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Kenneth
Oppel
Das Werk des Teufels
Aus dem Amerikanischen von Lore Straßl
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BASTEI LÜBBE TASCHENBUCH Band 14 ...
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Kenneth
Oppel
Das Werk des Teufels
Aus dem Amerikanischen von Lore Straßl
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BASTEI LÜBBE TASCHENBUCH Band 14 929 1.+2. Auflage: Juli 2003
Bastei Lübbe Taschenbücher ist ein Imprint der Verlagsgruppe Lübbe
Deutsche Erstveröffentlichung Titel der englischen Originalausgabe: THE DEVIL'S CURE © 2000 by Kenneth Oppel Published by Arrangement with Firewing Produktions, Inc. © für die deutschsprachige Ausgabe 2003 by Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch Gladbach Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen Umschlaggestaltung: Gisela Kullowatz Titelbild: Getty Images Stone Satz: hanseatenSatz-bremen, Bremen Druck und Verarbeitung: Ebner & Spiegel, Ulm Printed in Germany ISBN 3-404-14929-7 Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.
Sie finden uns im Internet unter http://www.luebbe.de 4
Für Philippa
Die Übersetzerin bedankt sich herzlich bei Herrn Dr. Klaus Dietz aus Waldkirchen für die Überprüfung der medizinischen Fachbegriffe. 5
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Danksagungen Mein Dank geht an Dr. Andrew Moore, Dr. Lloyd Oppel, Jake McDonald, Assistant Crown Prosecutor Arun Maini und Special Agent Ross Rice vom Chicagoer Büro des Federal Bureau of Investigation, die mir mit ihrem Fachwissen halfen und meine Fragen über sich ergehen ließen. Außerdem bin ich Freunden zu Dank verpflichtet, die frühe Fassungen dieses Romans gelesen und mir Anregungen gegeben haben: Danielle Bochove, Chris Torbay, Carol Toller, Elke Mami und Cristina Campbell. Richard Shepherd half mir von Anfang an, aus einer Idee dieses Buch zu formen, und Al Zuckerman hat mich in den zwei Jahren, als der Roman entstand, geduldig und nachsichtig angeleitet. Den größten Dank schulde ich meiner Frau, Philippa Sheppard, die sich nimmermüde meine Tiraden anhörte, zahllose Entwürfe las und immer wieder brillante Vorschläge machte.
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»Den Besten fehlt jede Überzeugung, während die Schlimmsten voll von leidenschaftlicher Intensität sind.«
The Second Coming«, W B. Yeats
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Frank Hayworth lag im Sterben. Ausgemergelt lag er im Quarantänezimmer der Krankenstation des Gefängnisses. Er hatte sich geweigert, Medikamente zu nehmen; sogar die Morphiumtabletten hatte er abgelehnt, die den Schmerz in seiner Lunge betäuben würden, die sich immer mehr mit Flüssigkeit füllte. Franks Blicke schweiften müde von den kahlen Wänden zur Decke des Krankenzimmers, das nicht viel größer und ebenso eintönig war wie seine alte Zelle. Ungezählte Stunden hatte er den rissigen Verputz betrachtet, der ihm wie seine ganz persönliche Landkarte schien, die seinen langen Leidensweg wiedergab. Er hustete. Der Schmerz war so fürchterlich, dass ihm für Sekunden schwarz vor Augen wurde. Mittlerweile bereitete alles ihm Qualen: das Atmen, das Schlucken, selbst einen Finger zu krümmen. Doch irgendwie war es ihm gelungen, des Schmerzes Herr zu werden, indem er ihn gleichsam in die Außenwelt verbannt hatte, wie das abstumpfende, unaufhörliche Gerassel der Klimaanlage, die ohnehin kein bisschen Linderung brachte; die Bettwäsche klebte schweißdurchtränkt an Franks ausgemergeltem Körper, der einst so kräftig und muskulös gewesen war. Jetzt erschienen ihm seine Arme wie dürre, knorrige Äste. Auf dem Nachttisch neben Franks Bett standen ein hoher Plastikkrug mit einem Trinkhalm und ein 9
Pappbecher; daneben lagen zwei Schmerztabletten falls er es sich doch anders überlegte. Aber das würde er nicht. Oh, sie hatte viel für ihn
tun wollen, aber das alles war Teufelswerk: Sie versuchten, mit Nadeln und Kanülen in seinen Körper einzudringen und ihn Pillen schlucken zu lassen; sie hatten ihm sogar einen Katheter in den Schwanz stecken wollen, weil er nicht mehr pinkeln konnte. Auch das hatte er nicht erlaubt. Er brauchte nichts von alledem. Er würde rein sein im Tod. Zumindest dafür würde er sorgen. Gott segne David, dass er ihm den richtigen Weg gewiesen hatte. Seit die Ärzte Frank vor zwei Monaten von seiner Krankheit unterrichtet hatten, umgab ihn dieses winzige Zimmer wie ein Kokon. Er hatte Tuberkulose; eine besonders heimtückische und ansteckende Art. »Wäre auch ein Wunder gewesen, hätte ich die nicht auch noch bekommen«, hatte Frank gesagt, »wo ich fast alles andere schon habe.« Man hatte ihm erklärt, dass seine Aids-Erkrankung schuld daran sei; sie schwäche sein Immunsystem und ließe Bakterien und Viren nahezu ungehindert in seine Körperzellen. Kein Krankenhaus hatte ihn aufnehmen wollen. Er war ja bloß ein verurteilter Schwerverbrecher, der in der Todeszelle auf seine Hinrichtung wartete und sich seit acht Monaten vehement jeglicher Behandlung seiner Aids-Erkrankung widersetzte. Was sollte man mit so einem Mann in einem Krankenhaus, wo er nur Erreger verbreitete? Ein Mann, der ohnehin sterben musste, ob auf diese oder jene Art? Frank liebte dieses winzige Zimmer. Hier war es ruhiger als in seiner Zelle, hier konnte er nachdenken. Dieser Raum nahm ihn vollkommen in sich auf, jeden Atemzug, jeden Gedanken, jedes Gebet. Er war froh, dass es hier kein Fenster gab, das ihn hätte ablenken können. Nur die Decke wollte Frank betrachten. Auf den Wegen und Wasserläufen, die er dort in seiner Fantasie erblickte, 10
war er zurück in seine Kindheit gereist - durch alle schlimmen Tage, die er erlebt, und alle schlimmen Dinge, die er begangen hatte. Er hatte alles mit unglaublicher Klarheit gesehen, sogar die Heroinspritze, mit der er sich in einem zerschlissenen Bett in einem schmutzigen Kellerloch in Cabrini Green die todbringende Seuche geimpft hatte: Aids. Auch die beiden Männer waren ihm erschienen, die er bei dem Raubüberfall getötet hatte, und er hatte seine Gerichtsverhandlung und die Verurteilung noch einmal erlebt, und sämtliche Jahre hinter Gittern. Und er erinnerte sich, wie er David Haines kennen gelernt hatte, den Mann, der ihm sein Leben zurückgab ... David besuchte ihn zweimal die Woche in der Quarantänestation und opferte dafür seine tägliche Stunde Ausgang auf dem Hof. Nie zuvor war jemand Franks Vorstellung von Jesus so nahe gekommen. Frank saß bereits sechs Jahre im Todestrakt, als David eingeliefert und drei Zellen weiter untergebracht wurde. Er war ein außergewöhnlicher Mann, der sein Essen und alles, was er in der Gefängniskantine erstand, mit anderen teilte, wenn er darum gebeten wurde, und niemals erwartete er eine Gegenleistung. Frank hatte gesehen, wie David draußen im Hof gewalttätige Auseinandersetzungen schlichtete, wobei er selbst Wunden davontrug. Und dann seine vielen Besuche in der Quarantänestation - David hatte nicht einmal Angst davor, sich anzustecken. Warum sollte er auch? Er war ein Engel. Nicht so, wie sie in Kinderbüchern abgebildet waren, mit Flügeln und goldenem Haar, voll Demut und Mitleid. Nein, David war ein Engel mit Flammenschwert, zornig und unerbittlich, der sich mit Gewalt durchsetzte und dessen Augen einem durch Herz und Seele brannten. Mit dem, was David predigte, hatte Frank anfangs nicht viel anzufangen gewusst, und so hatte er ihn wütend angefahren, er solle endlich das Maul halten. Dann aber erkannte er, dass David keinen solchen Unsinn von sich gab wie die meisten anderen Todeskandidaten. David sprach bedächtig und ruhig 11
und versuchte nie, seine Stimme über die der anderen zu erheben. Und was er sagte, war so vernünftig, so klug. Nach einiger Zeit hatte Frank ihm zugehört und erkannt, wie einleuchtend Davids Worte waren. Sie weckten bei Frank den Wunsch, alles richtig zu machen. Als Erstes hatte er seine Medikamente abgesetzt und mit dem Beten angefangen. Das war vor acht Monaten gewesen. David hatte Recht: Seine Krankheit war die Strafe Gottes für sein sündhaftes Leben. Er hatte schlimme Dinge getan, für die er nun leiden musste. Falls er Medikamente nahm, die seine Schmerzen linderten oder ihn gar heilen konnten, kam das dem Versuch gleich, Gottes Pläne zu vereiteln. Arzneien, Heilmittel, Operationen - sie waren ein Nein zu Gott und seinen Ratschlüssen. So wie die Sünde. Wenn Gott ihn, Frank Hayworth, heilen wollte, würde er ihn heilen. Frank konnte lediglich um Barmherzigkeit beten, auch wenn Gott sie ihm vielleicht nicht gewährte; das hatte David von Anfang an gesagt. Aber deshalb durfte er noch lange nicht aufgeben. Wieder hustete Frank, spuckte noch mehr blutigen Speichel. Er erkannte, dass er nicht mehr lange hier sein würde. Man hatte ihm die Kissen aufgeschüttelt und damit den Rücken gestützt, um ihm das Atmen zu erleichtern. Seine Lippen waren blau, sein Gesicht grau und eingefallen. Mit der Linken tastete er auf der Matratze nach dem Klingelknopf und drückte ihn. Kurze Zeit später blickte die Schwester durchs Fenster, ehe sie gleich darauf ins Zimmer trat, eine Schutzmaske vor dem Gesicht. »Alles in Ordnung?« Franks Zunge scharrte über den Gaumen. Es war lange her, seit er das letzte Mal etwas gesagt hatte. »David«, presste er hervor. Als er den Namen aussprach, fuhr der Schmerz wie ein glühendes Messer durch seinen gepeinigten Körper. »David Haines«, krächzte er. 12
»Ich werde sehen, was ich tun kann«, erwiderte die Schwester und ging. Frank starrte wieder zur Decke und betete stumm. Jetzt dauerte es nicht mehr lange. Er lächelte. Er würde dem elektrischen Stuhl zuvorkommen. Im Lärm von Zellenblock B schrieb David Haines einen Brief. Doch er hörte nichts als das scheinbar weit entfernte Pochen seines Herzens, denn seine selbst fabrizierten Ohrenstöpsel verschafften ihm die erforderliche Ruhe. Er hatte sie aus den Sohlen seiner Duschslipper geschnitten - der hier übliche Trick, sich das nervtötende schleifende Geräusch der fernbedienten Tore, der viel zu laut gestellten Fernseher und das infernalische Gebrüll der Todeskandidaten zu ersparen. Den Geruchssinn auszuschalten, war weniger einfach, doch David hatte sich beinahe schon an den Mief von schmutziger Wäsche, Männerschweiß und den Gestank nicht abgespülter Toiletten gewöhnt. Mit dem Rücken zur Wand saß er auf der Kante seiner Pritsche und blickte von seinem Brief auf. Seit drei Jahren war diese knapp zwei mal drei Meter große, fensterlose Betonzelle dreiundzwanzig Stunden am Tag, dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr sein Zuhause. Im Winter war es beißend kalt; doch jetzt, im Hochsommer, war die Zelle aufgrund der Hitzewelle, die das dreißig Meilen nördlich gelegene Chicago schier erstickte, ein Vorgeschmack auf die Hölle, zumal das Staatsgefängnis Illinois auf der Ebene vor Joliet kauerte, der grauen Industriestadt am Des Plaines River, sodass nicht einmal der Wind Linderung brachte, der vom Michigansee herüberwehte. Joliet, Chicago, der Michigansee - alles schien David so fern zu sein, so unbedeutend. Nicht einmal vom Gefängnisbau selbst konnte er sich eine genaue Vorstellung machen, so wenig sah er davon. Er wusste, dass es ein riesiges Gebäude war, eine gigantische moderne Zitadelle. Zehn Meter hohe Mauern umschlossen 260.000 Quadratmeter mit mehr als zweitausend 13
Häftlingen, von denen die meisten im Vergleich zu David eine geradezu luxuriöse Freiheit genossen. Für David gab es jeden Tag nur eine kurze Stunde, die entfernt an so etwas wie Freiheit erinnerte: den Ausgang auf dem Hof, in Ketten. Ansonsten gab es nur die Zelle. Nichts anderes. Sie war alles in einem: Schlafzimmer, Wohnzimmer, Esszimmer, Badezimmer. Hier würde er bis zum Ende seiner Tage bleiben. Die Hitze schien die Zelle zusammenzupressen, sie noch kleiner und beengter zu machen. Dabei bot sie so schon nicht ausreichend Platz für einen Mann von durchschnittlicher Größe. Für jemanden wie David, der über einsachtzig war und früher viel Sport getrieben hatte, war die Zelle noch grausamer. Und er war ein Mensch, der die Ordnung brauchte - in seiner Zelle wie in seinem Verstand -, und das war unter diesen Umständen ein kaum erreichbares Ziel. In der hinteren linken Ecke befand sich eine stählerne, deckellose Kombination aus Waschbecken und Toilette; rechts davon stand Davids stets ordentlich gemachtes Bett. Jeden dritten Tag wusch er sorgfältig seine Kleidung und hängte sie an die Leine, die vom Ventilator über seiner Pritsche zum Gitter an der gegenüberliegenden Seite der Zelle gespannt war. Der Fernseher, der aus einem Regal über dem Kopfende seines Bettes ragte, war meist ausgeschaltet; er sah selten fern. David zog es vor, die Langeweile, diesen Krebs des Gefängnislebens, mit Lesen zu bekämpfen. Manchmal fühlte er sich regelrecht gesegnet - er hatte Zeit, sich immer wieder in die Bibel zu vertiefen und die Zeitschriften gründlich zu studieren, die er abonniert hatte: Nature, Science und das New Englandjournal of Medicine. Er stapelte sie säuberlich an der linken Wand unter seinem Handtuchregal. David war froh, dass ihm das endlose Angebot erspart blieb, das die anderen Häftlinge in Anspruch nehmen mussten: die Töpferkurse, die Schauspieltruppe, das 14
Musizieren, das Softballspielen und die seichten Filme. Es war wie auf einer albtraumhaften Kreuzfahrt, bei der die lächelnde Schiffsbesatzung aus mehr als zweihundert stets schlecht gelaunten Wärtern bestand, die allzu rasch ihre Schlagstöcke benutzten. Nein, er las lieber. Meist gelang es ihm, seinen mönchsgleichen Luxus zu genießen. Draußen, in Freiheit, hatte er seine Arbeit so lange und so gut verrichtet, wie es ihm möglich gewesen war. Jetzt konnte er sich Gebeten und Meditationen widmen. Und seinen Briefen. Von Anfang an war er mit Briefen überschüttet worden, doch schon binnen weniger Monaten hatte er die Spreu vom Weizen getrennt. Es war nicht schwer zu erkennen, wer es unehrlich meinte oder der Mühe nicht wert war - Halbwüchsige, die ihm einen Streich spielen wollten, oder Einsame, die Ablenkung suchten, oder Geistesgestörte, die sich von jeglicher Art der Gewalttätigkeit lustvolle Erregung versprachen. Mit solchen Leuten wollte David nichts zu tun haben. Sie stimmten ihn traurig, ekelten ihn manchmal regelrecht an. Doch gab es auch Menschen, bei denen er Andacht empfand, Inbrunst, einen heiligen Hunger. Einige hatten sogar göttliche Wahrheit gekostet und ersehnten Rat und geistige Führung. David hatte das Bedürfnis, ihnen beides zu geben, so wie er auch seinen Mitgefangenen Gottes Lehre verkündet hatte und jedem, der gewillt war, ihm zuzuhören. Nach und nach war David mit fünf anderen Menschen, die über den Kontinent verstreut lebten, in ständige Verbindung getreten. Im Lauf des vergangenen Monats hatte er ihnen fast täglich geschrieben. Sie hatten ihn von ihrer Hingabe überzeugt; nun war es an der Zeit, dass sie sich für ihren Glauben einsetzten und Davids heilige Arbeit aufnahmen. Er wusste, dass es schwierig für sie war, seinen Bitten nachzukommen, und so versuchte er, seine Jünger durch seine Briefe anzuleiten und sie zu ermutigen, ihre Ziele nicht aus den Augen zu verlieren. 15
Ja, sie bedurften ständigen Zuredens und strenger Ermahnung. David betete, dass seine Bemühungen bald den gewünschten Erfolg brachten. Insbesondere in einen seiner Jünger in Detroit setzte er große Hoffnungen. David unterschrieb den Brief und faltete ihn. Sorgfältig fuhr er mit der Zunge über den Klebestreifen und drückte den Umschlag zu. Er genoss den Geschmack; er war für ihn zum Zeichen der Hoffnung geworden, ein Wunsch nach Normalität und Rechtschaffenheit inmitten dieser Mauern. Die Gefängnisvorschriften untersagten das Verschließen von Kuverts - Briefe mussten von den Zensoren gelesen werden, ehe sie abgeschickt wurden -, doch Davids Schreiben nahmen einen anderen Weg. Er adressierte den Brief aus dem Gedächtnis und steckte ihn zu den vier anderen in seine Bibel. »Dein Wille geschehe«, flüsterte er. »Haines.« Die Stimme erreichte ihn wie ein Wispern. David drehte sich um und fragte sich, wie lange Bob Jarvis bereits draußen vor dem Gitter gestanden hatte. Er zog die Stöpsel aus den Ohren. Jarvis war groß und drahtig; die Wärteruniform war ihm zu weit und hing ihm lose von den Schultern, und die Hose wurde von einem Gürtel gehalten und warf Falten. Doch sein Aussehen trog. Bob Jarvis verfügte über die elastische Schnellkraft einer Peitsche. Als David in Block B verlegt worden war, stand Jarvis in dem Ruf, einer der schlimmsten Wärter zu sein. Er war aufbrausend und benutzte gern seinen Schlagstock. Anfangs hatte er David einmal nur deshalb verprügelt, weil der sich angeblich zu viel Zeit unter der Dusche genommen hatte. »Frank stirbt. Er hat nach dir gefragt. Finlay hat gesagt, es ist okay, dass du nach ihm siehst.« David nickte und stand auf. »Darf ich meine Bibel mitnehmen?« »Nichts dagegen.« 16
David nahm sie und reichte sie durch eine waagrechte Luke
im Zellengitter. Durch diese Öffnung erhielt er seine sämtlichen Essensbehälter. Jetzt stellte er sich mit dem Rücken zur Luke und schob die Handgelenke hindurch, damit Jarvis ihm Handschellen anlegen konnte. Mit einem Summen wurde die Tür geöffnet, und David trat hinaus. »Da.« Jarvis reichte ihm die Bibel zurück. Zufrieden stellte David fest, dass sie die vier Kuverts nicht mehr verbarg. Sie waren bereits in einer von Jarvis' geräumigen Taschen verschwunden. Es hatte ihn überrascht, als Jarvis vor vielen Monaten vor seiner Zelle stehen geblieben war und ein Gespräch begonnen hatte. Anfangs war er ziemlich wortkarg gewesen, doch nun ließ David ihm geduldig Zeit. Es stellte sich heraus, dass Jarvis die Ärzte hasste; sie hatten Schuld am Tod seiner Mutter. Einen nach dem anderen hatte er konsultiert, und jeder hatte eine andere Diagnose gestellt. Nachdem man mit der Behandlung begonnen hatte, verschlechterte sich der Zustand von Jarvis' Mutter, bis sie unter großen Schmerzen starb. »Jetzt bin ich selbst krank«, hatte Jarvis gestanden. »Hab's am Herzen. Aber ich will verdammt sein, wenn ich mich diesen Quacksalbern ans Messer liefere.« David hatte Jarvis versprochen, für ihn zu beten, und riet ihm, es selbst mit Gebeten zu versuchen. Jarvis hatte irgendetwas vor sich hin gebrummelt, doch seine Besuche waren häufiger geworden, und gemeinsam hatten sie seine Heilung bewirkt: Brustschmerzen und die Übelkeit waren nicht wiedergekehrt. Seither war Jarvis einer von Davids Jüngern. Er hatte sich bereit erklärt, Davids Briefe heimlich abzuschicken, damit dieser sich offener ausdrücken könne, ohne die Zensur befürchten zu müssen. Jarvis hatte sogar ein Schließfach in Joliet gemietet, damit Davids Anhänger ihm ebenso frei heraus schreiben konnten. Ohne Jarvis 17
wäre Davids Seelsorge außerhalb der Gefängnismauern ein Traum geblieben. »Die Briefe gehen noch heute Abend raus«, flüsterte Jarvis ihm nun zu, als sie über den breiten Korridor gingen, an den benachbarten Zellen vorüber: Harper las in seinem unerschöpflichen Vorrat an Comics, Winslow masturbierte schamlos, während er sich eine Wiederholung von Brady Bunch anschaute, und Tucker weinte wie immer. David hatte versucht, auch diesen Männern zu helfen, doch ihre Herzen waren verhärtet. »Sie wollen dir Blut abnehmen«, sagte Jarvis angespannt. »Ich hab eine der Schwestern gehört. Sie glauben, du könntest dich bei Frank angesteckt haben.« Beinahe wäre David stehen geblieben. Er hatte es bisher über sich ergehen lassen, von den Anstaltsärzten auf ihre plumpe, derbe Weise untersucht zu werden, doch nie hatte er zugelassen, dass sie ihm Blut abnahmen. Sein Blut war sein Leben, die Matrix seiner unsterblichen Seele, und es seinem Körper zu entnehmen, war ein schreckliches Unrecht, mehr noch: Es war eine Entweihung, sein Blut wie eine gewöhnliche Flüssigkeit zu behandeln und es der myopischen Prüfung ihrer Geräte zu unterziehen. David ging weiter, kämpfte seine Erregung und den Zorn nieder. Er wollte Frank nicht im Stich lassen. Aber er würde den Ärzten niemals gestatten, ihm sein Blut zu rauben. Vor dem Quarantänezimmer blieb er stehen. Er sah, wie Frank nach Atem rang und wie sein Körper von den furchtbaren Schlägen des Schmerzes erschüttert wurde. Sein Gesicht war aufgedunsen und grau, seine Wange mit dem eigenen Blut befleckt. Durchs Beobachtungsfenster konnte David die Angst in Franks Augen erkennen, als Dr. Finlay und die Schwester ihn ruhig zu halten versuchten, während sie seinen Blutdruck maßen und ihm in die Augen leuchteten. Dr. Finlay blickte flüchtig zur Tür. »Kommen Sie schon rein«, knurrte er. »Aber ziehen Sie erst Masken über.« 18
David griff nach der Maske, die Jarvis ihm reichte, und zog sie sich gehorsam übers Gesicht. Er brauchte sie nicht, aber er wollte so schnell wie möglich zu Frank vorgelassen werden. Jarvis, der seine Maske bereits übergestreift hatte, öffnete die Tür und führte David ins Zimmer. »Frank.« Der Sterbende starrte David in seiner Angst verständnislos an, doch nach wenigen Augenblicken erkannte er ihn und nickte ihm zu. Sein Körper sank auf die Matratze zurück. Seine Lippen zuckten in einem schmerzvollen Lächeln. David spürte, wie seine Augen brannten. Das Leid, das Frank auf sich genommen hatte, war ein wahrhaftiges Zeichen seiner Hingabe und Reue. Gott hatte entschieden, diesen Mann nicht zu heilen. David akzeptierte Gottes Beschluss, der angesichts der sündenvollen Vergangenheit Franks gar nicht anders hatte ausfallen können. Doch er staunte über Franks Tapferkeit. Als Gesunder hätte er draußen viel erreichen und viel Gutes bewirken können. »Sie werden sterben, wenn wir Sie nicht behandeln«, sagte Finlay laut zu Frank. »Haben Sie verstanden? Möchten Sie, dass wir Sie behandeln?« David blickte Finlay voll Verachtung an. Ihn jetzt, in seiner größten Qual, in Versuchung zu führen! Hebe dich hinfort, Satan! Ein schwacher Laut drang aus Franks Kehle, während sein Kopf zur Seite zuckte. Nein! Er rang nach Luft und verdrehte die Augen, während er immer wieder kurzzeitig das Bewusstsein verlor. David nahm Franks Hand. Sie fühlte sich schwer und feucht an - wie etwas, das nicht zu ihm gehörte: Franks Seele würde in Kürze den Körper verlassen. »Das war eine richtige Entscheidung, Frank. Eine heilige Entscheidung.« Frank schien es nicht zu hören, doch Sekunden später murmelte er schleppend: »Ja ...«
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Seine Augen waren halb geschlossen, und sein Atem ging keuchend und unregelmäßig. David setzte sich neben Franks Bett, schlug seine Bibel auf und begann zu lesen. Als er aufblickte, schaute Frank ihn aus starren, leeren Augen an. David wusste, es war vorüber. Dr. Finlay drückte sein Stethoskop auf Franks Brust. »Sein Herz schlägt nicht mehr.« David klappte die Bibel zu. »Wahrlich, ich sage dir, noch heute wirst du mit mir im Paradies sein.« Er spürte Dr. Finlays Feindseligkeit, die ihm wie Hitze entgegenschlug. Als der Arzt keine Anstalten machte, strich David sanft die Hand über Franks Gesicht und schloss die Lider des Toten. »Ich muss Sie untersuchen«, sagte Finlay zu ihm. »Ich bin nicht krank.« Finlay nickte Jarvis zu, Haines aus dem Quarantänezimmer zu schaffen. »Sie haben viel Zeit mit Hayworth verbracht. Ich will nicht, dass Sie eine Krankheit in den Zellenblock einschleppen.« David sah drei weitere Wärter auf der anderen Seite der Krankenstation warten, und sein Herz schlug heftig. »Ich werde nicht mehr krank.« »Ach, wirklich?« David lächelte über die herablassende Art des Arztes. Er wusste, dass Finlay ihn hasste - und alles, woran er glaubte. Doch für David war Finley ein Niemand und keinerlei Beachtung wert. Ein drittklassiger Mediziner, der sein Handwerk mehr schlecht als recht in einem Knast ausübte, weil er in keinem Krankenhaus eine Anstellung gefunden hätte. Vor seiner Inhaftierung hatte David sich nur für die Allerbesten ihres Fachs interessiert, Forscher mit herausragenden Fähigkeiten und brillantem Verstand jene Männer und Frauen, deren Namen in den Fachzeitschriften zu finden waren, die er mit peinlicher Sorgfalt studierte. Finlay war bedeutungslos, ein Niemand. »Da hinauf, bitte sehr!«, sagte Finlay mit Nachdruck. 20
Jarvis an seiner Seite, setzte David sich auf die Kante des Untersuchungstisches. Finlay wusch sich die Hände. David beobachtete die drei Wärter an der Tür. Falls alle ihn festhielten, hatte er keine Chance, sich zu widersetzen. Finlay leuchtete ihm mit einem Ophtalmoskop in die Augen. »Kopf- oder Muskelschmerzen?« David schüttelte geduldig den Kopf. »Fieber? Nachtschweiß?« »Nein. Auch keinen Husten oder andere Anzeichen von Atembeschwerden. Ebenso wenig abdominale Unregelmäßigkeiten. Kein Gewichtsverlust oder Durchfall. Und keine geschwollenen Lymphknoten.« Finlay ignorierte ihn, hob Davids orangenfarbigen Anstaltskittel vorne hoch, drückte das Stethoskop auf die nackte Brust und horchte. »Tief einatmen ... anhalten. Ausatmen. Noch einmal tief einatmen ... anhalten. Ausatmen.« Er ging um Haines herum und drückte nun das Stethoskop auf seinen Kittel. »Stoff verursacht Verzerrungen, Doktor. Das lernt man beim Medizinstudium in den ersten Semestern.« Wieder beachtete Finlay ihn nicht. Er horchte; dann senkte er das Stethoskop. »Legen Sie sich bitte hin.« David schloss die Augen und ließ zu, dass Finlays kalte Hände seinen Bauch betasteten und sich dann mit den Lymphdrüsen im Leistenbereich und unter den Achseln befassten. »Sie scheinen gesund zu sein, aber ich brauche eine Blutprobe.« Ruhig entgegnete David: »Ich habe Ihre Untersuchung über mich ergehen lassen, aber Blut werden Sie mir nicht abnehmen. >Denn die Leibkraft des Fleisches ist 21
im Blut<. Drittes Buch Mose, Kapitel siebzehn, Vers elf.« »Ich untersuche Ihr Blut auf Infektionen und Tuberkulose,
und ich möchte die Leberwerte überprüfen. Auch das lernt man beim Medizinstudium in den ersten Semestern, Haines.« »Sie können eine Röntgenuntersuchung und einen Hauttest machen.« »Keine Angst, das steht ebenfalls auf meiner Liste.« David las in Finlays Zügen die Schadenfreude des Feiglings, der über einen Hilflosen triumphiert. Der Arzt nahm eine Spritze aus einer sterilen Packung. »Strecken Sie bitte den Arm aus.« »Ich möchte Sie an meinen Glauben erinnern und Sie ersuchen, ihn zu respektieren.« »Ich werde das Vaterunser sprechen, während ich Ihnen Blut abnehme.« »Ich möchte mit dem Direktor reden.« Finlay blickte vom Desinfektionsbausch auf, den er aus seiner Verpackung schälte. »Er ist einverstanden. Ich habe mich erkundigt.« »Sie können mir ohne meine Erlaubnis kein Blut abnehmen.« »Dafür brauchen wir Ihr Einverständnis nicht, Haines. Es handelt sich um eine Sache der allgemeinen Gesundheitsvorsorge. Und das allgemeine Wohl kommt vor Gott, fürchte ich.« David hatte die gefesselten Hände um Finlays Hals und drückte die Daumen in die Luftröhre des Arztes, ehe die Wärter ihn erreichten. Sie schmetterten ihn mit dem Rücken auf den Untersuchungstisch und hielten ihn darauf fest. Während David sich wehrte, konnte er Finlay husten und fluchen hören. Jarvis hatte ihn um die Schultern gefasst und drückte ihn fest nieder. David wusste, dass Jarvis nicht anders handeln konnte. Er spürte, wie sein Arm geradeaus gestreckt wurde, 22
vorbei an der Seite eines der Männer, die ihn hielten. Es war Finlay. »Sie verrückter Hundesohn«, knurrte der Arzt.
Er legte ein Tourniquet um Davids Bizeps und stieß die Hohlnadel in seine Vene. Als das Blut aus seinem Körper strömte, konnte David in seiner stummen Wut über diese Blasphemie nur noch die Augen schließen.
23
2
Als Laura Donaldson in ihrem Kittel den Operationssaal betrat, spürte sie, wie Müdigkeit und Sorgen schwanden; ihre Gedanken und Sinne schalteten instinktiv auf eine schärfere Frequenz. Der Eingriff selbst war reine Routine, Handgriffe, die sie schon hunderte Male getan hatte. Doch diese eine Operation würde den Höhepunkt zweijähriger Forschung darstellen - Monate von In-vitro-Versuchen und Experimenten mit Mäusen und Affen. Ganz zu schweigen von dem langwierigen Gerangel mit der FDA1 um die Erlaubnis, ihre neue Therapie an einem Menschen erproben zu dürfen. »Guten Morgen. Sind alle bereit?« Emily Wiltshire beendete mit der Operationsschwester die nochmalige Überprüfung der Instrumente, und nickte. Wie Laura hatte Emily sich auf Chirurgie spezialisiert, ehe sie in die Krebsforschung gewechselt war. Sie war die Rangälteste in Lauras Team; die beiden Frauen arbeiteten in Labor und OP perfekt zusammen, sahen jeden Handgriff der anderen blind voraus und wussten deren nächsten Gedanken, ohne dass ein Wort fiel. Laura arbeitete lieber mit Frauen zusammen; das war schon immer so gewesen. Im Unterschied zu Männern machte ihnen keine von 24
Testosteron oder Anfällen paläolithischen bedingte Überheblichkeit zu schaffen.
Egos
1 FDA: Food and Drug Administration, zentrale amerikanische Behörde, zuständig u. a. für das Arzneimittelwesen. Entscheidungen der FDA begründen internationale Standards.
»Sie bringen Gillian jetzt herauf, Laura«, sagte Emily. »Sie müssten in zwei Minuten hier sein.« »Gut. Sam, haben Sie alles, was Sie brauchen?« Sam war ein weiteres Mitglied ihres Teams und an diesem Vormittag als Pathologe eingesetzt. Man hatte an Sams Seite des Raums ein portables Labor aufgestellt, damit er sofortige Untersuchungen von Gewebe vornehmen konnte, das Laura Gillian Shamas entnahm. »Ich werde Sie nicht warten lassen«, versprach Sam. »Das weiß ich. - Hi, Melanie.« Laura lächelte ihre Anästhesistin an, mit der sie schon viele Male zusammengearbeitet hatte und der sie uneingeschränkt vertraute. »Ein großer Tag für Sie«, sagte Melanie. »Hoffen wir's.« Emily blickte auf. »Und nun ein paar Worte unseres Sponsors«, flüsterte sie, als die Tür aufschwang und Adrian Crawford mit Tom Powell eintrat. Beide Männer trugen Kittel, Schutzmasken und Handschuhe. Laura ging ihnen entgegen, um sie zu begrüßen. »Adrian, Tom, wir beginnen in wenigen Minuten. Kommen Sie doch herüber. Hier können Sie alles gut beobachten.« Laura hatte nicht gern Zuschauer, doch Adrian war hartnäckig gewesen, und sie wusste nicht, wie sie ihm seine Bitte hätte abschlagen können. Schließlich hatte 25
sein Biotech-Konzern, die MetaSYS, fast drei Jahre lang ihre Forschungen an der Universität von Chicago finanziert. Tatsächlich war es Adrians Konzern gewesen, der das neue Forschungszentrum hatte erbauen lassen, in dem sich Lauras Labor befand, das mit den neuesten technischen Errungenschaften ausgestattet war. Von MetaSYS war sie auch angestellt worden und gemeinsam mit der Universität für das Labor verantwortlich. Laura wusste, wie sehr sie in wissenschaftlichen Kreisen darum beneidet wurde. Sie hätte sich auch keine besseren Arbeitsbedingungen vorstellen können. Eigene, hochgelegene Laufstege verbanden ihr Labor mit dem Komplex der Uniklinik im Hyde Park. Was Labortische und medizinisches High Tech betraf, war Lauras Labor unerreicht. Sie hatte an Personal einstellen dürfen, wen sie wollte, und sie hatte nur die Besten ausgewählt. Am wichtigsten jedoch war, dass ihr mehr als großzügiges Forschungsbudget sie davon befreite, ein Drittel ihrer Zeit mit der Jagd nach Geldern vergeuden zu müssen, wie viele ihrer Kollegen in der Forschung. Selbst im renommierten NCI, dem Nationalen Krebsforschungsinstitut, mussten weltberühmte Ärzte um die Finanzierung betteln. Doch MetaSYS' Großzügigkeit war keineswegs uneigennützig: Der Konzern besaß die Exklusivrechte an jeglichen patentierbaren Erfindungen und Entdeckungen Lauras. Sie wusste, dass Adrian Millionen in sie und ihre Forschung investiert hatte, und jetzt konnte er es kaum noch erwarten, den Profit einzustreichen. »Sie müssen schrecklich aufgeregt sein«, wandte Powell sich an sie. Laura hatte Tom Powell ein paarmal im Fernsehen erlebt und war nicht gerade sein Fan. Sein Hang zu Superlativen, seine tiefe, klangvolle Stimme und sein ernster, fester Blick - all das erschien ihr ein wenig wie eine Rolle, die er einstudiert hatte, um sein Publikum zu beeindrucken. 26
»Ich bin zuversichtlich«, antwortete sie vorsichtig, um ihm keine fernsehträchtigen Brocken hinzuwerfen. Trotz Lauras Vorbehalten hatte Adrian ihr klinisches Protokoll an Headline durchsickern lassen, das von Powell moderierte ABC-Nachrichtenmagazin, und Headline hatte die Chance auf diese Exklusivsendung nur zu gern genutzt. Laura gefiel das ganz und gar nicht. Sie hatte ihre Forschungsergebnisse zuerst in einer anerkannten medizinischen Fachzeitschrift veröffentlichen wollen. Doch Adrian brauchte dringend Publicity, um die fallenden Aktienkurse von MetaSYS abzufangen. So waren sowohl Adrian wie Tom Powell dabei gewesen, als Laura vor sechs Wochen Gillian Shamas ihre erste Genübertragung gespritzt hatte. Auf Adrians Drängen hatte Laura Powell zudem ein Interview gegeben. Ein paar Wochen später hatte auch Gillian, die wieder zu Hause war und sich erstaunlich gut fühlte, Powell ein Interview gewährt. Laura warf einen Blick zur Galerie hinauf und sah, dass Powells Kamerateam sich bereitmachte. Sie war an Kameras gewöhnt - sie benutzte sie ständig zur Dokumentierung ihrer Operationen -, aber sie wusste, dass diese Aufnahmen überall auf dem Kontinent gezeigt würden, und sie konnte sich des Gefühls nicht erwehren, nun das Schicksal herauszufordern. Abergläubischer Unsinn, sagte sie sich kopfschüttelnd. Ihr klinisches Protokoll würde von sich aus positiv oder negativ sein, ob Kameras oder nicht. »Die Scans zeigen an, dass Gillians Tumoren geschrumpft sind, wie ich hörte«, sagte Powell, »und zwar beträchtlich.« »Was wir bisher gesehen haben, ist viel versprechend. Und heute Vormittag werden wir es überprüfen.« »Was hoffen Sie zu sehen?« »Nichts.« Powell grinste. »Sie meinen, keine Tumoren?«
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»Stimmt. Aber ich wäre schon glücklich, wenn ich radikal geschrumpfte Tumoren sähe oder totes Tumorgewebe, das ich entfernen kann.« »Und das würde bedeuten, dass Sie Gillian geheilt haben?« »Sie müsste sich allerdings regelmäßig untersuchen lassen.« »Heißt das, es könnte wiederkommen?« »Sicher, ein Wiederbefall ist immer möglich.« »Wir dürfen nicht vergessen«, warf Adrian ein, »dass die Tumoren dieser Frau nicht im Geringsten auf Bestrahlung oder Chemotherapie ansprachen. Man hatte ihr noch drei Monate gegeben. Laura ist der einzige Arzt auf der Welt, der ihr vielleicht helfen kann.« Sie spürte seinen Blick und brauchte seinen Mund gar nicht zu sehen, um zu wissen, dass er sie anlächelte. Seine leicht zusammengekniffenen Augen strahlten eine solche Wärme und Zuneigung aus, dass Laura sich unbehaglich fühlte - und auch verärgert -, bei der Erinnerung an dieses Lächeln, das er ihr einst so oft geschenkt hatte. Sicher, er war glücklich, dass er zurzeit ihr vom Unternehmen zugeteilter Fürsprecher sein durfte, doch MetaSYS musste seine sinkenden Einnahmen - Laura hatte in den Zeitungen davon gelesen - schnellstens mit einem neuen Produkt aufbessern. Adrian brauchte rasche positive Ergebnisse. Und wenn ihr Projekt nun ein Misserfolg war? Warum immer diese Zweifel, rügte sie sich. Sieh dir doch die Voruntersuchungen an, die vielen Scans, sämtliche bisherigen Indikationen. Doch sie kannte auch die Risiken. Wenn Gillians Tumoren nicht beträchtlich geschrumpft waren, würde die FDA weitere Versuche unterbinden. Und wenn Adrian keine Ergebnisse von ihr bekam, würde er sich vielleicht anderswo umsehen. Sie wandte sich an Powell. »Haben Sie schon einmal bei einer Operation zugeschaut, Tom?« 28
Ihr entging nicht, dass seine Antwort aus trockenem Munde kam und seine Stirn schweißfeucht war. »Meinen Sie live oder im Fernsehen?« »Im echten Leben.« »N-nein, habe ich nicht.« »Da drüben steht ein Stuhl.« Sie wies darauf. »Wenn Ihnen die Knie weich werden, empfehle ich Ihnen, sich lieber zu setzen. Der Boden ist hart. Und es kann hier ziemlich heiß werden.« Bei Adrian brauchte sie keine Bedenken zu haben, das wusste sie. Er hatte selbst Medizin studiert und Forschung betrieben, ehe er zum Unternehmer umsattelte. Vor fünfzehn Jahren hatte er MetaSYS dank des Erfolges seines selbst entwickelten LangzeitHypertonie-Mittels an die Börse gebracht. Seither hatte der Konzern mit einigen weiteren Hits ins Schwarze getroffen, unter anderem mit einem Betablocker zur Behandlung von Koronarinsuffizienz. »Sie ist da«, meldete Emily. Laura drehte sich zur Saaltür um, durch die ein Pfleger Gillian Shamas auf einem Rollbett hereinschob. Ihr haarloser Kopf, den sie der Chemotherapie verdankte, machte sie noch schöner, wie Laura fand, denn es betonte ihre bezaubernden Augen und die vollen Lippen. In ihrem grünen Operationskittel, die schlanken Füße in weißen Baumwollsocken, sah Gillian unendlich jung und schutzlos aus. Du könntest die Nächste sein, Sandra. Der Gedanke an ihre Schwester schlich sich bei Laura ein, doch sie verdrängte ihn rasch. Sie wollte nicht abgelenkt werden. »Guten Morgen«, grüßte Laura. »Wie fühlen Sie sich?« »Großartig«, antwortete Gillian. Laura lächelte. Gillians unerschütterlicher Optimismus während der gesamten Behandlungszeit hatte sie beeindruckt. Die junge Frau war entschlossen, wieder gesund zu werden, und Laura hoffte inbrünstig, dass sie Gillian heute nicht enttäuschen würde. »Nun, es sieht auch gut aus.« 29
Vor knapp einem Jahr hatte Gillian in ihrem Oberschenkel einen Knoten bemerkt. Er wurde nach seiner Entfernung untersucht und stellte sich als Synovialsarkom dritten Grades heraus, eine der aggressivsten bisher bekannten Krebsarten. Wenige Monate später fanden sich subkutane metastatische Läsionen in ihrem Rücken und drei große inoperable Sarkomata an ihrer Leber. Sowohl Chermotherapie wie Bestrahlung schlugen nicht an. Die Ärzte gaben Gilliam eine Lebenserwartung von drei Monaten. Ihre Krankheit war so weit fortgeschritten, dass sie für Lauras klinisches Protokoll in Frage kam. Laura überprüfte die Instrumente auf ihrem Operationswägelchen
noch einmal selbst. Gillian war gerade dreißig, seit zwei Jahren verheiratet und wünschte sich sehnlichst eine Familie mit zwei oder drei Kindern - und nun das. So geduldig hatte sie alles über sich ergehen lassen, hatte nie geklagt, auch nicht, als ihre Körpertemperatur nach der ersten Behandlung auf über 40 Grad geschnellt war und es zu Atemstillstand kam. »Wir sind bereit, wenn Sie es sind«, sagte sie zu Gillian. Gillian nickte. »Hoffen wir das Beste.« Ihre Blicke begegneten sich, und die Frauen schauten einander für einen Moment an. Laura spürte ihrer beider Hoffnung und Angst. »Ja, hoffen wir das Beste, Gillian.« Sie drehte sich um und bedeutete Melanie, mit der Anästhesie zu beginnen. Alle im Saal beobachteten stumm, wie Gillian ein paar Züge durch die Maske atmete und dann in Tiefschlaf sank. Augenblicke später hatte Melanie sie intubiert und am Respirator angeschlossen, der das Atmen für sie übernehmen würde. »Es ist soweit«, sagte Melanie.
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Das Skalpell zwischen Daumen und Zeigefinger war eine kühle Verlängerung von Lauras Hand, als sie die primäre Inzision vornahm: einen vertikalen Schnitt von Gillians Rippen zum Nabel. Danach zog sich Lauras gesamtes Universum zu den Gewebe- und Muskelmassen zusammen, die sich unter ihr öffneten. Das Wispern der Klimaanlage und das rhythmische Seufzen von Gillians Respirator vermischten sich mit dem unwillkürlichen Mantra, das durch Lauras Kopf kreiste: Lass es gelingen! Lass es gelingen! Im Prinzip war ihre experimentelle Therapie ganz einfach. Das menschliche Immunsystem allein genügte nicht im Kampf gegen Krebs. Die Leukozyten, die andere Krankheiten so wirkungsvoll bekämpften, erkannten Krebszellen häufig nicht als schädlich; wenn doch, griffen sie in zu geringer Zahl an, um das Wachstum eines Tumors aufzuhalten. Laura wollte dem Immunsystem zu zusätzlicher Munition verhelfen. Ende der Siebzigerjahre hatten Forscher eine Substanz identifiziert, die sie Tumor-Nekrose-Faktor nannten: ein von menschlichen Leukozyten produziertes Protein, das Krebszellen vernichtete. Und vor nur drei Jahren hatte Laura, die ein Forschungsteam von Sunnybrooke in Toronto leitete, eine sogar noch wirkungsvollere Variation identifiziert, der sie die Bezeichnung TNF-2 gab. Das Problem war, dass sie nicht genügend TNF-2 in vitro züchten konnte, um es Krebspatienten Erfolg versprechend injizieren zu können. Und selbst wenn - TNF-2 war extrem toxisch. Um wirken zu können, musste es unmittelbar in den Tumor selbst eingebracht werden. Lauras Plan war, das Gen für TNF-2 direkt in die Krebszellen zu injizieren und sich dazu eines modifizierten Retrovirus zu bedienen. Sobald es sich im Nukleus der Krebszelle befand, würde das TNF-2-Gen sich mit der betroffenen DNS verbinden und beginnen, seine tödlichen Proteine an Ort und Stelle zu produzieren und den Tumor von innen heraus vernichten. Die poetische Gerechtigkeit gefiel Laura: Krebs, zum Suizid programmiert. 31
Vor sechs Wochen bekam Gillian eine intraarterielle Leberinfusion mit mehr als einer Milliarde gezüchteter Retroviren. Vor Beginn des Protokolls hatte Laura ihr die vielen Risiken vor Augen geführt, denn noch handelte es sich um ein nahezu unbekanntes Gebiet. Doch ohne Behandlung wäre es Gillians sicherer Tod. »Da sind wir«, sagte Laura. »Die Leber.« Adrian hatte sie gebeten, um Powells willen, einige für Laien notwendige Erklärungen abzugeben. Emily zog rasch die Haut zurück und drückte behutsam Fettgewebe und andere innere Organe aus dem Weg, um einen unbehinderten Blick auf die Leber zu gestatten. Lauras Blick wurde sogleich von den drei Sarkomata angezogen. Sie konnte sofort erkennen, dass ihre äußere Oberfläche im Absterben begriffen war und
von gesundem Gewebe ersetzt wurde. Erleichterung durchströmte sie, und ihre Stimme zitterte unmerklich. »Wir haben eine unverkennbare Schrumpfung in Nummer eins, Nummer zwei, Nummer drei«, sagte sie. »Ich werde resezieren ... « Ihre Stimme verlor sich, als ihr Blick von den Tumoren abschweifte. Großer Gott! Dicht an dicht wuchsen auf der Oberfläche der Leber hunderte von winzigen grauen Knötchen, so klein und zahlreich, dass Laura sie anfangs gar nicht bemerkt hatte. Sie fühlte sich wie aus ihrem Körper gerissen, über dem sie nun schwebte, und sie starrte so gleichmütig hinunter wie Powells Kameras. Das konnte nicht sein, durfte nicht sein ... »Mein Gott, was ist das?«, hörte sie Emily leise sagen. Ein schreckliches, bleiernes Schweigen senkte sich über den Operationssaal. Laura fasste sich wieder, obwohl ihr Herz wild hämmerte. Sie war sich bewusst, dass aller Augen auf ihr ruhten. Das leise Geräusch des Ventilators erschien ihr plötzlich laut wie Donner. 32
»Warum haben wir sie nicht auf dem Scan gesehen?«, fragte Emily. »Weil sie zu klein sind«, antwortete Laura mit trockenem Mund. Die Knötchen waren knapp einen Millimeter im Durchmesser und konnten bei einer Computertomographie oder einem Magnetresonanztomographie-Scan leicht übersehen werden. Laura spürte, wie ihr Magen sich schmerzhaft zusammenzog. »Worum handelt es sich?« Alle Jovialität und Zuversicht waren aus Adrians Stimme geschwunden. »Das weiß ich noch nicht.« Ohne Zögern resezierte sie eines der Knötchen und achtete darauf, es nicht zu beschädigen. »Sam, sagen Sie mir bitte, was es ist.« Sam brachte die Biopsieprobe zu seinem portablen Labor und untersuchte sie sofort. Es würde nur Minuten dauern. Laura blickte auf Gillians friedliches Gesicht. Bitte lass es nicht sein, was ich befürchte, betete sie stumm. »Laura?« Adrian blickte sie fragend an. »Wir haben hier möglicherweise neue maligne Entartungen.« »Das verstehe ich nicht. Sie haben doch gesagt, dass sie schrumpfen.« Sie achtete nicht auf ihn. »Sehen wir uns das Pankreas an.« Emily begegnete ihrem Blick und verstand. Wenn es weitere Metastasen gab, die sie übersehen hatten, war es am günstigsten, in der Bauchspeicheldrüse mit der Suche zu beginnen. Trotz der Klimaanlage war Laura beinahe fiebrig heiß unter dem Kittel. Die Operationsschwester tupfte ihr den Schweiß von der Stirn. Laura bahnte sich den Weg durch den Schnitt in der Bauchdecke. Mit Fingerspitzen, so empfindsam wie Antennen, betastete sie die Papillen und Gekrösegephäße des Pankreas. Schluckend blickte sie zu Emily auf. Mit bestürzender Häufigkeit berührten ihre Fingerspitzen etwas, das sich wie winzige Kügelchen anfühlte. 33
»Auf dem Pankreas haben wir ebenfalls welche.« Sie wandte sich rasch ihrem Pathologen zu. »Sam, haben Sie schon ein Ergebnis?« Laura hörte das schreckliche Urteil bereits durch ihren Kopf hallen, noch ehe sie die Antwort erhielt. »Es ist ein Hepatom.« »0 Gott«, entfuhr es Emily. »Was ist geschehen?«, erkundigte Adrian sich. Ich habe sie umgebracht, dachte Laura. Das ist geschehen. »Meine Herren, Sie sollten jetzt besser gehen«, brachte sie mühsam hervor. Powell, dessen Gesicht fahlgrün war, hatte zumindest den Anstand, sich umzudrehen und zur Tür zu gehen. Er hatte seine Story; soweit es ihn betraf, war ein trauriges Ende vielleicht genauso gut wie ein glückliches. Adrian jedoch zögerte und blickte Laura über der OP-Maske mit flehenden Augen an.
»Bitte!«, flüsterte Laura. Sie starrte auf Gillians Leber mit den hunderten winziger grauer Hepatomen. Ihr kleinen Bastarde! Wie hätte sie es wissen können? Sicher, der Leberfunktionstest vor der Operation war abnormal gewesen, doch Laura hatte es auf die drei schrumpfenden Sarkome zurückgeführt, deren Vorhandensein bekannt gewesen war. »Es ist unser Retrovirus«, sagte Emily leise. »Es kann nicht anders sein.« Laura nickte. Es war stets eines der Risiken - das am meisten gefürchtete. »Es muss mutiert sein«, murmelte sie. Das Retrovirus, das sie selbst entwickelt hatte, hatte sich in Gillians Körper verändert und erzeugte nun schneller Krebs, als es ihn vernichtete. Gillians Leber, die Bauchspeicheldrüse und weiß Gott, was sonst noch, waren von Knötchen überzogen. Ihre Wunderkur! »Was willst du tun, Laura?«, erkundigte Emily sich. 34
Mit kalter Wut nahm Laura ein frisches Skalpell aus der Schale. Sie würde Gillian nicht so sterben lassen! Sie würde nicht zulassen, dass diese ... Dinger in ihr blieben. Sie schnitt ein Knötchen heraus, dann ein weiteres, während ihr Blut in den Ohren toste. Sie würde nicht aufhören, diese winzigen Scheißdinger aus Gillians Körper zu schneiden. Sie würde Gillian retten. Sie musste sie retten! Sandra retten. »Laura!« Sie wandte sich Emily zu, die sie mit traurigen Augen anschaute, wobei sie den Kopf schüttelte. Sie blickte zu den anderen, zu Melanie, zu Sam. Alle beobachteten sie in gemeinsamer Trauer. Laura wusste, dass Emily Recht hatte. Es gab keine Möglichkeit, jedes Knötchen zu entfernen, ohne die Leber und das Pankreas zu zerstören. Bei Gillian war jede Operation sinnlos.
Sie blickte auf das Gesicht der jungen Frau, das immer noch so friedlich war. So ahnungslos. Es tut mir Leid, dachte sie. Bedrückt sagte sie: »Schließen wir sie.«
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Was kann ich Ihnen schon sagen, Kevin? Wir behandeln das routinemäßig als Tötungsdelikt. Banji war das Opfer eines Überfalls, der zum Tod führte. Zufällig war er auch Arzt. Ich sehe nichts, das beides in Zusammenhang brächte.« Kevin Sheldrake nickte - geduldig, wie er hoffte. Draußen waren es nahezu 40 Grad, und in Captain Paul Micelis Büro war es nicht viel kühler. Ein einsamer Tischventilator blies ihm ein Gemisch ins Gesicht, das nur als Beleidigung empfunden werden konnte. Offenbar streikte zu Ehren seines Besuchs die Klimaanlage im gesamten Westflügel des Reviers. 36
Miceli schwitzte hinter seinem Schreibtisch scheinbar mit wahrer Begeisterung. Seine Achselhöhlen waren getränkt; die Luft in seinem Büro roch unangenehm nach Schweiß, kölnisch Wasser und Deodorant. »Wäre Banji praktischer Arzt gewesen, selbst ein unbedeutender Spezialist«, sagte Kevin, »würde ich Ihnen vielleicht Recht geben. Aber er betrieb AidsForschung. Vor zwei Monaten hat Newsweek eine Story über ihn gebracht. Er hat an einem neuen Impfstoff gearbeitet. Ziemlich brisant.« »Als ich mich das letzte Mal kundig machte«, murmelte Miceli, »waren Ärzte nicht gegen Gewaltverbrechen gefeit.« Er lächelte ernst und verbarg seine Animosität hinter der Fassade eines weisen und gütigen, aber strengen Patriarchen. Er war ein großer, stämmiger Mann mit lauter Stimme, und allein schon seine muskulöse Statur wirkte einschüchternd. Er hatte offenbar hart daran gearbeitet, sich diesen kräftigen Körper auch in den Fünfzigern zu erhalten. Seine breiten, mit drahtigem Haar bewachsenen Handgelenke liefen in Fäusten aus, so groß wie Hackstöcke. Die Fingerknöchel tippten fast unhörbar auf seine voll gestellte Schreibunterlage. Kevin lächelte freundlich zurück. Vor solchen Männern hatte er sich stets gehütet, denn aus seiner Kindheit wusste er, dass sie dazu neigten, ihre Mitmenschen zu tyrannisieren. Kevin war zwar groß, aber schlank, und noch immer fühlte er sich in der Gegenwart von Fleisch- und Muskelbergen wie Miceli klein und unbedeutend. Wie dieser Klotz von einem Mann sich über seinen Schreibtisch beugt, als wäre es sein göttliches Recht, das letzte Wort zu behalten! Dabei verdankte er seine Statur bloß einem genetischen Zufall. Kevin spürte sein Lächeln schwinden. Er hatte sich kaum eine freundliche Begrüßung von Detroits Morddezernat erwartet. Ein Special Agent des FBI war ungefähr so willkommen wie ein Zeuge Jehovas. Er bedeutete Kopfschmerzen, 37
Kompetenzstreitigkeiten, verletzte Egos. Normalerweise achtete Kevin darauf, niemandem auf die Zehen zu treten, aber jetzt hatte er stechende Kopfschmerzen, und es war hier so heiß wie in einem Backofen, und er wollte mit diesem Fall unbedingt vorankommen. Freundlich sagte er: »Ich säße nicht hier in Ihrem kleinen Fegefeuer, würde die Sache mich nicht sehr beschäftigen.« Miceli grinste. »Sie hätten sich die lange Fahrt von Chicago sparen können. Ich weiß, Sie machen sich Sorgen, dass hier jemand die Verbrechen dieses Psychopathen David Haines kopiert. Doch wenn ich mich recht entsinne, war Haines ein Scharfschütze, nicht wahr? Er benutzte Präzisionsgewehre und verfehlte nie sein Ziel. Eine, höchstens zwei Kugeln aus großer Entfernung. Niemals näherte er sich den Leichen, hat sich nie darum gekümmert, was sie bei sich hatten. Banji aber wurde aus nächster Nähe mit einer Halbautomatik erschossen
- vier Kugeln in die Brust. Überall Blut. Und seine Brieftasche fehlte. Also nicht gerade ein Nachahmungstäter.« »Das war auch gar nicht meine Vermutung.« Micelis Augen weiteten sich. »Warum sind Sie dann hier?« »Weil ich befürchte, dass Haines in irgendeiner Weise dahinter stecken könnte.« »Was meinen Sie damit?« »Ein Nachahmer versucht, einem bekannten Vorgänger nachzueifern, als eine Art perverse Huldigung. Aber hier könnten wir es mit jemandem zu tun haben, der Haines' Glauben vorbehaltlos teilt. Wenn ich an seiner Stelle wäre und keine 38
unerwünschte Aufmerksamkeit auf mich lenken wollte, würde auch ich mein Vorgehen ändern.« »Also, das ist sehr einfallsreich. Aber die meisten Täter sind es nicht. Und nach fünfundzwanzigjähriger Erfahrung auf den Straßen lernt man auch das.« Kevin entging nicht, was sein Gegenüber durchblicken ließ. Cops hielten FBI-Leute für grüne Collegeboys, ohne jede praktische Erfahrung. Sie mochten sich ja gut vor dem Computerbildschirm machen und über Steuerunterlagen, und sie konnten am Telefon ein untadeliges Benehmen an den Tag legen, doch wenn es um richtige Polizeiarbeit auf den Straßen ging, waren sie »Feebs«, Weicheier - ein beliebter Spitzname für die Bundesbeamten. »Auch das Timing beunruhigt mich«, gestand Kevin und ignorierte Micelis unterschwelligen Spott. »Aus welchem Grund?« »Haines' Hinrichtung soll in drei Wochen stattfinden. Ich muss sicher sein, dass es sich hier nicht um eine Art Protest handelt, vielleicht sogar um den Beginn einer neuen schrecklichen Mordserie.« Da der große Tag bald bevorstand, fand Haines neue, wenngleich bescheidenere Aufmerksamkeit in den Medien - lediglich ein Tröpfeln verglichen mit der Flutwelle an Tinte und Sendezeit, die ihm vor vier Jahren gewidmet worden war, als er noch als anonymer Killer sein Unwesen trieb. Kevin hatte den Tag der Hinrichtung in seinem Terminkalender notiert und ihn mit einer Erwartung im Auge behalten, wie ein Kind seinen Adventskalender. Doch im Gegensatz zu Weihnachten war das Hinrichtungsdatum im Lauf der Jahre immer wieder verschoben worden. Es gab etwa zehn Berufungsverfahren zwischen der Verkündung des Todesurteils und der tatsächlichen Hinrichtung, und Haines, der ehemalige Medizinstudent, hatte sie inzwischen alle hinter sich. Er hatte sieben Ärzte in vier Staaten getötet und drei weitere verstümmelt. Seine 39
Opfer waren führende Forscher auf den Gebieten der Onkologie, Immunologie und Hämatologie gewesen. Seine Morde waren sorgfältigst geplant und mit der Präzision eines CIA-Killers ausgeführt worden. Kevin und seine Sonderkommission hatten drei Jahre benötigt, ihn aufzuspüren. Die Staatsanwaltschaft von Illinois hatte unerbittlich auf der Todesstrafe beharrt. Haines hatte es ihr leicht gemacht. Er hatte seine sämtlichen Morde zugegeben und gefordert, schuldig gesprochen zu werden. Als seine Anwälte versuchten, wegen Unzurechnungsfähigkeit ein »nicht schuldig« für ihn herauszuholen, feuerte er sie und unterzog sich einer Untersuchung durch Psychiater. Er wurde als nicht geisteskrank befunden. Kevin hätte ihnen diese Zeitvergeudung ersparen können. Haines hatte seine Morde nicht in Anfällen von Irrsinn begangen, und er war auch kein Amokläufer. Wie viele intelligente Psychopathen, kannte auch Haines sehr wohl den Unterschied zwischen Recht und Unrecht, und er würde mit der Höchststrafe büßen. Miceli schüttelte bedauernd den Kopf, als würde er einen viel versprechenden, jedoch ein wenig übereifrigen Schüler rügen. Kevin musste den Blick abwenden, denn er spürte, wie sein Gesicht vor Zorn zuckte.
»Kevin, ich habe den Fall Haines ebenfalls verfolgt, wie fast die gesamte Bevölkerung. Eine sehr beeindruckende Arbeit, auch wenn Sie eine kleine Armee von Helfern hatten. Ich ziehe meinen Hut vor Ihnen, dass Sie den Kerl geschnappt haben. Aber glauben Sie mir - einen Fall wie Haines bekommt man nur einmal in seiner Karriere. Sie hatten Ihren David Haines bereits. Doch was jetzt hier abläuft, ist völlig unbedeutend - tut mir Leid. Ein Mann, der in einer Tiefgarage erschossen wurde. Was mit Banji geschah, ist tragisch, aber nichts Besonderes. Ein vernünftiger
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Mensch würde es für einen bedauernswerten Zufall halten.« »Wie kommen Sie darauf, dass ich ein vernünftiger Mensch bin?«, fragte Kevin nüchtern, ohne Micelis Lächeln zu erwidern. Er sah, dass der abgebrühte Cop zum ersten Mal die Fassung verlor. Erst jetzt gestattete Kevin sich ein versöhnliches Grinsen. »Ich bin kein vernünftiger Mensch. Genau deshalb ist es mir gelungen, David Haines zu fassen. Woran er glaubt, was er getan hat, war nach den Maßstäben der meisten Menschen alles andere als vernünftig. Ich habe seit zwanzig Jahren mit Sekten und religiösen Fanatikern zu tun. Da kann ich Ihnen so ziemlich alles über Unvernunft erklären - und wissen Sie was? Es erscheint mir gar nicht mehr unvernünftig! Was Banji zugestoßen ist, überrascht mich nicht. Dass es nicht eher passiert ist, das überrascht mich. « Seit Haines hinter Gittern saß, hatte Kevin die unbestimmbare Angst gequält, dass so etwas geschehen könnte. Und als der Termin von Haines' Hinrichtung mit schrecklicher Konsequenz näher rückte, wuchs seine Angst ins Unermessliche. In den vergangenen zwei Wochen hatten ihn wieder schreckliche Albträume von Haines' Verbrechen gequält - Albträume, aus denen er schreiend erwachte. Tief im Unterbewusstsein hatte er immer schon geahnt, dass der Fall Haines noch nicht abgeschlossen war. Auf gleiche Weise wie Charles Manson oder Ted Bundy hatte David Haines sich in das Bewusstsein der gesamten Nation gebrannt - und nachdem Kevin ihn drei Jahre gejagt hatte, fühlte er sich persönlich gebrandmarkt und rechnete nicht damit, dass die Brandnarben auf seiner Seele sich je wieder glätten würden. Wie er es sah, würde die schreckliche Macht, die David bewiesen hatte, nicht mehr verschwinden; sie schlief nur und wartete auf einen anderen geeigneten Wirt.
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Miceli jedoch zweifelte, das sah er. »Mit allem Respekt, aber vielleicht denken Sie zu viel in diesen Fall hinein.« »Oh«, sagte Kevin, »meinen Sie, ich wäre besessen?« »Das habe ich nicht gesagt ...« »Sie denken, dass ich beim FBI vielleicht zu viel Zeit habe. Ich wünschte, Sie hätten Recht. Und ich werde Sie gern auf jede Weise unterstützen. Vielleicht auch, um mir selbst zu beweisen, dass ich mich getäuscht habe.« Er beobachtete Micelis Gesicht. Bei diesem Verbrechen handelte es sich um eine lokale Angelegenheit. Das FBI war hier nicht zuständig. Miceli saß am längeren Hebel. Zu diesem Fall müsste Kevin offiziell von der Polizei hinzugezogen werden, doch selbst wenn Miceli keine dahingehenden Schritte unternahm - Kevin würde nicht locker lassen. »Ich weiß Ihre Großzügigkeit zu würdigen, Agent Sheldrake, wirklich. Und ich werde Sie bestimmt auf dem Laufenden halten, doch ich bin ziemlich sicher, dass wir die Sache bald abgeschlossen haben.« »Tatsächlich?« Miceli lächelte. »Ja, wir haben einen Zeugen. Den Wärter einer Tiefgarage. Er hörte Schüsse und hatte einen guten Blick auf den Schützen, als der zum Ostausgang rannte. Dieser Wärter hat uns benachrichtigt. Nach seiner Beschreibung wissen wir ziemlich gut, um wen es sich handelt. Meine Jungs haben ihn bereits aufgespürt, kurz bevor Sie kamen. Es ist eine beachtliche Belohnung auf ihn ausgesetzt. Sie sind schon dabei, den Burschen herzubringen.« Miceli grinste großzügig. »Sie dürfen gern an der Gegenüberstellung teilnehmen, wenn Sie möchten.« Aus dem verdunkelten Beobachtungszimmer sah Kevin, wie die sechs Verdächtigen ihre Plätze hinter dem Glas einnahmen. »Okay, Will, lassen Sie sich Zeit«, sagte Miceli. Seine Detectives Lowen und Valgardson waren ebenfalls 42
anwesend. Den Blicken nach, mit denen sie Kevin bedachten, teilten sie die nicht gerade freundliche Meinung ihres Chefs über das FBI. Kevin wandte seine Aufmerksamkeit Will Andrews zu, dem Wärter, der die Schießerei gemeldet hatte. Er war ein schmächtiger Bursche, dem die Umgebung offensichtlich nicht behagte. Kevin konnte es ihm nicht verdenken. Es gab in diesem Zimmer, in dem die abgestandene Luft zum Schneiden dick von kaltem Kaffee und Nikotin war, keinen Ventilator. Andrews stand leicht nach vorn gebeugt, die Arme über der Brust verschränkt, als wolle er mit diesem übel riechenden Zimmer so wenig Körperkontakt haben wie nur möglich. Andrews wies auf einen der Männer. »Das ist er.« »Nummer vier?« »Ja.« Es wäre Kevin schwer gefallen, einen Burschen herbeizuschaffen, der verdächtiger aussah. Der Mann hatte strähniges Haar und einen buschigen Schnurrbart, und in seinen dicht beisammenstehenden Augen lagen Anspannung und unterdrückte Wut. Er trug eine abgeschnittene Jeansjacke, die seine drahtigen, reich tätowierten Arme frei ließ. Seine Fingerknöchel waren mit Schorf überzogen. Ein Bilderbuchganove. »Wollen Sie sich noch ein bisschen Zeit lassen, Will?« »Nein, ich bin mir sicher. Das ist er. Ganz bestimmt.« Wie auf ein Stichwort drehte der Mann durch. Sogar durch das Glas war seine Stimme beängstigend laut. »Leckt mich am Arsch!«, brüllte er und stieß mit dem Finger um sich. »Ihr verdammten Hurensöhne! Wenn ihr mich sehen wollt, dann kommt rein! Ich mach euch alle, ihr Wichser!« »Kümmern Sie sich um ihn«, rief Miceli ins Sprechgerät. Zwei Officers eilten herbei und versuchten, den immer noch brüllenden Mann zu packen. Er schlug wild um sich und hielt sich die Cops einen Moment vom Leib, ehe sie ihn mit dem Gesicht 43
voraus gegen die Wand schmetterten, ihm Handschellen anlegten und abführten. Kevin seufzte insgeheim. Es war nicht schwierig, sich diesen Mann als Mörder vorzustellen. Vielleicht hatte er Banji wegen ein paar Dollar Beute in einem Ausbruch sinnloser Gewalt ermordet. So etwas kam deprimierend häufig vor. Plötzliche Müdigkeit senkte sich über Kevin. Vielleicht hatte Miceli Recht. Vielleicht war es nur Zufall. Sein Instinkt, dem er bis jetzt stets vertrauen konnte, hatte ihn hierher nach Detroit geführt, aber taugte sein Instinkt überhaupt noch etwas? Vielleicht war er durch seine drei Jahre am Haines-Fall abgestumpft, vielleicht sogar seelisch deformiert. Vielleicht. Trotzdem war er nicht bereit, jetzt schon aufzugeben. Wenn Banji einem Arztmörder zum Opfer gefallen war, wollte er in diesem Fall ermitteln. So viel wenigstens konnte er tun, musste er tun. Er musste Hugh in der FBI-Außenstelle Chicago beweisen, dass er mehr draufhatte, als sich mit dem Kleinkram zu beschäftigen, den man ihm in den vergangenen zwei Jahren zugeteilt hatte. Auch sich selbst musste er es beweisen. Er sah, dass Miceli ihn angrinste und die Brauen hob. Offenbar hatte Andrews auf den Richtigen getippt, ihren Hauptverdächtigen. Doch Kevin kaufte es Miceli noch immer nicht ab - das Ganze erschien ihm viel zu glatt, zu einfach. Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder Andrews zu. »Gut gemacht, Mr Andrews«, lobte Miceli den Wärter aus der Tiefgarage.
»Hm, ja. Brauchen Sie mich sonst noch?« »Ich möchte Sie nur noch bitten, dass Sie einige Papiere für Detective Lowen unterschreiben.« Miceli hielt ihm die Hand hin. »Vielen Dank, dass Sie gekommen sind.« Kevin entging nicht, dass Andrews ebenso wenig wert darauf legte, Miceli die Hand zu schütteln, als in 44
diesem Zimmer zu sein und diese Luft zu atmen. Nach einem raschen Handschlag wischte Andrews sich die Finger heimlich an seiner Hose ab. Interessante kleine Zwangsneurose, dachte Kevin. Den Staub der Welt abschütteln. »Kann ich Sie irgendwo hinbringen?«, wandte Detective Lowen sich an Andrews. »Nein«, wehrte dieser ab. »Danke.« Detective Lowen öffnete die Tür. Miceli ging als Erster hinaus, Kevin machte den Schluss. Plötzlich blieb Andrews abrupt stehen, als hätte er etwas vergessen. Noch ehe der Wärter sich die Nase zuhalten konnte, spritzten drei fette Blutstropfen auf das Linoleum. »0 je, das ist diese verdammte Hitze«, sagte Lowen. »Möchten Sie einen Eisbeutel? Ich glaube, wir haben irgendwo einen.« Kevin sah, wie Andrews an der Tür stockte und auf sein Blut am Boden starrte. Er wirkte sehr besorgt, beinahe entsetzt. Kevins Herz hämmerte, als er wartete, was geschehen würde. »Kommen Sie raus, Mr Andrews, und setzen Sie sich«, forderte Lowen ihn auf. »Ich suche den Eisbeutel.« »Ja, okay«, murmelte Andrews. Da er die Nase dabei zuhielt, hörte es sich an, als hätte er Polypen. Doch er rührte sich nicht vom Fleck. Kevin sah, dass der Adamsapfel des Mannes hüpfte. Dann beeilte er sich, mit der freien Hand ein Papiertaschentuch aus der Tasche zu ziehen. Er beugte sich tief hinunter und wischte sorgfältig das Blut vom Boden. »Machen Sie sich keine Mühe.« Lowen wurde ungeduldig. Schließlich richtete Andrews sich auf und blickte angespannt auf den Boden, ehe er das Zimmer verließ. Kevin betrachtete den Linoleumfußboden. Sämtliche Blutstropfen war verschwunden. Andrews hatte keine Spuren hinterlassen.
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»Ich glaube, Sie sind dabei, den Falschen zu verhaften«, sagte Kevin zu Miceli in dessen Büro. »Wir haben soeben eine perfekte Identifizierung bekommen. Der Bursche heißt Chris Washington. Und glauben Sie mir, er hat schon jede Menge Dreck am Stecken. Er treibt sich oft bei dieser Tiefgarage herum. Und was seine Strafakte angeht, hat er sich bereits bis Seite zwei vorgearbeitet. Von tätlicher Beleidigung über illegalen Besitz einer Schusswaffe und Straßenraub ist er jetzt wieder eine Stufe höher aufgestiegen. Als Andrews uns den Mann beschrieb, wussten wir ziemlich bald, wen er meinte.« »Trotzdem sollten Sie Andrews unter Beobachtung stellen.« Er bedachte den Ventilator auf Micelis Schreibtisch, der immer noch nicht mehr zu Stande brachte, als ihm übel riechende Luft ins Gesicht zu blasen, mit einem angewiderten Blick. »Glauben Sie etwa, wir hätten Andrews nicht sofort gründlich überprüft? Der Mann ist sauber. In seinem ganzen Leben hat er noch nicht mal 'nen Strafzettel bekommen.« »Das wundert mich nicht.« »Wie kommen Sie dann darauf, dass ausgerechnet er der Killer sein könnte?« »Sein Nasenbluten.« Während der Gegenüberstellung hatte Kevin das Gefühl gehabt, dass irgendetwas faul war - Washington war nicht ihr Mann. Aber er war erst darauf gekommen, als Andrews' Blut auf den Boden tropfte. Dem Himmel sei Dank für dieses Nasenbluten. Jetzt wusste Kevin, dass sein Instinkt ihn bei Banjis Ermordung nicht betrogen hatte. Er empfand Freude und Erleichterung - er war also doch nicht völlig ausgebrannt. Er wusste allerdings, dass es schwierig sein würde, Miceli die Sachlage zu erklären. Der Captain blickte ihn an; dann lachte er. »Sein Nasenbluten? Was ist damit?« 46
»Es geht darum, wie er die Tropfen aufwischte. Als wäre sein Blut etwas Kostbares, und als könnte er es nicht ertragen ...« Miceli unterbrach ihn mit einem Schnauben; er war mit seiner Geduld am Ende. »Was ist verkehrt daran? Meine Frau würde das Gleiche tun, wenn sie woanders den Boden versaut hätte.« »Sind Sie katholisch?« »War ich mal. Warum?« »Einem Priester fällt eine Hostie herunter. Schiebt er sie auf den Kehricht? Wartet er, bis Mäuse sie fressen? Nein, er segnet sie und nimmt sie selbst.« »Oh, Mann. Das ist doch ganz was anderes.« Kevin ließ nicht locker. »Nicht für jemanden wie Haines. Er glaubt, dass sein Blut seine Seele enthält. Deshalb würde er keine Blutstropfen auf dem Boden lassen, wo jemand drauftreten könnte. Und ein Arzt wie Banji gehört genau zu der Personengruppe, auf die Haines es abgesehen hat. Banji war in der AidsForschung tätig. Woran denkt man bei Aids als Erstes? An Homosexualität - und die betrachtet Haines als schwere Sünde. Banji versuchte ein Heilmittel für eine Seuche zu finden, die Gott gesandt hatte, um die Menschen für ihre Sünden zu bestrafen.« »Okay, mir reicht es jetzt.« »Was erscheint Ihnen denn abwegig? Ist es nicht merkwürdig, dass Andrews den Job als Parkhauswächter erst seit fünf Wochen macht?« »Nein. Das liegt an der Nachtschicht. An der miesen Bezah lung. Den langen Arbeitsstunden. Deshalb wechseln die Wärter schnell.« »Wie wollen Sie wissen, dass er den Job nicht angenommen hat, um Banji zu beobachten? Vielleicht war es die einzige Möglichkeit, nahe genug an ihn heranzukommen, um ihn umzubringen? Er kennt Banjis Wagen, seine Arbeitszeit. Außerdem bot der Job ihm ein glaubhaftes Alibi. Sie haben es ihm doch abgekauft, nicht wahr?« 47
Micelis Stimme war von einer erzwungenen Ruhe, die verriet, dass er sich sehr zusammennehmen musste, um nicht zu explodieren. »Ich bewundere das FBI und Ihre Arbeit in dieser Sache. Aber ich sage Ihnen zum letzten Mal - hier handelt es sich um einen stinknormalen Totschlag. Und wir haben den Täter.« Wieder traf ein Schwall verbrauchter Luft Kevin im Gesicht. Ohne zu zögern beugte er sich vor und schmetterte die Hand auf den Schaltknopf des Ventilators, der seine Arbeit einstellte. »Sie verhaften Washington, und in ein paar Wochen oder Monaten gibt es einen weiteren toten Arzt. Und noch einen. Überlegen Sie, welches Licht das auf Sie und Ihre Männer werfen wird. Washington ist nicht der Täter. Auch wenn er Ihnen auf dem Serviertablett präsentiert wurde: Er ist viel zu ... auffällig. Andrews hat ihn benutzt.« »Zu auffällig? Tut mir Leid, mein Freund, dass es nicht fantasievoll genug für Sie ist, aber meistens ist das Auffälligste genau das, was es ist. Ich kann es mir nicht leisten, mir elegante Motive und komplizierte Verschwörungen auszudenken. Ich sehe, was ich sehe, und treffe meine Entscheidung.« »Aber diese Entscheidung war verkehrt.« »Schauen Sie sich unsere Statistik an. In dieser Stadt sind die Gewalttaten in den letzten zwei Jahren ständig rückläufig. Was haben Sie vorzuweisen?« »Werden Sie diesen Mann beobachten lassen oder nicht, Captain?«
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»Werde ich nicht. Dazu fehlen mir die Leute, und vor allem will ich es nicht. Der Fall ist geklärt.« »Nein«, widersprach Kevin, »ist er nicht.«
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Lauras Hand zitterte, als sie die Gießkanne senkte. Die so lange vernachlässigten Pflanzen im Haus sogen das Wasser gierig auf, und die Blumenerde sandte wispernd ihren Duft zu Laura empor. Dankbar atmete sie ihn ein und wartete, bis das Wasser den Topfboden erreichte, ehe sie sich der nächsten Pflanze zuwandte. Sie spürte, wie das Valium zu wirken begann, wie sein spinnwebfeiner Schleier sich zwischen sie und die Welt wand und ihre chaotischen Gedanken zu einem beruhigenden Gebilde ordnete. Ihr Blick richtete sich auf das Wohnzimmerfenster. Aus der Höhe ihres Apartments war der See zu sehen; weit rechts erblickte sie ein Stück des von der Augustsonne chromweiß gebleichten Horizonts. Es war lange her, dass sie mitten am Tag daheim gewesen war. Du hast sie umgebracht! Es dauerte ein paar Sekunden, bis ihr bewusst wurde, dass die Kanne leer war. Sie eilte in die Küche und drehte den Wasserhahn weit auf, als könnte sie ihre ungebetenen Gedanken auf diese Weise fortschwemmen. Gillians Mann hatte im Aufwachraum gewartet, ebenso ihre Eltern, die von Miami hergeflogen waren. Laura hoffte, nie wieder einen so schlimmen Bescheid geben zu müssen. Sicher, sie hatte mehr als einmal Patienten beibringen müssen, dass sie nur noch kurze Zeit zu leben hatten, doch nie zuvor unter solchen Vorzeichen. Bei Gillian hatte nur Stunden zuvor noch große Hoffnung bestanden. Als sie das Schreckliche, Unwi
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derrufliche vernahm, hatte sie unbewusst mit dem Finger über den Ehering ihres Mannes gestrichen. Zum Schluss hatte sie Laura gedankt und sie ermuntert, nicht aufzugeben. Laura schauderte, als sie nun an ihren peinlichen, feigen Rückzug dachte, vorbei an den fassungslosen Gesichtern von Gillians Eltern und dem gesenkten Kopf ihres Mannes. Die Kanne floss über. Laura drehte den Hahn zu, schloss die Augen und versuchte, sich auf irgendetwas zu konzentrieren. Die Magnolien. Kümmere dich um die Magnolien. Jetzt gleich. Laura durchquerte ihr Wohnzimmer, das mit skandinavischen Möbeln eingerichtet war, die sie fast alle im Art-ShoppeAusstellungsraum gekauft hatte, und ging über den Flur zum Schlafzimmer. Zwei Jahre Arbeit den Bach runter. Sie atmete aus. Ihr Magen schmerzte von Anspannung. Nachdem sie mit Gillian gesprochen hatte, war sie wie betäubt über die Krankenhausflure ins Labor zurückgekehrt. Eine Frau hatte ihr zugelächelt, doch Laura hatte den Blick abgewandt, erstaunt, dass es hier noch jemanden gab, der nichts von der Tragödie wusste, die sich soeben ereignet hatte. Erst im Labor wurde ihr bewusst, dass sie jeden ihrer Schritte gezählt hatte, als hätte sie sich damit an der Wirklichkeit festklammern wollen. Emily hatte den Rest des Teams bereits informiert und es Laura erspart, ihnen die traurige Neuigkeit mitteilen zu müssen: Es wäre Laura unendlich schwer gefallen, erleben zu müssen, wie bei ihren Mitarbeitern die freudige Erwartung von Entsetzen verdrängt wurde. In ihrem kleinen, überfüllten Büro war Laura hinter der geschlossenen Tür stehen geblieben. Auf ihrem Schreibtisch lagen die Computerausdrucke mit den vielen handgeschriebenen Randbemerkungen, die ihr plötzlich wie Hieroglyphen erschienen, die sie niemals 51
würde verstehen können. Sie sah das Lämpchen an ihrem Telefon blinken; im selben Moment schrillte es. Instinktiv wusste sie, dass es nur Adrian sein konnte. Er wollte wissen, was passiert war, was schief gelaufen war, was getan werden musste. Doch Laura nahm den Hörer nicht ab. Sie ging hinaus - aus ihrem Büro, aus dem Labor, vorbei an Emily und Sam und ihren besorgten Laboranten. An die Fahrt nach Hause erinnerte sie sich kaum. In ihrem Schlafzimmer goss sie die zwei Blumentöpfe. Ihre Gliedmaßen fühlten sich allmählich angenehm schwer an. Ohne neuerliche Adrenalinzufuhr ergab ihr Körper sich schließlich der Erschöpfung. Sie stellte das Gießkännchen ab, zog die Rollläden zum Schutz vor der Mittagssonne herunter und legte sich hin. Das Telefon auf ihrem Nachttisch. Sie stützte sich auf einen Ellbogen und streckte den Arm aus; ihre Finger hoben den Hörer ab, ließen ihn wieder fallen. Ein Teil von ihr wollte anrufen - es wäre eine Erleichterung, mit jemandem zu reden! -, doch sie hatte nicht den Mut, es Sandra jetzt zu sagen. Aber sie würde ihren Anruf erwarten, oder nicht? Sandra war mit Mike und den Kindern auf Urlaub in Maine, und Dad war ebenfalls dort. Anfangs war Laura gekränkt gewesen, als sie erfuhr, dass sie zum großen Ereignis gar nicht da sein würden - doch da hatte sie noch mit einem großen Triumph gerechnet. Jetzt war sie beinahe froh darüber, dass Sandra und die anderen nicht in der Stadt waren. Vielleicht hatte Sandra das Biopsie-Datum für Gillian Shamas vergessen - es war ja nicht so, als hätte ihre kleine Schwester sich je übermäßig für ihre Arbeit interessiert. Gut. Sie würde es ihnen allen später sagen, wenn sie sich wieder gefasst hatte. Sie war so müde, so unglaublich müde. Das Kopfkissen fühlte sich kühl an ihrer glühenden Wange an, und unvermeidlich schweiften ihre Gedanken drei Monate zurück zu dem Frühlingstag, an dem Sandra sie beim Dinner über den Tisch hinweg 52
angeblickt und gesagt hatte: »Ich habe beschlossen, eine alternative Therapie zu versuchen ...« Wie immer war Sandras Dinnertisch festlich gedeckt mit Kerzen und Weingläsern, poliertem Silberbesteck und Serviettenringen. Laura stellte die Spargelplatte ab und ging zurück in die Küche, um ihrer Schwester zu helfen, die anderen Speisen ins Esszimmer zu tragen. Die Luft war feucht und gesättigt von den Kochdünsten. Durch die Terrassentür konnte Laura sehen, wie Sandras Garten in Chicagos kurzem Frühling zu sprießen begann. »Das sieht köstlich aus«, lobte Laura, als sie die Schweinelende betrachtete, die in Medaillons geschnitten und mit Aprikosen, Rosinen und Kräutern garniert war. Sandra lächelte und füllte eine Schüssel mit wildem Reis. Ihr Gesicht war gerötet, und ihre grünen Augen glänzten. Auf der voll gestellten Arbeitsfläche kühlten zwei Kuchen aus, der eine mit Apfel, der andere mit Kürbis gefüllt - die Lieblingskuchen ihres Vaters. Es fiel Laura schwer, ihre Gereiztheit zu unterdrücken. Sandra hätte ihr diese Woche das Familiendinner überlassen können; Dad hatte es ihr sogar vorgeschlagen. Doch Sandra hatte darauf bestanden: Ihre sonntäglichen Mittagessen waren Tradition, seit sie vor drei Jahren zurück nach Chicago gezogen war, und Laura wusste, wie viel sie Sandra bedeuteten. Trotzdem - sie hätte sich eine Pause gönnen können, nachdem sie vor sechs Tagen die schreckliche Nachricht erfahren hatte. Musste sie weiterhin die Matriarchin der Familie spielen? Besorgt behielt Laura ihre Schwester im Auge, aufmerksam, aber unauffällig. War Sandras Gesicht nur von der Ofenwärme gerötet, oder hatte sie Fieber? Sie sah nicht krank aus, doch Laura hatte den Eindruck, als wären ihre Wangen schmäler geworden. »Es ist komisch«, sagte Sandra, »aber ich fühle mich sehr gut.« »Das freut mich.« Laura zwang sich zu einem Lächeln und nickte, ermutigend, wie sie hoffte. Aber sie war die grausame Ironie von Krebs gewöhnt. Patienten 53
konnten manchmal innerlich mit Krebsgeschwüren durchwuchert sein und sich trotzdem großartig und unternehmungslustig fühlen, sogar noch kurz vor ihrem Ende. Sie fragte sich, ob Sandra nicht wusste, wie ernst ihre Prognose war, oder ob sie es noch nicht hatte akzeptieren wollen. Während Sandra den Rest vom Reis in die Schüssel gab, fiel ihr eine Strähne ihres kastanienbraunen Haars in die Stirn. Mit schwesterlicher Fürsorge strich Laura sie ihr hinter ein Ohr. Gut - Sandra schien kein Fieber zu haben. Sandra bedankte sich. Laura blickte auf das schöne Gesicht ihrer Schwester; dann fiel ihr Blick unweigerlich zu Sandras Brüsten oder vielmehr, ihren künstlichen Brüsten. Vor knapp einem Jahr hatte man bei ihr Brustkrebs festgestellt. Aggressiv. Beide Brüste hatten amputiert werden müssen, und Sandra hatte die folgenden sechs Monate immer wieder zur Bestrahlung und Chemotherapie im Krankenhaus verbracht. Für Laura war es unglaublich, wie tapfer Sandra ihrem Leiden begegnet war, ohne zu klagen, stets voller Zuversicht. Sie hatte sie unendlich bewundert. Sie an Sandras Stelle ... Und jetzt, kaum ein halbes Jahr später, war der Krebs wieder da und hatte sich bereits in Sandras Lymphdrüsen und, was noch schlimmer war, in der Leber eingenistet. »Ich wollte, du hättest mich heute das Dinner zubereiten lassen.« Laura hoffte, dass ihr Gesicht nicht ihre Sorgen verriet. Sandra schüttelte den Kopf. »Es macht mir viel Spaß, ehrlich. Ich koche gern, und ich hab Freude daran, den Tisch hübsch zu decken.« Sie standen nebeneinander vor der Arbeitsplatte, und Laura lächelte, als Sandra ihr einen Arm um die Taille legte. Laura drückte eine Wange an die Sandras. Die Haut ihrer Schwester und ihr Haar rochen genauso wie damals, als sie noch Kinder gewesen waren. Einen Moment lang wünschte Laura sich nichts sehnlicher, als wieder zehn zu sein, mit verschränkten Beinen hinter Sandra auf dem Bett 54
zu sitzen und ihr das Haar zu kämmen. Sie zuckte zusammen. Es war zu
schmerzhaft, daran zu denken. Irgendwie erschien es ihr falsch, von der Vergangenheit zu träumen, wenn sich in diesem Moment mutierte Zellen in Sandras Körper vermehrten und ausbreiteten. »Lass mich das nehmen.« Laura langte nach der großen Schüssel mit Reis. »Du brauchst Topfhandschuhe.« Sandra deutete mit einem Kopfnicken auf ein Paar. Laura schlüpfte hinein und trug die schwere Schüssel ins Esszimmer. Sandra folgte mit dem Fleisch. Dad und Mike kamen vom Wohnzimmer herein. Sie unterhielten sich über Staatsanleihen und leerten ihre Gläser mit dem australischen Chardonnay, den Sandra zum Räucherlachs serviert hatte. Als alle am Tisch saßen, sprach Mike das Dankgebet. Laura senkte höflich den Kopf, spürte jedoch, wie ihre Kiefer sich unwillkürlich verkrampften. Sie hob den Blick, um Mike anzuschauen. Seine Stirn war im Gebet leicht gerunzelt. Er sah nicht schlecht aus, trotzdem irgendwie unscheinbar. Wenn sie Mike anschaute, hatte Laura nie das Gefühl verdrängen können, dass er schwerfällig war. Nicht, dass er unter Übergewicht litt - er hatte eine gute Figur, die er sich durch Jogging erhielt -, und sein Gesicht war gut geschnitten, mit ebenmäßigen Zügen, auch wenn er nicht gerade ein Traummann war. Er hatte braunes Haar, das sich nicht zu auffallend lichtete. Er war Sandra ein guter Ehemann. Meistens. Laura war nicht entgangen, wie Mike sie mitunter heimlich anschaute. Vor Sandras Krankheit hatte es ihr sogar Spaß gemacht, auch wenn sie dabei ein bisschen Schuldgefühle empfand. Doch jetzt verachtete sie Mike dafür. Wenn er schon andere Frauen begaffen musste, sollte er es gefälligst 55
außerhalb der eigenen vier Wände tun. Laura konnte nur hoffen, dass ihre Schwester es nicht bemerkt hatte. »Bevor ich's vergesse«, sagte Dad zu Sandra, als sie sich daran machte, das Essen aufzutragen, »die Spiegels und die O'Connells riefen mich gestern an. Sie sagten mir, sie hätten dich im Fernsehen gesehen.« »Du warst im Fernsehen?«, fragte Laura. »Wann?« Sandra schüttelte bescheiden den Kopf. »Es war nichts, bloß ...« »Sie sagten, du hättest sehr warmherzig und verständnisvoll gewirkt.« »Es war nur eine unbedeutende Geschichte auf Channel 9«, erklärte Sandra. »Ein Beitrag über Suppenküchen. Die Fernsehleute hatten von der neuen Küche gehört, die wir in Edgemont eröffnet haben. Ich war ganze fünfundzwanzig Sekunden zu sehen.« »Das ist großartig«, sagte Laura. »Es wäre großartig, wenn dadurch mehr Leute auf die Probleme in der Stadt aufmerksam würden.« Sandra arbeitete ehrenamtlich für die Kirche und kümmerte sich um Suppenküchen und Wohnheime für Nichtsesshafte in der City. Weil sie hübsch war und sich gut ausdrücken konnte - jedenfalls hielt Laura das für den Hauptgrund -, wurde sie häufig zu Talkshows eingeladen, wenn es um bedürftige Kinder und Obdachlose ging. Nach jedem Auftritt riefen welche von Dads vielen Rentnerfreunden an, um ihm zu seiner berühmten Tochter zu gratulieren. »Gretchen Spiegel sagte, du hättest so bezaubernd wie immer ausgesehen«, erklärte Dad. »Lieb von ihr«, sagte Sandra. »Ich muss ihr noch schreiben und mich für Alex' Geburtstagsgeschenk bedanken.« Laura hörte höflich zu, als die beiden sich unterhielten. Wie üblich langweilte sie sich dabei, verspürte aber auch einen Anflug von schlechtem Gewissen, weil sie bei all diesen Dingen außen vor stand: Im Gegensatz zu ihr kannte Sandra viele von Dads Freunden, hauptsächlich durch seine 56
gesellschaftlichen Verbindungen gemeinsame Arbeit für die Kirche.
und
durch
ihre
Laura nahm einen weiteren Bissen vom Medaillon. Es schmeckte hervorragend, ihre erste vernünftige Mahlzeit seit Tagen, doch sie aß ohne Appetit. Sie schaute zu ihrem Vater hinüber. Ob auch er ständig daran dachte, dass sie über alles Mögliche redeten, nur nicht über das Thema, das ihnen am meisten zu schaffen machte? Sie warf einen verstohlenen Blick auf Sandra, die über eine Bemerkung Mikes lachte. Ihre Wangenknochen waren vom Kerzenschein beleuchtet. Sie schien überglücklich zu sein, als wüsste sie etwas Wundervolles, das sie ihnen allen noch mitteilen wollte. »Alexander«, sagte Dad plötzlich, ohne seine Belustigung verbergen zu können, »du solltest doch längst im Bett sein.« Laura lächelte. Mit verschmitztem Gesicht lugte Sandras fünfjähriger Sohn um den Türbogen. »Ihr seid so laut«, rief Alex; dann kam er in seinem weichen Baumwollschlafanzug ins Esszimmer geflitzt und streckte Laura den Spielzeugdino hin, den sie ihm heute als verspätetes Geburtstagsgeschenk mitgebracht hatte. »Guck mal, Tante Laura, ich hab alle Teile richtig zusammengesteckt.« Er kletterte auf ihren Schoß und erzählte in aller Ausführlichkeit, wie er das Skelett des Stegosaurus zusammengefügt hatte. Laura beugte den Kopf beim Zuhören und genoss die Wärme des Kindes auf ihrem Schoß. Sie sah in Alex stets eine wundersame Gabe. Natürlich liebte sie auch die kleine Rachel, doch Alex war ihr Schatz, weil er sehr an ihr hing, obwohl sie nie besonders gut mit Kindern hatte umgehen können. Alex hatte sie erwählt und ins Herz geschlossen. Vielleicht lag es daran, dass Laura wie zu einem Erwachsenen mit ihm redete, oder an ihren vielen 57
Gemeinsamkeiten. Genau wie Laura faszinierte es den Jungen, wie bestimmte Dinge funktionierten. Das Museum für Wissenschaft und Technologie war für Alex der siebente Himmel; vermutlich war er
der aufmerksamste Begleiter, den Laura im Field Museum je gehabt hatte, so sehr hatte der Junge gestaunt, sich gefreut und Laura mit Fragen bestürmt, wodurch er ihr das Gefühl vermittelt hatte, selbst alle Dinge neu zu entdecken. Sie wünschte sich, mehr Zeit mit dem Jungen verbringen zu können. »Zurück ins Bett, Alex«, befahl Mike. »Marsch!« Alex drückte Laura, und sie gab ihn widerstrebend frei. »Nacht, Tante Laura«, sagte er und drückte ihr einen schmatzenden Kuss auf die Wange. »Wir werden versuchen, leiser zu sein, Alex«, versprach sie feierlich. Als der Junge verschwunden war, quälten Laura wieder die Sorgen um ihre Schwester. Sie ertappte sich dabei, dass sie nervös mit dem Serviettenring spielte, und legte rasch die Hand auf den Schoß, um sich ihre Nervosität nicht anmerken zu lassen, doch ihr Fuß wippte unwillkürlich auf und ab. Sie nahm einen winzigen Schluck Wein. »Du bist ja ganz schön enthaltsam.« Mike blickte grinsend auf ihr Glas und ihren Teller, von dem sie kaum etwas gegessen hatte. Sie lächelte höflich. »Zu viel Arbeit«, sagte sie. Wenn du wüsstest, wie sehr ich mich zwingen muss, überhaupt etwas zu essen, ging es ihr durch den Kopf. Und es wundert mich, dass du einen so gesunden Appetit hast. »Wie geht's den armen Labormäusen?« Das war die typische Art ihres Vaters, sich nach ihrer Arbeit zu erkundigen. Angesichts der intensiven Beschäftigung Lauras mit dem Mikrokosmos der Zellen und Moleküle waren ihre täglichen Fortschritte für Laien so geringfügig, dass sie häufig nur in wissenschaftlicher Terminologie erklären konnte, womit sie ihre Zeit 58
verbracht hatte. Laura blickte kurz zu Sandra über den Tisch. Gerade heute wollte sie nicht über ihre Arbeit reden.
»Oh, es hat nie viel Spaß gemacht, eine Labormaus zu sein.« Sie versuchte, humorvoll zu klingen, und hoffte, ihr Vater würde das Thema fallen lassen, doch Einfühlsamkeit war nie seine starke Seite gewesen. »Das letzte Mal hast du gesagt, du kommst voran.« »Nun ja«, entgegnete sie, »es ist ein sehr langsamer Prozess.« »Wann kannst du es an Menschen erproben?« Laura ließ sich Zeit mit der Antwort. Sie wusste, dass das Interesse ihres Vaters jetzt geweckt war. »Wir werden es noch eine Weile hinausschieben müssen.« »Warum die Verzögerung?« Seine Stimme war mit einem Mal scharf und verriet Bestürzung, was Laura ein wenig aus der Fassung brachte. »Die letzten Tierversuche waren ... Die Retroviren wurden irgendwie kontaminiert ... Jedenfalls, wir werden die Versuche am Menschen wahrscheinlich zurückstellen müssen.« »Oh«, murmelte ihr Vater, »das ist zu dumm.« »So etwas passiert immer wieder, Dad. Wir brauchen die Genehmigung der FDA, und die bekommen wir erst, wenn wir genügend positive Tierversuche vorweisen können.« »Verstehe«, sagte ihr Vater, doch Laura wusste, dass er sie für zu langsam hielt. Woher sollte er auch wissen, wie viel Zeit in ein Projekt dieser Größenordnung investiert werden musste? Doch Laura spürte, dass sie ihn tief enttäuscht hatte. Er hatte gehofft, sie könnte irgendwie eine Wunderkur für seine geliebte jüngere Tochter herbeizaubern, und nun hatte sie in seinen Augen versagt. Als hätte sie im Labor nicht jeden Tag genügend eigene Zweifel! Als würde sie sich nicht ständig fragen, ob sie überhaupt die 59
wissenschaftlichen Fähigkeiten besaß, ihre Versuche zum Erfolg zu führen! Sie nahm eine weitere Gabel Reis und spülte den Bissen mit einem Schluck Wein hinunter. Dann blickte sie durchs Fenster in den Garten. Sie wollte weg von hier, wollte im Labor sein, bei der Arbeit. Wann hatte sie zum letzten Mal das Gefühl gehabt, sich einen freien Abend verdient zu haben? Nach dem Essen half sie Mike das Geschirr abräumen, während Sandra den Kuchen und die Eiskrem brachte. Laura stocherte bloß auf ihrem Dessertteller herum, beobachtete verstohlen ihre Schwester und sah einen seltsamen, erwartungsvollen, wie beschwipsten Ausdruck in Sandras Augen, als würde sie gleich eine Verlobung oder eine neue Schwangerschaft verkünden. »Ich habe beschlossen, eine alternative Therapie zu versuchen«, sagte Sandra. »Was meinst du mit alternativer Therapie?«, fragte Laura vorsichtig und mit der schwachen Hoffnung, dass ihre Schwester an einer klinischen Versuchsreihe teilnahm. »Es gibt da eine Klinik in Tijuana, von der ich gehört habe ...« Laura konnte ihre Bestürzung nicht verbergen. »Oh, Sandra, diese Leute sind Quacksalber und Kurpfuscher!« »Sie sind auf metabolische Therapien spezialisiert«, entgegnete ihre Schwester ruhig, »und haben große Erfolge vorzuweisen.« »Was ist mit der Chemotherapie? Ich dachte, du wolltest ...« »Keine Chemo mehr.« Laura wusste, dass ihre Schwester mitunter eigentümliche Vorstellungen von Medizin hatte, doch dass sie so weit gehen würde, kam unerwartet. Mike musste dahinter stecken. Er glaubte an den ganzen Unsinn von Selbstvisualisierung und Selbstheilung, wie sie von selbst ernannten Gurus und Schamanen aus 60
allen Teilen der Welt in einem Bestseller nach dem anderen beschrieben wurden. »Du solltest dir das noch einmal gut überlegen, Sandra.« »Das habe ich bereits. Ich habe mit einigen Patienten gesprochen, die von dort zurückgekommen sind. Manche waren schlimmer krank als ich, und in Tijuana hat man sie geheilt.« »Geheilt. Hör mal ... « Laura wusste nicht, wie sie anfangen sollte. »Wie willst du wissen, dass nicht die Chemo- oder Strahlentherapie, die diese Leute zuvor gemacht hatten, sie geheilt hat? Vielleicht hatten sie nicht einmal Krebs. Und wenn doch, war er möglicherweise gar nicht geheilt, sondern nur in Remission. Woher willst du wissen, dass sie nicht lügen?« »Warum sollten sie?« Die arglose Bestürzung Sandras beschämte und ärgerte Laura gleichermaßen. Wie konnte ihre Schwester bloß so naiv sein? »Die Klinik in Tijuana ist eine renommierte Einrichtung, Laura«, warf Mike nun ein. »Sie haben uns sehr viel Material geschickt. Die medizinischtechnischen Einrichtungen dort stehen denen unserer besten Kliniken in nichts nach. Das neueste und beste Equipment, CT- Scanner und Ultraschall, magnetische Resonanzgeräte ... alles, was man sich für Untersuchungen und Behandlungen nur vorstellen kann.« Sandra nickte. Offenbar hoffte sie, dass Mike ihre Schwester mit dieser Aufzählung beeindruckte. »Sie mögen ja über diese Geräte verfügen«, erwiderte Laura, »und vielleicht sogar über die erforderlichen Techniker. Aber die so genannten Ärzte dort ... Ich würde ihrer Auswertung der Ergebnisse nicht trauen. Und ganz sicher nicht ihrer Behandlung.« »Dr. Frieda Wendt, die Leiterin der Klinik, hat ein Buch über ihre Therapien veröffentlicht«, sagte Sandra. »Es ist voller Dankschreiben von ihren Patienten.« »Na gut, aber hat sie akademisch korrekte Studien durchgeführt? Hat sie ihre Ergebnisse in 61
wissenschaftlichen Zeitschriften veröffentlicht? In medizinischen Fachblättern?« »Ich glaube nicht, dass das Establishment sich sehr dafür interessiert, was Dr. Wendt zu sagen hat«, warf Mike mit aufreizender Selbstgefälligkeit ein. Laura versuchte, ihre Wut im Zaum zu halten. Verärgerte Patienten bezeichneten die Ärzte gern als das Establishment, als wären sie ein Verbrechersyndikat. Wusste Mike denn nicht, wie beleidigend das für sie war? Doch Laura nickte nur, ohne ihn anzuschauen, aus Angst, ihre Wut würde die seine umso mehr entfachen. »Und warum nicht, Mike?« »Weil zu wenige Ärzte alternativen Behandlungsmethoden gegenüber aufgeschlossen sind. Sie zeigen keine Bereitschaft, neue Wege zu beschreiten. Sie haben ihren eigenen kleinen Geheimclub und glauben, dass sie allein im Stande sind, die Rätsel des Universums zu lösen.« Du eingebildeter Schwachkopf, dachte Laura. »Das alles habe ich schon mehr als einmal gehört. Verruchte Ärzte, die sich innerhalb der Mauern ihrer Arroganz und der Grenzen ihrer Ausbildung einschließen und die wahren Weisheiten der Welt verleugnen. Wenn wir das scheinbar ignorieren, dann nur, weil sie wirklich nichts zu bieten haben. Keine brauchbaren Probegruppen, keine Doppelblindversuche, keine veröffentlichten Studien. Es sind alles Behauptungen von Leuten, die nicht sonderlich gescheit sind.« Sandra wirkte zum ersten Mal ungeduldig. »Laura, die Ärzte, zu denen du mich geschickt hast, waren wirklich nett, und ich bin sicher, sie sind die Besten auf ihrem Gebiet und haben getan, was sie konnten, aber ... sie konnten mir nicht helfen ...« »Die Brustoperation und die Chemotherapie haben dir das Leben gerettet.« »Aber der Krebs kam zurück.«
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»Es gibt noch andere Heilmethoden, Sandra. Aggressivere Chemotherapien, zum Beispiel. Hör zu, ich kann dich ...« »Nein, danke, Laura.« Nein danke? Entsetzt blickte Laura ihren Vater an. Warum sagte er nichts? Sandra war seine Tochter! Als der Krebs bei ihr entdeckt wurde, hatte Laura sich nützlich gefühlt. Das war ihre Domäne. Sie hatte Sandra beraten, hatte ihr Experten empfohlen. Ihr Vater hatte sich mit seinen Sorgen an sie gewandt, und sie hatte ihn beruhigen, ihm Trost und Hoffnung geben können. Zum ersten Mal hatte Laura das Gefühl gehabt, dass er zu schätzen wusste, was sie tat - und Sandra ebenfalls. In den sechs Monaten nach der Chemotherapie waren alle voll Optimismus gewesen. Jetzt, da der Krebs schlimmer als zuvor zurückgekehrt war, fühlte Laura sich irgendwie verantwortlich. »Sandra ...« Doch Mike unterbrach sie. »Wir haben uns ausgiebig darüber unterhalten, Laura. Ich finde, dass es Zeit ist, andere Möglichkeiten auszuschöpfen. Das Beten, zum Beispiel.« Über den Tisch hinweg nahm er ihre Hand. Laura schluckte. Das wurde ja immer schlimmer. »Das Beten?«, echote sie dumpf. »Manche Ärzte glauben an Gott, Laura. Dr. Wendt meint, dass Gebete und positives Denken ihre Therapien hilfreich unterstützen können.« »Sandra, bitte, lass deine Finger davon! Die Schulmedizin ...« »Wir alle sollten uns erst einmal beruhigen«, sagte ihr Vater und blickte Laura streng an. Sie war starr vor Zorn. Sich beruhigen? Wie ein ungehorsames Kind? »Tut mir Leid, dass du es nicht für eine gute Idee hältst, Laura«, murmelte Sandra. »Ich möchte leben, und ich glaube, mit Dr. Wendt habe ich größere Chancen.« »Wahrscheinlich ist sie nicht mal eine richtige Ärztin«, brauste Laura auf. 63
»Du studierst zwar Krebskrankheiten, aber du weißt nicht, wie es ist, Krebs zu haben ... von Krebs getötet zu werden.« Sandras grausame Offenherzigkeit ließ Laura kurz verstummen. Getötet zu werden. Ihre kleine Schwester, vom Krebs getötet. 0 Gott, es musste etwas geben, das sie tun konnte! Laura fühlte sich
schrecklich hilflos und wütend zugleich. Sie wusste nicht aus eigener Erfahrung, wie es war, Krebs zu haben, aber sie wusste wahrscheinlich besser als irgendjemand sonst, wie er bekämpft werden konnte. Warum sah Sandra nicht wenigstens das ein? Ruhig sagte sie: »Du brauchst dich nicht nur auf mein Wort zu verlassen. Gib mir zwei Tage, und ich werde dir massenhaft Artikel heraussuchen und sie dir schicken. Dann kannst du dir wenigstens ein ausgewogenes Bild machen.« »Ich weiß, wie schlecht meine Aussichten sind, da mache ich mir nichts vor.« Sandra blickte sie beschwörend an. »Aber kannst du mit Sicherheit sagen, dass man mir in Tijuana nicht hilft? Es gibt mir wenigstens eine Hoffnung!« Ihr Vater blickte Laura an. »Kann es schaden?« »Ich weiß nicht, wie die Therapie aussieht. Manches kann schaden, ja. Einige dieser netten Naturheilmittel, zum Beispiel. Eine Spur Urea, ein bisschen Haifischknorpel, zur Geschmacksabrundung vielleicht eine Prise Caesium-Chlorid. Wenn der Tijuana-Cocktail so aussieht, dann lass um Himmels willen die Finger davon, Sandra! « »Schädlicher als eine Chemotherapie?«, fragte Mike. »World Report hat gerade eine Titelstory über Versuchspersonen klinischer Krebsbehandlungen gebracht, die gestorben sind, nur weil herkömmliche Ärzte neue Techniken ausprobieren wollten.« »Zumindest sind herkömmliche Ärzte richtig ausgebildet, und die Patienten kennen die Risiken. Diese Leute in Tijuana haben wahrscheinlich gar keine 64
rechte Ahnung, was sie tun. Deshalb können sie auch nicht wissen, welche Wirkung die Mittel, die sie ausgeben, auf biochemischer Ebene haben. Viele Personen sterben nicht an ihrer Krankheit, sondern an diesen alternativen Therapien, Mike. Und selbst wenn sie harmlos sind - sie verhindern, dass du etwas tust, das dir wirklich helfen könnte. Bitte, Sandra, mach die nächste Chemotherapie.«
Laura spürte, wie ihre Stimme zu zittern begann. »Komm, Dad, gib mir wenigstens hier Recht.« »Ich werde keine Chemotherapie mehr machen Schluss, aus! « »Bist du sicher, Sandra?«, fragte ihr Vater besorgt. »Ja, Daddy. Ich habe mit zwei Frauen gesprochen, denen ihre Ärzte nur noch sechs Monate gegeben hatten. Nach der Behandlung durch Dr. Wendt lebt die eine schon seit drei, die andere seit fünf Jahren, und beide sind gesund!« »Als eure Mutter Krebs hatte ...«, sagte Dad, »nun, du warst ja hier, Sandra, Tag für Tag. Du weißt, wie es für sie war. Ich hatte nie das Gefühl, ihr wurde wirklich geholfen. Und ich sagte mir immer, dass es vielleicht mehr Dinge zwischen Himmel und Erde gibt ...« »Aber nicht in Tijuana bei diesen Quacksalbern«, protestierte Laura. »Du weißt ja nicht einmal, um was es geht«, sagte Sandra, »und trotzdem lehnst du es ab!« »Wenn deine Schwester keine Chemotherapie machen will, Laura, welche Möglichkeiten bleiben ihr dann?«, fragte ihr Vater. Und das alles nur, weil ich es nicht geschafft habe, Sandra zu helfen, dachte Laura. Weil mir kein Treffer geglückt ist. Sie arbeitete so hart, wie sie nur konnte. Glaubte ihr Vater denn nicht, dass sie alles versuchte, dass sie sich beeilte - stets in der Hoffnung, eine Therapie zu entwickeln, die Sandra half? Und selbst wenn sie ihre Versuchsreihen in diesem Augenblick er65
folgreich abgeschlossen hätte - Sandra war möglicherweise gar nicht für die Therapie geeignet. Und falls doch, würde man sie wahrscheinlich nur als eine Art menschliches Versuchskaninchen benutzen, ohne sie tatsächlich von ihrer Krankheit befreien zu können. Laura schwieg. »Du hast meinen Segen, wenn du dich dafür entschieden hast«, sagte Dad zu Sandra.
»Es tut mir Leid, dass du nicht einverstanden bist, Laura«, wandte Sandra sich wieder an ihre Schwester. »Aber glaub mir, ich habe es mir gut überlegt.« Laura nickte und starrte kummervoll auf den Tisch. Sie wusste nicht, was sie noch sagen sollte. Ein paar unbeschwerte, ja glückliche Augenblicke hielt der Schlaf Laura noch in seiner Umarmung, als umschmiege er sie unter Wasser, als ruhe all ihre seelische Last auf dem stillen Meeresboden. Dann aber erfasste sie eine gewaltige Strömung der Erinnerung und riss sie aus dem Schlaf. Schlagartig war Laura hellwach - und mit ihr all ihre Sorgen. Gillian Shamas blieben nur noch Wochen. Und wie bald - oder vielmehr spät - würde die FDA einen neuerlichen Versuch an einem Menschen genehmigen? Würde man ihre Versuchsreihe überhaupt weiterhin finanzieren? Und welche Chance blieb ihr jetzt noch, Sandra zu heilen? Das alles drückte sie nieder wie ein 50-Kilo-Amboss und presste ihr die Luft aus der Lunge. Du hast versagt! Mit unmenschlicher Anstrengung schwang sie die Beine über den Bettrand. Sie kämpfte gegen einen Anflug von Übelkeit und bemühte sich, ihr heftig hämmerndes Herz zu beruhigen. Hinter den Rollläden herrschte immer noch Tageslicht. Sie warf einen Blick auf den Wecker und blinzelte ungläubig, als sie 06:57 66
las, nicht 18:57. Sie hatte den gestrigen Nachmittag verschlafen und war auch die ganze Nacht nicht wach geworden. Achtzehn Stunden war sie für die Welt tot gewesen. Sie fröstelte in der Kühle der Klimaanlage. Ihre übervolle Blase ließ sie zum Badezimmer stolpern. Nachdem sie sich erleichtert hatte, stützte sie sich aufs Waschbecken und betrachtete ihr Spiegelbild in dem bleichen Licht, das durch die offene Tür fiel. O Gott! Sie sah aus wie ihre eigene Großmutter. Ihre Haut war schlaff vor Erschöpfung, und sie hatte dunkle Tränensäcke.
Laura konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal so müde ausgesehen, sich so müde gefühlt hatte. Sie dachte an ihr Labor, an die Arbeit, die vor ihr lag ... ein endloser Korridor ... eine geschlossene Tür nach der anderen ... unmöglich, alle zu öffnen. Leg dich wieder ins Bett. Du schaffst es nicht mehr, du hältst es nicht mehr durch, du hast deine Chance vertan. Laura öffnete die Hausapotheke und nahm das Röhrchen mit den Phenmetrizine-Tabletten heraus. Nur eine, sagte sie sich. Doch als sie den Verschluss aufschraubte, stockte sie. Du hast dir versprochen, keine Aufputschmittel mehr nach dem Protokoll! Sie hatte das Zeug die Toilette hinunterspülen wollen ... aber nur unter der Voraussetzung, dass das Protokoll Erfolg vorwies, und das war nicht der Fall. Jetzt gab es noch mehr zu tun. Viel mehr. Also ist es entschuldbar, das Mittel zu nehmen, sagte sich Laura. Sie musste arbeiten. Und so, wie sie sich fühlte, konnte sie es nicht. Also musste sie das Aufputschmittel nehmen. Phenmetrizine. Ein Medikament, kein Stoff, den sie verstohlen an einer dunklen Straßenecke erstanden hatte. Ein Medikament. Doch sie war Ärztin und wusste genau, dass es abhängig machte und leicht missbraucht werden konnte. Sie kannte den Unterschied zwischen Ursache und Wirkung, und das Phenmetrizine entfaltete 67
zweifellos eine sehr schnelle, nachhaltige Wirkung. Doch in den vergangenen vier Monaten, als der Testversuch am Menschen lief, hatte das Zeug ihr geholfen, durchzuhalten. Das Röhrchen war offen. Es wäre so leicht, seinen Inhalt die Toilette hinunterzuspülen. Doch Laura wusste, dass sie sich dann nur ein neues Rezept dafür ausstellen würde. Okay. Nimm es. Aber du musst dir angewöhnen, auf die Dosis zu achten. Nichts hätte sie lieber getan, als ganz auf das Zeug zu verzichten, auf der Stelle, aber sie wusste, was dann geschah: Der Nervenzusammenbruch würde drei Tage dauern, nicht nur achtzehn Stunden wie von gestern auf heute. Dann würden Depressionen folgen, Angstzustände, Schüttelfrost und Übelkeit - ungefähr zwei bis drei Wochen lang. So viel Zeit konnte sie nicht entbehren. Sie würde das Medikament sparsam verwenden, behutsam, in kleinen Dosen. Sie brauchte nur eiserne Disziplin, und die hatte sie. Sie spülte die rosa Tablette mit einem Glas Leitungswasser hinunter. Noch feucht von der Dusche stand Laura vor dem Spiegel, die Hände auf dem Kopf, und betrachtete kritisch ihre Brüste. Sie war stets zufrieden mit ihren Brüsten gewesen, obwohl sie vielleicht ein kleines bisschen zu kräftig für ihre schlanke Figur waren - aber das störte nur Frauen, wie sie wusste. Sie hatte nicht Sandras schön geschnittenen Hals oder ihre grünen Augen, auch nicht ihren vollkommen flachen Bauch, doch auf ihren üppigen Busen blickten die Männer stets voller Bewunderung. Das machte die äußeren Mängel wett: ihre Adlernase, die zu kräftig war für ihr dreieckiges Gesicht, und ihre zu eng zusammenstehenden Augen. Ihr braunes, schulterlanges Haar war unattraktiv, und ihre Knöchel und Oberschenkel waren ein bisschen zu dick. Ihr Mund war hübsch, ein wenig zu voll vielleicht. Doch mit 68
Sandras schön geschwungenen Lippen konnte sie nicht mithalten. Sie streckte die Arme über den Kopf und suchte mit fachmännischem Blick nach irgendwelchen Veränderungen an ihren Brüsten, nach Flecken oder auffälligen Äderchen. Es war ein monatliches Ritual, das sie streng einhielt, vor allem seit Sandras Erkrankung. Zurück im Schlafzimmer, legte Laura sich auf die Daunendecke und zog sich ein Kissen unter den Kopf. Sie bewegte die Spitzen der drei mittleren Finger beider Hände kreisförmig um die Höfe der Brustwarzen, die sich dunkel von ihrer hellen Haut abhoben und bei der Berührung steif wurden. Laura schloss die Augen, um sich zu konzentrieren. Ganz langsam kreisten ihre Finger um ihre Brüste. Was war das? Sie fuhr noch einmal über dieselbe Stelle und atmete erleichtert auf. Nichts. Danke, dachte sie mit pochendem Herzen. Alles in Ordnung. Sie starrte an die Decke und dachte an Sandra. Im Mai war sie zu Dr. Wendts Klinik geflogen, der International Metabolic in Tijuana. Allein der Name ärgerte Laura. International Metabolic. Das war bloß der Versuch, enzyklopädisches Wissen und wissenschaftliche Legitimität für ein Unternehmen zu konstruieren, das Lauras Meinung nach lediglich eine ganz gewöhnliche Quacksalber-Bude war. Drei Wochen á 6000 Dollar, für die natürlich keine Krankenversicherung aufkam. Anfang Juni war Sandra mit einem Koffer voller Medikamente aus Tijuana nach Hause gekommen und hatte strahlend verkündet, sie fühle sich dank Dr. Wendt besser als je zuvor. Die Krebswucherungen, so die Wunderärztin, seien überhaupt nicht bis zu ihrer Leber vorgedrungen - im Unterschied zu den Behauptungen, die man im hinterwäldlerischen Dörfchen Chicago aufgestellt hatte. Laura glaubte kein Wort. Doch trotz ihres Drängens hatte Sandra sich geweigert, ihren Onkologen zu einer Untersuchung und einer Biopsie zu konsultieren. Den Sommer über hatte Laura ihre Schwester sorgenvoll beobachtet. Sie war überzeugt, dass Sandra 69
an Gewicht verlor, doch Sandras Zuversicht war unerschütterlich. Dr. Wendt hatte darauf hingewiesen, dass ein Gewichtsverlust zu erwarten sei, erklärte sie. Und sie könne spüren, wie die Tumoren schrumpften. Sandra richtete sich ganz nach den Anweisungen Wendts, nahm ihre Medikamente, machte ihre physiotherapeutischen Übungen, betete den Krebs fort und erklärte, dass es ihr zusehends besser ginge. Laura wusste nicht, wie sie darauf reagieren sollte. Sollte sie heucheln und sagen, großartig, ich freue mich so für dich? Sicher, die Chance bestand, dass der Krebs remittierte, doch Laura bezweifelte es. All ihre Erfahrung, ihre sämtlichen Statistiken sagten ihr, dass Sandras Krebs nicht ausheilte, sondern sich mit seiner ganzen schrecklichen Gefräßigkeit weiter verbreitete. Doch es gab auch Erfreuliches. Während des gesamten Sommers erzielte Laura im Labor einen Erfolg nach dem anderen. Nach den Versuchen mit den Rhesusäffchen hatte sie Ende Juni die Erlaubnis der FDA erhalten und mit der Behandlung von Gillian Shamas begonnen. Stets mit der Hoffnung, auch Sandra eine wirkungsvolle Therapie anbieten zu können. Und was hast du nun vorzuweisen?, fragte sie sich. Nichts. Denk jetzt nicht daran! Das Phenmetrizine begann zu wirken, und sie fühlte sich klar im Kopf und voller Schwung. Ihr wahres Ich hatte wieder die Oberhand gewonnen. Das Mittel veränderte sie nicht, es beseitigte nur die lästigen Geräusche und Ablenkungen, sodass sie wieder sie selbst sein konnte. Als sie sich anzog, ordnete sie ihre Gedanken. Sie würde ins Labor zurückkehren, am Vormittag gleich ein Teammeeting halten und sich daranmachen, ihr Protokoll von vorn bis hinten durchzuarbeiten - so lange, bis sie entdeckt hatte, was schief gegangen war. Wahrscheinlich hatte das Retrovirus sich an der falschen Stelle gespalten oder durch Zufall ein Onkogen ermöglicht. Glücklicherweise befanden sich 70
die Tumoren, die sie Gillian entfernt hatte, noch im Labor. Mit diesen Proben würden sie anfangen und versuchen, deren Entstehung zu bestimmen ... Als das Telefon läutete, schrak sie zusammen. Sie befürchtete, dass es Adrian war oder ihr Vater oder Sandra oder wer auch immer, und Fragen über den gestrigen Tag stellte. Laura atmete tief durch und griff nach dem Hörer. Sie konnte es nicht ewig hinausschieben. »Sieben Uhr dreißig, und Wonder Woman ist nicht in ihrem Labor?« Laura brauchte eine Sekunde, die Stimme zu erkennen; dann durchströmte sie Erleichterung. »Howard«, rief sie. »Du willst doch nicht behaupten, dass ich dich aufgeweckt habe, oder?« Als Studenten an der John Hopkins waren sie enge Freunde gewesen. Jahre später, nach einem gemeinsamen Dinner, war dem angeheiterten Howard herausgerutscht, dass er sehr in Laura verliebt gewesen war, jedoch nie den Mut gehabt hatte, es ihr zu zeigen. Aus Angst, hatte er gesagt - Angst, dass sie nie im Leben mit einem Burschen wie ihm ausgehen würde. Sie war froh, dass er es ihr nicht gestanden hatte, denn in gewisser Weise hatte er Recht. Sie hätte sich Howard nicht als Liebhaber vorstellen können; als treuen Freund jedoch wollte sie ihn nie verlieren. Und so waren sie stets in Verbindung geblieben. »Ich hab die ganze Nacht versucht, dich zu erreichen. Ich möchte, dass du dir etwas ansiehst«, rief er aufgeregt in sein Handy. »Eine Blutprobe, die gestern in mein Joliet-Labor gebracht wurde.« Nach Abschluss seines Medizinstudiums entdeckte Howard seine Vorliebe für Diagnosegeräte und begann eine Karriere als Unternehmer. Er errichtete eine Kette modernst eingerichteter Privatlaboratorien, die über den gesamten Mittelwesten verstreut waren. Er war besser ausgestattet als viele Krankenhäuser. Erst vergangenes Jahr hatte Laura ihn gebeten, sie bei der 71
Anschaffung einiger Inkubatoren und einem ScanningElektronenmikroskop für ihr Labor zu beraten. »Was hat es mit dem Blut auf sich?« »Ich will nichts vorwegnehmen. Ich möchte gern, dass du es dir selbst ansiehst.« Sie seufzte. »Howard, heute wird ein schlimmer Tag für mich.« Sie brachte es nicht über sich, ihm zu sagen, was geschehen war. Sie hatte Howard stets für einen ihrer unerschütterlichsten Bewunderer gehalten. Einen Menschen, bei dem sie sich darauf verlassen konnte, dass er sie fachlich sehr schätzte. Jeder sollte einen solchen Menschen haben. Aber wenn Howard von gestern erfuhr ... »Du wirst staunen, Laura.« Er klang so aufgeregt, dass sie nun wirklich neugierig wurde. »Du hast doch einen Videorekorder? Ich bin bloß fünf Minuten von deiner Wohnung entfernt. Soll ich mit der Aufnahme zu dir kommen? Es dauert nicht lange, sich die Kassette anzuschauen.« »Du hast es aufgenommen?« »Ja.« Laura blickte auf die Uhr. Es war noch nicht einmal acht. Sie könnte sich Howards Aufnahme anschauen und dennoch eher als die anderen im Labor sein. Und es würde ihr gut tun, Howard zu sehen; er hatte mit der gestrigen Katastrophe nichts zu tun. Also sagte sie ja. Während Laura wartete, machte sie sich eine Tasse Kaffee und toastete ein Bagel. Zehn Minuten später ließ sie Howard ein. Schon als Twen hatte ihm ein Hauch von mittlerem Alter angehaftet, was ihm jetzt durchaus nicht schlecht stand: Er war bärtig, ein wenig dicklich, gemütlich und behäbig - eine wohlwollende Vaterfigur. Das war er tatsächlich; immerhin hatte er drei Kinder. Er lächelte Laura an, und sofort hatte sie ein schlechtes Gewissen, weil sie letzten März nicht zu seiner Hauseinstandsparty gekommen war. »Wie schön, dich zu sehen, Howard. Wie geht es Karen und den Kindern?« »Großartig.« 72
Sie küsste ihn auf die Wange. Er sah ohne Zweifel noch zerknautschter aus als sonst. »Du scheinst ja ziemlich aufgeregt zu sein«, stellte sie fest. »Ich war ja auch die halbe Nacht auf, um Schnappschüsse für dich zu machen.« Er kramte bereits in seiner großen Aktentasche und brachte eine Videokassette zum Vorschein. »Komm rein«, sagte Laura.
Als er den Rekorder in ihrem Wohnzimmer entdeckte, schob er sofort die Kassette ein und nahm die Fernbedienung. Laura lächelte. Es war eine Weile her, seit sie die Fernbedienung in einer Männerhand gesehen hatte. Howard setzte sich neben sie auf das cremefarbene Sofa und atmete laut durch die Nase. »Ich weiß nicht, wie ich es in wissenschaftlichen Termini erklären soll, also dachte ich mir, ich zeig es dem Genie.« Sie lächelte, gerührt über sein Kompliment. Wenn sie es doch nur glauben könnte! Zurzeit aber kam sie sich vor, als wäre sie im ersten Semester Biochemie durchgerasselt. »Also, worum geht es, Howard?« »Ich hab gestern am späten Abend eine Blutprobe aus dem Staatsgefängnis Illinois bekommen. Wir machen sämtliche Laborarbeiten für diesen Knast.« »Blut von einem Häftling?« »Ja. Wer er ist, weiß ich nicht. Sie geben uns immer nur die DOC-Nummern der Knastbrüder. Keine Ahnung, weshalb sie bei dem Burschen die Blutprobe nahmen. Jedenfalls haben wir wie gewünscht einen Leberfunktionstest vorgenommen. Er war in Ordnung, doch als wir ein CBC durchführten, spuckte die Maschine immer wieder 65 als Zahl seiner weißen Blutkörperchen aus.« »Du und deine neuen Spielsachen.« Laura schüttelte den Kopf. Üblich war ein Wert zwischen drei und elf. Fünfundsechzig war schlichtweg unglaublich. 73
Howard grinste verlegen. »Na ja, das habe ich anfangs auch gedacht. Aber dann versuchte ich es auf unserem alten GE. Das gleiche Ergebnis. Danach zählte ich sie mit bloßen Augen und ... tja, sieh selbst.« Laura war auf den üblichen Anblick einer blassen, wässrigen Flüssigkeit gefasst, der ihr im Lauf der Jahre so vertraut geworden war - die ringförmigen roten Zellen, die Plättchen, die wie Muscheln aussahen, und die unzähligen weißen Zellen,
die wie Amöben dahinglitten, sich trennten und wieder zusammenfanden. Als Onkologin, vor allem während der klinischen Arbeit, war sie stets erleichtert, wenn sie normales Blut sah. Aber sie hatte Karriere gemacht, indem sie anomale Zellen studierte. Doch so etwas wie auf dem Fernsehschirm hatte sie nie zuvor gesehen. Sie holte tief Luft. Die mikroskopische Abbildung zeigte ein chaotisches Gewimmel. Noch nie hatte sie eine solche zellulare Aktivität in einem Blutabstrich gesehen. Es herrschte so viel Bewegung, dass es anfangs schwierig war, die unterschiedlichen Zellen zu identifizieren. Doch sie brauchte nur eine Sekunde, um zu erkennen, dass Howard - und seine Instrumente sich nicht getäuscht hatten. Sie blickte auf eine aggressive Brühe weißer Zellen. »Die Person müsste tot sein.« »Ja.« Howard nickte. »Allerdings. Zuerst dachte ich an Leukämie ... « »Aber da sind keine Blastenzellen«, murmelte Laura. Sie erhob sich vom Sofa und setzte sich mit verschränkten Beinen auf den Parkettboden, nach vorn gebeugt, um besser zu sehen. »Irgendetwas hat das ausgelöst. Man erhält keine solche Immunreaktion ohne ... eine katastrophale Infektion, möglicherweise.« »Das habe ich überprüft. Es gibt keinerlei Anzeichen von Bakterienaktivität. Aber jetzt kommt erst der richtige Hammer. Ich habe eine vitale Einfärbung vorgenommen, um die Lösung zu stärken ...« 74
Ein paar Sekunden war der Schirm schwarz, ehe das nächste Bild erschien. Howard hatte Recht. Das Bild war erheblich besser, kristallin; Laura sah eine wimmelnde Masse weißer Zellen vor sich. Doch da war jetzt noch etwas, das von rechts her ins Bild wirbelte. Laura brauchte keinen genaueren Blick darauf zu werfen, um den dichten, sich schnell teilenden
Schwarm von Krebszellen zu erkennen. Sie hatte es immer für passend empfunden, dass Krebszellen tatsächlich bösartig aussahen, missgestalt, mit gezackten Membranen - und blitzschnell. Im Gewebe waren Tumoren grau, manchmal auch von einem Unheil verkündenden, Licht fressenden Schwarz. In einem menschlichen Körper sahen sie fremdartig und feindlich aus. Die Zellen vor ihr teilten sich mit gespenstischer Geschwindigkeit und bildeten Klone ihrer selbst am äußeren Rand des Schwarms, der auf diese Weise wuchs, während er sich langsam wie ein dunkler Planet über den Schirm bewegte. »Das sind keine Leukämiezellen«, stellte Laura fest. Doch es war selten, sehr selten, eine andere Art von Krebszellen im Blut zu sehen. Sie mussten metastasisch sein, obwohl unmöglich zu erkennen war, aus welcher Quelle sie stammten, aus welchem Organ. Doch es schien offensichtlich, dass die Krebszellen sich auf der Suche nach neuen Herden im Blut verteilt hatten. »Das ist ein sehr kranker Mann, Howard.« »Sieh dir erst mal das hier an.« Als Wissenschaftlerin war Laura stets skeptisch, wenn sie in Fachzeitschriften von Phänomenen las, für die es bislang kein Beispiel gab. Aber sie war auch aufgeschlossen; sie wusste, dass die menschliche Biologie immer wieder Überraschungen parat hatte, und dass viele Dinge möglich waren. Doch es war viel 75
leichter vorstellbar, dass jemand ein Experiment verpfuscht oder das Ergebnis völlig falsch interpretiert hatte. Eine nicht ganz saubere Petrischale, und das Testergebnis war verfälscht. Wenn Laura von einem neuen Verfahren las, probierte sie es als Erstes selbst. Falls sie es nicht zu Stande brachte, stimmte damit etwas nicht. Hätte jemand ihr von dem erzählt, was sie jetzt auf dem Bildschirm sah, hätte sie bloß gelächelt und auf höfliche Weise ihren Unglauben kundgetan. Es war ein Gemetzel. Dieses Wort kam ihr augenblicklich in den Sinn. Aus der wirbelnden Masse weißer Zellen erfolgte ein selektiver, blitzschneller Angriff. T-Zellen schossen auf den Tumor zu und verbissen sich darin wie ein Rudel Hyänen in den Körper eines verwundeten Büffels. Laura konnte weitere weiße Zellen von außerhalb des Bildes herankommen sehen, die sich ebenfalls auf den Krebsschwarm stürzten, bis dessen gesamte Oberfläche mit den Killer-T-Zellen überzogen war. Jahrelang hatte Laura Immunreaktionen beobachtet, doch eine so schnelle, totale Reaktion noch nie, schon gar nicht bei Krebs. Trotz der Klimaanlage fühlte sie sich fiebrig. Unglaublich! Die Proteinrezeptoren dieser T -Zellen mussten so präzise, so sensitiv sein, dass sie sofort hafteten. Das war noch nicht alles. Der Tumor war nun völlig von den Killerzellen absorbiert, und seine Vernichtung erfolgte ebenso schnell. Laura hatte lymphokine-aktivierte Killerzellen gesehen, die durch Interleukin-2 auf Hochtouren gebracht worden waren, doch selbst sie brauchten mehrere Minuten, um bösartige Zellen zu vernichten; außerdem geschah es viel weniger dramatisch: Man sah nur ein allmähliches Schwinden und eine langsame Auflösung der Krebszellen. Hier jedoch beobachtete Laura fassungslos, wie die Krebszellen aufklafften; sichtbare Risse bildeten sich in ihren Membranen, und sie zogen sich zusammen, als hätte man bei einem Ballon die Luft herausgelassen. Die betroffenen Zellen 76
entfernten sich wirbelnd vom Tumor und lösten sich auf. Immer schneller explodierte Schicht um Schicht der Krebszellen, als weitere T-Zellen sich auf sie stürzten. In weniger als einer Minute war der Tumor ausgelöscht. »Mein Gott!«, hauchte Laura. Ohne dass es ihr bewusst gewesen wäre, war sie ganz dicht an den Schirm getreten und starrte stumm auf das Bild, doch ihre Gedanken überschlugen sich, als sie zu begreifen versuchte, was sie soeben gesehen hatte. Die T-Zellen gaben offenbar ein starkes Zytokin von sich, das die Krebszellen nach dem Kontakt sofort vernichtete. Laura hatte schon viele Tumor tötende Agenzien in vitro studiert, doch nie zuvor solche wie diese. »Hast du so was schon mal gesehen?«, fragte Howard. Seine Stimme schien aus weiter Ferne zu kommen. »Ich meine, das ist doch nicht normal. Kannst du es mir sagen? Ich weiß es wirklich nicht.« Laura schüttelte den Kopf. »Nein, es ist nicht normal. Der Mann, von dem dieses Blut stammt, hat das außergewöhnlichste Immunsystem, das mir je untergekommen ist.« »Aber er hat Krebs?« »Ohne Zweifel. Das heißt, er hatte Krebs.« Sie atmete aus und schüttelte den Kopf. »Wenn das hier typisch für sein Immunsystem ist, könnte er bereits geheilt sein.« »Das ist nicht dein Ernst.« »Doch. Ich vermute es. Es gibt wahrscheinlich weniger als ein Dutzend medizinischer Berichte von spontaner Heilung in den letzten vierzig Jahren. Ich spreche nicht von langwierigen Remissionen, sondern von echten Heilungen. Und einige dieser Fälle liegen schon sehr lange zurück - es könnten Remissionen gewesen sein, die nicht als solche erkannt wurden. Oder der ehemalige Patient starb zuvor aus anderen Gründen. Doch was immer dieser Mann in seinen T -Zellen hat, ist mir noch nicht untergekommen.« »Es ist also interessant für dich?« 77
Sie blickte ihn an und nickte. Ihr Mund war trocken. »O ja, verdammt interessant.« Howard lachte erfreut. »Gut. Ich dachte mir gleich, dass es dir gefallen würde. Außerdem bist du in meinen Augen der einzige Mensch, der begreifen kann, was in aller Welt da vor sich geht. Du weißt es doch, oder?« »Nein. Aber ich werde es herausfinden. Wie viel Blut hast du von diesem Mann?« Howard seufzte und zuckte die Schultern. »Gar keines. Bei all den Tests, die wir gemacht haben, vor allem die vitale Einfärbung, habe ich alles aufgebraucht.« »Ich werde mehr benötigen, viel mehr. Ich meine, wenn es das ist, wofür ich es halte, wenn ich diese T-Zellen isolieren und feststellen kann, was sie produzieren ... Wenn ich herausfinden kann, wie ihre Rezeptoren sind ... Vielleicht können wir es synthetisch herstellen, oder vielleicht ...« Sie wusste, dass sie viel zu schnell und unverständlich redete. Also zwang sie sich, tief Luft zu holen. »Du weißt nicht, von wem das Blut ist?« Howard schüttelte den Kopf. »Es ist etwas heikel für mich. Ich dürfte keine Proben zeigen, auch keinem Spezialisten. Aber ich mache eine Ausnahme. Ich weise dich sogar offiziell darauf hin.« »An wen sollte ich mich wenden?« »Der Oberarzt im Illinois ist John Finlay.« Er schrieb Laura eine Telefonnummer auf. »Ich habe bisher erst zweimal mit ihm gesprochen.« »Danke, Howard.« »He, wenn du was für eine Veröffentlichung damit anfangen kannst, krieg ich dann eine Fußnote?« »Eine ganz große sogar.« »Hallo.« Dieses eine Wort, das mit einem gereizten Seufzen endete, verriet Laura alles über Finlay, was sie wissen musste. Howard war erst vor zehn Minuten gegangen, und sie hatte keine Zeit verloren, beim Gefängnis anzurufen. 78
»Ich hoffe, ich halte Sie nicht von der Arbeit ab, Dr. Finlay. Ich bin Laura Donaldson, Onkologin am MetaSYS-Forschungszentrum der Universität von Chicago. Dr. Howard Morgan hat mich wegen einiger Tests konsultiert, die er vergangene Nacht in seinem Labor vornahm. Es ging dabei um einen Ihrer Patienten - Nummer 12-790062.«
Am anderen Ende der Leitung entstand eine kurze Pause. »Bedauere, aber ich verstehe nicht, weshalb Sie hinzugezogen wurden.« »Nun, die Anzahl seiner weißen Blutkörperchen war in höchstem Maße abnormal und ...« »Heißt das, er hat Leukämie?« »Ich glaube nicht, dass es Leukämie ist, aber ich bin der Meinung, dass er möglicherweise eine ungewöhnliche Art von Krebs hat.« »Hm.« Sie hörte Finlay seufzen. »Haben Sie die Untersuchungen gemacht, die ich angefordert habe?« »Dr. Morgan hat sie vorgenommen. Sie waren alle negativ.« »Also gibt es keinen Verdacht auf Tbc oder Hepatitis? Ich habe ihn auf diese beiden Krankheiten untersucht.« »Nein. Darf ich fragen, warum Sie ihn untersucht haben?« »Er kam mehrmals mit einem anderen Sträfling in Kontakt, der unter diesen Infektionskrankheiten litt. Aber der Hauttest war negativ, ebenso die Röntgenaufnahme der Brust. Tatsächlich überrascht es mich, dass Sie überhaupt etwas Abnormales gefunden haben. Ich habe ihn gründlich untersucht. Er war völlig gesund.« »Kein Fieber?«, fragte Laura skeptisch. »Nein, keine geschwollenen Lymphdrüsen, keinerlei Anzeichen von Anämie oder bläulichen Flecken. Soweit ich es feststellen konnte, war er während seiner gesamten Haft bei guter Gesundheit. Vielleicht ist Ihr Gerät nicht in Ordnung.« 79
»Doch. Wir haben die Ergebnisse auch noch manuell überprüft. Hören Sie, wir haben da etwas in seinem Blut gesehen, eine assimilierte T-Zelle und ...« »Verzeihen Sie, Dr. Donaldson, wenn ich so direkt frage, aber stellt er eine Gefahr für andere dar?« »Nein. Was immer er hat - es ist nicht ansteckend. « »Mehr wollte ich nicht wissen, Doktor, danke.« Es klang ziemlich herablassend und irgendwie endgültig. Offenbar wollte Finlay das Gespräch so schnell wie möglich beenden. »Hören Sie, Dr. Finlay, ich leite hier das Krebsforschungszentrum, und ich glaube, Ihr Patient produziert ein Zytokin, das sehr wichtig für uns sein könnte.« »Ich wollte, ich könnte Ihnen helfen.« Seine Worte drückten Bedauern aus, doch sein Tonfall verriet eine beinahe perverse Freude. War er so verbittert über seinen unbefriedigenden Job? Fühlte er sich vom Schicksal so benachteiligt, dass er der Krebsforschung mit voller Absicht Steine in den Weg legte? »Ich möchte Sie nur um Erlaubnis bitten, Ihren Patienten selbst untersuchen und weitere Tests vornehmen zu dürfen.« Finlay lachte. »Ich fürchte, das können Sie vergessen.« Laura versuchte, den Zorn aus ihrer Stimme fern zu halten. »Was meinen Sie damit?« »Er wird nicht einwilligen.« »Ich verstehe nicht ...« »Der Mann heißt David Haines. Er wird in zehn Tagen hingerichtet.«
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Die getönten Fenster des Sitzungssaals gewährten den Blick auf einen breiten Streifen Waldland und einen Bogen des Chicago River, der bedächtig durch Morton Grove floss. Laura hatte bei früheren Besuchen in der MetaSYS-Zentrale diese Aussicht bewundert, doch heute war es nicht der Fall. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt Adrian Crawford, der sich die Videokassette erneut anschaute. Wie schon beim ersten Mal blieben seine gut geschnittenen Züge auch jetzt völlig unbewegt. Sonnengebräunt und vital, strahlte er Kompetenz aus; mit seinen einundfünfzig Jahren war er immer noch so rank und schlank, dass er in seinem Doppelreiher eine ausgezeichnete Figur machte, ganz im Gegensatz zu seinen etwa gleich81
altrigen Kollegen, die in ihren nicht weniger eleganten Anzügen eher unförmig wirkten. Adrians Bürstenschnitt war grau meliert, und die wenigen Fältchen steigerten seine ohnehin beachtliche Attraktivität. Laura wandte den Blick wieder dem Schirm zu und wünschte sich, sie würde sich nicht immer noch so von Crawford angezogen fühlen. Das muss dich ganz schön beeindrucken, Adrian, dachte sie, als sie ihn beobachtete, wie er sich das Band anschaute. Für Laura war es das zehnte Mal, dass sie sich die Kassette anschaute, und jedes Mal, wenn sie beobachtete, wie die T-Zellen die Krebszellen fraßen, dachte sie an Sandra. Nach ihrem Telefongespräch mit Finlay hatte sie Adrian Crawford angerufen und ihm alles über die Blutprobe gesagt - nur nicht, von wem sie stammte. Sie wollte nicht, dass dadurch Bedenken aufkamen. Erst musste er an der Angel zappeln, ehe sie es ihm verriet. Sie warf einen flüchtigen Blick auf Paul Rapke, der gegenüber von Adrian am Kopf des langen schwarzen Tisches saß. Paul war der juristische Chefberater von MetaSYS; Adrian hatte ihn aufgefordert, an der Sitzung teilzunehmen. Laura war Rapke bereits ein paarmal begegnet und hatte sich nie für ihn erwärmen können. Sie wusste nicht, ob es an seiner Überheblichkeit und seinem belehrenden Bostoner Tonfall lag oder an seinem Haar. Irgendwie passte eine solche Fülle von strohblondem Haar nicht zu einem Fünfundvierzigjährigen, und schon gar nicht, dass er es sich ständig scheinbar abwesend aus der Stirn strich, als wollte er jedem in der Runde kundtun: »Seht euch mein volles Haar an! « Momentan starrte auch Rapke fasziniert auf den Bildschirm. Laura fragte sich, ob er von der Affäre wusste, die sie mit Adrian gehabt hatte. Die Videokassette endete, und der Fernseher wurde ausgeschaltet. Laura blickte aus dem Fenster auf die Bäume und den dunstigen Himmel und holte verstohlen tief Luft. Sie hatte nicht vor, sich Haines' Blut entgehen zu lassen; sie brauchte die Macht von Adrians Unternehmen, vor allem sein Durchsetzungsvermögen, 82
um es ihr zu beschaffen. Aber warum sollte Adrian überhaupt noch auf sie hören, nachdem es erst vor kurzem zur Katastrophe gekommen war? Sie konnte von Glück reden, wenn er sie nicht auf der Stelle feuerte. Doch sie wusste auch, dass diese Videokassette der Rettungsring sein konnte, der dafür sorgte, dass sie ihre Stelle im Labor behalten durfte. Trotzdem hatte sie noch ein sehr hartes Stück Arbeit vor sich. »Was halten Sie davon, Adrian?«, fragte sie. »Beeindruckend. Sehr beeindruckend.« Doch er hatte die Stirn gekraust, und ihr entging nicht, dass er nicht ganz bei der Sache war. »Irgendein Hinweis, was mit Gillian Shamas geschehen ist?« Sie stieß einen müden Seufzer aus. »Wir arbeiten daran. Ich
weiß nur, dass meine TNF-2 Gene ein Onkogen ausgelöst haben müssen. Vielleicht spalteten sie sich an der falschen Stelle und setzten ein beschleunigtes Tumorwachstum in Gang. Wir werden mehr wissen, nachdem wir diese Hepatome zerteilt und ihre RNS festgestellt haben.« »Ich weiß, wie hart Sie daran gearbeitet haben, Laura, und was es für Sie persönlich bedeutet hat. Es tut mir Leid.« Beinahe wünschte sie sich, seine Blicke wären nicht so mitfühlend. Sie wollte sein Mitgefühl nicht, wollte nicht an seine Zärtlichkeiten und Emotionen erinnert werden. Es war kompliziert genug, mit dem Chef zu schlafen, aber noch komplizierter, wenn das Verhältnis zu Ende war. Glücklicherweise gab es nur selten einen Anlass, dass Laura ihn zu sehen bekam, außer bei Sitzungen wie diesen. Im Augenblick wollte sie nur, dass alles rein geschäftsmäßig ablief. Aber vielleicht ist sein Mitgefühl geschäftlich, dachte sie plötzlich erschrocken. Sie wollte nicht, dass Adrian sich ihretwegen zu viele Gedanken machte und sie vielleicht gar für unfähig 83
hielt, nach einer solchen Niederlage weiterzumachen. Oder demonstrierte er dieses Mitgefühl vielleicht nur, weil er sie auf weitere schlechte Neuigkeiten vorbereiten musste? »Ich nehme an, Sie haben mit Gillian gesprochen«, sagte er. »Ich habe ihr eine neue Chemotherapie angeboten. Dann bestünde eine gute Chance, das Tumorwachstum zu verlangsamen. Sie hat abgelehnt. Sie will nicht mehr.« »Dann wird sie sterben.« Laura seufzte. »Ja, mit oder ohne Behandlung. Es würde mich wundern, wenn sie den Herbst noch überlebt. Wir kümmern uns um sie. Körperliche Schmerzen wird sie nicht erleiden. Ich glaube, sie möchte so schnell wie möglich nach Hause.« Adrian kratzte sich an einer Braue und holte tief Atem. »Tom Powell rief mich heute Morgen an. ABC wird die Story in zwei Wochen senden. Was meinen Sie, welche Folgen das für unsere Aktienkurse hat? Ich würde sagen, irgendwo zwischen verhängnisvoll und katastrophal.« Laura schwieg und versuchte ihren Zorn zu unterdrücken. Sie wusste, dass Adrians Unternehmen nicht ungeschoren davonkommen würde. Aber sie hatte ihn immer wieder gewarnt, etwas von dem Protokoll an die Medien durchsickern zu lassen. Trotzdem hatte er es getan. Hätte er auf ihre Warnung gehört, wäre es nicht zu einer Veröffentlichung des Misserfolgs gekommen. Ihres Misserfolgs. »Ich weiß. Und es tut mir Leid. Ich wollte, ich hätte gestern einen Erfolg vorweisen können.« Sie blickte mit einem Kopfnicken zum Fernseher. »Aber das da könnte helfen.« Adrian schaute auf den erloschenen Bildschirm. »Ja, das war eine beachtliche Show.« Sie hörte das Widerstreben in seiner Stimme. »Haben Sie so etwas schon mal gesehen?«, fragte sie.
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»Hören Sie, Laura, ich weiß, was Sie denken, aber uns beiden ist wohl klar, dass Wundermittel selten und meistens sehr teuer sind ...« »Wenn ich mehr Blut bekomme, kann ich die TZellen analysieren. Die Rezeptorenstellen sind sensitiver als alles, was ich je gesehen habe, sogar als die von uns hergestellten. Und ich muss wissen, welche Art von Zytokine die T-Zellen produzieren. Wer weiß - es könnte sich um eine wirkungsvollere Variation von TNF-2 handeln. Jedenfalls ist es sehr, sehr potent.« Adrian nickte höflich, doch Laura wusste, dass sie ihn noch nicht auf ihrer Seite hatte. »Ich habe Sie eingestellt, Laura, weil ich Sie für die Beste hielt, und ich bin nach wie vor dieser Meinung ...« Sie spürte, wie ihr Magen sich verkrampfte. »0 Gott, Adrian, das fängt ja sehr deprimierend an.« »Sie haben unglaubliche Arbeit geleistet. Aber ich möchte ehrlich zu Ihnen sein: Wir haben seit achtzehn Monaten kein neues Produkt mehr auf den Markt gebracht, und unser Forschungs- und Entwicklungsbudget ist ziemlich begrenzt. Wenn es nach mir ginge, würde ich Ihnen Schecks bis zum Jüngsten Tag ausstellen, doch ich habe ungeduldige Aktionäre und zweitausend Leute, die für mich arbeiten und von denen ich ungern welche entlassen möchte.« »Wenn das ein Wundermittel ist«, sagte sie eindringlich, »werden Sie sich nie wieder Sorgen darüber machen müssen.« Adrian seufzte. »James Hagen hat einen Durchbruch geschafft.« Wieder spürte Laura, wie ihr Magen sich verkrampfte und die Luft aus ihrer Lunge presste. Seit einem Jahr hatte Hagen im MetaSYS-Forschungszentrum in Stanford an einem Impfstoff gegen Alzheimer gearbeitet. Sie holte gequält Luft; ihr war fast ein wenig schlecht. »Das ist ja großartig«, sagte sie. »Ich stecke in einer Zwickmühle, Laura. Ich kann nicht jeden gleichzeitig unterstützen. Hagen hat die 85
Erlaubnis der FDA für Tierversuche erhalten, und ich frage mich, ob wir uns da nicht ganz groß engagieren sollten.« Er begegnete ihrem Blick, ruhig und ohne Bedauern. Was gab es auch zu bedauern? Das hier war Big Business; es hatte nichts mit ihrer Vergangenheit zu tun. Laura hatte nie erwartet, bevorzugt von ihm behandelt zu werden, weil sie ein Verhältnis gehabt hatten, ja, sie wäre sogar enttäuscht gewesen, hätte er es getan. Während ihrer Affäre war er womöglich sogar noch kritischer gewesen, was ihre Arbeit, ihre Fortschritte betraf. Sie wollte keinen Gefallen von ihm, schon gar nicht jetzt, aber sie wollte unbedingt, dass er einsah, wie wichtig ihre Entdeckung war-und sie servierte sie ihm auf einem silbernen Tablett. Sie durfte nicht verlieren! Sie brauchte die Unterstützung für sich, für Sandra. »Natürlich sollten Sie Hagen unterstützen«, sagte sie. »Aber wir wären verrückt, würden wir meine Entdeckung nicht weiter verfolgen. Sie haben gesehen, was mit den Tumorzellen passiert ist, Adrian. Sie wurden verschlungen! Wenn ich dieses Agens isolieren und dekodieren kann, können wir es vielleicht genetisch entwickeln.« Adrian schüttelte den Kopf. »Selbst wenn Sie das fertig brächten, würde es wohl kaum Ihr Problem lösen. Okay, nehmen wir einmal an, dieses spezielle Zytokin erweist sich als erfolgreicher Krebskiller. Großartig. Aber wie können wir es der Öffentlichkeit präsentieren, ohne eine Wiederholung des gestrigen Fiaskos?« »Es gibt andere Optionen«, entgegnete sie. »Vielleicht brauchen wir das Zytokin gar nicht zu synthetisieren. Vielleicht sind die T-Zellen dieses Mannes die ideale Maschinerie. Sie stürzen sich auf Krebszellen, umklammern sie und produzieren die Zytokine auf natürliche Weise.« »Sie glauben, Sie können genügend davon züchten, dass sie ausreichen, Krebskranke erfolgreich zu behandeln?« 86
Laura zögerte. T-Zellen waren manchmal sehr schwer zu züchten. Und für die Behandlung eines einzigen Patienten brauchte man Millionen davon. »Vielleicht«, antwortete sie. »Aber möglicherweise brauchen wir gar keine. Es besteht die Chance, dass seine T-Zellen irgendeine Variation von PML2 produzieren ...« Langsam kam Laura in Fahrt. Sie hoffte, auch Adrian mit ihren Argumenten zu überzeugen. Eine Chance wie jetzt bot sich ihnen wahrscheinlich nicht noch einmal. PML war, wie manche Forscher annahmen, ein Protein, das es dem Körper erlaubte, Krebs zu erkennen und anzugreifen, indem es ein Peptidmolekül an die Oberfläche der eigentlichen Krebszellen heftete. Sobald diese Markierung an Ort und Stelle war, konnte der Körper sein Immunsystem wirkungsvoll mobilisieren. Das Problem bestand darin, dass der Krebs offenbar in der Lage war, die Produktion
2 PML: progressive multifokale Leukoenzephalopathie.
von ML zu stoppen. Wenn man eine Möglichkeit fand, sie wieder in Gang zu bringen, genügte das vermutlich, um eine Heilung zu erzielen. »Vielleicht verfügt dieser Mann über den Hauptschalter«, sagte sie zu Adrian. Er wusste über PML Bescheid, und ihm war auch bekannt, dass es bisher noch niemand gelungen war, die Produktion von PML zu simulieren. »Deshalb kann er ... kann sein Blut die Tumore abschlachten, wie wir es gerade gesehen haben. Wie dem auch sei, ich brauche weiteres Blut von ihm, um wenigstens anfangen zu können.« Sie spürte, wie der Forscherdrang sie antrieb. »Sie haben doch selbst klinische Forschungen betrieben, Adrian. Sie wissen, dass es nicht leicht ist. Für jeden Erfolg muss man mit hundert Misserfolgen rechnen.« »Aktionäre sind nicht so geduldig. Es ist eine eher schlechte Synthese in diesem Geschäft, in dem wir 87
Wissenschaftler sehr viel Geduld haben, Aktionäre aber so gut wie keine. Sehen sie einen Misserfolg, schielen sie nach Glaxco, unserer Konkurrenz, die momentan mehr Glück hat, und sagen: >Vielleicht sollten wir lieber bei denen investieren.<« Laura sah, wie er im Kopf seine geschäftlichen Optionen überschlug. Genauso, wie er vor sechs Monaten seine privaten Optionen abgewogen hatte und sich statt für Laura für seine Frau Helen und die Kinder entschied. Er wollte seine Familie nicht gefährden, hatte er mit bekümmerter Miene zu Laura gesagt. Er wollte nicht die gleichen Fehler machen wie sein Vater. Sie würden ihre Beziehung beenden müssen, denn er könne sie nicht heiraten. Dabei war es Adrian gewesen, der das Thema Ehe überhaupt zur Sprache gebracht hatte. »Sie haben Recht«, sagte sie jetzt zu ihm. »Ich kann zwar nichts versprechen, aber ich bin der Meinung, wir dürfen uns diese Chance nicht entgehen lassen. Und wenn Sie mir dabei nicht helfen wollen ... Ich werde nicht aufgeben, bis ich jemand anders finde. « Sie sah, wie Adrians Augen sich weiteten. Er blickte sie unverwandt an, und sie spürte, wie ihr Mut schwand. Sie hätte es so nicht formulieren dürfen - es war nicht gerade ein subtiles Ultimatum gewesen. Sie wollte MetaSYS ja gar nicht wirklich verlassen. Gab es nach dem gestrigen Ereignis überhaupt noch eine Garantie, dass sie irgendwo eine Stelle bekäme? Bestimmt keine so gute wie diese. Dumm, Laura, sehr dumm. Heimlich studierte sie Adrians Augen, wartete darauf, dass sein Blick hart und eisig wurden. Stattdessen wandte er sich Paul zu. »Könnten wir beschaffen, was Laura benötigt, Paul?« Laura beobachtete Paul, der einen gemessenen Seufzer ausstieß, mit den Fingerspitzen über die Lippen strich und den Kopf schief legte. Gib mir eine Chance, flehte sie stumm. »Ich glaube ...«, begann Paul, den Blick auf den dunklen Bildschirm gerichtet; dann blickte er flüchtig 88
Laura an. »Ich glaube ja. Vor allem, wenn wir es mit mutierten Genen zu tun haben, durch die es zu ZellLinien kommt. Ich würde sagen, wir könnten eine ziemlich unangreifbare Patentanmeldung einreichen. Auf diese Weise kommen wir in den Besitz der TZellen, der Zytokine, die sie produzieren, und der Quelle der Gene. Wir können die Sache luftdicht machen.« Laura ertappte sich dabei, dass sie Paul anlächelte. Er war doch kein so übler Bursche, wenn er nur einmal einen Coiffeur an sich heranließe. Sie wandte sich wieder Adrian zu und bewunderte widerstrebend seine breiten Schultern, als er aufstand, die Hände in den Hosentaschen. Laura hatte gar nicht vorgehabt, sich mit einem verheirateten Mann auf eine Affäre einzulassen. Zuerst hatte sie sogar seine Einladungen zum Dinner ausgeschlagen und versucht (wenngleich halbherzig), ihm auch bei den unerlässlichen Meetings im Unternehmen aus dem Weg zu gehen. Doch er war hartnäckig - und konnte man wirklich von ihr erwarten, einem Mann zu widerstehen, den sie so attraktiv fand? Sie war fast vierzig, und Männer wie Adrian wurden für sie mit jedem Jahr seltener. Sie tat es nicht gern; sie wusste, dass es selbstsüchtig war, aber sie wollte sich die Chance nicht entgehen lassen. Und letztendlich hatte sie dafür bezahlt, wie Frauen offenbar immer dafür bezahlen mussten. Die Männer hatten ihre Liebschaften, machten großartige Heiratsversprechen, bis sie erkannten, dass ihre Handlungsweise unmoralisch war und dass sie es gar nicht fertig brachten, ihre Frau und die Kinder zu verlassen. Sie beobachtete Adrian, als er nun zum Fenster ging, und wartete ungeduldig auf seine Entscheidung. »Nun«, sagte er, »ich glaube, es kann nicht schaden, diesen Herrn noch ein wenig zur Ader zu lassen.« Eine Woge der Erleichterung durchströmte Laura. »Ich brauche auch eine Knochenmarkprobe«, sagte sie. »Wenn ich eine ausreichende Menge Stammzellen 89
bekomme, kann ich versuchen, weitere T -Zellen zum Research zu generieren.« »Also, wer ist dieser Milliarden-Dollar-Mann?« Adrian drehte sich zu ihr um. Auf seinem Gesicht lag das Lächeln, das sie so geliebt hatte. Mit einem Mal spürte Laura, wie sich ihr der Magen umdrehte. 0 Gott, vielleicht war es ein Fehler gewesen, damit zurückzuhalten. Sie hätte von Anfang an ehrlich sein sollen. Aber es hatte geklappt. Sie hatte Adrian, wo sie ihn haben wollte, und jetzt durfte sie nicht mehr lockerlassen. »Es ist David Haines.« Der Name war nicht ungewöhnlich, und einen Moment wartete Adrian gespannt auf weitere Einzelheiten. Plötzlich legte sich Bestürzung auf sein Gesicht. »Nein«, murmelte er. »Doch nicht dieser Irre, dieser religiöse Fanatiker?« Laura nickte. »Und er hat keine zwei Wochen mehr.« Während Haines' dreijähriger Mordtour war Laura zum Glück nicht in den Staaten gewesen. Zu der Zeit hatte sie in Sunnybrook in Toronto gearbeitet. Aber dort, wie überall sonst auf der Welt, war es unmöglich gewesen, nicht von Haines' Gräueltaten zu hören. Üblicherweise ignorierte Laura Sensationsstorys davon gab es jede Woche wenigstens eine -, doch Haines' Auswahl an Opfern hatte sie tief betroffen gemacht. Sie hatte mehrere gekannt, nicht sehr gut zwar, doch sie war ihnen bei Symposien begegnet und hatte per E-Mail Informationen mit ihnen ausgetauscht. Sie waren ihre Kollegen gewesen - und dann hatte ein irrer Killer sie scheinbar ohne jeden Grund kaltblütig ermordet. »Die Ironie ist kaum zu übersehen«, sagte Laura. »Ein Mann, der Medizin und Mediziner hasst, könnte die Heilung von Krebs ermöglichen.« »0 Gott!«, stöhnte Adrian entsetzt. »Das hätten Sie mir eher sagen können, Laura.« 90
Ja, Überraschungen können ein Schock sein, dachte Laura. Ihr Blick huschte zu Paul. Sie rechnete damit, dass seine Mundwinkel missbilligend hinuntergezogen waren. Mach dich auf eine Lektion über medizinische Ethik gefasst! Stattdessen sah sie einen Ausdruck in seinen Augen, der erfreuter Erregung nahe kam. Vielleicht war das eine Herausforderung, die ihm zusagte. »Wie ist man an diese Blutprobe herangekommen?«, fragte er Laura. »Der Anstaltsarzt hat Haines wegen Verdachts auf Tuberkulose und Hepatitis B untersucht. Offenbar waren vier Wärter nötig, um ihn festzuhalten.« »So was können wir doch auch, oder?«, wandte Adrian sich an Paul. »Im Gefängnis geschah es im Interesse der Volksgesundheit«, erwiderte Paul. »Theoretisch hatte man dort das Recht dazu. Doch für die Art von Untersuchungen, wie wir sie wollen, brauchen wir Haines' Einverständnis.« »Finlay sagt, dass er es nicht geben wird«, warf Laura ein.
»Das ist grotesk.« Adrian schüttelte abfällig den Kopf. »Der Mann ist ein Serienkiller. Wenn sie ihm das Leben nehmen können, dann können wir ihm zuvor gewiss ein bisschen Blut abzapfen.« »Das wäre logisch, aber so funktioniert es nicht«, erklärte Paul. »Man hat Haines seine Freiheit genommen und wird ihm auch sein Leben nehmen. Aber davon abgesehen hat er die gleichen Rechte wie Sie oder ich, solange er im Gefängnis kein Risiko für die Sicherheit oder Gesundheit darstellt. Es ist ein interessantes Szenario, ein sehr interessantes ...« Laura wusste, das Paul Recht hatte. Das lernte jeder Medizinstudent im ersten Semester in Sachen Ethik: Man konnte niemanden zwingen, Blut zu geben oder sich gegen seinen Willen medizinischen Tests zu 91
unterziehen, auch wenn es um sein Leben ging - selbst wenn Blut durch seine Adern strömte, das eine Krebsheilung versprach. Es wäre eine Verletzung seiner verfassungsmäßigen Rechte. »Können wir nicht einfach warten, bis er tot ist?«, fragte Adrian. Laura schüttelte den Kopf. »Juristisch gesehen würden wir auch dafür sein Einverständnis benötigen. Außerdem ... Bis er offiziell für tot erklärt ist, wird seinem Blut der Sauerstoff entzogen sein, und es ist mit Kurare und Zyankali angereichert. Im besten Fall bekommen wir ein kleines bisschen brauchbares Blut, aber nicht genug. Und wir können uns keinen Nachschlag holen, wenn wir mehr brauchen. Wir müssen ihn lebend haben.« »Besteht die Möglichkeit, dass es erblich ist?«, wollte Adrian wissen. »Eine geringe, daran habe ich auch schon gedacht. Ich werde so schnell wie möglich entsprechende Nachforschungen anstellen lassen.« »Er hat einen Bruder«, warf Paul ein. »Wie heißt er doch gleich ... Rick. Er hat beim FBI ausgesagt, erinnern Sie sich?« »Aber ich finde, wir müssen es von beiden Enden angehen«, beharrte Laura. »Einen Verwandten aufzuspüren kann Wochen dauern. Bis dahin haben wir Haines verloren, und er ist die einzige sichere Karte, die wir haben. Wir brauchen sein Blut.« »Ich kann mir nicht vorstellen, Laura, wie Sie sein Einverständnis bekommen könnten«, gab Adrian zu bedenken. »Er hat Ärzte ermordet. Ganz gewiss wird er jetzt niemandem sein Blut zu Forschungszwecken zur Verfügung stellen.« Ungeduldig stieß er den Atem aus. »Tut mir Leid, aber ich wüsste nicht, was wir da machen könnten.« »Ich habe eine Idee«, fiel Laura hastig ein, denn sie bemerkte, dass Adrians Entschlossenheit schwand. »Wir machen Haines ein Angebot.« 92
»Was wollen Sie ihm denn anbieten? Geld? Er hat nur noch ein paar Tage zu leben. Und so viel ich mich erinnere, war er an weltlichen Gütern nicht interessiert.« »Ich weiß, ich weiß«, entgegnete sie eilig. Ihre Idee war der Verzweiflung entsprungen und noch unausgegoren, vielleicht sogar lächerlich, aber es war ihre letzte Chance, Adrian zu überzeugen. »Leben«, sagte sie. »Wir können ihm ein bisschen mehr Leben anbieten.« »Das dürfte nicht in unserer Macht liegen, meinen Sie nicht auch?« Adrian war sichtlich amüsiert. »Wenn Haines sich einverstanden erklärt, Blut zu spenden ... weshalb könnten wir dann nicht bei Gouverneur Klein um einen Aufschub der Hinrichtung ersuchen?« Sie wagte nicht, Adrian oder Paul anzuschauen aus Angst, ihr möglicherweise ungläubiger Gesichtsausdruck könnte ihr den Mut rauben. »Wenn er diesen Aufschub gewährt, bringt uns das nur dreißig Tage, aber das ist genug Zeit, uns an den Ausschuss zu wenden, was immer das für einer ist ...« »Der vom Bundesstaat Illinois eingesetzte Ausschuss für Begnadigungen und das Aussetzen der Strafe auf Bewährung.
Die Gefangenen bezeichnen ihn als >Das Komitee<«, murmelte Paul. Laura sah, dass er fast unmerklich nickte, als würde er über ein besonders interessantes Problem nachdenken. »Gut, wir wenden uns also an diesen Ausschuss und bitten ihn, Milde walten zu lassen, damit Haines uns für weitere Untersuchungen zur Verfügung stehen kann. Ich glaube, solange Gouverneur Klein auf unserer Seite ist, haben wir eine Chance. Wir werden Haines als lebende Ressource hinstellen. Als potenzielle Heilung für Krebs. Dass er seine Schuld an der Gesellschaft 93
begleicht. Tätige Wiedergutmachung, bla, bla, bla. Die ganze Palette.« In der einsetzenden Stille starrte Adrian sie einen Moment stumm an; dann wandte er sich mit gefurchter Stirn an Paul. »Ist das möglich, Paul?« »Ich finde ... Ich finde, wir sollte es nicht außer Acht lassen.« »Sie meinen also, es ist einen Versuch wert«, sagte Laura. »Hängt davon ab, dass wir zuvor Haines' Einverständnis bekommen. Sonst haben wir gar nichts.« »Es wäre Haines' letzte Chance«, meinte Laura nachdenklich. »Es kam vor ein paar Tagen in den Nachrichten.« »Stimmt.« Paul strich durch seine Haarpracht. »Seine letzte und endgültige Berufung wurde abgewiesen. Sein Anwalt ist Vic Greene. Ich bin mit ihm zur Schule gegangen. Er setzt sich sehr engagiert für die bürgerlichen Ehrenrechte ein und ist ein entschiedener Gegner der Todesstrafe.« Paul lächelte. »Er möchte genauso wenig wie wir, dass Haines stirbt. Ich wette, in diesem Fall wird er mit uns zusammenarbeiten.« »Aber wird er sich an den Kosten beteiligen?«, gab Adrian zu bedenken. »Großer Gott, Paul, das hört sich an, als könnte es zu einer Anwaltsorgie ausarten.« »Gouverneur Klein ist ein großer Förderer der medizinischen Forschung«, warf Laura ein. Sie hatte sich erst im vergangenen Monat bei einem Spendenaufruf zur Unterstützung des Klinikums der University of Chicago mit Klein unterhalten. »Er wird uns unterstützen, da bin ich sicher. Was für ein Triumph es für ihn wäre, wenn ausgerechnet in Illinois der Kampf gegen den Krebs gewonnen würde!« Adrian seufzte. »Aber wird Haines es zulassen? Wie sieht es mit seiner religiösen Überzeugung aus?« »Wenn es darum geht, das eigene Leben zu retten«, meinte Laura, »würde ich darauf wetten, dass sogar Fanatiker ein bisschen flexibler sind.« 94
»Ich muss verrückt sein«, brummte Adrian. »Gut, versuchen wir's. Aber ich verlange, dass die juristische Seite nietund nagelfest ist, Paul. Wir dürfen nicht noch mehr Geld verschleudern, als wir es ohnehin schon tun.« Paul nickte. »Ich werde seinem Anwalt gleich morgen Früh einen Vorschlag unterbreiten.« »Nein! « Durch die von Kratzern übersäte Plexiglasscheibe konnte David die Bestürzung auf Vic Greenes Gesicht sehen. »Haben Sie etwas anderes erwartet?«, fragte David seinen Anwalt. Er war enttäuscht von ihm. Er wusste, dass Vic ein bekennender Katholik war, und obgleich seine Kirche Gottes wahre Absicht falsch auslegte, hatte es bei David doch eine gewisse, wenngleich illusorische Solidarität mit Vic bewirkt. Jetzt erkannte er, dass er sich nur etwas vorgemacht hatte. »Warum sollte ich denen wie eine Hure mein Blut verkaufen? Gerade diesen Leuten, die Gottes Oberhoheit auf Erden missachten!« »Sie bieten Ihnen eine Chance, Ihr Leben zu verlängern.« Vics Stimme klang blechern durch die Gegensprechanlage, fern und unbedeutend. »Sie werden gemeinsam mit uns ein Gesuch um einstweiligen Aufschub der Hinrichtung beim Gouverneur einreichen und dann einen Antrag stellen, dass Ihre Strafe zu lebenslänglich ohne Bewährung umgewandelt wird.« David versuchte seine Gedanken zu ordnen. Er holte tief Atem, um sein rasendes Herz zu beruhigen. »Diese Leute sagten, es sei ein Enzym?« »Ja ... auch etwas von T-Zellen. Tut mir Leid, das habe ich mir nicht genau notiert. « David sah, dass Vic Schwierigkeiten mit der Terminologie hatte. »Ein durch meine T-Zellen produziertes Zytokin?«, half er ihm aus.
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»Ja, ich glaube, so haben die Leute sich ausgedrückt.« »Und sie haben gesehen, wie es einen Tumor in meinem Blutstrom vernichtet hat?« Vic nickte. »Ich verstehe.« Als Vic ihm von dem Blut berichtete, hatte David zuerst an einen hundsgemeinen Streich gedacht, den Dr. Finlay sich hatte einfallen lassen. Allein die Vorstellung, dass sein Blut Krebs aufweisen könnte, war lächerlich. Doch als Vic weitererzählte, erkannte er, dass es durchaus ernst gemeint war. Wie war das möglich? Wissenschaft und Religion schlossen einander nicht unbedingt aus, das wusste er, auch wenn die Wissenschaft lediglich Gottes Hilfsmittel war, ein Werkzeug, das er benutzte. David hatte seine wissenschaftliche Ausbildung nicht vergessen, nachdem er Gott gefunden hatte; er hatte sie nur einem höheren Zweck gewidmet. In seiner Zelle hatte er seine Kenntnisse des menschlichen Körpers weiter vertieft. Er wusste, dass jede molekulare Wirkung das Werk Gottes war: Jedes Mal, wenn ein DNS-Strang falsch übersetzt wurde und eine Tumorzelle entstand oder ein bösartiges Enzym - stets war Gott Anfang und Ende jeden Geschehens. Aber das wollten diese ignoranten Wissenschaftler natürlich nicht wahrhaben. Gott fand immer einen Weg, die Ungläubigen und Ungehorsamen von seinen Absichten zu überzeugen. Er lächelte Vic bedauernd an. »Es soll mich in Versuchung führen.« »Was, David?« »Mein Blut.« Er spürte es sogar, als Vic ihm das Angebot von MetaSYS genau erläuterte. Eine Chance, sein Leben zu behalten. In den vergangenen zwei Monaten war er manchmal mitten in der Nacht hochgeschreckt, hatte versucht, sich von seinen Albträumen zu befreien - von den Nadeln in seinen Adern, den würgenden Händen um seinen Hals. Nun kam es schon früh am Morgen vor, dass seine Gedärme sich ohne Vorwarnung 96
verflüssigten und er sich fröstelnd auf die Toilette kauerte und wartete, bis die Panik vorüberging. Er wusste, sein Körper weinte aus Verzweiflung über sein baldiges Ende. Der Geist war willig, doch das Fleisch war schwach. »Ich war stolz«, gestand er Vic durch die Plastiktrennwand. »Ich dachte, ich könnte mein Leben ohne Bedauern aufgeben. Aber jetzt, da mir seine Rückgabe angeboten wird - wie sündhaft ich mich daran klammere.« »Das ist ganz normal, David.« »Normal bedeutet nicht, dass es richtig ist.« »Nein, das wohl nicht.« »Die Seele ist im Blut. Und einen Menschen verdammt nicht, was in ihm fließt, sondern was aus ihm herauskommt. Wenn ich zulasse, dass mir Blut entnommen wird, verdamme ich mich selbst. Denn wenn das, was in mir ist, tatsächlich Heilung birgt, ist sie zweifellos unheilig.« Er sah, wie Vic sichtlich verlegen den Blick abwandte. David hatte sich so sehr an diese Blicke gewöhnt, dass es ihn beinahe schon beunruhigte, wenn sein Glaube und seine Lehren nicht mit Verachtung gestraft wurden. Für ihn war diese Verachtung so etwas wie eine Bestätigung ihrer Wahrheit geworden. Er selbst verachtete die vermeintliche Weisheit und Wissenschaft der Welt. Und er wusste, dass nur denen ewiges Leben zuteil wird, die diese Welt hassen.
Plötzlich wusste er, was er zu tun hatte. Wenn sein Körper ein Heilmittel enthielt, musste er es der Welt um jeden Preis verwehren. Er spürte, wie er wieder die Kontrolle über sein Herz und seinen Atem erlangte. Heiterkeit kehrte in seinen Geist zurück. Er würde ihnen allen trotzen. Dies sollte seine letzte und sieghafte Tat zum Ruhme Gottes werden. 97
»Die Sprechzeit ist vorbei«, rief der Wärter an der Tür. »David, hören Sie! Wenn Sie nicht unterschreiben, wird man vielleicht versuchen, Sie zu zwingen. Und in neun Tagen sterben Sie auf jeden Fall. Ich weiß, wozu diese Leute fähig sind. Sie werden alles tun, um an Ihr Blut heranzukommen, ob Sie unterzeichnen oder nicht. Geben Sie Ihrem Leben eine Chance. Unterschreiben Sie.« »Wegen meines Blutes? Oder weil Sie möchten, dass ich am Leben bleibe?« »Beides.« Vic tat ihm Leid. Obwohl von Sünde durchdrungen, versuchte er doch, ein gottesfürchtiger Mann zu sein. »Wenn diese Leute mich zu zwingen versuchen, wie Sie sagen, werden Sie dann für mich kämpfen?« Vic zögerte kurz. »Ich bin Ihr Anwalt, David. Es ist meine Aufgabe, Ihre Rechte zu schützen. Natürlich werde ich für Sie kämpfen.« »Danke für alles, was Sie für mich getan haben.« David hängte das Telefon der Sprechanlage ein, stand auf und ging zu dem Wärter an der Tür. Er hoffte, er würde nie wieder erleben müssen, wie Vic auf der anderen Seite der Scheibe saß, gefangen in der Welt.
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Richter Homer Lillard griff nach dem großen Plastikbecher, der neben ihm stand, und nahm einen weiteren tiefen Schluck. »Wenn diese kleinen Miststücke sich nicht bis heute Abend herausspülen lassen, soll operiert werden. Und das würde ich wirklich gern vermeiden.« Kevin hatte schon bei vielen Richtern vorgesprochen, doch nie zuvor bei einem, der gerade wegen Nierensteinen in Behandlung war. Einen Frottierbademantel um den fülligen Leib und Pantoffeln an den Füßen, hockte Lillard zusammengesunken in einem Sessel am Fenster seines Privatzimmers im Henry Ford Hospital in Detroit. Durch seine Bifokalbrille spähte er auf Kevins Antrag. Plötzlich verzog sich sein fleischiges Gesicht. Er kniff die Augen zu Schlitzen zusammen und versuchte, ein schmerzhaftes Stöhnen zu unterdrücken. Nach einer Sekunde stieß er den Atem aus, und seine Hängebacken wurden wieder schlaff. »Wieder besser?«, erkundigte sich Kevin. »Wissen Sie, ich hatte vor ein paar Jahren einen Herzanfall und möchte so etwas nicht noch einmal mitmachen.« Kevin blickte ihn mitfühlend an. »Sie müssen Medikamente nehmen, nicht wahr?« »Verdammt, ja. Sie machen es wenigstens einigermaßen erträglich für mich. Also, rekapitulieren wir: Sie möchten die Erlaubnis für eine klammheimliche Hausdurchsuchung, aber alles, was Sie vorweisen können, ist ein Mann, der aus der Nase blutete und das Blut aufwischte.«
Kevin seufzte insgeheim. Die letzten beiden Tage in Detroit hatte er nichts anderes getan, als zu kämpfen und zu versuchen, sich durchzusetzen: bei Miceli, dass 99
er den Fall weiterbearbeite. Vergebens. Dann telefonisch bei Hugh in Chicago, damit er eine Paralleluntersuchung des Banji-Mordes genehmigte. Das war ihm mit Müh und Not gelungen. Er konnte sich vorstellen, was Hugh dachte, der ihn wahrscheinlich für überheblich, besessen und karrieregeil hielt. Aber schließlich hatte er sich einverstanden erklärt, sich mit der FBI-Außenstelle in Detroit in Verbindung zu setzen und Kevin von dort Hilfe zu besorgen. Er gab Kevin drei Tage. Wenn er in dieser Zeit nichts über Will Andrews zu Tage gefördert hatte, musste er zurückkommen und die vielen unerledigten Akten aufarbeiten, die sich auf seinem Schreibtisch türmten. Wahrscheinlich hatte Hugh nur nachgegeben, weil er ahnte, dass er nicht nach Chicago zurückkehren und ihm telefonisch so lange auf den Wecker fallen würde, bis er bekam, was er wollte. Steckte hinter seinem Nachgeben etwa herablassendes Mitleid? Und nun versuchte Kevin, einen Bundesrichter zu überzeugen, ihm einen Durchsuchungsbefehl für Andrews' Wohnung zu genehmigen. Charles Richter, der Special Agent, der das FBI-Büro in Detroit leitete, hatte ihm geraten, zu Lillard zu gehen, der ihm offenbar noch einen Gefallen schuldete. Soweit Kevin es beurteilen konnte, war es die einzige Möglichkeit, an den Durchsuchungsbefehl zu kommen. Kevin hatte allerdings das Pech, dass Lillard ausgerechnet jetzt wegen der Mini-Stalaktiten in den Harnwegen ins Krankenhaus musste. Doch Kevin wollte nicht das Risiko eingehen, sich mit seinem Antrag an einen anderen Richter zu wenden. Er hatte allerdings die Befürchtung, Lillards Schmerzen könnten ihn nun zu einer ungeduldigen Ablehnung veranlassen. »Nun«, sagte Lillard mit einem Lächeln, das nicht gerade gütig wirkte, »ich habe das Gefühl, dass die Jungs in Ihrem Büro in Detroit mich als gutmütigen Einfaltspinsel betrachten. Wissen Sie, Agent Sheldrake - daraus, dass dieser Andrews sein Blut aufgewischt hat, auf die religiöse 100
Einstellung des Mannes zu schließen, kann man schwerlich als schlüssigen Beweis bezeichnen.« »Ja, sicher, aber bei der Art des Verbrechens lässt Andrews' Verhalten diesen ernst zu nehmenden Verdacht zu.« Kevin wartete auf Lillards Reaktion. Es wäre besser gewesen, er wäre ohne lange zu fragen in Andrews' Wohnung eingedrungen. Schwieriger als das hier hätte es nicht sein können. Gestern, nachdem Andrews seine Schicht in der Tiefgarage beendet hatte, war er dem Mann zu einem heruntergekommenen Wohnblock im Osten der Stadt gefolgt. Er hatte Andrews' Namen in der langen Liste an der Klingel bei der Eingangstür gelesen und festgestellt, dass es hier offenbar keine besonderen Sicherheitsvorkehrungen gab. Es wäre nicht schwierig gewesen einzubrechen, aber er hatte keine Erfahrung mit so etwas, und er würde Spuren hinterlassen. Außerdem wurde Material, das durch solche unerlaubten Methoden beschafft wurde, vor Gericht ohnehin nicht als Beweismittel anerkannt. »Sie haben Mr Andrews noch nicht vernommen?« Kevin bemühte sich, seine Ungeduld zu zügeln. »Nein, weil er dann unverzüglich alles Belastende in seiner Wohnung weggeschafft hätte.« »Was, zum Beispiel?« »Die Mordwaffe - die Captain Miceli noch nicht gefunden hat, wie ich hinzufügen möchte -, Korrespondenz, Terminkalender, Bücher mit unkenntlich gemachten Wörtern, menschliche Körperteile in Reagenzgläsern. Was genau, weiß ich nicht, Euer Ehren, ehe ich nicht nachgeschaut habe. Und das ist alles, was ich möchte: nachschauen. Ich will keine Wanzen oder Minikameras anbringen oder so etwas. Wenn ich nichts finde, kann der Fall abgeschlossen werden, und ich kehre nach Chicago zurück.« »Sie wissen, dass Sie einen schweren Übergriff in die Privatsphäre eines nach bisherigen Erkenntnissen unbescholtenen Bürgers beabsichtigen? Und leider geben Sie mir verdammt wenig in die Hand.« 101
»Ich weiß, dass es auf Papier nach wenig aussieht, das ist mir klar. Aber ich habe Andrews' Gesicht gesehen, Sir, als er auf sein Blut starrte. Ich weiß, was dieser Ausdruck bedeutet. Andrews könnte der Killer sein, und ich möchte in einem Monat nicht wieder eine ähnliche Schlagzeile in den Zeitungen lesen.« Lillard zuckte erneut zusammen und stieß den Atem aus. »Okay, ich lasse mir die Sache durch den Kopf gehen. Geben Sie mir eine halbe Stunde.« Er stand vorsichtig auf. »Wenn Sie mich jetzt entschuldigen. Ich werde ausgiebig pinkeln und hoffen, dass etwas dabei herauskommt.« »Danke, Euer Ehren.« Kevin nahm den Fahrstuhl hinunter zum Ausgang, um dem sterilen Krankenhausgeruch zu entgehen, doch die Hitze, die ihm vor der Drehtür entgegenschlug, ließ ihn wieder umkehren. Er fand einen öffentlichen Aufenthaltsraum, in dem sich mehrere Patienten in Morgenröcken und Bademänteln lustlos das Tagesprogramm auf dem Bildschirm anschauten, ein Anblick, den er äußerst deprimierend fand. Er ging auf die Toilette, um sich zu erleichtern, und bemühte sich, nicht daran zu denken, dass Lillard das Gleiche im Obergeschoss tat. Er hatte dem Richter gegenüber nicht erwähnt, dass er Will Andrews' Namen in jeder Datenbank des Justizministeriums gesucht hatte, einschließlich CultWatch, bei dessen Aufbau vor zehn Jahren er selbst geholfen hatte. Doch Andrews schien tatsächlich ein unbeschriebenes Blatt zu sein. Trotzdem hatte Kevin nicht vor, seine Ahnungen zu ignorieren. Als er sich die Hände wusch, machte er den Fehler, in den Spiegel zu schauen. Im Neonlicht war sein Gesicht von einem interessanten Gelbton. Er sollte vielleicht im Krankenhaus bleiben und sich durchchecken lassen. Warum, zum Teufel, wurde den Menschen in den Kliniken so etwas angetan? Als fühlten sie sich nicht schon schlecht genug, mussten sie in dieser lebensfeindlichen 102
Atmosphäre auch noch den Anblick ertragen, dass ihr Fleisch in diesem fluoreszierenden Licht an das Anfangsstadium einer Mumifizierung erinnerte. Kevin schnitt eine Grimasse und fuhr sich mit einer Hand durchs Haar, dann betrachtete er die beginnenden Geheimratsecken. Sein Haar war das Einzige, das ihm an seinem meist schuldbewusst wirkenden Gesicht gefiel, und er wollte, dass es ihm erhalten blieb. Es war schönes Haar, dunkel und dicht und gewellt. Doch er ging nur noch ungern zum Friseur, da sein Haaransatz immer weiter zurückwich. Er würde keinen gut aussehenden Glatzkopf abgeben; dazu war sein Gesicht zu lang und schmal, und er war zu dünn. Als er wieder im Fernsehraum war, bemühte er sich, die Verspannung in seinen Schultern abzuschütteln. Er zog sein Handy hervor und rief seinen Anrufbeantworter nach Nachrichten ab. Es gab nur eine. Sie war von Rebecca, die wissen wollte, um wie viel Uhr er sie am Freitag abholen würde. Verdammt. Er wählte seine alte Telefonnummer zu Hause aus dem Gedächtnis. »Hallo?«, meldete sich Diane. »Hi. Ich bin es, Kevin«, fügte er hastig hinzu. Selbst nach zwei Jahren klang das »ich bin es« noch seltsam normal und selbstverständlich, als wäre ein Teil von ihm nicht bereit, dieses kleine Privileg aufzugeben. »Ich habe gerade Beckys Nachricht abgehört. Hör zu, ich bin in Detroit.« »Du wirst sie also nicht holen können?« »Wahrscheinlich nicht.« »Ich kann nicht behaupten, dass es mir Leid tut, nicht nach dem letzten Wochenende. Wohin hast du sie diesmal verschleppt? Drei Tage lang hat sie von nichts anderem als von Wischnu geredet.« »Wir haben einen Hindutempel besucht.« »Und meditiert, hat sie erzählt.« »Ja.« 103
»Du liebe Zeit, Kevin! Hältst du das wirklich für angebracht?« »Es hat ihr gefallen. Hat sie's dir nicht gesagt?« »Das habe ich nicht gemeint.« »Wärst du glücklicher, wenn ich sie zur Sonntagsschule brächte, wo sie Archen Noahs aus Papiermaschee basteln darf?« »Ich mag es nicht, wenn du ihr Gedanken aufzwingst.« »Ich zwinge ihr gar nichts auf. Ich erzähle ihr von dem Glauben unterschiedlicher Völker, und manchmal besuchen wir fremde Gebetsstätten.« Im Lauf des vergangenen Jahres hatte er sie in eine Synagoge mitgenommen, in ein buddhistisches Kloster, eine Moschee, eine heilige Stätte des Schintoismus, ins Baha'i-Haus der Gerechtigkeit und verschiedene christliche Kirchen. »Ich darf sie an den Wochenenden sehen, und da machen wir halt manchmal solche Besuche.« »Jetzt hör mal zu«, sagte sie, »ich weiß, dass du auf der Suche bist, oder wie immer du es nennst, aber halte unsere Tochter daraus.« »Sei doch ehrlich, Diane. Du willst nur nicht, dass sie mit irgendeiner Religion in Berührung kommt, nicht wahr?« »Stimmt. Als sie geboren wurde, hatten wir uns darauf geeinigt, dass sie keinen Religionsunterricht bekommt. Erinnerst du dich?« »Es ist ja auch kein Religionsunterricht. Ich zeige ihr nur, welches Spektrum an Religionen es gibt.« »Sie ist zwölf, Kevin. Sie ist zu jung, um das zu verstehen.« »Ich glaube, es interessiert sie.« »Du beeinflusst sie.« »Du nicht? Ist es vielleicht keine Beeinflussung, nie über Religion zu sprechen? Becky weiß, dass du das alles für Unsinn hältst. Sagen wir einfach, du und ich halten einander die Waage, okay? Es gibt immer ein Wenn und Aber.« »Warum willst du sie ermutigen, an Märchen zu glauben?« 104
»Nur weil ich nicht glauben kann, bedeutet das nicht, dass es nicht irgendetwas gibt. Und warum sollte ich Becky das vorenthalten?« Die plötzliche Leidenschaftlichkeit in seiner Stimme überraschte ihn selbst. Einer der Patienten im Aufenthaltsraum drehte sich um und starrte ihn an. Kevin senkte die Stimme. »Hör mal, ich ... ich kann hier wirklich nicht darüber reden. Warte einen Augenblick. « Er stand auf und ging über den belebten Flur, wo er niemanden störte und niemand ihm zuhörte. Als Diane wieder sprach, klang ihre Stimme ehrlich besorgt. »Ich kann nicht glauben, dass gerade du so denkst. Warum hast du deine ... ich meine, du hättest weiterhin zu Dr. Bale gehen sollen. Wir wissen beide, was nach Haines mit dir passiert ist.« Kevin hatte oft versucht, es ihr zu erklären, doch sie verstand es nicht, wollte es nicht verstehen. Depressionen nach Abschluss eines Falles kamen bei FBI-Beamten häufig vor. Und wenn man sich drei Jahre lang so intensiv mit einem Menschen wie David Haines beschäftigt hatte, dass er einem so vertraut geworden war wie die zweite Stimme eines Schizophrenen, fiel es unglaublich schwer, sich davon zu lösen. Dianes Stimme wurde sanft. »Du glaubst, du hast etwas verloren. Aber was du für die God's Children empfunden hast, hatte nichts mit Glauben zu tun, Kevin.« Zwanzig Jahre lang hatte er es als Fehler abgetan. Damals war er achtzehn gewesen. Er hatte in einer Kommune auf einer Farm in den San Juans gelebt eine ausgemergelte Gestalt, weil es nichts als Kartoffeln und Reis gegeben hatte. Seelisch gebrochen von Gruppenzwang, Schlafmangel und der Herrlichkeit Gottes. Er hatte Gehirnwäsche über sich ergehen lassen, war belogen und sechzehn Monate seines Lebens beraubt worden. Nachdem er zur Schule zurückgekehrt und später zum FBI gegangen war, hatte er sich besonders damit befasst, Sekten zu zerschlagen, die illegalen Aktivitäten nachgingen. Er war zum überzeugten 105
Atheisten geworden. Für ihn gab es nur noch die reale Welt - mit ihr, seiner Arbeit und seiner Familie war er vollauf beschäftigt. Doch mit jedem Tag, den er Haines verfolgt hatte, war ihm sein Leben nichts sagender und gegenstandsloser vorgekommen, ein verkrüppelter Ersatz für das, wonach er sich wirklich sehnte. »Du wirst es nicht finden«, sagte Diane, »weil es nicht da ist.« »Ich will noch nicht aufgeben.« Kevin konnte es Diane nicht verübeln, dass sie ihn verlassen hatte. Sie musste sich verraten gefühlt haben. Er war nicht mehr der Mann, den sie kennen gelernt und geheiratet hatte. Während der drei Jahre, als er Haines jagte und sich dabei immer mehr von Diane entfernte, hatte sie zu ihm gehalten. Als Haines schließlich gefasst wurde, war Kevin ein psychisches Wrack. Er fand keinen Sinn, keinen Trost mehr in Dianes Liebe. Er brach ihr das Herz. Doch er war machtlos, ihr zu helfen, und auch sie hatte ihm nicht helfen können. Als sie ihm die Scheidung vorschlug, war es Kevin erschienen, als beträfe es ihn gar nicht. »Weißt du«, sagte Diane jetzt, »Becky geht nur deshalb mit dir zu diesen religiösen Stätten, weil sie bei dir sein möchte.« Einen Moment brachte Kevin kein Wort hervor, so sehr nahm ihn das Bild seiner blassen, besorgten Tochter mit, die sich so sehr mühte, ihm Fröhlichkeit zu vermitteln, und die um jeden Preis bei ihm sein wollte. Immer wieder hatte er ihr versichert, sie müsse diese Orte nicht besuchen, diese Tempel und Kirchen und Kultstätten, doch Becky schien sich ehrlich dafür zu interessieren. Oder hatte er sich nur etwas vorgemacht? Doch so schnell war er nicht bereit, Dianes Meinung zu akzeptieren. »Wenn Becky es mir selbst sagt, höre ich damit auf.« »Ich will nicht, Kevin, dass sie in einer dieser schrecklichen Sekten endet ...« »Aber Diane, du weißt doch, dass ich das nicht mehr ... « 106
»Kein Hare-Krishna oder so etwas. Falls doch, und ich finde es heraus, lasse ich gerichtlich durchsetzen, dass du Becky nicht mehr sehen darfst, das schwöre ich dir.« Zorn loderte in ihm auf, und ehe er sich beherrschen konnte, sprudelten die Worte über seine Lippen. »Wenn du versuchst, mir meine Tochter vorzuenthalten, wirst du es bereuen, das schwöre ich dir! Du kannst sie mir nicht wegnehmen! Kein verdammter Richter in diesem Land wird es dir gestatten. Droh mir nie wieder damit! « Sie legte auf. Immer noch kochend vor Wut, holte Kevin sich einen Orangensaft an einem Getränkeautomaten und wartete, bis sein Puls sich beruhigte. Es war Zeit, Richter Lillard aufzusuchen. Kevin war auf eine weitere schlechte Nachricht gefasst; zurzeit hatte er offenbar eine Pechsträhne. Oben wurde er von einem strahlenden Lillard erwartet. »Hätte mich fast umgebracht, aber ich glaube, ich hab mich gerade von einer Operation freigepisst.« Er reichte Kevin den Durchsuchungsbefehl. Er war unterschrieben.
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7
Aus dem Aufenthaltsraum im 14. Stock des Bezirksgerichts hatte man einen Blick nach Westen auf South Dearborn. Laura, die auf Paul Rapke wartete, starrte über die Plaza und versuchte sich abzulenken. Links befanden sich die Glas- und Stahlkästen des Twin Federal Centers; rechts die prächtige, säulenverzierte Bedachung des Marquette Buildings; voraus, hinter der spiegelnden Fassade eines Bürogebäudes, ragten die neun Stahlrahmenkuben des vierhundertdreiundvierzig Meter hohen Sears Tower in Chicagos bleischweren Himmel. Vom Gitterrost der Klimaanlage zu ihren Füßen zischte kühle Luft. Sie ging vor Gericht. Nach Haines' abschlägiger Antwort hätte sie vor Verzweiflung fast den Verstand verloren. Doch Adrian hatte vorgeschlagen, einen Gerichtsbeschluss zu erwirken und Haines zu zwingen, sich Blut abnehmen zu lassen. Paul hatte seine Zweifel gehabt, doch es stellte sich heraus, dass Sam Garrity Adrians Golfpartner war, ein Richter mit beträchtlichem Einfluss. Adrian war sicher, dass sie mit ihrem Antrag durchkämen, wenn er Garrity vorgelegt würde, keinem anderen Richter. Und genau dafür hatte Paul gesorgt. Dem Himmel sei Dank für das Golfspiel, dachte Laura. Sie selbst konnte ihm nichts abgewinnen. Aus freudscher Sicht war Golf zweifellos höchst symbolisch, eine Metapher für dominierende männliche sexuelle Aggression, all die kleinen weißen Bälle, die Hoden verkörperten, über das Grün zu verteilen. Doch nicht nur deshalb schien es Männern Freude zu machen, Golf zu spielen, denn es förderte offenbar auch ihre geschäftlichen und persönlichen Beziehungen. Laura war es gleich. Hauptsache, sie kam an Haines' Blut. 108
Sie blickte auf die Uhr. Paul war spät dran; ihre Anhörung fand bereits in fünfzehn Minuten statt. Laura versuchte sich zu entspannen. Sie hatte kaum geschlafen - kein Wunder bei der anhaltenden Wirkung des Phenmetrizines. Gegen Morgen war sie nicht im Stande gewesen, die Gedanken an Sandra zu verdrängen und an das Gespräch, das sie vergangenen Abend mit ihrem Vater geführt hatte. Er hatte sie aus Maine angerufen. Eigentlich hätte es umgekehrt sein müssen, doch Laura war sehr beschäftigt gewesen und hatte überdies gewartet, weil sie hoffte, ihrem Vater und Sandra die frohe Botschaft überbringen zu können, David Haines' Blut untersuchen zu dürfen. Doch es gab noch einen Grund, dass sie nicht angerufen hatte: ihre gewohnte Angst vor der Nachricht, dass es ihrer Schwester plötzlich viel, viel schlechter ging. »Na, wie sieht's in Maine aus?«, fragte sie ihren Vater. »Wir sind hier wundervoll untergebracht, nahe dem Wasser. Man kann von der Terrasse aus den Strand sehen. Nur fünf Minuten bis dorthin. Auch beim Wetter gibt's keinen Grund zur Klage, und den Kindern gefällt es hier sehr gut.« Doch es fehlte die übliche Begeisterung in der Stimme ihres Vaters, und das beunruhigte Laura. »Alles in Ordnung?«, erkundigte sie sich zögernd, wobei sie voller Angst an Sandra dachte. »Äh ... deine Schwester fährt wieder nach Tijuana.« »Wieso?« »Du weißt doch, dass sie im Oktober zu einer Nachuntersuchung kommen sollte. Aber sie hat sich in letzter Zeit nicht besonders gut gefühlt ...« »Was meinst du mit >nicht besonders gut«
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Ihr Vater räusperte sich, und seine Stimme wurde leiser, als befürchtete er, dass jemand mithören könnte. »Sie hat sehr abgenommen, und sie musste sich nachts mehrmals übergeben. Sie ist völlig erschöpft.« »Dad, du musst Sandra dazu bringen, dass sie nicht wieder zu dieser Klinik fährt. Auf mich würde sie nicht hören, aber auf dich - wenn du hartnäckig genug bist. Man kann ihr dort nicht helfen. Ist Ihr Zustand nicht Beweis genug?« »Nun, Dr. Wendt sagte ihr, dass eine solche Phase bei manchen Patienten eintreten kann, und Sandra muss ja sowieso zu einer Nachbehandlung kommen.« »Ja, für sechstausend Dollar die Woche«, entgegnete Laura verärgert. »Du wirst doch mit ihr reden, nicht wahr?« Eine verlegene Pause trat ein. »Ich habe an diese Frau gedacht, mit der du deine letzten Tests gemacht hast. Gillian Shamas, nicht wahr?« Jetzt war der gefürchtete Augenblick gekommen, da Laura ihrem Vater und Sandra von ihrem Misserfolg berichten musste. Entmutigt lauschte sie seinem erwartungsvollen Schweigen am anderen Ende der Leitung. Sie wusste, was er hoffte - das Gleiche wie sie: dass sie ein wirkungsvolles Heilmittel entwickelt hatte, mit dem sie Sandra behandeln konnte. Heimlich, wenn es sein musste. »Dad«, gestand sie seufzend. »Es hat ihr nicht geholfen, im Gegenteil. Es hat ihren Zustand verschlechtert.« »Verschlechtert? Aber es ging ihr doch schon besser, oder nicht?« »Das dachte ich. Aber ich hatte mich getäuscht.« Sie wollte nicht in Einzelheiten gehen; Dad würde sie ohnehin nicht verstehen. Laura fühlte sich plötzlich leer und erschöpft. »Es tut mir Leid, Dad, aber ... wer weiß, ob Sandra überhaupt zugestimmt hätte. Mike hatte sie ja regelrecht hypnotisiert mit diesem alternativen Schwachsinn.« »Es tut mir Leid«, sagte jetzt auch Dad. Laura fragte 110
sich, ob er damit ihren beruflichen Misserfolg oder Sandras Befinden meinte. »Dann ist Dr. Wendt wohl ihre beste Chance.« »Nein, Dad, ganz bestimmt nicht!« »Sandra wird sich auf keine Chemotherapie mehr einlassen, Laura. Diese Behandlung macht sie krank, sagt sie, und habe sie zu viel Zeit gekostet, und sie würde es nicht mehr durchhalten. Du warst nicht dabei, aber als wir das letzte Mal in Mexiko waren, sah sie bald viel besser aus und fühlte sich auch besser.« »Meinst du, wenn ich mit ihr rede ...«, begann Laura. »Lass es lieber«, unterbrach Dad sie rasch. »Sie hat ein gutes Gefühl dabei, wieder in die Klinik zurückzukehren. Ich werde sie begleiten.« »Wann reist ihr ab?« »Morgen. Wir fahren direkt von hier aus.« »Lass mich mit Sandra reden, Dad.« »Sie ist noch unten am Strand. Ich hab ihr nicht gesagt, dass ich dich anrufe. Es war nur ... ich wollte hören, wie du mit deiner Therapie vorangekommen bist.« »Weißt du, es besteht eine Möglichkeit, dass ...« Beinahe hätte sie ihm von David Haines' Blut erzählt, hielt aber rechtzeitig inne. Nein, keine weiteren Hoffnungen und Enttäuschungen mehr! Warte ab, bevor du irgendetwas sagst, ermahnte sie sich. Sie atmete tief ein. »Ich hab die Nummer der Klinik. Ich rufe Sandra in ein paar Tagen an, nachdem sie sich eingewöhnt hat.« »Danke«, sagte Dad. »Ich werde dann später mit dir reden.« »Bye, Dad.« Nachdem sie aufgelegt hatte, verweilten ihre Finger wie betäubt auf dem Hörer. Ihr war übel. Sie hatte nur noch eine Hoffnung: dass Adrian den Gerichtsbeschluss erwirkte. Paul Rapkes Spiegelbild schimmerte auf dem Fenster, als er sich von hinten Laura näherte. »Wir stecken in Schwierigkeiten«, sagte er leise, während er mit einer Hand durch seine Mähne strich. 111
»Was ist los?« »Garritys Mutter ist gestern Nacht gestorben. Er ist nach Ohio geflogen, damit er sich um die Formalitäten für die Bestattung kümmern kann.« »Was bedeutet das für uns?« »Dass Richterin Augustine Helms für ihn einspringt. Und dass wir wahrscheinlich mit nichts als einem Tritt in den Hintern aus dem Gerichtssaal schleichen werden. Helms ist eine aggressive Afroamerikanerin und setzt sich sehr für die Rechte der Strafgefangenen ein. Wir sitzen in der Scheiße.« Laura traute ihren Ohren nicht. Paul Rapkes vornehme Überheblichkeit fiel von ihm ab wie eine Schlangenhaut. Sein Gesichtsausdruck verriet, wie mulmig er sich fühlte. Laura fragte sich, wie oft er schon vor Gericht gegangen war. »Wir werden diese Richterin überzeugen. Wir müssen es schaffen! « Ihnen blieben nur noch sechs Tage, bis Haines die Todesspritze bekam. Sie konnten es sich nicht leisten, jetzt einen Fehler zu machen. Gestern hatte die Genealogin, die Laura beauftragt hatte, Haines' Herkunft zurückzuverfolgen, ihren Bericht gefaxt. Unerfreuliche Neuigkeiten: Haines' Eltern waren vor fünf Jahren tödlich mit dem Wagen verunglückt, und beide hatten keine Geschwister gehabt. David hatte weder Onkel noch Tanten; also gab es niemanden mit der möglicherweise gleichen genetischen Veranlagung. Bis auf Davids Bruder Rick. Doch niemand wusste, wo Rick sich aufhielt. Nach der Gerichtsverhandlung war er untergetaucht, um dem Medienrummel zu entgehen. Man munkelte, dass er sich irgendwo in Nevada oder Kalifornien aufhielt und wahrscheinlich seinen Namen geändert hatte. Die Genealogin hatte einen Internet-Suchservice empfohlen, der Rick für siebenhundert Dollar aufspüren würde. Laura hatte den Antrag ausgefüllt und an die Firma gesandt, aber sie wusste, dass sie bis zu drei
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Tagen warten musste, ehe sie Schlüssiges erfuhr. Doch selbst wenn der Suchservice Rick aufspürte, hieß das noch lange nicht, dass er das gleiche Immunsystem besaß wie sein Bruder. Es war zu selten. Und bis sie Rick fanden, konnte David bereits tot sein. Sie mussten sein Blut jetzt bekommen! Auch Paul wurde zusehends nervöser. Er schaute Laura kurz an; dann wandte er den Blick wieder ab. »Sie wissen, mit welchem Widerstand wir rechnen müssen«, sagte er. »Unsere Antragsbegründung lässt zu wünschen übrig. Es gibt keinen stichhaltigen Präzedenzfall für unser Ersuchen. Richter Garrity war vermutlich unsere einzige Chance, den Antrag durchzukriegen.« »So dürfen Sie nicht reden, Paul.« Er musste entschlossen sein, musste den Willen haben, zu kämpfen! Er musste vor die Richterin treten und das Plädoyer seines Lebens halten. »Sie werden es schaffen«, versuchte Laura ihm Mut zu machen und blickte ihn zuversichtlich an, doch ihr Herz hämmerte heftig. »Mr Rapke«, Richterin Helms blickte von den Papieren auf und fixierte Paul mit einem gestrengen Blick, »ich sehe hier, dass Sie Mr Greene nur vierundzwanzig Stunden gaben, sich auf dieses Gesuch vorzubereiten.« »Jawohl, Euer Ehren. Ich entschuldige mich für die Unannehmlichkeit, bin jedoch der Meinung, dass es sich unter den gegebenen Umständen um eine wichtige und dringliche Angelegenheit im öffentlichen Interesse handelt.« Augustine Helms zog zweifelnd die Brauen hoch. »Aha. Dann müssen Sie mich jetzt nur noch davon überzeugen.« Laura hatte nie zuvor eine Frau gesehen, die auf strengere Weise elegant wirkte. Richterin Helms trug eine dunkle Seidenbluse; ihr ergrauendes Haar hatte sie straff zurückgekämmt und mit einer silbernen Klammer festgesteckt. Ihre Augen erweckten den 113
Eindruck, dass ihr nichts fremd war, dass sie bisher noch jeden juristischen Unsinn vom Tisch gefegt und Heerscharen von Anwälten allein mit ihren Furcht einflößenden Augen zur Unterwerfung gezwungen hatte. Laura hatte hunderte von Stunden in sterilen Operationssälen verbracht und schon manche Menschenleben gerettet, aber dieser sichtlich kompetenten Frau in deren Arbeitszimmer gegenüberzusitzen, machte sie schrecklich nervös. Im OP hatte sie ihre Instrumente, konnte die Initiative ergreifen. Hier aber war sie eine hilflose Zuschauerin. Das Büro war in warmen Farbtönen gehalten, die Möbel wirkten wie in einem privaten Arbeitszimmer. Ein Bücherregal nahm eine ganze Wand in Anspruch, und um einen großen Eichenschreibtisch standen Sessel. Die Fenster hatte keine Jalousien, sondern Vorhänge; sie waren zur Seite gezogen und gewährten den Blick auf die Art-Deco-Fassade des Berghoff Building. Aus verborgenen Lautsprechern plätscherte Händels Wassermusik. An den Wänden hingen mehrere afrikanische Stammesmasken sowie eine Anzahl impressionistischer Vignetten afroamerikanischen Straßenlebens. Offenbar sollte die Atmosphäre bewirken, dass ruhige und freundliche Diskussionen geführt wurden. Doch Laura wusste, dass es alles andere als beruhigend sein würde, was sie erwartete. Nach Richterin Helms' unbewegtem Blick zu schließen, beeindruckte Lauras Anwesenheit sie nicht sonderlich. Als Paul erklärt hatte, es sei für seinen Antrag unabdingbar, dass eine so anerkannte Medizinerin und Forscherin zugegen sei, hatte die Richterin nur widerwillig ihre Einwilligung erteilt. Vic Greene hatte bereits sichtlich verärgert das Büro betreten. Laura wusste, warum. Er hatte nicht einmal einen Tag gehabt, sich auf diesen Fall vorzubereiten. Sie hatte fast Mitleid mit ihm, unterdrückte es jedoch rasch. In der Liebe und im Krieg war alles erlaubt, und dies war ein Krieg, den sie bereits ihr ganzes Berufsleben führte. Sie hatte nicht die Absicht, jetzt 114
aufzugeben. Sie blickte zu Paul und hoffte inständig, dass er nicht jetzt schon die Flinte ins Korn warf. »Euer Ehren«, begann er, »wie Sie wissen, soll David Haines in fünf Tagen hingerichtet werden. Wir haben entdeckt, dass Haines' Blut ein wichtiges Agens enthält, aus dem sich möglicherweise ein Heilmittel gegen Krebs entwickeln ließe. Dr. Donaldson hat ein Affidavit verfasst, in dem sie die Bedeutung dieser Entdeckung darlegt. Ich habe sie gebeten, mich zu begleiten, damit sie Ihnen gegebenenfalls medizinische Fragen beantworten kann. Wir haben bereits versucht, David Haines' Erlaubnis einzuholen, uns freiwillig Blutproben zu überlassen. Doch er weigert sich, trotz des außerordentlich großzügigen Angebots, das wir ihm durch Mr Greene unterbreiten ließen. Wir sind der Ansicht, dass eine Blutentnahme im Interesse der Allgemeinheit ist und dass in einem solchen Fall das öffentliche Interesse höher zu bewerten ist als das Recht des Einzelnen.« Gut, dachte Laura. Das war wirklich nicht schlecht. Sie zuckte zusammen, als sie plötzlich einen Krampf im Fuß bekam, und ihr wurde klar, wie verspannt sie war. Sie atmete langsam aus, beugte die Zehen und wartete, dass der Krampf aus den Muskeln wich. Greene antwortete bereits. »Dieser Antrag, Euer Ehren, ist eine Unverschämtheit. Die Untersuchungen würden die verfassungsmäßigen Rechte meines Mandanten und seine religiöse Überzeugung verletzen. Ich glaube nicht, dass MetaSYS sich die Unverschämtheit herausnehmen würde, einen solchen Antrag zu stellen, wäre David Haines nicht zum Tode verurteilt. Mein Mandant beharrt auf seinen verfassungsmäßigen Rechten. Es ist unethisch und illegal, jemandem gegen seinen Willen Blut zu entnehmen. Was MetaSYS beabsichtigt, ist Willkür und Unterdrückung.« Lauras Blicke schweiften besorgt über die Kunstwerke an den Wänden und verharrten auf einer alten Radierung, die zeigte, wie Sklaven in Ketten auf ein Schiff gezerrt wurden. 0 Gott, dachte sie bedrückt, 115
wir stecken ganz schön in Schwierigkeiten. Greene war sehr bewandert, was das Vokabular betraf, mit dem man die Ausbeutung der Schwachen und Unterprivilegierten durch die Starken, das Establishment, schlagkräftig formulierte. Laura blickte wieder auf die Richterin, die beinahe unmerklich nickte, als der Anwalt fortfuhr. »Nach meiner Meinung, Euer Ehren«, sagte Greene, »dürfte dies unter keinen Umständen eine nicht öffentliche Sitzung sein. Wenn es juristische Fragen gibt, sollten sie bei einem Gerichtstermin vorgebracht und nicht heute in einer spontanen Entscheidung geklärt werden.« Augustine Helms bedachte ihn mit einem kalten, ja eisigen Lächeln. »Meine Entscheidungen mögen spontan sein, Mr Greene, aber sie werden gewiss nicht vorschnell gefällt.« »Gewiss, Euer Ehren. Ich wollte lediglich betonen, dass es hier um eine so wichtige und grundsätzliche Entscheidung geht, dass außergewöhnliche Überlegungen erforderlich sind.« Helms wandte sich an Paul. »Mr Rapke, Sie wissen, dass es an Ihnen ist, einen Präzedenzfall oder ein Ergänzungsgesetz vorzubringen, um Ihren Antrag zu unterstützen.« Paul räusperte sich. Laura sah erschrocken, dass er kreidebleich war. »Selbstverständlich. Ich weise in diesem Zusammenhang auf ein Bundesgesetz von 1964 hin, das Gesundheitsstatut für den Notfall, das auch vor zwei Jahren während des Hurrikans Debra zur Anwendung kam. Sie erinnern sich gewiss, dass eine Choleraepidemie befürchtet wurde, und dass die staatlichen Gesundheitsämter sich dieses Bundesgesetzes bedienten, als es darum ging, gefährdeten Personen auch gegen ihren Willen Blut und Stuhl zur Untersuchung abzunehmen.« Laura beobachtete Helms' Gesicht und versuchte ihre Reaktion einzuschätzen. Paul hatte fast die ganze Nacht in der juristischen Bibliothek der University of Chicago verzweifelt nach Präzedenzfällen gesucht, die 116
bei Haines eine Blutentnahme erlauben könnten. Das Gesetz von 1964 war noch das Beste, das er gefunden hatte. Laura erschien es gut genug, doch Richterin Helms blickte Paul während seines Vortrags zweifelnd an. Greene konnte seine Geringschätzung kaum verbergen. »Das ist doch kein Präzedenzfall! Das Gesundheitsstatut für den Notfall war lediglich dazu gedacht, eine möglicherweise aufflammende Epidemie rechtzeitig eindämmen zu können. Mein Mandant hat keine ansteckenden Krankheiten, und er stellt kein öffentliches Gesundheitsrisiko dar.« Laura spürte, wie ihr Herz raste. Wir sind auf der Verliererstraße! Sie bemühte sich, die aufsteigende Panik zu unterdrücken und blickte Paul an. Nun mach schon!, flehte sie stumm. Lass dir mit deiner IvyLeague3-Ausbildung etwas einfallen! »Ich bin anderer Meinung«, entgegnete Paul. »Euer Ehren, Mr Haines stellt sehr wohl ein öffentliches Gesundheitsrisiko dar, indem er sein Blut zur Untersuchung vorenthält. Wenn Haines' Blut tatsächlich die Möglichkeit bietet, ein Heilmittel zu entwickeln, setzt er uns alle dem beträchtlichen Krebsrisiko aus, indem er uns die Blutentnahme verwehrt.« Gut, dachte Laura. Sie konnte hören, wie ein wenig von der selbstbewussten Redeweise der Bostoner in Pauls Stimme zurückkehrte. Greene jedoch lachte schallend. »Das ist lächerlich. Krebs ist keine Epidemie.« »Stimmt! Krebs ist noch schlimmer«, rief Laura, ehe sie sich zurückhalten konnte. »Er ist eine Epidemie, bei der kein Ende in Sicht ist.« Greene seufzte müde. »Tut mir Leid, Euer Ehren, aber gestatten wir jetzt Dr. Donaldsons unverlangte Beiträge?« »Ich bitte um Entschuldigung, Euer Ehren«, sagte Laura
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Bezeichnung für exklusive und angesehene Universitäten im Nordosten der USA, die gemeinsam organisierte sportliche Veranstaltungen durchführen; u. a. Harvard University (Cambridge, Massachusetts), Yale University (New Haven, Connecticut), Princeton University (New Jersey) und Columbia University (New York).
und ärgerte sich über ihre Dummheit. Paul hatte sie gewarnt, auf jeden Fall den Mund zu halten, wenn sie nicht zum Reden aufgefordert wurde. Laura schaute ihn an. Zorn lag auf seinem Gesicht. Aber wenn er sich hier durchsetzen würde, brauchte sie nicht den Mund aufzumachen ... Helms blickte Laura an, und diesmal glaubte sie einen Hauch von Nachsicht in den Augen der Richterin zu lesen. »Nun, da wir das ungewöhnliche Privileg Ihrer Anwesenheit haben, bin ich bereit, Ihre Meinung zuzulassen, Dr. Donaldson.« »Was ich wollte ... was ich deutlich machen wollte ... nun, eine klassische Epidemie nimmt einen bestimmten Verlauf. Sie ist auf eine gewisse Zeit beschränkt. Krebs dagegen ist eine Krankheit, die vierundzwanzig Stunden am Tag anhält, dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr, und die in all den Jahrzehnten, die wir sie nun erforschen und dokumentieren, keine Spur des Nachlassens zeigte. Im Gegenteil gibt es Krankheitsformen, die verstärkt auftreten. Der Krebs tötet jährlich Millionen Menschen. Wenn das keine Epidemie ist, was dann?« Richterin Helms lehnte sich im Stuhl zurück. »Ich muss schon sagen, Dr. Donaldson, es überrascht mich ein wenig, dass Sie diesen Antrag unterstützen, wo Sie doch sicherlich wissen, dass er die medizinische Ethik verletzt.« »Euer Ehren, es ist meine Lebensaufgabe, diese todbringende Krankheit zu bekämpfen. Und das Einzige, das ich als unethisch erachte, ist der Krebs selbst. Er kann jeden Menschen zu jeder Zeit angreifen. Er respektiert weder Grundrechte noch 118
Geschlecht, noch Alter oder Rasse. Er nimmt uns die Eltern, die Geschwister und Partner, sogar unsere Kinder.« »Das ist wirklich sehr ergreifend«, sagte Greene, »aber es hat leider wenig Bezug zu den juristischen Aspekten der zu verhandelnden Sache.« »So ist es«, bestätigte Richterin Helms. Laura schwieg. Sie bereute ihre Eigenmächtigkeit. Sie war zu weit gegangen. Hatte sich wie ein schlechter Fernsehanwalt benommen, der Applaus von den Zuschauern wollte. Sie blickte zu Greene und sah das kaum merkliche Lächeln. Auch er wusste, dass sie einen Fehler gemacht hatte. »Sie brauchen mich nicht zu überzeugen, Dr. Donaldson«, sagte Helms. »Mir ist sehr wohl bewusst, von welch destruktiver Krankheit wir reden. Mein Vater kämpft zurzeit dagegen.« Lauras Herz setzte einen Schlag aus. »Das tut mir sehr Leid.« »Und ich muss gestehen, dass die Frage, ob er die beste Behandlung bekommt, mir die größten Sorgen macht. Es gibt selbst unter Fachleuten viele einander widersprechende Meinungen - und leider auch Methoden. Es ist schon schwer genug, einen Arzt zu finden, mit dem man offen darüber reden kann, und an die Besten in diesem Fach kommt man ohnehin nicht heran.« Laura erkannte, dass die Richterin sie soeben um einen Gefallen gebeten hatte. »Ich verstehe Ihre Besorgnis, Euer Ehren. In welchem Krankenhaus wird Ihr Vater behandelt?« Vic Greene warf hastig ein: »Ich glaube, es handelt sich hier um eine einfache zivilrechtliche Angelegenheit, Euer Ehren. Aber womit wir uns noch nicht befasst haben, sind die so genannten medizinischen Beweise, die nichts anderes als Mutmaßungen sind. Dr. Donaldson und Mr Rapke wissen nicht einmal mit Sicherheit, ob mein Mandant tatsächlich eine heilkräftige Substanz im Körper trägt. 119
Dennoch wollen sie seine verfassungsmäßigen Rechte verletzen, um ihre Neugier zu befriedigen.« »Nun?«, meinte Richterin Helms. »Was würden Sie darauf antworten, Dr. Donaldson?« »Er hat Recht. Wir wissen es nicht. Aber wir werden es auch nie erfahren, wenn wir kein Blut von Haines bekommen. Und das, Euer Ehren, würde ich als schreckliche Tragödie betrachten. Ich bin seit über fünfzehn Jahren in der Krebsforschung tätig, und ebenso lange tappe ich im Dunkeln, was diese Geißel der Menschheit angeht. Nun aber haben wir endlich den ersten, viel versprechenden Lichtblick.« Ernst wandte Richterin Helms ihre Aufmerksamkeit dem Antrag zu, der vor ihr lag. Laura blickte zu Paul, doch sein unbewegtes Gesicht verriet nicht, wie er ihre Chancen einschätzte. Sie bemerkte jedoch, dass Greene ein wenig nervös wirkte. »Zwei Einheiten Blut«, las die Richterin und blickte dann wieder Laura an. »Ist das viel?« »Es ist eine medizinisch zulässige Menge für eine Blutabnahme.« »Und eine Knochenmarkprobe?« »Auf diese Weise sollen so genannte Stammzellen gesichert werden, Euer Ehren. Damit wir versuchen können, einen endlosen Vorrat an weißen Zellen zu kultivieren.« »Und das würde unter Wahrung aller Kriterien der Humanität und Sicherheit geschehen?« Hoffnung durchraste Laura wie ein Adrenalinstoß. »Absolut. Wie in jedem Krankenhaus hier zu Lande. Und ich werde die Entnahme persönlich vornehmen.« Sie erlaubte sich einen flüchtigen Blick auf Greene und sah das Erschrecken auf seinem Gesicht. »Euer Ehren«, sagte er, »ich möchte noch einmal betonen, dass es keine gesetzliche Grundlage für diesen Antrag gibt.« »Das stimmt«, sagte Helms. »Doch unter den gegebenen Umständen und angesichts der Stellungnahme, die mir vorgetragen wurde, bin ich bereit, die Interessen der Allgemeinheit über die 120
Forderung des Verurteilten zu stellen. Dr. Donaldson, Sie sollen Ihr Blut bekommen.«
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Der Raum war nicht viel anheimelnder als eine Mönchszelle. Kevin hatte zwar kein Spukzimmer erwartet, dessen Wände mit riesigen Fotos von Dr. Amit Banji mit ausgekratzten Augen beklebt waren, aber auch keine so karge Einrichtung wie Will Andrews' Junggesellenapartment. Von der Tür aus, an der er stand, konnte er praktisch alles überblicken. Ein schmales Bett, einen Stahlrohrtisch und zwei Kunststoffstühle. Entlang einer Wand befand sich eine Küchenzeile. Die Arbeitsplatte war sauber, im Spülbecken befand sich kein schmutziges Geschirr. Alles war ordentlich. Genau wie diese langen, in Schlafhäuser umgewandelten Hühnerställe auf der Farm, dachte Kevin. Als er bei God's Children gewesen war, hatte er in einem solchen Saal geschlafen. Karg eingerichtet und peinlich sauber. Persönlicher Besitz war überflüssig. Der Verstand sollte so ordentlich sein wie die Räumlichkeiten, und ebenso schmucklos, damit er der völligen Hingabe an Gott geweiht sein konnte. Während Kevin seine Baumwollhandschuhe überstreifte, atmete er tief ein. Er fühlte sich fiebrig von der Hitze. Das Gebäude besaß keine Klimaanlage, und die beiden offenen Fenster brachten kaum Linderung. 121
Neben Kevin stand Rafe Marquez, ein junger Überwachungsexperte, den er sich aus dem FBI-Büro Detroit ausgeliehen hatte. Rafe hatte ihnen mühelos Zugang zu der Wohnung verschafft; gelangweilt wie ein geübter Schlosser, der einen Routine-Job erledigt, hatte er die Tür
geöffnet. Kevin bemerkte, wie er sich bereits methodisch im Zimmer umschaute und in Gedanken eine Liste für die Durchsuchung aufstellte. Es war 13:45 Uhr. Auf dem Weg zum Apartment war Kevin an der Tiefgarage vorbeigefahren und hatte sich vergewissert, dass Andrews Dienst machte. Er legte keinen Wert auf Überraschungen. Jetzt blickte er zu Rafe hinüber und nickte. Gehen wir's an. Worte waren unnötig. Kevin war ihre Vorgehensweise im Auto durchgegangen, sie war simpel. Rafes Aufgabe bestand darin, Verstecke zu finden. Er sollte jeden Zentimeter des Bodens, der Wände und der Zimmerdecke absuchen, und jedes Möbelstück inspizieren. Kein verdammter Zentimeter durfte unbeachtet bleiben. Auf dem Küchentisch lag ein aufgeschlagener Schreibblock. Kevin ging hinüber, um einen Blick darauf zu werfen. Der Block war etwa zur Hälfte benutzt. Offenbar war Andrews ein eifriger Briefeschreiber. Das oberste Blatt war leer, wies aber einige schwache Abdrücke des zuvor beschriebenen Blattes auf. Mit den behandschuhten Fingern riss Kevin das Blatt vorsichtig ab und schob es in eine Plastikschutzhülle. Er hatte zwar seine Zweifel, dass das Labor etwas damit anfangen konnte, doch einen Versuch war es wert. Ein Briefeschreiber. Nur - wem hatte er geschrieben? Und bekam er Antwort? Nirgends gab es Familienfotos, und keinen Schreibtisch, keinen Aktenschrank. Eine 122
umgedrehte Obstkiste diente zugleich als Nachtkästchen und Bücherregal. Kevin bückte sich. Was war Andrews' Nachtlektüre? Eines nach dem anderen zog er drei Bibliotheksbücher heraus. Alle behandelten die Vogelwelt Nordamerikas. Er blätterte darin, um auf Briefe oder irgendwelche Randbemerkungen zu stoßen. Nichts. Keine Bücher über Religion oder Rituale, keine Flugblätter, nichts über Medizin oder dergleichen. Keine Bibel. Das beunruhigte ihn am meisten. Warum gab es hier nicht wenigstens eine Bibel? Er blickte zu Rafe hinüber, der auf Händen und Knien den Fußboden überprüfte. Kevin nahm sich die alte, arg mitgenommene Kommode vor. In seinem Job hatte er selten derartige Durchsuchungen vornehmen müssen, und nie hatten sie ihm Spaß gemacht. Einmal war er in den Räumen einer Sekte in New Mexiko auf eine grässliche Sammlung gestoßen: in Gläser eingelegte Hoden, die sich die männlichen Mitglieder der Sekte vor ihrer himmlischen Reise zu einem anderen Stern freiwillig amputiert hatten. Auch in den Schubläden herrschte peinliche Ordnung. Andrews hatte seine Socken paarweise zusammengerollt und seine Unterwäsche gefaltet. Diese zwanghafte Ordnung, diese Angst vor Unreinheit passten zu dem Persönlichkeitsbild, das Kevin sich von ihm gemacht hatte. Er schob die Läden wieder in die Kommode und wandte sich dem Schrank zu. Andrews hatte wenig Kleidung und offenbar nur ein zweites Paar Schuhe. Kevin betastete alles; dann ließ er die Tür für Rafe offen, der nach doppelten Wänden suchte. Er hielt einen Moment inne und blickte sich im Zimmer um. Er hörte, wie in der benachbarten Wohnung die Toilettenspülung betätigt wurde. Anfangs hatte ihm die beinahe klösterliche Kargheit des Zimmers Hoffnung gemacht. Aber vielleicht täuschte er sich. Kein Fernseher, kein Radio, kein Telefon. Es war 123
ungewöhnlich, aber es kam schon mal vor. Wenig Habe - na und? Will Andrews hatte eben einen schlecht bezahlten Job und wollte nicht das wenige Geld vergeuden, das ihm blieb. Wohl kaum ein Grund, ihn zu verdächtigen. Er mochte Vögel. Er liebte Ordnung. Dagegen war nichts einzuwenden. Scheiße! Vielleicht hatten sie Recht - Miceli, Carter, Lillard. Vielleicht war Andrews wirklich nur ein Wärter in einer Tiefgarage mit blutender Nase und einem besonders ausgeprägten Reinlichkeitsfimmel. Und er selbst war tatsächlich besessen - und das FBI hatte Nachsicht mit ihm und vielleicht auch Mitleid, weil er bald hinter einem Schreibtisch versauern würde. Der Haines-Fall hatte ihm den klaren Blick auf die Wirklichkeit genommen. Er versuchte, seinen nagenden Zweifel zu verdrängen. Doch sein Gespräch mit Diane zuvor war da nicht gerade hilfreich. Immer wieder beschäftigten ihn gewisse Bemerkungen. Kevin glaubte nicht wirklich, dass sie ihm Rebecca ganz wegnehmen würde, aber die Vorstellung, Diana könnte seine Tochter auf subtile Weise gegen ihn beeinflussen, lag ihm schwer im Magen. Beckys ernstes Gesicht schob sich vor sein inneres Auge. Er beobachtete, wie Rafe die Untersuchung des Linoleumfußbodens beendete und verneinend den Kopf schüttelte. Wütend ging Kevin zum Küchenteil und öffnete die Tür unter dem Spülbecken. Nicht eine Kakerlake war zu sehen, was in diesem Wohnblock wahrscheinlich sehr ungewöhnlich war. Auch in den anderen Küchenregalen waren nur ein paar Töpfe und Pfannen, sauber geschrubbt, sauberer als Kevins je waren. Verdammt. Ein lautes Rumpeln an der Wohnungstür. Kevins Herz hüpfte wie ein Frosch. Schon hatte er die Pistole in der Hand. Ein Schlüssel scharrte um das Schloss. Kevin sah, dass auch Rafe seine Waffe gezückt und auf die Tür gerichtet hatte. 124
Eine zungenschwere Stimme, die etwas Unverständliches lallte, war von draußen hören. Dann entfernte sie sich, und an anderen Türen erklang das Rumpeln und Scharren. Kevin hörte wütende Rufe aus benachbarten Wohnungen, als der Betrunkene, auf der Suche nach seiner Behausung, über den Korridor wankte. Kevins Hand zitterte, als er seine Waffe wegsteckte. Vielleicht hätte er ein Bewachungsteam anfordern sollen, aber er hatte es nicht für notwendig erachtet und er wollte das FBI-Büro Detroit nicht noch mehr beanspruchen. Wie dumm! Er erinnerte sich an die Fotos, die Banjis von Kugeln durchlöcherte Leiche zeigten. Als er Rafe anblickte, grinste dieser schwach. Gemeinsam durchsuchten sie die Kochnische, überprüften das Geschirr und die Lebensmittelbehälter in den Hängeschränken und rückten den kleinen Herd nach vorn, ebenso den Kühlschrank. Im Gefrierfach waren Packungen Erbsen sowie eine Schachtel Eiskrem, die Kevin sich genauer anschaute, um sicherzugehen, dass nichts miteingefroren war, was nicht hineingehörte. Dann nahmen sie sich die Matratzen und Kissen vor, die Lampen, Kabel, Rohrleitungen, die äußere Fensterverkleidung. Nichts. Blieb nur noch das kleine Badezimmer. Im Spiegelschränkchen über dem Waschbecken fanden sich eine Zahnbürste, eine Tube Zahnpasta und ein Rasierapparat, doch keinerlei Arzneimittel. Keine Röhrchen oder Fläschchen mit Kopfschmerztabletten oder Pillen gegen übersäuerten Magen. Kevin spürte, wie sein Puls sich beschleunigte. Vielleicht wurde Andrews nie krank. Genau wie Haines. Brauchte er lediglich die Macht des Gebetes? Das ist verrückt, ging es ihm durch den Kopf. Aber er musste etwas vorweisen können! Er deutete zum Deckenabzug. Rafe machte sich sofort an die Arbeit, während Kevin inzwischen die Badewanne überprüfte. Deren Rohre jedoch führten direkt in die Wand. Er 125
schaute zu Rafe, der sich den Abzug vorgenommen hatte. Auch dort war nichts versteckt. Kevin blickte auf die Toilette, die mit Schrauben auf dem Boden befestigt war. Er kniete sich hin. Die Muttern waren verrostet, doch an den Seiten schimmerte das silberfarbene Metall. Offenbar waren sie vor nicht allzu langer Zeit gelöst worden. Sekunden später hatten Kevin und Rafe die Muttern entfernt. Bräunliches Wasser und septischer Geruch drangen unter
der Toilettenschüssel hervor, als sie diese ein paar Zentimeter kippten. Kevin beugte sich nieder und spähte unter die Schüssel. Zwei selbstschließende Plastikbeutel waren an den Rohren festgeklemmt. Keuchend zerrte er sie heraus. Einer enthielt eine Schusswaffe. Der andere eine Bibel. Rafes Lippen verzogen sich zu einem breiten Grinsen. Kevin öffnete den Beutel mit der Bibel. Er zweifelte nicht daran, dass die Pistole die Mordwaffe war, doch er wandte sich erst der Bibel zu. Es war lange her, seit er eine so schöne Ausgabe in der Hand gehalten hatte. Sie war ziemlich groß, mit schwarzem Ledereinband und Goldbuchstaben. Er schlug sie auf. Die Bibel war hohl; nur die äußeren Ränder der Seiten, von Mose bis zum Neuen Testament, waren belassen worden. In der rechteckigen Aushöhlung befand sich ein dickes Bündel handgeschriebener Korrespondenz - sehr dünnes, aber festes Papier, sorgfältig geordnet und in den Buchrücken genäht. Kevin blätterte den Packen durch, bis er die Unterschrift auf einem Brief entdeckte. Sein Herz schlug so schnell, dass er glaubte, die Besinnung zu verlieren. Das Evangelium nach David Haines.
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»Sie kommen heute Morgen um sieben mit einem eigenen mobilen Labor zum östlichen Lieferanteneingang und werden ihre eigenen Sicherheitsleute dabeihaben.« David Haines stand mit dem Kopf dicht am Gitter, und Bob Jarvis flüsterte ihm ins Ohr. Es war ein Uhr nachts, und im Hochsicherheitstrakt war es erfreulich ruhig. Sogar Tucker hatte sich endlich in den Schlaf geweint; nur sein Fernseher war noch eingeschaltet.
Spät am vergangenen Abend hatte Vic Greene seinen Mandanten wieder besucht, um ihm mitzuteilen, was geschehen war. Nun, David hatte von diesen Leuten nichts anderes erwartet; er hatte jedoch gehofft, dass seine Hinrichtung ihnen zuvorkommen würde. Er schloss die Augen, um sich auf Bobs Worte zu konzentrieren. »Sie wird dort sein, David. Sie wird auf der anderen Seite auf dich warten. Da.« David nahm den Zettel, den Bob ihm durchs Gitter reichte. Es handelte sich um eine sorgfältig handgezeichnete, präzise Straßenkarte. David entdeckte den östlichen Lieferanteneingang und folgte mit den Blicken dem von dort ausgehenden Straßenverlauf, prägte sich alles genauestens ein. Schließlich blieb sein Blick auf dem X ruhen, das Jarvis eingezeichnet hatte. »Dort wird sie sein«, erklärte ihm Jarvis. »Es ist eine alte, ungepflasterte Straße, die zwischen Maisfeldern verläuft. Ungefähr acht Kilometer von hier.« Wenn du es bis dorthin schaffst. Diese Worte hingen unausgesprochen und drohend in der feucht-stickigen Luft. David betrachtete die Karte noch einmal sorgfältig, ehe er sie Jarvis zurückgab. Der Wärter stopfte sie hastig in eine Hosentasche. »Iss dein Frühstück morgen nicht. Ich hab gehört, dass sie ein Beruhigungsmittel daruntermischen wollen. Auch in deinen Kaffee. Also spül alles die Toilette 127
hinunter oder gib es an Winslow weiter, wenn du willst. Hauptsache du tust so, als hätte das Zeug gewirkt, und du wärst völlig apathisch.« Haines nickte stumm. »Ich habe mich freiwillig zu einer Doppelschicht bereit erklärt, damit ich dich zu diesem mobilen Labor hinunterbringen kann. Deine Handschellen lasse ich nicht einklicken - aber keine Bange, es wird so aussehen, als wären sie zu. Nur ich und der Neue, Tim Hibbins, sollen dich bewachen. Tim hat sich
einen Walkman gekauft. Ich sehe zu, dass er das Ding einschaltet. Gerry hat am Tor Dienst. Ich werde mein Bestes tun, dass du rauskommst und nicht gleich verfolgt wirst.« »Gott segne dich, Bob.« »Sieh du zu, dass du im Labor klaren Kopf behältst. Ich werde dir helfen, so gut ich es kann. Ich würde gern mehr für dich tun, aber ...« »Du hast sehr viel für mich getan.« »Was meinst du? Ob du es schaffst ...« Er blickte auf seine Stiefel. »Ob ich entkommen kann?« Jarvis nickte. »Ich werde es versuchen, und wenn ich dabei sterbe.« »Du brauchst es bloß zu sagen, dann sterbe ich mit dir.« »Deine Zeit wird kommen, aber noch ist nicht soweit. Du musst hier einige Dinge für mich tun, falls ich sterben sollte.« Jarvis nickte. »Es ist wohl das Beste, wenn du jetzt schläfst.« Er zögerte; dann fügte er verlegen hinzu: »Die ganze Zeit hab ich das Gefühl gehabt, dass ich deinen Segen brauche, aber nie ist mir der Gedanke gekommen, dass du mal meine Hilfe benötigen könntest. Gott segne dich, David.« »Danke, Bob. Ich bin dir sehr dankbar.«
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Auf seiner Pritsche ausgestreckt, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, lauschte Haines, wie Bobs Stiefelschritte sich auf dem Betonboden entfernten, als er seine Runde fortsetzte. Dann hörte er, wie die innere Tür des Trakts sich schloss. Das Neonlicht auf dem Gang fiel in seine Zelle. Hier war es nie wirklich dunkel. ,So musste die Hölle sein: nie richtig Tag, nie richtig Nacht, nur ein schrecklicher, ewiger Limbus. Haines' Blick schweifte über die Wände, die ihn drei Jahre lang festgehalten hatten. Er würde keine Spuren hinterlassen. Vor allem keine Briefe von seinen Jüngern. Er hatte ihre Schreiben sofort nach dem Lesen vernichtet. Ihr Inhalt war in seinem phänomenalen Gedächtnis gespeichert, wie auch jeder Buchstabe seiner Heiligen Schrift. Auch von ihm selbst existierte keine Zeile mehr: Er hatte seine Getreuen angewiesen, seine Briefe an sie zu vernichten. Nichts sollte zurückbleiben, das die anderen gefährden könnte. Vor allen Dingen nicht das Schließfach in Joliet. Und wenn er morgen Früh zum letzten Mal diese Zelle verließ, ließ er nichts darin zurück. Haines drehte sich um, ließ sich langsam auf den Boden hinuntergleiten. Mit gespreizten Armen und Beinen lag er da und drückte die Wangenknochen auf den Beton. Sein Verstand war wach und klar. Er lächelte spöttisch über sich selbst. Der Hochmut, eine der sieben Todsünden. Hier, im Gefängnis, war er allzu selbstzufrieden geworden, hatte sich eingebildet, dass seine Arbeit getan und ihm sein Platz im Himmel sicher sei. Er hatte zugelassen, dass er Trost darin fand. Doch Gott hatte seine Schwäche erkannt. Was waren denn seine bisherigen guten Werke verglichen mit jenen, die er noch zu tun hatte? Der Welt sein Blut verweigern. Das erwartete Gott von ihm. Er hatte mit dem Gedanken gespielt, Selbstmord zu begehen. Doch er wusste, es war nur Sirenengesang gewesen, der ihn von seinem Weg abbringen sollte. 129
Nein, kein Selbstmord. Er hatte noch viel Arbeit zu verrichten, bevor er diese Welt verlassen durfte. Gott war längst noch nicht fertig mit ihm. Der Welt sein Blut zu verweigern war bloß der erste Schritt. Wenn es Gottes Wille war, würde er aus diesem Kerker entkommen, um mit Hilfe seiner Jünger seine Seelsorge fortzusetzen und Gottes Gerechtigkeit aufs Neue durchs Land zu tragen. »Haines hat ihn angewiesen, Banji zu töten. Die Briefe lassen keine Zweifel offen. Wann, wo, wie. Der ganze Plan ist vorhanden.«
Es war fünf Uhr fünfzehn, und Kevin hatte Hugh Carter zu Hause erreicht. Stunden zuvor, nach Will Andrews' Verhaftung in der Tiefgarage, hatte er sich in sein Hotelzimmer zurückgezogen und bedächtig jeden der von Haines in die Bibel genähten Briefe gelesen. Jetzt fühlte er sich fiebrig, während er erregt im Zimmer auf und ab ging. »Ich verstehe das nicht.« Carters Stimme war noch schlaftrunken. »Wie, zum Teufel, konnten solche Briefe durch die Anstaltszensur gelangen?« »Das sind sie nicht. Sie gingen überhaupt nicht durch die Zensur.« »Wie sind sie dann rausgekommen?« »Jemand aus dem Knast muss sie für Haines abgeschickt haben. Und dieser Jemand hat für ihn auch ein Postfach in Joliet gemietet.« »Für die ganzen drei Jahre?« »Nein, die ersten Briefe gingen durchs Anstaltssystem. Haines war sehr raffiniert, was seine Formulierungen angeht. Er lässt sich ausführlich über die Macht des Gebets aus, über geistige Reinheit und ähnliches frommes Zeug. Es gab nichts, das die Zensoren hätten streichen müssen - Freiheit der Rede. Keine Gefahr für die Sicherheit im Knast, nichts 130
Illegales. Doch seit ungefähr achtzehn Monaten tragen die Briefe keine Gefängnisstempel mehr. Im ersten Brief fordert er Andrews auf, seine Schreiben nicht mehr ans Staatsgefängnis Illinois zu adressieren, sondern an seine neue Schließfachadresse in Joliet. Von da an ändern seine Briefe sich drastisch.« Es waren Seiten um Seiten über das Übel der modernen Medizin und das heilige Gebot, Ärzte zu töten; alles mit verquerer Logik dargelegt. Kevin war mit Haines' verzerrter Theologie vertraut, trotzdem konnte auch er sich der ekstatischen, beinahe hypnotischen Verführung seiner Worte nur schwer entziehen. Nachdem er den letzten Brief gelesen hatte, stand er auf. Ohne Vorwarnung verkrampfte sein
Magen sich heftig, und er schaffte es gerade noch rechtzeitig zur Toilette. Er hätte wissen sollen, dass Haines derartige Episteln schreiben und sich wie ein wahnsinniger Prophet geben würde. Er war ein Prediger, dem seine Jünger folgten. Anstaltsmauern konnten nichts daran ändern; sie würden ihn nur zum Märtyrer machen. Vor Jahren, noch ehe er zum Mörder geworden war und als er noch einer Sekte angehörte, die sich »New Apostles« nannte, hatte Haines mehrere Briefe an seinen Bruder Rick geschrieben und seine Meinung über das Beten, die Wissenschaft und die Medizin dargelegt. Als David später die Morde an den Ärzten beging, hatte Rick diese Briefe widerstrebend dem FBI übergeben und seiner Sorge Ausdruck verliehen, sein eigener Bruder könnte der Killer sein. Es hatte dem Fall die entscheidende Wende gebracht. Ein Briefeschreiber. Das hast du gewusst, dachte Kevin voll Schuldbewusstsein. Sofort nach Davids Verhaftung hätte er eine Verfügung erwirken müssen, dass Haines' sämtliche Post registriert und kopiert wurde. 131
»Sie haben sich Andrews vorgenommen?«, fragte Carter. »Er ist vorerst in der Zelle des FBI-Büros Detroit.« »Gute Arbeit, Kevin. Ich muss gestehen, dass ich geglaubt habe, Sie wären auf der falschen Fährte. Miceli wird ganz schön dumm dastehen. Es ist geraume Zeit her, seit ich erlebt habe, dass Sie sich so sehr in einen Fall verbeißen.« Das soll wohl heißen, dass ich die letzten drei Jahre gepennt habe, dachte Kevin trocken. »Sie haben den zweiten Arztkiller eingesackt, Kevin. Ich kann's kaum glauben.« Kevin war bestürzt. »Hugh, das ist noch nicht zu Ende.« Hugh entgegnete amüsiert: »Sie wollen, dass Haines auch noch wegen Anstiftung zum Mord verurteilt wird? In vier Tagen wird er hingerichtet. Er wird keine Briefe mehr schreiben.« »Das meine ich nicht.« »Ich weiß, ich weiß. Sie wollen seinen Komplizen hinter Gittern sehen.« »Ich brauche eine richterliche Genehmigung, um herauszufinden, wer dieses Schließfach angemietet hat. Ich nehme an, es war einer der Wärter.« »Den erwischen wir. Und dann ist er wegen Beihilfe dran. Kein Problem.« »Und ich möchte dieses Schließfach überwachen, um festzustellen, was noch an Post hereinkommt.« Am anderen Ende der Leitung setzte ein kurzes, bestürztes Schweigen ein. »Großer Gott«, sagte Hugh dann, »das meinen Sie doch nicht wirklich! « »Haines könnte noch an andere Leute geschrieben haben.« »Könnte, Kevin. Könnte. Weist irgendetwas in den Briefen darauf hin?« »Nicht direkt, aber ... es ist der Tonfall. Wie können wir sicher sein, dass er nicht vor unserer Nase im Gefängnis eine neue Sekte ins Leben gerufen hat, Hugh? Es laufen möglicherweise noch weitere, von ihm 132
beeinflusste Killer herum, die es auf Ärzte abgesehen haben. Ich komme mit dem ersten Flug zurück.«
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Am Stadtrand von Joliet hatte Laura den ersten Blick auf das Gefängnis. Mit den gewaltigen Außenmauern sah das berühmt-berüchtigte Gebäude wie eine bedrohliche Version von Camelot aus. Eine scheußliche Nacht lag hinter ihr. Das bisschen Schlaf, das ihr vergönnt gewesen war, hatte bizarre Träume von häuslichen Widerwärtigkeiten - eine Dusche, aus der nur eiskaltes Wasser kam, ein defekter Toaster und ein Lift mit seltsamem Eigenleben - in wirre Albträume ausarten lassen. Um fünf Uhr hatte sie sich schließlich völlig erschöpft aus ihren feuchten, zerknüllten Decken befreit und war nicht im Stande 133
gewesen, an ein Frühstück auch nur zu denken. Sie hatte sich zwar Kaffee aufgebrüht, aber nur, damit sie ihre fünfundzwanzig Milligramm Phenmetrizine hinunterspülen konnte. Sie hatte es rationiert, genau wie sie es sich vorgenommen hatte, und ihre tägliche Ration um fünf Milligramm verringert. Aber heute Morgen hatte sie sich für den bevorstehenden Anlass ein bisschen mehr gegönnt. Als das Mobillab von der Interstate abbog, spürte sie die erste eisige Angst im Magen. In der Aufregung und Eile der vergangenen Tage war sie nicht dazu gekommen, sich das bevorstehende Ereignis durch den Kopf gehen zu lassen - einem Serienmörder gegenüberzustehen und ihm Blut abzunehmen. Und sie war Ärztin, also einer jener Menschen, auf die sich Haines' Mordlust konzentriert hatte. Plötzlich fröstelte sie. Wahrscheinlich hatte sie sogar auf seiner Todesliste gestanden
und verdankte ihr Überleben nur der Tatsache, dass sie damals nicht in Illinois und Michigan, sondern an der Ostküste gewesen war. Offenbar hatte nur Haines' Verhaftung sie vor dem Schlimmsten bewahrt. Der Gedanke, dass er über sie Bescheid wusste, war jedoch schlimm genug. Um sich zu beruhigen, blickte sie zu den zwei bewaffneten Wächtern hinüber, Joseph und Allan. Paul hatte darauf beharrt, dass die beiden sie zum Gefängnis begleiteten. Allan, der am Steuer des Wagens saß, war der Chef des Sicherheitsdienstes von MetaSYS und seit fünfzehn Jahren in diesem Job tätig. Laura mochte seine sichere und vorsichtige Fahrweise und seine freundliche Art. Er war um die vierzig, ein Mann mit offenem Gesicht, das von Falten und einiger Lebenserfahrung gezeichnet war. Sie stellte sich ihn als betulichen Familienvater vor. Viele Kinder. Kleines 134
Häuschen mit Garten, in dem sich ein aufblasbares Schwimmbecken und eine schiefe Schaukel befanden. Er war ihr sympathischer als Joseph, der fünfzehn Jahre jünger war und einen irgendwie aufdringlichen, unehrlichen Charme hatte. Sie konnte sich ihn mit Cowboyhut und einer großen silbrigen Gürtelschnalle beim Linedancing vorstellen. »Die Jungs werden gut auf Sie aufpassen«, hatte Paul ihr versichert, ehe sie sich auf den Weg gemacht hatten. Aber das würde natürlich nicht nötig sein. Laura hatte den Direktor gebeten, eine starke Dosis Beruhigungsmittel in Haines' Frühstück mischen zu lassen, um zu vermeiden, dass noch einmal passierte, was er Finlay angetan hatte, als der ihm Blut abnehmen wollte. Und selbst wenn das Beruhigungsmittel zu schwach war - der Psychopath würde bei der Blutabnahme mit so vielen Gurten auf den Behandlungstisch geschnallt sein, dass nicht einmal Houdini sich schnell genug hätte befreien können. Trotzdem ließen diese beruhigenden Gedanken das ungute Gefühl in ihrer Magengegend nicht schwinden. Herrgott, es ist doch keine große Sache!, rügte sie sich. Du ziehst zwei Einheiten Blut auf, machst zwei Knochenmarkentnahmen, und dann siehst du zu, dass du so schnell wie möglich da rauskommst. Hoffentlich genügten die Mengen. Wenn man Haines erst vom Leben zum Tode befördert hatte, gab es keine weiteren Proben mehr von ihm, und keine zweite Chance mehr für sie. Sie befanden sich jetzt auf einer Zufahrtsstraße parallel zur zehn Meter hohen, mit Stacheldrahtrollen bewehrten Mauer. Ein Blick zu einem der Wachtürme zeigte Laura den Schatten eines Postens hinter dem Rauchglas. Sie stieß einen tiefen Atemzug aus. »Gleich ist es soweit.« Allen bog ab und hielt vor dem Scherengittertor. Er ließ das Seitenfenster herunter, um sich an den Wächter im Wachhaus zu wenden. »Wir sind Dr. Donaldsons Team.« 135
»Einen Moment bitte, ich muss Sie beim Direktor melden.« Es dauerte nicht lange; sie wurden bereits erwartet. »Fahren Sie geradeaus zur Frachtrampe zwei. Sie bringen ihn sofort runter.« Er drückte auf einen Schalter, und mit einem Ruck rollte das Tor langsam zurück. Das Mobillabor fuhr auf den Hof. Vier Rampen mit geschlossenen Metalltüren führten aus dem Flügel. Ihr Wagen war momentan der einzige. Die Anlieferungen begannen um acht Uhr, hatte man Laura erklärt; bis dahin sollte sie fertig sein. Das Asphaltpflaster schimmerte bereits in der Hitze. Beim Wetterbericht im Radio hatte man für den heutigen Tag Temperaturen bis zu neununddreißig Grad vorhergesagt. Laura war froh, dass sie eine Klimaanlage hatten. Allan fuhr neben die Laderampe, stellte den Motor ab und legte die Schlüssel aufs Armaturenbrett. Laura öffnete hastig den Sicherheitsgurt und ging zur hinteren Wagentür. Das Mobillabor war ein umgewandelter GulfstreamWohnwagen. Alles, was sich hinter der Fahrerkabine befand, war mit den neuesten und besten medizinischen Geräten ausgestattet. Die Küchenschränke, Sitzbänke und Kojen waren durch Edelstahlschränke, Kühleinheiten, eine Anästhesiekonsole und Regale mit elektronischen Diagnose- und Überwachungsgeräten ersetzt worden. Statt des Teppichbodens gab es weiße Keramikfliesen; die Fenster hatte man entfernt, und der gesamte Innenraum war mit Belüftungen versehen und schalldicht isoliert. In der Mitte befand sich ein voll verstellbarer Operationstisch mit schwenkbaren, schattenfreien Operationsleuchten an der Decke darüber. Laura wusste, dass hier jeder nur denkbare chirurgische Eingriff vorgenommen werden konnte, von einfachen Wundnähten bis zur Entfernung der Milz. Aber was sie heute brauchte, war bei weitem nicht so anspruchsvoll. Auf ihren Wunsch war der Tisch allerdings mit festen Ledergurten ausgestattet worden. 136
»Alles in Ordnung?«, erkundigte Allen sich. »Bestens«, versicherte sie ihm. »Ich warte draußen bei der Rampe auf Sie.« Er öffnete die Seitentür, und sogleich drang ein Schwall heißer Luft ins Innere. Allen stieg hinunter auf den schimmernden Asphalt und schloss die Tür hinter sich. Joseph blieb im Wagen und schaute sich im Labor um. Er streckte sich und ließ seine Bizepse spielen. Laura fragte sich, ob er ihr damit imponieren wollte. »Ich nehm an, hier drin darf man nicht rauchen oder?« Laura verzog die Lippen zu einem schmalen Lächeln. Vielleicht war ja auch er nervös. Sie hoffte nur, dass er nicht ständig redete. Sie wollte keine Ablenkung. Um ihm zu zeigen, dass sie nun keine Störungen mehr wünschte, bereitete sie methodisch ihre Instrumente vor. Tupfer, einen Katheter, Schläuche, zwei Blutbeutel, eine Knochenmarknadel und eine Auswahl an sterilen Phiolen für die Proben, die sie entnehmen würde. Aus einem Schränkchen holte sie eine Ampulle mit einprozentigem Xylocaine - das war alles, was sie
an Anästhesiemitteln benötigte. Sie rollte den Infusionsgeräteständer zum Kopfende des OP-Tisches und befestigte den ersten Blutbeutel am Haken, nachdem sie ihn sorgsam beschriftet hatte. »Ich erinnere mich an den Kerl«, sagte Joseph, »hat's sogar bis auf die Titelseite von Time gebracht, wissen Sie noch? Ich hab mir den Artikel aufgehoben. Ich interessier mich für so was.« »Tatsächlich?« Laura sagte sich, dass es keine Rolle spielte, ob sie Joseph mochte oder nicht, solange er seine Arbeit tat, die nicht einfach war. Paul hatte ihr versichert, dass beide Männer erfahren, tüchtig und erstklassige Schützen waren. Laura sah flüchtig Josephs Holster. Unwillkürlich fragte sie sich, wie oft er in Ausübung seiner Pflicht die Waffe gezogen hatte. Vermutlich öfter, als nötig gewesen war. 137
Während Joseph von anderen Serienmördern erzählte, deren »Karriere« er verfolgt hatte, kauerte Laura sich nieder, um den Kühlbehälter mit dem Flüssignitrogen zu überprüfen. Ihr Gesicht spiegelte sich auf dem glänzenden Edelstahl, und hastig wandte sie den Blick ab. Sie hatte auch so gewusst, dass die Ringe um ihre Augen dunkler waren als sonst und ihre Haut fahl vor Erschöpfung. Sie öffnete den Deckel der Kühltruhe. Angenehm kalte Luft drang heraus. In dieser Truhe würde Platz genug für ihre Proben sein. Sie legte den Deckel wieder auf und erhob sich. Einen flüchtigen Moment war ihr ein wenig schwindelig; rasch klammerte sie sich an den kalten Edelstahlbehälter. Trotz der Klimaanlage brach ihr wieder der Schweiß aus allen Poren, und sie wünschte sich frische Luft - eine angenehme Meeresbrise, wie in ihrer Kindheit. Sie atmete tief ein und zuckte zusammen, als die Seitentür aufschwang und Allen zu ihr hochblickte. »Sie kommen«, sagte er. Das Rampentor glitt mit beinahe unerträglicher Langsamkeit nach oben und gab zuerst den Blick auf Beine, dann auf Körper und schließlich auf die Köpfe frei. Von zwei Wärtern flankiert, schlurfte David Haines die Rampe hinunter. Er trug Handschellen und hatte den Kopf gesenkt. Allan ging ihm voraus ins Labor. Die beiden Anstaltswärter folgten ihm dichtauf und hielten die Hände um die Ellbogen des Sträflings. Laura war nicht darauf vorbereitet, wie attraktiv Haines war. Sie kannte nur Pressefotos von ihm, die jedoch häufig unscharf waren und ihn meist aus einiger Entfernung gezeigt hatten, das Gesicht halb abgewandt. Jetzt sah sie seine fein geschnittenen Züge und die großen, wachsam blickenden braunen Augen, die sie für mitfühlend gehalten hätte, hätte sie nicht gewusst, wer und was sich hinter diesem einnehmenden Äußeren verbarg. Seine Hände, wie sie bemerkte, waren die eines Chirurgen; die Finger waren lang und geschmeidig. Selbst in seinem kurzärmeligen 138
Anstaltskittel wäre es nicht schwer gefallen, sich ihn als ganz anderen Menschen mit einem ganz anderen Leben vorzustellen, einer anderen Identität. Laura hatte den verrückten Wunsch, Haines möge so abstoßend aussehen, wie seine Verbrechen waren. »Ihnen ist klar«, sagte einer der Wärter, »dass Sie von nun an für ihn verantwortlich sind, bis er den Wagen verlässt?« Allan nickte. »Ja«, entgegnete er nur. Der Wärter händigte ihm einen Schlüsselring aus, den Allan sofort in seine Hosentasche schob. »Die sind für seine Hand- und Fußschellen. Wir würden Ihnen empfehlen, sie ihm nicht abzunehmen.« »Ist gut. Gurten wir ihn an«, sagte Allan. Gemeinsam brachten die vier Wächter Haines zum Operationstisch und machten sich daran, ihn festzuschnallen. Sie zogen die Gurte straff, je einen über den Oberkörper, die Oberschenkel, die Waden. Weitere Lederriemen hielten seine Ober- und Unterarme fest. Während der gesamten Prozedur
verhielt Haines sich stumm und ließ alles widerstandslos über sich ergehen. »Um Himmels willen«, rief Allan plötzlich verärgert, »was ist denn das für ein fauler Zauber?« Laura blickte erschrocken auf und sah, dass Allan die weit geöffneten Handschellen Haines' hielt. »Nur gut, dass ich die Dinger überprüft habe. Was habt ihr da für einen Scheiß gebaut?«, fuhr er die Wärter an. Einer von ihnen, ein drahtiger Bursche Mitte vierzig mit scharf geschnittenem Gesicht, schüttelte ungläubig den Kopf. Er war plötzlich sehr bleich. »Das verstehe ich nicht. Tut mir Leid, ich war ganz sicher, dass die Handschellen fest zu waren. Der Bursche war so benommen, dass er mir davongetorkelt ist.« Laura sah, wie Allan die Handschellen schloss und überprüfte; dann checkte er Haines' Fußschellen. Sie waren fest. 139
»Wir warten vor dem Rampentor«, sagte der Wärter. »Wenn der Bursche Schwierigkeiten macht, rufen Sie.« »In Ordnung«, brummte Allan. »Danke.« Die Anstaltswärter verließen das Mobillab. Allan schloss die Tür hinter ihnen und schob den Riegel vor. Für einen Augenblick war das leise Summen der Klimaanlage das einzige Geräusch. »Machen Sie sich keine Sorgen«, wandte Allan sich an Laura. »Er ist fest verschnürt.« »Danke.« Sie trat ans Kopfende des Tisches und zwang sich, David Haines in die Augen zu schauen. »Ich bin Dr. Donaldson.« Sie war überrascht, wie trocken ihr Mund war. »Ich weiß. Man hat mir von Ihnen erzählt.« Laura nahm eine rasche Analyse seiner Stimme vor: Sie klang neutral, ohne eine Spur von Feindseligkeit. Das ermutigte sie. »Dann wissen Sie auch, was ich tun werde?«
»Ja.« Auf der Herfahrt von Chicago hatte sie versucht, sich über Haines' mögliches Verhalten ihr gegenüber klar zu werden. Sie wusste von seinem Tobsuchtsanfall, als ihm das letzte Mal Blut abgenommen worden war. Er würde wahrscheinlich auch sie mit wüsten Beschimpfungen und Schmähungen überschütten. Sie hatte auch darüber nachgedacht, wie sie sich Haines gegenüber verhalten sollte, und hatte sich für die erprobte berufliche Unvoreingenommenheit entschieden. Sie würde kein Wort mehr mit ihm reden, als unbedingt erforderlich war, und sich nicht weiter mit ihm befassen, als unbedingt sein musste. Auf keinen Fall würde sie sich auf Diskussionen mit ihm einlassen; das hatte sie sich fest vorgenommen. Sie war schließlich nicht hier, um ein Streitgespräch zu führen. Sie wollte nur eins: Blut aus seinen Adern und 140
genügend Knochenmark. Dann endlich konnte sie überprüfen, ob es sich lediglich um eine neuerliche Fußnote in den Annalen der Krebsforschung handelte oder um eine triumphale Schlagzeile. Forsch sagte sie: »Wir beginnen mit der üblichen Blutprobe und heben uns die Entnahme des Knochenmarks für zuletzt auf. Ist Ihnen das recht?« Sie langte bereits nach dem sterilen Tupfer und war dankbar für die kleinen Handgriffe, bei denen sie ihm nicht in die Augen sehen musste. »Sie glauben, dass Sie den Menschen helfen.« Seine Stimme klang nicht anklagend, sondern zutiefst erstaunt. Laura schwieg, wischte mit dem alkoholfeuchten Tupfer über Haines' Vene. Unwillkürlich spannten sich die Muskeln seines Unterarms. Laura zog die Aderpresse um seinen Bizeps enger. »Bitte machen Sie eine Faust.« »Aber es sind Leute wie Sie, die Krankheiten verbreiten.« Seltsamerweise fühlte sie sich durch seine Worte nicht im Geringsten beunruhigt. Im Gegenteil. Wenn er so obskures Zeug von sich gab, fiel es ihr wesentlich leichter, ihn als Versuchsobjekt zu betrachten - und als Verrückten. Laura stach die Hohlnadel in seine Vene und klebte sie mit einem Pflaster fest. Dann befestigte sie das Probenröhrchen daran und öffnete die Aderpresse. Sie beobachtete, wie sein Blut floss und langsam hinauf zum Vakuumbeutel strömte. Mit heimlichem Staunen, ja Ehrfurcht dachte sie daran, was dieses Blut enthalten mochte. Vielleicht ein magisches Elixier wie aus einem Märchen. Merkwürdig, dass es in einem solch profanen Gefäß untergebracht war. Haines beobachtete sie. Laura hatte die Erfahrung gemacht, dass Männer mit braunen Augen weicher, verwundbarer waren als andere. David Haines' Augen jedoch waren durchdringend. Es waren keine Raubvogelaugen - Laura wusste, dass sie für ihn kein Objekt der Begierde war -, sondern etwas viel Beunruhigenderes, Abstraktes. Er sah sie gar nicht als 141
Frau, sondern als Sinnbild, als Dienerin Satans. Laura wandte den Blick ab. »Ich werde Ihnen zwei Einheiten abnehmen. Bei jeder wird es genau eine halbe Stunde dauern.« Sie wünschte sich, ihm mehr entnehmen zu dürfen, doch fünfhundert Kubikzentimeter war das Maximum, die ethische Grenze. Sie warf einen heimlichen Blick auf Allan und Joseph. Beide standen wachsam da, in geübter Haltung, jeder an einem Ende des Labors, die Hände auf den Hüften, das Gewicht gleichmäßig auf beide Beine verteilt. Sie ließen keinen Blick von Haines. Laura ging zu einem kleinen Kühlschrank und nahm eine Dose Fruchtsaft heraus. Sie zog die Öffnung auf und steckte einen Trinkhalm hinein. »Trinken Sie das bitte«, sagte sie zu Haines. »Es verhindert, dass Sie austrocknen.« Sie knickte den Halm, dass er ihn in den Mund nehmen konnte, und er nahm ihn. Laura wertete dies als gutes Zeichen, vielleicht sogar als Symbol der Unterwerfung oder zumindest als kleine versöhnliche Geste. Aber er nahm nur einen winzigen Schluck, ehe er den Kopf zurückzog. »Sie haben Angst, mit mir zu reden, nicht wahr? Mit einem Mann, der an einen Tisch gefesselt und zur Hinrichtung verdammt ist. Angst vor dem, was Sie hören könnten?« »Ich habe keine Angst, mit Ihnen zu reden.« Sie blickte zu dem Vakuumbeutel über seinem Kopf und wünschte, er würde sich schneller füllen. Vielleicht hätte sie gar nichts sagen sollen. Sie wusste, dass sie jede Unterhaltung mit ihm vermeiden sollte, und er tat sein Bestes, sie in ein Gespräch zu verwickeln. Lauras Blick huschte zu Allan, doch dessen Miene war völlig ausdruckslos. »Unwissenheit ist nur Sünde, wenn man nichts dagegen unternimmt«, sagte Haines. 142
Seine offen zur Schau gestellte Selbstgerechtigkeit ärgerte Laura. Seine Worte deuteten an, dass er sie für eine gedankenlose, irregeleitete Ignorantin hielt. »Jeder sollte danach streben, Wissen zu erwerben, da pflichte ich Ihnen bei«, entgegnete sie, ehe sie sich zurückhalten konnte. Verdammt! Warum konnte sie ihn nicht einfach wie Luft behandeln? Genau darüber hatte sie sich Sorgen gemacht! Doch es war ihr schon immer schwer gefallen, den Mund zu halten. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie stellte die Fruchtsaftdose in die Instrumentenschale; Haines schien keinen Saft mehr zu wollen. »Da haben Sie völlig Recht«, sagte er. Es hörte sich an, als mache er sich Sorgen um sie. »Dann müssten Sie aber auch wissen, dass Beten die einzige wirkliche Heilung bietet.« »Viele Atheisten haben die Grippe überstanden, habe ich mir vor kurzem sagen lassen.« Es kam schnippischer heraus, als sie beabsichtigt hatte, doch der plötzliche Ärger war stärker als ihr Bedauern. Und warum sollte sie Angst vor dem Kerl haben? Warum sollte sie sich zurückhalten? Er war auf den Tisch gegurtet und wurde von zwei Wärtern im Auge behalten, von denen zumindest einer nichts lieber täte, als diesen Serienkiller abzuservieren. Und in einer Stunde würde er wieder in der Todeszelle sitzen und auf den unerbittlich näher rückenden Termin seiner Hinrichtung warten. Laura hatte ihr Leben dem Kampf gegen den Krebs gewidmet, und sie wollte sich nicht von einem offenbar geistesgestörten Mörder einschüchtern lassen. Sie würde nicht höflichkeitshalber so tun, als dächte sie über seine Ansichten nach; und es konnte ihr auch völlig gleichgültig sein, sollte er ihr Schweigen fälschlicherweise für Zustimmung auslegen oder, schlimmer noch, als Eingeständnis ihrer Niederlage. Wenn er einen psychotischen Wutanfall bekam - na und? Sein Blut würde trotzdem aus seinen Adern in ihre Probebehälter fließen. 143
Doch statt aufzubrausen, schien Haines völlig ungerührt zu bleiben. Er lächelte Laura freundlich an. »Früher war ich wie Sie. Ich glaubte an die moderne Medizin. Aber vielleicht haben Sie sich nicht auf dem Laufenden gehalten. Tuberkulose, Lungenentzündung und Meningitis sind wieder auf dem Vormarsch. Die Mutation von Bakterien ist so weit fortgeschritten, dass selbst die sonst so wirksamen Antibiotika machtlos sind. Ebola, Marburg-Viren und die vielen anderen lautlosen Killer. Plagen Sie sich noch so sehr, neue Heilmittel zu entwickeln - die Bakterien sind in der Überzahl, und Sie verlieren die Schlacht. Selbst wenn Sie ein neues Antibiotikum entwickeln, ist es zu spät, denn in Indien oder sonst wo ist man bereits resistent dagegen, und es genügt eine einzige Person in einem Flugzeug, die Seuche über die Ozeane zu verbreiten. So will Gott uns sagen, dass wir uns zu lange seinem Willen widersetzt haben.« Laura hatte natürlich längst die unterschiedlichsten Versionen dieses Gelabers gehört. Die Misserfolge der modernen
Medizin. Es füllte ganze Zeitschriftenbibliotheken und war ein publikumswirksamer Aufhänger im Fernsehen. Sie selbst hatte bereits unzählige Diskussionen darüber geführt, denn es war ein Thema, über das sie ihre eigene, deutliche Meinung hatte. »Sie meinen, die moderne Medizin hat versagt?« »Nicht versagt. Sie war von vornherein nicht dazu bestimmt, ihre Grenzen zu überschreiten.« Es war nicht zu glauben, dass er zwei Jahre Medizin studiert hatte. Wie konnte jemand mit einem solchen Background einem Groschenblattglauben anhängen? »Nun, es gibt tatsächlich Studien über das Beten«, sagte Laura, »und ich habe sie mit großem Interesse gelesen. Es gibt allerdings nicht den geringsten wissenschaftlichen Beweis dafür, dass Gebete irgendwelche Heilerfolge bewirken.« 144
»Ich bin ein Beweis. Ich werde nicht mehr krank, schon lange nicht mehr.« »Ich habe bösartige Tumoren in Ihrem Blut gesehen. Sie haben lediglich ein phänomenales Immunsystem.« »Gott belohnt die wirklich Gläubigen. Die anderen sollen für ihre Sünden sterben.« »Ein zweijähriges Mädchen mit einem Augentumor was ist ihre Sünde?« Haines blickte sie gleichmütig an. »Ihre Art von Sentimentalität, werte Dr. Donaldson, ist inzwischen weit verbreitet. Wir alle sind Sünder, doch unser von Rührseligkeit bestimmtes Zeitalter versucht diese Tatsache zu leugnen. Alle fürchten den Tod, doch der Tod ist nicht das Schlimmste, das einem zustoßen kann.« Lauras Herz pochte heftig vor Ärger, als sie sich mit weichen Knien von ihm abwandte. Sie wollte nicht mehr reden. Es war ein Fehler gewesen, eine Torheit, eine krasse Selbstüberschätzung, die sie nun bedauerte. Wie hatte sie so dumm sein können, aus Zeitschriften zu zitieren, um Haines zu widerlegen! Sie markierte den zweiten Blutbeutel, während sie versuchte, das Zittern ihrer Hand zu unterdrücken. »Sie bilden sich ein, in meinem Körper etwas zu finden, mit dem Sie Wunderheilungen bewirken können? Wissen Sie denn nicht, dass Gott nicht der Einzige ist, der auf dieser Erde Wunder wirkt? Ist Ihnen nie in den Sinn gekommen, dass Sie mit meinem Blut einen Pakt mit dem Teufel eingehen? Möge Gott Ihrer Seele gnädig sein, wenn Sie versuchen, Ihr Teufelswerk weiterzuführen.« Sie blickte ihn an. »Genau das werde ich tun.« In seinen Augen lag Wehmut. »Dann wäre es besser, Sie wären nie geboren.« Sie nahm den zweiten Beutel mit Haines' Blut vom Ständer und verstaute ihn im Kühlbehälter, wie schon 145
den ersten. Danach nahm sie die Knochenmarknadel aus einer sterilen Packung und zeigte sie Haines. »Sie wissen, was das ist, nicht wahr?« Die Nadel war hohl, etwa zehn Zentimeter lang und so dick wie eine Kugelschreibermine. Oben befand sich ein Hebel, der es ermöglichte, die Kraft beider Hände einzusetzen. Haines schwieg. »Ich werde sie in Ihr Hüftbein stechen, an zwei verschiedenen Stellen, bis sie auf Mark stößt. Das wird wehtun. Sind Sie allergisch gegen irgendwelche Medikamente?« Haines rümpfte nur abfällig die Nase. In ihren Jahren als Krankenhausärztin hatte Laura große Erfahrung mit der Entnahme von Stammzellen aus dem Mark gewonnen. Wie die meisten Anfänger hatte sie zunächst Angst gehabt, dem Patienten Schmerz zuzufügen, Angst, die Nadel könne vom Knochen in das nicht anästhesierte Fleisch abrutschen. Doch bald hatte sie gelernt, dass man die Nadel nur mit ganzer Kraft in den Knochen hineinzustechen brauchte,
bis man fühlte, dass es leichter ging und die Spitze ins Mark gedrungen war. Sie hatte festgestellt, dass sie sich besser konzentrieren konnte, wenn sie die Augen schloss, sobald die Nadel durch den Knochen drang; außerdem sah sie dann den Schmerz des Patienten nicht. Nach ihrer Erfahrung waren häufig jene Kinder die tapfersten, die sich schon früh an Schmerz und Demütigung gewöhnt hatten und für die ein solcher Eingriff lediglich eine weitere schmerzhafte Prozedur war, die sie durchstehen mussten. Anfangs hatte Laura um diese Kinder geweint und das Gesicht abgewandt, damit sie ihre Augen nicht sehen konnten, wenn die Nadel in ihre Hüfte gebohrt wurde. 146
»Ich werde eine örtliche Betäubung bei Ihnen anwenden - außer Sie sind dagegen.« Wieder schwieg Haines. Das war ihr auch lieber. »Zuerst drehen wir Sie auf die Seite.« Sie nickte Allan und Joseph zu, die an den Tisch traten und einige von Haines' Gurten methodisch zu lockern begannen. Sie hatte den Männern gleich zu Anfang gesagt, dass dies notwendig sein würde. Die beiden Gurte um den rechten Arm mussten ganz entfernt werden, und der Brust- und Hüftgurt wurde gelockert. Haines half mit, indem er sich auf die linke Seite wälzte. Laura vermeinte in seinen Körperbewegungen eine gewisse Resignation zu erkennen. Der Blutverlust. Seine Widerstandskraft hatte sichtlich nachgelassen. Es war richtig gewesen, ihm zunächst das Blut und erst danach das Knochenmark zu entnehmen. Seine Augen hatten einen glasigen Glanz, und seine Lippen formten lautlose Gebete. Gut, wenn er sich ablenkte. Die beiden Sicherheitsleute zogen die Gurte wieder fest; dann traten sie zurück, beobachteten weiter. Mit einer sterilen Spritze injizierte Laura ihm fünf Kubikzentimeter Xylocain in die mit Alkohol abgetupfte Hüfte. »Ich werde für Sie beten, Doktor.« Gänsehaut bildete sich auf ihren Unterarmen. Die so ruhig gesprochenen Worte klangen wie ein Segensspruch, der allerdings mit einer tödlichen Drohung verbunden war. Sie stieß die Nadel in Haines' Hüfte und schob sie langsam tiefer, während das Anästhetikum zu wirken begann. In regelmäßigen Abständen zog sie die Nadel zurück, um sicherzugehen, dass sie keine Vene angestochen hatte. Wenn es so wäre, würde sie es sofort bemerken; dann zöge Blut in die Spritze ein. Zu viel Xylocain im Blut könnte zum Herzstillstand führen. Der Kolben erreichte den Grund, und sie zog die Nadel heraus. »Wir warten eine Minute, bis die Wirkung einsetzt.« Sie wandte sich von ihm ab, um die benutzte Nadel in die Schale zu legen. Den Schock auf Allans Gesicht bemerkte sie in dem Moment, als sie das Geräusch 147
hörte - ein erschreckendes Gurgeln, das aus Haines' Kehle drang. Sie wirbelte herum und sah, wie er sich in den Gurten wand. Sein Gesicht war tiefrot angelaufen und schweißüberzogen. Sofort fühlte Laura sich als besorgte Internistin in die Notaufnahme zurückversetzt. War das eine allergische Reaktion auf das Xylocain? Nein, das hatte es bisher so gut wie noch nie gegeben. Eigentlich konnte es nur die Trägersubstanz gewesen sein, das chemische Lösungsmittel, vermischt mit dem Anästhetikum. Sehr selten, aber wie man wusste, war es schon vorgekommen. Aus Haines' mahlenden Kiefern sickerten Speichel und Sputum in die Kissen und die Papierunterlage. Seine Kehle zog sich krampfartig zusammen. »Dreht ihn auf den Rücken!«, rief Laura. Sie sah, dass sowohl Allan wie Joseph zögerten. »Er erstickt!« Erst jetzt kamen die beiden mit vor Schock bleichen, erstarrten Gesichtern heran und lösten die Gurte. Laura rannte zu den Schränken und riss drei auf, ehe sie das
Wägelchen mit den Gegenständen für den Notfall fand. Verflucht! Wieso hatte sie nicht an eine solche Möglichkeit gedacht oder das Zeug zumindest bereitgestellt? Sie zerrte das Wägelchen zum Behandlungstisch. Ihr Blick huschte über die Gegenstände: Defibrillator, Spritzen, Ampullen mit Adrenalin und Epinephrin, Heftpflaster, ein Stablämpchen und die Intubationsausrüstung. Sie musste einen Schlauch durch den Kehlkopf in Haines' Luftröhre einführen, bevor diese sich völlig schloss. Haines lag nun auf dem Rücken. Seine Augen traten hervor, seine Kiefer arbeiteten verzweifelt daran, Luft die Kehle hinunterzuzwingen. Laura riss das zwanzig Zentimeter lange Plastikschläuchchen vom Wagen und führte die Leitsonde ein. »Helfen Sie mir, ihn still zu halten!« 148
Allan drückte eine seiner Prankenhände auf Haines' Stirn. Haines' Zähne waren im Krampf fest zusammengepresst; Laura musste sie mit den Händen aufstemmen, wobei sie zweimal gebissen wurde. Sie nahm die Stablampe in den Mund und richtete den Strahl auf Haines' Kehle. Er hustete und würgte so sehr, dass das Ausmaß der Schwellung schwer zu erkennen war, aber die Schleimhaut sah bedenklich entzündet aus. Ohne zu zögern zwängte Laura das biegsame Rohr durch die knirschenden Zähne und Haines' Luftröhre hinunter. Jetzt war nicht die Zeit für Behutsamkeit. Haines wehrte sich, bäumte sich auf, doch es gelang Laura, den Schlauch rechtzeitig an seinen Stimmbändern vorbeizuführen. Sie zog die Leitsonde heraus und überprüfte die Luftzufuhr. Gut! Doch als sie in Haines' Augen blickte, sah sie, dass sie unbewegt waren. Er fiel in Schock. Rasch klebte sie den Schlauch seitlich an seinen Mund und griff wieder nach dem Notfallwägelchen. Ihre Finger tasteten über die Ampullen, bis sie die Epinephrinspritze fand. Sie wünschte sich, sie hätte die Hohlnadel in seiner Ellenbeuge gelassen; dann wäre das Mittel schneller einzuführen gewesen. So aber blieb ihr nichts übrig, als es ihm intramuskulär zu spritzen. Sie überprüfte die Dosis, ein halber Milliliter und ... Plötzlich war die Spritze in seiner Hand. »He!« Haines' rechter Arm beschrieb einen kleinen, perfekten Bogen; dann schmetterte er die Nadel bis zum Anschlag in Allans Auge. Brüllend riss der Wächter verzweifelt an der Spritze und taumelte nach hinten. Blitzschnell griff Haines nach Allans Pistole und entsicherte die Waffe. Wieder sah Laura seine Augen. Nein, es waren nicht die Augen eines Menschen im anaphylaktischen Schock. Im Bruchteil einer Sekunde wurde Laura bewusst, dass er alles nur inszeniert hatte - eine bis ins Kleinste unfehlbare schauspielerische Leistung. Sein Atem kam in rauen, schnellen Stößen, grotesk verstärkt 149
durch den Plastikschlauch, der noch in seiner Kehle steckte. Dann blickte er Laura eindringlich an und richtete den Lauf der Pistole auf sie. »Los!« Sie spürte Josephs Hand auf ihrem Arm. Er riss sie zur Seite, damit er feuern konnte. Mehrere Schüsse dröhnten durch das Labor, noch bevor Laura auf den Boden prallte. Unter dem Behandlungstisch kauernd sah sie, dass Joseph abrupt auf den Hintern plumpste wie ein unbeholfenes Kleinkind. Die linke Seite seines Gesichts war verschwunden. Ein weiterer Schuss in die Brust schleuderte ihn auf den Rücken. Laura hatte das Gefühl, in Katalepsie verfallen zu sein. Sie hörte lediglich Haines' grässliches, pfeifendes Atmen über sich. Mit stumpfem Blick starrte sie auf die Blutlache, die sich um Joseph ausbreitete, eine unglaubliche Menge, wie ihr schien - bis ihr bewusst wurde, dass gar nicht alles Blut von Joseph stammte. Ihr Blick wanderte langsam, unerträglich langsam zu den Wandschränken. Kugeln hatten den kleinen Gefrierbehälter zerstört, und sie erkannte, dass es Haines' Blut war, das über den Boden rann und sich mit dem des Wächters vermischte. Alles war umsonst gewesen. Tiefe Bitterkeit und Bedauern überkamen sie. Ihr Versuch, Adrian zu überzeugen, der Termin bei Gericht, der ersehnte positive Bescheid - der ganze Aufwand für nichts. » Verdammt!« Das in grauenvollem Schmerz durch zusammengepresste Zähne geknirschte Wort riss sie aus ihren Gedanken. Es kam von Allan, der aufzustehen versuchte, eine Hand über der blutenden Wunde, die einst sein Auge gewesen war. Doch bevor er sich aufrichten konnte, traf ihn eine Kugel in den Bauch. Er kippte nach vorn, sackte zusammen. Nach einem langen, gequälten Stöhnen lag er ganz still. Laura überlegte, wie lange sie brauchen würde, um die rettende Tür zu erreichen, den Riegel zurückzuschieben und die Tür zu öffnen. Wie viele Schüsse hatte Haines abgefeuert, wie viele Kugeln 150
waren noch im Magazin? Doch sie kam nicht einmal dazu, zur Flucht anzusetzen. Haines' Hand fuhr unter den Behandlungstisch, und die Waffe richtete sich genau auf Lauras Gesicht. Seine Stimme krächzte hohl durch den Schlauch: »Machen Sie mich los!«
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Es war verrückt, grotesk, doch Laura glaubte noch immer, sie könne fliehen und Meilen entfernt sein, ehe eine Kugel sie traf. Ruhig kroch sie unter dem Tisch hervor und wandte sich Haines zu. »Mein Arm«, krächzte er durch den Intubationsschlauch. Die Pistole hielt er auf ihre Brust gerichtet. Sein linker Arm war immer noch mit Ledergurten an den Tisch gefesselt. Laura brauchte beide Hände, um die Gurte so weit zu lockern, dass die Schnallen sich öffnen ließen. Jetzt, da er beide Arme frei hatte, benutzte Haines den linken, um das Klebeband des 151
Intubationsschlauchs von seinem Mundwinkel zu lösen und den Schlauch rasch herauszuziehen. Er hustete, würgte jedoch nicht, und sowohl sein Blick sowie die Mündung der Pistole waren unverwandt auf Laura gerichtet. »Holen Sie die Schlüssel«, befahl er und deutete mit einem Kopfnicken auf Allans Leiche. Benommen fragte sich Laura, wo die Anstaltswärter geblieben waren. Hatten sie die Schüsse denn nicht gehört? So gut war die Schalldämpfung im Mobillabor doch auch nicht. Wieso brachen sie die Tür noch nicht auf? Sie beugte sich über Allan und schob die Hand in seine Hosentasche, die sich über seiner Hüfte noch warm anfühlte. Links sah sie Josephs Pistole nahe seiner Schulter liegen, nur wenige Schritte entfernt. Doch selbst wenn sie die Waffe schnell genug an sich reißen könnte - sie wusste nicht, wie man damit umging. Nie zuvor hatte sie eine Waffe in der Hand
gehabt. Deshalb war es sinnlos, auch nur an Gegenwehr zu denken. Haines würde sie abknallen, ehe sie überhaupt begriff, wie man den Abzug betätigte. Ihre Fingerspitzen schlossen sich um einen Schlüsselring, und sie zog ihn heraus. Haines hatte sich derweil selbst aus den Ledergurten befreit und schwang nun die Beine vom Tisch. »Öffnen Sie die Fußschellen«, wies er Laura an. Sie beugte sich über seine Knöchel und steckte den Schlüssel ins Schloss. Die Schelle sprang auf, und Haines schüttelte sie von den Füßen. Mit einem metallischen Klirren fiel sie auf den Boden. Laura machte ein paar Schritte rückwärts. Haines brauchte sie jetzt nicht mehr. Wenn er es richtig machte, würde sie wenigstens kaum etwas spüren, außer einer heftigen, betäubenden Erschütterung ihres Brustkorbs, um danach in ewiger Dunkelheit zu versinken. 152
»Nach vorn«, befahl er. »Sie fahren.« Keine Spur von Zögern, als hätte er alles genau geplant. Laura trat durch die Tür der Fahrerkabine und rutschte hinters Lenkrad. Instinktiv schnallte sie sich den Gurt um. Die Schlüssel steckten. Der Motor sprang sofort an. Erst jetzt glitt Haines auf den Beifahrersitz und richtete die Pistole auf Lauras Kopf. »Zum Tor«, knurrte er. Nie zuvor hatte Laura am Steuer eines so großen Wagens gesessen. Sie legte den Gang ein und fuhr langsam zum Tor. Sie sah, wie der Wächter in seinem Häuschen sie zuerst erstaunt, dann alarmiert anstarrte. Im Seitenspiegel bemerkte sie, dass die beiden Anstaltswärter schreiend und wild gestikulierend nebenher rannten. Als sie sich dem Tor näherten, streckte Haines plötzlich den Arm aus und riss das Lenkrad nach links. Beinahe wäre Laura gegen das Wächterhaus geprallt; um Haaresbreite rumpelte der schwere Gulfstream daran vorbei. Laura stieg auf die Bremse; dann zuckte sie erschrocken zusammen, als Haines aufsprang und ihr die Pistolenmündung an die Schläfe drückte. »Öffnen Sie das Tor!«, brüllte er dem fassungslosen Wächter zu. »Oder ich jage ihr eine Kugel in den Schädel! « Laura blickte unwillkürlich zu dem Wächter. Er war sehr jung, voller Panik und wusste offenbar nicht, was er tun sollte. Sie ertappte sich bei dem flehentlichen Gedanken: Nun mach das gottverdammte Tor schon auf! Tu's endlich! Sie begegnete dem Blick des Wächters und sah das Entsetzen auf seinem Gesicht, und zum ersten Mal spürte sie ihre eigene Angst, die seine Augen widerspiegelten. Sie schaute zur Seite, und ihr Herz schlug schmerzhaft. Ein wimmernder Laut drang tief aus ihrer Kehle. »Öffnen!«, brüllte Haines. Laura konnte einen der anderen Anstaltswärter sehen, den Mann mit dem scharf geschnittenen Gesicht. Er 153
stürmte in das Häuschen und flüsterte dem jungen Wächter eindringlich etwas zu. Der Torwächter nickte dankbar und drückte auf einen Kopf. Langsam glitt das Tor zur Seite. »Fahren Sie!«, fuhr Haines Laura an. »Na los!« Laura lenkte den Gulfstream durchs Tor; allmählich bekam sie das schwere Fahrzeug besser in den Griff. »Schneller!«, befahl Haines, trat mit seinem Fuß auf ihren und drückte aufs Gas. »So!« Der Gulfstream schlingerte über die verlassene Zufahrt. Die Tachonadel stieg auf fünfzig, sechzig, fünfundsiebzig. Haines zog den Fuß zurück und ließ sich seitlich auf den Sitz fallen. Die Pistole immer noch auf Laura gerichtet, warf er einen raschen, prüfenden Blick in den Außenspiegel an seiner Seite. Laura spähte kurz in den Innenspiegel in der Hoffnung, Polizeiwagen hätten die Verfolgung aufgenommen. Nichts. Sie werden kommen, sie werden kommen, wiederholte sie insgeheim wie ein Mantra, doch sie glaubte nicht wirklich daran. Und sie bezweifelte, dass Haines ihr Leben verschonen würde, unter welchen Umständen auch immer. »Wohin fahren wir?«, fragte sie. Sie empfand ein fast überwältigendes Bedürfnis zu reden, so, als peitschten die Amphetamine sie wieder auf. Reden, reden, reden! Alles, um die Angst zu überdecken, die sich in ihr ausbreitete. Weshalb hatte Haines sie noch nicht getötet? Er könnte ebenso gut selbst fahren. War es, weil er die paar Sekunden nicht vergeuden wollte, die es kosten würde, sie zu erschießen und ihre Leiche vom Fahrersitz zu zerren? Oder gab es einen anderen Grund. Brauchte er sie später noch? Verstohlen blickte Laura zu Haines hinüber, der dumpf auf die Straße starrte, als versuchte er krampfhaft, sich an irgendetwas zu erinnern. Sie bemerkte, dass er sich immer noch nicht angeschnallt hatte. Die Tachonadel 154
stieg auf neunzig. Laura holte tief Atem, biss die Zähne zusammen und stützte die Arme aufs Lenkrad. Dann stieg sie mit aller Kraft auf das Bremspedal. Der Sicherheitsgurt schnitt brennend in ihren Nacken und ins Fleisch über ihrer linken Brust. Ihr Kopf wurde so abrupt nach vorn gerissen, dass ihr der Atem stockte und sie nur noch einen purpurnen Schleier vor Augen sah. Nur zwei, drei Sekunden später war sie wieder bei sich, schnappte würgend nach Luft und warf einen Blick auf Haines. Er lag zusammengesackt mit dem Kopf auf dem Armaturenbrett, und die Pistole ... Laura entdeckte sie auf der Matte unter dem Handschuhfach. Benommen öffnete sie den Sicherheitsgurt und stemmte sich hoch, plagte sich durch die Verbindungstür zur nur knapp zwei Meter entfernten Haupttür, streckte die Hand nach dem Griff aus - und dann lag sie kopfüber ausgestreckt auf dem Boden und spürte Haines' Hand um ihren Knöchel. Verwünschungen ausstoßend, schlug sie verzweifelt
um sich, versuchte sich aus seiner Umklammerung zu befreien. Doch Haines ließ nicht los. Hatte er die Pistole? Er kroch auf sie zu. Sie sah die Knochenmarknadel an einem Wandschrank hin und her schaukeln. Mit einem Ruck nach vorn gelang es ihr, die Nadel zu packen und sie ihrem Angreifer mit aller Kraft in den Arm zu treiben. Er schrie vor Schmerz auf; gleichzeitig wurde sein Griff um Lauras Knöchel schwächer, bis es ihr endlich gelang, sich freizustrampeln. Sie zerrte an der Verriegelung. Während die Sekunden sich endlos dehnten, stieg ein Wimmern in ihrer Kehle auf. Sie war sicher, dass sie gleich den dumpfen Aufschlag einer Kugel spüren würde. Doch die Tür schwang auf. Laura stieß sich vorwärts und ließ sich auf den heißen Asphalt fallen. Sie kämpfte sich auf die Füße. Während sie die Straße entlangrannte, warf sie einen Blick über die Schulter. 155
Sie hatte damit gerechnet, dass Haines sich durch die Tür werfen und sie verfolgen würde. Aber der Motor dröhnte auf, und der Gulfstream jagte davon. Sie starrte ihm nach, wie er zusehends schneller wurde und schließlich hinter einer niedrigen Anhöhe verschwand. Verrückterweise verspürte sie so etwas wie Enttäuschung. Es war erstaunlich ruhig auf der Straße, und die Sonne war eine wachsende Glut am Osthimmel. Die Hitze schien auf sie niederzuhämmern, malte flimmernde Trugbilder auf die ferne Straße. Sie schaute vor und zurück und wusste nicht, in welche Richtung sie gehen sollte. Der Mais flüsterte in einer Brise, die zu sanft war, als dass sie in der Hitze zu spüren gewesen wäre. Laura schlüpfte aus ihrem weißen Kittel und hängte ihn sich über den Arm. Sie betupfte die Schürfwunde an ihrem Hals, die der Sicherheitsgurt gerissen hatte; dann betrachtete sie die zahllosen Verletzungen an ihrem rechten Unterarm. Sie hob das Handgelenk an die Lippen, leckte es ab und verspürte den Geschmack
von Staub und Blut. Eine Krähe kreiste über den Maisstängeln und krächzte monoton. Laura machte sich auf den Weg zurück zum Gefängnis, als plötzlich die Beine unter ihr nachgaben. Keuchend setzte sie sich an den Straßenrand. In der Ferne heulten Sirenen. Die Vibrationen des starken Motors zogen durch seine Hände, die am Lenkrad lagen, die Arme hinauf, und einen Augenblick lang fühlte er sich in Hochstimmung. Drei Jahre in dieser engen Todeszelle, und jetzt war er im Freien. Die Landschaft zog an ihm vorbei: die Maisfelder, der weite Horizont, der helle Himmel. Doch unmittelbar darauf betete er ernüchtert: Verzeih mir, Vater im Himmel, für die beiden Leben, die ich nehmen musste. Und hab Dank, dass du Jarvis am Tor hast stehen lassen - hätte er nicht mit dem Dienst habenden Wächter geredet hätte, wäre ich vielleicht immer noch 156
an der Laderampe, und mein einziger Ausweg wäre Selbstmord gewesen. Sirenen heulten in der Ferne. Haines wusste, dass ihm nur wenige Minuten blieben, ehe sie ihn erreichten. Er nahm die Abbiegung, die ihn über die Gleise bringen würde. Er wusste, dass sein spontaner Plan gravierende Mängel aufwies, doch bei der knappen Zeit und den beschränkten Mitteln hatte er keine Wahl. Es war ohnehin fast ein Wunder, dass er es aus dem Gefängnishof geschafft hatte. Im Außenspiegel sah er das Blitzen blauer Lichter. Vor ihm war die Bahnüberführung, wo die Schranke sich langsam zu senken begann. Das rote Warnsignal blinkte. Links, noch weit entfernt und nur wenig über das Maisfeld emporragend, näherte sich der dunkle Schatten eines Zuges. Wieder blickte Haines in den Spiegel. Wenn er durch die Schranke brach, konnte er es über die Gleise schaffen, ebenso wie die Polizeifahrzeuge, die ihn verfolgten, falls sie das
Tempo weiter erhöhten. Dann aber würde er nicht mehr rechtzeitig bei Gail sein. Und er musste das Blut in den Kühlbehältern vernichten. Und falls nötig sich selbst. Seine Entscheidung war bereits getroffen. Er beschleunigte den Gulfstream. Durch die Wucht des Aufpralls barst die Schranke wie ein dürrer Zweig. Haines stieg auf die Bremse, riss das Lenkrad hart nach links und brachte den Wagen in die gleiche Richtung wie die Schienen. Wieder trat er aufs Gas und spürte, wie es am Lenker zerrte, als die Reifen zwischen die Gleise rutschten, während das schwere Fahrzeug über die Schwellen rumpelte. Er trat das Gaspedal voll durch. Als die Tachonadel neunzig zeigte, schaltete er den Tempomat ein. Der Zug brauste mit schrillem Warnpfeifen auf ihn zu, und er hörte das Kreischen der Bremsen.
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Der Mais erreichte hier die stattliche Höhe von gut zwei Metern; die ausgedehnten Felder ließen die ungepflasterte Straße wie eine goldene Schlucht aussehen. Gail Newton saß in ihrem roten Honda Civic und rieb sich die Hände, die von der kühlen Luft der Klimaanlage unangenehm kalt waren. Nervös blickte sie auf die Uhr: Der Minutenzeiger hatte sich kaum bewegt. Acht Uhr siebenunddreißig. Sie hatte sich telefonisch krankgemeldet. So hatte der Mann, der spät am gestrigen Abend angerufen hatte, Gail angewiesen. Er hatte seinen Namen nicht genannt, doch Gail wusste, dass er nur einer von Davids Jüngern sein konnte. Auch seine anderen Anweisungen war präzise gewesen. Gail hatte sie notiert und dabei ein ganzes Blatt Papier voll gekritzelt. Sie sollte hier von sieben Uhr bis zum Mittag warten. Auf David. Sie zitterte vor Furcht und Anspannung. Kann sein, dass er es nicht schafft. Ihr war beinahe übel geworden, als der Anrufer diese Worte gesagt hatte. Wenn David nicht kam, würde sie wissen, dass er entweder tot und wieder in seiner Zelle war. Insgeheim wusste Gail nicht, wovor sie sich mehr fürchtete: ihn zu sehen oder nicht. Sie war ihm noch nie persönlich begegnet; trotzdem kannte sie sein Gesicht ganz genau: aus Zeitschriften, von Zeitungsausschnitten und aus den Fernsehnachrichten, die sie auf Band aufgenommen hatte. Davids Gesicht war ihr bereits vertrauter geworden und mehr ans Herz gewachsen als das ihrer eigenen Mutter. Trotzdem, bei dem ersten Brief, den sie ihm schrieb, hatte sie ein schlechtes Gewissen gehabt. Wenn man sich vorstellte, dass sie sich mit einem Mörder in einem Staatsgefängnis schrieb! Gail hatte es keinem Menschen erzählt, nicht einmal ihrer Mutter, und auch nicht Sue, ihrer Kollegin, der sie für gewöhnlich alles anvertraute, obwohl Sue keine Geheimnisse für sich behalten konnte. Doch wie konnte sie in diesem Fall er158
warten, dass jemand sie verstand? Dennoch sagte irgendeine Stimme in ihrem Innern, dass sie das Richtige tat. Als sie Davids Bild zum ersten Mal in der Zeitung gesehen hatte - jenes Foto, auf dem er so ernst dreinschaute und das jetzt ständig im Fernsehen gezeigt wurde -, hatte sie das Gefühl gehabt, er blicke tief in ihr Inneres. Natürlich war das nicht von einem Moment auf den anderen gekommen. Gail hatte alles gesammelt, was in den Zeitungen, Zeitschriften und im Fernsehen über David gebracht worden war; sie hatte Artikel über ihn ausgeschnitten und sie immer wieder gelesen darüber, was er getan hatte und warum. Es hatte nicht lange gedauert, bis sie beim Anblick seines Gesichts keinen eiskalten Mörder sah, sondern einen Mann, der den Mut besaß, zu seiner Überzeugung zu stehen und das Richtige zu tun, selbst wenn die ganze Welt ihn für einen Psychopathen hielt. Wer war denn heute noch bereit, für wahre Werte einzustehen? Niemand, weder die Kirche noch irgendwelche Politiker. Nur David Haines. Und ihn hatten sie verhaftet und in den Todestrakt gesperrt. Gail schrieb ihm, ließ ihn in ihr Herz schauen wie keinen Menschen vor ihm. Wer hätte sich auch schon dafür interessiert? David jedoch interessierte es; da war sie ganz sicher. Sie konnte es in seinen Augen lesen. Manche Leute sagten, er hätte Angst einflößende Augen - dunkle Augen ohne einen Funken Erbarmen und Menschlichkeit. Diese Leute täuschten sich. In Davids dunklen Augen lag viel, viel mehr; man musste nur tiefer schauen. Und David hatte ihr zurückgeschrieben! Dass seine Briefe Gails Leben änderten, wäre eine Untertreibung gewesen. Es war der Beginn ihres Lebens - so sah sie es. David machte alles, woran er glaubte, so klar und verständlich. Alles stand in der Bibel, wenn man sie nur richtig auslegte. Es war sündhaft, Blut zu nehmen und Handel damit zu treiben. Es war sündhaft, den Versuch zu machen, sich gegen Gottes Willen zu wehren. Es 159
war sündhaft, Gott zu ignorieren und an falsche Idole zu glauben. Die Menschen waren so blind! Konnten sie denn nicht sehen, wohin das alles führte? Zu Seuchen und Katastrophen, wie sie in den Offenbarungen des Johannes geschildert wurden. Bei diesem ersten Brief hatte Gail das Gefühl gehabt, dass David sich ihr zu erklären versuchte. Er musste schrecklich allein sein in seiner kleinen Zelle in einem Gefängnis, in dem Raubmörder, Kinderschänder und Vergewaltiger einsaßen. Einen Mann wie David so zu behandeln! Gail hatte bei diesem Gedanken geweint. David brauchte sie. Und so hatte sie seinen Brief beantwortet. Diese ersten sechs Monate waren die glücklichsten in ihrem Leben. Die unendliche Freude, wenn sie nach der Arbeit nach Hause kam und einen Brief von ihm vorfand! Sie verbrachte lange Abende damit, seine Schreiben zu beantworten, und jedes Mal, wenn sie ihren Füller weglegte, glühte ihr Gesicht, weil sie ihm alles anvertraut hatte, was sie einem anderen niemals erzählen würde. Ihr war es egal, dass die GefängnisZensoren ihre Briefe lasen - es gab nichts mehr, wofür sie sich geschämt hätte. Trotzdem erzählte sie niemandem von ihrem Briefwechsel mit David. Acht Uhr neununddreißig. Gail blickte besorgt durch die Fenster. Aus welcher Richtung würde er kommen? Sie konnte sich nicht erinnern, wo sich das Gefängnis von hier aus befand. Bitte, lieber Gott, beschütze ihn und schicke ihn sicher zu mir! Vor ungefähr fünfzehn Monaten waren Davids Briefe anders geworden. Er hatte Gail gebeten, nicht mehr ans Gefängnis zu schreiben; er habe jetzt eine neue Adresse, ein Schließfach im Postamt von Joliet. Und auf seinen Briefen waren keine Zensurstempel mehr. Zuvor hatte er sich über das Übel der modernen Medizin ausgelassen, jetzt schrieb er über die heilige Notwendigkeit, Ärzte zu töten. Und mit jedem Brief wurde sein Tonfall strenger. Es genüge nicht, schrieb 160
er, nur zu glauben - man müsse seinen Glauben leben, ihn beweisen, der Welt zeigen. Vor drei Monaten hatte er Gail gebeten, eine Ärztin zu töten. Sie hatte geweint. Nicht weil seine Bitte sie schockiert hatte, sondern aus Angst, es nicht über sich zu bringen. David hatte ihr den Namen genannt: Dr. Laura Donaldson. Und er hatte Gail beschrieben, wie sie es tun sollte. Sie wusste, dass es richtig war, aber sie war schwach. Es war nicht einmal so sehr die Angst, erwischt zu werden; sie konnte es einfach nicht. Und wieder hatte sie sich David geöffnet, ihm ihre Ängste und Sorgen anvertraut. Er war so verständnisvoll gewesen! Er hatte sie beruhigt und ihr versichert, er verstehe ihre Bedenken; ein Menschenleben zu nehmen, sei eine ernste Sache und eigentlich eine Todsünde, aber in diesem Fall wäre es anders. Gail wusste, dass er Recht hatte. David hatte immer Recht. Es war sie selbst, ihre Schwäche, die ihr im Weg stand. Sie hatte ihr Bestes versucht. Sie hatte herausgefunden, wo Laura Donaldson arbeitete und wo sie wohnte, und war ihr eines Abends sogar nach Hause gefolgt, indem sie Donaldsons Wagen hinterherfuhr, bis sie zu einem luxuriösen Apartmenthaus an der Gold Coast gelangte. Es hatte keine eigene Tiefgarage; deshalb musste Gail auf der Straße parken und zu Fuß zum Eingang. Nutz diese Chance!, hatte David ihr geschrieben. Als sie das erste Mal versuchte, eine Schusswaffe zu kaufen, betrat sie den Laden und fragte nach der Waffe, die David beschrieben hatte, doch ihr Magen hatte sich so sehr verkrampft, dass sie kaum noch atmen konnte, und beinahe hätte sie sich am Ladentisch übergeben. Überstürzt hatte sie das Geschäft verlassen. Sie wollte es tun, für David, doch da war dieses Etwas in ihr, diese Schwachheit und Feigheit, die sie zurückhielten. Gail hatte seine Briefe vernichten sollen, doch sie hatte die Zeilen wieder und wieder gelesen und fühlte sich schrecklich unwürdig. 161
Doch jetzt gab David ihr eine neue Chance. Als gestern Abend der Anruf kam, hatte Gail sofort gewusst, dass sie es nicht ablehnen konnte. David sagte immer, man dürfe sich dem Ruf des Herrn nicht verweigern, wenn man ihn vernahm, und Gail hatte sich diesem Ruf schon viel zu oft verweigert. Nun hatte sie ihre Chance, etwas Besonderes zu tun - zur Ehre Gottes. Sie hatte David nie besucht. Sie wollte es schrecklich gern, doch er hatte sie niemals darum gebeten. Jede Nacht hatte sie an ihn gedacht, hatte sich vorgestellt, wie er allein in seiner kargen Zelle lag, ohne dass jemand sich um ihn kümmerte. Das grässliche Gefängnisessen, das ihm dreimal am Tag durchs Gitter geschoben wurde ... Wärter, die ihn herumstießen ... nicht einmal ein Fenster, durch das er den Himmel sehen konnte oder Vögel, die er so sehr liebte. Ja, er erzählte in seinen Briefen manchmal von Vögeln, und das machte ihn noch liebenswerter für Gail. Wie gern sie für ihn sorgen wollte! Trotzdem
war sie nie zum Gefängnis gefahren, obwohl es nur eine Stunde von ihrer Wohnung entfernt war. Es lag nicht so sehr daran, dass sie Angst hatte, ihn zu sehen - Gail fürchtete sich davor, wenn er sie sah. Unwillkürlich warf sie einen raschen Blick in den Innenspiegel. Oh, sie hasste ihr Kraushaar und ihr feistes Gesicht. Heute Morgen hatte sie sich besonders viel Mühe gegeben, ihre groben Züge weicher und fraulicher zu schminken. Sie begutachtete den Lippenstift, den Eyeliner - sie war besonders früh aufgestanden, damit sie Zeit genug hatte, sich für David zurechtzumachen. War es eine Sünde, so eitel zu sein? Bitte, lieber Gott, mach, dass er mich nicht hässlich findet! Sie rieb die Hände aneinander, um sie zu wärmen. Wie konnten ihre Hände nur so kalt sein, wo sie doch so fett war? Gail war es gewöhnt, dass die Leute, vor allem die Männer, den Blick von ihr abwandten oder, 162
schlimmer noch, durch sie hindurchschauten. Wahrscheinlich dachten sie: Es wäre besser für diese Dicke, unsichtbar zu sein. Niemand hatte sich je für sie interessiert; niemand hatte sie je geküsst, außer ihrer Mutter. Vielleicht, wenn sie in anderer Hinsicht etwas Besonderes wäre ... intelligent oder humorvoll. Doch das war sie nicht. Aber wenn David ihr nicht in die Augen blickte, wie auf den Fotos, würde sie es nicht ertragen. In einem Plastikbeutel auf dem Beifahrersitz hatte sie etwas zum Anziehen für ihn mitgebracht, ein T-Shirt Größe XXL, in dem sie gerne schlief (sie hatte es heute Morgen um fünf Uhr gewaschen), und eine alte Jogginghose. Bringen Sie irgendetwas mit, das er schnell über seine Gefängniskluft streifen kann, hatte der Mann am Telefon sie angewiesen. Leider hatte Gail sich schon sehr früh auf den Weg machen müssen und es deshalb nicht geschafft, ihm ein paar neue Sachen zum Anziehen zu kaufen. Im Handschuhfach waren eine Packung Apfelsaft und ein Tunfischsandwich, das sie in Wachspapier gewickelt hatte. Hoffentlich mochte er Tunfisch. Das gedämpfte Pfeifen einer Lokomotive drang durch das Wagenfenster; dann vernahm Gail das leise, rhythmische Pochen der Räder des näher kommenden Zuges. Wieder das Pfeifen, diesmal lauter und lang anhaltend. Plötzlich das entsetzliche Dröhnen von Stahl auf Stahl, ein Klirren und Kreischen; dann eine Reihe dumpfer Schläge, deren Nachhall in der Luft hing wie das Echo einer verheerenden Katastrophe. Gail zögerte kurz; dann stieg sie aus dem Wagen, schloss jedoch sofort die Tür, damit die angenehme Kühle drinnen blieb. Leicht benommen stand sie in der Hitzewoge, die über sie hinwegbrauste. Selbst auf Zehenspitzen konnte sie nicht über das Maisfeld blicken. Eine dunkle Rauchwolke schien am Horizont zu schweben, aber es mochte genauso gut eine Art Fata Morgana sein, hervorgerufen durch die flimmernde Hitze. 163
Ein trockenes Rascheln erklang, und Gail vermeinte eine kaum merkliche Bewegung in den Spitzen der Maisstängel zu sehen. Das Rascheln wurde lauter, bis es sich wie Schritte auf trockenem Herbstlaub anhörte. Gail stützte sich auf den Wagen. Ihr Herz hämmerte. Eine Gestalt bahnte sich einen Weg durch das Maisfeld, wie Moses, als er beim Auszug aus Ägypten das Rote Meer teilte. David Haines kam zwischen den Stängeln hervor und rannte auf sie zu.
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Als der Hubschrauber tiefer ging, konnte Kevin die dunkle Schneise sehen, die das Wrack des Güterzugs durch die Maisfelder geschnitten hatte. Von oben sahen die entgleisten Waggons wie das Spielzeug eines Kindes nach einem Wutanfall aus. Die Ladung war auf den Feldern verteilt: Bauholzstapel, Kohlehaufen, eine bunte Auswahl fabrikneuer Volvos und eine schimmernde Flüssigkeit, die von einer Crew in gelben Anzügen mit Schläuchen abgespritzt wurde. Glück im Unglück war, dass hier nur ein Güterzug und kein Personenzug unterwegs gewesen war; wer weiß, wie viele Tote es sonst gegeben hätte. Kevin zuckte zusammen, als die heftigen Vibrationen des Hubschraubers ihm stechende Kopfschmerzen verursachten. Er war seit über vierundzwanzig Stunden im 164
Einsatz und hatte einen scheußlichen Geschmack im Mund. Weiter vorn, wo die Lok aus den Schienen gesprungen war, hatte sich ein kleines Bataillon von Einsatzwagen und Personal eine breite Schneise durch die Felder gebahnt. Rettungswagen, Feuerwehrfahrzeuge und ein Dutzend Streifenwagen standen mit blinkenden Lichtern quer auf den niedergedrückten Maisstängeln. In der Ferne sah Kevin mehrere Suchtrupps mit Spürhunden, die sich durch die Maisfelder auf den angrenzenden Wald im Nordwesten zubewegten. Bestürzt strich Kevin mit den Fingerspitzen über sein stoppliges Kinn. Es war unfassbar, dass ein einzelner Mann ein solches Chaos verursachen konnte - und das wenige Minuten, nachdem er aus einem Hochsicherheitsgefängnis entflohen war. Auf den ersten Blick wirkte dieses Bild wie Gottes Strafgericht auf Erden. Dieser Gedanke wiederholte sich gleichsam hypnotisch, und es kostete Kevin Mühe, ihn zu verdrängen. Er hatte von dem Unglück erfahren, als er ins Flugzeug zurück nach Chicago steigen wollte. Hugh hatte nicht sehr viel gewusst, und das Wenige, das er Kevin mitteilte, erschien diesem beinahe surrealistisch: dass Haines irgendwie die Flucht gelungen war, während er sich medizinischen Untersuchungen in einem Gulfstream hatte unterziehen müssen. Er hatte zwei Wächter und eine Ärztin als Geisel genommen. Die Ärztin war entkommen. Und knapp fünfzehn Minuten später hatte Haines sich mit einem nach Osten donnernden Güterzug angelegt und den Sieg davongetragen. Der Flug von Detroit hierher war für Kevin fast unerträglich gewesen. Wenigstens hatte Hugh dafür gesorgt, dass ihn am Flughafen O'Hare ein Hubschrauber abholte. Kevin blickte auf die Uhr: 11:38. Falls David Haines dem Unfalltod entgangen war, hatte er mehr als drei Stunden Zeit gehabt, zu verschwinden. Und Kevin glaubte keine Sekunde, dass er tot war 165
auch wenn Hugh es offenbar annahm. Haines hätte seine Flucht bestimmt nicht arrangiert, um Selbstmord zu begehen. Das hätte er in seiner Zelle leichter haben können. Außerdem untersagte es ihm sein Glaube. Kevin blickte über die hitzeflimmernde Landschaft. David Haines war also irgendwo da draußen! Schließlich verdrängte Wut seine Bestürzung. Es hatte ihn drei Jahre seines Lebens gekostet, Haines in diese verdammte Zelle zu bringen. Die ganze Mühe war jetzt zunichte. Wer, zum Teufel, hatte das zu verantworten? Wer hatte diesen extrem gefährlichen Psychopathen fünf Tage vor seiner Hinrichtung in den Gulfstream verfrachtet? Haines hätte im Todestrakt sitzen müssen! Der Hubschrauber landete. Kevin riss die Tür auf und sprang hinaus. Die sengende Hitze versetzte ihm beinahe einen K.-o.-Schlag. Die blinkenden Lichter, der Lärm und die
Menschenmenge - er hätte sich hier ebenso gut auf einem Rummelplatz befinden können. Er ging zum entgleisten Zug, um den sich Beamte der Staatspolizei, Sanitäter, Highway-Polizisten und die Fotografen der Spurensicherung scharten. Er war nicht sonderlich erfreut, Seth Michener zu sehen, doch es überraschte ihn nicht. Schließlich war Michener dafür zuständig, geflüchtete Gewaltverbrecher einzufangen. »Scheißspiel, was?« Michener blickte vom Wrack des Zuges auf Kevins Hubschrauber. »Was kostet ein solcher Flug den Steuerzahler? Fünfhundert Dollar?« »Lassen Sie mich in Ruhe«, sagte Kevin. »Ich und die anderen Jungs sind in unseren Autos hergekommen. Aber Hugh hat bei Ihnen ja immer schon Ausnahmen gemacht. Verlaufen Sie sich bloß nicht. Sie möchten doch nicht Ihre teuren Schuhe versauen, nicht wahr?« Michener, der wie meist kakifarbene Jeans, leichte Schuhe und ein FBI-T-Shirt trug, schwitzte stark. Er 166
war verhältnismäßig klein, mit feistem Gesicht, Tränensäcken und Glupschaugen, mit denen er sein Gegenüber durchdringend anstarren und dadurch ziemlich verwirren konnte. Er erinnerte Kevin an einen kompakten kleinen Kläffer, eine Bulldogge, die sich erst recht in ihr Opfer verbiss, wenn man sie abschütteln wollte, und einem dabei ganz gewaltig zusetzen konnte. Michener war ein hartnäckiges Bündel aus Muskeln und sturem Willen und besaß einen ausgeprägten Napoleon-Komplex. »Wo ist der Gulfstream?«, erkundigte Kevin sich. Michener nahm einen Schluck aus seiner Coladose. »Genau vor Ihnen«, schnaubte er dann nach einer kurzen Pause. »Großer Gott!« Etwa zwanzig Meter vor ihnen lag ein Güterwaggon auf den Resten des Wohnmobils. Die Fahrerkabine und etwa ein Drittel des Innenraums waren völlig zerdrückt. Wer immer auf dem Fahrersitz gesessen haben mochte, musste bei dem Zusammenprall zerquetscht worden sein. Ein Bergungsfahrzeug mit Kran und Winde stand neben dem Waggon, und ein paar Männer befestigten den riesigen Haken. »Er wird nicht drin sein«, murmelte Kevin, doch nachdem er sich den Gulfstream angesehen hatte, war er sich nicht mehr ganz so sicher. »Das wird sich bald herausstellen«, brummte Michener. »Meine Männer haben sofort die nähere Umgebung abgesucht, aber den Schweinehund nirgends gefunden. Glauben Sie mir, er ist da drin und nirgendwo sonst.« »Haben Sie Hugh gesehen?«, fragte Kevin. Er hatte nicht die geringste Lust, sich weiter mit Michener zu unterhalten. »Er ist hier irgendwo. Vielleicht füllt er Formulare aus oder so, ich weiß es nicht.« Er zwinkerte Kevin verschwörerisch zu, als teile er einen Insider-Witz über die Langsamkeit von Vorgesetzen im Einsatz mit ihm.
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Kevin seufzte. Er ärgerte sich, dass Michener vor ihm an der Unfallstelle gewesen war. »Wie lange sind Sie schon hier?« »Eine gute Stunde. Möchten Sie, dass ich Sie kurz auf den neuesten Stand bringe?« Ohne auf eine Antwort zu warten, berichtete er knapp von Haines' Flucht. »Was für medizinische Untersuchungen?«, unterbrach ihn Kevin. »Weiß ich nicht. Was spielt es auch für eine Rolle? Medizinische Untersuchungen eben. Jedenfalls hat Haines einen Anfall vorgetäuscht. Die Idioten haben seine Gurte gelöst. Irgendwie ist er an eine Pistole gekommen und hat die Wächter gekillt. Die Ärztin hat er gezwungen, den Wagen zu fahren. Und diese Arschlöcher am Tor haben ihn durchgelassen.« »Ist die Ärztin noch da? Und wie heißt sie?« »Ja. Und sie heißt Laura Donaldson.« Der Name war Kevin vertraut. Dann fiel ihm ein, woher er ihn kannte: Donaldson war eine berühmte Krebsforscherin; kürzlich hatte er irgendwo über sie gelesen. In Newsweek, vielleicht. Aber was hatte sie mit David Haines zu schaffen? Offenbar hatte Michener weder die Zeit noch das Interesse gehabt, das herauszufinden. »Einer der Sanitäter versorgt sie gerade«, fuhr Michener fort. »Sie hat ein bisschen was abgekriegt. Ich brauche die Frau, damit sie die Leichen im Wagen identifiziert.« Kevin ärgerte sich über den selbstherrlichen Tonfall Micheners, sagte aber nichts. Die Winde hob den Güterwaggon vom Gulfstream, der zerquetscht war wie eine platt gewalzte Bierdose. Kevin sah jetzt die zerfetzten und eingedrückten Konturen der großen Wagentür. »Hat jemand gesehen, wie Haines sich mit dem Zug angelegt hat?« »Zwei Männer von der Highway Patrol, die sich gleich auf die Verfolgung gemacht haben, als sie von seiner Flucht hörten. Sie sagten, er ist aufs Gleis gefahren und hat Gas gegeben.« 168
»Er ist rausgesprungen.« »Das werden wir sehen.« »Was ist mit dem Lokführer?«, erkundigte Kevin sich. »Hat er viel abgekriegt?« »Er lebt noch. Er und der Mechaniker, der ebenfalls mitgefahren ist. Man hat sie bereits nach Joliet geschafft.« Der Güterwaggon wurde nun ganz vom Gulfstream weggezogen. Das Wrack krachte auf den Acker. Sofort setzte sich eine Rettungsmannschaft mit Leitern, Brechstangen und Sägen in Bewegung. »Gehen wir's an«, befahl Michener und ging näher heran. Die Luft roch durchdringend nach Treibstoff. Ein Helfer schnitt mit einer Elektrosäge einen Einstieg in die verformte Tür. Kevin wartete mit Michener vor dem Wrack, während das Team sich durch das Loch plagte. »Wie viele?«, rief Michener. »Zwei, glaube ich«, antwortete einer der Männer dumpf aus dem Innern. »Glauben Sie?« »Es gibt 'ne Menge Körperteile, aber die hier hinten stammen bestimmt nur von zwei Personen.« »Und vorn?« »Nichts.« »Verdammt«, fluchte Michener. »Das müssen die Wächter sein«, meinte Kevin. Er kam sich wie ein vorlauter Schüler vor, aber irgendjemand musste es ja klarstellen. Michener ignorierte ihn. Es dauerte eine geraume Weile, bis die Leichenteile aus dem Wrack geborgen und auf Bahren gelegt worden waren. Kevin zog die darüber gebreiteten Decken zurück. Die Gesichter der Opfer waren grauenvoll zugerichtet, trotzdem erkannte er sofort, dass weder das eine noch das andere Haines gehörte. Zorn erfasste ihn - und Mitleid mit den beiden auf so bestialische Weise ermordeten Männern. Kevin blickte Michener an. »Er ist rausgesprungen.« Das Wrack war lediglich Teil einer Inszenierung und hatte seinen Zweck erfüllt. Seit Haines' Flucht waren 169
drei Stunden vergangen. Es wühlte in Kevins Innern, dass Haines sich immer weiter entfernte. Die Frage war nur: in welche Richtung? Unmöglich zu sagen. Er musste zu diesem Schließfach! Hier vergeudete er bloß seine Zeit. Kevin schaute sich nach Hugh Carter um. Wo steckte er? »Zu Fuß kommt er nicht weit«, meinte Michener. »Haines hatte einen Helfer im Gefängnis. Ich wette, jemand hat mit dem Auto auf ihn gewartet und ihn weggebracht. Er ist schon lange fort.« Michener blickte ihn feindselig an. »Es gibt hier eine Menge zu tun, Kevin, und ich werde mich nicht davon abhalten lassen.« Er riss sein Handy aus der Tasche, drückte ein paar Knöpfe und brüllte ohne lange Vorrede irgendetwas hinein. Kevin beugte sich noch einmal über die Leichen und wollte
die Decken über die Toten ziehen, als er jemanden hinter sich sagen hörte: »Ich muss hinein!« Er drehte sich um und sah eine schlanke Frau in ärmellosem Pulli und zerknitterter, olivfarbener Baumwollhose. Im Sonnenschein wirkte ihr von welligem braunem Haar umrahmtes Gesicht erschreckend bleich. Sie hatte eine hohe Stirn und mandelförmige Augen mit dunklen Ringen; um das linke Auge bildete sich ein großer Bluterguss. Ihre Nase wirkte ein wenig zu groß für das schmale Gesicht; ihr Mund war sinnlich. Es war ein bemerkenswertes Gesicht, doch Kevin hätte nicht sagen können, ob er es attraktiv nennen sollte oder nicht. Momentan war es seltsam reglos, wie eine Maske. »Dr. Donaldson?«, fragte er. Sie nickte. »Ich muss nachsehen, ob irgendwelche meiner Proben heil davongekommen sind.« Ihre Stimme klang fast unnatürlich ruhig. Sie richtete den Blick auf die beiden Leichen. Es schien sie nicht sonderlich zu berühren, was Kevin sofort gegen sie 170
einnahm. Dann aber sagte er sich, dass sie den Anblick von Leichen gewöhnt war. Eigentlich hätte er wütend auf sie sein müssen: Wäre sie nicht gewesen, hätte Haines nicht flüchten und noch mehr Unheil anrichten können. Aber sie sah so völlig benommen aus, dass er sich bemühte, seine Gefühle nicht allzu offen zu zeigen. »Haines ist also entkommen«, sagte sie. »Er hatte ja auch genügend Hilfe, weiß Gott.« Michener war herübergekommen und blickte Laura mit unverhohlener Abneigung an. »Waren das Ihre beiden Wächter?« »Ja. Allan und Joseph. Tut mir Leid, ich erinnere mich nicht an ihre Nachnamen. Die Leute von der MetaSYS können sie Ihnen sagen.« »Mhm.« »Dr. Donaldson, ich bin Special Agent Kevin Sheldrake.« »Ich muss wirklich in dieses Labor hinein«, sagte Laura. Er musste sich zusammennehmen, um nicht die Geduld zu verlieren. Waren ihre verdammten Proben das Einzige, das ihr etwas bedeutete? Sah sie denn nicht, was rund um sie herum geschehen war? Ein entgleister Zug, zwei tote Männer, und ein Massenmörder auf der Flucht? Beinahe teilte Kevin Micheners Abneigung gegen die Ärztin. »Da geht jetzt niemand rein, nur unser Team«, erklärte Michener. »Ja, ja, verstehe«, sagte Laura. Sie wandte sich von den Männern ab und ging entschlossen auf das Wrack des Gulfstreams zu. »He!«, rief Michener. Wütend wollte er ihr nach, doch Kevin hielt ihn zurück. »Ich kümmere mich um sie.« Laura war inzwischen in Laufschritt verfallen, und Kevin eilte ihr nach, doch sie war bereits im Innern des Wracks, bevor er sie einholen konnte. Geduckt quetschte Laura sich tiefer in das bis zur Unkenntlichkeit demolierte Mobillabor. Die Wände und Decke waren nach außen gewölbt und sahen wie 171
obskure Gegenstände vor Zerrspiegeln auf dem Rummelplatz aus. Es war drückend heiß und roch nach Blut, das fast überall klebte. Laura hörte den FBIAgenten hinter ihr rufen, sie solle das Wrack verlassen. Doch seine Stimme schien sehr weit entfernt zu sein, übertönt vom Hämmern ihres Herzens. Sie brauchte nur einen Augenblick, um sich zu orientieren, dann sah sie den Wandschrank, in dem sie die Kühlbox untergebracht hatte. Wo der Schrank sich befand, war die Wand nach innen gedrückt, und die Türen waren völlig verformt. Bitte, bitte, bitte, dachte sie wie ein Mantra. Sie würde es vielleicht ohne die Knochenmarkausschabung schaffen, doch nicht ohne das Blut. Sie brauchte das Blut. Sie langte nach dem Griff und zog daran, doch er klemmte. »Dr. Donaldson!«
Laura sah ihn aus den Augenwinkeln und spürte seine Hand auf ihrem Arm. Sie riss sich los, zog wieder an dem Griff. Diesmal ging die Tür auf. Laura taumelte entsetzt und zutiefst enttäuscht zurück. Die Kühlbox war ein mit Haines' geronnenem Blut zusammengeklebter Scherbenhaufen. »0 Gott! «, hauchte Laura. Es klang weniger fassungslos als auf müde Weise endgültig. Die Proben waren ruiniert, sämtliche Zellen in der enormen Hitze vernichtet. »Sie müssen rauskommen, Doktor«, forderte Kevin sie auf. Sie wandte sich ihm zu und war überrascht vom Blick seiner Augen. Sie hatte Zorn erwartet, sah stattdessen aber einen Ausdruck, der Mitleid nahe kam, gemischt mit beunruhigter Verständnislosigkeit. Sie ließ zu, dass er ihr aus dem Gulfstream half. Dumpf bemerkte sie, dass ihre Hose und ihr Shirt blutbeschmiert waren. Der Panzer benommener Unwirklichkeit, der sie in den letzten zwei Stunden umhüllt hatte, zerbarst. Plötzlich erschien es ihr zu 172
heiß; der Dieselgeruch würgte sie im Hals, und die beiden Leichen drängten sich in ihr Bewusstsein. Was hatte sie getan? Alles vermasselt, verkehrt gemacht, verloren. Verloren. Ihr Herz raste, und ihr Magen verkrampfte sich. Sie kniff die Lider zusammen, holte tief Atem und bemühte sich, die aufkommende Panik niederzukämpfen. »Da!« Laura schlug die Augen auf. Kevin Sheldrake hielt ihr eine kühle Flasche Mineralwasser hin. Sie sah, dass ihre Hand sich danach ausstreckte und die Flasche nahm. »Danke.« »Geht's?« Sie nickte und trank mehrere Schluck. Kevin Sheldrake hatte dichtes, welliges, aus der Stirn zurückgekämmtes Haar mit nur ein paar silbrigen Strähnen an den Schläfen. Seine großen, runden Augen mit den schweren Lider blickten ungemein aufmerksam; im Zusammenspiel mit seinem langen Gesicht verliehen sie ihm ein irgendwie betrübtes und zugleich wölfisches Aussehen. Er war attraktiv - sofern man auf den hageren, rastlosen Typ stand. Ein ziemlicher Unterschied zu dieser kleinen Ratte Michener. Anfangs hatte er Laura mit kaum verhohlener Verachtung behandelt, als wäre sie eine Mittäterin. Vielleicht bin ich das auch, dachte sie. »Sie haben Blutproben von David Haines genommen?« Sie nickte. »Er war einverstanden?« »Wir hatten eine gerichtliche Verfügung«, antwortete sie gepresst. »Verstehe. Und wofür waren diese Proben?« Der letzte Rest ihrer Panik wandelte sich in unendliche Erschöpfung. Eigentlich hatte sie dem Mann so wenig sagen wollen wie nur möglich - so hatte Paul es ihr geraten, als sie ihn vor einer halben Stunde angerufen 173
hatte. Er war auf dem Weg hierher und hatte erklärt, sie solle mit niemandem reden, solange er nicht eingetroffen sei. Laura vermutete, dass er keine Konkurrenz von anderen Firmen wollte. Aber welchen Sinn hatte es, die Sache noch zu verheimlichen? Es würde ja doch alles herauskommen. »Für die Krebsforschung«, sagte sie und sah Sheldrakes Stirnrunzeln. »Haines hat Krebs?« »Möglicherweise.« »Ich verstehe nicht.« »Ich habe bereits eine geringe Menge von seinem Blut untersucht. Wir vermuten, dass er eine Art von Enzym besitzt, das Tumore vernichtet. Wir wollten Proben.« »Wir?« »MetaSYS Phamazeutik.« »Und hat Haines ... hat er das von seinem Blut gewusst?« »Sein Anwalt hat es ihm mitgeteilt.« »Okay«, sagte er. »Hören Sie, ich muss mich noch ausführlicher mit Ihnen darüber unterhalten, aber nicht jetzt. Ich möchte gern, dass Sie morgen Vormittag in unser Chicagoer Büro kommen.« Sein Tonfall war jetzt knapp; er schien es eilig zu haben. Er zog seine Brieftasche hervor und reichte ihr eine Karte. »Wohnen Sie in einem Einfamilienhaus oder einem Apartment?« Sie blickte ihn an, bevor sie den Grund seiner Frage verstand. Die Knie wurden ihr weich; sie wollte sich setzen. »Sie glauben, dass er ...« Ihre Worte schmerzten in der trockenen Kehle, und sie hustete. »Ich frage nur Ihrer Sicherheit wegen«, entgegnete Sheldrake. »Apartment.« »Mit Namensschild?« »Nein.« »Gut. Könnte er wissen, wo Sie wohnen?« »Nein, ich glaube nicht ...« Sie hielt inne. »0 Gott!« Daran hatte sie bisher überhaupt nicht gedacht. 174
Erschrocken erinnerte sie sich, dass sie ihre Handtasche im Handschuhfach des Gulfstream gelassen hatte, als sie zum Gefängnis gekommen waren. In der Handtasche befand sich ihre Geldbörse, ihr Adressbuch ... ihr ganzes verdammtes Leben. »Meine Handtasche«, presste sie hervor. »Sie haben sie im Gulfstream gelassen?« Kevin stieß einen leisen Atemzug durch die geöffneten Lippen hervor. Sie folgte seinem Blick zu dem Mobillab, dessen Fahrerkabine eine einzige Masse verformten Metalls war. »Die Tasche ist wahrscheinlich noch drin«, meinte Sheldrake. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass er sich die Zeit genommen hat, dort herumzusuchen. Aber ich werde nachsehen lassen, sobald das möglich ist. Sie und Ihre Familie müssen heute jedenfalls irgendwo anders übernachten.« »Ich lebe allein.« »Wir werden Sie über Nacht in einem Hotel unterbringen, einverstanden?« »Ist das wirklich nötig?«, fragte sie leise. »Sie sind mit Haines' religiösem Glauben vertraut?« Sie nickte. »Nun, Sie haben ihm Blut abgenommen, Dr. Donaldson, und das ist seiner Ansicht nach eine blasphemische Handlung, eine Todsünde. Und noch etwas. Ich sage es Ihnen nicht gern, aber Sie sind für ihn das perfekte Opfer. Gestatten Sie, dass wir uns wenigstens heute Nacht um Sie kümmern.« »Ja«, murmelte sie. »Danke.« Über das Feld hörten sie aufgeregte Rufe: »Hier sind Fußspuren! « »Ich muss los«, sagte Sheldrake. Ehe Laura sich zurückhalten konnte, platzte sie heraus: »Sie werden ihn doch lebend festnehmen, nicht wahr?« Doch er war bereits mit den anderen losgerannt. Kevin stieß zu einer kleinen Gruppe von Polizisten und FBI-Leuten, unter ihnen Michener. Er folgte ihnen zur anderen Seite der Schienen und kletterte über die Kupplungen der entgleisten Waggons. Hier, in einer 175
kleinen Mulde, war der Boden nach dem nächtlichen Regen noch schlammig. Er kam näher und sah in einigem Abstand voneinander Fußabdrücke - die eines Mannes, der gerannt war. Er folgte der Spur bis zu einer schmalen Schneise beschädigter Maisstängel; ein paar zertretene Blätter lagen am Boden. Eines war sicher: Haines hatte bestimmt kein verstauchtes oder gar gebrochenes Bein. Mit einer Verletzung wäre niemand zu solch langen Schritten fähig. Kevin hörte ein Klicken und sah, dass Michener seinen Revolver entsicherte. Es war ein großer 45er Colt, den er bestimmt nicht aus Bequemlichkeit gewählt hatte, sondern wohl hauptsächlich deshalb, andere einzuschüchtern.
Dann setzten sich alle geduckt in Bewegung. Auf dem Boden, der zunehmend trockener wurde, waren die Fußabdrücke kaum noch zu erkennen, doch die Schneise durchs Maisfeld führte sie weiter. Kevin zog seine Pistole. Zwar rechnete er auch jetzt nicht damit, irgendwo in der Nähe auf Haines zu stoßen, aber er wollte kein Risiko eingehen. Es war anzunehmen, dass der Killer einem der ermordeten Sicherheitsleute die Schusswaffe abgenommen hatte und dass sie noch Patronen enthielt. Nach etwa dreihundert Metern erreichten sie eine schmale, ungeteerte Straße - eher ein Feldweg, der gerade breit genug für landwirtschaftliche Maschinen und Geräte war. Kevin schaute sich den weichen Boden genauer an, doch er war zu grasig, als dass sich Fußabdrücke hätten abzeichnen können. »Sehen Sie sich das an!«, rief ein Marshal. Er deutete auf offensichtlich frische Reifenspuren; ein paar Meter weiter waren zwei parallele Furchen zu sehen, als hätte jemand die Reifen eines Fahrzeugs durchdrehen lassen, um rasch davonzukommen.
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»Das waren keine Traktorreifen«, stellte Michener fest. »Sehen aus wie von einem Hecklader, jedenfalls von einem kleinen Fahrzeug.« Kevin hatte mit so etwas gerechnet. Das also war das Fluchtauto gewesen. Michener gönnte ihm nicht einmal einen Blick. »Okay, Leute«, rief er. »Sieht so aus, als hätte jemand unseren bösen Jungen erwartet. Irgendjemand muss den Wagen gesehen haben. Das hier ist das Feld eines Farmers, also macht euch auf die Socken und tanzt mit einem dieser Burschen an. Breiter Strohhut, Overall, aus dem Mundwinkel hängender Grashalm - ein wirklich echter Farmer, okay? Schafft mir so einen Typen her! « Jetzt erst wandte Michener sich mit einem Lächeln Kevin zu. »Sieht ganz so aus, als hätten Sie Recht gehabt.« Kevin fragte sich, ob Michener von Hugh in die Details des Falles eingeweiht worden war - den regen Briefverkehr, das Postfach. Er selbst hatte nicht die Absicht, Michener irgendetwas anzuvertrauen, jedenfalls nicht, bevor er mit Hugh geredet hatte. Er hatte wichtige Informationen und musste zur Sondereinheit - nein, mehr noch, er wollte diese Einheit leiten. Haines gehörte ihm. Er wollte nicht, dass Michener die Jagd nach dem Hundesohn führte. »Hugh sagte, dass Sie einen von Haines' Brieffreunden in Detroit geschnappt haben«, sagte Michener. Kevin nickte. Verdammt, er wusste es also schon. »Hatte er im Knast jemand, der die Briefe für ihn abschickte?« »Ja. Dieser Jemand muss in Joliet ein Schließfach für ihn eröffnet haben.« »Dann brauchen wir uns ja bloß darum zu kümmern.« Michener nickte. »Haben Sie die Nummer und Adresse?« »Ja«, antwortete Kevin knapp. »Gut. Ah, da sind sie ja beide.« Kevin drehte sich um und sah Hugh Carter mit Matic, einem Kollegen von der Fahndungsabteilung, aus dem 177
Maisfeld kommen. Trotz der sengenden Hitze machte Hugh wie immer einen kraftvollen, energischen Eindruck und strahlte unerschütterliche Autorität aus. So wie ihn stellte man sich einen leitenden FBI-Mann vor. Hugh war einsneunzig und schon von der Größe her beeindruckend, und mit seinem wettergegerbten Gesicht und dem markanten Schnurrbart erinnerte er Kevin jedes Mal an den berühmten Marlboro-Mann. Er war siebenundfünfzig, doch körperlich noch immer topfit. Dass er sich ein wenig steif und o-beinig bewegte, läge an dem »großen, schweren Ding zwischen seinen Beinen«, witzelten einige FBIAgentinnen. »Ein Wagen hat auf den Burschen gewartet«, berichtete ihm Michener. »Er ist wahrscheinlich längst weg.«
Hugh nickte, dann legte er eine Hand auf Kevins Rücken und entfernte sich ein paar Schritte von Michener, um ungestört reden zu können. Kevin wertete dies als gutes Zeichen, doch seine Hoffnung war kurzlebig. »Ich möchte, dass Sie in diesem Fall mit Mitch arbeiten.« »Was verstehen Sie unter >mit« »Ich möchte Sie als stellvertretenden Leiter der Sondereinheit.« Stellvertretend. Also - wurde Michener sein Vorgesetzter. Kevin ließ den Blick über die Maisfelder schweifen. Seine Schläfenadern pulsierten vor Zorn. Er musste sich erst fassen, ehe er den Mund öffnete. Mit den Fingerknöcheln rieb er sich über die nassen, brennenden Augenbrauen. Langsam sagte er: »Hugh, ich sollte diesen Fall leiten. Es ist meiner. Ich kenne Haines.« »Deshalb braucht Mitch Ihre Hilfe. Er ist der beste Bluthund, den wir haben, aber er ist nicht so klug wie Sie.« Statt Kevin zu beschwichtigen, schürte dieses Lob seine Wut nur noch mehr. Er hatte in Detroit verdammt 178
hart gearbeitet, hatte sich trotz aller Widrigkeiten nicht unterkriegen lassen und Andrews geschnappt. Wer hätte gedacht, dass er mit dem Mörder eines Arztes nach Chicago zurückkehren würde? Obendrein hatten die aufgefundenen Briefe ihm das Schließfach verraten, durch das Haines' Post nach draußen geschleust worden war. Kevin hielt das für die heißeste Spur, Haines wieder zu fassen. Und nun sollte er mit ansehen, wie das alles dem verdammten Michener in den Schoß fiel ... Doch trotz seiner Empörung erkannte Kevin die FBIMechanismen hinter Hughs Entscheidung: Michener konnte eine erstaunliche Glückssträhne vorweisen. Im vergangenen Jahr hatte er eine Rekordzahl flüchtiger Verbrecher wieder hinter Schloss und Riegel gebracht das war die Art von Statistik, die für die Wiederwahl von Politikern sorgte, die Recht und Ordnung predigten und die Republikaner im ganzen Land besänftigte. Dass Michener einige dieser Burschen tot statt lebend ablieferte, beeinträchtigte seinen Ruf als Held keineswegs. Im nächsten Jahr würde er wahrscheinlich zum Dezernatschef ernannt werden. Die Kollegen rissen sich darum, mit ihm zu arbeiten, denn so, wie er seine Fälle anpackte, wurde die Verbrechensbekämpfung zu einem Abenteuer für harte Männer - vor allem, wenn man die richtige Art von Mann mit der richtigen Art von Sadismus war. Michener jedenfalls hatte eine große Klappe und jede Menge Sprüche auf Lager, wie man sie aus den HollywoodFilmen mit verwegenen, in ihrer Kühnheit beinahe selbstmörderischen Cops kannte, die ein Nein nicht als Antwort gelten ließen. Doch Kevin hatte Michener nie gemocht, und seinen Stil schon gar nicht. Vor ein paar Jahren hatte einer von Kevins Hauptzeugen, der auf Kaution frei war, sich über die Grenze aus dem Staub gemacht, und Michener hatte ihn aufgespürt. Eine atemlose Hetzjagd hatte damit geendet, dass Kevins Zeuge gegen eine Betonmauer geknallt und von ihm und seinem Wagen nur noch ausgeglühter Stahl und Asche übrig geblieben waren. 179
Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Ein Mann wie Michener würde Haines nie erwischen - dafür war Haines viel zu intelligent, zu gerissen, zu außergewöhnlich. Michener mochte ja mit Habgier, Bösartigkeit und Geilheit vertraut sein, doch was Haines antrieb, würde er nie begreifen können. Sein Jagdinstinkt würde Michener in diesem Fall ins Nichts führen. »Hugh ...«, begann Kevin; dann aber schüttelte er den Kopf, denn er sah ein, dass es sinnlos wäre, weiter zu argumentieren. »Arbeiten Sie mit ihm, Kevin. Gemeinsam werden Sie ein verdammt gutes Team abgeben.« »Ja.« Er ging zu Michener hinüber und wartete, bis dieser fertig war, ins Handy zu brüllen.
»Das Schließfach ist in Joliet«, sagte Kevin. »Gut.« Michener klopfte ihm freundschaftlich auf den Rücken. »Sehen wir's uns an.«
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Das Wohnzimmer war von Engeln regelrecht belagert. David trat ein und ließ den Blick über die Vitrine schweifen, in der Figurinen aus Porzellan, Kristall, Holz, Draht, sogar getrockneten Bohnen zur Schau standen. Weitere Engel thronten auf Beistelltischen. In jeder Ecke des Zimmers blickte ein puppengroßer Engel kokett zwischen gefalteten Flügeln hervor. Große Pastellzeichnungen hingen an den Wänden. Gail hatte David von ihren Bildern geschrieben, doch er war nicht darauf vorbereitet, wie grässlich sie waren. Einige waren unbeholfen realistisch: gütige, weiß gewandete Gestalten mit ausgebreiteten Flügeln; andere waren abstrakt: leuchtendes Gefieder in Pink und Gold und Mauve vor einem verschwommen himmlischen Hintergrund. Als Darstellung göttlichen 181
Wirkens ließen sie mehr als zu wünschen übrig. David Haines war misstrauisch gegenüber allen rührseligen, sentimentalen Abbildungen, die Gottes Güte und Liebe verdeutlichen sollten. So leicht war diese Liebe nicht zu gewinnen, schon gar nicht mit ein paar kümmerlichen Gebeten oder kitschigen Bildern. Nach der beruhigenden Kargheit seiner Zelle empfand er dieses mit Ramsch voll gestopfte Zimmer als unerträglich, war zugleich aber erleichtert, in einem Haus mit Fenstern und Wänden und Decken zu sein. Er hatte die einstündige Fahrt nach Chicago in inbrünstigem Gebet zugebracht und kein Wort gesagt; mit jeder Meile, die sie zwischen sich und die
Strafanstalt legten, empfand er neues Staunen: Es war wahrhaftig ein Wunder, dass sie es geschafft hatten. Eine weiße Katze tappte durchs Zimmer und rieb den Kopf an Davids Bein. Eher instinktiv beugte er sich hinunter und streichelte ihren Rücken, das Weichste, das er seit drei Jahren berührt hatte. Als er sich aufrichtete, sah er, dass Gail strahlte. »Wusste ich's doch«, sagte Gail. »Ich wusste, die Katze würde Sie mögen. Sie kennt sich mit Menschen aus.« David rang sich ein Lächeln ab. Er hoffte, dass es kein Fehler gewesen war, Gail auszusuchen. Er hatte es immer als abstoßend empfunden, als fehlgeleitet, wenn jemand seine ganze Liebe an Tiere vergeudete. Es gab nur eines, das der Liebe wert war. »Wo ist das Badezimmer?« »Hier, geradeaus. Tut mir Leid, wenn es dort ein wenig unordentlich ist, aber ich hatte nicht mehr viel Zeit zum Aufräumen.« Sie lachte verlegen, als würde ihr gerade erst bewusst, dass er kein üblicher Besucher war. »Danke«, entgegnete er nur und schloss die Tür hinter sich. 182
Das Badezimmer prangte in rosa Blümchentapeten und war mit einem rosa Teppichboden ausgelegt. Die farblich dazu passende Stoffbespannung des Toilettendeckels war dicht und flauschig, und es gab eine Unmenge weicher Hand- und Badetücher. Am Waschbecken standen zwei Schälchen voll zerdrückter Blütenblätter und ein Zahnbürstenhalter in Engelform. Ein hohes, aus Weiden geflochtenes Regal enthielt eine größere Zahl von Körbchen mit einer riesigen Auswahl an Seifen, Ölen und Kosmetika. David setzte sich auf die Toilette. Trotz des fremdartigen Dekors fühlte er sich hier seltsamerweise zu Hause, bis ihm mit einem Mal bewusst wurde, dass das Badezimmer etwa die gleiche Größe hatte wie seine Zelle. Er schloss die Augen. Es war unglaublich still; nur das leise Summen der Klimaanlage war zu hören und das Wispern eines draußen vorbeifahrenden Wagens. Er wusch sich die Hände und betrachtete sich im Spiegel. Als er ins Wohnzimmer zurückkehrte, stand Gail immer noch verlegen und verlassen da - wie eine Fremde im eigenen Haus. »Haben Sie einen elektrischen Haarschneider?«, fragte er. »Für Ihr wundervolles langes Haar?« Sie konnte ihre Bestürzung darüber nicht verbergen, dass er sein Aussehen offenbar drastisch verändern wollte. »Es ist besser so.« »Ich habe keinen Haarschneider, aber ich kann einen kaufen. Und Sie werden auch Kleidung brauchen. Welche Größe haben Sie?« Seine Größe? Es war lange her, seit er sich Gedanken über Kleidung hatte machen müssen. Gail ging über den Flur und kam mit einem Maßband zurück. »Tut mir Leid, dass ich Sie Geld koste«, sagte er. »Ich würde meinen letzten Cent für Sie ausgeben«, versicherte sie ihm, während sie seine Füße, dann seine Taille maß. Als ihre Hände seinen Hals berührten, spürte er, dass sie zitterten. Er ahnte, weshalb. Ihr wurde erst jetzt bewusst, was sie getan hatte und welches Risiko sie damit eingegangen 183
war. Sie hatte einem Todeskandidaten zur Flucht verholfen und bei sich aufgenommen. Ihre Furcht war verständlich, aber sie musste stark sein für ihn. Er berührte ihre Schulter. »Nur die Ruhe, Gail. Haben Sie keine Angst.« Sie hob ihm das tränennasse Gesicht entgegen. »Ich weine nicht, weil ich Angst habe«, brachte sie mühsam hervor, »sondern weil ich so glücklich bin, dass Sie hier sind. Nie zuvor habe ich etwas Besseres getan.« Gail zog den Haarschneider behutsam über Davids Kopf, und er beobachtete zufrieden, wie sein sandfarbenes Haar herabfiel und nur Stoppeln blieben. Er saß vor dem Spiegel im Badezimmer, ein Handtuch um die Schultern, und fühlte sich seltsam befreit, als würde er durch den radikalen Haarschnitt zu einem Selbst reduziert, das wahrhaftiger und elementarer war als bisher: zu dem schmächtigen Körper, der seine Seele einhüllte. Knochen, Sehnen, Haut. Er war ein umgekehrter Samson, dessen Kräfte wuchsen, wenn alles Unnötige von ihm abfiel. Er hatte fast zwei Stunden allein im Haus zugebracht, während Gail einkaufen gegangen war. Eine halbe Stunde hatte er im Wohnzimmer kniend gebetet; dann war er von Zimmer zu Zimmer geschlendert. Der Bungalow war ihm so riesig vorgekommen wie eine Kathedrale. Und genau so verschwenderisch, voller eitlem Zierrat. Die Möbel, die Engel, die Teppiche und Handtücher, die Deckchen - all der Krimskrams. Hing Gail so sehr an ihren weltlichen Dingen? Denn wo deine Schätze sind, da ist auch dein Herz. Am meisten aber machte ihm das Bild zu schaffen, das über Gails Bett hing. Sein Porträt. Er war von Raum zu Raum gegangen, hatte auch einen Blick in ihr Schlafzimmer geworfen. Und dort hing dieses große Aquarell an der Wand, das ihn darstellen sollte. David knipste das Licht an. Das Bild war in dem 184
gleichen gekünstelten, gefühlsduseligen Stil gemalt wie die Engel. Sein Gesicht leuchtete, sein Körper war von himmelblauem Dunst umhüllt, und seine Füße schienen den Boden nicht zu berühren. Er schwebte. Er konnte nur hoffen, dass Gail dieses Bild von der Wand nahm und versteckte, wenn sie Besuch hatte, doch er ahnte, dass nur sehr selten Besucher kamen. Und er zweifelte keinen Augenblick daran, dass sie ihr Bett noch nie mit jemandem geteilt hatte. Dass Gail einsam und unattraktiv war, hatte er mühelos zwischen den Zeilen ihrer Briefe gelesen. Und er hatte auch nicht im Entferntesten daran gedacht, dass sie ihm gegenüber erotische Gefühle empfand - dazu waren ihre Briefe zu fromm, zu diszipliniert und vor allem zu einfältig. Er zweifelte
nicht an ihrer Verehrung für ihn, stellte jedoch nach dem Rundgang durch den Bungalow ihre Motivation in Frage. War es seine Lehre, die sie liebte, oder liebte sie ihn als Mann? Dass es ein Risiko war, eine Frau zu seiner Jüngerin zu erwählen, hatte David immer schon gewusst. Er hoffte, er hatte bei Gail keinen Fehler gemacht. Wieder einmal fragte er sich, ob es nicht besser gewesen wäre, bei Bob Jarvis unterzukriechen. Aber das wäre schwierig zu arrangieren gewesen. Er hatte jemanden gebraucht, der außerhalb des Gefängnisses auf ihn wartete, und Bob war an diesem Vormittag im Dienst gewesen. Außerdem wohnte er in einem Mietshaus, während Gail einen eigenen Bungalow besaß. Außerdem würde Bob nach dieser Flucht vermutlich in Verdacht geraten. Außerdem war da Gails Job: Sie war Telefonistin bei der nationalen und internationalen Auskunft von Ameritech. Als David noch in der Zelle saß, hatte er sich von Gail die Adressen zweier Ärzten heraussuchen lassen, von einem in Kanada und einem in Georgia, und hatte sie an seine Getreuen weitergegeben. Wenn er sein Werk jetzt fortsetzen wollte, 185
würde Gails beruflicher Hintergrund sich als unschätzbar wertvoll erweisen. Sie begegnete seinem Blick im Spiegel. »Wie haben Sie das geschafft?«, fragte sie verlegen. »Ihre Flucht, meine ich.« »Sie wollten mein Blut.« Er erzählte Gail kurz, was die Ärzte darin entdeckt hatten. Sie war zutiefst erschüttert, als sie von dem blasphemischen Versuch erfuhr, sein Blut zu stehlen. »Die Ärztin, die man gesandt hatte, war Laura Donaldson.« Er sah den entsetzten Ausdruck auf Gails Gesicht. Sie zog den Haarschneider zurück, als befürchte sie, David zu verletzen. »Es tut mir schrecklich Leid«, sagte sie mit tränenfeuchten Augen. »Ich hätte ... wenn ich getan hätte, worum Sie mich gebeten haben, wäre es nicht so weit gekommen ...« »Es hat sich zum Besten gewandt, Gail«, sagte er sanft. »Es gab mir die Chance zur Flucht und die Möglichkeit, mein Werk fortzusetzen. Und Ihnen hat es die Gelegenheit verschafft, mir zu helfen.« Gail schniefte und nickte. »Aber ich weiß, dass ich Sie enttäuscht habe.« »Jeder muss sein Kreuz auf sich nehmen«, entgegnete er. »Jetzt, da Sie hier sind, weiß ich, dass ich stärker sein werde.« Er lächelte sie freundlich an, hatte aber erheblichen Zweifel an ihren Fähigkeiten. Bisher war Will Andrews der Einzige gewesen, der seine Pflicht bis zum Äußersten erfüllte. Zwei Tage vor seiner Flucht hatte David voller Stolz den Zeitungsbericht über Andrews gelesen. Da war ein vom Leben benachteiligter Mann, der endlich den Schritt in die entscheidende Richtung gewagt hatte. Nein, er fühlte mehr als Stolz, er empfand Erleichterung - die Gewissheit, dass seine Jünger sein Werk fortsetzten, dass alles, was er durch seine Taten gepredigt hatte, weiterlebte und nicht verloren ging. 186
»Sie können hier bleiben, solange Sie möchten«, versicherte ihm Gail. »Niemand wird Sie je hier finden.« Er sah das Flehen in ihren Augen. »Danke, Gail.« Sie fuhr ein letztes Mal mit dem Haarschneider über seinen Kopf. »Den Rest werde ich rasieren. Ich habe Rasierschaum und einen Rasierapparat mitgebracht.« »Gail«, sagte er sanft, »ich bin nur ein irdischer Diener wie Sie. Ich bin kein Engel.« Sie errötete. »Sie haben das Porträt gesehen? Es hat Ihnen nicht gefallen?« »Ich fand es sehr schmeichelhaft. Aber wir dürfen nicht vergessen, wem wir dienen. Ich bin unbedeutend. Was ich tue, ist bedeutend. Das Gleiche gilt für Sie.« Er drehte sich um und drückte eine Hand auf ihre Wange. Er spürte, wie sie leicht zusammenzuckte. Sie machte einen Schritt zurück, dann wurde sie ganz still, und ihre Augen ruhten auf seinen. »Äußerlichkeiten sind unwichtig. Wahre Schönheit kommt allein von innen.« Sie wich seiner Hand aus und beschäftigte sich mit der Dose Rasierschaum. »Das ist das Netteste, das seit langer Zeit jemand zu mir gesagt hat.« Sie sprühte Schaum auf seinen Kopf und füllte das Waschbecken mit heißem Wasser. Dann machte sie sich daran, ihm eine Glatze zu rasieren. »Was werden Sie jetzt tun?«, fragte sie. Anfangs hatte er es für das Wichtigste gehalten, nicht aufzufallen und sich nicht erwischen zu lassen. Er hatte sogar überlegt, ob er über die Grenze gehen sollte. Nun aber wusste er instinktiv, dass es nicht richtig wäre. Ungezählte Male hatte er sich gefragt, weshalb sein Blut eine besondere Substanz enthielt; nun hatte er erkannt, dass Gott ihn aus seiner Selbstgefälligkeit reißen und daran erinnern wollte, dass sein Werk noch nicht vollbracht war. Aber sollte er lediglich seine frühere Arbeit fortsetzen oder eine neue Richtung einschlagen? Er spürte, wie Gail ihm eine winzige Schnittwunde zufügte. 187
»Tut mir Leid«, entschuldigte sie sich. Im Spiegel sah er durch den weißen Schaum einen kleinen roten Flecken. Während Gail sich beeilte, ein Papiertaschentuch zu holen, starrte er auf die paar Tropfen seines Blutes. War er eine ungewöhnliche, einmalige Laune der Natur? Der einzige Mensch auf der Welt, der diese Enzyme in sich trug? Ausnahmsweise erlaubte er seinen Gedanken, dem noch immer vertrauten Weg seiner wissenschaftlichen Ausbildung zu folgen. Ja, es war möglich, dass es sich um eine chromosomale Mutation handelte, die sich nur bei ihm entwickelt hatte. Es könnte jedoch auch etwas sein, das seine Eltern ihm vererbt hatten. Und vielleicht ... Er konnte verstehen, weshalb er erwählt worden war, diese Teufelssubstanz in seinem Blut zu tragen. Aber hatte Gott sie auch seinem jüngeren Bruder gegeben? Was war, wenn das gleiche Blut in Ricks Adern strömte? Und was wäre dann der Sinn? Die Antwort drängte sich ihm wie eine beginnende Übel keit auf: Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Ich bin gekommen, den Sohn mit seinem Vater zu entzweien und den Bruder mit dem Bruder. Er fühlte sich wieder ganz klein. Er hatte sich in der stillen Zelle seines Geistes etwas vorgemacht, hatte geglaubt, er könne über die Grenze fliehen, seinen Verfolgern entkommen. Doch es gab hier so viel für ihn zu tun. Er durfte nicht davonlaufen. Wie immer lag sein Weg klar vor ihm, obwohl er versucht hatte, ihn mit seinen Wünschen, seiner Selbstsucht und Nichtigkeit zu einem Irrweg zu machen. Vor einigen Wochen hatte David in der Zelle einen Brief von seinem Bruder erhalten, eine Art Abschiedsbrief Ricks Versuch, sich zu entschuldigen und seine Schuld zu schmälern für das, was er ihm angetan hatte. Rick hatte keinen Absender angegeben, doch der Stempel auf der Marke war deutlich zu erkennen gewesen: 188
Chicago. Demnach dürfte es Gail nicht allzu schwer fallen, Ricks Telefonnummer herauszufinden. Gail war mit dem Rasieren fertig und wischte jetzt mit einem Handtuch den restlichen Schaum ab. David starrte sein Spiegelbild an. Sein Gesicht war nun viel schmäler, fast asketisch. Er nickte dem Fremden im Spiegel zufrieden zu. »Ich brauche jetzt Ihre Hilfe, Gail, mehr denn je.« Sie nickte eifrig, doch David fragte sich, ob er nicht einen Hauch von Widerstreben in ihren Augen las. »Ich hätte gern die Adresse meines Bruders, Richard Haines. Er ist hier in der Stadt, hat aber möglicherweise eine Geheimnummer. Könnten Sie diese Nummer für mich herausfinden?« Gail sah beinahe erleichtert aus. »Ich werde mich gleich morgen Früh als Erstes darum kümmern.« Sie quartierten Laura im Swissotel an der East Wacker mit falschem Namen ein. Vom Fenster ihres Zimmers konnte sie die Columbus Street Bridge sehen; ein Stück weiter im Norden ragten die Wolkenkratzer an der Michigan Avenue in den Himmel, Chicagos Magnificent Mile, die Prachstraße. Direkt gegenüber befand sich ein Bürogebäude, das Equitable House, in dem jedes Stockwerk wie ein Diorama aus Büros und Arbeitsplatzcomputern war: ungezählte Köpfe vor ungezählten Monitoren. Ein so vertrautes Bild so vieler Menschen ganz in der Nähe hätte Laura eigentlich beruhigen müssen; stattdessen steigerte das Eingeschlossensein hinter den Hotelfenstern, die sich nicht öffnen ließen, ihr Gefühl der Isolierung. Es war kurz nach siebzehn Uhr, und es erschien ihr fast unmöglich, dass das Leben außerhalb ihres Zimmers seinen üblichen Gang nehmen konnte: dass die Leute nun bald die Büros und Geschäfte verließen und zu ihren Autos oder in die U-Bahn-Stationen strömten, um nach Hause zu fahren, das Abendessen zu bereiten und im Kreis der Familie, vielleicht auch allein, einen mehr oder weniger schönen Abend zu verbringen. Laura hatte das Gefühl, als wäre ihre ganz persönliche Uhr im Augenblick ihrer Flucht aus dem 189
Mobillab stehen geblieben, und nun existierte sie nur noch in einem gespenstischen Warteraum, dessen Türen ins Nichts führten. Sie wünschte, sie hätte einen Balkon oder sonst eine Möglichkeit, frische Luft zu schöpfen. Mit einem Mal erinnerte sie sich an Haines und wich unwillkürlich einen Schritt vom Fenster zurück. Er sei vielleicht gar nicht in dieser Stadt, hatte Kevin Sheldrake ihr versichert, aber diese Worte konnten sie nicht beruhigen. Er könnte da sein, nur das zählte. Er war wie ein Ungeheuer, den schrecklichsten Albträumen entsprungen; ein Monstrum, das aus ihrem Unterbewusstsein in die reale Welt gerissen und zu bedrohlichem Leben erwacht war und nun alles tat, sich wieder mit ihr zu vereinen. Zum ersten Mal wünschte sich Laura, die Gewalt
stets vehement abgelehnt hatte, eine Schusswaffe. Sie zog die Vorhänge zu, öffnete sie aber rasch wieder, weil sie sich bei geschlossenen Vorhängen noch einsamer, noch mehr von der realen Welt abgeschnitten fühlte. Unruhig ging sie im Zimmer umher. Sie hasste es, so untätig zu sein. Sie hatte nichts, keine Kreditkarten, keinen Führerschein. Ihr Wagen stand noch immer bei MetaSYS in Morton Grove. Sie fühlte sich ohnmächtig, gelähmt. Aber sie war zu verängstigt, sich jetzt irgendwohin zu begeben - und das hasste sie noch mehr. Sie setzte sich in einen der grün und weiß gestreiften Sessel. Ihre Dose mit Pfefferspray stand neben ihr einer der wenigen Gegenstände, die Laura rasch eingesteckt hatte, als ein FBI-Beamter mit ihr nach Hause gefahren war, damit sie die wichtigsten Dinge in eine Reisetasche packen konnte. Sie hatte das Pfefferspray auf Anhieb gefunden; irgendwann hatte sie es gleichmütig ganz nach hinten in eine Küchenlade geschoben, als warte die Dose dort darauf, als Gewürz benutzt zu werden. 190
Laura wünschte sich, ein wenig Phenmetrizine dabeizuhaben. Sie spürte, wie das letzte bisschen Adrenalin aus ihr schwand und sie wieder von der vertrauten, mit Kopfschmerzen verbundenen Müdigkeit, dem Ekel vor sich selbst und der wachsenden Besorgnis heimgesucht wurde. Sie wollte nicht in einen Zustand der Apathie verfallen; sie wollte hier nicht schlafen. Dummerweise hatte sie heute Früh ihre letzte Flasche in die Handtasche gesteckt, und die war im Gulfstream entweder zerquetscht worden oder befand sich nun in der Hand eines Psychopathen namens David Haines. Den ganzen Tag, während sie ständig von aufgeregten FBI-Agenten und Polizisten umgeben gewesen war, hatte sie nur das bedrückende Gefühl empfunden, versagt zu haben, was der Wirkung eines Anästhetikums sehr nahe kam. Jetzt aber, in der Stille des Hotelzimmers, entwickelte ihre Furcht ein beängstigendes Eigenleben. Vor ihrem inneren Auge sah sie Haines, der den Inhalt ihrer Handtasche vor sich ausgebreitet hatte - ihren Personalausweis, ihre Kreditkarten, die Fotos ihrer Familie ... Gott sei Dank waren wenigstens sie nicht in der Stadt. Aber alles über ihr Leben war Haines nun preisgegeben, sogar die Namen ihres Schönheitssalons und ihres Haarstylisten. Sie würde umziehen müssen, alle würden umziehen müssen. Wie konnte sie je wieder ohne Angst arbeiten? Reiß dich zusammen! Wie standen die Chancen, dass Haines tatsächlich im Besitz ihrer Handtasche war? Sie hatte die Tasche ins Handschuhfach gelegt. Warum sollte Haines dort nachsehen? Und zwischen ihrer Flucht und dem großen Crash waren nur Minuten vergangen. Er hatte hinter dem Lenkrad gesessen. Er hätte gar nicht die Gelegenheit gehabt, sich zur Seite zu beugen und im Handschuhfach zu kramen. Das hatte auch Kevin Sheldrake gemeint. Laura rief sich sein müdes, ein wenig melancholisches Gesicht ins Gedächtnis und fühlte sich seltsam beruhigt. Leider hielt dieses Gefühl nicht lange an. 191
Sie sind seine ideale Zielscheibe. Auch das hatte er gesagt. Und das war weit weniger beruhigend. Laura hatte nicht erwartet, ganz allein gelassen zu werden. Sie hatte damit gerechnet, das man einen FBIAgenten zu ihrem Schutz abstellen würde - zumindest im Nebenzimmer bei offener Tür. Doch nachdem ihre Begleiterin sie zu ihrem Zimmer brachte, hatte sie ihr nur eine Liste mit Telefonnummern dagelassen, für den Notfall, und ihr versichert, sie käme am Morgen wieder und würde sie zur hiesigen Dienststelle fahren. Laura hatte betrübt zugeschaut, wie die Tür sich hinter der Frau schloss, und wie ein Kind hatte sie heimlich gefleht: Lass mich nicht allein! Dann hatte sie ein paar Sekunden entmutigt die Tür angestarrt und eilig den Riegel vorgeschoben. Jetzt griff sie nach dem Telefon, doch ihre Finger hielten über den Tasten inne. Wen könnte sie anrufen? Ihr Vater war bereits nach Mexiko unterwegs, und die Nummer der Klinik stand in ihrem Notizbuch. Sie rief Emily im Labor an, doch es meldete sich nur der Anrufbeantworter. Als sie vier Ziffern von Adrians Nummer gewählt hatte, legte sie auf. Was sie jetzt wirklich wollte, war Trost, und Laura war sicher, dass Adrian nicht alles stehen und liegen ließ, nur um zu ihr zu eilen und ihre Hand zu halten. Stattdessen versuchte sie Pauls Nummer - er konnte ihr sagen, wie es stand -, aber auch bei ihm meldete sich lediglich der Anrufbeantworter. Wahrscheinlich hatten alle schon Feierabend gemacht. Laura schaltete den Fernseher ein, zappte sich durch die Programme und fand schließlich einen Sender, der eine Reportage über Haines' Flucht brachte. Die Luftaufnahme des entgleisten Güterzugs erschien in der flimmernden Hitze unwirklich. Dann war auf dem Bildschirm ein Mann mit dichtem Haar zu sehen, der sich die Schuppen von den Schultern seiner marineblauen Uniform wischte. Ein Untertitel besagte, dass er Direktor des Staatsgefängnisses Illinois war. 192
Der Mann wirkte angesichts der Unzahl ihm entgegengestreckter Mikrofone übernervös. »... denn sie hatten einen gültigen Gerichtsbeschluss. Mir wurde die Sache aus der Hand genommen. Die für Haines zuständigen Wächter unterstanden nicht mir, sondern waren private Sicherheitsleute von MetaSYS. Das ist alles, was ich zurzeit sagen kann ...« Bei der Erwähnung von MetaSYS zuckte Laura vor Überraschung zusammen. Aber was hatte sie erwartet? Sie war nur nicht darauf vorbereitet gewesen, dass die Neuigkeiten sich so schnell verbreiteten. Selbst in ihrer Benommenheit erkannte sie, dass MetaSYS ein Sturm öffentlicher Empörung drohte. Kurz entschlossen wählte sie Adrians Büronummer. Als er sich persönlich meldete, wurde Laura unwillkürlich von Dankbarkeit und Erleichterung durchströmt. »Laura, Gott sei Dank! Man hat Sie also sicher untergebracht?« »Glaubt das FBI zumindest. Aber sehr sicher fühle ich mich nicht.« »Ist alles in Ordnung mit Ihnen?« Laura schämte sich ein wenig, als sie erkannte, wie sehr sie sich über Adrians offenkundige Sorge um sie freute. Zwar siezte er sie, aber das hatte er immer getan, außer wenn sie damals unter vier Augen gewesen waren. »Ich fühle mich nur ein bisschen mitgenommen«, antwortete sie. »Paul hat mir erzählt, was im Labor passiert ist ...« »Meine Schuld. Ich hätte erkennen müssen, dass er schauspielert«, unterbrach sie ihn mit kummervoller Stimme. »Sie haben getan, was jeder gute Arzt getan hätte. Ich weiß zwar nicht, wo Sie jetzt sind, aber ... « Laura nahm den Hörer vom Ohr. Schritte näherten sich auf dem Korridor. Sie hielt den Atem an und lauschte. Die Schritte entfernten sich und verstummten, als eine Tür zugeschlagen wurde. Wie dumm von ihr! Woher sollte Haines wissen, wo sie war? »Laura?« 193
»Ja, ich hab Sie schon gehört.« Ihre Worte kamen als heiseres Keuchen. »Es ist wirklich schlimm hier, sehr schlimm sogar«, sagte Adrian. »Haben Sie es im Fernsehen mitgekriegt?« »Ja, gerade eben erst.« »Ich fürchte, wir werden für einen Teil des Schadens aufkommen müssen. Paul rechnet damit, dass alle uns verklagen: die Familien der Sicherheitsleute, die Eisenbahngesellschaft - möglicherweise sogar das Justizministerium. Was für ein verdammter Mist! « »Es tut mir sehr Leid, Adrian«, flüsterte sie. »Hören Sie, Laura - Sie haben nichts zu befürchten. Überall wird nach Haines gesucht. Man ist sicher, dass er binnen vierundzwanzig Stunden gefasst sein wird. Vielleicht haben sie ihn schon.«
»Dann können wir ihm weitere Proben abnehmen, nicht wahr?« Sie hörte, wie Adrian den Atem ausstieß. »Das ist nicht so einfach. Der Gerichtsbeschluss galt nur für einen Tag. Wir müssten einen neuen beantragen.« »Dann tun wir es«, sagte sie, empfand aber tiefe Enttäuschung. Schließlich war es schon beim ersten Mal alles andere als leicht gewesen. Ihr Blick wanderte ruhelos über das Gebäude vor ihrem Fenster, und sie las kurz die Buchstaben an der obersten Etage des Equitable House. Der erste Buchstabe war von hier aus nicht zu sehen. Equitable. Quitable. Laura wünschte, sie könnte ein Fenster öffnen. »Hören Sie, Laura, Paul hat einen Anruf von Vic Greene bekommen, der bereits ein außerordentliches Rechtsmittel gegen den Gerichtsbeschluss für uns eingereicht hat. Greene behauptet, er hätte die Vereinigung zum Schutz der Bürgerrechte auf seiner Seite. Wir sind da in einen schlimmen Schlamassel geraten. Morgen will Greene eine Pressekonferenz 194
geben. Ich glaube, ich kenne seine Strategie: Mächtiger Industriebonze verletzt die Menschenrechte und schert sich einen Dreck um die religiösen Überzeugungen eines Mannes, der ihm hilflos ausgeliefert ist. Und so weiter, und so fort. Die Medien werden sich darauf stürzen! « »Aber wir werden doch einen neuen Gerichtsbeschluss beantragen, nicht wahr?« »Ich möchte es schon, aber Paul hat seine Zweifel.« Feiglinge, dachte Laura wütend. Ihr gebt viel zu schnell auf. Laut sagte sie: »Aber wir haben es doch schon einmal geschafft! « »Diesmal wird es anders sein. Eine reguläre Anhörung vor drei Richtern des Appellationsgerichts, die sich streng an die Buchstaben des Gesetzes halten, wie Paul sagt. In dieser Sache geht es um einen Eckpfeiler unserer Verfassung.« »Also wirklich«, brauste Laura auf. »Es geht um Krebs! Wir können medizinische Sachverständige hinzuziehen. « »Das kann Greene auch. Hören Sie, ich werde morgen Mittag unsere eigene Pressekonferenz halten. Mal sehen, ob wir Greenes Veranstaltung zuvorkommen können. Und es würde einen besseren Eindruck machen, wenn wir eine weltbekannte Krebsforscherin dabeihätten, die erklärt, dass dieser Haines vielleicht den Schlüssel zur Heilung von Krebs in sich trägt.« »Ich werde kommen.« »Und ich finde, wir sollten die Videoaufnahme zeigen.« Einen Augenblick wusste Laura nicht, was sie sagen sollte. Die Aufnahme öffentlich vorführen, dass die ganze Welt sie sehen konnte? Das war so, als würde sie vor versammeltem Publikum die Kombination eines Geheimsafes verraten. Würde jeder Krebsspezialist des Landes sich zu dieser kostenlosen Fütterung einfinden? Sie seufzte. Es ging wohl nicht anders. Entscheidend war allein, das Blut zu bekommen. »Ja«, erklärte sie sich einverstanden. »Ich tue hier mein Bestes, Laura, aber der Vorstand hat für morgen Nachmittag eine Sondersitzung einberufen. 195
Wenn wir die Sache vor den Kadi bringen und den Kürzeren ziehen, machen die Aktionäre uns die Hölle heiß, und wir können Konkurs anmelden. Ich meine ... Haines könnte die Jagd auf ihn möglicherweise nicht lebend überstehen.« Laura dachte an den menschlichen Bluthund Michener und zuckte zusammen. Es war gut möglich, dass Haines getötet wurde. »Ich verstehe.« »Versuchen Sie ein bisschen zu schlafen, Laura. Ich wünschte, ich könnte bei Ihnen sein, aber ...« Komm doch, hätte sie am liebsten gerufen, verkniff es sich jedoch. »Es geht mir gut, Adrian, danke.« Als sie aufgelegt hatte, lastete die Stille des Hotelzimmers
wie ein Albdruck auf ihr. Sie starrte auf die Vorhänge; ihr Blick folgte dem Blumenmuster, bis sie nur noch wirre Linien sah, die ins Nirgendwo führten. Erst ihr Protokoll, jetzt Haines ... sie hatte versagt, kläglich versagt. Warum, zum Teufel, gab es hier keine Fenster, die sich öffnen ließen? Irgendwie schaffte sie es trotz ihrer Panik zum Badezimmer. Sie kauerte sich auf die Toilette und versuchte verzweifelt, sich auf irgendetwas zu konzentrieren, den Dingen, die sie umgaben, einen Namen zu geben, einem nach dem anderen, um nur ja nicht wie ein Ballon davonzuschweben. Föhn. Marmorplatte. Scherenspiegel. Abfalleimer. Telefon ... zähl die Knöpfe, eins, zwei ... ich kann es nicht ... drei, vier, sinnlos ... Sie hatte so gut wie nichts im Magen, das sie erbrechen könnte, trotzdem würgte sie immer wieder, als wolle sie das schreckliche Gefühl ausspucken, versagt zu haben. Zitternd sank sie auf den Marmorboden. Steh auf! Kann nicht. Schalt die Lampen ein! Kann nicht. Dreh das Wasser auf! Kann nicht. Tut mir Leid, Sandra. Tut mir schrecklich Leid. 196
Sie lehnte sich an das Waschbecken und versuchte, nur an das kühle Porzellan an ihrer Wange zu denken, an nichts anderes. Langsam schwand ihre Panik, doch mit ihr auch Lauras gesamte Energie. Sie konnte nichts tun, um Haines zurückzubringen, gar nichts. Doch selbst wenn sie noch einmal Blut von ihm bekäme - wie kam sie auf den Gedanken, dass sie mit seiner Hilfe wirklich ein Heilmittel entwickeln konnte? Wenn sie bloß daran dachte, was ihr in letzter Zeit alles misslungen war! Plötzlich übermannte sie das Bedürfnis zu fliehen, von hier zu verschwinden, von ihrem Labor und MetaSYS und David Haines. Ja, sie musste irgendwo unterkriechen, wo er sie wirklich nicht finden konnte, falls er hinter ihr her war. Sobald sie erst ihre Kreditkarten wieder hatte, konnte sie zum O'Hare fahren und einen Flug buchen, irgendwohin, wohin sie gerade wollte. Vielleicht eine Woche nach Paris. Oder nach Tijuana, ihre Schwester besuchen. Doch noch während Laura sich das alles ausmalte, wusste sie, dass es unter keinen Umständen infrage kam. David Haines mochte für sie verloren sein, aber sein Blut vielleicht nicht. Sie wusste, was sie tun musste. Seinen Bruder finden. Rick Haines. »Das ist keine gute Idee.« Seth Michener antwortete nicht, blickte Kevin nur gleichmütig an, während er die Coladose an die Lippen hob und austrank. Dann stellte er sie zu zwei weiteren leeren Dosen und griff nach der mit Himbeerkonfitüre gefüllten Blätterteigschnitte. Kevin redete unbeirrt weiter. »Wir sollten Jarvis observieren. Bis Mittag können wir die Leitung anzapfen und mit einem unserer Spezialfahrzeuge einen Lauschangriff starten. Wir müssen jetzt noch eine Weile durchhalten, Mitch.« »Und ich muss pinkeln.« Michener verließ die stickige kleine Kammer und ging zu den Toiletten. In seinen abgetretenen Schuhen, den 197
durchgewetzten Jeans und der dünnen Windjacke passte er gut zu den Frühgästen im Donut Time. Joliet war eine trostlose Kleinstadt, die sich von anderen nur durch die drei riesigen Strafanstalten in ihrem Weichbild unterschied. Kevin blickte durchs Fenster auf das Ödland leerer Parkplätze, Supermärkte, StripLokale und Gebrauchtwagenhandlungen am Rand der Stadt. Er sehnte sich nach einer Dusche und nach Schlaf. Es war sieben nach vier, und sie warteten auf Ablösung. Gestern - obwohl es Kevin vorkam, als wäre eine Ewigkeit vergangen; seit Haines' Flucht aus dem Gefängnis war er pausenlos im Einsatz gewesen gestern hatte er mit Michener den Unfallort verlassen, um das Schließfach aufzuspüren. Es war nicht schwierig gewesen. Sie brauchten auch keinen Gerichtsbeschluss, um Näheres zu erfahren. Der Leiter des Postamts war sehr zuvorkommend, beinahe kriecherisch geworden, nachdem er ihre FBI-Marken gesehen hatte. In Sekundenschnelle erfuhren sie Namen und Adresse des Mannes, der das Schließfach gemietet hatte. Bob Jarvis. Kevin hatte sich erkundigt, ob sich zurzeit Post in dem Schließfach befand, doch es war leer gewesen. Er hatte dem Postbeamten seine Karte gegeben und ihn gebeten, ihn anzurufen, sobald Briefe kämen. Seine Hilfe wäre sehr wichtig für die Ermittlungen, betonte er. Selten hatte er einen glücklicheren und von seiner Wichtigkeit überzeugteren Menschen gesehen. Als Nächstes waren sie zur Strafanstalt gefahren, dem von einer Medienmeute belagerten Staatsgefängnis Illinois. Direktor Humphries war alles andere als erfreut gewesen, als Kevin darauf hinwies, dass einer seiner Wärter gemeinsame Sache mit Haines gemacht habe. Als er Jarvis' Namen nannte, wurde das Gesicht des Direktors noch grauer als bei der Ankunft der FBIMänner. Jarvis war seit fünfzehn Jahren Wärter im Staatsgefängnis. Sie studierten seine Personalakte, kopierten das dazugehörige Passbild und erfuhren 198
alles Wissenswerte über ihn. Jarvis war noch im Dienst, doch Kevin beschloss, ihn nicht an Ort und Stelle zu vernehmen. Sie hatten seine Adresse, das genügte. Gegen sechzehn Uhr waren Kevin und Mitch zurück in Chicago, wo sie das Konferenzzimmer des FBI-Büros zu ihrer Kommandozentrale machten. Sie zogen so viele Beamte von der Fahndung und dem Morddezernat ab, wie sie konnten, und hatten bis zum Abend siebenundachtzig Special Agents zur Verfügung, welche die Straßen abklapperten; dazu zwölf Deputy Marshals und Beamte von der Chicagoer Polizei. Kevin stellte einen Mann zur Beschattung von Laura Donaldsons Apartment ab, für den Fall, dass Haines so unüberlegt sein würde, den Versuch zu unternehmen, an sie heranzukommen. Es war eine reine Vorsichtsmaßnahme - Haines würde bestimmt damit rechnen, dass Lauras Wohnung beobachtet wurde, und natürlich war es vorrangig für ihn, sich nicht erwischen zu lassen. Gegen zwanzig Uhr, nachdem Kevin ein Überwachungsteam zusammengestellt und zur Observierung von Jarvis' Wohnung eingesetzt hatte, stahl er sich die Zeit, Diane anzurufen. »Hör zu, David Haines ist geflohen.« »Ich hab's schon gehört.« Aus ihrer Stimme klang Empörung, als hätte Kevin persönlich Haines' Zellentür geöffnet und ihm zur Flucht verholfen. »Willst du damit sagen, dass wir uns in Gefahr befinden?« »Nein, eure Nummer steht nicht im Telefonbuch. Außerdem ist es nicht seine Art, irgendetwas aus Rache zu tun. Ich wollte ... ich wollte dich nur bitten, dass du Becky eine Zeit lang zu Dad bringst, bis die Dinge sich beruhigt haben.« Kurz fragte er sich, ob er tatsächlich so wichtig war, dass Haines auf den Gedanken kommen könne, sich an seiner Familie zu rächen. Realistisch betrachtet war nicht damit zu rechnen, dass Haines auch nur einen Gedanken an ihn verschwendete. 199
»Ist er in der Stadt?«, fragte Diane. »Das wissen wir noch nicht.« »Großer Gott!«, entfuhr es ihr. »Ich bin sicher, du freust dich, dass er wieder zurück in deinem Leben ist. Aber er war ja nie weit davon entfernt.« »Bitte, bring Becky woanders hin, okay?« »Ist gut.« Eine Pause entstand, und Kevin fragte sich, ob Diane ihn nun bitten würde, vorsichtig zu sein. Doch sie sagte nur: »Danke, dass du uns Bescheid gesagt hast«, und legte auf. Michener kehrte in die Kammer zurück. »Sie haben so was wohl noch nicht oft gemacht, Kevin, hm?«
Kevin blickte ihn ruhig an. Er rechnete damit, dass Michener ihn einen Angsthasen oder Schlimmeres nennen würde. »Gewaltsam in eine Wohnung eindringen - nein. Aber das ist der Grund, dass ich es für einen Fehler halte. Erinnern Sie sich an Waco, Texas, 1993?« »Ist schon lange her. War eine ziemlich spektakuläre Show damals.« »Da haben wir jede Menge Scheiße gebaut. Und es wird uns jetzt nicht besser gehen, wenn wir eine Hausdurchsuchung bei Jarvis machen.« Michener zuckte die Schultern. »Es ist ganz einfach. Wir dringen in die Bude ein, nehmen sie fest, sind gegen neun, spätestens halb zehn zurück im Büro und füllen Formulare aus.« Kevin wusste, dass es Michener Spaß machte, sein Jagdwild am liebsten dort zu verhaften, wo es am sichersten zu sein glaubte - bei Frau, Freundin, Eltern, Geschwistern, Großmutter. Es war erstaunlich, wie gering die Vorstellungskraft gehetzter Verbrecher war und wo überall sie glaubten, sich verbergen zu können. »Haines wird nicht dort sein.« 200
»Wer sagt das?« »Er hat mindestens einen Komplizen. Was glauben Sie denn, wer den Wagen gefahren hat? Lassen Sie uns zwölf Stunden warten, Mitch. Jarvis kann uns zu Haines führen - und vielleicht auch zu seinen anderen Anhängern.« »Wenn Ihre Nerven zu schwach sind, können Sie nach Hause gehen. Ich rufe Sie an, wenn wir Jarvis hoppgenommen haben.« Kevin erkannte, dass er Michener nicht umstimmen konnte. Auf keinen Fall aber würde er ihn Jarvis' Wohnung allein betreten lassen. Zu gut war ihm Micheners Vorliebe bekannt, das Gesetz selbst in die Hand zu nehmen und Polizist, Richter und Henker in einem zu spielen. »Es wird keine Toten geben, nicht wahr, Mitch?« »Wenn der Bursche keinen Unsinn macht«, sagte Michener mit düsterer Miene. »Ich weiß gar nicht, warum Sie so ein Getue machen. Dieser Kerl hat eine Menge Leute auf dem Gewissen. Wie viele waren es? Ach ja, jetzt sind es neun, mit den zwei Mann vom Sicherheitsdienst. Ich glaube nicht, dass jemand ihm eine Träne nachweint.« Sein Grinsen wurde eisig. »Eins sag ich Ihnen. Falls ich oder unsere Männer in Gefahr kommen, auch nur in die Nähe einer Gefahr, werden wir schießen. Und wenn Sie klug sind, sollten Sie es auch tun.« Kevin stellte sich vor, wie Koffein und Zucker durch Micheners Adern blubberten und kurz davor standen, ihn wie einen Dampfkessel unter hohem Druck explodieren zu lassen. Es würde schlimm werden, sehr schlimm. Er wollte die Wohnung nicht stürmen. Jarvis war mit Sicherheit bewaffnet. Als Wärter eines Hochsicherheitsgefängnisses konnte er wahrscheinlich sehr gut mit seiner Schusswaffe umgehen. Und falls Haines unerwartet bei ihm war, würde auch er bewaffnet sein, entweder mit der Pistole aus dem Gulfstream oder einer Waffe, die Jarvis ihm gegeben hatte. Vielleicht erwartete man sie sogar. 201
Er hatte Angst, in die Wohnung einzudringen, o ja. Wer dabei keine Angst hätte, wäre ein Idiot. Doch ihm wurde plötzlich klar, dass er die meiste Angst davor hatte, Haines könnte getötet werden - und das nicht nur wegen seines Blutes, von dem Dr. Donaldson ihm erzählt hatte. Kevin wollte nicht, dass Haines starb. Er nahm es persönlich. Obwohl ein Gegner der Todesstrafe, hatte er es kaum erwarten können, dass Haines endlich das Zeitliche segnete. Jetzt aber erkannte er, dass er ebenso sehr Angst davor gehabt hatte. Er wollte nicht, dass Haines vernichtet wurde - aber was sollte das? Mit den Handknöcheln rieb er sich die brennenden Augen. Was spielte es für eine Rolle? Wenn sie ihn lebend festnahmen, würde er in wenigen Tagen seine tödliche Spritze bekommen. Davor konnte er Haines nicht retten. Retten? Wie kam er plötzlich darauf? Michener blickte ihn amüsiert an. »Ich weiß, Sie halten mich für eine Cartoonfigur, Kevin, einen wild entschlossenen Cowboy ohne einen Funken Verstand. Aber glauben Sie mir, ich weiß, was ich tue. Ich mache das jetzt seit sechzehn Jahren, und ich bin verdammt gut in meinem Job. Vielleicht überrasche ich Sie noch.« Er blickte an Kevin vorbei durchs vordere Fenster. Kevin drehte sich um und sah einen schwarzen Kastenwagen auf den Parkplatz fahren. Zwei Männer in kugelsicheren Westen stiegen aus. »Gut«, sagte Michener, »unsere Jungs sind hier.« Bob Jarvis' Wohnung befand sich auf der dritten Etage. Michener hielt den Hauptschlüssel in der Hand, den der Hausmeister ihm überlassen hatte. Kevin beobachtete, wie er ihn ins Schloss steckte, umdrehte und die Tür weit genug öffnete, dass er die Sicherheitskette sehen konnte. Michener machte einen Schritt zurück und zog seinen .45er Colt. Es war eine verdammt große Waffe, unhandlich und für einen Polizeieinsatz absolut illegal. 202
Kevin konnte sich denken, weshalb Michener das Ding benutzte. Wenn man eine solche Waffe auf sich gerichtet sah, überlegte es sich auch der härteste Bursche zweimal, ob er Widerstand leisten sollte. Kevin hielt seine 9-mm-Pistole bereits in der Hand. Die anderen acht Polizisten der Einsatztruppe waren mit Pumpguns bewaffnet. Kevin hasste Gewehre. Als er in Quantico zum ersten Mal durch das Teleobjektiv eines Gewehrs blickte und den Kopf eines Menschen im Fadenkreuz sah, hatte er außer dem Gefühl erschreckender Macht plötzliche Übelkeit empfunden. Es war so furchtbar einfach: Man musste nur ganz kurz den Abzug betätigen, und jemand verlor sein Leben. Vielleicht war er deshalb nie ein besonders guter Schütze gewesen. Er spürte sein Herz gegen die schwere kugelsichere West hämmern. Michener blickte ihn grinsend an. »Macht mir Spaß, als Erster zu gehen«, flüsterte er. Dann warf er sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die Tür. Sie barst, und plötzlich war Kevin in der Wohnung. Seine Ohren schmerzten vom Gebrüll Micheners und seiner Leute. »FBI ...!« »... wo ist David Haines ...?« »... Hände auf den Kopf! Na los!« Der Hausmeister hatte ihnen einen Plan des Stockwerks gegeben. Die Tür hatte sie direkt ins winzige Wohnzimmer geführt. Das Licht des frühen Morgens fiel durch die cremefarbenen Jalousien. Kevin schaute sich aufmerksam um. »Niemand da!«, rief er und wusste bereits, dass sie sich verkalkuliert hatten. Kein Gästebett, keine Decken. Niemand hatte im Wohnzimmer geschlafen. Kein Haines. Es gab nur einen kurzen Flur, an dem sämtliche Türen auf der rechten Seite lagen. Michener und seine Männer sicherten eine nach der anderen. »Küche, nichts!« »Badezimmer, nichts! « 203
Blieb nur das Schlafzimmer. Düsteres Licht fiel aus der offenen Tür, doch ehe Michener sie erreichte, knallten zwei Schüsse, und die Kugeln bohrten sich unmittelbar hintereinander in die Wand des Flures. »Die Waffe runter!«, rief Michener und ging langsamer. Keine Antwort. Kevin wartete schwitzend auf dem schmalen Flur. Jarvis hatte also nicht vor, sich festnehmen zu lassen. Wahrscheinlich hatte er Deckung hinter seinem Bett gesucht und hielt seine Waffe auf die Türöffnung gerichtet. Es war genau, was er befürchtet hatte. »Legen Sie die verdammte Waffe nieder!«, brüllte Michener. »Wir haben einen Mann draußen, der Sie genau im Fadenkreuz hat. Zwingen Sie mich nicht, ihm den Schießbefehl zu geben.«
Das war Blödsinn, und Jarvis wusste es wahrscheinlich. Es gab da draußen keine Scharfschützen. Alle Fenster schauten auf eine schmale Gasse. Nur ein Scharfschütze in der Wohnung unmittelbar gegenüber könnte etwas ausrichten. Doch da war niemand. Immer noch keine Antwort. »Bob«, rief Michener fast kichernd. »Geben Sie mir eine Chance, okay? Ich komme ins Zimmer, und einer von uns kriegt eine Kugel ab. So, und jetzt möchte ich sehen, wie Sie Ihre Waffe auf den Korridor schlittern lassen.« Nichts. Jarvis durchschaute den Bluff. Er wusste genau, dass niemand, der bei klarem Verstand war, sich freiwillig in die Schusslinie begeben würde. »Räuchern wir ihn aus«, brüllte Michener in sein Reversmikrofon. In knapp einer Minute kam ein Agent mit Metallkanistern und Gasmasken durch die Tür. Kevin beeilte sich, seine Gasmaske über den Kopf zu ziehen, 204
und atmete die stickige, nach Gummi riechende Luft ein. »Bob!«, rief Mitch, »ich zähle jetzt bis fünf. Wenn Sie Ihre Waffe bis dahin nicht rauswerfen, pumpen wir Rauch zu Ihnen hinein. Eins ... zwei ... drei ... vier ... fünf ...« Michener schlich ein paar Zentimeter weiter, zog den Ring am Kanister hoch und warf ihn in hohem Bogen ins Zimmer. Der zweite Kanister folgte Augenblicke später. Jetzt erst, als der dichte gelbliche Rauch bereits auf den Korridor quoll, streifte Michener seine eigene Maske über. Kevin zog sich mit den anderen zurück und wartete auf dem Flur, wo sie noch klare Sicht hatten. Der einzelne Schuss klang wie ein Donnerschlag. Unwillkürlich krampfte Kevins Finger sich um den Abzug. Doch Jarvis kam nicht auf den Flur, auch nicht, als der Rauch sich allmählich verflüchtigte. Niemand hätte es so lange im Zimmer aushalten können. »Bob!«, rief Michener. »Scheiße«, murmelte Kevin. Er hatte befürchtet, dass es so kommen würde. Es war dumm gewesen, saudumm, diese Wohnung zu stürmen. Er richtete sich auf und ging an den Schützen vorbei zum Schlafzimmer. Michener nahm seinen Arm. »Was, zum Teufel, hast du vor?« Kevin riss sich los. Er ging durch die Tür und schaute sich um. Es dauerte noch einen paar Sekunden, bis der Rauch so weit schwand, dass er etwas sehen konnte. Bob Jarvis lag verkrümmt auf dem Bett. Seine eigene Kugel hatte ihm den halben Kopf weggerissen.
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»Ich habe gewisse Bedenken, was Mitchs Führung der Sondereinheit betrifft.« Gewisse Bedenken. Das ist milde ausgedrückt, dachte Kevin. Es kam bei weitem nicht an das heran, was er wirklich dachte. Nach den Erlebnissen in den letzten paar Stunden war er zutiefst entsetzt und hatte Angst, dass Haines mehr als reichlich Gelegenheit haben würde, weitere Ärzte abzuschlachten, solange Michener Chef der Sondereinheit war. »Verzeihen Sie, Kevin, einen ... Komm schon, Luna, nimm sie jetzt, schluck sie!« Hugh, der mitten in seinem Büro stand, bemühte sich, seine riesige Huskyhündin dazu zu bringen, eine Pille zu schlucken, die er in ein Stück Erdnussbutter gedrückt hatte. »Die ersten paar Male hat sie überhaupt keine Schwierigkeiten gemacht«, sagte Hugh über die Schulter, »aber dann muss sie die verdammten Pillen durch das Zeug hindurch gerochen haben, und jetzt weigert sie sich ... Komm schon, Luna!« 206
Hugh versuchte, Lunas gewaltige Kiefer mit den bloßen Händen zu öffnen. Kevin fand, dass der Hund ziemlich bedrohlich knurrte, doch Hugh ließ nicht locker. Offenbar musste Luna regelmäßig Antibiotika nehmen, und seit Hughs Scheidung war niemand zu Hause, der dem Tier das Mittel tagsüber verabreichen konnte. Deshalb tat Hugh es jetzt selbst, um acht Uhr fünfundvierzig in seinem Büro. Hughs Liebe zu seinem Hund verrieten gleich drei gerahmte Fotos des Vierbeiners auf dem Schreibtisch. Selbst als Hugh noch verheiratet gewesen war, hatte er dort nur ein einziges Bild seiner Frau Linda stehen gehabt, wie Kevin sich erinnerte. Jetzt gab es nur noch Hugh und Luna, und offensichtlich war es ihm nie besser gegangen. Schon seit einem Jahr versuchte Hugh Kevin zu überreden, sich ebenfalls einen Hund anzuschaffen. Ungeduldig ließ Kevin den Blick durch Hughs Eckbüro schweifen. Wegen der schon zu dieser recht frühen Stunde grell strahlenden Sonne über South Dearborn waren die Jalousien bereits heruntergelassen. Das leise Summen der Neonröhren vermischte sich mit dem Zischen der Klimaanlage unterhalb der Fenster. Als Büro für leitende Angestellte war es nichts Besonderes, doch in den FBI-Außenstellen bekamen nur wenige Auserwählte ein Zimmer mit Schreibtisch und spartanischer Einrichtung zugeteilt, wie Hugh und sein Stellvertreter. Es gab noch ein paar kleine Büros, nicht größer als Abstellkammern, für Teamleiter, aber das war es auch schon. »So, aber jetzt schluckst du!« Hugh drückte die Kiefer des Hundes mit beiden Händen zusammen und setzte dabei sein beachtliches Gewicht ein, als Luna sich dagegen wehrte. »Willst du endlich gehorchen!« Schnaubend schluckte Luna. Hugh ließ sie los und tätschelte sie liebevoll am Kopf. Endlich befreit, wandte der Husky seine Aufmerksamkeit Kevin zu und fixierte ihn mit wölfischen Augen und hängender Zunge. 207
»Entschuldigen Sie, Kevin. Sie machen sich Sorgen wegen Mitch?« Er sagte es in so unbeteiligtem Tonfall, dass Kevin sofort erkannte, Hugh würde dieses Problem nicht wirklich ernst nehmen. »Ich glaube nicht, dass Mitch versteht, was für ein Mensch Haines ist und was seine Komplizen für ihn tun würden.« »Sie wollten, dass Jarvis observiert wird?«, fragte Hugh. »Ja. Wäre das schon eher geschehen, würde Jarvis noch leben,
und wir wären durch ihn zu Haines' Unterschlupf geführt worden.« Hugh lehnte sich mit dem Rücken an seinen Schreibtisch, ein grässliches schwarzes Ding aus Pressholz. Hugh selbst wirkte wieder mal wie frisch vom Bügelbrett. Er strahlte Gesundheit aus, sodass Kevin sich bei seinem Anblick nur noch schlechter fühlte. Aber Hugh hatte ja auch nicht die ganze Nacht Cola, Kaffee und Donuts konsumiert, er hatte sich auch nicht mit Seth Michener herumärgern und dann noch mit einer Gasmaske vor dem Gesicht und in einer kugelsicheren Weste eine Wohnung stürmen müssen. Kevin hatte nicht einmal Zeit gehabt, sich umzuziehen, ehe er hierher gekommen war. Er wollte so schnell wie möglich mit Hugh reden. Es gefiel ihm selbst nicht, aber er sah keine andere Möglichkeit, diese Sache wieder unter seine Kontrolle zu bekommen. »Also, ich hab ja schon eine Ewigkeit nicht mehr Recht gehabt«, sagte Hugh. Das war eine seiner Lieblingsphrasen, wenn er zeigen wollte, wer das letzte Wort hatte. »Aber ich finde, dass Mitch richtig gehandelt hat. Wir mussten in die Wohnung, um zu überprüfen, ob Haines da war.« 208
»Das hätten wir auch durch eine Observierung feststellen können. Ich habe Mitch gleich gesagt, dass Haines nicht in der Wohnung ist und Jarvis eher draufgeht, als sein Idol zu verraten.« »Nach allem, was wir wissen, hätte Jarvis sich auf jeden Fall umgebracht.« »Nicht, wenn wir ihn in Ruhe gelassen hätten.« »Möglich. Trotzdem bestand das Risiko, dass Haines wie der seinen Mordgelüsten nachgeht, während Sie Jarvis be schatten, in der Hoffnung, dass der Sie zu Haines führt.« »Jarvis war unsere einzige sichere Spur. Ich hätte ihn zum Reden bringen können. Jetzt ...« Er ließ den Satz unbeendet. »Gab es irgendetwas Brauchbares in seiner Wohnung?« »Die Spurensicherung ist noch bei der Arbeit.« Jarvis war Haines' Postbote gewesen; er musste die Namen und Adressen von Haines' sämtlichen Jüngern gekannt haben. Doch ob er sie sich irgendwo notiert hatte, war eine andere Frage. Es hing davon ab, wie sorgfältig und vorsichtig Jarvis vorgegangen war. Hatte er alles im Gedächtnis behalten, war das Wissen genauso verloren wie sein zerschmetterter Schädel. »Michener diesen Fall leiten zu lassen ist so, als würde man einem Neunjährigen erlauben, einen Panzer zu fahren.« »Woran arbeiten Sie noch?« Carter wollte zweifellos das Thema wechseln. »Wir überprüfen Jarvis' detaillierte Telefonrechnungen, um herauszufinden, wen er angerufen hat. Außerdem befragen wir die Nachbarn, und ich werde mit den anderen Sträflingen im Todestrakt reden, außerdem mit den Beamten, die für die Briefzensur zuständig sind.« Ehe Haines Jarvis dazu gebracht hatte, als sein persönlicher Postbote zu fungieren, musste er Briefe durchs Anstaltssystem geschickt und auch empfangen haben. Und einige der Empfänger waren möglicherweise zu seinen Jüngern geworden. 209
Allerdings wurde die Post, sowohl die aus- wie die eingehende, nur selten wirklich gelesen und auch nur dann zensiert, wenn es um die innere Sicherheit das Gefängnisses ging oder sonst eine Gefahr im Verzug war. Und oft genug übersahen die gelangweilten Beamten aus purer Nachlässigkeit solche Textstellen. Zwar wurden alle von Sträflingen geführten Telefongespräche aufgezeichnet und in einem Register eingetragen, ebenso wie die Namen von Besuchern, aber es existierten leider keine Listen von den ein- und ausgehenden Briefen. Es gab einfach zu viele, und es wurde nicht als notwendig erachtet. Kevin hätte sich am liebsten selbst in den Hintern getreten, weil er nicht von vornherein einen Gerichtsbeschluss erwirkt und Haines' Korrespondenz von Anfang an hatte überwachen lassen. Doch als sie Haines vor drei Jahren schnappten, war es offensichtlich gewesen, dass er allein gearbeitet hatte, ohne Komplizen, genau wie der Bombenattentäter, der Anfang der neunziger Jahre den Südwesten in Angst und Schrecken versetzt hatte. Haines hatte jeden Mord gestanden, und bis jetzt hatte nichts darauf hingedeutet, dass er Teil eines größeren Netzes war. Er hatte sein eigenes Netz vom Gefängnis aus gesponnen, und nun musste Kevin herausfinden, wie groß dieses Netz war. Er konnte nur hoffen, dass einer der Zensoren sich auch nach den paar Jahren noch an eine ungewöhnliche Adresse oder einen ungewöhnlichen Namen erinnerte. »Was ist mit dem Bruder?«, wollte Hugh wissen. »Michener hat ihn aufgespürt und ihm von dem Ausbruch berichtet.« Sie hatten herausgefunden, dass Rick Haines erst im vergangenen Monat wieder nach Chicago gezogen war, nachdem er sich vor drei Jahren gewissermaßen ins Exil nach San Francisco begeben hatte, um den Schauplatz der Gemetzel hinter sich zu lassen, die sein Bruder angerichtet hatte. Rick hatte inzwischen in aller Stille geheiratet, ein Haus in Evanston gekauft und sich eine Geheimnummer besorgt. 210
»David Haines wird sich nicht an ihn wenden«, meinte Kevin. »Er hat alles, was er braucht: einen Wagen, Geld, zu essen ...« Kevin war überzeugt, dass David nicht das Risiko eingehen würde, Rick aufzusuchen - nicht, nachdem der ihm vor drei Jahren so übel mitgespielt hatte. David hatte nichts zu gewinnen, doch alles zu verlieren, da Rick es zweifellos sofort melden würde, falls sein Bruder versuchen sollte, sich mit ihm in Verbindung zu setzen. Außerdem hatte David keine Ahnung, wo Rick jetzt wohnte. Er blickte zu Luna hinüber, die ihn immer noch unfreundlich beäugte. Kevin fragte sich, ob die Hündin ihn vielleicht als Bedrohung ihres Herrchens sah und ob sich gar ihre wölfische Abstammung regte und sie ihm an die Gurgel springen würde. Luna gähnte arglos und zeigte dabei eine Doppelreihe scharfer Zähne; dann bettete sie den Kopf auf die Vorderpfoten. »Wie kann ich Sie dazu bringen, Ihre Meinung zu ändern, Hugh?« »Sie haben Haines bereits vor drei Jahren gefasst, Kevin. Das war allein Ihr Verdienst, das Ihnen niemand streitig machen wird. Micheners Aufgabe besteht darin, aufzuräumen. Wie ich schon sagte - die Verfolgung von Flüchtigen ist nicht Ihr Metier. Das überlassen wir tatkräftigen Männern mit weniger Bedenken.« »Sehr schmeichelhaft. Aber ich glaube nicht, dass es sich hier um einen Fall für jemanden mit >weniger Bedenken< handelt. Vor vier Jahren hat Mitch seine Zeit damit vergeudet, rachsüchtige Patienten zu suchen, die nichts lieber getan hätten, als Ärzte umzubringen.« Er glaubte nicht, dass er an weitere Einzelheiten erinnern musste. Er war es gewesen, nicht Michener, der den Fall gelöst hatte. Seine Intuition hatte ihm gesagt, dass alle Morde von nur einem religiös motivierten Fanatiker begangen worden waren. Dank seiner Kenntnisse über Sekten und Rituale hatte man die Suche einengen können, die schließlich zu den New Apostles geführt hatte. 211
Kevin wandte den Blick von Hugh ab, der mehr aus Höflichkeit denn aus Zustimmung nickte. Es war einfach lächerlich, dass er Einzelheiten aus seiner großen Zeit hervorkramen musste. Shit! Von Rechts wegen müsste er die Fahndung nach Haines leiten, nicht Michener. Sicher, er musste zugeben, dass er nach dem Fall Haines gelangweilt aus dem Urlaub zurückgekehrt war und seine Arbeit ihn nicht mehr ausgefüllt hatte. Verständlich bei den Fällen, die man ihm zuwies. Öde Routine-Jobs, die keine Herausforderung darstellten. Die meisten Gesuchten waren vom Leben benachteiligte Verlierer, und wegen der Geringfügigkeit der Delikte wurde kaum einer von ihnen vor Gericht gestellt. Da war nur einer gewesen, ein in mehreren Staaten gesuchter Parksünder, dessen Strafzettel auf insgesamt achttausend Dollar angewachsen waren. Kevin hatte ihn geschnappt. Doch erst nach dem Mord an Dr. Banji hatte er zum ersten Mal seit langer Zeit wieder Einsatz und Eifer bei der Arbeit gezeigt. Im FBI-Büro hatte man Kevin stets für ein wenig merkwürdig gehalten - nicht nur, weil er sich kein bisschen für Baseball und die heimischen Clubs interessierte. Es war wohl mehr sein Interesse am Sektenunwesen, und dass er selbst einst Mitglied einer obskuren religiösen Gemeinschaft gewesen war. Jetzt, da er nach seiner ziemlich lange währenden Krankheit zurückgekehrt war - er wusste, dass viele, einschließlich Hugh, seinen Zustand als Folge eines Nervenzusammenbruchs betrachtet hatten -, schien es, als hätte der allgemeine Verdacht sich bestätigt. Was konnte man schon von jemandem erwarten, der so labil und leichtgläubig gewesen war, einer Seelenfängerin auf den Leim zu gehen und einer Sekte beizutreten? Als hätte er schon immer einen leichten Dachschaden gehabt, der durch den Fall Haines wieder aufgelebt war. Er war Ausschussware. Und das, vermutete Kevin, war der wirkliche Grund, dass Hugh ihm nicht mehr die Leitung der Sonderkommission übertragen wollte. Hugh glaubte 212
nicht, dass Kevin noch das Gespür besaß, Haines zu schnappen. Und er wollte nicht, dass er wegen Kevin seinen guten Ruf verlor. »Wenn wir Michener weiterhin die Leitung überlassen, wird dieser Fall nicht so schnell abgeschlossen. Wir erlauben Haines einen zweiten Akt und eine Zugabe obendrein. Noch mehr ermordete Ärzte - das wird kein gutes Licht aufs FBI werfen. Selbst wenn Mitch diesen Haines irgendwann erwischt, wird er ihn wahrscheinlich nicht lebend fassen. Und damit verlieren wir seine persönliche Datei: die Namen seiner Jünger. Wir brauchen ihn lebend. Und ich kann ihn lebend fassen!« »Kommen Sie, Kevin, Sie glauben doch nicht wirklich, dass Haines reden würde.« »Vielleicht doch.« Obwohl er befürchtete, dass Hugh Recht hatte, wollte er es nicht zugeben. In jüngeren Jahren hatte er bei der Deprogrammierung ehemaliger Sträflinge mitgewirkt (»Entlassungsberatung« war die harmlose Bezeichnung für diese staatlich verordnete Gehirnwäsche), doch er bezweifelte ernsthaft, dass er Davids Glauben je auch nur im Geringsten erschüttern könnte - und er war nicht einmal sicher, ob er das überhaupt versuchen wollte. Doch zu Hugh sagte er nun: »Wir brauchen ihn lebend, oder wir haben noch weitere Will Andrews da draußen.« »Ich fürchte, da haben wir schlechte Neuigkeiten.« Hugh zuckte leicht zusammen, als würde ein Zahnarzt den Bohrer ansetzen. Kevin spürte, wie seine Laune sich weiter verschlechterte. »Und welche?« »Es wird womöglich zu keiner Anklage kommen.« »Wie bitte?« »Keine Abdrücke auf der Pistole. Keine Zeugen. Der Anwalt sagt, sein Mandant hat weder diese Waffe je zuvor gesehen noch die Bibel, und bla, bla, bla.« »Was ist mit diesen Briefen, die an Will adressiert sind?« 213
»Ein anderer Will, behaupten sie. Vielleicht besteht ein begründeter Verdacht, wer weiß. Ich will nicht sagen, dass er für eine Verurteilung reicht, aber der Staatsanwalt ist nicht gerade begeistert von der Beweislage.« »0 Gott!«, murmelte Kevin. »Es ist nicht Ihre Schuld und nicht mehr Ihr Problem«, beruhigte ihn Hugh. »Wie ich schon sagte - ich bitte Sie, meine Entscheidung zu respektieren. Sie müssen sich damit abfinden, dass es nun Micheners Fall ist. Am Ende des Tages spielt es sowieso keine Rolle, wie wir Haines fassen, solange wir ihn überhaupt erwischen.« Eine weitere von Hughs Lieblingsphrasen: am Ende des Tages. Er sagte es gewöhnlich, um einen Schlussstrich zu ziehen; es war ein Zeichen, dass er nicht mehr über eine bestimmte Sache reden wollte. Doch Kevin fand es jedes Mal entsetzlich irritierend. Am Ende welchen Tages, um Gottes willen? Am Ende wessen Tages? Ein Teil von ihm wollte nicken und ihm Recht geben. Okay, mach einfach weiter, befolge Micheners Befehle und lass ihn seinen Job tun - nur dass er seinen Job eben nicht tat. Er würde ihn verpatzen, und allein die Vorstellung, dass Mitch diesen Fall verpfuschte, machte Kevin schrecklich zu schaffen. Es war sein Fall! Und er würde dafür sorgen, dass es seiner blieb, offiziell oder nicht. »Danke, Hugh.« Hugh strahlte, als wären sie soeben zu einer außerordentlich zufrieden stellenden Einigung gekommen; dann setzte er sich an seinen Schreibtisch und griff nach dem Telefon. Auf dem Korridor kam D'Onofrio auf ihn zu. »He, Kevin, diese Ärztin ist da.« »Donaldson?« »Ja.« Die Frau, die den Geist aus der Flasche ließ. Er hatte momentan keine große Lust, jemanden zu vernehmen; er sah schlimm aus und fühlte sich noch schlimmer. 214
Seit über zwölf Stunden war er ununterbrochen im Einsatz, und ihm stand eine Pause zu, aber er musste zuerst mit dieser Frau reden. Sie hatte Haines als Letzte gesehen, und in Ermangelung anderer Hinweise hoffte er, sie könne ihm vielleicht etwas für seinen Fall Bedeutsames mitteilen. Er musste wissen, ob Donaldsons medizinische Tests David lediglich eine Möglichkeit zur Flucht gegeben hatten, oder bloß die Ursache einer tieferen und viel ominöseren Motivation waren, in die Welt zurückzukehren. Er ging zum Empfang, um mit ihr zu reden. Als er sie ins Zimmer führte, war sein Geruch der eines Mannes, der vor Arbeit zu lange nicht zum Ausruhen gekommen war und sich in Ermangelung einer Dusche
und frischer Kleidung eines Deodorants bedient hatte. Ihre ungewollte Erregung überraschte sie - zweifellos eine unwillkürliche pheromonale Reaktion. Sie seufzte, denn sein tierhafter Körpergeruch war wirklich alles andere als angenehm. Sie betrachtete kritisch, aber unauffällig sein Gesicht: Es war bleich, die Haut um Augen und Nasenrücken straff, und Bartstoppeln ließen seine Wangen eingefallen wirken - er hatte wahrscheinlich noch weniger geschlafen als sie, falls überhaupt. Seine Augen, die Stirn und der Mund strahlten eine Art düstere Würde aus. Es war ein etwas grobes, aber interessantes Gesicht. Unwillkürlich blickte sie auf seine Hand. Er trug keinen Ehering. War er nie verheiratet gewesen? Geschieden? Rasch wandte sie den Blick ab. Sie brauchte einen klaren Kopf und wollte nicht wie eine rollige Katze auf den Körpergeruch eines Mannes reagieren. Alles, was sie von ihm zu bekommen erhoffte, war Rick Haines' Adresse und seine Versicherung, dass das FBI alles unternahm, David Haines lebend zu fassen. In den frühen Morgenstunden hatte sie noch ein wenig schlafen können, als würde die aufgehende Sonne Schutz vor Räubern und Raubtieren bieten: die Logik 215
eines Kindes. Das Klopfen des FBI-Agenten an der Tür hatte sie geweckt. Er wollte sie zur hiesigen Außenstelle bringen. Selbst jetzt fühlte sie sich noch schwerfällig vor Erschöpfung, und irgendwie erschien ihr alles unwirklich. Sie hoffte, dass man ihre Handtasche gefunden hatte; sie könnte jetzt ein wenig Phenmetrizine gut brauchen. Spät in der Nacht hatte sie Emily zu Hause erreicht und sie gefragt, ob die Internet-Nachforschungsagentur irgendwelche Information über Rick Haines gefaxt hatte. Das war noch nicht der Fall. Laura machte sich allmählich Sorgen, ob die Agentur überhaupt im Stande war, Haines aufzuspüren, denn sie hatte den Leuten nicht den geringsten Hinweis geben können - keine Sozialversicherungsnummer, keine vorherige Adresse. Und Rick Haines war ja nicht gerade ein seltener Name. Wie viele Personen mit diesem Namen mochte es geben? Doch Agent Sheldrake kannte seine Adresse zweifellos; die Frage war nur, ob er damit herausrückte. Laura hoffte, dass er ihr die Anschrift nicht vorenthielt, wenn sie ihm erst erklärt hatte, wie wichtig Haines' Blut war. Das Zimmer war sehr klein und sehr ungemütlich. Das Mobiliar bestand aus einem billigen Schreibtisch, zwei wackeligen Stühlen, einem überquellenden Abfalleimer, einer großen Uhr an einer Wand und einem Emblem des Justizministeriums an einer anderen. Das konnte nicht sein Büro sein; das konnte niemandes Büro sein. Wahrscheinlich war es ein Vernehmungszimmer. Laura hatte sich gerade vor den Schreibtisch gesetzt, als jemand an die Tür klopfte und Kevin einen großen Beutel aushändigte. »Danke, Vince.« Der Beutel enthielt Lauras Handtasche. Sie atmete erleichtert auf. »Die Jungs von der Spurensicherung haben die Tasche im Handschuhfach gefunden und untersucht«, erklärte Sheldrake. »Haines' Fingerabdrücke waren 216
nicht darauf. Sie sollten jedoch nachsehen und sich vergewissern, dass noch alles da ist.« Es war eine einfache Schultertasche mit kräftigem Trageriemen. Äußerlich wirkte sie erstaunlich unversehrt für einen Gegenstand, den man zweifellos gehörig in die Mangel genommen hatte. Doch als Laura die Tasche öffnete, sah sie, dass der Inhalt ein wildes Durcheinander war. Verlegenheit überkam sie. Hatte Sheldrake den Inhalt durchgesehen? Natürlich. Alle hatten es. Wahrscheinlich war jeder einzelne Gegenstand aufgelistet und das Dokument zu den Akten gegeben worden. Wie viel vom Wesen einer Frau konnte man dem Inhalt ihrer Tasche entnehmen? In ihrem Fall sehr viel. Außer dem verfärbten Adressbüchlein waren da zwei zersplitterte Plastikröhrchen mit grünen und gelben Pillen, die zu Pulver zerquetscht in den Taschenboden gedrückt waren. Aufputsch- und Beruhigungsmittel. Sie warf einen heimlichen Blick auf Agent Sheldrake, doch er war hinter dem Schreibtisch damit beschäftigt, einen Hefter durchzublättern. Großer Gott, waren das alles Unterlagen über sie? Laura versuchte, die Aufschrift an der Seite zu entziffern, doch es gelang ihr nicht. Rasch überprüfte sie den Inhalt ihrer Geldtasche. Ihre sämtlichen Ausweise schienen noch da zu sein, ihre Kreditkarten, der Führerschein, die Sozialversicherungskarte und sämtliche Scheckkarten. Auch ihre Schlüssel waren noch vorhanden. »Dann kann ich jetzt nach Hause?« Es klang wie die Frage eines verunsicherten Schulmädchens. »Mir wäre lieber, Sie blieben im Hotel.« Sie hatten Haines also noch nicht gefasst. »Ist er in Chicago?« »Das wissen wir nicht. Aber wir würden uns bedeutend wohler fühlen, wenn wir Sie in Sicherheit wüssten. Das schließt auch ein, dass Sie sich vorerst von Ihrem Labor fern halten.« »Ist das wirklich notwendig?« 217
»Wir können Sie nicht zwingen. Aber David Haines ist möglicherweise nicht der Einzige, der hinter Ihnen her ist. Er hat zumindest einen Komplizen, und wir wissen nicht, wer das ist. Haben Sie von Dr. Banji in Detroit gelesen? Vor vier Tagen?« Sie runzelte die Stirn. »Amit Banji?« »Sein Mörder hat mit Haines im Gefängnis korrespondiert.« »Banji wurde ermordet?« Ein Schauder lief ihr über den Rücken. In den letzten paar Wochen war sie viel zu beschäftigt gewesen, um auch nur einen Blick in die Zeitung zu werfen oder sich die Nachrichten im Fernsehen anzuschauen. Sie hatte Banji nicht persönlich gekannt, auf Tagungen und Konferenzen jedoch mehrere Vorträge von ihm gehört, und auch seine Artikel in den Fachzeitschriften waren ihr vertraut.
»Sein Mord war als Raubüberfall in der Tiefgarage seines Krankenhauses getarnt. Ich sage Ihnen das nur, damit Sie erkennen, wozu diese Burschen fähig sind.« Laura wusste, dass ihre Abneigung gegen das Hotel unvernünftig war. Es lag auch nur daran, dass sie sich dort so allein fühlte, getrennt von ihren eigenen Sachen, ihrer eigenen Welt. Sie konnte sich vorstellen, dass sie dort starb. »Ich werde es mir überlegen, danke.« Agent Sheldrake schaute sie immer noch an, bis sie den Blick senkte. Es war etwas beinahe unanständig Geduldiges in seinen Augen, in diesem durchdringenden Blick, als warte er darauf, dass sie sich rechtfertigte. Als wüsste er etwas über sie. Wahrscheinlich war es nur eine erprobte Vernehmungstaktik des FBI. Jedenfalls funktionierte sie, denn Laura fühlte sich zutiefst unbehaglich. Aber was konnte der Mann schon über sie wissen? Nun, beispielsweise etwas über die Amphetamine in ihrer Handtasche. Und was würde er von einer Ärztin halten, die Speed nahm? Ach, hör auf, wies sie sich gereizt 218
zurecht. Was sollte es dir ausmachen, was der Bursche von dir hält? Kevin fiel auf, dass sie seinem Blick auswich, und dachte: Die Frau fühlt sich nicht wohl in ihrer Haut. Sie bewegte sich unruhig auf dem Stuhl, überkreuzte die Beine immer wieder anders herum und wippte mit einem Fuß auf und ab. Ihre Augen hielten keinen Moment lang still. Kevin fragte sich, ob es an dem Speed lag. Er hatte die Liste der Spurensicherung gelesen und wusste, welche Mittel in der Handtasche gewesen waren. Wahrscheinlich war es ihr kleines Geheimnis. Während des Haines-Falles hatte Kevin viel Zeit mit führenden Medizinern in der Forschung verbracht und wusste, dass sie Workaholics waren und wie arrogant sie sein konnten. Viele von ihnen hielten sich tatsächlich für Götter in Weiß; er hatte Ärzte eigentlich nie besonders sympathisch gefunden, am wenigsten die, mit denen er es während seiner langwierigen Depression zu tun gehabt hatte. Sie hörten gar nicht zu; sie hielten sich für allwissend und fähig, jeder Krankheit mit irgendwelchen Pillen beizukommen. Sie wollten alles mit Medikamenten kurieren, alles menschliche Leiden auf eine chemische Gleichung bringen. Wie offenbar auch Dr. Donaldson. Für einen Arzt dürfte es ein Leichtes sein, sich selbst solche Muntermacher zu verschreiben; und natürlich waren Ärzte zu klug, als dass sie zuließen, dass dieses Zeug Macht über sie gewann. Konnte es trotzdem sein, dass Donaldson süchtig war? Doch als Kevin die Reste der Pillen sah, hatte er eine seltsame Verbundenheit zu ihr empfunden, denn die Medikamente waren für ihn Symptom eines tiefen Kummers. »Ich weiß, dass Sie bereits vor Agent Michener ausgesagt haben. Aber es wäre nett von Ihnen, wenn Sie auch mit mir noch einmal durchgehen könnten, was gestern geschehen ist, möglichst in allen Einzelheiten.« Der Duft ihres Haares stieg ihm in die Nase; er konnte sich nicht erinnern, wann er in diesem grässlichen Zimmer das letzte Mal etwas so Angenehmes gerochen hatte - oder sonst wo. 219
»Natürlich«, sagte sie, blickte jedoch auf die Uhr und fügte entschuldigend hinzu: »Allerdings holt jemand mich im Hotel ab. Ich muss um elf zu einer Pressekonferenz im MetaSYS-Gebäude. Sind wir bis dahin fertig?« »Selbstverständlich«, versicherte er. Als sie mit der Schilderung der Ereignisse begann, zog er ein Notizbuch hervor. Er war nicht so sehr an Haines' Flucht selbst interessiert, sondern mehr an Einzelheiten in seinem Verhalten - ob er vielleicht irgendetwas gesagt hatte, das seine Motive oder Pläne verraten könnte. Ihre Aussage war knapp, aber prägnant, doch bis jetzt erfuhr Kevin nichts Neues. Donaldson war nicht schön, jedenfalls nicht im herkömmlichen Sinne; trotzdem wollte er sie unverwandt anschauen. Diese ... Wut. Ja, das war das Wort, das sich ihm aufdrängte. Als wäre ihr schlanker Körper durchscheinend, und als könnte er all ihren Ehrgeiz, ihre Intelligenz und Leidenschaft sehen. Sie war eine atemberaubende Verbindung aus Intellekt und Sinnlichkeit. Und diese wunderbaren Augen. Faszinierend - und keck. Er lächelte beinahe über diese antiquierte Wortwahl; er hatte offenbar zu viele romantische Lovestorys gelesen. Nicht trotzigherausfordernd, sondern keck. Irgendwie erregte ihn dieses Wort. Er war müde - zu müde, um die Befragung richtig vorzunehmen. Er zwang sich, auf das Notizbuch zu blicken und sich zu konzentrieren. »Können Sie mir sagen, was Sie in Haines' Blut entdeckt haben?« Er sah, wie sie rasch Atem holte. Zweifellos befürchtete sie, dass es schwierig sein würde, einem nicht gerade ranghohen Regierungsbediensteten ihre Arbeit zu erklären. Sie begann stockend und bemühte sich, die Sachlage für einen Laien verständlich zu machen. Kevin hörte aufmerksam und mit wachsender Bestürzung zu. Es war wirklich schwer zu glauben. Da war ein Mann, der jegliches Medikament für Sünde hielt und dem man soeben gesagt hatte, dass er ein 220
potenzielles Heilmittel für Krebs in sich trug. Wie konnte Haines sich mit so etwas abfinden? Doch Kevin wusste es bereits. Haines besaß noch immer die Fähigkeit, sich leidenschaftlich in etwas hineinzuversetzen: Er hatte die erschütternde Neuigkeit sofort in sein Weltbild einbezogen. Es war eine Prüfung Gottes. Ja, natürlich. Eine Feuerprobe. Gott forderte von David Haines einen Beweis seiner Treue. Mit allen Konsequenzen, selbst um den Preis seines Lebens. Und das bedeutete gesteigerte Wachsamkeit sowie die Bereitschaft, einen heiligen Krieg gegen Ärzte zu führen. Denn du darfst der Welt nie das kostbare Blut überlassen, das durch deine Adern strömt. Indem du es der Menschheit verweigerst, zeigst du ihr aufs Neue, wie sündhaft sie sich auf Medizin und Wissenschaft verlässt, und wie armselig im Geiste sie ist. Kevin legte seinen Kugelschreiber zur Seite und spürte, wie die karge Umgebung wieder Konturen annahm. Er wollte, er hätte ein Glas Wasser. Es war wesentlich schlimmer, als er vermutet hatte. Er konnte verstehen, dass Haines die medizinischen Untersuchungen zur Flucht genutzt hatte. Doch er erkannte auch, dass Haines' Motivation viel stärker war. Er wollte nicht nur der Hinrichtung entgehen, er würde auch vor nichts zurückschrecken, um nicht wieder festgenommen zu werden. Und das machte es nahezu unmöglich, ihn lebend zu fassen. Kevin räusperte sich und versuchte seine nächste Frage zu formulieren. »Wie ist seine körperliche Verfassung nach den Tests, denen Sie ihn unterzogen haben?«, fragte er Laura. Ein körperlich geschwächter und unkonzentrierter Haines würde unweigerlich Fehler machen und dadurch die Verfolger auf seine Spur bringen.
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»Er schien bester Verfassung zu sein. Man kann durchaus behaupten, dass er im Stande ist, sich selbst zu regenerieren.« Kevin erschien das Ganze wie ein Wunder: ein Mensch, der seinen Krebs selbst zu heilen vermochte. David würde es anders betrachten - als Verdienst für seine unerschütterliche Hingabe. Er hatte Gott gedient, und Gott vergalt es ihm. »Die Macht des Gebetes«, sagte er laut. Die Ärztin verzog abfällig das Gesicht. »Das wird er jedenfalls denken.« Selbst Kevin, der Zweifler, vermochte es nicht ganz von der Hand zu weisen. Der Glaube konnte Berge versetzen, hieß es. Warum nicht auch Krankheiten heilen? Laura verlagerte ungeduldig ihr Gewicht auf dem Stuhl, und ihre Augen suchten kurz die seinen. »Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass Haines Medizin studiert hat. Das hat er doch, oder?« »Allerdings, und er soll sehr gut gewesen sein.« »Wie kam es dazu, dass er Ärzte für eine Geißel Gottes hält?« Kevin hatte diese durchaus berechtigte Frage schon unzählige Male beantwortet. Trotzdem ärgerte er sich jetzt darüber. »Hier geht es nicht einfach darum, ob jemand ein Intellektueller ist oder ein Ignorant. Die Menschen sind fähig, alles zu glauben«, erklärte er ihr. »Und es hat nichts mit Gehirnwäsche und Indoktrination zu tun. Sie möchten glauben. Und wenn sie es mit aller Kraft wollen, glauben sie tatsächlich und werden sich an ihren Glauben klammern, egal wie offensichtlich irrational, widersprüchlich oder verwerflich er ist. Sie werden ihrem Glauben treu sein, manchmal bis zum Tod. Denken Sie nur an Jonestown, an Waco, Texas, an den Solar-Tempel, an Heaven's Gate.« »Aber es erschien ... Ich meine, nach allem, was ich über ihn gelesen habe, über seinen Background ... Er war doch viel zu klug für diesen Blödsinn.« Diesen Blödsinn! Sie zweifelte offenbar nicht im Geringsten daran, dass sämtliche religiösen 222
Überzeugungen in diese Kategorie gehörten. In ihren Augen war die Wissenschaft das einzig Verehrungswürdige. Wie tief David aus den hehren Höhen seines Medizinstudiums doch gestürzt war! Es musste unbegreiflich für sie sein, dass ein angehender Arzt, einer der Erwählten, diesen Weg eingeschlagen hatte. Kevin fragte sich, ob seine Verärgerung sich auf dem Gesicht abzeichnete, denn sie wandte erneut den Blick von ihm ab. Dass sie etwas über seine Vergangenheit wusste, bezweifelte er. »Sie haben Recht, dass Haines intelligent ist. Aber Glauben hat wenig mit Intelligenz zu tun«, entgegnete er kühl. »Die meisten bilden es sich jedoch ein. Im Solar-Tempel versammelten sich erfolgreiche Geschäftsleute und Regierungsbeamte. Zur Heaven'sGate-Sekte gehörten hauptsächlich Computerexperten, die glaubten, wenn sie sich kastrierten und auf körperliche Freuden verzichteten, würden sie von einem Raumschiff aufgenommen, das dem Halleyschen Kometen folgt. Ich glaube nicht einmal, dass Personen, die sich plötzlich für irgendeine mystische Sekte begeistern, leichtgläubiger sind als andere. Haben Sie schon mal von der Raelischen Kirche gehört?« Sie schüttelte den Kopf. »Nun, sie hat weltweit über vierzigtausend Anhänger. Und es ist ihnen gelungen, sieben Millionen Dollar anzuhäufen, um bis zum Jahr 2035 in Jerusalem eine diplomatische Vertretung für Außerirdische zu errichten.« Er lächelte. »Also, ich persönlich halte diese Leute für Irre, aber sie sind Irre mit Spitzenjobs und Familien und Hochschulabschlüssen. Religion hat absolut nichts mit der so genannten rationalen Intelligenz gemein.« Laura fühlte, dass sie ihn irgendwie verärgert hatte. Dabei hatte sie lediglich versucht, ihn zum Reden zu bringen - sie wusste, dass die meisten Männer gern redeten. Sie hatte ihn aus der Reserve locken wollen, 223
um ihn aufgeschlossener für ihre Fragen zu machen. Er war intelligenter, als sie erwartet hatte. Sie versuchte seine Vorbildung einzuschätzen - vielleicht Steuerrecht oder Jura, wie fast alle FBI-Beamten. Möglicherweise war es jedoch nur Psychologie, die Laura für nutzlos hielt, verglichen mit echter Wissenschaft. Doch es war sein Gesicht, das am meisten aussagte. Ihre Theorie ging dahin, dass die Augen fast alles über die Intelligenz eines Menschen beinhalteten, und Sheldrakes Augen verrieten ihr, dass er intelligent war. »Sie werden Haines doch lebend fassen?« Ihre Frage klang gebieterischer, als sie beabsichtigt hatte. »Das ist immer unser Ziel, aber er ist flüchtig und hat zwei Menschen getötet, seit er geflohen ist. Und er wird möglicherweise gar nicht zulassen, dass wir ihn lebend festnehmen.« »Haben Sie denn keine Narkosegewehre?«
»Das wäre zu umständlich. Man kann den Streifenpolizisten nicht zumuten, dass sie ihre Waffen oder Patronen wechseln, wenn sie den Mann sehen. Wenn wir in eine Situation geraten, die für uns lebensgefährlich werden könnte, sind wir angewiesen zu schießen, um zu töten.« Sie blickte auf ihre Hände und wusste, dass sie zu weit gegangen war. »Das verstehe ich ja, aber ich dachte, nach dem, was in seinem Körper ist ...« »Bei allem Respekt, Dr. Donaldson, unsere vorrangige Aufgabe besteht nicht darin, Ihnen zu helfen, Ihren Job zu tun.« Sie sah den Antagonismus in seinen Augen blitzen. »Es geht um Krebsheilung«, sagte sie nachdrücklich. »Trotzdem. Unsere vorrangige Aufgabe ist, Haines zurück in seine Zelle zu bringen. Danach ist es Ihnen überlassen, sich weitere Proben von ihm zu beschaffen. Mit welcher rechtlichen Hilfe auch immer.« 224
Sie hörte den Abscheu in seiner Stimme. Was war er? Ein Zeuge Jehovas oder etwas Ähnliches? Ein Christian Scientist? »Wir hatten einen Gerichtsbeschluss«, sagte sie. »Das ist mir bekannt.« Sie blickte in sein ausdrucksloses Gesicht. Unglaublich: Sie war von einem Psychopathen entführt und beinahe getötet worden, und dieser Mann besaß die Unverschämtheit, sie derart herablassend zu behandeln. Ihre Stimme zitterte vor unterdrückter Wut, als sie entgegnete: »Wollen Sie damit andeuten, dass wir etwas Ungehöriges getan haben?« »Wie Sie schon sagten, hatten Sie einen Gerichtsbeschluss.« »Und Sie lassen durchblicken, dass wir seine tieferen religiösen Überzeugungen verletzten, nicht wahr?« »Ja, aber legal.« »Wie rührend. Ich werde als Bürgerrechtler des Jahres für Sie stimmen. Ich allerdings setze mich lieber für ein Krebsheilmittel ein als für die Rechte eines Psychopathen.« »Er wollte nicht, dass ihm Blut abgenommen wird, Dr. Donaldson. Ich vermute, er kämpfte deshalb so hart, um sich durch Flucht einer weiteren Blutentnahme zu entziehen. Und jetzt ist er auf freiem Fuß und wird vielleicht wieder Ärzte töten.« Seine Feindseligkeit war nun unverkennbar; sie hatte sich in ihm getäuscht. Wie hatte sie gestern glauben können, dass er Mitgefühl zeigte? Ihr Blick schweifte unruhig durchs Zimmer. Dessen Beengtheit und Hässlichkeit machten ihr zu schaffen. Wurden hier nicht Verbrecher vernommen? Es war eine Beleidigung. Warum, zum Teufel, hatte man sie hierher gebracht? Sie hätte Adrian oder Paul bitten sollen, sie zu begleiten. In Anwesenheit eines Anwalts hätten die verdammten Bullen nicht gewagt, sie so zu behandeln. Agent Sheldrake jedenfalls hatte nicht vor, ihr zu helfen. Er würde Rick Haines' Adresse nicht herausrücken. Tief beschämt erinnerte sie sich daran, dass sie tatsächlich vorgehabt hatte, um der Sache 225
willen ein wenig mit Sheldrake zu flirten. Die meisten Männer fielen auf so etwas herein. Jetzt erschien es ihr absurd und kindisch. Was sie auch an Charme und weiblicher List anzuwenden gedacht hatte, wäre an Agent Sheldrake abgeprallt. Nie hatte sie einen Mann gesehen, der ihr gegenüber so völlig gleichgültig gewesen war. Nicht, dass sie sich für schön hielt, für unwiderstehlich wie Sarah, aber hässlich war sie ganz sicher nicht. Sie würde ihn nicht einmal danach fragen; sie konnte allein die Vorstellung nicht ertragen, dass dieser Mann Nein sagte und ihr eine weitere kleine Lektion in Sachen FBI-Regeln und Vertrauensgrundsätze hielt. Sie konnte Ricks Adresse auch irgendwo anders bekommen - wenn nicht aus dem Internet, dann vielleicht von einem privaten Ermittler. »Gibt es noch etwas, das Sie mich fragen wollen?«, erkundigte sie sich mit kalter Stimme. »Oder sind wir fertig?« »Im Augenblick sind wir fertig. Aber wir müssen wissen, wo Sie zu erreichen sind. Ich muss vielleicht noch einmal mit Ihnen reden.« »Sie erreichen mich in der Wohnung meines Vaters«, antwortete sie kurz entschlossen. Sie hatte einen Schlüssel dafür, und sie würde sich lieber dort aufhalten als in irgendeinem Hotel; sie wollte keine weitere Verbindung zum FBI oder zu Agent Sheldrake. »Ich gebe Ihnen die Nummer.« Kevin begleitete sie zum Ausgang und verabschiedete sich höflich-distanziert. Als er zu den geschäftigen Diensträumen zurückkehrte, war er immer noch verärgert, nicht nur über ihre Arroganz, auch über sein unsachliches Verhalten bei der Befragung. Er hatte zu viel geredet, viel zu viel - hatte er sie beeindrucken wollen? -, und hatte sie herausgefordert. Es war ihm zu wichtig gewesen, zu erfahren, was sie von ihm hielt. Dabei war er sich seines zerknitterten Hemdes, seiner Bartstoppeln, der rot umrandeten Augen und seines alles andere als frischen Atems unangenehm bewusst gewesen. Er ließ zu, dass er sich beleidigt fühlte. 226
Wahrscheinlich hatte sie erwartet, dass er sofort die Zentrale anrief, den Direktor an den Apparat holen ließ und jeden Special Agent im Land einsetzte, um David Haines mit Glaceehandschuhen festzunehmen, ihn in Geschenkpapier zu wickeln und zu ihrem Labor zu bringen. Ein Heilmittel gegen Krebs. Hatte er das nicht alles schon viel zu oft gehört? Wenigstens einmal im Jahr trompeteten Time oder Newsweek hinaus, dass endlich ein Durchbruch erzielt worden sei. Aber das war's dann auch schon. Und die Krebskranken starben weiter wie zuvor. Irgendwo hatte er vor kurzem gelesen, dass zur Zeit genau so viele Menschen an Krebs starben wie vor dreißig Jahren, sogar ein wenig mehr. Er erinnerte sich an den Duft ihres Haares, und eine Spur Bedauern rührte sich. Er war von Hugh abgekanzelt worden, fühlte sich hundemüde, hatte einer intelligenten, schönen Frau gegenübergesessen und sich gedemütigt gefühlt. Jetzt wollte er nur noch nach Hause und schlafen. »Wie lange dauert es, einen neuen Gerichtsbeschluss zu beantragen?«, fragte Laura, die sich gemeinsam mit Paul und Adrian von den Reportern und Kameraleuten im Atrium der MetaSYS entfernte. Als Nachwirkung der Pressekonferenz brodelte noch das Adrenalin in ihren Adern. Alles war bestens gelaufen, fand sie. Sehr gut. Zuerst hatte sie sich für verrückt gehalten, überhaupt herzukommen, solange Haines sich noch auf freiem Fuß befand. Trotz Adrians Versicherungen, das ganze Gebäude werde von Polizei und FBI beobachtet, und auch im Haus würden Wachleute patrouillieren, hatte sie entsetzliche Angst gehabt. Als sie auf das immer wieder vom Blitzlicht erhellte Durcheinander von Reportergesichtern blickte, wünschte sie sich, eine höhere Dosis Phenmetrizine genommen zu haben. Doch als sie erst zwischen Adrian und Paul am Tisch saß, hatte sie sich seltsam geschützt gefühlt - und vor allem wieder selbstbewusst nach diesem unverschämten Verhör beim FBI. 227
Adrian hatte Recht gehabt, die Videokassette zu zeigen. Sie hatten sie auf einen riesigen Schirm projiziert, mit einem Kommentar, der sich anhörte, als wäre er von einem erfahrenen Schauspieler synchronisiert worden. Die Erläuterungen waren klar und wissenschaftlich und doch mit dem dramatischen Unterton eines Filmtrailers. Die Reporter jedenfalls waren ganz hingerissen. Schon die Flut ihrer Fragen verriet Laura, dass sie auf ihrer Seite waren. Die Reporter hatten die Bedeutung von Haines' Blut für die Krebsforschung erkannt, und wenn sie im Fernsehen und den Zeitungen positiv darüber berichteten, würden vielleicht sogar die beschränkten Typen vom FBI einsehen, wie wichtig es war, dass Haines lebend gefasst wurde. Nur eines hatte Laura zu schaffen gemacht. Bei der letzten Frage hatte ein Reporter auf Greenes Ankündigung hingewiesen, dagegen anzukämpfen, dass man Haines erneut Blut abnahm. Würde es zu einer großen juristischen Auseinandersetzung kommen? Paul hatte dem Reporter geantwortet, dass »einige kompetente Leute sich mit diesem Problem befassen werden«. Wahrscheinlich handelte es sich nur um eine ausweichende Antwort seinerseits, doch sie hatte auf ominöse Weise unentschlossen geklungen. Laura wollte es ganz genau wissen. Sie blickte zu Paul hinüber und sah verärgert, dass er sein Dozentengesicht aufgesetzt und die Lippen geschürzt hatte. Anstelle von Paul beantwortete Adrian ihre Frage. »Wir versuchen sehr sorgfältig vorzugehen«, begann er. »Wir wollen herausfinden, was Vic Greene und die Vereinigung zum Schutz der Bürgerrechte vorhaben. Vielleicht müssen wir uns damit abfinden, dass die ganze Sache zum Scheitern verurteilt ist. Wir haben später auch noch die Vorstandssitzung. Ich werde mein Bestes tun, Laura.« Sie spürte, wie ihre Unsicherheit sich zu etwas Greifbarerem festigte. War Adrian ehrlich zu ihr? Aber wenn er nicht hinter ihr stand, warum dann die 228
Pressekonferenz? Warum sollte er sich die Mühe machen, die Medien über den Sachverhalt zu informieren? Oder wurde sie, Laura, lediglich als wackere Galionsfigur für den Konzern benutzt? Doch sie nickte Adrian stumm zu; vielleicht machte sie bloß ihre tiefe Müdigkeit gereizt. »Wir besorgen uns einen neuen Gerichtsbeschluss, falls möglich«, versicherte Adrian. »Das war übrigens eine tolle Show, die Sie da mit dem Video inszeniert haben.« »Ich glaube, es hat den Leuten gefallen.« »Ich suche Haines' Bruder«, sagte Laura. »Ich habe jemand damit beauftragt.« Sie hatte es bei der Pressekonferenz mit voller Absicht nicht erwähnt, weil sie insgeheim immer noch befürchtete, dass jemand sie hereinlegen und ein anderer Forscher vor ihr an Haines' Blut herankommen könnte. Sie hielt Geheimhaltung für notwendig, obgleich ihr klar war, dass vermutlich jeder Mediziner zu derselben Folgerung kommen würde wie sie, was Haines' Blutsverwandte betraf - aber trotzdem war sie mit der Suche nach Rick um eine Kopflänge voraus. Adrian nickte anerkennend. »Wie stehen die Chancen?« »Sie sind gering, aber solange wir Haines nicht haben, ist es zumindest einen Versuch wert.« »Geben Sie uns Bescheid, wenn Sie etwas brauchen. Falls Sie Haines' Bruder finden und er das gleiche Blut hat wie David, hätten wir sehr viel weniger Probleme.« Laura war froh, dass sie ihren Volvo zurück hatte. Es war ein C70-Kabrio, und sie hing daran. Er war einer der wenigen europäischen Wagen auf den Straßen, der nicht wie ein überdimensionales Bonbon aussah. Während sie am Seeufer entlang zum Campus raste, empfand sie das befreiende Gefühl, das Steuer wieder selbst in der Hand zu haben. Zu ihrer Rechten blitzte dann und wann der See zwischen den Bäumen hindurch; sie konnte Schwimmer sehen und Segel auf 229
dem Wasser, und sie hatte ein optimistisches Gefühl. Sie würde Rick Haines finden. Bei Lakeshore bog sie auf die Sechsundfünzigste ab und fuhr am Doctor's Hospital am Nordende des Campus vorüber. Doppelbanner hingen an der Fassade des Gebäudes und forderten zu Spenden auf. Mitgefühl ist die beste Medizin. Laura fragte sich, welches Genie sich das ausgedacht hatte. Mitgefühl? Ein solcher Spruch hätte Sandra oder Mike einfallen können. Mitgefühl und Gebete hatten in etwa die gleiche Wirkung auf Krankheiten, nämlich keine. Wissenschaftliche Forschung war das Einzige, das zu wahrer Heilung führt. Sie fuhr über die Neunundfünfzigste Straße Ost, auf die gotischen Türme und Zinnen des Chicagoer Krankenhauskomplexes zu. Sie war froh, die vielen weißen Campus-Polizeiwagen entlang den Bürgersteigen des grasbewachsenen Midway Plaisance zu sehen. Die breite Grünanlage war nur von ein paar Bäumen bestanden und bot daher wenige Verstecke für Scharfschützen, doch die Polizei schien offenbar kein Risiko eingehen zu wollen. Laura bog zur Maryland ab und fand einen Parkplatz unweit des Eingangs zum Meta-SYS-Forschungspavillon. Sie holte tief Atem, stieg aus und verschloss die Wagentür elektronisch. Sie sah zwei Campus-Polizisten wachsam über die Bürgersteige zwischen den Gebäuden schlendern, und plötzlich befiel sie Panik. Sie hätte nicht herkommen sollen. Aber da der Internet-Suchdienst alles, was er über Rick erfahren konnte, an ihr Labor faxte, musste sie nachsehen, ob inzwischen eine Nachricht eingegangen war. Falls nicht, müsste sie wohl doch einen privaten Ermittler einschalten. Sie ertappte sich dabei, dass sie alle Personen in ihrer Nähe misstrauisch beobachtete. Wie hatte Haines seine Opfer getötet? Mit einem Gewehr, nicht wahr? Aus sicherer Entfernung. Fast vermeinte Laura auf dem Hinterkopf den roten Lichtpunkt zu spüren, wie man ihn in Filmen zeigte, bevor der tödliche Schuss fiel. In der 230
Eile, die Tür zu erreichen, stolperte Laura. Rasch schob sie ihre Karte durchs Sicherheitsschloss und eilte mit hämmerndem Herzen ins kühle Innere. Sie fuhr mit dem Aufzug zum dritten Stock und schritt den leeren Flur entlang. Die Haupttür zu ihrem Labor war verschlossen, und sie gab ihren Code ein. »He, entschuldigen Sie!« Erschrocken fuhr sie herum und sah einen jungen Campus-Polizisten auf sich zukommen. »Dürfte ich Ihren Ausweis sehen, Ma'am?«, bat er. »Ich bin Dr. Donaldson.« Sie fummelte in ihrer Handtasche. »Sie sind Dr. Donaldson?«, vergewisserte er sich beinahe ehrfürchtig. Er hatte sie inzwischen erkannt. »Sind Sie sicher, dass Sie da hineinwollen?« »Es sieht doch ganz so aus, als hielten Sie ein wachsames Auge auf alles. Wie lange machen Sie Dienst?« »Nur bis achtzehn Uhr. Und wir kommen erst um acht Uhr früh wieder.« Laura nickte. »Dann werde ich nicht sehr lange hier bleiben.« Der vertraute scharfe Geruch von Chemikalien begrüßte sie. Trotz seiner beachtlichen Größe wirkte das Labor wie ein voll geräumter Speicher. Entlang dem Hauptgang standen Gefrierschränke, Aktenregale und riesige Flaschen mit flüssigem Stickstoff. Die schmaleren Gänge waren mit Computern, Mikroskopen, Becken und anderen medizinischtechnischen Geräten voll gestellt. Lange Konsolen enthielten Bücher, Phiolen und eine beeindruckende Menge verschiedener Gegenstände aus Glas. Sie konnte sich nicht erinnern, wann ihr Labor das letzte Mal so gespenstisch still gewesen war wie heute, doch sie fühlte sich trotzdem erleichtert, dass Emily ihr Team hatte überreden können, sich eine Zeit lang freizunehmen. Das änderte aber nichts daran, dass sie ein schlechtes Gewissen verspürte, allein schon, weil sie einfach so hier war. Sie sollte arbeiten, arbeiten, 231
arbeiten. Das verflixte TNF-2-Protokoll durchgehen, zum Beispiel, statt sich irgendwelchen Einbildungen hinzugeben. Keine Einbildungen, rügte sie sich. Sie ging zu ihrem Büro und schaute nach dem Faxgerät. Im Eingangskorb hatte sich ein kleiner Stoß Papier gehäuft, den sie hastig durchblätterte. Der Briefkopf war so unauffällig, dass sie ihn fast übersah. Total Research, kein Begleitschreiben, nur ein paar Zeilen in der Mitte des Blattes. Sie las sie begierig:
NAME DES GESUCHTEN: Richard F. Haines DERZEITIGE ANSCHRIFT: 743 Wright Close, Chicago,Ill. TELEFONNUMMER: 312 758-1658
Chicago? Laura war so überrascht, dass sie es kaum glauben konnte. Er war doch angeblich aus der Stadt geflohen, um die Medienmeute abzuhängen. Nein, das wäre zu viel Glück. Es musste ein anderer Rick Haines sein. Es gab bestimmt mehrere Personen dieses Namens. Sie setzte sich und holte tief Atem, um ihre Gedanken zu ordnen. Dann wählte sie die angegebene Nummer. Ein Anrufbeantworter piepte blechern, und sie legte unwillkürlich auf. So eine Nachricht sprach man nicht auf einen Anrufbeantworter. Aber sie war ja nicht einmal überzeugt, dass es das Telefon des richtigen Rick Haines' war. Wer weiß, vielleicht hatte der Bedauernswerte heute schon zu viele Anrufe von Reportern erhalten, die unbedingt den Bruder eines Serienmörders interviewen wollten. Laura wartete zwanzig Minuten und wählte die Nummer noch einmal. Wieder meldete sich der Anrufbeantworter, doch diesmal hinterließ sie eine Nachricht. 232
»Hier spricht Dr. Laura Donaldson. Ich würde gern mit Ihnen über Ihren Bruder reden.« Dann programmierte sie ihr Bürotelefon, dass es automatisch sämtliche Anrufe an die Nummer ihres Vaters weiterleitete, und verließ das Labor. Als sie die leere Wohnung betrat, stieg ihr der vertraute Geruch in die Nase, den sie stets mit ihrer Kindheit verband und der jedes Mal ein Gefühl der Melancholie in ihr aufkommen ließ. Selbst nachdem Mom gestorben war und Dad das Haus in Evanston verkauft hatte, um hier in die Zwei-Zimmer-Wohnung zu ziehen, hatte dieser Geruch ihn begleitet. Es war eine Mischung aus frisch gebügelter Kleidung (ihr Vater bestand darauf, dass alles gebügelt wurde), der nahezu unauffällige Modergeruch alternder Polstermöbel und Bücher sowie der angenehme Duft von Dads Pfeifentabak. Laura stellte ihre Reisetasche neben seinen Hausschuhen auf dem Boden ab und ließ sich in einen Sessel fallen. Jeder Besuch im Apartment ihres Vaters kam ihr vor wie eine Rückkehr in eine komprimierte Version ihrer Kindheit: Das gesamte Mobiliar hier war noch dasselbe (obwohl natürlich notgedrungen ein großer Teil davon an Sandra und sie gegangen war); die Rücken der Bücher in den Regalen (ihre Farbe und Höhe und Anordnung waren sofort erkennbar), die Gardinen, der Esstisch, die Stühle. Das einzig Neue waren die Stereoanlage, der Fernseher, ein paar Lampen und ein Beistelltischchen. Laura staunte immer wieder über den ausgeprägten Ordnungssinn ihres Vaters. Wenn er verreiste und sie hierher kam, um seine Topfpflanzen zu gießen und seine Post zu ordnen, musste sie jedes Mal feststellen, wie makellos sauber alles war; sogar das Spülbecken und die Armaturen glänzten. Das letzte Geschirr, das er benutzt hatte, stand abgespült zum Abtropfen im Korb. Natürlich trug auch die Raumpflegerin, die einmal in der Woche kam, zur Reinlichkeit bei, aber man musste sich nur in Dads Schrank und der Kommode 233
umsehen. Seine Hemden und die Unterwäsche waren mit militärischer Präzision gefaltet und die Socken gebündelt. Alles andere - Schreibutensilien, nicht ständig benötigte Toilettenartikel und zwanzig Jahre alte Bankauszüge - war feinsäuberlich in kleinen Schachteln aufbewahrt. Laura hatte oft gedacht, sein ordentliches und präzises Wesen geerbt zu haben, doch selbst das hatte ihn nicht davon abgehalten, seine väterlichen Gefühle auf Sandra zu konzentrieren. Nicht, dass es Laura wirklich überraschte: Es war leicht, Sandra zu mögen; alle mochten andere Leute, die nett zu ihnen waren. Sie, Laura, war zu widerborstig. Auf Fotos in Silberrahmen auf Beistelltischchen und Regalen war eine strahlend lächelnde Sandra zu sehen. Auf den meisten Fotos war sie mit Mike, Rachel und Alex abgelichtet. Bei ihrem letzten Besuch hatte Laura die Fotos gezählt. Obwohl sie sich dabei schämte, hatte sie nicht damit aufgehört. Allein in diesem Zimmer befanden sich sechzehn Bilder von Sandra und ihrer Familie (weitere im Schlafzimmer ihres Vaters). Viele waren Urlaubsfotos, einige Porträts. Laura war nicht so interessiert daran, Erinnerungsfotos zur Schau stellen zu lassen (oh, da ist ja ein Bild von mir und meinem verheirateten Liebhaber Adrian!). Von ihr gab es hier lediglich drei Fotos, eines als Kind, eines von ihrem Highschool-Abschluss und eines, das sie und Sandra zeigte und das vor etwa zwei Jahren aufgenommen worden war. Das musste man ihrem Vater lassen: Er hatte das Talent, die unvorteilhaftesten Bilder Lauras auszuwählen. Das erste aus Vermont zeigte sie als Siebenjährige in die Sonne blinzeln, nachdem sie gestürzt war und sich die Wange blutig geschlagen hatte. Auf dem Abschlussbild sah sie in ihrem unvorteilhaften Kleid ausgesprochen fett aus. Und auf dem mit der in jeder Situation liebreizenden Sandra, hatte sie den Mund halb offen wie eine Schwachsinnige; es war nicht zu erkennen, ob sie gerade etwas sagen wollte oder ob ihr gleich Geifer aus dem Mund sickern würde. 234
Sie bezweifelte, dass es irgendwelche Schnappschüsse von Sandras letztem Aufenthalt in Tijuana gab, als sie im Bett lag, ihre Laetrile, Kräuter und Urinauszüge genommen hatte und ihr Leben betend in Gottes Hand legte. Seufzend holte Laura ihr Adressbuch hervor und blickte auf die zwei Telefonnummern, die ihr Vater ihr genannt hatte. Eine war von dem Hotel, in dem er und Mike mit den Kindern abgestiegen waren, die andere von der Klinik. Letztere wählte Laura zuerst. Der Empfang stellte sie durch, und Sandra hob gleich nach dem ersten Läuten ab. »Gott sei Dank, Laura!«, rief sie. »Wir haben den ganzen Vormittag versucht, dich zu erreichen, nachdem wir es in der Zeitung gelesen hatten.« »Oh, das tut mir ehrlich Leid«, entschuldigte sie sich und presste die Lider zusammen. »Ich habe nicht einmal meinen Anrufbeantworter zu Hause abgefragt ...« »Daddy wird unendlich erleichtert sein. Er müsste jeden Moment kommen. Dir geht's also gut? Du bist in Sicherheit?« »Es tut mir ehrlich Leid«, sagte Laura erneut, denn ihr fiel im Moment nichts anderes ein. »Aber ja, ich bin okay.« Sie musste Sandra alles ganz genau erzählen, doch jetzt schon hatte sie das Gefühl, es wäre gar nicht ihre Geschichte, sondern die eines anderen Menschen. »Wo bist du jetzt untergeschlüpft?«, wollte Sandra wissen. »In Dads Wohnung.« »Bist du dort sicher?« »Ich denke schon. Selbst wenn Haines seine Zeit damit vergeuden würde, mich aufzuspüren - ich bezweifle, dass er auf diese Adresse käme.« Sie versuchte es mit mehr Überzeugung zu sagen, als sie empfand. »Ich finde, du solltest ins Hotel zurück, Laura, wirklich. Nach deinen Worten erscheint es mir viel sicherer.« »Vielleicht gehe ich zurück, mal sehen. Aber ich habe angerufen, um mich zu erkundigen, wie es dir geht. « 235
»Oh, viel besser als vor ein paar Tagen.« Das bezweifelte Laura nicht. Wahrscheinlich hatte man ihr ohne ihr Wissen starke Schmerzstiller und Medikamente gegen Übelkeit gegeben. »Sie haben ein paar Untersuchungen gemacht und gesagt, dass er sich nicht vergrößert und auch keine Metastasen gebildet hat. Das ist doch recht ermutigend.« »Das ist gut.« Laura bemühte sich um einen erfreuten Tonfall. »Ich habe mich in Maine wohl nur überanstrengt.« »Wie geht es Rachel und Alex?«, erkundigte Laura sich. »Es tut mir sehr Leid für sie. Sie hatten so viel Spaß, und sie brauchten dringend Erholung. Sicher, sie haben es hier ebenfalls nicht schlecht. Sie haben den Pool im Hotel und auch sonst alles, aber sie wissen, dass ich hier in der Klinik bin, und ich kann spüren, dass sie sich Sorgen machen. Das ist für mich das Schlimmste.« »Es ist großartig, dass Dad dorthin kommen konnte«, sagte Laura. »Ich wüsste nicht, was ich ohne ihn tun soll.« »Was meinst du, wie lange du bleiben wirst?« »Ich weiß es nicht«, antwortete Sandra vage. »Ich glaube, so lange wie beim letzten Mal, also noch zwei Wochen. Wir müssen abwarten, was Frieda meint.« »Frieda?« »Dr. Wendt.« Großartig, dachte Laura. Jetzt ist sie auch schon auf Du und Du mit ihrer Quacksalberin. »Komm doch her und besuch mich, Laura«, bat Sandra, und ihre Stimme klang traurig. Laura schluckte schwer. Sie liegt im Sterben, ging es ihr durch den Kopf. »Sandra, du bist doch ehrlich zu mir, oder? Du fühlst dich doch gut?« »Hör mal«, Sandras Stimme wurde wieder fest, »du könntest hier bleiben, bis sie Haines erwischt haben. 236
Würdest du dich nicht besser fühlen, wenn du weit weg von alldem bist?« »Ja, sicher. Und ich möchte dich sehr gern sehen, ehrlich, aber meine Arbeit ...« Sie kam sich plötzlich egoistisch vor, auch nur davon zu sprechen. »Es ist bloß ... Ich muss hier erst noch etwas erledigen.« »Oh. Okay.« »Weißt du, Haines' Bruder hat vielleicht das gleiche Blut. Ich versuche ihn aufzuspüren.« »Könnte das nicht gefährlich für dich werden?« »Eigentlich nicht. Aber ich möchte, dass du mir etwas versprichst, ja? Versprich mir, dass du dich von mir behandeln lässt, wenn ich das Blut bekomme und ein Heilmittel herstellen kann.« »0 Gott, ich möchte nicht, dass du das für mich tust«,
entgegnete Sandra. »Risiken eingehen, meine ich. Mir wäre lieber, du würdest mich einfach hier besuchen.« »Sandra, das kann ich nicht, ehe ich das Blut habe.« Ärger überlagerte Lauras Bitterkeit. »Du solltest überhaupt nicht dort unten sein. Du vergeudest deine Zeit. Wenn der Krebs sich ausbreitet ...« »Das tut er aber nicht. - Hör mal, Frieda ist gerade gekommen, mich abzuholen. Ich bin froh, dass du in Sicherheit bist, Laura. Bitte, komm her.« »Ja, sobald ich kann«, murmelte Laura stumpf und legte auf. An diesem Nachmittag und am Abend rief sie in regelmäßigen Abständen Rick Haines' Nummer an. Doch erst um zwanzig Uhr dreißig meldete sich jemand. »Hallo?«, sagte eine schroffe Männerstimme. »Könnte ich bitte mit Rick Haines sprechen?« »Wer sind Sie?«, erkundigte sich die Stimme nach kurzer Pause. »Ich bin Dr. Donaldson, und ... « 237
»Sie waren bei David, als er geflüchtet ist?« »Ja.« Sie hörte, wie der Mann tief ausatmete. »Ich hatte sehr viele Anrufer, die mit mir reden wollten. Reporter, hauptsächlich. Und als ich gerade das Wort Doktor hörte, dachte ich, o Gott, noch ein Psychiater, der ein Buch schreibt und wissen will, ob David als Kind ins Bett gepinkelt hat oder Spaß daran hatte, Fliegen die Flügel auszureißen. Ich habe die Nachricht auf meinem Anrufbeantworter einfach gelöscht. Deshalb brauchte ich ein paar Sekunden, bis mir klar wurde, dass Sie es sind, deren Namen ich in den Nachrichten gehört habe.« »Dann sind Sie also sein Bruder?« »Ja.« Es klang wie ein gedehnter Seufzer, der unendliche Müdigkeit verriet. »Tut mir schrecklich Leid, was Ihnen passiert ist, Dr. Donaldson. Nur gut, dass er Sie nicht schlimmer verletzt hat. Weshalb möchten Sie mich sprechen?« Erleichterung durchströmte Laura; gleichzeitig schämte sie sich. Bis jetzt hatte sie in Rick Haines lediglich eine Versuchsperson gesehen, der sie etwas Nützliches entnehmen könnte. Nun aber, da sie mit ihm sprach und die Erschöpfung und den Schmerz in seiner Stimme hörte, kam sie sich herzlos vor. Aber sie musste ihn bitten. »Tut mir Leid, dass ich Sie störe«, sagte sie rasch, als hätte sie Angst, er würde sich anders besinnen und auflegen und nie wieder den Hörer abnehmen. »Ich weiß, es muss eine schreckliche Zeit für Sie sein, aber ich rufe an, um Sie zu fragen, ob die Möglichkeit besteht, dass Sie das gleiche Immunsystem haben wie David.« »Was meinen Sie damit?« »Dass vielleicht auch Sie einen Stoff im Blut haben, der Krebszellen tötet.« »Und Sie möchten, dass ich Ihnen von meinem Blut gebe?« »Wenn Sie keine Einwände haben.« 238
»Was ist damit verbunden?« »Vorerst nichts Besonderes. Ich bräuchte nur etwa zwanzig Kubikzentimeter. Wenn der Test sich als negativ erweist, war's das. Ist er dagegen positiv, werden wir uns über weitere Proben und das Prozedere unterhalten.« Eine längere Pause setzte ein. Laura wartete besorgt und angespannt und kritzelte Spiralen in ihren Notizblock. »Hören Sie«, sagte er schließlich. »Ich werde gleich morgen Früh in den Westen zurückkehren, bis das alles vorbei ist und man David wieder gefasst hat ...« Sie wartete atemlos. »... wenn Sie also Ihre Probe möchten, müssten Sie noch heute Abend herkommen und sie sich holen.« Vor Erleichterung schloss sie die Augen. »Ja, gern. Wenn Sie sicher sind, dass Sie es wirklich wollen ...«
»Ja. Ich gebe Ihnen meine Adresse.« Obwohl sie die Anschrift bereits hatte, notierte Laura sie noch einmal. Ihre Hand zitterte vor Aufregung. »Ich kann in einer halben Stunde bei Ihnen sein«, versicherte sie ihm.
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Er schob die gefrorenen Lammkoteletts unter den Grill, stellte den Reis kleiner und deckte den Tisch für sich. Nichts Großartiges - nur ein Baumwolldeckchen, Messer und Gabel, eine Serviette. Die paar Abende, die Kevin zu Hause war, kochte er für sich und aß am Esstisch, teils aus Nostalgie (Diane hatte immer auf einem nahezu formellen Dinner bestanden), doch ebenso aus einer unbestimmten Angst, er könne sich gehen lassen und vor dem Fernseher kauernd irgendetwas in sich hineinstopfen, nur weil Essenszeit war. Außerdem konnte er den Fernseher vom Tisch aus gut sehen. Die Bilder von CNN flimmerten über den Schirm; den Ton hatte er ganz leise gestellt. Er gab Wasser in einen Topf, um später die Tiefkühlerbsen für sein Abendessen hineinzugeben. Dann nahm er einen weiteren, kräftigen Schluck Wein und spürte, wie das anregende Getränk seinen Appetit steigerte. 240
Aus dem Schlafzimmer mit den zahllosen Büchern in den Wandregalen holte er sich das Bügelbrett und machte sich daran, sein letztes sauberes Baumwollhemd zu plätten. Nach seiner Unterhaltung mit Laura Donaldson am Morgen war er nach Hause gefahren und hatte acht Stunden traumlos geschlafen. Er hatte den Schlaf dringend gebraucht. Selbst jetzt fühlte er sich noch ein wenig träge und benommen und hätte gern weitere zwei, drei Stunden im Bett verbracht. Er hatte ausgiebig geduscht; jetzt würde er sich auch beim Dinner Zeit lassen. Dann musste er zur nächsten Schicht in die Dienststelle zurück. Das Telefon läutete, als er sein Hemd fertig gebügelt hatte. Hoffentlich war es seine Tochter. Sie hatten die Wochenenden für sich, aber zwischendurch rief sie ihn ein-, zweimal an, um mit ihm zu plaudern. Kevin hatte diese abendlichen Kurzgespräche ebenso schätzen gelernt wie den Wein und die Bücher, die nächst seiner Tochter sein wichtigster Trost und seine einzige Gesellschaft waren. »Tut mir Leid wegen dem letzten Wochenende«, sagte er. »Ist schon gut.« Er versuchte ihrer Stimme zu entnehmen, ob sie log. Mehr als alles andere fürchtete er, ihr wehzutun. »Was hast du gemacht?« »Kiras Mom war am Samstag mit uns im Kino. Wir haben uns den neuen Film mit Leonardo DiCaprio angeschaut.« »Und wie war er?« »So lala.« Er lächelte. Es hatte ihm immer gefallen, dass seine Tochter sich nicht vom Massengeschmack und aktuellen Trends vereinnahmen ließ. Während ihre Freundinnen von Film- und Popstars schwärmten, las sie lieber ein gutes Buch. »Und am Sonntag waren wir alle im Grant Park, bei der Venezianischen Nacht.« 241
»War sicher aufregend.« Kevin versuchte, sich seine Eifersucht nicht anmerken zu lassen, weil er selbst gerne mit Becky dorthin gegangen wäre. Vom Monroe Harbor bis zum Planetarium waren die Boote festlich beleuchtet, und als Höhepunkt gab es ein Feuerwerk. Rebecca war so taktvoll, seinen Namen nicht zu erwähnen, doch Kevin wusste, dass zu »wir alle« auch Ted gehörte. Diane ging jetzt bereits seit etwa sechs Monaten mit ihm. Ted arbeitete als Rechtsberater in ihrer Klinik. Kevin hatte ihn ein paarmal flüchtig bei Diane gesehen; er schien ein durchaus sympathischer Mann zu sein. Trotzdem hatte Kevin ihn im Dienstcomputer gecheckt, nur um sicherzugehen. Aber da war nichts gewesen. Ted hatte eine blütenweiße Weste. Inzwischen war die Beziehung zwischen Diane
und Ted viel enger geworden. Kevin bezweifelte nicht, dass Diane wieder heiraten würde - wenn nicht Ted, dann jemand anders. Es fiel ihm schwer, sich damit abzufinden, dass er von Dad zu Kevin herabgestuft würde, zu einem Kumpel, mit dem Becky hin und wieder zum Essen ausging. Und dass er hilflos zusehen musste, wie sie ihm allmählich entglitt. Während er zuhörte, wie sie die Boote beschrieb, die sie beim Karneval gesehen hatte, schaute er sich im Zimmer um und fragte sich, ob er je wieder sein Bett mit einer Frau teilen würde. Er war es inzwischen gewöhnt, nach einem Tag voller Stress und Enttäuschungen in seine leere Wohnung zu kommen voll unerfüllter Lust, wenn er an die hinreißende Schalterbeamtin in der Bank dachte, mit der er gerne Sex in allen Variationen gehabt hätte. Er wusste, dass er nachlässig war, sich gehen ließ, und dass er sich mehr bemühen sollte. Aber um wen? Ein flüchtiges Bild von Laura Donaldson schob sich vor sein inneres Auge. Sie hatte gesagt, dass sie allein lebte. Kein Ehe- und kein Verlobungsring. Aber wahrscheinlich hatte sie einen 242
Freund. Es war ohnehin absurd, auch nur daran zu denken, sie könnte sich für ihn interessieren. Vor allem, da sie ihn nach dem Wortwechsel am Vormittag vermutlich für einen religiösen Fanatiker hielt. »Wie geht es deiner Mom?«, fragte er Rebecca. »Gut. Aber sie ist ziemlich besorgt wegen David Haines.« Kevin empfand plötzliches Schuldbewusstsein, als hätte er persönlich dieses Trauma für seine Familie wieder aufleben lassen. Für Becky barg es bestimmt sehr unangenehme Erinnerungen: die Atmosphäre zu Hause, durch die Arbeit ihres Vaters vergiftet. Seine Jagd auf Haines, als er oft Tag und Nacht unterwegs war und häufig nicht nach Hause kam, hatte sie drei Jahre ihres Lebens gekostet. Und wenn er daheim war, hatte Becky ihren Vater oft geistesabwesend und gereizt erlebt und musste miterleben, wie er nachts aus Albträumen erwachte, Unverständliches schrie oder Bibelsprüche herunterleierte, bevor Diane ihn beruhigen konnte. Jetzt quälten ihn aufs Neue Albträume. Er hoffte nur, dass es Becky erspart blieb. »Kann es gefährlich für dich werden, Dad?« »Aber nein«, sagte er, gerührt über die Besorgnis, die in ihrer Stimme lag. »Mach dir keine Gedanken darüber.« Lügner. Sie musste wissen, dass er Diane gebeten hatte, eine Zeit lang anderswo mit ihr zu wohnen - und warum hätte er das tun sollen, wenn keine Gefahr bestand? »Erzähl mir, was du heute getan hast«, bat er sie. Während er zuhörte, erinnerte er sich an sein Dinner und kehrte mit seinem schnurlosen Telefon in die Küche zurück. Unterwegs warf er einen Blick in Beckys Zimmer. Er hatte es sich etwas kosten lassen, damit sie ihr eigenes Zimmer hatte, wenn sie an den Wochenenden zu ihm kam. Es war mit besonderer Sorgfalt eingerichtet, mit einem Futonbett und Regalen voller Bücher und Spiele, die er für sie gekauft hatte. An der Wand hingen Poster, die er bei ihren 243
gemeinsamen Ausflügen zu Musicals und Museen erstanden hatte. Er wollte hier ein Zuhause für Becky schaffen; zugleich aber wusste er, dass er sich die Illusion erhalten wollte, eine Familie zu haben. Beim Geruch der Lammkoteletts lief ihm das Wasser im Mund zusammen. Sein letztes Essen, wenn man die Mikrowellengerichte überhaupt so nennen konnte, hatte er im Hotel in Detroit gehabt. »Was kochst du?«, fragte Becky, als sie ihn mit den Töpfen klappern hörte. Er antwortete und hörte sie kichern. »Was ist so lustig daran?« »Du machst dir immer das Gleiche.« »Weil man es am leichtesten zubereiten kann.« »Bei Kira kocht ihr Dad. Toll, was der alles kann. Einmal hat er Beef Wellington gemacht und keine fertigen Zutaten dafür genommen.« »Wie schön«, murmelte Kevin und schüttete die gefrorenen Erbsen ins Wasser. »Du machst es aber auch gut, Dad, ehrlich«, sagte sie rasch. »Die meisten Väter, die ich kenne, kriegen nicht mal Omelett zu Stande.« »Ich tue mein Bestes, mit dem bisschen Talent, das ich habe«, entgegnete er mit gespielter Bescheidenheit. Er hatte nicht die Absicht, Becky zu gestehen, dass er seine Mahlzeit gar nicht essen würde. Selbst wenn er es ihr erklärte - und sie hatte ein rasches Auffassungsvermögen -, würde sie es für verrückt halten, und das könnte er nicht ertragen. Er war in den letzten Jahren verrückt genug gewesen. Er schaute nach den Koteletts und dem Reis und schaltete den Herd aus. »Hör zu«, sagte er, »als ich das letzte Mal mit deiner Mom gesprochen habe, war sie gar nicht erfreut darüber, dass wir als Nächstes den Hindutempel besuchen wollen.« »Sie mag unsere religiösen Ausflüge überhaupt nicht.« Kevin war ein wenig bestürzt über ihre Direktheit. »Stimmt. Sei ganz ehrlich zu mir, Rebecca - ich wäre nicht gekränkt, wenn du damit aufhören möchtest. Ich 244
will dich auf keinen Fall irgendwohin schleifen, wo du dich langweilst. Mir ist nur wichtig, dass wir beisammen sein können.« Eine beunruhigende Pause setzte ein. Vielleicht hatte Diane Recht. Vielleicht war es unverantwortlich, Becky zu diesen Kultstätten mitzunehmen und ihr sein eigenes Interesse aufzudrängen. »Aber ich gehe wirklich gern dorthin!« Es klang, als wäre sie gekränkt. Kevin lächelte, ohne den Blick vom Boden zu heben. »Großartig. Schön, dass du das sagst. Wir werden also weitermachen. Aber ich fürchte, bald sind wir mit allen Religionen durch.« Selbst Kevin staunte über die Ernsthaftigkeit, mit der Becky über sämtliche Glaubensgemeinschaften Bescheid wissen wollte. Sie war schließlich erst zwölf. Konnte eine Zwölfjährige sich tatsächlich so sehr für Religion interessieren? Als Kevin zwölf war, erschien Gott ihm so real und so weit entfernt wie eine Freske an einer Kirchendecke. Und als er sich das erste Mal in das Thema Gott und die Welt vertieft hatte, war es wie eine Droge für ihn gewesen, die ihn süchtig machte und zu einem Schritt verleitet hatte, den er später bereute. So etwas wollte er Becky ersparen. Sie sollte erst einmal das religiöse Angebot kennen lernen und dann ihre eigene Wahl treffen. »Ich kann's kaum erwarten, bis wir im Sommer wegfahren können«, sagte sie. »Mir geht es nicht anders«, antwortete er und wand sich innerlich. Sie hatten im August eine Woche auf Prince Edward Island geplant. Seit Becky sich mit Anne angefreundet hatte, der Heldin der Green-GableBände, wollte das Mädchen dorthin. Doch wenn er den Fall Haines bearbeitete, musste er die Reise möglicherweise abblasen. »Wir fahren doch, oder?« In Beckys Stimme schwang die vorsichtige Fröhlichkeit eines Mädchens mit, das schon zu oft enttäuscht worden war. 245
»Dürfte kein Problem sein.« Kevin hasste sich seiner Unehrlichkeit. Wenn er wirklich nicht wegkonnte, würde es für Becky umso schlimmer sein. »Bis dahin hast du ihn geschnappt, nicht wahr?« Unwillkürlich musste er über ihre Formulierung lächeln. Wie sie es sagte, hörte es sich an, als würde er Haines wie ein Sherlock Holmes mit Lupe und einer Pfeife zwischen den Lippen aufspüren. »Ich glaub schon.« »Einige von den Kids im Tagescamp reden von dem Mann, als wäre er so was wie ein böser Superheld. Du weißt schon, wegen seiner besonderen Kräfte in seinem Blut, und dass er Krebs heilen kann.« Kevin brachte ein Lächeln zu Stande - ein überzeugendes, wie er hoffte.
»Nein, er ist nur ein sehr fehlgeleiteter Mann.« Nachdem sie ihr Gespräch beendet hatten, richtete Kevin sein Essen auf einem Teller an: drei perfekt gegrillte Lammkoteletts - er hatte sich vergewissert, dass sie in der Mitte noch ein wenig blutig waren, genau wie sie sein sollten -, eine ordentliche Portion Reis, und dazu einen großen Löffel Erbsen mit Butter. Er betrachtete den Teller kurze Zeit, erfreute sich an seinem Anblick und dem köstlichen Geruch, und spürte das gereizte Knurren seines leeren Magens. Dann ging er mit dem Teller zum Abfalleimer und schob das Essen mit einer Gabel hinein. Sein Magen verkrampfte sich so sehr, dass er die Zähne zusammenbeißen musste. Gut. Das war seine Buße, eine innere Reinigung, eine Askese, die helfen würde, die Dinge klar zu sehen. Im Wohnzimmer schaltete er den Fernseher aus und kniete sich auf den Parkettfußboden, wobei er darauf achtete, sich nicht auf die Fersen zu stützen. Er schloss die Augen, senkte den Kopf. Er wusste, dass David das Gleiche tun würde. 246
Fasten und beten. Gott bitten, ihm den rechten Weg zu weisen. Kevin begann mit seinem üblichen persönlichen kleinen Zweifel: »Lieber Gott, wenn es dich gibt, wenn du da bist, dann lass mich wissen, was er tun wird. Bring mich ihm nahe ...« So hatte Kevin es schon vier Jahre zuvor gemacht, als er Haines das erste Mal gejagt hatte. Am ehesten fand er ihn, wenn er seine Riten und Regeln nachahmte. Er versuchte sich auf sein Innerstes zu konzentrieren und alles Äußere auszusperren. In ein paar Stunden würde er wieder im Einsatz sein, dann war keine Zeit mehr für Meditation oder eine mentale Verbindung zu David. Hilf mir. Zeig es mir. Bitte. Seine Knie schmerzten auf dem harten Boden, und die Muskeln seiner Oberschenkel fingen zu zittern an.
Benutz es, dich von hier wegversetzen zu lassen! Vor seinem inneren Auge sah David das Wrack des Güterzuges in den Maisfeldern, und er spürte, wie die Plattentektonik seines Verstandes zu arbeiten begann. Ein Werk Gottes? Ein Zeichen. Wovon? Dass David ein Günstling Gottes war. Dass er dem Hochsicherheitstrakt entkam, dass er seine Feinde vernichtete, dass er sich auf wundersame Weise selbst heilte Dann rief er seine zwölf Jünger zu sich und gab ihnen die Macht, unreine Geister auszutreiben und alle Krankheiten und Leiden zu heilen ... Göttliche Macht oder genetischer Zufall? Sich selbst zu heilen, ein solches Zeichen zu bekommen ... Ich bekam nie ein Zeichen, dachte er. Gib mir einen sichtbaren Beweis deiner Existenz, Gott, damit ich nicht mehr an dir zweifle, damit ich mich aus der seelischen Enge des Zweifels lösen kann. Wie ein Schmetterling, der von seinem Kokon befreit ist. Gib mir ein Zeichen! Gesegnet sind jene, die nicht gesehen haben und 247
dennoch glauben. Ja, aber was ist mit Bittet, so wird euch gegeben. Klopft an, so wird euch aufgetan. Du sollst den Namen Gottes nicht eitel nennen. Das hatte er gewiss nicht vor - aber warum konnte er kein Zeichen bekommen? Wie die Apostel. Sie hatten erlebt, wie Jesus auf dem Wasser wandelte, wie er Tote auferstehen ließ, und die wundersame Vermehrung von Brot und Fisch. Ihm würde schon ein Zeichen genügen. Jetzt zitterten auch seine Waden, und sein Magen verkrampfte sich. Danke für diese Gabe der Buße, Gott, danke für diese Chance, dir näher zu kommen, betete er, obwohl er wusste, wie unzulänglich die Gebete eines Zweiflers waren. David Haines wurde nicht von Zweifeln geplagt. Vielleicht war er der Diener, den Gott erwählt hatte, und Gott war tatsächlich der grimmige und rachsüchtige Herr der Heerscharen des Alten Testaments. Denk daran: David hat keine Zweifel. Das Zimmer schien plötzlich zu schwanken. Instinktiv riss er die Augen weit auf und streckte eine Hand aus, um sich zu stützen. Sein Herz hämmerte. Er blickte auf die Uhr. Nur fünfundzwanzig Minuten. Das war nichts, verglichen mit seiner Zeit bei den New Apostles. Ja, noch vor ein paar Jahren hatte Diane ihn mehrmals bleich und erschöpft auf dem Boden kniend ertappt, nachdem er zwei Stunden im Gebet versunken gewesen war. Sie hatte ihn für verrückt gehalten. Und vielleicht war er das auch. Stöhnend erhob er sich, mit schmerzenden Knien, und leider kein bisschen weiser. Aber er fing ja gerade erst an. Er würde weiterhin fasten, keinen Wein mehr trinken, sich mit viel weniger Schlaf begnügen, intensiv die Bibel studieren - und die Briefe lesen, die David an Will Andrews geschrieben hatte. Vielleicht schaffte er es dann, David Haines' Motive zu begreifen. Kevin schaltete den Fernseher wieder ein und sah Laura Donaldson. Er stellte den Ton gerade noch 248
rechtzeitig lauter, um zu hören, dass sie einem Reporter erklärte, wie wichtig es sei, Haines lebend zu fassen. Er schnaubte, bewunderte jedoch ihren Mut. Sag das doch diesem sturen Michener! Dann wurde eine Aufnahme sich windender miskroskopischer Zellen gezeigt, die den gesamten Bildschirm ausfüllten. Kevin zuckte zusammen. Ihm wurde bewusst, dass es Haines' Blut war. Während er dem Kommentar lauschte, beobachtete er gebannt, wie die Zellen binnen Sekunden einen Tumor verschlangen. Nach dieser Aufnahme wurde wieder ins Studio geschaltet, wo drei Personen um einen Tisch saßen. Moderatorin war Liz Braun. »War MetaSYS das wert, Hilary?« »Nun, rein wissenschaftlich hat es seine Mängel, das ist mein Problem«, antwortete Hilary, die Onkologin war, wie ihr Titel verriet. »Diese Aufnahmen sind beeindruckend, doch ich fürchte, Dr. Donaldson täuscht sich sehr, wenn sie glaubt, einen einfachen Weg zur Heilung zu erkennen.« »Aber es ist eine Möglichkeit, nicht wahr?«, fragte Liz Braun. »Michael?« »Eine Möglichkeit, ja«, gab Michael O'Hare zu, ein weiterer Arzt, aber Kevin achtete nicht auf seinen Titel. »Doch es gibt ein unausweichliches Problem: Was in einem System funktioniert, muss deshalb nicht auch in einem anderen funktionieren. Es wurden bereits überzeugende Fälle von Selbstheilung dokumentiert, doch es ist äußerst schwierig, die exakten Umstände herzustellen, unter denen die Heilung möglich war.« »Wie viele Menschen könnten ein solches Blut haben?«, wollte Liz Braun wissen. O'Hare zuckte die Schultern. »Wir dürfen nicht außer Acht lassen, unter welchen Bedingungen das Blut entnommen wurde«, warf der dritte Gast ein, ein gewisser Jack Gromaldy, der das Problem von der ethischen Seite betrachtete. »Wenn wir zulassen, dass das Blut dieses Mannes gegen seinen Willen benutzt wird, öffnen wir in Zukunft gewissen invasiven Techniken Tür und Tor.« 249
Liz Braun blickte auf ihre Notizen. »Dr. Donaldson scheint es als unabdingbar für die Forschung zu erachten, weiteres Blut von Haines zu bekommen. Was ist, wenn sein Blut tatsächlich einmalig ist? Schließlich ist sein Körper im Stande, Krebs zu heilen.« »Potenziell im Stande«, betonte Hilary. »Nun, das Agens in seinem Blut könnte familiär vererbbar sein«, meinte Gromaldy. »Und es könnte in Haines' Familie jemanden geben, der bereit ist, Blut zu spenden. Soweit ich mich erinnere, hat er einen Bruder, nicht wahr?« Töte ihn!
Die Mühelosigkeit, mit der diese Worte sich ihm aufzwangen, ihre brutale Logik, drehten Kevin den Magen um. Einen Augenblick lang hörte er den Fernseher nicht, so sehr versuchte er, sich zu beruhigen. Töte ihn! Rick Haines' Haus stand nicht unter Bewachung, weil Kevin es für Zeitverschwendung gehalten hatte. Aber jetzt ... Falls tatsächlich die Möglichkeit bestand, dass Rick das gleiche Blut hatte wie sein Bruder, würde David alles daransetzen, Rick zu töten. Kevin riss seine Jacke von der Stuhllehne und nahm sein Notizbuch hervor, um nach Ricks Telefonnummer zu suchen. Er war erst vor kurzem zurück nach Chicago gezogen. Es war kaum denkbar, dass David wusste, wo sein Bruder wohnte. Seine Nummer war geheim. Doch Kevin bezweifelte nicht, dass David nun alles daransetzte, Rick zu finden. Er musste Rick rasch in Sicherheit bringen - Himmel, hatte er seine Frau bei sich? Oder er könnte ein paar Mann ins Haus bringen und es genauestens 250
observieren lassen, rund um die Uhr. Und wenn Haines kam, würden sie ihn schnappen. Er fand Ricks Nummer und wählte. Schon nach einmaligem Läuten schaltete der Anrufbeantworter sich mit einem Piepton ein. Verdammt! »Rick, hier ist Special Agent Sheldrake vom FBI Chicago. Sie müssen das Haus sofort verlassen! Ich fürchte, Ihr Bruder will« - er wollte sagen: einen Anschlag auf Sie versuchen; aber das erschien ihm dann doch zu euphemistisch - »Sie töten. Ich mache mich sofort auf dem Weg zu Ihnen.« Er blickte auf die Uhr. »Es ist jetzt Dienstag, einundzwanzig Uhr vierzig. Wenn Sie diese Nachricht hören, bevor ich dort bin, dann sehen Sie zu, dass Sie wegkommen, und geben Sie mir auf meinem Handy Bescheid.« Er nannte seine Nummer und legte auf, versuchte es aber sofort wieder, falls Rick doch mit gehört hatte.
Aber auch diesmal erklang nur der Piepton. Kevin legte auf, griff nach seinen Schlüsseln und rannte zum Fahrstuhl. Der Abend roch wie ein nasser Hund. Laura warf die Wagentür zu und ging die Einfahrt hinauf. Schon jetzt schwitzte sie in der drückenden Schwüle. Haines' Domizil war ein großes Ziegelhaus mit einem riesigen Garten, der bis zu einem Park reichte. Durch den hohen schmiedeeisernen Zaun sah sie einen Joggingpfad und zwischen den Bäumen einen Kinderspielplatz. Es stand noch ein Wagen in der Einfahrt, ein sportliches Lexus Coupé, und im Haus brannte Licht. Laura trug den Koffer, in dem sich alles befand, was sie für die Blutabnahme brauchte. Sie läutete und beobachtete durch das kleine rautenförmige Fenster, wie ein Mann mit einem halb vollen Glas in der Hand durch den Flur auf sie zukam. Zu Lauras Erleichterung sah er David Haines kaum ähnlich. Sie schätzte ihn auf knapp über dreißig. Trotz 251
seines leichten Übergewichts sah er ziemlich gut aus, auch wenn er nicht unbedingt ihr Typ war. Ein gepflegter Kinnbart ließ sein Gesicht schmäler erscheinen. Im Augenblick jedoch wirkte er ziemlich erschöpft, und seine geröteten Augen verrieten, dass er in den letzten Stunden zu viel getrunken hatte. »Dr. Donaldson?«, fragte er, als er sie einließ. »Ja. Danke, dass Sie so hilfsbereit sind.« »Nun, sagen wir mal so, ich teile die Ansichten meines Bruders über die moderne Medizin nicht.« Sein Atem roch leicht nach Alkohol. Er führte Laura über den Flur ins Wohnzimmer, das voller Umzugkartons stand, die meisten noch zugeklebt, und in dem ein Durcheinander verschiedener Möbelstücke herrschte. Ganz kurz drängte sich Laura die beängstigende Frage auf, ob der Bruder eines
Psychopathen zwangsläufig ähnlich veranlagt war. In einem anderen Zimmer läutete das Telefon, doch Rick schüttelte den Kopf. »So geht das schon den ganzen Tag. Wie sind Sie denn an meine Nummer gekommen?« »Durch einen Suchdienst.« Er lächelte müde. »Sie und alle anderen. Ich hatte keine Ahnung, dass Geheimnummern so wenig geheim sind. Und mein Apparat ist gerade erst angeschlossen.« Wieder läutete das Telefon, und wieder ignorierte er es. Das luxuriös ausgestattete Haus erschien Laura zu groß und zu kostspielig für eine Einzelperson, doch als Börsenmakler schien Rick es sich leisten zu können. Er bot Laura Platz auf einem weichen Sofa an und setzte sich in einen dieser teuren, aber unbequemen schwedischen Sessel. Es war ein schöner Raum mit einem Kamin, dessen Sims von zwei Pfleilern getragen wurde, von denen wiederum Pilaster und spitz zulaufende Säulen ausgingen, zwischen denen sich Bücherregale befanden, was dem Zimmer beinahe ein 252
neoklassisches Aussehen verlieh. An den Fenstern waren noch keine Gardinen; Laura sah einen Wagen über die Straße fahren, bis seine Rücklichter um eine Biegung verschwanden. »Ziehen Sie aus?« »Nein, im Gegenteil. Wir haben das Haus vor zwei Monaten übernommen und renovieren lassen. Meine Frau ist noch im Westen, hat noch vertragliche Pflichten. Ich kam voraus, um mich um den Umzug zu kümmern und die Zimmer einzurichten. Es ist leider nicht die Heimkehr, wie ich sie mir erhofft hatte.« »Sie sind in den Westen gezogen, nachdem man Ihren Bruder festgenommen hatte.« Laura spürte, dass er reden wollte, dass er es brauchte. Wahrscheinlich war es einer der Gründe dafür, dass er sie heute Abend überhaupt eingelassen hatte. »Ja, meine Frau Janet und ich. Ich habe mich in unser Büro in San Francisco versetzen lassen. Aber wir wussten immer, dass wir zurückkommen würden. Janets Familie lebt hier, und auch ich fühle mich immer noch hier zu Hause. Doch als wir dieses Haus kauften, dachten wir, dass ... alles endlich vorbei sein würde. Bis gestern, als ich einen Anruf vom Büro des Marshals erhielt und erfuhr, dass David entflohen ist. Und dass ich anrufen sollte, falls er versuchte, sich mit mir in Verbindung zu setzen. Großer Gott, die Leute vom Marshal haben mir nicht einmal gesagt, was passiert ist.« Mit einem Kopfnicken deutete er auf den Fernseher, der auf einem Stapel Kartons stand. »Ich habe es erst aus den Nachrichten erfahren, aber ...« Er trank sein Glas aus und blickte Laura erwartungsvoll an. »Vielleicht könnten Sie mir erzählen, wie es geschehen ist, falls es Sie nicht zu sehr mitnimmt.« Laura nickte. Es war das Mindeste, was sie für ihn tun konnte. Sie erzählte ihm alles, woran sie sich über ihre Begegnung mit seinem Bruder erinnern konnte. Rick unterbrach sie kein einziges Mal. Er blickte nur stumm zu Boden. 253
»Ich habe ihn nie besucht«, sagte er, als sie geendet hatte, und sie war erstaunt über das tiefe Bedauern in seiner Stimme. Ihr wurde bewusst, dass Rick immer noch brüderliche Gefühle für David hegte, für diesen Serienmörder von Ärzten, für den Mann, der vor ihren Augen brutal zwei Wächter umgebracht und danach sie als Geisel genommen hatte. Sie konnte es kaum glauben. »Ich brachte es einfach nicht fertig«, murmelte Rick. »Was hätte ich ihm sagen können? Und er hätte es auch bestimmt nicht gewollt.« Laura war verlegen; sie mochte es nicht, wenn jemand so offen über seine Empfindungen sprach. Das kommt daher, dass ich zu viel Unpersönliches studiert habe, überlegte sie. Zellen, Viren ... nicht aber die Menschen, die sie beherbergen. Sandra würde jetzt das Richtige sagen; das versteht sie gut. »Ich habe dem FBI einen Hinweis gegeben«, fuhr Rick fort, »und vor Gericht gegen ihn ausgesagt. Für David bin ich bloß einer dieser Sünder, die hinter dem Geld her sind. Ich fürchte, ich hatte ihn so gut wie abgeschrieben, nachdem er diesen religiösen Hokuspokus zelebrierte. Er war nicht mehr wie mein Bruder, deshalb versuchte ich ihn zu vergessen. Aber das ging nicht. Und einfach wegzuziehen, machte es auch nicht leichter. Ich habe ihm vor einem Monat einen Brief geschrieben, als ich hier war. Ein dummer Brief, wenn ich es recht bedenke. Ich wollte mich von ihm verabschieden und ihm ein bisschen von meinem Leben erzählen. Ich habe keinen Absender angegeben. Ich hatte Angst, er würde auf die ihm übliche Weise antworten. Aber das Seltsame ist ... wenn er plötzlich vor meiner Tür stünde, würde ich ihn einlassen.« Er seufzte. »Und wahrscheinlich die Polizei rufen, sobald er wieder gegangen ist. Ich kehre zur Küste zurück. Ich werde einfach nicht mehr fertig damit.« Plötzlich schien er sehr verlegen zu sein. »Jedenfalls bin ich gern bereit, mir Blut abnehmen zu lassen. Nur fürchte ich, dass Sie enttäuscht sein 254
werden. Im Lauf der Jahre musste ich viele Tests über mich ergehen lassen, und nie hat jemand etwas Ungewöhnliches festgestellt.« »Das hätte sich wahrscheinlich auch nur herausgestellt, hätte man Sie auf Krebs untersucht. Aber wir können im Labor eine Immunresponse simulieren, um Klarheit zu gewinnen.« »Oh, ich verstehe.« »Ihre Eltern sind beide tot, wie ich gehört habe.« Rick nickte. »Ich studierte damals noch an der Northwestern. David hatte sein Medizinstudium aufgegeben und befand sich bei seinen neuen Glaubensbrüdern auf dieser Farm. Es war ein Autounfall. Meine Eltern waren auf dem Heimweg von Vermont. Mein Vater war für einen Moment am Steuer eingenickt. Sekundenschlaf, wissen Sie. Das passierte ihm öfter, doch Mom wusste, wie peinlich es ihm war, deshalb hat sie ihn nie darauf aufmerksam gemacht. Diesmal aber raste das Auto quer über die Straße und prallte gegen einen Lieferwagen. Ich schrieb David von dem Unfall. >Lass die Toten die Toten begraben<, hat er mir geantwortet. Können Sie sich das vorstellen? Er wollte nicht einmal sein Erbteil am Haus.« »Haben Sie und Janet Kinder?« »Wir möchten gerne welche.« Er machte ein verlegenes Gesicht. »Sie hatte vergangenes Jahr eine Fehlgeburt. Aber wir werden daran arbeiten, dass Leben in das leere Haus kommt ...« »Onkel? Tanten?« Laura wusste aus dem Bericht des Genealogen, dass beide Elternteile keine Geschwister gehabt hatten, doch sie wollte sichergehen. »Nein. Also dann ...« Rick stand auf. »Wollen Sie es hier tun? Oder in der Küche? Da steht ein Tisch.« »Ja, gut«, antwortete sie. In den Schatten des Baumes verborgen, lehnte David sich auf einem breiten, sanft nach oben geschwungenen Ast an den Stamm. Hinter dem 255
dichten Laub hatte er eine ausgezeichnete Sicht auf die Rückseite des Hauses, und die Höhe würde ihm einen gezielten Schuss durch jedes Fenster im ersten und zweiten Stock ermöglichen. Vorsichtig nahm er die Teile seines Gewehrs aus dem Rucksack und setzte es geschickt zusammen. Es war eine Harrington & Richardson Halbautomatik - kein besonders gutes Gewehr, aber das war ihm egal. Es war präzise, und er konnte es in fünfzehn Sekunden auseinander bauen. Es hinterließ keine Patronenhülsen und auch sonst keine Spuren. Nichts für die Polizei. Gail hatte ihre Sache gut gemacht. Sie hatte sich das Gewehr im Wal-Markt besorgt; die Munition - .308 Stahlmantel - stammte aus einem der unzähligen Army-Shops. Zum Schluss hatte sie für zwanzig Dollar einen Auspufftopf für einen
Rasenmäher gekauft, den David mit Klebeband sorgfältig am Ende des Laufes befestigt hatte. Es war ein primitiver Schalldämpfer, der seinen Zweck für nur zwei Schüsse erfüllte, aber mehr brauchte er auch nicht. Er hatte das Schloss geöffnet und die erste Patrone geladen, zwei weitere steckten in der Tasche seiner Jeans. Jetzt wartete er. Er hatte sich Zeit gelassen, hierher zu kommen, und war mehrmals an dem Haus vorbeigefahren, um sich genau umzusehen. Er wusste, wie vorsichtig er sein musste. Er hatte sein Gesicht auf den Titelseiten von Zeitungen und auf Fernsehschirmen gesehen. Aber er wusste auch, dass man ihn am wenigsten bemerken würde, wenn er sich ganz normal verhielt, keinem Blick auswich und keine Hast zeigte. Mit seiner Baseballkappe, den Bartstoppeln und den unauffälligen Sachen, die Gail ihm besorgt hatte, sah er völlig unscheinbar aus. Selbst wenn jemand sein Gesicht erst vor zehn Minuten auf dem Bildschirm betrachtet hatte, würde er David nicht erkennen. 256
In der Abenddämmerung hatte er Gails Wagen in einer ruhigen Nebenstraße eines Wohnviertels an einem Park abgestellt, den er anschließend durchquerte. Die Vögel beendeten gerade ihr Abendlied, und er war kurz stehen geblieben, um ihnen zu lauschen. Er sah einen Rotfinken und lächelte. Sein Orientierungssinn war wie immer unfehlbar und hatte ihn direkt zu jenem Teil des hohen Zauns geführt, der an Ricks Garten grenzte. Er wunderte sich zuerst, dass sein Bruder ein so großes Haus besaß; dann erinnerte er sich, dass Rick inzwischen verheiratet war - das hatte dieser Jammerlappen ihm in seinem lächerlichen Brief geschrieben. Kinder?, überlegte er. Hatte er Kinder? Erwähnt hatte er jedenfalls keine. Es war wirklich ideal für seine Zwecke, wie hoch und dicht die Bäume am Zaun standen. Er hatte den Zaun mühelos erklommen und sich auf der anderen Seite einen Baum für sein Versteck ausgewählt - eine üppige Eiche mit niedrigen Ästen und einem dichten Wipfel. Es war fast zu einfach, und gerade das machte David nervös. Er hatte viel schwierigere Jobs gehabt als diesen, hatte in Hintergärten und Gässchen Deckung suchen müssen. Aber damals war er noch ein Unbekannter gewesen, der gesichtlose Ärztekiller, von dem es kein einziges FBI-Phantombild gab, das ihn hätte verraten können. Natürlich hatte er daran gedacht, dass die Polizei Ricks Haus observieren könnte; aber dieses Risiko musste er eingehen. Durch das Zielfernrohr machte er sich ein Bild vom Innern des Hauses. Das einzige Licht brannte hinter der Glasschiebetür im ersten Stock; vermutlich war es der Eingang zur Küche. Von einer angebauten hölzernen Veranda führten acht oder neun Stufen zu dem leicht abfallenden Rasen. Durch diese Glastür sah er verschwommen einen Flur, der zur Vorderseite des Hauses führte. Plötzlich erschienen zwei Personen - ein Mann und, den Umrissen des Kopfes nach, eine Frau. David 257
verlagerte sein Gewicht auf der Astgabelung, sorgte für Balance und festen Halt. Das Küchenlicht flammte auf, und David Haines sah seinen Bruder an der Tür. Rick sah noch genauso aus wie damals vor Gericht, als er gegen ihn ausgesagt hatte - ein Judas, der keine Reue zeigte. Während David durchs Zielfernrohr Ricks Gesicht betrachtete, verspürte er plötzlich den hoffnungslosen Wunsch, den jüngeren Bruder zu umarmen. Er wünschte sich, er könnte es ihm verständlich machen. Er tötete nicht gern, empfand keinerlei Freude daran. Was er tat, geschah aus einer heiligen Verpflichtung heraus, und weil es das Richtige war. Als David die Ärzte erschoss, hatte er sich bemüht, sie rasch zu töten. Er wollte nicht, dass sie litten, auch wenn sie gesündigt hatten. Nein, das Töten machte ihm keinen Spaß. Er war kein perverser Sadist. Er senkte das Fadenkreuz, bis es auf Ricks Brust ruhte.
Halt dich ruhig, Rick, ganz ruhig! Sag seinen Namen nicht. Dem Reinen ist alles rein. Vergiss das nie. Er musste sich jetzt auf den Schuss konzentrieren, auf die Entfernung, den Winkel und auf die Flügeltür. Sie besaß eine doppelte, wenn nicht dreifache Glasscheibe; deshalb konnte man unmöglich die Abweichung der Kugel schätzen. Er hatte nur zwei Schüsse, im Höchstfall drei, ehe der Auspufftopf sich löste; dann würde jeder weitere Schuss wie ein Donnerschlag krachen. Was war, wenn Rick gar nicht das gleiche Blut hatte wie er? Wenn es gar nicht nötig war, ihn zu beseitigen? Gab es eine Möglichkeit, Rick zu verschonen? Einen Moment ließ David das Fadenkreuz von seiner Zielperson rutschen, als er bemerkte, dass die Frau hinter ihm gar nicht seine Angetraute war. Es war die Ärztin! 258
David hatte nicht erwartet, dass sie so schnell sein würde. Grelle Wut stieg in ihm auf. Hatte sie Rick bereits Blut abgenommen? Doch in diesem Moment sah er, dass sie einen schwarzen Koffer auf die Arbeitsplatte stellte; dann nahm sie einen Katheter und mehrere Phiolen heraus. Er hätte die Frau schon im Gulfstream töten sollen! Aber die Zeit hätte nicht gereicht, auch noch ihre Leiche vom Fahrersitz zu entfernen. Er hätte dabei kostbare Sekunden, wenn nicht Minuten verloren. Er hatte vorgehabt, die Frau zu töten, sobald sie sich dem Treffpunkt näherten, und sie dann mit den beiden toten Wächtern im Wagen zurückzulassen. Jetzt wurde ihm schmerzlich bewusst, was für ein schlimmer Fehler es gewesen war, dass er gewartet hatte. Ungebeten drängte sich ihm der Traum auf, der ihn vergangene Nacht gequält hatte. Er war im Gulfstream an den Tisch gebunden, und diese Ärztin stand über ihn gebeugt und nahm ihm Blut ab. Während das Blut aus seinem Körper strömte, strich eine ihrer Hände ungewollt und fast zärtlich über seinen Unterarm, sodass sich ihm die Härchen aufstellten. Dann bewegte ihre Hand sich seine Oberschenkel entlang, bis sich die Lust in seinen Lenden regte und der Anblick des Blutes, das sie ihm entnahm, zur Ejakulation führte. Er zerrte an den Ledergurten, um sich loszureißen und Besitz von der Frau zu ergreifen, aber die Gurte hielten. Er brüllte, doch die Frau wandte ihm nur einen kurzen Blick voller stummen Desinteresses zu. Er war aufgewacht, weil er sich an der Matratze gerieben hatte, und Hass und Ekel vor sich selbst übermannten ihn. Das Bild der Ärztin hatte ihn den ganzen Morgen verfolgt, so sehr er sich auch bemühte, es aus seinem Kopf zu verbannen. Er erinnerte sich an ihre Arroganz im Labor, an ihre kaltblütige Professionalität. Sie war eine Verführerin. Sie sprach vernünftig und menschlich, so wie Satan es immer tat, wenn er auf Erden Frieden und Gesundheit und Mitleid versprach und Verdammnis brachte. Ihre Schönheit überraschte ihn nicht. Satan nahm immer das 259
ansprechendste Äußere an. Wehe jenen, die glaubten, er würde als missgestalter, gehörnter, erschreckender Unhold erscheinen. Nein, er tat sein Werk in den verführerischsten Gestalten, brachte die vernünftigsten Argumente vor und erstrahlte im Glanz eines Engels. Und seinen Bruder hatte diese Frau bereits verführt. Erlöse die Erde von ihr! Er hob das Zielfernrohr an die Augen. Ja, er war bereit, Gottes Werk auf Erden zu tun. Vergib mir, Rick. »Kann ich Ihnen etwas zu trinken holen?«, fragte Rick und öffnete die Kühlschranktür. »Nur Wasser, bitte.« Eine große Arbeitsplatte teilte das Zimmer und ließ reichlich Platz für einen Frühstückstisch bei der Glastür, in der Laura verschwommen eine große hölzerne Veranda sehen konnte; weiter entfernt war die Dunkelheit des Parks auszumachen, hier und da von Lichtern der Häuser gegenüber unterbrochen, die zwischen den Bäumen strahlten. Weitere Umzugskartons, auf die mit schwarzem Marker Küche gekritzelt war, standen aufgestapelt an den Wänden. Einige, die Geschirr enthielten, waren geöffnet. Mehrere Stapel Teller standen auf dem ovalen Frühstückstisch; Laura nahm an, dass Rick sich darangemacht hatte, die Kisten auszupacken, um das Haus für seine Frau wohnlich zu gestalten. Plötzlich verspürte sie ein Gefühl der Einsamkeit. Die Küche war offenbar völlig renoviert worden; die Schränke waren makellos, so wie die glänzend weißen Arbeitsplatten; überall waren nagelneue Küchengeräte zu sehen. Und in dem riesigen Kühlschrank würde sie wahrscheinlich alles unterbringen, was sie das ganze Jahr für sich brauchte. Laura fragte sich, wie viele Kinder Rick und seine Frau haben wollten. »Börsenmakler rettet die Menschheit«, sagte Rick mit einem schwachen Lächeln, als er die Kühlschranktür 260
schloss, eine Flasche Mineralwasser in der Hand. »Das gefällt mir.« »Hoffen wir, dass es so sein wird«, entgegnete Laura. Alles, was sie brauchte, befand sich nun auf dem Tisch. Das Ganze würde nicht länger als zehn Minuten dauern, und bis dreiundzwanzig Uhr würde sie die Proben im Labor haben. Sie könnte gleich mit den Untersuchungen anfangen, falls sie noch die Kraft dazu hatte. Das Erste, das sie bemerkte - noch vor der leisen Detonation wie der eines Knallkörpers draußen im Freien -, war das Zischen des entweichenden Kühlmittels. Sofort sah sie das Loch im Kühlschrank, etwa in Kopfhöhe. Es kam ihr so vor, als hätte sie stundenlang darauf gestarrt, ehe sie begriff. »0 Gott ...« Den zweiten Schuss hörte sie nicht einmal.
Ricks Hals wurde zerfetzt. Gewebe und Blut spritzten durch die Küche. Als ihm die Knie einknickten, sah Laura, dass die Kugel rechts von seinem Adamsapfel eingedrungen war und die Schlagader aufgerissen hatte. An drei Stellen spritzte Blut aus der Wunde. Laura ließ sich zu Boden fallen, als eine weitere Kugel in den Kühlschrank schlug. Auf allen vieren kroch sie hinter die Arbeitsplatte. Sie sah Rick in einer sich ausbreitenden Lache seines eigenen Blutes liegen. Sie robbte zu ihm, drehte ihn auf den Rücken, stellte sich geduckt über ihn und presste die Hände mit aller Kraft auf die Wunde. Zwei der Halsschlagadern versorgten das Gehirn; falls die zweite intakt war, hatte er vielleicht noch eine Chance, wenn sie verhindern konnte, dass er verblutete. Hätte sie nur eine Art Klammer, irgendwas, mit dem sie die Arterie zusammenhalten könnte ... doch ihre Hände waren das Einzige, was das Leben in ihm hielt, und sie konnte nicht verhindern, dass das Blut erschreckend schnell durch ihre Finger 261
rann. Ricks Hände klammerten sich mit übernatürlicher Kraft um die ihren. Wo, zum Teufel, war das Telefon? David. Der Schütze konnte nur David Haines sein. »Wir werden die Blutung stillen, Rick.« Sie zwang sich, ihm in die weit aufgerissenen Augen zu blicken. Sein Gesicht war blass und feucht von Schweiß; die Lippen färbten sich bereits blau. Blut blubberte aus seinem Mund. Die Kugel musste die Luftröhre durchschlagen haben - er konnte kaum noch atmen, und seine Lunge füllte sich mit Blut. Die Wunde war zu groß; sie verlor ihn. Sie spürte, wie sein Griff um ihre Hände schwächer wurde. Sie brauchte eine Klammer! Wie lange würde es dauern, bis die Nachbarn den Notdienst anriefen? Wie lange, bis die Polizei hier sein konnte? Aber was war, wenn die Nachbarn gar nichts unternommen hatten, weil sie die Schüsse für Fehlzündungen hielten? Sie musste an ein Telefon herankommen! Doch sie hatte Angst, die Hände von Rick zu nehmen, hatte Angst aufzustehen, falls Haines' Waffe noch immer auf die Küche gerichtet war. Sie sah den Werkzeugkasten auf der Arbeitsplatte und nahm rasch die Hände von Ricks Hals, um den Kasten auf den Boden zu zerren. Sein Inhalt verteilte sich auf dem Boden. Sie schnappte sich hastig eine Flachzange, deren Enden allerdings leicht angerostet waren. Die klaffende Wunde war vom Blut überschwemmt, was es nahezu unmöglich machte, die durchtrennte Arterie zu ertasten. Sie ließ die Zange fallen und drückte die Schlagader wieder mit den Händen zusammen. Ricks Kopf war zur Seite gesunken. Sie spürte keinen Puls mehr in seinem Hals und war nicht einmal sicher, ob er noch atmete. Draußen näherten sich rasche Schritte, zuerst auf Steinplatten, dann auf Holzstufen und schließlich auf der Veranda. Lauras Hände verkrampften sich um Ricks Hals. Tut mir Leid, Rick, tut mir Leid. Sie ließ los und schnellte sich fort von der Arbeitsplatte in Richtung Küchentür, blickte aber unwillkürlich zur Tür der Veranda. Als Erstes sah sie das Spiegelbild ihres 262
eigenen verzerrten Gesichts im Glas - und darüber das Gesicht von David Haines, der mit dem Gewehrkolben nach dem Glas neben dem Türgriff schlug. Beim ersten Schlag bekam es ein paar Risse, hielt jedoch; beim zweiten fielen die Scherben auf den Küchenboden. Laura war bereits auf dem Flur und rannte zur Haustür, als sie hörte, wie die Verandatür aufglitt. Wie in ihren schlimmsten Albträumen fühlten ihre Beine sich bleiern an, ließen sich kaum vom Boden heben. Sie rechnete jeden Moment damit, Davids Hand auf der Schulter zu spüren, um sie herumzureißen, oder den fürchterlichen Einschlag einer Kugel. Jetzt war der Türknauf in ihrer Hand, drehte sich, und auf wundersame Weise war sie in der Einfahrt und rannte im Zickzackkurs, um Haines das Zielen zu erschweren. Sie erblickte die Häuser auf der anderen Straßenseite, sah durch die Fenster Silhouetten vor dem blauen Flimmern der Fernsehbildschirme. Plötzlich schwangen Scheinwerfer zu ihr herum, die sie kurz blendeten, und ein Wagen hielt hinter dem ihren. Sie stehen im Weg! wollte sie schreien, ehe ihr einfiel, dass sie ihre Tasche, in der sich auch die Autoschlüssel befanden, hatte liegen lassen. Die Wagentür wurde aufgerissen, und Kevin Sheldrake stieg aus. Das Entsetzen auf Lauras Gesicht übertrug sich auf Kevin. Er ließ den Motor laufen, und seine Hand schloss sich um seine Glock-Pistole, während sein Blick rasch über die Vorderseite des Hauses glitt. Doch niemand war im rechteckigen Lichtschein zu sehen, der aus der weit offenen Haustür fiel, und auch sonst nirgendwo. »Was ist?«, rief Kevin heiser und mit Panik in der Kehle, obwohl er die Antwort bereits kannte. Laura blickte furchtsam über die Schulter. Jetzt konnte er ihre blutgetränkte Kleidung sehen, und dass ihre Hände schwarz waren. »Er hat Rick getötet«, würgte sie hervor. »Wo ist Haines?« 263
»Im Haus.« Kevin hatte den Blick nicht von dem großen Haus genommen. Haines konnte irgendwo da drinnen sein, vielleicht hinter einem dunklen Fenster, seine Waffe auf Laura und ihn gerichtet. »Ducken Sie sich«, wies Kevin sie an, riss die Fondtür seines Wagens auf und schob Laura hinein. In der stillen Nacht erklangen von der Rückseite des Hauses rasche Schritte, zuerst auf Stein, dann auf Gras. Dann war das dumpfe Krachen von etwas Schwerem zu vernehmen, das gegen Metall prallte. Der Zaun. »Laufen Sie zu einem Nachbarn!«, rief Kevin Laura zu. »Rufen Sie den Notdienst an!« Die Glock in der Hand, rannte er an der Seite des Hauses entlang, dicht an der Wand. Er sah ihn in dem Moment, als er um die Ecke spähte. Sprungbereit kauerte David zwischen den Metallspitzen des Zaunes. Er hatte einen dunklen Rucksack über die Schultern geworfen, und Kevin wusste, was sich darin befand: ein zerlegbares Gewehr, wie Haines es früher schon gern benutzt hatte. »David!«, brüllte er, die Glock in beiden Händen, immer noch zitternd. »Rühren Sie sich nicht von der Stelle!« David drehte sich um. Das Licht aus der Küche spiegelte sich in seinen Augen wie in Parabolspiegeln. Später konnte Kevin sich nicht erinnern, wie lange er Zeit gehabt hätte, einen Schuss abzufeuern: einen Sekundenbruchteil oder ein, zwei Sekunden. Aber vielleicht hatten seine Hände zu sehr gezittert, vielleicht hatte er auch geblinzelt, vielleicht hatte er darauf gehofft, dass David sich ergab. Jedenfalls hatte er nicht geschossen. David sprang, stieß sich weit vom Zaun ab. Augenblicklich verschluckte ihn die Dunkelheit des Laubwerks. »Scheiße!« Ein Adrenalinstoß durchfuhr Kevin, und er stürmte zum Zaun und sprang. Seine Schuhe rutschten 264
am Metall ab, ehe er Halt fand, und seine Arme schmerzten, als er sich hochzog, wobei Rostteilchen in seine Hände schnitten. Die Muskeln über seinen Rippen spannten sich. Durch den Zaun konnte er Haines' Silhouette erkennen, die sich immer tiefer zwischen den Bäumen verlor. Kevin zog seine plumpen Schuhe zur oberen Querstange, drehte sich zwischen den Spitzen und spießte sich beinahe den Hintern auf, ehe er sprang. Der harte Aufprall raubte ihm den Atem. Trotzdem hielt er noch immer die Glock in der Hand, den Finger am Abzug. Er rannte los. Hinter den Bäumen, den Zaun entlang, wies der Park eine Reihe sanfter Bodenwellen auf. Kevin entfernte sich in einem Winkel vom Haus, dass seine Gestalt sich nicht vom Küchenlicht abhob, für den Fall, dass Haines beschloss, sein Gewehr für einen weiteren Schuss zusammenzusetzen. Er sah, wie Haines zwischen den Bäumen lief und sich einer dunklen Stelle in der Mitte des Parks näherte. Natürlich hätte Kevin stehen bleiben und schießen können, doch er wusste, er würde nicht treffen. Sein Adrenalin war verbraucht, seine Erschöpfung zu groß. Die Knie drohten ihm nachzugeben, und seine Schultern schmerzten. Die Pistole erschien ihm unendlich schwer; er wusste nicht, ob er mit seinen zittrigen Fingern richtig zielen konnte. Wer weiß, wo er Haines treffen würde, falls überhaupt. Bei der Vorstellung, Haines zu töten, drehte sich ihm der Magen um. Er musste sich die Zeit nehmen, sein Handy hervorzuziehen und zu wählen. Wenn seine Dienststelle und die Polizei schnell genug waren, könnten sie den Park abriegeln und Haines vielleicht doch noch erwischen. Plötzlich fiel der Boden vor ihm unerwartet ab. Kevin geriet ins Straucheln und überschlug sich. Das Handy flog ihm aus der Hand und war im Gras nicht mehr zu sehen. Verdammt, verdammt, verdammt! Als er aufblickte, sah er Haines' Schatten über das unebene Terrain huschen und hinter einer niedrigen 265
Erhebung verschwinden. Auf allen vieren suchte Kevin ein paar weitere Sekunden vergebens nach seinem Handy; dann sprang er auf und rannte wieder los. Er erreichte die Hügelkuppe, doch Haines war verschwunden. Nein! Ich darf ihn jetzt nicht verlieren! Nicht so! Kevin stürmte den Hang hinunter. Seine Entschlossenheit war stärker als seine Bedenken, so sehr er auch davor zurückschreckte, in diese nahezu undurchdringliche Finsternis einzutauchen. Mond und Sterne waren hinter Wolken verborgen. Er kam zum Stehen, versuchte sich in der tiefen Dunkelheit zu orientieren, lautlos zu atmen und zu lauschen. Trotz der Wärme sammelte sich kalter Schweiß auf seiner Brust. Es ist finster wie im Bauch eines Wales, kam ihm der ungebetene Gedanke. Dann hörte er das Keuchen eines hastig rennenden Mannes, und er vermeinte eine Bewegung vor einem Werkzeugschuppen zu sehen, der hoch genug war, Licht von fernen Straßenlaternen aufzufangen. Kevin wusste, wie schnell David sein Gewehr zusammensetzen konnte. In zehn Sekunden, höchstens zwanzig, selbst wenn er aus der Übung war. Wenn du ihn erwischen willst, dann lauf! Kevin rannte zu dem Ziegelschuppen und stellte sich vor, wie David blitzschnell und mit sicherem Griff das Gewehr zusammensetzte, ein Auge ans Visier drückte, einen Finger um den Abzug krümmte ... und jetzt hat er meinen Kopf im Fadenkreuz ... Schwer atmend warf er sich an eine Seite des Schuppens und bemühte sich, wieder zu Atem zu kommen. Es wäre Irrsinn, den Killer in dieser Dunkelheit allein zur Strecke bringen zu wollen. Selbstmord! Ein Rascheln war zu vernehmen, dann ein leises Knacken, vielleicht von einem Zweig, vielleicht aber auch von einer Patrone, die in den Verschluss gehebelt wurde. David war da, ganz nahe, an der gegenüberliegenden Seite des Schuppens. Zeig dich!, wollte er schreien. 266
Kevin musste an Rick denken, der tot in seinem Haus lag. Warum hast du nicht eher daran gedacht, wo es doch so logisch gewesen war?, fragte er sich verzweifelt. Nur ein bisschen früher, und du hättest David schnappen und Rick das Leben retten können! Wieder einmal hast du alles zunichte gemacht. Aber du kannst David noch erwischen! Du musst es, ehe er dich aufs Neue überlistet, ehe er wieder und wieder tötet, ehe der Abstand zwischen ihm und dir immer größer wird, sodass du ihm nie mehr nahe genug kommen kannst ... Tu's nicht, Kevin! Es ist der reine Selbstmord! An die Ziegel gedrückt, schlich er lautlos zur Ecke, nahm die Glock fester in die Hand und spürte, wie seine Angst und Wut ihm den klaren Verstand raubten. Spring um die Ecke, und du bist ein toter Mann. David wird auf dich zielen. Oder wir gehen beide drauf. Wäre nicht schlecht, wenn ich ihn mitnähme. Eine solche Chance bekomme ich wahrscheinlich nie wieder ... Er sprang um die Ecke, stützte die Schulter an die Ziegel. Nichts - und doch konnte er den Schrei in seiner Kehle nicht zurückhalten. Brüllend rannte er zur nächsten Ecke, sprang wieder herum, ohne zu wissen, was er vorfinden würde ... Da war jemand! »Großer Gott!« Kevin brauchte mehrere Sekunden, den mittlerweile fast steifen Finger vom Abzug zu nehmen und die Pistole nach unten zu zerren. Ihm wurde übel, weil er um ein Haar gefeuert hätte. Beinahe hätte er Kugel um Kugel in die schemenhafte Gestalt gejagt, die er vor sich sah. Doch es war nur ein halbwüchsiger Junge, noch dazu mit einer Freundin im Teenageralter, deren Shirt über den Busen hochgezogen war. Ihre Gesichter waren vor Furcht gelähmt, während sie sich beeilten, ihre Blößen zu bedecken. »Was geht hier vor?«, fragte der Junge. Trotz seiner Furcht klang seine Stimme trotzig. 267
Kevin senkte seine Waffe noch tiefer, als er plötzlich das Schimmern eines Handys sah, das neben dem Halbwüchsigen lag. Offenbar ein Muss für Teenager. »Gib mir dein Handy!«, verlangte er. »Aber ...« »Her damit!« Kevin erteilte der Alarmbereitschaft Anweisungen, doch noch während er den Blick über den Park schweifen ließ, wusste er, dass sie zu spät kommen würden. Denn bis der Park umstellt und Straßensperren errichtet waren, würde Haines längst verschwunden sein. Er hatte ihn verloren. »Großer Gott, Kevin, Sie haben mir versichert, so etwas würde nicht passieren. Es ist ein verdammter Racheakt!«, rief Michener.
»Das hat nichts mit Rache zu tun«, entgegnete Kevin. »Ach nein? Was war es dann?« »Er hat Rick wegen seines Blutes getötet.« Michener seufzte, als hätte er genug von diesen kindischen Lügen. »Aha, wegen seines Blutes.« »Haines hatte Angst, dass Rick genau dasselbe Blut haben könnte wie er, darum nahm er ihn aus der Gleichung.« »Und was bezweckt diese >Gleichung« »Sie soll verhindern, dass die Welt an die Substanz heran kommt, die in seinem Blut ist.« Als er vom Park zurückkehrte, hatte es in Ricks Haus von Mitarbeitern aus den Chicagoer FBI-Büros und Beamten des Morddezernats der Stadt nur so gewimmelt. Durch die Esszimmertür hatte er Laura Donaldson wie betäubt in einem Sessel im Wohnzimmer sitzen sehen, voll mit verkrustetem Blut. In der Küche war die Spurensicherung bereits an der Arbeit. »Ich habe vorgeschlagen, das Haus zu observieren.« Micheners Augen funkelten vor Zorn. »Sie jedoch 268
haben gesagt, dass es nicht nötig sei. Und ich Trottel habe auf Sie gehört! « Kevin musste die Augen vom feindseligen Blick des anderen abwenden. »Das mit dem Blut ist mir erst heute Abend bewusst geworden.« Ihm war klar, dass es ziemlich lahm klang - er hätte wirklich eher daran denken und entsprechende Schlussfolgerungen ziehen müssen. Immerhin sollte er Haines am besten kennen und fähig sein, sich dessen Gedankengänge zu Eigen zu machen. Aber er hatte es zu spät erkannt, und nun drückte die Last der Verantwortung ihn nieder. Wäre er konzentrierter gewesen, nicht so müde und erschöpft, und hätte er sich von Hugh nicht so erniedrigt gefühlt ... aber das waren bloß weitere Ausreden. Er hatte das Offensichtliche übersehen, und jetzt war Rick tot. »Ich halte es für einen Racheakt«, wiederholte Michener. »Und Sie sind schuld am Tod dieses Mannes!« Kevin war zu sehr mit den Nerven herunter, um zu widersprechen. Michener hätte das Haus vielleicht aus den falschen Gründen observieren lassen; aber möglicherweise wäre Ricks Tod dadurch verhindert worden. Es hatte keinen Sinn, darüber zu streiten. »Sie haben nicht einmal geschossen!« Micheners Miene verriet Unverständnis und offene Abneigung. Kevin schüttelte den Kopf. »Dazu war keine Zeit.« Michener runzelte gönnerhaft die Stirn, als wollte er ihm helfen, sich an etwas ganz Offensichtliches zu erinnern. »Sie sagten, Sie sind an einer Seite des Hauses entlanggelaufen und haben Haines oben am Zaun gesehen, und da hätten Sie ihn nicht gut ins Visier gekriegt?« »Nein, das war nicht möglich.« Michener brummte etwas Unverständliches. »Nun, wenn wir sehr großes Glück haben, erwischen wir ihn noch im Park.« Kevin bezweifelte es, wenngleich er wusste, dass Michener den Park hatte umstellen lassen und nun auf das Licht des Morgens wartete, um Teams in den Park zu schicken. Denn niemand war versessen darauf, 269
durch die Dunkelheit zu schleichen, um einen Bewaffneten aufzuspüren. Aber du hast es getan, erinnerte er sich, und schon jetzt empfand er es als Wahnwitz. Micheners Handy läutete, und er nahm den Anruf entgegen. Kevin ging ins Wohnzimmer zu Laura Donaldson. Er fragte sich, ob sie mitbekommen hatte, wie er von Michener zur Schnecke gemacht worden war. Sie sah so aus, wie er sich fühlte: ausgepumpt, wie betäubt, ganz und gar nicht mehr wie die entschlossene Frau, die er am Morgen vernommen hatte. Sie tat ihm fast Leid. Sein Beschützerinstinkt erwachte. »Woher hatten Sie Ricks Adresse?«, fragte er. »Aus dem Internet, von einem Suchdienst.« Er nickte. »Als wir uns heute Vormittag unterhielten, wussten Sie schon, dass Rick möglicherweise das gleiche Blut hat, nicht wahr?« Sie nickte, und er wand sich innerlich. Doch sein Zorn über Laura schwand rasch. Er konnte ihr nicht die Schuld geben, dass sie ihn nicht von sich aus auf etwas aufmerksam gemacht hatte, das ihm selbst hätte einfallen müssen. Doch hätte sie es getan, wäre das alles nicht passiert. »Ich wollte, Sie hätten es mir gesagt«, murmelte er. »Es tut mir Leid.« »Hatten Sie zuvor noch Gelegenheit, sich mit Rick zu unterhalten?« »Nur wenig.« »Hatte er eine Verbindung zu David? Hatte er ihn angerufen oder besucht?« »Er hat ihm vor kurzem einen Brief geschrieben, um sich von ihm zu verabschieden. Aber«, fügte sie hinzu, als ahnte sie, was er dachte, »er hat keinen Absender angegeben, sagte er.« Kaum achtundvierzig Stunden war David aus dem Gefängnis, und schon war es ihm geglückt, Ricks Adresse herauszufinden. Möglich war es. Laura Donaldson hatte es bewiesen. Sie hatte die Information 270
von einem dieser Info-Diebe erhalten, von denen es im Web fast schon so viele gab wie Sand am Meer. Sie waren schnell und ziemlich zuverlässig. Große Firmen, Kreditbüros, sogar Gerichtsvollzieher nahmen ihre Dienste in Anspruch. Haines dagegen hatte die Suche zweifellos von einem Komplizen durchführen lassen. »Haben Sie wenigstens Ihre Proben bekommen?«, fragte er Laura. Sie schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich ist das gut so. Falls Sie eine Blutprobe von Rick hätten, würde David alles daransetzen, auch Sie zu töten. Doch um jede Gefährdung auszuschalten, sollten Sie die Stadt eine Zeit lang verlassen.« Laura nickte. Haines hatte beschlossen, in Chicago zu
bleiben, vielleicht ja nur wegen Rick, doch Kevin war nicht mehr so sicher, dass er nicht doch hinter Laura Donaldson her war, vor allem, wenn er vermutete, sie könnte vielleicht doch brauchbare Blutproben haben. »Ich habe Angst um Sie, Dr. Donaldson, wenn Sie in der Stadt bleiben.« Er wartete, bis sie seinem Blick begegnete, und war dann beinahe verlegen, als hätte er sich eine zu große Vertraulichkeit herausgenommen. »Ich habe ihn zu retten versucht«, murmelte sie. »Rick, meine ich. « »Ich weiß.« »Aber viel konnte ich nicht tun. Ich konnte nicht einmal zu einem Telefon. Ich wusste, dass David Haines noch da draußen war ...« Sie hielt inne, als zweifelte sie plötzlich an seinem Interesse oder Mitgefühl, und hob eine Hand an ihr Gesicht. An einer Wange klebte immer noch verkrustetes Blut. »Bitte, sehen Sie zu, dass Sie die Stadt verlassen«, sagte Kevin beinahe sanft. »Es ist zurzeit wirklich das Beste für Sie. Fahren Sie zur Wohnung Ihres Vaters zurück?« »Sobald die Einfahrt frei ist.« 271
Kevin blickte aus dem vorhanglosen Fenster und sah, dass Lauras Wagen von den Polizeifahrzeugen behindert wurde. Zu seinem Zorn sah er auch einen Übertragungswagen des Fernsehens, der bereits erschienen war. Er seufzte, und Schmerz schoss durch seine Brustmuskeln, die er sich gezerrt hatte, als er den Zaun hinaufgeklettert war. Was würden die Medien aus diesem Fall machen? »Kommen Sie, ich bringe Sie zu einem Badezimmer, damit Sie sich ein bisschen frisch machen können.« Laura ließ zu, dass er ihren Arm nahm und sie wie ein Kind zum Bad auf der anderen Seite des Flures führte. »Danke«, sagte sie, bevor sie die Tür zumachte. Kevin hörte, wie das Schloss einschnappte. Er lehnte sich an die Wand, weil ihm plötzlich schwindelig wurde. Er konnte Hughs Stimme aus der Diele hören. Was, in aller Welt, sollte er ihm sagen? Er rekapitulierte, was er in dieser Nacht alles erfahren hatte. Es schien ihm nicht sonderlich beeindruckend. Dass Haines in Chicago war. Dass er sich den Schädel rasiert hatte. Dass ihm jemand ein Jagdgewehr mit Munition besorgt und Haines sich offenbar selbst einen Schalldämpfer aus einem Zwanzigdollar-Auspuff und Isolierband gebastelt hatte. Vielleicht war er zu Fuß zu Ricks Haus gegangen, vielleicht war er gefahren. Mit etwas Glück mochten sie einen Nachbarn finden, der Haines nach seiner neuen Beschreibung aus einem Auto - oder in ein Auto - hatte steigen sehen, und der sich womöglich an das Fabrikat erinnerte, vielleicht sogar an das Kennzeichen. Die Frage war - wohin würde David sich jetzt begeben? Es gab Leute, die ihm für ein paar Hundert Dollar einen neuen Ausweis, Führerschein, eine Sozialversicherungsnummer und einen Reisepass besorgten. In wenigen Tagen könnte er unerkannt irgendwo in den Staaten oder im Ausland sein.
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Gail badete, rasierte sich die Beine, wusch sich das Haar und rieb sich mit Cremes ein. Dann verbrachte sie eine halbe Stunde mit ihrem Make-up vor dem Spiegel und gab einen dezenten Hauch der Parfümprobe, die sie sich von Vogue aufgehoben hatte, an die Handgelenke und den Hals. Bei dem Duft musste sie an tropische Blumen denken und an ein Liebespaar, das eng umschlungen an einem Sandstrand lag, auch wenn der Gedanke unanständig war. Doch sie wollte David gefallen und wusste instinktiv, dass er sie brauchte, wenn er nach Hause kam. Gail hatte schreckliche Angst verspürt, als er weggefahren war, den Rucksack über den Schultern. Wollte er sie für immer verlassen? Er hatte ihr zwar gesagt, dass er spät zurückkommen würde, vielleicht erst gegen Mitternacht, doch Gail wusste natürlich, dass noch andere getreue jünger auf ihn warteten, denen er im Lauf der Jahre seine Botschaften gesandt hatte. Und bestimmt waren hübschere und frömmere 273
Anbeterinnen als sie darunter. Doch sie würde alles tun, ihn nicht zu verlieren. Sie schämte sich jetzt noch für das Dinner, von dem er - hastig und in Gedanken versunken - nicht einmal die Hälfte gegessen hatte. Sie konnte es ihm nicht verübeln. Die Schweinekoteletts waren ausgetrocknet und zäh gewesen, und die ein wenig klebrige Pilzsoße hatte angebrannt geschmeckt. Immer wieder hatte sie sich verlegen dafür entschuldigt, und er hatte sie nachsichtig angelächelt und ihr großmütig verziehen.
Er sagte, er wolle jetzt ohnehin zu fasten anfangen, denn das würde helfen, sich besser zu konzentrieren, und erleichterte es ihm, mit Gott zu reden. Aber vermutlich wollte er sie nur nicht verletzen. Es stimmte - sie kochte seit einiger Zeit kaum noch für sich, machte sich bei Bedarf nur ein paar Kleinigkeiten: Fertigsuppe, die sie lediglich in der Tasse überbrühen musste, dazu Crackers und Pickles, oder Kartoffelchips und dazu eine DiätCola. Außerdem brachten Kolleginnen häufig etwas für alle zur Arbeit mit, Bagels, zum Beispiel, und Frischkäse oder Blätterteiggebäck und große, mit Schokolade gefüllte Muffins. Gail ließ Mahlzeiten aus, nahm aber trotzdem nicht ab. Sie verstand nicht, wie ihr Hintern so dick sein konnte, wo sie kaum ein richtiges Essen zu sich nahm. Im Schlafzimmer zog sie ihren Pyjama an und ärgerte sich, wie das Hosengummiband auf ihren dicken Bauch drückte. Dann wickelte sie sich in ihren Veloursmorgenrock. Zweiundzwanzig Uhr dreißig, und David war noch immer nicht zurück. Sie wusste, sie würde kein Auge zubekommen. Vergangene Nacht hatte sie eine Ewigkeit gebraucht, bis sie endlich eingeschlafen war. Trotz eingeschalteter Klimaanlage war ihr zu warm gewesen, und sie hatte sich im Bett gewälzt. Schuld daran war sicher auch, dass zwischen 274
ihr und David Haines nur eine dünne Wand gewesen war und sie ständig daran gedacht hatte, wie er auf ihrem ausgezogenen Couchbett in dem kleinen Extrazimmer schlief. Gegen vier Uhr war sie aufgewacht, weil ihre Blase sich meldete. Auf dem Weg zur Toilette musste sie an seinem Zimmer vorbei. Die Tür stand leicht offen, und sie konnte nicht anders, als durch den Spalt zu blicken. Sie starrte auf seinen rasierten Kopf, so schön im Schlaf und so bleich nach den sonnenlosen Jahren im Gefängnis. Wie gern sie sich auf den Bettrand gesetzt und den glatten Kopf dieses armen Gejagten gestreichelt hätte. Vielleicht wäre er sogar aufgewacht, hätte sie angelächelt und die Decke gehoben, damit sie sich neben ihn kuscheln könnte. Am nächsten Tag, am Arbeitsplatz, hatte Gail befürchtet, man könne ihr diese Empfindungen ansehen. »Oh, da ist jemand heute aber sehr geistesabwesend«, bemerkte Nancy in der Pause. »Wüsste ich es nicht besser, käme ich glatt auf den Gedanken, dass du vergangene Nacht ein heißes Date hattest ...« Gail war unwillkürlich errötet, denn es war unschicklich; trotzdem hatte sie sich darüber gefreut, weil sie allein schon die Vorstellung genoss. David hatte sie gebeten, ihm die Adresse seines Bruders zu besorgen. Die Anschrift zu finden, war verhältnismäßig einfach gewesen. Trotzdem hatte sie sich großartig gefühlt, so klug und geschickt, weil sie ihm hatte helfen können. Genauso war es, als sie ihm später den Auspuff und das Isolierband besorgt hatte; da hatte David sogar anerkennend genickt und gesagt, es sei genau das Richtige. Das Gewehr hatte Gail auf sein Drängen hin schon vor einigen Monaten besorgt und dann im Keller aufbewahrt. Obwohl die Waffe ihr Furcht einflößte, hatte sie von sich aus gelernt, wie die einzelnen Teile zusammengesetzt und die Patronen geladen wurden. Doch allein schon die Waffe in der Hand zu halten und 275
zu wissen, was sie anrichten konnte ... es drehte ihr den Magen um. Nicht weil es falsch war, sondern weil sie schwach war. Genauso hätte sie sich gefühlt, wäre es darum gegangen, ein Schwein oder ein Rind zu töten, um das Fleisch zu essen. Und diese Ärzte waren noch schlimmer, viel schlimmer! Sie sündigten, verseuchten, korrumpierten. Doch wegen Gails Unentschlossenheit und Schwäche war das Gewehr unbenutzt im Keller geblieben. In ihrem Schlafzimmer holte sie die Reiseführer hervor, die sie während der Mittagspause in der Mall gekauft hatte: Mexiko, Mittelamerika, Brasilien. Als sie vergangene Nacht wach lag, hatte sie über David und sich nachgedacht. David könnte vielleicht jahrelang hier bleiben, ohne dass es jemandem auffiele. Aber was wäre das für ein Leben, sich verstecken und jeden Tag Angst haben zu müssen? In den frühen Morgenstunden hatte Gail einen Entschluss gefasst: Sie würde ihren Job kündigen und den Bungalow verkaufen. Sie könnte mit David über die Grenze nach Mexico und an einem schönen, warmen und sicheren Zufluchtsort glücklich und zufrieden mit ihm leben. Wäre das nicht am vernünftigsten? Alle waren hinter David her, das FBI und die Cops; Gail wusste es aus den Nachrichten, und es erschreckte sie zutiefst. Sie und David waren zwar sehr vorsichtig, trotzdem konnte ein neugieriger Nachbar ihn zufällig durchs Fenster sehen. Nein, hier durften sie auf keinen Fall bleiben. Vielleicht schafften sie es bis zur Küste und fanden dort jemanden, der sie mit einem Schiff außer Landes brachte, vielleicht nach Kuba - wie in vielen Filmen und Büchern. Irgendwo musste es einen paradiesischen Ort für sie beide geben. Während Gail auf dem Bett lag und die Glanzpapierbilder betrachtete, malte sie sich ein Cottage aus, ein kleines Stück vom Strand entfernt und von Palmen beschattet. Natürlich würden sie ein einfaches Leben führen müssen - aber was machte das schon aus, wenn sie nur mit David zusammen war! 276
Nach dem Abendessen wollte er dann im Wohnzimmer mit ihr beten. Fünfundvierzig Minuten hatten sie nebeneinander auf dem Boden gekniet normalerweise wäre Gail nie zu so etwas fähig gewesen, aber irgendwie schien sie Kraft aus David geschöpft zu haben, aus seiner Haltung, seiner tiefen Konzentration (sie hatte ihn ein paarmal verstohlen angeschaut). Sie konnte spüren, wie die Macht ihn durchströmte gleich einem Transmitter, der direkt zu Gott führte, und sie wusste, was für ein guter Mensch er war. Kurz vor dreiundzwanzig Uhr hörte sie schließlich ihren Wagen die Einfahrt heraufkommen. David! Endlich. Sie öffnete ihm rasch die Tür, damit er nicht erst klopfen musste. Er kam herein. Die Augen in seinem bleichen Gesicht leuchteten. Er war wie ein Engel, während er so in der Diele stand, ein Racheengel, und Gail spürte, wie ihr die Knie weich wurden. David zog an den Schnürsenkeln, plagte sich aus den Schuhen und betrachtete die Sohlen. Gail vermeinte dunkle Spritzer darauf zu sehen, Blutspritzer vermutlich, aber es störte sie nicht. Er war wieder da, er war zu ihr zurückgekommen! David atmete noch schwer; seine kräftige Brust hob und senkte sich. Er ließ die Schuhe auf der Matte stehen und ging ins Wohnzimmer. »Dürfte ich etwas Wasser haben?«, bat er. Gail ging in die Küche und ließ das Wasser so lange aus dem Hahn laufen, bis ihre Finger fast starr vor Kälte waren. David saß auf dem Sofa, den Kopf so auf die Hände gestützt, dass sein Gesicht verborgen war. Sie stellte das gefüllte Glas vor ihn auf das gläserne Beistelltischchen. »Sie werden es sowieso bald aus den Nachrichten erfahren«, sagte David, der Gail immer noch nicht anschaute. »Ich habe meinen Bruder getötet.« Sie hatte die Adresse für ihn gesucht und gefunden; sie hatte gesehen, wie er mit dem zerlegten Gewehr im Rucksack davongegangen war, aber sie hatte sich 277
nicht erlaubt, weiter zu denken, hatte einfach nicht zwei und zwei zusammenzählen wollen. Selbst jetzt sah sie nur Bruchteile des Ganzen. Ihr Mund nahm einen entschlossenen Ausdruck an. »Nach dem, was er Ihnen angetan hat ...«, begann sie leise. »Das hat nichts damit zu tun.« Er blickte sie verärgert an. »Es ging um sein Blut. Er könnte dasselbe Blut gehabt haben wie ich, und die Ärztin war bereits dort, um ihm welches abzunehmen. Ich musste es tun.« Sie sah, wie seine Augen sich mit Tränen füllten, und zögerte verlegen, ehe sie zu ihm ging und die Hände auf seine Schultern legte. Er schmiegte den Kopf an ihre Hüfte, und sie strich ihm darüber. Die Haut war noch glatt von der Rasur; es war ihr, als streichelte sie ein Baby. Er entzog sich ihr nicht, und Gails Herz strömte über vor Freude. Sie hatte sich nicht getäuscht: Er brauchte sie. Dieser tapfere, mutige Mann brauchte ihre Fürsorge! Sie musste ihren ganzen Mut aufbringen, sich hinunterzubeugen und ihn auf den Kopf zu küssen. Waren die Gefühle, die sie schon die ganze Zeit für ihn hegte, Sünde? Sie begehrte ihn mit Leib und Seele, hatte sich fleischliche Freuden ausgemalt, als sie ihn zu ihrem Bungalow brachte. Immerhin war er Jahre allein gewesen - würde er sich da nicht nach einer Frau sehnen? Sogar nach einer Frau, wie sie eine war? Und wenn sie heirateten, wäre es doch keine Sünde, mit ihm ... Schon der Gedanke daran ließ sie vor Lust schaudern. Sieh ihn dir an, dachte sie voll Ehrfurcht. Er weinte um seinen Bruder, der ihn verraten hatte, der gewissermaßen sein Henker war, indem er ihn in die Todeszelle brachte. Trotzdem liebte er ihn. »Sie sind ein sehr guter und tapferer Mann, David.« Er blickte sie streng an. »Es entsetzt Sie nicht, was ich getan habe?« »Natürlich nicht«, sagte sie leise, denn sein Blick war flammend. 278
»Das sollte es aber!«, rügte er sie rau. »Gott verlangt manchmal Schreckliches von uns, um uns auf die Probe zu stellen. Wir müssen den Herrn, unseren Gott, über alles lieben. Über alles! « »Ich ... ich verstehe.« »Wirklich?« Sie machte einen Schritt zurück, als hätte all ihr sündhaftes Verlangen vor seinen wissenden Augen Gestalt angenommen. Wie grässlich sie ihm erscheinen musste, innerlich und äußerlich, wenn sie an nichts anderes denken konnte als an ihre Lüsternheit, wie schon ihr Make-up erkennen ließ. »Lassen Sie mich jetzt allein.« Er starrte wieder zu Boden. Gail ging ins Bad und drehte den Wasserhahn auf, damit das Plätschern ihr Schluchzen übertönte. Dann blickte sie weinend in den Spiegel und sah beschämt, wie die Wimperntusche über ihre Wangen rann. Eitel, eitel! Wasch alles weg. Sie schrubbte sich das Gesicht, bis die Haut schmerzte. »Gail.« Er stand vor der geschlossenen Tür. »Es tut mir Leid, dass ich so unfreundlich zu Ihnen war.« »Ich habe es verdient«, entgegnete sie. »Nein, Sie waren gütig und getreu, und ich war in meiner Trauer ungerecht zu Ihnen. Ist alles in Ordnung?« »Ja.« Sie blickte nicht in den Spiegel, weil sie befürchtete, sie könnte die Freude über seine Aufmerksamkeit in ihren Augen lesen. »Bitte, kommen Sie heraus.« Gail öffnete die Tür. Sie brachte es nicht fertig, sich seinem Blick zu stellen, sah jedoch die Reiseführer in seiner Hand, und wieder überkam sie Verlegenheit. Ihre unausgereiften Pläne ... »Ich kann an keinen dieser Orte reisen, Gail, das müssen Sie wissen.« Seine Stimme war sanft, 279
geduldig. »Jedenfalls noch nicht.« Er hob ihr Kinn, damit ihrer beider Blicke sich begegnen konnten. Noch nicht, dachte sie, noch nicht. Das bedeutete später, nicht wahr? »Mir stehen noch schwerere Prüfungen bevor als bisher. Und ich brauche Sie, Gail, um mir zu helfen, diese Prüfungen zu bestehen. Ich muss fort. Helfen Sie mir?« Sie träumte, dass Sandra geheilt war. Ihre Schwester lag in ihrem schwarzen Einteiler am Swimmingpool, tief gebräunt von der mexikanischen Sonne, und zog die bewundernden Blicke der anderen Hotelgäste und des Personals auf sich. Laura fühlte sich in ihrem maßgeschneiderten graugrünen Badeanzug nicht sehr wohl, wollte aber keinen anderen anziehen, aus Angst, ihre Hüften würden dann zu üppig wirken. »Wie hast du es geschafft?«, fragte Laura. »Diese Heilung, meine ich.« »Indem ich daran glaubte«, antwortete Sandra und sprang in den Pool. Mit wasserglitzernder Haut tauchte sie auf. »Komm rein! « Doch Laura hielt sich zurück, bestürzt und verärgert über diese überschwängliche, verwandelte Sandra. »Nein, nein! Es kann dir nicht besser gehen.« Sandra trat Wasser. »Du denkst immer so negativ«, erwiderte sie sorglos. »Es geht mir besser. Und das möchtest du doch auch, oder?« »Wir müssen eine Biopsie durchführen«, sagte Laura, während Sandra an den Poolrand schwamm und die Leiter heraufstieg. »0 Laura«, sagte Sandra ungeduldig. »Sieh doch einfach her!« Mit beiden Händen öffnete sie ihren Bauch, als hätten ihre Fingernägel einen tiefen vertikalen Schnitt durchgeführt, der alles darunter sichtbar machte. Und plötzlich befand Laura sich in Operationskittel, Maske und Latexhandschuhen im OP und betrachtete eingehend Sandras Leber. Sie sah, 280
dass sie gar nicht geheilt war; Lauras Leber war von tausenden winziger Hepatome überzogen. »Nun?«, fragte Sandra und hob den Kopf vom Operationstisch. »Hatte ich Recht ... ?« ... Laura riss sich aus dem Traum und keuchte in ihr Kissen, bis ihr rasender Herzschlag sich allmählich beruhigte. Sie hielt die Augen geschlossen und wehrte sich gegen die Verzweiflung, die nicht weichen wollte. Selbst als die Intensität des Traums langsam nachließ, hielt seine gespenstische Logik sie noch gefangen. Warum hatte sie auf einer Biopsie bestanden, statt ihre Schwester einfach zu umarmen und ihr zu versichern, wie sehr sie sich mit ihr freute? Aber nein, sie hatte sie unbedingt aufschneiden müssen wie ein Versuchstier, hatte in ihr Inneres blicken und sich ihres baldigen Todes vergewissern müssen! Seufzend öffnete Laura nun doch die Augen, um sich nach diesen verwirrenden Bildern der Realität zu stellen. Licht stach durch den schmalen Spalt zwischen den Vorhängen. Sie tastete auf dem Nachtkästchen nach ihrer Uhr. Schon halb elf! Nach dem Schrecken der vergangenen Nacht erwartete sie nun ein wahrscheinlich nicht weniger schrecklicher Tag. Selbst nach zweimaligem ausgiebigen Duschen hatte sie noch den Geruch von Ricks Blut in der Nase gehabt. Seit ihrem Schichtdienst in der Notaufnahme waren Jahre vergangen, aber nicht einmal dort hatte sie jemanden auf diese Weise sterben sehen: dieser schnelle, unaufhaltbare Blutstrom, der das Leben mit sich riss. Vielleicht wäre Rick zu retten gewesen, hätte sie geeignete Instrumente in ihrem Koffer gehabt, oder wenn es ihr gelungen wäre, die Ambulanz zu rufen. Und wenn David Haines nicht die Verandatür eingeschlagen hätte, um auch sie zu erschießen ... Du hast getan, was du konntest. Es war nicht deine Schuld. Aber es war ihre Forschung gewesen, die Haines in Wut versetzt und auf Ricks Spur gelenkt hatte. Sie kam nicht ohne weiteres los von der Rolle, die sie in dieser Tragödie offenbar noch immer spielte. 281
Das große Haus mit seinen vielen leeren Zimmern, die nur darauf warteten, bewohnt zu werden. Und wer würde jetzt all die Kartons und Möbel wegschaffen? Ricks Frau? Sie zuckte zusammen. Vielleicht sollte sie eine Transportfirma suchen, die sich um alles kümmerte. Ricks Frau würde das Haus doch bestimmt verkaufen, oder etwa nicht? Sie konnte unmöglich noch dort wohnen wollen. Laura hatte ein schlechtes Gewissen, dies auch nur in Erwägung zu ziehen, doch sie konnte nicht anders. Sie musste an Ricks Blut denken, das für die Wissenschaft so wertvoll und
ihr so nutzlos durch die Finger geronnen war, als sie die Blutung zu stillen versucht hatte. Jetzt war nur noch David übrig, doch wie groß waren die Chancen, dass er lebend gefasst wurde? Marsch, aus den Federn! Erst ein Bein aus dem Bett, dann das zweite. Gut. Ihr letztes Phenmetrezine hatte sie zwei Abende zuvor aufgebraucht, aber sie hatte ein Rezept auf dem Block ausgestellt, den sie gestern im Labor geklaut hatte. Sie duschte und zog sich an; dann ging sie hinunter zur Apotheke, die zu dem Häuserkomplex gehörte. Nachdem sie das Aufputschmittel hatte, kaufte sie, so sehr ihr Herz auch raste, noch ein paar Dinge zum Frühstück ein: Milch, Orangensaft und ein Käsecroissant, das aussah, als stamme es aus Methusalems Zeiten. Am Eingang griff sie rasch nach einer Tribune, einer Sun-Times und einer New York Times. Verstohlen blickte sie jeden kurz an, der durch die Tür kam, um sich zu vergewissern, dass es nicht David Haines war. Zurück in Dads Wohnung, nahm sie hastig ihre verringerte Dosis Aufputschmittel und setzte sich, um auf die Wirkung zu warten; dabei kaute sie abwesend 282
an dem Croissant. Sie war nicht sonderlich erfolgreich gewesen, die Dosis so sehr zu verringern, wie sie es sich vorgenommen hatte. Aber schon die geringe Menge weniger wirkte sich in der Weise aus, als läge eine bleierne Last auf ihrem Geist und ihrem Körper. Sie litt unter plötzlichen Schweißausbrüchen und einer von Panik begleiteten Übelkeit. Sie hoffte, auch die kleine Dosis würde alles so weit in Schach halten, dass sie klar denken konnte. Woran denken? Was war da noch zu denken geblieben? Rick war tot, Haines war frei. Was konnte sie jetzt tun? Sie hörte den Wasserkessel in der Küche sprudeln und stand auf. Der Tag nahm einen irrealen Verlauf: Einmal schien die Zeit still zu stehen, um dann wieder rasend schnell zu verrinnen. Laura hatte das Läuten des Telefons abgestellt, doch immer wieder war das Klicken des Anrufbeantworters zu hören, wenn er eine weitere Nachricht aufnahm. Das Telefon in ihrem Büro und im Labor leitete automatisch sämtliche Anrufe an sie nach hier weiter. Aber sie hatte nicht die Absicht, etwas daran zu ändern. Sie würde die Anrufe einfach ignorieren. Sie las die Zeitungen und schaute sich die Nachrichten an. Offenbar war sie die Leading Lady der Nachrichten in diesem Jahr. Sie dachte an ihr Labor, in dem keine Lichter mehr brannten, in dem die Geräte und Instrumente unbenutzt herumstanden, in dem nichts mehr getan wurde. Aber sie wollte nicht hinausgehen, nicht nach vergangener Nacht, vielleicht nie wieder. Gegen Mittag schloss sie für einen Moment die Lider und stellte dann fest, dass sie über eine Stunde geschlafen hatte. Später, als sie müde im Sessel kauerte, ließ sie sich noch einmal die grauenvollen Ereignisse der vergangenen Nacht durch den Kopf gehen. Als sie erschöpft einen Blick auf die Uhr warf, sah sie ungläubig, dass nur zwei Minuten verstrichen waren. Zweimal telefonierte sie mit einem Reisebüro, um Tickets nach Tijuana zu buchen, doch beide Male entschuldigte sie sich und legte auf.
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Gegen sechzehn Uhr war die Kapazität der Kassette des Anrufbeantworters erschöpft. Laura wappnete sich, spulte sie zurück und hörte die Anrufe ab. Die ersten waren von Journalisten, die sie interviewen wollten. Sie notierte sich ihre Nummern, obwohl sie momentan nicht die Absicht hatte, zurückzurufen. Doch es konnte nicht schaden, wenn sie die Medien hinter sich hatte, falls Vic Greene ihr und MetaSYS einen Prozess anhängen wollte. Außerdem war da ein Anruf von Ted Wolsyk, dem Vorsitzenden des Ärztebundes, und einer von Liz Barrie vom nationalen Krebsforschungsinstitut, die beide um ein Treffen ersuchten, da sie Näheres über die Ergebnisse in Sachen HainesBlut erfahren wollten - eine zweifellos höfliche Art und Weise, Laura um eine Erklärung zu bitten, weshalb sie beschlossen hatte, die Krebsforschung in einen Dreimanegenzirkus mit David Haines
als Hauptattraktion zu verwandeln. Laura stellte das Band auf Schnellvorlauf. Ein paarmal vernahm sie nur ein Klicken, als hätte der Anrufer sofort wieder aufgelegt; dann waren da noch einige Kollegen, die ihr etwas mitteilen wollten und ebenfalls baten, dass Laura zurückrief. Schließlich folgte eine Flut verzweifelter Bitten. Irgendwie musste ihre Dienstnummer sich herumgesprochen haben. Vielleicht war sie in einer Zeitung erwähnt worden, wahrscheinlich aber im Internet. Benommen hörte Laura einen Anruf nach dem anderen ab. Sie kamen von Ehemännern und Ehefrauen, von Liebsten und Eltern, von Hausärzten, Spezialisten und Krankenschwestern. Alle flehten sie an, dafür zu sorgen, dass Haines lebend gefasst wurde, dass sie das Heilmittel schnell entwickelte und sich mit ihnen in Verbindung setzte, falls sie Versuchspersonen benötigte, bitte, bitte, bitte ...
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»Dr. Donaldson, ich bin Helen Garner, und man sagte mir, dass es zu spät sei, meinen Mann zu operieren, aber ...« »Hallo, ich möchte eine Nachricht für Dr. Laura Donaldson hinterlassen. Meine Mutter hat Knochenkrebs in fortgeschrittenem Stadium und ...« »Dr. Donaldson, unser kleiner Sohn ...« So ging es immer weiter, eine Litanei von Hepatomen und Melanomen und Retinoblastomen, Läsionen und Metastasen. Ein Anruf nach dem anderen. Laura konnte sich nicht merken, wie viele es waren, und ihr wurde bewusst, dass sie stumm weinte, verzweifelt über das Elend und frustriert, weil sie sich schuldig fühlte und nicht helfen konnte. »Warum ruft ihr mich an?«, schluchzte sie. Was erwarteten die Leute von ihr? Dass sie Haines eigenhändig fasste? Warum riefen sie nicht das FBI an, oder das Justizministerium, oder das Weiße Haus? Als die Kassette schließlich endete, blieb Laura mehrere Minuten wie betäubt neben dem Telefon sitzen, ehe sie Adrian anrief, dessen zahlreiche vergebliche Versuche, sie zu erreichen, sich immer wieder zwischen den Nachrichten der Bittsteller hervorgehoben hatten. »Warum haben Sie sich nicht eher gemeldet, Laura?«, fragte er, und sie glaubte Zorn in seiner Stimme zu hören. »Tut mir Leid.« »Sie haben nicht einmal ... Sie hätten uns Bescheid geben sollen, als Sie erfuhren, dass Rick Haines in der Stadt war. Wir hätten Ihnen Sicherheitsleute mitgegeben ...« »Die letzten haben nicht viel ausgerichtet«, entgegnete sie stumpf. Sie hörte Adrian seufzen und bedauerte ihre Bemerkung ein wenig. Die Anspannung in seiner Stimme war unüberhörbar. »Darf ich herüberkommen?«, bat er, und aus irgendeinem Grund verließ sie der Mut. Sie fragte ihn nicht, ob er schlechte Neuigkeiten bringen würde. 285
»Ja«, antwortete sie. »Kommen Sie rüber.« Adrian betrat die Wohnung steif wie ein Fremder und wich Lauras Blicken aus. Sie wünschte, sie hätte ihn gebeten, ihr übers Telefon zu sagen, was er ihr mitzuteilen hatte. »Möchten Sie was trinken?« Sie musste irgendetwas sagen, und sei es auch noch so belanglos. »Nein, danke. Ich kann nicht lange bleiben.« Sie wollte auch gar nicht, dass er lange blieb. Es war falsch, dass er allein hier war; zu sehr erinnerte es Laura an alle seine früheren Besuche, wenn sie miteinander gespeist, sich geliebt und gemeinsam ferngesehen hatten, in eine Decke gewickelt. Diese Heuchelei machte sie wütend: Er war ihr nachgestiegen, er hatte ihr Versprechungen gemacht, er hatte sie dazu gebracht, sich ein Leben mit ihm auszumalen - nicht, dass sie deshalb keine ernsten Bedenken gehabt hatte, aber vielleicht wäre Adrian ihre letzte Chance gewesen, eine Familie zu gründen-, und dann hatte er einfach mit ihr Schluss gemacht. Doch was sie am meisten mit Zorn erfüllte, waren diese stets wiederkehrenden, von Selbstmitleid gefärbten Gedanken: Vielleicht, wenn du ein besserer Mensch wärst, umgänglicher und nicht so kratzbürstig, hätte er dich seiner Familie vorgezogen; vielleicht, wenn du mehr wie Sandra wärst ... Laura führte Adrian ins Wohnzimmer und setzte sich ihm gegenüber aufs Sofa; dann holte sie tief Luft. Sie wusste, dass er nicht gekommen war, über persönliche Dinge mit ihr zu reden. »Sagen Sie's mir einfach«, forderte Laura ihn auf. »Der Vorstand möchte das Projekt abblasen.« »Möchte oder wird?«, fragte sie, obwohl sie die Antwort bereits kannte. »Wird. Es ist vorbei, Laura. Tut mir Leid.« Es ist vorbei. Er hätte es zumindest anders formulieren können. Sie spürte, wie ihr Zorn wuchs, wie ihr Herz heftiger schlug. »Weshalb?« 286
Adrian atmete schwer. »Sie glauben nicht, dass wir den Prozess gewinnen können, und Paul glaubt es auch nicht.« »Vielleicht nicht mit Paul als Verteidiger vor Gericht, aber ...« »Stimmt, Paul ist als Verteidiger wahrscheinlich nicht der Beste, aber er kennt sich mit den Gesetzen aus. Und er weiß, dass die Vereinigung zum Schutz der Bürgerrechte tief in die Tasche greifen und hunderttausende, ja Millionen Dollar in einen von vornherein so gut wie verlorenen Rechtsstreit stecken müsste. Da hat der Vorstand kalte Füße bekommen.« »Der Vorstand. Und wie haben Sie gewählt?« Das war absolut unprofessionell, doch Laura konnte sich nicht zurückhalten. Adrians Gesicht verriet Ärger und Ungeduld. »Es ist ein Geschäft, Laura. Wir sind eine Aktiengesellschaft und dürfen die Wünsche des Vorstands nicht ignorieren.« »Wissen Sie, was ich auf meinem Anrufbeantworter habe? Etwa fünfzig Anrufe, allein von heute, von krebskranken Menschen, die flehen, dass Haines lebend gefasst wird, die flehen, dass ich diese Arbeit fortsetze. Es ist unverantwortlich, die Sache jetzt fallen zu lassen.« »Sie glauben anscheinend immer noch, aus seinem Blut ein Heilmittel entwickeln zu können«, entgegnete er ruhig. Sie blickte Adrian scharf an. »Das ist es also. Sie haben Ihr Vertrauen in mich verloren.« »Der Vorstand hat die beste Meinung von Ihnen. Aber Sie haben in den vergangenen achtzehn Monaten bis zum Umfallen geschuftet. Sie sind hoffnungslos überarbeitet und daher nicht im Stande, richtige und wichtige Entscheidungen zu treffen.« »Haines war demnach eine falsche Entscheidung?« »Grundsätzlich ist der Vorstand dieser Ansicht, ja, aber niemand will Ihnen die Schuld daran geben. Ich habe mich genauso eifrig in die Sache gestürzt wie Sie, doch jetzt müssen wir uns zurückziehen. Wir alle wollten 287
genauso sehr wie Sie die Zauberformel finden, aber es ist uns nicht gelungen. Ich versuche Ihnen zu helfen, Laura. Es wäre für Sie ohnehin besser, wenn Sie nichts mehr mit dem Fall Haines zu tun haben. Er wird nur immer grausamer.« Er öffnete seine Aktentasche und nahm eine Videokassette heraus. »Es war ein schrecklicher Tag. Tom Powell hat mir diese Kassette heute Morgen von ABC geschickt - ein Entwurf des Beitrags, den man über Sie senden wird. Soll ich Ihnen davon erzählen, oder möchten Sie es sich anschauen?« Laura starrte auf die Kassette, als wäre sie etwas abgrundtief Böses. »Ich möchte sie mir anschauen.« Die nächsten fünfundzwanzig Minuten ließ sie kein Auge vom Bildschirm. Ihr war regelrecht übel. Sie spürte Adrians Blick auf sich ruhen, erwiderte ihn aber nicht. Ihr Gesicht wurde zur Maske. Noch vor zwei Wochen hatte sie gedacht, der Exklusivbeitrag über sie würde ein triumphaler Dokumentarbericht über eine neue Behandlung von Krebs sein. Doch nach dem Fehlschlag mit Gillian Shamas wusste sie, dass die Story keineswegs triumphal sein würde, sondern tragisch und entmutigend. Doch mit einem Beitrag, wie sie ihn jetzt sah, hatte Laura nicht gerechnet. Es war kein Dokumentarfilm über ihre Arbeit, sondern über sie selbst, die jetzt so umstrittene Dr. Donaldson, deren Forschungen (wie man den Äußerungen der interviewten Ärzte entnehmen konnte) schon immer ein wenig dubios gewesen waren. Kent Ovitz vom Bethesda, dieser alte Mistkerl, hatte sie doch tatsächlich mit einem Scharlatan verglichen. Und der Beitrag hatte nicht mit Gillian Shamas' Tragödie geendet, sondern zu allem Überfluss auch noch Teile der Nachrichtensendungen der letzten zwei Tage mit einbezogen: Lauras skandalöser Versuch, einem zum Tode Verurteilten gegen seinen Willen Blut zu entnehmen. Es folgten Luftaufnahmen des entgleisten Zuges; Bilder vom zertrümmerten Gulfstream-Labor mit ein paar 288
dekorativen Blutflecken, und schließlich Ricks Haus, vom gelben Polizeiabsperrband vor dem Hintergarten aus aufgenommen, und natürlich das eingeschlagene Verandafenster. Gegen Ende des Beitrags fühlte Laura sich eins mit Dr. Frankenstein. »Nun«, sagte sie, nachdem Adrian den Fernseher ausgeschaltet hatte, »zumindest haben sie mich nicht gezeigt, wie ich mir an Gräbern zu schaffen mache, um Leichen zu stehlen. Das ist schon ein Grund zur Dankbarkeit.« »Wir haben Powell bereits erklärt, dass wir das Ganze verzerrt und unfair finden, und dass wir rechtliche Schritte in Betracht ziehen, sollte es in dieser Form gesendet werden.« »Aber ...« »Paul meint, wir könnten nicht viel dagegen tun.« »Ich war von vornherein gegen diese verdammte Zurschaustellung, aber Sie mussten ja unbedingt Ihre Publicity haben.« Adrian nickte düster. »Es wird schlimm für Sie. Doch wir stehen hinter Ihnen. Aber Sie müssen unbedingt eine Zeit lang von der Bildfläche verschwinden. Vielleicht einen dreimonatigen Urlaub antreten.« »Machen Sie mir nichts vor, Adrian. Läuft das alles darauf hinaus, dass ich mein Labor verliere?« Man konnte ihr natürlich nicht den Lehrstuhl an der Universität wegnehmen, aber es lag durchaus in der Macht von MetaSYS, ihr die finanziellen Mittel für ihr Labor zu entziehen. Und ohne die MetaSYS-Gelder würde es ihr nicht besser gehen als anderen Forschern, die jeden Dollar zusammenkratzen und Eigenwerbung für sich betreiben mussten. »Sie brauchen Erholung«, war Adrians einzige Antwort. »Ich hoffe, Sie machen Urlaub.« Er erhob sich. »Ich muss jetzt ins Büro zurück.« An der Tür drehte er sich noch einmal zu Laura um und streckte die Hand aus, um sie auf ihre Schulter zu 289
legen. Dann überlegte er es sich offenbar anders. »Das tut mir sehr Leid. Alles.« »Geschäft ist Geschäft«, entgegnete Laura eisig. Sie wollte nur noch, dass er ging. Sie schloss die Tür hinter ihm, lehnte den Kopf dagegen und ekelte sich vor sich selbst. Eine falsche Entscheidung. Adrians Worte hallten in ihrem Innern wider. Es sah ganz so aus, als hätte sie in letzter Zeit nur falsche Entscheidungen getroffen. Kurpfuscherin. Scharlatan. Dr. Laura Frankenstein. Vielleicht hatten Adrian und alle anderen Recht. Sie war als Medizinerin auf dem absteigenden Ast und klammerte sich feige an David Haines, zu verängstigt, um wieder ordentliche Arbeit zu leisten. Vielleicht brachte sie einfach nicht die nötigen Voraussetzungen mit. Sie hatte sich für eine Wissenschaftlerin gehalten und sich einer Illusion hingegeben: Wissenschaft aus dem Märchenbuch. Sie war dieser Illusion erlegen, genau wie Sandra, die sich verzweifelt an ihre Wunderbehandlung klammerte.
»Nehmen Sie mich mit.« David blickte sie an und verspürte Mitleid, wusste jedoch, dass er ihr diesen Wunsch nicht erfüllen durfte. »Ich brauche Sie hier, Gail.« »Ich weiß, dass ich schwach war, aber jetzt schaffe ich's«, versprach sie ihm. Sie sagte es wie jemand, der nach einer göttlichen Offenbarung endlich den richtigen Weg gefunden hatte. »Jetzt kann ich Dr. Donaldson töten. Für Sie kann ich es tun, ich weiß es. Sie haben mir dir Kraft gegeben.« »Nein, Sie haben schon genug getan.« In Wahrheit traute er es ihr nicht zu. In diesen paar Tagen war ihm ihr Wesen gänzlich klar geworden. Sich selbst überlassen, würde sie zaudern und versagen - und dann konnte die Polizei sie vielleicht dazu benutzen, ihn aufzuspüren. Sie hatte nicht den eisernen Willen und die Disziplin eines Will Andrews, und auch nicht den Mut zum Märtyrer wie Bob Jarvis. David hatte 290
gestern in den Nachrichten von Jarvis' Tod erfahren. Ein weiterer tragischer Todesfall im Namen der göttlichen Gerechtigkeit. »Werden Sie denn zurückkommen?« Er las die Sehnsucht in ihren Augen. »Ja«, log er. Sie nickte traurig, und er beugte sich vor, um sie auf die Stirn zu küssen. »Ich liebe Sie«, sagte sie leise. »Wenn Sie mich lieben, werden Sie tun, worum ich Sie bitte.« Ein mit allem Nötigen beladener Wagen stand vor der Tür. Es war Zeit zu gehen. Kevin schaute sich das Band der Überwachungskamera an, ein körniges Schwarzweiß mit gespenstischem, fluoreszierendem Glühen. Ganz unten lief die Zeitanzeige: 04:37.12. Die Weitwinkellinse nahm die gesamte Vorderseite des Lebensmittelladens auf. Kevin sah einen Verkäufer hinter dem Ladentisch, der in einer Zeitschrift las, und einen Mann mit Baseballkappe, der ein paar Flaschen Mineralwasser vom Regal nahm. Als der Mann sich dem Ladentisch näherte, verbarg das Schild der Kappe fast sein ganzes Gesicht, doch als er sich von dem Verkäufer das Wechselgeld herausgeben ließ, hob er leicht den Kopf. Kevin erkannte ihn auf Anhieb. Es war David Haines. Das angehaltene Bild auf dem riesigen ProscanMitsubishi-Monitor war ein wenig verschwommen. Seth Michener, der am Kopfende des Tisches saß, legte die Fernbedienung zur Seite und blickte mit kaum verhohlener Befriedigung von Hugh auf Kevin. Es war fünfzehn Minuten nach acht am vierten Tag der Jagd nach Haines, und das zur Kommandozentrale umgewandelte Zimmer besaß bereits seine eigene Atmosphäre aus Deodorants, Schweiß und abgestandenem Kaffee. Normalerweise diente es für Meetings mit höheren Amtsträgern und für vereinzelte Pressekonferenzen. Es war ein Raum wie alle anderen im Chicagoer Büro des FBI: summende Neonröhren, 291
violett-blau gesprenkelter Teppichboden. Was dieses Zimmer jedoch von den anderen unterschied, waren ein paar gerahmte Porträts und Landschaftsbilder an den Wänden, blaue Polstersessel mit Messingknöpfen, Beistelltischchen mit schlichten Messinglampen und ein großer, rautenförmiger Tisch mit Glasplatte. Um diesen Tisch herum saßen zwölf FBI-Mitarbeiter, jeder mit einem eigenen Telefon vor sich; diese FBI-Leute nahmen auf, was an Informationen und Meldungen hereinkam, zum Beispiel, wo Haines angeblich gesehen worden war, wenngleich es sich zum großen Teil um Falschmeldungen handelte. Auch ihre Kollegen auf den Straßen erstatteten Bericht und erbaten neue Anweisungen. »Wir sind uns also einig, dass das unser Mann ist?« Michener deutete mit dem Kopf auf den Bildschirm. Hugh Carter nickte. »Scheint so. Kevin?« »Ja, er ist es. Wo wurde das aufgenommen?« »Unmittelbar außerhalb von St. Louis, um vier Uhr morgens.« Kevin trank seinen Kaffee aus. Wie befürchtet, war Haines mobil, und da er es geschafft hatte, Chicago zu verlassen und nach St. Louis zu gelangen, konnte er innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden überall im Land sein. »Kennzeichen?«, erkundigte sich Kevin. Michener schüttelte den Kopf. »Wir können von Glück reden, dass wir diese Aufnahme hier bekommen haben. Haines kam dem Verkäufer bekannt vor, aber der Mann hat der Polizei erst nach langem Überlegen seinen Verdacht mitgeteilt. Er war sich nicht sicher.« Michener lachte. »Amerikas Staatsfeind Nummer eins kauft ein paar Flaschen Mineralwasser bei dem Burschen, und er ist sich nicht sicher.« »Geht es Ihnen nicht gut, Kevin?«, erkundigte Hugh sich und lehnte sich an seinen Schreibtisch zurück. »Sie sehen total geschafft aus.« »Ich fühle mich okay.« Er hätte nicht so lange aufbleiben und sowohl die Bibel wie auch Haines' 292
Briefe an Will Andrews lesen sollen, bis ihm der Kopf schwirrte. »Also gut. Ich habe bereits mit der FBI-Außenstelle in St. Louis gesprochen«, erklärte Hugh. »Sie kümmern sich um die Sache.« »Haines hat sich also entschlossen, nach Süden zu fliehen«, stellte Michener sichtlich erfreut fest und ließ sich mit gespreizten Beinen in einen Sessel fallen. Kevin blieb stehen, die Hände in den Hosentaschen. Er wusste, dass Mitch von Anfang an vorhergesagt hatte, dass Haines versuchen würde, über die Grenze zu flüchten. »Ich denke, Hugh, wir sollten die vereinte Sondereinheit in Houston hinzuziehen. Wenn möglich auch die Marshals«, schlug Mitch vor. »Ich habe bereits mit dem Zoll, dem Grenzschutz und der Küstenwache vor Miami gesprochen. Ich glaube nicht, dass der Bursche übers Wasser verschwinden will, denn es dürfte für ihn sehr schwierig sein, ein Boot zu finden, das ihn übersetzt. Aber man kann nie wissen. Jedenfalls - wo immer er über die Grenze will, schnappen wir ihn uns.« Kevin hörte ihm zunehmend gereizt zu und beobachtete Michener, der ihm vorkam wie ein zu groß geratener, nach dem nächsten Leckerbissen kläffender Schoßhund auf einem Kissen. Es machte ihm arg zu schaffen, denn von Rechts wegen müsste er, Kevin, die Aktion leiten. »Dass Haines in St. Louis gesehen wurde, muss noch lange nicht bedeuten, dass er auf den Weg nach Süden zur Grenze ist«, gab er zu bedenken. »Gäbe es einen anderen Grund, St. Louis zu besuchen?«, fragte Michener. »Wir könnten viel Zeit damit vergeuden, indem wir herumrätseln, was er dort zu suchen hat. Wir wissen jedoch Folgendes: Er ist auf dem Weg nach Süden und wurde vor fünf Stunden in St. Louis gesehen. Das heißt, wir sollten uns gleich auf die Socken machen.« 293
Kevin blickte zu Hugh hinüber und sah ihn nicken. »Wir schließen die Kommandozentrale hier und verlegen sie in den Süden, natürlich unter unserer Aufsicht.« Er und Michener würden also nach St. Louis und Houston gebracht, um der neuen Sondereinheit vorzustehen. Kevins erster Gedanke war, dass ihn diese Umstellung für lange Zeit von Becky wegbringen würde - und vielleicht war es obendrein die völlig falsche Strategie, Haines zu fassen. »Das kaufe ich ihm nicht ab«, sagte er. »Was kaufen Sie ihm nicht ab?«, fragte Michener. »Dass er sich in diesem Laden filmen lässt. Der Mann ist nicht dumm! « »Jeder wird mal hungrig und durstig. Dieser abgelegene Laden um vier Uhr früh, mit einem Bürschchen als Verkäufer, das die Nase im Playboy stecken hat ... wer sollte darauf aufmerksam werden?« »Jemand hat Haines einen Wagen gegeben, und dieser Jemand hat ihn mit so vielen Getränken und Lebensmitteln
beladen, dass Haines hinkommt, wohin er will. Dieser Boxenstopp in St. Louis ... das kommt mir getürkt vor.« »Wollen Sie damit sagen, dass er erwischt werden möchte?« »Nein. Haines will, dass wir erfahren, wo er war, um uns auf eine falsche Spur zu lenken.« »Also, nach Norden ist er nicht unterwegs. Sie kennen Haines besser als sonst jemand hier, nicht wahr? Wenn er klug ist, dann weiß er, dass wir ihn erwischen werden. Und wenn er sehr klug ist, dann weiß er, dass das eher früher als später geschehen wird. Deshalb wird er zusehen, dass er das Land verlässt. Die Geschichte mit der Blutabnahme hat sich erledigt. Er hat seinen Bruder umgebracht; es gibt also niemanden mehr. Nichts, das ihn hier halten würde. Oder?« Der spitze Hinweis auf Rick entging Kevin nicht. Er antwortete ruhig: »Okay, vielleicht ist er unterwegs zur Grenze. Aber wir wissen auch, dass er nicht nur einen, 294
sondern mehrere ergebene Anhänger hat, bei denen er in Sicherheit wäre, sofern sie vorsichtig sind. Ich an seiner Stelle würde mich eine Zeit lang still verhalten, bis die Dinge sich beruhigt haben, bei der Suche nach ihm wieder Routine eingekehrt ist und die Leute seine Bilder im Fernsehen vergessen haben. Das wäre am sichersten für ihn.« Michener drehte die Videokassette in der Hand. »Aber er ist nicht in Sicherheit. Er ist auf der Flucht. Und der Mord an Rick war auch nicht ohne Risiko. Es wäre durchaus möglich gewesen, dass es dort von Agenten nur so gewimmelt hätte. Aber Flüchtige stellen keine Für-und-Wider-Listen auf. Dazu haben sie viel zu große Angst. Sie wissen, dass man ihnen an den Kragen will, und deshalb steht für sie die Flucht im Vordergrund. Ich habe schon viele Flüchtige verfolgt, und dabei wurde mir eines klar: Die meisten Verbrecher sind Idioten. Deshalb sind sie Verbrecher. Diese James-BondSchurken mit dem britischen Akzent gibt es bloß im Film. Haines mag ja cleverer sein als die meisten, aber das hat nicht viel zu sagen. Ich werde mich nicht über mögliche Tricks aufregen. Er war so unvorsichtig, sich sehen zu lassen.« Micheners Nasenflügel blähten sich, als er Luft einsog und den Blick durchs Zimmer schweifen ließ. Dann fuhr er nachdenklicher fort: »Vielleicht haben Sie Recht, Kevin. Möglicherweise war es wirklich nur ein Köder, den er uns hingeworfen hat, aber wir wissen es nicht, deshalb werden Sie hier oben bleiben. Falls er hier tatsächlich noch Komplizen hat, müssen wir am Ball bleiben. Einverstanden?« Er sagte es mit solch untypischem Respekt und Ernst, dass Kevin sofort erkannte, was er bezweckte. Er wurde zurückgelassen, aus der Sondereinheit hinausgeworfen, während Michener allein in den Süden reiste, um die Fahndung zu leiten und Haines zu schnappen. Unwillkürlich blickte Kevin zu Hugh, obwohl ihm klar war, das Micheners Vorschlag keine Überraschung für ihn war - im Gegenteil, Hugh hatte es 295
vor dem Meeting zweifellos bereits genehmigt. Hugh erwiderte seinen Blick gleichmütig. Kevin schaute zurück zu Michener. Er könnte den Mund halten und es später zur Sprache bringen, wenn er mit Hugh allein war. Nein, zum Teufel!, sagte er sich. »Ich nehme an, es ist wegen Rick Haines.« Hughs Miene verriet Verlegenheit angesichts dieser offen geäußerten Ansicht. Einen Moment zögerte er; dann zuckte er die Schultern und bemühte sich um ein freundschaftliches Lächeln. »Ich hab schon eine Ewigkeit nicht mehr Recht gehabt, Kevin, aber ich finde, Sie stecken gefühlsmäßig zu tief in dieser Sache drin. Es hat nichts mit Ihren Fähigkeiten zu tun, aber für diesen Job sind Sie nicht der Richtige.« Kevin fragte sich, ob Hugh damit auf die Tatsache anspielte, dass er nicht auf Haines geschossen hatte, als es ihm möglich gewesen war - oder weil er Ricks Haus nicht hatte observieren lassen. Mit überraschendem Taktgefühl hielt Michener den Mund.
»Dieser Kerl hat Sie drei Jahre Ihres Lebens gekostet«, fuhr Hugh fort. »Er ist schuld am Scheitern Ihrer Ehe ... « »Ich bin selbst daran schuld, Hugh.« »... er hat Ihre Gesundheit ruiniert. Seien Sie doch ehrlich zu sich selbst, Kevin. Dieser Mann macht Sie verrückt, und das trübt Ihr Urteilsvermögen. Ich möchte nicht noch einmal sechs Monate auf Sie verzichten müssen, weil Sie für arbeitsunfähig erklärt werden. Glauben Sie mir, das waren keine leichten Entscheidungen, aber ich muss schließlich im Interesse des FBI handeln - und im Interesse meiner Leute, und dazu gehören auch Sie. Die Entscheidung steht. Michener fliegt in den Süden, um die Sondereinheit zu leiten, und Sie bleiben hier, um nach dem Rechten zu sehen.« Es erschien Kevin sinnlos, weiter zu argumentieren. Außerdem wollte er Michener nicht die Befriedigung 296
geben mitzuerleben, wie er noch weiter gedemütigt wurde. »Ich hüte also das Haus«, sagte er ruhig. Hugh hoffte offenbar, die drückende Atmosphäre zu entspannen, und sagte: »Wenn ich mich recht erinnere, haben Sie um Urlaub ersucht. Wollten Sie mit Becky nicht nach Kanada reisen ... oder war es Neufundland?« »Prince Edward Island«, murmelte Kevin. »Das werden Sie sich doch nicht entgehen lassen wollen, um stattdessen in Texas auf Haines zu warten«, warf Michener ein. »Nutzen Sie die Ferien Ihrer Tochter. Enttäuschen Sie das Mädchen nicht. «
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Laura packte, als das Telefon läutete. Sie nahm nur ab, weil sie einen Anruf des Reisebüros erwartete, das die Buchung ihres Abendflugs nach San Diego bestätigen sollte. Nach Adrians Abgang hatte sie beschlossen, die Stadt zu verlassen und Sandra zu besuchen - was sie schon vor Tagen hätte tun sollen. Momentan hielt nichts sie hier, weder Adrian noch ihr Labor, und sie wusste nicht, wie lange sie die herzzerreißende Litanei der verzweifelten Anrufe noch aushielt. »Dr. Donaldson?« Die Stimme war jünger als die der Dame vom Reisebüro und klang unsicher, beinahe 297
ängstlich. Laura stellte die CNN-Nachrichtensendung mit der Fernbedienung leiser. »Mit wem spreche ich?« »Sind Sie Dr. Donaldson? Ich muss Sie etwas fragen. Es hat mit David Haines zu tun. Wenn er Kinder hätte ...« »Wer sind Sie?« Die Stimme sprach unbeirrt weiter. »Wenn er Kinder hätte, hätten sie dann die gleiche Art von Blut wie er?« »Wer sind Sie?«, fragte Laura nachdrücklicher. »Ich habe einen Sohn von ihm.« Laura schmetterte wütend den Hörer auf die Gabel. Diese verdammten Anrufe! Tränen standen ihr in den Augen. Was war das nun wieder für eine Irre, die sie mit einem solchen Unsinn locken wollte - nach allem, was Rick Haines passiert war? Wahrscheinlich war es bloß eine Meute Teenager irgendwo in einem Kellerzimmer mit Telefonanlage, Lautsprecher und
Verstärker. Wenn einer anrief, hörten die anderen hämisch lachend zu. Doch Sekunden später läutete das Telefon erneut. Laura riss den Hörer hoch und hoffte, es wäre noch einmal die Frau, damit sie ihr die Meinung sagen könnte. »Hallo?« »Okay, ich weiß, dass Sie mir nicht glauben«, sagte die Frauenstimme hastig, »aber würden Sie mir bitte wenigstens zuhören?« Lauras Stimme zitterte vor Zorn. »Sie behaupten, Sie hätten ein Kind von David Haines!« »Und ich würde gerne wissen, ob es die gleiche Art von Blut haben könnte.« Laura wandte das Gesicht eine Sekunde von der Sprechmuschel ab, um ihren Atem zu beruhigen. Warum sollte sie sich diesen Unsinn anhören? Beinahe 298
hätte sie den Hörer erneut auf die Gabel geschmettert; dann aber griff sie stattdessen nach dem Notizblock und einem Kugelschreiber. »Beweisen Sie es«, forderte sie die Frau auf. »Ich war mit ihm bei den New Apostles. Ich habe ihn angeworben.« Laura war sich im Klaren darüber, dass ihre Chance gering war, die Frau bei einer Unwahrheit zu ertappen. Sie wusste wenig über Haines' Lebenslauf, obwohl zahlreiche Artikel, sogar Biografien über ihn veröffentlicht worden waren. Möglicherweise hatte diese Frau sie alle studiert und ihre Story sorgfältig vorbereitet. Aber warum? Waren Leute so gelangweilt oder so verrückt -, dass sie sich nur wegen des Nervenkitzels eine so zeitaufwändige Lüge zusammenbastelten? »Aber Sie gehören diesem Verein nicht mehr an?«, fragte Laura in der Hoffnung, die Frau würde gereizt auf den Begriff »Verein« reagieren. »Ich verließ die Gemeinschaft, als ich schwanger wurde.« »Wann war das?« Vielleicht würde die Frau sich selbst widersprechen, wenn Laura Daten und Fakten verlangte. Und sie konnte später immer noch in einer der Biografien nachsehen, ob die Behauptungen der Frau auf Wahrheit beruhten. Sie fragte die Anruferin, wann das Kind auf die Welt gekommen war, und wann und wo sie David Haines kennen gelernt hatte. »An der Northwestern University. Er hatte gerade sein Medizinstudium begonnen. Viele Studenten fühlten sich einsam, weil sie zum ersten Mal fort von zu Hause waren, und suchten Anschluss.« »Sie haben ihm also eine Gehirnwäsche verpasst, oder wie immer Sie es nennen. Indoktriniert, vielleicht?« »Ich habe mitgeholfen.« Eine Sekunde vergaß Laura, dass dies alles vielleicht nur eine raffinierte Lüge war, und empfand Abscheu vor dieser Frau, die einen Mitmenschen mit solchem Unsinn über Gott so sehr Fehlleiten konnte (noch dazu einen Medizinstudenten). Dann fragte sich, ob die 299
Anruferin vielleicht nur auf einem megalomanischen Powertrip war: Ich bin die Frau, die David Haines zu dem gemacht hat, was er ist, und ich kann es mit seinem Kind beweisen. »Sie haben also mit ihm geschlafen? Ich dachte, so etwas wäre in solchen Sekten nicht erlaubt.« »Dann wissen Sie nicht viel über Sekten«, entgegnete die Frau mit so müder Stimme, dass es Laura für einen Moment aus der Fassung brachte. Rasch warf sie einen Blick auf das Geburtsdatum, das die Frau ihr genannt hatte, rechnete nach und machte mit voller Absicht einen Fehler. »Dann ist Ihr Sohn jetzt also fast fünf.« »Sechseinhalb«, entgegnete die Frau, ohne nachdenken zu müssen. »Wie heißen Sie?« »In der Sekte nannte man mich Rachel. Aber das ist nicht mein richtiger Name.« »Und wie heißen Sie wirklich?«
»Das möchte ich lieber nicht sagen.« Laura hatte die Augen geschlossen, versuchte sich Rachel vorzustellen, ihr Wesen zu ergründen. Wie alt mochte sie sein? Sie hörte sich jung an, und die Betonung am Ende eines Satzes war manchmal fragend. Andererseits hatte Laura schon öfter mit Frauen gesprochen, die jung klingende Stimmen hatten und bereits Großmütter waren; bei anderen hingegen, die sich als junge Schönheiten entpuppten, hatte die Stimme den Eindruck einer alten Frau erweckt. Rachel war vermutlich eine Endzwanzigerin, vielleicht nicht akademisch gebildet, aber ziemlich intelligent. Im Hintergrund murmelte ein Fernseher; so leise der Ton auch gestellt war, hörte es sich nach einem Zeichentrickfilm an. »Sie wollen mir Ihren Namen also nicht nennen?« »Sie brauchen ihn nicht zu wissen.« 300
»Haben Sie das bereits der Polizei oder dem FBI mitgeteilt?« »Nein, und das werde ich auch nicht.« »Warum nicht?«, fragte Laura, die sofort misstrauisch geworden war. »Haben Sie denn nicht gesehen, was Haines seinem Bruder angetan hat?« »Er weiß nichts von seinem Sohn.« »Sie waren ein Liebespaar, und er wusste nicht, dass Sie schwanger waren?«, bohrte Laura nach. »Liebespaar wäre zu viel gesagt«, erwiderte Rachel ein wenig gereizt. »Wie ich schon sagte, habe ich gleich zu Anfang meiner Schwangerschaft, als noch nichts zu sehen war, die New Apostles verlassen. Ich habe ihm nichts gesagt - niemandem dort.« Während Laura die Glaubwürdigkeit dieser Aussage abwog, fügte Rachel hinzu: »Außerdem kannte er meinen richtigen Namen gar nicht. Wie sollte er mich da finden?« Lauras Zweifel blieben bestehen. Sie erinnerte sich an ihre beinahe lähmende Angst in jener Nacht im Hotel, als sie befürchtet hatte, Haines habe ihre Handtasche. Deshalb glaubte sie nicht recht an Rachels scheinbare Gleichmütigkeit. Sie an ihrer Stelle, mit David Haines' Sohn, würde sich so lange unter Polizeischutz stellen lassen, bis Haines wieder in der Todeszelle saß. »Trotzdem«, sagte sie zu Rachel, »sollten Sie sicherheitshalber jemanden einweihen. Ihres Sohnes wegen.« Rachel schnaubte verächtlich. »Die Polizei oder das FBI zu verständigen, wäre ein viel zu großes Risiko. Irgendwer könnte wieder mal den Mund nicht halten, und die Medien bekämen Wind davon - nein, wir sind gut aufgehoben, wo wir sind. Und die Bullen können wir in unserem Leben nicht gebrauchen.« Ihre Stimme klang abfällig. Laura fragte sich, ob die Frau schlechte Erfahrungen mit dem FBI und der Polizei gemacht hatte oder es bloß Voreingenommenheit war. »Sind Sie verheiratet?«, wollte Laura wissen. Rachel rümpfte hörbar die Nase. »Ich hab ein paar Jahre mit jemand zusammengelebt und bereue es jetzt 301
noch. Ich hatte nicht viel Glück mit Männern. Ich suche mir wohl immer die verkehrten aus - Kerle, die bloß Unterschlupf brauchen und eine Frau, die sie versorgt.« Im Hintergrund hörte Laura eine gedämpfte Stimme »Mom?« rufen. »Ich bin noch am Telefon, Sean.« Eine Hand legte sich auf die Sprechmuschel, und Laura konnte nur ein unverständliches Murmeln vernehmen; dann sagte die Frau: »Zieh aber deine Kapuze über.« Laura schaute durchs Fenster auf den wolkenlosen Himmel. Rachel rief also nicht von Chicago aus an, oder es war wieder eine verdammte List, denn die Verbindung war gut; es gab keinerlei Störgeräusche. Rachel könnte sich in einer benachbarten Wohnung befinden - oder in Alaska. Oder war auch der Junge nur Teil eines raffiniert konstruierten Lügengespinsts? Alles erschien ihr so kompliziert. Sie versuchte sich das
Haus vorzustellen, den eingeschalteten Fernseher, die Mutter, die sich die Zeit für diesen Anruf stahl, und dann sah sie es plötzlich vor sich: Ein bisschen unordentlich, Dosen mit Softdrinks und Kartoffelchips auf dem Beistelltischchen, der Geruch von Schuhen in der Diele. Ihr wurde bewusst, wie sehr sie sich wünschte, dass dies alles der Wahrheit entsprach. »Haben Sie mehrere Kinder?«, fragte sie. Sie hatte gehofft, Rachel durch die vielen Fragen zu Widersprüchen oder irgendwelchen lächerlichen Behauptungen zu verleiten. Doch je mehr Laura hörte, desto glaubwürdiger erschien ihr die Frau. »Nein, nur Sean.« Laura schrieb den Namen auf. »Wo haben Sie entbunden, Rachel?« »Das ist unwichtig.« »Was ist mit Ihren Eltern? Wissen die Bescheid?« »Nein.« 302
»Ihre Eltern wissen nichts von dem Kind, oder dass sein Vater David Haines ist?« »Sie wissen gar nichts von David. Ich war schon damals nicht gerade stolz darauf, dass wir eine Beziehung hatten.« Wie praktisch, dachte Laura. Niemand, der ihre Story bestätigen könnte. Sie war wütend auf sich selbst, dass sie einen Augenblick lang auf die Frau hereingefallen war. Trotzdem kostete es sie Mühe, sich dieser Story zu entziehen und sich daran zu erinnern, dass das alles Lug und Trug sein konnte. Warum tust du das? fragte sie sich. Dich so zu quälen. Du weißt, dass alles gelogen ist. Leg endlich auf! Aber sie brachte es nicht fertig. »Wo wohnen Ihre Eltern?« »Bedaure.« Laura seufzte. »Was Sie mir erzählten, könnte sich ein jeder aus Büchern und Zeitungsberichten zusammengereimt haben. Woher soll ich wissen, ob Sie die Wahrheit sagen?« Wüsste sie den richtigen Namen Rachels und den Ort der Entbindung, könnte sie vielleicht Einsicht beim zuständigen Standesamt nehmen und feststellen, ob Rachel tatsächlich eine Geburt gemeldet hatte. Aber mehr würde sie selbst dann nicht über die Frau herausfinden - keine Adresse, und auch nicht den Namen des Vaters. »Wer weiß überhaupt, dass Sie ein Kind bekommen haben?«, fragte sie. »Niemand, von dem ich wüsste. Hören Sie, Dr. Donaldson, ich hab die New Apostles verlassen, weil ich von den Typen die Nase gestrichen voll hatte. Ich wollte nichts als weg und alles vergessen. Aber es hat sehr, sehr lange gedauert, diese Dinge hinter sich zu lassen.« Dieses Geständnis schien so impulsiv, so ehrlich, dass Laura ihr fast glaubte. »Als ich erfuhr, was David getan hat, hätte es mich beinahe umgebracht. Der Vater meines Babys - ein psychopathischer Killer! Es ist für mich schon schlimm genug, aber ich hab mir 303
geschworen, dass mein Sohn es nie erfahren soll. Ich habe eine Menge dumme ... Hören Sie, ich will nicht, dass der Junge es erfährt. Wenn ich zur Polizei ginge, käme alles ans Licht, und wir könnten nie mehr ein auch nur halbwegs normales Leben führen.« Laura ertappte sich dabei, dass sie nickte. Wie andere einen behandelten oder von einem dachten, war manchmal schlimm genug; doch wie man selbst von sich dachte, war oft noch grausamer. Der Sohn wie der Vater? Gab es irgendetwas in der genetischen Struktur des Jungen, das nur darauf wartete, sich irgendwann an die Oberfläche zu drängen und eine Katastrophe auszulösen? Oder würde der psychische Schatten seines Vaters den Jungen zeit seines Lebens verfolgen? Laura konnte gut verstehen, dass eine Mutter ihren Sohn vor all dem bewahren wollte. »Warum haben Sie sich überhaupt an mich gewandt?«, fragte sie. »Weil ich weiß, dass Sie das Blut brauchen«, antwortete Rachel. »Und ich brauche Geld.« Sie sagte es zwar forsch, trotzdem war herauszuhören, dass sie sich schämte. »Ah!« Laura war enttäuscht. Also war alles nur ein jämmerlicher Trick, um abzukassieren. Aber hatte sie etwas anderes erwartet? »Sie wollen mir also das Blut Ihres Sohnes verkau fen?« »Ich habe gelesen, dass Ihr Konzern von vielen Leuten Blut kauft.« »Wenn wir eine bestimmte Gruppe oder besondere Eigenschaften suchen, ja. Das Blut Ihres Sohnes kennen wir nicht. Und nach allem, was ich bisher über Sie weiß, haben Sie das Ganze nur erfunden.« »Es gibt noch andere, an die ich mich wenden kann.« Die Aggressivität in ihrem Tonfall überraschte Laura. »Tatsächlich?« »Dr. Tamsen oder vielleicht Dr. Corel. Auch die befassen sich mit Gen- und Krebsforschung.« 304
Laura war beeindruckt. Wer immer Rachel war, sie hatte sich gut informiert. »Sie haben Recht. Sowohl Dr. Tamsen wie Dr. Corel wären scharf auf Haines' Blut. Wenn Sie die Angelegenheit im Fernsehen verfolgt haben, wissen Sie auch, warum. Viele Leute bezeichnen mich als Kurpfuscherin.« »Aber Sie wollen das Blut trotzdem.« Es war keine Frage. Sprach Gerissenheit aus ihrer Stimme oder Verzweiflung? Laura spürte, wie ihr der Schweiß ausbrach. Natürlich wollte sie das Blut; sie war versessen darauf. »Ich will Geld, bevor Sie Seans Blut untersuchen, egal ob es für Ihre Zwecke geeignet ist oder nicht.« Laura konnte ein Lachen nicht unterdrücken. »Das ist ein bisschen viel verlangt, finden Sie nicht auch?« »Fünfundzwanzigtausend. Ihr Konzern kann sich das locker leisten. Und wenn das Blut diese Enzyme hat, krieg ich noch mehr.« Laura erwähnte nicht, dass sie in wenigen Tagen vielleicht keinen Cent mehr von MetaSYS bekommen und möglicherweise wie eine mittelalterliche Alchemistin in einem entlegenen Winkel des Universitätslabors mit brüchigen Phiolen würde forschen müssen. »Ich glaube nicht, dass mein Unternehmen sich darauf einließe, ehe ich nicht das Blut Ihres Sohnes untersucht habe.« Doch schon jetzt überlegte sie insgeheim, ob sie selbst das Geld zusammenbekäme. Sie hatte sieben- oder achttausend Dollar auf dem Konto, zwölftausend in Aktien, und den Rest könnte sie von ihrer privaten Lebensversicherung leihen, oder was vielleicht weniger umständlich wäre -, sie könnte ihren Dispokredit überziehen. »Fünfundzwanzigtausend sofort auf die Hand - oder kein Blut«, forderte Rachel hartnäckig. Ebenso hartnäckig schwieg Laura und fragte sich, wer von ihnen zuerst nachgeben würde. Es war Rachel. »Glauben Sie, ich würde so darauf beharren, wenn ich das Geld nicht bräuchte? Mein Leben war verdammt 305
nicht leicht, das können Sie mir glauben. Drei Jahre meines Lebens habe bei den New Apostles vergeudet, und von dort wegzukommen war alles andere als einfach. Zu viel ... Gefühlsballast.« Die letzten Worte kamen zögerlich, als wäre ihr bewusst, wie banal sie klangen. »Ich wollte mein Kind behalten. Sean war das Einzige, das mir gehörte, nur mir allein. Doch es war hart, weil niemand mir half. Meine Eltern hatten mich abgeschrieben und wollten nichts mehr von mir wissen. Vergangenes Jahr lebte ich mit jemandem zusammen, aber es erwies sich als ... er taugte letztendlich doch nichts. Ich hab mein Leben selbst verpfuscht, aber ich möchte, dass Sean eine Chance bekommt. Was immer ich verdiene, reicht gerade von einem Tag auf den anderen. Ich werde nie einen guten Job kriegen, aber Sean soll es mal besser haben. Ich möchte etwas für ihn anlegen, damit er vielleicht aufs College gehen kann.« Laura war zwischen Mitgefühl und Zweifel hin und her
gerissen. Wenn das eine gut geprobte Mitleidstour war, hörte sie sich so wahr an wie der Rest ihrer Story. »Und wenn Sie Ihre fünfundzwanzigtausend im Voraus bekommen, wie soll es dann weitergehen?« Noch während sie fragte, hatte Laura das Gefühl, einen taktischen Fehler begangen zu haben: Sie hatte angedeutet, möglicherweise zahlen zu wollen. »Wir vereinbaren einen Treffpunkt. Sie geben mir die Summe in bar, danach begleiten Sie mich zu meiner Wohnung. Ich werde Sean erklären, dass Sie die Schulärztin sind und eine Untersuchung bei ihm nachholen müssen. Dann können Sie Ihre Blutprobe nehmen.« Rachel hatte sich den Ablauf offenbar schon genau überlegt, doch Laura hielt den Plan für mehr als oberfaul: der Treffpunkt, die Lügen, das Geld bar auf die Hand - das alles passte viel eher zu einem Drogengeschäft. 306
»Wie viel Blut werden Sie brauchen?«, wollte Rachel wissen. »Zunächst nur zwei Kubikzentimeter.« »Kein Knochenmark?« »Nur wenn der Test positiv ausfällt. Dann werden wir eine Vereinbarung unterzeichnen.« Wir! Laura wusste nicht einmal, wer zum Teufel die »Wir« sein würden. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Adrian und MetaSYS interessiert wären, selbst wenn sie positives Blut zur Verfügung hatte. Aber vielleicht konnte sie ja bei einem anderen Unternehmen mit einem gut ausgestatteten Labor unterkommen. »Ich glaube immer noch, dass Sie lügen«, sagte sie, hatte aber das Gefühl, an Boden verloren zu haben. »Das ist Ihnen überlassen«, entgegnete Rachel. So gern Laura dem Jungen Blut abnehmen wollte (falls es diesen jungen überhaupt gab) - sie hatte nicht die Absicht, Rachel fünfundzwanzigtausend Dollar ohne den geringsten Beweis auszuhändigen. »Reißen Sie Ihrem Sohn ein paar Haare aus. Abgeschnittenes Haar ist ungeeignet. Ich brauche die Wurzeln, die Follikel. Senden Sie mir zehn Haare in einem Briefumschlag. Auch von Ihnen brauche ich eine Haarprobe.« »Warum?« »Weil ich so etwas wie einen Vaterschaftstest vornehmen und herausfinden möchte, ob Sean wirklich Haines' Sohn ist.« »Aber brauchen Sie dafür nicht auch Haare von David?«, fragte Rachel erstaunt. »Überlassen Sie das mir.« Laura fragte sich bereits, woher sie Proben von Haines bekommen könnte. Bestimmt gab es noch Kleidungsstücke, Betttücher, einen Kamm mit ausreichend Haaren oder Hautschuppen - irgendetwas, das es ihr ermöglichte, eine DNS-Analyse vorzunehmen. Aber wie sollte sie an Haar oder Hautproben von Haines herankommen? Sie bezweifelte, dass man ihr Zutritt zum Staatsgefängnis gewährte, wenn man bedachte, welche Rolle sie bei 307
Haines' Flucht gespielt hatte. Laura dachte an Kevin Sheldrake: Er könnte ihr Proben besorgen. Doch es war ein Risiko. Vielleicht weigerte er sich, ihr zu helfen, oder er nahm ihr die Sache ganz aus der Hand, und sie würde nie die Chance bekommen, Rachels angeblichen Sohn kennen zu lernen. Auf der anderen Seite war es für sie die einzige Möglichkeit, Haines' Vaterschaft zu beweisen. »Jedenfalls brauche ich die Proben von Ihnen und Ihrem Sohn«, erklärte sie Rachel. »Es wird einen Tag dauern, die Untersuchung vorzunehmen. Wenn die Werte übereinstimmen, bekommen Sie die fünfundzwanzigtausend. Einverstanden?« Während der nun einsetzenden Pause schlug Laura das Herz bis zum Hals. Jetzt würde sie erfahren, ob die Frau eine Betrügerin war oder nicht. »Wenn ich Ihnen die Haare schicke, wie soll ich da wissen, dass ich Ihnen damit nicht schon alles gebe, was Sie brauchen?
Ich verstehe nicht viel von Genetik, aber ich weiß, dass man im Haar DNS feststellen kann.« »Stimmt, aber das genügt nicht. Ich weiß nicht, welche Gene die Enzyme produzieren, nach denen ich suche. Um sie zu finden und zu studieren, benötige ich lebendes Blut. Das Haar ist allein für den Vaterschaftstest.« »Ich weiß nicht ...« »Ohne die Haare hat es jedenfalls keinen Zweck. Jetzt ist es Ihnen überlassen.« »Gut. Ich denke darüber nach.« Rachel legte auf. Den Hörer noch ans Ohr gedrückt, spürte Laura, dass alle ihre Hoffnungen sich mit der plötzlichen Stille am anderen Ende der Leitung verflüchtigten. Sie hätte es sich denken können. Die Erwähnung des Vaterschaftstests hatte Rachel veranlasst, einen Rückzieher zu machen. Laura wählte die "69, und nach zweimaligem Läuten erklärte die elektronische Stimme: 308
»Der Teilnehmer ist auf diese Weise nicht zu erreichen ... « Dafür hatte zweifellos Rachel gesorgt. »Das wär's dann«, murmelte Laura, verärgert über sich selbst. Leichtgläubige Idiotin! Eine Weile blieb sie sitzen und starrte auf die vielen Notizzettel, die sie voll gekritzelt hatte. Zieh deine Kapuze über, Sean. Laura nahm die Zeitung und schlug die Wetterkarte auf. Soweit sie sehen konnte, regnete es nur an der Nordwestküste am Pazifik, und in der Golfregion gab es vereinzelte Sommergewitter. Die Frau hatte keinen Südstaaten-Akzent gehabt. Du benimmst dich lächerlich, rügte sie sich. Sollte sie vielleicht ihren Flug stornieren und am Telefon sitzen bleiben, für den Fall, dass Rachel wieder anrief? Und wenn sie sich tatsächlich wieder meldet?, fragte Laura sich müde. Und angenommen, Sean war wunderbarerweise tatsächlich Davids Sohn? Und falls er, ein weiteres Wunder, das gleiche Blut hätte wie sein Vater - wäre sie wirklich im Stande, es so einzusetzen, wie sie es sich erhoffte? Besuch Sandra, wie du es dir vorgenommen hast! Sie wandte sich wieder ihrem Koffer zu, um weiter zu packen, als ihr Blick auf den stummen Fernseher fiel. Das Gesicht, das sie auf dem Bildschirm sah, bannte sie an ihren Platz. Es war hager, doch immer noch schön, und sie erkannte Gillian Shamas sofort. Während sie die Fernbedienung holte, wäre sie beinahe gestolpert. Sie schaltete den Ton ein. »... als Nächstes hören Sie eine ehemalige Patientin.« Gillians Gesicht schwand, und Laura musste qualvolle Minuten Werbung über sich ergehen lassen, ehe die Sendung fortgesetzt wurde. Die Stimme des Moderators wurde von Bildern aus Krankenhäusern begleitet, wo kahlköpfige Patienten am Tropf hingen. »Zwar widersprechen viele Ärzte Dr. Laura Donaldsons Behauptung, wie bedeutsam David Haines' Blut sein könnte, doch weltweit setzen tausende von Krebspatienten auf sie. Kongressabgeordnete, sogar der Präsident, erhielten zahllose Briefe und Gesuche, 309
Haines lebend festzunehmen und sein Blut zu weiterer Forschung zu nutzen ...« Erstaunt sah Laura, wie mit Briefen prall gefüllte Säcke geleert wurden. Dazwischen blendete man die Meinungen von Krebspatienten ein; dann war wieder die Stimme des Moderators zu hören. »Doch wenige kennen Dr. Donaldson so gut wie Gillian Shamas, eine ihrer ehemaligen Patientinnen, die bedauerlicherweise nicht von ihrem Leiden geheilt werden konnte.« Laura hielt den Atem an, als Gillian wieder zu sehen war. Sie saß auf einem Sofa, offenbar zu Hause; trotz ihrer schweren Krankheit waren ihre Augen klar, und sie schien sich mit ihrem Schicksal abgefunden zu haben. Bei ihrem Anblick erkannte Laura die schrecklichen Folgen ihres Versagens: Sie sah eine junge Frau, deren Leben in wenigen Monaten, wenn nicht Wochen erbarmungslos enden würde. Es tut mir sehr Leid, Gillian. Laura vermutete, dass man Gillian ausgewählt hatte,
um das Gleichgewicht der Stimmen zu erhalten und der überschwänglichen Begeisterung der Bittsteller entgegenzuwirken. Laura machte sich auf das Schlimmste gefasst. »Ja, das stimmt«, sagte Gillian zu einem Reporter, der nicht auf dem Bildschirm zu sehen war, »ich finde, dass Dr. Donaldson Recht hat, David Haines' Blut für ihre Forschung zu fordern. Ich verstehe nicht, wie die anderen Ärzte Dr. Donaldson ablehnen können, ehe sie die Gelegenheit hatte, den Beweis zu erbringen, dass sie Krebskranken helfen kann, wenn sie Haines' Blut erst untersucht hat.« Laura war so überrascht, dass sie glaubte, sich verhört zu haben. Gillian war auf ihrer Seite! »Aber sie hat Sie nicht geheilt«, sagte die salbungsvolle Stimme des Moderators. »Das nicht, aber sie hat ihr Bestes getan, und ich würde mich sofort wieder freiwillig melden, wenn sie 310
eine neue Heilmethode entwickelt. Ich bin ihr immer noch dankbar für die Chance, die sie mir gab. Und ich hoffe sehr, dass sie aus diesem Blut ein neues Heilmittel entwickeln kann.« Wie schafft sie es nur, so etwas zu sagen?, fragte sich Laura und wischte sich die Tränen aus den Augen. Gillian hatte eine schreckliche Enttäuschung hinnehmen müssen, sodass sie Bitterkeit, ja Abneigung empfinden müsste. Stattdessen ließ sie die Fernsehkamera und diesen Moderator über sich ergehen, um Laura in Schutz zu nehmen. Sie konnte sich nicht erinnern, wann ermutigende Worte sie so sehr gerührt hatten. Sie schaltete den Fernseher aus. Sie brauchte nur wenige Sekunden, um ihre Entscheidung zu treffen. Sie rief das Reisebüro an und stornierte ihren Flug nach Mexiko. Kevin spürte weder den Schmerz in den Knien, noch nahm er das Zittern in seinen Beinen wahr: Es hatte sich zu einer Art Eigenleben entwickelt, das ihm half, sich trotz dieser Beschwerden fit und einsatzbereit zu fühlen. Was hast du vor, David? Wohin bist du unterwegs? Doch nicht nach Houston, und dann noch weiter nach Süden? Aber wohin willst du sonst? Er kniete auf dem Wohnzimmerfußboden, betete und dachte intensiv an Haines, doch es ergab sich nichts, keine kosmische Botschaft kam aus der Schwärze. Und bald war sein Verstand wieder mit der bitteren Realität befasst. Von Michener aus der Sondereinheit geworfen. Gerügt wie ein fehlgeleitetes Schulkind. Es war demütigend. Doch dass er am vierten Tag der Suche nach Haines noch nicht den geringsten Hinweis besaß, machte Kevin noch viel wütender. Nach Dienstschluss war er todmüde nach Hause gekommen, doch nun wälzte er sich schlaflos im Bett. Er konnte David Haines weder 311
aus seinen Gedanken noch aus seinen Wachträumen verbannen. Hilf mir. Ich knie vor dir nieder. Ich habe gehungert und fast vier Kilo verloren. Ich habe mich anständig benommen, habe mich nicht versündigt, also sprich zu mir, ich bitte dich ... Nichts. Dabei müsste er das eigentlich gut beherrschen. Auf diese Weise hatte er David Haines beim ersten Mal gefasst. Empathie, ja. Doch es war noch mehr als das: wie David sein, wie er denken. Aber was hatte ihm das bisher gebracht? Die zu späte Erkenntnis, dass David Haines versuchen würde, seinen eigenen Bruder zu töten. Bitte, gib mir ein Zeichen! Doch es war nur tiefe Schwärze in seinem Bewusstsein. Er schlug die Augen auf, blinzelte ins Licht. Wie ein Betrunkener kam er taumelnd auf die Beine. Sein Kopf war blutleer, die Welt stand still. Als er ein paar Schritte auf gefühllosen Füßen wankte, schlug er sich das Schienbein am Beistelltisch an. »Verdammt!« Plötzlich hatte er das Gefühl, in einem endlosen Tunnel gefangen zu sein. Wütend nahm er einen der Aktenordner vom Tischchen und schleuderte ihn durchs Zimmer. Papiere flatterten umher. »Nutzloser Dreck!« Dem ersten Ordner folgte ein zweiter, dann ein dritter. Schließlich nahm er in seinem Zorn die Bibel und schlug damit nach dem Fernseher; mit dem anderen Arm fegte er die Bücher aus einem Fach des Regals, dass fromme Traktate und religiöse Wälzer durch die Luft flogen. Er hatte das Bedürfnis, sich das Haar büschelweise auszureißen und sich das Hemd von den Schultern zu zerren - als sein Handy auf dem Esstisch schrillte. Er sank zusammen. Er hatte nichts im Magen, das ihm Kraft hätte geben können. Sein Brustkorb, seine Schultern, sein Kopf, alles drückte auf die gähnende 312
Leere in seinem Innern. Er schleppte sich zum Tisch und setzte sich. Ihm war übel. »Kevin Sheldrake«, presste er seinen Namen hervor. »Hi, hier Laura Donaldson. Ich habe soeben einen Anruf von einer Frau bekommen, die behauptet, einen Sohn von Haines zu haben.« Er lachte sarkastisch, noch ehe er sich zurückhalten konnte. »Wundert mich, dass es nur ein einziger Anruf war. Sie bekommen noch mehr, glauben Sie mir. Wir hatten acht Anrufe von angeblichen Blutsverwandten und drei von Frauen, die geschworen haben, sie hätten ein Kind von David Haines.« »Oh.« Es hörte sich an, als hätte er ihr einen Dämpfer versetzt, und sie tat ihm augenblicklich Leid. »Ich weiß, es ist enttäuschend. Es gibt viele Leute, die um jeden Preis auf sich aufmerksam machen wollen - lästige Anrufe, mit denen wir nur unsere Zeit vergeuden. Gewöhnlich stürzen die Behauptungen dieser Leute schon nach dreißig Sekunden wie Kartenhäuser in sich zusammen. Aber es war richtig von Ihnen, mich anzurufen«, fügte er hinzu. Kevin sagte es nicht bloß aus Freundlichkeit, er meinte es ehrlich. Er war jetzt ver zweifelt genug, jeder nur möglichen Spur nachzugehen, so dubios sie auch war. »Also, wie sieht Ihre Story aus?« In der Wohnung ihres Vaters blickte Laura auf das Blatt Papier, auf dem sie ihre hastig mitgeschriebenen Notizen geordnet hatte. Nun aber, nach Kevins Worten, machte es sie verlegen; vielleicht vergeudete sie ja nur seine Zeit. Doch nach dem Mord an Rick Haines würde sie Sheldrake keine Information mehr vorenthalten. Vor allem brauchte sie seine Hilfe, um den Vaterschaftstest vornehmen zu können - falls es je dazu kam. »Erzählen Sie«, bat Kevin sanft. Er bückte sich, hob einen Kugelschreiber und ein paar Blatt Papier auf. Doch schon nach einer Minute schrieb er nicht mehr mit, sondern hörte nur gespannt zu. Schweiß sammelte sich in seinen Achselhöhlen. Er war darauf vorbereitet gewesen, die übliche Mischung aus Phrasen und die verrückten 313
Behauptungen zu hören, die er inzwischen von Anrufern gewöhnt war: Ich habe David Haines im Starbucks am Navy Pier gesehen, wie er sich eine Tasse Kaffee kaufte. Oder: Satan hat mich vergangene Nacht besucht und mir gesagt, dass David der Engel mit dem Flammenschwert ist, der geschickt wurde, um die Menschheit auf die Probe zu stellen. Nun aber hatte er von Anfang an das Gefühl, dass diese Rachel in eine andere Kategorie gehörte, und je mehr er von Laura hörte, umso größer wurde seine Unruhe. Die Anruferin hatte richtige Daten genannt - aber das könnte natürlich jeder, der sich über Haines informiert hatte. Doch der Name Rachel passte zu dieser Sekte; mit Vorliebe gaben die New Apostles ihren Anhängern Namen aus dem Alten Testament. Und es war sehr wahrscheinlich, dass ein Mädchen Haines angeworben hatte. Kevin wusste aus persönlicher leidvoller Erfahrung, dass neue Mitglieder mit den Waffen der Frauen für Sekten rekrutiert wurden. Aber wie sah es damit aus, dass eine Anhängerin so weit ging, mit einem ihrer Neuangeworbenen zu schlafen? Kevin wusste, dass die New
Apostles auf unbedingtem Zölibat bestanden. Andererseits vermutete er, dass ihr Anführer, Vater Abraham, bei sich selbst zweifellos eine Ausnahme machte, um aus seinen Samen einen neuen Stamm Israels sprießen zu lassen. Ein Kind? War das möglich? Kevin wusste sehr wenig über Haines' Zeit bei den New Apostles. Vor vier Jahren hatten seine Nachforschungen ihn lediglich auf einen Verdacht hin zu der Sekte geführt, weil er in ihrer strikten Ablehnung medizinischer Behandlung eine Spur zum damals noch unbekannten Ärztekiller vermutet hatte. Er war mit tiefem Misstrauen empfangen worden; schließlich war er ein Beamter einer satanischen Regierungsbehörde, der darauf aus war, die New Apostles ihrer religiösen Freiheiten zu berauben. Und vor allem ihrer 314
Schusswaffen, die sie brauchten, um sich am baldigen Ende aller Tage gegen die Heerscharen der Hölle zur Wehr zu setzen. Glücklicherweise war Vater Abe so klug gewesen, eine gute PR-Masche schnell zu erkennen. Er hatte erklärt, dass ein schwarzes . Schaf seiner Herde, ein gewisser Bruder Ishmael, wegen seiner gewalttätigen Ansichten von den Apostles ausgeschlossen worden war. Ishmaels richtiger Name lautete David Haines. Abe tat sein Bestes, die Apostles von den Missetaten des Ärztekillers zu distanzieren. Trotzdem hatte er sich sehr bemüht, Kevin so wenig wie möglich über Haines' Zeit bei der Sekte zu erzählen, und er hatte niemanden sonst beim Namen genannt. Ganz sicher hatte er keine Schwester Rachel erwähnt. Davids Name und die bruchstückhaften Informationen hatten jedoch genügt, seinen Bruder Rick ausfindig zu machen und dem Fall die entscheidende Wende zu geben. Als Laura alles berichtet hatte, war Kevin skeptisch. Er rieb sich die pochenden Schläfen. Er brauchte unbedingt eine Spur, doch seine Vernunft sagte ihm, dass diese Neuigkeit wahrscheinlich keine war. »Sie werden vermutlich nicht mehr von der Frau hören.« Es kostete ihn Mühe, diese Worte hervorzupressen. »Natürlich haben Sie Recht, dass es eine gute Story ist, aber meines Erachtens ist die Frau nur auf das Geld aus.« »Das hielt auch ich für den Grund«, sagte Laura und seufzte, »vor allem, nachdem sie zögerte, als ich sie um die Haarproben bat. Tja, dann gab es also keine Rachel bei den New Apostles, sonst hätten Sie vermutlich von ihr gehört.« »Ihre Anruferin benimmt sich nicht so, wie man es erwarten sollte. Wenn Sie tatsächlich einen Sohn von Haines hätte, müsste sie schreckliche Angst haben. Sie hätte um Polizeischutz ersucht, egal wo sie ist, selbst wenn sie in den Bergen von Alaska wäre.« »Aber sie sagte, dass Haines nichts von dem Kind weiß. Weshalb sollte sie da Angst haben? Ebenso wenig kennt er ihren richtigen Namen, und er hat keine 315
Ahnung, wo sie wohnt. Sie hat keine Verbindung mehr zu Haines, seit sie die Sekte verlassen hat. Übrigens hatte ich das Gefühl, dass sie das FBI nicht sehr mag.« Er lachte spöttisch. »Sie mag das FBI nicht, weil sie das Telefon für eine betrügerische Aktion nutzt, und damit verletzt sie ein Bundesgesetz. Das erklärt, weshalb sie weder ihren Namen noch ihre Telefonnummer nennen wollte.« Laura erwiderte nichts, doch Kevin rechnete nicht damit, dass sie schon aufgab, und er war sich auch gar nicht sicher, ob er selbst es wollte. Er hatte das Bedürfnis, die ganze Sache gründlich mit ihr durchzugehen, auch wenn sie vielleicht unterschiedlicher Meinung waren. Laura Donaldson war so starrköpfig wie er. »Selbst wenn Sie wüssten, dass er einen Sohn hat«, sagte Laura, »würden Sie es mir nicht verraten, nicht wahr?« Es war eher eine Feststellung als eine Frage. Kevin seufzte. »Stimmt, weil es dem Fall nicht helfen, sondern wahrscheinlich schaden würde.« »Ich habe Sie angerufen, um sicherzugehen, dass nicht noch einmal passiert, was mit Rick geschehen ist.« »Das weiß ich zu schätzen. Aber seien Sie ehrlich, Dr. Donaldson, Sie haben auch deshalb angerufen, weil Sie hinter dem Blut her sind, und das hat nichts mit diesem Fall zu tun.« »Doch. Sofern es Sie auf eine Spur bringt.« Jetzt lächelte Kevin sogar. »Wir wissen nicht, ob Haines ein Kind hat. Und ich bezweifle, dass diese Frau die Wahrheit sagt. Sie ist entweder eine fantasiebegabte Verrückte oder eine gerissene Betrügerin ...« Oder ... Er ärgerte sich, dass es ihm nicht eher eingefallen war. Er hätte es an Davids Stelle auch getan ... Er strich sich über die nasse Stirn. »Die Frau hätte Sie auch 316
aus einem anderen Grund anrufen können.« »Und welchem?« »Vielleicht ist sie eine von Haines' Anhängerinnen, und es ist eine Falle. Sie machen einen Treffpunkt aus, und die Frau wartet mit einer Waffe auf Sie.« »0 Gott«, murmelte Laura und spürte, wie ihr Magen sich verkrampfte. Sie ließ sich in einen Sessel fallen und zog ihre plötzlich eisigen Füße hoch. Sie hatte nur ein Entweder-oder in Betracht gezogen. Entweder Rachel war eine Betrügerin oder sie war, was sie zu sein behauptete. Laura wünschte, sie hätte ein Glas Wasser; ihr Mund war trocken vom vielen Reden am Telefon. Sie hatte aus Rachels Worten keine mörderischen Absichten herausgehört - sie mochte vielleicht eine Schwindlerin sein, aber keine Killerin. Frauen taten so etwas nicht, oder? Ein Komplott schmieden und kaltblütig morden? »Alles in Ordnung?«, fragte Kevin. Laura schien die Frage überhört zu haben; ihre Gedanken rasten. »Wenn die Frau mich töten wollte, warum sollte sie dann das Risiko eingehen, fünfundzwanzigtausend Dollar zu fordern? Das ergäbe keinen Sinn. Sie würde mir einfach auflauern, ohne großes Getue.« »Geld zu verlangen, macht es glaubwürdiger«, entgegnete Kevin. »Sie waren doch bereit zu zahlen, oder nicht?« »Nur wenn ihre Haarproben positiv wären.« »Woher kannte sie die Telefonnummer Ihres Vaters?« »Sie kannte die Nummer nicht. Sie hat im Labor angerufen. Der Apparat dort leitet Anrufe an mich automatisch weiter.« »Gut«, sagte Kevin. »Das ist sehr gut. Hören Sie jetzt zu, ich behaupte nicht, dass diese Frau eine Jüngerin von Haines ist, denn das weiß ich nicht. Aber ich möchte Sie um Erlaubnis bitten, Ihr Telefon abhören und die Anrufe zurückverfolgen zu dürfen.« »Und wenn ich es nicht erlaube?« Laura überraschte sich mit dieser Gegenfrage selbst. »Warum nicht?« Es klang ungläubig. 317
»Weil Sie ganz sicher herausfinden werden, wer die Frau ist, um sie der üblichen Prozedur zu unterziehen.« »Wir würden sie vernehmen, ja. Die Frau könnte vorhaben, Sie umzubringen.« »Aber sie könnte auch die Mutter von Haines' Kind sein. Ich weiß, es ist unwahrscheinlich, aber die Möglichkeit besteht.« »Na schön. In diesem Fall würden wir dafür sorgen, dass sie an einen sicheren Ort gebracht wird.« Sicher vor mir, dachte Laura. »Sie würden die Frau in einem Hotel einquartieren, genau wie Sie es bei mir gemacht haben?« »Möglich.« »Und Sie würden mir nicht sagen, wo sie ist?« »Dr. Donaldson, wenn diese Frau Ihnen das Blut ihres Sohnes verkaufen will, wird sie einen Weg finden, sich mit Ihnen in Verbindung zu setzen.« »Das ist also ein Nein?« Es mochte stimmen, dass Rachel sie erreichen konnte - die Frage war nur, ob sie es noch wollte, nachdem Laura sich entgegen der Absprache mit dem FBI in Verbindung setzte. Rachel hatte unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass ihr Sohn niemals erfahren durfte, wer sein Vater war. Vielleicht würde sie sich nun sogar entschließen, das Blut an jemand anders zu verkaufen oder es gar nicht herzugeben. »Ich bin nicht sicher, ob ich diese Erlaubnis erteilen will.« Laura wusste, dass es unvernünftig klang, doch sie war nicht bereit, das Risiko einzugehen, den Kontakt zu Rachel zu verlieren. »Tut mir Leid, aber ich habe das Gefühl, Sie wollen gar nicht, dass ich das Blut bekomme.« Kevins Gleichmut war aufreizend. »Als Special Agent habe ich keine professionelle Meinung dazu. Dem FBI ist es egal, ob Sie das Blut bekommen oder nicht.« Laura blieb beharrlich. »Und wie sieht es mit Ihrer persönlichen Meinung aus?« 318
Kevin, der im Wohnzimmer auf und ab stiefelte, seufzte. Er war seiner ausweichenden Antworten müde. »Dr. Donaldson, wenn diese Frau wirklich die Mutter von Haines' Sohn ist und Ihnen Blut des Jungen verkaufen will, habe ich kein Problem damit. Ich bezweifle nur, dass ihre Geschichte wahr ist.« »Und ich würde es Ihnen gern beweisen - so oder so«, erwiderte Laura. »Wenn Rachel die Haarproben schickt, um die ich sie gebeten habe, lassen Sie mich bitte die Vaterschaftstests machen.« »Und wie? Sie haben doch kein Blut von Haines.« »Das benötige ich für diesen Test auch nicht, lediglich seine DNS. Mit ein paar Hautpartikeln oder Haaren von seiner Gefängniskleidung könnte ich einen RFLP durchführen.« »Und was ist das, bitte?« »Vereinfacht ausgedrückt, könnte ich seinen DNSFingerabdruck nehmen.« »Und wenn der Test positiv ist, beweist er zweifelsfrei Haines' Vaterschaft?«
»Allerdings. Eine solche Untersuchung lässt sich sogar an Toten vornehmen, wie es bei Präsident Jefferson gemacht wurde. Man hat seine Vaterschaft von schwarzen Sklaven getestet, erinnern Sie sich? Im meinem Fall brauche ich lediglich das Haar von drei Personen: von Haines, Rachel und ihrem Sohn.« Kevin wollte die Fangschaltung; Laura wollte Haines' Kleidung. Das war nur fair. »Also gut. Ich kann Ihnen Haines' Kleidung besorgen, aber ich brauche Ihre Erlaubnis für eine Fangschaltung.« Er könnte einen Gerichtsbeschluss erwirken. Das aber würde zu lange dauern, und er bezweifelte, dass sich eine eilige Entscheidung mit der Begründung »Gefahr im Verzug« durchsetzen ließe dafür reichten die Beweise noch nicht, und er glaubte auch nicht, dass Hugh ihn in diesem Fall unterstützen würde. »Abgemacht?«, fragte er. 319
»Und wenn Rachel anruft und sagt, dass sie die Proben schickt - werden Sie mich dann die Untersuchung vornehmen lassen, bevor Sie Nachforschungen anstellen?« Unglaublich, dachte er, sie will immer noch mit mir handeln. »Wie lange werden Sie für die Untersuchung brauchen?« »Einen Tag höchstens.« »Gut. Sind wir uns einig?« »Ja. Abgemacht.« »Dann werde ich gleich Ameritech anrufen und die Fangschaltung installieren lassen. Sobald Rachel anruft, reden Sie mit ihr, und notieren Sie den genauen Anfang und das Ende des Gesprächs. Dann rufen Sie mich sofort an. In Ordnung?« »In Ordnung«, sagte Laura. »Danke.« Ein Danke. Irgendwie hatte er es nicht erwartet. Er hoffte, dass er das Richtige tat.
Das Millennium hatte für die New Apostles schlecht angefangen. Als Kevin vor dem Old Town Haus parkte, in dem sich die Stadtmission der Sekte befand, stellte er fest, dass das Gebäude noch heruntergekommener wirkte als vor einigen Jahren. Mit leiser, irrationaler Enttäuschung bemerkte er die abblätternde Farbe, die aufgerissene Dachrinne, den Rasen, der dringend gemäht werden müsste, und die ungepflegten Blumenbeete. Ein schlechtes Zeichen. Das Old Town House war immerhin das Chicagoer Flaggschiff der Apostles. Hierher wurden Menschen eingeladen, die den Apostles beitreten wollten; für die Interessenten wurden Konzerte und Grillpartys im weitläufigen Garten veranstaltet, und in den großen, holzgetäfelten Räumen fanden Vorträge zur Bibellehre statt, oder es 320
wurden werbewirksame Referate religiösen Inhalts gehalten. Das Eisentor stand offen, und Kevin schritt hindurch zur Eingangstür. Trotz aller Anstrengungen der Menschheit war das Ende des Jahrtausends ohne Sintflut und andere Katastrophen vorübergezogen; es hatte lediglich Computerpannen, Stromausfälle und Betrunkene gegeben. Während Kevin den schweren Klopfer hob, fragte er sich, ob einige Apostles Fersengeld gegeben hatten, bitter enttäuscht darüber, dass sie noch lebten und sich weiterhin Vater Abrahams zunehmend wirres Gerede über das Ende der Welt anhören sollten. Doch er bezweifelte es. Die Menschen mussten an etwas glauben, und heilige Lehren und Texte waren stets formbar. Wenn die Welt schon nicht am 31. Dezember 1999 untergegangen war, konnten die Apostles und andere sich vielleicht irgendwann im nächsten Jahrzehnt auf eine feurige Himmelfahrt freuen. Trotz seiner zynischen Gedanken gelang es Kevin nicht ganz, das seltsame Gefühl des Heimwehs zu verdrängen, das er plötzlich verspürte, als ihm die Tür geöffnet und er in die Eingangshalle gebeten wurde. Die Patina dieses Hauses und seine Einrichtung verliehen der Sekte eine gewisse Würde, die vielen anderen religiösen Gemeinschaften fehlte, wie Kevin wusste. Die hohe Decke, der Kronleuchter, die breite Mitteltreppe - das alles trug zu diesem Respekt einflößenden Eindruck bei. Zweifellos war das Haus das Vermächtnis eines gut betuchten Glaubensbruders, der alles für Gott hingegeben hatte, oder zumindest für Vater Abe. Kevin wusste wenig über den edlen Spender, nur dass er Immobilienmakler gewesen war, ehe er Gott gefunden hatte. Sein Talent für Werbekampagnen und Geldbeschaffung war durch seine Berufung in keiner Weise geschmälert worden. »Wie können wir Ihnen helfen?«, fragte der junge Mann. Er sah verhältnismäßig gut genährt aus. Kevin vermutete, dass er bereits seine Zeit auf der Gemeinschaftsfarm im Norden absolviert hatte und sich 321
nun im urbanen Einsatz befand, um Spenden auf den Straßen zu erbitten und unter den Studenten neue Anhänger zu rekrutieren. Das hatte Kevin damals ebenfalls getan - unter dem 30Watt-Himmel eines langen Winters in Seattle. Er hatte Blumen verkauft, Pamphlete und Gebetbücher, und den Leuten weisgemacht, dass von dem Geld bedürftige jugendliche in Sommerlager geschickt würden. oder was sonst gerade gut ankam. Die langen Tage hatte er mit dem Singen von Hymnen und ich danke dir, Jesus, gelobet seist du, Jesus, hinter sich gebracht; nie hatte er sich weit von seinem Partner entfernt, denn es hätte ja sein können, dass Satan ihn verführen wollte. Zweimal war er nachts zusammengeschlagen worden, doch das hatte ihn nur noch mehr von der Richtigkeit seines Glaubens überzeugt. Wenn die Welt einen hasst, ist man auf dem rechten Pfad. »Ich möchte gern mit Vater Abraham sprechen.« Kevin kannte seinen wahren Namen, hielt es jedoch für besser, niemanden vor den Kopf zu stoßen. »Vater Abraham ist beim Gebet.« »Ich kann warten. Richten Sie ihm bitte aus, dass Kevin Sheldrake hier ist. Wir haben schon miteinander gesprochen.« »Möchten Sie etwas essen?« Kevin lächelte leicht und fragte sich, ob er wirklich so hungrig aussah, oder ob es an seinem verknitterten Versandhausanzug lag. »Nein, danke.« Beinahe hätte er hinzugefügt: »Ich mache gerade eine Fastenkur.« Ein appetitanregender Geruch kam aus der Küche, und sein Magen reagierte wie der eines kleinen verhungernden Tieres, das nur noch wenig Leben in sich hat. Das Essen in der Stadt jedenfalls schien besser zu sein als das auf der Farm der Apostles: Reis und Kartoffeln, dann und wann Hühnchen. Das Old Town Haus war die für die Außenwelt geschaffene Fassade der Sekte: unaufdringlich, harmlos, erbaulich. Hier wurde der religiöse Eifer, ja 322
Fanatismus bewusst heruntergespielt. Hier war der Ort, an dem die Indoktrination begann, wo die Brüder und Schwestern unauffällig ihre erste Überzeugungsarbeit bei den noch nicht Konvertierten leisteten, wo sie Kameradschaft boten und die Lehre der Heiligen Schrift, ohne sich aufzudrängen. Kevin ging es nur darum, in Erfahrung zu bringen, ob es Schwester Rachel wirklich gegeben hatte. Vielleicht erfuhr er sogar, ob sie mit David Haines geschlafen und ein Kind von ihm hatte. Er schlenderte gemächlich in der Eingangshalle auf und ab, warf einen Blick auf die selbst gehefteten Pamphlete auf den zwei Gestellen und schaute sich um. Auch hier waren die Zeichen der Verwahrlosung unübersehbar, und die Möbel und Teppiche verrieten ihr Alter. Trotzdem war der Gesamteindruck nicht unerfreulich. Es gab zwar keine Klimaanlage, doch dank der offenen Fenster war es kühl genug, und Kevin mochte den schwer zu beschreibenden Geruch, der diesem alten Bauwerk anhaftete. Er glaubte nicht, dass Abe ihn lange warten ließ. Ein Dutzend Personen näherten sich von der hinteren Seite des Hauses; wahrscheinlich kamen sie vom Mittagessen. Sie unterhielten sich und lachten angeregt. Eine junge Frau in buntem, hautengem Top lächelte Kevin verführerisch an. Ja, die Methode funktionierte noch immer. Er spürte, wie sein Penis steif wurde. »Kümmert sich schon jemand um Sie?«, erkundigte sie sich. »Ja.« »Wir sprechen über die Heilige Schrift. Das Erste Buch Samuel. Hätten Sie Lust, sich zu beteiligen?« Ja, sagte er sich mit einem Hunger, den er eigentlich fürs Essen empfinden sollte. Ja! Er sah vor seinem inneren Auge, wie die Seiten sich öffneten, und ehe er's sich bewusst war, zitierte er laut: »Und da Samuel dem Herrn diente unter Eli, war des Herrn Wort teuer zu derselben Zeit und war wenig Weissagung. Samuel, Kapitel drei, Vers eins.« 323
Seine eigene Stimme überraschte ihn - hatte er das wirklich gesagt? Seit er fastete, kamen ihm Worte über die Lippen, und Erinnerungen, Gedanken befielen ihn; vor seinem geistigen Auge erschienen plötzlich Abschnitte aus der Bibel - mit der surrealistischen Klarheit einer Fata Morgana. Das Mädchen lächelte und nickte. »Sehr gut. Da kam der Herr und rief: Samuel! Samuel! Und Samuel sprach: Rede, denn dein Diener hört.« Samuel, Kapitel drei, Vers zehn, dachte Kevin. Samuel hatte es leicht gehabt: Gott sprach, und Samuel wusste, was Sache war. »Hier können wir alle Samuel sein«, versicherte ihm das Mädchen. »Kommen Sie doch mit.« Kevin schüttelte lächelnd den Kopf. Doch mit einem Gefühl, als würde in seinem Innern etwas zerreißen, beobachtete er, wie das Mädchen und die anderen weitergingen. In dem großen Raum zur Rechten setzten sie sich in einem engen Kreis zusammen und begannen mit ihrer Diskussion. Das Mädchen hatte die Gesprächsführung; sie lächelte, blickte jedem intensiv in die Augen und streckte immer wieder eine Hand aus, um den Arm eines anderen zu berühren. Kevin konnte durchaus verstehen, dass alle fasziniert von ihr waren. In gewisser Weise beeindruckte es ihn, was er hier sah, und auch diese ernsten Jugendlichen, die davon träumten, die Welt vor dem Bösen zu erretten, waren ihm durchaus sympathisch. Dergleichen war ihm noch gut im Gedächtnis. Er erinnerte sich, wie er damals mit sieben oder acht anderen einen Kreis gebildet hatte: beide Hände um ein Kabel, dessen Isolierung entfernt worden war. Dann hatte der Führer der Gruppe, der Elder James, den Stecker in die Dose geschoben, und sie hatten den Geist des Herrn über sich ergehen lassen - 120 Volt reine Elektrizität. Elder James forderte schließlich den einen oder anderen auf, den Draht loszulassen, während die Übrigen noch länger ausharren mussten. Kevin hatte sich wacker geschlagen; von Gottes 324
Energie durchdrungen, hatte er laut gesungen und das Kabel festgehalten, bis nur noch drei von ihnen übrig waren. Einmal, als man ihn aufforderte, den Draht loszulassen, hatte er nicht gehorcht, hatte nicht ohne den göttlichen Funken sein wollen, der ihn durchdrang. Kevin drehte sich um, und der junge Mann, der ihn eingelassen hatte, stand plötzlich einer Erscheinung gleich neben ihm, wie der Engel vor Abraham in der Hitze der Wüste. »Würden Sie bitte mitkommen«, forderte der junge Mann ihn auf. Nach wenigen Treppenstufen war Kevin bereits außer Atem, sein Herz holperte bedenklich. Er hielt am Treppenabsatz inne und stützte sich aufs Geländer. Von irgendwoher hörte er wunderschöne, fast unwirkliche Musik und fragte sich flüchtig, ob er eine Halluzination hatte. Dann wurde er über einen Flur mit abgenutztem Läufer zu einer offenen Tür geführt. Dahinter befand sich ein helles, schlicht möbliertes Zimmer, und Vater Abraham kam lächelnd auf ihn zu. Auf den ersten Blick wirkte Abe, gekleidet in neue Bluejeans und ein kurzärmeliges Karohemd, vollkommen durchschnittlich. Er hatte eine hohe Stirn und eine nicht zu übersehende kahle Stelle auf seinem kräftigen Schädel. Kevin schätzte, dass er jetzt auf die fünfzig zuging. Seine ganze Energie lag in den Augen, erstaunlich gütige Augen, die den Blick seines Gegenübers auf eine Weise hielten, dass man nicht das Gefühl hatte, wegsehen zu müssen; vergleichbar dem arglosen Blick eines Kindes. »Kevin. Welch eine Freude, Sie wiederzusehen! Bitte, setzen Sie sich. Darf ich Ihnen etwas zu essen oder zu trinken anbieten?« Er gab sich zwanglos, beinahe vertraulich, obwohl Kevin wusste, dass Abe ihn schwerlich in allzu guter Erinnerung haben konnte. Was denkst du über mich, Abe? Hältst du mich immer noch für einen Saulus von Tarsus, der nichts anderes im Sinn hat als die Verfolgung und Zerstörung der bedauernswerten urchristlichen Gemeinde? Vor 325
Haines' Zeit hatte Kevin einem halben Dutzend Sekten den Garaus gemacht und die Anführer wegen Kidnapping, Geldwäscherei, Hortens automatischer Waffen und diverser sexueller Vergehen vor Gericht gebracht. Doch ein Teil seines Ichs, der Vernunftgründen offenbar nicht zugänglich war, wünschte sich, dass Abe in ihm nicht Saulus, sondern Paulus sah - einen Mann, dessen Ressentiments in den vergangenen Jahren einer wesentlich toleranteren Grundhaltung gewichen waren. Kannst du das mit deinen Augen erkennen, die alles zu verstehen scheinen, Abe? Zu spät wurde ihm bewusst, dass Abe sich direkt vor ein helles Fenster gesetzt hatte, sodass Kevin blinzeln musste, wollte er ihn anschauen. Wie dumm von ihm, dass er nicht rechtzeitig geschaltet hatte - es war eine der elementaren Grundregeln bei solchen Gesprächen. »Danke, dass Sie mich empfangen haben.« »Ich vermute«, sagte Abe, »dass wir die Herren in Anzügen, die unseren Besitz hier und auf dem Land unauffällig im Auge behalten, Ihnen verdanken?« Kevin wusste, dass Michener Agenten um die Stadtmission und die Farm im Norden postiert hatte, für den Fall, dass David Haines an einer dieser beiden Stellen Zuflucht suchte. Doch Kevin hielt es für sehr unwahrscheinlich: Haines' Abneigung gegen die New Apostles ging klar genug aus den Briefen an Rick hervor, die er nach seinem Weggang aus der Sekte geschrieben hatte. Und zweifellos wusste er auch, welche Rolle Abe bei der Fahndung nach ihm gespielt hatte. »Es ist nur eine Vorsichtsmaßnahme«, antwortete Kevin diplomatisch, »die auch Ihrer Sicherheit dient.« »Diese Männer belästigen meine Leute, stellen ihnen Fragen, machen sie nervös. Man könnte meinen, wir sollten uns auf eine Belagerung vorbereiten.« Seine Wortwahl war zweifellos eine verschleierte Drohung, die das Gemetzel von Waco, Texas, und andere blutige Konfrontationen zwischen der 326
Regierung und verschiedenen Sekten heraufbeschwören sollte. Kevin lächelte freundlich und schüttelte den Kopf. »Wir versuchen nur, David Haines zu fassen.« »Allein die Verdächtigung, dass wir ihm Zuflucht gewähren würden, finde ich abstoßend.« Es gelang Abe verdammt gut, moralische Entrüstung zu mimen, das musste Kevin zugeben. Seine Stimme war fest und wohlklingend - die Stimme eines Mannes ohne Furcht und Tadel. Kevin musste das aufkeimende Gefühl niederhalten, als Bittsteller erschienen zu sein. »Ganz im Vertrauen«, sagte Kevin in der Hoffnung, Abe zu beruhigen. »Ich leite diese Sondereinheit nicht, sonst würden Sie von keinem Agenten belästigt. Vielleicht kann ich veranlassen, dass die Überwachung eingestellt wird.« Das würde kein Problem darstellen: Dadurch, dass die Sondereinheit sich in den Süden begeben hatte, war die Überwachung praktisch schon eingestellt. Im Schein des hellen Fensters schaute Abe seinen Besucher fest an, und Kevin zwang sich, dem Blick nicht auszuweichen. »Ich habe Ihre Hilfe vor vier Jahren sehr zu würdigen gewusst«, sagte er, »und hatte gehofft, dass Sie uns auch jetzt wieder unterstützen.« »Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich irgendwelche Informationen habe, die Ihnen von Nutzen sein könnten, Kevin.« Du weißt genau, was ich will, dachte Kevin. »Ich wüsste gern, ob irgendjemand, der möglicherweise mit David sympathisierte, die Apostles etwa zur gleichen Zeit wie er oder nicht allzu lange darauf verlassen hat.« »Das haben Sie mich bereits gefragt, als wir uns das letzte Mal unterhielten. David Haines hatte keine Freunde. Sein Geist war völlig verwirrt. Das spürten die anderen und hielten sich ihm fern. Als er ging, nahm er keinen von uns mit. Das haben Sie ja selbst schon festgestellt, als Sie ihn fassten. Er war ein Einzelgänger. Er hatte hier keine Sympathisanten. Ich 327
bedauerte, dass ich nicht eher die Wahrheit erkannt hatte. Er war nur aus Hass zu Gott gekommen.« Die Behauptung, er wäre von Haines entsetzt gewesen, war ein kluger Schachzug Abes. Kevin vermutete, dass der Sektenführer insgeheim mit Haines sympathisierte, auch mit seinen Taten. Wahrscheinlich hatte Abe ihn nur deshalb vor die Tür gesetzt, weil er eine gefährliche Konkurrenz um die Führungsposition bei den New Apostles sah, denn die Kraft von Haines' Glauben und Persönlichkeit übertraf die Abes bei weitem. »Trotzdem würde mir jeder Hinweis helfen.« »Kevin, selbst wenn ich mich erinnern könnte, dürfte ich Ihnen die Namen meiner Mitglieder nicht nennen, ob ehemalige oder gegenwärtige. Das wissen Sie ganz genau.« »Ja, und deshalb ersuche ich Sie als persönlichen Gefallen darum. Das FBI wäre Ihnen sehr zu Dank verpflichtet. Schon das letzte Mal waren Sie sehr hilfsbereit.« »Das war etwas anderes. David Haines hat grauenvolle Verbrechen begangen. Sie lassen offenbar durchblicken, andere Angehörige meiner Kirche hätten gemeinsame Sache mit ihm gemacht. Das finde ich nicht nett von Ihnen, Kevin.« Du kannst mich mit deinem Kevin! Er wusste, dass die ständige Benutzung seines Vornamens Vertrautheit herbeibeschwören sollte, aber es verärgerte ihn nur. Er beschloss, es in einer anderen Richtung zu versuchen. »Ich habe Sie nie gefragt, wie David zu Ihnen gekommen ist.« Abe legte den Kopf ein wenig schief, als versuche er sich zu erinnern. »Ich glaube, er besuchte hier einige unserer Bibelstunden. Dadurch schien sein Interesse geweckt worden zu sein.« Kevin war nahe daran zu fragen: Wer hat ihn geködert?, hielt sich aber rechtzeitig zurück. »Wer hat ihn eingeführt?« »Daran kann ich mich nun wirklich nicht erinnern.« 328
»Wer war sie?«, fragte Kevin fordernd. Er dachte an die attraktive junge Frau im Erdgeschoss. Folgt mir, und ich werde euch zu Menschenfischern machen! Er wusste, wie die Rekrutierer arbeiteten. Sie wurden zum Begleiter der Neulinge; man begann sie zu mögen, verliebte sich manchmal sogar in sie. Sie zeigten sich so aufmerksam, so großzügig und so euphorisch. In ihren Augen war man scheinbar der Größte, und das war ein fantastisches Gefühl. Bald lernte man dann andere kennen, war von Freunden umgeben, und allmählich zog der Rekrutierer sich zurück, um sich jemand Neuem zu widmen. Kevin hatte es hart getroffen, als er entdeckte, dass seine Anwerberin gar nicht in ihn verliebt war; doch zu dem Zeitpunkt war er bereits Teil des großen Ganzen geworden, und es spielte keine große Rolle mehr, jedenfalls zu Anfang nicht. »Kevin«, dozierte Abe geduldig, »wir legen so etwas nicht schriftlich nieder. Jeder, der zu uns kommt, ist uns mehr als willkommen, aber wir führen nicht Buch über ihn.« Verflixt! Das Licht um Abes Kopf verursachte Kevin allmählich Kopfschmerzen, und er musste öfter den Blick abwenden, als ihm lieb war. »Hat eine Schwester Rachel ihn eingeführt?« Aufmerksam beobachtete er Abes Gesicht, wartete auf ein flüchtiges Zucken, oder auf eine Spur von Unbehagen. Doch Abe schüttelte nur den Kopf. Kevin hatte nicht ernsthaft damit gerechnet, etwas zu erfahren; trotzdem war er enttäuscht. Nun gab es nur noch eine letzte Möglichkeit, Abe doch noch zum Reden zu bringen. »Ich danke Ihnen, dass Sie mir Ihre Zeit geopfert haben«, verabschiedete sich Kevin. »Wie ich schon sagte, werde ich mein Bestes tun, dass unsere Leute Sie möglichst nicht belästigen. Es könnte jedoch ein Problem geben.« Abe blickte ihn fragend an.
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»Einige der Nachbarn Ihrer Farm haben unseren Agenten mitgeteilt, dass bei Ihnen viel herumgeballert wird.« »Wir haben dort einen Schießplatz.« »Die Leute sagten, es höre sich wie die Schüsse automatischer Waffen an.« »Dann täuschen sie sich. Wir haben nur die üblichen Gewehre. Und Waffenscheine.« »Das bezweifle ich nicht. Aber wir wissen beide, dass es eine Möglichkeit gibt, die Vorschriften zu umgehen.« Mithilfe einer illegalen kleinen Klemme namens Hellfire, die man am Abzug befestigt, konnte man eine halbautomatische Waffe zu einer vollautomatischen aufrüsten. »Ich weiß nicht, was Sie meinen«, sagte Abe. »Das freut mich«, entgegnete Kevin, »denn ich glaube nicht, dass jemand Sie mit einer Hausdurchsuchung belästigen möchte. Aber wir wollen natürlich auf gar keinen Fall, dass Sie sich dort oben einen kleinen Armageddon-Vorrat anlegen.« Als Antwort legte sich ein Lächeln auf Abes Lippen, doch der Rest seines Gesichts blieb davon unberührt. Kevin erkannte seine drohende Niederlage. Man konnte niemanden zum Reden zwingen, und in diesem Fall konnte Abe nicht einmal wegen Behinderung der Justiz zur Rechenschaft gezogen werden. Es ließe sich lediglich mit ein paar Tricks versuchen, doch Kevin hatte keine mehr auf Lager. Rede! beschwor er Abe mit Blicken. »Sie dürfen gerne unsere Waffenscheine überprüfen und sich auf unserer Farm umschauen, Kevin«, versicherte ihm Abe. »Jederzeit.«
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Oberflächlich betrachtet erschien ihm das Niemandsland zwischen den Städten wie der erste Kreis der Hölle. Wie hässlich wir doch alles gemacht haben, dachte er. Meile um Meile Asphalt und Strommasten, Tankstellen und Parkplätze, Einkaufszentren, FastfoodSchuppen, Schnellimbiss-Buden und was es sonst an grässlichen Auswüchsen des Konsumterrors gab. Er versuchte, nicht hinzuschauen, wünschte, es ließe sich alles vom Antlitz der Erde tilgen. Er schätzte, dass er noch etwa eine halbe Stunde vom Treffpunkt entfernt war. Müde nahm er eine Hand vom 331
Lenkrad und fuhr sich über die noch ungewohnten Bartstoppeln. Ein paar Tage ohne Rasur, und der Bart würde sein Erscheinungsbild abermals völlig verändern. Außerdem hatte er gefastet und sieben Kilo abgenommen, was ihn sehr asketisch aussehen ließ. Nur was in ihm war, konnte er nicht verändern. Er hatte sich vergewissert. Vor seiner Abreise hatte er Gail gebeten, ein Mikroskopset zu besorgen. Er hatte eine Blutprobe aus einer Fingerspitze auf einen Objektträger gegeben und sie durch die Linse studiert. Die Zahl seiner weißen Blutkörperchen war tatsächlich ungewöhnlich hoch. Innerhalb der schwabbligen Membranen seiner T Zellen befand sich, was die Ärztin und die ganze Welt wollten. Er hatte inbrünstig gebetet, Gott möge ihn von diesem Zustand befreien, und manchmal war er der Panik nahe gewesen. Wenn sie ihn fassten, würden sie sich wie Blutegel an ihm festsaugen. Und er wusste nicht, wie lange es ihm noch
gelang, auf freiem Fuß zu bleiben. Lange genug, deine Aufgabe zu beenden!, rügte er sich seiner zeitweiligen Schwarzseherei. In seinen schlimmsten Momenten hatte er sogar daran gedacht, sich selbst zu purgieren. Eine siebentägige Behandlung mit oral eingenommenem Busulfan und Zyklophosphamid könnte sein Immunsystem wirkungsvoll ausmerzen bis hinunter zu den Stammzellen, die diese devianten T-Zellen produzierten. Er brauchte nur irgendwo in eine Krankenhausapotheke einzubrechen, die erforderlichen Medikamente zu stehlen und die Behandlung mit Hilfe von Antinauseamittel und Antibiotika beginnen, um Infektionen gegenzuwirken. Das war der gleiche Prozess, den man anwandte, um Leukämiepatienten auf Knochenmarktransplantationen vorzubereiten. Sie 332
hatten natürlich, im Gegensatz zu ihm, Spender mit genau passendem neuen Mark, um das Immunsystem mit normalen Zellen zu beleben. Er hatte keinen Spender, und deshalb würde er zum lebenden Toten werden, den selbst die leichteste Infektion dahinraffen konnte, oder der zu Tode blutete, weil er keine Blutplättchen hatte und deshalb das Blut nicht gerinnen oder neues Blut generieren konnte. Es wäre eine ungewöhnliche Art von Selbstmord, eine Verzweiflungstat. Doch es war sündhaft, so etwas auch nur in Erwägung zu ziehen, das wusste er. Die gotteslästerliche Technik von Ärzten zu benutzen auch wenn er damit ihre mögliche blasphemische Heilmethode verhindern würde - war falsch, und er glaubte nicht eine Sekunde lang, dass Gott so etwas von ihm erwartete. Wenn Gott ihn hätte reinigen wollen, wäre es wohl längst geschehen. Nein, Gott hatte anderes mit ihm vor, wie es schien, und er konnte nur sein Bestes tun, sich zu fügen. Er raste durch die Nacht, lenkte den Wagen durch die wirbelnde Choreografie von Scheinwerfern, Heckleuchten und Straßenlaternen, bis er sich dabei ertappte, dass er einzunicken drohte. Acht Stunden saß er bereits ohne Unterbrechung am Steuer. Er setzte sich aufrecht, straffte den Rücken und stellte die Klimaanlage höher, in der Hoffnung, die kühle Luft würde ihn wach halten. Aus dem Radio, das er ebenfalls einschaltete, um nicht einzunicken, ertönte ein Disco-Hit, den er während seiner Zeit auf dem College oft und gern gehört hatte. Einen Augenblick lang stahl sich der mitreißende Song in seinen Kopf und brachte all die erregenden, lustvollen Reize und Wünsche zurück, denen er abgeschworen hatte. Die Musik störte mit einem Mal die sorgfältige Ordnung seines Geistes und seines Glaubens, ließ die Konturen verschwimmen, bis außer dem ekstatischen Sound nichts mehr von Bedeutung war. Er fühlte sich, als müsste er sich mit einem einzigen durchdringenden Schrei von seiner 333
Verzweiflung, seiner Bitterkeit und Hoffnungslosigkeit befreien. Er hatte die Finger um das Lenkrad verkrampft und schwitzte. Nun löste er eine Hand und fummelte am Radio, bis es endlich ausgeschaltet war. Er hatte vergessen, welch machtvolle Verlockung die Musik sein konnte. Sein Atem beruhigte sich, und doch war ihm, als hätte sich ein Tor zu seiner Vergangenheit geöffnet, und er konnte nicht widerstehen, einen raschen Blick zurückzuwerfen, wie er es manchmal aus der Sicherheit seines Glaubens tat. Es war nicht Hochmut, der ihn dazu veranlasste - sieh meine Erhöhung, sieh meine Verklärung -, sondern Staunen über das, was er einst gewesen war. Und dann empfand er tiefe Demut. Er war ein schrecklicher Sünder in einem tiefen Sündenpfuhl gewesen. Für ihn hatte es nur seinen Intellekt gegeben und die Befriedigung seiner gotteslästerlichen Gelüste. Er hatte an nichts geglaubt. Er war ein Nichts gewesen. Und als er zum ersten Mal mit ihr geredet hatte, war er zum Gespött für alle geworden. Sie hatte ihn auf dem Weg aus der medizinischen Fakultät angesprochen. Sie gehöre zu einer Bibelgruppe, hatte sie gesagt, und ob er Lust hätte, an einem ihrer Treffen teilzunehmen. Es war ein klarer Herbsttag gewesen. Er hatte gerade seine letzten Laborversuche in dieser Woche abgeschlossen - und das Mädchen sah wirklich bezaubernd aus. Wäre es anders gewesen, hätte er bloß den Kopf geschüttelt und wäre mit Steven und Karl weitergegangen. Doch nie zuvor war ein Mädchen so auf ihn zugekommen, mit einem so herzlichen Lächeln. Sie war blass, mit einem hübsch mit Lippenstift betonten Mund, großen dunklen Augen und einem aufregenden Busen unter dem Zopfmuster ihres Pullovers. Ein Hauch ihres Parfüms stieg ihm in die Nase, und er spürte, wie sein Glied steif wurde. Lust, immer ist es die Fleischeslust, die dich auffrisst wie ein Krebsgeschwür. 334
Es war natürlich ein Spiel, ein böses Spiel, das ihn und seine Freunde amüsierte. Steven und Karl hatten gewettet - um Geld natürlich -, dass es ihm nicht gelingen würde, das Mädchen bis Ende Oktober flachzulegen: Diese wiedergeborenen Christen konnten sehr zugeknöpft sein. David hatte die Wette angenommen. Er staunte, wie leicht er vortäuschen konnte, an diesen zweimal die Woche stattfindenden Treffen mit ernsthaften, kontaktfreudigen jungen Männern und Frauen Gefallen zu finden. Gleich in der ersten Woche hatte das Mädchen ihn zu einem Picknick in einem Herrenhaus in Old Town eingeladen, und ein paar Tage später zu einem Wochenendausflug ins Dalton County. Er hatte sich vorgestellt, sie würden zusammen in einem von vielen Zelten schlafen, die Zeit mit Kanufahrten und Waldspaziergängen verbringen und er würde reichlich Gelegenheit haben, ihr an die Wäsche zu gehen. Bisher war ihm nicht viel mehr geglückt als ein bisschen Petting in seiner Studentenbude - er hatte sie nach einem der Bibeltreffen dorthin gelockt -, was sie offenbar sowohl traurig gestimmt wie erregt hatte. Das nächste Mal würde er sie bumsen. Hoffte er zumindest. Er hielt sie fern von seinem wahren Leben auf der Northwestern University, von den Vorlesungen und Laborarbeiten, denen Sauftouren und wildes Nachtleben folgten. Gewöhnlich kehrte er erst am frühen Morgen in seine Bude zurück, häufig mit irgendeiner Tussi, die er eben erst kennen gelernt hatte und die er nach dieser Nacht auch gleich wieder vergaß. Erfülle mich, schrie seine Seele, doch er hörte nicht auf sie, ja, er konnte sie über das laute Hämmern seines Sünderherzens gar nicht hören. Erfülle mich, erfülle mich. Aber er tat es nicht. Er bedauerte seinen Entschluss, ihrer Einladung zu diesem Wochenendausflug gefolgt zu sein. Es war nicht einmal ein richtiger Campingplatz, sondern eine schäbige alte Farm mit einem großen Haus, einer ausgebauten Scheune und einer Menge hässlicher, 335
zugiger Nebengebäude mit Schlafstätten. Den ersten Tag verbrachten sie in der Scheune, in der eine Marathonbibelstunde stattfand. Alle sangen, es wurden Vorträge gehalten und einige legten Zeugnis ab. Das Mädchen saß die ganze Zeit neben ihm und hielt beruhigend seine Hand. Manchmal strich er über ihren Oberschenkel, nicht zu aufreizend, aber doch aufreizend genug, dass ihm Gedanken kamen, die ganz und gar nicht zur Bibelstunde passten, und sie lächelte ihn strahlend an. Erst am Spätnachmittag durften sie die Scheune verlassen, und bis zum Abendessen hatten sie frei. Es war Ende Oktober, und es wurde bereits dunkel, als er sie endlich überredet hatte, einen Spaziergang hinter die Nebengebäude mit ihm zu machen, wo am Rande der Felder hohes Gras wuchs. In seinem Kopf herrschte ein heilloses Durcheinander von dem ganzen Bibelzeugs, das in seinem Innern widerzuhallen schien. Während der vergangenen zwei Wochen hatte es sich ihm wieder und wieder aufgedrängt wie unterschwellige Werbung beim Essen, in einer Epideminologie-Vorlesung -; es war wie ein in sein Hirn eingebrannter Computervirus. Er schaute zu den Nebengebäuden zurück, um sich zu vergewissern, dass niemand sie beobachtete. Natürlich hatte er nicht vergessen, weshalb er hierher gekommen war. Anfangs sträubte sie sich. Gewiss, er hatte mit ein wenig Widerstand gerechnet, jedoch erwartet, sie würde schon nachgeben, wie die meisten. In den beiden Wochen hatte er sich gefragt, ob sie überhaupt noch Jungfrau war. Wenn sie ihn küsste, streifte ihre Zunge mit der Spitze über die seine, wie unbeabsichtigt, aufreizend. Und war es nur Zufall, dass sie stets genau in die richtige Position rutschte, sobald er seine Hüften an sie drückte? Nun saßen sie auf seiner Jacke im Gras, und sie sagte immer wieder: Wir sollten damit aufhören, es ist falsch, es ist unrein. Er aber wollte nichts anderes, als diese ganze Heiligkeit aus ihr herausvögeln. Für wen hielt sie sich denn mit ihrem frommen Geschwafel? Für Mutter Teresa? Dieser ganze Unsinn über Heiligkeit und Reinheit, wo 336
er sie doch nur flachlegen und seine Wette gewinnen und dieses verdammte Lager endlich verlassen wollte. Ist es das, was du brauchst? fragte sie schließlich. Ist es wirklich das, was du willst? Er bejahte es, und sie ließ es ihn endlich tun, den Rock hoch über ihre Schenkel gezogen, und er wusste, dass sie es genauso genoss wie er. Danach aber weinte sie, weinte tatsächlich, fast lautlos, und ihr Gesicht wirkte eingefallen. So etwas hatte er noch nie erlebt. Er wollte wütend werden, aber irgendwie konnte er es nicht. Er zog das Kondom ab, und seine Finger wurden unangenehm klebrig. Nie hatte er solches Leid in einem Gesicht gesehen - und zum ersten Mal wurde ihm klar, dass sie diesen ganzen Bibelkram tatsächlich glaubte. Sie hielt sich jetzt für unrein, weil sie gesündigt hatte. Ihr Herz war gebrochen. Und was hat dir je etwas bedeutet? Woran hast du je geglaubt? Was liebst du?, fragte er sich. Nur meine Vergnügungen: Geld und Sex, Sex und Geld - ein 24Stunden-Marathon der Begierden. Und das macht dich glücklich? Plötzlich erkannte er das Muster, diese Zwanghaftigkeit, die Tyrannei: immer etwas zu wollen, nach etwas zu gieren, umgeben zu sein von Versuchungen, immer mehr und mehr zu wollen, selbst wenn man keine Befriedigung mehr darin fand. Als wäre man tagein, tagaus gefesselt. Er wollte frei davon sein. »Du siehst es jetzt ein, nicht wahr?«, fragte sie. »Was mein Körper dir geben kann, ist gerade so viel, dich an etwas anderes zu erinnern. An die Ekstase, die du auf Erden nie haben kannst.« Er hatte sie auslöschen wollen, indem er sie bumste; nun aber empfand er nur noch ein Gefühl des Ekels vor sich selbst. In Wahrheit hatte er sie nicht einmal berührt. Die Flamme, die in ihr brannte, hatte sie nicht verlassen - er selbst war es, der ausgelöscht worden war, immer schon gewesen war, so kalt und hart wie Stein. 337
Er hatte seine Wette gewonnen, und ihm war übel vor Reue. Er hatte gewonnen und fühlte sich unendlich gedemütigt. Er hatte nichts. Sie zog sich an. Er sagte ihr, dass er gehen wollte. Sie nickte und besorgte ihm eine Fahrgelegenheit, jemand, der an diesem Abend in die Stadt musste. Den Rest des Wochenendes versuchte er zu lernen. Steven und Karl log er vor, er hätte die Wette verloren, und bezahlte seine Wettschulden. Seine Gedanken hallten in ihm wider wie die Worte Gottes, die in der großen Scheune gesprochen worden waren. Als sie ihn zwei Tage später anrief, fühlte er sich glücklich wie noch nie. Sie war nur der Leuchtturm. Sie war unwichtig, abgesehen davon, dass sie dir den Weg wies. Als die Weihnachtsferien näher rückten, verbrachte er immer mehr Zeit mit ihr; widerwillig erklärte er sich einverstanden, die Bibel mit ihr zu lesen; er besuchte nun auch weitere Treffen. Bald erschienen seine Kommilitonen ihm laut und angeberisch, und seine Lehrbücher wurden ihm fremd. Was spielten diese Chemikalien und Moleküle und Gleichungen schon für eine Rolle? Was hatte es mit dem Geist zu tun?
Alles, was zuvor gewesen war, zeigte sich ihm nun wie eine langsam entwickelte Fotografie, die schließlich scharf wurde und ihm schmerzhaft deutlich machte, womit er sein Leben vergeudet hatte. Er sah jetzt alles in einem anderen Licht, die zahllosen One-NightStands, sein Studium, die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die er stolz in seinem Kopf gehortet hatte, wo es doch nur der verrottende Kadaver einer Ratte war. Es machte ihn krank; er wollte all dem entfliehen, auch seiner geisttötenden Kindheit. Im Haus seiner Eltern hatte es nicht einmal eine Gideon-Bibel gegeben. Er verachtete seinen Vater und seine Mutter ebenso wie seinen Bruder, diese kleine, Geld raffende Wanze. Diese Selbstgefälligkeit. Gerade sie fand er am schlimmsten. Wie war es nur möglich, überhaupt nicht 338
an Gott zu denken? Aber überall um ihn waren Leute, für die nur Äußerlichkeiten zählten. Das Mädchen hatte ihn erkennen lassen, wie unglücklich er gewesen war. Er hatte es bloß nicht gewusst. Dann halfen ihm auch die anderen Älteren, vor allem Bruder Abe. Sie zeigten ihm die wirklich wichtigen Dinge im richtigen Licht. Fünf Tage vor Weihnachten gab er sein Medizinstudium auf und zog zu ihnen auf die Farm ... Seine Scheinwerfer durchpflügten die Dunkelheit vor ihm. Er hatte die Vororte der Stadt jetzt hinter sich, und die Einkaufszentren wichen Wiesen und Feldern, Gott sei Dank. Er fuhr unter einer Eisenbahnbrücke hindurch und eine halbe Meile weiter, ehe er auf eine Seitenstraße und kurz darauf zu einem Sägewerk abbog. Abgesehen von einem Kleinlaster, war nichts als Holz zu sehen. David schaltete die Scheinwerfer aus. Er brauchte nicht lange zu warten. Die Tür des Lasters schwang auf. Ein Mann stieg aus und kam zu ihm. David war erfreut über das, was er im verschwommenen Schein der fernen Straßenlampen sah: einen Mann, der ungefähr seine Statur besaß, und obwohl er nervös sein musste, war sein Gang selbstsicher und ohne Hast. David stieg aus und ging ihm entgegen. »Danke, Henry.« Sein Händedruck war fest. »Es ist mir eine Freude. Ich fühle mich geehrt, dass Sie mir Ihr Vertrauen schenken.« »Einer, der sich selbst nicht vertraut, wäre wohl gar nicht gekommen.« Sie sprachen nur zehn Minuten miteinander, aber das genügte David. Nach seinen Briefen während der langen Zeit hatte er ihn von Angesicht zu Angesicht sehen müssen, um mögliche Schwächen in seinem Charakter oder mangelnden Tatendrang zu entdecken. Henry enttäuschte ihn nicht. Doch er wusste natürlich, dass er Henry für die geplanten Aktionen Unterstützung geben musste. »Gott mit Ihnen, Henry. Sie werden von mir hören.« 339
Henry händigte ihm die Schlüssel für seinen Kleinlaster aus, und David reichte ihm die Schlüssel von Gails Wagen. Sein Vertrauen in Gail war zusehends geschwunden. Es war offensichtlich, dass sie in ihn verliebt zu sein glaubte, und diese vermeintliche Liebe hatte die wahre Frömmigkeit überlagert. Deshalb hatte er sie auch so schnell wie möglich verlassen. Aus Schlampigkeit, vielleicht sogar aus Bosheit, könnte sie einen ernsten Fehler machen. Nicht einmal durch ihren Wagen wollte er noch mit ihr verbunden sein. Wenn sie das Auto fanden - falls sie es fanden -, war er bereits weit weg. Er ging zu Henrys Laster. »David?« Er drehte sich um und fragte sich, ob Unsicherheit in der Stimme des Mannes lag. »Ja, Henry?« »Sie sollen wissen, dass ich nie Zweifel hatte. Nicht einmal, als Sie mich zum Töten aufgefordert haben. Das wollte ich Ihnen nur sagen.« »Es sind nicht die Zweifel, die falsch sind«, entgegnete er sanft. »Die Welt füllt unsere Köpfe mit Zweifel, wie sie Luft
mit Smog füllt. Die einzige Sünde wäre, sich von den Zweifeln lähmen zu lassen und nicht zu tun, was richtig ist. Aber ich kann Ihre Entschlossenheit erkennen, Henry.« Er hob die Hand zum Lebewohl und stieg in den Laster. An der Zufahrt zum Highway bog er nach Norden ab auf den Weg, den er gekommen war. Er erstreckte sich wie ein Lichtpfeil vor ihm und führte ihn zu seiner Bestimmung. Kevin hielt den Hörer in der Hand, noch ehe er völlig wach war, und krächzte ein »Hallo?« aus einer von Erschöpfung und Hunger heiseren Kehle. »Bruder Jonah?« Der letzte Hauch von Schlaf löste sich auf. Er blickte auf die Leuchtziffern des Weckers: sechzehn nach vier. 340
Auf einen Ellbogen gestützt, drückte er den Hörer ans Ohr. Sein Puls ging plötzlich schneller. »Wie sind Sie an meine Nummer gekommen, David?« Es interessierte ihn nicht wirklich. Er wusste, wie leicht so etwas heutzutage war. Von einem Infodieb konnte man für hundert Dollar im Handumdrehen selbst die geheimste Geheimnummer bekommen. Aber es war die erste Frage, die ihm eingefallen war, und er wollte nicht verwirrt klingen. Gottverdammt, er hatte David am Apparat und keine Möglichkeit, den Anruf zurückzuverfolgen. »Sie haben nie meinen Brief beantwortet«, rügte David. Unwillkürlich hob Kevin den Blick zu dem Bücherregal neben seinem Bett. Sogar in der Dunkelheit fanden seine Augen genau die richtige Stelle hinter seinen George-Eliot-Romanen. Vor wem verbarg er ihn eigentlich? Zwei Blatt dünnes Papier, auf Vorder- und Rückseite beschrieben und immer noch zusammengefaltet in einem Umschlag. Er brauchte nur zu blinzeln, um die Worte vor sich zu sehen und sich an jedes zu erinnern. Ihr kleines Geheimnis. »Haben Sie wirklich eine Antwort erwartet?«, fragte er.
Davids Brief war kurz nach seiner Inhaftierung gekommen, als Kevin noch mit Diane und Becky zusammenlebte und sich gegen eine so lähmende Depression wehrte, dass er an den meisten Tagen nicht einmal aus dem Bett kam. Er hatte den Brief aufbewahrt, hatte ihn nicht vernichtet, hatte niemandem im FBI davon erzählt - schon gar nicht Diane. Lieber Bruder Jonah, begann er in so vertrautem Tonfall, dass man meinen konnte, er wäre gut mit ihm bekannt und teilte seine Weltanschauung, die zwar nur imaginär war, ihm aber trotzdem zu schaffen machte, genau wie seine eigene Geheimniskrämerei. Es war offensichtlich, dass David von Kevins längst vergangener Beziehung zur Sekte God's Children wusste. »Bruder Jonah« hatte David ihn genannt. 341
Ich verzeihe Ihnen, aber Sie müssen um Vergebung bitten für das, was Sie getan haben. Ich bete jeden Tag für Sie, damit Sie genau wie Jonah den Weg aus dem Bauch des Wals finden, auf dass Sie Gott nicht mehr verleugnen und den Mut haben, wieder das glorreiche Joch der Überzeugung zu tragen, wie schon einmal. Er hatte den Brief nicht beantwortet, doch Gott wusste, er hatte sich im Lauf der Jahre hin und wieder dabei ertappt, wie er im Geiste Antworten formulierte. Als seine Depressionen ihm am schlimmsten zu schaffen gemacht hatten, war er sogar drauf und dran gewesen, David in der Haftanstalt zu besuchen. »Es überraschte mich nicht sehr, dass Sie nicht geantwortet haben«, sagte David nun. »Aber ich weiß, dass Sie es vermissen.« »Was vermissen?«, schauspielerte Kevin. »Ich hatte mehr Ehrlichkeit von Ihnen erwartet.« Kevin entging der wachsende Zorn in Davids Stimme nicht, und er befürchtete, er könnte auflegen. Rasch sagte er beschwichtigend: »Ich hatte an Gott gezweifelt, David, aber Sie ja wohl auch. Warum sonst haben Sie die Apostles verlassen?«
»Weil sie Feiglinge waren, die ihre Überzeugung nicht mit Taten beweisen wollten.« »Indem sie Ärzte töteten?« »Ich pflichte Ihnen ja bei, dass es an sich schrecklich ist, was ich tue, aber ein Prophet sagt stets das Unsagbare, verlangt das Undenkbare und setzt beides in die Tat um.« Falsche Propheten werden sich erheben, und viele werden ihnen folgen, dachte Kevin, sagte jedoch: »Sie haben sich der Welt mitgeteilt, David, oder nicht? Aber niemand hört Ihnen zu. « Er spürte, wie sein Gesicht brannte, wie Schweiß seine Schenkel hinabrann. Er hatte sich seit langer Zeit nicht mehr so in etwas hineingesteigert. Er wollte nicht, dass es endete. 342
»Wir hatten stets die Neigung, Dingen nachzujagen, die am unbekömmlichsten für uns sind«, fuhr David fort. »Weltlichem Besitz, Sex, Macht. Und diese Besessenheit, was unser irdisches Leben angeht - es um jeden Preis behalten zu wollen! Unsere Körper sind falsche Idole. Dieses Hier und Jetzt ist nichts. Was haben Sie hier, Bruder Jonah? Nichts.« Unwillkürlich schaute Kevin sich im Zimmer um. Es war so karg eingerichtet wie eine Gefängniszelle. Er empfand diese schwerelose Verlockung, sich zurück in die Vergangenheit zu stürzen, in die wohlige Sicherheit von God's Children. So einfach, so schlicht. Wer konnte leugnen, dass die Welt ein verruchter Ort war? Er brauchte nur auf die Akten zu schauen, die sich auf seinem Schreibtisch häuften. Das Böse dieser leeren Welt. Das Gute Gottes und seines Paradieses. »Haben Sie mich angerufen, um mir zu predigen, David? Tun Sie das für Ihre Getreuen. Ich war ein wenig zu lange im Bauch des Wals. Übrigens, ich hoffe, Sie haben Vorbereitungen getroffen, dass Bob Jarvis eine angenehme Aufnahme im Himmel bekommt. Vielleicht ein Privatzimmer mit eigener Toilette.« Er staunte über das Gift, das er verspritzte. Er wollte David beleidigen, wollte blasphemisch sein. »Ah, sehen Sie, es ist doch noch Gefühl vorhanden«, hörte er David über das Hämmern in seinen Ohren. »Sie können es nicht verbergen.« »Wir wissen auch von den anderen, David.« »Würde das stimmen, würden Sie's mir nicht sagen.« »Wir wissen durch Andrews von dem Schließfach. Er hat Ihre sämtlichen Briefe unter seiner Toilette aufbewahrt, fein säuberlich in einem Plastikbeutel, zusammen mit seiner Pistole.« »Das spielt keine Rolle«, entgegnete David. »Wir sind so viele wie die Sandkörner in der Wüste.« Kevin spürte, wie sich ihm die Härchen auf den Armen aufstellten. 343
»Das sind sehr viele Münder, die gefüttert werden müssen, David.« »Und Sie sind einer der Hungrigen.« Kevin zwang sich zu einem Lachen. »Sie wollen mir also durchs Telefon nicht nur predigen, sondern mich auch bekehren.« »Sie könnten mit mir kommen, mit uns.« »Und wohin, David?« Er bemühte sich, ironisch zu klingen, versuchte aber mit angespannter Aufmerksamkeit zu hören, was sich hinter Davids Worten verbarg. »Ins Paradies.« »In Mexiko? Vielleicht auf einer kleinen Insel irgendwo im Golf? Eine eigene Kirche gründen?« »Es ist Ihre Entscheidung, Bruder Jonah.« In seinem dunklen Zimmer zwang Kevin sich, die weit geöffneten Augen auf das Bücherregal, den Wecker, die Kommode zu richten. Er brauchte einen Anker in der Wirklichkeit. Schwächer, als ich dachte! Rasch sagte er: »Was ist der wirkliche Grund für Ihren Anruf?« Er hörte David seufzen. »Sie wissen, dass ich bereit war zu sterben, ehe man versucht hat, mir Blut abzunehmen.« »Ja.« »Ich würde mich vielleicht stellen, wenn ich sicher sein könnte, dass niemand mein Blut kriegt.« Die Worte drangen wie eine Mischung aus Wahrheit und Selbsttäuschung in Kevins Bewusstsein. Es war vermutlich eine Lüge, doch er hakte sofort nach. »Dafür setzt Ihr Anwalt sich gerade ein, David. Greene hat die ACLU auf Ihrer Seite. Wenn es sein muss, legt er sich sogar mit dem Bundesgericht an. MetaSYS hat soeben eine Presseerklärung abgegeben, dass sie nichts mehr unternehmen werden, um an Ihr Blut zu kommen.« »Es gibt andere, die es versuchen werden.« Kevin dachte an Laura und ihren leidenschaftlichen Einsatz; trotzdem sagte er zu seinem eigenen 344
Erstaunen: »Wenn Sie sich von mir persönlich festnehmen lassen, David, werde ich mein Bestes tun, dass niemand Ihr Blut bekommt. Doch nach dem Tod Ricks und der beiden Sicherheitsleute hat sich viel Wut aufgestaut.« »Sie verstehen, warum ich es tun musste.« Innerhalb der Logik von Davids maßgefertigtem Glauben verstand er es sogar. »Ich respektiere Ihren Glauben, David, nicht aber, wie Sie ihn einsetzen. Wir werden Sie fassen, und Sie werden Ihrer Hinrichtung nicht entgehen. Aber, wie schon gesagt - ich würde mich dafür einsetzen, dass niemand Ihr Blut bekommt, falls Sie sich mir stellen.« Ihm war klar, dass es wahrscheinlich nur ein beiderseitiges Täuschungsmanöver war. »Ich fürchte den Tod nicht«, erwiderte David müde. Vielleicht war er das Davonlaufen leid. »Wenn Sie zu mir kommen, stelle ich mich Ihnen. Sie sind der Einzige, dem ich traue.« »Wie kann ich das, David, wenn ich nicht weiß, wo Sie sind?« »Sie werden es erfahren.« »Ich gebe Ihnen meine Handynummer, David. Rufen Sie mich an, wenn Sie sich wieder mit mir unterhalten möchten.« Er gab die Nummer durch und hoffte, dass Haines sie notierte. Ohne ein weiteres Wort legte David auf. Kevin schaltete die Nachttischlampe ein und griff nach Kugelschreiber und Notizblock. Fieberhaft gab er 69 ein. Haines hatte lediglich die 67 einzutippen brauchen, ehe er Kevins Nummer wählte. Hatte er das nicht getan, gab es nur einen Schluss: Er wollte, dass Kevin erfuhr, wo er sich befand; das wäre dann der einzige Zweck seines Anrufs gewesen. Bereits nach einer Sekunde meldete sich die elektronische Stimme. »Sie wurden zuletzt angerufen von der Nummer ... « Atemlos kritzelte Kevin sie nieder. Es war eine Nummer mit der Gebietsvorwahl 713: Houston. Kevins Magen 345
verkrampfte sich. Warum sollte Haines den Wunsch haben, dass er, Kevin, erfuhr, wo er sich aufhielt? Vielleicht war es Haines schlichtweg egal. Es war schließlich eine nicht gerade übermäßig hilfreiche Information, wenn man bedachte, dass er sich so nahe der mexikanischen Grenze befand und - mobil, wie er war - innerhalb von Stunden hunderte von Meilen zurückgelegt haben konnte. Doch Kevin vermochte sich der Macht seiner Worte nicht zu erwehren: »Wenn Sie zu mir kommen, stelle ich mich Ihnen.« Haines konnte schon bald weit weg sein, aber wenn er es ernst meinte, sich zu stellen ... doch Kevin konnte es nicht glauben. Wenn Haines ihn in Houston haben wollte, war es nur ein Spiel, eine Ablenkung. Ihm kam ein weiterer Gedanke. David hatte ihn angerufen, weil er sich vergewissern wollte, dass er zu Hause war. Haines nahm mit Sicherheit an, dass Kevin die Sondereinheit leitete. Und wenn er sich hier in seiner Junggesellenwohnung aufhielt, bedeutete dies, dass man noch in der Gegend von Chicago nach ihm fahndete. Vielleicht hatte er herausfinden wollen, ob der Zeitpunkt geeignet war, die Grenze zu überqueren. Hatte er deshalb angerufen? Oder wollte er, dass sie ihn in Houston suchten? Mehrere Minuten lang saß Kevin nackt auf der Bettkante und fröstelte in der Kälte der Klimaanlage, ohne zu wissen, was er unternehmen sollte.
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Am liebsten hätte sie das Telefon an die Wand geschmettert. Den ganzen gestrigen Nachmittag und Abend war Laura im Wohnzimmer geblieben und hatte jedes Mal den Hörer abgenommen, wenn es läutete. Doch es kam kein weiteres Lebenszeichen von Rachel. Jetzt war es fast elf Uhr. Die letzten Anrufer, die Laura fünfzehn Minuten lang genervt hatten, waren die O'Connors gewesen, Dads Freunde, die wissen wollten, wie es Sandra ging. 347
Finde dich damit ab: Rachel wird sich nicht mehr melden. Es war alles bloß ein Trick gewesen, eine Masche, genau wie Kevin es vorhergesagt hatte. Es gab keine Rachel. Laura saß in einem der großen Ohrensessel ihres Vaters, im Schneidersitz, genau wie sie es als kleines Mädchen oft getan hatte. Sie starrte das Telefon an, als wäre es ihr Feind. Sie wollte die Wohnung verlassen, wollte frei sein von deren Beengtheit. Die vielen Anrufe machten es nur schlimmer: Journalisten, neugierige Kollegen, flehende Patienten. Laura hatte in den letzten vierundzwanzig Stunden mit so vielen Leuten geredet, dass jetzt bestimmt halb Chicago wusste, wo sie Zuflucht gesucht hatte. Sie hätte ebenso gut ein Namensschild ins Foyer hängen können. Sie wollte hinaus. Aber sie brachte nicht einmal die Energie auf, aus dem Sessel aufzustehen. Panik machte sich in ihr breit wie eine heranrückende innere Schlechtwetterfront. Ihr schönes, gut eingerichtetes Labor war sie wahrscheinlich los.
Adrian würde es ihr wegnehmen - und mit ihm sämtliche Patente und Rechte, die sie dank seiner Finanzierung erarbeitet hatte. Und mit dem Labor würde sie ihre Mitarbeiter verlieren und, zumindest zeitweilig, ihre Forschungsmöglichkeiten. Nach allem, was über sie geschrieben worden war, wollte in der Pharma-Industrie sicher keiner mehr etwas mit ihr zu tun haben, mit einer besessenen Wissenschaftlerin, die einen Misserfolg nach dem anderen fabriziert hatte. Sie hatte mit Haines' Blut gerechnet - oder dem seines Bruders oder seines Sohnes -, um damit eine weitere Finanzierung zu erwirken. Hätte sie das Blut, würde ihr vermutlich jemand eine Chance geben. Und insgeheim hoffte sie immer noch, frühzeitig genug ein Heilmittel zu entwickeln, um Sandra helfen zu können. 348
Das Telefon läutete, und Laura starrte es voll Abscheu an. Trotzdem hob sie ab, ehe es zum zweiten Mal klingelte. »Dürfte ich mit Dr. Donaldson sprechen?« Es war eine förmliche, ältliche Männerstimme. »Am Apparat.« »Ich rufe aus der Poststelle an.« Er betonte jedes Wort; es hörte sich an, als spräche ein Roboter. Laura war verwirrt. »Von welcher Poststelle, wenn ich fragen darf?« »Von der Universität Chicago.« Jetzt klang die Stimme ein wenig gereizt. »Für Sie wurde heute früh ein Umschlag abgegeben.« Laura schlug das Herz bis zum Hals. »Von einem Kurierdienst?« »Ja, Fed-ex. Möchten Sie das Kuvert abholen, oder sollen wir es per Campuspost weiterleiten?« »Nein, nein, ich hole es gleich ab.« Mit der Campuspost kam es vielleicht noch heute an - vielleicht aber auch erst in zwei Wochen. »Könnten Sie mir bitte den Absender nennen?« Sie hörte kurz das Atmen des Mannes, dann schlurfende Schritte. Sie stellte sich ihn knochendürr vor und sah regelrecht, wie er den Umschlag auf Armlänge von sich hielt und durch dicke Brillengläser darauf starrte. »Da steht nur Rachel drauf.« Laura schloss für einen Moment die Augen und nickte. Danke, danke! »Ich hole ihn sofort ab.« »Ich möchte nach Houston fliegen«, sagte Kevin. »Ich kaufe es ihm nicht ab, dass er sich ergeben will«, brummte Hugh unwirsch und drückte die Rückenlehne seines Bürosessels weit nach hinten. »Es bringt ihm nichts. Er weiß, dass er hingerichtet wird, sobald man ihn gefasst hat. Er will Sie nur provozieren.« »Kann sein. Aber können wir gänzlich ausschließen, dass er es ernst meint? Vielleicht hat er bereits 349
vergeblich versucht, über die Grenze zu kommen. Vielleicht schlagen seine Pläne fehl und er hat Angst, erschossen zu werden. Vielleicht könnte meine Reise dort hinunter den Ausschlag geben, ob alles gut oder schlecht endet.« Vergangene Nacht, nach seinem Gespräch mit David, hatte Kevin versucht, sich trotz seiner inneren Erregung zu konzentrieren und zu entscheiden, was er tun sollte. Für einen kurzen Augenblick hatte er sogar mit der Idee gespielt, niemandem davon zu erzählen und nach Houston zu reisen, um dort herauszufinden, von wo aus David telefoniert hatte, und an Ort und Stelle zu warten, dass ... was? Dass David zufällig vorbeikam und sich mit erhobenen Händen festnehmen ließ? Letztendlich - er benötigte ganze sechzig Sekunden für den Entschluss - hatte er sich für den Dienstweg entschieden. Er hatte Mitch angerufen und ihn informiert. Zu seiner Überraschung war Michener bereits in Houston und koordinierte den Einsatz mit der Grenzpolizei, dem Zoll, der Küstenwache und den US Marshals. Widerwillig gab Kevin ihm die Nummer, von der aus David angerufen hatte. Natürlich wusste er,
dass sich sofort ein Einsatzkommando auf den Weg dorthin machen würde. Danach hatte er kein Auge mehr zubekommen. Als endlich der Morgen dämmerte, fragte er sich, ob David schon festgenommen oder gar getötet worden war. Punkt acht war Kevin mit mulmigem Gefühl in der Dienststelle erschienen, um sich bei Hugh zu erkundigen. David hatte von einem öffentlichen Telefon am Stadtrand von Houston aus angerufen und sich natürlich längst aus dem Staub gemacht. Dem Kassierer an einer Tankstelle war ein großer, kahlköpfiger Mann in einem roten Honda Civic aufgefallen, doch er hatte nicht auf das Kennzeichen geachtet. Kevin atmete erleichtert auf; vielleicht hatte er jetzt eine neuerliche Chance, Haines doch selbst zu fassen. 350
»Ich will wieder in die Sondereinheit, Hugh«, sagte er. »Schicken Sie mich dort hinunter.« Er wunderte sich über Hughs Schweigen, denn er hatte ein heftiges »Ich habe eine Ewigkeit nicht mehr Recht gehabt« und eine rasche Ablehnung erwartet. Stattdessen runzelte sein Chef die Stirn und bewegte sich unruhig im Sessel. »Es ist noch nicht mal offiziell«, erwiderte er, »also erwähnen Sie nichts davon. Sie haben bestimmt in den Nachrichten gesehen, dass tausende vor dem Weißen Haus aufmarschiert sind und fordern, dass Haines' Blut für die medizinische Forschung sichergestellt werden soll.« »Ja.« »Jetzt sieht es ganz so aus, als würde der Präsident nachgeben. Er bespricht sich mit dem Justizminister wegen eines möglichen Deals.« »Wenn Haines sich selbst stellt?« »Und sich bereit erklärt, sich Blut abnehmen zu lassen. In diesem Fall wäre der Präsident damit einverstanden, dass seine Todesstrafe in lebenslängliche Haft ohne die Möglichkeit einer vorzeitigen Entlassung umgewandelt wird. Es wurden noch keine Entscheidungen getroffen, aber so sieht es in etwa aus. Eins steht jedoch fest: Haines muss unter allen Umständen lebend gefasst werden.« Kevin konnte ein schadenfrohes Lächeln nicht unterdrücken. Die Justiz wollte David lebend, und das bedeutete, dass Mitch nicht gerade der ideale Mann war, um Haines zu fangen. Und das wusste Hugh. Hugh erriet seine Gedanken und sagte: »Ich habe mit Mitch geredet, Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Er wird mit größter Vorsicht handeln.« »Ja, bestimmt.« Hugh seufzte. »Was ist los mit Ihnen, Kevin? Sie sehen aus wie ein Schatten Ihrer selbst. Wann haben Sie zum letzten Mal etwas gegessen?« »Es geht mir gut, Hugh.« »Sie fasten wieder, nicht wahr? Wie beim letzten Mal.« 351
»Ja, ich faste wieder.« »Großartig! Vielleicht sollte ich die ganze Außenstelle zur kollektiven Nulldiät verdonnern. Dann können wir wie Tattergreise in Illinois herumtorkeln. Machen Sie Schluss damit, hören Sie?« »Schicken Sie mich dort runter, Hugh.« »Ich überleg es mir. Aber vorerst bleiben Sie noch hier. Ich will seinen Komplizen! Was ist eigentlich mit dieser Frau, die behauptet, dass sie ein Kind von ihm hat?« »Die Fangschaltung ist installiert, aber die Frau hat noch nicht angerufen. Wer weiß, was an der Sache wirklich dran ist, aber Dr. Donaldson will sich auch nicht die kleinste Chance entgehen lassen.« Ihr akademischer Titel klang seltsam in seinen Ohren, da er sie seit Tagen nur noch Laura genannt hatte. Er fragte sich, ob sie ihn je ersuchen würde, sie beim Vornamen zu nennen. Er glaubte nicht, dass Rachel sich wieder meldete. Und er war schon so gut wie überzeugt, dass David mehrere Komplizen hatte, bei denen er untertauchte und die ihm halfen, seine
Pläne in die Tat umzusetzen. Kevin blieb jetzt nur noch Davids zugegebenermaßen unglaubwürdiges Angebot, sich zu stellen - und zu hoffen, dass Hugh seine Meinung rasch änderte. Der Umschlag war sehr leicht und schien nicht dicker zu sein als ein zusammengefaltetes Blatt Papier. Er könnte völlig leer sein oder nichts weiter enthalten als ein paar Haare. Laura dankte dem Leiter der Poststelle - der, wie sie aus seiner Stimme geschlossen hatte, tatsächlich nur Haut und Knochen war - und eilte mit dem Kuvert atemlos die Stufen aus dem Untergeschoss hinauf zu dem Ladeplatz, auf dem sie unberechtigt geparkt hatte. Erst als sie im Wagen saß und sich einigermaßen sicher und unbeobachtet fühlte, sah sie nach dem 352
Absender. Tatsächlich stand dort nur der Vorname Rachel, sonst nichts, keine Straße, kein Ort. Wahrscheinlich hatte sie Marken zu Hause gehabt und den Umschlag nicht zur Post gebracht, sondern in irgendeinen Briefkasten geworfen. Auf dem Umschlag befand sich eine Vielzahl von Codes, und schließlich entdeckte Laura den Namen Seattle. Sie erinnerte sich an die Wettervorhersage: Regen im ganzen Bundesstaat Washington. Zieh die Kapuze über, Sean. Sie wollte schon den Umschlag öffnen, als sie plötzlich erschrocken innehielt. Kevin hatte darauf hingewiesen, dass Rachel noch immer eine Sektenangehörige sein könnte. Laura kamen vage Erinnerungen an Terroristen, die ihre Opfer mit Briefbomben ins Jenseits beförderten. Vorsichtig hob sie das Kuvert vom Schoß und schüttelte es leicht. Wenn sich überhaupt etwas darin befand, dann höchstens Papier. Kein Sprengstoff. Nichts, das ihr schaden konnte. Genau gesehen wusste sie allerdings, dass das nicht stimmen musste. Ein Blatt Papier, mit einem mikrobiellen Cocktail getränkt, könnte eine Infektion hervorrufen, der mit keinem Antibiotikum
entgegenzuwirken war ... Aber zu so etwas würde Rachel keinen Zugang haben. Oder doch? Vielleicht sollte sie sofort Kevin anrufen und auf ihn warten. Doch sie wusste, was er dann tun würde. Er würde eine Sondereinheit des FBI hinzuziehen, und sie würden den Umschlag röntgen und Vermutungen anstellen, und das konnte Stunden dauern. Außerdem war Laura sich noch immer nicht ganz sicher, ob sie Kevin trauen konnte. Vielleicht würde er ja ihre Proben beschlagnahmen und ihr auch Haines' Kleidung nicht zur Verfügung stellen, wie er es versprochen hatte. Und die Profis in den bestens eingerichteten FBILabors waren durchaus im Stande, den Vaterschaftstest ohne die Hilfe von Dr. Donaldson zu bewerkstelligen. 353
Sie öffnete den Umschlag und stieß erleichtert den Atem aus. Alles okay. Ganz unten im Kuvert befanden sich zwei kleine verschlossene Umschläge und ein zusammengefaltetes Stück Papier. Sie zog einen der Umschläge heraus, hielt ihn gegen die Windschutzscheibe und konnte durch das dünne Papier ein kleines Büschel Haare erkennen. Außen stand Sean. Der zweite Umschlag enthielt etwas mehr Haar; es stand Rachel darauf. Das Stück Papier war handbeschrieben: »Steigen Sie im Sea-Tac Airport Hilton ab. Ich werde Sie morgen dort anrufen. Denken Sie bitte an das Geld.« Seattle, morgen, mit fünfundzwanzigtausend Dollar. Diese Anmaßung hätte Laura wahrscheinlich verärgert, hätte sie nicht eines bedeutet: Dass die Haarproben sich höchstwahrscheinlich als positiv erwiesen. Bei einer Frist von nicht einmal vierundzwanzig Stunden blieb ihr nicht viel Zeit. Sie musste sofort mit den Tests beginnen und bis morgen Früh fertig sein, doch sie brauchte dazu auch Haines' Proben. Schleunigst. Sie fuhr zum Medical Center, nickte dem Sicherheitsmann in der Eingangshalle zu und fuhr mit dem Lift hinauf. Sie hatte ihren Sicherheitscode an der Tür halb eingegeben, als sie unvermittelt innehielt. Was war, wenn Adrian die Schlösser geändert hatte? Es war ein so schrecklicher Gedanke, dass Laura den Rest des Zahlencodes vergaß. Die Sicherheitstafel surrte ungeduldig. Beruhige dich, ermahnte sie sich, doch ihr Finger zitterte. Sie gab ihren Code erneut ein und presste die Lider zusammen, als sie nach dem Türknauf griff. Er drehte sich ohne Schwierigkeiten, und sie huschte durch die Tür. Sie zwang sich, sich einen Moment zu setzen und tief durchzuatmen. Von ihrem Büro aus rief sie Kevins Handynummer an und hinterließ eine Nachricht auf seiner Voicemail. Dann holte sie sich ihren Laborkittel, der an der Tür hing, wusch sich gründlich die Hände und machte Platz auf ihrem Labortisch.
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Es war nicht viel, das man ihm aushändigen konnte: zwei Unterhosen, zwei Unterhemden und ein paar TShirts. Er ließ sich auch den Kamm, die Zahnbürste und den Rasierer geben - alles, was Kontakt mit seinem Körper gehabt haben mochte. Die Gegenstände waren einzeln in Klarsichtfolie verschweißt und in Ziplocbeuteln verpackt. Er zögerte, als er die Bibel sah, eine hässliche, eselsohrige Gideon, aber er spürte, dass eine beinahe übernatürliche Kraft von ihr ausging. David Haines' Bibel. Er berührte sie durch die dünne Folie und stellte sich vor, wie oft Haines darin gelesen haben musste. Als sie seine Besitztümer einpackten, hatte Kevin die Gelegenheit gehabt, das Buch durchzublättern: keine Unterstreichungen, keine Randbemerkungen. Warum auch? David Haines hatte die ganze Bibel im Kopf, dazu noch seine persönlichen Bemerkungen. Zögernd ließ Kevin das Buch auf dem Metallregal stehen, während er alles andere in einen großen Polsterumschlag stopfte. Damit verließ er die Asservatenkammer, ging durchs Büro und bat Gott oder das Schicksal, ihm eine überraschende Begegnung mit Hugh zu ersparen. Genau genommen handelte er gegen die Vorschriften, aber es gab Regeln - und es gab Gewohnheiten. Bisher hatte er sich streng an die Regeln gehalten. Doch wenn er Hugh einweihte, würde dieser darauf bestehen, dass sie den Vaterschaftstest selbst durchführten. Hugh würde Lauras Proben beschlagnahmen und sie ins FBI-Labor nach Washington schicken. Das würde nicht nur länger dauern, Laura würde auch verdammt wütend sein, und derzeit war sie seine einzige sichere Verbindung zu Rachel, und durch diese möglicherweise zu David Haines. Rachel wollte mit Laura verhandeln, nicht mit dem FBI, und diese Verbindung durfte er nicht in Gefahr bringen. Er musste Laura die Chance geben, den Vaterschaftstest selbst vorzunehmen. Sie würde es schnell tun, das wusste er, und wahrscheinlich war sie in ihrem Labor für derartige Untersuchungen auch 355
besser ausgestattet. Und da gab es noch etwas: Er wollte ihr helfen. Als er im achten Stock in den Lift stieg und hinunter zum Parkgeschoss fuhr, verspürte er plötzlich ein Gefühl der Beunruhigung und - wie schon lange nicht mehr - der Sorge um einen anderen Menschen. Er war nicht völlig überzeugt, dass Rachels Proben wirklich die richtigen waren - das Haar von Gott-weiß-wem konnte in den kleinen Umschlägen sein -, aber andererseits, warum hätte Rachel sie schicken sollen, wenn es nicht die richtigen waren? Ein boshafter Streich, vielleicht? Laura war so unvorsichtig gewesen, den Umschlag einfach zu öffnen. Dabei war es heutzutage kein Problem mehr, Sprengstoff selbst im winzigsten Gegenstand unterzubringen. Obwohl die Sendung wahrscheinlich keine Gefahr barg, befürchtete er noch immer, dass es ein Ablenkungsmanöver war, das Haines oder einer seiner Jünger eingefädelt hatte. Wenn Rachel wusste, dass Laura mit den Proben zu ihrem Labor eilte, könnte ihr dort jemand auflauern ... Kevin öffnete seinen Wagen und warf Haines' Kleidung auf den Beifahrersitz. Er hatte Laura gesagt, sie solle im Labor bleiben, die Türen verschlossen halten und niemanden einlassen, bis er dort war, und sich auch den Fenstern fern halten. Er nahm die Rampe zur Adams, bog rechts ab und folgte dem Seeufer. Durch die Windschutzscheibe war der Himmel grau wie Blei. Beide Proben waren in Ordnung. Rachel hatte es genau so gemacht, wie Laura es ihr aufgetragen hatte, und die Haare vorsichtig mitsamt den unversehrten Haarbälgen ausgerissen. Laura gab sie in separate Teströhrchen, fügte die LysisPufferlösung hinzu und setzte den Prozess in Gang, die zellularen Bestandteile des Haares aufzuspalten. Nach einer Stunde würde sie das Ganze in die Zentrifuge geben, es erneut lysieren und dann die DNS entnehmen. 356
Es kam ihr endlos lange vor, seit sie das letzte Mal an einem Labortisch gearbeitet hatte, und sie verspürte die vertraute Energie und Zufriedenheit, die mit ihrer Forschungsarbeit einhergingen - im letzten Jahr war ihr Job für sie der Gipfel allen Glücks gewesen. Dem Himmel sei Dank, dass ihr das Labor nicht verschlossen gewesen war. Sie hatte ein wenig Zeit, während die Zellen sich spalteten; deshalb begann sie die Vorbereitungen für den nächsten Schritt. Sie enteiste die Phiolen mit Starter-DNS, die sie benötigte, und rührte Elektrophorese-Gel in eine niedrige eckige Schale. Dann ging sie ungeduldig im Labor auf und ab. Das alles war zwecklos, wenn sie keine Probe von Haines bekam. Würde Kevin ihr diese Probe bringen? Oder würde er mit einem Team behandschuhter Agenten ins Labor einfallen und alles beschlagnahmen? Laura erinnerte sich, wie sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, als er bei Ricks Haus vor ihr gekniet und so sanft zu ihr gesprochen hatte, als wäre er ... Nein, das war dumm. Sie hatte sich beinahe eingebildet, er wäre ehrlich besorgt um sie, nicht als Staatsbürgerin oder Zeugin, sondern ganz einfach um sie selbst. Trotzdem hatte sein Verhalten ihr den Mut gegeben, ihn gestern anzurufen, ihm von Rachel zu erzählen und um seine Hilfe zu bitten. Sie war gerade mit ihrer ersten Zentrifuge fertig, als Kevin anrief. Sie erklärte ihm, wie er ihr Labor finden könne. Während sie auf ihn wartete, strich sie ihre vorwitzigen Strähnen unter das Gummiband zurück und vergewisserte sich, dass der Kragen ihres Kittels flach lag. Als sie ihm die Tür öffnete, fragte sie sich, ob er abgemagert war. Seine dunklen Augen erschienen ihr noch größer, sein Mund noch voller, was ihn jünger und verwundbarer aussehen ließ. Zum ersten Mal empfand sie Sorge um ihn. Nicht nur, dass die Jagd auf David Haines ihm seelisch arg zusetzte, er wurde wahrscheinlich auch noch permanent von Journalisten belauert, die jeden Misserfolg umgehend publik 357
machten. Laura wusste, wie das war. Ihr Blick richtete sich auf den großen Polsterumschlag, den er in Händen hielt. »Sie haben es?«, fragte sie, nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte. Er hielt ihr den Umschlag hin, und sie nahm ihn erleichtert. »Danke.« Kevins Blick schweifte durchs Labor. Sie war froh, dass sie alle Jalousien heruntergelassen hatte. »Sind die Türen fest verschlossen?«, erkundigte er sich. Sie nickte. »Es gibt noch eine Hintertür, aber auch sie hat ein Identitätsschloss.« »Wie kommen Sie mit den Untersuchungen voran?« »Ich habe gerade erst angefangen. Mein Tisch ist dort hinten.« Sie führte ihn durch den Mittelgang und deutete auf den Ständer mit ihren Proben. »Ich spalte gerade die Haarbälge, damit ich die DNS entnehmen kann. Wird nicht mehr lange dauern.« »Wo ist das Kuvert, in dem die Haare kamen?« Sie deutete auf die zwei Miniumschläge, die noch auf dem Labortisch lagen. »Und das Fedex-Kuvert ist in meinem Büro. Ich hole es für Sie.« Bei ihrer Rückkehr verstaute er die kleinen Umschläge soeben in Ziploc-Beuteln. »Fingerabdrücke?«, fragte sie. »Ohne Ihre wäre es ein wenig einfacher, welche zu finden«, sagte er, doch es lag kein Tadel in seiner Stimme. »Aber ich nehme an, dass Ihre Fingerabdrücke wohl kaum in unserer Kartei zu finden sind, und die von Rachel wahrscheinlich auch nicht. Sonst war nichts in dem Umschlag, kein Begleitbrief?« »Nichts.« Sie zwang sich, ihm in die Augen zu schauen. Sie hatte Rachels Zettel in ihrem Schreibtisch versteckt. Sie log ihn nicht gern an, aber sie hatte es sich reiflich überlegt. Angenommen, sie gab ihm den Zettel - dann würde er das Hotel in Seattle gründlich überwachen lassen, vielleicht sogar eine FBIAgentin 358
unter ihrem Namen in einem Zimmer unterbringen und Rachels Anruf zurückverfolgen, noch ehe sie ihn bekam, falls überhaupt. Und wer mochte schon wissen, was dann noch alles geschah. Nun aber plagten sie Zweifel; er hatte ihr wie versprochen Haines' Sachen gebracht. Doch sie wollte das Risiko nicht eingehen, Rachel und den Jungen zu verlieren. Kevin nickte. Er fragte sich, ob sie log, oder warum sie sich sonst bemüht hatte, ihm so fest in die Augen zu schauen. Er beschloss, es vorerst auf sich beruhen zu lassen. »Wie lange werden die Untersuchungen dauern?« »Die von Rachel und Sean«, Laura deutete mit einem Kopfnicken auf die Teströhrchen, »noch etwa acht bis zehn Stunden. Bei Haines etwas länger, weil ich später damit anfange - vorausgesetzt natürlich, dass ich Haare oder Hautpartikel finde.« Er sah, wie sie ungeduldig auf den Umschlag blickte, den er gebracht hatte. Kevin schaute auf die Uhr. Es war fast zwei. »Wie lange sind die Sicherheitsleute unten?« »Bis achtzehn Uhr.« Kevin hatte sich das Terrain gut angesehen, als er gekommen war. Es gab viele Stellen, an denen ein Scharfschütze sich verstecken könnte. Die Fenster der medizinischen Fakultät und das Parkhaus bei der Maryland, zum Beispiel, von wo aus ein guter Schuss möglich war. Aber die Jalousien waren heruntergezogen, die Türen identitätsgeschützt, und vor dem Gebäude gab es Wächter. Kevin wusste, dass die Campus-Cops der Universität von Chicago eine der am besten ausgebildeten Polizeieinheiten in Nordamerika waren. Trotzdem hielt er es nicht für richtig, Laura allein zu lassen. Es machte ihm nichts aus, den Rest des Nachmittags ihr Bodyguard zu sein. »Dann sollten Sie vor achtzehn Uhr das Haus verlassen«, riet er ihr. Wenn er um diese Zeit ging, konnte er die Umschläge rasch zur Spurenanalyse ins 359
Büro bringen und noch rechtzeitig bei Dianes Dad sein, um Becky zu sehen. »Und wenn es Ihnen nichts ausmacht«, fügte er hinzu, »bleibe ich.« Er hoffte, dass ihr Blick lediglich Erstaunen ausdrückte, keinen Zorn. »Na gut, aber es dürfte ziemlich langweilig für Sie werden. Müssen Sie denn nicht ... ich weiß nicht, wie ich es nennen soll ... Spuren nachgehen?« Sie lächelte leicht, als hätte sie selbst eingesehen, wie lasch das klang. Kevin lachte. »Ob sie es glauben oder nicht, Sie sind momentan meine einzige Spur.« Er fragte sich, warum er ihr das gesagt hatte. Wahrscheinlich war seine Nulldiät daran schuld, die die Route zwischen Gehirn und Mund wieder mal kurzschloss. »Könnte ich von hier aus einen Anruf machen?« »In meinem Büro. Da vorn.« Als Kevin allein war, wählte er das Sicherheitsbüro der FedEx und bat, den Strichcode auf Rachels Umschlag zurückzuverfolgen. Wie befürchtet erfuhr er nur die Adresse des Depots in Seattle, wo Rachel den Brief in den Kasten geworfen hatte. Als Nächstes beauftragte er Ameritech, Lauras Anrufe aus dem Bundesstaat Washington zu überprüfen. Es gab noch keine. Was das anging, hatte sie ihm zumindest nichts verheimlicht. Er spürte, wie seine Ungeduld wuchs, und überlegte, was er tun sollte. Er könnte hier in Chicago auf die Ergebnisse von Lauras Untersuchungen warten, und darauf, dass Rachel sich hier mit ihr in Verbindung setzte. Oder er könnte auf eigene Faust nach Houston fliegen und herausfinden, ob Haines' Ankündigung, sich nur ihm zu stellen, ernst gemeint war. Beide Optionen waren unsicher. Selbst wenn die Vaterschaftstests positiv ausfielen, würden sie ihn nicht unbedingt zu David führen. Er schaute sich flüchtig in Lauras Büro um. Er selbst hatte keines. Der Pressesprecher des FBI hatte ein sehr schönes Büro im neunten Stock, mit Fernseher, einem eigenen ComputerTerminal, einem Faxgerät und einem Videorekorder. Lauras Büro war wenig 360
beeindruckend und für ein Privatinstitut nichts Besonderes. Ein bisschen weniger Unordnung und ein paar Bilder an den Wänden würden den Raum hübscher aussehen lassen. Wahrscheinlich lag es daran, vermutete Kevin, dass Besucher hier nicht erwünscht waren und dass Laura nicht an einer heimeligen Umgebung, sondern ausschließlich an ihrer Arbeit interessiert war. Unter der durchsichtigen Unterlage auf dem Schreibtisch entdeckte er ein paar persönliche Bilder. Ein älterer Herr stand zwischen Laura und einer anderen Frau, von der er annahm, dass sie Lauras Schwester war. Sie war schön, aber auf eine weit weniger interessante Weise als Laura. Sogar auf diesem gestellten Foto verrieten Lauras Stirn und Mund ihre unterschwellige Energie und Unzufriedenheit mit sich selbst. Ihre Schwester erschien Kevin zu perfekt; wahrscheinlich war sie Daddys Liebling und Sonnenschein. An der Wand hingen ein paar gerahmte Diplome und Urkunden: von der John Hopkins und von Stanford, mit leuchtend goldenen Siegeln. Kevin fragte sich, wie viele Jahre sie studiert und sich weitergebildet hatte. Nach einem nochmaligen Blick auf ihr Foto kam er sich alles andere als attraktiv vor. Heute Morgen hatte er den Gürtel um ein neuerliches Loch enger machen müssen; er war erschreckend hager geworden. Er strich mit den Fingern durch sein Haar (es war noch da) und ging ins Labor zurück. Zum ersten Mal wurde ihm bewusst, wie sehr er Laura beneidete. Sie hatte Vertrauen - Vertrauen in ihre Teströhrchen und Bechergläser und alle anderen Gegenstände in ihrem Labor, in die mysteriösen chemischen Namen an Schubläden und Tabellen, in sämtliche Instrumente, die komplizierter und geheimnisvoller waren als jedes religiöse Ritual, das er kannte. Dies hier war Lauras Ort der Andacht, das erkannte er nun: die faszinierende Anziehungskraft, die von der Gewissheit chemischer Reaktionen ausging, 361
die einen zwar nicht immer mit den erwünschten Antworten, jedoch mit der Sicherheit von Ursache und Wirkung versorgte. Zwischen dem Menschen und der Welt der Wissenschaft gab es einen Dialog, der zwischen Kevin und dem von ihm erhofften Gott leider nicht stattfand. Er versuchte sie nicht anzustarren, während sie arbeitete. Ihm war aufgefallen, dass er in letzter Zeit vieles anstarrte, und dass ganz alltägliche Dinge unversehens eine unwirkliche Aura entwickelten. Der Toaster. Der Schatten eines Sessels im Wohnzimmer. Sein eigenes Gesicht im Spiegel. War das immer so gewesen? Er ertappte sich dabei, dass er auf Lauras Kniekehlen starrte und stellte sich vor, wie seine Zungenspitze darüber strich und schließlich in einen schattigen Pool tauchte. Er zwang sich wegzusehen und sich zu erinnern, weshalb er hier war. Es war nicht nur zu Lauras Schutz. Zum einen traute er ihr nicht ganz; sie könnte verschwinden, ohne ihn in die Ergebnisse ihrer Tests einzuweihen. Zum anderen wollte er bei ihr sein. Er hoffte, dass er nicht aus dem Mund roch. Laura warf einen verstohlenen Blick auf ihn und fragte sich, ob er sie angestarrt hatte. Es störte sie, dass sie seine Anwesenheit so intensiv spürte. Üblicherweise konnte nichts sie ablenken, wenn sie arbeitete, aber dieser Mann machte sie nervös. Sie hatte soeben die erste Zentrifuge mit Rachels und Seans Proben beendet und fügte den Teströhrchen eine zweite Reihe von Mikrotropfen hinzu, um die Zellen noch weiter zu spalten. Mit behandschuhten Fingern packte sie behutsam Kevins Umschlag aus und legte die Proben auf den Labortisch. Ihr graute davor, die Unterwäsche anzufassen, deshalb beschloss sie, mit dem Kamm anzufangen. Es war ein billiger schwarzer Taschenkamm, den sie durch ein Vergrößerungsglas betrachtete. Haines' Haar war dunkelbraun, wie sie sich erinnerte, und deshalb in 362
dem Schwarz des Kammes schwer zu erkennen. Doch schließlich fand sie endlich eines, das sie mit der spitzen Pinzette löste und in ein Röhrchen gab. Danach entdeckte sie zwei weitere Haare, eines ohne Balg, das andere nur mit einem Bruchteil davon. Keine große Ausbeute. Aber zumindest war es sehr wahrscheinlich, dass es sich um Haines' Haar handelte; Laura nahm an, dass die Insassen des Todestrakts ihre Toilettensachen nicht mit anderen teilten. Mit einem Mikrosauger fuhr sie über die Kammoberfläche, um mögliche Hautzellen aufzunehmen. Als sie flüchtig aufschaute, sah sie Kevin mit gesenktem Kopf an einem Labortisch auf der anderen Gangseite sitzen und durch ein Mikroskop spähen. »Sie müssen es erst einschalten«, sagte sie. Er blickte rasch auf, beinahe verlegen, und unwillkürlich musste sie lächeln. »Tut mir Leid«, entschuldigte er sich. »Ich sollte hier nichts anrühren.« »Ist schon gut.« Sie stand auf, ging zu ihm und schaltete das Mikroskop für ihn ein. Aus dem Regal nahm sie eine Schachtel mit Objektträgern. »Sehen Sie sich das an, wenn Sie möchten.« »Was ist das?« »Hauptsächlich Partikel von bösartigen Tumoren. Die kleinen Bastarde, gegen die ich täglich ankämpfe. Schauen Sie, so müssen Sie sie hineinschieben.« Sie gab einen Objektträger auf den Objekttisch. »Und einstellen müssen Sie es hier.« Sie senkte den Kopf, um nachzusehen, und ihre Wange streifte sein Ohr. Er roch gut. Hastig zog sie den Kopf zurück und ärgerte sich über die Erregung, die sie verspürte. Was, zum Teufel, tat sie, dass sie ihm Objektträger heraussuchte wie eine Highschool-Angeberin? Reine Zeitvergeudung. Wenn er schon hier bleiben wollte, warum beschäftigte er sich dann nicht mit irgendetwas, ohne sie zu stören? »Sehen Sie, so geht es.« »Danke«, sagte er. 363
Als Laura wieder an ihrem Platz saß, bemühte sie sich, klaren Kopf zu bewahren. Dann nahm sie sich Haines' Kleidung vor. Durch das beleuchtete Vergrößerungsglas suchte sie den Stoff ab. An einer Unterhose entdeckte sie ein Schamhaar, allerdings mit nur teilweise erhaltenem Balg. An den T-Shirts war nichts zu finden. Sie fuhr mit dem Mikrosauger darüber, um sicherzugehen. Die Zahnbürste erwies sich als schwieriges Untersuchungsobjekt. In den Borsten mochten sich brauchbare muköse Hautzellen befinden, aber es würde nicht leicht sein, an sie heranzukommen. Vielleicht könnte sie die Borsten ja unten abschneiden und das Ganze in Lysis-Enzymen einweichen. Laura bereitete ein weiteres Röhrchen dafür vor, um die anderen Proben nicht damit zu verfälschen. Mit größter Behutsamkeit öffnete sie den Behälter des Mikrosaugers und leerte den Inhalt - ein nahezu unsichtbares Durcheinander toter Hautplättchen, Staub und Stofffusseln - in ein Röhrchen. Dann wusch sie den Behälter mit Salzlösung aus, um sicherzugehen, dass nichts verloren ging, und goss auch diese in das Röhrchen. Sie hoffte, dass das vorhandene Material für die Analyse ausreichte. Mit ihrer Pipette fügte sie die Lysis-Pufferlösung hinzu und machte sich daran, alles zu gliedern. »Warum wollen Sie unbedingt ein Mittel gegen Krebs finden?«, fragte Kevin plötzlich. Die Antwort erschien ihr ganz selbstverständlich, doch als sie den Mund öffnete, wusste sie einen Moment nicht, was sie sagen sollte. »Nun, ich glaube, dass wir nur dieses eine Leben haben, deshalb sollten wir es so lange und erfreulich gestalten wie möglich, zumindest so erträglich.« Kaum war es heraus, kam es ihr dumm vor, als hätte sie eine Binsenweisheit nachgeplappert. Als täusche sie Menschenfreundlichkeit und Nächstenliebe vor. »Ist jemand, der Ihnen nahe stand, an Krebs gestorben?« 364
»Meine Mutter, als ich zwanzig war«, antwortete sie, »und meine jüngere Schwester hat Krebs in fortgeschrittenem Stadium.« Diese Litanei ihrer Familientragödie wog schwer, trotzdem fühlte sie sich bei dieser Erklärung nicht wohl, denn ihr war klar, dass dieser persönliche Hintergrund als Motivation nicht ausreichte. »Das muss schlimm sein.« Es war eine Allerweltserwiderung, doch bei Kevin schienen die Worte aus dem Herzen zu kommen, und das rührte sie. »Ja, sie ist momentan in einer obskuren Klinik in Mexiko, wo man ihr Haiknorpel und Voodoococktails verabreicht. Das ist wirklich schlimm. Denn ich weiß, dass sie hier eine bessere Behandlung bekommen könnte. Sie stirbt und setzt ihre Hoffnung auf Kurpfuscher - und auf einen Gott, der statistisch gesehen keinen Unterschied macht zwischen Gläubigen und Atheisten. Ich wünschte sehr, dass sie sich für eine richtige Behandlung entscheidet. Vielleicht kann sie nicht geheilt werden, aber wahrscheinlich könnte sie ein paar Jahre länger leben.« »Es ist bewundernswert, was Sie tun«, sagte er. Sie blickte ihn zweifelnd an; dann lachte sie. »Ich habe eigentlich keine Lobrede von Ihnen erwartet.« »Ein Mittel, mit dem man Krebs heilen könnte, wäre fantastisch. Aber natürlich wird es immer etwas geben, das uns umbringt. Gesundheit und ein langes Leben sind ohnehin nicht unbedingt der richtige Maßstab für Glück und Erfüllung.« »Aber eine gute Grundlage.« »Doch sie geben einem keine Antwort auf die großen Fragen. Was ist richtig? Was ist falsch? Was ist wahr?« Er ging mit ihr, als sie die Teströhrchen zu einem anderen Labortisch brachte und in eine Zentrifuge gab. Sie schloss den Deckel, drückte auf Knöpfe, und das Gerät gab ein leises, surrendes Geräusch von sich. »Ich erwarte nicht, dass meine Arbeit alle Rätsel des Universums löst«, sagte sie. 365
»Für uns alle gibt es eine höhere Bestimmung, glaube ich.« Sie murmelte etwas Unverbindliches, nahm die Proben aus der Zentrifuge und trug sie zu ihrem Labortisch zurück. »Wozu ist das gut?« Kevin deutete mit dem Kopf auf das Gerät, in das Laura die Proben nun gab. Er hatte zu viel gesagt, hatte sie wahrscheinlich gekränkt; deshalb war er froh, dass er das Gespräch auf die Arbeit lenken konnte. »Das ist ein PCR-Gerät - polymere Kettenreaktion. Ich füge ein ganzes Büschel primärer DNS an Rachel und Seans Proben, und zusätzlich einige durch Hitze aktivierte Enzyme. Es kommt alles in ein Bad im Innern; das Gerät führt dann mehrere Zyklen des Erhitzens und Abkühlens durch. Die von der Hitze aktivierten Enzyme replizieren immer wieder die DNS der Personen, von denen wir Proben haben, sodass wir schließlich eine Probe bekommen, die groß genug für eine Untersuchung ist.« »Und wie lange wird das dauern?« »Drei bis vier Stunden. Dann müssen wir das RFLP machen.« Sie blickte auf die Uhr. »Wenn ich damit um achtzehn
Uhr beginne, dürften die Ergebnisse gegen dreiundzwanzig Uhr vorliegen.« »Gut.« Kevin nickte. »Dann hole ich Sie von der Wohnung Ihres Vaters ab, und wir kommen gemeinsam hierher zurück.« Laura verließ das Labor nur ungern, wollte aber nicht allein bleiben. »Sie warten immer noch auf einen Anruf von Rachel?«, fragte Kevin. Sie nickte. Zumindest das war keine Lüge. Aber sie hatte Kevin nicht gestanden, dass sie bereits für vierzehn Uhr am nächsten Tag einen Flug nach Seattle gebucht hatte. Wenn die Proben übereinstimmten, würde sie die Maschine nehmen; sobald sie Sean dann 366
das Blut abgenommen hatte, wollte sie Kevin anrufen und ihm Bescheid sagen, wo sie waren. Ein Blitz zuckte über den Himmel, Donner krachte, und abrupt prasselte Regen gegen die Fensterscheiben. Es sah aus, als würde einer von Chicagos sintflutartigen Regenfällen einsetzen. Viel mehr als warten konnte Laura jetzt ohnehin nicht. Sie und Kevin sprachen wenig, aber ihre Gedanken kehrten immer wieder zu ihrem Gespräch zurück. Höhere Bestimmung! Betrachtete er ihre Arbeit von dieser religiösen Warte aus? Es ärgerte sie ein wenig, doch sie verübelte es ihm nicht. Sie war es gewohnt, ihre Arbeit gegen die bornierten Ansichten von Leuten wie Sandras Ehemann zu verteidigen, aber Kevin verfügte offenbar über eine weitaus größere Intelligenz. Es war fast achtzehn Uhr, als das PCR-Gerät mit allen drei Proben - Rachels, Seans und Haines'- fertig war. Laura hielt bereits eine Phiole mit Restriktionsenzymen aus dem Tiefkühlschrank bereit. »Das hier spaltet die DNS-Sequenz nur an ganz bestimmten Stellen«, erklärte sie, über den Teströhrenständer gebeugt, während sie Mikrotropfen zählte. »Man geht davon aus, dass die DNS sich bei jeder Person an einer anderen Stelle spaltet. Es ist unverwechselbar. Man vergleicht die Längen der Stücke von Mutter und Vater, dann müsste das Kind genau die Hälfte von jedem haben. So erhalten wir auf die eine oder andere Weise Gewissheit.« Schon vor einer Weile hatte sie das Gelstück hergerichtet, in das sie die DNS-Proben für die Elektrophorese legen würde. Das Gel hatte in etwa die Konsistenz von Götterspeise, war anderthalb Zentimeter hoch, 15 Zentimeter lang und 10 Zentimeter breit. Sie schnitt drei fünf Millimeter tiefe, parallele Spalten in dieses Gel und goss jede DNS-Probe behutsam in eine der Spalten. Dann gab sie das Gelstück in das RFLP-Gerät. »Was geschieht da drinnen?«, fragte Kevin. 367
»Der Strom wird eingeschaltet; dann bewegt sich die DNS unterschiedlich weit durch das Gel, je nach Länge. Danach können wir es vergleichen.« Donner ließ die Fensterscheiben erzittern. »Fertig?«, erkundigte Kevin sich. »Können wir gehen?« Laura blickte besorgt auf das RFLP-Gerät; sie verließ es nur ungern. »Wenn's sein muss.« »Geben Sie mir Ihre Autoschlüssel.« »Warum?«, fragte sie erschrocken. »Ich hole Ihren Wagen und fahre ihn für Sie zum Hintereingang. Falls da draußen jemand auf Sie wartet, möchte ich ihm keine Möglichkeit geben, an Sie heranzukommen.« »Dann ist Haines also noch in der Stadt?« »Er selbst wahrscheinlich nicht, aber vielleicht einer seiner Jünger.« Laura reichte ihm die Schlüssel. »Ich habe den Wagen ein Stück weiter unten auf der Drexler geparkt. Ein grünes VolvoKabrio.« Kevin rannte durch den Regen und war binnen Sekunden durchnässt. Die Straße war ein Fluss von der Höhe des Bürgersteigs. Er fand Lauras Wagen, öffnete die Tür und schwang sich hinein. Ein verdammt schönes Auto, sogar mit Ledersitzen. Kevin hielt direkt vor dem Hintereingang, und Laura trat
rasch aus der Tür. Er stieg aus, gab ihr Deckung und öffnete die Wagentür. Sie bedankte sich. »Sie hätten mich gleich anrufen sollen, als Sie das Päckchen bekamen. Und Sie hätten nicht allein hierher kommen dürfen.« Sie nickte nur. »Ich wünschte, Sie würden sich nicht mehr in Gefahr bringen«, sagte er. Hör auf mich und lass mich dafür sorgen, dass du sicher bist, dachte er. »Ich werde Sie um zweiundzwanzig Uhr dreißig am Apartmenthaus Ihres Vaters abholen, in Ordnung?« Es machte ihn 368
verlegen; es hörte sich an, als wolle er mit ihr ausgehen. »In Ordnung«, sagte sie. Er nickte und schaute ihr nach, bevor er zu seinem eigenen Wagen rannte. Es regnete immer noch heftig, als er vor Peter und Cathys Haus am Stadtrand hielt. Es wirkte wie eine Festung, die ihn von seiner Familie fern halten sollte. Als er noch verheiratet gewesen war, hatte er hier viele Abende mit Diane und Becky verbracht, doch jetzt gehörte er nicht mehr dazu. Er öffnete die Wagentür, spannte den Schirm auf und rannte los. Obwohl er seit Jahren nicht mehr hier gewesen war, erschien ihm alles noch vertraut: der Geruch des Grases, der Plattenweg zum Eingang, dann die zwei Stufen, und schließlich der schwere Messingring, mit dem er an die Tür klopfte. Wenigstens wurde er erwartet. Rebecca hatte am Morgen eine Nachricht auf seinem Anrufbeantworter hinterlassen: »Möchtest du mich heute Abend zum Dinner ausführen? Mom sagt, sie hat nichts dagegen.« Das vergangene Wochenende hatte er sich nicht mit ihr treffen können, jetzt sehnte er sich nach einem Wiedersehen mit seiner Tochter. Peter öffnete die Tür. Er war ein hoch gewachsener, kantiger Mann mit großer Nase und einem Haarkranz um den fast kahlen Schädel. Wegen seiner schnellen Bewegungen erinnerte er Kevin an einen hageren, düsteren Vogel. »Großer Gott, Kevin, komm rein!« Er warf einen Blick auf den Wolkenbruch. Kevin trat in die Diele und stellte den Schirm so ab, dass er den Teppich nicht nass machte. Er hatte Peter immer gemocht und oft bedauert, dass es unmöglich war, ihre alte Freundschaft nach der Scheidung aufrechtzuerhalten. Anfangs hatten sie es versucht und sich ein paarmal zum Essen getroffen, es dann jedoch bald aufgegeben, weil es sie beide in 369
Verlegenheit brachte. Erstaunlich, wie ein Teil des Lebens über Nacht im Nichts verschwand. Doch eine Scheidung war leider so. Man unterschrieb die Papiere, gab die bisher gemeinsamen Freunde und Dinge zurück und verkroch sich in seinem eigenen, von Erinnerungen bestimmten Leben. Kevin schaute sich im Wohnzimmer um, das einst auch für ihn ein Zuhause gewesen war. Seine eigenen Eltern hatten in seinem Eheleben nie eine große Rolle gespielt; er hatte Dianes Familie vorgezogen. Sie waren gute Verwandte - gute Eltern und Großeltern; als er damals Haines jagte, hatten sie sich besser um Rebecca gekümmert als er. »Wie geht es Cathy?«, erkundigte er sich. »Oh, danke, danke. Wir sind zurzeit sehr mit dem Absolventen-Verband beschäftigt.« Er wunderte sich nicht, dass sie sich nicht sehen ließ. Im Gegensatz zu ihrem Mann war sie Kevin gegenüber - dem Mann, der ihre Tochter und Enkelin im Stich gelassen hatte und Arbeit und Familie nicht unter einen Hut bringen konnte - regelrecht feindselig gesinnt. Peter war viel unvoreingenommener, was Scheidung und Eheleben im Großen und Ganzen betraf. »Hi, Kevin.« Er stand auf, als Diane ins Zimmer trat. Es war eine seltsam förmliche Geste, aber sie erschien ihm angebracht. »Danke, dass du in dieser Sache so flexibel bist«, sagte er und meinte das außerplanmäßige Dinner mit Becky. »Oh, sie vermisst dich wirklich. Ich bin froh, dass du es einrichten konntest.« Schwer zu erkennen, ob sie es als Rüge meinte oder sich wirklich freute. Es schmerzte Kevin immer noch ein bisschen, Diane zu sehen; er fand sie nach wie vor attraktiv, doch ihrem Gesicht und ihrer Körperhaltung entnahm er eine Härte, die er nicht mehr durchdringen und nur schwer akzeptieren konnte. Vor endlos langer Zeit hat sie mir gehört, dachte er, und jetzt teilt sie ihr Leben und Bett mit einem anderen Mann. 370
»Wie sieht's aus?« »Sie hoffen, ihn bald zu fassen.« Erst dann wurde ihm bewusst, dass er »sie« gesagt hatte, nicht »wir«. Er fragte sich, ob Diane es bemerkt und als Degradierung ausgelegt hatte. »Können wir jetzt ohne Bedenken nach Hause zurück?« »Weshalb die Eile?«, fragte Peter. »Bleibt hier, solange ihr wollt. Auf jeden Fall, bis sie ihn geschnappt haben.« »Dad, es ist kein Spaß, längere Zeit Gäste im Haus zu haben.« »Das ist kein Problem.« »Ich habe von vornherein nicht geglaubt, dass eine tatsächliche Gefahr besteht«, sagte Kevin rasch. 0 Gott, nichts wollte er weniger, als dass Spannung in Dianes Familie entstand. »Es war wirklich nur sicherheitshalber - zu eurer und meiner Beruhigung.« In den ersten Monaten nach der Scheidung hatte er noch geglaubt, sie könnten jederzeit wieder zueinander zurückkehren. Doch mit jeder weiteren Woche, jedem Gespräch voll unterdrückter Beschuldigungen und Zorn schien es aussichtsloser zu werden. Als er jetzt mit ihr sprach, schwitzte er; der Schweiß rann ihm unter den Achselhöhlen und am Hals hinunter. Er fühlte sich unbehaglich in diesem Haus, denn es er innerte ihn an alles, was er verloren hatte und nie zurückerlangen würde. Um die Situation wieder in den Griff zu bekommen, sagte er: »Ganz im Vertrauen, wir vermuten, dass er in Texas ist und über die Grenze zu kommen versucht. Ich gebe euch Bescheid, sobald ich Neues erfahre.« »Danke«, sagte Diane. »Hi, Dad.« Zum ersten Mal, seit er gekommen war, lächelte Kevin ungezwungen. Becky sieht immer mehr wie ihre Mutter aus, dachte er. Das blonde Haar, die großen grünen Augen, die hohe Stirn, die ihr einen ernsten Ausdruck verlieh. Mit ihren zwölf Jahren wurde sie zur Frau - eine Veränderung, die ihn mit Erstaunen und Stolz erfüllte. Doch wie stets 371
löste ihr Anblick zugleich ein intensives Schutzbedürfnis in ihm aus. Obwohl er ihr den größten Teil der Woche fern war, machte er sich täglich Sorgen um sie; plötzliche Angst stieg in ihm auf, wenn er die Zeitung las, eine neue Akte studierte oder die Nachrichten im Fernseher verfolgte. Kinder hielten unter ihren Trenchcoats Gewehre verborgen, wenn sie in die Schule kamen; Dealer trieben sich auf den Spielplätzen herum, oder die Kinder passten nicht auf, wenn sie die Straße überquerten. Kevin ging mit Becky zu einem chinesischen Restaurant auf einer nahen Plaza, die wegen des Regens beinahe verlassen wirkte, und bestellte Hühnchen mit Limette, Eierrollen und frittiertes Gemüse. »Ich verstehe diesen Haines nicht«, sagte sie ernst, nachdem sie mit den Essstäbchen ein Hühnchenstück in den Mund bugsiert hatte. Es klang, als hätte sie lange darüber nachgedacht. »Wie meinst du das?« »Jesus sagt, liebe deinen Nächsten wie dich selbst, und dass
man Menschen nicht töten soll - nicht einmal, wenn sie einem etwas antun oder wenn man meint, dass sie gegen einen sind. Da ist doch dieses Gleichnis, dass man den Sand von den Füßen streifen und weiterziehen soll.« »Im zwölften Jahrhundert haben die Kreuzritter im Namen Gottes viele Andersgläubige getötet. Ich vermute, David Haines sieht sich als einen neuen Kreuzritter. Es ist seine Art, Gott über alles zu ehren. Ich finde das ebenfalls schrecklich.« »Jesus hätte das nicht gewollt.« Sie beobachtete ihn aufmerksam. 372
Er holte tief Atem und stieß ihn lautlos aus. »Das glaube ich auch nicht. Ich hoffe es zumindest. Manchmal ist es nicht leicht zu verstehen, was Jesus wollte.« Becky aß ein paar weitere Bissen; dann nahm sie nachdenklich einen Schluck Diätcola. »Ich bin froh, dass du da bist. Ich möchte dir etwas sagen.« Sie sprach mit dem Ernst einer Mutter, die ein Kind rügen oder ihm eine bedeutsame Erkenntnis mitteilen wollte. Gleichzeitig wirkte sie aufgeregt. »Ach?« »Ich möchte katholisch werden.« Der Ernst und die Freude in ihren Augen hemmten seinen anfänglichen Impuls, ihre Worte als Scherz abzutun. Er legte seine Essstäbchen nieder. »Wann hast du das beschlossen?« »Vergangene Woche.« »Du hast viel darüber nachgedacht?« »Ich glaub schon. Es gefiel mir, als wir gemeinsam die Messe besuchten, und hin und wieder bin ich mit Kira und ihren Eltern hingegangen. Wir reden viel darüber. Und ich habe das Neue Testament noch einmal gelesen. Bin gerade erst damit fertig geworden.« Stolz klang aus ihrer Stimme. Er erinnerte sich, dass sie ihm vor ein paar Monaten ihren Entschluss anvertraut hatte, das Neue Testament ganz zu lesen. Er stellte sich vor, wie sie die Decke über den Kopf gezogen hatte und darunter mit der Taschenlampe las, und wie sie es hinter einer Zeitschrift versteckte, damit Diane es nicht fand. Diane. Sie würde ihn umbringen, wenn sie davon erfuhr, und ihm die Schuld daran geben. Vermutlich war er tatsächlich dafür verantwortlich. Was hatte er denn von all ihren Wochenendausflügen in die verschiedenen Kirchen erwartet? Hatte er es wirklich nur als kulturell lehrreiche Unternehmung betrachtet? Nein, er musste zugeben, dass er gehofft hatte, etwas würde im Herzen und Verstand seiner Tochter haften bleiben. Er erinnerte sich an Dianes Drohung vor ein paar 373
Wochen, dass sie ihm sein Besuchsrecht absprechen würde, falls Becky in irgendeine »Infamie« verwickelt würde. Zwar war er sicher, dass nicht einmal Diane die katholische Kirche als »Infamie« betrachten konnte, aber sie würde es vielleicht versuchen. »Warum die katholische Kirche?«, fragte er neugierig, obgleich er um die Anziehungskraft des Katholizismus wusste, seine lange Geschichte, seine schwer zu widerlegenden theologischen Schlussfolgerungen und die religiösen Dogmen, die voller Eifer aufrechterhalten wurden. Außerdem war ein Kind - und nicht nur ein Kind - von der Dramaturgie der sakralen Handlungen und der Pracht der Kirchenbauten unschwer zu begeistern. »Ich habe mir erst mal eine Liste der Für und Wider gemacht«, sagte Becky. Unwillkürlich musste er lächeln, weil seine methodisch verlangte Tochter das Plus und Minus von Weltreligionen auf einem Notizblock ausrechnete. »Und die Katholiken haben gewonnen?« »Eigentlich nicht. Ich meine ... es war unmöglich. Einige Dinge sind wichtiger als andere, und manches ließ sich einfach nicht vergleichen. Ich glaube, letztendlich war es das Beten.« »Du hast gebetet?« »Manchmal schlafe ich mitten im Gebet ein.« »Ja, ich auch.« »Kira sagt, ich soll mich neben das Bett knien. Das hält wach.« »Gute Idee.« »Ich hab gebetet, um herauszufinden, welches die richtige Religion ist. Und ich bekam immer mehr das Gefühl, dass es der katholische Glaube ist. Ich fühle mich wohl dabei ... er scheint mir gut und richtig zu sein.« Sie senkte den Blick. »Jedenfalls habe ich mich so entschieden.« Kevin nickte; einen Moment lang wusste er nicht, was er sagen sollte. Becky war zwölf. Wie konnte eine Zwölfjährige eine solche Entscheidung treffen? Und 374
doch - integrierte die katholische Kirche ihre Mitglieder nicht mit elf Jahren durch die Firmung in die Gemeinde? Becky war intelligenter als die meisten Kinder ihres Alters, intelligenter sogar als viele seiner Kollegen, und vernünftiger obendrein, aber trotzdem: Er sah auch, wie sie vielleicht gegen ihren Willen beeinflusst worden war. Die allgemeine kulturelle Neigung zum Christentum; außerdem war Beckys beste Freundin Katholikin. Und trotz seiner eigenen Bemühungen, unvoreingenommen zu sein, neigte auch er zur jüdisch-christlichen Tradition. War das noch der Einfluss von God's Children?, fragte sich Kevin. Oder liegt es daran, dass die Bibel, das Buch der Bücher, die meiste göttliche Wahrheit enthält? Er wunderte sich über sich selbst, weil er mit den Religionen beinahe so vorgegangen wie mit einem Büfett, bei dem man sich nehmen konnte, so viel man wollte. Er hatte mit den verschiedenen Glaubensrichtungen gespielt, sie analysiert wie ein Anthropologe, aber im Herzen nur wenig empfunden, und er war nicht fähig gewesen - vielleicht auch nicht willens - sich festzulegen. War da eine düstere Überzeugung in seinem Innern oder nur seine Angst, sich als naiver Dummkopf mit Scheuklappen vor den Augen falsch zu entscheiden? Wartete er auf ein Zeichen, einen großen Spezialeffekt, der den Himmel spaltete? Vielleicht war es der bequemere Weg, sich nicht zu entscheiden, denn sobald man einen Entschluss gefasst hatte, musste man sich der Herausforderung und den eigenen Ängsten stellen. Er beneidete seine Tochter. Ihre Entscheidung mochte nicht ganz ausgegoren sein ... na und? Sie konnte immer noch eine andere Wahl treffen, oder auch mehrere. Doch Kevin hoffte, dass ihr das erspart bliebe, denn er erkannte die Reinheit ihrer Gefühle, ihre Aufrichtigkeit. »Ich freue mich für dich«, sagte er. »Und ich bin stolz auf dich. Du hast viel darüber nachgedacht.« 375
Sie nickte. »Ich habe bereits mit dem Priester gesprochen.« Er hustete in sein Wasserglas. »Schon?« »Er sagt, ich brauche das Einverständnis meiner Eltern, dann wird er mich nach der Schule in die Katechismus-Stunde eintragen.« »Mein Einverständnis hast du, Becky. Aber ich weiß nicht, was deine Mom dazu sagt. Sie wird ausflippen.« »Ich hätte gern, dass du mit ihr darüber sprichst.« »Es ist wahrscheinlich besser, wenn du selbst zuerst mit ihr sprichst, damit es nicht so aussieht, als wäre es meine Idee. Sonst denkt sie noch, ich hätte dir eine Gehirnwäsche verpasst.« Becky nickte. »Ich werde ihr sagen, wie wichtig es für mich ist. Meinst du, dass sie es dann versteht?« »Ich kann es nur hoffen.« »Sie weiß, dass ich mit Kira den Gottesdienst besuche. Sie hat auch die Bibel gesehen, die ich gelesen habe, und sie hat nichts dagegen gehabt.« »Gut.« Kevin war überrascht, dass er nicht auch deswegen einen bitterbösen Anruf bekommen hatte. Er blickte seine Tochter an, die ihn über den Tisch hinweg anlächelte, und fühlte sich glücklich. Das war es, was er für sie gewollt, für sie erhofft hatte. Irgendwie half ihm ihr Glaube, die Leere seiner eigenen Glaubenslosigkeit zu füllen. Ein Menschenfischer: Vielleicht gab es eine Art göttliches Hauptbuch, in dem er ein paar Pluspunkte bekam. »Kind des Lichts«, sagte er zu ihr. »Was ist das?« »Das sagt der Priester zu dem Täufling.« »Das gefällt mir.« Es regnete immer noch, als er Becky nach Hause fuhr, doch als er ihr an der Tür einen Abschiedskuss gab, war ihm, als hätte ihn etwas Eisiges berührt. Es war nicht das erste Mal, dass ihn die schreckliche Vorahnung quälte, er würde sie nie Wiedersehen. Glücklicherweise war es stets sein angeschlagenes 376
Nervenkostüm gewesen; trotzdem verspürte er jetzt ein Gefühl der Traurigkeit. »Es ist eine wichtige Neuigkeit«, sagte er. »Bring sie deiner Mutter schonend bei.« »Mach ich. Danke für das Dinner.« »Auf Wiedersehen. Bald, hoffe ich.« »Okay. Sei vorsichtig.« Er lächelte, weil er sich erinnerte, dass sie sich als kleines Kind diese Worte gemerkt hatte. Diane hatte sich immer so von ihm verabschiedet, wenn er zur Arbeit fuhr. »Ich bete für dich«, versicherte sie ihm. »Jede Nacht.« »Das ist gut. Ich kann viele Gebete brauchen.« Sie lächelte, ohne zu ahnen, wie rührend der Segen eines Kindes war. Kevin wartete, bis sie im Haus war; dann ging er zu seinem Wagen und wünschte sich, er könnte an die Macht des Gebets glauben.
19
Vom Balkon der Wohnung ihres Vaters hatte sie einen Blick auf die South Michigan Avenue. Tief hängende Wolken hatten die Skyline geköpft, und der Nebel verschlang die stumpf schimmernden Zwillingsantennen des John Hancock Centers. Selbst ein Stück innerhalb der offenen Schiebetür bekam sie 377
ein wenig von dem peitschenden Regen ab, wollte aber noch nicht ins Zimmer zurück. Sie brauchte frische Luft, um ihre wachsende Besorgnis zu vertreiben; sie brauchte den Regen und den Donner, um sich von der kleinen Flasche Phenmetrizine in ihrer Tasche abzulenken. Keine weitere Dröhnung bis morgen Früh; das würde ihren ganzen Entzugsplan gefährden. Blitze hellten den Nebel über dem dunklen See auf, gefolgt von dem Donner, der sich anhörte, als würde Holz gehackt. Von einer Baustelle unten auf der Burton erschallte so etwas wie ein Gong. Sie nahm an, dass es eine Winde war, die gegen die Seite des Krans schlug. Der Regen spielte eine tosende Begleitmusik, wenn er gegen Fenster und Balkone hämmerte, auf Laub prasselte und Krater in den reißenden Strömungen auf der North Michigan und dem Lakeshore Boulevard erzeugte. Schließlich kehrte sie doch ins Zimmer zurück und schloss den Lärm des Unwetters aus. Im Badezimmer trocknete sie sich das Haar und ging unruhig auf und ab, von schlechtem Gewissen erfüllt. Vielleicht hätte sie Kevin doch von Rachels Zeilen erzählen sollen. Sie musste es doch nicht, oder? Es war ja nicht illegal. Machte sie sich straffällig, weil sie etwas
verheimlicht hatte? Aber es war an sie geschickt worden, war genau genommen ihr Eigentum! Wirklich besorgt war sie über Rachels Sicherheit - nur, es stand ja noch gar nichts fest, erinnerte sie sich. Dazu müsste sie die Vaterschaft erst beweisen. Warte, bis du Gewissheit hast! Warten. Das war es. Noch zwei Stunden, ehe sie in ihr Labor zurückkehren konnte. Sie setzte sich vor den Fernseher und zappte durch die Kanäle, ohne etwas zu sehen; trotzdem machte die Geschwindigkeit der wechselnden Bilder sie nervös, 378
und sie schaltete aus. Sie holte den dicken Hefter aus ihrer Aktentasche, den sie aus dem Labor mitgebracht hatte. Er enthielt die von ihrem Researcher vor mehr als einer Woche gesammelten Informationen über David Haines, als noch die Hoffnung bestanden hatte, sein Blut zu bekommen oder Angehörige seiner Familie aufzuspüren. Es handelte sich hauptsächlich um kopierte Artikel aus Zeitungen und Zeitschriften, aber es gab auch zwei Paperbacks, wie sie in Supermärkten verkauft wurden, mit der Banderole: Nicht für Jugendliche unter achtzehn. Ohne große Erwartung griff sie nach einem davon und betrachtete das reißerische Cover, den Titel (Dark Angel) und die lange Liste von Newsweek-Schreibern, die es zweifellos binnen weniger Wochen nach Haines' Verhaftung zusammengeschludert hatten. Der Fall interessierte sie momentan überhaupt nicht, genauso wenig wie David Haines. Sie wollte etwas über Kevin erfahren. Sie fing zu blättern an, überflog die Textstellen mit langweiligen Verfahrensfragen und hielt erst inne, als sie seinen Namen entdeckte. Sie hoffte auf persönliche Hinweise, doch es gab nur wenige. Seit fünfzehn Jahren bei der Chicagoer Außenstelle des FBI ... Spezialist für Sektenfragen ... Dann eine Menge Nichts sagendes. »Groß und schlank.« Das war so ziemlich alles an Beschreibung. Mein Gott. Sie blickte wieder auf das Cover und sah sich noch einmal die Liste der Autoren an. Leider keine einzige Frau darunter. Was war denn mit diesen stupiden Männern? Fielen ihnen denn seine Augen nicht auf, dieser wölfisch finstere Blick? Da war auch nichts über die Art, wie er redete, sich kleidete, ob er verheiratet war oder ledig. Ob überhaupt je ein Ehering seinen Ringfinger geziert hatte. Sie nahm an, dass die Leser von Büchern wie diesem sich nicht für so etwas interessierten. Sie wollte gerade weiterlesen, als sie zu einer bedeutungsvollen Endnote kam: »Noch wusste niemand, dass Kevin Sheldrake sich als der wichtigste 379
Mann der Sondereinheit erweisen sollte. Zu Anfang des DOCKIL-Falles (die Aktenabkürzung des FBI für Doctor Killer) hatte noch niemand daran gedacht, dass die Morde religiös motiviert sein könnten. Dann aber war es Sheldrake, der die Vorgehensweise des Killers aufdeckte; Sheldrake, der Haines' nächsten tödlichen Zug vorhersah. Kevin Sheldrake hatte zwanzig Jahre zuvor selbst einer Sekte angehört, die sich nicht sehr von jener unterschied, die David Haines' Charakter geprägt hatte.« Laura staunte über sich selbst. Hätte ihr noch vor einem Monat ein Mann anvertraut, dass er einmal Mitglied einer Sekte gewesen war, hätte sie ihn sofort als Verrückten eingestuft oder zumindest als extrem labil. Doch bei Kevin lag die Sache anders. Er hatte einer Sekte angehört, ja, hatte sich aber seither bemüht, sie bloßzustellen, während er sich gleichzeitig nach religiösem Glauben sehnte. Es war schon ein bisschen verdreht. Jedenfalls hatte Kevin die Sekte verlassen; das war es, das zählte. Er hatte die Lügenmechanismen durchschaut und war klug genug gewesen, alles hinter sich zu lassen. In der Mitte des Paperbacks befanden sich ein paar Seiten mit Schwarzweißfotos. Haines' Opfer; ein paar Tatorte, die Laura Schauder über den Rücken jagten; von Geschossen zertrümmerte Fenster; Polizeiabsperrungen und Streifenwagen. Es gab nur ein einziges Bild von Kevin Sheldrake, und es war keine besonders gelungene Aufnahme. Er stand neben einer Straßenkarte und deutete auf einen Punkt; wahrscheinlich war das Foto bei einer Pressekonferenz aufgenommen worden. Er sah hungrig und müde aus und auf schwer zu erklärende Weise attraktiv. Er hatte schöne Hände. Und seine Augen ... Sie wusste noch immer nicht recht, ob sie seine Augen mochte, oder ob lediglich deren Intensität sie faszinierte. Auf dem Foto sah es so aus, als trüge er den gleichen unauffälligen Anzug wie bei ihrer ersten Begegnung. Er schaute jünger aus, was aber nicht an seinem Haar lag, das noch immer sehr dicht war. Bei den meisten Männern 380
seines Alters schwand das Haar als Erstes; sie hatten entweder eine Vollglatze oder eine Mönchstonsur, dazu ein aufgeschwemmtes Gesicht mit Hängebacken und die selbstgefällige Miene, die ein hohes Einkommen gewöhnlich mit sich brachte. So war es jedenfalls bei den meisten Männern, die sie kannte. Bei Kevin zeichnete sich sein Alter im Gesicht ab. Er war hagerer, müder. Sie fragte sich, was ihm während der vergangenen drei Jahre widerfahren war. Vielleicht nur das Leben als solches. Wieder betrachtete sie seine Hände: Auf diesem Bild trug er einen Ehering. Also hatte er einmal eine Frau gehabt, vielleicht auch Kinder. Und jetzt war er allein. Interessant. Während sie auf das Foto starrte, fragte sie sich, wie es wohl sein mochte, in seinen Armen zu liegen. Sie und Kevin - das wäre wahrscheinlich wie die Berührung zweier elektrischer Kraftfelder. Sie spürte, wie Erregung durch ihre Schenkel zog. Der Boden vibrierte unter einem Donnerschlag, und die Lichter flackerten. Laura schaute nach, wie spät es war. Einundzwanzig Uhr dreißig. Das RFLP würde wahrscheinlich innerhalb der nächsten Stunde beendet sein. Wieder wurden die Lichter trüb, diesmal stärker. Verdammt! Sie schloss die Augen und versuchte sich zu erinnern, ob das RFLP-Gerät einen Überspannungsschutz hatte. Ja, wahrscheinlich. Doch jetzt malte sie sich unwillkürlich aus, wie eine grelle Schlange aus Elektrizität aus der Steckdose drang, wie ein Funkenregen aufstob und sich ihre DNS-Proben in einen rauchenden Ziegel Elektrophorese-Gel verwandelten. Keine fünf Minuten später saß sie in ihrem Wagen, dessen Scheibenwischer auf Höchsttouren arbeiteten, und bog auf den Lakeshore Drive ein, während sie sich das klatschnasse Haar aus dem Gesicht strich. Sie spürte das Wasser unter den Reifen. Nur wenige Autos waren unterwegs, und die Strände waren menschenleer. Hinter Streeterville bog Laura ab. Sie 381
hatte Kevin angerufen, ehe sie abfuhr, aber nur seine Voice Mail bekommen. Sie hatte ihm ausgerichtet, dass sie früher zum Labor wollte, um nachzuschauen, ob die Proben in Ordnung waren, und dass sie ihn dort erwartete. Ein Blitz stieß über dem dunklen Glasplateau von MacCormack herunter. Laura hielt sich jetzt in der Straßenmitte, abseits der tiefen Wasserbäche an den Seiten, und stieg aufs Gas. Ihre Gedanken eilten voraus zu ihrer Arbeit. Überprüfe die Proben. Sie werden in Ordnung sein. Sie musste das Gel ins Lagergewölbe bringen, das zugleich als Dunkelkammer diente. Mach gleich die Fotos. Das Gel enthielt eine kleine Menge radioaktiven Materials, das während der vergangenen vier Stunden die DNS gebunden hatte. Gel und Fotopapier wurden zu einer schnellen Belichtung zusammengetan, und voilá, hatte man ein Bild der DNS in einer Leiteranordnung: Mom, Dad und Baby. Hoffte sie zumindest. Der Regen ließ nach, als Laura von der Lakeshore auf die Ellis bog. Auf dem kleinen Platz vor Drexler parkte sie wie üblich. Geduckt unter ihrem Schirm überquerte sie den Platz und schaute zu den Laborfenstern hinauf. Glücklicherweise keine Spur von Flammen oder Rauch. Wie immer, wenn sie auf Testergebnisse wartete, schlug ihr die Aufregung auf den Magen. Ein Knall wie von einem Sektkorken erklang hinter ihr, und fast gleichzeitig spürte sie zwei wilde Bisse unter den Schulterblättern. Ein doppelter Widerhaken hatte sich in ihren Körper gebohrt. Sie krümmte den Rücken, schrie auf, wandte sich langsam um ... Wange auf Asphalt. Die ganze Welt auf die Seite gekippt. Der Geruch von feuchtem Sand, Öl und Benzin in ihrer Nase, und noch etwas: der schwache Ozongeruch von Blitzen. Wie war sie hierher gekommen? Wo war sie hier? Langsam schwebten einige Erinnerungsfetzen heran, wie aus einem trüben Tümpel gefischt. Regen, eine Fahrt durch den Regen, der Campus, ein Parkplatz ... Sie war aus dem Wagen 382
gestiegen. Und dann? Dann war sie auf dem Pflaster zusammengebrochen. Sie versuchte sich zu bewegen. Es ging nicht. Nicht einmal die Augen wollten ihr gehorchen. Sie empfingen nur verzweifelte, schiefe Schnappschüsse der Nacht. Sie schien auf der rechten Körperseite zu liegen; der rechte Arm war unter ihrer Brust eingeklemmt, der linke schräg vor ihr ausgestreckt. Flüchtig sah sie ihre Hand, die spastisch zuckte, spürte jedoch nichts, keine Verbindung zwischen dieser Hand und ihrem Körper. Dann schossen ihre Augen ohne ihr Zutun wieder anderswo hin. Ihr aufgespannter Schirm, der noch ein wenig schaukelte. Ihre Handtasche. Die Lauffläche eines Autoreifens. Ein regenbogenfarbener Benzinfleck in einer Pfütze, der im Schein einer Straßenlampe schillerte. Ein Fleck aufklarenden Himmels, und in der Ferne die Lichter eines Jets. Ein Beinpaar. Stand über ihr. Ihre Augen rollten in den Höhlen. Wieder die Beine. Hilf mir. Doch kein Laut kam aus ihrem Mund. Sie wollte den Kopf bewegen, ihn zurückbeugen, um zu sehen, wer da stand. Hilf mir! Immer wieder schrie ihr Verstand die Worte, die sie nicht herausbrachte. Und niemand half. Gail bückte sich und klemmte die beiden Drähte an den Taser, ehe sie ihn in ihre Handtasche zurücksteckte. Er hatte einen lauteren Knall verursacht als bei ihren Versuchen zu Hause. Vielleicht bildete sie es sich auch nur ein. Funken hatten ebenfalls gesprüht, und es hatte nach Streichhölzern gerochen. Sie schaute sich rasch um - gut. Auch jetzt war noch niemand in Sicht, keine Wagen fuhren auf den Parkplatz. Sie wusste, dass der Regen dafür sorgte, dass die Leute in ihren vier 383
Wänden blieben. Sie trat näher an Laura heran und blickte auf sie hinunter. David hatte ihr geraten, es nicht zu tun, aber nur, weil er gedacht hatte, sie könnte es nicht - aus Unentschlossenheit, Schwäche oder ähnlichen Gründen. Deshalb war er auch weggegangen. Er war angewidert von ihr. Nun aber würde er stolz auf sie sein und zu ihr zurückkommen, das stand für Gail außer Zweifel. Außerdem hatte er ihren Wagen genommen und versprochen, ihr das Auto zurückzugeben. Und einer wie David brach sein Wort nicht. Gail konnte ihr Glück kaum fassen. Konnte es sein, dass Gott ihr half und ihr wider Erwarten doch den Weg zeigte? Den Gedanken, dass ihr Gutes widerfuhr, weil Gott es so wollte, hatte sie immer von sich gewiesen; er erschien ihr zu eitel. Sie hatte auch nie das Gefühl gehabt, Gottes besondere Aufmerksamkeit zu verdienen, wie einige dieser Fernsehprediger, die ständig behaupteten, dass Gott mit ihnen rede, und wie er dies und das für sie tat. Aber diese Ärztin war gekommen, schon in der zweiten Nacht, in der Gail ihr aufgelauert hatte. Gail hatte es kaum für möglich gehalten. Sie war fast sicher gewesen, dass die Doktorin sich nach allem, was vorgefallen war, irgendwo versteckt hielt.
Gail hatte ihren Wagen sofort erkannt; schließlich hatte sie die Doktorin vor Davids Flucht viele Male beobachtet und Pläne geschmiedet. Doch nie hatte sie getan, was sie hätte tun sollen. Aber jetzt war sie hier, parkte ihren Wagen an der alten Stelle, ging auf das Hospital zu, spät am Abend, und niemand war in der Nähe. Ihr war klar, dass sich ihr nie wieder eine solche Chance bieten würde. Gail hatte kleine schwarze Behänge für die Nummernschilder ihres Leihwagens angefertigt, für 384
vorne und hinten, und sie mit biegsamem Draht versehen. Beim Aussteigen hängte sie den Stoff vor die Nummernschilder. Mit dem hinteren hatte sie einige Schwierigkeiten, denn der Draht war ziemlich alt und brach an einer Seite. Gail fummelte so lange herum, bis beide Enden hielten, nachdem sie eines durch den Stoff gezogen hatte. Der Draht hielt, er musste einfach halten. Es sollte ja kein Passant oder sonst jemand das Kennzeichen sehen. Bei der Doktorin war es ihr egal. Gail musste sich beeilen, um sie einzuholen. Sie war so leise, wie sie nur konnte, als sie sich von hinten anschlich. Die Doktorin war arglos. Sie schaute zum Hospital hinauf und hielt dabei den Schirm dicht über dem Kopf. Es fiel Gail leicht, die Frau zu hassen. Sie war schlank und schön, und sie wusste, wie sie sich kleiden musste, damit ihr Busen voll aussah und ihre Taille schmal. Es war unverkennbar, dass sie reich und berühmt war. Eine dieser schönen Verführerinnen. Eine Teufelin, die versucht hatte, David Gewalt anzutun, ihm sein heiliges Blut zu nehmen, seine Seele. Ihr Hass ließ Gail erzittern; sie bebte vor Zorn, aber auch angesichts der Wichtigkeit ihrer Aufgabe. Fast bedauerte Gail, dass niemand sie sah und sie daher niemandem beweisen konnte, dass sie keine fette hässliche Kuh war, sondern eine vom heiligen Eifer durchdrungene Jüngerin David Haines'. Gail wollte die Ärztin so hässlich machen, wie sie selbst war. Sie hatte die Frau nun fast erreicht, schob eine Hand in die Tasche und schloss sie um den Lufttaser. Erstaunlich, dass sie sich nicht einmal umdrehte. Vielleicht hatte die Doktorin sie sogar aus den Augenwinkeln bemerkt und einfach ignoriert. Sie, Gail, war ja bloß eine hässliche fette Frau, der Beachtung nicht wert. Gut, dann ignoriere mich eben, du Verführerin! Gail zielte mit der Betäubungswaffe, drückte auf den Auslöser, hörte den Knall und sah die zwei kleinen 385
Widerhaken durch die Bluse der Doktorin dringen. Und schon stürzte diese Teufelin wie ein knochenloses Fleischpaket in sich zusammen. Es war ein grauenvolles Geräusch, als ihr Kopf auf dem Boden aufschlug, wie eine zerplatzende Melone, und Gail zuckte unwillkürlich zusammen. Und nun kam der nächste Schritt. Sie tat es für David. Eine verschwommene ärztliche Checkliste: Herzinfarkt? Kein Schmerz; es erklärte auch die Taubheit der Gliedmaßen nicht. Migräne? Vielleicht. Apoplexie? Könnte sein. Gehirnerschütterung? Möglich. Gehirn-Aneurysma vielleicht? Nein, sie atmete noch. Wusste nicht, wie lange sie bewusstlos gewesen war. Aber sie konnte sich nicht bewegen, nur hilflos zittern. Allerdings gehorchten die Augen ihr allmählich wieder. Ein weiterer Schnappschuss: ein Gesicht, von den schroffen Schatten der Straßenlampe skulptiert. Das Gesicht einer Frau. Ein Schrei blieb in ihrer wie betäubten Kehle stecken, und ihre Augen füllten sich mit Tränen der Erleichterung. Sie konnte sie nicht wegblinzeln. Sie hatte Glück. Kein Mann, sondern eine Frau. Und eine Frau würde einer anderen Frau immer helfen. Du wirst mir helfen. Sie erkannte, dass sie bewegt wurde, nicht so vorsichtig, wie es ihr lieb gewesen wäre; sie wurde an den Armen von ihrem Wagen weggezerrt. Dumpf wurde ihr bewusst, dass ihr Kopf über den Asphalt schleifte, obwohl sie keinen Schmerz verspürte. Sie versuchte vergeblich, den Kopf zu heben. Vorsicht, dachte sie, als ermahnte eine Fünfjährige eine allzu halsbrecherische Freundin. Vorsicht! Zumindest spürte sie nichts. Jetzt ließ die andere Frau sie los. Wo war sie? 386
Laura bemühte sich, den Kopf zu heben, doch ihre Wange sank zurück aufs Pflaster, wo sie lediglich die Sandalen einer Frau sah, erstaunlich billige Dinger mit geschmacklosen Kunststoffkorallen an den Riemen. Jetzt entfernten sie sich. Verließen sie. He! Lauras Blick versuchte ihr zu folgen, doch die Bilder tanzten wirr vor ihren Augen. Dort war sie, aber wo wollte sie hin? Die Frau stieg in einen Wagen. Gute Idee. Fahr mich ins Krankenhaus. Die Tür schmetterte zu. Der Motor sprang an. Laura hatte das Gefühl, langsam die Wahrheit zu erspüren, wie ein Kind, das mit geschlossenen Augen die Form eines vertrauten Gegenstands mit den Händen erahnen will. Sie hilft mir nicht. Sie kann alles mit mir machen, was sie will. Erst jetzt erinnerte Laura sich an den Knall, an die spitzen Haken in ihrem Rücken. Angeschossen? In die Wirbelsäule? Gelähmt? Sie spürte keine Nässe um sich, aber sie spürte ohnehin so gut wie nichts. Panik machte sich in ihrem reglosen Körper breit, drohte zu explodieren. O Gott! Der Wagen stand dort mit laufendem Motor. Laura konnte seine Vibration durch den Asphalt spüren. Sie versuchte, die rechte Hand zu bewegen, sie in die Luft zu werfen wie ein taubes Glied, auf dem man zu lange gelegen hatte. Beweg dich! Ihre rechte Hand schmetterte auf das Pflaster herab. Scharfer Schmerz schoss durch ihre Knöchel. Gut. Schmerz bedeutete, dass sich etwas zu regen begann. Schieb. Sinnlos. Schieb! Sie krallte die Nägel ihrer Rechten in den Asphalt, versuchte sich herumzuziehen. Der Wagen kam mit kreischenden Reifen auf sie zu. Gail richtete die Räder so aus, dass die linken Reifen genau über den Hals der Doktorin rollen würden. Dann 387
trat sie das Gaspedal bis zum Anschlag durch, umklammerte das Lenkrad und blickte geradeaus. Wider Willen entrang sich ihr ein lautes Schluchzen. Eine schreckliche Angst schwoll in ihrem Innern. Tu es für David. Was du tust, ist richtig, hab keine Angst. Für die Reinen ist alles rein. Schau nicht hin. Schau nicht hin! Für David! Für David! Unversehens bekam Laura ihr Nervensystem in den Griff. Die Arme gehorchten ihr wieder, und ihr Oberkörper schnellte hoch, wobei ihr Ohr und ihre Wange über das Pflaster schrammten. Sie hörte, wie der Wagen näher kam und versuchte verzweifelt, die noch gefühllosen Beine aus dem Weg zu ziehen. Doch sie würde es nicht rechtzeitig schaffen. Sie stellte sich vor, wie die Räder über ihren Rücken rollten und ihr die Wirbelsäule brachen. Wie Krallen packten ihre Finger den Rand der Betoninsel und zogen. Die Fingernägel suchten Halt. Kinn hoch und rüber, komm schon! Das Blut brauste in ihren Ohren - oder war es das Dröhnen des Wagens? Sie spürte, wie er näher und näher kam. Ihr Körper verkrampfte sich vor Angst. Nur noch wenige Meter ... Doch der Wagen fuhr vorbei. Schwerfällig drehte Laura den Kopf und blickte hinunter zu ihren Beinen, als erwartete sie, ihre Gliedmaßen zerquetscht
zu sehen. Doch sie waren unversehrt. Innerlich jubelnd, zog sie sich auf die Betoninsel, als könnten die fünf Zentimeter über der Straße sie retten, falls die Fahrerin es sich doch noch anders überlegte. Der Wagen hatte etwa fünf Meter entfernt mit laufendem Motor auf dem Parkplatz gehalten. Im roten Schein der Bremslichter konnte Laura das Nummernschild sehen. Die Zahlen und Buchstaben schienen sich unbewusst in ihr Gedächtnis einzubrennen, sodass sie die Autonummer in Gedanken wiederholte, während sie sich quälend 388
langsam vorwärts bewegte. Wo war ihr Volvo? Ah, da drüben! Dann starrte sie zu dem anderen Wagen, rechnete damit, dass die Tür aufschwang und die Frau auf sie zurannte - sie konnte ihr unmöglich entkommen. Der Motor des Wagens heulte auf, doch er fuhr weg, herunter vom Parkplatz, und raste die Achtundfünfzigste Ost hinunter. Laura hatte keine Ahnung, wie lange sie - halb kriechend, halb gehend - zu ihrem Volvo gebraucht hatte. Oft knickte sie ein, fiel, musste rasten, um Kraft für die nächsten unbeholfenen Schritte zu sammeln. Ihre Handtasche und der Schirm lagen noch bei der Wagentür, und sie benötigte ein paar tränenvolle Minuten, nach den Schlüsseln zu tasten. Allmählich setzte der Schmerz ein, schoss durch ihren Körper, vom Hinterkopf zu den Armen und die ganze rechte Seite bis zur Hüfte, mit der sie auf dem Pflaster aufgeschlagen war. Im Wagen sicherte sie die Tür und stützte die Stirn auf das Lenkrad. Was empfand man, wenn jemand einen zu töten versuchte? Nichts. Absolut nichts. Nein, das stimmte nicht ganz. Schläfrig. Sie wollte schlafen. Ja, das war's. Keine welterschütternde Offenbarung über die Heiligkeit des Lebens, keine unendliche Dankbarkeit, noch am Leben zu sein. Nur entsetzliche Müdigkeit. Sie lehnte sich auf dem Sitz zurück und schrie vor Schmerz auf. Da war noch etwas in ihrem Rücken. Behutsam tastete sie mit den Fingern und spürte irgendetwas, das sich wie zwei runde Knöpfe anfühlte, aus ihrer zerrissenen Bluse ragen. Von jedem der Knöpfe hing ein gut dreißig Zentimeter langer dünner Draht. Laura bewegte die Knöpfe behutsam, doch das sandte nur schlimmeren Schmerz durch ihren Rücken. Wie zwei verdammte Fischhaken. Bei dem Gedanken an ihr aufgespießtes Fleisch wurde ihr übel. Lähmpistole. Wahrscheinlich einer dieser Air Taser, die man in Illinois ohne Waffenschein kaufen konnte. Sie hatte selbst schon daran gedacht, sich so ein Ding zu 389
beschaffen, als eine ihrer Bekannten überfallen worden war. Mit einer Druckluftpatrone schossen die Taser Zwillingswiderhaken ab, die durch die Kleidung ins Fleisch drangen, mit pulsierendem Stromschlag die Muskeln eines Gegners zu Pudding erschlaffen ließen und gut eine Minute lang Gedanken und Erinnerungen im Kopf löschten. Verschwommen wurde Laura bewusst, dass sie zur Notaufnahme humpeln sollte; stattdessen zog sie den beleuchteten Kosmetikspiegel im Wagen herunter. Ihre rechte Gesichtsseite sah aus, als wäre sie mit Sandpapier blutig gerieben und mit Asphaltstückchen gepfeffert worden. In ihrer Schläfe schien ein Presslufthammer am Werk zu sein. Sie berührte die Stelle und ertastete eine Beule unter dem Haar. Als sie die Finger zurückzog, waren sie bräunlich von geronnenem Blut. Mit dem Zeigefinger am Kieferknochen kontrollierte sie ihren Puls - er ging ein wenig schnell, aber regelmäßig. Ihr Atem war okay. Zwar konnte sie immer noch nicht richtig sehen, aber es wurde zunehmend besser. Das Nummernschild. Erstaunlich, sie konnte es immer noch vor sich sehen. Doch als sie den Mund öffnete, um die Buchstaben und Zahlen auszusprechen, konnte sie die Laute nicht formen, weil ihre Lippen und die Zunge noch betäubt waren. Sie suchte in ihrer Handtasche nach einem Kugelschreiber, fand aber keinen. Schließlich nahm sie ihren Lippenstift und kritzelte mühsam auf die Rückseite eines alten Bankbelegs, was sie auf dem Nummernschild gelesen hatte. Bestürzt starrte sie darauf. Mein Gott, es sah aus wie die Klecksereien einer Fünfjährigen. Sie schloss die Augen und beschwor das Bild des Nummernschilds herauf; dann blickte sie rasch auf das, was sie hingekritzelt hatte. Beide Male genau das Gleiche. Kevin würde zufrieden mit ihr sein. Abwesend ließ sie Lippenstift und Beleg in die Handtasche fallen und vergaß es sogleich. Jetzt die Frau. Auch sie vermochte Laura nur mit geschlossenen Augen wahrzunehmen, und selbst das 390
lediglich in Sekundenbruchstücken. Es war ihr nicht möglich, einzelne Züge zu erkennen. Nase, Augen, Haarfarbe - sie schaffte es nicht, weil ihre Augen zu keinem ruhigen, festen Blick fähig gewesen waren. Die Frau schien fett gewesen zu sein - und sehr groß, aber das mochte daran gelegen haben, dass sie zu ihr hatte aufschauen müssen. Vielleicht war sie eingenickt; sie konnte sich nicht erinnern. Sie sah, dass unterhalb ihres Labors ein Wagen parkte, und dass Kevin Sheldrake ausstieg. Er machte ein paar Schritte rückwärts, um zu den dunklen Fenstern ihres Labors hinaufzuschauen. Dankbarkeit und Erleichterung durchströmten Laura, und sie musste die Zähne zusammenbeißen, um nicht in Tränen auszubrechen. Sie hupte. Kevin drehte sich um und kam rasch auf sie zu. »Sind Sie sicher?«, fragte er sie sanft und blickte von dem zerknitterten Zettel auf, den sie aus ihrer Handtasche gefischt hatte. Im Neonlicht der Notaufnahme wirkte ihre Haut bleich und gespannt; die brennende Abschürfung ihrer rechten Wange hob sich flammend rot ab. »Ja. Ich habe es notiert, sobald ich im Wagen war.« Noch einmal starrte Kevin auf das Lippenstiftgekritzel.
Die Zahlen und Buchstaben erinnerten an Hieroglyphen, eine fremdartige Schrift, die kopiert worden war, ohne dass man sie hatte deuten können. Großer Gott, sah das zittrig aus! Aber es war eine plausible Kombination von Zahlen und Buchstaben. In seiner Aufregung zog eine Gänsehaut über Kevins Arme. »Was war mit dem Wagen? Konnten Sie die Marke erkennen?« Er fühlte sich schrecklich, weil er sie jetzt verhörte, aber er musste es wissen. »Mit Automarken kenne ich mich nicht aus. Ich habe bloß die Farbe erkannt, und selbst die nicht genau. Es 391
war möglicherweise ein grünliches Blau oder auch Schwarz, jedenfalls dunkel. So genau konnte ich es nicht erkennen.« »Und die Frau?« »Sie war groß. Übergewichtig.« Er fragte sich, ob Laura die Frau bei einer Gegenüberstellung identifizieren könnte. Dass sie sich nur an das Kennzeichen erinnerte, erschien ihm seltsam. Doch er kannte die Wirkung von Lähmungspistolen; es war nicht ungewöhnlich, dass die Opfer einen kurzfristigen Erinnerungsverlust erlitten, vor allem, wenn sie das Bewusstsein verloren, was bei Laura zweifellos der Fall gewesen war. Zu allem anderen konnte sie eine Gehirnerschütterung erlitten haben. Allein die Tatsache, dass sie das Nummernschild überhaupt gesehen hatte, war ein Wunder. »Sind Sie sicher?« »Es stimmt, was ich gesagt habe! «, brauste sie wütend auf. »Sie wurden von einem Taser getroffen, darum frage ich.« Er musste ganz sicher sein. Wenn sie das Kennzeichen richtig gesehen hatte, konnte er den Namen, die Adresse und die Sozialversicherungsnummer der Frau binnen Minuten herausfinden. Eine Frau ... Sie musste die Person sein, die Haines in Chicago Unterschlupf gewährt hatte. Er wollte möglichst sofort zu seinem Büro und in der DMVDatenbank nachschauen. Endlich hatte er etwas Konkretes. Wenn er diese Frau fasste, kam er vielleicht an Haines heran. Dass Haines ihn aus Houston angerufen und eine Frau aus Seattle behauptet hatte, sie hätte einen Sohn von ihm - damit ließ sich nicht allzu viel anfangen. Aber das Kennzeichen würde ihn weiterbringen. Doch wenn Laura sich auch nur mit einer Zahl, mit einem Buchstaben getäuscht hatte, konnte die ganze Suche umsonst sein oder würde Tage, wenn nicht Wochen dauern. 392
Eine sehr jung aussehende Ärztin trat zu ihnen. Kevin fand, dass sie nicht viel älter aussah als Becky. Sie hatte schulterlanges, leicht dauergewelltes Haar, klare blaue Augen und rosige Wangen, trotz ihrer langen Schichtarbeit. Sie roch nach Gummi. »Okay, Dr. Donaldson, ich bin Dr. Kirby. Wir werden Sie ins Ambulatorium bringen und uns um Sie kümmern.« »Ich komme gleich nach«, versprach Kevin. »Sind Sie ein Angehöriger?« »Noch besser. Ich bin vom FBI.« Er schritt über den Gang bis zu einem stillen Eckchen und rief die Dienststelle an. Shaugnessy war am Telefon, ein junger Rekrut, der eben erst von Quantico nach hier versetzt worden war. »Ich brauche einen DMV-Check«, erklärte Kevin und gab ihm das Kennzeichen durch. »Ich will so viele Informationen, wie Sie bekommen können. Adresse, Telefonnummer und so weiter. In ungefähr einer halben Stunde komme ich ins Büro.« Er gab ihm seine Handynummer durch und ging zum Behandlungsraum. »Sie sind jedenfalls kein typisches Opfer von Lähmungspistolen«, wandte Dr. Kirby sich nervös an Laura. »Gewöhnlich schießen die Dinger mit Pentachlorphenol-Patronen. Wenn die Wirkung nachlässt, werden die Opfer so rabiat, dass die Polizei sie in Schach halten muss.« Laura lag ruhig auf dem Bauch, den Kopf auf den verschränkten Armen. Sie war weniger deprimiert als ungeduldig. Kevin zuckte zusammen, als er die zwei Widerhaken aus ihrer Bluse ragen sah und die dünnen Drähte, die an bizarre Insektenfühler erinnerten. Dr. Kirby durchtrennte die Drähte mit einer Schere in Höhe der Haken und schnitt danach um beide Elektroden ein großes Stück Stoff heraus. »Tut mir Leid um die Bluse, aber anders ging es nicht.« Unterhalb von Lauras BH-Träger hatten sich um die Taserhaken zwei stark entzündete Beulen entwickelt. Kevin schaute zu, als die Ärzten Laura irgendetwas 393
injizierte, unmittelbar darauf einen kleinen Schnitt unter der Eintrittsstelle des ersten Hakens machte und ihn geschickt herausdrehte - es war ein einzelner Widerhaken, aber ein verdammt unangenehm aussehendes kleines Ding. Dann verfuhr sie mit dem zweiten Haken genauso. Laura gab keinen Laut von sich. »Sieht nicht so aus, als müsste es genäht werden«, meinte Dr. Kirby. Sie desinfizierte die Wunden und gab Pflaster darauf. Laura setzte sich auf, und die Ärztin schaute sich die tiefe Abschürfung in ihrem Gesicht an. »Okay, ich gebe Ihnen eine örtliche Betäubung und reinige die Wunde.« Mit den Fingerspitzen strich sie behutsam Gel auf die Abschürfung. »Ich komme in fünf Minuten wieder, um sie zu säubern.« »Wie fühlen Sie sich?«, fragte Kevin. »Ich muss nach meinen Proben sehen.« »Laura.« Es war das erste Mal, dass er sie beim Vornamen nannte, doch sie zeigte keine Verwunderung. »Denken Sie nicht mehr an die Proben. Das ist alles Mist. Man hat Sie hereingelegt. Die Frau, die Sie gerade zu töten versucht hat, war Rachel. Sie hat die Anrufe gemacht. Sie wusste, dass Sie im Labor arbeiten würden. Sie hat Ihnen aufgelauert.« Einen Moment war Lauras Gesicht reglos, und ihr Blick ruhte auf Kevins Augen, ohne ihn zu sehen, als wäre sie zu sehr damit beschäftigt, über seine Theorie nachzudenken. »Ist Ihnen das denn nicht klar?«, fragte er. »Der Umschlag kam aus Seattle. Wollen Sie sagen, sie hat den langen Weg nach Seattle auf sich genommen, nur um den Brief dort in den Postkasten zu werfen, und ist dann zurückgeflogen, um mich zu ermorden?« »Könnte sein. Vielleicht hat Haines dort eine andere Jüngerin. Das alles könnte Teil eines raffiniert ausgeklügelten Planes sein. Vergessen Sie nicht, David ist auf Ihren Tod aus.« Er hob den zerknitterten Fetzen mit dem Kennzeichen vor Lauras Gesicht. »Ich muss daran arbeiten. Aber ich muss mich auch darauf 394
verlassen können, dass Sie in Sicherheit sind. Ich möchte Sie in einem Hotel unterbringen.« »Ich bleibe hier, um die Vaterschaftstests zu beenden.« »Die Tests werden negativ ausfallen.« »Das werden wir sehen.« »Sie sind jetzt nicht fähig, einen klaren Gedanken zu fassen!« Es kam schärfer heraus als beabsichtigt, denn er war wirklich in Sorge um sie. Sieh sie dir doch an!, sagte er sich. Erst wurde mit einer Betäubungspistole auf sie geschossen, dann wurde sie beinahe überfahren, und jetzt will sie hier bleiben, um Haarproben zu überprüfen, die wahrscheinlich aus irgendeinem Friseursalon stammen. Und ihrem unruhigen Blick nach zu schließen, schien sie noch nicht wieder voll da zu sein. Kevin erinnerte sich an das Aufputschmittel in ihrer Handtasche. Je nach Dosis konnte es ihr Denken völlig verzerren und sie sich zuversichtlich, unbesiegbar, unsterblich fühlen lassen. »Nehmen Sie immer noch Phenmetrizine?«, fragte er mit einem Seufzer. Sie zuckte überrascht zusammen; dann verhärteten sich ihre Züge. »Verstößt es nicht gegen den Anstand, in meiner Handtasche zu kramen?« Doch er spürte die Halbherzigkeit dieses Tadels. »Ich musste nicht in Ihre Tasche schauen. Ich hatte die detaillierte Auflistung des Inhalts von der Gerichtsmedizin. Die Leute dort sind manchmal gründlicher als nötig.« »Es sind Diätpillen.« »Ich finde, Sie sehen großartig aus. Sie brauchen keine Diät.« »Das geht Sie nun wirklich nichts an!« »O doch, wenn es Ihr Urteilsvermögen trübt und Sie sich in Gefahr bringen ... was Sie ja in letzter Zeit ausgiebig getan haben. Sie haben diesen FedexUmschlag ohne mich geöffnet. Das war dumm. Sie kommen spätabends ohne mich hierher. Sie möchten allein in Ihrem Labor bleiben, obwohl Sie wissen, dass es da draußen Jünger von Haines gibt, die Sie töten wollen, und die genau wissen, wo Sie arbeiten. Da ich 395
weiß, dass Sie alles andere als dumm sind, vermute ich, dass es am Speed liegt.« »Ich nehme das Zeug, um durchhalten zu können«, entgegnete Laura angespannt. »Meine Arbeit ist anstrengend, und ich möchte nicht schlappmachen. Ich bin nicht süchtig, wenn Sie das meinen. Ich war immer sehr sparsam mit dem Mittel. Außerdem bin ich dabei, es ganz abzusetzen.« Er nickte und hoffte, dass es der Wahrheit entsprach. Am liebsten hätte er sie in die Arme geschlossen, an sich gedrückt und sie festgehalten. »Man will Sie umbringen, Laura«, sagte er. »Ich muss diesen Wagen aufspüren, und ich würde mich viel besser fühlen, wenn ich Sie in Sicherheit wüsste.« Sie verstummten, als Dr. Kirby wieder ins Zimmer kam und die Verpackung eines medizinischen Schwamms aufriss. Er sah wie eine dieser steifen Bürsten aus, mit denen man die Fingernägel reinigt. Sie berührte damit Lauras Gesicht. »Okay? Spüren Sie es?« Kevin biss vor Mitgefühl die Zähne zusammen. »Geht schon«, antwortete Laura tonlos. Er sah, wie ihre Schultern vor Schmerz hochzuckten, doch ihr Gesicht blieb gefasst. Es erinnerte ihn ein wenig an Becky. Sie war immer so tapfer gewesen, wenn sie sich das Knie aufschlug und er die Wunde mit Wasserstoffperoxid auswusch. »Ich werde Ihnen gleich eine Tetanusspritze geben.« Nachdem sie ihr Watte und Mullverband über die Wunde geklebt hatte, setzte Dr. Kirby das Stethoskop auf Lauras Brust. »Das Herz schlägt noch ein wenig schnell. Haben Sie irgendwelche Herzkrankheiten? Einen Herzklappenfehler oder Arythmie?« »Nein.« »Nehmen Sie Medikamente?« »Nein.« Kevin fragte sich, ob der jungen Krankenhausärztin Lauras flüchtiges Zögern aufgefallen war. Er schaute sie an, doch sie wich seinem Blick aus.
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»Ich möchte trotzdem ein EKG machen, nur um sicherzugehen, dass Ihr Herz tatsächlich in Ordnung ist.« »Das ist wirklich nicht nötig«, wehrte Laura ab und sah die bedauernswerte Ärztin mit dem herablassenden Blick der erfahrenen Wissenschaftlerin an. »Glauben Sie mir.« »Ich weiß«, entschuldigte Dr. Kirby sich. »Es ist nicht bekannt, dass es durch eine Taserpistole zu irgendwelchen Herzunregelmäßigkeiten kommen kann, aber im Falle einer Toxizität oder eines bisher nicht festgestellten Herzleidens könnten schwer wiegende Probleme auftreten. Es gab Fälle von Herzstillstand ...« »Wieso sprechen Sie von Toxizität? Ich habe Ihnen doch bereits gesagt, dass ich keine Medikamente nehme.« Dr. Kirby nickte eifrig, sagte jedoch: »Trotzdem möchte ich eine diesbezügliche Untersuchung vornehmen.« »Lassen Sie diese Untersuchung machen, Laura«, warf Kevin ein. »Was ist schon dabei?« Er war jetzt wirklich besorgt. War Laura auf Speed gewesen, hatte sie Glück gehabt, dass sie nicht gleich auf dem Parkplatz draufgegangen war. »Vielen Dank, dass Sie meine Wunden gesäubert haben«, wandte Laura sich an die junge Ärztin. »Sie haben das wirklich gut gemacht, und Sie sind sehr gründlich. Ich werde den Chef der Notaufnahme anrufen und ihm sagen, wie tüchtig Sie sind.« Sie schwang sich von der Behandlungsliege. »Ich finde, dass Sie wenigstens noch ein paar Stunden hier bleiben sollten«, mahnte die Ärztin, »schon wegen der Beule am Kopf. Wir sollten sichergehen, dass Sie keine Gehirnerschütterung davongetragen haben.« Dr. Kirby war wirklich hartnäckig, stellte Kevin fest. »Ich werde darauf achten«, versicherte Laura und schritt aus dem Zimmer. Einen Moment starrten Kevin und die junge Ärztin ihr hilflos nach. Auf dem Korridor legte Kevin eine Hand auf Lauras Arm, um sie zu bremsen. 397
»Sind Sie wirklich okay?« »Ja«, quetschte Laura zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Gehen Sie heim, Laura. Sie möchten doch nicht, dass ich Sie in Sicherheitsverwahrung nehme?« »Könnten Sie das denn?« »Nicht ohne weiteres.« »Wollen Sie mich verhaften?« »Das wäre auch nicht so einfach.« Er hatte keine legale Möglichkeit, sie davon abzuhalten, das zu tun, was sie tun wollte, und das machte ihn wütend. »Aber Sie sind in Gefahr! Man hat Ihnen eine Falle gestellt!« Einen Augenblick schien sie zu zaudern und starrte zu Boden. Wieder durchströmte Kevin eine Woge der Zärtlichkeit. »Ich werde nach den Proben sehen«, sagte Laura. »Falls sie negativ ausgefallen sind, fahre ich nach Hause. Ich glaube nicht, dass es jemand darauf anlegt, mich gleich zweimal in einer Nacht zu töten. Okay?« Sein Handy läutete. »Bitte warten Sie noch einen Augenblick. - Hallo?« »Ich habe das Kennzeichen überprüft. Es gehört zu einem Leihwagen von Hertz.«
Verdammt! Das würde ihn aufhalten. »Okay. Ich komme gleich zur Dienststelle. Wir werden wohl einige Leute aufwecken müssen.« An Laura gewandt, sagte er: »Ich muss leider gleich weg.« »Die Autonummer stimmt also.« Mit einem Kopfnicken deutete sie auf den Zettel. »Bitte, seien Sie vorsichtig«, ermahnte er sie. Sie nickte. Er schaute ihr nach, wie sie ein wenig steif über den Korridor ging. Durch das in die Bluse geschnittene Loch war ihr Verband zu sehen. Er wäre ihr am liebsten nachgeeilt, um sie aufzuhalten, seine Stirn an ihre zu drücken, sie auf den Mund zu küssen 398
und ihr zu sagen, dass sie leichtsinnig war. Stattdessen drehte er sich um und eilte zu seinem Wagen. Sie fand keinen Schlaf. Sie hatte sich nicht einmal ausgezogen. Sie saß auf der Bettkante, ohne das Licht gelöscht und die Vorhänge zugezogen zu haben. Sie hätte länger auf den Auslöser drücken sollen, damit die Doktorin eine größere Ladung abbekommen hätte, aber die Frau war so schnell zusammengesackt, wie eine Marionette mit durchtrennten Fäden. Gail hatte wirklich geglaubt, es hätte gereicht. Bis zum Anschlag hatte sie das Gaspedal durchgetreten; trotzdem hatte die Frau sich bereits bewegt, hatte sich über den Parkplatz zur Betoninsel gezogen. Sie war schnell gewesen, diese Doktorin. Du hast das Lenkrad herumgedreht. Nein, sie war zu schnell gewesen. Du hast das Lenkrad herumgedreht. Ja, das hast du. Im letzten Moment bist du wieder mal schwach geworden und hast das Lenkrad gedreht, ein bisschen nur, aber es hat genügt. Wie lange hatte sie dort gesessen und in den Rückspiegel gestarrt, während die Doktorin die rettende Betoninsel erreichte? Selbst da hätte sie noch etwas tun können.
Die Frau war benommen gewesen - zu benommen, um wegzulaufen. Gail hätte rückwärts fahren und es noch einmal versuchen können. Sie hätte die extra Ladung in ihren Taser geben, zurücklaufen und ein zweites Mal auf die Frau schießen können. Stattdessen hatte sie wie erstarrt im Wagen gehockt, hatte die Doktorin beobachtet und gewusst, dass sie wieder versagt hatte, weil sie zu schwach war, es richtig zu machen. Sie war weggefahren und hatte ein paar Querstraßen weiter gehalten, um den Stoff von den Nummernschildern zu ziehen, falls sie Streifenwagen begegnete. 399
Das hintere Kennzeichen war bereits lesbar gewesen, denn der kleine schwarze Stoffvorhang war nur noch an einer Seite von dem dünnen Draht gehalten worden. 0 Gott, wie lange war das schon so gewesen? Vielleicht erst, seit sie so rasch vom Parkplatz gefahren war. Die Doktorin konnte die Nummer aus der Entfernung und in der schlechten Beleuchtung auf keinen Fall erkannt haben. Außerdem war sie halb bewusstlos gewesen, oder nicht? Als sie die Frau von ihrem Wagen wegzerrte, hatten ihre Lider sich immer wieder geschlossen, und ihre Augen hatten so glasig ausgesehen wie die eines erstickenden Fisches oder so was. Nein, die Doktorin hatte das Nummernschild nicht lesen können. Schwerfällig rutschte Gail vom Bett auf den Boden und versuchte zu beten, so, wie sie es bei David gesehen hatte. Sie spürte, wie ihr Herz hämmerte, ihr großes Walherz, und alles, was sie hervorbrachte, war ein dummes: bitte, o bitte! Sie war schwach, so schwach. Sie musste reden. Aber mit wem? Seit David in ihr Leben getreten war, hatte sie so gut wie alle ihre Bekannten links liegen gelassen. Sie ging zur Arbeit und kam heim, mehr nicht. Sie war eine kleine, schleimige, fette Schnecke in ihrem Haus. Ihre Mutter rief sie kaum noch an, und die Vorstellung, jetzt mit ihr zu reden, ging ihr gegen den Strich. Sie wusste nichts. Niemand wusste etwas über das Wichtigste in ihrem Leben. Das war ihr Geheimnis geblieben, und jetzt war sie ganz allein damit. Bitte, David, melde dich! Hätte er ihr eine Nummer gegeben, hätte Gail ihn jetzt angerufen. Nach ihrem letzten Telefongespräch hatte sie keine Ahnung mehr, wohin Davin gefahren war. Er sagte es ihr nicht; er hatte nur erklärt, er würde sie bald anrufen. Doch Gail wollte sicher sein, dass er zurückkam. Nun aber, da sie wieder versagt hatte - wie konnte er ihr überhaupt noch vertrauen? 400
Bitte, David, ruf an! Kniend blickte sie zum Telefon auf ihrem Nachtkästchen, beschwor es zu läuten. Es wird in den nächsten zehn Minuten klingeln, wenn ich nur innig genug bete, sagte sie sich. Es wird in den nächsten zehn Minuten klingeln, wenn ich den Atem anhalte und es bis zu sechzig schaffe. Und sie betete, sprach stumm die Worte, ohne an ihre Bedeutung auch nur zu denken. In der Dunkelheit schien das Zimmer sich abwechselnd zusammenzuziehen und auszudehnen. Davids Gesicht blickte vom Gemälde auf Gail herab. Ihre Bilder hatten ihm nicht gefallen; das hatte er gar nicht sagen müssen. Sein Blick hatte genügt. Ohne ihn fühlte Gail eine entsetzliche Leere. Ehe er zu ihr gekommen war, hatte sie ihm jeden Tag einen Brief geschrieben und auf eine Antwort von ihm gehofft. Ihr Job war nur ein Zeitvertreib zwischen Aufstehen und Nachhausekommen. Dann sah sie die Post durch und malte sein Bild immer und immer wieder, auf die eine oder andere Art. Sie riss den Hörer beim ersten Läuten hoch. Ihr Herz schlug so heftig, dass einen Moment lang alles vor ihren Augen verschwamm. »Hallo?« »Gail, was ist los?«
Als wüsste er es, als hätte er über sie gewacht. Allein seine Stimme löste Tränen und eine Flut von Worten aus. »Oh, David, ich hab's versucht, ich hab's mit einer Betäubungspistole versucht und wollte sie überfahren, aber sie ist entkommen.« »Wer, Gail? Beruhigen Sie sich.« »Die Doktorin. Ich hab's versucht, hab sie aber verfehlt. Und mein Nummernschild ... ich hab Angst, dass sie es gesehen hat. Ich hab solche Angst. Wann kommen Sie zurück?« 401
Eine kurze Pause. Dann: »Ich liebe Sie, Gail. Tun Sie, was Sie tun müssen.« »David?« Doch er war weg, und da war nur noch diese Leere, die so groß und erschreckend war wie diese Bilder aus dem Weltraum. Behutsam legte Gail den Hörer auf die Gabel. Vielleicht rief er noch einmal an. Vielleicht war er nur unterbrochen worden. Zähl bis fünfzig. Oder lieber weiter. Du musst ihm mehr Zeit geben. Würde sie reden, wenn man sie erwischte? Wie sollte sie wissen, ob sie nicht unbewusst irgendetwas verriet? Was würden sie mit ihr tun? Wenn sie nur daran dachte, was sie mit David gemacht hatten! Sie hatten ihm das Blut regelrecht aus den Adern gesaugt! Bestimmt hatten sie Mittel, auch sie, Gail, zum Reden zu bringen, und sie würde nicht stark und klug genug sein, den Mund zu halten. Tun Sie, was Sie müssen, hatte David gesagt. Wenn du noch einmal anrufst, David, tue ich alles, was du willst. Das Telefon auf ihrem Nachtkästchen blieb stumm. Vorsichtig hob sie den Hörer, nur um sich zu vergewissern, dass sie auch richtig aufgelegt hatte und dass das Freizeichen zu hören war. Nicht dass David es immer wieder vergeblich versuchte und bloß das Besetztzeichen bekam. Doch Gail hörte das Freizeichen. Behutsam legte sie den Hörer wieder auf, riss ihn aber sofort wieder hoch und schleuderte ihn auf den Tisch. Doch das genügte ihr nicht, also nahm sie den ganzen Apparat und zerrte so lange daran, bis die Schnur aus der Wand riss. Dann schmetterte sie den Hörer immer wieder auf das Gerät, bis der Kunststoff zerbrach und die Teile auf den Teppich fielen. David beobachtete sie, er sah alles, aber sie wollte nicht, dass er das jetzt sah. Gail kletterte aufs Bett, stieß die Fingernägel in sein Gesicht, wollte ihm wehtun, wünschte, es wären seine richtigen Augen, nicht die gemalten. Immer wieder bohrte sie die Nägel in die Leinwand, dass die Farbe 402
unter ihren Fingern bröckelte. Doch das genügte nicht. Sie nahm die Nagelfeile von ihrer Frisierkommode und stach sie in die straffe Leinwand. Siehst du? Siehst du, was ich tun kann? Wieder stach sie mit der Feile zu und riss sie schließlich durch die Leinwand. Sie hielt inne. Ihr Herz hämmerte. Sie blickte auf sein Porträt. Sein Gesicht hatte tiefe Wunden, hing in Streifen herab - und dahinter war das Nichts. Als wäre sie auf ihn losgegangen. Was habe ich getan? Was habe ich getan? Sie bereute ihre gotteslästerliche - ja, gotteslästerliche Untat und vermochte nur noch Verachtung vor sich selbst zu empfinden. Eine kalte, stürmische See tobte in ihr. Sie stellte sich blaue Fingernägel vor, blaue Lippen. Ihr Blut erstarrte. Und dann löste eine schreckliche Ruhe irgendetwas in ihr, etwas noch Namenloses. Langsam ging sie zur Küche. Es war ein Haus wie alle anderen in der Straße, ein hässlicher Vorortbungalow hinter einer kleinen, rechteckigen Rasenfläche. Keine Bäume lockerten den Anblick der Betoneinfahrten, der Aluminiumgeländer und der gebleichten Ziegel auf. Der Wagen stand vor dem Haus. Kevin fuhr um den Block, ehe er einige Häuser entfernt auf der anderen Straßenseite parkte. Soweit er sehen konnte, brannte kein Licht im Haus. Es war jetzt drei Uhr fünfzehn. Auf dem Beifahrersitz lag eine Kopie des Vertrages von Hertz, die ihm die Dienststelle gefaxt hatte. Darauf waren der Name der Frau, die Nummer ihrer Master Card und die Führerscheinnummer angegeben. Der Rest war leicht. Gail Newton, 1462 Clark Street, Cicero. Wenn er sich nicht täuschte, war sie auch die Frau, die David nach seiner Flucht abgeholt und bei sich untergebracht hatte. Dass es eine Frau war, beruhigte ihn: Lauras Angreifer war eine Frau gewesen. Doch 403
dass eine Frau vorsätzlich tötete ...? Statistisch gesehen waren keine solchen Fälle bekannt. Und warum Mord mit einem Leihwagen? Sie konnte doch nicht so naiv sein zu glauben, dass man ihre Identität nicht herausfinden würde. Shaugnessy hatte den Namen der Frau ins DMV-System eingegeben und das Kennzeichen ihres Privatwagens ermittelt, ein roter Honda Civic Hecklader. Während Kevin seine Erkundungsrunden drehte, hatte er das Auto weder auf der Straße noch in der kleinen Einfahrt bemerkt. Die Frau hatte David den Wagen gegeben. Das würde seine Mobilität erklären. Kevin blickte auf das Vertragsdatum; es lag zwei Tage zurück. Es war das Datum, an dem die Überwachungskamera David in der Nähe von St. Louis aufgenommen hatte. Und vergangene Nacht hatte ein Tankstellenwärter einen Mann in einem roten Honda Civic von einem öffentlichen Fernsprecher telefonieren sehen. Das passte. Oder auch nicht. Kevin seufzte frustriert. Es bestand immer noch die Möglichkeit, dass Laura das Kennzeichen nicht ganz richtig notiert hat, dass vielleicht eine Zahl oder ein Buchstabe verkehrt waren, oder vielleicht das ganze verdammte Ding. Ihre Aussage würde einen Richter nicht beeindrucken, wenn er, Kevin, sich rückwirkend einen Gerichtsbeschluss besorgen wollte, wie er den Leuten von Hertz versprochen hatte. Genauso unwahrscheinlich war es, mit solchen Indizien die Genehmigung zur Telefonüberwachung oder einen Durchsuchungsbefehl zu bekommen. Was sollte er tun? Vielleicht an jede Haustür klopfen und mit den Nachbarn reden? Verdammt! Er schloss leise die Wagentür hinter sich und überquerte die verlassene Straße zum Haus der Frau. Irgendwo bellte ein Hund. Er berührte die Motorhaube des Leihwagens; es war keine Wärme durchs Metall zu spüren. Bitte, Laura, hab Recht! Als er an der Hausseite entlang zum hinteren Gärtchen schlich, sah er aus einem Fenster gedämpften Lichtschimmer aufs 404
Gras fallen. Geduckt bog er um die Hausecke. Das Fenster war so hoch, dass er sich ein paar Schritte vom Haus entfernen musste, um hindurchblicken zu können. Er sah den oberen Teil eines Kühlschranks und einen Küchenhängeschrank. Rasch duckte er sich, denn eine Frau kam ins Blickfeld, schaute aber nicht in seine Richtung. Ist es nicht etwas ungewöhnlich, Gail, um drei Uhr dreißig noch voll bekleidet durch die Zimmer zu geistern? Sie trat vor den Hängeschrank und schaute nach unten, auf Schubläden, wie Kevin vermutete, und schien etwas herauszunehmen. Doch er konnte nicht sehen, was es war. Gail war eine übergewichtige, offenbar vom Leben enttäuschte Frau. Auf eine theoretische Frage, ob er sie für fähig hielt, einen Mord zu begehen, hätte Kevin gelacht. Doch Laura hatte sie als korpulente, kräftige Frau beschrieben, die einen kleineren Mann fast mühelos über den Parkplatz zerren konnte. Kevin fand, dass ihr Gesicht auf unheimliche Weise reglos war, während ihre Hände in der Lade kramten. Um die Augen war ihre Haut fleckig und geschwollen, als hätte sie geweint. Dann drehte sie sich um, jedoch zu schnell, als dass Kevin hätte sehen können, was sie in den Händen hielt. Das Licht ging aus, und kurz darauf fiel schwacher Schein von irgendwo im Haus in die Küche. Kevin schaute um die Hausecke die Seite entlang, von der er gekommen war. Ein kleines Fenster - aus dem dicken, strukturierten Glas zu schließen, das des Badezimmers - war jetzt beleuchtet und stand einen Spalt weit offen. An die Hausmauer gedrückt, blieb Kevin neben dem Fenster stehen, während sein leerer Magen laut knurrte und sein Herz aufgeregt hämmerte. Er konnte etwas hören: Wasser, das in ein Becken floss, und das Quietschen eines Wasserhahns. Dann Stille. Dann ein Stöhnen. Etwas Schweres, Hartes prallte zu Boden. Wieder Stille. Dann leises Schluchzen, das sich anhörte, als würde es durch ein 405
Handtuch gedämpft. Das Geräusch wurde lauter, und Kevin erkannte es als Ausdruck schrecklicher Angst. Seine schweißfeuchte Hand schloss sich um den Griff seiner Glock. Er rannte zurück zur Vorderseite und warf sich mit aller Wucht gegen die Haustür. Auch nach dreimaligem Anrennen hielt sie stand. Er feuerte einen Schuss aufs Schloss, machte einen Schritt zurück und trat nach dem Türblatt. Splitternd und krachend gab die Tür nach, und er war im Haus. »FBI! Wenn Sie Hilfe brauchen, rufen Sie!« Die einzige Beleuchtung war der Schein der Straßenlampe, der durch die Tür fiel; weiter den Flur hinunter drang ein wenig Licht aus einer spaltweit offenen Tür. Das Badezimmer. Kevin handelte schnell, aus reinem Reflex. Seine Augen versuchten alles aufzunehmen, wenngleich er wusste, welch gutes Ziel er jetzt bot. Dennoch ging ein pedantischer Teil seines Hirns die Quantico-Checkliste durch - wie ein Zimmer gesichert werden musste, ehe man es stürmte -, während er sie gleichzeitig ignorierte. Keine Zeit! Die Pistole im Anschlag, stieß er mit dem Fuß die Tür des Badezimmers ganz auf. Ein Waschbecken mit blutigem Wasser zog seinen Blick an, ebenso die roten Flecken auf dem flauschigen rosa Bodenbelag. Doch es war niemand im Zimmer. Großer Gott! Er drehte sich fast direkt in den Weg des Messers, riss jedoch instinktiv den Kopf zurück. Jedoch nicht schnell genug. Kein Schmerz, lediglich eine sickernde Feuchtigkeit über dem linken Wangenknochen, und sein Auge schwamm plötzlich in Tränen. Trotzdem konnte er sie sehen. Blut strömte aus ihren geöffneten Pulsadern über die Unterarme, während sie mit dem Tranchiermesser auf ihn losging. Die Linke auf seine Wunde gepresst, taumelte Kevin zurück und richtete die Pistole auf Gails Brust. Sie stolperte auf ein Knie, und das Messer entglitt ihren blutigen Fingern. Obwohl vom Blutverlust geschwächt, 406
wollte sie nach dem Messer greifen, doch Kevin stieß es den Flur hinunter. »Verschwinden Sie«, keuchte Gail. »Verschwinden Sie!« Sie versuchte sich aufzusetzen und sank dabei gegen die Wand. Heftig zitternd, starrte sie mit einem Ausdruck des Erstaunens auf ihre Handgelenke. Im dämmrigen Korridor und durch das Blut in seinem Auge konnte Kevin nicht erkennen, wie tief ihre Wunden waren, auch nicht, ob sie die Pulsadern quer durchschnitten hatte oder der Länge nach. Quer wäre es nicht so schlimm; im anderen Fall jedoch bestand die Gefahr, dass sie in Kürze verblutete. Er machte ein paar Schritte rückwärts und rief den ärztlichen Notdienst an. »Wickeln Sie sich Frottiertücher um die Handgelenke! «, rief er ihr zu, doch sie blieb reglos sitzen. Kevin hätte gern nach seinem Gesicht gesehen, wollte aber nicht an ihr vorbei ins Bad. Selbst geschwächt war sie noch kräftig und massig genug, ihn umzuwerfen, wenn sie sich mit vollem Gewicht auf ihn stürzte. Er blickte auf seine blutüberströmte Linke; dann presste er sie wieder auf die Wange. »Verdammt«, murmelte er. »Gail! Stehen Sie auf!« Sie schien zu schlafen. Er löste die Handschellen vom Gürtel und spreizte die Beine so weit, dass sie ihn nicht aus dem Gleichgewicht bringen konnte. Sie bewegte sich schwerfällig und versuchte halbherzig, ihn wegzuschieben. Beide Schellen schnappten ein. Erleichtert sah er, dass die Schnitte quer über die Adern verliefen und das Blut langsam pulsierte. Er wich zurück und blinzelte, um besser sehen zu können. Hinter ihm befand sich eine dunkle Tür. Kevin streckte eine Hand um die Ecke und drückte einen Lichtschalter. Er schaute sich um, so gut es ging. Ein Schlafzimmer. Das Bett stand so nahe an der Tür, dass er schnell ins Zimmer tauchen und sich zwei Kissen schnappen konnte. Er machte sich daran, die Bezüge herunterzuziehen, um sie als Verband zu benutzen, als sein Blick auf die Wand über dem Bett fiel. 407
Ein Gemälde hing dort, und obwohl ein großer Teil des Gesichts grotesk herunterhing wie Fetzen abgezogener Haut, war offensichtlich, dass es sich um ein Porträt von David Haines handelte. Auf dem Positiv waren drei parallele Reihen DNSFragmente, der Länge nach zu Leitern angeordnet. Rachel. David Haines. Sean. Laura saß mit hängenden Schultern an ihrem Labortisch und starrte auf das Ergebnis. Ein Kind hat genau eine Hälfte der DNS jeden Elternteils. Jedes DNS-Fragment Seans müsste zu einem seiner Eltern zurückverfolgbar sein. Es dürfte kein noch so kleines Stückchen geben, das nicht passte. Laura scannte es in den Computer; dann schaute sie es sich noch einmal an, um sich zu vergewissern. Schließlich schaltete sie das Licht in ihrem Labor aus und fuhr nach Hause, um zu schlafen.
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Er setzte sich auf den einzigen Stuhl neben dem Bett. »Ich möchte einen Anwalt.« »Den bekommen Sie, Gail, das ist kein Problem. Sobald wir Sie zur Zelle bringen, wird bereits ein 408
Anwalt auf Sie warten. Vorher werden Sie nicht vernommen. Aber da ist einiges, das ich Ihnen sagen möchte.« Im Krankenhaus hatte man ihre Verletzungen behandelt, die Schnittwunden verbunden und ihre Unterarme an die Bettseiten gefesselt. Vor der Tür hielt ein Polizist Wache. Eine Schwester hatte ihm erzählt, dass Gail eine Bluttransfusion ebenso verächtlich abgelehnt hatte wie Schmerzmittel und Antibiotika. Wie sie mit ihrem krankhaft fahlen, um die Augen jedoch aufgedunsenen und glühend roten Gesicht dalag, tat sie Kevin Leid, obwohl sie erst vor ein paar Stunden versucht hatte, ihm das Gesicht aufzuschlitzen. Er hatte noch Glück gehabt und war mit zwölf Stichen und einer Tetanusspritze davongekommen. Ein paar Zentimeter höher, und er hätte nach Ansicht des Arztes ein Auge verloren. Gail blickte ihn nicht an. »Es sieht nicht gut für Sie aus, Gail. Wir haben Dr. Donaldsons Augenzeugenbericht. Sie hat Sie gesehen, Gail, und auch das Nummernschild des Leihwagens. Dadurch haben wir Sie gefunden. Wir haben übrigens auch die Taserpistole entdeckt. Unser Team durchsucht gerade Ihr Haus. Ich habe vor ein paar Minuten mit den Leuten gesprochen. Wissen Sie, was sie entdeckt haben? Ihr Tagebuch, Gail. Sie führen es seit dem Tag, als David Haines zum ersten Mal festgenommen wurde. All die Zeitungsausschnitte, die Fotos, die auf die letzte Seite geklebte Haarsträhne von David mit dem Datum von zwei Tagen nach seiner Flucht. Wir wissen jetzt, dass Sie ihm Unterschlupf gewährt haben. Sie haben einen Mordversuch begangen und einem Verbrecher Unterschlupf gewährt. Das sind sehr ernste Anklagen, Gail! « Er erwartete nicht, dass sie jetzt ein tränenreiches Geständnis ablegte, fand aber, dass es nicht schaden konnte, wenn er ihr richtig Angst einjagte. Auf ein Geständnis war er gar nicht so sehr aus - er wollte mehr als das: Er wollte wissen, wo David Haines war. Um das zu erfahren, musste er Gail dazu bringen, 409
Haines zu verraten. Das aber war so gut wie unmöglich in der kurzen Zeit, die ihm zur Verfügung stand. Wenn er Gail so ansah, konnte er sich vorstellen, wie einsam und voller Enttäuschungen ihr Leben gewesen sein musste. Bis David kam. Wieder tat sie ihm Leid. Er konnte sich ausmalen, wie es begonnen hatte. Sie hatte David einen überschwänglichen Brief geschrieben, dem dieser auf Anhieb entnommen hatte, dass er die Frau für seine Zwecke benutzen konnte. Und ehe es Gail bewusst war, sah sie durch David ihre Chance, endlich etwas Besonderes zu sein, an etwas zu glauben, das sie aus ihrer Einsamkeit befreite, sie von dem Spott erlöste, dem sie ausgesetzt war, und sie zu etwas Seltenem, Großartigem, ja Heiligem machte. Es war David, der diese wunderbare Transformation ermöglichte. Ohne ihn würde das alles wieder vergehen. Gail hatte sich die Pulsadern nicht aufgeschnitten, weil sie Gott enttäuscht hatte, sondern weil sie David enttäuscht hatte und fürchtete, er käme nie mehr zurück. Kevin stellte sich ihr Gefühl des Verlusts vor - es war wie der Nachgeschmack der Medikamente, die er während seiner langen Depression hatte nehmen müssen. Er hatte sich damals
gefragt, wie viele Pillen er hinunterwürgen musste, um dem Schrecken seines Wachzustands zu entgehen für immer. Wäre nicht seine Tochter gewesen, hätte er dem Wispern in seinem Kopf vielleicht gehorcht. Wieder blickte er auf den Verband um Gails Handgelenke und schauderte. »Ich weiß, dass Sie Dr. Donaldson nicht töten wollten«, begann er. »David ist ein charismatischer Mann, ein sehr gescheiter Mann, und er gab Ihnen etwas, woran Sie glauben konnten. Ich weiß, warum Sie das wollten. 410
Ich kann es ehrlich verstehen. Auch ich habe lange Zeit in meinem Leben an etwas Gutes glauben wollen. Vor Jahren hatte ich mich einer Sekte im Westen angeschlossen, was zu einem großen Teil an ihrem religiösen Führer lag, dem Elder James. Er war ein erstaunlicher Mann, klug und fromm. Wenn jemand wie er glaubt, sagte ich mir damals, muss etwas dran sein. Nur, weil dieser Mann war, wie er war, glaubte auch ich. Ich glaubte alles. Ich fand es richtig, Kinder nachts zur Strafe in den Keller zu sperren. Ich fand es richtig, dass Elder James seine fünf Frauen verprügelte. Und warum sollte ich zweifeln, wenn er sagte, dass Juden und Muslims Sendboten des Teufels seien? Sein Plan, das ganze Land zu übernehmen und kurz vor der Endzeit alle umzubringen bis auf uns, seine Anhänger, damit wir sicher wären, erschien mir vernünftig. Es gab dort eine Familie mit zwei Kindern. Eines davon, Jacob, erkrankte ernsthaft, doch Elder James gestattete den Eltern nicht, Jacob zu einem Arzt zu bringen. Würden sie es doch tun, sagte er, brauchten sie gar nicht erst zurückzukommen. Sogar das fand ich in Ordnung - es war eben ein Teil von Gottes Plan. Es ist erstaunlich, was man sich selbst zu glauben veranlassen kann, nicht wahr?« Er hielt inne, überrascht von der Bitterkeit, die aus seiner Stimme sprach. »Ich sah es nie aus eigener Sicht«, fuhr er fort. »Wissen Sie, wann es endlich soweit war? Ich fuhr eines Nachts einen Lieferwagen zurück zur Farm. Die Straßen waren nass, und ich war müde. Der Wagen kam ins Schleudern und kippte um. Ich brach mir beide Beine. Im Krankenhaus bat ich, Elder James anzurufen. Wissen Sie, wer kam, um mich abzuholen? Meine Mutter. Elder James durfte nicht mit solchen Kleinigkeiten belästigt werden, jetzt, da ich arbeitsunfähig war. So lange ich nicht schuften konnte, war ich bloß eine Belastung, also schrieb er mich ab.« Es war ein Eingeständnis, das Kevin selten machte, auch sich selbst gegenüber, denn er hielt es für eine 411
schlimme Charakterschwäche. Doch Gail Newton erzählte er davon, weil sie ebenfalls litt, weil sie ein Opfer war wie er, und weil Kevin hoffte, sie von David losbringen zu können. »Ich vertraute Elder James. Ich liebte ihn wirklich, doch er verriet mich. Er war meine Liebe und mein Vertrauen nicht wert, genau wie David das Ihre nicht wert ist. Ihr werdet sie an ihren Früchten erkennen ... Davids Früchte sind faul, Gail. Er tötet Menschen. Ehemänner, Väter und Mütter. Er bat Sie, für ihn zu töten, doch Sie wollten es nicht, nicht in Ihrem Herzen. Das weiß ich, nur indem ich Sie jetzt anschaue. Und ich weiß, was Sie jetzt denken. Sie denken, Sie hätten ihn im Stich gelassen, nicht wahr? Dabei ist es genau umgekehrt. David Haines hat Sie hereingelegt, Sie benutzt. Es ist ungerecht, dass Sie ins Gefängnis müssen, während er mit Ihrem Wagen nach Mexiko fährt. Aber so muss es nicht sein.« Gail presste die Lider zusammen. Kevin stand auf und ging zum Fußende des Bettes. Er war plötzlich so erschöpft, dass ihm fast schwarz vor den Augen wurde. »Sobald die Ärzte Sie entlassen, bringen wir Sie zu unserer hiesigen Dienststelle des FBI. Wir werden Ihre Fingerabdrücke nehmen, Fotos von Ihnen machen, und dann wird man förmlich Anklage gegen Sie erheben und die Untersuchungshaft verhängen. Eine Freilassung auf Kaution wird es in Ihrem Fall nicht geben. Und bis zu Ihrem Prozess wird es Monate dauern.« Sie reagierte nicht. Vielleicht war sie klüger, als er gedacht hatte. Ein Anwalt könnte behaupten, sie hätte David Haines nie persönlich gesehen, und dass die Taserpistole eine Waffe zur Selbstverteidigung war, und dass Laura Donaldson keine zuverlässige Zeugin wäre. Und dass er, Kevin, unerlaubt in ihr Haus eingedrungen war und Gail ihn mit dem Messer attackiert hätte, weil sie ihn für einen Einbrecher hielt. Er blickte auf ihren Verband. »Mit einem haben Sie Recht. Er wird nicht zurückkommen. Er hat Sie 412
aufgegeben. Sie konnten nicht für ihn töten, nicht einmal sich selbst. Sogar das haben Sie vermasselt.« Sie riss die Augen auf und starrte ihn voller Hass an. Gut. Kevin zwang sich zu einem Lachen. »Sie wissen selbst, Gail, dass es keine lebensgefährlichen Schnitte waren. Sie hätten noch rechtzeitig selbst zum Krankenhaus fahren können, bevor Sie verblutet wären. Sie hatten gar nicht vor, sich zu töten. Sie wollten an Davids Mitleid appellieren. Aber Mitleid ist ihm völlig fremd. Er denkt überhaupt nicht an Sie. Er wird nicht zurückkommen. Warum sollte er? Sie haben ihm Unterschlupf gewährt, solange es gefährlich für ihn war. Sie haben ihm ein Gewehr gekauft, ihn mit Kleidung und Essen versorgt. Er hat Ihren Wagen, Gail. Was brauchte er mehr? Und mehr wollte er auch gar nicht.« Er seufzte und verzog den Mund zu einem Ausdruck des Bedauerns. »Tut mir Leid, Gail, aber Sie werden sich daran gewöhnen müssen, die Wahrheit zu hören. Sie haben David Haines nicht das Geringste bedeutet.« Er fühlte sich gemein und schmutzig. Es konnte ja sein, dass David sie gut behandelt, nie belogen und ihr nie etwas versprochen hatte. Aber er musste darauf setzen, dass es zumindest eine gewisse Täuschung seinerseits und eine ziemlich große Selbsttäuschung ihrerseits gegeben hatte. »Sie haben tatsächlich geglaubt, dass er Sie liebt? Haben Sie sich Hochzeitsglocken erhofft, Flitterwochen in Südamerika, ein kleines Strandhaus aus Palmwedeln?« »Ich will nicht mit Ihnen reden!«, sagte Gail. »Das müssen Sie auch gar nicht, Gail. Es genügt, wenn ich rede. Ich überlege, was er Ihnen gesagt hat. Lassen Sie mich raten: dass Sie in Ihrem Innern schön sind, und dass nur das zählt. Dass Sie eine gute Seele haben und dass Sie sich allein darüber Gedanken machen müssen, Gott zu dienen, und dass Sie Ihr Kreuz tragen sollen, so gut Sie es können. Sie haben sich eingebildet, dass Haines sich etwas aus Ihnen 413
macht, aber seien wir doch ehrlich, Gail. Schauen Sie in den Spiegel. Was sollte er an Ihnen anziehend finden?« »Zum Teufel mit Ihnen! Verschwinden Sie!« Sie kniff die Lippen zusammen. Ihr Busen wogte, und der Zorn ließ rote Flecken auf ihrem Gesicht erscheinen. Kevin zwang sich, bis zehn zu zählen. Er versuchte, sich zerknirscht zu geben und gleichzeitig den Keil ganz tief hineinzutreiben, um Gail dazu zu bringen, dass sie dachte: Wenn ich David nicht haben kann, soll auch keine andere ihn haben! »Mit Ihrem Aussehen hat es eigentlich gar nichts zu tun, Gail, ehrlich. Gar nichts«, behauptete er ruhig und eindringlich genug, wie er hoffte. »Selbst wenn Sie wunderschön wären, hätte es keinen Unterschied gemacht. Er wollte nur zu Rachel und seinem Sohn zurück.« Gails flüchtiges Zusammenzucken wirkte weniger gekränkt als verwirrt, und einen Augenblick fragte sich Kevin, ob er jetzt falsch vorgegangen war. Sofort begann sein Verstand zu forschen und seine Logik zu überprüfen. Gail musste die Frau sein, die sich am Telefon als Rachel ausgegeben hatte. Kevin glaubte allerdings nicht, dass Gail diese ausgeklügelte Geschichte selbst erfunden hatte. Zweifellos hatte David ihr das alles weisgemacht, damit sie Laura zurück ins Labor lockte. Und David hatte Gail bestimmt versichert, er hätte alles nur erfunden. Jetzt wollte Kevin sie dazu bringen, die Geschichte für wahr zu halten. Doch irgendetwas war nicht so, wie es sein sollte! Hatte er es verkehrt angestellt und zu viel gesagt? »Nun kommen Sie schon, Gail«, fuhr er so ruhig fort, wie er konnte, »er hat Ihnen doch von den beiden erzählt, aber Sie haben gedacht, es wäre nur ein Trick für Dr. Donaldson, nicht wahr?« »Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden!«, entgegnete sie. 0 Gott, dachte er, ich fürchte, das ist die Wahrheit. Aber vielleicht täuschte er sich nur und legte Gails Verhalten falsch aus. Denn wenn sie die Anrufe nicht gemacht 414
hatte, wer dann? Er versuchte das Problem zur Seite zu schieben, um nicht aus dem Konzept zu geraten. Er sagte: »Auch er wusste es lange Zeit nicht, Gail. Eine große Überraschung für uns beide, nicht wahr? Ein Kind mit der Frau zu haben, die ihn zu den New Apostles gebracht hat.« »Sie sind ein Lügner!«, rief sie. »Es ist ja auch nur zu verständlich. Sie hatten so viel gemein, nicht bloß die gleichen Interessen. Sie waren beide jung, attraktiv, leidenschaftlich. Ich schätze, Sean dürfte jetzt sechs sein.« »Er hat keinen Sohn!« Kevin schnaubte und schüttelte traurig den Kopf. »An Davids Geschichte ist mehr, als Sie in Ihrem Tagebuch gesammelt haben, Gail.« »Das würde ich wissen!« »Sie glauben doch nicht etwa, dass wir den Medien alles mitteilen? Ich bin Jahre hinter David Haines her gewesen, trotzdem weiß ich nicht alles über ihn. Soll ich Ihnen sagen, was ich nicht weiß? Wo Rachel und Sean leben. Und dorthin ist David unterwegs. Das ist nur natürlich, nicht wahr - zu der Frau zurückzukehren, die man liebt, und zu seinem Sohn, den man seit Jahren nicht gesehen hat. Es wäre das Allererste, wohin ich wollte. Zurück zu den Menschen, die man liebt.« Noch während er sprach, erkannte er, wie seine Lügen eine unbequeme, aber unleugbare Plausibilität annahmen. Gail war wieder verstummt, doch ihre Selbstbeherrschung ließ nach, und ihr Blick schweifte unruhig über die Wände. »Gail, Sie wissen, dass Sie ins Gefängnis kommen, nicht wahr? Helfen Sie uns herauszufinden, wohin David fährt, dann unterstützen wir Sie. Wir werden dafür sorgen, dass Sie Strafmilderung bekommen, und dass man Sie vorzeitig auf Bewährung entlässt. Wir können das, Gail, wenn Sie uns ein bisschen helfen.« Sie weinte jetzt. Das war gut. Ein Durchbruch. Kevin spürte, wie seine Augen vor Mitgefühl feucht wurden. 415
Er nahm ein Papiertaschentuch und wollte damit ihre Wangen abtupfen, doch sie riss ihr Gesicht zur Seite. »Ich muss mich übergeben!« Er nahm die nierenförmige Schale vom Tisch und hielt sie ihr mit einer Hand unter den Mund, während er mit der anderen ihr Haar zusammenraffte. Als sie fertig war, steckte er ihr den Strohhalm des Wasserbechers zwischen die Lippen, damit sie den schlechten Geschmack ausspülen konnte. Dass sie sich erbrach, ermutigte ihn, denn es bewies zumindest Besorgnis und Bestürzung, vielleicht sogar Bedauern. »Geht's wieder?« Sie schwieg, doch die Tränen strömten über ihr pausbäckiges Gesicht. Sie sah wie ein verstörtes Kind aus. »Übrigens, Ihrer Katze geht es gut«, versicherte er ihr. »Wir haben eine Ihrer Nachbarinnen gebeten, sich einstweilen um sie zu kümmern.« »Sie mochte David«, murmelte Gail elend, presste die Lider zusammen und fing heftig zu schluchzen an. David lehnte sich zurück und wartete. Er fragte sich, ob er die verflixte Katze hätte mitbringen sollen. Gail lief die Nase, und diesmal gestattete sie Kevin, dass er sie mit einem Papiertaschentuch abwischte.
»Ich wollte es nicht tun«, schniefte sie. »Ich hab es nur getan, weil ...« »... weil er es von Ihnen verlangt hat, ich weiß.« »Aber ich konnte es nicht. Ich hab das Lenkrad herumgedreht. Im letzten Moment hab ich die Augen geschlossen und das Auto zur Seite gelenkt, und wie ich zurückgeschaut und gesehen habe, dass die Frau sich bewegte, war ich ... erleichtert.« »Das haben Sie richtig gemacht.« 416
Zum ersten Mal blickte sie ihm ins Gesicht. »David hat es mir nicht gesagt.« »Wohin er wollte?« »Von ihr und seinem Sohn.« Wieder glaubte er ihr. Doch wenn es nicht Gail gewesen war, die Laura angerufen hatte, wer dann? Er dachte rasch über die möglichen Erklärungen nach. Eine weitere Komplizin Haines' in Seattle? Ein hinterlistiger Witzbold? Rachel? Die echte Rachel? »Ich weiß, Gail. Betrogen zu werden, ist sehr schmerzlich. Und wenn Sie etwas wissen über ...« »Er hat mir nichts gesagt. Er hat mir nie etwas gesagt.« »Wann hat er Sie verlassen?« »Vor drei Tagen.« »Haben Sie seither von ihm gehört?« »Ja.« »Wann?« »Zur gleichen Zeit, wie er mit Ihnen geredet hat.« Sie lächelte, als freue es sie, ihn zu überraschen. Kevin spürte ein unangenehmes Gefühl, als würde jemand mit Sandpapier über seinen Nacken streichen. »Ich verstehe nicht ...« »Als er Sie am frühen Morgen anrief. Erinnern Sie sich nicht? Das Gespräch war ziemlich lang.« »Doch, ich erinnere mich. Er war in Houston.«
Gail schüttelte den Kopf. Jetzt war sie beinahe eifrig bei der Sache, als würde sie endlich erkennen, dass sie nichts zu verlieren hatte. Vielleicht war sie auch bloß froh, dass sie etwas Bemerkenswertes getan hatte, das ihr die ungeteilte Aufmerksamkeit eines Mannes sicherte. »Nein, Lincoln in Nebraska. Ich habe es so arrangiert, dass es den Anschein hatte, er würde aus Houston anrufen.« 417
»Wie haben Sie das angestellt, Gail?« Er bemühte sich, seine Stimme freundlich, sogar bewundernd klingen zu lassen, obgleich sein Magen sich verkrampfte. »Mein Arbeitsplatz bei Ameritech ... « »Sind Sie bei der Vermittlung?« »Bei der Auslandsauskunft. Ich kann so gut wie jede Nummer herausfinden. Ich habe für David eine Menge nachgeforscht. Ich hab die Nummer seines Bruders herausgefunden. Und Ihre.« Jetzt trumpfte sie auf. Es war die gleiche Art abscheulicher, kaum verhohlener Häme, wie man sie von unzähligen dümmlichen Fernsehtalkshows im Überfluss kannte, wenn die Gäste schamlos ihre uninteressanten intimen Geheimnisse und Peinlichkeiten zum Besten gaben. »Ich schlief mit der lesbischen Freundin meiner Tochter!« - »Ich hatte Verkehr mit meinen Hunden!« - »Seht mich an. Ich rede im Fernsehen, also bin ich!« »Und Sie konnten es so aussehen lassen, als riefe David von Houston aus an, obwohl er in Wirklichkeit in Nebraska war?« Großer Gott! »Nun, ich brauchte zuerst jemand in Houston, der den Anruf für mich buchte.« »Wer ist in Houston?« Sie zuckte die Schultern. »Er hat nie Namen genannt, und ich hab nie gefragt.« Nebraska? Warum ausgerechnet Nebraska? Er stellte sich eine Karte auf der kahlen Krankenzimmerwand vor.
Wohin konnte man sich von Nebraska aus begeben? Eigentlich überallhin - nach Norden, Süden, Osten, Westen. Aber angenommen, David kehrte nicht auf dem gleichen Weg zurück, den er genommen hatte, sondern war jetzt von St. Louis aus, wo er zuletzt gesehen wurde, unterwegs ... nach Wyoming, Montana, nordwärts über die kanadische Grenze. Es wäre nicht das Klügste, aber vielleicht wartete jemand auf 418
der anderen Seite auf ihn. David hatte Post aus Kanada bekommen, wie einer der Zensoren sich erinnert hatte. Und wenn er nicht nach Kanada unterwegs war, konnte er immer noch westwärts in den Bundesstaat Washington fahren. Seattle. Er fuhr nach Seattle, um Rachel und Sean zu finden! Nein, das war Blödsinn. Aber warum machte er sich so viel Mühe, alle in die Irre zu führen? Weil er unbedingt zu einem ganz bestimmten Ort musste? Oder etwas ganz Bestimmtes vor hatte? »Gail, haben Sie eine Ahnung, warum er in Nebraska war? Hatte er dort irgendwelche Anhänger? Jemand, der ihm geholfen haben könnte?« »Er fährt zu ihnen, nicht wahr?« Wieder spiegelten sich Schmerz und Verzweiflung auf ihrem Gesicht. »Er fährt zu ihnen und kommt nie, nie, nie mehr wieder!« Es hörte sich an, als sagte ein Kind ein herzzerreißendes Mantra auf; dabei warf sie den Kopf auf dem Kissen hin und her und zerrte an ihren Fesseln. Kevin wollte sie mehr fragen, doch ihr Weinen nahm kein Ende. So konnte er nur ihren Arm tätscheln und sie mit Lügen trösten, bis die Schwester mit einem Beruhigungsmittel kam. »Ich glaube, er ist unterwegs nach Seattle.« Kevin raste über die JFK, das Handy zwischen Kopf und Schulter, während er den Wagen mit einer Hand auf die linke Spur lenkte, neben einen Fernlaster mit achtzehn riesigen Reifen. Hughs Stimme schwand immer wieder, und Kevin drückte das Gerät ans Ohr, damit er auch wirklich alles mitbekam. »Kevin, er ist in Houston.« »Hören Sie, ich habe Gail Newton befragt. Sie arbeitet bei der Auslandsauskunft von Ameritech. Haines hat mich gar nicht aus Houston angerufen, sie hat es nur so aussehen lassen. In Wirklichkeit war er in Nebraska.«
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Er überholte den Ferntransporter, und sogleich wurde die Verbindung besser. Er konnte sogar Luna in Hughs Büro hecheln hören. »Kevin, er hat vor drei Stunden wieder einen Arzt ermordet. In Houston. Ich habe soeben mit Mitch gesprochen.« »Hat er Haines erwischt?« »Nein, aber wir haben einen Augenzeugen, der ihn fliehen sah. Mitch ist zuversichtlich, dass Haines uns in den nächsten vierundzwanzig Stunden in die Falle geht.« »Das war nicht Haines. Das war einer seiner Jünger. Irgendein Typ aus Houston.« »Wer sagt das?« »Gail. Er ist derjenige, der den Anruf von dort gemacht hat. Gail hat ihn dann zu Haines in Nebraska durchgesteckt. Er hat den Arzt getötet.« »Woher wollen Sie wissen, dass Gail Sie nicht belügt? Lassen Sie sich doch nichts vormachen, Kevin. Wir haben eine Leiche dort unten. Wir haben einen Zeugen, der Haines genau beschrieb, sogar seinen kahl rasierten Schädel. Das glaube ich viel eher als Gails Story. Ach, übrigens, ihr Anwalt ist stocksauer. Er sagt, Sie hätten Gail im Krankenhaus vernommen, als sie sich noch nicht einmal erholt hatte ...« »Ich hab ihr gesagt, dass sie nicht mit mir zu reden brauchte.« »Er behauptet, Sie hätten ihr arg zugesetzt. Der Wächter vor der Tür hat gehört, dass Sie lange geredet haben. Das ist nicht zulässig, Kevin.«
»Das spielt keine Rolle.« Er hörte Luna im Hintergrund bellen. »Luna, komm her, Mädchen! Hinlegen! Leg dich hin! Sie sieht wohl einen anderen Hund durchs Fenster ... Hören Sie, Kevin, Gail hat Ihnen da etwas aufgetischt, um Haines zu helfen.« Er dachte an ihre Tränen, an das Leid in ihrem verstörten Gesicht. Natürlich hatte er gewusst, dass sie 420
versuchen würde, ihn zu täuschen, aber dass sie es so überzeugend fertig gebracht hätte, glaubte er nicht. So klug war sie nun wirklich nicht, die Tränen und den Schmerz nur als Show für ihn zu inszenieren, damit das FBI die Sondereinheit nach Seattle verlegte. »Ich weiß nicht, Hugh. Der Supermarkt in St. Louis, dieser Anruf aus Houston - für beides gab es nur einen Grund: Sie sollten uns in die Irre führen.« »Es ist Gail, die Sie in die Irre führt. Sie sind ein ausgezeichneter Vernehmungsbeamter, Kevin, aber diese Frau hat nichts zu verlieren, wenn sie Sie belügt.« »Ich bin mir ganz sicher, dass David Haines auf dem Weg nach Seattle ist.« »Warum gerade Seattle?« »Das Kind gibt es tatsächlich«, entgegnete er. »Rachel, diese Frau aus Seattle, hat Haarproben von sich und ihrem Sohn geschickt. Donaldson machte einen Vaterschaftstest. Ich hatte ihr ein paar Kleidungsstücke von Haines aus der Asservatenkammer besorgt ...« Kevin machte eine Pause, denn er rechnete mit einem Zornesausbruch Hughs. »Sie haben ihr Beweismaterial gegeben?« »So ging es am schnellsten, Hugh. Sie hatte bereits die Proben und die erforderlichen Geräte. Ich wusste, dass wir die Ergebnisse auf diese Weise umgehend bekommen würden, statt lange darauf warten zu müssen, wenn wir sie in unser Labor schickten.«
»Und? Sind sie positiv?« »Ich nehme es an.« Gleich nachdem er Gail verlassen hatte, versuchte er Laura zu erreichen. Immer wieder rief er in ihrem Labor an, bei ihrem Vater, in ihrer Wohnung, doch jedes Mal meldete sich nur der Anrufbeantworter. Entweder war sie nicht dort, ging nicht an den Apparat, oder konnte 421
es nicht. Kevin ärgerte sich, hatte aber auch Angst, obwohl er nicht glaubte, dass Laura etwas zugestoßen war. Flüchtig fragte er sich, ob die Tests womöglich negativ ausgefallen waren und Laura sich deshalb deprimiert im Labor oder daheim eingeschlossen hatte und mit dem Schicksal haderte. Er brauchte lediglich fünfundzwanzig Minuten, zum Labor zu fahren und es vom Sicherheitsdienst öffnen zu lassen. Laura war nicht da. Er kehrte zur Gold Coast zurück, zum Apartment ihres Vaters, und ließ es sich vom Hausmeister öffnen. Auch dort war sie nicht - ebenso wenig ihre Kleidung. Laura hatte gepackt. »Ich hab mit dem Portier im Haus ihres Vaters gesprochen, und er sagte, Laura sei gegen null Uhr dreißig von einem Flughafentaxi abgeholt worden. Wenn sie nach Seattle fliegt, bedeutet es, dass die Tests positiv waren. Das Kind gibt es wirklich.« »Wenn Testergebnisse existieren, müssen unsere Leute sie sich zuerst anschauen, Kevin. Wir können es nicht einfach glauben, nur weil Dr. Donaldson es behauptet.« »Ich vertraue ihr.« »Ach ja? Und sie hat Sie nicht einmal angerufen, um Ihnen die Ergebnisse mitzuteilen. Hören Sie, ich rufe Fred Werner an, wenn Sie sich dann besser fühlen. Wir können versuchen, sie am Flughafen festzunehmen.« »Ich habe Shaugnessy bereits damit beauftragt, die Fluglinien anzurufen und sich nach ihrer Buchung zu erkundigen. Ich bin fast schon am O'Hare.« »Kevin, ich schicke Sie nach Houston.«
» Was?« Er bremste so abrupt, dass der Minivan hinter ihm beinahe aufgefahren wäre. »Ich habe mit dem Oberstaatsanwalt gesprochen. Der Präsident möchte, dass wir mit Haines den AmnestieDeal eingehen. Sie wollen Haines lebend. Und ich will, dass Sie nach Houston fahren und die Leitung der Sondereinheit übernehmen.« 422
Ein Lächeln legte sich auf Kevins Gesicht. Nichts konnte süßer sein, als endlich wieder anerkannt zu werden - und damit auf der Karriereleiter hochzurücken. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Vor vierundzwanzig Stunden wäre es für ihn die denkbar freudigste Nachricht gewesen, und er wäre nur zu gern nach Houston hinuntergeflogen. Aber jetzt ... »Kevin, hören Sie? Sie sind wieder in der Sondereinheit. Ich habe bereits mit Mitch gesprochen. Haines gehört ganz Ihnen. Aber bringen Sie ihn ohne Einschusslöcher zurück, klar?« »Ich kann ihn zurückbringen, Hugh, aber nicht aus Houston. Wie ich schon sagte, er ist auf dem Weg nach Seattle ... « »Sehen Sie zu, dass Sie den nächsten Flieger nach Houston erwischen, okay?« Durch die Windschutzscheibe sah Kevin einen Jet steil in den Himmel steigen. Verdammt. Er wollte sich die Chance nicht entgehen lassen, die Sondereinheit zu leiten und den Posten zu übernehmen, den er von Anfang an haben wollte. Andererseits ... »Ich fahre nach Seattle«, sagte er. »Das ist keine Bitte ...« »Den Jungen gibt es wirklich, Hugh, und wenn Haines weiß, wo er ist, wird er ihn umbringen, genau wie Rick.« Nun klang Hugh wirklich wütend. »Aber er ist nicht in Seattle, Kevin, er ist in Houston, wo er einen Arzt getötet hat. Er wurde zweimal gesehen, und er ist noch dort. Deshalb müssen Sie da hin.«
Kevin fühlte sich elend. »Ich möchte es, Hugh, ich möchte es wirklich. Aber ich werde David dort nicht finden, und ich kann kein Risiko eingehen. Tut mir Leid.« »Ich hoffe, Ihnen ist klar, dass das ernste Konsequenzen nach sich ziehen wird ...« 423
»Ich weiß, und ... tut mir Leid, Hugh.« Er schaltete ab und hoffte, dass er soeben nicht die schlimmste Fehlentscheidung seiner Karriere getroffen hatte. Vom Flugsteig aus rief Laura die Klinik in Tijuana an, doch Sandra nahm nicht ab. Es würden gerade Routineuntersuchungen vorgenommen, hatte die Schwester am Empfang gesagt. Sie solle bitte später noch einmal anrufen. Routineuntersuchungen. Laura wollte sich nicht einmal vorstellen, was diese Kurpfuscher als Routine betrachteten. Vielleicht Blutegel ansetzen, oder eine Anwendung mit toten Tauben. Für einen Moment loderte Zorn in ihr auf. Als er sich legte, blieb nur die schreckliche Sorge um Sandra. Warum ließ sie diese Scharlatanerie zu? Laura beschloss, es von Seattle aus noch einmal zu versuchen - sie hatte keine Lust auf ein Telefongespräch im Flugzeug, eingeklemmt zwischen anderen Passagieren. Sie nahm in der Lounge Platz und starrte blicklos auf einen der vielen Fernsehschirme. Unruhig rutschte sie auf ihrem Sitz; sie konnte es sich einfach nicht bequem machen. Wer, zum Teufel, hatte sich das Design dieser Sitze ausgedacht? Marquis de Sade? Sie überkreuzte die Beine, wippte mit den Füßen. Sie fühlte sich entsetzlich kribbelig, wusste jedoch nicht, ob es daher kam, dass sie kein Speed mehr nahm, oder ob es eine Nachwirkung der Taserpistole war. Ihre Finger betasteten den Mullverband auf ihrer rechten Wange. Wenn die Wunde nicht mehr offen war, konnte sie mit Make-up übertüncht werden. Ob eine Narbe zurückblieb? Bestimmt sah sie schrecklich aus. Verunsichert schaute sie sich in der Lounge um, doch die allgemeine Aufmerksamkeit war auf die Mattscheibe gerichtet, über die soeben die aktuellen Nachrichten flimmerten. Blinkende Lichter, gelbe Polizeiabsperrung, ein zerbrochenes Esszimmerfenster. Houston, Texas. Ein weiterer Arzt ... Großer Gott, es war Vikram Chaudhuri, 424
ein Hämatologe, bei dem Laura einige Vorlesungen besucht hatte. Sie stand auf, ging näher heran, konnte das Ungeheuerliche nicht fassen. Er war am frühen Morgen durchs Fenster erschossen worden, als er mit Frau und Tochter gefrühstückt hatte. Direkt vor ihren Augen! Laura presste die Lider zusammen. Sie hatte Angst, man würde seine Familie zeigen. Sie wollte nicht, dass ihre Fantasie mit ihr durchging und sie sich das Grauen dieses Augenblicks ausmalte. Der Nachrichtensprecher sagte, es sei David Haines gewesen. Ein Zeitungsjunge hatte ihn fliehen sehen. Laura ließ sich in den Sitz zurückfallen. Ihr Mund war ausgetrocknet. Eines wusste sie nun zumindest. Haines war in Houston. Nicht in der Nähe von Seattle. Nicht in Rachels Nähe. Sie war sicher. Aber wie lange dauerte eine Fahrt von Houston nach Seattle? Drei oder vier Tage? Höchstens zwei, wenn man sich keine Zeit zum Schlafen nahm. Aber Haines wusste ja nichts von Rachel oder ihrem Kind, oder wo sie wohnten. Also bestand keine Gefahr. Doch sie erinnerte sich an Rick Haines, an seinen zerfetzten Hals. Und sie erinnerte sich an Kevins müdes Gesicht, als er gefragt hatte, ob ein Brief von Rachel im Umschlag gewesen war. Er hatte sein Versprechen gehalten. Er hatte ihr Haines' Kleidungsstücke besorgt und sie nicht davon abgehalten, die Vaterschaftstests zu Ende zu führen. Aber wenn sie ihm jetzt von ihrer Verabredung mit Rachel erzählte, wie sollte sie da sicher sein, dass er sie nicht davon fern hielt und Rachel mit einer
Truppe bewaffneter FBI-Männer abfing und verschwinden ließ? Nur eins hielt das FBI davon ab: Sie kannten weder Rachels richtigen Namen noch ihre Adresse oder Telefonnummer. All das wusste Laura auch nicht, noch nicht. Und die einzige Möglichkeit, an diese Informationen zu 425
gelangen, bestand darin, dass sie im Airport Hilton abstieg und auf Rachels Anruf wartete. Was ist, wenn Rachel sich täuscht? Wenn Haines doch von dem jungen weiß? Sie blickte auf die Uhr. In ein paar Minuten musste sie an Bord gehen. Wenn sie Kevin Sheldrake anrief ... könnte er dann veranlassen, dass sie vom FlughafenSicherheitsdienst festgenommen wurde? Vielleicht sollte sie warten und ihn vom Flugzeug aus anrufen, oder lieber erst, wenn sie in Seattle war. Sie nahm seine Karte hervor, blickte darauf und steckte sie rasch wieder weg. Denk gar nicht erst daran! Steig ins Flugzeug und tu, was du tun musst. Verdammt! Sie konnte es nicht. Es war nicht richtig. Es war Kevin gegenüber nicht fair. Schlimmer noch, wenn sie es ihm nicht gestand, konnte er Rachel bei einer Gefahr nicht helfen. Sie gab sich einen Ruck und wählte Kevins Nummer vom öffentlichen Telefon. »Ich bin es, Laura.« »Die Tests waren also positiv, nicht wahr?« Sie schniefte überrascht. »Woher wissen Sie das?« »Ich vermute, dass eine Notiz in dem Umschlag war mit Rachels Adresse in Seattle.« Laura bedauerte jetzt schon, dass sie ihn angerufen hatte. »Ja, es gab einen Zettel«, gestand sie. »Aber sie hat weder eine Adresse noch eine Telefonnummer angegeben. Sie hat mich nur aufgefordert, in einem bestimmten Hotel abzusteigen und auf ihren Anruf zu warten.«
»Okay, hören Sie zu. Es besteht die Möglichkeit, dass Haines auf dem Weg nach Seattle ist. Ich habe die Frau festgenommen, die versucht hat, Sie zu töten. Sie könnte mich angelogen haben, aber das bezweifle ich. Haines war vor etwa vierundzwanzig Stunden in 426
Nebraska. Er kann also jeden Augenblick in Seattle eintreffen.« »Aber Rachel sagte, dass er unmöglich ...« »Haines' Komplizin arbeitete bei Ameritech. Wenn er Rachels richtigen Namen kennt, hat sie auch die Telefonnummer und Anschrift herausgefunden.« Laura blickte hilflos auf den Fernsehschirm. »Aber was ist mit den Nachrichten? Angeblich ist er in Houston.« »Ich weiß. Vielleicht stimmt das ja auch. Aber ich will kein Risiko eingehen.« Über die Lautsprecher wurde Lauras Flug aufgerufen, und die Ansage hallte auf seltsame Weise übers Telefon wider. »Ich muss jetzt an Bord«, erklärte sie. »Damit habe ich gerechnet. Ich brauche Sie in dem Hotel, damit Sie den Anruf entgegennehmen können. Dann hole ich mir diese Rachel.« »Aber gemeinsam mit mir! « Kevin schwieg. »Sie brauchen mich«, erinnerte Laura ihn. »Wie Sie schon richtig bemerkten, brauchen Sie mich, um den Anruf entgegenzunehmen. Rachel wird nur mit mir reden. Wenn jemand anders am Telefon ist, wird sie auflegen.« »Das spielt keine Rolle, sobald wir den Anruf zurückverfolgen können. Dann werden wir erfahren, wo sie wohnt.« »Nicht, wenn sie von einem öffentlichen Apparat aus anruft. Außerdem habe ich Ihnen nicht gesagt, in welchem Hotel ich absteigen soll.« Sein müdes Lachen hatte sie nicht erwartet. Sie hatte sich gegen Zorn gewappnet, gegen einen strengen Tadel, ja sogar eine Drohung, angeklagt zu werden.
»Laura, ich versuche Sie zu schützen.« Sie spürte, wie sie weich wurde. Er klang so erschöpft. »Wir wissen nicht, ob Haines noch unterwegs ist. Vielleicht ist er bereits am Ziel und hat seinen Sohn getötet. Vielleicht 427
ist Rachel seine Jüngerin und Komplizin, und die beiden haben die ganze Geschichte erfunden, um Sie umzubringen.« »Ich glaube Rachel.« »Sie glauben ihr, weil Sie ihr glauben wollen.« »Na und?« »Sie müssen mir helfen, Sie zu beschützen.« »Ich will keinen Schutz. Ich möchte, dass Sie mich zu Rachel begleiten, damit ich ihrem Sohn Blut abnehmen kann. Wenn Sie mir das versprechen, sage ich Ihnen den Namen des Hotels.« »Woher wollen Sie wissen, dass ich mein Versprechen halte?« »Sie haben es das letzte Mal auch gehalten. Hören Sie, ich muss jetzt an Bord.« »Schauen Sie nach links.« Sie tat es und sah ihn auf sie zukommen. In einer Hand hielt er sein Mobiltelefon, in der anderen ein Ticket. »Wir haben denselben Flug.« Noch zwanzig Minuten bis Seattle. Nachdem er den New Apostles beigetreten war, hatte er Rachel immer seltener gesehen. Doch seine Sehnsucht nach ihr war gewachsen. Warum bist du so unglücklich?, fragten sie ihn. Warum hat dein Leben keine Bedeutung? Als könnten sie eine gewaltige Leere in ihm sehen - und sie hatten Recht. Rachel schien die meiste Zeit in der Stadt zu verbringen, um neue Anwärter zu rekrutieren und Spenden zu beschaffen, während er auf der Farm blieb, um zu lernen. Binnen eines Jahres machten sie ihn zum Hirten. Die Bibelweisheiten ergossen sich wie eine Flut über ihn. Bald erkannte er Rachel als
das, was sie war. Die Kirche benutzte sie als Fischerin von Männern, die sich sehr gerne von ihr überzeugen ließen, die profane Welt gegen ein Leben in der Gemeinschaft der New Apostles einzutauschen. Auf diesem Gebiet war Rachel ein Ass. 428
Anfangs war er eifersüchtig gewesen, wie viel Zeit sie an den Wochenenden mit jungen Männern verbrachte, die mehr oder weniger eifrig nach der Wahrheit suchten. Nach und nach jedoch empfand er eine gewisse Distanz zu all dem. Rachel war der Wegweiser, der ihn zum Pfad der Herrlichkeit geführt hatte. Nur das zählte. Doch nach einem Jahr bei den New Apostles war ihm Abes Doktrin suspekt geworden. Der Sektenguru verfiel zunehmend dem Größenwahn, bis hin zur völligen Vergötzung, sodass David sich nur mehr wundern konnte, dass die anderen überhaupt noch Respekt vor ihm hatten. Abe pries sich in seinen Predigten als Fleisch gewordener Heiliger Geist, der gekommen sei, seine Jünger auf das neue Jerusalem vorzubereiten. Dieses neue Jerusalem befand sich nicht auf diesem Planeten, sondern auf einem anderen, und am Ende aller Zeiten würden die Seelen der New Apostles dorthin gebracht. Er predigte, dass er die Kinder eines neuen und endgültigen Stammes Israel zeugen müsse. Rachel war eine der Frauen, die er für diese Aufgabe erwählte. David erinnerte sich, dass Abe während des Abendessens auf der Farm des Öfteren herbeikam, um sie vor aller Augen in sein Schlafzimmer zu rufen, worauf sie in demütiger Ergebenheit den Kopf senkte, stumm ihr Mahl beendete und zu ihm ging. David bemühte sich, sie nicht anzublicken, wenn sie das Zimmer verließ, und sich nicht vorzustellen, was dann zwischen Abe und ihr vor sich ging. Lag es daran, dass er Abes Autorität anfechten wollte? Oder erwachte seine alte, wilde Lust wieder und trieb ihn dazu? Eines Nachts im Herbst wartete er vor dem Farmhaus, bis Rachel erschien und zu den
Unterkünften der Frauen zurückging. Eigentlich wollte er nur unbeobachtet ein paar Worte mit ihr reden. Doch als er sie sah, übermannte ihn eine schreckliche, leidenschaftliche Gier. 429
Sie gab sich ihm im Gras hin, legte die Arme um seinen Hals, ließ jedoch weder Leidenschaft noch Ablehnung erkennen. Wie schnell sie zur Hure geworden war. Tiefe Scham erfüllte David. Er hatte so hart an sich gearbeitet, um sich von dieser schändlichen Fleischeslust zu befreien, und dann war er schwach geworden. Er fing zu schluchzen an, und sie strich ihm mit einer Gleichmut über die Wange, die ihn nur noch wütender machte - auf sich selbst und auf Rachel. Man hatte sie zur Hure gemacht, und sie nahm es hin. Von Abe. Von ihm. Er versetzte ihr eine heftige Ohrfeige, drehte sich um und ging davon. Zwei Monate später war sie fort, verschwand einfach eines Nachts, während sie in der Stadt gearbeitet hatte. Auf der Farm teilte Abe den anderen bei einer Versammlung mit, dass Rachels Seele schwarz geworden und sie von ihnen abgefallen sei, um draußen in der Welt zu sündigen. Es überraschte David nicht. Trotzdem dachte er immer wieder an jene Nacht - eine frostige Novembernacht mit kahlen Bäumen, abgeernteten Feldern und funkelnden Sternen am Himmel -, und stets fühlte er sich dann unendlich verlassen. Über Nacht waren zahllose Latrinenparolen entstanden, weshalb Rachel nicht in die Gemeinschaft zurückgekehrt war. Angeblich war sie davongelaufen, um Prostituierte zu werden. Andere sagten, ihre Eltern hätten sie erwischt und wollten ihr eine Gehirnwäsche verpassen. Ein weiteres Gerücht besagte, dass sie schwanger war. Letzteres hatte David nach dem Abendessen in der Küche aufgeschnappt. Schwester Mary hatte ein Zimmer mit Rachel geteilt und behauptete nun, dass Rachel in den vergangenen zwei Wochen jeden Tag ganz früh zur Toilette gerannt war, weil sie sich übergeben musste. Sie war mit einem von Abes Kindern im Schoß davongelaufen, hatte ihnen eines von Israels Kindern gestohlen, und Abe fühlte sich entsetzlich. Wenn Rachel nun abtreiben ließ ...? 430
David wusste nicht, was er denken sollte. Er sagte sich, dass es unwichtig sei, und doch fragte er sich, ob das Kind, das Rachel trug - falls sie tatsächlich ein Kind bekam -, nicht vielleicht von ihm war. Zu Anfang des neuen Jahres verstieß ihn Abe. David war es nicht gelungen, sein Missfallen zu verbergen, was die neue Lehre betraf. Der Glaube, der ihn anfangs so beeindruckt hatte, wurde besudelt und unehrenhaft. Dafür hatte er sein Leben nicht verändert. Bei seinem Eintritt in die Gemeinschaft hatte er Falschheit und Ichbezogenheit zurückgelassen; nun wollte er sich diese Eigenschaften nicht in neuer, veränderter Form von Abe wieder aufdrängen lassen. Die New Apostles wichen vom wahren Weg ab, sagte er zu Abe. Sie sollten aufhören, vom Ende aller Zeiten zu fantasieren. Es gab auf der Erde genug zu tun - hier und jetzt. Abe hatte gegen die medizinische Wissenschaft gepredigt, jegliche Medikamente verboten und Blut für heilig erklärt. Trotzdem unternahmen die New Apostles nichts gegen diese von der Sünde befallenen Ärzte, die von irregeleiteten Menschen als Götter in Weiß angebetet wurden. David dachte an seine Kommilitonen an der medizinischen Fakultät und an seine Professoren und erinnerte sich an ihre kalte Arroganz, an ihr gottloses Projekt, einen neuen Turm von Babel zu errichten. Gott hatte zu existieren aufgehört; Tag um Tag, Milligramm um Milligramm, hatten sie Gottes Allmacht geleugnet. Wie konnte er die Welt dazu bringen, seinen Ruf zu hören, wenn sie bereits so voll Lärm und Gerede und Gier war? Predigen war sinnlos. Er musste seinen Glauben durch Taten leben. Indem er Leben auslöschte.
Doch es war nicht Davids neuer, gefestigter Glaube gewesen, der ihm Abes Missfallen zugezogen hatte. Nein, Abe war ein Feigling und hatte Angst, dass 431
Davids Zweifel die anderen anstecken könnten. Deshalb warf er ihn hinaus. Nur ihn. Als David seine Arbeit aufnahm, dachte er nur selten an Rachel. Er zweifelte nicht an ihrer Verruchtheit. Sie hatte ihre Bestimmung als Fischerin von Männern missbraucht, um ihre fleischlichen Lüste zu befriedigen. Manchmal, in einem Moment der Schwäche, überlegte er sogar, ob er sie suchen sollte. Doch er tat es nie. Zumindest auf diese Weise wollte er sich nicht selbst in Versuchung führen. An einem unerbittlich heißen Tag hatte er in der Todeszelle schweißgebadet auf seiner Pritsche gelegen. Es war sogar zu heiß zum Denken, Reden oder Beten. Auf dem kleinen Bildschirm seines Schwarzweißfernsehers lief ein Reisebericht über den Nordwesten der USA und den Pazifik. Hungrig, ja gierig hatte David auf die Meeresbilder gestarrt, und auf die Weiten des Graslandes, die er sich üppig grün vorstellte. Dann wurde Seattle gezeigt. David sah die Skyline, dann einen Park mit einem Spielplatz und fröhlichen Kindern. Vielleicht lag es am betäubenden Einfluss der Hitze, jedenfalls empfand er keinerlei Erstauen, als er sie sah. Als wäre es das Normalste auf der Welt. Er erkannte sie auf Anhieb. Sie war immer noch eine sehr attraktive junge Frau, wie sie so neben einem großen Sandkasten kauerte und mit einer Schaufel einem kleinen Jungen half, seinen Plastikeimer zu füllen. Der kleine Junge blickte zu ihr auf und lächelte. Und es war er dort im Sand, David. Sein Gesicht, seine Augen, sein Lächeln, die plötzlich herbeigeschworen wurden wie von lange vergessenen Familienfotos. Sein Sohn! Obwohl die Aufnahme sicher nicht länger als fünf Sekunden dauerte, hatte David doch das Gefühl, als wäre die Zeit stehen geblieben. Er war so tief in diese Vision einer anderen Welt eingetaucht, dass er bestürzt aufschrie, als das Bild verschwand. Abrupt setzte er sich auf 432
seiner Pritsche hin, als könnte ein besserer Blickwinkel Rachel zurückbringen. Er zitterte am ganzen Leib, war völlig unvorbereitet auf das Gefühl der Liebe, das auf ihn einstürmte. Und noch etwas empfand er: Stolz. Von diesem Augenblick an verging kein Tag, an dem er nicht an Rachel und seinen Sohn dachte. Für ihn war sie immer noch Rachel, obwohl er ihren richtigen Namen kannte. Als David erst kurze Zeit bei den New Apostles gewesen war, hatte Abe ihm Büroarbeiten übertragen. Dabei war er über Akten gestolpert, ein Archiv möglicherweise, mit alten Dokumenten der Gemeinschaftsmitglieder. Er selbst hatte bei seiner Tauffeier symbolisch seinen Führerschein und seine Sozialversicherungskarte abgegeben. Jedenfalls waren es Dinge, die sie mit der Außenwelt verbanden. Er las den Namen auf Rachels Führerschein. Er lautete Deirdre Mason. Er konnte nicht widerstehen, Gail zu beauftragen, Deirdres Adresse in Seattle aufzuspüren, indem er ihren Namen in eine Liste von Ärzten einschob, deren Anschriften er haben wollte. Gail fand im Gebiet Seattle die Telefonnummern von drei D. Masons. Um die Adressen bat David sie nicht. Es war besser so, erkannte er sofort. Er wollte nicht der Versuchung erliegen, ihr zu schreiben. Wie sehr er sich danach sehnte! Doch die Vernunft sagte ihm, dass Rachel nichts von ihm wissen wollte. Sie würde seinen Brief ungeöffnet zerreißen, oder schlimmer noch, ihn der Polizei übergeben. Das würde seine sämtlichen Jünger in Gefahr bringen und seine Verbindung zur Außenwelt beenden. Eine Raststätte tauchte vor ihm auf. Er hielt auf einem der Parkplätze. Die Karte, die er kurz vor der Überquerung der Grenze in diesen Bundesstaat gekauft hatte, enthielt nur einen groben Stadtplan, der für seine Zwecke nicht ausreichte.
Seit sie versucht hatten, ihm sein Blut zu nehmen, hatte er fast nur noch gebetet und sich gefragt, 433
weshalb Gott ihm diese schwere Prüfung auferlegte. Aber jetzt wusste er es. Sein Stolz auf sein Kind, auf etwas Irdisches, auf ein falsches Idol. Er war Abraham, dem Gott gebot, Isaak zu opfern. Nur würde es diesmal keine Begnadigung in letzter Minute geben.
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Sie bekamen benachbarte Zimmer im einundzwanzigsten Stock des Airport Hilton. Kevin betrat Lauras Zimmer durch die Verbindungstür und blickte durchs Fenster (vorsorglich hatte er ein Zimmer ohne Balkon genommen); dann zog er die dichten Gardinen zu, wodurch der Raum in Dämmerlicht getaucht wurde. Laura stand am Fuß ihres Bettes und schaute neugierig zu, als wollte sie jeden Moment fragen, weshalb er das alles machte. »Es gibt zwei Gebäude, von denen Scharfschützen uns perfekt im Visier haben könnten«, kam er ihrer Frage zuvor. »Rachel hat dieses Hotel ausgesucht, und ich schließe noch immer nicht aus, dass sie eine von Davids Anhängerinnen ist. Das Ganze könnte eine Falle sein.« Laura nickte nur und knipste eine der Tischlampen an. Kevin fragte sich, ob sie sich ebenso unbehaglich fühlte wie er. Nein, wahrscheinlich ging es nur ihm so. Doch die geschlossenen Vorhänge, das gedämpfte, intime Licht des Hotelzimmers, ihr beiderseitiges Schweigen, nachdem sie sich eingetragen hatten und mit dem Lift hinaufgefahren waren - dazu die keineswegs bewiesene Überzeugung, dass sie von jemandem beobachtet wurden -, trieb ihn beinahe in den Wahnsinn. So sehr er es auch verdrängen wollte, er konnte es nicht. Großer Gott, das kam nun davon, wenn das Sexualleben auf den Nullpunkt schrumpfte und die körperliche Nähe einer Frau selten wurde. Zumal er Laura sehr aufregend fand. Daran änderte auch der Verband auf ihrer rechten Wange nichts. Nun, da er ihr den Grund für die zugezogenen Gardinen erklärt hatte, fielen ihm keine Worte mehr ein. Er kam sich vor wie ein gehemmter Teenager. Er war enttäuscht gewesen, als sie auf dem O'Hare Airport an 435
Bord gegangen waren und keine Plätze nebeneinander hatten, jetzt war er dankbar dafür. Vier Stunden höflichen, aber verlegenen Gesprächs und noch verlegeneren Schweigens wären zu viel gewesen. Was zwischenmenschliche Beziehungen anging, vor allem mit schönen Frauen, war er aus der Übung. »Jetzt warten wir«, sagte er. Während des Fluges hatte Kevin reichlich Zeit gehabt, sich Gedanken zu machen, dass er Hughs Befehl nicht befolgte. Schließlich ging es um seinen Job. Obwohl er ganz sicher war, dass David sich nicht in Houston aufhielt, würde Hugh es angesichts dieser Insubordination nicht bei einer Verwarnung belassen, sondern ein Disziplinarverfahren einleiten. Vielleicht wurde er sogar suspendiert - ein weiterer Schandfleck in seiner Personalakte, möglicherweise sogar das abrupte Ende seiner Karriere. Es ging ihm sehr nahe, aber David zu schnappen war ihm wichtiger. Auf dem Weg vom Flughafen hatte er die FBIAußenstelle in Seattle angerufen und mit Lee Garrity gesprochen, einem der Agenten, der Wochenenddienst hatte. Kevins Befürchtung, dass Hugh die Dienststelle angewiesen hatte, ihm keine Unterstützung zu gewähren, erwies sich zum Glück als unberechtigt. Garrity war sofort bereit gewesen, die Fangschaltung für das Hotel einzurichten. Kevin nahm an, dass das Hilton in jeder Stunde hunderte von Anrufen bekam, doch wenn Laura lange genug mit Rachel sprach, hoffte er, dass es keine größeren Schwierigkeiten gab, den Anruf zurückzuverfolgen. »Haben Sie Hunger, Laura?« »0 ja«, sagte sie und fügte hinzu: »Danke.« Zu spät gelangte sie zu der Ansicht, dass der Dank irgendwie unpassend war; schließlich kam die Frage von einem FBI-Agenten und nicht von einem Verehrer, der sich mit ihr zum Dinner verabredete. Ihr war nicht einmal klar, wer für diese Zimmer bezahlen würde, sie oder das FBI, und wie es mit dem Zimmerservice aussah. Wie auch immer, sie 436
brauchte im Augenblick tatsächlich dringend etwas zu essen. Im Flugzeug hatte man ihr irgendetwas Grässliches angeboten: eine fettige Mayonnaiserolle und Pickles in einer Plastikschale, von der man erst den Deckel abziehen musste, dazu Krautsalat mit Karottenstreifen, der roch, als wäre er als Bakterienkultur in einer Petrischale angesetzt worden. »Was hätten Sie gern?« »Hm, gibt es vielleicht eine Speisekarte?« Sie schaute sich um und entdeckte die Karte in einem dick gepolsterten braunen Ordner auf einem Tischchen. Sie kam sich komisch vor, sämtliche rund um die Uhr erhältlichen Entrees zu studieren, und musste ein Lachen unterdrücken. Stress, sagte sie sich. Als Kevin den Vorhang zuzog, war sie bei dem Geräusch heftig zusammengezuckt, und sie hätte schwören mögen, dass er wie ein hoffnungsvoller Liebhaber gewirkt hatte, der plötzlich verlegen geworden war, als er sich umdrehte. Das war natürlich lächerlich. Das Zuziehen der Gardinen war eine reine Sicherheitsmaßnahme. Kevin tat nur seine Arbeit. Laura fragte sich, wie lange sie so beisammen blieben und ob sie auch die Nacht die Verbindungstür weit offen - gemeinsam hier bleiben würden. Durch diese Tür sah sie die Ecke seines Bettes. Sie blickte rasch zur Seite. Sie nahm an, dass alles davon abhing, wann Rachel anrief. Sie wählte einen Salat Nicoise. Kevin bestellte den Imbiss telefonisch in seinem Zimmer, damit Lauras Leitung frei war, falls Rachel anrief. Laura hatte lediglich eine Reisetasche mit Kleidung zum Wechseln und ihre medizinische Ausrüstung mitgebracht, außerdem eine kleine Kühlbox, um Seans Blut auf der Rückreise unterzubringen. Sie blickte auf die Tasche
und fragte sich, ob Auspacken Sinn hätte. Nur um die Zeit zu vertreiben, hängte sie ihre zwei Sommerkostüme in den Schrank und überprüfte ihre Arbeitsgeräte und die Flaschen für das Blut. 437
»Sie haben da wirklich fünfundzwanzigtausend Dollar drin?« Er deutete mit einem Kopfnicken auf ihre Umhängetasche. »In meinem Geldbeutel, genau gesagt.« Sie lächelte. »Erstaunlich, wie wenig Platz die Scheine brauchen. Ich hab sie mir in Fünfhunderternoten geben lassen.« »Alles Ihr eigenes Geld, nicht wahr?« Sie zuckte die Schultern und sagte scheinbar leichthin: »Was sollte ich sonst damit tun?« Vielleicht ein Eigenheim in der Vorstadt anzahlen? fragte sie sich. Eine Weltreise machen? Es für die Kinder ausgeben, die sie nicht hatte - und vielleicht nie haben würde? Nicht zum ersten Mal dachte sie in diesem Zusammenhang an Adrian und wie töricht sie gewesen war, auch nur davon zu träumen, dass sie je eine Familie gründen würden. Absurderweise errötete sie, als hätte sie Kevin diese Gedanken anvertraut. »Wie stehen die Chancen, dass der Junge dasselbe Blut hat?«, fragte er. Laura setzte sich auf die Bettkante. »Vermutlich nicht sehr groß. « »Und dass Sie damit eine Heilung erzielen können?« »Es geht nicht um eine Heilung«, antwortete sie. »Ich hoffe lediglich auf eine Therapie, die vielleicht bei einigen Krebsarten anschlagen wird, aber nicht bei allen. Und das könnte ich durchaus erreichen.« Sofort fiel ihr Sandra wieder ein. »Ich muss meine Schwester anrufen. Welches Telefon soll ich benutzen?« »Nehmen Sie meines.« Sie ging in Kevins Zimmer, wählte, und zu ihrer Erleichterung hob Sandra nach dem dritten Läuten ab.
»Ich hab's schon vor ein paar Stunden versucht. Aber man sagte mir, du würdest untersucht.« »Hi. Schön, von dir zu hören.« Sandra klang benommen. »Hast du gerade geschlafen?« 438
»Das macht nichts, ich unterhalte mich lieber mit dir.« Ihre Zunge war immer noch schwer. Laura fragte sich, ob man sie mit irgendwelchen Medikamenten voll gepumpt hatte. »Wann kommst du mich besuchen?« »Ich bin zurzeit in Seattle, aber ich werde zu euch runterfliegen, sobald ich hier fertig bin.« »Was machst du denn in Seattle?« »Erst erzählst du mir, was das für Untersuchungen waren.« »Oh, das Übliche. Blutuntersuchung, ein CAT-Scan, Ultraschall ... und so weiter. Ich glaube, sie tun es nur, um die Techniker auf Trab zu halten. Frieda sagt, es ist alles Routine, und ich bräuchte mir keine Gedanken zu machen.« Laura fragte sich, ob Sandra ehrlich zu ihr war oder ob der Mut, den sie stets vor ihren Kindern zeigte, ihr bereits in Fleisch und Blut übergegangen war. »Wie fühlst du dich? Aber sei ehrlich.« »Es ... es ist nicht immer gleich, weißt du. An manchen Tagen muss ich mich zwingen, überhaupt aufzustehen. An anderen verbringe ich fast den ganzen Nachmittag in den Anlagen. Wenn es nicht zu heiß ist. Ich bin froh, dass du mich angerufen hast.« Ihre Stimme stockte fast unmerklich, was Laura wachsam machte. Sie konnte sich vorstellen, wie Sandra gegen die Tränen ankämpfte. »Alles in Ordnung?« »Es gibt Tage, da halte ich es kaum noch aus.« Ihre Stimme zitterte jetzt unverkennbar. »Und dann bekomme ich schreckliche Angst, dass ich mich jetzt immer so fühlen werde.« »Und heute ist so ein Tag?« »Ein sehr schlimmer Tag, ja.« Laura spürte, wie sie augenblicklich von Mitleid und dem Gefühl der Hilflosigkeit überwältigt wurde. Ihre Schwester war in dieser Klinik, und ihr Zustand verschlechterte sich, auch wenn sie es sich nicht eingestehen wollte. Doch Laura konnte nichts dagegen tun, jedenfalls noch nicht. 439
»Woran liegt es hauptsächlich? Daran, dass dir übel ist oder dass du Schmerzen hast?« Sie musste heftig dagegen ankämpfen, Sandra nicht aufzufordern, die Klinik zu verlassen, nach Hause zu kommen und sich eine richtige Behandlung von ihr verordnen zu lassen. »An beidem. Die Übelkeit ist das Schlimmste, und die Mittel, die sie mir gegen Schmerzen geben, führen die Schmerzen manchmal erst herbei.« Aus der Stimme ihrer Schwester hörte Laura die verwirrte Hilflosigkeit eines Kindes. Unwillkürlich drückte sie den Hörer fest an ihr Ohr, als wolle sie Sandra dadurch zu verstehen geben, ganz in ihrer Nähe zu sein. »Und wie ist es jetzt, in diesem Augenblick?« »Ganz gut. Sie haben mir vor einer Weile etwas gegeben, das hilft.« »Wo sind die anderen?« »Mike verbringt den Vormittag mit den Kindern am Strand, und Daddy ist noch nicht gekommen. Du kommst doch her, nicht wahr? « Laura konnte es nicht mehr verschweigen. »Ich habe jemand gefunden, der möglicherweise das gleiche Blut hat wie David Haines, und ich habe die Chance, bald eine Probe nehmen zu dürfen, vielleicht schon heute ...« Sie stockte, aus Angst, es könnte vergebens sein. »Es wird eine Weile dauern, vielleicht sogar Monate, aber ich möchte dich noch einmal bitten, Sandra: Wenn ich dir eine Chance bieten kann, nimmst du sie dann wahr?« Sie hielt das Schweigen ihrer Schwester nicht aus, so kurz es auch sein mochte. »Bitte, sag Ja.« »Weißt du, Laura, manchmal möchte ich nur, dass du meine Schwester bist. Nicht meine Ärztin. Meine Schwester.«
Laura runzelte ungeduldig die Stirn. »Ich verstehe nicht ...« Sandras gutmütiges Lachen überraschte sie. »Wenn ich sage, dass ich mich lausig fühle, sagst du zum Beispiel: >Du Arme<, oder >Du wirst dich bald besser 440
fühlen, es gibt nun mal gute und mal schlechte Tage, und heute ist halt einer der schlechten. Der geht vorüber.< Irgend so was. Du weißt schon, was ich meine.« »Ja, sicher«, entgegnete Laura, »ich könnte so etwas sagen, aber was willst du damit andeuten? Ich möchte etwas tun, damit du dich besser fühlst.« »Ich weiß. Doch in den letzten zwei Jahren hatte ich immer nur das Gefühl, dass du mich als deine Patientin siehst. Eine Patientin der großen Dr. Donaldson! Eine kleine Nebenattraktion in deiner sagenhaften Karriere.« Laura beugte sich auf dem Bett nach vorn und blinzelte ungläubig. »Du bist keine Nebenattraktion in meiner Karriere! « »Weißt du, es ist nicht gerade einfach, deine Schwester zu sein, Laura.« Sie war verblüfft, ja fassungslos, und suchte nach einer Entgegnung. »Nicht einfach, meine Schwester zu sein?«, platzte sie schließlich heraus. »Und was ist mit mir? Meinst du, es ist einfach, im Schatten deiner Schönheit zu stehen, deines heiteren Gemüts, deines Glücklichseins und deines andauernden Mitgefühls für alles und jeden? Jeder sieht eine wunderschöne tropische Blume in dir. Ich bin bloß ein Kaktus.« Sie verstummte und schämte sich ihres kindischen Ausbruchs. Und sie hoffte bei Gott, dass Kevin, der noch im anderen Zimmer war, sie nicht gehört hatte. »Es tut mir Leid«, sagte sie jetzt ruhiger, doch ihre Schwester lachte. »Als wir Kinder waren«, sagte Sandra, »wollte ich so sein wie du. Aber mir wurde ziemlich bald klar, dass es nicht möglich war. Doch ich war sehr glücklich mit meinem Leben, auch wenn es harte Arbeit war. Du glaubst, das sei mir alles in den Schoß gefallen, nicht wahr? Aber so war es nicht. Ich hatte jedenfalls immer meine Zweifel. Überrascht?« Laura schwieg. Sie war tatsächlich überrascht. Die Vorstellung, dass Sandra sie beneidete, erschien ihr absurd, da sie stets glaubte, dass Sandra glücklich und 441
zufrieden mit ihrem Leben war und sie die karrieresüchtige Schwester insgeheim bemitleidete wenn nicht sogar verachtete. »Vielleicht hätte ich mehr tun sollen«, fuhr Sandra fort, »nicht nur vierundzwanzig Stunden am Tag hingebungsvolle Hausfrau und Mutter sein. Mehr für mich selbst tun. Bei dir hatte ich immer das Gefühl, dass du alle paar Monate einen neuen akademischen Grad bekamst, oder Mitglied im AlbertEinstein-Club der Genies wurdest, oder einen wissenschaftlichen Durchbruch geschafft hast, oder etwas Ähnliches. Es kam so weit, dass ich nichts mehr davon hören wollte. Um mich selbst zu trösten, sagte ich mir: Na ja, sie hat keinen Mann, keine Kinder, keinen Haushalt, sie braucht sich nur Gedanken um sich selbst und ihre Karriere zu machen. Aber das waren eben nur Ausreden für das, was ich war und für den Weg, den ich gewählt hatte. Und ich wusste, wie sehr Daddy von dir beeindruckt war.« »Dad? Unser Dad? Der Mann, der uns gezeugt hat?« »Natürlich. Er liebt dich, nur auf andere Art. Von mir hat er nie so viel erwartet. Es genügte, dass ich hübsch war und stets gut gelaunt, dass ich ihm niedliche Enkel schenkte und köstliche Mahlzeiten zubereitete.« »Also wirklich, Sandra ...« »Bei dir sind es deine Leistungen und Fähigkeiten. Dad wird erst zufrieden sein, wenn du den Nobelpreis bekommen hast. « »Davon bin ich momentan sehr weit entfernt. Wenn du hier wärst, würdest du sehen, was meine so genannten Kollegen aus meinem Ruf gemacht haben.« »Wahrscheinlich nur aus Neid.«
»Wenn es das wäre!« »Weißt du, was ich jetzt gern hätte?«, sagte Sandra. »Dass du mein Haar kämmst. Weißt du noch, wie du das oft getan hast, als wir Kinder waren?« 442
Laura nickte. »Ja, ich erinnere mich sogar an diesen dicken rosa Kamm, den du so gern hattest. Den mit den gelben Tulpen am Griff.« »Ja, es war ein herrliches Gefühl. Mike kämmt mich manchmal, wenn ich ihn bitte, aber er kann es nicht halb so gut wie du.« »Wenn ich zu dir komme, werde ich dein Haar kämmen, solange du möchtest.« 0 Gott, gleich brach sie in Tränen aus, wenn sie sich nicht zusammenriss. »Hör mal, ich muss jetzt wieder eine Zeit lang Doktor spielen. Aber du hast meine Frage nicht beantwortet. Würdest du dir von mir helfen lassen?« Sie hörte, wie ihre Schwester müde ausatmete. »Ich weiß nicht. Ich weiß nicht, ob ich noch weitere Experimente über mich ergehen lassen möchte. Mein Körper ist völlig verbraucht, und ich selbst bin es ebenfalls. Momentan glaube ich, dass ich hier bleiben und es einfach darauf ankommen lassen soll. Ich weiß, dass du mir da nicht beipflichtest, und ich glaube ja selbst, dass es dumm und naiv und falsch ist, aber letztendlich hat es etwas mit Glauben und Vertrauen zu tun. Du glaubst an das, was du tust, ich glaube daran, dass mir hier geholfen wird. Du musst das akzeptieren.« »Das fällt mir nicht leicht, Sandra. Aber du wirst zumindest hin und wieder darüber nachdenken, ja?« »Ja. Solange du dich daran erinnerst, dass wir Schwestern sind. Hol dir jetzt dein Blut und tu, was du tun musst.« »Glaubst du, dass ich es schaffe, Sandra?« »Du brauchst doch nicht mich dazu, es dir zu versichern.« Laura schüttelte frustriert den Kopf. All diese Diplome an ihrer Bürowand - versuchte sie, sich damit selbst zu überzeugen? Die wissenschaftlichen Artikel, die sie verfasst, die loben den Erwähnungen, die sie bekommen hatte - warum konnten sie ihr den ständigen Zweifel nicht nehmen, dass sie nicht tüchtig genug war, nicht begabt genug und sich nicht eifrig genug bemühte? 443
»Sag mir, dass ich es schaffen kann, Sandra.« »Oh, Laura! Wenn jemand Krebs heilen kann, dann bist du es. Der Meinung war ich schon immer.« »Danke.« »Du kommst mich bestimmt besuchen, wie du es versprochen hast?« »Ganz bestimmt.« »Entschuldige, aber jetzt bin ich wirklich erschöpft«, sagte Sandra. »Ich liebe dich.« »Ich liebe dich auch.« »Sie haben nichts für sich bestellt?«, fragte Laura, nachdem der Zimmerservice das Speisenwägelchen hereingerollt hatte. »Ich bin nicht hungrig.« Kevin schenkte sich ein Glas Mineralwasser ein. Doch er wirkte ausgehungert und hatte seit ihrer ersten Begegnung erheblich abgenommen. Wirklich schlecht sah er allerdings nicht aus, obwohl seine Wangen von fiebrigem Rot waren. Laura fand sogar, dass er mit seinem hageren Gesicht, den hervorgehobenen Wangen- und Stirnknochen, die seine tief liegenden Augen betonten, ziemlich attraktiv aussah. Vielleicht hatte ihm ja der Stress den Appetit geraubt. Er schien auch nicht nervös zu sein, im Gegenteil - seit ihrer Ankunft in Seattle waren seine Bewegungen beinahe übernatürlich ruhig, als wäre jede unnötige Geste eliminiert. Doch das machte ihn keineswegs lustlos, es steigerte offenbar sogar seine Energie, die manchmal aus seinen Augen blitzte. Sie fragte sich, ob auch ihre Augen diesen nuklearen Schmelzpunkt besaßen, wenn sie bis tief in den Morgen in ihrem Labor arbeitete. Wahrscheinlich. Vor allem, wenn sie Speed genommen hatte.
Ein wenig verlegen aß sie ihren Salat. Als höchstens noch ein Viertel übrig war, läutete das Telefon. Für einen Moment starrte sie Kevin wie gelähmt an. Er stand ganz ruhig da und deutete mit einem Kopfnicken 444
zum Zimmertelefon, wo er einen Notizblock und einen Kugelschreiber bereitgelegt hatte. »Gehen wir's an«, forderte er sie auf. Mit voller Absicht hatten sie nicht besprochen, was Laura sagen sollte. Jetzt war sie froh darüber, denn sie wollte nicht, dass es sich gekünstelt anhörte. Sie setzte sich neben das Telefon, atmete tief ein und aus und nahm den Hörer ab. »Hallo.« »Sie sind also gekommen.« »Ja. Ich bin hier. Danke für die Proben. Wann treffen wir uns?« »Sie haben das Geld?« »Selbstverständlich.« »Es ist vermutlich das Einfachste, die Sache bei uns zu erledigen. Sie nehmen Sean doch nicht sehr viel Blut ab, oder? Er ist ziemlich tapfer, aber über seine letzten Impfungen war er nicht besonders erfreut.« »Es dauert nur ein paar Sekunden.« »Ich hab heute Abend keine Schicht. Gegen achtzehn Uhr wär's mir recht. Ich werde Ihnen jetzt sagen, wie Sie zu uns kommen.« Laura schrieb sorgfältig mit. Rachel wohnte etwa eine Stunde nördlich der Stadt, ungefähr auf halbem Weg nach Everett. »Sie haben doch mit niemandem darüber gesprochen, oder?« »Nein«, erwiderte Laura und blickte dabei Kevin an. »Aber glauben Sie wirklich, dass Sie dort sicher sind? Meinen Sie nicht, dass es besser wäre, wenn Sie irgendwo anders blieben, bis Haines festgenommen ist?« »Man hat ihn in Houston entdeckt, das habe ich in den Nachrichten gesehen.« »Ja, ich auch.« »Wegen ihm mache ich mir keine Sorgen, eher darum, dass mein Exfreund auftaucht und gemein wird.« Rachel lachte rau; dann fuhr sie rasch fort, als befürchtete sie, zu viel verraten zu haben: »Also, dann bis um achtzehn Uhr, okay?« 445
Laura verabschiedete sich und legte den Hörer auf, ohne ihn gleich loszulassen. Kevin blickte von seiner Uhr auf und notierte die Dauer des Anrufs. »Gut gemacht«, lobte er Laura und griff nach dem Telefon. In seiner Hast streifte er ihren Arm und ihre Brust. Die Berührung ließ sie unwillkürlich zusammenzucken, und sie machte einen Schritt zurück. Sie fühlte sich dumm wie ein Gänschen und hoffte, dass es ihm nicht aufgefallen war. »Verzeihung«, entschuldigte er sich. Als er den Hörer hob, roch er ihr Parfüm und fühlte noch die schwache Berührung ihrer Brust an seinem Arm. Er musste intensiv auf das Tastenfeld starren, bis ihm die Nummer der FBI-Außenstelle Seattle einfiel. »Lee, hier Kevin. Der Anruf ist soeben gekommen. Hier sind die Zeitangaben. Die Adresse ist ...« Er blickte auf das Stück Papier und las sie vor. Er hoffte, Rachel hatte von zu Hause angerufen, nicht von einem öffentlichen Fernsprecher. Denn ohne die passende Adresse könnten sie den Check nicht durchführen. »Gut, ich werde sehen, was die Telefongesellschaft für uns hat«, versprach Lee. »Bis nachher.« Kevin legte auf und breitete seinen Stadtplan aus. Er brauchte nicht lange, die Adresse zu finden. Er erinnerte sich von früher an diese Strecke; die Nebenstraße war auf dem Plan nur ein dünner Strich, der an der Küste entlang nordwärts führte. In seiner Jugend war er ihr oft gefolgt. Er fragte sich, ob Rachel ihnen tatsächlich ihre wahre Adresse gegeben hatte. Oder hatte sie bloß eine verlassene Strecke genannt, die einem Scharfschützen hinter einem Baum ein gutes Ziel auf
vorüberfahrende Wagen bot? Vielleicht hatte man den Küstenstreifen inzwischen in ein Naherholungsgebiet verwandelt, doch das bezweifelte Kevin. Es gab eine große Papiermühle ein Stück entfernt, die für Luftverpestung sorgte; außerdem war der Strand in der 446
Gegend nicht gerade idyllisch, und für einen kurzen Trip lag Bellingham zu weit außerhalb von Seattle. Sein Blick wanderte westwärts über die Karte, über die zahlreichen Buchten hinweg zur Insel Cordova, die aussah wie ein auf Miniaturformat geschrumpftes Großbritannien. Wo du Gott gefunden hast! Dass Rachel behauptete, in der Nähe der Insel zu wohnen, hätte Kevin noch mehr alarmiert, wäre er nicht sicher gewesen, dass es die God's Children seit einigen Jahren nicht mehr gab. Soviel er wusste, war das Gelände an einen nicht allzu neugierigen Grundstücksmakler verkauft worden. Trotzdem beunruhigte ihn dieser Streifen Wasser zwischen Rachels Adresse und Cordova. Zufall. Er konnte nicht recht glauben, dass Rachel eine Jüngerin war. Um einen raffinierten Trick mit dem Ziel, Laura in eine Falle zu locken, konnte es sich kaum handeln; das Risiko für David wäre viel zu groß. Dann nämlich wüssten bald alle, dass er einen Sohn hatte und wo er zu finden war. Außerdem musste er davon ausgehen, dass Laura die Polizei informierte und so seine Pläne zunichte machte. Fünf Minuten später rief Lee zurück. »Es stimmt überein. Die Telefonnummer gehört einer Deirdre Mason und ist unter der Adresse gemeldet, die Sie mir genannt haben.« Danke, Jesus. Lobpreise Jesus Christus. Die alte Dankbarkeitsbekundung der God's Children ging Kevin unerwartet durch den Kopf. Er war sich nicht einmal sicher, ob er die Worte sogar laut gesprochen hatte anscheinend nicht, denn Laura hatte keine Miene gerührt. »Können Sie mir alles über die Frau besorgen, Lee?«, bat er. »Und sehen Sie bitte im Strafregister nach.« »Selbstverständlich.« Er war erleichtert. Deirdre hatte von zu Hause angerufen. Wenn man jemanden in eine tödliche Falle locken wollte, nannte man bestimmt nicht die richtige Adresse. 447
»Deirdre Mason«, wandte er sich an Laura. »Und die Anschrift stimmt. Wann sind Sie mit ihr verabredet?« »Um achtzehn Uhr.« Es war jetzt vierzehn Uhr dreißig. Er wollte auf jeden Fall so früh wie möglich dort sein. Falls es doch eine Falle sein sollte, brauchte er den Vorteil der Überraschung. Hätte der Herr des Hauses gewusst, zu welcher Stunde der Dieb kommt, wäre es ihm ein Leichtes gewesen, die Tat zu verhindern ... Er blinzelte die Worte aus der Heiligen Schrift fort, die ihm in den Sinn gekommen waren. Sobald er Deirdres Persönlichkeitsprofil hatte, würde er sich auf den Weg machen. Kevin zweifelte nicht, was David tun würde, falls er sie suchte: Er würde seinen eigenen Sohn töten, wie er seinen Bruder getötet hatte. Fünfzehn Minuten später rief Lee wieder an. »Okay, wir haben Folgendes ...« Er gab die Nummer ihrer Sozialversicherung und ihres Führerscheins durch. »Sie hat ihren Impala vor vier Jahren in Zahlung gegeben.« Kevin nickte, es schien zu passen. »Ihre Wohnung ist unter dem Namen ihres Vermieters eingetragen. Seit zwei Jahren arbeitet sie im Iron Jim's, ein Restaurant in Everett. Ihr Name taucht zwar im Strafregister auf, aber nichts von Bedeutung. Vor zwei und vor drei Jahren aktenkundig wegen Drogenbesitz, doch hauptsächlich für den Eigenbedarf. Aber sie war mit einem Dealer beisammen, der sich als ihr Lover erwies, steht hier. Vielleicht ist er's noch, das geht nicht daraus hervor. Seit zwei Jahren keine Einträge mehr, ganz im Gegensatz zu ihrem Freund, dem Dealer. Ich habe schon von anderer Seite von ihm gehört. Er wird gesucht,
sowohl hier wie auf der anderen Seite der Grenze. Das wär's. Haben Sie vor, ihr einen Besuch abzustatten?« »Ja.« »Brauchen Sie Hilfe?« »Wie viele Leute haben Sie denn?« »Nur mich. Es ist Sonntag. Alle anderen haben frei.« 448
»So was habe ich über die West Coast schon gehört.« Lee lachte. »Lassen Sie's mich wissen, wenn Sie Unterstützung brauchen. Ich bin bis zwanzig Uhr hier.« »Danke, Lee. Ich werde Ihnen Bescheid geben.« Er legte auf und drehte sich zu Laura um. »Sieht ganz so aus, als hätte unsere Deirdre eine bewegte Vergangenheit.« Er erzählte ihr von den Drogenvergehen. »Eine Sekte zu verlassen ist nicht einfach. Irgendwie bedauert man es und zweifelt, ob man das Richtige getan hat. Plötzlich gibt es keine Euphorie mehr. Drogen bringen einem dieses Hochgefühl zurück.« »Vielleicht ist das der Grund, warum sie sich nicht an die Polizei oder das FBI wenden wollte. Um ihren ehemaligen Freund nicht zu belasten.« »Möglich. Jedenfalls sind das gute Neuigkeiten. Ich glaube nicht, dass sie eine Jüngerin ist. Drogen passen nicht in Davids theologische Weltsicht.« »Ich würde gern allein zu ihr gehen«, sagte Laura. Darauf hatte er gewartet. Er schüttelte den Kopf. »Nur solange ich brauche, um mit ihr zu sprechen und das Blut abzunehmen. Dann können Sie selbst mit ihr reden.« »Vergessen Sie's. Sie besuchen die Frau entweder mit mir zusammen oder gar nicht.« »Aber wenn ich mit einem FBI-Agenten komme, wird sie ...« »Was? Ihnen sagen, Sie sollen sich verziehen? Das bezweifle ich. Sie will die fünfundzwanzigtausend. Tut mir Leid, aber allein lasse ich Sie auf gar keinen Fall dorthin.« Sein Handy läutete, und er drückte auf Empfang. »Kevin, ich bin's, Hugh.« Kevin verkrampfte sich. Am liebsten hätte er ausgeschaltet, ehe Hugh ihm eiskalt zu verstehen gab, dass er suspendiert sei, umgehend nach Chicago zurückkehren und sich einer Disziplinarkommission stellen müsse. 449
Doch Hughs Stimme klang ruhig, beinahe gut gelaunt. »Man hat soeben Gail Newtons roten Honda unten in Houston gefunden. War in einem Vorort geparkt. David Haines ist zweifellos dort unten.« »Sieht wohl so aus«, entgegnete Kevin. Nach dem Gespräch mit Gail hatte er Mitch das Kennzeichen ihres Wagens durchgegeben, in der Annahme, dass David ihn fuhr. Erleichterung und Besorgnis zugleich breiteten sich in ihm aus. Wenn David sich in Texas aufhielt, bedeutete es, dass Deirdre außer Gefahr war. Andererseits würde seine Befehlsverweigerung dann umso schlimmer sein - und vor allen Dingen vergebens. »Es kommt noch besser«, fuhr Hugh fort. »Als sie den Wagen entdeckt hatten, sperrten sie ein bestimmtes Gebiet ringsum ab. Sie nehmen an, dass Haines sich dort in einem der billigen Mietshäuser aufhält. Mitch meint, morgen Abend sitzt er wieder in der Todeszelle.« »Gut«, murmelte Kevin benommen, »das ist wirklich gut, Hugh. « »Sie haben Donaldson gefunden?« »Ja. Ich bin mit ihr in Seattle. Die Tests waren positiv.« »Dann ist diese Rachel tatsächlich die Mutter seines Kindes.« »Wir haben bereits mit der Frau gesprochen und werden zu ihr fahren. « »Sieht nicht so aus, als hätte sie was zu befürchten. Sie können ihr natürlich raten, sich eine andere Wohnung zu suchen, falls sie sich dann sicherer fühlt. Aber ich würde nicht darauf drängen. Er wird zu keinem Problem mehr für sie werden.«
»Ist gut.« Kevin wusste, dass noch mehr kam - und tatsächlich, als Hugh weiterredete, klang seine Stimme förmlich, ja, eisig. 450
»Kevin, ich erlaube Ihnen, diese Sache zu Ende zu führen, weil ich unsere Außenstelle in Seattle nicht in Verlegenheit bringen möchte. Ich habe dort angerufen und sie über die Lage in Kenntnis gesetzt, und sie haben sich einverstanden erklärt, Sie in diesem Fall zu unterstützen. Reden Sie mit der Frau - aber dann übernehmen unsere Leute in Seattle den Fall. Ich erwarte Sie in vierundzwanzig Stunden zurück.« »Ich verstehe.« Er schaltete das Handy aus und sah, dass Laura ihn neugierig beobachtete. Er fragte sich, ob er wie ein geprügelter Hund aussah. »Sie glauben, dass sie Haines unten in Houston in der Zange haben«, erklärte er ihr. »Sieht nicht so aus, als bräuchten wir Unterstützung. Sind Sie bereit?« »Es ist doch erst fünfzehn Uhr!« »Ich weiß.« Trotz Hughs Neuigkeiten hatte er immer noch vor, früh an Ort und Stelle zu sein. Er wollte keine Risiken eingehen. Seid wachsam! Denn ihr wisst weder den Tag noch die Stunde, in welcher der Menschensohn kommt! »Hören Sie«, sagte er, »vielleicht täuschen meine Kollegen sich ja, was Houston angeht. Und selbst wenn sie Recht haben, könnte es hier aus anderen Gründen gefährlich werden.« »Wollen Sie mir ausreden, Rachel aufzusuchen?« »Ich möchte nur, dass Sie Bescheid wissen.« Ihm war klar, dass dies alles sinnlos war, das verriet ihm ihre steile Stirnfalte. Er sah ihre Entschlossenheit und wusste, welches Vertrauen sie in ihre Arbeit hatte. Er würde ihr nicht im Weg stehen. »Also dann, brechen wir auf«, sagte Laura. Doch beim Aufstehen verkrampfte sich ihr Oberkörper, und ihre Füße fühlten sich plötzlich eiskalt an. Übelkeit stieg in ihr auf. Sie langte nach der Rückenlehne des Stuhls und setzte sich keuchend wieder hin. »Ist Ihnen nicht gut?« Kevin blickte sie besorgt an. »Doch. Es ist nur ... Ich bin vergangene Nacht nicht viel zum Schlafen gekommen.« »Wollen Sie nicht doch hier bleiben?« 451
»Nein! Auf gar keinen Fall!« Einen Augenblick schwand ihre Übelkeit. »Ich komme mit. Lassen Sie mir nur einen Moment Zeit.« Laura holte tief Luft und stieß sie aus, dann noch einmal, und noch einmal. Sie stützte die Ellbogen auf die Knie. Wie eine dunkle Wolke am Horizont ihres Bewusstseins drängte Panik auf sie ein. Während sie auf den Boden starrte, als wäre er ein langer Tunnel, spürte sie Kevin in ihrer Nähe. Sie wünschte sich, er würde weggehen; zugleich hatte sie den Wunsch, dass er sie berührte ... überall mit beiden Händen berührte und die Panik aus ihrem Körper vertrieb. Kevin blickte auf sie hinunter, wie sie mit gesenktem Kopf dasaß. Er befürchtete, dass es sich um eine Nebenwirkung des Schusses mit der Taserpistole handelte, die sich erst jetzt einstellte. Doch während er Laura betrachtete, die Steifheit ihrer Schultern bemerkte und ihren starren, zu Boden gerichteten Blick sah, erkannte er, dass es kein Herzanfall war, sondern panische Angst. Er sah sich selbst, wie er am Morgen als Erstes die Beine aus dem Bett schwang und diese verdammte Depression wie Zwingen auf seine Schläfen drückte, und wie er sich jeden Tag fragte, welchen Sinn es überhaupt hatte, die Füße auf den Vorleger zu setzen und einen Schritt nach dem anderen zu tun ... warum er nicht einfach aufgab. Er berührte sie - nicht mit freundschaftlicher Besorgnis an der Schulter, wie er es beabsichtigt hatte, sondern unmittelbar über dem Ohr, und seine Fingerspitzen folgten ihrer Haarlinie zum Nacken. Dann zog er hastig die Hand zurück, überrascht und bestürzt darüber, was er gerade getan hatte. Sie blickte zu ihm auf. »Tut mir Leid«, entschuldigte er sich.
»Nein, nein, es ist okay.« »Fühlen Sie sich jetzt besser?« Laura nickte, stand auf, ging ins Bad und schloss die Tür hinter sich. 452
Sie wechselte ihren Verband vor dem Spiegel; dann betastete sie zögernd die Stelle, die Kevin berührt hatte. Was für eine alte Hexe sie war, mit ihren wässrigen Wunden! Aber er hatte sie berührt, und es hatte ihre Panik vertrieben, auch wenn sie die Nachwirkung noch in Brust und Kopf spürte. Doch sie brauchte jetzt einen klaren Kopf. In ihrer Handtasche befand sich noch das Fläschchen mit Phenmetrizine, zwei 10-Milligramm-Pillen, die am Boden gegen das Glas ratterten. Sie leerte sie auf die Ablage, schenkte sich ein Glas Wasser ein und warf die Pillen auf die Zunge. Sieh dich an! Es ist lächerlich! Aber ich brauche das Zeug. Um zu erreichen, was ich will. Wäre ich denn ohne Pillen tüchtig genug? Sie versuchte in Gedanken die guten Dinge zusammenzuscharen. Gillian Shamas, die sie übers Fernsehen aufforderte, weiterzumachen. Sandra, die sagte: »Wenn irgendjemand Krebs heilen kann, dann du.« Kevin, der sie sanft berührt hatte. Verzweifelt bemühte sie sich, dies alles zu einem Cocktail zu mischen. Es klappte nicht so recht, aber ... Rasch, bevor sie es sich anders überlegen konnte, spuckte sie die Pillen in die Toilette und spülte ab.
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22
Die Old Samish Road schlängelte sich nordwärts. Sie war eine alte, zweispurige Straße mit abfallenden, zerbröckelnden Banketten; dahinter befanden sich Gräben, die von hohem Gras und Wildkräutern überwuchert waren. Links hatte Kevin hin und wieder einen Blick aufs Wasser und die niedrigen, mit Bäumen bewachsenen Kuppen der Inseln. Als er zu einer Anhöhe gelangte, konnte er das noch verschwommen in der Ferne liegende Cordova mit dem Mount Morrisey ausmachen, der steil hinter der mit Koniferen bewachsenen südlichen Küste kauerte. Er fuhr mit heruntergekurbeltem Fenster - was in der stickigen Feuchtigkeit Chicagos nicht ratsam gewesen war -, und eine frische Brise wehte gegen seinen Arm und die Wange. Er staunte, wie viele Erinnerungen sich in dem Geruch der Bäume und der Ahnung des nahen Ozeans verbargen. Von Sea-Tac aus hatte Kevin die 15 durch Seattle genommen, und es überraschte ihn, wie gegenwärtig ihm alles noch war. Trotz einiger baulicher Veränderungen der Straßen und neuen Wohnsiedlungen, die in den letzten Jahren aus dem Boden geschossen waren, war der Ausblick noch so, wie er sich ihm ins Gedächtnis geprägt hatte. Seine Hände am Lenkrad schienen sich von selbst an jede Kurve zu erinnern, und seine Augen wussten, was sich ihnen als Nächstes zeigen würde. Auf dem O'Hare war er mit nichts weiter als der Kleidung, die er trug, seiner Brieftasche, seiner Glock und den beiden am Gürtel eingehängten Magazinen ins Flugzeug gestiegen. Und
er hatte sich seltsam aufgekratzt gefühlt, trotz - oder vielleicht gerade wegen - seines Verhaltens gegenüber Hugh. Während er nun am Meer entlang fuhr, fühlte er sich wider jede Vernunft erleichtert und angespannt 454
zugleich. Es lag nicht nur daran, dass sie bald Deirdre Mason kennen lernen würden. Es war etwas anderes; es war mehr als das. Sein Blick schweifte über die Bäume; er hoffte auf einen weiteren Blick auf Cordova. Die Luft roch wie in seiner Jugend. »Sie sind hier aufgewachsen, nicht wahr?« Überrascht blickte er zu Laura hinüber und fragte sich, wann er das erwähnt hatte. »Ja.« »Ich habe es in einem dieser Bücher über den Fall gelesen. Dark Angel, wenn ich mich recht entsinne.« Vielleicht glaubte sie, es ihm erklären zu müssen, denn sie fügte hinzu: »Als wir versuchten, Haines' Blut zu bekommen, ließen wir von unserem Researcher jede Menge Material über den Fall zusammenstellen.« Hatte sie sich über ihn informiert? Ach, Unsinn. Sie war bei ihren Nachforschungen bloß sehr gründlich gewesen. »Es war nicht gerade das beste Buch. Die meisten Informationen hatten wenig mit den Tatsachen zu tun.« Trotzdem freute sich Kevin. Nach Abschluss des Falles war er zu einer Art Berühmtheit geworden, doch seine Freude war durch seine Depression zunichte gemacht worden. Wusste Laura auch darüber Bescheid? In Dark Angel stand nichts darüber zu lesen, doch ein paar Monate nach Haines' Festnahme hatte ein Journalist der Tribune für einen Artikel recherchiert und beim FBI oder der Polizei jemanden gefunden, der ihm brühwarm alles über Kevins Depression und seine scheiternde Ehe erzählt hatte. Kevin hielt nach wie vor Seth Michener für das Klatschmaul, konnte es aber nicht beweisen. »Ich nehme an, dass Sie durch Haines Karriere gemacht haben«, sagte Laura. »Eher das Gegenteil«, erwiderte er mit rauhem Lachen. Erstaunt blickte sie ihn an. Sie wusste es also nicht. Es drängte Kevin danach, es ihr zu erzählen. Gleich hier auf der Straße, unter der Sonne, fern von Chicago und der Arbeit, wollte er reden und feststellen, wie sie reagierte - positiv oder negativ. »Der Fall hatte mich ausgebrannt. Ich musste sechs Monate weg vom 455
aktiven Dienst, und ich hatte jeden Morgen Angst, aufzustehen.« Sie schwieg und wandte das Gesicht von ihm ab. Er fragte sich, ob er zu vertrauensselig gewesen war und sie in Verlegenheit gebracht oder sie gar abgestoßen hatte. Nur weil sie ein Workaholic und speedsüchtig war, bedeutete es nicht, dass sie Schwäche bei anderen mochte. »Sie haben mehr als zwei Jahre an dem Fall gearbeitet, nicht wahr? Dann ist eine Art Antiklimax, sogar eine Depression praktisch unvermeidlich. Man fällt in ein tiefes Loch. Das ist nichts Ungewöhnliches.« Laura hielt inne. Sie hatte Angst, zu nüchtern zu klingen, zu höflich distanziert, doch sie empfand ganz anders: Kevins Geständnis überraschte sie und weckte eine Empfindung von Seelenverwandtschaft in ihr, sodass es sie danach drängte, eine eigene Schwäche einzugestehen. »Ich kenne dieses Gefühl«, murmelte sie zögernd. »Diese Angst vor dem Aufstehen. « »Und etwas falsch zu machen?« Sie lachte überrascht, aber auch ein bisschen erfreut. Wie viele Menschen wussten das schon von ihr? Bestimmt nicht ihr Laborteam, und nicht ihre Familie, und auch nicht Adrian. Sie hatte es sich angewöhnt, niemals Unsicherheit zu zeigen. Doch dieser Mann neben ihr, den sie kaum kannte, sah es. Sah sie. »Ja. Ich hatte Angst, nie das richtige Heilmittel entwickeln zu können, und wenn, dass meine Schwester es dann nicht nehmen würde.« Und da war noch etwas anderes; aber sie war
noch nicht bereit, es ihm anzuvertrauen. Jedenfalls nicht jetzt. Denn selbst wenn sie erfolgreich war und 456
ihre Schwester heilen könnte, würde es nicht genügen, sie aus dem kalten Fegefeuer des Gefühls der Unzulänglichkeit zu befreien, das sie ihr Leben lang empfunden hatte. »Und Speed sollte es verbergen?«, fragte Kevin. »Wahrscheinlich war es gar nicht Speed, was ich brauchte, eher ein Antidepressivum.« »Hört sich an, als kriegten wir beide nicht so einfach, was wir wollen«, sagte Kevin. »Sie konnten Haines zumindest festnehmen. Das haben Sie geschafft.« »Aber er hatte etwas tief in sich, das auch ich wollte, das mir aber niemand geben konnte.« »Sie meinen nicht seinen Glauben, oder?« »Doch.« »Diese Sekte, bei der Sie ...« Sie suchte nach dem richtigen Wort. Mitglied waren? Der Sie sich angeschlossen hatten? Doch das klang alles zu sehr wie eine Gewerkschaftszugehörigkeit. »Involviert waren«, entschied sie sich schließlich. »Sie war von der gleichen Art wie die, zu der Haines gehörte, nicht wahr?« »Sie waren sich ähnlich, ja. Die Ansichten über medizinische Betreuung, die Gebete, die Feindschaft gegenüber weltlicher Autorität. Ich denke ... hoffe, dass wir ... meine Sekte ... ein wenig maßvoller war, soweit es Feuer und Schwefel betrifft. Und Schusswaffen.« Er blickte Laura lächelnd an; dann seufzte er. »Lassen Sie mich raten, was Sie denken. Darf jemand wie ich tun, was ich tue? Darf jemand, der einer Sekte angehörte, David Haines verfolgen? Vielleicht drehe ich ja durch und werde rückfällig.« »Daran habe ich flüchtig gedacht«, gestand sie. »Aber ich nehme an, dass Sie inzwischen immun dagegen sind. Schließlich liegt das Ganze zwanzig Jahre zurück.« »Jugendsünde«, entgegnete er mit leichtem Sarkasmus. Sie zuckte die Schultern. »Sie sind weggegangen. Sie waren hier draußen, nicht wahr?« Sie erinnerte 457
sich, es gelesen zu haben; viele Einzelheiten waren allerdings nicht zu erfahren gewesen. Kevin nickte. »Man hat mich an der Universität Washington rekrutiert. Ich war im ersten Semester und kannte niemanden. Außerdem hatte ich Heimweh nach einem Zuhause, das es nicht mehr gab, seit meine Eltern sich getrennt hatten. Haben Sie vom Flirtfischen gehört? Man setzt ein besonders schönes Mädchen auf einen an. Es war das erste Mal, dass eine Frau so nett zu mir war. Die Heilige Schrift ist mit einem kleinen Flirt viel besser verdaulich.« Laura fiel in sein Lachen ein. »Und dann sind da die gemeinsamen Aktivitäten, die Picknicks und das einträchtige Bibelstudium an den Wochenenden. Und jeder behandelte mich, als wäre ich einmalig, etwas Besonderes, geliebt und bewundert - die ganze Palette. Das hatte ich vorher nicht gekannt.« Laura konnte nicht leugnen, dass es sich gut anhörte. Wer würde sich von so etwas nicht geschmeichelt fühlen? »Und obwohl Sie sich so gut fühlten, wollten Sie nicht bleiben?«, zog sie ihn auf. »Ich wollte schon.« Sie blickte ihn scharf an, und er sah anscheinend den Schrecken und die Verwirrung in ihren Augen, denn er lachte entschuldigend. »Ich habe mich nicht von ihnen getrennt. Sie haben sich von mir getrennt. Ich wünschte, ich könnte behaupten, ich hätte das Ganze durchschaut, die religiösen Führer angezeigt und die Hälfte der Anhänger mitgenommen. Aber so war es nicht. Haben Sie jetzt schon Ihre Meinung über mich geändert?« Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, doch ihre Neugier siegte. »Und wie ist es nun passiert?« »Eigentlich war diese Straße hier schuld.«
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Kevin wusste, dass es riskant war, es ihr zu erzählen, aber er war jetzt in Fahrt gekommen und wollte nicht mehr auf die Bremse treten, ob es vernünftig war oder nicht. Also erzählte er ihr, dass er damals - nach einer Spendenaktion in Seattle in einer kalten, regnerischen Februarnacht - auf dem Rückweg nach Norden gewesen war, zur letzten Fähre nach Anacortes. Er wollte sie unbedingt erreichen, weil er es kaum erwarten konnte, zur Farm auf Cordova zurückzukehren. Seit er sich der Gemeinschaft angeschlossen hatte, verabscheute er die Stadt mit ihrer Gottlosigkeit und ihrem Schmutz. Er freute sich darauf, den langen Kiesweg zur Farm hinunterzufahren, die Lichter des Haupthauses zu sehen und Jesus zu lobpreisen. Dabei war er zu schnell abgebogen. Er konnte sich noch jetzt in die Situation zurückversetzen, wie er gespürt hatte, als die Räder die Haftung mit der Straße verloren. Der Wagen kam ins Schleudern und kippte in den Straßengraben. Bei dem Unfall wurde Kevins linkes Bein eingeklemmt und schwer verletzt. Und sie hatten sich nicht um ihn gekümmert. »Nicht gerade ein ruhmreicher Austritt«, gestand er, »von Mutter im Krankenhaus abgeholt zu werden. Ich war alles andere als erfreut, sie zu sehen. Sie brachte einen Deprogrammierer mit ... das heißt, keinen richtigen Deprogrammierer, sondern einen Psychologen von der Uni, an den sie sich gewandt hatte, weil er sich mit Sekten auskannte. Er redete und redete fast zwei Tage auf mich ein, bis ...« Er blickte durch die Bäume und sah Wasser. »Bis alles weg war. Bis nichts mehr Sinn machte. Er war ein guter Mensch. Ich mochte ihn. Er half mir, an die Uni zurückzukehren. Ihm verdanke ich auch meine Kenntnisse des Sektenwesens - oder Sektenunwesens.« »Aber Sie wollen immer noch glauben, sogar nach allem, was geschehen ist?« Laura war nicht sicher, ob seine Beharrlichkeit bewundernswert oder uneinsichtig war. 459
»Ich rede jetzt nicht von ihren Dogmen, oder denen anderer. Im gegenwärtigen Stadium beschäftige ich mich nur mit der Existenz Gottes.« Gott. Laura wusste nicht einmal, wie sie darüber reden sollte, denn das Vokabular war ihr fremd, und sie empfand es als irrational. Trotzdem verspürte sie das gleiche Hochgefühl wie bei einer ersten Verabredung, bei der alles zusammenpasst und von der man sich wünscht, sie möge nie aufhören. »Und was suchen Sie dabei?« Er lachte. »Das frage ich mich selbst ständig.« »Nein, ernsthaft.« »Dass ich glauben kann.« »Hm.« »Ein Zeichen, nehme ich an.« Er wirkte leicht verlegen, als hielte er es für ein kindisches Eingeständnis. »Welche Art von Zeichen?« »Oh, irgendein verdammt großes Zeichen.« »Die Teilung des Roten Meeres?« »Ah, Sie sind also in die Sonntagsschule gegangen. Sicher, so was würde helfen. Aber jetzt kann man ja sehr viel mit Spezialeffekten machen, dann wäre es eine Frage von Täuschung und Enttäuschung. Gibt es in Vegas nicht einen Magier, der Hubschrauber schweben lassen kann?« »Genau«, erwiderte sie. »Und wenn Sie helle Lichter sehen würden, oder wie der Himmel sich öffnet, oder die Stimme Gottes hörten, würden Sie sich dann nicht Sorgen machen, dass Sie unter Verfolgungswahn leiden oder an Schizophrenie?« »Zeichen können ganz schön trickreich sein, das gebe ich zu. Wie führen Sie in der Wissenschaft eigentlich Beweise?« »Durch Replikation. Wenn ich ein Experiment unter gleichen Bedingungen wiederholen kann und jedes Mal das gleiche Ergebnis erziele, oder wenigstens neunundneunzig Mal von hundert, genügt mir das.«
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»Erscheint mir vernünftig.« »Sandra glaubt, dass sie ihren Zustand durch Gebete verbessern kann. Haben Sie das auch geglaubt?« »Früher.« »Könnte David Haines ein Zeichen für Sie sein? Ein Krebskranker, der sich selbst heilen kann?« »Eine harte Nuss, das muss ich zugeben. Aber er könnte schließlich ein genetischer Zufall sein, wie Sie sagen. Andererseits, warum ist ausgerechnet er einer?« »Wie sähe es aus, wenn ich Krebs heile? Und zwar mit dem Blut eines Mannes wie David Haines? Wäre das ein Zeichen?« »Auch darüber habe ich nachgedacht. Ja, es könnte ein Zeichen sein.« »Nun, ich werde versuchen, mein Bestes für Sie zu tun.« »Danke«, sagte er lachend. Durch das offene Fenster drang ein Gestank wie von brennendem Müll, und über den Bäumen konnte er den gelblichen Smog von der Papiermühle sehen. Es war nicht mehr weit bis zu Deirdre Mason. Die Bäume standen hier nicht mehr so dicht, und links führten Strommasten zu trostlosen Hütten auf verwahrlosten Grundstücken. Zwischen dem wuchernden Gras sah Kevin kaputtes Spielzeug, einen Stapel Autoreifen, eine Toilette und die rostigen Reste eines Camaro, an die er sich von seiner letzten Fahrt her zu erinnern glaubte. Er fuhr langsamer und bemühte sich, die Hausnummern zu lesen, dann die Namen an den Briefkästen, als die Bäume dichter an die Straße drängten und nur Platz für ungepflasterte Einfahrten ließen. Beim ersten Mal übersah er sie, dann wendete er und kehrte zu dem abblätternden grünen Briefkasten zurück. Die Räder sanken in die Furchen, und das Auto schaukelte den sanften Hang hinunter. Unkraut und Wildblumen schlugen gegen die Wagenseiten. Kevin blickte aufs Armaturenbrett. Es war fünfzehn Uhr vierzig. 461
Am Fuß des Hanges stand ein schiefer Holzbungalow, umgeben von einem schäbigen Rasen, der dringend gemäht werden musste. Hohes Gras und Wildkräuter säumten das Grundstück an zwei Seiten und vermischten sich mit den hohen, dicht stehenden Nadelbäumen, die bis zum Wasser hinunter wuchsen. Weil der Hang hier so steil war, konnte David den Strand nicht richtig sehen, vermutete aber, dass es einen Pfad hinunter geben musste. Wieder schaute er auf die Uhr. Es war jetzt kurz nach drei am Nachmittag. Er hatte den größten Teil des Tages damit vergeudet, sich bei den zwei anderen Adressen auf seiner Liste umzusehen, beide in Seattle. Die erste, in einem besseren Viertel am Stadtrand, war das Zuhause eines indianischen Ehepaars mit drei Kindern; aber es war die zweite Anschrift gewesen, die ihn den Großteil seiner Zeit gekostet hatte: ein Apartment in einem kleineren Haus in der Innenstadt. Auf den Namensschildern an den Klingelknöpfen fand er einen D. Mason, der sich jedoch als Donald Mason entpuppte. Die Old Samish Road war seine letzte Chance. Nachdem er den Briefkasten entdeckt hatte, war er noch etwa eine halbe Meile gefahren, bis er zu einem Recycling-Hof gelangte. Er parkte zwischen ausgeschlachteten Wagen, Reifenstapeln und Metallabfällen. Es war Sonntag; niemand war zu sehen. Den Rucksack über den Schultern, ging er die Straße zurück zu dem grünen Briefkasten und verschwand dort zwischen den Bäumen, die die Einfahrt säumten. Nun kauerte er hinter einem riesigen Nadelbaum und beobachtete den Bungalow. Davor parkte ein alter, pockennarbiger Chevy Cavalier, der gut hierher passte, und dahinter ein offenbar nagelneuer Jeep Cherokee, der in dieser Umgebung beinahe exotisch wirkte. Der schmerzende Hunger in seinen Eingeweiden hatte sich im Lauf des Tages zu etwas so Hartem 462
verkrampft wie seine Entschlossenheit. Je weniger von der Welt er aufnahm, desto weniger brauchte er, und desto geringer war ihre Anziehungskraft. Seine Glieder fühlten sich schwach an und hohlknochig, wie die eines Vogels, aber er wusste, dass es ihm die Kraft geben würde für das, was er tun musste. In den vergangenen Tagen hatte er vermieden, es beim Namen zu nennen. Er hatte es aus den Winkeln seines geistigen Auges beobachtet, hatte es als vermummten Fremden gesehen, den er schließlich entlarven musste. Ehre sei dir, barmherziger Gott. Du nimmst uns die Angst, du spendest uns Trost ... Nach zehn Minuten hörte er das leise Dröhnen eines Motorboots. Als er sich umdrehte, sah er, dass es sich dem Ufer des Grundstücks näherte. Er richtete sich auf, schlich zwischen den Bäumen hindurch ein paar Schritt näher und sah das vordere Ende eines verwitterten Landestegs vom Strand ins Wasser ragen. Am Steuer stand ein außergewöhnlich übergewichtiger Mann in den Fünfzigern: den Gerätschaften nach, die auf dem Bootsdeck lagen, war er draußen beim Fischen gewesen. David erschauerte. Es fiel ihm schwer anzunehmen, dass dieser widerliche Fettwanst und Rachel in irgendeiner Beziehung zueinander standen. Der Kerl war ein wandelnder Kotzbrocken, wahrscheinlich ein Bulle oder FBI-Agent, vielleicht auch nur ein privater Sicherheitsmann. Großer Gott, hatte er wirklich gedacht, er könnte sie auf diese Weise finden? Er hatte sie ja nur auf dem Bildschirm gesehen, als wäre sie eine Fata Morgana oder eine Halluzination. Vielleicht war sie bloß auf Besuch in Seattle gewesen, als die Aufnahmen gemacht wurden. Falls sie tatsächlich je hier gewohnt hatte, war sie möglicherweise umgezogen. Es war immerhin über ein Jahr her. Er beobachtete den Fetten, wie er das Boot langsam festmachte und seine Sachen auf den Landesteg legte. Eine Kinderstimme war aus dem Bungalow zu hören, und Davids Puls ging schneller. Er schlich zwischen 463
den Bäumen hindurch näher an das Haus heran. Eine Frau trat mit einem Korb voll nasser Wäsche aus der Tür und stellte ihn neben der Wäscheleine ab, die an einer Seite des Bungalows gespannt war. David holte das Zielfernrohr seines Gewehrs aus dem Rucksack und blickte hindurch. Rachel! Voll Bedauern stellte er fest, dass sie ihre Schönheit verloren hatte. Ihr Gesicht war schmäler geworden, sie hatte Krähenfüße unter den Augen, und ihr Mund besaß einen harten, bitteren Zug. Ihr wunderschönes rotes Haar hatte sie wie ein Mann ganz kurz geschnitten, als wollte sie ihre Weiblichkeit verleugnen. Aber er konnte sie immer noch sehen, wie er sie gekannt hatte, und er erinnerte sich an ihre erste Begegnung auf dem Campus, als sie ihm mit eifrigem Gesicht von der Wunderwelt der New Apostles berichtet hatte. Er senkte das Teleskop und beobachtete, wie sie die Wäsche aufhängte: kleine Jeans und T-Shirts. In diesem Moment wurde die Fliegentür aufgerissen, und zwei Jungen stürmten mit Wasserpistolen heraus. Zwei Jungen. David starrte verwirrt auf sie. Nie war er auf den Gedanken gekommen, dass Rachel ein zweites Kind haben könnte oder sogar verheiratet war. Mit dem Mann auf dem Landesteg? Beide Kinder waren gebräunt, und ihr dunkles Haar war von der Sonne gebleicht. Sie waren etwa gleich groß und im Alter nicht so weit auseinander, dass es Geschwister sein könnten. Außer sie waren Zwillinge. Lieber Gott, bitte nicht zwei! »Was ist mit eurem Film?«, rief Rachel. Ihre Worte schienen durch die Bäume zu ihm heraufzuschweben. Einer der Jungen sagte etwas, das er nicht verstehen konnte. Rachel legte den Kopf ein wenig schief und antwortete: »Ich hab nichts dagegen, Tyler. Aber vergiss nicht, dass deine Mutter dich um halb 464
sechs abholt. Wäre es nicht besser, ihr schaut euch den Film zu Ende an und spielt dann draußen?« Ein Freund. Der zweite Junge war nur ein Freund. Rachel sagte jetzt: »Wartet, bis ich mit euch hinuntergehen kann, lauft nicht allein zum Steg. Spielt erst mal hier oben im Garten.« Die zwei Jungen rannten mit ihren Wasserpistolen durchs Gras. Trotz der Wärme des Tages fühlten Davids Finger sich kalt an, als er das Gewehr montierte. Irgendwie schienen sich die einzelnen Teile nicht so leicht zusammenzufügen, wie er es in Erinnerung hatte. Er drückte die erste Patrone ins Schloss, legte sechs weitere neben sich auf den Boden und blickte durchs Zielfernrohr. Die Jungen waren ständig in Bewegung, und das Fernrohr holte alles so nahe heran, dass es schwierig war, sie eingehender zu beobachten. Ja, das war das Kind, das bei der Fernsehaufnahme im Sandkasten gespielt hatte. Zum zweiten Mal überwältigte ihn eine ungeheure Sehnsucht. Mein Sohn, mein eigen Fleisch und Blut. Sein Finger krümmte sich um den Abzug. Ehre sei dir, barmherziger Gott. Du nimmst uns die Angst ... Sieh dir sein Gesicht an! Das Strahlen der makellosen Haut und der Augen, die das Licht nicht nur spiegeln, sondern fast projizieren. Wie können sie bloß so leuchten, so von innen heraus strahlen? Abraham bat Gott um keine Erklärung, er gehorchte nur, selbst bei einer Tat, die ihm so schrecklich war. Ungewollt malte er sich aus, wie er das Gewehr auf den Boden legte und durch die Bäume hinaus auf sie zuschritt, und wie ein glückseliges Lächeln Rachels Gesicht verschönte und der Junge die Arme um ihn schlang, und wie beide ihn zu Hause willkommen hießen. Er senkte das Gewehr und wischte sich die feuchte Hand am Hemd ab. Das schrille Zirpen der Zikaden machte ihn fiebrig heiß, und seine Kehle war wie ausgetrocknet. Der Fettwanst aus dem Boot war noch 465
nicht heraufgekommen. Vielleicht funkelnagelneue Jeep ihm.
gehörte
der
Auf dem Rasen spielte sein Sohn mit dem anderen Jungen, so wie er und Rick als Kinder gespielt hatten. Du hast mit Rick getan, was du tun musstest, und er war dein Bruder. Diesen Jungen kennst du nicht, und du wirst ihn auch nie kennen lernen. Er kann dir nichts bedeuten. Davids Gedanken schweiften zurück zu Rick. Immer wieder überkamen ihn die Erinnerungen an diese schrecklichen Minuten: Als er durch die Verandatür stürmte, um sich zu vergewissern, dass er die Ärztin tödlich getroffen hatte, hatte er gesehen, wie Rick verblutete. Den Blick, den sein Bruder ihm in diesem Augenblick zuwarf, würde er nie vergessen. Und er, David, schaute an ihm vorbei, weil er hinter Laura Donaldson her war, die den Korridor entlangrannte. Noch immer sah er Rick in seinem Blut liegen - und jetzt zeigte sein inneres Auge ihm seinen kleinen Sohn in dieser Blutlache. Mühsam unterdrückte er das Ächzen, das sich aus seiner Kehle lösen wollte. Er presste die Lider so fest zusammen, dass Lichtkoronen darunter explodierten und seine Erinnerungen auslöschten. Lass dich von diesem sündhaften Narzissmus nicht behindern. Sieh nicht mehr hin. Lass dich nicht mehr ablenken. Er zwang sich, seinen Plan noch einmal durchzugehen. Tim Drent war mit seinem RV von Alberta heruntergefahren und wartete in Blaine auf ihn, nördlich von hier, unweit der Grenze nach Kanada. Drent war ein geschickter Handwerker und hatte ein niedriges Versteck unter dem Wagenboden gebastelt, in dem David sich verkriechen konnte, während sie die Grenze überquerten. Dann würde er sicher sein. Eine Zeit lang zumindest. Lange genug, dass Drent ihm zu einer neuen Identität verhelfen und falsche Papiere besorgen konnte. Drent würde bereits dort auf ihn warten, und in einer knappen Stunde konnte er bei ihm 466
sein. Erschieß den Jungen, dann ist deine Arbeit hier getan. David hob das Zielfernrohr wieder ans Auge. Halt still. Ah, dort. Das Fadenkreuz sengte sich in das leuchtende Gelb des T-Shirts seines Sohnes. Einen besseren Schuss hätte er sich gar nicht erhoffen können. Er zögerte, wandte das Gesicht ab, würgte und stützte sich an den Baumstamm. Wieder würgte er, als würde sich eine Faust um seinen Magen schließen. Eine schreckliche Schwäche durchfuhr ihn. Er konnte es nicht. Du musst! Ich kann nicht. Neuerliches Grillengezirpe, das Krächzen einer Krähe, das ferne Dröhnen eines Motorboots draußen in der Bucht, das Brausen des Windes in den Bäumen. Gott hilf mir! Dann ein neuer Laut. Reifen auf Kies. Er blickte hinüber und sah einen Wagen über die furchige Einfahrt auf das Haus zuschaukeln. Wieder hob er das Gewehr an die Wange, blickte durchs Zielfernrohr und sah Kevin Sheldrake auf dem Fahrersitz, neben ihm die Ärztin. Töte sie alle! Fang mit Sheldrake an, dann die Ärztin, danach Rachel, den Mann im Boot und schließlich ... Das Fadenkreuz zitterte heftig, als er Kevin im Visier hatte. Seine Hände bebten, er war aus der Übung. Er hatte nur eine Chance, und wenn er nicht traf, war seine Anwesenheit verraten und mit ihr der Überraschungseffekt. Dann würde jemand davonkommen. Vielleicht sein Sohn. Und jetzt wusste er, was er tun musste. Töten konnte er den Jungen nicht. Aber er könnte ihn mitnehmen. Laura stieg aus dem Wagen. 467
»Rachel?« Sie wollte sie nicht bei ihrem echten Namen rufen. Sie hatte bereits ein schlechtes Gewissen, weil sie so viel wusste. Deirdre Mason sah aus wie Ende zwanzig, eine Rothaarige in Plateausandalen, Jeans und hautengem Top, das die sonnengebräunten, sommersprossigen Schultern betonte. Sie hatte keine schlechte Figur, allerdings wirkten ihre Oberschenkel und Hüften in den engen Jeans zu sehr eingezwängt. Die Umgebung, ihre Kleidung, alles wirkte billig. Doch da war etwas in ihrer Haltung, als sie auf sie zukam, und eine Intelligenz in ihren Augen, die Laura sagte, dass Deirdre nicht hierher passte. Obwohl ihre Haut jetzt rau wirkte, konnte Laura sich gut vorstellen, wie hübsch Deirdre gewesen war, als sie David Haines kennen gelernt hatte, was etwa sechs Jahre her sein musste. Nach dem verkommenen Haus zu schließen, hatte sie wirklich kaum Geld. Jetzt verstand Laura, wozu Deirdre die fünfundzwanzigtausend Dollar brauchte. Sie wollte weg von hier. Sie wollte endlich frei sein. »Sie sind zu früh dran«, bemerkte Deirdre ein wenig ungehalten und schaute sich um. »Außerdem ist es gegen die Vereinbarung, dass Sie jemanden mitbringen.« »Ich habe darauf bestanden«, sagte Kevin. »Es war nicht Dr. Donaldsons Idee.« »Sie sind ein Bulle!« »FBI.« Sie schüttelte verärgert den Kopf. »Großer Gott. Genau das wollte ich nicht, und das habe ich Ihnen deutlich genug gesagt. Sie haben mir versprochen, mit niemandem darüber zu reden.« Sie drehte sich um und blickte zu den beiden Jungen, als hätte sie Angst, sie könnten es mit angehört haben. Doch die beiden hatten ihr Interesse an den Besuchern bereits verloren und rannten hinter das Haus. »Dr. Donaldson hat sich genau wie ich Sorgen um Ihre Sicherheit gemacht«, erklärte ihr Kevin. Vom Wasser her wehte jetzt ein böiger Wind, der die 468
Wäsche auf der Leine flattern ließ. Kevin blickte hinunter zum Strand, dann in Richtung Bungalow. Ihm gefiel nicht, wie hier alles offen lag. Er konnte sich zwar nicht erklären, warum, aber er hatte mit einem Mal ein mulmiges Gefühl. Und dieser Jeep machte ihm ebenfalls Sorgen. »Gehören beide Wagen Ihnen?« Steif erwiderte sie: »Der Jeep gehört meinem Hauswirt. Er ist unten auf dem Landungssteg und sieht nach seinem Boot. Er hat es hier vertäut. Das ist praktisch der einzige Grund, dass er schon mal hierher kommt. Wie Ihnen sicher nicht entgangen ist, steckt er weder Zeit noch Geld ins Haus. Er ist immer nur unten am Wasser. Sehen Sie selbst, wenn Sie möchten.« Kevin ging ein Stück, bis er einen guten Blick den Hang hinunter zum vorderen Ende eines verwahrlosten hölzernen Landestegs hatte und ein kleines Motorboot sah, in dem ein unglaublich fetter Mann Anfang fünfzig gerade dabei war, die Kunststoffsitzbezüge zu säubern. Während Kevin zu Laura und Deirdre zurückging, rannten die zwei Jungen an ihm vorbei. »Hi, Sean«, grüßte Kevin. Einer der Jungen blickte auf, und Kevin blinzelte überrascht, als er ihm ins Gesicht schaute. Der Gesichtsschnitt, der Mund, die Augen - es war beinahe unheimlich, wie sehr er seinem Vater ähnelte. Der Junge rief »Hi« und rannte weiter. »Gehören Ihnen beide Jungen?«, fragte er Deirdre, als er wieder bei den Frauen war. »Nur Sean. Eine Nachbarin - sie wohnt die Straße hinauf zwei Häuser weiter - hat mich gebeten, an den Wochenenden auf den anderen Jungen aufzupassen. Wären Sie zur vereinbarten Zeit gekommen, hätten Sie nur Sean und mich angetroffen.« »Sie wohnen hier allein mit ihm?« »Ja.« »Was ist mit Tom Florczak?« Sie schnaubte verächtlich und schüttelte den Kopf, den Blick abgewandt. »Wusste ich's doch! Sie werden 469
meine Vergangenheit ans Licht der Öffentlichkeit zerren, hab ich Recht?« »Ich bin nicht weiter an Ihrer Vergangenheit interessiert, ebenso wenig an Florczaks Aufenthaltsort. « »Er ist weg. Ich habe keine Ahnung, wohin, okay? Und es könnte mir nicht gleichgültiger sein. Ich habe seit zwei Jahren nichts mehr mit ihm zu tun. Es war ein großer Fehler. Einer von vielen in meinem Leben.« »Deirdre, hören Sie, momentan ist meine einzige Sorge, dass David Haines Sie und Ihren Sohn finden könnte.« »Ich habe es Ihnen doch gesagt«, wandte sie sich wieder an Laura. »Er weiß nichts von dem Baby, und er kannte meinen wirklichen Namen nicht. Wie auch immer, nachdem ich die New Apostles verlassen hatte, beantragte ich eine Geheimnummer und ersuchte, meine Adresse nicht weiterzugeben. Ich wollte nicht, dass irgendwelche dieser Spinner sich mit mir in Verbindung setzten. Vor allem Abe nicht.« »Er behauptete, dass er sich nicht an Sie erinnern könne«, sagte Kevin. Sie rümpfte abfällig die Nase. »Das wundert mich nicht. Abe will verhindern, dass ich mit dem FBI rede. Erinnern Sie sich an den Fall vor ein paar Jahren, als es um die Familie ging, die ihn wegen Belästigung ihrer Tochter angezeigt hat? Die Zeitungen zogen Abe ganz schön durch den Dreck. Die Anklage war nicht an den Haaren herbeigezogen.« Wieder schaute sie über die Schulter, um sich zu vergewissern, dass die Jungen es nicht hören konnten. »Es war nicht nur das. Abe hatte diesen Spleen, den neuen Stamm von Jerusalem zu zeugen. Dafür wählte er die hübschesten Mädchen der Gemeinschaft aus und erkor sie zu seinen Heiligen Frauen. Ich gehörte dazu - und einige, die nicht älter als dreizehn oder vierzehn waren. Einmal holte er sich sogar eine Zwölfjährige ins Bett. Die Eltern duldeten es, weil sie glaubten, Abe sei ein von Gott Erwählter. Sie ließen es einfach zu. Aber es fiel mir schwer zu 470
glauben, dass einer von Gott erwählt ist, wenn er Kokain schnupfen muss, um einen hochzukriegen. Ich erzählte keinem, dass Abe fast impotent war; vielleicht lag es ja bloß an mir. Er sagte, ich sei unrein, und damals glaubte ich sein Geschwafel sogar. Aber irgendwann hatte ich dann die Nase voll von Abe und seinen bescheuerten New Apostles. Ich wollte nichts als weg. Falls jemand von denen wusste, dass ich schwanger war, hat er ganz sicher Abe für den Vater gehalten, David eingeschlossen.« Sie wollte nicht über ihre Beziehung mit David in der Sekte reden, und Laura hatte nicht vor, sie damit zu bedrängen. »Und Sie haben nie jemandem etwas davon erzählt?«, fragte Kevin. »Hören Sie, ich wollte das Ganze hinter mir lassen, diesen entsetzlichen Teil meines Lebens. Ich möchte die Dinge jetzt ändern. Das ist der einzige Grund, warum ich Sie angerufen habe. Ich brauche das Geld, damit wir es schaffen können.« Sie blickte Laura eindringlich an. »Aber ich wollte nicht, dass man in meinem Leben herumstochert und alles an die Öffentlichkeit gelangt. « »Die Öffentlichkeit wird nichts davon erfahren«, versicherte ihr Kevin. »Näher zum Haus, Jungs!«, rief Deirdre den beiden Kindern zu, und Laura sah, wie sie von ihrem Weg zum Strand folgsam umdrehten. Deirdre beobachtete sie noch kurze Zeit. »Ich möchte, dass mein Sohn eine Chance auf ein normales Leben hat. Und dazu gehört, dass er nicht als Sohn eines Psychopathen gebrandmarkt wird. Stellen Sie sich vor, wie es ihm in der Schule ergehen würde. Sie wissen ja, wie Kinder sind. Und Lehrer, und später Freundinnen und Chefs. Und vor allem - wie würde er sich selbst sehen? Wie der Vater, so der Sohn? Ich möchte nicht, dass er in der Angst lebt, verrückt oder böse zu sein, und dass er 471
sich irgendwas einredet. Das tue ich selbst schon genug. Jeden Tag.« Laura fühlte mit ihr. Am Telefon hatte sie gedacht, Deirdre wäre nur an den fünfundzwanzigtausend Dollar interessiert; jetzt erkannte sie, unter welchen Gewissensbissen sie gelitten haben musste, des Geldes wegen die Anonymität ihres Sohnes zu riskieren. Deirdre war eine gute Mutter. Laura hoffte, dass sich die Fünfundzwanzigtausend als die große Chance erwiesen, die Deirdre sich vorstellte. Sie hoffte auch, dass das Blut des Jungen positiv war, damit Deirdre und Sean dadurch zu noch mehr Geld kamen. »Sind Sie ganz sicher, dass David Ihren Aufenthaltsort nicht kennt?«, fragte Kevin. Sie atmete müde aus. »Nicht ganz sicher, nein.« »Als Sie die New Apostles verließen, war er da vielleicht so verliebt in Sie, dass er am liebsten mit Ihnen abgehauen wäre?« »Bestimmt nicht. Er war überpuritanisch. Wir ...« Sie verzog abfällig das Gesicht. »Wir hatten nur zweimal Sex. Das erste Mal ganz zu Anfang, als ich ihn dazu bringen wollte, dass er sich uns anschloss ... dann ungefähr ein Jahr später, aber da war es eher eine Vergewaltigung. Er hat mich nicht geliebt. Sobald er zur Sekte gehörte, wurde er fanatischer als alle anderen. Ich weiß nicht, was schlimmer war, das Zuvor oder Danach. Schon als ich ihn kennen lernte, war er ein echter Scheißkerl.« Laura musste unwillkürlich lächeln. »Nein, verliebt war er sicher nicht in mich.« Plötzlich wirkte sie noch trauriger. »Keiner war verliebt in mich! Ich war nur nützlich, Männer aufzureißen wie eine Hure. David hat Frauen immer gehasst, glaube ich. Ich denke, es war eine Erleichterung für ihn, nichts mit ihnen zu tun haben zu müssen. Warum hätte er mir da folgen sollen? Wie auch immer - er ist in Houston, oder nicht?« »Ja«, antwortete Kevin. »Aber er hat Jünger. Wir sind bisher auf drei gestoßen, doch es könnten durchaus mehr sein.« 472
Zum ersten Mal bemerkte Laura Furcht in Deidres Augen. »Sie sind sicher, dass Sie keinerlei Verbindung zu ihm hatten, nachdem er verschwand?« »Ganz sicher.« »Sie haben ihn weder gesehen, noch ihm geschrieben oder mit ihm telefoniert?« »Bestimmt nicht.« Sie wirkte sehr bestürzt. »Wollen Sie damit andeuten, dass er jemand anderen beauftragt hat, uns zu finden und ...« »Wenn er von Ihnen und Sean weiß, könnte es so sein. Ich möchte Ihnen keineswegs Angst einjagen, aber Sie sollen wissen, dass es eine Möglichkeit wäre. Vielleicht haben wir ja seine sämtlichen Komplizen geschnappt, aber wir wissen es noch nicht bestimmt.« »Sean, Tyler!«, rief sie. »Wie wär's, wenn ihr euch jetzt diesen Film anseht. Geht schon mal rein, ich bring euch dann gleich eine extra große Portion Eis, okay? Also kommt jetzt!« Sie war sehr verärgert, als sie sich wieder ihren Besuchern zuwandte. »Also, was soll ich dagegen unternehmen? Sie sagen, dass uns irgendwann einmal so ein Psychopath finden könnte. Wie sollen wir damit leben?« »Wenn Sie einen Neuanfang möchten, kann ich Ihnen helfen.« »Sie meinen, mit diesem Zeugenschutzprogramm?« »Wenn wir glauben, dass noch Gefahr für Sie besteht, können wir Ihnen neue Namen geben und Sie woanders hinbringen.« Zum ersten Mal schien sich ihr Gesicht ein wenig zu entspannen. »Das könnten Sie?« »Ja.« Laura blickte ihn an und freute sich über das Mitgefühl in seiner Stimme. »Was tun wir jetzt?«, fragte Deirdre. »Das liegt bei Ihnen. Wenn Sie möchten, können wir Sie und Ihren Sohn für die nächsten paar Tage irgendwo hinbringen. 473
Bis dahin haben wir vielleicht herausgefunden, ob er noch weitere Jünger hat. Wenn wir es auch nur vermuten, können wir das Zeugenschutzprogramm einleiten.« »Was ist mit den Bluttests?« »Das ist einzig und allein Ihre und Dr. Donaldsons Sache.« »Es wäre das Beste, wenn Sie uns in ein Hotel bringen. Wahrscheinlich war es dumm von mir, hier zu bleiben, aber ich kann mir kein Hotel leisten und auch nicht, meinem Job fern zu bleiben.« Sie wandte sich wieder Laura zu. »Würde es Ihnen was ausmachen, wenn Sie das Blut erst später im Hotel abnehmen?« »Nein, das geht schon in Ordnung.« Kevins Handy meldete sich. Wenn einer im unpassendsten Moment anruft, kann es nur Hugh sein, dachte Kevin und entfernte sich ein paar Schritte. »Ich bin es, Hugh. Wo sind Sie?« Lass mich doch in Ruhe, seufzte Kevin innerlich. Laut sagte er: »Bei Deirdre Mason. Sie hat sich soeben einverstanden erklärt, dass wir sie in einem Hotel unterbringen.« »Hören Sie, Kevin ...« Der gepresste Tonfall löste Panik in Kevin aus. »Mitch hat soeben von Houston angerufen. Also ... er war es nicht.« Kevin wusste sofort, was Hugh meinte. 0 Gott! »Nicht Haines? Der Schütze war nicht Haines?« »Der Typ hatte sich in einem Apartment verschanzt, und Mitch räucherte ihn aus. Er sah Haines verdammt ähnlich. Der Hundesohn hatte sich sogar den Schädel rasiert ...« Hughs Stimme klang zusehends entfernter, vielleicht lag es aber auch an ihm, Kevin, denn seine Aufmerksamkeit hatte sich vom Handy auf die Bäume um das Haus verlagert, auf den Küstenstrich und den Strand, den er nicht sehen konnte. »Okay, Hugh. Wir bringen Deirdre und ihren Sohn von hier weg.«
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»Ja, gut, ist wahrscheinlich das Beste, sie ein paar Tage in einem Hotel unterzubringen, bis wir herausfinden, was vor sich geht.« Kevin unterbrach die Verbindung. Er brauchte nicht erst herauszufinden, was vor sich ging. Die schreckliche Gewissheit breitete sich bereits in ihm aus. Er ging zu Deirdre und Laura zurück, und seine bestürzte Miene musste ihn verraten haben, denn als Laura ihm entgegensah, spiegelte sich auf ihrem Gesicht sein Schrecken wider. »Was ist passiert?«, erkundigte sie sich. »Wir müssen die Jungs rufen und losfahren. David ist nicht in Houston. Sie haben den Killer geschnappt, es war einer von Davids Jüngern. Ein Köder fürs FBI.« »0 Gott«, hauchte Deirdre. Vom Strand ertönte ein Schrei, gefolgt von dem bestürzten »He!« eines Mannes, dann Stille. In diesem Sekundenbruchteil spürte Kevin einen betäubenden Druck auf seinen Schläfen; er fühlte sich, als wäre er von totaler Finsternis umgeben, jeglicher Laut war verstummt. Plötzlich erschloss sich ihm die Welt wieder mit blendender, betäubender Klarheit. Er rannte los. »Seht nach den Jungs!«, rief er über die Schulter und zog seine Glock. »Haltet sie bei euch im Haus!« Das Blut hämmerte in seinen Ohren, als er am Bungalow vorbei und in weitem Bogen zum Strand hastete, um den Schutz der Bäume zu nutzen. Er hörte Deirdres Schreckensschrei aus dem Haus und sah im gleichen Moment die zwei Jungen unten auf dem Landesteg. Einer von ihnen wurde von einem Mann mit Gewehr zu dem Boot gezerrt. Und der vor Angst schlotternde Fettwanst stand vorne am Steg und streckte David Haines die Schlüssel entgegen. »Sean!« Rachel, mit Laura an ihrer Seite, rannte zu dem Pfad, der zum Strand hinunterführte. Kevin hetzte ebenfalls in Richtung des Landungsstegs. Seit vier Tagen nichts im Magen, 475
aber das spielte jetzt keine Rolle, im Gegenteil, er war wie ein ausgehungerter Gepard auf Beutejagd -und ebenso schnell. »Bleibt hier! «, brüllte er den beiden zu. Zu spät. Er sah, wie David sich umdrehte, die Flinte gegen seinen Bauch gestützt. Ehe Kevin die Frauen auch nur warnen konnte, sich fallen zu lassen, hörte er das schreckliche Geräusch des Schusses und duckte sich instinktiv. Kein Treffer, es hatte niemanden erwischt. Er wusste, dass David mindestens zehn Sekunden brauchen würde, die Patronenhülse herauszuholen und das Gewehr neu zu laden. Er rannte den Rest des Weges zu Deirdre und Laura und fing sie oben auf dem Pfad ab. Solange sie sich geduckt hielten, boten die hohen Büsche ihnen Sichtschutz. Er fasste Deirdre an beiden Armen und machte sich auf einen Ausbruch hysterischer Wut gefasst, während er sich bemühte, sie am Boden zu halten. In panischer Angst rang sie nach Atem. »Holen Sie ihn zurück!«, stieß sie hervor; dann hob sie die Stimme zu einem gellenden Schrei: »David, tu ihm nichts! David, du Scheißer, lass ihn gehen!« »Bleiben Sie hier!«, zischte Kevin sie an. »Laura, halten Sie sie um Himmels willen fest! « Geduckt kletterte er durch die dornigen Büsche hinunter zum Steg. Auf halbem Weg richtete er sich auf, die Pistole im Anschlag. David hatte Sean hochgehoben und stieg mit ihm in das Boot, mit dem Rücken zu Kevin. Gut, gut, bleib so, lass mich noch ein wenig näher heran für einen Schuss ... Die Augen ständig auf David gerichtet, schaffte er es zum Fuß des Landestegs. »Lösen Sie die Vertäuung!«, brüllte David den zitternden Dicken an und richtete das Gewehr auf ihn. Der Mann duckte sich, und seine Finger fummelten am Knoten. David musste den Jungen absetzen, um den Zündschlüssel zu drehen und das Steuerrad zu übernehmen. 476
Kevin zielte, aber - verdammt, wenn ich so hoch schieße, treffe ich ihn oben am Rücken oder am Kopf, und wenn ich niedriger halte, treffe ich womöglich den Jungen. Aber du musst schießen! Jetzt schieß schon, um Himmels willen! Er drückte ab und spürte den harten Rückstoß der Glock. Er hörte das Splittern von Glas, sah die zersprungene Windschutzscheibe und wusste, dass er danebengeschossen hatte. David wirbelte herum, duckte sich und schob den Jungen aus dem Weg des langen Laufes. Gott steh mir bei - Kevin hörte den Knall, als er sich auf die Holzplanken des Stegs warf und im nächsten Augenblick wieder hochtaumelte. Er wusste, dass er nur ein paar Sekunden für seinen eigenen Schuss hatte. Doch David blieb geduckt und hatte Sean als Deckung vor sich gezerrt, während er den Zündschlüssel drehte. Der Motor sprang an. Nein, nein! Kevin rannte wieder. Er rannte noch, als das Boot bereits vom Steg losfuhr. Er wagte nicht, ein weiteres Mal zu schießen, aus Angst, den Jungen zu treffen. Springen? Sollte er springen? Nein, das Boot war schon zu weit weg. Er würde nur ins Wasser tauchen, und das brachte verdammt nichts. »Er ist ins Haus gekommen!«, stieß Tyler hervor. »Und er hat uns einfach gepackt!« »Er hat gedroht, mich umzubringen, wenn ich ihm die Schlüssel nicht gebe«, jammerte der Dicke verzweifelt, die Hand noch immer fest um Tylers Schulter. »0 Gott!« Benommen drehte Kevin sich um, als er Deirdres und Lauras Schritte auf dem Landesteg hörte. »Was können wir tun?«, schluchzte Deirdre, und er spürte, wie die Nägel ihrer verkrampften Finger sich in seine Arme bohrten, wie sie ihn mit unnatürlicher Kraft schüttelte. »Er wird ihn umbringen, nicht wahr?« »Wir werden Ihren Jungen zurückholen«, versprach Kevin mit aller Überzeugung, die er aufbringen konnte. Dann wandte er sich an den Dicken. »Wie viel Benzin ist noch da?« 477
»Der Tank ist kein Drittel mehr voll. Wahrscheinlich ist es noch weniger, weil der Zeiger sich immer verhakt.« »Wie weit kann er damit kommen?« Der Mann zuckte die Schultern. »Vielleicht zum Admiralty Point. Wenn er Glück hat, bis Port Townsend, aber ich bezweifle, dass er es zur anderen Seite schafft. Es hängt natürlich alles von der Strömung und dem Wind ab ...« Kevin blickte bereits das Ufer entlang. Ein paar hundert Meter nordwärts sah er an einem Landesteg ein Motorboot liegen. »Wie kommt man am schnellsten dort hinüber?« »Zwischen den Bäumen hindurch und über die Grundstücke. Es ist das Boot der Walshs.« Kevin blickte auf die Ausrüstung des Dicken auf dem Landesteg. »Haben Sie ein Fernglas?« »Ja.« »Ich brauch es. Und die Marke und Registriernummer Ihres Bootes.« Er holte seinen Notizblock und den Kugelschreiber hervor und notierte alles, ohne jedoch den Blick zu lange vom Wasser zu nehmen, wo er immer noch das Boot im Auge hatte. Es wurde zusehends kleiner, während es tiefer in die Bucht mit den zahllosen Inseln gelangte. Keine zehn Minuten später würde er es völlig aus den Augen verlieren. Die Sonne begann bereits mit ihrem nachmittäglichen Abstieg und färbte die Wasseroberfläche rot. Er nahm das Fernglas und wandte sich um, um wieder den Hang hinaufzurennen. »Ich komme mit! «, erklärte Deirdre. »Sie bleiben! Rufen Sie die Polizei an. Melden Sie, was passiert ist, beschreiben Sie das Boot und geben Sie an, wohin es fährt. Das müssen Sie übernehmen, Deirdre. Ich hole Ihren Jungen zurück.« Als er in ihr verzweifeltes Gesicht blickte, wusste er, dass er vor nichts zurückschrecken würde, sein Versprechen zu halten. Ehre sei dir, barmherziger Gott. Du nimmst uns die Angst, du spendest uns Trost ... 478
»Sie brauchen mich«, rief Laura und rannte neben ihm her. »Nein.« Er war ein Idiot, dass er sie mitgenommen hatte - eine Zivilistin im gefährlichen Endspurt eines Falles. Damit verstieß er gegen alle Bestimmungen. Er würde sie ganz sicher nicht ins Boot steigen und in Schussweite von Davids Gewehr kommen lassen. »Sie haben es mir versprochen! « »Die Lage hat sich geändert!« »Aber wenn jemand verletzt wird, werden Sie mich brauchen! « Er schwieg und dachte an den Jungen, doch überraschenderweise auch an David. »Sie werden mich brauchen«, wiederholte sie eindringlich. »Ich kann helfen!« Er schwieg auch jetzt, nickte jedoch, und gemeinsam rannten sie durch die Bäume zum Boot der Walshs.
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David blickte über die Schulter und sah, wie Sheldrake, die Ärztin und Rachel starr wie Statuen am Landesteg standen. Er jubelte innerlich, während sie immer kleiner wurden, der Bootsmotor dröhnte und das Wasser platschte gegen die Seiten. Seit dem Sommer, ehe er zur Uni gegangen war, hatte er kein Boot mehr gesteuert, doch er hatte es nicht verlernt. Früher hatte er viel Zeit an den großen Seen verbracht, in dem idyllisch gelegenen Cottage, das seine Eltern jeden Sommer gemietet hatten. Er wandte sich seinem Sohn zu, der nach vorn gekauert auf dem Sitz neben ihm saß und mit verstörtem Gesicht zum Ufer starrte. Er sah, dass Sean sich vor Angst in die Hose gepinkelt hatte. David wandte betrübt den Blick ab; er hätte gern etwas gesagt, dem Jungen die Angst zu nehmen. Doch wie sollte man einem Kind erklären, dass alles, was hier und jetzt auf dieser Welt geschah, nicht von Bedeutung war? Wichtig war nur die Welt, die sie erwartete. Der Junge sah so klein aus. »Zieh das an! « David deutete mit einem Kopfnicken auf die Schwimmweste. Er schaute zu, wie der Junge die dünnen Arme durch die Schulteröffnungen steckte und wie seine Finger beim Schließen der Plastikverschlüsse zitterten. Und er sah, wie sein Sohn ihn einen Moment angsterfüllt anblickte, dann aber die Augen wieder schnell von ihm nahm. Er starrte zurück zum Ufer, dann hinunter auf seine Füße. Er zitterte, als würde er sich krampfhaft bemühen, sich völlig reglos zu verhalten. 480
»Wie heißt du?«, fragte David. »Sean«, antwortete er nach kurzer Pause. »Weißt du, wer ich bin?« Sean schwieg. »Ich tue dir nichts«, beruhigte ihn David. »Ich bin dein Vater.« Sean warf ihm einen flüchtigen, erstaunten Blick zu; dann wurde sein Gesicht wieder verschlossen, und er schaute rasch zurück auf seine Füße. Er schien etwas sagen zu wollen, ließ es dann aber. »Deine Mutter hat es dir nie gesagt, aber es ist wahr«, versicherte David ihm sanft. David fand, dass er wieder einmal Glück hatte. Es war nahezu unmöglich, ihn zwischen den unzähligen weißen Segeln und Motorbooten auszumachen, die am Sonntagnachmittag die See bevölkerten. Die Sonnenstrahlen auf dem Wasser wurden von Minute zu Minute intensiver. David war froh darüber, denn das erschwerte es zusätzlich, einzelne Boote zu erkennen. Weniger glücklich war er über die Treibstoffuhr. Der Zeiger zitterte im unteren Drittel. Er kannte weder die Größe des Tanks noch den Benzinverbrauch dieses Bootes, aber er hoffte, sein Ziel zu erreichen. Die Karte hatte er gut im Gedächtnis; er schätzte, dass er auch mit dem Boot ohne Probleme nach Blaine gelangen konnte. Er befand sich auf halbem Weg zum südlichen Ende der großen Insel schon fast über der Bucht. Er würde zuerst nach Westen steuern, durch die San Juan de Fuca, und dann Richtung Nordnordwest nach Blaine fahren. Ein Drittel Tankfüllung müsste genügen. Es gab hier so viele Inselchen, so viele Boote - und wie lange würde es dauern, die hiesige Polizei zu mobilisieren? In etwa zwei bis drei Stunden konnte er in Blaine sein. Er und sein Sohn. Bestimmt würde der Junge in das Versteck im Auto passen, das Drent vorbereitet hatte. Sean brauchte ja kaum Platz ...
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Einen Augenblick lang gab er sich seinen Gedanken hin, und er sah ein Zuhause für sie beide in der Wildnis des Nordens, einen Ort, den er aus dem Wald roden wollte. Dort könnte er, fern von den Sündern und Gottlosen, seinen Sohn im wahren Glauben unterrichten. Natürlich würde der Junge sich zunächst sträuben, aber David wollte ihm ein gütiger Vater und geduldiger Lehrer sein, und mit der Zeit würde Sean verstehen. »Wer war dieser Mann auf dem Landesteg?« Er fragte sich, ob er wirklich der Stiefvater des Jungen sein konnte. »Mr Barnes. Wir haben das Haus von ihm gemietet.« David nickte erleichtert. Nur der Hausherr, also keinerlei Beziehung zu Rachel. »Du bist nicht mein Dad«, sagte Sean nun mit zitternder Stimme. »Mom hat mir Bilder gezeigt. Er ist tot.« Überraschenderweise durchzuckte ihn Ärger. Rachel hatte eine andere Vergangenheit für den Jungen zusammenfantasiert, hatte ihn belogen. Hatte ihn, David, verleugnet. »Schau mich an, wir sehen uns sehr ähnlich«, forderte er den Jungen auf, doch Sean wandte sich ihm nicht zu. Er weinte. David legte die Hand auf seinen Kopf und spürte, wie heiß das Haar in der Sonne war. Doch der Junge erstarrte unter seiner Berührung. Widerstrebend zog David die Hand weg. »Wohin fahren wir?«, fragte Sean unter Tränen. »Ich tue dir nichts«, versicherte David ihm erneut, doch sein Versprechen und das Leid des Jungen warfen einen dunklen Schatten über seine Gedanken. Der Tank war nur ein Drittel voll. Was war, wenn er Blaine verfehlte? Wie kam er auf die Idee, dass er es vom Wasser her erkennen würde? Und der junge könnte sich als schwierig erweisen und sich sträuben. Er hatte einen Plan gehabt: seinen Sohn erschießen und fliehen. Nur hatte er diesen Plan aufgegeben und dadurch gesündigt, und alles wurde schwieriger. So war es. 482
Sicher, er könnte den Jungen immer noch töten. Den Motor im Leerlauf halten, schießen und ihn dann gleich ins Wasser werfen. Aber er blickte auf den kleinen Kopf des jungen, stellte sich vor, wie das blonde Haar sich von der Stirn hob, während er ins Wasser sank und rasch von der Dunkelheit verschluckt wurde. Schon bei dem Gedanken wurde David übel. Sie näherten sich jetzt dem Steilufer der Insel, ein dichter Nadelwald bis hinunter zu dem Felsenufer, wo die Bäume ihre Zweige über die Felsblöcke breiteten. »Schau, ein Adler!«, rief David plötzlich. Er hatte seine Freude nicht zurückhalten können; außerdem war es eine Chance, den jungen abzulenken. Sean hob den Blick zu der Silhouette des Vogels, schwieg jedoch. Da er hier draußen lebte, war es vielleicht alltäglich für ihn. David beobachtete, wie der Adler seine Kreise zog, und einen Moment lang wünschte er, er könnte einen Teil von sich auf den geflügelten Körper des stolzen Vogels projizieren und wurde von ihm getragen werden, irgendwohin. Wie leicht dann alles wäre! Er dachte an Gails Gemälde. Er hatte sich innerlich darüber lustig gemacht, über ihre abstrakten Engel, über die ganze Sentimentalität. Auf dem Porträt, das sie von ihm gemalt hatte, sah es beinahe so aus, als zierten Flügel seine Schultern. Für Gail war er ein Engel, und jetzt wünschte er sich, er wäre tatsächlich einer. Der Vogel verschwand vor dem dunklen Hintergrund des Berggipfels. Der Motor hustete plötzlich, lief wieder rund, hustete erneut. David schaute nach dem Treibstoff. Der Zeiger deutete immer noch auf ein Drittel - tatsächlich schien er sich an derselben Stelle zu befinden wie zuvor. Er klopfte mit dem Finger auf das Glas und sah entsetzt, wie der Zeiger langsam zurückwanderte und bei null stehen blieb. »Wo bekomme ich Benzin?«, schnaubte er, ehe er seine Panik zu unterdrücken vermochte. Sean schüttelte nur den Kopf. Das Boot gehörte ja diesem 483
Mr Barnes, weshalb sollte er darüber Bescheid wissen? David sah sich um und fragte sich, ob er eines der vorbeifahrenden Boote anhalten und bitten sollte, ihn in Schlepp zu nehmen, oder besser noch, sich zu erkundigen, ob es einen Ersatzkanister an Bord hatte. Er bezweifelte, dass der junge etwas sagen wurde, doch sein Gesicht war völlig verängstigt, das ließ sich nicht verbergen, und wenn jemand näher hinschaute, sah er vermutlich, an welcher Stelle die Hose des jungen nass war. Das Licht funkelte auf dem Wasser, und David spürte, wie seine Konzentration nachließ. Vor nur einer Stunde war sein Plan noch sonnenklar gewesen, jetzt wirkte er zersplittert. Seine Schwächen, sein Stolz, seine Eitelkeit. 0 Gott, verzeih mir, was ich getan habe und was ich möglicherweise tun muss. Zumindest hatte er es fast um den südlichen Bogen der Insel geschafft, wo ihn selbst mit den besten Ferngläsern niemand vom Festland aus sehen konnte. Er studierte das aufsteigende Profil des Ufers. Es schien völlig menschenleer zu sein. »Wohnt jemand auf dieser Insel?« Sean nickte. Wasser spülte an die hohen Felsen, doch da und dort entdeckte David schmale Einschnitte mit sandigem Strand, geschützt von Bäumen. Er lenkte das Boot dorthin und hoffte, der Sprit reichte noch so weit. Wenn möglich, wurde er sich Treibstoff geben lassen oder in der Nacht, im Schutz der Dunkelheit, Benzin von einem Boot abzapfen und dann weiterfahren. Wenn es nicht anders ging, könnte er jemanden mit vorgehaltener Waffe zwingen, ihn und Sean von der Insel nach Blaine zu bringen. Das Boot tuckerte über die Wellen. »Wie heißt diese Insel?«, fragte er den jungen. »Cordova.«
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Er hatte ihn aus den Augen verloren. Bis Kevin sich in der fünf Meter langen Vanguard der Walshes vom Landesteg entfernte, war Davids Boot in dem sengenden Licht in Richtung Westen verschwunden. Als Letztes hatte er durch das Fernglas verschwommen gesehen, dass David in Richtung der Südküste von Cordova fuhr. Von dort konnte er südwärts steuern und vielleicht Port Townsend erreichen, sicher aber Whidbey Island. Falls David um die gegenüberliegende Seite von Cordova fuhr, hatte er ziemlich viele Möglichkeiten, seine Verfolger abzuschütteln. Er könnte versuchen, die Juan-de-FucaStraße zu überqueren und Vancouver Island anzupeilen, oder die nordöstliche Richtung einzuschlagen - nach Kanada. Selbst wenn der Tank nur ein Drittel voll war, könnte er in einer Stunde irgendwo innerhalb eines Gebiets von zweitausend Quadratmeilen Größe sein, außerhalb der gesetzlichen Befugnisse der US-Behörden. Und es gab hier so viele Inseln und Buchten aller Art ... »Können Sie das Steuer übernehmen?«, fragte er Laura. »Sicher.« »Halten Sie sich an die Südostspitze von Cordova.« Er machte einen Schritt zurück und blickte wieder durch das Fernglas. Bei der Vergrößerung, die er benötigte, hüpfte und schwang das Bild genau wie die über die Wellen schaukelnde Vanguard. Verdammt! Da draußen gab es jede Menge Boote, aber das war auch schon alles, was er zu erkennen vermochte. Ehe David vom Landungssteg losgefahren war, hatte er Garrity im FBI-Büro angerufen und ihm alles erklärt. Er zweifelte nicht daran, dass Garrity alle zusammentrommeln würde: die County Police, die State Troopers und - was in diesem Fall am wichtigsten war - die Küstenwache. Aber sie hatten nur eine Hand voll Schiffe zur Verfügung, und das potenzielle
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Suchgebiet war riesig und wurde mit jeder Minute größer. Frustriert senkte Kevin das Fernglas. Hätte er Deirdre und Sean doch sofort weggebracht, statt dummes Zeug zu quat schen! Hätte er doch nicht gezögert, als er David im Visier hatte. Seine Schuld. Verdammt, warum schaffte er es nicht, den Kerl einfach über den Haufen zu schießen? Und wenn er außerdem nicht so ein schlechter Schütze wäre ... »Er wird den Jungen töten, nicht wahr?«, fragte Laura und riss ihn aus seinen bitteren Gedanken. »Er hätte ihn längst erschießen können«, antwortete Kevin. »Zeit genug Zeit hatte er.« Das gab ihm ein wenig Hoffnung. Davids offensichtliche Skrupel, seinen Sohn zu ermorden, konnten möglicherweise weitere innere Konflikte nach sich ziehen, was David vielleicht zu Fehlern verleitete. Kevin glaubte nicht, dass diese Entführung zu Davids Plan gehörte. Zu willkürlich, zu sehr dem Zufall überlassen. Das Boot als Fluchthilfe, der zu einem Drittel leere Tank. Nur machte der Junge alles noch schlimmer: Er war eine Geisel, und das würde es erheblich erschweren, David Haines zu fassen. Sie näherten sich der südöstlichen Spitze von Cordova, und wieder bemühte sich Kevin, die Küstenlinie im Norden zu studieren und von dort nach Süden zu schwenken, zum offenen Meer. Welchen Weg sollten sie nehmen? Er traf seine Entscheidung: Er würde um die Südküste von Cordova fahren, dann an der Westseite nach Norden. Port Townsend war zu weit entfernt. Wenn David feststellte, wie wenig Treibstoff er noch hatte, würde er sich bestimmt nahe dem Inselufer halten. Er reichte Laura das Fernglas und übernahm wieder das Steuer. »Schauen Sie, ob Sie die beiden entdecken können. Vermutlich am ehesten dicht bei der Insel.« 486
Laura setzte sich rasch auf die Rückenlehne des Sitzes, stützte ein Bein auf die Armaturentafel und blickte angespannt durchs Fernglas. Trotz der sich überstürzenden Ereignisse hatte sie versucht, sich das Aussehen des Bootes einzuprägen. Aber jetzt erinnerte sie sich nur noch vage an die Größe und den roten Streifen entlang dem Rumpf. So viele Kanus, Jollen, Jachten und Segelschiffe waren heute unterwegs! Sie bemühte sich, so rasch wie möglich die Boote zu erkennen, die nicht infrage kamen. Eines hatte einen Wasserskiläufer im Schlepp. In einem anderen sonnten sich drei junge Mädchen. Wieder eines war zu groß. Bitte, lass mich das Boot mit David und dem Jungen finden! Noch immer hatte sie Deirdres todtrauriges Gesicht vor Augen. Sie musste dieser leidgeprüften Frau ihren Sohn zurückbringen. Es war wie bei Rick, genau wie bei Rick ... sie brachte Unglück, hatte David zu seinen Opfern geführt ... Ohne das Blitzen von Sonnenschein auf dem Chromrand hätte Laura es übersehen. In einer Bucht, halb durch herabhängende Zweige verborgen, lag ein kleines Motorboot. Niemand schien an Bord zu sein. »Warten Sie, warten Sie!«, rief sie. »Da drüben!« »Wo?« Impulsiv drückte sie Kevin das Fernglas in die Hand, übernahm das Steuer und drehte das Boot in einem weiten Bogen. Aus ihren Kindheitsferien in New Hampshire wusste sie noch recht gut, wie man ein Motorboot bediente. Sie deutete zum Ufer. »Sehen Sie es? Ist es das?« »Großer Gott, ja. Ich glaube, das ist es. Ich kann zwar die Nummer nicht erkennen ... aber ich bin ziemlich sicher. Stoppen Sie kurz.« Laura schaltete zurück und lenkte das Boot in die Dünung. Kevin nahm sein Handy hervor und wählte. »Mist, verdammter!« Er wählte noch einmal und hielt sich das Handy ans Ohr. »Was ist?« 487
»Es tut sich überhaupt nichts. Wir müssen in einem toten Frequenzbereich sein. Vielleicht liegt es an den Bergen.« Er machte mit der linken Hand eine unbestimmte Bewegung in Richtung des von hohen Felswänden gesäumten Ufers. »Ihm ist wohl das Benzin ausgegangen«, meinte Laura, »und er hat das Boot einfach dort liegen lassen. Ob er Treibstoff holen will?« »Dann hat er einen weiten Weg vor sich.« Kevin kannte die Insel und wusste, dass der Felshang direkt zum Mount Morrisey führte. Es war Wiesenland mit nur ein paar Fußwegen. Natürlich konnte in den letzten paar Jahren der große Bauboom ausgebrochen sein, doch er schätzte, dass David einen Fußmarsch von mindestens einer Stunde vor sich hatte, ehe er irgendwo Treibstoff beschaffen konnte. »Ich muss das melden«, erklärte er. »Sehen wir zu, dass wir zu einem richtigen Telefon kommen. « »Wohnt jemand in dieser Gegend?« »Oben an der Westküste. Das wird uns etwa zwanzig Minuten kosten. Aber ...« Er zögerte. »Ich möchte das Boot nicht aus den Augen lassen. Es könnte sein, dass er vor uns zurückkommt.« Es war unwahrscheinlich, aber David war jetzt an Land, auf festem Boden, und Kevin durfte nicht riskieren, ihn entkommen zu lassen. »Ich muss so schnell wie möglich zu diesem Boot!«, murmelte er. Wenn er es vom Ufer wegziehen oder zum Sinken bringen könnte, wäre David dieser Fluchtweg abgeschnitten. Kevin ließ den Blick über den dicht bewaldeten Hang schweifen: der Traum eines Scharfschützen. Aber es war mehr als unwahrscheinlich, dass David dort irgendwo lauerte, nur auf die Möglichkeit hin, dass jemand sein Boot entdeckte und näher kam. Für ihn war jetzt vorrangig, Treibstoff zu beschaffen oder ein anderes Boot zu stehlen und zuzusehen, dass er von dieser Insel wegkam. 488
»Sie wollen das Boot holen?«, fragte Laura. »Ich meine, an Land gehen und es herausbringen?« »Ja.« Es war ein gefährliches Vorhaben, doch eine andere Möglichkeit gab es nicht. Sicher, er könnte versuchen, den Motor in Stücke zu schießen, doch zum einen würde die Detonation David auf seine Verfolger aufmerksam machen, und zum anderen wäre es fast unmöglich, ein kleines, durch Zweige nahezu verborgenes Ziel zu treffen- vor allem von einem so schlechten Schützen wie ihm. »Fahren Sie hin«, forderte er Laura auf, während er an die Seite trat. Als sie sich dem Ufer näherten, spähte er durchs Fernglas. Doch es war nicht zu erkennen, ob jemand sich an Bord befand. Könnte es sein, dass David und der Junge flach auf dem Deck lagen? Oder vielleicht nur die Leiche des Kindes? Kevin stellte sich auf den Sitz, um sich aus einem besseren Winkel Gewissheit zu verschaffen. Gott sei Dank, das Boot war leer. »Ein wenig näher«, bat er und blickte über die Seite. »So ist's gut. Bleiben Sie unten. So geduckt wie möglich.« Laura kauerte sich an die Armaturentafel. »Sind Sie da sicher?« »Ja.« Ohne den Blick von den Bäumen zu nehmen, schlüpfte er aus seinem Jackett und zog Schuhe und Socken aus. Er nahm die Pistole aus dem Holster und legte sie aufs Deck neben Laura. »Ich kann nicht damit umgehen«, sagte sie. »Im Wasser wird sie mir nicht allzu viel nutzen.« Vorsichtig ließ er sich ins Wasser gleiten. Er sog die Luft ein, als die Kälte seinen Körper wie eine Zwinge erfasste. Seine Füße berührten die glitschigen Steine, und er watete unbeholfen zum Ufer. Eine Falle? Weiter, weiter! Die Hose klebte an seinen Beinen. Er arbeitete sich mühsam vorwärts, linkes Bein, rechtes Bein, die Arme ausgestreckt, um im tiefen Wasser das Gleichgewicht zu halten. Seine Augen 489
suchten in den Bäumen nach Bewegung, nach dem Blitzen eines Objektivs, in dem sich die Sonne spiegelte. Er erreichte seichteres Wasser und stolperte triefend zu dem kleinen Motorboot. David war so vernünftig gewesen, den Motor hochzustellen. Ein straff gespanntes Seil war an einem niedrigen Ast vertäut. Kevin brauchte eine ganze Weile, bis er es gelöst hatte und das Boot ins tiefere Wasser schieben konnte. »Laura!« Das kleinere Boot trieb gemächlich auf ihr Motorboot zu, und Laura fing den Bug ab, bevor er gegen die Bordwand prallen konnte. Dann befestigte sie das kleine Boot am Heck. Kevin stemmte sich wieder an Bord und wärmte sich zitternd in der Sonne. »Danke«, murmelte er und legte den Gang ein. »Jetzt müssen wir ein Telefon finden! « Der Hang vom Ufer herauf war steil. David musste sich durch das fast undurchdringliche Unterholz nach oben kämpfen und nach Ästen und Zweigen greifen, um nicht den Halt zu verlieren - und das alles, während er den Jungen vor sich hertrieb. Er hatte sein zerlegtes Gewehr im Rucksack verstaut und hielt den roten Kunststoffkanister aus dem Boot in seiner Linken. Mücken summten um seinen Kopf. Er brauchte nur Treibstoff zu beschaffen. Wer sollte seine Bitte abschlagen? Sie waren Vater und Sohn bei einem Nachmittagsausflug auf dem Wasser, und er war so dumm gewesen, vorher nicht zu tanken, und nun waren sie hier gestrandet. Konnte doch passieren? Falls doch jemand misstrauisch werden sollte, konnte er sein Gewehr in zwanzig Sekunden zusammensetzen. Der Hang war nun nicht mehr ganz so steil, und David ging instinktiv auf eine Stelle zu, wo das Unterholz weniger dicht zu sein schien. Er hoffte, hier bald auf eine Straße, einen Pfad oder einen Campingplatz zu gelangen. 490
»Ich habe jeden Tag an dich gedacht«, sagte er zu dem Jungen. »Deine Mutter hat dich weggebracht, noch ehe du geboren warst, aber ich dachte an dich. Ich wollte dich besuchen,
dich sehen, dich kennen lernen. Tut mir Leid, dass es so lange gedauert hat.« Wenn er Sean dazu brachte, mit ihm zu reden, würde der Junge seine Angst verlieren. »Wo gehen wir hin?« »Treibstoff besorgen.« »Und danach?« »Liest deine Mutter dir je aus der Bibel vor?« »Weiß ich nicht.« David ließ den Blick nicht vom Nacken des Jungen, während er sich durch die peitschenden Zweige den Hang hinaufplagte. Plötzlich überschwemmte ihn eine Woge der Zuneigung. Er hätte gern Seans Hand genommen und ihm weitergeholfen. »Bist du müde? Möchtest du dich ausruhen?« »Nein, nein. Ich bin schon okay.« Er drehte sich nicht zu ihm um. »Du bringst mich doch heim, nicht wahr?« »Wenn du es möchtest«, log er. Das Bedürfnis zu reden, dem Jungen von seinen Plänen zu erzählen, wurde fast übermächtig in David. Doch er wusste, dass die Vorstellung, von seiner Mutter getrennt zu sein, den Jungen entsetzen würde. Er brauchte Zeit, sich anzupassen und seinen Vater zu akzeptieren. Dann würde er schon einsehen, dass er nur das Beste für ihn wollte. David stolperte über eine Wurzel und stürzte so schwer auf den Kanister, dass die Tülle sich in seine Brust bohrte und ihm den Atem raubte. Keuchend lag er am Boden und sah, wie Sean sich nach ihm umdrehte und dann losrannte. David brauchte mehrere Sekunden, bis er sich aufgerappelt hatte. »Sean! « 491
Furcht und Adrenalin trieben den Jungen an. Seine zierliche Gestalt ermöglichte es ihm, leichter durch das dichte Unterholz zu kommen. David taumelte hinterher; immer wieder stachen ihn Zweige in die Seite und ins Gesicht. In der Ferne schimmerte das gelbe T-Shirt des Jungen durch die Bäume. »Sean, nicht so schnell! Du wirst dich verirren!« Einen Augenblick lang schien der väterliche Tonfall den Jungen zu verunsichern. David sah ihn zögern; dann drehte Sean sich um, blickte zurück - und rannte weiter. Plötzlich war er verschwunden. Von Panik erfüllt, kämpfte David sich durch die Büsche. Der Boden wurde allmählich ebener, aber wann würden sie endlich zu einem Campingplatz kommen, einer Straße, einer Ansiedlung? Er erkannte jetzt, dass der Junge ihn nie lieben, ihn nie wirklich kennen lernen würde. Es wäre Selbstbetrug, etwas anderes zu denken. Die Welt - und seine Mutter - hatten ihn gegen den eigenen Vater aufgebracht. Es lag an der irdischen Lust und dem irdischen Stolz. Er hatte sich etwas vorgemacht und Nein zu Gott gesagt und damit alles in Gefahr gebracht, wofür er die vielen Jahre gearbeitet hatte. David lief schneller, doch sein Rucksack und der Kanister behinderten ihn, während der Junge nichts zu tragen hatte und sich immer weiter von ihm entfernen konnte. David sah vor seinem inneren Auge die Teile des Gewehrs im Rucksack und stellte sich vor, wie er sie binnen Sekunden zusammensetzte. Nein, dafür war keine Zeit, wenn er den Jungen einholen wollte. Sieh zu, dass du ihn erreichst, bevor er zu einem Camp oder einem Haus gelangt. Und dann musst du tun, was du schon am Bungalow hättest tun sollen. Nach zehn Minuten sah Laura eine schmale Bucht in die Küstenlinie schneiden; eine baufällige Hütte kauerte über dem schroffen Hang. Am Fuß eines steilen Pfades war ein kleines Motorboot angebunden. Kevin steuerte 492
dorthin, vertäute ihr Boot, und gemeinsam stiegen sie den Pfad hinauf. Auf halbem Weg vernahm Laura dröhnende Marschmusik,
die vom Wind zu ihnen heruntergetragen wurde; mit jeder Sekunde wurden die Klänge lauter. Als sie die Hütte erreichten, hörte sich das Ganze wie eine Parade an. Auf der Suche nach der Tür gingen sie um die Hütte herum und stellten fest, dass mehr als nur Marschmusik aus den offenen Fenstern drang: der abscheulichste Fischgestank, der Laura je untergekommen war. Sie sah jetzt auch, dass die Fensterscheiben angelaufen waren und penetrante Rauchschwaden herausschwebten. An der Vorderseite der Hütte parkte ein VW Käfer auf dem schmalen Weg, der sich durch den Wald schlängelte. Die Fliegengittertür war einen Spalt geöffnet, und Kevin klopfte an den Rahmen. »Hallo?« Er wartete nur ein paar Sekunden, ehe er in die Hütte trat. Laura folgte. Es war eine abstoßende Behausung. Auf dem schmutzigen Bretterboden lagen Fischereigeräte, Stöße vergilbender Zeitungen, Pappkartons, aus denen leere Dosen und Plastikbehälter quollen, und jede Menge ausrangiertes Zeug. Es sah aus wie auf einer Müllhalde. Nach der sonnenbeschienenen Landschaft wirkte der Anblick besonders trostlos. Im Haus war der Gestank nahezu unerträglich. Laura bezweifelte, dass es im Innern eines toten Fisches schlimmer sein könnte. Sie bedeckte mit einer Hand ihre Nase. »Hallo!«, rief Kevin. Sie gingen weiter ins Haus, vorbei an zwei Zimmern, die ebenfalls wie Miniaturmüllplätze aussahen. Rechts am Ende des schmalen Korridors befand sich die Küche, die an eine schmale Kombüse erinnerte. Einen Kühlschrank schien es hier nicht zu geben, dafür einen 493
übergroßen Gasherd mit Feuer unter vier großen, dampfenden Suppentöpfen, bewacht von einem hoch gewachsenen Mann mit weißem Haar und wild wucherndem Bart. Er trug kein Hemd, nur olivfarbene Armeeshorts, die ein schlichter Gürtel über seinen ausgemergelten Hüften hielt. Die dünnen Arme und Beine schienen nur aus Haut, Knochen und Sehnen zu bestehen. Der Mann fuhr zusammen, als er sie sah, und stellte sein Radio leiser, das er in einem Regal zwischen verschiedenen Dosen und Fläschchen mit Gewürzen stehen hatte. »Hab Sie nicht reinkommen hören.« Es klang keineswegs verärgert. Sein Kopf wackelte leicht von Seite zu Seite. Genbedingt, dachte Laura. Dem Gesicht nach war er vermutlich keine fünfundfünzig, nur das weiße Haar ließ ihn älter erscheinen. Höflichkeitshalber nahm sie die Hand von der Nase und bemühte sich, nur durch den Mund zu atmen, um den Gestank aus den Töpfen nicht riechen zu müssen. Kevin zeigte seine Dienstmarke. »Auf der Insel hält sich ein geflohener Sträfling auf - David Haines.« Der Mann sah nicht so aus, als hätte er diesen Namen schon einmal gehört. »Er hat ein Kind als Geisel, einen Jungen. Vor etwa einer halben Stunde ließ er sein Boot an der Südküste liegen. Er ist auf der Suche nach Treibstoff oder einem anderen Boot. Haben Sie Telefon?« Der Mann deutete mit einer schmutzstarrenden Hand auf einen alten schwarzen Apparat neben der Spüle. Laura konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal ein so vorsintflutliches Telefon mit Wählscheibe gesehen hatte. »Sie sollten sich überlegen, ob Sie sich nicht einstweilen in der Stadt in Sicherheit bringen«, sagte Kevin, während er wählte. Laura erklärte er: »Ich muss die FBI-Dienststelle anrufen, dann die hiesige Polizei. Sie werden alles abriegeln und die Bewohner in der Gegend warnen müssen. - Lee, ich bin's, Kevin ...« 494
Der Weißhaarige beobachtete Kevin staunend, als hätte er nie zuvor jemanden ein Telefon auf diese Weise benutzen sehen. Laura wurde von dem Gestank allmählich übel. Sie lächelte dem Mann zu und verließ die Küche; sie brauchte dringend frische Luft. Kaum hatte sie den Kopf ins Freie gesteckt, atmete sie gierig ein. Der Junge kam so schnell aus dem dichten Wald, so leise, dass Laura einen Sekundenbruchteil dachte, es handle sich um Wild oder eher noch um einen Faun, der reglos am Weg stehen geblieben war, um einen scheuen Blick auf die Welt der Menschen zu werfen. Sie rechnete schon damit, dass er sich umdrehen und zurück zwischen die Bäume laufen würde. Sean! Ungefähr fünfzig Meter entfernt auf der Wegbiegung blickte der Junge regungslos auf die Hütte. Es schien, als hätte der Anblick dieser möglichen Zuflucht ihn gebannt. Warum rannte er nicht weiter? Sah er sie denn nicht? Ober glaubte er, er wäre sicher, nur weil sich ein Erwachsener in der Nähe befand? Oder war er vor Erschöpfung benommen und nahm kaum mehr wahr, was vor sich ging? Laura trat aus der Tür, hob eine Hand und bedeutete ihm, zu ihr zu kommen. »Sean! « Er rührte sich immer noch nicht. Der Junge brauchte Hilfe! Ein Urinstinkt bewirkte, dass Laura ihm entgegenlief, während sie in den Wald blickte und sich fragte, wo Haines geblieben war. Zuerst starrte Sean sie verängstigt an, dann, als sie nur noch etwa drei Meter entfernt war, rannte er ihr plötzlich entgegen und warf sich an sie. Instinktiv schlang sie die Arme um den Jungen und drückte ihn an sich. Er zitterte am ganzen Körper. »Sie waren bei uns zu Hause«, keuchte er, wie um sicherzugehen. »Ja. Wo ist er, der Mann?« 495
»Er ist hingefallen, und ich bin davongelaufen. Im Wald. Er ist hinter mir her.« »Gehen wir ins Haus, Sean, rasch.« Sie drehte sich um. Erst jetzt erkannte sie erschrocken, wie weit sie dem Jungen entgegengelaufen war. Das Haus erschien ihr unglaublich weit entfernt und von Bäumen verborgen. Eine furchtbare Vorahnung überkam sie, das schreckliche Gefühl, dass sie es nicht zurück schaffen könnten. In diesem Augenblick trat David Haines aus dem Wald und versperrte ihnen den Rückweg. Keuchend schlüpfte er aus dem Rucksack, öffnete ihn und nahm Metallteile heraus, die er mit beängstigender Schnelligkeit zusammensetzte. »Kevin!«, schrie Laura, dann noch einmal, mit schmerzender Kehle: »Kevin!« In Haines' Händen schien das Gewehr sich wie von selbst zusammenzufügen. Laura packte Seans Handgelenk, rannte los und zog den Jungen vom Weg in den Wald. Sie hatte keine Ahnung, ob Kevin sie in der Hütte überhaupt hatte hören können. Er war am Telefon, die Töpfe brodelten, und dazu diese Biergartenmusik. Verdammt! Laura hatte keine Ahnung, wohin sie durch die Bäume floh. Zweige peitschten ihr ins Gesicht, ihre Sandalen schlitterten auf krummen Wurzeln und losen Steinen, und abgestorbene Zweige rissen wie Stacheldraht an ihren nackten Knöcheln. Es war manchmal unmöglich, den Boden zu sehen, so überwuchert war er mit riesigen Farnen und niedrigen Büschen. Über das laute Hämmern ihres Pulses glaubte sie einen Schuss zu hören. Sean entzog sich ihrer feuchten Hand und rannte voraus, als wüsste er, wohin. Laura riskierte einen Blick über die Schulter, konnte Haines jedoch nicht sehen. Trotzdem wünschte sie, die Bäume stünden hier dichter. Nach ein paar Minuten schmerzten ihre Brust und ihr Hals so sehr, dass sie Sean mit einer Hand auf seiner 496
Schulter bremsen musste. »Warte, warte!«, stieß sie hervor und kauerte sich hinter einen mächtigen Stamm. Keuchend lauschte sie. Ihr war klar, dass sie nicht auf Dauer kopflos davonrennen durfte. Sie musste eine Straße finden, ein Haus oder irgendetwas sonst, wo sie und der Junge sicher wären. Aber wo war man schon sicher, wenn man von einem Verrückten mit einem Gewehr verfolgt wurde? Sie brauchte einen Plan, war momentan aber zu nichts anderem fähig, als das Brennen in ihrem Hals hinunterzuwürgen und Luft zu holen. Sie hörte ein fernes Knistern, ein Rascheln von Laub - dann nichts mehr. Eine Wange an die Borke gepresst, konnte sie um den Stamm herumspähen. Haines stand so still, dass sie ihn dort in der Ferne fast übersehen hätte. Er hielt sein Gewehr mit beiden Händen quer vor sich. Wie ein lauschender Jäger. Hitze stieg aus ihren Achselhöhlen über ihren Nacken auf. Davonrennen oder bleiben, davonrennen oder bleiben? Vielleicht würde Haines an ihnen vorbeigehen, sie nicht entdecken, wenn sie sich ruhig genug verhielten. Sie blickte Sean an, und der Junge blickte zurück - so eindringlich, so erwartungsvoll, dass Laura es kaum ertrug. Du beschützt mich, sagten seine Augen. Großer Gott, wann war sie je im Stande gewesen, jemanden zu beschützen? Wo war Kevin? Warum kam er denn nicht? Los! Sie hielt es nicht mehr aus. Das Verlangen loszurennen war stärker als der instinktive Wunsch, sich zu verbergen; sie musste weiter weg von Haines. Sie drückte einen Finger auf die Lippen und bedeutete Sean, sich in Bewegung zu setzen. Geduckt schlich sie hinter ihm her und hoffte, dass die Bäume und Sträucher David die Sicht erschwerten. Unmöglich, leise voranzukommen. Jedes Mal, wenn sie einen Schritt machte, knisterte oder raschelte etwas. Vielleicht klang jedes Geräusch in ihren Ohren auch nur besonders laut. Kann er uns sehen? Hat er uns bereits im Visier? Sie drehte sich um, spähte durch 497
die Bäume. Keine Spur von Haines. Sie hoffte bei Gott, dass sie inzwischen weit genug von ihm entfernt waren. Wieder nahm sie Sean bei der Hand und fing an zu laufen. Vor ihnen lichteten sich die Bäume, und plötzlich blitzte irgendetwas metallisch zwischen den Stämmen hindurch. Ein Wagen. Eine Straße. Laura rannte schneller, stürmte aus dem Wald, sprang über einen Graben und rannte zu der zweispurigen Asphaltstraße. Der Wagen, den sie gesehen hatte, verschwand bereits aus ihrem Blickfeld. Gemeinsam mit Sean überquerte sie die Straße, tauchte zwischen die Bäume auf der anderen Seite und eilte weiter. Sie wollte Deckung suchen, die Straße beobachten und auf einen anderen Wagen warten. So verstrichen mehrere Minuten, als plötzlich ein Wagen mit Heckklappe in Sichtweite kam. »Bleib hier«, wies sie Sean an. Der Wagen war nur noch etwa fünfzig Meter entfernt, als Laura den Asphalt erreichte. Sie rannte zur Straßenmitte, schrie und fuchtelte mit den Armen. Zuerst dachte sie schon, er würde nicht anhalten, doch dann sah sie voll Erleichterung die Bremslichter, und der Wagen fuhr auf das Kiesbankett. »Sean, komm! «, rief sie und hob den Jungen hoch. Während sie zum Wagen rannte, spürte sie kaum sein Gewicht. »Was ist passiert?«, erkundigte sich der Fahrer, ein junger Mann, und stieg aus. »Ist er verletzt?« Sie rang keuchend nach Atem. »Ein Mann - mit einem Gewehr - verfolgt uns.« Wieder schnappte sie nach Luft. »Steigen Sie schnell wieder ein! Bringen Sie uns weg von hier! « Der junge Mann starrte an ihr vorbei auf irgendetwas, das sich die Straße hinunter befand. Laura wusste, was sie sehen würde, noch ehe sie sich umdrehte. Haines trat auf die Straße und hielt das Gewehr auf sie gerichtet. 498
»Verdammt!«, stieß der junge Mann hervor. Laura riss die Heckklappe auf und hob Sean hinein, setzte ihn auf die Campingausrüstung, die über die Sitze verteilt war. Dann zwängte sie sich neben den Jungen, während der Fahrer sich hinters Lenkrad fallen ließ. Eine junge Frau saß auf dem Beifahrersitz. Mit verstörtem Gesicht rief Laura: »Bleib unten!«, und drückte Sean hinter den Fahrersitz. Der junge Mann drehte den Zündschlüssel und legte den Gang ein. Der Wagen ruckte und blieb stehen. »Verflucht! « »Sie haben den dritten Gang!«, rief Laura ihm zu. Er legte den ersten Gang ein und startete noch einmal. Diesmal schlingerte der Wagen mit aufheulendem Motor vorwärts. Der junge Mann rammte den zweiten Gang hinein, und der Wagen beschleunigte weiter. Danke, danke, danke, danke ... Laura hörte den Schuss, und die Begleiterin des Fahrers schrie auf. Dritter Gang. Ein zweiter Schuss. Plötzlich zog der Wagen scharf nach rechts. »Ich glaube, er hat meinen Reifen getroffen!«, rief der junge Mann. Er bremste und drehte das Lenkrad heftig nach links, denn der Wagen geriet ins Schlittern. Laura hielt Sean fest, als das Fahrzeug von der Straße abkam, sich auf dem Kies drehte und in den Graben kippte. Die Türen auf der rechten Seite ließen sich nicht öffnen. Laura stieß die hintere Tür auf und kämpfte sich hinaus; dabei hielt sie die Tür mit einem Arm offen, damit sie nicht zuschlagen und sie treffen konnte. »Sean!« Sie zog den Jungen heraus. Inzwischen waren auch der Fahrer und die Frau im Gras. Laura drehte sich um und sah Haines auf sie zusprinten. »Wir müssen laufen, so schnell wir können!«, rief Laura. Im Wald wurde ihr bewusst, dass der Fahrer und seine Begleiterin eine Zeit lang neben ihnen herliefen und dann plötzlich verschwunden waren. Wahrscheinlich waren sie irgendwo abgebogen, weil 499
sie sich fern der potenziellen Opfer des Schützen sicherer fühlten. Sean wurde langsamer und Laura ebenfalls. Ein Krampf sandte stechenden Schmerz ihre ganze linke Seite entlang. Plötzlich sah sie durch die Bäume eine ungepflasterte, von hohen Bäumen gesäumte Einfahrt, und rannte fast direkt gegen einen niedrigen Zaun aus drei Reihen Stacheldraht. Sie hob Sean auf die Arme, sprang darüber und rannte zur Einfahrt, an deren Ende ein großes Farmhaus stand. Dahinter befand sich eine größere Zahl von Nebengebäuden, die in das rote Licht des nahenden Sonnenuntergangs getaucht waren. »Okay, Sean, jetzt sind wir sicher.« Sean an die Hüfte geklemmt, rannte sie zu dem großen Farmhaus. Die Leute dort konnten die Polizei anrufen. Vielleicht hatten sie auch Schusswaffen und möglicherweise einen Lastwagen, mit dem sie sich alle in Sicherheit bringen konnten. Erst als Laura die riesige Veranda fast erreicht hatte, wurde ihr bewusst, dass die Fliegentür schief in den Angeln hing, die mittlere Scheibe des Erkerfensters eingeschlagen war und überall die Farbe abblätterte. 0 Gott, es war wie in einer Geisterstadt im Film. Links von ihnen waren die Felder von hohem Gras überwuchert. Warum war ihr das nicht schon eher aufgefallen? Es war kein Fahrzeug in Sicht, weder Personenwagen, Laster oder Traktor. Nirgendwo auch nur das geringste Zeichen menschlicher Bewohner. Laura eilte die Stufen hinauf, riss die Fliegentür auf und hämmerte an die Eingangstür. Schließlich gab sie es auf und spähte durch das zerbrochene Erkerfenster: Das Zimmer war dunkel und leer. »Hallo!«, rief sie ins Innere, und ihre Stimme schallte dumpf durch das Haus. Sie blickte die lange Einfahrt zurück, starrte in den Wald und über die verwilderten Felder. Kein David Haines. Dann schaute sie zu Sean hinunter, der sie besorgt beobachtete. Sie zögerte. Sollten sie wieder in den Wald laufen, jetzt, da es allmählich dunkel wurde, oder ins Haus 500
eindringen? Vielleicht war es eine lächerliche Vorstellung von Sicherheit, im Haus zu sein, im Innern, von Mauern umgeben. Notfalls könnte sie noch ein Stück laufen, aber nicht mehr sehr weit, und sie müsste ja auch Sean tragen ... Nein, sie brauchten eine Rast. Mit einem abgebrochenen Stück des Verandageländers schlug sie rasch die spitzen Scherben der Fensterscheibe heraus. »Okay, Sean, rein ins Haus.« Sie hob ihn durchs Fenster; dann zwängte sie sich hinter ihm durch die Öffnung. Sie hatte keine Ahnung, ob sie die richtige Entscheidung traf.
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Kevin hängte den Hörer in dem Moment ein, als er hörte, wie Laura seinen Namen rief. Als er die Haustür erreichte, sah er, wie sie und der Junge in den Wald rannten. Und da war David und wandte sich ihm bereits zu, ein Gewehr im Anschlag ... Kevin wich hastig in die Hütte zurück. Er hörte den Knall und sah, wie die Kugel das Fliegengitter zerriss und nur wenige Zentimeter neben ihm in die Wand schlug. »Bleiben Sie, wo Sie sind!«, rief er dem Mann in der Küche zu. Er trat an ein kleines Fenster und spähte hinaus. David rannte den Weg hoch und verschwand kurz nach Laura und Sean zwischen den Bäumen. Verflucht! Würde der Killer sich die Zeit nehmen, ihm aufzulauern, wenn er dadurch das Risiko einging, Laura und den Jungen entkommen zu lassen? Haines wollte den 502
Jungen, aber warum hatte er ihn bisher nicht getötet? Er hatte weiß Gott genug Zeit und Gelegenheit gehabt. Kevin lauschte einen Augenblick, vernahm jedoch keinen Laut. Er verzog das Gesicht vor Anspannung, holte tief Luft und rannte ins Freie, die entsicherte Glock in der Hand. Er stürmte über den Weg und zwischen die Bäume auf der anderen Seite, wo er sich an einen mächtigen Stamm drückte. Dann riskierte er einen raschen Blick zwischen den Bäumen hindurch. In der Ferne sah er Haines hinter einem Hügel verschwinden. Kevin rannte los. Doch als er auf der Kuppe anlangte, war von dem Killer keine Spur mehr zu sehen. Kevins erster
Gedanke war weiterzurennen, doch das würde wahrscheinlich zu nichts führen. Er könnte tagelang hier herumirren, Laura und Sean womöglich nur um wenige Meter verfehlen, und endlos im Kreis laufen. Er versuchte sich genau an seine Zeit hier auf der Insel zu erinnern. Gerade in dieser Gegend hatte er sich damals sehr gut ausgekannt. Er stellte sich eine Luftaufnahme vor, mit den paar Straßen und Wanderwegen, die es hier gab. Laura würde sich aller Wahrscheinlichkeit nach auf die Suche nach einer größeren Straße machen und ein Auto anhalten - falls David das nicht verhinderte und Laura nicht zu panische Angst hatte, einen klaren Gedanken zu fassen. Kevin drehte sich um und rannte den gleichen Weg zurück, den er gekommen war. Nach fünf Minuten erreichte er eine zweispurige Straße. Laura hielt sich bestimmt nordwärts; sie hatte die felsige Südküste vom Wasser aus gesehen und wusste, dass sie kaum bewohnt war. Ja, sie war bestimmt auf dem Weg nach Norden. Die zwei Schüsse, nur Sekunden hintereinander, schienen in der stillen Luft aus allen Richtungen zu hallen. Mit geschlossenen Augen bemühte sich Kevin,
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den letzten Knall zurückzuverfolgen, dann rannte er los. Noch ehe er die weite Kurve nach Norden halb hinter sich hatte, sah er den Hecklader im Straßengraben liegen. Bitte, lieber Gott, nein! Laura und der Junge mussten in dem Wagen gewesen sein. Auf der anderen Straßenseite, wo er durch Bäume geschützt war, rannte Kevin zu dem Hecklader. Keuchend gelangte er auf gleiche Höhe mit dem Wagen und spähte hinüber, sah jedoch niemanden im Innern des Fahrzeugs. Aber der Blickwinkel war nicht allzu gut; falls die Insassen tot oder verletzt waren, lagen sie vermutlich auf der Seite des Wagens, die in den Graben gekippt war. Kevin überquerte die Straße, ohne den Blick von den Bäumen zu nehmen. Als er in den Wagen schauen konnte, atmete er erleichtert auf: keine Toten, nicht einmal Blut war zu sehen. Der hintere rechte Reifen war geplatzt. Offenbar hatten sämtliche Insassen sich rechtzeitig in Sicherheit bringen können. Haines hätte sich bestimmt nicht die Mühe gemacht, sie als Geiseln zu nehmen, sondern sie auf der Stelle erschossen und die Leichen im Wagen liegen lassen. Wohin aber waren sie alle verschwunden? Kevin blickte die verlassene Straße entlang, hielt Ausschau nach möglichen Einfahrten - irgendetwas, wo Laura logischerweise Deckung gesucht hätte. Abrupt wurde ihm bewusst, dass er diese Straße kannte, aber so weit südlich war er früher nicht gekommen, sondern ein Stück vorher zur Farm abgebogen. Sie war nicht mehr weit weg, höchstens einen Kilometer nordwärts. Wieder rannte Kevin los. Das Tor war noch genauso, wie er es in Erinnerung hatte, ebenso die Bäume zu beiden Seiten der langen Einfahrt. Das Zu-Verkaufen-Schild stand offenbar schon lange hier, denn das Gras, das den Pfosten umwucherte, war sehr hoch. Wenn Laura nach Norden floh, musste sie dieses Anwesen gesehen und hier vielleicht sogar Zuflucht gesucht haben. Falls sie jedoch von der Straße und durch die Wälder gekommen 504
war, hätte sie das Schild gar nicht sehen können. Wie auch immer - die Wahrscheinlichkeit war hoch, dass sie hier vorbeikam. Kevin bog zur Einfahrt ab. Nach zwanzig Jahren kehrte er zurück! Im Parterre ging sie durch die riesigen, düsteren Zimmer, deren zersplitterte Dielen entsetzlich knarrten. Sean hielt sich an ihr fest. Immer wieder drückte Laura auf die Schalter, in der unsinnigen Hoffnung, die elektrische Leitung würde vielleicht doch noch funktionieren. Dann hätte sie in jedem Zimmer Licht gemacht, damit Haines das Haus für bewohnt hielt. Sie hoffte nur, dass er die Zeichen des Verfalls nicht bemerkte. Doch nach Anbruch der Nacht wäre die Dunkelheit hinter den Fenstern unnatürlich, und die Sonne war bereits bis zu den Wipfeln der hohen Bäume im Westen gesunken. Wieder ein Schalter, wieder nichts. Wahrscheinlich gab es hier schon seit Jahren keinen Strom mehr. Das Haus war riesig. Laura versuchte, sich ein genaueres Bild davon zu machen. Drei Türen im Parterre - vorne, hinten und an der Seite. Alle waren zusätzlich mit schweren Riegeln gesichert. Doch was nützte das, wenn das vordere Fenster eingeschlagen war? Nun, zumindest bedeutete es, dass Haines nur dort eindringen konnte. Es sei denn, er schoss eine Tür mit seinem Gewehr auf oder zerschmetterte ein anderes Fenster ... Zwei Treppenaufgänge. Der Hauptaufgang befand sich gegenüber der großen Eingangstür; ein kleinerer Aufgang, wahrscheinlich für die Dienstboten, führte von der Küche zum ersten Stock. Das war gut. Es gab noch einen zweiten Stock, doch Laura hatte nicht vor, da hinaufzugehen. Vielleicht gab es sogar einen Dachboden, wo sie sich mit Sean hätte verkriechen könnte, doch ein solches Versteck wäre unter diesen Umständen eine tödliche Falle. Sie überlegte kurz. War es zu gefährlich, hier zu bleiben? Noch könnten sie durch die Hinterseite zurück 505
in den Wald. Aber der Gedanke, da draußen in völliger Dunkelheit zu sein, erfüllte sie mit Furcht. Nein, sie würde hier bleiben. Sie legte die Hand auf Seans Schulter und spürte das knochige Schlüsselbein unter seinem T-Shirt. Sie kniete sich vor ihn. »Du kannst wirklich schnell laufen«, sagte sie. »Du machst es sehr gut. Ich denke, wir haben ihn abgeschüttelt.« Sie fragte sich, ob Sean ihr glaubte, oder ob er wusste, dass es nur die Lüge eines Erwachsenen war, um ihm Mut zu machen. Sie selbst fühlte sich bei diesen Worten jedenfalls besser. »Ein FBI-Agent sucht nach uns. Und die Polizei.« »Ehrlich?« »Ja. In wenigen Minuten werden sie alle hier sein, und dann können wir dich heim zu deiner Mom bringen.« »Ja«, murmelte er. Sie hatte keine Ahnung, was im Kopf des Jungen vorging und wie er alles verarbeiten konnte, das ihm in den vergangenen Stunden zugestoßen war. »Gehen wir hinauf«, schlug sie vor. Jeder Schritt nach oben schien endlos lange zu dauern, wie eine dieser Zeitlupenaufnahmen im Film. Im ersten Stock hielt Laura inne. Eine schmalere Treppe führte weiter zum zweiten Stock. Vor ihnen lag ein langer Flur mit Türen zu beiden Seiten; Laura konnte die hintere Treppe sehen, die zur Küche führte. Gut. Ihr Fluchtweg. Rasch stieg sie zur großen Küche hinunter. Von dort waren es nur wenige Schritte zum Hintereingang. Sie zog den schweren Riegel zurück, öffnete die Tür, schloss sie jedoch gleich wieder und schob den Riegel wieder vor. Sie wollte im Notfall keine Überraschungen. Danach kehrte sie nach oben zurück und ließ die Treppentür einen Spalt offen. In der zunehmenden Dämmerung ging sie von Zimmer zu Zimmer. Als sie aus den Fenstern blickte, kam sie sich wie in einem Albtraum vor, aus dem es kein Erwachen gab. Bald würde es dunkel sein, völlig dunkel. Aus dem vorderen Schlafzimmer hatte sie einen direkten Blick 506
auf die Einfahrt, den verlassenen Hof und die überwucherten Felder. Von den Fenstern an den Seiten und der Rückseite sah sie verfallende Nebengebäude und den Wald, der an das Grundstück angrenzte. Sie würde wohl die ganze Nacht einen ständigen Rundgang an den Fenstern vorbei machen und hoffen, dass der Mond hell genug schien, etwas sehen zu können. Vor allem hoffte sie, jede Sekunde so konzentriert zu sein, dass sie sofort reagierte, falls jemand sich näherte. Sie vergewisserte sich, dass alle Fenster offen blieben, damit sie auch das kleinste verdächtige Geräusch hören konnte. Die Vögel beendeten jetzt ihr vielstimmiges Abendlied, und Laura wusste, wie still es dann wurde. Eine Waffe. Sie hatte nicht einmal ihre Dose mit Pfefferspray; die war in ihrer Handtasche im Auto geblieben. In dieser fast unwirklichen Situation kam sie auf die verrücktesten Gedanken, beispielsweise, vor dem vorderen Fenster eine Grube auszuheben und mit spitzen Pflöcken zu spicken, oder irgendetwas zusammenzubasteln, das sie Haines auf den Kopf fallen lassen konnte, wenn er ins Haus eindrang. Sie fragte sich, ob sie ihm vielleicht das Gewehr entwinden könnte. Filmfantasien, Traumfantasien. Sie würde viel zu viel Angst haben. »Möchtest du schlafen?«, fragte sie Sean. Der Junge schüttelte heftig den Kopf. »Ich bleibe bei Ihnen.« Gemeinsam schoben sie Wache. Bei jeder Runde wurde Laura deutlicher, wie sinnlos das war. Inzwischen war es bereits zu dunkel, um weit sehen zu können, und bald würde es auch im Haus sehr dunkel werden. Sie waren auf dem Rückweg zum vorderen Zimmer, als Laura draußen Schritte hörte. Unwillkürlich drückte sie Seans Hand so fest, dass der Junge aufschrie. Ihr Atem stockte. Sie spürte die Schwäche, die sich durch ihren ganzen Körper bis in die Zehenspitzen ausbreitete, und kämpfte gegen das beinahe unkontrollierbare Verlangen an, zur Toilette zu gehen. 507
Ihre Zehen kribbelten. Sie schlich zum Fenster und schaute hinaus. Nichts. Noch immer Seans Hand haltend, eilte sie leise zum nächsten Zimmer. Die Schritte waren verstummt. Unmöglich festzustellen, woher sie gekommen waren. Er musste sehr nahe sein, vielleicht so nahe, dass sie ihn nicht sehen konnte, wenn er sich an die Hauswand drückte. Sie hörte die Hintertür knarren. Sean wimmerte. Schritte an der Seite des Hauses. Ein anderer Türknauf wurde gedreht, wobei er leise quietschte. Laura zog Sean an sich und spürte, wie der Körper des Jungen zitterte. Sie wusste nicht, wie lange sie so in der Stille wartete und sich vorstellte, wie Haines lautlos durch das eingeschlagene Fenster kletterte und seine Füße kaum den knarrenden Boden berührten, und wie er dann die Treppe heraufschlich und einem Gespenst gleich auf sie zukam ... Wieder Schritte. Diesmal wusste Laura sofort, woher sie kamen. Von den Verandastufen. Das bisschen Mondlicht genügte Kevin, das Farmhaus am Ende der Einfahrt zu erkennen, und dahinter das hohe dunkle Dach der Scheune und eines der Hühnerhäuser, die sie vor langer Zeit zu Schlafräumen für die männlichen Angehörigen der Sekte umgebaut hatten. Die Unterkünfte waren schrecklich zugig gewesen; Kevin erinnerte sich an den eisigen Winter damals, und wie die Feuchtigkeit der See ihm in die Knochen gedrungen war - und auch, dass es ihn nicht viel gekümmert hatte. Als er alles dunkel und verlassen vor sich sah, stockte ihm beinahe der Schritt. Während seiner Zeit hier war er nachts oft von irgendeinem Auftrag zurückgekommen. Die Fenster waren hell erleuchtet gewesen, und der Anblick hatte ihn stets mit Freude erfüllt. Es war ein Heimkommen zu Freunden, die ihn zu Hause willkommen hießen. Die freudige Erwartung, die er zuvor verspürt hatte, hatte sich unvermittelt zu 508
schrecklicher Angst gewandelt. War dies das Zeichen, auf das er gewartet hatte, das ihn hierher zurückbrachte - oder vielmehr beorderte, damit er dies sah? Den Zerfall jenes Ortes, an dem er einst geglaubt hatte, Gott gefunden zu haben? Von den Bäumen rechts der Einfahrt geschützt, rannte er auf das Haus zu. Er fühlte sich angezogen wie von der Gravitation eines schwarzen Lochs. Er war jetzt innerlich ruhig, ganz ruhig - und die Distanz zu seiner Vergangenheit wurde größer. Ihr Hundesöhne, hättet ihr damals Mitleid empfunden, wäre ich vielleicht noch hier - und ihr auch. Er hatte sie nicht verlassen, sie hatten ihn verlassen. Verlassen mit gebrochenen Knochen, gebrochenem Herzen. Seither hatte Kevin sein Leben damit zugebracht, sie zu vernichten, sie alle. So sah die Wahrheit aus. Aus Neid, Bosheit und Rache hatte er versucht, ihnen den Glauben zu nehmen, den sie ihm nicht gegönnt hatten. Mit schweißnasser Hand lockerte er den Griff um seine Glock - und verstärkte ihn rasch wieder. Wenn Laura die Einfahrt gesehen hatte, musste sie hier irgendwo sein, im Haus oder in einem der Nebengebäude. Davon war er nach wie vor überzeugt. Er ließ den Blick über die Fenster des großen Hauses wandern, die sich als Rechtecke tieferer Dunkelheit gegen den Himmel abhoben. Und David ... was würde David tun? Du hättest zurückkehren können, sie hätten dich nicht davon abgehalten. Doch es war damals vorrangig um ihn gegangen, nicht um sie. Nachdem sein Bein geheilt war, nach den Besuchen des Psychologen, nach ein paar Wochen ungestörten Schlafs und guten Essens, hatte er es nicht mehr in sich. Und wessen Schuld war das? Sollte er ein schlechtes Gewissen haben und Reue empfinden, weil er nicht mehr glauben konnte? Wenn es einen Gott gab, warum hatte er ihm nicht die Kraft zum Glauben gegeben? 509
Du hattest diese Kraft! Doch das war Augenwischerei gewesen, Gruppenhysterie, Gehirnwäsche, Schlafentzug und das Verlangen, dazuzugehören. Es war Blindheit ohne Vernunft gewesen. Na und? Was spielt es für eine Rolle, wie du den Glauben hast? Hauptsache, du hast ihn. Blödsinn. Der Glaube, töten zu müssen? Den eigenen Bruder? Den eigenen Sohn? Nein, du kannst nicht einfach deinen Verstand abschalten. Das ist nicht die Art von Glauben, die du willst. Hinter einem Fenster im ersten Stock vermeinte er eine flüchtige Bewegung wahrzunehmen. Er spähte noch einmal dorthin, aber da war nichts. Ein Blick in die Schwärze, und alles beginnt sich für dich zu bewegen, alles ist da, du musst nur danach greifen. Er zog sich ein wenig tiefer zwischen die Bäume zurück, falls es David mit seinem Gewehr war. Aber wenn überhaupt jemand hinter dem Fenster gewesen war, dann nicht David ... Kevin sah ihn um die Hausseite herum kommen und entschlossen zur Veranda gehen. Seine Schritte knirschten auf dem Kies. Kevin schätzte die Entfernung. Sie war zu groß, einen Schuss zu riskieren. Er rannte los und hoffte, das Gras würde seine Schritte dämpfen. Näher, näher. David stieg die Veranda hinauf und langte nach dem Türknauf. Fast in Schussweite stürmte Kevin aus dem Sichtschutz der Bäume hervor. David, der durchs Erkerfenster schaute, hörte seine Schritte und wirbelte herum. Kevin hob seine Glock und spürte ihren Rückstoß, als er einmal schoss, dann weitere zwei Mal. Unbeholfen warf David sich gegen das Erkerfenster. Doch nicht das Klirren von zerbrechendem Glas war zu vernehmen, sondern der dumpfe Aufprall von Davids Körper. Verdammt! Kevin wusste nicht, ob er den Kerl getroffen hatte. Er entfernte sich aus dem möglichen 510
Schusswinkel des Fensters und rannte zu einer Hausseite. Von oben hörte er den gellenden Schrei eines Jungen, der weit hallte, obwohl er rasch gedämpft wurde. Laura und Sean waren im Haus. Mit David. Sie drückte den zitternden Jungen an sich und versuchte ihn zu beruhigen, doch seine Panik war zu groß. Das Geräusch der Schüsse hatte ihn in schreckliche Angst versetzt. Auch Laura musste alle Kraft aufbieten, ihr Entsetzen nicht ebenfalls hinauszuschreien. Was, zum Teufel, tat Haines? Feuerte er blind in die Zimmer hinein, ehe er sie betrat, um sicherzugehen, dass ihm dort niemand auflauerte? Laura hatte den Lärm gehört, als er sich offenbar Hals über Kopf durchs Erkerfenster gestürzt hatte. Dann folgten ein paar leise Schritte und dann - was am schlimmsten war - eine entsetzliche, drückende Stille. David Haines wusste, dass sie hier waren. Sean hatte zu schreien aufgehört, doch sein Atem ging laut und keuchend. Sie befanden sich nun auf dem Korridor, etwa in der Mitte zwischen der Haupt- und der Dienstbotentreppe. Laura hielt den Jungen an der Hand. Unten knarrte ein Fußbodenbrett - oder war es eine der Stufen? 0 Gott, wie sollte sie das erkennen? Plötzlich erklang Kevins Stimme vor dem Haus. »David! Polizei und State Troopers sind auf dem Weg hierher! Wenn die Sie aus dem Haus holen, werden sie nicht zimperlich sein! Werfen Sie Ihr Gewehr über die Veranda, wo ich es sehen kann, dann machen wir dem Ganzen hier ein Ende.« An die Hauswand gedrückt, stieß Kevin die Worte verzweifelt und ohne viel Hoffnung hervor; er wusste, wie sinnlos sie waren. Was hatte David Haines zu verlieren? Doch Kevin wollte ihn zumindest ablenken, 511
um Laura und Sean die Chance zu geben, aus dem Haus zu fliehen, ehe Haines sie aufstöberte. »David, kommen Sie raus! Mein Versprechen gilt. Ich werde mein Bestes tun, dass niemand Ihnen Blut abnimmt, und ich werde vor Gericht für Sie aussagen. Ich schwöre es bei Gott.« Laura, Sean - lauft raus! Er versuchte sich an den Plan des Farmhauses zu erinnern. Ganz sicher war eine Tür an der Rückseite, vielleicht sogar eine an der Seite. Und im Obergeschoss? Zwei Treppen, das hatte er nicht vergessen. Vorsichtig schlich Kevin am Haus entlang zur Rückseite. Er war nie richtig von hier fortgegangen, nicht von sich aus, nicht aus freiem Willen. Diesmal würde er es tun. Davids linke Schulter fühlte sich an, als hätte ihn ein Tritt mit einem Nagelschuh getroffen, und die anschwellende Taubheit an der Stelle, wo die Kugel eingedrungen war, sandte Schmerzstöße durch den Arm bis hinunter bis zu den Fingerspitzen. Aber noch konnte er den Arm bewegen. Er hatte den Schrei des Jungen gehört und wusste, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb. Und draußen predigte Kevin Sheldrake wie ein Prophet in der Wüste. Zumindest würde er seinen Fehler ausbügeln und seine Arbeit beenden. Die Dielenbretter knarrten unter seinen Schritten, obwohl er so leise wie möglich durch die Eingangshalle zum Fuß der Treppe ging. Kein Laut drang von oben herunter. Der Schmerz in seinem Arm wurde schlimmer. Er musste schnell handeln. Er zwang sich, zur Rückseite des Hauses zu schleichen, und sah, dass es eine Seitentür gab, die Küche, die hintere Tür - und noch eine. Zuerst glaubte er, sie würde nur zu einer Speisekammer führen, dann aber entdeckte er durch den Spalt, dass eine schmale Treppe nach oben führte. Dienstbotentreppe, nannte man es nicht so? Er 512
kehrte langsam zur Vorderseite des Hauses zurück. Leise öffnete er den Riegel der Haustür und zählte bis zwanzig. Er würde sich den Jungen, die Ärztin und Sheldrake holen. Mit einem Satz sprang er auf die zweite Stufe der Haupttreppe und hämmerte mit den Füßen darauf, dass es sich anhörte, als würde er die Treppe hinaufeilen. Dann drehte er sich um und rannte durch die Haustür ins Freie. Laura stolperte und fiel die Küchentreppe halb hinunter. Noch ehe sie schmerzhaft auf der Schulter landete, fing sie Sean auf. Sie taumelte hoch und zog den Jungen mit sich in die
Küche. 0 Gott, es war stockfinster! Trotzdem fand sie den Riegel der Haustür, musste den Jungen aber loslassen, um die Tür zu öffnen. Mondlicht fiel herein. Sie langte nach Sean und bekam ihn an der Schulter zu fassen; dann stieß sie die Fliegentür mit dem Fuß auf und schob Sean hinaus. Jetzt noch die drei schiefen Holzstufen hinunter, und sie waren im Gras. »Kommen Sie mit!« Es war Kevin, der ihnen von der Hausecke entgegenlief. »Er kommt!«, keuchte Laura. »Folgen Sie mir.« Sie rannten zur Rückseite. Als sie um die Ecke bogen, stand David Haines keine sieben Meter vor ihnen, das Gewehr im Anschlag, als hätte er auf sie gewartet. Es schien alles im selben Augenblick zu geschehen: der Knall des Schusses und Kevins Sturz nach hinten, als hätte eine unsichtbare, riesige Faust ihn niedergeschmettert. Laura sah den versengten Stoff in der Mitte seiner Brust, und gleich darauf das Blut, das hervorströmte. Neben seinen zuckenden Fingern schimmerte seine Pistole dunkel auf dem Gras, nur Zentimeter von ihrem 513
Fuß entfernt. Sie ließ sich auf die Knie fallen, riss die Pistole hoch und richtete sie auf Haines. Er stand im Mondschein vor ihr, das Gesicht fahl und schweißbedeckt. Er blickte sie nicht an, als er das Schloss öffnete, die Patronenhülse herausnahm und genauso schnell eine neue Patrone einschob. »Lassen Sie das!«, presste Laura durch die Zähne hervor. Jetzt erst schaute Haines sie an und sah, dass sie die Pistole auf ihn gerichtet hatte. Laura war sich Kevins bewusst, der neben ihr lag und verblutete oder vielleicht schon tot war, aber sie konnte im Moment nichts für ihn tun, gar nichts. Sean stand wie gelähmt hinter ihr. Noch nie hatte Laura eine Schusswaffe abgefeuert. Haines musste das erkennen, vielleicht schon daran, dass sie die Arme ausstreckte, wobei sie den Griff der Pistole mit beiden Händen umklammerte. Ihre Blicke ruhten auf Haines' Händen, auf der Patrone in seinen Fingern, nur Zentimeter, Sekunden vom Schloss seines Gewehrs entfernt. »Fallen lassen!«, befahl sie, »lassen Sie die Patrone fallen!« Er starrte sie nur finster an, ohne sich zu rühren. Sie verlagerte ihren Griff um die Pistole. Hatte Kevin das Ding bereits entsichert oder nicht? Ihr blieb jetzt keine Zeit, sich die Waffe genauer anzuschauen. Wie fest würde sie auf den Auslöser drücken müssen, wie viele Schuss waren noch übrig? Erst jetzt bemerkte sie, dass Haines verletzt war. Um seine linke Schulter hatte sich ein dunkler Fleck ausgebreitet. »Lassen Sie das Gewehr fallen, oder ich erschieße Sie!« »Das können Sie nicht«, höhnte er, »sonst würden Sie das kostbare Blut verlieren.« Schieß, ermahnte sie sich, schieß! Doch sie konnte es nicht. Zielte sie auf eines seiner Beine, würde sie ihn vielleicht verfehlen. Traf sie seine Oberschenkelschlagader, verblutete er möglicherweise. Zielte sie höher, könnte sie ein lebenswichtiges Organ 514
treffen oder eine Arterie, und er würde sterben, bevor sie ihn in ein Krankenhaus bringen lassen könnte. Sie bemerkte, dass sein Blick kurz zu Sean schweifte, und war überrascht, dass sich Schmerz in seiner Miene spiegelte. Dann wandte er sich wieder Laura zu und spreizte auffordernd die Arme. »Schießen Sie schon!« »Lassen Sie das Gewehr fallen!« Stattdessen wandte er ihr den Rücken zu und schritt langsam davon. »Halt!«, rief sie. Ein Schritt, zwei Schritte, drei. Sie konnte jetzt seine Hände nicht mehr sehen. Vielleicht schob er die Patrone ins Gewehr,
um herumzuwirbeln und sie zu erschießen. Und mit jedem Schritt entfernte er sich weiter, und sie würde ihn verfehlen. »Verdammt, bleiben Sie stehen!«, rief sie erneut. Sie wusste nicht, wie oft sie feuerte, vier- oder fünfmal, aber der Aufprall warf Haines aufs Gesicht. Sie beobachtete ihn aus einiger Entfernung und zitterte vor Aufregung so heftig, dass sie die Pistole senken musste. Sie hatte nicht schießen wollen, doch ihr war nichts anderes übrig geblieben, weil sie verhindern musste, dass er im Wald verschwand, wo er das Gewehr neu laden und sie aus der Ferne hätte erschießen können. »Haines?« Es war nicht zu erkennen, wie schwer verwundet er war. Auf keinen Fall aber würde sie näher an ihn herangehen; vielleicht täuschte Haines nur etwas vor. Sie hoffte, dass er das Bewusstsein verlor, dann konnte sie ihm zumindest das Gewehr wegnehmen.
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Wo war die Waffe eigentlich? Sie glaubte, den Schaft unter Haines' Bauch herausragen zu sehen. Ja, er lag tatsächlich darauf. »Können Sie mich hören?« Keine Antwort. Die Pistole auf Haines gerichtet, machte Laura einen Bogen um ihn, um in sein Gesicht zu schauen. Seine Augen waren geschlossen. Shit! Sie musste sofort zurück zu Kevin, um zu sehen, ob sie ihm helfen konnte. Aber was war, wenn Haines ihr nur etwas vormachte? Wenn er sich davonschleppen oder gar noch gehen konnte? Oder wenn er sich aufsetzte und nach dem Gewehr griff, um sie in den Rücken zu schießen? Sie wollte schreien, wollte ihm in die Seite treten. Rückwärts gehend kehrte sie zu Kevin und Sean zurück, ohne den Blick von Haines zu nehmen. Sie kniete sich nieder. »Du musst mir helfen, ihn im Auge zu behalten«, wandte sie sich an Sean und deutete mit dem Kopf auf Haines. »Pass gut auf ihn auf und sag mir sofort, wenn er sich rührt.« »Er macht seltsame Geräusche«, sagte Sean und blickte ängstlich auf Kevin. »Ja, ich hör's.« Kevin war bewusstlos. Sein Atem ging schwer und rasselnd; sein Puls raste und war zugleich erschreckend schwach. Um das Eintrittsloch in seiner Brust war überraschend wenig Blut; die Kugel hatte offenbar die Aorta durchschlagen und war direkt durch die Herzkammern gedrungen. Aber warum so wenig Blut? Behutsam schob sie eine Hand unter seinen Rücken und fand die Austrittsstelle des Geschosses. Sie rechnete damit, sehr viel Blut im Gras und auf dem Boden zu ertasten, doch ihre Finger blieben verhältnismäßig sauber. »Kevin«, hauchte sie mit einer Spur neuer Hoffnung. Sie hatte keine Erfahrung mit Schusswunden, hatte mit anderen Ärzten nur das eine oder andere Mal darüber gesprochen. Kugeln waren unberechenbar. Einer ihrer Kollegen hatte ein junges Mädchen 516
gesehen, das von der Kugel einer kleinkalibrigen Pistole in die Hand getroffen und gestorben war: Nach dem Einschlag hatte die Kugel ihre Bahn auf bizarre Weise gewechselt und war mit unglaublicher Wucht die Speichenarterie geradewegs zum Herzen hinaufgeschossen. Und dann wieder gab es Storys von Leuten, die mitten in die Brust getroffen wurden und es doch noch schafften, den Arzt aufzusuchen. Bei Kevin sah es so aus, als hätte die Kugel ihn direkt durchschlagen, ohne größeren Schaden anzurichten. Doch als sie ihm das Hemd aufriss, sah sie sofort, dass die rechte Brustseite stark angeschwollen war und seine Halsadern unglaublich aufgebläht wirkten. Sie legte ihm eine Hand gespreizt auf die Brust, tupfte mit dem Mittelfinger darauf und hörte voll Schrecken, dass es hohl klang, so ähnlich, als klopfe man auf eine leere Milchpackung. Großer Gott, sogar seine Haut an Hals und Brust knisterte unter ihrer Berührung wie Pergament, während Luft ins Gewebe drang.
Es war ein akuter Spannungsspneumothorax. Haines' Kugel musste den linken Lungenflügel durchdrungen haben. Er war kollabiert und durch den Druck, der zwischen Lungenwand und Brusthöhle entstand, implodiert. Mit nur einem Lungenflügel zu überleben war nicht das Problem, doch der ungeheure Innendruck könnte leicht verhindern, dass sein Venenblut zum Herzen zurückströmte. Das wäre zweifellos sein Ende, und zwar schon bald. Sie konnte Kevins Atem kaum noch hören. Ihre einzige Hoffnung war, rasch den Druck zu beiden Lungenseiten zu stabilisieren. Dazu musste sie die Brustwand aufschneiden oder mit einem spitzen Gegenstand durchstoßen. »Hast du ein Taschenmesser?«, fragte sie Sean. Er schüttelte mit weit aufgerissenen Augen den Kopf. 0 Gott! Was könnte sie sonst benutzen? Einen Kugelschreiber. Hastig tastete sie Kevins Jackett ab 517
und entdeckte einen in der Brusttasche. Sie riss ihn hervor. Gut. Es war ein billiger Schreiber mit transparenter Plastikhülle und blauer Spitze. Die Spitze war sehr dünn, doch Laura fragte sich, ob sie auch scharf genug sein würde. Sie wusste, dass ihr nicht viel Zeit blieb. David hielt die Augen geschlossen. Die geringste Bewegung, selbst das vorsichtige Einatmen, jagte Schmerz durch seinen Körper. Seine Beine brannten vor Kälte. Sein Atem ging schnell und flach. Er hielt sich ganz straff aus Angst, er würde davongeweht, wenn er die Muskeln entspannte. Er hatte versagt. Gott hatte ihn aus der Todeszelle geholt, hatte ihm eine Chance gegeben, seine Arbeit zu beenden, den irdischen Stolz auf sein Kind zu bereuen, und er hatte versagt. Du hast gewusst, dass es dazu kommt! In dem Moment, als er den Jungen im Visier hatte, war ihm klar geworden, dass er es nicht tun konnte. Und dass alles, was er von diesem Moment an tun würde, nichtswürdig und vergebens wäre. Was hatte er jetzt? Nichts. Wir kommen nackt auf die Welt, und nackt verlassen wir sie wieder. Asche zu Asche, Staub zu Staub. Er hatte viel Trost in diesen Sprüchen gefunden, in der Vorstellung, dass er schließlich seinen irdischen Körper abstreifen und den Würmern zum Fraß hinterlassen würde, während seine Seele zum Himmel emporstieg. Aber er hatte versagt. Er wollte Erlösung von dem Schmerz, der seinen Körper übermannte. Er wollte eine Decke für seine Beine, und er wollte noch einmal diesen Song hören. Er wollte Rachels Schulter wieder berühren und den Kopf seines Sohnes, wollte die fiebrige Wärme seines Haares spüren. Er konnte nicht gehen. Die untere Hälfte seines Körpers fühlte sich taub und zerschmettert an. Doch das Gewehr lag noch unter ihm; der Lauf drückte gegen seine Rippen, und das Zielfernrohr bohrte sich in 518
sein Brustbein. Er hatte die Patrone immer noch in der linken Hand. Ein Letztes noch. Schwerfällig schob er die Hand unter seinen Körper und ertastete die vertrauten Umrisse des Schlosses. Er ächzte, um zu übertönen, wie er die Patrone hineingab und das Schloss zuklickte. Wo war Donaldson? An der Seite stand sie nicht. War sie immer noch hinter ihm und hielt die Pistole auf ihn gerichtet? Wenn er versuchte, sich aufzusetzen und umzudrehen, bliebe ihm dann noch Zeit genug? Er würde nicht zulassen, dass sie ihm Blut abnahm, zumindest dafür konnte er sorgen. Vielleicht hatte der Junge das gleiche Blut, schon möglich, aber da konnte er nichts mehr machen. Nimm diesen Kelch von mir, Herr. Jetzt lag es bei Gott. Aber für das andere würde er noch sorgen. Das musste er richtig machen. Er spürte das Ende des Laufs am weichen Fleisch unter seinem Kinn, und er lächelte. Er schob das Gesicht flach auf den
Kies, in einer Linie mit dem Lauf, und legte den Finger um den Abzug. Wahrlich, ich sage dir, noch heute wirst du mit mir im Paradies sein. Laura fuhr bei dem gedämpften Schuss zusammen. Sie stand auf, sah, wie Haines' Körper zuckte, und rannte zu ihm. Sein Kinn war zerschmettert; schwarzes Blut strömte auf den Kies, und die trockene Erde sog es durstig ein. In stummem Entsetzen starrte sie darauf. Nein ... dieses viele Blut aus seinem sterbenden Körper. Halt es auf! Tu etwas, um ihn zu retten! Er musste gehofft haben, sich mit einem Kopfschuss das Leben zu nehmen, aber der Schuss war fehlgegangen und hatte wahrscheinlich die 519
Unterkieferarterie zerfetzt. Durch starken Druck könnte sie vielleicht verhindern, dass er verblutete, aber dazu müsste sie bei ihm bleiben, bis Hilfe kam ... Kevin. Wenn sie diese Inzision nicht machte und den Druck in seiner Brust nicht stabilisierte, würde er bald sterben. Beide Männer konnte sie nicht behandeln. Sie starrte auf das Blut, das unentwegt aus Haines' Gesicht pumpte. Verzweifelt dachte sie an ihre medizinische Ausrüstung im Kofferraum des Wagens auf dem Festland. Hier hatte sie nichts, in das sie Haines' Blut füllen, nichts, wo sie es aufbewahren könnte. Sie bräuchte ihre Teströhrchen, das Heparin und die EDTA, um zu verhindern, dass das Blut nutzlos versickerte. Nein, wenn sie Haines' Blut wollte, musste sie ihn am Leben erhalten. Kevin würde sterben. Doch wenn es ihr gelang, Haines zu retten, würde sie mit seinem Blut vielleicht zahllose andere Leben retten ... Sandras Leben. Bitte, verlang das nicht von mir. Verlang diese Entscheidung nicht von mir. Was ist mit dem Jungen? Er hat vielleicht das gleiche Blut. Aber das kannst du nicht wissen. Haines war möglicherweise der Einzige, für immer. Könnte sein. Sie wandte sich von Haines ab, musste den Blick von dem Blut losreißen, das immer noch in den Staub floss, und eilte zu Kevin zurück. Sein Atem war nicht mehr zu vernehmen. Mit dem Kugelschreiber würde es vielleicht nicht gehen; möglicherweise war er nicht einmal scharf genug, durch das Gewebe und die Muskeln um die Brustwand zu schneiden - und die Spitze würde die Luftzufuhr blockieren. Und wie sollte sie das Ding danach wieder herausziehen? »Bleib bei ihm, Sean, red mit ihm. Bitte. Ich komme gleich zurück.« »Wohin gehen Sie?«, fragte er ängstlich. »Ins Haus, ich muss etwas holen. Ich bin gleich wieder da.« 520
Durch die Küchentür kehrte sie ins stockdunkle Haus zurück. Sie tastete an den Wänden nach Türen, riss sie auf und hoffte, einen Kleiderschrank zu finden. Endlich entdeckte sie einen im großen vorderen Zimmer. Sie öffnete ihn, fuhr mit den Händen von Seite zu Seite über die kalte Stange und hoffte, einen Kleiderbügel zu ertasten. Bitte, bitte! Nichts. Wer, zum Teufel, nahm beim Auszug diese billigen Drahtbügel mit? Fluchend kniete sie sich hin, tastete in dem dicken Staub vieler Jahre und weiß Gott was noch alles auf dem Boden des Schranks lag ... Ein einzelner Drahtbügel, völlig verbogen, doch das war egal. Sie eilte zurück durch die Finsternis, hinaus durch die Küche ins Freie, und kniete sich neben Kevin. Ihre Hände zitterten. Ich muss mich zusammenreißen. Ich hätte das Speed doch nehmen sollen. Dann hätte ich jetzt den Mut dazu ... Nein, ich brauche das Zeug nicht! Sie machte sich daran, den Haken des Kleiderbügels gerade
zu biegen und spürte seine scharfe Spitze. Großer Gott, er war vermutlich rostig. Wenn sie nur etwas zum Sterilisieren hätte! Aber hier gab es weder Streichhölzer, noch Alkohol, gar nichts, und Zeit hatte sie auch nicht. Endlich war das Ding gerade. Mit den Fingernägeln löste sie die blaue Plastikspitze des Kugelschreibers; dann zog sie den dünnen Tintenstift heraus und steckte das jetzt gerade Stück des Kleiderbügels durch die leere Hülle. Gut, jetzt schaute ein Stück von der Spitze heraus. Hoffentlich funktionierte das Ding auch. Nur nicht zu viel darüber nachdenken. Es muss einfach gehen! »Sean, komm herüber, mein Kleiner. Kannst du ihn halten, an den Schultern, so fest es nur geht? Und 521
pass auf, dass er sich möglichst nicht bewegt, in Ordnung?« Sie wählte eine Stelle sieben Zentimeter unter Kevins rechter Achselhöhle, stieß das provisorische Instrument zwischen seine Rippen und drückte, bis es die Muskeln durchdrungen hatte. Geschafft. Explosionsartig schoss Luft durch die Kugelschreiberhülle, als der Druck sich zu beiden Seiten seiner Lungenflügel stabilisierte. Sie hielt die Hülse mit einer Hand fest und zog den Kleiderbügel heraus. Die Kunststoffhülle blieb ganz. Sie tupfte auf Kevins Brust, maß seinen Puls, lauschte seinem Atem und hoffte, es würde genügen, bis Hilfe kam. Über seinen bewusstlosen Körper gebeugt, begann sie zu schluchzen. Wow! Sieh dir das an, sieh nur, wie hell sie sind! Kevin konnte sich nicht erinnern, wann er die Sterne zum letzten Mal so gesehen hatte. Es waren so viele und sie strahlten so hell, dass man scheinbar von ihnen hinaufgezogen wurde, wie losgelöst von der Erde. Befand er sich überhaupt noch auf der Erde? Schwer zu sagen. Jemand war in der Nähe, die Frau, Laura, und ein Junge, den er nicht kannte, und er verspürte eine unendliche Liebe für sie beide, aber ... die Sterne da oben waren wirklich sensationell. Verschwommen wurde er sich bewusst, dass er nach etwas anderem Ausschau halten sollte. Komm, das Spiel ist jetzt vorbei, zeig dich. Erwartete er, dass die Sterne sich zu einem Gesicht verdichteten, oder dass er eine Stimme hören würde? Sterne, Sterne, bisher nichts als Sterne. Wo bist du? Meinst du nicht, dass ich lange genug gewartet habe? Komm schon. Ich hab doch einen Blick auf dich verdient, nach allem, was geschehen ist. Was ist passiert? Zum ersten Mal verspürte er schwindelartige Panik. Er wünschte sich, er könnte diesen schnellen Aufstieg bremsen, denn jetzt stieg er wirklich auf. Es war alles 522
so abrupt gegangen, und er wollte sich doch erinnern. Halt an, gönn mir wenigstens eine Sekunde ... Es ist nicht wirklich Angst, aber wenn ich nur noch ein bisschen Zeit hätte, bloß ein kleines bisschen Zeit, um meine Gedanken zu sammeln.
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Schatten bewegten sich durch dichten Nebel. Er erinnerte sich an Sterne, an ein Gefühl Schwindel erregender Schwerelosigkeit und Erwartung, dann an einen furchtbaren Schmerz, der ihn zu Boden drückte, zurück in seinen einengenden Körper. Er erinnerte sich an eine Stimme, die allmählich zu der ihren wurde, dicht an seinem Ohr, eine Stimme, die Dinge sagte, die er nicht verstehen konnte, die ihn jedoch unendlich beruhigte. Dann eine lange Zeitspanne, während er in tiefen Schlaf sank und wieder daraus auftauchte; und schließlich Panik, als viele andere Stimmen an sein Ohr drangen. Wirbelndes Licht, Rufe; sein Körper wurde bewegt; ein schreckliches Dröhnen, als hätten die vier apokalyptischen Reiter ihre Rosse gegen Harleys eingetauscht. Jetzt verdichteten die Schatten sich langsam zu eindimensionalen menschlischen Silhouetten. Er träumte; ganz sicher träumte er das alles. Ärgerlicherweise sagte jemand einen Namen, wiederholte ihn ständig, bis ihm endlich bewusst wurde, dass es sein Name war. Hoffnungsvoll hob er den Blick, spähte durch den Nebel. Laura? »Sie müssen jetzt aufwachen, Mr Sheldrake«, forderte eine fremde Frau ihn auf. »Bitte, wachen Sie auf!« Sie schien sehr schnell zu reden, und er hatte Mühe, ihren Worten zu folgen. Eine Schusswunde in der Brust, perforierte Lunge, Infektion durch die Wunde, intravenöse Antibiotika, welch ein Glück, dass Sie überhaupt noch leben ... All das ratterte aus ihrem Mund, während sie seinen Blutdruck maß, die Monitore checkte und Beutel mit Flüssigkeit an einen Ständer neben ihm hängte. »Laura Donaldson«, sagte er und zuckte bei dem furchtbaren Schmerz in seiner straff verbundenen Brust zusammen. »Sean Mason.« Sie verstand offenbar, was er fragte. »Bei uns wurde keine Laura Donaldson eingeliefert«, entgegnete sie. »Und auch kein Sean Mason. Bedaure.« 524
Als er das nächste Mal erwachte, standen Seth Michener und Hugh Carter am Fuß seines Bettes. Ihr plötzliches Erscheinen überraschte ihn weniger als der riesige Strauß rosafarbener und gelber Tulpen, die Mitch in der Hand hielt. Kevin konnte sich keinen groteskeren Anblick vorstellen. »Ich bin gerührt, Mitch«, krächzte er. Michener runzelte die Stirn. »Es gibt nie genügend Vasen. Ich werd mal nachsehen, ob ich im Schwesternzimmer ein paar auftreiben kann.« Er legte den Strauß auf Kevins Beistelltisch und verschwand. Es war Hugh, der Kevin aufklärte. Er erzählte, wie Laura auf David geschossen hatte, und wie der sich selbst umbrachte. Wie Laura eine Notoperation an Kevin vorgenommen hatte, ehe der Medicopter ihn nach Seattle flog. Laura ging es gut, dem Jungen ebenfalls: Er war wieder bei seiner Mutter in einem Hotel. »Es ist ein Wunder, dass es so ausgegangen ist«, meinte Hugh. »Sie haben gute Arbeit geleistet, Kevin. Großartige Arbeit.« »Wo ist sie?« »Donaldson? Ich hab sie draußen gesehen. Ich hab ihr gesagt, dass wir zuerst mit Ihnen reden müssten.« Hugh hatte danach nicht mehr viel zu sagen, aber er wiederholte es viele Male, schmückte es mit ein paar »Ich hab seit einer Ewigkeit nicht mehr Recht gehabt« aus und schloss
mit einem nachdrücklichen »Am Ende des Tages«. Mitch kehrte mit einer rosa Plastikvase zurück, die nicht hoch genug war, und beschäftigte sich damit, die Blumen zu arrangieren und die Vase so zu stellen, dass sie nicht umkippte. Er sagte nicht viel, doch Kevin staunte, dass er überhaupt gekommen war. 525
»Wir lassen Sie jetzt schlafen«, sagte Hugh. »Soll ich Donaldson ausrichten, dass sie später wiederkommen kann?« »Nein, bitten Sie sie herein.« Er konnte sich nicht erinnern, wann er sich das letzte Mal so gefreut hatte, jemanden zu sehen. Sie trug frische Kleidung und lächelte. Sie sah sehr müde aus und unendlich begehrenswert. Sie hatte Gepäck dabei, das sie an der Tür abstellte. Als sie um die Seite des Bettes kam und sich setzte, war Kevin plötzlich verlegen. Er fühlte sich scheußlich und sah bestimmt auch scheußlich aus, zumindest äußerst unerfreulich. Aber er wollte sie in der Nähe haben und hoffte, ihr Parfüm zu riechen. »Das ganze Krankenhaus spricht von Ihnen«, erzählte Laura. »Ich habe das Wort Wunder mindestens ein Dutzend Mal gehört. Sogar ich bin versucht, es zu benutzen.« Er lachte heiser. Reden schmerzte, sogar, wenn er sehr leise und vorsichtig sprach. »Wie ich hörte, haben Sie das Wunder bewirkt.« »Und Sie meinen, das genügt nicht als Zeichen?« Es sollte humorvoll klingen, aber er las aufrichtige, respektvolle Neugier in ihren Augen. Ein Zeichen. Sein eigenes, persönliches Zeichen, das er sich seit Jahren ersehnt hatte! Aber war das letztendlich nicht arrogant und selbstbeweihräuchernd? He, seht, was für ein Glück ich gehabt habe! Nicht mal Kugeln können mich umbringen. Und als Nächstes werde ich auf dem Wasser wandeln. Natürlich war er dankbar für das Zusammentreffen von Ereignissen, ob nun irdisch oder übernatürlich, das die Kugel durch seine
Brust gelenkt hatte, vorbei an Schlagadern und Herzkammern. Er versuchte sich diesen wie durch einen Blitz eingebrannten Korridor in seinem Körper vorzustellen, und trotz der Schmerzmittel glaubte er zu spüren, wie die Muskeln und das Gewebe um den Schusskanal heilten. Ein Wunder? Nach Lauras 526
wissenschaftlichem Maßstab müsste hundertmal auf ihn geschossen werden, und er müsste jedes Mal überleben. Dann wäre der Beweis für ein Wunder erbracht. Am liebsten hätte er sich selbst ausgelacht. Du wirst nie zufrieden sein; du wirst es nie wissen. »Ich hoffte, Gott zu sehen«, gestand er. »Aber er hat sich nicht gezeigt. Und selbst wenn, hätte ich mir eingeredet, dass es eine Halluzination gewesen wäre. Mit Zeichen und Wundern bin ich fertig.« Er lächelte. Zu erwarten, dass jemand anders die ganze Arbeit für einen tat, hieß im Grunde genommen doch nur, dass man sich vor der Verantwortung drückte. Vielleicht würde er den großen Sprung nie schaffen, aber er wusste, dass er ihm immer etwas bedeuten würde, dass er damit rang, ihn verfluchte und das war vielleicht alles an Glaube, was er aufbringen konnte. »Danke für alles«, sagte er. »Ich bedaure nur, unter welchen Umständen es geschehen musste.« »Ich habe etwas von einem rostigen Kleiderbügel gehört.« Sie wand sich. »Sie sind trotzdem dankbar, nicht wahr?« »Oh, ja, sehr. Sie hatten die ganze Arbeit. Ich bekam ja nur einen Schuss ab.« »Ich wollte Haines nicht erschießen«, murmelte sie. Er nickte. »Sie haben das Richtige getan. Er hätte Sie getötet. Und Sean.« Er sah, wie ihr Blick verschwommen wurde und wie sie zur Seite schaute, als erinnerte sie sich an etwas Unangenehmes. »Als Sie Haines vor dem Farmhaus zuriefen, dass Sie alles tun würden, damit ihm kein Blut abgenommen würde, falls er sich ergibt, haben Sie es doch ernst gemeint, oder nicht?« Er nickte. »Aber ich hätte nie gedacht, dass Sie sich darauf einlassen.« 527
Laura bezweifelte, dass sie es je würde verstehen können, doch genauso bezweifelte sie, Sandras Entscheidung zu begreifen, mit ihrer so genannten Therapie weiterzumachen. Es gefiel ihr nicht, aber sie musste damit leben, selbst wenn sie die Tatsachen nicht akzeptieren konnte. »Er ist verblutet?«, fragte Kevin. »Ja.« »Dann haben Sie nichts von seinem Blut bekommen?« »Nichts.« Sie würde ihm wohl kaum erzählen, welche Wahl sie gehabt hatte und wie sie ihre Entscheidung traf - das würde sich nur wie Eigenwerbung und Mitleid anhören, wo sie doch irgendwie spürte, dass ihr Handeln auf gewisse Weise das genaue Gegenteil gewesen war. Sie war selbstsüchtig gewesen; sie hatte ein Leben gerettet, obwohl anderenfalls vielleicht sehr, sehr viele Leben hätten gerettet werden können. Vielleicht, vielleicht, vielleicht - ihr ganzes Leben hatte sie sich diesem Vielleicht gebeugt. Sie hatte nur einen Menschen gerettet, einen Mann, von dem sie sich angezogen fühlte. Wäre sie vernünftig gewesen, hätte sie versucht, Haines zu retten, und zugelassen, dass Kevin starb. Ihre Wahl mochte die falsche gewesen sein, doch Laura bereute sie nicht. »Es tut mir Leid«, sagte Kevin, und sie spürte, dass er es ehrlich meinte. »Da ist ja auch noch der Junge.« ie lächelte müde. »Ja. Wenn Deirdre mich je wieder S sehen will.« »Wenn wir nicht dort gewesen wären, hätte sie ihren Sohn verloren. Sie wird sich wieder mit Ihnen in Verbindung setzen. Wenn nicht, helfe ich Ihnen, ihr eine Nachricht zukommen zu lassen.« »Danke. Ich werde erst einmal nach Tijuana fliegen.« Falls das Blut des Jungen positiv war, würde sich daran nichts ändern, bis sie zurückkam. Es konnte warten. Sandra nicht. Sie hatte den Besuch bei ihrer Schwester lange genug aufgeschoben. »In zwei Stunden habe ich einen Flug nach San Diego.« 528
»Das ist gut.« Kevin nickte und fühlte sich plötzlich verlassen. Er blickte auf ihr Gepäck an der Tür. Er wollte nicht, dass sie ging, und fühlte sich plötzlich verlegen. War dies das Ende? Sie hatte ihm das Leben gerettet und, wie jeder andere gute Arzt, noch einmal nach ihrem Patienten gesehen. Er bemerkte, dass sie zur Tür blickte, als würde irgendetwas sie ablenken, und er fragte sich, ob sie es nicht erwarten konnte, sich auf den Weg zu machen, ruhelos wie immer. Der Moment, da sie ihn verließ, stand drohend bevor, und er fürchtete ihn. Er wollte nicht wieder alles verlieren, nicht wie beim letzten Mal. Der Abschluss des Falles Haines hatte eine Art Vakuum geschaffen, das sein ganzes Leben einsog. Sie stand da, neben seinem Bett, und war so schön, dass er sie kaum anschauen konnte. Aber was hatte er erwartet? Ihre einzige wirkliche Gemeinsamkeit war David Haines gewesen, und das erschien Kevin kein glücklicher Ausgangspunkt für eine Beziehung. Vielleicht war die Vertrautheit zwischen ihnen nur eine Illusion, ein Produkt der Hoffnung, die er sich gemacht hatte, oder eine Art chemisches Nebenprodukt ihrer Zusammenarbeit. Und nun, da ihr gemeinsames, offizielles Tun beendet war, hatte es sich verflüchtigt. »Meinen Glückwunsch«, sagte sie in festem, endgültigem Tonfall, und alles in ihm verkrampfte sich schmerzhaft. »Wahrscheinlich werden jetzt noch ein paar Bücher über Sie geschrieben. Sorgen Sie dafür, dass Sie diesmal befördert werden.« Sie zwang sich zu einem Lachen. »Wenn ich Sie das nächste Mal besuche, möchte ich, dass Sie Ihr eigenes Büro haben.« »Wann wird das sein?«, fragte er. »Ihr nächster Besuch.« Sein Herz hämmerte in seiner geschundenen Brust; jeder Pulsschlag war wie eine unangenehme Erinnerung an noch größeren Schmerz. Laura musste das Drängen in seiner Stimme erkannt haben, denn er sah, wie ihr höfliches Lächeln schwand. Sie runzelte 529
die Stirn, und er senkte den Blick, weil er wusste, dass er sie in Verlegenheit gebracht hatte. »Sobald Sie möchten«, entgegnete sie, insgeheim erleichtert. Er wollte sie wiedersehen! Als Kevin im Hubschrauber abtransportiert worden war, hatte Laura darauf bestanden, ihn zu begleiten. Es war ihm schlecht gegangen; er war immer nur kurz bei Besinnung gewesen, ehe er wieder in tiefe Bewusstlosigkeit sank, und sein Körper hatte im Fieber gebebt, das wahrscheinlich durch den rostigen Kleiderbügel entstanden war, den Laura in der Not hatte benutzen müssen. Doch sie hatte ein Glücksgefühl empfunden, das sie als halluzinatorisch betrachtet hatte, als eine Art posttraumatischen Wahn. Während Kevin in Seattle für die Operation vorbereitet wurde, hatte sie den Chirurgen genau informiert und sich mehr als alles andere gewünscht, sie dürfte Kevin selbst operieren. Aber jetzt, während dieses verlegenen Schweigens, hatte sie sich verzweifelt und wie gelähmt gefühlt. Sie hatte sich etwas vorgemacht. Konnte es überhaupt zwei Menschen geben, die weniger gemein hatten? Kevins Interesse an ihr war rein beruflich gewesen, ja, eigennützig. Er hatte sie gebraucht, um an Deirdre und ihren Sohn heranzukommen. Nur in dem Augenblick, als sie im Hotelzimmer den Panikanfall erlitt und Kevin sie so unerwartet berührte, hatte er ihr ein bisschen Hoffnung gegeben. Dieses Gefühl hatte sich Laura eingeprägt, und sie hatte es oft heraufbeschworen seine Finger, kühl auf ihrer Haut, den Weg, den seine Handfläche über ihren Nacken genommen hatte. Impulsiv beugte sie sich vor und schaute in Kevins Augen, während sie ihn an der gleichen Stelle berührte. Seine Augen sagten Ja. Und ehe die tyrannische Maschinerie ihres Verstandes in Gang kommen und sie zögern lassen konnte, drückte sie ihren Mund auf seinen. Seine Lippen fühlten sich trocken und rissig an, doch ein wundervolles Verlangen erfasste sie. 530
»Da kommt Demerol bei weitem nicht heran«, stellte Kevin fest, als sie sich von ihm löste. Sie lächelte, und das Du kam ganz von selbst. »Du wirst hoffentlich bald entlassen. Ich ruf dich an, sobald ich in Tijuana bin. Um mich zu erkundigen, wie es dir geht. « »Ich freue mich.« »Es kommt alles in Ordnung.« »Bei dir auch.« Sie küsste ihn noch einmal zum Abschied. Während sie über den Krankenhauskorridor ging, hatte sie das Verlangen, zu ihm zurückzukehren und sich noch länger mit ihm zu unterhalten. Zugleich aber wollte sie in diesem Augenblick allein sein mit ihrem Glücksgefühl. Sie würde nach Tijuana fliegen, um Sandra zu besuchen, und dann nach Seattle zurückkehren, um zu sehen, ob sie Sean Mason Blut abnehmen durfte. Und egal, was sie schließlich mit nach Chicago brächte, sie würde weiterarbeiten. Vor dem Krankenhaus hielt sie ein Taxi an. Sie wollte so rasch wie möglich zum Flughafen. »Ein wundervoller Tag zum Fliegen«, sagte der Fahrer, als er losfuhr. Abwesend legte Laura den Kopf zurück, um durchs Fenster zu schauen, und lächelte. Sie fühlte sich, als hätte sie am strahlenden Himmel eine erfreuliche Zukunft erblickt. »Ja«, erwiderte sie. »Sie haben Recht.«
ENDE
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