SCAN by Schlaflos Man nennt sie die Träumer. Sie sehen aus wie schlafende Kinder. Doch in Wahrheit sind sie Götter. Vier...
40 downloads
739 Views
2MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
SCAN by Schlaflos Man nennt sie die Träumer. Sie sehen aus wie schlafende Kinder. Doch in Wahrheit sind sie Götter. Vier Götter beherrschen und behüten das Land Dhrall: Dahlaine und sein Bruder Veltan wachen im Norden und im Süden, während der Westen und der Osten von ihren Schwestern Zelana und Aracia beschützt werden. Die Mitte des Reiches jedoch entzieht sich ihrer Macht und wird von Göttern und Menschen zugleich gemieden. Hier erstreckt sich ein wildes, unwirtliches Land, das von dem unmenschlichen, machthungrigen und skrupellosen Wesen Vlagh kontrolliert wird. In dieser rauen Ödnis zieht das teuflische Vlagh seine gefährliche Brut aus Monstern und Dämonen heran, mit der es ganz Dhrall erobern will. Doch noch besteht Anlass zur Hoffnung, denn eine uralte Prophezeiung verheißt, dass einst vier Kinder das Böse aus dem wilden Land besiegen werden - vier unvorstellbar mächtige Kinder, die mit ihren Träumen
sogar die Kräfte von Meer und Land beeinflussen können...
David & Leigh Eddings
Das wilde Land Götterkinder 1 Deutsch von Andreas Heiweg Autoren David Eddings wurde 1931 in Spokane, Washington, geboren und wurde 1982 mit seinem ersten Fantasy-Epos, der Belgariade, bekannt. Seither hat er teils alleine, teils in Zusammenarbeit mit seiner Frau Leigh von der Kritik viel beachtete Werke in der Tradition Tolkiens verfasst, die ihm eine ständig wachsende, begeisterte Leserschaft eingetragen haben. David und Leigh Eddings leben in Carson City/Nevada.
Vorbemerkung Auszug aus DAS LAND DHRALL, eine Studie der Fakultät für Vergleichende Theologie an der Universität zu Kaldacin Das Land Dhrall existiert - und zwar in seiner gegenwärtigen Position, wenn man den mitunter phantasievollen Legenden der Region Glauben schenken darf- bereits seit Anbeginn der Zeit. Vater Erde ist unruhig, daher bewegen sich andere Kontinente hin und her über das Antlitz von Mutter Meer und wandern und wanden auf der Suche nach neuen Orten, wo sie verweilen können. Doc! das Land Dhrall, so wird erzählt, sei durch den Willen der Götte von Dhrall fest an seinem Platz verankert, und so solle es bleiben bis ans Ende aller Tage. Nun, woher diese Welt kommt - und wieso es sie gibt - entzieh sich dem menschlichen Verständnis. Aber die Legenden von Dhrall behaupten, sie sei das Werk der alten Götter, und ihre Schöpfung sei eine derart enorme Aufgabe gewesen, dass die Götter - wenn gleich unsterblich und allmächtig - oftmals von ihrer Arbeit sehr ermüdeten. Es gab jedoch jüngere Götter, die zu jener Zeit durch das Land zogen, und ihr Mitleid für die erschöpften Alten war groß, daher drängten sie ihresgleichen zur Rast, während sie selbst die Bürd der Schöpfung übernahmen. Die Alten waren über alle Maße dankbar, hatten sie sich doch völlig verausgabt und nun nicht mehr die geringste Kraft. Und so schliefen sie, während die Schöpfung ohne Unterlass von den jüngeren Göttern fortgeführt wurde. Also schliefen die älteren Götter fünfundzwanzig Äonen lang und erwachten dann erfrischt und bereit, ihre unendliche Aufgabe eigenständig wieder fortzusetzen; und nun waren ihre jüngeren Ebenbilder bereit, ihrerseits die Arbeit einzustellen und fortan zu ruhen. Berge erhoben sich aus dem Erdboden und wurden von Wetter und Zeit abgetragen. Mutter Meer brachte Leben in vielfältiger Form hervor, und manche der Wesen aus Mutter Meer betraten das trockene Antlitz von Vater Erde auf der Suche nach einer Heimstatt. Im Laufe der Zeit und zur Anpassung an die Orte veränderten sie sich dort auf dem Antlitz von Vater Erde, und es entstanden die verschiedensten Varianten. Lebensformen, die zuvor nicht gesehen worden waren, entwickelten sich, und ältere Lebensformen starben aus, weil alle Geschöpfe blind nach höchster Vollendung strebten. Doch die Götter des Landes Dhrall entschieden sich, in das Wachstum und die Entwicklung der Kreaturen ihrer Domänen nicht einzugreifen, denn sie kamen zu dem weisen Schluss, dass die Geschöpfe ihrem eigenen Weg folgen würden, indem sie sich mit der Welt um sie herum auseinander setzten. Denn wahrlich, die Welt befindet sich in einem ewigen Zustand des Wandels, und ein Geschöpf, das für das eine Zeitalter geeignet ist, überlebt in einem anderen vielleicht nicht. Die Götter hatten schlussendlich erkannt, dass diese Wandlung eine Reaktion auf die Welt und nicht auf einen göttlichen Plan war. Und die Zeit in ihrem festen Gefüge setzte ihren Marsch auf ein Ende hin zu, das niemand vorausahnen konnte, und die Zyklen von Arbeit und Ruhe unter den Göttern nahmen ihren Fortgang, während Mutter Meer und Vater Erde zuschauten und sich jeglicher Einwirkung enthielten. Die Götter des Landes Dhrall haben das Land unter sich aufgeteilt, und jeder - ob nun einer der Jüngeren oder Älteren - herrscht über 10 einen bestimmten Teil. Es bleibt allerdings ein riesiges Ödland in der Mitte, das zu keiner der vier Domänen gehört, ob nun Osten oder Westen, Norden oder Süden, denn das Ödland von Dhrall ist unfruchtbar und entbehrt jeglicher Schönheit. Dennoch existiert dort Leben, wenngleich sich die Lebensformen im Ödland von jenen im übrigen Lande Dhrall unterscheiden. In den Legenden vor Dhrall wird behauptet, die Lebensformen im Ödland seien Schöpfungen von Das-man-Vlagh-nennt.
Über die Herkunft dieses Vlagh sind sich die Legenden vor Dhrall nicht einig. Manche behaupten, es sei nicht mehr als ein Albtraum, den einer der frühen Götter während des ersten langer Schlafes gehabt habe. Anderen Legenden zufolge ist das Vlagh deutlich älter als die Götter, deren Gestalt annähernd der von Menschen gleicht, und darüber hinaus der Herr der stechenden Insekten und giftigen Reptilien gewesen, die längst vom Antlitz der Mutter Meer und des Vaters Erde verschwunden sind. Wenigsten; stimmen alle Legenden von Dhrall in einem Punkt überein: Das-man-Vlagh-nennt war zu ungeduldig, um den Geschöpfen, du ihm dienten, ausreichend Zeit zu lassen, damit sie dem langsamer natürlichen Prozess von Entwicklung und Veränderung, der vor den wahren Göttern von Dhrall begünstigt wird, folgen konnten sondern es entschied sich stattdessen, ihre Entwicklung zu beeinflussen, auf dass sie ihm besser dienen konnten. Und es fiel dem Vlagh auf, dass Diener von größerem Wert sind wenn sie nicht alle gleich sind, denn ein Geschöpf, das nur für ein besondere Aufgabe erschaffen wurde, ist weitaus effektiver als ein gewöhnliches Wesen. Um dies zu erreichen, hüllte sich das Vlagh regelmäßig in einem gewebten Kokon in seinem dunklen Nest im Zentrum des Ödlands, und wenn es aus diesem Kokon wieder herauskroch, war e: eine Kreatur von gänzlich anderer Art als zuvor. Dann erprobte e: die Fähigkeiten seiner neuen Gestalt, um festzustellen, welche be 11 sonderen Aufgaben es bewältigen konnte, und merkte sich Stärken und Schwächen. Erneut schloss es sich in einen Kokon ein, und als es abermals herauskam, waren die Schwächen verschwunden, doch die Stärken hoben sich noch mehr hervor. Durch solcherlei Experimente veränderte und verbesserte Das-man-Vlagh-nennt seine eigene Gestalt zu einem ungemein vielschichtigen Wesen. War es zufrieden, reproduzierte sich dieses Wesen tausendfach, so dass es genug Diener hatte, um sein letztendliches Ziel zu erreichen. Dann kehrte Das-man-Vlagh-nennt zu seinem Nest zurück und begann von neuem, erschuf eine weitere Lebensform für eine weitere besondere Aufgabe. Und deshalb sind all die verschiedenen Kreaturen, die aus dem Kokon des Vlagh schlüpfen, keine Wesen der Domänen der wahren Götter von Dhrall, sondern eher eigenwillige Kombinationen, teils Insekt, teils Reptil, teils Warmblüter, und jede dieser Variationen hat ihre ganz besondere Aufgabe in den Diensten des Herrschers vom Ödland. Das einzige Charakteristikum, das die Wesen des Ödlands teilen, ist ein zwanghafter Trieb, die Domäne des Herrschers zu vergrößern, bis das gesamte Land Dhrall seinem Willen unterliegt. Und das Vlagh schickte viele seiner Kreaturen in die Domänen der wahren Götter von Dhrall aus, und diese Eindringlinge berichteten dem Vlagh alles, was sie beobachtet hatten. Und das Vlagh dachte über jedes kleine Faktum nach, das seine Diener ihm erzählten, und nach unzähligen Äonen entdeckte es einen schwachen Punkt und zwar während der Übergabe der Macht und der Autorität von einer Generation der Götter an die nächste. Denn die alten Götter wurden müde und vergesslich, derweil sie sich nach Schlaf sehnten; und die jungen Götter waren erst halb erwacht. Und der Geist des Vlagh war von Freude über diese Enthüllung 12 erfüllt. Und es schmiedete seine Pläne und stellte seine Diener zum Krieg auf, durch den es die wahren Götter von Dhrall ein für alle Mal zu vernichten gedachte. Und dort im Ödland träumte es von dem Tag, an dem es das gesamte Land von Dhrall beherrschen würde. Und nachdem es Dhrall erst unterworfen hatte, konnte es auch andere Länder erobern, und nach einer Weile würde ihm die ganze Welt gehören. Und alle Kreaturen, die kleinen und die großen, würden sich vor ihm verbeugen, und seine Herrschaft würde ewig dauern, und alle Macht läge in seinen Händen. Und der Geist des Vlagh frohlockte. Mutter Meer und Vater Erde schenkten den Possen der Götter jedweder Länder nur wenig Aufmerksamkeit, und beide schliefen auch nicht, denn ihnen oblag die Aufgabe, das Leben auf der Erde und im Meer zu pflegen, und wehe demjenigen, Mensch oder Gott, der den Kreislauf des Lebens bedrohte. Obwohl Mutter Meer und Vater Erde sehr freundlich erschienen, konnten sie Katastrophen auslösen, die über jegliche Vorstellungskraft hinausgingen, sollte die Notwendigkeit dafür bestehen, um dadurch den Fortbestand des Lebens zu gewährleisten. Es geschah jedoch vor langer Zeit in der Domäne des Nordens, dass ein halb verrückter Einsiedler eine Vision von dem hatte, was eines Tages Wirklichkeit werden würde, und in dieser Vision sah er schlafende Kinder, deren Träume die Pläne von Das-man-Vlagh-nennt vereiteln konnten, denn die Träume konnten Befehle erteilen, und Mutter Meer und Vater Erde konnten sich den Befehlen der Träumer nicht widersetzen. Und die meisten Menschen im Land Dhrall verhöhnten die Vision des Einsiedlers, denn sein Wahnsinn war nicht zu übersehen. Aber die Götter von Osten und Westen, Norden und Süden verspotteten ihn nicht, fand die Vision doch tief in ihren Seelen einen Widerhall, und sie wussten um ihre Wahrheit. So waren die Götter 13 des Landes Dhrall voller Sorge, da sie im Herzen erkannten, dass sich mit der Ankunft der Träumer die Welt verändern und nichts mehr so sein würde als wie zuvor. Die Äonen schleppten sich dahin, wie es Äonen eigen ist, einer Ungewissen Zukunft entgegen; die jüngeren Götter wurden älter, und der Zyklus ihrer Herrschaft näherte sich wieder einmal seinem Ende...
Und an dieser Stelle beginnt unsere Geschichte.
Die Insel Thurn
Zelana vom Westen war diese unangenehmen Menschengeschöpfe ihrer Domäne leid. Sie fand sie widerspenstig, und ihre endlosen Beschwerden und Forderungen verärgerten sie über alle Maßen. Zudem schienen sie zu glauben, dass sie nur lebte, um ihnen zu dienen, und das beleidigte sie. Aus diesem Grunde kehrte sie ihnen den Rücken und verweilte einige Äonen auf der Insel Thurn, die vor der Küste ihrer Domäne liegt. Dort beriet sie sich mit Mutter Meer und vergnügte sich beim Komponieren von Musik und dem Verfassen von Poesie. Nun sind die Gewässer um die Insel Thurn die Heimat einer seltenen Art von rosa Delphinen, die Zelana für verspielt und intelligent hielt, und nach einiger Zeit betrachtete sie die Delphine nicht mehr als Tiere, sondern als liebe Gefährten. Bald lernte sie ihre Sprache zu verstehen und zu sprechen, und sie teilten ihr viel über Mutter Meer und die Geschöpfe mit, die in den Tiefen der Mutter und an ihren Küsten leben. Als Belohnung spielte sie ihnen Musik auf der Flöte vor oder sang für sie. Die Delphine genossen Zelanas Darbietungen und luden sie eines Tages ein, mit ihnen zu schwimmen. Sie waren höchst verblüfft über einige von Zelanas Eigenheiten, nachdem sie sich zu ihnen gesellt hatte. Soweit sie feststellen konnten, schlief sie nie, und sie konnte fast ohne Ende unter der Oberfläche von Mutter Meer bleiben. Auch wirkte es seltsam auf sie, dass sie kein Interesse an den Fischschwärmen fand, die durch das Wasser um die Insel herum zogen. Zelana versuchte ihren Freunden zu erklären, dass sie Schlaf und Luft und Nahrung nicht brauchte. 17 Ihre Perioden von Schlaf und Wachen waren viel länger als ihre; sie konnte die notwendige Luft aus dem Wasser selbst entnehmen; und sie ernährte sich von Licht und nicht von Fischen oder Gras. Die Delphine jedoch vermochten ihre Erklärungen nicht recht zu begreifen. Zelana entschied, die Sache am besten auf sich beruhen zu lassen. Die Menschengeschöpfe des Landes Dhrall hingegen wussten ganz genau, wer - und was - Zelana war. Sie herrschte über den Westen, allerdings hatte sie noch weitere Familienangehörige. Ihr älterer Bruder Dahlaine regierte den Norden, und er war grimmig und rau. Ihr jüngerer und gelegentlich ein wenig leichtfertiger Bruder Veltan kontrollierte den Süden - wenn er nicht gerade den Mond erkundete oder über die Farbe Blau nachdachte; ihre steife und schickliche ältere Schwester Aracia regierte den Osten als Königin und als Göttin. Die Zeitalter nahmen ihren gemessenen Gang, doch Zelana achtete darauf kaum, denn Zeit bedeutete ihr nichts.
Dann tauchte eines Tages ihre liebste Freundin, eine matronenhafte rosa Delphinfrau namens Meeleamee in der Nähe des Ortes auf, wo Zelana mit gekreuzten Beinen am Antlitz von Mutter Meer saß und ihre neueste Komposition auf der Flöte spielte. Ich habe etwas entdeckt, das du vielleicht sehen möchtest, Geliebte, verkündete Meeleamee mit ihrer schrillen Stimme. Oh? Zelana legte die Flöte in die Leere genau über ihrer Schulter, wo sie ihren gesamten Besitz aufbewahrte. Es ist sehr hübsch, piepste Meeleamee, und es hat genau die richtige Farbe. Warum schauen wir es uns also nicht an, Liebes? erwiderte Zelana. Und so schwammen sie gemeinsam zu den steilen Klippen an der Südküste des Eilands, und während sie sich dem Land näherten, tauchte Meeleamee nach unten weg und schwamm hinunter und 18 immer weiter hinunter in die Tiefen von Mutter Meer. Zelana folgte ihr, und bald hatten sie den schmalen Einlass zu einer Höhle erreicht, und Meeleamee schwamm, gefolgt von Zelana, in die Höhle hinein. Verstand und Erfahrung sagten Zelana, es müsse in der Höhle dunkler werden, je weiter und weiter sie durch die verschlungenen Tunnel eindrangen, aber stattdessen wurde es heller, und das Wasser vor ihnen leuchtete rosa und warm und freundlich, und Meeleamee schwamm, gefolgt von Zelana, in die Höhle hinein. Und als sie in dem seichten Becken am Ende des Durchlasses die Oberfläche durchbrachen, erblickte Zelana ein Wunder, denn Meeleamee hatte sie in eine Grotte geführt, wie Zelana noch keine gesehen hatte. Natürlich gab es dafür eine Erklärung, aber nüchterner Verstand vermochte die reine Schönheit dieser versteckten Höhle nicht zu beeinträchtigen. Eine breite Ader rosafarbenen Quarzgesteins zog sich quer über die Decke und erfüllte die verborgene Höhle mit dem leuchtenden Farbton. Zelana ergötzte sich an dem Licht und fand es herrlicher als jedes andere, das sie in den vergangenen zehn Äonen gesehen hatte. Ein Schauder durchfuhr sie, und sie glühte vor Freude. Jenseits des flachen Beckens am Eingang war der Boden mit feinem weißen Sand bedeckt, den das Licht mit leuchtendem Rosa überzog, aus einer kleinen Nische im Hintergrund hörte man das Wohltönende, fast musikalische Tröpfeln von Süßwasser, und zudem gab es alle Arten von interessanten Winkeln und Spalten an den gewölbten Wänden. Nun, piepte Meeleamee, was hältst du davon, Geliebte? Ganz herzallerliebst, wirklich herzallerliebst, antwortete Zelana. Das ist der schönste Ort auf der ganzen Insel. Freut mich, dass er dir gefällt, sagte Meeleamee bescheiden. Ich dachte, du würdest gern von Zeit zu Zeit herkommen. Nein, Liebes, erwiderte Zelana. Das brauche ich nicht. Denn 19 ich werde hier wohnen. Dieser Ort ist vollkommen, und ein wenig Vollkommenheit habe ich verdient. Du bleibst doch nicht die ganze Zeit hier, Geliebte, quiekte Meeleamee bestürzt. Gewiss nicht, Liebes, sagte Zelana. Ich werde bestimmt zum Spielen mit dir und meinen anderen Freunden nach draußen kommen. Aber dieser wunderschöne Ort ist von nun an mein Heim. Was ist das, ein Heim, fragte Meeleamee neugierig. An einem Tag wie jeder andere kam Dahlaine vom Norden aus dem Gang, der zu Zelanas rosa Grotte führte, um seiner Schwester mitzuteilen, dass im Lande Dhrall Ungemach im Anzug sei. Ich weiß nicht, was mich das angeht, lieber Bruder, erwiderte Zelana. Die Berge beschützen das Land des Westens auf der einen Seite, und die Mutter Meer beschützt es auf der anderen. Wie sollen mich die Geschöpfe des Ödlands je erreichen? Das Land Dhrall besteht aus einem Stück, liebe Schwester, erinnerte Dahlaine sie, und keine natürliche Barriere ist unpassierbar. Die Geschöpfe deines Landes des Westens schweben in ebenso großer Gefahr wie alle anderen. Ich glaube, du solltest langsam aus deinem kleinen Unterschlupf kommen und der Welt draußen ein wenig Aufmerksamkeit schenken. Wie lange hast du dich schon nicht mehr um deine Domäne gekümmert? Zelana zuckte mit den Schultern. Ein paar Äonen höchstens -bestimmt nicht mehr als ein Dutzend. Habe ich etwas Wichtiges verpasst? Die Menschengeschöpfe haben einen gewissen Fortschritt gemacht. Sie können inzwischen Werkzeuge herstellen und haben gelernt, mit Feuer umzugehen. Du solltest sie dir ab und zu anschauen. Aber wozu in aller Welt? Sie sind dumm und verdorben, und sie stinken. Meine Delphine sind sauberer und weiser, und ihre großen 20 Herzen sind mit Liebe erfüllt. Wenn die Geschöpfe des Ödlands hungrig sind, sollen sie doch die Menschengeschöpfe fressen. Ich werde sie nicht vermissen. Die Völker des Westens fallen in deine Verantwortung, Zelana, erinnerte Dahlaine sie. So wie die Fliegen und die Ameisen und die Kakerlaken, und die kommen anscheinend ganz gut zurecht. Du kannst die Welt nicht einfach missachten, Zelana, mahnte Dahlaine sie. Überall um dich herum befindet sich die Welt im Wandel. Die Geschöpfe des Ödlands rühren sich, und es wird nicht mehr lange dauern, bis die
Träumer eintreffen. Wir müssen uns bereithalten. Das Zeitalter der Träumer ist doch noch lange nicht gekommen, oder, fragte Zelana ungläubig. Die Anzeichen häufen sich, Zelana, sagte Dahlaine. Mutter Meer und Vater Erde folgen ihrem eigenen Zeitplan. Sie werden nicht warten, bis es uns passt, das zu tun, was getan werden muss. Der Herrscher des Ödlands bereitet sich darauf vor, gegen uns zu ziehen, und wir sind nicht in der Lage, uns ihm zu stellen. Wir hätten diese heimtückische Kreatur umgehend vernichten sollen, als wir sie bemerkt haben. Darüber können wir uns bei anderer Gelegenheit unterhalten, liebe Schwester, wechselte Dahlaine vorsichtig das Thema. Aber eigentlich bin ich gekommen, um dir etwas zu überreichen, von dem ich dachte, es würde dir gefallen. Ein Geschenk - für mich? Zelanas Gereiztheit verschwand. Was ist es denn, wollte sie neugierig wissen. Dahlaine lächelte. Irgendwie brachte die Magie des Wortes Geschenk seinen Bruder und seine Schwestern stets dazu, sich seinen Ansichten zu öffnen. Zelana reagierte dann zum Beispiel exakt so, wie er es von ihr wünschte. Ein Geschenk war sicherlich keine Form des Zwangs, doch diente es dem gleichen Zweck und wirkte 21 weitaus freundlicher. Ach, sagte er beiläufig, nichts Großes, liebe Schwester. Nur eine Kleinigkeit, die dich vielleicht erfreuen könnte. Wie würde dir ein neuer Gefährte gefallen? Mir ist eingefallen, dass du nach all den Äonen von den Delphinen ein wenig gelangweilt sein könntest, da sie nie aus dem Wasser kommen und mit dir in deiner hübschen Grotte spielen können. Also habe ich dir einen Gefährten mitgebracht, der dein Heim mit dir teilen kann. Nun zeig schon, rief Zelana ungeduldig. Selbstverständlich, sagte Dahlaine und konnte sich ein verschlagenes Lächeln kaum verkneifen. Mit beiden Händen griff er in die unsichtbare Leere, die er immer hinter sich trug, und zog ein Fellbündel aus der Luft. Mit besten Empfehlungen, geliebte Schwester, sagte er in leicht übertriebenem Ton und reichte ihr das Bündel. Begierig nahm Zelana das Bündel und schlug die eine Seite des Fells auf, um zu sehen, was Dahlaine ihr geschenkt hatte. Mit augenfälligem Unglauben starrte sie das neugeborene Wesen an, das in dem warmen Fell schlief. Was soll ich denn damit, rief sie mit schriller Stimme. Er zuckte mit den Schultern. Sorge dafür, Zelana. Es sollte nicht schwieriger sein, als auf einen jungen Delphin aufzupassen. Aber das ist eines von diesen Menschengeschöpfen, protestierte sie. In der Tat, so ist es, erwiderte Dahlaine mit gespieltem Erstaunen. Wie seltsam, dass ich es nicht selbst bemerkt habe. Du bist sehr aufmerksam, Zelana. Er hielt kurz inne. Das ist kein gewöhnliches Menschengeschöpf, liebe Schwester, fügte er ernst hinzu. Es ist etwas Besonderes. Davon gibt es nur sehr wenige, doch sie werden die Welt verändern. Sorge gut für das Kleine und beschütze es, Zelana. Ich denke, du wirst es füttern müssen, denn ich glaube, es kann nicht wie wir allein von Licht leben. Vielleicht musst du ein wenig ausprobieren, was es verträgt, doch bist du ge22
wiss klug genug, um dieses Problem zu lösen. Und sauber musst du es auch halten. Kleine Menschengeschöpfe haben die Neigung, Schmutz zu machen. Nach einigen Jahren wirst du ihm sicherlich das Sprechen beibringen wollen. Es gibt Dinge, die es uns mitteilen muss, und wenn es nicht sprechen kann, wird es uns nichts sagen können. Was kann uns eines dieser Wesen schon mitteilen, was wir nicht längst wissen? Träume, Zelana, Träume. Wir schlafen nicht, daher träumen wir auch nicht. Das kleine Mädchen in deinen Armen ist ein Träumer. Deshalb habe ich es zu dir gebracht. Es ist ein Mädchen? Zelanas Stimme wurde um einen Hauch sanfter. Natürlich. Ich dachte, mit einem Jungen würdest du wohl nicht so gut zurechtkommen. Sorge für die Kleine, Zelana, und ich komme in ein paar Jahren wieder vorbei und sehe nach, wie sie sich entwickelt. Der Säugling in Zelanas Armen gab ein Gurren von sich und streckte die winzige Hand nach Zelanas Gesicht aus. Oh, sagte Zelana mit zitternder, fast erstickter Stimme und drückte das Kind fester an sich. Dahlaine lächelte. Die Sache lief doch gut, gratulierte er sich. Es hatte nur ein wenig Gurren und Lallen und die sanfte Berührung einer Kinderhand gebraucht, und schon waren sein Bruder und seine beiden Schwestern ihren neuen Gefährten vollkommen verfallen. Gerne hätte er sich noch eine Weile an diesem Anblick erfreut, doch sein eigener kleiner Träumer war ganz allein daheim, und es war fast Fütterzeit, daher sollte er sich wohl rasch auf den Heimweg machen. Er schwamm aus Zelanas Grotte hinaus und stieg auf seinen gut eingerittenen Blitz. Blitze sind sehr laute Reittiere, ohne Frage, doch können sie riesige Entfernungen innerhalb eines Augenblicks zurücklegen. 23
Zelanas erstes Problem mit ihrem neuen Schützling war, das Richtige zum Essen zu finden. Eigentlich hoffte sie, Dahlaine habe sich geirrt. Wenn das Kind von Licht leben könnte, so wie Zelana, wäre das Füttern kein Problem. Das Sonnenlicht, das durch die rosafarbene Quarzader von der Decke der Grotte hereinfiel, schien gerade auf das Moosbett, auf dem Zelana gelegentlich ruhte. Voller Hoffnung legte sie das Fellbündel auf dieses Moosbett und öffnete den Mantel, damit die Sonne das Kind berühren konnte.
Der Säugling begann zu strampeln. Vielleicht gefiel dem kleinen Wesen die Farbe nicht. Zelana hatte festgestellt, dass man sich zunächst gewissermaßen an die Kost aus rosa Licht gewöhnen musste. Rosa, so schien es, war ein Geschmack, den man lernen musste. Sie schnippte mit den Fingern, und sofort verwandelte sich der Quarz in Blau. Das Kind hörte nicht auf zu strampeln und begann sogar zu quengeln. Zelana versuchte es mit Grün, doch hatte sie damit auch keinen Erfolg. Dann wählte sie schlichtes Weiß. Es war vermutlich ein wenig zu kühl, oder die Kleine war noch nicht groß genug für so fortgeschrittene Farben. Die Geräusche des Säuglings wurden lauter und eindringlicher. Rasch schloss Zelana das schreiende Kind in die Arme und eilte zum Rand des flachen Beckens am Eingang der Grotte. Meelea-mee, rief sie in der schrillen Sprache der Delphine. Ich brauche deine Hilfe! Schnell! Bitte! Meeleamee hatte schon viele, viele kleine Junge aufgezogen, und daher besaß sie in diesen Angelegenheiten große Weisheit und Erfahrung. Milch, riet sie. Was ist Milch, fragte Zelana. Und wo finde ich sie? Meeleamee erklärte es ihr genau, und zum ersten Mal in ihrem endlosen Leben errötete Zelana. Was für eine seltsame Sache, sagte sie und wurde noch röter. Sie blickte an sich herunter. Meinst du, ich könnte ... Doch sie brachte den Satz nicht zu Ende. Vermutlich nicht, antwortete Meeleamee. Dazu gehört einiges, das wohl nicht ganz so einfach ist. Kann das Junge schwimmen? Ich weiß es nicht, gestand Zelana ein. Wickle die Kleine aus und leg sie hier ins seichte Wasser. Ich müsste sie ohne große Schwierigkeiten stillen können. Zunächst stellten sich Zelana und Meeleamee ein wenig unbeholfen an, doch schließlich gelang es ihnen, das Kind zu füttern. Zelana verspürte wirkliche Erfüllung - die immerhin fast vier Stunden währte. Dann mussten sie das Kind erneut stillen. Wie Dahlaine bereit angedeutet hatte, war es mit großem Aufwand verbunden, Säuglinge zu versorgen. Die Jahreszeiten kamen und gingen wieder dahin, wie Jahreszeiten es eben für gewöhnlich tun, und aus dem Sommer wurde Herbst und bald darauf stellte sich der Winter ein. Zelana hatte den Jahreszeiten nie viel Aufmerksamkeit gezollt. Flitze oder Kälte hatten für sie keine große Bedeutung, und Licht konnte sie überall erzeugen wann immer sie hungrig wurde. Die Delphinfrauen wechselten sich mit dem Stillen des Säugling: ab, und Zelana bemerkte, dass das Kind sehr lieb und anhänglich zu sein schien. Von den Küssen waren die Delphine zunächst ein wenig erschrocken, nach einer Weile jedoch genossen sie es, vor dem dankbaren Kind geküsst zu werden. Manchmal stritten si sich sogar darum, wer mit dem Stillen an der Reihe war; diese Auseinandersetzungen endeten allerdings, als das Kind Zähne bekam und auf allem zu kauen begann, was es nur in den Mund bekommen konnte. An diesem Punkt wurde die Ernährung umgestellt und nun boten die Delphine der Kleinen Fisch anstelle von Milch an. Zum Dank küsste das Kind sie weiterhin, und so hatte alles wieder seine Ordnung. 24 Da die Kleine stets im seichten Becken am Anfang der Grotte gefüttert worden war, konnte sie schwimmen, noch bevor die Zähne kamen, nicht lange jedoch, nachdem die Ernährung geändert worden war, begann sie zu gehen - und zu laufen -, und bald watschelte sie durch die Grotte und quiekte Delphinworte. Jedes Mal, wenn sie hungrig war, kam sie zum Wasser. Die Delphine achteten darauf, dass sie im flachen Wasser blieb, jagten aber Fische aus dem tiefen Meer in die Grotte, damit das Kind lernen konnte, sich seine Nahrung selbst zu fangen. Als der dritte Sommer des Kindes anbrach, wagte es sich aus der Grotte heraus, um sich zu den jüngeren Delphinen zu gesellen, die entlang der Küste der Insel Thurn ihre Streifzüge unternahmen. Jetzt verbrachte es die Tage damit, mit den jungen Delphinen herumzutollen und sich vom Reichtum der Mutter Meer zu ernähren. Zelana gefiel dies. Die Unabhängigkeit der Kleinen befreite auch ihre Hüterin, so dass diese sich wieder verstärkt Poesie und Musik zuwenden konnte. Die jungen Delphine nannten das Mädchen Beeweeabee, allerdings hielt Zelana diesen Namen nicht für angemessen, da er wörtlich übertragen hieß: Kurze-Flosse-ohne-Schwanz. Trotz der Erziehung und der Freunde war das kleine Mädchen doch ein Landtier, und so besann sich Zelana auf ihre poetischen Fähigkeiten und kam schließlich auf den Namen Eleria. Der klang so hübsch musikalisch - und reimte sich zudem auf viele schöne Worte. Dem kleinen Mädchen bedeutete der Name nicht sehr viel, doch nach einer Weile reagierte sie meistens darauf, wenn Zelana sie so rief, also erfüllte er mehr oder weniger seinen Zweck. Die Jahreszeiten wechselten, aber Zelana hatte schon lange erkannt, dass diese das allein konnten, daher brauchte sie die Jahreszeiten nicht anzutreiben. 26 In Elerias fünftem Herbst kam Dahlaine wieder einmal zu Be such. Wie steht es denn um dein Kind, liebe Schwester, erkundigte er sich bei Zelana. Ist nicht so ganz einfach zu beantworten, die Frage, erwidert Zelana. Ich habe seit zehn Äonen keinen Kontakt
mehr mit der Menschengeschöpfen gehabt, und in der Zeit haben sie sich gewiss verändert. Was für sie in Elerias Alter normal ist, weiß ich nicht. Sie verbringt die meiste Zeit im Wasser, und deshalb stinkt sie auch nicht so wie ihre Artgenossen rochen, als ich mich von ihnen zurückgezogen habe. Wo ist sie, fragte Dahlaine und schaute sich in der Grotte um Vermutlich spielt sie mit ihren Freunden, sagte Zelana, irgendwo an der Küste der Insel. Sie hat Freunde? Dahlaine wirkte überrascht. Ich wusste nicht, dass auf der Insel Menschen leben. Dort leben keine, und selbst wenn, würde ich ihr nicht erlauben, mit ihnen Umgang zu haben. Das wirst du dir noch einmal überlegen müssen, Schwester. Irgendwann wird es notwendig sein, dass sie mit ihresgleichen Umgang hat. Weshalb? Sie muss ihnen sagen, was sie tun sollen, Zelana. Wenn ihre Spielgefährten also keine Menschen sind, was dann? Delphine natürlich. Sie und die jungen Delphine kommen sehr gut miteinander aus. Ich wusste nicht, dass Delphine sich auf dem trockenen Land fortbewegen können. Können sie doch gar nicht. Eleria schwimmt mit ihnen. Bist du verrückt, herrschte Dahlaine sie an. Sie ist erst fünf! Du kannst sie doch nicht einfach alleine in Mutter Meer lassen! Mach dir keine Sorgen, Dahlaine. Sie kann fast so gut schwimmen wie ihre Spielgefährten, und dort draußen im tiefen Wasser 27
findet sie den größten Teil ihres Essens. Das spart mir eine Menge Zeit. Sie ernährt sich selbst, also brauche ich mich nicht drum zu kümmern. Außerdem mag sie Beeren - wenn die richtige Jahreszeit ist -, doch sonst isst sie Fisch. Wie kocht sie denn den da draußen im Wasser? Was ist kochen, erkundigte sich Zelana interessiert. Nur so eine Sitte, antwortete Dahlaine ausweichend. Du solltest sie allerdings vom tiefen Wasser fern halten. Warum? Meistens schwimmt sie in der Nähe der Oberfläche, welchen Unterschied macht es also, wie viel Wasser unter ihr ist? Dahlaine gab es auf. Mit Zelana konnte man einfach nicht reden. Zelana hatte nicht einmal sich selbst eingestanden, dass ihr Leben nun, da sie Eleria hatte, um sie zu lieben und für sie zu sorgen, viel schöner war. Da Eleria sich ihr Essen selbst suchte und genug Freunde hatte, die sie beschäftigten, war ihre Gegenwart am Abend in der Grotte kaum eine Störung. Zelana konnte sich ihrer Poesie und ihrer Musik widmen, und Eleria diente ihr als Publikum. Sie mochte es, wenn Zelana für sie sang, und sie genoss es offensichtlich, wenn Zelana ein Gedicht rezitierte - obwohl sie kein einziges Wort verstand. Inzwischen befand sie sich im sechsten Lebensjahr, doch immer noch sprach sie ausschließlich in der quiekenden, pfeifenden Sprache der Delphine. Darüber dachte Zelana nach. Eigentlich war es kein großes Problem, denn sie selbst beherrschte diese Sprache fließend. Dennoch entschied sie, dass sie dem Mädchen demnächst ein paar Grundlagen der Sprache beibringen sollte, die sie mit ihrer Schwester und 28 ihren Brüdern sprach. So schwierig sollte das nicht sein. Zela hatte erkannt, welch rasche Auffassungsgabe Eleria besaß. Wie sich herausstellte, war Eleria ihr längst zwei Schritte voran Zelana hatte dem Kind schon früh Gedichte vorgetragen, und ein Tages im frühen Herbst von Elerias sechstem Jahr hörte Zelana z fällig mit an, wie das Kind seinen Spielgefährten eines der Gedichte erzählte, wobei sie es Zeile für Zeile in deren Sprache übersetzt Zelanas Poesie erhielt in diesem schrillen Plappern der Delphin spräche eine ganz neue Dimension. Zelana war ziemlich sicher, da die jungen Delphine eigentlich nicht besonders an Poesie interessiert waren, doch Elerias Gewohnheit, ihre Aufmerksamkeit m Küssen und Umarmungen zu belohnen, ließ sie geduldig verharren. Zelana liebte die Delphine selbst, sie zu küssen war ihr freilich niemals in den Sinn gekommen; Eleria dagegen hatte schon in frühem Alter erkannt, dass Delphine für einen Kuss fast alles tun würden. An diesem Punkt entschied Zelana, es sei gar keine so schlecht Idee, den Fortschritten des jungen Kindes ein wenig mehr Aufmerksamkeit zu schenken. In letzter Zeit schien Eleria ständig neu Überraschungen für sie bereitzuhalten. Eleria, sagte sie ein wenig später, als sie allein in der Grotte waren. Eleria antwortete mit einem schrillen Delphinlaut. Sprich in Wörtern, Kind, verlangte Zelana. Eleria starrte sie verwundert an. Es ist nicht angemessen für mich, das zu tun, Geliebte, erwiderte sie recht formell. Dein Sprache ist nicht für den gewöhnlichen Gebrauch bestimmt. Sie is reserviert für erhabene Äußerungen. Nicht um alles in der Welt würde ich sie entweihen und sie für das Gemeine nutzen. Nun erkannte Zelana ihren Fehler. In gewisser Weise hatte sie Eleria genauso behandelt, wie das Kind nun seinen Delphinfreund behandelte. Eleria war ein gebanntes Publikum gewesen - aber
nicht ganz und gar gebannt. Das Kind hatte seine eigenen Schlüsse gezogen. Dahinter steckte eine gewisse Logik, der zufolge Zelanas Sprache allein für die Poesie reserviert war, da Zelana sie nur benutzt hatte, wenn sie Gedichte rezitierte. Die tagtäglichen Gespräche hatte sie stets in der Sprache der Delphine geführt. Komm her, Kind, sagte Zelana, es ist Zeit, dass wir uns ein bisschen besser kennen lernen. Eleria wirkte verängstigt. Habe ich etwas falsch gemacht, Geliebte, fragte sie. Bist du erzürnt, weil ich deine Gedichte jenen mit den Flossen erzählt habe? Das wolltest du nicht, oder? Deine Gedichte waren Liebe, allein für mich bestimmt. Jetzt habe ich sie verdorben. Elenas Augen füllten sich mit Tränen. Bitte, schicke mich nicht fort, Geliebte, flehte sie. Ich verspreche, es nie wieder zu tun! Eine Woge von Gefühlen schlug über Zelana zusammen, und sie spürte, wie sich ihre Augen verschleierten. Sie streckte dem Kind die Arme entgegen. Komm zu mir. Eleria lief zu ihr, und sie umarmten sich innig. Beide weinten jetzt, und trotzdem erfüllte sie eine eigenartige Freude. Zelana und Eleria verbrachten von nun an ihre Zeit gemeinsam in der Grotte. Die Delphine brachten Eleria Fisch zum Essen, und die tröpfelnde Quelle versorgte sie mit Wasser, daher bestand für das Kind keine Notwendigkeit, hinaus in Mutter Meer zu gehen. Ihre Spielgefährten waren zunächst ein wenig beleidigt, doch das verging bald. Viele Stunden lehrte Zelana Eleria, wie man Poesie schöpft und wie man singt. Zelanas Poesie war erhaben und formvollendet, ihre Lieder waren äußerst vielgestaltig. Elerias Poesie hingegen war altmodisch, doch viel leidenschaftlicher, und ihre Lieder einfach und rein. Schmerzlich wurde Zelana bewusst, dass die Stimme des Kindes schöner war als ihre eigene, klarer, und sie reichte ohne Anstrengung in höchste Höhen. 30
Schließlich begriff Eleria, dass die Sprache, die sie als Sprache de Poesie kennen gelernt hatte, auch eine gewöhnlichere Form hatte die sie für ihre alltäglichen Gespräche nutzen konnte. Dennoch be harrte sie darauf, Zelana auf altmodische Weise weiterhin Geliebte zu nennen. Im Frühling von Elerias siebtem Jahre zog das Kind wieder mit seinen rosa Freunden zum Spielen aus. Zelana hatte angedeutet, wie sehr Eleria sie in letzter Zeit vernachlässigt habe, was nicht sehr höflich sei. Spät an dem Tag kehrte Eleria mit einem seltsamen funkelnden Gegenstand in die Grotte zurück. Was ist das für ein hübsches Ding, Kind, fragte Zelana. Es heißt Perle, Geliebte, antwortete Eleria, und eine sehr alte Freundin der Delphine hat es mir geschenkt - nun, eigentlich nicht persönlich. Aber sie hat mir gezeigt, wo ich sie finde. Ich wusste nicht, dass Perlen so groß werden können, staunt Zelana. Es muss eine riesige Auster gewesen sein. Sie war gigantisch, Geliebte. Wer ist diese Freundin der Delphine? Eine Walfrau, erklärte Eleria. Sie ist schon sehr alt und wohnt nahe diesem Inselchen vor der Südküste. Heute Morgen hat sie siel zu uns gesellt und mir gesagt, sie wolle mir etwas zeigen. Dam führte sie mich zu diesem Inselchen und hinunter zu der riesige Auster, die an einem Riff hing. Die Schale der Auster war fast s breit, wie ich lang bin. Wie hast du sie denn aufbekommen, wenn sie so groß war? Das brauchte ich nicht, Geliebte. Die alte Walfrau hat die Schale mit der Flosse berührt, und dann hat sich die Auster für uns geöffnet. Wie überaus sonderbar, sagte Zelana. Die alte Walfrau erzählte mir, die Auster wolle, dass ich die Per 3 le bekomme, also habe ich sie genommen. Und ich habe mich auch bei der Auster bedankt, allerdings bin ich nicht sicher, ob sie mich verstanden hat. Es war ein wenig schwierig zu schwimmen und gleichzeitig die Perle zu tragen, deshalb hat die alte Walfrau mir angeboten, mich nach Hause zu tragen. Tragen? Nun, nicht richtig tragen. Ich bin auf ihrem Rücken geritten. Das hat so viel Spaß gemacht. Eleria hielt die Perle hoch. Sieh, wie rosa sie leuchtet. Geliebte? Sie ist sogar schöner als die Decke der Grotte. Eleria drückte sich die Perle, die ungefähr die Größe eines Apfels hatte, an die Wange. Ich mag sie, verkündete sie. Hast du heute gegessen, fragte Zelana. Ja, früher am Tag, Geliebte. Meine Freunde und ich haben einen Schwärm Heringe gefunden und uns satt gegessen. Hatte der Wal zufällig einen Namen? Die Delphine nannten sie Mutter. Sie ist natürlich nicht ihre richtige Mutter. Ich glaube, auf diese Weise wollen sie ihr nur ihre Liebe zeigen. Und sie spricht die gleiche Sprache wie die Delphine? Ungefähr. Nur ist ihre Stimme nicht so schrill. Eleria ging zu ihrem Moosbett hinüber. Ich bin sehr müde, Geliebte, sagte sie und sank auf ihr Bett. Wir mussten weit schwimmen bis zu dem Inselchen, und Mutter Wal schwimmt schneller als ich. War gar nicht leicht mitzuhalten. Warum legst du dich dann nicht schlafen, Eleria? Morgen früh wirst du dich bestimmt besser fühlen. Ja, das glaube ich auch, Geliebte, sagte Eleria. Ich kann schon kaum noch die Augen offen halten. Sie legte sich auf ihr Bett aus Moos und wiegte die rosa leuchtende Perle in den Armen über ihrem Herzen.
Das verwirrte Zelana, und ein wenig machte es sie auch besorgt. Für Delphine und Wale ist es nicht natürlich, miteinander zu ver32 kehren, wie Eleria es beschrieben hatte, und Zelana war sich fast sicher, dass sie eigentlich nicht miteinander sprechen und sich verstehen konnten. Heute war etwas überaus Sonderbares geschehen. Eleria schlief offensichtlich fest, ihre Glieder hatten sich entspannt. Plötzlich schwebte die rosa leuchtende Perle zu Zelana: Verwunderung über dem schlafenden Mädchen. Das rosafarbende Leuchten wurde beständig stärker und hüllte Eleria in seinen Schein. Misch dich nicht ein, Zelana, sagte eine sehr vertraute Stimmt in Zelanas Kopf. Das ist nicht notwendig, und ich brauche keine Hilfe von dir. Eleria erwachte am nächsten Morgen später als gewöhnlich, hatte eine verwirrte Miene im Gesicht, setzte sich mit gekreuzten Beinen auf ihr Moosbett und hielt dabei die Perle in der Hand. Warum schlafen wir, Geliebte, fragte sie. Ich nicht, erwiderte Zelana, und ich bin mir oft nicht sicher, warum andere Wesen so oft schlafen müssen. Ich dachte, du und ich, wir wären von der gleichen Art, sagte Eleria. Wir sehen uns sehr ähnlich, nur ist dein Haar dunkel und glänzend, und meins gelblich. Das habe ich mich auch schon oft gefragt. Vielleicht bin ich aus dem Bedürfnis zu schlafen schon herausgewachsen. Schließlich bin ich ein ganz schönes Stück älter als du. Die Antwort vereinfachte die Sache ein wenig, aber Zelana war ziemlich sicher, dass Eleria für die ganze Wahrheit noch nicht bereit war. Wenn du nicht schläfst, kennst du sicherlich auch nicht all die seltsamen Dinge, die immer zu geschehen scheinen, während ich schlafe, oder? Man nennt sie Träume, Eleria, erklärte Zelana ihr, und ich glaube, kein anderes Geschöpf hat die gleiche Art von Träumen wie du. Mein Bruder Dahlaine hat mir erzählt, deine Träume seien et33 was sehr Besonderes, sehr viel bedeutender als die Träume der gewöhnlichen Wesen. Hattest du heute Nacht einen Traum, der dir Angst gemacht hat? Er hat mir keine Angst gemacht, Geliebte. Er wirkte nur so eigenartig. Warum erzählst du ihn mir nicht, schlug Zelana vor. Also, ich schien zu schweben - nur dass ich nicht in Mutter Meer schwebte, wie ich es manchmal tue, wenn ich mich ausruhen und wieder zu Atem kommen will. Stattdessen schwebte ich in der Luft, und weit unten ereigneten sich seltsame Sachen. Vater Erde stand ganz in Flammen, seine Berge erhoben und senkten sich wie die Wellen von Mutter Meer. Felsen schmolzen und liefen an den Hängen der Berge von Vater Erde hinunter in Mutter Meer, und andere Berge spuckten flüssiges Feuer in den Himmel. Könnte so etwas wirklich geschehen? Ja, Kind, sagte Zelana mit besorgter Stimme, und es geschah schon einmal genau so, wie du es beschrieben hast. Ich habe zugeschaut. Das war der Anfang der Welt. Was passierte als Nächstes? Nun, die Feuer brannten lange, lange Zeit, und dann brach das Land unter mir auseinander, und die einzelnen Stücke trieben in verschiedene Richtungen davon. Dann begannen Bäume auf dem Antlitz von Vater Erde zu sprießen, und Mutter Meer bekam die ersten Kinder. Ungefähr da bemerkte ich, dass ich nicht allein war. Andere hatten den gleichen Traum - nur war es für sie vielleicht kein richtiger Traum. Zelana lächelte. Nein, Liebes, das war es nicht. Ich war eine jener anderen, und ich habe gewiss nicht geträumt, und auch meine Brüder und meine Schwester nicht. Demnach war es deine Familie, die sich an den Rändern meines Traumes versteckte, fragte Eleria. Ich dachte, du hast nur zwei Brüder und eine Schwester, doch hatte ich das Gefühl, mit mir schauten noch zwei Brüder und eine Schwester zu. Das ist ein anderer Zweig der Familie, Eleria, erklärte Zelanj Wir kommen nicht sehr häufig zusammen. Bei anderer Gelegenheit können wir einmal über sie sprechen. Warum fährst du nicht mit deinem Traum fort? Träume schwinden, glaube ich, und ich würde ihn gern ganz hören, ehe du ihn vergessen hast. Nun, die meisten Kinder von Mutter Meer waren Fische, aber einige nicht. Das waren diejenigen, die auf das Antlitz von Vater Erde krochen. Zuerst sahen sie aus wie Schlangen, doch dann wuchsen ihnen Beine, und sie wurden sehr groß. Manche fraßen Bäume, andere fraßen diejenigen, die Bäume fraßen. Dann fiel ein großer, brennender Stein aus dem Himmel, und als er Vater Erde traf, gab es ein lautes Platschen, nur war es nicht der Stein, der platschte, sondern das Wasser, und für lange Zeit wurde es dunkel. Als es schließlich wieder hell wurde, waren die Schlangen mit Beinen verschwunden. Waren meine Verwandten auch verschwunden? Einige haben sich schlafen gelegt, aber sie wachten nach einet Weile auf, und diejenigen, die wach gewesen waren, legten sich schlafen. Ein Wesen jedoch ging niemals schlafen. Das ist sehr hässlich, oder? In der Tat, Kind, erwiderte Zelana schaudernd. Es ist ein Verbannter, und wir denken mitnichten gern an es. Was geschah daraufhin? Eine Menge Wesen mit Fell wanderten herum, und es gab Vögel und Insekten, aber dann kamen Wesen, die auf den Hinterbeinen gingen. Sie sahen überhaupt nicht aus wie wir. Ihre Haut bestand aus Schuppen, wie die Haut von großen Fischen - oder auch von Schlangen, und ihre Augen waren riesig und standen vor ihren Gesichtern hervor. Sie blieben eine lange Zeit, und dann bedeckte sich alles mit Weiß, und es wurde sehr kalt. Mutter Meer
schien zu schrumpfen, sie floh von den Küsten. Dann verschwand das Weiß, und Mutter Meer kehrte zurück. Da erschienen die Mensch-Wesen, die aussehen wie ich. Sie sahen allerdings nicht genauso aus wie 35 ich. Aus irgendeinem Grunde wickelten sie sich in Tierhäute, und du und ich, wir tun das nicht, oder? Für uns ist es nicht notwendig, Eleria. Die Häute helfen den Mensch-Wesen, warm zu bleiben, und sie schämen sich vor ihren Körpern. Wie sonderbar, sagte Eleria und runzelte leicht die Stirn. Das war ungefähr alles, Geliebte, außer, dass dieser schrecklich aussehende Beobachter immer noch am Rande meines Traumes war, und ich glaube, dieses Wesen mag mich nicht sehr gern. Aus irgendeinem Grund scheint es mich zu fürchten. Wenn es so etwas wie Verstand hat, heißt das, sagte Zelana. Sag mal, kannst du vielleicht ein paar Tage hier allein bleiben? Ich müsste mich um ein paar Dinge kümmern. Bestimmt bleibe ich nicht lange fort. Kann ich nicht mitkommen? Ich fürchte, das ist nicht möglich, Eleria. Diesmal muss ich allein gehen. Vielleicht nehme ich dich das nächste Mal mit. Wir werden sehen.
3 Zelana schwamm aus ihrer verborgenen Grotte zu einem Kiesstrand in der Nähe, wo die Wellen heranbrandeten, und stieg mit einem Seufzen voller Bedauern aus dem Wasser. Sie hob das Gesicht zum Himmel und suchte nach einem jener Winde, die weit über ihr unaufhörlich wehten und endlos über Wolken und Wetter hinwegbrausten. Mehrere fand sie, doch keiner blies in die richtige Richtung, also setzte sie ihre Suche fort. Schließlich spürte sie einen Wind, der nach Norden wehte, zur Domäne ihres älteren Bruders, 36 und sie erhob sich höher und höher durch die Winde, die in die falschen Richtungen wehten, bis sie den Nordwind erreichte, der an äußeren Rand des Himmels blies, und sie stieg auf diesen Wind und er brachte sie zu der rauen Domäne ihres Bruders Dahlaine. Dahlaine lebte in einer Höhle tief in der Erde unter den Felsen spitzen und dem ewigen Schnee des Bergs Shrak, den die Völker de: Nordens für den höchsten Gipfel der Welt halten. Und Zelana stieg; vom dunklen, äußeren Rand des Himmels herab auf den scheußlichen Berg, der finster auf die Domäne ihres Bruders herabblickte mit der rauen Miene der Erhabenheit. Den Eingang zu Dahlaine' Höhle bildete eine tiefe Einkerbung in der Nordseite des Berges, und Zelana trat dort ein und folgte dem gewundenen Gang, der abwärts und abwärts durch glitzernden schwarzen Stein führte bis zu der riesigen Halle tief im Innern des Berges, die Dahlaines Zuhause war. Am Ende des Ganges hielt Zelana inne. Ihr stämmiger graubärtiger Bruder stand mit nacktem Oberkörper über einem rötlich scheinenden Feuer und schlug auf etwas ein, das einen klirrenden Klang erzeugte. Über ihm schwebte eine leuchtende Kugel und tauchte ihn in Licht. Was in aller Welt tust du da, Dahlaine, fragte Zelana neugierig. Dahlaine drehte sich abrupt um und sah seine Schwester an. Ach, Zelana, rief er. Du hast mich erschreckt. Stimmt etwas nicht? Vielleicht - vielleicht auch nicht. Beschäftigst du dich jetzt mit Musik? Falls ja, bist du ein wenig verstimmt. Ich probiere lediglich etwas aus, liebe Schwester, erwiderte er. Ein paar der Menschen jenseits der Mutter Meer haben etwas entdeckt, das sie Metall nennen. Ich wollte sehen, ob ich es nachmachen kann. Ist etwas Besonderes los? Zelana blickte sich aufmerksam in Dahlaines Höhle um. Wo ist dein Träumer, erkundigte sie sich. 37 Ashad? Der spielt draußen mit den Bären. Bären? Du wirst ihm doch nicht erlauben, mit Bären zu spielen! Sie werden ihn auffressen, oder? Ganz bestimmt nicht, Zelana. Sie sind seine Freunde - so wie deine rosa Delphine die Freunde von Eleria sind. Hat sich etwas Ungewöhnliches ereignet? Vielleicht. Eleria hat letzte Nacht geträumt, und möglicherweise ist das wichtig. Ich dachte, du solltest darüber Bescheid wissen. Eine Sache daran könnte sogar noch wichtiger sein als der Traum selbst. Oh? Anscheinend hat Mutter Meer selbst die Finger im Spiel. Dahlaine starrte sie an. Eleria war gestern mit den jungen rosa Delphinen draußen, und sie haben sie einer alten Walkuh vorgestellt. Ich wusste nicht, dass Wale und Delphine die gleiche Sprache sprechen, meinte Dahlaine. Sprechen sie auch nicht. Deshalb kam ich zu der Ansicht, es handele sich gar nicht um einen Wal. Jedenfalls führte die alte Walkuh Eleria zu einer kleinen Insel vor der Südküste von Thurn und zeigte ihr eine Auster, die ungefähr fünfzig Mal größer war als die größte Auster, die ich je gesehen habe. Dann berührte der Wal die Schale mit der Flosse, und diese Auster öffnete sich, als habe jemand an der Tür geklopft. Im Inneren enthielt sie eine Perle - rosa und ein wenig größer als ein Apfel. Das ist unmöglich, rief Dahlaine. Du wirst das mit der Auster klären müssen, Dahlaine. Der Wal sagte zu Eleria, die Auster wolle ihr die Perle
schenken, also nahm Eleria sie an, und der Wal ließ sie auf seinem Rücken nach Thurn Zurückreiten. Nun, das hätte ich gern gesehen, sagte Dahlaine und lachte. Es dürfte doch ein wenig schwierig sein, einen Wal zu satteln. 38 Willst du den Rest der Geschichte hören, oder möchtest du lustige Bemerkungen machen, gab Zelana in scharfem Ton zurück. Entschuldige, liebe Schwester. Fahr bitte fort. Eleria war von dem anstrengenden Tag sehr müde. Sie ging augenblicklich zu Bett, und dann geschahen mehrere sehr merkwürdige Dinge. Diese rosafarbene Perle erhob sich in die Luft über Eleria und begann zu leuchten fast wie ein kleiner rosa Mond -, und das Licht schien auf Eleria. Dann sprach die Perle zu mir und sagte, ich solle mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmern. Ich erkannte die Stimme sofort, denn ich lausche ihr bereits seit Anbeginn der Zeit. Das meinst du nicht ernst, rief Dahlaine. Sehr ernst, lieber Bruder. Es war die Stimme von Mutter Meer und demzufolge war der Wal bestimmt kein gewöhnliches Tier, oder? So etwas hat sie noch nie getan, erwiderte Dahlaine besorgt. Damit erzählst du mir nichts Neues, Dahlaine, gab Zelana zurück. Ich glaube, wir sollten lieber Vorsicht walten lassen, bis wir besser verstanden haben, was sie tut und weshalb. Mutter Meer ist die wichtigste Kraft in unserer Welt, also sollten wir uns lieber gut mit ihr stellen. Was geschah als Nächstes, fragte Dahlaine. Eleria hatte natürlich einen Traum. Vermutlich war das der Grund, der dahinter steckte. Auf eigentümliche Weise ist diese Perle die Essenz des Bewusstseins von Mutter Meer. Ihre Gezeiten kommen und gehen, ihre Wellen branden an die Küsten von Vater Erde, doch sie ist stets wach. Ich bin mir fast sicher, dass die Perle tatsächlich eine Wiedergeburt von Mutter Meer ist, die Eleria den Traum Bild für Bild eingegeben hat. Hat Eleria dir von dem Traum erzählt? Natürlich. Denkst du, ansonsten wäre ich hier? Was ist in dem Traum vorgekommen? 39 Die Welt, antwortete Zelana. Eleria sah, wie sie war, als sie noch brannte, als sich die Kontinente teilten und ehe das Leben begann. Dann sah sie die Kontinente auseinander driften und beobachtete, wie die Lebewesen aus der Mutter Meer an Land kamen. Sie sah die großen Eidechsen über die Welt streifen und den Kometen, der sie alle umgebracht hat. Sie war sich uns und der anderen bewusst - jener, die jetzt schlafen -, und irgendwie hat sie auch das Vlagh gespürt. Sie sah das Zeitalter des Eises und die späteren Menschenwesen. Soweit ich es sagen kann, hat sie alles vom Anfang bis einschließlich vorgestern geträumt. Das alles hat sie in einer Nacht geträumt, hakte Dahlaine ungläubig nach. Sie hatte Hilfe, Dahlaine. Ich bin sicher, die Perle hat sie Schritt für Schritt geführt. Wir sollten lieber unseren Mitgöttern mitteilen, was sich hier tut. Unser Zyklus nähert sich dem Ende, und die Mitgötter werden bald erwachen. Wir müssen sie warnen, dass die Krise, die wir seit dem Anfang erwarten, während ihres Zyklus vermutlich zum Ausbruch kommen wird. Allerdings nur, wenn sie nicht ausbricht, bevor unser Zyklus beendet ist, sagte Dahlaine. Ich glaube, wir sollten uns zusammensetzen und uns darüber unterhalten. Warum holst du nicht Aracia, und ich sehe zu, ob ich Veltan finde. Wir müssen einige Entscheidungen treffen, und möglicherweise haben wir nicht viel Zeit dafür. Es soll geschehen, wie du befiehlst, mein lieber, lieber Bruder, erwiderte Zelana mit übertriebener Förmlichkeit. Muss das sein, Zelana, gab er mit schmerzlicher Miene zurück. Wenn du so einleuchtende Dinge sagst, ja. Hol du Veltan, Dahlaine, und ich werde schauen, ob ich die heilige Aracia aus ihrem dummen Tempel locken kann. Sollen wir uns hier treffen? Das wäre wohl das Beste. Meine Höhle liegt abgeschiedener als die anderen Orte - außer deinem Heim natürlich. Dort könnten wir uns auch treffen, nehme ich an, aber Veltan schwimmt nicht sehr gut. Und die Träumer müssen wir von dem Treffen fern halten Wir wollen doch ihre Visionen nicht beeinflussen. Zelana verließ Dahlaines Höhle und durchkämmte den Nordhimmel, bis sie einen Wind entdeckte, der ihrem Zweck dienlich war, Dann erhob sie sich in die kalte Luft des Nordens zu dem betreffenden Wind und ritt auf ihm in südöstlicher Richtung auf Aracias Domäne zu. Seit dem Beginn der letzten Entwicklungsstufe von Menschen war Aracias Meinung von sich selbst noch höher geworden. Bis zu ihrem Erscheinen war Aracia einigermaßen einfühlsam gewesen -ein wenig eitel vielleicht, doch keineswegs unerträglich. Die letzten Menschen jedoch, die nicht mehr so grob waren wie die frühen, hatten religiöse Bedürfnisse und sehnten sich nach Göttern. Aracia hielt sie für sehr nett und war mehr als glücklich, diese Bedürfnisse nach Religion erfüllen zu können. Sie hatte angedeutet, dass eine hübsche Bleibe angemessen wäre, während sie auf die Menschen aufpasste, und so hatte ihr Volk ihr eine gebaut - eigentlich mehrere. Die erste war ein wenig einfach gewesen, da sie überwiegend aus Baumstämmen errichtet wurde. Sie hatte eine Weile lang ihren Zweck erfüllt, doch der Wind blies durch die Ritzen, und im Frühlingsregen wurde der Lehmboden schlammig.
Aracia hatte also als Material Steinblöcke - statt der Baumstämme - vorgeschlagen, und die Menschen, die ihr dienten, arbeiteten lange und hart, um ihr eine Unterkunft zu bauen, die annähernd so bequem war wie Zelanas Grotte oder Dahlaines Höhle. Und jetzt weilte Aracia vom Osten in ihrem prächtigen, wenn auch zugigen Tempelpalast mit unzähligen Dienern, die ihr ständig bestätigten, wie wunderbar und wunderschön sie sei und dass sie ohne sie nicht leben könnten - und wenn es ihr nicht allzu viel ausmache, könnte sie nicht den Kerl, der sich kürzlich so beleidigend benommen hat40 te, in eine Kröte verwandeln, oder könnte sie nicht vielleicht Regen machen, weil der Hafer Wasser brauchte, doch nicht zu viel Regen, denn dadurch würde alles nur schlammig. Zelana stieg durch die frische Herbstluft zu der Marmorkuppel des Tempels hinunter und stellte ihre Augen so ein, dass sie durch den polierten Stein in Aracias königlichen Thronsaal schauen konnte. Er war natürlich mit hellstem Marmor getäfelt, hohe Säulen säumten die Außenränder, und hinter Aracias goldenem Thron hingen rote Vorhänge. Aracia trug ein königliches Gewand auf dem Leib, eine königliche Krone aus Gold auf dem Kopf und eine königliche Miene im Gesicht. Ein fetter Mann in schwarzer Leinenrobe und übermäßig verzierter Mitra stand vor Aracias Thron und hielt ihr eine ermüdende Lobrede. Aracia, so erschien es Zelana, hing dem Mann ergriffen an den Lippen. Obwohl sie wusste, wie unhöflich es erscheinen musste, konnte sich Zelana nicht gegen einen plötzlichen Impuls wehren. Der fette Orator unterbrach sich abrupt, als Zelana, nur in durchsichtige Gaze gehüllt, plötzlich aus dem Nichts vor dem Thron ihrer älteren Schwester auftauchte. Mehrere dicke, überfressene Diener fielen sofort in Ohnmacht, und einige andere der eher theologisch Bewanderten begannen damit, verschiedene Glaubensgrundsätze neu zu überdenken. Aracia schnappte nach Luft. Bedecke dich, Zelana, sagte sie mit schneidender Stimme. Wieso denn, liebe Schwester, erwiderte Zelana. Ich bin gegen das Wetter gefeit und habe keine Makel, die ich verbergen müsste. Wenn du dich selbst in einen solch dummen Kokon hüllen willst, ist das deine Sache, aber dadurch verwandelst du dich auch nicht in einen Schmetterling, 42
Kennst du eigentlich gar keine Bescheidenheit? Natürlich nicht. Ich bin perfekt, wusstest du das nicht? Dahlaine möchte uns sehen - und zwar sofort. Lass allerdings deinen Träumer hier. Unser Bruder wird den Grund erklären, sobald wir bei ihm sind. Wenn Dahlaine mir etwas erklären will, soll er herkommen und es hier tun, gab Aracia zurück. Ich werde mich nicht in diesem schmutzigen Loch, in dem er wohnt, vor ihm verbeugen. Prächtig, meine liebe Schwester, sagte Zelana süß. Ich bin sicher, all deine fetten Diener wären entzückt, wenn du dich hier in deinem eigenen Tempel verbeugst - vorausgesetzt, dass der noch stehen würde, wenn Dahlaine auf seinem dummen Blitz erscheint, auf dem er immer reitet. Das ist sicherlich ein hübscher Blitz, denke ich, aber der Lärm, den er erzeugt, erschüttert manche Gebäude so sehr, dass sie einstürzen. Deinen Tempel wieder aufzubauen würde deinen fetten Dienern einiges zu tun geben, während sie darüber nachdenken, warum sich die oberste Göttin des Universums vor jemandem verbeugt, der für alle Welt wie ein zotteliger Bär aussieht. Du verbeugst dich nie vor ihm, Zelana, warf ihr Aracia vor. Natürlich nicht, antwortete Zelana. Ich muss nicht, weil ich nicht verlange - oder erwarte -, dass sich jemand vor mir verbeugt. So sind die Dinge, Aracia. Hast du das schon vergessen? Es ist an der Zeit, deinen Kokon abzustreifen, meine Schmetterlingsschwester. Die Träume haben begonnen, und das Vlagh könnte auf unserer Schwelle stehen, ehe die Woche vorüber ist. Gehen wir also zu Dahlaine, solange uns noch Zeit bleibt. Zelana nahm ihre Schwester an der Hand, und auf dem Wind ritten sie nach Nordwesten. Es war früher Herbst, und das Land unter ihnen leuchtete bunt. Die Flüsse glitzerten in der Herbstsonne, und auf den Bergen im Norden von Aracias Domäne glänzte weiß der ewige Schnee. 43 Eigentlich freuten sich die Schwestern auf das Treffen. Seit fast einem Dutzend Äonen hatte sich die Familie nicht mehr versammelt. Gewiss, gelegentlich kam es zu Zank unter den Geschwistern, doch keine Familie lebt in ständiger Harmonie, und in Zeiten der Krise war man stets in der Lage, bestehende Meinungsverschiedenheiten beiseite zu schieben und sich zusammenzuraufen. Ist das nicht Dahlaines Berg, fragte Aracia und zeigte auf das Land des Nordens, das weit unter ihnen lag. Zelana blickte nach unten. Nein, entgegnete sie. Der Berg Shrak ist ein bisschen höher. Aus dieser Höhe habe ich Vater Erde noch nie gesehen, meinte Aracia. Er sieht ganz anders aus, nicht wahr? Irgendwann musst du einmal versuchen, ihn vom Rand des Himmels zu betrachten, schlug Zelana vor. Vom Rand des Himmels? Aracia klang verwundert. Von dort oben, wo er nicht mehr blau ist. Nachdem Eleria mir ihren Traum erzählt hat, musste ich Dahlaine berichten, was sie gesehen hatte, doch der einzige Wind, den ich in seine Richtung fand, war einer am äußeren Rand der Luft. Aus der Höhe kann man sogar die Wölbung der Welt erkennen. Ist sie tatsächlich gewölbt, fragte Aracia. Veltan hat mir erzählt, wenn man Vater Erde vom Mond aus betrachte,
sehe er aus wie eine blaue Kugel. Sie runzelte die Stirn. Ich habe nie verstanden, weshalb Mutter Meer Veltan für all diese Äonen zum Mond verbannte? Hat er sie in irgendeiner Weise beleidigt? Zelana lachte. In der Tat, Aracia. Er hat ihr gesagt, sie wäre langweilig. Nein, das ist nicht möglich! O doch, das hat er. Er sagte ihr, sie wirke sehr viel interessanter, wenn sie dann und wann die Schattierungen ihres Blaus variierte. Dabei hat er sogar gewagt, ihr Streifen vorzuschlagen. Er ist ihr so lange damit auf die Nerven gefallen, bis sie die Beherrschung verlo44
ren und ihn fortgeschickt hat. Deswegen hat unser kleiner Bruder zehntausend Jahre auf dem Mond verbracht. Und die Zeit hat er sich damit vertrieben, Blautöne aufzulisten, fügte Aracia hinzu. Das scheint seine Lieblingsbeschäftigung zu sein. Wie viele Blautöne hat er denn bislang gefunden? Als ich das letzte Mal mit ihm gesprochen habe, lag die Zahl be ungefähr dreizehn Millionen. Vermutlich hat er inzwischen noch mehr entdeckt. Da ist Berg Shrak, teilte Zelana ihrer Schwester mit. Dam wollen wir mal schauen, ob Dahlaine es geschafft hat, Veltan aufzutreiben. Durch die klare Luft gingen sie nach unten zum zerklüfteter Gipfel des Bergs Shrak und schreckten dabei einen Schwärm Gänse auf. Zelana mochte Gänse. Meist waren diese Vögel dumm, doch ihre Wanderungen zeigten den Wechsel der Jahreszeiten sehr präzise an, und das sorgte in diesem unvorhersagbaren Teil der Welt für eine gewisse Stabilität. Die Schwestern landeten in der Nähe des Höhleneingangs, und Zelana führte Aracia den langen gewundenen Gang zum unterirdischen Heim ihres Bruders hinunter. Entsetzlich, merkte Aracia an, während sie sich umschaute. Hat er diese Eiszapfen selbst an der Decke aufgehängt? Die sind nicht aus Eis, liebe Schwester, erwiderte Zelana. Sie sind aus Stein. Sie wachsen genauso wie Eiszapfen, aber es dauert ein wenig länger. Er wird noch verhungern, wenn er hier unten in der Dunkelheit lebt, meinte Aracia. Er hat eine kleine Sonne, die ihm in die Höhle folgt, erklärte Zelana. Wie ein kleiner Welpe läuft sie ihm hinterher. Das Licht genügt ihm. Stellt er jetzt schon Sonnen her? Aracia wirkte ein wenig be45 stürzt. Ich habe das auch einmal versucht, doch das dumme Ding ist auseinander geflogen, als ich sie zum Drehen gebracht habe. Vermutlich hast du sie nicht schwer genug gemacht. Das Gleichgewicht einer Sonne muss äußerst genau austariert sein - zu leicht, dann fliegt sie auseinander; zu schwer, dann kollabiert sie in sich selbst. Aracia sah sich aufmerksam um. Wo ist Dahlaines Träumer, flüsterte sie. Ashad? Dahlaine hat mir gesagt, er sei draußen und spiele mit den Bären. Jeder von uns hat sein Lieblingstier, nicht? Ich liebe meine rosa Delphine, Dahlaine mag Bären, Veltan die Schafe, und du freust dich über die Seehunde, die an deinen Küsten leben. Aracia zuckte mit den Schultern. Sie haben uns etwas zum Spielen gegeben, während wir warten, bis die Menschengeschöpfe herangewachsen sind, sagte sie. Erneut schaute sie sich in der dunklen Höhle um. Anscheinend hat Dahlaine Veltan noch nicht gefunden, fuhr sie dann fort. Ich sehe die beiden nirgends. Wie weit führt diese Höhle in den Berg? Meilen und Meilen, glaube ich, antwortete Zelana. Warten wir. Bestimmt sind sie bald hier. Hat deine Träumerin dir schon interessante Geschichten erzählt? Nein, gab Aracia zurück. Ich glaube, sie ist noch nicht so weit. Nach dem, was du mir erzählt hast, ist deine Träumerin die Erste. Die Geschichte der Welt weist den anderen Träumern ja geradewegs die Richtung. Hat sie wirklich alles ganz von Anfang an in ihrem Traum gesehen? Es kam dem sehr nahe, was tatsächlich geschehen ist, erklärte Zelana. Wie heißt dein Kind eigentlich? Lillabeth, antwortete Aracia schwärmerisch, und sie ist das hübscheste Wesen in der ganzen Welt. Tja, offensichtlich ist ihnen das gemeinsam, nicht, meinte Zelana. 46 Was? Dass sie unsere Wahrnehmung verändern, liebe Schwester, erwiderte Zelana. Ich könnte mir vorstellen, dass Dahlaine und Veltan das Gleiche fühlen, was ihre Träumer betrifft. Jedenfalls hege ich gegenüber Eleria dasselbe Gefühl. Vermutlich ist das ganz einfach. Wir lieben sie, weil sie unsere sind. Könntest du mir nicht ein paar Einzelheiten von Elerias Traum erzählen, bat Aracia. Warten wir auf Dahlaine und Veltan. Es sind einige durchaus schwierige Dinge vorgefallen, als Eleria zu träumen begann, und Dahlaine ist wohl der Beste, wenn es darum geht, sie zu deuten. Falls er jemals hier auftaucht, fügte Aracia hinzu. Draußen war gewiss schon später Nachmittag, als zwei krachende Donnerschläge die Luft erzittern ließen. Das ist so kindisch, befand Aracia. Müssen sie das denn unbedingt machen?
Sie sind immer noch wie kleine Jungen, antwortete Zelana. Und Prahlerei gehört zu ihrer Natur. Auf einem Blitz zu reiten, das weckt ganz bestimmt jedermanns Aufmerksamkeit. Aber sie sehen hinterher so albern aus - sie glühen, und ihr Haar steht ab. Das liegt wahrscheinlich an dem Blitz, sagte Zelana. Immerhin ist es eine schnelle Art zu reisen, obwohl ich doch lieber beim Wind bleibe. Das geht fast genauso schnell und macht nicht annähernd so viel Lärm. Einige Augenblicke später traten die Brüder aus dem gewundenen Gang, der von der Oberfläche herunterführte. Was hat euch aufgehalten, erkundigte sich Zelana freundlich. Ich hatte Schwierigkeiten, unseren kleinen Bruder zu finden, erklärte Dahlaine säuerlich. Manchmal kann er ein rechter Miesepeter sein, mischte sich der große und blonde Veltan ein. 47
Ich hätte bestimmt bessere Laune, wenn du dich nicht stets vor mir verstecken würdest, sagte Dahlaine. Hast du deiner Schwester von Elerias Traum erzählt, Zelana? Die Einzelheiten noch nicht, antwortete Zelana. Einige ihrer Diener waren anwesend, und ich glaube, die müssen nicht unbedingt alles wissen, was gerade vor sich geht. Dann erzähle ihn doch uns allen, liebe Fischschwester, sagte Veltan und grinste sie unverschämt an. Gewiss, Mondknabe, gab Zelana bissig zurück, und dann erzählte sie es ihnen: von dem Wal, der Perle, dem Traum. Du hast dir das doch ausgedacht, Zelana, spottete Veltan. Nein, kleiner Bruder, ganz bestimmt nicht. Die Perle - und vermutlich auch der Wal - sind nicht das, was sie zu sein scheinen. Unsere Schwester glaubt, dass Mutter Meer sich in die Dinge einmischt, erklärte Dahlaine, und ich denke, Zelana könnte Recht haben. Jetzt kommen wir zum interessanten Teil, großer Bruder, meinte Zelana strahlend. Wer und was genau sind diese Kinder, die du uns vor einigen Jahren so großzügig überlassen hast? Die Träumer natürlich, Zelana, erwiderte Dahlaine ein wenig zu eilig. Und, hakte sie nach. Und was? Was sind sie sonst noch, Dahlaine? Meistens bist du so durchschaubar, dass wir anderen dich sofort entlarven können. Du hast es doch wohl nicht gewagt, rief Veltan, und die Augen fielen ihm fast aus dem Kopf, als er Dahlaine anstarrte. Ich weiß nicht recht..., begann Aracia. Dann fielen ihr ebenfalls fast die Augen aus dem Kopf. Dahlaine, stieß sie hervor. Nun ...Er holte tief Luft. War es nicht gewissermaßen ein Notfall, fragte er vorsichtig. Bist du verrückt geworden, wollte Veltan wissen. Sie dürfen 48
während unseres Zyklus nicht anwesend sein. Die Welt kann das Gewicht nicht tragen! Na ja, besonders schwer sind sie nicht, erwiderte Dahlaine verteidigend. Ich habe mich bemüht, ihre früheren Erinnerungen auszulöschen, ehe ich sie geweckt habe, und ich habe sie ein wenig verändert, damit sie mehr neugeborenen Menschengeschöpfen ähneln. Sie schlafen und atmen und essen richtig, anstatt sich von Licht zu ernähren. Ihr Verstand ist der eines Kindes, und sie haben keine Ahnung, wer - oder was - sie wirklich sind, daher wird die Welt wegen ihrer Anwesenheit in unserem Zyklus nicht gleich einstürzen. Sie sind doch noch Kinder, und unser Zyklus wird zu Ende sein, ehe sie vollkommen ausgewachsen sind und begreifen, wer sie wirklich sind. Mit dieser Idiotie hast du die Welt einer großen Gefahr ausgesetzt, brauste Aracia auf. Beruhige dich, Schwester, sagte Zelana. So langsam begreife ich, was Dahlaine im Sinn hatte. Wenn dieses abscheuliche Ding im Ödland kurz davor steht, gegen uns zu ziehen, brauchen wir alle Hilfe, die wir bekommen können, und die anderen haben genauso viel zu verlieren wie wir. Außerdem haben wir sie doch noch nie kennen gelernt, oder? Sie sind wirklich sehr angenehme Wesen. Vorher habe ich sie nicht besonders gemocht, doch seit ich Eleria nun kenne, liebe ich sie sehr. Das hattest du vermutlich im Sinn, als du dir diesen Plan ausgedacht hast, oder, Dahlaine? Wenn wir sie kennen und lieben, können wir ihnen vertrauen. Geht es bei deinem großen Plan nicht eigentlich genau darum? Manchmal bist du so schlau, Zelana, dass ich es kaum ertragen kann, sagte er säuerlich. Er ist klüger, als ich dachte, sagte Veltan zu seinen Schwestern. Wenn wir die anderen vor dem Ende unseres Zyklus wecken, können wir sie erziehen, als wären sie unsere Kinder, und sie auf alles vorbereiten, was sich während unserer Ruhephase ereignen könnte. 49 Und dann können sie am Ende ihres Zyklus den Gefallen erwidern, fügte Zelana hinzu. Diesmal sorge ich für Eleria, und nächstes Mal sorgt sie für mich. Klingt gut, sagte Veltan und zögerte kurz. Wir waren viel zu lange Fremde füreinander, finde ich. Dabei tragen wir die gleiche Verantwortung, also dürfte ein wenig Zusammenarbeit durchaus von Nutzen sein. Zwar bin ich nicht froh darüber, dass du uns nicht verraten hast, was du vorhattest, Dahlaine, aber das ist jetzt nicht so
wichtig. Was kommt als Nächstes? Erstens, sagte Zelana, sollten wir den Träumern nicht allzu detailliert erzählen, was vor sich geht. Sie sind noch Kinder, und Kinder lassen sich leicht beeindrucken, gleichgültig, welcher Spezies sie angehören. Wir wollen ihre Träume doch nicht dadurch verunreinigen, dass wir ihnen erzählen, was sie tatsächlich bedeuten. Mutter Meer würde das bestimmt nicht gefallen, und sie könnte sich überlegen, uns alle vier auf den Mond zu verbannen, und nicht nur Veltan. Damit hast du sicherlich Recht, Zelana, stimmte Dahlaine zu. Halten wir die Träume so rein wie möglich. Er kratzte sich nachdenklich am Kinn. Wir haben da ein Problem, fuhr er fort. Dieser erste Traum wird vermutlich die Wesen aus dem Ödland über die Berge locken, und unsere Völker werden ihnen nicht standhalten können. Ich glaube, wir müssen Hilfe von Außenstehenden holen. Absolut unmöglich, widersprach Aracia heftig. Unsere Völker sind rein und unschuldig. Die Außenstehenden sind barbarische Ungeheuer. Sie sind fast so übel wie die Geschöpfe des Ödlandes. Nicht ganz, Aracia, widersprach Dahlaine. Wir können sie gefügig machen, wenn es sein muss. Das einzige Problem, das ich sehe, ist sprachlicher Natur. Die Außenstehenden sprechen nicht die gleiche Sprache wie unsere Völker. 50
Das ist keineswegs ein Problem, Dahlaine, erklärte Veltan. leb habe mir schon einige Kulturen der Außenstehenden angeschaut, Zuerst habe ich ihr Plappern überhaupt nicht verstanden, doch ich habe eine Möglichkeit gefunden, diese Schwierigkeit zu umgehen. Ach, meinte Dahlaine. Das würde ich gern erfahren. Man muss einfach die Sprache außer Acht lassen und gleich in die Gedanken eindringen. Damit hat er Recht, Dahlaine, sagte Zelana. Mich hat es nicht viel mehr als eine Woche gekostet, die Sprache meiner Delphine zu lernen. Wenn man ihren Gedanken lauscht und nicht ihren Worten, geht das sehr schnell. Interessante Idee, befand Dahlaine. Unglücklicherweise sind Menschen dazu nicht in der Lage. Veltan zuckte mit den Schultern. Dann tue ich es für sie. Könntest du das ein wenig näher erklären, Veltan, fragte Aracia.
Es ist ein bisschen schwierig, liebe Schwester, erwiderte er. Bist du sicher, dass du dir die Einzelheiten anhören willst? Aracia schauderte. Erspare sie mir bitte. Sag mir nur, wie die Ergebnisse aussehen werden. Die Fremdlinge werden in ihrer Sprache sprechen, und unsere Völker in unserer. Doch keine der beiden Gruppen wird Kauderwelsch hören. Alle werden glauben, ihrer eigenen Sprache zu lauschen, und deshalb werden sie sich verstehen. Würde das auch zwischen verschiedenen Gruppen von Außenstehenden funktionieren, wollte Dahlaine wissen. Vermutlich müssen wir Leute aus verschiedenen Kulturen herholen. Auch das ist kein Problem, sagte Veltan. Wir müssen lediglich entscheiden, an welchem Ort sie sich untereinander verständigen sollen. Vielleicht sollten wir es auf das Land Dhrall beschränken. Die Fremdlinge sprechen alle möglichen verschiedenen Sprachen, und vielleicht sollten wir das so lassen. Wenn sie sich untereinander 51 verständigen, könnten sie Bündnisse schmieden, und am Ende würde uns das neue Schwierigkeiten bereiten. Damit könntest du Recht haben, räumte Dahlaine ein. Versuchen wir es und schauen wir, was dabei herauskommt. Ich bin gegen diesen törichten Vorschlag, wandte Aracia unnachgiebig ein. Wir können uns diese heulenden Barbaren nicht ins heilige Land holen! Wie heilig wird es wohl noch sein, nachdem die unheiligen Ungeheuer aus dem Ödland über die Berge gestiegen sind, fragte Dahlaine sie in anklagendem Ton. Die Außenstehenden sind ein wenig ungehobelt, das gebe ich wohl zu, aber sie sind vor allem Krieger. Unsere Völker haben bisher nicht einmal das Eisen entdeckt, sie benutzen immer noch Steinwerkzeuge. Die Völker der Welt draußen haben keine Ahnung von der großen Bedeutung Dhralls, doch sie wissen, wie man kämpfen muss. Die meiste Zeit lang üben sie das gegeneinander. Ich denke, wir sollten diese fremden Länder bereisen und diese Kriegervölker aufsuchen. Es gibt mehrere Kniffe, wie wir sie nach Dhrall locken können, und nachdem sie erst hier sind, wedeln wir ihnen mit Gold vor der Nase herum, bis ihr Interesse geweckt ist. Gold? Das ist doch nicht sehr nützlich, Dahlaine, wandte Veltan ein. Zwar hübsch, doch zu weich. Es hat keinen praktischen Wert, weil es fast so ist wie Blei, wenn man es richtig betrachtet. Die Fremdlinge mögen es, und wenn sie von den Bergen aus Gold im Ödland hören, werden wir nicht in der Lage sein, sie selbst mit Peitschen wieder zu vertreiben. Ich glaube, wir haben keine große Wahl. Unsere Völker sind einfach zu sanftmütig, um sich gegen die Armeen des Vlagh zu behaupten. Wir brauchen eine große Anzahl dieser - wie Aracia sagt - heulenden Barbaren, und wir brauchen sie bald. Ziehen wir also in die Welt draußen, und suchen wir nach Kriegern. Das ist die einzige Möglichkeit, wie wir Dhrall vor den Mächten des Vlagh retten können.
Viele, viele Meilen weit ritt Zelana auf einem Westwind von der Küste Dhralls über die Mutter Meer. Sie wusste, im Westen gab es Land - zumindest war das so gewesen, ehe sie sich in ihre rosa Delphine von der Insel Thurn verliebt hatte. Vielleicht war dieses Land ja wieder fortgewandert. Die Nacht senkte sich über die Mutter Meer, als Zelana tief unten etwas Sonderbares entdeckte. Es schien ein kleines Feuer zu sein, das auf der Oberfläche des Wassers trieb. Feuer und Wasser vertragen sich eigentlich nicht gut, wie Zelana wusste. Voller Neugier schwebte sie hinunter, um sich die Sache näher anzuschauen. Sie flog durch das Zwielicht, und als sie sich dem Antlitz von Mutter Meer näherte, sah sie, was sie auf den ersten Blick für ein schwimmendes Haus hielt. Dann erkannte sie, dass es sich vermutlich um eine größere Version der Kanus handelte, mit denen die Menschen ihrer Domäne aufs Wasser gingen und Fische jagten. Das Feuer, das sie gesehen hatte, brannte in einem kleinen Glaskasten auf dem hinteren Teil des übergroßen Kanus. Leise ließ sie sich auf das Wasser nieder und schlich sich heran. Der schwimmende Gegenstand war technisch ganz offensichtlich weiter entwickelt als alles, was die Menschen von Dhrall bauen konnten, doch hatte man es wohl aus demselben Grund konstruiert, aus dem die Menschen von Dhrall Kanus machten. Bei den Fremdlingen handelte es sich höchstwahrscheinlich um Fischer. Die rosa Delphine der Insel Thurn fraßen Fisch, und Eleria hatte ihr erzählt, Fisch schmecke recht angenehm - solange er frisch sei. Das übergroße Kanu, das Zelana entdeckt hatte, war riesig, lang und schmal, und die Fremdlinge hatten sogar ein Haus mit niedrigem Dach errichtet, in dem sie bei schlechtem Wetter Zuflucht fin52 53 den mochten. Aus irgendeinem Grund hatten sie in der Mitte einen großen Baumstamm aufgestellt. Als Zelana näher kam, bemerkte sie einen unangenehmen Geruch, der über dem gesamten Kanu hing. Dann traten zwei Menschengeschöpfe mit behaarten Gesichtern aus dem niedrigen Gebäude mit flachem Dach am hinteren Teil des Kanus. Beide waren sehr groß und muskulös, und ihre Kleidung bestand aus einer komischen Mischung aus Stoff und Leder. An den Gürteln trugen sie eine Art Waffen, die sofort Zelanas Aufmerksamkeit auf sich zog. Wenn diese Menschengeschöpfe nur Fischer wären, brauchten sie doch keine Waffen zu tragen. Das ließ darauf schließen, dass die zwei nicht hier draußen auf dem Antlitz von Mutter Meer waren, um nach Fisch zu jagen. Zelana zog sich aus dem Licht zurück und befolgte Veltans Anweisung, wie man die Sprache der Fremdlinge verstehen konnte. Scheint eine angenehme Nacht zu werden, Käpt'n, sagte das eine der Geschöpfe gerade. Aye, antwortete das andere barsch, und von mir aus kommt das nicht zu früh. Ich habe die Nase von dem schlechten Wetter hier gestrichen voll. Zelana war durchaus überrascht, wie gut sich Veltans Theorie in die Praxis umsetzen ließ. Für gewöhnlich nahmen Veltans Experimente nicht den Ausgang, den er sich wünschte. Sie konnte die beiden Fremdlinge ohne Schwierigkeiten verstehen. Du solltest vielleicht in den Ausguck steigen, Ochs, schlug derjenige vor, der Käpt'n genannt wurde. Jetzt, wo das Wetter besser geworden ist, sind sicherlich auch andere Schiffe hier in der Gegend unterwegs. Wir segeln schließlich mit der Seemöwe nicht zum Spaß herum. Aye, Käpt'n, sagte der Riese namens Ochs. Die trogitischen Schiffe bleiben gewöhnlich nahe an der Küste, aber der Sturm hat sie vielleicht ins Tiefe Wasser verschlagen. Wenn wir Glück haben, 54
können wir uns einen hübschen Berg trogitisches Gold holen, während sie hier außer Sichtweite des Landes herumirren. So langsam fängst du an zu denken wie ein richtiger Maag, Ochs, sagte Käpt'n und grinste böse dazu. Die Aussicht darauf, trogitische Schiffe wie Äpfel von einem Baum zu pflücken, lässt ein warmes Feuer in meinem Bauch lodern. Morgen früh setzen wir die Mannschaft an die Arbeit, die Segel zu flicken und die Schäden zu beseitigen, die der Sturm in der Takelage angerichtet hat. Einige Male wären wir ja beinahe gekentert. Zelana saß mit gekreuzten Beinen auf der Oberfläche von Mutter Meer und dachte über einige interessante Möglichkeiten nach. Die beiden Fremdlinge, Ochs und Käpt'n, hatten das Kanu als Schiff bezeichnet, und in der Umgebung gab es offensichtlich noch andere Schiffe. Relativ klar war auch, dass diese Menschengeschöpfe, die sich selbst Maags nannten, nicht wegen Fisch auf dem Antlitz von Mutter Meer herumfuhren. Zweifellos suchten sie nach den Schiffen anderer Fremdlinge, um ihnen Gold wegzunehmen. Demzufolge hatte Dahlaine die Fremdlinge richtig eingeschätzt. Sie waren tatsächlich an Gold interessiert, obwohl Zelana nicht verstand, aus welchem Grund. Die Seemöwe, so schien es, war eine zu gute Gelegenheit, um sie verstreichen zu lassen. Da Zelana jetzt die Sprache der Fremdlinge verstehen konnte, würde sie, wenn die Dinge so liefen, wie es sich der mit dem Namen Käpt'n erhoffte, in der Lage sein, die Menschen, die sich selbst Maags nannten, bei ihrem Verhalten zu beobachten. Sollten sie sich als geeignet erweisen, würde ihr Schiff die Sache leicht machen. Ein Wort mit der Mutter Meer konnte für eine Strömung sorgen, die die Seemöwe zur Westküste des Landes Dhrall trieb, und zwar fast so schnell, wie der Wind ein Staubkörnchen trug. Je länger sie darüber nachdachte, desto mehr gelangte Zelana zu der Überzeugung, dass diese Maags genau das waren, wonach sie 55
suchte. Sie würde gut aufpassen und zuhören, und das erforderte vermutlich, dass sie sich im Inneren des schwimmenden Hauses namens Seemöwe aufhielt. Dies stellte sie vor kein großes Problem. Sie hatte die Fähigkeit, sich unauffällig zu machen, während sie lauschte und beobachtete. Und falls sich die Maags als geeignet erwiesen ... Sie alle hatten besondere Namen, die sehr anschaulich, wenn auch nicht immer schmeichelhaft waren. Derjenige, den sie respektvoll Kapitän oder Käpt'n nannten, hieß Sorgan Hakenschnabel. Zelana, die wie eine Fliege über die Decke des niedrigen Gebäudes am hinteren Teil der Seemöwe schlich, bemerkte, dass Sorgan tatsächlich eine Nase hatte, die an den Schnabel eines Adlers erinnerte - oder an den eines Aasgeiers. Der mit dem Namen Ochs hatte Schultern wie ein Bulle, und dann gab es noch einen, der Befehle erteilte, und der hieß Kryda Schinkenpranke, allerdings hätte Bärentatze genauso gut zu ihm gepasst. Schinkenpranke, so fiel Zelana auf, gab seine Befehle mit der Faust, und niemand schien willens, sie zu ignorieren. Zu jenen, die Befehle von Käpt'n, Ochs oder Schinkenpranke entgegennahmen, gehörte der Fette, der das Essen zubereitete, Ado der Langsame, der fast so klug wie ein Baumstumpf zu sein schien, und Kaldo Baumwipfel, der sehr groß war. Dann gab es noch Großfuß, Bockzahn, Henkelohr und einen kleinen, drahtigen Kerl, den sie Hase nannten. Der Baum, der aus der Mitte der Seemöwe wuchs, war ein so genannter Mast, und das Tuch aus schwerem Stoff, das die Maags am Mast befestigten, hieß Segel. Zelana begriff die Bedeutung des Segels nicht, bis sie sah, wie die Maags es am nächsten Tag setzten, um die Morgenbrise einzufangen. Die Maags, so schien es, waren klug genug, um den Wind die meiste Arbeit für sie machen zu lassen. Zelana liebte den Wind ebenfalls, daher gefiel ihr diese Idee. Es war irgendwann am Vormittag, als Ochs rief: Segel in Sicht, Käpt'n, und sofort entwickelte sich auf dem Schiff hektische Betriebsamkeit. Die Maags holten ihre Waffen hervor - Metallmesser mit langen Klingen, die sie Schwerter nannten, große Äste, Speere und verschiedene andere Gerätschaften, allesamt dazu angefertigt, anderen Menschen wehzutun. Die Seemöwe schoss über das Wasser und holte bald ein anderes Schiff ein, und die Maags standen an der Reling der Seemöwe, schwangen die Waffen und schrien den Männern auf dem anderen Schiff Drohungen zu. Dann sprangen die Menschen auf dem anderen Schiff zu Zelanas Überraschung alle in die Mutter Meer und versuchten so schnell sie konnten fortzuschwimmen. Die Maags vertäuten die Seemöwe mit dem anderen Schiff und trugen alle möglichen Gegenstände auf ihr schwimmendes Heim. Nachdem sie damit fertig waren, schnitten sie die Taue durch, die die beiden Schiffe zusammenhielten. Sollen wir das Schiff in Brand stecken, Käpt'n, fragte Ochs Hakenschnabel erwartungsfroh. Ich denke nicht, antwortete Sorgan. Mögen sich die Trogiten ihr Schiff zurückholen. Wir haben, was wir wollten. Vielleicht kehren sie um und laden das Schiff noch einmal voll. Dann können wir sie erneut ausrauben. An diesem Punkt dachte Zelana über ihre Möglichkeiten nach. Die Maags der Seemöwe hatten darüber gesprochen, dass sie schon mehrmals Siedlungen entlang der Küste überfallen hatten, also konnten sie offensichtlich auch an Land kämpfen und nicht nur auf dem Antlitz von Mutter Meer. Zudem prahlten sie gern mit ihren verschiedenen Abenteuern. Falls eine plötzliche Meeresströmung sie rein zufällig ins Land Dhrall verschlug und die Mannschaft ebenso zufällig auf eine große Menge Gold stieße, würden sie zu Hause mit ihrem Glück angeben, und nicht lange darauf würden 56 57 Hunderte von Maagschiffen zur Küste von Dhrall aufbrechen. Nachdem sie dort angelangt wären, würde schon eine geringe Beeinflussung genügen, um sie dazu zu bringen, die Heerscharen des Vlagh anzugreifen. Das Wort Gold weckte zweifellos die ungeteilte Aufmerksamkeit der Maags. Zelana übermittelte diesen Gedanken der Mutter Meer und machte ihr einen Vorschlag. Mutter Meer hielt die Idee für recht amüsant. Nicht lange darauf lag die Seemöwe friedlich im Wind und bewegte sich ungefähr in südöstliche Richtung. Dann packte eine plötzliche Turbulenz das Schiff und schob es nach Osten. Hakenschnabel, Ochs und Schinkenpranke brüllten einander widersprechende Befehle, und ihre Untergebenen versuchten verschiedene Dinge zur gleichen Zeit zu tun, doch nichts, was sie versuchten -und nichts, was sie hätten versuchen können -, führte zu einem Ergebnis. Die Seemöwe bewegte sich nach Osten, manchmal seitlich, manchmal vorwärts, manchmal auch rückwärts. Mutter Meer hatte sie in sehr, sehr festem Griff. Zelana ritt auf dem Wind hoch über ihnen und schaute mit einer gewissen Zufriedenheit zu, wie die Seemöwe unaufhaltsam auf das Land Dhrall zugetrieben wurde. Ob es ihnen gefiel oder nicht -Hakenschnabel und seine Mannschaft hatten sich gerade mit den Mächten des Guten verbündet, die in unendlichem Widerstreit mit dem Bösen des Vlagh standen.
Die Seefahrer
Obwohl er es bis zu seinem letzten Atemzug leugnen würde, war es so etwas wie reiner Zufall, der zu der Entdeckung des Landes Dhrall durch den Kapitän der Seemöwe, Sorgan Hakenschnabel, und seine Mannschaft führte, wenn man bei der Wahrheit bleiben wollte. Wie alle Welt weiß, ist Sorgan Hakenschnabel aus dem Lande Maag der größte Kapitän aller Zeiten. Kein Mann kann ihm das Wasser reichen, wenn es um die Vorhersage des Windes, des Wetters, der Gezeiten oder auch nur den Wert der Fracht irgendeines Schiffes geht, das der Seemöwe unglücklicherweise auf hoher See begegnet. Die Menschen im Lande Maag sind ein wenig größer als die Menschen aus den Ländern weiter im Süden, und sie sind schon früh in ihrer Geschichte zur See gefahren. Die Berge von Maag reichen bis zum Meer, und die Hänge zeigen gewissermaßen seewärts und flüstern stumm: Geht dorthin. Berge sind gut für die Jagd, aber nicht sehr gut für die Landwirtschaft, also bewirtschafteten die Menschen von Maag stattdessen das Meer - und sie fuhren reiche Ernte ein. Angelhaken lassen sich aus Eisen viel leichter schmieden als Pflüge, und mit Netzen ist der Ertrag größer als mit Sicheln. Außerdem müssen die Menschen, die sich vom Meer ernähren, nicht monatelang untätig herumsitzen und warten, während ihre Ernte heranwächst. Die Ernte des Meeres ist ständig da, und sie kann zu jeder Jahreszeit eingefahren werden. Die Menschen des Landes Maag entwickelten in ihrer Geschichte eine drollige Eigenart. Häufig benutzten sie lieber Beschreibun61 gen statt Namen. Deshalb gab es oft mehrere Großfußs oder Bockzahns in einem Maagdorf, auch Schlauköpfe, Fette und Taubenzehen. Dazu gesellten sich später gewöhnlichere Namen, nachdem die Maags in Kontakt mit den kultivierteren Menschen des Südens getreten waren. Sorgan Hakenschnabel war stolz auf seinen Namen, da er andeutete, dass andere ihn für einen Adler hielten, den edelsten aller Vögel. Schon früh in seinem Leben fuhr er zur See, und sein erster Kapitän war der legendäre Dalto Großnase, ein Mann, dessen Name Schrecken im Herzen jedes trogitischen Kapitäns säte, der das nördliche Meer befuhr. Nun sind die Trogiten ein habgieriges Volk, das sich nur zu gern die Dinge unter den Nagel reißt, die rechtmäßig anderen gehören. Irgendwann in der ferneren Vergangenheit entdeckte ein Forscher der Trogiten auf der Suche nach Lagerstätten von Zinn oder Kupfer eine bestimmte Region weit im Westen des Landes Shaan, das sich westlich vom Lande Maag befindet. Die Maags gestanden dem trogitischen Forscher durchaus Mut zu, denn die Eingeborenen des Landes Shaan verspüren die moralische Verpflichtung, alles - und jeden - zu essen, den oder
das sie getötet haben. Getötet werden ist eine Sache, gegessen werden aber eine ganz andere... Der trogitische Forscher erkaufte sich die Freundschaft der Wilden von Shaan mit ein wenig wertlosem Plunder, und sie führten ihn in ein Gebiet, wo die Flüsse sandigen Grund haben. Viele Flüsse haben ein Bett aus Sand, doch der Sand in den Flüssen des inneren Shaan enthält überwiegend Gold. Die Neuigkeit mit dem Gold in den Flüssen von Shaan verbreitete sich rasch, und Abenteurer aus aller Welt eilten herbei, um sich ihren Anteil zu sichern. Nach einigen Jahren jedoch verbreitete sich eine weitere Neuigkeit, nämlich die, dass die Abenteurer, die ins Land Shaan zogen, nie zurückkehrten. Die Begeisterung ließ spürbar nach. 62 Die Quelle des trogitischen Goldes war wohl bekannt; die Gefahren, die mit der Suche danach verbunden waren, sogar noch besser. Gold war jedoch wertlos, solange der Besitzer es nicht irgendwohin tragen kann, wo er eine Möglichkeit zum Ausgeben hat. Die Trogiten fanden rasch eine Lösung für dieses Problem: Sie bauten Schiffe und beförderten ihren Reichtum ins Land Trog. Es handelte sich um große Schiffe mit breitem, tiefem Rumpf, die sich eher über das Wasser wälzten, anstatt richtig zu segeln. Maagschiffe dagegen waren schlank und schnell. Darüber hinaus neigten die wohlhabenden Trogiten zum Geiz, und daher stellten sie keine Wächter ein, die ihre Schatzschiffe verteidigten. Die Maags gaben zu diesem Zeitpunkt das Fischen mehr oder weniger auf, denn: Die Trogiten gewannen Gold aus den Flüssen von Shaan, schleppten es zur Küste und luden es auf ihre schwankenden Schatzschiffe. Dann segelten diese Schatzschiffe auf das nördliche Meer hinaus, wo die Maags ihnen auflauerten. Sorgan Hakenschnabel war von Kapitän Großnase hervorragend darin ausgebildet worden, wie man die trogitischen Schatzschiffe von ihrem überflüssigen Gewicht befreite. Als junger Mann vergeudete er seine Einkünfte natürlich bei lärmenden Festen; junge Seeleute widmen sich mit größter Begeisterung dem Feiern. Doch nach einigen Jahren erkannte Sorgan, dass der Kapitän des Schiffes viel, viel mehr von der Beute bekam als die gewöhnlichen Seeleute. Daher begann er, die Hälfte seiner Einkünfte zu sparen, und schon bald hatte er genug beisammen, um sich sein eigenes Schiff, die Seemöwe, zu kaufen. Die Seemöwe war nicht besonders seetüchtig, als Sorgan sie von dem barschen alten Piraten kaufte, den er zufällig in einer Spelunke im Maaghafen Weros kennen gelernt hatte. Ihre Segel waren zerfetzt, und sie hatte etliche Lecks. Doch zu jenem Zeitpunkt war sie das Beste, was Sorgan sich leisten konnte. Wäre der alte Mann, dem sie gehörte, während des Handels nüchtern gewesen, hätte er ver63 mutlich mehr Geld verlangt. Aber sein Geldbeutel war leer, und Sorgan hatte klugerweise sein letztes Angebot so lange hinausgezögert, bis dem alten Kerl die Zunge vor Durst aus dem Mund hing. Derweil schüttelte er häufig seinen eigenen Geldbeutel, während sie feilschten, wobei er vorgab, dass es sich lediglich um eine gedankenlose Gewohnheit handelt. Das musikalische Klingeln des Geldes spielte keine kleine Rolle dabei, dass der betrunkene alte Mann schließlich Sorgans letztes Angebot annahm. Nachdem Sorgan die Seemöwe gekauft hatte, überredete er zwei seiner früheren Schiffskameraden, Ochs und Kryda Schinkenpranke, als erster und zweiter Maat bei ihm anzuheuern. Ihr Rang bedeutete zu jener Zeit noch nicht allzu viel, denn Sorgan brauchte zunächst vor allem Hilfe, um die Seemöwe seetüchtig zu machen. Die drei arbeiteten ein Jahr an den Reparaturen, und es dauerte deshalb so lange, weil ihnen häufig das Geld ausging. Wann immer es wieder so weit war, mussten sie ihre Arbeit unterbrechen und sich in den Straßen am Wasser auf die Suche nach betrunkenen Seeleuten machen, die noch ein paar Münzen in ihren Geldbeuteln hatten. Am Ende hatten sie die Seemöwe repariert, und erneut mussten die drei durch den Hafen ziehen - diesmal, um eine Mannschaft zu suchen. Die Seemöwe war ein richtiges Maaglangschiff, hundertzehn Fuß lang und fünfundzwanzig Fuß breit, und deshalb brauchte sie eine richtige Mannschaft. Sorgan hatte sein Bestes getan, um die Größe der Mannschaft auf ein Minimum zu beschränken, doch achtzig Mann mussten es schon sein. Er hatte überlegt, ob er nicht bei den Ruderern einsparen konnte, aber Ochs und Schinkenpranke hatten heftig protestiert und aufgezeigt, dass ein Mangel an Ruderern die Geschwindigkeit beeinträchtigen würde, und ein schnelleres Schiff würde mehr Geld einbringen. Und so streifte die Seemöwe schließlich über das Wasser des Nordmeeres und hielt nach geeigneten Opfern Ausschau. Es war im Mittsommer eines ansonsten nicht sehr erwähnenswerten Jahres, als die Seemöwe in einen dieser Sommerwinde geriet, die für gewöhnlich nicht lange andauern - zwei Tage ungefähr, aber bestimmt nicht länger als drei. Dieser jedoch ließ nicht nach, und die Mannschaft der Seemöwe musste das schlechte Wetter fast eine Woche ertragen und hilflos mit ansehen, wie der heulende Sturm die Takelage zerfetzte und das Segel zerriss. Als der Orkan vorüber war, arbeitete die Mannschaft hart und lange, um das Schiff auch nur annähernd wieder seetüchtig zu machen. Kapitän Hakenschnabel nahm es gelassen hin. Kein Schiff segelt stets auf einem sonnigen Meer, und schlechtes Wetter muss man eben durchstehen. Natürlich braucht der Kapitän eines Schiffes selten eigenhändig die Takelage zu reparieren oder die Segel zu flicken. Diese Aufgaben sind Pflicht der gewöhnlichen Seeleute, und so zog sich Kapitän Hakenschnabel in seine Kabine zurück, um ein wenig Schlaf nachzuholen.
Dazu kam es allerdings nicht. Trotz der Tatsache, dass die Seemöwe viele Meilen vom Land entfernt war, hatte eine verflixte Fliege irgendwie den Weg in Hakenschnabels Kabine gefunden, und das Brummen der Flügel genügte, um den Kapitän wach zu halten. Wenn die Fliege nicht umherschwirrte, war es sogar noch schlimmer. Er spürte ihre Augen auf sich liegen, fühlte, wie sie jede seiner Bewegungen verfolgte, und das war noch unangenehmer als das hirnlose Brummen. Wie sehr er sich auch anstrengte, Sorgan Hakenschnabel konnte nicht schlafen. In diesem Jahr schien nichts so zu laufen, wie es sollte. Nachdem Takelage und Segel repariert waren, machte die Seemöwe wieder Fahrt, und sie segelte vor dem Wind ein gutes Stück von der 64 Küste Maags entfernt, als Ochs ein trogitisches Handelsschiff am Horizont entdeckte. Segel in Sicht, Käpt'n, brüllte er mit einer Stimme, die Glas noch in einer Meile Entfernung hätte splittern lassen. Wo, wollte Hakenschnabel wissen. Zwei Grad steuerbord, Käpt'n, rief Ochs. Hakenschnabel überließ das Ruder Kryda Schinkenpranke und eilte zu Ochs an den Bug. Zeig es mir, verlangte er von seinem stämmigen ersten Maat. Ochs zeigte es ihm. Ganz schöne Entfernung, meinte Hakenschnabel zweifelnd. Die Ruderer werden sowieso schon fett, Käpt'n, erwiderte Ochs. Ein hübscher Spurt würde sie ein bisschen in Bewegung bringen, auch wenn wir das Schiff nicht erwischen. Damit hast du Recht, Ochs, stimmte Sorgan zu. Also gut, versuchen wir mal, ob wir das Schiff schnappen können. Es sieht aus wie ein Trogit, also würde es sich lohnen. Aye, Käpt'n, stimmte Ochs zu. Dann hob er die Stimme. Ruderer auf die Plätze, donnerte er. Es gab ein wenig Geknurre, doch die kräftigen Ruderer zogen ihre Angelhaken ein oder legten die Würfel zur Seite und eilten wie ein Mann zu ihren Plätzen unter Deck. Mehr Segel, schrie Ochs den Männern in der Takelage zu. Dann blinzelte er nach vorn. Ich würde die Entfernung auf anderthalb Meilen schätzen, Käpt'n, sagte er, und kein trogitisches Schiff hält mit der Seemöwe mit, wenn sie unter vollen Segeln steht und die Ruderer ihre Heuer verdienen. Wir sollten es vor Sonnenuntergang erreicht haben. Warten wir's ab, Ochs, warten wir's ab. Sorgan genoss eine schnelle Fahrt, und das schwankende trogitische Schiff gab ihm einen Vorwand, die Seemöwe ein wenig fliegen zu lassen. Falls dieser belebende Spurt auch sonst nichts einbrachte, so würde er doch die 66 Erinnerung an den verfluchten Sommersturm und die Gereiztheit vertreiben, die diese verflixte Fliege an der Decke seiner Kabine bei ihm hervorgerufen hatte. Hakenschnabel war nicht übermäßig abergläubisch, aber das Gefühl, beobachtet zu werden, hatte ihn nervös gemacht. Das trogitische Schiff setzte ebenfalls mehr Segel, ein deutlicher Hinweis darauf, dass die Mannschaft die Seemöwe bemerkt hatte. Doch das breite Handelsschiff hatte keine Chance gegen den langen und schlanken Verfolger, und am späten Nachmittag hatte die Seemöwe es fast erreicht. Dann holten die Seeleute, die sonst nicht beschäftigt waren, die Waffen auf das Hauptdeck, stellten sich an die Reling, schwangen die Waffen und übten ihren Schlachtruf. Wie gewöhnlich verließen die Trogiten zu diesem Zeitpunkt ihr Schiff. Es war so gewöhnlich, dass es fast schon ein Ritual war. Die Seemöwe wartete kurz, um den trogitischen Seeleuten Zeit zu lassen, über die Reling zu springen und von den beiden Schiffen fortzuschwimmen, dann legten die Maags längsseits an und stahlen alles von Wert, trugen ihre Beute an Bord der Seemöwe und zogen sich zurück, damit die Trogiten wieder auf ihr Schiff klettern konnten, ehe jemand ertrank. Es handelte sich um ein zivilisiertes Arrangement. Niemand wurde verletzt, kein Schiff wurde beschädigt, und man trennte sich beinahe in Freundschaft. Hakenschnabel lächelte schwach. Im letzten Sommer hatte er ein trogitisches Schiff so oft ausgeraubt, dass er den Kapitän mittlerweile mit Namen kannte. Sollen wir das Schiff in Brand stecken, Käpt'n, fragte Ochs Hakenschnabel erwartungsfroh. Ochs hatte aus irgendeinem Grund seine Freude daran, Schiffe zu verbrennen. Ich denke nicht, antwortete Sorgan. Mögen sich die Trogiten ihr Schiff zurückholen. Wir haben, was wir wollten. Vielleicht kehren sie nach Shaan zurück und laden das Schiff noch einmal voll. Dann können wir sie erneut verfolgen und ausrauben. Es war doch immer wieder das Gleiche. 67 Nachdem die Maags das trogitische Schiff weit hinter sich gelassen hatten, geriet die Seemöwe in einen Wind, der sie nach Südosten trieb - und das war das Ereignis, welches das wie gewöhnlich an der Sache änderte. Jeder Seemann weiß um die Flüsse im Meer, doch anders als bei den Flüssen an Land, kann man jene auf dem Meer nicht sehen. Wasser ist schließlich Wasser, und die Oberfläche des Meeres sieht überall gleich aus, ob es nun unter den Wellen schnell fließt oder steht. Die Seemöwe bewegte sich friedlich nach Südosten, die Mannschaft war damit beschäftigt, die Beute aufzuteilen, als es einen plötzlichen Ruck gab und die Seemöwe abrupt seitlich in Richtung Nordosten gedrückt
wurde. Der erste Maat Ochs kämpfte mit dem Ruder, das zu brechen drohte. Wir sitzen in der Patsche, Käpt'n, rief er. Gerade hat uns eine Meeresströmung erfasst! Ruderer auf die Posten, brüllte Hakenschnabel, während Schinkenpranke schrie: Segel einholen! Sofort herrschte große Betriebsamkeit auf Deck, doch nichts, was sie unternahmen, schien irgendeine Wirkung zu zeigen. Das hat keinen Zweck, Käpt'n, rief Ochs. Diese Strömung hat uns und lässt uns nicht los. Wir können nicht mehr steuern! Vielleicht wird die Strömung schwächer, wenn die Gezeiten wechseln, hoffte Schinkenpranke. Darauf würde ich nicht wetten, erwiderte Ochs und bewegte das Ruder vor und zurück, um ein Gefühl für den Strom zu bekommen. Diese Strömung ist schneller als alles, was ich je gesehen habe. Ich glaube, mit den Gezeiten hat es wenig zu tun. Möglicherweise mit der Jahreszeit, aber bis zum Herbst ist noch eine lange Zeit, und wir sind tausend Meilen von daheim fort, ehe der Winter kommt. Wir kommen jedenfalls richtig gut voran, bemerkte Schinkenpranke. Versuchst du jetzt, komisch zu sein, wollte Ochs gereizt wissen. 68 Ich wollte es nur mal erwähnen, gab Schinkenpranke zurück. Soll ich die Ruderer von ihren Posten abziehen, Käpt'n? Nein, lass sie das Schiff drehen, damit wir mit dem Bug voran schwimmen. Wenn es weiterhin seitwärts treibt, kann uns bereits die kleinste Welle kentern lassen. Anschließend sollen sie die Ruder bereithalten. Wenn wir auf eine Insel oder ein Riff zutreiben, müssen sie sich in die Riemen legen und uns Freirudern. Aye, Käpt'n, wenn du meinst, erwiderte Schinkenpranke und salutierte gewissermaßen, indem er an seiner Stirnlocke zupfte. Es kam allerdings ganz anders. Die Seemöwe fuhr die nächsten Tage in nordöstliche Richtung dahin und kam immer weiter und weiter in unbekannte Gewässer. Die Mannschaft wurde ängstlicher, während die Tage dahinzogen. Seit über zwei Wochen hatten sie kein Land mehr gesehen, und abgedroschene alte Geschichten über Seeungeheuer, den Rand der Welt, Dämonen und riesige Strudel machten die Runde. Ochs und Schinkenpranke versuchten diese Geschichten zu unterbinden, hatten dabei jedoch keinen Erfolg. Dann, an einem hellen Sommernachmittag, ließ der Strom plötzlich ohne Vorwarnung nach, kam zum Stehen und ließ die Seemöwe friedlich auf dem flachen, leeren Meer liegen. Was machen wir jetzt, Käpt'n, fragte Schinkenpranke. Ich denke noch drüber nach, erwiderte Sorgan. Hetz mich nicht. Er sah Ochs an. Wie viel Trinkwasser haben wir noch, erkundigte er sich. Vielleicht für eine Woche - wenn wir es rationieren. Wie steht es mit Essen? Ist ein bisschen knapp, Käpt'n, berichtete Ochs. Der Fette beschwert sich schon seit ein paar Tagen. Er ist bestimmt nicht der beste Koch der Welt, aber er weiß, wie man Bohnen und Salzfleisch mit Tang streckt, wenn es eng wird. Ich würde sagen, das Wasser ist unser Hauptproblem. 69 Vielleicht regnet es ja, hoffte Schinkenpranke. Vielleicht lässt sich nicht so gut trinken, meinte Ochs düster. Besser wäre es, wenn wir Land finden, und zwar schnell. Sonst ... Er ließ unausgesprochen, was er sagen wollte, aber die anderen hatten auch so verstanden. An den nächsten Tagen gab es auf der Seemöwe nur schmale Rationen, doch an einem stahlgrauen Morgen, ehe die Sonne aufging, rief Kaldo Baumwipfel, der größte Mann an Bord, Land in Sicht! von der Marsstenge herunter. Ein kleinerer Mann hätte den flachen Klecks am östlichen Horizont vielleicht übersehen, doch Baumwipfel mit seinen fast sieben Fuß entdeckte ihn. Bist du sicher, rief Schinkenpranke dem schlaksigen Ausguck zu. Ganz sicher, rief Baumwipfel zurück. Zwei Strich backbord, vielleicht drei - oder vier - Meilen entfernt. Weck Ochs, sagte Schinkenpranke zu Hase, dem kleinen, drahtigen Seemann, der in der Nähe stand. Er lässt sich nicht gern so früh am Morgen wecken, gab Hase zurück. Dann wird er immer so grantig. Tritt ihn einfach an den Fuß und lauf weg, schlug Schinkenpranke vor. Der erwischt dich nie. So hast du doch deinen Namen bekommen, oder? Ich kann sogar meinem eigenen Schatten davonlaufen, prahlte Hase, aber wenn ich stolpere und falle, wird Ochs mich packen und den Rest des Tages auf mir herumtrampeln. Steig auf den Mast, riet ihm Schinkenpranke. Ochs kann 70
nicht besonders gut klettern. Aber er muss wissen, dass wir Land gesichtet haben. Lieber nicht, Schinkenpranke. Schinkenpranke ballte die riesige Hand zur Faust und hielt sie Hase vor die Nase. Ich würde mir noch einmal überlegen, was ich lieber tue, Hase, sagte er drohend. Jetzt hör auf zu meutern und tu, was ich dir gesagt habe. Reg dich doch nicht gleich auf, mummelte Hase kleinlaut und wich zurück. Ich geh ja schon. Ochs hingegen überraschte Hase mit einem plötzlichen Begeisterungssturm. Natürlich brauchte Ochs seiner Größe wegen viel zu essen und zu trinken, und so stimmte ihn die unerwartete Sichtung von Land fröhlich. Die Seemöwe war wenigstens ebenso schnell wie ihr Namensvetter, und bis zum Sonnenaufgang war die Küste
vor ihnen deutlich zu erkennen. Geh zum Käpt'n, Hase, und sag ihm, wir haben Land gesichtet, befahl Ochs. Warum ich, beschwerte sich Hase. Weil ich es gesagt habe. Steh nicht herum und widersprich, Hase. Geh einfach. Aye, erwiderte Hase mürrisch. Er beschwert sich aber häufig, nicht, merkte Schinkenpranke an. Dafür rennt er schnell, gab Ochs zurück. Er ist ein wenig ängstlich, das ist alles. Er ist immer auf der Hut, aber wenn du ihn ein bisschen unter Druck setzt, macht er, was du ihm sagst - früher oder später. Kapitän Hakenschnabel kam mit erleichterter Miene an Deck. Hat schon jemand Städte gesichtet, erkundigte er sich. Bislang nicht, Käpt'n, antwortete Ochs. Wenn wir uns mit Vorräten versorgen wollen, müssen wir sie uns wahrscheinlich selbst erjagen, ohne Hilfe. 71 Am besten suchen wir uns zuerst einen Fluss oder einen Bach, entschied Hakenschnabel. Ehe wir auf die Jagd gehen, sollten wir die Wasserfässer füllen. Hunger ist schlimm, aber Durst ist noch schlimmer. Allerdings nicht sehr viel schlimmer, meinte Ochs. Wenn mein Magen noch lauter knurrt, werden die Einheimischen hier wahrscheinlich denken, ein Gewitter zöge auf. Würdet ihr euch bitte einmal die Größe dieser Bäume anschauen, rief Schinkenpranke und starrte zur dicht bewaldeten Küste hinüber. Solche Bäume habe ich noch nie gesehen! Schinkenpranke war möglicherweise leicht erregbar, doch diesmal verstand Sorgan die Sorge seines zweiten Maats. Der Wald, der hinter dem Strand begann, bestand aus Bäumen, deren Stämme zwanzig bis dreißig Fuß Durchmesser hatten und die sich wie riesige Säulen zu einer Höhe von wenigstens hundert Fuß erhoben, ehe der erste Ast aus ihnen spross. Sie wirken ziemlich groß, stimmte Ochs zu. Ziemlich}, meinte Schinkenpranke. Aus einem von diesen Bäumen könntest du zwei Seemöwen bauen und hättest immer noch genug Holz fürs Frühstück übrig. Bäume können wir nicht essen, entgegnete Sorgan. Füllen wir die Wasserfässer, und dann jagen wir uns was zu essen, ehe Ochs anfängt, Segel und Anker zu verspeisen. Die Seemöwe segelte eine Meile oder weiter an der bewaldeten Küste entlang, als Ochs einen breiten Bach entdeckte, der in eine kleine Bucht mündete. Schinkenpranke schwenkte das Ruder hart herum und setzte das Schiff auf einen Sandstreifen. Danach ging der größte Teil der Mannschaft daran, die Wasserfässer zu füllen, während Schinkenpranke eine kleine Jagdgesellschaft in den Wald führte, um nach Tieren zu suchen. Die Jagdgesellschaft kehrte bei Sonnenuntergang mit leeren 72
Händen zurück. Wir haben einige Fährten gefunden, Käpt'n, berichtete Schinkenpranke, und auch ein paar ausgetrampelte Wildpfade, aber wir sind über nichts gestolpert, das einen Pfeil wert gewesen wäre. Für heute Abend haben wir genug, nehme ich an, meinte Sorgan. Der Fette hat die Angelschnüre ins Wasser gehängt, nachdem wir die Seemöwe auf den Sand gesetzt haben, und einige große Fische an Land gezogen. Fisch schmeckt mir nicht so besonders gut, Käpt'n, maulte Schinkenpranke. Immer noch besser als Blätter und Zweige, meinte Sorgan achselzuckend. Habt ihr zufällig irgendwelche Spuren von Menschen im Wald gefunden? Nichts, das eindeutig wäre, Käpt'n. Keine gefällten Bäume oder Brücken oder sonstiges. Hier mag es vielleicht Menschen geben, aber im Wald haben sie keine Spuren hinterlassen. Ich weiß nicht, ob es eine gute Idee ist, die Seemöwe über Nacht auf dem Strand liegen zu lassen. Vielleicht sollten wir besser draußen auf dem Wasser ankern - nur der Sicherheit halber. Wenn hier zufällig doch Menschen leben, sollten wir doch erst etwas über sie in Erfahrung bringen, ehe wir die Hosen herunterlassen. Und auf jeden Fall möchte ich nicht der Hauptgang bei einem Festmahl werden. Guter Einwand, stimmte Sorgan zu. Kümmere dich drum. Die Seemöwe zog während der nächsten Tage vorsichtig an der Küste nach Süden. Die Mannschaft entdeckte Wild - wilde Kühe und die verschiedensten Hirscharten -, aber sie stieß nicht auf Menschen. Das ließ auf der Seemöwe eine gewisse gereizte Stimmung aufkommen. Es muss doch hier irgendwo Menschen geben, Käpt'n, sagte Ochs eines Nachmittags, eine Woche, nachdem sie Land gesichtet hatten. 73 Warum, fragte Hakenschnabel. Überall gibt es Menschen, Käpt'n - sogar an der Küste von Shaan. Hoffentlich sind sie nicht wie die Shaaner - wenn es denn hier Menschen gibt, warf Schinkenpranke ein. Ich könnte jedenfalls noch lange ohne Menschen auskommen, die andere Menschen fressen. Möglicherweise sind wir einfach zu weit im Norden angekommen, meinte Sorgan. Es ist noch Sommer, daher wissen wir ja nicht, wie die Winter hier sind. Die Menschen hier leben vielleicht einfach weiter im Süden. Die Seemöwe segelte weiter nach Süden entlang der leeren Küste, und eine Stunde oder etwas später rief Baumwipfel etwas von der Marsstenge herunter. He, Käpt'n, rief er. Vor uns liegt ein Dorf. Ich kann zwar keine
Menschen sehen, doch aus einem der Häuser steigt Rauch auf. Siehst du, Ochs, meinte Sorgan. Du machst dir einfach zu viele Gedanken. Er blickte zur Marsstenge hoch. Wie weit entfernt, Baumwipfel, rief er zurück. Auf der anderen Seite von der Sandbank vor uns, rief Baumwipfel herunter. Ich sehe ein paar Boote auf dem Strand, doch niemand ist in der Nähe. Wir müssen sie verscheucht haben, sagte Hakenschnabel. Ich denke, wir sollten uns ganz sachte nähern. Wir wollen schließlich niemanden nervös machen. Er drehte sich um. He, Hase, rief er. Aye, Käpt'n, erwiderte der kleine Mann. Hol mal dein komisches Horn und Stoß ein paar Mal hinein. Vor uns liegt ein Dorf, und ich würde den Leuten dort gern mitteilen, dass wir kommen - und zwar in friedlicher Absicht. Aye, Käpt'n, sagte Hase. Er ging kurz nach unten und kehrte mit einem großen geschwungenen Kuhhorn zurück. An dessen 74 Mundstück setzte er die Lippen und erzeugte ein langes, trauriges Blöken, das vom dunklen Wald widerhallte. Hakenschnabel und die anderen lauschten genau, doch gab es keine Antwort. Versuch es noch einmal, sagte Sorgan, und lass es ein wenig fröhlicher klingen, wenn du kannst. Hase blies einen hohen Ton, der mit einem schiefen Quieken endete. Ich denke, Hase sollte ein bisschen üben, meinte Ochs kritisch. Das klang wie eine Katze, der man auf den Schwanz getreten hat. Dann gab es von irgendwo aus dem Wald eine Antwort, die ein wenig zarter klang als Hases Gequieke. Na, also, sagte Hakenschnabel. Blas weiter, Hase, befahl er. Und versuch, dass es sich ein bisschen freundlicher anhört. Ich gebe mein Bestes, Käpt'n, klagte Hase. Niemand an Bord mag es, wenn ich das Blasen übe, deshalb bin ich wie eingerostet. Die Seemöwe umrundete die Spitze der Sandbank, und die Mannschaft versammelte sich am Bug, um einen Blick auf das Dorf hinter dem schmalen Einlass zu werfen. Nicht gerade sehr prunkvoll, bemerkte Ochs. Hauptsächlich Stöcke, die mit Gras gedeckt sind. Du hast doch nicht Paläste erwartet, nicht wahr, Ochs, fragte Sorgan. Ich bin eher froh, keine Steinmauern und solche Dinge zu sehen. Wir haben nur ein einziges Schiff, und wir wollten doch nicht auf Menschen stoßen, die über eine großartige Zivilisation verfügen. Mir scheint es, wir haben diesen Ort vor den Trogiten entdeckt. Sag der Mannschaft, sie soll nicht mit Schwertern und Speeren herumfuchteln. Wir wollen die Leute nicht nervös machen. Dieser Wald reicht bis dicht an das Dorf heran, und mir wäre es lieber, nicht von einem Dutzend Pfeile getroffen zu werden, während ich versuche, mit dem Häuptling des Dorfes zu reden. Bring 75
die Seemöwe in die Bucht, Ochs, aber wir ankern ein Stück vom Strand entfernt. Ich nehme das Beiboot, rudere näher heran und warte dann. Sicherlich werden die Dorfbewohner verstehen, was ich beabsichtige. Ich will reden und nicht kämpfen. Ochs grunzte und steuerte die Seemöwe in die Bucht. Als sie noch etwa hundert Schritt vom Strand entfernt war, befahl er der Mannschaft, den Anker zu werfen, und ein paar Männer ließen das Beiboot für Hakenschnabel ins Wasser. Ich bleibe innerhalb von Bogenreichweite, meinte der Kapitän zu Ochs, doch sag der Mannschaft, sie soll die Waffen verborgen halten - es sei denn, die Sache beginnt brenzlig zu werden. Dann stieg er über die Reling und ließ sich ins Boot hinab. Er legte die Ruder ein, ruderte los, hielt schließlich inne und wartete. Ein paar Menschen aus dem Dorf kamen zum Strand, und es machte den Eindruck, sie würden miteinander streiten. Schließlich stieg ein großer schlanker Mann mit langen blonden Zöpfen und Lederkleidung in eine Art Kanu, und die anderen schoben das Kanu ins tiefere Wasser. Der blonde Mann paddelte zu Hakenschnabel hinaus; er schien darin sehr geschickt zu sein. Während er näher kam und die Männer auf der Seemöwe ihn deutlicher erkennen konnten, überlief Sorgan ein kurzer Schauder. Diesen Mann sollte man besser ernst nehmen. Er war ziemlich groß und hatte ein hartes Gesicht. Doch waren es die Augen, die den Schauder beim Kapitän der Seemöwe ausgelöst hatten. In ihnen lag eine Art von Entschlossenheit, wie Sorgan sie selten zuvor gesehen hatte. Wenn dieser einzigartige Eingeborene etwas wollte, würde er vermutlich keine langen Umschweife machen, um es zu bekommen. Sorgan wurde klar, das er sehr vorsichtig zu Werke gehen musste. Was wollt ihr, fragte der Fremde. Er klang nicht ausgesprochen feindselig, und das betrachtete Hakenschnabel als gutes Zeichen. Lediglich war er ein wenig überrascht, dass der Mann die Sprache der Maags beherrschte. Das würde alles wesentlich leichter 76 machen. Wir wollen keinen Ärger, Freund, sagte er. In diesen Gewässern sind wir fremd, und wir wissen nicht genau, wo wir eigentlich sind. Dies ist das Land Dhrall, antwortete der andere Mann, und hier ist die Domäne Zelanas vom Westen. Beantwortet das deine Frage?
Ich fürchte, vom Land Dhrall habe ich noch nie gehört, erwiderte Sorgan. Wir sind natürlich weit von zu Hause entfernt, und das könnte diesen Umstand erklären. Ist Zelana euer König oder so etwas in der Art? Nicht genau. Ihr werdet sie in Kürze kennen lernen, nehme ich an. Du bist Sorgan Hakenschnabel, nicht wahr? Woher weißt du das? Sorgan war total baff. Zelana vom Westen hat uns erzählt, dass du kommen wirst. Du würdest nicht viel über Dhrall wissen, deshalb soll ich dir alle Fragen beantworten. Woher konnte sie wissen, dass wir kommen, erkundigte sich Sorgan. Wir hatten überhaupt nicht die Absicht, uns so weit vom Land Maag zu entfernen. Aber eine Meeresströmung hat euch erfasst und zu uns gebracht. War es nicht so? Du scheinst ja eine Menge über uns zu wissen, Fremder, und dabei kenne ich noch nicht einmal deinen Namen. Dazu wollte ich gerade kommen, Sorgan Hakenschnabel, sagte der große Mann. Ich bin Langbogen und gehöre zum Stamm von Alter Bär. Zelana vom Westen trug mir auf, euch zum Dorf von Weißzopf, dem Häuptling des Dorfes und des Stammes von Lattash zu führen. Zwischen hier und Lattash gibt es drei Stämme, und sie werden Feuer anzünden, um euch die Richtung zu weisen. Du kannst doch bis drei zählen, oder? Natürlich kann ich das. Sorgan war ganz schön beleidigt. Wie bist du an den Namen Langbogen geraten? 77 Ich bin ein bisschen größer als die anderen Männer des Stammes von Alter Bär, also ist auch mein Bogen länger. Und schon hielt er den Bogen in die Höhe, um ihn Sorgan zu zeigen. Er bewegte ihn nicht sehr schnell, und nirgendwo war ein Pfeil zu sehen, und er hielt ihn auch nicht so, als wolle er ihn benutzen. Sowohl Langbogen als auch Sorgan achteten darauf, keine übereilten Bewegungen zu machen, da möglicherweise im Verborgenen auf jeden von ihnen ein Dutzend Pfeile gerichtet waren. Hübsch gearbeiteter Bogen, lobte Sorgan. Er macht, was ich will, gab Langbogen bescheiden zurück. Bis jetzt hat er mich auf keine einzige Entfernung enttäuscht. Sorgan nahm an, dass der blonde Mann prahlte, doch klang er ausgesprochen selbstsicher, und deshalb wusste der Kapitän nicht so genau ... Wie weit ist es denn bis zu diesem Lattash, fragte er. So weit, wie ein Mann in zehn Tagen laufen kann, antwortete Langbogen. Wenn ihr die Feuer am Strand passiert habt, erreicht ihr einen schmalen Einlass, der in eine recht große Bucht führt. Lattash liegt an dieser Bucht, und Zelana erwartet euch in Lattash. Sorgan sah blinzelnd ins Wasser und rechnete im Kopf. Ich schätze nur, aber ich denke, die Seemöwe - so heißt mein Schiff da drüben - müsste es in drei Tagen schaffen. Ich würde an deiner Stelle nicht länger brauchen, riet ihm Langbogen. Zelana ist ungeduldig, und du solltest sie auf keinen Fall verärgern. Außerdem soll ich dich fragen, ob das Wort Gold irgendeine Bedeutung für dich hat. Oh, ja, antwortete Sorgan leidenschaftlich. Ich weiß nicht, weshalb, aber Zelana trug mir auf, einfach Gold zu dir zu sagen. Habt ihr ausreichend Vorräte und Wasser für drei Tage? Ich nehme an, Zelana würde es lieber sehen, wenn ihr nicht noch einmal anhalten müsst, während ihr nach Süden unterwegs seid. Wie wollte sie uns denn daran hindern, irgendwo anzulegen? Das willst du bestimmt gar nicht wissen, Sorgan Hakenschnabel. Ohne Zweifel treffen wir uns wieder, aber im Augenblick solltest du lieber so rasch aufbrechen, wie du kannst. Es wäre wirklich besser, wenn du das tust.
7 Hatte er außer dem Bogen noch andere Waffen, Käpt'n, erkundigte sich Ochs, als Sorgan auf die Seemöwe zurückkehrte. Ein Bündel Pfeile und ein Speer lagen auf dem Boden des Kanus, antwortete Sorgan. Die hat er nicht angerührt, doch lagen sie dort, wo ich sie sehen konnte. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich sie bemerken sollte. Aber komisch, die Speerspitze war nicht aus Eisen, sondern aus Stein. Die Menschen im Land Shaan, die andere Menschen fressen, machen ihre Werkzeuge und Waffen auch aus Stein, sagte Ochs. Dabei fühle ich mich nicht gerade behaglich, Käpt'n. Allein bei dem Gedanken, gefressen zu werden, wird mir schon ganz anders. Ich glaube, diese Menschen gehören nicht zu jener Sorte, Ochs, meinte Sorgan. Der Kerl in dem Kanu wirkte sogar fast freundlich. Er kannte meinen Namen und hat sich vergewissert, ob wir genug Vorräte und Wasser an Bord haben. Es gibt einen Ort namens Lattash ungefähr drei Tage von hier, wo eine gewisse Zelana mit uns reden will. Langbogen erwähnte etwas von Gold. So wie er es vorgebracht hat, scheint diese Zelana Leute anheuern zu wollen, die kämpfen können, und sie wird ihnen gutes Gold zahlen. Also ich werde von einer Frau keine Befehle entgegennehmen, Käpt'n, protestierte Schinkenpranke. 78 79 Mach dir deshalb keine Sorgen, Schinkenpranke, beschwichtigte Sorgan ihn. Du bekommst deine Befehle weiterhin von mir, so wie immer. Ich werde mit dieser Zelana verhandeln. Setzt die Segel und auf nach Süden. Dort unten wartet eine Dame, die mit mir über Gold reden will, also keine Trödelei. Nachdem die Seemöwe den Einlass hinter sich gebracht hatte, kam eine gute Brise auf, und bald glitt Sorgans
Schiff mühelos über die Wellen hinweg, etwa eine Meile oder so von der Küste Dhralls entfernt. Am Abend hatte die Seemöwe Langbogens Dorf schon weit hinter sich gelassen, und Sorgan machte auf der Windschattenseite eines Inselchens Halt und ließ den Anker werfen. Niemand, der bei klarem Verstand ist, segelt nach Einbruch der Dunkelheit durch fremde Gewässer. Beim ersten Licht stand Sorgan auf, ging an Deck und begutachtete das Wetter. Schinkenpranke und Hase lehnten an der Steuerbordreling. Was ist los, fragte er sie. Es leben wirklich seltsame Viecher hier im Wasser, Käpt'n, erwiderte Hase. Ich habe ja schon viele Delphine und Tümmler gesehen, aber noch keine in der Farbe Rosa. Das meinst du nicht ernst, rief Sorgan. Ich will auf der Stelle tot umfallen, wenn ich Spaß mache, erwiderte Hase. Ich habe sie plantschen und kichern gehört, ehe es hell wurde, und ich habe meinen Augen kaum trauen können, als es genug Licht gab, um sie zu sehen. Er hat Recht, Käpt'n, stimmte Schinkenpranke zu. Die kleinen Gauner sind so rosa wie ein Sonnenaufgang, und sie flitzen durch das Wasser wie spielende Gören. Da ist einer, Käpt'n, rief Hase und zeigte nach Steuerbord. Sorgan starrte in die Richtung. Das war ohne jeglichen Zweifel ein Delphin, und er war tatsächlich rosa. Dann schwärmten weitere um die Seemöwe herum, sprangen aus dem Wasser und planschten und kicherten und tollten herum. 80 Das ist wirklich ein seltsamer Ort, murmelte Sorgan, halb zu sich selbst. Demnächst sehen wir noch purpurne Haie und hellgrüne Wale. Weck die Mannschaft, Schinkenpranke. Das Wetter sieht gut aus, also lasst uns aufbrechen. Aye, Käpt'n. Die Seemöwe segelte nach Süden weiter, doch sie war nicht länger allein. Die rosa Delphine begleiteten sie, schwammen vor ihrem Bug her und schnatterten steuerbords wie backbords mit der Mannschaft. Ist ja fast, als hätten wir eine Eskorte, Käpt'n, meinte Ochs. Dann blinzelte er die Tiere abschätzend an, die zu allen Seiten verspielt aus dem Wasser sprangen. Ich frage mich, wie Delphinfleisch schmeckt, sinnierte er. Nein, entgegnete Sorgan scharf. Gerade haben wir ein bisschen Glück, Ochs. Mach mir bloß keine Sachen. Du würdest möglicherweise einen Sturm oder eine Wasserhose heraufbeschwören, und bis nach Maag zurück hat man ein ganz schönes Stück zu schwimmen. Aber diese Tiere haben doch nichts mit dem Wetter zu tun, Käpt'n, spottete Ochs. Vielleicht nicht, aber ich will kein Risiko eingehen. Treib also keine Spielchen mit solchen Dingen, Ochs. Lass sie einfach so, wie sie sind. Und die Seemöwe setzte ihren Weg nach Süden bei guter Geschwindigkeit fort, während die Delphine sie begleiteten und die Dämmerung rosig am Osthimmel aufzog. Da ist ein Feuer am Strand, Käpt'n, rief Baumwipfel von der Marsstenge. Halt die Augen offen, rief Hakenschnabel zu ihm hinauf. Unterwegs nach Süden sollen wir noch zwei weitere sehen. Nach dem dritten müssen wir scharf aufpassen. Da gibt es einen Einlass, der zu einer großen Bucht führt. Danach suchen wir. 81 Aye, Käpt'n, rief Baumwipfel zurück. Am frühen Nachmittag des dritten Tages nach Sorgans Begegnung mit Langbogen passierten sie das dritte Leuchtfeuer, und Hakenschnabel befahl der Mannschaft, die Augen nach backbord offen zu halten. Sie umrundeten eine Landspitze, und dahinter entdeckten sie einen schmalen Kanal, der sich zwischen zwei Gebirgsausläufern hindurchzog. Ich übernehme das Steuer, Ochs, sagte Sorgan und legte eine Hand auf das Ruder. Die Ruderer sollen ihre Plätze einnehmen, und lass außerdem das Segel einholen. So nahe am Heimatdorf dieser reichen Dame wollen wir die Seemöwe nicht noch auf Grund setzen. Aye, Käpt'n, stimmte Ochs zu. Hakenschnabel überdachte seine Möglichkeiten, während er die Seemöwe durch den Kanal in die große Bucht dahinter steuerte. Er war ziemlich sicher, dass Langbogen ihn nicht hatte täuschen wollen, doch war es vermutlich günstig, die Dinge hier in aller Ruhe anzugehen. Er kannte dieses Volk nicht, und die Menschen hier kannten ihn nicht. Prüfend richtete er den Blick gen Himmel. Es war Nachmittag, und vermutlich würden sie einige Zeit brauchen, um das Dorf zu finden und durch die Bucht dorthin zu rudern. Somit erreichten sie dieses Lattash wohl eher gegen Sonnenuntergang oder sogar später. Es wäre wahrscheinlich sicherer, ein Stück vor der Küste Anker zu werfen und bis zum Morgen zu warten. Auf diese Weise kamen sie bei Tageslicht an, und jeder konnte sehen, was der andere tat. Klettere auf den Mast, Schinkenpranke, sagte er zu seinem zweiten Maat. Wenn du das Dorf siehst, such uns einen Ankerplatz für die Nacht. Wir werden bis zum Morgen abwarten, ehe wir uns mit der reichen Dame unterhalten. 82 Aye, Käpt'n, stimmte Schinkenpranke zu. Verärgern wir die Eingeborenen nicht, solange es nicht sein muss. Sie warfen den Anker vor einer Felsküste, wo es keinen erkennbaren Strand gab. Hakenschnabel wollte
verhindern, dass sich im Dunkeln jemand auf sein Schiff schlich. Er postierte dennoch mehrere Wachen zwischen Bug und Heck, nur um sicherzugehen. Die Nacht war ruhig, und am Morgen schien alles in Ordnung zu sein. Die Wachen hatten mehrere Feuer in der Nähe eines breiten Sandstrands am Ende der Bucht gesehen, und Sorgan rief die Mannschaft der Seemöwe auf Deck zusammen. Ich möchte, dass ihr euch benehmt, wenn wir in dieses Dorf gelangen, sagte er zu ihnen. Kommt nicht auf den Gedanken, das Weibsvolk zu belästigen oder den Männern ihren Schmuck zu stehlen. Möglicherweise befinden wir uns zehn zu eins in der Unterzahl, also benehmen wir uns sehr höflich. Diese Menschen brauchen offensichtlich unsere Hilfe, und es wurde angedeutet, dass wir Gold als Bezahlung bekommen, deshalb werdet ihr euch zusammenreißen. Fuchtelt nicht mit euren Schwertern oder Speeren herum und fangt keine Streitereien an. Hier könnte es um eine Menge Gold gehen, und ich wäre sehr unglücklich über jeden, der mir einen Strich durch die Rechnung macht. Habe ich mich verständlich ausgedrückt? Er betrachtete seine Mannschaft mit hartem Blick und grimmiger Miene. Alle hatten ihn anscheinend genau verstanden. Als die Sonne aufging, lichteten sie den Anker, und die Ruderer bewegten die Seemöwe langsam zum Ende der Bucht, wo die Wachen in der Nacht die Feuer gesehen hatten. Bring das Schiff bis ungefähr hundert Schritt vor die Küste, Ochs, wies Sorgan seinen ersten Maat an. Dort werfen wir den Anker und warten ab, wie sich die Eingeborenen verhalten. Wenn sie friedlich sind, gut. Benehmen sie sich jedoch feindselig, wenden wir die Seemöwe und verschwinden. 83 Habe verstanden, Käpt'n, bestätigte Ochs. Sorgan bemerkte, dass Lattash um einiges größer war als das Dorf, in dem er Langbogen getroffen hatte, und auf dem Sandstrand lagen viele Kanus. Fischernetze trockneten auf Stangen neben den Kanus. Offensichtlich ernährten sich die Eingeborenen von Lattash überwiegend vom Fischfang. Die Häuser - wenn man sie denn so nennen durfte - bestanden zum größten Teil aus Ästen, die gewölbeartig verflochten waren, und obwohl sie sehr einfach wirkten, hielten sie gewiss dem Wetter stand. Nichts im Dorf konnte man eine Straße nennen, denn die einzelnen Hütten erweckten den Eindruck, rein zufällig platziert zu sein. Es gab auch einen hohen Deich zwischen dem Dorf und dem Fluss, der genau an dieser Stelle aus den Bergen kam, und das deutete auf gelegentliche Überflutungen hin. Nicht lange danach wurde etwa ein Dutzend Kanus zu Wasser gebracht, und die in Leder gekleideten Eingeborenen paddelten aufs Wasser hinaus. Sorgan fiel auf, wie gut sie bewaffnet waren. Ihre Pfeile und Speere hatten Steinspitzen, doch ein gut geschärfter Stein konnte sich vermutlich genauso gut in Fleisch bohren wie Eisen. Die Kanus zogen im Halbkreis zwischen der Seemöwe und dem Strand heran, doch ein einzelnes wurde fast bis an Sorgans Schiff herangepaddelt. Darin befanden sich nur zwei Eingeborene. Der eine, der paddelte, war fast so stämmig wie Ochs und hatte einen flammend roten Bart, der fast bis zur Hüfte ging. Der andere war wesentlich älter und hatte schneeweißes Haar, das er zu Zöpfen geflochten trug. Der Rotbärtige brachte das Kanu geschickt zum Halt, und sein älterer Gefährte erhob sich. Willkommen in Lattash, Sorgan Hakenschnabel, sagte er mit tiefer, donnernder Stimme. Lange haben wir auf deine Ankunft gewartet. Deine Begrüßung ehrt mich, erwiderte Sorgan. Eine gewisse Förmlichkeit schien wohl angebracht, dachte er bei sich. 84 Ich bin Weißzopf von Lattash, stellte sich der Mann im Kanu vor, und die jüngeren Männer des Dorfes beherzigen meinen Ratschlag - jedenfalls meistens. Der alte Mann lächelte schwach. Diesen trockenen Humor hatte Sorgan schon bei Langbogen bemerkt. Er richtete sich auf. Mir wurde gesagt, eine gewisse Zelana wolle ein Wort mit mir wechseln, Häuptling Weißzopf, sagte er. Das, habe ich ebenfalls gehört, antwortete Weißzopf. Dies ist mein Neffe Rotbart, sagte er und deutete auf den Eingeborenen, der das Paddeln übernommen hatte. Er wird dich zu der Höhle geleiten, wo sie weilt. Ich bleibe hier, damit deine Männer sich keine Sorgen um dein Wohlergehen machen müssen. In Zeiten wie diesen sind solche Vorsichtsmaßnahmen vielleicht nicht mehr notwendig, doch wir sind uns noch fremd, und daher wollen wir jegliche List ausschließen. Eine überaus weise Entscheidung, Häuptling Weißzopf, lobte Sorgan, und ich werde mich in dieser Angelegenheit von dir leiten lassen. Wenn Weißzopf es auf Förmlichkeit anlegte, würde Sorgan ihn damit überhäufen, bis er darin hüfttief versank. Die beiden wechselten die Plätze. Weißzopf kam an Bord der Seemöwe, und Hakenschnabel kletterte in das Kanu. Behandele unseren Freund gut, Ochs, rief Sorgan seinem ersten Maat zu. Aye, Käpt'n, erwiderte Ochs voller Respekt, derweil sich das Kanu von der Seemöwe entfernte. Warum lebt diese Dame mit Namen Zelana in einer Höhle und nicht im Dorf beim Rest des Stammes, erkundigte sich Sorgan bei dem rotbärtigen Eingeborenen, der geschmeidig zum Strand paddelte. Sie gehört eigentlich nicht zu uns, Sorgan Hakenschnabel, antwortete Rotbart, und sie mag uns nicht sehr. Ich dachte, sie sei die Königin dieses Teils von Dhrall, meinte Sorgan. Nicht ganz, sagte Rotbart. Unseren Legenden zufolge ist sie
85 unsterblich, und sie kümmert sich nicht sehr viel um die Menschen, Vor langer, langer Zeit ist sie fortgegangen. Erst kürzlich kehrte sie zurück, und nun wohnt sie in der Höhle am Rand des Dorfes. Mein Onkel sagt, sie sei sehr mächtig, und wenn sie möchte, dass etwas geschieht, wird es auch geschehen. Onkel Weißzopf wirkt ein wenig seltsam, wenn er über sie spricht. Ich glaube, er fürchtet sich vor ihr, was sehr komisch ist, denn sonst fürchtet er sich vor gar nichts. Sie kommt nie aus dieser Höhle, und ihr einziger Diener ist ein kleines Mädchen. Das Mädchen kommt immer zu uns, um uns mitzuteilen, was Zelana von uns möchte. Wie sieht sie denn aus, wollte Sorgan wissen. Rotbart zuckte mit den Schultern. Ich habe sie nur zweimal gesehen, und sie hält stets ihr Gesicht bedeckt. Einmal habe ich gehört, wie mein Onkel mit einem der anderen alten Männer des Dorfes gesprochen hat, und er sagte, sie würde sich oft verwandeln. Verwandeln? Sie sieht nicht immer gleich aus. Rotbart hörte auf zu paddeln. Wenn wir den Strand erreichen, soll ich dich am Wasserrand entlang führen. Onkel Weißzopf sagte, du solltest von deinen Männern bis zu Zelanas Höhle immer gut zu sehen sein, damit sich deine Männer keine Sorgen machen. Dein Volk ist aber sehr vorsichtig, Rotbart, merkte Sorgan an. Onkel Weißzopf ist das lieber. Alte Männer sind eben so. Das erklärt vielleicht, weshalb sie so alt geworden sind. Vermutlich hast du Recht, räumte Rotbart ein und nahm das Paddel wieder zur Hand. Wir müssen hier anlanden. Auf der Seite des Strandes, zu der wir wollen, gibt es unter der Wasseroberfläche spitze Felsen, und ich würde mir das Kanu lieber nicht aufschlitzen. Wie weit ist es bis zu dieser Höhle, fragte Sorgan. Rotbart zeigte mit dem Paddel dorthin. Sie ist in dem Hügel nahe am Ende des Strandes. Ganz schön weit vom Dorf entfernt, fiel Sorgan auf. Der Berg war eigentlich wie eine Kuppel geformt, und an den kahlen Seiten aus Fels wuchs kaum eine Pflanze. Die wir Zelana nennen, mag anscheinend unseren Geruch nicht. Sollte ich mich vor ihr verbeugen oder sonst etwas Besondere: tun, erkundigte sich Sorgan. Ich glaube nicht. Onkel Weißzopf hätte es sonst erwähnt. Sag ihr einfach, wer du bist. Vermutlich wird sie es schon wissen, da sie dich immer wieder beschrieben hat, seit sie hergekommen ist. Rotbart ließ den Bug des Kanus auf den Sand laufen, und dann zog er es gemeinsam mit Sorgan aus dem Wasser. Anschließend gingen sie den Strand entlang und achteten darauf, immer in Sicht der Seemöwe zu bleiben. Hast du irgendetwas über möglicherweise anstehende Unruhen gehört, horchte Sorgan Rotbart aus. In diesem Teil der Welt gibt es immer Unruhen, Sorgan Hakenschnabel, gab Rotbart zurück. Die Stämme führen wegen jeder Kleinigkeit Krieg. In letzter Zeit haben wir allerdings Geschichten über die Geschöpfe des Ödlands gehört. Wo befindet sich das? Jenseits der Berge, antwortete Rotbart vage. Viel weiß ich nicht darüber, weil die alten Männer nicht gern über das Ödland sprechen. Die Geschöpfe, die dort leben, sehen vermutlich so ähnlich wie Menschen aus, aber ich glaube, eigentlich sind es keine Menschen. Zelana kann dir darüber bestimmt mehr erzählen. Ich glaube, deshalb will sie überhaupt mit dir reden. Dort drüben ist der Eingang zu ihrer Höhle. Er zeigte auf eine unregelmäßige Öffnung im Fels des Berges. Mein Onkel hat mir gesagt, ich solle ein bisschen Lärm machen, ehe wir hineingehen. Er meinte, wir sollten Zelana besser nicht erschrecken. Sie näherten sich dem Höhleneingang mit einer gewissen Vor87
sieht. Zelana vom Westen, rief Rotbart in die hallende Höhle, ich bin Rotbart aus dem Geschlecht von Weißzopf dem Häuptling, und ich habe einen Fremden namens Sorgan Hakenschnabel mitgebracht, der mit dir sprechen möchte. Einige Augenblicke warteten sie, dann kam ein wunderschönes Mädchen mit blondem Haar aus der dunklen Höhle. Was hat dich so lange aufgehalten, Hakenschnabel, fragte es Sorgan. Die Geliebte hat sich schon Sorgen um dich gemacht. Kommt herein, aber putzt euch die Füße ab. Sie mag es überhaupt nicht, wenn jemand Schmutz in ihre Höhle trägt. Sorgan und Rotbart folgten dem Mädchen durch die unregelmäßig geformte Öffnung und durch einen schmalen, gewundenen Gang in eine große Kammer, wo in einiger Entfernung zum Eingang ein kleines Feuer brannte. Eine Frau mit dunklem Haar und hauchdünnem Gazegewand saß mit dem Rücken zu ihnen am Feuer. Zeit, dass du eintriffst, Hakenschnabel, sagte die Frau. Ist die Seemöwe lahm geworden? Es ist doch eine ganz schöne Entfernung von Langbogens Dorf bis hierher, erwiderte Sorgan und fühlte sich keineswegs nur leicht beleidigt. Das hat die Seemöwe jedoch nicht aufgehalten, als sie vor einer Weile dieses trogitische Schatzschiff gejagt hat. Woher weißt du davon, fragte er. Die Geliebte weiß alles, Hakenschnabel, erklärte ihm das kleine Mädchen. Das weiß doch jeder. Es genügt, Eleria, sagte die Frau in Gaze. Dann drehte sie sich um und schaute Sorgan an. An diesem Punkt wurden Sorgans Knie schwach. Sie war die schönste Frau, die er je gesehen hatte.
Starr mich nicht so an, Sorgan Hakenschnabel, sagte sie streng. Das ist unhöflich. Vergib mir, sagte er und errötete. Deine Erscheinung hat mich unvorbereitet getroffen. Das musst du eigentlich gewöhnt sein. Ja, es geschieht häufig, räumte sie ein. Wenigstens warst du Manns genug und bist nicht in Ohnmacht gefallen. Das kann nämlich sehr ärgerlich sein. Ich sehe, du hast Rotbart mitgebracht. Eigentlich hat er mich mitgebracht, erwiderte Sorgan, wobei seine Stimme noch immer leicht zitterte. Er hat mir den Weg gezeigt. Dann kennt ihr euch ja schon. Gut. Er wird mit uns kommen, wenn wir nach Maag zurückkehren. Wir werden außerdem Langbogen abholen, aber die Einzelheiten können wir später besprechen. Reden wir erst einmal übers Geschäft. Ich brauche Krieger, und ich zahle in Gold. Bist du interessiert? Das Wort Gold klingt sehr interessant, antwortete er. Wen soll ich über die Klinge springen lassen? Und wie viel Gold gibst du mir, wenn er tot ist? Du kommst ja gleich zur Sache, Sorgan, sagte sie bedeutungsvoll. Das spart Zeit, meinte er und zuckte mit den Schultern. Reden wir über eine Art Krieg? Nun, gewissermaßen. Wie viel weißt du über das Land Dhrall? Bis ich Langbogen vor drei Tagen getroffen habe, hatte ich noch nie etwas davon gehört. Rotbart hat mir von diesen Menschen erzählt, die jenseits der Berge leben. Daraus schließe ich, dass sie diejenigen sind, die ich für dich erledigen soll. Ist das so eine Art Stammesstreit? In Maag kommt das auch ständig vor. Es geht weit über einen Streit hinaus, Hakenschnabel, sagte sie. Die Menschen von Dhrall leben vor allem an der Küste, wo man fischen kann, doch es gibt andere Geschöpfe, die im inneren Ödland leben. Sie werden unruhig, und du und deine Krieger sol89 len sie davon überzeugen, dorthin zurückzukehren, wo sie hingehören. Deshalb habe ich dich kommen lassen. Du sollst weitere Maags herholen und uns helfen, die Geschöpfe des Ödlands über die Berge zurückzutreiben. Wir sagen den Maags, dass ich ihnen Gold gebe, wenn sie herkommen und uns helfen. Leicht gesagt, Gold, werte Dame Zelana, sagte Sorgan, aber ich glaube, ich möchte Gold sehen, ehe ich die anderen Maags überzeugen kann. Klingt einleuchtend. Zelana wandte sich an das kleine Mädchen. Bring ihn nach hinten, wo das Gold liegt, Eleria, sagte sie. Zeig ihm, wie viel es ist. Gewiss, Geliebte, antwortete das kleine Mädchen. Es liegt ein Stück weiter hinten in der Höhle, Hakengabel, sagte es zu Sorgan. Hakenschnabel, berichtigte er sie. Aha, sagte sie. Das ergibt auch viel mehr Sinn, oder? Ich muss die Geliebte falsch verstanden haben, als sie mir deinen Namen gesagt hat. Mir kam es irgendwie verkehrt herum vor, aber Gabelhaken ergibt auch nicht viel Sinn, was? Wie viel von diesem Gold möchtest du dir anschauen? So viel wie möglich, erwiderte Sorgan gierig. Ich glaube, so viel Zeit haben wir nicht, sagte Eleria, Die Geliebte hat es ein bisschen eilig. Dann gab die Gaze gewandete Zelana eine Art Quieken von sich, und Eleria antwortete auf die gleiche Weise. Sorgan nahm an, es handelte sich um eine fremde Sprache. Zelana streckte die Hand aus und nahm ein glühendes Stück Feuer aus der leeren Luft, das sie Eleria reichte. Hinten in der Höhle ist es dunkel, erklärte Eleria Sorgan. Diese kleine Sonne wird uns den Weg beleuchten. Du solltest dich geehrt fühlen, Hakenschnabel. Die Geliebte wollte es eigentlich zum Mittagessen verspeisen. Sie hielt ihm das glühende Stück Feuer entgegen. Hier, sagte sie, du kannst es tragen, wenn du möchtest. 90
Sorgan versteckte die Hände hinter dem Rücken. Nein, ist schon gut, entgegnete er vielleicht ein wenig zu rasch. Trag du es nur. Soweit Sorgan sehen konnte, war das Stück Glut nicht in Glas eingefasst - oder in irgendetwas anderes. Es schien Feuer zu sein, doch das kleine Mädchen ging ausgesprochen unachtsam damit um. Also gut. Komm. Sie führte ihn in den hinteren Teil der Höhle und hielt das Feuer in die Höhe. Verbrennt es dir nicht die Hand, fragte Sorgan, während sie durch den Felsgang gingen. Nein, antwortete Eleria, die Geliebte hat es gebeten, nicht so heiß zu sein. Warum nennst du sie ständig die Geliebte, fragte er neugierig. So nennen die Delphine sie, erklärte Eleria. Ich habe viel mit den Delphinen gespielt, als ich noch jünger war. Wir haben einige gesehen, als wir von Langbogens Dorf hierher kamen, sagte er. Ich weiß. Die Geliebte hat sie gebeten, euch den Weg zu zeigen. Schließlich solltet ihr nicht verloren gehen. Das Gold, das du sehen willst, ist gleich hier um diese Ecke. Sorgan folgte ihr, dann blieb er plötzlich stehen, und die Augen wären ihm fast aus dem Kopf gefallen. Der Felsgang, dem er und Eleria folgten, war von einer massiven Mauer aus - so schien es -goldenen Ziegeln blockiert. Genügt das erst einmal, fragte Eleria ihn. Die Geliebte kann noch mehr bringen lassen, doch Rotbart und die anderen Dorfbewohner würden eine Weile brauchen, bis sie es hergeholt hätten. Wie weit reicht der Gang, fragte Sorgan mit bebender Stimme. Ich bin mir nicht sicher, sagte Eleria. Ziemlich weit, glaube ich. Halt mich hoch, und ich schaue nach.
91 Sorgan setzte sie sich auf die Schulter. Sie hielt ihren Feuerball hoch und spähte in die Höhle. Das Licht reicht nicht bis zum Ende, berichtete sie, aber so weit ich sehen kann, ist nichts als Gold. Ganz hübsch, doch wäre es noch hübscher, wenn es rosa wäre und nicht gelb. Gelb ist ein wenig langweilig auf die Dauer, findest du nicht? Ich finde es überhaupt nicht langweilig, widersprach Sorgan. Kehren wir um, schlug Eleria vor. Die Geliebte ist ein wenig ungeduldig. Wäre es wohl in Ordnung, wenn ich ein paar dieser Ziegel mitnehme, um sie meinen Männern zu zeigen, erkundigte sich Hakenschnabel bei ihr. Bestimmt, sagte sie und lächelte sonnig. Es ist schließlich genug da, oder? Oh, ja, sagte Sorgan voller Leidenschaft. Dann gingen sie zurück in den vorderen Teil der Höhle. Genügt dir das Gold, Hakenschnabel, fragte Zelana. Sieht recht anständig aus, antwortete er. Ich könnte vermutlich das gesamte Land Maag damit kaufen. Allerdings muss ich ein wenig davon mitnehmen, um es den anderen Maags zu zeigen. Vermutlich würden sie mir nicht glauben, wenn ich ihnen nur davon erzählte. Nicht zu viel, mein guter Sorgan, sagte Zelana. Die Seemöwe ist nicht dazu gebaut, viel Gewicht zu befördern, und sie soll schließlich nicht unter uns sinken, während wir nach Maag segeln, ja? Wirf, fragte Sorgan alarmiert. Eleria und ich kommen mit dir, und außerdem Rotbart und Langbogen. Ihr müsst aber nicht unbedingt mitkommen, gnädige Zelana, protestierte Sorgan. Ich glaube doch, Hakenschnabel, widersprach sie. Wir müs92 sen uns beeilen, und ich kann die Seemöwe überreden, schneller zu fahren - und außerdem dafür sorgen, dass du deine Verpflichtung, zurückzukehren, nicht vergisst. Aber ..., setzte er halbherzig an. Kein Aber, unterbrach sie ihn. Wir laufen mit der Nachmittagsflut aus. Geh zurück an Bord der Seemöwe und mach sie klar. Rotbart wird sich darum kümmern, dass ein bisschen Gold auf das Schiff gebracht wird, ehe wir aufbrechen. Eleria nimmst du jetzt mit. Ich muss mich noch mit meinem Bruder unterhalten. Bis jetzt habe ich nicht zugestimmt, protestierte Sorgan. Willst du etwa ablehnen? Also ... Sein Widerstand bröckelte, als er sich an die massive Wand aus Goldziegeln erinnerte. Ich habe es mir auch nicht vorstellen können, meinte Zelana selbstgefällig. Jetzt geh. Er blickte sehnsüchtig zum hinteren Teil der Höhle. Schnell, schnell, Sorgan Hakenschnabel, sagte sie und schnippte mit den Fingern in seine Richtung. Der Tag verstreicht, und wir wollen unterwegs sein, ehe die Sonne zu Bett geht.
8 Alter Bär war also der Häuptling des Stammes, und obwohl er selten sprach, hatten Langbogens Eltern ihm schon in der Kindheit erklärt, dass Alter Bär sehr weise war. Langbogen war damals überwiegend damit beschäftigt gewesen, Kind zu sein, daher hatte er, was seine Eltern ihm sagten, ohne den geringsten Zweifel hingenommen und sein Kindsein mit ungebremster Begeisterung fortgesetzt. Das Dorf des Stammes von Alter Bär befand sich zu jenem Zeitpunkt auf einem hohen Steilufer, und dahinter lag ein tiefer Wald. Davor erstreckte sich die Mutter Meer vom Fuß der Klippen bis zum fernen Horizont im Westen. Langbogen war sicher gewesen, dass es in der ganzen Welt keinen besseren Ort gab, um Kind zu sein. Im Spätsommer von Langbogens fünftem Jahr wurden viele Angehörige des Stammes von Alter Bär von einer seltsamen Krankheit befallen, die zunächst brennendes Fieber auslöste und dann Schüttelfrost hervorrief. Die Kranken bekamen purpurne Flecken auf der Haut, und sie sahen Dinge, die eigentlich nicht da waren - so schreckliche Dinge, dass sie viele Tage lang schrien, ehe sie schließlich starben. Nun war Einer-Der-Heilt der Schamane von Alter Bars Stamm, und er war sehr bewandert in der Kunst des Heilens, doch die Seuche, die aus der Nacht herangekrochen war, widerstand jedem Versuch, sie zu besiegen, und der halbe Stamm von Alter Bär wurde dahingerafft. Zu jenen, die an der Krankheit starben, gehörten auch die Eltern von Langbogen und die Frau von Häuptling Alter Bär. 97
Und Einer-Der-Heilt, der sich der Seuche geschlagen geben musste, war zur Hütte von Alter Bär gegangen und hatte den Häuptling gedrängt, die überlebenden Angehörigen des Stammes zu versammeln und zu fliehen. Voller Sorge hatte Alter Bär zugestimmt und den Überlebenden befohlen, ihre Hütten niederzubrennen, und dann hatte er sie zu einem neuen Ort nahe der Küste von Mutter Meer geführt, wo sie ihre Hütten auf unverseuchtem Boden wiederaufbauen konnten, und er hatte den verwaisten Langbogen zu sich in die neue Hütte geholt und ihn großgezogen wie einen eigenen Sohn. Nun hatte Alter Bär eine Tochter namens Trübes Wasser, doch die Kinder hatten nicht, wie es oft geschieht, miteinander um die Zuneigung von Alter Bär gerungen, sondern hatten in ihrer Trauer zusammengefunden. Obwohl sie gemeinsam in einer Hütte aufwuchsen, hatten Trübes Wasser und Langbogen sich nie als Geschwister gefühlt - vielleicht weil Alter Bär Langbogen stets als ihren Gast bezeichnete.
Schon als Kind war Langbogen von rascher Auffassungsgabe gewesen, und es war ihm stets so erschienen, als wolle Alter Bär mit dem Wort Gast das Denken der beiden Kinder in seiner Hütte beeinflussen. Das Ziel des klugen Häuptlings war ziemlich offensichtlich, und während Trübes Wasser heranreifte, fand Langbogen keinen Grund, sich zu beschweren. Trübes Wasser wuchs zu jener Art Mädchen heran, bei deren Anblick Männern der Atem stockt, wenn sie vorbeigehen. Ihre Haare waren schwarz wie Rabenschwingen, ihre Haut so bleich wie der Mond, die Augen groß, die Lippen voll. Sie war groß und schlank, und nach und nach zeigten sich an ihrem Körper noch andere interessante Attribute. Langbogen fand es schwierig, den Blick von ihr zu wenden. Die Väter von hübschen jungen Mädchen sind häufig sehr nervös, wenn junge Männer sich in großer Zahl um ihre Töchter versammeln, doch Alter Bär blieb ruhig, weil sich Langbogen um die98
se Angelegenheit kümmerte. Bereits als junger Mann, der die Kindheit kaum hinter sich gelassen hatte, war er groß und muskulös, und er konnte sehr überzeugend wirken. Nach einigen Zwischenfällen begriffen die anderen jungen Männer von Alter Bars Stamm, wie gefährlich es werden konnte, wenn sie Trübes Wasser hinterherliefen. Trübes Wasser begrüßte Langbogens Einsatz, da sie eigene Sorgen hatte, die ihre ungeteilte Aufmerksamkeit verlangten. Sie hatte beobachtet, mit welch großem Interesse die anderen jungen Frauen des Stammes Langbogen begutachteten, und ihr schien es eher geraten, diese zu Desinteresse zu ermutigen. Es kostete Trübes Wasser nicht sehr viel Überzeugungsarbeit, bis die anderen jungen Frauen begriffen, dass Langbogen eigentlich nicht zu haben war; in den meisten Fällen erreichte sie dies mit ein paar Andeutungen, doch manche der jungen Frauen erforderten eine direktere Herangehensweise. Dabei kam es gelegentlich zu ein paar Beulen, jedoch | selten zu ernsthaften Verletzungen. Alter Bär hatte ihr kleines Spiel mitverfolgt. Gesagt hatte er nichts, aber er lächelte oft. I Die übrigen jungen Männer des Stammes betrachteten Langbogen mit einer gewissen Ehrfurcht. Sehr früh hatte er seinen Bogen bekommen, und er konnte eigentlich selbst nicht begründen, wieso jeder Pfeil, den er von dem langen, geschwungenen Bogen abschoss, exakt dorthin traf, wo er treffen sollte, auch über unglaubliche Entfernungen hinweg. Er hatte versucht zu erklären, wie er eine Einheit mit jedem Ziel fühlte, das seine Pfeile unbeirrbar fanden. Der Einklang von Hand und Auge und Denken bildete den Mittelpunkt des Geschicks jedes Bogenschützen, doch Langbogen hatte schon früh erkannt, dass das Ziel in diese Eintracht aufgenommen werden musste. Dieser Sinn für Einheit begründete Langbogens unfehlbare Präzision. Er glaubte, sein Ziel würde den Pfeil 99
geradezu anziehen, und eine solche Vorstellung kann man nur schwer vermitteln. Trübes Wasser hingegen fiel es leicht, Langbogen zu verstehen. Sie hatte sich schon seit frühester Kindheit mit ihrem Ziel in Einklang gebracht. Alle im Stamme von Alter Bär wussten längst, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis eine bestimmte Zeremonie stattfinden würde, aber der genaue Zeitpunkt hing von Häuptling Alter Bär ab, und der Häuptling schien es nicht eilig zu haben. Langbogen und Trübes Wasser glaubten, mit der Verzögerung wolle der Häuptling sie lediglich ärgern. Sie hielten es überhaupt nicht für lustig. Im frühen Sommer von Langbogens vierzehntem Jahr entschied Alter Bär schließlich, dass die Kinder in seiner Hütte vermutlich erwachsen genug waren, und so stimmte er mit einer großen Schau seines Widerwillens der Zeremonie zu, in der Trübes Wasser und Langbogen für ihr Leben vereint werden würden. Sogleich breitete sich Feststimmung aus. Das junge Paar war im Stamm sehr beliebt, und ihre Verbindung versprach das freudigste Ereignis des Sommers zu werden. Die jungen Frauen des Stammes überreichten Trübes Wasser kleine Geschenke, und wenn sie sich trafen, hörte man häufig lautes Kichern. Die jungen Männer schenkten Langbogen wunderbare Pfeilspitzen, Speerspitzen und Messer, die alle aus dem feinsten Stein gehauen waren, außerdem halfen sie ihm beim Bau der Hütte, in der Trübes Wasser und er wohnen sollten. Schließlich kam der Tag der Verbindung, und wie es der Tradition nach üblich war, stand Trübes Wasser in der Dämmerung auf und ging allein zu einem stillen Teich im nahen Wald, wo sie baden und sich in das Gewand aus weichem Hirschleder kleiden wollte, das sie während der Zeremonie tragen sollte. Langbogen durfte sie an diesem Tag erst bei der Zeremonie se100 hen, und so hielt er die Augen fest geschlossen, während er noch auf seinem Lager lag, als Trübes Wasser ihr Gewand für die Zeremonie nahm und die Hütte ihres Vater verließ. Beeil dich, sagte er leise, während sie ins Morgenlicht hinaustrat, und sie gab ein perlendes Lachen von sich, das ihn im Herzen anrührte. Die Sonne stieg im Osten über den tiefen Wald, und die blauen Schatten des Morgens verblassten nach und nach, und der wichtigste Tag nahm langsam seinen Lauf. Langbogen kleidete sich gewissenhaft an, dann wartete er. Aber Trübes Wasser kehrte nicht zurück. Am Vormittag befand sich Langbogen in Aufruhr. Trübes Wasser war ebenso ungeduldig wie er, die Zeremonie der Verbindung zu vollziehen, und niemand konnte ein so langes Bad nehmen. Schließlich brach Langbogen mit Sitten und Tradition und rannte durch das Dorf zu dem Pfad, der zu dem stillen Teich im Wald führte. Und als er
an dem Weiher eintraf, stockte ihm das Herz. Seine Zukünftige trieb, in weiße Hirschhaut gekleidet, mit dem Gesicht nach unten auf dem stillen Wasser. Verzweifelt sprang Langbogen in den Teich, nahm sie bei den Armen und zog sie auf das moosbedeckte Ufer. Er legte sie mit dem Gesicht nach unten auf das Moos und drückte ihr mit beiden Händen auf den Rücken, so wie Einer-Der-Heilt es den jungen Männern des Stammes beigebracht hatte, einen Ertrunkenen wieder zu beleben, doch trotz all seiner Bemühungen zeigte Trübes Wasser nicht das leiseste Lebenszeichen. In tiefstem Schmerz hob Langbogen den Kopf und heulte, denn sein Leben hatte seinen Sinn verloren. In unsäglicher Trauer trug Langbogen den leblosen Körper von Trübes Wasser ins Dorf zurück, und Häuptling Alter Bär weinte, doch schickte er gleichzeitig nach dem Schamanen des Stammes, Einer-Der-Heilt. Sie kann doch nicht ertrunken sein, wollte der 101 Häuptling in seinem Gram wissen. Sie konnte sehr gut schwimmen, und dieser Teich im Wald ist nicht tief. Sie ist nicht ertrunken, Alter Bär, erwiderte Einer-Der-Heilt grimmig. Die Wunden an ihrem Hals stammen von Schlangenzähnen. Es war Gift, das ihr das Leben geraubt hat. Hier in der Gegend gibt es keine Giftschlangen, widersprach Alter Bär. Einer-Der-Heilt zeigte auf die Spuren am Hals von Trübes Wasser. Keine Schlange hat so riesige Zähne. Ich möchte eher vermuten, es sind die Fänge eines der Diener von Das-man-Vlagh-nennt. Ich kenne viele Geschichten über die Diener des Vlagh. Zwar bergen die alten Geschichten selten viel Wahrheit, doch könnten jene über die Geschöpfe des Ödlands durchaus der Wirklichkeit entsprechen. Es war Das-man-Vlagh-nennt, das sie erschaffen hat, und uns wurde erzählt, dass das Vlagh ihnen Gift gab, damit sie keine Waffen brauchen. Warum sollte ein Diener des Vlagh unsere geliebte Trübes Wasser töten, verlangte Alter Bär zu wissen, und seine Stimme konnte seine Trauer nicht verbergen. Es gibt Gerüchte, Das-man-Vlagh-nennt sei rastlos geworden und sende seine Diener aus dem Ödland in die Küstendomänen, um uns zu beobachten, damit das Vlagh über unsere Schwächen erfährt. Diese Diener wollen nicht gesehen werden, glaube ich, daher würden sie vermutlich jeden töten, der sie zufällig entdeckt, damit sie uns weiter beobachten und ihr Wissen dem Vlagh bringen können. Dann wäre es besser, wenn keiner der Diener des Vlagh mit seinem Wissen ins Ödland zurückkehrt, meinte Alter Bär verbittert. Ich werde mit meinem Sohn Langbogen darüber sprechen. Seine Trauer mag ein Quell ewigen Hasses sein, und ich glaube, Das-man-Vlagh-nennt wird noch bedauern, was seine Diener am heutigen Tag angerichtet haben. 102 Schick ihn zu mir, ehe er auf die Jagd geht, mein Häuptling, schlug Einer-Der-Heilt vor. Und zunächst soll er eine Zeit lang trauern. Wenn der Kummer seinen Lauf genommen hat, wird er daran denken können. Und während er trauert, werde ich tun, was ich kann, um mehr über die Diener des Vlagh in Erfahrung zu bringen, damit ich ihm etwas über ihre Eigenheiten sagen kann. Spät im Winter des folgenden Jahres entschied Alter Bär, es sei an der Zeit, den noch immer trauernden Langbogen zur Hütte von Einer-Der-Heilt zu bringen, denn Langbogens Gram wollte kein ende finden, und er befahl seinem verzweifelnden Sohn, ihn zu begleiten. Also trotteten sie durch den schmelzenden Schnee zur Hütte des Schamanen, und als sie eintraten, öffnete EinerDer-Heilt ein Bündel getrockneter Knochen und breitete sie auf einer Decke vor ihnen aus. Da wir so wenig über die Geschöpfe des Ödlands wissen, die Das-man-Vlagh-nennt dienen, hielt ich es für besser, wenn wir einen Toten befragen, damit wir seine besonderen Eigenschaften verstehen, erklärte er ihnen. Wo hast du diesen Toten gefunden, fragte Langbogen mit flacher, teilnahmsloser Stimme. Ich habe ihn eigentlich nicht gefunden, Langbogen. Nach dem Tod von Trübes Wasser zog ich los, um einen von ihnen zu fangen. Sie kennen sich nicht sehr gut im Wald aus, daher ist es leicht, eine Falle vor ihnen zu verbergen. Ich entdeckte Spuren, die mir sagten, wo ich mit einer Falle vielleicht Glück haben könnte, und dann hob ich eine Grube aus, die ich mit Laub und Zweigen tarnte. Es war eine recht tiefe Grube, und ich bespickte den Boden mit angespitzten Pfählen, und nachdem ich sie getarnt hatte, wartete ich. Es dauerte eine Weile, doch schließlich fiel einer der Diener des Vlagh in meine Falle und wurde von den Pfählen begrüßt. Alles verlief sehr gut - außer, dass dieses Geschöpf zwei Tage brauchte, bis es gestorben war. 103 Dann zog ich es aus der Grube und kochte das Fleisch von den Knochen, damit wir die Eigenheiten besser erkennen können. Einer-Der-Heilt zuckte mit den Schultern. Wenn wir erfahren haben, was wir wissen müssen, werdet ihr den Schädel vielleicht zum Grab von Trübes Wasser tragen wollen, als Geschenk an ihren Geist. Langbogens Augen, die zuvor wie tot gewirkt hatten, leuchteten plötzlich auf. Das würde ihrem Geist gefallen, entschied er, und noch mehr von diesen Köpfen würden ihm vermutlich noch besser gefallen. Das ist durchaus möglich, mein Sohn, stimmte Alter Bär zu. Also gut, sagte der Schamane und hob den Schädel auf, seht hier, die Fangzähne dieser Kreatur sind nach hinten geklappt, um sie zu verbergen, so wie die Zähne von Giftschlangen. Die Zähne springen vor, sobald das Geschöpf zuschlägt. Auf diese Weise versteckt es seine Waffen, bis es angreift. Er legte den Schädel beiseite und nahm einen der Armknochen auf. Wie ihr seht, hat das Geschöpf spitze Stacheln an den Armen entlang, vom Handgelenk bis zum Ellbogen. Die Stacheln ähneln jenen von Wespen und Hornissen. Sie sind wie die
Fangzähne giftig, und sie bleiben ebenfalls verborgen, bis das Geschöpf angreift. Erst dann springen sie vor. Hüte dich davor, wenn du dich einem dieser Geschöpfe näherst, Langbogen, denn sie können sich sehr schnell bewegen. Das-man-Vlagh-nennt hat einen sehr wirkungsvollen Mörder erschaffen, doch muss dieser nahe kommen, um zu töten. Aus der Entfernung kann es nicht morden. Das ist wichtig zu wissen, sagte Langbogen, und auch seine Stimme strahlte nun wieder Leben aus. Verursacht das Gift Schmerzen? Einer-Der-Heilt nickte. Unerträgliche Schmerzen, glaube ich. Und ist es auch in der Lage, die Geschöpfe seiner eigenen Art zu töten, fragte Langbogen weiter. Dessen bin ich mir sicher. Wenn ich das Gift eines von ihnen auf meine Pfeilspitzen 104 schmiere, würde dieser Pfeil dann den Schmerz und den Tod zu jedem anderen von ihnen tragen, der mir über den Weg läuft, ja? Einer-Der-Heilt blinzelte. Wozu brauchst du das? Ich habe gehört, keiner deiner Pfeile würde je sein Ziel verfehlen. Die Geschöpfe des Ödlands haben mir viel Schmerz bereitet, und ich schulde ihnen zum Ausgleich ebenfalls eine Menge Schmerz. Ein ehrlicher Mann begleicht seine Schulden stets. Sei vorsichtig, Langbogen, mahnte der Schamane. Diese Geschöpfe tarnen sich bei der Jagd, und sie schlagen nur zu, wenn ihre anvisierte Beute nahe ist. Ich bin ein Jäger, Einer-Der-Heilt, erinnerte Langbogen den Schamanen. Im Wald kann sich nichts vor mir verbergen. Die Diener von Das-man-Vlagh-nennt gieren nach Wissen. Ich werde es zu meiner Lebensaufgabe machen, diese Gier des Vlagh ungestillt zu lassen, denn ich werde alle seine Diener töten, die es herschickt, und ihre Schädel auf das Grab von Trübes Wasser legen, als Geschenk an ihren Geist und als Zeichen meiner Liebe. Und jetzt gehst du auf die Jagd, mein Sohn, fragte Häuptling Alter Bär. Wenn es dir gefällt, mein Vater. Es gefällt mir sehr, Langbogen. Und so kam es, dass Langbogen aus dem Stamme von Alter Bär im Wald verschwand, um die Giftsprühenden Diener von Das-man-Vlagh-nennt aufzuspüren. Man erzählte sich, dass das Vlagh während der nächsten Jahrzehnte viele seiner Diener in das Land des Stammes entsandte, doch nur wenige, wenn überhaupt einer, kehrten zurück, denn Langbogen war eins mit dem Wald geworden, und die Geschöpfe des Ödlands konnten ihn weder sehen noch hören noch riechen, bis der Tod sie von seinem Bogen aus ansprang. Die Rückkehr der Zelana aus den Legenden schürte große Aufregung unter allen Stämmen ihrer Domäne, und die Menschen im 105 Stamme von Alter Bär fühlten sich ausgesprochen geehrt, als die Nachricht bei ihnen eintraf, dass sie bald zu einem Besuch erscheinen würde. Langbogen jedoch verspürte kein großes Bedürfnis, sie kennen zu lernen, und so verschwand er, als die Nachricht von ihrer Ankunft durch das Dorf von Alter Bär ging, einfach im Wald und setzte seine Jagd fort. Allerdings hatte sie ihn aufgespürt, und das fand er beunruhigend. Er war sicher gewesen, dass ihn niemand im Wald aufspüren konnte, wenn er es nicht wünschte, doch Zelana war genau zu dem Ort gekommen, wo er sich aufhielt, um ihn um seine Hilfe zu bitten. Ich bin daran nicht interessiert, wies er sie ohne Umschweife ab. Im Moment habe ich Dringlicheres zu tun. Ich glaube, du solltest besser jemand anderen für deine Zwecke auswählen. Es ist sehr wichtig, drängte sie. Für mich nicht. Für mich ist nur eine Sache wichtig, und diese Sache erledige ich gerade. Du magst uns nicht sehr, oder, Langbogen, fragte das kleine Mädchen in Zelanas Begleitung klug. Eigentlich magst du niemanden. In dir ist kein Platz für mögen, denn du bist ganz und gar mit nicht mögen erfüllt, oder? Es geht noch ein wenig über nicht mögen hinaus, Kleine, hatte Langbogen ihr erklärt, und seine Stimme klang dabei ein wenig sanfter. Die Diener von Das-man-Vlagh-nennt haben diejenige getötet, die meine Frau werden sollte, und dafür töte ich jetzt sie. Das hört sich gerecht an, hatte das kleine Mädchen gesagt. Wie viele von ihnen hast du schon getötet? Er hatte mit den Schultern gezuckt. Hunderte, glaube ich. Ich zähle sie nicht mehr. Schon seit zwanzig Jahren bin ich auf der Jagd. Wenn das alles ist, was dir wichtig ist, so kennen wir einen Weg, wie du Tausende töten kannst, nicht wahr, Geliebte? Vielleicht sogar noch mehr, Eleria, hatte Zelana erwidert. 106 Dann hatte sie Langbogen in die Augen gesehen. Wir hassen die Geschöpfe des Ödlands ebenso wie du, Langbogen, und falls diese Angelegenheit den Ausgang nimmt, den ich mir wünsche, werden wir sie alle töten, und dann ziehen wir ins Ödland und töten Das-man-Vlagh-nennt. Na, wie hört sich das an? Interessant genug, um weitere Einzelheiten zu erfahren, hatte Langbogen entschieden. Langbogen war misstrauisch gewesen, als Zelana ihm versichert hatte, dass das Schiff des Maags mit Namen
Hakenschnabel über das Antlitz von Mutter Meer zum Lande Dhrall kommen würde, und noch skeptischer, als sie ihm erzählte, dass die Maags für Gold alles tun würden. Doch bei der Ankunft von Hakenschnabels langem, schmalem Schiff im Dorfe von Alter Bär, die sich fast exakt so abspielte, wie sie es vorhergesagt hatte, begann Langbogens Skepsis sich in Luft aufzulösen. Und darüber hinaus reagierte Sorgan Hakenschnabel auf das Wort Gold genau so, wie Zelana es ihm angekündigt hatte. Bis jetzt hatte Zelana mit allem Recht gehabt, und wenn die Maags so nützlich waren, wie sie es zu glauben schien, würde die lange Reise in ihr Heimatland Zeit und Unannehmlichkeiten wert sein. Langbogen hatte schon seit vielen Tagen keinen Diener des Vlagh mehr getötet, und deswegen schämte er sich ein wenig. Trübes Wasser war jedoch stets geduldig gewesen, und so war er sicher, ihr Geist sei gewiss zum Warten bereit, während er Zelana vom Westen half, die Männer aus Maag ins Land Dhrall zu bringen, damit sie Langbogen unterstützten, alle Diener des Vlagh zu töten -und natürlich am Ende das Vlagh selbst. Langbogen glaubte, dass sich der Geist von Trübes Wasser in besonderem Maß freuen würde, wenn er den Kopf des Vlagh als Geschenk auf ihr Grab legte. 107 Spät an einem stürmischen Nachmittag kehrte die Seemöwe in das Dorf von Alter Bär zurück, und schon das Knattern ihres Segels kündigte sie an. Langbogen erkannte sogleich den Vorteil dieses Segels, aber wenn der Wind richtig hineinfuhr, konnte es großen Lärm verursachen. Wirst du nun fortgehen, Langbogen, mein Sohn, fragte Häuptling Alter Bär, als das Maagschiff ein Stück vor dem Kiesstrand den Anker warf. Es ist vermutlich im Interesse des ganzen Stammes, mein Vater, erwiderte Langbogen. Zelana vom Westen hat mir gesagt, die Maags könnten uns einen Weg zeigen, wie wir mehr Geschöpfe des Ödlands töten können, und das wird dem Geist deiner Tochter Trübes Wasser gefallen. Dann ist es richtig, wenn du gehst, mein Sohn, stimmte Alter Bär zu. Mach dir keine Sorgen, weil du abwesend sein wirst. Ich werde mich um das Grab von Trübes Wasser kümmern. Das würde ich begrüßen, mein Vater, sagte Langbogen. Vielleicht werden du und ich schon bald den Kopf des Vlagh selbst ans Grab deiner Tochter bringen können, und das sollte ihrem Geist gefallen. Jedenfalls würde es meinem gefallen, meinte Alter Bär zustimmend. Geh also, mein Sohn, und möge der Geist von Trübes Wasser über dich wachen. Es soll sein, wie du sagst, mein Vater, erwiderte Langbogen recht förmlich. Er ging durch das Dorf zum Kiesstrand, schob sein Kanu ins Wasser und nahm sein Paddel, um durch das kabbelige Wasser zur Seemöwe zu gelangen. Das Dorf und der Wald blieben hinter ihm, doch warf er keinen Blick zurück. 108 Hübsches kleines Skiff hast du da, Freund, sagte ein Kerl mit riesigen Händen und lehnte sich über die Reling der Seemöwe. Skiff? Langbogen verwirrte das Wort. Dieses kleine Boot, das du da hast. Es ist ganz schön schnell, oder? Es bringt mich dorthin, wo ich will. Sollen wir es an Bord holen? Das wäre das Beste. Ich kenne den Stamm der Seemöwe noch nicht, und falls ich nicht gut mit seinen Angehörigen auskomme, brauche ich das Kanu vielleicht, damit es mich nach Hause bringt. Der Mann mit den großen Händen lachte. Ich hätte auch einige Male ein Skiff aus dem gleichen Grund gebrauchen können. Fast mein ganzes Leben lang fahre ich nun schon zur See, und häufig hatte ich Ärger mit meinen Schiffskameraden. Du bist Langbogen, nicht wahr? So werde ich genannt. Mich nennen sie Schinkenpranke, sagte der Mann an der Reling. Ist kein großartiger Name, aber inzwischen habe ich mich daran gewöhnt. Komm an Bord, Langbogen. Der Käpt'n will dich sehen. Ich kümmere mich um dein Kanu. Ich sollte Zelana vom Westen mitteilen, dass ich hier bin, sagte Langbogen. Sie ist beim Käpt'n in der Kabine am Heck, erklärte Schinkenpranke. Noch in Lattash hat sie ihm seine Kabine abgenommen. Darüber war er nicht besonders glücklich, aber sie bezahlt uns schließlich, und so hat er nichts einzuwenden gehabt. Tagsüber benutzt er die Kabine noch für seine Arbeit, doch nach Sonnenaufgang liegt er in der Koje neben mir und Ochs. Langbogen reichte ihm das geflochtene Seil, das vorn an seinem Kanu befestigt war, und kletterte geschickt an Bord des Maagschiffes. Wo genau ist das Heck, fragte er. Das hintere Ende des Schiffes, erklärte Schinkenpranke. 109 Und wer ist derjenige, den du Käpt'n nennst, fragte Langbogen weiter. Dieses Wort kenne ich nicht. Als wir letztes Mal hier waren, hast du mit ihm gesprochen, antwortete Schinkenpranke. Er heißt Sorgan Hakenschnabel, und ihm gehört die Seemöwe. Das erklärt einiges. Wir Dhralls würden ihn wohl Häuptling nennen. Es bedeutet ungefähr das Gleiche, nehme ich an. Ich spreche mit ihm und lasse Zelana wissen, dass ich hier bin. Ich weiß nicht, ob du den Bogen mitnehmen solltest, meinte Schinkenpranke misstrauisch. Der macht den Käpt'n
vielleicht ein bisschen nervös. Den Bogen nehme ich überall mit hin, gab Langbogen knapp zurück. Wenn das den Leuten auf der Seemöwe nicht passt, kehre ich in den Wald zurück, wo ich hingehöre. Du brauchst dich nicht gleich aufzuregen, beschwichtigte ihn Schinkenpranke. Wir stehen doch alle auf der gleichen Seite. Langbogen grunzte und marschierte zum hinteren Teil des Schiffes. Dort lehnte ein stämmiger Dhrall mit flammend rotem Bart an einer niedrigen Hütte. Ich bin Rotbart aus dem Stamm von Weißzopf, stellte er sich eher förmlich vor. Und ich bin Langbogen aus dem Stamme von Alter Bär. Mir wurde gesagt, Sorgan Hakenschnabel wolle mit mir sprechen und Zelana vom Westen sei bei ihm. Sie sind dort drin, Langbogen aus dem Stamme von Alter Bär, sagte Rotbart und zeigte auf die rechteckige Öffnung in dem niedrigen Haus. Wir werden uns bald wieder sprechen, Rotbart aus dem Stamm von Weißzopf, erwiderte Langbogen. Die Förmlichkeit würde sicherlich nachlassen, wenn Rotbart und er sich besser kennen gelernt hatten, im Augenblick war sie jedoch angemessen. Das Kind Eleria lehnte sich aus der Öffnung, auf die Rotbart ge110 zeigt hatte. Er ist da, Geliebte, rief sie über die Schulter. Es ist derjenige, der seine ganze Zeit damit verbringt, jene zu töten, die er nicht mag. Du darfst das so nicht sagen, Kind, schalt Langbogen sie. Aber es ist die Wahrheit, oder? Vielleicht, doch ist es unhöflich, es einfach so zu sagen. Oh, puh, erwiderte sie. Dann streckte sie ihm die Arme entgegen. Trag mich. Hast du das Laufen verlernt? Nein, ich möchte nur getragen werden, das ist alles. Langbogen lächelte schwach, hob sie hoch und trug sie in die Hütte, die nach Pech roch und ein niedriges Dach hatte. Willkommen, Langbogen, sagte Zelana. Warum trägst du Eleria? Sie wollte es so, antwortete Langbogen, und mir hat es nichts ausgemacht. Er ist sehr nett, Geliebte, sagte Eleria. Er hat sich überhaupt nicht dagegen gewehrt, mich zu tragen. Dann küsste sie Langbogen auf die Wange. Du kannst mich jetzt absetzen. Langbogen ist kein Delphin, schalt Zelana. Ich weiß, pflichtete Eleria bei, doch er wird mir genügen, bis wir wieder zu Hause sind. Gelegentlich muss ich eben etwas küssen. Das weißt du doch. Zelana seufzte und verdrehte die Augen gen Himmel. Oh, ja, sagte sie. Das ist Sorgan Hakenschnabel aus dem Lande Maag, Langbogen. Ich nehme an, ihr seid euch schon begegnet. Ja, antwortete Langbogen. Er sah Sorgan an. Der Mann, der Schinkenpranke heißt, sagte mir, du wollest mich sprechen. Nicht so wichtig, Langbogen, meinte Sorgan. Ich wollte dich nur wissen lassen, dass wir versuchen werden, es dir während der Reise so bequem wie möglich zu machen. Brauchst du irgendetwas? 111 Langbogen zuckte mit den Schultern. Ein wenig Zeit zum Fischen jeden Tag, das ist alles. Gelegentlich bekomme ich Hunger. Du kannst mit der Mannschaft essen, Langbogen. Wir unterhalten uns später weiter. Jetzt sollten wir besser in See stechen. Sorgan stand auf und ging hinaus. Er spricht nicht in unserer Sprache, Zelana, oder, fragte Langbogen. Sie blinzelte. Woher weißt du denn das? Seine Lippenbewegungen passen nicht zu den Worten, die aus seinem Mund kommen. Irgendetwas verwandelt die Sprache in unsere, während er spricht. Zelana lachte amüsiert. Da wird mein Bruder aber verlegen sein, kicherte sie. Ich hätte es eigentlich selbst bemerken müssen. Du bist sehr aufmerksam, Langbogen. Habe ich dafür nicht meine Augen? Du wirst dich daran gewöhnen. Kommst du immer gleich auf den springenden Punkt zu sprechen? Er zuckte mit den Schultern. Das spart Zeit. Wirst du mir jetzt genau erklären, weshalb ich dich begleiten soll? Wie soll ich dir helfen, die Maags zu überreden, ins Land Dhrall zu kommen und die Diener des Vlagh für uns zu töten. Ich möchte, dass du Pfeile verschießt, Langbogen. Wen oder was soll ich töten? Du brauchst nichts zu töten, Langbogen, entgegnete sie. Wir werden Krieger aus dem Land Maag holen, die uns helfen, gegen die Geschöpfe des Ödlands zu kämpfen. Ich möchte, dass du Pfeile auf Dinge abschießt, die weit von dir entfernt sind, und so viele triffst wie möglich. Die Maags müssen erfahren, dass die Krieger in Dhrall so gefährlich sind wie die Krieger in Maag. Wir brauchen ihre Hilfe, aber wir brauchen auch ihren Respekt.
Langbogen dachte darüber nach. Gänse, denke ich, schlug er vor. 112 Wie war das, bitte? Die Menschen sind immer sehr erschrocken, wenn sie Gänse sehen, die mit einem Pfeil in der Brust aus dem Himmel fallen, erklärte Langbogen. Sie scheinen nicht zu begreifen, dass Pfeile Dinge in der Luft genauso gut treffen können wie Dinge auf dem Boden. Kannst du das wirklich, Langbogen, rief Eleria. Ich meine, kannst du mit deinem Bogen tatsächlich Gänse aus dem Himmel holen? Das ist nicht besonders schwierig, Kleine, sagte Langbogen. Gänse fliegen geradeaus, daher ist leicht abzuschätzen, wo dein Pfeil sie erreichen wird. Außerdem sind sie gut zum Essen, daher muss ich nicht ohne Grund töten. Das wäre nicht richtig. Ich glaube, den sollten wir bei uns behalten, Geliebte, sagte Eleria. Wenn du ihn nicht willst, kann ich ihn dann haben? Angesichts dieser Äußerung erschrak Langbogen denn doch ein wenig.
10 Rotbart schläft bei den Maags, die Sorgan die Mannschaft nennt, erklärte Zelana Langbogen später am Nachmittag. Er ist ein freundlicher Kerl, aber auch sehr aufmerksam. Wir müssen mehr über die Maags in Erfahrung bringen, und das erledigt Rotbart für uns. Ich glaube, du solltest hier bei mir und Eleria schlafen. Wir sagen den Maags, du seiest meine Wache, damit niemand auf dumme Gedanken kommt. Der eigentliche Grund ist jedoch, dass ich dich so weit wie möglich von den Maags fern halten möchte. In einer Weile führst du etwas sehr Spektakuläres mit deinem Bogen vor, und es wäre gut, wenn in den Stimmen der Maags der Seemö113 we eine gehörige Portion Ehrfurcht mitschwingt, während sie es den anderen Maags erzählen. Langbogen zuckte mit den Schultern. Was auch immer dir recht ist, erwiderte er. Wie lange soll es dauern? Nicht zu lange, antwortete sie. Sorgan nimmt Gold mit nach Maag zurück. Wenn er es den anderen Maags zeigt, scharen die sich vermutlich um ihn wie Aasgeier. Sie runzelte die Stirn. Sie werden doch nicht wie Aasgeier über uns herfallen, fragte sie. Es ist eine Möglichkeit, die wir im Auge behalten sollten, meinte Langbogen. Ich beobachte sie. Falls sie zu hungrig werden, gibt es Wege, sie davon zu überzeugen, jemand anderen zu essen. Langbogen stand beim ersten Tageslicht des folgenden Morgens auf, und überrascht fand er Zelana wach vor. Du schläfst nicht viel, wie, fragte er sie. Ich brauche keinen Schlaf, Langbogen, sagte sie. Warum stehst du so früh auf? Ich dachte, es wäre nützlich, wenn ich diese Maags ein wenig besser kennen lerne. Je mehr ein Jäger über seine Beute weiß, desto erfolgreicher wird seine Jagd sein. Du willst sie doch nicht töten, Langbogen? Nein, sagte er rasch, doch einfangen ist manchmal schwieriger als töten. Er nahm seinen Bogen und ging hinaus ins graue Licht des Morgens. Nur eine schwache Brise wehte, doch sie genügte Langbogen, um festzustellen, dass sie von Osten kam, was für diese Zeit des Jahres sehr ungewöhnlich war. Offensichtlich hatte Zelana dabei ihre Finger im Spiel. Von der Spitze der Seemöwe her hörte er ein klingendes Geräusch, und er ging nach vorn, um nach der Quelle zu suchen. Ein kleiner Maag stand vorn an der Seemöwe und schlug auf etwas ein, das glühte, als befände sich tief in seinem Inneren Feuer. 114 Was ist das, fragte Langbogen neugierig, und warum schlägst du darauf ein? Es heißt Eisen, erklärte der kleine Maag, und ich forme es mit meinem Hammer. Schinkenpranke hat kürzlich sein Messer abgebrochen, und ich soll ihm ein neues schmieden. Er ist ungeschickt, deshalb macht er ständig etwas kaputt. Wo findest du dieses Eisen? Ich habe keine Ahnung, wo es herkommt, denn ich muss nur damit arbeiten. Selbst suchen brauche ich es nicht. Du bist dieser Langbogen, ja? So nennt man mich. Glüht das Eisen immer? Nein, ich muss es zuerst in meinem Feuer erhitzen. Dadurch wird es weich und ist leichter zu bearbeiten. Ich heiße übrigens Hase - vermutlich, weil ich früher manchmal vergessen habe zu wachsen. Jedenfalls stellen wir all unsere Waffen und Werkzeuge aus Eisen her. Eine meiner Aufgaben auf der Seemöwe besteht darin, Angelhaken aus Eisen zu machen. Schön, dass du vorbeigeschaut hast. Der Käpt'n meinte, ich könnte vielleicht ein paar Pfeilspitzen für dich hämmern. Im Lande Dhrall benutzen wir Pfeilspitzen aus Stein, erklärte ihm Langbogen. In der Vergangenheit haben sie uns gute Dienste geleistet. Ich sehe keinen Grund, weshalb ich daran etwas ändern sollte. Darf ich einen deiner Pfeile sehen?
Natürlich. Langbogen nahm einen Pfeil aus seinem Köcher und reichte ihn dem kleinen Mann. Hase begutachtete den Pfeil genau. Machst du diese Spitzen selbst, fragte er. Gewiss. Wenn ich damit schießen will, muss ich davon ausgehen können, dass sie ordentlich bearbeitet wurden. Es muss eine ganze Weile dauern, eine zu machen, merkte Hase an, und vermutlich haben nicht alle das gleiche Gewicht, oder? 115 Aber fast. Pass auf, ich hämmere dir ein paar aus Eisen, und dann kannst du sie dir anschauen. Die werden dich bestimmt überraschen. Die werte Dame, die hier über alle den Befehl hat, sagte mir, dass ihr in gar nicht langer Zeit sehr viele Pfeile brauchen werdet, doch sie ist nicht mit der ganzen Sache herausgerückt und verschwieg mir, was es damit auf sich hat. Ich werde zur Unterhaltung deines Volkes ein paar Gänse schießen, sagte Langbogen ihm. Das erklärt, wozu du so viele brauchst, meinte Hase. Wenn du sie aus der Luft holen willst, benötigst du eine Menge Pfeile. Man kann sie leicht wieder finden, Hase. Die toten Gänse treiben auf dem Wasser, daher habe ich keine Schwierigkeiten, meine Pfeile zurückzuholen. Und was ist mit denen, die keine Gänse treffen? Das kommt nicht vor. Willst du mir etwa erzählen, du würdest nie daneben schießen? Es wäre nicht sehr nützlich, das Ziel zu verfehlen. Wie machst du diese Pfeilspitzen aus Eisen? Wie ich schon sagte, erhitze ich das Eisen im Feuer, bis es zu glühen beginnt. Dann ist es weich genug, um es in die Form zu hämmern, die ich will. Eine weiche Pfeilspitze ist aber nicht sehr nützlich, Hase. Das Eisen bleibt nicht weich. Nachdem ich es in die richtige Form gehämmert habe, tauche ich es in kaltes Wasser, und es wird wieder hart. Langbogen schaute zum Strand, der gemächlich an ihnen vorbeiglitt, während die Seemöwe nach Westen unterwegs war. Wenn wir Pfeile machen wollen, brauchen wir Schäfte. Ich glaube, es wird nicht mehr lange dauern, bis die Seemöwe das Land Dhrall hinter sich lässt, also sollten du und ich am besten zum Strand ge116 hen und Schösslinge schneiden, ehe wir mit der Herstellung der Pfeilspitzen beginnen. Ich spreche mit Sorgan und sage ihm, was wir vorhaben. Das klingt sinnvoll, stimmte Hase zu. Uns bleibt genug Zeit, Pfeilspitzen zu hämmern, wenn wir erst auf dem offenen Meer sind. Es ist weit von Dhrall nach Maag - viel weiter, als dem Käpt'n eigentlich klar ist. Aber dir ist es klar, oder, fragte Langbogen schlau. Hase blickte sich rasch um und vergewisserte sich, dass niemand in der Nähe war. Ich denke, dem Kapitän gegenüber solltest du das besser nicht erwähnen, Langbogen, sagte er leise. Er achtet nicht viel auf den Himmel, nachdem die Sonne untergegangen ist, aber wenn man weiß, wonach man sucht, kann man nach dem Stand bestimmter Sterne den eigenen Aufenthaltsort bestimmen. Als diese Meeresströmung die Seemöwe packte, hat sie das Schiff viel weiter nach Osten verschlagen, als der Kapitän - oder sonst jemand - bemerkt hat. Du bist ein kluger Mann, Hase, bemerkte Langbogen. Warum gibst du dir so viel Mühe, es zu verbergen? Hase zuckte mit den Schultern. Das macht das Leben einfacher, antwortete er mit einem verschlagenen Grinsen. Wenn der Kapitän und Ochs und Schinkenpranke nicht erkennen, dass ich außer Luft noch mehr in meinem Kopf habe, erwarten sie auch nicht viel von mir. Falls sie herausfinden, dass ich meine rechte von meiner linken Hand unterscheiden kann, geben sie mir vielleicht Aufgaben, die nicht so einfach zu erledigen sind wie jene, die ich jetzt zu tun habe. Ich habe immer geglaubt, dass leicht viel angenehmer ist als schwer, oder? Dein Geheimnis ist bei mir sicher, Hase. Eines Tages jedoch -und ich glaube, dieser Tag ist nicht mehr fern werden du und ich allerdings das Land des Schweren erkunden müssen. Und dann könnte unser Leben davon abhängen, wie gut wir sind. 117 Das konntest du dir wohl nicht verkneifen, Langbogen, wie, sagte Hase säuerlich. Ich wollte dich nur warnen, das ist alles. Einige Tage später wandte sich die Seemöwe nach Westen, und das Land Dhrall blieb hinter ihnen zurück und verschwand bald am östlichen Horizont. Das offene Meer ließ Langbogen unruhig werden. Er war ein Wesen des Waldes, und die leere Weite der Mutter Meer bedrückte ihn. Auch verspürte er Schuldgefühle, weil er seine Lebensaufgabe vernachlässigte. Er hätte im Wald sein und die Diener des Vlagh töten sollen, oder auf dem Friedhof bei dem Grab von Trübes Wasser. Seine Gedanken schweiften zurück zu seiner Begegnung mit Zelana vom Westen und dem Kind Eleria. Zelana herrschte über den Westen, und ihr Befehl hätte ihm Gesetz sein müssen, doch war es nicht das Wort Zelanas, aufgrund dessen er sie in das Land Maag begleitete; es waren die klugen Worte des Kindes Eleria gewesen. Ihre Andeutung, die Maags könnten eine Möglichkeit eröffnen, mehr Diener des Vlagh in kürzerer Zeit zu töten, als er in seinem ganzen Leben erlegen könnte, hatte ihn an Bord der Seemöwe getrieben. Je mehr er darüber nachdachte, desto seltsamer erschien es ihm. Wäre Zelana allein zu ihm gekommen, hätte er sich ihrer Bitte leicht verweigern und seine Jagd fortsetzen können. Bei Eleria war ihm das nicht gelungen. In
gewisser Weise war Eleria wesentlich überzeugender als Zelana selbst, und das ließ interessante Möglichkeiten erahnen. Vielleicht war es keine schlechte Idee, sowohl Zelana als auch Eleria mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Da ging Sonderbares vor sich. Hakengabel glaubt ihr nicht, Langbogen, sagte Eleria ein paar Tage später, als sie allein in der Pechverschmierten Kabine am Heck 118 der Seemöwe waren. Wie gewöhnlich saß Eleria auf Langbogens Schoß. Sie hatte noch nicht versucht, auf seinem Schoß zu sitzen, während er stand, doch sicherlich würde der Tag kommen, an dem sie auch das ausprobierte. Als die Geliebte ihm erzählte, dass deine Pfeile immer dorthin fliegen, wo du willst, erwiderte er, niemand bringe das zustande. Hakengabel, fragte Langbogen neugierig. Er scheint sehr eingenommen von sich zu sein, sagte Eleria und grinste dabei frech. Wenn ich ihn Hakengabel nenne, bringt ihn das durcheinander. Das ist aber ein bisschen unhöflich, Kleine. Ich weiß, räumte sie ein. Macht aber Spaß. Langbogen lachte. Eleria war eine Freude, und deswegen stellte sie wohl eine größere Gefahr dar als Zelana. Spaß ist keine schlechte Sache, Langbogen, sagte sie und rieb die Nase wie ein kleines Kätzchen an seiner Wange. Warum sprichst du nicht mit Zelana, schlug Langbogen vor. Jetzt wäre doch kein schlechter Zeitpunkt, um einen Schwärm Gänse über die Seemöwe fliegen zu lassen. Vertreiben wir also Hakengabels Zweifel, damit er seine Sorgen los ist. Das wäre schön, stimmte Eleria zu. Und dann kicherte sie. Es war kein großer Schwärm, bemerkte Langbogen, als die Gänse von Norden kamen, kurz bevor die Sonne in einer rot leuchtenden Wolkenbank tief am westlichen Horizont versank - nur sechs oder höchstens sieben Vögel. Die sollten jedoch genügen, um aus Hakenschnabel einen Gläubigen zu machen. Langbogen nahm eine Hand voll seiner neuen Pfeile mit Eisenspitze und seinen Bogen und ging zum Heck der Seemöwe, wo Sorgan, Ochs und Schinkenpranke die meiste Zeit verbrachten. So langsam kann ich keinen Fisch mehr sehen, SorganKapitän, sagte er höflich. Würde es dich beleidigen, wenn ich uns etwas anderes zu essen besorge? 119 Was hast du denn im Sinn, fragte Sorgan. Die da, antwortete Langbogen und zeigte auf die Gänse. Bislang habe ich keinen Beitrag zum Essen auf der Seemöwe geleistet, und das ist unhöflich. Diese Gänse wären doch sicherlich eine willkommene Abwechslung für dich und deine Männer. Die Gänse sind aber ziemlich hoch in der Luft, meinte Schinkenpranke misstrauisch. Noch nicht hoch genug, versicherte Langbogen ihm. Ochs blinzelte nach Westen, und der flammende Sonnenuntergang überzog sein Gesicht mit Rot. Die Sonne geht unter, Langbogen, sagte er. Wenn du ein oder zwei der Gänse triffst, hättest du schon einiges Glück, aber es wird nicht leicht, sie im Wasser zu finden, oder? Ich werde tun, was ich kann, um es euch zu erleichtern, versprach Langbogen. Sorgsames Zielen war notwendig, doch Langbogen hatte sich den Zeitpunkt selbst ausgesucht. Die Gänse abzuschießen bildete keine Schwierigkeit für ihn. Allerdings war es nicht ganz so leicht, sie aufs Deck der Seemöwe anstatt ins Wasser fallen zu lassen - aber auch keineswegs unmöglich. Nicht lange, nachdem Langbogen mit Hakenschnabel gesprochen hatte, regnete es Gänse aufs Deck der Seemöwe, und Sorgan und seine Männer behandelten Langbogen plötzlich mit wesentlich größerem Respekt und einer großen Portion Ehrfurcht. Daran war Langbogen gewöhnt. Die Männer von Alter Bars Stamm betrachteten ihn bereits mit ganz ähnlicher Miene, seit er noch sehr jung gewesen war. 120
11 Sie ist viel älter, als sie aussieht, Langbogen, erzählte Hase am nächsten Morgen. Wie ich die Geschichte gehört habe, war sie ein ziemlich abgewrackter Kahn, als der Käpt'n sie von ihrem Vorbesitzer, einem alten Maag, kaufte. Der Käpt'n, Ochs und Schinkenpranke haben länger als ein Jahr gebraucht, um sie auf Vordermann zu bringen. Und das Erste, was sie gemacht haben, war dies. Hase stampfte mit einem Fuß auf das Deck. Bis dahin war die Seemöwe eigentlich nur ein offenes Ruderboot. Sie haben ein Deck eingezogen und diese langen schmalen Luken für die Ruder eingebaut. Ich denke, die Ruderer sollten dadurch vor schlechtem Wetter geschützt werden, aber der Hauptgrund war wahrscheinlich, sich Platz zum Kämpfen zu schaffen. Wenn du von einem Schiff zum anderen springen sollst und das Wasser dabei kabbelig ist, musst du dich schnell bewegen. Falls nicht, wirst du möglicherweise nass. Das ergibt Sinn, nehme ich an, räumte Langbogen ein. In Dhrall kämpfen wir nicht auf dem Antlitz von Mutter Meer. Es ist keine gute Idee, sie zu verärgern. Wir kommen ganz gut mit ihr aus, meinte Hase. Jedenfalls war der Einfall, ein Langschiff mit einem Deck auszustatten, ziemlich neu. Erst vor ungefähr zwanzig Jahren hat ein Schiffsbauer unten in Gaiso diese Idee
gehabt - bestimmt, weil irgendein Käpt'n seine eigene Kabine wollte, damit er nicht bei der Mannschaft schlafen muss. Manche Käpt'ns sind halt ein wenig hochnäsig. Ist es für die Ruderer nicht schwierig zu steuern, wenn sie nicht sehen können, wohin sie fahren, wollte Langbogen wissen. Na, an dem Punkt kommt das Ruder ins Spiel. Schau mal nach hinten zum Heck, da steht Ochs und hält einen Griff in den Händen, der mit einer Stange verbunden ist. Diese Stange geht bis run121 ter ins Wasser, und dort ist ein großes flaches Brett an der Stange befestigt. Es heißt Ruder, und damit kann man das Schiff in die eine oder die andere Richtung steuern, je nachdem, nach welcher Seite Ochs den Griff zieht. Die Ruderer erledigen das Rudern, doch Ochs steuert. Hase grinste. Ich brauche diese Aufgabe nicht sehr häufig zu übernehmen. Man muss schon ziemlich kräftig sein, um ein Schiff wie die Seemöwe zu steuern. Ochs ist sehr gut darin. Er besteht von Kopf bis Fuß nur aus Muskeln. Wahrscheinlich könnte er sogar etwas hochheben, das nur eine Seite hat. Ich habe noch nicht viele Dinge gesehen, die nur eine Seite haben, merkte Langbogen an. Nun, sie sind in der Tat recht selten, stimmte Hase zu. Wir glauben, es ist der schönste Ort der Welt, erzählte Hase Langbogen und Eleria ein paar Tage später, als die drei vorn am Bug der Seemöwe saßen. Natürlich, ich bin dort aufgewachsen, und jeder denkt immer, dass es in der Welt keinen schöneren Ort gibt als den, an dem er aufgewachsen ist. Es ist doch schön, wenn du der Heimat deiner Kindheit treu bist, Hase, sagte Langbogen. Treue zu Orten und Menschen ist der Anfang von Ehre. Mir geht es ganz genauso mit den Wäldern von Dhrall. Ach, so sehr geht es mir nicht um die Ehre, Langbogen, gestand Hase. Gleichgültig, wohin ich auch gehe oder wem ich mich auch anschließe, ich bin immer der Zwerg des Wurfs. Jeder Maag, den ich kennen gelernt habe, scheint zu glauben, größer sei besser, und deshalb denken sie stets, ich sei nicht viel wert, weil ich klein und schmächtig bin. Aber dir gefällt es, oder, Häschen, meinte Eleria gescheit. Du willst den andern doch vormachen, dein Verstand sei genauso schmächtig wie dein Körper. Deshalb redest du immer so dumm, wenn jemand von ihnen in der Nähe ist, nicht? 122 Häschen, protestierte Hase. Klingt doch viel netter, erklärte Eleria ihm von ihrem mittlerweile Angestammten Platz auf Langbogens Schoß aus, und ich finde dich nett, weil du fast so winzig bist wie ich. Langbogen ist einer von den Großen, daher versteht er uns Winzlinge nicht. Ich mag ihn gern, aber er hat einige Fehler. Na ja, niemand ist perfekt außer der Geliebten, versteht sich. Eleria ist sehr klug, Hase, sagte Langbogen zu dem kleinen Maag, und du solltest besser wissen, dass sie dich manchmal dazu bringen kann, Dinge zu tun, die du eigentlich lieber nicht tun würdest. Wenn Zelana Eleria nicht mitgebracht hätte, als sie mich aufsuchte, wäre ich noch im Wald. Ich hatte mein Nein schon halb heraus, da ließ Zelana Eleria auf mich los. Kurz darauf habe ich mein Nein runtergeschluckt. Eleria streckte Langbogen die Zunge heraus, dann lachte sie. Du musst dich vor ihm hüten, Häschen, warnte sie. Er beobachtet die ganze Zeit und sieht die Dinge, die andere verbergen wollen. Ich schätze, jeder hat etwas zu verbergen, aber die meisten haben damit kein Glück, wenn sie es mit Langbogen zu tun bekommen. Das ist mir schon aufgefallen, antwortete Hase trocken. Seit meiner Kindheit habe ich mich dumm gestellt, und immer hat es mir jeder geglaubt, aber Langbogen hat mich durchschaut, ehe ich mich zweimal umgedreht hatte. Er hielt inne und zog eine Augenbraue leicht in die Höhe. Aber da wir schon einmal beim Thema sind, solltest du vielleicht erfahren, Eleria, dass Langbogen und ich uns durch dein dummes Spielchen nicht täuschen lassen. Du grinst und kicherst viel, aber Langbogen und ich wissen, dass du unter der Oberfläche hart wie Eisen bist. Du kriegst immer, was du willst. Aber, aber, Häschen, sagte Eleria und täuschte die Verdrossene vor, was sagst du da? Ich bin geschockt. Wirklich geschockt. 123 Wir werden das nicht die Runde machen lassen, ja, meinte Hase zu beiden. Jeder von uns dreien hat seine Eigenheiten, die die anderen auf der Seemöwe nicht erfahren müssen, oder? Wenn sie es selbst nicht bemerken, würden sie uns vermutlich auch nicht glauben, wenn wir es ihnen erzählten, stimmte Langbogen zu. Da kommt jemand, warnte Eleria leise. Wie heißt dieser Ort, wo du aufgewachsen bist, Hase, fragte Langbogen und sprach ein wenig lauter. Das Volk von Maag nennt ihn Weros, antwortete Hase und verfiel wieder in seine gewohnte leicht schleppende Redeweise, und alle wollen dorthin, um sich eine schöne Zeit zu machen. Ein richtiger Maag geht meilenweit, um sich eine schöne Zeit zu machen. Er blickte beiläufig über die Schulter zu dem Seemann, der gerade ein Tau aufknotete. Gleich darauf drehte sich der Mann um und kehrte zum Großmast zurück. Wenn ich die Stellung der Sterne richtig gedeutet habe, erreichen wir übermorgen den Hafen von Weros - was eigentlich unmöglich ist, weil wir viel weiter von daheim entfernt waren, als Sorgan und der Rest der Mannschaft begriffen haben. Das würde ich nicht unbedingt verbreiten, Häschen, meinte Eleria. Sie müssen nicht wissen, wie weit es von
Maag nach Dhrall ist, und die Geliebte möchte eigentlich auch nicht, dass sie es herausfinden. Sie braucht eine Armee, und die Menschen, die sie will, sind vielleicht nicht bereit, so weit von ihrer Heimat Fortzugehen. Wie haben wir das so schnell geschafft, fragte Hase. Die Geliebte kann viele Dinge geschehen lassen, die sie geschehen lassen will, Häschen, erklärte Eleria. Willst du wirklich genau wissen, wie sie das macht? Dieser Gedanke schien Hase zu erschrecken. Er schluckte. Ah, stammelte er, nein, ich glaube nicht. Ist er nicht süß, sagte Eleria zu Langbogen. Dann rutschte sie 124 vom Schoß des großen Dhralls herunter und ging zu dem kleinen Maag. Küsschen, Häschen, sagte sie. Was? Hase war verwirrt. Das ist eine ihrer Angewohnheiten, sagte Langbogen. Es tut nicht weh und macht sie glücklich, also haben wir uns damit abgefunden. Pst, Langbogen, verlangte Eleria. Dann schlang sie die Arme um Hases Nacken und küsste ihn innig. Du solltest mal ein Bad nehmen, Häschen, fügte sie hinzu und rümpfte die Nase. Ich habe mich erst vor einem Monat gewaschen, protestierte er. Dann ist es mal wieder Zeit, Häschen. Bald. Bitte! Das Wetter wurde schlecht, und im Verlauf der beiden nächsten Tage, während die Seemöwe beharrlich nach Westen zog, war es stürmisch und regnerisch. Langbogen war an Regen gewöhnt, da die Nordwestküste von Dhrall gewissermaßen die Regenecke des Landes war. Die Maagseeleute bekamen jedoch schlechte Laune, und die Stimmung an Bord war düster, bis endlich im Dunst des steten Nieseins tief am westlichen Horizont die Küste von Maag auftauchte. Die Maagstadt Weros lag am Ende einer schmalen Bucht, und die Ruderer der Seemöwe nahmen trotz des Wetters ohne das gewohnte Murren ihre Plätze ein. Anscheinend stimmte es die Seeleute fröhlich, dass sie nach so langer Zeit nach Hause kamen. Weros war eine ansehnliche Stadt, obwohl die Häuser alle dicht aneinander standen, als fürchteten die Bewohner sich vor der Einsamkeit. Die schlammigen Straßen führten in alle möglichen Richtungen und ließen den Verdacht aufkommen, dass die Menschen, die sie angelegt hatten, sich zuvor keine großen Gedanken über ihren Verlauf gemacht hatten. Die meisten Gebäude waren aus viereckigen Baumstämmen gebaut, deshalb wirkten sie weitaus stabi125 ler als die Hütten von Alter Bars Stamm in Dhrall. Mit Eisenwerkzeugen konnte man offensichtlich bessere Häuser bauen. Eine Rauchwolke trieb aus der Stadt und verhüllte die nahen Felder. Lange Anleger ragten vom Ufer ins Wasser, und dort lagen viele Langschiffe der Maags, und weitere ankerten draußen im Hafen. Während die Seemöwe sich der Stadt näherte, trug eine Böe einen widerlichen Gestank über das Wasser heran. Langbogens Nase war sehr empfindlich, schließlich war er Jäger, und er hoffte, sie würden nicht lange in Weros bleiben müssen. Die Seeleute warfen die schweren Eisenanker an beiden Enden der Seemöwe, und Eleria gesellte sich zu Langbogen. Die Geliebte bat mich, dich aufzusuchen, sagte sie. Hakengabel will uns erklären, wie er die anderen Kapitäne der Maag überzeugen will, dass sich ein Besuch des Landes Dhrall lohnen könnte. Die Maags würden vermutlich fast alles tun, um von diesen viereckigen Goldklumpen so viele zu bekommen, wie ihre Schiffe tragen können. Dinge zu besitzen ist den Maags anscheinend wichtig, merkte Langbogen an. Das macht es uns leicht. Um das Gold zu besitzen, werden sie tun, was wir wollen, aber am Ende werden wir sie besitzen. Schauen wir mal, was Hakengabel zu sagen hat. Eleria streckte ihm die Arme entgegen. Du kannst mich tragen, wenn du möchtest. Natürlich, sagte Langbogen und nahm sie auf die Arme. Offensichtlich spielte Körperkontakt eine wichtige Rolle für Eleria, wenn sie jemanden überreden wollte, das zu tun, was sie wollte. Zelana erteilte Befehle, aber Eleria bezauberte. Absicht und Ergebnisse waren bei beiden für gewöhnlich gleich, aber Elerias Vorgehensweise war charmanter. Langbogen trug Eleria zu Sorgans Kabine am Heck der Seemöwe. Ochs und Schinkenpranke waren bereits anwesend, ebenso wie Rotbart. Die beste Art, die Aufmerksamkeit der Menschen sofort zu erregen, besteht meiner Ansicht nach darin, ihnen Gold zu zei126 gen, sagte Sorgan gerade, und so werden wir es machen. Ochs, ich möchte, dass du und Schinkenpranke verbreitet, im Kielraum der Seemöwe befänden sich stapelweise Goldbarren. Vermutlich wird das niemand glauben - was unserem Plan entgegenkommt Sobald ein Kapitän behauptet, ihr würdet lügen, sagt ihm, ihr würdet ihm das Gold gern zeigen, wenn er das will. Bringt nicht mehr als zwei oder drei gleichzeitig auf die Seemöwe und lasst durchblicken, dass hier an Bord uneingeladene Gäste nicht sehr herzlich willkommen geheißen werden. Lasst keine gewöhnlichen Matrosen oder Herumtreiber aus den Schenken auf das Schiff kommen, auch verschwendet keine Zeit mit denjenigen, die sich zwar Kapitän nennen, doch nur ein großes Ruderboot mit fünfzehn oder zwanzig Mann Besatzung ihr Eigen nennen. Wir wollen ausnahmslos die Kapitäne richtiger Langschiffe mit richtiger Besatzung. Ich will hier keinen sehen, der nicht wenigstens achtzig Mann unter seinem Kommando stehen hat. Und vergesst nicht, wir wollen keinen Krawall, also nicht mehr als zwei oder drei Kapitäne auf einmal.
Verstanden, Käpt'n, sagte Ochs. Ich und Schinkenpranke sollen aufpassen, dass nicht mehr Besucher an Bord sind, als die Mannschaft in Schach halten kann. Haben eure Menschen wirklich auch kleine Boote, Hakengabel, fragte Eleria. Sorgan gab einen unanständigen Laut von sich. Die meisten sind Schmarotzer, antwortete er. Sie nennen sich Kapitän der Maags, aber ihre Boote sind allenfalls alte Fischerkähne, und die Männer an Bord wissen nichts übers Kämpfen. Ein richtiges Maaglangschiff ist mindestens hundert Fuß lang, und es hat wenigstens achtzig Mann an Bord - fünfzig Ruderer, fünfundzwanzig, die für das Segel zuständig sind, drei Offiziere, ein Koch, ein Schmied und ein Zimmermann. Er blickte Zelana an. Wie bald brauchst du die Flotte, die wir zusammenstellen sollen, erkundigte er sich. 127 Wir haben ein wenig Zeit, Sorgan, erwiderte sie. Die Geschöpfe des Ödlands sind noch nicht bereit, uns anzugreifen. Demnach bleibt uns Zeit bis zum Frühjahr, nicht wahr? Niemand wird bei klarem Verstand versuchen, eine Armee im Winter über die Berge zu führen. Das Vlagh denkt da möglicherweise anders. Es kümmert sich nicht darum, wie viele seiner Diener auf dem Marsch sterben, wenn es ein Ziel ins Auge gefasst hat. Die Maagflotte sollte an den Küsten von Dhrall eintreffen, ehe der Schnee liegen bleibt. Bis dahin sind es nur ungefähr zwei Monate, werte Dame Zelana, protestierte Sorgan. In dieser kurzen Zeit kann ich nicht so viele Schiffe zusammenbringen. Sie befinden sich nicht alle an einem Ort, daher muss ich sie erst auftreiben. Zum Winteranfang könnte ich eine Vorhut dort postiert haben, doch für die Hauptflotte brauche ich mehr Zeit. Ich schätze, sechshundert Schiffe sollten genügen. Mit achtzig und mehr Männern an Bord von jedem steht dir dann eine große Armee zur Verfügung - fünfzigtausend Mann in etwa. Das Schwierigste ist es, mit all den Kapitänen Verbindung aufzunehmen. Viele kreuzen auf See und halten nach den Schatzschiffen der Trogiten Ausschau. Wären sie dann nicht zwischen uns und dem Land Dhrall, warf Rotbart ein. Ich nehme an, ja. Wieso? Wir könnten sie unterwegs aufsammeln, oder? Das ist offenes Meer, Rotbart. Wenn diese Schiffe nicht genau auf unserem Weg liegen, werden wir sie nicht einmal zu Gesicht bekommen. Gibt es mittlerweile Wege auf Mutter Meer, hakte Rotbart milde nach. Davon habe ich noch nicht gehört. Gibt es einen Grund, den ich nicht kenne, weshalb alle Schiffe der Flotte hinter der Seemöwe hersegeln müssen? Wäre es nicht besser, wenn sie sich verteilen, während sie zum Land Dhrall unterwegs sind? Ich habe 128 schon oft auf Mutter Meer gefischt und über die Jahre bemerkt, dass man mehr Glück in Gewässern hat, wo nicht kürzlich gerade andere Fischer waren. Nun ..., begann Sorgan, ließ jedoch unausgesprochen, was immer er sagen wollte. Es wäre trotzdem deine Flotte, Sorgan Hakenschnabel, versicherte ihm Zelana. Alle Maags auf den anderen Schiffen würden ebenfalls unter deinem Kommando stehen. Aber müssen sie unbedingt den ganzen Weg nach Dhrall an deinen Schwanzfedern kleben? Sorgan schaute ein wenig verlegen drein. Ich hatte nie zuvor eine ganze Flotte hinter mir, gestand er ein. Ich wollte einmal sehen, wie sich diese Schiffe an einer Stelle versammeln, die zu meiner Flotte gehören. Das ist ein bisschen kindisch, wie? Ein Kind zu sein ist schon in Ordnung, Hakengabel, meinte Eleria. Ich zum Beispiel habe in letzter Zeit sehr viel Spaß gehabt. Sorgan seufzte. Ich schätze, es wäre besser, wenn sich die Flotte hinter uns verteilt, damit sie weitere Schiffe aufsammeln kann, sagte er voller Bedauern. Du bist ein guter Junge, sagte Eleria liebevoll. Was hat es mit dieser Sache auf sich, Sorgan? Ein hagerer Maagkapitän aus der ersten Gruppe, die Sorgan zu einem Besuch an Bord der Seemöwe im Hafen von Weros eingeladen hatte, stellte die Frage, während er die Strickleiter zum Deck hinaufkletterte. Komm mit in meine Kabine, und ich erkläre es dir, erwiderte Sorgan und betrachtete die beiden anderen Maags in dem Boot, die Ochs gerade zur Seemöwe gerudert hatte. Langbogen folgte ihnen auf dem Weg zum Heck. Zelana und Eleria standen am Bug und schauten hinüber zur Stadt Weros, daher war die Kabine im Augenblick leer. 129 Wer ist der, wollte einer der anderen Maags wissen und zeigte auf Langbogen. Das ist Langbogen. Er arbeitet für die Dame, die mich bezahlt, damit ich eine Flotte für sie zusammenstelle. Können wir offen vor ihm reden? Er weiß, worum es geht, Vetter Tori, gab Sorgan zurück. Hat Ochs dir nicht von dem Gold erzählt, das wir unten im Schiff gestapelt haben? Der hagere Maag schnaubte. Du denkst doch nicht im Ernst, ich würde ihm das abnehmen, was?
Wir gehen gleich runter. Drüben in einem Lande namens Dhrall zieht ein Krieg auf, und die Dame, die dort sozusagen das Sagen hat, braucht Männer, die richtig kämpfen können und sich mit ihrem Volk verbünden. Und sie zahlt mit Gold. Ich habe ungefähr hundert Barren bei mir, damit ich den Kapitänen, die ich für wert befinde, sich uns anzuschließen, beweisen kann, dass ich die Wahrheit sage. Ich fürchte, du hast den Verstand verloren, Sorgan. Niemand, der noch alle fünf Sinne beisammen hat, winkt einem Maagkapitän mit Gold. Deshalb unterhalten wir uns ja gerade, Tori, antwortete Sorgan. Ich würde mich viel besser fühlen, wenn ich eine Anzahl Verwandter bei mir wüsste, sobald ich anfange, das Gold herumzuzeigen. Das ergibt schon Sinn, nehme ich an. Wo ist dieses Dhrall überhaupt, Sorgan? Ein ganzes Stück östlich von hier. Wenn ich recht verstanden habe, steht dieser Dame mit ihrem Gold keine richtige Armee zur Verfügung, fragte Tori. Das würde dir wohl so passen, Tori. Das ist Langbogen, und ich habe nie zuvor jemanden gesehen, der ihm auch nur im Mindesten das Wasser reichen könnte, wenn es ums Bogenschießen geht. Aber die Dame Zelana hat nicht genügend Männer, um gegen ihren Feind zu kämpfen. An dem Punkt kommen wir ins Spiel. Im Augenblick 130 möchte ich vor allem erst einmal unseren Verwandten Bescheid geben. Weißt du zufällig, wo sich Malar und Skell herumtreiben? Tori kratzte sich am Kopf. Also, das Letzte, was ich von Malar gehört habe, ist, dass er mit seiner Mannschaft in Gaiso auf den Putz haut. Er hatte eine Glückssträhne, und jetzt feiern sie. Du kennst ja unseren Vetter. Wenn er einmal mit dem Feiern angefangen hat, geht es weiter, bis er kein Geld mehr hat. Könntest du ihm vielleicht eine Nachricht zukommen lassen, dass ich über ein Geschäft mit ihm reden will? Ich werde sehen, was ich tun kann. Wir müssen allerdings warten, bis er wieder nüchtern ist. Und wo ist Skell? Die Küste aufwärts in Kormo. Sein Schiff muss repariert werden, nachdem ihn ein Trogitenschiff vor der Nordostküste gerammt hat. Das solltest du übrigens wissen, Sorgan: Die Trogiten haben angefangen, den Bug ihrer Schiffe zu verstärken, und zwar mit etwas, das sie Rammsporn nennen. Eine richtig dicke Stange, deren Spitze mit Eisen eingefasst ist. Der Sporn ragt vorn aus dem Trogitenschiff heraus, genau an der Wasserlinie. Die Trogiten geben nicht mehr einfach auf und springen über Bord, wenn sie uns sehen. Sie rudern mit ihren Schiffen stattdessen genau auf uns zu, und der Rammsporn bricht ein Loch in die Flanke, durch das ein Mann spazieren könnte. Wie mir zu Ohren kam, haben die Trogiten schon ein halbes Dutzend Langschiffe mit diesen verfluchten Spornen versenkt. Schrecklich, rief Sorgan. Die Trogiten waren schon immer schrecklich, Sorgan. Ich dachte, du hättest das gewusst. Aber du hast mir und den anderen Kapitänen versprochen, wir könnten uns das Gold anschauen, das du bekommen hast. Also gut, aber wir müssen auch dem Rest unserer Familie Bescheid sagen. Ich würde besser schlafen, wenn ein Dutzend Schiffe 131 mit Leuten, denen ich vertrauen kann, um die Seemöwe herum vor Anker liegen. Nachdem ihr gesehen habt, was ich im Frachtraum habe, werdet ihr verstehen, wieso. Langbogen dachte über das nach, was er gerade mit angehört hatte. Die Maags, so schien es, hatten eine sehr primitive Kultur. Zwar war ihre Technik fortschrittlicher, doch ihre sozialen Strukturen hatten noch einiges an Entwicklung vor sich. Beim ersten Licht einige Tage später trat Langbogen aus der Kabine am Heck der Seemöwe, um das Wetter zu begutachten, und er entdeckte Rotbart, der am Bug vorn an der Reling lehnte. Du bist früh auf, Rotbart, sagte er, als er sich zu dem Mann aus dem Stamm von Weißzopf stellte. Rotbart zuckte mit den Schultern. Gewohnheit, nehme ich an. Ich sehe mir gern den Himmel an, ehe die Sonne aufgeht. Gehst du häufig fischen, Langbogen? Gelegentlich. Ich ziehe die Jagd vor. Langbogen zögerte. Kürzlich, als Hakenschnabel sich mit seinen Verwandten unterhalten hat, ist mir etwas aufgefallen. Du hast doch einige Zeit unter den einfachen Seeleuten der Maags verbracht. Erschien es dir so, als sei die Familie wichtiger als der Stamm? Ich glaube, sie haben überhaupt keine Stämme, Langbogen. Soweit ich herausfinden konnte, gibt es keine Stämme - und keine Sitten, Gesetze oder Häuptlinge. Ihre Waffen sind unseren überlegen, darüber hinaus sind sie reine Wilde. So ähnlich betrachte ich die Sache auch. Sitten sind vielleicht manchmal langweilig, aber sie halten den Stamm zusammen. Ich weiß nicht, ob es dir klar ist, Langbogen, sagte Rotbart daraufhin, aber du bist in der Domäne unserer Zelana sehr berühmt. Leider komme ich nicht sehr weit herum, Rotbart. In den letzten Jahren war ich sehr beschäftigt. Davon habe ich gehört. Natürlich geht es mich eigentlich nichts 132 an, aber vielleicht kannst du mir beantworten, warum du die ganze Zeit diese Geschöpfe aus dem Ödland tötest. Langbogen zögerte, aber Rotbart war der Einzige auf dieser Reise, den er vielleicht als Freund betrachten
konnte. Vor langer Zeit ist etwas Schreckliches geschehen, erzählte er. In unserem Stamm gab es eine junge Frau mit Namen Trübes Wasser, und sie und ich hatten beschlossen zu heiraten. Am Tag der Zeremonie ging sie zum Baden in den Wald, und um das traditionelle Gewand anzulegen. Während sie dort allein im Wald war, wurde sie von einem der Ödlandgeschöpfe umgebracht. Seit jenem Tag lebe ich nur noch für die Rache. Mein herzliches Beileid, Langbogen, sagte Rotbart entschuldigend. Ich wollte mich mit meiner Neugier nicht aufdrängen. Jetzt verstehe ich dich allerdings besser. Du willst sie alle umbringen, ja? Wenn es möglich ist, gestand Langbogen ein. Für mich ist kein Tag richtig zu Ende, ehe ich nicht mindestens eines dieser Untiere getötet habe. Es gibt nur einen Grund, weshalb ich mich schließlich Zelana angeschlossen habe und mit ins Land Maag gekommen bin. Die kleine Eleria meinte, wenn ich die Maags als Hilfe hätte, könnte ich Tausende der Diener des Vlagh töten - oder vielleicht sogar alle. Da hast du aber einiges zu tun, nach dem zu urteilen, was ich über diese Bestien gehört habe, erwiderte Rotbart. Würde es dich beleidigen, wenn ich auch ein paar Dutzend von ihnen umbringen würde? Nur so als Zeichen der Freundschaft natürlich. Es ist höflich, die Feinde eines Freundes zu töten, nicht wahr? Langbogen lächelte kurz. Mir würde es nicht das Mindeste ausmachen, Rotbart. Viel Spaß dabei. Eine Sache allerdings: Wenn wir das Ödland erreichen, vergiss nicht, dass Das-man-Vlagh-nennt mir gehört. Ich glaube, der Geist von Trübes Wasser wäre sehr glücklich, wenn ich den Kopf des Vlagh auf ihr Grab legen würde, als Zeichen meiner unendlichen Liebe. 133 Niemals würde ich daran denken, dir in die Quere zu kommen, Freund Langbogen, versicherte Rotbart. Wäre es denn in Ordnung, wenn ich deinen Mantel halte, während du Das-man-Vlagh-nennt in kleine Stücke zerlegst? Das würde ich bestimmt ertragen können, Freund Rotbart, gab Langbogen zugleich ernst und ironisch zurück. Und beide lachten.
12 Sorgan gelang es, mehrere seiner Vettern bei der Seemöwe zu versammeln, während er weiterhin Maagkapitäne rekrutierte, die zwar nicht mit ihm verwandt waren, jedoch im Hafen von Weros vor Anker lagen. Langbogen wurde mehrmals gerufen, um sein Können mit dem Bogen zu demonstrieren, und die Maags behandelten ihn mit großem Respekt, als die wachsende Flotte in See stach, um sich entlang der Küste nach Süden zu bewegen. Die Seemöwe legte bei jedem Küstendorf an, in dessen Hafen mehr als zwei oder drei Schiffe vor Anker lagen. In den Städten nördlich von Weros suchen einige meiner Verwandten auch weiterhin nach Schiffen und Männern, erklärte Sorgan Zelana eines Abends einige Tage später bei ihrem gewohnten Treffen zum Essen in seinem früheren Quartier. Es macht die Runde, dass ich Leute anheuere und gut zahle, und dadurch geht alles viel schneller, als ich erwartet habe. Vermutlich haben wir unsere Flotte schon bald zusammen. Das hoffe ich doch, antwortete Zelana. So wie die Dinge jetzt stehen, befindet sich der Westen von Dhrall in großer Gefahr. Ich werde einen Teil der Flotte in Kürze vorausschicken, ver134 sicherte Sorgan ihr. Ich warte nur noch, bis sich mein Vetter Skell zu uns gesellt. Er ist verlässlicher als meine anderen Verwandten. Wie soll Skell denn Lattash finden, Käpt'n, fragte Ochs. Di Küste ist sehr lang, wenn ich mich recht erinnere. Ich könnte ihm den Weg zeigen, schlug Langbogen vor. Sorgan schüttelte den Kopf. Dich brauche ich hier, Langbogen, sagte er. Du bist der einzige Mann, der aus hundert Schritt Entfernung einen Pfeil durch ein Astloch schießen kann, und dies Fähigkeit gehört zu den Dingen, mit denen ich die anderen über zeugen kann, sich uns anzuschließen. Ich könnte ihn doch begleiten, meinte Rotbart. Ich macht hier sowieso nichts anderes, außer meinen Bart wachsen zu lassen und obwohl mein Bart wirklich sehr prächtig ist, wird er niemanden veranlassen, mit uns zu kommen. Das klingt sinnvoll, Sorgan, sagte Zelana, und wenn dein Vetter auf Rotbarts Rat hört und seine Flotte gut verteilt, werden sie weitere Maagschiffe auf dem Antlitz von Mutter Meer auflesen Dann können sie das magische Wort Gold zu deren Kapitänen sagen, und in Dhrall würde die doppelte Anzahl an Schiffen ankommen, als wir von Maag losgeschickt haben. So machen wir es also. Du zahlst, demnach tanzen wir nach deiner Pfeife - aber erst, nachdem Skell bei uns eingetroffen ist. Er ist viel verantwortungsbewusster als die anderen Kapitäne, dabei kann er auch möglicherweise übermäßig Erpichte davon abhalten, die Küstendörfer auszurauben, anstatt sich auf den Kampf gegen die Armee des Ödlands vorzubereiten. Das würde bei deinem Volk nur Zorn schüren, und ich hätte meine halbe Armee vielleicht schon verloren, ehe ich dort eintreffe, falls die anderen Dhralls nur halb so gut mit dem Bogen umgehen können wie Langbogen. Am nächsten Morgen gab es Nebel. Langbogen stand am Bug der Seemöwe und lauschte den Stimmen, die von den Nachbarschiffen 135 kamen. Geräusche, so hatte er gelernt, schienen in der Nacht oder in dichtem Nebel weiter zu tragen. Vielleicht gab es da eine geheime Absprache zwischen Augen und Ohren.
Rotbart kam vom Heck zu ihm. Was für eine Suppe, sagte er. Ja, habe ich auch schon festgestellt. Ich glaube, das ist kein guter Tag zum Jagen. Aber vielleicht fürs Fischen. Rotbart schaute sich um und beugte sich vor. Zelana möchte ein Wort mit dir reden, sagte er leise. In der Nacht ist etwas passiert, das ihr Sorgen bereitet. Ich gehe gleich zu ihr, erwiderte Langbogen genauso leise. Dann sagte er ein wenig lauter: Kannst du im Nebel wohl ohne Hilfe Wache halten, Rotbart? Ich sollte mich mal bei Zelana zeigen, um sie zu fragen, was ich heute für sie tun kann. Das bekomme ich schon hin, antwortete Rotbart. Ich werde dich holen lassen, falls ich in Bedrängnis gerate. Sehr lustig, murmelte Langbogen. Schön, dass es dir gefallen hat, sagte Rotbart und grinste breit. Langbogen ging nach hinten zum Heck. Rotbart gehörte zu einem anderen Stamm, trotzdem mochte Langbogen ihn. Die gegenwärtige Krise veränderte viele von Langbogens Vorgefassten Meinungen, wie es vor einem Jahr wohl noch kaum möglich gewesen wäre. Er klopfte sachte an die Kabinentür. Herein, Langbogen, rief Zelana. Er trat ein und schloss die Tür leise hinter sich. Rotbart sagte, du wolltest mich sprechen. Gibt es Schwierigkeiten? Ich denke, es könnte dazu kommen, antwortete sie. Dann blickte sie ihm in die Augen. Setz dich, Langbogen. Ich glaube, es ist an der Zeit, zwischen uns etwas zu klären. Hast du je von den Träumern gehört? Langbogen zuckte mit den Schultern, als Eleria auf seinen Schoß kletterte. Das ist eine sehr alte Geschichte. Sie berichtet uns, die 136 Ankunft der Träumer sei ein Zeichen dafür, dass die alten Götter bald schlafen gehen. Es geht sogar noch darüber hinaus, Langbogen. Die Zeit neigt dazu, die Dinge zu verzerren, und alte Geschichten bleiben nicht unbedingt so, wie sie ursprünglich waren. Die Geschichte der Träumer handelt von unserer gegenwärtigen Lage, und es sind am Ende die Träumer, die sich dem Vlagh stellen müssen. Und es besiegen müssen, fragte Langbogen. Nun, das dürfen wir hoffen, schätze ich. Sie sah ihn eigentümlich an. Du verstehst schon, worauf ich hinauswill, nicht wahr, Langbogen? Ja, tatsächlich ist Eleria einer der Träumer, und sie hat dich mir bereits weggenommen. Habe ich nicht, protestierte Eleria. Versuche nicht, mir das Gegenteil einzureden, Eleria, schalt Zelana das Kind. Du hast es zu offensichtlich angestellt. Ich mag ihn, Geliebte, das ist alles. Ich würde dir niemals etwas wegnehmen. Das ist eine Lüge, und du weißt das ganz genau, entgegnete Zelana verärgert. Du hast mir schon meine Delphine weggenommen, und jetzt willst du mir den Diener wegnehmen, dem ich am meisten vertraue. Wenn du ein wenig netter zu ihnen wärst, wären sie nicht so versessen darauf, mit mir zu spielen, hielt Eleria dagegen. In letzter Zeit bist du gemein geworden und abscheulich, Geliebte. Was ist denn mit dir los? Langbogen setzte das Mädchen von seinem Schoß auf den Boden. Dann stand er auf. Ich komme später noch einmal vorbei, sagte er trocken. Ihr könnt mir ja Bescheid sagen, wenn euer Streit vorüber ist. Er ging auf die Tür zu. Du kommst sofort zurück, rief Zelana. Nein. Wenn ihr euch gegenseitig ankeifen möchtet, wäre ich nur dabei im Weg. Damit verließ er die Kabine und schloss die Tür. 137 Die Stille, die aus der Kabine kam, war lauter als Donner. Langbogen ging hinüber zur Reling und schaute hinaus in den Nebel, während er wartete. Eleria trat früher aus der Kabine, als er erwartet hatte. Alles ist wieder in Ordnung, Langbogen, sagte sie. Das ging aber schnell, merkte er an. Du hast uns erschreckt. Die Geliebte ist es nicht gewöhnt, dass jemand einfach so fortgeht wie du. Wir haben uns vertragen, gleich nachdem du hinaus warst. Eine Weile lang haben wir geweint und uns umarmt, und jetzt ist alles wieder gut. Du kannst reinkommen. Gut. Soll ich dich tragen? Besser nicht, sagte sie bedauernd. Verärgern wir sie nicht gleich wieder. Sie betraten die Kabine; Zelana hatte sich tatsächlich wieder gefasst. Wir haben gerade über die Träumer gesprochen, Langbogen, sagte sie, als sei nichts geschehen. Sie haben einige ungewöhnliche Fähigkeiten, wenn sie träumen. Sie können in die Vergangenheit sehen, und gelegentlich träumen sie auch über die Zukunft. Das ist letzte Nacht geschehen. Eleria hatte einen Traum über die Zukunft, und wir müssen etwas unternehmen, damit er nicht wahr wird. Können wir das denn, fragte Langbogen sie. Ich habe die alten Geschichten über die Träumer gehört, und in allen heißt es, diese Träume würden die Zukunft gewissermaßen in Stein meißeln. Die alten Geschichten irren. Elerias Traum berichtet uns lediglich, was geschehen könnte, nicht, was wirklich geschehen wird. Es war eher eine Warnung. Erzähl ihm deinen Traum, Eleria, und auch über deine Perle. Wenn du möchtest, Geliebte, erwiderte Eleria fügsam. Der kleine Sturm des Streits war vorübergezogen. Eleria ging auf Langbogen zu und streckte ihm die Arme entgegen. Er hob sie hoch und
138 setzte sie auf seinen Schoß. Hast du schon einmal von der Insel Thurn gehört, Langbogen, fragte sie. Sie liegt westlich vor der Küste von Dhrall, hat man mir gesagt, antwortete Langbogen, und es ist uns verboten, sie zu betreten. Das ist vermutlich die Idee der Geliebten. Sie wohnt dort, und sie möchte keine Nachbarn haben. Jedenfalls gibt es im Wasser um die Insel rosa Delphine, und die Geliebte mag sie sehr gern. Sie kann ihre Sprache sprechen, und oft unterhalten sie sich. Als ich noch ein sehr kleines Kind war, haben die jungen Delphine mit mir gespielt. Und demnach sprichst du ebenfalls ihre Sprache? Es ist die Sprache, die ich zuerst gelernt habe. Erst vor einer Weile hat mir die Geliebte ihre Sprache beigebracht. Das ist aber eigenartig. Die meisten Mütter lehren ihre Kinder, ihre eigene Sprache zu sprechen. Eleria lachte fröhlich. Wie in aller Welt bist du auf den absurden Gedanken gekommen, die Geliebte sei meine Mutter, fragte sie. Ich glaube, wir sind irgendwie verwandt, aber meine Mutter ist sie gewiss nicht. Darüber können wir uns bei anderer Gelegenheit unterhalten, mischte sich Zelana entschieden ein. Erzähl ihm von der Perle, Eleria. Das wollte ich ja gerade, Geliebte. Es geschah letztes Jahr, als ich vor der Küste mit den jüngeren Delphinen spielte, Langbogen, und eine alte Walkuh kam zu uns und sagte mir, sie wolle mir etwas zeigen. Ich folgte ihr zu einer riesigen Auster, und die Walkuh berührte die Auster mit einer Flosse, und die Auster öffnete sich. Eleria kletterte von Langbogens Schoß, ging zu dem schmalen Bett, in dem sie schlief, und suchte unter den Decken. Dann zog sie einen Gegenstand ungefähr von der Größe eines Apfels hervor. Das hatte die Auster in ihren Schalen verborgen, erklärte sie und hielt es hoch, damit Langbogen es betrachten konnte. Man nennt es eine Perle, und die Walkuh sagte mir, sie sei für mich bestimmt. 139 Langbogen war angesichts der Größe dieser Perle verblüfft. Perlen hatte er schon häufig gesehen, doch nie eine auch nur annähernd so große. Die Perle kontrolliert Elerias Träume, Langbogen, warf Zelana ein, und ich glaube, der Traum von letzter Nacht war eine Warnung. Erzähl ihn, Eleria. Natürlich, Geliebte, fügte sich Eleria. Ich nehme an, andere Leute träumen auch, Langbogen, sagte sie, und die meiste Zeit über sind meine Träume so wie ihre, doch der in der letzten Nacht unterschied sich sehr von jenen, die ich sonst habe. Ich schwebte in der Luft über der Seemöwe. Sie lag im Hafen einer kleinen Maagstadt vor Anker, und es war Nacht. Fünf andere Schiffe lagen zu ihrem Schutz neben ihr, und dann fingen alle Schiffe um die Seemöwe herum an zu brennen. Die Maags liefen hektisch umher und versuchten die Brände zu löschen, und währenddessen kamen fünf andere Schiffe aus der Dunkelheit und legten an der Seemöwe an. Es gab einen schlimmen Kampf, und alle an Bord der Seemöwe wurden getötet. Dann gingen die Fremden nach unten, wo Hakengabel diese Goldblöcke aufbewahrt, die er so gern mag. Nachdem sie alle weggenommen hatten, steckten sie die Seemöwe in Brand und ruderten davon. Danach sah ich jemanden mit Kapuze über dem Kopf, der vom Strand zuschaute, und dieser Jemand lachte. Dann wachte ich auf und erzählte der Geliebten, was ich gerade geträumt hatte, und daraufhin schickte sie Rotbart zu dir, um dich herzubitten. Wie groß war der Mann am Strand, der lachte, fragte Langbogen eindringlich. Nicht annähernd so groß wie die anderen Maags, antwortete Eleria. Er war ungefähr so groß wie Häschen. Konntest du die Farbe der Kapuze erkennen? Ich glaube, sie war grau. Ist das wichtig? Möglicherweise. Die Diener des Vlagh sind nicht sehr groß, 140 und sie tragen graue Kapuzen. An deinem Traum scheint mehr dran zu sein, als dir klar ist. Offenbar haben einige Geschöpfe des Ödlands einen Weg gefunden, uns hierher zu folgen, und nun versuchen sie, uns daran zu hindern, die Armee der Maags ins Land Dhrall zu bringen. Er blickte Zelana an. Gibt es eine Möglichkeit, dies abzuwenden? Ich denke, wir haben bereits begonnen, die Zukunft zu ändern, Langbogen, erwiderte sie. Allein über diese Pläne Bescheid zu wissen, das ist schon der erste Schritt. Langbogen war der endlosen Besuche von Maagkapitänen müde gewesen, die an Bord der Seemöwe kamen und sich Sorgans Goldblöcke anschauten. Offensichtlich konnten sie das Wort von anderen nicht akzeptieren, und deshalb mussten sie das Gold mit eigenen Augen sehen. Elerias Traum hingegen änderte seinen trägen Zustand sofort. Falls der Traum tatsächlich das bedeutete, was er zu bedeuten schien, hatten fünf der Kapitäne wenig Interesse am Land Dhrall. Langbogen war ein Jäger, und ein Jäger muss lernen, zu beobachten und zu lauschen - und sich dabei so unauffällig wie möglich zu verhalten. Die meisten Besucher der Seemöwe waren begeistert von den Aussichten, die mit Sorgans Angebot verbunden waren. Andere gaben Begeisterung vor, doch wirkte sie bei ihnen nicht ehrlich. Also beobachtete und lauschte Langbogen, sagte jedoch nichts. Im Hafen eines kleinen Küstenortes namens Kweta gesellte sich Sorgans hagerer und mürrischer Vetter Skell zu ihnen, und nach einigem Gerede einigten sich Sorgan und Skell, einen Teil dessen, was sie als Flotte
bezeichneten, mit Rotbart als Führer nach Osten ins Land Dhrall zu schicken. Mein Vetter Skell ist ein zuverlässiger Mann, werte Dame Zelana, erklärte Sorgan, während sich die Vorhut zum Aufbruch vorbereitete. Er hat ungefähr hundert141
I zwanzig Schiffe und fast zehntausend Mann gegen einen möglichen Überraschungsangriff eures Feindes, und wenn es eine große Invasion der Küstenregion deiner Domäne geben sollte, wird er in der Lage sein, den Feind so lange aufzuhalten, bis wir eintreffen. Wie lange wird es wohl noch dauern, bis wir anderen nach Dhrall segeln, erkundigte sich Zelana. Nicht mehr sehr lange. Die Nachricht hat die Runde gemacht, und fast jeder Maagkapitän ist darauf erpicht, uns zu begleiten. Das einzige Problem besteht darin, dass sie alle das Gold persönlich sehen wollen, ehe sie ihre Entscheidung treffen. Sorgan zog eine klägliche Miene. Ich gebe es ja nicht gern zu, aber vielleicht haben wir zu viel Gold nach Maag mitgebracht. Wenn man es recht überlegt, hätte ein Dutzend Blöcke vermutlich genügt. Die meisten Maags hätten mir geglaubt, wenn ich ein Dutzend gesagt hätte. Da ich jedoch behaupte, ich hätte hundert auf meinem Schiff, wollen sie es sich selbst anschauen, nur um sicherzugehen, dass ich sie nicht belüge. Ich glaube, ich habe einen zu großen Köder an meinen Angelhaken gehängt. Niemand ist perfekt, Hakengabel, sagte Eleria. Hakenschnabel, berichtigte Sorgan sie abwesend. Wie auch immer, gab sie mit spöttischer Gleichgültigkeit zurück.
13 Ich habe dir das Gold doch schon gezeigt, Kajak, sagte Sorgan zu dem knochendürren Maag, der am nächsten Morgen mit einer Gruppe Besucher an Bord der Seemöwe kam. Traust du deinen eigenen Augen nicht? Ich will dir lediglich helfen, Sorgan, erwiderte der magere Kajak. Meinen sämtlichen Verwandten habe ich davon erzählt und ihnen versprochen, sie dir vorzustellen, wenn du in die Häfen ihrer Heimatorte einläufst. Wenn alles so läuft, wie ich es mir vorstelle, kann ich deiner Flotte zwei Dutzend weitere Schiffe bringen. Prächtig, Kajak, sagte Sorgan. Offenbar kannst du über deine Nasenspitze hinaussehen. Meistens habe ich es mit Männern zu tun, die nicht begreifen, warum wir mehr Schiffe und Männer brauchen. Sie scheinen Angst zu haben, mehr Leute würden ihren Anteil verkleinern. Die begreifen überhaupt nicht, über wie viel Gold wir hier reden. Manche haben eben Probleme mit großen Zahlen, Sorgan. Wäre es in Ordnung, wenn ich meine Vettern in den Frachtraum führe und ihnen dein Gold zeige? Aber bitte doch, Kajak, meinte Sorgan. Langbogen hatten neben Sorgans Kabine gesessen, während der Kapitän sich mit Kajak unterhielt, und ihm fiel auf, dass Kajaks vier Vettern ein wenig nervös waren, während sie hinter dem knochendürren Maag standen. Eleria saß wie gewöhnlich auf Langbogens Schoß. Das könnten diejenigen sein, die ich in meinem Traum gesehen habe, flüsterte sie ihm ins Ohr. Die Zahl würde passen, stimmte Langbogen zu, aber die Zahl allein heißt noch nicht, dass es tatsächlich diejenigen sind, nach denen wir Ausschau halten. Husch, von meinem Schoß runter, Kind. Ich schleiche ihnen hinterher, wenn sie sich Sorgans Gold anschauen. Langbogen folgte Kajak und seinen vier Vettern in einigem Abstand. Sie wirkten nervös, doch befanden sich schließlich mehrere schwer bewaffnete Seeleute von Sorgan in der Nähe, und somit war das zu verstehen. Als sie aus dem Frachtraum zurückkehrten, zeigte sich auf ihren Gesichtern die gewohnte ehrfürchtige Miene. Sie hatten nichts ge142 tan, was irgendwie auffällig gewesen wäre, dennoch wollte Langbogen die Möglichkeit nicht ausschließen, dass es sich um die fünf Kapitäne aus Elerias Traum handelte. Diese Familie hat nicht gerade den besten Ruf hier in Maag, Langbogen, sagte Hase später, als ihn Langbogen unter vier Augen nach Kajak und seinen Vettern fragte. Es ist schon vorgekommen, dass andere Maagschiffe mit nur einigen von ihnen an Bord losgesegelt sind, um trogitische Schatzschiffe auszunehmen, und die anderen Maags wurden niemals wieder gesehen. Falls sie jedoch irgendetwas vorhaben sollten, werden sie es noch nicht jetzt tun. Skell und die anderen Kapitäne der Vorhut sind noch hier und statten ihre Schiffe mit Proviant für die Reise nach Dhrall aus, es sind also viele Maagschiffe in der Nähe. Aber Skells Flotte wird nicht mehr lange hier sein, Hase, erinnerte Langbogen ihn. In den nächsten Tagen wird sie nach Dhrall auslaufen, und dann bleiben nur wenige Schiffe zum Schutz der Seemöwe. Genau dann sollten wir anfangen, uns Sorgen zu machen, stimmte Hase zu. Käpt'n Sorgan wird die Schiffe fortschicken, und Kajak wird Schiffe herholen. Ich denke, heute Abend werde ich mal durch ein paar Tavernen ziehen. Maagseeleute trinken gern einen, wenn sie im Hafen sind, und betrunkene Seeleute reden viel. Manchmal erzählen sie dann Dinge, die sie in nüchternem Zustand niemals von sich geben würden. Ich muss lediglich so tun, als sei ich noch betrunkener als sie, dann wird niemand auf mich achten. Wenn ich etwas herausfinde, werde ich es dich wissen lassen.
Das wäre sehr nützlich, Hase, stimmte Langbogen zu. Ich werde Zelana unseren Verdacht mitteilen, allerdings glaube ich, wir brauchen Sorgan noch nichts zu sagen. Zuerst müssen wir mehr wissen, ehe wir ihn einweihen. Er drehte sich um und ging zu Zelanas Kabine. 144 Was hast du gemacht, Langbogen, fragte Zelana ihn, als er eintrat. Ich bin einer Fährte gefolgt, erwiderte er. Ein eigentümlicher Ausdruck. Kommt aus der Jagd. Die Tiere im Wald hinterlassen Spuren auf dem Waldboden und an den Bäumen und Büschen, und denen kann der Jäger folgen, wenn er nur weiß, wie er sie zu deuten hat. Hase hilft mir. Du magst ihn, ja, fragte Eleria. Er ist klug, doch verbirgt er seine Klugheit. Heute Abend wird er in den Tavernen an Land nach Fährten suchen, dort, wo die Maagseeleute diesen Saft trinken, der sie töricht macht. Möglicherweise werden Männer aus Kajaks Gefolge töricht genug, um etwas zu erzählen, was Kajak lieber geheim halten will. Falls dieser Kajak tatsächlich derjenige ist, den du in deinem Traum gesehen hast, werden seine Seeleute und die seiner Vettern Bescheid wissen. Hase setzt sich in eine Ecke und tut so, als hätte er zu viel getrunken. Kajaks Männer werden glauben, er schlafe, und dann unterhalten sie sich, als wäre er nicht da. Du hast dich verändert, Langbogen, bemerkte Zelana. In Dhrall hättest du dich nie so verhalten. Es unterscheidet sich nicht so sehr von dem, was ich im Wald mache, Zelana, widersprach er. Ich bin wie immer auf der Jagd. Nur die Jagdgründe haben sich verändert, das ist alles. Mein Ziel ist weiterhin eins der Geschöpfe des Ödlands, doch vielleicht muss ich zunächst mehrere Schiffsladungen der Verwandten dieses Kajaks töten, ehe ich einen freien Schuss auf einen Diener des Vlagh bekomme. Aber ich werde ihn finden, und ich werde ihn töten. Darum geht es schließlich bei der Jagd. Es sieht so aus, als hättest du Recht, Langbogen, berichtete Hase sehr leise, während sie in der Dämmerung am nächsten Morgen am 145 Bug der Seemöwe standen. Etliche von Kajaks Männern haben sich gestern betrunken, und sie konnten ihre Zunge nicht im Zaum halten. So habe ich hier ein bisschen und dort ein bisschen aufgeschnappt, und langsam formt sich ein Bild. Du bist ein guter Jäger, Hase, gratulierte Langbogen seinem kleinen Freund. Wohin führt die Fährte, die du gefunden hast? Das ist aber eigenartig ausgedrückt, meinte Hase, doch es passt ins Bild. Kajaks Leute waren sich alle darin einig, dass Kajak es nicht ertragen kann, sich Gold entgehen zu lassen. Käpt'n Sorgan hat ihm zwar von dem Gold in Dhrall erzählt, doch waren das nur Worte. An Bord der Seemöwe hat Kajak hingegen echtes Gold gesehen, und das will er sich holen. Über das Gold in Dhrall macht er sich dann Gedanken, nachdem er das Gold hier in Maag gestohlen hat. Du hast außerdem Recht mit deiner Annahme, dass Kajak und seine Vettern nichts unternehmen werden, ehe Skell den größten Teil der Flotte nach Osten führt. Das haben sie immer wieder gesagt, und am Ende hing es mir schon zum Hals heraus. Sie wissen nicht, wann genau Skell in See stechen will, aber sie hoffen, es werde nicht mehr länger als ein paar Tage dauern. Fünf Schiffe haben sie hier im Hafen von Kweta, weitere sind unterwegs. Sie haben nicht vor, die Schiffe anzugreifen, die die Seemöwe beschützen, solange sie nicht in der Übermacht sind. Am liebsten würden sie uns drei zu eins überlegen sein. Jedenfalls herrscht die Ansicht vor, sie müssten in der Nacht zuschlagen, nachdem Skell aufgebrochen ist. Alle Maags haben inzwischen mitbekommen, was der Käpt'n vorhat und wie viel er zahlt, deshalb kommen jeden Tag neue Schiffe. Wenn sie zu lange warten, sind sie wieder in der Unterzahl. Falls Skell aufbricht, ehe ihre Freunde hier sind, müssen sie angreifen, ob es ihnen gefällt oder nicht. Dazu müssen sie sich etwas einfallen lassen, das ihnen einen Vorteil verschafft. Und da kommt das Feuer ins Spiel, oder, warf Langbogen ein. Du hast es die ganze Zeit gewusst, nicht wahr? 146 Es war lediglich eine Vermutung. Ich brauchte eine Bestätigung, ehe ich richtig zu planen beginnen konnte. Wir sollten den Käpt'n besser warnen, meinte Hase ernst. Das ist nicht notwendig. Der Kapitän und der Rest der Mannschaft wären uns nur im Weg. Willst du mir etwa sagen, dass wir beide allein gegen fünf Maagschiffe kämpfen sollen, wollte Hase ungläubig wissen. Natürlich nicht, erwiderte Langbogen und lächelte trocken. Zelana und Eleria helfen uns. Mehr Hilfe brauchen wir nicht. Hast du etwa getrunken, erkundigte sich Hase misstrauisch. Hases Besuch in den Tavernen hat unseren Verdacht bestätigt, Zelana, erstattete Langbogen kurze Zeit darauf Bericht. Es ist Kajak, der uns mit Feuer überfallen will. Er ist der erste Feind, gegen den wir kämpfen müssen. Kannst du es regnen lassen? Ich werde mit Mutter Meer darüber sprechen. Bestimmt wird sie gern behilflich sein. Was hast du vor? Wenn Kajaks Männer mit ihren Booten zu den Schiffen von Sorgans Verwandten rudern und ihre Fackeln werfen, würde Regen das Feuer löschen, ehe es sich ausbreiten kann. Dann muss Kajak gegen fünf Schiffe kämpfen, obwohl er es nur mit einem aufnehmen wollte. Vielleicht gibt er an diesem Punkt schon auf und
ergreift die Flucht. Langbogen hielt inne und dachte einen Moment lang nach. Ich glaube, wir sollten ihn nicht davonkommen lassen. In der Umgebung versammeln sich viele Maagschiffe, und Kajak ist nicht der einzige gierige Kapitän. Andere Maagkapitäne könnten seinen Plan ebenfalls verlockend finden. Wenn er tot ist, kann er seinen Plan aber jenen hier in der Welt der Lebenden nicht mehr erzählen. Was er in der Welt der Toten erzählt, kann uns vermutlich gleichgültig sein, auch wenn ich mich auf diesem Gebiet nicht sehr gut auskenne. Wenn du glaubst, es könne uns Probleme bereiten, könntest du vielleicht einen Blick in die Welt der Toten werfen. 147 Willst du mich erzürnen, Langbogen? Ich würde nicht einmal im Traum daran denken, so etwas zu tun, heilige Zelana, erwiderte er mit offenem Gesicht. Ich habe lange nachgedacht und bin der Meinung, wir sollten Sorgan von dem bevorstehenden Überfall nicht in Kenntnis setzen. Hase und ich kommen mit der Angelegenheit allein zurecht, und Sorgan würde uns nur im Weg stehen. Du bist schon zu lange im Land Maag. Anscheinend hast du dir die hiesige Sitte des Prahlens angewöhnt. Du glaubst doch nicht wirklich, du und Hase könnt allein mit diesem Kajak fertig werden, oder? Kajak hat nur fünf Schiffe, Zelana. Die dürften kein großes Problem darstellen. Er sagt es so, als würde er es tatsächlich glauben, Geliebte, merkte Eleria an. Ich weiß. Und deshalb fange ich an, mir Sorgen zu machen. Sorgans Vetter Skell beendete seine Vorbereitungen, die Segel zu setzen und mit den bisher versammelten Maagschiffen ins Land Dhrall aufzubrechen, und Langbogen unterhielt sich unter vier Augen mit Rotbart. Es ist keine große Sache, erklärte er seinem Freund. Ich kümmere mich darum, dass Kajak an dem Morgen, nachdem er an Bord der Seemöwe gekommen ist, die Sonne nicht mehr aufgehen sieht. Ein oder zwei seiner Verwandten werden sich vielleicht entscheiden, hier eiligst zu verschwinden. Möglicherweise versuchen sie, sich Skell anzuschließen, und dann würdest du Skell am besten wissen lassen, was sie hier im Hafen von Kweta angestellt haben. Bestimmt will Skell solche Männer nicht in seiner Flotte haben. Das mache ich, versprach Rotbart. Soll ich Skell ebenfalls davor warnen, wie giftig die Diener des Vlagh sind? Langbogen dachte darüber nach. Lieber nicht, ehe seine Flotte Lattash erreicht hat, entschied er. Er soll zunächst dort ankom148 men, bevor wir ihm die ganze Wahrheit verraten. Die Maags sind viel größer als die Geschöpfe des Ödlands, deshalb haben sie eine größere Reichweite mit den Armen. Außerdem verhelfen ihnen Schwerter und Speere zu einem Vorteil, wenn der Kampf beginnt. Wir gehen so vor, wie du sagst, stimmte Rotbart zu. Soll ich deinem Häuptling Alter Bär eine Nachricht überbringen? Wenn du irgendwann in seiner Nähe bist, nachdem du Dhrall erreicht hast, teile ihm bitte mit, mir gehe es gut und ich würde zum Stamm zurückkehren, ehe der Schnee zu tief wird. Und dass wir fast bereit sind, diesen Krieg auszutragen. Das mache ich, Freund Langbogen. Du bist ein zuverlässiger Mann, Freund Rotbart. Langbogen lächelte zaghaft. Es sind ungewöhnliche Zeiten, nicht wahr? Nie zuvor habe ich einen Mann aus einem anderen Stamm Freund genannt. Das kommt selten vor, pflichtete Rotbart bei. Dann grinste er Langbogen an. Aber es gefällt mir, fügte er hinzu und ahmte eine von Elerias Lieblingsmienen nach. Langbogen lachte schallend, und die beiden reichten einander die Hände zu jener Geste, die von alters her Freundschaft symbolisierte.
14 Wieso bist du so sicher, dass es regnen wird, Langbogen, fragte Hase, während die beiden geduckt am Bug der Seemöwe hockten und, selbst außer Sicht, beobachteten, wie die fünf Boote sich den Schiffen von Sorgans Verwandten näherten. Du würdest es mir doch nicht glauben, wenn ich es dir sage, 149 Hase, antwortete Langbogen. Es wird regnen, sobald es notwendig ist, und die Schiffe, die die Seemöwe bewachen, werden nicht brennen. Also, folgendermaßen werden wir vorgehen. Du bleibst in Deckung und reichst mir die Pfeile, so schnell du kannst. Meine rechte Hand bleibt an einer Stelle - sehr dicht an der Bogensehne -und du wirst mir die Pfeile genau zwischen die Finger legen. Auf diese Weise können wir doppelt so viele Pfeile abschießen, wie ich ohne deine Hilfe schaffen würde. Dort draußen sind fünf Schiffsladungen voller unfreundlicher Kerle, Langbogen. Gleichgültig, wie schnell du schießen kannst, du musst eine riesige Zahl Leute umbringen. Wir müssen sie nicht alle umbringen, Hase, erklärte Langbogen geduldig. Ein Schiff fährt nicht dorthin, wo der Kapitän will, solange nicht jemand am Steuer es in die richtige Richtung lenkt. Wir haben nur fünf Ziele, und fünf Pfeile können wir gleichzeitig in der Luft haben. Deshalb bist du also davon überzeugt, dass wir die Sache ganz allein meistern können, oder? Ein Schiff ohne Steuermann am Ruder wird vermutlich den Rest der Nacht im Kreis durch den Hafen fahren. Hase schaute
blinzelnd hinaus aufs dunkle Wasser. Das erfordert aber einen guten Schuss, Langbogen, merkte er an. Nicht schwieriger, als Gänse vom Himmel zu holen, mein kleiner Freund, sagte Langbogen. Ihm fiel auf, wie viele Leute er in letzter Zeit als Freund bezeichnete. Zwar erschien es ihm angemessen, und dennoch verwunderte es ihn. Seit einem halben Dutzend Jahren hatte Langbogen niemanden mehr Freund genannt. Kannst du mich hören, Langbogen? Er vernahm eine Stimme, die wie ein leises Flüstern an seinem linken Ohr klang. Sehr deutlich, erwiderte er fast lautlos. Ich muss genau wissen, wann diese Männer die Fackeln auf die Schiffe werfen. Ich möchte dich nicht beunruhigen, daher solltest du wissen, dass dieser Sturzregen nicht überall auftreten wird. Es 150 regnet lediglich auf die Schiffe, sonst nirgendwo, und nur so lange, bis die Feuer gelöscht sind. Die Mannschaften der fünf Schiffe sollen schließlich nicht in den Kabinen oder im Kielraum Schutz suchen. Sie müssen auf ihre Posten, damit sie ihre Schiffe verteidigen können. Wenn du einen Regentanz oder so etwas aufführen willst, solltest du langsam anfangen, drängte Hase, der nichts hörte. Die Männer in den Booten haben gerade die Fackeln angezündet. Der Regen beginnt, nachdem sie die Fackeln geworfen haben, Hase, sagte Langbogen. Wir wollen sichergehen, dass sie keine Fackeln mehr haben, bevor wir mit dem Regen anfangen. Du machst es aber sehr spannend, meinte Hase ein wenig besorgt. Vertrau mir. Ich mag es nicht, wenn jemand das zu mir sagt, beschwerte sich Hase. Soll ich die Laterne am Bug auspusten? Warum? Dann kommen deine Pfeile aus der Dunkelheit. Ich habe gesehen, wie schnell du einen nach dem anderen abschießen kannst, und solltest du tatsächlich doppelt so schnell sein, wenn ich dir helfe, werden die da draußen keine Ahnung haben, wie viele Schützen auf sie zielen. Das macht sie bestimmt krank vor Angst, und vielleicht geben sie dann einfach auf und fliehen. Keine schlechte Idee, Hase, befand Langbogen. Wenn sie fliehen, brauche ich nicht so viele Pfeile zu verschwenden, um sie zu töten. Geh und blas die Laterne aus. Hase schlich nach vorn und löschte die Laterne am Bug Da fliegen die Fackeln, Langbogen, rief er heiser flüsternd und rannte zu seinem Platz zurück. Regen, Zelana, Regen, sagte Langbogen in Gedanken. Ich dachte, du würdest gar nicht mehr fragen, erwiderte sie milde. 151 Plötzlich gab es einen grellen Blitz, gefolgt von lautem Donner, und Regen prasselte auf die Schiffe herunter. Der Regen endete so unvermittelt, wie er begonnen hatte, doch Langbogen war sicher, jetzt würde bestimmt nichts mehr auf den fünf Schiffen brennen, denn das Wasser lief in Rinnsalen von den Decks über die Seiten. Los, Hase, sagte Langbogen scharf und begann, seine Pfeile so schnell wie möglich abzuschießen, wobei er zunächst auf die Maags in den Booten zielte und sich anschließend auf die Steuermänner von Kajaks Schiffen konzentrierte. Man hörte gedämpfte Rufe von den steuerlos treibenden Schiffen, und Langbogen verspürte eine gewisse grimmige Belustigung, als die Seeleute an Bord lieber über die Reling ins Wasser sprangen, anstatt das Ruder zu übernehmen, wie es die Kapitäne ihnen befahlen. Die Ruderer blieben auf ihren Bänken, doch mit unbemanntem Steuer irrten die Schiffe im Hafen herum wie ein Wurf Welpen, die ausgerückt waren, und jedes Mal, wenn jemanden der Mut überwältigte - oder wenn jemand dumm genug war - und er das Ruder ergriff, hieß ihn ein Pfeil aus der Dunkelheit willkommen. Vermutlich war es der Schrecken, den die aus der Dunkelheit kommenden, lautlosen Pfeile auslösten, die zudem mit tödlicher Genauigkeit trafen, der die Seeleute an Bord der fünf Schiffe dazu trieb, ins kalte, aufgewühlte Wasser des Hafens zu springen und zum vermeintlich sicheren Strand zu schwimmen. Langbogen vergrößerte den Schrecken noch dadurch, dass er auf Stellen zielte, an denen die Pfeile sehr gut sichtbar waren. Ein Pfeil im Herz wird einen Mann gewiss töten, doch in den meisten Fällen werden den tödlichen Schaft nur wenige sehen. Langbogen zielte deshalb auf die Stirn der Männer und nicht auf die Brust, und natürlich verfehlte er sein Ziel nie. Drei oder vier Tote mit Pfeilen in der Stirn sind eine Botschaft, die man kaum missverstehen kann. Hase, der in der Dunkelheit kauerte, reichte seinem Freund ei152 nen Pfeil nach dem anderen in die rechte Hand, und Langbogen schoss einen nach dem anderen auf Kajaks Schiffe ab. Schließlich erlosch jegliche Hoffnung an Bord der fünf Schiffe, als Kajak, der Befehle und Flüche brüllte, mitten im Wort innehielt, weil aus seiner Stirn ein zitternder Pfeil ragte. Jetzt sprangen alle ins Wasser. Wir haben gesiegt, rief Hase. Wir haben tatsächlich gesiegt! Noch nicht, sagte Langbogen und holte einen seiner alten Pfeile mit Steinspitze hervor. Er stand auf und suchte den Strand ab. Dort, sagte er, zog die Sehne und schoss den Pfeil mit einer geschmeidigen Bewegung ab. Der Pfeil flog in hohem Bogen über das dunkle Wasser der Bucht und fand unbeirrbar die grau verhüllte Gestalt, die voller Enttäuschung heulte, seit der Regen die Flammen auf den fünf Schiffen um die Seemöwe herum gelöscht hatte.
Die verhüllte Gestalt stieß einen Todesschrei aus, als der vergiftete Pfeil sein Ziel fand. Dann fiel sie zu Boden, wand sich heftig und erschlaffte schließlich. Was war das, wollte Hase wissen. Das war einer unserer wahren Feinde, mein kleiner Freund, erklärte Langbogen. Jetzt ist er tot, und wir brauchen uns keine Sorgen mehr wegen ihm zu machen. Dort draußen gab es so viele Gegner, Langbogen, meinte Hase. Ich kann nicht glauben, dass wir wirklich gesiegt haben. Wir waren nur zu zweit, daher hätte ich nicht auf uns gewettet. Ich kann überhaupt nicht fassen, wie zwei Mann die Besatzung von fünf Schiffen besiegen können. Ach, so ein schwieriger Kampf war das gar nicht, Hase. Unsere Pfeile kamen aus der Dunkelheit, und so wusste niemand auf Kajaks Schiffen, wo genau wir waren, und solange keiner die Schiffe des Mannes, den sie Kajak nannten, zur Seemöwe steuerte, waren wir nicht in Gefahr. 153 Du hast schon eine eigentümliche Weise, die Welt zu betrachten, Langbogen. Wenn sie ihn vorher Kajak nannten, wie nennen sie ihn dann jetzt? Langbogen zuckte mit den Schultern. Tot vermutlich, antwortete er. Der auf dem Strand lacht nicht mehr, unterrichtete Langbogen kurze Zeit später Zelana und Eleria. Gut, lobte Zelana. Ich habe dir doch gesagt, die eisernen Pfeilspitzen seien besser als die aus Stein. Vielleicht, räumte Langbogen ein, doch für besondere Gelegenheiten habe ich mir welche von den alten aufbewahrt. Weswegen denn, fragte Eleria. Meine Steinpfeile habe ich in Gift getaucht, erklärte Langbogen. Es erschien mir nur gerecht, dass das Geschöpf des Ödlands, das hinter den Ereignissen heute Nacht steckte, etwas Besonderes erhielt. Das weiß es bestimmt zu schätzen, meinte Zelana trocken. Die Rufe, die es von sich gab, nachdem mein Pfeil es getroffen hatte, klangen nicht gerade nach Jubel, Zelana, gab Langbogen darauf zurück und lächelte schwach. Dann platzten Sorgan, Ochs und Schinkenpranke in Zelanas Kabine. Warum hast du uns nicht gesagt, was Kajak vorhat, Langbogen, wollte Sorgan mit schriller Stimme wissen. Es war nicht notwendig, antwortete Langbogen. Hase und ich konnten die Sache allein handhaben. Bei solchen Vorkommnissen geht man am besten mit so wenig Kriegern wie möglich vor. Je mehr beteiligt gewesen wären, desto größere Verwirrung hätte es gegeben. Aber Hase, rief Ochs. Hase war noch nie ein guter Kämpfer. Er ist zu klein. Er hat getan, was notwendig war, hielt Langbogen dagegen. 154 Er ist mit den Händen so flink wie mit den Füßen. Daher konnte er mir die Pfeile schneller reichen, als es jedem anderen Mann an Bord der Seemöwe gelungen wäre, und so jemanden brauchte ich. Alles ist genau so abgelaufen, wie wir wollten, weshalb regst du dich also jetzt auf, nachdem es vorüber ist? Du bist ziemlich kaltblütig, Langbogen, meinte Sorgan. Dich kann wohl gar nichts erschüttern, wie? Ich bin ein Jäger, Sorgan. Ein Jäger, der zur falschen Zeit unruhig wird, bekommt nicht regelmäßig zu essen. Was uns wirklich gerettet hat, war dieser verrückte Sturzregen, verkündete Schinkenpranke vorwurfsvoll. Ohne den würden wir jetzt ganz schön in der Patsche sitzen. Woher wusstest du, dass es regnen würde? Langbogen berührte seine Nase. Ich habe es gerochen, log er schlagfertig. Fahrt ihr schon all die Jahre zur See und habt nicht gelernt, wie man den Geruch von baldigem Regen erkennt? Sorgan blickte Zelana an. Wenn du eine Armee von Männern wie Langbogen hast, wozu brauchst du dann uns, erkundigte er sich. Weil ich nicht so viele Männer wie Langbogen habe, Sorgan, erwiderte sie. Er ist einzigartig. Auf der ganzen Welt gibt es keinen zweiten wie ihn. Er kann sehr flink Pfeile verschießen, doch beim Denken ist er noch schneller. Es wird der Zeitpunkt kommen - und zwar ziemlich bald, glaube ich -, da wird er bestimmte Vorschläge machen. Wenn dir dein Leben etwas wert ist, hör ihm genau zu und tu genau das, was er dir sagt. Eleria ging auf Langbogen zu und streckte ihm die Arme entgegen. Er setzte sie sich auf den Schoß. Ich würde tun, was die Geliebte dir vorschlägt, Hakengabel, sagte sie. Hakenschnabel, berichtigte er sie zerstreut. Sie zuckte mit den Schultern. Wie auch immer. Langbogen ist der Beste der Welt, und die Geliebte sagt, er gehört mir, also solltest du lieber ganz schrecklich nett zu mir sein, meinst du nicht auch? 155 Jedes Mal, wenn ich mich umdrehe, will mir jemand anderer Befehle erteilen, beschwerte sich Sorgan. Aber auf diese Weise kommen wir schließlich voran, oder, sagte Eleria und gähnte. Wenn wir nun alles gesagt haben, was gesagt werden muss, würde ich gern ein wenig schlummern. Heute Nacht habe ich wenig Schlaf bekommen wegen dieser dauernden Rufe und des Hinundherrennens. Hakengabel, tu mir den Gefallen und versuche beim nächsten Mal, leise zu kämpfen. Ich brauche meinen Schlaf. Damit küsste sie Langbogen, schmiegte sich in seine Arme und schlief augenblicklich ein.
Veltans Reise
15 Ein Almosen, flehte der zerlumpte Bettler zögerlich, während Veltan an einem stürmischen Wintermorgen von Süden her auf einer ruhigen Straße nahe des Forums der trogitischen Stadt Kaldacin an ihm vorbeiging. Aber gern, antwortete Veltan und suchte nach seinem Geldbeutel. Mit dem Geld hatte Veltan immer noch seine Probleme. Sicherlich, das musste er einräumen, war es bequemer als Tauschhandel, doch vergaß er stets, welchen Wert die einzelnen Münzen aus den verschiedenen Metallen hatten. Er gab dem Bettler kurzerhand ein paar Messingmünzen und ging weiter in Richtung Forum. Inzwischen war es Winter geworden, und Veltan hatte für den Winter nicht viel übrig, da seine Domäne im Lande Dhrall überwiegend Bauern beherbergte, und Bauern ziehen nun einmal den Frühling und den Sommer vor. Der Winterhimmel war mit Wolken verhangen, die kahlen Bäume wirkten wie tot, und es gab keine Blumen. Die Trogiten von Kaldacin schienen gegen die dem Winter eigene Melancholie jedoch immun zu sein. Trogiten hatten allgemein eine sehr hohe Meinung von sich, gleichgültig, welchen Teil des Weltreichs sie als ihr Zuhause ansahen, doch die Trogiten von Kaldacin glaubten offensichtlich, ihre Stadt sei das Zentrum des Universums, und allein die Tatsache, innerhalb der Mauern zu wohnen, erhebe sie bereits nicht nur über die Bewohner anderer Länder, sondern auch über all jene Trogiten, die so unglücklich waren und in einer anderen Stadt oder einem anderen Dorf wohnen mussten. Gewiss, die Stadt war von großer Pracht. Ohne Frage war zu ih159 rem Bau ein unermesslicher Aufwand an Arbeit getrieben worden, doch Veltan begriff nicht so recht, wofür. Niemand brauchte so große Häuser. Die hohen Mauern um die Stadt herum waren möglicherweise notwendig es könnten ja Feinde in der Nähe leben - allerdings hatte Veltan den starken Verdacht, auch bei diesen Mauern handele es sich lediglich um Protzerei. Die Trogiten bevorzugten Stein als Baumaterial für ihre Häuser und andere Gebäude, und das ergab sicherlich Sinn. Holz kann brennen, Stein für gewöhnlich nicht. Die Marmorverkleidung war hübsch, nur: Wussten die Trogiten von Kaldacin nichts Besseres mit ihrer Zeit anzufangen? Die öffentlichen Gebäude wirkten zunächst sinnlos, doch während Veltan die Trogiten besser kennen lernte,
begriff er, dass sie diesen großartigen Pomp brauchten, um anderen - und vor allem auch sich selbst - zu beweisen, wie wichtig sie waren. Jeder Hinweis auf einen Mangel an Wichtigkeit schien am Selbstbewusstsein des durchschnittlichen Trogiten zu knabbern. Deshalb prunkten die riesigen Marmorpaläste, Versammlungshallen, Tempel und Handelsvertretungen für gewöhnlich auf den Hügeln innerhalb der Stadtmauer. Am größten von allen war selbstverständlich der kaiserliche Palast, das Heim des glorreichen Imperators Gacian. Im Palast wimmelte es nur so von verschiedensten Dienern, Beratern und anderen Kletten, die um die Aufmerksamkeit des erhabenen Kaisers buhlten. Nach einigen Ratschlägen gelang es Veltan, sich den Weg zu einer Audienz bei seiner Kaiserlichen Majestät zu erkaufen, doch wie sich herausstellte, war der erhabene Gacian dumm und unfähig und hatte keinerlei Ahnung, was das Wort Armee bedeutete. Hier verschwendest du nur deine Zeit, weißt du, belehrte ihn ein älterer, in einen Umhang gekleideter Berater, den Veltan im Palast von Gacian kennen gelernt hatte. Die eigentliche Autorität hier in Kaldacin liegt in den Händen des Palvanums. Dort werden 160 Gesetze gemacht und Entscheidungen über den Kurs des Imperiums getroffen. Und wo finde ich das Palvanum, fragte Veltan. Im Forum, im Zentrum der Stadt. Wenn du den Palvani erklärst, was du willst und was du zu bezahlen bereit bist, werden sie sicherlich eine Vereinbarung mit dir treffen. Allerdings war es ganz anders gekommen. Die einzelnen Palvani zeigten sich durchaus willig, Veltans Geld anzunehmen, und leisteten dafür vage Versprechen, die Angelegenheit ihren Kollegen gegenüber zur Sprache zu bringen. Doch in der Hohen Kammer, wo die meisten Palvani die endlosen Reden ihrer Kollegen im Schlafe ertrugen, wurde das Thema nicht einmal ansatzweise zur Sprache gebracht. So verschwendete Veltan vom Süden einen weiteren Nachmittag im Forum, um jemanden zu finden irgendjemanden -, der ausreichend Autorität besaß und über die trogitische Armee verfügen durfte. Während sich der wolkige Himmel im Westen in einen flammenden Sonnenuntergang verwandelte, gab Veltan auf und ging zurück zum Südtor von Kaldacin. Natürlich bot die Stadt reichlich Unterkünfte, die man mieten konnte, doch Veltan machte das Wetter nichts aus, und er schlief sowieso nie. Stattdessen verbrachte er die Nächte lieber auf den Feldern. Die Luft war süßer, und er konnte die Schwester Mond deutlich sehen. Veltan mochte die Schwester Mond, und er hatte sie vermisst. So hatte er mitnichten gefühlt, als Mutter Meer ihn damals zur Schwester Mond verbannt hatte, erinnerte er sich. Immer noch verspürte er Groll wegen des gebieterischen Verhaltens von Mutter Meer auf seinen scherzhaft gemeinten Vorschlag, sie wäre vielleicht hübscher, wenn sie Streifen trüge. Mutter Meer hatte offenbar überhaupt keinen Sinn für Humor, ja, sie nahm alles so furchtbar ernst. Veltan hatte es hingegen ganz bestimmt nicht ernst gemeint, 161 als er sich lang und breit über die Schönheit kontrastierender Blautöne ausgelassen hatte, und wie wunderbar Mutter Meer aussehen würde, wenn sie ihre Oberfläche mit sorgfältig abgestimmten Streifen in ganz hellem Blau durch das ganze Spektrum bis hin zu einem Königspurpur schmücken würde. Er hatte sie doch nur erheitern wollen! Doch statt zu lachen hatte sie auf die Schwester Mond gezeigt und gesagt: Begib dich dorthin, Veltan! Sofort! Aber..., protestierte Veltan. Gehl Und so hatte Veltan die nächsten zehn Äonen auf dem pockennarbigen Antlitz der kleinen Schwester der Welt verbracht und sehnsüchtig hinunter - oder hinauf - geschaut zu der runden blauen Kugel, die einst seine Heimat gewesen war. Einige Male wagte er sich zu den Sternen hinaus, aber dort war es noch schlimmer. Die entsetzliche Leere zwischen den Gestirnen erfüllte Veltan mit einer überwältigenden Einsamkeit. Von der Schwester Mond aus konnte er wenigstens die Erde betrachten. Dabei bekam er zwar Heimweh, allerdings war das besser als die riesige Schwärze des Universums. Mit der Zeit hatte er die Schwester Mond lieb gewonnen, sie hatte seine wachsende Zuneigung gespürt und schließlich mit ihm gesprochen. Es war dumm von dir, das zu sagen, weißt du, waren ihre ersten Worte gewesen. Streifen, Veltan? Du hast Glück, dass sie dich nicht an ihre Fische verfüttert hat. Ich habe doch nur Spaß gemacht. Das weiß ich, hatte Schwester Mond erwidert, aber die Mutter Meer kann nicht lachen. Das weiß doch jeder. Ich werde mit ihr sprechen und schauen, ob ich sie zu Milde umstimmen kann. Die hört nie zu, sagte er düster. Da irrst du, Veltan. Mir hört sie immer zu. Ich kann ihre Gezeiten zu jedem beliebigen Zeitpunkt stören, und das kann sie auf den Tod nicht leiden. Dann begann die Schwester Mond zu Veltans Überraschung zu kichern. Seitdem kamen sie ziemlich gut mitei162 nander aus. Anders als Mutter Meer und Vater Erde hatte Schwester Mond Sinn für Humor, und Veltan hatte die endlosen Jahrhunderte damit verbracht, ihr Witze zu erzählen. Sogar nachdem Mutter Meer sich hatte erweichen lassen und ihm die Rückkehr nach Hause erlaubte, hielt Veltan
die Bekanntschaft mit der Schwester Mond aufrecht und besuchte sie häufig. Ein Almosen? Es war der gleiche zerlumpte Bettler, den Veltan schon am Tag zuvor gesehen hatte. Ist dies dein üblicher Arbeitsplatz, erkundigte sich Veltan bei ihm. Der Bettler zuckte mit den Schultern. Hier ist es windgeschützt, und wenn es regnet, kann ich unter dem Bogengang dort Schutz suchen. Du wirkst betrübt, Fremder. Was bekümmert dich? Veltan setzte sich auf den Randstein neben den Bettler. Ich dachte, diese Stadt sei das Zentrum der Macht des trogitischen Weltreichs, aber ich finde niemanden, der irgendwelche Autorität besitzt. Ich suche jemanden, der gegen Bezahlung eine Armee unter meinen Befehl stellt, bloß will niemand auch nur mit mir darüber reden. Hast du schon mit den Soldaten selbst gesprochen? Ich wusste nicht, ob das erlaubt ist. Muss ich dazu nicht jemanden fragen, der Autorität hat? Ich dachte, die Armee des Imperiums erhält ihre Befehle von der Regierung. Der Bettler lachte. Das stimmt schon seit Jahren nicht mehr, Fremder. Die kaiserliche Regierung hielt es für lästig, den Soldaten in Zeiten des Friedens ihren vollen Sold zu zahlen, und schon bald waren Bettler wie ich besser dran als der durchschnittliche Krieger. Da übernahmen die Soldaten das Geschäft selbst. Ständig gibt es kleinere Kriege - für gewöhnlich zwischen den verschiedenen Adeligen, die über die Provinzen herrschen -, daher finden diese Armeen ständig Arbeit. Wozu brauchst du eine Armee? 163 In meinem Land ist Ärger im Anzug, antwortete Veltan ausweichend. Die Geschichte ist etwas verwirrend, aber es sieht aus, als würden wir die Hilfe gelernter Soldaten brauchen. Ein junger Trogit in engem schwarzem Leder tauchte in der Gasse auf. Er trug einen Metallhelm, und in der Hand hielt er einen langen Speer. Ich muss mit dir reden, Kommandant Narasan, sagte er entschuldigend zu dem Bettler. Was gibt es denn schon wieder, Keselo, wollte der Bettler wissen, und nenn mich nicht Kommandant. Den Titel habe ich an dem Tag abgelegt, an dem ich mein Schwert zerbrochen habe. Bei uns geht es wirklich drunter und drüber, Herr, berichtete der junge Mann. Willst du deine Entscheidung nicht noch einmal überdenken? Niemand weiß mehr, was er tun soll. Lass ihnen ein wenig Zeit, Keselo. Sie werden es schon lernen. Wir haben keine Zeit, Herr, entgegnete der jugendliche Keselo. Die siebte Kohorte ist vollkommen außer Rand und Band. Sie sind zur Stadt hinausgezogen, plündern Landhäuser und rauben Reisende auf der Hauptstraße aus. Wir haben ihnen den Befehl erteilt, zurückzukehren, aber sie verweigern den Gehorsam. Geht und bringt sie um, sagte der Bettler schlicht. Sie umbringen? Keselo schnappte nach Luft. Das geht doch nicht! Sie sind unsere Kameraden. Es ist nicht recht, die eigenen Kameraden zu töten. Aber sie halten sich nicht an die Regeln, Keselo, also sind sie nicht mehr eure Kameraden. Sie haben sich von der Armee abgespalten, und damit haben sie gegen den Eid verstoßen, den sie geschworen haben, als sie eintraten. Wenn ihr sie nicht bestraft, werden andere Kohorten ihrem Beispiel folgen, und die gesamte Armee wird sich auflösen. Du weißt, was zu tun ist, Keselo. Geh und tue es, und höre auf, mich mit deinen dummen Problemen zu belästigen. Gibt es sonst noch etwas? Nein, Herr. Das Gesicht des jungen Mannes zeigte Verzweif164 lung. Kannst du es dir nicht noch einmal überlegen und wieder ins Hauptquartier kommen? Nein. Verstehst du, was nein bedeutet, Keselo? Du kennst mich gut genug, um zu wissen, dass ich meine, was ich sage. Jetzt verschwinde. Keselo seufzte. Ja, Herr, sagte er. Dann drehte er sich um und ging Ein guter Junge, erklärte der Bettler Veltan, und wenn er nicht in irgendeinem Scharmützel fällt, könnte er es weit bringen. Anscheinend bist du nicht das, wonach du aussiehst, mein Freund, merkte Veltan an. Das Äußere kann täuschen. Ich bin genau das, was ich zu sein scheine. Daran ändert sich nichts, nur weil ich früher etwas anderes war. Narasan, der Armeekommandant, ist jetzt Narasan, der Bettler. Warum hast du deinen Beruf aufgegeben? Narasan seufzte. Ich habe eine dumme Entscheidung getroffen, und dadurch kamen Tausende meiner Männer zu Tode. Damit kann man nur schwer leben, also entschloss ich mich, das aufzugeben, was ich bisher gemacht hatte. Die Zeit läuft sowieso ab, und in einer Weile wird es keinen Unterschied mehr machen, was ich tue. So alt bist du doch noch gar nicht, mein Freund. Ich habe auch nicht mich gemeint, erwiderte Narasan düster. Ich habe über die Welt gesprochen. Sie steht kurz vor ihrem Untergang, weißt du. Es wird nicht mehr lange dauern. Das bezweifle ich, meinte Veltan. Was hat dich zu diesem unglücklichen Schluss gebracht? Ist es vielleicht eine der Lehren der trogitischen Religion? Narasan gab einen derben Laut von sich. Religion ist nur ein schlechter Witz, der aus Lügen und Aberglauben besteht, erklärte er höhnisch. Die Priester benutzen sie als Vorwand, um die Leichtgläubigen auszunehmen, damit sie selbst in ihren hübschen 165 Tempeln luxuriös leben können. Ich habe herausgefunden, was vor sich geht. Die Zeit läuft ab. Jeden Tag kann
sie vorbei sein. In der Stimme des zerlumpten Mannes schwang Hoffnungslosigkeit mit. Ich glaube, du hast Dinge gesehen wie kaum ein anderer, sagte Veltan, doch nicht ganz bis zum Ende. Die Welt geht dem Ende eines Zyklus entgegen, doch nicht dem Ende der Zeit. Ein Zyklus endet, aber der nächste wird beginnen, und die Zeit schreitet, wie sie das immer tut, voran. Verzweifle nicht, Narasan. Die Zeit hat kein Ende - und auch keinen Anfang, wenn du die Wahrheit wissen willst. Und wieso kennst du dich damit so gut aus, hakte der Bettler nach. Ich habe schon früher Zyklen miterlebt, erklärte ihm Veltan. Viele, sehr viele. Die Jahreszeiten wechseln, die Jahre verstreichen. Die Jungen werden alt und sehnen sich nach Schlaf, und die Schlafenden erwachen und setzen ihre Arbeit fort. Das ist der natürliche Lauf der Dinge. Du betrachtest die Welt völlig anders als wir. Du bist nicht von hier, oder? Das habe ich doch schon erwähnt. Ich suche eine Armee, und ich bin bereit zu zahlen, aber bislang habe ich noch niemanden gefunden, der sich mit mir darüber unterhalten will. Veltans Gesicht zeigte einen kläglichen Zug. Ich glaube, mein Verstand hat geschlafen. Ein Dutzend Mal bin ich schon an dem Mann vorbeigelaufen, mit dem ich sprechen muss, und ich habe ihn kaum bemerkt. Und? Wer ist er? Du, mein Freund. Es ist Zeit, dass du deinen Kummer und seine düsteren Prophezeiungen über das Ende der Zeit und der Welt überwindest. Die Zeit wird ihre erhabene Prozession fortsetzen, und die Welt wird weiter existieren, gleichgültig, was wir tun, um sie zu vernichten. Du bist nicht wie andere Menschen, stellte der Bettler ehr166 fürchtig fest. Ich glaube, du bist überhaupt kein Mensch. In Wirklichkeit bist du kein Mensch, nicht wahr? Die Unterschiede sind nicht so groß, mein Freund. Ich war an Orten, zu denen du nicht gehen kannst, ich sehe Dinge, die dir verborgen bleiben, aber ich liebe meine Heimat und diene ihr, und das ist doch das Entscheidende, Kommandant Narasan. Ich brauche deine Armee, und ich zahle in Gold für ihre Dienste. Der Krieg wird gewiss schwierig, aber wenn wir rechtzeitig eintreffen, werden wir vermutlich siegen, und der Sieg ist doch das eigentlich Wichtige, ob man nun Krieg führt oder würfelt. Eine sehr praktische Art, die Dinge zu betrachten, meinte Narasan und stand auf. Mir scheint, die Zeit des Nichtstuns ist vorüber. Es war ganz nett, einfach nur herumzusitzen, doch es wird genauso schön sein, den Harnisch wieder anzulegen. Das Lager der Armee ist drüben an der Westmauer. Sollen wir hingehen? Warum nicht? Veltan erhob sich ebenfalls. Der Winterabend senkte sich über die Stadt Kaldacin, während Veltan und Narasan durch die schattigen Straßen gingen. Handwerker in schäbigen Kitteln eilten mit den verschiedenen Werkzeugen ihrer jeweiligen Zunft durch die frostige Luft. Die einzigen ehrlichen Menschen in dieser korrupten Stadt, merkte Narasan an. Überall ist es das Gleiche, nicht wahr? Ich glaube, ich kann dir nicht ganz folgen, gestand Veltan ein. Das habe ich auch nicht erwartet, meinte Narasan. Du hast Geld, deshalb brauchst du dir die Hände nicht schmutzig zu machen. Veltan lachte. Hast du dich schon einmal als Bauer versucht, Narasan? Bauern kennen sich mit Schmutz sehr gut aus. Die Menschen in meiner Gegend sind überwiegend Bauern, und ich habe schon häufiger mit ihnen gearbeitet, als ich mich erinnern kann. Dann bist du aber ein ungewöhnlicher Zeitgenosse. Die meis167 ten Landbesitzer im Imperium würden lieber sterben, als selber auf die Felder zu gehen. Das ist der Hauptgrund, weshalb wir das Geld erfunden haben. Ein Mann mit Geld kann andere dafür bezahlen, die harte, schmutzige Arbeit zu erledigen. Bei uns benutzen wir kein Geld, Narasan. Wir treiben Tauschhandel. Das funktioniert nicht schlecht. Wie bist du dann auf die Idee gekommen, eine Armee anzuheuern? Hat das Wort Gold irgendeine Bedeutung für dich? Selbstverständlich. Gold ist für die meisten Trogiten gleichbedeutend mit Geld. Das ist mir schon aufgefallen. Bei meiner Ankunft hier hatte ich einige Goldblöcke, und ich habe einen Mann getroffen, der fast einen Zusammenbruch erlitt und in Tränen ausbrach, als er sie sah. Er gab mir viele Beutel mit Münzen dafür. Trotzdem habe ich noch nicht ganz begriffen, welchen jeweiligen Wert diese Münzen haben. Sie bestehen aus verschiedenen Metallen, und manche der Metalle sind anscheinend wertvoller als andere. Narasan lachte. Vermutlich bist du betrogen worden, Veltan. Wenn dir jemand Kupfer und Bronze und Silber für deine Goldblöcke angedreht hat, gab er dir nur ein Zehntel des Wertes, den dein Gold besaß. Veltan zuckte mit den Schultern. Das ist nicht so wichtig, Narasan. Wo ich wohne, gibt es Berge von Gold. Ich kann mir so viel besorgen, wie ich will. Das würde ich hier im Imperium aber nicht so laut sagen, Veltan, warnte ihn Narasan. Das Wort Gold raubt den Trogiten nämlich meistens den Verstand. Das werde ich mir merken. Wie weit ist es noch bis zu dem Lager, wo die Armee stationiert ist? Nicht sehr weit. Wir sind auf der anderen Seite des Forums. Dort liegen die alten kaiserlichen Kasernen, die
unsere Vorgänger 168 aufbauten, nachdem sie sich entschieden, die Geschäfte selbst in die Hand zu nehmen. Hat die Regierung das nicht verboten? Klar. Das hat allerdings nichts geändert. Sie hatte keine Armee, um jemanden daran zu hindern, schon vergessen? Warum haben diese unabhängigen Armeen nicht einfach die Macht und das gesamte Imperium übernommen? Und damit all die langweiligen Aufgaben, die mit dem Regieren verbunden sind? Wozu? Wir machen auf diese Art mehr Geld, und die hochrangigen Idioten in ihren erhabenen Stellungen machen sich die Sorgen. Das passt uns sehr gut in den Kram. Das Lager von Kommandant Narasans Armee war ein nüchterner Ort, der in geraden Linien angelegt war. Gerade Linien waren für das militärische Denken offensichtlich von großer Bedeutung. Veltan dagegen bevorzugte Kurven, da diese weicher waren und nicht so streng. Allerdings hatte bislang auch kein Angehöriger des Militärs Vater Erde vom Mond aus betrachtet, daher waren sich Soldaten wohl kaum der Tatsache bewusst, dass es sich bei geraden Linien um ein unnatürliches Aufpfropfen einer menschlichen Idee auf eine bei weitem vielschichtigere Ganzheit handelte. Veltan lächelte. Die Behauptung gewisser starrköpfiger Menschen, die Welt habe zu tun, was sie ihr sagten, gehörte zu den unglaublichsten Absurditäten, aber Veltan hatte stets einen gewissen Reiz im Absurden gesehen. Obwohl Kommandant Narasan sich noch immer nicht rasiert hatte und weiterhin seine Bettlerlumpen trug, erkannten ihn seine Soldaten sofort, und durch das ganze Lager ging ein Seufzer der Erleichterung. Die Ordnung schien wiederhergestellt, die Welt war wieder im Lot. Ich nehme an, dieses Lager ist für deine Armee reserviert, Kommandant, meinte Veltan, während die beiden ein großes Steingebäude in der Mitte der Anlage betraten. 169 So ist es sinnvoller, Veltan, erklärte der Kommandant. Steckt man zwei Armeen ins gleiche Lager, kommt es für gewöhnlich nach wenigen Tagen zu Streitereien. Wenn wir der Wahrheit ins Auge blicken, stellen wir fest, dass Kriege zwischen den verschiedenen Armeen gar nicht so ungewöhnlich sind. Wir arbeiten für Sold, nicht aus Idealismus, und deshalb steht die eine Armee bisweilen auf jener Seite und die andere auf einer anderen. Blut wird vergossen, und man hegt Groll gegeneinander. Aus diesem Grund haben wir eine Mauer um das Lager gebaut. So können wir es verteidigen, wenn es sein muss. Sie betraten einen großen Raum, wo eine stattliche Anzahl Trogiten in enger Lederkleidung auf bequemen Stühlen saßen, redeten und aus Metallbechern tranken. Vor den hohen Fenstern hingen schwere Vorhänge, die Wände zierten allerlei Waffen, und Tierhäute mit dickem Fell lagen auf dem polierten Boden. Veltan spürte gute Laune und Kameradschaft in dem Raum. Anscheinend war dies der Ort, an dem sich die trogitischen Soldaten von hohem Rang trafen und ausruhten, wenn sie nichts Besseres zu tun hatten. Alle erhoben sich, als Narasan eintrat. Ach, hört auf, sagte Narasan gereizt. Ihr wisst, hier ist das nicht notwendig. Das ist nur Schau für die Öffentlichkeit. Hat dich das Wetter endlich von der Straße vertrieben, Narasan, fragte grinsend ein Mann mittleren Alters mit Glatze. Durchnässt worden bin ich schon oft, Gunda, gab Narasan zurück. Mich hat eine besondere Gelegenheit nach Hause geführt. Das hier ist Veltan aus dem Lande Dhrall, und er braucht eine Armee. Da wir im Augenblick nichts zu tun haben, dachte ich, wir könnten ihm vielleicht aushelfen. Stellt die Becher beiseite, meine Herren, und gehen wir hinüber in den Kriegsraum. Daraufhin durchquerte er den großen Raum, in dem die Soldaten gesessen hatten, und die anderen folgten ihm. Sie marschierten einen breiten Gang entlang zum hinteren Teil 170 des Gebäudes und betraten einen voll gestopften Raum, in dem sich Spieße mit Eisenspitzen neben anderen Waffen in den Ecken drängten, während auf Tischen Modelle standen, die offensichtlich Kriegsmaschinen darstellten; die weißen Wände waren bis zur Decke mit Zeichnungen überzogen. Veltan betrachtete die Zeichnungen. Sie waren nicht bunt und hatten keinen zentralen Punkt, der den Blick des Betrachters anziehen sollte. Was sollen diese Bilder darstellen, Narasan, fragte er neugierig. Land, antwortete Narasan. Wir nennen sie Karten, und sie ähneln mehr oder weniger dem Grund verschiedener Gebiete. Er zeigte auf eine der größeren Zeichnungen. Das ist das trogitische Weltreich. Veltan ging näher heran. Sie ist nicht sehr genau, solltest du wissen. Er zeigte auf den oberen Teil. Wenn das die Nordküste sein soll, dann erinnert sie aber kaum an die Wirklichkeit. Mir erscheint sie sehr ähnlich, widersprach Gunda mit der Glatze. Meine Familie lebt in der Gegend, und ich erkenne so gut wie keine Fehler. Das könnte die Irrtümer erklären, sagte Veltan. Wir neigen alle dazu, die Bedeutung unserer Heimat überzubetonen. Er zeigte auf eine hervorragende Halbinsel in der Darstellung der Nordküste. Deine Familie wohnt hier, nicht wahr, Gunda? Woher weißt du das? Das Bild zeigt sie mindestens doppelt so groß, wie sie in Wirklichkeit ist.
Unser Gunda, sagte ein anderer Soldat lachend. Er glaubt anscheinend, alles an ihm ist doppelt so groß, wie es tatsächlich ist. Ist die groß genug für dich, Padan, fragte Gunda und hob die geballte Faust in die Luft. Schon gut, beschwichtigte Narasan ihn gereizt. Das genügt. Also, wo genau liegt dieses Land Dhrall, von dem du mir erzählt hast, Veltan? 171 Veltan schaute sich die verschiedenen Karten an. Auf diesen ist es nicht drauf, antwortete er. Es liegt ungefähr fünfhundert Meilen nördlich von Gundas Heimat. Dort gibt es nichts außer Eis, höhnte ein knochendürrer Offizier namens Jalkan. Es liegt hinter dem Eis, erklärte Veltan. Aus dem hohen Norden kommt eine Meeresströmung, und sie schwemmt diese riesigen Schollen aus dem ewigen Eis heran. Die Eisschollen bildeten einst eine Art Barriere. Die Fischer der Südküste von Dhrall wissen alles darüber und auch, wie man ihnen ausweichen kann. Könntest du uns eine Karte zeichnen, fragte Narasan. Natürlich. Ich halte das für zu riskant, Narasan, warnte Jalkan. Kein trogitisches Schiff hat diese Treibeisberge je heil durchquert. Die Maags haben damit wohl nicht solche Schwierigkeiten, Jalkan, wandte der Soldat mit Namen Padan ein. Sie fallen jetzt schon seit Jahren immer wieder über unsere Nordküste her. Ihre Schiffe sind nicht so groß wie unsere und bei weitem schneller, hielt Jalkan dagegen. Sie können den Eisbergen ausweichen, die auf sie zukommen. Unsere Schiffe sind riesig und schwerfällig. Wir würden mindestens die halbe Armee verlieren, wenn wir durch diese Zone des treibenden Eises fahren. Das werden wir in den Einzelheiten noch besprechen müssen, glaube ich, meinte Narasan zu Veltan, und vermutlich nimmt das eine Weile in Anspruch. Zunächst einmal könnten wir über die Bezahlung reden. Wie viel willst du uns für unsere Hilfe geben? Wie viel willst du? Warum machst du uns kein Angebot? Warum sagst du nicht, wie viel du erwartest? Was hältst du von einer Goldkrone pro Mann, fragte Narasan versuchsweise. Das verwirrt mich zunächst etwas, erwiderte Veltan. Im 172 Land Dhrall haben wir ja diese Sache nicht, die ihr Trogiten Geld nennt. Was genau ist also eine Goldkrone? Es ist eine Unze reinen Golds, half ihm der junge Soldat Keselo weiter. Und was ist eine Unze? Zeig ihm doch jemand eine Krone, rief Narasan. Die Soldaten durchsuchten ihre Lederbeutel, von denen jeder einen am Gürtel trug, und schließlich fand Jalkan eine Goldmünze. Ich will sie aber zurück, sagte er zu Veltan, als er ihm die Münze reichte. Selbstverständlich, antwortete Veltan. Er wog die Münze nachdenklich in der Hand. Also gut, sagte er und reichte Jalkan die Münze zurück, wir haben Gold in Dhrall, doch für gewöhnlich bewahren wir es in Form von Ziegeln auf. Soweit ich schätze, ist jeder Ziegel so schwer wie fünfhundert dieser Münzen. Wie viele Männer hast du in deiner Armee, Narasan? Ich kann hunderttausend aufstellen. Veltan rechnete schnell. Das wären also zweihundert Ziegel, sagte er. Das erscheint mir angemessen. Mit dir macht das aber auch gar keinen Spaß, Veltan, beschwerte sich Narasan. Kannst du nicht ein wenig feilschen? Weswegen sollte ich feilschen? Niemand bezahlt je das erste Angebot, das wir machen. Du musst mir jetzt sagen, dass ich zu viel verlange. Dann feilschen wir hin und her, bis wir uns auf einen Preis geeinigt haben. Was für eine Zeitverschwendung, murmelte Veltan. Ich muss ohnehin mit meinem älteren Bruder sprechen, also bringe ich ein paar Ziegel mit, wenn ich zurückkehre. Veltan blickte blinzelnd auf die Karte. Von welcher Küstenstadt werdet ihr in See stechen? Was meinst du, Gunda, fragte Narasan. Castano, antwortete Gunda sofort. Das ist die größte Stadt an der Küste, und ihr Hafen ist am besten geschützt. 173 Sehr gut, sagte Veltan. Ich treffe euch dann in Castano, in drei - oder vier - Wochen. Wir sollten die Armee besser bis zum Frühling nach Dhrall gebracht haben - früher, falls uns das gelingt. Wir haben eine Menge Arbeit vor uns, also werde ich jetzt aufbrechen, damit ihr mit eurer beginnen könnt. Vielleicht brauche ich ein wenig mehr Zeit, aber haltet euch bitte in Castano zur Abreise bereit, wenn ich zurückkomme. Hoffentlich habe ich dann eine genauere Vorstellung davon, wann der Krieg beginnen wird. Mit diesen Worten drehte er sich um und verließ rasch den Kriegsraum.
16
Der nächtliche Himmel war klar, und die Sterne leuchteten hell, als Veltan die Stadt Kaldacin verließ. Die bleiche Schwester Mond war noch nicht aufgegangen, aber Veltan kannte sie gut, deshalb war er sicher, sie würde bald in Erscheinung treten. Er ging hinaus auf die schlafenden braunen Stoppelfelder des Winters jenseits der Mauern von Kaldacin, ehe er seine Lieblingsblitzdame rief. Sie schien stets ein wenig schlechte Laune zu haben, wenn er sie nach Sonnenuntergang weckte, denn nachts machte sie mehr Krach als tagsüber. Es war höchst unwahrscheinlich, dass sich im trogitischen Weltreich die Spione des Vlagh herumtrieben, dennoch hielt es Veltan nicht für weise, seine Anwesenheit in der Nähe von Kaldacin mit einem krachenden Donnerschlag kundzutun. So entfernte er sich mehrere Meilen von der Stadt, ehe er zum Nachthimmel hinaufschaute. Tut mir Leid, aber ich muss dich wecken, Liebes, entschuldigte er sich, ich muss nach Hause. In der Ferne grollte der Donner. 174 Oh, tu das nicht, schalt er sie. So weit ist es doch nicht, und du kannst dich wieder schlafen legen, sobald wir daheim sind. Sie knurrte noch ein wenig, dann hörte er, wie sie sich rührte und am Horizont im Osten flackerte es hell. Anschließend gab es ein lautes Krachen, und sie war bei ihm. Gutes Mädchen, lobte er und tätschelte sie liebevoll. Er stieg auf. Ab nach Hause, Kleine, sagte er. Gehorsam fuhr sie nach Norden hinauf, ließ das trogitische Weltreich innerhalb eines Augenschlags hinter sich und schoss ii wenigen Momenten über das nördliche Meer hinweg. Sie flöget über den breiten Streifen Eis, der das trogitische Weltreich von der Südküste des Landes Dhrall trennte, und Veltan dachte über diese; Hindernis nach, während sein Blitz ihn darüber Hinwegtrug. Dei Eisgürtel war die Idee seiner Schwester Aracia, sie hatte das Ei; dorthin gebracht, während Veltan im Exil auf dem Mond lebte Die Idee war Aracia gekommen, als sie bemerkte, dass die Fremdlinge inzwischen weitaus fortschrittlichere Schiffe bauten als die einfachen Flöße zu Beginn des gegenwärtigen Zyklus. Aracia hielt es für gut, eine Art Barriere zu errichten, um die Schiffe der Fremdlinge von der Küste Dhralls fern zu halten. Diese Barriere hatte in der Vergangenheit gute Dienste geleistet, doch in ihrer gegenwärtigen Situation stellte sie wohl eher ein Problem dar. Darüber muss ich mir noch Gedanken machen, ging es ihm durch den Kopf. Sein Blitz knisterte neugierig. Nichts, Liebes, antwortete er. Ich habe nur laut gedacht. Sie murmelte etwas, als sie die Küste von Dhrall erreichten. Ich habe dich nicht verstanden, Liebes, sagte Veltan, während die Blitzdame ihn auf den Stufen seines Hauses ein Stück die Küste aufwärts absetzte. Sie wiederholte, was sie gesagt hatte, und brachte den Boden unter seinen Füßen zum Beben. 175 Das war aber nicht nett von dir, schalt er. Wo in aller Welt hast du eine solche Ausdrucksweise gelernt? Daraufhin gab sie ein paar noch derbere Dinge zurück, und dann fuhr sie schmollend in die Dunkelheit davon. Veltan lächelte. Dieses kleine Spielchen trieben er und sein Lieblingsblitz schon seit Anbeginn der Zeit. Seine kleine Blitzdame überschüttete ihn mit Flüchen, und er gab vor, schockiert zu sein. Beide genossen das Spiel, und deshalb setzten sie es unablässig fort. Er öffnete die massive Tür seines Hauses und ging hinein. Anders als seine Schwester Aracia hatte Veltan sein Haus selbst gebaut, und plötzlich wurde ihm bewusst, dass er Narasans Trogiten vermutlich besser nicht herbringen sollte. Die Gebäude in Kaldacin waren aus behauenen Steinblöcken gebaut, so ähnlich wie Aracias Tempel. Als Veltan dieses Haus gebaut hatte, errichtete er es aus einem einzigen Gedanken und formte einen riesigen Felsen in der Gestalt, die erwünschte. So bot es vernünftigen Schutz vor dem Wetter, aber sein Zustandekommen wäre Narasans Leuten vielleicht schwierig zu erklären. Die Umsetzung eines Gedankens in die Wirklichkeit durch einen einzigen Willensakt war gewiss etwas, mit dessen Verständnis sich die Trogiten schwer tun würden, und das mochte Probleme verursachen. Alles in allem war es schön, wieder zu Hause zu sein. Durch die Welt zu reisen war gut, aber daheim war es bequemer. Veltan erreichte das Ende des Korridors und ging die Treppe zum Turm hinauf, wo er und Yaltar die meiste Zeit verbrachten. Ich bin wieder da, rief er hinauf. Die Tür zum Turmzimmer öffnete sich, und Yaltar kam ihm entgegen. Er war ein schlanker kleiner Junge, der gewöhnliche Bauernkleidung trug, dunkles, sehr dunkles Haar hatte und riesige Augen. Hast du etwas erreicht, fragte er. Die Sache sieht recht gut aus, antwortete Veltan. Ich habe zwar eine Weile gebraucht, bis ich den richtigen Mann gefunden 176 habe, mit dem ich reden musste, doch nachdem ich ihn entdeckt hatte, sind wir rasch zu einer Vereinbarung gelangt. Gab es hier etwas Besonderes? Nichts, worüber ich etwas gehört hätte. Omagos Frau Ära war so nett und hat mir Essen gebracht, während du fort warst. Sie ist ein richtiger Schatz, sagte Veltan. Dann fiel ihm etwas auf. Was hast du da um den Hals, Yaltar, fragte er. Omago sagt, es sei ein Opal, Onkel. Ich habe ihn vor der Haustür gefunden, einige Tage, nachdem du aufgebrochen warst. Der Junge löste das Lederband und hielt den milchweißen Stein Veltan hin. Ist er nicht
hübsch, fragte er stolz. Ja, sehr, stimmte Veltan zu und tat sein Bestes, nicht argwöhnisch zu klingen. Er konnte die enorme Kraft des funkelnden Juwels über die halbe Treppe hinweg spüren. Im Weiteren musste er sehr, sehr behutsam vorgehen. Veltan wusste, dass es in seiner Domäne keine Opalvorkommen gab, und wenn Yaltar ihn vor der Tür gefunden hatte, war er vermutlich für den Jungen dorthin gelegt worden. Der Edelstein war recht groß, größer als eine Orange. Er hatte eine ovale Form, und in seinem Inneren loderte ein Feuer aus vielen Farben. Schlimmer noch, Veltan konnte ein Bewusstsein in dem Stein spüren, während er ihn betrachtete. Es war eine eigentümliche Art von Bewusstsein, und doch war sie ihm sehr vertraut. Oh, ehe ich es vergesse, sagte Yaltar und hängte sich den Stein wieder um den Hals, Omago bat mich, dir auszurichten, dass er gern mit dir reden möchte. Ich werde ihn morgen besuchen, erwiderte Veltan, als er oben an der Treppe ankam. Sie betraten das Turmzimmer. Obwohl Veltans Haus sehr groß war, hatten er und sein junger Schützling die meiste Zeit in diesem Zimmer verbracht, schon als Yaltar noch ein Säugling gewesen war. Es war groß genug für sie, und sie fühlten sich darin zu Hause. Im Kamin brannte ein Feuer, wie gewöhnlich, und die Tontöpfe dane177 ben ließen vermuten, dass Yaltar sich im Kochen versucht hatte. Das Zimmer war nicht besonders aufgeräumt, aber Yaltar war mehrere Wochen allein gewesen, und Saubermachen war dem kleinen Jungen fremd. Ich habe dich vermisst, Onkel, sagte Yaltar ernst. Es ist einsam, wenn du nicht da bist, und ich habe diesen Albtraum. Es ist immer der gleiche, jede Nacht. Yaltar war ein ernsthafter Junge, der selten lächelte. Ach, fragte Veltan und versuchte, beiläufig zu klingen. Und was kommt darin vor? Die Menschen töten einander, antwortete Yaltar und schauderte. Ich will eigentlich gar nicht zuschauen, aber der Traum zwingt mich dazu. Kannst du die Umgebung erkennen, in der dein Traum stattfindet? Hier in der Nähe ist es nicht, Onkel. Da sind Berge sehr nah an der Mutter Meer. Die Sonne steigt hinter diesen Bergen auf und geht jenseits von Mutter Meer unter. Demnach wäre das in Zelanas Domäne, grübelte Veltan laut. Lebt dort Balacenia? Veltan hätte sich beinahe verschluckt. Wo hast du denn den Namen Balacenia gehört, Yaltar, fragte er und gab sich abermals Mühe, beiläufig zu klingen. Yaltar runzelte die Stirn. Ich bin mir nicht sicher, Onkel. Mir ist einfach so, als würde ich jemanden kennen, der Balacenia heißt, und sie lebt in der westlichen Domäne. Vielleicht ist es ein Teil dieses Traumes, den ich wieder und wieder habe. Das ist natürlich möglich, denke ich. Veltan schloss sich dieser falschen Annahme an, wo der Junge den Namen gehört haben könnte. Hat irgendjemand in deinem Traum Berge oder Flüsse benannt, so dass du vielleicht ein paar Anhaltspunkte hast? Einige sagten etwas über Maags, und andere sagten hässliche 178 Dinge über jemanden, der das Vlagh heißt, doch ich glaube, mit Bergen oder Flüssen hatte das nichts zu tun. Yaltar runzelte die Stirn. Jetzt, wo ich drüber nachdenke, fällt mir ein, dass die Menschen in meinem Traum manchmal von Lattash gesprochen haben. Ich glaube, das könnte ein Ort sein, weil sie so darüber redeten. Wenn jemand sagt Ich komme gerade aus Lattash, dann wird er doch vermutlich über einen Ort sprechen, nicht wahr? Das klingt nachvollziehbar, Yaltar. Hat dir dein Traum auch verraten, um welche Jahreszeit es sich handelte? Nun, gewissermaßen. Es gab keinen Schnee, daher konnte kein Winter sein. Das heißt bei uns allerdings nicht viel, denn wir haben sowieso nicht viel Schnee im Winter, aber in den Bergen liegt der Schnee zu dieser Jahreszeit sehr hoch, habe ich gehört. Das stimmt, Yaltar. Hast du eine Ahnung, warum sich die Menschen in deinem Traum gegenseitig umgebracht haben? Keine sehr große, Onkel. Manche kamen von jenseits der Berge nach Westen, andere versuchten sie anscheinend aufzuhalten. Ergibt das überhaupt einen Sinn? Veltan zwang sich zu einem nachsichtigen Lächeln. Träume müssen nicht unbedingt Sinn ergeben, mein lieber Junge. Wenn sie sinnvoll wären, würden sie doch keinen Spaß machen. Mit diesem Traum, der immer wiederkehrt, habe ich bestimmt keinen Spaß, Onkel. Er ist schrecklich*. Denk einfach nicht mehr drüber nach, Yaltar, dann kommt er vielleicht nicht wieder. Ich muss mich mit meinem großen Bruder unterhalten. Gern lasse ich dich jetzt zwar nicht allein, aber es gibt gewissermaßen einen Notfall in der Familie. Hoffentlich hat sich die Sache bald geklärt, dann geht unser Leben normal weiter. Könntest du Omago aufsuchen, bevor du aufbrichst, Onkel? Er hält die Sache wirklich für wichtig, und er sagte sogar, er würde es dir nicht übel nehmen, wenn du ihn weckst, damit er es dir erzählen kann. 179 Nun, das ist äußerst ungewöhnlich. Wenn Omago sich einmal schlafen gelegt hat, kann ihn selbst ein Gewitter nicht mehr wecken. Gibt es noch etwas, das ich wissen sollte, bevor ich gehe? Yaltar schnippte mit den Fingern. Beinahe hätte ich es vergessen, Onkel. Nachdem ich den schrecklichen Traum zum letzten Mal hatte, habe ich ein Bild von der Schlucht gemalt, wo sich alles zuträgt. Wenn dich das
interessiert, kann ich es dir zeigen. Das wäre nett, antwortete Veltan und widerstand dem Drang, aufzuspringen und auf dem Tisch zu tanzen. Omago war ein stämmiger Bauer mit fruchtbaren Feldern und einem großen Obstgarten. Die anderen Bauern in Veltans Domäne suchten häufig seinen Rat, und während der Unterhaltungen mit ihm erzählten sie stets Tratsch, Beobachtungen und was sie sonst noch so erfahren hatten. In Veltans Domäne herrschte der weit verbreitete Glauben, dass Omago selbst noch vor Sonnenuntergang erfuhr, wenn ein streunender Hund in irgendeinem Dorf der Gegend eine Straße entlanglief. Omago war ein guter Zuhörer, und oft erzählten ihm die Leute Dinge, die sie besser für sich behalten hätten. Veltan mochte ihn, und er verließ sich auf ihn, wenn es darum ging, alles Wichtige zu erfahren. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, als Veltan bei Omagos massiv gebautem Haus eintraf und an der Tür klopfte. Ära, Omagos schlanke und hübsche Frau, öffnete. Sie hatte langes dunkelbraunes Haar und war bei weitem die Schönste im ganzen Dorf. Wie sie es gewöhnlich tat, trug sie auch jetzt keine Schuhe, und sie hatte sehr ansehnliche Füße. Ihre Küche war groß und warm, und es duftete nach Essen. Veltan brauchte zwar kein Essen, genoss aber dennoch den guten Geruch. Guten Morgen, Ära, grüßte er die Dame des Hauses. Ist Omago schon wach? Yaltar sagte mir, er wolle sich mit mir unterhalten. Er hat sich schon gerührt, lieber Veltan, antwortete sie. Du kennst ja Omago. Er verschläft fast alles - nur der Duft von Frühstück weckt ihn. Komm herein. Ich würde dir etwas zu essen anbieten, wenn ich nicht wüsste, dass du ablehnst. Dein Essen riecht wirklich verführerisch, liebe Ära, aber nein, danke. Er folgte ihr in das warme goldene Licht der Küche. Ich möchte dir danken, weil du während meiner Abwesenheit auf Yaltar aufgepasst hast, sagte er und setzte sich an den Tisch. Manchmal vergesse ich, dass er regelmäßig essen muss - vermutlich, weil ich es nicht brauche. Du verpasst eines der schönsten Dinge im Leben, lieber Veltan. Sie sah ihn an. Ich habe mich schon so oft gefragt, ob Licht wohl eine Art Geschmack hat, erkundigte sie sich neugierig. Ich denke, Geschmack trifft es nicht recht, Ära, erklärte Veltan. Verschiedene Farben des Lichts fühlen sich verschieden an. Ich schmecke mit den Augen, nicht mit der Zunge. Könntest du vielleicht nachschauen, ob Omago wach ist? Ich habe es leider ein wenig eilig. Ich hole ihn, lieber Veltan. Sie nahm eine große Scheibe warmen Brotes und ging in die Ecke, in der ihr Gemahl schlief; dabei wirbelte ihr langes blaues Kleid um ihre Knöchel. Kurz darauf kehrte sie zurück und führte ihren Gemahl, der noch das Nachthemd trug, indem sie ihm das duftende Brot knapp außer Reichweite vor die Nase hielt. Guten Morgen, Omago, grüßte Veltan ihn. Ära hat es also geschafft, deine Aufmerksamkeit zu erlangen. Das macht sie jeden Morgen so, Veltan. Ich schwöre dir, bei diesem Geruch würde ich wieder aufwachen, wenn ich tot wäre. Omago nahm seiner Frau das Stück Brot aus der Hand und schlang es hinunter. Iss nicht so schnell, mahnte Ära. Du verschluckst dich. Yaltar hat mir gesagt, du wolltest mir etwas erzählen, meinte Veltan. Er denkt wohl, es könnte wichtig sein. 180 181 Könnte es, Veltan, erwiderte Omago. Mir ist zu Ohren gekommen, dass in deiner Domäne in letzter Zeit viele Fremde herumziehen. Sie geben vor, Händler aus der Domäne deiner Schwester Aracia vom Osten zu sein, doch sie beherrschen kaum unsere Sprache, und die anderen Händler aus jenem Teil von Dhrall sprechen dagegen die gleiche wie wir. Außerdem haben sie nichts von Wert zu verkaufen, stellen dafür jedoch jede Menge Fragen. Was für Fragen? Vor allem interessiert es sie, wie viele Menschen in der Umgebung der Fälle von Vash leben. Warum in aller Welt sollte dort jemand leben wollen? Es ist nur Fels, und so steil, dass man sich an einem Baum anseilen müsste, um das zu ernten, was dort möglicherweise gedeihen könnte. Am neugierigsten sind sie jedoch darauf, wie viel Kontakt es zwischen unserem Volk und den Stämmen in der Domäne deiner Schwester Zelana gibt, und wie nahe Zelana und du euch steht. Ich habe Hinweise darauf, dass sie es lieber sehen würden, wenn du sie hassen würdest. Das ist absurd! Damit gebe ich nur weiter, was ich gehört habe, Veltan. Ich dachte, du solltest es wissen. Gut. Um diese Sache kümmere ich mich, wenn ich aus der Domäne meines Bruders zurück bin, Omago. Ich muss mich mit ihm über eine Familienangelegenheit unterhalten. Iss dein Frühstück, ehe es kalt wird. Ich werde aufpassen, dass Yaltar genug zu essen bekommt, versprach Ära. Sonst fällt er am Ende noch vom Fleisch. Ist sie nicht ein Schatz, sagte Omago voller Liebe. Aber gewiss, stimmte Veltan zu. Besuch uns bald wieder, lieber Veltan, sagte Ära. Ganz bestimmt, meine Gute, versprach Veltan und lächelte breit. 182
Kommt dir das bekannt vor, fragte Veltan seinen älteren Bruder später an diesem Morgen in der Höhle unter dem Berg Shrak. Er reichte ihm das Bild, das Yaltar auf Pergament gemalt hatte. Ich habe das Gefühl, es könnte irgendwo in Zelanas Domäne liegen. Dein Junge ist begabt, Veltan, merkte Dahlaine an. Er hat ein gutes Auge. Schau, er hat überhaupt keinen Schnee gemalt. Ich wollte keine große Sache daraus machen, daher habe ich ihn nicht bedrängt, doch er hat mir erzählt, in seinem Traum würde kein Schnee liegen. Natürlich ist das nicht unbedingt von Bedeutung. Der Krieg hatte in seinem Traum bereits begonnen, glaube ich. Er hat allerdings den Namen Lattash erwähnt. Liegt dieses Dorf nicht irgendwo in Zelanas Domäne? Ja, in der Tat, bestätigte Dahlaine und studierte die Zeichnung. Dort, sagte er und zeigte auf einen verkümmerten Baum, der in der Zeichnung zu sehen war. Mein Blitz hat das vor langer Zeit angerichtet, und Zelana hat mich jahrelang dafür gescholten. Siehst du, wie sich der Baum knorrig über die Schlucht beugt? Den Baum erkenne ich, und ich weiß genau, wo er steht. Diese Schlucht liegt in den Bergen oberhalb von Lattash. Natürlich, rief Veltan und schnippte mit den Fingern. Also gut, in Yaltars Traum findet die Schlacht in dieser Schlucht statt, und er hat gehört, wie Leute über die Maags reden. Hat Zelana versucht, die Maags zu überreden, ihr im Kampf gegen die Wesen des Ödlands zu helfen? Dahlaine nickte. Sie sind Piraten, deshalb kann ich schlecht abschätzen, wie zuverlässig sie sind, doch der Traum deines Jungen lässt vermuten, dass Zelana sie für uns gewonnen hat. Das könnte sehr nützlich sein, Veltan. Vielleicht, gab Veltan zurück, nur können wir nicht sicher sein, ob dies der erste Angriff sein wird. Träume sind nicht sehr eindeutig, Dahlaine. Ist es nicht möglich, dass der Angriff auf Ze183 lanas Domäne erst erfolgt, nachdem die anderen Domänen bereits attackiert wurden - deine? Meine? Aracias? Wie wir wissen, könnte Yaltars Traum lange nach Beginn des Krieges stattfinden. Das würde jedoch keinen großen Sinn ergeben, Veltan. Die Träumer sind hier, um uns zu helfen, nicht um weitere Verwirrung zu stiften. Dahlaine runzelte die Stirn. Es könnte jedoch ein Problem geben. Wir wissen nicht viel über die Träumer und darüber, ob es eine Art Logik oder eine feste Abfolge bei ihren Träumen gibt. Wenn die Träume einfach zufällig und ohne Verbindung zueinander auftreten, würden sie uns mehr Schwierigkeiten bereiten als Hilfe bringen. Oh, ehe ich es vergesse, als ich Yaltar sagte, dass sein Traum vermutlich in der Domäne von Zelana stattfinde, fragte er mich, ob das die Gegend sei, wo Balacenia lebt. Erfragte was} Er hat Eleria bei ihrem richtigen Namen genannt, Bruder. Das ist unmöglich. Er hat sie ganz bestimmt bei ihrem Namen genannt. Vash und Balacenia standen sich immer sehr nah, und anscheinend ist er sich ihrer Anwesenheit bewusst und betrachtet sie nicht als Eleria. Die Jüngeren haben eine mindestens so gute Wahrnehmung wie wir, und Yaltar - oder Vash - ist es irgendwie gelungen, die Barriere zu umgehen, die du bei ihrer verfrühten Wiedergeburt eingerichtet hast. Ich denke, wir sollten von nun an mit äußerster Vorsicht vorgehen. Unser Zyklus hat sein Ende noch nicht erreicht, und wenn wir den Ablauf verändern, könnte alles zusammenbrechen. Jetzt habe ich noch etwas, um das ich mir Sorgen machen kann. Besten Dank, Veltan. Gern geschehen. Veltan runzelte die Stirn. Hast du eine Ahnung, mit welcher Art von Kreaturen wir es zu tun haben werden, wenn es losgeht? Was einige betrifft, ja - und sie sind nicht besonders hübsch. 184 Das Vlagh bastelt und experimentiert, und was wir als natürliche Entwicklung betrachten, ist ihm fremd. Wir erlauben den Geschöpfen - und auch den Pflanzen -, ihre eigene Entwicklung zu nehmen und nach ihrer Natur und den Erfordernissen ihrer Umgebung zu wachsen. Deshalb herrscht in unseren Domänen eine gewisse Harmonie. Das Vlagh konzentriert sich auf bestimmte Eigenschaften und züchtet sie durch Kreuzen heran. Darüber hinaus ist es offensichtlich von giftigen Reptilien und stechenden Insekten angetan. Das hat gewisse praktische Vorteile, Dahlaine, zeigte Veltan auf. Giftige Geschöpfe brauchen keine Waffen, oder? Ihre Waffen tragen sie am Körper. Das stimmt wohl, räumte Dahlaine ein. Allerdings sehe ich ein Problem: Insekten und Reptilien halten Winterschlaf, nicht wahr? Offensichtlich hat Das-man-Vlagh-nennt dieses Problem überwunden, erwiderte Dahlaine. Bei den Kreuzungen hat es auch warmblütige Wesen verwendet. Insekten sind enorm kräftig, Schlangen besitzen tödliches Gift, und warmblütige Wesen sind auch im Winter aktiv. Soweit ich feststellen konnte, stammen die vorherrschenden Merkmale von Insekten - Bienen und Ameisen überwiegend. Hast du je den Kolonisierungsdrang dieser Arten beobachtet? Veltan schauderte. Nicht sehr eingehend, großer Bruder. Insekten sind abscheulich - oder wusstest du das schon? Dennoch sind sie wunderbar ausgestattet. Ihre Skelette befinden sich außen an ihrem Körper, und sie dienen ihnen gleichzeitig als Rüstung. Ja, aber dennoch sind sie unsäglich dumm. Als Individuen vielleicht, doch besitzen einige Spezies eine Art Gruppenbewusstsein, das ihr Verhalten bestimmt. Die Gruppe ist bei weitem klüger als das einzelne Individuum. 185 Veltan blinzelte seinen Bruder fragend an. Was auf Erden hat dich dazu veranlasst, diese Insekten zu studieren,
Dahlaine? wollte er wissen. Dahlaine zuckte mit den Schultern. Mir war langweilig, Veltan. Möglicherweise erinnerst du dich nicht mehr daran, aber Zyklus auf Zyklus verstrich, ehe irgendwelche Geschöpfe mit etwas auftauchten, das auch nur von Ferne an Intelligenz erinnerte. Insekten waren das Einzige, das es gab, und deshalb habe ich eben Insekten studiert. Veltan runzelte die Stirn. Ich glaube, deine Theorie hat einen Haken. Ich habe gehört, in meiner Domäne würden sich Menschen herumtreiben - Wesen, die wie Menschen aussehen -, herumschnüffeln und Fragen stellen. Wenn sie sich mit einem Menschen unterhalten können, müssen sie klüger sein als Insekten, oder? Welche Fragen stellen sie? Sie interessieren sich dafür, wie viele Menschen in der Umgebung der Fälle von Vash leben, und ob es Kontakte zwischen Zelanas Domäne und meiner gibt. Wie ich es verstanden habe, hoffen sie, Zelana und ich würden einander hassen. Dahlaine runzelte die Stirn. Das hatte ich nicht erwartet, räumte er ein. Das Vlagh könnte doch klüger sein, als wir bislang angenommen haben. Wenn es Spione in unsere Domänen schickt, verlässt es sich offensichtlich nicht ausschließlich auf rohe Gewalt. Die Sache wird möglicherweise noch richtig interessant. Ist es dir gelungen, Krieger aufzutreiben? Ich habe ein wenig länger gebraucht als gedacht, Dahlaine. Im trogitischen Weltreich, so glaubte ich, brauchte ich nur mit Gold vor einem hohen Beamten zu winken, um Soldaten zu bekommen. Aber das hat nicht geklappt. Erst nachdem ich den richtigen Mann gefunden habe, ging es besser voran. Veltan schnippte mit den Fingern. Beinahe hätte ich es vergessen. Triffst du dich in nächster Zeit mit Aracia? 186 Könnte sein. Wieso? Bittest du sie dann vielleicht, dass sie einen Kanal durch ihre Eiszone schlägt? Ich heuere eine trogitische Armee an, doch die nutzt uns nichts, solange ich sie nicht ins Land Dhrall bringen kann. Aracia hat diese Eiszone errichtet, um die Trogiten fern zu halten, doch die Umstände haben sich geändert. Wir wollen die Trogiten jetzt hier. Warum sagst du es ihr nicht selbst? Auf mich hört sie nicht, Dahlaine. Du solltest es doch wissen. In diesem Zyklus ist sie älter als ich, und sie scheint zu denken, deshalb stehe sie im Rang über mir. Du bist der Einzige, auf den sie hört, und nur, weil du älter bist als sie. Ich mag gar nicht an den nächsten Zyklus denken, wenn sie die Älteste sein wird. Vielleicht gehe ich einfach wieder auf den Mond und warte dort ab, bis der Zyklus vorüber ist. Das kannst du nicht machen, Veltan. Das geht nicht. War nur so ein Gedanke. Hast du übrigens schon deine Armee von Fremdlingen gefunden? Ich arbeite noch daran. Hast du schon einmal von den Malavi gehört? Sind das nicht jene, die auf dem Rücken einer Art Rinder sitzen? Bei den Malavi heißen sie Pferde, und sie betrachten sie nicht als Rinder. In Dhrall gibt es keine Pferde, daher werden die Geschöpfe des Ödlands eine böse Überraschung erleben, wenn sie sich entscheiden, nach Norden zu kommen. Und arbeitet Aracia an etwas Bestimmtem? Sie verhandelt mit irgendwelchen Menschen im Osten. Allerdings hat sie nichts Konkretes darüber gesagt, um wen es sich handelt. Ich sollte besser losgehen und Zelana suchen, meinte Veltan. Die Sache kommt langsam ins Rollen, und da die erste Auseinan187 dersetzung möglicherweise in ihrer Domäne stattfinden wird, sollte sie nach Hause kommen. Könntest du das Volk in ihrer Domäne vielleicht warnen, dass die Geschöpfe des Ödlands nicht mehr lange auf sich warten lassen? Ich kümmere mich darum, Veltan, versprach Dahlaine. Geh, warne Zelana, und ich verkünde ihrem Volk, was im Anmarsch ist.
17 Ich brauche dich mal wieder, Kleine, rief Veltan still seine Lieblingsblitzdame, während er zum Ausgang von Dahlaines Höhle unter dem Berg Shrak unterwegs war. Wie stets knurrte sie ein bisschen, und fern im Süden flackerte und grollte es. Oh, hör auf, schalt Veltan sie. Wir haben viel zu tun, das ist alles. In einer Weile ist es wieder so wie früher, also erspare mir deine schlechte Laune. Mit einem grellen Lichtschein und einem Krachen, das die Erde beben ließ, war sie da. Gutes Mädchen, sagte Veltan freundlich. Wir müssen Zelana finden. Dahlaine sagt, sie sei irgendwo im Westen unterwegs. Möglicherweise müssen wir ein wenig hin und her springen, bis wir sie gefunden haben, aber es ist wichtig. Wenn du sehr, sehr nett bist, können wir später noch ein bisschen spielen. Im Süden treibt eine Reihe Eisberge vor der Küste von Dhrall, und ich brauche einen Kanal hindurch. Wenn du und ich uns konzentrieren, sollen wir wohl einen Weg schaffen können, oder? Die Blitzdame hüpfte begeistert hin und her.
Ich dachte schon, dir würde die Idee gefallen, Herzchen. Zunächst jedoch müssen wir Zelana finden. Und bitte, mach nicht so viel Lärm, wenn wir Mutter Meer überqueren. Wir wollen sie doch nicht verärgern, ja? Zur Antwort kam ein Grollen, Veltan stieg auf, und es ging los. Das Ende des Winters stand bevor, und das Antlitz von Mutter Meer war stürmisch. Veltan schauderte. Das Antlitz von Mutter Meer war so wie an jenem entsetzlichen Tag, als sie ihn auf den Mond verbannt hatte. Vermutlich wäre er noch da, wenn die Schwester Mond sich nicht freundlicherweise für ihn eingesetzt hätte. Sein Blitz erreichte die Küste des Landes fern im Westen von Dhrall, und dort war es viel früher am Tag als in seiner Heimat. Das gehörte zu den Vorteilen, wenn man nach Westen reiste. Wenn man sich schnell genug bewegte, konnte man viele Stunden gewinnen. Setz mich hier ab, Liebes, sagte Veltan zu seinem Lieblingsblitz, eine Meile von der Küste entfernt. Von hier aus gehe ich. Wir wollen die Fremdlinge nicht beunruhigen, wenn es nicht sein muss. Die Blitzdame murmelte etwas. Es dauert nicht lange, Kleine. Hör auf zu knurren. Er lächelte. Sobald wir Zelana gefunden und ihr erzählt haben, was vor sich geht, ziehen wir los und amüsieren uns mit dem Treibeis. Das wird ein Spaß, ja? Sie knisterte begeistert. Blitze waren eine schlichte Naturgewalt, und es fiel nicht schwer, sie zu beschäftigen. Also setzte sie Veltan auf dem stürmischen Antlitz von Mutter Meer ab, und er ging den Rest bis zur Küste. Es überraschte ihn, dass Mutter Meer ihre Oberfläche sogar glättete, um ihm das Gehen zu erleichtern. Entweder hatte sie ihre schlechte Laune überwunden, oder sie hatte begriffen, wie ernst die Situation gegenwärtig war. Kurz darauf hatte er die Küste erreicht. Danke, Mutter, sagte er höflich zu der Quelle allen Lebens. Nicht der Rede wert, antwortete sie still in seinem Kopf. Zelana und Eleria sind weiter im Süden, fügte sie hinzu. 188 189 Aha. Könntest du mir einen Anhaltspunkt geben? Die Küstenlinie hier verläuft ziemlich gerade, Veltan, es gibt demzufolge keine Stellen, die auffallen. Geh also einfach nach Süden, bis du auf eine Ansammlung dieser schwimmenden Bäume triffst. Die Menschengeschöpfe nennen sie Schiffe und reiten auf ihnen, wenn sie mich besuchen. Ich habe solche schon gesehen, ja. Veltan betrachtete das fremde Land, an dem er gerade angekommen war. Ich denke, zuerst schaue ich mich ein bisschen um, Mutter. Die Menschengeschöpfe wissen wahrscheinlich nicht, dass Zelana meine Schwester ist, also werden sie mir Dinge erzählen, die sie ihr gegenüber verschweigen würden. Wenn wir hierhin gelangen, ist es den Geschöpfen des Ödlands auch möglich, und falls sie sich tatsächlich hier herumtreiben, sollten wir das wissen. Er zögerte. Ach, da ist noch etwas, das ich dir besser sagen sollte, Mutter, fügte er hinzu. In einiger Zeit muss ich einen Kanal durch Aracias Eiszone anlegen, die vor der Südküste von Dhrall liegt. Sicherlich hat Aracia dich um Zustimmung gebeten, ehe sie den Eisgürtel schuf, und ich brauche jetzt einen Weg hindurch, damit ich die Armee, die ich gerade angeheuert habe, in unsere Heimat bringen kann. Würdest du dich dadurch beleidigt fühlen? Nicht besonders, nein. Aracia hat mich nicht gefragt, ehe sie das Eis erschaffen hat, also scheint es mir nur recht zu sein, wenn du es ohne ihre Erlaubnis beseitigst. Eigentlich könnte ich das für dich tun. Du brauchst nur zu fragen. Ich wollte dich damit nicht belästigen, Mutter. Vor einiger Zeit habe ich lernen müssen, dass man dich besser nicht verärgert. Diese Sache mit den dummen Streifen habe ich doch längst vergessen, Veltan. Ich dachte, das wäre dir schon aufgefallen. Sie zögerte. Warum bist du so lange auf dem Mond geblieben, erkundigte sie sich dann neugierig. Schwester Mond sagte, du seist noch wütend auf mich. 190 Und das hast du ihr geglaubt? Ach, Veltan, inzwischen solltest du mich besser kennen. Nach einem Monat oder so hättest du ruhig zurückkommen können. Du musstest doch nicht zehntausend Jahre auf dem Mond bleiben. Ein schrecklicher Verdacht keimte in Veltan auf. Anscheinend hat sich Schwester Mond ein wenig einsam gefühlt, murmelte er Sie hat ständig behauptet, du würdest mich nicht mehr mögen. Da hat sie gelogen. Das macht sie andauernd. Jeder weiß, das; man ihr nicht trauen kann. Ich nicht. Sie wirkte so überzeugend. Ach, Veltan, was muss ich tun, damit du endlich erwachsen wirst? Manchmal bist du so leichtgläubig. Sie hat sich über deine Gesellschaft gefreut, deshalb hat sie dich angelogen. Deine Pflichten liegen jedoch hier, nicht dort draußen. Wenn diese Sache mit dem Vlagh und den Geschöpfen der Ödnis geregelt ist, werde ich mich mal ausführlich mit ihr unterhalten, sagte er mürrisch. Wenn es dir Spaß macht, Veltan. Sie wird bestimmt nicht zuhören, aber falls du dich besser fühlst, wenn du sie ausschimpfst, ist e; sicherlich nicht verkehrt. Nur beleidige und kränke sie nicht. Meine Gezeiten hängen von ihr ab, also behandle sie behutsam. Wenn du schon geglaubt hast, dieser dumme Vorschlag mit den Streifen habe mich verärgert, wirst du sehen, wie wütend ich wirklich werden kann, falls jemand meine Gezeiten durcheinander bringt. Ich werde vorsichtig sein, Mutter, versprach Veltan.
Veltan veränderte seine Kleidung, verhalf sich rasch zu Gesichtshaar, sah schließlich aus wie ein gewöhnlicher Maag, und ging in die Küstenstadt, die die Maags Weros nennen. Unauffällig spazierte er durch die schmalen Straßen am Wasser und lauschte. Da er der Gedanken zuhörte und nicht der Sprache, konnte er selbst geflüsterten Unterhaltungen aus großer Distanz folgen. 191 Es war ein guter Plan, nehme ich an, hörte er jemanden zu seiner Linken sagen, aber es ging bereits schief, als Kajak und seine Männer versuchten, die Schiffe in Brand zu stecken, die um Sorgans Seemöwe ankerten. Was genau ist denn schief gegangen? Die Stimme, die fragte, ließ Veltan frösteln. Es war eine krächzende Stimme, die nicht von einem Menschen stammen konnte. Ich war nicht da und habe es nicht mit eigenen Augen gesehen, erwiderte der erste Sprecher. Ein Gefährte aus meinem Schwärm hatte Kajak von Anfang an unter Kontrolle, doch beim Gedanken an das Töten war mein Gefährte aufgeregter, als gut war, und so hielt er sich am Strand auf - viel zu nah am Geschehen, wie sich herausstellte. Eines der Menschengeschöpfe tötete ihn aus großer Entfernung. Als ich dort ankam, hatten sich die meisten Überlebenden schon in alle vier Winde zerstreut. Mir gelang es, den Pfeil in die Hände zu bekommen, durch den mein Schwarmgefährte gestorben war - er war mit einer Pfeilspitze aus Stein gefertigt, wie diejenigen, die wir aus dem Land Dhrall kennen, und er war ebenso in Gift getaucht. Der Dhrall, der schon seit Jahren meine Schwarmgefährten tötet, ist hier, und immer noch bringt er uns um. Der mit der eiskalten Stimme fluchte. Ich habe das Gleiche gedacht, stimmte der erste Sprecher zu. Ich glaube, du solltest dem Vlagh besser mitteilen, dass unser Komplott fehlgeschlagen ist. Die Flotte der Maags ist unterwegs nach Dhrall, und wir können sie nicht aufhalten. Unser Krieg im Westen wird nicht so leicht werden, wie wir dachten, fürchte ich. So dumm bin ich nicht, dem Vlagh diese Nachricht zu überbringen, sagte der mit der krächzenden Stimme. Schlechte Nachrichten machen das Vlagh wütend, und jene, die sie ihm überbringen, lässt es selten noch bis zum nächsten Sonnenuntergang leben. Das ist mir auch schon aufgefallen. Ich würde sagen, da hast du ein Problem. Unser Plan war nicht schlecht, doch Kajak war die falsche Wahl, um ihn auszuführen. Veltan schlenderte an der schlammigen Gasse vorbei, in der die beiden sich unterhielten, und beide versuchten, mit dem Schatten zu verschmelzen und sich im Verborgenen zu halten. Dennoch hatte Veltan längst genug gesehen. Der eine, der die Nachricht gebracht hatte, sah aus wie die übrigen Maags auf den Straßen von Weros er war in Fell gekleidet, trug eine Kapuze, hatte einen Bart und war schmutzig -, doch war er wesentlich kleiner als der gewöhnliche Maag. Der andere trug ebenfalls einen Kapuzenmantel, und Veltan erhaschte einen Blick auf ein Gesicht mit riesigen, vorstehenden Augen, einem Mund mit Mandibeln und zwei langen Fühlern, die oben aus dem ovalen Kopf ragten. Veltan ging an der Gasse vorbei, als habe er nichts gesehen oder gehört, im Stillen jedoch revidierte er einige bisherige Beurteilungen der Lage. Dem Ton der Unterhaltung zufolge standen die Insekten des Ödlands in der sozialen Struktur über den Menschen dort. Zudem waren sie wesentlich intelligenter, als Veltan vermutet hätte. Der Begriff Schwarmgefährte deutete auf eine insektenartige Mentalität hin, die die Möglichkeit durchschimmern ließ, Das-man-Vlagh-nennt könne so etwas wie die Bienenkönigin des Ödlands sein. Die Intelligenz der zwei Feinde in der Gasse bestätigte eine Idee, die Veltan während seines Aufenthalts auf dem Mond gehabt hatte. Dort war es ihm erschienen, als sei Intelligenz ein Charakteristikum, das durch Notwendigkeit erzeugt wird. Wenn dein Widersacher groß ist, ist Größe von Bedeutung, und jede Generation wird größer werden als die vorhergehende. Demnach wird ein kluger Feind in Reaktion darauf die Erweiterung des Verstandes erstreben. Die Alternative besteht darin, auszusterben. Genug, murmelte er und eilte zielstrebig durch die Straßen von Weros zum Rand der Stadt. Er überquerte ein Stoppelfeld auf der 192 193 Westseite von Weros, und als er den Wald erreicht hatte, rief er seinen Blitz. Verschwinden wir hier, Liebes. Ich habe genug gehört -und gesehen. Zeit, dass ich mich mit meiner Schwester unterhalte. Es dauerte nicht lange, da hatten sie Sorgans Flotte gefunden. Im Hafen jeder Ortschaft, an der er auf seinem Lieblingsblitz vorbeiflog, lagen nur wenige Schiffe, doch hatte Mutter Meer angedeutet, dort, wo Zelana sich befand, würde es eine Ansammlung von Schiffen geben. Was genau eine Ansammlung war, ließ sich nicht sonderlich präzise fassen, doch meinte Veltan, zwei oder drei würden nicht unbedingt als Ansammlung durchgehen, und deshalb zog er weiter nach Süden. Dann brachte ihn seine Blitzdame zu einem schäbigen Dorf weit im Süden von Weros, wo Dutzende von Maagschiffen vor Anker lagen. Ich glaube, wir haben unser Ziel gefunden, Liebes, sagte er zu dem Blitz. Setz mich in einiger Entfernung ab, und ich gehe den Rest zu Fuß. Du bist wirklich der schönste Blitz, aber wir wollen keine Aufmerksamkeit auf uns lenken. Wenn wir wieder nach Dhrall zurückkehren und das Eis zerkleinern, kannst du nach Herzenslust krachen und donnern.
Sie flackerte liebevoll über seine Wange und setzte ihn am Rande eines Wäldchens westlich vom Dorf ab. Da Zelana nach Maag gegangen war, um eine Armee zu rekrutieren, war Veltan ziemlich sicher, dass der Fremdling, der Sorgan genannt wurde, derjenige war, den er finden musste, denn seine Schwester würde sich vermutlich an Bord der Seemöwe aufhalten. Das Wetter war unangenehm, während Veltan über das offene Feld auf die Ortschaft zuging. Ein böiger Wind blies aus Osten, und ein steter Nieselregen kam vom Hafen herein, hing wie Nebel in der Luft und verhüllte halb die schäbigen Gebäude. Im dem Ort selbst wimmelte es von Seeleuten, trotz des kalten Regens. Er brauchte nicht lange, bis er eine kleine Gruppe Männer 194 entdeckte, die zur Seemöwe gehörten, da jeder Seemann, den er fragte, auf sie zeigte. Sie waren am Wasser damit beschäftigt, Fässer und große Säcke in kleine Boote zu verladen. Ein riesiger Kerl mit einem Nacken wie dem eines Bullen führte offensichtlich die Aufsicht. Entschuldigung, sagte Veltan höflich zu dem großen Mann, ich suche nach einer Dame namens Zelana. Weißt du vielleicht zufällig, wo ich sie finden kann? An Bord der Seemöwe, antwortete der Seemann. Ist es wichtig? Ich denke schon. Sie ist meine Schwester, und ich möchte ihr etwas berichten, das von ziemlicher Bedeutung ist. Im Lande Dhrall spitzen sich die Dinge zu, und es wäre an der Zeit, nach Hause zu kommen. Hase, brüllte der große Mann. Das ist der Bruder der werten Dame Zelana, und er muss mit ihr sprechen. Ruder ihn rüber zur Seemöwe. Aber es regnet, jammerte der kleine Seemann. Was hat das zu sagen? Können wir nicht ein bisschen warten? Vielleicht klart es bald auf. Vermutlich an einem der nächsten Tage, ja, bloß so lange wirst du nicht warten, Hase. Du brichst sofort auf. Die Stimme des großen Mannes klang unerbittlich, und der Blick, den er dem Kleineren zuwarf, hatte etwas Bedrohliches an sich. Schon gut, schon gut. Reg dich nicht auf. Ich bin ja schon unterwegs. Der kleine Mann knurrte, während er Veltan zu einem wackeligen Anleger brachte, und er murmelte immer noch vor sich hin, während die beiden in eines der kleinen Boote stiegen. Wie geht es meiner Schwester in letzter Zeit, fragte Veltan den kleinen Mann, während der sie in den verregneten Hafen hinausruderte. Sie war bis vor einigen Tagen ziemlich besorgt, antwortete der 195 kleine Kerl. Nachdem ich und Langbogen jedoch eine Menge Leute ausgeschaltet haben, die Ärger machen wollten, sieht die Sache wieder besser aus. Den du Langbogen nennst, das ist der Bogenschütze, ja? Genau, und er ist der Beste in der großen weiten Welt. Ich bin einer seiner engsten Freunde. Der kleine Mann hörte auf zu rudern und wischte sich mit dem Ärmel den Regen von der Nase. Ist Eleria bei meiner Schwester? Sie trennen sich nie lange voneinander. Das ist ein süßes kleines Mädchen, nicht? In der Tat, stimmte Veltan zu. Langbogen hat die Pfeile auf die feindlichen Seeleute abgeschossen, ja? Die Nachricht hat sich also schon verbreitet. Wo hast du es gehört? In einer Stadt ein wenig die Küste aufwärts. Zufällig habe ich eine Unterhaltung von zwei Kerlen belauscht, die es gern gesehen hätten, wenn Kajak erfolgreich gewesen wäre. Beide waren ein wenig enttäuscht und außerdem ängstlich. Ihr Herr reagiert ziemlich ungehalten auf schlechte Nachrichten. Wie schade, meinte Hase. Dann schaute er über die Schulter. Die Seemöwe liegt vor uns. Wenn wir an Bord sind, kannst du deiner Schwester erzählen, was bei euch daheim los ist. Sie hat mich belogen, Zelana. Kannst du dir das vorstellen, sagte Veltan zu seiner Schwester in der gemütlichen Kabine am Heck des Schiffes, während Hase mit seinem Beiboot zu dem kleinen Ort zurückruderte. Mutter Meer hat mir gesagt, ich hätte nach einem Monat oder so heimkehren können, doch die Schwester Mond hat mich zum Narren gehalten, und so blieb ich zehn Äonen lang dort. Ach, Veltan, rief Zelana. Jeder weiß, dass man ihr nicht trauen darf. Ich nicht. Na ja, allzu schlimm war es nicht. Schwester Mond 196 kann eine ganz nette Gesellschaft sein, wenn sie möchte. Wenden wir uns unseren hiesigen Angelegenheiten zu. Wo ist dieser Sorgan, über den alle Welt redet? Er ist im Hafen und redet mit den anderen Kapitänen. Sicherlich ist er bald zurück. Hoffentlich. Ich habe eine trogitische Armee für Dhrall angeheuert. Wenn alles klappt, landen sie im Spätwinter oder Frühjahr in meiner Domäne. Wie groß wird diese Armee sein? Ungefähr hunderttausend Mann, liebe Schwester. Das sollte uns durchaus weiterhelfen.
Ich hoffe schon, doch. Aber die Sache wird noch spannender. Als ich nach Hause zurückkehrte, trug Yaltar einen wunderschönen Opal um den Hals, und er erzählte mir, er habe ihn eines Morgens vor unserer Haustür gefunden. Dann berichtete er mir von einem wiederkehrenden Albtraum. Offensichtlich hat der Opal die gleiche Wirkung wie Elerias Perle, meinst du nicht auch? Das ist durchaus möglich, nehme ich an, und wenn die Perle die Stimme von Mutter Meer ist, würde ich vermuten, der Opal muss die Stimme von Vater Erde sein. Veltan blinzelte. Daran hatte ich noch gar nicht gedacht, räumte er ein. Scheinbar haben wir sehr mächtige Freunde, oder? Jedenfalls kam in Yaltars Traum ein Krieg vor, und Dahlaine und ich konnten den Ort herausfinden. Die Schlacht wird in deiner Domäne stattfinden, liebe Schwester, und zwar an einer Felsschlucht, durch die der Fluss fließt, der nach Lattash führt. Wie günstig. Zufällig habe ich nämlich eine Vorhut der Maags in den Hafen von Lattash entsandt. Hast du es gewusst? Natürlich, Veltan. Nur nicht den genauen Zeitpunkt und Ort. Jetzt, nachdem wir den Ort kennen, brauchen wir nur noch den Zeitpunkt zu erfahren. 197 Vielleicht im Frühjahr. Ich habe Yaltar ausgefragt ... nicht zu auffällig. Es gab in der Schlucht keinen Schnee während der Schlacht, die er geträumt hat. Gewiss würde ich Frühjahr nicht in Stein meißeln, denn Yaltars Traum begann mitten im Krieg, deshalb können wir nicht genau festlegen, wann es losgeht. Das Vlagh behält uns im Auge, und es könnte versuchen, früher zuzuschlagen, um uns zu überraschen. In meiner Domäne streifen Fremde umher und stellen verdächtige Fragen. Sie interessieren sich dafür, wie viele Menschen in der Umgebung der Fälle von Vash leben, und ob du und ich uns gut verstehen. Es sollte wissen, dass wir uns nahe stehen, Veltan. Wir sind Bruder und Schwester. Das Vlagh versteht das nicht, Zelana. Es hat keine Familie, daher weiß es nichts über Liebe. Du hattest in letzter Zeit einige Aufregung hier, wie? Oh, ja - eine ziemliche Aufregung. Ein Maag namens Kajak war sehr interessiert an dem Gold, mit dem Sorgan die anderen Maags ködert, damit sie nach Dhrall ziehen und diesen Krieg für uns ausfechten. Das ist noch lange nicht alles, liebe Schwester. Das Vlagh verfügt nicht nur in Dhrall, sondern auch hier über Menschen - und andere Wesen -, und die haben Kajak zu seinem Angriff auf deinen Maag angestiftet. Zufällig habe ich zwei seiner Diener auf dem Weg hierher in Weros belauscht, und sie waren überhaupt nicht glücklich darüber, wie sich die Dinge hier entwickelt haben. Die Diener des Vlagh waren ein seltsames Pärchen, das darfst du mir glauben. Einer sah aus wie ein gewöhnlicher Maag - allerdings war er nur halb so groß -, und bei dem anderen handelte es sich um ein großes Insekt. Das meinst du nicht ernst! Ich fürchte doch. Dahlaine hat mir erzählt, das Vlagh experimentiere und beeinflusse die natürliche Ordnung der Dinge, in198 dem es verschiedene Spezies kreuzt. Das Insekt in jener Gasse in Weros war so groß wie ein Mensch und konnte sprechen - und denken. Soweit ich verstanden habe, ist ihr Komplott an einem Dhrall gescheitert, den du mitgebracht hast. Zelana lächelte. Das stimmt, Veltan. Er heißt Langbogen, und sein Pfeil verfehlt nie sein Ziel. Ich dachte schon, der kleine Maag, der mich hergerudert hat, würde übertreiben, aber dann hat er mir ja tatsächlich die Wahrheit erzählt. Vermutlich war das Hase. Er ist ein guter Freund von Langbogen. Du warst fleißig, Veltan. Ja, so langsam komme ich in Gang. Wie groß ist die Armee, die du bislang zusammengestellt hast? Wir haben fast fünfzigtausend Mann. Ich wünschte, ich könnte mehr auftreiben, doch die Maags verbringen den Großteil ihrer Zeit mit der Seeräuberei und dem Plündern trogitischer Schatzschiffe. Das ist mir zu Ohren gekommen. Die Trogiten mögen die Maags überhaupt nicht. Möglicherweise führt das noch zu Problemen, allerdings denke ich, die werden wir schon irgendwie in den Griff bekommen. Wenn ich meine Armee hole, werde ich dir ein wenig Hilfe schicken. Trogiten sind gute Soldaten, sie könnten nützlich sein. Wie nett von dir, Veltan, sagte Zelana und lächelte ihn liebevoll an. Familienbande, Schwester. Veltan schaute sich um. Ist Eleria in der Nähe, fragte er leise. Nein, sie ist auf Deck und spielt im Regen. Sie macht was Wasser mag sie. Langbogen passt auf sie auf. Da gibt es etwas, das du wissen solltest, Schwesterherz, sagte Veltan sehr leise. Als Yaltar mir seinen Traum erzählt hat, habe ich 199 kurz nachgedacht und gesagt, die Schlacht würde wohl in deiner Domäne stattfinden. Darauf fragte er mich, ob das der Ort sei, wo Balacenia wohnt. Ich kann mir beim besten Willen nicht erklären, woher er es weiß, aber er kennt ihren richtigen Namen. Das ist unmöglich!
Dahlaine meinte das auch, doch Yaltar hat ohne jeden Zweifel Balacenia gesagt. Unser großer Bruder glaubt vielleicht, er habe eine Barriere zwischen unsere Träumer und ihre Vergangenheit platziert, nur hat diese wohl ein paar Löcher. Kurz darauf kamen Eleria und der Bogenschütze Langbogen aus dem Regen herein. Eleria war tropfnass, doch Langbogen hatte wohl von einem überdachten Platz aus auf sie aufgepasst. Hast du schön gespielt, Liebes, erkundigte sich Zelana. Ja, ganz schön, erwiderte Eleria. Nicht so schön wie Schwimmen, aber Hakengabels Leute sind immer so aufgeregt, wenn ich über die Reling springe, und das Wasser hier ist fürchterlich schmutzig. Geh, trockne dich ab und zieh dich um, Liebes, trug ihr Zelana auf. Du tropfst den ganzen Boden voll. Ja, Geliebte, gab das kleine Mädchen zurück, ging zu ihrem Schlafplatz und nahm sich ein dickes Tuch. Veltan war sehr überrascht von Zelanas Träumer. Das Mädchen war das hübscheste Kind, das er je gesehen hatte, und er spürte eine aufstrebende, noch nicht voll entwickelte Intelligenz bei ihr. Langbogen, sagte Zelana zu dem großen stillen Dhrall, dies ist mein Bruder, Veltan vom Süden, und er hat uns Nachrichten über die Ereignisse zu Hause gebracht. Es ist mir eine Ehre, dich kennen zu lernen, Veltan, sagte Langbogen. Wurde Zelanas Domäne schon angegriffen? Soweit ich weiß nicht, antwortete Veltan, ich fürchte jedoch, lange wird es nicht mehr dauern. 200 Dann sollten wir besser heimkehren, Zelana, schlug Langbogen vor. Ich denke, du hast Recht, stimmte sie zu. Sorgans Vetter sollte inzwischen den Hafen von Lattash erreicht haben, doch wenn die Geschöpfe des Ödlands jetzt kommen, wären er und seine Männer hoffnungslos unterlegen. Wir haben vielleicht noch Zeit, aber ich möchte es nicht drauf ankommen lassen. Sobald Hakenschnabel zurück ist, werde ich mit ihm reden. Es könnte sein, dass die Vorhut der Trogiten, die ich losschicken werde, Lattash vor Sorgans Flotte erreicht, meinte Veltan. Das könnte hilfreich sein, falls es einen plötzlichen Notfall gibt. Jedenfalls, wenn sich Trogiten und Maags nicht gegenseitig umbringen, ehe der Krieg beginnt. Sie mögen sich nicht besonders. Wir sind es, die den Befehl haben, Zelana, und wir sind es, die sie bezahlen. Ich glaube, du hast die ganze Macht des Geldes noch nicht begriffen, liebe Schwester. Es muss ihnen nicht gefallen, was wir ihnen befehlen; sie müssen es lediglich ausführen. Wenn sie entscheiden, sie möchten es nicht tun, schließen wir einfach unseren Geldbeutel. Dieser Fluss, der durch die Schlucht nach Lattash fließt, hat zwei Ufer. Wenn wir die Maags auf dem einen und die Trogiten auf dem anderen unterbringen, sollten wir das Blutvergießen allerdings auf ein Minimum reduzieren können. Eleria hatte sich umgezogen und kletterte auf Langbogens Schoß. Veltan warf seiner Schwester einen fragenden Blick zu. Es würde zu lange dauern, die Sache zu erklären, sagte sie und seufzte. Kapitän Sorgan kehrte an Bord der Seemöwe zurück, als der Nachmittag langsam in den Abend überging, und die Seeleute, die den ganzen Tag Vorräte und Ausrüstung für die lange Reise herübergerudert hatten, brachten eine letzte Ladung. Zelana schickte dem Maagkapitän die Nachricht, dass sie mit ihm und zwei weiteren 201 Seeleuten sprechen müsse - den einen nannte sie Ochs, den anderen Schinkenpranke. Ziemlich eigenartige Namen, dachte Veltan. Veltan sah sofort, dass Sorgan, wie die meisten Maags, die er kommandierte, anderthalb mal so groß war wie gewöhnliche Menschen, und er und seine Freunde wirkten überaus schmuddelig und schmutzig. Ganz offensichtlich badeten Maags nicht gerade häufig. Wenn Zelana jedoch Recht hatte, waren die Maags schlau. Veltan lächelte schwach. Zelanas Maags und seine Trogiten würden sich vermutlich nicht besonders gut verstehen. Das ist mein Bruder Veltan, stellte Zelana ihn den großen Maags vor, er bringt interessante Nachrichten über gewisse Ereignisse im Lande Dhrall. Es ist immer gut, wenn man weiß, was vor sich geht, meinte Sorgan. Er sah Veltan an. Was ist drüben los, fragte er. Wir haben Glück, berichtete Veltan. Uns ist es nämlich gelungen, herauszufinden, wo genau der Feind seinen Angriff beginnen will, und wie es der Zufall will, genau in der Nähe eines Ortes, den ihr bereits kennt - und besser noch, zu dem bereits ein Teil eurer Flotte unterwegs ist. Der Feind will Lattash angreifen, fragte Sorgan klug. Also darum ist es von Anfang an gegangen? Ich kann dir nicht ganz folgen, gestand Veltan. Lattash ist der Ort, an dem die werte Dame Zelana ihr Gold aufbewahrt. Weißt du das nicht? Jetzt ergibt der Krieg endlich einen Sinn. Ich denke, wir sollten lieber den Anker lichten und die Segel setzen, Käpt'n, mischte sich der stämmige Ochs ein. Wenn wir nicht vor dem Feind in Lattash eintreffen, gehen wir womöglich am Zahltag leer aus. Damit könnte er durchaus Recht haben, Käpt'n, sagte der Maag mit Namen Schinkenpranke. Skell könnte zwar rechtzeitig eintreffen, aber könnte ist doch ziemlich vage. Du hast fast jedes
202 Schiff an der Küste angeheuert und dabei dieses Gold in der Höhle versprochen, und falls die Höhle bei unserer Ankunft leer ist, wird das deiner Beliebtheit nicht sehr gut tun. Der Feind weiß, dass ihr kommt, Kapitän Sorgan, erklärte Veltan ihm, und er tut alles, was er kann, um euch aufzuhalten. Ich war vor einigen Tagen in Weros, und zufällig belauschte ich eine Unterhaltung zwischen zwei Kerlen, die nicht viel von dir halten. Sie waren höchst unglücklich über das, was diesem gewissen Kajak passiert ist. Von ganzem Herzen wünschten sie deinen Tod, doch wie ich erfahren habe, hat Langbogen ihren Plan ohne viel Aufhebens vereitelt. Kajak wollte dein Gold, doch diese Fremdlinge wollten dein Leben. Ohne dich ist Lattash dem Feind hilflos ausgeliefert. Lichten wir den Anker, Käpt'n, drängte Ochs. Ich würde lieber noch mehr Schiffe und Männer versammeln, meinte Sorgan, aber vielleicht hast du Recht, Ochs. Ist dein Vetter Tori nicht noch hier, Sorgan, fragte der Bogenschütze Langbogen. Könnte er nicht bleiben und weitere Schiffe und Männer anheuern? Vermutlich könnte er das, räumte Sorgan ein, doch er hätte sicherlich Schwierigkeiten, die anderen Kapitäne ohne das Gold zu überzeugen. Langbogen zuckte mit den Schultern. Lass ihm das Gold also hier. Sorgan blinzelte. Nun, darüber muss ich erst einmal nachdenken, sagte er zweifelnd. Vertraust du deinem Vetter nicht, Hakengabel, fragte Eleria, die immer noch auf Langbogens Schoß saß. Dieses Gold ist doch nicht wirklich wichtig, oder? Du hast gesehen, wie viel sich noch in der Höhle der Geliebten befindet, oder? Darüber sollte man ernsthaft nachdenken, Käpt'n, meinte Schinkenpranke. Tori wird das Gold dringender brauchen als wir. 203 Er muss den interessierten Kapitänen schließlich etwas vorzeigen. Wenn du die Sache richtig betrachtest, ist dieses Gold lediglich der Köder, und Tori wäre derjenige, der weiter fischt, nachdem wir aufgebrochen sind. Es erscheint mir nur so unnatürlich, erwiderte Sorgan. Gold einfach so wegzugeben, das geht mir einfach gegen den Strich. Wir geben dir doch viel mehr, Hakengabel, versprach Eleria. Du machst dir einfach zu viele Sorgen. Dann gähnte sie. Ich bin ein bisschen müde, sagte sie. Wenn niemand etwas dagegen hat, werde ich ein kleines Schläfchen halten. Und wenn doch jemand etwas dagegen hat, mache ich es trotzdem. Sie schmiegte sich in Langbogens Arme und schlief prompt ein.
18 Veltans Blitzdame amüsierte sich köstlich, während sie voller Begeisterung einen Durchlass durch die aufgetürmten Schollen des meilenbreiten Eisgürtels im Süden von Dhrall brach. Besonders freute sie sich über den Dampf, der aufwallte, und über die riesigen Bruchstücke, die jedes Mal in alle Richtungen stoben, wenn sie einen Eisberg zerschmetterte. Veltan hatte das Gefühl, sie würde möglicherweise übertreiben, doch hatte sie so viel Spaß, dass er nicht das Herz hatte, sie zu bremsen, und daher lehnte er sich zurück und ließ sie spielen. Ihr erster Kanal durch Aracias eigenmächtige Eiszone wurde eine halbe Meile breit. Der nächste Kanal wurde doppelt so breit, und der Dampf, den sie erzeugte, erinnerte schon an eine Nebelbank. Genug, Veltan, schalt Mutter Meer. Sie tut doch niemandem weh, Mutter. 204 Und ob sie das tut! Das Wasser fängt an zu kochen, und die Fische sterben. Sie soll augenblicklich aufhören. Ja, Mutter, erwiderte er gehorsam. Könntest du vielleicht den Eismatsch beiseite schieben? Eis scheint die Trogiten aus irgendeinem Grunde zu beunruhigen. Ihre Schiffe sind recht langsam, und wenn sie zu vorsichtig voranfahren, wird es Mittsommer sein, ehe sie Dhrall erreichen. Ich kümmere mich um die Eisbrocken, Veltan, und ich werde auch die Schiffe ein wenig anschieben, damit sie schneller sind. Das wäre sehr nett, Mutter, bedankte sich Veltan. Er zögerte. Wäre es in Ordnung, wenn mein Blitz noch ein paar dieser Eisberge zerschmettert? Sie bringt das Wasser auch nicht zum Kochen, aber es macht ihr solchen Spaß, und den möchte ich ihr nicht verderben. Bald wird sie müde werden, und dann bringe ich sie ins Bett. In letzter Zeit habe ich sie ein wenig hart rangenommen, und sie muss ein bisschen spielen. Also gut, nur darf das Wasser nicht mehr kochen! Versprochen. Castano war eine große Seestadt an der Nordküste des trogitischen Weltreichs, und der Hafen lag voller Schiffe mit breiten Rümpfen, die offensichtlich dazu gedacht waren, große Fracht zu transportieren. Die Stadt war von dicken hohen Mauern umgeben, und das, was Veltan sehen konnte, erinnerte ihn an die Stadt Weros drüben im Land der Maags. Aus irgendeinem Grund scheuten sich die zivilisierten Völker der Welt vor offenem Gelände, denn ihre Häuser drängten sich dicht aneinander. Anders als die Häuser in Weros jedoch waren jene in Castano aus Stein errichtet. Dadurch waren sie einerseits stabiler, andererseits herrschte im Winter vermutlich Kälte und
Feuchtigkeit in ihnen. Wie die Maags, so hielten auch die Trogiten die Straßen ihrer Städte für den am besten geeigneten Ort, sich ihrer Abfälle zu entledigen. 205 Veltan sah ein großes Lager im Süden der Stadt. Er nahm an, es gehöre Narasans Armee, doch hielt er dort nicht an. Gewiss würde Narasan nicht losziehen, ehe er zumindest eine symbolische Zahlung erhalten hätte, also flog Veltan über Castano hinweg einige Meilen weiter westlich zu einem kleinen Fischerdorf. Dort begutachtete er aufmerksam einige Fischerboote, um einen Eindruck davon zu bekommen, wie sie konstruiert waren. Dann ging er zu einem einsamen Strand und baute mit einem einzigen Gedanken eines der Boote nach. Auf diese Weise kam er schneller voran, als wenn er trogitische Münzen hätte duplizieren und dann den Rest des Nachmittags mit einem stinkenden alten Fischer feilschen müssen. Das Fischerboot sah durchaus wie eine gelungene Kopie desjenigen im Hafen des Dorfes aus, also schob er es vom Strand ins Wasser. Er brauchte eine Weile, bis er begriffen hatte, welches Seil das Segel hochzog, herunterließ oder drehte, allerdings war es so kompliziert nun auch wieder nicht, und bald lag das Boot gut im Wind und segelte in Richtung Castano. Die Fahrt machte ihm Spaß, und er fragte sich, wieso er bisher noch nie segeln gegangen war. Natürlich war das Wetter nicht schlecht, und der Wind wehte in die richtige Richtung, so dass alles recht einfach zu handhaben war. In Castano angekommen, schickte er einen Suchgedanken aus und entdeckte den Soldaten namens Gunda, den er in Narasans Lager in Kaldacin kennen gelernt hatte. Er lenkte sein Boot zu dem Anleger, auf dem Gunda sich mit mehreren Trogiten unterhielt. Ahoi, Gunda, rief er. Bist du das, Veltan? Gunda klang überrascht. Als ich das letzte Mal geguckt habe, war ich es noch. Ist Kommandant Narasan in der Nähe? Du findest ihn drüben im Lager, südlich der Stadt. Was in aller Welt machst du in diesem maroden kleinen Kahn? Ich dachte, es wäre leichter, von Dhrall mit einem Boot herzukommen, anstatt zu gehen. 206 Sehr lustig, Veltan. Bist du tatsächlich in dieser Nussschale von Dhrall hergesegelt? So schlimm war das gar nicht. Wir haben Glück, und ich glaube, wir sollten es ausnützen, solange es anhält. Eine unvorhersehbare Strömung im Ozean hat einen Kanal durch die Eisschollen geöffnet, und wir sollten dort hindurch, ehe der Durchlass sich wieder schließt. Könntest du vielleicht bitte Narasan rufen lassen? Und erwähne das Wort Bezahlung in deiner Nachricht. Dann wird er sich bestimmt beeilen. Hast du etwa so viel Gold in diesem armseligen Boot, wollte Gunda ungläubig wissen. Sehe ich so dumm aus, Gunda? Sagen wir mal, ich habe genug dabei, um Narasans Interesse zu wecken. Den Rest bekommt er, sobald wir Dhrall erreicht haben. Du solltest dich langsam in Bewegung setzen. Ich denke, wir werden morgen früh aufbrechen wollen. Dieser Kanal durch das Eis wird sicherlich nicht ewig bestehen, und wir sollten es rasch angehen. Veltan machte großes Aufhebens darum, sein kleines Boot aufzuräumen, nachdem Gunda losgegangen war. Er verstaute das Segel, rollte die Seile auf und sorgte für Ordnung. Damit beschäftigte er sich so lange, bis jegliche Neugierigen gelangweilt waren, und erst dann duckte er sich vorn am Bug, so dass er nicht mehr zu sehen war. Er griff über die Schulter und holte einen Goldziegel aus der Leere, die sich dort befand. Den legte er in den Bug. Daraufhin holte er den nächsten hervor und legte ihn zum ersten. Als es zehn waren, stand er auf und deckte sie mit Segeltuch ab. Wenn er sich nicht verrechnet hatte, befand sich dort Gold im Gegenwert von fünftausend trogitischen Goldkronen, die genügen sollten, um Narasans Interesse zu wecken, und wenn er mehr sehen wollte, nun, der Kanal durch das Eis war offen, es dürfte also nicht schwer fallen, ihn ins Land Dhrall zu locken. Narasan hatte seine Bettlerkleidung abgelegt und wirkte nun im207 posant in seiner eng anliegenden schwarzen Lederuniform, dem schweren Metallhelm und dem Brustpanzer. Zudem trug er ein Schwert, das in einer Scheide an einem Gürtel hing, und der stabil wirkende Griff ließ vermuten, dass diese Waffe zum Kämpfen und nicht zur Schau diente. Wo in aller Welt hast du diesen Kahn aufgetrieben, Veltan, rief er schon vom Anleger her und betrachtete Veltans Boot verächtlich. Veltan zuckte mit den Schultern. Ich habe es von einem Fischer gekauft. Schließlich brauchte ich ein Boot. Es macht zwar nicht viel her, segelt aber gut. Ist das ein dhrallisches Boot? Veltan schüttelte den Kopf. Ein trogitisches Fischerboot. Dhralls bauen keine Segelboote, und ich wollte nicht mit einem Kanu den ganzen Weg paddeln. Ich möchte dir etwas zeigen, und dann müssen wir uns unterhalten. Also schön, stimmte Narasan zu. Versuch mal, dein Boot am Steg festzuhalten. Ich schwimme nicht gern - vor allem nicht in Uniform. Vorsichtig kletterte er die Leiter am Anleger hinunter, während Veltan sein Boot mit einem langen Haken festhielt. Narasan sprang das letzte Stück. Was wolltest du mir zeigen, fragte er Veltan. Vorn im Bug. Unter dem Segeltuch. Narasan ging nach vorn und zog das Tuch zurück. Nun, nun, nun, sagte er und starrte die Goldziegel an, sind sie nicht hübsch? Ich habe mir schon gedacht, dass sie dir gefallen würden.
Das sind aber kaum zweihundert. Richtig. Schließlich wollte ich durch die Last mein Boot nicht versenken. Nennen wir es einfach eine Bezeugung des guten Willens. Der Rest des Goldes wartet in Dhrall. Hiermit wollte ich dir nur einen Eindruck verschaffen, welches Gewicht und welche Größe die Blöcke haben. 208 Narasan hob einen der Ziegel hoch. Schwer, bemerkte er. Wie kannst du mit etwas derart Unförmigem irgendwelche Sachen kaufen? Bei uns werden sie nicht als Geld verwendet, Kommandant, erinnerte Veltan ihn. Sie dienen eher als Dekoration und Schmuck - für die Decken, für Kettchen, für Türgriffe und so weiter. Also, wir müssen zumindest einen Teil deiner Armee unverzüglich nach Dhrall bringen. Wie wir herausgefunden haben, werden die feindlichen Truppen bald angreifen. Andere Soldaten haben wir bereits dort, doch ihr müsst sie vermutlich unterstützen. Meine Schwester hat im Westen eine Armee angeheuert, und einen Teil dieser Truppe schickt sie in ihre Domäne. Weitere sind unterwegs, doch erreichen sie Dhrall vielleicht nicht rechtzeitig. Narasan kniff die Augen zusammen. Die einzigen Menschen, die jenseits des Meeres im Westen wohnen, sind die Maags. Und? Wir kommen nicht sehr gut aus mit den Maags. Das ist mir schon zu Ohren gekommen. Dieser Krieg hat nichts mit Freundschaft zu tun. Ihr müsst die Maags nicht mögen, Kommandant Narasan, ihr müsst nur Seite an Seite mit ihnen kämpfen. Das Einzige, worüber ihr und die Maags euch Gedanken machen müsst, ist das Gold, das wir euch bezahlen, und ob ihr lange genug lebt, um es auszugeben. Sehr offen gesprochen, aber es verdeutlicht nur deinen Standpunkt. Ich habe keine Zeit für Diplomatie, Kommandant. Ich muss meiner Schwester helfen, die Invasion abzuwehren. Ihr werdet bald auf einen Maagkapitän mit Namen Sorgan Hakenschnabel stoßen. Meine Schwester hält ihn für sehr fähig, allerdings kannst du dir dein eigenes Urteil bilden, sobald der Kampf beginnt. Narasan grunzte. Du bezahlst, räumte er ein. Hast du an die Karte gedacht, die du für uns zeichnen wolltest? 209
Aber ja doch, log Veltan. Ich gehe und hole sie. Er ging zum Heck des Bootes und rief sich ein Bild von Dhrall vor Augen. Jedoch hielt er es nicht für notwendig, die Karte allzu genau zu gestalten. Schon in naher Zukunft könnte es notwendig werden, Soldaten in Dhrall von einem Ort zum anderen zu verlegen, und wenn die wirklichen Entfernungen zwischen hier und dort auf der Karte exakt zu erkennen wären, würden die Trogiten vielleicht bemerken, dass mehr im Gange war, als er sie wissen ließ. Manche Menschen in dieser Welt hatten keine Probleme mit dem Phänomen Wunder, doch die trogitischen Soldaten gehörten ganz sicherlich nicht in diese Kategorie. Die Karte, die er schuf, ähnelte dem Lande Dhrall, doch zeigte sie eine wesentlich kleinere Version. Er rollte sie zusammen und brachte sie zum Bug, wo Narasan zärtlich das Gold streichelte. Das ist das Genaueste, was ich dir geben kann, Kommandant, entschuldigte er sich und reichte die Karte dem Soldaten. Manche Entfernungen sind nicht sehr exakt. Schon gut, Veltan, sagte Narasan. Ich brauche vor allem einen allgemeinen Überblick über das Terrain. Er betrachtete die Karte eine Weile lang. Hat dein Volk eine Art Armee, die uns von Nutzen sein könnte, fragte er. Veltan lächelte schwach. Mein Volk weiß nicht einmal, was das Wort Armee bedeutet, Kommandant, gestand er. Zelanas Völkerschaften tragen untereinander gelegentlich Streitigkeiten aus, allerdings leben sie in einer Stammesgesellschaft, und so nehmen die Männer einfach ihre Waffen und ziehen unorganisiert in den Kampf gegen den feindlichen Stamm. Wenn ungefähr ein Dutzend Männer gefallen sind, legen sie die Feindseligkeiten für gewöhnlich bei und beginnen mit ausgiebigen Verhandlungen. Ein Großteil der Waffen ist eher einfach und nicht sehr effektiv. Die einzige Ausnahme bilden die Bögen. In der Domäne meiner Schwester gibt es einen Mann namens Langbogen, der mit dem Bogen anscheinend nicht einmal dann sein Ziel verfehlen könnte, wenn er wollte, und 210 er schafft es ohne Probleme, zur gleichen Zeit vier Pfeile in der Luft zu haben. Na, das würde ich gern sehen. Bestimmt wirst du ihn bald kennen lernen. Die Menschen in der nördlichen Domäne meines Bruders Dahlaine sind so ähnlich wie die im Westen. Die Domäne meiner Schwester Aracia und meine eigene bestehen überwiegend aus Bauernland, und so sind die Menschen meist Bauern. Sie kämpfen nicht gegen andere Menschen, sie kämpfen gegen den Boden und das Wetter. Er hielt inne. Wie viele Männer kannst du im Moment in See stechen lassen? Narasan sah blinzelnd zum Himmel. Ungefähr zwanzigtausend. Der Großteil meiner Armee befindet sich noch auf dem Marsch von Kaldacin hierher. Du bist eine Woche früher gekommen, deshalb sind wir noch nicht fertig. Zwanzigtausend sind zwar wenig, aber sie müssen wohl reichen. Veltan betrachtete die trogitischen Schiffe. Deine Schiffe sind nicht sehr schnell, also sollten wir vielleicht vorausfahren. In diesem Ding, wollte Narasan wissen. Das Boot macht vielleicht nicht viel her, Kommandant, aber es ist sehr schnell. Dein Stellvertreter ist Gunda, ja?
Narasan nickte. Wir müssen uns mit ihm unterhalten. Im Augenblick besteht ein offener Kanal durch die Eiszone. Er ist jedoch von der Jahreszeit abhängig. Gunda sollte keine Schwierigkeiten haben, die Küste von Dhrall zu erreichen, doch muss er genau wissen, wo er zu landen hat. Wir werden ihm einige Tage voraus sein, damit du und Sorgan Hakenschnabel die Einzelheiten in Ruhe besprechen könnt. In den Bergen liegt jetzt Schnee, jedoch kann sich das Wetter jederzeit ändern, und sobald es wärmer wird, bricht die feindliche Armee zur Invasion in die Domäne meiner Schwester auf, und dann müssen wir bereitstehen. 211 Narasan zuckte mit den Schultern. Du bist derjenige, der zahlt, meinte er, also machen wir, was du sagst.
Lattash
19 Hase hatte immer noch gemischte Gefühle wegen dieser Sache mit Kajak, als Sorgans Flotte die Segel setzte und den Hafen von Kweta verließ. Seine plötzliche Berühmtheit als der kleine Kerl, der Langbogen in dieser Nacht geholfen hat hatte seinem Ego gut getan, daran bestand kein Zweifel. Aber eigentlich wollte Hase überhaupt nicht berühmt sein. Seit seinem ersten Tag an Bord der Seemöwe hatte er stets versucht, unauffällig zu sein. Die allgemeine Überzeugung der Maags, größer sei besser, hatte ihm das ziemlich leicht gemacht, und seine vorgetäuschte Einfalt hatte Sorgan davon überzeugt, dass er allenfalls für einfache Aufgaben geeignet war. Dadurch war sein Leben weniger anstrengend gewesen, und darauf kam es schließlich an. Die einzige verantwortungsvolle Arbeit, die man ihm je übertragen hatte, war die Schmiede an Bord der Seemöwe, und das passte ihm sehr gut. Wenn er an seinem Amboss stand und mit dem Hammer ein Stück Eisen bearbeitete, suchten sich Ochs und Schinkenpranke andere Männer für die unangenehmeren Aufgaben. Natürlich musste er auch Wache halten. Kein Seemann kann sich dieser Arbeit entziehen, und Hase bevorzugte die Nachtwache, weil dann der Kapitän schlief. Manchmal gelang es Hase, Sorgan wochenlang nicht über den Weg zu laufen. Und das machte ihm nicht sehr viel aus. Die meisten Seeleute finden die Nachtwachen auf See unerträglich anstrengend, aber Hase hatte die Sterne als Gesellschaft. Irgendwann war ihm aufgefallen, dass sie nicht immer am gleichen Platz standen, und seitdem meldete er sich freiwillig zur Nachtwa215 che. Nach und nach stellte er fest, dass sich nicht nur die Sterne bewegten, sondern auch die Seemöwe, und die
Entfernung bestimmter Sterne über dem Horizont war - j e nach Jahreszeit - ein sehr guter Hinweis auf die Position der Seemöwe. Die Berechnung von Entfernungen war der nächste logische Schritt. Als die Meeresströmung die Seemöwe gepackt und zum Lande Dhrall getrieben hatte, hätte Hase beinahe seine gesamten Berechnungen weggeworfen, doch jetzt wusste er, dass Zelana vieles beeinflussen konnte, damit es ihren Zwecken diente, und er strich den Begriff unmöglich aus seinem Wortschatz. Sorgans Flotte verließ beim ersten Tageslicht eines stürmischen Wintermorgens den Hafen von Kweta, doch nachdem sie das offene Meer erreicht hatten, schien sich der Wind zu legen. Dann kam er wieder auf, doch diesmal aus Westen. Der größte Teil der Mannschaft an Bord der Seemöwe betrachtete diesen Wechsel als Glück. Hase hingegen war ziemlich sicher, dass es mit Glück nun überhaupt nichts zu tun hatte. Trotz des Winters kam Sorgans Flotte gut voran, und nach wenig mehr als zwei Wochen umrundeten sie das Nordende der Insel Thurn. Wäre der Himmel klar gewesen, hätte Hase ihren Weg verfolgen können, doch die Wolken verbargen die Sterne vor ihm. Das fand er überhaupt nicht nett. Muss sie wirklich alle Sterne so verstecken, beschwerte er sich eines Abends bei Langbogen, während die Flotte auf die bewaldete Westküste von Dhrall zuhielt. Frag sie doch selbst, schlug Langbogen vor. Ach, nein - ich glaube, lieber nicht. Ich möchte sie nicht reizen. Vernünftiger Gedanke, meinte Langbogen und lächelte dabei nicht. An einem frostigen, grauen Tag fuhr die Flotte in den schmalen Einlass der Bucht von Lattash, wo die Schiffe von Sorgans Vetter 216 Skell bereits vor Anker lagen. Der Himmel war Wolkenverhangen, daher gab es keine Schatten, und auf Hase machte es den Eindruck, das Dorf, über dem die schneebedeckten Berge bedrohlich aufragten, sei in eisige Kälte gehüllt. Die Größe des Dorfes hatte sich seit ihrem letzten Besuch mehr als verdoppelt, doch die meisten neuen Bauten wirkten provisorisch. Die hinzugekommenen Hütten standen größtenteils am Rande des alten Dorfes, manche sogar auf dem Deich, der das Dorf vom Fluss trennte. Rauch hing in der kalten Luft, und die wenigen Eingeborenen, die unterwegs waren, trugen dicke Fellmäntel. Der Winter war, wie Hase wusste, überall eine unangenehme Jahreszeit, aber im Lande Dhrall schien er geradezu unerträglich zu sein. Ein schmales Kanu kam ihnen vom Dorf entgegen. Rotbart saß hinten in dem Kanu, und Sorgans Vetter Skell, ein schlanker Mann mit mürrischem Gesicht, kauerte im Fellmantel am Bug. Hase legte den Hammer auf den Amboss, um zuzuschauen und zu lauschen. Du musst aber gute Winde erwischt haben, Sorgan, rief Skell, als das Kanu in Hörweite kam. Sorgan zuckte mit den Schultern. Glück vielleicht, rief er zurück. Wie ist es bei euch gelaufen? Nicht so gut, erwiderte Skell. Du und ich, wir können unsere Männer recht gut unter Kontrolle halten, doch einige dieser Kapitäne, die du mir untergejubelt hast, haben anscheinend keine Ahnung von der Bedeutung des Wortes Disziplin; außerdem hatten sie fässerweise Grog an Bord. Sobald wir hier eintrafen, drehten etliche der Männer einfach durch. Sie glauben offensichtlich, jede Hütte in Lattash hätte Wände aus reinem Gold, und zudem hatten sie seltsame Vorstellungen von dem Frauenvolk hier. Das hat eine Menge Unruhe gestiftet. Die Dhralls brachten einige der übelsten Störenfriede um, und eine Weile lang war die Stimmung ziemlich gereizt. Ich ließ kurzerhand ein paar Seeleute - und zwei Kapitäne -auspeitschen, und erst danach entspannte sich die Lage wieder. 217 Sorgan zuckte zusammen. War das nicht ein wenig übertrieben? Wir standen am Rande eines offenen Aufruhrs, Sorgan, berichtete Skell weiter. Ich musste etwas unternehmen, um bei den Dhralls nicht den falschen Eindruck zu hinterlassen. Hast du den Feind schon gesichtet? Persönlich nicht, meinte Skell, während Rotbart das Kanu längsseits an die Seemöwe heranbrachte, aber die Dhralls haben in der Schlucht gekundschaftet, aus der dieser Fluss kommt, und sie meinten, die Eindringlinge seien unterwegs und uns zahlenmäßig ziemlich überlegen. Das Wetter hat sie allerdings aufgehalten, und ich glaube, eine Weile lang werden sie nicht weiterkommen. Sie sitzen in vierzehn Fuß hohem Schnee fest. Klingt ja, als wäre das Glück zur Abwechslung mal auf unserer Seite, meinte Sorgan. Ich würde nicht gerade jetzt mit einem Würfelspiel anfangen, sagte Skell, stand auf und griff nach der Strickleiter, die an der Seite der Seemöwe hing. Das Wetter hier kann sich im Nu wandeln. Er stieg auf Deck und schüttelte Sorgan neben Hases Amboss die Hand. Sorgan blickte über den Hafen zum Dorf. Das scheinen mir aber mehr Hütten zu sein als letzten Sommer, sagte er. Der Stamm von Alter Bär hat sich hier versammelt, nachdem die hiesigen Dhralls den Feind in der Schlucht entdeckt haben, berichtete Skell. Die zwei größten Stämme des westlichen Dhrall sind hier, und weitere sind unterwegs. Hast du Männer in die Schlucht geschickt, ehe das Wetter schlecht wurde, fragte Sorgan. Einige. Wir konnten nur die Nordseite der Schlucht auskundschaften, weil ein Schneerutsch die Dorfseite
blockiert hat, aber ich habe an der engsten Stelle, die wir entdeckt haben, zwei Schiffsmannschaften postiert, die dort ein Fort errichten. Ich bezweifle 218 zwar, dass sie weit gekommen sind, ehe der Schneesturm begann wie aus dem Nichts heraus. Seitdem hat sie von hier unten niemand mehr erreicht. Der Schnee ist einfach zu tief. Skell betrachtete Sorgans Flotte. Das sieht mir ein wenig winzig aus, Sorgan. Hast du nicht mehr auf die Beine gebracht? Nach deinem Aufbruch ist die Lage in Kweta unruhig geworden. Erinnerst du dich an Kajak? Skell gab einen unflätigen Laut von sich. Das passt gut zu dem, wie er war, stimmte Sorgan zu. Er hat ein Komplott geschmiedet, um mir das Gold an Bord der Seemöwe abzunehmen, doch dabei hat er es mit Langbogen und Hase zu tun bekommen. Du wirst nicht glauben, wie viele Männer die beiden innerhalb kürzester Zeit getötet haben. Jedenfalls wollte ich danach weitere Kapitäne anheuern, doch der Bruder der werten Dame Zelana suchte uns auf und berichtete, dass sich die Lage hier drüben langsam zuspitzt und dass ihr Volk uns ziemlich dringend braucht. Deshalb habe ich deinen Bruder Tori zurückgelassen, damit er weitere Schiffe und Männer rekrutiert. Er sollte in einigen Wochen hier sein. Vermutlich werden wir ihn brauchen, meinte Skell, aber so, wie die Dinge im Augenblick stehen, wird sich nichts bewegen, ehe der Schnee schmilzt. Wir sollten uns lieber Gedanken machen, was wir zu tun haben, wenn es so weit ist, sagte Sorgan. Der Schnee wird den Feind vielleicht noch eine Weile aufhalten, jedoch wohl kaum auf lange Sicht. Sobald er tatsächlich schmilzt, sollten wir bereit sein, uns ihnen zu stellen, ohne uns auf das Wetter verlassen zu müssen. Dafür werden wir bezahlt, nehme ich an, pflichtete Skell bei. Wo ist Langbogen, erkundigte sich Rotbart leise bei Hase, während Sorgan und Skell ihre Unterhaltung fortsetzten. In Zelanas Kabine, erwiderte Hase. Willst du mit ihm reden? 219 Da gibt es einige Sachen, die er besser wissen sollte. Du kannst auch mitkommen, Hase. Dann brauche ich die Geschichte nicht zweimal zu erzählen. Sie gingen zum Heck der Seemöwe, und Hase klopfte leise an die Tür der Kabine, die nun schon seit geraumer Zeit nicht mehr Sorgans Heim war. Komm herein, wenn du willst, Häschen, rief Eleria, aber vergiss nicht, dir die Füße abzutreten. Hase seufzte und verdrehte die Augen gen Himmel. Sagt sie so was häufig, fragte Rotbart. Jedes Mal, antwortete Hase und öffnete die Tür. Wie gewöhnlich saß Eleria auf Langbogens Schoß, doch der große Mann setzte sie einfach auf den Boden und erhob sich. Hat es Arger zwischen den Stämmen gegeben, fragte er Rotbart. Zuerst schon, glaube ich, erwiderte Rotbart und lächelte schwach. Die jungen Männer sind nicht so gut miteinander ausgekommen - du weißt, wie das so ist. O ja, stimmte Langbogen mit einer gewissen Resignation in der Stimme zu. Als ich mit Skells Flotte hier eintraf, hatten sich die Dinge allerdings wieder beruhigt. Mein Häuptling Weißzopf und euer Häuptling Alter Bär haben sich die jungen Leute beider Stämme vorgeknöpft, und jetzt benehmen sie sich anständig. Passiert so etwas häufig in Dhrall, fragte Hase. Ständig, meinte Rotbart und zuckte die Achseln. Die jungen Männer wollen immer die Aufmerksamkeit anderer auf sich lenken, und sobald einer sagt. Mein Stamm ist besser als deiner, gehen die Reibereien los. Das kommt mir doch sehr bekannt vor, meinte Hase und lächelte. In den Tavernen der Maags kommt es meist aus fast genau den gleichen Gründen zu Prügeleien. Ich glaube, das einzig Gute daran, jung zu sein, ist, dass man es am Ende überwindet. Wo hat Häuptling Alter Bär seine Hütte errichtet, wollte Langbogen von Rotbart wissen. Ich sollte mich möglichst bald mit ihm unterhalten. Seine Hütte steht nahe am Deich, antwortete Rotbart. Er verbringt ziemlich viel Zeit mit dem Schamanen eures Stammes, nicht wahr? Langbogen nickte. Sie kommen sehr gut miteinander aus. Einer-Der-Heilt ist sehr weise - und sehr praktisch veranlagt. Er hat mir viele Dinge erklärt, ehe ich auf die Jagd gegangen bin. Langbogen hielt inne, und Hase hatte das Gefühl, dass sie ein Thema berührten, über das sie in seiner Gegenwart nicht sprechen wollten. Es liegt aber wirklich sehr viel Schnee, fuhr Langbogen fort. Wie lange hat der Sturm gedauert? Zehn Tage oder so, sagte Rotbart. Es war ein sehr ungewöhnlicher Schneesturm. Ich kann mich nicht erinnern, jemals gesehen zu haben, wie Schnee aus dem heiteren blauen Himmel fiel. Das ist in der Tat eigenartig, befand auch Langbogen. Stürme, die so plötzlich beginnen, kommen in letzter Zeit recht häufig vor, bemerkte Hase. Die drei schauten Zelana fragend an. Also gut, räumte sie ein. Dann und wann mogele ich ein wenig. Aber erzählt es nicht weiter. Ich wollte nur sichergehen, dass nichts Schlimmes passiert, ehe Sorgans Flotte Dhrall erreicht. Schnee ist zwar nicht ganz so
kalt wie Eis, aber wenn genug Schnee vorhanden ist, gefriert alles. Könnten wir den Schnee nicht einfach dort oben in den Bergen lassen, Geliebte, schlug Eleria vor. Die bösen Dinger wären erst in der Lage, Weiterzuziehen, wenn er geschmolzen ist, und wenn er niemals schmilzt, müssen sie für immer dort bleiben. Zelana schüttelte den Kopf. Vater Erde würde das nicht erlauben, Eleria. Ein Jahr ohne Sommer bedeutet den Tod für viele Pflanzen und Tiere, und Pflanzen und Tiere sind ihm so viel wert 220 221 wie die Menschen. Wir können den Schnee noch ein paar Wochen lassen, aber dann muss er schmelzen. Wenn Veltan hier vor der Schneeschmelze eintrifft, sollte alles gut gehen. Falls er später kommt, wird die Sache interessant. Dein Bruder bringt Hilfe, erkundigte sich Rotbart. Zelana nickte. Trogitische Soldaten. Trogiten, rief Hase. Erwartest du tatsächlich, dass Trogiten uns Maags helfen? Das ist höchst unwahrscheinlich, weißt du. Trogiten hassen uns wie die Pest. Veltan bezahlt sie nicht fürs Hassen, erklärte sie. Ihr könnt euch gegenseitig wieder hassen, sobald wir den Krieg hinter uns haben und ihr zu Hause seid. Hase zuckte mit den Schultern. Es ist euer Krieg, Zelana, also machen wir das, was ihr von uns verlangt, aber meiner Meinung nach verspricht das Ärger, noch ehe der Krieg vorüber ist. Aller Ärger, den wir im Augenblick brauchen, hat sein Lager oben in der Schlucht aufgeschlagen, Hase, mischte sich Rotbart ein. Haben diese aufrührerischen Seeleute eigentlich die Höhle der werten Dame Zelana entdeckt, wollte Hase wissen. Nein, antwortete Rotbart. Häuptling Weißzopf hat den jungen Männern aufgetragen, den Eingang mit Büschen und Ästen zu tarnen, und dann hat er einige Hütten davor bauen lassen. Zudem hat er Wachen aufgestellt, aber nicht zu offensichtlich. Ich glaube, für mich und Eleria ist es an der Zeit, in die Höhle zurückzukehren, entschied Zelana. Ich bringe euch hin, bot Rotbart an. Das wäre sehr nett, bedankte sich Zelana. Hase, sag Hakenschnabel, er könne seine Kabine zurückhaben. Ich muss mein Kanu aus dem Kielraum holen, meinte Langbogen zu Zelana. Soll ich Hase in die Höhle mitbringen? Ja, ich denke schon. Aber schauen wir erst mal, was der Käptn 222 dazu zu sagen hat. Zerzausen wir Hakenschnabels Federn nicht, wenn es nicht sein muss. Hase war überrascht, weil Zelana ihn in die doch recht ausgewählte Gemeinschaft in der Höhle einbeziehen wollte. Trotz der Ereignisse in Kweta fühlte sich Hase immer noch nicht als vollwertiges Mitglied des inneren Kreises. Er dachte darüber nach, als er zu der Kabine ging, die Hakenschnabel seit dem letzten Sommer mit Ochs und Schinkenpranke geteilt hatte. Die werte Dame Zelana geht jetzt an Land, Käpt'n, berichtete er. Sie sagt, du kannst wieder in deine Kabine einziehen. Na, endlich, erwiderte Sorgan. Jetzt wird alles wieder normal. Ist sie schon aufgebrochen? Sie ist dabei, Käpt'n. Rotbart bringt sie und Eleria in seinem Kanu an Land. Langbogen holt gerade sein eigenes Kanu aus dem Kielraum, also haben wir die Seemöwe zur Abwechslung mal wieder für uns. Vielleicht solltest du lieber mit zu Zelana in die Höhle gehen, Hase, meinte Sorgan und blinzelte nachdenklich. Sie mag dich, also halt sie bei guter Laune. Wir dürfen nicht aus den Augen verlieren, dass ein großer Teil des Goldes in der Höhle uns gehören wird, wenn diese Sache erst einmal vorüber ist. Sorg dafür, dass es gut bewacht wird. Ich tue mein Bestes, Käpt'n, versprach Hase. Dann ging er auf Deck und half Langbogen, das Kanu ins Wasser zu lassen. Hat er sich sehr angestellt, fragte Langbogen, als sie in das Kanu stiegen. Hase grinste. Ich musste nicht einmal fragen. Er will unbedingt jemanden in der Nähe des Goldes wissen, den er kennt. Langbogen nickte und stieß mit dem Fuß das Kanu von der Seemöwe ab, dann nahm er sein Paddel und hielt auf die Küste zu. Das Dorf ist größer als unseres, stellte er fest, während sie sich dem Strand näherten. 223 Vermutlich deshalb, weil die Leute deines Stammes hergezogen sind, während wir in Maag waren und Schiffe gesammelt haben, vermutete Hase. Dann fiel ihm etwas ein. Du warst noch nie hier, oder, Langbogen? Für gewöhnlich meiden wir die Dörfer anderer Stämme, Hase, erklärte Langbogen. Die Häuptlinge der Stämme treffen sich gelegentlich, doch dann meist auf weiten Wiesen, wo es keine Überraschungen geben kann. Ihr Leute hier in Dhrall seid ziemlich übervorsichtig, oder? Vorsichtig, Hase, nur vorsichtig. Die Angehörigen eines Stammes vertrauen nur selten denen eines anderen.
Langbogen ließ sein Kanu auf den Strand gleiten, und die beiden zogen es höher auf den Sand, ehe sie zur Höhle aufbrachen. Eleria wartete vor einer der Hütten, die Rotbarts Leute gebaut hatten, um den Höhleneingang zu verbergen. Was hat euch aufgehalten, fragte sie. Wir haben Besuch. Der große Bruder der Geliebten ist vor einer Weile eingetroffen, und sie unterhalten sich in der Höhle. Veltan, fragte Hase. Nein, Häschen, Dahlaine. Er ist der Älteste in der Familie, und er glaubt, das wichtigste Wesen in der großen weiten Welt zu sein. Er will der Geliebten Befehle erteilen, doch sie widmet ihm nicht sehr viel Aufmerksamkeit. Eleria kicherte. Das macht ihn richtig fuchtig. Du lebst aber mit seltsamen Leuten zusammen, kleine Schwester, sagte Hase. Ich weiß, und es macht jede Menge Spaß. Hase und Langbogen folgten ihr durch die leeren Hütten in die Höhle, wo Hase sah, wie Zelana sich mit einem großen stämmigen Kerl unterhielt, der in Bärenfell gekleidet war. Er hatte stechende Augen und einen eisengrauen Bart. Veltan hat mir versichert, er könne mir mit einigen seiner trogi224 tischen Soldaten aushelfen, sagte Zelana gerade, aber ich nehme an, das hängt davon ab, wie rasch er sie nach Dhrall bringen kann. Ich werde mit ihm reden, versprach der graubärtige Mann. Veltan ist manchmal ein wenig zu höflich. Versammeln sich die Dhralls deiner Domäne, um sich dem Feind entgegenzustellen? Häuptling Weißzopf hat sich darum gekümmert, während ich mit Eleria drüben in Maag war. Ich gebe es nicht gern zu, Dahlaine, aber ich hätte mich mehr um das kümmern sollen, was hier im Westen passiert. Es gab einige ernsthafte Streitereien zwischen den verschiedenen Stämmen, die ich leicht hätte beenden können, wäre ich nicht all die Jahre mit meinen Delphinen herumgeschwommen. Glücklicherweise haben Weißzopf und Alter Bär alle Unruhestifter zur Vernunft gebracht, nachdem sich ihre Stämme vereint haben. Trotzdem wollten sich einige Stämme noch immer nicht mit den anderen verbünden, allerdings waren sie vorsichtig genug, es nicht laut auszusprechen. Hast du deinen Maags schon erklärt, mit welcher Art Feind sie es bei den Dienern des Vlagh tatsächlich zu tun haben, fragte der bärtige Dahlaine seine Schwester. Sollen wir wirklich in die Einzelheiten gehen, ehe Veltans Trogiten eingetroffen sind, Dahlaine, fragte sie zurück. Wenn die ausländischen Armeen hier sind, können wir sie hier behalten, doch falls sich die Nachricht zu rasch verbreitet... Sie sprach den Satz nicht zu Ende. Damit hast du möglicherweise Recht, liebe Schwester, räumte Dahlaine ein. Ernst sah er Hase an. Können wir ihm vertrauen, wollte er wissen. Ich glaube schon. Er ist klüger, als er zu sein vorgibt, und er und Langbogen verstehen sich sehr gut. Einige Dinge braucht er noch nicht zu erfahren. Warum überlassen wir es nicht Langbogen, den Zeitpunkt zu bestimmen, wann die Verbündeten erfahren, womit sie es zu tun haben? 225 Ich denke, wir sollten Einer-Der-Heilt bitten, unsere Feinde den Maags und Trogiten zu beschreiben, schlug Langbogen vor. Er hat einen von ihnen in die Falle gelockt, als ich noch ein junger Mann war, und nach dessen Tod hat er das Fleisch von den Knochen gekocht. Dann zeigte er mir die Besonderheiten dieses Geschöpfes. Unsere Feinde sind nicht besonders schwierig zu töten, aber man muss gut aufpassen. Ich werde bald mit Häuptling Alter Bär sprechen und ihn bitten, darüber mit Einer-Der-Heilt zu reden. Das wäre vielleicht die beste Lösung, Dahlaine, sagte Zelana. Hase beäugte sie misstrauisch. Irgendetwas an dieser Sache kam ihm unheilvoll vor, und er fühlte sich ausgesprochen unbehaglich. In diesem Moment betrat Rotbart die Höhle. Du wolltest mich sprechen, Zelana, fragte er. Ja, antwortete sie. Ich denke, du und Langbogen solltet den anderen Mitgliedern des Stammes die neuen Pfeilspitzen zeigen und sie ihnen vorführen. Manchmal widersetzen sich die Menschen Neuerungen. Zeigt ihnen, wie gut die neuen Pfeilspitzen funktionieren. Hase, kehrst du bitte zu Hakenschnabel zurück und sagst ihm, ich brauchte alles Eisen von jedem Schiff der Flotte, und ich brauche außerdem jeden, der sich auch nur ein wenig mit der Schmiedekunst auskennt. Wir müssen so viele Pfeife mit Eisenspitzen herstellen wie möglich. Hase seufzte. Irgendwie wusste ich, dass die Sache so ausgehen würde. Jeden Tag Pfeilspitzen zu schmieden ist bestimmt nach einer Weile richtig anstrengend. Aber du bist doch der Meisterschmied, Häschen, erinnerte Eleria ihn. Nachdem du den anderen Eisenhämmerern gezeigt hast, was sie zu tun haben, wirst du sie den Rest der Zeit beaufsichtigen müssen und ihnen sagen, was sie falsch machen. Das stimmt allerdings, nehme ich an. Wenn man die Sache recht betrachtet, werde ich zum Kapitän der Schmiede. Sehe ich das rich226 tig? Der Gedanke, Befehle erteilen zu dürfen anstatt sie zu befolgen, ließ ein warmes Feuer in seinem Herzen auflodern.
Lass dir deinen Rang mal bloß nicht zu Kopfe steigen, warnte Zelana ihn.
20 Hase errichtete seine Pfeilwerkstatt am Strand in der Nähe von Zelanas Höhle, und gleich zu Beginn ging der Ärger los. Die Schmiede der anderen Maagschiffe widersprachen heftig, als Hase ihnen mitteilte, dass sie alles Eisen an Bord der Schiffe abliefern mussten, und sie hatten auch nichts für die Idee übrig, wochenlang von morgens bis abends zu schuften. Ein seefahrender Schmied hat in der Regel ein gemütliches Leben. Gelegentlich muss er einen Topf für den Schiffskoch reparieren oder ein paar Schwerter und Äxte schärfen, aber das ist auch schon alles an Arbeit. Ich sehe darin keinen Sinn, verkündete Hammer, der Schmied von der Hai, dem Schiff von Sorgans Vetter Skell. Wir sind es doch, die das Kämpfen erledigen müssen, oder? Wenn diese Eingeborenen zu ängstlich sind, ihre eigenen Kriege auszutragen, werden sie auch nicht von viel Nutzen sein, sobald die Kämpfe losgehen. Da bin ich mir nicht so sicher, Hammer, sagte einer der Eisenschmiede, der im Hafen von Kweta zugegen gewesen war, als Kajak versucht hatte, die Seemöwe zu plündern. Ich habe gesehen, was dieser Langbogen mit Pfeilen anrichten kann, und wenn man die Sache recht betrachtet, ist jeder Feind, den die Dhralls über weite Distanz töten, einer weniger, den wir aus der Nähe erledigen müssen. Ich halte es trotzdem für Verschwendung von Zeit und Eisen, beharrte Hammer stur. 227 In diesem Augenblick kam Langbogen aus der Höhle, und Hase sah die Möglichkeit, das Murren rasch zu beenden. Hast du gerade etwas zu tun, fragte er seinen Freund. Eigentlich nicht, Hase. Warum? Hammer versteht nicht ganz den Sinn dessen, was wir vorhaben. Ich glaube, es würde weniger Schwierigkeiten geben, wenn du ihm und den anderen vorführst, was du mit deinem Bogen bewerkstelligen kannst. Kein Problem, erklärte sich Langbogen einverstanden. Er blickte sich am Strand um, ging zum Wasser und holte eine Muschel. Dann kam er zurück und reichte sie Hammer. Warum gehst du damit nicht ein Stück den Strand hinunter, fragte er. Ich zeig dir dann, was ein gut gezielter Pfeil anrichten kann. Das ist aber ein ziemlich kleines Ziel, meinte Hammer zweifelnd. Ich habe gute Augen. Halt es über deinen Kopf, während du gehst, damit ich es sehen kann. Hammer knurrte ein wenig, doch ging er den Strand entlang und hielt die Muschel über den Kopf. Bis hier, rief er zurück, nachdem er hundert Schritte zurückgelegt hatte. Weiter, antwortete Langbogen. Hammer ging weiter. Hier, rief er nach zweihundert Schritten. Weiter, rief Langbogen zurück. Das ist töricht, schrie Hammer, während er - wenn auch unwillig - weitermarschierte. Glaubst du, das genügt, um sie zu überzeugen, fragte Langbogen Hase. Wenn du die Muschel von hier triffst, gibt es sicherlich keinen Streit mehr. Finden wir es heraus, stimmte Langbogen zu und spannte seinen Bogen. 228 Willst du ihm nicht sagen, er soll die Muschel auf einen Baumstamm oder so etwas legen? Ich kann sie ganz gut sehen, wo sie ist, erwiderte Langbogen und ließ den Pfeil mit der Eisenspitze los. Die lange Sehne sang, und der Pfeil stieg in weitem Bogen auf und über den Sandstrand hinweg. Dann kam er herunter. Die Muschelschale zersprang in tausend Stücke, als Langbogens Pfeil sie Hammer aus der Hand schlug. Hammer tanzte herum, fluchte und schüttelte die Hand. Du hättest mir beinahe die Finger abgeschossen, rief er. Du hast die Muschel zu fest gehalten, verteidigte sich Langbogen. Sollen wir noch mehr Muscheln kaputtmachen, oder willst du lieber Pfeilspitzen schmieden? Im Anschluss daran lief die Sache besser. Die Eisenschmiede aus Sorgans Flotte stellten massenweise Pfeilspitzen her, und die Dhralls von Lattash brachten bündelweise schlanke Schäfte. Bald stapelten sich fertige Pfeile in kaum mehr zählbarer Menge vor Zelanas Höhle. Hase fühlte sich bei Sonnenuntergang, als habe er wirklich etwas zustande gebracht. Die Arbeit wurde während der nächsten Tage fortgesetzt, dann wurde das Wetter wieder schlechter: An der Küste regnete es, oben in den Bergen fiel weiterer Schnee. Hase musste das Schmieden unterbrechen, während die Dhralls Hütten über den Ambossen und Schmiedefeuern errichteten, um sie vor dem Regen zu schützen. Es regnete schon drei Tage, und noch immer waren die Hütten nicht fertig, da kam Eleria aus der Höhle und ging zu Hase, der verdrossen in den trüben Himmel schaute. Wie lange müssen wir diesen Regen noch ertragen, kleine Schwester, fragte er sie. Solange die Geliebte meint, wir würden ihn brauchen, Häschen, erwiderte sie. Ich möchte in den Arm genommen werden, sagte sie daraufhin und streckte ihm die Hände entgegen. Alle sind so beschäftigt, niemand hat Zeit für mich. 229 Hase umarmte sie, und sie küsste ihn innig. Das ist besser, sagte sie und lächelte. Sag nicht so schlechte Dinge über den Regen, Häschen. Hier ist es Regen, aber oben in den Bergen ist es Schnee. Die bösen Leute können
nicht weiterziehen, solange es schneit. Hast du gerade etwas zu tun? Die Geliebte möchte, dass du Hakengabel holst. Es kommt jemand, den sie ihm vorstellen möchte. Ich hole ihn, erklärte sich Hase einverstanden, wandte sich um und eilte über den verregneten Strand, um jemanden zu suchen, der ein Kanu paddeln konnte, ohne damit umzukippen. Rotbart beschäftigte sich nicht mit viel mehr, als dem Regen zuzuschauen, daher war er bereit, Hase zur Seemöwe zu paddeln. Sorgan hockte in seiner Kabine und schaute verdrossen hinaus in den trüben Regen. Das ist der nasseste Ort der ganzen Welt, knurrte er, als Hase eintrat. Liegt nur an der Jahreszeit, Käpt'n, erinnerte Hase ihn. Zelana möchte dich in ihrer Höhle sehen und dir jemanden vorstellen. Kann sie ihn nicht herbringen? Sicherlich könnte ich sie darum bitten, Käpt'n, aber vermutlich würde dir ihre Antwort nicht besonders gefallen. Sorgan seufzte und zog sich seinen schweren Fellmantel über. Hase lächelte, verbarg es jedoch sorgsam. Seine Position an Bord der Seemöwe hatte sich sichtlich verändert während der letzten Wochen. Kapitän Hakenschnabel, Ochs und Schinkenpranke ignorierten ihn nicht mehr und behandelten ihn auch nicht mehr wie einen unterbelichteten Laufburschen. Weil er in jener Nacht in Kweta Langbogens Helfer gewesen war, hatte sich die Meinung aller Übrigen ebenfalls radikal gewandelt. Hase betrachtete das mit einem weinenden und einem lachenden Auge. Sein neuer Status baute natürlich sein Ego auf, doch war es jetzt unmöglich, wieder zurück in seine frühere Anonymität zu schlüpfen. Ob es ihm gefiel oder nicht er besaß nun eine gewisse Berühmtheit. 230
Kapitän Hakenschnabel ging voraus aus der Kabine und trat auf das regennasse Deck. Regnet es jedes Jahr so, fragte er den in Leder gekleideten Rotbart, ehe er in das Kanu stieg. Das ist nichts Ungewöhnliches, meinte Rotbart. Für Schnee ist es nicht kalt genug hier an der Küste, in den Bergen oben liegt der Schnee hingegen sehr hoch. Das ist nicht so schlecht, weißt du. Im Tiefschnee kann der Feind nicht angreifen. Das stimmt wohl, nehme ich an, räumte Sorgan knurrend ein. Und wen will mir die werte Dame Zelana vorstellen, Hase? Eleria hat es mir nicht gesagt, Käpt'n. Vielleicht soll es eine Überraschung sein für dich. Ich komme ganz gut ohne viele Überraschungen zurecht, grummelte Sorgan. Rotbart setzte das Kanu nicht weit von Zelanas Höhle sanft auf den Strand. Ein Stück weiter im Süden lag im Wasser ein seltsam aussehendes Boot. Hase war fast sicher, dass es noch nicht da gewesen war, als Eleria aus der Höhle gekommen und ihm Zelanas Wunsch überbracht hatte. Was ist das für ein Kahn, Käpt'n, fragte Hase neugierig. Ich denke, man nennt es Fischerboot, Hase, antwortete Sorgan. Die Menschen unten im Süden fahren damit zu bestimmten Jahreszeiten aufs Meer hinaus, wenn der Fisch wandert. Ich selbst mag getrockneten Fisch nicht, doch die Südländer scheinen ihn gern zu essen. Die drei zogen Rotbarts Kanu über die Flutgrenze hinaus auf den Strand und stiegen den Hügel zu der wacklig wirkenden Hütte hinauf, die den Eingang der Höhle verbarg. Langbogen, Häuptling Weißzopf und Häuptling Alter Bär erwarteten sie und führten sie in die Höhle hinein. Ach, da bist du ja, Sorgan, begrüßte ihn Zelana. Jetzt können wir endlich anfangen. Meinen Bruder Veltan hast du ja schon kennen gelernt. Der Greis da drüben ist unser älterer Bruder Dahlaine, 231
und die fein angezogene Dame meine große Schwester Aracia. Sie sind gekommen, um sich anzuschauen, wie du die feindliche Armee vernichtest. Ich werde versuchen, ihnen keine Enttäuschung zu bereiten, sagte Hakenschnabel. Dann betrachtete er den Fremden, der neben Zelanas Bruder Veltan stand. Der Mann hatte dunkles Haar mit einem Hauch Silber an den Schläfen, und er trug eng anliegende glänzend schwarze Lederkleidung. Sein Oberkörper wurde von einer Art eiserner Weste eingeschlossen, und unter dem Arm hielt er einen runden Helm. An der Hüfte hing ein Schwert in seiner Scheide, und es reichte fast bis zu seinen Knöcheln. Der Griff des Schwertes war lang und schwer, offensichtlich wurde es mit beiden Händen geführt. Das ist Kommandant Narasan aus dem trogitischen Weltreich, Kapitän Hakenschnabel, stellte Veltan den Soldaten vor. Er bringt uns eine große Armee, um dir bei unseren gegenwärtigen Unannehmlichkeiten zur Seite zu stehen. Kapitän, grüßte der Trogit und nickte knapp. Kommandant, erwiderte Sorgan und nickte ebenfalls. Dann holte er tief Luft. Ich nehme an, wir sollten eine Sache von vornherein klarstellen, meinte er. Bis vor einer Weile habe ich meinen Lebensunterhalt damit verdient, trogitische Schatzschiffe auszurauben, und ich war ein guter Pirat. Die werte Dame Zelana hat mich überzeugt, dass ich mehr Gold verdienen kann, wenn ich eine Flotte zusammenstelle und hierher komme, um für sie zu kämpfen. Ich weiß, das klingt jetzt unglaublich, aber wir stehen gewissermaßen auf der gleichen Seite, obwohl Maags und Trogiten in der Vergangenheit nie besonders gut miteinander ausgekommen sind. Wirst du damit irgendwelche Probleme haben, Kommandant?
Ich bin Soldat, Kapitän Hakenschnabel, gab der Trogit zurück, allerdings ziehe ich für Gold in den Kampf, nicht aus Patriotismus. Ich habe schon Krieg gegen Männer geführt, die ich zu meinen Freunden zählte, an der Seite von Männern, die ich nicht ausstehen konnte. Davon abgesehen habe ich auch nicht viel für die gierigen Trogiten übrig, die die Eingeborenen von Shaan beschwindeln. Diese armen Wilden begreifen den Wert des Goldes nicht einmal, also tauschen sie es gegen wertlosen Schmuck ein. Raube nur so viele dieser Schwindler aus, wie du möchtest, Hakenschnabel, meine Gefühle verletzt das nicht. Hier im Lande Dhrall gibt es viel Gold, und wir werden uns jede Unze verdienen, indem wir diesen Krieg für unsere Auftraggeber ausfechten. Dabei betrügen wir weder uns gegenseitig noch diejenigen, die uns bezahlen. Dann werden wir ja gut miteinander auskommen, sagte Sorgan und lächelte matt. Ich habe den Feind persönlich noch nicht zu Gesicht bekommen, aber die Dhralls haben mir berichtet, dass ich möglicherweise zahlenmäßig hoffnungslos unterlegen sein werde, wenn der Schnee schmilzt und der Gegner durch das Flusstal herunterkommt. Wie viele Männer kannst du beisteuern, und wie lange wird es dauern, bis sie hier sind? Zwanzigtausend Mann sind unterwegs, Sorgan. Sie sollten in etwa einer Woche eintreffen. Vermutlich kann ich zumindest bis dahin durchhalten, versicherte Sorgan ihm. Ich habe meinen Vetter mit einer Vorhut hergeschickt, und seine Männer haben Befestigungen in der Schlucht errichtet, an einer Stelle, die wahrscheinlich auf dem Weg des Feindes liegt. Vor ein paar Wochen sind die Arbeiten jedoch zum Erliegen gekommen, denn ein Schneesturm hat die Schlucht mit Schnee unter sich begraben, und niemand kann sich mehr bewegen. Sorgan kratzte sich die Wange. Ich wollte eigentlich mehr Schiffe und Männer zusammentrommeln und nach Dhrall bringen, doch die werte Dame Zelana hat befohlen, so schnell wie möglich herzukommen. Einer meiner anderen Vettern heuert weitere Schiffe und Männer an, aber ich bin nicht sicher, wann er hier einläuft. Wenn die Sache knapp wird, könnten du und deine Armee zum Zünglein an 233
der Waage werden. So, wie sich die Lage im Augenblick darstellt, ist der Feind bis über beide Ohren mit Schnee bedeckt, ganz oben in der Schlucht, und es scheint, als würde noch mehr Schnee fallen. Mit etwas Glück beginnen die richtigen Kämpfe erst im Mittsommer. Dies verspricht ein interessanter Krieg zu werden, nicht wahr, merkte der Trogit Narasan vorsichtig an. Vorausgesetzt, wir bringen uns nicht gegenseitig um, bis er losgeht. Es wäre uns allerdings lieber, wenn ihr das nicht tun würdet, Narasan, mischte sich Veltan ein und lächelte schief. Der Trogit zog eine nachdenkliche Miene. Mir scheint es, Kapitän, dass wir, obwohl wir beide in der Vergangenheit Kriege geführt haben, nicht auf die gleiche Art und Weise kämpfen. Da wir nun einmal beide hier sind und nichts Dringendes zu tun haben, wäre es nicht sinnvoll, unsere Erfahrungen auszutauschen und uns besser kennen zu lernen? Gibt es etwas, das du im Augenblick brauchst? Sorgan kniff die Augen zusammen und kratzte sich erneut an der Wange. Mir fällt nichts ein. Ah ... Käpt'n, meldete sich Hase zögerlich. Ich brauche mehr Eisen. Hast du schon alles verbraucht, was wir dir gegeben haben, Hase, fragte Sorgan und konnte seine Überraschung kaum verhehlen. Die Vorräte sind bald erschöpft, Käpt'n. Ich habe eine Menge Schmiede an der Arbeit, und wenn der Regen nachlässt, werden wir bald alles verbraucht haben. Woran arbeitest du denn, das so viel Eisen benötigt, Sorgan, fragte Narasan. Pfeilspitzen für die Dhralls. Dieser Große hier heißt Langbogen, und er ist der einzige Mann, den ich kenne, der über eine halbe Meile hinweg mit seinem Pfeil einen Faden durch ein Nadelöhr ziehen kann. Aber er und die übrigen Dhralls schlagen ihre Pfeilspitzen aus Stein. Eisen ist besser, und deshalb haben wir angefan234
gen, welche aus Eisen für sie herzustellen, nachdem wir hier angekommen waren. Ich habe mit Langbogen darüber gesprochen, und wir sind uns einig, dass ich, wenn es losgeht, meine Männer in die Schlucht führe, während die Dhralls sich an den Seiten aufstellen. Der ständige Pfeilhagel, der auf den Gegner heruntergehen wird, verringert die Zahl der Feinde, gegen die wir kämpfen müssen. Durchaus gescheit, sagte Narasan. Wer ist dein Schmied? Hase, antwortete Sorgan und deutete auf diesen. Er ist zwar nicht sehr groß, dafür kann er jedoch hervorragend mit Eisen umgehen. Kennst du dich auch mit anderen Metallen aus, Hase, fragte Narasan. Ich kann auch mit Kupfer schmieden, wenn es sein muss, erklärte Hase, aber es ist zu weich, um etwas wirklich Nützliches daraus herzustellen. Narasan griff in den Lederbeutel an seinem Gürtel und zog eine Hand voll großer runder Münzen hervor. Könntest du hieraus Pfeilspitzen fertigen? Er reichte eine der Münzen Hase. Hase wog die Münze auf der Handfläche. Das Metall war nicht so schwer wie Eisen, wirkte jedoch härter und dichter als Kupfer. Möglich wäre es schon, denke ich. Was für ein Metall ist das? Es heißt Bronze. Trogiten benutzen Bronzemünzen, um Dinge zu kaufen, die nicht sehr teuer sind. Eine recht große Flotte ist auf dem Weg hierher, und an Bord der Schiffe könnten Tausende dieser Münzen vorhanden sein, außerdem Werkzeuge und Verzierungen. Die Flotte müsste in Kürze eintreffen, und sobald sie da ist, kannst du so viel Bronze bekommen, wie du brauchst.
Hase tippte nachdenklich mit dem Fingernagel gegen die Bronzemünze. Wie heiß muss das Feuer sein, um es zu schmelzen, fragte er. Narasan lächelte. Ich habe nicht die geringste Ahnung. Warum? 235 Wir haben Glühöfen, Hämmer und Ambosse, erklärte Hase. Wenn wir in der Lage wären, das Feuer in den Öfen heiß genug anzufachen, damit diese Bronze schmilzt, könnten wir Gussformen aus Ton anfertigen, während wir auf deine Flotte warten. Wir brennen die Gussformen, damit sie aushärten, und gießen geschmolzene Bronze hinein. Das würde wesentlich schneller gehen, als die Münzen auf dem Amboss in Form zu hämmern. So könnten wir leicht Tausende und Abertausende von Pfeilspitzen anfertigen. Ah ... Kommandant, meldete sich nun Zelanas Bruder Veltan zu Wort, berichtige mich, wenn ich mich vielleicht irre, aber die Anker deiner Schiffe, sind die nicht auch aus Bronze gefertigt? Narasan blinzelte ihn an und begann zu lachen. Daran habe ich überhaupt noch nicht gedacht, räumte er ein. Aber nicht nur die Anker unserer Schiffe, ja? Wenn ich mich recht entsinne, ist der Anker deines Bootes ebenfalls aus Bronze gemacht. Das müsste unserem kleinen Freund doch genügen, damit er ein paar Sachen ausprobieren kann, meint ihr nicht auch?
21 Das stete Nieseln dauerte auch die nächsten Tage an, und Hase zog mit seiner Schmiede in Zelanas Höhle um, damit er seine Arbeit an Veltans Bronzeanker aufnehmen konnte. Es ging viel schneller, stellte er fest, wenn er den Anker in kleine Brocken schlug, anstatt ihn in einem Stück zu schmelzen. Die ersten Pfeilspitzen aus Bronze waren nicht schwer genug für Langbogens Geschmack, und deshalb machte er sie größer und wieder größer. Nachdem er eine hergestellt hatte, die Langbogen gefiel, produzierte er mit Hilfe der Töpfer des Dorfes Tonformen. Natür236 lieh musste man zunächst immer wieder herumprobieren, doch am Ende fanden sie ein Verfahren, das sehr gut funktionierte, und danach sorgte er dafür, dass mehr und mehr dieser gebrannten Tonformen hergestellt wurden. Inzwischen war er überzeugt, bei der Ankunft von Narasans Flotte mit der Bronze genügend Gussformen vorbereitet zu haben. Nachdem er einige Pfeilspitzen gemacht hatte, die Langbogen zufrieden stellten, begab sich sein Freund in die Hütte seines Häuptlings. Es schien, dass sich Langbogen und Alter Bär sehr nahe standen, und die beiden berieten sich häufig mit dem hageren alten Kerl, den sie Schamane nannten. Hase wusste nicht genau, was dieser Titel bedeutete. Offensichtlich hing mit der Tätigkeit des Mannes Religion, das Heilen verschiedener Krankheiten sowie die Versorgung von Wunden und Verletzungen zusammen. Narasan blieb in Zelanas Höhle und wartete auf die Ankunft seiner Flotte, und Sorgan Hakenschnabel kam jeden Tag vorbei, damit sie sich besprechen konnten. Viele Stunden lang brüteten sie über Veltans grob skizzierter Karte der Schlucht oberhalb des Dorfes Lattash, während Hase bronzene Pfeilspitzen aus ihren Formen schlug. Ich wünschte, mir würden mehr Details zur Verfügung stehen, beschwerte sich Narasan eines Morgens und schob die Karte zur Seite. Sorgan zuckte mit den Schultern. Das ist alles, was wir haben, es muss also genügen, oder? Rotbart und Langbogen führten ungefähr zu diesem Zeitpunkt ihre Häuptlinge in die Höhle. Ach, Rotbart, sagte Narasan. Genau dich wollten wir gerade sprechen. Er langte nach der Karte. Dies ist eine Art Bild von der Schlucht, in der wir vermutlich auf den Feind stoßen werden. Sieh es dir doch einmal an und sag uns, was du darüber denkst. Entspricht es ungefähr der richtigen Schlucht? Rotbart betrachtete die Karte kurz. Das Bild wird euch nicht 237 viel helfen, sagte er und reichte die Karte zurück. Ich habe an einigen Stammeskriegen in der Vergangenheit teilgenommen, und Krieg ist wie die Jagd - nur dass derjenige, den ich jage, gleichzeitig auch mich jagt. Man kann nicht gut jagen, wenn man seine Entscheidungen auf eine flache Zeichnung gründet. Ihr müsst euch das Gebiet selbst anschauen. Aber es liegt unter Schnee begraben, erinnerte Sorgan ihn. Euer Bild zeigt die Hügel und Gräben nicht, die Bäume nicht und auch nicht die steilen Stellen. Wenn ihr den Krieg in der Schlucht führen wollt, könnte euer Leben von solchen Kleinigkeiten abhängen. Ich würde ihm gut zuhören, Sorgan Hakenschnabel, riet der alte Häuptling Weißzopf in der steifen formalen Art, die, wie Langbogen Hase erklärt hatte, für den Umgang von Stammeshäuptlingen untereinander normal war. Rotbart jagt in der Schlucht, seit er ein Kind war, und er kennt jeden Baum und jeden Stein. Wir müssen diesen Krieg gewinnen, denn die Geschöpfe des Ödlands werden keine Gnade uns gegenüber zeigen, sollten wir verlieren. Das ist klar genug, erwiderte Sorgan. Aber wie kann jemand ein Bild malen, das nicht flach ist? Hase legte den Wetzstein zur Seite und fuhr vorsichtig mit dem Daumen über die Schneide der Pfeilspitze, die er gerade geschärft hatte. Sie war so scharf, dass man sich vermutlich damit rasieren konnte, entschied er. Die Gussformen, die er angefertigt hatte, um bronzene Pfeilspitzen herzustellen, schienen ihre Aufgabe zu erfüllen. In diesem Augenblick trafen in seinem Kopf zwei Gedanken aufeinander. Ich glaube, es könnte da eine Möglichkeit geben, ein Bild zu machen, das nicht flach ist, Käpt'n, sagte er.
Verklumpte Tinte vielleicht, gab Sorgan ironisch zurück. Nicht ganz, Käpt'n. Warum nicht mit feuchtem Ton? Rotbart kennt die Schlucht wie die Rückseite seiner Hand, und die Töpfer 238
die mir bei den Gussformen für die Pfeilspitzen helfen, haben mir erzählt, unten am Fluss gebe es eine riesige Tongrube, die schon seit Generationen benutzt wird. Wenn sie den Ton in Körben in die Höhle der werten Dame Zelana schaffen, könnte Rotbart ein Bild aus dem Ton formen, das nicht flach ist. Was hältst du davon, Rotbart, fragte Sorgan. Ich habe keine Ahnung, wie man Töpfe herstellt, sagte Rotbart zweifelnd, und meine Finger sind ein wenig dick für die feinen Einzelheiten, glaube ich. Die Töpfer haben Werkzeuge dafür, erklärte ihm Hase. Du musst ihnen nur sagen, welche Form du möchtest. Sie können Ton hinzufügen oder wegnehmen, bis es passt. Fast wie eine Skulptur, dachte Narasan laut. Das hätte seine Vorteile, Sorgan. Sogar dann, wenn die Abbildung nicht ganz genau ist, wäre sie besser als die große Skizze, die wir jetzt haben. Ich denke auch, es wäre einen Versuch wert, stimmte Sorgan zu. Dann sah er Häuptling Weißzopf an. Wie lange wird es vermutlich noch dauern, bis der Schnee in den Bergen schmilzt, fragte er. Meine Leute müssen ihre Befestigungen weiterbauen, aber sie kommen nicht sehr schnell voran, wenn sie bis zur Hüfte in Schnee versinken. Der silberhaarige alte Häuptling blickte ihn verwundert an. Wie viel Schnee fällt im Lande Maag, fragte er zurück. Oh, wir haben auch Schnee, aber der ist nicht mit diesem dreiwöchigen Sturm zu vergleichen, und für gewöhnlich ist er geschmolzen, ehe der nächste Sturm aufzieht. Aha, sagte Weißzopf, das erklärt, weshalb du bestimmte Gefahren im Lande Dhrall nicht erkennst. Der Gevatter Winter ist alt, und geduldig baut er seine Schneebänke über viele lange Nächte in auf; die Muhme Frühling hingegen ist jung und manchmal ein wenig überschwänglich. Ihr Atem ist warm, und der Schnee, den der geduldige alte Winter Zoll um Zoll auf die Berge geschichtet 239
hat, verschwindet über Nacht, wenn sie darauf haucht. Geschmolzener Schnee ist Wasser, und das Wasser sehnt sich danach, zur Mutter Meer zu kommen. Wenn das geschieht, ist es höchst unratsam, in einer Schlucht zu sein. Der Fluss steigt über seine Ufer und rauscht wie eine riesige Woge dem Meer entgegen, dabei reißt er alles nieder, was ihm im Weg steht. Ich würde gut zuhören, Sorgan Hakenschnabel, sagte nun auch Langbogens Häuptling Alter Bär ernst. Dieses Jahr gibt es viel Schnee in den Bergen, und wenn der Winter seinen Griff lockert, stürzt das Wasser heim zur See und reißt Felsen von dem Platz, wo sie jetzt liegen; es entwurzelt Bäume, als wären sie nicht mehr als Zweige. Niemand mit Verstand hält sich zu dieser Jahreszeit in einer Schlucht auf. Zu diesem Zweck steht also der Deich am diesseitigen Ufer des Flusses, stellte Narasan fest. Zunächst schien er mir wenig Sinn zu ergeben, als ich ihn sah, aber jetzt schon. Hält er das Wasser zurück? Weißzopf nickte. Wir haben ihn dort gebaut, um es dem Wasser leichter zu machen, zum Meer zu kommen und nicht durch unser Dorf wandern zu müssen. Bleibt, wie Häuptling Alter Bär warnt, nicht in der Schlucht, sobald der warme Wind zu wehen beginnt, denn falls ihr das tut, werdet ihr fortgespült. Damit kommen wir auf den springenden Punkt zu sprechen, sagte Sorgan. Ich denke, wir sollten meinem Vetter dort oben wohl Bescheid geben. Es ist an der Zeit für sie, dass sie ihre Forts verlassen und sich einen Ort suchen, an dem sie keine nassen Füße bekommen. Ist das an der ganzen Küste so, Häuptling Weißzopf, fragte Narasan. Ich habe zwanzigtausend Mann an Bord meiner Schiffe, die von Süden herkommen, und wir brauchen die Soldaten hier, nicht fünfzig Meilen draußen auf dem Meer. Langbogen hatte bis jetzt an der Seite gestanden, zugehört und 240 nichts gesagt. Ich glaube, an eine Sache haben wir noch nicht gedacht, meinte er nun. Unser Gegner lebt im kargen Ödland, wo es wenige Bäche gibt, deshalb weiß er vermutlich nichts oder sehr wenig über diese Hochwasser. Ich jage die Geschöpfe des Ödlands schon seit Jahren, und ich habe nur sehr wenige je im Winter gesehen. Es ist schwierig, durch diese Berge zu ziehen, wenn sie mit Schnee bedeckt sind, und selbst, wenn Dasman-Vlagh-nennt seine Diener tatsächlich während des Winters losschickt, werden die meisten meiner Schätzung nach in den Bergen erfrieren oder bei der Frühjahrsflut ertrinken. Demnach weiß das Vlagh über diese jährlichen Hochwasser nicht Bescheid, oder? Nun, vielleicht, stimmte Sorgan zu. Worauf willst du hinaus, Langbogen? Rotbarts Kundschafter berichten, dass der Feind zwischen den Schneewehen an den Ufern des Flusses in der Schlucht lagerte, und das ist kein sicherer Ort im Frühjahr. Aber wenn das Vlagh von diesen Frühjahrsfluten nichts weiß, wissen es auch seine Diener nicht, oder? Ist es nicht möglich, dass die Flut sie vollkommen überraschen wird ? Ihr Marsch durch die Schlucht könnte schneller werden, als sie geplant haben, aber ich denke, sie werden nicht in Lattash anhalten. Sie werden stattdessen die Mutter Meer erobern, und nicht viele, die in der Wüste leben, können schwimmen. Am Ende gewinnen wir diesen Krieg vielleicht, ohne einen Finger zu
rühren. Die Jahreszeiten und die Mutter Meer könnten ihn für uns gewinnen. Aber wir bekommen trotzdem unseren Sold, oder, fragte Hakenschnabel leicht beunruhigt. Ich denke, du solltest dir dieses Modell der Schlucht anschauen, das Rotbart mit den Töpfern baut, Skell, sagte Sorgan zu seinem Vetter, während die beiden in strömendem Regen am Strand entlang zu Hases Pfeilwerkstatt liefen. In nicht allzu ferner Zeit wirst 241 du deine Männer eiligst aus der Schlucht abziehen müssen. Wenn der alte Häuptling Weißzopf mit seinen Voraussagen über das Frühjahrshochwasser richtig liegt, wird ohne Vorwarnung eine Flutwelle über euch hereinbrechen. Ich denke, ich hätte mehr Gold verlangen sollen, meinte Skell verdrossen. So habe ich mir die Sache nun gar nicht vorgestellt. Hase trabte hinter ihnen her, als sie die Höhle betraten. Die Geliebte hat zu tun, erklärte Eleria ihnen. Wir wollen sie auch nicht stören, sagte Sorgan. Ich wollte nur meinem Vetter Rotbarts Modell der Schlucht zeigen. Wie kommt er übrigens voran? Heute Morgen hat er sich mit Langbogen unterhalten, antwortete Eleria. Er sagte, es würde inzwischen viel schneller gehen, und die Töpfer dürften wohl morgen fertig sein. Sie brauchen nicht mehr so viel Ton. Ach, fragte Sorgan. Warum nicht? Ich dachte, je höher sie gelangen, desto mehr benötigen sie. Rotbart hat sich darüber beschwert, sagte sie. Da habe ich einen kleinen Vorschlag gemacht, und jetzt brauchen sie nicht mehr so viel Ton. Und welchen Vorschlag hast du gemacht, kleine Schwester, erkundigte sich Hase. Sie müssen doch gar nicht Ton in solchen Bergen aufeinander stapeln. Haben wir nicht diese gelben Ziegel hinten im Gang? Also habe ich ihnen gesagt, sie sollten die Blöcke auf dem Höhlenboden stapeln, wo sie das Modell der Schlucht bauen, dann den Ton darauf packen und nur die Oberfläche daraus gestalten. Das scheint recht gut zu funktionieren. Du kippst den nassen Ton über diese Goldziegel, brüllte Sorgan fast. Nach dem Krieg kann man ihn ja abwaschen, Hakengabel, beruhigte Eleria ihn. Die Ziegel haben doch nur nutzlos herumge242 standen, also dachte ich, man kann sie zu etwas Sinnvollem verwenden. Sorgan stammelte vor sich hin und warf schließlich die Arme in die Höhe. Ich gebe es auf, sagte er. Ist er nicht nett, Häschen, fragte Eleria und lächelte herzallerliebst. Rotbart stand am Fuße der Karten-Skulptur und steckte sorgfältig Fichtenzweige in den feuchten Ton, der die Südseite der Schlucht darstellte. Ist der Wald wirklich so dicht, Rotbart, fragte Kommandant Narasan, der neben ihm stand. Dichter noch, antwortete Rotbart. Weiter oben wird er lichter, aber am Anfang der Schlucht stehen die Bäume so eng, dass man nur durchkommt, wenn man den Wildpfaden folgt. Das könnte meinen Soldaten Schwierigkeiten bereiten, grübelte Narasan laut. Wir sind nicht daran gewöhnt, im Unterholz zu kämpfen. Wir lieben das offene Gelände, wo wir den Feind sehen können. Rotbart zuckte mit den Schultern. Wenn wir sie nicht sehen, können sie uns auch nicht sehen. Außerdem werden wir wohl nicht auf viele von ihnen stoßen, falls Langbogen Recht hat, was die Dummheit der Diener des Vlagh angeht. Die Frühjahrsflut dürfte ihre Zahl deutlich dezimieren. Wir könnten weiter oben auf einige stoßen, aber dort stehen die Bäume weiter auseinander. Wie geht es voran, Narasan, erkundigte sich Sorgan. Besser, als wir erwartet hätten, Sorgan. Ich glaube, die Kunst der Kartenmalerei hat gerade einen riesigen Fortschritt gemacht. Rotbarts Skulptur hier lässt jede andere Karte, die ich je in der Hand hielt, wie die Krakelei von Kindern wirken. Kannst du mir die Stelle zeigen, wo deine Männer mit den Arbeiten am Fort begonnen haben, ehe der Schnee fiel, fragte Sorgan seinen Vetter. 243 Skell betrachtete die Nachbildung der Schlucht. Ungefähr hier, glaube ich, antwortete er und zeigte auf eine Stelle ein Stück flussaufwärts. Dort ist das Ufer schmal, und dadurch wird die Sache einfacher. Das war allerdings nicht der Hauptgrund, weshalb ich den Punkt ausgesucht habe. Die Wände der Schlucht sind dort sehr glatt und ragen steil in die Höhe, und wenn wir eine Mauer einfügen, können wir die gesamte Schlucht blockieren. Niemand kommt dann mehr vorbei, Sorgan. Wie weit sind deine Männer gekommen, ehe der Schnee fiel? Die Nordseite hatten wir schon so gut wie blockiert. Das Südufer dürfte leichter werden. Man braucht höchstens vier oder fünf große Felsen, das ist alles. Dann können wir die Mauer bauen, die das Tal versperrt. Glaubst du, die Befestigung wird halten, wenn die Frühjahrsflut beginnt? Sollte sie eigentlich, Vetter. Wir haben sie schließlich nicht aus Kieselsteinen gebaut, sondern große Felsen von den Schelfen geholt, die sich am Fluss entlang erstrecken. So ging es schneller, und wenn ein Felsen so groß ist, dass man hundert Männer braucht, um ihn zu bewegen, wird er sich auch vom Wasser nicht verrücken lassen,
gleichgültig wie viel kommt. Ich habe eigentlich gar nicht an eine Flut gedacht, als ich die Stelle ausgesucht habe. Mir ging es nur um eine leichte Verteidigung. Wo hast du so viel über die Kriegführung zu Lande gelernt, Skell, fragte Narasan neugierig. Ich dachte, ihr Maags kämpft nur auf dem Meer. Skell lächelte. Als Sorgan und ich noch Jungen waren, haben wir uns der Mannschaft eines Maagkapitäns mit Namen Dalto Großnase angeschlossen, und Großnase war berühmt für seine Jagd auf Gold, egal wo es zu finden war, ob auf dem Meer oder zu Lande. Seine Mannschaft hat das Kämpfen zu Lande auf die harte Tour gelernt. Wir wissen, welche Barrikaden am schwierigsten zu über244
winden sind, weil wir selbst darüber mussten, denn Großnase wollte das Gold. Man lernt sicherlich viel über Festungswerke, wenn man dahinter steht, aber noch wesentlich mehr, wenn man versucht, sie zu überwinden. Ja, meinte Narasan, das dürfte in der Tat recht lehrreich sein. Zelana betrat leise den von Fackeln erhellten Raum und schaute sich Rotbarts Arbeit an. Sehr hübsch, lobte sie. Guten Morgen, werte Dame Zelana, grüßte Sorgan. Ich hoffte, du würdest vorbeischauen. Ist es möglich, dass der Fluss früher einmal viel breiter war als jetzt? Diese Felsbänke ungefähr in der Mitte der Schlucht erscheinen mir so, als wären sie vor langer Zeit ausgewaschen worden. Sind sie, sagte sie. Früher einmal gab es einen riesigen Binnensee, wo sich das Ödland befindet, doch Vater Erde bebte und wackelte, und der See befreite sich und fraß sich durch diese Berge. Ich würde sagen, dass wir diese Felsbänke zu unserem Vorteil ausnutzen sollten, wenn wir flussaufwärts ziehen, Narasan, schlug Sorgan vor. Mir scheint es schneller zu gehen als am Ufer entlang. Die Bänke wirken breiter und nicht so voller Felsen und Büsche. Aber das hat noch Zeit - bis nach der Frühjahrsflut. Im Augenblick ist unser Hauptproblem, Skells Männer aus der Schlucht zu holen, ohne den Feind zu alarmieren. Ich bin sicher, sie haben Kundschafter, die alles beobachten, was wir tun. Wenn Skells Männer ihre Sachen packen und abrücken, kann sich der Feind dann nicht denken, dass in der Schlucht Gefahr droht? Wir hoffen doch, dass er sich von der Frühjahrsflut überraschen lässt, doch wenn Skells Männer fliehen, wird der Gegner da nicht misstrauisch? Ich fürchte, du hast Recht, Sorgan, meinte Narasan und runzelte die Stirn, und aus diesem Dilemma sehe ich keinen Ausweg. Hase betrachtete das Modell der Schlucht aufmerksam. Was 245 sind dies für kleine Einschnitte, die vom Rand nach unten laufen, fragte er Rotbart. Kleine Bäche, antwortete Rotbart. Sie sind den größten Teil des Jahres trocken, doch im Frühjahr führen sie Wasser, und über die Jahre hinweg haben sie sich ihren Weg zum Hauptfluss gegraben. Könnte man in ihnen zum oberen Rand der Schlucht gelangen, wenn man ihnen folgt? Ich habe schon in vielen gejagt. Sie sind steil und schmal, aber man kann es nach oben schaffen, wenn es wirklich notwendig ist. Falls also Skells Männer eine Art Warnung erhalten würden, dass die Flut bevorsteht, könnten sie durch diese Einschnitte schnell aus der Schlucht entkommen, ja? Das wäre möglich, räumte Rotbart ein, nur: Wer soll sie rechtzeitig warnen? Aus welcher Richtung kommt der warme Wind für gewöhnlich? Vom Meer im Westen her, und zwar nicht nur für gewöhnlich. Der Frühlingswind kommt immer aus Westen. Dann weht er ein bisschen eher durch Lattash als durch die Schlucht, oder? Worauf willst du hinaus, Hase, fragte Sorgan. Wenn es ein warmer Wind ist, der die Flut auslöst, können Skells Männer so lange dort oben bleiben, bis es losgeht, doch könnte die Sache ein wenig knapp werden, wenn sie bis zum letzten Augenblick warten. Sie werden vielleicht auch gar nicht warten wollen. In der Bucht ankern eine Menge Maagschiffe, und wenn man einige vor den Eingang der Bucht verlegt, würde der warme Wind sie Stunden vor der Ankunft bei Skells Befestigung treffen. Und, fragte Sorgan. Es gibt auf jedem Maagschiff mindestens einen Seemann mit Hörn, Käpt'n, und wenn ich mich richtig erinnere, haben die 246 Dhralls auch Hörner. Indem Rotbart und Langbogen ihre Hornbläser entlang der Schlucht verteilen, können sie in ihre Hörner stoßen, sobald sie unsere aus der Bucht hören. So könnten wir Skell also eine Warnung mit Hornsignalen schicken, und diese Warnung würde dort eine ganze Weile vor dem Wind eintreffen. Dann wüsste Skell, wann die Zeit gekommen ist, die Sachen zu packen und die Schlucht zu verlassen. Skell warf Hase einen harten, unfreundlichen Blick zu. Klingt mir wie eine gute Idee, meinte Sorgan. Würde es dir gefallen, durch hüfthohen Schnee zu waten und den Männern dort oben zu sagen, dass sie auf Hornsignale lauschen sollen, Sorgan, wollte Skell wissen. Das könnte ich gar nicht, Skell, erwiderte Sorgan spöttisch ernst. Denn es sind deine Männer, und es wäre nicht recht, wenn ich hinaufmarschiere und sie herumkommandiere, oder? Das Wetter klarte einige Tage später auf, und es lag unverkennbar der Duft des Frühlings in der Luft. Hase und
die anderen Maagschmiede hämmerten weiter Pfeilspitzen aus den letzten Stückchen Eisen, die sie von Sorgans Flotte bekommen hatten, doch regelmäßig legte Hase den Hammer zur Seite, verließ den lauten Lärm der Werkstatt und lauschte draußen nach den Hörnern, die die Ankunft des warmen Windes ankündigen sollten. Fast jeder in Lattash lauschte nach den Hörnern. Sie alle wünschten sich, dass der Wind endlich eintreffe, doch war vorher noch so unendlich viel zu erledigen! Aus diesem Grund trugen sie zwei Seelen, ach, in ihrer Brust. An diesem Tag erschollen die Hörner nicht, doch eine Flotte plumper trogitischer Schiffe legte am Nachmittag in der Bucht von Lattash an. Damit war der Tag für Hase gerettet. Die benötigte Bronze war endlich da. Der trogitische Kommandant Narasan ging hinunter zum Strand, begrüßte seine Armee, und nach einem kurzen Gespräch 247
kehrte er mit vier anderen Trogiten in Rüstung zurück. Sie wäre etwas kleiner als die Maags, die Hase kannte, und wie Kommandant Narasan trugen sie eng anliegende schwarze Lederkleidung eiserne Westen und Helm. Jeder trug ein schweres Schwert an der Hüfte, und ihre Stiefel waren stabil und gut gearbeitet. Narasan blieb stehen, als er mit der trogitischen Abordnung an der Pfeilwerkstatt vorbeikam. Möchtest du dich uns anschließen Hase, fragte er. Wir wollen unsere Strategie mit Sorgan und den anderen besprechen, und du hast vielleicht etwas beizusteuern. Ich komme mit, wenn du möchtest, stimmte Hase zu, aber mit Strategie und so etwas kenne ich mich nicht aus. Das hatte ich gehofft, Hase, gab Narasan zurück. Wenn man berufsmäßig seine Arbeit erledigt, glaubt man immer, die eigenen Ideen seien in Stein gemeißelt, deshalb übersieht man zu leicht Möglichkeiten, die einem klugen und dennoch unerfahrenen Kerl wie dir einfallen würden. Hase war ein wenig misstrauisch angesichts dieses Lobs, trotzdem schloss er sich den trogitischen Soldaten an und ging mit ihnen zu Zelanas Höhle. Ich will dich ja nicht beleidigen, sagte ein junger Trogit zu Hase, aber bist du nicht zu klein für einen Maag? Ich bin zwar noch nie einem Maag begegnet, doch habe ich gehört, die meisten seien über sieben Fuß groß. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie viele Leute mir schon die gleiche Frage gestellt haben, erwiderte Hase mürrisch. Ich heiße übrigens Keselo, stellte sich der junge Mann vor. Heißt du wirklich Hase? So nennen sie mich. Mir gefällt es auch nicht, aber bis vor einer Weile hat mein Name seinen Zweck erfüllt. Mein Hauptziel im Leben war es, mich unsichtbar zu machen. Dann kam Langbogen vorbei, und alles war verdorben. Langbogen? Das ist ein Dhrall und ein Bogenschütze, der so gut schießen kann, dass er, wenn wir ihm nur genug Pfeile geben würden, den Krieg allein gewinnen könnte. Du machst Scherze. Da wäre ich mir nicht so sicher, sagte Hase. Hase und Keselo folgten Narasan und den drei anderen Trogiten in die Höhle, wo Hakenschnabel, Ochs und Schinkenpranke bereits warteten. Meine Männer sind endlich eingetroffen, Sorgan, verkündete Narasan. Dieser Stämmige mit der Halbglatze ist Gunda. Sein schlaksiger Freund ist Padan, der dünne heißt Jalkan und der junge Keselo. Gunda, Jalkan und Padan sind schon eine Weile in meiner Armee, Keselo hingegen ist eine Art Lehrling. Meine Herren, sagte Sorgan und nickte dazu knapp. Dies ist mein erster Maat Ochs, der andere mein zweiter Maat, Kryda Schinkenpranke. Interessante Namen, merkte Padan an. Eine Eigenart der Maags, Padan, sagte Narasan. Ihre Namen sind für gewöhnlich sehr anschaulich. Aha, meinte Padan. Also, meine Freunde, der Haarlose Gunda, der Schlaksige Jalkan und ich sind hoch erfreut, eure Bekanntschaft zu machen, meine Herren. Hüte deine Zunge, Padan, knurrte Gunda. Ich bin froh, dass deine Leute es endlich geschafft haben, Narasan, meinte Sorgan. Das Wetter kann jederzeit umschlagen, und sobald der Schnee schmilzt, geht es oben in der Schlucht los. Ich würde niemandem wünschen, diesen Spaß zu verpassen. Hat dein Vetter es dorthin geschafft, wo seine Männer die Befestigung bauen, fragte Narasan. Bislang hat er mir noch keine Nachricht geschickt, aber vermutlich ist er dort. Wenn Skell sich erst einmal etwas in den Kopf gesetzt hat, bringt er es für gewöhnlich auch zu Ende. Er ist stur und 248 249
schlecht gelaunt, doch kann ich mich darauf verlassen, dass er tut was ich ihm sage. Gestern Nacht ist mir etwas eingefallen, über das wir vielleicht nachdenken sollten. Du und ich sind Berufskrieger Narasan, und wenn wir für Geld arbeiten, lassen wir uns nicht von alten Abneigungen behindern. Manche von unserem Volk werden jedoch immer ein bisschen unruhig, wenn sie auf einen traditionellen Feind stoßen vor allem die jüngeren. Ich denke, das ist eine Sache, die sich mit dem Alter auswächst. Wenn wir die Schlucht hinaufmarschieren, wäre es vielleicht besser, wenn wir eine Seite nehmen und ihr auf der anderen bleibt. Dann wäre der Fluss zwischen uns. Die jungen Männer könnten sich einander Beleidigungen zurufen, aber das wäre alles.
Ist mir klar, was du meinst, sagte Narasan. Welches Ufer möchtest du? Norden oder Süden? Ich werde meine Schiffe sowieso umlegen, damit sie nicht so dicht an deinen liegen, erwiderte Sorgan. Sie sollten aus dem gleichen Grund nicht nebeneinander ankern. Damit wäre ich näher am Nordufer, also würde ich es nehmen, wenn du nichts dagegen hast. Das passt doch, Sorgan. Maags sind Nordmänner, und die Trogiten sind Südländer. Ja, das ist mir auch schon aufgefallen, sagte Sorgan.
22 Der Tag war bewölkt und ruhig, und die Schmiede beschäftigten sich emsig mit dem Schmelzen der trogitischen Bronze, um weitere Pfeilspitzen in den Tonformen zu gießen. Am Nachmittag kam Langbogen aus Zelanas Höhle. Ich denke, du solltest besser reinkommen, Hase, sagte er. Da gibt es etwas, das du wissen solltest. Ist es wichtig? Ich bin gerade sehr beschäftigt. Deine Freunde hier wissen, was sie zu tun haben. Du musst nicht die ganze Zeit neben ihnen stehen. Es geht um eine wichtige Angelegenheit. Hammer, rief Hase dem Schmied von Skells Schiff, dem Hai, zu, übernimm du mal. Die werte Dame Zelana will mit mir sprechen. Wenn du meinst, Hase, sagte Hammer. Hammers gehorsames Benehmen ließ Hases Herz höher schlagen. Er wusste, es war kindisch, doch aus irgendeinem Grunde fand er seinen Aufstieg in den Rängen der Maags sehr befriedigend. Was ist los, fragte er Langbogen, während die beiden auf den Höhleneingang zugingen. Langbogen lächelte schwach. Ich will dir die Überraschung nicht verderben, mein kleiner Freund. Warum musst du immer so sein? Es macht mir einfach Spaß, nehme ich an. Du hast einfach zu viel Zeit mit der kleinen Schwester verbracht, Langbogen, sagte Hase säuerlich. In Zelanas Höhle hatten sich etliche Menschen versammelt. Die meisten waren ziemlich wichtig, und das deutete für Hase darauf hin, dass offensichtlich eine Krise im Anzug war. Die beiden Häuptlinge, Weißzopf und Alter Bär, standen an der Seite, gemeinsam mit einem alten Mann, der eine gewisse Autorität in Alter Bars Stamm zu genießen schien. Sorgan und Narasan sowie mehrere andere Maags und Trogiten waren ebenfalls anwesend, außerdem Zelana, ihre beiden Brüder und ihre ältere Schwester, die sich im hinteren Teil der großen Höhle befanden, wo Zelana ja die meiste Zeit verbrachte. Eleria sah er ebenfalls, und auch drei andere Kinder, ein Mädchen und zwei Jungen. 250
251 Wir sollten wohl besser anfangen, sagte Zelana. Vielleicht sollte ich mich entschuldigen, aber darin bin ich nicht sehr gut, deshalb übergehe ich das. Die Frühjahrsflut, die durch die Schlucht herunterkommen kann, wird vermutlich die Diener von Das-man-Vlagh-nennt vollkommen überraschen, und die meisten von jenen, die sich zurzeit in der Schlucht aufhalten, werden wohl nicht überleben. Das-man-Vlagh-nennt hat allerdings viele, viele Diener, und nachdem die Flut vorüber ist, wird das Vlagh einfach neue schicken. Früher oder später werden unsere Freunde aus dem Lande Maag und aus dem trogitischen Weltreich auf die Geschöpfe des Ödlands stoßen, und diese Kreaturen haben gewisse Eigenheiten, die unsere Freunde kennen sollten. Aus diesem Grund haben wir uns hier versammelt. Komm endlich zur Sache, brummte ihr bärtiger älterer Bruder. Willst du vielleicht weitermachen, Dahlaine, fragte sie bissig. Es ist deine Domäne, Zelana, mach es, wie du möchtest. Danke. Ihre Stimme klang bitter - fast unfreundlich. Innerhalb von Zelanas Familie schien es Spannungen zu geben. Also dann, fuhr sie fort. Als Veltan und ich zum ersten Mal mit unseren fremdländischen Freunden gesprochen haben, mussten wir einige Dinge, nun ja ... etwas bemänteln, die sie jetzt, da sie hier sind, jedoch erfahren sollten. Ach, sagte Sorgan. Wir wissen, dass der Feind ziemlich primitiv ist, aber es kann nicht schaden, wenn wir ein wenig mehr erfahren. Besitzt er vielleicht ausgefallene Waffen oder so etwas? Nun - gewissermaßen, antwortete Zelana. Sie sah Langbogen an. Vielleicht solltest du ihnen jetzt Einer-DerHeilt vorstellen, schlug sie vor. Langbogen zuckte mit den Schultern. Wenn du möchtest, sagte er. Er deutete auf den alten Dhrall, der neben Häuptling Alter Bär stand. Das ist unser Schamane Einer-Der-Heilt, erklärte er. „Wie ihr wisst, jage und töte ich die Diener des Vlagh seit zwanzig Jahren, doch bevor ich begann, hat mir Einer-Der-Heilt viel über jene erzählt, die ich töten wollte. In seiner Stimme schwang kalte Gefühllosigkeit mit, die Hase einen Schauer über den Rücken jagte. Ich habe mit unserem Schamanen gesprochen, und er hat zugestimmt, euch die Dinge zu erzählen, die ihr wissen müsst, ehe ihr auf den Feind stoßt. Ich will mein Bestes geben, Langbogen, sagte der alte Mann. Er blinzelte die Maags und Trogiten misstrauisch an. Was ich euch erzählen möchte, wird euch vielleicht seltsam und unglaublich erscheinen, fuhr er fort, doch wäre es weise, wenn ihr es ernst nehmt. Das-man-Vlagh-nennt herrscht über das Ödland, und es verändert seine
Knechte auf bestimmte Weise, damit sie seinem Zweck besser dienen können. Jene, die rechtmäßig über das Land Dhrall herrschen - über den Osten und Westen, den Norden und Süden -, nehmen keine Veränderungen an Geschöpfen vor, wie es Das-man-Vlagh-nennt tut, und so haben wir uns aus unserer natürlichen Umgebung heraus entwickelt. Das Leben hat viele Formen, und jede bleibt ihrer Herkunft treu. Das-man-Vlagh-nennt hat hingegen die Grenzen zwischen den verschiedenen Lebensformen überschritten und vermischt die verschiedenen Eigenschaften, um Wesen zu erschaffen, die oft abscheuliche Fähigkeiten haben. Wenn ihr eines erblickt, wird es vermutlich aussehen wie ein kleiner Mann mit einem Kapuzenmantel aus Stoff. Doch das täuscht. Es ist nur teilweise ein Mensch, und die Kleidung ist aus Bestandteilen seines eigenen Körpers gewebt so wie das Netz einer Spinne. Willst du damit sagen, sie seien zum Teil eine Art Insekten, rief Gunda. Einer-Der-Heilt nickte. Aber sie sind auch teilweise Mensch und teilweise Reptil. Das-man-Vlagh-nennt, so scheint es, ignoriert die Grenzen, die zwischen den einzelnen Geschöpfen des Ödlands bestehen, und fügt sie auf unnatürliche Weise zusammen. Was 252 253
wir bislang in Zelanas Domäne gesichtet haben, hatte Fangzähne im Maul wie die von Schlangen und insektenartige Stacheln oberhalb der Handgelenke. Sie haben keine Waffen wie wir, weil sie solche nicht brauchen. Ihre Waffen sind Teil ihres Körpers, denn ihre Fangzähne und Stacheln sind giftig, und ihr Gift tötet fast augenblicklich. Du hast es versäumt, Veltan, uns das zu erzählen, beschwerte sich der trogitische Kommandant kühl und unfreundlich. Wenn ihr ein wenig aufpasst, ist es eigentlich kein großes Problem, sagte Langbogen ruhig. Ich habe in den vergangenen zwanzig Jahren Hunderte getötet. Natürlich, sagte Sorgan, doch kaum jemand von uns ist in der Lage, mit einem Pfeil über eine halbe Meile sein Ziel zu treffen. Langbogen zuckte mit den Schultern. Es ist wirklich kein so großes Problem, Sorgan. Das Gift ihrer Zähne und Stacheln tötet alles - sogar die Angehörigen ihrer eigenen Art. Es hat mir immer geholfen, meine Pfeilspitzen in die Giftdrüsen der Getöteten zu tauchen. Der Feind muss dir sehr nahe kommen, um dich zu beißen oder zu stechen. Ein langer Speer mit vergifteter Spitze sollte dir ausreichende Sicherheit gewähren. Sehr interessant, Langbogen, sagte Sorgan, doch wie werden wir an so viel Gift herankommen? In einigen Tagen müsste die Flut durch die Schlucht donnern, erinnerte Langbogen Hases Kapitän. Sie wird alles Mögliche den Fluss hinunterspülen - Bäume, Zweige, Wurzeln, tote Feinde, Büsche, Äste. Wenn wir die toten Feinde herausfischen und ihre Giftdrüsen leeren, sollten wir mehr als genug Gift haben, um jeden Speer, jedes Schwert und jede Pfeilspitze damit zu behandeln. Nun, vielleicht, meinte Sorgan zweifelnd. Plötzlich erinnerte sich Hase an etwas. Dieser seltsam aussehende Kerl, den du mit deinem alten Steinpfeil in Kweta getötet hast, das war eines der Wesen, gegen die wir kämpfen müssen, nicht wahr? Richtig, antwortete Langbogen. Deshalb habe ich einen meiner alten Pfeile benutzt. Sie waren vergiftet. Ich denke, wir müssen Befestigungen bauen, Kommandant, schlug Gunda vor. Wir wollen diesen Dingern schließlich nicht zu nahe kommen, oder? Wenn sie eine Mauer hochklettern müssen, um uns zu erwischen, können wir sie mit vergifteten Spießen leicht hinunterstoßen, und nach einer Weile begreifen sie, was los ist, und verziehen sich. Das werden sie nicht tun, widersprach Einer-Der-Heilt. Wenn ihnen einmal befohlen wurde, anzugreifen, werden sie immer und immer wieder angreifen, bis sie dich überrannt haben - oder bis sie alle tot sind. Sie sind nicht intelligent genug, um Angst zu haben. Narasan runzelte die Stirn. Das ändert die Angelegenheit ein wenig, Sorgan. Wir sollten unsere Pläne am besten noch einmal ganz genau durchgehen. Falls diese Frühjahrsflut die Schlucht für uns frei macht, sollten wir wohl anschließend möglichst schnell hinaufziehen und am Anfang der Schlucht eine Festung bauen, die stark genug ist, um den Feind zurückzuhalten. Wenn sie nun alle ertrinken, fragte Sorgan. Dann sollten wir bis zu den Befestigungswerken deines Vetters marschieren und dort bleiben. Wenn wir in Nahkämpfe verwickelt werden, verlieren wir die Hälfte unserer Männer, und das würde wohl keinem von uns gefallen, oder? Nicht im Geringsten, stimmte Sorgan zu. Er kratzte sich die Wange. Nun, nachdem ich mir diese Sache mit den Schlangenmenschen durch den Kopf habe gehen lassen, bin ich mir nicht sicher, ob es wirklich so viel ändert. Wir müssen uns eben ein wenig von ihnen fern halten. Wenn wir mit langen Spießen kämpfen, kommen die Schlangenmenschen nicht nahe genug an uns heran, um uns zu beißen, und da sie keine anderen Waffen außer Zähnen und Stacheln haben, können wir uns recht leicht verteidigen. Damit hast du natürlich Recht, Sorgan, räumte Narasan ein. 254 255
Wenn wir genug Gift sammeln können, um damit alle Spitzen der Spieße zu behandeln, brauchen unsere Männer
den Feind nur anzukratzen, damit er umgehend stirbt. Somit haben wir sie erledigt, ehe sie an uns herangekommen sind. Am Ende wird der Krieg vielleicht leichter, als wir dachten. Und das Schönste daran ist, dass der Feind uns mit dem Gift versorgt, das wir benötigen, um ihn zu bekämpfen, fügte Sorgan hinzu. Ich weiß. Narasan grinste breit. Sehr großzügig von ihm. Wach auf, Häschen. Es ist Zeit zu blasen. Hase schüttelte sich, um wach zu werden, und starrte das kleine fremde Mädchen an, das ihn geweckt hatte. Du bist Lillabeth, fragte er. Das kleine Mädchen, das mit Zelanas Schwester Aracia hergekommen ist? Genau die bin ich, antwortete das dunkelhaarige Mädchen. Zelana hat mich gebeten, dich zu wecken. Du solltest jetzt nach draußen gehen und in dein Hörn stoßen. Ich verstehe wohl nicht ganz. Hase war noch halb im Schlaf, und sein Verstand wirkte ein wenig benebelt. Ganz einfach, Häschen. Nimm dein Hörn, geh hinaus, spitz den Mund und stoße hinein. Sie zeigte auf den Eingang der Höhle. Los! Sofort! Hase beachtete ihr Benehmen nicht, rappelte sich aber nichtsdestoweniger auf, nahm sein Hörn und trat hinaus in die Nacht. Zwar war es noch dunkel, doch der Wind, der aus der Bucht wehte, fühlte sich warm an, und es schien, jeder Maag mit einem Hörn in der Flotte auf dem Wasser antwortete auf ein Signal, das von weiter draußen kam. Hase kletterte auf den Hügel über dem Höhleneingang, um sicherzugehen, dass sein Hörn bis in die Schlucht zu hören war. Dann setzte er das Instrument an die Lippen und erzeugte einen langen, fröhlichen Ton. Einige Momente 256 später erklang aus den Bergen oberhalb von Lattash die Antwort. Sie kam aus ziemlicher Entfernung, und die Echos hallten von den nahen Hügeln und Klippen wider. Kurz darauf hörte Hase die nächste Antwort, die noch weiter entfernt war und dennoch Echos hervorrief. Weiter und weiter zogen sich die Antworten in die Berge zurück. Das sollte wohl reichen, murmelte Hase vor sich hin. Hoffentlich ist in Skells Fort schon jemand wach. Er drehte sich um und stieg den Hügel hinunter. Als er die Höhle betrat, fand er dort Zelanas Verwandte und die Kinder versammelt. Der junge Trogit Keselo stand ein Stück hinter Veltan und zeigte ein verblüfftes Gesicht. Alle in der Höhle betrachteten Eleria, die auf einem Fell am Feuer schlief und eine Art rosa Ball in der Hand hielt. Hat die Warnung Sorgans Vetter erreicht, erkundigte sich Zelanas älterer Bruder Dahlaine. Sie haben das Signal weitergegeben, antwortete Hase. Ich habe eine Weile lang gelauscht, und die Hörner wurden immer leiser, je weiter sie in der Schlucht geblasen wurden. Inzwischen müsste Skell also Bescheid wissen. Wie warm ist der Wind, fragte Zelanas Schwester. Warm genug, würde ich sagen. Wenn er oben in der Schlucht auch so warm ankommt, wird der Schnee dort und in den Bergen der Umgebung - nicht mehr lange halten. Warum schauen wir alle Eleria so an? Ist sie krank? Sie träumt, Häschen, sagte das kleine Mädchen, das ihn geweckt hatte. Jeder träumt. Was ist so ungewöhnlich daran? Wie viel weiß er, Zelana, fragte Dahlaine. Vermutlich mehr, als er wissen sollte, gab Zelana zurück. Er gehört zur Mannschaft von Sorgan, und Langbogen fand ihn nützlich. Er hat mich schon einige Male dabei erwischt, wenn ich die Dinge beeinflusst habe. Vermutlich werden wir nicht sehr viel vor 257 ihm verbergen können. Eleria mag ihn, und er ist Langbogens Freund. Weiß er genug, damit er nicht gleich losrennt und allen erzählt, wer und was wir sind? Ich glaube schon. Was ist mit diesem anderen, fragte Dahlaine und zeigte auf den jungen Trogiten Keselo. Er ist jung und unerfahren, erwiderte Veltan, doch Kommandant Narasan meint, er habe Großes vor sich vorausgesetzt, er wird uns nicht umgebracht. Plötzlich befiel Hase das Gefühl, endlich die ganzen Zusammenhänge zu begreifen. Er war fast sicher, dass Dahlaine ihm und dem jungen Trogiten etwas erzählen würde, das er eigentlich gar nicht wissen wollte. Also gut, sagte Dahlaine und bedachte die beiden mit strengem Blick. Wir würden es gern sehen, wenn ihr beiden das, was ich euch nun sage, für euch behaltet. Natürlich würde euch sowieso niemand von unseren fremdländischen Freunden Glauben schenken, doch sollten besser keine Gerüchte oder übertriebenen Geschichten die Runde machen, wenn 'wir es vermeiden können. Wie ihr letzte Nacht gehört habt, sind Schwierigkeiten im Anzug, und damit beschäftigt sich Eleria gerade. Die kleine Schwester, rief Hase. Warum kümmerst du dich nicht darum oder die werte Dame Zelana? Weil es nicht erlaubt ist, antwortete Dahlaine. Die werte Dame Zelana mischt sich doch ständig m irgendetwas ein, protestierte Hase. Sie kann alles machen. Nichts, das Menschen tötet, widersprach Dahlaine. Das ist das Einzige, was uns nicht erlaubt ist.
Aber Eleria darf es? Das ergibt doch keinen Sinn. Sie tut es nicht. Es ist ihr Traum, der tötet. Der Traum bringt die Naturgewalten ins Spiel. In diesem Fall ist es ein sehr warmer Wind, 258 glaube ich - wahrscheinlich sehr viel wärmer als für gewöhnlich. Mutter Meer kontrolliert das Wetter, doch Elerias Traum kann sich sogar über Mutter Meer hinwegsetzen. Es ist ein wenig schwierig. Um es einfach auszudrücken: Mutter Meer will alles Leben bewahren - sogar das Leben dieser Ungeheuersklaven von Dasman-Vlagh-nennt. Elerias Traum wird einen heißen Wind entfachen, der eine Flutwelle auslöst, die verheerender sein wird als jede normale Frühjahrsflut, und dieses Hochwasser wird uns eine Menge Arbeit abnehmen. Sie wird die meisten Geschöpfe unseres Feindes töten, die sich gegenwärtig in der Schlucht aufhalten, und so muss Das-man-Vlagh-nennt neue Diener versammeln und sie in Zelanas Domäne schicken. Das kostet Zeit, und wir hoffen, diese zusätzliche Zeit wird euch Fremdlingen die Chance geben, die Schlucht zu besetzen und damit dem zweiten Ansturm standzuhalten. Ich finde, du solltest das lieber mit Kommandant Narasan besprechen, Herr, protestierte Keselo. Ich habe nicht ausreichend Erfahrung, um dieses Wissen zu verwenden. Tut mir Leid, junger Mann, erwiderte Dahlaine entschlossen. Jeweils eine Person in jeder der angeheuerten Armeen weiß bereits darüber Bescheid, was tatsächlich vor sich geht. Diese Person sollte dem jeweiligen Kommandanten nahe genug stehen, damit sie ihn zu dem überreden kann, was notwendig ist. Narasan hört auf dich, und Hakenschnabel hört auf Hase. Warum werden solche Aufgaben immer mir aufgeladen, beschwerte sich Hase. Weil du von schneller Auffassung, klug und erfinderisch bist, sagte Zelana. Und weil Langbogen und Eleria dich mögen. Das könnte später noch wichtig werden. Hör auf zu greinen, Häschen. Lächle einfach und tu, was man dir sagt. Ich wünschte nur, ihr würdet mich nicht Häschen nennen. Eleria nennt dich immer Häschen, sagte Lillabeth. Es ist ein Beweis ihrer Zuneigung. 259 Wenn ihr die ganze Zeit so weiterplappern wollt, macht das draußen, mischte sich nun Zelanas ältere Schwester Aracia ein Denn falls ihr Elerias Traum stört, wehen all unsere Pläne zur Tür hinaus. Wir sind fast fertig, Aracia, sagte Dahlaine. Er wandte sich erneut an Hase und Keselo. Dies ist unser erster Krieg, erklärte er ihnen. Es wird drei weitere geben, und eure Völker werden in alle verwickelt sein. Ich habe Sorgan und Narasan beobachtet und bin mir recht sicher, dass sie hier bleiben und kämpfen werden, wenn wir ihnen mehr Gold anbieten. Außerdem holen wir die Malavi-Reiter und die Kriegerfrauen von der Insel Akala her, damit sie uns in unserem Streit unterstützen. Schließlich werden wir unsere Armeen in das Ödland führen müssen, damit wir eine endgültige Lösung finden, was Das-man-Vlagh-nennt betrifft. Nun wisst ihr beiden, was hier tatsächlich vor sich geht. Ihr zwei seid klug genug, um eure Häuptlinge - oder wie immer ihr sie nennt - auf den richtigen Weg zu führen. Wir werden immer in der Nähe sein und euch stets berichten, ob die Träumer erneut eine Naturkatastrophe auslösen, also werdet ihr in der Lage sein, eure Anführer rechtzeitig zu warnen. Sorgan und Narasan kommen den Strand entlang und sind zu uns unterwegs, warnte Zelana. Hase, du bleibst mit Keselo am besten hier. Die anderen begeben sich in den hinteren Teil der Höhle. Sie müssen ja nicht erfahren, was wirklich los ist. Ihre Brüder und ihre Schwester führten die Kinder in den Gang hinein, wo Zelana ihr Gold aufbewahrte, und einen Augenblick später traten Sorgan und Narasan gemeinsam mit Ochs, Schinkenpranke, Gunda, Jalkan und Padan ein. Langbogen, die beiden Häuptlinge und Rotbart folgten nicht lange nach ihnen, und alle hatten ernste, geschäftsmäßige Mienen aufgesetzt. Draußen weht der Wind, berichtete Sorgan, und zwar warm wie zum Mittsommer. Häuptling Weißzopf hat uns gesagt, der Fluss 260 würde noch vor dem Morgen anschwellen, und bis Mittag sei er über die Ufer getreten. Ziemlich sicher wird der Deich, den sein Volk gebaut hat, das Dorf schützen. Wir haben uns beraten und halten es für das Beste, wenn alle von uns Fremdländern an Bord unserer Schiffe zurückkehren und die Flut dort abwarten. Auf diese Weise werden wir nicht zerstreut, und wir sehen außerdem, wann die Flut abebbt. Dann kommen wir an Land und marschieren in die Schlucht. Der Plan klingt sehr plausibel, Hakenschnabel, stimmte Zelana zu. Ich behalte Hase und Keselo hier, falls ich euch eine Nachricht übermitteln muss. Die Dhralls werden sich hinauf zu den oberen Rändern der Schlucht begeben und ein Auge auf den Fluss werfen. Sobald er wieder in sein Bett zurückkehrt, werden sie ihre Hörner blasen, und Hase und Keselo werden die Nachricht an euch in der Bucht weiterleiten. Die Sache nimmt einen besseren Verlauf, als ich gehofft hatte, sagte Narasan. Diese jährliche Flut wird uns vermutlich die halbe Arbeit abnehmen. Wir werden sehen. Sorgan neigte zur Vorsicht. Es hängt alles davon ab, ob unsere Feinde am Grund der Schlucht bleiben oder nicht. Wenn sie die Gefahr begreifen und sich auf höher gelegenes Gelände flüchten, stehen wir einer mit Giftzähnen ausgerüsteten Armee gegenüber, und dafür hätten wir am Ende vielleicht doch zu wenig Männer.
23 Der warme Wind wehte weiterhin vom Meer heran, als die Sonne am nächsten Morgen aufging. Hase und Keselo stiegen auf den Hügel, um sich den Fluss anzuschauen. 261 Ich sehe keinen großen Unterschied, sagte der junge Trogit. Ja, es muss wesentlich mehr kommen, wenn das Wasser die Arbeit für uns erledigen soll, stimmte Hase zu. Dann schaute er Keselo neugierig an. Vermutlich geht es mich ja nichts an, aber was hat dich dazu gebracht, Soldat zu werden? Ist die Bezahlung so gut? Keselo zuckte mit den Schultern. Nein, aber wir bekommen regelmäßig zu essen, und wir brauchen nicht auf der Straße zu schlafen. Für Politik oder für Kauf und Verkauf habe ich mich nicht interessiert, deshalb hat mir mein Vater ein Patent in Kommandant Narasans Armee gekauft. Was ist ein Patent, fragte Hase neugierig. Ich bin Offizier und kein normaler Soldat. Stattdessen soll ich den gewöhnlichen Soldaten sagen, was sie zu tun haben. Hebt einen Graben aus, Baut eine Mauer, Bringt die Leute dort drüben um. So etwas eben. Aha, sagte Hase. Du hast also so eine ähnliche Stellung wie Ochs und Schinkenpranke. Sie sind erster und zweiter Maat auf der Seemöwe. Der Käpt'n sagt ihnen, was erledigt werden soll, und sie sagen uns gewöhnlichen Seeleuten, es zu tun und uns dabei zu beeilen. Anscheinend ist es nicht so viel anders, ob man nun ein Seemann oder ein Soldat ist. Wir alle müssen Befehle befolgen, wie? Also von der Seite habe ich es noch nicht betrachtet, räumte Keselo ein. Wie seid ihr Maags in diesen Krieg geraten? Die werte Dame Zelana hat den Käpt'n in ihre Höhle geholt und ihm ungefähr zehn Tonnen Goldziegel gezeigt. Dann brachte der Käpt'n ungefähr hundert Ziegel nach Maag zurück und zeigte sie so in etwa jedem, der ein Schiff besitzt. Wir hatten keine großen Schwierigkeiten, eine Flotte zu versammeln, die bereit ist, diesen Krieg auszutragen. Keselo lächelte. Veltan hat es fast genauso angestellt, als er uns angeheuert hat. Natürlich musste er zunächst Kommandant Narasan finden. 262 Oh? War er verschwunden? Nun, nicht ganz. Wir wussten zwar alle, wo er war, aber er wollte kein Soldat mehr sein. Wir hatten einen Krieg geführt, der sich für uns nicht so recht ausgezahlt hatte, und Kommandant Narasan gab sich die Schuld, warf seine Uniform weg und suchte sich eine neue Arbeit als Bettler. Die Armee wäre ohne ihn beinahe auseinander gebrochen. Wir versuchten alles, was uns einfiel, um ihn zur Rückkehr zu bewegen, aber er hörte nicht auf uns. Dann kam Veltan vorbei, redete kurz mit ihm, und schon war Kommandant Narasan wieder zu Hause. Möglicherweise hat ihn die Aussicht auf das viele Gold überzeugt, doch glaube ich, es muss noch etwas anderes gewesen sein. Aus irgendeinem Grund ist es fürchterlich schwer, jemandem aus Veltans Familie eine Sache abzuschlagen. Damit hast du wohl Recht, stimmte Hase zu. Und wenn uns einer von ihnen nicht herumkriegen kann, lassen sie die Kinder auf uns los. Einem der Kinder etwas auszuschlagen ist schlicht unmöglich. Langbogen ist aus hartem Holz geschnitzt, und er wollte nicht in diesen Krieg hineingezogen werden. Da hat Zelana Eleria auf ihn gehetzt, und das kleine Mädchen hat ihn einfach um den Finger gewickelt. Ist Langbogen wirklich so ein guter Schütze, wie alle behaupten, fragte Keselo neugierig. Hase zuckte mit den Schultern. Er weiß einfach nicht, wie man danebenschießt, das ist alles. Gibt es noch andere Dhralls, die genauso gut sind? Vielleicht fast so gut, doch niemand in der ganzen Welt ist so gut wie Langbogen. Zelanas Bruder Veltan kam den Hang herauf und gesellte sich zu ihnen. Habt ihr irgendetwas Ungewöhnliches bemerkt, fragte er. Uns ist nichts aufgefallen, erwiderte Keselo. Die Flut wird kommen. Darauf könnt ihr euch verlassen. 263 Ich wünschte nur, sie würde sich nicht so viel Zeit lassen meinte Hase. Von dieser Flut hängt eine Menge ab. Schläft die kleine Schwester noch? Veltan nickte. Warum nennst du sie so, wollte er wissen. Hase zuckte mit den Schultern. Nur so aus Spaß, gab er zu. Es fiel mir ein, weil sie angefangen hat, mich Häschen zu nennen. Sie sagt Häschen, und ich sagekleine Schwestern Ist ein bisschen kindisch, ich weiß, aber sie ist ja noch klein. Es scheint ihr allerdings zu gefallen. Warte nur, bis sie anfängt, auf deinen Schoß zu klettern. Du magst sie sehr gern, nicht wahr? Alle mögen Eleria. Man kann gar nicht anders. Zelana ist genauso, sagte Veltan. Bestimmt hat sie Eleria all die kleinen Kniffe gezeigt. Keselo starrte zur Schlucht hoch. Ich glaube, das Wasser steigt. Hase schaute schnell zum Fluss. Das Wasser stand eindeutig höher, und auf der Oberfläche schwammen
abgebrochene Zweige und anderes Treibgut aus den Bergen. Ich hatte doch etwas Spektakuläres erwartet, Veltan. Wenn es so langsam ansteigt wie jetzt, haben die Schlangenleute genug Zeit, sich in Sicherheit zu bringen. Das ist erst der Anfang, Hase, erklärte ihm Veltan. Eleria schläft und träumt. Sie ist noch lange nicht fertig. Die Sonne stand inzwischen deutlich über dem Horizont, und der Wind wehte weiter warm und kräftig aus Westen, doch der Fluss blieb in seinen Ufern. Dann hörte Hase ein fernes Grollen, das aus der Schlucht heranhallte. Was ist das für ein Geräusch, fragte er Veltan neugierig. Das, worauf wir gewartet haben, mein kleiner Freund, erwiderte Veltan und grinste breit. Jetzt kommen die gesammelten Schneefälle des Winters in einem Schwung die Schlucht herunter. Das Getöse wurde lauter und lauter, bis es wie Donner dröhnte, und schließlich schob sich eine massive Wasserwand aus der Schlucht heran. Soweit Hase erkennen konnte, war sie mindestens fünfzig Fuß hoch, und sie entwurzelte Bäume und Gestrüpp, während sie ins offene Gelände schoss. Der Kamm der riesigen Welle kam näher und näher, und der Boden bebte vom Donnern. Was hat die Flut bis jetzt zurückgehalten, fragte Keselo. Veltan zuckte mit den Schultern. Vermutlich hatte sich noch nicht genug Druck aufgebaut, damit das Wasser durchbrechen konnte. Der warme Wind verwandelt den Schnee auf den Hängen in Matsch, und der Matsch rutscht in den Fluss und bildet eine Art Damm. Das Wasser staut sich hinter dem Damm, und dann bricht es plötzlich durch. Nette kleine Flut, nicht wahr? Mir gefällt sie auch gut, freute sich Hase. Wie lange wird es dauern, bis der Fluss wieder in sein Bett zurückgekehrt ist? Schätzungsweise vier bis fünf Tage, vielleicht sogar eine Woche. Nun schwammen große Baumstämme im Wasser, und zwischen dem Treibholz gewahrten sie eine große Anzahl steifer, toter Kreaturen - Hirsche, Wildrinder und sonstiges Getier. Auch entdeckten sie unter den Tieren eine beachtliche Reihe kleiner, eigenartig gekleideter Männer. Die Flut macht anscheinend ihre Arbeit, merkte Keselo an. Ich würde sagen, oben in der Schlucht dürften nicht mehr allzu viele sein. Wie schade, meinte Veltan. Den ganzen Tag lang rauschte das Wasser aus der Schlucht und überflutete das niedrige Gelände am Nordufer des Flusses. Das Küstendorf Lattash lag auf etwas höherem Grund am Südufer, doch war es der Deich, den die Dhralls von Weißzopfs Stamm gebaut hatten, der die Flut zurückhielt. Hase und Keselo kamen vom Hügel oberhalb des Dorfes herunter und gesellten sich zu Langbogen und Rotbart auf dem Deich. Ist die Frühjahrsflut schon einmal über den Deich gestiegen, fragte Keselo Rotbart. Der zuckte mit den Schultern. Ein paar Mal, antwortete er, 264 265 aber nur ein paar Fuß hoch. Das ist ein wenig unangenehm, richtet aber keine ernsthaften Schäden an. Einmal vor langer Zeit, so habe ich gehört, ist der Deich gebrochen, und die Flut hat den größten Teil des Dorfes zerstört. Beim Wiederaufbau wurden dann als Fundament Steine anstatt Erde verwendet, und die halten dem Fluss wesentlich besser stand. Ich glaube, wir sollten uns mit unseren Häuptlingen unterhalten, Rotbart, schlug Langbogen vor. Wir brauchen ein paar Männer hier auf dem Deich, die die ertrunkenen Feinde herausholen. Sie haben schließlich etwas, das wir bald brauchen. Gewiss hast du Recht, mein Freund, stimmte Rotbart zu. Ich habe versucht, diese Sache mit dem Gift zu verdrängen. Mir läuft es dabei kalt über den Rücken. Wir holen so viele Tote ans Ufer, wie wir können, und stapeln sie hier oben auf dem Deich. Dann können wir mit den Kanus diejenigen einsammeln, die vorbeitreiben, und sie auf dem Strand stapeln. Wie bekommt man das Gift aus den Toten, wollte Rotbart wissen. Ich bin mir nicht ganz sicher, gestand Langbogen. Früher habe ich meine Pfeile einfach in die Giftdrüsen gesteckt und die Leichen für die Aasfresser im Wald zurückgelassen. Das können wir hier nicht so machen, sagte Rotbart. Wir werden Tausende auf dem Strand sammeln, und noch vor dem Mittsommer würde es in Lattash fürchterlich stinken. Verbrennt sie, schlug Hase vor. Elerias Wind trägt den Rauch in die Schlucht, und das macht es für alle überlebenden Insektenwesen noch schlimmer dort oben. Wäre es nicht besser, wenn wir das Gift in Gefäßen oder so aufbewahren könnten, fragte Keselo. Wenn wir später das Gift an unseren Speeren erneuern müssen, sollten wir einen Vorrat zur Verfügung haben. Keine schlechte Idee, Langbogen, stimmte Rotbart zu. Die 266 Töpfer in Lattash können Gefäße herstellen, aber ich möchte nicht gern mit etwas herumspielen, das mich umbringt, wenn ich versehentlich einen Tropfen in einen Kratzer an meinen Fingern kriege. Ich denke, wir sollten uns mit Einer-Der-Heilt unterhalten, meinte Langbogen. Wenn jemand einen sicheren Weg kennt, diese Arbeit zu erledigen, dann er.
Weise gesprochen, Langbogen, stimmte Rotbart zu. Den Rest des Tages über schwoll der Fluss noch immer an, doch am Nachmittag des folgenden erreichte die Flut ihren Höhepunkt und ging langsam wieder zurück. Skells Bruder Tori traf mit siebzig weiteren Maagschiffen gegen Mittag des nächsten Tages ein. Hase war ziemlich sicher, dass Kapitän Hakenschnabel mehr Schiffe erwartet hatte, aber Tori war mindestens so mürrisch wie sein Bruder, und dadurch hatte er vermutlich einige Leute abgeschreckt. Toris Schiffe ankerten nahe Sorgans Flotte, und der Hafen von Lattash quoll nun von Schiffen über. Im Augenblick konnte man nichts tun außer warten, bis der Wasserstand ausreichend gesunken war. Langbogen beriet sich lange mit dem Heiler seines Stammes, und der alte Mann versammelte eine ansehnliche Anzahl junger Männer aus beiden Stämmen, die er darin unterrichtete, den toten Feinden, die sich inzwischen auf dem Deich und auf dem Strand um die Flussmündung stapelten, das Gift zu entziehen. Das Verfahren war ziemlich widerlich, doch gewann man Dutzende Gefäße mit dem tödlichen Gift. Einer-Der-Heilt mahnte seine Schüler, sich die Hände dick mit Fett einzuschmieren, ehe sie an die Arbeit gingen, und das schien ausreichenden Schutz zu bieten. Von den Feuern, auf denen die Leichen verbrannt wurden, zog dichter schwarzer Rauch in die Schlucht, und Hase war ausgesprochen dankbar, weil er sich nicht flussaufwärts in Skells Befestigung befand. 267 Hase und Keselo blieben auch noch die nächsten Tage in Zelanas Höhle und gingen nur regelmäßig nach draußen, um sich den Wasserstand anzuschauen. Langsam wuchs eine Freundschaft zwischen den beiden, während die Zeit ihren Lauf nahm, und Hase verstand die Trogiten nun ein wenig besser. Sie waren nicht so rohe Kerle wie die Maags, aber von wem konnte man das schon sagen? Langbogen war entlang der Ränder der Schlucht nach oben gestiegen, um die Flut zu beobachten, und die Zeit schien fast stillzustehen, während alle darauf warteten, dass das Wasser zurückging. Das nämlich würde das Zeichen zum Aufbruch sein. Ich muss mit dem Käpt'n reden, rief Hase Schinkenpranke einige Tage später zu und legte im Grau der Dämmerung mit Rotbarts Kanu an der Seemöwe an. Er schläft noch, Hase. Sehr schade. Ich habe gerade die Nachricht erhalten, dass es losgehen soll. Willst du mir nicht die Strickleiter runterwerfen? Ich sollte ihn besser selbst wecken. Langbogen hat mir einiges erzählt, das der Käpt'n wissen sollte. Schinkenpranke warf die aufgerollte Strickleiter über die Seite. Hoffentlich versteht Langbogen auch etwas von dem, was er sagt, meinte er misstrauisch. Wenn eine zweite Flutwelle die Schlucht herunterkommt, könnten wir aufs Meer hinausgespült werden. Die Dhralls kennen sich mit den Frühjahrshochwassern wesentlich besser aus als wir, erwiderte Hase und kletterte flink nach oben, und für sie steht viel auf dem Spiel. Langbogen wird kein Risiko eingehen. Vielleicht willst du dir die Neuigkeiten auch anhören. Also gut, erklärte sich Schinkenpranke bereit, und gemeinsam gingen sie zum Heck. Sie betraten Sorgans Kabine, und Schinkenpranke rüttelte Hakenschnabel an der Schulter. Hase ist da, Käpt'n. Er bringt Neuigkeiten. 268 Gähnend setzte sich Sorgan auf. Was ist los, fragte er Hase. Langbogen ist aus der Schlucht zurück, Käpt'n, berichtete Hase. Er sagt, das Wasser sinkt, und die Felsbänke auf beiden Seiten sind wieder frei, wir können also aufbrechen. Unsere Schwerter und Speere müssen wir uns noch abholen, bevor wir in die Schlucht ziehen, aber die Dhralls haben sie alle in dieses Gift getunkt. Bei dem Gedanken läuft es mir immer noch kalt über den Rücken, Hase, klagte Schinkenpranke. Ich habe nicht angeheuert, um Krieg mit Gift zu führen. Das war ja auch nicht unsere Idee, Schinkenpranke, gab Sorgan zurück, aber unser Gegner spielt auf diese Weise, also müssen wir uns an seine Regeln halten. Er blickte Hase an. Ist das Wasser schon so weit gesunken, dass Skell mit seinen Männern in die Befestigungen zurückkehren kann? Langbogen meint, es würde noch ungefähr einen Tag dauern, ehe der Fluss wieder in seinem Bett ist, aber wir sollen uns auf diesen Felsbänken postieren, falls die Feinde ebenfalls erkennen, wie einfach man auf ihnen vorankommt. Zelana hält sie nicht für so klug, doch Langbogen will kein Risiko eingehen. In dieser Hinsicht bin ich ganz auf seiner Seite, meinte Sorgan und zog sich die Stiefel an. Du solltest Narasan benachrichtigen, Schinkenpranke. Darum kümmert sich schon Keselo, Käpt'n, sagte Hase. Er hat sich mit einem Stock, an dem ein Stück Stoff hängt, an den Strand gestellt und gewinkt. Diese Idee hatten die Trogiten schon vor langer Zeit, hat er mir erzählt. Wenn zwei Trogiten sich sehen können - gleichgültig, wie weit sie auseinander sind -, können sie sich mittels ihrer Fahnen unterhalten. Er kommt mit uns auf die nördliche Felsbank, wenn wir in die Schlucht marschieren. Narasan hält es für klug, wenn ihr beide euch verständigen könnt, obwohl ihr jeder an einem anderen Ufer seid. 269 Haben diese Trogiten ständig solche Ideen, wollte Schinkenpranke wissen. Sie kämpfen halt andauernd in Kriegen, erklärte Hase, deshalb denken sie viel darüber nach, sich die Sachen zu
erleichtern. Wir machen das Gleiche doch, indem wir Hörner blasen, aber das Flaggenwinken ist vielleicht ein bisschen komplizierter. Kommst du gut mit Keselo aus, erkundigte sich Hakenschnabel und blickte ihn berechnend an. Ziemlich gut, Käpt'n. Er ist zwar noch jung, doch auf seinem Hals sitzt ein schlauer Kopf. Er redet gern, und so verrät er mir mehr über die Trogiten, als er selbst merkt. Bleib hübsch in seiner Nähe, Hase, schlug Sorgan vor. Versuch doch, diese Flaggenwinken-Sprache zu lernen. Selbst wenn wir sie selbst nicht verwenden, könnte es später einmal nützlich sein, wenn wir unseren Lebensunterhalt wieder mit dem Ausrauben trogitischer Schatzschiffe verdienen müssen. Schinkenpranke, geh zu Ochs. Er soll die Mannschaft wecken und die anderen Schiffe der Flotte benachrichtigen. Bei Sonnenaufgang sollten wir am Strand sein. Aye, Käpt'n, erwiderte Schinkenpranke und verließ die Kabine des Kapitäns. Hat Langbogen dir irgendetwas darüber erzählt, was der Feind eigentlich vorhat, Hase, fragte Sorgan. Demzufolge, was er sagt, ist der Gegner anscheinend vollkommen verwirrt, Käpt'n. Natürlich ist die Zahl der feindlichen Krieger stark dezimiert. Die Feinde wussten nichts von der Frühjahrsflut, und deshalb waren die meisten unten am Fluss, als die Welle durch die Schlucht rauschte. Langbogen sagt, es wird eine Weile dauern, bis die Armee ersetzt ist, die aufs Meer hinausgespült wurde. Ist er sicher, dass sie nicht einfach aufgeben? Er vielleicht nicht, aber Zelana ist sehr sicher. Hin und wieder 270
lässt sie so eine Bemerkung fallen. Ich nehme an, dieses Vlagh-Ding im Ödland muss einen ziemlichen Groll auf Zelanas Familie hegen, deshalb wird es so lange Armeen gegen uns einsetzen, bis ihm die Leute ausgehen. Du hast so gute Laune, Hase. Vielleicht hätte ich mehr Gold verlangen sollen. Warum nennst du dieses Vlagh ein Ding und nicht einen Häuptling oder einen König? Ich bin mir nicht sicher, Käpt'n. Zelana und ihre Verwandten sagen nicht er oder sie, wenn sie über das Vlagh sprechen. Sie sagen immer es. Vielleicht hat es noch nicht entschieden, was es sein will. Nach dem, was ich weiß, ist es eine Art Tier - vielleicht sogar ein Insekt. Wie auch immer, solange es im Ödland ist, werden die Dhralls nicht sicher sein. Und an der Stelle kommen wir ins Spiel, meinte Sorgan grimmig.
24 Keselo von Kaldacin stammte aus einer angesehenen trogitischen Familie, und er war sicher, mit seinem Berufswunsch, in Narasans Armee einzutreten, hatte er seine Eltern zutiefst enttäuscht. Sein ältester Bruder war Mitglied des Palvanums, der herrschenden Körperschaft des Weltreichs, und sein Zweitältester Bruder war ein Kaufmann, der sich zum reichsten Mann von Kaldacin hochgearbeitet hatte. Keselo dagegen hatte sich entschieden, die Universität von Kaldacin zu besuchen, obwohl er eigentlich keine große Sehnsucht verspürte, seine Zeit mit dem Erlangen von Wissen zu vergeuden. Er gestand sich ein, dass seine Jahre als Student lediglich ein angenehmer Weg gewesen waren, eine endgültige Entscheidung über seine Karriere hinauszuzögern. Seine Brüder wussten natürlich genau, was er tat, und ihre höhnische Herablassung hatte seine Entscheidung, zum Militär zu gehen, maßgeblich beeinflusst. Nach einigem Knurren gab sein Vater schließlich nach und kaufte ihm
ein Offizierspatent in Kommandant Narasans Armee. In der Kindheit hatte er gelernt, wie wertvoll es war, wenn man seine Gedanken und Meinungen für sich behielt, und während seiner ersten Jahre beim Militär hatte ihm dies gute Dienste geleistet. Viele junge Offiziere verspürten den Drang, sich hervorzutun und mit Taten zu prahlen, die kaum der Rede wert waren. Keselo dagegen bevorzugte, exakt und ohne Kommentar dasjenige auszuführen, was man ihm befohlen hatte. Kommandant Narasan, so war ihm aufgefallen, gefiel das. Anscheinend war ein junger Offizier, der seinen Mund halten konnte, im trogitischen Militär eine wertvolle Rarität. 275 Keselo hatte bereits an einigen militärischen Unternehmungen teilgenommen, und mit Hilfe von ein wenig Glück hatte er sich in bescheidenem Maße hervorgetan. Er ging selten Risiken ein, deshalb wurden seine Männer nicht häufig schwer verletzt und sogar noch weniger oft getötet. Kommandant Narasan gefiel das sogar noch besser als Keselos Eigenschaft, nicht zu prahlen, und die Männer waren Keselo deshalb sehr verbunden. Dann war es zu diesem katastrophalen Feldzug im Süden des Weltreichs gekommen, bei dem Kommandant Narasan die Größe der gegnerischen Armee vollkommen unterschätzt hatte, infolgedessen zwölf Kohorten niedergemetzelt worden waren. Kommandant Narasan hatte daraufhin - wie inzwischen jeder wusste - voller Verzweiflung die Uniform an den Nagel gehängt und war ins Bettlerfach gewechselt. In Keselos Augen war diese Entscheidung ein noch größerer Fehler als jener, welcher die zwölf Kohorten gekostet hatte. Ohne Narasan an der Spitze zeigte die Armee bald Auflösungserscheinungen. Und dann, fast wie durch ein Wunder, tauchte dieser Dhrall namens Veltan in Kaldacin auf, verscheuchte Schuld und Schande aus Narasans Kopf und sorgte für Ordnung in dem Chaos. So also befanden sie sich nun im Lande Dhrall, erstaunlicherweise mit Piraten aus Maag verbündet und in einen hoffnungslosen Krieg gegen einen Feind verwickelt, den die Dhralls das Vlagh nannten. Keselo war entschlossen, alles zu tun, was die Pflicht von ihm verlangte, allerdings war er wenig zuversichtlich, dass er oder irgendjemand anderes aus Narasans Armee - diese Auseinandersetzung überleben würde. Wie gewöhnlich behielt er diese Meinung für sich. Keselo war nicht glücklich über seine Abordnung als Signalmann von Kommandant Narasans Armee bei dem Piraten Hakenschnabel, doch überraschte dieser Auftrag ihn nicht. Aus irgendeinem 276 Grunde fand der Kommandant häufig ungewöhnliche Aufgaben für Keselo - fast, als wolle er die Grenzen der Fähigkeiten seines jungen Offiziers austesten. Das war vielleicht schmeichelhaft, aber insgeheim wünschte sich Keselo, der Kommandant möge einen anderen finden, den er testen konnte. Das Wetter wurde warm. Es war zwar längst noch kein Sommer, doch würde es in den Bergen östlich von Lattash gewiss keinen Schnee mehr geben. Während die Maags zu ihrem Marsch auf der Nordseite aufbrachen, fiel Keselo auf, wie schlecht sie organisiert waren. Jeder Kapitän befehligte seine eigene Mannschaft wie einen Zug, aber es gab keine Offiziere mittleren Ranges, die das Funktionieren einer Befehlskette gewährleistet hätten. Kurz überlegte Keselo, ob er ein paar Verbesserungsvorschläge machen sollte, entschied sich jedoch dagegen. Die Maags waren vom Temperament her nicht geeignet, sich einer strengen Befehlskette zu unterwerfen, und deshalb war es vermutlich klüger, wenn er den Mund hielt. Keselo fand diese Flussschlucht ein wenig einschüchternd. Auch im Imperium gab es Gebirge, aber sie erreichten nicht die Größe der Berge hier, und die Bäume an den Seiten der Schlucht waren riesig. Nie im Leben hätte Keselo Bäume erwartet, die am Boden dreißig Fuß Durchmesser hatten und hundertfünfzig Fuß aufragten, ehe die ersten Äste begannen. Diesen Tag verbrachte er in nachdenklicher Ehrfurcht. Kurz vor Sonnenuntergang schaute Sorgan nach Westen. Ich denke, wir sollten hier für die Nacht Halt machen, entschied er. Wenn Feindwesen die Flut überstanden haben, werden sie vermutlich in der Dunkelheit herumkriechen, also sollten wir uns auf einen möglichen Angriff vorbereiten. Keselo, gib deinem Kommandanten das Signal, damit er Bescheid weiß. Weiter ziehen wir heute nicht. Ich glaube, es wäre keine gute Idee, wenn er zu weit vorausmarschieren würde. 277 Ja, Herr, gab Keselo zurück, nahm Haltung an und schlug die Faust gegen den eisernen Brustpanzer. Hakenschnabel fand die strikte Anwendung der militärischen Formalitäten wahrscheinlich ein wenig lästig, doch weil es vermutlich sein letzter Krieg sein würde, wollte Keselo sich strikt an die Regeln halten. Er ging zum Wasser, entfaltete seine rote Signalflagge und übermittelte die Nachricht rasch an das trogitische Heer am anderen Ufer. Die Trogiten drüben beendeten ihren Tagesmarsch ebenfalls und begannen, das Lager für die Nacht aufzuschlagen, und Keselo rollte seine Flagge ein und kehrte zu dem Piraten Sorgan zurück, um Bericht zu erstatten. Ist die Nachricht drüben angekommen, wollte Sorgan wissen. Ja, Herr. Sie schlagen das Lager auf. Gut. Schinkenpranke, schnapp dir ein paar Schiffsmannschaften und errichte eine starke Barrikade auf der Felsbank, und dann stell eine Nachtwache auf. Wir wollen schließlich keine Überraschungen, nachdem die Sonne untergegangen ist.
Hase ging hinüber zum Rand der Felsbank, die das Ufer bildete, und schaute ins Wasser. Der Fluss ist in sein Bett zurückgekehrt, Käpt'n, meldete er. Ich würde sagen, Skell ist höchstwahrscheinlich wieder in seinem Fort. Wir werden sehen, erwiderte Sorgan. Ich möchte ganz sicher sein, dass Skell und Tori in ihrem Fort sind, ehe wir weiter flussaufwärts ziehen. Langbogen glaubt, die Lösung unseres Problems bestehe in unseren vergifteten Speeren, doch ich hätte lieber einen Ort, an den man sich zurückziehen kann, wenn er sich zufällig irren sollte. Mehrere Mannschaften von Maagseeleuten bauten eine einfache Barrikade, und Sorgans Armee richtete sich an großen Feuern für die Nacht ein. Diese blieb ruhig, und in der Morgendämmerung setzten sie ihren Marsch durch die Schlucht fort. Gegen Mittag fiel Keselo auf, wie sich die Schlucht stark verengte, und die geneigten Wände oberhalb der flachen Uferbänke wurden steiler. Am Nachmittag kamen sie um eine Biegung, wo Sorgans mürrischer Vetter Skell bereits auf sie wartete. Was hat dich aufgehalten, Sorgan, fragte er. Mach keine Scherze, Skell, sagte Sorgan. Hast du deine Mannschaften wieder in das Fort gebracht? Ich möchte nicht weiter flussaufwärts ziehen, ehe die Befestigungsanlagen fertig sind. Er zögerte und fuhr schließlich fort: Da ist noch etwas, das du wissen solltest, Skell. Wie sich herausgestellt hat, sind unsere Feinde doch nicht ganz so hilflos, wie die werte Dame Zelana uns in Maag glauben machen wollte. Sie hat schlicht vergessen, uns zu erzählen, dass sie teilweise Insekten, zur Hälfte aber Schlangen sind. Was sagst du da, gab Skell unfreundlich zurück. Sie haben keine Schwerter, keine Äxte und keine Bögen, denn sie brauchen sie nicht. Stattdessen haben sie Giftzähne. Ich glaube, ich mache mich sofort auf den Heimweg, Sorgan. Reg dich nicht auf, Vetter, sagte Sorgan. Langbogen hat uns eine Möglichkeit gezeigt, wie man leicht mit dem Problem fertig wird. Er benutzt nämlich einfach ihr eigenes Gift, um sie zu töten. Dazu taucht er die Spitzen seiner Pfeile in die Giftdrüsen der Toten und verschießt vergiftete Pfeile auf jeden, der ihm vor die Augen kommt. Wir haben dieses Verfahren übernommen, und wir sind ziemlich sicher, dass vergiftete Spieße die Aufgabe genauso gut erfüllen werden wie Pfeile - lange Spieße, wenn du verstehst, was ich meine. Und wo soll ich Tote finden, um das Gift zu bekommen? Sorgan grinste seinen Vetter an. Zufällig habe ich einen hübschen Vorrat an dem Gift, Skell - viele Gefäße, die damit gefüllt sind. Da du mein Vetter bist, berechne ich dir nur den halben Preis für ein Dutzend. 278 279
Mach keine Scherze, Sorgan. Hat Tori es schon hergeschafft? Er traf ein, kurz nachdem die Flut durch die Schlucht kam. Morgen Vormittag sollte er hier eintreffen. Gut. Ich werde ihn drüben am Südufer einsetzen. Wie viele Schiffsmannschaften kannst du uns dalassen? Dreißig ungefähr, antwortete Sorgan. Ich möchte nicht zu wenig Leute haben, wenn wir auf die Hauptarmee des Feindes treffen. Nun, dreißig sollten reichen. Ich würde sagen, das Fort wird morgen Abend fertig sein. Dann fangen wir an, uns weiter nach oben vorzuarbeiten. Gib uns noch zehn Tage, und die Mauer zieht sich quer durch die Schlucht. Wenn der Feind an dir vorbeigelangen sollte, werden wir ihn hier aufhalten, und du hast eine sichere Zuflucht, wenn die Hälfte deiner Männer an tödlichen Bissen gestorben ist. Sehr lustig, Skell, antwortete Sorgan trocken. Ich mache mir nur Gedanken um die Familie, Sorgan. Wenn Tori und ich die Arbeiten an diesem Fort abgeschlossen haben, wird niemand - und ich meine niemand - mehr durch die Schlucht ohne meine Erlaubnis weiterziehen können. Dann würde ich sagen, hast du dir dein Gold redlich verdient. Du bist der Anker dieses ganzen Feldzugs, also mach das Fort so stark wie möglich und halte es um jeden Preis. Sorgan blickte sich um. Wir werden heute Nacht hier lagern. Ich muss noch ein paar Einzelheiten mit Narasan abklären. Hast du schon eine Brücke über den Fluss geschlagen? Nein, wir schwimmen rüber, sagte Skell ironisch. Das ist nicht so schwer - es sei denn, der Fels, den du trägst, wiegt mehr als eine Tonne. Ich wünschte, du würdest dir deine Späße sparen. Gern, wenn du mir keine dummen Fragen mehr stellst. Natürlich haben wir eine Brücke, Sorgan. Wie, meinst du, sollen Tori und 280 seine Männer sonst auf die trogitische Seite kommen und ihren Teil des Forts bauen? Sorgan ließ ihm dies durchgehen. Wahrscheinlich marschieren wir morgen beim ersten Licht los, sagte er. Die Trogiten und ich halten diese Schlangenwesen oder was immer es sein mag von deinem Fort fern, bis alles fertig ist. Sobald du so weit bist, schickst du Narasan und mir eine Nachricht. Falls alles so läuft, wie ich beabsichtige, werden wir die Lage vollkommen unter Kontrolle haben, also wird der Feind nach unserer Pfeife tanzen. Er wandte sich um. Keselo, gib Narasan ein Signal. Sag ihm, wir müssen reden, ehe wir weiter flussaufwärts ziehen. Ja, Herr, erwiderte Keselo zackig und schlug die Faust erneut vor den eisernen Brustpanzer. Das Niveau von Hakenschnabels Plan überraschte ihn. Die Maags wirkten wie dumme Wilde, doch anscheinend wussten sie
genau, was sie taten. Kapitän Hakenschnabel und Kommandant Narasan trafen sich früh am folgenden Tag ein Stück oberhalb von Skells teilweise fertig gestelltem Fort. Gute Arbeit, bemerkte der Kommandant, aber wird der Fluss nicht am Ende Schwierigkeiten bereiten? Nicht für Skell, antwortete Sorgan. Wenn er und Tori die Sache richtig anpacken, wird diese Befestigung zur einen Hälfte ein Fort und zur anderen ein Damm. Diese Schlangenmenschen schwimmen nicht sehr gut, und wenn vor dem Fort zehn Fuß tiefes Wasser steht, haben sie doppelt so große Probleme bei ihrem Angriff. Tori sollte heute noch eintreffen, und dann geht es schneller voran. Im Augenblick steht erst das halbe Fort, aber das hat sich sogar als vorteilhaft herausgestellt, denn die Flut hätte alles niedergerissen, wenn Skell schon fertig gewesen wäre. Nachdem Skell und Tori hier oben am Rand so weit sind, werden sie die Mauer nach beiden Seiten hin fortsetzen, um die Felsbänke zu blockieren. Nachdem das erledigt ist, haben wir eine sichere Zuflucht, falls wir 281 weiter oben in der Schlucht in Schwierigkeiten geraten sollten. Ich denke, unsere Aufgabe beinhaltet auch, die feindlichen Truppen fern zu halten, bis Skell und Tori dieses Fort fertig gebaut haben. Narasan schüttelte den Kopf. Nein, Sorgan, unsere Aufgabe besteht darin, zum Ende der Schlucht vorzustoßen, ehe der Feind Ersatz für diejenigen schicken kann, die während der Flut ertrunken sind. Wenn wir dort oben unsere Stellung halten können, wird kein Feind je so weit flussabwärts kommen. Vielleicht, räumte Sorgan ein, aber dieser Feind hält Überraschungen für uns bereit, wann immer wir uns umdrehen. Meiner Meinung nach würden wir alle ruhiger schlafen, wenn wir eine sichere Zuflucht hinter uns wüssten, in die wir uns zurückziehen können. Dürfte ich vielleicht einen Kompromiss vorschlagen, meine Herren, fragte Keselo. Wir hören, Keselo, sagte Kommandant Narasan. Rotbarts Modell zeigte eine schmale Kluft zwischen zwei Bergen ganz oben am Ende der Schlucht. Wenn wir eine große Vorhut schnell dorthin marschieren lassen, sollten wir diese Kluft innerhalb von drei bis vier Tagen blockieren können. In der Zwischenzeit könnten wir mit einer Anzahl Männer eine provisorische Barrikade etwa eine Meile flussaufwärts von hier bauen - nur für den Fall, dass der Feind schon unterwegs nach Lattash ist. Natürlich wird in diesem Fall unsere Vorhut keine große Chance haben, die Kluft überhaupt zu erreichen, und die Barrikade würde ihr im Notfall Deckung geben. Dieser junge Knabe gönnt uns nicht mal einen richtigen Streit, meinte Sorgan. Du und ich, wir hätten uns so schön anbrüllen können, Narasan, und jetzt hat uns Keselo den Spaß verdorben. Ach, herrje, sagte Kommandant Narasan mit spöttisch bedauerndem Unterton, niemand ist perfekt, nehme ich an. Ich stelle eine Anzahl meiner Männer ab, um die Barrikade zu errichten, fügte Sorgan hinzu. Baumstämme sind zwar nicht so stabil wie Stein, aber vermutlich halten sie die Schlangenmenschen zurück - insbesondere, wenn wir die Vorderseite mit spitzen, vergifteten Pfählen säumen. Mir ist in Lattash aufgefallen, dass die Schlangenmenschen, die ertrunken waren, keine Schuhe oder Stiefel trugen, und barfuss über ein Feld vergifteter Pfähle zu laufen, ist nicht der hoffnungsvollste Weg, ein gesegnetes Alter zu erreichen, oder? Ich werde gewissenhaft darauf achten, genau diesen Weg nicht einzuschlagen, Sorgan, versprach Kommandant Narasan. Ungefähr am Vormittag des folgenden Tages gingen Keselo und Hase ein Stück vor der Hauptarmee, und plötzlich blieb Hase stehen. Ist das ein Dorf dort drüben auf der anderen Seite des Flusses, fragte er neugierig. Wo, fragte Keselo seinen kleinen Freund. Da oben, nach dem Rand der Schlucht - unter dem Felsvorsprung. Keselo spähte über den Fluss hinweg. Unter dem überhängenden Felsen schienen sich tatsächlich eine Art Gebäude zu befinden. Ach, sagte er, das ist verlassen. Im Imperium stolpern wir ständig über alte Ruinen. Es sind Orte, wo früher Menschen lebten, doch niemand kann je erklären, warum die Leute, die dort wohnten, ihre Sachen gepackt haben und verschwunden sind. Vielleicht war es gar nicht so, Keselo. Möglicherweise gab es Krieg, oder eine Seuche hat sie alle das Leben gekostet. Das ist sicherlich möglich. Diese Ruinen dort oben sehen ein wenig kultivierter aus als die Hütten unten in Lattash. Wenn wir nicht so beschäftigt wären, würde es interessant sein, diesen Ort zu erkunden. Mich interessiert es nicht genug, um deshalb durch den Fluss schwimmen zu wollen, meinte Hase trocken. 282 283 Langbogen war oben am Rand der Schlucht unterwegs gewesen, doch kam er am späten Nachmittag herunter. Wie es scheint, sind die Diener des Vlagh alle mit der Flut weggespült worden, berichtete er Sorgan. Wir haben zumindest noch keinen Einzigen entdeckt. Vielleicht verstecken sie sich im Gebüsch, gab Sorgan zu bedenken. Langbogen schüttelte den Kopf. Nicht vor mir, vor mir nicht. Wenn sie irgendwo in der Schlucht wären, hätte ich sie gesehen. Ich habe ein paar Hirsche entdeckt, aber keinen von unseren Feinden. Dann sind sie wirklich nicht allzu helle, oder, meinte Hase. Wussten sie nicht, wie gefährlich es ist, an einem Fluss zu sitzen, wenn der Schnee zu schmelzen beginnt?
Sie leben in einer Wüste, Hase, erwiderte Langbogen darauf. Wasser ist knapp im Ödland. Er wandte sich an Sorgan. Es kann nicht schaden, ein paar Sicherheitsvorkehrungen zu treffen, riet er, doch bin ich ziemlich gewiss, dass die Schlucht frei ist. Wir halten oben an den Rändern Wache und warnen euch, sobald wir einen Diener des Vlagh sehen. Deine Armee - und Narasans - sollten das Ende der Schlucht ohne Schwierigkeiten erreichen. Das war der kritische Punkt in unserem Plan, bemerkte Sorgan. Wenn Narasan und ich das Ende der Schlucht erreichen, ehe dieses Vlagh-Ding Ersatz schicken kann, haben wir den Krieg gewonnen. Ja, das hatten wir schließlich vor, sagte Langbogen zustimmend. Während sich der Abend über dem weitläufigen, unorganisierten Lager der Maags senkte, verließ Keselo den Schein der Feuer und entfernte sich ein Stück von den rüpelhaften Piraten. Was hast du für ein Problem, Keselo, drang Langbogens Stimme aus der Dunkelheit zu ihm vor. Ohne nachzudenken legte Keselo die Hand an den Schwertgriff284
Tu das nicht, schalt Langbogen ihn. Du hast mich erschreckt, entschuldigte sich Keselo. Dir macht doch etwas Sorgen, oder? Die Sache erscheint mir so unnatürlich, gestand Keselo. Ich bin nicht daran gewöhnt, Schlachten in so tiefem Wald wie hier auszutragen. Es gibt keine Straßen, und die Bäume verhindern es, irgendetwas zu sehen, das weiter als fünf Schritte entfernt ist. Der Feind kann dich auch nicht sehen, Keselo. Wenn es Nacht ist, sind alle unsichtbar. Aber da gibt es noch etwas anderes, das dich bekümmert, ja? Ich fürchte mich, platzte es aus Keselo heraus. Schon immer habe ich mich vor Schlangen gefürchtet, und jetzt habe ich die Aussicht, gegen einen Feind zu kämpfen, der Mensch, Insekt und vor allem Schlange ist. Mit welchen Waffen kann ich mich da überhaupt verteidigen? Du besitzt diese Waffe, Keselo. Sie heißt Verstand. Die Diener des Vlagh haben nur sehr wenig Intelligenz. Das Vlagh ermutigt sie in dieser Hinsicht nicht. Es will das Denken allein erledigen. Ich weiß ein wenig über sie Bescheid, doch manchmal überrascht ihre Dummheit selbst mich. Die einzigen Waffen, die sie haben, sind Teil ihres Körpers, und so erkennen sie gar nicht, was ein Schwert oder ein Speer oder ein Bogen ist. Einmal habe ich dreizehn von ihnen an einer einzigen Stelle getötet. Ich hätte noch mehr erwischt, doch die Pfeile sind mir ausgegangen. Diejenigen, die überlebten, standen einfach da - und fragten sich vermutlich, warum die anderen alle umfielen. Das meinst du nicht ernst, rief Keselo. Oh doch. Vergiss nicht, was Einer-Der-Heilt in Zelanas Höhle gesagt hat. Die Diener des Vlagh sind nicht intelligent genug, um Angst zu haben. Wenn das Vlagh tausend von ihnen sagt, sie sollten angreifen, wird noch der Letzte den Angriff fortsetzen, bis du ihn getötet hast. Der Tod seiner Kameraden hat keine Bedeutung 285
für ihn. Die Geschöpfe des Ödlands begreifen nicht, dass jedes Lebewesen irgendwann sterben muss, und deshalb sind sie sich der Tatsache nicht bewusst, dass sie nicht ewig leben. Sie wirken stets überrascht, wenn der Tod sie ereilt. Sehr groß sind sie nicht, oder, fragte Keselo. Sehr klein - sogar kleiner als Hase. Aber sie sind schnell. Langbogen lächelte schwach. Versuche, das Gift an deiner Schwertspitze nicht zu vergeuden. Ein kleiner Stich irgendwo an ihrem Körper wird sie fast augenblicklich töten. Du brauchst dein Schwert nicht vollständig in sie hineinzutreiben. Da muss ich wohl erst ganz neu lernen, wie ich mein Schwert führen soll, sagte Keselo kläglich. Langbogen tippte Keselo mit dem Fingerknöchel gegen den Brustpanzer. Das Ding könnte sehr nützlich sein, sagte er. Wenn sie sich die Fangzähne und Stacheln an deinem Eisenhemd abgebrochen haben, sind sie nicht mehr gefährlich. Sie zogen während der nächsten Tage weiter und weiter in die Schlucht, und der Pirat Hakenschnabel beschäftigte Keselo ständig damit, die Verbindung zu Kommandant Narasan zu halten. Die Tatsache, dass es bislang keinen Kontakt mit feindlichen Truppen gegeben hatte, schien Sorgan und Narasan gleichermaßen zu beunruhigen. Während des Marsches die Schlucht hinauf wurde der Wald offener, und das Unterholz war nicht mehr so dicht. Keselo begrüßte das. Würden die Bäume nur ein wenig weiter auseinander stehen, wäre alles wieder normaler. Der Gedanke, die giftigen Feinde könnten im Gebüsch lauern, hatte ihn ziemlich nervös gemacht. Als er wieder ruhiger wurde, wuchs seine Neugier an. Hier sieht es gar nicht mehr aus wie im unteren Teil der Schlucht, sagte er eines Nachmittags zu seinem Freund Langbogen. Was ist hier oben mit den Bäumen und dem Unterholz passiert? 286 Vermutlich ein Feuer, antwortete Langbogen. In trockenen Sommern braucht es nur einen einzigen Blitzschlag, um den Wald in Brand zu setzen. Außerdem sind wir inzwischen ziemlich hoch in den Bergen, und je höher man kommt, desto kürzer ist die Zeit des Wachstums. Das beschränkt die Bäume und Büsche in der Größe. Du magst die tiefen Wälder, ich weiß, mein Freund, sagte Keselo, aber ich fühle mich wohler, wenn ich mich in
offenem Gelände befinde. Jetzt kann ich mehr als fünf Schritt weit sehen, und gewisse Ängste, die ich vorher hatte, lassen nun nach. Das freut mich für dich, sagte Langbogen und lächelte schwach. Am Morgen des sechsten Tages nach ihrem Aufbruch von Lattash schickte Hakenschnabel Kundschafter voraus zu der deutlich sichtbaren Kluft zwischen den Bergen am Ende der Schlucht. Vielleicht ist in der Flut die ganze Armee der Schlangenmenschen ertrunken, Käpt'n, meinte Ochs gegen Mittag. Langbogen hat keine Überlebenden gesehen. Wenn es so wäre, hätte Zelana sich nicht die Mühe und Kosten gemacht, uns anzuheuern, Ochs, widersprach Sorgan. Irgendwo muss es noch mehr Feinde geben. Dann schaute Keselo in Richtung des Endes der Schlucht über die Felsbank hinweg und entdeckte Hase, der auf sie zurannte, so schnell ihn seine Füße trugen. Jetzt zeigte sich, warum der kleine Maag seinen Namen trug. Schnaufend traf er bei ihnen ein. Wir haben sie gesehen, Käpt'n, keuchte er. Wo, verlangte Hakenschnabel in scharfem Ton zu wissen. Sie sind noch ein gutes Stück entfernt, antwortete Hase. Langbogen war dort oben auf dieser Seite der Kluft. Er sagte uns, wir sollten uns ducken, und dann ging er voraus. Auf der anderen Seite liegt eine große weite Ebene, ein gutes Stück tiefer, genau un287 terhalb des Hanges hinter der Kluft. Die feindlichen Truppen haben sich am Fuß des Hanges versammelt. Wie viele, erkundigte sich Ochs und packte seine schwere Streitaxt fester. So viele konnte ich nicht zählen, Ochs, gestand Hase, aber ich glaube, wir sitzen ziemlich in der Patsche.
25 Behalt die Männer hier, befahl Sorgan. Wir wollen dort oben jetzt noch kein Gedränge. Aye, Käpt'n, antwortete Ochs. Daraufhin folgten Sorgan und Keselo Hase zum Ende der Schlucht. Der Fluss bestand hier nur aus einem schmalen Rinnsal funkelnden Wassers, das gluckernd über die Steine plätscherte. Die Bäume waren verkümmert, und unter ihren schützenden Ästen fanden sich die letzten schmutzigen Schneeflecken. Die Luft war sauber, und Keselo konnte viele Meilen weit über die Gebirge des westlichen Dhrall hinwegschauen. Kommandant Narasan war offensichtlich gerade erst eingetroffen. Er hatte den eisernen Helm abgenommen, und er und Langbogen unterhielten sich leise nahe der schmalen Kluft, die das Ende der Schlucht bildete. Hase hat uns gesagt, ihr hättet endlich ein paar Schlangenmenschen entdeckt, sagte Hakenschnabel. Ein paar mehr als ein paar, Sorgan, gab Narasan düster zurück. Ich denke, jetzt müssen wir uns unseren Sold richtig verdienen. Das hat Hase uns auch gesagt. Sind es wirklich so viele? 288
Kommt und schaut es euch an, forderte Langbogen sie auf. Er führte sie zu der Kluft zwischen den beiden hohen Gipfeln. Unterwegs erkannte Keselo, dass sein Kommandant Recht hatte. Die Kluft war die perfekte Stelle, um eine Festung zu errichten. Hier konnten nie mehr als einige wenige Feinde gleichzeitig angreifen. Dann traten sie durch die Lücke zwischen den Gipfeln, und Keselo blieb stehen und starrte ehrfürchtig auf ein felsübersätes Meer aus Sand hinunter, das tausend Fuß tiefer lag und sich bis zum Horizont im Osten erstreckte. Allerdings war dieses Meer nicht leer. Eine Horde winziger Gestalten kam über das karge Land im Osten, und diese Horde erstreckte sich quer über das Ödland von einem Horizont zum anderen. Nun begreife ich auch, weshalb die Leute, die hier siedelten, sich lieber einen anderen Ort gesucht haben, sagte Kommandant Narasan. Ich verstehe beim besten Willen nicht, wie man hier überleben kann. Es ist ein wenig karg, stimmte Sorgan zu. Die nächste Frage ist, wie wir sie davon abhalten, sich auf dem Land der werten Zelana niederzulassen. Dräng mich nicht, meinte der Kommandant, ich arbeite daran. Keselo betrachtete den Hang und entdeckte dort kleinste Erhebungen, die zu gleichmäßig geformt waren, um durch Wind und Wetter gebildet worden zu sein. Er scharrte mit den Füßen den Sand zur Seite. Der Fels unter dem Sand war flach, und es schien eine gerade Kante zu geben, wo der eine Fels auf den anderen stieß. Er schob weiteren Sand zur Seite. Hier vor der Kluft lag offensichtlich eine gerade Reihe viereckiger Steine. Keselo ließ sich auf die Knie sinken und fegte den Sand vor den flachen Steinen weg, die er gerade freigelegt hatte. Ungefähr einen Fuß tiefer zeigte sich die nächste Reihe flacher Steine. Verwundert hob er den Kopf und starrte den Hang hinab. Das ist unmöglich, rief er. 289
Was ist unmöglich, Keselo, fragte Kommandant Narasan. Ich glaube, dieser Hang ist kein natürliches Felsgebilde, Herr antwortete Keselo. Sieht mir eher aus wie eine Treppe. Du scherzt, schalt der Kommandant, Sieh es dir selbst an, Herr. Plötzlich fingen alle an, den Sand wegzufegen, und immer mehr Steine kamen zum Vorschein. Wenn diese Treppe bis zur Talsohle der Wüste reicht, muss eine Armee Jahrhunderte daran gebaut haben, sagte Narasan
voller Respekt. Das Vlagh ist geduldig, erklärte ihm Langbogen. Hier ist die niedrigste Stelle in der Mauer, die das Ödland von Zelanas Domäne trennt. Wenn das Vlagh sich also überlegt hat, uns einen Besuch abzustatten, brauchte es einen Weg, auf dem seine Armee den höchsten Punkt der Schlucht erreichen kann - und zwar einen Weg, dem Wind und Wetter nichts anhaben können. Ich würde sagen, diese Invasion wurde schon vor langer, langer Zeit geplant. Nun, das ist wirklich schade, sagte Sorgan und grinste breit. Sie haben diese dumme Treppe gebaut, und wir werden sie abreißen. Das Leben kann ganz schön aufregend sein für jemanden, der versucht, eine Treppe hinaufzusteigen, während ihm Felsblöcke entgegenrollen. Nicht so hastig, Sorgan, sagte Narasan. Er ging ein Stück die Treppe hinunter, schob dabei mit den Füßen Sand von den Stufen und blieb immer wieder stehen, um sich zur Kluft umzudrehen. Es wäre eine Schande, dieses perfekte Baumaterial zu verschwenden, meinst du nicht? Diese Treppe ist ungefähr vier- bis fünfmal breiter als die Kluft, also kann man mit diesen Steinblöcken eine wesentlich größere Festung anlegen, als ich ursprünglich beabsichtigt hatte. Jetzt, wo wir diese Steine haben, sollte ich in der Lage sein, die Kluft vollständig zu blockieren. Da würde der Gegner hübsch vor eine feste Mauer schauen, während er die Treppe hinaufstürmt. Die Botschaft müssten sie eigentlich verstehen, oder? 290
Eigentlich schon, ja, pflichtete Sorgan ihm bei, insbesondere wenn wir kleine Löcher in der Mauer lassen, durch die wir mit unseren Spießen stechen, wenn sie versuchen hinaufzuklettern. Sind deine Männer gut im Bauen? Mein Vetter Skell hat fast jeden Maag, der sich ein wenig damit auskennt, bei sich im Fort unten in der Schlucht. Narasan kam die Treppe wieder herauf. Trogitische Soldaten verbringen mehr Zeit damit, Befestigungsanlagen zu errichten als damit zu kämpfen, Sorgan. Wenn deine Männer die Treppe auseinander brechen und die Blöcke hochschaffen, können meine Männer die Festung in kürzester Zeit bauen. Unsere Vorhuttruppen werden eintreffen, ehe der Tag zu Ende ist, und bis dahin haben wir Zeit, die Details zu erörtern. Keselo hatte eine Idee. Entschuldigt, sagte er höflich, wäre es nicht besser, wenn der Feind unten nicht sehen kann, was wir hier oben tun? Also du meinst, wir sollten in der Nacht arbeiten, fragte Sorgan. Nun, nein, nicht direkt, antwortete Keselo. Der Wind in der Schlucht weht meist aus Westen, und Rauch zieht mit dem Wind. Ein paar Feuer mit frischen Blättern würden so viel Rauch erzeugen, dass wir vor dem Feind unten verborgen wären. Das ist aber mal ein kluger junger Mann, den du da hast, Narasan, lobte Hakenschnabel. Ja, er ist sein Geld wert, befand Narasan. So ist das eben als Seemann, erklärte Hase am nächsten Morgen, als Keselo bemerkte, wie reibungslos die Männer die Treppe auseinander nahmen und die Steinblöcke von Mann zu Mann nach oben reichten. Eine Schiffsmannschaft lernt schnell, dass sie zusammenarbeiten muss. Wenn der Wind aus der falschen Richtung weht, rudern wir, und das Schiff bewegt sich nicht vom Fleck, wenn die 291 Riemen nicht im gleichen Rhythmus gepullt werden, und wenn wir das Segel hissen, müssen wir gemeinsam ziehen. Er schaute zu den Maags hinunter, die unterhalb der Kluft arbeiteten, und dann hinüber zu den stetig wachsenden Stapeln von Steinen hinter der Kluft. Würde jeder Maag, der hier arbeitet, seinen Block allein nach oben schleppen, wäre hier ein fürchterliches Durcheinander. Das kann ich mir vorstellen, stimmte Keselo zu. Am frühen Nachmittag kam Ochs auf der Mitte der Treppe nach oben - dem Teil, den die Maags stehen ließen, um die Blöcke zu befördern. Sollen wir eine frische Mannschaft einsetzen und die Nacht durcharbeiten, Käpt'n, rief er Hakenschnabel zu. Diese Feuer dürften ausreichend Licht spenden, so dass wir auch in der Dunkelheit sehen können. Warum eigentlich nicht, stimmte Hakenschnabel zu. Je eher wir die Blöcke oben haben, desto schneller können die Trogiten anfangen, die vordere Mauer der Festung zu bauen. Arbeitet ihr tatsächlich auch nach Sonnenuntergang, fragte der glatzköpfige Gunda ungläubig. Wenn man draußen auf See ist, muss man einfach arbeiten, erklärte Sorgan. Die Flut und der Wind hören nicht auf, nur weil die Sonne untergeht. Er blickte hinüber zu Narasan. Das sollte man sich durch den Kopf gehen lassen, weißt du, sagte er. Die übrigen Männer - sowohl deine als auch meine - sollten morgen eintreffen, also haben wir dann frische Männer, die weiterarbeiten können. Wenn wir auch im Dunkeln frische Männer ans Werk schicken, werden wir doppelt so schnell fertig. Guter Gedanke, stimmte Narasan zu. Wie lange brauchen deine Männer noch? Wenn ich die Sache recht sehe, dürften sie die ersten fünfzig Fuß bis morgen Mittag abgeräumt haben, gab Hakenschnabel zurück Dann liegt es bei euch. Meine Leute brechen ab. Deine Leute müssen bauen. 292 Du bist zu gütig, Sorgan, antwortete Kommandant Narasan ironisch. Keselo war der Meinung, nur im Weg zu sein, wenn er herumstand und die Maags bei ihrer Abbrucharbeit beobachtete, also ging er durch die Kluft zurück in die kleine Schneise oben an der Schlucht. Der stämmige Dhrall namens Rotbart saß neben einem kleinen Feuer an dem sprudelnden Bach, der anscheinend die Quelle des Flusses war.
Vielleicht kannst du mir etwas erklären, Rotbart, sagte Keselo. Wenn ich es selbst verstehe, vielleicht, gab Rotbart zurück und kratzte sich die haarige Wange. Hat dein Stamm in der Vergangenheit irgendwann in der Schlucht gelebt? Als wir auf der nördlichen Felsbank nach oben gezogen sind, haben Hase und ich mehrere verlassene Dörfer auf eurer Seite des Flusses gesehen. Die sind nicht weiter wichtig. Soweit ich weiß, hat dort schon lange niemand mehr gelebt, bevor mein Stamm in diesen Teil von Zelanas Domäne gezogen ist. Hast du sie deshalb ausgelassen, als du die Karte in Zelanas Höhle gestaltet hast? Nicht ganz, räumte Rotbart ein. Diese Orte machen die alten Männer des Stammes aus irgendeinem Grund nervös. Häuptling Weißzopf hat mir zwar nicht geradewegs befohlen, sie in meinem Modell wegzulassen, aber ich kenne ihn gut genug und bin ziemlich sicher, er hätte es nicht gutgeheißen, wenn ich sie dargestellt hätte. Gibt es also dort etwas, das ihnen Angst macht? Ich bin mir nicht sicher, ob Angst machen der richtige Ausdruck ist, Keselo. Vielleicht ist es nur ein alter Aberglaube. Hier im Lande Dhrall nehmen wir unseren Aberglauben sehr ernst. Wir meiden Friedhöfe, und wir entschuldigen uns immer bei Tieren, die wir auf der Jagd töten. Ich weiß zwar nicht, ob es hilft, aber es ist höf293 lich und kostet nichts. Diese Dörfer an den Steilhängen waren schon da, als unser Stamm in diesen Teil von Dhrall kam. Wer auch immer sie gebaut hat, gehörte offensichtlich nicht zu unserem Stamm. Wir bauen unsere Hütten nicht aus Stein, und wir suchen uns günstigere Stellen. Woher rührt dein plötzlicher Wissensdurst? Neugier, denke ich, gestand Keselo ein. Wir haben viele uralte Ruinen im Weltreich, aber die sind für gewöhnlich an Orten gelegen, die besser für die Landwirtschaft geeignet sind. Hast du je eine dieser Siedlungen erkundet? Rotbart lachte. Wozu sollte ich das tun? Ich bin Jäger, und ich bin dazu da, Tiere zu jagen - oder Fisch -, damit der Stamm regelmäßig zu essen hat. Daher verschwende ich meine Zeit nicht, indem ich in alten leeren Dörfern herumkrieche oder in den Höhlen unter diesen Bergen. Höhlen habt ihr hier auch? Der Gedanke verblüffte Keselo. Alle Berge haben Höhlen, Keselo, sagte Rotbart und lächelte nachsichtig. Das weiß doch jeder. Ich habe mir darüber so meine Gedanken gemacht. Möchtest du sie hören? Natürlich. Berge könnten entstehen, wenn Vater Erde etwas isst, das er nicht verträgt. Wenn er rülpst, tauchen die Berge auf. Das ist absurd, sagte Keselo und gab sich Mühe, nicht zu lachen. Wenn du eine bessere Erklärung hast, würde ich sie gern hören, sagte Rotbart herausfordernd. Jedenfalls ist ein Rülpsen nichts anderes als Luft, die aus dem Bauch eines Mannes aufsteigt, daher muss Vater Erde leere Luft mitten in den Bergen gelassen haben - Rülpser, die es nicht ganz bis zur Oberfläche geschafft haben, verstehst du? Könntest du bitte ernst sein, Rotbart? Ernst ist nicht lustig, Keselo. Also gut, wenn du darauf bestehst: Die alten Männer des Stammes erzählen uns, diese alten Siedlungen seien verflucht, und wir sollen nicht in ihre Nähe gehen und nicht einmal über sie reden. Alte Männer haben manchmal so ihre Eigenarten. Wer auch immer sie gebaut hat oder dort lebte, ist nicht mehr in dieser Gegend. Entweder sind sie alle gestorben, oder sie haben ihre Sachen gepackt und sind verschwunden. Wenn sie gestorben sind, spukt es vermutlich in den verlassenen Dörfern, und wenn sie fortgelaufen sind, muss sie etwas entsetzlich erschreckt haben. Egal, was nun stimmt, die alten Männer unseres Stammes glauben anscheinend, es sei keine schlechte Idee, sich von dort fern zu halten. Er zuckte mit den Schultern. Vermutlich befindet sich nichts von Wert in den Höhlen, deshalb verschwende ich keine Zeit darauf, sie zu durchsuchen. Ich habe bessere Dinge zu tun. Er blinzelte in die Schlucht hinunter. Die meisten aus unserem Stamm machen das, was die alten Männer ihnen sagen, doch dann und wann verspürt jemand den überwältigenden Drang, in diesen Ruinen herumzuschnüffeln, und die meisten dieser Neugierigen werden niemals wieder gesehen. Könnte es nicht bedeuten, dass die alten Männer deines Stammes genau wissen, wovon sie reden, mutmaßte Keselo. Nicht unbedingt, widersprach Rotbart. Unser Stamm lebt nun schon seit Hunderten von Jahren in Lattash, und selbst Orte, die aus Stein gebaut sind, zerfallen nach so langer Zeit. Die Mauern reißen ein, Decken brechen zusammen, und soweit ich weiß, sind schon ganze Dörfer in den Rülpser-Löchern unter den Bergen versunken. Es müssen nicht immer Geister oder Flüche sein, die den Neugierigen umbringen, Keselo. Höchstwahrscheinlich ist es schlicht und einfach der natürliche Verfall. Sind diese Dörfer nur auf der Südseite zu finden, fragte Keselo. Hase und ich haben auf der Nordseite keine entdeckt, als wir hergekommen sind. Konntet ihr auch nicht, erklärte Rotbart. Mir ist es immer so erschienen, als wären diese alten Dörfer an Stellen angelegt, wo 294 295
man sie von der Felsbank auf der jeweiligen Seite der Schlucht nicht sehen kann. Die Menschen, die dort lebten, haben das vielleicht absichtlich so eingerichtet. Höchstwahrscheinlich gab es auch in jenen Tagen schon
unfreundliche Zeitgenossen. Die nächste dieser Siedlungen befindet sich nur wenige Meilen von hier in der Schlucht. Wenn du auf der nördlichen Bank bist, ist sie nicht schwer zu entdecken. Dort steht ein alter toter Baum oberhalb des Dorfes am Oberrand der Schlucht, und er ragt so weit hervor, dass man ihn deutlich sehen kann. Wenn dieser Krieg mal Pause hat, schaue ich es mir vielleicht an, überlegte Keselo. Wozu? Dort gibt es nichts außer eingestürzten Gebäuden, und außerdem könnte es gefährlich sein. Neugier eben, gestand Keselo. Eine alte Schwäche von mir. Die Arbeiten wurden während der Nacht fortgesetzt, und bis zum Morgen hatten die Maags fast alle Steine rechts und links einer schmalen Rumpftreppe abgebrochen. Keselo und Hase standen herum, als Narasan sich vor der Kluft zu Sorgan gesellte. Ich würde sagen, das ist genug, meinte er. Zeit, mit den Bauarbeiten zu beginnen, denkst du nicht auch? Da bin ich ganz deiner Meinung, stimmte Sorgan zu. Falls die Schlangenmenschen jetzt angreifen würden, wären wir nicht vorbereitet, und deshalb solltest du deine Männer besser an die Arbeit schicken. Er spähte durch den Rauch nach unten. Hey, Ochs, rief er. Der stiernackige Maag, der die Arbeitsmannschaften beaufsichtigte, stieg an einer von ungefähr einem Dutzend Strickleitern empor, die Sorgans Leute benutzten, um das Gedränge auf der Haupttreppe zu umgehen. Aye, Käpt'n, antwortete er, als er die Hälfte des Wegs hinter sich gebracht hatte. Die Trogiten haben genug Blöcke, erklärte ihm Sorgan. Ruf 296
die Ausgucke zusammen, und schick die meisten Männer schon einmal nach oben. Dann reißt die Reste der Treppe ein und werft die Blöcke hinunter. Wenn die Schlangenmenschen unten herumschnüffeln, wird sie das ein wenig nervös machen. Wird gemacht, Käpt'n, rief Ochs zurück und grinste hinterhältig. Was denkst du, fragte Hakenschnabel Kommandant Narasan. Sollten wir die Feuer ausgehen lassen? Warum lassen wir sie nicht brennen, bis die Festung fertig ist, erwiderte Kommandant Narasan. Er lächelte schwach. Ein altes trogitisches Sprichwort lautet, Der Kunde soll die Ware erst sehen, wenn sie fertig ist. Hoffentlich gefällt dem Kunden deine Ware nicht, Narasan. Dann geht er vielleicht woanders einkaufen. Suchen wir Langbogen, schlug Hase Keselo vor. Vermutlich sollten wir ihm Bescheid sagen. Gute Idee, stimmte Keselo zu. Langbogen kam vom Nordrand der Schlucht heruntergestiegen; Keselo und Hase gingen ihm entgegen. Die Maags sind fertig, Langbogen, berichtete Hase seinem Freund. Jetzt können Narasans Männer mit der Arbeit an der Festung beginnen. Gut, sagte Langbogen. Lassen sie die Feuer ausgehen? Nicht, bevor die Festung fertig ist, antwortete Keselo. Kommandant Narasan will vor dem Feind verbergen, was wir hier tun. Leider gilt das in beide Richtungen, Keselo. Sie können uns nicht sehen, aber wir sie ebenfalls nicht. Das ist uns auch schon aufgefallen, Langbogen, sagte Hase, doch der Käpt'n wollte sich deswegen nicht mit Narasan streiten. Wenn Maags und Trogiten im gleichen Lager leben, muss jeder Rücksicht nehmen. Ach, fast hätte ich es vergessen. Der Käpt'n hat nach seinen Vettern schicken lassen. Skell und Tori sollten also in ein paar Tagen bei uns sein. 297
Das ist vielleicht keine so gute Idee, Hase, meinte Langbogen skeptisch. Wenn die Geschöpfe des Ödlands einen Weg finden sollten, unsere Festung zu umgehen, liegt die Domäne von Zelana ohne Schutz vor ihnen. Du denkst wirklich viel an Zelana, nicht, fragte Keselo. Ich lebe, um ihr zu dienen, Keselo. Als ich noch jünger war, dachte ich, dass ich mein Leben damit verbringen könnte, die Geschöpfe des Ödlands zu jagen, doch als sie mich rief, konnte ich mich ihr nicht entziehen. Diese Wirkung hat sie auf viele Menschen, stimmte Keselo zu. Manche herrschen durch Gewalt, aber Zelana regiert durch Liebe. Liebe kann unnachgiebiger sein als Gewalt, dafür aber führt sie eher zum Erfolg, bemerkte Langbogen. Das ist mir schon aufgefallen, fügte Hase hinzu, und das kleine Mädchen ist noch schlimmer. Langbogen lächelte. Oh, ja, bestätigte er, dennoch ganz herzallerliebst, nicht wahr? Wie lange wird es wohl dauern, die Festung zu errichten? Sicher kann ich es dir nicht sagen, Langbogen, antwortete Keselo, ich nehme jedoch an, sie werden morgen am späten Nachmittag fertig werden, wenn sie die ganze Nacht durcharbeiten. Dann können wir die Feuer ausgehen lassen, und am Morgen des folgenden Tages wird der Feind sehen, was wir hier oben gemacht haben. Das wird denen da unten bestimmt nicht besonders gefallen. Gunda, Jalkan und Padan beaufsichtigten die Bauarbeiten der Festung, und Jalkan hatte die Gewohnheit, die Soldaten unter seinem Befehl ordentlich zu schinden. Wenn er sie nicht mit Flüchen bedachte, schlug er mit der Gerte nach ihnen. An Bord eines Maagschiffes würde das nicht eine Woche gut gehen, sagte Hase zu Keselo. Die Mannschaft würde ihn vermutlich fesseln und an die Haie verfüttern, Unglücklicherweise findet man auf dem trockenen Land so selten Haie, gab Keselo zurück.
Warum ist er denn so unangenehm? Seine Männer arbeiten genauso hart wie die anderen. Er war früher Priester, erklärte Keselo, und die Priester von Amar genießen es, jene zu peitschen, die unter ihnen stehen. Wenn er so viel Spaß am Priester sein hatte, wieso ist er dann zur Armee gegangen? Das ist eine lange Geschichte, antwortete Keselo kurz. Wir haben genug Zeit, Keselo, sagte Hase. Dieser Jalkan regt mich wirklich auf. Wenn er mich so behandeln würde wie seine Soldaten, hätte er schnell ein Messer im Bauch. Warum lässt euer Kommandant ihm das durchgehen? Ich glaube, Jalkan wird nicht mehr lange bei uns sein, sagte Keselo. Kommandant Narasan hat ihm schon mehrmals eine Rüge erteilt. Jalkans Familie gehörte einst zu den angeseheneren von Kaldacin, doch sie wurde sehr korrupt. Jalkan gefiel der Gedanke nicht, einer ehrlichen Arbeit nachzugehen, also wurde er schließlich Priester des amaritischen Glaubens - der letzten Zuflucht des Schurken. Er spricht nicht über seine Jahre in der Kirche, doch kursieren Gerüchte. Und wenn diese Gerüchte der Wahrheit auch nur entfernt nahe kommen, hätte man ihn ms Gefängnis stecken müssen - oder sogar hinrichten. Offensichtlich hat er sich mit Verbrechern eingelassen und tonnenweise Geld gescheffelt. Als der Kopf der Kirche von diesem kleinen Unternehmen erfuhr - und natürlich davon, dass Jalkan seine Gewinne nicht mit der Kirche geteilt hatte -, verbannte ihn der Allerheiligste aus der Kirche und ließ sogar die Verdammungszeremonie abhalten. Damit stand Jalkan wieder auf der Straße, und er nutzte seinen Gewinn aus dem Bordell dazu, um sich in Kommandant Narasans Armee ein Offizierspatent zu kaufen. Wir wären glücklich, wenn wir ihn los wären, aber er will uns einfach nicht verlassen. 298 299 Warum unterhältst du dich nicht einmal mit Langbogen, schlug Hase vor. Wir haben so viele Pfeile, da würde es nicht auffallen, wenn einer fehlt. Und dieser Jalkan würde mit einem von Langbogens Pfeilen im Kopf bestimmt besser aussehen. Nun, ich denke auch, stimmte Keselo zu. Natürlich wären wir alle höchst betrübt, und wir würden eine hübsche Beerdigung veranstalten - und vielleicht würden wir sogar eine halbe Stunde warten, bis wir mit der Feier anfangen würden. Eine halbe Stunde erscheint mir angemessen, befand Hase und setzte sein fiesestes Hasengrinsen auf. Die Festung wuchs schnell, und nach dem Beispiel von Sorgan ließ Kommandant Narasan seine Männer ebenfalls im Licht der Feuer die ganze Nacht durcharbeiten. Bei Sonnenaufgang wurde Narasans Truppe von ausgeruhten Männern ersetzt, und wie Keselo vorausgesagt hatte, waren die Trogiten fertig, als die Sonne sich dem Horizont am Westhimmel näherte. Geh zu Sorgan und sag ihm, wir seien fertig, Keselo, befahl Narasan. Er wird es sich anschauen wollen. Ja, Herr, erwiderte Keselo zackig. Er eilte die Treppe auf der Rückseite der Festung hinunter und fand Sorgan im Lager der Maags am Ende der Schlucht. Die Festung ist fertig, Kapitän Hakenschnabel, berichtete er. Das ging aber schnell, sagte Sorgan. Wo ist Narasan? Oben, antwortete Keselo. Er scheint zufrieden mit der Arbeit zu sein. Ich denke, dann sollte ich ihm mal gratulieren. Das würde ihn sicherlich freuen, Herr. Ach, wenn du nur ein wenig lockerer sein könntest, Keselo, beschwerte sich Sorgan. Du brauchst mich nicht jedes Mal mit Herr zu grüßen, wenn du an mir vorbeigehst. Gewohnheit, nehme ich an, Herr. Keselo wirkte etwas verwirrt. Die beiden stiegen die Treppe auf der Rückseite der Festung hinauf und gesellten sich zu Kommandant Narasan auf der vorderen Mauer. Die Festungsmauer war fünfzig Fuß hoch, zwanzig Fuß dick und schmiegte sich lückenlos in die Kluft. Gute Arbeit, lobte Sorgan. Ich bin froh, auf dieser Seite zu stehen und nicht auf der anderen. Der Gedanke, einen Angriff gegen diese Mauer führen zu müssen, wäre mir ein Gräuel. Übung, Sorgan, gab sich Narasan bescheiden. Über die Jahre hinweg haben meine Männer schon viele Mauern und Festungen gebaut. Er begutachtete zum wiederholten Mal die Konstruktion. Diesmal standen wir zwar ein wenig unter Zeitdruck, aber ob gut oder schlecht, sie muss genügen. Mach dir keine Sorgen, Narasan. Die kleinen Löcher, die deine Männer in der vorderen Mauer gelassen haben, geben uns die Möglichkeit, den Schlangenmännern in die Bäuche zu pieken, sobald sie versuchen, hinaufzuklettern, und wenn Langbogen mit der Wirkung des Giftes Recht hat, wird auf jedes Pieken ein Sterben folgen. Falls die Schlangenmenschen tatsächlich einen so hohlen Kopf haben, wie alle behaupten, werden sie immer weiter heranstürmen, und wir werden wochenlang Pieken und Sterben spielen können. Pieken und Sterben muss ich mir merken, sagte Kommandant Narasan ohne auch nur die Andeutung eines Lächelns. Das werden wir wohl mit ins Handbuch der Soldaten aufnehmen - irgendwo nahe bei Parieren und Zustoßen. Die Feuer waren am folgenden Morgen erloschen, und der Rauchschleier behinderte nicht länger den Blick auf das Wüstental weiter unten. Die Horden des Vlagh sammelten sich in einiger Entfernung vom Fuß der Treppe und warteten, so schien es, auf einen Befehl oder ein Zeichen. 300
301 Keselo, Hase und Langbogen standen beim ersten Licht auf der Mauer. Ich glaube, was sie sehen, wird ihnen nicht so gut gefallen, fand Keselo. Es muss Jahrhunderte gedauert haben, diese Treppe zu bauen, und wir haben den oberen Teil innerhalb einer Woche vollkommen umgebaut. Jetzt ist es eine Treppe ins Nirgendwo. Sie können die Treppe so schnell hinaufrennen, wie sie wollen, doch plötzlich endet sie, dann stehen sie vor einer steilen Mauer, und sie werden ein leichtes Ziel für die Bogenschützen der Dhralls, oder? Schwer zu treffen werden sie nicht sein, meinte auch Langbogen, und unsere fremdländischen Freunde können ihnen von oben Steine auf den Kopf werfen. Ich glaube, für die Angreifer wird es nicht gerade ein Freudentag. Wie schade, bemitleidete Hase sie spöttisch. So endet dieser Krieg, nicht? Wir können den Sommer hier verbringen, doch im Herbst sind wir immer noch hier, und die Reste von ihnen sind noch dort unten. So kommt es mir auch vor, sagte Langbogen. Von weit unten ertönte ein donnernder Laut, der dem Brüllen eines verärgerten Stieres aus tiefer Kehle ähnelte, und die Horden des Vlagh kreischten schrill zur Antwort. Dann, fast wie eine Flutwelle, stürmte das feindliche Heer vorwärts. Feind an der Front, meldete Keselo laut, um die trogitischen Soldaten und die Maagpiraten in der Festung zu alarmieren. Die Maags und die Trogiten, die ihre alte Feindschaft begraben hatten, kamen zur vorderen Mauer und beobachteten den vergeblichen Angriff des Feindes. Langbogen schaute ebenfalls zu, während die feindlichen Truppen die breite Treppe heraufstürmten. Sollten deine Bogenschützen nicht den Befehl zum Schießen geben, Langbogen, fragte Keselo. Sie beobachten zunächst mal die Ereignisse, gab Langbogen zurück. Der Feind ist noch zu weit entfernt. Wir wollen unsere neuen Pfeile doch nicht verschwenden. Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr mich das freut, Langbogen, sagte Hase und lächelte verkniffen. Die feindlichen Angreifer stürmten weiter die Treppe herauf. Eigentümlicherweise hörte man keine Schreie oder Schlachtrufe. Das erschien Keselo sehr unnatürlich. Sie sind jetzt nah genug, meinte Langbogen. Er hob sein Hörn und blies einen langen, traurigen Ton. Eine Wolke von Pfeilen flog in hohem Bogen über die Treppe. Die Pfeile schienen für einen endlosen Moment in der Luft zu hängen, und Keselo entdeckte eine gewisse Schönheit in der perfekten Symmetrie des Bogens. Der Angriff geriet ins Stocken, als die vorderen Reihen leblos rückwärts in die nachfolgenden Krieger taumelten. Hase kicherte. Ich glaube, für heute ist ihnen bestimmt der Spaß vergangen, sagte er, und dabei ist die Sonne gerade erst über den Horizont geklettert. Langbogen dagegen runzelte leicht verwirrt die Stirn. Irgendetwas stimmt da nicht, sagte er. Sie sind zu Tausenden auf die Treppe zugelaufen, aber nur Hunderte kommen herauf. Wo sind die anderen? Hase schaute hinunter zum unteren Ende der Treppe. Es sieht in der Tat seltsam aus, räumte er ein. Von hier oben ist es schwierig zu erkennen, aber es sieht so aus, als würde mehr als die Hälfte dieser Armee verschwinden, wenn sie die Treppe erreicht. Wohin laufen die Übrigen? Eine kalte Gewissheit machte sich in Keselo breit. Könnte die Treppe ein Ablenkungsmanöver sein, meinte er. Ein was, wollte Hase wissen. Etwas, das unsere Aufmerksamkeit von dem eigentlichen Angriff ablenken soll, erklärte Keselo. 302 303
Aber wo wollen sie denn den eigentlichen Angriff machen, fragte Hase. Sie sind dort unten, und wir sind hier oben. Sie müssen die Treppe herauf, um zu uns zu gelangen. Soweit ich es beurteilen kann, verschwinden die meisten gegnerischen Soldaten allerdings tatsächlich, sobald sie das untere Ende der Treppe erreichen. Sie wirbeln eine Menge Staub auf dort unten, doch das sollte ihre Zahl nicht vermindern. Rülpser, grübelte Keselo laut, mehr an sich selbst gewandt, als er sich an Rotbarts witzige Beschreibung erinnerte. Ich kann dir nicht folgen, meinte Hase und zog ein verwundertes Gesicht. Vor einigen Tagen hat mir Rotbart etwas erzählt, erklärte Keselo. Ich habe ihn nach den alten Ruinen gefragt, die wir an den Seitenwänden der Schlucht gesehen haben, und er hat erwähnt, dass es einige Höhlen in diesen Bergen gibt. Wenn er Recht hat, ist es nicht möglich, dass die Geschöpfe des Ödlands versuchen, die Schlucht von Lattash durch diese Höhlen und nicht durch die Kluft hier oben zu erreichen? Was hat das mit dem zu tun, was dort unten an der Treppe vor sich geht, Keselo? Sagen wir mal, es gäbe einen Höhleneingang irgendwo an diesem Hang, fuhr Keselo fort, oder vielleicht sogar ganz unten. Und nehmen wir weiter an, die Höhle zieht sich durch die Berge zu einer Stelle weiter unten in der Schlucht. Wenn der Feind diese Höhle vor uns verbergen wollte, wäre diese Treppe die perfekte Tarnung. Zuerst haben sie einen Gang gebaut, der zu der Höhle führt, und dann haben sie die Treppe genau darüber errichtet. Keselo, du redest von Dingen, die zu bauen Hunderte von Jahren gedauert hätte, spottete Hase. Lass ihn fortfahren, Hase, mischte sich Langbogen ein. Zeit hat für die Geschöpfe des Ödlands keine Bedeutung, und diese Idee erklärt tatsächlich, was dort unten vor sich geht. Weiter, Keselo. 304
Gut. Die Treppe verbirgt den Gang - oder Tunnel -, der zu der Höhle führt. Die nächste Frage wäre also: Wohin
führt die Höhle? Er schnippte mit den Fingern. Natürlich! Sie geht geradewegs durch den Berg und kommt irgendwo in der Schlucht heraus - wo sich der Feind dann zwischen unserer Festung und Lattash befände. Vielleicht führt sie genau zu diesen alten Siedlungen, in denen niemand zu leben scheint, fragte Hase. Aber ja, rief Keselo. Rotbart erzählte mir, gelegentlich würde jemand von seinem Stamm neugierig und versuchen, diese Ruinen zu erkunden, doch diejenigen kehren nie zurück. Ich denke, wir sollten uns die Sache besser einmal anschauen, meinte Langbogen düster. Wo liegt die nächste dieser Ruinen? Rotbart sagte, nur ein paar Meilen abwärts auf der Nordseite der Schlucht, antwortete Keselo. Er sagte auch, am Rande der Schlucht stehe ein toter Baum, den man vom Talgrund auf der Nordseite ebenfalls sehen könne. Hase und ich haben mehrere Siedlungen auf der Südseite gesehen, als wir die Schlucht hinaufmarschiert sind, doch sind sie offensichtlich so angelegt, dass man sie nicht entdecken kann, wenn man sich genau unter ihnen befindet. Ich denke, das sollten wir uns wirklich schnellstens mal anschauen, sagte Langbogen. Es sind ein paar interessante Gedankengänge und doch nur Vermutungen. Überprüfen wir lieber, ob wir etwas finden, das unseren Verdacht bestätigt. Seine Miene war düster, und seine Stimme klang ernst. Hat Rotbart dir irgendeinen Hinweis darauf gegeben, wie verzweigt diese Höhlen sein könnten, fragte Langbogen Keselo, während sie die nördliche Felsbank hinuntereilten. Er hat mir nicht sehr viele Einzelheiten erzählt, erwiderte Keselo. Ich hatte das Gefühl, er ist nicht neugierig genug, um diese 305
Höhlen zu erkunden - oder vielleicht machen ihn Höhlen auch nervös. Zudem habe ich gehört, manche Menschen haben Probleme mit engen Räumen. Aus dem, was er gesagt hat, habe ich den Eindruck gewonnen, die Höhlen müssten ziemlich groß sein. Angesichts dessen, was wir bisher gesehen haben, würde ich sagen, es besteht durchaus die Möglichkeit, dass der Feind die unterirdischen Anlagen tatsächlich benutzt, um hinter unsere Linien zu schlüpfen. Dann könnte er uns hier oben festsetzen. Nun, eine stattliche Anzahl unserer Feinde ist am unteren Ende der Treppe verschwunden, das ist im Augenblick alles, was wir sicher wissen, antwortete Langbogen. Diese Ruinen sind eine Möglichkeit. Vielleicht fallen uns noch andere ein, aber zunächst müssen wir diese Möglichkeit ausschließen. Keselo zeigte zum oberen Rand der Schlucht. Ich glaube, das dort vorne könnte der tote Baum sein, von dem mir Rotbart erzählt hat. Wartet, meinte Langbogen. Wenn dort tatsächlich Feinde in der Ruine sind, wollen wir schließlich nicht genau vor ihrer Nase hochsteigen. Die Wand der Schlucht war steil, doch nicht eine so schiere Felswand wie jene am Rand des Ödlands. Langsam kletterten sie hinauf und achteten darauf, keinen Lärm zu verursachen, der jemanden - oder etwas - in den alten Steinruinen warnen könnte. So stiegen sie weiter, bis sie sich nur noch ein kurzes Stück von dem überhängenden Fels oberhalb der Siedlung befanden. Langbogen hielt an und suchte. Dort, flüsterte er und zeigte auf einen Grasbewachsenen Hügel zwischen ihnen und der alten Ruine. Wenn wir vorsichtig sind, finden wir im hohen Gras Deckung und verraten unsere Anwesenheit nicht. Sie kletterten auf die Rückseite des kleinen Hügels, und als sie sich der Spitze näherten, gab Keselo den anderen ein Zeichen und krabbelte durch das Gras, bis er die Ruinen sehen konnte. Gleich darauf kehrte er zu Hase und Langbogen zurück. Wir sind ein wenig oberhalb und seitlich von der Siedlung, flüsterte er. Wenn dort irgendjemand ist, sollten wir ihn sehen können, sobald er ins Freie tritt. Gehen wir, flüsterte Langbogen zurück. Falls unsere Vermutung richtig ist, wird es nicht lange dauern, bis so viele Feinde in den Ruinen sind, dass sie sich nicht mehr verborgen halten können. Sie krochen durch das raschelnde Gras voran und konnten bald den größten Teil der Siedlung unter sich einsehen. Sieht fast aus wie eine Festung und nicht wie ein harmloses Dorf, nicht wahr, gab Hase leise zu bedenken. Die vordere Mauer ist sehr glatt - abgesehen von den Stellen, wo sie eingestürzt und den Hang hinuntergerollt ist. Vielleicht war es mal eine Festung, und ein Teil der Mauer wurde während eines Krieges zerstört. Er runzelte die Stirn. Aber wenn diese Mauer aus massivem Stein bestand, wie sind die Bewohner dann hinunter zum Fluss gekommen, um Wasser zu holen? Wenn mein Verdacht, was diese Festung tatsächlich ist, auch nur ungefähr der Wahrheit entspricht, hat hier niemand je gelebt, sagte Keselo. Der einzige Zweck ist die Tarnung des Höhleneingangs. Rotbart sagte, die Dhralls meiden diese Ruinen, weil sie glauben, diese Orte seien verflucht - oder es würde dort spuken. Wenn es niemals eine richtige Siedlung war, brauchte man dort kein Wasser und auch keine ebenen Felder, um Pflanzen anzubauen. Dann bemerkte Keselo eine Bewegung in der Ruine. Dort, flüsterte er. Drüben auf der Westseite. Die drei beobachteten, wie immer mehr und mehr Gestalten verstohlen aus dem Schatten im hinteren Teil der Ruine kamen. Die Gestalten trugen Kapuzenmäntel, und sie waren sehr klein, und manche bewegten sich ungeschickt und halb gebeugt, als wäre es für sie ungewohnt, aufrecht zu gehen. Dann brüllte eines dieser Wesen einen Befehl mit einer schnarrenden Stimme, die Keselo 306
307
frösteln ließ. Die Gestalten in ihren Kapuzenmänteln blieben stehen, und vier stellten sich auf eines der verfallenen Gebäude. Diejenige, die gesprochen hatte, schob sich die Kapuze mit etwas zurück, das wie die Schere eines Krebses aussah. Das Gesicht war oben rund, zwei wedelnde Auswüchse sprossen aus der Stirn, und die Augen wölbten sich vor. Das ist ein Insekt, zischte Hase. So scheint es, erwiderte Langbogen angespannt. Ein weiterer dieser winzigen Feinde schob die Kapuze zurück und enthüllte ein bleiches menschliches Gesicht, und dieser unterhielt sich ausgiebig mit dem Insekt. Ein dritter Feind gesellte sich zu ihnen, und dieser hatte eine züngelnde, gespaltene Zunge und schuppige Haut. Letzterer hatte pelzartigen Haarwuchs, lange scharfe Zähne und war nicht viel größer als ein Hund. Was für eine Armee ist das, wollte Keselo in heiserem Ton wissen. Insekten, Schlangen, Tiere und Menschen vermischt, und sie reden miteinander? Anscheinend enthalten einige der alten Geschichten mehr Wahrheit, als ich bislang glauben wollte, grübelte Langbogen. Das kann ja ein interessanter Krieg werden. Immer mehr dieser Geschöpfe drängten aus dem Schatten hinter den Ruinen, bis es in der ganzen Siedlung von ihnen wimmelte. Ich glaube, du hattest Recht, Keselo, sagte Hase düster. Diese Dinger kommen offensichtlich hinten aus der Höhle heraus. In den Ruinen gibt es nicht genug Platz für alle. Sollten wir nicht besser zurückkehren, um Sorgan und Narasan zu warnen? Augenblick noch, erwiderte Langbogen, betrachtete die Ruine und den Hang in der Umgebung. Das wäre wohl eine Möglichkeit, murmelte er dann nachdenklich. Was wäre eine Möglichkeit? Wir wissen, dass der Feind hier in der Schlucht ist, und wir wissen außerdem, dass er sich in diesen angeblichen Siedlungen ver308
steckt. Wir können ihn hier angreifen, ehe er uns angreift, und ihn lange genug in den Ruinen festhalten, bis die Armeen unserer Freunde diese Stelle in der Schlucht passiert haben - entweder unten oder oben am Rand entlang. Sorgan und Narasan müssen ihre Festung aufgeben und sich zurückziehen. Wenn sie noch länger dort oben bleiben, ist ihr Schicksal besiegelt.
26 Sie stiegen vorsichtig hinunter zur nördlichen Felsbank und rannten dann zurück zur Kluft. Keselo und Hase schnauften, als sie die trogitische Festung erreichten, doch Langbogen atmete nicht einmal angestrengt. Schinkenpranke stand nahe an der hinteren Mauer. Wo habt ihr drei denn gesteckt, wollte er wissen. Ich habe schon überall nach euch gesucht. Der Käpt'n will euch sehen. Wo ist er, fragte Langbogen. Oben, antwortete Schinkenpranke und deutete auf die Festung. Der Bruder der werten Dame Zelana hat vorbeigeschaut, und er möchte mit euch sprechen. Das könnte die Sache ein wenig vereinfachen, sagte Hase. Wir haben gerade ein paar Dinge beobachtet, die vielleicht schwierig zu erklären sind. Welcher Bruder ist es? Der jüngere. Du solltest besser hochgehen, Hase. Der Käpt'n ist im Augenblick nicht sehr ... äääh ... glücklich, was deine Person anbelangt. Ich denke, wir haben etwas gesehen, das ihn noch viel unglücklicher machen wird, sagte Hase, während er Langbogen und Keselo zur Festungsmauer folgte, auf der Hakenschnabel mit Narasan und Zelanas Bruder Veltan stand. 309
Wo hast du gesteckt, Hase, wollte Sorgan sogleich wissen. Keselo und ich haben auf dem Weg durch die Schlucht hierher etwas Eigenartiges gesehen, Käpt'n, erklärte Hase. Wir haben es Langbogen erzählt, und dann haben wir uns eben die Sache genauer angeschaut. Ich glaube, das wird dir ganz und gar nicht gefallen, Käpt'n. Was habt ihr gesehen, Keselo, erkundigte sich Kommandant Narasan. Hinter uns befindet sich eine feindliche Armee, Herr, berichtete Keselo. Anscheinend dienen diejenigen, die die Treppe heraufstürmen, tatsächlich nur der Ablenkung. Die Hauptstreitmacht ist schon hinter uns. Was sagst du da, Keselo, fragte Sorgan. Wir haben auf unserem Weg nach oben keinen einzigen Schlangenmenschen gesehen. Äh - darf ich vielleicht auch eine Frage stellen, Kapitän, mischte sich nun Veltan ein. Was hat dich zu diesem Schluss geführt, Keselo? Als der Feind heute Morgen angriff, fiel Langbogen sogleich auf, dass mehr als die Hälfte der feindlichen Soldaten einfach verschwinden, wenn sie das untere Ende der Treppe erreichen, erklärte Keselo. Das ergab keinen Sinn, bis mir etwas einfiel, das Rotbart mir kürzlich über weitläufige Höhlen unter diesen Bergen erzählt hatte. Langbogen, Hase und ich zählten eins und eins zusammen, und schließlich fanden wir eine Antwort, die
keinem von uns besonders behagte: Diese Treppe dient allein als Ablenkungsmanöver. Ein Teil der Feinde greift uns über die Treppe an, doch der größte Teil verschwindet plötzlich, wenn er die Treppe erreicht. Sie müssen ja irgendwo bleiben, und die Höhlen scheinen die Antwort darauf zu sein. Wohin führen diese Höhlen, fragte Sorgan. Darauf wollte ich gerade zu sprechen kommen, Kapitän. Als wir die Schlucht hinaufmarschiert sind, haben Hase und ich einige 310 sehr alte Ruinen hoch oben in den Wänden der Schlucht bemerkt. Rotbart hat mir erzählt, dass die Menschen von Lattash diese Ruinen meiden, und zwar aufgrund eines alten Aberglaubens - der aber vermutlich auf Tatsachen gründet. Um es kurz zu machen: Langbogen, Hase und ich gingen zurück zur nächsten dieser Ruinen. Normalerweise hätten wir sie gar nicht gefunden, aber Rotbart hat mir gesagt, es gebe dort einen toten Baum, der über den Rand ragt, und die Siedlung befinde sich genau darunter. Plötzlich begann Veltan zu lachen. Was ist daran so lustig, fragte Narasan ihn. Andauernd kommt dieser tote Baum ins Spiel, antwortete Veltan. Als Dahlame und ich versuchten, die Lage dieser Schlucht herauszufinden, half uns ebenfalls dieser abgestorbene Baum. Offensichtlich hat sein Blitz ihn vor langer Zeit getroffen, und das hat Zelana fürchterlich verärgert. Tut mir Leid, Keselo. Fahre fort mit deiner Geschichte. Nun, jedenfalls, nahm Keselo den Faden wieder auf, haben wir uns im hohen Gras nahe der Ruine versteckt, und es hat nicht lange gedauert, da krochen die Feinde aus den Schatten. Ich würde sagen, der größere Teil der feindlichen Armee liegt schon in unserem Rücken, und sie könnten uns den Rückzug abschneiden. Wir sitzen hier oben in der Falle, und wenn wir versuchen, durch die Schlucht nach Lattash zurückzukehren, werden uns die feindlichen Soldaten, die in den alten Ruinen verborgen sind, ständig aus dem Hinterhalt angreifen. Hakenschnabel fluchte. Wir hätten über diese Höhlen Bescheid wissen müssen, Narasan. In der Höhle der werten Dame Zelana haben wir eine Menge Zeit totgeschlagen, während wir auf die Frühjahrsflut gewartet haben. Wenn es Höhlen unter einem Berg gibt, dann kann es auch welche unter anderen geben. Ich denke, wir haben uns reinlegen lassen. Der Feind war die ganze Zeit da, hat sich jedoch geduckt und uns durch die Schlucht ziehen las311 sen, bis wir oben waren, und jetzt hat er die Tür hinter uns zugeschlagen. Eine, aber durchaus nicht alle, warf Langbogen ein. Die Ränder der Schlucht sind an beiden Seiten noch offen, und dort oben stehen keine alten Siedlungen. Wir können um den Feind herumgehen und ihn in der Schlucht sitzen lassen, wo er auf uns wartet. Er kratzte sich die Wange und kniff die Augen nachdenklich zusammen. Auf der anderen Seite, fügte er hinzu, wenn euch dieses kluge Spiel, das der Gegner mit uns treibt, genauso ärgert wie mich, könnten wir ihm das Leben recht unangenehm machen. Rotbart weiß, wo all diese Ruinen liegen, also könnten wir Bogenschützen zu beiden Seiten einer jeden postieren. Wenn wir dann eine kleine Truppe auf jeder Felsbank hinunterschicken, wird der Feind wahrscheinlich sofort angreifen. Sobald er sich gezeigt hat, können die Bogenschützen ihm das Leben mit ein wenig Aufregung versüßen, meint ihr nicht auch? Nun, das ist eine interessante Möglichkeit, oder nicht, Sorgan, meinte Kommandant Narasan begeistert. Ich kann es gar nicht leiden, wenn mich der Feind zum Narren hält, und Langbogens Idee gibt uns die Gelegenheit, es dem Gegner heimzuzahlen. Allemal wesentlich besser, als hier oben zu sitzen und ausgehungert zu werden, stimmte Sorgan zu. Hier, hier, hier und hier, sagte Rotbart und tippte mit dem Finger auf mehrere Stellen auf dem Bild der Nordseite der Schlucht, einer Zeichnung, die Narasan sorgfältig nach der Skulptur in Zelanas Höhle angefertigt hatte. Die auf der Südseite sind hier, hier, hier und hier, fügte er hinzu und tippte wieder auf die Karte. Ich bin mir nicht sicher bei der einen, die in der Nähe der Flussbiegung ist. Die Seite der Schlucht ist offenbar vor langer Zeit eingestürzt, und dabei wurde das halbe Dorf mitgerissen. 312 Acht also, eventuell neun, fasste Kommandant Narasan zusammen. Bist du sicher, dass es nicht mehr sind, Rotbart? Ich jage jetzt schon seit mehr als zwanzig Jahren in dieser Schlucht, Kommandant, ich kenne sie sehr gut. Das ist ja nicht ganz so übel, wie ich dachte, sagte Hakenschnabel offensichtlich erleichtert. Er sah Langbogen an. Du sagst, du hättest eine Idee, wie man den Feind in den Ruinen festsetzen kann, damit wir ungestört davonlaufen können? Uns zurückziehen, Sorgan, berichtigte Narasan ihn pikiert. Man nennt es Rückzug. Aber es ist doch trotzdem das Gleiche, oder? Was für eine Idee war das, Langbogen? Eure Armeen sind auf diesen Felsbänken auf beiden Seiten der Schlucht heraufmarschiert, Hakenschnabel, antwortete Langbogen, und es scheint, dass diese Dorfnachbildungen, deren Lage uns Rotbart gerade gezeigt hat, an Stellen gebaut wurden, wo der Feind jeden beobachten kann, der sich in der Schlucht bewegt. Auf den Gedanken, dass jemand am oberen Rand entlangziehen könnte, ist anscheinend niemand gekommen. Die Felsbänke ermöglichen ein leichteres und angenehmeres Marschieren, aber Menschen können sich auch an den Rändern entlang bewegen, wenn es sein muss.
Du und dein Volk wisst darüber vermutlich mehr als wir, Langbogen, sagte Kommandant Narasan. Wir sind schließlich auf den Felsbänken heraufmarschiert. Und ich bin sicher, dass das Vlagh seine Meute in allen Ruinen an den Seiten der Schlucht postiert hatte, während ihr hinaufgezogen seid, fügte Langbogen hinzu. Nun, wenn eine stattliche Anzahl eurer Männer auf diesen Felsbänken die Schlucht hinunterzieht, würde der Feind glauben, eure Armeen wollten nach Lattash zurückkehren, und zwar auf der gleichen Route wie auf dem Hinweg zum Ende der Schlucht, nicht wahr? Klingt einleuchtend, räumte Narasan ein. 313 Diese falschen Siedlungen, die die Höhleneingänge tarnen, liegen unter Felssimsen, fuhr Langbogen fort, also konnten Kommandant Narasans Männer diejenigen auf ihrer Seite und Hakenschnabels Männer die auf ihrer nicht sehen, stimmt das? Ich glaube, ich begreife, worauf du hinaus willst, Langbogen, sagte Kommandant Narasan. Anscheinend hat der Feind, der diese Festungen gebaut hat, nicht erkannt, dass wir eine Möglichkeit finden könnten, über weite Entfernungen zu kommunizieren. Wenn meine Männer auf dem Südrand eine der feindlichen Festungen auf der Nordseite der Schlucht entdecken, können sie Keselo dies signalisieren, und Keselo mir, wenn Hakenschnabels Männer eine auf unserer Seite finden. Obwohl wir die Festungen nicht sehen können, wissen wir doch genau, wo sie sind. Richtig, bestätigte Langbogen. Als Hase, Keselo und ich nun an der Nordseite der Schlucht hinaufgestiegen sind, um uns die erste Ruine genauer anzuschauen, fanden wir eine Stelle, schräg über der Siedlung, von der aus wir fast die gesamte Anlage einsehen konnten, und ich habe eine ähnliche Stelle auf der anderen Seite bemerkt. Wenn wir dort, gut verborgen, Bogenschützen aufstellen, die warten, bis der Feind den Hang hinunterstürmt, um die Lockvogel-Armee auf der Felsbank anzugreifen, dann können unsere Schützen sie von hinten mit einem Pfeilhagel bedenken. Ein paar Feinde würden vielleicht unten auf der Felsbank ankommen, allerdings wohl tot, also machen sie uns nicht viele Probleme. Er hielt inne und zupfte sich nachdenklich am Ohrläppchen. Ich denke, wir sollten eine Anzahl Soldaten mit vergifteten Spießen zwischen den Bogenschützen und dem Feind in Stellung bringen, fügte er hinzu. Wir wollen schließlich nicht, dass der Feind die Männer behindert, während sie schießen. Dann, nachdem die Bogenschützen den größten Teil der Feinde niedergemacht haben, können wir von beiden Seiten in die Siedlung eindringen und den Rest erledigen. Danach reißen wir die vorgetäuschten Ruinen ein 314 und blockieren die Höhle, damit die Feinde, die sich noch darin aufhalten, nicht herauskommen und uns Schwierigkeiten bereiten können. Erinnere mich daran, mich niemals an einem Krieg zu beteiligen, bei dem ich auf der Seite deiner Gegner stehen würde, Langbogen, sagte Kommandant Narasan. Es ist wirklich nicht so schwierig, Hase, erklärte Keselo früh am folgenden Morgen, als die beiden ein gutes Stück vor Sorgans Armee oben am Nordrand der Schlucht entlangeilten. Es gibt ungefähr zwanzig Signale, und die meisten betreffen Gefahren der einen oder anderen Art. Wenn ich mit der Flagge über dem Kopf von einer Seite zur anderen winke, bedeutet das Gefahr. Das nächste Signal verrät dir dann, wo die Gefahr droht. Wenn ich auf meiner rechten Seite auf und ab winke, befindet sich der Feind rechts, wenn ich links winke, dann links. Klingt logisch, meinte Hase. Wenn ich möchte, dass meine Freunde dort stehen bleiben, wo sie sind, winke ich mit der Flagge auf Kniehöhe. Du musst die Bewegung ein bisschen übertreiben, wenn die Entfernung groß ist, denn über eine halbe Meile hinweg wird der andere Schwierigkeiten haben, dich zu sehen. Tagsüber ist das ja gut und schön, Keselo, wandte Hase ein, aber nach Sonnenuntergang ist es damit vorbei, oder? Keselo lachte. Eigentlich ist es nachts leichter. Wir nehmen Fackeln, wenn es dunkel ist, und die kann man sehr gut sehen. Bleib in meiner Nähe, Hase. Ich bin sicher, wir werden uns über die Schlucht hinweg Signale geben, und die übersetze ich dir dann. Ist es nicht gefährlich, diese Signale im Krieg einzusetzen, wollte Hase wissen. Ich meine, wenn die Signalgeber in jeder Armee genau wissen, was die Signale bedeuten, verrät man dann nicht Geheimnisse, die der Gegner nicht erfahren soll? 315 Das ist kein Problem, Hase. Es gibt zwar nur eine begrenzte Anzahl Signale, doch in jeder trogitischen Armee haben sie eine andere Bedeutung. Wenn ich einen feindlichen Soldaten winken sehe, habe ich keine Ahnung, was er sagt, und für gewöhnlich wechseln wir die Bedeutungen der Signale einmal in der Woche. Ihr Trogiten mögt es aber verzwickt. Dadurch wird das Leben interessanter, Hase. Wenn man alles wieder und wieder gleich macht, wird es doch nach einer Weile langweilig.
27 Ein sehr großer Maag stand neben dem weißen toten Baum, der sich, wie Keselo wusste, genau über dem Dorf des Feindes befand. Was machst du hier oben, Baumwipfel, fragte Hase den schlaksigen Seemann.
Der Käpt'n hat mir gesagt, ich soll vorauslaufen, antwortete Baumwipfel. Soll nach trogitischen Flaggenwinkern auf der anderen Seite der Schlucht Ausschau halten. Dort drüben ist gerade einer, und er winkt oben und unten und rechts und links. Vielleicht versteht dein junger Freund, was er uns sagen will. Keselo beschattete die Augen und spähte über die Schlucht. Er will uns sagen, dass die Ruinen direkt unter uns liegen, erklärte er. Das wussten wir bereits, sagte Hase. Der tote Baum ist ja hier. Ja, ist klar, meinte Keselo, der weiterhin über die Schlucht hinwegschaute, doch wir müssen wissen, wie weit sie sich ausdehnen. Er hob die Flagge und zeigte fragend nach Westen. Der Signalmann auf der anderen Seite der Schlucht wandte sich nach Westen und machte ein paar winkende Bewegungen. Keselo ging ein Stück nach Westen und behielt sein Gegenüber im Auge. Als der Signalmann auf dem Südrand mit seiner Flagge auf den Boden schlug, blieb Keselo stehen. Mach hier ein Zeichen, Hase, sagte er. Dann ging er zu dem toten Baum zurück und weiter nach Osten, bis der Signalmann ihm erneut Halt gebot. Mach hier auch ein Zeichen, Hase, sagte er. Anschließend nahm er die Flagge mehrmals hintereinander von einer Hand in die andere. Was soll das denn bedeuten, fragte Hase neugierig. Ich habe ihm gedankt, erklärte Keselo. Auf diese Weise lasse ich ihn wissen, dass ich seine Nachricht erhalten habe und bereit bin, wenn er mir noch etwas sagen will. Man kann doch mit dieser Flagge mehr sagen, als ich dachte, merkte Hase an. Das hängt davon ab, wer auf der anderen Seite ist, erwiderte Keselo. Der Mann dort drüben war mein Lehrer, Sergeant Grolt. Er ist ein wenig rau, aber wenn er dich unterrichtet, lernst du was. Ein paar Kopfnüsse fördern die Aufmerksamkeit. Kann ich mir vorstellen, sagte Hase. Da kommen Langbogen und der Käpt'n. Keselo drehte sich um und sah Bogenschützen und Piraten, die den Rand der Schlucht entlanggingen. Ist es hier, rief Hakenschnabel. Dies ist die Stelle, Herr, antwortete Keselo. Der Ostrand des Dorfes befindet sich unter dieser Markierung, der Westrand unterhalb der dort hinten. Bist du sicher? Der Mann auf der anderen Seite des Flusses ist es, und er kann die falsche Siedlung sehen. Sorgan ging zum Rand der Schlucht und schaute hinunter. Ich glaube, hier können wir nicht runter, Langbogen, sagte er. Zu steil, Wir müssen eine andere Stelle finden. 316 317 Langbogen nickte. Frag bitte den Mann drüben, Keselo, schlug er vor. Keselo hob die Flagge und gab mehrere Signale. Dann fügte er eine kreisförmige Bewegung hinzu. Was bedeutet das jetzt, fragte Hase. Es sagt ihm, dass ich eine Frage stelle, antwortete Keselo. Mein Lehrer drüben hat das Zeichen selbst erfunden, und ich versuche es immer wenigstens einmal während einer Unterhaltung anzuwenden. Es kostet mich nichts, und er freut sich darüber. Keselo beobachtete aufmerksam die Signale von Sergeant Grolt. Er meint, hundert Schritte nach Osten gibt es eine Stelle, wo wir hinuntersteigen können, Kapitän Hakenschnabel, übersetzte Keselo. Er sagt, dort sollten wir unsere Positionen einnehmen können, ohne uns dem Feind zu verraten. Warum gehst du nicht zu der westlichen Markierung und fragst ihn, ob er dort auch einen Weg für unsere Männer sieht, schlug Hakenschnabel vor. Richtig, stimmte Keselo zu. Hase, sagte Hakenschnabel dann, geh ein Stück den Rand zurück und steig dann runter zur Felsbank. Sag Ochs, er möge anhalten. Schließlich soll er nicht auftauchen, ehe wir unsere Positionen eingenommen haben. Dann kommst du zu mir zurück. Ich brauche dich bei uns. Aye, Käpt'n, meinte Hase. Der Pirat Hakenschnabel führte seine Männer durch ein schmales Bachbett, dem auch Langbogen und seine Bogenschützen folgten, um die Stelle zu erreichen, die der Signalmann auf der anderen Seite der Schlucht für sie ausgewählt hatte. Keselo blieb dicht bei Hakenschnabel und beobachtete Sergeant Grolt aufmerksam, falls dieser weitere Anweisungen geben würde. Während er ging, erkannte er, dass der Begriff Pirat in dieser Situation eigentlich nicht richtig zu318 traf, doch im Laufe seiner Kindheit und seiner Jahre in Kommandant Narasans Armee hatte er das Wort Pirat immer nur in Bezug auf die Maags gehört. Hakenschnabel mochte ein rauer Kerl sein, da gab es kein Vertun, doch er sorgte für seine Männer und tat für sie alles, was in seiner Macht stand. Dadurch zeichnete sich ein wahrer Anführer aus, wie Kommandant Narasan immer betonte. Halten wir hier an, sagte Sorgan leise. Zunächst soll Langbogen seine Leute in Stellung bringen. Dann suchen wir uns einen guten Platz, wo wir sie beschützen können. Unsere Aufgabe besteht darin, die feindlichen Soldaten von den Bogenschützen fern zu halten, da sie diejenigen sind, die den Großteil des Tötens übernehmen -
zumindest am Anfang. Keselo, ich möchte, dass du, Hase und Langbogen ununterbrochen in Kontakt bleibt. Wir werden Nachrichten zwischen verschiedenen Gruppen hier austauschen, und auch bestimmt mit Narasans Flaggenmann auf der anderen Seite. Daher solltet ihr drei möglichst dicht zusammen sein, wo ich euch rasch finden kann. Schinkenpranke hat den Befehl auf der anderen Seite der Festung, und wir sollten zur gleichen Zeit mit dem Schießen beginnen. Wenn hier alles fertig ist, gebe ich euch Bescheid, und du kannst unserem Freund drüben zuwinken. Irgendwer wird dann für Ochs ins Hörn stoßen. Narasan und ich haben das abgemacht, ehe wir aufgebrochen sind. Auf dieser Seite soll es keine Hornsignale geben, ehe wir angreifen. Wenn Ochs das Hörn hört, wird er die Felsbank hinuntermarschieren, als würde er nichts ahnen. Daraufhin müsste der Feind angreifen. Wir lassen Langbogen entscheiden, wann er mit dem Pfeilhagel beginnt, und wenn dein Freund auf der anderen Seite der Schlucht sieht, dass der Feind uns hier oben angreift, kann er dir ein Signal geben, und wir werden bereit sein. Hast du alles verstanden? Aye, Käpt'n, sagte Keselo und ahmte damit recht gut die Antwort nach, die Hase für gewöhnlich auf Hakenschnabels Befehle 319 Sorgan schenkte ihm ein kurzes Grinsen. Alle schienen am meisten Angst vor den giftigen Zähnen der Diener von Das-man-Vlagh-nennt zu haben. Ihre langen vergifteten Spieße boten fast den perfekten Schutz, und die wachsende Erkenntnis der äußerst begrenzten Intelligenz, über die die giftigen Geschöpfe des Ödlands verfügten, verschaffte ihnen wachsende Zuversicht, dass dieser Krieg leicht zu gewinnen sei. Keselo zweifelte daran jedoch. Er war fast sicher, dass noch einige unangenehme Überraschungen auf sie warteten. Keselo und Hase liefen los, um sich zu Langbogen an der Spitze der dhrallischen Bogenschützen zu gesellen, die leise durch das trockene Bachbett schlichen, und es dauerte nicht lange, bis der Flaggenmann auf der anderen Seite der Schlucht eine scharfe Bewegung mit seiner Flagge machte. Dies ist die Stelle, Langbogen, flüsterte Keselo. Langbogen gab das Zeichen zum Anhalten und kletterte dann geräuschlos das Ufer des Baches hinauf, um nachzuschauen. Kurz darauf kam er wieder herunter. Die Stelle kenne ich, murmelte er. Hier sind wir schon einmal gewesen. Du meinst, hier haben wir sie letztes Mal beobachtet, fragte Hase leise. Langbogen nickte. Ich bringe meine Bogenschützen auf die Rückseite der Erhebung östlich vom Bach, wo wir die feindliche Stellung einsehen können, und Sorgan und seine Männer können sich hier im Bachbett verstecken. Das hohe Gras auf dem Hügel müsste meine Schützen verbergen, und Sorgans Männer bleiben hier. Wir werden nicht zu sehen sein - bis Ochs durch die Schlucht kommt. Dann wird der Feind mehr von uns zu sehen bekommen, als ihm lieb ist. Gehen wir in Position, fügte er hinzu. Wir haben noch einiges zu tun. 320 Auf der anderen Seite der Schlucht ertönte ein Hörn und erteilte Ochs den Befehl, loszumarschieren, und Sorgan führte seine Männer weiter in das ausgetrocknete Bachbett hinein. Hier ist die Stelle, sagte Hase leise. Langbogens Schützen sind hinter dem Hügel dort, und wenn Ochs dort auf der Felsbank in Sicht kommt, werden die feindlichen Truppen vermutlich den Hang hinunterstürmen, um alle dort unten zu töten. Ich glaube, sie werden nicht weit kommen, bis Langbogens Pfeile auf sie niederhageln. Dann werden sie all die Bogenschützen auf der Erhebung sehen, ihre Meinung ändern und vermutlich versuchen, Langbogen anstelle von Ochs anzugreifen. An dem Punkt sind wir dran. Dieses Bachbett liegt zwischen dem Feind und Langbogens Schützen, also muss der Gegner an uns vorbei, ehe er sich Langbogen holen kann. Sorgan grunzte und schaute das Bachbett hinunter. Das ist eine gute Stellung, bemerkte er. Dein Freund auf der anderen Seite hat ein gutes Auge für solche Dinge, Keselo. Sergeant Grolt ist ein erfahrener Veteran, Kapitän, antwortete Keselo. Er hat schon mehr Kriege hinter sich gebracht, als er zählen kann. Sorgan winkte seine Männer zu sich. Macht keinen Lärm, sagte er zu einem der stämmigen Kapitäne, die die vorderen Abteilungen führten. Die feindliche Festung liegt westlich, nicht weit von hier, und sie sollen uns nicht bemerken. Ich weiß, was ich zu tun hab, Hakenschnabel, erwiderte der Maag. Du brauchst mich nicht an der Hand zu nehmen. Dann geh und erledige, was du tun sollst, und steh mir nicht im Weg, sagte Sorgan. Keselo unterdrückte den plötzlichen Drang zu lachen. Militärisch höfliche Umgangsformen schienen den Maags vollkommen fremd zu sein. Ich glaube, ihr zwei solltet irgendwo stehen, wo ihr ein wenig besser sehen könnt, schlug Sorgan vor. Du musst deinen Freund 321 auf der anderen Seite der Schlucht sehen, Keselo; und Hase muss den Angriff des Feindes beobachten. Sobald die Angreifer ihre Stoßrichtung ändern, will ich Bescheid wissen. Aye, Käpt'n, erwiderte Hase und schaute hinüber zu Langbogens Hügel. Dort, denke ich, sagte er und zeigte auf einen Felsvorsprung ungefähr den halben Weg hügelaufwärts. Das hohe Gras und die Felsen müssten uns
verbergen, trotzdem können wir alles sehen, und außerdem sind wir dort in Rufweite. Sorgan zuckte mit den Schultern. Wie immer es am besten klappt, sagte er. Hase führte Keselo ein Stück im Bachbett zurück, bis der Felsüberhang, der über der feindlichen Festung hervorragte, sie verbarg, dann krochen die zwei durch das hohe Gras zur Seite des Hügels, wo sie zu einem Punkt genau in der Mitte zwischen Sorgan und Langbogen gelangten. Was meinst du, flüsterte Hase Keselo zu. Kannst du von hier alles überblicken? Keselo hob den Kopf langsam aus dem Gras. Sieht gut aus, antwortete er, Wenn ich Signale geben muss, schleiche ich um den Felsen, bis ich außer Sicht des Feindes bin. Dann ist es die richtige Stelle, sagte Hase. Jetzt heißt es abwarten. Was gibt es sonst Neues, fragte Keselo. Der Fluss unten in der Schlucht machte kurz vor der feindlichen Festung eine Biegung, die vielleicht mit der Lage der Dorfimitation zu tun hatte. Ochs marschierte auf der nördlichen Felsbank um diesen Knick, und Keselo fiel auf, dass die Maags in seiner Truppe vermutlich die längsten Kerle in Sorgans Armee waren und mit zwanzig Fuß langen Spießen ausgerüstet waren. Das entbehrte nicht einer gewissen Logik, doch Keselo war sich nicht sicher, ob die Diener des Vlagh die Größe der Männer überhaupt wahrnehmen würden, wenn man ihnen den Angriff befahl. 322
Er warf rasch einen Blick zu der Festung, doch war dort niemand zu sehen. Ganz bestimmt beobachteten sie die Schlucht, doch im Augenblick rührten sie sich noch nicht. Was hält sie zurück, fragte Hase angespannt. Vermutlich warten sie, bis mehr Maags genau unter ihnen sind, antwortete Keselo. Sie wollen möglichst wenige von Hakenschnabels Soldaten entkommen lassen. Dann bemerkte Keselo eine Bewegung im Schatten unter dem vorspringenden Felsen, der die Festung verbarg. Ich glaube, sie kommen. Nun, ist ja auch Zeit, gab Hase zurück. Ein donnerndes Gebrüll ertönte in den Schatten im Hintergrund der Festung, und eine Horde kleiner feindlicher Krieger mit Kapuze preschte vor, verteilte sich in der alten Ruine und strömte durch die Breschen in der vorderen Mauer auf den steilen Hang. Langbogen, rief Hase. Ich sehe sie, erwiderte Langbogen und erhob sich. Schieß doch! Noch nicht. Erst müssen so viele wie möglich im offenen Gelände sein. Hase murmelte einen Fluch. Das macht er jedes Mal, beschwerte er sich bei Keselo. Manchmal denke ich, in seinen Adern fließt Eiswasser anstelle von Blut. Langbogen wartete und beobachtete aufmerksam den Angriff der Wesen in den Kapuzenmänteln. Das sollte genügen, sagte er und setzte das geschwungene Hörn an die Lippen. Der Ton seines Horns hatte etwas Heiteres an sich, als er von der gegenüberliegenden Seite der Schlucht zurückhallte. Dann hoben die Bogenschützen, beinahe wie ein Mann, die Bögen, zogen die Sehnen zurück und warteten, bis das Echo von Langbogens Hörn in der Schlucht verhallt war. Daraufhin blies Langbogen einen schärferen Ton, und die Bo323
genschützen ließen alle zugleich die Pfeile los. Der Schwärm stieg auf und traf sich mit dem Schwärm, der von Schinkenprankes Position auf der anderen Seite des Dorfes hochflog. Dann senkten sich die Pfeile auf die Feinde, und ein lauter Seufzer erhob sich aus der Schlucht, als Hunderte von Gegnern in Kapuzenmänteln ihren letzten Atemzug taten und schlaff den steilen Hang hinunterrollten. Langbogens Schützen verschossen Pfeile zu Hunderten, schössen so schnell sie konnten, und die Dhralls auf Schinkenprankes Seite taten es ihnen Pfeil um Pfeil gleich. Der tödliche Hagel, der auf den Hang niederging, verringerte die Zahl der feindlichen Truppen mehr und mehr, und soweit Keselo erkennen konnte, gab es fast keine Überlebenden. Dennoch stürmten die Feinde weiterhin aus ihrem Unterschlupf, und sie zögerten nicht einmal, sondern setzten ihren Angriff durch den Pfeilhagel unbeirrt fort. Das ist dumm, rief Hase. Haben die denn gar keinen Verstand? Anscheinend nicht, meinte Keselo. Ich glaube, darauf wollte der alte Schamane in Zelanas Höhle hinaus, Hase. Diese Gegner sind keine richtigen Menschen, deshalb kennen sie das Gefühl Angst nicht. Selbst wenn nur einer von ihnen überlebt, wird er weiter angreifen. Auf diese Weise verliert man recht schnell eine ganze Armee, sagte Hase. Hoffentlich haben wir genug Pfeile gemacht. Das ist die andere Sache, die mich verblüfft, fuhr Keselo fort. Anscheinend begreifen sie nicht, wie die Dhralls sie töten. Sie kennen unsere Waffen nicht und können nicht einschätzen, wie gefährlich sie sind. Hase grinste. Wie heißt doch das alte Sprichwort: Ein dummer Feind ist ein Geschenk der Götter. 324 Der sinnlose Angriff dauerte gut eine Stunde an, aber dann ertönte eine hohl klingende Stimme aus dem Schatten
unter dem Felsüberhang. Plötzlich fuhren die Angreifer herum und stürmten den Hang hinauf auf Langbogens Hügel und, wie Keselo annahm, auch auf Schinkenprankes Stellung zu. Offensichtlich ist endlich jemand aufgewacht, kommentierte Hase dies. Langbogens Schützen stellten sich darauf ein und schickten einen weiteren Pfeilschwarm auf die heranstürmenden Feinde ab, und die Toten stapelten sich wie Reihen frisch gemähten Weizens. Dessen ungeachtet setzten die Diener des Vlagh ihren Angriff fort, doch nur die wenigsten erreichten überhaupt das ausgetrocknete Bachbett, wo sich Hakenschnabels Maags verbargen. Diese Maags sprangen auf und wehrten sich mit ihren langen vergifteten Spießen. Der hirnlose Angriff dauerte vielleicht eine Viertelstunde, da bemerkte Keselo, dass immer weniger Feinde aus den Ruinen kamen. Ich würde sagen, ihm gehen die Leute aus, sagte Keselo und grinste. Wie schade, meinte Hase feixend. Das ist unmöglich, rief Langbogen plötzlich. Es sind nicht mehr viele übrig, Langbogen, sagte Keselo. Das Vlagh hat vielleicht noch mehr Krieger, aber die sind wohl im Ödland. Darauf wollte ich nicht hinaus, sagte Langbogen knapp. Da unten - kurz über der Felsbank - eine der Kreaturen bewegt sich noch. Keselo beschattete die Augen und spähte den Hang hinunter. Ich sehe kein... Links neben diesem entwurzelten Baum, erklärte Langbogen. 325 Keselo bemerkte die Bewegung und sah dann eins der Geschöpfe mit Kapuze, das langsam über die schlaffen Körper der Toten kroch. Hase starrte ebenfalls nach unten. Oh, da ist es, sagte der kleine Seemann. Vielleicht hat es ein Pfeil mit einer zu schwachen Dosis Gift getroffen. Das Gift wirkt, wie klein die Dosis auch ist, Hase, widersprach Langbogen. Möglicherweise hat es sich nur tot gestellt - und sich unter den Leichen versteckt, damit es hinter Ochs davonschleichen kann. Langbogen schüttelte den Kopf. Dazu sind sie nicht schlau genug. Dort ist noch so ein Kerl, entfuhr es Keselo. Ein wenig rechts von dem ersten. Anscheinend kriecht er geradewegs aus einer Art Loch im Berg. Und noch einer, zischte Hase. Sie kommen von überall her! Einer der Kapuze tragenden Schlangenmenschen stürzte plötzlich hinunter zur Felsbank, duckte sich unter den langen Spießen durch und biss einen der großen Maags. Der Seemann erstarrte und fiel, während die KapuzenKreatur den nächsten Maag mit dem Stachel am Unterarm stach. Halb drehte sich das Wesen um und brach dann zusammen, als ein stämmiger Maag ihm den Kopf mit einer schweren Streitaxt spaltete. Sie kommen dort unten überall aus dem Boden, schrie Hase. Langbogen schoss so schnell er konnte, doch immer mehr und mehr der Kapuzen-Wesen kamen aus ihren versteckten Löchern, rannten den Hang hinunter und bedrängten die verdutzten Maags auf der Felsbank. Diese Kreaturen, die Hakenschnabel als Schlangenmenschen bezeichnete, benahmen sich in der Tat wie Schlangen, sie krochen langsam in die Nähe der nördlichen Felsbank und schlugen dann so schnell zu, dass ihre nichts ahnenden Opfer keine Zeit hatten, zu reagieren oder sich zu verteidigen. Mit dem tödlichen Gift infiziert, schrien viele Maags auf und starben unter fürchterlichen Krämpfen, während die Schlangenmenschen wieder und wieder zuschlugen. Ochs brüllte Befehle, und seine Männer kamen wieder zu Verstand, formierten sich neu - zunächst in kurzen Reihen, wobei sie die Angreifer mit den langen Spießen abwehrten, dann in größeren Gruppen, die sich zielstrebig bewegten, um alle Diener des Vlagh auszumerzen. Inzwischen hatte Ochs jedoch die Hälfte seiner Männer verloren. Dann, als der stiernackige Ochs und seine Männer den letzten ihrer Angreifer erledigt hatten, ertönte wieder ein Brüllen aus dem Schatten im hinteren Teil der Ruine, und die Schlangenmenschen, die Sorgans Stellung angegriffen hatten, drehten sich abrupt um und rannten zurück in die falsche Siedlung. Sorgan, der vor Wut fast kein Wort herausbrachte, stürmte den Hang hinunter und fluchte bei jedem Schritt. Warum hast du uns nichts über diese verfluchten Maulwurfslöcher gesagt, schrie er Keselo an. Wir haben sie nicht gesehen, Kapitän Hakenschnabel, verteidigte sich Keselo. Sie waren ausgesprochen gut getarnt, und wir haben uns ganz auf das Dorf konzentriert. Wir glaubten, das wäre der Ort, an dem sich die Schlangenmenschen verstecken. Diese Löcher haben wir nicht bemerkt. Es ist mein Fehler, Sorgan, sagte Langbogen kurz angebunden. Die Anzeichen dafür waren da, und ich hätte sie entdecken müssen. So langsam gewöhnt man sich dran, nicht, meinte Hase. Zuerst finden wir eine Treppe, die eigentlich nirgendwohin führt, weil sie nur die Höhlen verbergen soll, die zu diesem vorgetäuschten Dorf führen, und jetzt finden wir heraus, dass auch das Dorf nicht so wichtig ist, weil die Schlangenmenschen ihren Hauptangriff aus 326 327
diesen Maulwurfslöchern geführt haben. Jedes Mal, wenn wir uns umdrehen, scheint uns das Vlagh zu überlisten. Um die Sache noch schlimmer zu machen, blieben sie einfach in ihren Löchern und ließen uns zum Ende der Schlucht ziehen, fügte Sorgan hinzu. Jetzt sitzen wir hier oben in der Falle, und die Schlangenmenschen stehen zwischen uns und dem Gebiet der werten Dame Zelana. Ich glaube, wir müssen uns unser Gold doch hart erarbeiten. Keselo, warum läufst du nicht nach oben und winkst mit deinen Fahnen? Ich muss mich mit Narasan beraten. Jetzt stecken wir in echten Schwierigkeiten. Meinst du, wir sollten sie verfolgen, Käpt'n, fragte Hase. Darin sehe ich nicht viel Sinn, antwortete Sorgan. Wie du schon gesagt hast, ist das Dorf nicht von so großer Bedeutung. Narasan und ich werden schon eine Idee bekommen, wie wir die Männer lebend durch die Schlucht zurückbringen, aber im Augenblick sieht die Sache nicht gerade viel versprechend aus. Keselo und Hase bewegten sich äußerst vorsichtig, während sie zum oberen Rand der Schlucht zurückkehrten, und machten um jede Vertiefung und jeden Fleck unbedeckten Bodens einen weiten Bogen. Die Geschwindigkeit, mit der die Schlangenmenschen unten die Maags angegriffen hatten, war höchst beängstigend, und Keselo und sein kleiner Freund waren deshalb ein wenig nervös. Sergeant Grolt stand auf dem Südrand der Schlucht, und sein erstes Signal war sehr kompliziert. Es sagte ungefähr Warum habt ihr nicht aufgepasst, doch vollführte er kleine Schwenker und Züge, die auf frisch erfundene Flüche hindeuteten. Die Tatsache, dass Kommandant Narasan neben ihm stand, zügelte die Wortgewalt des Sergeanten offensichtlich ein wenig. Keselo signalisierte Notfall und Beratung. Dann zeigte er mit der Flagge auf die Sohle der Schlucht. Vermutlich wäre das nicht notwendig gewesen, denn Kommandant Narasan hatte si328 cherlich mit angeschaut, was sich auf der nördlichen Felsbank ereignet hatte, und höchstwahrscheinlich wies er Sergeant Grolt an, den gleichen Vorschlag zu machen. Grolt antwortete mehrmals sofort, und dann rollte er die Flagge ein, um das Ende des Austausches zu verkünden. Und, fragte Hase. Der Kommandant war uns einen Schritt voraus, antwortete Keselo. Grolt hat Beratung fast noch vor mir signalisiert. Eilen wir zu Kapitän Sorgan zurück. Kommandant Narasan will sofort eine Besprechung mit ihm abhalten. Hoffentlich finden sie eine Lösung, sagte Hase, während sie wieder in das Bachbett stiegen. So wie die Dinge stehen, sitzen wir richtig in der Patsche. Du hast es erfasst, gab Keselo trocken zurück.
28 Sorgans Maags errichteten eifrig eine Barrikade entlang der vorderen Kante des trockenen Bachbetts, wo sie sich verborgen hielten, um die unter Langbogens Befehl stehenden Bogenschützen zu verteidigen. Dann haben die Männer etwas zu tun, sagte Sorgan entschuldigend. Ich weiß nicht, ob es viel nützen wird. Mit einem Feind, der mich aus der Erde heraus angreift, habe ich es noch nie zu tun gehabt. Was hatte Narasan mitzuteilen? Sergeant Grolt hat Beratung signalisiert, noch ehe ich die Falten aus meiner Flagge geschüttelt hatte, Kapitän, berichtete Keselo. Auch Kommandant Narasan ist demnach der Meinung, man müsse sich unterhalten. 329 Ich war ziemlich sicher, dass er die Sache ebenfalls so sieht. Wollen wir mal schauen, ob er eine Idee hat, wie wir aus dieser Bredouille herauskommen. Seid vorsichtig beim Gehen, fügte Langbogen hinzu. Fallt nicht in eins der verborgenen Löcher. Darauf werde ich besonders achten, gab Sorgan zurück. Die Vorsicht verlangte, sehr langsam zu gehen, und so war es bereits später Nachmittag, als sie die Felsbank erreichten, wo Ochs inzwischen seine Männer dazu abgestellt hatte, den zahlreichen toten Gegnern, die auf Haufen lagen, das Gift abzuzapfen. Ich habe dir gewissermaßen eine Idee gestohlen, gestand Ochs. Diese Idee, die du unten nahe Skells Befestigung hattest - mit den angespitzten, in Gift getunkten Pfählen -, die kam mir wieder in den Sinn, als ich sah, dass meine Leute hier ohne Schutz sind und keine Zeit haben, eine anständige Befestigungsanlage zu bauen. Ich hoffe, die Pfähle halten die Feinde wenigstens ein bisschen auf. Vergiftete Pfähle sind vielleicht eine gute Möglichkeit, es ihnen heimzuzahlen, stimmte Sorgan zu. Sag deinen Männern, sie sollen damit weitermachen, und dann kommst du besser mit uns mit. Narasan und ich treffen uns zur Beratung, und du warst am nächsten an diesen Maulwurfslöchern dran. Vermutlich kannst du uns sagen, wonach wir in Zukunft Ausschau halten müssen. Wir werden nicht sehr schnell vorwärts kommen, wenn wir jeden Zoll Boden mit unseren Spießen prüfen müssen. Das kannst du laut sagen, Käpt'n, meinte auch Ochs. Sie überquerten die mit Felsen übersäte Felsbank bis zu dem mit Büschen bewachsenen Hang, der hinunter zu dem schmalen Bach führte, denn größer war der Fluss hier oben in der Schlucht noch nicht. Plötzlich ertönte tief im Inneren der Erde ein tiefes Grollen, wie Keselo es nie zuvor gehört hatte, und darauf folgte ein scharfer Knall. Der Boden unter ihren Füßen schien zu beben.
330
Was war das, fragte Hase mit schriller Stimme. Langbogen ließ sich auf die Knie nieder und legte das Ohr auf die Erde. Als er sich wieder erhob, trug er ein breites Grinsen im Gesicht. Das Leben hält doch noch Überraschungen für unsere Feinde bereit, sagte er. Ich würde sagen, wir haben Hilfe bekommen. Ich kann dir nicht ganz folgen, Langbogen, meinte Keselo. Das war ein Erdbeben, erklärte Langbogen, kein sehr großes, vermutlich erst der Anfang. Ich könnte mir vorstellen, dass weitere folgen. Uns werden sie nicht viel ausmachen, denn wir sind im Freien. Die Geschöpfe des Ödlands stecken jedoch in Höhlen und Tunneln und Löchern, und es ist keine gute Idee, sich unter der Erde aufzuhalten, wenn sie bebt. Mischt sich Eleria da vielleicht wieder ein, fragte Keselo. Langbogen schüttelte den Kopf. Zelana hat nur wenig über die beiden gesagt, doch würde ich annehmen, Eleria und Lillabeth sind eher mit dem Wetter verbunden. Dies hat mit der Erde zu tun, also stecken wahrscheinlich Yaltar oder Ashad dahinter. Wovon redet ihr, wollte Hakenschnabel misstrauisch wissen. Wir bekommen offensichtlich Hilfe, Kapitän, antwortete Langbogen ausweichend. Ich nehme alle Hilfe, die ich kriegen kann, verkündete Sorgan. Gehen wir zu dem Bach. Ich muss mich mit Narasan unterhalten, und bald wird es dunkel. Schlangen sind tagsüber schon schlimm genug, doch der Gedanke, nachts gegen sie kämpfen zu müssen, jagt mir einen kalten Schauer über den Rücken. Sie wählten einen recht offenen Teil des Hangs, um den Bach zu erreichen, und sie bewegten sich vorsichtig voran. Sie stocherten mit Schwertern oder Spießen in jeden Busch, an dem sie vorbeikamen, doch scheuchten sie keinen einzigen Feind auf. Das erleichtert mich sehr, meinte Ochs, als sie an den Bach gelangten. Diese Schlangenmenschen machen mich richtig nervös. 331 Sorgan, rief Kommandant Narasan von der anderen Seite des Baches, was gibt es für eine Verzögerung? Wir treffen nur ein paar Vorkehrungen, Narasan, erklärte Sorgan. Er wandte sich an Langbogen. Haben die Schlangenmenschen je versucht zu schwimmen oder still unter Wasser zu lauern? Langbogen schüttelte den Kopf. Es sind Schlangen, Sorgan, keine Fische. Gut. Gehen wir hinüber, solange wir noch ein bisschen Licht haben. Dann hob er den Kopf. Deine Leute sollten lieber ein Feuer anmachen, Narasan - und zwar ein hübsch großes. Wir werden viel Licht brauchen, nachdem die Sonne untergegangen ist. Damit watete er durch den Bach und spritzte mit den Füßen viel Wasser auf. Von dort oben konnten wir nicht alles genau sehen, Sorgan, begann Kommandant Narasan, als sie sich an dem großen Feuer versammelt hatten, das Rotbart, Gunda und Jalkan angezündet hatten. Uns schien es so, als hätte sich eine Anzahl der Feinde tot gestellt, nachdem Langbogens Pfeilhagel begonnen hatte. Langbogen meint, dazu wären sie nicht schlau genug, sagte Hakenschnabel. Ochs war am nächsten dran. Erzähl ihm, was du beobachtet hast, Ochs. Aye, Käpt'n, erwiderte Ochs. Also, meine Männer und ich waren ziemlich froh, als Langbogen und seine Leute ihre Pfeile auf die Angreifer abschössen, die den Hügel herunter auf uns zustürmten, und wir dachten schon, der Sieg sei unser. Dann kroch plötzlich ein Haufen anderer Schlangenmenschen aus Maulwurfslöchern, die nur wenige Schritte von uns entfernt waren, und die fielen über uns her und bissen und stachen meine Männer, ehe irgendwer nur zweimal blinzeln konnte. Ich hatte die Hälfte meiner Leute verloren, bevor ich recht begriffen hatte, was los war, und die entsprechenden Befehle geben konnte. Dann gelang es uns, die Schlangenmenschen niederzumachen, aber es hat uns eine Menge guter Männer gekostet. Sie kriechen unter die Erde, fragte Gunda ungläubig. Das ist doch keine Art, Krieg zu führen. So etwas habe ich noch nie von Soldaten gehört. Es war ein schwerer Fehler, sie als Soldaten zu betrachten, sagte Langbogen. Soldaten - oder Krieger - arbeiten in Gruppen, die Geschöpfe des Ödlands hingegen denken nicht auf diese Weise. Sie greifen als Individuen an. Um wie ein gut ausgerüsteter Soldat zu kämpfen, sind sie nicht stark genug, aber sie brauchen nicht stark zu sein - sondern lediglich schnell. Am wichtigsten ist allerdings, dass sie ihrem Opfer nah sein müssen. Ohne den Vorteil der Überraschung ist ihnen jegliche Möglichkeit zum Sieg genommen. Du kennst die Gegend hier besser als wir anderen, Rotbart, stellte Sorgan fest. Gibt es in diesen Bergen Pässe, über die wir nach Lattash zurückkommen, ohne durch diese verfluchte Schlucht zu müssen? Rotbart schaute zu den Gipfeln hinauf. Ich glaube nicht, Hakenschnabel, sagte er zweifelnd. Es ist noch zu früh im Jahr. Es gibt zwar einige Pässe weiter oben in den Bergen, doch die sind verschneit. Damit haben wir die Antwort, meinte Sorgan verdrossen. Es sieht so aus, als müssten wir den ganzen Weg zurück nach Lattash durch Schlangen waten. Alles, was die Schlangenmenschen bislang getan haben, war mit Täuschung verbunden, grübelte Narasan laut. Zuerst die Treppe, die den Tunnel tarnte, und jetzt diese vorgetäuschten Dörfer, die für den eigentlichen Angriff nicht von großer Bedeutung waren. Es könnte also möglich sein, dass beide Seiten der Schlucht mit diesen Gängen durchlöchert sind. Demnach könnte uns alle fünf Fuß einer dieser Schlangenmenschen auflauern, gleichgültig, wohin wir gehen. Wir sitzen in einer tödlichen Falle. 332 333
Sich einzugraben ist ein natürliches Verhalten für eine Schlange, erklärte Langbogen. Dadurch schützt sie sich
vor dem Wetter, und gleichzeitig hat sie ein Versteck, aus dem sie zuschlagen kann. Es ist ihr Instinkt - und viel Intelligenz besitzt sie nicht. Wenn sie so schlicht sind, wie sind sie dann auf die Idee mit der Treppe und diesen Ruinendörfern gekommen, fragte Narasan. Ich gehe einmal davon aus, die Idee der Treppe und der Dörfer stammt von Das-man-Vlagh-nennt, mischte sich Rotbart ein. In gewisser Weise verhält er sich so ähnlich wie ein Fischer. Nur hängt es an seinen Angelhaken Treppen und falsche Dörfer. Und wir haben angebissen, fügte Hase hinzu. Wir müssen eine Möglichkeit finden, die Leine durchzureißen. Fällt denn niemandem etwas ein, wie wir die Schlangen aus ihren Löchern aufscheuchen können, wollte Gunda wissen. Wasser vielleicht oder Rauch? Das könnte eine Möglichkeit sein, stimmte Narasan zu. Rauch wäre vermutlich das Beste. Auch wenn es sie nicht umbringt, so würde es doch ihre Löcher verraten. Genau in diesem Moment gab es wieder ein tiefes Dröhnen im Inneren der Erde, und diesmal bebte der Boden heftiger als beim letzten Mal. Große Felsen, die durch das Erdbeben losgerissen wurden, rollten die Hänge herunter. Es gab einen plötzlichen ohrenbetäubenden Donnerschlag und ein kurzes, blendendes Licht - dann stand Veltan da. Er hatte die Augen weit aufgerissen, und sein Gesicht war totenbleich. Raus aus der Schlucht, schrie er. Ihr alle befindet euch in Gefahr. Was ist denn los, wollte Kommandant Narasan wissen. Beweg dich, Narasan, brüllte Veltan. Wenn ihr hier bleibt, müsst ihr alle sterben! Lauft. Und wenn ihr den Rand der Schlucht erreicht habt, zieht eure Männer mindestens fünf Meilen weit in die Berge zurück! Ihr steht genau auf dem gefährlichsten Punkt der Welt! Lauft, so schnell ihr könnt. 334
Unter der Erde ertönte abermals lautes Krachen, und erneut bebte der Boden, doch diesmal schwankte er so heftig, dass es unmöglich war, sich auf den Beinen zu halten. Dann ertönte im Osten ein ohrenbetäubender Lärm, der alles andere übertönte, und eine riesige Säule aus Rauch und Asche schoss meilenweit in den Himmel. Ein Feuerberg, rief Rotbart. Lauft! Er drehte sich um und rannte das Flussufer hinauf. Jetzt, sagte Langbogen unmissverständlich, ehe das Beben der Erde unter ihren Füßen nachließ. Lauft, bevor es wieder anfängt. Mit Hakenschnabel an der Spitze preschten sie spritzend durch den schmalen Fluss, während Kommandant Narasan und Rotbart auf das gegenüberliegende Ufer zueilten. Hase, sagte Sorgan laut, als sie das nördliche Ufer erreichten, klettere so schnell du kannst auf die Felsbank hinauf und sag Ochs' Männern, sie sollen die Wand der Schlucht hinaufklettern, bevor diese einstürzt und sie unter sich begräbt! Aye, Käpt'n, antwortete Hase und rannte bereits davon. Hakenschnabel, Keselo und Langbogen hatten gerade die nördliche Felsbank erreicht, als der Boden abermals heftig erzitterte. Langbogen schaute den Hang hinauf. Hier entlang, sagte er zu Hakenschnabel und Keselo und rannte auf einen großen Felsen zu, der aus der Mitte der Felsbank aufragte. Felsstücke rollten den Nordhang herunter und ergossen sich als donnernder Erdrutsch über die Felsbank. Die drei Männer drängten sich hinter den schützenden Felsblock und lauschten dem lauten Poltern der großen Steine, die auf der anderen Seite gegen ihren Schutz krachten. Worüber haben Veltan und Rotbart gesprochen, Langbogen, wollte Hakenschnabel wissen. Was ist ein Feuerberg? Ein Berg, der geschmolzenen Stein speit, erklärte Langbo335
gen. Ich habe schon einige im Land von Alter Bars Stamm gesehen. Steine schmelzen nicht, Langbogen, höhnte Sorgan. Wenn das Feuer unter ihnen heiß genug ist, schmelzen sie, widersprach Langbogen, und geschmolzener Stein fließt den Berg hinunter wie geschmolzenes Eis. Deshalb hat uns Veltan gedrängt, die Schlucht zu verlassen. Den Weg hinauf zum Rand der Schlucht brachten sie hinter sich, indem sie immer wieder von einer Deckung zur anderen rannten, wobei sie häufig Felsrutsche abwarten mussten, die von den Erdstößen ausgelöst wurden. Keselo war völlig außer Atem, als sie oben ankamen, und schnappte nach Luft. Bei den großen Göttern, keuchte Sorgan und starrte ungläubig nach Osten. Keselo drehte sich um und sah dunklen Rauch, der aus den Zwillingsbergen aufstieg, zwischen denen die Kluft lag. Dann erfolgte der nächste Erdstoß, und Flammen schössen aus den beiden Gipfeln wie aus einem doppelten Geysir hoch in den Himmel und gingen auf den Seiten der umstehenden Berge als geschmolzener Fels nieder. Lauft, brüllte Sorgan seinen Männern zu. Zurück von der Kante! Die Maags starrten wie gebannt auf das Geschehen am Ende der Schlucht. Ich habe gesagt: Lauft, brüllte Sorgan noch lauter. Lauft oder sterbt!
Keselo lehnte sich über den Rand und warf einen kurzen Blick auf die alte Ruine unter ihnen. Eine Feuerfontäne spritzte aus dem verborgenen Höhleneingang und fegte die Mauern und Türme weit hinaus über den Fluss. Der geschmolzene Stein lief den steilen 336 Hang hinunter, und eine riesige Dampfwolke stieg auf, als er das Wasser erreichte. Wie der Blitz drehte Keselo sich um und rannte so schnell er konnte auf den nächsten Berg zu. Die Erdstöße dauerten den Rest des Tages und die ganze Nacht an. Hakenschnabels Armee sammelte sich zum Teil am steilen Nordhang eines benachbarten Berges in der Hoffnung, hier Schutz vor dem geschmolzenen Gestein zu finden, das die Zwillingsgipfel am Ende der Schlucht spien. Gegen Morgen kam Ochs, der auf die Suche nach versprengten Maags gegangen war, die den Angriff der Schlangenmenschen in der Schlucht und den Ausbruch überlebt hatten, müde den Hang herauf. Mehr Männer habe ich nicht finden können, Käpt'n, berichtete er. Ich bin zwar sicher, dass es nicht alle sind, die überlebt haben, doch vermutlich sind sie schon weit hinauf in die Berge geflohen. Bist du zufällig auch auf Schlangenmenschen gestoßen, wollte Sorgan wissen. Nicht auf einen einzigen, Käpt'n, antwortete Ochs. Da sie sowieso nicht sehr klug sind, würde ich sagen, sie haben versucht, sich in ihren netten Höhlen und Tunneln und Löchern zu verkriechen, und das sind mit Abstand die letzten Orte, wo sich jetzt jemand mit Verstand aufhalten möchte. Ich würde sagen, der Krieg ist vorüber, Käpt'n. Unsere Feinde haben sich selbst in den Kochtopf geworfen. Er runzelte leicht die Stirn. Mir tut es zwar Leid, dass all das frisch gekochte Fleisch verschwendet ist, andererseits gebe ich nicht viel auf gebratene Schlange. Ich komme ebenfalls ganz gut ohne aus, meinte Sorgan und grinste. Aber man muss auch die gute Seite sehen, Ochs. Da es so große Hitze braucht, damit der Stein schmilzt, sind die toten Schlangen vermutlich ziemlich angebrannt. Das stimmt auch wieder, nehme ich an, räumte Ochs ein. 337
Langbogen stand ein wenig abseits, winkte Keselo und Hase zu sich und führte sie ein Stück fort von Sorgan und Ochs. Zelana will mit uns sprechen, sagte er leise zu ihnen. Es ist aber weit nach Lattash, protestierte Hase. Sie ist zu uns hoch gekommen, erklärte Langbogen. Sie wartet in dem Wald dort. Wie hat sie dich denn benachrichtigt, fragte Keselo. Du warst die ganze Zeit bei uns, seit wir aus der Schlucht gekommen sind, und ich habe sie gar nicht gesehen. Langbogen und die werte Dame Zelana können miteinander sprechen, ohne dass jemand anders sie hört, erklärte Hase. Das haben sie auch gemacht, als Langbogen und ich in Kweta ein paar Maags erledigt haben, die dem Käpt'n sein Gold stehlen wollten. Ich kann dir sagen, das war eine höchst aufregende Nacht. Hase sah Langbogen scharf an. Wie weit wird der geschmolzene Stein eigentlich fließen, erkundigte er sich. Vermutlich bis hinunter zur Mutter Meer. Wieso? Wird dann nicht Lattash zerstört? Vermutlich ja. Ich denke, der Stamm von Häuptling Weißzopf wird sich einen anderen Ort zum Leben suchen müssen. Vermutlich, aber die werte Dame Zelana hat ihr ganzes Gold in ihrer Höhle nahe dem Dorf, und wenn der flüssige Stein in ihre Höhle gelangt, wird das Gold schmelzen und sich mit dem Fels vermischen, und der Käpt'n wird nicht bezahlt, oder? Mach dir darum keine Sorgen, Hase, beschwichtigte ihn Langbogen. Zelana hat ihr Gold bestimmt längst woanders untergebracht. Er blickte sich um. Dort drüben zwischen den Bäumen ist sie. Hören wir mal, was sie zu sagen hat. Zelana und Eleria saßen Seite an Seite auf einem umgefallenen, moosüberwucherten Baum in der Mitte einer Lichtung. Geht es allen gut, erkundigte sich Zelana, als Keselo und Hase, gefolgt von Langbogen, die Lichtung betraten. 338 Soweit ich weiß, ja, antwortete Langbogen. Hat dein jüngerer Bruder vielleicht zufällig daran gedacht, auch Sorgans Vetter Skell zu warnen? Sorgan macht sich seit gestern große Sorgen um ihn. Veltan hat Skell unterwegs gewarnt, Langbogen, sagte Zelana. Sag Sorgan, er macht sich zu viele Sorgen. Dein jüngerer Bruder hat ja bis zum letzten Moment gewartet, Zelana, beschwerte sich Langbogen. Er hätte auch ein wenig eher kommen können. Das war Yaltars Schuld, erklärte ihm Eleria. Ich glaube, sein Vulkan ist ihm entglitten. Vash neigt dazu, gelegentlich ein wenig zu übertreiben. Wer ist Vash, kleine Schwester, fragte Hase. Habe ich Vash gesagt, fragte Eleria unschuldig. Ich meine natürlich Yaltar. Yaltar war wütend, Eleria, entschuldigte Zelana Veltans kleinenjungen. Diese Höhlen und Löcher haben uns alle überrascht, und Yaltar mag keine Überraschungen, da hat er ein wenig überreagiert. Dann sind die Erdbeben und der geschmolzene Fels in etwa mit Elerias warmem Wind zu vergleichen, meinte Hase.
Mein Wind war nicht im Entferntesten so garstig wie Yaltars Vulkan, Häschen, schnaubte Eleria. Jungen machen immer solchen Lärm. Dabei ist das alles nur Angeberei. Sein flüssiger Fels hat aber die Höhlen und Löcher des Vlagh versiegelt und die Schlangenmenschen verbrannt, kleine Schwester, erinnerte Hase sie. Wir steckten ganz schön in der Patsche, ehe diese Zwillingsgipfel nahe der Schlucht in die Luft geflogen sind. Da gibt es etwas, das ich noch nicht recht verstanden habe, sagte Keselo zu Zelana. Wenn du und deine Familie dazu in der Lage seid, diese Naturkatastrophen zu entfesseln, warum nehmt 339 ihr dann all diese Unannehmlichkeiten und die Kosten auf euch und heuert Armeen an, die diesen Krieg für euch austragen? Warum befasst ihr euch nicht einfach selbst mit euren Feinden? Das ist ein wenig schwierig, Keselo, antwortete Zelana. Das-man-Vlagh-nennt hat Tausende von seinen Dienern erschaffen, und so sind sie unseren Völkern in den vier Domänen zahlenmäßig weit überlegen, zudem sind sie sehr angriffslustig. Unsere Völker sind verhältnismäßig friedlich, und ihre Zahl gleicht nicht einmal annähernd der Zahl an Geschöpfen des Ödlands. Als wir erfuhren, dass das Vlagh die Ungeheuer des Ödlands auf unsere Domänen loslassen wollte, wurde uns bewusst, dass wir Hilfe brauchen, daher gingen meine Brüder, meine Schwester und ich los, um uns Hilfe mit Gold zu erkaufen. Zu jenem Zeitpunkt ahnten wir noch nicht, wozu die Träumer in der Lage waren. Meiner Familie und mir sind gewisse Beschränkungen auferlegt. Ich bin sicher, keiner von uns hätte diesen Vulkan so heftig zum Ausbruch bringen können wie Yaltars Traum, oder die Flut auslösen, die Eleria verursachte. Unser Denken verläuft in anderen Bahnen. Die Träume haben keine Beschränkungen, denn sie gründen auf Phantasie, nicht auf der Wirklichkeit. Sie hielt kurz inne und fuhr fort: Kannst du es jetzt besser verstehen, Keselo? So ganz noch immer nicht, gestand er ein. Die Geliebte macht manchmal Dinge sehr schwierig, die eigentlich recht einfach sind, kleiner Bruder, erklärte Eleria Keselo und spielte dabei abwesend mit ihrer rosa Kugel. Kleiner Bruder? Eleria gibt gern Kosenamen, Keselo, erläuterte Hase. Mich nennt sie Häschen, und zwar, seit wir uns kennen gelernt haben. Ach, gib Ruhe, säuselte Eleria. Setz dich, kleiner Bruder, befahl sie dann Keselo. Du musst einiges erfahren, und das kann ich dir auf nettere Weise erzählen als die Geliebte. Wir lieben sie natürlich alle, doch gelegentlich wird sie ein wenig hastig, wenn sie etwas 340 erklärt. Ich muss dann hinterher immer das Durcheinander beseitigen, das sie hinterlässt. Ich wünschte, du würdest dich ein wenig zusammenreißen, Eleria, beschwerte sich Zelana. Ist schon gut, Geliebte, sagte Eleria süß. Mir macht es überhaupt nichts aus. Ich werde dem kleinen Bruder erklären, was hier vor sich geht, und zwar auf nette Weise, damit ihm nicht die Augen aus dem Kopf fallen. Sie steckte ihr kleines Spielzeug weg, kletterte auf Keselos Schoß und legte ihm die Arme um den Hals. Küsschen, kleiner Bruder, sagte sie. Du solltest besser tun, was sie verlangt, Keselo, riet ihm Hase. Sie wird dich piesacken, bis du ihr gibst, was sie will. Eher zögerlich küsste Keselo Eleria auf die Wange. Daran müssen wir noch arbeiten, sagte sie, aber für den Augenblick genügt es. Also, die Sache ist die, kleiner Bruder: Das böse Ding draußen im Ödland hasst die Geliebte und ihre Familie, und deshalb hat der große Bruder der Geliebten uns hergeholt, damit wir die Pläne des bösen Dings mit unseren Träumen vereiteln. Manchmal sind diese Träume wirklich schrecklich. Bei der Flut, die mein warmer Wind in der Schlucht ausgelöst hat, ist mir beinahe übel geworden, und der Vulkan des armen kleinen Yaltar wird ihn vermutlich noch Jahre und Jahre verfolgen. Wir mussten es jedoch unbedingt tun, weil es die einzige Möglichkeit war, wie wir die Menschen, die wir lieben, vor dem Tod retten konnten. Das Volk von Lattash, meinst du, fragte Keselo. Nein, Dummerchen, antwortete sie. Wir mussten Langbogen und Häschen und dich retten. Mich} Keselo war verblüfft. Natürlich. Hast du das denn überhaupt nicht bemerkt? Wir lieben dich, kleiner Bruder, und aus dem Grund musste Yaltar den Berg explodieren lassen. Na, ist dir die Sache jetzt klar? Er lachte hilflos. Ich denke schon, sagte er. 341 Gut, gab sie zurück. Jetzt schuldest du mir noch ein Küsschen. Wenn es dich glücklich macht, kleine Schwester, sagte er und küsste sie erneut. Das war ein bisschen besser. Siehst du? Man braucht nur ein bisschen Übung. Häschen ist schon ziemlich gut darin, aber Langbogen ist immer noch der Beste. Dann schmiegte sie sich in seine Arme und schlief sofort ein. Eleria lag in Keselos Armen und schlief fest. Die Gemütsschwankungen des kleinen Mädchens waren oft ziemlich verwirrend. Die meiste Zeit über war sie sehr kindlich, doch immer wieder erhaschte Keselo einen kurzen Blick auf eine vollkommen andere Persönlichkeit. Äußerlich wirkte sie sanft und süß, doch innerlich war sie härter als Eisen. Keselo war in der Vergangenheit einigen Menschen begegnet, die sich ähnlich benahmen,
doch verglichen mit Eleria waren sie blutige Anfänger. Dahlaine hatte ihm und Hase erzählt, dass die Kinder nicht wirklich das waren, was sie zu sein schienen, doch möglicherweise, so dachte Keselo, täuschten die Kinder ihre älteren Verwandten noch geschickter als die Fremdlinge. Keselo war sich sicher, die Träume der Kinder waren gewiss nicht vollkommen unkontrolliert. Im tiefsten Innern wussten die Kinder vermutlich sehr genau, was sie taten. Die Sache hat uns eine Weile lang ganz schön in Atem gehalten, sagte Hase zu Zelana. Wir glaubten, wir hätten es mit einem strohdummen Feind zu tun, dabei ist er nicht annähernd so unwissend, wie wir dachten. Ohne den Feuerberg hätten wir ziemlich tief in der Patsche gesteckt. Die Intelligenz der Geschöpfe des Ödlands unterschätzt man leicht, kleiner Mann, antwortete Zelana. Als Einzelwesen sind sie überaus dumm, doch in der Gruppe entwickeln sie eine überraschende Klugheit. Sie haben viele Möglichkeiten, sich zu verständi342
gen. Manche sprechen, andere kommunizieren auf natürliche Weise. Im Unterschied zu den Menschenwesen berichten sie einander alles, was sie erlebt haben, und diese Berichte werden wiederum an andere weitergegeben. Was einer von ihnen gesehen oder erlebt hat, wird so zum gemeinsamen Wissen aller Angehörigen der Gruppe, und die Gruppe ist wesentlich weiser als die einzelnen Mitglieder. Die letztendlichen Entscheidungen trifft Dasman-Vlagh-nennt, aber ich glaube, das Vlagh selbst unterliegt in gewisser Weise ebenfalls dem Diktat dieses Überverstandes. Sie werden euch vermutlich noch oft überraschen. Mich haben sie jedenfalls schon einige Male überrascht, und das hat mich nicht besonders glücklich gestimmt. Dann brauchen wir also etwas, mit dem wir ihre Verständigung stören können, nicht wahr, schlug Keselo vor. Laute Geräusche vielleicht, dichten Rauch oder sogar irgendwelche Gerüche. Über Gerüche sollten wir mal genauer nachdenken, stimmte Zelana zu. Wenn etwas übel genug stinkt, könnte es ihre Fähigkeiten zur Verständigung beeinträchtigen. Ich spreche mit meinen Brüdern und meiner Schwester darüber. Sie hielt inne und fuhr dann fort: Die Diener des Vlagh wurden in meiner Domäne zurückgeschlagen, doch gibt es drei weitere Domänen, die Schutz brauchen. Dahlaine und Aracia werden gewiss ebenso viel Hilfe benötigen wie Veltan und ich. Worauf ich hinaus will, meine Herren, ist, dass wir Hakenschnabel und Narasan wahrscheinlich viel länger hier behalten müssen, als wir ursprünglich angenommen haben. Ich bin nicht sicher, ob sich der Käpt'n auf einen langen Krieg einlassen wird, meinte Hase skeptisch. Er wird Kommandant Narasan helfen, weil die Trogiten uns geholfen haben, aber auf mehr wird er sich vermutlich nicht einlassen. Wenn wir Narasans Krieg gewonnen haben, könnte sich der Käpt'n entscheiden, sein Gold zu nehmen und nach Hause zurückzukehren. Der kleine 343
Kerl dachte nach. Wir Maags sind nicht so gut in der Kriegführung an Land, räumte er ein. Dieses Herumkriechen im Schlamm, auf dem Boden schlafen und das kalte Essen gehen uns gegen den Strich. Wir lieben kurze, lärmende Kriege, die bis zum Abendessen vorüber sind. Zelana zuckte mit den Schultern. Vielleicht kann ich Hakenschnabel mit mehr Gold überzeugen, dass Landkriege gar nicht so übel sind. Gold ist schön, hielt Hase dagegen, doch muss man lebendig sein, um es auszugeben. Ich habe zwar keine Ahnung, wie Keselo sich bei den Ereignissen in der Schlucht gefühlt hat, ich jedoch habe mich zu Tode gefürchtet. Mir standen auch die Haare zu Berge, gab Keselo zu. Ich bin jetzt schon eine ganze Weile auf dieser Seite der Schlucht, gegenüber von Kommandant Narasan, und deshalb kann ich nicht sagen, wie er über die Ereignisse denkt, möglicherweise kommt er nun auch ins Grübeln. Diese Schlangenmenschen, die uns umbringen wollten, waren nicht intelligent genug, um Angst zu haben. Für gewöhnlich halten wir Trogiten einen dummen Feind für ein Geschenk der Götter, doch wenn die Dummheit sogar die Angst auslöscht, stellt der Kommandant vielleicht sogar die gesamte Vereinbarung in Frage. Ein Schlüsselelement jeglicher Kriegsstrategie besteht darin, die Moral des Gegners zu unterminieren. Ein ängstlicher Mann gibt eher auf und nimmt Reißaus. Ein Insekt oder eine Schlange wissen nicht, was Angst ist, und so werden viele trogitische Taktiken keine Wirkung zeigen. Ich möchte, dass ihr darüber nachdenkt, sagte Zelana eindringlich. Ihr müsst einen Weg finden, eure Anführer zum Hierbleiben zu überreden. Wenn euch das nicht gelingt, muss ich sonst womöglich eure Schiffe verbrennen, ob es mir nun gefällt oder nicht. Wir sollten zurückgehen, meinte Langbogen zu Keselo und 344
Hase. Hakenschnabel vermisst uns vielleicht, und wir dürfen nicht riskieren, dass sich Maags auf die Suche nach uns machen. Von diesem Gespräch brauchen sie schließlich nichts zu erfahren, oder? Nicht, wenn wir weiterhin über brennende Schiffe reden, stimmte Hase zu. Keselo plagten schwere Sorgen, als er in seine Decke eingewickelt ein Stück entfernt von dem Feuer des Lagers lag. Der donnernde Ausbruch der Zwillingsvulkane am Ende der Schlucht ließ langsam nach, und in Hakenschnabels Armee herrschte gute Laune. Die Maags wunderten sich noch immer über den größten Glücksfall der Geschichte als wäre der Ausbruch rein zufällig geschehen. Keselo wusste es jedoch besser, und zwar, ohne es eigentlich zu wollen. Zelanas eiskalte und schonungslose Enthüllung der tatsächlichen Lage im Lande Dhrall ließ ihn frösteln. Trotz ihrer unfassbaren Schönheit war sie
im Herzen steinhart und allein am Nutzen orientiert, und nur Eleria milderte dies ab. Eleria war allerdings, wenn es die Lage erforderte, noch schlimmer. Die Träumer konnten Naturkatastrophen auslösen, die weit darüber hinausgingen, Armeen in hoffnungslose Schlachten zu schicken und mit dem Verbrennen der Schiffe, der einzigen Fluchtmöglichkeit, zu drohen. Schlimmer noch, die Soldaten jubelten, weil sie nicht ahnten, was in Wirklichkeit vor sich ging. Keselo hingegen hatte wenigstens zum Teil die wahre Natur von Das-man-Vlagh-nennt erkannt. Das Vlagh würde seinen unstillbaren Drang, das gesamte Land Dhrall mit seinen zahllosen nichtmenschlichen Dienern zu erobern, nicht zähmen, gleichgültig, wie viele Niederlagen man ihm beifügte und wie groß die Verluste unter seinen Geschöpfen auch sein mochten. Schlimmer noch war 345
vielleicht die Tatsache, dass das Vlagh nicht gänzlich vom Instinkt beherrscht wurde. Es besaß einen bösartigen Verstand, der sie am Ende möglicherweise alle bezwang - Menschen und Götter. Jetzt saßen Maags und Trogiten hier im Land Dhrall fest und waren dazu verdammt, einen entsetzlichen Krieg zu führen, den sie unmöglich gewinnen konnten. Das Schlimmste jedoch war, dass Keselo keine Möglichkeit sah, seinen Kommandanten vor der Wirklichkeit zu warnen, die im Dunkeln lauerte.
Die rosa Grotte
29 Das Chaos war unerträglich, und schließlich nahm Zelana vom Westen, ohne ihren Brüdern und ihrer Schwester auch nur ein Wort zu sagen, ihre geliebte Träumerin Eleria in die Arme und floh. Was machen wir, Geliebte, rief Eleria und klammerte sich ängstlich an Zelana, während sie hoch und immer höher durch die verrauchte Mitternachtsluft auf den bleichen Mond zustrebten. Nur ruhig, sagte Zelana, die nach einem westwärts wehenden Wind suchte. Weit unter ihnen erblickte Zelana Yaltars verfluchten Vulkan, der geschmolzene Lava in die Luft spie, und den glühenden Fluss von geschmolzenem Stein, der auf das Dorf Lattash zuhielt. Solche Dummheit, schimpfte Zelana und flog suchend immer höher. Bitte, Geliebte, rief Eleria weinend. Ich habe Angst. Alles ist gut, Liebes, tröstete Zelana das Kind und gab ihr Bestes, ruhig zu klingen. Wohin gehen wir?
Nach Hause, antwortete Zelana. Ich habe genug von all dem. Du etwa nicht? Müssen wir so hoch fliegen, jammerte Eleria und klammerte sich noch fester an Zelana. Nur ruhig, Eleria, ich versuche meine Gedanken zu ordnen. Es war eine armselige Brise, doch sie wehte in die richtige Richtung, also nahm Zelana sie, und nur allzu gemächlich bewegten sie sich durch die Frühlingsnacht von dem Schrecken unter ihnen fort. Nachdem sie die Westküste des Festlands hinter sich gelassen 349 hatten, wurde die Brise stärker und trug die beiden über die Meerenge zur Insel Thurn. Zelana bedankte sich bei dem Wind, und durch die mondhelle Luft trieb sie mit Eleria auf die steilen Klippen am südlichen Rand der Insel zu. Von oben sieht die Welt anders aus, nicht wahr, Geliebte, meinte Eleria. Sie wirkte nun gelassener. Das Fliegen ist eigentlich ähnlich wie Schwimmen, oder? Ein wenig, ja, stimmte Zelana zu. Du weißt doch, warum wir unbedingt fort mussten, ja? Nun, so recht nicht, Geliebte, gestand Eleria. Stimmt etwas nicht? Nichts stimmt mehr, Eleria. Es hätte einfach nicht so kommen dürfen. Aber haben wir nicht gesiegt? Ist das nicht das Wichtigste? Nein, liebe, liebe Eleria, entgegnete Zelana und schloss das Kind fester in die Arme. Wir haben viel mehr verloren, als wir gewonnen haben. Das Vlagh hat uns die Unschuld gestohlen. Wir haben Dinge getan, die wir nicht hätten tun dürfen, und nichts wird jemals wieder so sein wie zuvor. Sie spähte hinunter zur Küste von Thurn. Da ist es, sagte sie, als sie den vertrauten Strand im Mondlicht leuchten sah. Gehen wir nach Hause. Leise landeten sie in der kühlen Nachtluft auf der Mutter Meer, und dann tauchten sie tief ins dunkle Wasser zum verborgenen Eingang ihrer Grotte. Das rosa Licht der Grotte erschien durch die sanfte Berührung des Mondes blass und mild, und Zelana genoss dieses Licht und verdrängte die grässlichen Erinnerungen. Schön, wieder zu Hause zu sein, sagte Eleria. In Lattash war es sehr aufregend, aber für eine Weile habe ich Aufregung genug gehabt. Mehr als genug, Liebe, stimmte Zelana zu. Bist du hungrig? Eigentlich nicht, antwortete Eleria. Ich würde gern schlafen. 350 Auf der Reise habe ich nicht sehr gut geschlafen, und jetzt merke ich das. Geh zu Bett, Kind, erlaubte Zelana ihr nur zu gern. Wir sind wieder da, wo wir hingehören, und die Welt kann uns hier nichts anhaben. Küsschen, sagte Eleria und streckte ihr die Arme entgegen. Zelana umarmte das Kind und küsste es. Geh schlafen, Eleria. Hier kann dir nichts passieren, denn ich wache über dich. Eleria seufzte zufrieden, ging zu ihrem Bett und kuschelte sich hinein, wobei sie die rosa Perle in der Hand hielt. Sie schlief ein, und darum beneidete Zelana vom Westen sie, obwohl sie sich kaum noch an Schlaf erinnern konnte. Zelana fragte sich, wie es sein mochte, wenn man einen Teil jedes Tages mit Schlafen verbrachte und dann aufstand und Essen zu sich nahm anstelle von Licht. Wegen ihrer einzigartigen Stellung erlebten die Träumer Dinge, die Zelana und ihre Familie nie erlebt hatten und niemals erleben würden. Ihre Gedanken schweiften umher und kreisten wie hungrige Vögel, während Zelana sich nachdenklich ins leuchtende rosa Licht ihrer Grotte setzte. Unausweichlich kehrten sie wieder zu den schrecklichen Ereignissen zurück, die in der Schlucht oberhalb von Lattash stattgefunden hatten. Warum hatte Veltans Träumer gar so heftig reagiert? Yaltar schien ein ernster, sensibler Junge zu sein, doch beim ersten Zeichen von Gefahr für Zelanas Domäne hatte er durchgedreht. Nur, so erinnerte sie sich, war es nicht ihre Domäne, die er verteidigen wollte, sondern die Domäne seiner Schwester Balacenia. Dieser Gedanke erschütterte Zelana. Dahlaine hatte ihnen versichert, die Träumer besäßen keinerlei Erinnerung an ihre frühere Existenz, aber sowohl Yaltar als auch Eleria hatten gelegentlich die richtigen Namen benutzt. Hatte Dahlaine schlicht gelogen, um die Zustimmung seiner Geschwister zu gewinnen? Dahlaine war offensichtlich zur Lüge fähig. Zelana hatte ihn schon unzählige Male 351 dabei erwischt, und gewiss hatten auch Veltan und Aracia schon erlebt, wie ihr älterer Bruder sich die Wahrheit passend bog. Diese Möglichkeit beunruhigte sie. Falls Yaltar wusste, dass Eleria in Wirklichkeit Balacenia war, wusste er dann auch, dass er Vash war? Hatten alle vier Träumer die älteren Götter im Stillen getäuscht? Wenn Vash und Balacenia sich an dieser Irreführung beteiligt hatten, war es dann möglich, dass... Wie lauteten ihre Namen noch gleich? Zelana kannte die richtigen Namen von Lillabeth und Ashad, doch als sie in ihrem Gedächtnis kramte, wollten sie ihr partout nicht einfallen. Das war zum Verrücktwerden! Die Namen lagen ihr auf der Zunge, dennoch kam sie nicht darauf. Sie schob dies beiseite. Die Namen würden ihr wieder einfallen, sobald sie sich keine Gedanken mehr über dieses Problem machte.
Langbogen hatte sich als die richtige Wahl für den Anführer der Dhralls ihrer Domäne erwiesen. Die Fremdlinge respektierten ihn, nicht nur wegen seiner Zielsicherheit, sondern auch, weil er immer wieder mit Lösungen für schier unlösbare Probleme aufwartete. Ohne Langbogen hätten die Fremdlinge die Dhralls als unzivilisierte Wilde betrachtet, die man ausrauben oder sogar versklaven konnte. Bei dieser Vorstellung hielt Zelana inne. Zwar hatte sie nicht sehr viel Erfahrungen mit diesen Fremdlingen, doch hatte sie gelegentlich Andeutungen gehört, denen zufolge die fortgeschritteneren Kulturen der Welt jenseits der Küsten Dhralls immer wieder die Menschen primitiverer Kulturen einfingen und sie als Sklaven verkauften. Zelana kniff die Augen zusammen. Das sollten sie hier nur wagen! Es gab einiges, womit Zelana sie überzeugen könnte, dass dies eine sehr schlechte Idee war. Nicht alle Fremdlinge waren böse, das wusste sie. Eleria selbst hatte mit sicherem Griff zumindest zwei aus der Masse herausgezogen, denen man vertrauen konnte. Das Kind hatte den Maag 352
Hase und den ernsten jungen Trogiten Keselo ausgewählt, und irgendwie war es Eleria gelungen, Dahlaine zu überreden, die beiden in die wahre Lage im Lande Dhrall einzuweihen. Zuzeiten überschritt Eleria deutlich die Grenzen, die laut Dahlaines Versicherung für die Träumer galten. Das Kind Eleria gab vor, lieb und süß zu sein, aber je mehr Zelana darüber nachdachte, desto mehr erschienen ihr die Küsschen und das Schoßsitzen als zweckgerichtete Mittel und weniger als Ausdruck kindlicher Zuneigung. War der Vulkanausbruch, mit welchem die Diener des Vlagh vernichtet worden waren, möglicherweise nicht die verzweifelte Reaktion von Yaltar? War es stattdessen vielleicht Elerias Idee gewesen? Zelana erschauerte bei diesem unaussprechlichen Gedanken. Gewiss war es schrecklich gewesen, geschmolzenen Fels in die Höhle der Diener des Vlagh zu leiten, und dennoch musste Zelana einräumen, dass es eine sehr effektive Lösung für ein ansonsten unlösbares Problem gewesen war. Erdbeben hätten vielleicht alle Eindringlinge getötet, doch wären immer Bedenken geblieben, ob nicht einige in den Höhlen überlebt hatten. Flüssige Lava hingegen ließ keine Zweifel. Die Diener des Vlagh waren vernichtet, und Zelanas Domäne war wieder sicher. Zelana berichtigte sich. Nicht ihre Domäne hatte Yaltars Traum gerettet - sondern die Domäne von Balacenia. Sie war fast sicher, dass die Maags und Trogiten bereits in See gestochen waren - oder bald würden -, um an der Küste entlang zu Veltans Domäne zu segeln. Es gab keine absolute Sicherheit, ob die Diener des Vlagh Veltans Domäne in absehbarer Zukunft angreifen würden. Es mochte aufgrund der Verheerungen durch Yaltars Vulkan Generationen dauern, bis die Geschöpfe des Ödlands ausreichend Ersatz beschafft hatten. Allerdings konnte es auch schnell gehen. Das-man-Vlagh-nennt konnte in kürzester Zeit viele neue Wesen erschaffen, und Zelanas Bruder Veltan war sich dessen natürlich bewusst. Die Diener des Vlagh würden vermutlich alle vier 353
Domänen angreifen. Das Vlagh wollte - oder brauchte - den gesamten Kontinent, wenn es sich mit seinem Schwärm über die Grenzen Dhralls hinaus ausbreiten wollte. Wie hießen sie noch? Es machte sie rasend! Fast fielen ihr die Namen wieder ein. Warum konnte sie sich nicht daran erinnern? Zelana sehnte sich nach Schlaf. Die endlosen Äonen ihres Zyklus lasteten schwer auf ihr, und sie war froh, dass der Zyklus fast vorüber war. Aber Eleria war noch nicht in der Lage, die Bürde der Herrschaft zu übernehmen. Sie musste noch so vieles lernen, und es blieb so wenig Zeit, sie zu unterrichten. Die Wechsel der Zyklen hatten in der Vergangenheit keine großen Probleme bereitet. Die Menschenwesen waren in Balacenias letztem Zyklus noch fast Tiere gewesen, doch nun hatten sie sich weiterentwickelt, und es schien, ihr Fortschritt ging mit jedem verstreichenden Jahr schneller voran. Zelana schauderte bei dem Gedanken, wie sie sein würden, wenn Balacenias nächster Zyklus vorüber wäre und Zelana zu ihrem eigenen neuen erwachte. Dann lächelte sie schwach. Vielleicht hatte Veltan die beste Lösung gefunden, und der Mond war schließlich immer noch da. Zelana schob den Gedanken beiseite. Das hübsche Dorf Lattash war jedenfalls dem Untergang geweiht. Dafür war Yaltars Dummheit verantwortlich. Die Lava aus den Zwillingsgipfeln floss unerbittlich durch die Schlucht und begrub alles unter sich. Die Menschen von Weißzopfs Stamm würden ihre Hütten verlassen, einen neuen Ort suchen und ein neues Dorf bauen müssen. Der Verlust von Lattash bereitete Zelana fast körperliche Schmerzen. Das Gold, rief sie plötzlich. Ich habe das Gold in der Höhle vergessen! Jetzt muss ich zurück und es an einem sicheren Ort verwahren. Wie konnte ich das bloß vergessen? Ich bin wohl doch schon älter, als ich dachte. Zuerst vergesse ich mein Gold, und dann 354
kann ich mich nicht an die Namen erinnern. Sie betrachtete das schlafende Kind. Bitte, wach auf, Balacenia, bat sie leise. Ich kann das alles nicht mehr ertragen. Ich bin so müde, so unsagbar müde. Wenn Yaltar über Elerias richtige Identität Bescheid wusste und Eleria Yaltars kannte, wussten sie dann möglicherweise auch andere Dinge? Zelana durchforschte ihr Gedächtnis und suchte nach Hinweisen darauf, dass die Kinder - gleichgültig wie bescheiden - ihre schlummernden Fähigkeiten eingesetzt hatten, um die Wirklichkeit zu beeinflussen. Ihre Träume waren eine Sache, doch wenn sie ihre Gabe bewusst einsetzen
konnten, war vielleicht das Gefüge der Realität in Gefahr. Ihr fiel nichts ein. Das einzig Sonderbare von Eleria bestand in ihrem überwältigenden Bedarf an Zuneigung von den Sterblichen. Ihr Küsschen-Spiel mit Langbogen, Hase und diesem langweiligen jungen Trogiten Keselo schien oberflächlich nur ein kindliches Treiben zu sein, aber ging es womöglich darüber hinaus? Aus Gründen, die auf der Hand lagen, hatte Zelana niemals Balacenias Methoden kennen gelernt, mit denen sie abwechselnd die Domäne des Westens beherrschte. Küsste sie vielleicht einfach alle, bis sie sich ihr unterwarfen? Bei den rosa Delphinen hatte es gewirkt, und da war Eleria noch ein Säugling gewesen. Zelana hätte fast gelacht. Was für eine kluge Art zu herrschen, und es mochte auch erklären, warum Yaltar zu solch übermäßigem Tun verleitet worden war, um Balacenias Domäne zu schützen. Einige dieser Küsschen-Attacken hatten den armen Vash hilflos ergeben gemacht. Nachdem Balacenia erst Vash um den Finger gewickelt hatte, wandte sie sich gewiss Wie hießen sie nur? Es trieb sie zum Wahnsinn! Warum konnte sich Zelana nicht an ihre Namen erinnern?
Zeiten des Wandels 30 Inzwischen herrschte früher Sommer in Zelanas Domäne des Westens, doch dieser Sommer ähnelte keinem, den Rotbart je erlebt hatte. Für gewöhnlich ist es die Zeit der Schönheit, diesmal hingegen wurde die Idylle durch die Zwillingsvulkane am Ende der Schlucht gestört. Jeder Sonnenaufgang sah blutverschmiert aus, weil die Feuerberge fortgesetzt Rauch und Asche in die Luft bliesen, und über Lattash hing eine Dunkelheit, die niemals richtig aufhellte. Einige der Frauen im Stamm hatten ihre Beete bestellt, nur zu welchem Nutzen? Das Dorf war zum Untergang verdammt, und höchstwahrscheinlich würde es im Herbst zur Erntezeit nicht mehr stehen. Lattash sah immer noch genauso aus wie vor Jahren. Die Bucht war blau, der Sandstrand weiß, und der Wald, der sich in die Ausläufer der schneebedeckten Gipfel hinaufzog, leuchtete dunkelgrün. Die Gezeiten kamen und gingen wie seit Anbeginn der Zeit. Den einzigen merklichen Unterschied bildete der Fluss, der sonst fröhlich aus der Schlucht in die Bucht geflossen war. Jetzt war es kein Fluss mehr, kaum noch ein Bach. Die verfluchten Feuerberge hatten die Quellen offensichtlich verstopft, und nun kam von weiter oben lediglich ein kärgliches Rinnsal, das vermutlich bis zum Mittsommer ausgetrocknet sein würde. Das hingegen würde das Ende von Lattash bedeuten. Ohne Wasser würden die Gärten der Frauen verdorren, und im nächsten Winter würde es keine Vorräte geben. Die Stimmung im Dorf war getrübt, und eine Wolke der Melancholie schien über Lattash zu hängen. 359
Rotbart seufzte. Die Tatsache, dass es an der Zeit war, ein neues Zuhause für Weißzopfs Stamm zu suchen, ließ sich nicht übersehen. Und darin lag das Problem. Rotbarts Onkel, Häuptling Weißzopf, war so sehr vom Gram überwältigt, weil er das Dorf, das seit so vielen Jahrhunderten die Heimat des Stammes gewesen war, unausweichlich verloren hatte, und sah sich deshalb außerstande, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Der Stamm musste einen geeigneten neuen Ort finden, neue Hütten bauen und Gemüse und Getreide anpflanzen, ehe der Winter kam, doch Häuptling Weißzopf weigerte sich, auch nur darüber zu sprechen. Gleichgültig, wie sehr Rotbart sich den Kopf zerbrach, ihm fiel nichts ein, wie er seinen Onkel wieder zu Verstand bringen konnte. Rotbart fluchte und machte sich auf die Suche nach Langbogen. Meiner Ansicht nach hast du keine große Wahl, Rotbart, sagte sein Freund ernst, während die beiden auf dem Deich standen und das winzige Rinnsal schlammigen Wassers betrachteten, das von dem Fluss geblieben war. Die Feuerberge haben die Diener des Vlagh getötet, doch scheint mir, sie haben auch Lattash zum Untergang verurteilt. Ohne Wasser wird dein Stamm sich einen neuen Ort zum Leben suchen müssen - oder hier bleiben und sterben. Das weiß ich, Langbogen, erwiderte Rotbart. Ich sehe dies genauso wie du, doch aufweiche Weise kann ich es Onkel Weißzopf begreiflich machen? Jedes Mal, wenn ich auch nur eine Andeutung fallen lasse, werden seine Augen leer, und er wechselt sofort das Thema. Er weigert sich schlicht, an einen Umzug des Stammes auch nur zu denken. Lattash ist so sehr ein Teil von ihm, dass er das nicht in Betracht ziehen will. Du musst dich vermutlich über ihn hinwegsetzen und die Führung im Stamm übernehmen. Das kann ich nicht machen, rief Rotbart. Er ist der Häuptling. Wenn ich mir ihm gegenüber eine Respektlosigkeit erlaube, wird mir der Stamm den Rücken kehren. Mir wird niemand folgen. Sie werden es tun, wenn dein Onkel es ihnen sagt. Langbogen schaute hinüber zu den Hütten des Dorfes und den Fischernetzen, die am Strand auf Stangen hingen. Früher war es sicherlich ein guter Ort zum Wohnen, mein Freund, doch diese Zeit ist vorüber, seit der Fluss ausgetrocknet ist. Wenn ihr nicht bald weiterzieht, werdet ihr verhungern und verdursten. Das musst du ihm auf diese Weise sagen, und dann wird er dir sicherlich zuhören. Wenn euer Häuptling die notwendigen Befehle wegen seines Kummers nicht erteilen will, muss er zur Seite treten und die Autorität an jemand anderen weitergeben - höchstwahrscheinlich an dich. Langbogen lächelte. Häuptling Rotbart klingt doch sehr schön, nicht wahr? In meinen Ohren nicht, widersprach Rotbart. Hast du eine Ahnung, wie langweilig und öde das Leben eines
Häuptlings sein muss? Ich glaube, das würde ich nicht durchhalten. Sei tapfer, Häuptling Rotbart, sagte Langbogen spöttisch. Wenn es gut für den Stamm ist, kannst du dich nicht einfach weigern, oder? Das konntest du dir jetzt nicht verkneifen, ja, knurrte Rotbart verstimmt. Langbogen zuckte mit den Schultern. Du musst dich einfach der Wirklichkeit stellen, mein Freund. Früher oder später musst du die Führung des Stammes übernehmen, wenn dein Onkel es nicht mehr schafft. Das würde dir auch zu ein wenig Übung in der hohen Kunst des Langweilens verhelfen. Im Augenblick haben wir allerdings ein drängenderes Problem, glaube ich. Stürzt der Himmel ein? Nun, heute nicht, vermutlich jedenfalls, aber wir haben eine hübsche Anzahl unglücklicher Leute auf diesen Schiffen draußen in der Bucht. In ihrer unendlichen Weisheit hat Zelana vom Westen das Dorf verlassen, ohne sich darum zu kümmern, Sorgan Haken360 361 Schnabel und die anderen Maags für ihre Dienste während der jüngsten Unannehmlichkeiten zu entlohnen. Das Gold ist doch in ihrer Höhle vor dem Dorf, erinnerte Rotbart seinen Freund. Warum gehen sie nicht einfach hinein und bezahlen sich selbst? Sie haben es ja versucht, allerdings gelangten sie nicht in den Gang, in dem das Gold gestapelt ist. Was hat Zelana angestellt, hat sie die Decke einstürzen lassen? Nein, alles ist unversehrt, nur blockiert eine stabile Wand den Tunnel, der mit diesen hübschen gelben Ziegeln gefüllt ist. Es ist eine sehr ungewöhnliche Wand. Die Maags können hindurchsehen, und trotzdem ist sie härter als jeder Stein. So können sie sich das Gold anschauen, so viel sie wollen, kommen jedoch nicht dran. Ochs hat seine Axt mit in die Höhle genommen und fast einen Tag lang auf die Wand eingeschlagen. Aus der Mauer hat er nicht einmal einen Splitter gehauen, dafür jedoch seine Axt ruiniert. Jetzt ist Sorgan sicher, dass Zelana ihn betrügen will. So etwas würde sie doch nie tun. Du weißt das, und ich weiß das, aber Sorgan Hakenschnabel kennt sie nicht so gut wie wir. Lügen, Betrügen und Stehlen sind Teil der Maagkultur, Ehrlichkeit ist ihnen hingegen fremd. Wenn Zelana nicht schleunigst wieder hier erscheint, geht vielleicht schon bald der nächste Krieg los. Na, nun kann ich mir zur Abwechslung mal über etwas anderes Sorgen machen. Dann fiel Rotbart etwas ein. Hase hat mir gesagt, du kannst mit Zelana sprechen, ohne dass andere es hören können. Im Land Maag habt ihr das gemacht, als es Schwierigkeiten im Hafen von Kweta gab. Könntest du das nicht jetzt versuchen? Habe ich schon ein paar Mal. Entweder ist sie zu weit entfernt, oder sie weigert sich, mich anzuhören. Meinst du, Eleria könnte dich vielleicht hören? Wenn irgendwer Zelana zur Vernunft bringen kann, dann Eleria. Das kleine 362 Mädchen könnte Zelana vermutlich zum Gehorsam küssen. Dich und Hase und diesen jungen Trogiten Keselo hatte sie ja blitzschnell um den Finger gewickelt. Da erzählst du mir nichts Neues, sagte Langbogen. Er blinzelte seinen Freund an. Bei dir hat sie das nie versucht, oder? Rotbart lachte. Einmal, antwortete er. Mein Bart hat sie gekitzelt, und deshalb hat sie es nie wieder versucht. Du hättest mal ihr Gesicht sehen sollen. Ihr kluger kleiner Küsschen-Trick wollte nicht gelingen, und das gefiel ihr ganz und gar nicht. Warum paddeln wir nicht hinaus zur Seemöwe und reden mit Sorgan, schlug Langbogen vor. Wenn er sieht, dass wir versuchen, Zelana zu benachrichtigen, damit sie zurückkehrt und ihm das versprochene Gold gibt, verzichtet er vielleicht darauf, Lattash zu plündern und niederzubrennen. Wir sollten nichts überstürzen, Langbogen, sagte Rotbart, halb spöttisch, halb ernst. Wenn die Maags an Land kommen und Lattash niederbrennen, könnte ich meinen Onkel möglicherweise überzeugen, die Sachen zu packen und weiterzuziehen. Dann brauche ich weiterhin nur seinen Befehlen zu gehorchen - oder mich davonzuschleichen zu einem Ort, an dem er mich nicht findet. Er bleibt dann Häuptling, und ich muss nicht erwachsen werden. Das meinst du nicht ernst, Rotbart. Los, gehen wir zu Sorgan Hakenschnabel. Die Sonne spähte durch die Dunkelheit, und es war beinahe hell, als Rotbart sein Kanu mit langen Paddelzügen auf die Seemöwe zusteuerte. Jetzt im frühen Sommer konnte man sicherlich gut fischen, doch sogleich verdrängte er den Gedanken. Obwohl die Sonne auf dem Wasser funkelte, würde er heute nicht fischen gehen. Stattdessen würde er, da war er sicher, diesen wunderschönen Tag mit Langbogen verbringen und sich Hakenschnabels Gejammer anhören. 363 Dein Kanu liegt gut im Wasser, bemerkte Langbogen. Ich hatte Glück, als ich es gebaut habe, antwortete Rotbart bescheiden. Bei diesem habe ich es endlich hinbekommen, den Rippen die richtige Krümmung zu geben. Das davor war ein bisschen wackelig. Bei jedem Niesen hat es sich auf die Seite gerollt und mich in die Bucht geworfen.
Das ist mir auch ein paar Mal passiert, gestand Langbogen. Manchmal denke ich, Kanus haben einen verdrehten Sinn für Humor. Ist dir schon eingefallen, wie wir Sorgan beschwichtigen können, fragte Rotbart. Versuchen wir es mit Notfall? Ich fürchte, ich komme nicht ganz mit. Langbogen zuckte mit den Schultern. Zelana ist in großer Eile aufgebrochen. Deutet das nicht auf irgendein Problem hin, das ihre sofortige Aufmerksamkeit verlangt? Versuchen können wir es ja, meinte Rotbart skeptisch. Obwohl es schwierig werden könnte, Hakenschnabel davon zu überzeugen, dass es etwas Wichtigeres als ihn auf der Welt gibt. Wir werden sehen, gab Langbogen zurück, während Rotbart sein Kanu an die Seemöwe schob. Ist sie endlich wieder aufgetaucht, rief Hase vom Deck der Seemöwe herunter. Wenn der Käpt'n das versprochene Gold nicht bald bekommt, fängt er womöglich gleich den nächsten Krieg an. Uns wäre es lieber, er verzichtet darauf, Hase, rief Langbogen zurück. Rotbart und ich sind hier, weil wir ihn beruhigen wollen. Hase warf die aufgewickelte Strickleiter über Bord, die sich bis zum Kanu abwickelte. Langbogen packte die Leiter. Zeit, an die Arbeit zu gehen, Häuptling Rotbart, sagte er lächelnd. Ich wünschte, du würdest damit aufhören, Langbogen. 364 Das soll dir nur helfen, dich daran zu gewöhnen, Freund Rotbart, erwiderte Langbogen in vorgetäuschter Unschuld. Sorgan Hakenschnabel aus dem Lande Maag war miserabler Laune, als Rotbart und Langbogen seine unaufgeräumte Kabine am Heck der Seemöwe betraten. Wo ist sie, verlangte er in scharfem Ton zu wissen. Wenn ich nicht bald das Gold verteile, das ich den Leuten in Maag versprochen habe, wird etwas Scheußliches passieren. Wir haben getan, was sie von uns wollte, und jetzt ist es Zeit, die Rechnung zu begleichen. Wir sind uns nicht ganz sicher, wo sie hin ist, Sorgan, antwortete Langbogen. Ihre Domäne ist riesig, und sie hat vielleicht irgendwo im Norden etwas Dringendes zu erledigen. Du weißt ja, wie das ist: Wenn irgendwo ein Feuer ausbricht, hast du keine Zeit, dich höflich zu verabschieden, ehe du losläufst, um es zu löschen. Sicherlich wird sie zurückkommen, sobald sie alles unter Kontrolle hat. Das ergibt vermutlich Sinn, räumte Sorgan grollend ein. Habt ihr eine Ahnung, wo diese Schwierigkeiten entstanden sein könnten? Langbogen zuckte mit den Schultern. Sie hat sich nicht die Mühe gemacht, es mir mitzuteilen. Du weißt ja, wie das ist. Oh, ja, meinte Sorgan säuerlich. Sie ist sehr geübt darin, den Leuten zu verschweigen, was sie wissen sollten. Das ist mir auch schon aufgefallen. Wie aufmerksam von dir, murmelte Langbogen. Bestimmt wird sie zurückkommen, wenn das erledigt ist, was sie von hier fortgeholt hat. Aber wir haben im Augenblick ein viel dringlicheres Problem. Oh? Die Feuerberge am Ende der Schlucht haben noch nicht aufgehört zu speien, und ich glaube, in Lattash wird es für niemanden 365 mehr sicher sein, sobald der flüssige Fels heran ist. Eine Wasserflut ist schon schlimm genug, aber geschmolzener Stein könnte wesentlich übler werden, meinst du nicht? Ich würde sagen, es geht weit über könnte hinaus, Langbogen. Was sollen wir tun? Wie klingt abhauen in deinen Ohren? Narasan hat mir erklärt, der richtige Begriff laute Rückzug, aber mit abhauen kann ich durchaus etwas anfangen. Wir haben allerdings ein Problem, fuhr Langbogen fort. Rotbarts Onkel Häuptling Weißzopf kann den Gedanken nicht ertragen, dass der Stamm von Lattash fortziehen muss. Rotbart und ich treffen hinter seinem Rücken Vorkehrungen, und wir würden es begrüßen, wenn du nicht erwähnst, was wir machen, falls du zufällig mit ihm sprechen solltest. Alte Männer werden manchmal wunderlich, meinte Sorgan. Mach dir keine Sorgen, Rotbart. Dein Geheimnis ist bei mir sicher. Wann wollt ihr die Meuterei aufziehen? Meuterei? Das Wort habe ich noch nie gehört. So nennt man es, wenn auf einem Schiff die Mannschaft nicht mehr mit dem Kapitän zufrieden ist. Entweder bringen die Männer ihn gleich um, oder sie setzen ihn in einem kleinen Skiff aus. Dann übernimmt der Anführer der Meuterei den Befehl auf dem Schiff. So machen wir das bei uns hier nicht, Hakenschnabel, sagte Rotbart entschlossen. Vielleicht solltest du trotzdem darüber nachdenken, Rotbart, schlug Sorgan vor. Wenn euer Häuptling die Sache nicht mehr im Griff hat, muss jemand anderer die Verantwortung übernehmen, ehe der brodelnde Fels durch die Schlucht nach unten fließt. Wir hoffen, dass es dazu nicht kommen wird, meinte Langbogen. Im Moment müssen Rotbart und ich vor allem einen geeigneten Ort für ein neues Dorf finden. Höchstwahrscheinlich gibt es hier in der Bucht einen - oder vielleicht auch vor dem Einlass. Wir
366 brauchen Süßwasser, Land für den Ackerbau und einen gewissen Schutz vor Wind und Flut. Verstehe ich euch recht? Ihr würdet gern meine Flotte leihen, um dem Stamm beim Umzug in die neue Heimat zu helfen? Wenn es nicht allzu viel Mühe macht. Rotbart wand sich ein wenig. Sorgan zuckte mit den Schultern. Dann hätten die anderen Kapitäne etwas zu tun und müssten sich nicht ständig bei mir darüber beschweren, dass sie noch nicht bezahlt worden sind. Außerdem habt ihr uns mit euren Bögen in der Schlucht sehr geholfen, insofern wäre es uns mehr oder weniger eine Verpflichtung, euch zu helfen, wenn ... Abrupt hielt Sorgan inne. Das Gold, rief er. Das Gold der werten Dame Zelana ist noch in der Höhle! Wenn dieser geschmolzene Fels Lattash bedeckt, wird er auch die Höhle füllen, oder? Das ist nicht sehr wahrscheinlich, Sorgan, sagte Langbogen. Hat Ochs nicht seine Axt ruiniert, als er versuchte, Zelanas Mauer zu zerschlagen, mit der sie ihr Gold schützt? Deshalb hat sie die Wand also errichtet, sagte Sorgan. Wir dachten schon, sie wollte uns von ihrem Gold fern halten, aber eigentlich wollte sie nur den geschmolzenen Stein daran hindern, das Gold zu verschlingen. So scheint es zu sein, stimmte Rotbart zu. Mach dir keine so großen Sorgen, Hakenschnabel. Das Gold ist in Sicherheit, und du wirst deine Bezahlung bestimmt bekommen, sobald Zelana zurückgekehrt ist. Vielleicht erzählst du das auch den anderen Kapitänen, die sich ständig beschweren. Sie werden bezahlt, doch im Augenblick ist Zelana irgendwo in ihrer Domäne unterwegs und kümmert sich um einen neuen Notfall. Das könnte auch die Lösung für dein Problem sein, Rotbart, meinte Sorgan. Wenn sie zurückkommt, kannst du ihr erzählen, dass dein Onkel nicht ganz richtig im Kopf ist, und dann kann sie 567 ihn beseitigen und dich zum Anführer machen. Das wäre wesentlich besser als eine Meuterei, nicht wahr? Darüber solltest du einmal nachdenken, Häuptling Rotbart, fand auch Langbogen. Rotbart starrte ihn böse an. Wo liegt das Problem, Rotbart, fragte Sorgan. Das Wort Häuptling ähnelt doch sehr dem Wort Kapitän, und in meinen Ohren hat es einen zauberhaften Klang. In meinen aber nicht, widersprach Rotbart.
31 Der Wind wehte böig von Mutter Meer herein, und das bedeutete nichts Gutes für Rotbarts Pläne, den Stamm umzusiedeln. Das Dorf Lattash war vor schlechtem Wetter gut geschützt, und Rotbart konnte schon den unaufhörlichen Chor der Beschwerden hören, mit denen die Dorfbewohner ihn sicherlich überschütten würden, wann immer er an jemandem vorbeiging - falls sie tatsächlich gezwungen waren, ein neues Dorf zu gründen. Die Sonne näherte sich im Westen dem Horizont, doch wegen des Windes hatten Rotbart und Langbogen erst die halbe Nordküste der Bucht hinter sich gebracht. Langbogen schaute nach Westen. Bald haben wir kein Licht mehr, sagte er. Dann blickte er zur Küste. Ist das da nicht ein Fluss, fragte er. Rotbart sah zum Strand. Ich glaube, du hast Recht, Langbogen. Das Buschwerk verbirgt ihn, aber Büsche deuten für gewöhnlich auf Süßwasser hin. Schauen wir es uns an. Er wendete sein Kanu mit einem einzigen Paddelschlag in Richtung Strand. 368 Kennst du die Küste auf dieser Seite der Bucht, erkundigte sich Langbogen, während sie in aller Ruhe auf den Strand zupaddelten. Nein. Vor dem Strand in Lattash gibt es so viel Fisch zu fangen, dass ich nie einen Grund gesehen habe, so weit rauszupaddeln. Außerdem wollte ich die einheimischen Fische in Lattash nicht beleidigen, indem ich mein Glück woanders versuche. Fische sind in dieser Hinsicht ein wenig eigen, weißt du. Sie sind leicht verstimmt, wenn man sie nicht beachtet, und schmollende Fische beißen nicht. Das ist allgemein bekannt. Du hast, so scheint mir, einen verdrehten Sinn für Humor, Freund Rotbart. Wie kannst du das sagen, Freund Langbogen? Lass es gut sein. Langbogen spähte hinüber zu dem bewachsenen Strand. Der Fluss ist größer, als ich dachte. Wir sollten diese Gegend mal erkunden. Ich glaube nicht, dass der Stamm diesen Wind sehr gern mögen würde, meinte Rotbart zweifelnd. Lattash ist gut geschützt, und dieses Gebiet hegt sehr offen. Wind ist nicht so schlimm wie geschmolzener Stein, erinnerte ihn Langbogen, während sie das Kanu auf den Strand zogen. Werfen wir einen Blick auf den Fluss. Wenn es Brackwasser ist, wäre der Ort sowieso nicht für das neue Dorf geeignet, und dann müssen wir weiterziehen. Wenn es Süßwasser ist, sollten wir die Umgebung vielleicht erkunden. Geh voraus, stimmte Rotbart zu, und sie schlugen sich durch die windgepeitschten Büsche auf den langsam dahinfließenden Fluss zu. Ist es nicht seltsam, dass die Sonne gerade dann untergegangen ist, als wir diesen Ort erreicht haben, fragte Rotbart. Langbogen zuckte mit den Schultern. Vermutlich Zufall. Es gibt keinen Zufall, Freund Langbogen. Deswegen haben wir die Götter. Sie lassen alles passieren. Wenn du
dir den Fuß stößt, 369 dann nur deshalb, weil irgendein Gott wusste, dass du eines Tages diesem Weg folgen würdest, und einfach so aus Scherz hat er ungefähr am Anfang der Zeit einen Stein mitten in den Weg gelegt. So sind die Götter. Sie treiben die ganze Zeit ihre Späße mit uns. Hörst du jetzt auf, Rotbart? Wahrscheinlich nicht. Ich mag das Absurde. Das macht das Leben lustiger. Rotbart duckte sich unter einem kurzen Ast hindurch, der aus einem großen Busch ragte. Dieses Durcheinander müssen wir beseitigen, wenn wir herziehen sollten, knurrte er. Die Frauen des Stammes werden es nicht mögen, wenn sie sich jedes Mal durch solches Gestrüpp zum Fluss kämpfen müssen. Sie erreichten das Ufer des langsam dahinziehenden Flusses, und Langbogen beugte sich hinunter und probierte das Wasser. Nicht so schlecht, wie es aussieht, sagte er. Ein wenig schlammig, doch später im Sommer sollte es klarer werden. Morgen früh können wir die Gegend flussaufwärts erkunden. Wenn es hier in der Nähe eine Wiese gibt, sollten wir die Stelle ernsthaft in Betracht ziehen. Vielleicht, stimmte Rotbart zu, aber besser sollten wir noch weitere Stellen finden. Auf diese Weise bekommt der Stamm die Gelegenheit zu wählen - und zu streiten. Streiten ist gut für die Menschen, wusstest du das ? Dabei wallt das Blut auf, und faules Blut ist überhaupt nicht gesund. Er schaute sich um. Ich werde ein paar Angelhaken auswerfen, sagte er. Wenn wir hier am guten alten Windstrand unsere Zeit vertrödeln, brauchen wir etwas zu essen. Ausgesprochen vernünftig, lobte Langbogen. Als die Sonne am nächsten Morgen aufging, legte sie einen trüben roten Schein auf die Rauchwolke über Lattash und schien Rotbart daran erinnern zu wollen, dass das Dorf nicht mehr lange existieren würde. Das geschah zwar jeden Morgen, seit die Zwillingsberge am Ende der Schlucht den Krieg beendet hatten, aber Rotbart war trotzdem unglücklich mit der ganzen Sache. Er kämpfte sich durch das Gebüsch zum Fluss und zog die Leinen, die er am vorigen Abend ausgelegt hatte, aus dem Wasser. Die Größe der Fische, die angebissen hatten, überraschte ihn. Gar nicht so schlecht, Freund Rotbart, meinte Langbogen, als dieser seinen Fang zum Lagerfeuer brachte. Das sollten wir erwähnen, wenn wir nach Lattash zurückkehren. Wenn man hier gut angeln kann, macht es den Abschied vom alten Dorf bestimmt leichter. Das wird sich zeigen. Leg du Holz nach, und ich nehme die Fische aus. Dann gibt es Fisch zum Frühstück. Hört sich gut an, stimmte Langbogen zu und schichtete Zweige auf das Feuer. Der Wind hat nachgelassen, stellte er fest. Wie schade, sagte Rotbart. Er hielt das Eisenmesser in die Luft, das Hase für ihn geschmiedet hatte. Damit kann man den Fisch viel schneller ausnehmen. Eisen ist gut für Werkzeuge. Hoffentlich lässt uns Zelana die Eisenwerkzeuge behalten, wenn wir all diese Kriege gewonnen haben und die Maags wieder nach Hause ziehen. Warum sollte sie uns auffordern, sie wegzuwerfen? Ich weiß es nicht - aus Gründen der Reinheit vielleicht. Ihr könnte der Gedanke einer Verunreinigung missfallen. Götter sind manchmal komisch. Das ist mir auch aufgefallen, antwortete Langbogen und lächelte dabei nicht. Die Fische waren von gänzlich anderer Art als diejenigen, die man in der Bucht fing, und sie schmeckten sehr gut. Rotbart hoffte, das würde ihm helfen, die Angehörigen des Stammes von der Eignung dieses Ortes zu überzeugen, auch wenn es einige Nachteile gab. Hier würde es niemals so schön sein wie in Lattash, und der ständige Wind würde den Stamm genauso stören wie das dichte Buschwerk und der schlammige Fluss. Nachdem sie gegessen hatten, erhob sich Langbogen. Schauen 370 371 wir uns ein wenig um, schlug er vor. Bislang haben wir Süßwasser und guten Fisch gefunden. Mal sehen, was dieser Ort noch zu bieten hat. Das Morgenlicht hatte einen bläulichen Stich, als die beiden den Wald betraten, der oberhalb des Sandstrandes begann. Die Bäume waren riesig, und sie schirmten den unaufhörlichen Wind ab, der den Aufenthalt am Strand so unangenehm machte. Wild, sagte Langbogen leise und zeigte nach rechts. Es schien eine recht große Herde zu sein - zwei Dutzend Tiere mindestens -, und bei den ausgewachsenen Hirschen weideten auch etliche gefleckte Kitze. Sie stehen gut im Futter, befand Rotbart. Das würde ich auch sagen. Schleichen wir uns vorbei. Wir sollten sie nicht aufscheuchen, während sie fressen. Die beiden zogen leise durch den feuchten Wald. Nach ungefähr einer halben Meile wurde es vor ihnen heller, ein deutlicher Hinweis auf eine Lichtung. Als sie an den Waldrand kamen, sah Rotbart, dass Lichtung untertrieben war. Die Wiese hinter den Bäumen erstreckte sich meilenweit, und der Bach, den sie am vorigen Tag am Strand gesehen hatten, floss in großen Bögen hindurch. Das Gras stand sehr hoch, und eine ansehnliche Herde Bisons graste im sanften Licht der Morgensonne. Damit wäre die Frage wohl beantwortet, sagte Langbogen. Es scheint mir, die Frauen haben hier fünfmal so viel
Land, wie sie brauchen. Mindestens fünfmal, stimmte Rotbart zu. Diese Bisons könnten zwar ein kleines Problem darstellen, doch finden wir schon eine Möglichkeit, sie aus den Gärten fern zu halten. Er blickte sich mit einer gewissen Befriedigung um. Wir können nach Lattash zurückkehren, Freund Langbogen. Ich glaube, einen besseren Platz als diesen werden wir nicht finden. 372
Der einzige Makel ist der Wind, fügte Langbogen hinzu. Der Stamm muss lernen, mit dem Wind zu leben, denke ich. Gutes Fischen, gute Jagd und gutes Ackerland sind die wichtigen Dinge. Das ist genau der richtige Ort. Man weiß es nie, Freund Rotbart. Die perfekte Stelle liegt vielleicht nur ein paar Meilen weiter. Im Augenblick ist mir nicht nach Perfektion zumute, Freund Langbogen. Diese Stelle ist mir gut genug. Spielverderber. Am Vormittag schoben sie Rotbarts Kanu in das kabbelige Wasser der Bucht, und der Wind, der ihnen das Leben am Tag zuvor schwer gemacht hatte, wehte nun aus der entgegengesetzten Richtung, weswegen sie rasch vorankamen. Rotbart fühlte eine gewisse Zufriedenheit. Der stete Wind und das dichte Gebüsch am Flussufer waren Nachteile, sicherlich, doch die Vorteile des Ortes überwogen bei weitem. Vor allem würde es Häuptling Weißzopf vielleicht über seinen Kummer hinweghelfen, dass es in der näheren Umgebung keine Berge gab. Nach dem, was Rotbart gesehen hatte, dürfte keine Erhebung in der Nähe des Strandes mit Recht den Namen Berg tragen. Es gab ein paar abgeflachte Hügel, doch speien Hügel für gewöhnlich kein Feuer, und ihre sanften Hänge wären zudem ein Schutz gegen die Frühjahrsfluten, die ein großes Ärgernis in Lattash waren. Alles in allem war es ein guter Platz, und wenn er seinen Onkel überreden konnte, dass der Stamm hierher zog, würde Häuptling Weißzopf seinen Kummer vielleicht überwinden und wieder Entscheidungen treffen können. Das war im Augenblick Rotbarts Hauptsorge. Allein bei dem Gedanken, die umfassende Verantwortung eines Häuptlings übernehmen zu müssen, wurde ihm heiß und kalt. Er genoss seine Freiheit zu sehr, um an Führerschaft Freude zu haben. Am späten Nachmittag erreichten sie den Hafen von Lattash, 373
und Langbogen, der am Bug saß, blickte über die Schulter zurück. Wo wir sowieso schon einmal hier sind, lass uns ein Stück nach Süden paddeln. Ich denke, wir sollten uns mit Narasan unterhalten. Das denke ich auch, stimmte Rotbart zu und steuerte das Kanu auf die ankernde trogitische Flotte zu. Die Sonne stand dicht über dem Horizont im Westen und verwandelte den Himmel in ein Meer aus rotem Rosa, als sie Kommandant Narasans breites Schiff erreichten. Der junge Trogit Keselo stand mit besorgter Miene an der Reling. Keselo war ein kluger Kopf, war Rotbart aufgefallen, doch nahm er stets alles so ernst. Gibt es ein Problem, rief er zu ihnen hinunter, während Rotbart mit dem Kanu an dem Schiff anlegte. Oh, nichts Ernstes, antwortete Rotbart und versuchte, beiläufig zu klingen. Die Feuerberge spucken immer noch, das Dorf Lattash ist zum Untergang verurteilt, und seit zehn Tagen hat es nicht geregnet. Davon abgesehen ist alles in Ordnung. Ich wünschte, du würdest mich nicht auf den Arm nehmen, Rotbart, meinte Keselo mit gequälter Miene. Wir wollen mit deinem Kommandanten sprechen, Keselo, sagte Rotbart. Ganz offensichtlich haben wir ein Problem, und er könnte uns vielleicht mit einer Lösung behilflich sein. Gibt es wieder Ärger in der Schlucht, fragte Keselo angespannt. Dort oben ist alles in Ordnung, erwiderte Rotbart. Unser Problem befindet sich ein wenig näher - hier draußen in der Bucht nämlich. Sorgan Hakenschnabel und die anderen Maags sind noch nicht bezahlt worden, erklärte Langbogen, und darüber sind sie nicht glücklich. Wir hoffen, dein Kommandant kann uns helfen, sie friedlich zu halten. Habt ihr schon einmal an Bier gedacht, meinte Keselo und lächelte schwach. Viel Bier? 374
Interessanter Gedanke, antwortete Rotbart, aber irgendwann sind sie wieder nüchtern, und sich mit einem Maag zu streiten, der Kopfschmerzen hat, wird auch nicht viel Spaß machen. War nur so eine Idee, meinte der junge Trogit. Kommt an Bord. Ich bringe euch zum Kommandanten. Rotbart stieg als Erster die Leiter hinauf auf das breite Deck des trogitischen Schiffes, Langbogen folgte ihm, und gemeinsam gingen sie Keselo hinterher zum Heck. Ja, rief Narasan, als Keselo höflich an der Tür klopfte. Rotbart war während des Krieges in der Schlucht oben aufgefallen, dass sich die Trogiten gern in einer lästigen Förmlichkeit ergingen und dass die wenigsten etwas besaßen, das man auch nur entfernt als Humor bezeichnen konnte. Du hast Besuch, Kommandant, erstattete Keselo Bericht. Narasan öffnete die Tür zu seinem recht großzügigen Quartier. Guten Abend, meine Herren, begrüßte er Rotbart und Langbogen. Kann ich etwas für euch tun? Möglicherweise, antwortete Langbogen. Du kommst doch sehr gut mit Sorgan Hakenschnabel zurecht, nicht wahr? Er greift nicht unwillkürlich zum Schwert, wenn er mich sieht, antwortete Narasan. Gibt es Schwierigkeiten mit
ihm? In letzter Zeit klagt er sehr viel, sagte Rotbart. Zelana hat ihn hier zurückgelassen, ohne ihm das Gold zu geben, das sie ihm versprochen hat, und diese Tatsache gefällt ihm ganz und gar nicht. Das hat er ein- oder zwölfmal mir gegenüber erwähnt, erwiderte Narasan grinsend. Eigentlich ist es das Einzige, worüber er im Augenblick spricht. Er glaubt anscheinend, Zelana wolle ihn um das Gold betrügen, das sie ihm schuldet. So etwas würde sie nie tun, erklärte Langbogen überzeugt. Wo ist sie denn? Wir wissen es nicht genau, räumte Rotbart ein. Ich habe lediglich Vermutungen, doch denke ich, sie hatte einfach nicht rich375
tig verstanden, was Krieg bedeutet. Töten ist nur ein Wort. Wahrscheinlich war sie nicht darauf vorbereitet, es mit ansehen zu müssen. Ist sie tatsächlich so unschuldig, fragte Narasan überrascht. Sie hat ziemlich lange Zeit allein gelebt, antwortete Langbogen und verschwieg die eine oder andere Gegebenheit, von der er glaubte, Narasan würde sie ihnen sowieso nicht abnehmen. Dann haben wir wohl ein Problem, meine Herren, meinte Narasan und runzelte besorgt die Stirn. Sorgan hat mir sein Wort gegeben, seine Leute in den Süden zu bringen und mir in dem Krieg zu helfen, für den ich mein Gold bekommen soll, doch wird er die Domäne der werten Dame Zelana nicht eher verlassen, bis sie ihn bezahlt hat. Allerdings brauche ich ihn dort unten, denke ich, aber wie die Dinge stehen, wird er sich nicht rühren, ehe er das Gold für diesen Krieg erhalten hat. Langbogen kratzte sich nachdenklich an der Wange. Warum bleibst du nicht noch ein bisschen hier und wartest, schlug er vor. Ich kann dir nicht ganz folgen, Langbogen, gestand Narasan. Wir benötigen jemanden, der Zelana überreden kann, hierher zurückzukommen und Sorgan zu bezahlen, nicht wahr? Das trifft die Sache auf den Punkt, ja? Zelanas Bruder benötigt dich, um den Krieg in seiner Domäne zu führen, nicht wahr? Dafür bezahlt er mich, bestätigte Narasan. Wenn du nicht eintriffst, obwohl er dich erwartet, wird er vermutlich herkommen und nachschauen, was dich aufhält, nicht wahr? Mit ziemlicher Sicherheit. Veltan ist vermutlich der Einzige, der seine Schwester überreden kann, das zu tun, was sie tun soll, und wenn wir alle hier herumsitzen und uns weigern, aufzubrechen, muss er Zelana suchen und hierher zerren. Dann bezahlt sie Sorgan, und die Maags feiern 376 ein bisschen. Nachdem sie ausgenüchtert sind, werden sie sich deiner Flotte anschließen, und du kannst nach Süden segeln, um für Veltan in den Krieg zu ziehen. Damit wären alle unsere Probleme gelöst, oder nicht? Du kannst ein ganz schön verschlagener Bursche sein, wenn du willst, Langbogen, sagte Narasan. Langbogen zuckte mit den Schultern. Wenn ich damit Erfolg habe. Dann müssen wir jetzt nur noch das Stillsitzen üben, meinte Rotbart. Erst nachdem wir deinen Stamm in seine neue Heimat gebracht haben, Freund Rotbart, erinnerte Langbogen ihn. Wir sollten besser nach Lattash zurückkehren und schauen, ob dein Onkel wieder bei Sinnen ist. Falls nicht, müssen wir uns noch um einige andere Dinge kümmern. Ist Häuptling Weißzopf etwa krank, erkundigte sich Narasan. Ich weiß nicht, ob krank der richtige Ausdruck ist, antwortete Rotbart. Wegen dieser Feuerberge ist der Fluss ausgetrocknet, und wenn von dort oben noch mehr geschmolzener Fels herunterkommt, wird Lattash - mitsamt dem ganzen Stamm - geröstet. Langbogen und ich haben einen sicheren Ort für den Stamm gefunden, allerdings brauchen wir die Erlaubnis meines Onkels, ehe wir mit dem Umzug beginnen können, und ich bin nicht sicher, ob er seine Zustimmung erteilen wird. Kann ich euch da irgendwie behilflich sein, fragte Kommandant Narasan. Nein, aber trotzdem vielen Dank, sagte Langbogen. Ich glaube, Häuptling Rotbart hier wird sich darum kümmern. Hörst du bitte damit auf, knurrte Rotbart. Vermutlich nicht, sagte Langbogen. Du solltest dich langsam daran gewöhnen, mein Freund. Ich glaube, Häuptling zu sein ist eine Sache, vor der du dich nicht mehr lange drücken kannst. 377
32 Einer-Der-Heilt, der Schamane von Langbogens Stamm, machte Rotbart stets ein wenig nervös. Ein gewöhnlicher Schamane konnte gebrochene Knochen versorgen und kleinere Krankheiten mit Kräutertränken
behandeln, doch Einer-Der-Heilt schien ein wesentlich größeres Wissen als der durchschnittliche Schamane zu besitzen, und er scheute sich nicht vor gewissen Experimenten. Die Dunkelheit hatte sich über Lattash gesenkt, als Rotbart sein Kanu auf den Strand setzte, und zusammen mit Langbogen ging er durch das stille Dorf zur Hütte von Häuptling Weißzopf. Einer-Der-Heilt war dort, hockte vor dem Feuer in der Mitte der Hütte und beobachtete aufmerksam den schlafenden Häuptling. Er legte den Zeigefinger an die Lippen, als Rotbart und Langbogen eintraten. Weckt ihn nicht, flüsterte er. Ist er krank, fragte Rotbart leise. Nicht richtig, erwiderte der alte Schamane und stand auf. Gehen wir nach draußen, schlug er vor. Du musst ein paar Dinge erfahren. So verließen sie die Hütte und gingen ein Stück. Deinen Häuptling bewegt so einiges, Rotbart, sagte Einer-DerHeilt ernst. Das ist mir schon aufgefallen. Kannst du ihn heilen? Mit der Zeit vielleicht, doch nicht sogleich. Während des letzten Krieges ist einiges passiert, mit dem sich dein Häuptling nicht abfinden kann. Das Dorf Lattash ist ein Teil von ihm - so sehr, dass er den Verlust nicht verkraften kann. Ich weiß. Gibt es einen ... Rotbart brachte den Satz nicht zu Ende. Es gibt einen sehr starken Trank - eine Mixtur bestimmter Wurzeln, Blätter und seltener Muscheln -, der das Bewusstsein 378
dämmern lässt und die heftigen Gefühle beruhigt. Ich benutze diesen Trank sehr selten, aber diesmal scheint er notwendig zu sein. Bevor er einschlief, habe ich ihm ein paar Vorschläge gemacht - und einige andere, nachdem er eingeschlafen ist. Die Bürde der Führerschaft wird ihm höchst lästig sein, wenn er erwacht, und gern wird er seine Autorität an jemanden übergeben, dem er vertrauen kann -dir vermutlich. Denn dir vertraut er, also bist du seine wahrscheinlichste Wahl. Das hast du alles von langer Hand geplant, Langbogen, wie, wollte Rotbart vorwurfsvoll wissen. Deshalb nennst du mich die ganze Zeit Häuptling Rotbart. Die Wahl ist ziemlich offensichtlich, Freund Rotbart. Für dich ist es an der Zeit, erwachsen zu werden. Du besitzt die notwendigen Fähigkeiten, doch versuchst du dies zu verbergen, weil du die Verantwortung scheust. Dein Stamm braucht dich, und du kannst ihm nicht den Rücken kehren. Es ist gemein, so etwas zu sagen, Langbogen, fuhr ihn Rotbart an. Du schiebst mir die Pflicht geradewegs in den Hals. Dann kannst du sie auch gleich schlucken, mein Freund, erwiderte Langbogen, weil ich sie jedes Mal, wenn du sie ausspuckst, aufheben, abstauben und dir wieder in den Hals stopfen werde. Ich hasse dich. Nein, das tust du nicht. Du bist nur sauer, weil deine Kindheit nun vorbei ist und du erwachsen geworden bist. Es wird noch eine Weile dauern, bis du dich daran gewöhnt hast, aber letztendlich wird es dir gefallen. Falls es dich tröstet, kann ich mich hinter dich stellen und dir jedes Mal eine Kopfnuss verpassen, wenn du etwas falsch machst. Und wenn ich Fehler begehe? Jeder macht Fehler, Häuptling Rotbart, sagte der alte Schamane. Auf diese Weise lernen wir - nicht die beste Art vielleicht, aber man kann sie gebrauchen. 379
Es war sehr spät, dennoch zwang Rotbart sich, wach zu bleiben, während er mit gekreuzten Beinen neben der Bettstatt seines Onkels saß. Häuptling Weißzopf schlief offenbar tief, weshalb Rotbarts Nachtwache nicht sehr viel Sinn zu ergeben schien, doch wegen der Anwesenheit der Ältesten des Dorfes hier in Weißzopfs Hütte fühlte er sich verpflichtet, wach zu bleiben. Seine Gedanken schweiften umher, und er musste sie immer wieder auf seine Aufgabe zurücklenken. Seine Augen brannten, und er hätte am liebsten ein wenig gedöst. Die Nachtwache in der Hütte seines Onkels war ein wenig eigenartig. Weißzopf lag ja keineswegs im Sterben, und dennoch war einer der Ältesten nach dem anderen gekommen und hatte sich ohne ein Wort in der Hütte niedergelassen. Rotbart war auch in dem Punkt überzeugt, dass es sich dabei um eine abgesprochene Sache handelte. Dann schlug Häuptling Weißzopf die Augen auf. Hast du gut geschlafen, Onkel, fragte Rotbart. Nein, nicht sehr gut. Gleichgültig, wie lange ich schlafe, wache ich doch stets müde auf. Die Lage in Lattash ist nicht so, wie sie sein sollte, und mir scheint es, ich bin nicht länger fähig, diese Sorgen zu ertragen. Er setzte sich auf und lächelte schwach. Ich hatte gehofft, der Schlaf würde mir erlauben, die Sorgen zu verdrängen und nach Lattash zurückzukehren, als es noch ein guter und schöner Ort zum Leben war, doch so ist es leider nicht. Die Feuerberge gehen mir nicht aus dem Sinn - nicht einmal, wenn ich schlafe. Er schüttelte den Kopf und seufzte. Dann richtete er sich auf, seine Stimme wurde fester, und in seinen Augen zeigte sich ein schwaches Leuchten. Ich glaube, es ist Zeit für einen Wechsel, mein Junge. Was alt ist, geht fort, und was neu ist, nähert sich rasch, und mir gefällt das Neue nicht. Lattash ist alt, und ich bin alt. Du solltest der Neue sein, und du solltest einen neuen Ort finden, den der Stamm sein Zuhause nennen kann.
380
Rotbart zuckte zusammen. Er hatte gehofft, dies würde sich vermeiden lassen. Langbogen und ich haben uns gestern einen neuen Ort angeschaut, Onkel, wagte er sich vor. Er ist zwar nicht so schön wie Lattash, doch ich glaube, dort ist es sicherer. Es gibt einen Fluss, der trage vor sich hinfließt, weil er durch flache Hügel zum Meer strebt und nicht aus den Bergen herunterstürzt. Langbogen und ich haben keine Anzeichen von Frühjahrsfluten gesehen, was so schlecht nicht ist; in manchen Jahren war unser Fluss in Lattash ein bisschen zu ausgelassen. Es ist sicherlich kein schlechter Fluss, nur im Frühjahr war er stets zu aufgeregt. Jagd und Fischen sind ebenfalls gut an dem Ort, den Langbogen und ich entdeckt haben, und es gibt viel freies Land zum Pflanzen. Mir scheint es, du hast eine weise Wahl getroffen, mein Junge. Mit der Zeit wird das Andenken an Lattash schwächer werden, möchte ich vermuten, und in dem neuen Dorf wird der Stamm glücklich werden. Es ist ein viel versprechender Platz, Onkel, erwiderte Rotbart und verschwieg den Wind, der vermutlich einige Probleme bereiten würde. Das Beste daran sind bestimmt die flachen Hügel. Berge sind hübsch anzuschauen, aber sie geraten so häufig außer sich und speien dann Feuer. Das ist mir auch schon aufgefallen, mein Junge. Berge sind jung, und manchmal wollen sie einfach ein bisschen angeben. Flache Hügel sind älter, sie haben mehr Verstand. Häuptling Weißzopf erhob sich. Es scheint, alt ist nicht mehr so gut, wie es einst war, sagte er zu den Ältesten des Stammes. Ich würde es für das Beste halten, wenn auch die Führerschaft des Stammesjung wird. Die Ältesten nickten ernst. Der Ort ist gut, und wir stimmen alle zu, verkündete Häuptling Weißzopf. Ich werde einen letzten Vorschlag machen und dann nicht mehr über diese Angelegenheit sprechen. Rotbart ist der Sohn meines jüngeren Bruders, der vor vielen Jahren gestorben ist. 381 Ihr habt vielleicht bemerkt, dass Rotbart oft lacht und das Leben genießt. Ich fürchte, er wird seltener lachen, wenn wir ihm die Bürde der Führerschaft auferlegen. Das Gesicht des alten Mannes zeigte nicht den leisesten Hinweis auf ein Lächeln. Die Stammesältesten hingegen grinsten breit. Rotbart war überhaupt nicht belustigt. Gleichgültig, was er auch tat, Langbogen war ihm immer einen Schritt voraus. Am nächsten Morgen ging Rotbart durch Lattash und unterrichtete die Männer des Stammes davon, dass er und Langbogen einen geeigneten Ort für ein neues Dorf gefunden hatten. Sein Status im Stamm hatte sich zwar jetzt geändert, doch wollte er nicht herumstolzieren und es jedem unter die Nase reiben. Die meisten Männer zeigten sich interessiert, als er ihnen die Stelle beschrieb, allerdings gab es auch Widerspruch, weil der neue Platz Unterschiede zum alten aufwies. Manchen schien die Aussicht auf Veränderung sehr zu beunruhigen. Geduldig erinnerte Rotbart immer wieder daran, welche Gefahr drohte, wenn die Feuerberge weiterhin geschmolzenen Fels spien und das Dorf mit allen Bewohnern einschlössen. Diejenigen, die widersprachen, antworteten mit Vielleichts. Vielleicht legen sich die Feuerberge wieder schlafen, oder: Vielleicht kommt Zelana zurück und löscht die Feuer, oder - die absurdeste Antwort überhaupt: Vielleicht gibt es einen starken Regen, der das Feuer löscht. Diese Dummköpfe glaubten offensichtlich, wenn sie nur lange genug über das Problem redeten, würde es sich schon von allein lösen. Manchmal hätte Rotbart am liebsten laut aufgeschrien. Ich glaube, du hast möglicherweise den falschen Weg eingeschlagen, Freund Rotbart, tadelte Langbogen gegen Mittag. Frag nicht, befiehl. Du verstehst mich nicht, Langbogen. Einen Dummkopf sollte man niemals nach seiner Meinung zu einer Entscheidung fragen, die längst getroffen wurde, weil er dir seine Meinung darlegen wird, und das dauert gewöhnlich den ganzen Tag. Diese Stellung ist noch neu für mich, Freund Langbogen, erinnerte Rotbart ihn. Ich taste mich gerade in meine neue Aufgabe hinein. Es wäre doch nicht sehr höflich, wenn ich einfach herumliefe und allen Befehle erteile. So wie du es machst, kommst du nicht voran, Freund Rotbart. Du hast keine Zeit für Höflichkeit. Die Pflanzzeit hat bereits begonnen, die Frauen des Stammes sollten aussäen. Wenn die Frauen nichts säen, wird im Winter niemand zu essen haben. Rotbart blinzelte. Das hatte ich wohl ganz vergessen, räumte er verlegen ein. Fleisch und Fisch sind nur ein Teil der Nahrung, die den Stamm am Leben hält, Rotbart. Jäger vergessen das gelegentlich. Wenn ich derjenige wäre, der vor dieser Aufgabe stünde, würde ich mich mit den Frauen und nicht mit den Männern unterhalten. Beleidige nie diejenigen, die das Essen zubereiten. Sonst bekommst du eines Tages gekochten Sand zum Abendbrot. Ich muss mir diese Wiese ansehen, sagte die stämmige Frau mittleren Alters mit dem einfachen Namen Pflanzerin nachmittags zu Rotbart. Rotbart hatte herumgefragt, und fast alle im Stamm hatten ihm gesagt, dass die Frauen von Lattash mit ihren Problemen zu Pflanzerin gingen, weil sie meistens eine Lösung dafür wusste. Auf gewisse Weise war Pflanzerin sozusagen der Häuptling für die Frauen des Stammes, vor allem deshalb, weil sie mehr über den Anbau von essbaren Pflanzen wusste als jede andere. Sie hatte außerdem immer schlechte Laune, wenn die Dinge nicht so liefen, wie sie es wollte, und aus diesem
Grund näherte sich Rotbart ihr mit Vorsicht. Wir sprechen darüber mit meinem Freund Langbogen, antwortete er. Er hat vielleicht einiges be382 383 merkt, das mir entgangen ist. Ich will ehrlich zu dir sein, Pflanzerin. Dieser neue Ort ist bestimmt nicht so schön wie Lattash, abersicher hat Vorrang vorhübsch. Der Stamm muss von hier fortziehen, sonst trinken wir bald geschmolzenen Fels statt Wasser. Du sprichst offen, Rotbart, stellte Pflanzerin fest. Das ist selten für einen Häuptling. Ich bin noch neu dabei, räumte Rotbart ein. Du wirst es schon schaffen, sagte Pflanzerin. Reden wir also mit diesem Freund von dir. Wenn die Zeit tatsächlich so sehr drängt, wie du meinst, sollten wir uns besser sputen. Rotbart und Pflanzerin fanden Langbogen in der Hütte seines Häuptlings Alter Bär, und Pflanzerin setzte sich über jegliche Höflichkeit schlicht hinweg. Ist diese Wiese schon einmal beackert worden, fragte sie. Ich glaube kaum, antwortete Langbogen. Rotbart und ich haben keine Anzeichen gefunden, dass dort schon einmal ein Stamm gelebt hat. Wie hoch stand das Gras? Bis zur Hüfte ungefähr, oder, Rotbart? Mindestens so hoch, stimmte Rotbart zu. Dann solltet ihr lieber einen anderen Ort finden, verkündete Pflanzerin. Was ist denn falsch an diesem, wollte Rotbart wissen. Hohes Gras bedeutet eine dicke Grasnarbe, erklärte Pflanzerin, und wir müssen die Grasnarbe entfernen, ehe wir pflanzen können. Das dauert zu lange. Der Sommer steht vor der Tür, und wir hätten längst säen müssen. Wenn die Frauen den halben Sommer damit verbringen, die Grasnarbe zu entfernen, ehe sie pflanzen können, hat die Saat nicht genug Zeit zum Reifen, ehe der erste Frost kommt, und im nächsten Winter haben wir nichts zu essen. Alter Bär blinzelte sie nachdenklich an. Ich möchte zu beden384
ken geben, dass wir vielleicht einen Weg finden sollten, gewisse Traditionen zu umgehen, sagte er ernst. Wenn der Stamm von Weißzopf nach dem Wechsel der Jahreszeiten essen will, brauchen wir viele Hände, um die Grasnarbe zu entfernen, damit die Frauen pflanzen können. Aber wir haben nicht genug Frauen dazu in unserem Stamm, Häuptling Alter Bär, gab Rotbart zu bedenken. Dann müssten womöglich jene, die keine Frauen sind, aushelfen. Rotbart lachte. Das wäre für mich sicherlich der beste Weg, eine Stellung loszuwerden, die ich eigentlich gar nicht haben wollte, sagte er. Wenn ich den Männern dieses Stammes befehle, die Frauenarbeit zu erledigen, werden sie sich augenblicklich einen neuen Häuptling suchen. Ich bin mit den Sitten in deinem Stamm nicht vertraut, Häuptling Rotbart, gab Alter Bär zu, aber in meinem Stamm ist es Männerarbeit, die Hütten zu bauen. Trifft das auch auf deinen Stamm zu? So ist es, meinte Rotbart. Worauf willst du damit hinaus? Als ich noch jung und abenteuerlustig war, bin ich weit nach Norden gewandert, in die Domäne von Zelanas älterem Bruder Dahlaine, und ich fand einen Ort, wo es keine Bäume gab. In diesem Land wuchs nur Gras. In der Gegend gab es viel Wild - große Hirsche und wilde Kühe -, denn sie fanden reichlich Gras zum Fressen. Die Jagd war sehr gut, doch durch den Mangel an Bäumen wurde der Bau der Hütten schwierig. Die Menschen, die an diesem Ort ohne Bäume lebten, dachten lange über das Problem nach, und ein kluger junger Mann hatte eine Idee. Da es keine Bäume gab, musste der Stamm notgedrungen Hütten aus etwas bauen, das kein Baum war. Ich denke, Hütten aus Gras wären nicht sehr gut im Winter, meinte Rotbart skeptisch. 385
Das erschien mir ebenfalls so, sagte Alter Bär, doch lag ich falsch. Der kluge junge Mann sah, dass das Gras nicht nur Stängel hatte, sondern auch Wurzeln, und die Wurzeln klammern sich fest an den Boden, aus dem das Gras wächst. Das Ergebnis nennen wir eine Grasnarbe, und aus Soden, die er aus dieser Grasnarbe gestochen hat, baute der kluge junge Mann seine Hütte. Die anderen Männer des Stammes erkannten die Weisheit seines Tuns, und sie bauten ihre Hütten ebenfalls aus Soden. Ich habe mehrere dieser Hütten betreten und stellte fest, dass kein Wind - wie stark er auch sein mag - durch eine Hütte aus Soden wehen kann, und auch der Winter durchdringt eine solche Wand nicht. Die Hütten waren stabil und warm noch während der kältesten Zeit, und die Menschen des Stammes waren zufrieden. Und so denke ich mir, wenn den Männern deines Stammes befohlen würde, ihre Hütten aus Soden zu bauen, würden sie gleichzeitig viel Boden zum Pflanzen für die Frauen urbar machen, ohne sich dabei zu schämen, weil sie Frauenarbeit erledigen. Du darfst dich glücklich schätzen, einen so weisen Häuptling zu haben, Langbogen, sagte Pflanzerin und lächelte breit. Das nächste Problem ist, wie man die Männer des Stammes davon überzeugt, die Hütten aus Soden zu bauen und nicht aus Ästen und Büschen, meinte Rotbart immer noch skeptisch. Wenn ich mich recht entsinne, war es am Strand in der Nähe des Flusses sehr windig, grübelte Langbogen. Das erschien mir auch so, stimmte Rotbart zu. An einem so windigen Ort ist es vielleicht keine gute Idee, eine Hütte aus Ästen zu errichten. Es wäre doch
höchst peinlich, wenn die Hütte mitten im Winter vom Wind umgekippt wird, oder? Peinlich wäre nicht das richtige Wort, Langbogen, sagte Rotbart. Ich denke, es geht noch weit darüber hinaus. Die Winter-winde sind wesentlich heftiger als die Sommerwinde. Wenn wir die Männer des Stammes überreden wollen, die Grasnarbe jetzt zu ste386 chen, damit die Wiese zum Pflanzen vorbereitet wird, sollten wir uns nicht auf den Sommerwind verlassen. Du und ich müssen dem Sommerwind wohl ein wenig nachhelfen, Freund Rotbart, meinte Langbogen. Wenn jede Hütte, die die Männer deines Stammes gebaut haben, in einer windigen Nacht einstürzt, werden Soden sehr reizvoll aussehen. Ihr Männer von Alter Bars Stamm seid aber ganz schön hinterlistig, nicht wahr, stellte Pflanzerin fest. In der Tat, Pflanzerin, sagte Alter Bär und grinste breit, und das erleichtert mir das Leben ungemein. Etwas würde ich dich gern noch fragen, Häuptling Alter Bär, sagte Rotbart ein wenig zögerlich. Ich werde antworten, so gut es mir möglich ist, Häuptling Rotbart. Ist es für einen Häuptling eigentlich unbedingt erforderlich, so förmlich zu sprechen? Das ist Teil der Pose, die mit seiner Stellung verbunden ist, Häuptling Rotbart, antwortete Alter Bär ein wenig lockerer. Förmliches Reden lässt den Häuptling so klingen, als wisse er, was er tut. Wenn du förmlich sprichst, tun die Männer deines Stammes für gewöhnlich, was du von ihnen verlangst. Förmliche Sprache lässt dich weiser klingen. Aber es ist so ermüdend, auf diese Weise zu reden, klagte Rotbart. Wem sagst du das, erwiderte Alter Bär ironisch. Es ist lästig und aufgeblasen, und die halbe Zeit vergisst du, was du eigentlich sagen wolltest, ehe du mit Reden fertig bist. Wichtig ist jedoch, dass du weise klingst - sogar wenn du die größten Dummheiten erzählst. Der alte Häuptling hielt inne. An deiner Stelle, Rotbart, würde ich mir diese Redeweise angewöhnen. Es ist eines der Geheimnisse unseres Handwerks. Wenn du dir die Häuptlinge der Fremdlinge anschaust, wirst du feststellen, dass sie es auf ihre Art 387
genauso machen. Solange du dich so anhörst, als wüsstest du, was du tust, werden die Männer deines Stammes es dir glauben. Dann dient es also nur der Irreführung, wollte Rotbart wissen. Nun, so könnte man es ausdrücken, antwortete Alter Bär. Der Ort liegt nicht annähernd so gut geschützt wie das alte Dorf, merkte Sorgan Hakenschnabel an, während sich die Seemöwe ungefähr eine Woche später dem Strand näherte, wo das neue Dorf errichtet werden sollte. Aber es gibt keine Feuerberge in der Nähe, erinnerte Langbogen ihn. Weißzopfs Stamm kann ein bisschen Wind und Wetter ertragen. Das ist immer noch besser, als durch geschmolzenen Fels zu waten. Wohl wahr, nehme ich an, räumte Sorgan ein. Was haben die Leute gemacht, die wir letzte Woche hergebracht haben? Sie haben noch gar nicht angefangen, die Hütten zu bauen. Sie arbeiten ein Stück vom Strand entfernt, erklärte Rotbart. Die Männer stechen Soden, und die Frauen säen Bohnen. Wozu braucht ihr die Soden? Wir wollen Hütten daraus bauen. Warum verwendet ihr denn keine Äste wie drüben in Lattash? Die jungen Männer haben es zunächst versucht, als sie ankamen, berichtete Rotbart. Doch nachts erhob sich der Wind, und ihre Hütten brachen zusammen. Das muss ein ganz schöner Wind gewesen sein, meinte Hase. Langbogen und ich haben ein wenig nachgeholfen, gestand Rotbart. Wenn du weißt, wo du drücken musst, ist es nicht schwierig, eine solche Hütte zum Einsturz zu bringen. Wozu war das denn notwendig, fragte Hase neugierig. Wir mussten die jungen Männer überzeugen, dass Soden stabiler sind als Äste. Rotbart zog ein säuerliches Gesicht. Eigentlich war es eine Irreführung. Die jungen Männer glauben, sie würden die Soden stechen, um die Hütten zu bauen, doch eigentlich machen sie den Boden urbar, damit die Frauen Bohnen und Jamswurzeln pflanzen können. Wir müssen Vorräte für den Winter anbauen, deshalb muss die Saat in die Erde kommen. Warum musstet ihr sie denn belügen, hakte Hase weiter nach und klang ein wenig verwirrt. Pflanzen ist Frauenarbeit. Junge Männer wären beleidigt, wenn du ihnen befiehlst, auf dem Feld zu arbeiten. Hüttenbau dagegen ist Männerarbeit. Nachdem also alle Hütten in einer windigen Nachtzufällig einstürzten, schlugen Langbogen und ich stattdessen Häuser aus Grasnarbe vor. Jetzt machen sie die Wiese urbar und glauben trotzdem, sie würden Männerarbeit erledigen. Alle sind glücklich, und im Winter wird der Stamm reichlich Vorräte haben. Ihr habt aber komplizierte Regeln hier, merkte Sorgan an. Das macht das Leben interessanter, Sorgan, erwiderte Langbogen. Der Tanz um die Regeln gibt uns etwas zu tun, wenn die Fische nicht anbeißen.
33
Einige Tage später schipperte Veltan auf seinem kleinen Fischerkahn durch den schmalen Einlass der Bucht, und Zelanas jüngerer Bruder wirkte ein wenig verärgert. Was macht ihr hier, rief er, nachdem er auf dem Strand festgemacht hatte. Wir ziehen um, erklärte Rotbart. Lattash ist nicht mehr sicher, deshalb bauen wir uns ein neues Dorf. Wo ist Narasan? 388 389 Vermutlich auf seinem Schiff draußen in der Bucht. Er sollte längst unterwegs in meine Domäne sein, knurrte Veltan. Ich fürchte, er wartet noch, erwiderte Rotbart. Etwas, das längst hätte geschehen sollen, ist noch nicht geschehen, und Narasan bleibt wahrscheinlich hier, bis es so weit ist. Was hat es damit auf sich, Rotbart? Deine Schwester hat Sorgan einen großen Stapel von diesen gelben Ziegeln für die Hilfe in der Schlucht versprochen. Allerdings hat sie ihm die bislang nicht gegeben, und ich denke, Narasan möchte jetzt herausfinden, ob deine Familie ihre Versprechen einhält. Natürlich tun wir das! Dann solltest du besser deine Schwester suchen und sie an die Abmachung erinnern, riet ihm Rotbart. Narasan wird sich kaum rühren, ehe er sieht, dass Sorgan bezahlt wurde. Das liegt also ganz bei dir. Ich habe genug mit meinen eigenen Problemen zu tun. Wo ist Langbogen, fragte Veltan und zeigte einen leicht besorgten Ausdruck im Gesicht. Das letzte Mal habe ich ihn gesehen, als er den jungen Männern meines Stammes zeigte, wie man Soden sticht. Die Blöcke müssen alle dieselbe Größe haben, und die jungen Männer haben sie nicht richtig gestochen. Wozu braucht ihr denn Soden? Es würde zu lange dauern, das zu erklären, sagte Rotbart und seufzte erschöpft. Wo genau ist dieser Ort, fragte Rotbart, während Veltan durch den Einlass der Bucht von Lattash hinaussegelte. Nicht weit von hier entfernt, erwiderte Veltan ausweichend. Wir haben beide gesehen, was die Mitglieder deiner Familie bewerkstelligen können, wenn es notwendig ist, Veltan, sagte Langbogen. Ich denke, wir sind ein wenig knapp mit der Zeit, also wären Rotbart und ich nicht sonderlich verstimmt, wenn du ein bisschen mogelst. Wir betrachten es nicht als Mogeln, Langbogen, entgegnete Veltan fast entschuldigend. Wir versuchen lediglich, den Fremdlingen unsere Fähigkeiten nicht unter die Nase zu reiben, ja? Das ist zur Gewohnheit geworden, denke ich. Du und Rotbart seid Eingeborene des Landes Dhrall, und daher brauche ich nicht so geheimniskrämerisch zu sein. Wir müssen um das südliche Ende der Insel Thurn herum. Zelanas Grotte liegt nicht sehr weit auf der Westseite. Er warf den beiden einen durchtriebenen Blick zu. Wenn ihr meint, es müsse wirklich schnell gehen, könnte ich etwas anders machen. Dann wären wir in einem einzigen Augenblick dort. Allerdings wird es etwas laut. So bist du doch wie aus dem Nichts plötzlich in der Schlucht aufgetaucht, als du uns vor den Feuerbergen gewarnt hast, oder, vermutete Rotbart. Veltan nickte. Ich hatte keine andere Möglichkeit. Yaltars Traum hat uns überrascht, und wir mussten unsere Freunde in aller Eile aus der Schlucht bringen. Was hat die Berge dazu veranlasst, auszubrechen, fragte Rotbart neugierig. Diesen Ausbruch hat Yaltar in seinem Traum ausgelöst, erklärte Veltan. Die Träumer können alle möglichen Regeln brechen, wenn sie es für erforderlich halten. Aber manchmal passiert so etwas doch auch, wenn kein Träumer daran beteiligt ist, nicht wahr? Veltan nickte. Es ist ein natürliches Phänomen, sagte er. Der Kern der Welt besteht aus geschmolzenem Fels, und er steht unter enormem Druck. Hin und wieder durchstößt er die Kruste, und durch den Druck wird der geschmolzene Fels meilenweit in die Luft gespien. Er zeigte nach Westen. Dort ist die Küste von Zelanas Insel. 390
391 Wie weit sind wir jetzt wirklich von der Bucht entfernt, fragte Langbogen neugierig. Oh, antwortete Veltan und blinzelte nachdenklich, ungefähr halb so weit wie von Lattash bis zum Ende der Schlucht. Es dauert nicht mehr lange, dann haben wir Zelanas Grotte erreicht. Er kratzte sich am Kinn. Vielleicht wäre es besser, wenn wir zunächst mit Eleria reden. Sie kennt Zelana noch besser als ich, und sie kann meine Schwester beeinflussen, wie ich es mir nicht einmal erträumen würde. Balacenia war schon immer die Verschlagenste unter den Jüngeren. Wer ist Balacenia, fragte Rotbart neugierig. Das ist Elerias richtiger Name. Veltan zögerte. Ich würde das an eurer Stelle nicht herumerzählen, sagte er schließlich. Unser großer Bruder Dahlaine kam mit der Idee an, das Vlagh habe sich entschlossen, unsere Domänen zu besetzen. Die Träumer sehen zwar aus wie Kinder, sind jedoch keine. Sie sind unsere Stellvertreter, und sie übernehmen unsere Aufgaben, wenn wir schlafen gehen. Das ist ebenfalls etwas, das ihr gegenüber den Fremdlingen nicht erwähnen solltet - sie brauchen nichts über unsere Zyklen zu erfahren. Eigentlich ist es umso besser, je weniger sie über die wirklichen Ereignisse Bescheid wissen. Wenn sie herausfinden, wem und was wir
uns stellen müssen, machen sie vermutlich auf der Stelle kehrt und laufen davon. Ich habe ein paar der alten Geschichten gehört, sagte Rotbart, aber sie haben nie richtig Sinn ergeben. Gelegentlich wird etwas namens Überverstand erwähnt. Was genau ist das? Rotbart ist jetzt der Häuptling seines Stammes, erinnerte Langbogen Veltan. Vermutlich wäre es nicht schlecht, wenn er genauer über das Ding aus dem Ödland Bescheid wüsste. Damit könntest du Recht haben, Langbogen, stimmte Veltan zu. Dann sah er Rotbart an. Wie gut kennst du dich mit Insekten aus, fragte er. 392
Sie haben mehr Beine als wir, und manche können fliegen. Das ist so ziemlich alles, was ich über sie weiß. Ich habe mich immer lieber mit Dingen befasst, die ich essen kann, und auf Insekten bin ich nicht gerade erpicht. Nun, das könnte eine Weile dauern, murmelte Veltan. Also gut. Manche Insekten leben einzeln. Sie haben wenig Kontakt mit ihren Artgenossen - außer zur Paarungszeit. Spinnen sind das beste Beispiel für diese Art von Tieren. Es gibt jedoch andere Arten -überwiegend Bienen und Ameisen. Die Individuen haben praktisch keinen Verstand. Sie sind sogar zu dumm, um Angst zu haben. Vermutlich ist euch das in der Schlucht aufgefallen. Sie wirkten nicht besonders klug, stimmte Rotbart zu. Sie müssen nicht klug sein, Rotbart. Es ist dieser Überverstand, der das Denken übernimmt. Das Vlagh, meinst du? Ich habe mich immer gefragt, wie jemand herausbekommen konnte, welchen Namen dieses Ding hat. Insekten haben doch für gewöhnlich keinen Namen, oder? Vlagh ist auch eigentlich kein richtiger Name, erklärte Veltan. Es ist eher eine Art Titel. Die Geschöpfe des Ödlands betrachten es als das Vlagh, so ähnlich, wie die Angehörigen deines Stammes dich als den Häuptling betrachten. Das Vlagh hat gewisse Vorzüge. Die Geschöpfe, die ihm dienen, wissen die ganze Zeit genau, was es denkt, weil sie alle das gleiche Bewusstsein dieses Überverstandes teilen. Jedes Einzelne von ihnen weiß, was irgendein anderes gesehen oder gehört hat, und all dieses Wissen liegt im Verstand des Vlagh. Das wäre durchaus nützlich, nehme ich an, räumte Rotbart ein. Dann braucht das Vlagh keine Befehle zu erteilen, weil jeder im Stamm schon weiß, was er den ganzen Tag über denkt. Das Vlagh ist kein Er, Rotbart, berichtigte Veltan. Eigentlich ist es eher eine Sie. Es legt Eier, und nichts, was man mit Er bezeichnet, tut so etwas. 393
Wir führen Krieg gegen eine Frau}, rief Rotbart. Ich würde mir das Vlagh auch nicht als Frau vorstellen, Rotbart. Eier zu legen ist nur ein Teil dessen, was das Vlagh tut. Im Augenblick versucht es, sein Reich auszudehnen. Es will mehr Nahrung für seine Diener. Je mehr Nahrung zur Verfügung steht, desto mehr Eier kann es legen; und je mehr Diener es hat, desto umfassender wird der Überverstand. Im Moment will es nur das gesamte Land Dhrall, doch das ist lediglich der Anfang. Das Ziel des Vlagh ist die ganze Welt. Wenn es die Welt besitzt, gibt es für den Überverstand keine Grenzen mehr. Willst du damit sagen, es will die Menschen so regieren wie die Insekten, wollte Rotbart ungläubig wissen. Vermutlich nicht, erwiderte Veltan. Höchstwahrscheinlich werden die Menschen bloß eine Nahrungsquelle darstellen. Mehr Nahrung, mehr Eier. So funktioniert dieser Überverstand. Wir müssen es vernichten, platzte es aus Rotbart heraus. Ich dachte mir schon, du würdest es so sehen, stimmte Veltan zu. Die Fremdlinge glauben, sie würden für Gold arbeiten, aber in Wirklichkeit geht es auch um ihr Überleben. Wenn wir nicht gewinnen, werden die Diener des Vlagh uns zum Mittagessen verspeisen. Es war Vormittag, als Veltans Fischerkahn die Südspitze der Insel Thurn umrundete. Rotbart hatte die Küste der Insel aufmerksam beobachtet, und ihm schien es nicht so, als würde sich der Kahn sehr schnell bewegen. Denk nicht drüber nach, Rotbart, meinte Veltan. Es ist eine Täuschung von mir. Wenn du wirklich sehen würdest, was passiert, könnte es dich ein wenig durcheinander bringen. Zeit und Entfernung sind nicht ganz so fest gefügt, wie sie dir erscheinen mögen. Ich glaube, mir ist es schon recht, wenn ich nicht sehe, was du wirklich machst, sagte Rotbart. Also bleiben wir dabei. Zelanas Grotte liegt gleich vor uns. Entschuldigt mich einen Moment, meine Herren. Ich werde Eleria wissen lassen, dass wir hier sind. Er runzelte leicht die Stirn, dann lächelte er. Sie kommt heraus, sagte er. Wo raus, fragte Rotbart und blickte sich um. Aus der Grotte. Veltan zeigte auf die Oberfläche des Wassers. Der Eingang ist dort unten. Unter Wasser, wollte Rotbart ungläubig wissen. Eigentlich ist es eine Höhle, doch ist sie ganz anders als die Höhlen, die wir im Osten von Lattash haben. Veltan lachte. Dahlaine ist fast durchgedreht, als Zelana ihm sagte, dass Eleria aus der Grotte schwimmt und mit den rosa Delphinen spielt, obwohl sie damals erst fünf Jahre alt war. Genau zu diesem Zeitpunkt kam das hübsche Kind Eleria an die Oberfläche. Stimmt etwas nicht, fragte sie Veltan. Nun, so könnte man es ausdrücken, erwiderte Veltan. Geht es meiner Schwester gut? Also, eigentlich nicht besonders, antwortete Eleria. Die Geliebte hat gewisse Schwierigkeiten mit den Dingen, die oben in der Schlucht passiert sind. Ich glaube, sie hatte noch nicht so recht begriffen, was das Wort Krieg bedeutet. Dinge und Menschen zu töten scheint sie nicht so ganz zu verstehen.
Es war notwendig, Kleine, erinnerte Langbogen sie. Vielleicht, ja, doch die Geliebte hatte nicht erwartet, dass es so weit gehen würde. Sie musste sich erst einmal in ihr Zuhause zurückziehen. Kommt sie denn überhaupt zur Ruhe? Nun ja, ein wenig. Es ist schon hilfreich, hier in der Grotte zu sein. Sie hätte nicht so schnell verschwinden sollen, sagte Veltan. Denn dabei hat sie etwas sehr Wichtiges vergessen. Ach? 394 395
Sie hat Sorgan das versprochene Gold nicht gegeben, und er ist sehr unglücklich darüber. Meinetwegen kann sie sich in ihre Grotte zurückziehen, wenn sie es für notwendig hält, doch zunächst muss sie mit uns nach Lattash kommen und den Piraten zahlen, was sie ihnen schuldet. Die Verzögerung macht Narasan misstrauisch, und er wird nicht weiterziehen, ehe meine Schwester ihr Versprechen eingelöst hat. Wenn Sorgan nicht bezahlt wird, wird Narasan sich nicht von der Stelle rühren, und wie ich fürchte, werde ich ihn über kurz oder lang in meiner Domäne brauchen. Ich eile in die Grotte zurück und sage der Geliebten, dass du hier bist, Onkel Veltan. Vielleicht kann ich sie überreden, herauszukommen, aber versprechen will ich es nicht. Damit tauchte das kleine Mädchen mit einem anmutigen Kopfsprung wieder ins Wasser ein. Es schien ewig zu dauern, während die drei in Veltans sanft schaukelndem Boot saßen, doch verging nur ungefähr eine Viertelstunde, bis Eleria mit Zelana neben dem Boot auftauchte. Was gibt es denn schon wieder, fragte Zelana gereizt. Du hast offensichtlich etwas vergessen, liebe Schwester, sagte Veltan. Ich weiß, du hast zurzeit viel im Kopf, aber bestimmte Verpflichtungen sind dir anscheinend entgangen. Komm schon zur Sache, Veltan, gab sie verärgert zurück. Du hast die Maags noch nicht für ihre Dienste während der jüngsten Unannehmlichkeiten entlohnt, erinnerte Veltan sie. Ich werde mich vermutlich in den nächsten Tagen darum kümmern. In den nächsten Tagen ist ein wenig vage, meinst du nicht auch, liebe Schwester? Sorgan braucht das Gold doch im Augenblick gar nicht. Im Lande Dhrall kann er es sowieso nicht ausgeben. Er mag es vielleicht nicht brauchen, doch er will es. 396 Das ist aber schlecht. Und es wird jeden Tag schlechter. Sorgans Unzufriedenheit breitet sich aus. Narasan bezweifelt inzwischen schon die Ehrlichkeit unserer Familie. Ich habe ihn ebenfalls mit Versprechen angeheuert - genau wie du die Maags. Wenn du Sorgan nicht bezahlst, wird Narasan denken, ich würde ihn ebenfalls nicht bezahlen. Er sitzt an Bord seines Schiffes in der Bucht von Lattash und wartet auf einen Vertrauensbeweis. Du hast Sorgan dein Wort gegeben, und wenn du es nicht einhältst, werden die Fremdlinge vermutlich alles rauben, was ihnen in die Hände gerät, und dann die Segel in Richtung Heimat setzen. Ohne Narasans Hilfe kann ich meine Domäne nicht verteidigen, und wenn ich unterliege, unterliegen wir alle, und das Vlagh gewinnt die Herrschaft über das gesamte Land Dhrali. Gibt es daran etwas, das du vielleicht nicht verstanden hast? Du bist wirklich abscheulich, Veltan. Ich gebe mein Bestes, liebe Schwester. Wirst du nun dein Wort einlösen oder nicht? Also gut! Sie spie ihm die Antwort geradezu ins Gesicht. Ich gehe nach Lattash und bezahle diese gierigen Piraten, aber mehr werde ich ganz bestimmt nicht tun. An diesen Grausamkeiten werde ich mich nicht länger beteiligen! Das Gesicht des Kindes Eleria wurde hart. Das ist schon recht so, Geliebte, sagte Eleria in zuckersüßem Ton. Du kannst hier bleiben und mit den rosa Delphinen spielen, auf deiner Harfe klimpern und schlechte Poesie verfassen, wenn dich das glücklich macht. Ich gehe an deiner Stelle. Zwar bin ich wohl nicht so mächtig wie du, und möglicherweise mache ich eine Menge Fehler, aber zumindest werde ich dort sein, wo mein Volk mich braucht. Zelana riss die Augen auf. Das kannst du nicht tun, Eleria, rief sie. Ich erlaube es nicht. Dann muss ich es eben ohne deine Erlaubnis tun, nicht wahr, 397
Geliebte? Entweder gehst du oder ich gehe, mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Die Wahl liegt bei dir, Geliebte. Du oder ich. Triff eine Entscheidung, Zelana. Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit, weißt du. Rotbart war wie vor den Kopf gestoßen. Das süße Kind war plötzlich überhaupt nicht mehr süß! Er warf Langbogen einen Blick zu, um zu sehen, ob sein Freund ähnlich verwirrt war. Langbogens Miene zeigte keinerlei Hinweis auf einen Schock. Gelassen erwiderte er Rotbarts Blick. Und dann zwinkerte er viel sagend.
34 Sie fuhren geschwind an der Westküste der Insel Thurn entlang, und Rotbart beobachtete Zelana und Eleria
aufmerksam, wobei er jedoch sein Bestes tat, es sie nicht merken zu lassen. Nachdem Eleria Zelana in die Normalität zurückgeholt hatte, zeigte sie nun ihr vorheriges niedliches Verhalten, und auch Zelana war wieder ganz die Alte. Sie unterhielt sich eine Weile lang mit Veltan am Heck des Fischerkahns und gesellte sich schließlich zu Rotbart und Langbogen am Bug. Mein Bruder hat mir erzählt, Häuptling Weißzopf habe Probleme, sagte sie. Worum geht es denn? Die Feuerberge am Ende der Schlucht haben den Fluss blockiert, erwiderte Langbogen, und deshalb ist Lattash nicht länger ein guter Ort zum Leben für den Stamm. Der Gedanke, Lattash zu verlassen, setzt Weißzopf jedoch so sehr zu, dass er keine Entscheidungen mehr treffen kann. Rotbart kümmert sich um alles, und bislang hat er noch nicht zu viele Fehler gemacht. 398
Danke, Langbogen, sagte Rotbart trocken und nicht gerade freundlich. Nichts zu danken, gab Langbogen zurück. Jedenfalls, fuhr er fort, haben Rotbart und ich einen geeigneten Ort an der Nordküste der Bucht entdeckt, und Sorgans Flotte hilft dem Stamm beim Umzug dorthin. Das ist aber nett von ihm, meinte Zelana, und nett ist ja nun eine Eigenschaft, die man eigentlich nicht von ihm erwartet. Er ist kein schlechter Kerl, Zelana, widersprach Rotbart. Manchmal bringen Kriege die beste Seite bei den Menschen zum Vorschein. Wir haben ihm in der Schlucht geholfen, und jetzt hilft er uns dafür. Anschließend wird er mit Narasan in den Süden ziehen, um auch an dem Krieg in der Domäne deines Bruders teilzunehmen. Ist das nicht süß, Geliebte, sagte Eleria. Möglicherweise habe ich ihn unterschätzt, gestand Zelana. Er versteckt es gut, aber unter dieser rauen Schale scheint doch ein gewisser anständiger Kern zu stecken. Stoßen diese Feuerberge immer noch Rauch aus? Ja, als wir aufgebrochen sind, war es noch so, antwortete Rotbart. Wir hoffen, sie werden sich endlich wieder schlafen legen, doch im Augenblick grummelt es dort oben weiter. Vermutlich ist der Umzug eine weise Entscheidung deines Stammes, Rotbart, sagte sie ernst. Nachdem ein Berg erst einmal angefangen hat, Feuer zu spucken, kann er jahrelang so weitermachen, und ihr wollt doch bestimmt nicht unterhalb eines solchen Berges leben. Sie drehte sich um. Ich glaube, wir sollten uns lieber beeilen, kleiner Bruder. Holen wir unsere Freunde aus dieser Schlucht. In den nächsten Jahren wird das ein gefährlicher Ort sein. Das habe ich mir auch schon gedacht, liebe Schwester, meinte Veltan. 399
Rotbart nahm seinen Mut zusammen. Da gibt es etwas, das du wahrscheinlich wissen solltest, Zelana, sagte er. Mein Onkel hat den Ältesten gesagt, dass er als Häuptling zurücktreten will und dass ich seiner Meinung nach der Beste sei, ihn zu ersetzen. Es war nicht meine Idee, und mir gefällt die Sache auch nicht sehr gut, nun, aber wie es aussieht, bin ich jetzt Häuptling des Stammes. Dein Onkel ist sehr weise, Rotbart, versicherte Zelana ihm. Du warst die richtige Wahl. Alte Leute lassen sich manchmal leicht durcheinander bringen, wenn sich die Dinge zu schnell für sie entwickeln. Sie lächelte in Elerias Richtung. Und dann müssen die Jüngeren für sie einspringen. Als ob ich so etwas jemals tun würde, erwiderte Eleria mit Unschuldsmiene. Warum sprechen wir nicht ein andermal darüber, Kleine, sagte Zelana. Im Augenblick muss ich über wichtigere Dinge nachdenken. Rotbart sank der Mut, als Veltans Kahn den Einlass zur Schlucht von Lattash erreichte. Die Feuerberge schleuderten rote heiße Flüssigkeit meilenweit in die Luft. Er hatte allen Zweifeln zum Trotz gehofft, seine alte Heimat ließe sich vielleicht retten, doch das war wohl jetzt ein für alle Mal vorbei. Tut mir Leid, Freund Rotbart, sagte Langbogen. Es ist nicht deine Schuld, Freund Langbogen, sagte Rotbart. Nichts, das wir uns ersehnen, kommt zu uns, ohne dass wir dafür einen Preis zahlen, schätze ich. Wir haben diesen Krieg gewonnen, dafür hat er uns die Heimat gekostet. Es war ein angenehmer Ort, aber nichts währt ewig. Sorgan Hakenschnabel war der Panik nahe, als Veltan mit seinem Kahn an der Seemöwe anlegte. Wo bist du gewesen}, herrschte er Zelana mit schriller Stimme an. Dieser geschmolzene Fels kommt die Schlucht schneller herunter, als ein Mann laufen kann. Vermut400
lieh wird er noch vor Sonnenuntergang das ganze Dorf verschlungen haben, und wir werden niemals an unser Gold in dieser verfluchten Höhle gelangen. Beruhige dich, Hakenschnabel, sagte sie ungerührt zu ihm. Hase, warum springst du nicht in dein Skiff und holst Sorgans Vettern - Skell, Tori und die anderen mit ihren Schiffen? Wenn wir alles Gold in der Höhle auf die Seemöwe laden, wird sie sinken. Ja, werte Dame, sagte Hase und eilte zum Bug der Seemöwe. Wir machen schon mal weiter, Sorgan, fuhr Zelana fort. Ich muss die Barrieren entfernen, die ich eingesetzt habe, damit deine Männer das Gold aus der Höhle holen können. Könntest du vielleicht den Tunnel, in dem das Gold liegt, breiter machen, werte Zelana, bat Hakenschnabel sie. Er ist so eng, und alles würde schneller gehen, wenn ich mehr als zwei Reihen von Männern zur Arbeit aufstellen könnte. Das ist keine so gute Idee, Sorgan, entgegnete sie. Die Wände des Tunnels stützen das Dach, und wenn ich sie
weiter auseinander schieben würde, könnte die Decke einstürzen. Sag deinen Männern, sie sollen schnell arbeiten und das Gold später streicheln und hätscheln. Sie müssen die Höhle leer machen, ehe die Lava in der Bucht ankommt. Meinetwegen kann so viel in die Bucht fließen, wie will, sagte Sorgan. Wenn nur nichts in die Höhle läuft. Sobald die Lava das Wasser erreicht, werden deine Männer die Hand nicht mehr vor Augen sehen, Sorgan. Die Dampfwolken werden dichter sein als jeder Nebel, den du je erlebt hast. Also, daran hatte ich nicht gedacht, werte Dame Zelana, räumte er ein. Die Maags benutzten das gleiche Verfahren, das sie schon so erfolgreich beim Abriss der Treppe am Ende der Schlucht angewandt hatten; sie bildeten zwei Reihen und reichten die Goldziegel von Mann 401 zu Mann weiter. Der Felsgang, der vom Gold zu der großen Höhle am Eingang führte, war schmal, und deshalb war nicht genug Platz, um mehr als zwei Reihen zu bilden, doch bewegten sich die Seeleute flink, und alles schien einen recht guten Verlauf zu nehmen. Rotbart warf einen letzten Blick auf das Modell der Schlucht, das er vor dem Krieg angefertigt hatte, und aus irgendeinem Grunde folgte ihm Eleria. Huch, sagte sie. Da haben wir doch glatt etwas vergessen. Ich verstehe nicht ganz, sagte Rotbart. Unter dem Ton sind noch eine ganze Menge gelber Blöcke, schon vergessen? Plötzlich brach Rotbart in schallendes Gelächter aus. Die hatte ich auch ganz vergessen, räumte er ein. Vielleicht sollte ich Sorgan sagen, dass hier auch noch Gold liegt. Er betrachtete das Modell der Schlucht. Allerdings würde es eine Weile dauern, bis man es ausgegraben hätte. Der Ton, den wir auf die Blöcke gestapelt haben, ist inzwischen getrocknet, und die Maags müssten sich ganz schön anstrengen, wenn sie dieses Gold auch haben wollten. Das kann ihnen nicht schaden. Mir ist aufgefallen, dass Seeleute rasch träge werden, wenn sie nichts zu tun haben. Rotbart überließ die Höhle den schwitzenden Maags und stieg den steilen Hang hinter dem Dorf hinauf, und dort traf er Langbogen, der von oben herunterkam. Wie viel Zeit bleibt uns noch, fragte er seinen Freund. Ein paar Stunden höchstens, antwortete Langbogen. Der Strom fließt nicht mehr so schnell wie zuvor. Die schmale Stelle in der Schlucht, wo Skell sein Fort gebaut hat, scheint ihn zu verlangsamen. Trotzdem denke ich, wir sollten Sorgans Leute so schnell wie möglich vom Strand holen. Die Lavaflut verhält sich sehr ähnlich wie Elerias Flut. Glaubst du, der Deich kann sie zurückhalten? Ich bezweifle es. Das Wasser hat er vom Dorf fern halten können, aber Wasser ist nicht so schwer wie geschmolzener Fels, und es folgt dem Weg des geringsten Widerstands. Der Deich wurde zur Abwehr von Wasser gebaut, nicht von flüssigem Stein. Rotbart seufzte. Vielleicht ist es ja auch gut so, sagte er. Selbst wenn ein Stück des Dorfes erhalten bliebe, würde der Anblick doch nur Erinnerungen wachrufen - insbesondere bei den alten Männern des Stammes. Wahrscheinlich ist es besser, wenn keine Spur von Lattash zurückbleibt. Der Stamm muss weiterziehen, und die Erinnerungen an die Vergangenheit wären lediglich Ballast für uns. Du wirst immer besser, Häuptling Rotbart, bemerkte Langbogen, Jetzt scheinst du schon in der Lage zu sein, über den morgigen Tag hinauszuschauen. Ich habe mich nicht darum gerissen, Langbogen, jammerte Rotbart. Ich weiß, mein Freund, sagte Langbogen, und deshalb wirst du auch ein guter Häuptling sein. Dein Stamm hat Glück, weißt du. Zum richtigen Zeitpunkt warst du am richtigen Ort. Ich würde trotzdem lieber fischen oder auf die Jagd gehen. Würden wir das nicht alle gern? Wenn diese verfluchten Feuerberge nicht gewesen wären, hätte ich das Gold gelassen, wo es war, erzählte Sorgan dem Kommandanten Narasan am nächsten Morgen in seiner Kabine am Heck der Seemöwe. Wenn ich die anderen Kapitäne jetzt auszahle, segeln sie mit der Nachmittagsflut zurück nach Maag. Ich denke, wir werden sie noch brauchen, wenn wir deinen Krieg im Süden ausfechten, aber die Männer wären wohl nicht mehr sonderlich interessiert, wenn sie so viel Gold in Händen hätten. Damit hast du sicherlich Recht, Sorgan, stimmte der trogiti402 403 sehe Kommandant zu. Er lächelte schief. Manchmal kann einem Gold ganz schöne Unannehmlichkeiten bereiten, nicht wahr? Ich würde mir lieber die Zunge abbeißen, als so etwas zu sagen, murmelte Sorgan entsetzt. Das eigentliche Problem ist, dass es keine Möglichkeit für mich und meine Vettern gibt, vor den anderen die goldene Last auf unseren Schiffen zu verbergen. Die Seeleute reden zu viel - besonders, wenn sie genug Bier getrunken haben. Früher oder später wird wieder so eine Sache losgehen wie mit Kajak. Er sah Langbogen an. Hast du noch ausreichend Pfeile, fragte er trocken. So viele sind es leider nicht mehr, Hakenschnabel, antwortete Langbogen. Worauf alles hinausläuft, ist Folgendes: Ich brauche ein sicheres Versteck für das Gold, doch gleichgültig, wo
ich es verstecke, irgendwer auf diesen Schiffen wird sich irgendwann betrinken und es ausplaudern. Ich würde mich wohl darum kümmern, Sorgan, schlug Zelana vor. Solltest du nicht den verschiedenen Kapitänen deiner Flotte wenigstens einen Teil des versprochenen Goldes auszahlen, Kapitän Hakenschnabel, schlug der junge Trogit Keselo vor. Wenn du ihnen gar nichts gibst, werden sie vermutlich sehr unglücklich sein. Gibst du ihnen jedoch nur ein Viertel der versprochenen Summe und sagst ihnen, dass der Krieg noch nicht vorüber sei, werden sie zwar vielleicht nicht übermäßig in die Luft springen vor Freude, aber zumindest werden sie nicht versuchen, die Seemöwe in Brand zu setzen. Ja, das solltest du dir wirklich durch den Kopf gehen lassen, Sorgan, stimmte Narasan mit dem jungen Trogiten überein. Der Krieg, für den du die Maags angeheuert hast, ist noch längst nicht vorüber. Unser Feldzug in die Schlucht war lediglich die erste Schlacht in einem Krieg, der weitergehen wird, oder etwa nicht? Diese Schlacht haben wir gewonnen, aber ich bin ziemlich sicher, drei weitere werden folgen. Also haben sie erst ein Viertel des versprochenen Soldes verdient. Gib ihnen dieses Viertel, und sag ihnen, für den Rest müssen sie erneut arbeiten. Das könnte eine Lösung sein, meinte der kleine Maag Hase. Ein Teil der Heuer ist besser als gar keine, und vermutlich werden sie sich entscheiden zu bleiben, damit sie sich die anderen drei Viertel erarbeiten können. Das könnte eine Lösung sein, meinte Sorgan mit leichten Zweifeln. Manche von ihnen werden glauben, ich hätte sie getäuscht, und sie werden das Viertel nehmen und die Segel setzen. Sollen sie doch, schlug Zelana vor. Diejenigen, die wegrennen, sind uns doch sowieso nicht von Nutzen, oder? Die Guten werden bleiben, und die wollen wir schließlich. Wo wirst du den Rest meines Goldes verstecken, werte Dame Zelana, fragte Sorgan. Das brauchst du im Moment nicht zu wissen, lieber Sorgan, erwiderte Zelana süßlich. Ich könnte es dir natürlich sagen - aber nur, wenn du mir versprichst, bis zum Ende dieser ganzen Angelegenheit kein Bier anzurühren. Das ist ungerecht, beschwerte sich Sorgan. Du hast doch vom Leben nicht wirklich erwartet, dass es gerecht wäre, lieber Sorgan. Zelana lächelte hintergründig. Rotbart bedeckte den Mund, bis er sein breites Grinsen unter Kontrolle gebracht hatte. Zelana war immer noch so stachelig wie ein Kaktus, wenn sie nur wollte. Er hatte sich Sorgen gemacht, als sie in ihre Zuflucht auf der Insel Thurn geflohen war, doch nun war sie wieder zu Sinnen gekommen, und die ganze Lage sah wesentlich entspannter aus. Wie in aller Welt bist du auf diese Idee gekommen, fragte Zelana Rotbart, als er ihr die Grasnarbenhäuser im neuen Dorf zeigte. 404 405
Langbogens Häuptling Alter Bär hat uns erzählt, die Stämme im fernen Norden der Domäne deines Bruders bauen ihre Hütten aus Soden, weil es dort oben keine Bäume gibt. Wenn es windig ist, bieten diese Hütten den Bewohnern mehr Schutz. Aber das ist nicht der eigentliche Grund, aus dem wir uns dafür entschieden haben. Die Frauen des Stammes brauchten urbar gemachten Boden, damit sie Gemüse anpflanzen können. Die Männer halten den Ackerbau für Frauenarbeit, und es ist unter ihrer Würde, den Frauen zu helfen. Doch waren sie alle einig darin, dass der Hüttenbau Männersache ist. Daher sind Langbogen und ich nachts durch die Dunkelheit geschlichen und haben die Hütten aus Ästen umgeworfen. Danach entschieden die Männer des Stammes, dass Hütten aus Soden an einem so windigen Ort vermutlich besser seien. Pflanzerin fand, das sei äußerst nett von ihnen. Wer ist Pflanzerin? Ich würde sie den Häuptling der Frauen nennen, erklärte Rotbart. Sie weiß mehr über den Ackerbau als jeder andere. Jedenfalls gab es, nachdem die Männer ihre Männerarbeit erledigt hatten, auf der Wiese hinter den Bäumen sehr viel Boden, der zum Bepflanzen bereit war. Die jungen Männer waren sehr stolz auf ihre stabilen Hütten aus Soden, und sie bemerkten nicht einmal, dass es nur eine List war, damit sie den Frauen des Stammes beim Pflanzen halfen. Du bist ein hinterhältiger Kerl, Rotbart, sagte sie mit mildem Lächeln. Ich bin froh, dass es dir gefällt, antwortete er mit einem verschlagenen Grinsen. Alles ist gut ausgegangen. Jeder hat, was er braucht, und niemand wurde beleidigt. Alte Sitten und Gewohnheiten können einem manchmal im Weg sein, doch wenn man ein wenig um die Ecke denken kann, findet man einen Pfad drum herum. Er betrachtete das neue Dorf. Es ist zwar nicht so schön wie Lattash, sagte er mit einer gewissen Traurigkeit in der Stim406 me, aber Lattash gibt es nun einmal nicht mehr, und dieses Dorf muss uns fortan eben genügen. Nichts hält ewig, Rotbart, sagte Zelana. Nach einer Weile lernt man, seine Verluste anzunehmen und im Leben weiterzumachen. Mir persönlich gefällt es trotzdem nicht so gut, Zelana, gestand Rotbart. Es muss dir nicht gefallen, Rotbart, schnurrte sie. Du musst es nur tun. Reden wir über das Gold, meine Herren, schlug Zelana der Versammlung von Maags und Trogiten vor, die später an diesem Tag in der großen Kabine des trogitischen Schiffes stattfand, in der Kommandant Narasan für
gewöhnlich seine Geschäfte abwickelte. Ich könnte den ganzen Tag über Gold reden, meinte Sorgan Hakenschnabel und grinste breit. Das ist uns schon aufgefallen, merkte Langbogen an. Wie ihr vielleicht schon mitbekommen habt, fuhr Zelana fort, ist unser Krieg hier im Lande Dhrall noch längst nicht zu Ende. Eigentlich hat er gerade erst begonnen. Wie ihr Herren vielleicht bemerkt habt, haben Veltan und ich euch nicht über zu viele Einzelheiten in Kenntnis gesetzt, als wir euch unser Gold im Tausch gegen eure Hilfe anboten. Jetzt, nachdem wir uns ein bisschen besser kennen gelernt haben, sollten wir vielleicht über einige Bedingungen unserer ursprünglichen Vereinbarung erneut nachdenken. Ihr wollt uns nur noch die Hälfte bezahlen, fragte Sorgan und kniff misstrauisch die Augen zusammen. Nein. Ich dachte eher daran, die Summe zu verdoppeln. Ihr habt euch als doppelt so nützlich erwiesen, als wir dachten, und deshalb wäre die doppelte Menge Gold doch angemessen, oder nicht? Mir gefällt es, wie die werte Dame Zelana denkt, sagte Ochs und grinste. 407
Da bin ich mit dir einer Meinung, stimmte Gunda zu. Wirst du dem Beispiel deiner Schwester folgen, Veltan, fragte der Trogit Narasan mit einer gewissen Begeisterung. Ich würde meiner Schwester niemals widersprechen, antwortete Veltan. Nachdem ihr sie nun kennen gelernt habt, werdet ihr sicherlich verstehen, warum. In der Tat, ja, sagte Narasan. Nun, wo du es erwähnst, kann ich ja zugeben, dass es mir als der weiseste Weg erscheint. Gibt es tatsächlich so viel Gold im Lande Dhrall, wollte der knochendürre Trogit Jalkan mit spröder Stimme wissen. Berge davon, sagte Veltan und zuckte gleichgültig mit den Schultern. Unsere ältere Schwester Aracia wird sich vermutlich ihren nächsten Tempel aus diesem dummen Zeug bauen lassen. Es ist ja ganz hübsch, nur leider zu weich, um für irgendetwas nützlich zu sein. Eisen ist zwar nicht so hübsch, aber wesentlich besser verwendbar. Ein eigenartiger - fast hungriger - Ausdruck machte sich auf Jalkans Gesicht breit. Rotbart mochte diesen Trogiten Jalkan nicht besonders. Er verbrachte zu viel Zeit mit dem ständigen Versuch, bei Narasan Eindruck zu schinden - und er behandelte seine Untergebenen miserabel! Narasan blickte Sorgan an. Ich nehme an, du wirst mit uns nach Süden kommen, fragte er. Ich könnte sogar vor euch da sein, Narasan, prahlte Sorgan. Wir können eine Wette daraus machen, wenn du möchtest. Ich wette nicht, Sorgan. Narasan wandte sich Veltan zu. Wie viel Zeit haben Sorgan und ich, ehe der Ärger in deinem Teil des Landes losgehen wird? Veltan blinzelte. Mit Bestimmtheit kann ich das nicht sagen, Kommandant. Die Diener des Vlagh sind im Augenblick vermutlich ein bisschen verwirrt. Sie werden eine Weile brauchen, bis sie sich wieder neu formiert haben. 408 Ich denke, ihr solltet nicht zögern, sagte Langbogen. Eure Schiffe müssen hierher zurückkommen, nachdem sie eure Armeen dort unten abgesetzt haben. Aus welchem Grunde das, Langbogen, fragte Hakenschnabel. Hast du tatsächlich erwartet, die Stämme aus Zelanas Domäne würden zu Fuß gehen? Willst du damit sagen, du und die anderen Bogenschützen, ihr werdet uns begleiten, Langbogen, fragte Narasan durchaus überrascht. Natürlich. Zelana ist das ihrem Bruder schuldig, weil er euch und eure Männer hergebracht hat, und wir sind diejenigen, die für solche Schulden einstehen müssen. Ihr habt Sorgan geholfen, also hilft Sorgan euch. Veltan hat Zelana geholfen, daher ist es nur recht, wenn sie ihm hilft. Und dann ist da noch etwas. Ach, sagte Narasan. Und zwar? Langbogen grinste den Trogiten an. Glaubt ihr wirklich, wir würden euch den ganzen Spaß allein überlassen?