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Klapptext: Alle tausend Jahre muss der Teufel erweisen, dass er zu Recht der Herr er Finsternis ist und noch immer ...
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Klapptext: Alle tausend Jahre muss der Teufel erweisen, dass er zu Recht der Herr er Finsternis ist und noch immer ein Mensch die sechs wichtigsten Fragen des Lebens beantworten kann. Dafür wird das Quiz des Teufels veranstaltet. Der Teufel selbst ist der Quizmaster. Und Quentin Fux, ein 13-jähriger Junge, ist der nächst Kandidat, der um die Macht in der Hölle spielt. Besser gesagt: spielen muss, denn kurz nachdem er von der Quiz erfahren hat, ist sein Vater spurlos verschwunden. In der Schlucht des Teufels. Quentin hat keine Wahl. Er muss sich dem Teufel stellen - koste es, was es wolle ... Dimitri Clou, 1959 in Aldenhoven geboren, studierte Philosophie, Germanistik und politische Wissenschaften und gründete nebenbei ein Taxiunternehmen. Nach Abschluss seines Studiums führte er ein Globetrotterdasein in einem Rallyesport-Team, das ihn um die ganze Erde führte. Das Team konnte den Weltmeistertitel erringen, trotzdem gab er sein Nomadenleben auf und gründete in Köln eine Kinderzeitschrift. 1992 wechselte er in die Fernsehbranche und arbeitete viele Jahre als Redakteur und Regisseur, Drehbuchautor und Producer fürs Fernsehen. Seit drei Jahren ist er mit einer eigenen Produktionsfirma selbstständig. Er lebt mit seiner Frau und seinen zwei Kindern in der Nähe von Köln.
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Dimitri Clou
DAS QUIZ DES
TEUFELS
Mit Bildern von Daniela Chudzinski
Thienemann
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Für Spiridon, meinen Vater
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Es ist schwer zu sagen, ob ich bereits etwas ahnte, als Zebul das Wartezimmer meines Zahnarztes betrat. Müde ließ er sich auf einem Stuhl gleich neben dem Fenster nieder. Von diesem Moment an klebte sein Blick an mir. Er schien nur darauf zu warten, dass die ältere Frau neben mir endlich ins Sprechzimmer gerufen wurde, damit er und ich alleine waren. Auch ich nahm ihn unter die Lupe. Das tückische Lächeln auf seinen Lippen war wohl ein böses Vorzeichen. Er steckte in einem roten Anzug, der so abgetragen war wie ein alter Scheuerlappen. Eine schwarze Rose baumelte in einem Knopfloch. Mir kam sie vor wie frisch gepflückt, obwohl sie einen fauligen Duft ausströmte. Einige Fliegen schwirrten wie kleine Trabanten um den Kopf Zebuls. Als die ältere Patientin ins Behandlungszimmer gerufen wurde, waren wir allein. Die Tür war noch keinen Herzschlag lang geschlossen, da sprach er mich an. »Wir wollen es kurz machen ...«, krächzte er und mir war sofort klar, dass er nicht zufällig hier war. »Du musst mir bei einem Problem behilflich sein!« »Ah, meinen Sie mich?«, fragte ich. »Klar. Meinst du, ich bin hier, weil ich einen Zahnarzt 5
brauche?« Er leckte sich mit der Zunge über seine gelb schwarzen Zahnstümpfe und röchelte ein Lachen. »Wer sind Sie?«, fragte ich. »Ich bin Zebul«, sagte er. »Der Talentsucher des Teufels. Ich habe dich jetzt eine Weile beobachtet und mich nach dir erkundigt. Tausend mal tausend Träume von Menschenkindern musste ich durchwühlen. Aber jetzt bin ich sicher, dass du der Richtige bist!« »Und was soll an mir so Besonderes sein?«, stotterte ich. Er musterte mich ungläubig, bevor er antwortete. »Na, komm, sei nicht so bescheiden. Du bist schon etwas ganz Besonderes. Das wirst du doch wohl wissen!« »Ich schwöre Ihnen, ich weiß es nicht. Ich bin ein stinknormaler Junge«, beteuerte ich. »Genau! Du hast es erfasst. Du bist ein stinknormaler Junge! Ein stinknormaler Menschenjunge. Aber ich weiß, dass du so schlau bist, dass es manchmal schon wehtut. Außerdem hast du keinen einzigen Freund, der für dich durchs Feuer gehen würde. Kurz und gut: optimale Voraussetzungen! Ich gratuliere!« Zebul war ein wenig außer Atem. Ich rätselte weiter. »Optimale Voraussetzungen -wofür denn?«, fragte ich. »Na, für das Quiz des Teufels natürlich!«, antwortete Zebul. Das Quiz des Teufels? Nie davon gehört. Ich bekam sofort ein ungutes Gefühl und beschloss Zebul hinzuhalten, bis ich unauffällig aus diesem merkwürdigen Traum verschwinden konnte. Zebul aber schien mich mit seinem Blick zu durchleuchten. Schließlich lachte er dreckig. »Raffiniert bist du also auch noch. Aber gib dir keine Mühe, du kannst nicht mehr weg. Du kommst erst wieder zu dir, wenn es so weit ist.« Gedanken lesen konnte er also auch! Okay, okay, dachte ich, Rückzug, aufwachen, und zwar sofort. Aber es ging nicht. Irgendwie schien er mich hier in meinem 6
eigenen Traum festzuhalten. Ich musste Zeit schinden. »Wenn was so weit ist?«, fragte ich. »Wenn du das Siegel bekommen hast. Das Kandidatensiegel für das Quiz des Teufels«, sagte er. »Was soll das denn um Himmels willen sein, das Quiz des Teufels?«, fragte ich. Er seufzte gequält und schien zu überlegen, wie weit er mich einweihen musste, damit ich einigermaßen begriff, wovon er sprach. »Na ja, weißt du, Junge, der Teufel hat etwas verloren. Etwas, das er dringend braucht, um seinen Geschäften nachzugehen ... Und um es wiederzufinden, braucht er ein bisschen Hilfe ...» »Was hat er denn verloren, was er sich nicht selbst wiederbeschaffen könnte?«, fragte ich. »Sein Gedächtnis hat er verloren. Er weiß nicht mehr, dass er der Teufel ist...« Ich sah ihn an und schwankte zwischen Lachanfall und Hustenattacke. »Er hat was?« »Der Teufel hat sein Gedächtnis verloren.« »Wie kann denn so etwas passieren?«, fragte ich. »Na ja, das kommt vor, so alle tausend Jahre. Manche sagen, es hinge damit zusammen, dass die Qualität der menschlichen Seelen immer mehr nachlässt.« »Nicht, dass es mich irgendwie interessiert, aber wie soll man ihm denn dabei helfen?«, fragte ich. »Das kann ich dir sagen: Man muss ihm ein bisschen auf die Sprünge helfen. Man muss Kandidat
werden im Quiz des Teufels, wie wir es in Aholl nennen.« »Aholl?«, fragte ich. »Was ist das denn schon wieder?« Zebuls Stirn legte sich für einen Augenblick in Falten. »Aholl - das ist das Paradies des Teufels. Aber tu mir einen Gefallen: Mal dir jetzt bitte nicht diese Höllenbilder aus, die üblicherweise in euren Menschenköpfen herumschwirren. Aholl - dieser Kontinent spottet jeder Vorstellung der Menschen.« Keine Frage - Zebul zog mich in seinen Bann, aber jetzt war Schluss: Dieses Aholl wollte ich mir nicht vorstellen, auch nicht im Traum. 7
»Warum habe ich das Gefühl, dass ich mit diesem ganzen Kram nichts zu tun habe?«, fragte ich Zebul. »Sie wollen mir doch nicht ernsthaft erzählen, dass ich den Teufel aus so einer Art Dämmerschlaf wecken soll. Ein Quiz! So ein Quatsch kommt normalerweise nicht mal im Traum vor. Vergessen Sie's. Ohne mich.« »Junge, du verstehst es nicht. Du wirst der nächste Kandidat im Quiz sein!«, antwortete Zebul. Mit einer flinken Bewegung, wie ich sie ihm nicht zugetraut hätte, schlug er eine Fliege von der Zimmerdecke. Sie fiel zu Boden. »Was macht Sie so sicher, dass ich der nächste Kandidat bin?«, fragte ich und arbeitete innerlich an einem Notfallplan. »Was kann man denn überhaupt bei diesem Quiz gewinnen?« »Na ja, gewinnen ist vielleicht das falsche Wort. Aber du erfährst etwas über dich selbst, das du sonst nicht erfahren würdest«, sagte Zebul. »Kann ich drauf verzichten, aber sagen können Sie's ja mal...«, sagte ich. Zebul antwortete: »Du erfährst, was dich zu etwas Besonderem macht. Du erfährst etwas über eine verborgene Fähigkeit in dir«, erklärte Zebul. Das war neu. Ich hatte eine verborgene Fähigkeit! Etwas ganz und gar Besonderes! Es kam mir verdächtig vor, dass Zebul sich Mühe gab es möglichst beiläufig zu sagen. »Und was passiert, wenn man scheitert?«, fragte ich. »Lass uns darüber jetzt keine Zeit verlieren. Ich muss wieder raus aus deinem Traum, es wird wirklich Zeit für mich. Du weißt jetzt auch genug, damit wir unseren Handel besiegeln können. Also komm, schlag ein!« Er atmete schwer und hielt mir seine Hand hin. Sie hatte sich verändert in den letzten Mi nuten. Aus seinen Fingern waren rote Krallen geworden. Auf einer Kralle saß ein großer Siegelring mit einem schwarzen Stein, in den ein Q gemeißelt war. Das Brandeisen des Teufels! 8
Zebuls Blicke fegten mir wie Blitze durch den Körper. Meine Gedanken ratterten. Na und?, dachte ich schließlich. Was soll schon passieren, bei einem Quiz, das ich nur träumte? Ich fühlte mich plötzlich ganz leicht. Hey, es war doch nur ein Traum! Eine Seifenblase in meinem Gehirn. Ein Nichts. Ein paar Nervenzuckungen. Ein Abenteuer mit Notausgang. Meine innere Uhr sagte mir, dass meine Mutter mich sowieso in ein paar Minuten wecken würde. Bis dahin könnte ich mich doch mal nach Strich und Faden vernichten lassen. Und dann mit meiner verborgenen Fähigkeit die Welt unterjochen! Aholl. Quiz. Dem Teufel endlich mal die Meinung geigen. Risiko. »Bitte beeil dich, Junge!«, sagte Zebul mit gequälter Miene. Ich sah auf seine gekrümmte Ringkralle, die sich mir entgegenstreckte. Ich hatte mich entschieden. Er schien es zu wissen, ohne dass ich einen Ton gesagt hatte. »Gut, umfasse mit deiner ganzen Hand den Ring«, sagte Zebul etwas matt. Er schien von einer Sekunde auf die andere an Kraft zu verlieren. Ich streckte ihm meine Hand entgegen und ura-schloss den Ring, so fest ich konnte. Für die Dauer eines Augenblicks presste ich meine Haut auf das in den Stein gemeißelte Q. Den Bruchteil einer Sekunde schlug die Welt vor meinen Augen einen Salto. Einen Wimpernschlag lang schoss eine Flutwelle Angst durch mich hindurch, dass ich meinte, sie müs-ste an den Ohren hinausspritzen. Und dann wieder strömte eine Ladung Glück durch meine Adern, dass ich laut jubeln wollte. Meine Handfläche brannte wie beim Eintauchen in den Giftstachel einer Tarantel. Ich sackte erschöpft in einen Stuhl zurück und sah mir meine Handfläche an: Ein regelrechtes Brandzeichen, ein rotes Q, war dort hineingebrannt! »Keine Sorge«, flüsterte Zebul, »das verheilt. Vielleicht schneller, als uns lieb ist. In sieben Tagen - am Morgen nach 9
der Walpurgisnacht, wird es vollkommen verschwunden sein. So lange ist das Zeichen deine Eintrittskarte zum Quiz. Sieben Tage, das sollte reichen.« Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. In sieben Tagen? In sieben Tagen war mein Geburtstag. Zufall? Oder einfach nur geschickt eingefädelt von Zebul? In diesem Moment betrat die Zahnarzthelferin das Wartezimmer. »So, Quentin, du bist dran.« Während ich aufstand, warf ich einen Blick auf den Mann in dem roten Anzug. »Wie komme ich denn überhaupt nach Aholl?«, wollte ich wissen. Er seufzte und stand auf. Er war so schwach, dass er sich an der Wand abstützen musste. »Dein Joker wird dir den Weg zeigen.« Ein Joker? So weit waren die Planungen also schon. Mich zwickte plötzlich mein Gewissen. Ich konnte hier nicht raus, ohne ihm zu verraten, was ich wirklich vorhatte. »Zebul, ich will ehrlich zu Ihnen sein. Das mit dem Joker, das ist nicht nötig. Ich habe nicht vor an diesem Quiz teilzunehmen. Es ist doch eh nur ein Traum, wissen Sie!« »Quentin, kommst du jetzt?«, rief die Zahnarzthelferin bereits ein wenig ungeduldig. Es kam mir vor, als ob Zebul seine letzten Kräfte zusammennahm, um mir zu antworten. »Junge, es ist zu spät. Ein Zurück gibt es nicht...« Plötzlich stöhnte er laut und bäumte sich heftig auf, als ob ihn etwas quälte. Er wollte sprechen, aber seine Stimme war jetzt so leise, dass ich mich ganz nah zu ihm vorbeugen musste, um ihn zu verstehen. »Du musst das noch mitnehmen ...«, röchelte er. Und dann geschah etwas Merkwürdiges. Er hauchte mit seinem stinkenden Atem eine Wolke aus, die einer tiefschwarzen Seifenblase glich. Die Seifenblase platzte an meinem Ohr und sofort klang eine Melodie in mir, eine grauenvolle, aber einfache Melodie, die sich tief in mein 10
Gedächtnis einbrannte. Schließlich verstummte Zebul, nicht ohne noch einmal ein dreckiges Lachen zu krächzen. Ich schüttelte mich heftig. Verwirrt ließ ich ihn sitzen und ging dem verärgerten Blick der Zahnarzthelferin entgegen ins Behandlungszimmer. Der Zahnarzt erwartete mich schon lächelnd. In seinen Händen hielt er eine Pumpenzange, wie man sie gerne zum Festziehen von Schiffsschrauben verwendete. Höchste Zeit aufzuwachen.
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Als ich aufwachte, war ich rot und aufgeheizt wie eine fiebrige Tomate. Mir war sofort klar, dass das mit dem Traum zusammenhängen musste, den ich gerade verlassen hatte. Ein Traum, der so wirklich gewesen war, dass es mich plötzlich fröstelte. In meinem Kopf machte sich wieder die grauenhafte Melodie breit, die Melodie aus der schwarzen Seifenblase. Um sie zu vertreiben, schlug ich mit den Beinen die Decke zur Seite, sprang aus dem Bett und trat ans Fenster. Ich schielte hinter den Vorhängen in die Dämmerung hinaus. Es war noch früh und der Tag begann mit richtig miesem Wetter. Das Taubenpaar, das um diese Zeit immer von der großen Kastanie aus in mein Zimmer glotzte, hatte sich aufgeplustert und hockte im Schutz eines dicken Astes. Ich versuchte mir die Gänsehaut vom Leib zu schütteln. Etwas Fremdes und Dunkles hatte ich geträumt. Und das Merkwürdige war: Ich konnte mich genau daran erinnern. Ich hatte diesen komischen Zebul ganz schön betrogen. Im Traum natürlich nur. Ehrlich gesagt, ich hatte ein Wesen der Finsternis für intelligenter gehalten. Wie kam der nur darauf, dass ich jetzt, nachdem ich wach war, auch wirklich an diesem »Quiz des Teufels« teilnehmen würde? War doch das Problem des Teufels, dass er vergessen hatte, wer er war. Der alte 12
Schussel. »Nicht mein Problem«, murmelte ich den Tauben zu, um mir Mut zu machen. Genau in diesem Moment spürte ich einen stechenden Schmerz in meiner rechten Handfläche. Bei näherem Hinsehen stellte ich fest, dass dort ein großes Brandmal war. Wohl ein Überbleibsel von gestern Abend, als ich die heiße Glühbirne an meiner Schreibtischlampe ausgetauscht hatte. Ich hielt die Handfläche zur Kühlung an die Fensterscheibe. Mein Blick fiel auf eine dicke schwarze Fliege auf der Fensterbank. Sie lag auf dem Rücken und strampelte nach kurzen Verschnaufpausen immer wieder wild mit ihren sechs Beinen. Beim Blick in den Regen musste ich an meinen Vater denken. Zwei Monate war es jetzt her, dass er zu einer Expedition aufgebrochen war. Johannes Fux sprach nur wenig über seinen Beruf, er machte immer ein großes Geheimnis darum, aber ich wuss-te trotzdem einiges darüber. Allein die Berufsbezeichnung Kryptozoologe war ein Rätsel für sich. »Das sind Besessene, die niemals erwachsen werden«, pflegte meine Mutter zu sagen, mit der Absicht Papa eins auszuwischen, weil er ständig unterwegs war. Ich wusste, Kryptozoologen waren Forscher, die nach Lebewesen suchten, von denen nicht mal sicher war, ob es sie überhaupt gab. Verrückte, die unheilbar davon besessen sind, alle möglichen Geheimnisse aufzuspüren. Es fing immer mit einem Foto, einer Information oder manchmal auch nur einem Gerücht an. Vor wenigen Wochen begann mein Vater sich so zu benehmen, als wenn er alle Vorurteile gegen seinen Beruf bestätigen wollte. Fieberhaft bereitete er eine Expedition vor, nachdem ihm eine Information zugespielt worden war. Aber irgendetwas war anders als sonst. Zu Hause sprach er kein Wort darüber, die gesamten Vorbereitungen waren streng geheim. Ein Team von Wissenschaftlern aus der ganzen Welt 13
hatte er zusammengetrommelt. Manchmal kam er nach Mitternacht nach Hause und setzte sich lange an mein Bett, im festen Glauben, ich schliefe bereits. In einer Nacht fand er mich noch wach und er versprach mir hoch und heilig, dass er pünktlich zu meinem Geburtstag wieder zurück sein würde. Am nächsten Morgen war er bereits mit drei Kollegen nach Südamerika aufgebrochen. Seitdem schrieben wir uns fast täglich Mails, gleich nach dem Frühstück wollte ich nachgucken, ob wieder Post von ihm da war. Das Läuten des Telefons ließ mich hochfahren. Wer rief so früh an? Ich hörte, wie meine Mutter an den Apparat ging und nach einem kurzen Gespräch wieder auflegte. Mir war plötzlich, als dränge Zebuls Melodie an mein Ohr. Wenige Sekunden später stand meine Mutter in meinem Zimmer. Sie war weiß wie eine Wand. »Quentin ... Papa scheint in Schwierigkeiten zu stecken.« Ich erstarrte. »Papa? Was denn für Schwierigkeiten?« »Ist noch nicht ganz klar. Seine Maschine wird ... vermisst. Ich fahre jetzt ins Institut und treffe mich mit Dr. Roll. Der steht in Dauerverbindung mit der argentinischen Suchmannschaft. Ich rufe gleich an, wenn ich Neuigkeiten habe. Kommst du so lange alleine zurecht?« Wieder die Melodie. Ich schüttelte mich, um sie aus dem Kopf zu kriegen und musste mich zusammennehmen, um meiner Mutter zu antworten. »Klar. Ich zieh mich gleich an und komme mit dem Fahrrad nach ...«, rief ich ihr hinterher. Nachdem sie aus dem Haus gegangen war, setzte ich mich sofort an meinen Computer und sah in meiner Mailbox nach. Mein Herz raste, als ich sah, dass ich Post von Papa hatte, eine Antwort auf meine letzte Mail.
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Hi Q, klar halte ich mein Versprechen! Heute werden wir zu einer letzten Erkundungstour in den Regen wald aufbrechen. Wir fiegen mit unserer kleinen Maschine von Buenos Aires über den tropischen Regen wald nach Iguassu, um in der Teufelsschlucht, der »Garganta del Diablo«, nach Spuren eines Wesens zu suchen, das wohl - zum Glück - nur ein Hirngespinst von uns allen ist. Die Propeller unseres Flugzeugs laufen schon. Wenn wir zurück sind, packen wir und machen alles klar für die Heimkehr. Wenn du morgen früh aufwachst, dann sind wir bereits auf dem Rückflug nach Hause. Pass auf dich auf! Papa
Ich las die Nachricht noch einmal. Die Mail hatte mein Vater kurz vor seinem Abflug geschrieben. Sie klang für meinen Vater ungewohnt ernst. Aber da war noch etwas, was mich zutiefst beunruhigte. Es schnürte mir regelrecht den Hals zu. War es nur ein Zufall? Das konnte kein Zufall sein! »Garganta del Diablo«, die Schlucht des Teufels. Ich beschloss sofort ins Institut zu fahren und mit meiner Mutter darüber zu reden. Ich zog mich an und hatte kaum die Schuhe zugebunden, als es an der Haustür klingelte. Ich schluckte. Wer konnte das denn sein? Auf leisen Sohlen schlich ich zur Tür und horchte zunächst. Als es wieder klingelte, zuckte ich zusammen. »Wer ist da?«, fragte ich durch die verschlossene Tür. »Bist du Quentin Fux?«, fragte eine Stimme zurück, die einem Mädchen gehören musste. »Ja, warum?«, fragte ich. »Bist du allein?«, fragte die Stimme. Sie klang gehetzt. »Ja«, antwortete ich. »Dann mach schnell auf!«, rief die Stimme. Ich öffnete die Tür einen Spaltbreit. Dort stand ein Mädchen mit dem Gesicht einer Sonnenblume. Rehbraune Augen 15
blinzelten mir entgegen. Ihr Kleid musste wohl einmal sehr elegant gewesen sein, bevor es zerfetzt worden war. Das Mädchen trug keine Schuhe und dem Aussehen ihrer Füße nach verdiente sie ihren Lebensunterhalt mit dem Stampfen von Lehm. »Puh, du bist es wirklich«, sagte das Mädchen. »Ich dachte schon, ich komme zu spät.« Ich verstand kein Wort, schloss die Tür wieder und fragte: »Zu spät? Wofür?« Es entging mir nicht, dass das Mädchen prüfte, ob die Tür wirklich richtig geschlossen war. »Ach, nichts. Jetzt bin ich ja da. Quentin, hattest du, äh, ungewöhnlichen Besuch in letzter Zeit?«, fragte sie und sah sich um. Ich schüttelte den Kopf. Von meinem komischen Traum wollte ich ihr nichts erzählen. »Ich bekomme selten Besuch, weder gewöhnlichen noch ungewöhnlichen ...«, murmelte ich. »Das ist gut«, sagte das Mädchen und ließ seinen Blick über mich streifen. »Ich habe mir dich ganz anders vorgestellt«, sagte es. »Und wie?«, fragte ich. Das Mädchen überlegte kurz und sagte dann: »Größer.« »Ich wachse noch ...«, meinte ich entschuldigend. »Aber sag mal, wer bist du eigentlich? Und was willst du von mir?« »Ich heiße Aurora und ich komme, um dich zu begleiten«, antwortete das Mädchen und hielt den Kopf ein wenig gesenkt. »Begleiten? Wohin?« Das Mädchen lächelte milde. »Hab Geduld. Das erfährst du noch früh genug. Jetzt müssen wir schleunigst hier weg!« Sie sah mir in die Augen und es fiel mir schwer, dem Blick auszuweichen. Ihre Augen schimmerten wie Bernstein mit feinen, goldenen Linien. »Es wird wirklich höchste Zeit, Quentin.« »Wohin gehen wir denn?«, rief ich lauter, als ich eigentlich 16
wollte. Aurora sah mich an: »Quentin, bitte vertrau mir. Du wirst auf alles eine Antwort erhalten. Komm, schnell. Hier sind wir nicht mehr sicher.« Mir platzte langsam der Kragen. »Also, jetzt pass mal auf: Ich habe gerade heute wirklich ganz andere Sorgen. Jedenfalls habe ich keine Zeit für solche Spielchen, okay.« »Das hier ist kein Spielchen«, sagte sie so ernst, dass es mir die Sprache verschlug. »Hier, fang!« Sie griff in die Tasche ihres Kleides und warf mir einen kleinen Gegenstand zu. Ich brauchte ihn nicht groß unter die Lupe zu nehmen. Es war der schwarze Ring aus meinem Traum, ein kunstvoll in einen schwarzen Stein geschlagenes Q. Ich hielt ihn kurz in das Brandzeichen meiner Handfläche und spürte wieder den teufli schen Schmerz. »Zebul konnte nicht mehr aus deinem Traum entkommen. Er ist lieber gestorben, als den Traum lebend zu verlassen, ohne dass du das Siegel trägst.« »Er ist was ... ?«, fragte ich heiser und mir wurde schlagartig klar, warum Zebul gegen Traumende immer schwächer geworden war. »Und wenn wir nicht bald hier verschwinden, sind wir auch dran«, fuhr Aurora fort. »Aber warum musste er sterben? Was hat Zebul denn getan?«, fragte ich. »Gar nichts. Er hat getan, was er immer tat. Er ist in die Albtraumwaben gestiegen und hat so lange gesucht, bis er den geeigneten Kandidaten für das Quiz des Teufels gefunden hat.« Ich versuchte ein Lachen. Aber so richtig überzeugend klang es nicht. »Du willst mir doch nicht erzählen, dass dieser ganze Quatsch mit dem Quiz des Teufels wirklich wahr ist?« »Für dich und mich ist es wahr, Quentin.« »Ich kann das alles nicht glauben«, stotterte ich. »Wir haben keine Zeit mehr, lass uns jetzt gehen. Bald schon 17
wirst du mehr erfahren. Es ist etwas eingetreten, was es in Aholl noch nie gegeben hat. Jemand will verhindern, dass du am Quiz teilnimmst. Jemand will verhindern, dass der Teufel sich daran erinnert, wer er ist.« Ich war nah dran durchzudrehen. »Das ist doch gut. Ich will auch nicht, dass der Teufel sich an irgendwas erinnert. Soll er doch den Rest der Ewigkeit vor sich hin blubbern!« »Quentin. Bitte glaube mir, es kann dir nicht egal sein. Der Teufel wird dich zwingen an dem Quiz teilzunehmen und ihm zu helfen!« Ich ballte die Fäuste, weil ich ahnte, dass sie Recht hatte. »Hat es was mit der Melodie zu tun?«, fragte ich. Aurora nickte. »Und mit dem, woran ich denken muss, wenn ich die Melodie höre?« Aurora nickte wieder. Ich biss auf die Zähne, dass es knirschte. »Der Teufel täuscht sich. Mich kriegt er nicht klein. Ich werde ihm in seinem Quiz zeigen, dass er nur ein böser, alter Trottel ist. Und wenn er ihm auch nur ein Haar krümmt, dann ...« Auroras Blick verriet mir, dass sie sich denken konnte, was ich meinte. Plötzlich kniff sie die Augen zusammen und drehte den Kopf, als ob sie horchte. Sie kam einen schnellen Schritt auf mich zu: »Hörst du das?«, flüsterte sie. Ich nickte. Durch die Haustür drang ein Geräusch. Es hörte sich an wie ein Staubsauger von der Größe einer Lokomotive.
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»Gestorben?«, fragte die große, hagere Gestalt. Ihr Körper war vollständig in einen roten Seidenumhang gehüllt. Unter dem glänzenden Stoff konnte man die Konturen eines grausamen Gesichts erahnen. »Er ist noch im Traum des Jungen gestorben«, antwortete der Prospektor. Er war ein Prachtexemplar dieser hinterhältigen Art, die zum Dienen geboren war. Sein Name war Gorgonzola. »Sein Tod war doch recht qualvoll... ?« »Natürlich, Roter Meister Belphegor. Er war zu schwach, um den Traum noch zu verlassen.« »Wer hätte das gedacht. Zebul, der große Zebul, stirbt in den Albtraumwaben. Stirbt beim Ausspionieren von Menschenkindern!« Belphegor zischte sein dreckigstes Lachen. »Ausgerechnet in den Alb traumwaben! Dem einzigen Ort, an dem ein ahol-lischer Meister wie er sterben kann. Es ist Zebul doch wohl nicht gelungen, den Jungen vorher ... ?« »Leider doch, Meister.« Belphegor stampfte so fest auf, dass der Boden bebte. »Wer ist dieser Junge?«, fragte der Rote. 19
»Er heißt Quentin Fux, dreizehn Jahre alt. An Walpurgis wird er vierzehn.« »An Walpurgis?! Da passt ja alles! Geschickt gewählt von Zebul. Umso dringender, dass wir den Jungen stoppen. Was bieten wir ihm an? Reichtum? Versprechen wir ihm Unsterblichkeit? Vielleicht ist es aber besser, wir nehmen ihm alle Sorgen und er lächelt sich um seinen Verstand? Wir schenken ihm einen Palast! Da wird er keinen Schaden anrichten. Was meinst du?« Gorgonzola machte ein gequältes Gesicht. »Ich fürchte, das wird nicht klappen, Roter Meister.« »Warum nicht?«, schrie der Rote aufbrausend. »Damit können wir ihn nicht ködern. Der Junge will nur eins, seinen Vater in Aholl befreien. Dafür würde er einfach alles tun.« »Ach, sein Vater wird in Aholl gefangen gehalten?« Gorgonzola nickte, als ob ihm das Sorgen bereitete. »Ja, auch das hat Zebul sehr geschickt eingefä delt. Er wollte sichergehen, dass der Junge auch wirklich pünktlich zum Quiz erscheint!« »Da hat dieser alte Traumspion aber die Rechnung ohne uns gemacht!«, rief Belphegor. »Um den Vater kümmern wir uns später. Jetzt müssen wir verhindern, dass der Junge nach Aholl gelangt, wie auch immer!« »Sehr wohl, Roter Meister«, antwortete Gorgon-zola. »Er darf es auf keinen Fall rechtzeitig zum Quiz schaffen. Ich brauche dir nicht zu sagen, was geschieht, wenn sich mein Stiefvater daran erinnert, wer er ist! Wenn er mithilfe dieses Burschen im Quiz sein Gedächtnis wiederfindet!« Gorgonzola guckte fragend. Belphegor knurrte. »Du weißt, auch ich war einmal so wie der Junge. Beim letzten Quiz vor tausend Jahren. Wer das Quiz verliert, wird der Rote Fürst. Das ist das Gesetz. Gelangt dieser Junge zum Quiz, wird er natürlich gegen den Teufel verlieren. Und damit wird er der neue Rote 20
Fürst...« Belphegors seidener Umhang schien leicht zu glühen. »Der Junge darf es niemals bis zum Quiz schaffen! Ist das klar, Gorgonzola?« »Auftrag schon so gut wie ausgeführt, Meister«, antwortete der Prospektor gehorsam. »Gog und Ma-gog müssten jeden Augenblick bei ihm zu Hause eintreffen. Und auf die beiden ist Verlass.« »Das ist gut. Wenn Gog und Magog mit ihm fertig sind, dann wird er nicht mal mehr wissen, dass er ein Mensch ist, nicht wahr?« »Ganz richtig, Belphegor. Gog und Magog werden den Jungen aussaugen wie einen Kelch Blutwein.« »Das ist ja herrlich! Woran müssen wir noch denken?« »Verräter?«, fragte Gorgonzola. »Ah ja. Verräter sind immer gut. Und - schon eine Idee?« »Ich habe einen besonders gemeinen im Auge, Meister!« »Das hoffe ich. Denn, wenn du versagst, Gorgonzola, dann hat es sich ausgeschimmelt. Dann darfst du mir tief in die Augen sehen!« Der Rote rauschte hinaus und hinterließ seinen grausamen Diener leichenblass.
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»Es ist zu hoch«, rief Aurora nach einem Blick aus dem Fenster. »Hier kommen wir nicht mehr raus. Wir müssen uns schnell verstecken.« Auroras große Pupillen verrieten mir, dass es sich nicht um ein Spiel handelte. »Quentin, wohin?!« Ich versuchte mich zu konzentrieren. Dem Geräusch nach zu urteilen, hatte das, was da unaufhaltsam näher kam, die Haustür zu Sägemehl verarbeitet und donnerte gerade durch den Flur. Verstecken! Aber wo? Der Löwe! Ein riesiger, grimmig dreinblickender Löwe aus edlem Porzellan, den mein Vater vor vielen Jahren von einer Expedition mitgebracht hatte. Das Tolle an diesem Löwen: Er war hohl! Schnell packte ich ihn an den Tatzen. Mit aller Kraft konnte ich ihn ein Stück anheben. Aurora begriff so fort und schlüpfte darunter. Wie der Blitz rutschte ich hinterher. Es knirschte verräterisch, als ich den Löwen wieder auf seine Pranken stellte, gerade noch rechtzeitig, wie sich jetzt herausstellte. Es bebte kurz, aber heftig - und einen Augenblick später flog mit einem Knall die Zimmertür zur Seite. 22
Ich war schockiert, aber neugierig. Was kam da? Wer kam da? Ich quetschte meinen Kopf in den Rachen des Löwen. Dort war eine kleine Öffnung. Durch die Zähne des Löwen konnte ich genau beobachten, was aus meinem Zimmer wurde. Später sollte ich mir wünschen es nicht gesehen zu haben. Durch die zerschmetterte Tür meines Zimmers schwebte eine Fratze, eine grauenvolle Visage aus purem Stein, ohne Körper, nur Kopf. Ein Kopf ohne Bodenkontakt wie eine Marionette, die von einem unsichtbaren Wesen an unsichtbaren Fäden gehalten wurde. »Was ist das?«, fragte ich so leise wie möglich. Aurora antwortete zitternd: »Das ist der Infonaut. Ich glaube, die beiden heißen Gog und Magog.« »Die beiden? Aber es ist doch nur einer?« Ich schielte wieder durch die Löwenzähne. »Warte ab ...«, sagte Aurora und der Unterton verhieß nichts Gutes. In den Augenhöhlen des Infonauten bewegten sich große rabenschwarze Pupillen hin und her wie Fische in einem Aquarium auf der Suche nach Futter. Der Infonaut hatte sein Maul weit aufgerissen und rauschte wie die Turbine eines Ozeandampfers. Längst war in meinem Zimmer ein kleiner Orkan losgebrochen. Bücher stürzten aus den Regalen, Papiere wirbelten umher, mein Schreibtisch brach zusammen, der Computerbildschirm zerschlug auf dem Boden. Die große, runde Uhr sprang von der Wand und donnerte auf die Dielen. Das Maul der Fratze verursachte einen Sog wie ein gewaltiger Strudel. Ich hätte am liebsten geschrien, als mir klar wurde, was dort geschah: Mein Zimmer wurde von dem Infonauten regelrecht abgesaugt. Buchstaben und Zeichnungen lösten sich allesamt von den Papieren und flogen in den Rachen des Infonauten wie Mücken ins Licht. Zurück blieb leeres Papier, einzelne Schnipsel, Konfetti. 23
Nach einer Weile legte sich der Saugsturm ein wenig und der Infonaut betrachtete mit rasenden Augen sein Werk. Wie ein Luftballon schwebte der steinerne Kopf durch den Raum, holte tief Luft und schnüffelte mal hier, mal dort. Gelegentlich saugte er ein paar verlorene Sätze und Buchstaben auf, die er beim ersten Saugorkan übersehen hatte. Einmal schien er sich an einem Komma zu verschlucken, doch dann schwebte er weiter. Zweifellos war er ein sehr gründlicher Charakter. Nicht einen Buchstaben ließ er zurück. Allmählich kam der Infonaut dem Porzellanlöwen bedrohlich nah. »Keinen Mucks!«, wisperte Aurora. »Wenn er uns entdeckt, ist alles verloren! Versuch einzuschlafen! Bitte versuch es! Und schau ihn nicht an, er merkt das!« Ich schlug die Arme vor mein Gesicht. Gesehen hatte ich ohnehin genug. Insgeheim hoffte ich, gleich die Stimme meiner Mutter zu hören, die mich aus diesem Albtraum weckte. Aber ich wusste, dies war kein Traum. Als ich spürte, dass der Infonaut den Löwen fast berührte, befiel mich eine Angst, wie ich sie nie zuvor erlebt hatte. Plötzlich spürte ich einen pochenden Schmerz in meinem Kopf. Und ebenso plötzlich verließ mich die Angst wieder und meine Gedanken hatten die Farbe eines Regenbogens. Für einen Mo ment überlegte ich den Löwen hochzuheben und mich dem Infonauten zu zeigen. Dieser Wunsch wurde immer stärker. Was soll schon passieren?, dachte ich. Vielleicht ist der arme Kerl nur einsam. Wie hieß er noch? Gog? Oder Magog? Auch egal. Uh, dieser Kopfschmerz, gleich platzt mein Schädel, ich muss mit ihm reden, dann wird es bestimmt besser, dachte ich. Ich hatte das merkwürdige Bedürfnis, ihm meine geheimsten Gedanken mitzuteilen, mein Gehirn zu leeren, wie man sich die Nase putzt. Doch als ich gerade meine Hände unter die Tatzen des Löwen legen wollte, um ihn hochzuheben, da entfernte sich der Infonaut langsam schwebend. Der 24
Kopfschmerz ließ sofort etwas nach, zurück blieb ein mulmiges Gefühl der Erschöpfung. Mein Wunsch, mich dem Infonauten zu zeigen, verschwand fast ganz. Ein leises Geräusch, das aus Au-roras Richtung kam, machte mich wieder auf das Mädchen aufmerksam. Es war das Geräusch von ganz ruhigem Atem. Trotz des spärlichen Lichts, das ins Innere des Löwen drang, konnte ich erkennen, dass Aurora schlief. Wie kann man bei solcher Gefahr nur einschlafen?, fragte ich mich entsetzt. Vorsichtig spähte ich wieder durch den Rachen des Löwen nach dem Infonauten. Und jetzt entdeckte ich, warum Aurora von den beiden Infonauten gesprochen hatte. Die Fratze, die eben noch mein Zimmer verwüstet hatte, schloss nun ihre Augen und begann sich um die eigene Achse zu drehen. Und der Hinterkopf der Fratze war wieder eine Fratze, steinerne Zwillingsfratzen in einem Kopf. Wie in Zeitlupe öffnete die andere Seite des Steinkopfs seine Augen und riss sein grässliches Maul auf. Und einen Herzschlag später begann das Maul große Rauchringe zu blasen, Rauchringe mit einem schwarzen Schimmer. Dampfender Nebel legte sich in den Raum und hüllte auch den Löwen ein. Ich roch den widerlichen Gestank, den die RauchSchwaden hinterließen, eine Mischung aus faulen Eiern und Kloake. Nachdem der ganze Raum verpestet war, schien der Infonaut seine Arbeit getan zu haben und schwebte davon. Ich starrte auf das, was der Infonaut von meinem Zimmer übrig gelassen hatte. Was ich sah, machte mich plötzlich so traurig, dass meine Augen feucht wurden. Vorsichtig stupste ich Aurora an, bis sie die Augen aufschlug. »Ist er weg?«, flüsterte sie sofort. Ich nickte und hob den Löwen ein wenig an, so-dass wir nach draußen kriechen konnten. Aurora nahm besorgt meinen Kopf in ihre Hände und sah mir in die Augen. Wieder gab der Blick in ihre Augen mir ein 25
Gefühl der Wärme. »Du konntest nicht einschlafen, nicht wahr?« Ich nickte und war zu schwach, um wütend zu werden. »Wie kann man auch schlafen, wenn so etwas passiert?« »Es ist das einzige Mittel, sich dem Infonauten zu entziehen. Wenn du schläfst, kommt er nicht an dich ran«, erklärte Aurora. »Aber verdammt noch mal. Was geht hier ab? Diesen ganzen Quatsch gibt es doch in Wirklichkeit gar nicht!«, sagte ich. »Oh doch ...«, antwortete Aurora und es klang sehr überzeugend. »Stell dir vor, die Welt der Wirk lichkeiten besteht aus vielen kleinen Häusern. Dann hattest du gerade Besuch von den Nachbarn.« »Aber was ist denn das genau - ein Infonaut?«, fragte ich niedergeschlagen. »Der Infonaut sind zwei in einem. Der eine ist süchtig nach Informationen. Er saugt alle Gedanken auf, ob sie geschrieben, gesprochen oder nur gedacht sind. Deine Ideen, deine Träume, deine Gewohnheiten. Sein Name ist Gog. Die andere verbreitet Gerüchte in Form einer übel riechenden Wolke. Sie will dich glauben machen, was du glauben sollst. Ihr Name ist Magog.« »Du meinst, was ich denke, ist das, was der Infonaut will, dass ich es denke?«, fragte ich und ein Funke Hoffnung machte sich breit. »So ungefähr ...«, antwortete Aurora. »Was denkst du denn?« »Ganz düstere Sachen.« Das wunderte Aurora nicht. »Klar, das passt dem Infonauten gut in den Kram. Wer den Infonauten schickt, der will, dass du düster denkst. Wer düster denkt, ist eine leichte Beute. Damit will er dich mürbe machen.« »Von wem redest du da? Wer schickt die Infonauten?«, fragte ich. Aurora war anzumerken, dass sie selbst noch an der Lösung dieses Rätsels arbeitete. »Ich bin noch nicht ganz sicher, aber ich glaube, es gibt jemanden, 26
der unbedingt will, dass du das Quiz niemals erreichen wirst. Und jetzt lass uns hier verschwinden, wir müssen mehr herausfinden.« »Was hat es denn noch für einen Sinn, jetzt irgendwohin zu gehen? Der Weg führt doch eh nur schnurstracks ins Verderben ...«, sagte ich. »Der Infonaut hat wirklich gründliche Arbeit geleistet.« Aurora sah mich scharf an: »Magog ist es offenbar gelungen, deine Hoffnung zu erschüttern. Mach es ihr nicht zu einfach. Ich jedenfalls hoffe ganz fest...« »Du hast doch keine Ahnung, was ich hoffe. Du weißt doch nicht, was los ist!«, schrie ich und hätte am liebsten geweint. »Doch, ich weiß es«, sagte Aurora und legte den Arm um meine Schulter. »Du hoffst, dass du deinen Vater retten kannst. Also - worauf warten wir! Die Zeit drängt.«
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Ich hetzte hinter Aurora her. »Wohin führst du mich?« »Wir müssen auf dem schnellsten Weg nach Aholl. In der Stadt gibt es einen geheimen Zugang.« »Ach? Und da löse ich eine Eintrittskarte und spaziere einfach so rein ... ?« Aurora überhörte meinen Galgenhumor. »Dort triffst du jemanden, der dir sagen kann, wie du in Aholl überlebst. Erst, wenn du genug weißt, wird er dich nach Aholl gehen lassen.« Ich spürte mein wachsendes Vertrauen zu diesem eigenartigen Mädchen. Ohne sie hätte der Infonaut mich ausgesaugt wie ein Glas Limonade. Inzwischen waren wir auf einer der belebtesten Straßen der Stadt angekommen. Aurora schien den Weg genau zu kennen. Sie steuerte zielstrebig auf einen größeren Laden zu. Auf dessen Schild stand: »Weltreisebüro«. In zwei großen Schaufenstern hingen Plakate mit Sonderangeboten für Reisen um die ganze Welt. In der Mitte des Geschäftes war der Eingang - eine goldbeschlagene Drehtür aus Glas, aus der ich schon von weitem Menschen hineingehen und herauskommen sah. »Was willst du denn in einem Reisebüro?«, fragte ich. »Für Urlaub habe ich jetzt wirklich keine Zeit.« 28
»Natürlich nicht«, antwortete Aurora sanft und tastete die Wand neben dem linken Schaufenster ab, als ob sie nach etwas suchte. Plötzlich wurde sie fündig. Ein kleiner, versteckter Klingelknopf, den sie auch prompt drückte. Ungeduldig probierte sie es gleich ein zweites Mal. Zunächst passierte nichts, aber dann meldete sich eine schnarrende Stimme. »Ja?« Aurora antwortete: »Ich möchte eine Reise ins Verderben buchen.« Ein Knacken kam aus dem kleinen Lautsprecher, der direkt über der Klingel in die Wand eingelassen war. »Etwa dorthin, wo der Schrecken blüht?«, fragte die Stimme. »Ganz richtig, an die finsteren Strände der bösen Ursuppe«, antwortete Aurora. Das Ganze war ein Dialog von Parolen, vermutete ich. »Voll- oder Halbpension?«, fragte die Stimme. »Vollpension!«, antwortete Aurora. Ich hörte nur zu, ich verstand nichts. In der Zwischenzeit gingen wieder Leute durch die Drehtür in das Reisebüro. Aus dem Lautsprecher war wieder ein Knacken zu hören. Diesmal sprach eine andere Stimme: »Aurora?« »Ja!« »Aurora, bist du sicher, dass dir niemand gefolgt ist?« »Ja, ganz sicher ...« Aurora sprach nun hastig weiter. Schließlich sagte die Stimme aus dem Lautsprecher: »In Ordnung, wir schalten auf links. Von jetzt an in dreißig Sekunden.« Aurora wandte sich wieder mir zu. »Wundere dich über nichts. Wir statten den Nachbarn jetzt einen Gegenbesuch ab. Aber hab Vertrauen. Du triffst dort auf jemanden, der weiß, ob du es mit den Gefahren in Aholl aufnehmen kannst.« Das klang nach Abschied. 29
»Kommst du denn nicht mit?«, fragte ich. »Doch, irgendwie schon. Und jetzt schnell, rüber zur Drehtür. Wenn ich los sage, dann gehen wir hindurch.« Gerade kam eine Mutter mit einem kleinen Kind heraus. »Aber das ist doch kein geheimer Ort?«, murmelte ich. »Warte ab!« Aurora zeigte auf die Drehtür. Im ersten Moment erschrak ich, weil die Tür, wie von unsichtbarer Hand bewegt, sich schneller drehte als bisher. Zudem wechselte sie die Drehrichtung. Sie rotierte nun im Uhrzeigersinn. Plötzlich gab Aurora das Zeichen, zog mich am Arm und wir sprangen in eine Kammer. Eine Sekunde später spuckte mich die Drehtür wieder aus und ich landete unsanft auf einer Steinplatte. Ich sah mich um und stellte zu meinem Erstaunen fest, dass ich in einem Raum gelandet war, der rund war wie eine Kugel. Vergeblich suchte ich einige von den Leuten, die in das Weltreisebüro hi neingegangen waren. Hier war ich ganz allein. Wo war Aurora geblieben? »Aurora!« Ich konnte sie nirgends entdecken. »Aurora!«, rief ich. »Auroraaaa!« Keine Spur von ihr. Ich rieb meine Hand, die eben noch in Auroras gelegen hatte. Da spürte ich etwas an einem Finger. Als ich begriff, was es war, konnte ich einen Schrei nicht unterdrücken. »Aurora!« An meinem Finger steckte ein goldener Ring und darauf war eine kleine Bernsteinfigur ein-gefasst. In der Figur erkannte ich das Mädchen, das mich hergeführt hatte. »Aurora, was ist mit dir geschehen?«, fragte ich und betastete die Figur sanft. Ich sah mich um. Was war das hier für eine Welt, in der sich Mädchen in Steinfiguren verwandelten? »Hallo, ist hier jemand?«, rief ich und mein Echo kroch an den Wänden bis zur Kuppel der Kugel hoch und hagelte auf mich zurück. Ich spähte in alle Richtungen. 30
Plötzlich ging eine kleine Tür auf. Es kam aber niemand hindurch. Mit einem Mal hörte ich eine zitternde Stimme. »Mann, du bist aber groß.« »Wer spricht da?«, fragte ich. Jetzt zeigte sich eine kleine Gestalt im Türrahmen. Ein solches Wesen hatte ich noch nie gesehen. Ein Prachtexemplar von einem Wolf, aber von der Größe eines Kaninchens. Obwohl er sich fürchtete und zitterte, verriet seine Kopfhaltung einen gewissen Stolz. Die wachen, kleinen Augen waren starr auf mich gerichtet. Je nachdem, wohin sein Blick fiel, wanderten die spitzen Ohrchen wie kleine Radarschirme in dieselbe Richtung. »Du brauchst keine Angst zu haben, ich tue dir nichts«, sagte ich. »Du hast gut reden. Ich hab aber nun mal Angst vor allem Großen. Das kommt vor bei Zwergwölfen wie mir, sagt der Admiral.« Einen Augenblick später ging eine größere Tür in der Kugel auf. Herein trat ein großer Mann, der mich wegen seines Hutes, aber auch wegen der zusammengewürfelt bunten Kleidung an einen Seeräuber erinnerte. Die Krempe des Hutes versuchte das wild wachsende graue Haar im Zaum zu halten. Die Nase passte gar nicht zu der kräftigen Gestalt. Sie war lang und spitz wie eine Waffe. Weil er glatt rasiert war, konnte man vier schmale, lange Narben auf seiner rechten Wange erkennen. Die Furchen sahen aus, als hätte eine Krallentatze voller Wut nach ihm gelangt. Der schwarze Rollkragenpulli kratzte nur vom Angucken schon und die weite schwarze Hose war gleich mehrere Nummern zu groß. Weil ich nicht wusste, wie eine schnelle Bewegung auf diesen Riesen gewirkt hätte, atmete ich nur ganz flach. Der Admiral, wie ihn der Zwergwolf genannt hatte, musterte mich mit einem strengen Blick von oben bis unten. Dann sagte er mit dunkler Stimme: »Aurora hat nicht zu viel versprochen. Ein 31
Junge in den besten Jahren! Mal sehen, ob nur die Verpackung was taugt...« Der strenge Ton des Mannes verunsicherte mich. War es ein Fehler gewesen, hierher zu kommen? »Was ist mit Aurora geschehen?«, fragte ich direkt und betastete wieder den Ring. »Warum ist sie plötzlich zu dieser kleinen Steinfigur geworden?« »Aurora? Hat sie dir etwa nicht erzählt, wer sie ist? Es ist kein gewöhnlicher Stein, sondern ein ganz seltener Bernstein aus dem Harz von weißen Rosen. Hundertmal wertvoller als alle anderen Edelsteine. Aurora ist die Bernsteinprinzessin. Für Quizkandidaten ist sie so eine Art - sagen wir Joker. Für Kan didaten, an die sie fest glaubt, wandelt sie ihr Wesen. Wenn mich nicht alles täuscht, wirst du sie bald wiedersehen, in voller Größe.« »Und wo bin ich hier gelandet?«, fragte ich. »Du bist hier in der Angsthasenakademie. Und ich bin Admiral Atarax Ataraxia. Ich leite die Akademie. Wir bereiten die Ängstlichen auf den Kampf in Aholl vor. Den Kampf gegen die Angst. Und jetzt stell dich hier auf die Waage, wir wollen deine Angst wiegen ...« Der Admiral holte tief Luft und schien zu prüfen, ob ich verblüfft war. Ich war es. Ohne Widerrede ließ ich mich auf eine kleine in den Boden eingelassene Glasplatte führen. Der Admiral stellte sich vor eine kleine Anzeigetafel an der Wand und brummte: »52 Bammel. Na ja, so an der Grenze für eine Durchquerung von Aholl. Aber besser, als ich gedacht hätte.« »Der Admiral hat meistens ein bis zwei Bammel, höchstens!«, erklärte mir der Zwergwolf voller Bewunderung und wich nicht von der Seite des Admi-rals. »Na ja, jetzt wollen wir mal nicht übertreiben, Dasha. Lasst uns hier nicht länger untätig rumstehen, wir müssen uns sputen. Wenn Aurora Recht hat, dann bleibt uns nur sehr wenig Zeit.« Der Admiral führte mich durch ein ganzes Labyrinth von 32
Gängen. Wir passierten kleinere Kugeln, die offensichtlich von den Schülern der Akademie bewohnt wurden. Schließlich näherten wir uns dem Zentrum der Akademie. »Wir sind gleich in der Zentralkugel. Da findet der Unterricht statt und hier tun wir vor allem eins: gemeinsam zittern!«, sagte Dasha, der Zwergwolf. »Das Training gegen die Angst ist manchmal echt hart«, ergänzte er seufzend. »Aber wirkungsvoll!«, brummte der Admiral. Als wir die Zentralkugel betraten, verstummte sofort das leise Gemurmel, das ich schon in den Gängen gehört hatte. Ich bemerkte, dass Dasha nicht mit uns in die Zentralkugel kam, sondern sich zurückzog. Der Admiral wies mir einen Stuhl zu. »Dasha ist entschuldigt. Er ist völlig fertig. Für ihn ist heute ein großer Tag, denn er hat sich endlich überwunden, etwas Großem zu begegnen, ohne gleich Reißaus zu nehmen. Jetzt muss er sich erst mal beruhigen und hat sich in seine Kugel verzogen.« Der Admiral hob seine Stimme und wandte sich den Schülern zu: »Es geht los. Ihr kennt diesen Menschenjungen nicht. Ihr wisst nichts über ihn. Das ist eine gute Gelegenheit, um das Augenmorsen zu üben!« Ein Stöhnen ging durch die Runde. »Nicht schon wieder«, murmelte jemand von links. »Keine Widerrede! Ihr wisst, was ich euch gesagt habe. Das Augenmorsen kann euch eines Tages in Aholl das Leben retten! Also, los jetzt. Und keine Unterbrechung bitte, lasst die anderen ausgucken! Wer seine Augen schließt, der muss eine Stunde nachzittern!« Mit einem Schlag waren alle ruhig. Nur die Blicke wanderten umher. Mir war das Ganze ein völliges Rätsel. Sollte Augenmorsen etwa bedeuten, dass man sich durch schnelles Blinzeln verständigte? Ich ließ meine Augen in die Runde schweifen. Nichts! Ich begegnete jedem Blick ganz besonders entschlossen. Wieder nichts. 33
Augenmorsen. Sollte es etwas mit der Zeichnung der Iris zu tun haben? Mit der Form der Wimpern? Der Admiral, der meine Hilflosigkeit wohl bemerkte, beugte sich an mein Ohr und flüsterte: »Wenn du wissen willst, was der Blick dir sagen will, dann musst du hinter den Blick sehen ...» Ich meinte zu begreifen und versuchte durch die Blicke zu sehen, denen ich begegnete, als ob ich gegen die Strömung zur Quelle vordringen wollte. Und dann - ganz plötzlich - sah ich es! Oder hörte ich es? Ein weiterer Zwergwolf, dessen frecher Blick mir schon beim Eintritt in die Kugel aufgefallen war, spähte mir entgegen wie ein offenes Buch! >Ich bin Masha, Dashas Zwillingsschwester. Aber denk jetzt bloß nicht, ich hab auch Angst vor dir, nur weil du groß bist!< »Oh!«, rief ich und merkte gleich, wie das die anderen störte.
Der Admiral beäugte mich streng und morste: >Du lernst schnell, Junge. Aber bitte: keinen Ton!« Ich sah Masha an. Sie morste ihrem Nachbarn gerade: »Er heißt Quentin.< Ich fand es phantastisch, dass ich plötzlich Blicke regelrecht lesen konnte, und malte mir die Möglichkeiten aus, die sich daraus ergaben. Da erreichte mich von der Seite ein kleiner Zettel. Ich faltete ihn auseinander und las: Der Vorhang fällt, die Sense ficht; Ich stürz hinab ins tiefe Schwarz. Das Licht geht aus, ich merk es nicht; Drum ruf ich nur: Adieu, das war's!
Der Admiral bemerkte, dass ich die Zeilen nicht verstand. Er hielt sich eine Hand vor die Augen, sodass nur ich seinen Morseblick lesen konnte. >Das ist wieder typisch für den Lichtwicht Otoll. Er schreibt Gedichte, da kommt einem das Zuhören wie Schokolade essen vor. Allerdings schlägt er stark aus der Art. Lichtwichte sind normalerweise heitere und op timistische Wesen. Otoll aber leidet unter einer sehr starken Todessehnsucht, gekoppelt mit einer schier unbegreiflichen Lebensangst. Es ist fast unmöglich, ihn davon zu überzeugen, 34
dass der Tod nicht der einzige Sinn und Zweck des Lebens ist. Die Ursachen dafür sind völlig unklar.< Ich betrachtete den Lichtwicht eingehend. Ein irgendwie sympathischer Kerl mit schüchternem Blick, in der Kleidung eines Totengräbers - rabenschwarz. Oberflächlich betrachtet hätte er fast ein Mensch sein können. Allerdings erinnerte mich seine Haut an frisch gefallenen Schnee, zart und weiß. Seinen schmalen Lippen war ein hauchdünnes Lächeln angeboren, auch das schien sich mit seiner Todessehnsucht gar nicht zu vertragen. Kein einziges Haar konnte ich auf Otolls Kopf oder an seiner Hand entdecken. Später erfuhr ich, dass das seinen Sinn hatte. Denn Lichtwichte ernährten sich ausschließlich von Licht, das sie über ihre Haut aufnahmen. Haarwuchs störte da nur. Vor Otolls Brust baumelte ein lederner Beutel, in dem er seinen Notizblock trug, an der Seite war ein Fach für den Stift, mit dem er schrieb. In seinem Blick saß ein Funkeln, das mir vorkam wie eingesperrte Freude. Der Admiral begegnete dem Blick eines seltsamen Wesens, das neben Masha saß. >Berry! Wann lernt auch ein Erdbeerwaran wie du endlich richtig Morsen? Er heißt nicht Qäcktin, sondern Quentin. Er muss sich auf das Quiz des Teufels vorbereiten.« >Das schafft doch keiner!«, morste Berry vorlaut zurück und bereute es gleich wieder. >'tschuldi-gung<, sagte sein Blick. Der Admiral räusperte sich. »Danke, das war's fürs Erste. Klappt doch schon ganz hervorragend, Quen-tin. Du lernst erstaunlich schnell! Kommen wir zu deinen Fragen.« Während der Admiral sich erhob, bemerkte ich im Hintergrund eine junge Frau, die mir ebenso wunderschön wie rätselhaft vorkam. Ich dachte zuerst, es wäre ein Trugbild. Aber dann stellte ich fest, dass mich dieses Trugbild sehr eingehend unter die Lupe nahm. Sie morst gar nicht, dachte ich. Merkwürdigerweise erwähnte 35
der Admiral das Wesen mit keinem Wort. Berry, der wohl meine Frage ahnte, flüsterte mir zu: »Das ist Lydia, ein Drachling. Sie ist eigenartig. Keiner weiß hier was über sie. Sie hat irgendeine Geheimvereinbarung mit dem Admiral.« Das bestätigte mich in meinem Gefühl, dass sie nicht richtig in die Akademie passte. »Wie lange wird er hier bleiben?«, fragte Lydia plötzlich und sah dabei nicht mich, sondern den Admiral an. »Schon morgen früh muss er aufbrechen ...«, murmelte der Admiral und schien damit alle in Fassungslosigkeit zu stürzen. »Morgen früh?« Otoll schrie regelrecht. »Ja, ich gebe zu, das ist der kürzeste Aufenthalt in der Akademie, der jemals stattgefunden hat. Aber mehr Zeit bleibt leider nicht. Denn in etwas mehr als sechs Tagen findet das Quiz statt.« Ich registrierte, dass ein bitteres Lächeln über Lydias schönen Mund huschte. »An Walpurgis ...«, murmelte sie vor sich hin, jedoch so laut, dass ich es hören konnte. »Was können wir ihm denn schon in dieser kurzen Zeit beibringen, Admiral?«, fragte Otoll. »Zum Beispiel könnt ihr mir sagen, wie weit es noch von hier bis Aholl ist«, schlug ich vor. Die Antwort gab der Admiral: »Nur ein paar Schritte. Eine Kugel der Akademie dreht sich kaum merklich. An manchen Tagen öffnet sich ein kleiner Durchgang, ein Tor, durch das man nach Aholl gelangt.« »Oder von Aholl hierher ...«, ergänzte Otoll mit düsterem Unterton. »Ja, so seid ihr ja schließlich alle von Aholl hierher gelangt, weil Lydia euch schützen wollte. Denn jeder von euch hier ist etwas ganz Besonderes. Einer der Letzten seiner Art.« »Oder sogar der Letzte seiner Art...«, ergänzte Berry ein bisschen traurig. Der Admiral nickte. 36
»Vielleicht werdet ihr eines Tages wieder eigene Völker eurer Art gründen und in Aholl die Herrschaft des Teufels zurückdrängen«, sagte der Admiral und mir wurde schlagartig klar, was ihn, den Drachling Lydia und die anderen verband. Sie gehörten zu denen, die unter der Macht des Teufels allmählich verschwanden. »Oder wir sterben aus ...«, seufzte Otoll lässig, als ob er meine Gedanken erriet. »Das passiert schneller, als wir denken, wenn wir nicht auf den Durchgang nach Aholl aufpassen. Das ist ja keine Einbahnstraße ich sage nur Tartarassel. Der hätte uns beinahe alle ...«, wimmerte Berry. »Und erst die Schleichnase«, ergänzte Masha und selbst diese freche Zwergwölfin zitterte jetzt leicht. Ich blickte fragend in die Runde. Der Admiral erklärte: »Tja, die Tartarasseln sind grobe und gemeine Kerle. Die schrecklichsten unter ihnen stellen die Leibgarde des Teufels.« »Und Schnarchnasen?«, fragte ich. »Schleichnasen«, verbesserte mich der Admiral. »Schleichnasen sind die Geheimpolizei des Teufels. Sie sehen aus wie Nasen, die man geradewegs aus dem Gesicht von Riesen geschlagen hat. Sie haben sechs kurze, aber durchtrainierte Beine ...» «... und sie riechen einen Floh tausend Kilometer gegen den Wind!«, ergänzte Berry. »Stimmt. Sie speichern alle Gerüche und geben sie an ihren Herrn weiter.« »Und diese Schleichnase und der Tartarassel konnten bis in die Akademie vordringen?«, fragte ich. »Schon. Aber wir haben sie davongejagt!«, rief Masha wieder etwas mutiger und schlug mit ihrer Pfote auf den Tisch.
»Du meinst wohl, der Admiral hat sie davongejagt ...«, korrigierte Lydia, woraufhin Masha ihr einen zornigen Blick zuwarf, dessen Inhalt ich auf die Schnelle nicht entziffern konnte. »Ist ja schon gut. Es ist der ewige Kampf. Der Teufel weiß, 37
dass seine Macht hier in der Akademie begrenzt ist. Und es ist ihm ein Dorn im Auge, dass wir hier daran arbeiten, die Angst zu besiegen. Denn wenn die Angst weniger wird, schwindet seine Macht.« Mir fiel auf, dass der Admiral die Narben an seiner Wange rieb. »Immer wieder schickt er seine Schergen aus, um uns zu finden. Zum Glück liegt die Akademie versteckt zwischen den Welten. Von Aholl aus findet man sie nur per Zufall.« Den Admiral schien das aber nicht sehr zu beunruhigen. »Wie läuft das Quiz ab?« Ich wollte endlich wissen, was mich erwartete. Der Admiral seufzte kurz. »Wie es genau abläuft, das wissen wir leider nicht. Es ist lange her, dass es zum letzten Mal stattgefunden hat. Es gibt nur Gerüchte.« »Aber ich weiß, wo es stattfindet«, murmelte Otoll. Selbst er erschauderte offenbar bei der Erinnerung an diesen Ort. »Du musst in den Norden Aholls bis nach Satanopolis, der Stadt des Teufels. Sie ist so groß wie ein ganzer Erdteil. Im Zentrum der Stadt befindet sich das >Auge<, der Krater eines angeblich erloschenen Vulkans. Auf dem Grund des Kraters findet das Quiz statt.« Lydia nickte und wieder wurde ich das Gefühl nicht los, dass sie ganz besondere Pläne verfolgte. »Die Wesen, die sich auf den Hängen des Vulkans versammeln, werden dich lähmen. Sie wollen alle nur eins: dein möglichst grausames Scheitern feiern. Denn auf ganz unterschiedliche Weise hängt ihr Schicksal von dem des Teufels ab. Für ihren Herrn greifen sie schon mal zu äußerst hinterlistigen Mitteln.« »Das inspiriert mich zu einigen spontanen Versen ...«, begann Otoll. »Nicht jetzt«, ermahnte ihn der Admiral. »Weiß man etwas über die Fragen?«, erkundigte ich mich. Der Admiral schüttelte den Kopf. »Nicht viel. Ich weiß nur, 38
dass es sechs sind. Es sollen die sechs wichtigsten Fragen des Lebens sein.« »Was passiert mit Quentin, wenn er das Quiz nicht besteht?«, wollte Otoll wissen und zückte seinen Notizblock. »Was macht der Teufel mit ihm?« Atarax Ataraxias Gesicht verfinsterte sich. »Wenn er das Quiz nicht besteht, kann er nie mehr nach Hause zurückkehren und muss in Aholl bleiben -als Adoptivsohn des Teufels!« Das saß! Teuflischer ging es nicht. Der Admiral fuhr fort. »Aber dieses Mal scheint alles anders zu sein. Kopfschmerzen bereitet mir vor allem, was Aurora in unserem kurzen Gespräch angedeutet hat: dass der Rote offenbar sein Reich in den Blutrippen verlassen hat.« Mit einem Schlag herrschte eine gedrückte Stimmung in der Runde. Die Erwähnung von »der Rote« hatte genügt. »Belphegor der Rote, der Sohn des Teufels, bedeutet Gefahr für alle, die seine Pläne durchkreuzen«, sagte Lydia. »Er ist zu allem fähig. Wo er ist, da ist der Tod!« Ich spürte, dass sie wusste, wovon sie sprach. »Dann tausche ich mit Quentin!«, rief Otoll fest entschlossen. Ich warf ihm einen dankbaren Blick zu. »Niemand kann mit Quentin tauschen.« Der Ad-miral sagte es sehr entschieden. Ich schluckte. »Stimmt es eigentlich, dass der Teufel sein Gedächtnis verloren hat?« »Ich habe in alten Erzählungen gehört, dass das alle tausend Jahre in der Woche vor Walpurgis der Fall ist...«, murmelte der Admiral. »Vielleicht wird der Teufel durch das Quiz neu erschaffen oder so?«, überlegte Otoll. Ich fand den Gedanken gar nicht so abwegig. »Meint ihr, er will beim Quiz meine Seele rauben ... ?« »Völliger Quatsch. Was soll der Teufel denn mit Seelen? Der will was ganz anderes ...«, vermutete Lydia, ohne 39
konkreter zu werden. »Warum gehst du nicht einfach wieder nach Hause?«, fragte Berry. »Weil es nicht nur um ihn geht«, sagte der Admi-ral. Er wusste mehr, als er verriet. Ich schüttelte langsam den Kopf. »Wie stehen denn meine Chancen, das Quiz zu gewinnen?« In der Versammlungskugel war es so ruhig, dass man das Kritzeln von Otolls Bleistift hören konnte. »Das konnte bisher noch niemand herausfinden«, murmelte der Admiral. Nachdem uns die Wölfe etwas zu essen gemacht hatten, studierten wir eine auf dem Tisch ausgebreitete Karte von Aholl. Nicht gerade ein Meisterwerk, nur Skizzen und viele weiße Flecken. Aber doch vermittelte sie mir einen ersten Eindruck dieses fremden Kontinentes. Der Admiral selbst hatte sie bei seinen Reisen durch Aholl angefertigt. Erst viel später sollte ich wissen, wie wichtig das war, was ich im nun folgenden Gespräch erfuhr. Der Admiral und seine Schüler erzählten mir in einem Schnelldurchgang die Geschichte Aholls. Die Daten der großen Aufstände gegen den Teufel und seine Sippschaft - immer wieder mit dem gleichen Ende, der Niederlage einer Hand voll Mutiger gegen die Übermacht des Schwarzen Fürsten. Ob es das Scharmützel bei Tartarass war oder die Rebellion mutiger Zwergwölfe unter der Führung Sashas, des Urgroßvaters der Zwillinge. Schließlich kam es zur großen Schlacht der Mutigen unter der Führung des ruhmreichen Othellos, einem als Helden verehrten Lichtwicht, der vor Urzeiten selbst Kandidat im Quiz des Teufels gewesen war. Ich saugte die Geschichten auf wie ein trockener Schwamm und versuchte mir die Ratschläge des Admirals so gut es ging einzuprägen. Obwohl ich hier in der Angsthasenakademie gelandet war, 40
hatte ich vielleicht den einzigen Ort auf der Welt erreicht, an dem sich die letzten Mutigen versammelten. Hier war jeder bereit seine Angst zu besiegen, um die Macht des Teufels ein zudämmen. Die Zwergwölfe zeigten mir, was es bedeutete, klein zu sein und doch nie aufzugeben, Lydia spielte ihr eigenes Spiel, ein geheimer Plan, von dem ich nichts wusste. So viel war klar: Sie war unermüdlich im Einsatz, um die letzten Muti gen vor dem Tod durch die Hand des Teufels zu bewahren. Doch sie alle waren Einzelne, die erst durch den Admiral zu einem Team wurden. Genau das war es, was dieser mich lehrte: Wenn du in Aholl Gleichgesinnte triffst, schließ dich mit ihnen zusammen. Du musst bereit sein dein Leben zu riskieren, wenn du dadurch einen anderen Mutigen vor dem Teufel retten kannst. Ich hatte aber keine Ahnung, ob ich meine neuen Kenntnisse jemals anwenden konnte, und allmählich brummte mir der Kopf. Ich fühlte mich gleichzeitig wach und müde. Die Einzige, die wieder fast die ganze Zeit schwieg, war Lydia. Einmal nahm sie meine Hand, drehte sie und ließ ihren Blick vom Brandzeichen in meine Augen gleiten: »Pass auf, dass das niemand sieht. Aholl ist die Heimat aller Verräter.« Dieser Drachling war mir wirklich ein Rätsel. Ob sie Freundin oder insgeheim Feindin war - ich wusste es nicht. So vergingen die Stunden, bis der Admiral schließlich empfahl die Zeit bis zur Öffnung des Eingangs nach Aholl schlafen zu gehen. Die Zwergwölfe verabschiedeten sich als Erste und Masha fragte beim Hinausgehen: »Quentin, hast du großen Bammel?« Ich nickte und senkte ein wenig den Kopf. »52 oder so ...« »Das ist aber wenig!«, rief Masha bewundernd und verließ die Kugel. »Ja, dein Wille, die Angst zu besiegen, ist groß. Genau das ist es, was in Aholl mehr denn je gebraucht wird«, sagte der Admiral. 41
Nachdem ich mich bedankt hatte, musste ich einfach mit der Frage raus, die mich noch quälte. Der Admiral schien damit gerechnet zu haben und nick te: »Du willst wissen, ob du rechtzeitig ankommst, nicht wahr?« Ich nickte. »Es hilft dir nicht, diese Frage jetzt zu stellen. Im Kampf gegen die Angst sollte man nicht immer gleich die letzte aller Fragen stellen. Das lähmt. Beantworten kann es dir jetzt sowieso niemand.« Das leuchtete mir ein und ich bemerkte, dass inzwischen alle anderen Schüler die Versammlungskugel verlassen hatten. »Ich mache mir nur entsetzliche Sorgen um jemanden.« »Um deinen Vater, nicht wahr?«, sagte der Admi-ral. Wieder nickte ich. Der Admiral seufzte. Etwas schien ihn zu beschäftigen. »Um ihn zu retten, musst du das Quiz als Sieger verlassen. Du musst den Teufel schlagen, nur dann kann er leben ...« Es schien, als wollte er mehr erzählen, aber er tat es nicht. Er bestätigte das, was mir Aurora bereits gesagt hatte und was ich bereits geahnt hatte, als mir Zebul diese Melodie eingehaucht hatte. Immer wenn ich sie hörte, musste ich an meinen Vater denken. »Ruh dich jetzt aus, die Wölfe haben die Gästekugel für dich hergerichtet. Ich wecke dich rechtzeitig.« Ich dankte dem Admiral und ging durch den schmalen halbrunden Gang in die Kugel für Gäste. Sofort fiel ich auf das zu kurze, aber bequeme Bett. Plötzlich klopfte es leise an die Kugel. Ich rief: »Ja?« Otoll steckte seinen Kopf durch die Tür und fragte: »Kann ich dich kurz sprechen, Quentin?« Ich nickte und bat ihn herein. »Weißt du, Quentin ...«, begann Otoll, »ich glaube, du wirst mich brauchen können. Zunächst mal habe ich vor dem Tod 42
keine Angst, wie du sicher weißt, und zweitens kenne ich mich sehr gut in Satanopolis aus.« Es fiel mir schwer, dieses Angebot abzulehnen. »Otoll, laut Karte muss ich den ganzen Kontinent durchqueren. Das wird die Hölle ...« Es klang wohl nicht überzeugend. »Eben! Das ist es doch. Die ganzen tödlichen Gefahren unterwegs, das ist doch herrlich! Ich könnte sie dir alle abnehmen!«, rief Otoll entzückt. Der Lichtwicht schien fest entschlossen mit mir die Akademie zu verlassen. »Außerdem könnte ich dir unterwegs immer die traurigsten Gedichte vortragen«, fügte er als weiteren Pluspunkt an. »Und wer garantiert mir, dass du mich nicht auch in die erstbeste Todesgefahr stürzt? Weißt du, ich muss es nach Satanopolis schaffen, bei mir geht es um alles.« Otoll schwieg und verstand. »Na gut, das sehe ich ein ... Damit würde ich dich ja auch in Gefahr bringen.« Ein wenig traurig senkte er den Kopf. »Dann nimm das hier wenigstens als Abschiedsgeschenk ...«, sagte er und hielt mir ein kleines samtenes Säckchen hin, das mit einer dünnen Kordel verschnürt war. Ich öffnete das Säckchen und fand darin nichts als Sand, Sand mit einem ganz seltsamen Glanz. »Es ist kein gewöhnlicher Sand«, nahm Otoll meine Frage vorweg. »Es ist Sand aus der Mühle meines Onkels. Er handelt mit allen Arten von außergewöhnlichem Sand. Dies hier ist Schlafsand. Ein Körnchen auf jedes Auge und du schläfst sofort wie ein Toter. Es ist herrlich, ich habe es schon ausprobiert. Der Sand wird aus Schneckenhäusern gerieben. Vielleicht kannst du's ja mal gebrauchen ...« Ich dankte Otoll und verstaute das Säckchen in meiner Jackentasche. »Dann mach es gut. Viel Glück!«, sagte Otoll zum Abschied. Bevor er an der Tür war, drehte er sich noch einmal zu mir um. 43
»Quentin, versprichst du mir etwas?« Er sagte das so ernst, dass ich aufhorchte. »Klar, was denn?« »Versprich mir, dass du keine voreiligen Schlüsse ziehst in Aholl. Manchmal sind die Dinge nicht so, wie sie auf den ersten Blick scheinen ...« Ich nickte und bevor ich noch etwas sagen konnte, verließ Otoll schnell die Kugel. Gedämpft hörte ich das Gutenachtgeheul der Zwergwolfzwillinge. Kurz darauf schlief ich ein. Als der Admiral mich weckte, fühlte ich mich ausgeruht. Ich zog mich schnell an und folgte ihm in eine besonders große Kugel, die sich unmerklich drehte. Ich erkannte, dass sich geradewegs vor uns bereits der schmale Spalt einer schwarzen Öffnung zeigte. »Gleich ist es so weit. Halte dich bereit«, sagte der Admiral. Plötzlich betrat Lydia die Kugel. »Quentin, warte. Hier, nimm das, du wirst es brauchen.« Der Drach-ling hielt mir eine Streichholzschachtel hin, die ich ein wenig verwirrt einsteckte. »Viel Glück«, fügte Lydia noch hinzu und verließ die Kugel wieder. Ich sah ihr erstaunt nach, doch blieb mir keine Zeit, mich länger zu wundern. Der Admiral zeigte auf die Öffnung. »Es ist so weit. Lass mich nachsehen, ob die Luft rein ist.« Er warf einen schnellen Blick durch die Öffnung und schien zufrieden zu sein. »Gut, so weit alles ruhig. Ich habe allerdings keine Ahnung, in welche Gegend von Aholl der Spalt dieses Mal den Zugang öffnet. Das ist jedes Jahr anders. Kann sein, dass du gleich in großer Gefahr bist. Sei also auf der Hut.« Ich nickte, drückte dem Admiral die Hand, holte tief Luft und ging durch die Öffnung. Hinter mir drehte sich die Kugel weiter und die Öffnung wurde kleiner. Ich hörte, wie der Admiral die Kugel verließ. So bemerkte niemand, dass gleich hinter mir ein weiterer Schüler der Akademie heimlich nach Aholl gelangte. 44
»Er ist was?«, schrie Belphegor. »Es ist ihm gelungen, nach Aholl zu kommen, Roter Meister«, sagte Gorgonzola kleinlaut. »Haben Gog und Magog etwa versagt... ?« »Nicht direkt. Wir wissen jetzt alles über diesen Quentin Fux. Sein Zuhause ist zerstört. Die Mutter völlig verzweifelt...» »Das hört sich doch gut an ...« Belphegors Zorn ließ etwas nach. »Also haben Gog und Magog seine Gedanken gelöscht und sein Hirn verpestet.« Gorgonzola schluckte. »Na ja, nicht direkt, die Bernsteinprinzessin hat ihn gewarnt, Meister.« »Oh, dieses Miststück! Wenn ich sie zu fassen kriege, werde ich mit ihr meinen Palast heizen. Und weiter?«
»Sie hat den Jungen in die Akademie gebracht und von dort...« »Wie oft habe ich schon befohlen diese so genannte Akademie zu zerstören?«, zischte der Rote und schien jetzt endgültig die Geduld zu verlieren. »Wir haben es ja versucht...« Gorgonzola wollte am liebsten im Erdboden versinken. Wenn er seinem Herrn Belphegor nicht 45
bald Erfolge meldete, stand es schlecht um ihn. »Wie weit ist der Verräter?«, fragte Belphegor. Gorgonzola war erleichtert. »Der Verräter ist dem Jungen dicht auf den Fersen. Er wartet nur auf die nächste Gelegenheit, diesen Quentin an uns auszuliefern«, berichtete er. »Ich will, dass in ganz Aholl Fallen gestellt werden. Wer mir den Jungen bringt, darf über die Blutrippen herrschen, wenn ich erst Schwarzer Fürst bin. Unsere besten Jäger mögen ausschwärmen. Auch Alexandra soll sich bereitmachen ...« Gorgonzola wurde blass. »Alexandra?!« »Ja, auch sie«, antwortete Belphegor. »Der Junge kann eine ernste Gefahr werden. Wenn nicht, hätte Zebul ihn niemals ausgewählt.« »Roter Meister, meint Ihr wirklich, dass es gleich nötig ist, Alexandra zu ...« Ein Blick aus der roten Kapuze von Belphegor genügte und der Prospektor verstummte. »Sehr wohl«, traute er sich schließlich zu wimmern. »Ich habe noch einen weiteren Vorschlag, Meister.« »Ich höre ...«, knurrte Belphegor ungnädig. »Der Vater des Jungen. Wir könnten ihn in unsere Gewalt bringen. Das könnte zu gegebener Zeit nützlich sein.« »Das soll sofort geschehen!«, rief Belphegor. »Bereits veranlasst, Roter Meister. Wir wissen, wo er sich aufhält. Gog und Magog führen das Kommando ...« »Wenn sie wieder versagen, werde ich die Steinfratze zu Sand reiben lassen!«, versprach Belphegor. »Da fällt mir ein: Zebul suchte doch immer nach frischen Talenten. Was hat der Junge für eine Fähigkeit? Was bringt er mit nach Aholl, was wir nicht kennen?« »Offen gestanden, völlig unwichtig. So unwichtig, dass ich das Wort schon wieder vergessen habe. Irgendwas mit M..., Roter Meister.« »Kann diese Fähigkeit meine künftige Herrschaft über Aholl gefährden?« Gorgonzola konnte ein Lachen nicht unterdrücken. »Niemals. Seine Fähigkeit ist nur was für Schwächlinge!« 46
»Wo ist der Junge jetzt?«, fragte Belphegor. »Er müsste bei Luzifer auf den Klippen sein«, antwortete Gorgonzola.
»Oh, am finsteren Ende von Aholl. Aber warum sagst du das nicht gleich? Von dort kommt er doch nie wieder fort!«, rief Belphegor. Erleichtert bemerkte Gorgonzola, dass sich die Laune des Roten mit einem Schlag besserte.
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Es roch nach Salz und Meer. Gewaltiges Gurgeln dröhnte mir an die Ohren. Um mich herum eine Finsternis in Vollkommenheit - das schwärzeste Schwarz, das ich je gesehen hatte. Ich streckte meine Arme aus und tastete mich langsam vorwärts. Der Boden war hart und felsig. Die einzige Orientierung, die ich hatte, war dieses Rauschen, das von vorne zu kommen schien. Es mischte sich mit der grauenvollen Melodie, die über dem Felsen zu klingen schien. Die Melodie des Teufels in der Finsternis. Finsternis? Warum fiel mir bei Finsternis Lydia ein? Mit einem schnellen Griff tastete ich in meiner Hosentasche nach den Streichhölzern. Ich schob das Päckchen auf, vorsichtig, damit nichts herausfiel. Durch Fühlen konnte ich feststellen, dass nur ein einziges Streichholz in dem Päckchen lag. Ich zündete es an. Das Licht war schwach, trotzdem konnte ich einen Schritt vor mir eine massive runde Statue erkennen, die Ähnlichkeit mit einem Körper hatte. Ich ging näher heran und ließ meine Hand darüber gleiten. Zu meinem Erstaunen stellte ich fest, dass die Statue glatt und weich war. Mit einem Fingernagel kratzte ich daran und war sicher, dass sie aus Wachs war. Mein Herz schlug schneller! Es würde nur noch wenige Sekunden dauern, bis das Streichholz abgebrannt war. Ich 48
krallte mich mit der einen Hand in das Wachs und zog mich wie ein Fassadenkletterer ein ganzes Stück hinauf, so weit, dass ich der Statue auf den Kopf gucken konnte. Dort wuchs ein Docht! In letzter Sekunde gelang es mir, das Streichholz an den Docht zu führen. Ein ganz zartes Flämmchen begann zu schlängeln, bevor das Streichholz erlosch. Mit dem flackernden Docht gellte ein Schrei aus der Statue und ließ mich so zusammenfahren, dass ich das Gleichgewicht verlor und rückwärts auf den Boden fiel. Nun erkannte ich, dass die Statue wirklich eine Kerze war, einen Kopf größer als ich, aber dick und breit. Der Körper der Kerze war mit bunten Ornamenten und fremden Symbolen verziert. Nicht nur das erinnerte mich an die Gestalt eines Mannes. Mein Blick wanderte nach oben und ich erschrak, als mir aus zwei gelben Augen ein zorniger Blick entgegenfunkelte. In den Pupillen loderten kleine Flämmchen. »Ah, tut das weh ...«, stöhnte die Kerze. Sie holte sehr tief Luft und damit wuchs die Flamme, bis sie fast noch einmal so lang war wie die Kerze selbst. Es wurde plötzlich so hell, als ob die Sonne innerhalb einer Sekunde aufgegangen wäre. Ich er kannte, dass ich tatsächlich auf einem Felsen stand, einen Meter hinter der Kerze fielen die Klippen steil in ein gewaltiges Meer. Ich traute meinen Augen kaum, als ich sah, dass das Wasser des Meeres schwarz wie die Nacht war. Täuschte ich mich oder waren das die Segel eines Schiffes dort am Horizont? »Uhhh, das nehme ich dir wirklich übel«, stöhnte die Kerze, »zuerst krallst du dich in meinen Bauch und dann zündest du mich auch noch an!« Die Flamme flackerte wild auf und mir schlug der Wind ins Gesicht. »Tut mir Leid«, murmelte ich. Das hätte ich wohl besser nicht gesagt, denn es trieb der Kerze die Zornesröte ins Gesicht. »Jetzt tut es ihm auch noch Leid!«, brüllte sie, als ob das ihren Schmerz noch erhöhte. »Kaum hier 49
und schon verstößt er gegen Gesetze ...« Bei genauerer Betrachtung stellte ich fest, dass die Kerze ein richtiges Gesicht hatte. Das Gesicht eines zornigen Mannes. »Was ... wer bist du?«, stotterte ich. »Ich bin«, murmelte die Kerze und gähnte gequält, »... ich bin Luzifer.« »Und wo bin ich hier gelandet?« »Auf den Klippen von Luziferien, der Insel, wo nur Salz und Tränen fließen. Meinem Reich! Und jetzt sieh, was du angerichtet hast! Schau über die Klippen!« Ich tat, was Luzifer von mir verlangte, und tastete mich ganz langsam an den Rand der Klippen vor. Um hinunterzusehen, legte ich mich auf den Bauch. Tief unten auf den Wogen des schwarzen Meeres sah ich ein Segelschiff, das aus der Höhe aussah wie ein Spielzeug. Das Schiff änderte langsam seinen Kurs und entfernte sich in sicheren Abstand zu den Klippen. Matrosen hingen in den Segeln und jubelten, andere tanzten auf Deck. Mehrmals drang der Klang eines Horns an meine Ohren. Auf dem Schiff schien man zu feiern. Ein Blick an der Klippenwand entlang nach unten bestätigte meinen Verdacht: Dort konnte ich einige Schiffwracks ausmachen, die an den spitzen Klippen zerschellt waren. »Das habe ich nur dir zu verdanken! Aber warte, das wirst du büßen!« Luzifer war so wütend, dass er kleine glühend heiße Wachskügelchen nach mir schleuderte. Ich sprang schnell hinter einem kleinen Felsen in Deckung. »Aber, ich hatte doch keine Ahnung ...«, rief ich zu meiner Verteidigung. Als Antwort zischten die Wachsgeschosse nur so an meinen Ohren vorbei. Ich sah auf das schwarze Meer hinaus. Weit am Horizont änderten wieder zwei Schiffe ihren Kurs und wichen den 50
Klippen Luziferiens aus. Sie wären wohl geradewegs an die Klippen geschleudert worden, wenn ich Luzifer nicht angezündet hätte. »Aber damit hast du dir dein eigenes Grab geschaufelt. Denn von hier kommst du nie mehr fort...«, zischte die teuflische Kerze und loderte meterhoch. »Luzifer, hör doch, es war doch gut, dass ich dich angezündet habe. Schon drei Schiffe konnten sich so vor den Klippen retten.« »Das ist es ja gerade! Was meinst du, wenn sich das rumspricht! Dann wird eine Fahrt durch den Martialischen Ozean ja zum reinsten Vergnügen. Ich darf gar nicht daran denken, was ich zu hören kriege, wenn das rauskommt! Dann bin ich erledigt.« Luzifer wollte sich nicht beruhigen. Sein Wachs floss durch die hohe Flamme an seinem Rücken entlang, lief in einer schmalen Spur über die Felsen und tropfte die Klippen hinab. Vorsichtig robbte ich im Schutz des Felsens an den Rand der Klippe und sah mich um. Nirgends schien eine Fluchtmöglichkeit zu sein. Ein hoher Klippenberg umgeben von schwarzem Meer. »Luzifer, sag mir, wie ich von hier fortkomme. Ich habe es eilig.« »Das ist mir doch egal. Du hast es dir ja selbst eingebrockt. Von hier führt nur ein Weg fort...« »Welcher?«, rief ich. »Du musst mich wieder ausblasen ...«, antwortete Luzifer. Das war eine Möglichkeit, an die ich nie gedacht hätte. »Und dann? Dann stehe ich hier in der Dunkelheit und sehe nichts mehr. Wie soll ich da wegkommen?« Luzifer regte sich über meine Antwort wieder so auf, dass der Wachsfluss immer heftiger wurde. Das brachte mich auf eine Idee. »Luzifer, ich werde allen von deinen guten Taten berichten. 51
Wie du hier die Schiffe vor den Klippen warnst. Das ist wirklich eine prima Sache.« Der Plan ging auf: Er wurde noch zorniger, seine Flamme schoss in den Himmel und das Wachs floss in Strömen, zuerst auf den Felsboden, dann die Klippen hinab. Ich lobte ihn noch ein wenig und schwor, dass ich ihn für die gutmütigste Kerze der Welt hielt, und seine Flamme loderte wie ein Schei terhaufen. In einem geeigneten Moment sprang ich hinter dem Felsen hervor und klammerte mich an der Klippenkante an das Wachs. Ich schrie, so heiß war es, aber je weiter ich hinunterrutschte, desto mehr kühlte es ab. Wie ich erwartet hatte, entfachte mein Fluchtversuch noch einmal Luzifers ganze Wut. Es floss reichlich Wachs die Klippen hinunter und ver härtete sich schon bald. So bildete es für mich eine Stange, an der ich Tropfen für Tropfen in die Tiefe klettern konnte. Schließlich trennten mich nur wenige Meter von der Stelle am Fuß der Klippen, an der ich einige Schiffsskelette ausmachen konnte. Inzwischen schien Luzifer meinen Plan durchschaut zu haben. Der Wachsfluss war versiegt. Sollte ich von hier einen Sprung wagen? Wenn es schief ging, konnte ich mir sämtliche Knochen brechen. Ich suchte mit meinen Blicken den Boden ab. Dort zwischen den geborstenen Planken und zerfetzten Segeln bewegte sich etwas. Zuerst traute ich meinen Augen kaum, aber dann erkannte ich die Gestalt eines offenbar sehr alten Zwergwolfes. »Hilfe!«, schrie ich.
Als der Zwergwolf seinen Blick hob, zuckte er regelrecht
zusammen. Er überlegte kurz und begann hastig den abgerissenen Fetzen eines großen Segels unter mir aufzuspannen. »Beeil dich!«, brüllte ich. »Ich kann nicht mehr.« Seine Bewegungen wurden immer hastiger. Mit 52
der Schnauze packte er die Enden des Segels und warf sie über die abgebrochenen Enden einiger Masten, bis das Segel wie eine dreieckige Plane unter mir gespannt war. In diesem Moment fiel ich. Es war nicht die weichste Landung, aber eine kurze Kontrolle ergab, dass ich alle meine Knochen noch bewegen konnte. Ich sah mich um. Wo war der Zwergwolf geblieben? »Hallo?«, rief ich. »Wo bist du?« Plötzlich entdeckte ich unter einer Planke zwei schimmernde Augen. »Komm raus!«, sagte ich. »Ich tue dir nichts!« Er knurrte zur Antwort. Ich stand auf und torkelte auf dem gespannten Segelfetzen auf ihn zu. Die Augen verschwanden unter dem Trümmerhaufen von Holzplanken. »Wer bist du?«, fragte der Alte. Ich konnte nicht genau orten, wo er sich befand. »Ich heiße Quentin und bin ein Freund der Zwergwölfe«, sagte ich. »Bist du es, der Luzifer angezündet hat?«, knurrte er von unten. »Ja«, antwortete ich. »Die gemeine Kerze ist ganz schön wütend.« »Na klar, sie muss jetzt tausend Jahre brennen«, sagte der Zwergwolf. Plötzlich steckte er seinen Kopf aus einem zerschlagenen Fass hervor. »Ich bin Natasha«, sagte der Wolf und erst jetzt erkannte ich, dass es sich um eine alte Zwergwolfdame handelte. Zaghaft hielt sie mir eine Pfote hin. »Gehörst du zu dem Rudel, das damals in den Südlichen Falten gekämpft hat?«, fragte ich und brachte sie damit aus der Fassung. »Woher weiß so ein junger Kerl wie du denn davon?« »Ich habe zwei Zwergwölfe kennen gelernt, die mir im Unterricht der Angsthasenakademie einiges davon erzählt haben. Masha und Dasha«, sagte ich. 53
»Was? Die Enkel des alten Sasha? Das gibt es doch gar nicht! Und ich dachte, ich wäre die letzte Zwergwölfin. Wo sind sie? Wie geht es ihnen?« »Die beiden machen gerade eine Ausbildung. Es geht ihnen gut. Bist du hier ganz alleine?«, wollte ich wissen. Die alte Zwergwölfin musterte mich und sagte dann: »Komm mit. Aber pass auf, dass das schwarze Wasser des Martialischen Ozeans dich nicht berührt. Davon kommt man auf ganz schreckliche Gedanken.« Sie führte mich über mindestens ein Dutzend Schiffwracks in eine kleine Bucht, in der die Felsen weniger spitz und zackig waren. Dort zeigte sie auf mehrere kleine Steinhaufen. »Da, sieh. Sie sind alle gestorben. Dort sind ihre Gräber. Ich bin die Einzige, die übrig ist.« Mit ein paar Sprüngen stand ich vor den Gräbern. Hier hatten sie also ihr Ende gefunden, die tapferen Wölfe aus Sashas Rudel. Als Natasha mich eingeholt hatte, sagte sie: »Wir sind damals einige Wochen in Kokosnussschalen auf dem Martiali schen Ozean getrieben, immer in der Angst, dass uns die Kampfschiffe Belphegors entdecken. Und dann sind wir hier angetrieben worden. Die Jahre danach haben wir geschuftet, um wieder von hier fortzukommen. Aber sie starben alle nach und nach, Sasha zuletzt, kurz bevor unser Traum wahr werden konnte.« »Welcher Traum?«, fragte ich. Wieder führte sie mich zur Antwort am Fuß der Klippen in eine weitere benachbarte Bucht. Dort blieb mir die Spucke weg vor Staunen. Eine kleine Segeljolle lag am Strand, bunt zusammengeflickt aus den Trümmern der zerschellten Schiffe. »Als Sasha starb, war das Schiff fast fertig, aber alleine konnte ich es nicht von der Stelle bewegen«, sagte Natasha. »Komm, lass es uns probieren«, schlug ich vor. »Ich hebe es raus aufs Wasser.« »Oh, nein. Ich gehe nicht mehr von hier fort. Ich bin zu alt und 54
werde bald sterben. Ich bleibe hier, wo auch die anderen geblieben sind.« Sie dachte kurz nach. »Aber du, du kannst gehen. Wenn wir das Schiff an den Seiten mit zwei kräftigen Balken verstärken, dann müsste es dich tragen. Als wir es zu bauen begannen, sollte es ja auch mindestens ein Dutzend Zwergwölfe tragen.« Wir schufteten die ganze Nacht. Während der Arbeit begann ich Natasha meine Geschichte zu erzählen. »Satanopolis ist weit«, sagte sie schließlich mit matter Stimme, »warum nimmst du den Weg auf dich?« Sofort hörte ich die Melodie und ich hätte nicht sagen können, woher sie kam. Sie schien hier in Aholl aus den Wolken zu kommen und auf mich nie-derzuklingen. »Ich muss meinen Vater retten. Und das geht nur, wenn ich im Quiz des Teufels gewinne«, sagte ich. Plötzlich überfiel mich der Gedanke an meine Mutter. War auch sie in Gefahr? Nein, ich spürte, dass das nicht der Fall war. Hätte ich ihr doch nur sagen können, dass ich noch lebte! Dass ich wild entschlossen war meinen Vater zu retten, koste es, was es wolle, und vielleicht eines Ta ges mit ihm nach Hause zu ihr zurückzukehren. Als ich am nächsten Morgen in die Jolle stieg, war mir sogar das Wetter freundlich gesinnt. Es blies ein schöner Wind aus Südwest und Natasha erklärte mir, dass ich schon in wenigen Stunden die Südspitze des ahollischen Festlandes erreichen müsste. Im Boot war so viel Platz wie auf der Sitzfläche eines Stuhls. Ich musste mich zusammenkauern, aber für ein paar Stunden musste es gehen. Nachdem ich zwei Fässer mit süßem Klippenwasser an die Außenplanke des Bootes gebunden hatte, brach ich auf. Natasha sah mir lange nach. Es schien ihr eine Genugtuung, dass die Arbeit ihres Rudels nicht ganz umsonst gewesen war. Als ich schon einige Stunden gesegelt war, waren die Luziferischen Klippen zu einem winzigen Punkt am Horizont geschrumpft. Aber noch immer war der helle Punkt auf der 55
Spitze der Klippen zu sehen. Und so sollte es auch noch tausend Jahre bleiben. Wahrend ich darüber nachdachte, wie sehr Luzi fer mich dafür hassen musste, dass er jetzt für eine Ewigkeit langsam von seiner eigenen Flamme aufgefressen wurde, fuhr mir plötzlich ein Schreck in die Knochen: Am Horizont konnte ich eine Windhose ausmachen. Sie raste direkt auf mich zu.
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Als ich meine Augen aufschlug, wusste ich nicht, wie viel Zeit vergangen war. Ich fühlte nichts. Ich war vom Himmel auf die Erde gefallen und fühlte gar nichts. Das konnte nur eines bedeuten: Ich war tot. Wo war ich gelandet? In welchen Winkel Aholls hatte der Orkan mich geschleudert? Näher ans Ziel, weiter weg? Ich sah mich um. Keine Spur vom Miniboot der Zwergwölfe. Ganz offensichtlich saß ich hier mitten auf einem Friedhof. Also doch tot, dachte ich, du bist eine Leiche. Eine Leiche, die auf einem Friedhof sitzt. Aus und vorbei. Das Quiz konnte ich mir abschminken. Und mein Vater würde für immer in Aholl schmoren. Ich beschloss mich auf dem Friedhof umzusehen. Das war schließlich mein Recht als Leiche. Zwischen blühenden Blumeninseln stand ein kleiner Wald von Steinkreuzen. Es waren sehr alte, moosbewachsene Kreuze aus Blaubasalt, aber auch neue, frisch gesetzte. Jedes Kreuz trug eine Inschrift, das waren Initialen und eine Anzahl von Tagen. M. T- 13 Tage. 13 Tage? Bedeutete das, M. T. hatte nur 13 Tage gelebt? Ich ging vorsichtig zum nächsten Kreuz: 57
AH.-5 Tage. Das nächste Kreuz: 0. L. - 6 Tage. Ich sprang von Kreuz zu Kreuz, bis ich völlig außer Puste war, und hatte schließlich die schreckliche Gewissheit: Dieser Park mit seiner sonnengoldgetränkten Blumenwiese war ein Kinderfriedhof. Hier lagen nur Wesen, die die ersten beiden Wochen ihres Lebens nicht überstanden hatten. Wo war ich gelandet? Mussten hier die Kinder schon sterben, kaum dass sie auf der Welt waren? Ich saß mitten in den Blumen und dachte darüber nach, ob es eine Seuche oder eine andere Katastrophe gewesen sein konnte, die hier so schrecklich gewütet hatte. In diesem Moment störte etwas die Ruhe. Zuerst war es nur ein flüchtiges Huschen und ich dachte schon, ich sähe Gespenster. Aber dann schlich sie aus dem Schatten einer Linde, vorbei am Brunnen und kam geradewegs auf mich zu: eine Schleichnase. Jetzt erkannte ich, wie treffend die Beschreibung des Admirals gewesen war. Als hätte man sie einem Zyklopen aus dem Gesicht gehauen, eine große Ha kennase, auf deren Rücken rote Pusteln wie kleine Vulkane köchelten. Aus den Nasenlöchern wuchsen büschelweise Haare, die ein seltsames Eigenleben zu führen schienen. Sie tasteten und wuselten umher, immer auf der Suche nach neuen Informationen, die sie an die Nase weitergeben konnten. Tatsächlich hatte die Nase sechs spindeldürre Beinchen, wovon zwei nur zum Klettern gebraucht wurden. Sie trippelte auf ihren streichholzartigen Beinchen herum und schnüffelte die gesamte Umgebung ab. In wenigen Schritten würde sie mich erreicht haben, wenn ich nicht verschwand. Dann würde sie erbarmungslos das tun, wozu sie in der Welt war. Sie würde meine Witterung aufnehmen, Informationen über meinen Zustand und meine Gemütslage aufsaugen und all das vermutlich Belphegor dem Roten verraten. Wenn es stimmte, dass die Schleichnasen eine Art ahollische 58
Geheimpolizei waren, dann dienten sie sowohl Zebul als auch Belphegor. Ihr Leben bestand darin, dass sie Informationen sammelten und sie weitergaben. An wen, das war ihnen völlig egal. Plötzlich hielt die Schleichnase inne, hob die Nasenflügel und schnupperte ganz besonders intensiv in meine Richtung: Sie schien Witterung aufgenommen zu haben und ging immer schneller. Was sollte ich tun? Fliehen? Oder dieses üble Riechorgan schachmatt zu setzen versuchen? Ich würde ja wohl noch mit einer Nase fertig! Ich hatte aber keine Ahnung, über welche Kräfte diese Nase sonst noch verfügte. Wenn sie mich einmal gerochen hatte, war der Verrat sowieso nicht mehr aufzuhalten. Gerade schnüffelte sie wieder besonders intensiv an einer pinkfarbenen Blume und schlich gleich darauf weiter. Ich musste angreifen! Ich duckte mich in die Blumenwiese wie eine sprungbereite Katze und verbarg meinen Körper so gut es ging hinter dem Kreuz eines armen Kindes, das nur drei Tage gelebt hatte. In diesem Moment blieb die Nase stehen, ihr Rücken kräuselte sich. Das verhieß nichts Gutes. Ich ahnte, was gleich passieren würde. Die Nase musste niesen! Zum Überlegen blieb keine Zeit: Ich umklammerte das nächstliegende Kreuz, konnte mich jedoch nicht festhalten und wirbelte nach hinten. Erst als ich mit dem Rücken an einen Baum prallte, blieb ich liegen. Ich sah noch, wie die Nase in den Himmel abhob. Wie ein Luftballon, den man bis zum Platzen aufgeblasen hat und dann einfach loslässt. Zu meinem Glück blieb sie nicht in einer Baumkrone hängen, sondern flutschte zwischen zweien hindurch und hob ab wie eine Rakete, bis sie nur noch als winziger Punkt im Himmel zu erkennen war. Sie hatte ihre Nase zu tief in den Blütenstaub gesteckt. »Die sehen wir nie wieder ...«, brummte hinter mir eine 59
Stimme. Ich warf den Kopf herum und sah in das wettergegerbte Gesicht eines Sabyren. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch gar nicht, was ein Sabyre war und welcher Ruf ihm vorauseilte, denn sonst wäre ich sicherlich schreiend davongelaufen. »Ich bin Boris«, knurrte der Sabyre und hielt mir eine Hand hin, für die der Begriff Schaufel eine Schmeichelei war. »Ich heiße Quentin«, sagte ich und ließ mir von dem Sabyren meine Finger quetschen. Das war der Beginn einer großen Freundschaft. Jedenfalls glaubte ich das in diesem Moment. Der ganze Oberkörper des Sabyren hatte die Haltung eines Baggers, leicht nach vorne gebeugt und bereit jede Sekunde loszuschaufeln. Vermutlich durch das Graben war seine Nase vorne so platt gedrückt wie bei einem Berufsboxer. Auf der Stirn entdeckte ich Beulen, Furchen und Kratzer. Boris war der Wärter dieses Friedhofs am Rande der Südlichen Falten, eines gigantischen Gebirgszuges, in dem einst Sasha und sein Rudel gegen Bel-phegor den Roten gekämpft hatten. Damals hatte Belphegor gerade das Quiz verloren und wollte seine frische Macht als Adoptivsohn des Teufels er barmungslos festigen. Dass als Friedhofswärter ein Sabyre ausgewählt worden war, schien nahe liegend. Denn wo Sabyren waren, da wurde gegraben. Mir ging eine Frage nicht aus dem Kopf: Was trieb einen Sabyren dazu, hier am Ende der Welt als Friedhofswärter zu arbeiten? Hier zu graben, weit weg von seinem Volk und seiner Heimat. Kurze Zeit später wusste ich warum. Als Boris sich in die Blumenwiese setzte, bemerkte ich die schwere, spiralförmige Kette, die um seine Füße geschlagen war. Sie hatte merkwürdigerweise den Glanz von Seifenblasen. Boris war ein Gefangener. An die Kette gelegt. Die Frage war nur, wessen 60
Gefangener und warum? Als er meinen Blick bemerkte, der an seinen Füßen heftete, erklärte er: »Ich war noch ganz klein, als eine Bande von Tartarasseln im Dienste des Teufels unser Dorf überfiel. Normalerweise versucht sich unser Dorf gegen solche Überfälle zu schützen, denn es ist bekannt, dass der Herr von Satanopolis immer nach jungen, frischen Talenten sucht. Aber alle Männer waren an diesem Tag beim Graben. So konnten die Räuber vor allem junge, kräftige Kinder wie mich in ihre Gewalt bringen. Ich wurde dann später hier angekettet. Die Kette ist lang, ich kann mich über den ganzen Friedhof bewegen. Aber es ist eine Kette ...«, seufzte Boris. »Aber die können wir doch knacken!«, rief ich. »Niemals«, beteuerte Boris. »Es ist eine Gedankenkette. Man könnte sie nur sprengen, wenn man den Kerngedanken dieser dreimal verfluchten Kette herausfindet. Und das ist das Geheimnis dieses Friedhofs. Ich habe schon so viel darüber nachgedacht, dass ich fast wahnsinnig geworden bin. Irgendwie habe ich mich schon damit abgefunden, bis an mein Lebensende hier Kreuze einzugraben.« »Das heißt, du beerdigst diese Kinder gar nicht, deren Initialen auf den Kreuzen stehen? Du gräbst nur die Kreuze ein?«, fragte ich. Boris nickte. »Einmal im Monat kommt ein Wagen hier an und es liegt ein kleiner Berg mit Kreuzen darauf. Offenbar will man die Kreuze nicht auf den Zentralfriedhof in der Nähe von Satanopolis setzen, sondern schafft sie hierher ans andere Ende Aholls in die Südlichen Falten.« »Und alle diese Kreuze betreffen nur Kinder?«, forschte ich. Boris nickte. »Ich kenne nun wirklich jedes Kreuz. Keines der Wesen, die hinter den Initialen stecken, wurde älter als zwanzig Tage!« Boris stocherte mit einem Finger in den Blumen herum. Wir sprachen lange nichts. Diese blöde Kette ging mir nicht mehr 61
aus dem Kopf. Ihre Glieder hatten tatsächlich Ähnlichkeit mit Seifenblasen. Sie waren feucht und man konnte einen Finger durch die Kettenglieder stecken, ohne dass sie dadurch platzten. Es schien, als konnte man die Kette so leicht wie eine Luftschlange zerreißen, doch selbst unter größter Kraftanstrengung war das unmöglich. »Verflixt«, sagte ich. »So geht es nicht. Wir müssen es anders lösen. Woher weißt du denn, dass diese Fessel eine Gedankenkette ist, und was ist das überhaupt, eine Gedankenkette?« »Das ist ein Rätsel, das an einen besonderen Ort gebunden ist. Wer mit einer Gedankenkette beschlagen ist, den bindet das Rätsel an diesen Ort«, murmelte Boris und klang nicht sehr optimistisch. Wohl um auf andere Gedanken zu kommen, sto cherte er mit seinen Schaufelhänden im Grund der Blumenwiese herum. »Aber wer hat dieses Rätsel erdacht, ich meine, wer hat die Gedankenkette erdacht?«, fragte ich. »Ich weiß nicht, ob es gut ist, wenn ich dir das sage«, meinte Boris und senkte seinen Blick. »Warum?«, fragte ich und war enttäuscht. Hatte Boris kein Vertrauen zu mir? »Weil es gefährlich ist, es zu wissen! Ich möchte nicht, dass dir etwas zustößt.« Ich hatte plötzlich das Gefühl, dass der Sabyre mich anlog. »Na, komm, jetzt rück schon mit der Sprache raus!« »Erzähl mir erst von dir«, sagte Boris. »Erzähl mir, wo du herkommst und wo du hingehst.« Nach kurzer Überlegung entschied ich mich dafür, Boris eine verkürzte Version meiner Geschichte zu erzählen. Ich begann mit dem Tag, an dem Vater verschwand, berichtete von der Ankunft Auroras, dem zerstörerischen Infonauten und endete mit dem Erwachen hier auf dem Friedhof. Ich war etwas unkonzentriert, weil ich zwischendurch immer wieder an die 62
Gedankenkette und das Friedhofsrätsel denken musste. »Du bist der Kandidat für das Quiz ...«, stellte Boris plötzlich fest, und ich wunderte mich, denn ich hatte ihm davon nichts erzählt. In seinem Gesicht nahm ich eine merkwürdige Veränderung wahr. »Das hast du richtig erkannt«, antwortete ich. Boris schien zu grübeln und wurde immer merkwürdiger. Wir hatten den ganzen Nachmittag nichts anderes getan, als in dieser schönen Blumenwiese zu sitzen. Aber ich spürte deutlich, dass auf einmal etwas nicht stimmte. Plötzlich trat der Sabyre einen Schritt auf mich zu, sah mir in die Augen, packte mich unter den Achseln und hob mich hoch, als ob ich aus Papier wäre. Als ich seinem Blick folgte, sah ich die Kette. Und nicht mehr seins, sondern mein Fußgelenk steckte darin! Nach einer Schrecksekunde begann ich zu zerren und zu ziehen, schlug meine Beine in die Luft wie ein scheuendes Pferd. Es war vollkommen zwecklos, das Resultat war bloß ein blutiges Fußgelenk. Es war eine lange Kette. Ich zog und zerrte daran. Ich lief los, lief immer weiter, bis ich nach hinten schlug, weil das Ende der Reichweite erreicht war. Die Kette reichte genau bis zur Grenze des Friedhofes. Ich rannte zurück zu Boris. »Was soll das bedeuten?!«, schrie ich ihn an. »Was ist passiert?« Der Sabyre vermied es, mir in die Augen zu sehen. »Du hast dich so von der Gedankenkette gefangen nehmen lassen, dass sie jetzt dich fesselt. Das war meine einzige Chance! Du hast mir das Problem abgenommen.« »Heißt das, du hast es absichtlich getan?«, schrie ich und wurde wütend auf mich selbst. Ich war auf diesen hinterhältigen Sabyren reingefallen! Boris nickte. »Was sollte ich denn tun? Hast du eine Ahnung, was es bedeutet, sein ganzes Leben hier auf diesem Friedhof zu 63
verbringen? Tagsüber durchströmt dich der Duft dieser ewig blühenden Blumen und nachts ... ach, du wirst es ja sehen ... Du hast noch Kraft, du bist noch unverbraucht, du kannst das Rätsel des Kinderfriedhofs lösen. Und ich kann endlich zurück nach Sabyrien gehen. Aber zuerst werde ich dem Roten von dir berichten, da springt bestimmt eine schöne Belohnung für mich raus. So und jetzt gib mir den Ring!« Auch das noch, dachte ich. Zuerst legt er mich in Ketten, plant den gemeinsten Verrat und dann beraubt er mich noch. Allmählich hatte meine Wut den Punkt erreicht, an dem sie herausplatzen musste. Ich sah mich um. Die Sonne ging allmäh lich unter. Eine Flucht war unmöglich. Trotzdem beschloss ich Aurora bis zum letzten Blutstropfen zu verteidigen. Ich fühlte unauffällig über den Bernstein und hatte dabei die Idee zu einem Plan. Dieser sabyrische Betrüger sollte mich nicht mehr hereinlegen! Überraschungsangriff - Phase eins: Ich begann zu laufen. Ich sprang zwischen den Kreuzen hin und her und so entstand schnell ein Labyrinth der hinter mir blubbernden Kette. Der Sabyre nahm die Verfolgung auf, konnte aber nicht so schnell, wie er wollte. Wie ein Storch stakste er zwischen den Ket tenlücken herum. Phase zwei: In einem günstigen Moment änderte ich unerwartet meine Laufrichtung, sodass sich die Kette um die Fußgelenke des Sabyren straffte. Er verhedderte sich und wankte. Das war der Moment für Phase drei: Ich rannte einige Male um ihn herum, sodass die Kette Boris' Körper einhüllte wie ein Netz den Fisch. Ein kräftiger Ruck an der Kette und der Sabyre wankte und schlug wie ein Meteorit auf den Boden. Nun lief ich, so weit die Kette reichte, und straffte sie, bis sie zum Bers ten gespannt war. Mein Fußgelenk schmerzte höllisch, aber nur so konnte ich Boris gefangen halten. Tatsächlich begann er bald darauf zu stöhnen. 64
»Das hast du davon!«, rief ich. »Jetzt sind wir beide in der Kette gefangen!« Boris stöhnte wieder. Er schien sich bei dem Sturz wehgetan zu haben. »Bitte, Quentin, lass mich gehen ...«, bettelte er. »Gleich bricht die Nacht herein und es ist die Zeit der Moskodile!« Seine Stimme klang jetzt schon verzweifelt. »Das ist wohl wieder ein übler Trick von dir, was? Moskodile? Was soll das sein?«, fragte ich. »Moskodile tauchen hier in Scharen nachts auf und vertreiben die Grabräuber! Nur den Wärter des Friedhofs verschonen sie«, rief er und begann sich hektisch umzusehen. Die Sonne verschwand gerade vollständig am Horizont. »Was sind Moskodile?«, wiederholte ich und begann auch schon umherzuspähen. Dieser Sabyre hatte eine märchenhafte Begabung, einen mit seinen Ängsten zu infizieren. »Es sind fliegende Blutsauger, die mit einem Echsenpanzer geschützt sind. Klein, aber sehr robust. Sie kommen in Scharen.« Er schrie jetzt. Ich war fest entschlossen, nicht noch einmal Opfer dieses Lügners zu werden. Aber ich sah mich in alle Richtungen um. Hörte ich da nicht schon ein leichtes Summen? Fortbewegen konnte ich mich von hier jedenfalls nicht. Sobald ich mit der Kettenspannung nachließ, würde Boris über mich herfallen und ich verlöre das Wertvollste, das ich noch besaß. Grabräuber? Was konnte er damit meinen? Wer konnte schon daran interessiert sein, die Kreuze zu stehlen? Langsam erloschen die letzten Strahlen, die die Sonne in diesem Teil des Universums hinterlassen hatte. Genau in diesem Moment sah ich schemenhaft eine Gestalt durch das Heckentor huschen. Ich machte keinen Mucks. Boris stellte sich ebenfalls tot. Die Gestalt schlich von Kreuz zu Kreuz und studierte die 65
Initialen. Ein Kreuz schien der Gestalt plötzlich zu gefallen, sie legte ihre Hände darauf und begann gierig Luft zu holen. Es dauerte nicht lange, da begann die Gestalt sich zu verändern. Zuerst schimmerte sie leicht, und je länger sie ihre Hände auf dem Kreuz liegen ließ, desto mehr schien sie zu glän zen. Dabei machte die Gestalt ein Geräusch, als ob sie schmatzte. Ein immer lauter werdendes Summen lenkte mich von der Gestalt ab. Voller Grausen bemerkte ich, dass der Nachthimmel plötzlich zu leben schien. Boris hatte in diesem Fall nicht gelogen. Ein riesiger Schwarm fliegender Miniechsen fiel über den Friedhof her. Ihr Angriffsziel war völlig klar: die Gestalt am Kreuz. Als das erste Moskodil seinen Stachel, der einem kleinen, angespitzten Strohhalm glich, aus vollem Flug in den Arm der Gestalt stieß, gab diese einen leisen Schrei von sich, nahm die Hände vom Kreuz und begann zu laufen. Ein paar Moskodile nahmen die Verfolgung auf, andere stürzten sich in Richtung Boris. Entsetzt erkannte ich, dass die Gestalt genau auf mich zurannte. Sie versuchte verzweifelt die Moskodile loszuwerden und schlug wild um sich. Zwecklos, denn die gepanzerten Blutsauger verstanden ihre Arbeit. Geschickt flogen sie ihre Attacken und sobald der Stachel saß, begannen sie zu saugen und schimmerten kurz darauf auch ganz leicht. Inzwischen hatte die Gestalt mich fast erreicht. Verhindern konnte ich es nicht. Sie stolperte über die Kette dicht vor meinen Füßen und fiel flach auf den Boden. Ihr Gesicht lag neben meinem und ich registrierte den irritierten Blick, als sie mich ansah. Zweifelsohne war die Gestalt ein grauenvolles Schattenwesen. Einem Instinkt folgend, hielt ich sie mit beiden Händen fest. Dabei gab ich der Kette etwas mehr Spielraum und schlug sie 66
mit meinem Fuß durch die Luft. Das schien die Moskodile einen Moment fern zu halten. Diesen Moment musste ich nut zen. »Was hast du an dem Grab gemacht? Was ist das Geheimnis dieser Gräber? Antworte!«, rief ich. Die Gestalt schien zu merken, dass ich die Moskodile einen Moment in Schach hielt, sah mich an und zischte: »Das ist der Eudamonische Friedhof. Ich will doch nur ein kleines Stückchen, eine ganz kleine Portion!« Die Stimme der Gestalt ließ mir eine Schauerlawine den Rücken hinunterlaufen. »Ein kleines Stückchen was? Eine Portion wovon?«, schrie ich und übertönte noch die Schreie von Boris, den die Moskodile gerade regelrecht auszusaugen schienen. »Kleine Portion. Wenige Krümel. Sie hatten wenigstens einige Tage davon. Wir, die unter der schwarzen Sonne leben, bekommen niemals nichts davon!«, zischte der Schatten. Mein Bein wurde allmählich müde und es gelang den Moskodilen immer wieder, zu dem Schatten durchzubrechen und einen Stich anzusetzen. Mich ließen sie völlig in Frieden. »Aber von was? Was? Waaaas?!«, brüllte ich wie am Spieß und verstärkte mit meinen letzten Kräften die Schläge mit der Kette. »Vom Glück«, flüsterte die Gestalt, rollte sich seitwärts und stolperte ins Dunkel, verfolgt von den immer wilder werdenden Moskodilen. »Vom Glück!«, flüsterte ich fassungslos und hatte mit einem Schlag das Geheimnis der Gräber und des Friedhofs begriffen. Boris' Schreie waren verstummt, überhaupt war es verdächtig ruhig. Ich stand auf und wollte mich nach dem Sabyren umsehen. Die Kette behinderte mich nicht mehr und im nächsten Augenblick hatte ich begriffen, dass ich sie losgeworden war. Die Gedankenkette war von mir abgefallen, weil ich den Kerngedanken begriffen hatte. 67
Wo ich Boris vermutete, lagen nur noch die Reste der Kette. Darunter entdeckte ich einen kleinen Tunnel, der geradewegs in die Tiefe führte. So hatte der Sabyre sich also vor den Moskodilen in Sicherheit gebracht. Mich hatten diese fliegenden Vampirechsen nicht gestochen, ja noch nicht einmal angegriffen. Der Grund konnte nur der sein, dass sie den Träger der Kette verschonten. Jetzt waren sie mit einem Mal alle verschwunden. Ich sank erschöpft zurück auf den Boden des Gräberfeldes, das der Eudamonische Friedhof genannt wurde. Dem Ort, an dem nicht nur Kinder begraben lagen. Nein, hier lagen auch die Uralten begraben. Aber hier wurden nur die glücklichen Tage gezählt, die ein Verstorbener in seinem Leben gelebt hatte. Das war der letzte Beweis dafür, dass Aholl das Paradies der Finsternis war, ein Kontinent, auf dem das Leben einem nicht mehr als ein Dutzend glücklicher Tage schenkte. Mit einem Mal spürte ich, wie erschöpft ich war. Ich sank zurück auf die Wiese und sah in den Himmel. Dort entdeckte ich sogar einige Sterne und wenn mich nicht alles täuschte, war es ein Sternbild, das ich kannte. Aholl, dieser merkwürdige Kontinent, schien unter dem gleichen Himmelszelt zu liegen wie die Welt, aus der ich kam. Vereinzelt sah ich die Silhouette einiger Moskodile, Nachzügler, die ihrem Schwarm hinterherflogen. Sollte ich der Müdigkeit nachgeben oder sofort weiterziehen? Aber in welche Richtung? War ich meinem Ziel überhaupt näher gekommen? Eine Kerze, die brannte, und ein Friedhofswärter, der mich beinahe ganz übel hereingelegt hätte. Konnte ich das alles im Quiz gebrauchen? Würde es helfen, meinen Vater rechtzeitig aus den Klauen des Teufels zu befreien? Was würde passieren, wenn ich es gar nicht erst bis zum Quiz schaffte, sondern hier und jetzt einschlief und nie wieder aufwachte? Dieser Gedanke ließ mich hochschrecken. 68
Wenn ich mich nicht irrte, blieben mir noch etwas mehr als fünf Tage bis zum Verderben. Wann hatte sich jemand schon einmal so beeilt, nur um pünktlich zu seiner Vernichtung zu kommen? Mir fiel Boris ein, der mich so schnell wie möglich verraten würde. Ich stand auf, schüttelte mir den Blütenstaub aus den Klamotten und verließ mit schnellen Schritten den Eudamonischen Friedhof, einer Ahnung folgend, in nördlicher Richtung. Unmerklich summte ich die Melodie, die mir Zebul ins Ohr gesetzt hatte.
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Es dauerte nicht lange und ich stieß auf eine kleine Straße, die geradewegs aus der flachen Landschaft rings um den Eudamonischen Friedhof in eine gebirgige Gegend führte. Der Sternenhimmel warf ein schwaches Licht, das es mir erlaubte, mich zu orientieren. Ich meisterte mehrere Anstiege, die in Schlängellinien auf das Dach des Gebirges hinaufkrochen. Weit vor mir am Horizont meinte ich das Massiv zu erkennen, das die Form einer riesigen Faust hatte - ein Vorgeschmack auf die Schrecken, die dahinter herrschten. Ich bewegte mich in die richtige Richtung, nach Norden. Ich merkte aber, dass ich bald vor Müdigkeit umkippen würde, und beschloss mich für ein, zwei Stunden auszuruhen. Abseits der Straße fand ich ein geschütztes Plätzchen zwischen zwei Felsbrocken am Fuße eines großen Baumes. Dort überlegte ich kurz, ob ich vom Schlafsand, den Otoll mir geschenkt hatte, Gebrauch machen sollte. Aber ich entschied mich dagegen, denn ich konnte mir nicht leisten einen ganzen Tag zu verschlafen. Ich wurde wach, als der Morgen bereits dämmerte. Ich war von einigen Geräuschen geweckt worden, die ich noch nicht genau orten konnte. Ein schneller Blick zur Straße sagte mir, 70
dass dort einiges vor sich ging. Ich schlich mich näher heran, bis ich ein gutes Stück überblicken konnte. Auf der Straße hatte sich ein langer Tross der merkwürdigsten Gestalten versammelt, einige Menschen, eine kleine Gruppe Sabyren, aber auch Wesen, die ich nie zuvor zu Gesicht bekommen hatte. Einige saßen auf Reittieren, die mit riesigen Reißzähnen das Gras am Straßenrand ausrissen. Sie erinnerten mich sofort an Schilderungen des Admirals, der sie Flaffen genannt hatte. Flaffen trugen Panzer von Riesenschildkröten auf ihren Rücken und unter ihren Bäuchen steckten die langen Beine von Kängurus, was den Flaffen eine unglaubliche Sprungkraft gab. Ihr entsetzlicher Kopf und die martialischen Säbelzähne, die geradewegs aus ihrem Maul wuchsen, wurden nur dazu be nutzt, den Boden auf der Suche nach Nahrung umzugraben. Eine Flaffe sah grausam aus, war aber harmlos. »Nun macht schon da vorne! Soll das denn ewig dauern? Jedes Mal dasselbe!«, schrie plötzlich ein Sabyre, dem wohl der Geduldsfaden gerissen war. Da geschah etwas Merkwürdiges. Man hörte ein Rauschen, das alle Wartenden in Angst und Schrecken zu versetzen schien. Sie blickten nach oben. Ein Blauekel kam angeflogen. Diese fliegenden Tintenkraken, die bis zu drei Wochen außerhalb des Wassers leben konnten, saugten sich an den Nasen ihrer Opfer fest und spritzten ihre Tinte, die Otoll in einem seiner Gedichte einmal den himmelsblauen Todessaft genannt hatte, direkt in die Nasenlöcher. Die Opfer waren danach völlig blau im Gesicht, torkelten benommen umher und litten mehrere Tage an völliger Blauäugigkeit. Dass das keine Übertreibungen waren, bestätigte dieses Blauekel. Es sprang dem Sabyren an die Nase und ließ ihn erst wieder los, als dieser völlig willenlos am Boden lag. Das Blauekel besah sich sein Opfer und war mit seiner Arbeit zufrieden. Drohend flog es einmal über die anderen Wartenden 71
hinweg und ließ dabei seine Tentakel über deren Köpfe rauschen. Alle duckten sich rasch und schließlich verschwand das Blauekel wieder. Niemand in der Warteschlange wagte mehr einen Mucks. Ich war so erschrocken und zugleich fasziniert von dem Treiben, dass ich meinen Kopf zu weit aus meinem Versteck am Rand der Straße hervorgestreckt hatte. »Hey, was machst du denn da?«, flüsterte plötzlich ein Wesen, das mir einen neugierigen Blick zuwarf. Ich musste schnell reagieren, denn der Blauekel war bestimmt noch in Hörweite. »Ich, äh, nichts. Ich habe nur ein paar Beeren gepflückt.« Schnell riss ich ein paar schwarze Beeren von dem Strauch ab, hinter dem ich mich zuvor verborgen hatte. Um ihn restlos zu überzeugen, trat ich auf die Straße und reihte mich in die Schlange der Wartenden ein. Verstohlen musterte ich den hochgewachsenen Kerl, der mich angesprochen hatte. Das Markanteste waren wohl sein Spitzkinn und eine Nase, die jeder Hexe zur Ehre gereicht hätte, so lang und gebogen war sie. Darüber blinzelten aber zwei sympathisch leuchtende Augen. Seine langen Haare standen ihm zu Berge, als wäre er tagelang gegen den Wind gelaufen. Wenn nicht alles täuschte, war er eine Mischung aus Mensch und Vogel. An seinen Armen wuchsen lange, kräftige Federn, die ausgebreitet wohl eine enorme Spannweite hatten. Und an der Seite seines breiten Gürtels baumelte ein Degen mit einem silbernen Griff. »Die sind heute besonders gründlich, was?«, fragte er mich plötzlich leise. »Klar!«, log ich. »Die haben ja auch allen Grund dazu!« »Sicher, so kurz vor Walpurgis«, antwortete er. Walpurgis! Der Tag, an dem das Quiz stattfinden sollte. Plötzlich bewegte sich etwas in der Schlange und es ging langsam weiter, ein Stück zumindest, bis die Schlange wieder stillstand. 72
»Warum fliegst du nicht einfach davon?«, fragte ich ihn. »Klar, könnte ich. Aber, ich will keinen Ärger. Außerdem - so lange wird's ja nicht mehr dauern.« Ich bemerkte, wie der Fremde mich musterte. »Und das alles nur wegen eines Jungen«, fing der Vogelmensch wieder an. Das Wort Junge ließ, mich aufhorchen. Oder war es der Ton, in dem es der Vogelmensch sagte? »Junge?«, fragte ich vorsichtig. »Klar, dem haben wir das alles zu verdanken. Hier, schau.« Er zupfte ein Stück Papier aus seinen Federn heraus und hielt es mir hin. »Das haben sie in ganz Aholl verteilt.« Ich faltete das Stück Papier auseinander und konnte nur mühsam einen Schrei unterdrücken. Es zeigte ein Foto. Auf diesem Foto waren mein Vater und ich zu sehen. Ich erinnerte mich daran, wie der Infonaut das Bild in meinem Zimmer vom Papier ge saugt und verschluckt hatte. Mir wurde flau im Magen. Als hätte ich das Foto selbst verschluckt. Das schien dem Vogelmenschen nicht zu entgehen. In diesem Moment ging es wieder ein Stück weiter in der Schlange und ich konnte den Grund für den Stau erkennen: eine Straßensperre! Einige Dutzend bis an die Zähne bewaffnete Tartarasseln, über denen einige Blauekel schwebten, versperrten die Straße und schienen auf die Befehle eines gro ßen Wesens zu warten, das nahezu unbeweglich auf der Mitte der Straße stand. Mit einem finsteren Blick und den mechanischen Bewegungen eines Roboters betrachtete dieses Wesen das Gesicht jedes Einzelnen in der Warteschlange. Dann musste der Kontrollierte seine Handfläche zeigen. Erst wenn diese Prüfung vorüber war, nickte das riesige Wesen un merklich und die Tartarasseln ließen den Kontrollierten passieren. Mir wurde plötzlich klar, dass ich dieses unbewegliche Wesen 73
kannte, das dort in der Mitte der Straße stand, und zwar aus dem Geschichtsunterricht. Es war eine Sirene. Bisher dachte ich, Sirenen seien nur den Gehirnen der alten Griechen ent sprungen, aber diese da war echt. Sie glich haargenau den Darstellungen, die man bei Ausgrabungen im alten Troja auf Vasen und Tellern entdeckt hatte. Mein Vater hatte oft von den Sirenen gesprochen und hatte es immer mit glänzenden Augen getan. Ich konnte den Blick kaum von ihrem Gesicht wenden, so schön und zugleich grausam war es. Ihr Körper schimmerte wie Kupfer. Auch sie hatte Flügel, die sie wie zur Warnung leicht ausgebreitet hatte. »Oh, Mann ...«, murmelte der Vogelmensch neben mir plötzlich ehrfürchtig. »Alexandra, die Sirene. Wollen wir hoffen, dass sie nichts Verdächtiges entdeckt. Wenn die anfängt zu singen, sind wir alle geliefert. Dann haben wir einen Ohrwurm bis ans Ende der Tage.« Offenbar hatte er bemerkt, dass ich blass wurde. Er hielt mir seine Hand hin und sagte: »Ich heiße übrigens Dario.« Ich gab ihm die Hand, log einen Namen. Noch während er meine Hand schüttelte, drehte Dario sie mit eisernem Griff herum, ließ sie los und erkannte das Brandzeichen. In einem Gedankenblitz fielen mir die Worte Lydias ein: Es wird Wesen geben, deren Todfeind du bist, nur weil du das Q trägst. Andere werden ohne zu zögern ihr Leben aufs Spiel setzen, damit du nicht in die Hände des Roten fällst. Zu welcher Sorte Wesen gehörte Dario? »Dachte ich es mir doch!«, murmelte er und warf schnell einen Blick über die Köpfe der vor uns Stehenden. »Du bist der Kandidat, den sie suchen! Da bin ich aber froh, dass ich dich gefunden habe!« In mir drehte sich alles. Hieß das, der Vogelmensch hatte mich gesucht? War das das Ende meiner Durchquerung von Aholl? 74
Würde er mich an Alexandra übergeben? Plötzlich bemerkte ich, wie Dario langsam seine Flügel ein kleines Stück spannte und sie in leichten Bewegungen hin- und herschlug. Es wirkte auf mich wie Dehn- oder Aufwärmübungen. »Pass auf: Auf mein Zeichen klammerst du dich an meinem Rücken fest. Und tu mir einen Gefallen. Wenn Alexandra hinter uns herjagt, halte mir auf jeden Fall die Ohren zu, verstanden?« Ich nickte ihm dankbar zu. Er schien mir helfen zu wollen. »Hey, Mund halten! Ihr Waldmeister meint wohl, ihr könnt euch alles erlauben«, brüllte plötzlich ein Tartarassel, der einen Kontrollgang an der Warteschlange entlang gemacht hatte. Er fixierte Dario mit seinem dummen, aber bösen Blick, eine Hand drohend an seinem Säbel. Kein Wunder, dass einer von dieser Sorte die Akademie einst in Angst und Schrecken versetzt hatte. Man sah ihm richtig an, dass es ihm Spaß machte, zu drohen und Unheil anzurichten. Der zu kleine Kopf mit viel zu großen Ohren saß auf einem massigen Körper, der in einer Art wol lenem Leibchen steckte. Nackte Beine und massige nackte Arme hingen wie pralle Würste am Leib des Tartarasseln. Um die Gelenke waren Eisenbänder geschlagen, als ob er immer bereit sein musste von seinem jeweiligen Herrn in Ketten gelegt zu werden. Wem der Tartarassel diente, das war ihm letztlich egal. Hauptsache, er wurde dafür gut bezahlt. Leise grunzte er, während er Dario abschätzte. Und jetzt erteilte mir der Waldmeister eine Lektion in Sachen Kampf gegen die Angst. »Wenn du dir keinen anderen Ton angewöhnst, dann sorge ich dafür, dass du demnächst in den Zweifelswäldern Dienst machen musst!«, antwortete Dario. »Da kannst du dir einen anderen Ton angewöhnen. Wenn du dann noch Lust dazu hast...« Der Tartarassel erbleichte, ließ von seinem Säbel ab und ging 75
murrend weiter. »Davor haben sie alle Respekt«, lachte Dario. »Und jetzt pass auf, es geht los.« Mit einem kräftigen Schlag brachte er seine ungeheuren Flügel in Stellung. In letzter Sekunde klammerte ich mich um seinen starken Hals und wir hoben ab. Ein paar kräftige Schläge und wir hatten bereits einen kleinen Vorsprung. Aber ein Blick zurück ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Kaum hatte die Sirene unsere Flucht bemerkt, schlug auch sie ihre gewaltigen Flügel auf und nahm mit einem gellenden Schrei die Verfolgung auf. Sie kam sehr schnell näher, aber Dario schlug einige Haken, die mich zwar beinahe von seinem Rü cken katapultierten, aber Alexandra die Verfolgung erschwerten. »Achtung«, schrie Dario plötzlich, »ich fliege jetzt durch die Schluchten des Faltengebirges, da wird sie ihre schlimmste Waffe gebrauchen!« Tatsächlich flog der Waldmeister einen großen Bogen auf eine Gebirgswand zu, an der ich uns schon zerschmettern sah. Doch kurz davor flog er einen geschickten Haken und tauchte fast senkrecht in eine schmale Schlucht ein, dass ich beinahe kopf über von seinem Rücken getaumelt wäre. Wie Dario vorhergesagt hatte, fing die Sirene an zu singen, sobald wir in die Schlucht geflogen waren. Ich klammerte mich mit meinen Beinen um den starken Gürtel Darios und hielt ihm die Ohren zu, so fest ich konnte. Wenn der Gesang ihn lähmte, waren wir beide verloren. Ich war allerdings schutzlos jedem Geräusch ausgeliefert. Und dann hörte ich dieses Lied. Es war so traurig, dass sich in mir das Gefühl völliger Hoffnungslosigkeit breit machte. Ich wollte nur noch loslassen und mich in die Tiefe stürzen. Dario spürte das. »Halt durch!«, schrie er. »Gleich erreichen wir das Gurgelgesöff!« Ich hatte weder eine Ahnung, was das Gurgelgesöff war, noch 76
konnte Dario einen Hoffnungsfunken in mir entzünden. Die Sirene sang, so schön sie konnte. Ich musste an meinen Vater denken und sah plötzlich das Trugbild vor mir, wie er in einem satanopolitischen Kerker einsaß und täglich dem Sterben unbekannter Wesen zusehen musste. Eine Folter, die auch ihn bald umbringen würde. Ich sah das Bild meiner Mutter, die keine Ahnung hatte, wie sie mich und meinen Vater retten konnte, geschweige denn, ob wir überhaupt noch lebten. Ich sah meinen Grabstein und fragte mich, wie viele Tage auf meinem Kreuz eingeritzt sein würden, wenn ich unter der Blumenerde des Eudamonischen Friedhofs liegen würde. Ich würde loslassen, jetzt sofort. Sollten sie alle sehen, wie sie klarkamen, ich würde aufgeben. »Du schaffst es! Wir sind fast da!«, schrie Dario, als er merkte, dass sich mein Griff um seine Ohren lockerte. Die Sirene schien zu wittern, was Dario vorhatte, und legte noch einmal nach. Sie hauchte ein Lied, das so traurig war, dass mir die Tränen in die Augen schossen. Woher wusste dieses tückische Wesen, dass diese Arie eine der liebsten meines Vaters war? Vermutlich ein Werk des elendigsten Spions im ganzen Universum, des Infonauten. In diesem Moment ging Dario in den Sturzflug. Wir rasten auf einen Gebirgsfluss zu, der nicht von ungefähr den Namen Gurgelgesöff trug. Er rauschte zwischen den Wänden des Faltengebirges in die Tiefe, dass er jeden Felsen, der sich ihm in den Weg stellte, zu Brei schlug. Ich bekam von dem Sturzflug leichten Ohrendruck, sodass ich die Arie etwas ge dämpfter hörte. Doch die Traurigkeit legte sich dadurch kaum. Kurz bevor ich meinte mit diesem mutigen Waldmeister in das Gurgelgesöff zu stürzen, fing Dario den Sturzflug ab und flog so dicht über das Wasser, dass uns die Gischt der tosenden Wassermassen in die Gesichter spritzte. Die Arie war verstummt, weil das Gurgeln des Wassers lauter war. Aber Alexandra blieb uns auf den Fersen. Ein flüchtiger Blick nach 77
hinten zeigte mir das von Zorn entstellte Gesicht der Sirene. Dario schrie mir etwas zu, aber ich verstand nichts. Ich nahm die Hände von seinen Ohren und hielt mein Ohr so nah ich konnte an seinen Kopf. »... Zweifelswäldern... Vorsicht... abspringen!«, meinte ich zu verstehen, glaubte aber, dass es ein Irrtum war, weil weit und breit kein Wald zu sehen war. Allmählich wurde das Gurgelgesöff immer breiter und tosender. Und dann erkannte ich, dass es nicht mehr lange dauerte, bis es vom Horizont verschwand! Ich nahm an, dass es in einem gigantischen Wasserfall hinabstürzte, wenn meine Orientierung mich nicht trog, wohl in das Sarzinische Trinkmeer, von dem Berry in der Akademie erzählt hatte. Als wir den Wasserfall erreicht hatten, erkannte ich meinen Irrtum. Das Gurgelgesöff stürzte in einen See, dessen Ufer von dichten Wäldern umsäumt waren. Dario flog geschickt am Wasserfall in die Tiefe, sodass uns das Rauschen noch ein Stück vor der Sirene schützte. Mit Schreck erkannte ich, dass Darios Flugmanöver träger wurden. Die Sirene holte auf. Es war nicht mehr weit bis in den Wald. Dario hielt direkt Kurs auf eine grüne Wand, die mir klarmachte, wie gigantisch diese Wälder waren. »Sobald wir in den Wald fliegen, springst du ab!«, schrie er. Das Getöse verstummte und die Sirene ölte wieder ihre Stimme. Aber es waren nur noch wenige Meter, bis wir auf den Wald prallen mussten. Doch auch diesmal überraschte Dario mich. Mit einer gekonnten Flugrolle verringerte er so plötzlich seine Flughöhe, dass es ihm gelang, in eine kleine Schneise einzutauchen. Sobald wir sie erreicht hatten, sprang ich ab. Wahrend ich auf den Boden prallte und einen stechenden Schmerz in meiner Schulter spürte, schoss Dario weiter. Ich robbte schnell hinter einen starken Baum. Genau in dieser Sekunde rauschte auch die Sirene in den Wald und nahm Darios Verfolgung auf. 78
In wenigen Augenblicken war sie aus meinem Blick verschwunden. Ich tastete meine Schulter ab. Sie schmerzte, aber gebrochen war nichts. Schnell rappelte ich mich hoch und schlug mich in den Wald. Egal was mich hier erwartete, nichts war schlimmer als der Gesang von Alexandra, von dem ich mich langsam erholte. Eins beschäftigte mich ganz besonders, während ich mich immer tiefer in den Wald begab. War es ein Zufall, dass der Waldmeister Dario genau zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort war? Und wenn es kein Zufall war - wieso eigentlich hatte Dario mir geholfen?
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Anders als ich zunächst vermutete, sollte ich mich schon bald nach einer Gesangsfolter durch die Sirene sehnen, wenn ich dafür nur aus diesen Wäldern entkommen konnte. Mir fiel plötzlich das schreckentstellte Gesicht des Tartarasseln wieder ein, als Dario ihm eine Versetzung in die Zweifelswälder in Aussicht gestellt hatte. Und ich zweifelte keine Sekunde daran, in diesen Wäldern gelandet zu sein. Noch war es eine Ahnung, aber bald sollte ich Gewissheit haben. Zunächst fiel es mir schwer, hier eine Gefahr zu vermuten. Es war der mit Abstand schönste Wald, in den ich jemals gegangen war. Bäume, als ob man sie in die Landschaft gemalt hätte. Gerade wie Kerzen wuchsen viele in den Himmel, andere hatten Furchen und Rinnen und Stämme breit wie Häuser. Alle Kronen und Wipfel des gesamten Waldes schienen zu einem einzigen grünen Dach verwachsen zu sein. Hier unten jedoch war der Wald luftig und auf eine merkwürdige Art in einem sanften Grün erleuchtet. Zunächst war ich so sehr von diesem Wald fasziniert, dass ich mit Freude immer tiefer in ihn hineinwanderte. Dabei bestand nicht die Gefahr, dass ich mich verlief, denn ich hatte den 80
einzigen Pfad genommen, der geradewegs weiterführte. Am Wegesrand hatte ich hier und da einige bunte Federn gefunden, die mich an Dario erinnerten. Diese Wälder schienen häufiger von Waldmeistern besucht zu werden. Nach einer Weile veränderte sich die Umgebung. Obwohl das grüne Dach über mir so dicht war wie am Anfang, wurden die Baumstämme lichter. Außerdem wurde der Boden immer feuchter, sogar morastig. Hier und da sank ich bis zum Knöchel ein. Ich bemerkte plötzlich, wie sich wenige Meter vor mir ein Loch im grünen Waldgewölbe auftat. Es sah so aus, als hätte jemand mit einem scharfen Messer ein kreisrundes Stück aus den grünen Baumwipfeln herausgeschnitten. Tageslicht fiel durch das Loch auf den Waldboden. Als ob einer die runde Fläche, auf die das Licht fiel, markiert hatte, war der Rand mit großen Steinen belegt. Ich ging darauf zu. Irgendetwas hielt mich davon ab, in den Steinkreis hineinzumarschieren. Ich sah in den Himmel. Es schien, als weigerten sich die Bäume dieses Loch dort oben zuzumachen. Der Kreis faszinierte mich. Aber ich hatte hier in Aholl schon genug erlebt, so dass ich vorsichtig geworden war. Ich beschloss den Steinkreis einmal zu umwandern. Doch es fiel mir nichts Ungewöhnliches auf. Mit einem vorsichtigen Schritt betrat ich den Kreis. Genau in diesem Moment sah ich, dass dort jemand bereits auf mich zu warten schien. Und dieser jemand, das war - ich selbst! Ich starrte in das Gesicht des perfektesten Doppelgängers von Quentin Fux, den man sich vorstellen kann. Mein Gegenüber zuckte mit keiner Wimper. »Hey! Wer bist du?«, fragte ich und merkte gleich, wie blöd das klang. »Trete in den Kreis, dann sage ich's dir«, war die Antwort. Warum nicht?, dachte ich und machte einen Schritt in den Kreis hinein. Genau hier schlug die Sonne ihr Licht auf mich nieder wie ein Scheinwerfer, der auf diesen Steinkreis 81
ausgerichtet war. Ich ging weiter und konnte mir nach ein paar Schritten selbst in die Augen starren. Ich tastete nach einem Spiegel, aber ich fand keinen. Zweifellos war dieser Doppelgänger echt. Ich fand meine Worte wieder. »Wer bist du?«, fragte ich wieder. »Mein Name ist Quentin Fux«, antwortete er. »Aber, das ist doch mein Name!«, sagte ich. »Natürlich. Und meiner auch ...» Er schien sich überhaupt nicht aufzuregen oder zu wundern. Er strahlte nur eine mysteriöse Gefühlskälte aus. »Wie kommt es, dass du genauso aussiehst wie -ich?«, fragte ich ihn. »Und umgekehrt?«, fragte er. »Wie - und umgekehrt? Ich bin doch das Original!« Da war ich mir absolut sicher. »Das wird sich noch zeigen. Wer von uns den Kreis verlässt, der ist das Original.« Weil mir plötzlich ein schlimmer Verdacht kam, versuchte ich mit drei, vier schnellen Schritten den Kreis zu verlassen. Doch statt zwischen den Steinbrocken hindurch nach draußen schlüpfen zu können, stieß ich gegen eine unsichtbare Wand. Ich war in dem Steinkreis gefangen! Ich drehte mich wieder zu meinem Doppelgänger um. Er stand immer noch regungslos. »Was hast du vor?«, fragte ich und versuchte den Klang einer Drohung in der Frage unterzubringen. »Ich will den Kreis verlassen und diesmal bist du es, der hier bleibt. Du hast genug Unheil angerichtet! Ich darf gar nicht dran denken, was du Papa angetan hast.« Ich war fassungslos. »Was habe ich denn Papa angetan?«, fragte ich. »Jetzt tu nicht so scheinheilig! Du wusstest doch genau, was du tust. In dem Moment, als du dich zu dem Quiz entschlossen hast, war Papas Schicksal besiegelt! Meinst du, für Zebul war 82
es ein Problem, eine kleine Propellermaschine vom Himmel zu pflücken? Das ist für ihn wie Fliegenfangen. Wer weiß, ob Papa überhaupt noch lebt.« »Moment mal, da hast du was falsch verstanden! Ich wollte dieses Quiz gar nicht machen. Aber dieser Zebul hat mich irgendwie dazu gezwungen! Ich dachte außerdem, alles wäre nur ein Traum, aber plötzlich hing ich wirklich in dieser Geschichte drin.« Ich verteidigte mich gegen meinen eigenen Doppelgänger. »Du weißt doch genau, dass du es nicht schaffen kannst. Hier ist dein Weg zu Ende, in diesem Kreis!«, rief er. »Wieso, was ist das denn für ein Kreis?«, fragte ich. »Ich dachte, du wärst so intelligent. Das ist natürlich dein Zweifelskreis. Und ich bin eine andere Möglichkeit von dir. Und ich schwöre, von uns beiden werde ich diesen Kreis verlassen und du findest hier dein Grab. Denn ich habe keinen Zweifel daran, was richtig ist.« Er hielt die Handfläche seiner rechten Hand hoch und zeigte sie mir: kein Q-Brandzeichen! »Heißt das, du willst nicht am Quiz teilnehmen?«, fragte ich. »Natürlich nicht! Ich will nach Hause. Mama ist krank vor Sorge«, antwortete er siegessicher. »Weißt du, dass du Papa aufgibst, wenn du das Quiz nicht machst?« »Was soll das? Dir ist doch klar, dass du bei dem Quiz wie ein jämmerlicher Versager untergehst! Mensch, das ist der Teufel höchstpersönlich, der dir da gegenübersitzt. Außerdem wirst du es nicht bis zum Quiz schaffen. Da gibt es ganz wichtige Leute, die etwas dagegen haben. Solltest du überhaupt bis zu unserem Geburtstag in Satanopolis ankommen, dann bist du so fertig, dass du gleich umkippst. Papa hat sich die Sache doch auch selbst eingebrockt, er kann ja schließlich einem anständigen Beruf nachgehen!« Ich spürte, wie es in mir kochte. 83
»Was bist du nur für ein Feigling! So was nennt sich Möglichkeit von mir? Und jetzt? Ich will aus diesem Steinkreis raus! Ich habe es eilig. Mein Q beginnt schon zu verheilen.« »Ich werde den Zweifelskreis verlassen, nicht du. Denn du weißt, dass du scheitern wirst. Du weißt, dass die Möglichkeit besteht! Und du hast Angst«, rief er. Allmählich verstand ich, wie die andere Möglichkeit von mir vorging. Er versuchte Zweifel zu säen und ihn in mir wach zu halten. Offenbar hatte mich der Zweifel nicht nur hergeführt, sondern er war es auch, der mich hier festhielt. Und dass ich Angst hatte, hatte er richtig erkannt. Aber selbst als ich das festgestellt hatte, konnte ich den Zweifel nicht einfach aus meinem Kopf kriegen. Ich musste dauernd daran denken, dass ich es nicht schaffen würde. Dass ich zu spät zum Quiz kommen würde. Dass mein Vater längst ein Opfer des Teufels geworden war. Und dass ich den Rest meines Lebens in Aholl verbringen musste. Die andere Möglichkeit von mir sah die steigenden Zweifel mit großer Genugtuung. Er bewegte sich langsam auf den Rand des Steinkreises zu. Er schien keine Zweifel zu haben. Er schien sich seiner Sache sicher zu sein und wollte aufgeben, zurück nach Hause gehen. Wenn er es erst einmal schaffen würde, den Steinkreis zu verlassen, dann wäre ich verloren und mein Vater auch. Unwillkürlich berührte ich meine rechte Hand, an der Aurora steckte. Wenn sie mein Joker in diesem teuflischen Quiz war, warum meldete sie sich dann jetzt nicht? Wollte sie mich auch scheitern sehen oder hatte sie hier in diesem Kreis selbst Zweifel? Aber das Quiz hatte ja noch gar nicht begonnen, vielleicht sparte sie ihre Kräfte für schlimmere Momente? Plötzlich meinte ich ein Rufen zu hören. Es war so leise, dass es auch eine Einbildung gewesen sein konnte. Doch im Gesicht meiner anderen Möglichkeit sah ich, dass auch er es gehört hatte. Ich horchte. Da war es wieder, aber ich 84
konnte kein Wort von dem verstehen, was dort gerufen wurde. Ich wusste auch nicht, wer dort rief. Doch plötzlich sah ich es. Dort am Rand des Steinkreises stand Otoll, der Lichtwicht, und schrie sich die Kehle aus dem Hals. Komischerweise gab mir das Erscheinen dieses todessüchtigen kleinen Kerls sofort Zuversicht, augenblicklich ließen mein Zweifel und meine Angst nach. Ganz sicher war ich, als ich sah, wie die andere Möglichkeit von mir aus dem Kreis springen wollte, aber scheiterte. Hier am Rand des Kreises konnte ich Otoll etwas besser verstehen. Er schien mir Verse zuzubrüllen, die wahrscheinlich so düster waren, dass sie mir ohnehin keinen Mut gemacht hätten. Aber es war etwas anderes, was mir das Herz aufgehen ließ. Es war etwas, das ich lange nicht mehr gehabt hatte, nämlich das Gefühl, in einem schweren Moment einem Freund zu begegnen. »Otoll, hol mich hier raus!«, rief ich. Der Lichtwicht schien verzweifelt und brüllte. Aber die undurchsichtige Mauer um den Steinkreis, in den einen die Zweifel leicht hineinführten und festhielten, ließ kaum Geräusche durch. Plötzlich sah ich Otoll an, dass er eine Idee hatte. Er zückte aus einem ledernen Beutel, den er am Körper trug, einen Notizblock und kritzelte ein paar Worte drauf. Es schien ihn einige Überwindung zu kosten, denn er machte einen sehr gequälten Gesichtsausdruck. Dann hielt er mir den Zettel hin: Du schaffst es! Glaube an dich und geh in
Dass er die letzten Worte durchgestrichen hatte, war der Beweis seiner Freundschaft zu mir. Zuerst verstand ich nicht, was Otoll meinte, doch dann begriff ich, dass er einen alten Leitsatz Atarax Ataraxias zitierte, dem ich in der Akademie keine große Bedeutung beigemessen hatte. Die beste Medizin gegen Zweifel waren Mut und Überzeugung. Ich merkte sofort, wie es wirkte. Meine Zweifel nahmen rapide ab. Ein Blick ins Gesicht meiner anderen Möglichkeit bestätigte 85
dies. »Tu es nicht«, rief er, jetzt unsicher und mit einem flehenden Unterton. »Du rennst in unser Verderben!« Aber ich ließ mich nicht mehr einlullen. Ich empfand plötzlich Mitleid für ihn. »Bleib du ruhig hier. Ich aber werde jetzt nach Satanopolis gehen und unseren Vater retten!« Ohne zu zögern ging ich den letzten Schritt an den Rand des Steinkreises. Mühelos konnte ich durch die unsichtbare Wand gehen und den Kreis verlassen. Draußen fiel ich Otoll um den Hals. »Wie hast du mich gefunden? Wie bist du überhaupt aus der Akademie herausgekommen?« »Das ist schnell erzählt«, sagte Otoll und zückte zur Gedächtnisstütze seinen Notizblock. Otolls Geschichte klang simpel: In meinem Schatten hatte er sich durch die Öffnung der Akademie geschlichen, hatte sich todesmutig die Luziferischen Klippen hinuntergestürzt und war von den Fluten des Martialischen Ozeans so optimistisch gestimmt worden - bei todessüchtigen Lichtwichten bewirkte das schwarze Wasser offenbar das Gegenteil -, dass er singend und pfeifend ans ahollische Festland geschwommen war. Kaum an Land, war die alte Stimmung zurückgekehrt und Otoll hatte sich ohne Furcht in einen Orkan gestürzt, der ihn am Rande der Zweifelswälder ausgespuckt hatte. Von dort sei er den einzigen Pfad hierher gewandert. »Und als ich den Zweifelskreis sah, bin ich näher rangegangen und habe dich erkannt. Da wusste ich gleich, was los war. Du hast eine andere Möglichkeit von dir getroffen, nicht wahr?« »Allerdings!«, antwortete ich. »Und beinahe wäre ich ihm auf den Leim gegangen. Ich bekam immer mehr Zweifel, bis du zum Glück gekommen bist.« »Das ist ja das Problem der Zweifelswälder. Sie lullen einen ein mit ihrer Schönheit, bis man sein Ziel vergisst. Und dann taucht wie aus dem Nichts der Zweifel auf.« 86
»Du kennst dich hier wohl aus, was?«, fragte ich. »Klar, ich sagte dir ja, ich kenne Aholl wie meine Westentasche, besonders die Gefahren. Ich hab die meisten schon ausprobiert.« Es war ein Rätsel, wie ein Wesen, das es so sehr auf den Tod anlegte, diesem immer wieder von der Schippe springen konnte. Anders als ich noch in der Akademie vermutet hatte, war ich jetzt froh, dass ich mit Otoll einen Freund an meiner Seite hatte. »Hast du schon eine Ahnung, wohin du jetzt gehen willst? Es wird bald dunkel«, meinte Otoll. Ich schüttelte den Kopf. »Erst mal raus aus den Zweifelswäldern«, sagte ich und Otoll nickte. »Wenn ich mich nicht täusche, dann sind drei Tage vergangen, seit wir die Akademie verlassen haben«, sagte Otoll. »Wir müssen uns verdammt beeilen. Wir müssen den direkten Weg nehmen.« »Was sollte uns daran hindern?«, fragte ich. »Der direkte Weg führt mitten durch die Blutrippen.« »Blutrippen?« Schon dieser Name ließ ahnen, was es für eine Gegend war. »Halb so schlimm, leider«, sagte Otoll. »Blutrippen wird die sagenumwobene Schluchtenlandschaft Aholls genannt. Hier wachsen die Trauben, aus denen der Blutwein gemacht wird. Allerdings ...« Otoll schien zu überlegen, ob er offen zu mir sein sollte. »Allerdings ... ?«, fragte ich. »Allerdings sind die Blutrippen nicht nur ein noch gigantischeres Gebirge als die Falten, sondern auch das Reich von Belphegor dem Roten.« Ich konnte nicht verbergen, dass mich das schockte. Wenn ich dem Admiral und auch Lydia glauben konnte, war Belphegor mein schlimmster Feind. Aber was nützte es, wenn ich ihm auswich und dadurch mein Ziel nicht pünktlich erreichte? »Haben wir eine Wahl?«, fragte ich Otoll. 87
»Nein, keine. Wenn du es pünktlich zum Quiz schaffen willst, nicht. Wir müssen versuchen, es vor Nachteinbruch bis nach Axen zu schaffen, der Stadt in der Mitte der Blutrippen. Ich kenne einen Gasthof dort, da können wir ausruhen.« »Otoll, das hört sich gut an«, sagte ich froh. »Die Sache hat auch noch einen anderen Vorteil«, meinte der Lichtwicht und rieb sich die Hände vor lauter Vorfreude: »In Axen lauern praktisch an jeder Ecke tödliche Gefahren!«
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Otoll war den ganzen Weg über sehr schweigsam, er schien mit seinen Gedanken ganz woanders zu sein. Einmal bückte er sich am Wegesrand, hob etwas auf und steckte es in seine Tasche. Nur wenig später riss er eine Weidenrute aus. Er verknotete sie, stellte sich vor mich und hängte mir die verknotete Rute wie eine Kette um den Hals. Jetzt bemerkte ich, dass ein Stein daran hing, ein Stein mit einem Loch in der Mitte. Merkwürdig war, dass Otoll dazu kein Wort sagte. Ich meinte nur zu bemerken, dass er dabei immer trauriger wurde. »Was bedeutet diese Kette?«, fragte ich ihn. »Es ist eine Art Wecker. Du wirst ihn brauchen«, antwortete er knapp. Wir gingen weiter und ich forcierte das Tempo, denn in wenigen Stunden würde es bereits dunkel sein. Inzwischen war weit und breit kaum noch ein Baum auszumachen. Stattdessen hatte eine rot blühende Sträucherund Steppenlandschaft das gesamte Panorama eingenommen. Allmählich wurde mir klar, warum diese Gegend die »Blutrippen« genannt wurde. An den Sträuchern wuchsen rote Früchte, die wie Trauben aussahen. 89
Immer wieder mussten wir in tiefe Schluchten hinabklettern, tief unten einen reißenden Bach überqueren und auf der anderen Seite den Anstieg bewältigen. Oben angekommen einen schmalen Grat übersteigen, nur um dann wieder in eine noch tiefere Schlucht zu klettern. »Du musst mitzählen«, meinte Otoll irgendwann völlig außer Puste, »es ist die siebte Schlucht, in der Axen liegt. Die wievielte haben wir?« »Die fünfte!«, antwortete ich. Als die Sonne unterging und die Blutrippen nun restlos in Rot tunkte, hatten wir gerade den Grat vor der siebten Schlucht erreicht. Wir waren mit unseren Kräften am Ende. Zu allem Überdruss war der Hang in die siebte Schlucht extrem steil und lang. Mehrfach mussten wir ausruhen. Die meiste Zeit torkelten wir mehr als zu klettern, denn Licht schien es in dieser Schlucht keines zu geben. Als ich schon insgeheim daran dachte, in der Schluchtwand zu übernachten, sah ich einen kleinen Strauß von Lichtern tief unten auf dem Grund der Schlucht. Das gab uns noch einmal Kraft. An einem ins Tal stürzenden Bach, der blutrot war wie die Trauben an den Sträuchern, kletterten wir entlang, die letzte Etappe mit allen Kraftreserven, denn wir waren müde und hungrig. Schließlich lag sie direkt vor unseren Füßen, Axen, die kleine Stadt mitten in den Blutrippen, dem Reich von Belphegor dem Roten. Während wir kurz verschnauften, stutzte ich, denn trotz der Dunkelheit konnte ich einige Schatten erkennen, die auf dem Pfad am Bach, den wir hinabstiegen, bergauf kletterten. Ich gab Otoll ein Zeichen und wir versteckten uns vorsichtshalber unter einem Bluttraubenstrauch. Als die Schatten näher kamen, erkannte ich auch die Schemen - es war eine kleine Gruppe von Schleichnasen! »Was machen wir jetzt?«, fragte ich. 90
Otoll schien nachzudenken. »Was hältst du davon, wenn ich mich auf sie stürze und du dich schnell in die Stadt schleichst?«, fragte der Lichtwicht. »Damit ist uns nicht geholfen. Da muss uns schon etwas Besseres einfallen.« Es sah nicht so aus, als ob ich das gleiche Glück wie auf dem Eudamonischen Friedhof haben sollte. Plötzlich hatte ich die Idee. »Ich weiß es!«, flüs terte ich. »Der Bach. Da können sie uns nicht riechen! Schnell, bevor es zu spät ist!« Wir robbten über den felsigen Boden zum Bach und rollten in das blutrote Wasser hinein wie Kieselsteine, holten tief Luft und tauchten unter. Nur wenig später hatten die Schleichnasen die Stelle erreicht, an der wir unter dem Busch gekauert hatten. Als ich meinen Kopf hob, meinte ich zu erkennen, dass eine Schleichnase an der Stelle am Busch besonders lange schnüffelte. Doch dann ging sie weiter, ohne einen sichtbaren Alarm zu schlagen. Unser Plan schien funktioniert zu haben. Ich tauchte wieder unter und ließ mich mit Otoll im Schlepptau den Bach hinunter mitten nach Axen spülen. Wir blieben so lange unter Wasser, bis wir fast erstickten. Denn es war nicht auszuschließen, dass weitere Trupps von Schleichnasen unterwegs waren. Als wir nicht mehr konnten, tauchten wir prustend auf und sahen uns vorsichtig um. Wir waren wohl mitten in der Stadt, an einem kleinen Platz, der zwar von großen Gebäuden umgeben war, aber vor uns lag wie ausgestorben. Kein Wesen war weit und breit zu sehen. Otoll stupste mich plötzlich an und zeigte auf ein kleines Gasthaus, das seine Glanzzeiten längst hinter sich hatte. Es hieß »Zum unkalkulierbaren Risiko«, wie den verwitterten Buchstaben auf einem Holzbrett zu entnehmen war. Es war der einzige Fleck, an dem Licht brannte. Wir ließen uns ein wenig abtropfen und schlichen uns dann rüber zu dem Gasthaus. »Zum unkalkulierbaren Risiko« war 91
nicht gerade ein Name, der mir Vertrauen einflößte. Vorsichtig warf ich einen Blick durch die Fensterscheibe nach innen. Obwohl Licht brannte, war niemand zu sehen. Dann entdeckte ich einen alten Mann, der an der Theke lehnte und ganz in Gedanken versunken war. Ich brauchte Otoll nicht zu fragen, ob wir es riskieren sollten. Ich öffnete die Tür. Der Alte schoss mit dem Kopf hoch und starrte uns an, als ob es ein Verbrechen wäre, abends in ein Gasthaus zu gehen. »Was wollt ihr denn noch hier?«, fragte er und in seiner Stimme lag das blanke Staunen. »Wir möchten gern ein Zimmer für die Nacht und etwas zu essen. Das ist doch ein Gasthaus hier?«, fragte ich. »Ist es ...«, antwortete der Alte. »Da habt ihr Glück...« »Wieso?«, fragte Otoll und setzte sich auf eine Bank in der Nähe des kleinen Kamins. »Weil ich morgen für eine Weile schließe. Ich gehe nach Satanopolis. Setzt euch, ich hole was zu essen.« Der Alte verschwand hinter einer kleinen Tür und ich setzte mich zu Otoll auf die Bank. Kurz darauf kam der Alte wieder, auf beiden Armen kleine Platten mit Häppchen balancierend. Ohne zu fragen, was es war, fingen wir an zu essen. Nachdem er uns ein Weile zugesehen hatte, fragte er: »Was hat euch denn hierher geführt? Die Stadt ist doch wie ausgestorben - jetzt, so kurz vor dem Quiz.« Ich antwortete: »Wir sind etwas spät dran, aber auch auf dem Weg nach Satanopolis. Da haben wir was zu erledigen.« »Wollt wohl auch beim Quiz dabei sein, was? Ist ja 'ne ganz schöne Aufregung dieses Jahr.« »Aufregung, wieso?«, fragte ich scheinheilig. »Na ja. Es wird viel erzählt. Zebul soll gestorben sein. Er soll kurz vor seinem Tod einen Kandidaten bestimmt haben, dem es angeblich gelungen ist, nach Aholl zu kommen!« Der Alte lachte hämisch. »Was die Leute alles erzählen! Einer, der nach 92
Aholl gekommen sein soll, unglaublich!« »Warum ist das unglaublich?«, fragte ich. Der Alte sah mich prüfend an. »Weißt du etwa nicht, dass der Rote das niemals zulassen würde. Dass einer nach Aholl kommt, der ihm seine Macht streitig machen könnte?« Ich log. »Doch, klar, sicher! Das würde der Rote nie zulassen!« »Sag mal, du erlebst doch eine Menge hier in dei nem Gasthaus. Hat jemals einer etwas vom Quiz erzählt? Wie es abläuft und so?«, fragte Otoll. Der Alte sah ihn erstaunt an. »Na hör mal, dort drüben, genau dort, hat vor tausend Jahren der letzte Kandidat auf seiner Durchreise nach Satanopolis gesessen! Schließlich sind wir das letzte Gasthaus vor der Hauptstadt! Mein Vater hat es mir erzählt. Und der hat es von seinem Vater erfahren ...» Der Alte zeigte auf eine Eckbank gleich neben dem Fenster. »Und dann ging er in sein Verderben! Als tapferer Junge ging er fort und kehrte zurück als ... Belphegor der Rote!« Das saß. Otoll und ich starrten uns an. »Du meinst, Belphegor war der Kandidat im letzten Quiz?«, fragte ich. »Ich dachte, er ist der Sohn des Teufels?« »Ihr scheint ja wirklich aus dem Tal der Ahnungslosen zu kommen, ihr zwei! Jeder weiß doch, dass der Verlierer im Quiz vom Teufel adoptiert wird. Nur der tapfere Othello hat sich geweigert. Er ist lie ber in den Tod gegangen, als sich zum Sohn des Teufels machen zu lassen.« Otoll hatte gleich mehr Respekt vor dem Alten, als der Name seines berühmten Ahnen gefallen war. »Was wissen Sie denn über das Quiz selbst?«, fragte ich geradeheraus. »Du fragst gerade so, als ob du selbst der Kandidat wärst!«
Ich muss wohl sehr erschreckt geguckt haben, denn der Alte meinte freundlich: »War nur Spaß. So ein Fliegengewicht wie du würde es doch nie schaffen, dem Teufel sein Gedächtnis 93
wiederzugeben! Tja, was weiß ich über das Quiz? Vor allem, dass diesmal alles ganz anders ist. Vorgestern kam ein Trupp Tartarasseln hier durch und machte bei mir Station. Sie zogen einen Wagen, der ganz in schwarze Planen gehüllt war. Darunter schienen sie etwas sehr Wertvolles zu verbergen. Später dann, als ich ihnen genug Blutwein ausgeschenkt hatte, erzählte einer, dass sie eine Geisel nach Satanopolis brachten. Eine Geisel des Teufels ... Kaum war der Geiseltransport weg, da kreuzte Gorgonzola, der Diener des Roten, hier auf und erkundigte sich nach der Geisel. Ich sage euch, da ist was Unheimliches im Gange ...« »Was? Haben Sie den Mann zu Gesicht bekommen?«, fragte ich bestürzt. »Nein, ich hörte nur, dass es ihm schlecht ging. Die Sache war streng geheim. Angeblich. Aber wer weiß, vielleicht ist dem Tartarassel der Blutwein zu Kopf gestiegen.« Ich schwankte zwischen Tatendrang und völliger Erschöpfung. Otoll hatte abgeschaltet und war tief in Gedanken versunken. Ich versuchte einen klaren Kopf zu behalten. Doch plötzlich spürte ich, wie müde ich war. Ein Blick in Otolls Gesicht zeigte, dass es ihm nicht besser ging. »Kannst du uns das Zimmer zeigen?«, fragte ich den Alten. »Ja. Ich habe unter dem Dach ein kleines Gästezimmer«, murmelte der Wirt und schlurfte voran, die Treppe hoch. Ich stieß Otoll an und wir folgten ihm. In dem kleinen Dachzimmer stand ein recht schmales Bett, aber für eine kurze Nacht sollte es reichen. Ich hatte vor, bereits in wenigen Stunden wieder aufzubrechen. Ich durfte keine Zeit mehr verlieren. Wenn der Alte Recht hatte, dann ging es meinem Vater mehr als schlecht. Aber er lebte! Und das ließ mich neue Kräfte spüren. Ich sah noch einen Augenblick durch eine Ritze im Dach in den ahollischen Nachthimmel, an dem diesmal kein einziger Stern zu sehen war. Ich hörte auf Otolls ruhigen Atem. Nach 94
wenigen Minuten war auch ich eingeschlafen. Ich wusste zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass bald etwas passieren würde, das dem Namen des Gasthauses alle Ehre machen sollte.
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Als ich von einem Geräusch geweckt wurde, wusste ich nicht, wie lange wir geschlafen hatten. Ich schlug die Augen auf- und sah direkt in die hässliche Fratze des Infonauten! Er schien mich mit seinem Blick regelrecht aufzuspießen. Jeder Muskel in meinem Körper war gelähmt. Warum rührt sich Otoll nicht?, schoss es mir durch den Kopf. Ich begann mich umzusehen. Ich war restlos umzingelt. Als ob der Infonaut nicht gereicht hätte, um mich fertig zu machen, standen mehrere Tartaras-seln rings um das Bett. Sie fixierten mich mit ihren tückischen Augen. Ihre besondere Anspannung verrieten die Mietschläger durch den leicht vorgeschobenen Unterkiefer. An ledernen Leinen hielten sie knurrende Kampfpudel, deren Lefzen trieften. Ich versuchte mich nicht an die schlimmen Geschichten zu erinnern, die Masha mir über ahollische Kampfpudel erzählt hatte. Merkwürdig war: Sie alle konnten es kaum abwarten, über mich herzufallen, hielten sich aber zurück. Sie schienen auf etwas zu warten, auf ein Zeichen, einen Befehl. Plötzlich packten zwei Taitarasseln mit ihren Schraubstockgriffen meine Handgelenke. Der eine prüfte die Innenseite meiner rechten Hand und murmelte dann etwas in einer Sprache, die ich nicht 96
verstand. »Na, da ist er ja, Quentin Fux ...«, hörte ich plötzlich eine Stimme aus dem Hintergrund. Es war eine leise, hohe Stimme, die einen ganz eigentümlichen Klang hatte. Bevor ich erkennen konnte, wer da sprach, riss mir der andere Tartarassel Aurora vom Finger. Von Otoll hatte ich immer noch kein Lebenszeichen. »Gib den Ring wieder her! Und was habt ihr mit Otoll gemacht?«, rief ich. Die Gestalt aus dem Hintergrund trat hervor. Um mich herum erstarrten alle. Ich machte mich aufs Schlimmste gefasst und schloss die Augen. Jetzt würde ich das Grauen direkt ansehen. Ich krallte meine Hände in die Matratze und öffnete die Augen wieder. So schlimm war es aber dann doch nicht. Vor mir stand jemand, dessen Körper mit einem wallenden roten Umhang verhüllt war. Selbst das Gesicht war unter einer roten Kapuze verborgen. Mir war sofort klar, wen ich da vor mir hatte: Es musste Belphegor der Rote sein, der Sohn des Teufels. Wenn ich ihm doch nur ins Gesicht sehen könnte! »Du willst mich ansehen, nicht wahr?«, fragte er leise. Ich hatte sofort dasselbe Gefühl wie bei der Begegnung mit Zebul. Konnte Belphegor Gedanken lesen? »Aber dafür ist es noch viel zu früh, kleiner Junge. Weißt du, was denen passiert, die mich ansehen?«, fragte er. »Die direkt in das schönste aller Gesichter sehen?« Der Tonfall Belphegors schien mir jeden Muskel im Leib zu lähmen. Jetzt klang es, als spräche er aus einer großen Blechdose heraus. Trotzdem gelang mir ein Kopfschütteln. »Ich will dir eine kleine Kostprobe geben!«, rief die Stimme unter dem Umhang. Belphegor drehte sich um und wandte mir den Rücken zu. Der Kopf bewegte sich langsam, er schien sich ein Opfer auszugucken. Schließlich bemerkte ich, wie er den Umhang 97
anhob und einen Tartarassel ansah, der weiter hinten an der schmalen Treppe zum Dachboden stand. Selbst der Info-naut drehte sich jetzt nervös langsam um die eigene Achse. Es musste so sein, dass der Tartarassel Bel phegor direkt ins Gesicht starrte. Und dann geschah etwas, was sich in mein Gehirn einbrannte wie das schwarze Q in meine Handfläche. Der Tartarassel erbleichte und versuchte wegzuschauen, aber wie unter Zwang sah er sofort wieder in das Gesicht Belphegors. Er begann zu zittern und, ich traute meinem Blick kaum, er begann langsam zu schrumpfen. Kurz darauf bemerkte ich aber noch eine andere Veränderung an dem Tartarassel: einen großen schwarzen Punkt auf seinem Handrücken. Wie ich sofort vermutete, war dieser Fleck auch auf der anderen Handfläche zu sehen, und schon entdeckte ich ihn auf den Oberarmen und auf den Fußrücken. Der Spuk ging jetzt erst richtig los. Aus den schwarzen Flecken wuchsen plötzlich Fäden gerade nach oben, die dann dicker wurden, bis es Schnüre waren. In dem Maße, wie der Tartarassel schrumpfte, wuchsen die Fäden aus ihm heraus, begleitet von einem leisen Wimmern des Söldners. Das ging so lange, bis er drei Köpfe kleiner war und die Fäden so hoch, dass sie fast an die Decke des Zimmers reichten. Mit einem Schlag verstummte der Tartarassel. Er bewegte sich nicht mehr, sondern stand nur da. Dass er lebte, sah ich an seinen Augen, die in ihren Höhlen rollten. Belphegor breitete unter dem roten Gewand einen Arm aus und nahm die Fäden am oberen Ende in die Hand. Ein Zucken ging durch den Körper des Tartarassels, der nun höchstens noch so groß war wie ich. Durch geschickte Bewegungen ließ Belphegor ihn ein paar Schritte torkeln wie eine lebendige Marionette. Ganz gleich, wie grausam dieser grobe Tartarassel war, mir tat er Leid. Seine Artgenossen standen herum, als ginge sie das alles überhaupt 98
nichts an. »Lass ihn los!«, schrie ich. Belphegor hielt überrascht inne. Tatsächlich ließ er die Fäden los und zog seinen Arm zurück. Der Tartarassel sackte in sich zusammen und fiel mit willenlosen Gliedern auf den Boden. Belphegor drehte sich zu mir um, nun wieder mit verhülltem Gesicht. »Gut, wie du willst. Kommen wir zum Wesentlichen. Du weißt, wer ich bin?« Ich nickte. »Aha. Dann merk dir eins: Von zwei Möglichkeiten tritt immer die schlechtere ein. Wenn du das beherzigst, dann kommen wir bis zu deiner Vernichtung gut miteinander aus!« Von der Seite trat ein Tartarassel an Belphegor heran und reichte ihm den Bernsteinring, den er mir vom Finger gerissen hatte. »Ach, Aurora! Sieh an. Endlich hab ich sie. Das ist aber fein. Weißt du, so ein Ring aus weißem Rosenharz, der brennt wie tausend Scheite Mandelholz ...« »Das wirst du nicht tun!«, schrie ich und versuchte mich aus dem Griff der beiden dummen Söldner zu befreien. Das schien Belphegor zu amüsieren. »Ach, du dummer Junge«, sagte er beinahe zärtlich. »Wenn ich dich so anschaue, frage ich mich, was Zebul wohl Besonderes an dir gefunden hat? Ob du wohl ein Geheimnis hast, von dem wir alle nichts ahnen? Warum der dumme alte Talentsucher wohl dachte, dass einer wie du dem Teufel sein Gedächtnis wiedergeben kann? Wo selbst ich es nicht geschafft habe vor fast tausend Jahren. Na, wie dem auch sei. Jedenfalls wirst du das Quiz leider verpassen.« Ich wusste nicht, was mit mir los war. Ob es an der Ausbildung bei Atarax Ataraxia lag? Jedenfalls fiel es mir nicht schwer, meine Angst zu besiegen und all meinen Mut zusammenzunehmen. 99
»Was soll das alles?«, rief ich. »Zuerst soll ich hierher, um an einem Quiz teilzunehmen. Und jetzt soll ich es verpassen? Kannst du mir das erklären?« Belphegor schien nachzudenken. »Nun ja, ich gebe zu, das ist aus deiner Perspektive ein bisschen verwirrend. Aber gut, du sollst deine Erklärung haben.« Belphegor zischte einige scharfe Sätze zum Infonauten in einer Sprache, die ich nicht verstand. Sofort schwebte der Infonaut, begleitet von zwei Tartarasseln, aus dem Raum. Dann wandte der Rote sich wieder mir zu. »Wenn du am Quiz teilnimmst und scheiterst, dann wird sich der Teufel erinnern und seine Macht erneuern für tausend Jahre ...« »Das ist die schlechtere der beiden Möglichkeiten für mich«, sagte ich. »Stimmt. Und wie ich eben bereits sagte, tritt die schlechtere immer ein. Das ist es ja, was Aholl ausmacht. Die andere Möglichkeit wäre, du gewinnst das Quiz. Für dich wäre das gut, für mich wäre das gar nicht gut. Denn du wärst dann derjenige, der die Macht über Aholl innehätte.« Deshalb hatte ich ihn zum Gegner. Er wollte die Macht und ich stand ihm dabei im Weg. Aber warum vernichtete er mich dann nicht direkt? Belphegors blecherne Stimme begann erneut und jagte mir wieder einen Schauer über den Rücken. »Ich kann dich momentan nicht direkt vernichten, so Leid mir das tut. Zebul hat dir das Siegel eingebrannt. Solange du das Siegel trägst, hast du Zugang zum Quiz. Es stellt dich unter den Schutz des Teufels. Denn er braucht dich. Braucht dich, um sein Gedächtnis wiederzufinden. Sich an das zu erinnern, was ihn zum Herrscher Aholls macht. Weil ich dich nicht vernichten kann, kann ich dich also nur gefangen setzen, so lange, bis das Quiz vorbei ist.« »Aber - warum darf ich denn nicht wenigstens mein Glück im Quiz versuchen?«, fragte ich. 100
»Weil du jämmerlich versagen würdest, was wiederum bedeutet, dass der Teufel... sagen wir: geweckt wird. Und das wiederum bedeutet, dass ich nie Fürst der Finsternis werden kann und der ewige Kronprinz bleiben muss.« »Sei doch froh!«, sagte ich. »Wer will denn schon so sein wie der Teufel... ?« Der Rote schepperte ein Lachen. »Du hast keine Ahnung, du harmloser Wurm. Du weißt nicht, was Fürst zu sein bedeutet. Vielleicht werde ich dir kurz vor deiner Vernichtung sagen, was das Geheimnis seiner Macht ist! Wer Fürst ist, der ist der wahre Herrscher Aholls und der ganzen übrigen Welt. Und bald, bald werde ich ihn ablösen!« Belphegor holte tief Luft. »Du täuschst dich! Ich werde am Quiz teilnehmen. Und wenn ich verliere, dann wird der Teufel aus dir rote Grütze machen!« Ich war selbst erstaunt über meinen Mut. Und erschreckt über meine Solidarität mit dem Fürst der Finsternis. Belphegor antwortete nicht, aber ich ahnte, dass er sich Folterqualen für mich ausdachte. Zum Glück lenkte ihn etwas ab: Am Fuß der Treppe waren Geräusche zu hören. Belphegor sah sich um und rief: »Ah, Gorgonzola!« Ein Wesen mit diesem Namen konnte nur auf der Seite des Bösen stehen, dachte ich. Eine Gestalt, wie sie sogar in Aholl sofort auffiel, betrat das Zimmer. Ein Mann mit der Figur eines Tannenzapfens und dem Blick einer beleidigten Katze. Aus seinem Eierkopf wuchsen Haare, die von grünem Schimmelpilz befallen waren. »Da ist er. Hat ganze Arbeit geleistet, dein Verräter. Und jetzt kümmere dich um diesen ... Kandidaten!« In das Wort Kandidat legte Belphegor seine ganze Verachtung. Gorgonzola nickte ergeben. »Was habt ihr mit Otoll gemacht?«, fragte ich wieder. Belphegor schien die Frage zu amüsieren. »Du meinst, was er mit dir gemacht hat? Hat er dir nicht gesagt, wie Axen, die 101
Stadt hier in den Blutrippen, auch genannt wird?« Ich schüttelte den Kopf. »Axen, das ist die Stadt der Verräter. Dort hat er dich hingeführt, der Lichtwicht. Rate mal, warum ...« »Das stimmt nicht!«, schrie ich. »Otoll würde mich niemals verraten!« »Du irrst dich. Für den Tod würde er alles tun. Sobald wir ihn gefunden haben, wird er auch seine Belohnung bekommen! Wir werden ihn in die Dunkelheit sperren, bis er genug belohnt ist. Du weißt, was das für einen Lichtwicht bedeutet...« Belphegor drehte sich um und wollte verschwinden. Doch da fiel ihm noch etwas ein. »Ach, wegen deines Vaters. Vergiss ihn. Es ist zu spät.« Ich sammelte meine ganzen Kräfte und es gelang mir tatsächlich, meinen rechten Arm aus dem Griff des Tartarassels zu lösen. Ich ballte die Faust und schrie: »Mir machst du nichts vor! Mein Vater ist Kryptozoologe, der lässt sich von so was wie dir nicht reinlegen!« Ich spürte seinen Blick wieder durch das Gewand. »Gorgonzola, hol ihn!«, befahl er kurz und ohne eine Regung in der Stimme. Der Prospektor verließ gehorsam den Raum und mich ergriff eine düstere Ahnung. Ich hätte alles gegeben, wenn er niemals wiedergekommen wäre. Aber schon bald hörte ich ihn auf der Treppe zum Dachboden. Als er ins Zimmer trat, sah ich die ganze grausame Wahrheit. Geschrumpft, einen Kopf kleiner als ich und an den Fäden hängend, die ihm aus der Haut gewachsen waren. »Papa!«, schrie ich. Gorgonzola schien Vergnügen daran zu haben, ihn ein wenig tanzen zu lassen. Ein Blick in die Augen meines Vaters bestätigte mir, dass es ihm mehr als schlecht ging. Er trug noch seine Expeditionskleidung, die völlig zerfetzt und blutverschmiert war, wohl eine Folge des Absturzes. Aber: War 102
es überhaupt ein Absturz gewesen? Wenn mein Vater für Zebul ein Faustpfand gewesen war, wie war er dann in die Hände des Roten geraten? Auch diesmal ahnte Belphegor meine Frage. »Er sollte eigentlich eine Art Lebensversicherung für den Teufel sein. Da ich euch Menschen kenne, wusste ich aber, er kann mir viel nützlicher sein als dem Alten, wenn du es schaffen solltest, nach Aholl zu gelangen. Also mussten Gog und Magog ihn aus dem schwarzen Palast des Teufels entführen und ihn in unsere Obhut nehmen. Und wenn ich einmal etwas in meinem Blick habe ... Ich finde ihn so ganz niedlich ...« Der Rote lachte schäbig. Gorgonzola ließ meinen Vater wieder heftiger tanzen. Obwohl sich seine Lippen bewegten, brachte er keinen Laut zustande. »Was muss ich tun, dass du uns freilässt?«, fragte ich Belphegor leise. Die Frage schien den Roten nicht zu überraschen. »Sterben«, sagte er und verließ den Raum beinahe schwebend, ohne einen Laut zu hinterlassen. In meinem Kopf machte sich dasselbe Gefühl breit wie bei der ersten Begegnung mit dem Infonauten. Ich war mehr als bereit Belphegor zu glauben. »Aurora«, flüsterte ich. Aber auch sie konnte mir nicht mehr helfen. Sie war auf Nimmerwiedersehen unter dem roten Umhang Belphegors verschwunden. »Den Gefallen tue ich dir nicht!«, schrie ich ihm hinterher. Aber ich glaubte meinen eigenen Worten kaum. Ich musste zusehen, wie mein Vater von einem Tartarassel weggebracht wurde. »Was macht ihr mit ihm?«, fragte ich entmutigt. »Er kommt in die Hauptstadt. Dort wird er tanzen, bis er nur noch für die Rumpelkammer taugt.« Merkwürdigerweise schien mir die Antwort Gor-gonzolas glaubwürdig. 103
Gorgonzola musterte mich von oben bis unten. Dabei ließ er sich erstaunlich viel Zeit. Einer der Tartarasseln fragte: »Was machen wir mit dem Jungen, Gorgonzola?« »Wir sperren ihn in den Räucherturm!«, sagte der schimmelige Tannenzapfen. Mir schien, das schockierte den Tartarassel. Jedenfalls hatte er einen ähnlichen Gesichtsausdruck wie der, dem Dario mit den Zweifelswäldern gedroht hatte. Ich fürchtete das Schlimmste. Wenn diese groben, tückischen Söldner schon schauderten, was erwartete mich dann jetzt? »In den Räucherturm?«, fragte der Tartarassel mit zitternder Stimme. »Aber ja«, antwortete Gorgonzola. »Dort wird er in der Macht des Teufels baden!«
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Sie banden mich mit einer besonders hinterlistigen Gedankenkette, die sich Gorgonzola selbst ausgedacht hatte, an die fransigen Bauchhaare einer Flitzpiepe, den ahollischen Flugtaxis, die den Körper eines Nilpferdes und den Kopf eines Geiers hatten. Auf ihrem Rücken steckten libellenartige Flügel von der Stärke eines Hubschrauberrotors. Wegen des massigen Körpers konnte die Flitzpiepe, an die ich gebunden war, nur noch im Schritttempo fliegen. Hinzu kam, dass ein besonders massiger Tartarassel sie an einer Kette führte. Außerdem war offensichtlich ein besonders schwaches, krankes Tier ausgewählt worden, das permanent stöhnte. Belphegor wollte kein Risiko eingehen. Vielleicht war das ein Geheimnis seiner Macht? Er ließ mich an einen Ort bringen, an dem ich wieder lernen sollte, was Angst bedeutete. Als ob ich nicht genug Angst gehabt hätte! Unter uns ging ein Trupp Tartarasseln. Rechts und links flankierten dressierte Blauekel den Tross. Wie gierige Würmer fuchtelten ihre Tentakel in der Gegend herum. Vorne, an der Spitze, marschierten drei baumlange Sabyren mit Händen wie Baggerschaufeln, die notfalls Hindernisse aus dem Weg räumen sollten. Hinter der Flitzpiepe, an die ich gebunden war, flogen zwei 105
Moskodile, die immer dann in das Hinterteil der Flitzpiepe stachen, wenn sie zu lahmen drohte. Die Moskodile, die normalerweise nachtaktiv waren, hatten zum Schutz gegen das Tageslicht sonnenbrillenähnliche Hauben über ihren kleinen Kopf gestülpt, aus denen nur ihre Stachel herausragten. Sank die Flitzpiepe unter der Last zu dicht auf den Boden, fletschten die frei laufenden Kampfpudel ihre spitzen Zähne und schnappten nach ihr. Mit großer Anstrengung konnte ich einen Blick nach hinten werfen. Dort saß der schimmelige Prospektor Gorgonzola auf einer wie ein Schlachtross besonders martialisch geschmückten und, im Gegensatz zu meiner, kerngesunden Flitzpiepe. Ein ro ter Umhang war ihr über den Rücken geworfen worden. Und ihr Schnabel steckte in einem goldenen Panzer mit einer pfeilscharfen Spitze. Gorgonzola behielt den ganzen Tross im Auge. Nichts entging ihm und ich begriff mit einem Mal, wie seine Arbeitsweise funktionierte. Jeder hatte Angst vor dem anderen. Und alle hatten Angst vor ihm. Und er diente dem Roten, vor dem er selbst Angst hatte. Für den Erfolg dieses Systems war ich das beste Beispiel. Ich hatte auf der ganzen Linie verloren. Mein Zuhause war zerstört. Ich trug ein Brandzeichen, das nichts mehr wert war. Mein Vater hing an schwarzen Fäden und lag im Sterben. Meine Mutter hatte keine Ahnung, wo ich war. Mein bester Freund war ein Verräter. Und mein Joker war dis qualifiziert worden. Die einzige Chance, den Spieß noch umzudrehen, war im Quiz des Teufels allen Fragen Paroli zu bieten. Den wichtigsten Fragen des Lebens. Doch vom Quiz war ich weit entfernt. Ich spürte, wie die Angst in jeden Winkel meines Körpers kroch, der Messwert war jetzt bestimmt über 100 Bammel. Doch ich spürte auch, dass ich den Willen hatte, mich davon nicht auffressen zu lassen. Mir fielen die Zwergwölfe ein, die trotz ihrer Größe niemals 106
ans Aufgeben dachten, und ich dachte an die Worte Auroras: »Lass dich nicht beirren!« Dabei kam mir der Infonaut in den Sinn. Der fehlte noch in diesem Zug der Schreckgestalten. Aber er war wohl auf der Suche nach Otoll, dem Verräter, dem ich die Erfüllung seines Herzenswunsches wirklich gönnte. »Wohin bringt ihr mich denn?«, fragte ich so laut, dass mich Gorgonzola hören musste. Wenn sich einer traute zu antworten, dann war er es. Er gab die Antwort, die ich schon kannte. »In den Räucherturm.« Ich spürte, wie die Flitzpiepe unter mir zusammenzuckte. »Was erwartet mich dort?«, fragte ich weiter. »Der herrliche Duft von fauligem Moder und Verwesung!« Ich hatte nicht das Gefühl, dass Gorgonzola das ironisch meinte. Im Gegenteil, er sagte es, als spräche er von einer heiß begehrten Delikatesse. »Was passiert dort mit mir?« »Du wirst den Olymp der teuflischen Gedanken kennen lernen ...« Mehr sagte der Prospektor nicht. Es machte ihm Spaß, mich im Ungewissen zu lassen. Ich war sicher, dass wir auf dem besten Weg waren, die Blutrippen zu verlassen. Die Schlucht, die wir gerade durchflogen, war eher ein spitzes Tal. Das Rot der Bluttraubensträucher wurde blasser. Wir waren am letzten Anstieg. »Wo steht der Räucherturm?«, fragte ich wieder laut. »Am Rande von Satanopolis. Du hast einen herrlichen Blick auf die Stadt, in der der Schrecken blüht! Aber er wird dir nichts nützen. Und jetzt mach dir keine weiteren Gedanken. Sobald Gog und Magog zurückgekehrt sind, wirst du all deine Gedanken verlieren!« Das hatte er also vor. Ich sollte alles verlieren, was ich wusste, nachdem ich bereits meine Hoffnung verloren hatte. Und dann 107
wollte er mich einkerkern in diesem Räucherturm am Rande von Satanopolis. Ich war zwar so weit weg vom Quiz wie nie zuvor. Aber nun kam ich wenigstens dem Ort, an dem es stattfinden sollte, immer näher. Ich schloss die Augen und dachte nach. Welchen Plan konnte ich entwickeln? Gab es überhaupt einen Plan, eine Chance auf Erreichen des Ziels? Zuerst einmal müsste ich freikommen. Aber wie sollte das gehen? Und wenn es gelänge, wie käme ich innerhalb eines Tages nach Satanopolis? Und dort das Quiz: Wie sollte es ablaufen? Kam der Teufel herein, begrüßte alle, Applaus? Hielt er Karten mit Fragen in der Hand? Was ist der höchste Berg der Welt? A, B, C oder D? Ich hätte eine echte Chance, das Quiz zu gewinnen, wenn es um solche Fragen gehen würde. Aber das konnte nie das Quiz des Teufels sein. Das musste teuflischer sein. Was, wenn das Quiz sich nur um das Paradies des Teufels drehte, also nur um Aholl? Frage: Was ist das größte Meer Aholls? Antwort: Keine Ahnung! Plötzlich riss ein Blick mich aus meinen Gedanken. Wir befanden uns gerade an einem Anstieg und verließen die letzte Schlucht der Blutrippen. Unweit des Trosses, mit dem ich in die Gefangenschaft geführt wurde, aber doch so weit, dass es nicht direkt auffiel, entdeckte ich eine Gestalt, die auf der Spitze eines starken Bluttraubenstrauches saß. Aus meiner Position heraus waren nur Umrisse zu erkennen, aber ich wusste sofort, dass dort Dario saß! Er schien so zu tun, als pflücke er Trauben, aber ich spürte deutlich, dass er mich beobachtete. Plötzlich schlug er seine gewaltigen Flügel auf, sodass sämtliche Früchte von dem Strauch fielen. Er erhob sich mit zwei, drei kräftigen Schlägen hoch in die Luft und schien seine Höhe absichtlich zu verrin gern, als er direkt über uns war. Nach einem eindringlichen 108
Blick auf mich schlug er einen Haken und verschwand in den Klüften der Blutrippen. Der Prospektor sah ihm nach und ich meinte auf seinem Eierkopf flüchtig ein Stirnrunzeln zu erkennen. Obwohl ich in der schlimmsten Lage meines Lebens war, hatte ich plötzlich ein Gefühl der Hoffnung, wie es mir bisher nur Aurora gegeben hatte. Ich beschloss einen Plan zu entwickeln, egal wie aussichtslos er war. Und der erste Schritt zu diesem Plan war, dass ich mich unter allen Umständen davor schützen musste, dass der Infonaut die Festplatte in meinem Gehirn löschte. Denn nur mit dem, was ich wusste, was ich gelernt hatte und was ich bis jetzt erfahren hatte, hatte ich eine Chance. Mein Entschluss stand fest. Mir der rechten Hand kam ich an meine rechte Hosentasche, in der der kleine Beutel mit dem Sand aus den Mühlen von Otolls Onkel war. Es gelang mir, mit spitzen Fingern ein paar Körner zu fassen und trotz des geringen Spielraums, den mir die Kette ließ, den Sand in ein Auge zu rieseln. Ich hatte noch keinen Atemzug getan, da war ich bereits eingeschlafen. Ich bemerkte nicht mehr, dass mir das Säckchen mit dem Sand aus der Hose fiel und noch dort lag, als der Tross, in dem ich gefangen war, bereits die Blutrippen verlassen hatte. Als ich erwachte, spürte ich gleich den scharfen Wind im Gesicht. Aber ich öffnete die Augen nicht sofort. Ich merkte, ich war nicht mehr an die Flitzpiepe gefesselt, sondern frei von der Kette. Plötzlich zischte es unter mir und eine Dampfwolke hüllte mich ein. Vom Gestank wurde ich fast ohnmächtig. Ich traute mich kaum zu atmen und öffnete in Panik die Augen. Ich war umgeben von einem schwarzen Nebel, dessen Schwaden mich einhüllten, mir in die Nasenlöcher stiegen und mich von innen auszu trocknen schienen. Nur sehr langsam verzog sich der Nebel. Dann zischte bereits die nächste schwarze Wolke. 109
Das war der letzte Gedanke, den ich hatte, bevor die schwarzen Wolken mich vollkommen beherrschten. Es waren noch genau eine Nacht und zwei Tage bis zur Dämmerung der Walpurgisnacht.
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»Wir können doch nicht zusehen, wie er dort oben stirbt. Wie lange willst du noch warten?«, fragte Dario. »Er muss es von alleine schaffen. Erst wenn er von selbst aus den schwarzen Wolken fällt, haben wir eine Chance, ihn zu retten«, sagte Lydia. »Aber wie lange hält er es dort oben aus? Es ist schon ein ganzer Tag vergangen. Was, wenn er erst stürzt, wenn das Quiz vorüber ist?« »Dann werden wieder tausend Jahre vergehen in Aholl. Der Teufel wird dann wohl auch die letzten von uns gefunden und vernichtet haben. Dann wird es keine Art mehr geben, die bereit ist gegen die Angst zu kämpfen.« In Lydias Gesicht war keine Regung zu erkennen. »Wenn er in den Schwaden des Räucherturms steckt, dann merkt er das gar nicht, verstehst du, Dario? Das ist himmlisch für ihn, es gibt gar nichts Schöneres. Es schmerzt erst, wenn es vorbei ist. Wir können ihm nicht helfen. Er würde uns nicht einmal wiedererkennen. Wir müssen warten und hoffen.« »Hoffen? In tausend Jahren sind wir alle nicht mehr da. Ich 111
will nicht mehr warten. Wir müssen in diesem Quiz die Chance wahrnehmen, die Macht des Teufels wenigstens zu erschüttern!«, sagte Dario und packte mit einer Hand den silbernen Knauf seines Degens. »Ohne den Jungen kommen wir nicht mehr weiter. Er ist es, der das Siegel trägt. Er ist unsere ganze Hoffnung. Nur er weiß, wie es gelingen kann, die Herrschaft des Teufels zu erschüttern, wenn nicht gar zu brechen.« Dario blieb stumm und starrte hinauf zu dem gewaltigen Schornstein, der schwarze Wolken ausspuckte, unterbrochen durch kurze Pausen. Über der Öffnung des Schornsteins schwebte Quentin und wurde regelmäßig eingenebelt. »Was ist das für ein Schornstein? Was spuckt er aus?«, fragte Dario. Lydia sah mit einem bitteren Blick in den Himmel. »Das ist der heiße Dampf aus dem Kraftwerk von Satanopolis. Von hier aus spuckt der Teufel seine Energie in die Welt und sichert so seine Macht. Quentin bekommt im Abstand von wenigen Minu ten die geballte teuflische Energie mit. Er badet förmlich darin.« Dario sah zum Himmel. »Aber woraus besteht diese Energie?« »Aus schwarzen Gedanken«, stellte Lydia fest. »Jeder schwarze Gedanke ist ein grausamer Gedanke. Quentin badet gerade darin. Stell dir vor, du befindest dich mitten in einem Schwarm giftiger Heuschrecken. So ist es dort oben.« »Und der Schornstein gehört zum Kraftwerk von Satanopolis?«, fragte Dario. Lydia nickte. »Erst wenn wir dieses Machtzentrum des Teufels zerstört haben, haben wir die Freiheit gewonnen«, sagte sie. »Wir müssen Quentin da rausholen!«, rief Dario erregt. »Ich hab ihn doch nicht vor Alexandra gerettet, nur um ihn jetzt in 112
dieser schwarzen Suppe köcheln zu lassen.« »Ich habe dir schon gesagt: Wenn er den ersten Schritt nicht selber tut, können wir nichts ausrichten!« »Was schlägst du dann vor?«, fragte Dario. »Du bleibst hier und lässt ihn nicht aus den Augen. Ich werde nach Satanopolis gehen und alles vorbereiten. Falls Quentin es schafft, muss alles fertig sein für das große Finale.« »Und wenn es zu lange dauert?!«, rief Dario. Er war sehr erregt. »Abwarten. Mehr können wir nicht tun. Ich glaube, dass er es schafft...«, sagte der schöne Drachimg»Was macht dich so optimistisch?« »Dass wir uns bis jetzt immer auf Otoll verlassen konnten. Und das wird auch diesmal nicht anders sein!«
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Das Geräusch störte den schönsten Traum meines Lebens. Ich sah die Welt in allen Einzelheiten untergehen und konnte nicht genug davon kriegen. Wie Tiere ausstarben und die Natur vernichtet wurde. Wie abgeschafft wurde, was anders war, wie es verbannt wurde aus meiner Welt. Herrlich! Wie die Armenheere mir dienen mussten. Ich wollte diesen schönen Traum auskosten bis zum Tag des größten Glücks, des Weltuntergangs. Nur dieses Geräusch störte mich. Es pfiff und pfiff. Immer weiter. Es wurde immer schwieriger, an das einzig Wahre zu glauben, das Schlechte. Dabei hatte ich noch so viel vor. Ich wollte der ganzen Welt vom Herrlichen des Grausamen erzählen. Was heißt hier, ich wollte. Ich musste. Es war meine Pflicht. Das Gefühl, die ganze Welt an meinen düsteren Gedanken teilhaben zu lassen, wurde immer stärker. Ganz be sonders, wenn die Duftwolke aus paradiesischen Gerüchen mich einhüllte. Das Düstere sollte sich vermehren, bis es die ganze Welt beherrschte. Bis alle daran glaubten. Wenn nur dieses Pfeifen nicht gewesen wäre. Es tat jetzt weh in den Ohren. Ich konnte nicht mehr. Ich musste raus. Und plötzlich kam es mir vor, als platzte ich aus einem Ei heraus, in 114
dem man mich gefangen hielt. Ich sah mich um und stellte fest, dass mich ein Gestank umnebelte, der mich fast ohnmächtig machte. Mir wurde übel und ich schnappte nach Luft. Und dann fiel ich. Ich weiß nicht mehr, wann ich bemerkte, dass ich fiel. Es muss ungefähr zu dem Zeitpunkt gewesen sein, als ich den schwarzen Nebel verließ. Nun erfuhr ich, was freier Fall bedeutete. Nichts hielt mich zurück. Ich raste in einer irrsinnigen Geschwindigkeit auf den Boden zu. Wo war ich? In meinem Kopf herrschte eine Übelkeit, wie ich sie sonst nur vom Magen kannte. Und es stank in ihm, dass ich gar nicht genug von der frischen Luft einatmen konnte, die sich im Fallen in meine Lungen presste. Wo war ich? Wohin fiel ich? Plötzlich schoss es mir durch den Kopf. Mein Vater! Das Quiz! Ich war Quentin Fux, der einen Handel hatte mit Zebul, dem Talentsucher des Teufels. Ich war der Kandidat im Quiz des Teufels. Im gleichen Augenblick, in dem ich begriff, wer ich war und was ich tun musste, erkannte ich die Gefahr: In wenigen Sekunden würde ich eine Bruchlandung machen. Ich stürzte aus allen Wolken geradewegs in die Tiefe, ungebremst. Sollte es so enden? Etwas hatte mich aus dem übelsten aller Nebel befreit, nur damit ich auf dem Boden zerschmetterte? Damit wäre alles verloren und was mit einem Traum begonnen hatte, endete mit meinem Tod. Ich konnte bereits die Grashalme einzeln zählen, auf die ich zustürzte, als ich plötzlich spürte, wie etwas unter mir hindurchtauchte und meinen Sturz stoppte. »Riooooooo!«, schrie dieses Etwas und ich sah in das grinsende Gesicht von Dario. Mit seinem Degen streifte er die 115
Grasnabe, bevor er die Kurve kratzte und zum Steigflug ansetzte. Nur einen Atemzug später und mit mir wäre es aus gewesen. »Dario!«, krächzte ich und erdrückte ihn fast vor Freude. Der Waldmeister drehte mehrere Pirouetten und Purzelbäume und war außer Rand und Band. Nur wenig später landete er mit etwas zu viel Schwung, sodass wir unsanft in ein kleines Geröllfeld purzelten. Als ich mich einigermaßen hochgerappelt hatte, konnte ich nichts sagen. Dario sah mir die Ratlosigkeit an. »Ich habe dich nie aus den Augen gelassen ...«, fing er an. »Ich weiß!«, röchelte ich und musste so oft niesen, dass mir im Anschluss der Kopf pochte. »Ich habe dich in den Blutrippen auf dem Traubenstrauch sitzen sehen.« »Klar. Schau mal...«, sagte er und warf das Samtsäckchen mit dem Sand in die Luft, den ich, wie ich nun erfuhr, verloren hatte, kurz nachdem ich mir ein paar Körner Schlafsand in die Augen gestreut hatte. »Und was geschah dann?«, fragte ich. Dario zeigte in den Himmel ans Ende des Schornsteins, aus dessen Spitze immer wieder violette Wolken pafften wie aus einer gigantischen Zigarre. »Der Schornstein gehört zum Kraftwerk des Teufels, das mitten in Satanopolis steht. Dort oben haben sie dich hingebracht, in den Qualm des Verderbens. Dort oben glaubst du nur noch an die Macht des Übels in der Welt!« Das konnte ich bestätigen. »Und du hast mich daraus befreit. Danke!« Dario wurde verlegen. »Nein, ich war es nicht«, murmelte er. »Das hier war es!« Er zog an der Weidenkette, an die ein durchlöcherter Stein gebunden war. »Durch diesen Stein blies der Wind und hat einen Pfiff erzeugt, der dich aus 116
dem grausamen Nebel befreit hat. Er hat dich aus dieser düsteren Falle geweckt. So hat es Otoll geplant.« Mir wurde schwindlig. »Das hat mir ein Verräter geschenkt...«, murmelte ich. »Wenn ich ihn jemals wiedertreffe, breche ich ihm sämtliche Knochen!« »Quentin, du tust ihm unrecht. Otoll ist kein Verräter. Er hat nur den Verrat vorgetäuscht, um Bel-phegor in Sicherheit zu wiegen. Otoll gehört zu uns. Zu einer Gruppe von Kämpfern gegen die Angst.« Otoll - doch kein Verräter? Otoll, den ich verflucht hatte bis ans Ende seiner Tage, war in Wahrheit doch ein Freund? Dann hatte mich mein Gefühl nicht getrogen. »Wir wissen nur nicht, ob er dem Infonauten entwischen konnte«, sagte Dario traurig. »Im Moment habe ich keine Ahnung, wo er steckt!« »Wer gehört noch zu euch?«, fragte ich. »Das kann ich dir leider nicht sagen. Wenn du es zum Quiz schaffst, wirst du sie alle kennen lernen. Einige kennst du bereits, so viel darf ich verraten«, antwortete Dario. »Und wer ist euer Anführer?«, hakte ich nach, weil ich eine Ahnung hatte, dass ich ihn schon einmal getroffen hatte. »Auch das kann ich dir nicht sagen. Es wäre zu gefährlich, wenn du alles weißt. Der Teufel könnte es dir entlocken und damit wäre alles, was wir in Jahren aufgebaut haben, verloren«, sagte der Waldmeister. Mit einem Mal fiel mir wieder ein, was ich zu tun hatte. »Welcher Tag ist heute?« Ich warf einen Blick in meine rechte Hand. Das Siegel war kaum mehr zu erkennen, die Stelle, in die Zebul sein Zeichen gebrannt hatte, war fast verheilt. »Der siebte Tag«, antwortete Dario auch prompt. »Heute ist Walpurgisnacht. Um Mitternacht beginnt das Quiz. Satanopolis kocht. Und wenn du es noch schaffen willst, darfst du jetzt keine Minute mehr verlieren.« »Das ist ja wohl kein Problem. Du fliegst mich doch hin, 117
oder?« Dario schüttelte den Kopf. »Geht leider nicht. Du musst alleine nach Satanopolis.« »Und wie soll ich mich da zurechtfinden? Ich war doch noch nie dort. Ich kenne niemanden.« »Quentin, du brauchst nur die Augen offen zu halten!« »Und warum kommst du nicht mit?« »Ich habe heute Abend ein Rendezvous mit jemandem, den ich unbedingt schachmatt setzen muss, weil er unsere Pläne noch vereiteln kann. Und ich werde seine grausamste Waffe stumpf machen ...« Als der Waldmeister wieder das Säckchen mit dem Schlafsand in der Hand hüpfen ließ, war mir sofort klar, was er vorhatte. Belphegor.
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Nachdem Dario mir den Weg nach Satanopolis gezeigt hatte, trennten wir uns. Während ich losrannte, so schnell ich konnte, machte sich der mutige Waldmeister an eine Aufgabe, von deren Gelingen der Ausgang des Quiz nicht weniger abhing als von mir. Schon bald kam ich an die Kuppe einer Hügelkette, deren Ausblick mir den Atem raubte. Vor mir, auf einer Hochebene von der Größe eines Kontinentes lag Satanopolis, die Stadt des Teufels und Hauptstadt Aholls. Ob es der Ort meines Verder bens sein würde, sollte sich in wenigen Stunden zeigen. Bis zum Horizont reichten die befestigten Mauern dieses Zentrums des Grauens. Ich ließ meinen Blick einmal über die Ränder dieser Gigantopole des Verderbens gleiten, auch weil ich kurz verschnaufen musste. Satanopolis hatte den Umriss eines Totenkopfes. Dort, wo man die linke Augenhöhle vermutete, erkannte ich eine leichte Senke. Das musste der Vulkan sein, der das »Auge« genannt wurde. Dort würde ich in weniger als sechs Stunden dem Teufel begegnen, nur damit er mich fertig machen und sein Gedächtnis wiederfinden konnte. Quentin Fux -nichts weiter als Kanonenfutter! Das war der Moment, in dem ich wieder die 119
grausame Melodie Zebuls hörte und sofort an meinen Vater dachte. War es ein schlechtes Zeichen, dass ich die Melodie sel tener hörte als vorher? War es schon zu spät, meinen Vater zu retten? Auf einen Sieg hoffte ich zwar wieder, seitdem ich dem schwarzen Nebel entkommen war, aber sehr zuversichtlich war ich in diesem Moment nicht. Während ich meinen Blick schweifen ließ, bemerkte ich kleine Punkte, die sich aus allen Richtungen auf Satanopolis zubewegten, wie unzählige Ameisen, die in ihren Bau marschierten. Aholl war unterwegs nach Satanopolis. Ich brauchte nicht lange zu überlegen, um zu verstehen, wohin diese Wesen alle strömten. Nur den Bruchteil einer Sekunde erfüllte es mich mit Stolz, dass sie alle auch meinetwegen hier waren. Alle diese Wesen wollten das Quiz erleben! Doch' ich wusste auch, dass sie alle nur den Teufel siegen und mich verlieren sehen wollten. Der Weg führte von der Hügelkette, auf der ich stand, geradewegs zur Metropole hinunter. Es war wichtig, hatte Dario ausdrücklich betont, dass ich die Stadt vor Sonnenuntergang erreichte, weil sonst das Tor geschlossen war. Nicht etwa, damit niemand mehr in die Stadt hineinkam, sondern vor allem, damit niemand mehr herauskam. Denn nachts wollten viele die Stadt des Teufels verlassen, weil in der Dunkelheit die Angst kaum auszuhalten war. Dass dies ein weit verbreiteter Irrtum war, sollte ich schon bald merken. Bis zum Sonnenuntergang war es noch einige Stunden hin, ich hatte also genügend Zeit. Doch erst musste ich in die Stadt hinein. Es gab offenbar nur dieses eine Tor. Und schon von weitem erkannte ich, dass Belphegor seine Schergen offenbar vor dem Tor postiert hatte, um jeden zu kontrollieren. Schleichnasen schnüffelten an allem, was sich bewegte. Als ich aber die große kupferfarbene Gestalt erkannte, erschrak ich. Alexandra! 120
Sollte hier so kurz vor dem Ziel mein Weg enden? Wie sollte ich die Sirene überlisten? Wenn sie nur anfing zu singen, würde ich mich sofort ergeben. Außerdem wusste sie, wie ich aussah! Ich hatte also keine Chance, mich in den Zug der QuizHooligans einzureihen und unerkannt in die Stadt zu gelangen. Andererseits musste ich möglichst bald Anschluss an die Gruppe um Dario finden, damit sie mich auf das Quiz vorbereiten konnten. Ich hatte weder eine Ahnung, wo es genau stattfand, noch was ich zu beachten hatte. Plötzlich machte ich inmitten der Ameisenstraße, die mir am nächsten lag, ein Gesicht aus, das ich kannte! Es war der alte Wirt aus dem »Unkalkulierbaren Risiko«. Einem Impuls folgend, sprang ich auf ihn zu. Keine Sekunde dachte ich darüber nach, welche Rolle er bei meiner Gefangennahme in seinem Wirtshaus tatsächlich gespielt hatte. Zwei Flaffen waren vor seinen kleinen Wagen gespannt. Gerade tätschelte der Alte den entsetzlichen Kopf der einen Flaffe, aus deren Maul auch hier wieder zwei lange Reißzähne wuchsen, die ja bekanntlich nur dazu gebraucht wurden, den Boden umzupflügen auf der Suche nach Wurzeln, der Lieblingsnahrung der Flaffen. Schon bald hatte ich das hintere Ende des Wagens erreicht und konnte einen Sabyren beruhigen, der aufbrauste, weil er den Verdacht hatte, dass ich mich vordrängeln wollte. Ich nahm den Wagen des Alten unter die Lupe, erst dann wollte ich ihn ansprechen. Vorsichtig schielte ich unter die Plane. Dort standen drei Holzkisten mit Fächern wie große Schubladen. Nichts Verdächtiges, ich beschloss den Alten anzuspre chen, denn eine Wahl blieb mir kaum. Wir waren in wenigen Metern in Sichtweite der Sirene Alexandra. Noch bevor ich ihn auf mich aufmerksam machen konnte, hatte er mich aber entdeckt. »Du?«, fragte er und rang nach 121
Fassung. Schnell schielte er zur Sirene hinüber. »Damit hast du nicht gerechnet, was?«, fragte ich und versuchte einen leicht drohenden Unterton. »Ich schwöre, ich hatte nichts damit zu tun! Ihr wart kaum auf dem Dachboden, da kam dieser Lichtwicht in voller Montur wieder herunter. Er sagte, ich bekäme gleich Besuch. Ich solle tun, was von mir verlangt würde. Dann verließ er mein Haus und bat mich niemandem zu sagen, in welche Richtung er aufgebrochen sei. Das war alles. Wenig später zertrümmerten zwei Tartarasseln die Tür und Belphegors Schergen betraten mein Haus. Der Rote höchstpersönlich war dabei und befahl mir zu verschwinden. Das tat ich, bevor sie auf die Idee kamen mich auch noch auszufragen. Das ist alles, ich schwöre, wenn ich Zeit gehabt hätte, ich hätte euch gewarnt, Ehrenwort!« Ich sah dem Alten in die Augen: »Aber Axen wird doch die Stadt der Verräter genannt?« »Stimmt, aber das liegt daran, dass der Rote zwar den Verrat liebt, nicht aber die Verräter. Und irgendwo müssen sie ja hin. Und so haben sich viele in Axen niedergelassen, wohl um ihre Vergangenheit in Blutwein zu ertränken. Das hat nichts mit mir zu tun, ganz ehrlich!« Ich glaubte dem Alten. »Schnell, wo kann ich mich verstecken? Die Sirene kennt mich.« Der Alte erbleichte und erhob sich auf seinem Wagen. »Ich sehe auch einige Schleichnasen. Verdammt! Da bleibt nichts anderes übrig, als hinten in die Gerüchtekiste zu klettern. Da können sie dich nicht riechen. Schnell!« »Gerüchtekiste? Was ist das?« »Keine Sorge! Ein kleiner Nebenverdienst. Ich züchte auf meinem Hof Gerüchte aller Art. Immer wenn ich nach Satanopolis komme, nehme ich ein paar Kisten mit und verkaufe sie an ein Wettbüro. Damit machen die wiederum Riesengeschäfte. Aber keine Angst: Besonders gefährlich sind 122
sie nicht. Du darfst nur kein Wort glauben. Aber jetzt rein mit dir und keinen Mucks!« Ich zwängte mich schnell in die Schublade hinein, die der Alte ein Stück aufgezogen hatte. Sofort tauchte ich in ein unentwirrbares Kuddelmuddel von Stimmen, Sprachen und Dialekten ein. Ein Gemurmel ohne Anfang und Ende, ohne Sinn und Verstand, meinte ich. Zu sehen war nichts. Als der Alte die Schublade zuschob, wurde es finster. Kurz darauf hörte ich draußen einige scharfe Kommandos. Der Wagen des Alten, der bisher im Schritttempo gerollt war, hielt an. Eine der Flaffen schien unruhig zu werden und scharrte mit einem Reißzahn nervös auf dem Boden. Die tiefe Stimme Alexandras war klar und deutlich zu hören. »Was hast du geladen?«, wollte die Sirene wissen. Bis zu mir drang der gefährliche Unterton ihrer Frage. Sie schien Lust auf eine zerstörerische Arie zu haben. Ich flehte mein Glück an, dass der Alte weder mit gezinkten Karten spielte noch die Nerven verlor. »Ein paar Kisten Gerüchte ...«, antwortete er, »nichts Besonderes. Wollt ihr sie hören?« Er erbleichte wohl, als die Sirene ohne zu antworten kurz nickte und ihren Kopf unter die Plane des Wagens steckte. Sie schnüffelte an den Kisten, ich meinte sogar ihren heißen Atem zu spüren. »Was ist da drin?« Ein Kratzen an der Schublade, in der ich mich befand, ließ mein Blut gefrieren. »Da ist das Gerücht vom Ende Aholls drin. Und vom Aussterben der Sirenen!« Die Sirene zog zischend Luft ein. »Und warum rieche ich junges Menschenfleisch?« Eine kurze Schrecksekunde blieb es still. »Ach so!«, rief der Alte lachend. »Das ist das Gerücht vom Kandidaten, der den Fürsten der Finsternis besiegt!« Einen Augenblick war nichts unter der Plane des Wagens zu hören. Jetzt würde sich entscheiden, ob 123
der Trick des Alten gelänge. Das Gerücht schien Alexandra aber zu gefallen, denn wenn es wahr wäre, bedeutete es, dass ihr Herr, der rote Belphegor, den Herrn der Finsternis ablösen würde. »Seht zu, dass das in die Köpfe der Leute gerät!«, befahl sie und zog ihren Kopf aus dem Wagen zurück, wie ich am leichten Rumpeln zu bemerken meinte. Kurz darauf nahm der Wagen des Alten seine langsame Fahrt wieder auf. Ich wartete noch einige Zeit, obwohl der Juckreiz in meinen Ohren unerträglich war. Dieses Gesurre und Geraune machte mich schwindlig. Schließlich stoppte der Wagen. Der Alte kam nach hinten und zog die Schublade auf, in der ich kauerte. »Puh, das war knapp«, sagte er. Ich drückte ihm die Hand und sprang aus der Schublade. »Danke, ohne dich wäre ich verloren gewesen!« »Schon gut. Ich mag Belphegor den Roten nicht. Mich interessiert jetzt aber mal, warum die nach dir suchen?« Ich wollte dem Alten gegenüber ehrlich sein und sagte: »Ich bin der Kandidat für das Quiz des Teufels!« Das schien den Alten umzuhauen. »Du bist... ?« Ich nickte und zeigte ihm den jämmerlichen Rest des Siegels, das bis auf einen dünnen roten Kreis, dem Rest des Q, fast ganz verheilt war. Daraufhin verfinsterte sich sein Gesicht. »Was hast du?«, fragte ich. »Ach, es ist nur wegen der Gerüchte, in denen du gelegen hast...« »Wieso, was war denn damit?«, fragte ich, dunkel etwas ahnend. »Ach, es waren nur dumme Gerüchte ...«, sagte der Alte und schien nicht mehr verraten zu wollen. »Wo willst du denn jetzt hin?« »Ehrlich gesagt, ich habe keine Ahnung.« Ich sprang aus dem 124
Wagen und sah mich um. Ich stand am Rand eines Platzes, groß wie zehn Fußballfelder. Hohe Häuser säumten den Platz. Die riesige Fläche war bevölkert von Wesen aller Arten, unbekannter und weniger unbekannter. Jeder schien seinen Besorgungen nachzugehen, hektisch, verbissen, ohne im Geringsten auf die anderen zu achten. Einige Schleichnasen, hier in gelb-schwarzer Uniform, patrouillierten umher, aber es war völlig unwahrscheinlich, dass sie auf diesem Wimmelplatz der Gerüche irgendetwas Identifizierbares riechen konnten. Menschen waren unter den wandernden Massen, aber auch scharenweise Wesen, die ich noch nie zu Gesicht bekommen hatte. Dabei musste ich an meinen Vater denken, für den das hier die wohl schöns ten und ergiebigsten Jagdgründe bei der Suche nach unbekannten Wesen wären, die man sich vorstellen konnte. Vielleicht würden es auch die ewigen Jagdgründe für Johannes Fux werden, dachte ich, wischte den Gedanken aber schnell wieder beiseite. »Ich bin am Ziel«, sagte der Alte. »Dort in der Mitte des Platzes steht das Wettbüro. Da liefere ich meine Gerüchte ab, dann lege ich mich ein paar Stunden aufs Ohr bis zum Quiz.« »Gut, dann wünsche ich dir viel Vergnügen beim Zusehen, wie der Teufel mich vernichtet...«, sagte ich mit gespieltem Humor. Der gequälten Miene des Alten entnahm ich, dass er wirklich nichts anderes erwartete. »Trotzdem viel Glück«, sagte er. Ich nickte kurz und begann das Einzige zu tun, was ich konnte, nämlich Darios Rat zu befolgen: Ich hielt die Augen offen.
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Ich irrte eine Weile auf diesem Platz umher, der größer war als alles, was ich jemals zuvor gesehen hatte. Ich hielt meine Augen offen, aber was ich sah, war immer dasselbe. Gehetzte Wesen, die nicht wussten, woher und wohin sie hetzten und obwohl mir das absurd vorkam - den Eindruck machten, als ob sie nicht wussten, warum sie hetzten. Ich versuchte ihnen in die Augen zu sehen, aber die meisten hielten ihren Blick gesenkt, als ob sie sich für irgendetwas schämten. Plötzlich aber begegnete mir ein Blick, der an meinem hängen blieb! Mir wurde schwindlig, als ich merkte, dass ich diesen Blick lesen konnte. >Folge mir unauffällig!«, sagte er. Die Gestalt, die mir diesen Blick zuwarf, war niemand anderes als der schöne Drachling Lydia. »Lydia!«, rief ich aus voller Kehle. Noch im selben Augenblick fiel mir ein, wie dumm das war. Wieder schnappte ich ihren Blick auf. >Quentin, du bringst uns in Gefahr! Folge mir mit etwas Abstand!« Ich tat, was Lydia sagte. 126
Nach einigen Minuten verließen wir den großen Platz, überquerten einige Straßen von der Breite von Flugzeuglandebahnen. Hier waren viel weniger Wesen unterwegs. Hin und wieder sah ich Schleichnasen, die ihren Riecher an alles hielten, was ihnen begegnete. Urplötzlich blieb Lydia stehen. Sie sah sich hastig nach allen Seiten um und schlug dann den Weg in eine Gasse ein, die so schmal war, dass ich alleine die ganze Breite einnahm. Die Bauwerke, die uns hier umgaben, waren deutlich älter als die auf dem großen Platz. Die Gasse war wie ausgestorben. »Augen und Nase zuhalten!«, zischte Lydia mir zu und schlug wieder einen Haken. Auch diesmal tat ich, was sie sagte, und spürte, wie etwas auf mich niederrieselte. Als ich die Augen kurz darauf wieder öffnete, flüsterte Lydia mir zu: »Pfefferschleuse! Kleine Sicherheitsmaßnahme gegen Verfolger! Wir sind gleich da!« Wir waren mitten in einem Labyrinth der Gassen. Türen und Fenster, an denen wir vorbeikamen, waren geschlossen. Nur ein kleines Stück weiter stoppte Lydia an einer Steinwand. Sie tastete mit ihren zarten Händen eine Fuge zwischen zwei Steinblöcken entlang und schob an einer bestimmten Stelle ihre Finger durch. Plötzlich knirschte es und ein großer Steinblock schob sich zur Seite. Sie ließ mich durchgehen und folgte mir rasch. Sofort schloss sich das Loch in der Mauer wieder. Wir standen in einem erstaunlich hellen Raum und mir blieb die Luft weg, als ich sah, wer auf mich zukam: Ein bis an die Zähne bewaffneter, sehr junger Tartarassel, dem die Kampfeslust ins Gesicht geschrieben stand. »Uh, der stinkt ja wie ein ganzer Sack übler Nachrede!«, rief der Tartarassel. »Wenn mich nicht alles täuscht, ist er mit einem Gerüchtehändler in die Stadt gekommen«, erläuterte Lydia. »Quentin, das ist Mayo, der einzige Tartarassel, der auf unserer 127
Seite steht.« Der Tartarassel musterte mich misstrauisch. »Das soll unsere große Hoffnung sein?«, murmelte Mayo. Lydia achtete nicht darauf. »Quentin, komm, wir haben keine Zeit zu verlieren!« Ich rannte ihr nach und hinter mir hörte ich den schweren Schritt des Tartarassels. Wir liefen einen Gang entlang, der stark anstieg. Am Ende gelangten wir zu einer in Stein gehauenen Wendeltreppe, die wir hochstiegen. Oben kamen wir in einen großen Raum, in dem Betten standen, eine kleine Feuerstelle und ein Tisch mit einigen Stühlen. Bevor ich feststellen konnte, dass dies so etwas wie die Zentrale im Kampf gegen den Teufel war, fiel mir die Liege in der Ecke auf. Darauf lag Otoll! Ich stürzte hin. Der Lichtwicht schien mich nicht zu bemerken. Es ging ihm sehr schlecht. »Otoll!«, flüsterte ich. »Er kämpft mit einem schweren Fieber«, erklärte Lydia. »Der Infonaut hat ihn kurz vor dem Stadttor erwischt...« »Wird er wieder gesund?« »Wir wissen es nicht«, gab Lydia zu. »Lasst uns nicht herumjammern«, knurrte Mayo. »Jetzt müssen wir loslegen!« Auch wenn mich der Anblick Otolls noch mehr entmutigte, war ich fest entschlossen meinen ganzen Kampfeswillen zu zeigen. »Gut, trommelt alle eure Leute zusammen, von mir aus kann der Kampf beginnen!« Lydia warf Mayo einen Blick zu, den ich aus diesem Winkel nicht lesen konnte. »Quentin, ich glaube, du hast etwas falsche Vorstellungen. Wir hier, das sind alle.« »Ihr seid zu ... zweit?«, fragte ich und ich spürte, wie mir eine Lähmung durch alle Glieder schoss. »Aber was ist mit Dario?« »Dario kümmert sich um Belphegor. Lass uns alle hoffen, 128
dass er Erfolg hat. Denn wenn er den Roten nicht außer Gefecht setzen kann, schweben wir hier in Todesgefahr. Der Infonaut hat Otoll sämtliche Informationen abgesaugt, auch über dieses Versteck.« »Ihr, wir ... sind zu dritt?«, stammelte ich. »Na ja, Maria nicht mitgerechnet...«, sagte Mayo. »Lass Maria aus dem Spiel, die brauchen wir für die Operation!«, sagte Lydia streng. »In welche Geschichte bin ich hier eigentlich reingeraten?«, fragte ich laut. »Ich wollte doch nur meinen Vater retten. Ich kann nicht mehr ...« Ich setzte mich an Otolls Bett und hielt die Hand des Lichtwichtes, nicht nur um ihn, auch um mich selbst zu trösten. Ich fühlte mich schwach, ausgelaugt und elend. »Quentin, gib nicht auf. Jetzt ist die Zeit gekommen, in der du die ganze Wahrheit erfahren sollst!« »Dann sag mir endlich, was das Ganze hier soll! Wofür mache ich das eigentlich alles? Sag mir, wo mein Vater ist! Sag mir, wie es weitergeht!« Ich schrie. Lydia warf Mayo einen Blick zu. »Quentin, wo dein Vater ist, müssen wir selbst erst herausfinden. Bevor wir darauf eine Antwort haben, musst du wohl oder übel versuchen im Quiz zu bestehen.« »Aber wozu das alles?«, fragte ich und spürte, dass ich bald verzweifelte. »Zeig es ihm doch«, schlug Mayo vor. Lydia überlegte nur kurz. »Gut, wenn du es unbedingt wissen willst, dann zeige ich dir, wozu du das alles machen musst. Ich zeige dir, wie die Macht des Teufels funktioniert. Und wie wir sie bekämpfen können. Wir haben noch ein paar Stunden bis zum Beginn des Quiz. Jetzt tun wir etwas, was sich lange keiner mehr getraut hat. Wir werden an den Ufern des Schwarzen Sees waten!« 129
Lydia zeigte mir ihre andere Seite. Keine ruhige Denkerin, sondern ein kampfbereiter Drachling, der es nicht abwarten konnte, in die Schlacht zu ziehen. Wir rannten durch die Gänge und verließen das Labyrinth der Gassen. An der nächsten Ecke war praktischerweise ein Flitzpiepenstand und Lydia mietete eine. Als das langhaarige Tier das Fahrtziel hörte, wollte es uns sofort wieder abwerfen, aber Lydia gelang es, die Flitzpiepe zu beruhigen und durch Erhöhung des Fahrpreises doch noch zum Flug zu bewegen. »Lydia, wo liegt der Schwarze See?«, fragte ich. »Am östlichen Rand von Satanopolis«, antwortete sie. »Und was erwartet uns dort?«, hakte ich nach. »Der Schwarze See ist praktisch das Arbeitszimmer des Teufels!« Eine Weile ließ ich meinen Blick nach unten über dieses Häusermeer gleiten. Plötzlich hörten die Gebäude auf und wir kamen in eine völlig andere Gegend. »Was ist das da drüben?«, fragte ich und zeigte auf einen 130
gigantischen Krater. »Das ist das Auge!«, rief Lydia. »Dort fällt in dieser Nacht die Entscheidung über unsere Zukunft, Quentin. Dann bist du am Ziel!« Am Ziel der Verderbnis!, dachte ich und sah, wie Lydia der Flitzpiepe etwas zuraunte. Sofort flog die einen großen Bogen und nahm direkt Kurs auf das Auge. Wieder drängte sich der Vergleich mit einem Ameisenhaufen auf, aber von den Ausmaßen eines Ameisengebirges. Nicht enden wollende Ströme von Wesen bewegten sich auf den Krater zu. Als wir begannen darüber zu fliegen, wurde mir beinahe schwarz vor Augen. Ein Krater, in dem ein ganzer Ozean Platz gehabt hätte. An den Hängen wehte ein Meer von Fahnen, die Fahnen Aholls, dem Paradies des Teufels. Da die Flitzpiepe hoch flog, konnte ich das Motiv auf der Fahne nicht erkennen. Ich meinte einen schwarzen Punkt auf einem kleinen Flammenmeer auszumachen. Genau in der Mitte des Kraters war eine kleine Fläche erleuchtet, das war die Bühne, auf der nachher das Quiz vonstatten ging. Dort sollte ich dem leibhaftigen Teufel begegnen und ich hätte einiges darum gegeben, jetzt schon zu erfahren, wie er aussah. War er ein dra chenähnliches Monster? Oder klein wie eine Laus? Dabei fiel mir Berry ein. »Was machen die anderen aus der Akademie? Warum sind sie nicht hier, um zu kämpfen?«, fragte ich den Drachling. »Zu grün hinter den Ohren. Nur der Admiral käme infrage, aber der muss die Akademie besetzt halten. Wir brauchen einen Ort für den Nachwuchs.« »Und du? Wie kam es, dass du in der Akademie warst vor sieben Tagen?«, fragte ich. »Ich wusste von den Plänen Zebuls und wollte feststellen, ob du für unsere Sache zu gebrauchen bist. Aurora und ich hatten vereinbart, dass sie dich in die Akademie bringen würde.« »Bist du auch durch die Öffnung hierher nach Aholl 131
gekommen?«, fragte ich. »Ja«, antwortete Lydia. »Wie Otoll, nur etwas später. Otoll hat sich heimlich durch die Öffnung hinter dir hergeschlichen, was eigentlich gegen die Abmachung war. Er sollte die Stellung in der Akademie halten. Aber im Nachhinein bin ich ganz froh, dass er es nicht getan hat. Dadurch, dass er den Verrat an dir vorgetäuscht hat, haben sich Belphegor und Gorgonzola in Sicherheit geglaubt. Das gab uns Zeit, hier einiges vorzubereiten.« Wir flogen nun über das letzte Stück des Kraters. Dort konnte ich eine rote Anzeige mit einigen Zahlen entdecken: 666.999.666.998 : 1. »Was bedeutet das?«, fragte ich Lydia. »Das ist der aktuelle Wettstand für das Quiz«, antwortete sie. »Die eine Stimme für dich ist übrigens von Mayo und mir. Als du mich auf dem Platz des Ahollischen Grauens getroffen hast, kam ich gerade aus dem Wettbüro. Wir sind gleich da! Schau!« Die Flitzpiepe ging in den Senkflug. Ich meinte zu spüren, wie sie leicht zu zittern begann. Vielleicht war es aber nach dem längeren Flug nur Vitaminmangel. Doch dann sah ich eine dunkle Fläche, die das Licht der untergehenden Sonne verschluckte. Das musste der Schwarze See sein! Wenig später landete die Flitzpiepe. Mit einem fordernden Grunzlaut verlangte sie die Bezahlung, die Lydia ihr versprochen hatte. Lydia beugte sich vor und flüsterte der Flitzpiepe etwas ins Ohr. Daraufhin flog das Vieh zufrieden davon. Auf meinen fragenden Blick hin sagte Lydia: »Ich habe sie mit der üblichen ahollischen Währung bezahlt. Mit falschen Versprechungen und einigen Schmeicheleien. Und ich habe ihr noch ein kräftiges Trinkgeld gegeben.« Dieser Drachling überraschte mich immer wieder. »Lass uns hier im Schatten der Büsche näher an den See rangehen«, schlug sie vor. 132
Auch mir schien es ratsam, möglichst in Deckung zu bleiben. Plötzlich hörte ich ein Geräusch, das klang wie ein »Blubb«. Da war es wieder: »Blubb.« »Hörst du das?«, fragte ich Lydia. »Natürlich. Sieh doch. Es kommt aus dem Wasser!«, flüsterte sie. Wir sahen beide wie gebannt auf die Wasseroberfläche. Wasser von einem Schwarz wie Erdöl. Dagegen war der Martialische Ozean fades Spülwasser. Plötzlich machte es wieder »Blubb« und wir entdeckten ziemlich in der Mitte eine kleine rabenschwarze Seifenblase, die langsam in die Höhe stieg. Aus der Blase kam ein Geräusch, das mich an den Pausenlärm eines Schulhofes erinnerte. Schreien und Murmeln und Raunen und Wispern wild durcheinander. Ich verfolgte die schwarze Seifenblase mit meinem Blick und stellte zu meinem Entsetzen fest, dass sie sehr hoch stieg und von wabenartigen Wolken am Himmel verschluckt wurde. »Blubb«, machte es wieder und erneut stieg eine schwarze Seifenblase in die Luft. Doch diese nahm einen anderen Weg als die vorige. Sie schien nicht steigen zu wollen und begann zu sinken. Da wehte plötzlich ein fauliger Hauch aus dem See nach oben und die Blase begann zu glühen, stieg wieder hoch und explodierte zu einem kleinen Feuerball, der sich in schwarzen Rauch auflöste. Der Rauch zog in einen Kanal, der vom See wegführte. Ich ahnte, dass der Kanal hoch oben am Räucherturm endete, dort, wo ich geschmort worden war. Ich schüttelte mich vor Ekel bei dem Gedanken daran. »Was ist das?«, fragte ich. »Das ist die ganze Macht des Teufels«, stellte Lydia fest, als ob wir uns bei einer Museumsbesichtigung befänden. »Jede Blase hat der Teufel persönlich hergestellt und ihr Leben eingehaucht. Wir nennen eine solche Blase »Memo«. »Memo? Und was ist ein Memo?«, fragte ich. »Im Grunde ein heimtückisches Virus. Es verpestet unsere 133
Gedanken.« Mein Blick war ein Fragezeichen. Lydia bemerkte es. »Ein Memo ist eine Anweisung. Ein Memo sagt dir, was du denken sollst. Es schleicht sich in deine Gedanken und lebt dort.« »Es lebt?«, fragte ich fassungslos. »Ja, wie eine Art Gedankenzecke ...» »Woran erkennt man Memos denn?« »Hier, wo sie entstehen, ist es relativ einfach. Da sind sie ja noch völlig nackt, unverkleidet, schwarze Blasen. Aber später, wenn sie in deine Welt gelangt sind, da tarnen sie sich geschickt. Sie kommen daher als Melodie, als Mode, als Witz, über den du lachen musst. Als Bildergeschichte, als etwas, das dir ein Freund erzählt. Memos verstellen sich und haben doch nur eins im Sinn ...« »Was?«, fragte ich angeekelt. »Sie wollen, dass du tust, was sie dir vorschreiben. Und dass du andere damit ansteckst. Sie wollen sich verbreiten. Und dann zeigen sie ihr wahres Gesicht. Die Melodie wird zum Ohrwurm. Bilder überfluten dich und gehen dir nicht mehr aus dem Kopf, bis sie dich restlos beherrschen. Moden werden zu Uniformen. Gerüchte gaukeln dir vor, sie wären Wirklichkeit. Du glaubst, du bist Herr deiner Gedanken, dabei ist es umgekehrt: Memos beschäftigen sich mit dir und bestimmen, was du denkst. Memos machen dich zum Diener des Teufels. Und du merkst es nicht mal.« Allmählich verstand ich, was ein Memo war, und ich zweifelte keine Sekunde an ihrer Tücke. »Erinnert mich an einen Kettenbrief...«, murmelte ich. Lydia nickte. »Kein schlechter Vergleich. Genauso funktioniert ein Memo des Teufels. Sobald es dich erreicht hat, beschäftigst du dich mit ihm. Es ernährt sich durch die Aufmerksamkeit, die du ihm gibst. Es verspricht dir Reichtum, wenn du es verbreitest. Es droht dir mit hundert Jahren 134
Unglück, wenn du es in den Abfalleimer für düstere Gedanken schmeißt. Also führst du seine Anweisungen aus und verbreitest es. Und in dem Moment hat es sein Ziel erreicht. Du bringst es unter die Leute. Aber nur derjenige, der es in die Welt gesetzt hat, hat etwas davon.« »Und wie verlässt ein Memo Aholl?« Lydia zeigte hoch an den Himmel über Aholl. »Entweder schwebt es als schwarze Blase direkt in die wabenartigen Wolken dort oben am Himmel Aholls. Wenn viele Memos dort oben angekommen sind, färben sich die Wolken schwarz und es ist so, als ob es Memos in die Träume der Menschen regnet. Darum nennen wir den Himmel dort oben die Albtraumwaben. Was passiert, wenn ein Memo dem Teufel nicht schlecht genug ist, hast du eben selbst gesehen: Mit einem Hauch aus den Tiefen des Sees hilft der Teufel nach. Die Blase verpufft zu dem schwarzen Rauch und kriecht in die Kanäle dort drüben am Ufer des Sees. Sie steigen durch den Räucherturm in die Welt hinaus. Der Nebel schleicht sich überall rein, durch jede Ritze. Du weißt ja, wie der Nebel wirkt...» Ich nickte und wehrte mich gegen die Übelkeit, die ich sofort spürte. Ich umfasste den Stein, der noch um meinen Hals hing, und musste an Otoll denken. »Was kann man tun, dass Memos einen nicht befallen?«, wollte ich wissen. »Wenn sie sich einmal in unsere Gedanken geschlichen haben, muss jeder seinen eigenen Weg finden, sie zu bekämpfen. Wir brauchen so eine Art Antivirus, das ist ganz unterschiedlich. Wichtiger ist die Frage, wie bekämpfen wir sie hier, an der Wurzel? Das ist die entscheidende Frage! Das ist es, wofür wir kämpfen. Für einen Weg, die Memos hier zu vernichten, wo sie entstehen. Wir müssen verhindern, dass der Teufel die Welt mit seinen Memos überflutet. Dass wir alle nur noch das tun, was seine Macht vergrößert. Dass wir nur noch denken, was ihm in sein Konzept passt. Erinnere dich, was du gefühlt hast im Nebel 135
des Räucherturms. Das blüht der ganzen Welt, wenn wir die Lösung nicht finden. Du, Quentin, kennst die Lösung. Wir hoffen nur, dass sie dir rechtzeitig einfällt!« Eigenartigerweise musste ich genau in diesem Augenblick an Aurora denken. Doch ich schob den Gedanken schnell beiseite. Es war höchste Zeit, dass wir uns aufmachten. Ich wollte schließlich pünktlich zum Quiz erscheinen.
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In den Krater gelangte ich über eine Brücke aus schwarzem Marmor. Kaum hatte ich sie überschritten, bemerkte ich, wie sie hinter mir knirschend hochgezogen wurde. Ich war wohl der, auf den alle warteten, der Leckerbissen im Walpurgismenü des Teufels. Jetzt konnte ich ihm nicht mehr vom Teller springen. Und jetzt wollte mich auch niemand mehr aufhalten. Lydia war sich dessen ganz sicher gewesen, als sie mich vor dem Eingang zum Krater abgesetzt hatte. »Hab keine Angst, bis zum Beginn des Quiz bist du außer Gefahr. Auch wenn du uns nicht siehst, wir lassen dich nicht aus den Augen. Gute alte Schule des Admirals, dachte ich. Aber es leuchtete mir auch so ein: Schließlich konnte das Quiz nur mit mir stattfinden. Schon am Schwarzen See hatte ich kurz daran gedacht, ins Wasser zu springen und den Teufel gleich dort zu einem Duell zu zwingen. Aber Lydia hatte mich davon überzeugt, dass es sinnlos war. In der schwarzen Brühe hätte ich gar nicht gewusst, wonach ich suchen sollte. War es eine Wasserschlange? Eine giftige Koralle? Am Ende hätten seine Memos meine Gedanken so verstopft, dass sich mein Gehirn daran verschluckt hätte. 137
Schon hier, im Torbogen zum Krater, brauste mir das Getöse aus dem Innern wie eine Druckwelle durch den Körper. Der Boden vibrierte wie bei einem Erdbeben. Was wusste ich über das Quiz? Eigentlich nichts! Ich hatte bei meiner Durchquerung von Aholl nichts darüber erfahren, außer dass es noch niemals jemand gewonnen hatte. Ich wusste nichts über die Fragen, ich wusste nicht einmal, was der Hauptpreis war. Ich hatte mich im irrwitzigen Vertrauen auf die Zusage eines Schurken darauf ein gelassen. Angeblich sollte ich eine verborgene Fähigkeit haben, die so wichtig war, dass sie Aholl verändern konnte. Zebul hatte versprochen, dass ich sie erfahren würde, wenn ich zum Quiz erschiene. Was konnte ich auf das Versprechen eines Toten geben? Was war das Versprechen eines Wesens aus dem Paradies des Teufels wert? Auch Lydia hatte so eine Andeutung gemacht, als ob ich die Kraft in mir hätte, die Macht des Teufels zu brechen. Ich kam mir vor, als ob ich unbemerkt einen Kirschkern verschluckt hätte und jetzt alle darauf warteten, dass ich ihn in hohem Bogen ausspuckte. Wie in aller Welt sollte ich Memos stoppen, die der Teufel auf die Reise in die menschlichen Köpfe schickte? Ich und verborgene Kräfte. Ich fühlte mich wie ein Hering im Kampf gegen den schwarzen Hai. Es war jetzt kurz vor Mitternacht. In wenigen Minuten begann das Quiz des Teufels. Einen Rat Lydias befolgend, plante ich, mich am Rand des Kraters einem der Tartarasseln zu stellen und ihm einfach zu sagen, dass ich der Kandidat wäre. Doch es sollte anders kommen. Wie von einer unsichtbaren Hand bewegt, machte mir die Menge Platz. Ich konnte durch die unterirdischen Gänge des Kraters marschieren, endlose Treppen hinuntersteigen, ohne einmal angesprochen oder aufgehalten zu werden. Ein Feuerwerk von düsteren Blicken traf mich, aber niemand traute sich mich anzufassen oder sich mir in den Weg zu stellen. 138
Ich dachte gar nicht darüber nach, dass ich nicht einmal jemanden nach dem Weg fragen musste. Ich ließ mich von etwas leiten, was ich einfach nicht aus meinem Kopf bekam - Zebuls Melodie! Schlagartig wurde mir klar, dass das nichts anderes war als ein Memo. Ein Memo, das mich beherrschte, eines, das mich jetzt in die Finsternis führte. Als ich das Tor ins Innere des Kraters erreicht hatte, war es so still, dass ich glaubte, die Teufel-Fans, die an den Hängen des Auges auf meinen Untergang warteten, hätten den Krater bereits verlassen. Aber ein Rundumblick zeigte mir: Bis in den Himmel erstreckten sie sich, Körper an Körper, Kopf an Kopf, und darüber tobten die riesigen Fahnen, die wie Monsterzungen in den schwarzen Himmel leckten. Jetzt konnte ich darauf das ahollische Wappen erkennen: Es war ein weißer Untergrund mit einem kleinen, rot-gelben Flammenherd, auf dem eine schwarze Seifenblase lag. Oder war es ein schwarzes Ei? Als ich in dieser beinahe lautlosen Atmosphäre in das Zentrum des Kraters ging, schlug plötzlich eine schwere Glocke. Das war das Zeichen. Die Massen begannen von einer auf die andere Sekunde zu toben und zu schreien, dass mich das Gebrüll hinwarf. Ein Fahnenmeer an den Hängen und ein Blick auf die Anzeigetafel zeigte mir, dass mir niemand außer Lydia und Mayo zutraute, hier aus diesem Teufelskessel als Sieger herauszugehen. Drohungen zischten mir um die Ohren, die ich sofort aus meinem Gedächtnis tilgte. Die Bühne war eine ovale Marmorfläche, über die ein Hauch von schwarzem Nebel strich. Als ich die Bühne betrat, entdeckte ich eine steinerne Liege, die exakt die Form eines liegenden Fragezeichens hatte. Ich steuerte darauf zu und wusste wieder aus unerklärlichen Gründen, dass dies mein Platz war. Kaum hatte ich es mir dort einigermaßen bequem gemacht, konnte ich die ganze Dimension dieses Kraters erkennen. Mir wurde jetzt auch klar, warum die Scheinwerfer dauernd 139
wackelten. Sie waren in die Tentakel von Blauekeln gesteckt worden, die damit wie kleine Helikopter die Bühne umflogen. Die Glocke schlug zum zweiten Mal und ich be-schloss mich einfach dem hinzugeben, was jetzt kommen sollte. Schließlich war ich nicht freiwillig hier, sondern war im Grunde gezwungen worden. Ich beobachtete die Ränge. Kein bekanntes Gesicht. Natürlich nicht. Dafür massenweise Wesen, deren hasserfüllte Visagen mich schaudern ließen. Ich war umringt von Feinden, unter denen ich den schlimmsten jetzt erst erkannte. Er stand fast versteckt hinter einer Säule, die die oberen Tribünenränge stützte. Ein Gesicht, das dort nur einen Bruchteil hervorlugte, um dann zu verschwinden. Es war der Schimmelkopf Gorgonzolas! Sein kurzer Blick traf mich wie ein brennender Pfeil! Was tat der elendige Prospektor hier inmitten der Hooligans? Heckte er einen finsteren Plan aus, um mich in letzter Sekunde vom Quiz abzuhalten? Nein! Dieser Kampf war entschieden. Und das stand in Gorgonzolas Blick: Rache! Rache dafür, dass nun der Traum seines Herrn und damit sein Traum zerstört war. Belphegor und er hatten für ihre Ziele ihre ganze Macht eingesetzt - vergebens. Der Rote wollte selbst Teufel werden, indem er verhinderte, dass das Quiz stattfand. Indem er mich davon abhielt, hier auf dieser Bühne dem Teufel zu seinem Gedächtnis und seiner Macht zu verhelfen. Aber ich hatte Belphegor besiegt! Komischerweise zündete nicht der kleinste Funken Freude in mir. Ich wusste, dass ich nur einen kleinen Kampf gewonnen hatte, die Schlacht aber würde ich verlieren. Wie um das zu bestätigen, schlug die Glocke ein drittes Mal! Es wurde wieder so still, dass man glauben konnte, der Krater wäre ausgestorben. Der Grund war diesmal nicht gespannte Neugier wie bei meinem Auftritt, sondern pure Furcht. Ein Zug von Tarta-rasseln marschierte begleitet von Blauekeln mit 140
Scheinwerfern in das Kraterinnere. Das Ganze wirkte wie eine Prozession. Tatsächlich begannen die Zuschauer zunächst leise, dann immer lauter werdend eine Melodie zu summen. Es war dieselbe grauenvolle Melodie, die mich seit dem Tod Zebuls nicht mehr in Ruhe gelassen hatte. Jetzt erst entfaltete sie ihren ganzen drohenden Klang, als ich erkannte, dass jeder hier im Krater diese Melodie kannte. Ich hatte die ganze Zeit den Schlachtgesang des Teufels im Kopf. Der Trupp von Tartarasseln trug eine Art Sänfte und es bestand kein Zweifel, dass in dieser Sänfte der Teufel stecken musste. Langsam näherte sich die Prozession der Bühne und ich richtete mich auf dem liegenden Fragezeichen auf. Der Stein war feucht und warm und ich musste erkennen, wie sehr Admiral Atarax Ataraxia bei mir versagt hatte. Ich war ein größerer Angsthase als jemals zuvor. Nun hatte die Sänfte die Bühne erreicht. Die Tartarasseln blieben stehen. Die vier Kerle griffen in die Sänfte hinein und begannen, etwas herauszuheben. Jetzt war es so weit! Jetzt würde ich, Quentin Fux, den Teufel zu Gesicht bekommen! Würden mir auch Fäden aus dem Körper wachsen, wenn er mich anstarrte? Ich schwankte zwischen Ekel, Entsetzen und Er stickungsanfall, als ich ihn sah. Ich hatte mir vieles vorgestellt und ausgemalt, aber das hier übertraf all meine Befürchtungen. Der Teufel war ein schwarzes Ei! Als das schwarze Ei aus der Sänfte gehoben wurde, tobte der erloschene Vulkan, als ob er erneut ausbrechen wollte. Die Tartarasseln stellten das Ei auf die Spitze und - ein Beweis für die Macht des Teufels - es blieb ohne jedes Hilfsmittel und ohne Stütze auf der Spitze stehen. Das Ei des Kolumbus, das man nicht erst 141
anschlagen musste. Dieses Ei gehorchte Gesetzen, die fern jeder Physik lagen. Der Teufel - ein schwarzes Ei. Das hätte ich mir nie träumen lassen! Die Tartarasseln zogen sich sofort alle zurück. Der Teufel und ich blieben alleine auf der Bühne. »Er soll dafür zahlen, dass er Luzifer brennen ließ!«, schrie eine hysterische Stimme von den unteren Rängen. »Ja, zahlen dafür soll er!«, brüllten jetzt die Massen und die Fahnen brachen in den Himmel. Offenbar waren alle gut informiert und die Sympathien eindeutig verteilt. Nun schlug die Glocke dreimal kurz hintereinander und in den Rängen schien nicht mal mehr geatmet zu werden. »Ich weiß nicht, wer ich bin. Aber er soll zeigen, dass er es ist...«, sprach plötzlich jemand. Das war die Stimme des Teufels, sie kam direkt aus dem schwarzen Ei, das zwei Armlängen vor mir stand. Zeigen, dass ich es war? Das konnte nur bedeuten, dass ich das Siegel zeigen sollte. Ich wollte zuerst die Fläche meiner rechten Hand hochhalten, entdeckte aber in diesem Moment eine weiße Fläche auf dem Ei, die genau den Umrissen meiner Hand entsprach. Ich trat einen Schritt vor und presste meine Hand auf die Fläche. Sofort durchströmte mich ein Gefühl wie damals, als Zebul mir das Brandeisen des Teufels aufgedrückt hatte. Mit dem Unterschied, dass diesmal nach der Welle von Angst, Schrecken und Untergangsstimmung die Welle der Freude ausblieb. Das war damals wohl nur ein Köder gewesen. Als das vorbei war, sah ich, dass die weiße Stelle auf dem Ei nun schwarz war. »Er ist es. Das Quiz kann beginnen!«, sagte die Stimme aus dem Ei. Kurzer, hysterischer Jubel der Massen, dann wieder Stille. Niemand wollte sich auch nur einen leidvollen Augenblick von mir entgehen lassen. 142
»Was läutet ein die Niederlage?«, fragte die Stimme aus dem Ei. »Die allererste, schlimme Frage ...«, raunte der Chor in den Hängen. »Was wirst du später einmal werden?«, fragte das Ei kurz und bündig und begann aus dem Stand sich wie ein Kreisel um die eigene Achse zu drehen. Ich war irritiert. War das die erste Frage? Das musste sie sein! Warum drehte sich das Ei denn jetzt? Was ich später werde? Eine Frage, wie sie teuflischer nicht sein konnte. Hundertmal hatte ich schon darüber nachgedacht und nie eine Antwort darauf gefunden! Was wirst du später einmal werden? Bis jetzt hatte ich ja daran gezweifelt, dass es in diesem Quiz wirklich um wichtige Fragen des Lebens ging, nun aber waren alle meine Zweifel zerstreut. Das war mit Sicherheit eine der wichtigsten Fragen des Lebens. Und gleichzeitig eine der schwierigsten. Wer hatte darauf schon eine Antwort? Ich dachte an die eindringliche Warnung, die mir Lydia kurz vor unserem Abschied am Eingang zum Auge mitgegeben hatte: Sei auf der Hut, du musst im Quiz schmerzhafte Dinge über dich selbst erfahren. Aber für mich war hier schon Endstation. Bei der ersten Frage. Aus. Schluss. Ende. Frage eins - keine Antwort. Was wirst du später einmal werden? Ich war doch kein Prophet! Ich bemerkte, dass das Ei an Schwung verlor und sich langsamer drehte. Knall auf Fall wurde mir klar, dass das mein Zeitlimit war. Sobald das schwarze Teufelsei stillstand, musste ich antworten. Was wirst du später einmal werden? Wer konnte das schon beantworten, mit 13 Jahren. Dabei fiel mir mein Geburtstag ein. Ich hatte heute Geburtstag und wurde 14! Aber das half mir nicht. Mein Geburtstag scherte den Teufel einen Dreck. Das Ei stand still. »Was wirst du später einmal werden?«, wiederholte es und mir schien, es lag schon ein leichter Triumph in der Stimme. 143
»Zahnarzt«, rief ich, weil mir nichts Besseres einfiel. Das Ei stöhnte entsetzlich. Aus seinem Innern drangen Geräusche wie von Knochenbrüchen. Was passierte jetzt? Das Ei bekam einen Riss, ein kleines Stück Schale brach ab und eine Hand schoss aus dem Ei heraus! Die Hand des Teufels! »Ahhhhhhh«, stöhnte es, als ob jemand nach tausend Jahren Tiefschlaf geweckt würde. Das Publikum tobte und schlug die Banner im Wind hin und her. Nun erkannte ich die volle Wahrheit. Mit jeder Frage, die ich nicht beantworten konnte, schlüpfte der Teufel ein Stück mehr aus seinem faulen Ei. Nicht genug, dass ich draufgehen sollte beim Quiz des Teufels, ich war auch dabei, den Teufel auszubrüten. Mit meinem Unwissen über mich selbst. Das war also mit dem verlorenen Gedächtnis gemeint. Ich selbst gab dem Teufel seine Gestalt. Ich selbst erschuf den Teufel durch das Versagen im Quiz. Der Teufel mein Geschöpf. Ich bekam auf einmal Angst vor mir selbst. Jedenfalls ließ die Klaue, die aus dem Ei wuchs, darauf schließen, dass aus diesem Ei das schrecklichste Wesen schlüpfen würde, das ich je gesehen hatte. »Ich fange an mich zu erinnern ...«, dröhnte es aus dem schwarzen Ei. Meine schlimmsten Befürchtungen wurden bestätigt. Die geschlüpfte Hand tastete über den Boden und suchte wohl gleich instinktiv nach etwas, das sie zerquetschen konnte. Aber in derselben Sekunde schoss mir die richtige Antwort auf die erste Frage durch den Kopf. Was wirst du später einmal werden? Das bezog sich gar nicht auf den Beruf. Älter! Älter würde ich werden! Ich hätte mich selbst erwürgen können. Meine erste Chance vertan. In einer Fangfrage die Antwort vergeigt. Dass mir das an meinem Geburtstag nicht eingefallen war! »Wer wird auch nun versagen?«, knurrte die Stimme jetzt 144
klarer aus dem Ei. »Der Kandidat - bei der zweiten von sechs Fragen!«, brummten die Heerscharen der Fans des Teufels. »An was glaubst du?«, blubberte es durch die Risse aus dem Innern und das Ei begann sich wieder auf der Spitze zu drehen, als ob eine unsichtbare Hand es aufgezogen hätte. Ich wusste, dass eine solche Frage kommen würde. Ich hatte es geahnt, gleich nach der ersten Frage. Und hätte ich Lydias Hinweise ernst genommen, ich hätte es wissen müssen. Es waren keine Fragen, die ich richtig oder falsch beantworten konnte. Es waren teuflische Fragen. Es waren Fragen, auf die man Antworten nicht in den Lexika findet. Es waren die Fragen, die man nur in sich selbst findet. An was glaubte ich? An die Rettung von Johannes Fux? An Schutzengel? An die Zukunft? An mich selbst? An was glaubte ich? An das Wissen der Welt? An Reichtum? An Gott? An was? Das Ei verlangsamte schon wieder seine Umdrehungen. Ich würde ihm wieder eine Antwort geben. Aber ich wusste, dass es die falsche sein würde. Weil ich keine Antwort auf diese Frage in mir hatte. Hätte ich eine gehabt, ich hätte sofort gewusst, ob sie richtig oder falsch war. Dafür hätte es nicht des Teufels in seinem Ei bedurft. Dem waren die Antworten völlig egal, der wollte nur schlüpfen, um seine ganze Macht zu erneuern. »Stopp!«, schrie ich und das Ei stoppte von einer Sekunde auf die andere. »Wieso >stopp«, fragte die Stimme aus dem Ei. »So geht das nicht! Über solche Fragen muss man doch viel länger nachdenken. Für die Antwort muss man doch ewig nachdenken. Das geht nicht mal eben so!« »Das ist typisch! Sonst geht euch nichts schnell genug. Aber diese Frage kommt euch immer zu früh. Also, wie lautet deine Antwort?« Das Ei rotierte aus dem Stand so schnell weiter, dass mir schwindlig wurde. Mein Blick suchte nach Hilfe und schwenkte in die ersten 145
Reihen der Zuschauerränge. Grimmige, höhnische Fratzen schlugen mir entgegen. »An nichts. Ich glaube an nichts mehr«, antwortete ich matt. Im Moment kam das der Wahrheit sogar ziemlich nah. Aber eben nur ziemlich. Der tosende Jubel in den Rängen ließ mich eine Sekunde bangen, dass der Vulkan unter meinen Füßen ausbrechen würde. Das Publikum wusste, dass auch diese Antwort falsch war. Verkniffen beobachtete ich das Ei. Da stieß ein Fuß durch die untere Eierschale. Schwarze Dotterflüssigkeit lief aus und wieder tönte es: »Ahhhhrggg! Jetzt sehe ich schon um einiges klarer ...«, grunzte der Teufel und es klang wie eine fürchterliche Drohung. Kein Zweifel, es dauerte nicht mehr lange und der Fürst der Finsternis hatte sein Gedächtnis wieder und war vollständig geschlüpft. Ich war kurz davor, aufzugeben. Was hatte es noch für einen Sinn? Ich könnte mit Sicherheit keine der Fragen beantworten, die sich der Teufel noch einfallen ließ. Er besiegte mich stellvertretend für alle Menschen. Das Quiz entlarvte mich. Ich hatte immer gedacht, für einen Jungen Ende 13 wüsste ich viel, manche behaupteten, ungeheuer viel. Und jetzt wurde mir schlagartig klar, was ich mich gleich zu Beginn gefragt hatte: Warum hatte Zebul mich für das Quiz ausgewählt? Warum nicht den dümmsten Nichtskönner des ganzen Universums? Mit dem hätte der Teufel doch noch leichteres Spiel als mit mir? Die Antwort kannte ich: weil es nicht auf Wissen ankam. Im Quiz des Teufels waren Antworten gefragt, von denen ich trotz meines Wissens keine Ah nung hatte. Das hatte mir keiner beigebracht. Woran glaubte ich? Auf diese Frage gab es doch keine... Doch, gab es! Die Antwort fiel mir jetzt erst, wieder zu spät, ein. Natürlich glaubte ich an - das Leben! Auch diese Antwort kam zu spät. 146
Sollte ich dem Publikum nicht einfach den totalen Triumph gönnen? Aufgeben? Plötzlich entdeckte ich inmitten der Monsterköpfe die schöne Lydia. Ganz kurz blieb mein Blick an ihrem haften und ich las: >Kämpfe, Quentin! Für unsere Freiheit und deinen Vater!< Mit diesem Blick rollte ein Energieschub durch meinen Körper. Ich wollte auf den Teufel zuspringen und aus ihm schwarzes Rührei machen. Aber die Tartarasseln am Rande der Bühne schienen meine Gedanken zu erraten und waren sprungbereit. Die gewaltsame Lösung schied also aus. »Was ist? Schläfst du ein? Wo bleibt die nächste Frage?«, rief ich und ein Woge der Entrüstung schwappte über die Hänge des Kraters. Ein gellendes Pfeifkonzert war die Quittung für meinen Vorstoß. Wie auf ein geheimes Zeichen verstummte schlagartig alles. »Wer - wenn nicht das schwarze Ei?«, zischte es prompt aus der brüchigen Schale. »Gewinnt auch nun bei Frage drei?«, ergänzten die Zuschauer. »Das wollen wir doch erst mal sehen!«, schrie ich, schon allein, um wieder Unruhe zu stiften. So leicht wollte ich es denen nicht machen. Für einen Moment schien mir eine Irritation im Ei zu herrschen. Ich hätte nicht sagen können, woran ich das gemerkt hatte. Nur einen Augenblick später hörte ich einen Ruf aus dem Himmel: »Rioooooooo!« Ich sah hoch und erkannte Dario, den Waldmeister. Allerdings schien er in Schwierigkeiten zu stecken, denn er wurde verfolgt von der Sirene, die ihr grimmigstes Gesicht aufgesetzt hatte. Ich wunderte mich, dass sie sich -als Dienerin des Roten - hierher in die Nähe des Teufels traute. Dario ging in den Sturzflug über und kam genau auf mich zu! Die Sirene tat es ihm nach, die schauerlichsten Töne jauchzend. Die Tartarasseln am Rande der Bühne zückten kleine 147
Blasrohre. Ich hatte schon länger bemerkt, dass sie in Netzen kleine Memos aufbewahrten, die sie offensichdich als Munition nutzten und durch die Blasrohre abfeuerten. Tatsächlich stopften sie sich mit ihren Pranken Memos in den Mund. Schussbereit standen sie da und warteten auf den Feuerbefehl. Ich konnte inzwischen Darios Gesicht erkennen und vermisste sein entspanntes Grinsen. Diesmal schien es wirklich eng zu werden. Plötzlich öffnete er seinen Mund und ließ etwas geradewegs auf mich zufallen. Einen Moment später musste er abdrehen, denn die Tartarasseln eröffneten das Feuer und es pfiffen Memos an ihm vorbei, Todesgedanken, die ihn von innen aufgefressen hätten. Dario musste sein ganzes Können aufbieten, um nicht getroffen zu werden. Aber er kam noch näher auf mich zugeflogen. Erst in letzter Sekunde drehte er ab und streifte mich mit einer Flügelspitze. Das war wie eine Streicheleinheit, die mich aufmuntern sollte. Als er einen Haken schlug, schien er für das Feuer der Tartarassel unerreichbar und sie konzentrierten sich auf die Sirene, die eine glänzende Zielscheibe abgab. Auch diesmal sollte sie das Duell gegen den Waldmeister verlieren. Sie erhielt einige Treffer und man konnte nur ahnen, welche dunklen Gedanken da von ihr Besitz ergriffen. Sie torkelte und verlor die Kontrolle, schmetterte einen furchtbaren Hilferuf, der mir durch Mark und Bein ging, stürzte mit einem Riesenknall in das Publikum, wurde zurückgeschleudert und landete schwerfällig nahe der Bühne auf dem Grund des Auges, wo ihr kupferfar bener Körper bewegungslos liegen blieb. Was nun folgte, war wieder typisch für Aholl und seine Bewohner: Niemand kümmerte sich mehr um die Sirene, ja sie wurde noch nicht einmal beachtet. Das erinnerte mich an den Moment, als Belphegor einen seiner Leib-Tartarasseln mit seinem Blick in eine wimmernde Marionette verwandelt hatte. Und das wieder erinnerte mich an meinen Vater. Ich bückte mich, um zu sehen, was Dario auf mich nie 148
dergeschmissen hatte: Ich traute meinen Augen kaum! Es war der Bernsteinring, der zu Aurora werden konnte! Kaum hatte ich den Namen gedacht, da verwandelte sie ihre Gestalt und sah mir mit ihren rehbraunen Augen ins Gesicht. Sofort schoss Wärme in meinen Körper, der meine Muskeln geschmeidig machte. Jetzt war ich für den Kampf gerüstet! »Aurora!«, rief ich und umarmte sie. »Gerade noch rechtzeitig, wie mir scheint. Bei der wievielten Frage seid ihr?« »Jetzt kommt die dritte!«, sagte ich. »Wer - wenn nicht das schwarze Ei?«, donnerte es wütend aus dem angeschlagenen Ei. »Gewinnt auch nun bei Frage drei?«, ergänzten die Massen in den Hängen erneut. Klangen sie unsicherer als eben noch? »Was hält die Welt im Innersten zusammen?« Bildete ich mir nur ein, dass es aus dem Ei gluckste? Was hält die Welt im Innersten zusammen? Eine Frage, die mir bekannt vorkam. Eine Frage, die schon mehrfach gestellt worden war. Atome? Ionen? Moleküle? Quarks? Quanten? Quanten, das war die richtige Antwort! Ohne sie würde alles auseinander fallen! Jetzt würde ich den Spieß rumdrehen. Jetzt beging der Teufel seinen ersten schweren Fehler! Er fühlte sich sicher und stellte Wissensfragen. Und darin, das sollte der Schwarze wissen, darin konnte mir so schnell keiner das Wasser reichen. Ein Blick auf das Ei zeigte mir, dass es trotz der zwei Bruchstellen genauso schnell rotierte wie vorher. Schwarze Flüssigkeit spritzte umher. Aurora schien gründlich zu überlegen. Dabei hatte ich die Antwort schon längst. Das Ei wurde langsamer. Aurora, mein kleiner Joker, stellte sich auf die Zehenspitzen und flüsterte mir etwas ins Ohr. Ich sah ihr erschreckt ins Gesicht und warf einen schnellen Blick auf Lydia, die immer noch auf ihrem Platz saß. 149
Was hält die Welt im Innersten zusammen? Die Frage klang in meinen Ohren und im Zusammenhang mit meinem Blick auf den schönen Drachling Lydia errötete ich leicht. Das Ei stand still. »Die Liebe«, rief ich in Richtung Ei und schien damit sämtlichen Hooligans die Kehlen verstopft zu haben. Kein Mucks weit und breit. Dann ein Orkan des Protestes: »Wenn überhaupt, dann der Hass, du kleiner Trottel!«, schrie ein Sabyre. »Was ist das, Liebe?«, hörte ich einen Blauekel seinen Kollegen fragen, der nur dumpf die Tentakel zuckte. Dann war Totenstille. »Merkwürdig, ich erinnere mich nicht...«, sagte der Teufel. Nervöses Gemurmel im Auge. Der Punkt ging eindeutig an mich! Das hatte ich Aurora zu verdanken. Ich wäre glatt auf den Schwarzen reingefallen und hätte versucht, die Antwort aus der Physik zu geben. Bei dem Gedanken an eine falsche Antwort brach mir der Schweiß aus. Mein erster Punkt hatte für Verunsicherung gesorgt. Die Tartarasseln um die Bühne herum waren plötzlich wieder hellwach. Es herrschte eine gereizte Unruhe. Das Auge war jetzt wirklich der sprichwörtliche Hexenkessel. Und nie hatte der Name besser gepasst als in dieser Nacht, der Walpurgisnacht, meinem Geburtstag. »Was weiß hier jedes Tier?«, kam die Frage aus dem Ei. »Dass er versagt - bei Frage vier!«, rauschte es von den Rängen! Siegessicher sah ich zu Aurora. Doch zu meinem Schreck musste ich erkennen, dass sie wieder der Bernsteinring war und in meiner Hand lag. Was bedeutete das? Einen Joker konnte man doch dreimal einsetzen! War ich den Rest des Quiz wieder auf mich alleine gestellt? Zweimal hatte mir die Bern steinprinzessin das Leben gerettet. Und vielleicht damit auch 150
meinem Vater. Wann würde das dritte Mal sein, wenn nicht hier in dem Quiz des Teufels? Ich steckte Aurora sorgfältig in meine Hosentasche. Ein Blickkontakt zu Lydia könnte vielleicht einiges erklären. Aber auch der Drachling saß nicht mehr an seinem Platz! Irgendetwas schien da draußen vorzugehen und ich hatte keine Ahnung, was! Versagen sollte ich bei Frage vier? Mal sehen ... »Wo liegt das Glück?« So eine Frage vom Teufel, da bekam man doch Pickel. Aber es war völlig klar, was hier vorging. Er wollte seinen Fans zeigen, dass die Menschen noch immer keine Antworten auf die wichtigsten Fragen gefunden hatten. Es gab Lexika, dass sie aufeinander gestapelt bis zum Mond gereicht hätten, aber wo man auf die wichtigsten Fragen des Lebens Antworten finden konnte, davon wussten alle nichts. Das Ei drehte sich wieder, dass mir schwindlig wurde. Wo liegt das Glück? In Madagaskar? Am Südpol? Zu Hause? In der Lotterie? Gab es darauf überhaupt eine eindeutige Antwort? Fand nicht jeder sein Glück anderswo? Das Ei bremste wieder ab. Von der Antwort war ich so weit entfernt wie von der Rettung meines armen Vaters, der an den Fäden zappelte, die von Typen wie Belphegor oder Gor-gonzola gezogen wurden. Wo liegt das Glück? Auch darauf wusste ich keine Antwort. Das Ei stand still. Ich musste an Otoll, Lydia, Aurora, Dario und Mayo denken und antwortete: »Das Glück liegt in der Freundschaft!« Ich war gar nicht mal unzufrieden mit meiner Antwort. Die Massen waren still. Man war sich meines Ver sagens nicht mehr so sicher wie am Anfang. Und da die ahollischen Horden sowieso keine Antwort auf solche Fragen hatten, diese Fragen nicht einmal verstanden, waren sie unsicher geworden, nun, nachdem ich eine Frage richtig beantwortet hatte. 151
»In der Freundschaft!«, brüllte ich wieder. Schon das wohlige Grunzen aus dem Ei ließ mein Blut gefrieren. Mit einem Stoßseufzer in den dunklen, nur von einigen Blauekeln beleuchteten Nachthimmel stieß der Teufel sein zweites Bein aus dem Ei heraus. Bald schon würde er vollständig geschlüpft sein. Man konnte schon ein wenig seinen Kopf erkennen. »Bald weiß ich wieder, wer ich bin!«, dröhnte es aus den restlichen Eierschalen. Der grenzenlose Jubel und das Schwenken der Banner zeigten mir, dass die Aholler durchaus auch ein anderes Ergebnis für möglich gehalten hatten. Zum dritten Mal hatte ich versagt. Ein einziges Mal hatte ich pariert. Noch zwei Fragen und meine Niederlage wäre besiegelt. Die Hoffnungen all der Tapferen, die die Welt von den schwarzen Memos befreien wollten, würde ich enttäuschen. Nicht einen einzigen Augenblick würde ich ihnen das Glück... Ich schlug mir an den Kopf! Dort lag das Glück! Dort, wo man die Ängste von gestern und die Sorgen von morgen vergaß! Im Augenblick! Das wäre die richtige Antwort gewesen. Aber was nützte es noch? Es schien mein Schicksal zu sein, dass ich Antworten auf die wichtigsten Fragen des Lebens fand - aber immer zu spät. »Was führt zum Triumph der schwarzen Zünfte?«, rief der Teufel dem Publikum zu. »Wenn er sie nicht parieren kann - die Fünfte!«, schrien die Massen in beginnender Verzückung. Der Teufel schien die Situation jetzt auszukosten und nahm sich Zeit. Fest stand, dass er beim nächsten Mal schlüpfen würde. »Was führt zu einem schlechten Leben?« Er schmetterte mir die Frage ins Gesicht wie einen Peitschenhieb. Hörte ich einen ironischen Unterton? Diese Frage vom Teufel? Das gab es doch 152
nicht! Er kam mir nun vor wie eine Primaballerina, mit seinen beiden Beinen, die aus dem Ei herausgebrochen waren. Er drehte eine Pirouette, sodass noch mehr von der schwarzen Flüssigkeit und kleine Eierschalensplitter herumspritzten. Nur der Kopf und der Oberkörper steckten noch in diesem schwarzen Eierrest. Ich bildete mir ein, dass mir seine Beine ir gendwie bekannt vorkamen. Aber was brachte das? Hier ging es um die vorletzte Chance, um eine Antwort auf die fünfte Frage. Und auch die hatte es wieder in sich. Was führt zu einem schlechten Leben? Im Prinzip dasselbe wie: Was führt zu einem guten Leben?, dachte ich. Wenn man die Antwort auf das eine hatte, wusste man auch die Lösung für die andere Frage. Was führte zu einem schlechten Leben? Angst! Das war die Antwort. Angst, schoss es mir durch den Kopf und mir fiel unwillkürlich wieder Admiral Atarax Ataraxia ein. »Angst!«, rief ich impulsiv und spürte an einer leichten Irritation während seiner Pirouette, dass das nicht ganz falsch sein konnte! Das Ei wurde langsamer. Ich ahnte, es war die Angst vor etwas bestimmten, was zu einem schlechten Leben führte. Nur vor was? Vor dem Teufel? Nicht ganz so unwahrscheinlich. Aber das führte zu einem verklemmten, nicht unbedingt zu einem schlechten Leben. Hastig suchte mein Blick nach Lydia. Doch sie blieb verschwunden. Mein suchender Blick streifte die Sirene, die immer noch an der gleichen Stelle lag wie bei ihrem Absturz. Ich fragte mich, ob sie tot war. Die Angst vor dem Tod! Das war's. Das Ei stand still. »Die Angst vor dem Tod!«, ergänzte ich die Antwort. Der Teufel regte sich nicht. Schließlich grölte er: »Nun weiß ich wieder, wer ich bin! Jetzt fällt mir wieder alles ein! Junge, das hättest du aber wissen müssen!« Obwohl er sich mit dem vollständigen Schlüpfen noch Zeit ließ, um mich zu quälen, wusste ich in diesem Moment, dass 153
ich diese Stimme kannte. Er fuhr fort. »Aholl, mein Paradies, hat dich schließlich von dem befreit, was zu einem schlechten Leben führt. Es ist natürlich nicht die Angst vor dem Tod. Es ist natürlich die Angst vor dem Leben!« Von der linken Seite her drohten die Anhänger des Teufels auf die Bühne zu stürmen, so groß war ihre Freude. Die Banner schnitten die Luft in dünne Scheiben. Das leuchtete mir ein. Was einem das Leben wirklich versauen konnte, war Angst vor dem Leben, Angst davor, Fehler zu machen. Es war aus. Ich konnte einpacken. Jetzt war es vorbei, mein Leben. Hatte der Teufel auch einen Blick wie sein Adoptivsohn Belphegor, einen Blick, der einen zur willenlosen Puppe werden ließ? Jetzt würde ich den Blick zu spüren bekommen. Die Eierschale riss und zerbrach der Länge nach. Als die schwarze Flüssigkeit an seinem Körper heruntergelaufen war, konnte ich den Kopf erkennen. Vor mir stand Zebul, mein Teufel.
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»Du?«, rief ich. »Ich dachte, du wärst tot!« Ich taumelte. Zebul. Der Teufel war Zebul! »War ich ja auch. Das ist doch alle tausend Jahre in der Walpurgis-Woche dasselbe. Obwohl, diesmal ... Wenn ich dich nicht rechtzeitig gefunden hätte, dann wäre ich tot geblieben! Ein schwarzes Ei auf dem Grund eines Schwarzen Sees. Den ganzen Tag düstere Gedanken und schlechte Ideen produzieren und Trübsal blasen. Die Welt mit geistigem Abfall verstopfen, eure Hirne zuschütten mit Ge dankenmüll. Das ist ja schön und gut und auch mein Job. Aber meinst du, das macht auf ewig Spaß, wenn du auf dem Grund eines Sees liegst? Nein, auf das Vergnügen, direkt eure Träume zu verseuchen, darauf wollte ich dann doch nicht verzichten. Basisarbeit ist einfach das Schönste! Es gibt ja genug Leute, die daran interessiert waren, meinen Job zu machen, so toll finden sie das. Sie wollten, dass ich tot blieb. Zum Beispiel mein Sohn, der Rote. Ach, ich werde ihn töten müssen, weißt du?« Durch die Massen am Hang des Auges ging ein begeistertes »Ahhhh«. Ich sah in die Gesichter. Die pure Lust an der Katastrophe sah ich dort. »Und du, mein Junge, wirst seinen Platz einnehmen. Ich werde dir den Namen Baal geben. Aber zuerst - zuerst wirst du 155
mir etwas geben, nicht wahr?« Der Schwindel in meinem Kopf war keine Einbildung, mir war übel. »Wo ist mein Vater?«, wollte ich wissen. Zebul sah mich erstaunt an. »Dein Vater? Was interessiert mich dein Vater? Ich bin jetzt dein Vater!« »Das glaubst nur du. Was ist mit der sechsten Frage?« Jetzt war eh alles egal, dachte ich. »Du willst die sechste Frage?«, fragte er. Ich nickte. »Er will die sechste Frage!«, brüllte er in das Oval des Vulkans. Die Quittung kam umgehend. Die Fahnen wurden so wild geschlagen, dass sie teilweise in Fetzen hingen. Das Gebrüll kam als Orkan zu uns auf die Bühne. »Du kennst nicht die Regel um die sechste Frage?« Ich wusste nichts darüber und schüttelte den Kopf. Ich spürte sofort die Spannung beim Publikum, kein Laut drang jetzt nach unten. Mit dieser sechsten Frage musste es etwas ganz Besonderes auf sich haben. »Bei den fünf wichtigsten Fragen des Lebens hast du ja bewiesen, dass ihr Menschen nichts dazuge-lernt habt in den letzten tausend Jahren. Bis auf die eine, die dein Joker beantwortet hat. Ansonsten -versagt!« Er ließ sich ausgiebig von seinen Fans feiern. »Na ja, das war ja auch nicht zu erwarten. Die sechste Frage gehört darum dir!« Er musterte mich eingehend. »Aber auch jetzt ist Hoffnung völlig unangebracht.« »Was heißt das, die sechste Frage gehört mir?« »Du darfst mir eine Frage stellen. Kann ich sie nicht beantworten, dann haben wir ein Unentschieden.« »Irgendeine Frage?«, fragte ich. »Natürlich. Das ist völlig gleichgültig. Ich kann nämlich im Gegensatz zu dir die ewigen Fragen beantworten!« 156
»Hat es etwas mit meiner verborgenen Fähigkeit zu tun?«, fragte ich. Für den Bruchteil einer Sekunde meinte ich, ein nervöses Flackern in Zebuls Blick gesehen zu haben. »Deine verborgene Fähigkeit kannst du von mir nicht erfahren. Ich kenne sie nicht und für sie ist auch kein Platz in Aholl...« Ich musste angreifen. »Was ist meine verborgene Fähigkeit? Du hast versprochen, dass ich sie im Quiz erfahre!« Ich erinnerte mich genau. Er hatte gesagt, gewinnen könnte ich eine Erkenntnis über mich selbst. Er druckste ein wenig herum und wollte mir die Antwort auf diese Frage schuldig bleiben. Was heißt wollte? Er musste, denn in diesem Augenblick war ich sicher, dass er sie wirklich nicht kannte. Meine besondere Fähigkeit? Was war es? Warum hatte ich davon bisher nichts gemerkt? Etwas, das es in Aholl nicht gab? Was sollte das sein? Ich ließ meine Reise vor meinem inneren Auge Revue passieren. Luzifer, der in der Dunkelheit lebte, nur um möglichst viel Schaden anzurichten. Boris, der Sa-byre, der mich gnadenlos ins Unheil stürzen wollte. Tartarasseln, die gleichgültig zusahen, wie Belphe-gor einen Artgenossen fertig machte. Ich selbst, dem es in den Zweifelswäldern beinahe egal gewesen wäre, wie der eigene Vater endet. Schließlich Ale xandra, die Sirene, um die sich keiner kümmerte, nachdem sie auf dem Boden zerschmettert war. Und der Teufel selbst, der ankündigt, seinen Sohn zu töten, ohne mit der Wimper zu zucken. Das Schicksal ihrer Artgenossen war ihnen allen gleichgültig. Mich durchfuhr es heiß und kalt. Mit einem Mal wusste ich, woran es Aholl mangelte, was das Paradies des Teufels am bittersten nötig hatte. Sollte das die Frage sein, die Zebul nicht beantworten konnte? Ich musste es riskieren. Im Krater war es merkwürdig still geworden. Alles wartete auf meine Frage. »Was macht den Teufel jetzt perplex?«, schrie ich 157
mit meiner ganzen Kraft hinaus. Zunächst antwortete niemand, doch dann rührte sich ein schwaches Stimmchen: »Es ist die Frage Nummer sechs!« Ich musste zweimal hinsehen, um zu erkennen, dass es der Wirt aus dem »Unkalkulierbaren Risiko« war. Der Krater war jetzt ein stiller Ozean der Schreckgestalten, vor Spannung war die Luft elektrisch geladen. »Ich habe was, was du nicht hast. Wenn du es hättest, dann wäre das der Untergang deines Paradieses, das Ende des Schreckens. Und dann hättest du es im Überfluss, vor allem mit dir selbst. Was ist es?«, fragte ich. Der Teufel stutzte. »Das ist doch keine Frage!« Zustimmung von den Hängen. »Drück dich klarer aus!« »Natürlich ist das eine Frage. Und wenn du sie beantwortest, dann weißt du, was ich habe, was du nicht hast.« Ich sah an seinem Gesicht, dass er diese Frage nicht beantworten konnte. Ich hatte ihn an der Angel. Er grübelte, quälte sich mit der Antwort. Blankes Entsetzen las ich in den Fratzen der Aholl-Hooligans. »Was habe ich, was es in Aholl nicht gibt?«, brüllte ich in die Ränge. Kein Mucks war zu hören. Ich ließ ihn schmoren, ich genoss es und legte mich gemütlich auf das schwarze Fragezeichen. Unentschieden! Ich hatte den Teufel nicht besiegt. Aber er mich auch nicht. Was würde er jetzt tun? Ich bemerkte, wie er den Tartarasseln ein verstecktes Zeichen gab, und beobachtete, wie die dumpfen Söldner wieder ihre Blasrohre zückten. Kein Zweifel, Zebul wollte diesen Handel nicht einhalten. Vielleicht war das die Quittung dafür, dass ich es vor rund sieben Tagen mit ihm auch nicht anders gemacht hatte. Er selbst knabberte an der Rätselfrage, das merkte ich. Das sollte er von mir aus auch noch ewig weitertun. Ich hatte in dem Quiz doch ein Unentschieden geholt! Er 158
konnte mich nicht einfach wie einen Verlierer behandeln. Oder doch? Natürlich konnte er. Zebul konnte alles. Er war der Teufel! Ich sah mich um. Von einem bekannten Gesicht keine Spur. Ich selbst umzingelt von Tartarasseln mit gezückten Blas rohren. Und der Tartarassel neben mir? Der schien mir zuzulächeln. Ein Tartarassel, der mir zulächelte? Erst jetzt erkannte ich Mayo. Er gab mir ein Zeichen, was wohl heißen sollte, halte dich bereit. In diesem Moment hörte ich ein Zischen über mir wie von Federn im Wind. Bevor ich hochsah, wusste ich, dass dort Dario zu meiner Rettung eilte. Er wollte möglichst spät bemerkt werden, darum versuchte er jedes Geräusch zu unterdrücken. Als Zebul ihn entdeckte, war es zu spät. Dario schoss dicht an mir vorbei und packte mich am Kragen. Ein Tartarassel, der auf den Waldmeister zusprang, um ihn zu ergreifen, stolperte über ein Bein, das Mayo ihm unauffällig gestellt hatte. Ehe der Kugelhagel von Memos uns um die Ohren pfiff, waren wir bereits in die Katakomben des Kraters eingetaucht. Die Scharen an ahollischen Schreckenswesen, die in den Hängen wie Tränen in einem Sack hingen, schlugen mit den Fahnenstangen nach uns, doch Dario war ein zu geschickter Flieger, um sich erwischen zu lassen. »Denk nicht, dass wir es schon geschafft haben«, rief er nach hinten, sobald wir außerhalb des Kraters waren. »Wir müssen zuerst herausfinden, wo dein Vater gefangen gehalten wird. Viel Zeit bleibt nicht mehr. Sieh nur, der Morgen dämmert. Wenn die Walpurgisnacht vorbei ist, dann musst du Aholl verlassen haben, sonst ist es dein Tod und auch der deines Vaters!« Für einen Moment wurde mir schwindelig. Hörte es nie auf? Ich hatte alle Gefahren gemeistert und Belphegor den Roten besiegt, hatte beim Quiz immerhin ein Unentschieden geholt und trotzdem war ich von einem glücklichen Ende so weit entfernt wie Zebul von der Lösung der sechsten Frage. 159
»Wo fliegen wir denn jetzt hin?«, fragte ich Dario. »Wir treffen Lydia und Maria am Palast von Belphegor dem Roten!« Wer war denn bloß diese Maria?
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Schon von weitem sah ich den Roten Palast, der auf einem zackigen Felsrücken stand. Wir flogen über einen breiten Weg direkt auf ihn zu. Kein Lebewesen war weit und breit zu sehen, außer einer Flaffe, die wir überflogen und die in Riesensätzen in dieselbe Richtung sprang. Nur kurze Zeit später landeten wir genau vor dem großen Tor des Palastes. »Wo bleibt Lydia denn?«, fragte Dario unruhig. Wir mussten eine ganze Weile warten, bis aus der Dämmerung die Flaffe angesprungen kam, die ich vorhin schon aus der Luft bemerkt hatte. Auf ihrem Rücken saß Lydia. Hinter ihr aber hockte noch jemand, und als ich erkannte, wer es war, fegte es mir jede Farbe aus dem Gesicht. Es war eine Spinne von der Größe eines kleinen Hundes! Ich wankte und wäre vor Entsetzen gefallen, wenn Dario mich nicht gestützt hätte. »Ich habe es euch gesagt!«, rief das Ungeheuer. »Ich kenne doch diese Menschen. Da sind sie alle gleich!« »Quentin, keine Angst. Das ist Maria, eine rote Kreuzspinne. Sie steht auf unserer Seite.« Lydia stieg von der Flaffe. Ich bemerkte, dass sie ein kleines Köfferchen trug. Sie stellte 161
es ab und umarmte mich. »Du hast es tatsächlich geschafft! Du hast ein Unentschieden herausgeholt. Das bedeutet, dass der Teufel in den nächsten tausend Jahren nicht alle Regeln ganz al leine bestimmen darf!« »Lasst uns hier nicht noch länger rumstehen!«, rief Dario tatendurstig wie immer. »Wir haben nicht mehr viel Zeit. Der schwierigste Teil liegt ja noch vor uns!« »Hi, ich bin Maria!«, sagte die rote Kreuzspinne, sichtlich bemüht um einen freundlichen Ton. Nachdem ich - zunächst widerwillig - ihre acht Hände geschüttelt hatte, rannten wir hinter Lydia her. »Wie kommen wir da rein?«, wollte ich nach einem Blick auf das Tor wissen. Lydia antwortete: »Maria!« Die rote Kreuzspinne rannte davon, und wenige Minuten später wurde von innen die Tür geöffnet. »Ich glaube, er hängt im roten Salon«, flüsterte Maria und wollte wohl nicht, dass ich es hörte. Lydia nickte. Wir folgten ihr. Ich hatte den Eindruck, dass sie sich nicht zum ersten Mal in diesem Palast aufhielt. Da kein Licht brannte, konnte ich nicht viel erkennen. Sicher war, dass die gesamte Einrichtung rot war, ohne Ausnahme. Nachdem wir zwei größere Räume durchquert hatten, standen wir vor einem dritten, zu dem eine große Doppeltür führte. »Quentin, du musst jetzt tapfer sein!«, sagte Lydia, während Maria sich an dem Schloss der Tür zu schaffen machte. Ich nickte und flehte mein Schicksal an mir gnädig zu sein. Hoffentlich erfuhren wir hinter diesen roten Mauern, wo mein Vater war! Ich spürte wieder die Angst in mir hochkriechen. Was würde ich jetzt zu sehen bekommen? Vermudlich war alles, was ich in Aholl bisher erlebt hatte, das reinste Kinderspiel dagegen. Dario sah mich ernst an, dann öffnete er die Tür. 162
Vor uns lag ein stockdunkler Saal. Maria zückte aus ihrer Tasche eine Lampe und leuchtete eine Wand ab. Dort waren einige leidgeplagte Gesichter von Gefangenen zu erkennen, deren leere Blicke verrieten, dass sie schon sehr lange hier waren. Als der Lichtkegel von Marias Lampe auf einer Stelle verharrte, hörte mein Herz auf zu schlagen. Ich starrte direkt in das Gesicht meines Vaters! »Papa!«, schrie ich und lief auf ihn zu. Ich erkannte die Fäden, die zusammengebunden und an einer Art Gardinenstange befestigt waren. Später sollte Dario mir erzählen, dass mir in diesem Moment die Tränen wie ein Sturzbach über das Gesicht gelaufen waren. Ich hatte nichts davon gespürt. Lydia sagte: »Wir wissen seit gestern, dass er hier ist. Dario hat es herausgefunden, als er Aurora aus der Gewalt des Roten rettete, kurz bevor er den Ring ins Feuer werfen wollte. Ich konnte es dir vorher nicht sagen! Du hättest allen Mut verloren.« »Wie ... ?«, fragte ich mit tränenerstickter Stimme. »Unter dem Vorwand, ihm deinen Aufenthaltsort zu verraten, hat Dario den Roten in den Palast der Eitlen in Satanopolis gelockt, der hundert Säle mit tausend Spiegeln hat. Was meinst du, was los war, als den Roten sein eigener Blick traf.« Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. Dario, unser mutiger Freund. Maria war inzwischen die Wand hochgeklettert und hatte die Fäden gelöst. »Du achtest auf seinen Blick, Junge! Sprich mit ihm«, befahl sie. »Dario, behalte die Tür im Auge. Lydia, reich mir die Instrumente!« Kein Zweifel, jetzt war die Stunde der roten Kreuzspinne gekommen. Mit den Utensilien aus ihrer Tasche verwandelte sie die Stelle, 163
an der mein Vater jetzt lag, ruck, zuck in einen Operationssaal. Neben grünen Kitteln hatte sie auch an den Mundschutz gedacht, den wir alle anlegen mussten. Als sie ihre acht Arme nacheinander schüttelte, um sie zu lockern und »Schere!« brüllte, wusste ich, dass die Operation begonnen hatte. Ich ließ den Blick meines Vaters keine Sekunde aus den Augen. Es brachte mich fast um den Verstand, dass ich kein Flackern darin erkennen konnte, sondern nur den stumpfen Glanz eines Blickes aus einer anderen Welt. »Tupfer!«, zischte Maria und riss mich aus meinen Gedanken. Lydia assistierte der roten Kreuzspinne, als ob die beiden diese Operation nicht zum ersten Mal durchführten. Ein Blick auf das linke Handgelenk bestätigte mir, dass der Faden dort bereits durchtrennt war. »Junge, sieh in seine Augen und rede mit ihm!« Wenn ich ihm doch nur erzählen könnte, was es hier für Wesen gab! Aholl war sicher nicht nur für den Teufel, sondern auch für einen Kryptozoologen wie meinen Vater das Paradies. »Tupfer!« Aha, der zweite Faden, dachte ich und versuchte das, was ich hier erlebte, nicht auf seine Wahrscheinlichkeit zu überprüfen. Ich hockte im Palast des Teufelsohnes und assistierte einer roten Kreuzspinne dabei, wie sie meinem Vater versuchte das Leben zu retten. Eben hatte ich eine Raterunde gegen den Teufel zumindest nicht verloren und ihm eine Kopfnuss zu knacken gegeben, an der er sich seine gelb-schwarzen Zahnstümpfe ausbeißen würde. »Schafft er es?«, flüsterte ich. »Viel zu früh für diese Frage!«, keuchte Maria. »Tupfer!« Plötzlich meinte ich in dem leeren Blick meines Vaters eine Veränderung zu bemerken. Als ob man einen kleinen Stein in ein stilles Wasser geworfen hätte. Kein Zweifel, da war Leben 164
in ihm und ich meinte auch zu bemerken, wie er ganz langsam auf seine normale Größe wuchs. Inzwischen hatte Maria bereits beide Hände von den Fäden befreit. »Papa, ich bin's, Quentin!«, flüsterte ich. Wieder regte sich in seinem Blick etwas! Ich spürte einen leichten Druck seiner Hand. Ich sprach ihm weiter Mut zu und sein Blick wurde zunehmend klarer. In dem Maße, in dem die Fäden, die ihn zu einem willenlosen Werkzeug Bel-phegors gemacht hatten, durchtrennt wurden, kehrte sein Lebenswille in ihn zurück. Einmal bewegten sich seine Lippen, als ob er sprechen wollte. Je hartnäckiger Maria und Lydia arbeiteten, desto stärker wurde in mir der Wunsch nach einem Ende dieses Albtraums. Ich wollte nur noch raus aus diesem Wahnsinn. Ein Blick durch die meterhohen Fenster des Palastes sagte mir, viel Zeit blieb nicht mehr, um Aholl zu verlassen. Nach einer endlosen Zeit rief Maria endlich: »Geschafft, das war der Letzte.« Mein Vater hatte zunehmend an Leben gewonnen, schließlich zog er meinen Kopf zu sich hinunter: »Ich wusste, dass du es schaffst!«, flüsterte er schwach und bekam einen Hustenanfall. »Wie bist du denn in die Geschichte reingeraten?« Ich konnte mit dieser Frage nicht länger warten. Mein Vater wusste das und nahm für die Antwort all seine Kräfte zusammen. »Ich wusste es und konnte es nicht verhindern. Wollte rechtzeitig zu deinem Geburtstag ...« Er atmete schwer und war noch zu schwach, um mir alles zu erzählen. Ich freute mich trotzdem so sehr, dass mir gar nicht auffiel, wie die Zeit verging. »Ihr müsst jetzt unbedingt aufbrechen«, rief Maria. »Ich habe deinem Vater noch eine Vitaminspritze gegeben. Er ist noch schwach, aber es ist wirklich höchste Zeit. Der Morgen 165
dämmert.« Ich sah Maria an und konnte nicht widerstehen zum ersten Mal in meinem Leben eine Kreuzspinne zu umarmen, noch dazu eine rote, und sechs ihrer Beine auf meinem Rücken zu spüren. »Schon gut«, murmelte Maria verlegen, »hab ich doch gerne gemacht! Und jetzt los!« Ich kam gar nicht mehr dazu, zu fragen, auf welchem Weg wir jetzt von hier verschwinden konnten. Vor dem Palast war plötzlich unglaublicher Lärm zu hören, das Tor schlug und schon waren Schritte auf der Treppe zu hören. »Schnell weg, Belphegor muss jeden Augenblick hier sein! Raus hier!« Es war Mayo, der in voller Kampfmontur angehetzt kam. Mir fuhr der Schreck in die Glieder, aber für eine Flucht war es zu spät. Dario hatte den Roten aufhalten können, außer Gefecht hatte er ihn nicht gesetzt. Ich sprang ans Fenster und sah einen ganzen Schwarm Blauekel rotieren, wieder mit voller Beleuchtung in den Armen wie im Krater des Vulkans. Dort inmitten ihrer Schläger standen Belphegor und Gorgonzola. Ich war schockiert, als ich bemerkte, dass der Rote seine Kapuze heruntergenommen hatte. Für einen Sekundenbruchteil traute ich mich seinen Kopf anzusehen, ein Anblick, den ich nie mehr in meinem Leben vergessen sollte.
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»Wie kommen wir hier raus?«, schrie ich und stützte meinen Vater, der zu schwach war, um aus eigenen Kräften zu gehen. Lydia und Mayo warfen sich einen verstohlenen Blick zu, während Maria in ihrer Tasche kramte. »Der einzige Weg führt durch das Felsenlabyrinth ...«, sagte Lydia. »Na, herzlichen Glückwunsch!«, brüllte Mayo. »Dann bleibe ich lieber hier und kämpfe!« Aber jetzt war Lydias Stunde gekommen. Der tapfere Drachling übernahm das Kommando. »Hört alle her! Quentin, Johannes, Dario und ich versuchen es durch das Felsenlabyrinth. Das ist der einzige Weg von hier zum Schwarzen See. Wenn überhaupt, kann es uns nur noch durch die Albtraumwaben gelingen, Aholl zu verlassen. Mayo, du bleibst hier und versuchst die Schergen des Roten aufzuhalten. Maria, kannst du Mayo helfen?« Die Kreuzspinne fuchtelte mit sechs ihrer Beine in der Luft herum. In jedem hielt sie eine Spritze. »Klar doch. Ich habe hier was, das wird einige von denen beruhigen!« »Dann nichts wie los!« Lydia rannte auf eine Tür am anderen Ende des Saales zu. Ich warf Mayo und der Kreuzspinne einen dankbaren 167
Abschiedsblick zu und hetzte so schnell ich konnte mit meinem Vater im Schlepptau Lydia hinterher. »Stopp!«, brüllte Mayo plötzlich und kam auf mich zugerannt. Hastig steckte er mir einen kleinen Zettel in die Tasche. »Das soll ich dir von Otoll geben. Es geht ihm schon etwas besser!«, rief er und sprintete zurück zur Tür, die genau in diesem Moment von zwei bärenstarken Tartarasseln aufgestoßen wurde. Sofort begann dort der Kampf. Lydia kannte offenbar den Weg aus dem Roten Palast. Wir rasten eine Treppe hinunter und schlugen einen Haken in einen schmalen Gang nach links. Dario sicherte uns nach hinten gegen mögliche Verfolger ab und half mir meinen Vater zu stützen. Zwischendurch ließ ein Blick nach hinten meine Muskeln gefrieren - hatte ich dort nicht einen wehenden, roten Umhang gesehen? Oder war es nur einer der vielen Vorhänge des Palastes? Ich lief noch schneller, spürte aber das Gewicht meines Vaters immer schwerer auf meinen Schultern. Am Fuß einer weiteren Treppe blieb Lydia plötzlich stehen und griff in eine kaum sichtbare Vertiefung im Boden. Mit einem Ruck hob sie eine Falltür hoch und schrie: »Da hinunter!« Ich sah sofort, wohin die Falltür führte. Es war der Kanal, durch den der schwarze Nebel strömte, bis er am Ende durch den Räucherturm ausgeblasen wurde. Ohne zu zögern, sprang ich hinunter und Dario half mir bei meinem Vater. Wir standen kaum unten, da schlug die Falltür über unseren Köpfen zu. Lydia hetzte weiter und ich konnte nur hinterherjapsen. »Luft anhalten, solange es geht!« Zunächst rannten wir in die schwarzen Schwaden hinein, wurden aber immer langsamer, bis wir schließlich nur noch torkelten. Mit beiden Armen tastete ich mich Schritt für Schritt weiter. Was habe ich eigentlich davon, wenn ich meinen Vater rette?, dachte ich plötzlich. Das bringt doch gar nichts! Lebt er überhaupt noch? Wie eine schlaffe Klette hängt er an meiner 168
Schulter. Er hatte einfach nichts drauf, der Alte. Da - er stöhnt schon wieder. Es ist doch viel einfacher, ihn hier liegen zu lassen. Ich blieb stehen und legte meinen Vater auf den Boden. »Er ist doch selber schuld. Was muss er sich auch in meine Angelegenheiten hineinziehen lassen!«, rief ich Dario zu, der dicht hinter mir ging und nun auch stehen blieb. Er nickte mir zu. »Du sagst es. Ich habe auch die Nase voll und mit der ganzen Sache ja eigentlich nichts zu tun ...«, erwiderte Dario. »Lydia! Ich kehre um, was soll ich mich hier für euch abrackern, wenn ich auf einem hohen Baum sitzen und Bluttrauben essen kann!« Die Antwort kam unerwartet aus dem Nebel. Es war ein heftiger Stoß und traf den Waldmeister in die Rippen. Lydia trug den grünen Mundschutz, den Maria vorhin ausgeteilt hatte, und zwang Dario und mich auch einen anzulegen. »Weiter!«, zischte sie und man sah ihr an, dass sie all ihre Kraft und ihren Willen dafür aufbringen musste. Sie ging nun hinter uns her und trieb uns an wie Schafe. Ich war drauf und dran mich einfach fallen zu lassen, merkte aber, dass der Nebel dünner wurde. Nur wenig später torkelte ich aus dem Kanal hinaus. Mir wurde schwindlig und ich war grün vor Übelkeit. Eine Sekunde später fiel Dario aus dem Kanal heraus und landete neben mir, einen Schritt später folgte Lydia, die meinen Vater im Schlepptau hatte. Der schöne Drachling schnauzte sich und riss ein paar Kräuter aus dem Boden. »Reibt damit eure Gesichter ein!« Wir machten, was Lydia sagte, und ich spürte gleich den angenehmen, pfefferminzähnlichen Geruch der Kräuter. Mit jeder Sekunde ging es uns besser. Ich registrierte Lydias ängstlichen Blick in die Kanalöffnung. Schritte hallten aus dem Inneren! »Dario, schaffst du es, zu fliegen?«, fragte Lydia. Der Waldmeister war schwer angeschlagen und schüttelte den 169
Kopf. »Wenn überhaupt, dann alleine ... «, stöhnte er. »Versuch es und zeig uns den Weg durch das Labyrinth!« Der Waldmeister verstand und schlug seine Flügel, so fest er im Augenblick konnte. Es reichte gerade aus, um seinen Körper in die Luft zu erheben. Lydia half mir bei meinem Vater, dessen Blick mir verriet, dass fast alle Kräfte wieder aus ihm entwichen waren. Wir stolperten in das Felsenlabyrinth. Ein gigantisches Heer von Arbeitern musste es erschaffen haben. Hohe, sehr schmale Gänge, die in den schwarzen ahollischen Fels geschlagen waren, auf dem der Palast Belphegors stand. Trotz Darios Führung liefen wir immer wieder in Sackgassen, gerieten auf Rundwege, taumelten in Irrwege, die wieder zurück zum Eingang zu führen schienen. Mehrmals verloren wir Dario aus den Augen und bekamen sofort die Quittung dafür, indem wir uns völlig verirrten. Aber Dario gelang es nach kurzen Pausen der Kraftlosigkeit immer wieder, uns die richtige Richtung zu weisen, er flog ein paar Meter über dem richtigen Gang und wir folgten ihm. Wir verhielten uns so ruhig wir konnten, denn wir hatten sofort bemerkt, wie das Echo des kleinsten Geräusches sich im Labyrinth auf einen verräterischen Weg durch alle Gänge machte. Fast zeitgleich mit einem Keuchen, das mich an die zischende Stimme von Belphegor dem Roten erinnerte, hörte ich Darios »Rioooooooo« von oben. Einen Schritt später wusste ich, warum er gerufen hatte. Wir hatten es geschafft und das Felsenlabyrinth gemeistert! Wir standen am Ufer des Schwar zen Sees. Dario landete und ließ uns keine Sekunde verschnaufen. »Der Rote ist im Labyrinth. Ich habe es ganz genau gesehen. Viel Zeit bleibt nicht...« Lydia nickte und warf nur einen Blick zum Horizont. Die Zeit spielte gleich doppelt gegen uns. Ein paar Minuten noch, dann 170
war es hell und alles wäre vergebens gewesen. Meine Handfläche juckte genau in diesem Moment und ich sah, dass das Siegel vollständig verheilt war. Ein winziger, dunkelroter Punkt wies noch auf das Brandzeichen hin, das Zebul mir vor sieben Tagen dort eingebrannt hatte. »Wohin jetzt?«, fragte ich. Lydia sah ziemlich niedergeschlagen aus. »Dario und ich können jetzt nichts mehr tun, Quentin. Du hast die Gefahren Aholls gemeistert, du hast den Glauben an die Macht des Teufels erschüttert, indem du im Quiz nicht untergegangen bist. Das wird uns viele neue Anhänger bringen. Aber jetzt, in diesem Augenblick, nur jetzt kommt es darauf an. Du bist der Einzige, der die Lösung finden kann. Nur du weißt, wie wir die Memos erfolgreich bekämpfen können. Und nur mit der Lösung kannst du Aholl rechtzeitig verlassen, um mit deinem Vater zurückzukehren in deine Welt. Quentin, bitte beeil dich!« Lydia sah nach meinem Vater, der mir schwächer vorkam. Dario umarmte mich, grinste, wie nur er es konnte, zückte sein kurzes, silbernes Schwert und stellte sich breitbeinig in den Ausgang des Labyrinths. Er würde sich dem Roten entgegenstellen, nur damit mir ein wenig mehr Zeit blieb, die Lösung zu finden. Aber was konnte denn die Lösung sein? Ich muss-te hinauf! Dort oben war der Ausgang, in den Wolken, in den Albtraumwaben. Und ich musste eine Lösung finden, um ein für alle Mal die Verpestung unserer Gedanken durch diese schwarzen Memos zu verhindern. Wie konnte ich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen? Meine Gedanken kehrten zurück zu dem Moment, an dem ich zum ersten Mal an diesem Schwarzen See gestanden hatte. Es war nicht lange her und doch kam es mir vor, als läge ein halbes Leben dazwischen. Was hatte Lydia gesagt? Sie suchten nach dem Weg, die Memos hier an der Wurzel zu 171
bekämpfen! Hier, wo die dunklen Anweisungen entstanden, musste ihnen der Garaus gemacht werden. Und als Lydia das gesagt hatte, da war mir etwas eingefallen, ich hatte an etwas denken müssen. An Aurora! Mit einem Schlag kam mir in den Sinn, dass sie bisher zweimal erschienen war. Würde sie noch einmal helfen, mein Schicksal zu wenden? An meinem Finger steckte sie nicht mehr. Richtig, ich hatte sie in die Tasche geschoben. Doch auch dort keine Spur von der Bernsteinprinzessin. Hastig fühlte ich meine Hosenbeine ab. Sollte ich verloren haben, was aus dem wertvollsten Stoff ge schaffen worden war, den Aholl zu bieten hat? Sollte ich den Ring aus dem Harz von weißen Rosen tatsächlich verschusselt haben? Ich hatte Aurora verloren. »Aurora!«, schrie ich und die anderen verstanden sofort. Noch einmal steckte ich meine Hände in die Taschen und fand dort ein paar Krümel. Mir kam ein Gedanke, den ich zuerst nicht glauben konnte. Die Krümel in der Tasche fühlten sich komisch an. Sand war es nicht. Ich besah mir die Krümel genauer. Es war eine halbe Hand voll. Sie erinnerten mich an ... Samenkörner! Ich hielt sie unter meine Nase und erkannte sofort den Duft, den nur Aurora verbreiten konnte. Einen weichen, zarten Duft von Rosen. Das war's! In diesem Moment hatte ich die Lösung. »Achtung, es geht los! Haltet durch! Ich muss nur einmal um den Schwarzen See herumlaufen!« Vom Ausgang des Labyrinths her hörte ich Dario rufen. Offenbar hatte er den Roten gesichtet. Schon bald würde dort ein ungleicher Kampf beginnen. »Haltet durch!«, schrie ich noch einmal und hoffte, dass es auch mein Vater hörte. Ich rannte los. Lydia schien entsetzt. »Quentin, bitte bleib hier! Lauf nicht fort!«, rief sie. »Vertrau mir«, brüllte ich zurück und hatte schon ein gutes 172
Stück Strecke zurückgelegt. Ab und zu ließ ich ein Samenkorn fallen, während ich rannte. Der Schwarze See war nicht klein, aber wenn ich alles gab, müsste ich die anderen erreicht haben, wenn das Licht des neuen Morgens die Dämmerung verdrängte. Ich war selbst überrascht, zu welcher Geschwindigkeit ich jetzt noch fähig war, nach all den Strapazen. Ich raste förmlich. Kein Zweifel, der Moment, in dem ich die Lösung gefunden hatte, hatte mir neue Kraft gegeben. Schon hatte ich die Hälfte des Schwarzen Sees hinter mir und mir fiel auf, dass auch der See ein erloschener Vulkantrichter gewesen sein könnte. Jetzt lag es an mir, ob sein schwarzes Wasser, aus dem die Memos hervorstiegen, zu Tränen des Teufels wurden. Oder ob alles umsonst gewesen war und mein Vater und ich hier unser Grab fanden. Ich rannte das letzte Stückchen am Seeufer entlang. Darios Kampfschreie drangen mir an die Ohren. Tatsächlich wehrte er sich tapfer gegen den Roten und versuchte den Nachteil, dass er Belphegor um keinen Preis ansehen durfte, durch Tapferkeit und List auszugleichen. Hoffentlich kam ich nicht zu spät! Kurz darauf erreichte ich den Punkt, an dem ich losgelaufen war, und warf das letzte Samenkorn in den Boden. Mit meiner letzten Kraft keuchte ich: »Lydia, hilf mir meinen Vater auf die Schulter zu nehmen!« Ich flehte mein Glück und meinen Joker an, dass ich mich nicht geirrt hatte. Ich hockte mich, meinen stöhnenden Vater stützend, auf den Boden und erstarrte, als ich sah, dass es im Innern des Sees brodelte. Ganz langsam tauchte dort eine Kralle auf, die ich nur zu gut kannte. Sie gehörte Zebul! Schon blubberte ein Memo aus dem See und stieg sehr schnell. Genau in diesem Moment spürte ich, wie sich der Boden unter mir bewegte, und ich wusste, dass ich mich nicht geirrt hatte. Unter mir wuchs ein Rosenbaum, und das in einer Geschwindigkeit, die mich innerlich jubeln ließ. 173
Ich saß auf der Spitze des Rosenbaums, der wuchs und wuchs. Ein Blick rings um den See bestätigte, dass mein Plan gelingen sollte. Überall schossen Rosenbäume aus dem Boden. Ich musste kräftig balancieren, dass uns das Gewicht meines Vaters nicht hinunterfallen ließ. Inzwischen war Lydia Dario zu Hilfe geeilt. Aber der schlaue Drachling kämpfte nicht, sondern zog den Waldmeister zur Seite. Der Rote interessierte sich natürlich kein bisschen für die beiden, sondern hetzte hinter mir und meinem Vater her. Er wollte nur noch Rache. »Danke für alles!«, rief ich den beiden zu. »Das werde ich euch nie vergessen!« Lydia und der Waldmeister, der vor Erschöpfung umzukippen drohte, winkten zurück. »Wir dir auch nicht!«, riefen sie und sahen dann zu, dass sie mehr Abstand zwischen sich und Zebul brachten, der weiter aus dem See auftauchte. Wie aus einem Hochhaus sah ich auf ihn hinunter. Ein Blick nach oben zeigte mir, dass wir nicht einmal die Hälfte der Strecke in die Wolken gewachsen waren. Hoffentlich ging Aurora nicht die Puste aus! Das wünschte ich mir umso sehnlicher, als ich sah, dass der Rote begann, den Rosenbaum, auf dessen Spitze ich mit 174
meinem Vater saß, heraufzuklettern. Wir sollten wohl von keinem Schrecken verschont bleiben. »Wachse, Aurora, wachse!«, flehte ich und ahnte nicht einmal, ob mich die Bernsteinprinzessin hörte. Der Rosenbaum wuchs auch, aber ich fiel beinah vor Schreck in die Tiefe, als ich sah, dass auch Zebul, der Teufel, wuchs! In letzter Sekunde konnte ich mich festhalten. Dabei fasste ich in einen starken Stachel des Rosenbaums. Dieser blieb genau dort stecken, wo ich bis eben das Brandzeichen trug, in der Fläche meiner rechten Hand. Blut tropfte heraus und verschwand im freien Fall tief unter uns. Ein lautes Krachen drang plötzlich zu mir rauf und ich sah, wie der Ast, auf den Belphegor gerade geklettert war, unter ihm wegbrach. Für eine Sekunde trafen sich unsere Blicke und ich spürte einen stechenden Schmerz im ganzen Körper. Aber dann fiel er in die Tiefe. Es spritzte heftig, als er auf die Oberfläche des Schwarzen Sees klatschte. Es zischte und puffte und eine kleine violette Nebelschwade zog behäbig in Richtung Kanal. Das war alles, was von Belphegor dem Roten, dem Sohn des Teufels, übrig blieb, ein übler Gedanke. Zebul kümmerte das gar nicht, und das zeigte mir, dass er noch weit davon entfernt war, die sechste Frage zu lösen. Wie damals im Wartezimmer hatte ich das Gefühl, dass er wieder genau wusste, was ich dachte. »Ich habe es nicht, aber du hast es. Wenn ich es hätte, dann wäre das der Untergang meines Paradieses, das Ende des Schreckens? Und dann hätte ich es im Überfluss, vor allem mit mir selbst. Was ist es?«, schrie er von unten. »Sag es mir!« So wütend hatte er noch nie geklungen. »Du schuldest mir noch die Antwort!« »Wieso, die sollst du doch selbst herausfinden!«, rief ich zurück. Wütend produzierte er einen ganzen Schwarm Memos. Mein Vater gab mir ein Zeichen und flüsterte: »Quentin, reiz 175
ihn nicht, noch sind wir hier nicht raus ... Sieh nur nach oben!« Ich hatte schon gemerkt, dass die Sicht immer schlechter wurde. Wir wuchsen offenbar mitten in die Wolken über dem Schwarzen See, die Albtraumwaben, hinein. Aber immer langsamer, hatte ich das Gefühl. Plötzlich tauchte vor uns ein Schatten auf und je näher wir an ihn herankamen, desto mehr hatte ich das Gefühl, dass er einem Riesen gehörte. »Golem ...«, flüsterte mein Vater. »Er ist der Wächter der Albtraumwaben. Nur Memos lässt er hinaus in die Welt. Er verpestet damit die Träume der Menschen und lässt sie zu Albträumen werden. Hier war es, wo Zebul mich fand.« Ich konnte nun mehr erkennen als vorher. Golem war ein Gigant aus schwarzem Stein, dem finsteren Marmor, wie er in Aholl überall benutzt wurde. Er ähnelte der Gestalt Zebuls. In seinem Gesicht entdeckte ich aber etwas Entsetzliches. Er besaß keinen Mund und seine Augen waren zugekniffen, als ob ihm jemand verboten hätte, sie zu öffnen. Da spürte ich, dass Aurora aufhörte in die Höhe zu wachsen. Wir hatten gerade den Fuß des Golems erreicht. Unter uns schloss sich unser Rosenbaum mit den anderen zu einer Kuppel zusammen, die nun den ganzen Schwarzen See überdachte. Ein lauter Knall ließ mich jubeln. Ein zweiter, ein dritter. Das waren die Memos, die an den fingerlangen, starken Dornen des Rosenbaums zerplatzten. Ich schloss aus der Zahl der Explosionen, dass Zebul wütender wurde und unzählige weitere Memos auf die Reise schickte. »Wie kommen wir hier weg?«, fragte ich meinen Vater. Der zuckte die Schultern. »Der Golem muss uns durchlassen, sonst haben wir keine Chance ...«, meinte er. »Aber wie? Er sieht nichts, er spricht nicht, er ist aus Stein! Außer diesen riesigen Ohren ...« Dabei kam mir ein Gedanke. Ohren. Wozu hatte er diese großen Ohren? Konnte der Steinkoloss etwa hören? Wahrend 176
dieser ganzen Geschichte hatte mich Zebuls grausame Melodie verfolgt. Längst wusste ich, dass das nichts als ein Memo war, das einfach nicht aus meinem Kopf zu tilgen gewesen war und das ich weitergegeben hatte, ohne darüber nachzudenken. Aber wann war die Melodie in meinem Kopf verstummt? Das muss während des Quiz gewesen sein. Mit einem Schlag war sie ver schwunden gewesen. Ich konnte mich nicht mehr an sie erinnern. Ich summte probehalber los, probierte verschiedene Tonlagen, während ich mit meinem Vater am Kopf des Riesen hangelte und das Ohrläppchen im Visier hatte. Als wir es erreicht hatten, stellte ich gleich fest, dass der Gehörgang des Steinriesen geschlossen war. Ich machte meine Augen zu und suchte ganz tief in meinem Gedächtnis nach der Melodie. Ich hatte eine Spur. Ich summte einige Tonleitern, bis sich plötzlich der Gehörgang des Golems einen Spaltbreit öffnete. Ich probierte weiter und komponierte nach meiner Erinnerung, bis sich schließlich der ganze Gehörgang geöffnet hatte. Das war der Ausgang aus Aholl, dem Paradies des Teufels, das mich und meinen Vater nur widerwillig hergeben wollte. Ein Blick nach unten öffnete mir das Herz. Dort, im höchsten Punkt der Kuppel, stand die Blüte einer weißen Rose. Für einen Augenblick erkannte ich das Gesicht der Bernsteinprinzessin und ich dankte ihr für alles mit einem Lächeln. Der Tag nach Walpurgis war angebrochen. Ich hatte Zebul ein Stück seiner Macht genommen, und das würde ihm jetzt tausend Jahre zu schaffen machen. Mit ihm hatte ich kein Mitleid. Würde er jemals darauf kommen, dass dieses Zauberwort die richtige Antwort auf die entscheidende Quizfrage war? Wir verschwanden im Ohr des steinernen Riesen.
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Heute weiß ich, dass es eine Kleinigkeit gewesen war, die mir schließlich die Gewissheit gegeben hatte. Eine, die ich beinahe übersehen hätte, was daran gelegen haben konnte, dass ich gerade erst aufgewacht war und glühte wie eine rote Peperoni. Ich konnte nicht genug davon kriegen, meinen Blick durch mein Zimmer rasen zu lassen wie ein Kettenkarussell, das niemals stillstehen wollte. Aber die große Wanduhr zeigte ein Datum an, das für meinen Blick wie eine Notbremse wirkte. Das angezeigte Datum war auch mächtiger als meine Erinnerung. Es war schlicht und einfach der Beweis, dass Aholl nur ein Hirngespinst gewesen war. Als mir das klar wurde, fühlte ich kaum noch, wie es gewesen war, in letzter Sekunde aus Aholl entkommen zu sein. Um Haaresbreite Zebul durch die Lappen zu gehen. Wie immer bei Träumen, wurden die Erinnerungen schon wenige Minuten nach dem Aufwachen blasser. Es kribbelte nur noch leicht im Rücken, dort, wo Zebuls Schrei wie eine Flamme gebrannt hatte. Es war ein verzweifelter Schrei gewesen, denn er wuss-te, er hatte verloren. Als sich die Ohren des Golems, des Monsters aus schwarzem Marmor, geöffnet hatten und ich mit meinem schwachen Vater im Schlepptau durch seinen hohlen Kopf gekrochen war, schließlich aus dem anderen Ohr hinausgestürzt 178
war, mitten in einen Albtraum meiner Mutter, da war Zebul endgültig klar geworden, dass er verloren hatte. Jetzt weiß ich auch, wie man sich fühlt, wenn man im Traum eines anderen - und sei es dem der eigenen Mutter - gefangen ist. Was wäre passiert, wenn wir nicht rechtzeitig daraus entkommen wären? Wenn meine Mutter aufgewacht wäre? Wären wir im Traum meiner Mutter gestorben wie Zebul in meinem? Gleichzeitig wusste ich, dass der Traum meiner Mutter nichts anderes war als mein eigener Traum. Jede weitere Überlegung war unsinnig. Das Datum an der großen Wanduhr war der Beweis. Und je länger ich es anstarrte, desto schwächer wurde meine Erinnerung an Aholl. Ich horchte. Im Haus war es so still wie an einem Sonntagmorgen. Ich erinnerte mich bruchstückhaft daran, dass mein Vater mir erzählt hatte, wie er und seine Kollegen in dem kleinen Flugzeug in einen merkwürdigen schwarzen Nebel geflogen waren. Wie der Pilot die Gewalt über die Maschine verloren hatte. Wie sie das Gefühl nicht losgeworden waren, dass das Flugzeug ferngesteuert wurde und jemand anderes von außerhalb das Kommando übernommen zu haben schien, und wie sie alle das Bewusstsein verloren hatten und abstürzten. Die Kollegen meines Vaters waren einen Tag später von einem Frachter aus gesichtet und gerettet worden, nur mein Vater blieb verschollen. Wrackteile des Flugzeugs waren in den Wellen des Ozeans gesichtet worden, mein Vater aber nicht. Jetzt schien es mir, als hätte mein Vater nie davon erzählt. Auch dass wir mit meiner Mutter - obwohl todmüde - noch Stunden zusammengesessen und erzählt, gelacht und geweint hatten, kam mir seltsam vor. Alles nur geträumt. Ich hatte geschlafen wie die Toten auf dem Eudamonischen Friedhof, der nur in meiner Phantasie existierte. Ich wusste das, weil mein Blick an der Datumsanzeige hing. 179
Das war der Beweis, ich hätte noch Stunden dort sitzen und in meinem Gedächtnis kramen können. Wenn es überhaupt dieses Beweises bedurft hätte. Denn auch der Computer stand artig auf seinem Platz. Hatte ich nicht mit eigenen Augen gesehen, wie er vom Tisch gefegt wurde, als der Infonaut in meinem Zimmer gewütet hatte? Auch die Regale standen stramm an der Wand wie immer. Gut, die Bücher waren ein wenig verrückt worden, ein bisschen umsortiert, nicht der Rede wert. Der Löwe aus der Wüste Takla Makan stand an seinem alten Platz und glänzte wie frisch poliert. Das Datum auf der Uhr sagte mir, was es mit Aholl, dem Quiz des Teufels, den Freunden, die ich gewonnen, und den Feinden, die ich besiegt hatte, auf sich hatte. Aurora, mein Joker, Otoll, der todtraurige Dichter, die wunderschöne Lydia, Dario, der mutige Waldmeister, und all die anderen -nichts als ein Traum. Quentin Fux war im Wunderland gewesen, im Mekka der Erfindungen und Lügengeschichten, gefährlich wirklich, aber ersponnen. Ich meinte zu spüren, wie der Traum in meinen Hirnwindungen schmolz wie eine Schneeflocke im Sommer. Denn der Datumsanzeige nach waren es noch genau sieben Tage bis zum Quiz des Teufels, bis zu meinem Geburtstag, sieben Tage bis zum Morgengrauen nach der Walpurgisnacht. Heute war heute. Ich hatte alles nur geträumt! Ich fühlte mich ein wenig stolz. Zebul, das war doch wirklich eine meisterliche Erfindung meiner Phantasie! Ich selbst hatte ihn geschaffen. Ich hatte das faule Ei ausgebrütet! Auf diese Art hatte der Teufel sein Gedächtnis wiedergefunden, indem je mand wie ich ihm seine Gestalt wiedergegeben hatte. Eigentlich war der Teufel nur ein schwarzes Ei auf dem Grund eines schwarzen Sees gewesen, bis Menschen kamen und ihn ausgebrütet hatten. Wer hat schon solche Träume? Doch dann fiel mein Blick auf die Uhr und ich stellte fest, dass sich die Zeiger keinen Millimeter bewegt hatten, seitdem 180
ich darauf starrte, keine Sekunde war vergangen. Die Uhr stand! Und wenn die Uhr stand, dann war auch die Datumsanzeige nicht aktuell... Ich sprang aus dem Bett wie eine junge Flaffe. Sofort erkannte ich die Delle genau unter der sechsten Stunde. Eine Delle, wie sie nur von einem Sturz herrühren konnte. Ich riss die Uhr von der Wand und sah ihr auf den Rücken - keine Batterie! In diesem Moment ging die Tür zu meinem Zimmer auf und meine Mutter kam herein. Sie sah mich kurz an und sagte: »Tja, das hab ich nicht mehr geschafft. Da müsste eine neue Batterie rein. Die alte ist beim Aufräumen nicht mehr aufgetaucht. Aber dafür hab ich dir einen neuen Bildschirm besorgt. Schon gesehen?« Ich nickte sprachlos, während meine Mutter mein Zimmer wieder verließ. In der Tür blieb sie noch einmal stehen. »Ach, Quentin, die Waschmaschine hat übrigens den Kampf gegen deine Klamotten gewonnen. Nur das hier war nicht mehr zu retten. Ich hoffe, es war nichts Wichtiges ...« Sie legte etwas auf meinen Tisch und verließ mein Zimmer. Als ich es in den Händen hielt, war mir sofort klar, was es war. Es hatte noch entfernt Ähnlichkeit mit dem Brief von Otoll, den Dario mir überreicht hatte. Ich faltete das gewaschene Papier auseinander und es zerfiel zu Staub, wie es der Infonaut nicht besser besorgen hätte können. Die Tinte, mit der Otoll geschrieben hatte, war zu einem Klecks verlaufen, der einer Träne glich. Ich zog mich schnell an. Nach einem ausgiebigen Frühstück verließ ich das Haus. Bei dem Gefühl, in wenigen Minuten im Wartezimmer meines Zahnarztes zu sitzen, lief mir ein Schauer über den Rücken. Ich beeilte mich, um nicht zu spät zu kommen. 181
Clou, Dimitri: Das Quiz des Teufels
ISBN 3 522 17508 5
Einband- und Innenillustrationen: Daniela Chudzinski
Typografie: Michael Kimmerle
Schrift: Bodoni Old face und Coop Latin
Satz: KCS GmbH, Buchholz/Hamburg
Reproduktion: immedia 23, Stuttgart
Druck und Bindung: Friedrich Pustet, Regensburg
© 2003 by Thienemann Verlag
(Thienemann Verlag GmbH), Stuttgart/Wien
Printed in Germany. Alle Rechte vorbehalten.
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