fortan zog der junge Graf, der nicht mehr altern und sterben konnte, als Ausgestoßener, Gezeichneter
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durch die Welt. Oft versteckte er sich jahrelang in der Wildnis, um nicht anderen Menschen begegnen zu müssen. Er litt unter der grausamen Strafe, und als er eines Tages erfuhr, daß der Schwarze König gestorben oder zumindest für immer verschwunden war, da schwand endgültig all seine Hoffnung und er stürzte sich von den Klippen des Octavius-Meeres. Doch er überstand es ohne einen Kratzer, und auch das wochenlange Umhertreiben auf offener See konnte seinem verfluchten, unsterblichen Körper nichts anhaben. Schließlich wurde er irgendwo an Land gespült, doch auch hier flohen die Menschen voller Entsetzen, wenn sie ihn nur von Weitem sahen. Und so zog er als verlorene Seele durch das Land. Eines Tages kam er auf die Idee, sich mit Hilfe eines Spiegels selbst zu versteinern. Doch selbst diesen letzten Ausweg hatte der grausame Schwarze König ihm verbaut, denn als er sein Gesicht im Spiegel sah, da schwanden seine Kräfte. Er konnte es einfach nicht, so sehr und so oft er es auch versuchte. Andere zur Hölle zu schicken war für ihn ein Kinderspiel, doch bei ihm selbst versagte seine Macht völlig. * Doch eines Tages, es waren viele, unzählig viele Jahre vergangen, da schöpfte er neue Hoffnung. Er hatte aufgehört, die Jahre zu zählen, die er nun schon als Ungeheuer durch die Welt ziehen mußte, als er von Ferne einen großen Heereszug sah, der sich auf dem Weg nach Süden befand. In der Mitte des Zuges war ein Gefängniswagen, und darin saß eine wunderschöne Frau. Sie war zwar durch Kälte und Hunger gezeichnet, doch als der Basilisk sie zum ersten Mal aus der Nähe sah, da entflammte sein Herz in heißem Begehren, und er war entschlossen, sie zu gewinnen, koste es, was es wolle. Er gab ihr zu Essen und zu Trinken und vertrieb die Soldaten, die das verhindern wollten, doch er traute sich nicht, die Schöne anzusprechen. Wie würde sie auf ein Ungeheuer wie ihn reagieren? Nein, er mußte sicher gehen, durfte nichts dem Zufall überlassen. Und als das südliche Land gegen das nördliche, dem Heimatland der schönen Prinzessin, Krieg zu führen begann, da war seine Stunde gekommen. Er half denen aus dem Norden und verlangte als Belohnung die Hand der schönen Prinzessin, hoffend, daß sie sich aus Dankbarkeit für die Rettung ihres Landes freiwillig fügte. Denn nur, wenn sie sich ohne Zwang in ihn verliebte, konnte der Fluch endlich gebrochen werden. Doch es kam, wie er es befürchtet hatte. Die Prinzessin fügte sich, aber sie sah in ihm nichts anderes als all die anderen Menschen, denen er auf seinem Lebensweg begegnet war: ein Monster. * Der Basilisk hatte die Tücher wieder abgenommen. Er saß der Prinzessin gegenüber auf dem großen Bett in dem Zimmer, das man beiden gewiesen hatte. Mit seinen kalten Schlangenaugen sah er Alessandra an, suchte ihren Blick, doch dieser ging durch ihn hindurch in weite Ferne. »Du wirst mich niemals lieben, nicht wahr?«, fragte er mit sanfter Stimme. »Ihr könnt mich haben. Aber verlangt nicht, daß ich Euch liebe.« »Was muß ich tun, damit du mich liebst? Ich bin zu allem bereit. Und ich meine 'alles'.« Alessandra schüttelte den Kopf. Ihr Gesicht wirkte immer noch abwesend. »Der Mann, den ich liebte, ist tot. Nichts spielt jetzt noch eine Rolle.«
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»So sehr hast du ihn geliebt?« Die Prinzessin nickte langsam. »Ob ich tot bin oder lebe, selbst das ist mir egal.« Nachdenklich sah der Basilisk die schöne Prinzessin an. »Und ich wäre immer am liebsten tot gewesen. Erst, seit ich dich gesehen habe, habe ich wieder Hoffnung. Aber wenn ich dich heirate, dann wird es dir das Herz brechen.« »Mein Herz ist schon gebrochen«, flüsterte Alessandra tonlos. »Ihr könnt mich haben, wenn Ihr es verlangt.« »Ich wünschte, wir könnten beide glücklich werden. Irgendwie.« Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und eine entschlossene Stimme rief: »Stirb denn, Ungeheuer!« * Schweigend ritt Nuitor neben seinem Vater her an der Spitze der sich zurückziehenden Armee. Wenn der Prinz sich umwandte, dann konnte er sehen, wie immer mehr Soldaten sich heimlich oder auch ganz offen aus der Kolonne lösten und in Richtung Süden davonliefen. Es waren Herzögliche, die da desertierten. Aber niemand weinte ihnen auch nur eine Träne nach, selbst de Roqueville, der schon für weniger als Desertation die Todesstrafe verfügt hatte, sah darüber hinweg. Der arcadische Prinz dachte an seinen Bruder. Hätte der Basilisk ihn statt seiner zuerst fixiert, dann wäre er jetzt tot und Nordus am Leben. Dieser Blick ... Er hatte seine Kraft gespürt, wie sie auch an seinem Leben gesaugt hatte. Ohne Alessandra wäre er nur einen Moment später dran gewesen. Da durchzuckte es ihn wie ein Blitz. Er fuhr in seinem Sattel zusammen und sein Herz begann heftig zu pochen, denn er glaubte auf einmal zu wissen, wie er den Mörder seines Bruders besiegen konnte. Doch wenn er sich irrte? Dann würde er sterben. Er ließ sein Pferd etwas zurückfallen, auf die Höhe de Roquevilles. Seinem Vater mochte er seinen Plan nicht anvertrauen, denn er hätte es bestimmt verboten. Doch Nuitor war wild entschlossen, sich nicht aufhalten zu lassen. Der Kommandeur hingegen hatte keine Befehlsgewalt über ihn und konnte ihn nicht zurückhalten. »Kommandeur!« »Prinz?« »Ich werde den Basilisken töten. Ich weiß jetzt, wie es geht. Doch sollte ich mich irren und nicht zurück kehren, dann sagt meinem Vater, was geschehen ist.« Die Augen de Roquevilles leuchteten auf. Sein Jagdinstinkt war erwacht. »Wie wollt Ihr ihn erledigen?« »Ich verrate es Euch, wenn ich zurückkomme. Und wenn nicht, war meine Idee falsch und verdient nicht, weiter erwähnt zu werden. Lebt wohl, Kommandeur.«
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Doch de Roqueville war nicht im mindesten gewillt, die Sache so einfach auf sich beruhen zu lassen. Er wartete, bis Nuitor einen guten Vorsprung hatte. Dann winkte er zwei Boten zu sich. Dem einen sagte er: »Du stellst mir die hundert besten Ritter des Heeres zusammen für einen Spezialauftrag. Sofort! Aber unauffällig. Der König braucht nichts davon zu bemerken. Der hat jetzt andere Sorgen.« »Zu Befehl, Herr!« Der Reiter preschte davon. Dem zweiten sagte er: »Der Prinz hatte eine Idee, wie er den Basilisken töten kann. Aber ich glaube, daß er Unterstützung brauchen wird. Die bekommt er von mir. Wenn wir bis Morgen nicht zurück sind oder der König nach unserem Verbleib fragt, dann sage ihm, daß Nuitor unterwegs zur Weißen Hauptstadt ist, um den Mörder seines Bruders zur Strecke zu bringen, und daß ich ihm dabei helfe.« »Zu Befehl, Herr.« * Es war bereits tiefe Nacht, als Nuitor die Mauern der Weißen Hauptstadt erreichte. Er war erschöpft. Der Tag war lang und hart gewesen, voller Kämpfe. Doch er fühlte in sich ein Feuer brennen, daß ihn nicht zur Ruhe kommen lassen würde, bis er seine Mission erfüllt hatte. Vom Turnier her kannte er noch die Schleichwege, die an den Wachen vorbei in die Stadt führten. Zu Fuß, nur mit dem nötigsten Material versehen, schlich er sich dann durch die jetzt stillen Gassen zum Weißen Schloß, das sogar in der Nacht noch hell leuchtete. Dort brannte an vielen Stellen noch Licht. Nuitor war nicht überrascht. Der Basilisk mußte für große Verwirrung und Bestürzung gesorgt haben. Bestimmt tagten überall Krisenrunden. Vorsichtig schlich der Prinz die Rampe zur Vorhalle hinauf. Die Nacht schützte ihn, außerdem war kein Mensch weit und breit zu sehen. Nur hören konnte man einige im Inneren des Schlosses. Das Portal zur Vorhalle war geschlossen, aber nicht abgesperrt. Trotzdem konnte Nuitor natürlich nicht wissen, wer sich dahinter gerade aufhielt Er sah sich um und entdeckte ein offenes Fenster einige Meter über sich. Er holte ein mit Enterhaken versehenes Seil hervor, warf es ein paar mal hoch, bis es sich verfing, und zog sich daran in die Höhe. Dann kletterte er in den Palast und machte sich auf die Suche nach der Prinzessin. Statt dessen stieß er nach einiger Zeit auf eine Wache. Er überrumpelte den Mann, der im Halbschlaf vor sich hin gedöst hatte, und hielt ihm seinen Dolch an die Kehle: »Keinen Laut, Soldat.« Nachdem sich der Posten vom ersten Schreck erholt hatte, zischte Nuitor: »Weißt du, wer ich bin?« Der Soldat nickte ängstlich. »Sage mir, wo sich der Basilisk aufhält. Ich werde ihn töten!« »Ihr? Aber ...« Nuitor drückte den Dolch etwas fester an die Kehle des Postens. »Diese Bestie hat meinen Bruder versteinert, und dafür werde ich sie bestrafen.«
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Ein eigenartiger Ausdruck trat in die Augen des Soldaten: »Wenn Ihr das schafft, Herr, dann seid Ihr der Held des ganzen Weißen Reiches. Kommt, ich führe Euch hin.« »Aber unauffällig. Es braucht nicht gleich der ganze Palast aufzuwachen.« »Keine Sorge Herr. Ich kenne stille Wege. Allerdings wird das Gemach des Brautpaares bewacht.« »Brautpaar? So eilig hat er es?« Der Soldat nickte verbissen. Dann führte er den arcadischen Prinzen kreuz und quer durch dunkle und verwinkelte Gänge des Weißen Schlosses. Schließlich hielt er an. »Hinter dieser Biegung ist der Korridor, an dessen Ende die Tür zum Gemach ist. Aber davor stehen zwei Posten. Aber ich kenne sie. Laßt mich mit ihnen reden.« »Aber beeile dich. Und wenn du sie nicht überzeugen kannst, mein Schwert schafft das sicher!« Nuitor war wild entschlossen. Der Soldat huschte um die Ecke, dann hörte Nuitor, wie er hektisch auf die beiden Posten einredete. Schließlich ertönte ein leises Poltern, dann der Ruf: »Prinz. Es geht los!« Einer der Wachen lag bewußtlos am Boden. »Er wollte nicht mitmachen, dieser Idiot.« »Egal«, antwortete Nuitor. Dann holte er tief Luft und stieß die Tür auf. »Stirb denn, Ungeheuer!«, rief er und stürmte mit gezogenem Schwert auf den Basilisken zu. In seiner Linke hielt er dabei etwas hinter seinem Rücken versteckt. Der Basilisk war völlig überrascht, doch er reagierte blitzschnell. Sein Kopf flog herum und fixierte Nuitor. Als dieser den Sog fühlte und sein Leben davonrinnen sah, da riß er im letzten Sekundenbruchteil den metallenen Spiegel hervor, den er bisher hinter seinem Rücken verborgen hatte, und hielt ihn dem Ungeheuer genau vor das Gesicht. Der Basilisk gab einen unterdrückten Schrei von sich. Das, was er tausende Mal vergeblich versucht hatte, nun funktionierte es auf einmal. Seine Macht war losgelassen und erst danach gegen ihn selbst gerichtet worden. Nichts konnte den Prozeß jetzt noch aufhalten, und der ehemalige Grafensohn fühlte, wie nach all den Jahren seine gequälte Seele endlich wieder frei wurde. Mit aller Kraft verstärkte er den Sog. Sein Körper überzog sich mit feinen Rissen, und er versteinerte. Die Risse wurden größer und zahlreicher, der steinerne Körper zerbröckelte und zerbröselte in immer kleinere Stückchen. Zum Schluß blieb nichts als ein Häufchen Staub, der von der Bettkante herunterrieselte. Nuitor ließ den blind gewordenen Spiegel sinken und steckte sein Schwert in die Scheide. Die beiden Soldaten kamen herein, und als sie die zu Staub gewordenen Reste der Bestie sahen, da brachen sie in lauten Jubel aus. Nuitor sank erschöpft neben Alessandra auf das Bett. Mit einem Mal fühlte er sich völlig leer und verbraucht. Er hätte jetzt bis zum nächsten Nachmittag schlafen können. Doch vorläufig sollte es
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nicht dazu kommen. Denn der Lärm, den die beiden Soldaten machten, schreckte natürlich sofort das ganze Schloß auf. Die meisten hatten sowieso keinen Schlaf finden können. Die Nachricht, daß das Ungeheuer vernichtet war, breitete sich wie ein Lauffeuer aus, und keine Viertelstunde später war die ganze Hauptstadt auf den Beinen, trotz der nächtlichen Stunde. Nur Alessandra wirkte apathisch und unbeteiligt. »Prinzessin«, rief Nuitor, »was ist mit Euch? Freut Ihr Euch nicht?« »Euer Vater hat den Mann getötet, den ich geliebt habe. Ich habe keine Freude mehr übrig, Prinz.« Kopfschüttelnd erhob Nuitor sich. Aber was soll's, dachte er sich. Schließlich war er gekommen, um seinen Bruder zu rächen, und das war ihm glänzend gelungen. Eine Prinzessin mit Liebeskummer war nicht sein Problem. Und doch - irgendwie tat sie ihm leid, und er hätte sie gerne getröstet. Dabei war sie eigentlich seine Feindin ... In diesem Moment schritt der Weiße König in das Gemach, begleitet vom Majordomus und einigen Höflingen. Er sah Nuitor ernst an, doch dann entspannten sich seine Züge und er sagte mit feierlicher Stimme: »Prinz Nuitor. Ihr habt mein Land von einem schrecklichen Alptraum befreit und meine einzig verbliebene Tochter gerettet. Zwar seid ihr der Sohn meines schlimmsten Feindes, aber ...« »Er könnte doch Alessandra heiraten und unsere beiden Reiche auf diesem Weg friedlich vereinen«, raunte ihm Adalbert zu. »Ja, stimmt. Könnte er eigentlich. Aber ich fürchte, Alessandra ist im Moment nicht in der Stimmung für solche Dinge.« »Wollt ihr mich schon wieder verschachern, Herr Vater? An denselben Mann, den Ihr damals vom Turnier ausschließen wolltet?« »Wußte ich's doch!« brummte Nuitor wütend. »Aber egal, das ist lange her. Außerdem will ich die Prinzessin gar nicht heiraten.« Er sah sie an, dann fügte er hinzu: »Oder?« Alessandra warf ihm einen finsteren Blick zu, doch Nuitor schmunzelte. »Ich muß sagen, Alessandra, Ihr seid wirklich unglaublich schön.« Dann wandte er sich dem Weißen König zu: »Majestät. Mein Vater erwartet mich zurück. Ich hoffe, Ihr laßt mich in Frieden ziehen.« »Selbstverständlich, Prinz. Aber wenn ihr wollt, könnt Ihr Euch als mein Gast betrachten und Euch hier ausruhen, so lange ihr wollt.« Da kam ein Posten hereingestürmt: »Majestät! Vor den Stadtmauern sind feindliche Soldaten gesichtet worden.« »Das ist bestimmt ein Trupp meines Vaters. Er wird mich suchen lassen, denn ich habe dem Kommandeur erzählt, wohin ich wollte. Bringt mich sofort zu ihnen. De Roqueville ist sicher zu allem fähig, wenn er mich in Gefahr wähnt.« »So soll es geschehen«, befahl der Weiße König.
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Nuitor stürmte mit ein paar Weißen Rittern hinunter, wo schon ein Pferd auf ihn wartete. Er galoppierte aus der Stadt, und tatsächlich empfing ihn dort der Kommandeur. Nuitor berichtete ihm, was geschehen war, und dann ritten sie zusammen dem arcadischen Heer nach. * Es sollte eine Zeitlang dauern, bis Nuitor wieder einmal in die Weiße Hauptstadt kam. Und auch von Starrus, de Roqueville und dem arcadischen Heer hörte man nicht mehr viel in der nächsten Zeit. Jeder hatte erreicht, was er wollte, doch es hatte zu viele Opfer gekostet.
3. Teil - Fünftes Kapitel - Der Zikadenmann Es wurde Sommer, dann Herbst, schließlich Winter. Irgendwann war Gabriele gestorben. Ihre entzündeten Brandwunden waren immer schlimmer geworden, und der Arzt, der alle paar Wochen mal in de Gegend weilte, hatte am Ende nicht mehr für sie tun können, als ihre Schmerzen etwas zu lindern und ihr das Sterben ein bißchen zu erleichtern. Choru Ellis war es kaum aufgefallen. Er hatte monatelang sämtliche Büchereien der nahegelegenen Städte nach einem Wörterbuch für die alte Sprache im Buch des Unendlichen Landes abgesucht. Das allein war schon schwierig gewesen, denn die nächstgelegenen Städte waren entweder armselige Nester oder weit weg. Er hatte seine Arbeit vernachlässigt und war schließlich zur Strafe degradiert worden, aber auch das machte ihm nichts aus. Denn wenn er unterwegs in andere Städte war, benutzte er oft den Ring, um für seinen Unterhalt zu sorgen, und das hieß, er raubte Leute und Häuser aus, ohne daß ihn je jemand fangen konnte. Dafür hatte er eine Art natürlicher Begabung. So kam er auch zu seinem Haushaltsgeld, von dem er das meiste seiner Tochter Helene ablieferte, die nun den Haushalt führte. Nachdem er endlich ein einigermaßen brauchbares Übersetzungsbuch gefunden und an sich gebracht hatte, verbrachte er Tag und Nacht in seinem Keller und studierte die alten Texte. Es war da die Rede vom Schwarzen Königreich, in dessen Untergrund unermeßliche Goldschätze liegen sollten. Das war, so folgerte der Zikadenmann, wohl der Grund, warum der Schwarze König sein Land das Unendliche nannte: Weil es unendlich reich war. Und er, Choru Ellis, würde sich seinen Teil holen. Es gab da auch ein Kapitel, das nur indirekt mit Gold zu tun hatte, wie Ellis enttäuscht feststellte, nachdem er es übersetzt hatte. Es ging dabei um die Goldene Königin, jene sagenumwobene Frau, die der Welt Frieden und Glückseligkeit bringen sollte. Ellis übersprang das Kapitel, nachdem er es flüchtig durchgelesen und festgestellt hatte, daß es sich nur um allgemeine Aussagen über diese Sagengestalt handelte. Ursprünglich hatte er ja befürchtet, die Goldene Königin könnte das Goldland bewachen und ihn um seinen Anteil bringen. Doch nichts dergleichen. Aber im Laufe der fast zwei Jahre, die er sich Tag und Nacht mit dem Buch des Unendlichen Landes beschäftigte, wurde er davon so besessen, daß er es schließlich Seite für Seite auswendig lernte. Und die paar Seiten über die Goldene Königin gehörten auch dazu.
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Die Sage der Goldenen Königin war überall in der bekannten Welt verbreitet. Auch im Reich Karls erzählten sie die Mütter ihren Kindern oft vor dem Einschlafen. Es hieß darin, daß die Goldene Königin eines Tages vom Himmel herabgestiegen kam, um die Menschen zu erlösen. Zu seiner Überraschung fand der Zikadenmann, daß im Buch des Unendlichen Landes etwas anderes stand: Daß die Goldene Königin nämlich zu den Menschen aufsteigen würde. Die Übersetzung dieses Wortes war nicht sehr genau, aber es war trotzdem soweit eindeutig, daß es nicht 'herabsteigen' heißen konnte. Choru Ellis wunderte sich darüber. Noch mehr wunderte er sich darüber, daß in diesem Buch die Goldene Königin überhaupt vorkam. Im Grunde wurde nichts konkretes über sie ausgesagt; weder wann sie leben sollte noch woher sie stammte. Ellis fand den Rest des Buches viel interessanter, die detaillierten Karten des Schwarzen Königreiches, die Lage und Menge des Goldes, die Pläne des Schwarzen Palastes, der den Eingang zum Goldland schützte, den Ort, wo der Drache Gawron Wache hielt und so viele andere Dinge. * Eines Tages, der Schnee lag hüfttief auf den Straßen, klopfte es energisch gegen die halb verrottete Tür des Hauses. Helene öffnete. Sie kannte den Mann, der Einlaß begeht hatte, recht gut. Es war Adam Ropot, der Gemeindevorsteher. Schon oft waren er oder einer seiner Beauftragten hier gewesen, um mit ihrem Vater zu sprechen, und meist hatte es dabei Streit gegeben. Auch jetzt sah es danach aus, denn Ropot machte nicht gerade ein freundliches Gesicht. »Ist dein nichtsnutziger Vater wieder in seinem Keller? Diesmal fliegt er raus, das schwöre ich.« Das Mädchen nickte wortlos. Sie verstand das alles nicht. Was wollten diese Leute von ihrem Vater? Wieso stritten sie dauernd? Sie warfen ihm vor - deutlich genug war es ja immer zu hören - daß er seine Arbeit vernachlässigte. Aber er arbeitete doch den ganzen Tag da unten wie ein Besessener. Interessierte das niemanden? Ropot stapfte durch den Eingang und kletterte dann umständlich die Treppen herunter, wobei er leise vor sich hin fluchte. »Du schon wieder!«, empfing ihn Ellis. »Scher dich aus meinem Haus.« »Das wird nicht mehr lange dein Haus sein. Wir brauchen hier Leute, die anpacken können. Aber du tust rein gar nichts. Ich habe dafür gesorgt, daß du gefeuert wirst. Der Brief ans Kolonialamt ist schon unterwegs. Und dann fliegst du hier raus. Wurde auch Zeit.« Ellis sah ihn wortlos an, aber man konnte deutlich erkennen, wie der blanke Haß in ihm aufstieg. »Wann hast du den Brief abgeschickt?« »Heute morgen mit der Postkutsche. In ein paar Tagen ist er da. Du kannst schon mal packen.« »Und du kannst schon mal ...« Der Rest verlor sich in einem undeutlichen Murmeln. Ropot maß dem keine Bedeutung bei. Er stieß noch einige Verwünschungen aus, dann kletterte er die Leiter wieder rauf und verschwand in die verschneite Winterlandschaft, welche die Nähe zu den Blauen Bergen nicht verleugnen konnte. Es wurde Nacht, aber nicht richtig dunkel, denn der Schnee reflektierte das Sternenlicht und sorgte für ein diffuse Helligkeit. Doch die Nacht hatten sowieso nur Diebe und Mörder nötig, nicht aber der
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Zikadenmann, der sich, nachdem seine Kinder eingeschlafen waren, vorsichtig aus dem Haus schlich. Er achtete darauf, daß er keine erkennbaren Spuren im Schnee hinterließ. Da es seit ein paar Tagen nicht mehr geschneit hatte und es zahllose ausgetretene Pfade gab, war das relativ leicht möglich. Ellis prägte sich den Weg ein, dann steckte er den Ring an und schlich unsichtbar zum Gemeindehaus. Dort tastete er sich zur Haupteingangstür und befestigte daran ein Schloß. Es bereitete ihm keine Schwierigkeiten, dies ohne sehen zu können durchzuführen. Jedenfalls konnte jetzt niemand mehr das Haus verlassen, ohne die schwere Tür mit Gewalt aufzubrechen. Dann tastete er sich weiter zum Stall, der direkt an das Wohnhaus und die Verwaltungsgebäude angebaut war. Erst, als er darin war und damit außer Sicht eines zufällig noch wachen Dorfbewohners, zog er den Ring wieder ab. Er sah sich um. Da er in absoluter Dunkelheit hergekommen war, erschien ihm der dunkle Stall als hell genug, um die Konturen der Pferde zu erkennen. Er band alle bis auf eines los, dann öffnete er die Stalltür wieder und spähte mißtrauisch hinaus. Es war aber keine Menschenseele zu sehen. Die Pferde würden ungehindert fliehen können, wenn er das Haus und die Familie Ropot, die es bewohnte, anzündete. Er ging zur Leiter, die zum Heuboden führte, kletterte sie hinauf und zündete oben das Heu an. Hier lag der ganze Wintervorrat. Das große Haus würde in fünf Minuten brennen wie eine Fackel. Und hinaus konnte keiner. Jedenfalls nicht in den paar Sekunden, die sie hatten zwischen dem Aufwachen und der Erkenntnis, das die einzige Fluchttür von außen versperrt war. Choru hörte es oben bereits knistern, und die Pferde wurden unruhig. Die Ersten trabten ins Freie. Choru band das, das er sich vorher herausgesucht hatte, los, schwang sich darauf und steckte den Ring an. Es wurde dunkel um ihn, doch das Pferd war davon ausgenommen. Warum das so war, wußte der Zikadenmann nicht, aber es kam ihm sehr zustatten, denn ansonsten wäre das Pferd wohl entweder in blinder Panik davongaloppiert und hätte ihn womöglich abgeworfen oder - schlimmer noch - vor Schreck einfach stehengeblieben und mit ihm hier verbrannt. Draußen waren die ersten Rufe aufgeschreckter Dorfbewohner zu hören. Ellis galoppierte vielleicht direkt an ihrer Nase vorbei, aber er sah sie genausowenig wie sie ihn. Für die Leute stürmte einfach die Herde kopf- und vor allem reiterlos aus dem flammenden Scheune davon. Der Zikadenmann ritt eine Zeitlang in Finsternis, dann zog er den Ring wieder ab und sah sich um. Hinter ihm, bereits vom Wald verdeckt, lag das Dorf. Ein roter Feuerschein stieg jetzt davon auf und färbte den wolkenverhangenen Himmel mit den Farben der Hölle. Zufrieden wendete der Zikadenmann sein neues Pferd und ritt in Richtung Danca, der nächst größeren Stadt. Dort, so wußte er, lief die Postkutsche am Abend ein und fuhr erst am nächsten Morgen wieder ab. Dorthin mußte er, wenn er den verhängnisvollen Brief abfangen wollte. Die Postkutsche war nicht allzu schnell, jetzt, im tiefsten Winter schon gar nicht, aber auch für Ellis war der Ritt anstrengend. Erst lange nach Mitternacht kam er an. Er wußte, in welchem Gebäude die Postleute schliefen. Erwartungsgemäß stand die Kutsche davor. Die Pferde waren in irgendeinem Stall in der Nähe. Die Frage war nun: War die Post in der Kutsche oder im Haus? Ellis ließ sein Pferd am Stadtrand zurück, dann prägte er sich den Weg ein, soweit er ihn sehen konnte, und machte sich unsichtbar. Er tastete sich bis zu eine sicheren Stelle vor, nahm den Ring ab, sah sich
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erneut um, und so ging es weiter, bis er vor der Kutsche stand und sie so leise es ging aufbrach. Dann schlüpfte er hinein, nah den Ring ab und stellte fest, daß er genau auf dem Postsack saß. Er nahm in an sich und legte den Weg zurück auf die gleiche Weise zurück, wie er hergekommen war. Irgendwo tief im Wald verbrannte er die Post, nicht ohne sich zu vergewissern, daß der verfängliche Brief wirklich dabei war. Dann ritt er zurück zum Dorf. Ein Stück außerhalb ließ er das Pferd frei und schlich sich dann - meist unsichtbar - in sein Haus. Unterwegs rastete er an sicheren Stellen und blickte sich um. Es war kurz vor Morgengrauen, das hieß, seit seiner Abreise waren über 10 Stunden vergangen, aber die Dörfler waren immer noch damit beschäftigt, die letzten rauchenden Trümmer des Gemeindehauses zu löschen. Befriedigt sah Ellis, daß davon so gut wie nichts übriggeblieben war. Zurück in seinem Keller, widmete er sich erneut seinem Buch, bis ihn dann irgendwann der Schlaf übermannte. * Es war im folgenden Sommer, als der Zikadenmann mit dem Studium des Buches und seinen Plänen fertig war. Er kannte es nun Seite für Seite auswendig, und eines Tages beschloß er, daß jetzt der Zeitpunkt für den Aufbruch gekommen sei. Er beschloß, das Buch nicht mitzunehmen, damit es nicht unterwegs in die falschen Hände fallen konnte. Statt dessen schloß er es wieder in die metallene Truhe ein und schob diese in den Hohlraum hinter der Wand zurück. Zuvor holte er aber das Skelett hervor, das immer noch tief in dem Loch hinter der Wand lag. Dann setzte die Ziegel wieder ein und packte die Sachen zusammen, die er für seine Reise brauchen würde. Zum ersten Mal seit Monaten ließ er seine Gedanken abschweifen. Das Feuer. Damals hatte er das Gemeindehaus angezündet, und die gesamte Familie Ropot war in den Flammen umgekommen. Es hatte alles hervorragend geklappt. Niemand hatte Verdacht geschöpft, daß er etwas damit zu tun hatte. Seine Entlassung aus dem Dienst war damit natürlich vom Tisch gewesen. Und nach dem Flammentod seines lästigen Chefs hatte sich auch keiner mehr um ihn gekümmert. Obwohl er sich kaum an seiner Arbeitsstelle hatte blicken lassen, hatte er jede Woche seinen Lohn erhalten. Heute Nacht würde es wieder brennen, und diesmal würde er die Leute glauben machen, er selbst sei im Feuer umgekommen. Er plazierte die Knochen so auf seinem Stuhl, daß man später glauben mußte, er sei dort eingeschlafen und dann vom Feuer getötet worden. Dann wartete er die Nacht ab. Ein letztes Mal ging er seine Ausrüstung durch, aber dann sagte er sich, daß er mit dem Ring sowieso das Wichtigste immer bei sich hatte. Alles andere war ersetzbar. Als es ruhig im Haus wurde, ging er leise in die Küche. Im Herd war noch etwas Glut. Er warf Holz nach, bis der Scheit hell loderte, dann legte er ihn vor den Herd auf den Boden. Dazu gab er weiteres Holz, Papier und andere leicht brennbare Materialien. Als er sicher war, daß das Haus Feuer gefangen hatte, zog er den Ring an und schlich sich ins Freie. Trotz der absoluten Finsternis, die ihn umgab, fand er seinen Weg mühelos, denn er war ihn oft genug gegangen. Am Dorfrand blieb er stehen und lauschte. Als er keine Anzeichen von Menschen hörte, zog er den Ring ab und blickte sich aus der Deckung heraus um. Sein Haus brannte bereits lichterloh. Schon waren einige Leute dabei, eine Eimerkette zu bilden. Der Zikadenmann wußte, daß sie zu spät kamen. Zufrieden drehte er sich um und ging leichten Schrittes davon, in eine goldene Zukunft.
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Die Todesschreie seiner zwei Kinder hörte er nicht mehr, und wenn er sie gehört hätte, hätte er sich wohl gefragt, wie diese zwei Kinder in sein Haus kamen. Ach ja, das waren ja seine eigenen. Aber egal, jetzt war es ohnehin zu spät, und er hatte wirklich wichtigeres zu tun. Er träumte von Gold und Macht. Was er in dem BUCH über das Unendliche Land gelesen hatte, war einfach phantastisch. Großartig. Unbeschreiblich. Er fühlte sich so gut wie noch nie in seinem Leben. * Es war eine lange und kühle Nacht, aber trotzdem verließ das Hochgefühl den Zikadenmann nicht. Er lief immer weiter weg von dem Dorf und er wußte, daß er nie wieder dort hin zurückkehren würde, zu diesem kleinkarierten Spießern, deren Träume sich darin erschöpften, daß sie ein gute Ernte herbeiwünschten oder einen neuen Küchenschrank für ihre Hütte. Nun, statt dessen hatten einige von ihnen eine hübsche Feuerbestattung erhalten, und der Zikadenmann freute sich darüber, die Welt wenigstens von einigen dieser verachtenswerten Kleinbürger befreit zu haben. Es war tief in der Nacht, fast schon am nächsten Morgen. Die ersten Vögel begannen noch schläfrig zu zwitschern, da vernahm Ellis das satte brummen eines fliegenden Käfers, das sich ihm rasch näherte. Dann spürte er, wie der Käfer gegen seine Brust prallte und mit einem leisen Plumps auf dem Boden landete. Neugierig beugte er sich hinab. Es war dunkel, aber ein bißchen konnte man erkennen, und was da lag, sah irgendwie nicht nach einem Käfer aus. Es war länglich und für einen Käfer ziemlich groß, eher eine Art Libelle. Vorsichtig nahm der Zikadenmann das Ding mit zwei Fingern auf und war überrascht, als er Wärme und weiche Haut spürte. Er legte das Ding auf seine andere Handfläche und betrachtete es im Licht der schmalen Mondsichel. Er sah lange hin, bis er glaubte, was er sah: Er hatte eine Elfe gefangen. Irgendwann schlug die Elfe ihre Augen auf. Trotz ihres winzigen Gesichts waren sie deutlich zu erkennen, und auch die Angst darin. Choru hauchte sie an, um sie etwas zu wärmen, wie er das früher manchmal mit seinen Zikaden und Käfern getan hatte, bevor er sie aufgespießt hatte. Die Elfe war nur knapp bekleidet, aber ihr Zittern rührte nicht von der Kühle der Nacht. »Tu mir nichts, tu mir nichts. Laß' mich doch bitte am Leben«, flehte sie mit heller, zirpender Stimme. »Warum sollte ich dir was tun?« »Weil du böse bist. So schrecklich böse.« Vor Angst konnte die Elfe kaum sprechen. »Böse. Ich? Unsinn! Wer behauptet denn so was. Ich habe noch nie im Leben auch nur einer Fliege etwas zuleide getan.« »Doch. Du bist böse, und du tötest mich allein durch deine Nähe, Zikadenmann. Ich wollte meinem Freund meinen Mut beweisen, indem ich mich dir näherte, aber jetzt bin ich gefangen und werde sterben. Deine Nähe allein tötet mich. Bitte, laß mich doch frei.« »Gern, kleine Elfenfrau. Du kannst jederzeit wegfliegen.« Und er warf die Elfe hoch in die Luft und sah, wie sie torkelnd davonflog. Was er nicht sah war, wie sie mit letzter Kraft ins Unterholz schwirrte, den Auftrieb ihrer hauchdünnen
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Flügel endgültig verlor und schließlich tot zu Boden stürzte. Seine Aura hatte genügt, sie in kurzer Zeit zu töten. Choru Ellis hingegen fühlte sich gut, weil er einem unschuldigen Geschöpf das Leben geschenkt hatte, obwohl er es jederzeit hätte töten können. Aber so etwas taten schließlich nur Sadisten. Und er hatte noch nie im Leben etwas böses getan. Darauf konnte er jederzeit einen heiligen Eid schwören. Irgendwann kletterte er auf einen Baum und schlief dort mehrere Stunden. Als er aufwachte, verspürte er Hunger, doch es erschien ihm unklug, sich in einem Dorf hier in der Nähe blicken zu lassen. Es hätte sich früher oder später herumgesprochen, daß er doch nicht tot war. Also mußte er sich Nahrung auf andere Weise beschaffen. Und da er sich zwar felsenfest einbildete, ein gutes Gewissen zu haben, in Wirklichkeit aber überhaupt keines besaß, kam ihm schnell eine seiner diabolischen Ideen, wie er es anstellen konnte. Es war nur eine Frage der Zeit bis ... Und wirklich brauchte er nicht lange zu warten, bis er Hufgetrappel hörte. Schnell versteckte er sich hinter einem Gebüsch. Als der Reiter in Sicht kam, steckte der Zikadenmann sich den Ring an den Finger und wartete, bis das Pferd ganz dich bei ihm war. Dann sprang er auf die Straße und riß sich den Ring herunter, wodurch er urplötzlich, wie aus dem Nichts, für das Pferd sichtbar wurde. Dazu sprang er mit einem lauten Schrei auf und riß die Arme in die Luft, wodurch das Pferd in Panik geriet. Choru Ellis hatte eine natürliche Begabung für das Böse. Wenn er einem Menschen schaden wollte, dann klappte das immer. Auch hier war es so. Der Reiter hätte das Pferd vielleicht wieder unter Kontrolle bekommen können, und wenn nicht, hätte er sich beim Sturz vielleicht nur die Schulter verstaucht. Doch gegen die Aura des Zikadenmannes hatte er keine Chance. Er wurde in hohem Bogen heruntergeschleudert und brach sich beim Aufprall das Genick. Seine glasigen Augen starrten immer noch in die Luft, als Ellis sich in aller Ruhe die Vorräte und das Geld nahm. Auch das Pferd hatte er schnell wieder eingefangen. Dann schleifte er den Toten ins Gebüsch, wo ihn wahrscheinlich im Laufe der nächsten paar hundert Jahre niemand finden würde. Er genoß das verspätetes Frühstück, dann bestieg er den Hengst und ritt weiter, nach Südwesten, seinem Ziel entgegen, das noch in so weiter Ferne lag. Am Westrand des Blauen Gebirges zog er entlang, Woche um Woche, und wann immer er einem Menschen begegnete, geschah ein Unglück. Leichen, brennende Häuser, verzweifelte Opfer säumten seinen Weg, und doch er hätte jeden heiligen Eid geschworen, noch nie im Leben jemandem Unrecht getan zu haben. Viele Tage lang sah er zur Linken die hohen Berge des Blauen Landes, doch dann hörten sie auf und gingen in flacheres Land über. Aber noch immer lag links von ihm das Land des Blauen Königs. Allerdings war es jetzt, Anfang Herbst, verlassen, denn die Jäger und Fallensteller waren allesamt im Hochgebirge, wo sie seltenen Tieren nachstellten und auch schon Wintervorräte sammelten. Dieser Umstand rette sicherlich vielen von ihnen das Leben, denn er verhinderte, daß sie dem Zikadenmann über den Weg liefen. Hätte jemand Choru Ellis gesagt, daß inzwischen ein Trupp von 10 Rittern hinter ihm her war, hätte er treuherzig gefragt, was sie von ihm wollten. Jedenfalls hatte er inzwischen so viel Aufmerksamkeit erregt, daß der Provinzverwalter eine Polizeitruppe hinter dem unheimlichen Massenmörder hergeschickt hatte. Doch sie erwischen ihn nicht, denn Ellis wechselte, als er die Grenze zum Fürstentum Botha erreichte,
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auf die andere Seite. Hier, außerhalb des direkten Machtbereichs des Königs Karl, fühlte er sich instinktiv sicher, und so ritt er ganz offen in die nächste größere Stadt und kehrte in ein Wirtshaus ein. Geld hatte er genug, mit dem er seine Speisen und ein Zimmer für die Nacht bezahlen konnte. Früh am nächsten Tag brach er wieder auf. Er hatte mittlerweile knapp die Hälfte des langen Weges zurückgelegt, doch die Straßen im Botha-Land waren schlecht - wenn es überhaupt welche gab - und so kam er hier nur sehr langsam vorwärts. Das ganze Fürstentum war ärmlich und in lang dauernden Kleinkriegen gegen seine Nachbarn ausgeblutet. Das hatte erst vor wenigen Jahren aufgehört, als der alte Fürst gestorben war. Aber Ellis wußte, daß sein Sohn sehr krank war und keinen männlichen Nachfolger hatte. Wenn er starb, würde der Krieg wieder aufflammen, diesmal um die Erbfolge. Sicher würde auch König Karl Ansprüche erheben, denn das Fürstentum Botha hatte einst zu seinem Reich gehört, auch wenn das schon über hundert Jahre zurück lag. Auf seinem Ritt über Feldwege und Trampelpfade hatte der Zikadenmann genügend Zeit und Gelegenheit, über solche Dinge nachzudenken. Dann pflegte er sich auszumalen, wie er - nach Abschluß seiner Mission - mit Gold beladen zurückkehrte und den ganzen verkommenen Laden übernahm. Dann war er glücklich und zufrieden mit sich und der Welt. * Eines Abends sah er voraus einen Feuerschein. Er ritt durch einen lichten Wald, weit und breit gab es keine Stadt oder auch nur ein Dorf. Da es schon ziemlich kalt war, beschloß er, die Leute, die das Feuer entzündet hatten, aufzusuchen, und um eine warme Übernachtungsmöglichkeit zu bitten. Etwas später konnte er erkennen, daß es sich um ein Zigeunerlager handelte. Etwa dreißig dieser Menschen waren es. Sie hatten ihre Wagen auf einer weiten Lichtung im Halbkreis abgestellt und in der Mitte ein großes Feuer entzündet, über dem sie jetzt saftige Fleischstücke brieten. Als sie den Zikadenmann näherreiten sahen, luden sie ihn freundlich ein, ihr Gast zu sein. Ellis freute sich über den herzlichen Empfang, denn normalerweise waren die Menschen in Botha-Land abweisend und Fremden gegenüber äußerst mißtrauisch. Die Zigeuner aber waren offen und gastfreundlich und boten dem Zikadenmann von ihrem knusprigen Braten und dem würzigen Wein an, so viel er nur wollte. »Danke, liebe Freunde«, sagte er schließlich, vom Wein schon ziemlich benebelt. »Ich will euch aber nichts schuldig bleiben. Hier!« Er holte seinen Geldbeutel hervor und zählte einige Silbermünzen ab. Doch die Zigeuner weigerten sich, das Geld anzunehmen, ja, sie fühlten sich fast beleidigt. Choru wollte sie nicht zu ihrem Glück zwingen, also steckte er das Geld wieder ein und legte sich dann auf den Schlafplatz, den sie ihm zugewiesen hatten. Kaum hatte er sich einmal umgedreht, da war er auch schon eingeschlafen. Und so hätte er sicher die ganze Nacht ruhig und selig durchgeschlafen, doch irgend etwas weckte ihn plötzlich. Er fuhr auf, doch alles war ruhig. Dennoch wurde er das dringende Gefühl nicht los, daß etwas völlig falsch war. Mehrere endlose Sekunden lang kreisten seine Gedanken wie durch Leim, dann fuhr er mit einem gellenden Schrei hoch. Der Ring! Der Ring der Unsichtbarkeit, der immer an einer Kette an seinem Hals hing, war weg! Unruhe kam im Lager auf, doch das war noch gar nichts dagegen, was los war, als Ellis herangestürmt kam. Mit hysterisch kreischender Stimme schrie er, er wolle seinen Ring wiederhaben. Und dann schrie er etwas, was die Zigeuner auf unheimliche, unausweichliche Art ins Verderben stürzen sollte. Er brüllte:
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»Der Ring ist unersetzbar. Er macht seinen Träger unsichtbar, wenn man ihn sich ansteckt. Wenn ich den Dieb erwische, dann ...« Er kam nicht dazu, den Satz zu vollenden, denn nicht weit von ihm entfernt erscholl ein gellender Schrei. Ellis wußte intuitiv sofort, daß nur der Dieb geschrien haben konnte. Er hatte seine Worte gehört und der Versuchung nicht widerstehen können, es auszuprobieren und sich unsichtbar zu machen. Und natürlich war er dann durch die unvermittelt einsetzende totale Finsternis in Panik geraten. Ellis hatte sich die Stelle mit tödlicher Präzision gemerkt. Nun stürmte er darauf zu, riß sein Schwert heraus und hieb blind vor Wut wilde Schläge scheinbar in die Luft. Doch die Todesschreie des Getroffenen und der Schwall von Blut, der mitten aus der Luft hervorströmte bewiesen, daß er sich nicht geirrt hatte. Er hieb wie ein besessener auf den Träger des Ringes ein und zerstückelte ihn geradezu. Ein Körperteil nach dem anderen wurde sichtbar und fiel zu Boden. Schließlich traf der Zikadenmann die Hand des Diebes und trennte sie ab, wodurch der zerfleischte Rest des Körpers sichtbar wurde. Die Zigeuner, die inzwischen herangestürmt waren, waren vor Entsetzen wie gelähmt. So, wie die Aura des Bösen die kleine Elfe getötet hatte, so lähmte der unbeschreibliche Vernichtungswille des Zikadenmannes die Zigeuner. Doch als sie sahen, wen Ellis da gerade zerhackte, da fiel der Bann von ihnen ab. Es war die Tochter des Sippenführers. Ihr Kopf rollte über den Boden, blutüberströmt, das Gesicht vor Grauen verzerrt, die Augen weit aufgerissen. Mit einem tierischen Schrei stürmten sie auf Ellis zu, mit Fackeln bewaffnet oder einfach mit bloßen Fäusten, doch sie liefen gerade in ihr Verderben. Ellis hatte die Hand, wiewohl dank des Ringes immer noch unsichtbar, nämlich inzwischen gefunden. Er riß den Ring von dem unsichtbaren Finger. Als er die schreiend auf ihn zustürmen den Zigeuner sah, da zog er sich den Ring selbst an. Und dann begann er erst richtig zu rasen. * Kein einziger der Zigeuner überlebte das Zusammentreffen mit Ellis. Der folgende Tag sah anstelle des Lagers nur noch rauchende Trümmer, anstelle der Menschen nur zerhackte Leichenstücke. Ein Wanderer, der dies zufällig gesehen hätte, hätte nie und nimmer geglaubt, daß ein einzelner Mensch solch eine Verwüstung anrichten konnte. * Der Herbst ging vorbei, dann kam der Winter. Niemand zählte die Toten, die auf dem Weg des Zikadenmannes geblieben waren. Inzwischen war er im Fürstentum Ganda, das westlich an Botha-Land grenzte. Zwischen ihm und seinem Ziel, dem Schwarzen Schloß, lag damit nur noch das Troll-Land. * Und das Schicksal. Denn eines Tages rutschte sein Pferd auf einer zugefrorenen Pfütze aus und brach sich dabei beide Vorderläufe. Choru Ellis wurde herabgeschleudert und brach sich ebenfalls einen Arm. Aber schlimmer noch: Er landete halb unter dem Pferd, das sich vor Schmerz und Verzweiflung eine Zeitlang wild herumwarf und den Zikadenmann dabei fast zerquetschte. Er schrie wie am Spieß, und das Wunder geschah: Jemand hörte ihn.
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Der Zikadenmann bekam allerdings von seiner Rettung kaum etwas mit. Er sah nur noch einen großen, kräftigen Mann, der irgend etwas tat, woraufhin das Pferd plötzlich ganz ruhig wurde. Dann verließen ihn die Sinne. Daß der Mann den Schwerverletzten auf seinen Schlitten lud und ihn dann nach Haus brachte, davon merkte Ellis nichts. Er wachte auch in den folgenden Tagen immer nur kurz auf, bevor ihn die Kräfte wieder verließen. Jemand schien ihm mit zarter Hand Suppe einzuflößen, außerdem war es warm, dort wo er sich befand. * Irgendwann kam er dann zum ersten Mal wieder richtig zu sich. Es war finster, mitten in der Nacht. Choru fühlte sich kräftig und erholt, doch als er sich aufsetzten wollte, wurde ihm sofort schwindelig und ein stechender Schmerz zuckte durch seinen rechten Arm. Stöhnend ließ er sich zurücksinken. Dann zuckte seine linke Hand hoch an seine Brust. Als er dort den Ring unter seiner Kleidung spürte, stieß er einen erleichterten Seufzer aus und schlief beruhigt und voll innerem Frieden wieder ein. »Wie geht es ihm heute?« Gero sah überrascht von seinem Frühstück auf und blickte Andrea, seine Frau an: »Woher soll ich das wissen? Ich dachte, du hättest schon nach ihm gesehen.« »Angeline hat gesagt, er sein heute Nacht wach gewesen«, antwortete Andrea, ohne direkt auf Geros Frage einzugehen. »So, so.« Er verzog mißbilligend das Gesicht. »Sei nicht so streng mit ihr«, meinte Andrea, die Geros Reaktion sehr wohl interpretieren konnte. Denn daß ihre Tochter Angeline ein großes Interesse an dem Fremden zeigte, war dem Rest der Familie nicht entgangen. »Sie ist ein junges Ding, und ...« »Eben!«, unterbrach Gero sie. »Jung und unerfahren. Was wissen wir schon über diesen Mann, außer daß er mindestens zweimal so alt ist wie Angeline. Vielleicht gehört er sogar zu diesen Killern, von denen sich alle erzählen.« »Na klar! Einer von den Killern reitet einfach so am hellichten Tag durch das Land, fällt vom Pferd und läßt sich von dir retten.« Andrea schüttelte entschieden den Kopf. »Vielleicht wollten die Killer ja gerade ihn überfallen, und du bist dazwischengekommen und hast ihr gerettet.« In diesem Moment kamen Carus und Peter, die beiden Söhne, die Holztreppe herabgestürmt. Das ging nie ohne viel Lärm und Aufregung ab, denn die beiden jungen Burschen strotzten nur so vor Energie. Sie stürmten an den Frühstückstisch und machten sich lärmend über die frischen, warmen Brötchen her, die Andrea gerade aus dem Ofen geholt hatte. »Übrigens,« warf Gero ein, »wo steckt Angeline eigentlich?« »Na wo wohl?« rief Peter mit vollem Mund dazwischen. Gero warf ihm einen verweisenden Blick zu. »Sei nicht so vorlaut. Sieh du lieber zu, daß du rechtzeitig fertig wirst und nicht zu spät zur Schule kommst. Schau nur mal auf die Uhr.«
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Peter quittierte es mit einem Murren. Er wäre viel lieber, wie sein älterer Bruder, zum Müller oder zum Schmied in die Lehre gegangen. Doch das erlaubten seine Eltern erst, wenn er vierzehn war. Aber dann! Dann würde er mal so richtig auf den Putz hauen. Gerade, als die beiden Jungen fertig waren und ihre Taschen zusammenpackten, kam Angeline die Treppe heruntergeschwebt. Wie immer, wenn sie vom Krankenlager des Zikadenmannes kam, lag ein seliges Lächeln auf ihren Lippen, und ihre Füße schienen ein Stück über dem Boden zu schweben. »Guten Morgen Vater, guten Morgen Mutter, hallo Peter und Carus.« »Hallo, Angeline.« »Wiedersehen!« Rumms fiel die Tür ins Schloß, und weg waren sie. »Tja, für mich wird es auch Zeit, und dann muß ich noch im Wald Holz holen, glaube ich«, rief Gero. »Kann ich euch beide mit dem Fremden allein lassen?« Er erwartete keine Antwort und stand auf. Andrea warf ihrer Tochter ein warmherziges Lächeln zu: »Ich glaube, unser Vater ist nicht so ganz glücklich mit dem Fremden, den er da auf der Straße aufgelesen hat.« »Das sagt er doch jeden Morgen«, maulte Angeline. Sie war 20 Jahre alt und trotz ihrer Schönheit hatte sie immer noch keinen festen Freund. Vielleicht lag das daran, daß sie ziemlich weit draußen wohnten. Bis ins Dorf war es eine Dreiviertelstunde zu Fuß. Außerdem war sie ein zartes, verträumtes Mädchen, das lieber Bücher über Prinzen und Helden las, als sich mit den groben Bauernsöhnen einzulassen. An Verehrern hatte es nie gefehlt, aber Angeline hatte mit keinem viel anfangen können, und so waren sie alle nach einiger Zeit enttäuscht wieder davongeschlichen. »Heute Nacht war er zum ersten Mal richtig wach«, sagte sie mit aufgeregter Stimme. »So? Und was hat er gemacht?« Angeline erzählte in aller Ausführlichkeit, daß er eigentlich gar nichts gemacht hatte, dann fügte sie hinzu: »Jetzt wird er bestimmt bald wieder gesund.« Sie nahm eins der Brötchen, schnitt es auf, bestrich es dann liebevoll mit Honig, und ging wieder hinauf, wo die Familie ihre Schlafzimmer hatte, und wo in einer kleinen Kammer auch Choru Ellis untergebracht war. Gero war keineswegs so beruhigt, wie er getan hatte. Er holte das Pferd aus dem Stall und spannte den Schlitten an, mit dem er später das Holz transportieren wollte. Wenn er an den Fremden dachte, hatte er irgendwie ein ungutes Gefühl. Als er dann in Richtung der Provinzhauptstadt Sedoun fuhr, wo er einige Geschäfte zu erledigen hatte, kreisten seine Gedanken unaufhörlich um den Fremden. Er hatte ihn
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gerettet, wobei er das Pferd mit seiner Axt hatte erschlagen müssen. Sonst hätte es den Mann unweigerlich zerquetscht. Der war zwar äußerlich ziemlich unversehrt geblieben, hatte aber den rechten Arm und zwei Rippen gebrochen und sich einige schwere Quetschungen und Prellungen zugezogen, wie später der Arzt festgestellt hatte. Für die Untersuchung und die Schienen und Verbände hatten sie den Fremden weitgehend entkleiden müssen, und das, was dieser in seinen Kleidern so bei sich getragen hatte, hatte Gero zu denken gegeben. Es war nicht nur das viele Geld in Münzen verschiedener Länder, es waren alle möglichen kleineren Gegenstände, die irgendwie verdächtig waren, ohne daß er direkt hätte sagen können warum. Sie sahen einfach nicht so aus, als ob sie alle ihm gehören könnten, eher so, als habe sie jemand planlos zusammengestohlen. Es waren mehrere goldene Ringe dabei, Eheringe mit Gravur sogar. Und wie kam jemand in den Besitz von gleich sechs oder sieben Eheringen? Noch dazu immer einzeln. Vor Geros geistigem Auge erschien eine furchtbare Szene: Der Fremde erschlug der Reihe nach sieben Leute und raubte sie dann aus. Und die beiden Goldzähne. Seine eigenen waren es nicht, das Gebiß des Fremden war in Ordnung. Hatte er seinen Opfern auch noch die Zähne herausgebrochen? Gero schüttelte unwillig den Kopf. Sicher war der Fremde ein Goldhändler, oder ein Goldschmuggler ... oder ... oder ... Er verscheuchte gewaltsam diese finsteren, abartigen Gedanken, aber er war froh, heute nach Sedoun zu kommen, denn dort gab es eine größere Polizeipräfektur. Wenn man dort etwas wußte ... oder vielleicht konnte er einen Polizisten bitten, sich den Fremden mal genauer anzusehen. Gero atmete tief durch und wandte dann seine Aufmerksamkeit der wunderschönen Umgebung zu. Sein Atem bildete eine dicke, weiße Wolke in der eisigen Luft. Die Landschaft war tief verschneit und strahlte in einem unglaublich reinen Weiß. Alles sah so sauber aus, so unschuldig. Der Weg machte eine Biegung. Dahinter entsprang eine Quelle aus dem Berg, die auch im Winter nicht versiegte. Gero überlegte, ob er durstig war, doch dann entschied er, weiterzufahren. Schließlich hatte er ja erst vor einer Stunde gefrühstückt. Die Quelle kam in Sicht. Das Wasser sprudelte aus einer steinernen Einfassung, deren nasse Schwärze sich stark vom Schneeweiß der Umgebung abhob. Geros Augen saugten sich geradezu daran fest. An was nur erinnerte ihn das? Und dann kam es ihm: Es war dieser Ring. Der Ring, den der Fremde an einer dünnen Messingkette um seinen Hals trug. Keiner von ihnen hatte es gewagt, den Ring auch nur zu berühren, auch Angeline nicht. Etwas unheimliches ging von ihm aus. Gero zuckte zusammen, als ihm plötzlich noch etwas einfiel. Das Schwert des Fremden. Wieso war er nicht vorher darauf gekommen? Die Klinge war blank geputzt, aber die Scheide war alles andere als sauber. Nur hatte er zuerst nicht darauf geachtet, und oben, im Kerzenlicht, konnte man die Farbe des Schmutzes nicht so genau sehen. Aber es gab keinen Zweifel: Es war Blut. Altes, längst geronnenes Blut. Und die etwas helleren Flecken auf dem Leder waren jüngeres Blut. Gero glaubte einen Moment lang, sein Herz müsse stehenbleiben. »Unsinn, ich mache mich doch nur selbst verrückt!«, rief er zornig zu sich selbst. Sein Pferd drehte
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neugierig den Kopf zu ihm hin, doch als es sah, daß es da nichts für es gab, trabte es brav weiter. Das Blut war einfach Schmutz. Schließlich war der Fremde ja unter sein Pferd geraten. Kein Wunder, daß alles mit Schlamm imprägniert war. Oder? Wahrscheinlich war der Fremde einfach ein Soldat, ein alter Söldner oder so was ... Die nagenden Zweifel blieben. Eins jedenfalls war sicher: Gero würde mit der Polizei ein längeres Gespräch haben. Und Angeline. Sie interessierte sich zu sehr für diesen Unbekannten, von dem sich nicht einmal den Namen kannten. Sicher, er faszinierte das jungen Mädchen, außerdem konnte sie ihn pflegen und bemuttern, was sie ja auch ausgiebig tat. Aber wenn er dann wieder gesund war und weiterzog? Und das war noch das mindeste, was Angeline würde verkraften müssen, denn vielleicht war er ja doch einer der Killer aus dem Osten. Ein Glück nur, daß sein Arm immer noch geschient war, so daß er ihn nicht benutzen konnte. Als Angeline die kleine Kammer betrat, in der ihr Vater den Fremden untergebracht hatte, blieb sie erschrocken und überrascht in der Tür stehen. Der Unbekannte hatte sich halb aufgerichtet und sah sie freundlich und neugierig an. »Verzeiht. Ich wußte nicht, daß ...« stammelte das junge Mädchen aufgeregt. Fast wäre ihr das Tablett mit dem belegten Brötchen und dem warmen Tee aus der Hand gerutscht, doch sie konnte es gerade noch ausbalancieren. Das Lächeln des Mannes vertiefte sich, und Angeline faßte den Mut, endgültig einzutreten. Mit dem Fuß schob sie die Tür hinter sich zu, dann stellte sie das Tablett auf den kleinen Tisch neben das Bett. Sie wollte sich wieder erheben und draußen warten, als der Fremde mit schwacher Stimme sagte: »Warst du die, die mich gesundgepflegt hat?« Angeline errötete leicht und antwortete: »Ja, Herr.« »Dafür danke ich dir vielmals. Und nenn mich Choru, nicht Herr.« »Ja, Herr.« Der Zikadenmann ging nicht weiter darauf ein, sondern wandte sich dem Frühstück zu. Zum ersten Mal seit ... Mit vollem Mund blickte er auf und fragte: »Wie lange bin ich schon hier?« »Seit etwa zwei Wochen, Herr.« »Choru!«, korrigierte er sie. »Choru.« »Seit zwei Wochen. Ich habe viel zuviel Zeit verloren. Ich muß schleunigst weiter.« Er wollte sich erheben, doch dabei wurde ihm wieder schwarz vor Augen. Mit einem Seufzer sank er zurück ins Bett. Sofort war Angeline bei ihm, um ihn zu stützen. »Danke, Mädchen«, ächzte der Zikadenmann.
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»Ich heiße Angeline«, entfuhr es ihr. »Was für ein hübscher Name. Du erinnerst mich ein bißchen an meine Frau, weißt du das.« »Ihr seid verheiratet!«, rief Angeline entgeistert. Damit hatte sie nicht gerechnet. »Ich war es. Sie ist vor ein paar Jahren gestorben. Es war eine schlimme Sache.« Er seufzte. Angeline fühlte sich durch diese Worte irgendwie grenzenlos erleichtert, doch dann schämte sie sich ihrer Gefühle. Wie konnte sie sich nur über den Tod eines Menschen freuen! Verlegen blickte sie zu Boden. Sie hatte Angst, daß man ihr ihre unschicklichen und bösen Gedanken auf der Stirn ablesen konnte. Das was natürlich Unsinn. Genauer gesagt, es wäre Unsinn gewesen, wenn sie es nicht mit IHM zu tun gehabt hätte. Choru Ellis spürte das Schlechte und Böse mit tödlicher Sicherheit. Die Gedanken und Gefühle dieses jungen Dings lagen plötzlich klar und offen vor ihm, ohne daß er sich dessen aber bewußt geworden wäre. Aber eines wußte er: Angeline würde alles für ihn tun. Nur - er bedurfte dieser Macht gar nicht. Bald war er gesund, dann würde er weiterziehen, und das war's dann. Nun, es sollte etwas anders kommen. Angeline verbrachte den ganzen Vormittag bei Choru, und dieser erzählte aus seinem Leben. »Als kleiner Junge war ich immer der Schwächste in der Klasse. Immer habe sie mich verprügelt. Deshalb bin ich auch Amtmann geworden, und kein Zunfthandwerker. Denn da kommt es auf den Verstand an, nicht auf brutale Kraft.« Es war exakt das, was Angeline hören wollte. Sie blickte Ellis bewundernd an, während er erzählte. Alles, was er sagte, war die Wahrheit, doch niemand, der diese Geschichte gehört hätte, wäre darauf gekommen, daß es der Lebenslauf eines Ungeheuers war. »Schon früh in der Schulzeit habe ich angefangen Insekten zu sammeln, vor allem Schmetterlinge und Käfer. Es gab bei uns vor der Stadt große Wiesen, die jahrelang brachlagen. Dort blühten viele Blumen im Sommer, und es gab Millionen von Zikaden. Ich habe sie eingefangen, in einen Kasten mit Fächern gesteckt und dann beschriftet. Ich weiß heute noch alles über Insekten.« Was er nicht erzählte war, daß die Zikaden und Käfer noch gelebt hatten, wenn er sie aufspießte, und daß er mit seinen Freunden immer gewettet hatte, wie viele Tage sie noch zappeln würden, bis sie endlich starben. Stundenlang hatten sie vor den Kästen gesessen und zugeschaut, wie die Kreaturen mit den Beinen in der Luft herumruderten und nie den Boden erreichen konnten, weil die Metallnadel, die sie ihnen durch den Leib gestoßen hatten, sie festhielt. »Und dann«, erzählte Ellis weiter, »eines Tages, als ich meine Sammlung mit in die Schule nehmen wollte, haben die Kerle aus der anderen Klasse mir aufgelauert und alles kaputt gemacht. Das tut mir heute noch leid.« Er seufzte erneut und erntete einen mitleidigen Blick von Angeline. »Später sind wir dann umgezogen, als ich eine große Chance bekam bei der Südostkolonisation. Dort habe ich auch die Aufzeichnungen gefunden, wegen denen ich jetzt unterwegs bin.« Er redete und redete, und Angeline kam kaum dazu, das alles zu behalten. Dennoch hatte sie, als Andrea sie später zu Tisch rief, das Gefühl, den Zikadenmann genau zu kennen, ja sogar, ihn schon immer gekannt zu haben. Zwischen ihnen war eine Vertrautheit und Verbundenheit entstanden, die das
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junge Mädchen im siebten Himmel schweben ließ. Und erwiderte er nicht ihre Gefühle? Es war der interessanteste und faszinierendste Mann, den sie je kennengelernt hatte. Was waren gegen ihn die Bauerntölpel aus der Gegend hier? Gedankenverloren stocherte sie in ihrem Essen herum, und erst, als ihre Mutter sie auf Ellis ansprach, kehrten ihre Gedanken in die Realität zurück. Dann aber sprudelte es nur so aus ihr heraus. Doch auch ihre Mutter, die vom Mißtrauen Geros inzwischen angesteckt worden war, konnte anhand dessen, was Angeline ihr erzählte, unmöglich auf die Idee kommen, daß sie ein Monster in ihrem Haus beherbergte. Schmetterlinge und Raupen sammeln - das hatte sogar Gero als kleiner Junge mal gemacht. Es war das harmloseste der Welt, und so verhielt es sich auch mit allem anderen, was Angeline ihr berichtete. Später am Nachmittag kehrte Peter aus der Schule zurück. Angeline berichtete auch ihm begeistert von Choru, und so wurde der Junge neugierig und besuchte den Fremden in seinem Zimmer. Als er zurück kam, war er von der Harmlosigkeit und Freundlichkeit des Zikadenmannes fest überzeugt, und so legte sich auch Andreas Mißtrauen langsam wieder. In der Tat: Choru Ellis war ein netter, freundlicher und zugleich interessanter Mann, der viel herumgekommen war in der Welt. Nur wohin er jetzt unterwegs war und was er dort wollte, hatte er niemandem verraten. Da er aber sonst sehr viel über sich erzählt hatte, fiel das nicht weiter auf. * Als erstes, nachdem Gero die Polizeistation betreten hatte, fiel ihm ein Steckbrief auf, der in der Eingangshalle hing. Gesucht wurde eine Bande von Männern, die vermutlich aus Botha-Land oder dem karolingischen Reich gekommen waren, und denen man eine so lange Liste an schwersten Verbrechen vorwarf, wie Gero sie noch nie in seinem Leben gesehen hatte. Es waren kein Bilder der Gesuchten dabei, und auch die Beschreibung war so vage, daß sie auf jeden zweiten männlichen Erwachsenen paßte. Die Verfasser des Steckbriefes waren wohl davon ausgegangen, daß die Mörder durch ihr Verhalten so auffällig waren, daß eine nähere Beschreibung überflüssig sei. Kopfschüttelnd las Gero den Steckbrief ein zweites Mal durch. Nein, es war völlig unmöglich, daß der kranke Fremde in seinem Haus mit diesen hier etwas zu tun haben konnte. Nachdenklich verließ Gero die Station wieder, und ging seinen Tagesgeschäften nach. Er verkaufte einen Teil des Pferdefleisches, das bei dem Unfall des Fremden gewissermaßen angefallen war, und daß sich dank der Kälte gut konserviert hatte. Den Erlös wollte er seinem Schützling natürlich zurückgeben, obwohl das Geld für ein neues Pferd natürlich nicht reichen würde. Aber arm war der Mann ja nicht. Dennoch ging Gero den ganzen Tag dieser Steckbrief nicht aus dem Kopf, und so schaute er am Abend doch noch mal bei der Polizei vorbei. Es war nur noch ein Polizeibeamter da, in der prunkvollen Uniform, die so gar nicht zu den ordentlichen, aber sonst eher bescheidenen Verhältnissen paßte, die im Fürstentum Ganda herrschten. So einen herausgeputzten Polizei-Wachtmeister konnte man sich viel eher auf der steinreichen Sonneninsel oder im Weißen Königreich vorstellen. Gero trat als ein, stellte sich vor und trug dann sein Anliegen vor. Der Polizist hörte aufmerksam zu, dann stellte er einige Fragen. Zuletzt blickte er Gero sehr ernst und eindringlich an und sagte: »Behaltet den Mann gut im Auge. Ich werde morgen oder übermorgen mal vorbeikommen.« »Glaubt ihr, daß er ...« »Nein, ziemlich unwahrscheinlich. Aber er könnte die Killer gesehen haben. Jeder Hinweis hilft uns.«
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Gero verließ die Station wieder und bekam nicht mehr mit, wie der Polizist ein Stoßgebet an die guten Götter schickte. Wenn er nicht davon ausgegangen wäre, daß Choru Ellis krank und hilflos darniederlag, wäre er sogar sofort mitgekommen. Spät am Abend kehrte Gero nach Hause zurück. Er hatte unterwegs noch Holz geschlagen und stapelte es nun vor dem Haus unter dem Vordach auf. Was seinen Patienten betraf, war er einigermaßen beruhigt. Beim Abendessen unterhielt er sich mit seiner Frau darüber. Andrea beklagte sich, daß Angeline den ganzen Tag bei Choru verbracht hatte und ihr bei den Hausarbeiten kaum geholfen hatte. Wenn's weiter nichts ist, dachte Gero erleichtert. Nein, Choru konnte nichts mit diesen Massenmördern zu tun haben. * Am nächsten Tag kam der Arzt vorbei und untersuchte Ellis. Er stellte fest, daß er die Armschiene noch zwei oder drei Wochen tragen mußte. Außerdem sollte er sich schonen, denn auch die gebrochenen Rippen waren noch nicht ganz verheilt. Ansonsten gehe es ihm aber wieder gut. Der Zikadenmann vernahm es erleichtert. Auch Angeline nahm es mit Freude auf. Ihr war nicht bewußt, daß Ellis sie in dem Augenblick verlassen würde, in dem er wieder reisefähig war. Es klopfte an der Tür. Angeline, die im Moment außer Ellis die einzige Anwesende im Haus war, warf ihrem Patienten einen entschuldigenden Blick zu, dann ging sie hinunter und öffnete. »Ja?« Als sie den Polizisten aus Sedoun und seine zwei Gehilfen erblickte, bekam sie große Augen. »Was wünschen Sie?« »Können wir Ihren Vater sprechen?« »Der ist in Sedoun. Geschäftlich. Wieso?« »Nun, er war gestern bei uns. Wir wollen uns mal Ihren Gast ansehen.« Mit diesen Worten drückte er die Tür auf und schob sich hinein. Die beiden anderen Polizisten folgten ihm. »Wo befindet er sich?« »Was hat er verbrochen? Er ist der freundlichste Mensch, den man sich nur vorstellen kann!«, widersprach Angeline heftig. Was hatte ihr Vater sich dabei nur gedacht? Sie war richtig wütend. Und dann kam ihr eine Idee. Der Polizist sagte: »Seit einiger Zeit treibt eine Bande irrer Massenmörder hier in der Gegend ihr Unwesen. Wir wollen Ihren Gast befragen, ob er vielleicht Zeuge gewisser Vorfälle geworden ist.« »Er ist fort.« Die drei Polizisten blickten Angeline ungläubig an. Diese bekräftigte: »Er hatte es sehr eilig. Daher ist er heute früh aufgebrochen.« »Und wohin?« »Nach Süden. Ich glaube, Choru wollte ins Weiße Königreich.«
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Die Polizisten sahen sich vielsagend an. »Dürfen wir uns hier mal ein bißchen umsehen?« »Wieso! Was wollen Sie noch?« »Wo ist Ihre Mutter?« »Ins Dorf zum Einkaufen.« »Und Ihre Brüder?« »Was soll dieses Kreuzverhör? Halten Sie jetzt vielleicht mich für einen Komplizen dieser irren Killer?« Es ging noch eine Zeitlang so hin und her, doch dann schaffte Angeline es endlich, die drei abzuwimmeln. Oben in seinem Zimmer legte der Zikadenmann leise sein Schwert in die Ecke zurück und ließ sich erleichtert ins Bett zurücksinken. Kurz darauf kam Angeline wieder zu ihm und berichtete, was sich zugetragen hatte. Dann fragte sie: »Was wollten die bloß von dir? Bist du diesen Killern schon mal begegnet?« Ihre Augen blickten ihn angsterfüllt an. »Nein, und ich habe keine Ahnung. Da ich eigentlich nur auf der Durchreise bin, weiß ich auch nicht, was hier bei euch so los ist. Von einer Bande verrückter Mörder höre ich eigentlich zum ersten Mal was.« Und nach einer kurzen Denkpause fügte er hinzu: »Schlimm, schlimm, was heutzutage alles frei herumlaufen darf.« Angeline nickte entschieden und seufzte erleichtert. Choru streichelte ihr langes Haar, und sie warf ihm dafür einen schmachten den Blick zu. * Eine Woche später kam der Arzt wieder vorbei. Es gab nur diesen einen, und er hatte eine halbe Provinz zu betreuen. Aber Chorus Zustand hatte sich weiter gebessert. Er war nun bereits den ganzen Tag auf den Beinen, konnte wegen seines immer noch geschienten rechten Arms aber nicht viel tun. Der Arzt sagte, wenn er in ein oder zwei Wochen das nächste Mal käme, könne er den Verband abnehmen. Am Abend gab der Zikadenmann Gero Geld und bat ihn, bei nächster Gelegenheit in Sedoun für ihn ein Pferd zu kaufen. Gero fragte: »Warum kommt Ihr nicht mit? Dann könnt Ihr Euch selbst eins aussuchen.« Ellis antwortete: »Nein, dazu fühle ich mich noch zu schwach. Bei der Kälte da draußen.« Am übernächsten Tag brachte Gero seinem Gast ein schönes, neues Pferd mit, und dieser war's zufrieden. * Das Fürstentum Ganda war zwar recht klein und unbedeutend, aber nicht so ärmlich und heruntergewirtschaftet wie sein größerer Nachbar Botha-Land. Trotzdem waren die meisten Straßen schlecht, vor allem jetzt, im Winter. Und so kam es, daß Briefe manchmal gar nicht, manchmal mit Tagen oder Wochen Verspätung eintrafen. Wäre dem Brief des Polizeipräfekten der Stadt Herraris auch ein
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solches Schicksal widerfahren, dann hätte das vier Menschen das Leben gerettet, und Geros Familie wäre relativ glimpflich davongekommen. Doch das Schicksal wollte es anders. Die mit dem fürstlichen Wappen verzierte Postkutsche traf am Ende der Woche in Sedoun ein, und der Brief wurde dem hiesigen Polizeihauptmann sogleich zugestellt. Er heilt ihn für nicht so wichtig und schob ihn erst mal Richtung Ablage P. Aber als er ihn am Abend, nachdem er gerade nichts besseres zu tun hatte, doch noch las, war der Teufel los. Er trommelte sofort alle verfügbaren Männer zusammen und machte sich auf den Weg. In gestrecktem Galopp eilten sie zu Geros einsam gelegenen Bauernhof. Am Nachmittag hatte der Zikadenmann zum ersten Mal eigenmächtig die Armschiene abgelegt. Wegen der Halteschlingen hatte er dazu auch sein Hemd ausziehen müssen. Sein rechter Arm schmerzte nicht mehr und bereitete ihm auch sonst keine Schwierigkeiten, abgesehen davon, daß er nach der langen Ruhezeit etwas steif war. Als Angeline unangemeldet ins Zimmer kam, machte sie Choru Vorwürfe, daß er die Anweisung des Arztes mißachtet und so seine Gesundheit gefährdet hatte. Choru antwortete: »Der Doktor kommt doch sowieso morgen oder übermorgen. Und ich habe es einfach nicht mehr ausgehalten.« Er atmete tief ein, seine Brust schob sich vor, und der Ring der Finsternis, den er dort - wie immer - an einer Kette trug, zog auf einmal wie magisch Angelines Aufmerksamkeit auf sich. Ihr Blick hing wie gebannt an dem unnatürlich schwarzen Stein. Und im gleichen Moment empfand der Zikadenmann das unstillbare Bedürfnis, dieses zarte Mädchen zu vernaschen. Es gab keine logische Beziehung zwischen diesen Ereignissen, oder vielleicht waren sie durch eine höhere Macht gelenkt, jedenfalls trat Ellis auf Angeline zu, deren Augen immer noch staunend auf dem Stein lagen, ergriff ihre Hände, bog sie auf den Rücken und hielt sie dort mit einer Hand fest, während er mit der anderen begann, Angelines Kleidung auszuziehen. Die junge Frau wehrte sich nicht. Vielleicht wußte sie nicht, was ihr bevorstand, vielleicht fühlte sie es aber auch instinktiv und wollte es sogar. Der Zikadenmann ging ziemlich brutal vor. Nachdem er Angelines Kleider heruntergerissen hatte, warf er sie zu Boden, aber sie war immer noch wie hypnotisiert und starrte ihn einfach nur an. Ihr Atem ging stoßweise und ihr Herz raste. Jetzt zog Ellis sich selbst in aller Hast aus. Er hatte das Gefühl, vergehen zu müssen, wenn er diese Frau jetzt nicht sofort bekam. Und dann stürzte er sich auf sie. * Als er sich wieder anzog, lag Angeline immer noch da. Langsam wandte sie ihren verschleierten Blick dem Zikadenmann zu, dann zuckte sie zusammen und begann hemmungslos zu schluchzen. Choru Ellis betrachtete sie mit Befriedigung. Erst sie, dann das Gold. Alles würde ihm gehören. Er setzte sich auf's Bett und wartete, daß sie wieder ansprechbar würde. Nach einiger Zeit hörte er von draußen das Hufgetrappel von vier oder fünf Pferden. Er wußte, daß es die Polizisten waren. Woher er das wußte? Er wußte es eben. Und sie kamen, um ihn abzuholen. Er wußte nur nicht, warum. Er hatte doch noch nie einer Fliege etwas zuleide getan. Sogar das neue Pferd hatte er ehrlich bezahlt. Die Polizisten pochten heftig an die Tür. Gero öffnete ihnen. »Der Mann, der bei ihnen gewohnt hat, hieß doch Choru Ellis?« »Ja«, antwortete Gero. Ellis konnte es von oben deutlich hören. In aller Ruhe zog er sich an, schnallte sein Schwert um und nahm den Ring der Finsternis in die rechte Hand, ohne ihn jedoch schon an zustecken. Wieder hörte er, wie unten der Polizeihauptmann erregt auf Gero, Andrea und die beiden Söhne
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einredete: »Ich habe soeben Nachricht aus Herraris bekommen. Einer der gesuchten Mörder, wahrscheinlich sogar ihr Anführer, heißt Choru Ellis aus dem Reich Karls.« Also doch! »Oh, ihr Götter.« »Aber wieso gewohnt hat?«, fragte Gero nervös. »Er ist immer noch hier und ...« »Verdammt, wußte ich's doch. Die Kleine hat uns reingelegt!«, brüllte der Polizist. Dann stürmten er und seine Männer mit gezückten Schwertern ins Haus und die enge Treppe hinauf, allen voran Gero. Er stieß die Tür auf, und das erste, was er sah, war seine Tochter Angeline, die völlig nackt zusammengekrümmt auf dem Boden lag und weinte. Doch er kam nicht dazu, noch etwas zu tun. Ein einziger Schwertstreich des Zikadenmannes bereitete seinem Leben ein schnelles Ende. Blutüberströmt brach er neben seiner Tochter auf dem Boden zusammen. Als Andrea dies sah, stieß sie einen gellenden Schrei aus und wollte sich an den Polizisten vorbei auf Ellis stürzen, doch dieser ging jetzt auf die Polizisten los und hatte bereits den ersten niedergemacht. Wie sich später herausstellte, war er jedoch nicht tot, sondern nur schwer verletzt, und überlebte das Massaker als einziger seiner Kollegen. Einen Moment später stürzten sich die drei anderen ins Zimmer, doch da verschwand der Zikadenmann vor ihren Augen. Sie kamen nicht mehr dazu überrascht zu sein. Das Schwert Chorus fand seine Ziele, auch ohne daß er sie sehen konnte. Ellis zog den Ring wieder ab. Andrea, Peter und Carus waren vor Grauen wie erstarrt und zu keiner Reaktion mehr fähig. In aller Ruhe packte Ellis seine Sachen, nahm noch Proviant aus der Küche mit, setzte sich dann auf das Pferd und ritt einfach davon, in die eisige Winternacht hinein. * Als der Arzt am nächsten Vormittag kam, um nach seinem Patienten zu sehen, wurde er statt dessen mit dem schlimmsten Blutbad konfrontiert, daß er in Friedenszeiten je zu sehen bekommen hatte. Es gelang ihm, das Leben des Polizeihauptmannes zu retten, seine drei Kollegen und Gero konnte er nur noch begraben. Und dann mußte er sich um Andrea und ihre drei Kinder kümmern, die alle einen schweren Schock erlitten hatten. Angeline war dem Wahnsinn nahe, Andrea nicht ansprechbar, und Peter und Carus redeten meist nur wirres Zeug und lachten irre. Der Doktor bezweifelte, daß die vier so bald wieder ein normales Leben würden führen können. * Vielleicht war noch nie ein Sterblicher auf die Idee gekommen, das Troll-Land mitten im Winter zu durchqueren. Es war nämlich nicht so, daß hier im Winter Schnee lag und die Sumpflöcher, in denen die Trolle und Unholde hausten, zugefroren waren. Statt dessen türmten sich an manchen Stellen riesige Schneeverwehungen und Eisberge, während der Rest des Landes unnatürlich warm war. Von Eis keine Spur, nur der allgegenwärtige schweflige Nebel hüllte alles ein und machte die trüben Januartage noch dunkler und unheimlicher. Von überall her hörte man die Geräusche der Unheimlichen, die hier lebten, das irre Kichern, das aus dem Nichts kam, die grausamen Schreie, die einem scheinbar direkt ins Ohr gebrüllt wurden. Doch wenn man sich umsah, da war da nichts außer den verzerrten Umrissen verkrüppelter Bäume. Und das schreckliche Flüstern, als ob ständig die Untoten miteinander sprächen -
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es konnte einen in den Wahnsinn treiben. Der Zikadenmann bekam davon nichts mit. In Gedanken weilte er schon in Land des Goldes und stellte sich vor, wie es sein würde, wenn er erst sein Ziel erreicht hatte und reich sein würde. Reich, unvorstellbar reich. Reicher, als es je ein König gewesen war oder sein würde. Reicher als tausend Könige. Es würde alles ihm gehören. Alles, die ganze Welt. Er bemerkte die Durchquerung des unheimlichen Troll-Landes kaum, außerdem kam er hier schnell voran. Das änderte sich allerdings schlagartig, als er die Grenze zum Schwarzen Königreich überquerte, denn dieses war in klirrender Kälte erstarrt und tief eingeschneit. Er brauchte fast zwei Wochen, weil er den Weg zur Überquerung der himmelhohen Grenzberge nicht fand, aber dann stand er endlich vor dem Talkessel von Sydur. Er blickte hinunter in eine weiße Märchenlandschaft.
3. Teil -Sechstes Kapitel - Das Unendliche Land Choru Ellis ritt den vereisten Weg nach Sydur am hellichten Tag hinunter. Daß man ihn von unten aus als schwarze Gestalt gegen den blendend weißen Schnee deutlich sah und seine Ankunft mißtrauisch abwartete, interessierte ihn nicht. Schließlich hatte er keine bösen Absichten. Er hätte nicht mal einer Fliege was zuleide tun können, warum sollten die Sydurier also etwas gegen ihn haben? Außerdem war er sowieso viel zu erschöpft, um sich über solche unwichtigen Dinge noch Gedanken machen zu können. Die letzten Wochen hatten ihn gezeichnet. Als er in die Stadt einritt, begrüßte er die Leute dennoch freundlich. Dann erkundigte er sich nach dem Weg zum Schwarzen Schloß. Eigentlich hätte er rasten müssen, doch dazu war später Zeit. Später, wenn er all das Gold gefunden hatte. Ein alter Mann, der gebeugt an einem Stock ging, kam auf ihn zu und fragte mit fester Stimme: »Was sucht Ihr dort im Schwarzen Schloß, Fremder? Hat Euch der Schwarze König zu sich gerufen?« »Ja. Das hat er. Aber ich kenne mich hier nicht so gut aus. Wenn Ihr mir den Weg freundlicherweise zeigen könntet.« Wondja, der Stadtvorsteher, war irritiert. Sein Gebieter hatte keinen Besuch angekündigt. Dennoch wagte er nicht zu widersprechen. Der Fremde hatte etwas unheimliches an sich, also konnte es durch aus stimmen, daß er ein Gast des Schwarzen Königs war. »Wollt Ihr in Sydur übernachten? Es wird bald dunkel.« »Nein, d ... danke. Ich habe es sehr eilig. Sagt mir einfach, wohin ich reiten muß.« »Ihr habt noch einen weiten und anstrengenden Weg vor Euch. Dorthin müßt Ihr Euch wenden, nach Westen. Den Weg könnt Ihr nicht verfehlen, aber im Winter ist es sehr gefährlich. Und in der Nacht ganz besonders.«
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»Ich fürchte mich nicht vor der Dunkelheit. Habt vielen Dank.« Und so ritt der Zikadenmann wieder aus Sydur hinaus. Seine Vorräte waren längst aufgebraucht, aber was interessierte ihn das jetzt noch. Auch, daß sein Pferd mitten in der Nacht vor Erschöpfung zusammenbrach, war Ellis egal. Er ließ es einfach liegen, nahm die nötigsten Sachen an sich und ging zu Fuß weiter. Es wurde Tag dann wieder Nacht. Irgendwo unterwegs fand er in einer verlassenen Hütte etwas zu essen. Dort schlief er auch ein paar Stunden, aber dann trieb ihn die Unruhe weiter. Weiter und weiter ging es, mechanisch setzte er einen Fuß vor den anderen, und als er irgendwann um den letzten Berg bog, da lag die kleine Hochebene mit dem Schwarzen Schloß in ihrer Mitte vor seinen Augen. Er ging nicht schneller und nicht langsamer. Schritt um Schritt näherte er sich dem Schwarzen Schloß. Einem außenstehenden Beobachter hätte es vorkommen müssen, als könne nichts auf der Welt diesen Mann, der nun eher einer Maschine glich, aufhalten. Wie ein aufgezogener Roboter setzte er einen Fuß vor den anderen, und seine Augen glänzten irre. Näher und näher kam das Ziel. Die Sonne stieg am Himmel hoch und senkte sich dann wieder herab. Und endlich, es war schon spät am Nachmittag, betrat Choru Ellis wieder eine Ansiedlung. Es war das kleine Dörfchen am Fuße des Schwarzen Schlosses, und nur wenige Meter weiter war das Tor zum Innenhof. Es war geschlossen, aber nicht versperrt. Choru drückte dagegen, und lautlos glitten die riesigen hölzernen Türflügel auseinander. Vor seinem inneren Auge tauchten die Seiten des Buches auf, in denen der Weg beschrieben stand. Er hatte sie auswendig gelernt. Jetzt fand er seinen Weg ohne überlegen zu müssen. Er überquerte den Exerzierhof, dann stand er vor der mit mythischen Ornamenten und Totenköpfen verzierten Tür, die ins Innere des Schlosses führte. Auch sie war nicht verschlossen. Seit Jahrhunderten hatte es niemand gewagt, hier ungefragt einzudringen. Wozu hätte der Schloßherr also abschließen sollen? Ellis trat ein und schritt weiter. Sein Herz pochte heftiger, aber seine Schritte hatten noch den alten Rhythmus behalten. Mit konstanter Geschwindigkeit, wie eine Maschine, setzte er Fuß vor Fuß. Es ging eine Treppe hinauf, dann durch einen langen, nur durch wenig Fackeln erleuchteten Korridor. Eine Frau mit einem kleinen Kind auf dem Arm trat aus einem Seitenzimmer auf den Gang hinaus. Als sie Chorus Schritte hörte, fuhr sie herum und starrte ihn an. Der Zikadenmann kam näher. Er sah an der Frau vorbei, dennoch nahm er unterbewußt war, daß es die Schwarze Königin war. Sie rief ihm etwas zu, aber er hörte es nicht. Er zog sein Schwert und bohrte es der Frau in den Leib. Wenn er nicht das Böse gewesen wäre, dann wäre Ornella vielleicht mit einer Fleischwunde davongekommen. Doch so traf er mit tödlicher Sicherheit ihr Herz und spießte es auf. Königin Ornella war tot, noch bevor sie auf dem Boden aufschlug. Ellis ging weiter. Er hörte das kleine Mädchen weinen und nach seiner Mutter schreien, doch die Stimme wurde leiser, je weiter er vordrang. Es ging wieder durch eine Tür, dann eine endlose Treppe hinab. Es wurde immer dunkler, schließlich gab es gar kein Licht mehr. Aber Ellis kannte den Weg. Schließlich stand er vor einer Mauer. Er steckte sich den Ring der Finsternis an, und durchdrang das Hindernis, als wäre es aus Luft. Dahinter war es wärmer. Ellis zog den Ring wieder aus. Der Drachen. An ihm mußte er noch vorbei, dann waren alle Schätze dieser Welt sein. Er wußte, wieviele Schritte er gehen mußte, bis zur Rechten die Höhle des Gawron abzweigte. Wenn der Drachen schlief, dann konnte er ihn leicht niederstechen, wenn er die richtige Stelle traf. Doch der Zikadenmann entschied sich dafür, keine Zeit mehr zu verlieren. Er ließ die Höhle des Drachen unbeachtet liegen und ging weiter. Und dann sah er im rötlichen Schein, der hier unten begann, die erste Goldader in der Wand des Stollens.
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Ellis zuckte heftig zusammen, sein Herz verkrampfte sich und hörte auf zu schlagen. Ihm schwindelte. Das BUCH. Das Buch des Unendlichen Landes. Darin hatte er über das Gold gelesen und unglaubliche Strapazen auf sich genommen, um es zu finden. Doch erst jetzt, als er es mit eigenen Augen sah, da wußte er, daß alles wahr war. Sein Herz zuckte wieder, dann jagte sein Puls hinauf, daß Ellis glaubte explodieren zu müssen. Zitternd streckte er die Hand aus und fuhr über das Gold. Er wußte nicht, wie lange er so verharrte, es war ein unglaubliches Gefühl, das ihn nun erfüllte. Es gab kein Wort dafür, keine Beschreibung. Es war ihm, als ob er schwebe, als ob er neben sich stünde, als ob er Gott sei. Alles erschien ihm irreal, alles machbar. Alles Gold gehörte nun ihm, und mit dem Gold die Macht, die Menschen, die Welt. Nach einiger Zeit ging er schließlich weiter. Den Ring der Finsternis hatte er wieder an der Halskette befestigt. Er brauchte ihn nun nicht mehr. Langsam wurde es heller, der Schein gelblicher. In den Höhlenwänden waren nun so viele Goldadern, daß dazwischen kaum mehr Gestein Platz hatte. Auch auf dem Boden lagen überall goldene Klumpen herum. Ellis nahm einen davon auf und fühlte eine eigenartige Kraft seine halb erfrorene Hand durchfließen. Nie hätte er sich so etwas träumen lassen. Und dann weitete sich die Höhle. Er bog um die letzte Ecke, und was er dann sah, ließ ihn endgültig vor Ehrfurcht erstarren. Es war eine riesige, unterirdische Welt, die sich vor seinen Blicken öffnete, so groß, daß er mit seinen Augen ihre Grenzen nicht erkennen konnte. Und sie war aus purem Gold. Der Boden, die mächtigen Säulen, die die hunderte von Metern über ihm befindliche Decke stützten, die Pflanzen, die Felsen, die Decke selbst. Alles war reines, pures, glänzendes Gold, so weit das Auge reichte. Wie weit mochte der Horizont entfernt sein? 10 Kilometer, 100? Er wußte, wo er jetzt war: im Unendlichen Land. Der Zikadenmann verlangsamte seine Schritte und blieb dann stehen. Er weinte. Er konnte nicht weiter. Der unglaubliche Anblick bannte ihn. Tränen liefen seine Wangen herunter, dann brach er zusammen und begann hemmungslos zu schluchzen. Er war jetzt Gott, das Universum, alles. Alles war sein, er war ... das Namenlose, Unvorstellbare ... Er erhob sich und rannte los. Er schrie und rannte und brüllte seine ungezügelte Freude und Begeisterung hinaus, und er rannte weiter und weiter und weiter, und alles war Gold. Nirgends gab es eine Grenze, so weit das Auge reichte. »Ihr Götter«, schrie er aus Leibeskräften, »Ich danke Euch. Ich danke euch.« War er nicht dabei, den Verstand zu verlieren? Nein! Er war nie klarer gewesen. Das Unendliche Land war wirklich grenzenlos. In fernen Tiefen der Erde erstreckte sich das märchenhafteste Reich, das sich jemals ein Mensch vorstellen konnte. Ellis rannte und rannte, bis er keine Kraft mehr hatte. Er sank auf die Knie nieder und blickte sich um. Lange starrte er einfach nur das Gold an, das überall um ihn herum war, und ließ seinen Glanz und die Macht, die es darstellte, auf sich wirken. Dann sah er in der Ferne die goldenen Statuen. Neugierig wollte er sich erheben, aber seine Beine versagten den Dienst. Er schrieb es seiner Erschöpfung zu und zwang sich aufzustehen. Es war mühsam. Ihm kam es vor, als habe jemand seine Muskeln mit Blei gefüllt. Langsam, mühsam einen Schritt nach dem anderen machend, ging er auf die Statuen zu. Stunden schien er zu dauern, bis er sie erreicht hatte. Langsam ging er um sie herum. Und als er ihre Gesichter sah, da war es ihm, als verwandelte sich seine Brust in Eis. Das nackte Grauen packte ihn. Das waren keine Statuen. Kein Künstler der Welt konnte so lebensechte Kunstgeschöpfe machen. Und erst recht nicht diesen Ausdruck im Gesicht: die Gier nach Gold und Macht stand den vier Goldenen so
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deutlich ins Gesicht geschrieben, daß es Ellis war, als blicke er in einen Spiegel. Diese vier waren Menschen gewesen, und etwas hatte sie hier unten zu goldenen Statuen werden lassen. Ellis wollte mit den Fingern über ihre Gesichter streichen, doch er brachte es kaum fertig, seine Arme zu heben. Er blickte an sich herab und stellte fest, daß seine Arme und Beine ebenfalls schon zu Gold geworden waren. Auch seine Kleidung war von Goldfäden durchwebt, die ständig größer wurde. * Der Zikadenmann endete so beiläufig, so banal und unbemerkt wie all die Menschen, die er auf seinem Weg umgebracht hatte: er erstarrte einfach zu einer goldenen Statue. Nur stand in seinem Gesicht nicht mehr die Gier, sondern die nackte Todesangst. Und mehr noch: das alles auslöschende Nichts, das man empfindet, wenn man alles verliert: Das Leben, die Hoffnung, das Universum, alles. Sein letzter Gedanke war: Warum ich? Ich habe doch nie jemandem etwas getan. Das einzige, was an ihm nicht zu Gold wurde, war der abgrundtief schwarze Stein im Ring der Finsternis. * Eine Smaragdeidechse sonnte sich in den ersten Strahlen des nahenden Frühlings. Eigentlich war es im Schwarzen Königreich im Februar noch zu kalt für diese Reptilien, aber hier im Westland, das der Schwarze König erst vor zwei Jahren seinem Reich hinzugefügt hatte, war es deutlich wärmer als im Hochgebirge des Ostens. Das schöne Reptil hatte sich auf einem Felsvorsprung ausgebreitet und streckte den Kopf der Sonne entgegen, die die himmelhohen Berge hinabschien. Einige Vögel zwitscherten, und aus Felsspalten krochen zwischen Moospolstern Ameisen hervor, um auf Nahrungssuche zu gehen. Doch beides kümmerte die Eidechse nicht. Sie spürte, wie sich ihr Körper langsam erwärmte, und sie schloß genießerisch die Augen. Ein Falke kreiste hoch über ihr und nutzte die Aufwinde am Steilhang, um weiter an Höhe zu gewinnen. Er stieß seinen Jagdschrei aus. Die Eidechse riß die Augen auf, doch nicht der Schrei des Raubvogels war der Grund dafür. Der Felsen hatte plötzlich gebebt. Und schon lief ein neuer Stoß durch den Berg, diesmal wesentlich heftiger. Mit einem Satz huschte die Smaragdeidechse davon, und keine Sekunde zu früh, denn mit einem gewaltigen Schlag zerplatzte der Felsgrat, auf dem sie gerade noch gesessen hatte, in tausend Stücke. Von innen, aus dem Berg heraus, tauchte eine gewaltige Faust auf, wurde zurückgezogen, schlug erneut zu und spaltete wieder ein großes Stück Fels heraus. Ein urweltliches Brüllen erscholl, dann holte die Faust ein letzte Mal aus und sprengte ihrem Besitzer endgültig den Weg ins Freie. Ein paar mächtiger Hörner erschienen im Tunnelausgang, dann trat der Baron der Hölle heraus ins Licht. Zwei Jahre hatte er gebraucht, um den Berg zu durchbrechen, wie er es dem Schwarzen König, verflucht sollte er sein, und der Schwarzen Königin, einen besonderen Fluch auch ihrer verwesenden Leiche, hatte versprechen müssen. Die zwei Bedingungen hatte er erfüllt: Den Tunnel und die Wiedererweckung seines Spielzeugs, des arcadischen Königs Cordo. Von der dritten Aufgabe hatte er nichts erzählt, aber auch sie war nun gelöst: Seine Rache am Schwarzen König und seiner sanften, so zerbrechlichen Frau Ornella. Jeden Tag hatte er sie in Gedanken zerquetscht und zerrissen, ihr imaginären Schreie und ihr Winseln gehört und das ungläubige, dumme Gesicht Thorans vor sich gesehen, der vor den Resten seiner Frau stand. Und dann hatte er mit ungeheurer Wut und Wucht zugeschlagen und wieder ein Stück
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aus dem Berg gehauen. Etwa dreißig Meter von hier im Innern des Berges befand sich eine große Höhle. Auch sie war nicht natürlichen Ursprungs. Sie war entstanden, als der Höllenbaron vom Tod Ornellas erfahren hatte. Vor Freude und Zufriedenheit hatte er getobt wie ein Wahnsinniger und mit seinen Fäusten und Hörnern diese Höhle geschaffen. Kurz ließ er den Ablauf der Ereignisse vor seinem inneren Auge Revue passieren. Harlengart besaß die Fähigkeit, das Böse in jedem Menschen sofort zu erkennen. Als er nach seinem ersten Kampf gegen den Schwarzen König aus dem Troll-Land geflohen war, war er zufällig dem Siedlerzug begegnet, mit dem der Zikadenmann in seine neue Heimat fuhr. Das Böse, das diesem Mann innewohnte, hatte ihn schon von weitem angezogen, so wie der Geruch des Blutes einen Hai über große Entfernungen anzulocken vermag. Es war ein Kinderspiel für ihn gewesen, die genauen Pläne und Absichten der Siedler herauszufinden. Er hatte erfahren, in welches Haus Choru Ellis ziehen würde. Er hatte den Ring der Finsternis und das Buch des Unendlichen Landes hinter einer Mauer im Keller des Hauses versteckt und dafür gesorgt, daß alles so aussah, als sei es viele Jahrhunderten alt. Was den Ring und das Buch betraf, so war das nicht mal übertrieben: Beide Objekte waren sogar noch viel, viel älter, Werkzeuge unheimlicher Mächte aus grauer Vorzeit. Aus Spaß hatte Harlengart auch noch ein Skelett hinzugefügt. Der Zikadenmann hatte dafür dann ja auch eine clevere Verwendung gefunden, indem er seinen eigenen Tod vortäuschte. Der Zikadenmann - Harlengart fand den Namen überaus passend, denn Choru Ellis war genau so emotionslos böse und beiläufig tödlich wie ein Insekt - war auf den Schwindel natürlich hereingefallen. Seine Gier und seine Machtstreben hatten ihm gar keine Wahl gelassen, als nach dem Gold zu suchen, das im Buch des Unendlichen Landes beschrieben war. Er hatte es mit seinem nutzlosen Leben bezahlt. Wäre er nicht im Unendlichen Land zu einer Statue erstarrt, dann hätte Gawron ihn getötet, denn die Geschichte mit der empfindlichen Stelle, an der man den Drachen töten konnte, stimmte natürlich nicht. Harlengart hatte sie nur erfunden, um Ellis hereinzulegen. Wichtig war nur, was der Zikadenmann vor seinem Tod getan hatte: auf seinem Weg hatte eine Spur der Verwüstung gezogen und dem Schwarzen König das kostbarste genommen, was er besaß, nämlich seine Frau, seine Bestgeliebte. Der Plan hatte aus zwei Gründen funktioniert: Erstens wußte Harlengart, daß die Gemächer der Schwarzen Königin auf dem Weg lagen, den Ellis nehmen mußte. Und zweitens würde das abgrundtief Böse im Zikadenmann dafür sorgen, daß Ornella ihr Leben verlor. Und so war es auch geschehen. Das arme Mädchen hatte gegen Ellis ebensowenig eine Chance gehabt wie all die anderen, die er auf seinem langen Weg verbrannt, zerhackt, erstochen, erwürgt, erschlagen oder auf noch abartigere Weise getötet hatte. Harlengart stieß ein donnerndes Lachen aus. Schade war nur, daß der Schwarze König nie erfahren würde, wem er sein Unglück zu verdanken hatte. Ach ja, und daß der Ring der Finsternis nun im Arsenal des Schwarzen Königs lag ... aber das war ein geringer Preis: Vielleicht konnte er ihn sich eines Tages zurückholen. Er war nun mit seinem Todfeind quitt. Hinter ihm traten die Männer blinzelnd ins Freie, die in den letzten zwei Jahren die von ihm zertrümmerten Steine aus dem Tunnel weggeschafft hatten. Das helle Sonnenlicht blendete ihre Augen. Harlengart erinnerte sich, daß mehr als einer der Männer bei seinen Hieben gegen den Fels von herabfallenden Steinen erschlagen worden war und den finsteren Tod im Berg gefunden hatte. »Sagt eurem Herrn, ich habe mein Unehrenwort gehalten.« Fast hätte er laut auflachen müssen, konnte
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sich aber gerade noch zurückhalten. Der Schwarze König und die Königin hatten ihm tatsächlich geglaubt. Und er hatte es gehalten, nur anders, als sie gedacht hatten. »Ich verschwinde jetzt, und er wird mich nie wieder sehen. Wie abgemacht.« Dann rannte er mit gewaltigen Sätzen so schnell davon, daß er nach wenigen Augenblicken den Augen der Männer entschwunden war. Nur sein Lachen klang noch eine Zeitlang in ihren Ohren nach. Nach nur wenigen Minuten hatte Harlengart die nahe Grenze des Schwarzen Reiches erreicht. Er übersprang sie mit einem riesigen Satz, und konnte sich nun endlich wieder verwandeln. Er wählte die Form eines geflügelten Dämons, wie es sie in den finsteren Tagen kurz nach der Schöpfung viele gegeben hatten, und jagte mit nahezu Schallgeschwindigkeit davon, Richtung Osten. Harlengart flog zum Haus Chorus. Er brauchte für die Strecke nur wenige Minuten. Dort angekommen, holte das Buch des Unendlichen Landes aus dem Versteck, in das Choru es vor seiner Abreise wieder getan hatte. Das Feuer hatte ihm nichts anhaben können. Es war nicht für Sterbliche bestimmt - was herauskam, wenn es ihnen doch mal in die Hände fiel, hatte man ja gesehen. Dann erhob Harlengart sich wieder in die Luft und jagte davon. Man sollte lange nichts mehr von ihm hören.
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